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Full text of "Ueber Lucian und seine Stellung zum Christenthume"

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^ 


Pohl,  Carl 

Ueber  Lucian  und  seine 
Stellung  zim  Christenthume 


423>6 
.?64 


■ 


Jahresbericht 


über  das 


Königliche  katholische  8t.  Matthias -Gymnasium 

zu  Breslau 

ffir  das  Schuljahr  1870— 1871 

mit  welchem 

zur  öffentlichen 

Prüfung  aller  Glassen  nnd  zur  Schlussfeier 

am  14.  15.  16.  August 

ergebenst  einladet 

der  Director  des  Gryinnasiums 

Dr.  Ant.  Jos.  Beisacker. 


,,  -  Voran  geht  eiue  wissenschaftliche  Abhandlung: 

^'     Ueber  Lncian  und  seine  Stellung  zum  Christenthume.    Vom  Oberlehrer  Dr.  Carl  Pohl, 


Breslau, 

I>ruck  von  Eobert  jSTisclikowsky. 
1871. 


JUL  131967 


€*^^ 


-nv  ü? 


lieber  Lucian  und  seine  Stellung'  zum  Christenthume. 


Wi, 


ie  es  eine  offene  Frage  ist,  ob  die  mitunter  sehr  auffallende  Uebereinstimmung  der  philosophischen 
Lehrsätze  Senecas  mit  den  Wahrheiten  des  Christenthums  dem  Zufalle  oder  dem  Einflüsse  der  Pre- 
digten und  Briefe  des  Weltapostels  Paulus  zuzuschreiben  sei ' ) ;  so  sind  auch  über  die  Stellung 
Lucians  zum  Christenthume  die  Akten  noch  keineswegs  als  geschlossen  anzusehen.  Kaum  über 
einen  andern  Gegenstand  gehen  die  Ansichten  der  Gelehrten  weiter  aus-  und  bunter  durch  einander. 
Während  die  Einen  ^)  unsern  Samosatenser  als  einen  frivolen  Spötter  und  hämischen  Feind  des  Chri- 
stenthums brandmarken;  suchen  Andere ^)  ihn  vor  solchen  Angriffen,  die  nur  von  einer  voreiligen 
Auslegung  seiner  Schriften  herrührten,  in  Schutz  zu  nehmen,  wenn  sie  nicht  gar'*)  in  ihm  einen  gehei- 
men Anhänger,  einen  bewussten  oder  unbewussten  Apologeten  des  Christenthums  erblicken.  Noch 
Andere^)  schlagen  den  zwischen  jenen  extremen  Meinungen  sich  schlängelnden  Mittelweg  ein.  Es 
lässt  sich  diese  Erscheinung  leicht  aus  dem  Dilemma  erklären,  dass  wir  bei  Fragen  über  den  persön- 
lichen Charakter  Lucians  und  den  seiner  Zeit,  über  seine  Glaubensansicht  sowie  über  die  Tendenz 
und  Glaubwürdigkeit  seiner  Schriften  fast  einzig  und  allein  auf  diese  letzteren  angewiesen  sind,  deren 
Auffassung  und  Auslegung  hinwiederum  abhängig  ist  von  dem  Vorurtheile,  von  welchem  man  sich  für 
oder  gegen  den  Verfasser  hat  einnehmen  lassen.   Nun  giebt  es  aber  unter  den  80  erhaltenen  Lucians 


*)  Hierüber  handelt  das  in  den  Heidelberger  Jahrbüchern  der  Literatur  für  1854  Seite  13  ff.  recensirte  Werk: 
„Saint  Paul  et  Sdneque.  Eecherches  sur  les  rapports  du  philosophe  avec  l'apotre  et  sur  Tinfiltration  du  Christianisme 
naissant  k  travers  le  paganisme  par  Amad^e  Fleury."    Paris  1853. 

2)  An  ihrer  Spitze  der  Scholiast  des  Lucian  und  Suidas.  Siehe  weiter  unten  Anmerk.  12  u.  42.  Nach  ihm  haben 
das  Verdammungsurtheil  über  Lucian  ausgesprochen  Daniel  Peucer,  Tobias  Krebs,  Heinr.  Mücke,  deren  hierauf 
bezügliche  Abhandlungen  bereits  dem  vorigen  Jahrhunderte  (Leipz.  1742,  69,  88)  gehören.  Ihnen  schlössen  sich  an 
Eichstädt,  Augusti,  anfänglich  auch  Tzschirner,  Lehmann  und  andere,  deren  Hermann  Kühn  in  seiner  dem  Programme 
der  Landesschule  zu  Grimma  v.  J.  1844  vorausgehenden  commentatio  erwähnt;  zuletzt  noch  Emil  Struve  im  Gör- 
litzer Progr.  1849  und  Adolf  Plank  in  seinem  im  4.  Hefte  der  theolog.  Studien  und  Kritiken  1851  erschienenen  Auf- 
sätze: „Lucian  und  das  Christenthum." 

3)  Namentlich  Burmeister  in  seiner  ,, commentatio,  qua  Lucianum  scriptis  suis  libros  sacros  irrisisse  negatur." 
Güstrow  1843  und  der  eben  erst  genannte  Kühn. 

4)  Wie  bereits  Job.  Phil.  Treuner  in  seiner  theologia  Luciana  1697  und  in  neuerer  Zeit  Aug.  Kestner  in  seiner 
mit  einem  grossen  Aufwände  von  Gelehrsamkeit  und  Scharfsinn  verfassten  Schrift:  „Die  Agape  oder  der  geheime 
Weltbund  der  Christen."     Jena  1819. 

ö)  Zu  ihnen  möchte  ich  zählen  den  verstorbenen  unvergesslichen  Director  unserer  Anstalt  Dr.  August  Wissowa 
wegen  seiner  in  den  Programmen  von  1848  u.  53  gelieferten  aus  Lucians  Schriften  geschupften  Beiträgen  zur  Innern 
Geschichte  des  zweiten  nachchristlichen  Jahrhunderts,  sowie  den  noch  lebenden  um  Lucian  hochverdienten  Director 
Julius  Sommerbrodt,  der  am  Schlüsse  der  allgemeinen  Einleitung  zu  der  von  ihm  besorgten  Ausgabe  „ausgewählter 
Schriften  des  Lucian"  die  Stellung  dieses  Autors  zum  Christenthume  ebenso  kurz  wie  trefflich  beleuchtet  hat. 

1 


II 

Namen  an  sich  tragenden  zu  verschiedenen  Zeiten  entstandenen  verschiedenartigen  Schriften  nur  zwei, 
worin  von  den  Christen  und  ihren  Glaubenslehren  Rede  ist,  nämlich:  Philopatris,  der  Vaterlandsfreund, 
und  das  Lebensende  desPeregrinus.  Indem  erstgenannten  Dialoge  betheuert  Triephon  seinem  Freunde 
Kritias  bei  dem  „hochwaltenden,  ewigen  Gotte,  bei  dem  Sohne  des  Vaters  und  bei  dem  Geiste,  der  ausgehe 
vom  Vater,  Eines  aus  Dreien  und  Drei  aus  Einem,  er  sei  mit  einem  Galiläer  bekannt  worden,  einem 
Manne  mit  einer  Glatze  und  einer  grossen  Nase,  der  in  den  dritten  Himmel  entrückt  dort  die  schön- 
sten Dinge  gelernt,  der  ihn  mittelst  Wasser  erneuert,  auf  den  Weg  der  Seligen  geführt  und  aus  dem 
Reiche  der  Gottlosen  erlöst  habe ;"  er  verspricht,  seinen  Freund,  wenn  er  ihm  zuhören  wolle,  auch 
zu  einem  neuen,  wahren  Menschen  zu  machen  und  beginnt  auf  dessen  Bereitwilligkeitserklärung 
damit,  ihm  die  Schöpfungsgeschichte  fast  übereinstimmend  mit  den  Worten  der  Genesis  zu  erzählen : 
„wie  ein  unvergängliches,  unbegreifliches  Licht  die  Finsterniss  und  die  wüste  Unordnung  der  Dinge 
mit  einem  einzigen  von  ihm  gesprochenen  Worte  gelöst,  die  Erde  über  den  Wassern  festgemacht  und 
den  Himmel  darüber  gespannt,  die  Gestirne  gebildet  und  ihnen  ihren  Lauf  angewiesen,  die  Erde  mit 
Blumen  geschmückt  und  den  Menschen  aus  dem  Nichts  ins  Dasein  geführt  habe ;"  er  setzt  hinzu, 
„dass  dieser  Liehtgott  vom  Himmel  her  die  Gerechten  und  Ungerechten  beobachte  und  eines  Jeg- 
lichen Thaten  in  ein  Buch  schreibe  und  Allen  vergelten  werde  an  dem  Tage,  den  er  dazu  ausersehen." 
Doch  diesen  Dialog  können  wir  hier  füglich  ausser  Acht  lassen,  weil  seine  Aechtheit  aus  Innern  wie 
äussern  Gründen  bezweifelt  wird  und  Matthias  Gessner's^)  Vermuthung,  dass  derselbe  von  einem 
Jüngern  Lucian  herrühre,  an  welchen  noch  ein  Brief  (der  32.)  des  Kaisers  Julian  vorhanden  sei,  bis- 
her nicht  widerlegt  ist,  vielmehr  einen  hohen  Grad  von  Wahrscheinlichkeit  für  sich  hat.     Hiernach 
wäre  die  Schrift  nicht  gegen  die  Montanisten  '^)j  sondern  gegen  die  unter  der  Regierung  des  abtrünni- 
gen Julian  unzufriedenen  Christen  gerichtet,  deren  Glauben  an  den  dreieinigen  Gott,  an  die  mosaische 
Darstellung  der  Weltschöpfung  und  an  eine  ewige  Vergeltung  nur  so  gelegentlich  (in  Kp.  12,  13  u.  17) 
verspottet  wird.    Es  bleibt  uns  also  nur  die  andere  Schrift  Lucians  vom  Lebensende  des  Peregrinus, 
deren  Aechtheit  weniger  in  Zweifel  gezogen  wird,  zur  Betrachtung  und  Ausbeute  für  unsere  Ansicht 
übrig.     Ehe  ich  diese  näher  entwickele,  will  ich  den  Inhalt  der  Schrift  kurz  referiren : 

Lucian  ruft  seinem  Freunde  Kronios,  dem  die  Schrift  gewidmet  ist,  wie  exaltirt  entgegen:  So 
hat  denn  der  erbärmliche  Peregrinus  ein  seines  Beinamens  Proteus  würdiges  Ende  gefunden!  Nach- 
dem er  vorher  alles  Mögliche  gewesen,  ist  er  zuletzt  zu  Feuer  gewordenl  Zwar  hat  er  sich  nicht, 
wie  einst  Empedokles  von  Niemandem  gesehen  in  den  Krater  des  Aetna,  sondern  bei  dem  besuchte- 
sten aller  griechischen  Volksfeste  vor  Tausenden  von  Zuschauern  in  die  Flammen  eines  eigens  dazu 
errichteten  Scheiterhaufens  gestürzt.  0  der  hirnverbrannte,  ehrsüchtige  Geck!  wirst  Du  sagen. 
Und  ich  habe  auch  so  gesprochen,  ob  ich  gleich  neben  dem  Holzstosse  stand;  aber  die  Menge,  denen 
der  wahnwitzige  Alte  ein  Gegenstand  der  Bewunderung  war,  hat  mir  das  sehr  übel  genommen  und 
fast  wäre  ich  nebst  den  Wenigen,  die  mit  mir  lachten,  von  den  Cynikern  ebenso  zerrissen  worden, 
wie  Aktäon  von  seinen  Hunden.  Nun  lass  Dir  einmal  den  Hergang  des  abenteuerlichen  Dramas 
erzählen.     Gleich  nach  meiner  Ankunft  in  Elis  schlendere  ich  nach  dem  dortigen  Gymnasium,  wo 

*)  Siehe  dessen  „dispwtatio  de  aetate  et  auctore  dialogi  Lucianei,  qui  Philopatris  inscribitur"  cp.  42  in  der  Leh- 
raannschen  Ausgabe  des  Lucian  Bd.  IX.  p.  684. 

7)  Wie  Kestner  meint  in  der  oben  genannten  Agape  S.  418.  Andere,  wie  Theodor  Marcilius  und  Samuel  Grell, 
setzen,  in  dem  Kap.  12  des  Dialogs  erwähnten  Galiläer  den  Apostel  Paulus  oder  gar  den  Heiland  selbst  erkennend, 
die  Abfassung  in  das  erste  christliche  Jahrhundert  unter  die  Regierung  des  Kaisers  Claudius  oder  Nero.  Da  jedoch 
die  hier  angebrachten  Vergleiche,  Anspielungen,  bon  mots  sich  in  andern  Dialogen  Lucians  wieder  finden;  so  kann 
nur  ein  apäterer,  geschickter  Nachahmer  desselben  für  den  Verfasser  gehalten  werden. 


III 

eben  ein  Cyniker,  Theagenes  mit  Namen,  sein  triviales  Tugendgeschwätz  ableiert  und  auf  alle  Men- 
schen weidlich  schimpft.  Wie  er  aber  auf  den  Proteus  kommt,  da  mag  er  des  Lobes  kein  Ende 
finden.  Wie  kann  man,  schrie  er,  einen  so  edlen  Mann,  der  in  Syrien  gefangen  lag,  der  seiner  Vater- 
stadt 5000  Talente  schenkte,  dessen  Name  herrlicher  strahlt  als  die  Sonne,  der  eitlen  Ruhmsucht 
bezüchtigen,  weil  er  beschlossen  hat,  durch  Flammen  aus  der  Welt  zu  gehen?  Hat  nicht  Herakles 
ein  Gleiches  gethan?  Ja,  die  grössten  Wunderwerke  der  Welt  sind  der  olympische  Zeus  und  Pro- 
teus; jenen  hat  Phidias,  diesen  die  Natur  geschaffen.  Nun  aber  steigt  dies  Götterbild  aus  dem 
Kreise  der  Menschen,  von  Flammen  getragen,  zu  den  Göttern  empor,  uns  als  Waisen  verlassend  **). 
Auf  diesen  überspannten  Lobredner,  der  zuletzt  heulte  und  sich  die  Haare  zerraufte,  folgte  ein 
Anderer,  gleichsam  ein  Demokrit  auf  den  Heraklit.  Der  entwarf  von  dem  säubern  Götterbilde  eine 
ganz  andere  Charakteristik.  Wollte  man  auch,  sagte  er,  von  seinen  Jugendsünden  ^)  absehen ;  so  ist 
es  doch  allgemein  bekannt,  dass  er  seinen  Vater,  einen  sechzigjährigen  Greis,  weil  er  ihm  zu  lange 
lebte,  erdrosselt  hat.  Seitdem  irrte  er  unstät  und  flüchtig  von  Land  zu  Land.  Und  so  geschah  es 
denn,  dass  er  auch  die  wundersame^")  Weisheit  der  Christen  kennen  lernte,  mit  deren  Priestern  und 
Schriftgelehrten  er  in  Palästina  Umgang  gepflogen.  Und  bald  brachte  er  es  so  weit,  dass  seine 
Lehrer  nur  Kinder  gegen  ihn  zu  sein  schienen.  Er  ward  Prophet,  Thiasarch ,  Synagogeus ,  kurz 
Alles  in  Allem.  Er  legte  ihre  Schriften  aus,  verfasste  selbst  deren  in  Menge,  so  dass  sie  ihn  sogar 
für  einen  Gott  ansahen,  sich  Gesetze  von  ihm  geben  Hessen  und  ihn  zu  ihrem  Vorsteher  ernanuten.  — 
Es  folgt  nun  die  vielfach  beanstandete  ^  ^),  plötzlich  auf  Christus  tiberspringende  und  den  Zusammen- 
hang scheinbar  störende  Parenthese:  Sie  verehren  nämlich  noch  jenen  grossen  Men- 
schen^^),  der  in  Palästina  gekreuzigt  wurde,  weil  er  dieses  neue  Mysterium  in's 


8)  Dieser  Passus:  aXkcc  vvv  i^  av&Qcöncov  sig  &sovg  t6  ayaXfia  xovxo  0ip]6STCci,  cxov[i£vov  tnl  zov  TCVQog, 
OQff  ttvovg  rjii&g  yaraltitov  —  ist,  beiläufig  bemerkt,  von  einigen  Auslegern  als  eine  spöttische  Anspielung 
Lucians  auf  Christi  Hinamelfahrt  betrachtet  worden,  der  bei  Johannes  XIV,  18  zu  den  über  seinen  nahen  Hingang 
trauernden  Aposteln  das  Trostwort  gesprochen:  ovy,  dtpi^aco  vu&g  oQqiavovg;  doch  ohne  hinreichenden  Grund, 
Denn  wenn  bei  Lucian  die  Lehrer  und  Häupter  philosophischer  Sekten  von  ihren  Schülern  und  Anhängern  an  vielen 
Stellen,  ja  selbst  in  dieser  Schrift  weiter  unten  „Väter"  und  diese  von  jenen  „Kinder  oder  Söhne"  genannt  werden; 
so  kann  es  nicht  auffallen,  dass  die  ihres  Vaters  beraubten  Kinder  hier  einmal  „Waisen"  heissen. 

