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Full text of "Ueber die Langeweile : Vortrag gehalten im wissenschaftlichen Verein"

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han ı 








\ Heber 
die Langeweile. 


— — 


Vortrag 


gehalten im wiſſenſchaftlichen Verein 
von 


Dr. Erdmann, 
Profeſſor in Halle. 


Berlin, 1852. 


Berlag von Wilhelm Herp. 
(Beſſerſche Buchhandlung.) 


770 


FRDHRNN 


Hohe Berfammlung ! 


Die oft ausgefprochene Behauptung daß es Feine 
Adfurbität gebe, die nicht von einem Philofophen 
vertheidigt wäre, trägt zwar ihre Wiverlegung in 
fih felbf, Indem eben fie eine ift die fchwerlich an 
einem Philoſophen einen Vertheidiger gefunden hat, 
doch aber ift fie nicht völlig aus der Luft gegrif- 
fen. Dan kann fie nicht eine boshafte Erfindung, 
fondern nur eine NMebertreibung nennen, denn wirk⸗ 
lich haben Philoſophen ſich oft in Paraborien ge⸗ 
fallen, ja ihre Anſicht auf Grundfäße gebaut, de- 
ten Unpaltbarkeit Leicht zu entveden. Beifpielshal- 
ber feien hier zwei Sätze erwähnt — wenn man 
fie nicht Tieber als einen und venfelben anfehn 
will — deren Anwendung einmal in Franfreich, 
einmal in Deutfchland, der Philofophie eine eigen⸗ 
hümlihe Richtung gegeben hat. In ber bebeutend- 
fen Schule Frankreichs, der des Des Cartes, wuxde 
früp der Grundſatz ausarigrogen, er ri 


— 4 — 


nne nur hervorbringen, wovon er einſehe wie es 
tflehe und was es fei, und es warb daraus ge— 
Igert, daß unmöglich wir felbft unfern Arm be- 
egen, fondern daß Gott mit feiner wunderthätigen 
tacht insg Mittel trete und fih zum Exekutor un- 
res Willens mache. Nicht minder, nur in ums 
ehrter Weife, wurde in Deutichland von den 
nhängern 5. 9. Jacobi's die Solidarität von Er- 
nnen und Hervorbringen feflgehalten und, weil 
nes nicht ohne diefes Statt finde, behauptet: der 
denſch erfenne nur wo er fchöpferifch fei, und 
rum könne von Gott und göttlichen Dingen Nichts 
ewußt werden. Daß der Grundfaß der Carte⸗ 
aner nach welchem das Machenkönnen das B 
reifen in fich fchließt, daß diefer unhaltbar, do’ 
tachte ich die praftifche Erfahrung ale ich der 
enfiand meines heutigen Bortrags zu über 
nfing. Ich hatte dazu die Langeweile erw 

er ih wußte daß ich fie machen könn 

eren Hervorbringung ich mir eine Art 

baft zufchreiben darf, und ich bemerkte 

vie ihre Wefen und ihre Entflehungsar 

icht ohne Weiteres klar werden wol 

un, daß das Ertappen einer philof 

yrität auf einem Irrihum mich ger 
nempfindlicher machte, fei es baf 


— 5 





— 6 


Philofophen über allen Philoſt 
mit mehr Recht als Ariftoteles 
Namen des „Meifters” führer 
gibt es: es ift der welcher, n 
nur einer oder der andern 

nähere Befimmung „Man“ 

größte aller Autoritäten deren 
ſchlechtslos ift, weil fie als ! 
richter über Allen fleht, über ! 
fie, von welcher die Englänve 
zahl fprechen, weil fie nicht & 
zelnen ift, fie welche überall 
für fie gibt mit dem Gattur 
zeichnet wird, (Man, men, 
fie fpricht das leßte enticheider 
Händeln der Philofophen. W 
iſt daß „Man“ es fordern d 
nicht verweigern zu bürfen, ı 
eine Lehre recht fiegreich darfl 
hinter die Aegide jener Macht 
fondern ‚Dan‘ weiß. Wüß 
„Man von der Langenmweil 
wären wir mehr geborgen alt 
wäre was Kant und Epinoy 
pien davon halten müßten. — 
viel Leichter, die Anfichten jem 





— 17 — 


iffenfchaft zu vernehmen als die unferes Meifter 
r Meifter. „Kant und Spinoza haben ihre Ge: 
nfen laut werben laſſen, fie haben gefprocen, 
e eine im engen Freundeskreiſe im Haag, ber 
dere auf feinem Katheder in Königsberg, ja fie 
rechen noch heute zu Jedem ver die Ethik Tieft 
er die Kritif der reinen Bernunft.” Dies {fi 
htig, aber glüdlicher Weile iR unfer Philoſoph 
cht ſchweigſamer gewefen als jene Philoſophen, 
Ran’ ift nicht flummer als jene beiden Männer. 
agt man aber: ja wo fpricht denn „Man“, fo 
in ver Frage die Antwort enthalten: „Man“ 
icht wo man fpricht ; in der Spracde find Seine 
sanken laut geworben. Wie in der Sprache des 
einen feine Gedanken ſich offenbaren, in Leſ⸗ 
Sprache fein Hares Denfen fich fpiegelt, fo 
er d. h. der allgemeinen, Sprache das Den⸗ 
richt eines fondern des Menfchen, den wir fa 
„Mon nannten. Die Sprache zeigt wie 
“ph. der Menfch, die deutfche Sprache wie 

in Deutfchland”, d. h. der deutſche Menſch 
Darum if es eigentlich einfacher hinter bag 
Ran‘ denkt zu fommen, als hinter Kant’s 
moza's Gedanten. Was beide gefagt ha- 
man nicht immer zur Hand, kt en 8 

fih, fo muß man welt wenn, SO 


— 8 — 


gen und ihre eigenthümliche Sprache in ber 
8 entwidelt haben. Dagegen bei unferm Autor 
das Werft worin er lehrt und das Idiom 
n er fpricht zufammen, und dieſes fein Wert 
Jeder der fprechen fann, flets bei fich, den vo» 
nöfen „deutichen Sprachſchatz“ als ein beque= 
und glüdlicher Weife unverlierbares Wörter- 
‚ zwar nicht in der Tafıhe aber im Kopf. Wer 

tiefem Werke umberblättert läßt fi von dem 

hren, der die Sprache ſchuf, wer auf den Sprach⸗ 

auch achtet ficht wie „Man“ zu denken pflegt, 
einfieht daß man nicht anders fprechen fann, 

innt die Ueberzgeugung daß man in einer be- 

mten Weife denfen muß. — Zwar mit ganz 

edingtem Bertrauen darf man nicht erwarten 
der Sprachgebrauch ung alle Räthiel löſen v 
Mühe des eignen Denkens abnehmen wor 

ın wie ein fonft ernfihafter Mann fi) wo’ 

ven darf frherzend feine Meinung hinter 

serbergen die das Gegentheil befager 

’ „Man fein Pedant und unfere, 

rachen, bieten manche feiner Späßchen de 

ı 3. B. von dem reuigen Verbrecher 

e ein ſchlechtes Gewiflen, und vo 

ten bem fein Gewiffen feine Borr 

abe ein gutes, obgleich doch ar 


— 9 _ 


Letztern nichts taugt, ſo iſt dies eben ſo ſeltſam 
wie, worauf Lichtenberg aufmerkſam gemacht hat, 
daß wenn ein Menſch durch Zuhalten der Naſe es 
unmöglich macht, daß die Töne durch die Naſe 
gehn, daß man gerade dann fagt er fpreche Durch 
die Nafe. Dergleihen wird ung nicht dahin brin- 
gen mit dem Franzofen zu fagen On est un sot, 
wohl aber berechtigen zu fagen On est un farceur 
und verpflichten bei unfern Anfragen an den Sprad- 
gebrauch auf unferer Hut zu fein. — Glücklicher 
Weiſe ift bei unferm Gegenflande der Schöpfer des 
Sprachgebrauchs hübſch ernfihaft geweſen und wenn 
wir, mißtrauifch gegen Jacobi und die Cartefianer, 
ohne Bertrauen zu Kantianern und GSpinoziften, 
fragen was „Man“ als das Wefen der Langen- 
weile anzufehn habe, fo antwortet ung der Ge— 
fragte obgleich indireet, doch deutlich und richtig. 
Bekanntlich fagt man, wo Jemand firh der Langen 
weile entledigt, daß er fich die Zeit vertreibe. Er 
vertreibt fie fich, denn an fih kann die Zeit, die⸗ 
fer Fluß der Bergänglichkeit in dem wir die Dinge 
fhwimmen fehn, eben fo wenig vertrieben werben 
wie die Dunfelpeit die gegenwärtig unfere Hemi— 
ſphäre dedt; wie aber diefe Jeder fich vertrieben 
fat der in biefen erleuchteten Saal trat, fo maa 
der Menſch auch die Zeit KKh werten hen ei 


— 10 — 


fie fih unmerflih madt. Wer im Unmerkbarw 
den des Zeitverlaufs das Aufhören der Langı 
weile fieht, fann ihr Wefen nur in das Gegentt 
feßen, alfo in die Aufmerffamteit auf d 
bloßen Zeitverlauf. Daß aber diefe Anfl 
welche jenem Sprachgebrauch zu Grunde liegt, 
richtige ift, wird von der eignen Selbſtbeobachtu 
beftätigt. Alle Gegenflänte werden vom Stri 
der Zeit an ung vorübergetragen wie die ſchwi 
menden Blumen vom Waldbach, ihr Vorüberſchwi 
men nennt man Gelcheben. Je mehr das, wı 
geſchieht unfere Aufmerkſamkeit reizt, d. h. je mı 
fie gefeflelt wird dur die Gegenftände ! 
jener Berlauf darbietet, um fo weniger achten u 
auf ihn felbft ganz wie, wenn fich dort die fı 
bigen Blumen drängen, die ſchwimmende Blume 
Snfel das Waffer verbirgt. Se feltner fie werbı 
deſto fichtbarer werden die Wellen und ber Be 
rende Knabe Hagt daß der Bach „nichts“ me 
bringt, wenn ftatt der erwarteten Blumen der Be 
nur ſich ſelbſt d. h. die Waſſermaſſe ihm darbiet 
Gerabe fo quält ed uns, wenn die Zeittheilch 
welche zwifchen bie Gegenflänvde fallen und al 
leer find, fih mehren und ausdehnen, fo daß u 
iſt als wenn „nichts“ mehr gefchieht; wir haben da 
Langeweile deren naivfler Ausprud der Wunfdh i 





— 1 — 


Kinder ift: ach möchte doch Etwas gefchehn! ganz 
wie jener Knabe fagte: ach möchte doch wieder 
Etwas (d. h. eine Blume) kommen. Langeweile 
it alfo ganz was dort das Sehen des bioßen 
Baflers, und wenn ich fage, je mehr Wafler um 
fo mehr Langweile, fo werde ich fiber alle bie 
auf meiner Seite haben die jemals wäßrige Neben 
gehört haben, in denen nur felten das Blümchen 
eines neuen Gedankens hervortaudte. Sa ich 
möchte den Vergleich mit dem Waldbach noch weiter 
ausdehnen: Regengüfle ließen ihn anfchwellen und 
führten von allen Seiten ein ſchmutzig graues 
Waſſer ihm gu, er wird zum Fluß, er wird zum 
rafenden Strom, da erreicht er die Höhe wo bie 
zwingenden Dämme nachgeben, er burchbricht fie 
und ein ungeheurer See ift da, in dem der Strom 
ſelbſt unfichtbar wirb weit, fo fcheint es, die Wafler 
ihn ſelbſt verfhlangen. In allen Beziehungen gleicht 
ifm die Langeweile, auch ihr Eolorit if ein gräu- 
liches Graͤulich wie feines, auch fie Tann zur ra- 
fenpften Langeweile werben wie Dancer erfahren, 
glücklicher Weiſe aber hat auch fie wie jener Strom 
ein Maaß, denn ift ein gewiſſer Punkt erreicht fo 
hört Alles auf bemerkbar zu fein, darum auch die 
leere Zeit, indem ver Menfch alles Bewußtiein wer- 
liert bat die Langeweile ſich \eiıt nergutt URUSU 





— 12 — 


den Strom feine Fluthen; an die Stelle: 
ift das Schwarz der Bemwußtlofigkeit, t 
getreten. — Sollte die Behauptung r 
daß die Langeweile nur im Bemerken 

Zeit befteht, fo wäre es nicht glaublich 
Zuftand ifolirt da flünde. Denn da ! 
ihrem Zwillingsbruder das gleich räthfelf 
hat, das wir Raum nennen, fo wäre 
wenn es nicht einen Zuftand gäbe quäle 
Langeweile, der im Bemerfen des leere 
Raumes beftünde. Der Umfland, daß 
ein folches Seitenftüd zur Langenweile 
offenbar für unfere Thefig, es ift — der 
del. Er entfleht da, wo fi Die Gege 
Raum der Wahrnehmung entziehn und a 
die bloße Räumlichfeit wahrgenommen wiı 
erregt e8 Schwindel wenn wir im V 
uns umgebender Gegenftände, oder wer 
uns gedreht werden: wie beim fchnell 
der Sarbenfcheide das Grau d. h. die Ui 
fteht, fo hier das Grau der Geftaltlofl 
alle beftimmte Geftaltung und Gegen| 
verfhwimmt und ſchwindet. Aehnlich 
der Schwindel auf Höhen. Im Zi 
Thürmers, und fei der Thurm noch fo 

pfindet man ihn nicht, die Wände umb 





— 413 — 


benden Gegenflände firiren den Blick; jebt benfe 
man fith die Wände fort, denke fich den Fußboden 
immer mehr fich verengend, wir flehn nicht mehr auf 
einem folchen, wir ſtehn auf einem ſchmalen Brett, jebt 
nur auf einem fein gefpannten Draht in Thurmesg- 
höhe, jet nur noch auf einer Nadelſpitze, fo daß wir 
nichts mehr fehen was unfere Füße flüßt, jetzt denke 
man ſich auch dieſe Nadelſpitze weggenommen — 
bei der bloßen Borftelung fann uns Schwindel 
anwandeln, weil wir in uns hervorbradten was 
ihn bewirkt, die Anfchauung der Leere. Ueber dem 
Abgrunde des Nichts zu fchweben muß das Mari- 
mum bed Schwindels fein, welches dem Punkte 
nahe fünde, wo die Sinne vergehn, denn au 
hierin zeigt fih der Schwinvel als Gefchwifterkinv 
der Zangenweile daß beide aus ihrem Grau in das 
Schwarz der Bemwußtlofigfeit übergehn können. Die 
Zufammengehörigkeit beider Zuflände, die es er- 
Härlich macht, daß man die Langeweile ein Gefühl 
innerer Zeere nennt oder auch fagt: vor Langer⸗ 
weile drehte fih alles vor mir, diefe hat übrigens 
ber praftifche Menfchenverftand Tängft geahndet und 
fange ehe der geiftreihe Marcus Herz in feinem 
Buche vom Schwindel fat wider Willen auf bie 
Langeweile Tam, haben Ammen und Kindermäahe 
den Kindern wenig modulirte Whed V 





— 14 — 


und zugleich ſie geſchaukelt, d. h. gleichzeitig fie 
langweilt und ſchwindlig gemacht, Beides um d 
einen Effekt ver Bewußtloſigkeit hervorzubringen_ 

Sn der Langenweile macht fich alſo die blog: 
Zeit wahrnehmbar. Mit dieſem Sat aber gerather 
wir in Gefahr gegen den alten Grundſatz zu ver: 
ftoßen, daß Nichts Feinen Effect habe. Denn die 
Zeit allein, if fie Etwas? Wir müſſen es vernei: 
nen, und dürfen es troß unfrer Behauptung, daf 
wir die Zeit den Fluß nannten, in dem wir bie 
Dinge wahrnehmen. Wir fprechen ja auch von 
Waſſer im Fluſſe, fehen die Kugel im Rollen, ber 
Stein im Fallen, die Tänzerin in der Pirouette, 
ohne daß daraus folgt, daß wenn nun das Waffer, 
die Kugel, der Stein, die Tänzerin verſchwände, 
der Fluß, das Rollen, das Fallen, die Pirouette 
bliebe und für fih Etwas wäre. Die Zeit if 
nichts Anders ale folches Fliegen, Rollen, Fallen, 
Pirouettiren, eben darum aber auch Nichts ohne vie, 
welche pirouettiren und fallen. — Wie aber? Die 
leere Zeit fol Nichts fein, und doch follen wir fie 
bemerfen in der Langenweile? Das ift ja ganz wie 
jener Schullehrer in den fliegenden Blättern welcher 
fagt: ich bemerke abermals fehr Biele, die nicht da 
find. Warum nicht? Wer weiß ob nicht Jeder, der 
Ab Jangweilt wirklich ganz in der Lage jened 





— 15 — 


Schullehrers fich befindet? Eins wird man_nemlich 
ben armen Schelm gewiß zugeben: daß an dem 
was er fagt Etwas dran if. Wenn er auch nicht 
die Abweſenden flieht, fo bemerkt er doch daß heute 
nicht, wie fonft doch, vie befannten pausbädigen 
Gefichter ihm die Echultifche unfihtbar machen, er 
bemerft alfo und fühlt einen Mangel. Gerabe fo 
ift die Langeweile ein Gefühl des Mangels, wir 
vermiffen Sntereffantes, und dies heißt eigentlich 
nur: wir bemerfen unfer eignes Nicht-Interefiirt 
fein. — Was heißt aber eigentlich Intereffirt fein 
und Sntereflelofigfeitt? Es ift durchaus kein Zufall, 
wenn wir durch die reflerive Form Sich interef- 
firen, daß einer fein Sntereffe findet, als feine 
Selbſtihätigkeit bezeichnen. Intereſſe iſt wirktich, 
was es urſprünglich auch heißt, dabei» oder dar—⸗ 
untersfein, unfer Sntereffe an einem Gegenftande 
befteht nämlich darin, daß wir uns ihm hingeben 
und von ihm ganz in demfelben Sinne fagen kön⸗ 
nen, „ich bin dabei”, wie wir e8 fagen wenn ung 
ein Borichlag gemacht wurde. So wenig Einer von 
feinen Freunden gezwungen werben kann, bei einer 
Iuftigen Partie „dabei zu fein — nähmen fie ihn 
mit Gewalt mit, ſo würden fie bald bemerken, daß 
er „abweſend“ it — eben fo wenig Tau 8 in 
Gegenftand erzwingen, daB mon ty Rüt \ya net 


— 416 — 


fire, dazu gehört der gute Wille deſſen, der 
Sener Thierfehädel im Walde, vor dem ein ı 
Naturforfcher in Intereffe verfunfen fteht, if 
ganz unintereffant und dem vorübergehenden 
oder Handwerks - Burfhen verübelt es I 
wenn er fagt: „da liegt der langweilige . 
noch immer’. Der Forſcher fpricht nicht fı 
die längft gehegte Ahndung eines allgemein 
turgefeßes wird ihm durch einen, fonft unfid 
Spalt an diefem Schädel beflätigt, er fieht 
der Schädelform Vernunft, und wie follte 
jest an dem woran der Handwerfsburfche 
oder einen bloßen Knochen findet, wie f 
nicht daran fein Intereſſe, d. h. fein eigenee 
und darinsfein finden, da er felbft ja Nic 
will als Bernunft, und Bernunft wirklich 

Schädel fihtbar ift, und aus demfelben he 
ihm redet? Man fagt von jenem Forfcher, 
den Schädel mit Geift betrachtet, weil es 
flimmung des Geiftes if, nirgends wie 
Fremde, überall heimifch d. h. dabei und zı 
zu fein, fih in Alles dv. h. in Allem fich, ol 
verwandtes Wefen, zu finden. Iſt aber 
dabei fein Intereſſe, fo ift Sntereffe-haben au 
zeigen, und begreifliher Weife nennt man bg 
Mann von Geift oder von Kopf, ber 6: 





— 1417 — 


im Selbfigefpräh oder im Geſpräche mit Andern. 
Allem SIntereffe abzugewinnen, umgefehrt aber nen- 
nen wir den beſchränkt, oder auch einen Spioten, 
der fo wenig im Stande iſt aus den Schranken 
des eignen Meinens herauszulommen, daß er unfähig 
iſt, „dabei“ zu fein, wenn ihm eine partie — nicht 
de plaisir fondern de raison — angeboten wird. — 
Fragen wir aber nun, indem wir zu unferm Gegen- 
ftande zurückkehren, zu welchen von jenen Beiden 
der zu ftellen ſei, der fih langweilt, fo bleibt ung 
feine Wahl: War es ein Berdienft Intereffe zu 
finden, weil man wirklich fich intereffirt, fo iſt auch 
die Langeweile nur eigne Schuld und nicht ohne 
Grund iſt ein s’interresser fo auch s’ennuyes ein 
verbe reflechi. Dan braudt darum nicht mit 
Kant zu behaupten, daß die Zeit nur in ung felbft 
if, und wird dennoch fagen können: wer die bloße 
Zeit wahrnimmt, bemerft nur feinen eignen Zuftand, 
einen Zuftand der mit Recht als innre Leere be> 
zeichnet; als innre weil er in ung liegt, als 
leere weil er Kopf» und Geiftes-Ieer if, fo daß 
wenn oben gefagt ward, dem Gelangmweilten gehe 
es fo, wie jenem armen Schullehrer, wir fett hin⸗ 
zufügen möflen: er ift auch nicht geiftreicher als 
iener. — Vie das Intereffe Grid dire 
rietb, fo die Langeweile Ten \vrrit 


— 18 — 


Kopf. Da .nun aber in allem Webrigen $ 
und Herz nicht zwei von einander getrennte Be 
thümer des Menfchen find, fondern vielmehr fo 
fammen gehören, wie die concane und convere € 
eines Kreisbogeng, fo fragt fihs, ob nicht auch 
Langeweile neben ihrer intellectuellen Seite « 
eine habe, welche die Gefinnung betrifft? Der gi 
zofe bejaht dies indem fein ennui aud einen f 
zenszuſtand bezeichnet. Indirect weift der deu: 
Sprachgebrauch eben dahin, indem das Gegeni 
der Langenweile, das Interreffirtfein, eben fo 

eine intellectuelle Anregung andentet, als auch 
beginnende Liebe. In diefer Zufammenftellung 
eriten Anfänge des Erfennene und ber Liebe 
der Sprachgebrauch nicht nur den tieffinnigen $ 
Iofophen auf feiner Seite, der das Erkennen einı 
tellectuelfe Liebe nannte, nicht nur die Erfahrung 
Forſchers, dernur den Gegenfland zu begreifen‘ 
mag, den er mit Licbe betrachtet, fondern dag 3 
niß Aller,. vie ed erfuhren, daß zwei Herzen ſich 
verſtehn, wo fie fib lieben. nur lieben wo fie 
verfiehn. Verhaͤlt fih aber Kopf und Herz 

Sntereffe finden und Sntereffe nehmen, fo hal 
Sntereflelofigteit oder Langeweile viel mehr mit 
Herzen zu thun, als Viele meinen. Wofür mag 
Derz dat, und dem man ſich liebend hingiebt, 





— 19 — 


langweilt nicht. Umgefehrt aber, je mehr Einer 
fein Herz verfchließt, und anftatt Tiebend Allem fich 
hinzugeben, fih auf fih befchränft, um fo mehr 
wird die Langeweile bervortreten. Daflelbe fih auf 
fih Beſchränken, welches den Idioten oder befchränf- 
ten Kopf machte, if, von feiner Gemüthsſeite an- 
geiehn das, was das Wefen des Egoiiten macht 
mit feinem engen Herzen, welches fo wenig faßt, 
daß es eben darum fich ſtets Teer und einſam fühlt. 
Dies quälende Gefühl des Alleinfeins, das die 
meiften Egoiften als von der Umgebung verfchuldet 
beirachten, Hinfichtlich deſſen Einige fih dazu er= 
hoben, daß fie es als Strafe ihres früheren Be 
tragens anfehn, ift — das aber ahndet Keiner — 
tft felbft ver Egoismus, darum fchwindet es in dem 
Augenblid wo der Menih mit Liebe auf die Welt 
blickt, weit fie fih dann, wie durch Zauber, mit 
Brüdern und Schweftern bevölkert. Der ideenlofe 
Kopf Hagt daß nichts ihn intereffire, und das Kalte 
liebiofe Herz accompagnirt dazu mit der Klage, es 
fei verlaflen und einfam. Denkt man fih Beides 
vereint, ftelit man fih einen Zufland vor, wo das 
erftarrte Herz Hagt: „auf dieſer weiten Erbe Nie⸗ 
mand, Riemand‘’, und das ausgebrannte Hirn ver- 
langend ruft: „ach nur eine Ider, We net N 
Gedanten”, fo kann uns ein Schauer Iurimien, 
bei der Borftellung vieles vdͤoex ENOULIU 2 


— 2 — 


feiner tödlichen und doch nicht tödtenden Langen⸗ 
weile. — Zeigt fih aber in ihr neben dem lee» 
ven Kopf auch das liebloſe Herz, fo if 
die gewöhnliche Art, in der Langenweile nur etwas 
Unangenehmes zu fehn, ein Seitenflüd zu der foge- 
nannten Humanität, die in dem Verbrecher nur 
einen armen Kranken fieht, und die faum anders 
unſchädlich zu machen ift, ald dadurch, daß man fi 
auf ihren Standpunkt flellt, und nun das Gefäng- 
niß Charite nennt, den Strafcodex als Pharmacopea 
den Richter als Arzt bezeichnet, und bie Hinrichtung 
nicht als Todesſtrafe, fondern als ein erprobteg 
specificum gegen die Mörberfranfpeit empfiehlt. Wie 
das Verbrechen noch etwas mehr ift als ein Fieber- 
delirium, fo ift es auch mit der Langenweile eine 
ernſtere Sache, als die Meiften im Sinne haben; 
wenn fie fagen es wäre beffer, man langweilte fich 
nie. Nicht nur befler wär’ es, fondern das allein 
Gute. Was vor geraumer Zeit in einem geiſt⸗ 
reichen Briefe mich frappirte, ohne daß ich fogleich 
Alles erkannte was in diefen Worten Tiegt, das 
was die Einen Satan und Teufel, Andere Ahriman, 
noch Andere Typhon nennen, daß biefes Alles nur 
Eines fei, nämlich die Langeweile, dies ift vollkom⸗ 
men richtig. Die Langeweile ift der wahre böf 
Dämon, benn wer fi langweitt Ik von dem D 
mon des Derfonalismus und Earamnd WERT 





— 21 — 


der ihn verhindert, Anderes intereffant zu finden 
und zu lieben als fih, von dem Dämon, der fein 
Hirn verbrannte, fo daß er nicht mehr in den Ge- 
genftänden fih, Bernunft, erkannt, der fein Herz 
erfältete, daß es nicht mehr vermag, in den Ange» 
legenheiten Andrer die eignen zu finden. In ber 
That, wenn man fieht wie diefer Dämon nicht nur 
die Kinder unartig und toll macht, fondern wie er 
eben fo den Erwachſenen ein Berlucher wird, ber 
zu den dbummften, ja zu den fchlechteften Streichen 
bringt, fo iſt gar nicht zu begreifen, warum nicht 
öfter gegen die Langeweile gepredigt wird. Das 
Thema verdiente es, ganz abgefehn von dem Vor⸗ 
theil den es darbietet, daB man den Zuhörern ing 
Gewiſſen ſchieben Könnte, fie dürften fich nicht lang⸗ 
weilen. 

Gewiß war es nicht die Furcht, Durch Predigten 
gegen die Langeweile alle Regeln traditioneller Ho— 
mifetif zu verleßen, welche diefes Thema von den 
Kanzeln verbannt hat, fondern die Anficht, daß der- 
gleichen Auseinanderfeßungen im Munde eines Geift- 
fihen unpaflend feien, oder auch die Furcht, daß 
fih Nußanwendungen ergeben möchten, die in kei⸗ 
nem Zufammenhang ſtünden mit den Angelegenheiten 
des Himmels. Beides ift vielleicht nicht richte. 
Das Erfte wohl gewiß nit, denn wire ÜÜÜRr AEIEN 


Leere bes Geiftes und Mongel an Uhr u Ol 





— 22 — 


gen, denen nicht ziemen, die von dem Geiſte ihren 
Namen führen, und mit Recht ſich rühmen die Lehre 
der Liebe zu verkündigen? Aber auch das Zweite 
möchte ich beſtreiten, daß dergleichen Betrachtungen 
profan ſeien, und ohne Beziehung auf die himm⸗ 
liſchen Angelegenheiten. War es einmal gewagt, 
die Langeweile als das wahre Inferno zu bezeich— 
nen, fo feheint ſchon die Conſequenz zu fordern, ihr 
Gegentheil in der Region zu fuchen, die Dante im 
dritten Theil feines Gedichtes ſchildert. Wer es 
thäte, müßte der Zufiimmung aller derer gewiß 
fein, die ung erzählen wie „hölliſch“ fie ſich gelang- 
weilt, wie „himmliſch“ unterhalten hätten, und Des 
nen es nie einfällt, diefe Ausprüde zu vertaufchen. 
Eine etwas zweideutige Autorität für Jeden, der e 
weiß, daß der Gebrauch von Kraftworten gewöb 
lich nicht mit der Stärde der Gedanfen par 
gebt; glücklicher Weife aber bedürfen wir ihre 
nit, da das bisher Gefundene hinreicht, 
wenig den Borhang zu lüften, der ung di 

liſche Welt verbirgt. Die innere Leerheit, \ 
wahrnehmen ließ als Zeit und Bergängli: 
verihwand in dem Maaße, als der Menf 

tereffirt, d.h. als er in das Wefen der € 

eindringt, und fie Tiebend umfaßt. 

man Beides in Gedanken bis zur Id⸗ 
beten Denfchen, des Seeligen over 


fuhe man noch höher fich zu erheben, und denke 
ein Wefen, deſſen Einfichi ein Alles durchſchauendes 
Verſtändniß if, bei dem die Stelle des Interefleg, 
ter anfangenden Liebe, die Fülle der Liebe vertritt, 
und man wird einfehn, man wird wenigſtens ahn- 
ven, was ed für eine Bewandiniß hat damit, daß 
e8 für Gott und daß es für die Seligen 
feine Zeit gebe. Wie oft hört man: bei diefen 
Worten denke fih Niemand Etwas. Das Wort 
Niemand (mit dem man überhaupt etwas fparfamer 
fein foüte) fagt hier zu viel. Denke man fi nur 
eine Mutter, welche den Erzählungen des eben hus 
der Fremde zurüdgefehrtien Sohnes Taufcht, die ſich 
nicht fatt hören Tann, daß er in Freuden und Leiden 
ftets ihrer gedacht hat, die ganz erflaunt fhon Mit- 
ternacht fehlagen hört, da ihr die Stunden wie 
Minuten verlaufen find, — denke man, diefe Mut- 
ter hörte in dieſem Augenblide das Wort: „bet 
Gott find Zaufend Jahre wie Ein Tag‘, — id 
glaube fie würde ſich bei diefem Worte fehr viel 
benfen, und in biefem Augenblide würde es ihr 
gar nicht unverfländlich fein. Und fo möchte vie 
Liebe, die Löferin fo vieler Näthfel, weil fie das 
Ur-NRäthiel offenbart, wie Zwei Eins fein können, 
fie möchte ſich auch als der Räthfel löſende Meta- 
phyſiker erweifen in den Fragen nach Zeit und 
Ewigleit! Ber es je erfupr, wie als er Uebie \ein 


m 


— 24 — 


Blick Alles verſchönte — der Sonne gleich 
wenn ihre Strahlen wirklich das wären, wien 
oft nennen: Blicke, nie einen dunklen Punkt erl 
fönnte, weil ihr Erbliden Erleuchten wäre - 
dies an feiner ſchwachen Liebe erfuhr, wie follte | 
abſolut unverſtändlich finden, daß es für di 
enbliche Liebe feinen Raum (d. h. feine Leere) 
weil, wo fie hinblict, fie Alles mit ihren Ki 
bevöffert, und keine Zeit und Bergänglichkeit, 
fie flets beichäftigt ift, und Alles befeftigt ‚‚mii 
gen Gedanken“. Und fo muß ih am Ende 
jenen Kraftausprüden, von denen ich vorhin ! 
willen wollte, zugeflehn, daß ihnen eine Ah 
des Wahren zu Grunde liegt: wie die Geifter 
Herzens⸗Leere Hölle, fo tft Liebesfülle him 
Seligfeit. Wer mir aber fagen wollte, 
frevelhafter Weife Gott vermenfchliche, or 
ich fei frivol, da ich Seligkeit und Amüſem 
wechſle, für den babe ich meine Antwo— 
Auf das Erfte erwidere ich, Daß das Entmr 
Gottes zuerft die Vorftellung eines unm 
Gottes hervor gebracht, dann die Menfchen ı 
macht hat, auf das Zweite aber, daß wenn 
fifcher roue in einem fittfichen deutfchen H 
fpräch über die Herrlichleit ver Liebe 
and nun fagt, es fei von amours ur 
Furz von frivolites die Rede gewe 


— 25 — 


ſolches Verſtändniſſes vielleicht nicht in denen liegt, 
die das Geſpräch führten. 

Nach einer fo ſtrengen, vielleicht ultra⸗rigoriſti⸗ 
fchen Beurtheilung der Langenweile, wird wohl Nichte 
weniger erwartet werden als eine Apologie berfel= 
ben. Und doch — troß dem, daß es mir fchwer 
wird, den Wink nicht felbft zu befolgen, den ich dem 
etwanigen Prediger über die Langeweile gab — 
doch wird mir eine folche advocatura Diaboli auf- 
gebrungen, nicht nur durch die Gerechtigfeit, die fo- 
gar diefem Angeklagten einen Defenfor bewilligt, 
fondern durch die Gewalt von Thatfachen, die Keiner 
feugnen fann, und welche zu beweifen fcheinen, daß 
es mit der Langenweile nicht nur eine furchtbare, 
fondern auch recht hübſche Sache ſei. Zunächſt 
frappirt das Fartum, daß die bloßen Naturwefen, 
die Thiere — ich fpreche nur von den wilden, da 
die Hausthiere halbe Kunſtproducte und mit vielem 
Menfchlichen inficirt find — alfo daß die Thiere die 
Langeweile nicht Fennen, fondern entweder befchäf- 
tigt find oder fchlafen, alfo im erflern Falle ſich noch 
nicht, im zweiten Falle nicht mehr langweilen. Das 
fcheint zu beweifen, daß zu den Unterfcheinungszeichen 
zwifchen Menſch und Thier, als welches die Einen 
die Bernunft, die Andern, denen dies zu geringfügia 
fhien, diefes anfehn, daS ver Marin toan isn, 
noch ein neues hinyaarkügt werden tan. IS ar 


— 26 — 


dh, fich zu langweilen. Sich lang- 
t menfhlidh. Damit allein wäre 
» lange nicht der infernale Character 
., denn es könnte dies nur ein Beweis 
daß der Menfch nur über oder unter dem 
en kann, nie auf einer Linie mit ihm, 
Hölle kennt, freilich auch Feinen Himmel. 
noch viel befferes Borurtpeil für die Lange» 
egt der Umfland, daß fie bei dem Men- 
unsollfommneren Zuftande nicht, im voll⸗ 
en wohl vortommt. Das neugeborne Kind 
2: wo es nicht arbeitet — feine einzige Ar⸗ 
Efien — da fihläft ed. Annäherungsweife 
8 findet Statt beim Menfchen der dem Na— 
ınde nahe. Auch vieler unterhält ſich, inden 
yeitet, freilich im Schmweiße feines Angefich’ 
r nicht mehr, wie das Kind, in dem %r 
rheißung Lebt, wo bie füße Nahrung ihr 
; bört die Unterhaltung der Arbeit aı 
er ein, und um zu fehn, daß dies da 
e tft, Hat man nicht nöthig, zu Hotte 
Iuftralnegern zu gehn; wer den Riem 
: Düna überfchreitet, wird fehn, wie ? 
nachdem die Werktage vorüber, dre’ 
onntags verfchläft, nicht weil er 
Relte englifhe Fabrikarbeiter, ff 
künſftliche Bewußtlofigteit \ 


— 17 — 


weil die Langeweile ein fo unnatürlicher Zuſtand ift, 
daß, wo fie fih bei dem Naturmenichen einftellt, 
fehr ſchnell der Punkt erreicht ift, wo der Strom 
die Dämme durchbricht und fich ſelbſt verfchlingt. 
Wenn alfo vorhin gefagt wurbe, daß bei dem voll- 
endeten Menfchen die Langeweile nicht mehr vor- 
fommen Tann, fo zeigen biefe Erfahrungen, daß fie 
bei dem anfangenden Menfchen gleichfalls fehlt, frei⸗ 
fih dort, weil der Menfch fich zu unterhalten weiß, 
hier, weil er unterhalten wird von feiner Arbeit 
oder von feinen Eltern, die den amüfiren der fich 
zu belufligen noch nicht vermag. Wie von jedem 
andern Wefen, fo fagen wir auch von dem Men⸗ 
fhen, wo er fi zwifchen dem Anfangs- und dem 
Bollendungspunfte befindet, er fet in feiner Bildung 
begriffen. Findet nun aber bloß in dieſer Zwi⸗ 
fihenperiode die Langeweile Terrain, fo werben mir 
nicht nur denen Recht geben, welche fagen, es ver⸗ 
rathe Bildung, wenn man fich mit guter Manier zu 
langweilen wiffe, fondern wir werben viel weiter 
sehn müſſen: Ob es mit guter oder fchlechter 
Manier geichieht, das macht hier feinen Unterfchiep, 
das ſich Langweilen überhaupt, die Langeweile an 
ſich ift Begleiterin der Bildung. Und zwar beglei« 
tet fle die Bildung nicht fo, wie das Negenwetter 
die Zahrmärkte begleiten (0, ren al, ER 
nicht wie der Schatten das Ai a du MÜÄ 


— 28 — 


verbundenes Gegentheil, ſondern fie verhalten ſich 
wie Licht und Glanz: ſich Langweilen iſt Bil— 
dung. Den Beweis für dieſen Satz liefert wieder 
der Ehrenmann, dem wir heute ſchon manche Be⸗ 
lehrung verdanken, der Schullehrer, der ſo Viele 
bemerkt die nicht da ſind. Welchen Eindruck mag 
dieſe Bemerkung wohl auf jenen kleinen Knaben 
machen der heute zum erſten Male in der Schule 
ſitzt, der fich gewundert hat über die neuen Umge⸗ 
bungen, und über die vielen fremden Geſichter, und 
welcher fieht, daß dem Lehrer alles das nicht impo⸗ 
nirt, ja daß er noch mehr Knabengeſichter erwartet 
hat? Gewiß wird ihm er ſelbſt als der Unerfah⸗ 
rene vorkommen, der Lehrer aber als Einer der an 
Erfahrung ihm weit überlegen iſt. Nun, in der 
Lage jenes Neulings in der Schule befindet fich 
Jeder, den die Gegenftände unterhalten weil fie ihr 
neu find, fo wie jener Lehrer aber ift der, welch 
alles diefes Tangweilt, weil es ihm längſt befaı 
weil Alles längſt dageweſen if. Je weniger 
Erfahrung hätte, je weniger er bekannt wäre 
den Gegenfländen, um fo mehr würden fie 
ihn, als neu, unterhalten, je unterrichteter 
befto weniger findet Senes flatt und deſto 
langweilen fie ihn. Wenn aber fo fein Lange 
Jaben das Maaß ift für fein Erfahren- und ! 
siöptetsfein, fo {ft es Taum ein Wunder, v 


— 19 — 


welcher fich langweilt bei dem mag Andere unter 
hätt, in feinen, ja ſelbſt in ipren Augen einen hö- 
dern Werth erhält. Weberall imponirt, der fih Tang« 
meilt, denen die es nicht thun. Bier figen einfache 
Bürgersfeute an einem öffentlichen Ort, Fannegie- 
gern und unterhalten ſich vortrefflich. Auf ein Mat 
wird es fill, Einer nach dem Andern fucht nach feis 
nem Hut. Alles um jenes Fremden willen, der 
zuerſt fie gar nicht flörte, der aber feßt deutlich zeigt, 
daß er fi langweilt, und ipnen dadurch ben Ge= 
danken aufbrängt, er verflehe das Alles befier, und 
es ſei eigentlich kindiſch, fih mit Etwas zu unter» 
halten worüber Jener Tängft hinaus iſt. Der Fremde 
dat ihnen das Spiel verborben, und dennoch Fün- 
nen fie fih einer gewiſſen Ehrfurcht nicht erwehren, 
und Mander wird feiner Grau erzählen, der Fremde 
fei ein vornehmer Herr geweſen. Woher weiß er 
das? Er fah ihn fih langweilen. — Aber ift es 
wohl in anderen Kreiien anders als dort, wo ber 
Keinbürger Tannegießert? In heiterer Geſellſchaft 
werden Anecboten erzäplt, Wie gemacht, Muſik ge= 
trieben und Alles geht vortrefflih. Warum fängt 
es an zu fioden, warum fieht man, ehe man über 
eine luſtige Gefchichte lacht, verlegen auf jenen Eis 
nen, warum verfagt dem Wißling feine Zunge, und 
der jungen Dame, die doch o un ia, u 
Stimme, wenn fe auf jenen Even ent IST 


— 30 — 


auf feinem gelangweilten Antlitz leſerlich geſchrieben 
ſteht: wie kann man fih damit amüſiren ? und weil 
unmilfüprlich jeht Jeder glaubt, diefe Geſchichten 
feien ihm alle befannt, und man müffe fih fhämen 
fie neu zu finden, weil der Witzbold zu fürchten an« 
fängt, der Gelangweilte habe befiere Wipe gehört 
ober gemacht, und dem jungen Mädchen bie furdt- 
bare Ahndung kommt, Jener habe alle ihre Fieber 
von der ſchwediſchen Nachtigall gehört. So beugt 
ſich Alles vor ihm, und doch iſt der einzige Rechte» 
titel unter dem er folhe Superiorität in Anſpruch 
nimmt, und der von Allen refpectirt wird, nur ber, 
daß er fih langweilt. Wir haben darum gar kei⸗ 
nen Grund darüber zu lachen, daß jener Bürger auf 
den vornehmen Stand jenes Fremden ſchloß, wie 
das fi Langweilen Prärogative des Menfhen war, 
wie es Bildung verrieth, fo hat es endlich wirt 
ld etwas Bornehmes. 

Unfere Anklage gegen und unfer Plaivoyer fi 
die Langeweile ergibt alfo das Refultat, daß d 
Uripeit über fie von dem Standpunkte des Beu 
theilenden abhängt. Was verdammlich erfchien, 
als die Verdammniß ſelbſt, wenn man es maß 
dem vollendeten Menfchen, erfreute fih einer ' 
humaneren Behandlung, wenn es verglichen | 
mit dem Anfangspunfte menfchlicher Entwidel 

Bir mußten es erklärlich finden, wenn Ea- 


— 141 — 


nebm fich brüftet, weil er fagen Ffann: „wie fann 
man fich dabei amüſiren,“ obgleich er die Ant- 
wort fchuldig bleiben möchte, wenn ein noch Vor⸗ 
nehmerer ihm fagte: „Wie fann ein Mann von 
Geift fih jemals nicht unterhalten ” Es ift mit 
ber Langenmweile wie mit dem, der auf einer mittleren 
Höhe ſteht: vom Golf von Neapel angefehn, er= 
fheint das Fort von St. Elmo hoch, ja unerfteiglich, 
aus dem Garten von Camaldoli fieft man es tief 
unter ſich und eg fcheint flach zu liegen. Freilich um 
in dad Camaldoli geiftiger Vollendung hineinzufom- 
men, dazu bebürfen Alle — im irdifchen Camaldoli 
befanntlih nur die Frauen — eines höhern Dispen⸗ 
ſes. — Hinfichtlich deffen, was von der Langenweile 
überhaupt gilt, kann es Feinen Unterfchied machen, 
ob fie als vorübergehende Stimmung, ob als ha- 
bitueller pas ganze Leben beberrfchender Zuftand er- 
fheint. Das Leßtere findet nur Statt bei denen, 
die man früher die Zerriffenen, heut zu Zage bie 
Blafirten nennt. Der blafirte Menſch, in dem der 
Spiritus verflog und nur das Phlegma blieb, der, 
weil der perlende Schaum des Lebens verſchwand, 
mit Recht Emousse genannt wird, den man fo oft 
mit dem ausgebrannten Bulcan verglichen hat, daß 
der Bergleich altmodiich geworben ift, der zerriffene 
oder blafirte Menih if der Viriuvd LU OT 
Sangenweile, und Ad inte 28 wall, SS 





George Sand, wenn fie ihren Jacques oder ihren 
Voyageur fprechen Täßt, ſiets von dein Ennui redet, 
von dem fie befeffen find. Wie fhon die vorüber- 
gehende Langeweile ein vornehmes Air gab, fo 
natürlich nod mehr das Blafirtfein. Wenn Alfred 
de Muffet feinen Sohn des neunzehnten Jahrhun— 
derts fo zerriffen darfiellt, daß ich für ihn kaum 
einen andern Beflimmungsort als die Papiermühle 
müßte, fo hat er das Gefühl eine vornehme Natur 
zu ſchildern, und der Blafirtefte unter den Poeten 
und Poetifchfte unter den Blaſirten ift „jeder Zoll 
ein Lord.” Mit ver vornehmen Stellung aber, die 
der Zerriffene in Anſpruch nimmt, und die ipm auch 
pflegt eingeräumt zu werben, fireitet nicht, daß ge⸗ 
funde Naturen ſich abgeftoßen fühlen, ja daß ofi 
beide Gefühle der Erfurt und des Entfeßens ge: 
rade fo in einem Herzen fih beifammen finden, wi 
bei dem Kinde, wenn es eine graufenhafte Geſchi⸗ 
anhört und nun angſtvoll bittet, man folle, und ı 
fole nicht weiter erzählen. Staunend und 
Ehrfurcht erfüllt werden vor einem folder 
Muſſetſchen Heros Naturen ſtehn wie eine 
ouvriere, bie flint mit der Nadel und flüı 

Zanz ein Leben führt, das nichts iſt als 
pagnerfepaum; angewidert werben durch ihn 

es wiſſen, daß der Menſch ſich interefficen fc 

er verpflichtet if, ertennend und Wehen 





33 — 


umfaffen; endlich angezogen und abgeftoßen zugleich 
die ahndungspollen Engel, welche beſchämt fühlen, 
daß ibr natürlicher Unſchuldszuſtand unreif ift, 
zugleich aber auch, daß in dem Zerriffenen fich vie 
Unnatur der Schuld firirt hat, und die fo die dop⸗ 
pelte Gewalt erfahren, die das Kainszeichen ber 
Bildung ausübt, welches der Blafirte im Antlitz 
trägt. Es ift ein Kaingzeichen, denn das Blafirt- 
fein ift infernal, e8 tft das Zeichen der Bildung 
denn das Zerriffenfein ift vornehm, wie die Lange= 
weile in ver es beſteht. — Daraus alfo, daß das 
Zerrain, auf dem der Gelangweilte und Blajirte 
fieht, eine Mittelregion bildet, ließ ſich erklären 
warum der Eine es hoch der Andere e8 tief flellte. 
Ebenfo aber läßt fih nun umgekehrt aus den ver- 
fhiedenen Urtheilen die über jene Erfiheinungen 
gefällt werden, auf den Standpunkt zurüdfchließen, 
auf welchen ber Urtheilende flieht, und dies kann 
ein praftifches Sntereffe für uns haben, indem nicht 
geleugnet werben fann, daß in unferer Zeit die Bla» 
firten im Courszetiel der Achtung anders notirt find 
als früher. Es gab eine Zeit, wo Naturen wie 
George Sand’s Jacques oder wie Waller in der 
Gräfin Dolores, wie Roquairol in Sean Pauls 
Titan überall Bewunderung erregten, und man 
braucht noch nicht ſehr alt zu Ken um 88 uU N 
haben, daß, wie heut zu Tage uf din mes 


— 34 — 


ſo damals auf Zerriſſenheit gereiſt wurde. Gaſtfrei 
öffneten die Männer ihm das Haus, denn die Stätte, 
die ein Zerriſſener betrat, ſie war geweiht; ſo die 
Männer und die Frauen blieben nicht zurück: manches 
unſchuldige Herz, dem der Zerriſſene den Abgrund 
des ſeinigen aufſchloß, ſchauderte vor der bodenloſen 
Tiefe, weinte über den Abbadonna, vielleicht mit 
der ſtillen Hoffnung, ſein rettender Engel zu werden. 
Die Zeiten haben fich geändert. Was die gaſtfreien 
Männer betrifft, fo möchte ich Sedem ber fremde 
Länder bereift, rathen, flatt der Zerriffenheit einen 
guten Crebitbrief mitzunehmen, und hinfichtlich der 
Frauen haben tiefer Eingeweihte als ich, mir gefagt, 
ihr Urtheil über Männer habe fich ziemlich ing 
Gleichgewicht geſetzt mit dem über Kleider, — nicht 
fo, als wenn fie immer neue wollten, fonbern ein 
ganzer Mann fol ihnen Lieber fein als ein Dußend 
zerriffener. Berbürgen Tann ich es nicht, aber ich 
bin fo berichtet. Diefe Veränderung nun, muß fie 
ung nicht mit Stolz erfüllen hinfichtfich unferer Zeit, 
benn baß die Blafirten uns nicht mehr fo impontren 
wie früher, fcheint doch Har zu beweifen, daß un« 
fere Zeit auf einem höhern Standpunft fleht als fie. 
Leider nicht ohne Weiteres. Gewiß hat, wer ben 
böhern Berg erftieg, nicht mehr nöthig hinaufzu⸗ 
bliden, wenn er ben gewahren will, der auf dem 
Bügel ſteht, aber auch ver dor 2% wiht met v?- 





— 35 — 


thig, der ſich zu ihm geſellt, und mit ihm auf einem 
Niveau ſteht, wenn darum unſerm Stolz, daß wir 
die Blafirten und Zerriſſenen nicht mehr ſo achten 
wie unſere Väter, der Skeptiker antworten wollte: 
das kommt daher, daß in eurer Väter Zeit, als die 
erſten Zerriſſenen auftraten, es der ganzen Männer 
viele gab, die Zerriſſenen alſo die Ausnahme bilde⸗ 
ten, während Ihr in ihnen nur Eures Gleichen, 
nichts Beſonderes, feht, — fo iſt die Möglichkeit, daß 
er Recht habe, nicht zu leugnen. Und wenn meiner 
freudigen Behauptung, beut zu Tage werde eine 
ausgebrannte Jacques» Natur bei unfern Frauen 
fein Glück machen, berielbe Steptifer bie entge= 
genftellen wollte, dies habe feinen Grund darin, 
daß in unferer Zeit die Neulingsherzen, wie Fer— 
nande felten, dagegen die Naturen wie Lelia, die 
wegen ihrer Gleichheit mit ihm einen Jacques nicht 
hätte lieben können, häufig geworben feien, — fo 
würde ich mich zwar empört von dem Berläumder 
abwenden, aber um ihn zu widerlegen, dazu würde 
die Empörung nicht ausreichen, dazu bedürfte es 
einer befondern Unterfuchung über den Punkt, auf 
welchem unfere Zeit flieht. Es ift gewiß, fie flaunt 
das Blafirtiein nicht mehr an, wie ein furchtfamer 
Bewohner des Flachlandes den, welcher den Aſchen⸗ 
fegel des Veſuv beftieg, es frank Ay, her wir 


fie bazu gelommen, den Reipett daner ya seiten! 


— 3 — 


daß fie auf den Veſuv der Blafirten 

„oder wie mancher bequeme Reifende 

tragen Tieß und nun mit ihnen diefel- 

en Schwefelvämpfe einatpmet? Oper 

als ein Fühner Bergfteiger, ven Monte 

fliegen, athmet fie hier reine Luft und 

nem Gefühle, das dem Namen ihres 

:8 entfpricht, den wüſten Krater ald un- 
Alchenhügel zu ihren Füßen liegen ? 

> hat ſelbſt die unverfängliche Frage, was 

e ift, und wie fie beurtheilt werden muß, 

‚merft zu der hinübergeführt, bei der heut 

die meiften Unterfuchungen anzulangen 

zu der Frage: was haben wir für eine 

Jiefe Frage aber werde ich ſchwerlich beant 

fönnen, da ich eben fehe, daß wir — ga 

haben. 


Drud yon 3. F. Starde in Berlin. 





A 
Ueber 


das Heidniſche im Chriſtenthum. 


Yorteag, 
gehalten in Halle am 30. Januat 1854. 
Bon 


Br. Erdmann, 
Brofeffor in Hale. 





Berlin 1854. 
Berlag von Wilhelm Herk. 
Bernie Ban) 





Hochgeehrtefte Verſammlung! 


In den legten Monaten ift in den Zeitungen, 
und zwar den aflerverfchiedenften, fo viel gegen Die 
Marmorgruppen auf der Berliner Schloßbrüde gefpros 
chen worden, daß fie es auf dem Gewifien haben, wenn 
es Manchem, der ald Fremder Berlin befuchte, gegans 
gen iſt, wie mir: mein erfter Gang galt jener Brüde. 
Zuerſt überrafchten mich, da ich doch gelefen hatte, ein 
fittfames Mädchen müffe, wenn es über die Brüde 
gehe, die Augen niederfchlagen, die zimmerhohen 
Sodel, auf welchen die anjtößigen Gegenftände ftehn, 
denn nur Goliaths Töchter oder Gargantua's Eus 
felinnen laufen jeßt Gefahr, wider Willen Etwas zu 
erblicden, was fie nicht fehen mögen. Bei dem ges 
wöhnlichen Wuchfe der Berliner Damen braudt eine 
itrenge Beftalin durchaus nicht herunter, fie braucht 
eben nur nicht hinauf zu blicken. ALS ich dann weiter, 
auf die Gefahr bin, mir den Naden zu verrenfen, 
die Gruppen genauer betrachtete und dabei mich auf 
das befann, was die Civis und Unus gro wnlia 
gegen das Radte geſagt hatten, Tamm wir et Su 

\r 


= 4 >= 


danke, Berlin fei zu der Prüderie amerifani 
Damen gelangt, die ihren lügelpianofortes I 
pressibles anthun follen, oder zu der Züchti 
jenes Papftes, der einer antiken weiblichen Si 
im Batican ein Hemde von Gips anziehn Tieß, 
ches fie noch jetzt trägt, da fein Nachfolger, obs 
ihn die Sache ärgern foll, nicht den Muth hat 
entgegengefegten Sinne der Schönen bei ihrer Toilet 
helfen. Indeß, diefe meine Furcht, Berlin ſei 
verfchämt geworden, verlor fih bald. Denn de 
noch an demfelben Abend fehen konnte, wie im? 
ter die Männer ihre Augen bewaffneten, damit i 
Nichts von Pepita's herrlihen Gliedern ent; 
und dabei hören, wie die Fraueu mit Entzüden 
Schönheit diefer Formen zergliederten, da fat 
ein, daß ich mich ganz unnütz geängftigt h 
Kurz, ich habe mich fehr bald überzeugt, daß 
die Reclamationen gegen die Gruppen, die im 
men der Züchtigkeit und Tugend aufgetreten, N 
waren ald Symptome der Luſt, Alles zu befrit 
die fogar da ſich regt, wo ein funftfinniger $ 
der eignen Stadt ein Gefchen? macht, um die 
jede andere Hauptſtadt beneiden fann. — Biel ı 
tiger ala diefe Stimmen, die übrigens fchon fe 
geworden find und bald verhallen werden, find 
welche von einer anderen Seite her fich erheben, 
nicht dies tadeln, dag nadte Geftalten, fondern 
mytbologifche Gegenftände dargeftellt wurden, 





<< 5 > 


deren Anfchanen der, ohnedies zu fehr berrfchende, 
heidnifche Sinn genährt und verbreitet werde, Ich 
nenne diefe Stimmen viel wichtiger, weil fie neue 
Symptome einer ſehr weit verbreiteten Anficht find, 
die immer mehr um fich greift, nach welcher alle 
Uebel unferer Zeit nur darin ihren Grund haben 
folen, dag unfere Denk: und Anfchauungsmeife fo 
viel Heidnifches enthalte. Als vor einiger Zeit ein 
bochgeftellter Geiftlicher in Frankreich den Borfchlag 
machte, man folle auf gelehrten Schulen nicht mehr 
die heidnifhen Schriftiteller leſen laſſen, z0g er 
eigentlih nur die praftiiche Folgerung aus dem, 
was in den verfchiedenften Formen, auch bei uns, 
fehr oft ausgefprochen worden iſt. Bald hat man 
uns erzählt, wir hätten deswegen feine Anhänglich 
feit für unfere Fürften, weil wir auf der Schule 
nur die Republik und die heidnifche Bürgertugend 
verehrten lernten, bald redet man und vor, daß nur 
deswegen Mancher dur die Naturwifienfhaft vom 
Glauben abgeführt werde, weil fie noch immer nad 
den Grundfäßen des Ariftoteled, dieſes Erzheiden, 
getrieben werde, bald endlich fol die Beichäftigung 
mit der reizendften aber eben darum gefährlichiten 
Form des Heidenthumsd, mit dem Griechenthum, zu 
einer Vergötterung der Schönheit führen, deren Cul⸗ 
tus immer mehr an die Stelle der Religion trete, 
Wenn fie dann Alle fih zu der einen Behauptung 
vereinigen: dem, leider verkallenten, Kiuitesiuume 


<< 6 > 


fei nur zu belfen durch Entfernung alles 
nifchen, was fih allmälig eingefchlichen I 
hört Muth dazu, einem folchen Uniſono 
nicht zu fchweigen. Ich will es denn 
nicht weil ich meiner Zunge die Kraft zul 
fo mächtigen Chor zu überjchreien, fond« 
weiß, dag aud ein fchwacher Ton unte 
feren vernehmlich wird, wenn er mit ihr 
Conſonanz ftebt. In der That möchte, n 
Frage aufwerfe, ob an jener eben erw 
hauptung Etwas dran it? die Antwort 
dender Difjonanz ftehn mit dem, was Sol 
ten, die gewohnt find, in Sachen des Ch 
und der Chrijtlichleit das große Wort 
Dies fchliegt aber nicht die Möglichkeit a: 
Antwort, zu der wir gelangen, richtig ifl 
fo alt, wie das Chriſtenthum ſelbſt. 
1. 


Das Ghriftenthbum. Obgleich diefei 
denen gehört, die, wie das Wort Freih 
gleichgültig lafjen, da auc des Gegnert 
wallt, wa es ausgejprochen wird, jo g: 
doch jeltfam. Gerade wie dad andere, 
eben zufammengejtellt wurde, wird es | 
gebraucht, wirft in dem Einen Begeiftern 
Andern Empörung, ohne daß fie doch v 
e8 eigentlich befugt. Wie Viele verftchen 
Freiheit nur das negative Nichtsgebunde 





fe auch, was fie aber nicht allein it? Gerade fo 
dient das Wort Ehriftenthum fehr Bielen nur dazu, 
einen Theil defjen zu bezeichnen, was darin befaßt 
it. Schon die Analogie mit gleichgebildeten Wor⸗ 
ten Sollte vor ſolcher Beſchränkung warnen. Würde 
man e3 nicht feltfam finden, wenn man unter Rit⸗ 
tertbum oder Römerthum nur einen Theil des rits 
terlihen oder römischen Weſens verjtünde, wenn 
man fagen wollte, Deutfchthum heißt deutfche Sprache, 
Griechenthum griehiihe Kunft, Alterthum bedeutet 
jo viel wie antife Erziehung? Und doc begeht man 
dieje jelbe Seltfamfeit, wenn man unter Chrijten- 
thum nur eine feiner Aeugerungen, die Religion 
nämlich, verfteht, die, fei fie auch immerhin die vors 
nehmſte unter den Erſcheinnngen des chriftlichen Lebens, 
doch nicht für fich allein den Namen in Anfpruch nehmen 
fann, der allen Grfheinungen des neuen Lebens, 
oder vielmehr dieſem neuen Leben felbit in feiner 
Ganzbeit und Fülle, zufommt. Diefes neue Leben 
ericheint zuerſt in feiner concentrirteiten Geftalt in 
dem Ginen, der eben deshalb nicht an diefem Leben 
nur Theil bat, fondern es felbit it und ſich mit 
Necht das Leben nennt. Es entwidelt fih und 
wäcit, indem es nicht mehr uur in Ihm allein 
egiftirt, fondern immer mehr Alle und Alles durch« 
dringt, bis endlich es, und eben darum Er, der Dies 
jes neue Leben ift, überall fichtbar fein wird, wie 
der Blig, der vom Aufgang HR mm NUN 


< 8 > 


em feinem vollen Sinne, als das 
‚ wie es in Allem fich zeigt, in der 
n der neugeftalteten Sitte, in drm 
:uleben, in der aus dem neuen 
Kunft und Wiffenfhaft, in den 
Geiſt verflärten Rechts und Staats⸗ 
ı diefem nehmen wir das Wort Ehri- 
ı wir und die Frage zu beantworten 
‚ fih zur heidniſchen Weltanfhauung 
ie fie zu ihm? 
uns fogleich einen bedeutfamen Wink 
MWeife, wie fih zu dem erften Erſchei⸗ 
en Lebens die Heidenwelt verhält. An 
‚on Bethlehem traten niht nur fromme 
en, denen die Voten ihres ftrengen unt 
tes anfündigten, daß die Zeit des Zucht 
:über, die des Friedens und der Freut 
ei, fondern zum demfelben Ziele werd: 
ben Magier von der Macht hingewiefr 
ald Gott gilt: das Geſetz der Geftt 
geboten, den König des neuen Pe’ 
In der That, wenn man flieht, vr 
| Schrift das, was die Heiden ti 
en, ganz eben fo als ein Wegweiſ 
in behandelt wird, wie der Eng 
iichen Hirten vernahmen, wenn r 
in einem der äfteften und fchön 
‚a8 ſich erhalten hat, neben de 


o 9 > 


mentlichen Sänger der Pfalmen die heidnifhe Sy— 
bylle als Prophetin von des Herren Tag gejtellt 
wird, wenn wir in den merkwürdigen Gedicht des 
theologifchften unter allen Dichtern die heidnifchen 
Weiſen ftets neben den Propheten des alten Bundes 
erwähnt finden, jo müſſen wir geitehn: als urfprüngs 
fi kann die Anficht nicht gelten, nach welcher das 
Heidenthbum nur von dem Chriſtenthum abzieht. 
Biele Sahrhunderte galten, und es gelten bei einem 
grogen Theil der Ehriftenheit noch heute Die Heidens 
könige als heilige Zeugen für's Chriftentbum und 
als Vorläufer defjelben, und fromme Künitler hiefs 
ten es nicht für einen Raub an der Göttlichfeit des 
heiligen Kindes, wenn fie es greifen ließen nach den 
DOpfergaben, die das Heidenthum zu feinen Füßen 
ausbreitete, nicht als eine Berfündigung an der Heis 
figteit der Jungfrau, wenn fie diefelbe darftellten 
mit den Perlen gefchmüdt, die eine Gabe der heid⸗ 
nischen Sterndenter waren. Es iſt erit die Neuzeit, 
die fo mißtranifch geworden tft gegen alle Gaben 
des Heidenthums, erft fie fürchtet Alles, was nicht 
feinen erften Urfprung innerhalb der hriftlichen Ans 
Sdayungen bat, exit ift fie fo puriftifch in ihrer 

„lichkeit, daß fie — den Berliner Glauben ges 
ährdet erachtet, wenn nicht auf jedem Granitklod 
der Schloßbrüde ein Crucifix fteht anftatt der Sies 
gesgöttin oder einer andern heidniſch erdachten 
Gruppe. 


< 10 >- 


Sollte aber nicht die Neuzeit hierin ganz Re 
haben? Recht gerade wegen des eben Ausgefpro 
nen, daß das Heidenthbum auf das Chriſtenthi 
hinweiſe als ſein Vorläufer? Darin liegt doc), d 
e8 eben nur vor der hriftlichen Zeit, nicht in i 
eine Berechtigung hat, ganz wie die heidnifd 
Profelyten des Thors vor dem Heiligthum, nicht 
ihm, ihren Platz hatten. Mit Recht, fo fcheint 
muß jede heidnifche Anfchanung innerhalb der dir 
fihen Welt als reactionär im fchlechteiten Sür 
des Wortes gelten, da fie ja zurüdbringe; dal 
zurüd, wo die Menfchheit noch von den Schran! 
des Irrthums wie eine Feitung von ihren Maue 
und Wällen umjchlofjen war, während ja der Fo 
fhritt, den die Menfchheit an der Hand des EI 
ſtenthums gemacht bat, darin beitehe, dap fie 
beengenden Mauern hinter fih lieg. — Würe ı 
fih die Menſchheit durch das Chriſtenthum dazı 
geleitet, fo möchte man verjucht werden, die‘ 
Berleitung zu nennen, denn es bfeibt ftet‘ 
bedenkliche Taktik, einen feiten Platz, anſte 
einzunehmen, binter jih zu laſſen. Das € 
thum verdient aber diefen Vorwurf nicht, 
hat e8 durch die Einnahme der feindlichen 9 
feine Eroberungen gefihert. Es bat fie ei 
wirklich in fi aufgenommen, fle bilden ! 
feiner feiten Punkte; zu einem andern 
Dad, dem Heidenthum diametral entg 


Sudenthum, weldes wir aber bier nur infoweit zu 
berüdjichtigen haben, ald dadurch unfer eigentlicher 
Gegenftand, das Verhältniß des Chriftenthums zum 
heidnifchen Wefen, klarer wird. Wir können diefes 
Berhältnig fo formuliren: das Chriftenthum fchließt 
das Heidnijche nicht aus, fondern ein, es findet fich 
wirffich in ihm nicht nur etwas, fondern viel Heid- 
nifches, es hat ſich dajielbe aber nicht, wie die hen» 
tige Heidenfurdt meint, in das Chriſtenthum ein- 
gejchlichen, fondern diefes hat ihm geflifjentlich Thor 
und Thür geöffnet, und ernährt und erhält zu fei- 
nem eignen Frommen die heidnifchen Glemente; fie 
find der Knecht des Haufes, oder befier der Tempels 
diener, den ed in feinen Dienft und feine Pflicht 
genommen. Obgleich diefe Säge eigentlich von Kei- 
nem beftritten werden fünnen, welcher behauntet, 
dap das Chriſtenthum des Heidenthums Herr ge⸗ 
worden fei und immer mehr werden folle, worin 
doch gewiß liegt, daß das leptere zu feinem Diener 
beitimmt ift, fo wird man doch mit ihnen nidht fo 
leichten Kaufes durchkommen. Ihre völlige Rechts 
fertigung aber finden fie in dem Nachweile, daß das 
ChHriftentbum zwar nicht aus dem Heidenthume al- 
lein, aber doch auch aus ihm, vermittelit feiner 
Durhdringung mit dem Judenthum, entiteht und 
fih entwidelt, und daß fortwährend an diefe Durch— 
dringung das Sein und der Beſtand des Ehriitens 
thums gebunden ift. 


<< 12 >= 


Die Entftehung des Chriſtenthums ift dur 
das Heidenthum und feine Vereinigung mit dem I 
denthbum bedingt. Wo beide ihre fpröde Stellu 
gegen einander aufgeben, wo griechiſche Weltwei 
ihre vornehme Verachtung der Wunder und Weiff 
gungen vergefien, wo römifche Hauptleute in d 
heiligen Schriften der verachteten Juden Belehrui 
juchen und wo wieder fromme Juden nach den N 
turgefegen zu forfchen, fich zu Aerzten auszubild 
anfangen, wo ein Mann priefterlihen Standes, uı 
fo fromm wie der Jude Philo, zu griehifchen Pt 
tofophen in die Schule geht, exit da ift jene E 
füllung der Zeit eingetreten, vor welcher das Chi 
ftenthum nicht fommen fonnte. Ind weiter, als 
nun gefommen ift, als in dem Stifter deijelb: 
ber Zunfe hervorgefprungen ift, der die ganze We 
entzünden follte, da ift bei feinem Anfachen 3: 
Flamme nicht nur dad Judenthum, nein! eben fo fe 
der heidnifche Geijt thätig gewefen. Selbit wenn w 
nur die religiöfen und Tirchlichen Erfcheinungen 6 
traten, müſſen wir das ſchon zugeftehen. Verſte 
man nämlich unter Kirche eine refigiöfe Gemeinfcha! 
die einen beftimmten, rechtlich anerfannten Lehrbegri 
ein Bekenntniß oder fog. Symbol hat, fo muß mı 
einräumen: da aus der im Neuen Teftamente nied 
gelegten, ohne die Führungen des jüdifhen 9 
kes unverftändlichen, ja unmöglichen DOffenba: 
mit Hülfe griehifcher Wifjenfhaft der Lehri 





< 13 > 


oder das, was außerdem dag es Gefchichte, auch 
ewige Wahrheit tft, herausgezogen wird, diefe Lehre 
aber vermittelft römischer Rechts- und Staats-Ein- 
rihtungen bindende Kraft, fo wie die fi zu ihnen 
befennende Gemeinfchaft rechtliche Normen erhält, — 
fo haben im Verein mit dem Judenthum beide For: 
men des Heidenthbums dazu beigetragen, daß die Ge- 
meinde fi zur Kirche entwicle. Gehn wir aber nun 
gar über den Kreis des Religiöſen und Kirchlichen 
hinaus, und denken an das Chriſtenthum ald Gan- 
zes, d. h. an alle Erfcheinungen des chriftlichen We 
ſens, bedenken wir, wie fich alle unfere Ideen vom 
Recht an die der Römer, von Kunft und von Schön 
heit überhaupt an die der Griechen anlehnen, fo 
werden wir in dem Chriftusfinde, wie e8 die Anbe— 
tung der jüdifchen Hirten und der heidnifchen Könige 
empfängt, eine Weijjagung darauf hin anerkennen 
müſſen, wie fih das Reich diefes Priedensfürften zu 
den beiden andern einmal verhalten wird: wie fein 
Stifter, fo hat auch das Chriftenthum fich angeeig- 
net, was Judenthum und Heidenthbum im Verein zu 
gewähren vermögen. Dies heißt nun aber nicht, der 
chriſtliche Geift und die chriftliche Anfchauungsweife 
fei nur ein Gemifh von jüdifchen und heidnifchen 
Ideen. Ich habe geflifjentlich die Vereinigung bei- 
der Durchdringung genannt und nicht Gemifh, um 
nicht zweierlei zu confundiren,, deſſen Verfchiedenheit 
und ſchon Borgänge der Aigharen Ant INN 


<< 14 > 


Zwei klare, fi entgegenfeßte Subftangen werden zu⸗ 
jammengegofjien. So lange die Fleiniten Theilchen 
jeder derjelben die der andern nur fuchen, höchſtens 
berühren, fo lange haben wir ein bloßes Gemiſch 
oder Gemenge. Es iſt trübe und in einer der Gäh- 
rung ähnlichen Unruhe. Endlich wird Alles ruhig 
und am Boden finden wir, abermals durdfichtig 
aber feit und in fchöner regelmäßiger Form, das 
Salz, in weldem die Atome jener beiden nicht mehr 
neben einander liegen, fondern fich ganz durchdrin— 
gen, fo daß nirgends nur eine jener Subftanzen, 
überall beide vder — wie man eben fo gut fagen 
kann — feine von beiden ſich findet. Gerade fo 
gebt der Entftehung des Chriftentbums jenes Ge— 
menge heidnifcher und jüdifcher Fdeen voraus, von 
welchem ich vorhin gefprodhen habe, und gerade wie 
bei der Salzbildung nur ein Beiner Theil der zus 
ſammengebrachten Flüfjigkeiten dazu verwandt wird, 
das Uebrige aber ein fades Phlegma bleibt, das, 
wenn es nicht rechtzeitig weggegofjen oder abgedampft 
wird, die fehon gebildeten Salzkryſtalle fährden kann, 
gerade fo geht nur ein Theil der heidnifch gebildeten 
Juden und vom AJudenthum ergriffenen Heiden zum 
Ehriſtenthum über, die Uebrigen hat die Gemeinde 
mit Recht als nicht ihr angehörig angejehn, oder gar 
als ihre Feinde zu fürchten gehabt. Daß aber aud 
nur jenem kleinen Theil die VBermifchung beidnifcher 
Ideen mit jüdijhen zur Brüde werden konnte, über 





<< 15 >= 


die fie zu den Anſchauungen des chriftlichen Geiftes 
gelangten, tit ein Bijtorifcher Beweis, daß fih das 
Chriſtenthum zu jenen Ideen fo verhält, wie das 
Salz zu den Subftanzen, die in ihm gebunden find. 

Wirklich ein Beweis? Kann wirklich, wenn mit 
und aus dem Zufammentreffen des Zudenthums und 
Heidenthums der chriftliche Geiſt hervorgeht, daraus 
ohne Weiteres gefolgert werden, daß an ihre Eriftenz 
das Sein des Chriſtenthums gebunden, daß fie in⸗ 
tegrirende Beftandtheile deilelben find? Stahl 
und Stein treffen auch zuſammen und der Funke, der 
daraus hervorgeht, wird, wenn er zündet, zur Flamme, 
in der Doch weder vom Stein noch vom Stahl Etwas 
zu entdeden iſt. Bielleicht verhält ſichs jo auch mit 
dem Chriſtenthum, und wir hätten bejjer gethan, bei 
dem zuerft gebrauchten Bergleih mit dem Funken 
und der Flamme, die durch das Heidenthum ange- 
facht wurde, fteben zu bleiben, ald zu dem mit dem 
Salze überzugehn? Wir müſſen, ich geftche es zu, 
um die Behauptung zu begründen, daß nicht nur 
das Entftehen, ſondern auch Sein und Beltand des 
Chriſtenthums an jene Durhdringung gebunden ift, 
und nad einem Beweiſe umfehn. Bielleicht verhilft 
uns dazu unfer, eben getadeltes Gleichniß: Wie der 
Chemiker, wenn er und beweifen will, daß das Salz feine 
einfache Subftanz iſt, e8 uns in dem Momente der Zers 
fegung vorführt, wo ſich die Beitandtheile trennen 
und das Gebundene frei, DoR% wiüher Annie Ks 


<< 16 > 


bar wird, fo haben wir das Chriftenthum dort zu 
betrachten, wo ed in einen Zerfeßungs- und Ber: 
weſungsproceß hineintritt, um die Elemente wahr: 
zunehmen, die ed im gefunden Zuftande in feinem 
Schooße birgt, die aber, wo die Zerfegung beginnt, 
frei ang Licht treten. Das Jahrhundert, welches der 
Reformation voraudgeht, zeigt einen folchen Zer- 
jeßungsproceß in der chriftlichen Welt. Die audge- 
bildete Priefterherrfchaft, die Werfheiligkeit, der ges 
feplich geregelte Geremonialdienft, alles diefes zeigt 
ein rein jüdifches Wefen. Und zugleich ift in ihren 
weltlichen Zendenzen und in ihrem götzendieneriſchen 
Bilderdienft die katholiſche Kirche zum Heidenthum 
herabgefunfen. Diefem, frei und offenbar werdenden, 
heidnifchen und jüdifchen Sinne treten die Reforma- 
toren entgegen. Mit Recht ijt bemerkt worden, daß 
Luther und die fih ihm anfchließenden deutfchen 
Theologen befonders das jüdifche Wefen, die exelufive 
Heiligkeit des Priefteritandes, die Werfgerechtigkeit 
u. f. w. befämpften, während Calvin und die fich 
ihm anfchließende franzöfifhe und fchottifche Kirche 
vorzüglich das heidnifche Element, den Bilderdienft, 
die finnliche Exiftenz des Heiligften als ein fichtbares 
Ding u. f. w. angriffen. Ignoriren wir bier diefen 
Gegenfag unter den Refornatoren, der es erklärlich 
macht, warum den Anhängern des Genfer Bekennt⸗ 
nifjes unfer Zuther, wie er im Kreiſe der Seinigen 
beim Zautenfpiel Wein, Weib und Gefang preift, zu 





o< 17 > 


weltlich, zu beidnifchsleichtfertig für einen Reformator 
erjcheint, während der, feine Stadt fireng regierende 
Galvin oder der flarre Schotte Knox mit feiner Vor⸗ 
liebe für das alte Teſtament und feinem Rigorismus 
gegen jedes Bild in der Kirche, für uns leicht etwas 
Zudaifirendes hat, — ignoriren wir, fage ich, dieſen 
Gegenfaß, jo beweiit doch, wenn in dem Verweſungs⸗ 
und Zerfegungsproceh des Chriſtenthums die beiden 
Elemente fi) geltend machen, die Luther und Calvin 
befimpfen, dies ganz Mar, dag auch in dem gefuns 
den Zuſtande des Chriſtenthums fie in ibm enthalten 
waren. Zwar fo nicht, wie in dem Momente der 
Zerfeßung, fondern fo wie die zerfrejlende Säure 
und das äßende Alkali im Salze find, das weder 
ätzt noch zerfrigt, weil fie beide fich gegenfeitig bin- 
den und von einander gebunden werden. Seltfam ! 
Hier, bei dem Salze, findet man ed ganz in der 
Drdnung, daß das Aetzende und Zerfrejjende ſich 
gegenfeitig calmiren, und wenn Einer, damit das 
Salz weniger fcharf fei, den Verfuch machen wollte, 
ihm alles Aebende zu entziehn, fo würde man es 
natürlich finden, wenn die fcharfe Säure, die dann 
allein übrig bliebe, dem Thoren Kleider und Hände 
zerfräße, bei dem Ehriftenthum aber räth man folche 
Thorheit an und nennt fie Weisheit, ald wenn nit, 
was man dort beim Salz fieht, natürlich, d. h. ein 
allgemeines Weltgefeß wäre, und als wenn nit 
das Chriftenthum auch Salz wäre, Su iu Str 
R 


= 18 > 


nämlich, wie es (wahrſcheinlich doch nicht ohne 
ten Grund) genannt wurde! Gelänge es wir 
was Viele heut zn Tage für nothwendig erklä 
allen Paganismus zu vernichten, den das Chriftent 
in fi gefogen bat, fo bfiebe nichts übrig ala 
kanſtiſche Judaismus. (Natürlih hat wieder 
Krieg gegen Alles, was man jüdijche Boriteflun 
im Chriſtenthum genannt bat, zu einer Avotheofe 
zerfrefienden puren Heidenthums geführt.) Man bet 
darum die Folgen, ebe man Stimme und Hand erl 
um Mapregeln zu unterftügen, welche gerade 
Chriſtenthum zerftören müßten, da fie folde Mi 
frei machten, die das Chrijtenthum nur fo I 
nicht zu fürchten Hat, als es fie bindet und 
bändigt. 
2. 

Es wäre nicht unmöglich, daß diefe unfere 
nung denen, welchen fie gilt, fo erſchiene w 
mächtigen Streiche, welche der edle Ritter v 
traurigen Geftalt gegen die Windmühlen 
als das nicht treffend, dem fie gilt. All 
nämlih, was bisher gefagt wurde, können 
geben, können gleih uns zugeftehn, daß 
flige GSeftaltung der Welt, die wir Chri— 
nennen, alle früheren, darım aud das Hei 
fo in ſich birgt und bindet, wie der Tebendi 
fhenleib Phosphor und andere ihm ſchädli 
ſtanzen, und können dennoch ihren Kreng 





< 19 > 


den Paganismus, gegen die Wiederbelebung der heid- 
nifhen Anfchauungsweife, fortfeßen. Bei diefem ihrem 
Kriege nämlich Handle ſichs gar nicht um das Hei⸗ 
denthum, welces ein Beitandtheil fei im Chriiten- 
thum ald Ganzen, wie e8 eine gefchichtliche Macht, 
wie e8 die geiltige Befchaffenheit der ganzen Menfch- 
heit bezeichnet, fondern um die Chriftlichkeit des 
einzelnen Menfchen, um fein Chriſtenthum, und 
darum , daß er nicht zum Heiden gemacht werde. 
Sei es immerhin wahr, daß das Chriſtenthum fich 
durh Aufnahme und Verarbeitung auch beidnijcher 
Ideen gebildet habe, und daß alfo die Entziehung 
alles Heidnifchen ihm gefährlich wäre, wie den leben⸗ 
digen Leibe die Entziehung alles Phosphors; fo viel 
aber des Heidnifchen und fo verarbeitet, wie e3 dem 
Chriftenthun nothwendig, nehme der Einzelne ja in 
fih auf, indem er chriftlich erzogen wird, und nur 
hrijtliche Eindrüde empfängt. Dagegen, feinem Geifte 
noch außerdem rein heidnifche Koft bieten, wäre ja, 
ala wollte man dem Leibe, weil er doh auch aus 
Phosphor gebildet ift, nun noch Phosphor ala Nah⸗ 
tung reihen. — Ich fünnte darauf erwidern, daß 
dies auch wirklich gefchehen muß, und daß er phos⸗ 
phorhaltiger Nahrung bedarf, indeß eine Argunenta- 
tion durch ein Bild, welches noch dazu ich felbit 
dem Gegner in den Mund legte, würde fchwerlid 
überzeugen. Statt defjen werde darauf aufmerkfam 
gemacht, daß der Einzelne (einrt KKäteuiuumd 

R 


wit dodurch chellhoĩ 
in Ihm yon Nevem aniteh ‚ 
eil. shrlit ent © Kalt gewinve 
Art wird» yo do eben dedwegen [ein Cytiſtlhw 
q otle e Etodien d aufen wu welche 
Ehriſtlͤch erden de it yurstiel- Wer da 
queiielt oder wer © wyſtiſch nennt vede 
pop © ans en ſo it on ger jede! guntie 
teil. ie gut Clovie xlelb 3 
nr daß er vor wundert Johre 
Birtw war⸗ pen zu ad yon man S 
gerreotten \ w doch wir 
der K ertigteit eine 
wuh DEN G 








<< 21 >= 


fen erzogen wurden, einmal anfingen anftatt zu 
preiien Daß, auch einmal zu lernen wie damals 
die Kinder in den chriftlichen Ideenkreis eingeführt 
wurden? Das Mittel, welches, fo lange es Kinder 
gibt, das einzige it, fie zu Ideen zu bringen, daß 
man ihnen mündlicd oder nach einem Buche Solches 
erzählt, worin fie durch eigued Nachdenken die Idee, 
d. h. den Wahrheitsgehalt auffinden, zuerit ahn⸗ 
den, daun erkennen follen, war auch das Haupts 
bildungsmittel für Kinder in der „guten alten 
Zeit”. Wenn wir dann aber weiter zufehn, was 
den Kindern erzählt, was vor ihnen und fpäter 
von ihnen felbit gelefen ward, fo finden wir, daß 
damals die ſog. Kindergefchichten, d. b. die expreß 
für Kinder ausgefonnenen Gefchichten, nicht egiftirten, 
Diefe unfelige Erfindung der Neuzeit, die „Erzäbs 
lungen für Kinder“, welche für Kinder die fchlechte- 
ften Graählungen find, war der guten alten Zeit 
fremd ; viel mehr anerfennend, daß das Kind auferzos 
gen, d. 5. heraufgezogen, nicht aber die Eltern oder 
ionftigen Erzähler heruntergezogen werden follten, 
erzählte und las fie, zum größern Nußen und grö⸗ 
Beren Genufje der Kinder, ihnen nur Solche, was 
urfprünglich nicht für Kinder gefchrieben war. Ind 
diefes war? Erſtlich die biblifchen, namentlich Die 
Altteftamentlichen Gefchichten, durch welche das Kind, 
gleich einem Kinde Israels, einheimifch wurde in 
den Vorftellungen des alten Bunde, Sin 


o 22 > 


aber ward zweitens das Kind eingeführt in die m 
alterliche Welt der Mährchen und in die fabelh 
Sagen des Alterthums, die beide nicht zur Kur 
erfonnene PBhantafiefpiele, gefchweige denn für K 
erdacht, find, fondern in denen das Haffifche und 
mauiſche Heidenthum durch feine tieflinnigften Mä: 
feine religiöfen und fonftigen Weltanſchauungen ni 
gelegt hat. Welch eine Gährung mußte nic 
dem Kopfe eines Kindes in der guten alten 
entitehn, wenn es von der Mutter in eine 
eingeführt, welche urfprünglich die war, wo. 
herrſcht und Balder ftirbt, vom Bater wieder, 
dem Homer Nacherzählte®, zur Bewunderung 
des Peleus und der Theti8 Sohn angeleitet, 
Bater und Mutter dazu geführt ward, Abrabr 
verehren und, troß feiner Schwächen, David : 
ben? Ja wohl, eine Gährung, aber die gr 
Zeit wußte, was ihre heutigen Lobredner ve 
dag nur aus kräftiger Gährung ein Flarer 
Trübung ausgefeßter, Tranf hervorgeht, und 
in ihrer Erziehungsmethode die Autorität ei 
Bern als alle Peftalozzi für fih, Deſſen, 
die Gährung heidnifchsjüdifcher Ideen di 
beit in den chriftlichen Ideenkreis hineingef 

Wir billigen die Art, wie die alte 
ihre Kinder zum Chriſtenthum anleitete, 
wie in der Menfchheit, fo auch in Dr 
Menfhen das Ehriitenthum aus dem | 





<< 23 > 


Heidnifchen und Jüdiſchen hervorgeht. Wir fügen 
aber noch Hinzu, daß auch darin im Ginzelnen das 
Ganze ſich abfviegelt, daß fein Chriftenthum nur 
durh Die Durhdringung beider Elemente ſich erneut 
und erhält. Nur an einem, aber dem vornehmften, 
Förderungs- und Grneuerungsmittel des chriftlichen 
Geiftes werde Died nachgewiefen, an dem Cultus, 
der Erhebnug durch gottesdienftliche Feier. Das 
Heidenthum ift zu feinem Gulminationspunft in den 
Griehen gelangt. Da ihre Religion eigentlich As 
betung der Schönheit ift, fo iſts natürlich, daß ihre 
religiöfe Erhebung zufammenfällt mit dem gefteigers 
ten Genuß des Schönen. Daher der heitere Charats 
ter ihres Cultus, in welchen (ähnlich war es 
im germanifchen Heidenthum) das fröhliche Mahl, 
das Wettfpiel, in dem die Kraft und Schönheit der 
Kämpfer die Zufchauer entzüdt, der Tanz und die 
ih daran anfchliegende dramatiiche Aufführung, faft 
den ganzen Tag der feitlihen Feier ausfüllen. Ganz 
anders verhält fich& bei dem Juden. An die Stelle 
der Schönheit trat bei ihm das ftrenge Geſetz in 
feiner erhabenen Majeftät; fein Cultus ift darum 
nicht Das heitere Spiel, fondern die erufte Eutfagung; 
nicht mit Duftenden Salben ſchmückt er ſich zur fröhs 
lihen eier fondern Sad und Aſche deuten die in: 
nere Zerknirſchung an; man fiebt ihn nicht auf ofs 
fenem Markte fchmaufen und jubeln, weil es Felttag, 
fondern ihn mahnt der Sabbath, fid, in fein Haus 


<< 24 > 


and in fich felber zurüdzuziehen. Alle äußer 
feit ift unterfagt : das fromme Bolf hat Einen g 
weil er Holz las am Sabbath und Hat f 
vertheidigt gegen den die Stadt erobernde 
denn es war Sabbath. Ganz der Stellung 
hend, die wir dem Chriftenthum anwiefen, 
in der chriftlichen Kirche fehr früh die Sad 
ftaltet, wie wir fie in katholiſchen Ländı 
bente finden: Ein Theil des Feiertages ijt t 
lihen Handlungen gewidmet, an welchen 
nehmen gefegliche Vorſchrift ift, der übrige T« 
dem Genufje des Schönen überhaupt, vor 2 
fhönen Gefelligfeit und den Genüflen, w 
Kunft darbietet. Als nun in der Reform 
firenge Scheidung zwifchen Geiftlichem un’ 
chem, wie fie in dem Gegenfaß der Pr’ 
Laien firirt war, vernichtet ward, da war 
lich, daß auch die firenge Sonderung des 
mel geweihten VBor= und des der Erde aı 
Nachmittags aufhören mußte. Auch hier 
fi} der ſchon früher angedentete Unterfd 
der Genfer und der deutfchen Kirche, 

fhied das, dem Heidenthum verwandt! 
firenge aus der Feier des ganzen Ta 
man es charakteriftifch finden muß, w 
Altteftamentlichen Ausdrüde Sabbath, 

fih einbürgerten, ganz als Klinge ı 
wenn der Tag nah der Sonne gew 





2353 > 


finnigsbeiter wenn er als ein fonniger Tag gedacht 
wird. Anders geftaltete ſichs und mußte ſichs ges 
falten bei Zuther und denen, die fih zu ihm gefells 
ten: Seine ganze Eigenthümlichleit, befonders aber 
daß er einen ganz anderen Punkt an der fatholifchen 
Kirche angriff, mußte ihn dahin bringen, dem Schös 
nen feine göttliche Abftammung, der Kunft ihr töch- 
terliches Verhältniß zur Religion nicht abzuftreiten; 
eine Kirche weiter, welche befonders den Ton legte auf 
die frohe Botfchaft, die uns verfündigt worden, mußte 
binfichtlich des beiteren, man kann fagen heidnifchen, 
Glementes in der Sonntagöfeier der Fatholifchen 
Kirche ähnlicher bleiben. Dabei aber mußte in einer 
Kirche, die jedem Thun nur in fofern einen Werth 
beilegt, als es Bethätigung einer Gefinnung ift, und 
allem Gotteödienft nur in fofern, ald er und der 
Gnade theilhaft macht, die geſetzliche Verpflichtung 
zum fonntäglihen Kirchenbefuch um fo mehr aufhö⸗ 
ren, als allmälig in dem Gottesdienite die Predigt, 
wenn auch nicht zum einzigen, fo doch zum haupt 
fächlichften Erbauungsmittel wurde, und es doc) ver- 
nünftiger Weile Keinem zugemuthet werden kann, er 
folle unter jeder Bedingung in die Predigt gehn, 
alfo auch dort, wo er gewiß weiß, fie wird fchlecht 
fein und ihn mehr ärgern als erbauen. 

Freilich hat es jebt, gerade in Iutherifchen Län⸗ 
dern fo weit fommen fünnen, wie e8 gekommen ift: 
daß die Sonntagsfeier in einer continue Su 


o< 236 > 


tagsentweihung beſteht, indem entweder das yrı 
faifhe Werktagsleben oder ein unfittlihes Todſchle 
gen der Zeit an die Stelle des Gottesdienſtes getr 
ten ift. Wollte man dies ein heidnifches Weſen neı 
nen, fo thäte man den Heiden Unrecht, denn jo hab« 
fie e8 nicht gemacht. Ihre heitern Spiele warı 
wirklich eine Erhebung über das Niveau des gewöhr 
lichen Lebens und dürfen darum nicht mit dem 3: 
harren auf diefem Niveau, gefchweige denn mit dei 
Herabfinfen unter daſſelbe, verglichen werden. Ebe 
deswegen wäre es auch ein falfches Heilmittel fi 
unfer krankes Sonntagsleben, wenn man anftatt d« 
fündigen Wefend, welches der Krankheitsgrund iſ 
und eben fowol jüdijche als heidnifche Form anne’ 
men fann, das heidnifche Element in ihm, die äftk 
tifche Luft, die Freude am Schönen, unterdrüäd 
wollte, wie 3. 3. Diejenigen möchten, welche, 
gleid, fie den Befuch von Gefellfchaften, Gemälde 
ferien, Goncerten und Theatern für fein In 
halten, doch alles dieſes am Sonntag u 
fagt wünfchen. Ein folches Verfahren würde 
Sonntagsleben nicht gejund, fondern nur jüdije 
hen, wie ich es denn ganz in der Ordnung 
dag mit den Angriffen gegen alle äfthetifchen @ 

am Sonntage auch unter uns fich die Vorli 

das Wort Sabbath anftatt Sonntag eingefte 

und nicht leugnen will, daß, als in Berathuny 

die Sonntagsfeier auch die Frage ventilirl 


< 27 = 


ob es dem Chriſten erlaubt fei, fih am Sonntage 
zu raſiren? Dies mich ſehr an das erinnert bat, was 
ih als Knabe in einer Kleinen Judenſtadt gejehn 
babe, und was und in der h. Schrift von dem Müdens 
jeihen der Phariſäer gelagt wird, die dabei Kameele 
verfchluden. Es iſt nun wahr, das man nuus ftets 
daranf verweiit, jenfeits des Canals fei es Doch ges 
lungen, das heidnijche Klement aus dem Sonntags⸗ 
leben jo auszumerzen, daß am Sonntage feine Tafte 
auf dem Elavier angeichlagen, fein Spaziergang zum 
Anfchauen der ſchönen Natur gemacht, Fein durch Ges 
felligfeit gewürztes Mahl eingenommen wird. Dabei 
werden Dann immer Londons und Gdinburgs am 
Sonntag nad der Kirchenzeit verödete Straßen voll 
Bewunderung den Maffen entgegengeftellt, die in Paris 
und Wien fih Vormittags in die Mefje, Nachmittags 
in die Vergnügungslokale drängen. Bielleicht aber 
tbäten diefe Anglomanen und Scotomanen gut, nicht 
nur auf die Straßen, fondern auch in das Innere 
der Häufer zu bliden. Sie könnten da bei den höhes 
ren Ständen faft auf die Anficht fonımen, daß das 
Gähnen zu den frommen Gebehrden gehöre, fo häus 
fig fommt es dort am Sonutage vor, was aber die 
niedere Volksklaſſe betrifft, fo würden fie wohl ers 
ſchrecken, wenn fie auf Auftalten träfen, wo für einen 
beitimmten Preid der Arbeiter am Sonnabend fi 
fo beraufchen kann, daß er den größten Theil des 
Sonntags, an dem doc „Nichts au machen N. 8. 


Tl ut 


oo 28 > 


fein Bergnügen zu haben iſt, im foporöfen 3 
verſchläft. Diefe raffinirte Beftialität wi 
fchwerlih mehr gefallen als die, freilich mi 
idealen, Luftbarleiten unferer Arbeiter. H 
einem nur an Gewinn denkenden Fabrikbefige: 
es fcheinen, als fei jene Einrichtung in Englı 
nicht fo übel, denn der Kapenjammer des wi 
chen Raufches, ohne den jene Klafie einmal nic 
auskommen zu können, verderbe dort nicht de 
tag Vormittag, fondern nur den Sonnta 
an dem fei ja „nichts zu machen,“ was hier 
heißt als: kein Geld. Ich denke — freilid 
ih Reine Fabrik — es wird am beiten fei 
fuchen das Heilmittel für das franfe Somntr 
nicht bei den, überhaupt etwas judaifivendei 
ländern, fondern fuhen uns zurecht zu fü 
der Beitimmung des Chriſtenthums. Diefer 
wünfchen wir, daß jedem Verſuch, den Son: 
den Werktagen herabzuziehn, wenn die € 


ſchwach ift, das Gefeß entgegentrete mit dem‘ 


mentlichen Worte: Sechs Tage follft du < 
aber der fiebente ift Ruhetag. Wo aber m 
verbieten will, am Sonntage und alles Sch 
freuen, dem Genufje eines Kunſtwerks o 
fchönen Gefelligfeit und hinzugeben, wozu wi 
Woche nicht Zeit hatten, da wollen wir es und r 
ben lafjen, daß der Sonntag ein Feſt⸗d. h. 

dentag iſt. Er fei Beides; nicht in fatholf 


< 29 > 


nacheinander jüdifchem Ceremonialdienſt und heidni- 
fhem Weltfinne gewidmet, fondern Beides durchdringe 
fih fo, daß in dem erniten feierlichen Gottesdienſte 
der Schönheitsfinn ſtets feine Befriedigung finde, 
daß fein disharmonifcher Gefang das Ohr zerreiße, 
fein unfchöner Anblick das Auge verleke, daß die 
Predigt ein vollendetes, bis ind Ginzelne durchdachtes 
und abgerundetes Kunftwerk fei, in dem Nichts den 
Geſchmack beleidigt, zu welchem Affen freilich Vieles 
anders werden muß, als es ift. Eben fo aber erhalte 
auf der andern Seite die gefellige Xuft eine höhere 
geiftige Weihe, fo daß wir mitten in der Freude 
und dem Jubel des Sonntags und gehobner fühlen 
als fonft, und — um noch einmal auf die alte gute 
Zeit zurüdzutommen — der Ausdrud, den man da⸗ 
mals oft hörte, wenn von einer Luftbarkeit die Rede 
war: „wir waren fröhlich in dem Herrn“, uns nicht 
nur wie eine alte Redeweife erfcheine, fondern auch 
als eine gute, d. h. der Sache entfprechende. 


Ih bin weit abgefommen von dem, womit id) 
begann. Ich fehre zurück. Bor den Marmorgruppen auf 
der Schloßbrüde warnte man uns, wir follten ja nicht 
das Gift der äjthetiichen, helleniſchen Anfchauungs- 
weife in und faugen. Andere mögen wohl diefen 
Warnungsruf auch vernommen haben, denn wir fehen 


<< 30 > 


Biele, ohne einen Blick hinaufzuwerfen, über die Brüde 
rennen und dann quer über den Zuftgarten. Wir folgen 
ihnen und erreichen bald mit ihnen einen Bau, der, 
wie er fchon von Außen durchaus nicht an den heid- 
nifchen Cultus der Schönheit erinnert, fo inwendig 
nur die gefchäftige Wirkſamkeit des Geiftes zeigt, den 
wir (wie der Apoftel Paulus) dem heflenifchen diametral 
entgegenfegten. Ich brauche wohlnicht zu bemerken, daß 
ich nicht auf den Dom ftichle, fondern von den Haufe 
fpreche, welches vom Dom durch das campo sanio 
getrennt iſt. Angewidert von dieſem Geiſte fehnen 
wir und bald nach feinem Gegenfaß, nach Hellas, 
Um diefe Sehufucht zu flillen brauchen wir nicht zur 
Nike zurüdzugehen; hinter der griechifchen Säulen: 
reihe die hier neben uns fteht, finden wir, fchöner 
als auf der Schloßbrüde, was wir ſuchen. Wir 
treten hinein in die unteren Räume des Mufeumsg, 
fuchen uns unfere alten Lieblinge wieder auf, jteigen 
auf der ſchönen Treppe, die jetzt der Adorant ſchmückt, 
ins höhere Stodwerf hinauf, und um den Gindrud 
nicht zu verlieren, den die alten Sculpturen auf ung 
machten, wollen wir ohne ein Gemälde anzufehen 
fogleih die Haupttreppe herabfteigen. Da feflelt ung 
in der Rotonde unter den, nach Raphael Cartons 
gewebten Tapeten die eine; nicht nur, weil fie uns 
plöglich nad Hamptoncourt verfeßt vor den ſchöu—⸗ 
fen unter jenen Cartons, fondern, weil hier Raphaels 
FPinfel volbracht bat, was feit «ner Stumte Fine 





< 31 > 


trockne Deduction zu leiften verfuchte. Die Gruppe 
nämlich mit dem Opferthier, vor dem Apoftel Baulus, 
ift nicht von Raphael eigner Compoſition, fondern 
er bat fie einem alten griechifchen Meifter entlehnt 
und feinem Gemälde einverleibt. Wirklich einverleibt, 
denn Keiner wird in ihr eine fremde Zuthat fehn, 
fo fchliegt fie fih, als ein zum Ganzen gehöriges 
Glied, an das Uebrige. So wie diefed Raphaelifche 
Bild, das nicht verunftaltet fondern gehoben wird da⸗ 
durch, daß es ein Erzeugniß heidnifcher Phantafie in fich 
aufnahm, fo ift, behaupten wir, da 8 Chriſtenthum und 
fo, wünfchen wir, fei auch unferes! Diefen Wunſch 
nehmen wir auch nicht zurüd, wenn wir fagen hören: 
dag Raphael fo eine heidnifche Compofition in fein 
Gemälde aufnehmen konnte, fei ein neuer Beweis da⸗ 
für, daß er feine Werke nicht in dem chriftlich from- 
men Geifte concipirte, wie die älteren Meifter ihre 
firhlicy typifchen Figuren, daß er fhon dem Pagas 
nismnd in der Kunft Eingang gewährte, die daun 
nach ihm immer mehr yaganifirt fei. Dies fchredt uns 
nicht. Wir können die Meinung nicht aufgeben, daß, 
wer nicht nach Theorien, fondern nach feinem äfthetifchen 
Gewijien urtheilt, von dem Anblid der Madonna di 
Fuligno, oder wenn er ſich durchbliden läßt von den 
Augen des Kindes, die Raphael in der Madonna della 
Sedia oder der Sixtina auf die Leinwand hauchte, fich 
mehr erhoben fühlen wird als durch den fchönften 
Cimabue. Dies ift Meinung, Met sur AR TR, 


oe 32 >- 


wahr und gewiß ift, daß eine Weltanfhauung, di 
das fich einverleibte, was das Heidenthum Herrliche: 
(und eben darum des Herrn Würdiges) bervorbrachte 
großartiger ‚uud weitherziger iſt als die, welche ei 
ausfchließt. Und zugleich auch des Namens eine 
hriitlichen würdiger, denn für die Anwartfchaft au 
diefen Namen tft und das entfcheidend, daß erft danı 
und erft dort, wo Heiden in die Gemeinde der Gläu 
bigen aufgenonmen werden, der Name, den die An 
hänger des Herrn bi8 dahin geführt hatten, der Nam: 
der Nazaräer, verfchwindet und den Plap macht, der 
wir heute noc, führen, dem Namen Ehriften. — 


Drud von Gebrüder Ka in Deffan. 








Ernſte Spiele. 


Vorträge, 


tbeils nen theils längſt vergeffen, 


Dr. Erdmann, 
Sröfehor in Halle. 


ee 


Berlin. 
Derlag von Wilhelm Herp. 
Geherfäe Bnthanblung.) 
1855. 


Ei; 








& 
I ——nger 


Borwort. 


Daß ich, was ernſtes Nachdenken mich finden ließ, 
in leicht ſcheinenden Spiel!) der Welt zu offenbaren 
verfucht habe, tft vielleicht Manchem mit der Stel: 
fung deutſcher Philofophen?) unvereinbar, als 
eine Profanation des Heiligthums der Wiffenfchaft 
erfchienen. War aber nicht der Kathedermann, da 
er ſich einmal verpflichtet hatte, zu einem anderen 
als feinem gewohnten Publitum zu fprechen, Damit 
in eine Gollifton der Pflichten?) gerathen, in 
der ihm kaum etwas Anderes übrig blieb als Lachen 
und Weinen*) ihre Rollen vertaufchen zu laſſen? 
Wer gegen den Irrthum mit Erfolg kämpfen will, 
bedarf vor Allem der Aufmerkſamkeit, und diefe pflegt 
den Thränen erpreffenden Strafpredigten weniger 
ficher zu ſeyn, als dem, der die Satyrınadfe vornimmt. 
Daß Manche glauben würden, mir ſey Das Lachen 
nicht Mittel fondern Zwed, war freilich zu fürchten. 
Allein, mag das inmmerhin boshaft jeyn, der Reiz 
des Aberglaubens?) ift für mich unwiderſtehlich, 
und fo befaftigt mich auch Diefer, den jene juperflugen 
Ernſthaften verrathen. Sa, felbft wo dad Mihver- 


1) Seite 1-34. 2) ©. 35-72. 3) 6. 73—106. 4) ©. 107—142. 
5) S. 143—170. 


ftändniß fo coloffal auftrat, daß gerade in Dem.Bor: 
trag, welcher die bitterjten Wahrheiten enthält, man 
nur die Capriolen eines Poffenreißerd ſah, Hat es 
mid) ergötzt: Wenn jede Regel der beftätigenden Er: 
ceptionen bedarf, fo natürlich auch Die von mir auf: 
geftellte: Wir leben nicht auf der Erdet), und 
ed gab wirklich Feine palpablere Ausnahme, ald das 
Factum, daß Reptilien eriftiren, die völlig an bie 
Erde gebunden find. Mißverftändniffe über die In: 
tention mußten Vorwürfe über die Ausführung zur 
Folge haben. Ihre Wirfung auf nich war eine ver: 
ſchiedene. Der, dab in allen diefen Borträgen fich 
pure Sophiftif?) offenbare, Fann, da fie fich vor: 
gejeßt hatten, auf dem Wege des Räfonnements auf: 
zuklären, faft ald Lob gelten. Unerwartet, Das ge: 
ftehe ich, kam mir, wo ich die Geiffel des Spottes über 
bie ſchwang, die feine unbekleideten Marmorftatuen 
anjehn, aber wieder im Ballet nicht Gläfer haben 
koͤnnen, Die ſcharf genug find, daß man diefen Krieg 
gegen die Zrivolität frivol nannte. Dagegen fand 
ih es volllommen in der Ordnung, wenn die Be: 
hauptung, dad Heidnifche im ChHriftenthum?) 
zeige daſſelbe als mehr denn als weiter ausgebildetes 
Judenthum, zeige ed ald Ziel und Vollendung alles 
Deffen, was je Großes und Herrliches geleiftet fey, 
1) ©. 171-208. 2) &. 05-232. 3) &. am. 





— v — 


wenn dieſe Manchen als Verſündigung gegen Chriſtum 
und ſein Werk erſchien. Wußte ich es doch längſt, 
daß Viele chriſtliche Demuth zu üben meinen, wenn 
ſie klein vom Chriſtenthum denken. Deſto größer von 
ſich, indem ſie zum Maaßſtab der Chriſtlichkeit machen, 
ob Etwas in ihren engen Geſichtskreis paßt. Der 
Chriſtus, der gleich dem Blitze „vom Aufgang bis 
zum Niedergange“ Alles durchleuchtet, ift ihnen zu 
groß, fie verlangen uach einem, der nirgends ijt ale 
„in der Kammer“ ihres Eleinen Herzend, eben darum 
nennen fie es eine Berunftaltung des Chriftenthumg, 
wenn behauptet wird, es habe alles Große und Schöne 
in fich aufgenommen und weite das Herz aud. Die 
Herrlichkeit des Chriftenthumsd mit glänzenden Farben 
malen, vielleicht gar ein Intereſſe daran erregen, 
beißt ihnen: ihm eine faliche Schminke geben, denn 
chriftliche Färbung fehen fie nur da, wo Engherzig: 
keit, d. 5. Langeweile!) ihr Grau in Grau malt. 

Das Vorſtehende wurde gefchrieben, um den Bor: 
trägen voraudgefchidt zu werden, die im Laufe von 
fieben Fahren bei verjchiedenen Gelegenheiten ge: 
halten worden find, und mit dem ihren Abjchluß er: 
halten haben, welcher diefe Sammlung eröffnet. Als 
ich aber das Niedergefchriebene überlas, bemerkte ich, 
daß ich eigentlich zu Solchen gefprochen hatte, Die 

1) 6. 267-302. - 


meine Vorträge bereit3 Fennen und darum merken witr: 
den, warum an der bejtimmten Stelle gerade das be: 
ftinunte Wort gebraucht ward. Dann aber war auch 
eigentlich nunis daß, und war unpaffend, was id) ge: 
ſchrieben hatte, denn bekanntlich ift es mit Dem Lefen des 
Buchs nnd der Borrede wie mit Tag und Nacht: wer 
jenes kennt, pflegt fich um dDiefe wenig zu kümmern, 
dagegen ift fie dad Wichtigste von Allem für Die, welche 
ohne das Buch zu leſen ein Urtheil darüber fällen 
wollen. Sch war wirklich im Begriff, dad Nieder: 
gejchriebene zu caffiren, da fiel mir ein Auskunfts⸗ 
mittel ein. Durch Unterftreichen einzelner Worte (es 
find die Durch den Drud ausgezeichneten) und indem 
ich die Seitenzahlen binzufügte, ward aus der Erpec- 
toration Etwas, wogegen Nichts eingewandt werden 
kann, eine bloße Inhaltsanzeige. So möge fie denn 
ſtehen bleiben. 

