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Full text of "Ungarische Revue"

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FHUM    THE    BEl^lk.ST   OF 


SAMUEL     SHAPLEIGH, 


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l,ATR   LIHKAKIAN   OF    MARVAHXi    COLLKrtK, 


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UNGARISCHE  REVUE 


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MIT  UNTERSTÜTZUNG 

DEB 

UNGARISCHEN  AKADEMIE  DER  WISSENSCHAFTEN 


HKBAUBGKOKBieiif 


PAUL  HÜNFALVY  UND  GUSTAV  HKINKICH 


1891. 


BILFTBR   JAHKaANCi. 


^  IN  OOMMISSION  BBI 


F.  A.  BBOCKHAUS 

IN  LEIPZIG,  BERLIN  UND  WIEN 
1891. 


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MAY  10    1892 


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DRUCK  DES  FRANKLIN-VEREIN. 


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INHALTSVERZEICHNISS. 

I.  ABHANDLUNGEN. 

Seite 

;(:* ^  Graf  Julius  Andrässy ...     ...      ..     ...       273 

Alexander  Bemh,,  Petöfi's  Gattin .     ..^  .     ._.     ...     ...  843 

BaU<ufi  Aladdr^  Budapest  vor  hundertsiebzig  Jahren.     ...         75 

Berzeviczy  Alberto  Denkrede  auf  Karl  Szathm&ry    _      . ...     ...  531 

Coppee  Frangois,  üeber  die  ungarische  Literatur      .  .     ..      ...     ...     „_       262 

Csergheö  Oeza,  Mittelalterliche  Grabdenkmäler  aus  Ungarn. 

VI.  Grabstein  des  Andreas  Scolari.  XV.  Jahrhundert       .     .  .     ...        .177 

VII.  Familiengrabstein  der  Berzeviczy.  XV.  Jahrhundert 180 

Eötvös    Rolandy    Baron,    Eröffnungsrede    in   der    Jahresversammlung    der 

ungarischen  Akademie  _..       ^ .  489 

Franz  Josef-Brücke,  die,  bei  Fressburg  ..     .  .     ... 168 

Gytdai  Paul,   Eröffnungsrede   in    der   Jahresversammlung   der   Kisfaludy- 

Gesellßchaft     ...        ........     ...     ._ ...     .        ...  253 

Historische  Gesellschaft,  Jahresversammlung  1891 363 

Jankö  Johann,  Graf  Moritz  Benyovszky  als  geographischer  Forscher.     ...     97 
Jekeifalussy  Josefe  Die  Eisenbahnen  im  ungarischen  Staatshaushalte     ._       292 

Journalistik,  Ungarische  im  Jahre  1891. _     ...     ... ...  266 

Kdllay  Benjamin,  Denkrede  auf  Graf  JuUus  Andr4ssy  504 

KeleU  Karl,  Vorläufige  Ergebnisse  der  Volkszählung  189Ü.__     ...  ...  282 

jKraZy  PawZ,  Ulpia  Trajana ...      ..     ...     ...     _..     _ 743 

Kis&ludy-G^esellschaffc,  XLIV.  Jahresversammlung.     ...     ...  253 

Kvacsala  Johann,  Beiträge  zur  Geschichte  des  Slovakischen  „  . 840 

LaMts  Franz,  Die  Landnahme  der  Ungarn  und  die  Astronomie      ...     ...  732 

Majldth  Bdla,  Die  Maschenpanzer   des   National-Museums.    Mit  acht  Illu- 
strationen         .     _- -     _-.     _„     ...  608 

Meyer  Josef,  Beziehungen    des  Königs  Mathias   Corvinus   zu  Wiener- Neu- 
stadt und  der  Corvinus-Becher     .  .        .     ...     ...  _  —     ...  212 

Moldüwan   Gregor,    Eine    Antwort    auf   die    Denkschrift    der    Bukurester 
Üniversitäts-Jugend ._     , ... 377 


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VI  INHALT. 

Sete 

Munkdcsy  Michael,  Die  Qualen  des  ersten  Erfolges _  _     ...  848 

PicMer  Fritz,  Boleslaw  IL  von  Polen .__      ..        .     .  .  641,  790 

Popp  Georg,  Der  Ursprung  des  Argirus- Märchens    .-.        .  ...  223 

Pubtzky  Karl,  Auf  Ungarn   bezügliche    Renaissance -Denkmäler    Mit  sechs 

Illustrationen       ...     _.. 1 

Schmidt  Wilhelm,  Die  Kinga-Sage ...     ... 82 

Schvarcz  Julius,  Der  Aristoteles -Papyrus  des  British  Museum..     341 

Montesquieu  und  die  Verantwortlichkeit  der  Kate  der  Krone   .        .  753 

Schwarz  Ignaz,   Ungarn   betreffende  Sanitäts- Verordnungen  Josefs  11.        .49 
Schtcicker   Joh.    Heinrich,    Ungarns    Industrie,    Handel    und    Verkehr   im 

Jahre  1889  .        .     .  .     .  .     ...     -.  193,  422 

Die  Wirksamkeit  des  kgl.   ungar.  Landesverteidigungs-Ministeriums 

in  den  Jahren  1877—90  .        . 572 

Süberstein  Adolf,  Graf  Stefan  Sz^chenyi's  Briefe 119 

Szana  Thomas,  Julie  Szendrey,  Petöfi's  Gattin    .  .     .  .        .     ...     _._        .  843 

SzarvoA  Leoftold,  Graf  B^la  Sz^chenyi's  Heise  im  östlichen  Asien  ..     .  315 

Szüäyi/i  Alea^ander,  Siebenbürgen  und  der  Krieg  im   Nordosten.    Mit    fünf 

Illustrationen  ... 442 

Szily  Koloman,  Generalsecretariats-Bericht  in  der  Akademie ..       494 

Szvorenyi  , Josef,  Johann  Danielik _     185 

Tisza  Ste/an,  Das  Budget  Ungarns  für  das  Jahr  1891 .        ...        35 

Vargha  Julius,  Die  Getreide- Versorgung  Oesterreich  Ungarns  und  Deutach- 
lands      . -  241 

Die  Ernte  Ungarns  im  Jahre  1891 ..,     ...       825 

Vdri  Rudolf,  Die  Lesarten  des  Ravennas  136  Hl  D2  des  Lucanus  .  .     ...  618 

Weftfier  Moritz,  Glossen  zur  bulgarischen  Zaren-Genealogie  IL    17,  145 

Die  fürstlichen  Nemanjiden -..     .  .     .....        .     ...  536 

Thomas  von  Sz^cs^ny,  Wojwode  von  Siebenbürgen      715 

Wosinsky  Moritz,  Das  prähistorische  Schanzwerk  von    Lengyel.    Mit  zahl- 
reichen Illustrationen _  .      ..     -  .     .  .     ...     _  _     _  .      -.     .  .  463 

Zawadowski    Alfred,    Die    Hochwasser-     und    Wasserbau- Angelegenheiten 
Ungarns _     — .     _ _..     ._. —  681 


U.  KÜRZE  SITZUNGSBERICHTE. 

Akademie    der    Wissenschaften,   laufende    Angelegenheiten    95,    191,    270, 

486,    628,    638,  855 

ihr  Budfjet  pro  1891  .. _.     .  192 

LI.  Jahresversammlung...     ...     ...     ...     ...     ...     .  .     ._.     ._.     ...  489 

Ballagi  Aladdr,  Ehescbliessungen  in  Ungarn  im  XVII.  Jahrhundert  .         269 


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INHALT.  VII 

Seite 

Balassa  Josefe   Classification    und    Cliarakteristik   der    ungarischen  Mund- 
arten..    .- ...     ...     ...     _  .     _.-     -.-     -.-     ...     -  -     .  -     93 

Beöthy  Zoltdn,  Bericht  über  die  Wirksamkeit  der  Kisfahidy-Geselißchaft      259 

Berczik  Az-päd,  Bericht  über  den  Teleki-Dramenpreis _.     ..,     .-.  375 

Das  ungarische  politische  Lustspiel  der  40-er  Jahre      ..     ...     _.       857 

Csonton  Johann^  Geschichte  zweier  modenesischer  Corvina-Codices  ...     ...  632 

Dalmadii  Viktor^  Matthias'  Geburtshaus.  —  Losungswort .        ^     -.     ..-       261 

Fraknöi  Wilhelm ^  Denkrede  auf  Florian  R6mer   _ -     -..     —  368 

Gonda  Bela^  Das  Eiserne  Thor  und  die  Regulirung  seiner  Katarakte  .  .       639 

Halardts  Jnliu^%  Das  Aranyos-Gebirge  im  Comitat  Krassö.. — 

Hampel  Josef,  Denkrede  auf  Florian  R6mer     __ 485 

Historische  Gesellschaft,  Jahresversammlung  1891 .  ..  .-.  .__  .._  .-_  363 
Jekelfalumf  Josef  Die  Eisenbahnen  in  unserem  Staatshaushalte  ...     ...       190 

Joannovics  Grorrj,  Die  endlose  Frage      ... --     92 

Kisfaludy- Gesellschaft,  XLIV.  Jahresversammlung   ...     ..     ..-       253 

Kdgl  Alexander,  Studien  zur  Geschichte  der   neueren  persischen  Literatur  373 

Könif/  Julius,  I)enkrede  auf  Eugen  Hunyady  .     ... ...     95 

Kuldntji  Karl,  Die  volkswirthschaftlichen    und   Culturzustände   im  Arvder 

Comitat  .      ..     .  .     - -  .     -  -     -.. -     - 630 

Kunoss  Iffnaz,  Die  türkischen  Handschriften  der  Akademie. ...  863 

JAnczy  Juliiiff,  Dante  und  Bonifaz  VHI —     - —     -.-       373 

h'vay  Josef  Der  alte  Nussbaum     -..     ...     .-.  ^   -.     --     - 262 

Ueber  Robert  Bums ...     .-.     631 

Majldth  Be'lu,  Die  BibUothek  des  Dichters  Nikolaus  Zrinyi      .-     ...     ...  488 

Mandello  Julius,  Die  rechtliche  Bedeutung  des  Wähmngswechsels  .     ...         93 

MaÜekoiits  Alexander,  Denkrede  auf  Stefan  Apdthy    270 

Ndmethy  Geza,  Cato's  Weisheitssprüche     _..     __.     ._.     -_.     — .     -_     ...       190 

Ortvay  Theodor^  Denkrede  auf  Friedr.  Pesty.-.     -..     -. -  863 

Pör  ArUon,  Denkrede  auf  Joh.  Hyacinth  Rönay.  ...  .-  .--  .-.  -..  635 
Pulszky  Franz,  Ungarisch- heidnische  Gräberfunde.  ._.  .._  _._  -  .  .__  268 
Schvarcz  Julius^  Zur  Verfassungsgeschichte  Athens  ._.     ...     .-     .-.     ...       373 

Die  neuentdeckte  'A;^vaifüv  ^oXiteia      __ 860 

Simonyi  Sigmund,  Die  Sprachneuerung  und  die  Fremdartigkeiten ..     -..       190 

Ueber  die  ungarische  Rechtschreibung.-     ..- -     _..     .-  487 

Szarvas  Gabriel,  Das  ungarische  sprachgeschichtliche  Wörterbuch  und  die 

Kritik.     ...     ...     ...     _ -     ...     -. -     ---     —  632 

Szdsz  Karl,  Erinnerungen  an  Michael  Tompa  _..     .  .     .  .     ...     ..-     ...      260 

Szicsen  Anton  Gi-af,  EröflFnimgsrede   in    der    Ungar.    Historischen   Gesell- 
schaft.     ...     ._ -.     ...     —     —     —     -. -     —363 

Szigeti  Josef,  Bericht  über  den  Hertelendy-Dramenpreis.. --       856 

Sziläyyi  Alexander,  Siebenbürgen  und  der  Krieg  in  Nordosten  1648 — 55        93 


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VIII  INHALT. 

Seite 

SzUdgyi  Alexander^  Jahresbericht  in  der  Historischen  Gesellschaft  .--      -_  367 

Georg  n.  R4k6czy  in  Polen .  . --  627 

Szvorenyi  Josef,  Denkrede  auf  Johann  Danielik  ...     _._     _. ..  191 

Teglds  Gabriel,  Ethnographische  Verhältnisse    und   administrative  Organi- 
sation des  dacischen  Bergbaues  der  Römer ._        .  190 

Thewreick  Emil,  Griechische  Epigramme  in  ungarischer  Uebersetzung...  370 

Vadnai  Karl,  Hymen,  Erzählung  von  einem  heiratsföhigen  Jüngling      ...  262 

Vdri  Rudolf y  Schollen  zu  Nicanders  Alexipharmaca 371 

Telfy  Johann,  Kisfaludy's  Elegie  «Mohacsi  in  griechischer  Uebersetzung  .  267 

Wminsky  Moritz,  Die  älteste  Leichenbestattungsweise  der  Urzeit  ...     _..  94 

Zirhy  Anton,  An  St.  Sz^chenyi  gerichtete  Briefe  1827—35 .  .       ..267 

Bericht  über  den  Farkas-Raskö-Preis 486 


m.  DICHTXJNGEN. 

Dalmady  Viktor,  König   Matthias'  Geburtshaus,   deutsch  von  Adolf  Hand- 

mann  .     .__     _.,     ...     _ _     -..     .  .     -._     _..     -..        .     ...     ...  750 

Endrodi  Alexander,  Mädchen  räche,  deutsch  von  Stefan  R<Snay.     ...      .  .         96 

Petofi  Alexander,  Das  Lied  der  Hunde,  deutsch  von  Stefan  Rönay  ...     .271 

Das  Lied  der  Wölfe,  von  demselben       ... _     — 

Väradi  Anton,  Der  fahrende  Holländer,  von  Ad.  Handraann        .       ..     _.  853 
Vörösmarty  Micfiael,  Trauerflor,  deutsch  von  Adolf  Handmann       ..     ..        375 

We}>er  Rudolf,  Obschied,  Gedicht  in  Zipser  Mundart...     ..        ..     .  .     .  .  749 

Zichy  Geza,  Es  starb  ein  Weib,  deutsch  von  Stefan  R6nay _       75^) 

Ungarische  Bibliographie       ..     ..       ...      272,  376,  751,  864 


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PAUL  HMFALTY 


der  Begründer  dieser  Zeitschrift,  ist  am  30.  November  1891, 
nahezu  82  Jahre  alt,  unerwartet  gestorben. 

Ein  Gelehrter  ersten  Banges  von  universellem  Gesichts- 
kreise und  imponirendem  Wissen,  ein  epochaler  Forscher  auf 
den  grossen  Gebieten  der  vergleichenden  Sprachwissenschaft, 
der  Qeschichtschreibung  und  der  Völkerkunde,  ein  edler  und 
guter  Mensch  ist  in  dem  Entschlafenen  von  uns  geschieden. 

Heute  kann  nur  der  Schmerz  über  den  unersetzlichen 
Verlust  zu  Worte  kommen,  die  Würdigung  seiner  grossen, 
bleibenden  Verdienste  muss  ruhigeren  Tagen  vorbehalten 
bleiben. 

Ehre  und  Segen  seinem  Angedenken ! 


Budapest,  1.  December  1891. 


Gustav  Heinrich. 


# 


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AUF  UNGARN  BEZli(;LICHE  RENAISSANCE-DENKMÄLER 


I. 

Wenn  man  die  Beschreibung  der  in  den  königlichen  Mnseen  zu  Berlin 
aufgestellten  Bildwerke  der  christlichen  Epoche  aufmerksam  durchblättert, 
wird  die  Aufmerksamkeit  ungarischer  Ikonographen  vorzüglich  durch  die 
Bestimmung  zweier  Bildnisse  gefesselt,  welche  folgenderweise  lautet  (Bode 
undTschudi:  Beschr.  der  Bildwerke.  Berlin  1888,  p.  31—33):  •Verocchio^ 
Andrea  di  Michele  de  Cioni,  gen.  Andrea  del  Verocchio.  Goldschmied,  Bild- 
hauer, Maler,  geb.  1435  zu  Florenz,  gest.  1488  zu  Venedig.  In  einem  von 
Baldinucci  eingesehenen  Manuscript,  das  noch  dem  XV.  Jahrhundert  anzuge- 
hören scheint,  ausdrücklich  als  Schüler  des  Donatello  bezeichnet.  Thätig  in 
Florenz  und  Venedig.  Hauptsächlich  als  Thonbildner  und  Bronzetechniker 
wirksam,  war  er  für  die  Entwickelung  der  Kunst  Mittel-Italiens  in  den 
letzten  Jahrzehnten  des  Quattrocento  von  der  grössten  Bedeutung 

98.  Bildniss  des  Mathias  Corvinus.  Halbrelief,  unter  der  Achselhöhle 
abgeschnitten.  Parischer  Marmor,  Spuren  von  Vergoldung.  H.  0*345, 
Br.  0*25.  Erworben  1842  von  Marchese  Orlandini  in  Florenz.  —  Tieck- 
Gerhard,  Verz.  d.  B.-W.  Nr.  741 ;  Bode,  Ital.  Porträt- Skulpt.  p.  34  (mit 
Abbildung) ;  Bode,  Ital.  Büdh.  d.  Ken.  p.  255.  —  Abb.  T.  VH. 