9)  Dieselben  sind  im  Vorhergehenden  schonungslos  aufgedeckt;  ich  habe  sie  Anstandshalber  hier  übergangen. 
*0)  Gleich  bei  diesem  unschuldigen  Epitheton  geräth  der  Scholiast  des  Lucian  so  in  Harnisch,  dass  er  ausruft: 

„&av(iaaTri  fihv  ovv,  m  (iiuqs,  %al  navxog  insxsiva  &avii,aiog,  sl  aal  aol  ivcplm  ovzl  nal  ccXa'^övi,  t6  kÜÄIos  ccvt^g 

CCVSTtiCKSTttOV  V,al  ä&f:CiTOV." 

11)  Man  stösst  sich  hier  an  die  Verbindungspartikel  yovv,  welche  bei  Lucian,  wie  sich  durch  viele  Beispiele  nach- 
weisen lässt,  nicht  blos  eine  einschränkende,  sondern  gleich  dem  lateinischen  quidem  auch  eine  erläuternde  Bedeu- 
tung hat.  Es  ist  daher  nicht  nöthig,  wie  vorgeschlagen  worden,  dafür  yccQ  zu  setzen.  Was  nun  den  Zusammenhang 
der  Stelle:  „zov  [lEyaf  yovv  iyiaivov  sti  cäßovöiv  ixvd'Qanov  zov  iv  II«7MiGtiv'rj  a.vaoy.o'kome&svza,  bri  %aivtjvzavt'r\v 
zslezriv  slgiqyaysv  ig  zov  ßlov"  mit  dem  Vorangehenden  betriift;  so  lässt  sich  dieser  nach  meinem  Bedünken  am  ein- 
fachsten so  auffassen:  ,,Die  Christen  machten  den  Proteus,  der  immer  höhere  Weihen  und  Würden  erlangt  hatte,  zu 
ihrem  Bischof  (7r()0(rTa:T7js  ist  hier  Zweifelsohne  gleichbedeutend  mit  inloKOTtog).  Sie  handelten  hierin  ganz  nach  der 
Vorschrift  Christi,  der  die  hierarchische  Ordnung,  namentlich  den  Episkopat  in  seiner  Kirche  eingesetzt  hat  und  dem 
sie  noch  heut  ihre  Ehrfurcht  bezeigen.  Einige  Abschreiber  Lucians,  welche  die  Gedankeulücke  nicht  auszufüllen 
vermochten,  bezeichneten  die  angeführte  Stelle  als  ein  unächtes  Einschiebsel;  andere  gingen  in  ihrem  blinden  Eifer 
so  weit,  dass  sie  die  ganze  Schrift  als  eine  gottlose  in  ihren  Handschriften  wegliessen,  weil  sie  sich  einbildeten,  der 
frivole  Spötter  müsse  sich  hier  noch  andere  grobe  Lästerungen  gegen  Christus  erlaubt  haben. 

12)  Sehr  bestechend  ist  Gessner's  Conjectur  rov  (läYOv  statt  röv  (isyav.  Sie  entspricht  gewiss  der  Vorstellung^ 
welche  sich  Lucian  von  Christus  gebildet  haben  mochte,  der  ihn  wohl  mit  Apollonius  von  Tyana  oder  mit  Simon  dem 

1* 


IV 

Leben  einführte.  Der  Lästerer  fährt  hierauf  also  fort:  Damals  ward  denn  nun  auf  Grund 
dessen  ^  ^)  auch  Proteus  ergriffen  und  in's  Gefängniss  geworfen,  ein  Umstand,  der  am  meisten  dazu 
beitrug,  ihm  für  die  ganze  Folgezeit  eine  Berühmtheit  zu  verschaffen  und  seinen  Hang  zu  wunder- 
baren Abenteuern  nährte.  Die  Christen  versuchten  alles  Mögliche,  ihn  zu  befreien,  und  da  dies  nicht 
gelang,  erwiesen  sie  ihm  die  sorgsamste  Pflege.  Mit  Tagesanbruch  schon  sah  man  Matronen  ^  *), 
Wittwen  und  Waisen  sein  Gefängniss  umlagern ;  die  Vornehmeren  aber  bestachen  die  Wächter  und 
brachten  ganze  Nächte  bei  ihm  zu.  Sodann  wurden  die  räthselhaften  Mahlzeiten  hineingeschafft  und 
die  heilige  Lesung  ^^)  gehalten.  Kurz  der  liebe  Peregrin  (so  nannten  sie  ihn  damals  noch)  war 
ihnen  nichts  Geringeres,  als  ein  neuer  Sokrates*^).  Selbst  aus  einigen  Städten  Kleinasiens  ^ ^) 
kamen  Abgeordnete  der  christlichen  Gemeinden,  ihm  Trost,  Hülfe  und  gerichtlichen  Beistand  zu 
gewähren.  Denn  diese  Leute  sind  ungemein  schnell  bei  der  Hand,  wenn  es  eine  gemeinsame  Ange- 
legenheit gilt;  sie  sparen  dann  Nichts.  So  flössen  denn  auch  damals  dem  Peregrinus  Gelder  von 
allen  Seiten  zu,  so  dass  seine  Gefangenschaft  ihm  eine  reiche  Einnahme  verschaffte.  Es  haben 
sich  nämlich  die  Unglücklichen  eingeredet,   dass  sie  an  Leib   und  Seele   (tö  \ikv 


Magier  auf  gleiche  Stufe  stellte.  Natürlich  muss  dann  der  Artikel  vor  av&QConov  wiederholt  werden.  Jedenfalls 
hat  der  Scholiast  dieselbe  Lesart  vor  Augen  gehabt.  Dass  Christus  ein  ,,Wunderthäter"  genannt  wird,  lässt  er  noch 
hingehen ;  dass  er  aber  schlechthin  als  „Mensch"  bezeichnet  wird,  glaubt  er  rügen  zu  müssen  und  wenn  er  bei  der 
Gelegenheit  Lucian  auch  nicht,  wie  oben,  einen  Kuchlosen,  einen  Blinden,  einen  Aufschneider  schilt,  so  wirft  er  ihm 
wenigstens  einen  „Windbeutel"  an  den  Hals,  indem  er  zu  tov  ccv&Qconov  corrigirend  hinzusetzt:  xov  aXrjQ'ri  &s6v  kccI 
teXsLOV  avd'QcoTtov,  tov  xov  navxög,  (ö  l'^QS,  noirjrrjv.  Ich  möchte  jedoch  mit  Lehmann  die  handschriftliche  Lesart 
„TOV  (i8'/av  —  av&QcoTtov"  beibehalten.  Lucian  nennt  Christum  „den  grossen  Menschen"  nicht  aus  Ueberzeugung 
von  "seiner  Hoheit  und  gottmenschlichen  Würde,  —  soweit  war  er  in  seiner  Erkenntniss  nicht  vorgedrungen,  —  son- 
dern um  Effect  zu  machen,  nach  dem  er  als  sophistischer  Ehetor  und  gewandter  Phrasendrechsler  überall  hascht.  Zu 
dem  Ende  stellt  er  hier  einen  doppelten  Contrast  auf.  Der  (isyccg  wird  im  unmittelbar  Folgenden  ein  avaßKoXo- 
nie&elg  genannt.  Dem  Ungläubigen  dünkt  natürlich  das  Kreuz  eine  Thorheit  und  dieser  machen  sich,  nach  seiner 
Meinung,  die  Christen  schuldig,  indem  sie  einen  Gekreuzigten  als  grossen  Mann  verehren.  Aber  auch  zu  dem  im 
Vorhergehenden  abconterfeiten  Proteus  soll  der  fisyag  contrastiren.  Der  Jünger  ist  ja  nicht  über  dem  Meister.  Wenn 
nun  des  Letzteren  Grösse  in  der  schmachvollen  Erniedrigung  am  Kreuze  endete,  so  darf  sich  Proteus  auf  seine  Würde 
als  TiQOGtc'nrjg,  die  er  bei  den  Christen  erlangte,  erst  recht  nichts  zu  Gute  thun.  Noch  weniger  haben  die  Christen 
Ursache  stolz  darauf  zu  sein,  dass  sie  einen  solchen  Wicht,  wie  Proteus,  zum  Bischof  gemacht. 

13)  inl  xovzcp  d.  h.  weil  er  Christ  und  sogar  Bischof  war.  Wahrscheinlich  geschah  dies  zur  Zeit -des  Kaisers 
Hadrian.  Dabei  hat  man  sich  aus  dem  Zusammenhange  zu  dem  xöxs  8rj  zu  ergänzen:  wie  früher  einst  Christus 
ergriffen  worden  war. 

14)  Vielleicht  waren  es  Diakonissinnen,  die  hier  YQat'dia  heissen;  die  dahinter  erwähnten  Vornehmen  {ol  iv 
zeXei)  aber  Diakonen  und  Priester. 

15)  Die  ÖHTtva  Ttoi-nlXa  und  Xoyoi,  Uqol  deuten  offenbar  auf  das  eucharistische  Opfer.  Da  die  Christen  selbst 
davon  nicht  reden  durften,  so  verbreitete  man  darüber  allerhand  Gerüchte;  ja  man  beschuldigte  dieselben,  dass  sie  bei 
ihren  nächtlichen  Zusammenkünften  ein  Kind  tödteten,  es  brieten,  mit  Mehl  bestreuten  und  ässen,  zugleich  mit 
Brot,  welches  sie  in  das  Blut  des  Kindes  getaucht  hätten.  Wie  die  heil.  Messe  damals  celebrirt  wurde,  davon  kann 
man  nach  den  Worten  des  heil.  Märtyrers  Justinus  auch  in  Stollberg's  Geschichte  der  Religion  Jesu  Christi  Th.  VHI 
S.  19  ff.  die  Beschreibung  lesen. 

lö)  Es  ist  nicht  anzunehmen,  dass  die  Christen  selbst  ihrem  des  Glaubens  wegen  eingekerkerten  Bekenner  die- 
sen Beinamen  sollten  gegeben  haben.  Lucian  will  nur  die  hohe  Verehrung,  welche  Peregrinus  bei  den  Christen 
gcnoss  und  welche  er  oben  als  eine  göttliche  bezeichnet  hat,  aufs  Neue  persifliren. 

17)  Die  Einkerkerung  fand  nämlich  in  Syrien  statt,  was  bereits  Kap.  4  gesagt  und  wiederum  aus  dem  Folgenden 
zu  ersehen  ist. 


SXov)  unsterblich  sein  und  in  Ewigkeit  leben  werden.  Deshalb  verachten  sie 
denn  auch  den  Tod  und  tiberliefern  sich  demselben  oft  freiwillig.  Zudem  hat 
sie  ihr  erster  Gesetzgeber^^)  überredet,  sie  wären  alle  Brüder  unter  einander, 
sobald  sie  nur  übergetreten,  die  hellenischen  Götter  verleugnet  hätten  und 
dafür  jenen  gekreuzigten  Sophisten^-')  anbeten  und  nach  seinen  Gesetzen  leb- 
ten. Daher  verachten  sie  alles  Andere  gleichmässig  und  betrachten  es  als 
Gemeingut^^^),  —  Lehren,  die  sie  auf  Treue  and  Glauben  ohne  genaue  Prüfung 
angenommen  haben.  Wenn  nun  zu  ihnen  ein  schlauer  Betrüger  kommt  und  die 
Umstände  zu  benutzen  weiss,  so  kann  er  in  Kurzem  ein  reicher  Mann  werden, 
die  einfältigen  Leute  verhöhnend.  —  Uebrigens  wurde  Peregrinus  von  dem  damaligen 
Statthalter  Syriens,  der  bald  weg  hatte,  dass  der  Mensch  ein  Narr  sei  und  den  Tod  des  Nachruhmes 
wegen  gern  erlitten  hätte,  bald  wieder  auf  freien  Fuss  gesetzt.     Er  kehrte  nun  in  seine  Heimath^') 


18)  Wer  unter  diesem  „ersten  Gesetzgeber"  hier  zu  verstehen  sei,  lässt  sich  schwer  ermitteln.  Man  könnte 
zunächst  an  Peregrinus  selber  denken,  von  dem  es  Kap.  11  heisst,  dass  die  Christen  ihn  als  Gesetzgeber  ansahen 
(vo(io9st7]  }%Qävxo).  Dann  müsste  das  Epitheton  TtQätaq  im  ironischen  Sinne  aufgefasst  und  auf  die  eben  persiflirte 
göttliche  Verehrung  des  Peregrinus  zurück  bezogen  werden.  Dem  steht  jedoch  das  entgegen,  dass  hier  von  dem 
Glauben  der  Christen  überhaupt,  nicht  blos  von  der  syrischen  Gemeinde,  an  deren  Spitze  P.  stand,  die  Rede  ist. 
Daher  würde  der  Weltapostel  Paulus  besser  in  den  Context  passen.  Von  dessen  Wirksamkeit  unter  den  Heiden 
konnte  sich  am  ehesten  einige  Kunde  erhalten  und  zu  Lucians  Ohren  gedrungen  sein.  Aber  in  welchem  Sinne  und  mit 
welchem  Rechte  sollte  Paulus  grade  der  „erste"  Gesetzgeber  der  Christen  sein?  Das  Attribut  wäre  fast  etwas  frostig 
und  doch  scheint  auf  demselben  hier  ein  Nachdruck  zu  ruhen.  Dies  Bedenken  schwindet,  wenn  noch  weiter  auf  Christus 
zurückgegangen  wird,  dafür  tauchen  aber  andere  auf.  Christus  predigte  fast  ausschliesslich  den  Juden,  welchen  er 
doch  nicht  gebieten  konnte,  die  „hellenischen"  Götter  abzuschwören  und  statt  ihrer  an  den  „Gekreuzigten"  zu  glau- 
ben. Dieser  letztere  aber  ist  er  offenbar  selber  und  doch  wird  er  in  unserer  Stelle  mit  dem  ersten  Gesetzgeber  nicht 
identifizirt,  vielmehr  von  diesem  deutlich  unterschieden.  Der  Unterschied  wird  nicht  auf-,  sondern  schärfer 
hervorgehoben,  wenn  man  Lehmann's  Vorschlag  „avtov  8e  xov  avea7ioloTtLß[isvov  IkeIvov"  zu  lesen  annimmt.  Da 
man  nun  mit  der  Stelle,  welche  aus  der  Feder  eines  über  das  Cliristenthum  nur  sehr  oberflächlich  und  schlecht  Unter- 
richteten geflossen,  einmal  nicht  ins  Reine  kommt;  so  habe  ich  mich  im  Verlaufe  meiner  Erörterung  S.  XI,  wo  ich 
auf  die  Stelle  eingehe,  an  die  Meinung  derer  angeschlossen,  welche  sich  unter  dem  „ersten"  Gesetzgeber  hier  Moses 
vorstellen.  Der  Zeit  nach  hat  dieser  allerdings  hierauf  die  gegründetsten  Ansprüche,  so  wenig  auch  das  von  ihm 
hier  Gesagte  auf  ihn  passt. 

i^j  Eine  ärgere  Lästerung  Christi,  als  diese,  findet  sich  nirgends  bei  unserem  Schriftsteller.  Die  Züchtigung,  die 
ihm  dafür  zu  Theil  geworden,  werde  ich  weiterhin  anführen.  Siehe  Anmerk.  42.  Hier  will  ich  nur  auf  den  Contrast  aufmerk- 
sam machen,  den  derDeclamator  mit  den  Worten  ausdrückt:  xov  avsaKolomafiävov  —  itQos'nvvovGt.  Einen  Gekreuzig- 
ten anziibeten  schien  natürlich  dem  Ungläubigen  und  den  Gesinnungsgenossen  unter  seinen  Zuhörern  die  lächer- 
lichste Thorheit. 