Nun aber muß ich freilich von Neuem an ein 
Vorwort denfen. Für die nämlich), welche es leſen, 
um Darand zu ſehn ob fie Recht haben, wenn fie 
die nachfolgenden Blätter ungelefen aus der Hand 
legen. Sie find ganz im Recht! Das Büchelchen ent- 
hält, wie der Titel fagt, Spiele, und er lügt nicht, e 
find Spiele, nichts als Spiele. Wem daher das Leben 
überhaupt, wen insbefondere unfere Zeit einen Ernf 
zu fordern ſcheint, der alled Spielen verbietet, weſſe 





Denken nicht Zeit bat, fich mit Anderem zu beichär: 
tigen, als was alle die Beglückungsvereine betrifft, 
Deren Mitglied er ijt, oder wen Die ängitliche Sorge 
um die europäische Civilifation nicht Ichlafen, Die um 
die Sntegrität der Türkei nicht ruhen läßt, oder 
wieder, wer es wicht begreift, daß ein Menſch etwas 
Anderes für feine Miffion anſehn kann, als für die 
innere zu jorgen, — der lefe dieſes Büchelchen nicht, 
es enthält von allem dem Nichts; es will jpielen und 
jtellt dem Leſer frei, mitzufpielen. 

Sollte nun Jemand, der zuerft nicht daran dachte, 
den Einfall haben, dieſem Borjchlage Folge zu leiſten, 
dann möge dad zweite Wort, dad auf dem Titel 
ftebt, ihn daran erinnern, daß fo lange man mit: 
jpielt, man ed ernſt damit nehmen muß, damit man 
nicht denen, in deren Spiel man eintrat, das ihre 
verderbe. Da kaum irgend ein Spiel fo leicht ift, Daß 
man auf den eriten Bid ganz ohne weitere Aufinerf- 
ſamkeit weg hat worauf ed ankommt, fo wollen auch) 
dieſe meine Spiele, wie fie ed ankündigen, mit einigem 
Ernite gelefen feyn. Sollte es zu viel feyn, wenn 
fie wenigitens fo viel ernite Aufmerkfamfeit erwarten, 
als nöthig ift, um ihren Wortfinn zu faffen, um nicht 
das Gegentheil von dem was fie fagen heraus: und 
nicht in fie Hinein zu leſen, was man, Gott weik 
woher geholt Hat? Ich dente Ver Wine Axt TÜR 


— VI — 


diefe Forderung nicht unbillig finden, anders freilich 
die Beurtheiler. Unter Diefen wird Manchen die ge: 
forderte Dofis viel zu ftark erjcheinen, und da ed mir 
nicht einfällt einen Hahnemannianer zu Rademacher 
zu befehren, jo mögen diefe ed forttreiben, wie fie 
ed gewohnt find zu treiben. Arch mit manchen Diefer 
Vorträge ſchon getrieben haben. Über einen Derfelben 
las ich in einer viel gelefenen Zeitjchrift, Der Recen- 
jent fey Wort für Wort mit ihm einverftanden, und 
dennoch Habe er auf ihn einen gemifchten Eindruck 
gemacht, deun der Beurtheiler babe immer dazu denken 
müffen: wie wohl ein Vorfechter der frommen Partei 
fo fprechen könne? Sreilich, wenn man etwas Dazu 
denkt, kann fein Eindrud rein bleiben; das reinfte 
Gelb wird eine Miichfarbe, wenn ein Pinfel es um: 
rührt, der, mit Blau getränft, dieſes dazu bringt. 
Ein andres, noch mehr gelefenes Blatt, läßt durd 
den Minnd einer „einfachen Chriftenfeele, die freilit 
nicht im Stande fey, meinen Diftincttonen zu folgen 
ald die Summe des felben Vortrags der Welt « 
öffnen, er heiße Den Sonntag fo feiern, wie in d 
Bortrage mit audbrüdlichen Worten gefagt wird, 
folle nicht gefeiert werden. Weder auf blaufärbe 
Pinfel, noch auf Seelen die fo einf — (beinabe h 

sch mich verjchrieben) — einfach find, daß ihr Dif 


Honövermögen ſich nicht einmal bis auf Sa und ' 





erſtreckt, war jener Vortrag berechnet; an fie ift auch 
keiner der vorliegenden gerichtet. 

Und an wen denn? An Soldye die, wenn fie eine 
Stunde dem Anhören oder Leſen eines Vortrages 
ſchenken, wicht verlangen, nur zu hören, was fie felbft 
ſchon hundert Mal gedacht oder taufend Mal gehört 
baben, die wenn das was fie hören ald parador fie 
dahin bringt, während der Zeit und nachher ihren 
Kopf zu jchütteln, diefe Bewegung fir ihm zuträg- 
licher halten, ald wenn er die ganze Zeit über — ges 
nidt hätte. An Sole ferner, die eine Ahndung 
davon haben, daß eine heitere Wendung noch etwad 
Anderes jeyn Tann, als eine Provocation zum Lachen: 
eine Äußerung nämlich der Luft, ja des Jubels, 
darüber dab man das Wahre gefunden. Als man 
Joſeph Haydn den Vorwurf machte, feine Meffen 
feyen heiter, ja luſtig, da hat er erwidert: „Das ift 
fchon wahr! Über wenn ich an meinen lieben Gott 
denke, da werd’ ich halt fo luſtig, daß ich mich ninımer 
zu Iafien weiß.” Wem, ald er died Gefchichtchen 
zum eriten Male hörte, ein ſüßer Schauer über den 
Leib lief, den winfche ich mir zum Genoſſen bei 
meinen Spielen. Wer aber daraus nur entnahm, daß 
Haydn ein frivoler Mann war und feine Mufit ohne 
Weihe, den bitte ich, auf fie nicht zu achten und fich 
ein Ärgernig zu erfparen. Ex int wet üirfer, um 


— X — 


fih den Genuß zu verfchaffen, der „reine“ Her; 
erhebt, Romane zu lefen, Die — ed gibt ja deren 
fo tief und gründlich im Schmuße der Sünde heru 
wühlen, baß ihnen endlich bei dem Audmalen t 
Unflath8 nur übrig bleibt, anzugeben: wo man na 
ſchlagen folle, um dad Wort zu finden das ber Au 
(alfo doch!) nicht wagte niederzufchreiben. 

Wenn ich mir Die Herzendluft wieder vergegi 
wärtige, mit ber diefe Vorträge gearbeitet und ı 
halten wurden, wenn ich mir zurüdrufe, daß fie n 
manchen freundlichen Blid und Händedrud eines 2 
hörers verjchafft haben, daß die Herausgabe der | 
reits gedrudten ein freundliche Band zwifchen u 
und manchem Lefer gefnüpft bat, fo wird man 
begreiflich finden, daß ich dieſe Sprößlinge meir 
Geiſtes bei ihrer, theild neuen theild eriten, Ausflu 
in die Welt mit den zärtlichiten Wünſchen beglei 
Den freundlichen Leſern der früheren mögen die n 
binzugelommenen mit meinem Xebewohl meinen Do 
bringen. Denen aber, die mid) noch nicht kenn 
feyen fie alle empfohlen als jchwache, vom Ba 
vielleicht verhätichelte, Kinder, die auch in der Frem 
fo behandelt feyn möchten, wie daheim: con amo 


Dr. Erdmann, 





A — dern — 


Das Spiel, 


1855. 


Garm- 


> 





Die Erſcheinung, daß jede Sprache gewiſſe Lieb: 
lingswörter hat, die in allen möglichen Bedentungen 
und Wendungen wiederfehren, it interefjant genug, 
nur hat man fie überjchäßt, wenn man daraus fo: 
gleich Schküffe auf die Nationalcharactere zog. Wenn 
3.8. die Sranzofen den Umſtand, daß im Deutichen 
das Wort „Schlagen“ eine fehr wichtige Rolle Spielt, 
indem wir auch die Uhr die bei ihnen „tönt“, ja die 
Nachtigall die bei ihnen „ſingt“ Tchlagen laſſen, mit 
einer gewiſſen Schadenfreude hervorheben, als wenn 
dies auf eine etwas robnfte Denf- und Lebensweiſe 
hindente, jo ijt Dies mindeſtens unvorſichtig. Denn 
wir könnten Dagegen bemerfen, day in ihrem dietion- 
naire fein Artifel jo ausgedehnt tft, wie „prendre“, 
nody einmal fo lang als „rendre*, während es im 
dentichen Wörterbuch fich mit „Nehmen“ und „Geben“ 
ganz umgekehrt verhält. Dergleichen Bemerkungen 
bleiben füglich der freundichaftliihen Ntederei unter 
Individuen verfchiedner Nationalität überlaffen. Da— 
gegen hat es ein großes, namentlich piychologifches, 
Intereſſe, wenn in allen Spracden ein und Ar 
Wort viel gebraucht wird, denn Tr henett, II 
V 


— 4 — 


alle ſprechenden (d. h. denkenden) Weſen auf den dur: 
mit bezeichneten Begriff großes Gewicht legen. Dop—⸗ 
pelt interejjant wird es, wenn man fich gewöhnt bat, 
gerade Diefen Begriff als von wenig oder gar feinem 
Belange anzuſehn. Dies ijt nun der Fall hinfichtlicy 
deſſen, was man im Dentichen „Spiel“ und „Spielen“ 
nennt. Schon dieſer Umſtand allein fünnte zu einer 
Betrachtung darüber ermuthigen, wie viel mehr aber, 
wenn wir den unfterblichen Dichter nicht nur jagen 
hören, daß oft ein hoher Sinn im Find’schen Spiel 
liege, fondern ganz allgemein behaupten: Daß Der 
Menſch nur Dann ganz Menſch ift, wenn er fpielt. 
Freilich wird Died felbe Wort auch zur Entjchuldi- 
gung dienen, wenn nicht alle Seiten des Spieles 
zur Eprache kommen: Wer wollte unternehmen, in 
den Raum der und zugemejjenen Minuten zuſammen 
zu drängen, was, wenn Schiller Recht bat, Dem 
König der Erde feine Würde und Majeſtät gibt? 


1. 


Um die Kern- und Urgeſtalt des Spiels zu erken⸗ 
nen, begeben wir und dahin, wo der Menſch ſelbſt 
ung (wenigſtens jegt) in feiner primitiven Geſtalt ent- 
gegentritt, in Die Kinderjtube. Gleich am Cingange 
begegnet und der Knabe, der auf feines Vaters Stod 
Holz einherreitet, und im Sintergrunde fehen wi 





das Eleine Mädchen, wie es im Gefühle mütterlicher 
Würde ein Weſen hätfchelt, in dem ein profanes 
Auge nur einen Plumpfad fieht oder höchſtens einen 
mit Kleie gefüllten Balg. Oder aber, wir fehen Die 
ganze kleine Samilte um Den Nelteiten, Der and Kar: 
ten ein ftattlihede Hans baut oder auch, indem er 
die Blätter bog, eine ganze Schladhterdnung auf: 
ftellte, Die, Sobald er den Singer bewegt, niederge: 
fhmettert das Schlachtfeld bedeckt. Oder endlich, 
wir ftellen ung zu der Heinen Schaar, Die ans Ceifen- 
ſchaum Weltfugeln Schafft, gegen deren Sarbenpracht 
unfere fchöne bunte Erde ein abgeblaßter Diond tft. — 
„Alles das, Eleine und umwichtige Dinge!” So meint 
man, und Doch nennt nicht nur der gemüthliche Deutjche 
fondern auch Der geiitreiche Franzoſe was und dag 
Liebſte iſt, unſere „Puppe“, und zu beiden gejellt 
fich der praftifch berechnende Sohn Albions wenn fie 
es ihr „Stedenpferd“” nennen; und Doch fagen wir, 
wenn wir ung aus unferer Welt alles Schlechte weg: 
träumen, und unfer Leben mit paradiefifcher Schön: 
beit ausichmüdten, wir hätten und ergößt an „Karten: 
häuſern“ und „Seifenblafen.“ Hat das Kind, und 
haben wir Unrecht, wenn anf jened erjte Zubehör 
der Kinderftube, und auf den Genuß den ed gewährt, 
fo großes Gewicht gelegt wird? Gewiß niht. So 
lange nämlich das Kind in dem Stot wur art, 


— 6 — 


in dem Plumpſack nur ein zufammengedrehtes Tud 
fieht, jo lange richtet es ſich in feinen Gedanke 
nad) der Natur des Gegenjtandes, iſt alſo durch 
dieje beſchränkt. Mit dem Augenblide aber, wo e 
decretirt: „Stod und Plumpſack Toll nicht mehr feyı 
was es ift“, wird es unabhängig von der Natır 
der Oegenftände. Weiter, fo lange ihm die Ding 
galten als das was fie find, verhielt es jich empfan 
gend, pafjiv. Dagegen das Streitroß, das aus Den 
Stock wurde, iſt fein Werk, in welchen cs ein 
Aetivität gezeigt hat, Die man jchöpferifche All 
macht nennen fann, denn ed hätte jein Roß eben ſi 
gut aus der Elle der Mutter oder dent Bejeniti« 
der Magd machen können, und eben fo aus diefe 
felben Rohr, wenn es nur wollte, eine Lanze od 
ein Schießgewehr. Iſt aber Unabhängigkeit u 
Selbitthätigkeit das, was man Freiheit nennt, 
heist Spielen: Freiheit zeigen und der Genuß 

es gewährt bejtcht darin, daß das Kind nicht pas: 
beluftigt wird, fondern daß es ſich jelbft beiuf 
fih felber die Luft fchafft einer Kraft bewuß 
werden, gegen welche alle Schranfen der Wirkli 
Nichtd vermögen. Wie foll ihn aber da nich 
Allem theuer jeyn was ihm zuerſt feine Sch 
kraft bewies? und wie wollen wir eö der 8 
Deren Phantafie ein lebendiges Weſen gebar 





denfen, wenn fie über den Nuchlofen erbittert ift, 
der von Diefem Kinde ihres Geiſtes jagt, es jey ein 
Balg? — Spielen heist: die Schranfen der Wirk: 
lichfeit überipringen, ſich frei machen von dieſen 
Schranfen, und wenn Pädagogen das Nichtipielen 
mander Kinder als Symptom son Bejchränftheit 
bezeichnet haben, jo iſt Das eigentlich als wollte 
man das Sterben ein Symptom des Todes nennen: 
wer gar nicht jpielt wird nicht, ſondern er bleibt 
beſchränkt, denn die Dinge ernjt nehmen heißt ja fie 
gelten, und aljo ſich Durch fie beichränfen, Laien, 
während wer mit ihnen |pielt jich als ihr Herr zeigt, 
von den fie es ſich müſſen gefallen laſſen als Streit: 
roß oder Schieggewehr zu gelten. Wenn nun aber 
Freiheit, wenn Die Herrichaft über Die Dinge und 
das Sich-dienſtbar-machen derſelben den Menſchen 
zum Menſchen macht, ſo iſt es allein das Spiel das 
ihn zu Dem, wozu er beſtimmt iſt, formt, d.h. ihn 
bildet. Eben darum können wir auch den unter: 
menschlichen Weſen dieſes Privilegium des Sich : ver: 
menjchlicheng nicht bewilligen, was Der gewühnliche 
Sprachgebrauch ihnen einräumt. Das jogenannte 
Spielen des Kätzchens mit den rollenden Knäuel 
tft gar Fein Spielen. Die Kape übt fich, te fernt; 
Mäufe fangen nämlich. Daß aber Lernen fein Syvie 
fen ift, wei fchon der Schultnohe, weaher ud 


— 8 — 


daß wenn man lerne man nicht frei habe. Er hätte 
auch ſagen können: nicht frei ſey, denn in der That 
beim Lernen, wo uns allerlei Dinge eingeprägt wer— 
den, da muß man ſie gelten laſſen, ſie reſpectiren, 
es ernſt mit ihnen nehmen, alles dies aber hieß ja, 
durch ſie beſchränkt und alſo nicht frei ſeyn. Dieſes 
Ernſt-nehmen der Dinge hört im Spiele auf, wel— 
ches alſo Das ernite Geſchäft gerade jo unterbricht, 
wie der Sonntag Die Werktage, und Der Knabe hat 
völlig Necht, wenn ihm „Spieltag“ ein freier Tag 
heist oder einer wo nicht gearbeitet wird, gerade 
wie auch der Arbeiter Die Unterbrechung feines Ge: 
ſchäftes mit demſelben Worte bezeichnet, wie Die Er: 
hebung in Die höchiten Negionen, mit Dem Worte 
„feiern.“ 

Ohne Spiel gäbe es Feine gebildeten Menſchen. 
Die genanere Betrachtung zeigt, daß Dies nicht nur 
heißt daß das Spielen zum Gebildet werden, fon: 
dern daß e3 zum Gebildet ſeyn nothwendig ift, fr 
daß der Menſch Durch daſſelbe gebildet wird jo, vw 
er nicht durch Die Arzenei, jondern duch Die € 
fundheit, gejund wird. Was man Bildung ei 
Mannes nennt (micht fein Unterrichtet: oder Geler 
feyn) wird, bewußt oder unbewußt, von Allen 
nad) dem Einen gemeſſen, ob er zu jprechen ver 
Ich ſage „ſprechen“, nicht „reden“, denn Viele 





— 9 _ 


nen reden, ſogar recht gut, aber ſie können nicht 
ſprechen, weil dazu auch das Antworten gehört und 
alſo das Reden-laſſen und Hören, was Vielen weit 
ſchwerer iſt, als Jenes. Je nachdem Einer Beides 
kann, Red' und Antwort ſtehn, oder was daſſelbe 
heißt, je nachdem er Converſation machen kann, je 
nachdem heißt er gebildet oder nicht. Wer nun kann 
ſie gut machen? Der welcher nur von Einem zu 
reden weiß, vom Wetter z. B., kann ed nicht, 
eben fo wenig der, welcher zwar viel weiß, es aber 
nur in einer Weiſe zu brauchen verjtebt, 3.8. um, 
wenn er gefragt wird, Auskunft zu geben. Den 
Eriteren wird man als befujtigendes Converfations: 
object, den Anderen als beiehrendes Gonverfationg- 
lericon gebrauchen, mit ihnen Gonverjation zu machen, 
Dazu find fie zu „bejchränft“, Sener durch die Ar: 
muth feines Wiſſens, Diefer Durch Die Enge feines 
Geſichtskreiſes. Wer aber auf jeden möglichen Ge: 
genjtand eingehen, und wieder ihn Jedem anjprechend 
machen Tann, wer Red’ und Antwort jtehen kann 
von der Beitimmung des Menichen und von Po: 
tichinomanie, von Der revalenta arabica und dem 
Copernikaniſchen Syſtem, son Der Urientalischen 
Frage und davon, ob man in Paris Die bejte Choco: 
lade bei Marquis oder bei Maſſon befommt, wer wig⸗ 
der einen und denſelben Gegenitant | Ken ui 1. D 


— 10 — 


e Jemand widerfuhr, fo darſtellen kann, day der 

ine darüber lacht, des Anderen Mitgefühl erregt 
yird, für den Dritten eine allgemeine Reflexion ſich 
»araus ergibt, — wer mit einem Worte aus Allen 
Alles zu machen vermag, der iſt ein unterhaltender, 
d. h. gebildeter Daum. Dieſes vermögen aber, haben 
wir vorhin „Spielen“ genannt, und in der That 
tft, was wir eben jeßt Den guten Gejellichafter lei- 
ften jahen, nur in anderen Dimenjionen ganz das 
Thun jenes Kuaben, der jo mächtig war, daß er 
aus Allen (Ste, Elle oder Bejenitiel) Alles (Roy 
oder Yanze oder Schießgewehr) belichig machen Eonnte. 
Die gebildete Converſation iſt nur ein Spielen mit 
den Gegenjtänden, eben Darum unterbricht te, ala 
Erholung gewährende Feierjtunde, Den Pad des ern: 
jten Geſchäftes, eben Deswegen aber beiteht aud) ihr 
Genuß wie bei jeden andern Spiele, in dem Ge: 
fühle unferer Kraft, gegen welche Alles widerjtande: 
108 ift, der Alles dienen mu, damit wir uns Des 
Iujtigen. Das Gefühl dieſer Superiorität ijt eg, was 
uns jagen läßt, die Unterhaltung babe ung montirt 
(erhoben), ihm danken wir den Muth, Die Dinge nach 
unferer Art zu arrangiren, Dev endlich zu jenem ge: 
felligen Übermuth wird, der Nichts mehr rejpectirl 
weil er fih Mannes genug weis, wit Allem ferti 
zu werden. Und da das Gefühl der Kraft mit d 





— 1 — 


Größe des Überwundenen wächit, fo ijt es erklärlich 
daß Die Unterhaltung bald nicht mehr bloße Dinge, 
fondern Solches was jelber zu fpielen vermag, Per: 
fonen, zum Stoff nimmt, Der nun nach Luft und 
Laune verarbeitet wird. Ja jelbft Die medisance, 
dieſes einmal nicht abzuleugnende Ingrediens unferer 
Unterhaltungen, erſcheint piuchologiich betrachtet, in 
einem milderen Fichte. Wie der Kuabe, der ein wirk— 
liches Roß vielleicht ſchonte, ſich Daran belnſtigt das 
felbfterichaffene zu peitichen, jo beluſtigt uns, nicht 
day der Nebenmenfih ichlecht ift — das wäre Das 
diaboliſche „hab’ ich Doch meine Freude dran!” — 
fondern daß wir ihn fchleht gemacht haben. Daß 
ein Mann jammt feinem guten Ruf ſich's von ung 
muß gefallen laſſen, daß wir ihn zurichten wie wir 
wollen, dat wir beliebig einen ernithaften Dann in 
Die Injtige Perjon Des Abends verwandelt, Die hei- 
terſte und unbefaugenſte Dame mit einen heimlichen 
Liebesgram ausftatten können, dieſe unſere Allmacht 
iſt das Erhebende bei der Sache. Indem wir unſerm 
lieben Nebeumenſchen nach Belieben mitſpielen, ſpie— 
len wir nach Belieben mit ihm, denn „ihm mit“ iſt 
„mit ihm“, ſpielen aber hieß Macht zeigen und ſeiner 
Superiorität gewiß werden. 

Gegen die aufgeſtellte Begriffsbeſtimmung Kat 
mißtrauiſch machen zu müſſen, Dal ie aut Kr ANUE 


— 12 — 


Claſſe von Spielen nicht paßt, und zwar auf Die 
an welche Seder zuerit denft, wenn er gefragt wird, 
ober ſpiele?, auf die Karten und ihnen verwandte 
Spiele. Es fommt darauf an, ob wir fo urtheilen 
werden, wenn wir genauer unterjuchen, worin der 
Genuß liegt, den diefe Spiele gewähren? Dazu 
muß man von ihnen jedes fremde Intereffe entfernen 
und fie Dort beobachten, wo um Nichts, oder doch 
um jo wenig gejpielt wird, daß Das gewonnene und 
verlorene Geld für die Spieler Fein Gegenitand iſt. 
Man wird da finden, Daß Die Freude darüber, den 
ganzen Abend gewonnen zu haben, nicht geringer 
ift, vielmehr größer und wenigſtens vaufchender, ala 
wo der Gedanke an den Geldverluft eines guten 
Freundes fie verfiimmern kann. Cben fo wird nıan 
auf der andern Seite fehr fichtbaren Berdruß wahr: 
nehmen darüber, daß nicht die Börfe, fondern nur 
das Marfenfäftchen leer ift. So weit das Gewinnen 
ein Erfolg der größeren Gefchidlichfeit, ift dort der 
Triumph, hier der Ärger erflärlih: wer verlor ift 
überliftet worden, worauf der Ausdruck bete: werden 
hinweiſt, wer gewann, hat durch Cachiren feine 
Spieles oder fonft wie, fich al3 der Liſtigere erwieſ⸗ 
woranf der Ausdrud trick deutet. Dies iſt ed ’ 
nicht allein, ja es iſt nicht einmal Die Hauptſ 

Die Sröblichkeit des Einen und der Ärger des 





— 13 — 


dern bezieht ich, wie ınan bald merken wird, ganz 
befonderd auf Die guten und jchlechten Karten Die 
jie bekanien. Mau kann ſich wundern, Das; Diejer 
nur vom Zufall abhingende Umftand Den Gewinner 
für den ganzen Abend mit Freude, ja mit Stolz er: 
füllt, und doch ift da eigentlich nichts zum Verwun— 
dern, es ijt ganz menſchlich. Denn mag Der Der: 
ftand noch jo viel demonſtriren, Das Gefühl aller 
Menſchen |tellt ſich auf die Seite der alten Sinn: 
iprüche, day Glück Talent, und daß went es lacht 
als ein Kühner zu erachten fey. Es iſt demüthigend, 
Unglück zu haben, und es chmeichelt Jedem, ein 
Liebling Fortuna's zu ſeyn, wäre ed auch nur im 
Kartenipiele. (Der Umjtand auf den man fi) da— 
gegen beruft, day Viele oft es ausſprechen, ſie hät: 
ten immer malheur und feven Unglückspilze, beweiit 
Nichts. Cs iſt Damit wie wit dem Häßlichſeyn und 
Altiverden. Iſt der Schade einmal da, jo muß man 
gelegentlich jelbit davon prechen, aber — wenn ich 
andy nicht jo weit gehn will zu behaupten, es ges 
fhehe nur um Widerſpruch zu erfahren — man 
wiirde es Doch jeden Andern fehr übel nehmen, wenn 
er davon anfinge. Sa fogar fein zu ſchnelles Über: 
zeugtieyn wenn wir felbjt Davon anfingen thut nicht 
wohl). Alſo dad Bewußtſeyn der größeren Gelchie- 
lichkeit und des größeren Glüka weremiat ig NUN 


— 4 — 


Genuſſe des Siegerd, Beides gibt Dad Gefühl der 
Macht, der allem Widerftande gewachjenen Überle- 
genheit, und fo gilt aljo auch von dieſen Spielen 
ganz dafjelbe, was von allen bieher betrachteten galt: 
der Menſch Sucht in ihnen deſſen gewiß zu werden 
daß Alles ihm als Herren und Meiſter huldigt. Sit 
aber dieſes Sich-als-Herr wiſſen das ſpecifiſch Menſch— 
liche, ſo werden wir ſelbſt dieſe Spiele nicht aus— 
ſchließen, wenn wir Schillers Wort adoptiren, daß, 
wo er ſpielt, der Menſch ganz Menſch ſey. 


2. 


Zunächſt alſo und in ſeiner primitiven Form er— 
ſcheint das Spiel, in der Kinderwelt ſowohl als 
außer derſelben, als der unterbrechende Gegenſatz 
zum Ernſte der Wirklichkeit und zur moroſen Arbeit. 
Dabei haben wir dem Spiel, als dem ausſchließlich 
Menſchlichen, die höhere Stelle anweiſen müſſen und 
den Genuß deſſelben mit der Sonntagsfeier, dagegen 
das Ernſt-nehmen der Dinge mit den proſaiſchen 
Werktagen zuſammengeſtellt. Nun aber iſt doch dies 
gewiß nicht Das Normale, daß Feier- und Werftags- 
leben des Menſchen jo auseinanderfallen, wie in den 
alten Kalendern die rothen Feſt- und Schwarzen Ar: 
beitötage, fondern das Wahre ift, daß jene? auch 
äber Dieje feinen rofigen Schein werbreite, und der 





— 15 — 


Menſch in ſein Tagewerk die erhobene Stimmung 
bringe, die ihm erſt die wahre Weihe gibt. Gerade 
ſo iſt in ſeiner Treunung von der Wirklichkeit zwar 
die erſte Geſtalt des Spiels zu erkennen, darum aber 
nicht ſeine vollendete und höchſte. Dieſe erblicken 
wir dort, wo es nicht nur über die Wirklichkeit ſich 
erhebt, ſondern ſie nach ſich zieht, wo nicht gegen 
den Ernſt, ſondern mit ihm geſpielt wird, und das 
heitre Spiel nicht aus Der Welt entflicht, fondern 
felber eine Pelt ins Leben rnft. Dies Alles aber 
gejchieht wo das Spiel, indem ed den Ernſt in ſei— 
en Dienjt nimmt, zur Kunst wird. Wie jehr nad) 
einer Bereinigung Das Spiel fowohl, als Die ernfte 
Arbeit, trachten, das zeigt fich Darin, daß ſehr frühe 
ſchon der Epieltrieb jeine Befriedigung in folchen 
Spielen jucht, Die ernſte Arbeit und Übung erfor: 
dern, in den Gejkhiclichkeitsipielen nämlich, Die, von 
Treiben des Kreijels aufwärts big zum prachtvollen 
Ballſchlagen und bewundernäwerthen Billard, eine 
Reihe jelcher Verſchmelzungen Darbieten. Andrerſeits 
befriedigt ed den Menjchen nicht lange, daß Die Arbeit 
feiner Hände nur ein nützliches Geräth febafft, er fügt 
(mad Der nur arbeitenden Biene nie einfällt) Unnützes 
hinzu, Zierrathe und Schnörkel, kurz Spielereien, in 
denen auch er wieder Gejchieklichfeit zeigt. Der Syra- 
gebrauch, der beide Verichmelzungen Da SER ui 


— 16 — 


der Arbeit Gefchiclichfeit nennt, erkennt Die gleiche 
Annäherung beider an Die Kunit Dadurch au, Daß 
er erlaubt von der Kunitfertigfeit eines Billard: 
fpielers und eines Tiſchlers zu Tprechen, was ihm bet 
dem primitiven Spiele de3 Stedenpferded eben jo we: 
nig einfällt wie bei der bloßen rohen Arbeit des Gänfe: 
weidend. Nur aber eine Annähernug, denn ſchwer— 
lich könnte ſich auf den Sprachgebrauch berufen, wer 
dem Gaſte, den er zu einer Kiünftlergejellichaft ein: 
ud nur Billard» oder Kegelipieler vorſtellen wollte. — 
Neil fie weder bloß Spiel noch bloß Arbeit it, Des: 
wegen liegt die Gejchielichfeit oder Virtuoſität wie 
eine verbindende Brüde zwijchen dem Diesjeitigen 
Gebiete, wo beides jtreng gejondert iſt, uud Dem 
Eilande der Kunft jenſeits, wo beide fich fo durch: 
dringen, daß das Spiel ſich nicht nur (als Zierrath) 
an den Eruſt anfchliest, jondern vielmehr ihn ver: 
Härt und in jeine eigne Region berüberzieht. Uns, 
die wir hüben jtehn kann darum Mancher, weil er 
Das Diejjeitige Geſtade verlaffen hat, ſchon als ein 
Priefter der Kunjt eriiheinen, während die wirklich 
drüben ftehn, in feinen Virtuoſenkünſten nur gut 
eingeübte Spielereien ſehen oder recht geſchickte, aber 
handwerksmäßige, Arbeit. Nicht daß der Künitle 
der Birtnofität Feinen Werth zufchriebe; er weis a 
Erfahrung dad durch fie allein der Weg zur 8 





— 17 — 


geht, aber ſie iſt ihm doch nur Vorbereitung, eben 
die Brücke, die zur Inſel der Seligen erſt führt, 
nicht fie felbjt ijt. Nlber die Spielereien lächelt er, 
die find ihm Spaß, vom Künſtler verlangt er mehr 
Gruft, den aber, der um feine Gejchieflichfeit zu zei: 
gen ſich abarbeitet, Den bedauert er, weil er noch 
nicht vermag fchöpferiich Das zu zeigen, was mit 
Recht die Zaubermacht Der Kunſt genannt wird. Und 
Doch neunt er es und nennt es alle Welt „ipielen“, 
wenn er mit den Bogen in Der Sand ſolchen Zau— 
ber übt. Wie follte er auch nicht? Sein mächtiger 
Strich wirft ganz das, was Die Phantafie des [pie 
enden Knaben und der Wiß des gebildeten Gefell- 
fchafterd, nur mit dem großen Unterfchiede, daß wäh: 
rend der Peßtere nur zum Spaß und fir fih und 
die Umſtehenden den eruften Mann zur Injtigen Per: 
on, das ruhige Mädchenherz zu Amors Bente nıachte, 
Der gewaltige Künſtler wirklich den Ernſten luſtig 
macht, und Dad junge Herz wirklich mit Liebesſeuf— 
zern erfüllt, und alſo nach Belieben wie jene, aber 
im Ernite, fo daß wir es jelber zugeſtehn müſſen 
aud uns und unferen Gefühlen macht was er will, 
d. h. mit ihnen und uns jpielt. Es iſt in Der That 

ein Spiel, wein er ald Meiſter die Kunſt übt. 
Wie in den Gefchirklichkeitsfpielen der Übersanz, 
erfaunt werden mußte von dem hohen Sir IM 
5) 


4 


— 18 — 


Kunſt, ganz eben jo läßt ſich für ihre Zwillings— 
ſchweſter, die Wifjenfchaft, gleichfalld der An- 
Mmüpfungapunft finden, Durch den fie mit den Cpie- 
len der Kindheit zuſammenhängt. Er liegt in den 
berechnenden oder Verftandesipielen, deren Neihe bei 
dem Damen⸗ſpiel anfängt und in dem Schach wipfelt, 
diefem wunderbarſten aller Spiele, deſſen Erfinder 
eben jo wenig, wie Der der arabifchen Ziffern, ge— 
ahndet hat was er erfand. In befonders organilirten 
Naturen läßt fih der Übergang vom Spiele zur Wiſ— 
fenfchaft faſt Schritt vor Schritt nachweiſen. Durch 
alle Schul-Claſſen war mein Nachbar auf Der Bank ein 
auch ſonſt ſeltſamer Knabe, der und (damals paſſio— 
nirte Schadjfpieler) oft zum Erſtaunen hinriß, wenn 
er, ohne ein Brett vor den Nugen zu haben, zwei ver: 
fchiedene Eihachpartien in den Nebenzinmern Dirt: 
girte und faft immer gewann. Diele Sabre darauf 
fand ich im Cafe de la regence in Paris, ihn ala 
anerkanntes Haupt — Labourdonnaie war geitorben 
und St. Amand hatte vor ihm die Eegel geftrichen 
— der franzsfishen Schachipieler. Er Iebte vom 
Unterricht in der Mathematik und dem, wie er Tagte, 
viel fchwierigeren im Echach, und Sprach wiederholt 
als Die Beitimmung feines Lebens dies aus, der Welt 
begreiflih zu machen, daß Schach Fein Epiel fey 
jondern eine Wiſſenſchaft. „Auch von der Gtatiftif, 





— 19 — 


ſetzte er hinzu, glaubte man anfänglich, fie ſey eine 
Spielerei.” War diefe Aeußerung ſchon ein Symptom 
der Hirnkrankheit, Die den. Armen . weggerafft hat? 
Sch glaube nicht. Wenn er aber irrte, fo ftreifte 
er doch nahe an eine große Wahrheit: Ob nämlich 
fein, ob irgend ein andered Spiel Wiffenfchaft ift, 
weiß ich nicht, Das aber weil; ih, day Wiſſenſchaft 
Spiel ift und daß nur der fie hat, der mit dem 
Erkannten zu fpielen vermag. — Den Übergang zu 
ihr bildet, wie zu der Kunit Die Gefchidlichkeit 
des Arbeiters, fo bier das Lernen und Gelehrtieyn, 
jened ein Sammeln und Aufnehmen, diefes ein Ber: 
grabenjeyn In, aus den Aufgenommenen gearbeiteten 
Ereerpten, Notizen, Heften. Es feheint ald wenn 
Dad größere Publicum nur diefe beiden Stadien Eennt. 
Menigftend weiſt der häufige Gebraud) des Wortes 
„Bücherwurm“ darauf Hin, dab man Den der im 
Belite der Wiſſenſchaft ift, in einen Ähnlichen Ver: 
hältniß zu den Büchern denkt, wie die Manlbeer- 
ranpe zum Maulbeerbaum, die ja andy zunächit nur 
aufnimmt was er bietet, dann aud Dem aufgenom: 
menen Stoff Die Fäden fpinnt, in die fie fich ein- 
hüllt und vergräbt. Käme der nach Wiſſen ftrebende 
Menſch über diefes Verhältniß nie hinaus, bfiebe er 
wirklich in der Lage, wie viele fich das deuten, Ach, 
er nur Beicheid wüßte ſo Lange \eine Büher at 
* 


— 20 — 


ſind, Beſcheid geben könnte, ſo lange er ſe 
en vor ſich hat, jo käme er auch nie Dazu, ı 
ihm Erkannte zu bejigen und zu beherric 
ern bliebe vielmehr jtets beherrfcht und bejei 
m; von einem freien Schalten und Walten d 
r wäre nicht Die Rede, fondern er biicbe 
„ielwerk feiner Papiere, eine Senersbrunft Die fe 
bliothek verzehrte, ein Windhand der ihm | 
apier aus der Hand riffe, verdammte ihn, jene 
tathlofigkeit, Diefe zum Schweigen. Gerade der I 
jleich aber mit der Seidenranpe, zu Dem Der A 
drud Bücherwurm einlud, lehrt auch von Sen 
dem bloß Gelehrten, Den wahren Wijfenden un 
fcheiden. In dem Cocon nämlich bildet ſich, je v 
die Raupe Nahrung aufgenommen, und je Dichte 
ſich eingeiponnen hat, um jo kräftiger, ein neues 
fen, den aus den angeeigneten Stoffen Slügel wu 
und in dem während der Ruhe Des Eingefpr 
ſeyns eine neue Kraft reifte, die weder Die 
hatte noch die Chryſalide: Die Kraft, neues 
zu zeugen. Diefem Wefen, den geflügelten € 
terling, gleicht der, der fich zur Wiſſenſchaf 
nicht mehr dem Wurm! Das Kriechen vo 
zu Blatt, das Verſchlingen von Blatt auf 5 
bat feinen Zwed erreicht: Die Flügel find 
zit Denen er ſich wiegt in dem reinen 


— 


— 1 — 


ſchöpferiſcher Gedanken. Hier wie dort hat die Aſſi— 
duität (Dad regungsloſe Stillſitzen) Dazu gedient Die 
Genialität zur Neife zu bringen, d. h. die Fähigkeit 
Leben zu erweden. Gier wie Dort wird, wenn Die 
Flügel ſich mächtig geung regen, Die Hille, unter 
deren Schuß ſie ſich dehnten, rückſichtslos durchbohrt, 
was Wunder darum wenn hier wie dort, die da 
Seide ſpinnen wollen aus dem Erlernten, die genia— 
len Schmetterlinge deteſtiren, die es wagen Löcher in 
das zu bohren, was in ihren Heften ſteht, ja die ſich 
herausnehmen, nicht mehr gebunden zu ſein an die 
papiernen Coconſchalen der Wiſſenſchaft, ſondern frei 
davon, auf den Flügeln derſelben ſich zu wiegen? — 
Die Schöpferkraft macht zum Wiſſenden, denn wie 
mit Recht der eben heimgegangene große Philoſoph 
geſagt hat: Etwas begreifen und wiſſen heißt: es 
ſchaffen. Schaffen aber war, wie wir geſehen haben, 
Spielen, und darum ſagten wir, daß nur der das 
Wiſſen und die Wiſſenſchaft hat der, da er frei in 
dem Erkannten ſchaltet und waltet, mit ihm ſpielt. 
Und dies gilt nicht etwa nur von der Wiſſenſchaft 
der man (ſeltſamer Weiſe indem man ſie zu tadeln 
glaubte) nachgeſagt hat, ſie fen ein Spiel mit Be: 
griffen, son der Philofophie. Nein, anch in Der 
Mathematik ift der Unterfchied zwifchen Den Lehrling 
und Meifter, d. 5. zwiichen dem ter WWoſk lt 


— 22 — 


und dem der da weiß, daß Jener ſich an den For⸗ 
meln abarbeitet, mit welchen Newton ſpielt. Er 
ſpielt mit ihnen und doch ſind dieſe Formeln die 
Geſetze des Univerſums! Glücklich darum der Philo⸗ 
ſoph der da ſpielen könnte mit Begriffen, denn er 
wäre ein Newton für die Weſenheiten der Dinge. 
Kunſt und Wiſſenſchaft find es, die den Men⸗ 
ſchen aus der profaifchen Wirklichkeit in eine höhere, 
verklärte, Welt erheben. Die Kunft, indent fie die 
Schönheit der Welt zeigt und, wie dagegen dad Häp- 
liche Nichts tft und zur dienenden Folie wird, die 
Wiſſenſchaft indem fie in Allen das Geſetz nad 
weilt, wogegen das Geſetzloſe und der Zufall ver: 
fhwindet. Darin liegt eben das Geheimniß ihrer 
beruhigenden und erhebenden Macht: fie bringen bie 
durch. das Häßliche und Widermärtige aufgejtachelter 
Leidenfihaften zum Schweigen und befchwichtigen di 
ängſtliche Sorge, welche durch des Lebens Zufällt 
feiten provocirt wird, indem fie Beides nicht leid 
finnig vergefjen fondern vornehm verachten lehr 
Shnen gefchah darum nur ihr Recht, wenn ih 
eine höhere Region zum Wohnfig angewiefen w 
und fie ald Himmelstöchter begrüßt wurden. X 
waren aber, wie wir gefehen haben, Spiele, obı 
ein Spielen mit dem Ernftejten, indem der Kü 
mit unferen Gefühlen, ja indem er das Furcht 


— 3 — 


was e3 giebt, den Sterbenden, Verzweifelnden, Mor: 
denden, Iptelt, der Wiffende wieder, mit Formeln 
jpielend, den Cometen ihre Bahn vorzeichnet und 
den Planeten ihren Stand anweiſt. Spiele find 
jene, und dod) Töchter des Himmels! Man muß ed 
daher erklärlich finden, day ein griechiicher Weiſer 
das Leben der Gottheit darein ſetzen Eonnte, daß fie 
mit tönenden Sphären (wie der Harmonikaſpieler mit 
freiienden Gloden) einen großen Weltchoral fpiele, 
oder ein andrer fie fchwelgen ließ in mathematiſcher 
und fpeculativer Erkenntniß, d. b. im Epielen mit 
Formeln und Begriffen. Sa felbit darüber darf man 
fich Faum wundern, daß ein alter Weiler Indiens ge- 
fagt hat, die Gottheit ſchaffe jpielend, wie der Knabe 
Seifenblajen, zu ihrem Ergögen Welten auf Welten. 
Sn Einem haben fie Alle Recht, darin daß es nichts 
Himmlifcheres, nichts Göttlicheres gibt als — zu 
fpielen. 


3. 


Die Erhebung von dem primitiven, rein menjch: 
lichen, Spiele zu den beiden hHimmlifchen, die 
wir in Kunſt und Wiſſenſchaft erkannten, ward ver- 
glichen mit der Verklärung des Werktaglebend durch 
die Feittagsitimmung. Die Trage liegt nahe, ob es 
nicht auch eine Sricheinung gibt, wide u Lem, 


jener Verklärung Entgegengeiegten, zur Profanation 
des Feiertages, das NAnalogon bildet? Es müßte 
fich dert finden wo nicht, wie in der Kunft die Ar: 
beit dem Spiele dient, fondern wo umgefehrt Das 
Spiel zum dienenden Mittel wird für Die Zwecke 
der Arbeit und des Geſchäftes. Dieſe Zwecke find 
der Gewinn nnd Erwerb, md die Gewiunjpiele, 
ſammt ihren reinjten Typus Dem Hazardipiel, zeigen 
ung wirklich diefe Entheiligung Des Spieles. Ihre 
richtige Stelle wird ihnen eigentlich ſchon Dadurch 
angewiejen, day wem man von ihnen ipricht, ſich 
unwillkührlich Ausdrücke einjtellen, Die Den gewerb: 
thätigen Leben angehören, jo wenn man vom metier 
des Spielers fpricht, oder ihn einen Spieler von 
Profeffion nennt. Es wird hier nämlich Das Spiel, 
indent es zu einem Grwerbsmittel gemacht wird, in 
die Sphäre herabgegogen, über der es nach) feiner 
Natur und dem won uns gefundenen Begriff ftehen 
follte, fo day man ich faft wundern fünnte, daß in 
diefer Sphäre, wo es. oft jo bittrer Ernſt wird, dag 

Wort Epiel noch beibehalten, und Diefe begriffg- 
und naturwidrige Vermiſchung von Spiel und Ge: 
ſchäft nicht vielmehr Widerjpiel genannt wird, wenn 
der Sprachgebrauch nicht ſehr oft ſo bitter ironiſirte; 
3.8. dert, wo Einer ein „rechter” Mann genannt 
wird, gerade weil man weiß, er fey fein rechter. 





— 2») — 


Sn der That zeigen Diele, nur par antiphrase Spiele 
genannten, Befchäftigungen alles Das auf den Kopf 
geftellt, was wir bisher an allen wahren Spielen 
beobachtet haben. Den Reigen diefer Teßteren hatten 
die eröffnet, welche die Kinderwelt durbot. Welch 
ein Gegenſatz zu Dieien! Nach feinen Belieben läßt 
der Knabe Den Kreijel laufen, eigenmächtig entichted 
er ob das von ihm getummelte Roß Die Gerte oder 
ein Streichelt verdiene; wie anders an dem grü— 
nen Tiſch wo über Das Loos Des Spielenden dad 
Rollen der Freifenden Kugel enticheidet, Deren Sflave 
er wurde, weil ihn — der Volkswitz fpricht auch 
bier von einem Nitt, nur daß er nicht wie bei dem 
Stedenpferde dem Spielenden Die active Rolle zu: 
weit. Dort verſchwanden unter den geichiekten Hän— 
den Des Sinaben die Kartenblätter und ein Haus oder 
Tempel ſtand Da, oder er konnte, indem er die Kar: 
ten bog, allmächtig wie Der, welcher den Donnerfeil 
führt, ganze Reiben niederfchmettern; bier ſtarrt 
Einer vor fich bin, Haus und Hof iſt fort, der Tem— 
pel feines Glücks iſt eingeftirzt, nur Kartenblätter 
liegen vor ihm, regungslos wie vom Donner gerührt 
fteht er Da, und wer war e3 der den Blipftrahl auf 
ihn fandte? Die von ihm gebogenen Karten! — 
Wir verliehen die SKinderjtube ımd traten in dem 
Eaal, wo das Spiel Der Unterhaltung im hits 


Gange war. Ein gleicher Gontraft, in dem zu Dies 
fem Saale der Gonverjation ein fogenannter Con- 
verjationsfaal jteht: Dort ein fröhliches Getümmel, 
wo der übermüthige gute Geſellſchafter mit Allen 
fpielt, Seden zum unterhaltenden Dbject macht, Kei⸗ 
ned und Keinen verfchont fondern Allem mitipielt, — 
bier düftere Stille, ein bleiher Mann am grünen 
Tiſch Der mit fih und feinem Lebendglüd fpielen 
läßt, er, der vielleicht Hochbegabte, ein Unterhal- 
tungsobject für elende Groupierd, Die ohne daß er 
ed ahndet ihn und feinen häuslichen Verhältniſſen 
ſchlimm genug mitjpielen. Gibt es wohl einen bitt- 
rern Hohn, ald daß man ein jolches Spielwerk einen 
Spielenden nennt? Ja ſogar das gejellige Karten: 
fpiel hat genauer angefehn, an dem Hazardipiel nicht 
einen Berwandten und ein Pendant fondern viel: 
mehr feinen Mntipeden. Denn, wenn dort der 
Lhombre: oder Boftonipieler fich jelbft rühmt, daß 
feine Geſchicklichkeit den Mangel guter Karten er: 
fege, jo erblaßt dagegen, wer beim Würfel gewann, 
vor den Gedanken, dab man glaube oder gar wilfe, 
er könne corriger la fortune. — Am Meiften tritt 
natürlicher Weije der Gegenjaß hervor, zwijchen den 
Erwerbfpielen und jener Steigerung des Spiels, die 
wir ald das himmliſche bezeichneten: zwiſchen der Hei: 
gung bed Niedrigern und der Degradation und Pro: 





— 97 — 


fanation des Höheren, ijt er natürlich Diametral. Da: 
ber iſt eö begreiflich daß, wein die Kuuft ala Muſe, 
die Wiſſenſchaft als Göttin, ihre Wohnfige ald Tem- 
pel gedacht werden, man Dagegen von einem Dämon 
des Spieles ſpricht, dem geopfert werde in den Spiel- 
höllen; das Infernale tft ja nur das verkehrte Himm⸗ 
lifche, ift Dad Unternatürliche, wie diefes das Über: 
natürliche iſt. Jene Himmelstochter verfchönte Alles, 
felbit das Häßliche wirkte, ald Folie, verjchönernd, 
diefer Dämon macht häßlich ſelbſt dad Schönfte von 
allem Schönen, das Frauenantlig. Die Göttin wie- 
der zeigte überall Gejeß und vernünftigen Zufans 
menhang, ihre dämoniſche Garricatur lehrt den Zus 
fall anbeten, und feiner Der ihre Macht erfuhr, hat 
Tich dem Aberglauben, diefer Vergötterung des Wider: 
finnigen, gu erwehren gewußt. Darum ift aber auch 
die Wirkung jener himmliſchen und diefer infernalen 
Macht ganz enigegengejeßt: jene brachte die Sorge 
und Leidenjchaft zur Ruhe, dieſe ftachelt die niedrig: 
jten Leidenſchaften auf und erfüllt mit der bangiten, 
oft mit verzweifelnder, Sorge. Wenn endlich der 
Dienft an den Tempeln jener Himmelstöchter Die 
Priefter vor fich und aller Welt ehrt und erhebt, fo 
macht dagegen der an einer folchen Hölle, abject in 
fremden, ja in den eignen Augen. Mit Stolz erfüllt 
es den Denker, wenn es ihm gelang zu Nylon mit 


— 28 — 


, was der Scharfſinn der Größten erſann, und 

»ude ſtrahlt and den Augen der Künſtlerin, wenn 

flüftern hört: „Das ift fie, Die früher die Julia 

ielte und jegt die Mutter in der Brant von Meſſina.“ 
Jer aber foll erſt kommen, der auf feine Bifiten- 
arte drucken läßt: Spieler von Profeſſion, und der 
nicht fein Groupiergeichäft hinter Das fo beliebte 
„Particulier“ verſteckt, was fo viel heißt, wie Nichts. 
Sogar Nichts zu fern erjcheint dem Elenden ſchon 
ald Avancement! — 

Daß bei dieſem infernalen Character Des Hazard: 
ſpieles es bekämpft, daß laut gerufen wird, man 
Tolle die Epielböllen aufheben, ijt erklärlich und ift 
erfreulich. Zweierlei aber iſt Doch gegen Die Art zı 
bemerfen, wie ſich heut zu Tage dieſes Verlange 
laut macht. Erſtlich, daß es nicht confequent i 
fo lange es nicht weiter geht und auch fordert, d 
Das Spielen an der Börſe und Das Pariren bei } 
Wettrennen aufhört. Denn warım es weniger 
lid) fen jell, mein Geld Daran zu wagen, Daß 
von der Kugel getroifene Zahl höher als adyl 
ſeyn wird, als daran, Daß zum nächſten Nltim 
Metalliques über 72 ftehn werden, oder endlich 
Scherz einige Secunden früher ans Ziel Er 
werde, als Orinoco oder Nattle, das iſt nı 
ämjehn, obgleich ich gern zugeben will, Daß 





— 9 — 


den Metalliques unvorſichtiger wäre, als beides An: 
dere. ad aber Die verderblichen Solgen betrifft, 
fo ruiniren ihre Moralität und ihren Hausitand an 
der Stedbörje und in Eyfom oder Newmarket eben 
fo Biele, wie in Homburg. Verlangen, daß das 
Eine verboten; Das Andere aber freigelaffen werde, 
bieße einen Zuftand winfchen wie in einigen Staa: 
ten Nordamerika's, wo Das Geſetz dem, der täglich 
nur über einige Cents zu verfügen hut, es unmöglid) 
macht, auch noch fo mäßig Wein zu trinfen, wäh— 
rend wer Dollars genug bejist, um ihn orboftweije 
zu Faufen, gejeblich nicht an der Unmäpigkeit gehin: 
dert ift. Dies iſt Das eine Bedenken. Ein anderes 
ift, dag die meiſten Bekämpfer des Hazardſpiels fich 
die Ausrottung deſſelben viel leichter denken als ſie 
iſt, weil ſie, was dazn reizt und verſucht, nicht ge: 
hörig analyſirt und darum nicht erkannt haben, daß 
es ſehr complicirter Natur iſt. Hört man nämlich 
in den Anklagen dieſer Spiele immer dies in den 
Vordergrund ſtellen, daß Der Pointeur eigentlich be: 
trogen werde, da nad) der Wahrſcheinlichkeitsrech⸗ 
nung die Bank im Bortheil fey, jo verräth Dies Die 
ftiffichweigende VBoransfegung, daß der Gelderwerb 
das alleinige Motiv des Spielens ſey. Wäre Dies 
richtig, jo wäre ed pſychologiſch unbegreiflich, AN 
ſehr oft erwerbliebenden, ja habfüchtigen ut AAO 


— 30 — 


Menſchen der Gedanke, durch die Lotterie oder auf 
ähnliche Weiſe reich zu werden, höchſt widerwärtig 
ift, und daß umgefehrt unter Ieidenfchaftlichen Ha: 
zardipielern ſich ſehr häufig Solche finden, die das 
Geld mit vollen Händen ausſtreuen. Känte nicht 
zu der Luft am Golde noch ein ganz’ anderer Factor 
Hinzu, jo wäre abfolut unbegreiflich, was und von 
den alten Deutfchen erzählt wird, daß fie im Wür— 
feln ihre Freiheit veripielten, Die ihnen zugleid) fo 
theuer war, daß fie Diefelbe fir Das Zehnfache Des 
Einſatzes nicht verkauft hätten. Die Behauptung 
yon For, der, wie überhaupt Diplomaten fehr oft, 
ein Teidenschaftlicher Hazardipieler war, daß ihm nach 
dem Gewinnen Nichte mehr Genuß gewähre, alt 
das Derlieren, iſt bekannt. Sagen, das fen nich 
wahr, er habe fich ſelbſt getäujcht, ift ſehr Teich 
aber doch auch ſehr vermeſſen, da viele Andere vr 
fi) ganz Daffelbe behaupten. Sch möchte Darin kei 
Selbfttäufhung fehn, fendern Die Wirkung jer 
zweiten Factors, der viel tiefer in De3 Menſchen H 
zen wurzelt als die Liche zum Golde, darum ' 
früher erwacht, aber auch viel ſpäter ausgert 
wird, als jene. Die Gewalt dieſes Diimonijchen 

ged wird Mancher, bei dent Das Drgan ded Emm 
triebed jehr wenig ausgebildet iſt, an fich felbe 
fadren Fönnen, wenn er, nicht ganz flüchtig, fo 





— 31 — 


für längere Zeit, ald Zufchaner ſich an den Tifch 
Stellt, wo alle Welt fortune machen will und bie 
Herrn Benazet und Blanc fie wirklich machen. Eine 
Zeit lang läßt und das eintönige faites le jeu, le 
jeu est fait, das ängſtliche Schweigen während die 
Kugel rollt, das ſchnell und troden hingeworfene 
vingt, passe, rouge, pair, dad Klappern der dad 
Geld einziehenten Schaufel, bet dem mancher wer: 
lierende Neuling zufammenfchridt, zienlich ruhig. Da 
macht und die Bemerkung, die Bank habe heute Süd, 
anfmerkſam. Es ijt wahr! Es Elappert immer fort, 
weil die Croupiers nur einziehen, nur ſehr felten laffen 
fie, auszahlend, Die Golditüde durd) Die Luft fliegen. 
Aber es iſt auch Fein Wunder! Wie ſetzen die Leute 
auch? Einmal auf Roth verloren, gleich gebt es 
auf Schwarz. Da ijt fein Muth, Fein Fefthalten, 
fein Sorciren, keine Martingale, da muß id) doch — 
aber halt! Piychologiiche Unterfirchungen der Art, da 
fie gewöhnlich auf Selbſtbeobachtung beruhen, könnten, 
weiter fortgefeßt mich in ein jchiefed Licht Stellen; 
und noch dazu ganz ohne Nutzen, denn fie würden 
am Ende hinfichtlich minder perverfer Naturen Nichte 
beweijen. Soll entichieden werden, ob in aller Men— 
fchen Herzen etwas fehlummert, was außer der Ge: 
winnfucht dem Dämon ded Spieles Balalleın ax- 
führt, jo müjlen wir abermals zu ner Vraetsit 


des Menjchen zurück, zum Kinde, das uns im Bän— 
digen des Stedenpferdes die eriten Spuren Der ges 
bildeten Converjation, im Epiele mit dent Kreifel 
und Ziehen der Damenſteine die erjten Anfänge von 
Kunit und Wiſſenſchaft offenbarte; bier werden wir 
nach dem ſuchen müſſen, was vorzugsweiſe Die Sande 
habe wird für jene infernafe Macht. Sch glaube 
wir finden fie in dem fo früh erwachenten Verlangen 
nad) den zerjtörenden Elemente, das nur für Me: 
phiitopheles und Die Kinder ein freundliches it, in 
dem Reiz, Den es hat, mit Der verzehrenden Flamme, 
obgleich man Die Gefahr ahndet, zu ſpielen. Es 
hat dies für Die meiſten Kinder einen unwiderſteh— 
lichen Zauber, und wie Ameiſen zum Ärger der 
Hausfrau Das Eingemachte, willen im Hauſe auch 
des ängſtlichen Waters zu feinen Entſetzen, die Klei— 
nen Zindhölzchen, vor Allen aber Schießpulver aus— 
zuſpüren und zu rauben. Dan beobachte nur ihre 
Spiel, deffen Gefährlichkeit eben Den Genuß gibt, 
genauer. Man jehe, wie aud) dem gutartigen Kinde 
die Augen glänzen, wenn es ficht, wie gleich einer 
glühenden Schlange die Flamme erjt let und dann 
verfchlingt und je mehr fie verjchlang, um fo größer 
wird, man beobachte die innerliche Satisfaction mit 
der ein gar nicht verdorbener Knabe eine Mine an- 
gelegt bat in der erfalteten Aiche des Küchenheerdes, 





3 — 


und nun der Erplofion entgegenfieht, wenn die Köchin 
Heuer macht, — man fehe Died an, und man wird 
nicht nur verftehn, wie mancher Knabe zum Ber: 
brecher wurde, Feuer anlegte um die Feueröbrunft 
zu jehn, fondern man wird auch ahnden, daß ein 
Reiz in der Aufregung liegen Tann, mit der man 
am grünen Tifch erwartet, ob Haus und Hof wirt: 
fih in die Luft fpringen wird. Mit einem Worte, 
die Luſt an der Gefahr und am Wagfpiele, Diele 
iftö, Die das Hazardfpiel würzt, und der Genuß ein 
Wagehals zu feyn, machts zum Genuffe felbft, den 
Hals zu wagen. Dieſe Luft liegt einmal im Men: 
fen, daher wird man fie höchſtens vom Hazard: 
fpiel ab auf einen vernünftigen Zwed hin Ddirigiren 
können, ausrotten wird man fie nicht. Darum wohl 
aber auch fchwerlich, ehe jene Direction gefunden 
wird, das Hazardipiel. Sie liegt im Menfchen, 
darum zeigt fie fich fchon im Kinde, und daß fie 
dämoniſch ift, Ändert darin nichts, denn was ohnedied 
alle Welt weiß, das hat die Betrachtung der Spiele 
der Kinder und beftätigt: Diefe Heinen Menfchen find 

koch wahre Heine Engel und rechte Kleine Teufel. 
Um auf fein dreifaches (menfchliches, himmliſches, 
infernales) Antlig hinzuweiſen, ward dad Spiel vor: 
geführt. Welches derjelben hat mein heutiges dox⸗ 
geboten? Daß man ed ald eine der Himmelt: 
3 


— 4 — 


töchter würdige Opfergabe gelten lafje, ihm wiſſen⸗ 
Tchaftlichen oder Kunſtwerth zufchreibe, prätendirt 
ed nicht. Glücklich, wenn es nicht von mir heißt, 
„lein böfer Damon trieb ihn, um feinen Grebit 
zu retten, ed mit dem Spiel zu verfuchen, heraus: 
gelommen aber iſt Zero”, will id) glauben meinen 
Zwed erreicht zu haben, wenn man mein Spiel als 
rein menſchliches gelten läßt, als Unterhaltung. 








1. 
Über die . 
ung deutfeher Yhilofopken 
zum Geben. 


1850. 





lenn ein Unbefangener, 3.3. ein Engländer oder 
) ein gebildeter Deutjcher, welcher das Franzö⸗ 
ve ganz geläufig Tieft, Die Werke großer franzö— 
yer und deuticher Philofophen vergleicht, jo wird 
angs der Vortheil fchwerlich auf unferer Seite 
ı. Zuerft mug ihm fehr unangenehn der Con⸗ 
t in der Schreibart auffallen. Seit fie in 
m philojophifchen Werken die Mutterſprache an- 
iden, haben die Franzofen ein gutes, meiſtens ein 
‚antes Franzöſiſch geichrieben. Im 17ten Sahr: 
dert tritt ihr größter Philofoph, Descartes, mit 
rt Abhandlung über Möglichkeit und Sicherheit 
Erkenntniß auf, welche den Geburtötag der neu: 
Philoſophie bezeichnet, und die in ihrem fchönen 
nzöftich nicht nur den Haren Geift des großen 
tthematikers, ſondern auch den feingebildeten Edel- 
m abipiegelt. Im 1Sten Jahrhundert iſt der phi⸗ 
phifchite Kopf Frankreichs offenbar Diderot; er 
eibt vortrefflih. Der endlich, an welchen man, 
in won heutiger Dhilofophie in Rranträhy ÜR 


— 38 — 


Rede iſt, zuerſt denkt, Couſin, gilt für 

erſten Styliſten, und läßt ſichs gern gefal 
man ihm eine pedantiſche und übertrieben« 
der Sprache vorwirft. Jetzt denke man € 
dies erfahren hat, herantretend an Die W 
fcher Philoſophen. Ihm ist gefagt, auch D 
babe feinen Descartes, Kant, deffen Unter 
über Möglichkeit und Sicherheit der Erfen: 
neue Epoche bezeichnen, und Dabei befier < 
feyen, als die meiften fpätern Werke deut! 
loſophen. Begierig ergreift er die Kritik: 
Bernunft und fängt an zu leſen, und 

Anfange heißts: ed jey nur die Frage 

worten: Wie fnnthetifche Urtheile a prioı 
ſeyen? Erfchroden blidt er nach dem 

didleibigen Werks, um das Nefultat zu 
und findet: „der transicendentalen Miet 
dritter Theil, Architeftonif der reinen 2 
— d. h. er bat drei griechiiche und Drei 
Worte in zwei Weberfchriften. Und was 

Alles zwiſchen jenem Anfange und diefem ( 
giebt ed: Synthefis der Apprehenfion, da: 
bentale Deduction der Kategorien, weiter 
Ampbhibolie der Refleriondbegriffe, endlich: 
logismen und Antinomien der reinen Berny 
jo gebt ed nicht nur durch dieſes und ' 





— 39 — 


Kantiſchen Werke, ſondern dieſer ſcholaftiſche Jar⸗ 
gon ſcheint zum Handwerk deutſcher Philoſophie zu 
gehören, wenigſtens iſt es vorgekommen, daß als 
Einer von Unterlage und Zufallendem geſchrieben 
hatte, man ihn erft verſtand, als man ſah, daß dies 
auf Deutſch (d. h. auf Philofophendeutih) Sub: 
ftanz und Accidens beige. — Hat man ſich nun aber 
an diefe Formeln gewöhnt, jo erregt der Inhalt 
der deutſchen Philofophie beionders durch Zweierlet 
Anſtoß. Zuerſt duch ihre Naturphilofophie, 
welche nicht, wie bei den Engländern, eine auf Er: 
fahrung und Rechnung gegründete Phyſik, fondern 
eine ſ. g. jpeculative Wiifenfchaft ſeyn will, indem 
fie ſich die Aufgabe ftellt, Die Sdeen aufzuftellen, die 
den durch Beobachtung gefundenen Geſetzen zu Grunde 
liegen, jo daß Dadurch erkannt werde, warum ge: 
tade Diefe und Feine andern Geſetze die Natur be: 
berrichen. Ein folder Verſuch nun, die Natur nad) 
Ideen zu conftruiren, erfcheint den Franzoſen ſowohl 
als Engländern ald ein Umkehren des allein richtigen 
Ganges, der von den Erfiheinungen zu den Geſetzen 
führe und bei dieſen ftehen bleibe, als eine Phan⸗ 
tafterei, die mau, wie manche andere, einer Nation 
von Zräumem zu Gute halten könne, bei fich felbft 
aber nicht dulden dürfe. — Noch mehr aber als über 
Die deutſche Naturphilofophie Kitten ie en U 


— 40 — 


ber unſere Religionsphiloſophie. Daß 
ich nicht begnügt, die Beweisbarkeit oder Unbe 
sarkeit des göttlichen Daſeins zu prüfen, ſonder 
an Lehren macht, die man von jeher ald Myſi 
bezeichnet hat, Sündenfall und Erlöſung philofoy 
erörtern will, das zeige, daß die Grenze nich 
fpectirt werde, welche die Philofophie von der % 
Topbie, die Bernunft vom Myſticismus trenne. ı 
wenn wir und feine Sllufionen machen woller 
müffen wir gejtehn: auf den erjten Anblid erfı 
dem Ausländer und dem gebildeten Laien die n 
deutſche Philofophie ald phantaftifche Myſti 
gelehrten Rothwälſch vorgetragen. — ( 
darum begreiflich, Daß in Deutjchland die philo 
ſchen Schriftfteller ifolirter vom gebildeten Pu’ 
ftehn, daß — wie man es gewöhnlich ausdri 
die Kluft zwifhen Philofophie und 
weiter ift, als in Frankreich und England, 
ift eben fo begreiflich, daß, namentlich feit 
rührungen mit dem Auslande häufiger gewor 
Wunſch laut geworden tit: Die deutfche Pf 
möge aufgeben, was fie nur zu ihren: eignen 

von der ausländifchen unterjcheide. Diefe 
ſetzt voraus, daß jene Eigenthümlichkeiten ° 

lich angeflogene Flecken find; dies aber ift 
entichieden. Wenn ein Niederländer, der 


— 41 — 


des Rheins nur ſah, wo er Der Rhein heißt, aber 
nicht ijt, plöglid nach Schaffhauſen veriegt würde 
und dort einen Graubündner anträfe, fo würde das 
Urtheil Beider über die Zarbe des Rheins ſehr ver: 
fchieden auöfallen. Der Eine würde fi) wundern, 
vielleicht glauben, Umgebung und Beleuchtung laffe 
fein Waſſer grün erjcheinen, der Andere Dagegen 
bat bei Difentis zwar zweierlei Waſſer ſich mijchen 
ſehn, aber auch, daß beide grün, nur ein ſchöneres 
Grün erzeugen, das, wo es bei Reichenau eine dritte 
Nüance aufnimmt, dadurch zwar eigenthünnlicher, aber 
nicht minder grün wird, und er wird daher bei 
Schaffhauſen feinen alten Rhein erfennen und fagen, 
ohne grünes Waſſer gäbe es keinen Rhein, das Heine 
farbloſe Wäſſerchen bei Leyden fei eben nicht der 
Rhein. Auf weſſen Seite man in diefen Streit 
ſich zu Stellen babe, Scheint nicht zweifelhaft, ob aber 
binfichtlich der Sarbe der deutfchen Philofophie, 
jener ihrer erwähnten Cigenthümlichkeiten, man wie 
ber Niederländer oder mie der Graubündner urtheilen 
müſſe, kann nur erhellen, wenn man auf ihre erjten 
Urfprünge einen flüchtigen Blick wirft: 


1. 


Durch ihren erſten Stammvater gehört fie den 
höchften Kreifen der Gelelihatt au, iR Ür ImISt 


— 2 — 


courfähig. Der ſchwäbiſche Graf Albert von Bol 
ſtädt iſt nämlich der erſte Deutſche, der als Phil 
ſoph genannt wird, deſſen Leiſtungen aber ſo ung 
heuer ſind, daß Mit: und Nachwelt ihm den Bi 
namen ded Großen gegeben haben, unter dem 
befannter geworden tjt, ald unter feinem Familie 
namen. Man bat fich aber mit dieſem ehrend 
Beinamen nicht begnügt, Tondern ein under 
Hülfe gerufen, um feiner Scharffinn und feine & 
lehrſamkeit zu erklären: Stumpf an Geift, foll 
nicht im Stande gewejen fein, den Arijtoteled zu ve 
ftehn, da habe ihm die heilige Jungfrau das Bi 
ſtändniß eröffnet und durch ihren Beiſtand jey 
um die etwas derbe Sprache des Mittelalters I 
zubehalten — aus einem Efel ein Philofoph gem 
den. (Daß man dies für ein Wunder hält, 
offenbar ein Beweis der Barbarei jener Zeit). I 
dem Albert in Padua und Paris als Lehrer 
Philofophie der Stolz ded Dominikaner: Orden 
worden, ward er ald Provinzial defjelben nad 
eſchickt, wo er bald viele Taufende von Sr 
um fid) verjammelte. Hierher fehrte er anf 
dort zu ſterben wieder zurüd, nachdem er ı 
Sabre Bifchof in Regensburg gewejen war 
Sage gebt, vor jeinem Tode habe auf fen 
Gebet die heilige Jungfrau alle Weisheit wi 





— 3 — 


ihm genommen, und fo fey aus dem Philofophen 
wieder ein Eſel geworden. (Sollte Etwas an diefer 
Geſchichte feyn, fo wird wohl nicht die Rüdbilbung 
ald Folge des Gebetd, jondern umgekehrt das Gebet 
als Folge der Rüdbildung anzufehn feyn.) Die Lehr⸗ 
thätigkeit Albert des Großen nun, (die begreiflicher 
Weiſe zwifchen jene beiden Verwandlungen fällt) 
zeigt eine der allermerfwürdigften und folgenreichften 
Erfcheinungen: was Die Kirche bis dahin unterfagt 
hatte, das hat fie bei ihm geduldet, nach ihm fogar 
gefordert, nämlich, Daß ihre Lehrer zu Unchriften 
und Antichriften in die Schule gehn, um ſich deren 
Ideen anzueignen. Wie fich überhaupt das Große 
vom Kleinen muß meijtern laffen, und wie das Ta- 
deln leichter tft, ald dad DBegreifen, jo haben auch 
bier fehr Biele über VBerblendung und Inconſequenz 
der Kirche gefchrien. Sogar unter denen, welche 
fonft zugeitehn, daß was die Kirche im Mittelalter 
unüberwindlid, machte, der Scharfblid gewejen fey, 
mit Dem fie jtets erkannte, was der Beruf der Zeit 
war, die Weisheit, mit der fie, nie voreilig, im: 
mer zur rechten Zeit, die Aufgaben der Zeit als 
ihre Forderungen ausjprach, die Gonfequenz, mit 
der fie niemals hinter den Forderungen der Zeit 
zurüdblieb, — ſelbſt unter diefen gibt ed Viele, welche 
meinen, in Dem, wovon die Rete war, UNI 


_ 4 — 


fiht, mit welcher fie duldete, daß ihre Lehr 
Schüler der Unchriſten wurden, habe fie ihr 
Weisheit nicht gezeigt. Und doch läßt fie ſich! 
wie in allem Übrigen nachweifen: — Das Ch; 
thum, d. h. der Geiſt, deſſen Wirkfamfeit mi 
Beginn der hriftlichen Religion anfüngt, befen 
feine eigentliche Aufgabe Die Überwindung der £ 
d. b. des Geiſtes oder der geiſtigen Mächte, : 
vor dem Eintritt des Chriſtenthums die Menſ 
beherrſchten. Um jenen Zwed zu erreichen, i 
erft nöthig, Da der neue Geiſt in fich er 
und fo muß er, um nicht im vorzeitigen K 
feine Kräfte zu vergenden, zuerſt ſich zurüc 
von der Welt; darum rufen, die zuerft von | 
Geiſte durchdrungen find, die Gründer und 
der Kirche Jedem, der fich zu ihr hält, zu, eı 
fih mit der Welt nicht befafien, folle die Wel 
fen und fliehn, nur dem Reiche angehören, das 
von dieſer Welt if. Zum Anfange ift dies 
wendig, aber auch nur zum Anfange, denn 
Zurüdziehn wird der Seind nicht überwunden, 
dern nur dadurch, daß man fein Rand erober 
zur Provinz macht. Dazu follte der chriftliche 
ih in feinem Rüdzuge ftärken, hat er durd 
felben feine Streitkräfte gefanmelt, dann ’ 
zweite Aufgabe die, den Eroberungdtrier 





— 45 — 


die Welt zu beginnen, ſie ſich unterthänig zu machen. 
Unter Welt war der vorchriſtliche Geiſt zu verſtehn; 
Das Chriftenthum hatte ihn vorgefunden in den bei- 
den Geftalten des Heidenthums und Judenthums, 
und darum ift die Aufgabe zuerjt, fich unbefledt zu 
erhalten von dem weltlich-, d. h. dem heidniſch- und 
jüdiſch- Gefinntjeyn. Während dad Chriftenthum 
in dieſer Rüdzugitellung in fich erjtarft, hat der von 
ihm geflohene Geift fich verjüngt in Islam. In 
ihm find die nichtchriftlichen Elemente verſchmolzen 
— dad alte Teftament und die Borftellungen der 
heidnifchen Sterndiener find die Quellen des Muha— 
medanismus — und Diefe Derfchmelzung tritt aus: 
drücklich gegen das Chriftentbum auf, und ift ihm 
diametral entgegengejebt, denn nicht nur ift ein aus 
der Kirche geſtoßner Ketzer Muhameds Lehrer ge: 
weien, fondern von Anfang an hat der Slam feine 
Beitimmung darein gefebt, in „diefer Welt“ zu herr- 
fhen. Was Wunder, wenn darum er, der von An- 
fang an „Herr diefer Welt” hat feyn wollen, von 
frommen Gemüthern als der Antichrift bezeichnet fit. 
Er ift wirklich das Weltlichgefinntfeyn zur Religion 
geworden, daher kann ald die Zeit gekommen ft, 
wo der chrijtliche Geift die Welt erobern foll, nur 
gegen ihn der Angriff gerichtet feyn. Gegen ihn, 
den Heren biejer Welt, Yak won, Te Yaustr int 


— 46 — 


Zeit erkennend, abermals die Kirche durı 
Dberhaupt ind Feld gerufen. Mit dem | 
fchrei, der Herr will ed — der Herr, weld 
Geiſt ift und dad Schwerdt gebracht hat gex 
Welt — ward der Eroberungsfrieg begonne 
Kreuzzüge, in welchen außer dem 5. Grabe € 
gewonnen ward, das die Mufelmänner uns nic 
der abgenommen haben: Zartheit der Empfi 
Erhabenheit der Gefinnung, ritterliche Begei 
für alles Edle, Achtung für Wiffenfchaft und 
— Ganz parallel nun diefer ihrer, zu verſchi 
Zeiten verſchiednen immer aber cojequenten, 
fung zur Welt gebt die, welche die Kird 
Weltweisheit gegenüber einnimmt: Zuerfi 
nung vor ihr, wer philofophirt ift eben de 
ein Keber. Daun wird ſolche Philofophie ge 
die Gottesweisheit ift, wer aber der Natı 
Weltweisheit eines Ariftoteles anhängt, heißt 
Endlich ift der Geift ihrer Lehrer fo e 
daß die Kirche ed wagen kann, ihnen eine 
oberungäfrieg gegen die ideen der Welt 
zuzumuthen; der Gottfried von Bouillon a 
dieſem Kreuzzuge der Ideen iſt eben Albert der | 
Er bildet den Canal, durch welchen die Bid 
griechiſchen Philofophie, die Lehren des Artf 
Durch den ferner die Philofophie, welche r 





— 4 — 


Sudenthnm nad feinem Contact mit griechifchen 
Speen hervorgegangen war, Die |. g. alerandrinifche 
Philoſophie Eingang ins Mittelalter gewinnt. Beide 
batten, aus der chrijtlichen Welt vertrieben, bei den 
Arabern Schuß, Überfeger und Erklärer gefunden. 
Bon jüdifchen Ärzten aus dem Arabifchen ind La— 
teinifche überſetzt, kamen nun diefe Schriften mit den 
Erklärungen der Diufelmänner in Alberts Hände, 
und mit welchem Fleiße er fie jtudirt hat, zeigen die 
21 Soltobände, in welchen er großentheild nur ihre 
Lehren vertheidigt und erläutert. Es iſt ein merk⸗ 
würdiger Anblid, wenn man ald Schüler zu den 
Füßen ded Erzheiden Ariftoteled den großen Kirchen- 
lehrer fiten fieht, der (ald wäre Ariftoteles noch nicht 
unchriftlich genug) ihn fich von Antichrijten commen⸗ 
tiren, von Juden interpretiren laßt und dann mit 
ganz gleicher Ehrfurcht Bibelfprüche, Lehren Des 
Ariftoteles, Ausſprüche der Kirchenväter, des Avi⸗ 
cenna und Des jündiichen Arztes David anführt, um 
die Wahrheit der Tatholiichen Lehre zu beweifen. 
Merkwürdig aber nicht unbegreiflich, deun es han: 
belt fich eben darum, den ganzen Kreid der Ideen 
nichtehriftlicher Weltweisheit in die Dienftbarkeit des 
chriftlichen Geiftes zu bringen. — Verſteht man, wie 
Died gewöhnlich geichieht, unter fcholaftifcher Phi: 
Iofophie die Verſuche, areigiige numautiin, str 


_ 8 — 


telijche Philofophie mit der Kirchenlehre zu verſch 
zen, fo wird man Albert (fo wenig haben feine & 
arbeiten den Nachfolgern zu thun übrig gelaffen) 
größten Repräfentanten derjelben nennen müflen. 
ift e8 aber auch, wenn man zweitend mit dem W 
Tholaftifch eine beſtimmte Behandluugsweiſe 
Philoſophie bezeichnet, die feinen haarfpaltenden 
griffözerlegungen nämlich, zu welchen die Phil 
phen natürlicher Weiſe kommen mußten, welche 
Aristoteles, der felbit ſchon dieſe Neigung hat, | 
ten, und dabei den Verſuch machten, mit feinen 
ren die, einem ganz andern Boden entwachſ 
firchlichen Dogmen zu verbinden, was ohne jd 
finniges, oft gewaltfames Diſtingniren nicht md 
war. Auch in diefem nun hat es dem Albert ke 
der Folgenden um fo viel, ald er den Frühern zu 
gethan. Seine Unterfcheidungen der Wefenheit 
der Dingheit, beider von der Washeit, feine Fi 
ob Feuer nur durch Feuerheit Feuer fey u. f. 
find fo fubtil, wie fie zwei Sahrhunderte nac 
nur hätten jeyn können. Dergleichen Unterſuchm 
find heut zu Tage vergeffen, und man kann im 
fern fagen, das fcholaftifche Philofophiren Hab 
gehört, als kein Vernünftiger fich mit der 
beichäftigen wird, über welche fich im Idten 2 
bert Die Philojophen die Köpfe zerbrachen 





— 49 — 


gelegentlich zerichlugen: ob wenn ein Kopf nicht durch 
ein Loch geht, dieſes von der Kleinheit Des Lachs 
oder der Größe des Kopfs herfomme. Eines aber 
ift geblieben, was nur im Gefolge jener Unterfuchun- 
gen ſich Eingang verfchafft hatte: Der Gebrauch einer 
ftrengen, großentheild Nriitotelifchen, Dann, oft Schlecht 
genug, ind Zateinijche überjegten, Terminologie. Der 
Gebrauch dieſer Kunjtaustrüde, ohne welde man 
fih in jenen fubtilen Unterfuchungen verwirrt hätte, 
wird nun gleichfalld mit dem Worte Scholaftiich 
bezeichnet, und wenn man Das Kantiiche Philofophi: 
ren ein ſcholaſtiſches nennt, jo will man nicht fagen, 
daß er die Fatholifchen Dogmen vertheidige, auch 
nicht, dar er von Feuerheit und Dingheit fpreche, 
fondern daß; er ausländiſche Kunſtausdrücke brauche. 
Der Name ift and) paſſend gewählt, denn daß wir 
folche Ausdrücke, ja daß wir gerade dieſe brauchen, 
läßt fih auf die Scholaftif und ihren großen Ahn- 
herrn zurüdführen: der allergrößte Theil Der philo: 
iophifchen Kunſtausdrücke, Die bei Kant umd Den 
Epätern vorfommen, findet fich ſchon bei Albert. Was 
vorher ſcholaſtiſcher Sarzon genannt wurde, hat ich 
feit ihmt bei den Deutfchen Philofophen erhalten, die 
länger als die übrigen lateiniſch fchrieben, dann 
als fie davon abgingen, wenigftend Den lateiniſchen 
zu dem dentjchen Anstrut Ginytügten, Ka U FIT 

& 


— 590 — 


bekaunt blieb, endlich Davon profitirten, 
deutiche Sprache überhaupt fi) durch aut 
Worte zu bereichern pflegt. Die undeutſche 
ausdrücke jind bei ung geworden, was die a 
Ziffern für die Mathematif Europa's. W 
römitcher Diathematiker aus Nationalgefühl | 
die römiichen brauchen, jo würde ſich Di 
rächen. Eben jo würde es dem deutſchen 
phen gehn, wollte er fich jener Formeln « 
und ihm fönnte nicht einmal falfch verftand 
triotismus zur Cntfchuldigung gereichen, | 
ſcholaſtiſche Anftrich Der deutſchen Philofop 
alt, wie fie jelbft, er ift eine von ihrem ! 
angeerbte Samilieneigenthitmlichkeit. 


2. 


Genau drei hindert Sahr nad) dem Gi 
Bollftädt ward in Marin Einfiedeln der 
Ahnherr deuticher Philojophie geboren. Wa 
Stammbaum betrifft, jo prüfen wir nicht ; 
denn Philippud Aureolus Theophraftı 
baft v. Hohenheim hat in feinem Wap: 
Querbalken. Der Mann ift Darum nicht 
Der erite praktiſche Arzt feiner Zeit — 18 
die von allen Arzten aufgegeben waren, f 
gejtellt haben — hat er Durch feine ganz ' 





— 51 — 


rie der Krankheit, mit welcher er der bisherigen 
höchſten Autorität, dem Celſus, entgegentrat, ſich 
den Beinamen des Paracelſus erworben, unter 
dem er am Meiſten bekannt iſt. Es iſt einer der 
ſeltſamſten Menſchen die je gelebt haben. Von fet- 
nem Vater und einigen Alchymiſten jener Zeit gründ⸗ 
lich in der damaligen Chemie unterrichtet, begab er 
fi) auf die berühmteften Univerfitäten in Deutjch- 
land, Stalien und Frankreich, und ftudirte mit Lei⸗ 
denſchaft viele Sahre lang die Werke der griechtichen 
und römifchen Ärzte. Das Rejultat war eine gren- 
zenlofe Berachtung der Univerfitäten, welche ſich fein 
ganzes Leben hindurch in Spöttereien über das „Ba: 
rettlein” (Doctorhut) Luft machte, für welches, wie 
er fich in feiner derben Sprache ausdrüdt, mancher 
deutfche Narr feine vierzehn Ducaten zahle, um ein 
approbirter Eſel zu werden. Weil, was der Arzt 
wiffen muß, weder auf Univerfitäten noch überhaupt 
an irgend einem Drt fich beifammen findet, fo be: 
ginnt er fein raftlofes Wanderleben, auf dem er „bei 
Doctoren, Scherern und Badern, gelehrten Ärzten, 
Weibern, Schwarzkünftlern und Aldhymiften, in Kl: 
ftern, bei Edlen und Unedlen, Gefcheidten und Ein: 
fältigen Erkundigungen einzog.” So durchwandert 
er lernend und kurirend ganz Deutichland, Stalten, 
Portugal und Spanien, Krk We Ninueinnir, 

Ar 





— 592 — 


England, Dänemark, die Mark, Pri 
Polen, kommt nah Mosfau, wiri 
Zartaren gefangen, Dann nad Cı 
Thidt, durchzieht die Wallachei, 1 
bürgen, Croatien, bejucht die Inſe 
er endlich 1527, im 34ſten Jahr jeine 
arzt und Profeffor der Medicin in & 
türlih hat ed auf diefen Wander 
wärtigfeiten nicht gefehlt. „Die bet 
fagt er, trieben ihn aus Preußen, & 
Den Niederländern, den Univerfiti 
und den Mönchen gefiel er nicht 
Dank den Kranken gefiel er über 
mag wohl fehr gefunde Zeit gewefen 
gefiel er dort nicht lange. Daß er 
deutfch hielt, weil das die allein 
Sprache jey, erregte Anſtoß; mit t 
Eiferfucht feine glücklichen Euren er 
banden ſich die Apotheker, deren £ 
die Obrigkeit beaufjichtigt wünſchte 
alfo alle gegen fich, die in Natur 
Autorität galten. Schon nad) ein: 
ed, hat er Baſel verlajfen und fü 
ſtreifendes Leben wieder an. Born 
ruft ihn herbei, wo der Tod droh 
vorüber wird er oft verhöhnt, bi 


— 53 — 


fubtiler Geſelle, was man bei Milch, Käſe und Ha— 
berbrod” nicht werde. Hier wird ihm der vorang: 
bedungene Kohn vorenthalten, dort beftehlen ihn feine 
Knechte — ein und zwanzig an der Zahl hat ihm 
„der Henker genommen und von diefer Melt abge- 
than” — und fo iſt es ihm meijtend kaum möglich, 
anftändig gekleidet bei feinen Kranken zu erfcheinen. 
Endlih ruft Ernft Pfalzgraf zu Rhein, Erzbifchof 
von Salzburg, ihn als Leibarzt zu ſich; die ſpät 
erreichte Ruhe Dauert aber nicht lange, der Tod, wie 
andere meinen der Mord, ereilt ihn im 48ſten Jahre 
feined Lebens. Sein Beſitz an edlen Metallen fiel 
den Armen, feine Bibliothek einem Barbier zu. Die 
legtere beftand aus zwei Eremplaren ded neuen Te- 
ftaments, einer biblifchen Soncordanz, einen Gym: 
mentar des h. Hieronymus und einem geürudten 
medicinifchen Buch. — Paracelius’ Bedeutung für 
die Philofopbie ift, daß er, wie Albert, die Lö- 
fung einer neuen Aufgabe beginnt. Ber chriftliche 
Geiſt, welcher, im Gegenfat gegen den naturtrun- 
kenen Geift des Alterthums, damit begonnen hatte, 
die Natur ald den Gegenfah gegen die Gnade zu 
fafien, der darin fo weit gegangen war, daß er Alle, 
welche die Natur Liebten, als Zauberer oder Gott: 
Iofe von der Gnade ausſchloß, und im Streben nad 
übernatürlicher Heiligkeit der Ynaıt tt, — 


— 4 — 


dieſer iſt, namentlich durch das erneute Stud 
Alten dazu gekommen, nach der, 14 Jahrl 
hindurch verachteten, Mutter Natur ſich gı 
fehnen. Liebend erwartet fie die undankbaren 
und hält Koftbarkeiten bereit, die der Erſt 
foll der fich wieder in ihre Arme wirft. Dief 
war Paracelius. Die Wirkſamkeit bis dab 
angewandter Heilmittel, die er entdedt, und 
ihm zeigt, daß der Menſch an viel mehr Se 
biöher bekannt war, der Einwirkung der Rı 
gänglich ift, dieje läht ihn eine Menge von 
menhängen zwijchen dem Mienfchen und de 
verfum ahnden, welche er in feinen philoſo 
Schriften zu entwideln ſucht. Nur wenige ! 
230 Abhandlungen die er, ohne irgend ein £ 
Rathe zu ziehen, in die Feder dictirt hat, 
und gelangt. — In den mannigfachiten oft 
ftiihen Lehren wiederholt ſich darin eigent! 
ein Grundgedanke: daß die Welt ein dur 
Leben durchdrungenes Ganze jey. Steht al 
einmal feft, fo folgt von felbft, daß der Die 
ein Glied an diefem Ganzen, und wenn d 
nehmite, daß in ihm fich das ganze Univerfi 
centrirt. Dies feine Lehre vom Menfchen o' 
im Kleinen, ald Mikrokosmus, als Ertract d 
Aus ihr aber ergeben ſich ganz conjequent d 


— 55 — 
tiſchen Folgerungen, welche Paracelſus zieht. Wie 
wir vom Arzt verlangen, daß er erkenne ob geſtörter 
Puls aus Verknöcherung des Herzens oder aus ein— 
genommener Digitalis ſtammt, und für beide Fälle 
eine verſchiedene Behandlung erwarten, ſo iſt dem 
Paracelſus nur der ein Arzt, der in: kranken Men⸗ 
tchen, (gleichfam einen geitörten Pulsfchlag im Leben 
des Univerfums) Die Welt erkennt, und umgekehrt 
bei der Behandlung jedes Kranken auf den Zuftand 
des Univerſums, Stellung der Geitirne, Kometen, 
Erdbeben u. ſ. w. Rüdficht nimmt. Darum fol er 
Philoſoph jeyn, d. h. Kenner des Univerfumd, darum 
„Altrolog und Alchymiſt“ d. h. Aſtronom und Che: 
miler um die Natur der Planeten in den Metallen, 
beide in den Hanptorganen des Menſchen wieder zu 
erkennen, um einzujehn, daß die Leber die Natur 
des Eifens und de3 Planeten Mars habe und darum 
Leberkrankheiten als martialifche und Eifenkranfheiten 
zu behandeln find u. j. w. Forderungen der Art 
fieht man heut zu Tage als phantaftiich an, und 
ftellt ihnen die Behauptung entgegen, fie gründeten 
fich anf Nichts was ducch die Beobachtung gegeben 
fen. Was hätte Frankreichs größter Naturforicher, 
der verjtändige Cuvier, als er fich anheiſchig machte 
aus einem Zahn das ganze vorfündfluthliche Thier 
zu conftruiren, was hätte er ea, wenn u Are 


— 56 — 


in der Zoologie ihm eingewandt hätte das fey 
möglih, da ihm ein folched Thier nicht geg 
fey? Er hätte gelüchelt. Eben fo ter Phr 
Paracelſus, wollte man ihm von Unmöglich 
fprechen. Ihm iſt gegeben, was er nöthig Hat 
Menſch, diejer Zahn an Dem großen Megathe 
das wir Univerſum nennen. — Phantaſtiſch 
oder nicht, die Idee Der Lebens: Einheit des M— 
fung, Die Paracelius zuerjt ausſprach, ift De 
tende Gedanke aller Deutjchen Naturphilofophi 
worden und geblieben. Mag auch nur felten | 
in Paracelfiicher Kühnheit das Univerfum darg 
haben als Fortſetzung des Sinnenſyſtems, möge 
die Meiſten begnügt haben, Ahndungen dieſes 

meinen Lebens aufzuſtellen, alle deutſchen 9 
philoſophen, ja noch mehr, manche ſinnige J 
forjcher, Die e3 für eine Beleidigung halten wi 
wenn man fie Naturphilofophen nennen wollte 
wenn fie von einer Metamorphoje primitiver $ 
nismen, oder von einer Etufenfolge des Xeber 
Iprechen, unbewußt von Demjelben Grundged 
geleitet. Es muß daher zugeitanden werden 
deutiche, Naturphilojophie bringt wirflich Die, 

durch Beobachtung gefundene, Idee eined all 
nen Lebens oder einer wahren Einheit zu dr 
Scheinungen hinzu, und benrtheilt diefelben nar 





— 57 — 


Idee als nach dem Geſetz, das die Bernunft ihnen 
giebt. Sit dies ein Irrthum, oder ein Übel, fo iſt 
es nicht verfchuldet fondern angeerbt. 

3. 

Könnte man aber auch hoffen, daß der fcholafti- 
fche Anſtrich der deutſchen Philofopbie jo wie ihr 
naturphilofophifcher Tie auf Rechnung dieſes ihres 
doppelten Urſprungs gefchrieben würde, inımer biiebe 
fie doch für das Dritte verantwortlich, nämlich, 
daß ihre Religionsphilojophie nicht, wie die anderer 
Nationen, Die Grenzen reipectirt, die Philofophie 
und Theologie trennen, daß fie vergiät, daß der 
Scuiter bei feinem Leijten bleiben fol. Wenn nur 
nicht der dritte Stammherr deuntſcher Philoſophie 
— Sie ijt ein Drei: VBüterkind wie der Rhein mit 
dem fie verglichen wurde — wenn diejer nicht un- 
glüdlicher Weije grade ein Schufter wäre, der nicht 
bei feinem Leiften blieb! — Ein größerer Gontraft 
ift faum denkbar ala zwiſchen dem Bagabondenleben 
des Paraceljus und der bürgerlichen Haushaltung des 
Schuhmacher-Meiſters Sacob Böhme. Als Bauern: 
fohn in Altjeidenberg bei Görlitz geboren, beginnt 
er feine Laufbahn, indem er mit den andern Dorf: 
tnaben dad Vieh weidet. Auf eine Bifion, in der 
der Knabe voll Entiegen ih yon einen Quiüre ser 


— 38 — 


prägten Goldes abwendet, ift jedenfalls dies Gewicht 
zu legen, daß darin fich zeigt, wie wenig fchon das 
mals die Schäße diefer Welt jein Herz reizten. Zu 
einem Schuhmacher in die Lehre gegeben, fchöpft er 
feinen fonftigen Unterricht aus der Bibel und den 
Sonntagspredigten, und begiebt fich dann nach voll- 
brachter Lehrzeit auf die Wanderjchaft, während der 
er überall in die Streitigkeiten hineingeriifen wird, 
Die die Rutheraner von den Reformirten und Beide 
‘von den Katholiken trennen. Die Zweifel und inner 
Kämpfe die dadurch in ihm entitehn, jucht er durch 
eifriges Lefen myſtiſch-theologiſcher Schriften zu er: 
jtiden, oder beim Lejen von Paracelſus Werken zu 
vergeffen. Mitten unter dieſen Qualen tritt plößlich 
eine himmlische Ruhe ein, in der er fieben Tage 
lang, ohne daß dies ihn in feiner gewöhnlichen Ar- 
beit hindert, die Seligkeit völliger Ruhe, zweifels— 
freier Gewißheit und Earer Erfenntniß fchmedt. Ser 
ner Zuftand geht vorüber; nicht fpurlos, denn milder 
und fanfter als zuvor kehrt er in die Heimath zurür 
wird als Neunzehnjühriger in Görlitz Meijter u 
Ehemann, und lebt als Vater von vier Söhnen frie 
ih und ‚heiter als ehrfamer Schuhmachermeifter r 
feinem Gewerbe. Da wird im Jahre 1600 ' 
Fünf und zwanzigjührigen der Anblid eines vo 
Sonne erlenchteten Zinngefäßes zu dem, wa 


-59— 


: Sage dem Pythagoras zwei harmoniſch Eingende 
abofe wurden: zur Offenbarung des wahren We— 
38 ber Dinge. Die Ideen die ihm in jenem Aus 
mblide aufgingen, verſchließt er zehn Jahre in ſich, 
(8 aber zum britten Male ſich jener Zuftand ber 
Maxheit in ihm wiederholt, da fuht er — nur 
für fich felbft, darum in chaotijcher Weije wie fie 
ihm kommen — feine Ideen zu firiren, und jo entfteht 
feine „Aurora, ober Morgenröthe im Aufgange.“ 
Ein Edelmann findet bei ihm das unvollendete Ma- 
nuſcript und leiht es; von ben Abfchriften, die er 
bavon machen lägt, kommt eine in die Hände des 
Oberpfarrers Gregorius Richter, der nm bein näch— 
ften Gotteödienft vor verjammelter Gemeinde den 
vor ihm figenden Böhme als Keper und Aufrührer 
anklagt. Rührend iſt die Sanftmuth mit ber Böhme 
nach ber Kirche den Wüthenden um Belehrung an 
geht, rührend der Gehorjam mit ben er fich fügt, 
als der durch den Zeloten eingefchichterte Magiſtra / 
ihn aus ber Stadt verweift, und die Ergebung, mt 
der, als er am andern Tage zurückgerufen und ihr 
verboten wird, irgend Etwas zu ſchreiben, er au 
dies verſpricht. Gewiſſenhaft Hält er fein Wor 
obgleich, gegen die Abrebe, Richter fortwährend geg 
ihn predigt, und um ihn böfen Leumund zu errer 
feine Aurora umberjennet. Die Wie ver ST 


— 90 — 


mebrt fi), Freunde, beionderd der Ch 
Arzt Balthafar Walther, beitürmen ihn; 
nachdem er neun Jahre lang mit fich ſelb 
bat, vermag er es nicht länger; er er 
er müſſe fihreiben und fchreibt für fid 
Freunde. Hätte nicht einer derſelben 

Böhme’3 Aufſätzen duch Druck veröffentlic 
man ihn wohl in Ruhe gelaffen. Die 
nicht nur lateinische Schmähgedichte von 
Oberpfarrers hervor, jondern abermals 
beim Magijtrat. Diesmal ward Böhmen 
er möge zufehn ſich ver etwanigen ©ı 
Landesregierung ficher zu ftellen, und Di 
gemäß geht er nad) Dresden. Ein a 
Öffentliched Geipräd mit den bedeutendf 
gen, ein geheimes mit Dem Churfürften fi 
ihn Duldung, und da bald nad feine 
Richter ſtarb, To ſchien feine Ruhe nicht 
fährdet. Er jollte fie nicht lange geniei 
erite und legte Krankheit befüllt ihn; aı 
Stunde jagt er jeinen Tod voraus, und ı 
läßt er die Thür öffnen um deutlicher 
Muſik zn hören die er vernimmt, und e 
den Worten: Nun fahre ich hin ind Par 
durch eine höhere Autorität ward der 1 
liche des Orts, — noch dazu derfelbe, I 





— 61 — 


feinem Zode das Abendmahl gereicht hatte, — bes 
wogen, den Leichnam eines Mannes zu begleiten, 
den jeine Freunde als einen Heiligen beweinten, eine 
zahlreiche Secte noch heute als jolchen verehrt. — 
Außer dem, worin Böhme ganz Original ift, theilt 
er mit Albert dent Großen eine wunderliche Qermi- 
nologie, mit Paracelfus die, demſelben entlehntee 
phantaftifche Naturphilofophie, und fo könnte man 
ed fait billig nennen, daß er Schon jehr früh par 
excellence als der „deutiche Philoſoph“ bezeichnet 
wurde. Die Summe der ihm eigenthimlichen 
Speculation ijt: daß der Menjch, wenn er auf ſich 
verzichtet und durch Glauben und Gebet wiederge: 
boren tft, jo mit Gott vereinigt ſey, daß er in Gott 
wurzelnd, „radicirend”, jagt er, „gleichſam ein Eleis 
ned Götterlein in dem unermeßlichen Gotte iſt.“ 
(Biele haben die! Pantheismus genannt und vergef: 
fen, daß der Pantheift als ein natürliches Ver: 
hältniß Aller behauptet, wa3 nach Böhme nur von 
den Wiedergebornen erreicht wird, d. h. denen, welche 
fih mit eigener Selbftthätigkeit Gott Hingegeben.) 
Wenn alfo dem Paracelfus der Menſch Die Welt 
im Kleinen war, und man eben deswegen in dieſem 
Mikrokosmus, als in einem Spiegel, das Univer: 
fum fehn und begreifen Eonnte, fo lehrt Dem analog 
Böhme, daß der Menih, wenn u witenliuun, 


— 9 — 


d. h. von der Sünde befreit, Gott im Kleinen iſt. 
Es iſt darum durchaus nicht unmöglich Gott zu 
ſchauen, nur die Sündhaftigkeit (nach Böhme die 
monſtruoſiſche Geſtalt) des Menſchen macht, daß 
wenn er ſich in ſich vertieft, er Gott nicht erkennt, 
hat jene aufgehört, ſo findet der Menſch, daß ſein 
bisher verborgenes Weſen („der verborgene Menſch“) 
Gottes eignes Weſen ſey. Bei ſolcher Lehre fürchtet 
Böhme den Vorwurf der Hoffahrt nicht, er kannte 
nur eine Hoffahrt, ſie iſt: Nicht forſchen, nicht ſuchen. 
Suchen iſt die wahre Demuth; übt der Menſch 
dieſe und forſcht in ſich, ſo findet er von Allem, 
ſelbſt von den Schmerzen und Widerſprüchen in ſich, 
die (freilich ſchmerzen- und widerſpruchsloſe) Wurzel 
in Gott. Was darum vorhin von Paracelſus ge⸗ 
ſagt war, gilt auch von Böhme; auch ihm iſt der 
Menfch wie jener Cuvierſche Zahn, ein Spiegel def: 
fen, an dem er ein Glied ijt. — Diefer Böhmeſche 
Grundgedanke aber beherricht alle ſpätere Religions- 
philofophie in Deutjchland, namentlid) die des 19tr 
Jahrhunderts. Sie will nicht, wie Die oberflächli 
Halbbildung um Gott zu ehren ihn ent: menjchlid) 
vielmehr fucht fie aus dem wahren Menfhlid 
das Göttliche herauszuleſen, im richtig gefaßten € 
lihen die Wurzel des Dienjchlichen nachzuw 

Ihr iſt darin ihr Vorfahr voraudgegangen 





— 8 — 


mehr, er ift darin ihr direkter Lehrer geweſen, denn 
mehr oder minder haben alle neuern Religionsphilo: 
fophen aus Böhme geichöpft, obgleih Manche, de- 
nen die Sranzofen Priret und St. Martin Lehrer 
wurden, kaum willen mochten, wejfen Lehren Dies 
uriprünglich waren. Wir aber wollen e3 offen ge: 
ftehen: die deutſche Religionsphilofophie hat einen 
Beigeihmad von Theoſophie; es tft dies aber fein 
Zufall, fondern ift ihr angeboren. 


4. 


Menn nun aber alle drei Vorwürfe, die auf der 
deutſchen Philoſophie laſten — die fcholaftiiche Aus⸗ 
drucksweiſe, die phantaſtiſche Naturphiloſophie, die 
theoſophiſche Religionsphiloſophie — nicht zufällige 
Verſchuldungen der Generation treffen, ſondern An⸗ 
geerbtes, ſo möchte gerade der Gewiſſenhafte 
Bedenken tragen ohne Weiteres, wie uns gerathen 
wird, die alten Feſſeln zu brechen, da ed Doch ein⸗ 
mal nur ein Mittel gibt, ſich der Zahlung ererb: 
ter Familenſchuld zu entziehen: die Bankerott-Erklä⸗ 
rung. Als daher vor nicht gar langer Zeit im Na: 
men der freien Wiffenfchaft verfündigt ward: die 
wahre Philofophie ſey der Gebrauch der fünf Sinne 
(eine Philofophie die gewiß alle deutſche Beſchränkt—⸗ 
heit abgeftreift hätte, da durchaus Tin Sumtn IQ, 


— 64 — 


warum fich der Eskimo und Patagonier nicht zu il 
befennen follte) — da Eonnte ed um fo weniger dene 
verdacht werden, welche darin eine Inſolvenz-Erkli 
rung fahen, als ja ausdrüdlich von jenem Ausruf 
verfündigt wurde Die Deutjche Philofophie ſey „zi 
Gefchichte”, d. h. zu einer alten Gefchichte geworden 
Durch dieſe Erklärung wird nun freilich die Deutjd 
Philoſophie nicht injolvent, Da, der fie ausſprac 
von ihr Fein Mandat erhalten, dennoch könnte fi 
und Vieles fcheint das anzudenten, banferott feyı 
Es ift heute, vielleicht zu oft, die deutſche Phil: 
fophie mit dem Rhein, ihre Eigenthinnlichkeit m 
feinen grünen Waſſern verglichen, und ſpöttiſch könn 
man und fragen, wo wir in dieſem Augenblide fold 
Philofophie gewahren? Aufrichtig geftanden, fe 
Sahrzehenden ſuchen wir vergeblich nach dem majeft 
tifchen Strom mit immer neuen aber immer mal 
riichen Ufern; Die Waſſer, Die am Lauteſten raufche: 
find gelb und fcheinen dem Stromgebiete des Miſſou 
eber anzugehören als dem Des Rheins, die grüme 
die wir fehn, fcheinen Andern ftill zu ſtehn und folle 
grün feyn Durch ihre Gonferven. Und deunoch hoffe 
wir, daß der Strom der Philofophie noch nicht dr 
angefommen ijt, wo an beiden Ufern fein Der 
gefprochen wird, hoffen es, weil ja auch der ? 
feinen Bodenfee findet in dem er verſchwind 





— 5 — 


mächtiger, Elarer, aber grün herauszutreten, hoffen 
es, weil ſeit Pangloß deutſche Philoſophen Opti— 
miſten ſind. — Der Erbe muß des Erblaſſers Schul: 
den zahlen, allein es ſtreitet nicht mit Der Gewiſſen— 
baftigfeit dejfelben, wenn er Die Activa und Paſſiva 
de3 Erbes überfchlägt, nicht mit Der Ehrfurcht vor 
der Eigenthinnlichfeit dentſcher Philoſophie, wenn 
wir die Vortheile und Nachtheile erwägen, Die aus 
derjelben erwachſen werden. Dieſe vorauszuſehen it 
feine Prophetengabe nöthig, ſondern nur ein Rück— 
blick auf die Bergangenheit und die praftifche Regel, 
daß wer des Vaters Gewerbe ergreift, nicht hoffen 
foll, es beifer zu haben als er. Bon Albert dem 
Großen wird erzählt, er habe öfter Den Befud) 
beher Herren bekommen, Die aber nicht kamen um 
ſich über Wefenheiten und Dingheiten zu unterrichten, 
fondern weil ein von ihm verfertigtes Automat, ein 
Kopf der ſprechen Eonnte, ſie unterhielt. Das iſt 
ein bedeutjaner Wink für den, der ſich dem Dienfte 
son Alberts Tochter weihte, für den deutjchen Philo⸗ 
ſophen. Es gibt für ihn nur ein Mittel, um in 
den höhern Kreiſen willkommen zu ſeyn: er bringe 
einen Kopf mit der zu ſprechen verſteht und 
unterhält. Wer durch etwas Anderes, durch ſeine 
Philoſopheme, Bewunderung erregen will, läuft Ge- 


fahr, daß man ihn ſo bemuntert woie ae an MIETE 
m 


— 66 — 


mariage force den großen Philofephen Panc 
wundern, wo er beweilt, daß man nicht fagı 
Form des Huts, fondern Geſtalt Des Huts. 
nöſer iſt Died geworden, Dat Albert ein alte 
taire war, denn Damit iſt das Schickſal fein: 
ter, der deutichen Philoſophie, bei den Fraı 
ſchieden. Sch verdenfe es Feiner Derjelben, 1 
fi mit ihre Nichts zu Schaffen macht, fo I 
ihren ſcholaſtiſchen Sargen fpricht, Denn Nich 
einen häßlichern Mund ala der Gebrauch Di 
ſcheulichen Worte, und ein häßlicher Mund i 
lich vecht häßlich. Darin haben es Die 8 
beffer, und als ich in College de France eüı 
eleganten Vortrag über neuplatoniſche Phi 
anhörte, und Da zwar ſehr wenig Student 
deito mehr Damen fah, wandelte mich eine 9 
an. Indeß es fiel mir ein, daß ganz nah ı 
Haufe, in dem ich mich befund, vor 700 
ein großer Lehrer der Philofopbie wohnte un‘ 
deſſen ganzes Lebensglück zerjtört ward und I 
Ort zu Ort gehest, ald Verbannter und G 
ftarb, weil er eine fchöne und geijtreiche € 
gefunden. Sch dachte an ihn, ich Dachte a 
Baterland, das fo Viele anfzuweijen bat, 1 
ner und geijtreicher find als Heloije, — und i 
meine Unaufmerkjamfeit im College de Fre 





der Bemerkung: Lindlich, fittlih! Am Ende hat 
die Einrichtung bei und, wo Studenten fi für 
logiſche Kategorien begeijtern, ja ſogar duelliren, Die 
Zrauen aber zu denken pflegen: ein Philoſoph! Ha! 
— am Ende hat fie uach ihr Gutes. — Wenn Albert 
der Große äugleich mit feinen Sormeln auch feine 
Stellung in der Welt auf ung vererbt hat, fo lehrt 
des Paracelſus Echidjal, was wir zu erwarten 
haben, jo lange wir Naturphilojophie treiben. Die 
Naturforſcher des Jahres 1850 find nicht nachlichti- 
ger gegen die Naturphilofophie, als die Basler Phy- 
fiei in Fahre 1527 gegen den Vater derfelben. In— 
deß hat Dies auch fein Gutes, denn fo gewiß die 
Che zwiſchen Naturforichung und Naturpbilofophie 
im Himmel gejchloifen ist, und fie einmal zujammen 
fommen müſſen, eben fo gewiß iſt vor ihrer, wie 
jeder, zu früh gefchloffenen Ehe zu warnen. Für's 
Erſte wird wohl das Befte für Beide feyn, daß fie 
ihr Geſchäft abgejondert von einander treiben; Der 
Beifall der Forſcher könnte jeßt der Naturpbilo: 
ſophie gefährlich werden, fie verlangt nur Duldung. 
Wird aber auch diefe verfagt, und über die Natur: 
philofophie geipottet, weil jie den Flug in die Sonne 
verfuche, wird fie geſchmäht weil fie die Forſchung 
nie gefördert, immer gehindert habe, wird endlich 
zu laut Damit geprahtt, Ta st Kat ie hun 
. n* 


— 8 — 


der Naturphilofophie getrennt, Die Naturforfi 
Fortichritte gemacht habe, nun Da werden wir 
wehren, indem wir bemerfen, Dal; e3 doch gut 
dag einmal Einer in Gedanken in die Sonne 
und von da aus Die Planeten betrachtete, da 
ein Naturphilofoph war, Der ſchon vor fu 
Sahren zum Gelächter der Forſcher behanptete 
Schädel beftehe aus Wirbeln und der Organi 
aus Bläschen, endlich aber wollen wir (ganz 
fragen, ob es wirklich ein beneidendwerther Zu 
der Naturwifjenjihaft ift, wo man 26 Bejtand 
der Galle kennt, aber nicht weiß wozu die 
dient, und wo hinfichtlich Des Zwedes der Milz 
in der größten DVerlegenbeit wäre, went es 
glüdlicher Weife Milzkrankheiten gäbe? — 
fange endlidy die Philofephie auch Religions) 
ſophie ſeyn will, jey fie bereit Sacob Böh 
Schickſal zu theilen; fie wird genug Ober: und I 
pfarrer finden, die, heißen fie gleich nicht Ri 
doch ale Richter und zwar als Schlecht inftruirte 
fie urtheilen und fie für vogelfrei erklären we 
Hat auch fein Gutes! Kann doch eben, we 
vogelfrei, nur die deutfche Philofophie frei, wi 
Bogel in der Luft, ihre Epeculation beginnen, 
wenn fie auch dazwifchen fich verirrt, fo ift e 
ein Andere? um eine Haustaube die von 





— 69 — 


wieterfonmt, ald um einen Bogel den man an einem 
Faden fliegen läßt. Solche Fäden kennen Englande 
und Frankreichs Philofophen jehr gut. 