Im  Profil  nach  links  gewendet.  Bartloses  Gesicht,  das  Haar  mit  einem 
Eichenkranz  geschmückt.  Ueber  dem  Schuppenpanzer  auf  der  linken  Schulter 
ein  Mantel. 

Gegenstück  zu  Nr.  99.  —  Mathias  Corvinus  (Hunyady),  geb.  1443, 
1458  König  von  Ungarn,  gest.  1490,  war  eifrig  bemüht  italienische  Kunst 
und  Wissenschaft  nach  seinem  Lande  zu  verpflanzen.  Ein  ähnliches  Belief, 
das  den  König  um  10 — 12  Jahre  älter  darstellt,  in  der  11.  Gruppe  der  Kunst- 
historischen Sammlungen  des  österreichischen  Kaiserhauses.  —  Die  etwas 
oberflächliche  wenig  individuelle  Behandlung  scheint  darauf  hinzudeuten, 
dass  das  Bildniss  nicht  nach  der  Natur,  sondern  in  Italien  nach  einer  Me- 
daille oder  dergleichen  angefertigt  wurde.  Dass  dies  aber  trotz  des  Floren- 
tinischen  Charakters  der  Arbeit  nicht  in  Florenz  selbst  geschehen,  dafür 
spricht  der  Umstand,  dass  sie  in  parischem  Marmor  ausgeführt  ist.  Während 

üngttiMhe  BeTM,  XI.  1801.  I.  Haft.  ] 


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^  AUF   UNGABN   BEZUGUCHE   RENAISSANCE -DENKMÄLER. 

Florenz  seinen  Bedarf  durchweg  aus  den  Brüchen  von  Garrara  bestreitet, 
ist  es  Venedig,  das  des  leichteren  Transportes  halber  den  Marmor  der  grie- 
chischen Inseln  bevorzugt.  Eben  zu  der  Zeit,  in  die  wir  die  Entstehung 
dieses  und  des  folgenden  Reliefs  versetzen,  arbeitete  der  Florentiner  Verocchio 
am  CoUeoni-Denkmal,  dessen  stilistische  Eigentümlichkeiten  wir  in  diesem 
Eelief  und  namentlich  in  dem  Gegenstück  erkennen. 

99.  Bildniss  der  Beatrice  von  Arragonien.  Halbrelief  in  halber  Brust- 
höhe abgeschnitten.  Parischer  Marmor,  Spuren  von  teilweiser  Vergoldung 
und  Bemalung.  H.  0*38,  Br.  025.  Erworben  1842  von  Marchese  Orlandini 
in  Florenz.  —  Tieck- Gerhard,  Verz.  d.  B.-W.  Nr.  685;  Bode,  Ital.  Porträt- 
Skulpt.  p.  34  (mit  Abbild.);  Bode,  Ital.Bildh.  d.  Ben.  p.  255  (mit  Abb.).  — 
Abb.  Tafel  VH. 

Im  Profil  nach  rechts  gewendet  Auf  dem  kurzen  lockigen  Haar,  durch 
das  sich  Winden  schlingen,  ein  dicker  Perlenkranz,  der  über  der  Stime  von 
einem  reichgefassten  Edelstein  festgehalten  wird.  Eine  sechsfache  Perlen- 
schnur fällt  auf  die  Brust.  Auf  der  linken  Schulter  eine  Agraffe.  Im  Haar 
und  an  den  Schmucksachen  noch  Beste  der  Bemalung  und  Vergoldung. 

Gegenstück  zu  Nr.  98. — Beatrice  von  Arragon,  Tochter  Ferdinands  I.  Kö- 
nigs von  Neapel,  1476  mit  Mathias  Corvinus  vermählt.  Zwei  bezeichnete  Por- 
trät-Darstellungen dieser  Fürstin,  eine  Büste  in  der  Sammlung  von  G.  Drey- 
fuss  in  Paris  und  ein  Relief  in  der  11.  Gruppe  der  kunsthistorischen  Samm- 
lungen des  österreichischen  Kaiserhauses,  weisen  unter  sich  und  mit  dem 
Berliner  Belief  nicht  unerhebliche  Verschiedenheiten  auf;  indess  ist  doch 
die  Verwandtschaft  der  beiden  Beliefs  so  gross,  der  Umstand,  dass  sie  Pen- 
dants zu  den  unzweifelhaften  Bildnissen  von  Mathias  sind,  so  entscheidend, 
"dass  an  der  richtigen  Benennung  nicht  gezweifelt  werden  kann. » 

Um  nun  jene  Frage,  welche  uns  hier  beschäftigt,  ob  wir  in  diesen 
beiden  Bildnissen  auch  richtig  Mathias  L  und  seine  Gemahlin  Beatrice 
erkennen  dürfen  oder  nicht,  zu  entscheiden,  muss  ich  aus  einer  Arbeit 
des  einen  Verfassers  der  Beschreibungen,  Herrn  Wilhelm  Bode,  aus  den 
1887  erschienenen  «Italienische  Bildhauer  der  Benaissance»,  die  auf  diese 
Beliefs  bezüglichen  Erörterungen  hier  anführen  (pag.  254  u.  folg.) :  «Einen 
interessanten  Vergleich  zwischen  der  venetianischen  und  Florentiner 
Auffassung  des  Beliefporträts  gestatten  uns  die  beiden  Profilbildnisse  eines 
jungen  Ehepaares,  welches  die  Berliner  Sammlung  1842  von  Marchese 
Orlandini  in  Florenz  erwarb.  Wie  das  venetianische  Relief  bildniss  dienten 
sie  offenbar  zur  Verzierung  eines  Thür-  oder  Kaminsturzes,  in  dessen  Deco- 
ration sie  eingelassen  waren.  Wie  dies  geschah,  davon  gibt  uns  ein,  zwar 
nur  handwerksmässig  hergestelltes,  aber  doch  mit  feinem  Gefühl  erfundenes 
Florentiner  Kamingesims  im  Besitz  des  Berliner  Kunstgewerbe-Museums 
ein  Bild.  Die  Durchbildung  ist  in  diesen  Florentiner  Arbeiten  von  gleicher 
Vollendung,   wie    in  jenen   venetianischen   Reliefbildnissen.    Das   Relief, 


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ANOEBUCHES   BILDNISS   DES   MATHIAS   CORMNUS. 
Berliner  Sammlung  No  98. 


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*  AUF  UNGARN    BEZUGLICHE   RENAISSANCE-DENKMALER. 

obgleich  ebenfalls  flach  gehalten,  zeigt  eine  kräftigere  Modellirung  nach  der- 
Mitte  zu.  Die  Auffassung  trägt  jenen  der  Florentiner  Kunst  eigenen  Cha- 
rakter von  Grösse  und  Feinheit  in  der  Wiedergabe  der  Individualität,  ver- 
bunden mit  einer  Anmut,  welche  einen  Künstler  wie  Antonio  Bossellino- 
oder  Benedetto  da  Majamo  verrät. 

Diese  beiden  Bildnisse  wurden  namenlos  gekauft  und  bis  vor  Kurzem- 
als «unbekannt»  in  der  Sammlung  angeführt.  Der  eigentümliche  Kopf- 
schmuck des  Mannes,  ein  Eichenkranz  im  welUgen  Haare,  den  ich  nur  noch 
bei  einem  zweiten  italienischen  Bildnisse,  bei  dem  BeUefporträt  des  Mathias- 
Gorvinus  in  der  Ambraser  Sammlung  in  Wien,  nachzuweisen  im  Stande 
bin,  legt  die  Vermutung  nahe,  dass  auch  das  Berliner  Belief  denselben  dar- 
stelle. In  der  That  sind  die  Züge  sehr  verwandte,  nur  um  etwa  zwölf  bia 
fünfzehn  Jahre  jünger.  Noch  überzeugender  ist  die  Aehnlichkeit  mit  der- 
bekannten  Medaille  des  Fürsten,  die  ihn  gleichfalls  mit  dem  Eichenkranz 
geschmückt  zeigt.  Auch  der  Schuppenpanzer,  welchen  wir  in  beiden  Por- 
träts finden,  passt  auf  den  streitbaren  Ungarnkönig. 

Dsa  Gegenstück  müsste  dann  seine  Gattin  darstellen,  und  zwar  — 
nach  dem  Alter  des  Mathias  —  seine  zweite  Gemahlin,  Beatrice,  Tochter 
Königs  Ferdinand  von  Arragon,  welche  er  im  Jahre  1476  heiratete.  Die 
Züge  dieser  Gemalin  sind  uns  in  verschiedenen,  durch  gleichzeitige  Unter- 
schriften beglaubigten  Bildnissen  erhalten :  als  Gegenstück  jener  Beliefbüste 
des  Mathias  in  der  Ambraser-Sammlung,  sowie  als  Marmorbüste  im  Besitz 
des  Herrn  Gustave  Dreyfuss  in  Paris  mit  der  Inschrift :  DIVA  BEATBIX 
ABAGK3NIA.  Wir  haben  der  letzteren  bereits  bei  Besprechung  der  Marmor- 
büste von  Marietta  Strozzi  Erwähnung  gethan.  Während  nun  das  Wiener 
Bildniss  des  Mathias,  wie  bereits  erwähnt,  mit  dem  Berliner  BeUefporträt, 
wenn  man  von  der  Verschiedenheit  des  Alters  absieht,  sich  sehr  wohl  ver- 
einigen lässt,  weichen  die  Züge  in  der  Büste  der  Beatrice,  obgleich  augen- 
scheinlich beinahe  gleichalterig  mit  der  auf  dem  Berliner  Relief  Darge- 
stellten, nicht  unwesentlich  von  derselben  ab.  Ebensowenig  stimmt  aber 
auch  das  Wiener  Belief  zu  der  Büste,  obgleich  die  Unterschriften  auf  beiden 
Arbeiten  keinen  Zweifel  lassen,  dass  ein  und  dieselbe  Person  darin  darge- 
stellt sein  solle.  Namentlich  zeigt  das  Wiener  Belief  eine  vorspringende  und 
gewölbte  Stirn,  sowie  eine  etwas  aufwärts  gerichtete  Nasenspitze,  während 
die  Stirn  in  der  Büste  bei  Herrn  Dreyfuss  auffallend  niedrig  und  zurück- 
tretend erscheint,  auch  die  Nase  spitz  zuläuft.  Den  Zügen  des  Wiener 
Beliefs  entspricht  nun  im  wesentlichen  das  Berliner  Belief;  dasselbe  zeigt ^ 
auch  schon  die  Neigung  zur  Beleibtheit,  welche  sich  bei  der  etwa  zwölf  Jahre 
älteren  Frau,  wie  sie  in  dem  Wiener  BeUefbildniss  erscheint,  bereits  aus- 
gebildet hat.  Gemeinsam  ist  dagegen  der  Büste  wie  den  Beliefbildnissen  dai^ 
kurzgehaltene  lockige  Haar,  welches  in  dem  Berliner  Belief  in  dem  Kranz» 
von  Winden  (wohl  aus  Goldemail)  der  sich  unter  den  Locken  hindarch- 


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ANGEBUCHES   BILDNISS   DER   BEATRICE   VON   ARRAÖON. 
Berliner  Sammlung  No  99. 


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*>  AUF    UNGARN    BEZUGLICHE   RENAI8SANCE-DENKMALER. 

schlingt,  und  in  dem  dicken  Perlenkranz,  den  ein  reichgefasster  Edelsteia- 
oben  über  der  Stirn  festhält,  einen  reizvoll  angeordneten  Schmuck  erhalte» 
hat.  Als  Grattin  des  Ungarnkönigs  und  Tochter  des  stolzen  Tyrannen  von 
Süditalien  verrät  sie  sich  auch  in  dem  übrigen  Schmuck,  der  breiten  sechs- 
fachen Perlenkette  und  dem  mit  Perlen  eingefassten  Edelstein,  welcher 
an  der  linken  Schulter  als  Agraffe  befestigt  ist. 

Diese  Keliefbildnisse  geben  ein  beredtes  Zeugniss  für  das  Interesse,  wel- 
ches Mathias  Hunyady  bekanntUch  an  der  italienischen  Kunst  nahm.  Noch 
heute  ist  eine  beträchtliche  Zahl  der  Manuscripte  erhalten,  welche  der  König 
in  Italien  schreiben  und  mit  Miniaturen  von  den  ersten  Künstlern  schmücken 
liess;  im  Jahre  1480  arbeiteten  nach  urkundlichen  Nachrichten  die  Bild- 
schnitzer Andrea  und  Francesco  CelUni,  die  Oheime  Benvenutos  am  Hofe 
des  Mathias;  und  Vasari  erzählt  uns  ausführlich  von  dem  Aufenthalte  des 
jungen  Benedetto  da  Majano  in  Ungarn,  der  zuerst  als  Intarsiator,  später 
als  Bildhauer  für  den  König  beschäftigt  war.  Sollte  Benedetto  damals  viel- 
leicht jene  beiden  Profilporträts  der  Berliner  Sammlung  angefertigt  haben, 
die  dann  als  Geschenke  des  Ungarnkönigs  nach  Italien  kamen  ?  Mit  der 
Zeit  ihrer  Entstehung  würde  das  übereinstimmen,  da  Banedetfco,  nach 
Vasaris  Angabe,  unmittelbar  nach  seiner  Rückkehr  aus  Ungarn  die  Thür 
im  Audienzeaal  des  Palazzo  Vecchio  zu  Florenz  anfertigte,  welche  1481 
vollendet  war.  Doch  lässt  der  Umstand,  dass  das  Porträt  des  Mathias,  im 
Gegensatz  gegen  das  sehr  individuelle  Bildniss  der  Gattin,  etwas  Allgemeines 
und  Lebloses  hat,  eher  darauf  schliessen,  dass  das  männliche  Bildniss  nicht 
nach  dem  Leben  und  daher  beide  ßehefs  wohl  in  Italien  angefertigt  wurden.» 

Wenn  wir  die  hier  wiedergegebenen  Ansichten  des  Herrn  W.  Bode  aus 
den  Jahren  1887  und  1888  mit  einander  vergleichen,  so  stossen  wir  auf 
Abweichungen  in  wesentlichen  Punkten  seiner  Anschauungen.  Im  Jahre  1887 
hielt  er  Antonio  Rossellino  oder  noch  wahrscheinlicher  Benedetto  da  Majano 
für  den  Bildner  der  Berliner  Belief porträts ;  im  J.  1888  beschreibt  er  sie  ß\& 
sichere  Arbeiten  des  Andrea  del  Verocchi»,  ohne  diese  Meinungsänderung 
näher  zu  begründen.  Aus  der  Thatsacbe,  dass  diese  Bildnisse  aus  pariscbem 
Marmor  gehauen  sind,  zieht  er  1887  keine  Folgerung,  während  er  dies  1888 
als  entscheidenden  Umstand  anführt  für  die  Hypothese,  dass  sie  von  einem 
Florentiner  Bildhauer  in  Venedig  gearbeitet  wurden,  —  und  vielleicht  hat 
ihn  gerade  dieses  darauf  geleitet,  Bildwerke  Verocchios  in  ihnen  zu  erken- 
nen, da  es  allbekannt  ist,  dass  der  berühmte  Florentiner  Meister  in  den 
achziger  Jahren  des  XV.  Jahrhunderts  in  Venedig  thätig  war.  Die  Stich- 
haltigkeit dieses  Gedankenganges  wird  jedoch  von  Herrn  Bode  selbst  unter- 
graben in  seinem  Werke  «Italienische  Bildhauer  der  Renaissance»,  wo  er 
uns  ja  belehrt,  dass  der  Gebrauch  des  parischen  Marmors  keineswegs  aus- 
schliessliche Eigentümlichkeit  der  in  Venedig  schaffenden  Künstler  war. 
Auf  Seite  25  bespricht  er  zwei  neapolitanische  Bildwerke  aus   parischem 


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BEATRIX    VON    ARRAGONIKN. 
MarmorbÜ8te  bei  Herrn.  G.  Drevfuss  in  Paris 


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ö  AUF   UNGARN    BEZUGLICHE   RENAIS8ANCE-DENKMALER. 

Marmor  und  eine  in  Siena  —  also  Toecana  —  gleichfalls  nicht  aus  italieni- 
schem, sondern  aus  griechischem  Marmor  gearbeitete  Madonna. 