20)  Nämlich  ebenso  als  Gemeingut,  wie  Wasser  und  Luft.  Da  sich  die  ersten  Christen  als  Brüder  ansahen,  so 
hatten  sie  Alles  gemeinschaftlich  d.  h.  sie  betrachteten  das  Ihrige  als  ein  auch  ihren  Brüdern  gehöriges  Gut  und  theil- 
ten  den  Aermeren  davon  nach  Bedarf  mit.  Dass  sie  einem  solchen  Communismus  huldigten,  lesen  wir  in  der  Apostel- 
geschichte Kap.  2  V.  44.  Hier  üben  sie  ihn  praktisch  an  dem  Gefangenen.  Man  braucht  daher  KOtvä  nicht  in  der 
schlechteren  Bedeutung  zu  nehmen,  welche  das  deutsche  Wort  „gemein"  auch  hat,  noch  dafür  kevcc  zu  schreiben, 
was  in  dem  vorhergehenden  zatacpQOVovaL  von  selbst  liegt. 

2')  Es  war  dies  die  Stadt  Parion  in  Mysien.  Sie  lag  auf  einer  Halbinsel  am  Eingange  des  Hellespont  in  einer 
Bucht.  Unter  Augustus  erhielt  sie  eine  römische  Colonie  und  den  Namen  colonia  Julia  Pariana  oder  Pariana  colo- 
nia,  wie  man  aus  Münzen  ersieht.  Heut  heisst  sie  Kamaris.  Die  Eltern  unseres  Peregrinus  müssen  wohlhabend 
gewesen  sein ;  denn  nachdem  er  die  Hälfte  seines  Vermögens  verzehrt  hatte,  waren  doch  noch  Grundstücke  im  Werthe 
von  mehr  als  15000  Thalern  übrig.  Hätte  er,  wie  sein  Jünger  Theagenes  prahlte,  5  Millionen  besessen,  so  konnten 
dafür  nach  der  Meinung  des  Gegners  (Kap.  14)  Parion  selbst  und  die  fünf  Nachbarstädte  zusammengekauft  werden. 


VI 

zurück,  fand  aber  dort  das  Gerede  wegen  Ermordung  seines  Vaters  noch  so  im  Gange,  dass  er,  um 
den  Leuten  den  Mund  zu  stopfen,  den  noch  übrigen  Theil  seines  Vermögens,  Grundstücke  im  Werthe 
von  15,  nicht,  wie  mein  Vorredner,  der  lächerliche  Theagenes  gesagt,  5000  Talente,  der  Stadt 
gehenkte.  Er  zog  dann  zum  zweiten  Male  im  Lande  umher,  wobei  er  als  genügendes  Reisegeld  die 
Christen  hatte  ^^),  welche  ihn  wie  Trabanten  begleiteten  und  an  Nichts  Mangel  leiden  Hessen.  Und 
eine  Zeitlang  wurde  er  so  von  ihnen  gefüttert;  als  er  aber  auch  deren  Satzungen  übertrat  (man  sah 
ihn,  glaub'  ich,  einmal  etwas  Verbotenes  ^  ^ )  essen),  schlössen  sie  ihn  aus.  Peregrinus,  der  nun  nicht 
wusste,  wovon  er  leben  sollte,  wandte  sich  an  den  Kaiser,  um  von  diesem  den  Befehl  zur  Heraus- 
gabe der  seiner  Vaterstadt  geschenkten  Güter  zu  erwirken.  Da  er  nichts  ausrichtete,  machte  er 
seine  dritte  Reise  nach  Aegypten  zu  dem  Cyniker  Agathobulos^*),  wo  er  sich  den  Kopf  halb  schee- 
ren  Hess  und  die  schamlosesten  Dinge  auf  öffentlichem  Markte  trieb**),  von  hier  nach  ItaHen,  wo 
er  auf  den  sanftmüthigsten  der  Kaiser  ^*^)  schimpfte,  weil  er  wusste,  dass  er  dabei  nichts  wagte,  bis 
der  Stadtpräfekt  seine  Ausweisung  aus  Rom  verfügte.  Aber  dies  vermehrte  grade  seinen  Ruhm 
bei  dem  Pöbel,  der  ihn  mit  einem  Musonius,  Dio,  Epiktet  auf  gleiche  Linie  stellte  *'^).  Er  durchzog 
jetzt  Griechenland,  Aufruhr  predigend  gegen  die  Römer.  Wenn  dies  schon  seinem  Ansehen  schadete, 
80  machte  er  sich  noch  mehr  unpopulär,  als  er  die  vom  Sophisten  Herodes  Atticus*^)  zu  Olympia 
grossmüthig  angelegten  Wasserleitungen  tadelte,  weil  es  dem  Volke  besser  wäre,  sich  in  Ertragung 
des  Durstes  zu  üben.  Dies  erregte,  zumal  Peregrinus  selbst  von  jenem  Wasser  zuerst  getrunken, 
solche  Erbitterung,  dass  der  Maulphilosoph  gesteinigt  worden  wäre,  wenn  er  sich  nicht  in  den  Tem- 


22j  Ich  habe  die  Stelle  Ikuvcc  icpöSia  zovg  XQiarucvovg  sxcov  wörtlich  wiedergegeben.  Lucian  verspottet  hier 
nochmals  die  gutmüthige  Einfalt  der  gastfreien  Christen,  welche  dem  Gauner  so  gut,  wie  baares  Geld,  waren. 

23)  äq)d"r}  yap  ti,  mg  olfiai,  ie&icov  tmv  ano^^r/tcov  ccvtoTg.  Wahrscheinlich  ass  P.,  um  sich  der  Verfolgung  zu 
entziehen,  vom  Götzenopferfleische.  Dessen  aber  {sl8caX6&vvcz)  sollten  sich  die  Christen  nach  der  Vorschrift  des  heil. 
Petrus  (Apostelgesch.  XV,  29)  eben  so  wie  des  Blutes  [cctfia)  und  des  Erstickten  {nviyi-cöv)  enthalten. 

**)  Ein  Pliilosoph  dieses  Namens  wird  auch  im  3.  Kap.  des  Demonax  unter  den  Lehrern  des  letzteren  erwähnt. 

26)  Nach  dem  bereits  von  Antisthenes,  dem  Urvater  der  Cyniker,  aufgestellte«  Grundsatze  „dass  das  starke  Selbst- 
bewusstsein  den  Weisen  über  alle  Eücksichten  erhebe,  welche  Sitte,  Herkommen,  Gesetz,  Glaube  für  die  Idioten 
hingestellt  haben"  durfte  er  es.  Daher  unterscheidet  Lucian  die  feinen,  anständigen  Cyniker  von  den  schmutzigen, 
plebejischen.  Mit  den  ersteren,  wie  z.  B.  mit  Demonax,  war  Lucian  befreundet;  die  andern  werden  von  ihm  an 
unzähligen  Stellen  mit  unerschöpflichem  Witze  verspottet.     Zu  ihnen  gehört  auch  unser  Peregrinus. 

26)  Der  ßaailtvg  ngaoraTog  kann  wohl  kein  anderer,  als  Antoninus  Pius  gewesen  sein. 

2^)  Der  Stoiker  C.  Musonius  Kufus  lebte  unter  Vespasian  und  Titus  als  Zeitgenosse  des  Apollonius  von  Tyana; 
von  Dio  Chrysostomos  sind  noch  80  Reden  und  Abhandlungen  vorhanden;  Epiktet  ist  uns  durch  seinen  Schüler 
Arrian  näher  bekannt  worden.  Obwohl  Stoiker  zollte  er  dem  wahren  Cynismus  seinen  Beifall.  Selbstredend  wird 
diesen  Männern  Peregrin  nur  cum  grano  salis  an  die  Seite  gestellt,  wie  er  oben  ein  Tiaivog  2:omQazrjg  genannt  ward, 

28)  Ich  habe  mir  erlaubt,  den  Namen  des  Mannes  in  mein  Referat  aufzunehmen.  Der  Sprecher  bei  Lucian 
bezeichnet  ihn  nur  als  einen  avSQa  nceiSsia  Kai  u^itöfiari  7tQov%Qvxa.  Aus  Philostratos  im  Leben  der  Sophisten 
p.  551  erfahren  wir,  dass  Herodes  aus  Marathon  gebürtig,  Lehrer  Marc  Aureis,  Consul  143  n.  Chr.,  Präfect  der  sog. 
freien  griech.  Städte,  ävf-ö'TjxE  y.a.1  xm  Ilv&iq)  to  TLv&oi  axddiov  xal  rm  Juro  iv  'OXvfiitla  vöcoq.  Eine  wie  grosse 
Woblthat  diese  Wasserleitung  war,  erhellt  aus  der  Drohung,  welche  bei  Aelian  V.  H.  XIV,  18  ein  Hen-  gegen  seinen 
Sklaven  auastösst,  er  werde  ihn  nach  Olympia  als  Zuschauer  schicken.  Damals  musste  man  nämlich,  auf  engen 
Raum  zusammengedrängt,  bei  glühender  Sonnenhitze  noch  grossen  Durst  leiden,  ohne  ihn  löschen  zu  können.  Uebri- 
gens  tadelte  P.  nicht  blos  das  Werk  des  Herodes,  sondern  griff  auch  ihn  selbst  an:  ^itrjKolovQ-si  rä'HQcodrj  HaKwg 
ayoQivmv  avxbv  r}(iißaQßa(fq)  yXcÖTXt],  Dieser  gab  auf  wiederholte  Schmähungen  die  gelassene  Antwort:  yej'ijpa- 
KUfiBv  av  fitv  ayo^svoav  (le  xaxws,  iyat  dk  cchovcov. 


vn 

pel  des  Zeus  geflüchtet  hätte.  Bei  den  nächsten  Spielen  lobte  er  den  Gründer  der  Wasserleitung; 
aber  seine  Künste  waren  einmal  verbraucht  und  es  wollte  ihm  nicht  mehr  gelingen,  Staunen  zu 
erregen.  So  kam  er  endlich  auf  den  verzweifelten  Einfall  des  Scheiterhaufens  und  Hess  bei  den 
olympischen  Spielen  ^^)  bekannt  machen,  er  werde  sich  am  nächsten  Feste  in  die  Flammen  stürzen, 
um  eine  goldene  Krone  aufzusetzen  einem  goldenen  Leben  und  um  der  Welt  zu  zeigen,  wie  man  den 
Tod  verachten  müsse.  — 

Ich  breche  hier  ab  mitten  im  Dialoge,  dessen  andere  Hälfte  nur  Weniges  enthält,  was  unserem 
Zwecke  entspricht.  Nachdem  der  Unbekannte  noch  mancherlei  Reflexionen  angestellt  über  jenen 
wunderlichen  Einfall  der  Selbstverbrennung  und  darauf  von  dem  wüthenden  Vorredner  Theagenes 
als  ein  Verleumder  gebrandmarkt  war,  erzählt  Lucian  selbst  das  Factum,  dessen  Augenzeuge  er 
gewesen,  mit  aller  Umständlichkeit.  Bemerkenswerth  dürfte  hierbei  etwa  noch  das  sein,  dass  die 
Abschiedsrede,  welche  Proteus  vor  der  versammelten  Menge  hielt,  auf  diese  einen  verschiedenartigen 
Eindruck  machte.  Während  die  Einen  ihn  unter  Thränen  beschworen,  er  solle  sich  den  Griechen 
erhalten,  forderten  ihn  Andere  auf,  seinen  Entschluss  auszuführen^**).  Lucian  war  unter  denen,  die 
da  lachten.  Schliesslich  gesteht  dieser  seinem  Freunde  Kronios,  er  habe  sich  den  Spass  gemacht, 
Schwachköpfen,  die  ihn  um  die  Neuigkeit  ausgefragt,  den  Bären  aufzubinden,  als  wäre  im  Augen- 
blicke, wo  Proteus  ins  Feuer  gesprungen,  ein  Erdbeben  entstanden  und  mitten  aus  den  Flammen  ein 
Geier  aufgeflogen.  Noch  mehr  Spass  habe  er  gehabt,  als  ihm  bald  nachher  auf  dem  Volksplatze  ein 
ehrwürdiger  Greis,  der  Vieles  von  dem  Proteus  zu  erzählen  wusste,  eidlich  versicherte,  wie  er  mit 
eigenen  Augen  den  Geier  aus  dem  Scheiterhaufen  habe  emporsteigen  gesehen. 

In  dem  so  eben  mitgetheilten  Referate  habe  ich  die  auf  die  Christen  bezüglichen  Stellen  unseres 
Dialoges  in  genauer  Uebersetzung  wiedergegeben  und  um  sie  den  besonderen  Rahmen  gelassen,  in 
welchen  sie  Lucian  eingeschlossen  hat.  Ehe  wir  nun  zur  Besprechung  des  Einzelnen  übergehen, 
möchte  die  Vorfrage  zu  beantworten  sein,  wie  es  um  Lucians  Glaubwürdigkeit  stehe.  In  Bezug 
daraufhat  W.  A.  Passow  im  Meininger  Programm  1854  auf  eine  überzeugende  Weise  dargethan, 
dass  Lucian  als  Zeuge  eigener  Erlebnisse  und  für  gleichzeitige  Ereignisse  mit  der  gehörigen  Vor- 
sicht benutzt  vollen  Glauben  verdiene ;  dass  dagegen,  wo  er  vereinzelte  Züge,  Reden,  Anekdoten  u. 
dergl.  der  Vergangenheit  zu  flüchtiger  Benutzung  heranzieht,  die  Genauigkeit  des  Geschichtsschrei- 
bers bei  ihm  nicht  zu  suchen  sei  (S.  1 9).     Nehmen  wir  dies  Resultat,  welches  mir  ein  sicheres  zu 


29)  Nach  Eusebius  war  dies  die  235.  Feier  der  Spiele,  welche  161  n.  Chr.  beginnt.  Hiernach  ist  der  ärgerliche 
Vorfall  wegen  der  Wasserleitung  ins  Jahr  157,  der  Tod  des  Peregrinus  aber  165  zu  setzen.  Siehe  den  von  Eckstein 
geschriebenen  Artikel  „Peregrinus  Proteus"  in  Ersch  und  Gruber's  Encyklop.  III,  16.  S.  306. 

30]  Diese  Verschiedenheit  der  Meinungen  beunruhigte  ihn  ;  er  hatte  nur  die  erstere  zu  vernehmen  gehofft.  Da 
eine  zahlreiche  Volksmenge  ihn  nach  Hause  begleitete,  schwoll  ihm  der  Kamm  wieder.  Inzwischen  befiel  ihn  ein 
Fieber,  welches  die  Ausführung  des  Vorhabens  verzögerte.  Schon  gingen  die  Spiele  zu  Ende,  da  kündigte  er  die 
Nacht  an,  in  welcher  seine  Verbrennung  Statt  finden  sollte.  Bei  Harpine,  etwa  20  Stadien  von  Olympia,  war  der 
Scheiterhaufen  aus  Kienholz  und  dürrem  Eeisig  in  einer  Grube  errichtet.  Sobald  der  Mond  aufgegangen  war,  erschien 
Peregrin,  umringt  von  den  vornehmsten  Häuptern  des  Hundeordens,  unter  denen  Theagenes  gleich  ihm  eine  Fackel 
trug.  Beide  zündeten  den  Scheiterhaufen  an,  worauf  P.  seinen  Mantel,  Ranzen  und  Knüttel  ablegte  und  in  einem 
Untergewande  von  schmutziger  Leinwand  da  stehend  eine  Hand  voll  Weihrauch  ins  Feuer  warf.  Dann  das  Gesicht 
gegen  Mittag  gewendet  stürzte  er  sich  in  die  Flammen.  Vorher  hatte  er  auserlesene  Jünger  als  Todesboten  an  alle 
namhaften  Städte  mit  Sendschreiben  geschickt,  welche  seine  letzten  Mahnungen  und  Vorschriften  enthielten.  Letz- 
teres erinnert  an  das  ähnliche  Verfahren  des  heil.  Ignatius.  Siehe  Rud.  Fischer  de  ©soSgofioig,  veteris  ecclesiae 
legatis.     Coburg  1718. 