Damit aber, daß Die Philofophie Darauf ver- 
zichtet, denen zu gefallen, welche die Seele der Ge: 
fellihaft bilden, daß fie zweifelt, die Naturforjcher 
zu gewinnen, und gefaßt ijt, den Hab der Theo- 
Iogen zu tragen, jcheint fie auch refignirt zu haben 
auf jede Wirkſamkeit, hat fie fich dem Flöfterlichen 
Leben Der Schule geweiht, md fchlägt hinter fich 
die Pforte zu, die in den Garten des Lebens führt. 
Und wenn dem fo wäre, fo tft noch nicht be- 
wieſen, daß fie Damit das Höchite opferte, Dem ed 
erheben fich manche Etimmen, weldye behaupten, jener 
Garten biete nicht Die fchönjten Früchte. Ich will 
von Sokrates nicht |prechen, welcher Die Philofophie 
pries, weil fie ein ftetes Sterben und ſich Los— 
machen vom Leben jey, nicht von Fichte, welcher 
zum Philojophiren einladet, welches Nicht: Leben 
fey, wie Leben Nicht: Philofophiren, — beide waren 
ja eraltirte Köpfe, die ein wohlgeordneter Staat 
nicht dulden kann, wie denn der Cine den Gift: 
becher trinfen, der Andere feine Profefiur aufgeben 
mußte, — es gefellt Sich aber zu ihnen en Mann 
von befferem Namen, Schiller, mit deffen Ausſpruch 
das Leben fey wicht ter Sirer ie, An ui 


— 70 — 


ereinigen läßt, Das Wiſſen ſey dieſes höchf 
„Göthe aber, ruft man, der hat des Lebens 
Baum und grüne Weide der dürren Spec 
und grauen Theorie Doch vorgezogen”, uni 
Autorität könnte ung ſchrecken, wenn nicht der 
der fo gern Mährchen und Räthſel erzählt, 
wir fie deuten und löſen, jene Ausiprüche - 
Mephiitopheles in den Mund gelegt hätte! 
ed ſey, Mephiſto-Göthe habe Necht, und zı 
fey der letzte Zweck, — was heißt denn 
Mancher hegt die fire Idee: in eignen Eleme 
eigne Natur gewähren laſſen, Dies und nur dir 
leben. Nicht nur die Fiſche gehören zu Diele: 
töpfen, Die es den Katen bisher nicht haben 
wollen, day im Waſſer zu ſchwimmen ei 
fey, fondern wo wir über Andere urtheil 
wir Alle diefen Begriff des Lebens zu Gru 
der größte Mathematiker feiner und aller 
Parlament (einmal und nie wieder) eine $ 
da war er unbedentend und aljo nicht er 
diefer Nacht lebte Newton nicht, er war 
lebte auf, als er zu feinen Rechnungen ; 

in welchen er lebte und ewig lebt. ( 
darum die Unfterblichleit erworben, ' 
wieder feine Zeit fo getödtet bat, daß er 
reden ausdachte, wie feinerjeits Pitt m 


— 1- 


fo töbtete, daß er werfuchte, Die Lehre von den lurios 
nen weiter auszubilden. Und dab es nicht feine, 
als folle durch den Mathematiker und Staatsmann 
von ber Philoſophie abgelenkt werden, als Plate jet: 
nen Staat ſchrieb, — fie fügen Hente, er Habe ihn 
geträumt. Wer gäbe nicht Alles hin, einmal Sol: 
ches erträumt zu Haben? — da lebte er; in jenem 
Traum lebt und wirft er noch heute. Als ev aber 
den Verſuch machte, einen Staat, wie fie es nennen, 
ins Leben zu ınfen, da war er gerade der Träne 
mer, ba iſt er unweiſe und aljo lebt Plato nicht. 
Die Zeit, die er in jenen fruchtlofen Verſuchen in 
ESyrakus zubrachte, bildet eine Lücke in feinen Lehen, 
wie jene Parlamentsnacht in dem Leben Newton's. 
Darum fort mit jeder Philoſophie, die ſich vom Ler 
ben trennt! Nur das it ums Philofephie, was ganz 
Leben ijt; wie Newton's Rechnen Leben war, wir 
es für Raphael fein eben gab, ald Malen, wi 
Beethoven nur lebt, wenn er in Tönen ſchwelgt, f 
fey und Bleibe dem deutſchen Philoſophen das Phil 

fopgiren — Leben. 

Bon jeher Hat man als Wappenzeihen der Phi 
fophie den nächtlichen Vogel der Minerva angefe 
die Eule, den Kauz. Den Schild der deutſchen PH 
ſophie werden drei ſolcher Nachtwögel zieren mũſ 
Ich Habe verfucht, dies he Wohhene a eds 


— 2 — 


dem ich auf alle drei — jeltfante Käuze fürwahr — 
hinwied. Diejer Schild möge aud) den fchügen, der, 
nachdem er vor einem mehr als jonnenhellen Tag 
ein Eulenlied angeftimmt bat, um des großen Dich: 
ters Adjolutionsformel bittet: Eolche Käuze muß es 
auch geben. 





II. 


Über 


Gollifion von Pflichten. 


1853. 











Hit nur, was der äußeren Ausjchmüdung des Le— 
bens dient, unterliegt der Mode; die Allmacht Die: 
ſer Herricherin erjtredt jich auf Gebiete, die man 
erhaben denken jollte über jeden Wechſel: Welche 
Probleme den einfamen Denfer beichäftigen, welche 
Fragen als für Die Mienjchheit wichtigften gelten, das 
ändert fich, gerade wie der Geſchmack au Werfen 
der Schönen Literatur, und was Der einen Generation 
als Lebensfrage erfchien, wird von der andern ale 
unbedeutend befächelt. Ein Ichlagender Beleg dafür 
iſt, wie verjchieden von ehemals jeßt Die Unterfuchun: 
gen angejehen werden, welche die Moral betreffen. 
Es gab eine Zeit wo Moral und Moralität die Lo— 
fung des Tages war, wo Seder, der auf der Kanzel 
ftand, Moral predigte, und — was entjcheidender 
tft — dabei gern gehört wurde, wo ein Schaufpiel 
fiher war zu gefallen, wenn es eine moralifche Ten- 
denz hatte, wo endlich philo\onhiüiige Eotame Wu 


e 


— 76 — 


beurtheilt wurden, ob in ihnen die Moral 
geordnete oder hervorragende Stelle einna 
bat ſich Alles geändert: Moralpredigten ſir 
Mode; hört man von einem neuen Stück 
ſey moraliſch, ſo geht man nicht hinein und 
Circus und das Ballet vor, wo dieſe Ten 
ger zu fürchten; was endlich die Philoſopl 
ſo giebt es — wenigſtens in Deutſchland 
mehr Profeſſuren der Moralphiloſophie, ja 
leſungen darüber werden immer ſeltner. 

unerörtert, ob dieſe Veränderung für oder 
Gegenwart ſpricht. Wer ſo denkt, wie je 
Frankreich, welche behauptete ein anſtändit 
dürfe das Wort decent nicht in den Mund ne 
es Dod) immer begleitet fei son Dem Neb 
des Gegentheild, der wird vielleicht unjere 
tuliren, Daß fie zu moralifch ſey um von S 
zu jprechen. Fin Andrer folgert vielleicht, 

eſſire fich für Anderes mehr als für Moral 
wie der Zeitgenofje jener Franzöſin, der eir 
er wolle gar nicht lengnen, daß Der Vate 
unmoraliiche Handlung jey, aber — was 
ſchlimmſte — es verftoße eine ſolche That ı 
guten Geſchmack. Entjcheide hier wer kanr 
Darin werden Alle einig jein: Gegenſtände 
zu betrachten ift veraltet, Das Moralifiren 


— — 


jenfeit einer vergangenen Zeit, die gegenwärtige 
t andere Quterejien. Nur Der Umjtand, da es 
um (Eine in dieſem Kreiſe geben möchte, Die nicht 
Sweilen es geduldet hat, daß ihr rococo als das 
Teufte” vorgelegt wurde, kann mir den Muth geben, 
f gleiche Rachficht zu rechnen, wenn ich aus einer 
veralteten Disciplin, wie Die Moral it, einen 
egenftand wähle. Es ijt einer Der, als noch mo— 
Afiet wurde, jehr häufig beiprochen, fpäter beinahe 
tgeſſen ward; ich meine naͤmlich die Fälle, wo me» 
Üiche Verpflichtungen mit einander in Streit gerathen 
x die jegenannte Gollijion von Pflichten. 

Seit jener gelehrte Phyſiker — den jein König 
bie Erklärung angegangen hatte, warum, wenn 
in einen Gimer Waſſer einen todten h Binz 
ut, der Eimer um das Gewicht des Jiſches, wenn 
einen lebendigen um gar Nichts ſchwerer wird 
Folge langen Nachdenkens den Gruud richtig 

gebracht hatte, und nun ber geijtreiche Fürft 

Ngte, dad das Factum gar nicht Statt habe, 

v wird es Jedem anzurathen jein, daß er vor 

* jeiner Stimme über einen Gegenjtand der 

ng zuiehe, ob es jich auch un etwas Reales 

Bei unſerm Gegenftande ift dies um fo 

biger, als wirklich bedeutende Autoritäten 
t haben, es gebe teine Kellitten won 











— 715 — 


ichten, und fogar den Trumpf Darauf f 
ein Moralſyſtem, welches einen Streit von ! 

ſtatnire, dadurch allein fid) ſelbſt verur 

‚el wichtiger ald fo ein Trumpf, und auch 

ichtiger als Die Ägide berühmter Namen, 
ne Behauptung, daß ihr Gründe zur Seite 
weiche Die Unmöglichkeit folder Colliſion 
beweiten jcheinen. „Pflichten, heißt es da, fin 
derungen der Bernunft, ein Streit der Pflichten 
alſo ein Widerjtreit unter Bernunftforderungen. 
ed aber gegen dad Grundgeſetz alled Denken 
ftögt, daß Die Vernunft (theoretifch) Entgegeng 
behaupte, jo muß man auch confequenter 
annehmen, Dat Die Vernunft, Die Doch Die Ei 
Selbe ijt, auch nicht (praftiich) Widerjtreitend 
dern kann“. Man kann Diefe Mnalogie d 
retiichen und praftifchen Verhaltens der 9 
und die Eolidarität ihrer Behauptungen ur 
rungen, zugeftehn, fie aber witer den Geg 
und jagen: „Eben weil die Bernunft, wo fi 
fehr oft Widerſprechendes als richtig be 
wegen ijt ed auch nicht unmaglich, Daß 
fie Gefeße giebt, Widerjprechendes für r 
Den Beweis, Daß die Vernunft wirkfis 
hauptungen führt, die ſich widerjprechen 
Die Denter des Alterthums in gewiſſer 


_ 79 — 


geliefert, Die man Trugſchlüſſe genannt hat: mit Un— 
recbt da fie, wenigizens einige, ganz ohne alle Täu— 
hung nur zeigen, tm welche Berwidiungen Die Ver: 
nunft gerathen kann. Eines diefer Raiſonements, zu 
feiner Zeit jehr berühmt, werde bier erwähnt, weil 
ed einen guten Anhaltepinkt giebt für unſere Unter: 
fuchung. Eine Mutter mit ihrem Kinde, jo wird er: 
zählt, tie auf ein Erocodil, Das ihr das Kind ent: 
riß, dann aber folgenden Pact mit ihr abſchloß: Die 
Frau jollte irgend Etwas jagen; wire was fie be: 
hauptete richtig, jo erhielt fte ihr Kind wieder, war 
ed unwahr, jo ward das Kind gefreifen. Die Mutter, 
wahrjcheinlidy um jichrer zu gehn ala ficher, fagte: 
Du wirft mir mein Kind nicht wiedergeben. „Un: 
glückliche, brüllte das Crocodil, jeßt muß ich e3 ja 
in jedem Falle verfchlingen, denn ſelbſt wenn ich es 
Dir wiedergeben wollte, verfiele eg mir nach unjerem 
Dertrage, weil Du gelogen hätteſt.“ „Unredlicher 
Barbar, replicirte Die Diutter, in jedem Falle muß 
ich mein Kind wiederbefonmen. Du darfft es nicht 
behalten, weil ich ja Dann die Wahrheit geiprochen, 
und nad) unſerm Bertrage Dad Leben meines Kindes 
gewonnen hätte.“ Co weit dies Geihichtchen. Es 
tft Har, Dad Das Raiſonement auf beiden Seiten ganz 
richtig it; Time Die Sache zum Proceß, jo müßte 
Die Zrau eine Dienge von Tetern Hier Wut Sum 


— 90 — 


eine Legion von Neffen bei den Gerichten a 
haben, und dort der Nepotismus jehr herricher 
nicht alle Drei Inſtanzen entſcheiden follten, de 
Theile Recht haben. Tas Kind würde ofı 
Zweifel dem Fiscus zugefprechen werden. — 
wie bier ſich wideriprechente Behauptungen 
richtig find und alfo eine Nernunft:Eollific 
ben iſt, gerade fo kann Sich-widerſprechendes 
ehr Prlicht fein und alſo ein Streit von I 
eintreten. Wer verſprochen hat, ein Unrecht ; 
mag anfangen, was er will, er wird feine 
verfeßen: er wird jein Wort brechen, wenn 
That unterläßt und wird ſich anflagen müſſer 
er fein Wort hielt. Wenn Eoriolan fich von 
und Gattin nicht erbitten lieh, jo verrieth er 
milienpietät und die Pflicht gegen fein Ba 
jeßt wo er Diefer nachgiebt, wird er zum V 
an dem Dolfe, dem er ſich zu Dienjt gegel 
ftirbt den Tod des Verräthers nicht mit Unr 
Situationen, wie die eben erwähnten, fon 
oft vor, als daß nicht auch Lie Moraliften, 
der Pflichten: Eollifion jedes Plätzchen in ihrem € 
verfagten, fich hätten vor der Macht der Th 
beugen follen. Zugleich aber find fie der A 
ſie ein bequemes Ausfunftämittel Darboten, um 
und Zhatfachen in Einklang zu bringen. Dr 





in jenen Fällen Das Verſprechen des Unrecht felbit 
eine Pflichtwidrigfeit, Goriolang Dienſt bei den Vols— 
fern felbit eine Prlichtverfeßung war, jo ward der 
urſprüngliche Sat, daß es feine Pflicht: Gollifionen 
geben könne, dahin bejchränft, Dat es feine gebe, 
die nicht ſelbſt verjchuldet wäre; jede Colli— 
ſion, welche vorkommt, folle zu den „Such der böſen 
That” gehören, Die fortzeugend „ſtets Böſes muß 
gebären.“ „Eben darum aber, hieß e3 weiter, bleibe 
es Dabei, daß im Syſteme der Moral fein Platz für 
die Gollifionen fich finde. Wie die Anatomie nicht 
Me gewaltſamen Verſtümmelungen berüdjichtige, welche 
man auf dem Schlachtfelde fieht, fo babe auch die 
Wiſſenſchaft von den Pflichten nur Das Allgemein: 
gültige zu betrachten, Habe bei den normalen und 
natürlichen Verhältniſſen ſtehn zu bleiben, in welchen 
eben jo wenig jtreitente Pflichten vorkommen, wie 
die Natur jene erplodirenden Zubjtanzen hervorbringe, 
durch Die jo oft Menſchen verunglüden, wenn fie 
willführlich Seindjeliges vereinigen, was Die Natur 
getrennt hielt.” Die Auskunft, daß Fein Streit der 
Pflicht eintritt, wenn man nur nicht ſelbſt durch Ver: 
letzung von Pflichten ihn hervorruft, fcheint wirklich 
aller Berlegenheit ein Ende zu machen, und empfiehlt 
ſich auch dadurch, daß bei den theoretifchen Bernunk- 
Eollifionen, von welhen aben Die Kite wir, CM 

& 


z Ähnliche Die natürlichſte und nächſtlieg 
ſcheint. Wenigſtens wenn man einem,en 
maaßen aufgeweckten Knaben die Geſchich 
:ocodil und der Mutter erzählt, fo pflegt 
nigem Kopfbrechen die Dummheit der Mut 
(lagen, alfo ganz wie jene Moralijten vom € 
gen, dat er nur Durch feine Unvernunft, in 
ich den Feinden verkaufte, in ſolche Gewiſſ 
zefommen fey, ganz jo behauptet der Knabe 
die Frau nicht jo unvernünftig ihren Sap < 
fo wäre ihr alle Noth eripart worden. U 
werden zugejtehn müſſen, daß wenn die Mu 
fagt Hätte: „Du bift ein beichupptes Un; 
oder: „Mein Kind iſt zwei Sahre alt“, ‘ 
Behauptung zwar nicht jehr galant, Die zw 
ſehr tieffinnig gewefen, in beiden Fällen 
Kind gerettet wäre. Allein Darum mit je 
ben und jenen Moraliften die Cache jo abz 
alle Bernunft:-Collifionen, feien fie 
retifche, ſeien fie praftifche, jind felbf 
dete und darım vermeidliche Zufälle, 
und abermals jchon die Denker des Altı 
möglich gemacht und zwar durch eine V 
erzählten Gefchichtchend. Diesmal figuri 
ftatt einer Mutter ein Mann. Dieſer 
Garten gerathen, in welchem jeder Ein 


Data 


pflichtet war, eine Behauptung auszufprechen. War 
diefe wahr, jo ward er erjäuft, Dagegen ward eine 
Unwahrheit mit Cröroffelung beſtraft. Da dieſe 
Alternative etwas unangenehm ift, fo Tuchte der Mann 
Beidem zu entgehn, indem er fagte: Man wird mid) 
erdroffeln. Died durfte nämlich jebt nicht gefchehn, 
weil er fonft die Wahrheit gejagt hätte und alſo 
nicht erdroffelt werden durfte, erfäuft aber durfte 
er gleichfalld nicht werden, denn dann hätte er ja 
gelogen, worauf das Erſäufen nicht ftand. Der 
Mann glaubte fich gerettet, der Wächter des Gejehed 
aber ſprach — gleich jenem Teufel in Dante’s Inferno 
— glaubft Du, ich fei fein Logiker? Du wirft er: 
Drofjelt, denn fonft hätteft Du gelegen, worauf ja 
Erdroſſelung ſteht.“ — Es ift Har, die Verlegenheit 
ift hier ganz wie dort bei der Frau, nur daß man 
bier nicht, wie vielleicht Dort, fagen fann, der Mann 
babe dumm gehandelt. Bet jedem andern Satze wäre 
er im Handumdrehen ftrangulirt oder erfäuft, jebt 
ift wenigftend eine Discuffion nöthig und da dieſe, 
allem Anfcheine nach, lange dauern wird, hat er 
wenigftend Zeit gewonnen. Wollte aber Jemand, um 
den beruhigenden Satz, daß der Vernünftige nie in 
eine Collifion gerathe, nicht aufzugeben, ed Dummheit 
des Mannes nennen, Daß er in fo einen Garten test, 
To Tieße fich denen, Dan jene genımte Nies St 
S* 


— 4 — 


ieue, ihm unbekannte Einrichtung war, i 
ven Garten der einzige Weg zum Arzte fi 
fein krankes Kind retten follte u. f. w., 
auf die ich nicht weiter eingebe, Damit nicht 
rung über ſeine, eines Melodram's würdige | 
mir die Faſſung raube, die zu einer genau 
ſuchung nöthig iſt. — In dieſer verbeiferte 
nun kann das, zur Übung des Scharfſinns 
Geſchichtchen als Wink dienen, Daß aud) in } 
Gebiete der Menſch ohne fein Verſchuld 
ähnliches Gedränge kommen kann. Eigentlich i 
zu wenig gejagt, die Erzählung ijt vielmeh 
treue Schilderung der fittlichen Lage eines S 
fih in den dermaligen Verhältniſſen fin 
weder gejchaffen noch verjchuldet hat. | 
hältniffe nämlich bilden wirklid) einen In 
dem in jedem Augenblid von ung gefe 
daß wir und ansprechen, immer aber a 
hende Tafel vor unjer Auge gejtellt i' 
zweierlei Arten ded Todes die Wahl läßt 
Welt, in die wir ohne unjere Schuld g 
immer die Wahrheit fprechen wollte, w 
bian gefcholten, wer fich auf Lügen 
heißt ein Schmeidhler, d. h. in dem el 
den wir von der öffentlichen Mein 
Dem andern jtrangulirt. Es giebt ' 





ſich zu retten: Wie jener Mann muß man pfiffige 
Redensarten erfinden, in denen die Wahrheit hinter 
Lügen verhüllt oder die Lüge mit Wahrheit verbrämt 
ift, in welchen der Ernſt fich Hinter Den Scherz ver: 
ſteckt, das Spiel ſich in ein ernites Gewand Eleidet; 
nur ſo fann ed gelingen, den grauſamen Nachrichter 
hinzuhbalten, den man Publicum nennt, und wenig: 
ftens fo fange, ald er unentfchloffen darüber iſt, wel: 
ches jener beiden ehrenrührigen epithetes und zu: 
fonıme, das eined artigen und feinen Mannes zu 
führen. Den Widerspruch fich Erenzender Pflichten 
erfahren wir in unfern compflicirten Berhäftnijfen 
überall: er begleitet ung auf Die Straße, wo wir 
den Hut ziehen müfjen vor Menſchen, Die unſere 
Verachtung verdienen, er tritt mit ung in Gefell- 
Schaft, wo Jeder, dem wir oder der und vorgeftellt 
wird, auch wenn er und ganz gleichgültig iſt, fein 
„Freut mich unendlich” erwartet, oder wo ein Andrer, 
deſſen Geklimper unſere Ohren zerreißt, berechtigt 
ift zu verlangen, daß wir durch Worte oder wenig: 
ftend durch Schweigen, die Übrigen glauben machen, 
er babe ung ergögt. Es giebt Viele, Die dieſe That: 
fachen nicht ableugnen, wohl aber daß fie muralifche, 
fittliche, Gollifionen enthalten. „Es handle fic dabei 
gar nicht um Pflichten, fondern um Befolgung 
von fittlich gleichgüttigen einander Bay, Ir 


_ 86 — 


banalen Phraſen der Höflichkeit würden zu fel 
ehrt, wenn man fie unter die Kategorieen von 9 
heit und Lüge ftelle, denn da Niemand, an d 
gerichtet werden, durch fie belogen werde, fo 
auch, wer fie gebraucht, nicht gelogen; Beweis 
fey, daß man ed gewiß Feinen Widerfprudh n 
wird, wenn Einer, der au einem Abend zehn 
Bekanntichaften gemacht und alſo „zehn unent 
renden” fich gerühmt bat, gleich Darauf jagen x 
fein ganzes Leben ſei ohne alle Freude verla 
So oder ähnlich Iprechen Viele, und mögen vie 
Recht haben. Aber auch diefe, nicht all zu rig 
fchen, werden zugeben, daß man ohne Schu 
Lagen gerathen kann, wo die Pflicht der Wahr 
liebe mit anderen Pflichten ing Gedränge kr 
Sie brauchen nur an die Fälle zu denken, Die 
Unterfuchungen über die Nothlüge noch Diode 
ren, vorzugöweile zur Sprache kamen: Soll maı 
mordluftigen Wahnfinnigen, der bewaffnet nad 
Verſteck feined Feindes fragt, Die Wahrheit |: 
Darf der fterbenskranfen Frau der Tod ihres K 
verheimlicht oder abgeleugnet werden, damit fie 
zu Grunde gehe? Ein großer Philofoph hat g 
bier fey die Sache ganz einfach, d. h. er ha 
Sollifion geleugnet, die ja nur darin beſtan' 
Mehrfaches gefordert ilt. „Wenn meine Fer 


— 87 — 


er, in einer Gemüthslage iſt, wo ſie keine Wahrheit 
verträgt, ſo verdient ſie zu ſterben, und alſo ſoll ſie 
fterben.“ (Zur Vermeidung von Mißverftändniffen 
bemerfe ich, daß er nicht etwa unglüdlich verheirathet 
war.) Handelte ſichs darum, gegen Fichte die Noth— 
lüge zu vertheidigen, fo fünnte man auf die Gefahr 
binweifen, daß jeßt ein jtreng moralifcher Arzt einem 
Kranken, der feine gefunde Kojt verträgt, nicht Queck— 
fiber, Sod, Opium und anderes giftiged Zeug ver: 
fchreiben, fondern ihn Dem Tode preis geben könnte, 
den er allerdings durch jeine Hirnentzündung, Skro— 
pheln oder Cholera reichlich verdient hat. Die Noth- 
füge aber zu rechtfertigen, ijt hier gar nicht meine 
Abſicht. Ich möchte nur den, weldher auf Fichte’s 
Worte ſchwört, fragen: wenn die Frau, deren Geiſt 
die Wahrheit eben jo wenig verträgt, wie ihr Leib 
die gejunde Koſt, Durch die Eröffnung der Wahrheit 
den, meinethalben verdienten, Tod erlitten hat, ob 
er, der die Scharfrichterrolle übernahm, fich gar Feine 
Gewiſſensbiſſe machen wird? Vielleicht antwortet er 
mit Nein! und das wird mir eine Betätigung dafür 
fein, was ich ohnedied weiß, Daß in Saden der 
Nothlüge am meiiten ohne Noth gelogen wird. Die 
Gegenfrage des Andern, ob wir und denn nicht ſchä— 
men würden — fogar in einem ſolchen Falle — ge: 
Iogen zu haben, kann und in keine Berlaggiitt tu 


_ 88 — 


gen. Unſere Behauptung iſt ja eben, daß nich 
Lebenslagen einfach, ſondern daß manche ſo ver 
ſind, daß, man möge thun was man wolle, 
ohne Schaam oder Reue gar nicht herausko— 
kann. Wir behaupten, daß dies nicht nur 

unſere Schuld veranlaßte Ausnahmen ſind, ſo 
daß in den Verhältniſſen, in welchen wir leben 
Colliſion der Pflichten, von der bisher 
die Möglichkeit behauptet ward, faſt in jeden 
genblicke Statt findet. 

Aber ſelbſt dabei wird man nicht ſtehen b 
können. Zwar kann es zu ſehr bedenklichen 9 
lelen verleiten wenn wir, wo der Finger ge 
wurde, nach Der Hand greifen, Doch werden wir 
ihr haſchen müſſen. Wird nämlich, wie bishe 
auf Die Dermaligen Berhäftniffe geſchoben, daß J 
ten collidiren, jo könnte immer wieder gejagt wı 
da3 finde Statt durch unſere Echuld, zwar 
durch Die Schuld des Einzelnen, der fich in Der 
lifion befindet, aber durch unfere Geſammtſchuld, 
welche Die Lebensverhältniſſe jo verzerrt find. 
gehn aber weiter und behaupten: es liegt ir 
Natur der Pflichten, daß ſie nicht erfüllt w 
fönnen, ohne daß Pflichten verlegt werden. 9 
Diefe „Natur“ oder das Weſen aller Prlicht F 
darauf leitet und jchen Die Art wie mn V— 


— 89 — 


tungen aufzunehmen pflegt. Wollte man Jemand, 
der in eine Geſellſchaft gebt, zur Pflicht machen, daß 
er ſich an dem Silbergeſchirr nicht vergreife, ſo wird 
er es an einer derben Antwort nicht fehlen laſſen, 
vielleicht gar eine Injurienklage anbringen. Es kann 
feltfam genannt werden, daß er die Berpflichtung 
zur Ehrlichkeit, die Doch gewiß nichts Chrenrühriges 
ift, gerade fo aufnimmt als würde ihm Das Gegen: 
theil zugemuthet, und Doch finden wir Alle Died ganz 
natürlich. Warum? weil Verpflichten jo viel beißt, 
als ein Gefeß geben, und unfer Gefühl, ganz im 
Einklange mit jenem Bibehwort, welches fagt, daß 
ed für den Gerechten Fein Gefeß giebt, fondern nur 
für Den Ungerecdhten, nur Dort eine Berpflichtung 
begreifen kann, wo das Gebotene nicht von ſelbſt 
erfolgt, ein Gefühl, Daß auch nicht irrt, fondern 
Durch genauere Betrachtung nur bejtätigt wird: Jede 
Handlung nämlid) und jedes einzelne Wollen, geht 
and Dem, was den Willen in Bewegung febt, fo 
hervor, wie die Wellenfreife auf der jtillen Waffer: 
flähe aus dem Punkte Hervorzugehen fcheinen, in 
welchen ber erichütternde Stein fiel. Die fittliche 
Lage aber des Mienfchen, der unter Geſetzen und 
Pflichten jteht, bietet zwei folche Centra und zwei 
Wellenſyſteme dar. Das eine befaßt Die Bewegun: 
gen des Willend, Die nur aus dem du Sarut 


— 90 — 


hervorgehn, Die perſönlichſten Neigungen und 9 
des Herzens, in welche man fo ſehr das eig 
Eelbft des Menſchen und fein eigenites Ser 
daß man hiervon zu fagen pflegt, Dies thue 
felbft, oder hierin laffe er jich gehn. Dieſe 
zel des eignen (Selbſt-) Wollens jteht gegenüt 
andere Macht, vor der Das Perjänliche verſch 
und welche, durch die Vernunft zu ung ſp 
unjer Wollen auf dad Allgemeingültige richte 
die Wellen diefer beiden Kreife ſich begegn 
freuzen, da fühlt natürlich der Menſch fein 
liches Wollen, jene felbjtiichen Neigungen, ge 
und diefe Hemmung, diefen Drud und Zwang 
er dad Müffen oder Das Geſetz, fo daß all 
darin feinem Sich: gehen-faifen entgegengetret 
eigned Seyn verneint wird, wir es Keinem 
fen Eönnen, wenn Die Worte: „Du mußt Sı 
ihm Elingen wie „Du bift nicht jo”, Müifen i 
lich Berneinung des Seyne, ijt Nicht-ſeyn. W 
jede Pflicht ein Müſſen, fo war eg auch con 
wenn Kant, der Philoſoph, Der, weil ihm 
das Höchite war, fie am genauejten erforfı 
ihr Wefen darein febte, dat der Menſch ſic 
winde, feine perfönlichen Wünſche unterdri 
Schiller Hat in einem feiner Xenien dem Kaı 
welcher darüber Elagt, dab Neigung ihn Dier 





— 1 — 


gegen ſeine Freunde mache und er alſo feinen mora- 
liichen Werth habe, den Rath gegeben, er folle die 
Freunde zu verachten fuchen „und mit Unluſt alsdann 
thun was die Pflicht ihın gebent.” Der ächte Kan- 
tianer kann in dieſem Rathe feinen Spott Tehen, 
jondern nur das in hübſche Verſe gebracht, was 
Kant, zwar in Profa, aber wörtlich jelbft ausge: 
fprochen hatte. Er fagt ausdrüdiih: Wer aus Wohl- 
wollen dem Nebenmenſchen hilft, der handelt nicht 
moralifch, jondern nur wer ed thut, „ohne daß Na: 
tur ihn zu einem Dienichenfreunde ſchuf.“ — Freilich 
eine andere Folgerung wird ſich Der Kantianer we: 
niger gern gefallen laſſen, um derentwillen allein ich 
die trodne Unterfuhung, was das Wort Pflicht be- 
deutet, angefangen habe, und nody einige Schritte 
begleitet jein möchte: Pflihtmäpig handeln beißt: 
fi) überwinden, der eignen Neigung nicht folgen. 
Wem denn? Nur jener allgemeinen Macht, die den 
perfönlichen Wünjchen entgegentritt. Nicht Wohl: 
wollen, nicht Menfchenliebe, nicht die Sympathien 
des Herzens, follen nach Kant ung leiten, jondern 
nur Eines, die Liebe zum Geſetz, die Achtung vor 
ihm. Wie aber? diefe Achtung und Xiebe zum Ge: 
feß, ift fie nicht Luft an ihm, und wenn ich mit 
Luft an ihn handle, verſtoße ich nicht da gegen das, 
was Kant in Profa gelehrt und Schler ist 


— 1 — 


bat, gegen die VBorfchrift, mit Unluft zu 
Sch ſtehe da wirklich zwifchen Sceylla und € 
denn was von Menfchenfreunde galt wird 
auch vom Geſetzesfreunde gelten, und Die © 
alfo fo: nur wer aus Piebe zum Geſetz 
erfüllt die Pflicht, wer aber aus Lieb: 
handelt, verlegt die Pflicht, d. h. Fürzer au 
Pflichterfüllung iſt Pflichtverlegung 
aber ijt auch Der Beweis geliefert für Die 
tung, daß Pflicht-Collifienen aus Der 9 
Pflicht folgen, denn daraus, daß Die Pflich 
die Pflicht verleßt, ſchließen wir, daß jed 
erfüllung es thne mit Derjelben Sicherheit 
aus der Sterblichkeit des Menichen es fi 
jeder Menſch Sterben wird. — Cs find < 
nur die verzerrten Berhältnifie der Gegempa 
die Pflichten verwirren. Wir könnten dem 
paradieſiſchen Zujtande viel näher ſtehn, wi 
ten noch nicht verpflichtet zu ſeyn anf der 
zu grüßen, noch nicht genäthigt ung über 
kanntſchaft mit Hinz oder Kunz unendlich ; 
noch nicht gezwungen jedes Clavieripiel z 
dern, e3 brauchte noch gar Feine Tollhänus 
ben, die mit blanfen Degen umberlaufen, 
Frauen brachten noch nicht fo nervenſchwar 
daß eine traurige Nachricht fie tödtet, — a 





— 93 — 


könnte ganz anders ſeyn und doch, ſobald es nur 
Pflichten gäbe, gäbe es auch Colliſionen unter ihnen. 
Auch dann würde, wer wohlthätig iſt, ſeine Kinder 
verkürzen — der Glänbiger gar nicht zu gedenken — 
wer die Pflichten der Gejelligfeit übte, Die gegen die 
Armen hintanfeßen, wer ein Vergehen ftrafte, das 
Geſetz der Milde übertreten. Su wer weiß, ob nicht 
fehr nahe am Paradiefe das angefangen bat, was 
ſich jetzt jo fern Davon — wiederholt, Daß, wo 
die Frau der idealen Pflicht Der Geiſtescultur ent: 
jpricht, der Mann darin Die Derlegung der fehr 
reellen gegen Die Küche fieht. Kurz, immer fteigernd 
haben wir zuerit nur die Möglichkeit, dann die Wirk: 
lichfeit der Pflichten-Colliſion, endlich jogar ihre Noth— 
wendigfeit behauptet, jo Dat, wo es überhaupt Pflich- 
ten gibt, jie gar nicht ausbleiben kann, und 
zwar nicht weil wir Died jelbjt verfchuldet haben, 
oder Die Schuld unferer Väter tragen, fondern weil 
der Boden, auf welchen Pflichten wachjen, dem Des 
Urwaldes gleicht, Deilen ſich kreuzende Schlingpflan— 
zen Jeden verjtriden, der hinein geräth. 

Die Rage des Menjchen, der fich im Streite der 
Pflichten abquält, iſt zu jehr der des Irion ähnlich), 
als dat nicht die Frage entjtehen follte: Gibt es da 
feine Hülfe? So lange man über GCollifion von 
Prüchten nachdenkt, hat man daher u pr TUE 


— 4 — 


fich aufgeworfen, ja nur um fie zu beantworten, Die 
ganze Unterfuchung über jene angeftellt. Ein Aus: 
funftämittel hat viel Beifall gefunden und findet ihn 
noch: „Muß einnal eine Pflicht verlegt werden, fo 
erwäge man, wo anı wenigiten Echaden angerichtet 
wird und faſſe Darnach feinen Entſchluß.“ So wohl: 
meinend diefer Rath ijt, jo erinnert er Doch etwas 
an jened, gewiß auch in guter Abficht gedichtete 
Lieb von zwölf Strophen, zum Gingen für den 
Dachdeder beftimmt, wenn er dad Unglüd haben 
follte, vom Thurm zu fallen. Man verſetze ſich 
sur recht lebhaft in die Lage, die bei den Unter: 
fuchungen über ftreitende Pflichten das ftereotgpe 
Beifpiel abgab: Zwei Schiffbrüchige haben fich auf 
ein Brett gerettet, das nicht im Stande ift, Beide 
zu tragen, und die Pflichten der Selbſterhaltung und 
Menſchenliebe find im Streit. Nach jener Regel 
muß der geopfert werden, an deffen Leben am we: 
nigften liegt, und fo entjteht (vorausgefeßt, daß Beide 
pflichtgetreue Menfchen find, Die ihr Lehrbuch der 
Moral gut im Kopfe haben) ein Kreuzverhör zwiicher 
Beiden auf der fchwimmenden Planke. — Geſetzt 
nun, es zeigte ſich, daß jeder von ihnen drei Sinr 
ben zu verforgen hat, fo verlangt dag Compendi 
daß entichieden werde, an weilen Kindern mehr 
!oren gebt, wenn fie ohne vwäterlihe Aufſich 


— 5 — 


chſen, alſo welche die talentvolleren find. Wollen 
her Beide correct handeln, fo muß ein verglei⸗ 

endes Eramen zwiichen den Kindern angejtellt wer⸗ 
m, und daß fich dazu Beide nach Haufe begeben, 
m bort ihre hoffnungsvollen Sprößlinge zu verfam: 
nen, das halte auch ich für fie für das Rathſamſte. 
Benn nur nicht am Ende das fatale Meer den Urs 
laub verweigert, in der Bejorgniß, daß fie Darüber 
Hinaus wegbleiben! Hpnlihe Schwierigkeiten wird 
es überall haben, im Gedränge ſich kreuzender Pflich- 
ten jenem wohlgemeinten Rathe zu folgen: Bei jeber 
Erwägung der Art wird fi nämfich zeigen, daß, 
welcher Entſchluß auch gefaßt werde, neue Gollifio: 
nen entjtehn werden und aus dieſen wieder neue. 
Diefe alle vorher nur zu erwägen und zu verglei: 
en, dazu gehört mehr Zeit als der hat, ber fih 
entſcheiden ſoll. Der Grund, warum jener Rath 
nicht helfen kaun, liegt darin, daß er ein Palliativ 
gibt, anftatt eines Heilmittel; denn da er uns in 
dem Gebiete läßt, in bem, wie wir willen, ſtets 
Colliſionen zum Vorſchein kommen müſſen, fo bfei- 
ben wir immer dem Wandrer im Urwalbe gleich 
der vom Wege ab und in das Gewirre der Schling 
pflanzen hinein geriet$ und, wenn er eine Ran’ 
durchſchnitt, zu feinem Entjegen vor und Hinter fi 

Hundert neue erjcheinen Üeht, We um Bbo 


— 96 — 


hindern. — Wie aber? wenn es möglich wäre, ſich 
über das ganze Bereich ſittlicher Verwicklungen ſo 
zu erheben, wie jener Adler, den der in Schlingge— 
wächſe verſtrickte Reiſende um feine Flugkraft benei— 
det oder wenigſtens um ſeine Vogelperſpective, von 
der and der verlorne Weg überſchaut werden kann? 
Nie, wenn e3 die eigentliche Beitinmmung fittlicher 
Gonflicte wäre, die Sehnſucht nach jener höhern Re: 
gion zu weden und zu ihr den Weg zu eröffnen? 
Wäre dem fo, fo dürften wir in dem der Pflicht 
und ihren Collifionen unterliegenden Menſchen nicht 
ein Gegenbild jehn der Srien, Tantalus und Siſy— 
phus, Sondern eine Beitätigung Der tröftlichen Lehre 
des Evangeliums, welches vom Geſetz zwar fagt, es 
verdanme und mache nicht jeliy und dennoch es als 
Wegweiſer anfieht Dorthin, wo alle Verdammniß 
aufhört. Es fragt fich, wozu wir gelangt find? 
Pflicht fand nur dort Statt, wo den, was der eigne 
Genius fordert, die allgemeinen Bejtimmumgen hem⸗ 
mend entgegentraten, wo, nach unjerem Bilde, von 
zwei Mittelpunften aus Wellenkreiſe erregt wurdeı. 
Denft man fih nun diefe beiden Centra ji inmer - 
näher kommend, endlich ganz in Eins fallend, ſo 
müßten offenbar alle Kreuzungen und Hemmungen 
aufhören und nur regelmäßige concentriiche Wellen 
ich zeigen. Iſt Dies nun möglich Hinfichtlich unferr 





— 97 — 


Wollens? Wenigſtens der Deutſche muß cd für mög: 
lich halten, denn wenn er fowel Das, wozu Das Per: 
fönlichfte in ibm, fein Genius, jein Talent ihn be: 
ftimmt, als auch die Stelle, welche Das Allgentein- 
weſen, der Staat ihm anweiſt, mit einem Worte 
bezeichnet: mit dem Worte Beruf, fo zeigt er, dag 
ihm Beides ein Gedanke, ein und diefelbe Cache 
iſt. Daß Diefe Sprechweiſe wirklich nur lautgewor— 
dene Weiſe des Denkens iſt, zeigt ſich in einer 
Menge von Erſcheinungen, um derentwegen man den 
Deutſchen zu verſpotten pflegt. Daß wir, wo Einer 
ein Amt erhielt, fügen, jetzt ſei er etwas, daß wir 
unſeren Namen, d. h. Die Bezeichnung unſeres perfön- 
lichſten Weſens ſo gern mit dem Namen unſeres Am— 
tes vertauſchen und lieber bei dieſem als bei jenem 
uns rufen hören, daß, wie ſie geſagt haben, bei uns 
Jeder ſich geſchmeichelt fühlt, wenn er nicht Müller 
oder Schultze, ſondern irgend wie, ſei es auch nur 
Thorwächter, heißt, — (obgleich doch jene Namen 
einen guten Klang haben und nicht erſt durch unfer 
witzigſtes Blatt innmortalifirt wurden) — wie oft ift 
nicht dies Alles und vorgeworfen. Seltſamer Weije 
hat man diefe ftolze Freude an feinem Amte Titelfucht 
genannt, während fie Doch leicht juft Dad Gegentheil 
Davon werden kann. Denn da ja Die Titel gerade das 
Amt, welches man bekleidet, unfichtbar au wachen 
a 


— 98 — 


pflegen, ſo wird, wem der eigne Beruf als der höchſte 
erſcheint, ſich argern können, wenn er einen Titel er: 
hält, den er mit Solchen theilt Die nicht feine Be: 
rufögenoffen find, und Durch ven, weil er nun jo 
titnlirt wird, wie die Andern, Der Welt verborgen 
wird, daß er etwas ganz Anderes iſt, als fie. Wie 
it allen Andern, jo bat man auch hierin ung Deutjche 
immer wieder auf Die nation-modele verwiejen, big 
jeßt aber ijt Der Nachweis ausgeblichen, warum es 
befler ijt, wenn man die Amtsthätigfeit zum devoir 
rechnet, ald wenn man fie in feinem fittlichen Haug: 
haltungsbuche auf Das andere Latus ſetzt. Vielleicht 
iſt es ultrasdeutiche Befchränftbeit yon mir, aber ee 
Icheint mir, als fünne dies Niemand verächtlich ma 
chen, daß er in jeine Amtstbätigkeit fein eigentliche 
Senn ſetzt, und ale müſſe (um bei dem oben erwähr 
ten beicheidnen Amtchen ftebn zu bleiben) eine Sta 
befier fahren, wenn ihr Thorwächter in feinem € 
ichärte jeinen „Beruf“ Sieht, d. h. feine eigne? 
ſtimmung und Prädeſtination, al3 wenn ed ihm 

als ein „Platz“ erjcheint, auf dent fich’s bequem ' 
oder gar als eine „Laſt“, Die ihm aufgebürdet wı 

— Laſſen wir aber die jtädtifchen Angelegenh 
und weuden ung wieder zu allgemein menſchl' 
denken wir ung einen Mann, wie ed Deutich 7 

zu denfen, fo Daß der Amtsname jagt was € 


weil darin angegeben ift was in ibm und worin er 
lebt, jo gibt mus jene Gemüthslage Gelegenheit, 
ein Geſetz zu erfennen, welches ebenſo ausnahmstes 
Die materielle Welt beherrſcht, wie Die ſittliche. Daß 
auf Otto von Guerike's leere Kugeln Die Luft mit 
einer Kraft drückt, die ein Dutzend Pferde nicht über— 
winden, daß dagegen wir, obgleich unſer Körper der 
Luft eine viel größere Fläche darbietet, uns in ihr 
leicht und wohl fühlen, ja daß jener Adler über dem 
Urwalde ſogar von ihr gehoben und getragen wird, 
— Das find allbefannte Erſcheinungen. Sie offen: 
baren ganz daſſelbe Geſetz, nach welchen Einem, 
fer Feine Muſik in fich hat, fie ſchwer wird oder 
läftig ift, während dem Andern, deſſen Ohr und Herz 
Muſik athmet, Sie wohl thut, ein Dritter endlich, 
dem fie das Mearf feines Lebens ift, auf Lünen ich 
wiegt und zu feiner Luft die Sonate fpielt, Die der 
Unmufifaliiche ſchwer nennt oder gar einen Finger: 
brecher. Ebeuſo ijt ed wieder ganz daſſelbe Geſetz, 
wenn, Der chne innere Größe ijt, ſich von einer 
Großthat gedrüdt, wenn der Geiſtloſe fich durch eine 
geiſtreiche Unterhaltung beengt fühlt, während dem 
Geiſtvollen dieſe zur Luſt, dem Großdenkenden jene 
zur Erhebung wird. Man hat dieſes Geſetz des ge- 
ſtörten und wieder hergeſtellten Gleichgewichtes ein 
Geſetz der Pnenmatik genannt, weil won aA un 
Nr 


— 10 — 


Luftarten beobachtet Hat, man ſollte es auch t 
wegen fo nennen, weil es über Die Geiſter herrf 
Diefes allgemeine Geſetz, daß nur das drü 
deſſen man ledig tft, nad umgekehrt, daß n 
und.innerlich erfüllt, keine Laſt mehr tft, Di: 
bedingt auch unſer Verhältniß zu unſerer ſittlie 
Athmoſphäre. Wie manche ſiebzehnjährige Dot 
Diana bat in der Penfion Die Geführtinnen entz 
Durch ihre Philippifen gegen Das Joch der Ehe, ! 
macht, wenn fie ald Nennzehnjährige ven Mann if 
Herzens gefunden, die Erfahrung, Daß Die verhaf 
Feſſeln Roſenketten jind, Die nicht drüden! Es 
fein Wunder, daß ihr jeßt Die Bande der L 
leicht Dünfen, es iſt Die Folge jenes pnenmatiſ 
Naturgeſetzes: fie ijt nicht mehr ledig, d.h. « 
der Liebe nicht mehr ledig. Ganz Gleiches wie 
holt fich bei Deu Manne, der Das Amt feines 4 
zens gefunden, und fi) nun ihm, wie die befe 
Männerfeindin dem Manne, hingab, fo Hingab, 

er, wieder wie fie, ihm Alles opferte, felbit fe 
Namen. Wie fein mag Die ſchöne junge Frau 
cheln, wenn eine Penfionsfreundinn fie bedauert 
gen ihrer fchweren Pflichten, wie ironijch beiſtimt 
wenn ihr gejagt wird, fie jey die Sklavin eines gi 
famen Despoten! Gerade wie ihr, ijt dem zu Mu 
der in feinem Amte feinen Beruf fand, und 





— 101 — 


prechen hört von Den ſchweren Pflichten Deifelben, 
wie es jtete Selbjtüberwindung fordere, wie es er: 
drüde mit der Laſt von Arbeiten. Alle diefe Noth, 
um derentwillen man ihn beklagt, hat er nie erfah— 
ren, ba feine zwingende Pflicht, jondern Die eigne 
Neigung ihn thätig ſeyn läßt, da er fich gehen läßt, 
wenn er jeinem Berufe folgt, da es Die Luſt am Ar: 
beiten ijt, Die ihn an den Arbeitstijch zieht, jo würde 
er den Andern gar nicht veritehn, wenn ihm nicht 
einfiele, dat es verſchiedene Eprachen giebt und Daß, 
wie er das franzöſiſche mariage de raison auf gut 
deutſch mit „Brodtheirath” wiedergiebt, ſo e3 ja auch 
denkbar iſt, daß dem, der vom deutſchen „Beruf“ 
nichts verſteht, er ſich ins Franzöſiſche überſetzt und 
zur „charge“, zur Laſt, wird. Erklären wird er ſich's 
fönnen, aber herab von Der Bogelperipective, Die wir 
fuchten, wird er mitleidig auf alle die bliden, welche 
thätig find, weil fie müſſen, wirken, weil fie verbun: 
den jind, arbeiten, weil ed zwingende Pflichten 
giebt. Ueber alles Diejes ijt er hinaus. — Hört aber 
in den Momenten, wo der Menſch nur feinem Berufe 
lebt, das Müſſen auf, jtellten fich ferner dort, wo es 
ein Berpflichtetjein giebt, ganz ficherlic) Colliſionen 
ein, fo folgt, dag je mehr Einer in feinem Berufe 
aufgeht, um jo mehr der Streit der Pflichten ver: 
ſchwindet, während umgetehrt ter SHÄR ud Um 


— 12 — 


Berufe berans Amt uud Neigung, Müſſen und Wo 
len, ſich jcheiden, und uns in Das Yubyrinth fittliche 
GSolfifionen geratben läßt. Die tägliche Erfahrung be 
ftätigt dieſe Regel. Anı Krankenbette kann ein Zwei 
fel entitebn, ob Dem Kranken durch Ankündigung De 
naben Todes das Yeben zwar verfürzt, aber Gelegen 
beit gegeben werden fell, für jein Zeelenheil zu ſor 
gen. Wer wird bier zweifelhaft fein? Der Arzt 
Menner nur und ganz Arzt ift, gewiß nicht. Den 
wie er noch nie bei einem Kranken einen andern Ge 
danken gehabt bat, als zu thun was feine einzig 
Luft ijt: Leben zu verlängern, jo wird ibn Dies auc 
bier weder zweifelhaft ſein noch ſchwer. Ganz ebe 
fo wenig wird Der wahre Seelſorger ſchwanken, dei 
jen Leben ijt, Seelen zu retten, dem es nie Selbfi 
übenwindung fojtet Dies zu thun, und der ed ebe 
darum auch heute nicht bedenklich finden wird. Ne 
ner von Beiden empfindet alſo eine Colliſion. Sı 
bald aber der Cine anfängt auch an das Scelenbei 
der Andere auch an die Pebensverlingerung zu Der 
fen, d. h. ſobald Sener halb Arzt und halb Seelſor 
ger, Diejer halb dieſes halb jenes wird (mıd Cold 
die ganz Seelſorger, find ungefähr jo ſelten zu finde 
wie ein ganzer Arzt), fo tritt die Collifion der Pflid 
ten bervor mit ihren jich Frenzenden: „Ich möchte 
und „ich müßte”, „ich dürfte“ und „ich könute“, am 





— 15 — 


ehe man aus dieſen Eubjonctifd beraus ijt, wird es 
im Indicatif heißen: der Kranke ift manſetodt und 
längſt begraben. — Das Mittel, aller Diejer Noth zu 
entgehn, dag man Eins fei und darum auch eind 
mit fich, inden man ganz in feinem Berufe auf: 
gebt, iſt heroifch und wird kaum anloden zu einer 
Zeit, wo ja jelbit das Wort „ganz“ vwerpönt jeheint, 
da ja bekanntlich der für gesichtet gilt, Den man 
„radical” nennt, und der für moralifch todt, den 
man Des „Abſolutismus“ zeiht, als wäre nicht dad 
Richteradicale nur Das Oberflüchliche, und als gäbe 
ed ein anderes Gegentheil Des Abſolutismus, als dad 
Unvollendetjein und Die Halbheit. Gleichviel! Wo 
Pflichten collidiren, und fie collidiren überall, wo es 
Pflichten, Geſetz, Zwang gibt, da hilft nur eine Ra: 
Dicalkur, und fie befteht nicht darin, eine eingetretene 
Sollifion zu löſen, fondern darin, dad Eintreten der: 
felben immer feltner, ja jo weit es gelingt, unmöglich) 
zu machen, nicht im Wegichaffen eines Synptomes, 
iondern im Heben der Kranfheitsurfache. Treibt aber 
die Colliſion der Pflichten dazu, ſich ſolcher Kur zu 
unterwerfen, nun fo kann fie in gewiller Weile ald 
etwas fittlich Wünſchenswerthes, wenigitens Fördern⸗ 
des angeſehen werden, indem ſie Den, der jenes hö— 
here Gebiet big jetzt nicht kannte, dahin weiſt tn Dem 
aber, der für eine Zeitlang ed veeh We Unit opt 


— 14 — 


Heimfehr wet. So hat ja Mancher, Den fein Poda 
gra nach Gräfenberg trieb, ſpäter es geſegnet, weil e 
von da nicht nur Gejundheit zurückbrachte fondern auc 
die Gewohnheit, Diät zu leben, oder — (um ein Bil 
zu brauchen, Das nicht von jo unangenehmen Neben 
gedanken, wie Dem des bloßen Waſſertrinkens, beglei 
tet ift) —: Jene befehrte Donna Diana, von de 
oben Die Rede war, eutſchied ſich To jchnell, weil fi 
ſich nicht zu Laffen wußte vor den Onälereien Der fic 
befänpfenden Bewerber. Hat fie Unrecht, wenn fi 
die Noth ſegnet, Die Jene ihr gemacht, und die fi 
dabin brachte, jo früh ihre Wahl zu treffen? 

Nun — und der langen Rede furzer Sinn? Mi 
Moral der Fabel? Doch nicht der abgeftandene Ge 
meinfpruch, daß Jeder vor feiner Thür kehren Tolle 
Kaum kann ich es leugnen, und ich bin in Verlegen 
heit, wie ich mich rechtfertige. Auf Plato mich be 
rufen, der Ähnliches gelehrt? das würde mir übe 
vermerkt werden, Denn bekanntlich Darf jich ein Pro 
feffor der Philofophie nicht auf einen Philojopher 
berufen, ſondern muß Dies Solchen überlaſſen, die kei 
nes von Beiden find. — Sagen: Da drumten bei um 
gäbe ed noch ftädtifche Polizei, und aljo würde, wem 
nicht jeder Hausbeſitzer vor feiner Thüre kehren ließe 
Died Die entjeßlichiten Folgen haben, das würde td 
felbft mir nicht vergeben, denn tab hieke ja burd 





— 19 — 


eignes Geſtändniß das Urtheil provociren, Das ohne: 
dies Vielen auf der Zunge fchwebt, Das fürdhterliche: 
„Ein Kleinftädter aus der Provinz!” — So gereiche 
mir denn zur Entjchuldigung, womit der Vortrag be: 
gann: Die Moral unferer Unterjuchung fun doch 
feine andere Natur Haben als die Moral überhaupt. 
Bon dieſer ‚aber war ja fogleich zugejtanden, fie fet 
rococo. — 


| 


IV. 


Über 


1848. 


H Jachen und Meinen. i 
| . 











Wxs man mit dem Worte Leben bezeichnet, das 
tritt ım3, wenn wir un ung bliden, zunächit in Der 
doppelten Sorn des Pflanzen: und Thier:Xebend ent: 
gegen. Se häufiger nun Die Erſcheinungen Diefer 
beiden Weiſen Des Lebens find, und je größere Man: 
nigfaltigfeit fie Darbieten, um jo näher fcheint Der 
Gedanke zu liegen, daß fie die beiden einzigen find, 
in welchen das Leben erijtiren Fanı. Hat man aber 
Dieje Borftellung ſich angeeignet, fo ift e8 ganz con- 
fequent, wenn man verlangt, daß Alles, was weder 
eine Pflanze, noch ein Thier ift, als todt angefehen 
werde, oder umgekehrt, wenn man fordert, daß Al- 
led, was für ein Lebendiges gilt, zum Thier- oder 
Pflanzen-Reich gerechnet werde. Es fcheint, ald werde 
beut zu Tage dieſe Sonfequenz ziemlich allgemein ge: 
zogen. Wenigſtens wer heute von einem Leben der 
Erde jprechen wollte, der Tiefe Gefahr für einen 
verworrenen Kopf gehalten zu werden, weil man ihm 
den (allerdings verworrenen) Gedanken zumuthete, 
Daß die Erde eine große Pflanze ſey, obaleik u Kt 


— 10° — 


nerfeit3 die Gegner, Denen Die Erde für tedt gilt, 
wohl durch Die Frage in Berlegenheit jeßen fünnte, 
warum denn fie nicht nur von einem Schickſal, 
fondern von einer Geſchichte Derielben Tprechen? 
Auf der andern Seite gilt Vielen Jeder für einen 
Myſtiker (was and) nicht viel beifer ijt, als ein ver: 
worrener Kopf), Der nicht Damit zufrieden iſt, wenn 
der Menſch als ein Sängethier bezeichnet wird, Das 
ſich durch feine zwei Hände auszeichne, wihrend Der 
Affe ihrer vier habe. — Wenn nun trotz allem den 
die Menſchen nicht aufhören werden, Durch Die Ihat 
zu zeigen, daß fie Jich Deu Thierreich nicht mehr ver: 
wandt und angehörig achten, als Dem Pflanzenreich 
(fie erklären dies, indem fie ſich ihre Yieblinge wicht 
nur unter Den Thieren wählen, tondern auch ans 
den Blumen) oder daß ſie ſich Höher fchäßen als 
beide (tie beweifen Dies, indem fie Den Berjuch ma— 
chen, nicht une Blumen, ſondern auch Thiere zu züch— 
ten und zu veredeln), fo entſteht Die wichtige Frage, 
ob der Menſch Die wirkliche, vor Der Wiſſenſchaft zu 
rechtfertigende Befugniß habe, ich eine ſolche ercep: 
tionelfe Stellung zuzuschreiben? Ein fchlagender Be: 
weis fiir dieſes Necht würde darin beitehen, dat ſich 
bei ihm Lebensänßerungen aufweiſen ließen, welche 
man vergeblich in der Pflanzen: und Thierwelt jucht, 
und die man eben deswegen berechtigt ijt, für and: 





— 11 — 


fchlieglich menfchliche Lebengericheinungen zu halten. . 
Auf zwei derjelben jey eg erlaubt, Die Aufmerkſam—⸗ 
feit zu lenken; fie find Das Lachen und das Weinen. 

Beide find rein menschliche Lebensäußerungen, 
denn die Lachtauben mit ihren jogenannten Geläch— 
ter, Das Crocodill mit jeinen (vielleicht gar erdichte: 
ten) Thränen wird nur der als Gegenbeweis anfüh— 
ren können, welcher meint, bloßes Luft: Ausitogen 
jey Lachen, bloßes Thränen-Vergießen jchon Weinen. 
— Beide Erſcheinungen geboren ferner zufanımen, 
wie Jeder erfahren wird, wein er den Verſuch macht, 
eine der beiden zu betrachten, und Dabei wahrnimmt, 
daß der Gedanfe der andern mit derjelben Noth: 
wendigfeit jich anfdringt, mit der wir, wenn wire 
einen rothen “led lange anſehn, einen grünlichen 
Rand um denjelben erbliden. Dieſe Zuſammengehö— 
rigkeit beider, welche Der deutſche Sprachgebrauch in 
manchen Gegenden naiv To audeutet, daß ev mit Dem 
einen Worte Greinen beide bezeichnet, wird nun 
auch bejtätigt durch Die Unterfuchungen der Anato: 
men und Phyfiologen. Leider fehlt es Hinfichtlic) 
beider — (beſonders hinfichtlih Des Lachens, Denn 
das Weinen iſt im neuerer Zeit glüidlicher gewejen) 
— noch ſehr an eracten Unterjuchungen, und wenn 
die Zeit noch lange währen jollte, wo man in der 
Phyfiologie als eracte Unterfuchungen nur Ve We& 


— 12 — 


läßt, Die fih auf das Mifrosfop und Die chemiiche 
Analyſe gründen, fo wird es begreiflicher Weile noch 
lauge daran fehlen. Wir wifjen kaum mehr als Dies: 
daß Das Lachen und Das Weinen Erampfhafte Bewer 
gungen gleicher Organe find, und daß Diefe Dr: 
gane Diefelben find, welche auch beim Sprechen Die 
wichtigfte Rolle jpielen: Die Athmungswerkzeuge, Die 
Muskeln des Geficht3 überhaupt, und des Mundes 
inebeiondere. So lüdenhaft nun auch Diefe Notizen 
find, jo reichen Doch fie allein fhon aus, um gewiſſe 
uns Allen befannte Erfahrungen, und zwar rein für: 
yerlich zu erklären: Seder weiß, daß es viel Schwerer 
ift, Das Lachen und einen zu verhalten, wenn man 
fpricht, ala wenn man ſchweigt. Abgejehn son allem 
Andern, hat Dies feinen rein Eürperlichen Grund Darin, 
daß beim Sprechen der Apparat in Bewegung ge: 
feßt wird, Der auch zu jenen beiden dient, und daß 
es viel ſchwerer ijt, Die Mafchine, wenn fie fich be— 
wegt, außerhalb des falſchen Geleiſes zu halten, als 
wo fie ruht. Nicht minder ift eg rein Förperlich zu 
erflären, warum wir, um nicht zu weinen, fehluden, 
um wicht zu lachen, die Stirn runzeln, Die Zähne 
zufanmienbeißen n. |. w.: die Organe des Lachend 
und Weinens, Der Kehlkopf, die Geſichtsmuskeln, 
werden in entgegengeleßter Richtung bewegt. Dar 
Schweigen um nicht zu lachen, ijt Daher ganz, w 


bei Der Locomotive das Bremien, das Schlucken 
un nicht zu weinen, was bei ibr das Reveräfiren. 
Bedenkt man endlich, Dat Derielbe Nero, der einen 
großen Theil jener Bewegungen vermittelt, auch Die 
Thränendrüſen beberricht, jo iſt — abermals rein 
förperlih — erklärbar, warum Das Schluchzen im: 
mer, das Lachen ſo oft mit Thränenerguß begleitet 
iſt. Wegen dieſer körperlichen Zuſammenhänge kann 
ich es darum nicht für ſehr wunderbar halten, wenn 
jener Maler mit einigen Pinſelſtrichen ein Luchendes 
Kinderantliß in ein weinendes verwandelt: mit einem 
ganz gleichgültigen Geficht wäre ihm dies Knuſtſtück 
vielleicht ichwerer geworden. — Sieht man weiter 
zu, welchen andern Lebensäußerungen das Yachen und 
Weinen am Nächiten ſteht, To ſcheinen ſich zwei große 
Klaſſen von Erſcheinungen um ihren Befiß zu ſtrei— 
ten, welche eben wie fie Gemüthszuſtände verratben: 
Auf der einen Seite nämlich ftehn Die Gebehrden, 
jene Zeichen von Gemüthszuſtänden, Die zwar nicht 
ganz beliebig und nur conventionell find (denn Se: 
der weis von Natur, was es heißt, wenn, Der fid) 
fhänt, fich Die Augen bededt) doch aber der Will: 
führ unterworfen find, denn man kann es un— 
terlaſſen, Tich Die Augen zu bededen. Ganz anders 
Dagegen verhält e3 fich mit der andern Klaſſe hier: 
her geböriger Ericheinungen, yon mu ih NUN 
V 


— 14 — 


fpiel nur Das eine Erröthen anführen will. Daß, 
wer fich ſchämt, fich Die Augen verbirgt, dag finden 
wir erklärlich, weil es feinen Gemüthszuſtand paſ— 
end ausdrückt, daß uber wer fich ſchämt, rotb wird, 
dies finden wir nicht nur erflärlich, fondern natür: 
fi, nothbwendig. Warum machen wir Dielen 
Unterfchied? Weil wir wiſſen, daß bier Die Will 
führ nichtd Direct vermag, während fie Dort Alles 
vermochte. (Direct vermag fie bier michte, wäre 
es aber möglich, Dar in Dem Augenblick, wo Das 
Blut in die Wangen jteigen will, ein Gemüthszu: 
ftand hervorgerufen würde, Der ed von da vertriebe, 
fo bliebe es natürlich wo es mar, und indirget wäre 
das Erröthen vermieden. Und bier zeigt ſich mieder 
einer von Den unzähligen Fällen, wo Die gütige Nas 
tur den Frauen durch unmittelbaren Tact offenbart, 
was wir in jahrelangem Forſchen, oft vergeblich, fu: 
chen. Es kommt oft vor, dal in Gegenwart einer 
Frau ein Wort geiprechen wird, das, wäre fie un: 
beobachtet, ihr gewiß Dad Blut ins Antliz triebe. 
Sept aber erröthet fie nicht, aus Angſt ſich zu com: 
promittiren. Aus Angft. Wie fein, mie phyſiolo— 
giſch richtig! Die Angft macht erblaiien, und Darum 
giebt ed fein jichreres Mittel gegen das aufrühreri: 
The Blut, ald die Angſt. Wir können dieſe Geſchit 

lichleit nur bewundern, wir haben fie nicht, ed g 





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bört zu dem Bielen, was wir veritehn, ja lehren 
fönnen, aber nicht machen, und man könnte verjucht 
feyn, bierin eine Ungerechtigkeit der Natur zu jehn, 
wenn fie nicht ihre audgleichende Macht Darin gezeigt 
bätte, Daß fie ung viel weniger Schamhaftigkeit gab, 
und — einen undurchlichtigern Teint), — Zu wel: 
cher nun von beiden Klafjen gehört das Lachen und 
Meinen? Zu den der Willkühr unterworfenen Ge: 
behrden, oder zu jenen der Willkühr enthobenen, 
wie das Erröthen war? Sie fallen, wie ed jcheint, 
zwifchen beide, denn je gewiß es iſt, daß man Durch 
den bloßen Willen das Lachen unterdrüden kann, fo 
ift ed Doc) eben jo gewiß, Daß man Durch den bio- 
Ben Willen es nicht hervorbringen kann — ein for: 
eirtes Lachen iſt Fein Rachen — und auch was das 
Unterdrüden betrifft, Ichrt Die Erfahrung, daß die 
Meijten ſich nicht auf ihre Willenskraft verlaffen, 
fondern (wie dort beim Erröthen) Umwege machen, 
indem fie den Rath befofgen, den fchon Knaben ihren 
Schulcameraden zu geben pflegen, wenn nicht gelacht 
werden darf: fie denken an etwad Trauriges, ein 
Mittel, das übrigens nicht immer dad beite feyn 
möchte, da feine Anwendung nur zu oft jenes Wet: 
terfeuchten auf dem Gejicht Hervorbringt, jened Ab- 
wechfeln lichelnder und weinerlicher Mienen, das oft 
ſchlimmer tft, ale das offene Laden. 
Qr 


— 16 — 


Nach diefen vorläufigen Bemerfungen, welche beide 
Erfcheinungen ganz gleichmäßig betrafen, möge es 
erlaubt feyn, zu einer geionderten Betrachtung Fe: 
der der beiben überzugehn, welche mit Beileitefeßung 
des, zum Theil noch fo wenig erforfchten Leiblichen, 
von den vielen pſychologiſchen Fragen, Die fich 
hier aufbrängen, nur Die zu beantworten juchen fol, 
welche Gemüthszuftände Das Lachen und Weinen ver: 
räth, oder noch beſtimmter: woritber gelacht und ge: 
weint wird? Wenn bier ein Gegenſatz beider fich zei: 
gen follte, jo wird dies natürlich ihrer Verwandtichaft 
und Zufanunengehörigfeit feinen Abbruch thun. ind 
Doch auch Links und Rechts nur Deswegen ſiamefſiſche 
Zwillinge, weil fie fich Diametral entgegengetegt find. 


l. 


Mir beginnen mit dem Rachen, dieſem luſtigeren 
unter den beiten Gejellen, wenn anders Das alte 
deutſche Sprichwort Recht haben follte, Daß Der Lacher 
jelbit über das Grab jpringt, und juchen es bis in 
feine erften Urfprünge bin zu verfolgen. Da finden 
wir, daß das neugeborene Kind nicht lacht. Zwar 
verziehn Neugeborene oft im Schlaf die Gejichte- 
musfeln, aber wenn man Dies, wie e3 geichieht, 
Lachen nennt, fo müßte man and) von jeden Kindr 
jagen, ed weine, wenn ihm beim Echnupfen F 


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ugen thränen. Dieſes fogenannte Rachen bedeutet 
ichts, amd eben darum Hat die Phantafie freien 
Zpielraum in ihren Deutungen. Die eine berjelben, 
aß das im Schlaf lachende Kind von Engeln befucht 
werde, iſt fe poetiich und fehön, Daß man kaum 
wagen darf an Die andere, fehr proſaiſche, zu er: 
innern, obgleich bier, wie leider fo oft im eben, 
die Proſa gegen die Poefie Recht behalten möchte. 
Das erite eigentliche Lachen des Kindes kommt erft 
dort vor, wo es bereits Die Vorftellung von der Ge: 
ſtalt und den Geſichtszügen des Vaters und ber 
Mutter Hat, da iſt das Lachen ein Zeichen der Luft, 
welches ihre Gegenwart dem Kinde gewährt: ed lacht 
ben Eltern zu, eö lacht aus Liebe. Aber auch bei 
Dieiem Sachen, fo fchön es ift, io entzückend nament- 
lid für Die, denen es gilt, Können wir nicht ftehn 
bleiben; auf unfere Frage gibt es feine Antwort 
weil die Frage felbft: Worüber wird hier gelacht 
feinen Sinn hat. Dazu nun über Etwas zu lachen 
nicht nur zu zulachen, fondern zu beladen, ba; 
Tomnıt dad Kind noch fpäter: erſt dort nämlich, r 
ſich der Kreis feiner Vorftellungen fo erweitert h 
daß gewiffe Combinationen berfelben ihm überraſch⸗ 
vorkommen, und bei ihm biefelbe Wirkung herr 
bringen fönnen, wie die geiftreichen Gedanken C 
binationen eines Lichtenberg der Ir Pat si 


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Erwachſenen, mit einen Worte, wo ihm Etwad 
ſpaßhaft vorfommt. Wir wollen mit ihm ein 
Erperiment machen, indem wir es zum Lachen brin- 
gen. Dies ift hier leicht, denn das Kind lebt noch 
in der glüdlichen Zeit, wo die Wie wohlfeil find, 
ed gibt für einen Scherz fein Danfbareres Publikum, 
als ein Kind. Wir machen alfo eine Gebehrde, als 
wollten wir es jchlagen, aber aus dem Schlage wird 
eine Liebfofung, oder aber, wir thun, als wollten 
wir ihm fein Naſchwerk nehmen, anjtatt aber und 
darnach zu jtreden, Tauern wir uns zuſammen, halten 
den Arm krumm, fo daß wir e3 nicht erreichen und 
alfo unfere Mühe vergeblich ift. Beides erjcheint nun 
dem Kinde fo außerordentlich komiſch, daß es nicht 
aufhören Fann, zu lachen. Worüber eigentlich? 
Offenbar über die zwedhwidrige Verbindung deſſen, 
was man thut mit dem, was man zu erreichen fucht, 
der Mittel, Die man dazu anwendet, und deffen, was 
am Ende herausftommt. Darin liegt aber die allge: 
meine Formel für Alles, was auch im jpäteren Leben 
den Erwachſenen lachen macht, jo offen dargelegt, 
daß wir jenes erfte Lachen des Kinded mit einem 
Göthe'ichen Ausdruck ala Das Urphänomen unferer 
ganzen Unterjuchung bezeichnen Eünnen. In jedem 
Lächerlichen nämlich ohne Ausnahme List fih eine 
folde zwedwidrige Berbindung, läßt fih em 


folher überrafhender Contraſt nachweilen. Sehn 
wir einen ernithaften Mann, Der im feierlichen Schritt 
über Die Straße fchreitet, auf Das mit Glatteis be 
Ledte Trottoir gerathen, To iſt Der Anblid Deswegen 
ſo ergöglid), weil gerade Dort, wo feine ganze Hal- 
tung Nie innere Gravität und Fejtigfeit andeuten fol, 
er genüthigt wird, Tänzerbewegungen zu machen und 
in jedem Augenblid eine nene Unterjtügung feines 
Schwerpunftes zu fuchen. Derjelbe Contraft, welcher 
und lachen macht über Den Einfültigen, der die pfif- 
figiten Meittel ergreift, um ſeine Abjicht zu verfehlen, 
3. B. über jenen, der, damit beim Leichenbegängnit 
feines reichen Oheims die Dienerichaft traurig aus— 
febe, ihr Geld gibt und ſich wundert, dat fie immer 
luſtiger wird, Diejer jelbe Gontrajt läht den Spinoza 
(der ſonſt nie lacht) auflachen beim Anblid einer 
liege, Die in ein Spinnenneß gerathen, dort zappelt, 
um ſich zu befreien, und je mehr ſie zappelt, um 
fo fichrer den Mörder hHerbeiruft. Wenn in einer 
Wiener Poife ein Zauberer, weil es mit dem Zaubern 
nicht geht, ylößlich einen Streichrienten beraugzieht 
und, wie der Barbier Das Raſirmeſſer, nun feinen 
Zauberjtab daranf fchärft, jo macht dies einen lä⸗ 
cherlichen Effect, weil um Uebernatürliches zu errei- 
hen, ein Mittel angewandt wird, das nicht einmal 
der Kunst abgelernt wurde, Die wirtlüig her ir 


4 


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Natur hinausgeht, ſondern Dem Handwer 
ganz im Niveau des Natürlichen hält. 
widriges Thun, Die ſich Darin zeigende N 
des Handelnden, endlich Das daraus nothr 
gende Zerfallen in Nichts, das iſt es, wı 
worüber ichen das Kind lacht. 

Jenes erite Lachen aber des Kindes zei 
Zweites, was ihn gemeinichaftlich iſt mit 
teren Lachen: das Kind lacht, weil unter 
wehe zu thnu, zu Schanden wird, wei 
Naſchwerk nicht erreichen Finnen. Wäre 
erzürnt und feine Abficht, webe zu thun, 
eitelt, oder langte es ſelbſt nach Etwas, 
zu Hein, um es zu erreichen, es wide y 
lachen.. Was es jeßt jo beluſtigt iſt, Dat 
fein eignes Intereſſe ans Dem Spiele wei 
lacht auch Das ind, wenn jene Gebehrden 
Dal gemacht werden, nicht, Du fürd 
Schmerz oder den Verluſt jeines Naſch 
tödtlicheres Gift aber für Das Laden, ı 
es mehr unmöglich machte, als Die Surd 
nicht. Hat aber das Kind, inden jene S 
wiederholt wurden, erfahren, Daß nichts ar 
fürchteten wird, jo gibt ihm Died Das 
Sicherheit, bat es ferner in Der häufig 
bolung jener Gebebrden Zeit genug geb 





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ſehn, daß man den Arın ganz anders führen, fich 
felbft ganz anders halten müſſe, um zum Ziel zu 
fommen, io gibt ihm Diele Einſicht eine innere Sa— 
tiefaction, weil es ſich klüger dünkt, als wir, und 
alſo ung überlegen. Dies Gefühl aber der einen 
Sicherheit und Des Dem Belachten Überfegen: 
ſeyns iſt nicht nur dem Winde nothwendig, damit 
es lache, jondern uns eben io. Auch wir müſſen un 
ſelbſt außer dein Spiele willen, um ungeſtört Inchen 
zu können. Der Anblick jenes pathetiſch Einherſchrei— 
tenden, der ſich auf dem Glatteis plagt, ergötzte uns, 
ja aber nur jo lange, ala wir feſt und ſicher au 
unſerm Fenſter Tigen und von oben herab ihn be- 
trachten Fünnen, müßten wir dagegen im feierlichen 
Zuge neben ihm gebn, jo bekäme die Sache eine 
fehr ernſthafte Seite. Es iſt ein unveränderliches, 
pſychologiſches Geſetz: je näher ein Ereigniß, Das 
Lachen erregt, uns jelbit angeht, deſto mehr ver: 
fiert es den GSharacter des Pächerlichen. über die 
(Sinfalt eines ganz Aremden lacht man mit ungetrüb: 
tem Vergnügen, über die Einfalt eined Verwandten 
ſchon viel weniger, und nur im Kreije jeiner Familie; 
bat man jelbit einen einfältigen Streid) gemacht, fo 
vergeht Das Lachen, man ärgert jih, e3 liegt darin 
fo gar nichts Belnjtigendes, daß man es oft gar 
nicht begreifen kann, wie Semmt ah Taetert IN, 


machen kann. Niemand verlacht ſich ſelbſt, Niem 
dem iſt es lieb, oder auch nur gleichgültig, wenn 
verlacht wird, und Die Bonhommie des Sofa 
Lie man als Gegenbeweis anführen möchte, mit 
er ſich auf die Bühne geitellt haben fell, um 
Beluſtigung Des Athenitchen Publicums jeine Gef 
mit feinem Zerrbilde vergleichen zu laſſen, dieſe 
weiſt gar nichts: Jener bunhomme wur der grö 
Schalk. Es beiuftigt ibn, Das Die Athener jo bi 
find, ihn mit den Sophiſten zu verweihieln, 
denen er fich je verschieden weiß, er geht anf 
Bühne, mn innerlich über die Lacher zu lachen. J 
Paul jagt, man lache mur über Die Kfeinbeit ı 
über Das Kleine Er bat Recht, wenn man Il 
näher beitimmt: Wo man es an Andern wahrnin 
und wo es uns Dis Gefühl Der einen Größe ı 
Überlegenheit aibt, da lacht man. 

Weil wir aber mur dert lachen, we das Fe 
Ichlagen der Abſicht u. ſ. w. uns nicht jelbit tang 
über Ungeſchick und Mißgeſchick, Das uns fern ji 
und Außerlich bleibt, Deswegen bezieht das Lac 
feinen Etoff befonders Durh den Sinn, derung 
Fernite zeigt und was uns am meiſten äußerlich 
durchs Auge. Eine Melodie it kaum im Stan 
einen Menſchen zum Lachen zu bringen, Dagegen 
ed Der Muſik leicht, Thränen hervorzulocken, oft re 





— 123 — 


dazu ein einziger klagender Ton hin, jey er nun der 
Menfchenbruft, ſey er der Harmonica entquollen. 
Umgekehrt verhält fih8 mit dem Schen und darunı 
mit der Malerei. Ungerührt, wenigjtens trodnen 
Auges, kann auch der Zurtfühlende einen trefflic) 
ausgeführten Bethlehemitiſchen Kindermord betrach- 
ten, und eine einzige Grimaſſe bringt auch Den ernit: 
haften Mann zum Lachen. Wunderbarer Gontraft! 
durch das Ohr empfüngt der Menich von der Au- 
Benwelt die Kunde, Die ind Innere, zum Herzen 
dringt, und wen diefeg getroffen und gerührt wird, 
ſo antwortet er durchs Auge fürs Auge, feine Ant- 
wort iſt fichtbar, es ijt die warnte, darum fo wohl- 
täuende Thräne. Wo aber die Außenwelt zun Men: 
chen fpricht durch den kälteſten und herzlofeiten der 
Sinne, durchs Auge, da bleibt das Auge jtumm, da 
macht ded Menjchen Antwort ſich hörbar in dem 
Falten, berzlofen, darum jo oft verleßenden Lachen. 
In der That ift das Lachen herzlos, (und wir fol 
ten nicht jo viel vom herzlichen Lachen Tprechen), 
denn wenn es auch nicht wie bei dem Lachen der 
Schadenfreude, Das Unglück des Andern iſt, worüber 
gelacht wird, ſo ſind es doch wenigſtens ſeine kleinen 
malheurs, welche unſere Heiterkeit hervorrufen, und 
das Gefühl, daß es ein Lachen ganz ohne Bosheit 
nicht gebe, iſt ja der Grund, warum wir mt a D- 


— 1234 — 


Chriftum nicht Tachend Denken können. Man lacht 
Darüber, was uns nicht am Herzen liegt, wer über 
Vieles lacht, Dem Liegt Vieles nicht am Herzen, wer 
über Alles, dem Lüge gar nichts am Herzen, er wäre 
der vollig Herzlofe, ein Gemüthszuftand zu Dem grö— 
here oder geringere Annäherung wirklich vorkommt. 
Es liegt aber in der Natur der Sache, daß, wenn 
dieſe überhaupt geduldet werden foll, fie nur gedul: 
det werden kann bei den männlichen Gefchlecht. 
Man ijt nun einmal darin übereingefenmen einem 
Manne, wenn er fich nur frei von Furcht zeigt, zu: 
zugeſtehn er habe Herz — während es und nicht ein- 
fällt von einer Fran, weil fie dreuft ijt, zu jagen: fie 
jey eine Srau von Herz — Furcht nun findet ge: 
wis nicht Statt wo gelacht wird, und der über Al: 
les jpottet kann Daher jehr gut furchtlos und uner: 
Ichroden jeyn; jo wird man Denn Dem Alles verlas 
chenden Dann, wenn er fich nur jonjt al3 ein Diann 
zeigt der Herz bat, oder herzhaft iſt, Herzloſigkeit 
in anderer Beziehung zu Gute halten müſſen. Nicht 
fo bei der Fran. Schön ijt die Satyrphyſiognomie 
nie, erträglich nur beim Manne. Damit ijt aber 
andy ausgeſprochen, daß das Gebiet des Belachend« 
wertben für den Mann viel ausgedehnter ſeyn mu” 
als bei der Frau, was aud) durch Die Erfahrung ) 

jtätizt wird, welche zeigt, Das Männer fehr Vie 





mit lachendem Munde beiprechen, was niemals den 
Inhalt von Franen-Geſprächen bildet, weil es Ge: 
biete betrifft, welche der Frau zu heilig find, als daß 
fie dieſelben mit jemand Anders als fich ſelbſt be: 
jpräche, oder zu widerwärfig, als day ſie nur daran 
Dächte. Im Ganzen liebt das Lachen die luſtigen 
Kreife der Männer. 

Es ift aber fehr die Frage, ob in den Geſagten 
etwas fiegt, was das männliche Geſchlecht als Das 
beneidenswerthe erjcheinen lädt. Salt könnte man 
ed glauben da wir ihm den Gefährten zugewieſen 
baben, den wir ja jelbit als den Inftigern bezeich— 
neten. Allein es hat ſich auch gezeigt, daß feiner 
Luſtigkeit nicht ganz zu trauen war, weil chvas vom 
Mephiſtopheles dahinter ſteckte. Nun wird vielleicht 
Mancher meinen, ſo erſcheine das Lachen nur dem 
der es, vielleicht als ein pedantiſcher Moraliſt, be— 
trachte, dagegen für den der es erfährt, für den 
Lacher ſelbſt, ſey dies anders, für ihn gebe es nichts 
Süßeres und nichts Plaiſirlicheres. Allein dem iſt 
doch nicht ganz ſo, denn es zeigt ſich, daß für den 
Lächer ſelbſt das Lachen nur zu oft dieſe genußreiche 
Seite nicht darbietet. Dies iſt dort der Fall, wo 
es ſich mit Gefühlen verbindet und Gefühle verräth 
die ſonſt geeignet ſind, eher das Gegentheil vom 
Lachen hervorzubringen. Der Anh Tr EUR UN 


— 16 — 


Lachen hervor, und man meint joldyes Lachen ey 
angenehm. Ob wohl auch dort, wo ein Huß den 
Banern Sieht, der emfig das Feuer an feinem Scheiter: 
haufen jhürt, und nun, gewiß lächelnd, o heilige 
Einfalt! ausruft? Schwerlich. Man nennt folchee 
Lachen, wo man lächerlid) findet was fo traurig ift, 
ein jchmerzliches oder auch ein bitteres Lachen. 
Mit Recht, denn es iſt weder luſtig noch füß. Es 
weift auf Wunden Die nach innen bluten. Und den: 
noch ijt dieſes bittere Lachen noch nicht Das bitterfte, 
weil der Gemüthszuſtand, aus dem es hervorgeht, . 
das Schwanfen zwifchen Mitleid und Spott, wo das 
Gemüth abwechjelnd der einen und Der andern 
Regung ſich bingiebt, noch nicht der ſchlimmſte iſt. 
Es giebt eine Bereinigung des Entgegengeſetzten, Die 
ſchlimmer ijt, weil fie bleibend iſt, wo das Ge: 
müth dadurch, Daß es der einen Regung ſich hingiebt 
um fo fichrer Der andern verfällt, wo Die Xiebe Den 
Haß erzeugt, und darum mit ihm jteigt und fällt 
wie er mit ihr lebt und ftirbt. „Cine monjtruöfe 
Verbindung wie Die fabelhaften Ungeheuer des Alter: 
thums“ wird man fügen, und monſtruös iſt fie aller: 
Dinge, aber nur nicht eine Erfindung der Fabel, denn 
fie erijtirt: in der Eiferſucht hat fie Realität. Er 
hört nur ein geringer Scharffinn dazu, um zu find‘ 
Daß der Ciferfüchtige quäle, peinige, ja morde 


— 27 — 





io Haife. Es iſt auch fehr wenig Wip dazu nöthig 
an zu beweifen, daß Eiferiucht Liebe beweiſe, und 
af Orhello nicht merdete, wem er nicht liebte. 
Ran kann weder jenen Scharffinnigen noch dieſen 
Bipigen widerlegen, fie haben beide Recht, denn ber 
Ciferfüchtige quäft aus Liebe, peinigt aus Liebe, 
mordet aus Liche, weil er haft aus Liebe. Liebe 
ward hier Ha, Fiebe ftirbt hier dahin in Haß, und 
wie und von eiugelnen Menichen erzählt with, dab 
fie im Momente des Sterbens Diefelbe Phyſiognomie 
zeigen, wie da fie ind Beben traten, jo wählt fich 
diefe in Haß erſterbende Liebe gern den Begleiter 
den wir als Gefährten ber eriten reinften Liebe fennen 
lernten, das Lachen. Der Ciferfüchtige lacht, aber 
wie? Qualen im Herzen. Und wo die Eiferſucht 
zum Wahnſinn des Verbrechens wird, da vertritt die 
Stelle des unartikulirten Roͤchelns der Rache ein, 
wicht nur bitteres, ſondern entjeplichee — Gelächter. 
Wo Othello jeine That vollführt, Da muß er lachen. 
Grit fpäter laßt ihn Der Dichter Magelaute ausſtohen. 





2. 

Es iſt aljo mit dem Lachen doch nicht immer ein: 
fo Inftige Sache als es zunächit fheint. Es Hat fein 
ernite, feine mehr als ernite, feine entſehliche Seit 
Wenn darum Manche, wo fie de Wu DV 


— 1285 — 


dammniß malen wollen son fteten Gelächter Der 
Hölle iprechen, io will ich mich zwar nicht Dafür ver: 
bürgen, Daß das Gemälde richtig iſt, wehl aber 
dafür, Day der Pinfel, mit Dem es gemalt ward, im 
ganz richtige Pſochologie getaucht war. Ob Dies 
aber auch Der Fall iſt hintichtiich derer, welche, wenn 
lie una eine felige Welt jchildern wollen, ſtets Dies 
an ihr preifen, daß Dort feine Thräne werde geweint 
werden, Dies tft eine andere Arage. Zu ihrer Be: 
antwortung kaun beitragen, wenn wir uniern zweiten 
Gegenſtand betrachten, Das Meinen Suchen wir 
auch hier Die eriten Erſcheinungen deſſelben auf, To 
finden wir, Daß Das nengeberne Kind, wie es nicht 
lachte, jo auch nicht weint. Es zeigt lich weiter, Daß 
fein erſtes Weinen ganz Das Gegenſtück bildet zu 
feinem eriten Lachen, zum Zulachen ans Liebe. Es 
weint nämlich, wo es Die Vorſtellung von ehwas 
Fremden oder Abſchreckenden erlangt bat, im Deifen 
Gegenwart aus Furcht, weil es fein Daſeyn ges 
führdet, feine Sicherbeit geitört fühlt. Wie aber 
über jenes Lachen aus Liebe, To gehn wir auch über 
dieſes Weinen aus Furcht Tchnell hinweg, und ſuchen 
nach Dem, welcdes uns bier dag Urphänomen giebt. 
Wir finden Diefes Weinen in feiner reinſten und 
vsollendetiten Geſtalt erit viel ſpäter, auch erit dert, 
wo bei Dem Kinde fich der Kreis feiner Vorftellungen 





— 129 — 


beträchtlich erweitert hat. Da es graufam fcheinen 
fönnte, wenn wir auch hier erperimentirten und das 
Kind zum Weinen bräcten, jo werden wir wohl 
warten müjjen, bis eine Gelegenheit ſich darbietet. 
Eie bleibt nicht lange aus: dag Kind thut einen Fall, 
der Schmerz ten ed empfindet ift nicht fehr groß, 
und fo weint es zunächſt nicht; es fteht auf, fieht 
fih betreten, gleichfam fragend, um, und wenn feine 
bejonderen Umitänte eintreten, jo wird es wohl zum 
Meinen gar nicht kommen. Sollte aber das Kind 
bemerfen, daß es blutet, oder follte die ängſtliche 
Mutter Hinzufpringen nnd anfangen das Kind aus— 
zufragen oder zu bedauern, fo kann man ziemlich 
ficher feyn, dag die Thränen bald fließen werden. 
Warum wohl jeßt? Weil im erjten Fall das Blut, 
vor welchem alle Kinder ein angebornes, ich möchte 
fagen rührendes Entſetzen haben, int zweiten die be- 
ftürzte Miene der Mutter die Borftellung giebt von 
einer Gefahr oder von einem Unglüd. Diefe Bor: 
ftellung aber von Unglüdlichfeyn iſt für das 
Meinen des Kindes fo fehr die Hauptfache, daß 
man ein ganz gejundes Kind, dem fein Finger weh 
thut, Durch bloßes Bedauern und ihm Boritellen, wie 
unglüdlich es fey, fehr leicht zum Weinen bringen 
Tann. Auf der andern Seite kann ed ohne eine 
folche Vorſtellung jo gar nicht meinen, A nenn 

J 


— 10 — 


ihm weinerlich zu Muthe ift, und es fich Feines 
dens klar bewußt iſt, es allen möglichen Schar 
aufbietet um eins zu finden. Bon den vielen 2 
achtungen die hier gemacht werden können, bier 
eine: Wie bei Den Erwachſenen, fo zeigen fich 
beim Kinde die erften Anfänge Des Weinens in j 
malitiöfen Kügelchen das wir im Halſe fühlen 
Das zum fteten Schluden nöthigt, einem der 
angenehmſten Gefühle, die e3 giebt. Danert nu 
meinerliche Stimmung, und in Folge Derjelben 
nnangenehme Gefühl beim Kinde zu lange, un 
kann gar Nichts finden, was es unglüdlich mach 
fängt es endlich an zu weinen — über jeine ! 
fchmerzen, d.h. die Borftellung eines Leidens, 
eigentlich Zolge des Weinens it, wird ihm G 
Dazu. Dies hat etwas Komiſches. And Doch gel 
bei dem Erwachſenen oft gerade je. Auch der 
wachfene kann nicht weinen ohne die Borftellung 
Leidens, auch ihm iſt manchmal weinerlich zu M 
und er jucht zu feiner tranrigen Stimmung die 
ftellung eines Leidens, nur freilic) findet er dies 
in Halsfchmerzen. Das Arjenal feiner trüben E 
rungen ift ja jo reichlich verfehn, dat ihm Die $ 
leicht wird; der Eine denft an ein Unrecht das 
zugefügt ward, der Andere an einen Berluft dr 
erlitt. Beide kommen ſo ſchnell zu ihrem Ziel 


— 121 — 


beweifen aber, eben wie jenes Kind, dat zum Weinen 
traurige Gefühle nicht hinreichen, fondern, dab es 
trüber Gedanken, ganz beitimmter Borftellungen 
von einem Unglück bedarf. Dies ift auch ein Grund, 
warum kaum irgend Etwas das Weinen fo hervor: 
ruft und befördert, ald wenn man von einem be: 
klagenswerthen Unglüd fprechen hört. Durchs Spre— 
chen wird jedes Gefühl in beitimmte Gedanken ver: 
wandelt, Worte geben die Earjten Boritellungen. 
(Sch jage geflifientlich: auch ein Grund, denn es 
fommt dazu noch ein andrer, der weniger hierher 
gehört. Wo man von einem Leiden fprechen hört, 
hört man in der Regel eine larmoyante,' vor Rüh⸗ 
tung zitternde Stimme; es ijt bekannt, daß dies fehr 
das Weinen befördert, aus einem Grunde wie id) 
glaube, der nur oder doch bejonders Förperlich ift. 
Seder Menſch nämlich hat die Neigung, wo er eine 
Melodie hört, fie, wenn fie nicht zu ſchwer oder un: 
befannt ift, innerlich nachzufummen. Dieſe Nei- 
gung bemächtigt ſich unferer auch wo wir das Tre- 
molo der gerührten Stimme vernehmen, und zwar 
mehr als irgendwo, denn die Melodie ift allbefannt 
und fehr leiht. So tremuliren wir innerlich mit, 
und wenn died auch nicht hinreicht Die Schleufen der 
Thränen zu öffnen, gelodert wenigftend werden fte 
dadurch. Daß wirklich dieler aüer din itligertüit- 
9* 


— 12 — 


perliher Grund hier die Hauptfache tft, und dag 
der Geiſt, d. h. der Inhalt des Gefprochenen wenig 
oder gar nichts austrägt, Died zeigt im höchſten 
Grade Garrik, wenn er durch das Herfagen des Abe 
fein Publitum zum Weinen bringt, und im gerin- 
gern herumziehende Smprovifatoren die, wo Die Ge: 
danken am fpärlichiten geſäet find, am Liebſten Dies 
Regifter ihres Orgelwerks ziehn und mit dem größten 
Erfolg). 

Das weinende Kind zeigt, daß ohne Boritellung 
des Elendſeyns Feine Thränen fließen. Es lehrt uns 
aber weiter, daß, wie es felbit, jo auch im jpätern 
Leben der Erwachfene, nur über dad eigne Leid und 
die eigne Hülfslofigfeit weint. Man führe hier nicht 
die Thräne des Mitleids ald Gegenbeweis an. Wo 
der Menſch aus Mitleiden weint, da weint er eben 
weil er mit leidet, weil er durch eine Illuſion fich 
in die Stelle des Leidenden verjett, deſſen Leiden in 
fein eigned verwandelt hat. Darum gilt bier ein 
Geſetz dad ganz dem entgegengejeßt fit, das wir beim 
Lachen Tennen lernten: Über das Unglück eined ganz 
Fremden weint der Menſch gar nicht oder doch fchwer, 
über das eines Angehörigen viel leichter, über Das 
eigene am leichteiten, vielleicht immer. Chen wegen 
diejed diametralen Gegenſatzes iſt ed möglich, daß 
ſich Lachen und Weinen ſo oft begegnen und in bie 





— 13 — 


Hände arbeiten: Wie viel weniger würde geweint 
werden, wenn alle die Thränen wegfielen die über 
das Ausgelachtwerden vergojfen werden, und wie viel 
Stoff zum Lachen würden wir einbüßen, wenn nie 
ein Anderer in die Lage käme in der er fich beweint! 
Sn der That find die Situationen, über die ge: 
lacht und geweint wird, ziemlich diefelben, und nur 
die Perfon ift’s, die den Unterjchied macht. Über 
die fremde Rathlofigkeit wurde gelacht, die eigne 
Rathloſigkeit macht ung weinen, dort ward gelacht 
über ein Weſen das in Die Netze des mörderifchen 
Geſchicks fiel, wer ſich in folchen Fäden verftridt 
weiß, weint; wir fonnten mit Sean Paul fagen, daß 
die Kleinheit ded Andern und lachen macht, man 
weint nur wo man fich übermannt und niederge: 
fehmettert fühlt, d. h. wo man fi feiner Kleinheit 
bewußt wird. Nur dort, denn auch die Thränen 
der Rührung und Bewunderung den wir einer großen 
That zollen, fie zeigen, dat und jene Großthat über: 
wältigt, daß wir ihr gegenüber und fo Flein vor: 
fommen. Eben weil die Thräne ein Bekenntniß iſt 
des Überniannt: und Überwältigtfeyns, eben Dedwegen 
giebt eö Fein befferes Gegenmittel gegen Dad Weinen 
ale den Stolz. Er ift, was fein Gegentheil, die 
Zucht, fürd Lachen war. Der Stolz als ein Gefühl 
der Kraft und Unüberwindliiitet \ahr Ust Beuni- 


— 14 — 


fein des Übermannt: und Überwundenfeyn nicht auf: 
fommen, und weil nur bei diefem geweint wird, fo 
macht der Stolz es phyſiſch und pfychologifch un: 
möglich zu weinen. Wirklich unmöglid. Dies 
wird häufig vergeffen und Darum manches ungerechte 
Urtheil gefällt: Es giebt Frauen Die fehr leicht wei- 
nen, die aber, wo fie bemerft haben, daß ihre Thrä- 
nen gar feinen Eindrud machen, zu ftolz find, in 
Gegenwart eines folchen Barbaren fie zu vergießen. 
Wollte man nun, weil ihr Stolz die Thränen zu: 
rüdzuhalten vermag, daraus fchliegen, wo dieſelben 
fließen, ſey dies willführlich oder gar künſtlich her: 
vorgebracht, fo thäte man ein fchreiended Unrecht, 
eben jo fehr als wollte man dem, dem einmal vor 
Furcht das Lachen verging, wenn er nachher lacht, 
befchuldigen, er ftelle fich nur labend. — Wenn 
aber Weinen ein fich Übermannt:Erflären, und wenn 
der Stolz ein Gegenmittel dagegen tft, fo ift be: 
greiflih, Daß man dort, wo man das Gefühl der 
Stärke und Unüberwindlichkeit erwartet oder gar 
fordert, dad Meinen unpaffend finden wird. Dies 
ift nun der Fall mit dem Geſchlecht, dad man dad 
ftarfe genannt hat. Ob das männliche Gefchlecht den 
Beinamen des ſtarken verdient, ob nicht, gehört nicht 
hierher, genug es führt ihn, und — noblesse oblige: 
Es giebt nur fehr wenige Gelegenheiten, wo wir 





— 15 — 


dem Manne erlauben zu weinen. Das Alterthum 
war hierin viel nachfichtiger und freigebiger. Homer 
erlaubt feinem Achill zu weinen, weil Das Schickſal 
ihn fo früh fterben läßt. Sch Bin überzeugt, daß 
mancher Tertinner unferer Tage, der Diele Stelle 
mit Hülfe eines Wörterbuchs und — einer Brille 
lieft, im Gefühl feiner Manneswürde die Schwach— 
beit des griechiichen Helden bemitleidet. Doch aber 
giebt es Situationen, wo auch wir es dem Manne, 
ja jogar dem ſtarken Manne, zu Gute halten, wenn 
er weint. Auch der Held darf ed, wenn er z.B. 
durch den Verrath eines Bertranten Dem Feinde über: 
liefert ward. Der Nichtswürdigkeit gegeniiber ift auch 
der Held wehrlos, darum darf er fi hier wehrlos 
befennen, er Darf weinen. Es giebt noch eine andere 
Gelegenheit, wo die Thräne den Mann nicht zu ent: 
ehren fcheint: Sit es wahr, was uns von unjern 
Nachbarinnen an der Seine erzäblt wird, jo gilt bet 
ihnen der Mann für unwiderſtehlich, der mit Thrä— 
nen un Exrwiderung der Liebe flebt. Es wäre be: 
greiflich, denn ein feineres Compliment ijt kaum denf: 
bar, ald wenn man zu veritehn gibt, man jtehe einem 
Srauenherzen jo machtlos gegenüber wie — Achill 
dem Schickſal. Dies aber find Doch nur Ausnahmen. 
Im Ganzen ift die Thräne weiblichen Geſchlechts 
und hat zu ihrer eigentlichen Domaine A tue 


— 16 — 


Auge. Der Frau erlaubt man in vielen Lay 
zu bedauern und alfo zu weinen, wo man vom 
(oft unbilliger Weife) verlangt, er folle der 
fpotten, des Mißgeſchicks Lachen. 
Manweintnur,womanfichfelbitbei 
und wehrlos jicht. Und hierin liegt nun a 
eigentliche Erklärung der Thatjache, daß Thrän 
10 Viele — namentlich über Männer und zwar ü 
die felbft felten oder nie weinen — eine jo gre 
walt haben. Es ijt ein Irrthum, welchen di 
nenden fehr oft hegen, als bewiejen ihre Thrän 
fie Recht und, der die Thränen erpreßte, Unrecht 
Dies aljo ijt allerdings ein Srrthum. Woll 
aber deshalb jagen: Nun, wenn Thränen Die 
beweijen, fo bedeuten fie gar Nichts und müfl 
den vernünftigen Mann ganz gleichgültig Taf 
wäre Died eben jo ein Irrthum. Thränen b 
allerdings Etwas: nämlich, daß die Weinen 
maltraitirteg Opferlamm, wenn auch nicht 
Doch ich dafür hält, und dies kann unter Um 
viel mehr Eindrud machen, als daß fie Rec 
Man denke einen beftimmten Fall: Es habe ein 
fey ed nun feiner Schweſter, fey es feiner Frar 
ftellungen zu machen über irgend ein Verſehn 
begangen bat, über irgend eine Unvorſichtig 
fie ſich zu Schulden kommen lieg. Die Da 





— 137 — 


Unrecht Haben — eine Borausfegung von der ich ſehr 
gut weiß, dei fie im höchiten Grade unmwahrfcheinlich 
ijt, Die mir aber fo erlaubt feyn möge wie den Da: 
thematifern ihre unmöglichen Größen, welche fie ja 
auch manchmal in Rechnungen bringen, wo fie Die: 
felben entbehren könnten, nur um fchneller zum Ziel 
zu fommen. Der Dann findet die fchöne Schuldige 
bei irgend einer gleichgültigen Befchäftigung: fie be- 
reitet Jich zu einem Morgenipaziergange vor. Cr 
fängt feinen Sermon an. Sie, zunächſt um Zeit 
zu gewinnen, antwortet irgend etwas ganz Gleich: 
gültiges: „Laß mid) nur erjt meine Handfchuhe rubig 
anziehen!" Was hat fie nicht mit diefer kurzen Ant: 
wort außer der Zeit Alles gewonnen! Erjtlich bat 
fie geſprochen, die Mafchine, wie wir fie oben ge: 
nannt haben, ift alfo in Gang. Zweitens hat fie 
ihre eigne Flagend:bittende Stimme gehört, die auf 
fie mindeftend den Cindrud machen muß, wie Garrik 


mit feinem Abe auf fein Publitum. Drittens hat ' 


fich durchs Sprechen ihr Geift auf ganz beſtimmte 
BVorftellungen concentrirt, auf Handfchuhe und in 
Ruhe laffen. Fährt nun, wie ed wahrfcheinlich ift, 
weil die Handſchuhe Nichts mit der Sache zu thun 
haben, der Mann in feiner Mercuriale fort, jo wird 
die Dhraje geändert, ſie wird generalifirt. „Nicht 
einmal die Handichuhe Tann mon wuliy mut 


+. 