Diese  Aenderung  der  Ansichten  Herrn  Bodes,  welche  er  durch  neue 
Gründe  nicht  rechtfertigt,  kann  unser  Vertrauen  zur  Endgiltigkeit  und  Voll- 
ständigkeit seiner  Bestimmung  erschüttern  und  müsste  eingehend  gewür- 
digt werden,  wollten  wir  die  Stelle  der  Berliner  Reliefs  in  der  Reihe  der 
Monumente  italienischer  Bildhauerei  näher  bestimmen;  diese  Frage  ist 
jedoch  für  den  Zweck  dieser  Zeilen  von  untergeordneter  Bedeutung,  da 
wir  hier  nur  zu  untersuchen  haben,  mit  welchem  Recht  diese  Bild- 
nisse die  Namen  Mathias  Corvinus  und  Beatrix  von  Arragon  führen,  und 
in  wie  ferne  sie  innerhalb  der  ungarischen  Ikonographie  eine  Stelle  bean- 
spruchen können. 

Die  Reliefs  waren,  als  sie  1842  in  Florenz  gekauft  wurden,  •  namenlos» 
und  wurden  seitdem  bis  1887  als  Porträts  unbekannter  Persönlichkeiten 
aufgeführt.  Herr  Bode  taufte  sie  Mathias  und  Beatrix  auf  Grund  des 
Umstandes,  dass  der  dargestellte  Mann,  gerade  so  wie  Mathias  auf  dem 
durch  die  Inschrift  beglaubigten  Ambraser  Bildniss  und  auf  der  bekann- 
ten Medaille  —  nämlich  der  grösseren  —  mit  einem  Eichenkranz  geschmückt 
ist  und  daraufhui,  dass  wir  kein  viertes  mit  Eichenkranz  geschmücktes  italieni- 
sches Männerporträt  aus  dem  XV.  Jahrhundert  kennen.  Es  sei  nebenbei 
bemerkt,  dass  die  Behauptung,  Mathias  sei  auf  dem  Wiener  ReUef  oder  auf 
der  Schaumünze  in  Schuppenpanzer  gekleidet,  den  Thatsachen  nicht  ent- 
spricht. In  den  «Ital.  Bild,  der  Renaissance»  behauptet  Herr  Bode,  dass  die 
Gesichtszüge  des  auf  dem  Berliner  Relief  Dargestellten  sehr  verwandt  sind 
mit  jenen  des  Mathias  auf  dem  Wiener  Bildniss,  die  Verschiedenheiten  ent- 
sprächen dem  Altersunterschied  von  12 — 15  Jahren,  und  femer  sei  die 
Aehnlichkeit  der  Köpfe  auf  dem  Berliner  Porträt  und  auf  der  (grösseren) 
Medaille  des  Königs  noch  überzeugender.  In  den  Erörterungen,  welche  wir 
in  der  Beschreibung  aus  dem  Jahre  1888  leser,  betont  er  stärker,  was  er 
1887  nur  nebenbei  bemerkt:  dass  die  Behandlung  des  Berliner  Männerbild- 
nisses «etwas  oberflächlich  und  wenig  individuell  sei»  mit  anderen  Worten, 
dass  man  es  nicht  für  ein  treffendes  Bildniss  einer  bestimmten  Persönlich- 
keit halten  dürfe ;  hieraus  folgert  er  jedoch  nur,  dass  es  «nicht  nach  der 
Natur,  sondern  in  Italien  angefertigt  wurde»,  das  heisst,  dass  der  Künstler 
den  König  selbst  niemals  gesehen  hat,  sondern  nur  seine  Bildnisse  kannte. 
Er  begründet  die  Benennung  des  weiblichen  Bildnisses  durch  den  Umstand, 
es  sei  das  Pendant  eines  unzweifelhaften  Porträts  des  Mathias,  also  unbe- 
dingt das  seiner  Gattin,  trotzdem  es  von  der  Dreyfuss'schen  Büste  voll- 
ständig abweicht,  trotzdem  er  selbst  der  Ansicht  ist,  dass  die  auf  dem  Ber- 
liner Belief  und  in  der  Pariser  Büste  dargestellten  Frauen  beinahe  gleich- 
altrig sind,  und  dass  beide  sehr  individuelle,  treffend  ähnliche  Bildnisse 
von  dem  Künstler  nach  der  Natur  gearbeitet  wurden.  In  diesem  Falle  bestrebt 


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AUF   UNOARN    BEZUOUCHE   RENAISSANCE-DENKMALER.  ^ 

er  sich  die  Willkürlichkeit  der  Namengebung  dadurch  zu  mildern,  dass  er  die 
Aehnlichkeit  des  Berliner  und  Wiener  Beliefs  und  die  wesentlichen  Ver- 
schiedenheiten des  Wiener  und  Pariser  Bildes  zu  beweisen  sucht.  Hätte  er 
nun  darin  recht,  so  müsste  er  es  für  möglich  halten,  dass  ein  ausgezeich- 
neter itaUenischer  Künstler  des  XV.  Jahrhunderts  —  denn  er  hält  sowohl 
den  Bildhauer  des  Beliefs,  als  den  der  Büste  dafür  —  angesichts  der  Natur 
im  Stande  war  von  ihr  wesentlich  abweichende  Züge  darzustellen,  und  dass 
-er  nicht  vermochte  ein  treffendes  BUdniss  zu  schaffen. 

Ich  glaube,  dass  wir  die  rechte  Antwort  auf  die  uns  hier  beschäftigende 
Frage  eher  finden  können,  wenn  wir  unsere  Aufmerksamkeit  auf  jenen  Teil 
richten,  welcher  die  reichhaltigere  und  verlässUchere  Grundlage  bietet,  näm- 
lich die  Bestimmung  des  Frauenbildnisses  versuchen,  also  gerade  den  ent- 
gegengesetzten Weg  einschlagen,  als  der  verdienstvolle  Director  der  Ber- 
liner Sammlungen,  dessen  Ausgangspunkt  die  Bestimmung  des  Mannes 
bildete.  Nicht  nur  die  Thatsache  setze  ich  als  unzweifelhaft  voraus,  dass  das 
Berliner  Frauenrelief  das  Werk  eines  italienischen  Künstlers  ist,  sondern 
auch  jene,  dass  die  Dargestellte  eine  Italienerin  ist,  wofür  ja  die  Bekleidung 
und  die  eigentümliche  Haartracht  zeugen.  Ist  dies  richtig,  so  haben  wir  uns 
mit  der  MögUchkeit  nicht  zu  befassen,  als  sei  hier  die  1464  gestorbene 
Tochter  des  Böhmen  Podiebrad  dargestellt.  Wenn  überhaupt  eine  Ge- 
mahlin des  Mathias  hier  abgebildet  ist,  kann  nur  Beatrice  von  Arragon  in 
Betracht  kommen.  Abgesehen  von  den  in  den  Handschriften  erhaltenen 
Miniaturbildem,  welche  wohl  nie  nach  der  Natur  gemalt  wurden  und  des- 
halb zu  einer  ikonographiscben  Bestimmung  als  Beweise  sieb  wenig  eignen, 
sind  uns  die  Züge  der  neapolitanischen  Königstochter  sicher  in  drei  Kunst- 
werken erhalten:  in  der  Pariser  Büste,  in  der  Medaille  des  ungarischen 
National-Museums  und  im  Wiener  ReUef.  Auf  allen  dreien  versichert  uns 
die  Inschrift,  es  sei  Beatrice  dargestellt. 

Ich  glaube  mich  nicht  zu  täuschen,  wenn  ich  die  Büste  als  das  frü- 
heste Bildniss  der  Beatrix  bezeichne.  Die  lebensgrosse  Büste  ist  unter  der 
Schulter  gerade  abgeschnitten.  Den  zarten  Formen  des  Busens  entspricht 
der  schlanke  Hals,  auf  dem  das  leise  gegen  die  linke  Schulter  geneigte  Haupt 
ruht.  Die  schiefe  SteUung  der  Augen  und  die  eigentümliche  Art  ihrer  Dar- 
stellung, —  dass  nämlich  das  obere  Augenlid  den  Augapfel  bis  zur  Hälfte  ver- 
deckt, —  wiederholt  sich  bei  einer  ganzen  Beihe  Florentiner  Mädchenbüsten, 
welche  Bode  auf  Seite  227 — 228  der  «Ital.  Bildh.  d.  Ren.»  zusammen- 
gesteUt  hat  Er  erklärt  die  auffallende  Eigentümlichkeit  folgenderweise :  «Die 
Künstler  haben  damit,  so  scheint  es,  einer  allerdings  sonst  nicht  nachweis- 
baren Anschauung  ihrer  Zeit  entsprechend,  den  Ausdruck  des  jungfräulich 
Sittsamen  und  Bescheidenen  wiedergeben  wollen.»  Diese  Erklärung  würde 
meine  Hypothese,  dass  die  Büste  Beatrix  noch  als  Mädchen  darstellt, 
bekräftigen ;  man  kann  jedoch  die   merkwürdige  Modellirung  der  Augen 


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AI'F    UN(4ARN    BEZUGLICHE    RENAISSANCE- DENKMALER. 


vielleicht  richtiger  damit  erklären,  dass  die  Büsten,  bei  denen  sie  vorkommt^ 
an  einem  hochgelegenen  Platz  aufgestellt  waren,  in  welchem  Fall  ihr  Blick 
so  auf  den  Beschauer  fiel,  während  er  sich  in  die  Ferne  gerichtet  hätte, 
wäre  das  Auge  mehr  geöffnet  dargestellt  worden,  und  der  Ausdruck  des  Bild- 
werkes dadurch  an  Lebendigkeit  verloren  hätte.  Dass  die  Stirne  auf  der  Büste, 
verglichen  mit  jener  auf  dem  Relief  «auffallend  niedrig  und  zurücktretend 
erscheine,»  wie  Herr  Bode  es  behauptet,  vermag  ich  nicht  wahrzunehmen. 
Es  bleiben  ja  von  der  Stirne  nur  fünf  Millimeter  oberhalb  der  Augenbrauen 
frei,  den  übrigen  Teil  verdeckt  der  Schleier,  unter  welchem  auch  die  Haare 
verborgen  sind.  Auch  was  diese  anbelangt,  kann  ich  der  Ansicht  des  Herrn 
Bode,  dass  sie  nämlich  kurzgehalten  und  lockig  seien,  nicht  beistimmen. 
Allerdings  hängen  beiderseits  an  den  Schläfen,  wo  das  Haar  unter 
dem  Schleier  hervortritt,  je  zwei  Strähnchen,  drei  Centimeter  weit  auf  die 
Wangen  herab,  das  übrige  leicht  gewellte  Haar  aber  zieht  sich  wieder 
unter  den  Kopfputz  und  lässt  uns  klar  erkennen,  dass  es  nicht  kurzge- 
schoren, sondern  am  Hinterhaupt  in  einen  Schopf  zusammengefasst  ist.  Rück- 
wärts dagegen  dringt  das  gleichmässig  geschnittene  Haar  zwei  ein  halb  Cen- 
timeter lang  unter  dem  Schleier  hervor,  und  glatt  gekämmt  bedeckt  es  den 
Nackenansatz.  Wenn  wir  die  Büste  im  Profil  nach  rechts  gewendet  ansehen 
in  derselben  Lage,  in  welcher  Beatrix  auf  der  Medaille  und  dem  Relief  abge- 
bildet ist,  so  können  wir  beobachten,  dass  der  Nasenrücken  etwas  gebogen 
ist,  und  dass  dieser  mit  der  Stirne  einen  Winkel  von  höchstens  135  Grad 
bildet.  Wir  sehen  auch,  dass  die  obere  Linie  des  oberen  Augenlids,  also 
jene,  welche  am  tiefsten  liegt,  und  den  oberen  ümriss  des  Augapfels  andeu- 
tet, fast  parallel  mit  der  Linie  der  Brauen  läuft ;  ja  sogar  dass  der  äussere 
Augenwinkel  dem  äusseren  Ende  der  Augenbrauen  etwas  näher  kommt,  als 
der  am  höchsten  liegende  Punkt  des  oberen  Augenlids  dem  entsprechenden 
Punkte  der  Brauen.  Endlich  müssen  wir  auch  den  geschwungenen  ümriss 
des  Rückens  und  Nackens  verfolgen,  von  welchem  der  entsprechende  üm- 
riss auf  dem  Berliner  Relief  durch  seine  Steilheit  so  wesentlich  abweicht, 
während  jener  auf  dem  Wiener  Bildnisse  sich  äusserst  ähnlich  schwingt. 
Die  Vermutung,  die  Büste  sei  angefertigt  worden,  als  Beatrix  noch  nicht 
verheiratet  war,  stütze  ich  nicht  nur  auf  die  fast  unentwickelte  jungfräuliche 
Erscheinung,  sondern  auch  auf  den  umstand,  dass  die  Inschrift  ihrer  könig- 
lichen Würde  nicht  gedenkt,  sie  nur  DIVA  BEATRIX  AÜAGONIA  nennt, 
während  die  Inschrift  des  nächsten  Bildnisses,  jene  der  Medaille  DIVA 
BEATRIX  HVNGARIAE  REGINA  lautet.  Die  Formen,  besonders  die  des 
Busens  und  des  Halses  sind  hier  zwar  etwas  entwickelter,  sonst  aber 
stimmen  die  Züge  vollständig  mit  jenen  überein,  welche  uns  die  Büste 
zeigte,  die  Biegung  des  Nasenrückens  ist  dieselbe,  und  auch  der  Winkel, 
unter  dem  er  zur  Stirne  stösst,  ist  derselbe.  Auch  hier  verdeckt  ein  Schleier 
den  oberen  Teil  der  Stirne,  er  ist  jedoch  hier  nicht  hinten  aufgebunden. 


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sondern  hängt  auf  den  Bücken  herunter.  Auch  hier  wird  das  Haar  nur  bei 
der  Schläfe  sichtbar,  doch  können  wir  uns  auch  in  diesem  Fall  überzeugen, 
dass  es  nicht  kurz  gehalten  ist.  Die  Form  des  Auges  entspricht  ebenfalls 
jener,  welche  wir  bei  der  Büste  beobachteten,  nur  dass  hier,  wo  Beatrix 
geradeaus  vor  sich  hinblickt,  dessen  Kleinheit  auffallender  ist,  als  auf  dem 
Dreyfuss'schen  Bilde,  wo  wir  den  Eindruck,  dass  die  Augen  klein  seien, 
der  eigentümlichen  Art  und  Weise  zuschreiben  könnten,  mit  welcher  der 
Künstler  sie  halbgeschlossen  darstellte.  Wenn  wir  der  Abweichungen  und 
üebereinstimmungen  beider  Denkmäler  Bechnung  tragen,  so  erkennen  wir, 
dass  nur  wenig  Jahre  zwischen  der  Anfertigung  der  Büste  und  der  Medaille 
verflossen  sein  können,  so  dass,  wenn  erstere  vor  der  Hochzeit,  etwa  1474 
bis  1475  entstand,  letztere  gewiss  vor  1480  modellirt  worden  sein  wird. 

Wesentlich  später,  etwa  am  Ende  der    achziger  Jahre  wurde    da» 


Wiener  Belief  angefertigt,  dessen  Inschrift :  BEGINA  HVNGAEIAE  BEA- 
TEIX  DE  ABAGK3NIA  lautet.  Aus  dem  zierlichen,  unentwickelten  Mädchen, 
dem  Modelle  der  Büste  ist  hier  eine  mächtige,  üppige  Frau  geworden.  Der 
Schnürleib  spannt  sich  straff  über  den  hochgewölbten  Busen  und  das  Kinn 
hat  sich  im  Laufe  der  Jahre  verdoppelt.  Schon  bei  der  Medaille  lassen 
sich  die  Keime  dieser  Neigung  zum  Fettwerden  beobachten.  Der  von  der 
Stime  und  dem  Nasenrücken  gebildete  Winkel  ist  auch  hier  derselbe  wie 
bei  der  Büste  und  der  Medaille.  Die  Nasenspitze  ist  wie  sämmtliche  Gesichts- 
teile  runder  und  fleischiger  geworden,  doch  ist  der  ümriss  des  Nasen- 
rückens noch  immer  gebogen,  so  dass  ich  nicht  glauben  kann,  Herr  Bode 
habe  die  Zeilen,  in  welchen  er  behauptet  «die  Nasenspitze  sei  aufwärts 
gerichtet»  angesichts  des  Bildes  geschrieben.  Gerade  wie  auf  der  Me- 
daille hängt  hier  der  Schleier  auf  den  Bücken  herunter,  und  verdeckt  die 
Haare^  welche  nur  bei  der  Schläfe  sichtbar  werden,  jedoch  genügend  um 


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festzustellen,  dass  es  nicht  kurzgescbnitten  ist ;  dagegen  bleibt  die  Stirne 
frei.  Das  Auge  entspricht  genau  jenem  der  Medaille. 