VIII 

sein  scheint,  zum  Kriterium  unseres  Dialogs;  so  folgt,  dass  wir  die  Charakteristik  des  Peregrinus  im 
Ganzen  als  richtig  und  seine  Todesart  als  verbürgte  Thatsache  ansehen,  dagegen  auf  die  Richtigkeit 
der  gelegentlich  über  die  Christen  eingestreuten  Bemerkungen  uns  nicht  verlassen  dürfen.  Was 
Lucian  vom  Lebensende  des  Peregrinus  erzählt,  bestätigen  die  Angaben  gleichzeitiger  und  späterer 
Schriftsteller.  Athenagoras,  ein  griechischer  Philosoph  aus  Athen,  der  Anfangs  zu  Alexandria  pla- 
tonische Philosophie  lehrte,  später  aber  das  Christenthum  annahm,  welches  an  ihm  einen  eifrigen 
Vertheidiger  fand,  schrieb,  durch  eine  vermuthlich  166  n.  Chr.,  also  schon  im  nächsten  Jahre  nach 
dem  Tode  des  Peregrinus  (siehe  meine  Anm.  29)  veranstaltete  Gesandtschaft  nach  Rom  veranlasst, 
eine  an  den  Kaiser  Marc  Aurel  gerichtete  Apologie  der  christlichen  Religion,  worin  er  auf  die  in 
Rede  stehende  Thatsache  als  auf  eine  allgemein  bekannte  hinweisend  sagt:  xouxov  os  (sc.  x^v  llptuiEa) 
oux  a^vosTxE  pi'jictvxa  saoxöv  eh  "cö  uüp  Tispi  xrjv  'OXaij-utav  ^  ^).  Tertullian,  geb.  zu  Carthago  um 
160  und  gest.  um  217  n.  Chr.,  früher  Stoiker  und  Rhetor,  dann  der  erste  christliche  Schriftsteller 
in  lateinischer  Sprache,  nennt  (ad  martyr,  cp.  4)  unter  den  Heiden,  welche  den  Christen  als  Beispiele 
der  Todesverachtung  dienen  können,  neben  Heraklit,  Empedokles  auch  unsern  Peregrinus,  qui  non 
olim  rogo  se  immisit.  Flavius  Philostratus,  zuerst  Sophist  in  Athen,  später  in  Rom  lebend  unter 
Kaiser  Septimius  Severus  bis  Philippus,  erzählt  im  Leben  des  Herodes  Atticus  cp.  13:  ^Hv  [xsv  ^tip 
X(ov  o3x«)  öappaXio)?  cpiXoffocpouvxtüV  6  fipcoxeu?  ouxo?,  (bs  xal  k<;  irup  eotuxov  cV  'OXujxTria  pObai. 
Ammianus  Marcellinus,  um  die  Mitte  des  4.  bis  zum  Anfange  des  5.  christl.  Jahrhunderts  lebend, 
erwähnt  im  29.  Buche  seiner  rerum  gestarum  Kp.  1  §.  39  eines  gewissen  Simonides,  qui  Peregrinum 
imitatus  Protea  cognomine,  philosophum  darum,  qui  quum  mundo  digredi  statuisset,  Olympiae  quin- 
quennali  certamine  sub  Graeciae  conspectu  totius  escenso  rogo,  quem  ipse  construxit,  flammis  ab- 
sumtus  est.  Das  Factum  selbst  aber  fällt,  wie  gesagt,  in's  Jahr  165  n.  Chr.  ^^).  —  Doch  wozu  erst 
historische  Zeugnisse?  Jeder,  der  nur  den  Eingang  unseres  Dialogs  unbefangen  liest,  muss  sofort 
einsehen,  dass  von  einem  wirklichen  Vorfalle  Rede  ist,  der  im  Publikum  grosses  Aufsehn  machte 
und  über  welchen  die  entgegengesetztesten  Ansichten  herrschten.  Lucian,  als  Gegner  der  gemeinen 
Cyniker,  denen  er  bei  jeder  Gelegenheit  etwas  anhängt,  sucht  natürlich  die  Reaction,  welche  durch 
die  masslose  Bewunderung  des  Peregrinus  hervorgerufen  ward,  seinerseits  zu  verstärken.  Er  ist 
dabei  so  klug,  dass  er,  während  er  die  unleugbare  Thatsache  als  gewesener  Augenzeuge  seinem 
Freunde  selber  erzählt,  die  Charakteristik  des  Peregrinns  Andern  in  den  Mund  legt;  und  zwar  lässt 
er,  wie  wir  gesehen,  die  kurze  Rolle  des  exaltirten  Lobredners  den  Cyniker  Theagenes  spielen,  wo- 
gegen ein  Unbekannter,  doch  jedenfalls  ein  Gesinnungsgenosse  Lucians,  die  Kehrseite  des  Charak- 
ters unseres  Proteus  herausdreht.  Dass  hierbei  die  Farben  etwas  grell  aufgetragen  werden,  darf 
nicht  auffallen.  Wir  brauchen  darum  nicht  sogleich  an  der  Richtigkeit  der  Charakterschilderung  im 
Allgemeinen  zu  zweifeln,  wenn  auch  Peregrinus,  wie  wir  oben  in  dem  Citate  aus  dem  sehr  wahrheits- 
liebenden und  unpartheiischen  Ammianus  Marcellinus  gelesen,  ein  philosophus  clarus  genannt  wird, 
oder  wenn  Aulus  Gellius,  der  das  Ende  seines  ehemaligen  Lehrers  Peregrinus  nicht  mehr  erlebt  zu 

'^)  Legat,  pr.  Christian,  cp.  22.  Zugleich  wird  daselbst  der  dem  Proteus  in  seiner  Vaterstadt  Parion  errichteten 
Orakel  gebenden  Bildsäule  erwähnt.  Dass  Solches  in  Elis  und  im  übrigen  Griechenlande  geschehen  werde,  hatte 
Lucian  Kap.  41  bereits  prophezeit. 

'2)  Damit  stimmt  auch  die  in  der  28.  Anmerk.  zuletzt  angeführte  Aeusserung  des  Herodes  Atticus  überein. 
Derselbe  wurde  7G  Jahr  alt  und  ist  101  oder  102  n.  Chr.  geboren,  konnte  sich  also  157,  wo  er  von  Peregrinus 
geschmäht  wurde,  schon  zu  den  Alten  rechnen.  Lucian,  als  dessen  Geburtsjahr  gewöhnlich  120  angenommen  wird, 
zählte,  als  er  die  Selbstverbrennung  des  Proteus  mit  ansah,  etwa  45  Jahre. 


IX 

haben  scheint,  in  seinem  Noct.  Attic.  XII,  11  über  denselben  Folgendes  berichtet:  „Als  wir  zu 
Athen  waren,  haben  wir  den  Philosophen  Peregrinus,  der  nachher  den  Beinamen  Proteus  erhielt, 
einen  Mann  von  Ernst  und  Festigkeit  (virum  gravem  et  constantem)  kennen  gelernt,  der  sich  ausser- 
halb der  Stadt  in  einer  Hütte  aufhielt.  Da  wir  ihn  häufig  besuchten,  so  haben  wir  ihn  viel  Nützliches 
und  Schönes  sagen  hören,  wovon  wir  uns  besonders  das  gemerkt  haben :  Virum  sapientem  non  pecca- 
turum  esse  dicebat,  etiamsi  peccasse  eum  dii  atque  homines  ignoraturi  forent:  non  enim  poenae  aut 
infamiae  metu  non  esse  peccandum,  sed  justi  honestique  studio  et  officio  ^^).  Dass  Peregrinus  seine 
zahlreichen  Verehrer  hatte,  die  ihn  im  Leben  hochpriesen  und  nach  seinem  Tode  vergöttern  würden, 
leugnet  Lucian  selbst  in  unserm  Dialoge  keineswegs  und  beweist  auch  der  Umstand,  dessen  Lucian 
in  einer  andern  Schrift^*)  erwähnt,  dass  Jemand  den  Stock,  welchen  Proteus  wegwarf,  als  er  in  die 
Flammen  sprang,  mit  einem  haaren  Talente  gekauft  habe  und  noch  jetzt  als  Kleinod  aufbewahre. 

Ich  würde  mich  bei  den  historischen  Zeugnissen  über  Peregrin  und  seine  Todesart  nicht  so  lange 
aufgehalten  haben,  wenn  nicht  ein  um  Lucian  wohlverdienter  Gelehrter  ^^),  an  der  verschiedenen 
Beurtheilung  unseres  Cynikers  Anstoss  nehmend,  die  Vermuthung  aufgestellt  hätte,  es  möchte  das 
Ganze  eine  satirische  Erfindung  Lucians  sein,  der  sich  an  den  Cynikern  sein  Müthchen  kühlen  und 
gelegentlich  auch  die  christlichen  Märtyrer  verspotten  wollte,  deren  Todesverachtung  er  gleichfalls 
auf  Rechnung  ihres  Wahnsinns  und  eitlen  Fanatismus  setzte.  Wir  wollen  einmal  die  Möglichkeit 
einer  solchen  Nebenabsicht  bei  Lucian  zugeben,  zumal  der  Flammentod  des  Bischofs  Polykarp  von 
Smyrna,  eines  Schülers  des  Apostels  Johannes,  damals  auch  unter  den  Heiden  viel  von  sich  reden 
machte,  wie  der  heilige  Kirchenlehrer  Hieronymus  ausdrücklich  bemerkt^®).  Die  Sache  gewinnt 
sogar  einen  Anstrich  von  Wahrscheinlichkeit,  wenn  man  auf  gewisse  Nebenumstände  Gewicht  legt. 
Wie  nämlich  Lucian  unsern  Cyniker  „Weihrauch"  in  den  Scheiterhaufen  streuen  und  aus  diesem 
einen  „Geier"  entfliegen  lässt,  welchen  letzteren  er  freilich  nur  für  ein  Kind  seiner  Phantasie  aus- 
giebt;  so  berichtet  die  christliche  Legende  vom  heiligen  Polykarp,  dass  er  von  den  um  ihn  sich 
wölbenden  Flammen  nicht  verzehrt,  sondern  nur  wie  Brot  gebacken  wurde  und  dabei  einen  W^ohl- 
geruch  wie  Weihrauch  verbreitet  habe;  dass  endlich,  als  der  Confector^^)  dem  heiligen  Märtyrer 
einen  Dolch  durch  den  Leib  stiess,  eine  weisse  Taube  entflogen  sei.  Abgesehen  davon,  dass  diese 
Taube   nur   in    einer   Handschrift   des   Eusebius   figurirt^®)    und   ihre   Verwandtschaft  mit   dem 


3-3)  Wer  äenkt  hierbei  nicht  an  das  Horazisclie:  „Oderunt  peccare  boni  virtutis  amore;  tu  nihil  admittes  in  te  for- 
midine  poenae!"  Epp.I.  16,  52f.  Vergl.  Cicero  de  offic.  III,  Scxtr.  Aneiner  andern  Stelle  (VIII,  fragm.  3)  erzählt  Gellius, 
dass  Peregrin  einen  vornehmen  römischen  Jüngling  gescholten  habe,  weil  er  müssig  da  stand  und  in  einem  fort  gähnte. 

8*)  An  einen  Ignoranten,  der  sich  viele  Bücher  kaufte  Kap.  14.  Lucian  unterlässt  dabei  nicht,  seine  Glossen  zu 
machen.  Jener  Stock  würde  vorgezeigt,  wie  von  den  Tegeaten  die  Haut  des  Kalydonischen  Ebers,  wie  von  den 
Thebanern  die  Gebeine  des  Geryones  oder  wie  von  den  Bewohnern  von  Memphis  die  Locken  der  Isis ;  lieber  aber 
gönnte  er  ihn  dem  Ignoranten  an  den  Kopf. 

35)  Ich  meine  den  in  meiner  Anmerk.  2  zuletzt  genannten  würtembergischen  Geistlichen  Adolph  Planck. 

36)  wars  Kul  VTio  rmv  iQ-vtiöv  iv  navvl  xhitcp  XnXste&ai. 

37)  So  hiess  Derjenige,  welcher  wilden  Tliieren,  die  schon  tödtlich  verwundet  waren  oder  deren  Wuth  den  Zu- 
schauern gefährlich  zu  werden  drohte,  den  Garaus  machte.     Eusebius  schreibt  MOju-qofHtrtap. 

38)  Nur  in  der  von  Usher  aufgefundenen  Handschrift  und  zwar  sowohl  im  griechischen  Texte,  wie  in  der  latei- 
nischen Uebersetzung.  In  der  Stroth'schen  Ausgabe  des  Eusebius,  die  mir  zur  Hand  ist,  lese  ich  blos:  IfTj/l^s 
TcXriQ^og  (d'iiavog,  ojj  v.axaoßsGai  x6  nvg  xkI  d^avyLctcai  nävra  xov  '6%Kov.  Das  Volk  wunderte  sich  nämlich,  dass 
einem  fast  hundertjährigen  Greise  das  Blut  in  solcher  Menge  entströmte,  dass  davon  der  über  und  über  brennende 
Scheiterhaufen  ausgelöscht  wurde.  Vielleicht  hat  ein  Glossator  zu  i^rilQ'B  den  Zusatz  gemacht  Iti'  ct^iaxeQccv  „nach 
der  linken  Seite  hin"  oder  iisqI  axiqva  „um  die  Brust"  —  woraus  dann  die  Taube  tceqigxsqcc  entstanden  ist. 

•i 


X 

Geier ^^)  eine  sehr  problematische  ist;  so  muss  doch  Jedem  die  ganze  Vermuthung  mindestens  sehr 
gewagt  erscheinen.     Wollte  man  in  dieser  Weise  zwischen  den  Zeilen  lesen,  dann  giebt  es  Nichts, 
was  Lucian  nicht  verspottet  hätte ;  wie  denn  auch  wirklich  Einige  in  dem  gleichfalls  aus  Lucians 
Phantasie  hinzugefügten  Erdbeben  bei  des  Proteus  Selbstverbrennung  eine  spöttische  Anspielung 
auf  das  bei  der  Kreuzigung  Christi  entstandene  Erdbeben  herausgelesen  haben.     Ich  meine,  dass 
Jeder,   der  vorurtheilsfrei  die  in  Rede  stehende  Schrift  Lucians  liest,  kaum  eine  andere  Ansicht 
gewinnen  wird,  als  die,  wonach  Lucian  nichts  weiter  gewollt  habe,  als  seinem  Freunde  Kronios  das 
Factum  der  Selbstverbrennung,  das  er  selbst  mit  angesehen,  umständlich  schildern  und  dem  Urtheile 
der  verständigen  Minorität,  zu  welcher  er  gehörte,  die  Oberhand  verschaffen  über  das  der  blinden 
Verehrer  und  Vergötterer  des  cynischen  Märtyrers.    Hätte  er  den  gewaltigen,  ihm  selbst  ärgerlichen 
Eindruck,  den  der  Tod  christlicher  Märtyrer,  eines  Justinus,  Ignatius,  Polykarp  etc.  damals  auf  das 
heidnische  Publicum  machte,  durch  seinen  Spott  schwächen  oder  verwischen  wollen;  so  sehe  ich 
Nichts,  was  ihn  hinderte,  seinen  Angriff  auf  die  Christen  mehr  direct  zu  machen.     Warum  sollte  er, 
der  gegen  Zeus  und  alle  Götter  der  Ober-  und  Unterwelt,  wie  gegen  die  berühmtesten  Philosophen 
aller  Zeiten  offen  zu  Felde  zieht,  gerade  den  Christen  gegenüber  seine  Natur  verleugnet  und  sie  wie 
eine  Tig/erkatze  mit  einem  plötzlichen  Seitensprunge  aus  dem  Versteck  angefallen  haben?  Musste  er 
bei  so  verhüllten  Anspielungen  nicht  fürchten,  dass  sie  seinen  Lesern  entgingen  oder  unverständlich 
blieben  und  so  ihren  Zweck  verfehlten?   Und  wie?  wenn  selbst  chronologische  Gründe  es  verbieten, 
den  Geier  des  Peregrinus  für  eine  Karrikatur  der  Taube  Polykarps  anzusdhen.     Während  jener, 
wie  mit  Sicherheit  angenommen  werden  darf,  bereits  im  Jahre  165  sich  verbrannte,  erlitt  der  Heilige 
den  Märtyrertod  erst  am  23.  Februar  167  oder  gar  den  25.  April  169.     Lucian  bespricht  aber  den 
Vorfall  zu  Olympia  als  eine  frische  Tagesneuigkeit  unmittelbar  nachdem  er  ihn  mit  angesehen,  kann 
also  auf  Etwas,   das  2  oder  4  Jahre  später  geschehen  sein  soll,  unmöglich  schon  damals  ange- 
spielt haben. 