— 1583 — 


heißt es jebt, und wenn fie dabei nicht weint, fo 
würde ich felbit es ihr verdenfen. Grund genug hat 
fie, denn ich nehme die ganze Hohe Verſammlung zu 
Zeugen, daß es in der That feinen ärgern Drud 
und feine entfeglichere Sklaverei geben faun, als wenn 
und etwas jo Unfchuldiges, wie das Anziehen von 
Handſchuhen, gewehrt wird. Sch Hoffe daher auch 
zur Ehre des Mannes — der mir übrigens ganz un: 
bekannt ift — daß er um nicht für einen fo entjeg- 
lichen Tyrannen gehalten’ zu werden, die ganze Sache 
fallen läßt, kann mich aber freilich auch des Arg— 
wohns nicht erwehren, dat jehr bald die ſchöne Wei— 
nende überzeugt feyn wird, fie habe hinfichtfich jenes 
Verſehens ich volljtändig gerechtfertigt. 

Und fo fcheint es denn, als habe fich unfer Urtheil 
hinfichtlich der beiden Begleiter des Menfchen feltiam 
umgeſtaltet. Der eine, fein Iuftiger Rath, zeigte bei 
näherer Betrachtung unheimliche, boshafte Züge. Der 
andere, der anfänglich jo moros erjchien, bot zuletzt 
fogar einen ergößlichen Anblid. Und man jage aud) 
bier nur nicht, daß nur fein Anblick ergöge, und 
daß er nur ergöße, wenn man ihn mit Den Augen 
feined boshaften Bruders betrachtet. Nein! dent 
Weinen fommt an fich, für den Weinenden felbft, 
eine freundliche und genußreiche Eeite zu. Zwar 
dies allein will ich nicht fo nennen, daß Thränen 





— 1399 — 


den Schmerz lindern, und daß Mancher mit Recht 
wünfcht: o könnte ich Doch weinen!; hierin wären 
die Thränen doch nur wie eine Arzenci, Die auch, 
wo fie Hilft, nichts deitomeniger bitter ſeyn kann. 
Aber ed gibt Thränen die an und für fi), nicht nur 
in ihren Zolgen, erquiden und Genuß gewähren, und 
fie treten bei Gelegenheiten hervor, die abermals den 
diametralen Gegenfat zeigen der zwilchen dem Weinen 
und dem Lachen Statt findet. Dort hatten wir ein 
Lachen, wo ein tiefer Schmerz den Menfchen fo in 
feinen Augen erhebt, dab ihm Alles Elein und ver: 
ächtlich erfchien, und er fchmerzlich, bitter, lachte. 
Hier gibt es dagegen ſüße Thränen. Sie fließen 
dort wo ein übermaaß von Freude und faſt erbrüdt, 
wo ein kaum gefaßtes Glück und überraſcht und über: 
mannt, wo Luft und überwältigt und wir vor Gelig- 
feit vergehn, das heit vor Iauter Reben — ſter— 
ben. Dort fahen wir weiter, wie eine monſtruöſe 
Verbindung von Liebe und Haß fih Luft machte in ® 
dem furchtbaren Gelächter des Mörders. Es gibt 
eine andere DBerbindung von jenen beiden, dauernd 
wie jene, aber nicht monſtruös: In der Großmuth, 
in der Feindesliebe gebiert der Haß die Liebe, wie 
in der Eiferfucht Liebe den Haß erzeugte, und wo 
im gegenfeitigen Vergeben Feinde ſich and Herz fallen, 
da weinen fie, denn Jeder KEhKK Tun Neruitiiitn, 


— 10 — 


niedergejchmettert Durch die Großmuth des Andern, 
und diefe Thränen der Berföhnung fie find nicht nur 
füß, fie find entzüdend, wie jened Lachen nicht 
nur bitter war, fondern entfeglich. Und wer wollte 
fit) am Ende wundern, daß fo die Verbindung ganz 
Gleicher fo Ungleiches geben fol, da ja Kunft und 
Natur und täglic) Daffelbe zeigen. Die Kunft, wenn 
aus Sungfrauenantligen und Adlerfittigen die Alten 
ihre Harpyen bilden und die Neuern ihre Engel, Die 
Natur, wenn Diefelben einfachen Stoffe in einer 
Verbindung ein Gift geben, in einer andern etwas 
Unſchädliches, ja das Segensreichite und Belebendfte. 
Senem Gift entfpricht das bittere und entfegliche 
Lachen, dieſer andern Verbindung die füße und ent: 
zuende Thräne. Sch fage entfpricht, weilich Fein 
eracter Forfcher bin, wäre ich Dies ich müßte mich 
anderd anddrüden, denn vom Standpunkt eracter 
Wiffenfchaft betrachtet ift die Thräne, felbit Die 

© Träne der Freude und des Entzüdens, fie ift wirt: 
Lich nichts Andres als jene unfchädliche Verbindung 
von Saueritoff und Wafferitoff — Waſſer. 

Es bliebe nun noch übrig Ciniged über die Eo8- 
metifche Bedeutung jener beiden Erfcheinungen zu 
fagen, und ed wäre vielleicht am Platz, warnend dem 
weit verbreiteten Aberglauben entgegenzutreten, als 
wenn Thränen ein ſchönes Antlig noch verfchönerten, 





— 141 — 


— indeß, dieſes Gebiet zu betreten, daran hindern 
mich manche Bedenklichkeiten. Wollte ih Schön: 
heitömittel angeben, und wollte ich Das hier thun, 
ich fürchte Died müßte Lachen erregen. Wollte ich 
einen, ohnedies langen, Bortrag noch verlängern, 
Mancher könnte Died zum Weinen finden. Zu einer 
Betrachtung beider Erfcheinungen einzuladen, war 
allein meine Abficht. Es kann unmöglich in meinem 


Sntereffe liegen, fie praftifh, und noch dazu fo, 
hervorzurufen. 





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275 


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V. 


Über den 


» poelifchen Beiz des Äberglaubens. | 


3 1850. : 


S ß 
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Ö 





Mer jemals Kinder beobachtet hat, wo ihnen Ge: 
fchichten erzählt werden, oder wer fich felbit das 
Vergnügen gemaht bat, ihnen dergleichen zu erzäh- 
Ien, der wird bemerkt haben, daß fie fich gern gleich 
am Anfange defjen verjichern, daß die Gefchichte 
auch wahr fey. Fit ihnen dieſe Trage bejaht, fo 
feßen fie fich erft recht in Pofitur mit ihrer Theil- 
nahme, denn jett wiſſen fie, daß Diefelbe nicht weg: 
geworfen ift. Ja fogar, wenn ihnen gejagt ift, die 
Erzählung werde wohl erfunden jeyn, felbft dann 
fcheinen fie, je mehr fie ſich intereffiren, um fo mehr 
die Hoffnung zu faſſen, dad Erzählte jey Doch wohl 
wahr; — denn nur fo fann ich mir den äußerft ko⸗ 
mifchen Ärger erflären, welchen manche Kinder zei— 
gen, wenn am Gnde einer fehr interefjanten Ge: 
fhichte der Erzähler ihnen jagt, er felber habe fie 
erdacht. — Sey es, daß fie vergeffen hatten, mas 
am Anfange gejagt war, daß die Gefchichte erfun- 
den fey und nun daran erinnert werden — fey ed, 
dag fie allmählig fich üiberreheten,, im Sumtir für 

W 


— 16 — 


doch der Erzähler nicht willen, ob der Autor erfand 
oder blog einem wirklichen Factum nacherzählte, 
jebt aber diefe Hoffnung aufgeben müſſen, — genug 
fie kommen fich wie genedt vor, dat man fie fo ge: 
fpannt auf einen Ausgang achten ließ, den der Er— 
zähler ganz nach jeinen Belieben umändern Eonnte. 
— Wie in dem Bergnügen der Kinder am Geſchich— 
ten: Erzählen fich der erjte Keim des Genuſſes zeigt, 
den uns ein Dichterwerf gewährt, eben jo iſt jenes 
Berlangen der Kinder, die Gefchichte jolle wahr jeyn, 
die erfte Spur einer Forderung, welche der erwach- 
fene und gebildete Menfc an Die Spiele der Dich: 
tenden Phantafie ftellt, und stellen mul. Weil ihm 
Dernunft und Wahrbeitötrieb angeboren ift, Des- 
wegen verlangt er auch von dem Gedicht, dab es 
Mahrheit enthalte. Freilich darin unterfcheidet er 
fi) vom Kinde, day ihm Wahrheit und wirkliches 
Gefchehenfeyn nicht einerlei ift, Denn er hat erfah: 
ren, daß manches wirflich geführte Xeben, mancher 
wirflich erijtirende Zuftand, eine große Lüge war, 
dagegen aber auch, daß mancher Roman eine tiefe 
Wahrheit lehrt. Wenn wir aber von diefem Un- 
terfchiede abiehen, fo verlangen wir (nicht minder 
als die Kinder) von jedem poetifchen Werk, und wäre 
ed auch das phantaftifchite Mährchen, daß der Er: 
aähler nicht bloß feinem Belieben folge, fondern fi 





— 47 — 


einer höhern Nothwendigkeit, der Wahrheit, unter: 
werfe, dab fein Mährchen einen vernünftigen Sinn 
enthalte, wo wir Diejen vermifjen, wo wir ihn nicht 
einmal al3 allegorifch angedeutet ahnden, da befries 
digt und dad Gedicht nicht, denn der Unfinn ift nie 
poetiſch. — Diejer Behauptung fcheint nun die Er: 
fahrung zu widerjprechen, welche lehrt, daß Diele, 
was wir als Aberglauben bezeichnen, dennoch mit 
einem poetiſchen Reiz begleitet iſt. Vielleicht war 
es dieſe Erfahrung, welche den poetischen, dabei aber 
für klare Berjtändigfeit jehr eingenommenen, Sean 
Paul jagen ließ, aller Aberglaube fei „ein Glaube 
mit einem Aber”, ein Ausfpruch, der in feiner All: 
gemeinheit gewiß unrichtig ift, von Dem aber zu hof: 
fen fteht, daß er gültig fen hinfichtlich folder aber: 
gläubifchen Boritellungen, die etwas Poetiſches ha⸗ 
ben. Ich age, zu hoffen, denn es wäre Doch 
traurig, wenn wir beim Eintreten in die Welt der 
Poeſie, was den Menichen zum Menfchen macht, die 
Vernunft, draußen laſſen müßten, und auf der an- 
dern Seite eben fo traurig, wenn die poetifche Be⸗ 
friedigung Dadurch verbittert würde, daß wir und 
eigentlich ihrer fchämen müßten. Es ſei mir erlaubt, 
die Aufmerkjamfeit auf einen ſolchen Aberglauben 
zu lenken, um zu fehen, ob vielleicht in ihm der 
Glaube von dem Aber zu trennen, U. u Tu 

\0* 


— 148 — 


hen Wahrheit zu finden ift, oder ob er ein bloßer 
Wahn ift, defien fich der vernünftige Menfch nie, 
alfo auch nicht im Gedicht, freuen foll: — Die Bor: 
ftelung, daß der Menſch von Natur in einem ge: 
wiffen Rapport zu den Planeten ftehe, fo daß 
ihre Zuftände, ihre Bewegung und Ctellung fein 
Schickſal bejtimmen, eine Voritellung, die bei man- 
chen Völkern des Alterthums die Stelle der Religion 
vertrat, im Mittelalter mwenigitend vereinbar mit der 
Religion erichien, dieſe hat noch jest für viele Men: 
fchen etwas Poetifches, ja für unfern größten Dich: 
ter hat fie etwas fo DVerführerifches gehabt, dat er 
in Wilhelm Meiſters Wanderjahren, um ung ein 
weibliches Wefen als befonderd hochbegabt zu jchil: 
dern, von ihr erzählt, daß die Schickſale des Plane: 
ten Merkur von ihr empfunden und mit erlebt wir: 
den. Da nun auf der andern Seite der gefunde 
Menſchenverſtand fich gegen dergleichen Zufimmen- 
hänge jträubt, weil der Planet Merkur etwas für 
fich ift, und der Menſch wieder etwas für ſich, fo 
werden wir am Ende Denen beijtimmen müſſen, 
welche fagen, daß der alteröfchwache Göthe hier der 
Romantik des Mittelalters mit feinen Wünſchelruthen 
und feinen Horoskopen verfallen ſey, und Die ed eine 
romantische Schwäche nennen, wenn man auch in 
diefem Werke den großen Dichter wiedererfennen will. 





— 149 — 


Schon die Gerechtigkeit, wie viel mehr die dankbare 
Berehrung, fordert, daß man zuſehe, ob nicht jener 
phantaftifchen Erzählung etwas Wahres und Ber: 
nünftiges zu Grunde liegt. | 
Wir prüfen zu dieſem Ende das, worauf jened 
Berdammungsurtheil fußt, die Behauptung, daß der 
Menſch etwas für fich ift, und indem wir dabei zu- 
nächit von den Sternen ganz abjehen und anftatt 
der übrigen nur unferen Planeten berüdfichtigen, 
unterfuchen wir, ob man dem Menſchen wirklich ein 
ganz felbitftändiges, ifolirted Leben zufihreiben müffe, 
oder auch nur dürfe. Der gewöhnliche Ausdruck: der 
Menſch jey ein Bewohner der Erde, das fchöne 
Wort unfered großen Geographen: die Erde fey dad 
Erziehungs haus des Menſchen, faßt das Verhältniß 
zwiſchen Menſchen und Erde ſo, wie das zwiſchen 
uns und den ſchützenden Wänden, zu welchen wir, 
auch wenn wir ſie ſo lieb haben wie die, innerhalb 
der wir erzogen wurden, doch nur in einem äußer⸗ 
lichen Verhältniß ftehn, weil wir umziehen und 
ohne dat wir dadurd) anderd würden, fie mit an: 
dern vertanfchen können. Verſucht man aber in Ge- 
danken binfichtfich der Erde einen ſolchen Umzug, 
wie diejenigen z. B. thun, welche fich das Leben nach 
dem Tode ald eines auf andern Planeten denken, 10 
macht man die Erfahrung, doh vunier Bein St 


— 190 — 


Erde viel inniger ift; es findet fic) nämlich, daß wir 
in Gedanken immer die Erde (d. h. alle irdiſchen 
Perhältniffe) mitnehmen, d. 5. bei jenem Fluge un- 
ferer Gedanken die Erde wirkli nicht verlafjen. 
Man denkt ichs fchön, einmal auf dem äußerften 
Planeten zu leben, jo lange man davon abitrahirt, 
daß dort Die Sonne nur jo groß erfcheint wie ung der 
Planet Denus, daß dort der Unterichied von Tag 
und Nacht nur fo groß ift wie bei und zwijchen 
einer fternhellen Nacht mit oder ohne jenen Plane: 
ten, daß in gleicher Proportion die Sommerhite und 
Winterkälte dort fich nahe Itehn, daß demgemäß alle 
Bedingungen menſchlichen Daſeyns fehlen. Be: 
dächte man dies, fo würde man jenen Gedanken auf: 
geben, weil er eigentlich enthält, was dem menjchli- 
chen Denken unmöglich ift: dag man fih nicht mehr 
ald Menſchen denke. Da ift die Bibel viel menfch- 
licher und wahrer, wenn fie in den wenigen Gtellen 
wo das Wie des Lebens nach dem Tode zur Sprache 
fommt, von einem folchen Fluge durch die Planeten 
Nichts fagt, dagegen dem erneuten Menfchen eine 
erneute Erde verheißt. Sie beftätigt damit, mas 
wir in uns ſelbſt erfahren, daß der Menfchengeijt 
nicht Insfommen Tann von der Erde, daß er der 
wahre Erdgeiſt ift, weil er irdifch lebt, irdifch fühlt, 
tebifch denkt. Diefed Verſchmolzenſein mit der Erde 





— 151 — 


bat feinen Grund darin, daß er nicht nur auf der 
Erde, jondern von ihr lebt, ja wenn man will von 
ihr gelebt wird, indem ihr Xeben auch ihn durch— 
dringt. Ich fage mit Abficht ihr Leben, denn wenn 
auch die Erde jeit fie den Menſchen geboren, er: 
ſchöpft, nicht neue Geſchlechter hervorbringt, jondern 
dies ihnen ſelber überläßt, jo hat doch die Geburt 
ihre3 Benjamin ihr nicht, wie jener Rahel, den völ- 
ligen Tod gebracht. Dazu, ihre Kinder, nament- 
lich ihren Süngjtgebornen zu nähren, hat fie noch 
Leben genug, und wie das Kind an der Mutter 
Brüſt den flüffigen Leib der Mutter trinkt, fo ift 
auch die Erde für den Menfchen nicyt nur der Tifch, 
auf dem ihm die Speife dargebracht wird, fondern 
die Speife jelbit; was ihn ernährt, was er athmet, 
was ihn erhält, alles dies iſt Beitandtheil der Erde. 
Ja das Verhältniß ift noch inniger als zwilchen einer 
menjchlichen Mutter und ihrem Säugling: nur mit: 
telbar und langjam überträgt fich die fieberhafte Er- 
regung derjelben auf das Kind, anders Dagegen hier, 
wo dem Kinde bei anbrechender Nacht die Augen 
zufallen, weil der Schlummer der großen Mutter 
zugleich fein erquidender Schlaf ijt, wo der Menſch 
das Frühjahröpulfiren der Erde als feine Reijege- 
fühle oder Todesgedanten empfindet, oder das We- 
ben des Sirocco ald feine Melle iur, mit 


— 12 — 


er der Erde verbunden ift wie die Blüthe, die mit 
dem Baume Franft und gedeiht. Wozu aber bier 
bloße Bilder und Gleichniſſe, wo die entfchiedenfte 
Analogie zu uns fpriht? Wenn man ed ganz na- 
türlich findet, dat Pflanzen und Bäume, daß, wenn 
gleich, in geringerer Ausdehnung, auch Die Thierwelt 
ihren Winterfchlaf hält, worin liegt denn das Be: 
fremdende, wenn der Menſch gleich den übrigen Kin- 
“dern der Erde im Winter nicht nur mehr Schlaf 
verlangt, jondern — man braucht um Died zu be- 
merken nicht die Naturvölfer zu befuchen, man braucht 
bloß mit ungebildeten Landleuten verkehrt zu haben 
— innerlih minder aufgewedt ift? Es iſt der legte 
Reſt vom Winterfchlaf der ſich bis in das Menſchen⸗ 
leben hineinzieht. 

MWenigftend hinfichtlich feines Verhältniſſes zur 
Erde werden wir ed aljo aufgeben müſſen dem 
Menfchen ein völlig ifolirted Leben für fich zuzu: 
Schreiben; allein wir Dürfen Doch andrerfeits, indem 
wir folched Zufammenleben mit der Erde behaupten, 
nicht den großen Unterfchted überfehen, der auch 
bierin zwifchen dem Menſchen und den. übrigen Be- 
wohnern der Erde Statt findet, die nur Parafiten 
und Mitleber an derjelben find. Was manche Mut—⸗ 
ter fich träumt während fie ihren Eritgebornen mit 
ibrem eignen Leben nährt, was die Glücklichen unter 





— 13 — 


den Müttern wirklich erleben, daß der Sohn fidh 
über die Mutter erhebt, daß fie hinauf zu fehen hat 
zu ibm ald zu einem großen Herrn, der fie verherr: 
licht, — die Gebenedeite unter den Müttern ſah zu 
ihm hinauf ald zu ihrem Herrn — Died iſt Die 
Beitimmung ded Menfchen der großen Mutter ge: 
genüber. Er foll die Erde verherrlichen, indem er 
fih über fie erhebt und fie durch feinen Geift, 
d. h. künſtlich, verfchönt, d. h. cultivirt und ver: 
ändert. Indem ‚aber darin die Erde fich nach dem 
Willen des Menfchen richtet, Eehrt fich offenbar das 
urfprüngliche Berhältnig um: von Natur folgte der 
Menſch der Erde, durch feine Kunſt bringt er ed 
dahin, dag fie ihm gehorcht; von Natur aß er die 
Früchte des Waldes, durch feine Kunft verwandelt 
er den Wald in Zeld und zwingt diefem nicht na— 
türliche fondern Gulturpflanzen ab. Se mehr der 
Menſch feine Beftimmung erfüllt, als mächtiger 
Herr der Erde gegenüber fteht, um fo mehr lodern 
fich alfo die Bande, welche unüberwindlich waren, 
fo lange er noch ald unmündiges Kind am Herzen 
der Mutter lag. — Für Die Erfüllung feiner Be- 
ftimmung brauchen wir in den allerverfchiedenften 
Berbältniffen ein und daffelbe Wort, indem wir ſo— 
wohl von dem Eiweiß, das zum Huhn, ald von dem 
Talent, das zum Birtuofen wird, Kae, Ne üben 


— 14 — 


fih (jenes zum Huhn, dieſes zum Tonkünſtler) ge— 
bildet. Wir feßen darum auch immer dad Gebils 
dete dem Rohen vder Unreifen entgegen als dem— 
jenigen, welches feinen Bildungsprozeß noch vor 
ſich hat. Bleiben wir bei diefen Wort, fo werden. 
wir jagen müffen, der Menſch bildet fih um ſo 
mehr, geht um fo mehr aus den Zuftande der Rob: 
beit heraus, als er fich zum Herrn der Natur macht, 
oder, da dies nur durch Kunſt geichieht, je mehr er 
fünftliche Verhältniite an die Stelle der natürli- 
hen ſetzt. Darnm tft ed ganz nothwendig, daß durch 
die Fünftliche Agricultur die Menjchheit nicht nur den 
Adler ſondern fich cultivirt, d. h. gebildet hat, 
darum ift es umgefehrt begreiflich, daß und die 
Worte rohe Völfer und Naturvölker Gleiches be- 
denten, und dat wir unter dem rohen Zuftande des 
Menihen den Naturzuftand verftehn. Sit aber 
dies richtig, fo folgt auch ganz von jelbft, daß bei 
wachfender Bildung Mles feltener werden müſſe, 
was den Dienfchen ald den von der Natur beberrich- 
ten erjcheinen läßt. Da nun alle die Erfcheinungen, 
in welchen der Menfch (wie die bloßen Naturweſen) 
ale Mitleber der Erde erfcheint, dazu gehören, fo 
ift ed ganz nothwendig, daß fie mit zunehmender 
fünftlicher Eultur feltener werden müſſen, während 
fie im Zujtande der Rohheit, d. h. Uncultur, viel 


— 15 — 


häufiger find. Jetzt denke man fich einen Zuftand, 
wie den unſrigen, wo fait alle natürlichen Verhält— 
niſſe durch Eiinftliche verdrängt find, wo die von und 
felbft gefchaffenen Gewalten, Gewohnheit und Mode, 
fo die erite Natur verdrängt haben und zur zweiten 
Natur geworden find, daß was jene gebietet unna⸗ 
türlich heißt; wo man es 3. B. natürlich findet, 
daß die Schlafenäzeit zum Tanz angewendet wird, 
ja wenn einmal joll am Tage getanzt werden, gewiß 
künſtlich Nacht machen und dann abermals künſt-— 
lich fie in Tag verwandeln wird, man denfe fich 
dies und man wird fich nicht wundern dürfen, wenn 
in fo künjtlichen, ja Doppelt künſtlichen Zujtänden die 
Zufammenhänge, von denen wir fprechen, fchwer auf: 
zufinden find: fie find eben etwas zu Natürliches, 
und wir leben nicht mehr in natürlichen Zuftande. 
— Dieſes nun, daß Died Natürliche von der Eultur 
verdrängt ift, dieſes vergeſſen Alle, welche das, was 
ung von rohen Naturvölfern erzählt wird, fogleich 
Deshalb ala Fabel verwerfen, weil ed bei und nicht 
vorfommt. Daß die Wilden ein beſtimmtes Bors 
gefühl von ihrem Tode haben, daß bei ihnen Biele 
beim Eintreten in eine Hütte empfinden follen, ob 
ein dem Tode Naher fich darin findet, iſt vielleicht 
nicht wahr; der Grund aber, den Einige anführen, 
man bürfe ihnen dergleichen übernatieiiuen SuHsK- 


— 156 — 


blick nicht zutrauen, der ja ſelbſt unfern gefchidteften 
Ärzten abgehe, Diefer ift unhaltbar; hier ift von 
etwas Übernatürlichem gar nicht die Rede. Da bie 
Kapen fich verſtecken um zu fterben, da der treue 
Hund den tödtlich erkrankten Herrn flieht, zudring- 
liche Stiegen fich an den Sterbenden drängen, weil 
fie die beginnende Verweſung ahnden, fo fcheint dad 
vielmehr dad Natürliche zu fein, und nur unfer über: 
natürlicher, d. h. künſtlicher Zuſtand, in dem wir fo: 
gar gejcheute Ärzte haben, es verſcheucht zu haben. 
Daß ſich Nichts der Art bei uns findet, beweift nicht 
daß dergleichen nicht möglich jeyn follte bei Natur: 
völfern, die wir freilich nicht darum beneiden wer: 
den, fondern eher beffagen, daß fie den Kaben, Hun⸗ 
den und Fliegen jo Ähnlich blieben. Wollen wir 
daher Erfahrungen fammeln Hinfichtlich des natür- 
lichen Zufammenhanges zwiſchen dem Xeben der Erde 
und des Menfchen, der auch bet uns fich noch fin: 
det, jo werden wir dahin bliden müflen, wo die 
fünftliche Entwidlung, d. h. die Bildung noch nicht 
begonnen hat oder wenigſtens nicht tief Durchdrang. 
Alfo auf Die Kinder und die ungebildeten Land— 
leute. Darum ward nur bei den Kindern auf das 
Schläfrigwerden mit anbrechender Nacht bingewie- 
fen, weil das bei uns ald Mangel an gefellichaft: 
licher Bildung ericheinen würde; allein auch bier 


—E 





— 17 — 


wird die Ausbeute gering feyn, Denn wo man ed na= 
türlich findet, daß Das nengeborne Kind im ver: 
dunkelten Zimmer liege (ald wenn dann die Men: 
fhen nicht von Natur würden blind geboren wer- 
den), da fängt die Eultur mit dem erjten Athemzuge 
der Kinder an. Mbnlich ift es hinfichtlich des Land: 
mannd: wo es natürlich erfcheint, daß der Bauer in 
Dörfern wohnt, Gaffee trinft, unter Federbetten 
fchläft, Zeitungen lieſt und Politik treibt, da Tann 
von einem Naturmenfchen kaum mehr die Rede feyn, 
und darum will ich gern zugeben, daß hier zu Lande 
von jenem Stumpferwerden im Winter, von jenem 
Reit des Winterfchlafes, von dem ich oben ſprach, 
feine Spur fich finde, den ich bei Bauern, die un: 
ter ganz andern, einfacheren, Umjtänden leben, fehr 
deutlich bemerkt habe. — 

Daraus aber, Daß es die Bildung ift, welche 
alle die Ericheinungen verfchwinden läßt, in Denen 
fi) der Menſch ald Anhängfel der Erde und ale ihr 
Leben theilend erweiit, daraus folgt, daß dieſelben 
wieder hervortreten müſſen oder wenigitend können, 
wo ihre Wirkfamkeit aufhört. Halten wir Dies feft, 
daß unter Bildung nicht etwa nur Die Fähigkeit 
zu lefen oder zu jchreiben, fondern die erfüllte Be⸗ 
ftimmung zu verftehen ift, die Darin beiteht, daß der 
Menſch die Natur bezwang und vvx Äe Ted ontlür, 


— 15 — 


fo kann ed nicht auffallen, wenn die Krankheit als 
eine Negation der Bildung bezeichnet wird, wie ja 
denn auch der gewöhnliche Sprachgebrauch hier Mip- 
bildung, Berbildung, d. h. mißrathene Bildung | 
. fagt. In der That ift jede Krankheit entweder ge: 
bemmte Bildung (wie die Blaufucht der Kinder) 
oder mißgeleitete hinfichtlich ihrer Nichtung. Gegen 
den übermüthigen, jetzt bitter gejtraften, Cinfall 
Heine’s, dab die Gefundheit ungebildet, pöbelhaft, 
fey, werden wir gerade in den Kranfheitderjiheinun: 
gen Migbildungen erkennen, darum aber auch und 
nicht wundern, wenn in Krankheiten der Menſch der 
Naturgewalt wieder verfällt, und alle die Zuſam— 
menhänge wieder hervortreten, von welchen cr ich 
(über die Natur fiegend) befreit hatte. Der Gefunde 
hat Recht, wenn er fagt: was ficht mich’s an, ob die 
Bäume Blätter treiben, er wird krank und der aud) 
in ihm fich mächtig regende Lebensjaft fprengt die 
todeöwunde Bruft; der Gefunde geht ungeltraft nach 
Mitternacht zu Bette, weil es feine Schlafenäzeit 
ift, und fpottet ded Arztes, der ihm Die Kinder als 
Mufter vorhält, er wird Frank und der gejteigerte 
Paroxysmus des Fiebers zeigt, daß nicht alle Stun: 
ben des Tages gleich find. Der Gejunde hat Necht 
wenn er fagt, daß der Mond wohl über das Meer 
und über deſſen Ebbe und Fluth Gewalt haben möge 





— 19 — 


(felbft wenn er nicht jogleich begreift warum dieſel⸗ 
ben zwei Mal Statt finden), dabei aber leugnet, daß 
er über ihn Macht habe, allein er wird mondſüch— 
tig und unterliegt der Gewalt, die er bie dahin ver: 
höhnte; was der Gefunde den Laubfröichen und 
Spinnen überläßt, Witterungsmechfel zu empfinden, 
darin wird er ihnen ähnlich, wenn Rheumatismen, 
ja wenn Hühneraugen ihn plagen. — Wie wir ed 
tadeln mußten, wenn verkannt wird, da Manches 
im Naturzujtand möglidy ja nothmwendig ift, was bei 
wachjender Eultur eben jo nothwendig verjchwinden 
muß, jo find wir hier zu gleichem Tadel berechtigt: 
Sn der abergläubiichen Furcht vor Aberglauben, die 
unfere Zeit characterifirt, in der wir ganz vergeflen, 
daß nicht das Ungläubigieyn den aufgeklärten Dann 
verräth, jondern das eingehende Unterfuchen — (der 
Dumme Bauer ift der ungläubigite, er verfucht nichts 
Neues weil er e3 nicht glaubt) — in dieſer Furcht 
alſo verwerfen wir ohne Weiteres ald unmöglich, als 
undenkbar, was nur krankhaft zu feyn braucht. 
Es gibt noch heut zu Tage nervös reizbare Mten- 
fhen, welche, wenn ſich im Zimmer eine Kabe be- 
findet, Zittern, Ohnmachtsanwandlungen, befommen. 
Es wäre nicht undenfbar, daß bei krankhaft reiz- 
barem Welen ähnliche Symptome fid) zeigten, wo 
Jemand auf quellens oder metslleeiigen Bruen RL. 


— 10 — 


Seht denfe man fich in der Hand eines folchen er- 
zitternden oder von momentaner Schwäche befallenen 
Individuums eine ſchwankende Ruthe: daß diefe er: 
zittert oder in der fchwachwerbenden Hand fich ſenkt, 
enthält durchaus feine Undenfbarfeit — und von 
der allein ilt hier die Rede. Daß endlich, wenn der— 
gleichen Eranfhafte Nervoſität vorfommen follte, fie 
mehr in dem nervös reizbaren Mittelalter, als in 
unferer abgeitumpften blafirten Zeit vorkommen wird, 
liegt in der Natur der Sade. Die Undenkbarkeit 
und der Unfinn in diefen Erzählungen beginnt erft 
dort, wo man dad Kactum anfängt zu erklären, wo 
man ed auf die Hafelruthe oder darauf fchiebt, daß 
diefelbe in der Johannisnacht gefchnitten ward u. f. w. 
Wenn wir aber darand, daß Dies alles Aberwitz ift, 
fogleich ſchließen wollten, alfo habe nie eine Wün- 
fehelruthe in der Hand eines Kranken gezittert, und 
die ed behaupten, jeyen Betrogene oder Lügner, — 
fo find wir dabei vielleicht eben fo gerecht wie im 
Mittelalter der Richter, welcher, wenn eine Frau 
and eignem Antriebe ſich angab ald eine, die auf 
einem Bejenjtiel auf den Blocksberg geritten fey, nun 
fie bona fide zum Tode verurtheilte, anftatt zu un: 
terfuchen, ob ihr Died nicht wirklich paffirt ſey: 
im Traum nehmlich, in welchem Fall fie, wenn der: 
gleichen Träume Werk verborbener Phantafie waren, 





— 161 — 


eine ernite Ermahnung, wenn Folge von Krankheit, 
ärztliche Behandlung, gewiß aber nicht den Feuer: 
tod verdient hätte. 

Nach einer folcyen Apologie, jogar der Wünfchel: 
ruthen, wird, wenn ich num zu den Sternen zu: 
rückkehre und zu Der Frage: ob ihre Bewegung 
den Menjchen Etwas angehe, Mancher meinen, ic 
müſſe, wolle ich confequent fein, auch die Sterndeu- 
terei in Schuß nehmen. Vielleicht doch nicht. Selbſt 
wenn das Verhältnig des Menſchen zum Planeten: 
ſyſtem ganz fo märe wie das zu feiner Mutter, der 
Erde, fo würde er Doch nur fo lange ald ein Mit- 
Leber an demfelben erjcheinen, als er fich von der 
Natur nicht frei gemacht hat, und die Macht der 
Eonftellatienen würden wir auf die Zeit befchränten 
müfjen, wo der Menfch noch jo wenig die von ſei— 
ser Vernunft dictirten oder wenigitens begriffenen 
Geſetze für das Höchfte hielt, daß ihm vielmehr das 
Naturgeſetz als fein Gott, der Planetentanz, worin 
Tich Dies Geſetz am großartigiten zeigt, ale die allei- 
nige Offenbarung Gottes erfchten. Aber felbft dann 
wäre die Wirkſamkeit der Sterne auf den Menjchen 
nur als eine äußerjt geringe zu ftatuiren und Die gar 
nicht in Vergleich kommt mit der Stärke der Bande, 
mit welchen die Erde den Menfchen an ich Tettet. 
Wie auch in einem allgemeinen Mixpr Kart INNEN 

VM 


— 18 — 


Landes die Bäume eines Gartens, die Ähren eines 
Feldes ergiebig ſeyn können, wenn Umftände Statt 
fanden oder Maaßregeln ergriffen wurden, Die die: 
fen Garten oder diejed Feld, an deſſen Xeben Bäume 
und Ähren fpeciellern Antheil haben als an dem dee 
ganzen Landes, iſoliren und vor den Einflüffen un— 
ter denen das ganze Yand leidet ficher ſtellen, jo ift 
unfere Erde ein ſolcher ifolirter Garten im Plane: 
tenſyſtem, und weil der Menfch mit ihr fo innig ver: 
bunden ijt, deswegen kann ihn das, was in Dem grö- 
Bern Ganzen gefchieht, fogar wo er noch der Natur 
angehört, nur wenig berühren. Endlid, aber müſ— 
fen wir fogar dieſes Wenige noch leugnen, denn die 
Möglichkeit, daß der Menſch ſich in, wenn aud 
fchwächern:, doch ähnlichen Berhältnig zum Plane: 
tenſyſtem befinden könne wie zur Erde, beruht auf 
der Vorausſetzung daß eg ein Leben Des Planeten: 
inftems gebe. Dazu aber, Died anzunehmen, nöthigt 
und nichte. Da wir von Xeben nur da jprechen, 
wo fid) fo complicirte Bewegungen zeigen, daß wir 
genöthigt ſind entweder andere Kräfte anzuichmen 
als welche die todte Natur beherrſchen, oder wenig— 
ſtens ganz eigenthümliche Combinationen der ſonſt 
wirkenden, die Bewegung der Himmelskoörper aber 
ſehr einfach aus Stoß und Zug erklärt und aufs 
Haar berechnet werben Tann, — ſo haben gewiß die 





— 18 — 


mehr Recht, welche das Planeteniyitem mit einer Uhr 
vergleichen, als Die es zu einem lebendigen Wefen 
machen. Wo aber Das Ganze nicht lebt, Eann von 
einem Participiren des Theild an jeinen Leben nicht 
die Rede feyn, und Da auf Diejer Annahme alle ajtro: 
logiſchen Borjtellungen beruhen, jo müſſen wir jagen 
dergleichen Zuſammenhänge finden nicht und fanden 
nie Statt. 

Segt aber jcheint, wenn irgend Einer am Anfange 
unferer Unterfuchung noch zweifelhaft geweſen ſeyn 
follte, gar fein Zweifel nicht möglich. Wenn feft- 
ftehen follte, daß der Unſinn feinen (auch feinen poeti- 
fchen) Reiz für den vernünftigen Menſchen haben 
foll, jet eben aber die Anficht von einem Zufammen- 
leben mit den Sternen als Irrthum bezeichnet wurde, 
jo kann auch Göthe nur in einem Moment roman: 
tifher Schwäche feine Diakarie erfunden haben, und 
wir müflen ung für ihn, jollte ed uns aber gefallen 
baben, für ung jelbft, fchämen. Dies ift doch noch 
nicht ganz ficher, denn ein Irrthum braucht nod) 
fein Unfinn zu jeyn. Wenn ein Kind fich in den 
Spiegel liebt, und nachtem ed vergeblich verjucht hat 
jenes andere Kind zu berühren, nun Hinter den Spie- 
gel greift, fo ift jeine Borftellung trrig, und dennoch 
freun wir und, daß died Kind fo viel Sinn und 
Berftand. zeigt, denn wenn ht üer ven Kur 

\\* 


— 14 — 


unbefannte Umſtand Statt finde, dat dieſe Glas: 
icheibe mit Amalganı bededt ijt, jo hätte ed ganz 
recht, da hinten ein Kind zu vermuthen. In der 
Yage dieſes Kindes aber befanden fich die frühern 
Gejchlechter, welchen es verbergen war, daß der Yauf 
der Geſtirne jo einfach iit, Die vielmehr, weil fie die 
Erde für den Mittelpunft Des Syſtems hielten, den 
Planeten jo complicirte, vor: und rüdelaufende Be: 
wegungen und Darum bewegende Lebenskräfte zujchrei: 
ben mußten. Sie irrten, aber mit Sinn und Ber: 
ftand. Wie uns aber jenes hinter dem Spiegel 
juchende Kind nicht nur durd) die erjten Spuren von 
Verſtand ergößt, fondern zugleih rührt, weil es 
und Die glütdliche Zeit zurüdruft wo wir uns zwar 
täufchten, aber auch fo viele ſchmerzliche Enttän: 
ſchungen nicht erfahren hatten, eben jo erfüllt une 
der Gedanke an einen Zujtand der Menſchheit, we 
noch kein Newton Das Planetenſyſtem entgeijtet Hatte, 
und wo man von den Planeten glaubte, tie führten 
einen Reigen auf, mit den fühen Gefühlen, mit wel- 
hen in allen Völkern und Jahrhunderten der Menſch 
auf die paradiejiiche Kindheitszeit Des Geſchlechtes 
zurüdgeblidt hat. — Und nun denfe man fich den 
Dichter, Der mehr ald je Einer, dem geheimnigvollen 
Wirken der Natur laufchte, der Natur: und Offian: 
trunten in jeinem Werther gegen die bürgerlichen 





Berhältnifie anjtürmt, deſſen Wahlverwandſchaften 
zeigen wollen, daß daſſelbe Naturgeſetz, welches von 
der Kalferde die Säure, auch Eduard von Charlotten 
fcheidet, und man wird fich nicht wundern, wenn er 
die unter feinen Heldinnen, welche ihm am Meiſten 
gefällt, Dttilien, um fie mit allen Vorzügen zu 
fhmüden, nicht, wie das ein heutiger Autor viel- 
leicht thun würde, mit jocialen Fragen ich .befchäf- 
tigen, jondern — Steinfohlenlager fühlen läßt; denke 
man ſich ihn mit feinem Haß gegen Newton, mit 
Sngrimm gegen Mle erfüllt die aus gewaltſamem 
Stoßen und Ziehen das Univerfum conftruiren, und 
man wird ed begreifen wie er, um Mafarien Doppelt 
Telig zu fchildern, fie Hingegeben jenn läßt Dem Zuge 
allgemeinen Lebens, dag er über die Erde ausdehnt 
big auf die Wandeliterne. Nennt man Dies roman- 
tifch, To jen ee, nur verbanne man es darum nicht 
ins Mittelalter: die Freude an der Kinderwelt iit 
auch romantijch, fie aber war dem klaſſiſchen Alter: 
thum eben fo wenig fremd als das romantifche Aus: 
malen eines goldnen Zeitalter; die Sehnſucht aus 
der Stadt aufs Gebirge mit feinen öden Gletſchern, 
aus unjern Culturzuftänden nach einem amerikaniſchen 
Urwald, alles dies ift eben jo romantisch, und nimmt 
man und dies Alles, jo werden wir wohl weniq Poetie 
nachbebalten. 


— 16 — 


Wenn unjere Unterfuchung und berechtigt ben 
Dichter gegen den Vorwurf ganz finnlofer Phan- 
tafterei in Schuß zu nehmen, fo gibt fie und zugleich 
noch einen andern Wink Hinfichtlich feiner Beurthei: 
lung. Wir haben gejehn, daß wenn fi Erſchei— 
nungen, die im paradieftjch-findlichen Alter der Menſch⸗ 
beit natürlich waren, ind Gulturleben hineinziehn, daß 
fie dann Symptome von Krankheit find. Obgleich 
bei feiner offenbaren Vorliebe für dergleichen, Göthe 
vielleicht verlegt feyn würde Durch jo eine Behaup— 
tung, fo bat er doch bei der Behandlung dieſer 
Erſcheinungen praftifch jich auf unſere Seite geftellt, 
und auch hier wieder bewiejen, daß jeine perfönlichen 
Sympathien und Antipathien ihn nie gegen die Wahr: 
heit verblenden. Wer wollte verfennen, daß er mit 
Werther fumpathifirt im Anſtürmen gegen die bür: 
gerlichen Berhältniffe, und dennoch ftellt er dies An- 
ftürmen dar ald nothwendig zum Untergange führend, 
was aber nothwendig dazı führt das nennt man 
ja eben Krankheit. Wer will es leugnen, daß Göthe 
perjönli Eduard und Ottilien doppelt Tiebt, weil 
fie unter dem natürlichen Geſetz der chemifchen 
Wahlverwandtfchaft ftehn, aber er zeigt wie Diefes 
Beherrihtfeyn zum Tode führt, d. h. Krankheit 
iſt. So auch in dem, was ung hier befchäftigt. Ihm 
erfdeint Dttilte als beſonders beaakt, weil ſie Stein- 


— 17 — 


fohlenlager ipürt, aber er fchildert wahr und des— 
wegen gejtebt er, daß Nte etwas langſamen Berftan: 
des geweſen jey (was Doch wohl bei einer jungen 
Dame nur ein Berläumder den gejunden Zuftand 
nennen wird); eben jo ift ihm Makarie deppelt ver: 
ehrungswürdig wenn die Zeit ihres Rapports mit den 
Planeten beginnt, aber er gibt ter Wahrheit Die 
Ehre und bekennt, daß gerade dann fie aufhörte, 
Werke der Barmherzigkeit zu üben und der Engel 
der Umgegend zu ſeyn, jo das aljo jene Momente 
des fiderifchen Pebens von ihm ſelbſt als folche ge: 
ichildert werden, Die wie ein fittliher Schlaf oder 
eine ethiſche Ohnmacht, das wache und gefunde fitt: 
fiche Leben unterbrechen. Und hier möchte man, troß 
des romantifchen Sternlebens der Makarie, dem jün— 
gern antistomantifchen Gefchlechte den Haren Verſtand 
des alten Göthe wünſchen. Es geht dieſem Ge: 
fchlechte feltfam; ganz daffelbe was auf der einen 
Seite bis auf den Tod verfolgt wird, genießt auf 
der andern um jo mehr Verehrung, und da ed dort 
noch eher geduldet werden möchte als hier, fo möchte 
ich jagen, daß unjere Zeit Neigung zu moralifchen 
‚Milchverfeßungen habe, wenn ich nicht fürchtete bei 
allen, Die medicinifche Kenntuiffe haben, in den Ge: 
ruch zu kommen, daß ich längft veraltete Anfichten 
liebe. Fin merkwürdiges Beiipiel \tlger MEARÄEN 


— 168 — 


die leider im ethiſchen Gebiete kein Wahn ſind, ſehn 
wir hinſichtlich des Intereſſes, das man an Räubern 
und Banditen, Verbrechern überhaupt, nahm und 
nimmt. Früher las man den Rinaldini, Pontolino- 
Abällino, und ſah im Leſen Die Großherzigfeit nur 
im Kerker. Das ift jet gegen den guten Gejchmad. 
Sch habe nichts Dagegen, dad Diefe Romane heut zu 
Tage nicht mehr gefallen, und wünjche durchaus nicht 
fie vom Küchentifch wieder zurüd ind Zimmer der 
Dame, ob aber dies ein gejunderer Zujtaud ijt, wo 
ganz dafjelbe Raifonnement aus den Romanen in Die 
1. g. Organe der öffentlichen Meinung übergegangen 
ift und Zeitungen ſich nur Darüber erweichen, daß 
die Zelle des Zuchthäuslers jo traurig iſt, als müſſe 
ordentlicher Weile Das Verbrechen nur zu Belnfti: 
gungsorten führen, das ift Die Stage. Ich fürchte 
jo wird es auch mit der Nomantif gehn. Es wäre 
nicht unmöglich, daß, wenn wir und erjt Alle werden 
überzeugt haben, daß Romeo und Julie nur gedichtet 
ward um zeigen, was Dabei herauskommt, wenn ein 
Mann ich der Leidenjchaft der Liebe hingibt und 
darüber fein Geichäft oder feine politijche Garriere 
verfäumt, daß dann andere Völker mit Recht Tagen 
werden: jeltjam fey es, daß Die Deutichen, Die durch 
ihre Leidenjchaftlichkeit zu jedem Geſchäft untauglich, 
daß Diele die Liebe nur als Gefchäft oder ald Mittel 





— 1699 — 


zur Garriere gebrauchten. Und wenn wir je dazu 
gelangen follten, dag Göthe nicht mehr ein großer 
Dichter ift, ſondern ein unklarer Kopf, der anftatt 
hübſch bei der Erde zu bleiben, feine Helden auf dem 
Mercur und der Venus anfiedelt, Dann möchte auch 
die Zeit nicht mehr fern feyn, wo man und nachſagen 
wird, wir feyen phantafie- und poeſieloſer als die 
Amerikaner, nur binfichtlich unjerer bürgerlichen Ein- 
richtungen jeyen wir Phantaſten und conjtruirten 
Staaten, die vortrefflih wären für den Mercur und 
die Venus. Die Gegenwart iſt nicht jehr fchön. Doch 
tenne ih Manihen, der fie einer jolchen Zufunft 
weit vorzöge. 


— — J 


VI. 


Wir leben nicht auf der Erde. 


1852. 





Dagegen, dag die Worte „Aufgeklärt“ und „Ohne 
Borurtheile” ale gleichbedeutend gelten, und daß man 
ald das Ziel aller Erziehung und alles Unterrichts, 
ſowohl der Individuen ald der Völker, Die Befreiung 
son Borurtheilen anfieht, Dagegen ift, To lange diefer 
Ausdrud richtig veritanden wird, Nichts einzuwenden. 
Gewöhnlich aber meint man damit nur dies Eine, 
das was biöher geglaubt wurde, widerlegt und ale 
irrig nachgewiefen werde, und da ift der Ausdrud 
offenbar zu enge gefaßt. Viel enger nämlich als die 
Bildung ded Wortes verlangt, denn da darin doch 
nur gefagt ift, daß vor reifficher Überlegung geur: 
theilt wird, Etwas ſey falfch oder richtig, gut oder . 
Schlecht, jo ift offenbar „Vorurtheil“ ganz gleichbe: . 
deutend mit „vorgefaßter Meinung”, wobei ed ganz 
unentfchieden bleibt, ob diefe richtig ift oder unrichtig. 
Daß die Erde fih um die Sonne dreht tft, jo lange 
mir es nicht bewiefen oder durch mein eigned Nadh- 
denken beftätigt iſt, eben fo ein Borurtheil wie, daß 
ein.über den Weg. laufender Hafe Unaüt wills 


— 174 — 


Bon beiden Vorurtheilen muß fi) der Menſch be: 
freien, um ein aufgeflärter Mann zu fein; es ge: 
ſchieht aber Hinfichtlich beider auf verſchiedene Weiſe. 
Hinfichtlich des erjten fo, daß ihm die Bewegung 
der Erde bewiejen wird, jo daß, wenn er nun ſpäter 
urtheilt, fie jtehe nicht jtill, Dies nicht mehr ein Bor: 
urtheil ift, jondern vielmehr ein Nach urtheil genannt 
werden müßte; hinſichtlich des zweiten jo, daß er 
dahin gebracht wird, gar nicht mehr jo zu urtheilen, 
weder vorher noch nachher. Gäbe ed nur das leb: 
tere Mittel, die Menſchen aufzuklären, jo hätten Die 
Finfterlinge Recht, welche die Aufklärung für ein Un: 
glüd Halten. Denn da Alles, was das Kind (und 
der ungebildete Menſch) glaubt und weiß, nicht ale 
ein Bewieſenes, jondern als eine vorgefaßte Meinung 
oder ein Borurtheil in ihm lebt, indem es Feine 
Gründe weiß, warum es den Bater gehorchen, Die 
Mutter lieben joll, jo würde die Aufflärung, indem 
fie ihm feine Vorurtheile widerlegte, die heiligiten 
Überzeugungen in ihm zerjtören. So aber tft es nicht. 
Glücklicher Weife ift das Widerlegen der Borurtheile 
nur ein Theil der Erziehung. Ein ebeßfo wichtiger, 
wenn nicht größerer, Theil derjelben befteht darin, 
daß beitätigt und bewiefen wird, was wahr war in 
den kindlichen Borurtheilen, und auch Died befrett 
Davon, weil ed. davor ſchützt, voreilig zu urtbeilen. 





- 15 — 


Aber nicht nur in der Erziehung des Kindes ift es 
fo. Alles Zufammenleben der Menſchen hat doch zu: 
legt nur den einen Zwed, daß fie ſich gegenjeitig 
unterrichten, bilden, aufflären, und darum befteht es 
eigentlich nur in einem gegenfeitigen Bejtätigen deſſen, 
was Wahres, und Widerlegen deſſen, was Unrichtiges 
fich findet in unjeren VBorurtheilen. 

Da die Vorträge, welche bier gehalten werden, 
ein gegenjeitige3 Sich unterrichten und Sid) aufklären 
zu ihrer Aufgabe haben, io Fann auch ihre Lojung 
nur diefer zweifache Krieg gegen die VBorurtheile jeyn. 
Sch habe einmal bier*) den Verſuch gemacht zu zei: 
gen, dag in einem Vorurtheil, das Viele für irrig 
Halten, manches Wahre enthalten ift. Würde ich nun 
abermals als Vertheidiger von Meinungen auftreten, 
die alle Welt für unrichtig Hält, jo könnte das doch 
am Ende ein fchlechtes Licht auf mich werfen, und 
felbit die Autorität des größten jet [chenden Dichters, 
des Finzigen, der noch lebt aus der Zeit der großen 
Dichter, der einmal feinen: Freunde fchrieb, ihm jey 
die wahrfte Philofophie die, welche ihm die meiften 
feiner Borurtheile beftätige, jelbit die Autorität dieſes 
feined Freundes, der ein großer Philofoph war und 
doch fich Solches frhreiben ließ, ja fich darüber freute 


) ©. ben vorhergehenden Vortrag: Ueber ben poetifchen Rei, 
bes Aberglaubens. 


— 16 — 


— felbft diefe Autoritäten würden mic kaum vor 
dem Borwurf ded Obſcurantismus ſchützen. Es ift 
aber nicht nur die, gewiß billige, Nüdficht auf mei: 
nen guten Ruf, Die mich dahin bringt, heute (ganz 
im Gegenfaß gegen das vorige Mal) eine fehr allge- 
mein verbreitete Meinung, die Viele als einen Aus: 
fpruch ded gefunden Menfchenverftandes anfehn, als 
einen groben Irrthum zu bezeichnen, fondern es be: 
wegt mich dazu noch etwas Anderes, nämlich daß ich 
dadurch, ich Kann nicht einmal jagen eine Pflicht der 
Dankbarkeit erfülle, fondern vielmehr nur eine Schuld 
abtrage. Sch bin nämlich durch einen vor einiger 
Zeit bier gehaltenen Bortrag von einem irrigen Bor- 
urtheil erlöft worden, das ich einige vierzig Sabre 
gebegt Hatte, ja noch mehr, der Gedanke, den ich 
heute bier Durchzuführen gedenke, ift, wenn auch nicht 
gerade jenem Bortrage entnommen, jo doch durch 
ihn entitanden. Als ich nämlich vor einigen Wochen 
bier ber fam, um einen Vortrag anzuhören, lebte 
ich des Glaubens, den vielleicht Manche mit mir ge: 
theilt haben, daß ich und alle übrigen Menſchen auf 
der Erde leben und darauf wandeln werden, bis ber 
unerbitiliche Tod und unter diefelbe bringt. Der 
Bortrag aber, den ich anhörte, zeigte mir, wie fehr 
ich mich geirrt hatte. Es ward nämlich in demjelben 
bewiefen, daß die Atmofphäre gerade fo zur Erbe 





— 117 — 


gehört, wie Die Ayfelichale zum Apfel, oder wie die 
fruchtbare Aderkrume zu dem feiten Erdboden, auf 
welchem fie ruht. Ich mußte mir alfo fagen, daß 
fo wenig der Wurm, der zwifchen Fleiſch und Schale 
des Apfels fich befindet, jagen darf, er Frieche auf 
dem Apfel herum, fo wenig der Maulwurf, der 
unter der Aderkrume wühlt, behaupten darf, er laufe 
umber auf dem der, daß eben jo wenig wir das 
geringfte Recht haben zu prätendiren, daß wir auf 
der Erde leben. Ic) fagte mir, daß, wenn ed Wefen 
geben follte, die wirklich auf der Erde leben, d. h. 
auf der ducchfichtigen Schale ded großen Apfeld, den 
wir Erde nennen, auf dem kryſtallnen Aderlande, 
unter dem wir wühlen, daß dieſe in ihrem Rechte 
Tind, wenn fie, ich wundernd, herabbliden auf Die 
feltfjamen unterirdifchen Gefchöpfe, die fich fo tief 
unten fo gefallen, und dann doch wieder fo viel Auf- 
bebend davon machen, wenn es ſechs Fuß tiefer hinab 
fol. Sn dad befchämende Manlwurfsgefühl, mit 
dem mich jener Vortrag erfüllte, mifchte ſich, ich 
kann ed nicht leugnen, manches Tröftliche. Denn 
wenn ich bis dahin wohl manchmal gefagt hatte: der 
Ärger über das und das, oder die und die wird mich 
noch unter Die Erde bringen, jo fah ich jeßt ein, daß 
dieſe Furcht jehr thöricht geweien, da ich ja längſt 
darunter bin. Wie ed aber wohl hei dem Nur: 
av} 


— 18 — 


matifer geht, daß wenn er eine Formel für eine Art 
von Größen gefunden, er nun fragt, ob fie nicht 
auch für andere gültig, fo erzeugte jener Gedanke 
bald einen ihm verwandten in mir, den ich eben, 
meil er hier entitanden ift, auch bier an's Licht treten 
laffe. Sit es nicht am Ende mit dem Leben hoch 
über der Erde gerade fo, wie mit dem unter ihr? 
Auch von einem überirdifchen Leben ſprechen die Men: 
ſchen und hoffen ed nach dem Tode, ganz wie id 
bisher das Sein unter der Erde durch die Todes— 
pforte von mir gefchieden gedacdıt hatte. Wie, wenn 
fie fich eben jo irrten, wie ich mich bid dahin geirrt 
hatte? Je mehr ich darüber nachdachte, um fo Harer 
wurde mir, was ich hier Har zu machen wünfche, 
dap nämlich der Menfch wie er bereit3 unter ber 
Erde lebt, fo auch gegenwärtig fehon in himmlischen 
Regionen wandelt. Es ift aber nicht (woran bei 
dem Ausdrud „im Himmel wandeln“ natürlic) Seder 
zuerst denkt) es ift nicht das religiöſe Gebiet, in 
welches ich hineintreten will, jondern ein von ihm 
verfchiedened, freilich von der gejunden Keligiofität 
ihm verwandt geachtetes, es ift das Gebiet der Kunft. 
In wie weit diefe mit Recht den Namen der Him- 
melötochter führt, in wie fern wir, obgleich der Hip- 
pogryph längft aus der Mode gekommen, doch noch 
som Fühnen Fluge der Dichter, von ihrem Entrüdt- 





— 19 — 


ſeyn in höhere Regionen jprechen dürfen, in wiefern 
der Genuß ded Schönen oder der Kunftgenuß 
wirffih über alles Irdiſche erhebt, darüber 
wünschte ich, gäben wir und Nechenjchaft. 


1. 


Die Erde oder der Inbegriff alles Irdiſchen zeigt 
und zunächſt die finnlichen Erfcheinungen nebit den 
fie beherrichenden Gefeten oder das, was wir Natur 
nennen. Der Umftand, daß in allen Eprachen der 
Natur die Kunſt, dem Natürlichen das Künftliche 
entgegengeftellt wird, fcheint darauf Hinzumeifen, daß 
zum Weſen der Kunjt eine VBerneinung der Natur, 
ein Berlafjen derjelben gehöre. Dies ift auch ganz 
richtig. Nicht nur Hinfichtlich der Kunft, die wir 
dem Gewerbe gleich ftellen, deren Werke wir Einft- 
liche nennen oder Kunjtproducte, fondern auch hin- 
fichtlih der Schönen Kunft, die das Kinftlerifche 
ſchafft und das Kunſtwerk; auch dieſes ift nicht 
anders denkbar als fo, daß darin die Natur verneint 
wird. Eben darum zeigen ſich die eriten Spuren 
des Kunſtſinnes bei Individuen jowohl ald bei der 
ganzen Menjchheit, in der Luft am Mährchenhaften 
und Zanberifchen, d. h. an dem, was nad) Natur: 
gejegen unmöglich ift. Wie in feinen erjten Syielen 
das Kind fich Iosreigt won dem Eier AR Hirte 

\2* 


— 190 — 


lihen, eben fo zerreißt die Eindliche Menſchheit in 
ihren erſten Poefteen die unverbrüchlichen Geſetze der 
Natur, und diefed Zerreißen gewährt eine Luſt der 
ähnlich, welche die genießen follen, Die anftatt auf 
den natürlichen Stützen ihres Leibes zu ftehn, un: 
natürlicher Weife von einem Ballon hoch in Die Lüfte 
ſich tragen laffen. Es hat Pädagogen gegeben, welche 
verlangten, man jolle den Kindern feine Mährchen 
erzählen, fondern fie zu veritändigen Menſchen er: 
ziehn, die fich mit dem Natürlichen genügen laſſen. 
Mollten diefe Männer confequent fein, fo mußten 
fie auch Die Spiele der Kinder verbieten und ver- 
hindern, daß fie fich daran freuen. Denn daß der 
Knabe aus dem Spazierftod feined Vaters ein Reit: 
pferd herauszaubert, daß das Heine Mädchen einen 
ichlecht gedrehten Plumpſack in eine Köchin verwan: 
delt, die auf den Markt gefchidt wird, das ift um 
gar Nicht3 weniger unnatürlih, ald day im Mähr: 
chen ein böfer Zauberer die Prinzeffin in einen Rofen- 
oder Dornftrauch verwandelt. Weil Beides ganz gleich 
unnatürlich ijt, Deöwegen macht auch Beides ein ganz 
gleiche DBergnügen. Denn die Luft an der Unnatur 
iſt berechtigt, weil fie die Erfahrung gibt, daß Die 
Naturgefeße nachgiebig find. Das Thier, welches 
Durch fie gefeffelt wird, kennt Diefe Luft nicht, und 
wenn die Thiere Dichter Hätten, fo würden dieſe 





— 131 — 


gewit feine Mährchen erzählen, fondern nur vom 
wirklichen Graſe fingen, oder wenn fie Sleifchfreffer 
find, von einem wirflihen natürliden Stüd 
Fleiſch. Das find Ultra’s der Verſtändigkeit, die 
hübſch bei dem Natürlichen bleiben. Da aber unfere, 
auf die Natur verfeffenen Pädagogen ihre Efeven 
Doch nicht fo weit bringen werden, daß fie es jenen 
Muſtern gleich thun, jo follten fie auch lieber den 
Menichenkindern ihre Spiele lajfeu und ihre Mähr- 
chen, an denen ſich freun die eriten Keime des Kunft- 
und Schönheitsfinnes verrathen heißt. 

Sch fage mit Abficht die eriten Keime, denn mehr 
als diefe möchte ich in der Luſt am Unnatürlichen 
nicht fehn. Nicht daß ic) zurüdnehmen möchte was 
ich gefagt, daß es zum Weſen der Kunft gehört die 
Natur zu verneinen, fondern weil die Verneinung, 
die eben betrachtet ward, weder die einzige ift, noch 
auch die höchſte. Die Sätze: der Stein iſt Feine 
Pflanze, und: dad Thier ift feine, verneinen von 
beiden das pflanzliche Leben und bedeuten doch ganz 
Berfchiedenes. Der erite fagt, daß der Stein noch 
nicht ind Pflanzenleben hinein:, der zweite, daß Das 
Thier darüber hinausreicht. Die Berneinung der 
Natur, die bis jetzt betrachtet wurde, ift wie: der 
Stein ift noch feine Pflanze, darum bringt fie es 
eigentlich nur bis zum Unternatiutlühen | u U ld 


— 12 — 


begreifli, warum dämoniſche, fratenhafte, unter: 
irdiſche Mächte in den Mährchen eine fo wichtige 
Rolle ſpielen. Es gibt aber eine andere Negation 
der Natur, in welcher fie fo verneint wird, wie das 
Pflanzenleben dort, wo wir jagen, das Thier ift 
nicht mehr eine Pflanze, eine Verneinung, Die zu— 
gleich pofitiv, bejahend, ift, und die Freude an dieſer 
muß nothwendig bei wachfender Bildung des Men— 
Then an die Stelle der Luft am Unnatürlichen, Mähr-— 
chenhaften treten. Der Kunftfinn nämlich Tieg ihn 
den Reſpect vor dem Natürlichen verlieren, auf der 
andern Seite wird, je mehr feine Bernunft reift, um 
fo mehr er einfehn, daß die Gefeße der Natur viel 
mächtiger find, als die Findlihe Phantajie träumte. 
Und jo wird er, um mit fich felbft im Einklang zu 
bleiben, verjuchen müffen, dem Kunſtſinn zu Gefallen 
die Natur zu verneinen, der Vernunft aber genug 
zu thun, indem er fie bejaht; er wird zugleich und 
zumal fie gelten lafjen und fie nicht achten. So un- 
vereinbar Beides fcheint, jo verbindet ſich's doch 
überall, wo wir Etwas fteigern oder verftärfen. 
Denn da wir ed verändern, fo bleibt ed nicht wie es 
war, wird aljo von und verneint, auf der anderen 
Seite wird es nicht etwas Anders, e3 bleibt was ed 
ift, ja ed wird dazu in noch höherem Grade, alfo 
bejaben wir ed. Das Wort: Idealiſiren“, das 





— 183 — 


man für dieſe Thätigkeit braucht, iſt paſſend gewählt, 
weil „Ideal“ einmal das Gegentheil des Realen be: 
deutet, und dann doch auch wieder eine vollendetere 
oder gefteigerte Realität. Indem nun die Kunſt die 
natürlichen Gegenſtände idealifirt, bleibt fie eben fo 
wenig wie der Mäbhrchen : Erzähler bei dem Natür: 
lichen ftehn, aber fie verneint ed anders ald er. Sie 
verneint es, indem fie eg bejaht, denn wo die Natur 
etwas gut gemacht hatte, da thut fie ded Guten, zwar 
nicht zu viel aber Doch mehr; was die Natur aus 
fich hervor trieb, dad wird von der Kunft über— 
trieben, und darum ijt es durchaus fein Zufall, wenn 
wir von einen Erzähler, der nicht eract bei dem 
Mirklichen jtehn bleibt, bald fagen, er übertreibe, 
bald wieder Ausdrüde brauchen, die der Kunft ent: 
lehnt find: er malt aus, er verfchönert u.f.w. In 
der That iſt jedes Berfchönern ein Hinausgehn über 
das Wirkliche, und anftatt dem Künſtler dad Weber: 
treiben zu verbieten, muß man vielmehr jagen: Ein 
Künftler, der nicht übertriebe, was die Natur ihm 
darbietet, wäre ein Natur:Copift, fein Künftler. Diefer 
muß darftellen, was die Natur nur wollte, aber ver- 
fehlte, er muß nicht nur fie treffen, fondern über: 
treffen, und darum wahrhaft Über: Natürliches 
leiten. Jeder wahre Künftler thut Das auch; nicht 
nur die, welche dafür berühmt Kind, ol Ar \et 


— 14 — 


tdealifiren, wie die Bildhauer des Alterthums, die 
ihren Statuen fo vorstehende Stirnen gaben, daß 
wenn dergleichen in der Wirklichkeit vorfommen follte, 
jeder Arzt einen Waſſerkopf vermuthen würde, nicht 
nur ein Guido Reni, deifen überirdifche Schönheit 
faft zur Körperlofigfeit wird, nein es gilt dies von 
Allen, felbft von denen, die berühmt find Durch ihre 
Naturtreue. Man betrachte einen Betteljungen von 
Murillo, man jehe dad wundervolle alte Ehepaar 
son Slingeland in der Dresdener Gallerie an, 
man vertiefe fi in Die Anfchauung eined Denner- 
fchen Kopfes, an dem die Eurzgefchnittenen Barthaare 
felbft unter der Xoupe naturtreu erfcheinen, — man 
kann jich leicht überzeugen, daß diefe Meifter über 
das Natürliche hinausgingen. Denn wie ift es wohl 
zu erklären, daß man den Betteljungen „reizend” 
findet, während dad Original dieſes Bildes ficherlich 
mit Efel erfüllte? Ich glaube nicht, daß irgend ein 
Mann Runzeln in einem weiblichen Geſicht fo ent- 
zudend finden wird, daß er fie zahlt, und bei dem 
Slingeland'ſchen Bilde thut es mancher. Eine 
Dame, die einen wirklichen fchlechtrafirten Bart mit 
der Coupe betrachtete, ift, mir wenigftens, noch nicht 
vorgefommen, das Denner'ſche Bild aber reizt fie 
dazu. Warum ift dies Alles in der Wirklichkeit ganz 
anberd ald bei dem Gemälde? Einfach deshalb, weil 





— 15 — 


auf dem Gemälde gunz anders ift als in der Wirk: 
keit. Weil die Künſtler Alles verjchönerten, weil 
srillo die Lumpen reizend machte, weil Slin: 
and die Fältchen der Haut idenlifirte, weil 
nner den Bart, den Die Natur nur zu treiben 
mag, übertrieben, d. h. bejjer getrieben hat, Turz 
L fie Alle nicht Natur, jondern Ueber-Natur dars 
Iten. Dieſes Berfchönern und Berklären der Natur 
nicht ein beliebige3 oder conventionelled, dann 
e es die unnatürlichen, oder, wie man fie nennt, 
nterirten Bilder, nein! Der Künſtler ftellt Die 
genftände ganz jo dar, und nur fo dar, wie er 
fieht, aber er ſieht fie fchöner. Man hat früher 
vom fogenannten „böfen Blick“ geiprochen, der 
Kraft haben follte, Alles zu verderben, worauf 
fich richtet. Dieſe Erzählungen find Gottlob Fa: 
t. Eben fo aber, ja doppelt fagen wir Gottlob, 
; das gerade Gegentheil des böjen Blicks Feine 
vel iſt. Dies iſt der Künſtlerblick, Der Alles ver: 
mt. Des Künftlers Auge Hat die Kraft, was ed 
haut zu idealifiren, und wenn man gejagt hat, 
Maler fehe in den Gegenftänden mehr, ale der 
e, fo müßte man vielmehr jagen: er fieht es hin⸗ 
‚ er fiehbt es hinzu. Denn wie dad nad) Mähr: 
ı verlangende Kind nicht zufrieden ift mit dem, 
3 natürlich ift, eben {no wenig er, wur REN Et 


nicht phantaftiich in das Reich der Unnatur, jondern 
phantafiereich ergänzt er die Natur, und je.mehr er 
dies thut, um fo mehr ift ed ein ganzes Bild, was 
er und vorführt. 

Da wird man nun vielleicht fagen, alles dieſes 
fey richtig hinfichtlich der Phantaften, zu denen viel- 
leicht die meiiten Künftler gehören, die durch ein ge- 
trübted oder "gefärbted Auge die Welt betrachten. 
Der befonnene und vernünftige Dienfch Dagegen, deſſen 
Linfe fpiegelhell, der Fenne auch nichts Höheres als 
das reine Spiegelbild der Natur, der überlaffe jene 
fogenannte Übernatur den romantifchen Naturen, und 
freue ſich des Kunſtwerks um fo mehr, je mehr es 
nur die Natur rein wiedergab. Es ift nicht ſchwer 
zu beweiſen, daß ed (glüdlicher Weife) folche beſon⸗ 
nene Männer und folche piegelhelle Linfen des geifti- 
gen Auges nirgends gibt, ja es läßt fich dies leicht 
jogar in den Gebiete nachweifen, wo man es viel- 
leicht am Wenigſten vermuthet, in dem Gebiete der 
Portraitmalerei. Wenn irgendwo, fo follte man bier 
glauben, daß Naturtreue die höchfte Forderung fet, 
und doch ift felbit hier der Niüchternfte und Bernünf- 
figfte nicht zufrieden, wenn anitatt eined Kunſtwerks 
ihm die bloße Natur entgegentritt. Ich erinnere mich 
vor jehr langer Zeit eine Gejchichte gelefen zu haben, 
wo ein Dialer, der einen englifchen Lord portraitirte, 





— 117 — 


weil defjen Freunde immer neue Ausitellungen an 
dem Bilde machten, endlich voll Ungeduld das Ge: 
fiht aud dem Gemälde herausfchnitt und den Lord 
bat, jein eigenes in die Dadurch, entjtandene Deffnung 
hineinzufteden. Als nun die wieder hereingerufenen 
Freunde das Bild jetzt erſt recht Ichlecht fanden, habe 
Das vermeinte Portrait zu jprechen angefangen und 
die Sreunde ſeyen bejchimt fortgefchlichen. Worüber 
fie fich eigentlich gefchämt haben, begreife ich bis auf 
den heutigen Tag nicht. Sie find volllommen in 
ihrem Recht, denn Seder, dem ein Kunſtwerk ange- 
fündigt ift, wird feine Erwartungen über die Natur 
binausfpannen, und wenn er nun — in dem ange: 
führten Kalle fogar umzeben von Kleidern u. |. w., 
die der Pinfel verfchönt hatte — wenn er nun Die 
bloße Natur ſieht, muß er das Bild ſchlecht finden. 
Mir würden gerade fo wie jene Freunde urtheilen, 
ja wir haben fchon jehr oft jo geurtheilt, wenn wir 
ein Daquerrotyp oder eine Photographie, bei Der 
feine Künſtlerhand nachgeholfen hatte, abſcheulich 
fanden. Warum ſagen wir und ſagen es mit Recht, 
daß im Daguerrotyp Die Leute häßlich werden? Weil 
wir es für ein Portrait anfehn, vom Portrait aber 
nicht erwarten, daß es ein Gelicht, gleichfam alg eine 
ſtenographiſche Nacyichrift, mit allen grammatifchen 
und rhetoriichen Fehlern, abichreiut. Man tuatiaen 


— 158 — 


Mangel gar nicht beifer bezeichnen, ald ed im ge: 
meinen Leben gejchieht, wenn gejagt wird, der Pho- 
tographie fehle Das Neben, welches der Maler dem 
Portrait gibt. Das, weran wir in der Natur das 
Leben erkennen, Die Bewegung der Gliedmaßen, das 
Muskelſpiel, die jtets wechſelnden Lichter im Auge, 
dies Alles kann der Dialer nicht auf der Leinwand 
feithalten, davon aber iſt in jener oft gebrauchten 
Phraſe gar nicht die Rede. Eie fpricht ja nicht von 
den Reben, welches der Maler wahrnimmt, fondern 
von dem Leben, was er dem Portrait gibt, und 
darum ift diefe Nedensart jo vortrefflih. In der 
That gibt er ihm Etwas, es ift Zugabe und Zuthat 
des Künftlers, was ung mit immer neuem Critaunen 
vor Raphael’s Leo X. ſtehn läßt, er hat es dem 
Portrait geliehen diejes Übernatürliche, vermöge deſſen 
aus dem Bilde ein Geijt Ipricht, Den die Natur 
hinter dem Borhange eines fetten Antlitzes verbarg, 
es ift jenes Unfagbare, Das und bewunderud ausrufen 
läht: was hat 'diefer Genius aus dem Geſicht ges 
macht! Sa wohl gemacht. Hierin liegt ed, die Pho- 
tographie kann höchſtens zeigen, was ein Geficht iſt, 
Dagegen kann die Mafchine, in der fie entiteht, nichts 
aus dem Gefichte machen, und Darım bat fie fein 
Leben. Eben darum aber komme ich darauf zurüd, 
daß bie Freunde jened Lords ſich gar nicht zu ſchä⸗ 





— 139 — 


men brauchten. Einer aber muß fich fchämen, dad 
ift der Maler, der die Zumuthung machen Tann, ein 
natürliches Menjchenantliß für ein Kunftwerk, d. h. 
für ein Übernatürliches gelten zu laſſen, der gebil- 
deten Menfchen jo wenig Kunjtfinn zuſchreibt, dag 
fie bei einer Photographie nicht Das Leben vermifjen 
follten, welches der wahre Maler gibt, Denn in Der 
That iſt ja eim natürliches Menfchenangeficht nur 
eine colorirte Photographie in Lebensgröße. 

Freilich eine Erfahrung droht das ganze Gebäude 
meined bisherigen Räſonnements umzumerfen: Es 
wird nämlich behanptet, dag die Meiften ihr Spie- 
gelbild jchöner finden ald ihr Portrait, auch wenn 
ed von einem geſchickten Künftler gemacht wurde. 
Vorausgeſetzt die Thatfache wäre richtig, was ich 
dahingeſtellt jeyn laffe, würde fie beweijen, Daß man 
die Natur dem vorzieht, was der Künftler aus ihr 
macht? Nach dem, was uns feit ſteht, glaube ich 
das nicht. Dem Auge des Künſtlers ward die Macht 
zugeichrieben, als Gegenſatz zum böfen Blick, Alles 
zu verfchönen, was er anſchaut. Diefe Zaubermacht 
bat ihren Grund in der überirdifchen Begeijterung, 
die in Dem Dichter lebt, welche die Alten dahin brachte 
zu fagen, er jchaffe im „heiligen Wahnfinn”, und 
ihn vergleichen ließ mit dem weiffagenden Prophe⸗ 
ten. Wenige find fo bevorzugt, DAR We Taıtter- 


— 190 — 


begeifterung immer in ihnen wach ijt, und Daß dem: 
gemäß in jedem Augenblid Alles fich in ihrem Auge 
verklärt und verfchönt, kaum Einer aber ift wieder 
fo arm, dag es ihm nicht zu Zeiten gefchähe. Wer 
hat nicht, namentlich in feiner Iugend, Momente ge: 
habt, wo der Dichter in ihm feine Flügel regte? 
Eben fo lebt, vielleicht in Allen, gewiß in Vielen 
der Maler, der nur der Gelegenheit wartet, um feine 
Gegenwart zu verrathen. Beiondere Gelegenbei: 
ten können ihn in's Leben rufen, wie bei Goethe, 
wenn, ald er aus der Dresdener Gallerie heranstritt, 
fein Auge einen Echujterladen in Oſtade'ſchem Co- 
Iorit fieht, oder bei vielleicht Allen unter und, wenn 
nach längerer Betrachtung fehr fchöner Gemälde alle 
Gefichter auf der Straße uns ſchöner erfcheinen. 
Hier bedurfte der Maler in und des Zurufs eines 
andern Malers außer und, um zu erwachen, aber er 
war nicht todt, fondern fehlummerte nur. Wie be: 
fondere Zeiten, wie befondere Gelegenheiten den 
Künftlerfinn erweden, fo tft e8 nicht undenkbar, daß 
fein Hervortreten bedingt wäre durch die Präfenz 
beitimmter Gegenstände Wenigſtens hinſichtlich 
der Stimmung, mit der fie die Begeifterung des 
Künſtlers verglichen, hinfichtlich des heiligen Wahn: 
finns der Weiffagenden haben die Griechen dieſes 
Debauptet, indem fie ihre Pythia nur prophezeien 





— 11 — 


ließen, wenn fie auf einem Dreifuß fa. Nun, wenn 
wir dies und gefallen laſſen, wenn wir die, welche 
erzählen, mit dem ſich Hinjeben auf den Dreifuß 
fey weifjagende Begeiſterung über jene Stau gekom— 
men, das geiitreichite Volk der Erde nennen, wie 
follten wir wohl dazu fommen, ed für ganz unmög— 
ich und undenkbar zu halten, daß bei unjeren Frauen 
die Künftlerbegeijterung komme durch das Hinſetzen 
vor den Spiegel? Sch gehe aber noch viel wei- 
ter, ich halte Dies nicht nur für weit erklärlicher, als 
daß ein Dreifuß begeijtert, fondern für ganz natür: 
li) und nothwendig. Schon aus naturwifienfchaft- 
lichen Gründen, denn da die Belegung unjerer Spiegel 
aus zweierlei Metall beiteht, jo iſt ed fchon nach den 
Geſetzen des Galvanismus ganz nothwendig, daß das 
von ihm reflectirte Bild electriſirend wirkt. Dann 
aber beſonders aus Gründen, welche ich bisher ent- 
widelt habe. Es tft noch vor wenigen Augenbliden 
die Wirkung des verklärenden Raphael's Auges 
ald dad Gegentheil des böfen Blicks bezeichnet wor: 
den. Wenn nıan nun täglich fieht, wie bei dem Hin- 
feßen vor den Spiegel jeder böfe Blid verjchwindet, 
wie er den füßeften, holdeiten, ja ganz bezaubernden 
Bliden Platz macht, iſt ed da wohl anderd möglich, 
als daß diefe eben — bezaubern? Kann ed wohl 
da irgendivie ausbleiben, dag in Dem Eu m 


— 12 — 


Raphaelifches Bild erblidt, oder wie wir eö wij: 
fen, vielmehr Hineingemalt, wird? Nun denfe man 
fih aber die, weldhe in den Spiegel blidend, dort 
den Schönen Raphael bewunderte, ſich umdrehend 
und ihr Portrait erblidend. Und wenn es ein Ti- 
zian war, der ed malte, o nehme ich es ihr nicht 
übel, wenn fie ihren Raphael vorzieht, denn fo 
fehr mir Tizian's Paul III. gefällt, fo bin ich doch 
immer wieder zu Raphael’s Julius II. zurüdge- 
fehrt, Der mich noch mehr anſprach. Ich verlaffe 
aber diefen Gegenftand, der mich leicht dahin brin- 
gen Fönnte, alle Fabeln von Zauberjpiegeln in Schuß 
zu nehmen, weil ed gar feine Spiegel gibt, die nicht 
bezauberten, und kehre zu meiner Behauptung zu: 
rüd, die alfo nicht dadurdy umgeftoßen wird, daß 
Vielen das jelbftgemalte Portrait, das man Spiegel- 
bild nennt, beffer gefällt ald Da3 von einem andern 
Meiſter. Es bleibt dabei, jeded Kunftwerk ift über: 
natürlich, Darum überirdiich, und wo wir ed genie- 
Ben, fehweben wir höher ald Blanchard und Green 
über der Erde. 


2. 


Zu dem Compler alles Irdiſchen gehört aber noch 
Anderes, ald was wir die Geſetze der Natur nennen. 
Denn wir Zauft jagen hören: Die Erde hat mid 





— 13 — 


wieder!, jo veriteht Died Keiner jo, dat er wieder 
den Gejeßen der Schwere, Wärme, Electricität u. f. w. 
unterliegt, jondern vielmehr daß die Mächte wieder 
über ihn Gewalt befommen haben, die man im Ge: 
genjaß gegen die natürlichen die Jittlichen zu nen: 
nen pflegt. Wenn ich nun Zmeitend Dazu übergehe, 
das Verhältnis der Kunft zu den fittlichen Verhält— 
niffen zu betrachten, fo wird es mir wohl nicht ver: 
dacht werden, wenn ich nicht mehr, wie bisher, die 
Kunft, die mit Farben, fondern vielmehr die be- 
rüdfichtige, Die mit Worten malt, ald dem Ma: 
“terial, in dem ſich Eittlihes am Bollfommenften 
darstellen läßt. In den fittlihen Verhältniſſen, im 
Recht, in der Familie, im Staat gewinnt die Sitt: 
lichkeit Form und Wirklichkeit, darum gehören auch 
fie zur wirklichen Welt, bilden eine Seite der: 
felben, wie Die natürlichen Verhältniſſe Die andere. 
Darf ich nun wirklich den Muth haben, was ich von 
Diejen leßtern fagte auch auszudehnen auf jene? darf 
ich, dem entfprechend, was Dort gejagt ward, in der 
Luft an dem, worin das Sittliche verneint wird, in 
der Luft am Unfittlichen, äfthetifchen Sinn finden? 
Sch werde ed wohl müſſen, wenn ich nicht Alles zu— 
rüdnehmen will, was ich vorhin angeführt habe, um 
die Luft am Unnatürlichen zu rechtfertigen. Ich 
fönnte mic) nun darauf berufen, daR 

RN 


— 14 — 


wiffen Genre der dramatifchen Poefie, unfittliche 
Scherze nicht nur vergeben werden, fondern unver: 
meidlich zu ſeyn fcheinen, ich will aber nicht in die— 
ſes feabröfe Gebiet Hineintreten, fondern nur am 
unfer eignes Gefühl appellicen, ja an das Gefühl 
der Strengiten unter und. Wer kann fagen, daß er 
nie Wohlgefallen daran gehabt hat, wenn auf dem 
Theater dad Thema durchgeführt wurde, das von 
Terenz bis auf Moliere, von Moliöre bis auf 
Kobebue und Scribe, in fo unendlichen Weifen 
vartirt worden iſt, daß ein ſpitzbübiſcher Diener ſei— 
nen Herrn, eine leichtfinnige Frau ihren Mann be— 
trügt? Wer will ſich vermefjen zu fagen, daß er 
fih nie für einen Helden intereffirt und ſich an ihm 
erfreut habe, der jeinen Fürjten und jein Vaterland 
verräth? Jeder wird zugeitehn, daß es jehr unmo- 
ralifch ift zu ftehlen, ſehr unfittlich jeinen Mann zu 
betrügen, aud) wenn er alt ſeyn follte, völlig gegen 
Sittlichkeit und Moral Berrath zu üben, — das 
Alles gibt man zu, und Doc hat man ein Wohl: 
gefallen, keine moralifche aber eine äjthetijche 
Freude an dieſen Sachen. Die Dijtinction, Die 
man vielleicht machen wird, vergleichen gefalle nicht 
weil, fondern obgleich ed unfittlich, dieſe imponirt 
mir eben jo wenig wie der Machtſpruch: Das Un: 
fittliche Fönne einmal nicht ſchön feyn. Jene Unter 





— 15 — 


ſcheidung macht feinen Eindrud auf mich, weil der 
alte Dupin überhaupt etwas in Mißkredit bei mir 
fteht, Diefe Centenz aber von der Solidarität Des 
Eittlichen und Schönen nicht, weil, fo Viele fie auch 
im Munde führen — Fein Menſch daran glaubt. 
Denn, Hand auf's Herz, wenn Goethe's Werther, 
weil ed Unrecht iit, die Stau eines Andern zu lieben, 
fih begnügt hätte, während Lotte Butterbemmen 
ftrich, ihr ihre Pflichten gegen Albert auseinander: 
zufeßen, wenn er anjtatt gegen Standesunterjchiede 
zu wüthen, fich darein ergeben hätte, daß für Bür- 
gerliche es nur Eubalternpojten gibt, wenn er anftatt 
fi eine Kugel durdy den Kopf zu fchießen, eine 
andere Frau geheirathet, folide gelebt und fich ein 
ehrliches Begräbniß erworben hätte, jo wäre Dies 
Alles ſehr moralisch, ehr fittlich geweien, aber auch 
— herzlich langweilig und profaiih. Da haben wir 
es! das bloße Sittliche ergötzt nicht, es erjcheint pro- 
ſaiſch, d. h. unſchön, und jo jehr wir ung auch eral- 
tiren mögen für bürgerliche Sreiheit, bürgerliche 
Tugend und hundert andere Bürgerlichkeiten, nur im 
Gedichte wollen wir fie nicht, denn da beißt Die Bür— 
gerlichfeit — Pfattheit. Eben Darum iſt ed durch 
and fein Wunder, wenn die Diorgenröthe eines beffern 
Geſchmacks in Deutfchland durch Werke bezeihst 
wird, welche im Gegenjag gegex Dir Vommtagn Sir 
\R* 


— 1% — 


ralpredigten von der Bühne herab, Fed und über: 
müthig aller Proja, freilich auch oft aller Sitte, in's 
Angeficht fchlugen. Wer aber fagen wollte, nur die 
ruchlofe moderne Kunft könne eine negative Stellung 
gegen Die Sittlichfeit einnehmen, Dem jtelle ich ein 
ganz entichiedened Nein entgegen. Vielmehr liegt es 
im Wefen der Kunit, daß ihr das Wirkfiche nicht ge— 
nügt, zum Wirflichen aber gehört, ganz wie die Na— 
tur, fo aud) die Sitte. 

Eben deswegen aber, weil Die Sitte ganz fo 
wie die Natur ein Theil der Wirklichkeit ift, eben 
Deöwegen muß auch hinfichtlic, ihrer ganz Das gelten, 
was von der Natur galt: Die Berneinung der Eitte, 
in welcher fie nur nicht reſpectirt wird, das Unjitt- 
liche, bildet das Gegenſtück zu Dem Unnatürlichen, 
und wie die Luſt an diefem, am Mährchenhaften, 
verfchwand vor der Luſt am Übernatürlichen oder 
Spealen, eben jo verhält ſich's auch hier: Der vollen: 
dete (nicht nur anfangende) Schönheits- und Kunft: 
finn verlangt nach einem über-Sittlichen, d. h. 
nach einer gejteigerten, idealen, über die Wirklichkeit 
hinausgehenden fittlihen Ordnung. Neunt man, mit 
den Weijen Des Alterthums und dem Evangelio, Die 
Übereinftimmung mit der fittfichen Ordnung Gerech— 
tigkeit, jo wird Das Verlangen entftehn nach einer 
döhern Gerechtigkeit, die ſich zu ter wirffichen des 





— 197 — 


bürgerlichen Lebens fo verhält, wie jenes Raphaeli- 
ſche Portrait zum fleifchigen Gefichte des wirklichen 
Leo X. Das wirkliche Xeben hat natürlich für eine 
folche höhere Gerechtigkeit eben jo wenig Raum, ale 
die Natur ein Raphaelſches Portrait hervorbringt. 
Sa jelbit wenn Einem, den das bürgerliche Leben 
gefeilelt Hält, die Ahnung kommt, daß es noch) Hö- 
beres gibt ald die Gerechtigkeit, Die hier gefordert 
wird, jelbit dann wird er ſich fehr hüten, Diejeg Hö— 
here in’s bürgerliche Leben hineinzuziehn, fondern 
wird es einer höhern Region zuweiſen, wie der Rich: 
ter in Amerika, der, wenn auf feine Frage: Wie 
willſt Du gerichtet jeyn? der Angeklagte geantwortet 
bat: Nach den Geſetzen meines Landes! in demjelben 
Augenblid wo er ſich vornimmt, nur Gerechtigkeit 
zu üben und gar feine Gnade, dem Schuldigen zu: 
ruft: Gott jey Dir gnädig! Was aber das ernfte, 
trdifche Leben nicht duldet, das findet Statt in dem 
beiteren, überirdiichen Gebiete der Himmelstochter, 
der Kunjt. Hier waltet eine höhere Gerechtigkeit, 
die wir der bürgerlichen entgegenitellen und Die poe- 
tifche nennen, weil und ihr gegenüber die wirkliche 
profaifch erſcheint. Wenn wir und der poetifchen 
Gerechtigkeit freun, jo erfreut uns ein ſich Hinmweg- 
fegen über die Sitte, über Recht und Geſetz, aber 
nicht ein joldhes, wie e3 und im WUakikkiihen un Tu 


— 19% — 


der Ungerechtigkeit begegnet, fondern vielmehr eineg, 
das über Die Sittlichkeit hinausgeht, über-fittlich ift. 
Wie, wer entzüdt vor der Sirtinifchen Madonna und 
ihrem Himmelsfinde augruft: das find nicht die natür- 
lichen Augen eined Kindes! nicht den Maler wegen Un: 
natur anklagt, Sondern den Eindrud des Übernatürlichen 
befennt, das aus den Dunkeln Augen des Kindes ihm 
durch das Herz dringt, eben jo erhebt und Die Luft 
an der poetiichen Gerechtigkeit jo hoch über die wirk— 
liche, daß diefe und unvollfommen und untergeordnet 
erſcheint. 

Es ſei erlaubt den Unterſchied beider an einem 
Beiſpiel nachzuweiſen. Ich wähle dazu ein Stück von 
Shakespeare, das uns Allen bekannt iſt, und das 
gewiß nie Einer las oder aufführen ſah ohne innere 
Luft: den Kaufmann von Venedig. Der Sude Shy— 
lok bat Dem Kaufmann Antonio, den er tödtlich 
haft, für einen Freund eine Summe Geldes geliehn 
unter der Bedingung, daß wenn fie nicht rechtzeitig 
bezahlt werde, er ein Pfund Fleifch zunächit dem 
Herzen aud Antonio's lebendigem Leibe fchneiden 
dürfe. Der Wechjel verfällt, der Jude Flagt und 
verlangt fein Recht. Wäre jebt von dem Gerichte 
die Klage zurüdgewiefen, weil Verträge über uner: 
Iaubte Handlungen ungültig find, jo würden wir ge- 
wis nicht zufrieden feyn. Sch glaube, ſelbſt der eral- 





— 19 — 


tirtefte preußiiche Surijt wire es nicht, und wenn 
wir ihm noch fo oft das Allgemeine Kandrecht Theil I. 
Titel V. $. 68 citirten, er ließe ſich gewiß nicht irre 
machen, jondern würde ji) mit ung freun, daß 
Shalespeare, troß des preußiſchen Landrechts, den 
Antonio Todesangit ausſtehn lädt. Warum aber 
befriedigt dies und Alle? Weil eine höhere Gerechtig- 
feit Dies fordert, weil zwar unfere Geſetze es nicht 
verbieten, von einem Todfeinde, den wir verachten, 
eine Gefälligfeit anzunehmen und es von dem Zufall 
eined ungünftigen Windes abhängig zu machen, ob 
wir ihm mit Leib und Reben verfallen, es aber darum 
nicht minder ein frevelhaftes Spiel mit dem Andern 
und mit fich jelbit it, das Strafe, ftrenge Strafe, 
verlangt. Darum fordert es, nicht die bürgerliche, 
wohl aber die poetifche, d. h. die höhere Gerechtig: 
feit, Daß Die Klage angenommen wird. Wenn ed 
aber nun zum Prozeß kam, welchen Gang mußte 
nach Recht und Gefeß er nehmen? Porzia:Bel: 
lario gibt dies ganz richtig an: Entweder der Jude 
verzichtet auf fein Necht, oder aber Antonio verfiel 
dem mörderifchen Meſſer. Keines von Beiden hätte 
und befriedigt. Das Exfte nicht, weil Shylof dann 
feinen Charakter verleugnet hätte, dad Zweite nicht, 
‚weil Antonio’s leichtjinnige Gefälligkeit für einen 
Freund zu entſetzlich beitraft wire. Yaa Üren Dr 


— XD — 


lemma, aus dem und die bürgerliche Geſetzgebung 
nicht herauszieht, reißt ung nun das Urtheil der Por: 
zia. Ich glaube nicht zu irren, wenn ich fage, Daß 
fein Obertribunal und Caſſationshof der ganzen Welt 
dieſes Urtheil beftätigt hätte. Denn daß, wer das 
Fleiſch gekauft hat, auch Herr ijt des Darin fließenden 
Blutes, das lehrt Der geſunde Menichenverftand, wenn 
and nicht eine uralte juriftiiche Hegel (accessorium 
sequitur principale), ja ſogar ein ausdritdliches Gefeß 
der zwölf Tafeln dafür fpräche. Und dennoch freun 
wir und Ddiejes Urtheils, und ich glaube jeder Juriſt 
(der e8 eigentlich monftrös finden müßte) vergißt feine 
Suriöprudenz, freut fid) mit und und hat mit uns 
die Porzia noch lieber als zuvor. Warum fo? Weil 
er in dem Unrecht, welches dem Juden gejchieht, einen 
Act höherer Gerechtigkeit anerkennt. Denn wenn 
Einer nicht einmal den Feldicheer bezahlen will für 
den, den er hülfebedürftig macht, bloß weil ed nicht 
„geichrieben fteht im Schein”, wenn alle Vernunft: 
und Menfchlichkeitsgriinde Nichts find gegen den ge— 
fehriebnen Buchftaben, nun dann gefchehe ihm, was 
er fo wünſcht: Vernunft, Recht und Billigfeit, Alles 
fey Nichts, ed gelte der todte Buchitabe. 


Und fo machen wir denn die Erfahrung, daß der 
Genug des Schönen uns in jeder Hinficht über 





— %1 — 


Irdiſche erhebt, indem er und nicht nur der 
urgefeße fpotten läßt, jondern in eine jo erhabene 
fon führt, daß von da herab untergeordnet er- 
nt, was und fonft mit Necht als das Höchfte 
:: die bürgerliche und ftaatliche Ordnung. Ganz 
ed alio ein Wahn war, dat wir erjt nad) dem 
ye unter die Erde kommen werden, ganz fo war 
sin Irrthum, daß duch die Pforte des Todes 
getrennt jeyen vom überirdijchen Leben, und daß 
enfeit3 der Gegenwart liege. Und doch — denn 
ı muß gerecht fein — ganz ging dies Borurtheil 
t fehl, und in gewiffer Weiſe bleibt Dies Erhoben- 
ben über die Erde, Stets ein Senjeitd. Man muß 
ilich heraustreten aus Dem Kreiſe Des wirklichen 
md, um in jene höhere Region einzutreten, und 
gelehrt man muß jene höhere Ordnung vergeffen, 

zu wirken im bürgerlichen Leben; beide ſtehn 
h eine Kluft gejchteden einander gegenüber, bier 

Leben mit feinem Ernſt und feiner rajtlofen Ar: 
‚ dort die Kunft mit ihrem heitern Spiel, in 
: wir von der Arbeit feiern. Wir verlangen von 
: Menfchen, daß er beides thue, arbeite und feiere, 
: abwechjelnd, daher in jedem Augenblide nur 
ed von Beiden, wie von jenen Zwillingepaare 
er nur die eine Hälfte der Götterwelt angehörte. 
rum iſt Illuſion, d. h. cin und Kt ie 


— m — 


des Vergeſſen aller bürgerlichen Verhältniſſe nöthig, 
um Theil zu nehmen an den Begebenheiten einer 
höhern Welt, in welcher fich die poetijche Gerechtig- 
feit werwirklicht, jede Erinnerung an die profaifche 
MWirklichkeit jtört die Illuſion und wirft darum un: 
angenehm. Eben ſo unangenehm aber auf der andern 
Seite ift es ung, wenn Die Ideale, die dort herr: 
fchen, fich Herrichaft anmaßen in der wirklichen Welt, 
und wenn fie hier Die bürgerliche Proſa verdrängen 
wollen. Wir finden es ganz in Der Ordnung, wenn 
nach mehrwöchentlichen Aſſiſen unfer Staatsanwalt 
und Schwurgerichts : Präfident zur Erholung in’s 
Theater gehn und enthuſiaſtiſch Beifall klatſchen, wo 
Porzia ihr Urtheil füllt. Wir würden es aber ge: 
wig nicht in der Ordnung finden, wenn jener feine 
Strafanträge machte, Diefer feine Urtheile fällte, fo 
daß es übereinſtimmte mit den Principien des rei- 
zenden jungen Doctor Balthafar. Wir fühlen, 
dat dad Eine drüben Hingehört, während hüben andere 
Geſetze herrichen. Denn mag immerhin die Lauge 
des Spottes verdient jeyn, mit welcher Der ftolze 
gräfliche Dichter den reimejchmiedenden Erininaliften 
in Weißenfels überjchiittet, die Sache iſt nicht zu 
andern: mehr oder minder ift nur am Abend, we 
wir feiern, Der Zugang zum Helicon frei, am Mor: 
gen bält den Menfchen der Actentiſch gefeilelt. Warum 





aber gelingt ed der Kunft nicht, völlig fich einzu: 
bürgern im Dieffeits, warum nicht, die Wirklichkeit 
ganz zu durchdringen und Durchdringend zu verklären? 
Weil die Muſen nicht die Herrinnen find des Him- 
meld und der Erde, jondern nur Töchter des Olym— 
piers, der alldurchdringend und allbeherrichend Alles 
bewältigt! Wir perjonifiziren die Künſte nicht mehr, 
wie die Griechen, machen fie nicht zu Töchtern Des 
Zeus. Daran aber, dab fie in einen töchterlichen 
Verhältniß ſtehn, zweifeln auch wir nicht, und könnten 
es auch nicht, wenn wir uns nicht gegen dad Factum 
verblenden wollten, das fie Das Schönite was fie 
leiften, einer hböhern Macht weihen, blumenlefenden 
‚Kindern gleich, welche die allerichänften Blumen der 
Mutter in den Schooß legen. Bringt Doch die Archi- 
tectur Höhereg nicht hervor, ala den Tempel und den 
Dom, Höheres nicht die Sculptur, ald das Götter: 
bid, nichts Höheres die Malerei, als die Mutter 
Gottes und den Gottmenjchen, und bekennen fie ſich 
doch dadurch als Töchter einer gemeinfchaftlichen 
Mutter. Diefe ihre Mutter, die Religion, fie ver: 
mag was den Töchtern unmöglich war. Zwar jcheint 
auch fie die Welt in zwei Hälften zu feheiden, indem 
fie daflelbe Wort jpricht, was wir oben vernahmen: 
Arbeitet und feiert — ihr Feiern iſt Beten —, Ste 
ift aber nur ein Schein diefe Trenmuny, RN Tr 


— MM — 


ſich zu widerſprechen, jagt fie: „Betet ohne Unter: 
lag” und Fönnte eben fo gut jagen: „Arbeitet ohne 
Unterlaß”, denn Arbeiten in ihrem Dienfte ift Beten, 
und Feiern in ihrem Sinne iſt Arbeit. Ich habe am 
Anfange meined Vortrags erklärt, ich wolle das re 
ligiöfe Gebiet nicht betreten, herantreten aber an 
daffelbe mußte ich um die Grenzen zu finden, inner: 
halb deren die bejeligende Macht der Kunft einge 
ſchloſſen iſt. Ich mußte wenigitens hindeuten auf 
das Gebiet, wo wir nicht mehr bloß durch Illu— 
fion in eine Welt uns erheben, deren höhere Ord— 
nung vor und aufgeführt wird, an der wir darum 
nur Theil nehmen, indem wir und felbit vergeffen, 
um zu feyn wie im Himmel, fundern wo wir felbit 
die handelnden Perfonen find, felbft eine höhere 
Ordnung verwirklichen, die uns jagen läßt, unjer 
Wandel ijt im Himmel, ich mußte wenigitend einen 
flüchtigen Blid werfen auf das Gebiet, deffen Freuden 
fih zum Kunftgenuffe verhalten, wie zur Morgen- 
röthe der helle Tag. Beide aber, jowohl die Aurora 
eined jchöneren Tages, als feine hell aufgegangene 
Sonne, ſie fönnen und, denke ich, tröften Darüber, daß 
wir, den Maulwürfen gleich, unter der Erde wühlen, 
und werden und berechtigen dad Wort des ausgelaffenen 
Dichters zu erweitern und es „wirklich allerliebft“ zu 
finden „auf“, unter und über „ver lieben Erde.” — 








vIL 
Ypologie der Sophiftik. 


1855. 





Mer Ausſpruch: „die Weltgefchichte it das Weltge: 
richt”, macht das Urtheil Der Gefchichte zum entjchei: 
denden, hinfichtlich deifen Keine Berufung mehr mög— 
ich if. Mit Recht, wenn unter „Gefchichte” Die 
Reihe der Begebenheiten verjtanden wird und nicht 
bloß, wozu der Sprachgebrauch gleichfalle berechtigt, 
die Erzählung derjelben. Nach dem Urtheil der Ge— 
ichichte im eriteren Sinne iſt Der groß, deſſen Werke 
ſich im Verlauf der Weltbegebenheiten als nachhaltig 
und einflußreich erweilen, Klein und unbedeutend da— 
gegen, weſſen Ihaten Nichts bewirften, Alles bein 
Alten ließen. Dabei wäre aber doch immer der Fall 
möglich, daß die, welche Den Gang der Geichichte 
erzählen, von dem Grjteren behaupteten, er fey ohne 
Größe, von den Lebteren, er jey ein großer Mann 
geweien. Man kann, um nicht Durch den doppelten 
Sinn des Wortes „Geſchichte“ Mißverſtändniſſe zu 
erregen, von dem Urtheile Der Gejchichte Das Urtheil 
der Nachwelt unterfcheiden, und wird dann jagen 
müffen: das Nrtheil der Geſhichte WAXLX. 


— 0 — 


wie dag göttliche Endurtheil über alle Dinge, dagegen 
Dad Urtheil der Nachwelt ift einer Rectification fähig, 
und Die Aufgabe des Hiftorikers tft, an der Revifion 
Diejeg Urtheiles mitzuarbeiten, indem er, wenn wir 
die Individuen der Vergangenheit andere beurtheilen 
als ihre Thaten es verdienen, ſtets darauf aufmerf: 
ſam macht, wie jchwer fie wiegen in dem Fortfchrei- 
ten der Menfchheit. — Zwei Fälle find nun denkbar, 
die den gewitfenhaften Hijtorifer Dahin bringen werden, 
darauf anzutragen, Daß das Urtheil ungeftoßen werde, 
welches man, weil fo lange Zeit feine Berufung 
Dagegen eingelegt wurde, als rechtöfräftig anzufehn 
fich gewöhnt hatte: Die Nachwelt kann eine geichicht: 
liche Perfon ungerechter Weife überjchäßen, oder wieder, 
gegen alle Billigfeit, unterfhäten. Sm eritern Falle 
wird Der Hiftorifer dem vergötternden Wahne ent- 
gegentreten müſſen. in trauriges Gejchäft, denn 
wenn irgendwo der Sprucd wahr jeyn jollte: „Ein 
Wahn der und beglüdt, iſt eine Wahrheit werth Die 
ung zu Boden drüdt“, jo ift e8 hier. Die Zahl der 
großen und bewundernöwerthen Individuen iſt ohne⸗ 
dies nicht ſehr groß, und ich denke es geht Vielen 
fo, wenn ſie fehen, wie vor dem kritiſchen Scharf: 
finn eines Hiſtorikers wieder ein lange verehrter Nim⸗ 
bus verjchwindet, daß fie mit Göthe jagen: Wenn 
die Dergangenheit fo groß war, daß fie das Große 





— 2 — 


and, io follten wir die Größe haben, daran zu 
mben. Biel belohnender dagegen ift ed, wenn den 
ftorifer die Erforfchung des Ganges der Gejchichte 
hin bringt, ald Chrenretter manches bid dahin ge= 
terten Namens aufzutreten. Die richtige Würbdi- 
ng der Größe Gregor des Siebenten auch von . 
steftantifcher Seite, die Anerkennung auch von 
ten der Chriſten, daß Muhammed mehr war als 
bloßer Betrüger, die fi) immer mehr verbrei- 
be Anficht, daß Srommell ein Heros erfter Größe, 
acchiavelli nicht ein feiler freiheitsmörderiſcher Für: 
iknecht war, — dies Alles gehört zu den Triumphen 
hiſtoriſchen Kritik, die nicht nur dem Scharffinn 
re machen, fondern auch dem nach Anfchauen der 
nfchlichen Größe Durftenden Herzen wohl thun. — 
ı8 bisher Gefagte gilt nicht nur von der Weltge- 
chte im engeren Sinn, fondern findet feine An: 
adnng eben jo auf die Gefchichte der Philofophie. 
rade wie der Name des republifaniich gefinnten 
wentinerd Sahrhunderte lang zur Bezeichnung ſer⸗ 
»e und perfider Politik gedient hat, gerade jo ift 
h viel Lingere Zeit hindurch der Name einer ganzen 
ffe von Philofophen nur ald Scheltwort gebraucht 
den, und wie Mackhiavelliamus fo gilt „Sophiftif” 
jt für einen Schmeichelnamen. Das Factum er- 
rt ſich leicht, wenn wir bedenten, Di, a ut un 
\L 


— 210 — 


Nachrichten über die Sophiften ungefähr fo gegangen 
ift, wie mit denen über die Pharifier. Wie wir 
Alle dieſe letzteren zuerſt kennen lernen aus den Reden 
Chrifti der fie befämpft, und aus der evangelifchen 
Geſchichte, Die und zeigt wie fie Chrifto widerjtanden, 
fo verbinden wir mit dem Namen „Sophift” immer 
das Andenken an das, was Plato und Ariftoteles, 
dieſe weiter gehenden Bekämpfer der Sophiiten, von 
ihnen und ihren Lehren faft immer im polemifchen 
Intereſſe erzählen. Die biftorifche Gerechtigkeit for: 
dert, daß ohne ein folches Intereſſe ruhig ermogen 
‚werde, ob man nicht dem Phariſäismus Unrecht thut, 
wenn man in ihm bloß Heuchelei, und der Sophiftik 
wenn man in ihr nur täufchende Überredungsfünfte 
fiebt? Inden hier ein Beitrag gegeben werden joll 
zu einer gerechten Würdigung, bleibt natürlich (denn 
Niemand foll in des Andern Handwerk pfufchen) die 
Chrenrettung der Pharifäer den Theologen überlaffen, 
unjer Sean Calas, der übrigens in den lebten Decen- 
nien ſchon fehr beredte Vertheidiger in Deutjchland, 
Holland und England gefunden, jey die Sophiftik 
und die Repräfentanten derfelben, die Sophiften. 
Dem Gerichtögebrauche gemäß, der den Inquifiten 
felbft den eignen Namen angeben läßt, Iaffen wir 
und von den Sophiften felber jagen, warum fie 
fich fo nennen und was ie eigentlich wollen? Da 





— 2ll — 


itwortet und der Erfte unter ihnen ſowohl der Zeit 
8 dem Range nach, indem er died fogar durch bie 
bleitung des Wortes zu rechtfertigen ſucht, Sophift 
ße, Klugmacher, und er nenne fich deswegen fo, 
eil er die Kunft übe, die Leute gefcheidt und zu 
maltigen Männern zu machen. Died erjcheint und 
Itfam, bloß weil der Ausdruck nicht der gewöhnliche 
b Hätte Protagoras gefagt, feine Aufgabe fey: Auf: 
rung und Licht zu verbreiten, jo würden wir darin 
w Nichts Auffallendes finden, und Doch bliebe Die 
sache Diefelbe, denn worin der Unterſchied zwiſchen 
an Aufgeflärt: und Geſcheidtſeyn beitehen foll, wäre 
hwer anzugeben, und fo lange das englijche know- 
dge is power Recht behält, wird man aud) von 
m Aufgeklärten jagen müffen: er fey mächtig oder 
»waltig, oder wenn man die gewöhnlichere negative 
jezeichnung vorzieht, er habe aufgehört beſchränkt, 
on Umwiſſenheit und VBorurtheilen gefeffelt zu feyn. 
- Im Grunde ift alfo, was jener Sophift ald feine 
nfgabe angab ganz dafjelbe, was Die Verbreiter des 
ichtes und der Aufklärung im achtzehnten Jahrhun⸗ 
ert in Frankreich jowohl ald in Deutjchland zu er: 
stchen fuchten. Und nicht mit Unrecht, denn je mehr 
van fich mit der Wirkfamkeit derer, Die ſich im Alter: 
zum Sophiften nanuten, nnd andrerjeitd der Freunde 
ed Lichtes und der Aufklärung im aigugnken At: . 
\A* 


— 312 — 


hundert befannt macht, um jo mehr fpringt die Äpn- 
lichkeit in die Augen. Dort wie hier handelt es ſich 
nicht darum, ein ftrenged Syitem aufzuftellen, welches 
durch die wiffenfchaftliche Form fich darauf befchräntt, 
Eigenthum eines gefchloffenen Kreifes, einer Schule, 
zu ſeyn, fondern vielmehr darum: im weiteren SKreife 
Einfichten aller Art zu verbreiten, „Philoſoph für die 
Welt” zu feyn, ein Name, den characteriftifch genug 
einer der Bebeutendften unter den Aufflärern einer 
Sammlung feiner beiten Auffäge gab. Hier wie dort 
gehen die DVerbreiter des Lichtes Darauf Hin, Die 
Menſchen innerlich frei zu machen, Freifinnigfeit zu 
verbreiten, einmal dadurch, daß fie ihn von den Vor⸗ 
urtheilen frei machen, die ihn bisher beherrfcht Hatten, 
dann aber wieder fo, Daß fie ihm zeigen, wie er, 
anitatt Daß bisher er von Allerlei beherricht wurde, 
Alles zu bewältigen juche; theoretifch indem er im 
Stande ift jeden Stoff zu beherrichen, 3. B. über 
jeden aus dem Stegereife Reden zu halten, praftifch 
indem er einfieht, wie Alles unferen Zweden dienft- 
bar gemacht werden kann, fo wie im Grunde Alles 
einzig und allein dazu da iſt, daß ed dem Nuten 
des Menfchen diene. Dieſe Gewißheit läßt den größ- 
ten der Sophiften audfprechen, der Menſch fey das 
Maag, d. 5. die beftimmende Regel, für alle Dinge, 
und macht ed erklärkeh, dag im aditiehnten Jahr⸗ 





— 213 — 


hunderte Died als der Zwed der Sterne angegeben 
werden Eonnte, daß jich der Menſch in dunkler Nacht 
an ihnen zurechtfinden könne. In dieſes ftolze Be: 
wußtſeyn, Alles als fi) Ddienftbar zu willen oder 
auch), indem man ed benußt, fich wirklich dienſtbar 
machen zu Eönnen, feßte Protagoras das, was er Die 
Tüchtigkeit und Stärke nannte, ganz wie ja auch im 
achtzehnten Jahrhundert in Frankreich und Deutfch- 
land als ftarfe Geiſter Die gepriefen wurden, welche 
im Stande waren, ftolz ſich über alles das hinweg: 
aufeßen, was die Gemüther der Schwachen band und 
gefangen hielt, und auch hier kann man alfo kaum einen 
Unterfchied finden zwiſchen dem Griechen, welcher fich 
rühmte, er könne Durch feine Lehren die Zuhörer zu 
tüchtigen mannhaften Reden (zu wahren „Allermeltö- 
Kerlen”) machen, und den Deutfchen die durch ihre 
Schriften Freifinnigfeit und Starfgeifterei zu beför⸗ 
dern behaupteten. 