Aus  Allem,  was  wir  hier  beobachtet  haben,  geht  hervor,  dass  die  drei 
Denkmäler  zweifellos  ein  und  dieselbe  Persönlichkeit  in  drei  Phasen  ihrer 
Entwicklung  darstellen,  dass  bei  allen  dreien  die  wesentlichen  Formen  ähnlich 
bleiben,  während  die  Unterschiede  die  durch  das  Vorschreiten  der  Jahre 
Terursacht-en  Verschiedenheiten  wiederspiegeln.  Sie  sind  richtig  beobachtete 
Merkmale  des  zunehmenden  Alters  der  Königin,  und  gerade  dadurch  beweisen 
sie,  dass  die  Künstler  die  Aehnlicbkeit  in  allen  drei  Fällen  richtig  trafen.  Unter- 
suchen wir  nun  d»8  Berliner  Relief  und  was  Herr  Bode  darauf  bezüglich 
behauptet.  Gewiss  ist  der  Umstand,  dass  es  ein  Pendant  bildet  zu  dem  Por- 
trät eines  Mannes ;  wenn  es  also  Beatrix  darstellt,  sehen  wir  sie  frühestens 
in  jener  Zeit,  wo  sie  die  Braut  des  Mathias  war,  also  ist  es  jedenfalls  später 
entstanden,  als  die  Pariser  Büste.  Wenn  wir  andererseits  Herrn  Bode  zustim- 
men, dass  das  Frauenrelief  nach  der  Natur,  während  das  Männerrelief  nach 
einem  Bilde  gearbeitet  wurde,  so  können  die  beiden  Rehefs  nur  bevor  sie 
nach  Ungarn  gieng,  in  Italien  gemacht  worden  sein,  also  früher  als  die 
Medaille.  Zwar  ist  es  nur  ein  äusserlicher  Umstand,  doch  verdient  es  be- 
merkt zu  werden,  dass  auf  den  beiden  gesicherten  Bildnissen  Beatricens, 
von  denen  das  eine  sie  etwas  jünger,  das  andere  sie  etwas  älter  darstellt, 
sie  lange  Haare  trägt,  die  jener  Dame,  die  wir  auf  dem  Berliner  Relief 
aehen,  dagegen  kurz  gehalten  sind.  Viel  wesentlicher  ist  es  aber,  dass  kaum 
ein  Zug  des  Berliner  Bildes  mit  jenen  der  Büste  oder  der  Medaille  überein- 
stimmt. Der  Hals  auf  dem  Relief  ist  fast  cylindrisch  im  Gegensatz  zu  jenem 
der  Büste,  welcher  entschieden  kegelförmig  zuläuft.  Auf  dem  Relief  bilden  die 
Umrisse  des  Kinnes  nahezu  einen  rechten  Winkel,  während  auf  der  Büste 
und  auf  der  Medaille  sie  etwa  unter  112  Grad  sich  trefifen.  Auf  dem  Relief 
ist  der  Nasenrücken  geradlinig  und  der  Winkel,  unter  dem  er  zur  Stirne 
«tösst,  mindestens  158  Grad.  Das  geradeaus  blickende  Auge  ist  gross,  der 
höchstliegende  Punkt  des  oberen  Lides  hegt  viel  näher  dem  entsprechenden 
Punkte  der  Brauen  als  der  äussere  Augenwinkel,  während  wir  bei  den 
gesicherten  Bildnissen  der  Beatrix  geradedas  Entgegengesetzte  beobachten 
konnten.  Das  Vergleichen  der  Stirne  wird  dadurch  erschwert,  dass  Beatrice 
auf  allen  ihren  beglaubigten  Bildnissen  einen  Schleier  trägt,  welcher  den 
Haar- Ansatz  verbirgt,  während  der  auf  dem  Berliner  ReUef  dargestellte 
Kopf  unbedeckt  ist ;  wir  können  nur  soviel  entschieden  wahrnehmen,  dass 
bei  dem  letzteren  die  niedrige  Stirn  mit  stark  geschwungenem  Bogen  sich 
wölbt,  auf  den  sicheren  Bildnissen  Beatricens  dagegen  der  Umriss  der  Stirn 
viel  flacher  verläuft.  Herr  Bode  betont,  dass  das  Berliner  Frauenbildniss 
sehr  individuelle  Züge  aufweist,  woraus  wohl  folgt,  dass  es  die  charakteri- 
stischen Eigentümlichkeiten  der  dargestellten  Dame  getreu  schildert ;  indess, 
da  diese  Züge  einzeln  und  im  Gesammten  wesentlich  von  jenen  der  Beatrice 


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abweichen^  mässen  wir  den  Schluss  ziehen,  dass  der  Künstler  hier  nicht 
Beatrice  darzustellen  beabsichtigte. 

Was  den  Männerkopf  anlangt,  behauptet  Herr  Bode,  er  sei  wenig 
individuell  behandelt,  also  dem  lebenden  Modell  kaum  ähnlich.  Zu  meinem 
Bedauern  kann  ich  auch  diesmal  dem  ausgezeichneten  Berliner  Gelehrten 
nicht  beistimmen.  Die  bestimmt  gegliederte  Stirne,  das  leise  Zusammen- 
ziehen der  Brauen,  wodurch  Strenge  in  den  Gesichtsausdruck  kommt; 
die  Linie  des  Nasenrückens,  welche  so  fein  geschwungen  ist,  dass  maa 
bei  oberflächlichem  Betrachten  glaubt,  sie  sei  ganz  gerade ;  der  etwas  offene 
Mund,  die  bei  der  Nasenwurzel,  bei  dem  Mundwinkel  und  an  der  Wange  sa 
mannigfaltige  Modellirung  sind  lauter  Eigenheiten,  welche  nur  auf  Grund 
von  Naturbeobachtung  gebildet  werden  konnten,  und  fast  ausschliessen, 
dass  wir  es  hier  mit  einem  Idealbilde,  und  nicht  mit  der  Darstellung  einer 
bestimmten  Persönlichkeit  zu  thun  haben.  Allerdings  ist  es  richtig,  dass  die 
Gesichtszüge  an  jene  des  Mathias  Gorvinus  überhaupt  nicht  erinnern,  so  wie 
wir  sie  auf  dem  Wiener  Belief  und  seinen  zwei  Medaillen  sehen.  Nur  betreffs 
eines  Umstandes  stimmt  das  Berliner  Belief  mit  dem  Wiener  und  der  einen 
Medaille  übereins,  —  doch  dieser  ist  ganz  äusserlich  —  dass  auf  allen  dreien, 
der  Dargestellte  mit  einem  Eichenkranz  geschmückt  ist.  Auf  der  kleineren 
Medaille  ist  Mathias  mit  Lorbeer  bekränzt.  Die  Thatsache  nun,  dass 
weder  Herr  Bode,  noch  andere  ein  eichenkranztragendes  itaUenisches  Man- 
nerbüd  aus  dem  XV.  Jahrhundert  namhaft  machen  können,  ausser  die  drei 
hier  angeführten,  berechtigt  kaum  dazu  in  jedem  so  geschmückten,  gleich- 
zeitigen Bildnisse  den  Ungamkönig  zu  erkennen. 

n. 

Haben  die  Verfasser  der  Beschreibung  der  Berliner  Bildwerke  christ- 
licher Epoche  durch  ihre  Namengebung  die  unerfüllte  Hoffnung  in  uns  wach- 
gerufen, dass  wir  Gelegenheit  haben  von  einem  ausgezeichneten  Künstler 
geschaffene  Bildnisse  des  grossen  Ungarnkönigs  und  seiner  Gattin  kennen  zu 
lernen,  und  durch  ihre  wohlverdiente  wissenschaftliche  Autorität  uns  gezwun- 
gen, mit  langwieriger  Auseinandersetzung  jede  ihrer  Behauptungen  zu  contro- 
liren,  damit  wir  mit  Beruhigung  dem  Ergebniss  entsagen  können,  zu  welchem 
sie  gelangt  sind,  so  bieten  sie  durch  das  reiche  Material,  das  sie  publicirt- 
und  die  Gründlichkeit,  mit  welcher  sie  es  bearbeitet  haben,  die  sichere 
Grundlage  zur  Bestimmung  eines  vor  längerer  Zeit  (S.  Arch.  ^rt.  X. 
p.  253)  angeblich  in  Visegräd  zum  Vorschein  gekommenen  Denkmales. 

Auf  dem  aus  rotem  Marmor  gearbeiteten  Lunettenrelief  sehen  wir 
die  Jungfrau  Maria  in  Halbfigur,  welche  mit  der  rechten  Hand  das  auf  einem 
Kissen  stehende  Jesuskind  stützt  und  mit  der  Linken  einen  Bausch  ihrea 
Mantels  erfasst.  Unter  ihrem  linken  Ellbogen  guckt  ein  Engelkopf  hervor^ 


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AUF   UNOARN   BEZÜGLICHE   RENAISSANCE -DENKMALER. 


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Das  mit  einem  Hemdeben  bekleidete  Kind  erbebt  segnend  die  Bechte^ 
^yäbrend  es  in  der  an  seine  Brost  gedrückten  Linken  ein  Yögelcben 
bält  Hinter  den  Köpfen  beider  Gestalten  sehen  wir  verzierte  Heiligen- 
scheine. Auf  dem  Hintergrund  sind  Wolken  durch  längliche  Wülstengruppen 
angedeutet.  J.  Hampel,  der  uns  auf  dieses  Bildwerk  neuerUch  aufmerk- 
sam machte^  erkannte  sofort  aus  der  Composition  und  Zeichnung,  und  aus 
dem  antikisirenden  Charakter  der  BahmengliederuDg»  dass  es  ein  Werk  eines 
italienischen  Künstlers  aus  dem  XV.  Jahrhundert  sein  müsse.  Um  seiner 
Aufforderung,  den  Platz  dieses  BeUefs  in  der  Beihe  der  italienischen  Denk- 
mäler näher  zu  bestimmen,  Genüge  zu  leisten,  muss  ich  ein  Ergebniss  der 
Forschungen  des  Herrn  Bode  zur  Hülfe  nehmen.  In  den  «Italienischen  Bild- 


MEISTER   DER   MARMORMADONNEN. 
No  76.  Berliner  Sammlung.  No  77. 

hauem  der  Benaissancet  ist  eine  lange  Beihe  von  Statuen  und  Behefs  zusam- 
mengestellt, welche  augenscheinUch  einem  und  demselben  Künstler  zuge- 
schrieben werden  müssen,  dessen  Namen  uns  aber  weder  eine  Inschrift  noch 
mit  den  Bildwerken  nachweisbar  zusammenhängende  Urkunden  verraten,, 
und  welchen  Bode  als  «Meister  der  Marmormadonnen»  bezeichnet.  Wenn 
wir  die  im  BerUner  Verzeichniss  unter  Nummer  76  und  77  aufgeführten 
Madonnen  mit  der  Visegräder  vergleichen,  gewinnen  wir  die  Ueberzeugung, 
-dass  sie  auch  eine  Arbeit  des  Meisters  der  Marmormadonnen  ist.  Das  Christ- 
kind ist  fast  ohne  Aenderung  von  Nummer  77  übernommen ;  die  Haltung 
des  Kopfes,  die  Bewegung  der  segnenden  Bechten,  die  Stellung  der  Beine, 
•die  ModeUirung  des  Unterleibes,  der  Kniee  und  der  Fussgelenke  stimmen 
^enau  überein.  Nur  die  Bewegung  des  linken  Armes  ist  verschieden :  auf 


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AUF    UNGARN   BEZUGLICHE   RENAISSANCE-DENKMALER. 


dem  Belief  Nr.  77  streckt  das  Christuskiod  auch  diesen  aus,  indem  es  mit  der 
linken  Hand  einen  Apfel  emporhebt,  auf  dem  Visegräder  hält  es  in  der 
Linken  einen  Vogel,  den  es  an  seine  Brust  drückt.  Dieses  Motiv  hat  der 
Künstler  nun  auf  dem  Belief  Nr.  76  benutzt.  Die  eigentümliche  Art,  wie  die 
Hand  der  Madonna  mit  gespreizten  Fingern  dargestellt  ist,  springt  sowohl 
bei  dem  Belief  Nr.  77  als  auch  bei  dem  Visegräder  in  die  Augen.  Auf  beiden 
Beliefs  ist  das  Unterkleid  knapp  unter  dem  Busen,  hoch  gegürtet,, 
und  sowohl  die  schweren  in  sehr  spitzen  Winkeln  zusammenstossenden 
Falten  des  Untergewandes,  als  die  feinen  Parallelfaltchen  des  Aermels 
wiederholen  sich  als  charakteristische  Eigenheit  des  Künstlers  auf  allen 
drei  Bildwerken.  Schade,  dass  sowohl  das  Gesicht  der  Maria,  als  jenes  dea 
Christkindes  so  sehr  verstümmelt  sind,  dass  wir  ihre  Behandlung  mit  den 
Gesichtern  auf  den  übrigen  Beliefs  nicht  vergleichen  und  G^wiss- 
heit  erlangen  können,  ob  das  Visegräder  Belief  auch  hierin  der  Charakte- 
ristik entspricht,  welche  die  Verfasser  des  Berliner  Katalogs  aus  dem  einge* 
henden  Studium  sämmtlicher  bekannter  Werke  des  anonymen  Künstler» 
zusammengefasst  haben.  «Meister  der  Marmormadonnen»  unter  diesem 
Namen  mag,  nach  dem  Vorgang  der  deutschen  Kunstgeschichte,  bis  auf 
weiteres  ein  anonymer  Künstler  gehen,  auf  den  sich  eine  nicht  unerhebliche 
Anzahl  von  Werken  —  mit  Ausnahme  einiger  Büsten,  durchgehends  Ma- 
donnenreliefs in  Marmor  —  zurückführen  lässt.  Der  Meister  gehört  dem 
Kreise  der  Florentiner  Marmorbildner  an  und  steht  etwa  zwischen  Antonio 
Bosselino  und  Mino,  in  der  weichen  Fleischbehandlung  dem  ersten,  in  der 
manierirten  Faltengebung  und  dem  starren,  zuweilen  karrikierten  Gresichts- 
ausdruck  den  Werken  der  früheren  Zeit  des  letzteren  nahe  kommend,  mit 
dem  er  dann  auch  im  Kunsthandel  beharrlich  verwechselt  wurde.  Dass  der 
Künstler  seine  Hauptthätigkeit  etwa  zwischen  1460 — 70  entfaltete,  wird 
ausserdem  noch  durch  die,  eng  an  Donatelleske  Tradition  anschliessende^ 
Ornamentik  wahrscheinlich  gemacht. 

Der  Umstand,  dass  die  Visegräder  Madonna  aus  ungarischem  Marmor, 
also  hier  zu  Lande  gearbeitet  ist,  bietet  uns  die  Gewissheit,  dass  wir  den 
Namen  des  anonymen  Meisters  in  der  Liste  jener  Italiener  zu  suchen  haben, 
die  am  Hofe  des  Mathias  Corvinus  beschäftigt  waren,  und  indem  dadurch 
das  zu  durchforschende  Gebiet  eng  begrenzt  wird,  wächst  die  Wahrschein- 
lichkeit, dass  es  gelingen  wird,  diese  noch  offene  Frage  zu  lösen. 

Karl  v.  Pülszky.* 

-  Ans  .Archseologiai  Ertesitö»,  1890.  S.  311  ff. 


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GLOSSEN    ZUR   BULGARISCHEN    ZAREN-GENEALOGIE.  17 

GLOSSEN  ZUR  BULGARISCHEN  ZAREN-GENEALOGIE. 
11.  Kinder  Johann  Asens  II. 

a)  Aus  der  Ehe  mit  Maria  von  Ungarn. 

Mit  Bestimmtbeit  kennen  wir  hier  nur  folgende : 

a^)  H  e  1  e  n  e. 

Geboren  im  Jahre  1225,  wnrde  sie  frühzeitig  in  das  Getriebe  politi- 
scher Gombinationen  hineingezogen. 

Als  nach  der  Flacht  des  Kaisers  Bobert  aus  Konstantinopel  die  Krone 
auf  dessen  1217/8  geborenen  knabenhaften  Bruder  Balduin  (11.)  übergieng 
und  man  dringend  der  Verwaltung  eines  kraftvollen  Mannes  bedurfte, 
rieten  einige  der  Beicbsgrossen,  man  möge  den  mit  Balduin  verschwägerten 
Johann  As£n  zum  Beichsverweser  ernennen  und  diesem  Verhältnisse  durch 
Vermählung  des  jungen  Kaisers  mit  Johann  As^ns  Tochter  Helene  die 
rechte  Weihe  geben.*  Jedoch  zerschlug  sich  die  Sache  und  man  wählte 
den  französischen  Grafen  Johann  v.  Brienne. 