So  sind  wir  denn  bei  der  Frage  über  die  Glaubwürdigkeit  Lucians  unvermerkt  hineingerathen 
in  die  über  seine  Stellung  zum  Christenthume.  Um  meine  Ansicht  hierüber  vornweg  auszusprechen, 
so  gilt  mir  Lucian  als  Belag  für  das  Wort  des  Weltapostels  „dass  das  Kreuz  den  Heiden  eine  Thor- 
heit  sei."  L  Corinth.  1,  23.  Es  kann  daher  nicht  befremden,  wenn  gleich  zu  Anfang  der  in  unserm 
Dialoge  auf  die  Christen  bezüglichen  Episode  (Kap.  11)  das  Christenthum  überhaupt  eine  baojxaaT^i 
(Tocpia  *")  genannt  wird.  Es  klingt  dies  Urtheil  doch  viel  schonender,  als  wenn  Tacitus  im  15.  Buche 
der  Annalen  (Kp.  44),  wo  er  der  ersten  Christenverfolgung  unter  Nero  gedenkt,  das  Christenthum 
als  eine  exitiabilis  superstitio  und  als  malum  bezeichnet  oder  wenn  Plinius  Epp.  X,  97  an  den  Kaiser 
Trajan  über  dasselbe  berichtet:  Nihil  aliud  inveni,  quam  superstitionem  pravam  et  imraodicam. 
Wir  wollen  daher  nicht  sogleich  bei  dieser  ersten  Aeusserung  Lucians  über  das  Christenthum,  ihn 


3ö)  Wenn  Lucian  die  Sage  der  Christen  von  der  Taube,  die  dem  Scheiterhaufen  des  Polykarp  entflogen,  hätte 
lächerlich  machen  wollen;  so  würde  er  sie  gewiss  nicht  in  einen  Geier  metamorphosirt  haben.  Gessner  scheint  mir 
das  Richtige  getroffen  zu  haben,  wenn  er  meint,  der  Geier  spiele  unter  den  Vögeln  dieselbe  hündische  Kolle,  wie  die 
Cyniker  unter  den  Menschen. 

*^)  Damit  stimmt  genau  überein,  was  wir  bei  Eusebius  im  5.  Buche  der  Kirchengeschichte  am  Ende  des  1.  Kap. 
lesen.  Nachdem  er  den  Märtyrertod  mehrerer  Christen  unter  Marc  Aurel  im  Jahre  176  geschildert,  bemerkt  er,  ihre 
Leichen  seien  von  den  Heiden  in  die  Rhone  geworfen  worden,  tVa,  wg  iltyov,  msivoi  firjöt  llniSa  G%(ä6iv  avaata- 
ascog,  ji  nSTCOi&otsg  „^svrjv  ziva  v.ai  v.aivriv  aigäyovaiv  rj^itv  &Q/jaK£iav."  Die  letzten  Worte  sind  selbstverständlich 
auf  das  Christenthum  überhaupt  zu  beziehen. 


XI 

einen  Verruchten,  einen  Blinden  etc.  schelten,  wie  Solches  der  Scholiast  an  dieser  Stelle  thiit,  weil 
Jener  die  Schönheit  des  Christenthums  nicht  betrachten  und  schauen  könne.  Lucian  mochte  aller- 
dings in  seinem  philosophischen  Dünkel  das  Christenthum,  das  er  aus  den  Quellen  nicht  kannte,  wie 
die  meisten  seiner  Zeit-  und  Standesgenossen,  als  eine  fanatische  Sekte  des  Judenthum  ansehen  und 
darum  verachten  oder  vornehm  ignoriren,  zumal  er  von  der  die  Welt  überwindenden  Kraft  desselben 
keine  entfernte  Ahnung  hatte;  aber  er  ist  kein  erbitterter  Gegner  desselben,  wozu  ihn  Manche 
stempeln  wollen,  sonst  hätte  er  sich  als  solcher  in  seinen  Schriften  gewiss  deutlicher  entpuppt.  Nir- 
gends nennt  er  den  Stifter  des  Christenthums ;  nur  in  unserer  Schrift  bezeichnet  er  ihn  periphrasi- 
rend  als  einen  {is^av  av^ptuTrav  •* ' )  und  einen  „gekreuzigten  Sophisten,"  worüber  der  Scholiast  in 
solchen  Zorn  geräth,  dass  er  den  Verfasser  als  reif  für  die  Hölle  erklärt.  Nun  liegt  aber  das 
Hämische  des  Spottes  nur  in  der  Antithese*^),  nicht  aber  in  den  Ausdrücken  an  sich.  Das  Wort 
„Sophist"  \^enigstens  hat  weder  ursprünglich,  noch  zu  Lucians  Zeiten  eine  schlimme  Bedeutung;  es 
war  damals  ein  Ehrentitel,  der  jedem  Lehrer  der  Rhetorik  und  Philosophie  zukam.  Sokrates  z.  B. 
im  21.  Todtengespräche  wird  so  genannt;  sich  selbst  zählt  Lucian  am  Ende  seiner  Schutzschrift  für 
den  Aufsatz :  „Die  gedungenen  Gelehrten"  zu  den  bestbesoldeten  Sophisten.  Man  kann  also  ihm, 
der  die  göttliche  Würde  der  Person  Jesu  Christi  nicht  anerkannte,  in  Bezug  auf  ihn  den  dem  hebräi- 
schen Rabbi  entsprechenden  Ausdruck  wohl  verzeihen.  Die  Ignoranz  Lucians  in  Angelegenheiten 
der  Christen  zeigt  sich  auch  im  ferneren  Verlaufe  seiner  Mittheilungen  über  dieselben.  Er  sagt,  ihr 
„erster  Gesetzgeber"  habe  sie  überredet,  dass  sie  alle  Brüder  wären.  Er  spricht  aber  hier  nicht  voa 
Christus,  der  weiterhin  deutlich  unterschieden  wird,  sondern  wahrscheinlich  von  Moses  *^),  und 
begeht  so  einen  doppelten  Irrtham.  Denn  erstens  sagt  Christus  ausdrücklich:  „Ein  neues  Gebot 
gebe  ich  euch,  dass  ihr  euch  einander  liebet."  Joh.  13,  34.  Wie  kann  dies  also  schon  von  Moses 
gegeben  sein?  '  Sodann  betrachtet  er  das  Christenthum  gleichsam  nur  wie  einen  Ableger  des  Juden- 
thums*'^).  Davon  zeugen  auch  die  jüdischen  Titel,  welche  Lucian  den  christlichen  Lehrern  und 
Vorstehern  ertheilt,  indem  er  sie  lepsi?  und  ^pafifiaxeis  nennt.  So  sagt  er  auch,  Peregrin  wäre  von. 
den  Christen  zum  oruvaYtüYeu?  ernannt  worden.  Einen  heidnischen  Titel  gar  führt  das  Amt  des 
^iaaäpyj]<;  (praesul  chori,  von  öiaffo?),  welches  Peregrinus  unmittelbar  vorher  bekleidet  haben  soll; 
und  fast  naiv  klingt  es,  wenn  es  bald  nachher  heisst,  die  Christen  hätten  ihn  wie  einen  Gott  verehrt 
und  einen  „neuen  Sokrates"  genannt.  So  mengt  der  Freigeist  Lucian  verschiedene  Religionen  unter- 
einander und  redet  vom  Christenthume,  wie  der  Blinde  von  der  Farbe.  Von  ihm,  dem  Ungläubigen, 
kann  es  uns  daher  nicht  wundern,  wenn  er  die  Christen  als  unglückliche  (xaxoSaijxqvsf)  bedauert 
wegen  ihres  Glaubens  an  die  Unsterblichkeit*^}  und  an  ein  ewiges  Leben.     Was  Lucian  sonst  noch 


*1)  lieber  die  Verschiedenheit  der  Lesart  siehe  oben  Anmerk.  12. 

42)  Auch  darüber  ist  in  Anmerk.  12  u.  19  das  Nähere  gesagt.  Die  Fluchworte  des  Scholiasten  lauten  mit  eini- 
gen Weglassungen :  otcc  IrjQSts,  w  ■KOiväQars,  ■narä  xov  amzrjgog  Xqiötov,  o's  gs  Kai  xovxov  ei^SHSV  a&ccvaxa)  naQocSwasi, 
Koläast,  —  —  yihoxs  xijg  aioaviov  Ko).ä6Eag.  Daher  stammt  wahrscheinlich  die  bei  Suidas  unter  dem  Artikel 
AovKUtvog  aufgezeichnete  Sage,  Lucian  sei  zur  Strafe  für  seine  Gotteslästerung  von  Hunden  zerrissen  worden, 

43)  Siehe  Anmerk.  18. 

44)  Auch  Lucians  Zeitgenosse,  der  Leiharzt  des  Kaisers  Marc  Aurel,  Galenua  theilt  diese  Ansicht.  An  den  beiden  Stel- 
len seiner  Schrift  de  pulsuum  diiferentüs  II,  4  und  III,  3,  wo  er  der  Christen  erwähnt,  nennt  er  sie  ol  ano  MsavGov 
«ai  Xqioxov. 

45)  Die  Worte  seines  Bedaijerns  xo  (isi/oXov^  u&dvazoi  h'ctad'ai.  »ai  ßiujßsG^t  xov  asl  XQovov  gehen,  wie  man 
sieht,  auf  die  Unsterblichkeit  des  ganzen  Menschen,  nicht  blos  auf  die  schon  von  den  alten  Philosophen,  am  klarsten 

2* 


XII 

über  die  Christen  berichtet,  enthält  weiter  nichts  Anstössiges.  Er  stellt  sie  dar  als  leichtgläubige 
Leute,  die  ohne  irgend  eine  genaue  Prüfung  sich  allerlei  weiss  machen  lassen  (avsu  xivo?  axpißous 
iriffieo)?  la  xoiauxa  7:apa8£Sa[j,evoi);  die  sich  daher  auch  leicht  täuschen  Hessen  durch  den  zu  ihnen 
übergelaufenen  Peregrin,  dessen  eitle  Beweggründe  sie  nicht  durchschauten,  den  sie  sogar  zu  ihrem 
TTpoö-Tcttr^c  machten  und  so  lange  auf  alle  Weise  unterstützten,  bis  sie  sich  genöthigt  sahen,  ihn  aus 
ihrer  Gemeinschaft  auszuschliessen. 

Ich  finde  also  in  der  famosen  Schrift  Lucians  vom  Lebensende  des  Peregrinus  nichts  weiter,  als 
einen  Beweis  dafür,  dass  der  Verfasser  die  Lehren  des  Christenthums  nicht  ordentlich  gekannt  habe, 
woraus  ihm  nicht  einmal  ein  Vorwurf  gemacht  werden  kann,  da  der  Kanon  der  Schriften  des  neuen 
Testamentes  erst  am  Ende  des  zweiten  Jahrhunderts,  als  Lucian  vielleicht  schon  todt  war,  festge- 
stellt und  von  den  Christen  selbst  streng  darauf  gehalten  wurde,  dass  ihre  heiligen  Bücher  nicht  in 
die  Hände  der  Heiden  kamen.  Daher  sich  denn  auch  die  unsinnigsten  Gerüchte  verbreiteten*^), 
als  veranstalte  man  dabei  Oueateia  SeiTrva  und  O^oitcoosi'ou?  [x-'Ssi?*'^).  Der  ersteren  erwähnt  auch 
Lucian  im  12.  Kap.  unseres  Dialogs,  nur  dass  er  sie  euphemistisch  roixiXa  SeTttv«  d.  i.  coenae  dubiae, 
räthselhafte  Mahlzeiten  nennt  und  mit  der  „heiligen"  Lesung  spöttisch  zusammenstellt.  Dieselben 
lügenhaften  Gerüchte  scheint  schon  Tacitus  in  der  oben  Seite  X  citirten  Stelle  geglaubt  zu  haben, 
wenn  er  sagt,  die  Christen  zu  Neros  Zeiten  wären  dem  Volke  ihrer  Schandthaten  wegen  verhasst 
gewesen:  quos  per  flagitia  invisos  volgus  Christianos  appellabat.  Ich  frage  schliesslich,  ob  heut  zu 
Tage,  wo  für  das  Christenthum  eine  1 800jährige  Dauer  spricht  und  seine  weltgeschichtliche  Mission 
ausser  Zweifel  gestellt  ist,  Ignoranten  desselben  noch  so  gelinde  urtheilen,  wie  Lucian? 

Man  hat  jedoch  das  Vorurtheil  gegen  ihn  dadurch  zu  rechtfertigen  gesucht,  dass  man  auf  die 
Freundschaft  hinwies,  welche  zwischen  ihm  und  dem  Epicureer  Celsus,  jenem  erklärten  Christen- 


von  Plato  gelehrte  Unsterblichkeit  des  Geistes,  an  welche  Lucian,  als  halber  Epikureer,  nicht  geglaubt  hat.  Es  lässt 
sich  dies  unter  Anderem  aus  dem  10.  Todtengespräche  schliessen,  wo  ein  bei  der  Ueberfahrt  über  den  Styx  wehkla- 
gender Philosoph  dem  nach  der  Ursache  fragenden  Hermes  zur  Antwort  giebt:  er  heule,  nicht  weil  ihm  der  Gott  sei- 
nen 5  Pfund  schweren  struppigen  Bart  mit  der  SchifFsaxt  als  unnützen  Ballast  abgehauen,  sondern  weil  er  die  Seele 
für  unsterblich  gehalten.  Deutlicher  spricht  Lucian  seinen  Unglauben  durch  Menippus  aus,  der  auf  Chirons  Bemer- 
kung, das  unsterbliche  Leben  im  Himmel  komme  ihm  langweilig  und  einförmig  vor,  erwidert:  das  ewige  Einerlei 
werde  auch  hier  zum  Ekel,  ein  Uebergang  aber  in  ein  anderes  Leben  dürfte  unmöglich  sein.  Siehe  das  26.  Todten- 
gespräch.  —  Ungleich  mehr  bedauert  Lucian  die  Christen  wegen  ihres  Glaubens  an  die  ccvccazuGig  vsTigäv,  welche 
schon  damals,  als  sie  vom  Apostel  Paulus  im  Areopag  zu  Athen  gepredigt  wurde,  dem  Spotte  Einiger  nicht  entging. 
(Siehe  Apostelgesch.  XVH,  32.)  Auch  Lucian  giesst  dessen  eine  volle  Schale  aus  über  den  Glauben  an  das  Leben- 
digwerden der  Todten,  wie  er  sich  in  den  Sagen  von  Eurydike  und  Alkestis  kund  gab. 