Welches war nun weiter das Mittel, wodurd 
die Sophijten behaupteten, daß ihr Ziel erreicht 
werde? Auch hier können wir und an ihre eignen 
Berficherungen halten, da mit dem was fie jagen, 
das Zeugniß ihrer Gegner ganz übereinftimmt. Beide 
nämlich jagen, jenes Mittel ſey geweſen: „Die Kunft 
in Gegenſätzen ſich zu bewegen”, oder „Widerfprechen: 
des zu behaupten.” Plato gibt und eine aniinuliiie 


— 24 — 


Beichreibung von diefer Kunft und von der Wir: 
fung die es hatte, als fie zuerſt in Athen geübt 
wurde. Er erzählt, daß einer der Sophiften vor 
einer großen Schaar der geiftreichiten Jünglinge aus: 
einandergefeßt babe, ein Menih jey nur Einer, 
andrerjeitö aber, da er aus vielen Gliedmaßen be- 
ftehe, könne man auch jagen er ſey nicht Einer fon- 
dern Vieles. Dieſes foll nun ein wahres Entzüden 
und gar nicht endendes Beifalldjauchzen hervorgerufen 
haben. Wenn wir jo etwas hören, und zugleich auch 
dies, daß viele der älteren Athener, als fie jene Be- 
weisführung gehört, bedenklid, den Kopf gefchüttelt 
haben und gejagt, dergleichen Leute dürfe man nicht 
in die Stadt kommen Taffen, denn fie würden Die 
Jugend verderben, — fo möchte man fich faſt an 
den eignen Kopf greifen und fich fragen, ob man 
träumt oder wacht? Was hat foldy Yäppifches Zeug 
mit dem Gejcheidt:, Gewaltig: und Tüchtigmachen 
zu thun? Und wie können ferner die Zuhörer Darauf 
folched Gewicht legen, dat die Einen jauchzen und 
die andern den Kopf jchütteln? Freilich, daß ein 
Menfch viele Gliedmaßen habe, ift fein folcher Fund, 
daß darauf ein großes Gewicht zu legen ift. Dies 
aber ift auch gar nicht Die Hauptfache in dem, was 
ber Sophift zeigt, ein viel Wichtigeres und wirklich 
Bewundernswerthes ift, daß er, mag er nun einen 





— 215 — 


Menſchen, mag er einen Tifc oder irgend etwas 
Andres betrachten, durch das Einerfeitd und Andrer: 
fettö, je nad) feinem Belieben verfchiedene Seiten 
des Gegenftandes hervortreten läßt. Fragt man: 
was liegt darin jo Großes? fo iſt zu antworten: 
jeßt nicht viel, wo Died Allen fo geläufig geworden 
ift, daß ed in mandyer Schule verpönt werden konnte, 
in den deutſchen Auffäben die Trivialität vorzu⸗ 
bringen, daß jedes Ding feine verfchiedenen Seiten 
darbiete. So ijt ed jetzt, wo ja auch jedes Kind 
das kann, was Jahrtaufende hindurch die Menfchheit 
nicht konnte, bis vielleicht das größte Gente, deffen 
Namen die undankbare Nachwelt vergefien hat, die 
Erfindung machte: Worte in Buchftaben zerlegen. 
Mit der Erfindung des Einerſeits und Andrerfeits 
ist ed Ähnlich. Einmal gemacht, wird fie bald Ge— 
meingut Aller, aber fie machen, war keine Heine und 
feine unwichtige Cache. Das Betrachten nämlich von 
mehreren verjchiedenen Geſichtspunkten aus, macht 
der Einfalt in der Betrachtung ein Ende, da Diefe, 
wie das Wort ganz richtig andeutet, ganz einfach, 
von einem einzigen Punkte aus, Alles beurtbeilt. Se 
mehr man fich an jene vieljeitige Betrachtungsweiſe 
gewöhnt hat, um fo jeltfamer erfcheint es und, wo 
fie noch nicht angewandt wird, und mancher Vater 
ift fon, wenn fein Sohn ihn fragt. sb Qumiant 


— 216 — 


ein guter oder ein Schlechter Menſch war, ungeduldig 
geworden über eine jo „einfältige” Sage; fie ift ed 
wirklich, weil fie die mehrfältigen Geſichtspunkte, 
unter welchen der Vater den Earthagifchen Helden be: 
trachtet, nicht ahndet. Nennt man nun Das von 
mehreren Punkten aus betrachten, Reflerion oder auch 
Kaifonnement, fo wird man in den Einerfeitd und 
Andrerfeitd das eigentliche Fundament, und in den 
Erfindern derfelben die wahren Väter ded Naijon- 
nementd anerkennen müffen. Die Sophiſtik iſt die 
‚Kunst des Raifonnements, und jeder jtellt fich ſobald 
er reflectirt, oder raifonnirt, auf den Standpunkt, 
auf welchen die Sophiſten zuerſt gelehrt haben, ſich 
zu erheben. — Wenn aber dies, fo ift der Zufammen- 
bang zwiſchen den Ziel welches fie ſich verjegten, 
dem Gejcheidtmachen, und dem Mittel deſſen fie fich 
bedienten, dem Öeltendmachen der verfchiedenen Ge— 
fichtöpunfte, ein fehr natürlicher. Die Bieljeitigkeit 
macht den gefcheidten Dann, und von jenem einfältig 
fragenden Knaben fagen wir mit Recht, er ſey nicht 
recht gejcheidt, weil er nicht fcheidet, was Der Vater 
zu diftinguiren pflegt, und was in den Worten gut 
und fchlecht, wie fie der Knabe braucht, ganz unge: 
fchteden und confus vereinigt ift. Es iſt dann ferner 
ganz begreiflich, warum die Sophiften des achtzehnten 
Zabrhunderts, wie wir die Väter der Aufllärung 





— — — 


— 217 — 


nennen können, ihren Kampf gegen die finſteren Bor: 
urtheile mit denjelben Waffen führten, deren fich die 
Aufklärer im perikleiichen Zeitalter bedient hatten, 
mit dem Geltendmachen Der verſchiedenſten Gefichtg: 
punkte. In der That, indem fie zeigen, wie es nur 
von unferem Raijonnement abhängt, ob die Ausficht 
von der Epige des Ätna ein wunderjchönese Pano⸗ 
rama iſt, oder ein Bild völlig erreichter Glückſelig⸗ 
feit, gewöhnen fie daran, aus Allem Alles zu 
machen, Nichts fo zu reipectiren, daß ınan ed unver: 
ändert und unangetaftet müßte. jtehen Iaffen, lehren 
fie Alles in den aller verjchiedenften Weiſen beur: 
theilen, worin ja eben Das Gegentheil des Gebunden- 
ſeyns durch feite Vorurtheile bejteht. Nichte macht 
vorurtheilsloſer als das Raiionnement, weil man da: 
durch von jeder Anficht loskommt. Nichts aber am 
Ende aud mächtiger. Wer nämlich feinen Stoff fo 
zu beherrichen weiß, daß er nach Gefallen jede mög: 
liche Seite an demfelben heruorheben kann, der hat 
Damit auch Die Fähigkeit erlangt, was ihm wünfcheng- 
werth ericheint fo Darzuftellen, daß die, von denen 
die Erfüllung feines Wunfches abhängt, darin ihren 
eignen Bortheil oder aber aud) Etwas fehn, was ihnen 
Ehre machen wird, kurz die Kunft der Überredung 
iſt eigentlich nur Die Kunſt ded Raiſonnements, und 
man muß ed ald etwas ganz Natöx(Ged nich, en 


— 218 — 


die Sophiften die erften Lehrer der Beredtfamkeit 
wurden. Es heißt diefe Kunft nicht berabfegen, wenn 
man fie Überredungdfunft nennt, denn es ift ganz 
willkührlich und gründet fid) auf gar fein Recht, wenn 
man bei dem Worte „Überreden“ nur an die Fälle 
denkt, wo ein Irrthum Einem glaublidy gemacht wird. 
Sch habe den Anderen nicht weniger überredet, wenn 
ich ihm alle die Gründe audeinanderfeßte, die zur 
Rückkehr zum Guten rathen, als wenn ich ihn durch 
meine Reden dahin brachte, den Pfad der Tugend 
zu verlafien. Cined wie das Andere aber wird nicht 
geleiftet durch ftrenge mathematische Deduction, denn 
die läßt Falt, und bewegt zu feinem Thun, fondern 
durch Vielſeitigkeit des Raiſonnements. Man zeige 
die Seiten, durch welche ſich eine That empfiehlt, 
und man wird zu ihr bewogen, man weiſe die auf, 
die ſie verdammenswerth machen, und man wird vor 
ihr abſchrecken, beides aber vermag nur, wer die 
Kunſt des Raiſonnements inne hat; je mehr er ſie 
beherrſcht, deſto unwiderſtehlicher wird ſeine Rede, 
je mehr wird er im Stande ſeyn, auch die aller 
Verſchiedenſten herum zu kriegen. War aber jene 
Kunſt nur das geſchickte Handhaben des Einerſeits 
und Andrerſeits, ſo war es wahrlich nicht zu ver⸗ 
wundern, wenn gerade die geiſtreicheren unter den 
Atbeniſchen Jünglingen denen Beifall zollten, die auf 





— 219 — 


den Gebrauch diefer Zauberworte himwieſen. Sie 
abndeten, daß die Fertigkeit im Lehren diefer Worte 
notwendig dazu führen müſſe, jedem Dinge die Seite 
abzugewinnen, die darum fo ftark ijt, weil fie den 
Zubörer an feiner ſchwachen faßt. 

Eben jo wenig aber wird man ſich Darüber wur: 
dern dürfen, wenn der alte und ehrenfefte Bürger 
der Stadt den Kopf fchüttelte und nichts Gutes ahn⸗ 
dete bei diefen bis dahin unbefannten Kunftftüden. 
Die Betrachtungsweije, welche der Einfalt den Krieg 
erklärt, fie muß früher oder fpäter aud) dem einfäl- 
tigen Glauben und der Einfalt der Sitten gefährlid) 
werden. In der That beiteht alles das, was man 
unbefangene Pietät nennt, nur in der Reflerionälofig- 
feit und Der Abweſenheit jeglichen Raifonnemente. 
Für den frommen Glauben bietet die religiöje Wahr: 
heit nur die eine Seite dar, daß fie von der Gott: 
beit geoffenbarte Lehre ijt, nur von der einen Geite 
fieht der rechtichaffene Bürger von rechten Schrot 
und Korn die vaterländiichen Geſetze an, dat fie feit 
unvordenkliher Zeit gelten, day wir ſie befolgen 
müſſen, wie unfere Väter fie befolgt haben. Wer aber 
erft gelernt hat von Menſchen und Tifchen nachzu: 
weifen, daß fie aud) noch von einer andern Seite 
betrachtet werden können, was wird den hindern num 
zu fagen, nur einerfeits {ey die Keaua gÜÜREN 


— 0 — 


Urſprungs, andrerſeits aber muthe fie und allerlei 
Unbegreifliches zu, und eben jo ſey ed nur Die eine 
©eite an den vaterländifchen Gefeßen, daß fie fo 
lange gelten, eine andere Seite derjelben ſey, daß 
nur die Mächtigen von ihnen Bortheil haben? Es 
ift nicht ohne Grund, was man zu allen Zeiten ge- 
fagt hat, daß die Aufklärung auch ihre Gefahren 
bat, die Künfte Des Protagorad und Gorgias fie 
bieten eine Seite dar, nach der fie wirklich loſe Künſte 
find, und daß die Worte Sophift im Alterthum, 
Aufklärer in der neueren Zeit, eine böfe Nebenbe: 
deutung befommen haben, daß die redlichen Bürger 
dort, von einen Gewaltigwerden, und fromme ©e- 
müther hier, von der Freifinnigkeit und Kühnheit der 
Itarfen Geiſter Nichts hören wollten, wir fünnen ed 
ihnen nicht verdenken. Jene Gewaltigen, Freien und 
Starken find nämlid) zu einem folchen Bewußtjeyn 
ihrer Fähigkeit, mit Allem umzufpringen gefommen, 
Daß fie zulegt gar Nichts mehr refpectirten, daß im 
Alterthbum der Eine fich erbietet, die Kunft zu lehren 
wie man vor Gericht die ſchlechte Sache ald gut, Die 
gute als fchlecht Darftellen Tann, der Andere fich 
rühmt, ganz gleich überredend fir oder wider jeden 
Gegenſtand fprechen zu können, und in dem Zeitalter 
der Aufklärung Mancher mit ganz gleicher Birtuofität 
am Dormittage auf der Kanzel das Dogma vertheis 





Digt, das er am Abend in fröhlicher Gefellichaft mit 
frehem Witze verfpottet. Auch der Krieg gegen die 
Borurtheile, um deßwillen die alten und modernen 
Sophijten fi), und um deifentwillen wir fie rühmen, 
er bietet, um die Aufklärer mit ihren eignen Worten 
anzugreifen, zwei verjchiedene Seiten der Beurthei- 
Yung dar. Einmal entwurzelt er manchen inveterirten 
Irrthum, andrerjeit3 aber find anch die heiligiten 
Überzeugungen, find Pietät der Kinder gegen die 
Eltern, des Kicchengliedes gegen die Kirche, des 
Bürgers gegen den Staat, fo lange fie nicht wiſſen⸗ 
fchaftlich geprüft find, und das ift doch bei den We- 
nigjten der Sal, auch DBorurtheile, obgleich nicht 
terige, jondern berechtigte und wahre. Allen Bor- 
urtbeilen den Krieg erklären, heißt eben darum die 
Gemüther alles wefentlichen Inhaltes entleeren, heißt, 
um die verdorbene Luft aud einem Raum zu fchaffen, 
anjtatt des Ventilators die Luftpumpe brauchen, und 
mit ihr zwar die mephitifchen Dünfte, zugleich aber 
auch alle Bedingungen des Lebens wegichaffen. 
Gerade fo doppeljeitig wie die Sophiſtik und Auf- 
Härung ſich Hinfichtlicy ihres Einfluffes überhaupt 
zeigt, gerade fo zeigt aud) ihr Verhältniß zur Phi- 
Iofophie ein Sanusantlit. Auf dieſes Berhältnig iſt 
um fo mehr einzugehn, ald nad) dem hisher Geſagten 
der Anjchein entjtehen könnte, ala yitten vr Reit, 


— 222 — 


welche zwar den Sophiſten zugeſtehn, daß ſie für die 
Verbreitung allgemeiner Bildung, für Ausbildung der 
Sprache und Beredtſamkeit wichtig, dagegen für die 
eigentliche Philoſophie ohne alle Bedeutung geweſen, 
ja die eigentlichen Repräſentanten der Nicht-Philo⸗ 
ſophie ſeyen. Obgleich ſich unter denen, Die dies be- 
Haupten, fehr berühmte Namen finden, fo zeigt eine 
genauere Betrachtung der Entwicklung der Philofophie, 
daß die Gefchichte anders geurtheilt hat, als Diefe 
Männer. Es iſt nämlich Fein Zufall, daß im Ber: 
lauf der Gefchichte der Philofophie, die Aufklärung 
und der Kampf de? Raifonnements gegen die Vor: 
urtheile, zwei Mal als der Vorläufer eined ganz neuen 
Aufſchwunges der Philofophie aufgetreten ift, daß die 
Sophiſtik im Alterthum ald der Johannes Baptifta 
des Sokratismus, Die Aufklärung des achtzehnten 
Sahrhunderts als der Borläufer Kants erfcheint. Der 
Gedanke liegt zu nahe, als daß er nicht Hätte oft 
ausgeiprochen werden follen, daß zwiſchen Sokrates 
und Kant eine große Analogie Statt finde Man 
bat fich aber gewöhnlich bei der Parallele zwifchen 
beiden auf ganz Einzelnes bejchränft, anftatt viel- 
mehr ihre ganze Stellung zu ihren VBorläufern und 
Nachfolgern ind Auge zu fallen. Zwei Punkte find 
eö bier befonders, die bei der richtigen Würdigung 
beiber im Auge behalten werden müſſen: Einmal, daß 





— m — 


rates ſowohl als Kant darin Epoche in der Ge⸗ 
hte machen, daß ſie von einem ganz neuen Punkte 
Alles zu betrachten lehren, daß der Erſtere, indem 
te Selbſterkenntniß als die höchſte Weisheit ſetzte, 
t, wie man dem Cicero nachgeiprochen bat, die 
Iofophie vom Himmel auf die Erde herabzog, 
ern umgekehrt, da die von den älteren Phyſikern 
vom Anaragoras betrachteten Himmelskörper nur 
en find, die Aufmerkjamfeit von den Erden aber 
das hingelenkt hat, worin der Himmel (freilich 
die Hölle) zu finden ift, auf dad eigne Sch, daß 
yerum Kant den Verſuch macht, den er felbft mit 
des Kopernikus vergleicht, nicht mehr wie biöher 
mehmen, daß ſich unfer Denken nad) den Gegen- 
ben richtet, jondern umgekehrt, daß fich die Gegen- 
de nach unjerem Denken richten müffen. Beide 
nuthungen aber Fönnen nur zu einer Zeit gemacht 
den, wo das Raiſonnement frei gemacht hat von 
m was bis dahin ald feft und unerjchütterlich ge- 
en bat, wo die Menfchen eine folche Leichtigkeit 
ngt haben, jeden möglichen Gefichtäpunft geltend 
nachen, daß ihnen auch zugemuthet werden Tann, 
. Ausgangspunkt ihres Denkens zu machen, was 
‚ der an dem bisher Gültigen feithält, geradezu 
Aberwig erjcheinen muß. Nur dem vorausgegan: 
m Einfluß der aufflärenden Roionmente sten 


— 224 — 


ed die beiden Fühnen Neuerer, dab aud von ihren 
. Kehren gefagt wird: „Das laffe fich (gleichfalls) Hören.“ 
Kant aber und Sokrates find nicht blog Neuerer, 
fondern die Größe Diefer beiden Heroen zeigt fi) 
zweitens darin, daß (wie namentlich die ſpätere Ent- 
wicklung gezeigt hat) Alles was die vorausgegangenen 
Philoſophen gelehrt Hatten, in ihre Syiteme mit auf- 
genommen, darin verarbeitet und affimilirt ift. Wie 
viel Eleatiſches und Heraklitifches im Sokratismus 
liegt, das haben die Eleineren Sokratiſchen Schulen, 
wie viel Dogmatiiches und Steptifches in Kant, das 
haben die Kantianer, befonders Reinhold und Maimon 
gezeigt. Dazu aber, daß dieſe entgegengefeßten Ele- 
mente fich durchdringen, dazu ift zuerit nöthig, daß 
fie mit einander gemengt werden, und dies haben 
die Aufflärer Der alten und neuen Zeit geleiftet. Im 
unfyftematifcher Vielfeitigfeit verbinden fie das Hete— 
rogenfte — (dort Eleatifches und Atomijtifches, bier 
Molffiche Philofophie mit den Kehren Berkeley's und 
Hume’3) — zu einem bloßen Gemenge; wenn aber 
da der electrifche Funke Sofratijchen oder Kantifchen 
Genie’3 hindurchblitzt, fo ift an die Stelle des Ge: 
menged etwas ganz Neues getreten, das freilich der 
geſchickte Chemiker hernach wieder zeriegen kann, das 
aber mehr tit als jenes Gemiſch. Man kann daher 
gar nicht treffender das Verhältniß jener Vorläufer . 





zu dem auf fie folgenden Philofophen ausiprechen, 
als Plato e3 an demjelben Orte thut, wo er von 
den Künjten der Sophiſten jpricht. Cr tadelt es da, 
dag fie vom Menjchen Iehrten er jey Cines, und 
Daneben auch DBieled, er verlangt von dem Philo: 
ſophen, Derjelbe folle nachweiſen, daß das Eine an 
ihm felbit Bieles iſt, d. h. er will nicht nur Surta- 
pofition jondern Intusſusception der verichiedenen 
Elemente, wie fie fein Meiſter, Sokrates, darbot. 
Man vergeffe aber nicht, daß, Damit fich eine folche 
innige chemijdje Verbindung bilde, zunächſt eine me- 
chaniſche Bereinigung vorausgehn muß. Auch der 
ſtärkſte electriiche Sunfe bildet fein Waſſer, er bedarf 
Dazu der unter einander gemengten Safe. Wie alfo 
die Vorurtheilsloſigkeit, welche die Aufklärung fchuf, 
die Borbedinguug war, dab die neue Lehre Boden 
gewinne, jo ijt Die unſyſtematiſche DVieljeitigkeit zu 
der die Sophiftif bringt, die unerläßliche Bedingung 
dazu, Daß eine Lehre Auflang finde, Die alljeitig 
iſt und zugleich ein Syjtem. Mit einem Worte, die 
Sophiftif und Aufklärung bildet die Brüde zu den 
ueuen Standpunften, durch jene muß bindurchgegan- 
gen ſeyn, ehe es möglich ift zu Diefen zu gelangen. 
Durch) fie hindurch. Der Philofoph alfo, deffen 
Borläufer die Sophiften waren, wird fie Hinter ich 
lafjen müſſen. Was wird aber dauon dir RUre U 
W 


— 236 — 


müffen? Daß den Altgläubigen, denen die Aufklärung 
bedenklich fchien, der Philofoph ald der Schlimmfte 
unter den Gefährlichen erjcheinen muß. So macht 
der, troß alles feines Muthwillens, mit Ernſt an 
alter Art und Sitte hängende Ariftophaned zwiſchen 
dem Sokrates und den Sophijten feinen Unterfchied, 
chiebt jenem in den Mund, was Protogoras gejagt 
hatte, und eben jo zeigen die Maaßregeln des Wol- 
nerfchen Miniſteriums gegen Kant, ald er jeine Re: 
ligionslehre veröffentlichte, daß die religiöfe Reaction 
zwifchen ihm und Cherhard oder irgend einem andern 
Repräfentanten der Aufklärung feinen Unterfchied 
machte. Ganz anders wird dagegen das Urtheil der 
Aufklärer lauten; da der Philofoph ihren Standpunkt 
verlafien hat, ftellen fie natürlich ihn zu den Nicht: 
Aufgeklärten, find aber, obgleich fie ftet3S vom Ge—⸗ 
fcheidtjeyn fprechen, nicht gejcheidt genug, den, der 
ed noch nicht iſt von Dem zu unterjcheiden, der es 
nicht mehr ift, weil er mehr ift als Died. Wenn des 
Sokrates Genius ihm vorfchreibt, die vaterländifchen 
Geſetze zu befolgen, fo lächelt der Sophift über den 
Beichränkten, der ed nicht wagt, nur den eignen 
Nutzen und das eigne Belieben zu berüdfichtigen, fon: 
dern Rüdficht nimmt auf die Vorurtheile der Maſſe; 
er vergißt, daß durch die Beiltimmung des eignen 
Genius dad Borurtheil aufgehört Hat Vorurtheil zu . 





— 27 — 


feyn, daß es eine auf eignem Urtheil beruhende Über: 
zeugung wurde. Und wieder: Wenn Kant in dem 
Bude, welches ihm das Mipfallen der Cenſurkom⸗ 
miffion und ded Minifteriumd zuzog, nachweift, daß 
in den Lehren von der Erbfünde und der Erlöfung 
viel mehr Vernunft liegt, ald die Xeute meinen, fo 
erheben die Aufgeklärten ihre Stimme wider diefe 
Nachgtebigkeit gegen den Wuſt des dunklen Mittel: 
alterö, oder überreden wenigſtens alle Welt, Kant 
rede jo nur, um ed mit den mächtigen Herren nicht 
zu verderben. Oder aber, wenn er, der Mitarbeiter 
an der Berliner Monatöfchrift, diefem Organ ber 
Aufflärung, ftreng jvitematifche Arbeiten in einer 
eracten Schul: Terminologie gibt, jo wird er dafür 
von dem aufgeflärten Buchhändler, der das Privile: 
gium für fich in Anſpruch nimmt, Beurtheiler und 
Berleger alled deffen zu ſeyn, was Licht verbreitet, 
in einem wißig jennjollenden Roman als ein ver- 
alteter Pedant verſpottet. Alle Urheber diefer An: 
griffe bedenken nicht, Daß: ein Dogma um der Ber: 
nünftigkeit feines Inhaltes willen annehmen, nicht 
mehr heißt vom bfinden Glauben beherrfcht ſeyn, und 
wieder, dab das Syſtem des Kriticismus als ein 
neues, die veralteten Syſteme und ihre veralteten 
Formen eben fo hinter fich gelafien Hat, wie der ge: 
ſchmackvolle Schriftjteller,, weldher in ver Syesihe rt 

We 


— 28 — 


gebildeten Gonverjation die Fragen fpielend beant: 
wortet, an denen fich die Philofophen der früheren 
©enerationen abgearbeitet hatten. — Der Philofoph 
wird es begreifen, eben darum aber auch ruhig er: 
tragen, wenn gleichzeitig er Sophiſt geſcholten und 
ale Bertheidiger antiquirter Vorurtheile bezeichnet 
wird, ganz wie Sofrates darüber lächelt, daß er ale 
Repräfentant der Sophiftif auf die Bühne gebracht 
wird, und Kant den Ungrund darin nachweiit, daß 
man ihn einen Anhänger Spinoza’s oder Hume's oder 
irgend eined älteren Syftematifers nennt. Wie aber 
wird er feinerfeit3 die anfehn, die ihm fo entgegen: 
gefeßte Vorwürfe machen, und wie im Verkehr mit 
ihnen fich jtellen? Dem Vorurtheil wird natürlich 
der Philoſoph feine Unklarheit sorwerfen, wird for: 
dern, daß ed in Frage geftellt, dem Raiſonnement 
unterworfen werde, und daß ſich Niemand einfeitig 
dem entziehe, auch Die entgegengefeßte Anſicht unpar— 
tetifch zu prüfen. Dort wieder, wo fi) Einer deß 
rühmt: vorurtheilslos zu ſeyn, Da wird der Philoſoph 
zufehn, ob er nur das voreilige Urtheilen los wurde, 
oder ob er nicht gar jedes Urtheild, jeder Überzen: 
gung ich entledigt hat. Sm dieſem letzteren Falle 
wird er dem Aufgeflärten vorwerfen, daß fein Stand- 
punkt Hohl und leer ift, Daß vor dem Lichte, welches 
er fo rühmt, nicht nur das Dunkel, fondern auch alle 





Pracht der Farben verſchwand, und der Starke Geift, 
der ſich rühmt Nichts zu glauben, mit dem Irrthum 
auch die Wahrheit über Bord geworfen bat. Sn 
Diefer Stellung es jenen Beiden recht zu machen, 
das darf der Philojoph nicht hoffen, Dies aber ift ein 
Grund mehr, feinen Standpunkt hoch zu ftellen: des 
zweideutigen Glückes, Das dem juste milieu ftets 
widerführt, von entgegengejegten Parteien zu den 
Ihrigen gezollt zu werden, ſchämt fic) anı Ende doch 
jeder ehrliebende Menfch, e3 macht ihn irre an feiner 
eignen Aufrichtigkeit. Ganz anders dort, wo Beide 
und detejtiren, da weiß man wenigjtend, daß man 
nicht um DBeider Beifall geworben bat, und es ift 
die Möglichkeit gegeben, daß man nicht die fade 

Mitte zwiichen Den Ertremen bildet, jondern die vor: 
nehme Stellung über ihnen einninmt. Dieſe kommt 
nun wirklich der Philejophie zu, deren Norläufer 
die Aufklärung war, weil fie nämlich nicht nur, wie 
eben gezeigt ward, jedes ter beiden Extreme von 
ihrer Einſeitigkeit befreit, jondern weil ſie jedem ſogar 
in dem überlegen ift, worauf es ſich bejonders viel 
zu Gute thut. Die einfache Pietät, die nichts vom 
Raiſonnement der Aufklärung wiſſen will, fie rühmt 
ſich jo gern der Sejtigkeit ihres Glaubens. Berdient 
fie wohl diefen Ruhm, wo fie jede Neflerion flieht, 
weil diefe fie unficher machen künne? Kan wm 
folgen Unglauben an den eignen Blaiken wit 


— 230 — 


die Feſtigkeit deſſelben, Sicherheit nennen? Iſt nicht 
vielmehr der ſeiner Sache viel ſichrer, der weil er 
ihn in ſeiner Schwäche kennen lernte, gewiß iſt, daß 
fein Zweifel ihm ſeine Überzeugung rauben kann? 
Der Borurtheilölofe wieder, er prahlt mit feiner Auf- 
Härung, weil er Nichts glaube. Hat er noch nie 
mals die Erfahrung gemacht, daß Die Ungebildetiten 
am Schnellften damit bei der Hand find, wenn fie 
von einer neuen Entdedung hören, ungläubig den 
Kopf zu Ichütteln, während der aller Aufgeklärtefte 
der feyn möchte, der Alles unterfucht, d. h. ehe es 
widerlegt ift an die Möglichkeit glaubt? Das leicht: 
gläubige Annehmen des Borurtheildvollen, das leicht: 
fertige Abfprechen des Borurtheilälofen, dem Urtheile- 
vollen ijt beides zu leicht, ihn Lodt nur dad Schwere, 
das Gediegene und Erprobte. 

Mo darum die Sophiftif die Philofophie ver: 
treten will, wo anitatt der in dad innerfte Weſen 
dringenden, allfeitigen, Deduction, das Die verfchie: 
denen Gefichtöpunfte geltend machende, vieljeitige 
bloße Räfonnement allein Wiffenfchaft ſeyn will, da 
wird man freilich gegen fie auftreten müſſen. Es 
fragt ſich aber, ob jene tiefeindringende Deduction 
überall am Plab ift, und ob ed nicht Gebiete gibt, 
in welchen das Xicht verbreitende Raifonnement das 
allein paffende Berftändtgungsmittel ift? Vorhin ward 

ſchon auf die oratoriihe Thhtigteit Gingemieien. UT 





— 2321 — 


der Kanzel, auf der Tribüne, vor den Geſchwornen 
wäre ed nicht am Plaß, ſchulmäßige Deductionen zu 
geben, hierher gehört, mit Hegel zu fprechen, „Die 
geiftreiche Reflerion die den Begriff hindurchicheinen 
läßt“, nicht ihn felber entwidelt. Eben fo dort, wo 
man fih den Zwed geſetzt hat, nicht ſowohl Die 
Miffenihhaft vor den Augen des Leſers oder Zuhörers 
entſtehen, die Wahrheit rejultiren zu lajjen, ſondern 
die gefundenen Rejultate mitzutheilen und annehmbar 
zu machen. Je mehr der Eeiten hier aufgezeigt 
werden, je überrafchender die verfchiedenen Geſichts⸗ 
punkte hervortreten, um jo feffelnder wird der Bor: 
trag feyn, um fo mehr wird er interefliren, um fo 
fichrer feinen Zwed erreichen. Auch wer die Anficht 
nicht theilt, Die heut zu Tage oft audgejprochen wird, 
Daß die Zeit der philojophiichen Syfteme vorüber fey, 
was confequent fejtgehalten zu dem Nefultate führen 
würde, daß zum dritten Male die Zeit gekommen 
jey, wo die Sophiftif, indem fie alle biäherigen Sy: 
fteme in geiftreiches NRaifonnement verwandelt, den 
Boden zu mijchen habe, damit eine bis dahin unbe- 
tannte Blume ihm eutwachſe, auch wer diefe Anficht 
nicht theilt, wird dort, wo es fich darum handelt, 
außerhalb der Schule zu befprechen, was die ftrenge 
Wiſſenſchaft deducirte, in dem lichtvollen aufflärenden 
Raifonnement d. h. in der Sit, WR duin 
paffende Mittel fehn. Einem Beer Ten RW“ 


— 132 — 


eines Sophiſten beilegen iſt, obgleich es jehr häufig ge: 
ſchieht, überhaupt etwas unvorfichtig, denn die Erwi— 
derung liegt ihm Doc) zu nahe, man zeige durch feine 
Einwände, daß er die Gabe des Geſcheidtmachens 
gerade gar nicht habe. Wird nun aber gar Diefer 
Ausdruck dort gebraucht, wo Einer gar nicht die 
Abficht hat, jtreng wilfenfchaftliche Beweije zu geben, 
fondern wo er, fey ed in einer Rede, ſey es in einer 
für ein größeres Publitum berechneten Auseinander⸗ 
feßung, einen Gegenstand beleuchten, Aufklärung über 
ihn geben will, fo ift jener Name geradezu ein Lob⸗ 
ſpruch. Was mollte nıan auch mehr verlangen ald 
daß einer Betrachtung, wie 3. B. die vorjtehende tft, 
zugeitanden würde, fie habe manches Vorurtheil gegen 
die Sophijten zerftrent und habe dies geleiitet, indem 
fie dazu brachte Diefelben nicht mehr einfeitig zu ver: 
urtheilen, d. h. fie habe das Ziel der Sophilten mit 
ihren Mitteln erreicht? So weit ihr dies gelungen 
iſt, fo weit ift fie auch geweſen, als was fie fich an- 
gekündigt hat, eine Chrenrettung Der Sophiſtik, und 
wenn fie ihre Aufgabe in der Form einer Selbitver- 
theidigung Iöite, fo wird das Bedenken, daß von 
Sokrates bi3 auf Eugen Aram die fich ſelbſt verthei: 
digten wenig Glück hatten, durch Den Troſt aufge: 
wogen, daß man ihre VBertheidigungsreden wenigftend 
aufmerfjam anhoͤrte und nody Lieit. 





- EL en u; 


VII. 
Über das 
Beidnifche im Ghriftentkum. h 


1854. 











In den letten Monaten ift in den Zeitungen, und 
zwar den allerverfchiedenften, jo viel gegen die Mar- 
morgruppen auf der Berliner Schloßbrüde gefprochen 
worden, daß fie ed auf dem Gewiſſen haben, wenn 
ed Manchem, der ald Fremder Berlin bejuchte, ge: 
gangen iſt, wie mir: mein erfter Gang galt jener 
Brüde. Zuerft überrafchten mich, da ich deoch gelefen 
hatte, ein jittfames Mädchen müffe, wenn es über 
die Brüde gehe, Die Augen niederfchlagen, die zim⸗ 
merhohen Sodel, auf welchen die anftößigen Gegen: 
ftände ftehn, denn nur Goliaths Töchter oder Gar- 
gantua’3 Enkelinnen laufen jeßt Gefahr, wider Willen 
Etwas zu erbliden, was fie nicht fehen mögen. Bet 
dem gewöhnlichen Wuchfe der Berliner Damen braucht 
eine jtrenge DBeftalin durchaus nicht herunter:, ſie 
braucht eben nur nicht hinauf zu blicken. Als ich 
dann weiter, auf die Gefahr bin, mir den Naden zu 
verrenken, die Gruppen genauer betrachtete und Dabet 
mich auf das befann, was die Civis und Unus pro 
multis gegen dad Nadte geſagt Hatten, Tas ir et 


— 236 — 


Gedanfe, Berlin fey zu der Prüderie amerifanifd 
Damen gelangt, die ihren Flügelpianofortes Ine 
pressibles anthun follen, oder zu Der Züchtigkeit jeı 
Papſtes, der einer antiken weiblichen Statue im 
tican ein Hemde von Gips anziehn ließ, welches 
noch jebt trägt, da fein Nachfolger, obgleich ihn : 
Sache ärgern foll, nicht den Muth hat, im entgegi 
gefegten Sinne der Schönen bei ihrer Toilette 
helfen. Indeß, diefe meine Furcht, Berlin ſey ul! 
verfchämt geworden, verlor fich bald. Denn Da 
noch an demfelben Abend fehen Eonnte, wie im Th, 
ter die Männer ihre Augen bewaffneten, Damit ihr 
Nichts von Pepita’3 herrlichen Gliedern entgehe, u 
dabei hören, wie die Frauen mit Entzüden die Schi 
heit dieſer Formen zergliederten, da fah ich ein, d 
ich) mich ganz unnüg geängitigt. hatte. Kurz, 

habe mich fehr bald überzeugt, daß alle die Rec 
mationen gegen die Gruppen, die im Namen | 
Züchtigkeit und Tugend aufgetreten, Nichte waı 
ale Symptome der Luft, Alles zu befritteln, die fog 
da fich regt, mo ein Funftfinniger Fürſt der eigr 
Stadt ein Gefchenf macht, um die und jede and 
Hauptftadt.beneiden kann. — Biel wichtiger ald di 
Stimmen, die übrigens ſchon feltner geworden fi 
und bald verhallen werden, find die, welche von ei 
anberen Seite her fich erheben, und nicht Died: tade 





De en — — 


— 237 — 


z nackte Geſtalten, ſondern daß mythologiſche 
genſtände dargeſtellt wurden, durch deren An— 
wen Der, ohnedies zu ſehr herrſchende, heidniſche 
an genährt und verbreitet werde. Sch nenne dieſe 
immen viel wichtiger, weil fie neue Symptome 
er jehr weit verbreiteten Anficht find, die immer 
br um fich greift, nach welcher alfe Übel unjerer 
t nur darin ihren Grund haben follen, daß unjere 
nk⸗ und Anſchauungsweiſe fo viel Heidnifches ent- 
te. Als vor einiger Zeit ein hochgejtellter Geiſt— 
er in Frankreich Den Vorſchlag machte, man folle 
' gelehrten Schulen nicht mehr die heidntichen 
hriftſteller leſen Iafjen, 309 er eigentlich nur die 
Etifche Solgerung aus dem, was in den verfchie- 
sten Formen, auch bei ung, fehr oft ausgeſprochen 
rden it. Bald hat man uns erzählt, wir hätten 
wegen Feine Anhinglichfeit an unjere Fürften, 
I wir auf der Schule nur die Republik und die 
dniſche Bürgertugend verehren lernten, bald redet 
n und vor, daß nur deswegen Mancher durch die 
turwiffenfchaft vom Glauben abgeführt werde, weil 
nod) immer nach den Grundſätzen des Ariftoteles, 
ſes Erzheiden, getrieben werde, bald endlich Toll 
Beichäftigung mit der reizendften aber eben darum 
äbrlichiten Form des Heidenthums, mit dem Grie- 
atbum, zu einer Vergötterung der Shö ök Üiren, 


— 238 — 


deren Cultus immer mehr an die Stelle der R 
trete. Wenn fie dann Alle ſich zu der einen B 
tung vereinigen: dem, leider verfallenden, Cl 
thume fey nur zu helfen durch Entfernung al 
Heidnifchen, was ſich allmälig eingefchlichen E 
gehört Muth Dazu, einem folchen Unifono geg 
nicht zu Schweigen. Ich will ed Dennoch wagen 
weil ich meiner Runge die Kraft zutraue, ef 
mächtigen Chor zu überjchreien, jondern w 
weiß, Daß auch ein fchwacher Ton unter vi 
teren vernehmlich wird, wenn er mit ihnen r 
Conſonanz fteht. In der That möchte, wenn 
Trage aufwerfe, ob an jener eben erwähnt: 
bauptung Etwas dran ift? die Antwort in 
dender Diffonanz ftehn mit dem, was Solche X 
ten, die gewohnt find, in Sachen des Chrifte 
und der Chriftlichkeit das große Wort zu 

Dies ſchließt aber nicht die Möglichkeit aus, I 
Antwort, zu der wir gelangen, richtig ift um! 
fo alt, wie das Chriftenthun felbit. 


l. 

Das Chriſtenthum. Obgleich dieſes Wort z: 
gehört, die, wie dad Wort Freiheit, Keinen 
gültig laffen, da auch des Gegnerd Blut aı 
20 es auögefprochen wird, fo geht es ihm dr 





— 239 — 


am. Gerade wie dad andere, mit dem ed eben zu- 
ammengeftellt wurde, wird es fortwährend gebraucht, 
virkt in dem Einen Begeifterung, in dem Andern 
Smpörung, ohne daß fie Doch wilfen, was es eigent- 
ich befagt. Wie viele verftehen nicht unter Freiheit 
mr das negative Nicht-gebunden-feyn, was fie auch, 
vas fie aber nicht allein ift? Gerade fo dient dad 
Bort Chriftenthbum fehr Vielen nur dazu, einen Theil 
yefjen zu bezeichnen, was darin befaßt iſt. Schon 
te Analogie mit gleichgebildeten Worten follte vor 
olcher Beichränfung warnen. Würde man ed nicht 
eltjam finden, wenn man unter Ritterthum oder 
Römerthum nur einen Theil des ritterlichen oder rö- 
nifchen Weſens verftünde, wenn man fagen wollte, 
Deutfchthum heißt deutiche Sprache, Griechenthum 
jriechifche Kunſt, Altertum bedeutet fo viel wie 
ntife Erziehung? Und doch begeht man diefe felbe 
Seltfamfeit, wenn man unter Chriftenthbum nur eine 
einer Äußerungen, die Religion nämlich, verfteht, 
yie, ſey fie auch immerhin die vornehmfte unter den 
Srfcheinungen des chriftlichen Lebens, Doch nicht für 
ich allein den Namen in Anfpruch nehmen kann, der 
Men Erjcheinungen des neuen Lebens, oder vielmehr 
dieſem neuen Leben felbit in feiner Ganzheit und 
Fülle, zukommt. Dieſes neue Leben erfcheint zuerft 
in feiner concentrirteften Geftalt in den Einen, Vet 


— 240 — 


eben deshalb nicht an dieſem Leben nur Theil hat, 
ſondern es ſelbſt iſt und ſich mit Recht das Leben 
nennt. Es entwickelt ſich und wächſt, indem es nicht 
mehr nur in Ihm allein exiſtirt, ſondern immer mehr 
Alle und Alles durchdringt, bis endlich es, und eben 
darum Er, der dieſes neue Leben iſt, überall ſichtbar 
ſeyn wird, wie der Blitz, der vom Aufgang bis zum 
Niedergang leuchtet. In dieſem ſeinem vollen Sinne, 
als das ganze neue Leben, wie es in Allem ſich zeigt, 
in der neuen Religion, in Der neugeitalteten Sitte, 
in dem erneuten Bamilienleben, in der aus Dem nenen 
Geiſte erzeugten Kunit und Wiſſenſchaft, in Den durch 
den neuen Geijt verklärten Rechts: und Staatsver— 
hältnifien, in Diefem nehmen wir das Wort Chriften- 
thum, wenn wir und Die Srage zu beantworten juchen, 
wie e3 fid) zur heidniſchen Weltanſchanung verhält 
und wie jie zu ihm? 

Da gibt ung fogleich einen bedeutfjamen Wink die 
Art und Weife, wie ſich zu Dem erjten Gricheinen 
des neuen Lebens Die Heidenwelt verhält. An die 
Krivpe von Bethlehem treten nicht nur fromme jü- 
dische Hirten, Denen Die Boten ihres ſtrengen und 
eifrigen Gottes ankündigten, daß die Zeit Des Zucht: 
meijterd worüber, Die Des Friedens und Der Sreude 
gefommen jey, fondern zu demſelben Ziele werden 
Die heidniſchen Magier von der Macht hingewiefen, 


— 41 — 


Lie ihnen ala Gott gilt: Das Geſetz Der Geſtirne hat 
ihnen geboten, Den König des neuen Reiches aufzu: 
fuchen. In der That, wenn man fieht, wie in ber 
heiligen Schrift das, was die Heiden in den Sternen 
lafen, ganz eben jo als ein Wegweifer auf Chriftum 
bin behandelt wird, wie der Gugelöruf, den die jü- 
diſchen Hirten vernahmen, wenn man bedenkt, daß 
in einem der ältejten und jchönjten Kirchenlieder das 
fich erhalten hat, neben den Alttejtamentlichen Sänger 
der Palmen die heidnifche Sybylle als Prophetin 
von des Herren Tag geitellt wird, wenn wir in dem 
merbwürdigen Gedicht des theologijchiten unter allen 
Dichtern die heidniſchen Weiten ſtets neben den Pro: 
pheten des alten Bundes erwähnt finden, jo müflen 
wir gejtehn: als die uriprüngliche kaun die Anficht nicht 
angejehen werden, nad) welcher Das Heidenthum nur 
von dem Chriſtenthum abzieht. Viele Jahrhunderte 
galten, und e3 gelten bei einem großen ‘Theil der 
Chriftenheit noc heute die Heidenkönige als heilige 
Zeugen für's Chriſtenthum und ald Vorläufer deifelben, 
und fromme Künjtler hielten ee nicht für einen Raub 
an der Göttlichkeit des heiligen Kindes, wenn fie es 
greifen liegen nach den Opfergaben, die dad Heiden: 
thun zu feinen Füßen ausbreitete, nicht für eine Ver: 
fündigung an der Heiligkeit der Jungfrau, wenn fie 
diejelbe darftellten mit den Perlen gethmükt, Vier dur 
\6 


— 142 — 


Gabe der heidnifchen Sterndeuter waren. Es iſt erft 
die Neuzeit, die jo mißtrauifch geworden tft gegen 
alle Gaben des Heidenthums; erſt fie fürchtet Alles, 
was nicht jeinen erjten Urjprung innerhalb der chrift- 
lichen Anfchauungen hat, erſt fie ift ſo puriftiich in 
ihrer Chriftlichkeit, Dat fie — Den Berliner Glauben 
gefährdet erachtet, wenn nicht auf jeden Granitblod 
der Schloßbrüde ein Crucifix ſteht anftatt der Sieges- 
göttin oder einer andern heidnifch erdachten Gruppe. 
Sollte aber nicht die Neuzeit hierin ganz Recht 
haben? Necht gerade wegen des eben Ausgefprochnen, 
dat das Heidenthum auf das Chriſtenthum hinweije 
als fein Borläufer? Darin liegt Doch, daß es eben 
nur vor der dhriftlichen Zeit, nicht in ihr, eine Be 
rechtigung hat, ganz wie die heidnijchen Profelyten 
des Thors vor dem Heiligthum, nicht in ihm, ihren 
Plag hatten. Mit Recht, fo jcheint ed, muß jede 
heidnifche Anichauung innerhalb der chriitlichen Welt 
als reactionär im fchlecyteiten Sinne des Wortes 
gelten, da fie ja zurüdbringe; dahin zurüd, wo Die 
Menfchheit noch von den Schranken des Irrthums 
wie eine Feſtung von ihren Mauern und Wällen 
umfchloffen war, während ja der Fortichritt, den die 
Menichheit an der Hand des Chriſtenthums gemacht 
bat, darin beftehe, daß fie jene beengenden Mauern 
Dinter ih ließ. — Wäre wirklich die Menfchheit 





urch das Chriſtenthum dazu angeleitet, fo möchte 
aan verfucht werden, dies eine Berleitung zu nennen, 
enn es bleibt ftetd eine bedenkliche Taktik, einen feften 
Maß, anftatt ihn einzunehmen, hinter fich zu laffen. 
das Chriftenthum verdient aber diefen Vorwurf nicht; 
telmehr hat ed durch die Einnahme der feindlichen 
Bollwerke feine Eroberungen gefichert. Es hat fie 
in⸗, d. h. wirklich in ich aufgenommen, fie bilden 
etzt einen feiner feiten Punkte; zu einem andern ward 
hm das, dem Heidenthum diametral entgegengefeßte 
Sudenthum, welches wir aber bier nur infoweit zu 
erückſichtigen haben, ald dadurch unfer eigentlicher 
Hegenftand, das Verhältniß des Chriſtenthums zum 
eidniſchen Weſen, Harer wird. Wir können dieſes 
Zerhältnig jo formuliren: das Chrijtenthum fchließt 
as Heidniſche nicht aus, fondern ein, es findet fich 
oirklich in ihm nicht nur etwas, fondern viel Heid: 
iiſches, es hat fich daſſelbe aber nicht, wie die heu- 
ige Heidenfurcht meint, in das Chrijtenthum einge- 
chlichen, Tondern dieſes hat ihm gefliffentlih Thor 
md Thür geöffnet, und ernährt und erhält zu feinem 
ignen Frommen die heidnifchen Elemente; fie find 
er Knecht des Haufes, oder befjer: Der Tempeldiener, 
en es in feinen Dienft und feine Pflicht genommen. 
Ibgleich dieſe Sätze eigentlich von Keinem beftritten . 
verden Tönnen, welcher behauptet, Vo DR Sxetten- 
\6* 


— MM — 


thum des Heidenthumsd Herr geworden fey und immer 
mehr werden folle, worin doc, gewiß liegt, daß das 
leßtere zu feinem Diener bejtimmt ift, jo wird man 
doch mit ihnen nicht fo leichten Kaufes durchkommen. 
Shre völlige Rechtfertigung aber finden fie in dem 
Nachweiſe, daß das Chriftenthum zwar nicht aus dem 
Heidenthume allein, aber doch auch aus ihm, vermit- 
telft feiner Durchdringung mit den Judenthum, ent: 
ftebt und fich entwidelt, und daß fortwährend an 
diefe Durchdringung dad Sein und der Beſtand 
des Chriftenthums gebunden ift. 

Die Entftehung des Chriſtenthums ift durch das 
Heidenthum und feine Vereinigung mit dem Juden: 
thum bedingt. Wo beide ihre fpröde Stellung gegen 
einander aufgeben, wo griechiiche Weltweife ihre vor: 
nehme Verachtung der Wunder und Weiffagungen 
vergefien, wo römiſche Hauptleute in den heiligen 
Schriften der verachteten Juden Belehrung juchen 
und wo wieder fromme Juden nach den Naturgefeben 
zu forschen, ſich zu Ärzten auszubilden anfangen, wo 
ein Mann priefterlihen Standes, und fo fromm wie 
der Jude Philo, zu griechifchen Philnfophen in die 
Schule gebt, erft da ift jene Erfilllung der Zeit ein- 
getreten, vor welcher dad Chriftenthum nicht kommen 
fonnte. Und weiter, ald ed nun gekommen ift, als 
in bem Stifter defielben ber Funke hervorgeiprungen 





— U — 


, der die ganze Welt entzünden follte, da ift bei 
nem Anfachen zur Flamme nicht nur das Quden- 
ım, nein! eben jo fehr der heidnifche Geift thätig 
weſen. Selbft wenn wir nur die religiöfen und 
lichen Erfcheinungen betrachten, müfjen wir dad 
on zugeftehen. Verfteht man nämlich unter Kirche 
ıe religiöfe Gemeinfchaft, die einen beftimmten, 
htlich anerkannten Lehrbegriff, ein Bekenntniß oder 
jen. Symbol hat, fo muß man einräumen: da aus 
e im Neuen Tejtamente niedergelegten, ohne die 
ihrungen des jüdischen Volkes unverftändlichen, ja 
möglichen Offenbarung, mit Hülfe griechifcher 
tfienfchaft der Lehrinhalt oder das, was außerdem 
B es Geſchichte, auch ewige Wahrheit ift, heraus- 
zogen wird, dieſe Lehre aber vermittelft römiſcher 
echts- und Staats: Einrichtungen bindende Kraft, 

wie die fich zu ihnen befennende Gemeinfchaft 
Hiliche Normen erhält, — fo haben im Verein mit 
m Indenthum beide Sormen des Heidenthums Dazu 
igetragen, daß die Gemeinde ſich zur Kirche ent- 
le. Gehn wir aber nun gar über den Kreis des 
eligiöſen und Kirchlichen hinaus, und denken an das 
hriſtenthum als Ganzes, d. h. an alle Erfcheinun- 
n des chriftlichen Weſens, bedenken mir, wie fich 
je unfere Sdeen vom Necht an die der Römer, vom 
unft und von Schönheit überhaupt am die der Goe 


— 4 — 


chen anlehnen, fo werden wir in dem Chriſtuskinde, 
wie ed die Anbetung der jüdifchen Hirten und der 
heidnifchen Könige empfängt, eine Weilfagung darauf 
bin anerkennen müfjen, wie fic) das Reich Diefes 
Friedensfürſten zu den beiden andern einmal verhalten 
wird: wie fein Stifter, fo bat auch das Chriften- 
thum fi) angeeignet, was Judenthum und Heiden: 
thum im Verein zu gewähren vermögen. Dies heißt 
nun aber nicht, der chriftliche Geift und die chriit- 
liche Anſchauungsweiſe fey nur ein Gemiſch von jü- 
diichen und hHeidnifchen Ideen. Sch habe gefliffent- 
lich die Bereinigung beider Durchdringung genannt 
und nicht Gemiſch, um nicht zweierlei zu confundiren, 
deſſen Verſchiedenheit uns fchon Vorgänge der ficht: 
baren Natur zeigen. Aus dem bloßen Gemenge zweier 
Gaſe wird, wenn der electrifche Funke hindurchſchlug 
ganz etwas Neucd, dad reine Waffer in dem fie ſich 
durchdringen. Dder aber: Zwei klare, fich entgegen: 
feßte Subftanzen werden zufammengegofjen. Eo lange 
die Heiniten Theilchen jeder derjelben die der andern 
nur fuchen, höchitend berühren, fo lange haben wir 
ein bloßes Gemiſch oder Gemenge. Es iſt trübe 
und in einer der Gährung Ähnlichen Unruhe. Ent: 
lih wird Alles rubig und am Boden finden wir, 
abermals durchſichtig aber feft und in fchöner regel- 
mäßiger Form, dad Salz, in weldem die Atome 


— 2147 — 


jener Beiden nicht mehr neben einander liegen, ſendern 
ſich ganz Durchdringen, jo Day nirgends nur eine jener 
Eubitanzen, überall beide oder — wie man eben fo 
gut fagen ann — feine von beiden fich findet. Gerade 
fo gebt der Entſtehung des Chriftenthums jened Ge: 
menge heidnifcher und jüdiicher Ideen voraus, von 
welchem ich vorhin gejprochen habe, in welches der 
zündende Zunfe der Geburt des Herrn fällt, um etwas 
Neues an jeine Stelle zu jeßen, jene wüjte und trübe 
Unruhe, welche der Krvjtallbildung vorausging, und 
gerade wie bei der Salzbildung nur ein Kleiner Theil 
der zujanmengebrachten Slüffigfeiten dazu verwandt 
wird, das Übrige aber ein fades Phlegma bleibt, das, 
wenn es nicht rechtzeitig weggegoifen oder abgedampft 
wird, die fchon gebildeten Safzkryitalle fährden kann, 
gerade jo geht nur ein Theil der heidniſch gebildeten 
Juden und vom Judenthum ergriffenen Heiden zum 
Ehrijtentfum über, die Übrigen hat die Gemeinde 
mit Recht als nicht ihr angehörig angejehn, oder gar 
als ihre Feinde zu fürchten gehabt. Daß aber aud) 
nur jenem Heinen Theil die Vermiſchung beidnifcher 
Ideen mit jüdiichen zur Brüde werden konnte, über 
die fie zu den Anjchauungen des chriftlichen Geiftes 
gelangten, ijt ein Hiftoriicher Beweis, daß fich das 
Chriſtenthum zu jenen Ideen jo verhält, wie das 
Salz zu den Eubitanzen, die in ihm gehuntien In. 


— 248 — 


Wirklich ein Beweis? Kann wirklich, wenn mit 
und aus dem Zuſammentreffen des Judenthums und 
Heidenthums der chriſtliche Geiſt hervorgeht, daraus 
ohne Weiteres gefolgert werden, daß an ihre Exiſtenz 
das Seyn des Chriſtenthums gebunden, daß ſie in- 
tegrirende Beſtandtheile deſſelben ſind? Stahl und 
Stein treffen auch zuſammen und der Funke, der 
daraus hervorgeht, wird, wenn er zündet, zur Flamme, 
in der doch weder vom Stein noch vom Stahl Etwas 
zu entdeden iſt. Vielleicht verhält ſichs fo auch mit 
dem Chriftenthum, und wir hätten beſſer gethan, bei 
dem zuerſt gebrauchten Vergleich mit dem Funken und 
der Flamme, Die durch das Heidenthum angefacht 
wurde, itehen zu bleiben, als zu dem mit dem Salze 
überzugehn? Wir müffen, ich geftehe es zu, um bie 
Behauptung zu begründen, daß nicht nur Das Ente 
ftehen, fondern auch Seyn und Beſtand des Chriften- 
thums an jene Durchdringung gebunden ijt, und nad 
einem Beweiſe umfehn. Vielleicht verhilft ung Dazu 
unfer, eben getadeltes Gleichniß: Wie der Ghemiler, 
wenn er und beweifen will, daß das Salz feine ein- 
fache Subftanz ift, es und in dem Momente der Zer: 
fegung vorführt, wo ſich Die Beftandtheile trennen 
und das Gebundene frei, das bisher Ratente offen: 
bar wird, fo haben wir das Chrijtenthbum dort zu 
betrachten, wo e3 in einen Zerießungd: und Ber: 





— 219 — 


weſungsproceß hineintritt, um die Elemente wahrzu: 
nehmen, die ed im gefunden Zuftande in feinem 
Schooße birgt, die aber, wo die Zerfeßung beginnt, 
frei and Licht treten. Das Sahrhundert, welches der 
Reformation vorausgeht, zeigt einen ſolchen Zer- 
feßungsproceß in der chriftlichen Welt. Die ausge: 
bildete Priefterherrichaft, die Werkheiligkeit, der ge 
feglic geregelte Geremontaldienft, alles dieſes zeigt 
ein rein jüdiſches Weſen. Und zugleich iſt in ihren 
weltlichen Tendenzen und in ihrem gößendienerifchen 
Bilderdienft die Fatholiiche Kirche zum Heidenthum 
herabgefunfen. Diefem, frei und offenbar werdenden, 
heidniſchen und jüdiihen Sinne treten die Reforma⸗ 
toren entgegen. Mit Recht ift bemerkt worden, daß 
Luther und die fich ihm anschließenden deutfchen Theo- 
Iogen befonders das jüdiſche Weſen, die erciufive 
Heiligkeit des Prieiterftandes, die Werkgerechtigkeit 
u. ſ. w. befämpften, während Calvin und die ſich 
ihm anſchließende franzöſiſche und fchottifche Kirche 
sorzüglich Das heidnifche Clement, den Bilderdienft, 
die finnliche Griftenz des Heiligiten ald ein fichtbares 
Ding, u. ſ. w. angriffen. Ignoriren wir hier diefen 
Gegenfag unter den Reformatoren, der ed erklärlich 
macht, warum den Anhängern ded Genfer, Belennt- 
niffes unfer Luther, wie er im Kreije der GSeinigen 
beim Lautenjpiel Wein, Weib und Gelang priit, D 


— 50 — 


weltlich, zu heidnifch-leichtfertig für einen Reformator 
.erfcheint, während der, feine Stadt ftreng regierende 
Calvin oder der jtarre Schotte Anor mit jeiner Vor: 
liebe für das alte Teitament und feinem Rigorismus 
gegen jedes Bild in der Kirche, für und leicht etwas 
Sudaifirendes hat, — ignoriren wir, fage ich, diefen 
Gegenfaß, jo beweiit Doch, wenn in dent Verweſungs— 
und Zerſetzungsproceß des Chriſtenthums Die beiden 
Elemente ſich geltend machen, die Luther und Calvin 
befämpfen, dies ganz EHar, dat auch in dem gefunden 
Zuftande des Chrijtenthbums fie in ihm enthalten 
‚waren. Zwar fo nicht, wie in dem Momente der 
Zerfeßung, jondern fo wie die zerfreiiende Säure 
und das ätzende Alkali im Salze find, das weder ätzt 
noch zerfrißt, weil fie beide fid) gegenjeitig binden 
und von einander gebunden werden. Seltiam! Hier, 
bei dem Salze, findet man ed ganz in der Ordnung, 
daß das Ätzende und Zerfreſſende fich gegenfeitig cal: 
miren, und wenn Einer, damit das Salz weniger 
fcharf fey, den Verſuch maden wollte, ihm alles 
Ätzende zu entziehn, fo würde man es natürlich fin- 
den, wenn die feharfe Säure, die dann allein übrig 
bliebe, dem Thoren Kleider und Hände zerfräße, bei 
dem Chriſtenthum aber räth man folche Thorheit an 
und nennt fie Weisheit, ald wenn nicht, was man 
Dort beim Salz fieht, natürlich, d. h. ein allge- 





— 3 — 


meines Weltgeſetz wäre, und ald wenn nicht das 
-Chriftenthbum auch Salz wäre, Salz der Erde näm- 
lich, wie es (wahrſcheinlich doch nicht ohne guten 
Grund) genannt wurde! Gelänge es wirklich, was 
‚Biele heut zu Tage für nothwendig erklären, allen 
Paganismus zu vernichten, den das Chriſtenthum in 
ſich gejogen hat, jo bliebe nichts übrig als der Fauftifche 
Zudaismus. (Natürlic Hat wieder der Krieg gegen 
‚Alle, was man jüdiiche Vorjtellungen im Chrijten: 
thum genannt bat, zu einer Apotheoſe Des zerfreſſen⸗ 
den puren Heidenthums geführt.) Man bedenke darum 
die Kolgen, ehe man Stimme und Hand erhebt, um 
Mapregeln zu unterftügen, welche gerade das Chriften- 
thum zerftören müßten, da fie ſolche Mächte frei 
‚machten, die das Chriſtenthum nur jo lange nicht zu 
fürchten hat, ald es fie bindet und aljo bändigt. 


2. 


Es wäre nicht unmöglich, daß dieje unfere War: 
nung denen, an welche fie gerichtet ift, jo erſchiene mie 
die mächtigen Streiche, welche der edle Ritter von der 
traurigen Geftalt gegen die Windmühlen führte, als 
das nicht treffend, dem fie gilt. Alles das nämlich), 
was bisher gefagt wurde, können fie zugeben, können 
gleich und zugeftehn, daß die geiftige Geſtaltung der 
‚Welt, die wir Chriftentfum nennen, Me keukeren, 


— 232 — 


darum auch das Heidenthum ſo in ſich birgt und 
bindet, wie der lebendige Menſchenleib Phosphor und 
andere ihm ſchädliche Subſtanzen, und können dennoch 
ihren Kreuzzug gegen den Paganismus, gegen die 
Wiederbelebung der heidniſchen Anſchauungsweiſe, 
fortſetzen. Bei dieſem ihrem Kriege nämlich handle 
ſichs gar nicht um das Heidenthum, welches ein Be: 
ftandtheil fey im Chriftentbum ald Ganzen, wie ed 
eine geichichtliche Macht, wie es die geijtige Bejchaf: 
fenbeit der ganzen Menſchheit bezeichnet, jondern um 
die Chriftlichkeit "Des einzelnen Menjchen, um fein 
Chriftenthum, und darum, daß er nicht zum Heiden 
gemacht werde. Sey ed immerhin wahr, daß Das 
Chriſtenthum ſich durch Aufnahme und Verarbeitung 
auch heidniſcher Ideen gebildet habe, und daß alſo 
die Entziehung alles Heidniſchen ihm gefährlich wäre, 
wie dem lebendigen Leibe Die Entziehung alles Phos: 
phors; fo viel aber des Heidnifchen und fo verar- 
beitet, wie ed den Chriſtenthum nothwendig, nehme 
der Einzelne ja in fich auf, indem er chrijtlich er: 
zogen wird, und nur chriitliche Eindrüde empfängt. 
Dagegen, feinem Geifte noch außerdem rein heidniſche 
Koft bieten, wäre ja, als wollte man dem Leibe, 
weil er doch auch aus Phosphor gebildet ift, num 
noch Phosphor ald Nahrung reichen. — Ich Eönnte 
Darauf erwidern, daß Died auch wirklich geicheben 





— % — 


muß, und daß er phosphorhaltiger Nahrung bedarf, 
indeß eine Argumentation durch ein Bild, welches 
noch dazır ich jelbft dem Gegner in den Mund legte, 
würde jchwerlich überzeugen. Statt deffen werde 
darauf aufmerkjan gemacht, dag der Einzelne jeines 
Chriftenthums nur dadurch theilhaft wird, daB das 
Chriſtenthum in ihm von Neuem entiteht, daß es in 
ibm — die heil. Schrift nennt es Geftalt gewinnen 
— teproducirt wird, und dab eben deswegen fein 
Chriftlichwerden alle Die Stadien durchlaufen muß, 
welche das Chriftlichwerden der Welt durchlief. Wer 
daran zweifelt, oder wer ed myſtiſch nennt, bedenke, 
Daß ed ganz eben fo iſt jchon bei jeder Kunftfertig- 
keit. Die Kunft des Clavierjpield z. B. iſt jo fort- 
geichritten, daß, wer vor hundert Jahren ein Virtuos 
war, heut zu Tage von manchem Sinaben würde über: 
troffen werden. Und do wird auch heute Keiner 
mit der Kunitfertigkeit eines Lißt oder Thalberg ge- 
boren; Feder muß den Gang vom ftümperhaften Ge: 
Mimper bis zur Virtuofität, den die Kunft des Cla⸗ 
sierfpield durchgemacht hat, in ſich abermals durch: 
machen, nur daß die vervolllommnete Lehrmethode 
und die Gelegenheit, von der Wiege an gute Muſik 
zu hören, heut zu Tage alle diefe Stadien ſehr jchnell 
durchlaufen läßt. Gerade jo kommt auch der Menſch 
zur ertigkeit im neuen Leben nur dadvx6h, We mn 


— 3 — 


ihm der Gang fich wiederholt, auf welchem die 
Menſchheit dieſes nene Leben gewann, feine Erziehung 
zum Chriften ift eine Wiederholung der Erziehung 
der Dienfchheit zum ChriftenthHum. — Wenn doc) die, 
welche in ihrem Eifer gegen das moderne Heidenthum 
ftetö die alte gute Zeit loben, in der noch die Men- 
fehen zu Chriften erzogen wurden, einmal anfingen 
anftatt zu preifen daß, auch einmal zu lernen wie 
damals die Kinder in den chriftlichen Ideenkreis ein-- 
geführt wurden? Das Mittel, welches, jo lange es 
Kinder gibt, das einzige it, fie zu Ideen zu bringen, 
dag man ihnen mündlich oder nach einem Buche 
Solches erzählt, worin fie Durch eigned Nachdenken 
die Idee, d. h. den Wahrbeitsgehalt auffinden, zuerft 
ahnden, dann erkennen follen, war auch das Haupts 
bildungsmittel fir Kinder in der „guten alten Zeit.” 
Wenn wir dann aber weiter zufehn, wad den Kindern 
erzählt, was vor ihnen und fpäter von ihnen felbft 
gelefen ward, jo finden wir, daß Damals die fogen. 
Kindergefchichten, d. b. die expreß für Kinder ausge⸗ 
fonnenen Geſchichten, nicht eriftirten. Diefe unfelige 
Erfindung der Neuzeit, die „Erzählungen für Kinder”, 
welche für Kinder die fchlechteften Erzählungen find, 
war der guten alten Zeit fremd; vielmehr anerken⸗ 
nend, daß das Kind auferzogen, d. h. heraufgezogen, 
acht aber bie Eltern oder fonitigen Erzähler herunter⸗ 





— — — — *—2— 


— 255 — 


gen werden ſollten, erzählte und las fie, zum 
een Nuten und größeren Genuſſe der Stinder, 
ı nur Solches, was urjprünglich nicht für Kinder 
trieben war. Und diejes war? Erſtlich die bibli- 
;, namentlich die Altteftamentlichen Gejchichten, 
) welche das Kind, gleich einem Kinde Israels, 
stmifch wurde in ten Borftellungen des alten 
des. Gleichzeitig aber ward zweitend das Kind 
führt in die mittelalterliche Welt der Mährchen 
in die fabelhaften Sagen des Alterthums, Die 
» nicht zur Kurzweil erfonnene Phantafiefpiele, 
weige denn für Kinder erdacht, find, fondern in 
n das Haffiiche und germanifche Heidenthum durch 
tiefſinnigſten Männer, feine religiöjen und foniti- 
Weltanſchauungen niedergelegt hat. Welch eine 
zung mußte nicht in dem Kopfe eined Kindes in 
guten alten Zeit entitehn, wenn es von der 
ter in eine Welt eingeführt, welche urſprünglich 
war, wo Odin herricht und Balder jtirbt, vom 
ee wieder, durch Den Homer Nacherzähltes, zur 
mnderung von Des Peleus und der Thetis Sohn 
feitet, von Bater und Mutter dazu geführt ward, 
abam zu verehren und, troß jeiner Schwächen, 
id zu lieben? Ja wohl, eine Gährung, aber Die 
alte Zeit wußte, was ihre heutigen Lobredner 
efjen, Daß nur aus kräftiger Gährung an Unter, 
\ 


— 2136 — 


feiner Trübung audgefeßter, Trank hervorgeht, und 
fie hatte in ihrer Erziehungsmethode die Autorität 
eines Größern als alle Peſtalozzi für ſich, Defien, 
der durch die Gährung heidnifch-jüdifcher Ideen die 
Menfchheit in. den chriftlichen Ideenkreis hineinge- 
führt hatte. 

Wir billigen die Art, wie die alte gute Zeit ihre 
Kinder zum Chriftenthun anleitete, weil ganz wie 
in der Menfchheit, fo auch in dem einzelnen Men- 
fhen das Chriftenthbum aus Dem Gemifche des Heid: 
nifchen und Jüdiſchen hervorgeht. Wir fügen aber 
noch hinzu, daß auch darin im Einzelnen Dad Ganze 
fih abfpiegelt, day fein Chriſtenthum nur Durch die 
Durchdringung beider Elemente ſich erneut und er- 
hält. Nur an einem, aber dem vornehinften, För⸗ 
derungs⸗ und Erneuerungsmittel des chriftlichen Geiſtes 
werde Died nachgewiefen, an dem Gultus, der Er: 
hebung durch gottesdienftliche Zeier. Das Heiden: 
thum iſt zu feinem Culminationspunkt in den Griechen 
gelangt. Da ihre Religion eigentlich Anbetung der 
Schönheit ift, fo ifts natürlich, daß ihre religiöfe 
Erhebung zufamntenfällt mit dem gefteigerten Genuß 
des Schönen. Daher der heitere Charakter ihres 
Cultus, in welchem (ähnlich war es im germanifchen 
Heidenthum) das fröhliche Mahl, das Wettipiel, im 
dem bie Kraft und Schönheit der Kämpfer die Zu: 





— 37 — 


fchauer entzüdt, der Tanz und die fich daran an: 
fchließende dramatifche Aufführung, faft den ganzen 
Tag der feitlihen Feier ausfüllen. Ganz anders 
verhält fichd bei den: Juden. An die Stelle der 
Schönheit trat bei ihm das ftrenge Gefeb in feiner 
erhabenen Majeſtät; fein Cultus ijt darum nicht das 
beitere Spiel, jondern die ernjte Entjagung; nicht 
mit duftenden Salben fhmüdt er ſich zur fröhlichen 
Feier, fondern Sad und Aſche deuten die innere Zer⸗ 
knirſchung an; man jieht ihn nicht auf offenem Marfte 
ſchmauſen und jubeln, weil ed Feſttag, fondern ihn 
mahnt der Sabbath, fi in fein Haus und in ſich 
felber zurüdzuziehen. Alle äußere Thätigkeit ift unter: 
fagt: das fromme Bolt Hat Einen gefteinigt, weil 
er Holz lad am Sabbath und Hat fich nicht verthei- 
digt gegen den die Stadt erobernden Zeind, denn ed 
war Sabbath. Ganz der Stellung entipredhend, Die 
wir dem Chriftentfum anwieſen, bat ſich in ber 
ehriftlichen Kirche fehr früh die Sache ſo geitaltet, 
wie wir fie in Fatholifcher Ländern noch heute finden: 
Ein Theil des Feiertaged iſt den kirchlichen Hand» 
Iungen gewidmet, an welchen Theil zu nehmen geſetz⸗ 
liche Vorfchrift ift, der übrige Tag gehört dem Ge: 
nuffe des Schönen überhaupt, vor Allem ber ſchönen 
Gefelligkeit und den Genüffen, welche die Kunft dar 
bietet. Als nun in der Reformation die ftrenge 
yı 


— 233 — 


Scheidung zwifchen Geiſtlichem und Weltlichem, wie 
fie in dem Gegenfaß Der Priefter und Laien firirt 
war, vernichtet ward, da war ed natürlich, Daß auch 
die ftrenge Sonderung des tem Himmel geweihten 
Bor: und des der Erde angehörenden Nachmittags 
aufhören mußte. Auch hier aber zeigte ſich der fchon 
früher angedeutete Unterjchied zwifchen Der Genfer 
und der deutfchen Kirche. Jene nänlich fchied Das, 
dem Heidenthbum verwandte Element jo ftrenge aus 
der Feier des ganzen Tages aus, daß man ed charak: 
teriftifch finden muß, wenn in ihr die Altteſtament⸗ 
Yichen Ausdrücke Sabbath, Sabbathsfeier, ich ein: 
bürgerten, ganz als Einge es zu heidniſch, wenn Der 
Tag nach der Sonne genannt, zu leichtfinnig : heiter 
wenn er ala ein fonniger Tag gedacht wird. Anders 
geitaltete ſichs und mußte ſichs geftalten bei Luther 
und denen, Die fich zu ihm gejellten: eine ganze 
Eigenthümlichkeit, beſonders aber daß er einen ganz 
anderen Punkt an der Eatholifchen Kirche angriff, 
mußte ihn dahin bringen, dem Schönen feine gött- 
liche Abſtammung, der Kunſt ihr töchterliches Wer: 
hältniß zur Religion nicht abzuftreiten; eine Kirche 
weiter, welche befonders den Ton legte auf die frohe 
Botſchaft, die und verfündigt worden, mußte hin⸗ 
fichtlich bed heiteren, man kann jagen heidnifchen, 
Elementes in der Sonntagöfeter der katholiſchen Kirche 


— 259 — 


ähnlicher bleiben. Dabei aber mußte im einer Kirche, 
die jedem Thun nur in fofern einen Werth beilegt, 
ale es Bethätigung einer Gefinnung ijt, und allem 
Gottesdienit nur in fofern, ald er und der Gnade 
theilhaft macht, Die gefegliche Berpflichtung zum 
fonntäglichen Kirchenbejuc) um fo mehr aufhören, als 
allmälig in dem Gottesdienfte die Predigt, wenn auch 
nicht zum einzigen, fo doch zum hauptjächlichiten Er- 
bauungsmittel wurde, und es Doch vernünftiger Weife 
Keinem zugemmuthet werden kann, er folle unter jeder 
Bedingung in die Predigt gehn, alſo auch dort, wo 
er gewiß weiß, fie wird fchlecht feyn und ihn mehr 
ärgern ald erbauen. 

Freilich hat es jebt, gerade in Iutherifchen Län- 
dern fo weit kommen können, wie ed gefommen ift: 
daß die Sonntagsfeier in einer continnirlichen Sonn- 
tagsentweihung bejteht, indem entweder das proſaiſche 
Werktagsleben oder ein unfittliches Todfchlagen ber 
Zeit an die Stelle des Gottesdienſtes getreten iſt. 
Wollte man dies ein heidnifches Weſen nennen, jo 
thäte man den Heiden Unrecht, denn jo haben fie es 
nicht gemacht. Ihre heiten Spiele waren wirklich 
eine Erhebung über das Nivenu des gewöhnlichen 
Lebens und dürfen darum nicht mit dem Beharren 
auf diefem Niveau, gefchweige denn mit Dem Herab⸗ 
ſinken unter daſſelbe, verglichen werden. Eben des⸗ 

17* 


EEE A 


— 260 — 


wegen wäre ed auch ein faliches Heilmittel für unfer 
Eranfes Sonntagdleben, wenn man anjtatt Des fün- 
digen Wefend, welches der Kranfheitägrund ift, und 
eben fowehl jüdische als heidnifche Form annehmen 
ann, das heidnifche Element in ihm, die Äfthetijche 
Luft, Die Freude am Schönen, unterdrüden wollte, 
wie 3. B. Diejenigen möchten, welche, obgleich fie 
den Befuh von Gejellihaften, Gemäldegallerien, 
Concerten und Theatern für Fein Unrecht halte, Doch 
alles dieſes am Sonntag unterjagt wünſchen. Ein 
ſolches Berfahren würde unfer Eonntagsleben nicht 
gejund, fondern nur jüdiſch machen, wie id) ed Denn 
ganz in der Ordnung finde, dab mit Den Angriffen 
gegen alle afthetiihen Genüffe am Sonntage auch 
unter und fich Die Vorliebe fir das Wort Sabbath 
anftatt Sonntag eingeftellt bat, und nicht leugnen 
will, daß, ald in Berathungen über Die Eonntags- 
feier auch Die Frage ventilirt wurde, ob e3 dem 
Chriften erlaubt jey, fich am Sonntage zu rafiren? 
Dies mich ſehr an das erinnert hat, was ich als Knabe 
in einer Eleinen Judenſtadt gefehn Habe, und was 
und in der h. Schrift von dem Mückenſeihen der Pha- 
rifäer gejagt wird, die dabei Kameele verjchluden. 
Es ift nun wahr, daß man uns ftets darauf vermeift, 
jenfeit3 des Canald ſey ed doch gelungen, Das heid⸗ 
niſche Element aud dem Sonntagöleben fo auszu⸗ 





merzen, daß am Sonntage feine Tafte auf Dem Cfas 
vier angejchlagen, Fein Spaziergang zum Anſchauen 
der ichönen Natur gemacht, fein durch Gejelligfeit 
gewürzted Mahl eingenommen wird. Dabei werden 
dann immer Londons und Edinburgs am Eonutag 
nach der Kirchenzeit verödete Strafen voll Bewun⸗ 
derung den Maſſen entgegengeitellt, die in Paris und 
Wien fid) Vormittags in die Meife, Nachmittags 
in die Vergnügungslokale Drängen. Bielleicht aber 
thäten dieſe Anglomanen und Scotomanen gut, nicht . 
nur auf die. Straßen, fondern aud) in das Innere 
der Häuſer zu blicken. Sie Eünnten da bei den höhe: 
ren Ständen faſt auf die Anficht kommen, Daß das 
Gähnen zu den frommen Gebehrden gehöre, jo häufig 
fommt es dort am Eonntage vor, was aber Die niedere 
Volksklaſſe betrifft, fo würden fie wohl erjihreden, 
wenn fie auf Anftalten träfen, wo für einen beftimnt- 
ten Preis der Arbeiter am Sonnabend fih fo be— 
ranfchen kann, daß er den größten Theil des Sonn: 
tags, an dem doc „Nichte zu machen“, d. h. Fein 
Vergnügen zu haben it, im foporöfen Zujtande ver: 
fchläft. Diefe raffinirte Beftialität wird uns ſchwer⸗ 
(ich mehr gefallen als die, freilich nicht ſehr idealen, 
Luftbarfeiten unferer Arbeiter. Höchſtens einem nur 
an Gewinn dentenden Fabrikbeſitzer könnte e8 fcheinen, 
als jey jene Einrichtung in England gar nicht fo 


— 262 — 


übel, denn der Kapenjammer ded wöchentlichen Rau: 
ſches, ohne den jene Klaffe einmal nicht fcheine aus: 
fommen zu können, verderbe dort nicht Den Montag 
Bormittag, fondern nur den Sonntag, und an dem 
fey ja „nichtd zu machen”, was hier fo viel Heißt 
als: fein Geld. Sch denke — freilich befige ich Feine 
Fabrik — es wird am beiten ſeyn, wir juchen das 
Heilmittel für das kranke Eonntagöleben nicht bei 
den, überhaupt etwas judaiſirenden, Engländern, 
fondern ſuchen und zurecht zu finden an der Beſtim⸗ 
mung ded Chriftentbums. Dieſer gemäß wünſchen 
wir, daß jedem Verſuch, den Sonntag zu den Werf- 
tagen herabzuziehn, wenn die Sitte zu ſchwach ift, 
das Geſetz entgegentrete mit dem Altteftamentlichen 
Worte: Sechs Tage follft du arbeiten, aber der 
fiebente ift Ruhetag. Wo aber man und verbieten 
will, am Sonntage und alles Schönen zu freuen, dem 
Genuſſe eines Kunſtwerks oder der ſchönen Gejellig- 
feit und hinzugeben, wozu wir in der Woche nicht 
Zeit hatten, da wollen wir e8 und nicht rauben laffen, 
dat der Sonntag ein Zeit: d. h. ein Freudentag fit. 
Er ſey Beides; nicht in katholiſcher Weile nach» 
einander jüdifchem Ceremonialdienft und heidniſchem 
Weltfinne gewidmet, fondern Beides Durchdringe füch 
10, daß in dem ernften feierlichen Gotteödienfte auch 
der Schönheitsfinn ſtets feine Befriedigung finde, daß 





— 23 — 


fein disharmoniſcher Geſang dad Ohr zerreiße, fein 
unjchöner Aublid das Auge verlege, daß die Predigt 
ein vollendetes, bis ind Einzelne durchdachte und 
abgerundetes Kunftwerk jey, in dem Nichts den Ge- 
ſchmack beleidigt, zu welchem Allen freilich Vieles 
anders werden muß, aldes ijt. Ehen fo aber erhalte 
auf der andern Seite die gejellige Luſt eine höhere 
geiftige Weihe, fo daß wir mitten in der Freude und 
dem Jubel ded Sonntags und gehobner fühlen als 
fonft, und — um noch einmal auf die alte gute Zeit 
zurüdzulommen — der Ausdrud, den man damals 
oft hörte, wenn von einer Luſtbarkeit Die Nede war: 
„wir waren fröhlich in dem Herrn”, und nicht nur 
wie eine alte Redeweiſe erfcheine, fondern auch als 
eine gute, d. h. der Sache entfprechende. 


Sch bin weit abgefommen von dem, womit ich 
begann. Ich kehre zurüd. Vor den Marmorgruppen 
auf der Schlofbrüde warnte man und, wir follten 
ja nicht das Gift der äfthetifchen, helleniichen An⸗ 
ſchauungsweiſe in und fangen. Andere mögen wohl 
diefen Warnungsruf auch vernommen haben, denn 
wir ſehen Viele, ohne einen Blid hinaufzuwerfen, 
über die Brücke rennen und dann quer über den Lujt- 
garten. Wir folgen ihnen und erreichen bald mit 
ihnen einen Bau, Der, wie er {chau von Asien inuin- 


— 4 — 


ans nicht an den heidniſchen Cultus der Schönheit 
erinnert, ſo inwendig nur die geſchäftige Wirkſamkeit 
des Geiſtes zeigt, den wir (wie der Apoſtel Paulus) 
dem helleniſchen diametral entgegenſetzten. Ich brauche 
wohl nicht zu bemerken, daß ich nicht auf den Dom 
ſtichle, ſondern von dem Hanſe ſpreche, welches vom 
Dom durch Dad campo santo getrennt iſt. Ange- 
widert von dieſem Geifte fehnen wir und bald nad 
feinem Gegenſatz, nach Hellad. Um diefe Sehnfudht 
zu Itillen brauchen wir nicht zur Nike zurüdzugehen; 
hinter der griechifchen Säulenreihe die hier neben und 
fteht, finden wir, fchöner als anf der Schloßbritde, 
was wir fuchen. Wir treten hinein in die unteren 
Räume ded Meufeumd, fuchen und unfere alten Lieb- 
linge wieder auf, fteigen auf der fchönen Treppe, 
die jeßt der Adorant ſchmückt, ins höhere Stodwerf 
hinauf, und um den Eindrud nicht zu verlieren, den 
die alten Sculpturen auf und machten, wollen wir, 
ohne ein Gemälde anzufehen, fogleich die Haupttreppe 
herabfteigen. Da feifelt und in der Notonde unter 
den, nad) Raphaels Cartons gewebten Tapeten die 
eine; nicht nur, weil fie und plöglich nach Hampton 
court verjeßt vor den fchönften unter jenen Cartong, 
jondern, weil hier Raphaels Pinfel vollbradyt bat, 
was feit einer Stunde eine trockne Deductton zu leiften 
verfuchte. Die Gruppe nämlich mit dem Opferthier, 
Ein. 





vor dem Apoſtel Paulus, ift nicht von Raphaels 
eigner Sompofition, jondern er hat fie einem alten 
griechifchen Meifter entlehnt und feinem Gemälde 
einverleibt. Wirklich einwerleibt, Denn Seiner wird 
in ihr eine fremde Zuthat fehn, fo fehlieit fie ſich, 
als ein zum Ganzen gehöriges Glied, an das Übrige. 
Sp wie dieled Raphaeliſche Bild, das nicht verun⸗ 
ftaltet fondern gehoben wird dadurch, daß es ein Er- 
zeugniß heidnifcher Phantafie in ſich aufnahm, fo ift, 
behaupten wir, dad Chriſtenthum und fo, wünfchen 
wir, ſey auch unferes! Diefen Wunfch nehmen wir 
auch nicht zurüd, wenn wir jagen hören: daß Naphael 
fo eine beidnifche Compoſition in fein Gemälde auf: 
nehmen konnte, fey ein nener Beweis dafür, dag er 
feine Werke nicht in Dein chriftlich frommen Geifte 
eoneipirte, wie die älteren Meijter ihre Firchlich ty: 
pifchen Figuren, Dad er jchon dem Paganismus in 
der Kunft Eingang gewährte, die Dann nach ihm 
immer mehr paganifirt fey. Dies fchredt uns nicht. 
Mir können die Meinung nicht aufgeben, Daß, wer 
nicht nach Theorien, fondern nach feinem äſthetiſchen 
Gewiſſen urtheilt, son dem Anbfid der Madonna di 
Fuligno, oder wenn er fich Durchbliden läßt von den 
Augen des Kindes, Die Raphael in der Madonna della 
Sedia oder der Sixtina auf die Leinwand hauchte, 
ſich mehr erheben fühlen wird a8 inc Ton nt 


— 266 — 


Cimabne. Dies ift Meinung. Mehr aber als Dies, 
wahr und gewiß iſt, daß eine Weltunjchauung, die 
das fich einverleibte, was dad Heidenthum Herrliches 
(und eben darum Des Herrn Würdiges) hervorbrachte, 
großartiger und weitherziger iſt als Die, welche es 
ausſchließt. Und zugleihh auch Des Namens einer 
hrijtlichen wirrdiger, denn für die Anwartichaft auf 
Diefen Namen ift und das entfcheidend, Daß erft Dann 
und erit dort, wo Heiden in die Gemeinde der Gläu— 
bigen aufgenommen werden, der Name, den Die An- 
hänger des Herren bis dahin geführt hatten, Der Ntame 
der Nazarker, verfchwindet und dem Platz macht, Den 
wir heute noch führen, dem Namen Chrijten. — 





R. 


Über 


die Yangeweile, 
1852. n 











Er rege En 





. ur 
U A A — nn 


Die oft audgeiprochene Behauptung, dat ed feine 
Abfurdität gebe, Die nicht von einem Philofophen 
vertheidigt wäre, trägt zwar ihre Widerlegung in 
fich jelbit, indem eben fie eine ift, die fchwerlich an 
einem Philofophen einen Bertheidiger gefunden hat, 
Doch aber ift fie nicht völlig aus der Luft gegriffen. 
Man fann fie nicht eine boshafte Erfindung, fondern 
nur eine Übertreibung nennen, denn wirklich haben 
Philoſophen ſich oft in Paradorien gefallen, ja ihre 
Anficht auf Grundfäge gebaut, deren Unhaltbarkett 
Veicht zu entdeden. Beifpielöhalber feyen bier zwei 
Säge erwähnt — wenn man fie nicht lieber ald einen 
und denfelben anfehn will — deren Anwendung ein⸗ 
mal in Frankreich), einmal in Deutfchland, der Phi: 
Iofophie eine eigenthümliche Richtung gegeben bat. 
Sn der bedeutendften Schule Frankreichs, der bes 
-Descarted, wurde früb der Grundfag auögeiprochen, 
der Menfch könne nur hervorbringen, wovon er ein- 
fehe wie ed entftehe und was es fey, und ed ward 
Darand gefolgert, dag unmöglih wte (IR wien 


— 270 — 


Arm bewegen, fondern dag Gott mit feiner wunder: 
thätigen Macht ind Mittel trete und fich zum Cre- 
kutor unferes Willens mache. Nicht minder, nur in 
umgekehrter Weife, wurde in Deutichland von den 
Anhängern 3. 9. Jacobi's die Solidarität von Cr: 
kennen und Hervorbringen feitgehalten und, weil jened 
nicht ohne dieſes Statt finde, behauptet: der Menſch 
erkenne nur wo er fihöpferifch fey, und darum könne 
son Gott und göttlichen Dingen NichtE gewußt 
werden. Dat der Grundſatz der Gartelianer, nad) 
welchen das Machenkönnen das Begreifen in ſich 
fchließt, daß Diefer unhaltbar, davon machte ich Die 
praktifche Erfahrung als ich den Gegenftand meines 
heutigen Vortrags zu überdenken anfing. Ich hatte 
dazu die Langeweile erwählt von der id) wußte daß 
ich fie machen fönne, ja in deren Hervorbringung ich 
mir eine Art Meifterfchaft zufihreiben darf, und ich 
bemerkte bald, dab mir ihr Wefen und ihre Ent: 
jtehungdart durchaus nicht ohne Weiteres Ear werden 
wollte. Sey ed nun, daß das Ertappen einer philo- 
ſophiſchen Autorität auf einem Irrthum mid) gegen 
die andere unempfindlicher machte, fey ed daß ich nie 
große Sympathien für eine Schule gehabt habe, die 
von dem was dem Menſchen das Höchite ift, „nichte- 
willen will”, genug ich ließ mich von den Bedenk⸗ 
. Sichleiten nicht hindern, Die einen Anhänger dieſer 





— 21 — 


Schule von feinem Vorſatz hätten abbringen müffen. 
Troß ihred warnenden Rufs: was Du begreifit bringft 
Du in dir, wad du verftändfich machſt in Andern 
bervor, wage ich e8 den gefaßten Vorſatz feitzuhalten 
und zu einer Betrachtung der Langenweile ein- 
zuladen Die und zeigen ſoll was ſie ift, wie fie ent- 
fteht und wie fie beurtheilt werden muß. Schlimm 
genug wäre ed freilich, wenn mein Vortrag jener 
Schule Anhänger verfchaffte, inden fie nach) Beendi- 
gung deffelben fagen müßten: Jene haben Recht, das 
Begreiflich machen der Langenweile iſt wirklich ein 
Hersorbringen derjelben. 

Die oben gemachte Bemerkung, daß jelbit Häupter 
yon Philoſophenſchulen oft Unhaltbares behaupten, 
dabei der Umstand, daß fie unter fich felten überein— 
ftimmen, macht es rathjam nicht bei einem derfelben 
Belehrung zu fuchen. Gäbe ed dagegen eine Auto: 
rität, vor der fie alle fich beugten, fo hörte alle Be: 
denklichkeit auf und der Philofoph, zu Dem alle Meiſter 
hinaufblidten wie ihre Schüler zu ihnen, und deſſen 
Entſcheidung Alle fich gefallen ließen, Der wäre unfer 
Mann. Einen folden Philofophen über allen Philo: 
fophen, der eben darum mit mehr Recht ald Arifto- 
teled im Mittelalter den Namen des „Metfterd“ führen 
follte, einen foldhen gibt es: es tft der welcher, weil 
er nicht der Mann nur einer oder der andern SC. 


— 12 — 


ift, ohne jede nähere Beitimmung „Man“ genannt 
wird. Diefe größte aller Autoritäten deren Name 
bei und gefchlechtälos ift, weil fie ald der neutrale 
Schiedsrichter über Allen fteht, über Männern und 
Frauen, fie, von welcher die Engländer ftetö in der 
Mehrzahl fprechen, weil fie nicht die Macht eines 
Einzelnen tft, fie welche überall wo ed einen Namen 
für fie gibt mit dem Gattungsnamen Menfch bezeich- 
net wird, (Man, men, on d. h. homme) — fie 
fpricht das letzte entjcheidende Wort auch in den Hän⸗ 
deln der Philofophen. Wovon Einer überzengt ift, 
dab „Man“ es fordern dürfe, das glaubt er nicht 
verweigern zu Dürfen, und umgekehrt, will er eine 
Lehre recht fiegreich darſtellen, fo ſtellt er fich Hinter 
die Agide jener Macht und fagt nicht: Sch, fondern 
„Dan“ weiß. Wüßten wir darum was „Man“ von 
der Zangenweile zu halten hat, fo wären wir mehr 
geborgen, als wenn und befannt wäre: was Kant und 
Spinoza nad) ihren Prinzipien davon halten müßten. 
— Nun fcheints freilich viel leichter, die Anfichten 
jener beiden Meijter der Wiſſenſchaft zu vernehmen 
ald die unjered Meifterd der Meifter. „Kant und 
Spinoza haben ihre Gedanken Iaut werden laffen, fie 
haben geiprochen, der eine im engen Freundeskreiſe 
im Haag, der andere auf feinem Katheder in Könige: 
berg, ja fie ſprechen noch heute zu Jedem ber die 





— 1713 — 


Ethik lieft oder die Kritit der reinen Vernunft.“ Dies 
ift richtig, aber glüdlicher Weiſe iſt unfer Philoſoph 
nicht fchweigjamer gewefen als jene Philoſephen, 
„Man“ iſt nicht ftummer als jene beiden Männer. 
Fragt man aber: ja wo fpricht denn „Man“, fo ift 
in der Frage die Antwort enthalten: „Dan“ fpricht 
wo man fpricht; in der Sprache find Seine Gedanken 
laut geworden. Wie in der Sprache des Einzelnen 
feine Gedanken fich offenbaren, in Leſſings Sprache 
fein klares Denken fich piegelt, jo in der d. h. der 
allgemeinen, Sprache das Denken nicht eined fondern 
des Menfchen, den wir ja eben „Man“ nannten. Die 
Sprache zeigt wie „Man“ d. h. der Menfch, die 
dentfhe Sprache wie „Man in Deutjchland”, d. h. 
der deutſche Menſch denkt. Darum ift ed eigentlich 
einfacher, hinter das was „Man“ denkt zu kommen, 
ald Hinter Kant's und Spinoza's Gedanken. Was 
beide gejagt haben, hat man nicht immer zur Hand, 
hat man es aber vor fich, jo muß man zweierlei lernen: 
was fie jagen und ihre eigenthümlihe Sprade, 
in der fie es entwidelt haben. Dagegen bei unjerm 
Autor fällt das Werk worin er lehrt und das Idiom 
worin er fpricht zufammen, und Diefes fein Wert hat 
Jeder der Sprechen Kann, ſtets bei fi), den volumi- 
nöfen „deutfchen Sprachſchatz“ als ein bequemes und 
glüdlicher Weife unverlierbares Wörtecbo St 
W 


— 1714 — 


nicht in der Taſche aber im Kopf. Wer in dieſem 
Werte umherblättert läßt fich von dem belehren, der 
die Sprache ſchuf, wer auf den Sprachgebraudy achtet 
fieht wie „Man” zu denfen pflegt, wer einſieht, daß 
man nicht anders fprechen kann, gewinnt die Über: 
zeugung, daß man in einer beftimmten Weife denken 
muß. — Zwar mit ganz unbedingtem Vertrauen darf 
man nicht erwarten, daß der Sprachgebrauch uns alle 
Räthſel Löfen und die Mühe des eignen Denkens ab: 
nehmen werde. Denn wie ein fonft erufthafter Mann 
fich wohl erlauben darf, fcherzend feine Meinung hinter 
Worte zu verbergen, die das Gegentheil befagen, fo 
it auch „Man“ Tein Pedant und unfere, wie alle 
Sprachen, bieten manche feiner Späßchen dar. Wenn 
man 3. B. von dem reuigen Verbrecher fagt, er habe 
ein fchlechtes Gewiſſen, und von dem verſtockten 
dem fein Gewiffen feine Vorwürfe macht, er habe 
ein gutes, obgleich Doch gerade das des Leptern 
nichts taugt, fo iſt Dies eben fo feltiam wie, worauf 
Lichtenberg aufmerffam gemacht hat, daß wenn ein 
Menſch durch Zuhalten der Nafe ed unmöglich macht, 
daß die Töne durch die Nafe gehn, daß man gerade 
dann fagt er fpreche durch Die Nafe, anftatt zu fagen, 
er ſpreche gar nicht Durch Diefelbe. Dergleichen wird 
und nicht dahin bringen mit dem Franzoſen zu fagen 
On est un sot, wohl aber berechtigen zu fagen On 





est un farceur und verpflichten, bei unfern Anfragen 
an den Sprachgebrauch auf unferer Hut zu ſeyn. — 
Glücklicher Weife ift bei unferm Gegenſtande der 
Schöpfer des Sprachgebrauch hübſch ernithaft ge: 
wefen und wenn wir, mißtrauifch gegen Sacobi und 
die Cartefianer, ohne Vertrauen zu Kantianern und 
Spinoziften, fragen was „Man“ als das Wefen der 
Langenweile anzufehn habe, fo antwortet und der Ge⸗ 
fragte obgleich indirect, Doch deutlich und richtig. 
Bekanntlich fagt man, wo Jemand fi) der Langen⸗ 
weile entledigt, dag er fich die Zeit vertreibe. Er 
vertreibt fie fich, denn an fich kann die Zeit, diefer 
Zluß der Vergänglichkeit in dem wir Die Dinge 
ſchwimmen fehn, eben jo wenig vertrieben werben 
wie die Dunfelheit Die gegenwärtig unfere Hemifphäre 
deckt; wie aber diefe Seder ſich vertrieben Hat der 
in diefen erleuchteten Saal trat, jo mag der Menſch 
auch Die Zeit fich vertreiben, indem er fie fi) un- 
merklich macht. Wer im Unmerkbarwerden bed Zeit 
serlaufd das Aufhören der Langenweile ſieht, Tann 
ihr Weſen nur in dad Gegentheil ſetzen, aljo in bie 
Aufmerffamteit auf den bloßen Zeitverlauf. 
Daß aber diefe Anficht, welche jenem Sprachgebrauch 
zu Grunde liegt, die richtige ift, wird von der eignen 
Selbftbeobachtung beftätigt. Alle Gegenftände werden 
som Strom der Zeit an und worühergeitunrn br 

\Q* 


— 276 — 


die fchwimmenden Blumen vom Waldbach, ihr Vor- 
überfchwimmen nennt man Gejchehen. Ie mehr das 
was geichieht unfere Aufmerkſamkeit reizt, d. h. je 
mehr fie gefeffelt wird durch die Gegenftände die 
jener Verlauf darbietet, um fo weniger achten wir 
auf ihn felbft ganz wie, wenn fidh dort die far- 
bigen Blumen drängen, die fchwimmende Blumen: 
Snfel dad Waffer verbirgt. Je feltner fie werden, 
befto fichtbarer werden die Wellen und der barrende 
Knabe Hagt daß der Bad) „nichts” mehr bringt, wenn 
ftatt der erwarteten Blumen der Bach nur fich felbft 
d. h. die Waffermaffe ihm darbietet. Gerade jo quält 
ed und, wenn die Zeittheilchen, welche zwifchen bie 
Gegenftände fallen und alfo leer find, fich mehren 
und außdehnen, jo daß uns iſt ald wenn „nichts“ 
mehr gejchieht; wir Haben dann Langeweile deren 
natofter Ausdrud der Wunſch der Kinder ift: ach 
möchte doch Etwas gefchehn! ganz wie jener Knabe 
fagte: ach möchte doch wieder Etwas (d. h. eine 
Blume) kommen. Langeweile ift aljo ganz was dort 
das Sehen ded bloßen Waſſers, und wenn id) fage, 
je mehr Waffer um fo mehr Langeweile, fo werde 
ich ficher alle die auf meiner Seite haben, die jemals 
wäßrige Reden gehört haben, in denen nur felten 
das Blümchen eined neuen Gedankens hervortauchte. 
Ja ich möchte den Vergleich mit dem Walbbach noch 





— MN — 


weiter auddehnen: Regengüffe ließen ihn anfchwellen 
und führten von allen Seiten ein ſchmutzig graues 
Wafſer ihm zu, er wird zum Fluß, er wird zum ra- 
fenden Strom, da erreicht er die Höhe wo die zwin- 
genden Dämme nachgeben, er durchbricht fie und ein 
ungeheurer See ift da, in dem der Strom felbft un- 
fichtbar wird weil, fo fcheint ed, die Waſſer ihn jelbft 
yerichlangen. In allen Beziehungen gleicht ihm die 
Zangeweile, auch ihr Colorit ift ein gräuliches Gräu: 
ich wie feines, auch fie kann zur rafenditen Langen: 
weile werden wie Mancher erfahren, glüdlicher Weife 
aber bat aud) fie wie jener Strom ein Maaß, denn 
ift ein gewiſſer Punkt erreicht jo hört Alles auf be- 
merkbar zu jeyn, darum auch Die leere Zeit, indem 
der Menſch alles Bewußtſeyn verliert, hat die Lange⸗ 
weile fich felbft verzehrt wie dort den Strom feine 
Zluthen; an die Stelle ihred Grau ift dad Schwarz 
der Bewußtlofigkeit, der Schlaf, getreten. — Sollte 
die Behauptung richtig feyn, dab Die Langeweile nur 
im Bemerken der leeren Zeit befteht, jo wäre ed 
nicht glaublich, daß diefer Zuftand ifolirt da ftünde. 
Denn ba die Zeit zu ihrem Zwillingäbruder das gleich 
räthielhafte Weſen hat, dad wir Raum nennen, fo 
wäre es feltfam, wenn es nicht einen Zuftand gäbe 
quälend wie die Langeweile, der im Bemerken des 
leeren, bloßen, Raumes beitünde. Der KuttsmU | v 


— 238 — 


es wirklich ein folches Seitenftüd zur Langenweile 
gibt, fpricht offenbar für unfere Theſis, ed tft — 
der Schwindel. Er entjteht da, wo ſich die Gegen- 
ftände im Raum der Wahrnehmung entziehn und 
anftatt ihrer Die bloße Räumlichkeit wahrgenommen 
wird. Darum erregt ed Schwindel, wenn wir tm 
Mittelpunkte und umgebender Gegenftände, oder wenn 
fie um und gedreht werden: wie beim fchnellen 
Dreben der Farbenjcheibe das Grau d. h. die Unfarbe 
entiteht, fo bier dad Grau der Geftaltlofigfeit, weil 
alle beftimmte Geftaltung und Gegenftändlichkeit ver- 
ſchwimmt und ſchwindet. Ähnlich erflärt ſich der 
Schwindel auf Höhen. Im Zimmer des Thürmers, 
und ſey der Thurm noch ſo hoch, empfindet man ihn 
nicht, die Wände und die umgebenden Gegenſtände 
fixiren den Blick; jetzt denke man ſich die Wände fort, 
denke ſich den Fußboden immer mehr ſich verengend, 
wir ftchn nicht mehr auf einem ſolchen, wir ſtehn 
anf einem fchmalen Brett, jet nur auf einem fein 
gefpannten Draht in Thurmeshöhe, jet verkürze fich 
diefer Draht: wir ftehn nur noch auf einer Nabel: 
fpiße, jo daß wir nichts mehr ſehen was unfere Füße 
ſtützt, jetzt denke man ich auch diefe Nadelfpige weg: 
genommen — bei der bloßen Boritellung kann une 
Schwindel anwandeln, weil wir in und hervorbrachten 
was ihn bewirkt, die Auſchauung ber Leere. über 





— 2779 — 


dem Abgrunde des Nichts zu ſchweben muß das Maris 
mum des Schwindeld jeyn, welches dem Punfte nahe 
ftünde, wo die Sinne vergehn, denn auch hierin zeigt 
fich der Schwindel als Gejchwijterfind der Rangen- 
weile, daß beide aus ihrem Grau in das Schwarz 
der Bewußtlofigkeit übergehn Fünnen. Die Zuſammen⸗ 
gebörigfeit beider Zuftände, Die es erklärlich macht, 
daß man die Yangeweile ein Gefühl innerer Xeere 
nennt oder auch jagt: vor Langerweile drehte fich 
alles vor mir, dieſe hat übrigens der praftifche Mens 
fchenverftand längft geahndet, und lange ehe der 
geiftreiche Markus Herz in feinem Buche vom Schwin⸗ 
del faſt wider Willen auf die Laugeweile fam, haben 
Ammen und Kinderinägde den Kindern einförmige 
wenig modulirte Weifen vorgefungen und zugleich 
fie gefchaufelt, d. h. gleichzeitig fie gelangweilt und 
ſchwindlig gemacht, Beides um den einen Effeft der 
Bewußtloſigkeit hervorzubringen. 