Empört  über  die  erfahrene  Zurücksetzung,  verband  sich  nun 
Johann  As£n  mit  dem  Kaiser  Johann  Vatatzes  von  Nikaea,  um  gemein- 
same Sache  gegen  das  lateinische  Kaisertum  in  Koustantinopel  zu  machen. 
Das  Bündniss  wurde  durch  die  Verlobung  Helene's  mit  dem  Tronerben 
Nikaea's  äusserlich  besiegelt.  Als  nämlich  Vatatzes  im  Sinne  des  mit  dem 
Bulgarenzaren  eingegangenen  Bündnisses  im  Jahre  1 235  die  Stadt  G^li- 
poli  erobert  hatte,  kamen  beide  verbündete  Herrscher,  von  ihren  Gemahlin- 
nen begleitet,  in  der  eroberten  Stadt  zusammen.  In  Lampsakos  wurde  nun 
die  bereits  im  Vorjahre  geplante  Verlobung  der  Prinzessin  Helene  mit  dem 
im  Jahre  1223  geborenen  Prinzen  Theodor  von  Nikaea  gefeiert. 

Im  Jahre  1237  trat  zwischen  den  Verbündeten  eine  Spannung  ein; 
Johann  As^n  unternahm  mit  seiner  Gemahlin  Maria  eine  Beise  nach 
Adrianopel  und  drückte  Vatatzes  gegenüber  den  Wunsch  aus,  er  möchte 
gerne  sein  Töchterchen  an  seiner  Seite  sehen,  worauf  er  es  wieder  an  den 
nikäischen  Hof  zurücksenden  wolle.  Kaiser  Vatatzes  mochte  wohl  Johann 
Aflins  Absichten  durchschaut  haben,  denn  er  erinnerte  ihn  an  die  Hei- 
ligkeit des  Eides  und  an  den  obersten  Bichter.  Sobald  die  junge  Prinzessin 
in  Adrianopel  war,  trennte  sie  Asin  von  ihrem  nikäischen  Geleite,  setzte 
die  sich  weinend  Sträubende  unter  Gewaltandrohungen  vor  sich  auf  sein 

*  Sanndo  ap.  Bongars,  Gesta  Dei  per  Francos  11.  73. 
Ungaritehe  Beme,  XL  1801.  L  Heft.  2 


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18 


GLOSSEN  ZUR  BULGARISCHEN  ZAREN -GENEALOGIE, 


Pferd  und  ritt  nach  Timova;  als  aber  noch  im  selben  Jahre  Gemahlin  und 

Sohn  Johann  AaSns  plötzlich  starben,  sah  der  Bulgarenzar  hierin  einen 

Fingerzeig  der  Vorsehung,  worauf  er  Helene  ihrem  Verlobten  zurücksandte 

und  sich  mit  Vatatzes  versöhnte. 

Helene 's  Gemahl  bestieg  als  Theodor  II.  den  Tron  von  Nikaea,  starb 

aber  schon  im  August  1 258.  Helene's  Schicksale,  sowie  die  Zeit  ihres  Todes 

sind  unbekannt.  Ihre  Kinder  sind  gleichfalls  der  Spielball  der  Politik 

geworden  (s.  u.). 

a*)    Zar   Koloman   I. 

Geboren  im  Jahre  1232,*  folgte  er  seinem  Vater  1241.  Seine  Vor- 
münder hatten  mit  Vatatzes  Frieden  geschlossen  und  sind  aus  der  kurzen 
Begierungszeit  dieses  Zaren  keine  bemerkenswerten  Ereignisse  zu  ver- 
zeichnen. Noch  weniger  wissen  wir,  ob  er  verlobt  wurde.  Er  starb  Ende 
September  1246;  es  heisst,  er  sei  vergiftet  worden. 

a^)    Anonymer   Sohn. 

Gleichzeitig  mit  der  Zarfn  Maria  und  dem  Patriarchen  von  Timova 
ist  1237  ein  Sohn  Johann  As^ns  IL  einer  Epidemie  zum  Opfer  gefallen. 
Weder  der  Name  noch  das  Alter  dieses  Knaben  ist  bekannt. 

a*)    T  h  a  m  a  r. 

Diese  Prinzessin  wird  von  Akropolita  ausdrücklich  eine  Schwester 
Ealimans  und  Tochter  der  ungarischen  Maria  genannt. 

Engel  417  hat  folgenden  Passus:  «Jedoch  hatte  die  Wittib  (Johann 
Asins  II.)  Irene  dem  jungen  Mich.  Asan  (ihrem  Sohne)  eine  Begierde,  sie 
und  ihren  Bruder  Demetrius  an  den  griechischen  Kaisern  zu  rächen,  ein- 
geflösst.  Diese  ßachbegierde  kannte  man,  und  man  wollte  ihr  noch  bei 
Lebzeiten  des  Vatatzes  durch  eine  Heirat  zwischen  Michael  Comnenus, 
Sohn  des  thessalonischen  Statthalters  Andronicus,  und  zwischen  Thamar, 
Schwester  des  Colomann,  zuvorkommen.»  —  Jireßek  268  führt  hingegen 
auf  seiner  Stammtafel  der  As^niden  den  Michael  Komnenos  ausdrücklich 
als  Gemahl  der  Thamar  an  und  beruft  sich  hierbei  auf  Akropolita  738. 

Zur  Klärung  dieser  von  Engel  nur  angedeuteten,  von  Jire6ek  apo- 
diktisch zugegebenen  Allianz  ist  es  nötig,  die  Person  dieses  Michael  Kom- 
nenos näher  zu  beleuchten. 

Sein  Vater  ist  Andronikos  Komnenos  Palaiologos,  Gross-Domestikus, 
vom  Kaiser  Johann  Vatatzes  zum  Präfekten  von  Thessalonike  ernannt  ; 

*  Nach  Anderen  wäre  er  beim  Tode  seines  Vaters  schon  im  14.  Lebensjahre 
gestanden ;  doch  verdienen  die  Angaben  der  Byzantiner,  er  wäre  damals  ein  9j  ähriger 
Knabe  gewesen,  mehr  Glauben.  Den  Namen  Eoloman  erhielt  er  jedenfalls  über 
Antrag  seiner  ungarischen  Mutter,  die  einen  gleichnamigen  Bruder  (König  von  Halics, 
I  1^1)  hatte.  Er  kommt  auch  als  Kaliman  vor. 


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19 


^wurde  mit  einer  Flotte  and  an  der  Spitze  der  gesammien  Heeresmacht 
nach  Rhodos  geschickt,  um  den  Bebellen  «Csesar»  Gabalas  zu  unter- 
werfen.^ Seine  Mutter  ist  die  Tochter  des  Alexius  Falaiologos  und  der  Irene 
Eomnena  Angela,  einer  Tochter  des  Kaisers  Alexius  III.  (a.  d.  H.  der 
Angeli).  Beider  Sohn  Michael  (den  Akropolita  c.  46, 50  etc.  meistens  Michael 
Eomnenos,  seltener  Falaiologos  nennt)  ist  1224  geboren.  Er  wurde  poli- 
tischer Umtriebe  halber  durch  Nikolaus  Manglabites,  der  es  von  Anderen 
gehört  haben  wollte,  bei  Kaiser  Johann  Yatatzes  angeklagt  und  dessen  ver- 
dächtigt, da  SS  er  nach  dem  Tode  des  Demetrius  Tomikos  in  Thessalonika 
-eine  unabhängige  Herrschaft  errichten  wolle;  um  dies  zu  ermöglichen, 
gedenke  er  sich  mit  Thamar,  der  Tochter  Johann  As^ns  U.,  zu  vermählen 
und  auf  diesem  Wege  ein  Bündniss  zwischen  den  Bulgaren  und  seiner 
eigenen  Herrschaft  zu  Stande  zu  bringen.  Die  seitens  des  Kaisers  eingelei- 
tete Untersuchung  ergab  jedoch,  dass  derjenige,  von  dem  Manglabites  die 
Sache  gehört  haben  wollte,  Michael  für  unschuldig  erklärte  und  die  ganze 
Anklage  eine  Erfindung  des  Anklägers  sei.  Nachdem  sich  noch  von  frän- 
kischer (lateinischer)  Seite  Stimmen  zu  Gunsten  Michaels  erhoben,  fand 
«8  Kaiser  Yatatzes  geraten,  Michael  von  der  ihm  auferlegten  Probe,  eine 
glühende  Eisenkugel  in  den  Händen  zu  halten,  ohne  sich  zu  brennen,  zu 
dispensiren  und  ihn  vollständig  freizusprechen. 

Unter  Theodor  11.,  dem  Sohne  und  Nachfolger  des  Kaisers  Johann 
Yatatzes,  wurde  Michael  Gross-Gonnetable ;  unter  der  Begierung  des  jün- 
geren Johann  Laskaris,  des  Sohnes  und  Nachfolgers  Theodor's  IL,  dessen 
Yonnund  er  geworden,  erhielt  er  die  Würde  eines  Gross-Domestikus  und 
Despoten,  schliesslich  wurde  er  1260  Kaiser  in  Nikaea  und  am  25.  Juli 
.1261  Kaiser  in  Konstantinopel. 

Unser  Michael  Komnenos  ist  also  Niemand  Anderer  als  der  byzan- 
tinische Kaiser  Michael  YIII.,  der  erste  Palaiologe  auf  dem  Trone ;  er 
starb  1282.  Nach  seiner  unter  Johann  Yatatzes  erfolgten  Freisprechung  sollte 
«r  die  Enkelin  dieses  Kaisers,  nämlich  die  Tochter  des  Tronfolgers  Theodor, 
Irene  heiraten,  welche  Ehe  jedoch  vielleicht  wegen  zu  naher  Yerwandt- 
schaft  nicht  geschlossen  wurde.  Es  bestand  nämlich  zwischen  dem  Faare 
folgende  Yerwandtschaft: 

Kaiser  Alexius  m.  (Angelos  Komnenos) 
Gern«  Euphrosyne  Dukaena  a.  d.  H.  Kamateros. 

Irene  Komnena  Anna  Komnena 

Oem.  1.  Andreas  Kontostephanos,         Gern.  1.   Isak  Komnenos,  Sebastokrator  \  um  1196, 
2.  Alexias  Palaeologos.  2.  Theodor  Laskaris  I.  Kaiser  von  Nikaea. 


2.  Tochter  2.  Irene 

Gern.  Andronikos  Palaeologos,  Gross-  Gem.  1.  Andronikos  Palaeologos,  Despot, 

Domestikns.  2.  Kaiser  Johann  Yatatzes. 


Michael  Komnenos   Palaeologos  2.  Kaiser  Theodor  IL 

(Kaiser  Michael  Vlll.).  Gem.  Helene,  Tochter  des  Zaren   Johannes  Asfo  II. 

Irene. 

*  Akropolita  cap.  46.  (Seite  46  der  Pariser  Ausgabe). 

2* 


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20  GLOSSEN   ZUR   BULGARISCHEN   ZAREN -GENEALOGIE. 

Irene  war  also  gewissermassen  MicbaeFs  Nichte.  Nachdem  sich  dieseir 
Heirateplan  zerschlagen,  nahm  sich  Michael  eine  Enkelin  des  Bruders  des 
Kaisers  Johann  Vatatzes  zur  Frau. 

Ihr  Name  ist  Theodora ;  ihr  Vater  beisst  Isak  Dukas,  ist  Sebastokra- 
tor;  ihre  Mutter  ist  die  Tochter  des  Sebastokrators  Johann  Dukas. 

Wir  ersehen  aus  dem  Bisherigen,  dass  eine  Ehe  zwischen  der  Prinzessin 
Thamar  und  einem  Michael  Eomnenos  nie  existirt  bat,  ja  dass  es  Letzterem 
niemals  ernstlich  eingefallen  war,  dieselbe  auch  nur  anzubahnen.  Somit 
wissen  wir  über  die  Schicksale  dieser  As^nidentochter  nichts  Goncretes. 

Es  gibt  aber  einen  Weg,  um  sowohl  über  eine  etwaige  Allianz  dieser 
Prinzessin,  als  auch  über  einen  dunkeln  Punkt  der  AsSnidengenealogie 
einige  —  wie  ich  glaube  gerechtfertigte  —  Vermutungen  aufzustellen. 

Am  15.  Juni  1253  haben  die  Bagusaner  mit  dem  Bulgarenzaren 
Michael  AsSn  ein  Schutz-  und  Trutzbündniss  gegen  den  Serbenkönig  Stefan 
Urosch  I.  geschlossen ;  *  die  Bestimmungen  des  Vertrages  haben  aber  nicht 
nur  für  Michael  allein  Geltung,  sondern  sie  erstrecken  sich  auch  auf  die 
Person  und  auf  das  Gebiet  des  Sebastokrators  Peter. 

Die  Urkunde  nennt  diesen  Peter:  tZemle  zete  svetoho  ti  caristvo 
Petra  sebastokratora»  «tvolo  svetoho  ti  caristva. . .  Petra  visokoho  sebasto- 
kratora.»  Ich  bin  leider  nicht  in  der  Lage,  über  das  in  der  Urkunde  aus- 
gedrückte Affinitätsverhältniss  des  Sebastokrators  Peter  zum  Zaren  Michael 
As2n  mir  persönliche  Auskunft  zu  verschaffen,  muss  mich  somit  auf  die 
Angaben  Anderer  stützen.  Wenzel  übersetzt  nan  die  betreffenden  Stellen 
der  Urkunde  folgendermassen  ins  Ungarische:  «Die  Leute  und  Eaufleute 
Deiner  heil.  Zarlichkeit  und  des  Schwiegersohnes  Deiner  heil.  Zarlich- 
keit,  des  Sebastokrators  Peter  .  .  .  sollen  in  Ragusa  Schutz  finden»  «Ebenso 
die  Eaufleute  Bagusa's,  die  des  Handels  wegen  in  das  Gebiet  Deiner  heil. 
Zarlichkeit  oder  in  jenes  des  Schwiegersohnes  Deiner  Zarlichkeit,  des 
Sebastokrators  Peter  kommen.  — »  Jireßek  268  und  386  führt  den 
Sebastokrator  Peter  gleichfalls  mit  Berufung  auf  obige  Urkunde  als  Schwie- 
gersohn Michael's  an ;  doch  widerruft  er  diese  Angabe  an  anderer  Stelle,** 
indem  er  Folgendes  sagt:  «In  der  Genealogie  der  As^niden  in  meiner  .  . 
Geschichte  der  Bulgaren  p.  268  .  .  ist  u.  A.  ein  grosser  Fehler :  Peter  Sevas- 
tokrator  war  nicht  Schwiegersohn,  sondern  Schwager  des  Zaren  Michael 
AsSn.»  Nachdem  es  nun  ein  für  allemale  unmöglich  ist,  in  Peter  einen 
Schwiegersohn  Michaels  anzunehmen  —  weil  Zar  Michael   1253  ein  höch- 


■•'-  Veröffentlicht    u.    A.    in    Miklosich     Monum.     Serb.    35,    "Wenzel    11.    pag. 
358  seqq. 

-*'*  Schreiben  des  Herrn  Prof.  Konstantin  Jireöek  an  mich  do.  Prag  27.  Dezem  • 

her  1887. 


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GLOSSEN    ZUR   BULGARISCHEN   ZAREN-GENEALOGIE.  31 

«tens  ISjähiiger  JäDgling  gewesen,  —  acceptire  ich,  gestützt  auf  Jire6eks 
Autorität,  den  Sebastokrator  Peter  als  den  Schwager  Michaels. 

Zar  Michael,  ein  jüngerer  Sohn  Johann  As^ns  TL,  ist — wie  wir  unten 
sehen  werden —  bestenfalls  1238  geboren  und  1253  noch  unvermählt 
gewesen,  somit  kann  die  Schwagerschaft  Peters  sich  nur  dahin  erklären, 
-dass  Peter  der  Schwestermann  Michaels  gewesen.  Fragen  wir  nun,  welche 
seiner  Schwestern  wohl  an  Peter  vermählt  gewesen  sein  konnte,  so  ergibt 
sich  die  Antwort,  dass  es  keine  der  jüngeren  Schwestern  Michaels  gewesen, 
-da  sich  dieselben  1253  noch  in  sehr  jugendlichem  Alter  befanden,  und 
dass  sich  als  Gattin  Peters  ganz  entschieden  die  Prinzessin  Thamar  anneh- 
men lässt,  nachdem  sie  1253  sich  in  der  vollsten  Reife  weiblicher  Ent- 
wickelung  befinden  konnte  und  wir  keinen  anderen  Gatten  ihrerseits 
kennen.*  Damit  will  ich  nun  nicht  mit  absoluter  Gewissheit  gesagt  haben, 
Peter  sei  Thamar's  Gemahl,  ich  will  damit  nur  die  Möglichkeit  anbahnen, 
diesen  documentarisch  sichergestellten  Schwager  des  Zaren  Michael  AsSn 
auf  der  Stammtafel  der  As^niden  zu  unterbringen  und  dies  glaube  ich  am 
richtigsten  durchzuführen,  indem  ich  ihn  als  fraglichen  Gütten  Thamar's 
aufnehme. 

b)  Aus  der  Ehe  mit  Irene  Angela : 

a^)    Zar   Michael    I.    (Äsen). 