*6)  Eins  davon  ist  von  mir  in  Anmerk.  15  erwähnt.  Die  Heiden  Hessen  sich  dasselbe  nicht  ausreden,  wie  oft 
und  klar  ihnen  auch  der  darin  liegende  Unsinn  und  Widerspruch  vorgestellt  wurde.  So  legt  z.  B.  die  heil.  Märtyrin 
Blandina  den  Lästerern  {rotg  ßlaacfr/ftoig)  die  Frage  vor :  TTcag  äv  jcaiöia  qiccyoisv  ol  toiovxoi,  olg  [ii^Sk  odöyoav  tatwv 
atfta  tpaytlv  iiov;  Euseb.  V,  1  p.  257  ed.  Stroth.  VermutETTch" hätten"  sie' ge^oftrS^s  dasT^reisch  und  Blut  3^*" 
Gottsohnes  genossen  werde;  aber  dass  dies  unter  den  Gestalten  des  Brotes  und  Weines  geschehe,  begriffen  sie  natür- 
lich nicht  und  so  fassten  sie  denn  das  Gehörte  in  der  crassen  Entstellung  auf. 

*'')  Dem  Thyestes  wurde  nach  der  bekannten  Sage  das  Fleisch  seiner  eigenen  Söhne  von  seinem  Bruder  Atreus, 
der  sich  mit  ihm  scheinbar  versöhnt  hatte,  vorgesetzt.  Die  Anwendung  auf  die  Liebesmahle  der  Christen  lag  nach 
der  Vorstellung,  welche  sich  die  Heiden  von  ihnen  machten  und  nach  dem  in  der  vorhergehenden  Anmerk.  besproche- 
nen Gerüchte  sehr  nahe.  Das  andere  nicht  minder  scheussliche  Gerücht  bezieht  sich  auf  die  blutschänderische  Ver- 
bindung, welche  Oedipus  mit  seiner  Mutter  unbewusst  einging.  Den  Christen  muthete  man  dergleichen  mit  Absicht 
zu,  Off«  fiijTf  XaXslv  ;t»JT£  voetf  ^inig  (Euseb.  V,  1.  p.  256.). 


XIII 

feinde,  Statt  fand.  Doch  dieser  Beweis  ruht  auf  sehr  schwachen  Füssen.  Man  folgert  erstlich 
jene  Freundschaft  blos  aus  dem  Umstände,  dass  Lucian  die  Biographie  des  Lügenpropheten  Alexander 
von  Abonuteichos  dem  Celsus  dedicirt  hat.  Die  Schrift  selbst  hat  mit  den  Christen  nichts  zu  schaffen; 
letztere  werden  blos  ein  paar  Male  insofern  erwähnt,  als  sie  nebst  den  Epicureern  und  Atheisten 
(denen  sich  Lucian  gewiss  selber  beizählte)  von  dem  Betrüger  aus  dem  Tempel  getrieben  werden. 
Dies  gereicht  aber  den  Christen  mehr  zur  Ehre,  als  zur  Schande.  Denn  der  Gauner  schliesst  sie  und 
die  Andern  ja  nur  deshalb  von  seinen  Mysterien  aus,  weil  er  sie  für  zu  aufgeklärt  hält  und  sich  von 
ihnen  nicht  will  in  die  Karten  sehen  lassen.  Aber  auch  zugegeben,  Lucian,  mit  Celsus  befreundet, 
habe  dessen  Hass  gegen  die  Christen  getheilt,  worin  bekundete  Celsus  seinen  Hass?  In  einer 
verloren  gegangenen  Schrift,  deren  Inhalt  wir  aus  der  erhaltenen  Widerlegung  kennen,  welche 
sie  durch  den  alexandrinischen  Presbyter  Origines  gefunden  hat.  Sie  führte  den  Titel  aXr^- 
Otj?  X670?  vermuthlich  deshalb,  weil  damit  die  unglaublich  klingenden  Beschuldigungen  gegen  die 
Christen  vornherein  als  wahr  bezeichnet  werden  sollten.  Das  Wunder  der  Menschwerdung  Gottes 
begreift  Celsus  natürlich  nicht,  weil  er  ein  krasser  Materialist  und  Freigeist  ist;  er  spottet  darüber, 
dass  die  Christen  Jesum  für  einen  Gott  hielten,  da  er  doch  einen  sterblichen  Leib  gehabt*®)  und 
hält  die  Wunder  Christi,  die  er  als  Thatsachen  nicht  leugnet,  für  ägyptisches  Blendwerk  u.  s.  w.  Also 
wohl  ein  glaubensloser  Verntinftler  und  aus  Ignoranz  ein  Spötter  des  Christenthums  war  Celsus  und 
dasselbe  mag  auch  von  seinem  Freunde  und  Gesinnungsgenossen  Lucian  gelten;  aber  von  boshafter 
Verleumdung,  von  Hass  und  Erbitterung  gegen  das  Christenthum  dürften  sich  bei  keinem  von  beiden 
deutliche  Spuren  kaum  nachweisen  lassen.  Beide  sprechen  so  zu  sagen  nur  die  öffentliche  Meinung 
der  heidnischen  Philosophenwelt  aus,  welche,  obwohl  in  sich  selbst  zerfallen,  damals  noch  die  meist 
unter  den  Armen  und  Ungelehrten  Propaganda  machende  neue  Religion  vornehm  verachtete  und  ver- 
höhnte. Halten  wir  diese  Ansicht  fest;  so  werden  wir  uns  nicht  wundern,  warum  Lucian,  der  wie 
ein  Titan  den  alten  Götterhimmel  stürmte  und  alle  Erscheinungen  seiner  in  starken  Geburtswehen 
liegenden  Zeit  beobachtete  und  bekrittelte,  vom  Christenthume  so  gut  wie  keine  Notiz  nimmt.  Denn 
selbst  von  seiner  hier  näher  beleuchteten  Schrift  wird  doch  Niemand  behaupten  wollen,  dass  sie  direct 
gegen  die  Christen  gerichtet  sei.  Nur  Peregrinus,  der  fanatisch  eitle,  überspannte,  durch  Flammen 
zu  den  Göttern  aufsteigende  Cyniker,  soll  an  den  Pranger  gestellt  werden:  Hätte  dieser  nicht  zufällig 
bei  den  Christen  eine  vorübergehende,  ihn  stark  compromittirende  Rolle  gespielt,  so  wäre  es  Lucian 
nicht  eingefallen,  über  die  Satzungen  und  Gebräuche  der  von  ihm  verachteten  jüdischen  Sekte  seine 
nur  Unwissenheit  verrathenden,  confusen  Bemerkungen  zu  machen,  und  es  wären  daher  solche  in 
den  ächten  Schriften  Lucians  überhaupt  nirgends  zu  finden  gewesen.  —  Gleichwohl  hat  man  sich 
bemüht,  aus  ihnen  das  und  jenes  herauszufischen,  um  ihren  Verfasser  als  einen  hämischen  Christen- 
feind zu  charakterisiren.  Mit  welchem  Erfolge?  werden  wir  sogleich  aus  einigen  Proben  sehen.  So 
soll  das  16.  Todtengespräch  zwischen  Diogenes  und  Herakles,  —  wo  jener  sich  wundert,  dass  dieser 
als  Zeus  leiblicher  Sohn  gestorben  und  nicht  begreift,  wie  der  wahre  Herakles  im  Himmel  als  Gemahl 
der  Hebe,  sein  Schattengebilde  in  der  Unterwelt  weilen  und  Alkmene  zwei  Heraklesse  auf  einmal 
gebären  konnte,  den  einen  vom  Amphitryo,  den  andern  vom  Zeus,  die  doch  zusammen  nur  Einen 


48)  Wenn  es  dem  Celsus  scheint,  sagt  Origines,  der  unsterbliche  Gott,  das  Wort,  habe  durch  Annahme  eines 
sterblichen  Leibes  und  einer  menschlichen  Seele  eine  Veränderung  und  Umbildung  erfahren;  so  wisse  er,  dass  das 
Wort,  welches  das  wesentliche  Wort  bleibt,  nichts  von  dem  leide,  was  der  Leib  oder  die  Seele  leiden.  Den  Vorwurf 
als  beten  die  Christen  mehr  als  Einen  Gott  an,  widerlegt  Origines  mit  den  Worten  Jesu:  Ich  und  der  Vater  sind 
Eins!  Joh.  10,  30. 


XIV 

ausmachten,  —  eine  Verspottung  des  christlichen  Glaubens  an  die  in  der  Person  Christi  vereinigte 
Gottheit  und  Menschheit  enthalten!  Allein  aus  dem  dritten  Todtengespräche  ersieht  man  deutlich, 
dass  es  Lucian  nur  darum  zu  thun  ist,  sich  über  den  griechischen  Begriff  eines  Heros  zu  moquiren. 
Menippus,  hinter  den  sich  Lucian  versteckt,  fragt  nämlich  dort  den  Trophonius :  Sage  mir,  grosser 
Prophet,  was  ist  denn  das  —  ein  Heros?  Mir  ist  es  ein  wahres  Räthsel.  Trophonius  antwortet: 
Ein  aus  Mensch  und  Gott  zusammengesetztes  Wesen.  Sollte  Jemand  hier  eine  neue  Anspielung  auf 
Christi  Gottmenschlichkeit  herauswittern,  so  verweise  ich  ihn  auf  den  Schluss  des  vorigen  Todten- 
gesprächs,  wo  Diogenes,  nachdem  er  seinen  Spott  auf  die  Spitze  treibend,  sogar  einen  dreifachen 
Herakles ^^)  herausgebracht,  die  Frage,  wer  er  sei,  so  beantwortet:  Des  Diogenes  aus  Sinope  Gebilde. 
Er  selbst  ist  zwar  nicht  im  Kreise  der  unsterblichen  Götter  (Odyss.  XI,  602)  aber  im  Umgange  mit 
den  Trefflichsten  der  Abgeschiedenen,  wo  er  sich  ,,über  Homer  und  seine  albernen  Fabeleien"  lustig 
macht.  Kann  da  wohl  noch  ein  Zweifel  über  die  Tendenz  der  Lucianeischen  Todtengespräche  obwalten? 
Aber  vielleicht  ist  Lucians  „wahre  Geschichte"  eine  bessere  Fundgrube.  Hier  nun  sollen  die  auf 
dem  Meere  tanzenden  Phellopoden  oder  Korkfüssler  (H,  4)  den  auf  dem  galliläischen  Meere  wandeln- 
den Heiland,  die  von  Gold,  Edelsteinen,  Krystall  etc.  schimmernde  Stadt  auf  dem  Eilande  der  Seeligen 
(II,  11.)  das  himmlische  Jerusalem,  die  im  Heere  des  Sonnengottes  dienenden  vom  Schützen  des 
Thierkreises  befehligten  Wolkencentauren  (I,  18)  den  Kampf  des  Erzengels  Michaels  mit  dem  Satan 
in  der  Apokalypse  parodiren  ^"),  Abgesehen  davon,  dass  die  vermeintlichen  Anspielungen  bei 
näherem  Lichte  betrachtet  als  entfernte,  kaum  zutreffende  erscheinen,  wie  sie  ein  gewandter  Schrift- 
steller nicht  macht,  spricht  sich  Lucian  selbst  in  der  Vorrede  zu  seiner  Münchhauseniade  Kapitel  2 
über  deren  Zweck  dahin  aus,  dass  er  es  auf  die  alten  Dichter,  Geschichtschreiber  und  Philosophen, 
welche  uns  Fabeln  und  Wunderdinge  in  Menge  hinterlassen,  gemünzt  habe  und  setzt  hinzu,  er  führe 
ihre  Namen  blos  darum  nicht  an,  weil  sie  sich  dem  Leser  bald  genug  selbst  verrathen  dürften.  Diese 
lassen  sich  denn  auch  wirklich  unschwer  nachweisen  •^^),  und  somit  fällt  die  gegen  unsern  Autor 
erhobene  Beschuldigung  in  Nichts  zusammen.  Nicht  anders  verhält  es  sich  mit  den  auf  das  alte 
Testament  bezogenen  Beispielen,  welche  bald  auf  den  im  Bauche  des  Walfisches  weilenden  Propheten 
Jonas  (I,  30),  bald  auf  Aarons  grünenden  Stab  (H,  41),  bald  auf  den  Durchzug  der  Israeliten  durchs 
rothe  Meer  (II,  43)  hindeuten  sollen.  Ohne  uns  daher  darauf  näher  einzulassen,  wollen  wir  uns 
weiter  in  den  andern  Schriften  Lucians  umschauen,  ob  sich  etwa  gravirendere  Indicien  gegen  ihn 
herausstellen.  Da  kommt  uns  denn  im  Lügenfreunde  Kapitel  16  ein  „Syrer  aus  Palästina"  ent- 
gegen, welcher  Leute,  die  beim  Anblicke  des  Mondes  umfallen,  die  Augen  verdrehen  und  Schaum 
vor  dem  Munde  haben,  aufstehen  heisst  und  sie  gesund  und  für  immer  befreit  von  ihrem  Uebel  nach 
Hause  schickt,  wofür  er  sich  jedesmal  eine  schöne  Summe  zahlen  lässt.  Auf  Befragen  antwortet 
nämlich  der  böse  Geist  in  griechischer  oder  in  einer  ausländischen  Sprache,  worin  er  eben  zu  Hause  ist, 
wie  und  woher  er  in  diese  Menschen  gekommen.  Rückt  nun  der  Mann  mit  Beschwörungen  und,  wenn 
der  Geist  nicht  gehorchen  will,  mit  Drohungen  heran;  so  fährt  der  Unhold  aus  dem  Leibe.  Nach 
der  Meinung  des  SchoUasten  und  Anderer  soll  unter  dem  Syrer  Christus  zu  verstehen  sein.     Aber 


*9)  Es  wundert  mich,  dass  hierin  noch  Niemand  einen  Seitenhieb  auf  die  christliche  Trinitätslehre  gespürt  hat. 
*o)  Man  hat  die  Wolkencentauren  auch  mit  den  vier  lebenden  Wesen  der  Apokalypse  Kap.  4,  7  f.  und  mit  den 
Cherubim  des  Propheten  Ezechiel  I,  10  f.  und  X,  14  verglichen,  obschon  die  Aehnlichkeit  hier  noch  weniger  auffällt. 

61  j  Was  H.  Kühn  in  der  Anmerk.  2  erwähnton  Abhandlung  gcthan,  und  zwar  auf  eine  sehr  evidente  und 
anschauliche  Weise. 