In der Rangenweile madyt fich aljo die bloße Zeit 
wahrnehmbar. Mit diefen Cab aber gerathen wir 
in Gefahr gegen den alten Grundſatz zu verjtoßen, 
daß Nichts keinen Effect habe. Denn die Zeit allein, 
ift fie Etwas? Wir müffen es verneinen, und dürfen 
es trog unfrer Behauptung, dab wir die Zeit den 
Fluß nannten, in dem wir die Dinge wahrnehmen. 
Wir Sprechen ja auch vom Waſſer im Tinte, En 


_ 30 — 


die Kugel im Rollen, den Stein im Fallen, die Tän: 
zerin in der Pirouette, ohne dag daraus folgt, daß 
wenn nun das Waffer, die Kugel, der Stein, bie 
Tänzerin verfchwände, Der Fluß, dad Rollen, das 
allen, die Pironette bliebe und für fid, Etwas wäre. 
Die Zeit ift nichts Anders als ſolches Fließen, Rollen, 
Zallen, Pirouettiren, eben darum aber auch Nichte 
ohne die, welche pirouettiren und fallen. — Wie aber? 
Die leere Zeit foll Nichts feyn, und doch follen wir 
fie bemerken in der Langenmweile? Das tft ja ganz 
wie jener Schullehrer in den fliegenden Blättern, 
welcher jagt: ich bemerke abermals fehr Biele, die 
niht da find. Warum nit? Wer weis ob nicht 
Jeder, der fich Iangweilt wirklich ganz in der Lage 
jenes Schullehrers fich befindet? Eins wird man nem: 
ih dem armen Schelm gewiß zugeben: Daß an Dem 
was er fagt Etwas dran ift. Wenn er auch nicht 
die Abweſenden fieht, fo bemerkt er doch daß heute 
nicht, wie fonft doch, die befannten pausbäckigen 
Gefichter ihm die Schultifche unfichtbar machen, er 
bemerkt alfo und fühlt einen Mangel. Gerade fo ift 
Die Langeweile ein Gefühl des Mangeld, wir ver- 
miſſen Intereffantes, und dies heißt eigentlich nur: 
wir bemerken unfer eignes Nicht-Intereffirt feyn. — 
Was beißt aber eigentlich Intereſſirt feyn und Inte 
reffelofigfeit? Es ift durchaus kein Zufall, wenn wir 





— 281 — 


durch die reflexive Form Sich intereſſiren, daß einer 
fein Interefſe findet, als ſeine Selbſtthätigkeit be- 
zeichnen. Intereſſe iſt wirklich, was es urſprünglich 
auch heißt, dabei⸗ oder darunter⸗ſeyn, unſer Intereſſe 
an einem Gegenſtande beſteht nämlich darin, daß 
wir und ihm hingeben und von ihm ganz im dem⸗ 
felben Sinne fagen können, „ich bin dabei”, wie wir 
ed jagen wenn und ein Borjchlag gemacht wurde. 
Sp wenig Einer von feinen Freunden gezwungen 
werden Tann, bei einer Iuitigen Partie „Dabei“ zu 
feyn — nähmen fie ihn mit Gewalt mit, fo würden 
fie bald bemerken, daß er „abweſend“ ift — eben fo 
wenig kann ed ein Gegenftand erzwingen, daß man 
fich für ihn intereffire, dazu gehört der gute Wille 
defien, der ed thut. Jener Thierfchädel im Walde, 
vor dem ein genialer Naturforfcher in Intereſſe ver: 
funfen fteht, ift an fich ganz unintereffant und dem 
vorübergehenden Förſter- oder Handwerk: Burfchen 
verübelt eö Niemand, weun er jagt: „da liegt der 
Yangweilige Knochen nody immer.“ Der Forſcher 
fpricht nicht fo, denn Die längit gehegte Ahndung 
eines allgemeinen Naturgeſetzes wird ihm Durch einen, 
fonft unfichtbaren, Spalt an diefem Schädel beftätigt, 
er ſieht alfo in der Schädelform Vernunft, und wie 
ſollte er nicht jebt an dem woran der Handwerks: 
burſche Nichts oder einen bloden Kuauen ÜÜU Nr 


— 232 — 


follte er nicht daran fein Intereffe, d. h. fein eigenes 
dabei: und darin-ſeyn finden, da er felbit ja Nichts 
feyn will als Vernunft, und Vernunft wirklich in dem 
Schädel fichtbar ift, und aus demſelben herand zu 
ihm redet? Man fagt von jenen Sorfcher, Daß er 
den Schädel mit Geift betrachtet, weil ed Die De: 
ftimmung des Geiftes tft, nirgends wie in Der Fremde, 
überall heimisch d. h. dabei und zu Haufe zu feyn, 
fich in Alles d. 5. in Allem fich, oder ihın verwandtes 
MWefen, zu finden. Sit aber ſolches Dabeifeyn Ins 
tereffe, fo iſt Intereffe-haben auch Geift zeigen, und 
begreiflicher Wetfe nennt man den einen Mann von 
Geiſt oder von Kopf, der es vermag im Selbſtge⸗ 
fpräch oder im Gefpräche mit Andern Allem Ins 
terefje abzugewinnen, umgefehrt aber nennen wir den 
befchränft, oder auch einen Idioten, der fo wenig 
im Stande ift aus den Schranfen des eignen Mei: 
nend heranszukommen, daß er unfähig ift, „Dabei“ 
zu jeyn, wenn ihn eine partie — nicht de plaisir 
fondern, was viel luſtiger ift, de raison — ange⸗ 
boten wird. — Fragen wir aber nun, indem wir zu 
unſerm Gegenſtande zurüdfehren, zu weldien von 
jenen Beiden der zu ftellen fey, der jich Iangweilt, 
ſo bleibt und feine Wahl: War es ein VBerdienft 
Intereffe zu finden, weil man wirklich ſich intereffirt, 
Jo iſt auch die Langeweile nur eigne Schuld und 





— 283 — 


nicht ohne Grund iſt wie s’interesser fo auch s’ennuyer 
ein verbe röflechi. Man braucht darum nicht mit 
Kant zu behanpten, daß die Zeit nur in ung jelbft 
tft, und wird dennoch jagen können: wer bie bloße 
Zeit wahrnimmt, bemerft nur feinen eiguen Zuftand, 
einen Zuftand der mit Recht als innre Leere bezeichnet 
wird; ald innre weil er in und liegt, ald Xeere weil 
er Kopf: und Geiſtes-leer ift, fo daß wenn oben ges 
fagt ward, dem Gelangweilten gehe es fo, wie jenem 
armen Schullehrer, wir jetzt Hinzufügen müffen: er 
tft auch nicht geiftreicher als jener. — Wie das 
Intereſſe Geift verrieth, fo die Langeweile 
den leeren Kopf. Da nun aber in allem Übrigen 
Kopf und Herz nicht zwei von einander getrennte 
Beſitzthümer des Menfchen find, fondern vielmehr fo 
zuſammen gehören, wie die concave und convere Seite 
eined Kreiöbogend, fo fragt ſichs, ob nicht auch bie 
Langeweile neben ihrer intellectuellen Seite auch eine 
habe, welche die Geſinnung betrifft? Der Franzofe 
bejaht dies indem fein ennui auch einen Herzenszu⸗ 
ftand bezeichnet. Indirect weift der deutſche Sprach: 
gebrauch eben dahin, indem das Gegentheil der Lan⸗ 
genweile, das Interreffirtfeyn, eben jo wohl eine 
intelleetuelle Anregung andeutet, als auch Die begins 
nende Liebe. In diefer Zufanmenftellung der eriten 
Anfänge des Erkennens und der Liebe hat der Ey 


— 284 — 


gebrauch nicht nur den tiefſinnigen Philoſophen auf 
ſeiner Seite, der das Erkennen eine intellectuelle Liebe 
nannte, nicht nur die Erfahrung des Forſchers, der 
nur den Gegenſtand zu begreifen vermag, den er 
mit Liebe betrachtet, ſondern das Zeugniß Aller, die 
es erfuhren, daß zwei Herzen ſich nur verſtehn, wo 
ſie ſich lieben, nur lieben wo ſie ſich verſtehn. Ver⸗ 
hält ſich aber Kopf und Herz wie Intereſſe finden 
und Intereſſe nehmen, ſo hat die Intereſſeloſigkeit 
oder Langeweile viel mehr mit dem Herzen zu thun, 
als Viele meinen. Wofür man ein Herz hat, und 
dem man ſich liebend hingiebt, das langweilt nicht. 
Umgekehrt aber, je mehr Einer ſein Herz verſchließt, 
und anſtatt liebend Allem ſich hinzugeben, ſich auf 
ſich beſchränkt, um jo mehr wird die Langeweile ber: 
vortreten. Daffelbe fich auf ſich Beichränfen, welches 
den Spdioten oder beichränkten Kopf machte, ift, von 
feiner Gemütbsfeite angefehn das, was dad Wefen 
des Egotften macht mit feinem engen Herzen, welches 
fo wenig faßt, daß ed eben darum ich ſtets leer und 
einfam fühlt. Died quälende Gefühl des Alleinfeyne, 
das die meiften Egoiften ald von der Umgebung ver: 
ſchuldet betrachten, Hinfichtlich deſſen Cinige ſich dazu 
erhoben, dat fie ed als Strafe ihres früheren Be: 
tragens anfehn, iſt — das aber ahndet Keiner — 
iſt ſelbſt der Egoiomus, darum fchwindet ed in dem 





— 285 — 


Augenblick, wo der Menſch mit Liebe auf die Welt 
blickt, weil ſie ſich dann, wie durch Zauber, mit 
Brüdern und Schweſtern bevölkert. Der ideenloſe 
Kopf klagt, daß nichts ihn intereſſire, und das kalte 
liebloſe Herz accompagnirt dazu mit der Klage, es 
ſey verlaſſen und einſam. Denkt man ſich Beides 
vereint, ſtellt man ſich einen Zuſtand vor, wo das 
erftarrte Herz klagt: „auf dieſer weiten Erde Nie: 
mand, Niemand“, und das ausgebrannte Hirn ver⸗ 
langend ruft: „ach nur eine Idee, nur einen neuen 
Gedanken“, ſo kann und ein Schauder überlaufen, 
bei der Vorſtellung dieſes völligen Alleinſeyns mit 
ſeiner tödtlichen und doch nicht tödtenden Langenweile. 
— Zeigt ſich aber in ihr neben dem leeren Kopf 
auch das liebloſe Herz, ſo iſt die gewöhnliche 
Art, in der Langenweile nur etwas Unangenehmes 
zu ſehn, ein Seitenſtück zu der ſogenannten Huma⸗ 
nität, die in dem Verbrecher nur einen armen Kranken 
ſieht, und die kaum anders unſchädlich zu machen tft, 
als dadurch, dag man fi) auf ihren Standpunkt 
ftellt, und nun das Gefängniß Charite nennt, den 
Strafeoder als Pharmacopee, den Richter ald Arzt 
bezeichnet, und die Hinrichtung bei Leibe nicht als 
Todesitrafe, fondern ald ein erprobte specificum 
gegen bie Mörderkrankheit empfiehlt. Wie dad Ders 
brechen noch etwas mehr iſt als An Rhenitum, 


— 286 — 


ſo iſt es auch mit der Langenweile eine ernſtere Sache, 
als die Meiſten im Sinne haben, wenn ſie ſagen: es 
wäre beſſer, man langweilte ſich nie. Nicht nur 
befſer wär' es, ſondern das allein Gute. Was vor 
geraumer Zeit in einem geiſtreichen Briefe mich frap⸗ 
pirte, ohne daß ich ſogleich Alles erkannte was in 
dieſen Worten liegt, daß was die Einen Satan und 
Teufel, Andere Ahriman, noch Andere Typhon nennen, 
daß dieſes Alles nur Eines fey, nämlich die Range 
weile, dies ift vollfommen richtig. Die Langeweile 
ift der wahre böfe Dämon, denn wer fich Iangweilt 
tft von dem Dämon ded Perfonalimus und Egois⸗ 
mus bejefjen, der ihn verhindert Anderes intereffant 
zu finden und zu lieben als fich, von dem Dämon, 
der fein Hirn verbrannte, fo daß er nicht mehr in 
den Gegenftänden fich, Vernunft, erkennt, ber fein 
Herz erfältete, daß ed nicht mehr vermag, in den 
Angelegenheiten Andrer Die eignen zu finden. Sn der 
That, wenn man fieht wie diefer Dämon nicht nur 
die Kinder unartig und toll macht, fondern wie er 
eben fo den Erwachfenen ein DBerjucher wird, der 
zu den Dummiten, ja zu den fehlechteften Streichen 
bringt, fo tft gar nicht zu begreifen, warum nicht 
öfter gegen die Langeweile gepredigt wird. Das 
Thema verdiente ed, ganz abgefehn von dem Vor⸗ 
Theil den es darbietet, daß man deu Zuhörern ind 





— 237 — 


Gewiffen fchieben könnte, fie dürften ſich nicht lang⸗ 
weilen. 

Gewiß war e3 nicht die Furcht, durch Predigten 
gegen die Langeweile alle Regeln traditioneller Ho» 
miletit zu verlegen, welche diefes Thema von dem 
Kanzeln verbannt hat, fondern die Anficht, daß der: 
gleichen Andeinanderfeßungen im Munde eines Geift- 
lichen unpaſſend feyen, oder auch die Furcht, daß fich 
Nupanwendungen ergeben möchten, die in feinem Zu: 
fammenhang ftünden mit den Angelegenheiten des 
Himmels. Beides it vielleicht nicht richtig. Das 
Erfte wohl gewiß nicht, denn wie follte gegen Leere 
des Geiſtes und Mangel an Liebe zu predigen, denen 
sicht ziemen, Die von dem Geifte ihren Namen führen, 
und nit Recht fich rühmen die Lehre der Liebe zu 
verkündigen? Aber auch das Zweite möchte ich be- 
Streiten, daß dergleichen Betrachtungen profan feyen, 
und ohne Bezichung auf die himmliſchen Angelegen- 
beiten. War es einmal gewagt, die Langeweile als 
Dad wahre Inferno zu bezeichnen, fo fcheint ſchon Die 
Conſequenz zu fordern, ihr-Gegentheil in der Region 
zu fuchen, Die Dante im dritten Theil feines Ge⸗ 
Dichtes fchildert. Wer ed thäte, müßte der Zuftim: 
mung aller derer gewiß; ſeyn, die und erzählen wie 
„hölliſch“ fie ſich gelangweilt, wie „himmliſch“ unter⸗ 
Halten hätten, und denen es nie eivöKK. Tee Wehr 


— 288 — 


drücke zu vertauſchen. Eine etwas zweideutige Auto⸗ 
rität für Jeden, der es weiß, daß der Gebrauch von 
Kraftworten gewöhnlich nicht mit der Stärke der 
Gedanken parallel gebt; glüdlicher Weiſe aber be- 
dürfen wir ihrer auch nicht, da dad biöher Gefun- 
dene binreicht, um ein wenig den Borhang zu Lüften, 
der und die himmlische Welt verbirgt. Die innere 
Leerheit, die Nichts wahrnehmen ließ als Zeit und 
Vergänglichkeit, fie verfchwand in den Mache, ald 
der Menfch fich intereffirt, d. h. als er in dad Weſen 
der Gegenſtände eindringt, und fie liebend umfaßt. 
Sept fteigere man Beides in Gedanken bis zur Idee 
des vollendeten Menſchen, ded Seeligen oder Heiligen, 
verjuche man noch höher fich zu erheben, und denfe 
ein Wefen, deffen Einficht ein Alles durchſchauendes 
Verſtändniß ift, bei dem die Stelle des Intereſſes, 
der anfangenden Liebe, die Fülle der Liebe vertritt, 
und man wird einfehn, man wird wenigftens ahnden, 
was ed fir eine Bewandtnii hat damit, dag es für 
Gott und daß ed für die Seligen feine Zeit 
gebe. Wie oft hört man: bei diefen Worten denke 
fid Niemand Etwad. Dad Wort Niemand (mit dem 
man überhaupt etwas jparfamer jeyn follte) fagt hier 
zu viel. Denfe man fi) nur eine Mutter, welche- 
den Erzählungen des eben aud der Fremde zurüdge- 
fehrten Sohnes lauſcht, die fich nicht fatt Hören kann, 





— 2399 — 


daß er in Freuden und Leiden ſtets ihrer gedacht 
hat, die ganz erſtaunt ſchon Mitternacht fchlagen 
hört, da ihr die Stunden wie Minuten verlaufen 
find, — denke man, diefe Mutter hörte in diefem 
Augenblide dad Wort: „bei Gott find Taufend Sabre 
wie Ein Tag“, — ich glaube fie würde fich bet dieſem 
Worte fehr viel denken, und in diefem Augenblide 
würde es ihr gar nicht unverftändlich ſeyn. Und fo 
. möchte die Liebe, die Löferin fo vieler Räthfel, weil 

fie dad Ur: Rätbfel offenbart, wie Zweit Eins ſeyn 
können, fie möchte fich auch ald der Näthfel löſende 
Metaphyſiker erweifen in den Fragen nad) Zeit umd 
Ewigkeit! Wer es je erfuhr, wie ald er liebte fein 
Blick Alles verfchönte — der Sonne gleich, die, wenn 
ihre Strahlen wirklich dad wären, wie wir fie oft 
nennen: DBlide, nie einen dunklen Punkt erbfiden 
könnte, weil ihr Erblicken Erleuchten wäre — wer 
dies an feiner fchwachen Liebe erfuhr, wie follte der 
es abfolut umverftändlich finden, daß es für bie 
unendliche Liebe feinen Raum (d. h. Feine Leere) gibt, 
weil, wo fie hinblidt, fie Alles mit ihren Kindern 
bevölkert, und feine Zeit und Vergänglichkeit, weil, 
fie ftets beſchäftigt ift, und Alles „befeitigt mit ewigen 
Gedanken.” Und fo muß ich am Ende felbft jenen 
Kraftausdrüden, von denen ich vorhin Nichts wiffen 
wollte, zugeftehn, daf ihnen eine Ahndung des Wobe 

W 


ren zu Grunde liegt: wie bie Geifted- und Herzens— 
Leere Hölle, fo ift Liebesfülle himmliſche Geligfeit. 
Wer mir aber fagen wollte, daß ich frevelhafter 
Weiſe Gott vermenfchliche, oder aber ich ſey frivol, 
da ich Seligfeit und Amüſement verwechöle, für ben 
habe ich meine Antwort bereit. Auf Das Erſte er 
widere ih, daß dad Entmenſchlichen Gottes zuerſt 
die Vorftelung eined unmenſchlichen Gottes hervor: 
gebracht, dann die Menfchen gottlos gemacht hat, 
auf dad Zweite aber, daß wenn ein franzöliicher 
rou6 in einem fittlichen deutjchen Haufe ein Geſpräch 
über die Herrlichkeit der Xiebe angehört hat, und num 
jagt, ed fey von amours und distractions, furz von 
frivolitös die Rede gewefen, der Grund folched Ber: 
ftändniffes vielleicht nicht in denen liegt, die Dad Ge- 
fpräch führten. 

Nach einer fo ftrengen, vielleicht ultra =rigorijti- 
{chen Beurtheilung der Rangenweile, wird wohl Nichts 
weniger erwartet werden ald eine Apologie Derjelben. 
Und doch — troß Dem, daß ed mir ſchwer wird den 
Wink nicht felbft zu befolgen, den ich dem etwanigen 
Prediger über die Langeweile gab — doch wird mir 
eine jolche advocatura Diaboli aufgedrungen, nicht 
nur Durch die Gerechtigkeit, die fogar diefem Ange: 
Hagten einen Defenfor bewilligt, jondern durch die 
Gewalt von Thatfachen, die Keiner leugnen kann, 





— 9 — 


und welche zu beweifen ſcheinen, daß es mit der 
Langenweile nicht nur eine furchtbare, ſondern auch 
eine recht hübſche Sache ſey. Zunächft frappirt das 
Sactum, daß die bloßen Naturweſen, die Thiere — 
ich ſpreche nur von den wilden, da die Hausthiere 
halbe Kunſtproducte und mit vielem Menſchlichen 
inficirt ſind — alſo daß die Thiere die Langeweile 
nicht kennen, ſondern entweder beſchäftigt ſind oder 
ſchiafen, alfo im erſtern Falle ſich noch nicht, im 
zweiten Falle nicht mehr, Iangweilen. Das ſcheint zu 
beweifen, daß zu ben Unterfcheibungägeichen zwiſchen 
Menſch und Thier, ald welches die Einen die Ver: 
munft, die Andern, denen bied zu geringfügig ſchien, 
dieſes anfehn, baf ber Menſch dochen kann, noch ein 
neues hinzugefügt werben Tann: die Fähigkeit näm ⸗ 
Kid), ſich zu langweilen. Sid langweilen ift 
menfhlid. Damit allein wäre freilich noch lange 
nicht der infernale Character aufgewogen, denn es 
könnte dies nur ein Beweis mehr ſeyn, daß der 
Menſch nur über oder unter dem Thiere ſtehen kann, 
nie auf einer Linie mit ihm, das Feine Hölle Tem, 
freilich aud) feinen Himmel. Aber ein nod viel 
beſſeres Vorurtheil für die Langeweile erregt der Um- 
ftand, daß fie bei dem Menfchen im unvolllommneren 
Zuftande nicht, im vollfommneren wohl vorkommt. 
Das neugeborne Kind hat Feine. wo Anl U 
“8” 


— 292 — 


— feine einzige Arbeit ift Eſſen — da jchläft e 
Annäherungsweife Gleiched findet Statt beim Me 
{chen der dem Naturzuftande nahe. Auch dieſer unte 
Hält fich, indem er arbeitet, freilich im Schwei 
feines Angefichtö, weil er nicht mehr, wie das Kin 
in dem Lande der Verheißung lebt, wo die füße Na 
rung ihm zuſtrömt; hört die Unterhaltung der Arbı 
auf, To fchläft er ein, und um zu fehn, daß bi 
das Natürliche iſt, bat man nicht nöthig, zu Hotte 
totten oder Auftralnegern zu gehn; wer den Niem 
oder gar die Düna überfchreitet, wird jehn, wie d 
Bauer dort, nachdem die Werktage vorüber, di 
Biertheile ded Sonntags verjchläft, nicht weil er fü 
wie der verfünitelte englifche Sabrikarbeiter, für ein 
Sirpence künſtliche Bemußtlofigkeit fchafft, jonde 
weil die Rangeweile ein jo unnatürlicher Zuftand i 
daß, wo jie jich bei dem Naturmenichen einftellt, fe 
Tchnell der Punkt erreicht ift, wo der Strom I 
Dämme durchbricht und ſich felbft verichlingt. We 
alfo vorhin gejagt wurde, daß bei dem vollendet 
Menſchen die Langeweile nicht mehr vorkommen fan 
fo zeigen diefe Erfahrungen, daß fie bei dem anfa 
genden Menjchen gleichfalls fehlt, freilich dort, w. 
der Menſch ſich zu unterhalten weiß, bier, weil 
unterhalten wird von feiner Arbeit oder von fein 
Eltern, die den amüftren, der ſich zu beluftigen no 





— 203 — 


nicht vermag. Wie von jedem andern Weſen, ſo 
ſagen wir auch von dem Menſchen, wo er ſich zwiſchen 
dem Anfangs: und dem Vollendungspunkte befindet, 
er ſey in feiner Bildung begriffen. Findet nun aber 
Bloß in dieſer Zwiſchenperiode bie Langeweile Terrain, 
fo werben wir nicht nur denen Recht geben, welche 
fagen, es verrathe Bildung, wenn man fi mit guter 
Manier zu langweilen wiffe, ſondern wir werben viel 
weiter gehn müffen: Ob ed wit guter ober ſchlechter 
Manier gefchteht, das macht hier feinen Unterfchied, 
das ſich Sangweilen überhaupt, die Langeweile an 
fig), iſt Begleiterin ber Bildung. Und zwar begleitet 
fie die Bildung nicht fo, wie dad Regenwetter bie 
Jahrmartte begleiten fol, rein zufällig, auch nicht 
wie der Schatten bad Licht ald ein mit ihm verbun- 
denes Gegentheil, ſondern fie verhalten ſich mie Licht 
und Glanz: fi Langweilen ift Bildung. Den 
Beweis für dieſen Satz liefert wieber ber Ehren: 
mann, dem wir heute ſchon manche Belehrung ver- 
danken, der Schullehrer, der fo Diele bemerkt bie 
nicht da find. Welchen Eindrud mag diefe Bemer- 
fung wohl auf jenen Meinen Knaben madjen, ber 
Heute zum erften Male in ber Schule ſiht, ber fich 
gewunbert Hat über bie neuen Umgebungen, und über 
die vielen fremben Gefichter, und welcher fieht, DaB 
dem Lehrer alles daB nicht Ampaniet, Ya Tg er un 


— 294 — 


mehr Knabengeſichter erwartet hat? Gewiß wird ihm 
er ſelbſt als der Unerfahrene vorkommen, der Lehrer 
aber als Einer, der an Erfahrung ihm weit überlegen 
iſt. Nun, in der Lage jenes Neulings in der Schule 
befindet ſich Jeder, den die Gegenſtäude unterhalten, 
weil ſie ihm neu ſind, ſo wie jener Lehrer aber iſt 
der, welchen alles dieſes langweilt, weil es ihm längſt 
bekannt, weil Alles längſt dageweſen iſt. Je weniger 
er Erfahrung hätte, je weniger er bekannt wäre mit 
den Gegenſtänden, um ſo mehr würden ſie auch ihn, 
ala neu, unterhalten, je unterrichteter er iſt, defto 
weniger findet Jenes ftatt und deſto mehr langweilen 
fie ihn. Wenn aber fo fein Yangeweilehaben das 
Maaß tft für fein Erfahren: und Unterrichtet-feyn, 
fo ift ed faum ein Wunder, wenn der, welcher ſich 
fangweilt bei dem was Andere unterhält, in feinen, 
ja felbft in ihren Angen einen höhern Werth erhält. 
Überall inponirt, der ſich langweilt, denen die ed 
nicht thun. Hier fißen einfache Bürgersleute an einem 
öffentlichen Ort, Fannegießern und unterhalten fich 
vortrefflih. Auf ein Mal wird es ftill, Einer nach 
dem Andern fucht nach feinem Hut. Alles um jenes 
Fremden willen, der zuerft fie gar nicht ftörte, der - 
aber jet deutlich zeigt, daß er fich Iangweilt, und 
ihnen dadurch den Gedanken aufdrängt, er verftehe 
Dad Alles beffer, und es fey eigentlich Eindifch, ſich 





mit Etwas zır unterhalten worüber Jener längft hin⸗ 
aus tit. Der Fremde hat ihnen das Spiel verborben, 
und dennoch fönnen fie ſich einer gewiffen Ehrfurcht 
nicht erwehren, und Mancher wird feiner Frau er: 
zählen, der Fremde fey ein vornehmer Herr gewefen. 
Woher weiß er da8? Er ſah ihn fich langweilen. — 
Aber ift ed wohl in anderen Kreifen anders ald dort, 
wo der Kleinbürger fannegießert? In heiterer Geſell⸗ 
ſchaft werden Anecdoten erzählt, Wiße gemacht, Muſik 
getrieben und Alles geht vortreffih. Warum fängt 
ed an zu jtoden, warum fieht man, ehe man über 
eine luſtige Gefchichte lacht, verlegen auf jenen Einen, 
warum verfagt dem Witzling feine Zunge, und ber 
jungen Dame, die doch fo hübfch fang, ihre Stimme 
wenn fie auf jenen Einen bliden? Weil auf feinem 
gelangweilten Antlig Tejerlich gejchrieben fteht: wie 
kann man fi) damit amüfiren? und weil unwillkühr⸗ 
lich jest Seder glaubt, diefe Geſchichten jeyen ihm 
alle befannt, und man müſſe fich ſchämen fie neu zu 
finden, weil der Wigbold zu fürchten anfängt, ber 
Gelangweilte habe beffere Witze gehört oder gemacht, 
und dem jungen Mädchen die furdhtbare Ahndung 
kommt, Sener habe alle ihre Lieder von der ſchwe⸗ 
diichen Nachtigall gehört. So beugt ſich Alles vor 
ihm, und doch tft der einzige Nechtötitel unter dem 
er ſolche Supertorität in Aniyead ut, TUE 


— 2% — 


von Allen rejpectirt wird, nur der, daß er fich lang» 
weil. Wir haben darum gar feinen Grund darüber 
zu lachen, daß jener Bürger auf den vornehmen Stand 
jenes Fremden ſchloß, wie Das fich Langweilen Prä- 
zogative des Menfchen war, wie ed Bildung verrieth, 
fo hat ed endlich wirklich etwas Vornehmes. 
Unfere Anflage gegen und unfer Plaidoyer für 
die Langeweile ergibt aljo das Refultat, daß das Ur: 
theil über fie von dem Standpunkte des Beurthei- 
Ienden abhängt. Was verdammlich erjchien, ja als 
die Verdammniß felbft, wenn man ed maß an dem 
vollendeten Menfchen, erfreute fich einer viel huma⸗ 
neren Behandlung, wenn e3 verglichen ward mit dem 
Anfangspunkte menjchlicher Entwidelung. Wir mußten 
ed erklärlich finden, wenn Einer vornehm fich brüftet, 
weil er jagen kann: „wie kann man ſich Dabei amü- 
firen“, obgleich er die Antwort jchuldig bleiben möchte, 
wenn ein noch Vornehmerer ihm fagte: „Wie kann 
ein Mann von Geift ſich jemals nicht unterhalten?” 
Es ift mit der Langenweile wie mit dem, der auf 
einer mittleren Höhe fteht: vom Golf von Neapel 
angejehn, erfcheint das Zort von St. Elmo hoch, ja 
unerfteiglih, aus dem Garten von Camaldoli fieht 
man es tief unter fich und es jcheint flach zu liegen. 
Sreilih um in dad Camalboli geiftiger Vollendung 
Dineinzulommen, bazu bedürfen Alle — int irdifchen 





— 297 — 


&amaldoli bekanntlich nur die Frauen — eines höhern 

Dispenfed. Hinfichtlich deflen, wad von ber Lan⸗ 
genweile überhaupt gilt, kann es einen Unterfchieb 
machen, ob fie ald vorübergehende Stimmung, ob 
ala habitueller das ganze Leben beberrfchender Zuftand 
erſcheint. Das Lebtere findet nur Statt bei denen, 
die man früher die Zerrifienen, heut zu Tage bie 
Blafirten nennt. Der blafirte Menfch, in dem ber 
Spiritus verflog und nur dad Phlegma blieb, der, 
weil der perlende Schaum des Lebens verichwand, 
mit Recht emousse genannt wird, den man fo oft 
mit dem auögebrannten Bulcan verglichen hat, daß 
der Bergleich altmodiſch geworden ift, der zerriffene 
. oder blafirte Menfch ift der Birtuod in der Langen— 
weile, und ich finde ed natürlich, daß George Sand, 
wenn fie ihren Jacques oder ihren Voyageur fprechen 
laßt, ftetd von dem Ennui redet, von dem fie be- 
feffen find. Wie jchon die vorübergehende Langeweile 
ein vornehmes Air gab, fo natürlicd) noch mehr das 
Blafirtfeyn. Wenn Alfred de Muffet feinen Sohn 
des neunzehnten Sahrhunderts fo zerriffen darftellt, 
daß ich für ihn kaum einen andern Beftimmungdort 
ald die Papiermühle wüßte, fo hat er das Gefühl, 
eine vornehme Natur zu fchildern, und der Blafirtefte 
unter den Poeten und Poetifchite unter den Blafirten 
ift „jeder Zoll ein Lord.” Mit der sungen Sir 


— 1 — 


Inng aber, die der Zerriffene in Anfpruch nimmt, 
und die ihm auch pflegt eingeräumt zu werden, ftreitet 
nicht, daß geſunde Naturen ſich abgeftoßen fühlen, 
ja daß oft beide Gefühle der Erfurcht und des Ent: 
feßend gerade fo in einem Herzen fich beifammen 
finden, wie bei dem Kinde, wenn ed eine graufen: 
hafte Gefchichte anhört und nun angftooll bittet, man 
folle, und man ſolle nicht weiter erzählen. Staunend 
und von Ehrfurcht erfüllt werden vor einem folchen 
de Muffetfchen Heros Naturen ftehn wie eine petite 
ouvriere, die flinf mit der Nadel und flinfer im Tanz 
ein eben führt, das nichts tft ala Champagnerfchaum; 
— grand mousseux, darum imponirt ihr Nichte fo 
fehr wie ein homme Emousse — angewidert werben 
durch ihn feyn Die es willen, daß der Menich fich 
intereffiren foll, daß er verpflichtet ift, erfennend und 
ltebend Alles zu umfaffen; endlich angezogen und ab- 
geitoßen zugleich Die ahndungsvollen Engel, welche 
befchämt fühlen, daß ihr natürlicher Unfchuldäzu- 
ftand unreif ift, zugleich aber auch, daß in dem Zer⸗ 
riffenen fich die Unnatur der Schuld firirt hat, und 
die fo die Doppelte Gewalt erfahren, die Das Kains⸗ 
zeichen der Bildung ausübt, welche der Blafirte im 
Antlig trägt. Es iſt ein Kaindzeichen, denn das 
Blaſirtſeyn iſt infernal, es tft dad Zeichen der Bil- 
dung, denn dad Zerrifienfeyn tft vornehm, wie die 





— 299 — 


Langeweile in der es beſteht. — Daraus alſo, daß 
das Terrain, auf dem der Gelangweilte und Blaſirte 
fteht, eine Mittelregion bildet, ließ fich erklären warum 
der Eine es hoch, der Andere es tief ftellte. Ebenſo 
aber läßt fich nun umgekehrt aus den verfchtedenen 
Urtheilen, Die über jene Erſcheinungen gefällt werben, 
auf den Standpunkt zurüdfchliegen, auf welchem ber 
Vrtheilende ſteht, und Died kann ein praftifches In⸗ 
tereffe für und haben, indem nicht geleugnet werden 
kann, daß in unferer Zeit die Blafirten im Cours: 
zettel der Achtung anders notirt find als früher. Es 
gab eine Zeit, wo Naturen wie George Sand’3 ac: 
ques oder wie Waller in der Gräfin Dolores, wie 
Roquairol in Sean Pauls Titan überall Bewunde⸗ 
rung erregten, und man braucht noch nicht fehr alt 
zu feyn um es erlebt zu haben, daß, wie heut zu 
Tage auf ein Inftrument fo damald auf Zerriffenheit 
geretft wurde. aftfrei öffneten die Männer ihm 
das Haus, denn die Stätte, die ein Zerriffener betrat, 
fie war geweiht; fo die Männer und die Srauen 
blieben nicht zurück: manches unfchuldige Herz, dem 
der Zerriffene den Abgrund des feinigen auffchloß, 
fchauderte vor der bodenlofen Tiefe, weinte iiber den 
Abbadonna, vielleicht mit der ftillen Hoffnung, fein 
rettender Engel zu werden. Die Zeiten haben. jich 
geändert. Was die gaftfreien Männer hetttit, W 


— 350 — 


möchte ich Jedem der fremde Länder bereift, rathen, 
ftatt der Zerriffenheit einen guten Creditbrief mitzu- 
nehmen, und binfichtlich der Frauen haben tiefer Ein- 
geweihte ald ich, mir gefagt, ihr Urtheil über Männer 
babe ſich ziemlich ind Gleichgewicht gefebt mit dem 
über Kleider, — nicht jo, ald wenn fie immer neue 
wollten, fondern ein ganzer Mann foll ihnen lieber 
feyn ald ein Dutzend zerriffener. Verbürgen kann ich 
ed nicht, aber ich bin fo berichtet. Diefe Verände— 
rung nun, muß fie und nicht mit Stolz erfüllen hin⸗ 
fichtlich unferer Zeit, denn daß die Blafirten und 
nicht mehr jo imponiren wie früher, fcheint doch Har 
zu beweifen, daß unfere Zeit auf einem höhern Stand⸗ 
punkt fteht ald fie. Leider nicht ohne Weiteres. Ge: 
wiß bat, wer den höhern Berg erftieg, nicht mehr 
nöthig hinaufzubliden, wenn er den gewahren will, 
der auf dem Hügel fteht, aber auch der hat es nicht 
mehr nöthig, Der fich zu ihm gefellt, und mit ihm 
auf einem Niveau fteht. Wenn darum unferm Stolz, 
dag wir die Blafirten und Zerriffenen nicht mehr fo 
achten wie unfere Bäter, der Skeptiker antworten 
wollte: dad kommt daher, dab in eurer Väter Zeit, 
ald die erften Zerriffenen auftraten, ed der ganzen 
Männer viele gab, die Zerriffenen alfo die Ausnahme 
bildeten, während Ihr in ihnen nur Eures Gleichen, 
nichts Befondered, ſeht — ſo iſt Die Möglichkeit, daß 





— 01 — 


er Recht babe, nicht zu leugnen. Und wenn meiner 
freudigen Behauptung, heut zu Tage werde eine aus» 
gebrannte Jacques-Natur bei unjern rauen fein 
Glück machen, derfelbe Steptifer Die entgegenftellen 
wollte, died habe jeinen Grund darin, daß in unferer 
Zeit die Neulingäherzen, wie Fernande jelten, Dagegen 
die Naturen wie Lelia, die wegen ihrer Gleichheit 
mit ihm einen Jacques nicht hätte lieben Fönnen, 
häufig geworden feyen, — fo würde ich mich zwar 
empört von den Verläumder abwenden, aber um 
ihn zu widerlegen, dazu würde die Empörung nicht 
ausreichen, dazu bedürfte ed einer befondern Unter: 
fuchung über den Punkt, auf welchen unfere Zeit 
fteht. Es ift gewiß, fie ftaunt das Blafirtfeyn nicht 
mehr an, wie ein furchtiamer Bewohner des Flach⸗ 
landes den, welcher den Aſchenkegel des Veſuv beftieg, 
e3 fragt fich aber, wie tft fie Dazu gelommen, den 
Reſpekt Davor zu verlieren? Geſchah es fo, daß ſie 
auf den Veſuv der Blafirten ihnen nachkroch, oder 
wie Anancher bequeme Reifende thut, ſich nachtragen 
ließ und nun mit ihnen diefelben erftidenden Schwefel- 
dämpfe einathmet? Oder aber hat fie, als ein Fühner 
Bergſteiger, den Monte St. Angelo erftiegen, ath: 
met fie hier reine Luft und ſieht mit einem Gefühle, 
dad dem Namen ihres Standpunttes entipricht, den 
wůſten Krater ald unfruchtbaren Wherüac u en 
Füßen liegen? 


— 30 — 


Und fo bat ſelbſt die imverfängliche Frage, was 
Langeweile ift, ımd wie fie beurtheilt werben muß, 
und unvermerkt zu der hinübergeführt, bei der heut 
zu Tage die meiften Interfuchungen anzulangen pfle- 
gen, zu der Frage: was haben wir für eine Zeit? 
Dieje Frage aber werde ich fchwerlich beantworten 
können, da ich eben fehe, daß wir — gar feine 
baben. 


Drudfebhler. 


Seite 18. Zeile 7 und 8 von unten flatt: Rabourbonnaie und Et. 
Amand lies: Labourbonnais und St. Amant. 
Seite 28. Zeile 8 von unten flatt: aufhort lies: aufhöre. 
.- 6. - 5 - oben ⸗ nach - and. 
1. - 6 20.009 . fs. 
.-» 29. «- 2.» .« Lehren - Brauden. 





Buchbruderei von Eukan Lange in Brian. 





Glaube und Wiſſuſchaft. 


Akademiſche Rede 


zum Geburtstage ©. M. des Königs 
gehalten 


von 


Dr. Erdmann, 
Brofefor in Halle, 


8 all &y 
Drud und Berlag von H. W. Shmitt. 
1856. 








Hochzuverehrende Verſammlung! 


Sm einer aus den verfchiebenften Gefühlen 
gemifchten Stimmung ftehe ich heute vor Ihnen. 
Betraut mit der ehrenvollen Vollmacht, ver 
Freude Worte zu verleihen, mit der unfere Kör⸗ 
perihaft zum fiebzehnten Male viefen Tag als 
das Wiegenfeft ihres Königs und Herrn feiert, 
habe ich zugleih, daß ausnahmsweiſe mir bie 
ſes Recht ertheilt wurde, durch den Hinweis 
auf einen ſchmerzlichen Verluſt zu entſchuldigen, 
in Folge deſſen der Lehrſtuhl bei uns erledigt 
iſt, dem jenes Recht geſetzmäͤßig zuſteht. Iſt 
nun aber dem, welcher dieſes Verluſtes ermähnt, 
nicht nur ein tühtiger Amtögenafe, \ennern Sm 
. \ 





nahe flehenvder Freund bingegangen, jo richtet 
fh unmilllürlih fein Auge auf die naͤchſt⸗ 
liegende Vergangenheit, wobei es freilich klar 
wird, wie viel leichter es war bei dieſer freu: 
digen Gelegenheit für den Kränkelnden, als es 
ift anjtatt des Geftorbenen zu reden, wie viel 
genußreicher, zu vertreten, als den Verſuch 
eines Erjabes zu mahen. Indeß, nicht län: 
ger darf der Blid auf jenem Creigniß ruhen, 
nicht länger der Mißklang dauern, den die trau: 
rige Erinnerung mit dem Genuß der freudigen 
Gegenwart, und den das Lautwerden perjön- 
lihen Empfindens mit der Aufgabe bildet, nicht 
als Einzelner jondern als Glied des Oanzen 
zu jprechen. Beides hört auf dur die Erhe⸗ 
bung in die Region, in der vor dem Haren 
Denken die trübften Gefühle und vor dem all: 
gemeinen Inhalt alle bloß perjönlichen Intereſſen 
zurüdtreten, in vie Syhöre, welhe die Univer- 


“ 





fität als die ausſchließlich ihrige anfieht, durch 
die Erhebung zur wiſſenſchaftlichen Betrachtung. — 
Wie aber, hat nicht durch diefe Behauptung der im 
Namen der wiſſenſchaftlichen Körperſchaft ſprechen 
ſollte, die Wiſſenſchaft und mit ihr Alles, was 
für die Wiſſenſchaft iſt, unter anſcheinendem Lobe 
vielmehr verllagt und bitter getadelt? Und 
iſt nicht durch eine Anklage gegen die Wiſſenſchaft, 
‚gerade hier und jegt, ein neuer Mißllang hervor— 
gebracht, ſchneidender als jener, ven eine Klage 
um einen hingeſchiedenen Freund an des Königs 
Ehrentage hervorbrachte? Wirklich gliche einer 
Anklage gegen die Wiſſenſchaft, was eben von 
ihr gefagt ward, wenn der Sinn dieſer Worte 
ſeyn follte, daß die Wiflenihaft jene Uner⸗ 
f&ütterligeit und apathifhe Ruhe gibt, melde 
mander Weife des Altertyums anftrebte, jene 
Gleihgültigkeit,. die ungebeugt auf den Trüme 
wern der Welt fteht, weil fie Riinb hewummet 
2. 


4 





und Nichts liebt. Hätten alfo meine Worte 
dieſes jagen wollen, fo wäre wirklid gegen 
die Wiſſenſchaft ein Anathem ausgefprochen 
von der Stelle herab, an der man erwartet, 
daß nur ihre Lob gelungen werde. — Und 
wenn mir nun dies wirklich gejchehen wäre, 
Verwunderung dürfte es eigentlich kaum hervor⸗ 
zufen. Die Zahl derer, welche heut zu Zage 
diefe Weife anftimmen, ift jo groß, der Klang 
ihrer Stimmen jo laut, daB man gegen den 
nachſichtig ſeyn muß, der fihb von der Wucht 
des ihn umgebenden Chores mitreißen läßt. 
Wenn es nun bei mir nicht fo ift, fo ift dies 
nicht mein Verdienſt, es iſt Gabe, oder vielleicht 
Schuld, der Natur. Wem fie das feine Obr 
verjagte, das jede Einbiegung in eine andere 
Tonart jogleih wahrnimmt, und die biegjame 
Kehle, die jedes angeltimmte Lied begleiten und 
verſtaͤrlen kann, ven ıhat fie auf der andern 





5 





Seite davor fiher geftellt, daß es ihm wider 
Willen gefchehe ganz fo zu fingen wie alle Welt, 
und nie etwas Anderes im Ohr zu haben als 
das zuleßt Gehört. Wil nun ein Solder 
nicht, mas vielleicht das Klügfte wäre, ſchwei⸗ 
gen, fondern ift, wo alle Welt fingt, auch ihm 
nad Gefang zu Muthe, fo wird ihm kaum etwas 
Anderes übrig bleiben, als ein altes Wiegenlied 
vor ſich hinzufummen, vdeflen Weiſe in jeinem 
Ohre fo feit fißt wie die, die es ihm zuerft 
jang, in jeinem Herzen. Freilih darauf muß 
er gefabt feyn, daß die ihm zunächſt Stehenven, 
welche die Mode -Arie jingen, von ihm fagen, 
er finge falſch. Sie haben in gemiller Weile 
Net, etwa fo wie beim Weftwinde die Wind- 
fahnen Recht haben von der Magnetnabel zu 
fagen: fie zeige falſch. Woher der Wind weht, 
Bas zeigen jene Gewandten, jtet3 Neumodiſchen 
wirklich viel befier, als die arme, jo ftereotype. 


6 


Nadel, — und daß fie etwas Anderes zeigen 
will, fällt ihnen nicht ein. Auf die Gefahr 
bin, daß e3 mir gehe wie jener Armen, jey es 
erlaubt ein altes Lied ins Gedächtniß zurüdzu: 
rufen, das mir von lieber Stimme an ber Wiege 
meines wiſſenſchaftlichen Lebens gejungen ward; 
e3 fingt davon, daß die Willenjchaft die heiligfien 
Intereſſen der Menſchen nicht fährde. — Alle 
Anklagen, melde das Gegentheil behaupten, laf- 
fen fih als auf ihre gemeinfchaftlihe Formel 
auf den Vorwurf zurüdführen, der eben, meil 
er der gemeinjchaftlihe Ausprud für alle der 
Wiſſenſchaft gemachten Vorwürfe ift, am meiften 
berühmt geworden ift, auf den Vorwurf nämlich, 
daß die Wiſſenſchaft den Glauben zerftöre. Denn, 
welche Bewandtniß es auch haben möge mit dem 
BZufammenhange des Wortes Glauben mit dem 
Worte Geloben, jo viel ift gewiß, daß der Sade 
nah das Halten der gelobten Treue und der 








Berlaß auf das Gelobte, mit dem Glauben zu⸗ 
jammenfällt, und daß eben deswegen, um von 
den Außerlidhiten Berhältniffen unter Menſchen zu 
beginnen und zu den innigften überzugehn und 
bei den beiligften zu jchließen, dur Vertrauen 
und Glauben allein es Gläubiger und Schuloner 
gibt, duch den Glauben an den Gatten das Che: 
gelöbniß einen Sinn, durch den Glauben an 
fein Volt der Bürgerfinn eine Stätte hat, daß 
durch den Glauben an ven Verſöhner die Mens 
jhen zu Gläubigen im eminenten Sinne des 
Wortes werden. Darum aber heißt: den Glau⸗ 
ben zeritören, jede8 Band zerreißen, welches 
Menjhen an Menſchen Mnüpft, und wieder: es 
gibt keinen Krieg gegen das, was das Heiligfte 
und Größeſte ift unter den Menfchen ‚ver nit 
im Grunde darauf hinausginge, die fides und 
pietas, das heißt den Glauben, zu untergraben. 
Darum aber ift es auch eine Anklage auf Leben 


— — 


und Tod gegen uns, die in jenem Vorwurf ent⸗ 
halten iſt, daß die Wiſſenſchaft den Glauben 
vernichte oder auch nur fährde. — Gegen uns, 
ſage ich, denn mwähne doch Niemand, daß es im 
Grunde doch nur eine unter den Willenfchaften 
jey, der folder Vorwurf gemacht wird; wenn 
irgendwo jo hat ſich's bier gezeigt, daß der 
Brand des Nahbarhaujes eines Jeden eigne 
Angelegenheit ift. Zwar vorzugsmeife iſt es, und 
der Zeit nach zuerft, das Fundament aller Wiſ⸗ 
ſenſchaften geweſen, welches des Unglaubens gezies 
ben wurde, und bekanntlich hat man bei uns (nicht 
ſehr originell) fiebzig Jahre Später al3 bei den Frans 
zojen die Entvedung gemacht, ein Philofoph und 
ein Ungläubiger ſeyen gleihbedeutende Ausdrücke. 
Aber die anderen Willenfchaftenund die, welche fie 
treiben, find gleichfalls an die Reihe gelommen. 
Der Schon vor Jahrhunderten den Phyſikern und 
Aerzten gemachte Borwurf der Ungläubigfeit fin- 








bet beut zu Tage fein Echo in der Art, wie 
im Namen de3 Glaubens gegen die Naturwifiens 
Ihaften geeifert wird. Daß das böfe Sprid- 
wort noch immer befteht, welches ven Rechts⸗ 
gelebrten dem gläubigen Chriſten entgegenjeßt, 
ſcheint zu beweifen, daß auch die glänzenpften 
Ausnahmen unferer Tage vom Volksbewußtſeyn 
nur al3 ſolche betrachtet werden, meldhe die Re⸗ 
gel beitätigen. Sprach- und Alterthumskunde, 
jo wird uns gejagt, bilde und von Jugend auf 
zu Heiden, und Herder fündhaftes Wort, daß 
der Hauptvortheil der Bibelverbreitung im Mittel- 
alter darin beitanden habe, daß dadurch bie 
griehiihe Sprache bekannt blieb, wird heute 
durch die (vielleiht eben jo jündhafte) Behaup⸗ 
tung abgebüßt, daß man Griehiih nur lernen 
müfle, um die Bibel in ber Urjpradye zu leſen. 
Kurz, es ſcheint als wollte man nur die Then» 
Iogie unangetaftet lajlen. Aber jelbit dieſe wird 


von denen, welche das lautete Wort führen, 
nur in jo weit gebuldet, als fie nicht Willens 
ſchaft ift, als fie fich dazu hergibt anderen, als 
wiſſenſchaftlichen Zwecken zu dienen. Es ift 
darum die Angelegenheit aller Wiſſenſchaft, 
und darum unjer Aller Angelegenheit, wenn 
wir zu einer Zeit, wo fo Vielen Wiſſensſcheu 
und Glaubensftärte gleihbedeutende Worte zu 
jeyn fcheinen, das Verhältniß zwiſchen 
Wiſſenſchaft und Glauben näher ins 
Auge ſaſſen. 

Da zeigt fih nun ganz zuerft der genaue 
Bujammenbang jo, daß meder der erfte noch die 
folgenden Schritte auf der Bahn zur Wiflen- 
ſchaft möglih find ohne Glauben. Nur wer 
ſucht und forjht, kommt zur Willenihaft; was 
aber beißt Suden anders ald glauben, daß 
Etwas erſt noh zu finden it? Che vieler 
Glaube, dieſe wirkliche Gewißheit von Etwas, 





11 


das man nicht ſieht, in dem Menſchen ent⸗ 
ſtanden iſt, begnügt er ſich mit dem Augenſchein, 
mit dem, wovon man nur Kunde hat, nicht 
aber ein Wiſſen, weil dieſes letztere den Gegen⸗ 
ſtänden auf den Grund geht. Weiter aber, 
wenn in dem Glauben, es gebe einen ſolchen, 
zunächſt verborgenen, Grund der Dinge, oder, 
wie man ſich gewöhnlich auszudrücen pflegt, 
es ſey etwas dahinter, zu dem man gelangt, 
indem man es herausbringt oder indem man 
ſelbſt dahinter kommt, wenn man, fage ich, in 
dieſem Glauben, zu ſuchen angefangen hat, was 
iſt es, was uns vor Ermattung ſchützt, uns 
nicht ſogleich ablaſſen und jagen läßt, das iſt 
einmal nicht herauszubringen? was anders als 
der Glaube, diejer innere Grund könne nicht 
immer verborgen bleiben, die feſte Zuverſicht, er 
müfle an's Licht kommen. Und endlih, wenn 
nad längerem Suden fih in dem Dunkel das 


13 





Licht zeigt, was bringt dazu, mißtrauiſch zu 
prüfen ob man ſich nicht getäufcht habe, ebe 
man der Welt feine Entdedung mittheilt? Was 
anders, ala daß man fih wie ein Menſch ohne 
Treu und Glauben vorfäme, wenn man von 
dem Gelöbniß abließe, das man fih gab, nicht 
zu ruhen, bis Alles zweifelsfrei feit ſteht. — 
Iſt es aber jo, zeigt fih, daß Anfang, Mitte. 
und Ende des zur Wiſſenſchaft führenden For- 
ſchens ein Glauben ilt, jo müflen uns als höchſt 
thöriht die erjheinen, welche, um ſich als He⸗ 
zoen in der Wiſſenſchaft varzuftellen, ſich deſſen 
rühmen, fie hätten nie, oder auch nur in den 
Zagen jugendlicher Beichränktheit, vem Glauben 
in fih Gewalt eingeräumt. it dem wirklich. 
jo, deſto fchlimmer für ihr Wiflen, dem es ſicher⸗ 
lich fih wird anfühlen lafien, daß fie nicht mit 
allem Ernite fi dem Gegenftande gelobt, nicht 
dem Gelöbniß Treu und Glauben gehalten 





13 





baben, kurz, daß fie ohne fides forfhten, So 
ſeltſam es auch ſolchen, die alles Glaubens 
ſpotten, erſcheinen mag, wenn als Muſter ihnen 
Männer vorgeführt werden, von denen ſie nur 
als von Helden des Glaubens gehört haben, ſo 
könnten fie doch, gerade was das Willen und 
die Wiſſenſchaft betrifft, von einem Augufitn 
und Anfelm gar viel lernen. In dem berühm- 
ten Ausfpruche des Griteren, den der Andere 
fi angeeignet hat: „Ich glaube um zu willen,“ 
werde ich eine Unterordnung des Willens unter 
das Glauben erjt dann anerkennen, wenn man 
daraus, daß Einer jagt: Ich baue, um ein Haus 
zu haben, wird folgern müflen, daß ihm das 
Bauen die Hauptſache, das Haus bloße Neben, 
ſache ift, und bis dahin wird wohl nod einige 
Zeit verjtreihen. Heute aber ſchon werde ich, 
und muß „Jeder, in jenem Sabe die Behauptung 
finden, daß nur durch den Ölauben man zur 


14 





Wiſſenſchaft gelangt. Die Richtigkeit dieſer Be 
bauptung haben jene beiden Kirchenfürſten, die 
man mindeftensd mit demfelben Rechte Herven 
der Wiflenfhaft nennen kann wie Helden des 
Glaubens, durch die That bewiefen. Denn hätte 
Auguftin nit geglaubt, dab die Zweifel, 
welde die Vernunft aufzumwerfen vermag, auch 
gelöft werden können, jo hätte er nicht feine 
tieffinnigen wiſſenſchaftlichen Grörterungen ver: 
ſucht, jondern fich vielleiht mit der heute fo 
beliebten bequemen Auskunft des Nichtwiſſens 
befriedigt, daß die Lehre der Kirche unlösbare 
Miderjprühe enthalte, daß dies aber Nichts 
thue, da fie ja kein logiſches Syitem feyn wolle, 
Und hätte Anjelm nicht geglaubt an die Kraft 
der Wiflenfhaft und an die Erfennbarfeit des 
Weſens der Seele, er wäre nicht der erfte Dia- 
lettifer feiner Zeit geworben, und hätte nicht im 
neunundfiebzigften Jahre um noch einige Jahre 





15 





gebeten, um die Lehre von der menſchlichen Seele 
ganz ins Neine zu bringen. Sie haben beide 
nur beöwegen jo viel gewußt, d. h. gefunden, 
weil fie jo viel gefucht d.h. geglaubt haben. — 
Wie wir auf jene beiden Männer alle vie ver- 
weiſen, welche ihre Glaubensjheu als Beweis 
ihrer Willensftärle zur Schau tragen, gerade fo 
werden wir den vermeintlih Glaubensitarken, 
die aber in Wirklichkeit nur willensicheu find, 
jenes Auguftinijch » Anjelmifhe: „Durch Glauben 
fommt man zum Willen” entgegen halten. ft 
der Glaube wie die Arbeit des Bauens, jo 
werden wir mit demjelben Rechte, mit dem wir 
von dem vollendeten Hauje jagen: welche Arbeit 
ftedt in diefem Bau! — wo das Willen er- 
reiht ift, und je mehr Willen erreicht wurde, 
um jo mehr fpreden: welden Glauben muß 
doch dieſer gehabt haben, da e3 ihm gelungen 
ift, im Willen und in der Wiflenfhaft jo viel 


16 


zu leiften! Dies ift jo wenig eine paraboge 
Art zu folgern, dab vielmehr ver unbefangene 
gefunde Sinn feit Menſchengedenken fo zurüds 
geihlofien hat. Denn woher käme es, daß im 
gewöhnlihen Sprachgebrauche dem, der viel er 
forſcht und eine gründliche Wiſſenſchaft fich ers 
worben hat, das Beiwort eines reblichen ges 
willenhaften Forſchers, dem Ungründliden das 
gegen der Name des Leichtfinnigen, Unſoliden 
beigelegt würde, wenn nicht der, der den Sprach⸗ 
gebraud ſchuf, der gejunde Sinn, es fühlte, 
daß fihs in der Willenihaft um Redlichkeit und 
Gewillen, das heißt um Treu und Glauben 
handelte? Ja daß alle Welt nur dem Willen: 
den Glauben ſchenkt, dem aber, der fi als 
unmwiflend erweiſt, den Glauben entzieht, ift 
eigentlich ein Beweis, daß alle Welt nur Jenen 
als Einen anfieht, der Glauben hat, venn bier 
wie überall gilt der Spruh, daß gegeben nur 





17 





dem wird, der da hat, genommen nur von dem, 
der nicht hat. 

Es ift vorauszufehn, daß in dem, mas 
bisher gejagt ward, Mancher mehr ein Spiel 
mit Worten ſehen wird, als eine gründliche 
beweijende Erörterung. Der Glaube nämlid, 
von dem bisher geiprohen wurde, ſey im 
Grunde nur Glaube an fich ſelbſt, ſey ftolzes 
Berlafien auf den eignen Scharffinn. Daß die 
ſes zur Wiſſenſchaft gehöre und durch das Wij- 
fen genährt werbe, das möge wohl feyn. Wenn 
man aber von der Gefahr ſpreche, die dem 
Glauben von der Wiflenjchaft drohe, jo meine 
man gerade das Gegentheil von jenem ftolzen 
GSelbftvertrauen, man meine ein bemüthiges Sich⸗ 
bingeben an eine höhere Macht. — Hätten vie, 
welche jo jprechen, je mit der Gewißheit zu finden, 
nad Wahrheit gefucht, je mit der Sicherheit des Ge⸗ 


lingens wiflenfchaftlihe Verſuche gemacht, jo hätten 
2 


18 





fie auch erfahren, daß diefe Gewißheit und Sicher» 
beit durchaus nit ein Vertrauen auf die eigne 
Kraft ift. Mas die Spradhe der Griechen in be 
neidenswerther Sinnigleit angedeutet hat, daß die 
Wahrheit das ſich nicht Verbergende ift, dies 
fühlen während des Forſchens nah ihr, wir 
Alle, und gerade wie der Betende der Erhörung 
gewiß ift, nicht weil er fih als fo ſtark, ſon⸗ 
dern weil er den, zu dem er betet, als fo 
barmberzig weiß, fo ift, was und mit ſieges⸗ 
gewiſſer Freudigkeit forfihen läßt, der Glaube 
nicht an unſere Scharfiichtigleit, ſondern an die 
fih offenbarende Lichtnatur der Mahrheit, vers 
möge der fie aud uns ſich nicht verbergen wird, 
Nicht ein Verlaflen auf uns ſelbſt, fondern ein 
Berlaflen auf die fiegreihe Kraft der Wahrheit 
ift jener fuchende Glaube, von dem wir jagten, 
daß ohne ihn Fein Wiflen möglich ſey. Eben 
darum aber ift aud die Freude, die uns ers 





19 





faltt, wenn dem Suchen das Yinben folgte, 
nicht eine eitle Luft an der eignen Geſchicklich⸗ 
keit, und wer je das Glüd erfuhr, daß ein bis 
dahin verborgener Punkt der Wahrheit fi ihm 
erſchloß, der wird es verftehen, warum der große 
Meptünftler, als er jenen Beweis zu Stande 
gebracht hatte, nicht austief: Dies habe id 
gemacht, jondern: ch hab's gefunden! und daß 
er nicht hinausging, um anbetende Verehrung 
für fh zu fordern, fondern daß er einer hö⸗ 
beren Macht die Helatombe fchlachtete. Nenne 
man es Glüd, nenne man es Fund, nenne 
man es Gnade, kurz man fühlt: es ift uns 
gelommen, gegeben ald ein unverdientes Ge⸗ 
ſchenk, und alle jene, zum Theil vielleicht er- 
fundenen, Erzählungen von klingenden Amboſen, 
fonnenbefchienenen Zinngefäßen, jchwingenden 
Kirchenleuchtern, fallenden Aepfeln, nach welchen 
ein Zufall die größten wiſſenſchaftlichen Gnt⸗ 
ye 





dedungen vermittelte, fie haben darum etwas 
Einſchmeichelndes, weil wirklich eine jede Offen 
barung der Wahrheit, die uns zu Theil wird, 
ein Geſchenk ift, das uns zufiel, eine Erleud: 
tung und Cingebung, die wir nicht verdienten, 
fondern die und wurde. Eben darum durfte 
auch vorhin das Forſchen und Suchen mit dem 
Beten verglichen werden, eine Zujammenftellung, 
in der uns ein Bibelſpruch vorausgegangen ift, 
in dem zum Bitten und Anllopfen das Suchen 
als das Dritte geftellt wird. Webereinftimmend 
mit dem wegen jeiner Frömmigkeit gepriejenen 
Jakob Böhme werden wir daher nur in dem 
Nichtforihen Hochmuth ſehen und die Behaup⸗ 
tung ausjprehen, daß nichts demüthiger macht 
als das Erforſchthaben der Wahrheit, das heißt: 
das Wiſſen. — Man pflegt, um dieſe Behaup⸗ 
tung zu widerlegen, ſich auf die Erfahrung zu 
berufen, daß gerade ſehr gründliches Forſchen 





31 





und ſehr ausgevehntes Willen fo oft zu ver⸗ 
mejlenem, ja mwahnfinnigem Hochmuth bringe. 
Jener Sterntundige des vorigen Jahrhunderts, 
welcher, weil er den ganzen Himmel durchforſcht 
hatte, Gott leugnete, mander Anatom unferer 
Tage, den jeine feinen Zerlegungen des Leich- 
nams dahin gebradt haben das Dajeyn einer 
Geele zu leugnen, viele Naturfundige, melde 
durch ihre mikroſkopiſchen oder chemiſchen Unter: 
fuhungen dahin gebradht ſeyen, allem Weber- 
‚finnliden die Eriftenz abzuſprechen, — fie fol: 
len ein Beweis feyn, daß das Willen zum ver: 
mejlenen, abſprechenden Hochmuth bringe. Be: 
weijen fie dies wirlih? Zeugt ihr Hochmuth 
wirklich gegen das Willen und gegen die Wil: 
jenfhaft? Wenn dem Einen jein Fernglas im: 
mer nur Eterne zeigte und nie einen Gott, 
wenn das Scalpel des Anderen immer nur 
Nerven und Muskeln blos legte und nie eine 





Seele, wem Mikroſtop und chemiſche Reagentien 
dem Dritten nur fichtbare Stoffe und nie etwas 
Meberfinnlihes vor's Auge bradte — Yacla, 
die nicht gerade unglaubli find, — und fe 
nun daraus, daß fie Etwas nicht jahen, nicht 
blos legten, nieht fanden, d. h. daß fie Feine 
Wiſſenſchaft davon haben, folgen, es Friftive 
nicht, fo jcheint es billiger, diefe argumenta 
ab ignorantia der Ignoranz zuzurechnen als 
dem Willen. Thun wir aber dies, jo urtheilen 
wir abermald nur dem gefunden Sinne und 
der Erfahrung gemäß, welche uns lehren, daß 
die am wenigſten von Etwas willen, am Kediten 
darüber zu urtbeilen pflegen. 

Darin aljo können mir den Unterſchied 
zwiſchen dem Glauben, den die Gegner dem 
Willen entgegenftellen und dem, von dem wir 
jagen, er jey der erite Schritt, oder dad Ein⸗ 
gangsthor, zum Willen, wicht feben, daß nur 





jener ein demüthiges Sichhingeben fey; das tft 
der Glaube, von welchem wir |prechen, ebenfe. 
Aber ein Anderes fcheint zwilden beide eine 
Kluft zu legen: der Glaube des Forſchers an 
die Wahrheit, jagen fie, fey nur ein Glaube 
des Kopfes, ihrer dagegen ſey Sache des Her: 
zens, ſey Sache des ganzen Lebens. Obgleich) 
es für uns etwas Seltfames bat, wenn Kopf 
und Herz ſich jo entgegengejeßt werden, und 
dann nur das Herz ald der Sib des Lebens 
‚angefehn wird, als wenn nur ber fein Leben 
verlöre, dem das toͤdtende Blei das Herz zer- 
reißt, und der nicht, dem das Fallbeil den 
Kopf vom Rumpfe trennt, — jo wollen wir es 
uns bier doch gefallen lafjen. Wir fragen dann 
aber, ob e3 etwa bloß ein Mibbrauch ver 
Sprade ift, wenn von Einem gejagt wird: er 
lebe in der Willenfchaft, oder fie liege ihm 
am Herzen? Wenige werden den Muth 





haben zu behaupten, daß bei der Vereblung der 
Eitten, melde der große römiihe Redner dem 
wiſſenſchaftlichen Studium zujchreibt, das Herz 
unverändert und roh bleibe. Oder wenn man 
den, kürzlich als Greis verftorbenen, franzöjt 
chen Gelehrten, den nur fein angeftrengtes 
Studium dahin gebradht hatte, blind und ge= 
lähmt mehr als zwanzig Jahre auf einem 
Schmerzenslager zuzubringen, jagen hört: er 
würde, hätte er jein Leben wieder zu beginnen, 
diefelbe Laufbahn ergreifen, denn fie biete Et 
was, was mehr ſey ald Rang und Reichthum 
und Gejundheit, — wer will da leugnen, daß 
das Herz da mitiprehde? — Will man aber 
ftatt bloßer Verficherungen, Thatjachen ? hier find 
fie: Gleich dem Kleanthes des Alterthums, 
der Sklavenarbeiten auf ſich nahm, weil ſie ihm 
die Mittel zum Studium gewährten, wird jener 
franzoͤſiſche Gelehrte gemeiner Soldat, um nach 


——— 








Indien zu gelangen, unterwirft fih dem noch 
mübjeligeren Rnecht3dienfte unter einem tyranni- 
fhen Braminen, durchwandert unter unjäglichen 
Mühfeligkeiten das fremde Land, nur vom Wil: 
fenspurfte getrieben. Wie Demokritus all fein 
ererbtes Gut zu wiſſenſchaftlichen Seifen ver: 
wendet, und feinen Lohn darin findet, feinen Lands: 
leuten als Greis feinen Diakosmos vorzulefen, fo 
opfert unfer großer Landsmann Vermögen und 
Geſundheit, um einst einem größeren Zuhörerkreife, 
den Gebilveten aller Zonen, feinen Kosmos 
vorlegen zu können. Haben diefe Männer nicht 
der Wiſſenſchaft gelebt, haben fie nicht mit 
ihrem Herzen fih ihrem Dienfte gewidmet? — 
Wollte aber Jemand, um ihre DVerbienite zu 
fchmälern, die Vermuthung ausſprechen Chrliebe 
und Ruhmſucht ſey da mit im Spiele geweſen, 
wie merben fie denn das nennen, wenn Einer, 
dem es ſchon in den Jahren der Jugend ge- 





lang, durch Aufftellen einer Theorie feinen Nas 
men uniterblih zu maden, jpäter öffentlich be- 
tennt, ein Süngerer habe ihn überzeugt, daß 
feine Anfiht nicht zu Halten jey? Ich vente, 
in einer jolhen Erklärung hat der Mann nicht 
feine Ehre gejuht, ſondern der Wahrheit die 
Ehre gegeben, und das iſt eine That, die nicht 
nur feinem Kopfe, die feinem Herzen angerechnet 
werben muß. — Bielleiht wird mander Geg- 
ner der Wiflenfhaft in den eben angeführten 
Thatſachen eine Prahlerei fehen, und zwar die 
Prahlerei des Bettelftolzes, weil, was da erzählt 
wurde, nicht3 Erhebliches fey, jondern was fich 
bei einem ernften und ehrlihen Mann von 
felbft verftehe. Nun dann wird es uns ja wohl 
erlaubt ſeyn, von ihm und feinen Genoſſen, id 
will nicht jagen Größeres, nein, nur eben ſolche 
Kleinigkeiten zu erwarten wie dieſe. Iſt nım 
etwa unter denen, welche meinen durch ihte 





27 


Diatriben gegen die Wiflenfhaft summos ho- 
nores unter den Glaubensſtarken überreichlich 
verdient zu haben, ift unter diejen wirklich bie 
Zahl derer jo groß, die dem, was fie previgen, 
ih jage nicht ihr Einlommen, nein, nur bie 
Hoffnung eines vergrößerten Einkommens opfern ? 
Wo find fie denn, die Schaaren derer unter 
den Willensfeinden, welche bereit find, Wohl: 
leben und gefiherte bürgerlihe Stellung zu 
opfern — ich meine natürlih, ohne daß ihnen 
vorher durch Gefinnungsgenofien ein Erjag ver: 
bürgt war — und fih dem Ocean einer un: 
gewifien Zukunft anzuvertrauen? Kommt es 
denn endlich jo gar oft wor, daß Einer, um den 
fih eine Schaar bemwundernder Anhänger ge: 
jammelt hat, welche das Butrauen auf jeine 
Zauterleit, Feſtigkeit, Aufrichtigleit ebenfo feſſelt 
wie dort die Theorie des genialen Naturfor: 
ſchers, daß diejer denen, die ſich zu ihm ge: 


28 


fellten, offen erklärt, es ſey eine Täuſchung ges 
wejen, um bdefientwillen fie ihn fo hoch geftellt 
hatten? — Mir werden nah dem, was wir 
eben über die argumenta ab ignorantia ge 
fagt haben, uns hüten, daraus, daß wir von 
dergleihen erhebenden Erſcheinungen unter den 
Wiſſensfeinden keine Wiſſenſchaft haben, Folge: 
rungen zu ziehen. Dagegen dürfen wir aus 
dem, was wir kennen und wiſſen, die Folgerung 
ziehen, daß der Glaube, ohne welchen es über: 
haupt kein Willen gibt, eine Hingabe nit nur 
einer Seite des Menſchen, jondern jeined gans 
zen Weſens mit Kopf und Herz ift, jo ‚daß er 
darin befteht, daß der Menſch überhaupt nicht 
mehr fih jondern einem Andern lebt. 
Bielleiht haben wir, indem wir den Geg⸗ 
ner aus einer Angriffsftellung nad der andern 
zu vertreiben verfucht haben, dadurch, nament: 
lih aber durch unfern lebten Ausprud, ihn in 





— i— 


die gebracht, in welcher er den Kampf am 
ſiegreichſten zu führen vermag. Das iſt es 
eben, wird er ſagen können, warum die Wiſſen⸗ 
ſchaft dem wahren Glauben jo gefährlich wird, 
daß fie ganz mie dieſer eine völlige Hingabe 
des ganzen Menſchen ift, aber eine Singabe 
nit an die rechte Macht. Sie iſt wirklich eine 
fides im wahren Sinne ‚bed Wortes, aber eine 
mala fides, fie ift nicht Unglaube in dem 
Sinne, daß fie allen Glauben ausſchlöſſe, ſon⸗ 
dern ganz mit Recht hat es Beifall gefunden, 
daß die Wiſſenſchaft vielmehr zum Aberglauben, 
das beißt zum falſchen Glauben, führe. Sie 
bringt nämlih zu einer abgöttiihen Verehrung 
des Logiihen, während der wahre Glaube das 
Chrijtliche verehrt, fie iſt ein wirklicher Götzen⸗ 
dienſt, indem fie an die Stelle ver Liebe zum 
HErrn, worin der wahre Glaube befteht, vie 
Wahrheitsliebe jegt, alfo wirklich einen anderen 


30 


Herren neben den wahren ftellt. Dagegen läht 
ſich doch Manches bemerten. Dem Borwurf 
der Bergötterung des Logiihen, von dem wir 
die Wiflenihaft um jo weniger befreien wollen, 
als viele Wiflenichaften Schon in ihrem Namen 
( Phyſiologie, Piyhologie, Theologie) 
diefelbe zur Schau tragen, könnten wir entgegens 
fegen, daß ja die Gegner jelbjt von dem HErrn 
fagen, er fey der Logos und dieſer jey goͤtt⸗ 
liher Natur. Wollten fie diefen Einwand das 
durch entkräften, daß fie auf die verjchiedenen 
Bedeutungen des Wortes Logos hinmwiefen, fo 
wenden wir und zu ihrem zweiten Vorwurf, 
daß die Wiflenfchaft nichts Höheres gelten laſſe 
als die Wahrheit und die Liebe zu ihr. Wie 
aber, wenn der HErr felbit fih die Wahrheit 
nennt, iſt da nit Liebe zur Wahrheit eben 
Liebe zu Ihm? Hier ebenſo wie bei dem Worte 
Logos fagen: Wahrheit und Wahrheit ift zweier 





lei, ift etwas bedenklich, denn das gibt Ber 
widelungen nicht nur mit dem gedbuldigen Woͤr⸗ 
terbuche, jondern mit der Kirche, die bereits im 
Mittelalter gegen die Theorie von zweierlei 
Wahrheit ihre entſchiedene Verwahrung eingelegt 
bat. Wollte endlich Jemand ſich hinter fein 
proteſtantiſches Gewiſſen verfteden und dieſe 
Entſcheidung der mittelalterlichen Kirche nicht 
gelten laſſen, ſo verweiſen wir dieſen auf das 
für den Proteſtanten entſcheidende Bibelwort, 
nach welchem der von Chriſto geſandte Geiſt in 
alle Wahrheit leiten ſoll, woraus gefolgert 
werden muß, daß es keine Wahrheit gibt, in 
welche dieſer Geiſt nicht leitete. Uebrigens 
beſcheide ih mich gern, daß dieſer Rüuͤchſchluß 
nur nah den Regeln der Wiſſenſchaft noth⸗ 
wenbig ift, die ich vorzugsmeife die meine nenne, 
der Logik, und will den Privilegien und me 
munitäten der modernen Exegeſe durchaus nicht 


32 





zu nahe treten. Noch viel weniger freilich fie 
darum beneiden, und darum werde, ohne die 
beliebte Weile die Hauptjahen megzuerllären, 
das Wort des HErrn feilgehalten: „Obne mid 
tönnt Ihr Nichts thun,“ woraus, wenn man 
nit jagen will, Nichts heiße hier Etwas oder 
Viel, fich ergibt, daß ohne Seinen Geift auch 
die millenjchaftlihen Thaten nicht vollbracht 
werden. — Dieſen Ausfpruh halten wir feſt, 
nicht nur weil der heilige Buchſtabe, jondern 
weil Vernunft und folgerichtiges Schließen darauf 
führt: Big zum Ueberdruß hört man davon 
iprechen, daß Niemand fi der Macht des jedes- 
maligen Zeitgeifles zu entziehen vermöge, und 
e3 gehört in der That Fein fehr fcharfes Auge 
dazu, um zu ſehen, daß es durchaus gar Nichts 
gibt, was im neunzehnten Jahrhundert gerade 
jo wäre, wie im fiebzehnten und achtzehnten, 
Diefed nun, was fie dem Geilte jedes Jahr⸗ 





bunderts, ja jedes Jahrzehends, zugeftehn, dies: 
ſes dem Geiſte abzufprehen, der in den neuns 
zehn Jahrhunderten, ſeitdem er auögegoflen 
ward über die Welt, die Natur eines Ferments, 
weldhe der ihm zuſchrieb, der ihn zuerſt ver- 
kuündigte, bethätigt hat, — dies wäre wie gegen 
alle Erfahrung fo gegen alle Vernunft. Biel: 
mehr, wie in dem leiblihen Leben, wo der gifs 
tige Krankheitsftofj übertragen ward, kein Atom 
des Körpers frei bleibt von der anjtedenven 
Peltnatur, jo bat im geiftigen Gebiete, das 
Ferment des chriſtlichen Geiſtes, per infectio- 
nem vitae, wie ein tiefiinniger Mann dies 
genannt hat, Nichts unergriffen gelallen, Alles 
ergriffen, Alles neu gemacht. Daraus folgt 
gar nicht, wie Mancher, um und durch die ab» 
furde Folgerung zu wiberlegen, vielleiht ein- 
wenden fünnte, daß nad einer folhen Anficht 
e3 in der dhriftlihen Zeit nur wahre Chriſten 


34 


und Gläubige geben könne. Denn dies: hängt 
davon ab, wie fih Jever zu dem Zuge bes 
chriſtlichen Geiftes innerlich ſtellt. Was die 
Alten von dem Schidjale jagten, daß, je nach⸗ 
dem der Menſch will oder nit will, die Macht 
deflelben als Führung oder Zwang, als ductie 
oder tractus, empfunden werde, iſt buchftäblich 
richtig von der Macht des chriftlihen Geiftes. 
Unwiderſtehlich jevem Rinde der chriftlihen Zeit, 
wird fie von dem, der fih ihr zu entreißen 
verfuht, als eiferne Feſſel ſchmerzlich empfun⸗ 
den, dem wieder, der ſich völlig ihr hingab, 
ericheint fie als eine füße Laft — (biblifh ges 
ſprochen: jenem wird Chriſtus zum Fall, diefem 
zur Auferftehung). — gerade wie in der Che, 
mit welcher die Schrift das Walten des chrift: 
lihen Geiftes in dem Menfhen vergleiht, dem 
Manne ohne Glauben das, Gejeß und Feſſel 
iR, was dem, der feinem Gelöbniß treu blieb, 





— — (er 


als Rofenkette erſcheint. — Welche von dieſen 
beiden moͤglichen Stellungen zu dem Gange des 
der Menſchheit eingegoſſenen Geiſtes, der ein- 
nehmen wird, der ſein Leben der Wiſſenſchaft 
weihte, darüber kann nach dem bisher Geſagten 

kein Zweifel Statt finden. Im Leiten in alle 
Wahrheit beſtand jener Gang und in dem Stre⸗ 
ben, d.b. ſelbſt Verlangen, nach Wahrheit 
beftand die wiſſenſchaftliche Arbeit, darum geben 
Weide niht wider fondern mit einander. Das 
Verlangen nah Wahrheit fällt zufammen mit 
ver Wirkſamkeit des hriftlihen Geiſtes, es ‘hat 
ein Recht fih ein riftlihes zu nennen, denn 
‘wie in feinem Gmpfinden und Handeln ver 
Ghrift ein ganz Anderer ift als der Nicht:Chrift, 
jo aud in feinem Wiſſen. Dies gilt von altem 
Willen, auch das macht Teine Ausnahme davon, 
von ven man in unjeren Tagen’zu jagen pflegt, 
e3 ſey ganz unberührt vom chriſtlichen Geifte, 





das Willen von den Gejeben der fichtbaren 
Welt. Für uns ift es mehr als ein Zufall, 
daß das Heidentbum bei einem unbelannten 
Öotte anlangte und daß es ihm als ein Fre 
vel erijhien, den Schleier, der das Naturleben 
dedt, gewaltfam zu heben, mährend nad ber 
chriſtlichen Anſchauung Gott gewußt wird als 
fih ofienbarend und erft in der hriftlichen Zeit 
der Menſch es gewagt, der Natur ihre Gebeim- 
nifie, nit nur mo fie diejelben zeigen wollte, 
abzulaufhen, jondern im wiſſenſchaftlichen Ber: 
ſuche gewaltfam zu entreißen. Beides gebt mit 
einander. Wird, wie die Schrift jagt, in ber 
Wahrnehmung und Grlenntniß der finnlichen 
Melt Gottes unfihtbares Wefen offenbar, jo 
kann das Erforſchen derjelben die Gottheit nur 
ehren, denn wie der jhon einmal erwähnte 
Kirhenfürft gejagt bat: Gottes Ehre ift, daß 
er erkannt, daß fein Weſen offenbar wird. 





37 





Daß im Dienfte der Wiſſenſchaft die Ehre 
Gottes gefördert wird und alſo dieſer Dienft 
ein wahrer Gottespienft ift, dies erjheint trog 
der Autorität eines Anfelm, und troß dem, daß 
unſer Gewiſſen, dieſe Stimme Gottes in uns, 
uns nie Vorwürfe macht, wenn wir dieſem 
Dienſte Alles, Vermögen, Geſundheit, Leben 
opfern, es erſcheint furchtſamen Gemüthern als 
eine vermeſſene, ja frevelhafte Behauptung. Ge⸗ 
rade wie fie erſchrecken, wenn fie hören, daß 
das Licht mancher Sterne Jahrtauſende bedurfte, 
um unſer Auge zu treffen, weil dadurch die 
Welt ſo ungeheuer groß wird, und ſie fürchten 
ſie werde zu groß, um das Werk eines Gottes 
zu ſeyn — den, wohlbemerkt! ſie doch all⸗ 
mächtig nennen — gerade fo wird ihnen un— 
beimlih, wenn fie vie Behauptung hören, die 
Wirkſamkeit Chrifti zeige fih nicht nur in der 
‚Umftaltung des religiöjen Lebens, ſondern Sein 


38 





Geiſt habe gar nichts, nicht einmal die Größen- 
und Naturlehre unverändert gelafien. Es ft 
als meinten fie, daß jo Großes felbit der Sohn 
Gottes nicht leiften fünne, und als werde er 
beleidigt, wenn man von Ihm erwarte, was 
über Seine Kräfte gebt. Wir nun theilen folthe 
Bedenklichkeit nicht, glauben auch, daß die Ge 
fahr, zu groß von der Macht des Chriftenthums 
zu denken, heut zu Tage nicht die am meiften zu 
fuͤrchtende iſt. Wohl aber gibt uns, daß wir wiſſen, 
welcher Geift ver ift, der „alle Dinge erforjchet, 
Yelbft die Tiefen der Gottheit,“ nit nur beim 
Forſchen nah den Tiefen der Gottheit, jondern 
beim Erforfhen aller Dinge jene Gemißheit, daß 
das Biel erreicht werden wird, die der hat, der da 
weiß, daß er nicht lebt und forſcht, ſondern ein 
anderer, böberer Geift, in ihm, jene triumphi- 
sende Freudigleit, die ih im Sinne hatte, wenn 
ih davon ſprach, daß die Wiſſenſchaſt über alte 





39 





trüben Gefühle und alle bloß perſoͤnlichen In⸗ 
terefien erhebe, jenes Siegergefühl, das uns von 
ber Seligteit des Erkennens und Wiſſens pres 
hen läßt. Wer aber bier Anathema rufen 
wollte, weil wir hier dem Erkennen und Willen 
zufchreiben, was nur richtig ift vom Glauben, 
der ja nicht erfennt und nicht weiß, — dem 
antworten wir, jo fteht es mit dem mahren 
Glauben nit; nit mit dem Glauben des Pe: 
trus, denn der hat erkannt, daß Chriftus iſt 
der Sohn des lebendigen Gottes, nicht mit dem 
des Johannes, denn der lehrt, daß das ewige 
Leben fey: Gott zu erfennen, niht mit dem 
des Paulus, denn der weiß, an men er glaubt, 
und weiß, daß nichts ihn ſcheiden kann von 
der Gnade Gottes. Anders freilih ift es mit 
benen, die jeder wiflenjchaftlihen Unterfuhung 
das Ohr, vor jedem Buche eines ihnen nicht 
als fromm empfohlenen Berfaflerd das Auge 


40 





ſchließen, meil fie ja nicht wiſſen, ob ver fie 
nicht von der Gnade Gottes ſcheiden wird. Ob 
aber dieſer furchtſame Olaube, der nit weiß, 
was Paulus jo ficher mußte, ob dieſes fchmädh: 
lihe Gläubchen nicht vielmehr Unglaube ift, 
Unglaube an fih, an der Wahrheit — — — 
— — Aber wo gerathe ich hin? Vertheidigen 
nur wollte ih und werde zum Unfläger, zu 
preifen was mir das Höchſte von Allem, mar 
meine Abfiht und ich gerathe auf nichts weni⸗ 
ger als Preifensmwerthes und in feiner Weiſe 
Hohes! Mic wieder zureht zu finden, dazu 
bedarf es nur eines Blides um mid, und einer 
Befinnung darauf, als was und wozu ich bier 
ftehe. Umgeben von Solchen, die, weil fie dem 
der Willenfchaft gegebenen Gelöbniß treu bfie- 
ben, die Seligkeit des Willend gejchmedt haben, 
vor mir Solde, die mit dem freudigen Glauben 
an die neidlos ſich mittheilende Wahrheit den 
Lauf beginnen, deſſen Ziel ſolche Seligkeit ift, 





41 





ftebe ich bier im Namen einer der Anftalten, 
welche der Stolz unferes Vaterlandes find, die 
beftimmt find nur allein der Willenjhaft zu 
dienen, und denen, nur wenn fie ſelbſt dieſen 
Beruf vergaßen, andere Zumuthungen gemacht 
wurden. Ich ftehe bier, im Namen vieler 
Pflanzftätte ver Wiflenihaft, Wünſche auszu- 
fpreben für das Wohl eines Königs, deſſen 
offen und frei befannter Glaube ein jtarfer und 
fiegreiher Glaube ift, welcher weiß, daß der 
Geilt des HErrn nit nur im Zempel und in 
den Augenbliden der Andacht mädtig if, fon: 
dern Alles, auch Kunft und Willenfchaft, erneut 
bat, und der in diefem kühnen Glauben oft 
ängſtlich Geſinnte den Kopf ſchütteln machte, 
wo er durch die That bewies, daß ihm bei dem 
Kunſtwerk der Kunſtwerth und die Schönheit, 
und bei dem Lehrer der Wiſſenſchaft das Wiſſen 
die Hauptſache iſt. Einen König ſoll ich feiern, 
an den wir glauben; an den Wh mante, 


42 





Ungläubigen gelernt haben zu glauben, ſeit fie 
gejehen haben, daß dem gegenjeitigen Yamort, 
das an dem großen Trauungsmorgen vor nun 
mehr ſechzehn Jahren zwiſchen ihm und uns 
ausgetaujcht ward, Er treu geblieben ift, und 
daß er nicht mie andere Fürlten, in böjen 
Zagen, den Ring, der bie Stirne der Könige 
Ihmüdt, diefen Zrauring, der fie mit ihren Un: 
terthbanen verbindet, ehebrecheriih weggeworfen, 
jondern daß er feinem Gelöbniß Glauben ge 
balten hat. Worte foll ich geben unferen Ges 
fühlen für einen König, der in faum vergangener 
bevenkliher Zeit, wo Alles ungemiß war, troß 
dem, daß lautes Rufen und leijes Flüſtern bier: 
bin oder dorthin zu verloden juchte, gezeigt bat, 
er wille, melde Pfliht vor allem Andern er 
babe, und von dem Mander, der damals irre 
war, heute weiß, was er Ihm dankt und an 
Ihm bat. Diefen König erhalte Gott! — 








Ueber 


Bewohnheiten und Angewohnheiten, 


Bortrag, 
gehalten im wiſſenſchaftlichen Verein zu Berlin 
son 


Dr. Erdmann, 
Brofeffor tn Halle, 


Berlin. 
Derlag non Wilhelm Herß. 
(Beſſerſche Buchhanklung.) 
1858. 


— 


Hohe Derfamminng! 


Yis vor Jahren ein berüßmter Arzt bie Kenntuiß 
des Opiums für den Inbegriff der ganzen Heifwif- 
ſenſchaft erflärte, da fiel das auf und man nannte es 
jest, eine Uebertreibung. Es war eben nod nicht wie 
wo alle Tage ein neues Mittel, fei es nun kaltes 
Waſſer oder trodene Semmel,-fei e8 Glectricität oder 
Apfelwein, als einziges und als untrüglich gegen alle 
Krankheiten auspofaunt wird. Damals aber ſchon 
und alfo noch mehr heute, wäre vor folhem Vorwurf 
der ſicher geweſen, der, was jener Arzt von der Heil- 
Tunft, das von der Geiſteswiſſenſchaft behaupten wollte: 
daß es Einen Schlüffel giebt, ohne welchen man in 
ihr nirgends, mit dem aber man im jedem ihrer 
Gebiete fortlommt. Mit welchem Capitel derfelben 
man fid) befhäftigen möge, überal fößt man früher 
ober fpäter auf bie ungeheure Bedeutung der Ge- 
wohnheit. Sie herrſcht ſchon dort, wo die Schwelle 
Taum überfchritten ift, die im das irdiſche Leben hin- 
einführt, denn von ben Verveguimgen Tea Kurt „N 

vw 


— 4 — 


man für angeboren hält, ſind viele, vielleicht die 
meiſten, angewöhnte, und wieder gelangt der Menſch 
an die andere Schwelle, über welche der Weg aus 
dem Leben hinausführt, dadurch, daß ſich die Seele 
ganz in ihren Leib eingewohnt hat, und nun erfährt, 
was man zu erfahren pflegt, wenn Einem Haus⸗ 
Heid oder Schuhwerk fo recht bequem und gewohnt 
worden 'ift: es ift vertragen. In der Gewohnheit 
eines beftimmten Handelns befteht nach Ariftoteles 
unfere Tugend, ımd ohme feine oder eine der feinen 
gleiche Autorität zum Rüdhalt zu haben, wird man 
behaupten dürfen, daß die Ausdrüde: ich glaube dies, 
oder auch: das verftehe ih, in vielen, ja vielleicht 
den meiften Fällen, nur foviel heißen, als: ich bin ge- 
wohnt, daß man mir e8 dvorredet und habe mich ge- 
wöhnt, es nachzufprehen. Ja über die Gebiete bes 
Geiftigen hinaus reicht ihre Macht. Daß die Dref- 
fur der Thiere, das Acchimatifiren der Pflanzen ein 
fie Gewöhnen ift, giebt Jeder zu, und faum Tieße fidh 
etwas dagegen einwenden, wenn in einer gut einge 
jpielten Violine oder einer verblafenen Flöte die erften 
Spuren guter und fchlechter Gewohnheit gejehen wür⸗ 
den. Darm aber wäre auch der Verſuch, in der 
bier zugemeffenen Zeit das ganze Gebiet der Gewohn⸗ 
heit zu überfchauen dem gleich, den Ocean mit einem 
£inderlöffel auszufchöpfen. Stott \eimer werte Yet 





nur der gemadht, zwei befondere Arten der Gewohn⸗ 
heit kennen zu lernen, über deren verjdhiedene, ja 
entgegengefeßte, Natur alle Welt einverftanden fein 
muß, da fonft die Sprache, in der, und durch die 
allein es ein Einverſtändniß unter aller Welt giebt, 
nicht beide einander entgegenjegen würde. Die Sprache 
unterjcheidet die Fälle, wo ih mich an gine Sade, von 
denen, wo ich mir eine Sache angewöhnte, weiſt 
alfo dort mir, bier dagegen der Sache, bie leidende 
Rolle zu. Wo, wie in dem erfteren Falle, ich (der 
Sache) gewohnt werde, bin ich als das Paffive, wo 
dagegen, wie im zweiten, fie (mir) gewohnt wird, 
ift fie als leidend, und ich als das Active gefett, ein 
Gegenſatz, den der Sprachgebrauch aud) fo firirt, daß 
er wo der Menſch paffiv ift, von Gewöhnung und 
Gewohnheiten, wo activ, von Angewöhnung und 
Angewohnbeiten ſpricht. Indem wir es dem Schöpfer 
des Sprachgebrauch überlaffen, biejen Unterſchied 
gegen den jcharffinnigen modernen Denker zu ver- 
theidigen, welcher ihn Ieugnet, nimmt die gegenmwär- 
tige Unterfuhung den Gegenfak von Gemohnhei- 
ten und Angemwohnheiten als einen allgemein 
zugeflandenen zum Ausgangspunkt, läßt ſich durch ihn 
ihre Grenzen beftimmen, und fragt auch deingemäß 
nicht mehr ob, fondern fogleich wie fie von einander 
unterjchieden find? 


1. 


Bon Gewohnheiten im Gegenfa zu Ange 
wohnheiten fpricht man da, wo gewiffe Teidentfiche 
Zuftände, 3. B. Empfindungen, ein Bedürfniß wur⸗ 
den, fo daß ihre Abwefenheit unangenehm auffällt, 
qnälend if. Die Gervohnheit des Einen zu beftim- 
ter Stumde feinen Kaffee zu haben, des Anderen all- 
abendlich in Iuftiger Gefellfchaft zu fihen, des Dritten 
den Dampf übelriechender Blätter einzufchlürfen, fte 
find Beifpiele davon, daß der Zuſtand eines Genie- 
ßens oder Habens eine ſolche Macht über uns gemimnt, 
daß wir ohne ihn nicht fein, von ihm nicht laſſen 
können. Iſt aber dieſes Nicht-Laffen-können das 
Weſen der Gewohnheiten, fo ift es eigentlich auch 
nicht richtig zu jagen, daß wir fie haben, als wenn 
wir ihre Befiter wären, ſondern vielmehr haben fie 
ung und wir find von ihnen befeffen, ein Ausdrud, 
der auch für den höchften Grad der Gewohnheit, die 
Leidenſchaft, ganz gebräuchlich if. Wovon wir nicht 
laffen können, dem ftehen wir machtlos als unfreie 
Sclaven gegenüber, und darum find wir, je mehr 
Gewohnheiten wir haben, um fo unfelbftftändiger und 
ſchwächer. Iener Mann, der. jo an feinem Morgen- 
Kaffee hängt, muß fich den freundlichen Vorwurf ger . 

fallen laffen, ber Kaffee ſei \ein Taihle, Ben Sohern 





fagt man, nicht fehr freundlich, nad), ber Wirthshaus⸗ 
beſuch fei feine ſchwache Seite. Und was den Dritten 
betrifft, jo ift zwar die Welt fo tolerant geworben, 
daß fie feine Gewohnheit nicht mehr im Ernſt als ein 
Lafter anfieht und beftraft, fondern nur im Scherz 
fo nennt; aber harakteriftiich bleibt es doch, daß ſelbſt 
Veidenfhaftliche Liebhaber des Tabacksgenuſſes dafiir 
noch keinen andern Namen erfunden haben als das Wort 
Rauchen, das, wenigftens bei Schornfteinen und Kami⸗ 
nen, einen Fehler bezeichnet; ein demüthiges Bekenntniß 
mit dem jehr gut zufammenftimmt, daß wenn Einer fich 
von biefer Gewohnheit losmachte, er fi und Andern 
wie ein Heros erfcheint, der Tyrannenketten zerriß. 
Wirklich ift, nicht nur diefe fondern jede Gewohnheit, 
mehr ober minder eine Feffel; fie alle machen uns zu 
SHaven, und wenn in jenem wundervollen Monolog des 
Wallenſtein die beſchränkte Maſſe, weil ihr das Ge⸗ 
wohnte heilig ift, für fo unfelbftftändig erflärt wird, wie 
der Säugling an der Amme Bruft, fo ift es nicht nur 
die Eraltation des Dichters die Beides zufammenftellt, 
fondern der praftifche Menjchenverftand läßt, fo lange 
ed Erziehung (d.h. ein Herausführen aus der Unfelbft- 
ftändigfeit und Befreien von der Unmündigfeit) giebt, die- 
ſelbe nicht nur mit dem Entwöhnen beginnen, fondern 
großen Theils nur darin beftehen, daß das Entftehen von 
@ewohnheiten verhindert, die eniftundienen aher Tuner 


— 8 _ 


than werden. Dies Faetum allein, daß jeder. Erzieher 
ein Abgewöhner, alle Erziehung ein Befreiungsfrieg 
gegen die Gewohnheiten ift, würde binreichen, um uns 
fagen zu laffen: Gewohnheiten befchränfen. Je weniger 
einer hat, deſto freier if} er, je mehr, befto weniger 
ift er es. Und wieder: Je mehr er mit Gewohnheiten 
behaftet ift, deſto mehr bat die Erziehung no an 
ihm abzuarbeiten, d. h. defto weniger ift er ganz und 
wohl erzogen. | 

Biel vortheilhafter dagegen fällt, wenn wir, wie 
fo eben, die Praris des Erziehers zur Richtſchnur 
nehmen, unjer Urtheil aus binfichtlihh der Ange⸗ 
wöhnungen Dies Wort brauchen wir dort, wo 
irgend ein Thun ums fo geläufig warb, daß es feiner 
Anſtrengung bedarf, weil es ganz von felbft geht. 
Mindeitens eben jo viel Mühe, wie der vernünftige 
Pädagog fi giebt, um es zu verhindern, daß der 
Menſch fih am Diejes oder Jenes gewöhne umd es 
durchaus Haben müſſe, wird darauf verwandt, biefes 
oder jenes Thun zu einem angewöhnten, zu einer 
Sertigleit, wie man e8 nennt, werden zu laffen. Das 
Streden der zarten Glieder wird durch die angelegten 
Windeln, das Geradeſitzen durch ftets wiederholten Zu- 
ruf, das Auswärtsgehn durch das Marter-Inftrument 
der erſten Tanzſtunden eingeübt, d. 5. angewöhnt, 
damit es von felbft geichehe, damit e& Maier, d. 5. 





— 9 — 


unwillkührliches Thun werde, keine Mühe mehr mache. 
Es ift feine Inconfeguenz, wenn berfelbe, der ſich 
eben als Abgewöhner zeigte, hier darauf ausgeht an- 
zugewöhnen. Beides hat denjelben Zweck, den Zög- 
King tüchtig, Träftig, ſtark, frei — gleihviell — zu 
machen. Darım wird einerfeits verhindert, was ihn 
in fremde Gewalt bringt, aljo unmächtig macht, 
dies aber thut die Gewohnheit; darum auf der an- 
deren Seite gefördert, was das Maaß feines Könmens 
und feiner Macht ift, dies aber ift wirflidh die Ange⸗ 
wöhnung, denn nur wenn ein Thun mir gar feine 
Mühe macht, ganz von felbft geht, dann exit kann 
ich fagen, ich Tann das, oder ich habe es in meiner 
Gewalt. Wer ein Thum fi fo angemwöhnt hat, daß 
es ohne die allergeringfte Schwierigfeit fi) ganz von 
ſelbſt vollzieht, in dem hat fich das Können zu dem 
gefteigert, was mit dem ihm ſprachlich verwandten 
Worte Kunſt bezeichnet wird. Dem Künftler ift bie 
Ueberwindung jeder Schwierigkeit gemohnt worden, 
feine gelibte d. h. gemöhnte, Hand oder Stimme voll⸗ 
bringt Alles von ſelbſt. Se mehr dies der Fall ift, 
befto mehr fagen wir, er habe feine Triller oder 
Coloraturen in feiner Gewalt oder fei ihrer Herr; 
und nicht mur von ihm fagen wir das, fondern alle 
Bewegungen nennen wir unfrei, jo lange fie dem, 
der fie macht, ungewohnt find, Daneaaı wu Tr nt 


— 10 — 


Angemwohnheit wurden und von felbft erfolgen, da 
fagt man, der Menſch Habe fie in feiner Gewalt, 
bewege fich frei. Da die Gewohnheit des Thuns 
nicht, wie die vorher betrachtete des Habens, abhän⸗ 
gig macht, fondern zum Herren und frei, fo ſpricht 
man aud) hier nidht mehr wie dort von einem 
faible oder einer ſchwachen Seite, fondern vielmehr 
die force eines Künftlers und die Stärke einer Sän- 
gerin wird e8 genannt, wenn die Triller und Colora- 
turen von felbft erfolgen, und der Ausdrud Birtuo- 
fität, der die Fertigkeit oder das angewöhnte Thun, 
der Tugend zugefellt, ift ein merfwürdiger Gegenfat 
dazu, daß wir vorhin die Gewohnheit an einen Genuß 
ein Lafter nennen hörten. Je mannigfaltiger das Thun 
ift, das ein Menich ſich angewöhnte, defto weiter das 
Gebiet, in dem er frei fehaltet und mwaltet, deito mehr 
aber auch ift das Ziel der Erziehung erreicht oder er 
wohl erzogen. 

Demnach ſcheint es, als müßten die Gewohnheiten 
in dem Kapitel von den Krankheiten, die Angewohn- 
heiten dagegen in dem von den Heilmitteln der Seele 
abgehandelt werden, ein Refultat das wir, aufer fei- 
ner Einfachheit, noch wegen einer anderen Rückſicht will» 
fommen heißen müßten. Vielleicht frappixt Manchen 
die Behauptung, daß zu den vielen Gegenfäben, aus 
weldjen ber Unterfchieb der beiden SGedteäter beiteht, 


— 11 — 


aud) dies gehört, daß Männer viel mehr als Frauen 
dazu neigen, von Gewohnheiten beherrjcht zu werden, 
Dagegen Frauen weit leichter fi) Etwas angemwöhnen, 
und doch ift fle zu rechtfertigen. Am Leichteften fir 
den, der ein einzelnes Faetum als Beweis filr einen 
allgemeinen Sat gelten läßt; denn diefen witrden 
wir auf jenen Mann verweiſen, ‘von dem wir er- 
fahren haben, daß er gewohnt ift zur beſtimmten Zeit 
jeinen Kaffee zu haben. Da nämlich feine Frau, wo⸗ 
ran doc kaum zu zweifeln, fi) angewöhnt hat, zu 
beftimmten Zeiten ihren Kaffee zu geben, fo zeigt dies 
würdige Paar, indem fie gewohnt ift zu geben mas 
er zu haben, gerade die Bertheilung von Gewohnheit 
bes Habens und gewohnten Thun, die mein Sat be- 
hauptet. Wer alſo einem einzelnen Falle allgemeine 
Beweiskraft zugefteht, der muß fich zufrieden geben; 
ba aber Wenige fo gefällig zu fein pflegen, fo wirb 
nach einem Beweiſe gefucht werden müffen, der Allen 
genügt. Als folchen wird man wohl das Factum gel- 
ten laffen, das nicht nur Eltern und Erzieher, ſon⸗ 
dern jeder aufmerffame Beobachter beftätigen wird, 
daß jedes Heine Mädchen den Bruder, felbft wenn 
er älter ift, im Aneignen don Manieren, von Ge- 
ſchicklichkeiten aller Art weit hinter fich läßt, daß bie 
* Länftlichften Bewegungen (man denfe an bie beim 
Striden, deſſen Schwierigleit dadvx Bien IR 


- 12 — 


der Strumpfwirkerfiuhl noch nicht vereinfacht werben 
fonnte), ihm faft im Handummenden zur Fertigkeit 
werden, kurz daß es viel früher wohlerzogen ift als 
er, daß dies Alles aber unter die Kategorie der An- 
gewöhnungen fiel. Steht aber mein Sat feft, daß 
bie Angewöhnungen vorzüglid) der Frauen Sache find, 
oder daß, naturhiſtoriſch ausgedrüdt, die Menſchen in 
die ziwei Arten der Gewohnheitsmenſchen oder Männer, 
und Angewohnheitsmenſchen oder Frauen zerfallen, 
fo ift auch begreiflih, warum id) das Reſultat unfe- 
rer Unterfuhung, nad) welchem die Angewöhnung 
heilt, was die Gewohnheiten verderben, ein mwilllom- 
menes nannte. Die trodne Unterfuchung hat dahin 
geführt, wozu den Dichter die Mufe: zur Huldigung 
der Frauen. 

Wie Schade nur, daß die Wiſſenſchaft niht galant 
ift! Ob deswegen nicht, weil fie weiblichen Geſchlechts, 
Oalanterie aber von Frauen nicht verlangt, ja nicht 
einmal gewünfcht wird, entſcheide ih nicht. Genug, 
daß eine genauere wiſſenſchaftliche Unterſuchung den 
Borzug, den wir bis jet den Angewöhnungen ein- 
räumten, in Nichts verſchwinden läßt. Er gründete 
fi darauf, daß, während man von einer Gewohnheit, 
die und beherrfcht, nicht Laffen Konnte, die Angewöh⸗ 
nung uns fagen ließ: Dies macht mir feine Mühe, def 
din ich Herr. Gilt dies aber wirtüi von Allem, bas 





— 13 — 


man ſich angewöhnte? Man denke einmal an die Fälle, 
die, wo dies Wort gebraucht wird, den Meiften eher 
einzufallen pflegen, als die Gejchidlichkeiten und Fertig⸗ 
Teiten, an die nämlich, wo Geberden, Mienen, Redens- 
arten zur Angewohnheit wurden, indem die Organe 
berfelben eine folche Fertigkeit im Hervorbringen ber- 
ſelben erlangten, daß fie nun ohne unjer Wiſſen und 
Rollen von felbft erfolgen. Warum runzelt man dba 
die Stirn, fchüttelt den Kopf, wiederholt ſtets daſſelbe 
Wörtchen? Weil man es nicht Laffen fann. Wie 
feltfam aljo hat fi der Spracdhgebraud) umgekehrt: 
Das Nicht-Laffen-können, das bisher als Weſen der 
Gewohnheit galt, wird auf einmal zum Prädilate der 
Angewohnheiten, die damit auch den Ruhm einbüßen, 
den Menſchen ftärker und freier zu machen, und da⸗ 
rum aud) das Hecht die gepflegten Lieblinge des ver⸗ 
fländigen Erziehers und das Maaß der Erziehung zur 
fein. Kant, der auf gute Erziehung fehr viel gab und, 
wie auf vieles Andere fo auch auf Pädagogik fi) gut 
verftand, will nicht nur, daß ein wohlerzogener Menſch, 
feine ſolche Angewohnheiten habe, fondern behauptet 
fogar, daß wenn Einer mit der Angewohnheit behaftet 
if, Selbftgefpräche mit heftiger Gefticulation zu bes 
gleiten, oder, wenn er allein, laut zu peroriren, daß 
er dann bort bingehöre, wo man alle anderen BAGRE 
einfperrt. Zwar fo weit wie Kant, der a WELT 


— 4 — 


verpflichtet war, Alles auf die Spite zu treiben, gebt 
der geſunde Menſchenverſtand nicht. Für complete 
Narren erllärt er die nicht, die dergleichen thun; aber 
für närrifche Leute gelten fie auch ihm, und die für 
befjer erzogen, die durch größere Herrichaft über fich 
felbft, fid) davon frei erhielten. Was wir aljo eben 
nod) als Maaß der Stärke eines Menſchen anjahen, 
feine Angewöhnungen, das zeigt fich, genauer betrach⸗ 
tet, als Ketten, die ihm feine Freiheit rauben. 