Da  Johann  As^n  U.  sich  frühestens  Ende  1237  mit  Irene  vermählt, 
könnte  Michael,  wenn  er  das  erste  Kind  dieser  Verbindung  gewesen, 
frühestens  1238  geboren  sein.  Jedenfalls  war  er,  als  er  1246  seinem  Bru- 
der Eoloman  in  der  Regierung  folgte,  ein  unmündiger  Knabe,  für  den 
seine  Mutter  Irene  die  Regierung  führte.** 

Die  Regierungszeit  MichaeFs  ist  eine  Kette  von  fruchtlosen  Versuchen^ 
die  Grösse  Bulgariens  in  jenem  Maasse  herzustellen,  in  welchem  sie  sich 
zur  Zeit  des  Todes  seines  Vaters  befunden.  Die  erfolglosen  Kriege,  in  die 
•er  sein  Land  gestürzt,  mögen  wohl  im  Vereine  mit  den  Tronaspirationen 
seines  Verwandten,  des  Prinzen  Koloman,  den  Ausbruch  der  Unzufrieden- 
heit einer  grossen  Partei  gefördert  haben,  als  deren  Opfer  Michael  1257 
fiel.  Er  befand  sich  ausserhalb  seiner  Residenz,  als  er  von  Koloman,  den 
eine  Schaar  Timovaer  begleitete,  erschlagen  wurde. 


*  üeber  das  Jahr  ihrer  Vermählung  stehen  uns  keine  Daten  zur  Verfügung. 
Nach  einer  Notiz  ap.  Engel  411,  bemerkt  Nikephor,  dass  Thamar  noch  nach  dem 
Jahre  1245  unverehelicht  gewesen  sei. 

**  Eine  Münze   ap.    Ljubic,    Opis  jugoslavenskih  novaca,  Agram  1875,  ^t  IE. 
^r.  17  hat  folgende  Inschiift:  c(ai)  Michail  —  c(arica)  Erina. 


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22  GLOSSEN    ZUR   BULGARISCHEN    ZAREN -GENEALOGIE. 

Michaels  Gattin  war  die  Tochter  des  «Bosses  Uros»,  in  dem  wir  den^ 
Borikiden  Bostislav,  Fürsten  von  Halles  und  Ban  von  Macsö,  Schwiegersohn 
des  Ungamkönigs  Bela  IV.  zu  erkennen  haben. 

Akropolita  ^  erzählt,  dass  sich  der  Bulgarenzar  Michael  I.  As£n  (um 
1255)  mit  der  Tochter  des  «Bossos  Uros»,  eines  Schwiegersohnes  des  Königs 
von  Ungarn,  vermählt.  Dieser  Bossos  Uros  gelangte  dadurch  in  die  Lage, 
sich  in  die  Angelegenheiten  Bulgariens  zu  mengen.  Im  Frühjahr  1257  ver- 
mittelte er  z.  B.  einen  Frieden  zwischen  seinem  Schwiegersohne  und  dem 
Kaiser  Theodor  11.  von  Nikäa. 

Als  nach  Michaels  Ermordung  der  Usurpator  Koloman  IL  sich  der 
jungen  Zarin- Witwe,  der  Tochter  Bossos  Uros',  bemächtigte,  zog  Bossos 
Uros,  der  diese  Verbindung  seiner  Tochter  nicht  billigte,  1258  nach  Bul- 
garien, rückte  mit  einer  Armee  gegen  Timova  vor,  worauf  der  Usurpator 
die  Flucht  ergriflf  und  auf  derselben  getödtet  wurde. 

Obzwar  nun  die  griechischen  Quellen  nur  den  einen  Erfolg  dieses  sieg- 
reichen Vorgehens  Bossos  Uros'  in  Bulgarien  anerkennen,  dass  er  seine 
Tochter  den  Händen  des  Usurpators  entrissen  und  nach  Hause  genommen, 
ist  es  aus  abendländischen  Quellen  sichergestellt,  das  Bossos  Uros,  in  dem 
wir  unseren  Bostislav  zu  erkennen  haben,  durch  seinen  Sieg  über  den  Usur- 
pator sich  eine  Zeit  lang  zum  Herrn  der  zerrissenen  Situation  in  Bulgarien 
gemacht,  dass  er  auf  kurze  Zeit  die  Zügel  der  Herrschaft  in  seiner  Hand 
vereinigte  und  dass  er  den  Mytzes  unter  seiner  Oberhoheit  zum  Zaren  der 
Bulgaren  einsetzte. 

Nun  existirt  aber  eine  ansehnliche  Anzahl  von  Autoren,  die  in  Bossos 
Uros  nicht  unseren  Bostislav,  sondern  jemand  Anderen  vermuten.  Nament- 
lich that  dies  1841  Palacky,*  der  den  Beweis  zu  erbringen  bestrebt  war, 
dass  sich  der  Bericht  des  Akropolita  nicht  auf  Bostislav,  sondern  auf  den 
Serbenkönig  Stefan  Urosch  L  beziehe. 

Die  kräftigsten  Verteidiger  der  Palackyschen  Hypothese  waren  der 
Busse  Golubinski  und  der  neueste  Autor  der  Geschichte  der  Bulgaren : 
Jire6ek.'  Letzterer  behauptet,  das  dass  Akropolitasche  Oupo^  die  Schreibweise 
für  das  serbische :  Uros  sei,  während  andere  Byzantiner  allerdings  dafür 
Oipeatq  schreiben. 

Dafür,  dass  wir  unter  Bossos  Uros  unseren  Bostislav  zu  verstehen 
haben,  sprachen  sich   schon  vor  langer  Zeit   Gebhardi,   Engel,   Fessler, 

*  Bonner  Ausgabe,  1836,  pa/.  1:34.  —  Hier  sei  nur  zum  Beweise  des  Behaup- 
teten angeführt,  dass  sich  Bostislav  um  die  erwähnte  Zeit  den  Titel  eines  Zaren  von 
Bulgarien  beigelegt,  wie  dies  aus  einer  Urkunde  Bd.  I  pag.  3  der  gräflich  Zichyschen 
Urknndensammlung  ersichtlich  ist  («Nos  Razlaus  Dux  Galaoinp  ac  Imperator  Bul- 
garorumi). 

*  In  seiner  Abhandlung  «lieber  den  russischen  Fürsten  Bostislav •  Radhost  II  27^w 
«  Geschichte  der  Bulgaren  1876,  pag.  266,  270. 


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23 


C.  H.  Palanzow  ^  u.  A.  aus.  Ihnen  reiht  sieh  Wenzel  in  seiner  öfter  erwähn- 
ten Abhandlung  über  Bostislav  an.  Die  Gründe^  die  er  zur  Verteidigung 
seiner  Ansicht  ins  Treffen  führt,  sind  etymologischer,  politischer  und 
genealogischer  Natur. 

1.  Wenzel  geht  von  der  Ansicht  aus,  dass  die  Bezeichnung  «dominus 
de  Machout  mit  «Herr»  oder  dem  ungarischen  tur»  gleichbedeutend  ist; 
das  Wort  «Herrt  sei  aber  sowohl  bei  abendländischen  als  morgenländischen 
Autoren  im  Sinne  des  « Führers  •  gebraucht  worden.^  Damit  stehe  nun  im 
Zusammenhange,  dass  das  AkropoUtasche  Bossos  Uros  einen  «ür»  russischer 
Abstammung  bezeichne,  was  vollständig  dem  1254  urkundlich  vorkommen- 
den «Dominus  de  Machout  im  Sinne  des  «Führers •  oder  «Herzogst 
entspreche. 

2.  Dazu,  dass  wir  einen  so  wichtigen  historischen  Akt,  wie  Bostislavs 
Intervention  in  Bulgarien,  leugnen  sollten,  hält  Wenzel  die  unbestimmte 
Sofareibweise  eines  Personeneigennamens  nicht  für  genügend,  dazu  gehören 
jedenfalls  quellenmässig  beglaubigte  Daten,  weil  Bostislavs  bulgarische 
Intervention  an  und  für  sich  mit  bewiesenen  historischen  Thatsachen  in 
Uebereinstimmung  steht.  Und  schliesslich  ist  ja  die  Unbestimmtheit  in  den 
Personeneigennamen  auch  nicht  vollständig  ausgesprochen.  Stefan  Uros 
kann  man  nicht  einen  rassisch-ungarischen  Herrn  nennen ;  auch  bezeichnen 
ihn  die  byzantinischen  Autoren  nicht  als  solchen,  sondern  immer  als 
«Uresis». 

3.  Die  präzise  Angabe  Akropolitas,  dass  Bossos  Uros  Schwiegersohn 
des  Königs  von  Ungarn  gewesen,  ist  keineswegs  auf  Stefan  Urosch  von  Ser- 
bien anzuwenden,  dessen  Gattin  Helene  zwar  abendländischer  Abstammung, 
aber  keinesfalls  die  Tochter  eines  ungarischen  Königs  gewesen. 

4.  Nicht  nur  Gomides  hält  Bostislav  bulgarischen  Ursprunges,  sondern 
noch  zahlreiche  andere  ältere  und  neuere  Autoren ;  z.  B.  Neplach,^  Pul- 
kava  *  etc.,  die,  so  oft  sie  von  Bostislavs  Tochter  Kunigunde  sprechen,  sie 


*  In  der  Abhandlung  «Rosztizlav  Macsevskit  im  71.  Bande  des  Journals  des 
mssiBchen  Unternchtsministeriums. 

*  Kinnamos  und  Niketas  Choniata  z.  £.  geben  an,  dass  Kaiser  Manuel 
Ladislans  ü.  auf  den  Thron  Ungarns  erhoben,  und  neben  ihn  seinen  Bruder  Stefan 
in  jene  Würde  eingesetzt  habe,  die  die  Ungarn  «ür»  nennen  (ti^v  Ovqov/4  inexk^- 
Qioaav);  Kinnamos,  Bonner  Ausgabe  1836,  203,  Niketas  do.  1835,  lß5.  —  Die  Abend- 
länder hingegen  (nämlich  deutsche  Chronisten)  erwähnen  gelegentlich  der  Wieder- 
gabe der  ungarischen  Geschichte  des  X.  Jahrhunderts  ungarische  Anführer  des 
Namens  tAssuri,  «Sur»,  «Surai ;  dies  sind  keine  Eigennamen,  sondern  Verballhor- 
nungen des  Wortes  «az  ür»  =  der  Herr. 

^  cFiliam  Bostyslai  Ducis  Bulgarorum»  ap.Petz  II 1083;  Dobner,  Monum.  VII  113 
^  cCnnegundem  filiam  Hostislai  Ducis  Bulgarorum,  ueptem  Bela^  Regis  Unga- 
roromt  ap.  Dobner  III  231. 


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-^  GLOSSEN  ZUR  BULGARISCHEN  ZAREN -GENEALOGIE. 

eine  Tochter  des  Bnlgarenförsten  Bostyslaus  oder  Hostyslaos  nennen.  Aach 
Dlugosz  nennt  die  Griffina^  Gemahlin  Leszeks  des  Schwarzen  Ton  Erakan, 
bulgarischen  Ursprunges.* 

5.  Bostislav  selbst  nennt  sich  «Imperator  Bulgarorumf.** 

Wir  haben  der  Wenzelschen  Auseinandersetzung  unter  voUer  Aner- 
kennung ihrer  Stichhaltigkeit  Folgendes  zuzufügen : 

1.  Was  die  etymologische  Seite  der  Sache  anbelangt,  gebe  ich  zu,  dass 
«Uros»  die  gräzisirte  Form  des  ungarischen  «ürt  sei,  doch  scheint  mir  die 
sprachliche  Erklärung  des  «Bossost  als  «russisch»  misslungen.  Mir  scheint 
«Bossos»  die  gräzisirte  Form  von  «Bos»,  der  Anfangssilbe  des  Namens 
Bostislav,  zu  sein. 

±  Politischerseits  haben  wir  zu  erwägen,  dass  Zar  Michael  I.  von  Bul- 
garien deshalb  die  Tochter  des  Bossos  Uros  zur  Gemahlin  genommen,  weil 
er  durch  diese  Ehe  ein  Gegengewicht  gegen  die  Aspirationen  des  griechischen 
Hofes  sich  verschaffen  wollte. 

Nun  liegt  es  doch  auf  der  Hand,  dass  durch  ehelichen  Anschluss  an 
den  Schwiegersohn  des  Königs  von  Ungarn  sich  dieses  Gegengewicht  viel 
sicherer  erlangen  liess,  als  durch  eheliche  Allianz  mit  den  damals  noch 
unbedeutenden  und  politisch  nicht  sehr  in  die  Wagschale  fallenden  Nema- 
njiden ;  zudem  ist  uns  ja  nichts  von  einer  solchen  Tochter  Stefan  ürosch'  I. 
überliefert. 

3.  Ganz  abgesehen  davon,  dass  ja  Akropolita  deutlich  den  Bossos  Uros 
einen  Schwiegersohn  des  Königs  von  Ungarn  nennt,  ist  nicht  zu  vergessen, 
dass  einer  Vermählung  Michaels  mit  einer  dem  Ärpädenhause  verwandten 
Prinzessin  schon  durch  die  Vermählung  seines  Vaters  ein  mächtiges  Prä- 
zedens  geboten  ward  und  dass  die  Allianz  sowohl  ungarischer-  als  bulga- 
rischerseits  genealogisch  und  politisch  gerechtfertigt  war : 

Andreas  II.  von  Ungarn, 
t  1235. 


B61aIV.,  Marie,     — ^  Johann  Asön  n., 

t  1270.  t  1237.  1220/1.  f  1241. 

Anna.  3.  Oem.  Irene  Laskara. 

Gem.:  Roatislav.  ^ | 

Tochter.  —    ,,  3)  Michael  I.  (Äsen), 

am  1255.  f  1257. 


Ich  schliesse  mich  also  ganz  üb4  &^  ^^^  Meinung  an,  dass  unter 
Bossos  Uros  ausschliesslich  Bostislav  von  Maöva  zu  verstehen  sei. 

Bostislav's  und  seiner  Gemahlin  Anna  (Todhter  Bela*s  IV.)  ungenannte 
und  um  1255  an  Michael  I.  vermählte  Tochter  ist,  da  sie  unter  ihren 
Schwestern  als  die  zuerst  vermählte  erwähnt  wird,  jedenfalls  das  älteste 


*  cMatrona  Bulgariae  ortai  ed.  Lips.  1711,  VII  858.  \ 

**  Zichysches  ürkundenbuch  I  3.  \ 


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GLOSSEN    ZUR   BULGABISCHEN    ZAREN -GENEALOGIE.  ^^ 

Kind  ihrer  Eltern.  Sie  dürfte  somit  1244  geboren  und  in  ihrem  11-ten 
Xiebensjahre  vermählt  worden  sein.  Ob  sie  nach  dem  Tode  ihres  Oatten^ 
Yon  dessen  Nachfolger,  Koloman  11.^  legitim  geehlicht  wurde^  oder  nur  als 
Erbstück  des  ermordeten  Michael  ohne  Weiteres  übernommen  wurde,  ist 
nicht  genau  bekannt.  Ueber  ihre  ferneren  Schicksale  stehen  uns  keinerlei 

Daten  zur  Verfügung. 

a*)  Maria. 

üeber  diese  Prinzessin  vgl.  13)  Mytzes. 

a')   Theodor  a. 

Diese  wird  von  Akropolita  gleichfalls  als  Irene's  Tochter  angeführt^ 
-doch  begeht  er  die  Inconsequenz,  sie  auch  Anna  zu  nennen.  Ihre  Geschichte 
ist  vollständig  unbekannt. 

Ausser  den  bisher  Angeführten  kennen  wir  noch  folgende  Töchter 

Johann  AsSnsII: 

a**)    B  e  1  o  s  1  a  V  a    (W 1  a  d  i  s  1  a  v  a). 

Die  Erörterung  ihrer  Verhältnisse  s.  unter  Stefan  Wiadislav  von 
Serbien.  (Vgl.  meine  genealogische  Geschichte  der  südslavischen  Dynas- 
tien —  ung.  — ) 

a®)    Maria. 

Natürliche  Tochter  Johann  As^ns  II.  von  unbekannter  Mutter. 