XV 

man  tibersieht,  dass  die  geschilderte  Heilung  der  Besessenen  in  die  Gegenwart  des  Erzählers  gesetzt 
wird,  der  dabei  versichert,  er  habe  selbst  einmal  einen  solchen  Geist  ausfahren  sehen,  der  ganz 
schwarz  und  rauchig  aussah.  Auch  an  keinen  Apostel  oder  christlichen  Exorcisten  ist  hierbei  zu 
denken;  denn  diese  spendeten  die  von  dem  Herrn  umsonst  empfangenen  Gnadengaben  nach  seinem 
Gebote  ebenso  umsonst  aus,  wie  er  selbst,  —  vielmehr  an  einen  zu  Lucians  Zeiten  herumziehenden 
Quacksalber  und  Gaukler.  Eben  weil  es  solche  Subjekte  gab  und  ihre  Zauberkünste  nicht  blos  bei 
der  unerfahrenen  Menge,  sondern  selbst  bei  hochgelehrten  Philosophen  Glauben  fanden''^),  schrieb 
Lucian  den  Lügenfreund.  Dass  es  aber  neben  Christus  noch  Andere  gab,  welche  die  Teufel  aus- 
trieben, geht  aus  der  an  die  Juden  gerichteten  Frage  des  Heilandes  hervor:  „Wenn  ich  durch  Beel- 
zebub die  Teufel  austreibe,  durch  wen  treiben  denn  eure  Kinder  sie  aus?  Luc.  XI,  1 9.  Ausser  den  Juden 
befassten  sich  damit  vielfach  die  Syrer,  Babylonier,  Chaldäer  und  Aegypter.  —  Verfänglicher  klingen 
ein  paar  Stellen  aus  der  „Ueberfahrt."  Die  Hauptfigur  dieses  Dialogs  ist  ein  Tyrann,  Namens 
Megapenthes,  der  schon  unterwegs  auf  dem  Transport  dem  Seelenspediteur  Hermes  viel  zu  schaffen 
machte,  indem  er  immer  nach  der  Oberwelt  zu  entwischen  suchte,  ehe  er  an  Charons  Nachen  gelangte. 
In  diesen  will  er  durchaus  nicht  einsteigen,  und  da  die  Parze  Klotho  durch  seine  Bitten  sich  nicht 
rühren  lässt,  verspricht  er  ihr,  wenn  sie  ihn  entliesse,  seinen  einzigen  geliebten  Sohn  als  Bürgen 
seiner  Wiederkehr  zu  stellen:  ocviavSpov  ufxTv  dvi  Ifioü  Trapaooxrtu  xov  d'(aT:r^~6\/.  Das  soll  nun  wie- 
der eine  Anspielung  sein  auf  Christus,  der  in  der  heiligen  Schrift  dYaTrrjXÖc  xou  i)£Ou  xat  [xeo-tx/js  xuiv 
dvöp(i)7:u)V,  der  eingeborene  geliebte  Sohn  Gottes  und  der  Mittler  der  Menschen,  genannt  wird.  Aber 
wird  denn  Christus  ausschliesslich  6  d-(a7nrjx6;  genannt?  Heisst  nicht  z.  B.  Telemach  in  der  Odyssee 
II,  365.  IV,  727  und  817  und  Hektors  Söhnlein  in  der  Ilias  VI,  401  gerade  so  und  ist  denn  der 
Unterschied  zwischen  ävtavSpo?  und  [ASffixr^?  so  unbedeutend?  Hatte  denn  Gott  Vater  für  die  Men- 
schen leiden  wollen  und  dann  statt  seiner  den  Sohn  als  Bürgen  oder  Stellvertreter  auf  die  Welt 
geschickt?  Ich  glaube,  an  solche  Dinge  hat  Lucian  nicht  im  Traume  gedacht,  wohl  aber  an  das  von 
ihm  selbst  verfasste  16.  Todtengespräch,  wo  Diogenes  auf  des  Herakles  Erklärung,  nicht  er  sei  todt, 
sondern  sein  Bild,  antwortet:  Ich  verstehe,  er  hat  dem  Pluto  dich  als  seinen  Ersatzmann  gestellt 
(fiavödvo).  dvxavopov  ffs  x(u  riXouxcuvi  irapsocuxEv  dv{^'  sauxoO)  und  du  bist  nun  in  seinem  Namen  todt. 
Nebenbei  dachte  er  vielleicht  auch  an  Alkestis,  die  für  ihren  Gemahl  Admetos,  den  Herrscher  von 
Pherä  in  Thessalien,  sich  dem  Hades  überlieferte.  Doch  kehren  wir  zu  unserem  Tyrannen  zurück. 
Derselbe  wird  weiterhin  Kap.  23  vor  den  Richterstuhl  des  Rhadamanthus  geschleppt  und  nackt  von 
diesem  besichtigt.  Da  zeigen  sich  denn  an  seiner  Seele  eine  solche  Menge  Brandwunden  {axr(\iaxoi), 
dass  sie  davon  ganz  schwarzblau  ist.  Hiermit  soll  der  Apostel  Paulus  angestochen  sein,  der  I.  Timoth. 
4,  2  von  scheinheiligen  Lügnern  redet,  die  da  gebrandmarkt  sind  in  ihrem  eigenen  Gewissen  (xexau- 
TYjpiaffixsvoi  xTjV  tSiav  ffuvetÖYjffiv),  Es  liegt  jedoch  auf  der  Hand,  dass  unserm  Verfasser  Plato  vor- 
geschwebt habe,  der  im  Gorgias  Kap.  80  die  Seele  des  grossen  Königs  oder  eines  andern  Dynasten 
8ta}i.£[xa(ynYU)[X£V7jv  xal  ouXuiv  [xecJxTjv  uTto  ETriopxiöiv  xal  dStxt'a?  erblickt.  Die  Paulinischen  Briefe 
in  Lucians  Händen  kann  ich  mir  nicht  denken.     So  Hessen  sich  noch  mehrere  Stellen  ^^)  aufbringen 


ö2)  Man  lese  nur ,  was  im  5.  Kapitel  des  Lügenfreundes  von  dem  hochangesehenen  ehrwürdigen  Philosophen 
Eukrates  erzählt  wird. 

53)  Eine  solche  ist  ohen  in  Anmerk.  8  besprochen,  andere  beziehen  sich  wieder  auf  das  alte  Testament.  So  soll 
die  im  Kap.  12  der  „Syrischen  Göttin"  zu  lesende  Beschreibung  der  Deukalionischen  Fluth,  weil  darin  gesagt  ist, 
dass  der  Scythe  Deukalion  in  den  grossen  Kasten  seine  Weiher  und  Kinder  einsteigen  liess  und  zuletzt  selbst  einstieg; 
dass  aber  auch  Schweine  herbei  kamen  und  Pferde  und  alle  Arten  wilder  Thiere,  Schlangen  und  Alles,  was  auf  Erden 


XVI 

und  an  ihnen  nachweisen,  dass  Lucian  an  Anderes  eher,  als  an  die  Verspottung  der  heiligen  Schriften 
gedacht  habe.  Ich  übergehe  sie,  um  nicht  weitläufig  zu  werden,  und  fasse  mein  ürtheil  über  Lucians 
Stellung  zum  Christenthume  nochmals  dahin  zusammen,  dass  er  dasselbe  nicht  hinreichend  gekannt, 
am  wenigsten  aus  den  spärlich  vorhandenen  und  unzugänglichen  Quellen ;  und  da  weder  er  selbst 
ein  Interesse  für  dasselbe  hatte,  noch  auch  ein  solches  bei  seinen  Lesern  voraussetzte,  so  beobach- 
tete er,  der  sonst  allerlei  in  den  Kreis  seiner  Besprechung  zog,  gleich  den  übrigen  Profanschrift- 
stellern vor  und  nach  ihm  über  diesen  Punkt  ein  Stillschweigen.  Denn  die  wenigen  Bemerkungen, 
die  er  über  die  Christen  und  ihren  Glauben  im  Lebensende  des  Peregrinus  so  gelegentlich  einschiebt, 
sind  im  Vergleich  zu  dem,  was  er  sonst  geschrieben,  nur  ein  Tropfen  am  Eimer.  Sie  verrathen  wohl 
ein  oberflächliches  Wissen,  das  er  vielleicht  dem  Verkehre  mit  Abtrünnigen  oder  den  im  Publicum 
cursirenden  vagen  zum  Theil  unsinnigen  Gerüchten  verdankte,  aber  keine  Erbitterung.  Die  einzel- 
nen Ausdrücke  darin  sind  an  sich  nicht  verletzend,  nur  in  ihrer  Zusammenstellung  etwas  pikant  und 
wie  Alles  bei  Lucian  auf  den  Effect  berechnet,  der  Ton  ruhig,  vom  sardonischen  Lächeln  eines  vor- 
nehmen Bedauerns  begleitet.  Was  die  anderen  Anspielungen  betrifft,  die  man  hie  und  da  noch  in 
seinen  Schriften  gefunden  hat;  so  kann  sie  der  vorurtheilsfreie  Leser  als  solche  nicht  anerkennen, 
wofern  er  eben  nicht  zwischen  oder  hinter  den  Zeilen  lesen  will.  Philologische  Gründe  streiten 
dagegen;  auch  andere,  die  oben  mit  angedeutet  sind.  Wenn  dessenungeachtet  scharfsichtige  Gelehrte 
und  Kenner  Lucians  in  ihm  einen  tückischen  Christenfeind  erblickt  haben ;  so  erkläre  ich  mir  dies 
daher,  dass  sie  nicht  sowohl  nach  dem  objectiven  Bestände  des  wirklich  Gesagten  und  Vorliegenden, 
als  vielmehr  nach  der  subjectiven  Meinung,  die  sie  sich  von  der  Gesinnung  des  Autors  gebildet, 
geurtheilt  haben.  Diese  dürfte  allerdings  keine  besonders  günstige  und  wohlwollende  gegen  die 
Christen  gewesen  sein,  —  wie  Hesse  sich  die  auch  bei  dem  Heiden  und  Ungläubigen,  der  die  Christen 
für  einfältige  Leute,  für  Thoren  und  Schwärmer  ansah ,  voraussetzen!  —  aber  er  greift  sie  doch 
nicht  an,  er  thut  ihnen  nichts  zu  Leide,  er  behandelt  sie  viel  schonender,  als  die  in  seinen  Dialogen 
figurirenden  Gelehrten,  Philosophen  und  Götter.  — 

Dabei  bin  ich  jedoch  weit  entfernt,  der  Ansicht  jener  beizutreten,  welche  Lucian  für  einen  zum 
Christenthume  Bekehrten,  für  einen  geheimen  Christen  halten.  Für  diese  Ansicht  finde  ich  keinen 
Anhaltepunkt,  ihr  steht  Alles  entgegen.  Zwar  hat  Lucian  den  Bruch  der  alten  und  neuen  Zeit  offen 
dargelegt  und  durch  Niederreissung  der  heidnischen  Götzentempel  Platz  geschaffen  zum  Aufbau 
neuer  Kirchen ;  aber  er  that  dies  keineswegs  mit  Rücksicht  auf,  geschweige  für  das  Christenthum. 


lebte,  von  jeder  Art  ein  Paar;  dass  Deukalion  sie  alle  aufnahm  und  sie  ihm  Nichts  zu  Leide  thaten,  weil  die  Götter 
Friede  und  Freundschaft  zwischen  ihnen  stifteten,  —  eine  Anspielung  auf  die  Mosaische  Erzählung  von  der  Sündfluth 
und  der  Arche  Noas  enthalten,  obschon  bei  Weitem  näher  die  Vermuthung  liegt,  Lucian  habe  die  ganz  Aehnliches 
berichtenden  vielbenutzten  und  verbreiteten  Sagen  der  Griechen  und  die  der  Assyrier  aus  Berosus  gekannt  und  vor 
Augen  gehabt.  —  Ein  noch  stärkerer  Glaube  gehört  dazu,  um  mit  Solanus  anzunehmen,  dass  Lucian  im  17.  Kap.  der 
„Entlaufenen,"  wo  er  von  den  mit  ihrem  Knotenstock  mössig  herumziehenden,  marktschreierischen,  schwanzwedeln- 
den,  im  Ueberflusse  schwelgenden  Hundephilosophen  sagt,  sie  führen  ein  Leben,  wie  in  der  goldenen  Zeit,  wo  der 
Honig  den  Leuten  vom  Himmel  in  den  Mund  floss  (rö  ^iXi  avxo  ig  zä  Gröfiata  ig^elv  in  toJ  ovquvov),  dabei  an  das 
den  durch  die  Wüste  ziehenden  Israeliten  gespendete  Manna  gedacht  habe.  Dasselbe  regnete  ihnen  ja  nicht  unmit- 
telbar in  den  Mund,  sondern  sie  musston  es  täglich  frühzeitig  in  Körben  aufsammeln.  Bequemer  hatten  es  nach  der 
Schilderung  der  alten  Dichter  die  Menschen  im  Zeitalter  des  Kronos,  da  Honigbäche  an  ihnen  vorbeiflossen,  oder  die 
Einwohner  der  Stadt  auf  der  Insel  der  Seeligen,  denen  es  nach  Lucians  Angabe  im  13.  Kap.  des  2.  Buches  der  wahren 
Geschichte  auch  nicht  an  Honigquellen  fehlte.  Noch  andere  Beispiele  führt  Kühn  in  seiner  Programmenabhandlung 
an,  welche  sich  füglich  übergehen  lassen. 


XVII 

Er  that  dies,  weil  er  mit  dem  alten  unsinnigen  Wüste  aufräumen  wollte,  weil  er  alles  Scbeinwesen, 
allen  Trug  und  Aberglauben  hasste;  er  folgte  dabei  nur  den  Eingebungen  seines  Alles  negirenden 
Geistes,  seinen  destruetiven  Tendenzen,  ohne  etwas  Besseres  an  die  Stelle  zu  setzen.  In  seinem 
Hermotimos  (Kap.  2)  —  um  bei  diesem  Dialoge  stehen  zu  bleiben  —  lässt  er  das  Wort  des  alten 
Dichters  Hesiod  (in  den  Werken  und  Tagen  v.  288  ff.)  wohl  gelten,  dass  die  Tugend  auf  ferner 
steiler  Höhe  wohne,  er  findet  das  hohe  Ziel  des  eifrigsten  Strebens,  das  Gltick,  das  oben  winkt,  des 
Schweisses  werth  (Kap.  5) ;  aber  noch  ist  Niemand  auf  den  Gipfel  gelangt,  noch  hat  Niemand  die 
unbeschreibliche^'*)  Wonne  verkostet.  Denn  das  Leben  ist  kurz  und  ungewiss,  der  Weg  rauh, 
schlüpfrig  und  getheilt.  Den  rechten  weiss  Niemand,  obsehon  Viele  ^^)  es  vorgeben.  Ein  Führer 
also,  dem  man  sich  anvertrauen  könne,  ist  nicht  zu  finden.  Will  man  nicht  im  Finstern  tappen  und 
vom  Zufall  erwarten,  dass  er  richtig  leiten  werde;  so  müsse  man  selbst  wählen,  selbst  prüfen,  wozu 
Scharfsinn,  geübte  Denkkraft,  unbestechliche  Wahrheitsliebe  gehören  (Kap.  63).  Das  Ansehen  eines 
Lehrers,  und  sei  er  noch  so  berühmt,  darf  uns  nicht  imponiren.  Ja,  gäbe  es  einen  Meister,  der  die 
Kunst  besässe,  das  Wahre  mit  unumstösslicher  Gewissheit  darzulegen  und  diese  Kunst  Andern  mit- 
theilen wollte,  dann  freilich  wäre  man  aller  Sorge  und  Mühe  überhoben.  —  Ich  frage  hier:  Würde 
Lucian,  wenn  er  jenen  vermissten  unfehlbaren  Führer  in  Christo  gefunden,  wenn  er  an  Den  geglaubt, 
der  von  sich  sagte:  „Ich  bin  der  Weg,  die  Wahrheit  und  das  Leben,"  Joh.  14,  6,  wenn  er  die  Wun- 
der, womit  der  Heiland  sich  als  göttlichen  Gesandten  beglaubigte,  nicht  für  Blendwerk  gehalten  und 
das  sündenfreie  Leben  des  Gottmenschen  kennen  gelernt  hätte  ^^),  sich  wohl,  wie  er  es  im  weiteren 
Verlaufe  des  Dialogs  thut,  in  das  Labyrinth  eines  trostlosen  Skepticismus  gestürzt  haben,  worin  er 
zumal  bei  der  Leugnung  eines  andern  bessern  Lebens'''^)  jemals  in  den  Besitz  der  Wahrheit,  Tugend 
und  Glückseligkeit  zu  gelangen  verzweifelte  und  denjenigen  für  den  einzig  wahren  Philosophen 
erklärte,  der,  nicht  etwa  wie  Sokrates  ironisch^*),  sondern  mit  edlem  Freimuth  bekennen  sollte,  dass 
er  nichts  wisse?     Liess  sich  von  diesem  Freimuthe,   den  Lucian  hier  und  anderwärts  ■'' ^)  selbst 


*4)  Gleichwohl  folgt  eine  Beecbreibung  der  Güter  auf  der  Tugendhöhe  im  7.  Kap.  und  der  Tugendstadt  im 
22.  Kap. 

ö5)  Die  Prüfung  aller  philosophischen  Systeme  erfordere  mehr,  als  ein  Jahrhundert  j  sie  reiche  also  hinaus  über 
die  Grenze  des  längsten  Menschenlehens.   Kap.  48  u.  66.  " 

56)  An  nichts  nahm  Lucian  grössern  Anstoss,  nichts  erregte  mehr  seine  Indignation  und  Spottlust,  als  die  über- 
all wiederkehrende  Wahrnehmung,  dass  das  Leben  der  Philosophen  seiner  wie  der  früheren  Zeit  mit  ihren  Lehren  im 
Widerspruch  stand,  dass  sie,  wie  sehr  sie  auch  die  Verachtung  des  Reichthums,  der  Ehren,  der  Sinnenlust,  die  Züge- 
lung der  Leidenschaften  empfahlen,  doch  selbst  voll  Habsucht,  Ehrgeiz,  Wollust  und  Jähzorn  waren.  Belagstellen 
hierfür  finden  sich  sowohl  in  dein  hier  oft  erwähnten  ,, Hermotimos,"  als  auch  besonders  im  „Fischer"  und  in  andern 
Schriften  Lucians  in  grosser  Menge. 