Eine ganz gleiche Umkehrung des früher Gejagten 
ergiebt die genauere Betrachtung der Gewohnheiten, 
bie vorhin jo ſchlecht wegkamen. Sehr flarfe Em- 
pfindungen, fo lange fie nen find, übermannen umd 
beberrfchen uns. Ein heftiger Lärm, das Knirſchen 
des Sandes, ein widerwärtiger Geruch, ſie machen 
uns unfähig, an irgend etwas Anderes zu denten. Iſt 
Einer ein Müller oder ein ©lasfchleifer, oder bewohnt 
er feit Sahren eine Stadt, in der man nur mit Braun- 
kohle heizt, fo achtet er das nicht, denn er ift def 
gewohnt worden. Die allerheftigften Schmerzen, leib- 
liche wie phyfifche, fie machen dem, der ſich an fie ge- 
mwöhnt hat, feine Roth mehr, und daß wir von ihm 
fagen, er fei feines Schmerzes Herr geworden, iſt ganz 
in der Ordnung, denn wir haben ja gejehn, daß man 
Herr deſſen ift, was feine Mühe macht, jet hören wir, 

daß das Gewohnte Teine Noth mad, Mitte wachen 





— 15 — 


aber und Noth machen, Tiegt nicht weit auseinander. 
Wie merkwürdig, daß jetst das paffive Gewohntwerden 
eines Zuftandes, das wir bisher als die eigentliche 
Sklavenkette des Menſchen anjahn, fi) als das er- 
weit, was ihn zum Herrn macht und alfo mächtig und 
frei! Merkwürdig oder nicht, auch hier ſtimmt zu dem, 
was wir eben gefunden haben, die Praris der Er- 
zieher, welche darauf ausgeht, durch Abhärtung d. 6. 
durch Stumpfmachen gegen unangenehme Empfindun- 
gen, ihre Zöglinge frei zu machen von ber Gewalt 
ber Schmerzen. Das der Schmerzen Gemohntwer- 
den, das Hart» und Stumpfwerden gegen fie, das 
ift das fihherfte aller ſchmerzſtillenden Mittel, und mer 
genauer zufieht wie und wodurch die meiſten Menſchen 
Schmerzen, Roth und Elend ertragen, die ung unfäg- 
Yich erjcheinen, der wird mid) nicht tadeln, wenn ich, 
am Anfange, um auf die Gewohnheit zu kommen, vom 
Opium ſprach: Die Aehnlichkeit zwifchen Beiden geht 
Leider zu weit, indem nicht nur das Ertragen des 
eignen fondern auch das Sehen fremden Leides zur 
Gewohnheit wird und diefe zum Einjchläferungsmittel 
gegen Mitleid und Dienftfertigleit. Solcher, die diefes 
geiftige Opium effen hat vielleicht unfer Dccident mehr 
als der Orient Solcher, die für ihren Leib von Euro- 
päern Opium — ich wollte fagen Kivilifatton — 
kaufen. 


— 1 — 


En Werthunterſchied alfo findet zwiſchen beiden 
Formen ber Gewohnheit nicht Statt; in beiden macht 
fie frei und macht zum Knecht, feffelt und bindet, IÖR 
und befreit fi. Daß uns diefe Behauptung in Händel 
mit den Logilern verwideln follte, weil was wir 
fagten fi) widerfpricht, fie aber fortwährend prebi- 
gen, was fich felber widerſpreche, könne nicht ge 
dacht werden, fürchten wir nicht. Es Tann den 
Herren unmöglich Ernft fein mit ihrer Loſung; dem 
da fie von dem, was ſich widerfpricht, fo viel prechen, 
und fo Bieles, 3. B. daß es undenkbar fei, davon zu 
fagen wiffen, fo nöthigen fie uns zn ihrer eignen 
Ehre vorauszufetsen, fie hätten das, wovon fie reden, 
auch gedacht. Eben darum geben wir ganz unbe 
fümmert um jenen Zuruf zu, daß in bem Begriff der 
Gewohnheit Entgegengefettes vereinigt if. Das aber 
bat der geſunde Menjchenverftand Längft gewußt, und 
demgemäß die Gewohnheit eine zweite oder andere 
Natur genannt. „Natur“, weil fte eine Beſchaffenheit ift, 
von der wir uns nicht losmachen lönnen, „andere“ oder 
zweite, weil fte eine hervorgebrachte, fünftliche ift, Bei⸗ 
des zufammen, weil fie feine natitrliche Natur ift. Ein 
folcher fich widerfprechender, Name war aber auch der 
pafjendfte für Etwas, das wie fein Wefen ſich wider» 
Spricht, fo auch Entgegengefetstes zeigt in feiner Ent⸗ 

ſtehung. Gewohnt fein und Ahtumytung Wit bahurd 





— 17 — 


ein, daß wiederholtes Empfinden Empftndungelofigkeit 
bewirkte, daß weil Etwas fo lange eine Qual gewejen, 
es nicht mehr quält. Fertigkeiten wieder und andere 
Angewöhnungen entftehen fo, daß in Folge vorfäglichen 
Thuns unvorſätzlich gethan wird, ober daß man fich fo 
lange mit etwas abgequält hat, bis man ſich damit nicht 
mehr abquält. Wer nicht immer Beides zugleich feſt⸗ 
hält, verzichtet darauf, das Entfichen der Gewohnheit 
zu erflären und ihr Wefen zu begreifen. — Aber noch 
mehr, zur richtigen moraliſchen Beurtheilung ber 
Gewohnheit ift unerläßlich, daß Teine der beiden Be- 
flimmungen vergeffen werde. Diefer Fehler wird oft 
begangen, wo die Gewohnheit als Entjchuldigungs- 
grund herbeigerufen wird: Dem Bruder oder Gatten, 
der es eime Zeit lang angejehn bat, wie während 
einer Paufe im Geipräh die Stirn gerungelt, ber 
Kopf gefchüttelt, die Achfel gezudt wird, unb nun 
bittet, man möge die heftige Gemüthsbewegung unter- 
drüden, dem wird etwas fpitig geantwortet, „er täujche 
fih, man fei gar nicht heftig, man habe an etwas 
ganz Gleichgültiges gedacht und das Stirnrunzeln 
und Ropffchütteln fei eine bloße Angemwohnheit, etwas 
Unwillführliches rein Körperliches, wofür man Nichts 
könne.“ Wenn diefe Antwort dem Warner Etwas 
fagt, da® er wirklich bisher nicht wußte, fo muß ber 
Mann einen heilfofen Schret doodo hahm. Su 
2 


— 18 — 


Kopfichütteln als Geberde bei einer vereinzelten Ge⸗ 
miüthsberwegung ift am Ende feine große Sache, denn 
une fois n’est pas coutüme. So hat er bisher ge 
dacht. Jetzt aber wird ihm vertraut, es fei coutume 
und jet wird die Sade ernfthaft. Sehr erufthaft! 
Denn wie viele heftige Gemüthsbewegungen müſſen 
Statt gehabt haben, ehe die Stirnmuskeln die Sertig- 
feit erlangten, ſich von felbft zu rungen! Wie oft 
muß man in der Lage gewejen fein ärgerlicd) den 
Kopf zu fchütteln, ehe das Schütteln zu einer körper⸗ 
lichen Nothwendigkeit wurde, wie das Athemholen! 
Wahrli es ift die höchſte Zeit, die freundlichen 
Gedanken, welche die Stirn glätten und ben Kopf 
zur Ruhe bringen, auch fo oft hervorzurufen, daß 
die glatte Stirn zur Angervohnheit werde, und zu 
einem rein Körperlichen und Unwillkührlichen, daß 
der Kopf ſich ruhig hält. Jetzt, ehe jene Reparation 
eingetreten ift, hat man freilich Recht zu fagen: Ich 
kann ja Nichts dafür, aber nicht minder Recht hat der 
Bruder oder Gatte, wenn er erwidert: Liebes Kind, daß 
Du Nichts dafür kannſt, dafür kannſt Du, und fehr 
viel. Die Dame nennt dies vieleicht Unfinn, und doch 
wird fie gerade jo urtheilen, wo ihr die eigne Situa⸗ 
tion an einem Anderen und in vergrößertem Maaf- 
ftabe entgegentritt. Jenem Berehrer des Bacchus, 
welcher ſich darüber beklagt, vo& wen immer fein 





— 19 — 


vieles Trinken tadle, und nie ein Wort verliere über 
feinen unauslöſchlichen Durft, wird fie in's Geſicht 
Lachen wie alle Anderen, Warum? Weil gerade dies, 
daß fein Durft, in Folge der vielen Löfchungsverfuche, 
unauslöſchlich und unwiderſtehlich geworben ift, ihm 
zum Tadel gereicht, viel mehr als wenn er einmal 
ohne — man nennt es aud) über den — Durft ge- 
trunten hätte. Oder aber, wenn ein Angellagter fi 
jo entfehuldigen wollte, daß er nicht geftohlen habe 
wie ein Neuling, ber dazu eines befonderen Ent- 
ſchluſſes bedürfe, fondern er fei ein eingefleifchter Dieb 
und könne das ihm zur Natur gewordene GStehlen 
nicht laſſen, und der Richter würde ihn nun gerade 
firenger beftrafen al8 den, der es lafjen kann, fo wird 
jene Dame dies ficherlich in der Ordnung finden, und 
doch ift das Princip, welches den Richter leitet, gerade 
daffelbe, welches, wo es der Bruder oder Gatte gegen 
fie geltend machte, von ihr Unfinn gefcholten ward. 
Sage man aber nicht, daß hier ganz Verſchiedenes 
zufammengeftellt werde: unfchuldige Gewohnheiten 
imd Beichaffenheit des Wefens, des ganzen Ichs. 
Erftlich giebt es keine unfchuldige Gewohnheit, fondern 
an jeder Angemohnheit ift der Menfch ſchuld, oder er 
ift für fie verantwortlich. Das pflegt auch Hinfichtlich 
ber hübſchen Angemwohuheiten, des graciöfen Ganges, 
des fertigen Clavierfpiels u. \. vo. Farm in Brdut 

4* 


— 20 — 


zu ſtellen, indem er ſich dieſelben als ſein Verdienſt 
zurechnet. Alſo ſei man conſequent. Zweitens liegt 
Gewohnheit und Weſen oder Ich des Menſchen gar 
nicht ſo weit auseinander, wie Manche meinen. Es 
iſt nicht ohne Grund, wenn man von dem Compler 
feiner Gewohnheiten zu fagen pflegt, So oder Das 
bin ich einmal. Das Ich iſt wirklich nur ein Geſpinſt, 
in welchem Gewohnheiten und Angewohnheiten bie 
primitiven Fädchen bilden, oder um ein pafjenderes 
Bild zu brauchen, wie ein Geficht nicht ift außer den 
Sefichtszügen, fo bilden in dem inneren Antli, bie 
wir das Sch des Menfchen neımen, feine Gewohn- 
heiten die einzelnen Züge. Unſer Ich ift nur unfer. 
zur Gewohnheit geiwordenes Empfinden und Thun, 
wofür ſchon dies ein Beleg ift, daß wenn wir ganz 
ungewohnte Empfindungen haben, wir uns fragen: 
Bin ich es auch wirklich? und wieder wenn uns ganz 
ungewohnte Willens-Anmwandlungen fommen: melcher 
Genins oder Dämon hat mir dies eingegeben? Unfer 
Ich ift nur unjere Gewohnheiten und Angewohnheiten, 
waren fie aber das, was und wovon wir nicht laſſen 
fonnten, jo begreift fih, warum das Ich das if, 
wovon wir niemals los fommen, und was uns Teine 
Macht zu entreigen vermag, fo daß ein großer Phi- 
Iofoph e8 den unfterblichen Gott in uns hat nennen 
Zönnen und eim nit minder araker ven Wuxur, der 





nicht ftirbt. — Beſteht das Ich aus den Gewohnheiten, 
und waren diefe, wie wir gefehn, ein Widerfprud) 
in fih, jo muß natürlih als ihr Product das IH 
auch diefen Widerfpruch als multiplicirt, in riefen- 
hafter Dimenfion zeigen. Nur ein anderer Ausdrud 
für diefen Widerſpruch ift es, wenn wir das Ich 
ein großes Räthſel nennen, denn feit dem Räthiel, 
weldhes Simfon aufgab und dem, welches dem Dedi- 
pus vorgelegt ward, hat jedes Räthſel nur darin be- 
ſtanden, Entgegengefetstesg — (dort Freſſer und Speife- 
geber, hier vierfüßig, zweifüßig und dreifüßig) — in 
Einem zu denfen. Die räthjelhafte, d. h. widerſpruchs⸗ 
volle, Natur des Ichs ift nicht abzuleugnen: Wer 
fein Kind mehr ift, defien Handlungen gehen aus 
feinem Weſen oder feinem Ich jo nothiwendig hervor, 
wie der Rofenftod Rofen trägt und feine Stechäpfel, der 
Dornftrauh Dornen und feine Reben. Das gefteht 
Jeder, wenn er ehrlich ift, fich felbft, und dennoch, wenn 
feine Thaten den Dornen und Stechäpfeln gleichen, 
macht er fih Vorwürfe. Iſt das nicht ein Wider⸗ 
ſpruch? Gewiß! Aber um ihn zu begreifen ober um, 
was dafjelbe hieß, das Räthſel zu löfen, warum wir 
uns tadeln, wo wir doch nur handelten mie es unfere 
Natur mit fi) bringt, brauchen wir weder die Freiheit 
zu leugnen noch myiyſtiſche Theorien zu exfiuuen, sr 
Nichts erlären, fondern nur, den Moihemaitrrn Up 


— 2 — 


lich, die ſchwierige Aufgabe in leichtere zu zerlegen. Wo 
ein Thım zur Gewohnheit geworden ift, da erfolgt bie 
einzelne Bethätigung unmwillführlich, wie das Athem⸗ 
holen, als Folge einer körperlichen Befchaffenheit. Ob⸗ 
gleich wir dies wifjen, tadeln wir doch, nicht die einzelne 
Bethätigung (das eine Stirnrunzeln), fondern die Be- 
fchaffenheit, weil dieſe eine zugezogene, ſelbſtverſchul⸗ 
dete iſt. Nun, wenn es begreiflich iſt, daß es ſolche 
den natürlichen ähnliche, aber ſelbſt verſchuldete Be⸗ 
ſchaffenheiten giebt, ſo mag es ſchwerer zu begreifen 
fein, iſt aber gewiß nicht abſolut unbegreiflich, daß 
die Summe dieſer Beſchaffenheiten, die unveränder⸗ 
liche Totalbeſchaffenheit, die wir das Weſen oder das 
Ich eines Menſchen nennen, auch eine zugezogene, 
ſelbſt bewirkte und verſchuldete iſt. Es iſt, gerade 
wie dort im Kleinen, ſo hier im Großen. Bin ich 
einmal ſo wie ich bin, ſo kann ich freilich nicht anders 
handeln. Daß ich aber ſo bin, das iſt meine Schuld, 
und darum kann ich und muß ich tadeln und anklagen 
nicht die einzelne ſchlechte Handlung — (wäre dieſe 
meinem Weſen ſo fremd, wie die trockenen Früchte 
am Weihnachtsbaum, ſo wären nicht viel Worte zu 
verlieren) — ſondern ich tadle mich, weil ich ſo bin, 
daß mein Weſen ſolche Früchte trägt, daß es mir 
natürlich iſt ſo zu handeln. Wer die Gewohnheit 
nicht begreift, Tann das I vhht vertin. Be Ser 





— 23 — 


kenntniß ihres Weſens iſt einer der wichtigſten Schritte 
zur Löſung dieſer Fundamentalfrage der Pſychologie. 


2. 

Bis jetzt iſt von der Gewohnheit nur geſprochen, 
ſo weit ſie Lebenszuſtand einer Einzelperſon und für 
dieſe von Wichtigkeit iſt. Sie hat aber neben dieſer 
pſychologiſchen auch noch die ethiſche Bedeutung, daß 
ſie in allen ſittlichen Gemeinſchaften den zuſammen⸗ 
haltenden Kitt bildet. Daß rechtliche, bürgerliche, 
ſtaatliche Ordnung „in der Gewohnheit feſt gegründet 
ruht”, kann Niemand leugnen, wenn er zugibt, daß 
folche Ordnung nur durd) das Zuſammengehen von 
Rechten und Pflichten befteht, und damm findet, wie 
die Gewohnheit diefes oder jenes zu genießen fi) zu 
Anſprüchen und Rechten verhärtet, und wieder alle 
Berbindlichfeiten ihren erften Urfprung darin haben, 
bag Leiftungen berföümmlich, d. h. zur Angewohnheit 
wurden. Ich gehe über diefen Punkt hinweg. Nicht 
um dem Vorwurf aus dem Wege zu gehn, daß wenn 
ich die Rechte mit den Gewohnheiten, die Berbind- 
lichkeiten mit den Angewohnheiten identificire, nad) der 
vorhin beliebten Erbtheilung unter die beiden Ge⸗ 
fchlechter am Ende herausfommen werde, daß nur bie 
Gewohnheitsmenfchen, d.h. die Männer, Rechte haben. 
Da habe ich Feine Kurht. Männer woerrara ur Cor 


— 14 — 


ſolche Conſequenz nicht zur Laſt legen, und Frauen 
— — mm, benen werde ich antworten, daß fie es 
ja find, die uns immer vorwerfen, wir feien in alle 
Ewigkeit die Rechthaber, und daß es ſehr unartig 
wäre, wenn wir ihnen uicht glaubten. Mein Grund, 
warum ich bei der Bedeutung der Gewohnheit für 
die bürgerliche Ordnung mic nicht aufhalte, if 
ein anderer: Die Grenzen, in welchen unfere Unter⸗ 
fuhung fih zu Halten verſprach, waren durch 
ben Gegenſatz beftimmt, ben der Sprachgebraud 
zwilchen Gewohnheiten und Angemwohnheiten jelgte. 
Diefer Gegenfaß, dort feftgehalten, wo der Werth 
beider verglichen wurde, fcheint, feit die moralifche 
Bebeutung der Gewohnheit und ihre Wichtigteit für 
das Ih zur Sprache kam, ganz abhanden gekommen 
zu fen. Unwillkührlich ward dort von ber Ge 
wohnheit uur im Ganzen, und als gebe es Teine 
verſchiedene Arten derfelben, gejprochen. Zwar, ihr 
Unterfchied würbe wieder zum Borjchein kommen, wo 
die eine Art für die Rechte, die audere für die Pflichten 
ben Boden abgiebt, nicht aber ihr Gegenſatz, dem 
wo biejer fich zeigt, da wird der bürgerliche Verband 
nicht geknüpft ſondern vielmehr zerriffen. Wollen wir 
daher feftbalten, was die Sprache uns einprägte, daß 
Gewohnheiten und Angewohnheiten fich entgegen⸗ 
gefest find, und wollen dvenucd hen TB: Veheme 





— 25 — 


tung zuſchreiben, ſo werden wir uns nach Fällen um⸗ 
ſehen müſſen, wo gerade durch ihren Antagonismus 
Gemeinſchaft zu Stande kommt. 

Aber darf auch jener Gegenſatz noch feſtgehalten 
werden? Iſt er nicht, trotz aller Autorität bes Sprach⸗ 
gebrauchs, aufzugeben, feit fich gezeigt hat, baf beide 
unter dert gemeinfchaftlichen Begriff (oder Unbegriff) 
ber befreienden Feſſeln, oder der in Banden fchla- 
genden Befreier fallen? Daß dies nicht nothwendig 
ift, dafür giebt uns die Naturwiffenjchaft einen deut- 
lichen Wink, den freilich der verachten wirb, welcher 
in der Ratur nur Geiftlofes fieht, und in dem Geifte 
nur Unnatur, der aber willlommen heißen, welcher 
weiß, daß in beiden dieſelbe Vernunft fich zeigt, die- 
ſelbe Weisheit waltet, und welcher eben darum bet 
aller ihrer Verſchiedenheit in der Natur aufflärende 
Analogien des Geiftigen, in den geiftigen Erſcheinun⸗ 
nungen Winke zum Verſtändniß der Natur findet. Die 
nun unter den Naturwiffenjchaften, von deren Süßen 
der Bater der englifchen Naturphilofopie, Lord Bacon, 
ahndete, was der Schöpfer ber deutſchen Raturphilo- 
fopbie, Schelling, geradezu ausſprach, daß fie die 
allgemeinften und fundamentalften Naturgefeke am 
Meiften enthüllen, bie Chemie lehrt, daß der aller- 
änferfte Gegenfats immer dort Statt findet, wo aus 
analogen Factoren Beftchendes Ti yenenilter IL“ 


— % — 


Säuren und Bafen find beide Sanerftoffverbindumgen. 
Man hat die Erfcheimungen des äußerſten oder dia⸗ 
metralen Gegenjates, weil biejelben zuerft an dem 
Magnet genauer betrachtet wurden, lange Zeit in 
Deutſchland polarifche oder Erjcheinungen der Pola- 
rität genannt, ein Name der allerdings dort, wo 
es fih um electriihe oder chemifche Gegenſätze han⸗ 
delt, nicht ganz pafjend ift und vielleicht beffer mit 
dem deutſchen Worte Spannung, geſpannter Gegen⸗ 
fat, oder einem ähnlichen vertaufcht würde. Der 
maßlofe Zorn aber, mit dem in neuerer Zeit eracte 
Naturforfcher über den armen Ausdrud berfallen, in 
Folge defjen Jeder von vornherein für einen Confu⸗ 
fionarius gilt, der von Polarität dort fpricht, wo es 
fih nit um Endpunkte einer Linie, fondern um 
Stoffe handelt, hat etwas Seltfames, fo lange fie 
ſelbſt den Blit eine electriiche Erfcheinung nennen, 
woraus ein Purift, wie fie jelbft, folgern könnte, daß 
fie den Blitz für etwas Bernfteinernes erklären. Die- 
ſelbe Nadhjficht, die man dort dem Worte „Electrifch“ 
erweift, wird auch hier in Anſpruch genommen, wenn 
im weitern Verlauf diefer Unterfuhung der Gegenfat 
zwifchen Gewohnheiten und Angewohnheiten ihre Po- 
larität genannt werden ſollte. Es handelt fi näm⸗ 
lich darım, zu zeigen, wie das Berhältnig von Manz 
and Weib, denen wir je Eur der beiden a rer Do- 


I 





— 27 — 


mäne zugewieſen hatten, gerade durch den polaren 
Gegenſatz beider beſtimmt wird, und wie dieſer Gegen⸗ 
ſatz Formen annimmt, die an magnetiſche, und wieder 
ſolche, die an electriſche und magnetiſche Vorgänge 
erinnern. 

Wo ſich das Verhältniß erſt knüpft zwiſchen dem 
Manne, der feine Gewohnheiten und dem Engel, der 
feine Angewohnbeiten hat, da wirken beide aufeinan» 
ber, wie der Nordpol eines Magnets auf den Süd- 
pol der magnetifchen Nadel. Man hat es wohl fchon 
erlebt, daß das Krausziehen der hübfchen Stirn, das 
Aufmwerfen des Näschens, das fpöttifche Schiefziehn 
des Mundes allerliebft gefunden wurde als eine jolie 
petit moue, daß grotesfes Mienenfpiel, womit die 
Worte eines Andern, die Bewegung des ganzen Kör« 
pers, womit die eigenen begleitet wurden, eine ganz 
reizende Lebhaftigfeit genannt ward. Und eben fo 
braucht man nicht gerade in fremde Welttheile zu 
reifen, um zu fehen, daß ein jchönes Kind mit dem 
Fidibus heranfpringt, weil fie e8 jo amüſant findet, 
daß „Er“ raucht, „nein fo amüſant!“ In dieſer Zeit 
wo es ein glüdlicher Fund ift, etwas Neues zu ent- 
deden, woran „Er“ hängt, oder was „Sie“ nie unter- 
läßt, ziehen Gewohnheiten und Angewohnheiten an, 
weil fie piquant find. 


Daß es bamit nicht abgeiham Ken Tun, \KSEN. 


— 28 — 


ſchon die Grammatik, indem wo Eines piquant iſt, 
nothwendig ein Anderes piquirt werden muß. Wollte 
Einer dieſe Regel außer Acht laſſen, fo würde dem 
Schnitzer, ben er begeht, ein firenger Corrector, bie 
Zeit, die Jahre, nicht ausbleiben. Mit diefen tritt 
ein Moment ein, wo, wer Selbitgejprädhe zu befau- 
{chen verfteht, viel Neues lernen Tann. „Diefes fa- 
tale Rauchen, Heißt es jetzt, ich laſſe mir es nicht 
ausreden, es muß umngejund fein.“ Und wieder: 
„Dieſe abjcheuliche Manier, das Geficht zu verziehen, 
fie wird mir noch ganz häßlich darüber.” Iſt nun 
Eines fo undvorfichtig und hält diefen Monolog Yant, 
fo kann es bald in dem einen Zimmer bes Haufes 
einen Qualm geben, von dem es gewiß nicht heißen 
wird: „nein jo amüjant“, und in dem andern eine 
moue, die nur ein Verläumder petite nennen kann 
aber auch nur ein Schmeichler jolie. In beiden Räu- 
men wird übrigens der Hauptgrund bes Verdruſſes 
die Sorge um das Andre fein; hier die um „Seine“ 
Gefundheit, dort die um „Ihre Schönheit. Beides 
ift eigentlich Kurus, denn trots alles Rauchens iſt „Er“ 
terngejund, und „Sie“ wieder wird von aller Welt 
ganz hübfch gefunden, aber diefes Motiviren des 
eigenen Aergers bient, gleichſam als hinüberleitender 
Accord, dazu, den Uebergang von der früheren Moll⸗ 
3u ber gegenwärtigen Dur-Tonart var 16 RR wunl. 


— 9 — 


ger grell erfcheinen zu laſſen. Grell aber ober nicht, 
der Uebergang ift gemacht und bie Polarität von 
Gewohnheiten umd Angewohnheiten bringt hier Er⸗ 
ſcheinungen hervor, ber ähnlid), wo zwei electrifizte 
KXügelhen, die emfig nad) Vereinigung firebtge; jo- 
bald dieſelbe erreicht if, plötzlich auseinander fprin- 
gen. — Würde Jedes vorausfehen, daß biefes elec- 
teifche Stadium nicht ausbleiben Tann, fo wurde 
mandje, ſonſt gleichgultige Gewohnheit gelaffen were 
ben, fo lange es noch geht, und mandje Heine Ange 
wohnheit würde nie entfichen. Mit Abſicht ſpreche 
ich hier von Gfleihgültigem und von Kleinigfeiten, 
denn biefe find hier gerade von der größten Wichtig 
keit. Wie eim fehmerzhafter Stoß, ja eine ernfthafte 
Berletzung, mit mehr Geduld pflegt getragen zu wer⸗ 
den als ber leiſe Kitzel, wenn eine Fliege fih zum 
Hunbertfien Mal auf unfere Stirn ſetzt, fo kann das 
unerwartete Hervortreten einer Differenz in jehr wich ⸗ 
tigen Fragen einen ſchmerzhaften Zufammenftoß bes 
dingen, der dem einen ober beide Theile fehr verletzt, 
und ift doc) weder fo unangenehm noch von fo nach⸗ 
haltiger Wirkung, wie biefe Heinen Berftimmungen, 
die nur dadurch hervorgerufen werben, daß es zur 
Angewohnheit wurde, alle Selbſtgeſpräche mit Kopfe 
ſchutteln zu begleiten, oder jede Antwort mit „Nein“ 
oder „Aber“ zu beginnen. Es it chen qua wu ir 


— 30 — 


dem Electriſiren. Nicht ſtarke Stöße an die Glas—⸗ 
ſcheibe, bei denen ſie laut aufſchreit, ſondern das leiſe 
unhörbare Reiben derſelben füllt die Leibner Flaſche 
und eben fo leiſe und unmerklich erhält mancher Mann, 
der ihr gleicht, feine electrifche Ladung. Da fteht an 
der Electriſirmaſchine feines häuslichen Lebens eme 
liebe Seele, und ohne zu wilfen, iwas fie anrichtet, 
dreht fie und reibt fie drauf zu. Sie ahndet nicht, 
daß was fie für ganz unbedeutend hält, und was es 
auch vielleicht ift, durch das Immmer- und Immer⸗ 
wiederfoinmen, den Mann in jene Spannung gebradjt 
bat, in der wir anfangen anfzupaffen. In faft ängft- 
licher Erwartung fteht er ſchon da. „Sekt kommt 
es” — jett wird fie gleich ſchütteln — jet fagt fie 
ganz beftimmt Nein — jet — jet“ — da bedarf 
es nur einer unvorfichtigen Berührung und — prif! 
— der Funke ſchlägt heraus. 

Bliebe es nun bei dieſem electriſchen Stabimm, 
wie wir es nannten, jo würde die BPolarität der 
Gewohnheiten und Angemwohnheiten in Teinem Haus⸗ 
ftande das Wetterleuchten aufhören laffen, ja in man⸗ 
hen würde bald Feuer im Dad) fein. Der Berlauf 
aber des chemiſchen Gegenſatzes giebt eine tröftliche 
Verheißung. Nicht darin, daß, wenn ſich entgegen- 
geſetzte Subftanzen zufammen gegoffen werben, das 
erfte Aufbraujen und vie Star in ver Tlüftgleit fich 





— 31 — 


verliert, die weder fauer noch alkaliſch ſchmeckt und 
enhig und fühl das Glas füllt; das infipide Pflegma 
ohne Spiritus, welches dort eintritt, wo man durch 
Sie abftumpfende Kraft der Gewohnheit empfindungs- 
Jo8 wird gegen die Angewohnheiten, die zuerft piquant 
erfchienen, ſpäter piquirten, — diefen Zuftand wird 
Keiner für einen glücklichen anſehen. Nein, ich denke 
an jene Ausgleichung des chemifchen Procefies, wo 
nicht, wie in dem Phlegma, bie Heinften Theilchen 
beider Subftanzen gleichgültig und leicht verſchiebbar 
neben einander Shwimmen, fondern in inniger Durch⸗ 
dringung fie einander Halt und Feftigfeit geben, fo 
daß ein Neues entiteht und ein Schöneres als fie, 
iu der Tremung ſowohl als in dem Aufbraufen, 
zeigten, der Kryftall. Diefem innigen fih Durd)- 
dringen und Aneinanderhalten entjpriht der Zu⸗ 
fand, wo den Angewohnbheiten nicht die befreiende 
Macht der Gewohnheit entgegengeftellt wird, durch 
die man hart und unempfindlic) dagegen wird, fon: 
dern vielmehr die Seite der Gewohnheit begegnet, 
vermöge der fie unfere Herrin wird, jo daß aljo der 
Mann nit fo der Heinen Angemohnheiten feiner 
Frau gewohnt wird, wie ber Müller des Geklappers, 
auf das er nicht mehr achtet, fondern vielmehr fo, wie 
wir den ganz zuerft erwähnten Dann an den Kaffee ge» 
mohnt fanden, daß er alfo fie nicht miiien mag, Wil ÄT 


— 33 — 


ihm zum Bedürfniß und Genuß wurden. Wiebermm 
wird ihr, in biefem Stadium chemiſcher Durchdringung, 
feinen Gewohnheiten zu Willen zu fein, fo fehr zur An⸗ 
gewohnheit werden, daß fie e8 thut, nicht wie dort we 
der Reiz der Neuheit es piquant machte und amüſant, 
fondern weil fie es nicht laſſen kann. — Jede nene 
ſolche Berftridung von je Gewohnheit umd Angewohn- 
beit wird da ein nenes Knötchen in der umauflöslichen 
Berfiridung, in welcher zu ihrem Glücke beide Ge- 
chlechter fih gefangen finden, und die man mit bem 
Worte Liebe bezeichnet. Selbit dem Mißbrauch, dieſes 
Wort für jede Gewohnheit zu brauchen, wie im: 
„Jaime a manger“ oder „er liebt den Wein‘ Tiegt 
etwas Wahres zn Grunde: zwar nicht jede Gemohn- 
heit ift Liebe, aber jede wahre Liebe ift Gewohnheit 
ja fie ift Gewohnheit in einer höheren Potenz. Das 
eigentliche Wefen des Menjchen, das was mir fein 
Selbſt, fein Ih, oder aud) fein Herz nennen, ent 
ftand wie wir gejehen haben nur aus feinen Gewohn⸗ 
heiten und Angewohnheiten, e8 war nur ein Geſpinſt 
aus dem, wovon und was er nicht lafſſen Tonnte. 
Fragen wir aber, was man Liebe nennt, jo verfteht 
man darunter jenen Ing ber Herzen zu einander, der 
fie niht nur zu einander treibt, wie die electrifchen 
Kügelchen, fondern fie dahin bringt fih jo aneinander 
und ineinander hinein zu gerwituen, tot keines von 





— 33 — 


dem anderen, noch auch das laſſen kann, ſich ihm hin⸗ 
zugeben. Nun dann aber iſt auch das Werden und 
Sein ber Liebe, der Entſtehung nnd dem Weſen eines 
Ichs jo ähnlih, daß man es nur in der Orbnung 
finden muß, wenn von ihr gejagt wird, daß zwei 
Herzen zu einem werben, d. h. daß ein neues, weites 
res, weil fie Beide in fich befaffendes, Herz oder Ich. 
entfteht. Aehnlich, aber nicht bafjelbe, denn wenn 
jedes Ich vorher ein Geſpinſt genannt wurde, jo ift 
biefes neue und befjere Ich ein Gejpinft von Ge⸗ 
fpinften, d. 5. ein Gewebe; Gewohnheiten und An- 
gewohnheiten binden hier folche an einander, deren 
jedes jelbit nichts mar als eine Verbindung, ein Con⸗ 
bolut gleichfam, von Angewöhnungen und Gewohn- 
heiten, fo daß es im ſtreng mathematifchen Sinne zu 
nehmen ift, wenn wir die völlige Verſchmelzung zweier 
Herzen als höhere Potenz der Gewohnheit bezeichneten. 
Wie darum das Räthſel des Ich’, jo wird das 
Räthſel der Liebe Keiner zu Löjen vermögen, dem nicht 
zuvor fid) das geheimnißvolle Wejen der Gewohnheit 
erſchloß. 


— 34 — 


Die Regel, daß was zuviel erklärt Nichts erklärt, 
kann bedenklich machen gegen eine Deduction, nach 
der, was wir den Wurm der nicht ſtirbt nennen hörten, 
durch daſſelbe entſtehen ſoll, was die Liebe entzündet, 
in der nach dem tiefſinnigen morgenländiſchen Dichter 
das Ich gerade ſtirbt. Wie ſchon einmal, könnte ich 
mich auf das Opium berufen, das ja auch belebt und 
tödtet. Zweckmäßiger noch ſcheint es, auch hier wie 
gleichfalls ſchon einmal geſchah, die Chemie als Rechts- 
beiftand anzurufen. Ihre Entdedung, daß ganz glei) 
zufammengefetste Subftanzen polymorph fein können, 
d. 5. fo verfchiedene Eigenjchaften zeigen, wie der 
Traubenzuder und die concentrirte Eifigjäure, die 
genau analyfirt ganz dafjelbe find, zeigt, daß es gar 
nichts Unnatürliches if, was wir vom Zufammen- 
treffen von Gewohnheiten und Angemwohnheiten be- 
hauptet haben. Ja hier könnte der feltene Fall ein- 
treten, daß der Piycholog feiner Lehrerin, der Chemie, 
mit eimem belehrenden Winfe danken könnte. Der 
Chemiker erflärte fic) jenen Polymorphismus etwa fo, 
daß die fi) verbindenden Grundftoffe das eine Mal 
fo, das andere Mal anders fi) an einander an- 
lehnen oder aufeinander fügen, warum aber gerade 
die eine Verbindung dem Wein feine Süße giebt, die 
andere eine ätzende Säure zeigt, das erklärt er für 





unbegreiflich. Anders der Piycholog, wo er die ver- 
fchtedenen Weifen durchdenkt, in welchen bie beiden 
Grimdftoffe, die uns beichäftigt haben, Gewohnheit 
und Angewohnheit, fi) begegnen und verbinden kön⸗ 
nen. Er fingirt dazu den Fall, daß Einer, der be- 
fchloffen hatte e8 nie wieder zu thun, doch, weil in 
Folge häufiger Wiederholung er es nicht laſſen konnte, 
fi) darauf eingelaffen habe, hier einen Vortrag zu 
halten. Seine zur Angewohnheit gewordene Behand- 
Iungsweife Tann da auf ein Publikum ftoßen, das 
ihrer fo gewohnt worden ift, wie man es gewohnt 
wird, daß alles Halliiche nad) Braunkohle‘ riecht, und 
welches darıım als Urtheil über fie das nicht achtende: 
Wie gewöhnlich! ſprechen wird. Es kann aber aud 
der Fall eintreten, daß es der Zuhörerfchaft zur An- 
gewohnheit ward, dem Sprechenden Nachſicht zu zeigen 
und diefe ihre Behandlungsweife ift ihm fo zur fitßen 
Gewohnheit geworden, daß er, heimgefehrt, fie nicht 
mehr zu rühmen wüßte, als wenn er fagen könnte, 
fie fei gewejen: wie gewöhnlid. Ein und daffelbe 
Wort alfo dient hier dazu, das auszudrüden, mas 
aus dem Zufammentreffen von Angewohnheit und 
Gewohnheit refultirt; ein und derfelbe Ausdruc, denn 
was er bezeichnet ift wirklich das Product ganz gleicher 
Factoren, und doch glaube ich wirb Jeder bearesis, 


— 36 — 


finden, daß das dadurch Ausgedrückte das eine Mal 
eſſigſauer ſchmeckt, das andere Mal ſüß. Von dem 
Pſychologen, der Gewohnheiten und Angewohnheiten 
betrachtet, glaube ich es nicht nur, ſondern weiß ich 
es gewiß. 


Buchdruckerei von Gukan Lange in Berlin. 





Das Träumen. 


Vortrag 


gehalten im wiſſenſchaftlichen Verein zu Berlin 
von 


Dr. Erdmann, 
Profeffor in Halle. 


Berlin. 


Berlag von Wilhelm Herp. 
(Belferfge Buchhandlung.) 


1861. 


u 


Hohe Derfammiung! 


Der Umftand, daß Aberall von fünf Welttheilen 
geſprochen wirb, anftatt von ebenfo vielen Er dtheilen, 
kann al8 einer ber vielen Beweiſe, wie gern wir Men- 
{hen unferen Augenpunft als ven einzig möglichen an« 
fehen, ben Gebanfen nahe legen, daß fi mit dem, 
was wir Weltgefetge nennen, ebenfo verhalte; daß wir 
auch Hier auf die ganze Welt ausbehnen, mas nur vom 
einem Bruchtheil derſelben gilt. Müßte biefer Gedanke 
das Vertrauen zu ber Unverbrüchlichkeit erforſchter Ge⸗ 
fee erſchllttern, ſo wäre vor ihm zu warnen, benn ba 
ſolches Vertrauen, ſelbſt da wo es zu weit geht, das 
Wiſſen fördert, fo ift e8 ſogar dann weit dem Skeptieis- 
mus vorzuziehen, ber bie Kraft und Luft zum Forſchen 
lähmt, indem er bei jebem Gefunbenen uns zuflüftert: 
vielleicht ift e8 nur ein Wahn. Diefe Folge braucht aber 
jener Gebanfe nicht zu haben; hier fo wenig wie anber- 
wärts: Wer mit offnem Auge und Sinn bie Landſchaften 
des deutſchen Baterlanbes befucht, wird finden: daß kaum 
in einem Punkte der Holfteiner gany \o witue sn 
bentt, wie ber Tproler ober Bayer, uno Le Tu nr 


— 4 — 


ganz anders als der Preuße, und doch wird dies ihn 
nicht dahin bringen, in beſchränkter Aufgeblaſenheit über 
Alles Zeter zu ſchreien, was anders iſt als in ſeinen 
vier Pfählen, noch viel weniger aber zu jenem gefin- 
nungslofen Kosmopolitismus, der Wirkungskreis, ge 
wohnte Sitte, angeftammte Regierung, gerade fo leicht 
vertaufcht wie eine Mietwohnung. Vielmehr werben 
ſolche Erfahrungen ihn veranlaffen, öfter und lauter als 
je Gott dafiir zu danken, daß er ein Preuße, und zu- 
gleich immer mehr zu flaunen vor dem Reichthum bes 
deutichen Geiftes, der ſolche Gegenſätze in fich zu binden 
vermag. Ganz jo fol auch der Gedanke: „PVielleicht 
beberricht, was du ein Weltgeſetz nennft, nur den be- 
ſchränkten Kreis, den du überſiehſt“, uns mit immer 
größerer Ehrfurcht erfüllen vor der Macht, die neben 
unferem Kreife alle anderen nad ihren Gefeen regelt, 
zugleich aber den Eifer verdoppeln, mit dem wir bie 
Unverbrüchlichfeit Der Geſetze darthun, die den unfrigen 
beherrſchen. Sei e8 darum wirklich der mittlere Stand 
unfere® Planeten zwijchen den beiden Extremen feiner 
monblojen und überbemondeten Gejchwifter, der ung, 
Kinder der Erbe, nöthigt, uns überall inmitten von 
Gegenfäten zu finden. Ihr Stand ift der ihrer Kinder, 
und fo find wir e8 ihrem und unjerem Stande fchulbig, 
biefer Nothivendigteit nayugeben. Der Menſch thut alfo 
was er muß und hat daher voltommen Re, wem u 





als Geſetz des Denkens ausjpricht, daß von Jedem eines 
von zwei entgegengejeten gelte, ober als Geje alles 
Seins, daß alle Entwidelung auf dem Gegenſatze berube, 
ober endlich als Gefetz Des Handelns, daß nur im Kampf 
der Gegenfäge fich das Recht und das Rechte verwirkliche. 
Alle diefe Formeln unterwerfen das Al, vie finnliche 
fowohl als die fittliche Welt, dem Gegenüberftehen eines 
Pofitiven ober mit fi und Anderem Einigen, und eines 
Negativen, d.h. mit fih und Anderem Differivenden, 
Zwielpältigen; denn auf Diefen Orundgegenfak find, als 
complicirtere Formen bdesfelben, zuletzt alle anderen zu⸗ 
rüdzuführen. Kraft dieſes Gejetes fieht der Menſch ven 
Mittelpunkt feines Horizontes, das eigene Ich, als ein 
Doppeltes, als ein Pofitines in ſich Einiges, das er 
fein Inneres oder feine Seele nennt, und als ein dieſem 
Entgegengejetstes, das feine Differenzen mit der Außen⸗ 
welt ausgleicht, fein Aeußeres oder feinen Leib, und an 
. basfelbe Gejetz erfcheint er gebunden, wenn er von die⸗ 
fem Centrum an die äußerfte Grenze feines Horizontes 
fich erhebt, und num das Verhältniß Gottes zu der Welt 
in den beiden entgegenfetten Weifen denken muß, bie 
wir mit den Worten Erichaffung und Erhaltung. bes 
zeichnen, deren erfteres befagt, daß in der Welt Nichts 
von ſelbſt fei, während das zweite auf ein Gewährene 
laſſen binweift, vermöge dei die VBorgänar in er SAL 
aus ihr inwohnenden Geſetzen, d. h. van Kt, TÜREN 


— 6 — 


So lange dieſe beiden Verhältniſſe auseinander gehalten 
werden, befindet ſich der Menſch im gewohnten Geleiſe 
ſeines Denkens, ſcheint ihm Alles verſtändlich, ſobald 
aber das Gegenüberſtehen, der Gegenſatz, aufhört, Gott 
mit ſeiner erſchaffenden Thätigkeit die erhaltende, jenes 
Gehen⸗laſſen, unterbricht, jo nennt er das unbegreif⸗ 
ih oder auch Wunder und Hagt, daß dabei der Ber- 
ftand ftille ftehe. Stille ftehel Im der That, fein ge- 
wöhnlicher Gang wird unterbrochen, wenn er vereinigt 
denken ſoll, was er bisher trennte, gerade wie ber ge⸗ 
wöhnliche Gang des Rechners unterbrodhen wird, wenn 
man ihm zuerft zumutbet, was nur pofitio fein Tann 
als negativ zu denken, und was er eben darum ein 
Srrationales oder Imaginäres nennt. — Der, wo wir 
hinbliden mögen, uns begegnende Gegenfag ift nun 
auch der Boden, auf dem allein uns ein Verftändniß 
aufgehen kann über das Weſen des Träumens, ba, 
wenn nicht gewilfe Formen des Gegenjates unfere Welt . 
beberrichten, e8 feine Träume gäbe. Eben darum möge 
es nicht als ein Abjchweifen von der Sache ericheinen, 
wenn zuerft dieſe Vorbedingungen des Traumes be- 
trachtet worden. Bon ihm und Solhem, das von feiner 
Art und ihm verwandt, follte die Rebe fein, die Aſcen⸗ 
denten aber bat man noch nie von den Verwandten 
ausgeſchloſſen, und mit den Voreltern pflegt faft jede 
Biographie zu begimnen. 


1. 

Der Theil der Welt, welchen ber mit Recht ſtolze 
und erchufive Menſch als den untermenfchfichen bezeichnet, 
dem er aber doch ben Abel bes Lebenbigen nicht ab» 
ftreitet, zerfällt in das Pflanzen» und Thierreich. Ihr 
Gegenfaß, der den Lord Bacon dahin brachte, das Tpier 
eine umgekehrte Pflanze zu nennen, nöthigt uns, nad 
dem Gefagten, dem einen pofitiven, dem anberen nega- 
tiven Charakter zuzuſchreiben. Dabei if es zweifellos, 
daß wenn dies geſchieht, das Pflanzenleben ale das 
pofitive, als mit fi) übereinftimmenbes Weben in ſich, 
gebacht wirb: fieht doch das Bewußtſein Aller in der 
Blumenwelt die Welt der Schönheit, d. h. ber inneren 
Harmonie, und das natürliche Symbol der Unſchuld 
und bes Friedens. Ebenſo bezeugt ben negativen Cha- 
ralter des Thierlebens, baf Jeder in den Schmerzen 
und Begierden bes Thieres, etwas Analoges zu den 
inneren Differenzen und Stürmen im menſchlichen Her- 
gen ahndet. 

Derjelbe Gegenſatz, der bie untermenfchliche Welt in 
die beiden großen Geſchlechter ber Pflanzen und Thiere 
theilt, zeigt fi) innerhalb der Menichenwelt abermals 
in zwei Gefchlechtern, die aber nicht wie jene einander 
feindlichen, von einander, fondern {ür einnuher Wien. 
Zrogbem, daß an bie Stele Des Untagenauna Dt 


— 8 — 


hier die gegenſeitige Anziehung trat, iſt der Unterſchied, 
ja der Gegenſatz, zwiſchen dem männlichen und weib⸗ 
lichen Sein und Leben kaum geringer als dort; das 
weibliche Sein und Weſen iſt von dem des Mannes ſo 
verſchieden, und ihm eben darum ſo merkwürdig und 
unergründlich, daß es manchem neugierigen Pſychologen 
vergeben werden muß, wenn er Jahre ſeines Lebens darum 
geben möchte, könnte er nur auf Donate, ja auf Wochen, 
gleich dem Tirefias, in eine Frau verwandelt werben, 
vorbehalten natürlich, daß er eine ganz deutliche Erin» 
nerung davon an feinen Schreibtifch zurückbrächte, wie 
es in einem Frauenberzen, namentlich aber in einem 
Frauenkopf, ausfieht. Darüber, welches der beiden Na- 
turreiche ſich in je einem ber beiden Gefchlechter wieder 
erkennen Taffe, fcheint nirgends ein Zweifel obgewaltet 
und darin die beiden Gejchlechter fih ganz frieblich 
getheilt zu haben, denn jo lange man denken kann, hat 
fih das eine Gefchlecht den Vergleich mit der Rofe und 
Lilie, das andere mit dem Löwen und Abler gefallen 
laſſen, dagegen eine Bezeichnung mit weiblichen Thier⸗ 
namen (von der Schnede und Spinne durch Die Schlange 
und Rate hinauf bis zur Meerlate) pflegt dort nie als 
eine Schmeichelei aufgenommen zu werden. Auch bier 
formulicen wir alfo nur, was allgemein zugeftanden 
wird, wenn wir jagen, daR her weibliche Menſch ber 
vofitive, ber männlige ver megpküor \Ki, Kar wuR wur 





— 9 — 


der Bosheit zu fürchten, die etwa ſagen könnte, daß 
gerade bei dem weiblichen Gefchlecht fich öfter eine ge⸗ 
wife Vorliebe für das Nein-fagen zeige. Abgeſehn 
davon, daß dieſe Malice Doch gar zu wohlfeil wäre, 
würde das Factum — gefetst, es wäre richtig — viel 
mehr für als gegen unfere Formel ſprechen. Es bewieſe 
nämlich, gerade wie bie nicht zu beftreitende Thatfache, 
daß Männern Nichts Lieber ift als das Jawort, daß 
jedes der Gefchlechter befonbers nach dem ftrebt, was 
bes anderen ift. 

Der Gegenſatz des Pofitiven und Negativen, der bie 
untermenjchlihe Welt in die pflanzliche und thierifche, 
bie menſchliche in die weibliche und männliche ſchied, 
tritt aber noch näher an das menschliche Individuum 
heran, indem nicht ein einziges eriftirt, das nicht bald 
in einem pofitiven, bald in einem negativen Zuſtande 
fih befände. Jener beißt Schlafen, dieſer Wachen. 
Die Zufammenftelung des Schlafes mit dem Pflanzen- 
leben, zu ber die Bezeichnung beider als. pofttiver Das 
feinsformen nöthigt, wird fchwerlich Anftoß-erregen, ba 
man e8 gewohnt ift, den Schlaf ein Begetiven nennen 
zu hören. Defto mehr aber feine Zufammenftellung mit 
dem weiblichen Leben, wozu berjelbe Grund zwingt; da 
muß man fich, jo fcheint es, ſchämen vor den galanten 
Sranzofen, bei denen nicht nur, wie üei 08 ui, V 
Schlaf männlich, fondern gerade vos Woryen Rt 


— 10 — 


gedacht wird. Der Grund ſolches Anftoßes und ber 
Grund, warum der franzöfiihe Sprachgebraud für ga- 
lant gilt, liegt einmal in dem, bei Manchen vorkom⸗ 
menden Irrthum, daß der Schlaf blos ein Zuftand des 
Leibes fei, zweitens aber in dem ſehr weit verbreiteten 
Wahn, daß er fih zum Wachen verhalte wie der Müßig- 
gang zur Arbeit. Gegen ven erjterwähnten Irrthum ift 
nur zu bemerken, daß überhaupt Leib und Seele nicht wie 
zwei Fremde zu einander ftehen, bie fich zu einem Gejchäft, 
höchſtens zu einer Reife auf gemeinjhaftliche Koften, ver- 
banden, fondern Daß e8 Das eine Ich ift, welches, weil 
der Welt der Gegenfäke angehörig, ſich als Aeußeres 
oder Leib und als Inneres oder Seele weiß, und daß 
eben deswegen, wie der ganze Menſch wacht, fo auch 
der ganze Menih fchläft. Schwerer ift es, mit dem 
zweiten Irrtum fertig zu werben. Man ift e8 fo ge« 
wohnt, daß im Intereſſe des. Arbeitseiferd dariiber ge- 
Hagt wird, daß der Menſch ein ganzes Drittheil feines 
Lebens verichlafe, daß der falt ein jchlechtes Vorurtbeil 
gegen feinen Fleiß erweckt, der in jene Klage nicht ein» 
fiimmt, und doch hat fie, vom Stanbpunlte richtiger 
Piychologie angejehen, nicht mehr Recht, als wenn Einer 
e8 bedauerlich fände, daß man zwei ganze Dritttheile 
feines Lebens verwache. Wer da jagen wollte, ja aber 
es mwerbe body währenn des Schlafes Nichts getban, ber 
alide Einem, der vom Seeleben HR mo un un 





— 1 — 


t, wenn das Schiff in den Hafen lief, ba.baben 
Matrofen nichts mehr zu thun. Höre man nur 
al in einem Hafen das Hämmern und Pochen, 
he man ein Schiff, das dort liegt, und jehe, wie 
ein Segel geflidt, dort eine gefprungene Plane 
t, bier Ballaft und dort Mundvorrath eingepackt, 
getheert und dort gepußt wird, und man wirb 
mehr von Müßiggang ſprechen. Dem Schiff im 
n gleicht der jchlafende Menſch; zwar nicht beſchäf⸗ 
mit den MWogen der Außenwelt, deren Einbrlide 
iht aufnimmt und in die er keine Veränderungen 
nträgt, flickt und beflert, padt und putzt er an fich 
x. Leiblih, indem die Functionen, welde der Er- 
ung bienen, fortgehen und nun die Organe, bie 
rend Des Wachens vor anderweitiger Arbeit ihre 
zeit nicht halten konnten, wie das Gehirn, Die Ner- 
die Muskeln, welche beſonders angeftrengt wurben, 
zu dem Shrigen kommen; innerlich oder pfuchiich, 
m bie vielen Eindrücke zurechtgelegt, die Spuren 
unbeveutenberen getilgt, die mächtigften dem Ach 
paßt und einverleibt, man möchte jagen, ins Haupt- 
eingetragen werben. Darum liegt fo unendliche 
zheit in ber Weifung, eine Sache zu beichlafen, in 
Warnung, die Sonne nicht untergehn zu laſſen 
einen Zorn. Der lebhafteſte Streit, Ver nur en 
afengehen beigelegt wurde, X Wa en x 


— 12 — 


leiſeſten Groll, mit dem wir einſchlafen, denn damit 
wird der Anfang zu dem gemacht, das, weiter fortgeſetzt, 
den Groll zu einem eingefleiſchten Haß macht. Dieſes 
Einfleiſchen iſt Arbeit genug, darum wird nicht nur 
dort im Hafen die Theerjacke ungeduldig, wenn man 
ſie ins Geſpräch zieht und brummt etwas von Land⸗ 
ratten, welche meinen, es gebe nichts zu thun, ſondern 
bei Jedem gleicht der Aerger, mit dem man aus einem 
ſüßem Schlaf erweckt wird, aufs Haar dem, mit dem 
wir in einer wichtigen Arbeit geſtört werden. Wir wurden 
e8 auch wirklich, in der Arbeit des Uns» fammelns. 
Weil der jchlafende Menſch fich fammelt, aus der zer- 
fireuenden Beihäftigung mit der Außenwelt in fich felbft 
zurückkehrt, Deswegen ift der Ausprud, daß im Schlaf Das 
Selbftbewußtjein aufhöre, etwas bedenklich. Es verbindet 
fih damit leicht die Vorftellung, als komme uns unfer 
Selbft abhanden. Sollte, was fehr fraglich, ein ſolches Ab⸗ 
handenkommen überhaupt möglich fein, im Schlafe findet 
e8 gewiß nicht ftatt. Dies kommt vor, daß im tiefen Schlaf 
uns die Zufammenhänge mit der Außenwelt, die wir am 
Abend überjchauten, namentlich wenn wir eben in fie 
bineintraten, abhanden fommen, jo daß wir, am fremben 
Ort erwachend, uns fragen: wo bin ih? Auch Das kann 
im Leben vorkommen, was Calderon und Shafespeare 
and auf ber Bühne zeigen, daßz Einem alle Verhältniſſe, 
in denen er bisher gelebt hat orrjägeaunuen, und er wm 





— 18 — 


Erwachen nicht weiß, ob er Prinz oder Gefangener, ob 
Lord oder Keſſelflicker iſt. Ja ſogar dies iſt vorgekommen, 
daß der Schwerverwundete, den innerer Brand empfin⸗ 
dungslos machte, beim Erwachen den erſtorbenen Leib, 
den ſeine Hand berührte, für einen Bettgenoſſen hielt. 
Das aber iſt noch nie vorgekommen, und müßte doch, 
wenn man im Schlaf ſich ſelbſt verlöre, ſehr oft vor⸗ 
kommen, daß der Erwachende wüßte, nur Einer befinde 
ſich im Bette und doch verlangte, der Fremdling ſolle 
hinausgeſchafft werden. Der Schlaf iſt ſo wenig ein 
Abhandenkommen des Selbſtes, daß man vielmehr nie⸗ 
mals fo ſehr bloßes oder reines Selbſt iſt, nur in und 
mit feinem Selbft und für fein Selbft lebt als dann. 
Diefe Selbftinnigfeit, dieſer Selbftgenuß, von feiner 
Veiblichen Seite Behaglichkeit, von feiner ſeeliſchen Selig. 
feit, in feiner Ganzheit Gemütbsruhe oder Gemüthlichkeit, 
hat eben darum feinen Ärgeren Feind, als den inneren 
Zwielpalt oder vie Gemüthserſchütterung. Unentichloffen- 
heit ober gar Gewiſſensbiſſe ſcheuchen ven Schlaf vom 
Lager, ein Schred, mehr noch ein Aerger, im Zraum, 
macht ihm angenblidlich ein Ende. Den inneren Frieden 
heben als Weſen des Schlafes die fprlchwörtlichen Re⸗ 
densarten: wer fchläft, ſündigt nicht, er jchläft den Schlaf 
des Gerechten u. |. w. hervor; daß er Diefe Einheit mit 
fih ift, das bringt uns dahin, iüun AR ven α. 
Biumenhaften Zuftand, dasſelbe nntih, Ian a Sem 


— 14 — 


liche Seite des Lebens anzufehen. Dabei ift es paffender, 
das Schlafen und Wachen dem Gegenjatz der Geſchlechter, 
al8 dem der Pflanzen und Thiere gleich zu ſetzen: nicht 
Gegner wie dieſe letzteren find fie, ſondern fich zugeneigt 
leben fie, wie jene für einander: Normaler Weiſe wacht 
man fich jchläfrig und ſchläft fih munter d. H. wach. Im 
dem Haushalt, welchen ver Menſch führt und fein Leben 
nennt, ift er, wo er wacht, ber fleißige Erwerber, wo er 
ſchläft, die wirthliche Hausmutter, jener baut, vertheidigt 
und erweitert, dieſe orbnet und ſchmückt das Haus, 
Wie aber, wenn alle vierunbzwanzig Stunden ber 
Menih in jenen Hausfrauenzuftand bineingeht, ift da 
nicht der Wunſch des neugierigen Piychologen erfüllt, 
jo daß e8 der leichtfinnig angebotenen Lebensjahre nicht 
bebarf? Leider fehlt gerade Das, um deſſentwillen er 
das Angebot machte: eine Erinnerung an jenen Zuftand, 
ein klares Bewußtjein Davon am Schreibtiih, das war 
der geforderte Preis. Jetzt weiß er wohl, wenn er er⸗ 
frifcht anffteht, e8 muß gar wohlig fein an jenem Grund 
des Seelenfriedens, wie wohlig aber weiß er jo wenig 
wie jener Fifcher ehe er hinſank. Die Welt, die er, nad 
fieben- ober achtftindigem Aufenthalt darin, beim Er⸗ 
wachen verließ, eriftirt flir ihn jo wenig, wie für jenes 
Bauermädchen das Leben der vornehmen Emigrantin eri- 
flirte, in das fie immer exit einteot, weun fe als Bäuerin 
einfchlief, Za, wenn es eine Communtcotion he air 
k 





— 21 — 


beiden Welten! Nun, Umnerfättlicher, auch dieſe giebt 
es; es fallen wirklich Streiflichter aus der einen in bie 
andere; Erjcheinungen, die, aus demfelben Grunde, aus 
welchem das Hineintreten ber ſchaffenden Thätigleit Gottes 
in die erhaltende Unbegreiflichleiten und Wunber gab, ale 
wunberlihe und rätbielhafte bezeichnet werben. Wir 
faffen viefelben alle unter dem Begriffe des Träumens 
zulammen und hätten aljo die Stammtafel besfelben 
von jeinen erften Ahnen bis zu unſerem eigentlichen 
Helden berabgeführt. 


2. 

Träumen beißt: Ichlafenb wachen; träumen heißt: 
wachend fchlafen. Beides heißt jo, denn Die Vermählung 
ber beiden Seiten, die wir am Menfchen unterjchieben, 
giebt Kinder beiderlei Gejchlechts: Der Sohn, welchen ver 
wilde Tag der ſüßen Nacht fchenkt, ift ver Traum, bie 
Tochter, mit der fie den Tag erfreut, ift Die Träumeret: 
Le songe, la röverie. Wenn in das ftille Blumen- 
leben des in fich ſchwelgenden Selbftes Die Beichäftigung 
mit der Außenwelt fällt, weil unfere Sinnesorgane, an⸗ 
ftatt zu ruhen, uns ihre Bilder vorgaufeln, fo nennen 
wir dies mit Recht: träumen, fligen wohl auch hinzu: 
im eigentlihen Sinne des Wortes, Warum auch nicht, 
wenn wir nur nicht vergefien, daR «8% «hen ie in Tage 
lichen Sinne gefprochen ift, wenn wir nom Rimme 


— 16 — 


bort reben, wo während des wachen Tageslebens, wo 
die Sinne, dieſe Thore der Erfenntniß offen ftehen, ber 
Menſch dennoch von der Außenwelt nichts vernimmt, 
weil er in fich verſank, weil er, anftatt auf dem Ocean 
der Allen gemeinfchaftlichen Welt fein Schiff zu feuern, 
die Mannſchaft hinunterrief in ven Raum feiner eigenen, 
beſonderen Welt, um jeßt an feiner Argo zu fliclen und 
zu putzen. Im erfteren Falle, wo um Mitternacht bie 
aufgeregte Phantafle uns ihre Bilder vorzaubert, pflegt 
man fie phantaftiich, geifterhaft zu nennen und man hat 
ein Recht Dazu, denn weil fie zu ben Gejegen ber Welt 
nicht paſſen, in welcher fie ericheinen, fo gleichen fie 
wirklich den Geiftern einer anderen. Aber biefen felben 
geifterhaften Charakter haben Die ſpaniſchen Schlöffer, 
bie fich vor unferem Auge aufbauen, ober die Melodie 
die unfer Ohr uns vorfingt, wenn wir, vom Lejen eines 
Foliauten ermattet, uns zurücklehnen und der Phantafle, 
die jo lange ſchweigen mußte, die Zügel ſchießen laſſen. 
Dort folgten uns Bilder, Töne, Taft- und (obgleich 
feltener) Geſchmacks⸗ und Geruchsempfindungen in eine 
Belt, in die fie eigentlich nicht Hingehören, und erinnern 
an ihre Heimath, hier wieder kommt eine Botfchaft aus 
dem Lande der Innerlichkeit und nimmt uns fo in An- 
ſpruch, daß wir darüber den Geruch der ausgehenden 
Arbeitslampe, ja (obgleich feltener) Die Töne des ver⸗ 
Rimmten Leierlaftens wor wnierem enter UL weden, 





— 171 — 


Wo in aller Welt liegt der Unterſchied, der uns zwingen 
follte, das, was alle Welt Träumen uennt, nicht fo zu 
nennen? Wir fehen feinen und heißen darum beibes fo, 
fowohl wo die Frau in uns dem Manne etwas ins Ohr 
filiftert, al® das, wo unfere männliche Hälfte der weib- 
lichen einen Winf giebt. 

Hier fragt fich zuerft: find dieſe Unterredungen in 
unferem inneren Hausftande nicht ſolche Uebergriffe wie 
bie, wo die Frau fih in Die Gefchäfte oder die wifjen- 
fchaftlichen Arbeiten des Mannes hineinmijcht, oder gar 
der Mann um die Geräthe der Küche fich kümmert, find 
fie nicht etwas krankhaftes? Unſerer Berufung auf das 
Alterthum, welches bie Träume unter die glüdlichen 
Sterne geftellt bat, und die Kinberwelt, die im Allge- 
meinen fo zu denken pflegt, wie jener Knabe, der befragt, 
wie er gejchlafen, „ehr ſchlecht“ antwortete und dies fo 
begründete „ich habe gar nichts geträumt“, Diefer wirb 
man vielleicht entgegenftellen, daß ja oft krankhafte Miß- 
bildungen Wohlgefallen erweden, und freilich, wenn man 
bebentt, daß die meiften Menſchen die Monftrofität der 
gefüllten Blumen den normalen, einfachen, vorziehen, 
ja daß e8 Solche giebt, die ganz entzüdt fein koͤnnen 
über die krankhaft geichwollene Leber einer Gans, fo 
muß man dies zugeftehn. Entſcheidender möchte darum 
dies fein, daß man Das Träumen A® end Sau 
anfebn muß, weil ſonſt vie game Wer din ik 

% 


— 18 — 


Hospital würde. Es hat nämlich noch nie einen Men⸗ 
chen gegeben (gleich nach der Geburt geftorbene Kinder 
vielleicht ausgenommen) der nie geträumt hätte, unb 
bie, welche um Leffing über alle Menfchen zn erheben, 
e8 von ihm fabeln, machen ihn nicht zu einem Gott, 
fondern zu einem Monftrum. Zunächſt die Träume 
und Zräumereien, bie kurz vor dem Einſchlafen und 
Aufwachen, darin beftehn, daß man dort Die Gedanken 
nicht mehr zufammenhalten Tann, daß Bilder und Wörter 
vor uns abichnurren, jo daß man feines firiren Tann, 
und wieber, daß hier beliebig hervorgerufene Phantafie- 
bilder eine Lebendigkeit befommen, wie niemals am 
Tage, diefe Träume des Halbfchlafes und Halbwachens, 
biefe wird kaum Einer leugnen. Aber auch hinfichtfich 
des ganzen Schlaf und des vollen Wachens könnte 
Jeder reift darauf wetten, daß mur jelten Einem eine 
ganze Nacht nichts geträumt habe, und noch nie Einer 
einen ganzen Tag jo aufgewedt war, daß er gar nicht 
träumte. Nur weil der Beweis hinfichtlich des Traumes 
fchwerer zu führen ift, als bei ber Träumerei, warb 
bort das vorfichtigere „felten“ bier das entichiebene 
„nie“ gebraucht. Bei den Träumereien beweift man, 
Daß anch das Wachen des Aufgewecteften nicht ohne fie 
war, birect und inbirect. Gerabezu, indem man bas 
Geftändniß erpreht, daR mitten im ſtrengſten Feſthalten 
einer Gedankenreihe, 2.9. Mieend ver Tiny da 
I 





— 19 — 


ſchwierigen Problems, dieſe und jene kreuzenden Neben⸗ 
gedanken durch den Kopf fuhren, für eine Zeit lang 
wucherten und ſo den Faden zerriſſen und zum Wieder⸗ 
anknüpfen nöthigten; indirect und anf einem Umwege, 
indem man ben, ber fih auf die Nebengedanken wicht 
befinnen kann, darauf binweift, daß, wenn feine folche 
Unterbreddungen flatt gefunden hätten, ber Faden ber 
verknüpften Gedanken jo glatt fein müßte, daß er ſich 
mit Leichtigkeit von der Spindel abhafpeln, ich meine, 
rückwärts bie ganze Gedankenreihe ſich reproduciren, Tieße. 
Wer dies mit den Gedanken eines Tages, ja nur einer 
Stunde, kann, dem will ich zugeſtehen, er ſei ganz auf⸗ 
geweckt geweſen, aber nur dem. Auf ſolchen inbirecten 
Beweis ſind wir nun auch bei dem gewieſen, der daraus, 
daß er beim Erwachen ſich nicht nur nicht darauf be⸗ 
finnen kann was, ſondern ob ihm geträumt hat, ſo⸗ 
gleich folgert, es ſei nicht geichehn. Da wir nämlich 
Die Dauer einer vergangenen Zeit nur nach der Zahl 
der Vorſtellungen mefjen, die eine Spur in uns nad 
fießen, jo Tann, wo bei dem Erwachen unjer Schlaf 
uns lange ober kurze Zeit gewährt zu haben Icheint, 
fein Zweifel darüber ftatt haben, daß im erflen alle 
viele, im zweiten weniger, aber immer Doch Bilder, d. h. 
Träume, den Heerb unferer Empfindungen umganlelt 
haben. Nur in den Fällen, wo «& ver Yuitnoigen \S 
iR, als wäre man im Augenktit ext Angetten, H 


— 1% — 


es möglich, daß Einem wirklich nichts geträumt hat. 
Ob außer ber Kinderzeit, wo auch Dies für Abweſenheit 
ober boch viel geringere Anzahl von Träumen ſpricht, 
daß der Schläfer fiundenlang, ohne fi zu regen, in 
derſelben, oft jehr umbequemen, Stellung verharrt, ob 
außer ihr dies noch vorkommt, daß Stunden, die man 
verjchlief, wie ein einziger Augenblid ericheinen, das iſt 
die Frage. Oft gewiß nicht, vielleicht niemals. Es muß 
daher wiederholt werben: will man nicht Die Welt in 
ein großes Krankenhaus verwandeln, fo gönne man dem 
Träumen feinen Pla unter den gefunden Erfcheinungen. 
Wohl aber kann e8 in feinen beiden Formen krank⸗ 
haft werden. Dies gejchieht, wo es feine Grenzen 
überfchreitet, jo daß es mit der Welt in offenen Wider⸗ 
fpruch tritt, in ber e8 erſcheint. Da wird alfo, um mit 
dem Traum zu beginnen, dies eine krankhafte Er- 
f&einung fein, wenn die Traumbilder jo übermäßig Ieb- 
baft werben, daß darüber die Beftimmung des Schlafes 
verfehlt oder gefährbet wird. Nur dem Wachen gehört 
bie Direction der Bilder der Außenwelt, ihre will- 
kührliche Verbindung und Zerlegung an, aljo werben im 
Schlaf biefe Bilder nur dann nichts krankhaftes fein, 
wenn fie wirklich ohne Zuthun unferer Willkür kommen 
und fi verbinden. Wenn man, nicht nur im Halb⸗ 
fhlaf, den man, vbgleih wit Mühe, dvxch das Oeffnen 
ser Augen vertreiben Tann, Northern etwa ve ug Par 





hindurch die Träume dirigiren konnte, fo hat man ſchlecht 
geſchlafen, fteht müde und abgeipannt auf, währen über⸗ 
raſchende, phantaftiiche Combinationen im Traume etwas 
Erfrifchendes haben. Eben darum hat der Schlaf feine 
Beftimmung verfehlt und war alfo fchledht, wenn wäh⸗ 
rend desſelben wiſſenſchaftliche Aufgaben gelöft, Kunftwerte 
geichaffen wurben; Das zeigt einen inneren Hausftand, in 
dem der Mann eine folche Paſſion fürs Einreifen und 
Umbauen bat, daß es ber Hausfrau unmöglich wird, je 
Ordnung im Haufe zu machen und wüſt und unorbentlich 
ſah e8 ficherlich in Tartini's Kopfe an jenem Morgen aus, 
wo er bie befaunte, im Traum vom böfen Feind ihm 
vorgefpielte, Sonate niederſchrieb. Ja, man kann dies 
noch weiter ausdehnen und alle Träume, in welchen bie 
Zagesbeihäftigung, wenn auch in, dem Schlafe ziemen- 
ber, phantaftiicher Weife fortgejegt wird, dem ſchlechten, 
Dagegen alle bie uns in ferne Länder und Zeiten führen, 
dem gefunden Schlafe zuweilen. — Nur dem Wachen 
ferner gehören bie Vorftellungen, welche den realen 
Vorgängen gemäß ablaufen, eben darum wird der ges 
funde Schlaf nur folhe Träume zulaffen, die von jener 
Ordnung abweichen. Wenn wir in Träumen das jehen 
und hören, was wirklich außer uns vorgeht, dann find 
wir krank. Ein tiefer, lange Zeit gar nicht unb auch 
jet nicht fo, wie er follte, beachteter Bunker vaus 
ſoſches Träumen, das er {heint aus Srialruag WÄRST 


— m. — 


zu haben, Wahrträumen, ein Name, der um fo pafien- 
ber ift, al8 man ja für ven Grad, bei dem nicht nur 
das ſchon Eingetretene, ſondern auch das fih Vorbe⸗ 
reitenbe geträumt wirb, mo es ausgeſprochen wurde, 
von jeher den Ausdruck Wahrfagen gebraucht hat. IM 
ſchon das Wahrträumen krankhaft, weil darin zur 
Unzeit der Menſch zum Spiegel ver Wirklichleit wird, 
fo das Wahrfagen noch mehr. Nicht nur, weil e8 ein 
höherer Grad ift als jenes, fondern weil darin, wegen 
des Ausiprechens, ein dritter Eingriff defien, was ich 
den Dann im Leben des Menfchen nannte, in bie Do» 
maine ber Frau flattfindet: Die zum Sprechen, wie zu 
allen andern willkürlichen Bewegungen dienenden Mus- 
fein, follen im Schlafe ruhen, böchftens zu jenen un⸗ 
bewußten, ven fogeniannten Nefler- Bewegungen dienen, 
mit berien aud im gefünben Schlaf der Schlafende tief 
anffeufjt oder eine Fliege verſcheucht. Der Schlaf ift 
ſchon ſchlecht, wenn dieſe ſehr heftig werben, wenn ver 
Schlafende ſich viel herumwirft, ſtöhnt, Wörter aus- 
ſtoßt; er iſt der Schlaf eines Kranken, wenn ber 
Schläfer fih aufrichtet, zufammenbängenn fpricht, das 
Bette verläßt, wandelt. Nachtwanbeln ift bis zur Krank⸗ 
heit gefteigertes Träumen, das mur bei fehr afficirtem 
Rervenfyfteni flattfindet und aufmerffamer Pflege bebarf. 
Ganz zerrüttet envlih mug ein Rerneufgftem fein, Damit 


ib Bahrträumen, Dieetion ver Traun -Betuiiungn 


—— 


N 





— 23 — 


und Ausſprechen derſelben jo verbinden, wie es bei Eini⸗ 
gen geſchehen fein fol die künſtlich — durch Die ſoge⸗ 
nannte magnetiiche Manipulation — nervenkrank ge⸗ 
macht wurben. Das Mißtrauen, das gegen die Realität 
diefer Erfcheinungen ziemlich allgemein herrſcht, ift ſchwer⸗ 
lich geringer geworben, feit ein, durch feine Großſpreche⸗ 
veien berühmter, franzöfiicher Schriftfteller fie in feinen 
Mö&moires d’un medecin recht ſpannend dargeftellt und 
ipäter als jelbft erlebt in Schuß genommen bat. Bon 
beiferen Männern aber als er habe ich, tbeils in dem, 
was fie geichrieben haben, theils mündlich, jehr Aehn⸗ 
liches vernommen und Einem, der nicht Arzt ift, ziemt 
ed nicht, die Grenzen zu beftimmen, bis wohin ein 
Menſch trank werben kann. 

Wie der an fich gejunde und Darum fo Iuftige Traum, 
ebenio kann die an fih normale und darum ſüße Träu- 
merei das Maß überfchreiten und zur Krankheit wer- 
ben. Dies geichieht, wo fie den wachen Menfchen nicht 
nur für eimen Augenblid von der Außenwelt abzieht, 
fondern ihm die Theilnahme daran bleibend und ganz 
unmöglich madt. Die Stufenfolge krankhafter Erjchei- 
nungen bier, ift natürlich der bei dem Traume angege- 
benen gerade entgegengefeßt: Was dort ein Mafftab 
war für die Steigerung der Krankheit, wirb bier zur 
Geſundheits⸗Scala. Ie größer hier vie KWBKAKßä. se. 
wachen Zraumbilber ſelbſt zu Ienten, am wire we 


— 24 — 


niſchen Schlöffern zu bauen ober ben Bau zu unter⸗ 
brechen, befto gefunber ſind wir. Ebenfo, je mehr ſich 
in unjeren offnen Sinnen die wirkliche Außeumelt ab⸗ 
fpiegelt, und je mehr wir unfere Sprachwerkzeuge nnb 
Bewegungsmuskeln in unjerer Gewalt haben. Drängt 
fih aber während des Wacens ein Traumbilb fo un⸗ 
wiberftehlich vor, daß es Die Wahrnehmung ber Außen- 
welt alterirt ober gar verbrängt — das Erftere pflegt 
man Illuſion, das Zweite Hallucination oder Viſion zu 
nennen — ober aber, verfintt der Menſch jo in fi 
ſelbſt, daß er gar nicht Dazu gebracht werben kann, ein 
Spiegel der Außenwelt zu werben, endlich: entreißen 
ihm feine Träumereien jo bie Herrſchaft über Sprach⸗ 
und Bewegungsmusfeln, daß er ihnen gemäß jprechen, 
gefticuliren, endlich handeln muß, oder wieder, weil fie 
Die Organe feſſeln, nicht ſprechen, nicht handeln, viel 
leicht nicht einmal fich regen Tann, dann ift bie Krank⸗ 
heit eingetreten, die wir Wahnfinn nennen, bie wir 
alſo als das Gegenftüd zu den höchſten Steigerungen 
des krankhaften Traums, dem Wahrjagen und bem 
Nachtwandeln bezeichnen koͤnnen. Mit dem erſteren bat 
ſchon Plato den Wahnfinn verglichen (in feiner Zufammen- 
ſtellung von Mantik und Mauie, was Schleiermacher 
geiftreich mit Wahrfagen und Wahnfagen wiebergab) mit 
dem Nachtwandelnden pAeat ber eugliiche Sprachgebrand; 
bes Wahnſinnigen yulamımenyoftlien, ver Tr ie nie 





— 25 — 


ſelbe Wort hat. — So ſüß darum das ſich Ergehen in 
Träumereien iſt, und ſo ſehr es, mäßig genoſſen, den Kopf 
erfriſcht, ſo nippe man doch vorſichtig von dieſem Trank. 
Schon Manchem iſt das fortwährende Träumen von 
einem Gewinnſt, in der Lotterie ober durch eine glück⸗ 
lie Speculation, manchem Anderen das Ausmalen eines 
zu erbauenden Haufes bis in® Heinfte Detail, wenn 
jener — wie es wahrfcheinlich ift — nie eintritt, dieſes 
nie zu Stande kommt, die VBeranlaffung geworben, baß 
flatt zn gewinnen, er verlor, ben Verſtand nämlich, und 
daß Das Ende feiner finureihen Arrangements auf dem 
Papier, ein Derangement wo anders war, Der praftiiche 
Menjchenverftand warnt mit Recht davor, fi) Etwas 
in den Kopf zu feen, unb Doc, wie leer würde es in 
ihm ausjehn, wenn man gar nichts hineinfetttel Wie 
vom Erhabnen zum Lächerlichen, jo ift auch vom Schön⸗ 
ſten zum Entjeglichften nur ein Schritt. Uns fchauert 
vor Entzüden, wenn wir der Träume unſerer Jugend 
gebenfen, und wieder: „welch ein entlegliher Traum“ 
fo haben, gleih mir, Viele gedacht, wenu fie bie Un⸗ 
glücliche in einfamer Zelle fahen, bie Jahre lang, den 
ganzen Tag, unterbroden nur durch wenige Stunben 
Schlafs, Angftichreie ausftieß, gleich dem, den die Flamme 
ergriff. Aehnliches mochte die Aermfte wirklich träumen. 
Mochte, nicht mag. Denn was menkhliher Aut WÄR 
gelingen tonnte, eine höhere Mask Typ Br Nr N 


— 26 — 


Erwachen bringen. Und auch in dieſem Falle ward, 
wie Aehnliches oft geſchieht, der herannahende Tod, 
denn dieſer war es der zum Wecken geſandt wurde, 
von der ruhig gewordenen Kranken mit dem laut ge⸗ 
ſungenen: „Nun danket alle Gott“ begrüßt. 


3. 

Nachdem die Vorbedingungen des Träumens und 
ſein Weſen im geſunden ſowohl als kranken Zuſtande 
erörtert, bleibt die Frage übrig: woher es kommt? Wer 
mit diefer Frage nur erfahren will, wie das Träumen 
entfteht, dem muß die Antwort des Phyfiologen, daß 
im Traum durch eine Alteration des im Gehirn vor» 
gehenden Ernährungsprocefies, bei der Träumerei 
Durch einen urjprünglich beliebigen Gedanlen, die Central» 
theile des Nervenſyſtems zu ihrer eigenthlämlichen Thätig⸗ 
feit, zum Hervorbringen von Bildern, gereizt werben, 
um ſo mehr genügen, als ſich Daraus auch erklären Ließe, 
warum uns die Traumbilder im Schlaf als ohne unjer 
Zuthun gegebene, und darum wirkliche Dinge, unfere 
Luftichlöffer dagegen als Gebilde unferer Phantafle er⸗ 
fheinen, ein Unterſchied, den ja auch der Sprachgebrauch 
anbeutet, ber bort ven palfiven Ausprud anwendet mir 
bat dies — hier den activen: Ich habe Dies geträumt. 
Der Pfycholog aber, wenn er mac dem Woher ber 

Träume fragt, will wid wege when. war Ya 


_ N — 
giebt nur an, durch melde Thür der Bote einer fremben 
Welt hereintrat, darüber, wer ihn fanbte und was er 
meldet, fagt fie nichts, fie erflärt nur, daß wir, nicht 
was wir träumen, nur das Dafein, nicht den Inhalt 
ber Träume, und wo wir biefen hernahmen, bas wollten 
wir minbeftens ebenfo gern ald Jenes wiflen, als wir 
fragten: wo fommen unfere Träume her? 

Soll nicht alles bisher Geſagte zurüdgenommen 
werben, fo muß bie Antwort lauten: lediglich aus bem 
eignen Selbſt. Was nicht in mir, wenn auch ſchlum⸗ 
mernd, liegt, das kann nicht in mir erwachen, wie 
denn noch nie einem Menſchen von Empfindungen eines 
festen ober fiebenten Sinnes träumte, geſchweige benn, 
daß je ein junges Mädchen ſich als ehrwurdigen bärtigen 
Greis geträumt hat. Nur was id im Wachen könnte, 
taun id im Traum. Dies giebt einem jeben Traum 
eine Vebeutung, eine viel größere als bie ift, von ber 
die Traumbücher fabeln. Gar Vieles nämlich, was im 
wachen Leben ſich nicht heransiwagt, fei e8 eine Frucht, 
eine Hoffnung, ein Wunſch, eine neidiſche Regung, das 
offenbart fi manchmal ſehr rüchſichtslos im Traum, 
ſo daß man ſich ſelbſt ſehr oft aus den Träumen, die 
man hat, den Andern aus denen, die er erzählt, von 
einer ganz neuen Seite kennen lernt. Nicht nur der 
Umgang des Dienfcen, auch was wub wir ur au, 
läßt uns Schläffe ziehn auf da®, war it. GAR 


— 28 — 


der Träumereien giebt dies Jeder zu, von dem 
Moraliſten, der die verdorbene Phantaſie tadelt, bis zu 
dem Helden der einft jo gefeierten Mysteres de Paris, 
der, um feine Leute kennen zu lernen, fie dahin bringt, 
daß fie vor ihm ſpaniſche Schlöffer bauen. Defto ſchwe⸗ 
reren Stand hat man mit der Behauptung, Daß auch 
das, was dem Menſchen träumt, fein Wefen aufbede. 
Denigftend wenn diefe Behauptung allgemein gehalten 
wird, denn in feltiamer Inconſequenz findet man es 
in der Ordnung, daß Tartini die Sonate, bie er im 
Traum fpielen hörte, als feine Compofition herausgiebt, 
Dagegen ein Verbrechen, das man im Traum begeht, 
das ſoll uns nichts angehn. Verſuchen wir es, bie 
Weisheit des alten Philofophen, Der zu den Unterſchieden 
der Guten und Böſen auch dieſes rechnet, daß jene fich 
böchitens im Traume erlauben, was dieje auch im Wachen 
tbun, und des Sprachgebrauches, der von dem ganz Une 
ſchuldigen fagt: dem falle felbft im Traum nichts Schlim⸗ 
mes ein, verfuchen wir fie zu rechtfertigen, indem wre 
zuerft den übermäßig lebhaften Traum ins Auge fallen. 
Wenn jener Abt, der einem feiner Mönche einen ſtren⸗ 
gen Verweis gegeben, benjelben nachtwandelnd in feine 
Zelle treten und mehrmals mit dem Dolch in fein (des 
Abtes) Bette ftoßen fieht, und daraus auf des Möndhes 
rachſüchtiges Gemüth ſchlietzt, fo if uns feine Berechti⸗ 
gung, fo zu ſchließen, \onnentiar. Sun ven, nn u 


k 


-9— 


dem höchften Grabe des Traums fo ſonnenklar if, warum 
ſoll Daß bei einem niebrigeren abfofut falſch fein? Es fühlt 
uns nicht ein, den orientaliſchen Tyrannen in Schuß zu 
nehmen, ber feinen treuften Diener hinrichten läßt, weil 
ex fi im Traum als Sultan ſah, — (bie Dummheit, dies 
zu erzählen, war das Gtrafbarfte an ber Sache) — aber 
nicht nur jener Tyrann benft vom Traum, was Schiller 
vom Wein jagt: „er erfindet nicht, er ſchwatzt nur aus" — 
fonbern hierin ftellen ſich auf feine Seite unfer Gewiſſen 
und unfre Erfahrung. Jenes indem, wenn Einem von 
einer niebrigen That träumte, bie er beging, er nicht 
darüber lachen Tann, fondern ſich ſchämt. Diefe, indem 
mehr als Einem in biefem Saal ein Traum offenbart 
hat, wie er hinſichtlich Diefes ober Jenes gefinnt ſei. 
Wie eine große deutſche Künftlerin als Gretchen bie 
Worte bes bbſen Geiſtes fich ſelbſt zuflüftert und davor 
erfährict, gerabe fo macht es Jeder, bem ba träumt. 
Was er zu fidh fpricht, if oft Solche, das er im Wa⸗ 
hen ſich nicht zu geſtehen wagte, ober was fo leiſe er- 
Hang, daß das Geräufc des Tages es Übertönte und 
was nun, hörbar geworben in ftiller Nacht, ein ganz 
neues Geheimniß zu offenbaren ſcheint. Das thut es 
auch wirklich, nur wird barin nicht wie ber Abergläubige 
meint, ein Geheimmiß ber Außenwelt fonbern eins bes 
eigenen Herzens enthiillt. Wenn voir im Traun run 
zauben und morben ſehn, ſo tert wa Tin hir ol 


— 30 — 


er fähig ift, wohl aber weß wir ihn, wenn aud im 
verborgenften Winkel unferes Herzens, fähig halten. Daf 
ſich im Traum das eigne Selbft offenbart mit Allem, 
was in ihm fchlummert, Das erklärt einmal warum, 
namentlich in jüngeren Jahren, wo man noch viel Un- 
befanntes in ſich zu entbeden bat, die eigenen Träume 
fo intereflant find, anbrerjeit® warum fie Andere nicht 
interelfiren, jo daß in der Gefellichaft ver als übernaiv er- 
ſcheint, welcher anfängt von feinen Träumen zu erzählen. 
Die Gefellichaft ſchätzt den Menichen nicht nach dem, mas 
in ihm ſchlummert, fondern nach dem, was aus ihm her⸗ 
auskommt, für fie ift Ieber, was er für Die Welt if, 
fein in fich webendes Selbſt ift ihr ziemlich gleichgültig. 
Die Zulammenftelung des Trankhaften Traums 
mit dem gefunden, vermöge ber nicht nur bie mörde⸗ 
rifche Abficht. des Nachtwandlers, fondern jeber Traum 
dem Schläfer ins Gewiſſen geſchoben wurde, ſcheint ab- 
gefehn von allem Anderen ſchon darum ungehörig, weil 
fie zu wiberfinnigen Confequenzen führt. Wie fich zum 
Nachtwandeln der Traum, fo verhielt fich die Träumerei 
zum Wahnſinn. Wil man nun, wie eben geichab, das 
Geſunde dem Kranken gleich fegen, jo wird man, ba 
der Geſunde zur Rechenfchaft gezogen wurde für feine 
Zräumereien, am Ende gar den Kranken verantwortlich 
machen für feinen WVohnliun. Nun, und warum nicht? 
— Bon der früheren Barbarei, werke ven Buutesingn 


— 31 — 


als einen Beſeſſenen zu dem Verbrecher ſperrte, ſind 
wir glücklicher Weiſe zurücgelommen, ebenſo von ber 
Theorie, bie conjequent durchgeführt an bie Stelle ber 
Irrenanftalten zwar nicht Strafe aber Befferungepäufer 
gefeist hätte. Ob aber nicht bie Anficht, bafı ber Wahn 
finn eine Kranfpeit fei wie alle anderen, auch ein ein» 
ſeitiges Ertrem, das ift eine anbere frage. Der Um⸗ 
fland, daß wenn ein aus dem Afyl Entlafjener von 
feiner Krankheit fo unbefangen und fo oft fpräche, wie 
von einem Beinbrud in feiner Kindheit, alle Melt 
meinen wirbe, es fei noch nicht ganz richtig mit ihm, 
daß wir es dagegen in ber Orbnung finben, wenn er 
mit einer gewiffen Befangenheit, bie an bie Beihämung 
erinnert mit ber Einer an eine im Traum begangene 
Nichtswürdigkeit denkt, jener Zeit erwähnt, — biefer 
Umftand zeigt, daß wir Alle im Wahnfinn doch noch 
etwas Andres fehn als eine blos angeflogene Krankheit, 
zu ber man wie zu ben Poden durch Anftedung ober 
Imoenlation kommen kann. Und dies ift wicht etwa bios 
ein Zaiengefühl. Eine große Autorität in biefen Dingen 
ſprach einmal aus: Goethe habe nicht wahnfinnig werben 
Lnnen, und auf ben Einwand: wenn ihm mm aber eine 
Aber im Kopf Iprang? erfolgte bie Antwort: da wäre 
er wahrſcheinlich apoplektiſch geſtorben. Das Befremben 
über eine ſolche Behauptung wird geringer vedecd, wen. 
man fie mit ber ergärtzt, tie uns act were we 


man fte alle Tage Hört: es fei Einer zu dumm, als 
daß er könnte wahnfinnig werden. Iſt nämlich, wie 
gezeigt wurbe, der Wahnſinn Die über ihre Grenze ge 
gangene Träumerei, fo wirb wer zu jebem Bau eines 
ſpaniſchen Schlofjes unfähig ift (der Dumme) aud fein 
fo verrüctes bauen können, wie jener ficilianiiche Fürſt. 
Und wieder, wer fo träumt wie Goethe, daß er jebe 
Träumerei künſtleriſch geftaltet von fich ablöſt, fie gegen- 
fändlih und zum Gedicht zu machen vermag, der kann 
allerdings ficher fein, daß er immer über feine Trän- 
mereien als unbeſchränkter Befiter berrichen, nie von 
ihmen beberrjcht und bejeffen fein, werbe. Der große 
Srrenarzt aljo, die Behauptung, die man alle Tage 
hört, und unſere Theorie, fie ftimmen ganz lberein. 
Uebrigens hatte diefe, da fie ja den Träumer zum Mit- 
ſchuldigen machte nicht Daran, da ihm, fondern daran, 
daß ihm gerade Dies träumte, gar nicht zu der Eon- 
fequenz berechtigt, daß Niemand ohne eigne Schuld 
wahnfinnig werde. Höchften® zu der, daß es fein Zu⸗ 
fall, wenn dieſen Kranken dieſe, den andren andere 
Wahnvorftellungen fefleln, und dieſe läßt fih ohne Ge⸗ 
fahr vertreten: Daß jene Irre, welche nur von ihren 
vornehmen Belanntichaften zu reben weiß und bamit 
prablt, Daß um ihretwillen jet fchon der Thronfolger 
ein Abfteigezimmer in ver WHhokK genommen habe, baf 
biefe, als fie geiund, in ihren Arumerien u Tu 





— 838 — 


bauten ſtets beſcheiden und demüthig war, das glaube 
ein Andrer. Daß jener Faſelnde, deſſen nnunter⸗ 
brochener Redeſchwall vom Hundertſten ins Tauſendſte 
geht, auch in geſunden Tagen es liebte flüchtig naſchend 
von einem Gedanken zum andern zu flattern, möchte 
ebenſo gewiß ſein, als daß jene ſtille und freundliche 
Kranke jetzt den Lohn dafür empfängt, daß ihre Träu⸗ 
mereien ſtets freundlich waren und fromm und mild. 
— Viele unter denen, die dieſer Saal umfaßt, ſind 
wohl als Zuſchauer oder Theilnehmer in die phantaſtiſche 
Welt eines Maskenſaales hineingetreten, wo die ge⸗ 
wählte Vermummung verpflichtet, aber auch erleichtert, 
fih für einen Abend in eine fremde Situation und 
Perjönlichleit hineinzuträumen. Wenige werben Ge- 
legenbeit und Luft gehabt haben, jene Säle zu bejuchen, 
deren Bewohnern die entftellende Vermummung bes 
innern Menſchen abgeliftet werben foll, weil fie ftch 
Dazu verurtbeilt haben, bleibend aus einer fremben 
Perfönlichkeit heraus zu ſprechen und zu agiren. Noch 
wenigere enblich, vielleicht Keiner außer dem Sprechen- 
den, burffe e8 anjehn, wie die Vermummung bes 
äußeren Menſchen zum Mittel warb, den inneren zum 
Demasfiren zu bringen, dahin nämlich, daß Kranke fich 
für Stunden aus den Feſſeln unwiberftehlicher Träu⸗ 
merei, aus denen fie heraus zu tommen nut verüiuen, 

wenigftens heraus träumten. &n Moamesuit w 
Irrenbauſe, einer ber merkwärhigten und wWartüin 

5,3 


— 


— 34 — 


nicht nur, ſondern auch der fchönften und erhebendſten 
Abende, den ich Durchlebt habe, hat mich nur beſtärken kön⸗ 
nen barin daß, wie man nicht außer Acht laſſen barf, was 
uns träumt, weil es uns aus uns felber heraus träumt, 
fo Jeder fih bewachen joll in dem, was er träumt, 
weil er nicht wiffen kann, was er im fich hinein träumt. 

Gäbe die Einficht, daß nicht nur unſere Luftichlöffer 
uns ſelbſt zu ihrem Baumeifter, fondern auch die über⸗ 
raſchendſten Scenen eines Traumes uns felbft zu ihrem 
Dichter haben, gäbe fie nur ein fchärfere® Auge für 
moraliſche Schwächen und ein beſſeres Berftänbniß ber 
intellectuellen Krankheiten, fo wäre ber nicht zu ent 
ſchuldigen, der in beider Hinficht Geſunde zu einem 
Gange verleitet hätte, der an das Siechbette führt. 
Südlicher Weife aber eröffnet das gefundene Refultat, 
wenn e8 mit bem verbunden wird, was dieſe Unter- 
ſuchung einleitete, die Ausficht in ein Gebiet, wo jelbft 
der von Gefundheit Strogende noch Heilung ſucht und 
findet. — Es warb Dort nämlich von dem Gegenfak 
geiprochen, den der Begriff ver Erichaffung der Welt 
zu dem ihrer Erhaltung bilde, da jener alles Von⸗ſelbſt⸗ 
fein aufhebe, diefer behaupte. Dies hindert den unbe 
fangenen frommen Sinn nicht, Beides neben einander 
zu flatuiren, und wird ihm — wie das oben geſchah — 
bemerklich gemadt, euer Beriintung Biber führe anf 

Unbegreiflileiten und unter , \p wuieruut er Ne 
beim. Bei einem gewiien Büoungtutte sur, we 


En 








— 35 — 


zwar über die unbefangene Einfalt hinausgeht, ſich aber 
täuſcht, wenn er ſich für den höchſten hält, bei dieſem 
fängt man an, jedes Sich⸗ unterwerfen für ehrenrührig 
zu balten, und da bringt dieſer edle Mannesftolz 
dazu, um ſich nicht dem Unbegreiflichen zu unterwerfen, 
jene Entgegengejeten nie zufammen zu laffen, und fo 
wird denn entichieden: Verfländig und confequent ſei 
nur Eines von Beiden, entweder alle Freiheit und 
Selbftftändigkeit aufzugeben, die Welt und fidh ſelbſt 
blos als ein Machwerk und willenlofes Werkzeng Gottes 
anzujehn, oder ſich Selbftftändigkeit zugufchreiben, dann 
aber auch den Wahn aufzugeben, daß eine höhere Macht 
fih in unfere Angelegenheiten mifche; Dagegen Beides: 
Geſchöpf und Doch fich ſelbſtbeſtimmend und frei, das 
fei ein vierediger Cirkel, den könnten fie nicht dulden. 
— Wenn nur die Guten nicht fonft fich dieſe vier- 
eigen Cirkel ganz ruhig gefallen ließen! Schon was 
ihnen träumt und was fie erträumen, bringen fie felbft 
bervor und dennoch kommt e8 ihnen ungerufen; wie 
viel mehr ift dies fo, wenn dem Dichter ein Gedicht 
entfteht, das, wenn es nicht geworben, wenn e8 gemacht 
oder ein Machwerk, kein Gedicht wäre, Wie, wenn wir 
Menſchen auch nicht Machwerke, jondern Dichtungen — 
Träume — der Gottheit wären? aufgegangen in bem 
sensorio Gottes, wie ber nicht nur geoke, Innern ss 
fromme Netoton ben Raum genannt ya? &% REN 
gefunden, als ein großer Denter vie ESSEN u 


— tt 


Drama nannte, zu dem der ewige Dichter ben Plan 
entwirft und bie Rollen vertheilt, Die Durchführung ber 
Rollen im Einzelnen aber den improvifirenden Schau- 
ipielern überläßt. Warum foll nicht auch das Leben Des 
Einzelnen eine ſolche commedia dell’ arte fein? Daß 
das Leben ein Traum, fpricht dem Calderon alle Welt nach, 
warum aber nun ein Traum, der dem Lebenden felbft 
träumt? warum nicht auch einer, den eine höhere Macht 
dichtet und träumt, von der er hervorgerufen, dann 
aber dem eignen Wachsthum überlaffen ward, jo daß es 
von feiner Entwicklung abhängt, ob er wird in liebenber 
Erinnerung behalten, ob unmuthig abgefchlittelt werben? 

Nicht Behauptungen und Löſungen wollen dieſe Säte 
fein, fondern Fragen, Räthſel, die einer Löſung bedürfen, 
Bruchſtücke eines Traumes, den mitzuträumen fie veran- 
laffen wollen. Mögen die, welche ihn mitgeträumt haben 
und die jett dem Erwachen entgegengehn, durch bie 
Erinnerung an ihn, nicht mit dem wüften und benoms 
menen Gefühle erfüllt werben, mit dem wir einen lange 
auf uns laftenden Alp Ioswerben, jondern, weil doch 
darin hingewieſen warb auf die Lösbarkeit manches wich⸗ 
tigen Räthjels, Eimer oder der Andere die Wirkung mit 
nad Haufe nehmen, wie da, wo ein |pannender, lange 
nachklingender, Traum die erfte Morgenftunbe erbeitert 
und einen erfolgreihen Tag wergekt. 





+ 


Ueber 
Scwärmerei und Begeifterung, 


Vortrag 
gehalten 


am 21. März 1863 im wiſſenſchaftlichen Verein 
zu Berlin 


von 


Dr Erdmann, 
Vrofeſſor in Halle. 





Serlin. 
Verlag von Wilhelm Herp. 
Befferfge Bugfantung,) 
1863. 


Hohe Derfammlung! 


Das in der Ankündigung diefes Vortrags bie 
Schwärmerei vor die Begeifterung geftellt ward, Tann 
als ein Berftoß gegen eine der erften Regeln der Rebe: 
kunſt erſcheinen, gegen das Geſetz der Steigerung näm- 
Ad, nad) welchem immer dad Stärkere auf dad Schwä- 
here folgen fol, nie umgekehrt. Wollte der Vortragende 
erwidern er halte die Schwärmeret für Krankheit, bie 
Begeifterung für etwas Geſundes, fo würde Mancher 
308 ein Eingeftänbnig jenes Verſtoßes nennen, denn 
Ne Anficht I. Browns, nad welcher Krankheit Steige: 
zung ber Lebensthaͤtigkeit, iſt, obgleich im ber, Mediein 
Ängft aufgegeben, wo fittliche Zuftände beurtheilt wer⸗ 
sen noch ſehr verbreitet. Nicht nur bei dem gemeinen 
Mann, der, wenn er ſich betrügen ließ, feine Einfalt 
zern zu große Ehrlichkeit nennt, fondern auch bei ben 
Döchftgebilveten, die, wenn in einem Sande, wo bisher 
Jeder feinem Berufe lebte, Alles drunter und brüber 
zeht, weil der Koch den Kellner fpielt und der Kellner 
ven Koch, dies eine Steigerung ver yaltlüägen Lens 
elßen. So bleibt wohl kaum eiwod Vodered ein 


— 4 — 


als jener Exrwiderung die Erklärung hinzuzufügen, daß 
der Standpunkt dieſes Vortrags nicht jener etbifche 
Brownianismus ift, fondern daß er vielmehr mit den 
Anfichten übereinftimmt, nach welchen Krankheiten im 
Zurüdfallen auf frühere Zuftände oder auch darin be: 
ftehen, daß, an ſich normale und gejunde Gebilde fid 
zur Ungeit oder an ungebörigen Orten zeigen. Kann 
gleich eine ſolche Erklärung mich in Mikeredit bringen 
bei den Nerzten, die weder auf die ältere Teratomorphie 
Etwas geben, noch auf die neuere Theorie von ben 
pathologiſchen Subftitutionen, fo ift Doch durch fie der 
Grund angegeben, warum bier zuerit die Aufmerkjam: 
feit gelenkt werden wird auf ein Gebiet unterhalb der 
Sphäre, wo und die Schwärmeret und die Begeifterung 
begegnet, ich weine auf das untermenfchliche Leben. 


1. 