Als  Theodor  Angelos,  Despot  von  Epiros,  die  Grenzen  seines  Reiches 
mehr  und  mehr  erweiterte^  musste  es  zwischen  ihm  und  Johann  Äsen  II. 
2U  Auseinandersetzungen  kommen.  Der  Bulgarenzar  fand  es  Anfangs 
geraten  mit  Theodor  auf  freundschaftlichem  Fusse  zu  stehen  und  ein  Aus- 
fluss  dieses  Bundes  war  die  Vermählung  Maria's,  der  natürlichen  Tochter 
des  Zaren,  mit  dem  Prinzen  Manuel  Angelos,  Theodors  Bruder. 

Das  Jahr  der  Vermählung  lässt  sich  nicht  apodiktisch  festsetzen^  doch 
gehen  wir  nicht  irre,  wenn  wir  dafür  ca.  1225  annehmen.  Da  diese  Maria 
jene  Tochter  Johann  AsSn's  II.  ist,  die  sich  unter  ihren  Schwestern  am 
frühesten  vermählte,  so  ist  sie  sicherlich  ihres  Vaters  erstes  Kind  und 
muss  sie  deshalb  die  Reihe  der  Kinder  Jobann  Asens  II.  eröffnen. 

Als  Theodor  —  nachdem  er  den  Freundschaftseid  gebrochen  —  in 
<ler  Schlacht  bei  Klokotnica  im  April  1230  aufs  Haupt  geschlagen  wurde, 
Hess  Johann  AsSn  seinen  Schwiegersohn  im  Besitze  von  Tbessalonich  und 
•einigen  Stücken  von  Epiros,  worauf  Manuel  den  Kaisertitel  annahm. 

Als  nun  Johann  Äsen  1237/8  sich  mit  Irene  Angela,  der  Nichte 
ifanuers  verheiratete,  mag  ihm  die  Verschwägerung  mit  seinem  Schwieger- 
sohne denn  doch  nicht  ganz  bequem  für  sein  religiöses  Gewissen  erschie- 
nen sein.  Er  Hess  daher  seinen  Schwiegervater,  den  in  der  Schlacht  bei 
'Klokotnica  gefangenen  und  geblendeten  Theodor  frei  und  bot  ihm  genü- 
gende Hilfe,  sich  Thessalonichs  wieder  zu  bemächtigen.  Theodor  nahm  den 


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2ö  GLOSSEN   ZUR   BULGARISCHEN   ZAREN-GENEALOGIE. 

Kaiser  Manuel  gefangen,  internirte  ihn  in  dem  pamphilischen  Attalia  und 
schickte  die  Kaiserin  Maria  zu  ihrem  Vater  nach  Bulgarien  zurück.^ 


12.  Zar  Eoloman  II. 

Wie  wir  wissen  hat  Zar  Johann  As^n  I.  zwei  unmündige  Söhne  hin- 
terlassen, deren  jüngerer  den  Namen  Alexander  geführt.  Dieser  teilte  die- 
Schicksale  des  älteren  Bruders  Johann  Äsen  bis  zu  dessen  Tronbesteigung^ 
Er  dürfte  sofort  nach  dem  Begierungsantritte  desselben  die  Würde  einea 
Sebastokrators  erhalten  haben  und  es  ist  fast  sicher  anzunehmen,  dass  er 
Johann  AsSn  II.  nicht  überlebt  hat,  weil  es  sonst  unerklärlich  wäre,  dass  wir 
gelegentlich  der  Regierung  seiner  beiden  minderjährigen  Neflfen  Koloman 
und  Michael  nicht  auf  sein  politisches  Wirken  stossen. 

Aus  seinem  Leben  wissen  wir  nur  sehr  wenig.*  Aus  einer  unten  aus- 
führlicher zitirten  Urkunde  ersehen  wir,  dass  er  in  einem  gegen  Ungar» 
geführten  Kriege  das  bulgarische  Heer  kommandirte  (was  aber  vor  123S 
verfolgt  ist.)  Nichtsdestoweniger  ist  es  aber  heute  gang  und  gäbe,  ihm 
einen  Sohn  Namens  Koloman  zuzuschreiben,  denselben  nämlich,  der  den 
Zaren  Michael  I.  1258  ermordete.  Niketas  nennt  ihn  nur  einen  Verwandten 
Michael's.  Die  Provenienz  seines  ungarischen  Namens  betreffend,  ist  anzu- 
nehmen, dass  er  wahrscheinlich  gleichzeitig  oder  kurz  nach  Johann 
Asen's  11.  Sohn  Koloman  geboren  wurde  oder  dass  seine  Mutter  vielleicht 
auch  eine  Ungarin  gewesen. 

Koloman  IL  suchte  den  durch  einen  Mord  erworbenen  Tron  dadurch 
zu  kräftigen,  dass  er  sich  mit  thunlichster  Eile  zum  Gatten  der  jungen 
Zarenwitwe  aufdrängt.  Bostislav,  von  der  Wendung  der  Dinge  in  Bulgarien 
unterrichtet,  zog  mit  einem  Heere  gegen  Timova ;  bevor  er  aber  noch 
daselbst  eintraf,^  war  der  Usurpator  nicht  mehr  am  Leben.  Koloman  hatte 
(entweder  auf  die  Nachricht  von  Rostislavß  Anzüge  hin  oder  einer  ihm  feind- 
lichen einheimischen  Partei  weichend)  die  Flucht  ergriffen  und  fand  auf 
derselben  seinen  gewaltsamen  Tod. 

Mit  ihm  ist  der  Mannesstamm  der  Aseniden  ausgestorben  und  hän- 
gen sämmtliche  Herrscher  Bulgariens  bis  zu  den  Zeiten  der  jüngeren  Sis-^ 
maniden  entweder  durch  mütterliche  Abstammung  oder  nur  durch  Ver- 
schwägerung mit  den  Aseniden  zusammen. 


*  Engel  414  meint,  Johann  Aßdn  habe  Manuel's  Sturz  mir  deshalb  befördert,, 
damit  er  durch  Trennung  der  Ehe  Manuel's  die  Wirkung  der  gegenseitigen  Verwandt- 
schaft aufhebe. 

'  Der  Pomenik  erwälmt  ihn  als  Alexander,  Sebastokrator,  Bruder  des  grosseik 
Zaren  Asön. 

*  Jirecek  267. 


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GLOSSEN   ZUR   BULGAM8CHEN    ZA  REN -GENEALOGIE. 


27 


13.  «Zart  Mytzes. 

Wenn  wir  die  Berichte  der  Byzantiner  Georg  Pachymeres  nnd  Nike- 
phor  Gregoras  *  snmmiren,  so  ergeben  sich  für  die  auf  Eoloman's  II.  Tod 
gefolgten  unmittelbaren  Ereignisse  folgende  Besultate  : 

Bostislay  hatte,  als  er  nach  Michael's  und  Eoloman's  II.  Ermordung 
die  Ordnung  in  Bulgarien  hergestellt,  den  Mytzes,  den  Gemahl  der  Maria,, 
einer  Tochter  Johann  Asen's  ü.  und  der  Irene  Angela,  zum  Machthaber  in 
Bulgarien  eingesetzt.  Mjrtzes,  ein  energieloser  und  träger  Mensch,  zeigte  sich 
jedoch  nicht  gewachsen,  die  ihm  zugefallene  Aufgabe  zu  lösen  und  sa 
gelang  es  dem  von  der  nationalen  Partei  aufgestellten  Konstantin  (siehe 
Konstantin),  den  Kampf  gegen  Mytzes  siegreich  zu  Ende  zu  führen.  Der 
erste  Schritt  hierzu  war  die  Einnahme  Timova's,  aus  dem  Mytzes  floh  und 
in  welchem  sich  Konstantin  zum  Zaren  krönen  Hess.  Mytzes  gelang  es 
zwar  bald  darauf  seinem  Gegner  eine  Schlappe  beizubringen,  in  Folge- 
deren  sich  derselbe  in  das  Schloss  Stenimachos  zurückziehen  musste,  doch 
gelang  es  den  mit  Konstantin  verbündeten  Truppen  des  nikäischen  Kaisern 
Theodor  11.  den  Belagerten  zu  entsetzen.  Der  im  August  1 258  erfolgte  Tod 
Theodor's  11.  war  für  Mytzes  ein  grosser  Nachteil  und  wir  irren  wohl  nicht,, 
wenn  wir  behaupten,  dass  er  sich  nun  nur  mit  ungarischer  Hilfe  in  den 
Gebirgsgegenden  um  Tirnova  herum  gegen  Konstantin  kümmerlich  behaup- 
tete. Als  aber  um  1 264  Mytzes  auf  sich  allein  angewiesen  war,  zwang  ihn 
Konstantin  zur  Flucht.  Er  floh  nach  Meeembria  und  warf  sich  bald  in  die 
Arme  des  Kaisers  Michael  Palaiologos  von  Konstantinopel,  dem  er  Meaem- 
bria  und  Anchialus  gegen  einige  erträgliche  Güter  am  Skamander  in  Kol- 
chis  übergab.  Was  mit  Mytzes  ferner  geschehen,  ist  unbekannt;  es  scheint 
dass  er  1278  (als  sein  Sohn  zum  Zaren  Bulgariens  ersehen  wurde)  nichi 
mehr  am  Leben  gewesen;  auch  über  die  Geschicke  seiner  Gattin  Maria 
sind  wir  im  Unklaren ;  sie  hat  jedenfalls  —  gleich  ihrem  Gatten  ~  ihr 
Leben  auf  den  Gütern  am  Skamander  beschlossen. 

Jire^ek  270  leugnet  die  Herrschaft  des  Mytzes,  lässt  nach  Koloman's  IL 
Ermordung  sofort  den  Konstantin  zum  Zaren  gewählt  werden  und  hält  ea 
für  sehr  wahrscheinlich,  dass  dieser  Mytzes  Niemand  Anderer,  als  der 
durch  Sagen  entstellte  Zar  Michael  AsSn  (Mica,  Diminutiv  für  Michail)  sei. 
Er  begründet  dies  Alles  damit,  dass  der  Zeitgenosse  Akropolita,  der  doch 
1260  den  Zaren  Konstantin  persönlich  kennen  gelernt,  von  der  2jarenschaft 
des  Mytzes  Nichts  erwähne,  und  dass  wir  unsere  Nachricht  über  Letzteren 
nur  dem  späteren  Zeitgenossen  Pachymeres  und  dem  Epigonen  Nikephor 
Gregoras  verdanken.  Dem  gegenüber  haben  wir  Folgendes  zu  erwägen: 


*  Ergterer  lebte  1242—1308,  Letzterer  1295—1360. 


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1 


^8  GLOSSEN    ZUR   BULGARISCEtEN    ZAREN -GENEALOGIE. 

a)  Mytzes  ist  yon  Bostislav  sicherlich  nicht  zum  Machthaber  ganz 
Bulgariens  eingesetzt  worden. 

h)  Sofort  nach  dem  Antritt  seiner  Herrschaft  hat  die  mit  seiner  Per- 
son und  der  ungarischen  Oberherrlichkeit  unzufriedene  nationale  Partei 
<len  Konstantin  zum  Zaren  gewählt. 

c)  Mytzes  war  somit  nach  kurzer  Herrlichkeit  zur  Bolle  eines  angefein- 
deten und  verfolgten  Prätendenten  gelangt,  während  Konstantin  sowohl 
Ton  seinen  eigenen  Unterthanen,  wie  auch  vom  kaiserlichen  Hofe  zu  Kon- 
«tantinopel  als  faktischer  und  legitimer  Beherrscher  Bulgariens  anerkannt 
worden  ist. 

Somit  haben  wir  allenfalls  das  Becbt,  Mytzes  —  der  niemals  zur 
selbstständigen  und  unbeschränkten  Herrschaft  gelangt  war  —  nicht  in 
<lie  Zarenreibe  aufzunehmen  (in  der  er  als  Michael  U.  figuriren  müsste) ; 
aber  daraus,  dass  der  Weihnachten  1260  am  Hofe  Konstantins  glänzend 
empfangene  Akropolita  einzig  und  allein  nur  Konstantin  als  Zaren  Bulga- 
riens kennt  und  seine  Tronbesteigung  ohne  Berücksichtigung  der  mit 
Bezug  auf  den  in  den  Augen  des  kaiserlichen  Gesandten  illegitimen  Prä- 
tendenten Mytzes  sich  abgespielten  Ereignisse,  als  ein  Faktum  erzählt, 
welches  1258  sofort  nach  Koloman's  U.  Ermordung  sich  vollzog:  dürfen 
wir  noch  durchaus  nicht  behaupten,  dass  Pachymeres,  der  z.  B.  1265,  als 
Mytzes  sich  in  Griechenland  als  Privatmann  zurückgezogen,  schon  eia 
23jähriger  Mann  gewesen,  seinen  Mytzes  mit  dem  durch  Sagen  entstellten 
Zaren  Michael  Äsen  verwechselt  habe. 

Yon  Mytzes*  Kindern  kennen  wir  nur  folgende  zwei  mit  Bestimmtheit : 

1)  eine  ihrem  Namen  nach  unbekannte  Tochter,  die  1279  an  Georg 
Terterij  I.  (s.  d.)  vermählt  wurde. 

2)  Zar  Johann  Äsen  III.  Als  der  Usurpator  Ivajlo  auf  der  Höhe 
^seiner  Erfolge  gestanden,  fand  es  der  griechische  Hof  geraten,  ihm  in  der 
Person  eines  As^niden  einen  Gegner  aufzustellen.  Mytzes  war  damals  ent- 
weder nicht  am  Leben,  oder  hatte  er  sich  durch  die  kurze  Zeit  seiner  bul- 
garischen Herrscherschaft  als  viel  zu  untau&^lioh  erwiesen,  kurz  os  wurde 
sein  Sohn  Johann  vom  Staatsrate  dazu  aust-rsehen,  dem  mächtigen  Aben- 
teurer die  Spitze  zu  bieten.  Um  die  asSnidische  Abkunft  des  neuen  Tron^- 
hewerbers  noch  durch  einen  aktuellen  Vorzug  seiner  Person  mit  grösserem 
Nimbus  zu  umkleiden,  verlobte  man  ihn  —  den  nunmehr  designirten  Zar 
von  Bulgarien  —  mit  der  Prinzessin  Irene,  einer  Tochter  des  Kaisers 
Michael  VIII.  Nun  erhielt  er  noch  den  für  bulgarische  Ohren  besser  klin- 
genden Namen  Äsen  und  für  den  Fall  des  Misslingens  seiner  bulgarischen 
Tronbestrebungen,  die  Zusicherung  des  Titels  eines  byzantinischen  Des^ 
poten.  Die  Hochzeit  wurde  mit  grossem  Pompe  Anfangs  1278  gefeiert. 

Als  sich  Anfangs  1279  das  Gerücht  von  Ivajlo's  Tod  verbreitete, 
öflfnete  das  belagerte  Tirnoya  seine  Tore  und  Johann  Äsen  IIL  zog  unter 


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GLOSSEN    ZUR   BULGABISCHEN    ZABEN- GENEALOGIE.  21> 

Frendebeseugungen  der  Einwohner  als  Zar  ein ;  kurz  darnach  folgte  ihm 
seine  unterdessen  in  Griechenland  gebliebene  Gemahlin. 

Die  Zarenherrlichkeit  Johann  As^ns  lU.  dauerte  nicht  lange.  Er  hatte 
die  Unerfahrenheit  in  militärischen  Dingen  und  die  XJntüchtigkeit  über- 
haupt von  seinem  Vater  geerbt.  Als  der  zurückgekehrte  Ivajlo  ein  zu  Johann 
As^n's  Schutze  herbeigekommenes  griechisches  Heer  am  15.  Aug.  1280 
aufs  Haupt  schlug  und  Georg  Terterij^  Johann  Asen's  Schwager,  sich  eine 
grosse  Partei  im  Volke  und  unter  dem  Adel  erworben,  raffte  der  Zar  alle 
Schätze  seiner  Burg  zusammen  und  floh  —  eine  Strecke  unter  dem  Vor- 
wande  einer  Beise  aus  Gesundheitsrücksichten  —  über  Mesembria  nach 
Eonstantinopel.  EAiser  Michael  schalt  den  Feigen,  konnte  aber  nicht  ver- 
hindern, dass  die  Bulgaren  sich  einen  Zaren  aus  ihrer  Mitte  wählten. 

Johann  As^n's  HI.  sowie  seiner  Gattin  Schicksale  nach  1 280  sind 
unbekannt;  besser  kennen  wir  indessen  seine  Nachkommen. 

Er  hatte  vier  Söhne  und  drei  Töchter,  deren  eine  (Maria)  sich  1305/6 
mit  Boger  de  Flor,   dem  Anführer  der  katalonischen  Söldner  vermählte. 

Unter  den  Söhnen  Johann  Asßn's  III.  spielte  der  Protovestiar  Andro- 
nikos  Asän  eine  grosse  Bolle ;  seine  Tochter  Irene  Asanina  war  die  Gemahlin 
des  nachmaligen  Kaisers  Johann  Eantakuzenos. 