5^)  Wenn  Jemand ,  spricht  Lycinus  (Lucian)  zu  Hermotimos  Kap.  78,  das  Streben  nach  Glückseligkeit  nicht 
aufgiebt,  trotzdem  er  voraussieht,  er  werde  erst  als  Greis  zum  Genüsse  derselben  gelangen,  weil  er  es  dann  in  einem 
andern  Leben  um  so  besser  zu  haben  hofft;  so  komme  ihm  das  grade  so  vor,  als  wenn  Jemand  die  weitläufigsten 
Ziirüstungen  mache,  um  einmal  bosser  speisen  zu  können,  inzwischen  aber  Hungers  stürbe.  ^ 

58)  Der  im  20.  Todtengespräch  verspottete  Sokrates  giebt  hier  Kap.  5  seibat  zu,  dass  die  Leute  seine  Aeusserung, 
er  wisse  nichts,  für  blosse  Ironie  gehalten.  Im  folgenden  Gespräche  wird  auch  die  vom  Sokrates  bewiesene  Todes- 
verachtung für  eine  blos  scheinbare  erklärt. 

59)  z,  B.  im  Fischer,  wo  Lucian  sich  vor  dem  Tribunal  der  Wahrheit  als  nuQ^riaiaarrig  (Freimund)  glänzend  ver- 
theidigt,  auch  in  seiner  Schutzschrift  für  den  Aufsatz:  die  gedungenen  Gelehrten,  ja  selbst  in  seinen  Hetären-Gesprächen, 
wo  er  die  schmutzigen  Cloakeu  des  Lasters  öffnet,  um  wo  möglich  ihre  Reinigung  zu  bewerkstelligen,  obsehon  er 
weiss,  dass  dieselben  zumeist  vom  kaiserlichen  Hofe  gefüllt  wurden. 


A 


XVIII 

bewiesen,  nicht  erwarten,  dass  er  seine  bisherige  dem  Komiker  Epicharmos  abgeborgte  Devise:  Sei 
nüchtern  und  stets  ungläubig!  (vr/fs  ^^al  jxsixv/jff'  d-iffTsiv)  sofort  aufgab,  dass  er  voll  Begeisterung 
und  Bewunderung  für  die  Göttlichkeit  der  christlichen  Lehre  in  die  Worte  des  Meisters  schwur, 
beherzigend  die  einst  dem  Apostel  Thomas  von  dem  Auferstandenen  gegebene  Mahnung :  Sei  nicht 
ungläubig,  sondern  gläubig!  Joh.  20,  27  oder  den  Ausspruch  des  Apostels:  Ohne  Glauben  ist  es 
nicht  möglich,  Gott  zu  gefallen,  Hebr.  11,  6?  Musste  nicht  ebenso  der  Vorsatz,  den  der  von  ihm 
zum  Skepticismus  bekehrte  Jünger  fasst,  von  nun  an  all  sein  Thun  und  Treiben  frei  und  behaglich 
(avsia  Travta  xal  sX£6i>spa  Kap.  86)  einzurichten,  eine  Umwandelung  erleiden?  Nicht  darin  konnte 
er  mehr  die  Freiheit  suchen,  dass  er  den  wohlthätigen  Zügel,  welchen  die  bei  ihm  die  Stelle  der 
Religion  vertretende  Philosophie  anlegt,  Kap.  82  ^"),  abwarf,  sondern  in  der  Kindschaft  Gottes,  nicht 
in  der  Verwerfung  jeder  Autorität,  sondern  in  der  Gefangengebung  jeden  Verstandes  zum  Gehorsam 
Christi,  II  Corinth.  10,  5^').  Nicht  das  Horazische:  carpe  diem*'^)!  hätte  ihm  seines  Lebens  Auf- 
gabe vorgezeichnet,  sondern  das  Gebot  des  Herrn :  Verleugne  Dich  selbst  und  nimm  Dein  Kreuz  auf 
Dich;  er  hätte  die  Busse  (oiaita  xsxoXafffxsvYj  Kap.  86)  nicht  als  etwas  Ueberflüssiges  ^^),  sondern 
als  etwas  Nothwendiges  und  Heilsames  hingestellt.  Von  alle  dejji,  was  man  von  einem  offenen  oder 
heimlichen  Bekenner  des  Christenthums  erwartet,  ist  bei  Lucian  weder  im  Hermotimos,  noch  in  irgend 
einer  der  übrigen  selbst  der  letzten  Periode  seines  Lebens  angehörenden  Schriften  die  geringste  Spur 
zu  entdecken.  Er  bekennt  nur  die  Religion  des  ehrlichen  Mannes,  es  genügt  ihm,  aller  abenteuer- 
\  liehen  und  windigen  Hoffnungen  sich  entschlagend  als  Alltagsmensch  und  gemeinnütziges  Glied  der 

I  bürgerlichen  Gesellschaft  zu  leben  (Kap.  84  ßiov  xs  xoivov  ar^aai  ßiouv  xal  (xufjLTroXixeueiv  xoT?  7:oXXoTc). 

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60j  Diese  prohibitive  Wirksamkeit  der  Philosophie  wird  auf  gleiche  Stufe  gestellt  mit  der  Gewohnheit  der  Kinder- 
wärterinnen, welche  die  kleinen  Knaben,  obwohl  sie  noch  nichts  Gutes  lernen  können,  gleichwohl  in  die  Schule 
schicken,  damit  sie  wenigstens  nichts  Böses  thun. 

61)  Wie  weit  Lucian  von  Anerkennung  dieser  Glaubenspflicht  entfernt  war,  erhellt  aus  dem  28.  Todtengespräche 
zwischen  dem  blinden  Seher  Tiresias,  (von  dem  Sophokles  im  König  Oedipus  v.  299  sagt,  dass  ihm  allein  unter  den 
Menschen  die  Wahrheit  eingepflanzt  sei,)  und  dem  unseres  Autors  Ansicht  vertretenden  Cyniker  Menippus.  Als 
jener  diesen  fragt,  ob  er  denn  an  der  mitgetheilten  Sache  zweifle,  giebt  Menippus  zwar  die  Antwort:  Zweifeln?  das 
sei  fern.  Solche  Dinge  muss  man  in  aller  Einfalt,  ohne  zu  grübeln,  hinnehmen.  Dass  dies  aber  reiner  Spott  und 
reine  Ironie  ist,  lehrt  der  Schluss  des  Gespräches,  wo  Menippus  ausruft:  Ihr  Propheten  bleibt  den  alten  Lügen  treu; 
man  ist  es  schon  gewöhnt,  dass  kein  vernünftiges  Wort  aus  eurem  Munde  geht. 

62)  Ich  will  hier  Niemanden  insinuiren  zu  glauben,  dass  Lucian  den  Venusinischen  Dichter  gekannt,  —  er  citirt 
hhn  wenigstens  nirgends  und  scheint  überhaupt  kein  Latein  verstanden  zu  haben  —  sondern  meine  nur,  dass  der  von 

'  Iloraz  so  warm  empfohlene  epikureische  Wahlspruch  auch  in  unserm  Autor  einen  Verehrer  gefunden  habe.  Man 
sieht  dies  unter  Anderem  aus  dem  „Menippus  oder  dem  Todtenorakel,"  wo  Tiresias,  befragt,  Kap.  21,  welches  die 
beste  Art  zu  leben  wäre,  räth:  Gib  die  Narrheit  auf,  den  überirdischen  Dingen  nachzugrübeln,  verachte  die  künst- 
lichen Schlüsse  der  Sophisten  und  halte  Dich  überzeugt,  dass  alle  diese  Dinge  eitle  Possen  sind.  Hingegen  sei  Dein 
einziges  Streben  darauf  hingerichtet,  die  Gegenwart  Dir  zu  Nutze  zu  machen,  so  viel  Du  kannst.  Im  Uebrigen  gehe 
an  den  meisten  Dingen  mit  Lachen  vorüber  und  halte  nichts  für  wichtig  genug,  um  Dich  darum  zu  bemühen.  Das 
Letztgesagte  erinnert  fast  an  das  Horazische  Nil  admirari!  Wünscht  man  aber  einen  hierher  passenden  Spruch  zu 
hören,  den  Lucian  selbst  im  Munde  führte,  so  citirt  er  in  der  Schrift  „über  ein  Versehen  in  der  Begrüssung"  Kap.  6 
folgende  zwei  Trinieter  aus  dem  Komiker  Philemon:  Aix(o  8^  vysiav  tiü&zov,  slz'  evTiQU^lav  \  Tqlzov  de  %aiQ£iv, 
ilz'  orpsiXsiv  [ir}8tvi. 

63)  Man  lese  nur  den  sehr  interessanten  Dialog  „der  Cyniker,"  wo  ein  Philosoph  dieser  Schule  dem  den  Confort 
des  behaglichen  Lebens  liebenden  und  schützenden  Lycinus  (Lucian)  gegenüber  die  Vernünftigkeit  und  den  Seegen 
der  freiwilligen  Entbehrung  und  Strenge  gegen  sich  in  einer  eben  so  anschaulichen  wie  emphatischen  Weise  predigt, 
ohne  dafür  etwas  Anderes,  als  ein  beredtes  Stillschweigen,  zu  erndten. 


XIX 

Die  falschen  Götter  verspottet  er;  aber  von  dem  wahren  Gotte  hat  er  eine  unwürdige,  am  allerwenig- 
sten eine  christliche  Vorstellung.  Er  stellt  ihn  dar  nicht  als  die  Liebe,  I.  Joh.  4,  16,  die  alle  selig 
machen  will,  1.  Timoth.  2,  4,  sondern  als  die  im  Tempel  wohnende  Glückseligkeit,  die  Niemanden 
zulässt,  auch  die  nicht,  welche  unter  unsäglichen  Anstrengungen  den  Gipfel  des  Tugendberges 
erklommen  haben;  sie  bleiben  alle  draussen  unter  freiem  Himmel,  ob  nahe  der  Thür  und  Schwelle, 
ob  weiter  davon  entfernt  (Kap.  77).  Er  ist  nicht  einmal  Pantheist^*),  sondern  reiner  Nihilist^*), 
der  selbst  mathemjatische  Grunddefinitionen  für  absurd  erklärt  ^^).  Ihn,  den  vollendeten  Materia- 
listen und  Rationalisten,  den  in  Sachen  des  Glaubens  mit  totaler  Blindheit  Geschlagenen,  als  Chri- 
sten, sei  es  auch  nur  als  verkappten,  zu  denken,  ist  gradezu  unmöglich.  —  Wollte  man  aber  fragen, 
warum  ihm  das  Licht  des  Glaubens,  das  zu  seiner  Zeit  bereits  aller  Orten  leuchtete,  warum  ihm  die 
Gnade  des  Herrn,  die  in  Christo  allen  Menschen  erschienen,  Tit.  2,  11,  nicht  zu  Theil  wurde;  so 
möchte  ich  darauf  antworten :  Weil  er  bei  der  Verhärtung  seines  Herzens,  bei  dem  Dünkel  seines 
Wissens,  bei  seiner  ganzen  der  sittlichen  Grundlage  entbehrenden  Lebensrichtung  für  die  Gnade 
nicht  empfänglich  war^  konnte  er  zuletzt  nur  durch  ein  Wunder,  wie  einst  Saulus,  bekehrt  werden, 
und  davon  hat  man  nichts  vernommen.  Wir  dürfen  also  das  Bedauern,  welches  er  den  Christen  stolz 
lächelnd  wegen  ihres  Glaubens  zollte,  mit  Fug  und  Ernst  ihm  zurückgeben  wegen  seines  Unglaubens, 
um  so  mehr,  da  er  vermöge  seiner  ausgezeichneten  Geistesanlagen,  vermöge  der  Schärfe  und  Klar- 
heit seines  Denkens,  der  Gewandtheit  und  Anmuth  seiner  Sprache  und  Darstellung,  der  grossen 
Belesenheit  und  Menschenkenntniss,  seines  so  beharrlichen  und  unermüdlichen  Strebens,  seines  sel- 
tenen Freimuthes  etc.  ein  gewaltiges  Rüstzeug  des  Glaubens  hätte  werden  können.  Eine  weitere 
und  genauere  Zeichnung  des  Charakters  unseres  Autors  würde  mich  über  die  Grenzen  meines  The- 
mas hinaus  führen ;  auch  wäre  die  Aufgabe  keine  leichte,  da  Lucian  mit  grösserem  Rechte,  als  der 
von  ihm  gegeisselte  Cyniker,  sich  den  Beinamen  „Proteus"  hätte  beilegen  können. 


ö*)  Unter  andern  Albernheiten,  —  so  lässt  Lucian  im  Hermotimoa  Kap.  81  einen  schlichten  Landmann  erzählen  — 
habe  sein  Neffe  bei  den  Stoikern  auch  das  gehört,  dass  Gott  nicht  im  Himmel  sei,  sondern  sich  durch  Alles  verbreite 
{8iä  nccvTcov  nscpoirriKSv)  z.  B.  durch  Holz,  Steine,  Thiere  bis  zu  den  gemeinsten  Dingen.    "^"'^  -""'-'     ""      -^j^^--",  . *• 

6*)  Zum  Belage  dessen  will  ich  hier  wieder  nur  eine  Stelle  aus  dem  Hermotimos  (Kap.  66)  excerpiren:  „Wenn 
.Jemand  20  Bohnen  in  seine  Hand  verschlösse  und  zehn  Andere  nach  einander  fragte,  wie  viel  Bohnen  er  hätte,  so  wäre 
es  wohl  möglich,  dass  einer  zufällig  die  richtige  Zahl  träfe,  aber  ebenso  könnte  es  geschehen,  dass  alle  Zehn  falsch 
riethen.  In  gleicher  Weise  riethen  die  Philosophen  hin  und  her,  worin  wohl  die  wahre  Glückseligkeit  bestände,  ob 
im  Vergnügen  oder  im  Sittlichschönen  oder  in  etwas  ganz  Anderem.  Und  allerdings  liesse  sich  denken,  dass  Eins 
von  diesen  wirklich  das  höchste  Gut  wäre:  es  sei  aber  auch  nicht  unwahrscheinlich,  dass  dieses  Gut  irgendwo  wäre, 
wo  es  noch  Keiner  gesucht  habe."  Mir  scheint  hier  der  Skepticismus  in  Nihilismus  überzugehen.  Auf  weitere  Argu- 
mente will  ich  nicht  eingehen;  sie  Hessen  sich  aus  dem  im  Vorhergehenden"  zerstreut  Gesagten  leicht  zusam- 
menstellen. 

ßöj  Dass  2  X  2  =  4  lässt  Lucian  noch  gelten;  aber  die  Geometrie  nennt  er  im  Hermotimos  Kap.  74  in  demsel- 
ben Sinne,  wie  er  im  Lebensende  des  Peregrinus  das  Christenthum  eine  &civjia6ji'^  aocpta  genannt  hat,  eine  &av^a6tri 
y'EiofiEtQia.  Denn  diese  verlange  von  den  Anfängern  die  Zustimmung  für  etliche  absurde  Postulate  (rovg  h  aQ%ri 
alloy.ova  XLva  ahrjfiata  alT^aaaa)  z.B.  Punkte  seien  untheilbar  (öTjfiffa  a^SQrj),  Linien  ohne  Breite  (yQUuiiag  anXa- 
zslg)  u.  dgl.  Auf  einem  so  morschen  Fundamente  errichte'  sie  nun  ein  Gebäude,  das  nicht  dauerhafter  sein  könne, 
als  seine  Grundlage.  Gleichwohl  rühme  sich  diese  Wissenschaft ,  die  von  so  grundlosen  Begriffen  ausgehe,  eines 
imwidersprechlichen  Beweisverfahrens ! 


3* 


PA 

4236 

P64 


Pohl,  Carl 

Ueber  Lucian  und  s< 
Stellung  zum  Christen i 


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