Wenn Solde, die über das Weſen des thierifchen 
Lebend die allerverjchiedenften Anfichten haben, doch 
darin übereinftimmen, daß fie von Thier-Sndividnen 
Iprechen, alfo ein Wort brauchen, von dem nicht nur 
mittelalterliche Philoſophen gelehrt haben es dürfe nur 
angewandt werden, wo Vielheit und mögliche Theilung 
gegeben fei, jondern au unler Syuahafühl, welches 
sicht zuläßt, dag wir Das gan, Cunie tus), in 


5 — 


Individuum nennen, fo beweift das, daf nad) der Ans 
ſicht Aller zu einem Lebendigen dies gehört, daß Man: 
nigfaltiged zu einer Einheit verbunden iſt. Beide aber, 
die Mannigfaltigkeit und bie Einheit, zeigt und das 
Thterleben in fehr verfchtedenen Verhältniffen, und von 
diefem Verhältniß Hängt es (menigftens mit) ab, ob 
wir ein Thier Hoch oder niedrig ftellen auf der Stufen: 
leiter thieriſcher Volllommenheit. Ganz wie bie Thiere, 
die faft nur einfache Zellen find, alfo Einheiten ohne ale 
Mannigfaltigkeit, ganz fo ftellen wir auch wieder bie 
Thiere ſehr niedrig, in welchen die Einheit fo ſchwach 
iſt, daß durch einen Schnitt ein Lebendiges in zwei ver: 
wandelt werden kaun. Diefe Selbftftändigkeit der Theile 
und ihre Unabhängigkeit vom Ganzen, verliert fich, je 
höher man an jener Stufenleiter binauffteigt, um fo mehr. 
Indeß ift fie noch beim Krebs fo groß, daß fein Leben 
ungeftört feinen Gang geht, auch wenn ihm jährlich 
ein neuer Magen wächſt; Etwas, worum ihn vielleicht 
mandjer Menſch beneidet, bei dem folche Verjüngungs— 
kraft fich höchſtens bis auf Gefinnung und Grundfäße 
erftredt. Bei den vollfommenft organifirten Thieren 
zeigt fi Mannigfaltigkeit und Einheit ganz gleich zu 
ihrem Rechte gelommen: jene indem bie Glieder ver- 
ſchieden find und keines Dad andere vertreten kann, dieſe 
indem von ihr getrennt die Glieder nertinmen son 
zu Orunde gehn. Sept man wun wit wen te 


— 6 — 


Philoſophen des Alterthums den Unterſchied zwiſchen 
einem Organismus und einem bloßen Haufen darein, 
daß jener Ungleichartiges, dieſer nur Gleichartige ver⸗ 
bindet, ſo kann man zweifelhaft werden ob nicht ein 
Polyp, anſtatt ein Individuum vielmehr ein Haufen 
(von Thierzellen) genannt werden müſſe. Ein gleiches 
Bedenken erregt es, wenn bei Erſcheinungen, die uns 
von den Bienen und Ameiſen her am Beſten bekannt 
ſind, wo die einzelnen Individuen nicht für ſich leben 
ſondern, als würden ſie von dem Ganzen gelebt, von 
ihm getrennt zu Grunde gehen, das Wort Collectiv⸗ 
Individuum gebraucht wird. Es ſcheint dabei überſehen 
zu werden, daß die Beſtandtheile eines ſolchen Ganzen 
ganz gleichartig find, jo daß der gewöhnliche Sprach⸗ 
gebrauch nicht nur mit dem Ariftoteled fondern auch 
mit der Wahrheit mehr übereinftimmen möchte, wenn 
er weder von einem Ameiſen-Staate noch von einer 
Bienen » Familie ſpricht, fondern dort Haufen, bier 
Schwarm fagt, und aljo Wörter anwendet die wir 
jtetd brauchen, wo die Unterordnung, und darım bie 
Ordnung, fehlt. (Niemand fpricht von einem Corps 
von Flüchtlingen oder einem Regiment von Marodeuren, 
fondern Feder fagt: Haufen oder Schwarm). Laffen 
wir nun bier den Ameiſenhaufen, über welchen uns 
nicht genug eracte, wentgftend wicht tendenzloje rein 
wiffenfchaftlidye, Unterfuhpangen vorliegen, ma Yale, 


m 





—_ 1 — 


an den Bienenfchwarnt, fo beweift und durch ihn 
Natur, daß ed Thiere giebt, die nie für fich felbft, 
ner nur für ein größeres Ganzes, den Schwarm, 
m, an dem fie als jelbftlofes und widerftandölofes 
fitzthum haften, aus dem fie ihr Leben fchöpfen. 
> zeigt und aber, die Unerjchöpfliche, auch ſolche 
le, wo Thiere, deren individuelles Leben ſtark genug 
um ſich als felbititändig zu behaupten, für eine 
t Lang zu folchen ſelbſt- und widerftandälofen 
warmtheilen werden, wie die Bienen immer find. 
jeö zeitweilige Bilden eined Schwarmed, dad man, 
3 wie dad Bilden eined neuen bei den Bienen, 
bwärmen nennt, zeigt fich bei den Zügen mancher 
he, bei den periodiſchen Wanderungen vieler Vögel, 
einer feiner ergöglichiten Formen bei der Balze der 
ckhaähne. Das Charakteriitiiche bei allen dieſen Er- 
nungen ift, daß die Thiere während ded Schwär- 
18 ihre Sndividualität, ihr Selbft, verlieren, daß fie 
hören fich felbit in Befiß zu haben und ald von 
em Andern befeffen erjcheinen, daß ein Zanber oder 
nn fie zufammenhält, in Folge welcher der vom Zuge 
ſekommene Fiſch oder Vogel wie toll und blind oder 
h ganz benommen erfcheint, und die balgenden Birk: 
me ganz Eopflod einer nach) dem anderen fich weg- 
eBen Yaflen, und beim nächſten Worgengtuuen Le 
der an den gefährlichen Dxt Tomımen, WR wu TV 


— 8 — 


Spielhahn, den burlesken Vortänzer bei ihren Orgien, 
tödtet und fo den Bann (Niemand wei für wie 
lange) löft. 
Weder das bleibende noch das zeitweilige Selbft- 
loswerden ftreitet mit dem Begriffe des Thiers; Teines 
von beiden darf daher ein unnatürlicher, oder auch nur 
unbegreiflicher, Zuftand genannt werden. Müßte näm- 
lich der Begriff des Thiers durchaus mit einem einzigen 
Worte angegeben werden, jo wüßte ich dafür kaum ein 
‚anderes vorzufchlagen ale das Wort Wiederholung. 
Daß wir fo oft die Thier-Individuen Cremplare oder 
Stüde nennen, (man denke dabei zugleich an Exemplare 
eines Buches, an jo und fo viele Stüd Louisd’or u. ſ. w.), 
dag wir ihnen nicht Eigen- fondern nur den Arte: 
Namen beilegen, beweift, daß wir in ihnen nur Wie 
derholungen eines Typus fehen, eine Anficht die darin 
ihre Beftätigung findet, daß auch das Thun der Thiere 
nur ein Wiederholen defien tft, was Thiere ihrer Art 
immer thaten, ja daß das volllommenfte Thier, welches 
auch thut was nicht nur feine Artögenofjen thun, dies 
doch nicht felbft fondern nur na ch macht. Was Wun- 
der alfo, daß Weſen die nichts jelbft find nichts felbft 
thun, felbftlos werden? Ganz im Gegenſatz dazu iſt von 
dem Begriff des Geiſtes der des Impuls» gebens fo 
unzertrennlich, dab a8 (ein eigentliches Weſen die Ur: 
fprünglichkeit und Originalität garage. Sa Srihh 


-9— 


diefer feiner Umwiederholbarkeit und Einzigkeit fordert 
das geiftige Weſen für fid) einen eigenen Namen, fieht 
in der Bezeichnung mit dem Artönamen, in der Anrede: 
Menſch! eine Beleidigung. Mit Recht; jedod möchte 
ih zu einer Injurienklage nicht rathen: ein Widerruf 
des Beleidigerd könnte die Sache noch ſchlimmer machen. 
Mit dem Original fein, beffen das geiftige Weſen ſich 
bewußt ift, geht die Originalität feines Thuns Hand 
in Hand. Ohne die That des fich als Ich Erfaſſens 
erifticte der Geift gar nicht, und diefe That iſt bie 
originellfte, weil fie nie Einer dem Anderen vor- oder 
nahmadt. Die Originalität mindeftens zeigt jedes 
geiftige Wefen: als diefes unwieberholbare Ich zu fein; 
Mindeftend, denn es giebt Hierin Grade. Ganz wie, 
um Wärmegrade oder Höhen abzuihägen, man einen 
Grad oder eine Höhe ala Null der Erwärmung und 
Erhebung ſeht, und, obgleich wir fehr gut wifien, daß 
ſchmelzendes Eis viel wärmer ift als ſchmelzendes 
Quedfilber und bie Meeresfläche viel höher als der 
Meereögrund, wir doch erft dem, was barüber hinaus- 
geht, zugeftehen es habe Wärme oder Höhe, ganz fo 
ziehen wir auch bei der Abſchätung der Gelfter eine 
Linie, nehmen einen gewifien Grad von Driginafität 
als das Minimum an, welches eben darum nicht ger 
3&hlt wird. Crft von bem, der über hie Rus 
fteht, fagen wir er habe &eitt, wer «d wur rät 


- 10 — 


fonft aber fich ald Copie und Eopift ermeift, von dem 
fagen wir: er habe feinen, fet geiftlos, womit er gar 
nicht für ein untergeiftiged Wejen erklärt wird. Alle 
die Stufen innerhalb des Geiſt-habens, welche durch 
die Wörter: Mann von Geiſt, geiſtreicher, geiſtvoller 
oder genialer Mann u. ſ. w. unterſchieden werden, ſetzen 
immer eine eigenthümliche, unmtederholbare, Pro: 
ductiond=, wenigjtend Gombinationg - Fähigkeit voraus, 
die über das Niveau hinaudgeht, auf welchen der Geift- 
Iofe ſtehen bleibt, den wir, eben mit Rüdficht auf dies 
Niveau, den Platten, den Gewöhnlichen, den gemeinen 
Mann, den Mittelmäßigen, nichts Befonderes u. |. w. 
nennen, nicht um ihn zu fchelten, fondern um den Ge: 
genſatz hervortreten zu laſſen zwilchen ihm und dem 
Ungemeinen, Außerordentlichen, Hervorragenden. Stel: 
gert fih nun in Einem ber letzteren Art das Geift: 
haben zu jener Heftigkeit, die man Affeet, Leidenſchaft, 
Paifion, nennt, ohne welche nie etwas Großes geleiftet 
wird, fo hat man den Zuftand der Begeifterung. 
Begeifterung, das zur Paffion gewordene Getjt-haben, 
tft darum Drang und Bermögen zu originellem Schaffen. 
Der begeifterte Künftler fchafft Neues, nie Dageweſenes, 
der geiftloje wiederholt und copirt, fich oder Andere; 
die religiöje Begeiſterung fchafft ein neued Herz, die 
wiſſenſchaftliche eröfinet neue Anfichten der Welt. Daß 
der Geiftlofe der Begeiiterang wniikte, darum u, 





- 1 — 


teine Behauptung, es ift eine ſelbſtverſtändliche Tauto: 
logie. Iſt er ed aber, fo natürlich auch (da 0 +0=0) 
die Summe ber ihm Gleichen, die wir bie Maffe, bie 
Menge, den großen Haufen nennen, bei weldhen Wör— 
term, wie dad Hinfichtlich des einen derfelben ſchon vor: 
Hin bemerkt ward, immer die Gleichheit der Summirten 
vorauögefeßt wird. Begeifterung der Maſſe ift ein 
Widerſpruch in fich felbft: um ihrer fähig zu fein, 
muß man nicht zur Maffe gehören, über berjelben 
ftehen, mehr fein als fie. Daraus folgt aber nicht, daß 
nun auch Alle, welche Geift haben darum ſich auch 
begefftern müßten, ja nur es könnten. Wie es Manchen 
giebt, der Zeitfebens gefund war, weil ihm nie Etwas 
gefehlt hat, und der doch nie jenes pridelnde Gefühl 
Tennen lernte, welches und zeigt, daß die Gefunbheit 
etwas Pofitives ift, wonon die Adern ftrogen ja fpringen 
möchten, fo kann es geiftreiche, ja geiftvolle Menſchen 
‚geben, aus welchen nie der eleftrifche und efeftrifirende 
Bunte der Begeifterung herausſchlug. Nur bad Umge 
kehrte iſt unmöglich; wie nur bas fich vergrößern Tann 
was eine Größe hat, fo nur der der Geiſt Bat, fi 
begeiftern. 

Dem Gebirgöreifenden mag es begegnen, daß wenn 
ex eine Höhe erreicht hat, er um ſich nur einen uner ⸗ 
meßlichen Nebel-Dcean fieht, aus dem weriugite Ken 
Sufeln fervorragen, harct er ober yalig ur, \n 


Zuſehen aver Jınver man, vag ſie aue ım, ju 
den, allgemeinen geiftigen Mächten wurzeln. 
ber in der Kirche lebt, der welcher unfer 2 
fie find die Mutterbruft, an der wir ruhe 
der wir Nahrung ziehen. Dieſes Durchdrun 
folchen größeren (allgemeinen) Geijtern kar 
denen, die wir unter dem Namen Mafle 
faßten, nicht ald Ton=angeben, [ondern nu 
und Nachgehen geitalten: fie fingen nicht 
fondern die Chöre in dem Oratorium deg 
und politiichen Lebens. Bei ihnen zeigt id 
liche und patriotiihe Sinn als Zucht und 
als Halten an Sitte und Herlommen, di 
unterfchäßt, welcher nicht weiß daß fie wic 
viel fchwerer, find als die momentane Opfe: 
zu der Zeiten der Noth Alle, auch die Mo 


men. “it aber Der. melden der Mllaemein 


— 13 — 


geifterung, darum möchte fie kaum je herrlicher 
it haben, ald bei jenem Apoftel, der ſich felbft 
zißt daß er fagen fan, er lebe eigentlich wicht, 
t ein Größerer in ihm, und wieber ſich in feiner 
Gümfichteit und Cinzigfeit fo fühlt, dah er ſich 
ı kann: Ich habe mehr gearbeitet als fie Alle. 
» Tann fi) Beides nur verbinden, wenn jenes 
ein Bielgegliebertes, darum ber Mannigfaltigfeit 
bhold ift, fondern ihrer bedarf und fie hervor ⸗ 
Darum eben bei jenem Apoftel, der die Beſtim⸗ 
ber Menfchheit, für die er begeiftert ift, darein 
in befeelter Tempel oder Leib zu fein, worin kein 
jen noch Theilchen fehlen kann, ohne das Ganze 
nftalten ober zu verftümmeln, und eben darum 
einen eigenthümlichen Werth Hat und etwas Be: 
if. Sid) mit Alen einverftanden, und zugleich 
feiner Eigenthümlichleit verftanden wiſſen, das 
Bedingung zu biefer Begeifterung für das 
‚ die den Menſchen, nicht nur, wie die bisher 
tete, über feinen gewöhnlichen Zuftend, fondern 
id felbft erhebt und fähig macht, Uebermenſch- 
zu leiften im Dienfte jened größeren Ganzen. 
miſt auch das Mittel, wodurch Einverftändnig 
und Einer dem Anderen verftändlich wird, bie 
bad Wort, das Werkzeug, worurh Tide WÜERe 
erung, die Allgemeinbegeifterung, wirirdtt 


— 14 — 


oder vielmehr wodurch Einer aufgefordert wird, ſie in 
fich zu erzeugen. Da die, welche ſich überhaupt nicht 
begeiftern können, folcher Aufforderung nicht Folge 
leiften können, jo ift ed in der Ordnung, wenn die 
Maſſe folchen Ruf überhört. Es ift aber möglich, ja, 
da die Rede, die die Begeifterung erwedt, ihrem Wort: 
laute nach Allen verjtändlich tft, iſt es wahrfcheinlich, 
. daß in Zolge derjelben Manchen, der zur Maſſe ge 
hört, ed auch anwandelt fich, gleich den Begeifterungs- 
fähigen, zu erheben. Diefe Anwandlung unterjcheidet 
von dem gewöhnlichen oder gemeinen Mann den, für 
den wir feinen treffendern Namen willen, als den, 
durch unſere größten Dichter courfähig gemachten, 
Studentenausdrud Philifter. Wir verftehen darunter 
den, der nichts DBefonderes tft, den ed aber anwandelt 
etwad Beſonderes zu jein. In dem englifchen snob 
liegt eine Ahndung, aber nur eine ſchwache, des deutſchen 
Philifters. Wie in Allem fo find wir auch hierin die 
größte Nation. Was wird nun wohl die Folge einer 
folhen Anwandlung fein? Cine finntge Fabel des Alter: 
thums giebt darauf Antwort: Ein genialer Künſtler 
beftet fich jelbft und feinem geiftlofen Sohne Flügel 
an die Schultern; ihm werden ſie zum Heil, der Sohn 
aber fällt, nicht nur auf das Niveau zurüd von dem 
er fi erhob, jonvern {ef water doielke, auf ben 
Meeresgrund. Amer Itaradl vd — wer PEEREA 


— 15 — 


Nicht im Stande, gleich Paulus fo ſich von einer 
Höheren Macht durchleben zu Iaffen, daß dies bie Kraft 
und das Bewußtfein der Eigenthümlichkeit fteigert, 
und doch verlangend, ftatt zu leben gelebt zu werben, 
erfauft er eö damit, daß er aufhört etwas für fich felbft 
zu fein, und nun natürlich felbftlos, wie der benommene 
Bogel oder Fiſch, einem größeren Ganzen verfällt. 
Statt der Juno übermenfchlicher Begeifterung umarmt 
er die untermenſchliche Wolle ded Schwarmgeifted, wie 
died Luther nennt, der Schwärmeret wie eö heute 
heißt. Wie Aefferei nie vom Affen, ebenfo wird Schwär- 
merei nie von ben Wefen gefagt, denen das Schwärmen 
natürlich ift; Schwärmerei ift dad Herabfinken geiftiger 
Weſen in den Naturzuftand des Schwärmend, darum 
ein Mittleres zwiſchen geiftigem und natürlichem Der: 
halten, für welches eben darum die Gefege nicht aus 
der Geifteslehre, ſondern der Naturbeobachtung zu 
ſchöpfen find. Entſprechend dem, daß man ſchlecht ger 
heilte Knochenbrüche falſche Gelenke nennt, weil ſie mit 
den Gelenken die Aehnlichkeit haben, daß bei beiden 
kein ununterbrochener Knochen da iſt, könnte Einer die 
Schwärmeret als falſche Begeiſterung ober auch Ber 
geifterung des Philifters erklären, da zwiſchen beiden 
wirklich die Aehnlichteit Statt findet, dah fie paffio- 
nirte Zuftände find. Da würde aber Über The dl 
gpfeit der viel wichtigere Unteriäred wergiien, DIE 


— 16 — 


bei dem Begeifterten dad Geifthaben, bei denen, die da 
ſchwärmen, die Geiftlofigkeit Paffion ward. Des Schwär- 
mens, d. h. der paffionirten Geiftlofigfeit tft der, ber 
jemald begeiftert war, gerade fo unfähig, wie der Geift- 
Iofe oder die Mafje es der Begeifterung war. Dagegen 
ift ihre Sade das Schwärmen. Und dadurdy wird 
fie durchaus nicht zu einem trübfeligen freudlofen Da: 
fein verurtheilt: Freude und Genuß hat Jeder nur in 
feinem Elemente, und die Iuftigen Abendeoncerte im 
Froſchteich fcheinen zu beweilen, daß des Plaiſirs es 
dort mindeftens ſo viel giebt, ald in den ftillen Lüften, 
in denen der Adler ſich wiegt. 


2. 


Sp lange meine Behauptung, daß Schwärmerei 
ein Zurüdfallen auf den Schwarmzuftand, ſich nur auf 
ſprachliche Ableitung ftügt, kann fie nur fordern, nicht 
undeutſch gefcholten zu werden. Will fie außerdem auch 
noch für richtig gelten, fo wird für fie der Beweis zu 
führen fein, den man auch jonft für naturwifjenfchaft: 
lihe Theorien führt: man wird auf allbefannte That: 
ſachen hinweiſen und zeigen müfjen, dab fie bet diefer 
Annahme leicht, ſonſt vieleicht gar nicht erklärt werben 
Können. Indem jegt zu ſobhen Thatlachen überge- 

gangen werben joll, tt Die Art eine dayysie: edit 


— 7 — 


natürlich: aus ihnen auf die Richtigkeit meiner Behaup⸗ 
tung zurüdzufchliegen, dann aber auch: von ihr aus, 
ungerechtem Tadel jener Thatſachen entgegenzutreten, 
indem fie als nothwendige Erſcheinungen eines Natur: 
geieges dargeftellt werden. Zum Weſen des Schwar- 
med gehörte Gleichartigkeit feiner Theile, fie wird alſo 
aud zum Schwärmen gehören; da nun lebendige Or- 
ganismen nicht, wohl aber die Gewebe aus benen fie 
beftehen, alſo ihre Bruchtheile, ſolche Gleichtheiligkeit 
zeigen, fo wird ed nicht weiter Erftaunen oder Zorn 
erregen dürfen, wenn ber Schwarmgeift nicht aus Ganz 
heiten fondern aus Bruchtheilen feine Nahrung zieht. 
Nicht für die Kirche, den Staat, die Wiſſenſchaft, wird 
geihwärmt, fondern für Secten, Fractionen, Schulen; 
ja vielleicht Seiten einer Schule. Umgekehrt aber, man 
ſehe es als ein Naturgefeß an, wenn die, welche ſich 
einer Secte ober Fraction ganz hingeben, allmählig 
ihre Individualität ganz einbüßen, immer mehr ben 
Anderen gleich d. h. immer ordinärer und gewöhnlicher 
werben, fo daß fie zulegt nur wollen können wozu die 
Parole ausgetheilt warb, nur denken und ſprechen, 
was hundert Mal gedacht und gefagt ift. Gewiß ift 
diefe Monotonie, die Manchen dahin gebracht hat zu 
fagen: von dieſer Secte kenne ich ſchon ſechs Erem⸗ 
plare, von jener Fraction fünf Sha ud Ye W 
Seiten jener Schule haben mir at ya Sud 
⁊ 


geliefert, — gewiß ift fie für den Außenftehenden fehr 
langweilig und legt ihm den Gedanten nahe, daß dies 
Secten- und Fractionsleben die Menſchen beichränft 
und immer fopflofer mache. Dies aber berechtigt nicht, 
fie zu fchelten. Langweilig fein ift kein Polizeivergeben, 
gefchweige denn ein Verbrechen, das darf Jeder; und 
daß, wer darauf verzichtet, feinen Kopf für fich zu 
haben, wie dies die Sraction verlangt, damit aufhört 
überhaupt einen zu haben, denn was man nicht für 
fih bat, hat man nicht, und alſo kopflos wird, das 
fann man zum Voraus wiflen, auch wenn nicht der 
benommene Fiſch und der fudernde Birkfhahn bewiefen, 
dag den Schwärmenden ein Bann und Zauber gefangen 
hält. Wir räumen Jedem das Recht ein, fich ſolchem 
Zauber bin- und feinen Kopf berzugeben, wir verlangen 
aber auch für und das Recht, den unfrigen zu behalten, 
fowie dad: wenn und vorgeredet wird: „Willſt du nicht 
in unfere Sraction, jo mußt Du dich zu jener halten“, 
ruhig zu antworten: Ich gönne Euch eure vielen 
Sractionen, ich ſelbſt will verſuchen gar nicht in Die 
Brüche zu gerathen. 

Einen Zauber oder Bann nannten wir dad, was 
die Schwärmenden feflelt. Es fragt fich, woran er 
gebunden ift und hängt? Alle Schwärme in der Na: 
far geben und die gleihjlautenne Antwort: an einem, 

den Bezauberten ganz wleihartigen, Diem. En But 


— 191 — 


Hahn wie die übrigen präfidirt der Balze, ein Kranich 
ober Lachs wie alle anderen führt ben Zug an und ift 
feine Seele. Auch die Bienen machen hier feine Aus» 
nahme, denn genaue Unterfuchungen haben bewieien, 
daß die Mütter ganz gewöhnliche Bienen find, die nur, 
weil nicht fchlechtere Koft und engerer Raum ihr Wachs: 
thum verhinderte, fi), als die beffer genährten, fehneller 
und volftändiger entwidelt Haben. Hätte ich dies ſchon 
gewußt, ald vor vielen Jahren in Oftende der fehr ger 
wöhnliche Menſch, der zum Ergöpen der Wirthätafel 
ſehr fentimental, namentlich wenn er im Spiel ver- 
loren Hatte, zu erzählen pflegte, wie harmlos und poe« 
td) er fe, ſich endlid) als Antonin Tpouret, Depu- 
tirter von Lille, erwies, für den damals die Mafje in 
Frankreich ſchwärmte, fo wäre ich vielleicht weniger er⸗ 
ftaunt geweſen, hätte aber mehr ala damals Gewicht 
darauf gelegt, daß er fo gut genährt war. Vielleicht, 
fage ich; denn damals ahndete ich nur, was ich jept 
weiß, dab das Schwärmen der Mafle nicht nur fo 
Heißt, fondern dasfelbe ift, wie das Schwärmen in ber 
Natur, daß eben darum beides von demfelben Geſetz 
beherrſcht wird und alfo die Maſſe [hwärmen muß für 
das, worin fie ihres Gleichen fieht, wenn auch tm ver ⸗ 
größerten Maßſtabe. Welche Fülle von Belchrungen 
gewähren mir, feit mir Died fert fteht, Rute 
tungen, bie fonft für mich unfendgtbse wuren. Ne 


— 20 — 


lich haben ſie Bedeutung nur für die Verhältniſſe, in 
die der Menſch durch jenes Herabſinken geräth. Da 
erzählt ein ſehr exacter Beobachter, daß alljährlich in 
jedem Bienenſchwarm, wenn die Zahl ſeiner Bewohner 
und die Hitze ſehr ſtieg, die Mutter, um welche bisher 
Alles kreifte, beunruhigt dadurch, daß ſich die neu aus: 
gebrüteten Mütter hörbar machen, darauf ausgeht, die- 
felben zu vernichten, dann aber, weil die übrigen Bie- 
nen dies nicht zulaffen, genöthigt ift, dem abziehenden 
Theil des Schwarmd, der fich als neuer conftituirt, zu 
folgen, während die Nachbleibenden, ald wäre gar nichts 
gefchehen, fih um die junge Mutter fchaaren. Welche 
Beruhigung iſt das für mich, der ich mich früher er: 
eiferte, wenn ein Sractiondhaupt, mehr gefchoben und 
gezogen als fchiebent und ziehend, zun Haupt eines 
Fractiönchens ward, weil jeine frühere Schaar von ihm 
abfiel, daß ich jeßt Darin ein allgemeines Naturgeſetz 
erfenne. Und wieder, wenn derjelbe Gewähremann 
erzählt, daß die Bienen fortwährend ihre Arbeit unter: 
brechen, um dem jeweiligen Weifel ihre Zärtlichkeit zu 
ermeijen, theild indem fie ihn mit der Zunge jtreicheln, 
theils indem fie ihm Sutter reichen, wie follte ich darin 
nicht Waffen finden gegen die, welche darüber jammern, 
daß die Maſſe bei ihren Demonftrationen fo viel Zeit 
vergeude, oder die, weldye Darüher Inutten, Daß Diefelbe 
fo wenig Erfindungdgabe gie, Ka use en 


s 


— 1 — 


Hole? Die Sticheleien ded Lepteren gehen offenbar auf 
bie Abfütterungen der Gefeierten, und jene cajolirenden 
Bungenfpiele, die in der Sprache gewöhnlicher Sterb- 
lichen Trinkſpruch oder Toaft heißen, im erhabenen aber 
— ich meine im Zeitungs — Style: begeifterte, von 
ftürmiſchem Beifall unterbrochene Anrede. Mein Sag 
und jeder Bienentorb muß die Stichelnden überzeugen, 
daß woran fie ſolchen Anftop nehmen, nicht nur unſchul. 
dige Sachen find, fondern nothwendige, weil der ganz 
natürliche Ausdrud eines ganz natürlichen Demonftra- 
tionsdranges. Wie eö fcheint nur dies Beides, denn ein 
Drittes, was früher obligat zu fein pflegte, baf; man dem 
Gefeierten — Virtuoſen oder Erfinder einer neuen Reli- 
gion — anftatt der Pferde viel langſamere Zugthiere vor⸗ 
ſpannte, findet in den Naturerfcheinungen feine Analogen, 
und ift wohl auch deswegen aus der Mode gekommen. 
Trotz feines Reichthums an praktifchen Anwenbun: 
gen wird aber mein Sap auf allgemeine Zuftimmung 
um fo weniger rechnen bürfen, ala es fcheint, daß ſchon 
bie erfte barand gezogene Solgerung mit der Erfahrung 
ftreitet. Die Solgerung war: die Mafle jhwärmt nur 
für das, worin fie ihres Gleichen fieht; die Erfahrung 
aber Iehre, fagt man mir, daß fie gejchwärmt habe und 
(wärme fur Dichter, Helden, Gelehrte erften Ranges, 
und ebenfo, daß nicht alle Sracttons: und Schauer 
Antonin Thouret's fein, {ondern Vor unter en W 


— 22 — 


höchſt geſcheidte und geiſtreiche Männer finden, felbft 
wenn ed wahr fein follte, daß die ſich um fie ſchaaren 
dies Beiwort nicht verdienen. Alles richtig; aber auch 
diefen Einwand widerlegt — die Naturgefchichte der 
Schwärme. Man bat, um herauszubringen, was denn 
eigentlich die Bienen an die Mutter fefjelt, dieſe auf 
verichiedene Weile verftümmelt und dabei gefunden, daß 
wenn man ihr beide Antennen (Zühl- oder nach Ande 
ren Geruchshörner) abfchneidet, Niemand mehr ihrer 
achtet. Da nun die Antennen nicht zu den Organen 
gehören, worin die beffere Koft und größere Brütezelle 
die Entwidlung modificirte, fondern hierin Wetfel und 
Arbeitsbiene fich gleich find, fo ift ed bei ihnen — tout 
comme chez nous. Wie dort die Bienen nach ben 
Antennen, fo fucht bei und die Maffe, ehe fie ins Feuer 
geräth, bei dem zu Feiernden nad) Solchem, worin er 
wie fte, d. 5. geiftlos und gewöhnlich if. Kann fie 
nun died „den Zopf, der Allen hinten hängt“ durch— 
aus nicht finden, fo hängt fie ihm einen an; ftößt fie 
aber auf Einen, an dem fie feinen wahrnimmt, defien 
Dlympier-Augen aber anzudeuten jcheinen, daß er gar 
nicht geſonnen ſei, ſich ſo ein Ding anhängen zu Laffen, 
fo laßt fie ihn ftehen, denn der ift ihr zu „vornehm“, 
und fucht nach einem Anderen, von dem die Leute auch 
viel fprechen, und ber bach mehr tft „wie unjer Einer”. 
Run aber giebt ed Eines, worin sa Ver Yieraee 


— 28 — 


nehmſte gleich einem der Ihrigen wird: er ftirbt. Nichts 
st gewöhnlicher, Nichts gemeiner, Nichts ordinatrer als 
der Tod; in Nichts zeigt ein Menſch mehr Mangel 
an Geift als barin, daß er feinen aufgiebt. Schon 
darum find die Todten für die nad) Enthuſiasmus bürs 
ftende Maſſe eine gefundene Beute: ihr bloße Sterben 
ealtirt für fie, und fo kann es vorfommen, da Einer, 
der am Borabende feines Todes beteftirt ward, am 
Tage nach bemfelben mit Ovationen gefeiert wird. Das 
zu fommt aber zweitend, daß ber Todte fich nicht mehr 
wehren kann gegen das Anhängen aller möglichen Zöpfe, 
die ihn ber Maffe erft werth, und die ihn fähig machen, 
die vergötterte Puppe einer Saifon zu fein. Nichts tft 
Iehrreicher ald dieſe, für die ſchwärmende Maſſe erfuns 
denen Geſchichtchen, aus benen man zwar nie lernt, 
was ber Gefeierte war, wohl aber, was den Feiernden 
über Alles geht. Sehr harakteriftifch ift in diefer Hins 
fiht, das dem Galilei angedichtete, Gefchichtchen, daß, 
ala er die Bewegung der Erde abihwören mußte, er 
für fi) gemurmelt habe: Und fie bewegt ſich doch. 
Ich nenne das Geſchichtchen erfunden; denn ba jene 
Worte unhörbar follen gefprochen fein, fo wüßte man 
von ihnen doch nur durch Galilei's eigene Erzählung. 
Für fo gefcheibt aber wird man den Galilei doch wohl 
halten, daß er gewußt hat, wie es nicht (ehr wi O5 
denmuth zeigt, auch gewöhnlich won \ehen umen cd 


— 24 — 


verhoͤhnt zu werden pflegt, wem man FSauſft in der 
Taſche macht. Der Philifter freilich ſieht die Sady 
anders an: ihm ericheint Einer, der in feiner Taſch 
Fauſt macht, als ein Goliath an Muth, denn er felbt 
bringt es nur zu Schnippchen in ber feinigen. Dis 
wiſſen die auch fehr gut, die ihn mit jenem Gefchichtchen 
regaltren; ihm deutlich zu machen, worin die wahre 
Größe Galilei's befteht, möchte fehr jchwer fein, wer 
gegen das „Inwendig raifonniren“ ihm verftändlich ift, 
und verehrungdwäürdig ericheint; deswegen wird ihm 
von feinem Lieblings-Blatt oder Redner von Zeit zu 
Zeit pathetifch zugerufen: E pur si muove, wobei 
Beide noch den Neben: Bortheil haben, daß er fi 
fagt: die verftehen nicht nur Alles, fondern fogar Sta- 
liäniſch. Ganz wie bier den Galilei, fo richtet die Maſſe 
jeden wirklich Großen ſich erjt zu, um ihn gentehbar 
zu finden, und für ihn fchwärmen zu können. Sie be: 
ftättgt Darin nur, was gejagt ward: Man begeiftert 
fi für Größeres, Höheres, man ſchwärmt nur für 
feined Gleichen. 

Iſt Schmwärmerei nicht ſowohl ein geiftiger, als viel: 
mehr ein Naturzuftand, in welchen geiftige Wefen ge 
rathen, jo folgt von jelbft, daß Bedingungen rein phy⸗ 
ſiſcher Art ihr Hervortreten ermöglichen oder verhindern 
werben. Nicht nur der Yäger, der früh Morgens bie 

Birkhähne bei der Balze Überroidgen mil, Kart, warm 


— 20 — 


ed Abends ftürmt und Flocken fallen: es wird nichts, 
fondern dasſelbe Wort fpricht Pötion am Vorabende 
einer verabredeten Straßendemonſtation aus, ald er fein 
Fenſter öffnet und es regnet. Ohne Gefühl des phy- 
chen Wohlſeins ſchwaͤrmt ſichs gar zu fehlecht. Auch 
dies ift bei der Begeifterung andere. Während ber 
größten Berfolgungen und Leiden hat ſich in der Kirche 
die größte Begeifterung gezeigt; inmitten der größten 
Landescalamität gründet unfer, ſelbſt verarmter, König 
die Berliner Hochſchule; während der drückendſten Baum · 
wolfennoth denken die Sabrifarbeiter in Lancaſhire an 
die Gründung von Schulen für ihre Kinder. Dagegen, 
wo ſchnell erworbener Reichthum jeden Genuß leicht 
erreichbar macht, da will man alle acht Tage ein neues 
exeitement, und wo in Folge eines bis dahin uner« 
hörten materiellen Wohlſeins 1a France s’ennuie, da 
ſchwärmt die Maffe heute für den, der jenes Wort er 
fand, morgen wendet fie es am gegen feine eigenen 
glänzenden Reden und rottet fi um ben, der ihn einen 
Säwäger nennt und einen Lügner. ft phyſiſches 
Wohlſein Lebensbedingung für die Schwärmeret, fo ift 
es eine Ungerechtigkeit, wenn man die Schwärmenden 
ſchilt, daß fie fich das Gefühl des Wohlſeins zu fteis 
gern pflegen, oder wenn man mit bitterem Spott das 
Leben in der Wüfte, das Zaften und die Nogtuuien, 
wie einft begeifterte Männer ed übten, von Ess 


— 26 — 


ſiaſten von heute mit ihren Zweckeſſen als Mufter vor: 
hält. Es ift eine Ungerechtigkeit, denn Eines fchidt 
fih nicht für Alle. Pullatillen gedeihen auch in purem 
Sande, Nympheen gehen darin zu Grunde; die Schwär: 
merei ift wie die leßteren, fie will begofien fein, ſogar 
fehr. Daß man aber dazu Flüffigkeiten nimmt, bie 
allerlei organische Beftandtheile enthalten und, im Fall 
es diefer zu viel gab, dies durch Soda haltiged Wafſer 
gut macht, das ift nach Prinzipien der Agriculturchemie 
das einzig rationelle Verfahren. 


3. 


Da die bisherige Audeinanderfegung nur gezeigt 
bat, daß, wenn einmal geſchwärmt wird, Die, welche es 
thun, nicht noch beſonders getadelt werden dürfen, wenn 
fie langweilig werden, beichränft erjcheinen, nicht im 
Trocknen figen wollen u. |. w., weil died Alles dann 
ganz natürlich ift, jo hat fie offenbar einem Plaidoyer 
geglichen, das nicht auf Freiiprechung des Angellagten 
binarbeitet, fondern nur darauf, dem Mitleiden der Ges 
Ihworenen die Annahme mildernder Umftände zu ent: 
reißen. Bielleicht tft der Inculpatin Unrecht gefcheben. 
In Einem nicht nur vielleicht, fondern gewiß: darin, 
Daß man den Hauptzeugen nur erzählen ließ, was gegen 

fie fpricht, in dem aber, was für fie wagen Tasse, I 


nn — 


gar nicht befragte. Diefer Hauptzeuge ift für und die 
Sprache geweien, die und bezeugen mußte, dag Schwär- 
merei mit Schwarm, Begeifterung mit Geift verwandt 
fei. Nun giebt und aber doch die Sprache ihre Winte 
nit nur durch die Stammverwandtfhaft der Wörter, 
fondern auch durch das, was in ihr herrichender Ger 
brauch; ja auf diefen muß man eigentlich mehr geben, 
weil er nicht nur, wie jene, und lehrt wie damals, wo die 
Wörter entftanden, unfer Volk dachte, fondern wie es 
noch heute denkt. Erkundigt man ſich aber bei dem heu- 
tigen Sprachgebrauch nad) der Schwärmerei, fo denkt 
er bei biefem Worte nicht, wentgftend gewiß micht zu⸗ 
erft, an das fich zu einem Schwarm Zufammentotten, 
ſondern er meint jenen eraltirten Zuftand, der in der 
Einfamkeit fo gut wie im Verein mit Anderen, viel- 
leicht noch beffer gebeiht, in dem das Herz für dad Edle 
glüht, nach dem Höchften verlangt. Dieſe Schwär: 
merei als fein ausſchließliches Eigenthum dem Ppilifter 
zuſprechen, ihr alles das nachſagen, was bis jept von 
der Schwärmerei gefagt wurde, würde jedes fittfiche 
Gefühl verlegen. Und wieder fagen: mit ihr verhalte - 
ſichs ganz anders als mit der biäher betrachteten, das 
ſcheint unfere ganze Begriffebeftimmung umzuwerfen. 
Doch nicht. Nicht nur anders tft diefe einfame Schwär- 
merei, als die biöher betrachtete, fonderu tar ertınd 
Gegentheil und dennoch bezeichnen vor hehe wi Sun 


— 28 — 


Worte; mit demſelben Recht, mit welchem wir Dämme⸗ 
rung nicht nur den Anbruch des Tages nennen, ſon⸗ 
dern auch Dad Gegentheil davon, jein Vergehen. Die 
frühere Behauptung: Schwärmerei jet ein Zuftand 
Solcher, welche der Begeifterung nicht fähig, bleibt 
unerfchüttert, auch wenn Solche unterjchteden werden, 
die überhaupt nicht und Solche, die nur noch nit 
fich begeiſtern können. Sa felbft dad ganz zuerft aus: 
geiprochene Urtheil, Schwärmerei jei Krankheit, kann 
aufrecht gehalten und doch zwiſchen folchen Krankheiten 
unterjchieden werden, welche die Gefundheit nur fähr: 
den, und denen die, weil fie vor Fünftigen Krankheiten 
fiher ftellen, diefelbe zugleich fürdern, wie Pocken, 
Scharlachfieber, kurz alled das, was man Entwicklungs⸗ 
oder Kinderkrankheiten zu nennen pflegt. 

Den Zuftand, wo etwas noch nicht ift, was es fein 
fann und fol, nennt man überall Keimzuftand oder 
Unreife. In der Zeit, wo der Geiſt erit reift, d. h. 
der Jugend, kann auch die Begeijterung nur im Keim- 
zuftande fich zeigen, und dies ift jene andere Schwär: 
merei, von der eben gefprochen wurde, die nicht im 
Nie, nur im Noch nicht: Begeiftertfein beftehen 
follte. Bon ihr, der Jugendſchwärmerei, gilt nun nicht, 
was von der Schwärmerei der Maſſe gejagt ward, daß 
fte nur uneigentlich, wie bie faichen Gelenke, Begeifte: 

rung heiße. Sie iſt ed wirtiih, war im Tomtiyesae 


— 29 — 


ſtande. Sie iſt Begeiſterung, denn ſie adelt den, der 
ſie hegt, indem ſie den Keim der Urſprünglichkeit in 
ihm nahrt und ihn dahin bringt, nie ſich gemein zw 
machen, ftets fich über das Gewöhnliche zu erheben, 
Sie ift Begeifterung, denn fie kann ihren Gegenftand 
nicht vornehm genug haben, und wo fie demfelben etwas 
andichtet, da wird ed gewiß nicht fein, daß er Muth 
zeigt, wo es Niemand merkt, jonbern eher, daß er den 
Martyrtod nie geſcheut Habe. Sie tft Begeifterung 
aber im Keim- oder Knospenzuſtande: mas ihr fehlt, 
iſt nicht der Inhalt, fondern die entwidelte Form, die 
Entfaltung, und darum die Klarheit. Wie die Jugend 
Geift nur zeigt, indem fie Herz (dieſe Knospe des Geiftes) 
zeigt, fo iſt auch ihre Begeifterung ein Herzenäzuftand 
und heißt ba (jugendliche) Shwärmerei. Während 
die Schwärmerei der (herzloſen) Maſſe darin befteht, daß 
ihr etwas in den Kopf gefegt ward, zeigt die Schwär- 
merei der Jugend, wie dus, was den Geiſt des begeis 
fterten Mannes erfüllt, ſich bort geftaltet, wo es bie 
Herzen eroberte. Statt ber Har gedachten Vernunft: 
forderungen in dem Begeifterten, fprechen in dem ju: 
gendlichen Schwärmer die unbeftimmten Wünfche des 
Herzens, ftatt der Maren Welterfenntniß dort, malt hier 
die Phantafie ſich ihre eigene Welt. Weil fie aber 
rein find diefe Wünfche und Phantsfegeiitte, Vera 
gen ftinmen fie mit dem zuiammen, wa Let ie 


das Werden zu Eifig. Gerade in enittiit, wa he er 


— 30 — 


Haren Geiſt erfüllt; was Beide wollen, der Begei— 
fterte und der jugendliche Schwärmer, es tft dasſelbe: 
das Ideale. So gewiß ed darum fft, daß wer jemalö 
begeiftert war, nie ſchwärmen kann, ebenjo gewiß, daß 
nie Einer Begeifterung zeigen wird, der nie gefchwärmt 
Hat. Die Möglichkeit der Begetfterung beruht darauf, 
ja fie befteht darin, daß in der Jugend gefchwärmt 
ward, aber audgefchwärmt. Dies Wort bat nicht den 
ruchlojen Sinn, wie in dem Munde Mancher das Wort 
„ausgetobt”, dat nämlich Die Tugend dad Mark ihrer 
Knochen vergeuden folle, damit man im Alter windel⸗ 
weiche Männer babe, die keines Widerftandes fähig. 
Nein, ausſchwärmen fol die Jugend jo, wie der Moft 
ausgähren fol, um ein Getränf zu geben, das, wenn es 
auch nicht die fliegende Gluth des „Federweißen“ er: 
regt, Fräftiger ift, nachhaltiger erwärmt, und ficher ift 
vor einer zweiten, unzeitigen Gährung. Die Iugend- 
fchwärmerei iſt der gährende Moft der Begeifterung, 
bie Schwärmerei der Mafje tft ihr Eifig; darum ent: 
fteht fie auch ganz wie dieſer. Wo nämlich die Um: 
feßung der Beftandtheile, die wir Gährung des Meoftes 
nennen, unterbrohen wird, ehe fie durch Die ganze 
Maſſe bindurchgegangen ft, da entfteht in dem Weine, 
der darüber hinaus fein follte, ein neues Arbeiten, ein 
Gaͤhren, dad aber eine Zeriegung anderer Art ift, eben 


| 


31 — 

Jugend ziemende Schwärmerei gewaltfam unterbrüdt 
ward, in der Maffe, deren Beftimmung tft, ruhig zu 
fein, eine Gährung ſchlimmerer Art, und ihr Verhält 
niß wird am richtigften fo formuliert: die Schwärmeret 
der Maſſe ift verhaftene oder zurüdgetretene Jugend 
ſchwärmerei. Dies führt auf eine weitere Frage: was 
veranlaßt ſolches Zurüctreten? 

Einem Bortrage, der den Beobachtungen über das 
Schwärmen in der Natur jo viele Belehrungen ent 
lehnte, ja feinen Urfprung verdankt, ift es nicht zu ver- 
übeln, wenn er auch hier ſich bei ihnen Raths erholt. 
Da fagt ihm nun die Erfahrung, daß von ben ur— 
ſprünglich ganz gleichen Bienenmaden in den Einen, 
den in bie engen Zellen gelegten, die Lebenskeime kom⸗ 
mender Generationen verfümmern, in den Anderen, die 
nicht fo eingeengt aufwachſen, ſich entwideln und reif 
werben. Weiter aber lehrt dad Erperiment, daß 
auch in der letzteren fie ertödtet werden, fobald fie einer 
zu niedrigen Temperatur (— 60) auögefept werden. 
Dem Winke, den jene Erfahrung uns giebt, Tönnte 
Einer die Fälle entgegenftellen, wo auch bie beengend- 
ften Verhältniffe bie Kraft des Geiftes nicht brachen, 
ja, indem fie frühe zum Widerftande aufforberten, viel- 
mehr fteigerten, fo daß alfo Hier der Eingeengte felbft 
that, was im Bienenkorbe Anderen Üherifien Wr. 
bie Belle erweitern. Keiner wich Dieie Te wu 


— 32 — 


die uns mit Stolz ob der Kraft des Menſchen erfüllen. 
Keiner aber wird behaupten, daß es immer, Wenige 
nur, daß es oft ſo geht. Schlagender noch, aber auch 
niederſchlagender iſt, was jenes Experiment uns an— 
deutet. Es mahnt uns an die, welche die Keime wahrer 
Begeiſterung in ſich trugen, die aber in eine Atmo— 
ſphäre gefeßt wurden, wo der kalte, ertödtende Hohn 
geijtreicher, aber blafirter, Wortführer jeder ſchwärme⸗ 
riihen Anwandlung als Romantif den Krieg erflärt, 
jeden Funken wahrer Begeifterung ald Idealismus 
brandmarft, und in denen jene Keime eritarıten. Und 
nun trete man mit, durch Erfahrung und Crperiment 
geſchärftem, Blid an die Gegenwart heran: die wach— 
fende Bevölkerung beengt immer Mehreren den Raum, 
durch den wachjenden Wohlftand find Bedürfnifje und 
Genüſſe aller möglichen Art entjtanden und die Zahl 
derer Entjeßen erregend geftiegen, die von Jugend auf 
erit hören, dann denfen: dad mußt du entbehren, wenn 
du Dir nicht Mittel jchaffft, es zu erreichen. Will Einer 
ih wundern, wenn Dieſe nie eine Anwandlung jugend: 
liher Schwärmerei empfanden? Und wieder, wenn 
man bedenkt, daß den immer weniger Werdenden, denen 
mehr Spielraum und beffere geiftige Koft geboten wart, 
und die alfo wohl hätten fchwärmen können, ſchon an 
der Wiege Heines und Anderer Sarkasmen dagegen 
dorgefungen wurden, mo man ed it uni, 


Da 


finden, wenn fie das in ſich zu unterbrüden fuchen, 
was man fie gelehrt Hat, „blöbe Jugendeſelei“ zu 
nennen, und wenn ihnen dies (wenigftend hinſichtlich 
der Jugendlichteit und Blödigkeit) wirkfi gelingt? 
Beides alfo hat fich vereinigt, um in der Gegenwart 
die Zahl derer fo groß werden zu Iaffen, in denen die 
weinigte Gährung jugendlicher Schwärmerei gehindert 
und unterbrochen, die Effiggährung der Maſſenſchwär- 
merei hervorgerufen ward. Darum werden wir nicht 
nur, wie vorhin, die Aeußerungen diefer Schwärmerei, 
fondern wir werben ihr Dafein, ihr Vorkommen felbft 
ruhiger anfehen müffen, als dies gewöhnlich gefchieht, 
denn wir haben und erffärt, warum fie nicht audblei- 
ben konnte. Ja, wenn wir heute eben, daß es dieſes 
Eſſigs doch gar zu viel giebt, fo wird felbft darin noch 
ein Troft und ein Grund zur Freude gefunden werden 
können. Nicht im Sinne derer freuen wir und des 
Eſſigs, welche ihn praftiich verwerthen, indem fie, was 
ſich fonft nicht haften würde, den eigenen ephemeren 
Ruhm darin einmachen, fondern weil, fo Schade es ift, 
daß ein Jahrgang umſchlug, er und bemeift, wie viel 
Trauben unfer and trug. 

Und neben diefem leidigen Troft fein Heilmittel? 
Selbft wenn mein Beruf wäre, was er glüdficher Weile 
nicht iſt, als Heifkünftler in bie Zertoechiiintie Kupe 
greifen, durften mehr von mic wertet Wie 06 

J 


— 4 — 


verlangen, welche die neuere Medicin auf Kojten der 
älteren erheben, weil fie zwar nicht mehr Kranke kurirt, 
aber viel befier weiß, woran fie jtarben. Wie viel we 
niger dürfen fie es jetzt, wo mein Bernf nur ift, der 
Zeit, jo weit ich es vermag, den Spiegel der Wahrheit 
vorzuhalten. Sehen wir aber zu, wie in Diefem Zeit: 
fpiegel das, was ung befchäftigt hat, Die Schwärmerei 
und Begeifterung fich ung darftellt, jo zeigt er ung zu- 
erft Das glänzende Bild, das wir in dieſen Tagen fahen, 
wo Tauſende von Solchen, die vor einem halben Jahr⸗ 
hundert fchwärmend für dad Vaterland, Taum noch 
Sünglinge, fich auf ihres Könige Ruf um ihn ſchaar— 
ten, als reife mit Preußens größten Chrenzeichen 
geſchmückt, auf ihres Königs Ruf um ihn fich fammeln, 
begeijtert für das, wofür fie damals ſchwärmten. Er 
zeigt und weiter ein trübered Bild: er zeigt, wie miß- 
trauiſches Unterdrüden jugendlicher Schwärmerei nur 
in fehr Wenigen die Keime wahrer Begeijterung ftei: 
gerte, in Vielen fte verkümmerte, in noch Mehreren fie 
erftidte oder verfänerte, und wie dem Zubelrufe jener 
unglüdfeligen Zeit: alle Gährung hat aufgehört in der 
ſchwärmenden Tugend, heute das fpottende Echo ant- 
wortet: die Maſſe gährt und ſchwärmt. Cr zeigt ung 
endlich — doc) nein! möge ein Anderer den Vorhang 
lüften, binter dem ſich zeigt, wie ih eine Welt ge 
ftaltet, wo dies ſeine Früchte irügt, Don Seituiste Ve 


— 368 — 


Begeiſterung, welche erſt reift, verhöhnen, und Geift- 
volle mit denen buhlen, die feiner fähig find. Anſtatt 
mit einem ſolchen Mißklange zu ſchliehen, geht mein 
Vortrag vielmehr zu denen über, die, weil der Pro: 
metheifche Funke noch in ihnen glüht, ung eine Zukunft 
verheißen, die nicht nur ſchwarz ift. Und nicht nur zu 
ihnen, um uns, —aud an fie, um fie ſelbſt zu ermun⸗ 
tern, möchte er fidh richten. Auch Hier im Saale ſchlägt 
vielleicht manches junge Herz und drohen die geheim: 
nißvollen Ahndungen jugendlicher Schwärmerei die volle 
Bruft zu fprengen, weil fie fi} verbergen müffen vor 
denen, die ihrer fpotten, oder welterfahren weiffagen: 
dergleichen führe zu Nichts in einer Welt, wie fie nun 
einmal ift. Möge aud) Bier. — zum legten Male — 
ein Blid auf das Schwärmen der Naturweien Be 
lehrung und Beruhigung gewähren. Vollbeladen mit 
den Schägen der buftigften Blumen fucht ein Bienchen 
den Rückweg. Richtungslos ift fein Flug, denn fein 
Haus ift mutterlos, oder es felbit zu weit Davon ab- 
gekommen. Da kreuzt, kühn und ficher, weil er feinen 
Strich nicht verlor, der Arbeiter eines mächtigen Schwar- 
mes der Armen den Weg. Erſchrocken weiß fie nichts 
Beſſeres zu thun, als ihren Honig anzubieten; der wird 
angenommen, und — nad) furzer Zeit finden wir bie 
Beraubte emfig arbeitend neben dem Räuher, wer Ir 
in fein Haus mitnahm. Schwärme bar Te or 


— 36 — 


volle Seele unbeſorgt weiter! Schwärme fie, wie der 
und älteren Generationen einft fchwärmen machte, der 
heute vor hundert Fahren geboren Ward. Schwärme 
fie getroft und ſiegesgewiß. Wir finden fie einmal 
wieder und laffen und erzählen, wie fie mit dem, was 
ihr Honigmündchen gab, fich eine Heimath erfauft hat, 
in der aus der richtungsloſen Schwärmerei Begeifte- 
rung ward für dad, was zuleßt allein begeiftert, für 
Pfliht und Beruf. 


Berlin, Drud von Suhon She. 
Marienfraie r.10. 


3 
Zwei Märtyrer der Wiſſenſchaft. 


Vortrag 
gehalten 
zum Seften des Halleſchen Frauenvereins 
am 9. März 1864 
von 


Dr. Erdmann, 
vm ſeſſor in Halle. 


Serlin. 
Berlag von Wilhelm Herg. 
Geſſerſche Buchhandlung.) 
1864. 


Hochuverehrende Derfammlung! 


Ya den, zum Sihaben beider Theile, oft wieder⸗ 
Holten Streitigkeiten über den Vorzug ded Glaubens 
oder Wiſſens und den, ſich daran anfchließenden, Zän- 
kereien über Religion und Wiffenfchaft, ift es vorge 
kommen, daß die Gläubigen, indem fie mit gerechtem 
Stolz auf die Menge von Blutzeugen hinwieſen, deren 
fih die Religion rühmt, daran die nedende Frage 
Tnüpften, wo denn die feien, die für ihre wiſſenſchaft ⸗ 
liche Ueberzeugung den Beweis geliefert haben, den der 
ehrliche Kant ala den fehlagendften bezeichnet: daß ſie 
Alles, Wohlſein und Leben, daran fegten? Bet ſolcher 
Gelegenheit Hat es an fpöttifchen Seitenbliden auf je= 
nen Heros der Wiſſenſchaft nicht gefehlt, der troß feis 
ner befjeren Weberzeugung ed doch abgeſchworen hat, 
daß die Erde fi bewege. Wer dem Galilei gleich 
nachher geſagt Hätte, daß ein ſolches Abſchwoͤren eigent» 
Hd) eine jämmerliche Sache fei, Hätte von ihm leicht 
die Antwort erhalten können: Freund! Das Haft du 
mir nachgeſprochen. Denn in ber That Kat er, m 
einige Zahre vorher ſich das Gerhäyt weruräiet Ads 


— 4 — 


er habe abgefchworen, den Cardinal Bellarmin um ein 
fchriftliches Zeugniß gebeten, daß diefe „ehrenrührige” 
Behauptung eine Verläumdung fei. Bei ſolchem auf: 
richtigen Eingeſtändniß erfcheint ed mir als Härte, 
wenn, anftatt des Vielen was ihm Chre macht, jeit 
zweihundert und ein und dreißig Jahren immer wieder 
das Eine erwähnt wird was feine; ja die Härte wird 
zum graufamen Hohn, wenn man Dies Eine fo behan⸗ 
delt, ald wäre ed dad Größte was Galilei je gethan. 
Wie Hein müßte der doch fein, defien größte Großthat 
etwas wäre, was er felbit für ſchmachvoll erflärt! Aber 
gelebt es wäre anders, gefegt Galilei hätte geglaubt und 
th glaubte, was wirklich Viele zu meinen ſcheinen, daß 
Sich » Durdhlügen eine Heldenthat fei, oder auch ein 
Martyrthum, jo würde dies nicht ich zu beweiſen, nicht 
tch den Galilei zu rechtfertigen haben, fondern der Phy⸗ 
fifer. Statt feiner diefe Pflicht erfüllen hieße einen Ein» 
griff thun in feine Rechte, zu denen doch gewiß gehört, 
daß man nicht gehindert werde feine Pflicht zu erfüllen. 
Wäre num gar der Phyſiker, dem ich fein Thema vor 
wegnähme der unjrige, jo wäre das ein Raub an uns 
felbft, den Ste alle, mit Recht, mir nicht vergeben wür⸗ 
ben. Dagegen trete ich Niemand zu nabe und thue fo 
recht was meines Amtes ift, wenn ich den, nicht nur der 
Vhyſik fondern der Wiſſenſchaft überhaupt hingewor⸗ 
fenen, Handſchuh jo auihebe, Do ih ak em Muck 


-5— 


rologio gerabe meiner Wiſſenſchaft, ber Philoſophie, 
zwei Namen hervortreten Iaffe. Zur Wahl deö einen 
verpflichtet fogar ein perfönliched Band; Jahre lang 
hat, ber ihn trug an berfelben Univerfität, der id) an« 
zugehdren die Chre habe, an der Untverfität Witten 
berg, in bem Sache gelehrt, das ih am berfelben ver⸗ 
treten helfe. Nur eine Bemerkung muß ich, um Miß- 
verftändniffe oder falſche Erwartungen abzufchneiden, 
vorausfhiden> Wenn ich Hier von zwei Märtyrern 
der Wiſſenſchaft fpreche, fo wird dies Wort im Sinne 
des Sahrhundertd genommen, dem fie angehörten. Das 
fechgeßnte Jahrhundert Tannte noch nicht elmmal Hagel- 
und Sener-Affecurangen, geſchweige denn bie viel neuere 
Erfindung der Berficherungdanftalten gegen Martyrthum. 
Gegen barf ich wohl eigentlich wicht jagen, da biefe 
Anftalten ja ausdrüdiih zum Martyrium auffordern, 
etwas was freilich bie Feuer-Affecuranzen auch oft thun, 
aber doch nur wider Willen. Diefe Imftitute alfe 
Tannte jene dunkle Zeit noch nicht. Die Lente von 
damals waren wirklich unglaublich zurüd. Wenn fie 
gehört hätten, mas wir fo oft mit Angen fahen, daß 
Einer, der ſich „für feine Ueberzeugung geopfert” hat 
und nun die erwartete Leibrente aus einer Märtyrer 
Gaffe richtig bezieht, davon Luſtreiſen macht, daß er 
in Zweckeſſen gefeiert wird, in glängenhen Kanten id 
artyrthum ſchildert und {ubelnde Vodo dodt cat 


— 6 — 


— fie wären im Stande geweien von einem folchen 
Märtyrer in heiler Haut (diefer Specialit6 des neun- 
zehnten Jahrhunderts) zu jagen, er habe wohl eine heile 
Haut aber er fei gar kein Märtyrer. Treuen wir und 
unfered aufgeklärten Zeitalterd, denken wir aber, um 
jene Zeit zu verftehn, für eine Stunde wie le. 


1. 


Gerade am Scheidepuntte der beiden Hälften des 
fechzehnten Sahrhundertd wird in einer angefehenen 
Familie Giordano Bruno geboren. In der Neapolita- 
nifhen Stadt Nola; daher: il Nolano. Ganz jung 
teitt er in den Domintcanerorden. Mit welchem Sinn 
er den ermwählten Beruf ergriff, darüber fehlen uns 
alle Nachrichten; vielleicht mit glühender Schwärmerei. 
Bielleicht war feine verloren gegangene Jugendſchrift 
von der Arche Noah, die er dem Papft Pius dem 
Fünften zueignete, nicht nur in ihrem Titel fondern 
auch im Inhalte ein Gegenftüd zu der Schrift des 
Hugo von St. Victor, diefem Entzüden der Myftiker 
für Jahrhunderte. Wie dem et, daß die Befriedigung 
in dem erwählten Beruf nicht dauernd war, darf nicht 
Wunder nehmen. Schon das Bild des Giordano, die 
ſes feine Dval auf dem Inuaen Halfe, welcher aus dem 
Mönhsgewand ſcheimt herautworien ya mie, ni 


_- 7 — 


Baͤrtchen auf der Oberlippe, die großen, dunklen von 
etwad gebrungenen Lidern umfclofienen Augen — fie 
vor allem Tünbigen und, daß fie nicht nur zu Thränen 
der Refignation beftimmt find, zu deutlich an, als bag 
wir erftaunt fein follten, wenn wir von Kämpfen hören 
zwiſchen ber mächtig gebietenden Stimme ber Natur 
und ben Sorberungen des Drbend, der von feinen Glie⸗ 
dern eine über die Natur hinausgehende Heiligkeit er 
wartet, und faum ein Gebot Chrifti fo fehr betont als 
das, fein Fleiſch zu kreuzigen. Solche Kämpfe find 
nicht audgeblieben, und um ſich vor ihnen zu retten, 
hat Giordano, bei dem Kafteiungen und geiftliche 
Uebungen fehwerlich einen befieren Erfolg gehabt haͤt⸗ 
ten, fi ganz auf geiftige Beichäftigung geworfen. 
Poeſie, bald aber ganz ausſchließlich die Wiffenfchaft, 
ſollten ihm den inneren Zwieſpalt vergefien helfen, in 
den er gerathen war. Der wiffenfchaftlihe Forſchungs - 
trieb hatte fich, namentlich in Italien, in diefem Jah» 
Hundert ganz ber Natur zugewandt, und auch Bruno 
folgt diefem Zuge. In feinem Klofter find es vor allem 
die tieffinnigen Werke zweier Deutſchen, bie für ihn 
Epoche machend werden; vor Allem die bes Biſchofts 
von Brigen, des Cardinals Nicolaus, (von feinem 
Geburtsort End der Eufaner genannt) dann bie des 
fiebzig Jahre jüngeren Kopernikus. Beide, beisstak 
die erfterem, erfüllen ihn mit dem 18 Yalyen seduhesen 


— 8 — 


Gedanken, daß das materielle AU unendlich ſei, daß 
die Erde nicht fein Mittelpunkt fein konne, weil dor. 
wo ein Lauf von Milliarden Meilen und dem Ende 
nicht näher bringt, nirgends Mittelpunkt ift oder auf 
überall. — Mit, der Andacht verwandter, Bewunderung 
vertieft er fich immer mehr in das Anſchann bes Alle, 
wogegen die Erde zu einem Punkt, und was ihm bis: 
ber die ganze Welt geweſen war, zu einem ber vielen 
Planetenſyſteme zufammenfchrumpft, und verfchlingt 
mit immer neuem Wiffendburfte die Schriften derer 
unter den Neueren, die, wie fein Landömann Teleflus, 
dieſen Gedanken fich gleichfalls zu eigen gemacht hat⸗ 
ten. Die nee grenzenlofe Welt, bie fich dem Geiſte 
feine8 Auges aufgethan hat, erhebt ihn über das Be 
engende feiner Lage, er giebt fidh zufrieden. — Da 
aber ermächft gerade aus dem was ihn getröftet Hatte 
ein nener Conflict: Wieder wird er, und abermals im 
Namen der Kirche und ihres Gründers, anfgeforbert 
von dem zu Iaflen, wo fein Herz iſt. Die Kirche hat 
nichts gegen die Wiffenfchaft, was fie aber duldet ift 
die von ihr recipirte Wiffenfchaft, die fogenannte Scho⸗ 
laftik d. 5. der mit einer Menge anderer Cfemente 
verſetzte Ariſtotelismus. Die Kirche Hat auch nichts 
gegen die Bewunderung des Weltalls und feiner Größe. 
Aber fie fürchtet durch das Aufgeben der ſich um bie 
Erde drehenden Planeten: vd Summittiiir, Yen Us, 





— 9 _ 


zu verlieren, wo Gottes Thron ſtehen kann. Und ſo 
bat die Kirche fo ſehr Ihre Sache mit der des Ariſto⸗ 
teled und des Ptolemätichen Weltſyſtems verfchmolzen, 
daß wer beide befämpft, ihr profan erjcheint, Hat er 
fih aber in ihren d. 5. in Chriſti Dienft begeben ald 
ein Ungeborfamer gegen beide. So Bruno, der Or 
densbruder. Alſo abermals tritt die Kirche mit ihrer 
Autorität und dem Namen Chrifti dem entgegen, was 
ihm fein Alles geworden war, aber mit einem anderen 
Erfolge diefed zweite Mal, ald dort wo es zuerft ge- 
ſchah. Die Forderung, das wilde Blut zu bändigen, 
wird zu fehr durch die Stimme des Gewiſſens unter: 
ftüßt, ald daß fie Iange nnbefolgt bliebe, und fo mag 
wohl auch Bruno, als die Kirche zu ihm ſprach: Gieb 
mir dad Weib, jo theuer deinem Herzen, Gieb beine 
Laura mir, ee mag (mm mit demfelben weiter zu |prechen, 
den ich eben plünderte) geftöhnt haben: Ich riß fie 
bintend aus dem wunden Herzen, Und weinte laut und 
— gab fie ihr. Als aber dad zweite Opfer verlangt 
ward, zu entfagen dem, was den Durft nach Erkennt⸗ 
nis ſtillt und nach Wahrheit, da macht der ergebene 
Gehorfam der Empörung Plab und dem Haß gegen 
den Unterdrüder. Beratung und Ekel bemächtigt fich 
feiner gegen den Artftoteled, den er iu jeinem cavallo 
Pegaso al8 eine der Bandelungen Kvrd ER . 
Sngrimm gegen die roͤmiſch taryolkiäge Terre, Wr € 


— 10 — 


einer Schrift gegen die Trandiubitangiation im dem 
angreift, was damals zu ihrem Schibboleth geworden 
war, endlich aber wirklicher Haß gegen Chriftum, ber 
ihn nicht mur zu Spöttereien über die Lehre vom Gott: 
menfchen in feiner bestia trionfante bringt, fondern 
auch dazu, ſich unwillig vom Crucifixe abzuwenden, 
das ihm beim Tode vorgehalten wird. Es wäre Un- 
gerechtigkeit, dem Bruno Religiofität abzufprechen: feine 
eroici furori zeigen eine glühende Frömmigkeit, faft 
Gotttrunkenheit; aber feine Religiofität hat feine chrift- 
liche Färbung, fie tft, was er weiß und weß er fi 
rühmt, ganz heidnifch, fie äußert ſich oft in wörtlicher 
Vebereinftimmung mit jenem Lobgefang des Stotfers 
Kleanth, der die Welt als den lebendigen Leib des Zeus 
feiert, und mit dem Lehrgedicht des Epicureers Lucrez, 
defien Gottheit die Natur iſt. — Einmal auf dieſen 
Standpunkt gelangt, befeftigt ihn daranf das Studium 
auch folcher Schriften, die von einem ganz andern and 
geichrieben waren. Sp die ded Catalonierd Ramon 
Lull. Was deffen Schule als jein Hauptverdienft an- 
fah und wofür er den Märtyrertod gelitten hatte, die 
Vebereinftimmung feiner Lehre mit dem Tatholifchen 
Dogma, nennt Bruno eine Abgejchmadtheit; er verehrt 
in Lull nur den Erfinder der großen Kuuft, deö Ber 
ſuchs nämlich, die Denuklehre einer Anweifung zum 
Hechnen ähnlich zu mahen, wat werdget 


— u — 


weil er meint dieſe neue Logik werde den ihm verhaß · 
ten Ariftoteled auch dort entthronen, wo jelbft befien 
Gegner feine Autorität beftehen ließen, in der Denk, 
lehre. Ebenſo fährt er fort den Eufaner ald ben tief» 
finnigften aller Menfchen zu preifen, darüber aber, daß 
bei ihm bie Lehre vom Gottmenfchen den Mittelpunkt 
aller anderen bildet, geht er hinweg und meint, ber 
Priefterrodt Habe den Nicolans am Gehen gehindert. 
Er ſelbſt Hält ſich an jenen räumlichen Mittelpunkt 
des Alls, ber nirgends tft und überall. Diefe beiden 
Gedanken, die Unmahrheit der Ariftotelifchen Lehren, 
die Denklehre nicht ausgenommen, und die Unendlich 
keit und Gottäͤhnlichteit des AUS, das unendlich viele 
Welten enthält wie unfere, dieſe werben und bleiben 
Hinfort die Leitfterne in Bruno's Denken und Leben. 
Für ich behalten kann er fie nicht, denn nicht nur weh 
das Herz, and) wei ber Geift voll iſt, geht der Mund 
über. Das Klofter aber bietet ihm weber Hörer in der 
Gegenwart, noch eine Druderpreffe, durch welche er zur 
Nachwelt fprecden Tann. So bieibt ihm mur übrig 
beide außerhalb der beengenden Mauern zu fuchen; er 
bricht dad Gelũbde, das ihm zur Kette geworben und 
entzieht ſich in feinem dreißigften Jahre durch Flucht 
feinem Kloſter und feinem Baterlande, um einen Lehr« 
ſtuhl zu finden auf dem er lehren, und eine Kreir 
durch bie er ber Nachwelt verünven tanı Wied | wer 


— 12 — 
auch Alles, was er für wahr erkennt. Der Arme hat 
weder das Eine noch das Andere gefunden! 

Der Ort wohin damals faſt Alle ſich flüchteten, die 
in Italien mit der römiſchen Kirche gebrochen hatten, 
Genf, war auch für Giordang der erfte Haltepunkt. 
Lange indeß konnte feined Bleibend an einem Orte 
nicht fein, wo mit faft monarchifcher Gewalt Beza die 
Geiſter beherrfchte, er der nicht nur, wie Calvin, in 
die Hinrichtung Servets wegen deſſen ketzeriſcher An- 
ficht von Chrifto eingewilligt, fondern diefelbe in einer 
befonderen Schrift gerechtfertigt Hatte, und der fpäter, 
als Einer die Denklehre, anftatt nach Ariftoteles nach 
Ramus lehren wollte, denjelben zwang die Stadt zu 
verlaffen. Um die Freiheit zu finden, die er fuchte, 
mußte Bruno weiter wandern. Zwei Jahre Iaug hat 
er fih im öftlihen und füdlichen Frankreich aufge 
halten. Wir wiffen Davon nur, daß er längere Zeit in 
Lyon war, und daß fein Verſuch, in Toulonfe Bor: 
lefungen zu balten, auf unüberwindliche Oinderniffe 
ſtieß. Glücklicher war er in Paris, wo erim 3. 1582 
erichien. Daß die Sorbonne, dieſes Bollwerk de 
Ariſtotelismus, von dem (ſpäter fo genannten) Collöge 
de France in Schach gehalten wurde, machte es mög» 
lich, daß, als Giordano im Gegenfah zur Ariſftoteliſchen 
die Lullfche Denttunit zu Tehren anfing; er feine Hin 

dernifje fand, ja day man m \agsr dur wöwsiiin 


— 13 — 


Profefiur anbot; freilich unter der, ihm unerträglichen 
und darum nicht annehmbaren, Bedingung daß er fidh 
zum Befuch der Meffe verpflichte. Troh diefes freund: 
lichen Entgegenkommens, trotz der Huld, der er ſich bei 
dem Könige erfreute, ſah er doch bald, daß Paris nicht 
der Ort ſei, mo mehr als das Aeußerliche feiner Lehre, 
die Methode der Wiffenfchaft, der Weg zur Wahrheit, 
öffentlich gelehrt werben dürfe. Ja, der Welt auch 
den Inhalt der Wiſſenſchaft, die Wahrheit felbft, ber 
kannt zu machen, ſcheint nicht einmal durch den Drud 
möglich gewefen zu fein, denn bas übermüthige Luft- 
fpiel il Candelajo, in welchem er bie gelehrten Pe 
danten verfpottet, wird Niemand ald Gegenbeweis ans 
führen. Bielleicht war, daß dies in England mit 
größerer Sicherheit geichehen könne, ein Grund, warum 
ber Buchdruder Bautrollier, der nachher Bruno's itas 
liäniſche Sachen brudte, gleichzeitig mit ihm Frankreich 
für immer verließ. Ald unfer Slüchtling, ſchon ein Jahr 
nach feiner Ankunft in Paris, nad) England ging, fies 
nen die lachendſten Ausfichten ſich zu verwirkfichen. 
Gleich anfänglich) bot fid) bei einer alademiſchen Feier» 
lichkeit in Oxford die Gelegenheit, drei Tage lang ald 
fiegreicher Disputator ſich zu zeigen. In Bolge beffen 
beginnt er dort atabemifche Vorlefungen; nicht nur 
darüber, wie man Begriffe zerlegt und nerkiuet, Woe 
bern über das lopernikaniſche Weltigitem und Äther ie 


— 4 — 


Unfterblichkeit der menfchlichen Seele. Kaum aber daß 
er fie begonnen bat, muß er fie ſchließen und erfahren 
dag, wenn Orford auch nicht mehr die Naturbegeifter: 
ten einfperrt, wie dreifundert Jahre früher den Roger 
Baco, ed doch noch weit davon entfernt tft, Diejelben 


als willlommene Säfte zu hegen. So verläßt er dem _ 
nach kurzem Aufenthalt die Stadt, die er mit anderen - 


Hoffnungen betreten hatte, nnd kehrt nach London zu- 
rüd, wo ihm hohe Pariſer Empfehlungen das Haus 
bes franzöftfchen Gefandten Mauviffier geöffnet hatten, 
in das er jetzt als ftehender Genofle einzieht; die Be 
kanntſchaft mit Philip Stöney eröffnet ihm einen Kreis 
geifteöverwandter Männer; durch nähere Beziehungen 
zum Hof wird er ein glühender Bemwunderer der 


Königin Clifabeth, Die derjelbe Papft ercommunteirt 


hatte, dem fein erſtes Werk gewidmet war.. Hier im 
engen Freundeökreife wurden mündlich die Ideen ent- 
widelt, die er denn auch endlich durch die Bermittelung 
bed vorhin genannten Bautrollier, der ſpäter viel Un- 
gelegenheit davon hatte, gedrudt der Mit: und Nach—⸗ 
welt vorgelegt hat. Man kann es nicht einen Zufall 
nennen, daß der, der mit der Kirche gebrochen hatte 
und von den Univerfitäten für fich nichts hoffte, die 
Kirchen: und Univerfitätäfprache verfchmäht, und im 
der Sprache redet, die \eine Motterigradhe war, und 
damals am englüihien Hofe vvd vu ven Wors Sun 





— 15 — ee 


Londons, Lieblingsſprache. In London alfo und ita> 
liäniſch erihien Bruno's Gaftnahl, ein philofophifches 
Geſpräch, dad, wenn ed auch Feinen Vergleich aushält 
mit Plato's unübertroffenem Meifterftüd, fo doch durch 
eine Menge tieffinniger Gedanken überrafcht; bier feine 
Hauptichriften von den Principien des Alls, vom Un- 
endlichen und den vielen Welten; bier endlich jenes 
Geſpräch unter den olymptichen Göttern, in welches 
er feine Moralphilofophte eingefleidet hat, und in dem 
er durch den Mund ded Momus, der dad Gewiſſen 
repräfentirt, al’ den Grimm und alle die Galle aus⸗ 
fpeit, Die gegen Kirche und Chriſtenthum fich bei ihm 
angejammelt hatte. Alles was ihm in feinem Bater- 
Iande, was ihm in Tonloufe und Orford feindfelig be- 
gegnete, erhält bier feine Strafe, zugleich aber rächt er 
fih an der Macht, in deren Namen man ihm entge- 
gengetreten war. Darum diefe Spöttereien über die 
ttefften Myſterien des Chriſtenthums. Nicht nur des 
römtfch = tatholtfchen, denn die Rechtfertigung nur aus 
dem Glauben wird gerade eben jo verhöhnt. — Auch 
dieſe glüdlichite Zeit in Giordano's Leben ging vor: 
über, Maupiffier und Sidney verließen ziemlich gleich 
zeitig England und dem Bereinfamten wollte das, einft 
jo laut gepriejene, Land nicht mehr gefallen. Zualetch 
regt ſich abermals der Wunſh nah, Auer wÜRTIUES 
Bebrthätiakeit. nach einem Rattener., So NÄHIT 


— 16 — 


es denn mit dem Profeſſorenlande, mit Deutſchland. 
Zwar der erſte Verſuch ſchlägt fehl. Von Marburg 
wird er glattweg fortgewieſen. (Nachher hat man ſich 
deß geſchämt und aus den Acten der Facultät ausra⸗ 
dirt, daß dies mit Willen der Facultät geſchehen ſei. 
Wie Schade, daß in den Blättern der Geſchichte ſich 
Raſuren nicht eben ſo leicht machen, wie in einem 
album academicum oder im eignen Gedäaͤchtniß!) 
Slüdliher war er in Wittenberg. Der milde ver 
föhnliche Geift Melanchthond wirkte dort noch nad, 
und fo hat man den Anderögläubigen, wie er fich felbft 
in feiner Abfchtedsrede nennt, mit duldſamem Sinne 
zwei Jahre lang lehren laſſen. Freilich war ed nu, 
was er auch in Parts gelehrt hatte: Logik, Denkkunft 
nach Lull'ſchen Grundfägen. Für die eigentlichen Ar: 
cana feiner Lehre fehlte es ihm an Boden. Bielleicht 
wird Prag diefen bieten? Er geht dahin, aber was er 
‚bier druden läßt, beweift, daß er dort noch weniger 
wagen durfte ald in Wittenberg. Da öffnet fich plöß- 
lich eine Ausficht, fo glänzend wie noch nie: Herzog 
Zulius von Braunfchweig beruft ihn als Führer ſei⸗ 
ned Sohned und zugleich als Univerfitätölehrer nad 
Helmftädt. Kaum aber ift er da, fo ftirbt der Herzog. 
Daß Bruno die Trauerrede halten mußte, beweift in 
welchem Anjehn er hier Wod. Trotz deſſelben und 
trotz dem, daß fein früherer Bhglıny Her eh Tuiıaı 


— 1 — 


fingen die Aufeindungen bald an. Aus einer öͤffent ⸗ 
lichen Excommunication durch den Pfarrer Boðthius, 
ſo wie aus einer Aeußerung in der Trauerrede hat 
man ſchließen wollen, daß Bruno jetzt — früher ges 
wiß nicht — förmlich zum Glauben der Proteftanten 
ſich bekannt Habe. Obgleich er gegen ben verdammen ⸗ 
den Zeloten fcheint Recht behalten zu haben, fo mar 
ihm doc der Aufenthalt in Helmftädt verleidet, und 
auch dies Har geworben, daß hier er nichts Wichtiges 
werde bdruden Tönnen. Beides zufammen war wohl 
der Grund, warum wir ihn im 3.1590 in Srankfurt 
finden, wo ber gelehrte Buchdruder Wechel (ein beut- 
ſcher Henry Etienne) feine brei lateiniſchen Lehrgedichte, 
vom breierlei Kleinften, von der Einheit, von der Uns 
enblichteit druckt, ja bie Debdication an den Herzog von 
Braunfchweig ſchreiben muß, weil während des Druds 
ber Berfafier Frankfurt ganz plöglich verlafien und ſich 
auf die Reife nach — Stafien gemacht Habe. 

Was ift ed wohl gewefen, das ben Giordano in bie 
Nähe derer führte, bie in ihm nur ben Fahnen- und 
Landeöflüchtigen fehen Tonnten? War ed nur Heimweh, 
mr Sehnfucht nach dem blauen Himmel und ber reis 
nen Luft? War es dad Verlangen, wiederum in bem 
Mittelpunkte gelehrter Bildung zu leben! War es ber 
Wunſch das, was auf franzoͤſiſchen, engltidien, Vexiiigen. 
Univerfitäten nicht geglüct war man ze ut ws 

. 


einer italiänifchen zu verjuchen? Oder aber, wollte er 
einen praktiſchen Beleg zu einem der letzten Worte 
geben, dad er in Deutſchland geichrieben Kat: der 
Weile fürchtet den Tod nicht, ja ed kann Lagen geben, 
in welchen er ihn fucht, wenigitend ihm rubig entge 
gengeht? Niemand vermag dieſe Fragen zu beant 
worten. Genug, zum Erftaunen Aller, zum Schreden 
dee Wenigen die fich für ihn intereffirten, vernahm 
man im 3. 1591, daß Bruno in Padua, das damals 
unter Benetianifcher Herrichaft ftand, öffentliche Vor⸗ 
lefungen halte. Bald mußte er merken, daß fidh ein 
Unwetter über feinem Haupte zufammenziehe; ihm zu 
entgehn begibt er fich nach Venedig. Zu fpät! Schon 
war der unermüdliche P. Snquifitor San Severina 
anf ihn aufmerffam geworden, und forderte daß der 
entlaufene Mönch verhaftet werde. Died konnte nicht 
verweigert werden und geichab im September 159. 
Gegen die Auslieferung aber nah Rom fträubten ſich 
die Venetianer. Man bat, daß fie fo lange wider 
ftanden ald ein Berdienft ded P. Sarpt, diefer Incar 
nation der Politit ded Staats-Intereſſes im Gegen 
fag zu jedem Angriff, gehe er auch von der Kird 
aud, bezeichnet, und daß die Auslieferung endlich bo 

erfolgte fo erflärt, daß im 3. 1598 Sarpi nicht F 

beim war. Gewiß it, daß in dieſem Jahre Bew 

nach Rom gebracht warb, dab er Tot ud inter T 


-19-— 


beftürmt wurde, feine Kehereien, unter die man auch 
feine Bewunderung der Königin Eliſabeth rechnete, 
durch Widerruf zu fühnen, und da, als Alles vergebr 
lich war, endlich das Todesurtheil über ihn gefällt 
werd. Er empfing ed mit den erhabenen Worten: 
Died Ener Urtheil macht Euch zittern, nicht mich! 
Dann ward er dem Nachrichter übergeben mit der 
Weiſung, daß bie barmherzige Mutter Kirche fein Blut 
Tönne fliegen fehn. Der Mann verftand ben Wink: 
Blut ift wirklich nicht gefloffen am 17. Februar 1600 
auf dem Campo de’ Fiori, denn den Nolaner verzehr ⸗ 
ten die Slammen des Scheiterhaufens! 


2. 


Sollte Einer in ben zuletzt geſprochenen Worten 
eine Aufforderung finden, zu wiederholen was er oft 
gehört, oder auch felbft gefagt hat, daß wie hier Bruno 
an dem Benetianifchen Staatsmann feinen Vertheidi- 
ger, an dem Römifchen P. Inquiſitor feinen Der: 
folger gefunden, fo zu allen Zeiten die Wifſenſchaft 
Grund gehabt habe, ſich über bie geiftliche Macht zu 
beflagen, die Weltmacht aber zu rühmen, fo halte er 
fein Urtheil zurück, bis wir gehört haben, was in dem⸗ 
ſelben Jahre, wo Bruno nad Rom gebrock wi, 
ein Landemann und Geiftesverwanter yon un 


— 20 — 


fahren hat. Achtzehn Jahre jünger als Bruno war 
Giovan Domenico Campanella in Stylo in Calabrien 
geboren und trat, indem er ſeine Taufnamen mit 
dem des bedeutendſten Theologen der Dominicaner, 
Thomaſo, vertauſchte, in ſeinem funfzehnten Jahre in 
den Dominicanerorden. Der glühende Eifer, mit dem 
fich der junge Mönd auf Poeſien und naturwiſſen⸗ 
ſchaftliche Studien wirft, bringt ihn nicht, wie den 
Nolaner, in Zwieſpalt mit ſeinem Beruf. Man braucht 
nur ſein Bild anzuſehn, den Mann dem die Kutte ſo 
bequem ſitzt als hätte er ſie nie abgelegt, die kurze 
Stirn mit dem krauſen ſchwarzen Haar, bie feft ge: 
fchloffenen Lippen, und man fagt fih: deſſen Art ift 
ed nicht, einmal gefaßte Befchlüffe zu bereuen. Zwar 
feine Ordensgenoſſen wurden bedenklich, ald der Jüng⸗ 
Ung mit folcher Leidenfchaft über die Schrift des Te 
leſius herfiel, und verhinderten jebe perjönliche Berüh— 
rung, fo daß er ben Meifter auf der Bahre zum erften 
Male ſah, und fein Loblied eine Todtenflage wurde, 
aber was fie von einer genaueren Belanntfchaft ge 
fürchtet haben mochten, lag dem Sampanella fern. Mit 
Recht fagt er fpäter, daß feine Darftellung der Natur: 
lehre nur darin von der des Telefins abweiche, daß 
er gezeigt babe, wie alled dieſes fchon von ben Kir 
henvätern gejagt \el. Bam Aufange bis zum Ende 
feiner Laufbahn iſt er ein reg Trier Damm 


— 1 — 


Daß, von jener erften Disputation an, wo einer der 
Widerlegten entrüftet ausrief: nur durch Hülfe des 
Böen Tönne der Jüngling dad wiſſen, wozu er feine 
Zeit gehabt, um es zu Iernen, fo viele Orbenägeiftliche 
ihn anfelndeten, daß er Jahre lang, mochte er in Rom 
oder Florenz, in Padua ober Venedig fein, von heim» 
lichen Spähern umgeben iſt, die ihm jedes Manufeript 
ſobald es vollendet iſt, eutwenden, um es, wie ſich 
fpäter zeigt, den römifchen Inquiſitoren zu ſenden, ber 
weiſt nicht das Gegentheil. Theils gehen dieſe Chir 
canen von Gliedern eines andern Ordens aus, theild 
find fie Folge perfönlichen Neides, theils endlich hat 
die Rache fie dietirt, die der Hochfahrende, auf feine 
Gegner ftolz Herabblidende, wohl hervorrufen konnte. 
Entſcheidender als alles dies iſt doch, da er aus allen 
Prüfungen welche bie Inquifitoren in Folge diefer 
Angebereien mit ihm vornahmen, gerechtfertigt und 
rein hervorgeht. Nach einem längeren Aufenthalte 
außerhalb ber Heimath ehrt er in diefelbe zurück, bes 
ſchaͤftigt mit einem Trauerfpiel zur Verherrlichung ber 
Maria Stuart — (Bruno Hatte ihre Feindin, die Ell⸗ 
ſabeth, gepriefen) — und fortarbeitend an feinem merk 
würdigen Buche über bie fpantiche Monarchie, das 
man, weil der Schluß und einige Einfchiebiel defſelben 
zwölf Jahre fpäter geichrieben wurhen, RR 
eine fpätere Zeit gejegt hat. Geweh tat er Ti os 


Träume dieſes Werks von einer über den Erdkreis 
verbreiteten Herrichaft des Papftes, unter ber es feine 
Keperei, nenne fie ſich uun nach Muhammed oder Cal⸗ 
vin ober Luther, mehr geben werde, auch münblich oft 
entwidelt, und vielleicht haben merkwürdige Conftella- 
tionen ihn diejes Himmelreich auf Erden als nahe be 
vorftehend hoffen und verkündigen laſſen. Gleichviel; 
mitten in diefen beglüdenden Bifionen trifft ihn ber 
verhängnißvolle Schlag, der fein Leben zerftört. 

Was eigentlich die Spanifche Regierung, unter der 
fein Vaterland damals ftand, dahin gebracht bat, ihn 
als Majeftätöverbrecher einzuziehn, tft nie aufgeklärt. 
Die Beichuldigung, er habe mit den Türken gegen die 
Tpantfche Herrſchaft confpirtrt, ift eine Abgeſchmaktheit 
dem Manne gegenüber, der nichts fo haßt ala bie 
Türken, und in dem eben erwähnten Buche auseinan⸗ 
derjeßt, wie nur Spanien berufen und im Stande jel, 
jene Weltmonarchte zu gründen, von dem das frühere 
Kaifertfum nur einen Theil ausmache, und die Hoff: 
nung ausfpricht, im mündlichen Gejpräch dem (damals 
noch Iebenden) Philipp dem Zweiten audeinanderzu- 
fegen, wie er das durch Glaubensſpaltuug geſchwächte 
Deutſchland am ficherften feinem Scepter unterwerfen 
könne. Alfo einen andern Grund muß die Spantfche 
Regierung gehabt haben, u zu vwerhaften und auf 

bie Erpreffung eined Geitäntritiet Yuryautadten, ih 


einen Juſtizmord beichänige. Vielleicht diefen, daß 
Gampanella der geiftig Begabtefte war unter benen, 
welche in bem ſchon entbrannten Rampfe des Staats 
und ber Kirche, fich auf die Seite der letzteren ftellte, 
und darum der Gefährlichſte. Gerade in dem Jahre 
wo in Rom Bruno’ Verhöre begannen, fangen in 
Neapel die Campanella's an. Sieben und zwanzig 
Jahre Hat er in funfzig verſchiedenen Kerkern, zulegt 
im Castel del Ovo in Neapel gefefien. Sieben Mal 
iſt er gefoltert worden, und wie? Einmal, — viel 
leicht an bemfelben Tage, wo bie geiftliche Macht auf 
dem Campo be’ Fiori ihre Schen vor Blut bethätigte, 
— Hat auf der Sandfpige zwiſchen Chiaja und Sante 
Lucia die Staatsgewalt, die ſolche Sentimentalität 
wicht kennt, mit brutaler Aufrichtigkeit vierzig Stun 
ben lang ihm Stüde Fleiſch vom Leibe reißen Iafien, 
fo groß, daß er feinen Blutverluſt auf zehn Pfund 
Thägt, — alles dies, damit er geftehe. Geftehen wäre 
bet ihm, wie bei Giordano das Wiberrufen, eine Lüge 
gewefen, aber fo wenig der Nolaner fo wenig will der 
Stylefe dem Feinde den Triumph bereiten, daß er lügt: 
Er duldet und fehweigt. Sept verſucht man eine ans 
dere Tortur: Bücher, die Speife feines Geiftes, fie 
werben ihm genommen, Schreibematertal, bies Mittel 
für uns Stubenfiger Gedanken zu Arien, ia mine 
ben, ihm vorenthalten. Ex exteägte, dern cent ind 


eine Bibliothek in die ehernen Tafeln feines Gedächt⸗ 
niſſes eingegraben in der er jebt lieft, und faßt bie 
tieffinnigften Gedanken in wohltönende Sinngedichte 
zufammen, die er zuerit in Die Wände fragt. Endlich 
fehen feine Peiniger ein, dag bier Nichts zu erreichen; 
zwar die Pforten feines Kerkerd öffnen für ihn ſich 
nicht, troß der Fürſprache vieler Zürften, namentlich 
mehrerer auf einander folgender Päpfte, aber Die Quä⸗ 
lereten hören auf, man läßt Bücher, man läßt Briefe, 
man läßt endlich Neifende ein, und bemerkt wirklich 
nicht oder thut wenigftend fo, wenn er heimlich feine 
Gedanken niederichreibt. Durch diefe Kanäle flieht 
dem von der Welt Gefchiedenen Kunde zu von feber 
Entdedung welche die Kenntniß von der fittlichen und 
finnlihen Welt erweitert, jo daß, ohne einen Apparat 
zu Erperimenten und ohne Reifen, er an phyſikaliſchem 
und ethnologiſchem Wiſſen täglich wächit, und bald in 
beidem als einer der Kundigften dafteht. Wer fidh 
wundert daß Kant, ohne jeine Vaterſtadt zu verlafien, 
fo viel von der Welt wußte und verftand, muß ben 
Gampanella um fo viel mehr bewundern, als das 
Gaftel del ovo enger und abgejchlofjener tft als Könige 
berg. Durch Die ihn befuchenden Fremden aber fucht 
er nicht nur Kunde zu emkaugen tea Lee Melt, fon 


dern auch ihnen von {ig \eher zu gen un ua von, 


\ 


| 


was er im Gefängui ergeühel. orı ur Sur ie 


| 


fer Boten erweift ſich ald tren; er ift, was Gampanella 
am Meiften haft: ein Deutſcher und ein Lutheraner. 
Tobias Adami, der ald Hofmeifter den fächfifchen 
Edelmann von Bünan auf Reifen begleitete, Iernte ben 
Calabreſen im Kerker kennen und fchägen, und gab 
unter dem Titel „Glödfeln,“ ber zugleid) auf ben Na- 
men des Verfafſers anfpielt, die poetiſchen Ergüfſe 
befielben heraus, fpäter einen Abriß feiner ganzen Pht- 
loſophie, endlich Le er noch drei andere Schriften 
beffelben auf eigene Koften druden. Alle Anderen ga 
ben ſchoͤne Berfprehungen, nahmen das Manufeript 
und ließen nichts von fich hören, oder fie gaben es 
wohl gar ald ein eigned Werk heraus und erndteten 
Ruhm. Sein Hauptwerk hat er auf diefe Weife vier 
Mal von Neuem niederſchreiben müffen; er tröftet fich 
damit, daß es beim vierten Male am beften gelungen 
ſei. Logiſche, mathematiſche, phyſikaliſche, theologifche 
beſonders aber politiſche Arbeiten hat er in einer Zahl 
im Gefangniß verfaßt, vor ber man ſtaunt, und bie 
Zeit naht heran, wo er wird fagen können: eben fo 
viele Jahre im Kerker verlebt wie außer demfelben! 
Endlich, nachdem Pfilipp ber Dritte, unter dem er 
eingelerfert ward, geftorben tft und fein Nachfolger 
fich ſechs ganze Jahre mit Bitten Hat beftürmen Inf» 
fen, ſchlägt die Stunde der Befreiung, Un 15. Dun 
1536 wirb Gampanella in Treiget get, MIET 


dad Stud Paradied, das auf die Erde gefallen, nicht 
zu halten vermochte, daß er lieber dahin eilte wo feine 
eigentlichen Befreier lebten, nach Rom, wer will ihm 
Died verdenten? Wohl ift es ein Paradied dad man 
überihaut wenn man links ben Veſuv erblidt und ben 
St. Angelo, rechts Iſschia nnd den St. Epomeo, und 
vor ſich die wunderbaren Formen Capri's fich lagern 
fieht, aber felbft Died Gemälde mag das Senftergitter 
einer Zelle des Caftel del ovo ald Vordergrund, ent- 
ftelen. Kaum in Rom angelommen, fängt er wieder 
an zu jchreiben. Erſt eine Bertheidigungsichrift für 
fih, dann eine Mahnung an die gelehrte Welt, nicht 
Länger von dem Heiden Artjtoteled die Schulen beberr: 
fhen zu lafjen. Mit diefen und anderen Arbeiten be- 
{häftigt, denkt er in Rom rubig leben zu koͤnnen, bald 
aber kommt ihm die Weiſung zu, daß fein alter Feind 
ihm abermals auflauere. Es tft Feine Zeit zu verlie 
ren; verkleidet führt ihn der franzöftiche Geſandte an 
dad Thor, dann verläßt er Rom und Stalien für 
immer und gebt nad Parid. Der von Spanien Ge 
mißhandelte war in Frankreich Gegenftand allgemeiner 
Dienftbeflifienheit; nicht nur Gelehrte fondern auch 
Staatömänner ſuchten den Mann, defien Welt: und 
Staatentunde feinen Umgang fo belehrend machte. 
Hier in Dart ward ihm au die Muße, über feine 
ganze Schriftftellerthätigtet Retyenkgatt zu ven, ah 


— 


bie Früchte derfelben zu fammeln. Eine Gefamtaus 
gabe in zehn Boliobänden ward begonnen; das voll⸗ 
ftändige Regifter befigen wir, dad angiebt was jeder 
Band enthalten ſollte. Bald nachdem im vierten 
Bande biefer Gefamtausgabe jened viermal geſchrie · 
bene Hauptwerk erfchienen war, im Jahre 1639, ftarh 
Thomaſo Campanella der Dichter und Philofoph am 
21. Mat, alfo an demjelben Tage an dem mehr als 
zweitaufend Zahre früher der größte Dichter unter ben 
Philoſophen, Plato, geboren warb. 


8 


Das Schiefal diefer beiden Märtyrer — oder wenn 
ich ganz genau reden foll dieſes Märtyrerd und biefes 
Belennerd — meiner Wiffenfchaft zeigt, daß die Feinde 
derfelben doch nicht ganz Recht haben, wenn fie be 
haupten die Gefchichte der Philofophie zeige ein Lächer- 
liches Poffenfpiel, fondern daß es darin auch tragiſche 
Auftritte gibt. Tragiſch nenne ich das Gefchid beider, 
nicht empörend und entfeglich, und wähle mit Bedacht 
jenes Wort. Wenn wir in den Zeitungen lefen, daß 
wieder in einem neugebauten Haufe ein @iebel oder 
eine Steintreppe eingeftärzt fei und einige Bamiliens 
väter erſchlagen Habe, fo iſt es entfeglich dog Wir Tea. 
fo ſchlecht bauen und empärend Ya Tr Bis 


ſolches Unglüd nicht verhindert, Tragiſches aber liegt 
darin nicht. Damit eine Begebenbeit tragifch jet, muß 
fie — doch wozu eine trodene Definition, wo fchöner 
ats je Einer jener Harfner, der es freilich kennen mußte, 
und dad Weſen des Tragifchen enthüllt, wenn er im 
Namen ded Armen, der fein Brod mit Thränen af, 
zu den himmlischen Mächten Ipricht: Ihr führt ind 
Leben ihn hinein und laßt den Armen fchuldig werben, 
dann überlaßt Ihr ihn der Pein, denn alle Schuld 
rächt fih auf Erden.” War ed nun fo auch bei Gi- 
ordano und Thomafo? Und wenn es fo war, welches 
find bier die himmliſchen Mächte? und wieder: worin 
wurden die Beiden ſchuldig? und endlich: in wiefern ift, 
was fie litten, fich rächende Schuld? Konnten je Men- 
ſchen jagen, dab, was tm Leben fie nie verließ und 
überall geleitet bat, der Hunger nach Erkenntniß, der 
Durft nah Wahrheit geweſen ſei, fo find es dieſe 
Beiden. Damit aber haben fie und auch die himm⸗ 
liſche Macht genannt die fie ind und im Leben führte, 
ed ift die Philojophie, und das Ziel wohin fie im 
Philofophiren und durchs Philofopbiren gelangten, es 
ward erreicht unter ihrer, der Göttin, Führung. Was 
aber iſt unter dem fo oft mißbrauchten Worte Phil: 
fopbie zu verftehn? Da noch nie ein Philofopb, mochte 
er auch noch jo hoben Werhh torauf legen, daß was 
er lehrt von ihm zuerſt gefanten \el, Buena sun Sr 


feine Meinung oder feine Anficht erklärte, ſondern Je⸗ 
der fordert daß Alle dies gelten Iafien, fo werben wir 
im Einklange mit dem, was alle Philoſophen mindes 
ftens gefühlt, bie fhärfer fehenden ansbrüdlic ausge 
ſprochen haben, Philoſophie den Inbegriff defien nen. 
nen müffen, was nicht Einer fondern Alle, nicht ein 
Menſch fondern der Menfch oder die Menſchheit, nicht 
ein Mann fondern Jedermann, kürzer was Man für 
wahr erkennen muß, als recht erachten fol, alſo Man's 
d. 5. der Menfchheit Weisheit. Wenn wir dann weis 
ter behaupten daß, wie jeder Mann, fo auch Mau oder 
die Menfchheit, anders iſt in der Knaben: und anderd 
in ber Jugendzeit, und darum auch ihre Weisheit ver- 
ſchieden fein muß je nad) verſchledenen Zeiten, fo tft 
dies nicht etwa nur ein moderner Einfall, den man 
den Philoſophen früherer Zeiten nicht leihen dürfe, 
denn gerade Giordano Brunn iſt ed, der gejagt hat 
die Ehrfurcht vor dem Alter müfe dahin führen, daß 
man bie gegenwärtige Zeit am meiften ehre, denn heute 
fet die Menfchheit viel älter und erfahrener, als bie 
um zwei Sahrtaufende jüngere Menſchheit der Arifto- 
telifchen Zeit. Lord Bacon der, wie andere Süße 
Anderen, fo dieſen dem Giordano entlehnt und den 
Ruhm erworben Hat, ihn erfonnen zu haben, folgert ans 
ihm, daß feine Philoſophie nicht fein, des WKehsKxx 
Grgeuguiß, fonbern daß Te &ehut \ener DL \® 


Wir unterjchreiben dies, beichränten es aber nicht auf 
feine, fondern dehnen ed auf jede Philofophie ans. 
Kein wahrer Philofoph bat nur feine, jeder hat mit 
feiner, der ganzen Zeit Weisheit verlündigt, und den 
Beruf des Philofophen auf fih nehmen heißt fich ver: 
pflichten, die Zeit zu deuten; philofophiren heißt, and» 
fprehen was an der Zeit ift, heit die unbewußten 
Grundfäge der Zeit zum Bewußtfein bringen und for: 
mulicen. Aber nur was. wirklich an der Zeit ift, ihre 
Grundſätze, joll der Philoſoph feftftellen: von einer an 
der nichts ift, und die Feine Grundfäbe hat, von der 
tft nichts zu fagen, der fchweigt der Mund der Zeiten: 
deuter oder Philofophen. Den Ruf, die Zeit zu deu: 
ten, haben nun aud) Bruno und Campanella vernom- 
men, und der Moment in dem fie ihn vernahmen war 
ed, in welchem die himmliſche Macht, die hinfort ihre 
Herrin fein follte, die Philofophie, fie in das Leben 
bineinführte, das dem, der e8 einmal gefoftet Hat, das 
einzige wahre Xeben tft. 

Fragen wir aber weiter: wie fich beide verhalten 
haben zu dem Ruf, ihre Zeit zu deuten, dann zeigt ed 
fih und, wie die Armen fehuldig wurden. Beginnen 
wir mit dem Calabreſen, jo war die Zeit worüber, wo 
ein Gregor der GSiebente, wo ein Innocenz der Dritte 
faft allein in den Beruf ihrer Yet eingeweiht waren. 

Seitdem haben andere Mädte ge Haut cfüuven, ink 


m 





bis dahin unterbrüdte Princip der Rationalität fängt 
an ſich im Staatöleben geltend zu machen; in der Re⸗ 
ligion entfteht das Verlangen, nicht das in der Kirche 
geltende Dogma als fertig anzunehmen, fondern eb 
felbft aus der biblifchen Offenbarung heraus zu ent 
wideln, alfo in fich felbft den Ummwandlungsproceß zu 
wiederholen, durch welchen aus der biblifchen Offen⸗ 
barung die Kirchenlehre, aus der froben Botichaft ein 
Lehrbegriff geworden ift. Die Gewalt dieſer Mächte 
unterſchätzt Campanella nicht, aber von ihrer Berechti⸗ 
gung bat er feine Ahnung, daher fehen wir ihn mit 
dem Zorn und dem euereifer, der überall die Reaction 
gegen den Neuerer bejeelt, den Nationalitätöpolitiker 
Machiavelli ganz fo wie Luther und Calvin ald Wie 
berbeleber heidnifcher Sdeen; ja als diabolifche Erſchei⸗ 
nungen verklagen, und ſehen ihn weiter, wie ed bie 
Reaction zu allen Zeiten verfucht, Gewaltmaßregeln 
gegen die neuen Mächte anrathen. Miſchehen, freis 
willige unter den Zürften, gezwungene unter den Uns 
terthanen, follen alle nationalen Unterfchtede verwilchen; 
Förderung der Naturwifienfchaften ſoll die Luft, Ver⸗ 
drängung des griechiichen Unterrichts auf den Schulen 
fol die Fähigkeit zu eregetifchen Unterfuchungen neh⸗ 
men. Es Hilft nichts. Er kommt zu fpät. Ein fo ges 
waltiger Geift Campanella tft, er hat u dm 
gewaltiger Anachronismus. Mieht winer, wur iS ON 


gegengejegter Weiſe ift ed Giordano. Seine Zeit war 
noch nicht reif, Ericheinungen hervorzubringen, wie 
Pascal, Newton, Haller, gleich Fromm und groß in ber 
Wiſſenſchaft, die fich durch Gebet zur Forſchung ftärk 
ten, und die jede neue Entdeckung bemüthiger und 
feommer machte. Er, ein Kind des ſechzehnten Jahr⸗ 
hunderts, Tonnte noch nicht, wie jene Kinder des fieb- 
zehnten und achtzehnten, fühlen, noch viel weniger konnte 
er, wie die des neunzehnten, ed Mar erkennen, daß und 
wie fi Naturwiflenichaft und Glaubenslehre ausein⸗ 
anderzufeben haben. Bernünftig ift eine ſolche Aus: 
einanderfeßung nur dort, wo der Phyſiker aus phyſi⸗ 
kaliſchen Gründen, eben wie er daraud, daß bie 
Strtiniihe Madonna auf photographiſchem Wege ver: 
vielfältigt wird, nicht ſchließt, daß das Original auf 
bemfelben Wege entftanden fein müfje, fo fich nicht 
beraudnimmt die ſtets und überall herrichenden Geſetze 
auf das Einmalige, fich nie wiederholende anzuwenden, 
wie ed der Anfang aller Dinge oder auch nur einer ganz 
neuen Erjcheinungdweife ift, — und wo der Theologe aus 
Gründen ded Glaubens und feiner Wiflenfchaft es 
einräumt, daß es ein Gebiet (eben des Phyſikers) gebe, 
in dem wirklich nach unverbrüdjlichen, unabänderlichen 
Geſetzen Alles geichieht, fo daß es bier nicht nur th» 
richt, jondern tereligiäs, whrow qehacht wäre, wollte 
man ein Andersfeintiunen Aotsiten. Yu tiger wen 


8 — 


nünfttgen und gefunden Auseinanderſetzung ift, wie ges 
fagt, Bruno’ Zeit nicht reif. Wenn er fi) aber nicht 
bei einer fo unklaren und verfhwommenen Einheit von 
Wiſſenſchaft und Kirchenlehre befriedigen kann, . wie 
etwa das funfzehnte Jahrhundert oder auch Campanella, 
fo. kommt ed bei ihm zu einem vor und unzeitigen 
Auseinandergehn beider, d. h. zu einer Auseinander- 
zeigung. Wie die Frucht, bie wenn fie reif gemorben 
vom Baume fällt füß, wenn por der Zeit abgeichlagen 
bitter und herbe iſt, fo giebt auch hier die Anticipation 
des noch Unmöglichen ftatt friedlichen Abkommens bit- 
teren Haß, und wie dort das Heimmeh und die Sehn ⸗ 
fucht nach der Allgewalt der Kirche den Campanella, 
fo macht hier der ungebuldige Bruch mit ihr den 
Giordano zum Anachronismus; fie beide bleiben ſchul⸗ 
dig, was ihre Herrin, die Philofophie, von Jedem for 
dert, der fich ihrem Dienfte weiht. 

Und darum hat fie, die Himmlifche, gethan was 
nach bes Harfnerd Lied der Himmliſchen Art ift, fie 
hat die beiden Schuldigen der Pein überlaffen. Zu: 
nächſt der Pein, deren Eintritt von ihr allein, nicht 
von bienftfertigen Schergen abhängt: Sie läßt ent 
behren, was dem Philofophen Iohnt, der wirklich das 
lehrt was die Zeit fordert, frendigen Anklang bei den 
Hörern, dankbaren Wiederhall von Sehen er Let. 
3’ Osstel del Ovo drängt {ih teine test 

° 


Jünglings⸗Schaar, und was von da aus in die Welt 
gefandt wird, läßt wie Noah's Taube nichts wieder von 
ih hören. Der Andre aber der von Land zu Rand 
irrt, tft am Ufer des Rhone und der Garonne, der 
Iſis wie der Elbe, in Helmftädt und in Padua gleich 
unverftanden, und alfo verlaffener und einfamer als 
Sener im Kerker zu Neapel. Dann aber überläßt ihre 
bimmlifche Herrin beide auch der andern Pein, von 
welcher ich gefprochen babe, bei der ihr andere Mächte 
ald Henker und als Folterknechte dienen, und jo wenig 
es und einfällt diefe zu loben, begreiflich werden wir 
ed doch finden, und alfo ein gewiſſes Recht darin an- 
ertennen, dab an dem Zurüdbleibenden die Macht Rache 
nimmt, die der Träger der neuen Ideen tft, der Staat, 
an dem unzeitig Voreilenden aber die Gewalt, die jeit 
Alter? das Scepter führte, die Kirche. Dad Gefühl 
aber, daß bei beiden Philofophen eine Schuld an der 
Philoſophie, fich ſelbſt gerächt hat, Died ift ed was bei 
ihren Leiden nicht die Empörung auflommen läßt, die 
und erfüllt wo wir den ganz Unfchuldigen gepeinigt, 
den ganz Schuldlofen gemordet fehn. Berubigt jchon 
dies, jo kommt dazu noch ein Anderes. Wie darin 
daß eine Schuld ſich rächt, oder in dem was wir ihre 
Strafe nennen, auch ihre Sühne liegt, und am dad 
„Bft gerichtet\" ſich Gox \ei vomtl has Iſt gerettet!” 
fliegt, fo zeigt ein merterer BÜR u vr Sei 


— 5 — 


unſerer beiden Märtyrer, wie auch hier jenes Merk 
würdige ftattfindet, daß worin der Menich gefehlt hat 
darin er geftraft wird, aber eben darin auch gefegnet, 
eine Verknüpfung des (fo feheint es) Unvereinbaren, 
welche bei dem Anblid eines Trauerfpield die bitter- 
füße, nieberfämetterndserhebende Wirkung äußert, bie 
wir tragifche Befriedigung nennen. Dem rüdgewande 
ten Campanella, der bed Papftes Allmacht verkündigt, 
amd eine Umkehr der Wiſſenſchaft zu ber Zeit fordert, 
wo noch fein Ariftoteles fie heidniſch gemacht Hatte, 
Lohnt die Erfahrung, daß dem allmächtigen Papfte ger 
lingt, was feiner Eonnte: ihn frei zu machen; und am 
Abend feiner Tage Hat er dad von vielen getheilte Ber 
wußtjein, er babe die ganze Wiſſenſchaft veftaurirt. 
Reſtaurirt, zurücgebildet. Den wieder, der von einem 
Buchdruder zum andern läuft, um einen zu finden, der 
es ber Welt verfündige, daß die Zukunft ihm Recht 
geben werde, Hat folche Hoffnung nicht getäufcht: die: 
felben Gedanken die er in London offenbarte, hat Spi- 
noza, Die er in Frankfurt verfändigt, Hat Leibnih, zu 
einem Lehrgebäude verarbeitet. Auch wo fie irrten alſo 
unfere beiden, Haben fie nicht bloß geirrt, auch wo fie 
litten nicht umfonft gelitten, und die Furcht und das 
Mitleid, mit dem wir ihr Martyrthum fehen, wirb ger 
reinigt und verfärt, weil ihnen der Stadel der Ess 
Pörung genommen iſt, wit der wir an Sinn 


— 36 — 

trachten das ungerecht ift und nur unbarmherzig. Wäre 
es anders, ſo hätte ich hier nicht an ſie erinnern dürfen, 
denn in die Reihe von Vorträgen die einem Liebes— 
werk gewidmet find, darf fich Feiner ftellen, der den 
Zuhörer mit Haß und Bitterkeit im Herzen entläßt. 
Sept aber durfte ich ed. Und daß beide ihr tragifches 
Loos mit ſolchem Heldenmuth trugen, das läßt mich 
denen, die wir gleich Anfangs fpöttifch fragen hörten, 
wo denn die Blutzeugen feien für wiflenfchaftliche 
Meberzeugungen?. kühn dieſe beiden zeigen und jagen: 
wenigftens meine Wiffenfchaft Hat Männer hervorge: 
bracht Die für dad was fie ald wahr erkannt Hatten, 
Gut und Blut, nicht nur zu opfern verfprachen (denn 
das macht fich Ieicht, Dank dem Beiftande, den Sanct 
Gambrinus und Die heilige Nicotiana leiften) ſondern 
wirklich opferten, wirklich Entbehrung, Qualen und 
Tod dafür litten. 


5994-47 


Berlin, Drud von Woran Stamm. . 
Marienfraie Ar.i8. . 


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DATE DUE