Einer  seiner  Enkel, "^  Johann,  erscheint  (1344)  als  Eonmuandant 
Johann  Eantakuzen's  in  Morrha. 

Mit  Andronikos,  dem  Urenkel  Johann  As^n's  IE.  hört  bei  Ducange 
114  die  genealogische  Beihenfolge  der  «Asanina  Familia»  auf  und  alle 
später  vorkommenden  gräzisirten  Nachkommen  Johann  As^n's  HI.  sind 
uns  nur  daher  als  solche  gekennzeichnet,  weil  sie  den  Namen  »Asan» 
ihrem  Taufnamen  angereiht  führen. 

Bemerkenswert  sind  unter  ihnen  : 

1.  Alexius  Asan,  beherrschte  östlich  von  Süd-Macedonien  die  Seestadt 
Christopolis  (bei  Kavala)  und  die  Insel  Thasos  bei  17  Jahre.  Nachdem  er 
den  Türken  einige  Schlösser  entrissen  und  an  seinen  Nachbarn  keinen 
Schutz  fand,  erwarb  er  1373  das  venetianische  Bürgerrecht.  Er  hatte  zwei 
Brüder,  von  denen  Johann  am  9.  März  1356  gleichfalls  die  oben  genannten 
Lehen  erhielt.  1373  ist  Johann,  ebenso  wie  der  andere  Bruder  bereits  ver- 
storben. Die  Tochter  des  Alexius  heiratete  vor  1383  einen  Baoul,  ohne 
Zustimmung  des  Patriarchen.  Nach  diesen  As^niden  erben  die  Herrschaft 
die  Familien  Baoul  und  Branas. 

2.  Isak  Asan  um  1420,  erwähnt  von  dem  Byzantiner  Phranzes. 

3.  Paul,  gleichfalls  erwähnt  von  Phranzes,  war  Präfekt  von  Konstan- 
tinopel und  +  1442.  1439  war  er  Gesandter  Johanns  VTII.  bei  Sultaa 


*  Engel  455. 


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^  GLOSSEN    ZUR    BULGARISCHEN    ZAREN- GENEALOGIE. 

Marad  11.  Seine  Tochter  Zöe  beiratete  1441  den  Prinzen  Demetrius  Palaio- 
logos,  einen  Bruder  des  letzten  griechischen  Kaisers  Konstantin.  Demetrios 
war  Herr  von  Misithra  und  Korinth,  regierte  bis  30.  Mai  1460  und  starb  1470 
als  Mönch  Dayid  in  Adrianopel.  PauFs  Sohn  Matthäus  war  Präfekt  von 
£orinth,  das  er  1458  an  die  Türken  verriet.  Er  starb  mit  seiner  Toch- 
ter 1467. 

4.  Demetrius,  zur  selben  Zeit  Präfekt  einer  Stadt  im  Peloponnes 
(erwähnt  von  Laonikos  lib.  IX). 

5.  Asan  Zaccaria.  Seine  Nachkommen  führen  den  Namen  Asan.  Gen- 
turio,  Fürst  von  Damala,  wird  von  Phranzes  wegen  seiner  Heirat  mit  einer 
Asanina  dieser  Familie  zugezählt. 

6.  Alexander  Asan,  Verwandter  des  Kaisers  von  Konstantinopel,  wird 
1470  bei  D'Oultreman  erwähnt  (t  27.  Okt.  1500). 

7.  Demetrius  und  Michael  Asan ;  zogen  nach  der  Eroberung  Konstan- 
linopels  durch  die  Türken,  nach  Italien,  wo  sie  noch  1455  lebten.  Ihrer 
erwähnt  Franz  Philelphos  (t  1481)  lib.  XIL  epist.  pag.  263. 

8.  Andreas  Asan,  lebte  unter  dem  Patriarchen  Euthymios.^ 

9.  Demetrios  As^n,  Herr  von  MouchUon;  seine  Tochter  ist  vermählt: 
1)  mit  Franz  H.  aus  dem  Hause  Acciajuoli  f  1460,  2)  mit  Georg  Jagros, 
Protovestiar  von  Trapezunt. 

14.  Zar  Konstantin. 

Wie  wir  bereits  unter  Mytzes  gesehen,  hat  die  nationale  Partei  nach 
der  durch  Eoloman's  II.  Tod  erfolgten  Erledigung  des  Trones,  in  der  Per- 
son eines  sichern  Konstantin  einen  neuen  Zaren  gewählt  (1258).  Ducange 
109  nennt  ihn  blos  Constantinus  Techus,  resp.  «Techi  filiust>  lässt  sich 
aber  über  seine  Familie  mit  keinem  Worte  vernehmen. 

Engel  421  nennt  ihn  Constantinus  Tochus  und  sagt:  «zum  Teil  (man 
weiss  nicht  von  väterlicher  oder  mütterlicher  Seite)  leitete  er  sein  Geschlecht 
von  Servien  her;  vielleicht  ward  er  also  auch  von  Landsleuten  unterstützt.  ■ 

Jire^ek  nennt  ihn  einen  Serben,  Hertzberg  einen  Halbserben. 

Entgegen  diesen  nicht  kongruirenden  Angaben  stehen  uns  folgende 
Anhaltspunkte  zur  Verfügung : 

1.  Konstantin 's  Familie  war  am  Fusse  des  Berges  Vitoä  bei  Sophia 
begütert.** 

2.  In  einer  Urkunde  nennt  er  sich  selbst  einen  Enkel  des  Serben- 
fürsten Stefan  Nemanja^  was  durch  ein  anderes  Denkmal  bekräftigt  wird» 


*  VgL  Labb^,  Nova  Biblioth.  pag.  100. 
**  Jirecek  269. 


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31 


in  dem  der  SebastokratorEalojan,  ein  Vetter  Eonstantin's,  gleichfalls  Enkel 
-des  Serbenfürsten  Nemaoja  genannt  wird.^ 

Auf  Grundlage  des  Ansbert' sehen  Berichtes  (s.  meine  oben  angedeu- 
tete genealogische  Geschichte  der  südslavischen  Dynastien)  spreche  ich  die 
Ansicht  aus,  dass  Konstantins  Vater  Tich  ein  Sohn  Nemanja's,  der  Ans- 
herVsche  Tohu  ist. 

Sofort  nach  seiner  Tronbesteigung  legte  er  sich  den  Namen  tEon- 
■stantin  As^m  bei.^* 

Seine  Regierung  war  zumeist  mit  Bekämpfung  der  inneren  und 
äusseren  Anhänger  des  Mytzes,  namentlich  der  Ungarn,  später  mit  Feind- 
seligkeiten des  griechischen  Hofes  ausgefüllt,  die  er  —  wie  wir  sehen  wer- 
kten —  grösstenteils  den   Intriguen  seiner  Gattinen  zu  verdanken  hatte. 

Zu  Eade  seiner  Begierung  erlitt  er  einen  Beinbruch,  durch  dessen 
schlechte  Behandlung  er  anfangs  die  Möglichkeit  einer  freien  Bewegung 
verlor,  später  einem  unheilbaren  Siechtum  zum  Opfer  fiel. 

Als  er  dem  Abenteurer  Ivajlo  eine  kleine  Heeresabteilung  entgegen- 
schickte, folgte  er  derselben  später  nach.  In  Folge  seines  Leidens  Hess  er 
sich  auf  einem  Wagen  nachführen.  Ivajlo  griff  die  königlichen  Truppen 
an,  drang  bis  zu  Eonstantin's  Wagen  vor  und  tödtete  den  Zaren  eigenhän- 
dig (1277). 

Wir  kennen  von  Eonstantin's  Nachkommenschaft  nur  den  einzigen, 
von  der  Maria  geborenen  Sohn  Michael. 

Schon  während  Eonstantin's  Erankheit  riss  Maria  im  Namen  Michaelas 
■das  Regime  an  sich ;  nach  Ivajlo's  Bezwingung  nahm  sie  den  jungen  Prin- 
zen mit  nach  Griechenland,  wo  man  ihn  für  allenfallsige  Fälle  der  Zukunft 
in  Beserve  hielt.  Als  Svetslav  den  Tron  bestiegen,  bat  eine  mit  ihm  unzu- 
friedene Partei  den  Eaiser  Andronikos  11.,  er  möge  den  in  Griechenland 
sich  befindenden  Prinzen  Michael  schleunigst  nach  Bulgarien  als  Gegner 
Svetslav's  senden.  Michael  erschien  zwar,  konnte  aber  nichts  ausrichten 
(1298).  Auch  die  Unterstützung  des  Sebastokrators  Badoslav,  den  der  Eai- 
ser als  Succurs  abgeschickt,  half  der  Sache  nicht. 

Michael's  weitere  Geschichte  ist  unbekannt. 

Eonstantin  war  dreimal  verheiratet ;  seine  (jattinen  sind : 

a)  Anonyma. 
Als  Eonstantin  zum  Zar  der  Bulgaren  erwählt  wurde,  war  er  bereits 
Terheiratet ;  doch  kennen  wir  nicht  die  Genealogie  seiner  Gemahlin.  Jeden- 

*  P.  J.  Sa&rik,  Pam&tky   drevnino  pisemniotvi  jihoslovanuv,    Prag  1851,  23: 
-tDer  heilige  Symeon    Nemanja,  mein    Grossvater  (död).t   Eine   Inschiift   zu    Bojana 
unter  dem  Vitos  (zit.  ap.  Jirecek  1.,  c.)  hat:  cEalojan    der  Sevastokrator,   der  Vetter 
^bratmöed)  des  Zaren,    der  Enkel  des  heiligen  Stephan  des  Serbenkönigs.  • 
*^  So  heisst  er  auf  beiden  vordem  zitirten  Denkmälern. 


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32 


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falls  schien  sie  ihm  seiner  königlichen  Stellung  nicht  ebenbürtig  and  am 
dem,  durch  seine  Gattin  Maria  der  As^nidendynastie  verschwägerten  Riva- 
len Mytzes  ein  kräftiges  Schach  zu  bieten,  entschloss  sich  der  neue  Zar^ 
seine  Gemahlin  zu  Verstössen  und  durch  das  Eingehen  einer  Ehe  mit  einer 
Tochter  aus  regierendem  Hause,  seiner  neuen  Herrlichkeit  die  Weihe,  der 
Legitimität  zu  verleiben.  Da  er  zur  Bealisirung  seines  Vorhabens  sich  mit 
dem  Kaiser  Theodor  11.  v.  Nikaea  in  Unterhandlungen  einliess,  schickte  er 
seine  geschiedene  Frau  an  dessen  Hof,  damit  sie  Bürgschaft  für  den  Ernst 
seines  Vorhabens  leisten  solle  .  .  .  Über  ihre  weiteren  Schicksale  ist  Nichte 
bekannt. 

b)  Irene  «Laskara». 

Kaiser  Theodor  H.  Dukas  Vatatzes,  genannt  (nach  seinem  mütter- 
lichen Grossvater  Theodor  I.)  Laskaris^  hatte  aus  seiner  Ehe  mit  der  bul- 
garischen Zarentochter  Helene  eine  jüngere  Tochter  des  Namens  Irene.* 
Unter  den  Fürstentöchtem  jener  Zeit  wäre  wohl  keine  zweite  im  Stande 
gewesen,  den  dynastischen  Vorteilen  Konstantin's  besser  zu  entsprechen, 
als  Prinzessin  Irene  von  Nikaea.  Durch  ihre  Mutter  war  sie  die  Enkelin 
des  grossen  und  im  besten  Andenken  stehenden  Zaren  Johann  AsSn  IL 
von  Bulgarien,  —  die  Urenkelin  des  Ungarnkönigs  Andreas  Tl.,  —  und 
durch  ihre  im  Sept.  1 256  vermählte  ältere  Schwester  Maria  die  Schwäge- 
rin des  Kronprinzen  Nikephor  (I.)  von  Epiros. 

Die  im  Jahre  1258  mit  Irene  eingegangene  Ehe  brachte  jedoch  Kon- 
stantin bei  Weitem  nicht  die  erhofften  Vorteile.  Ein  kleines  Hilfskorps 
gegen  Mytzes  war  Alles.  Hingegen  war  der  schon  im  August  1258  erfolgte 
Tod  seines  Schwiegervaters  Theodor  von  Nikaea  für  ihn  eine  Quelle  bestän- 
diger Unannehmlichkeiten.  Die  unablässigen  Bemühungen  seiner  Gattin 
Irene,  die  in  dem  neuen  mächtigen  Kaiser  Michael  Palaiologos  von  Kon- 
stantinopel nur  den  Erzfeind  ihrer  Familie  sab,  brachten  es  dahin,  dasa 
Konstantin  1265  nach  unglücklich  geführtem  Kriege  einige  seiner  bedeu- 
tendsten Städte  an  seinen  Gegner  abtreten  musste.  Irene  ist  1270  gestorben. 

c)  Maria  Kantakiczena. 

Nach  Irene's  Tod  war  Nichts  natürlicher,  als  dass  sowohl  Konstantin 
wie  Kaiser  Michael  auf  dem  Wege  einer  ehelichen  Allianz  einander  in  ein 
wärmeres  Verhältniss  zu  bringen  bestrebt  waren ;  namentlich  musste  es 
dem  griechischen  Hofe  nötig  erscheinen,  nachdem  die  fruchtlosen  Feldzüge 
gegen  Bulgarien  viel  Geld  und  Blut  verschlungen  hatten. 

Kaiser  Michael  hatte  eine  an  einen  Kantakuzenos  vermählte  Schwe- 
ster Eulogia,  die  aus  dieser  Ehe  unter  Anderen  auch  eine  Tochter  Maria 
hatte.  Diese,  die  Gemahlin  des  Grossdomestikus  Alexius  Philas,  war  Witwe 

^*  Von  Nikephor  wird  sie  Theodora  genannt. 


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GLOSSEN  ZUR  BULGARISCHEN  ZAREN- GENEALOGIE.  '^^ 

geworden  nnd  Michael  beeilte  sich^  sie  dem  verwitweten  Konstantin  anzu- 
bieten, der  den  Vorschlag  annahm. 

Die  Ehe  brachte  aber  keiner  einzigen  Partei  die  erhofften  Vorteile. 
Konstantin  hatte  sich  zur  Mitgift  seiner  Braut  die  ehemals  in  bulgarischem 
Besitze  gestandenen  Städte  Mesembria  und  Anchialos  ausbedungen  und 
wurde  ihm  deren  Uebergabe  schriftlich  zugesagt.  Statt  sie  aber  sofort  zu 
übergeben,  bemühte  sich  der  Kaiser,  der  die  Braut  persönlich  bis  Selym- 
bria  begleitete,  den  Bulgarenzaren  durch  ausgesuchte  Aufmerksamkeiten 
und  Entfaltung  eines  wahrhaft  orientalischen  Luxus  einzuschläfern.  Als 
dies  nicht  verfieng  und  Konstantin  die  Erfüllung  der  Zusage  urgirte,  berief 
sich  Michael  auf  die  Abneigung  der  Einwohner  der  genannten  Städte  gegen 
die  bulgarische  Herrschaft  und  vertröstete  den  Zaren  mit  der  allenfallsigen 
Geburt  eines  Prinzen,  der  —  weil  von  einer  Griechin  geboren  —  den 
Betreffenden  ein  erwünschter  Gebieter  sein  würde ;  wahrscheinlich  rechnete 
er  nicht  auf  Nachkommen  dieser  Ehe.  Irene  unterstützte  Michael's  Ein- 
wendungen und  so  blieb  das  Einvernehmen  beider  Höfe  vorläufig  ein  gutes» 
Als  aber  Maria  1 27 1  den  Prinzen  (Michael)  geboren,  war  sie  es,  die  zumeist 
auf  die  Erfüllung  des  Versprechens  drang  und  dem  kaiserlichen  Oheim 
mit  gewaltsamer  Inanspruchnahme  ihrer  Rechte  drohte.  Michael  gab  nun 
schnell  seine  natürliche  Tochter  Euphrosyne  dem  General  Nogaj  Khan  d^^ 
Beherrschers  der  goldenen  Horde  zur  Gattin^  um  sich  an  demselben  einen 
Beschützer  gegen  Bulgarien  zu  schaffen.  Konstantin  und  Maria  mussten 
vorläufig  gute  Miene  dazu  machen. 

1 274  griff  Maria  abermals  in  die  Politik  ein.  Kaiser  Michael  hatte, 
um  sich  gegen  die  ihm  feindlichen  Pläne  des  Hauses  Anjou  in  Neapel  zu 
decken,  mit  der  päpstlichen  Curie  zu  liebäugeln  angefangen.  Die  griechi- 
sche Geistlichkeit  steckte  sich  hinter  des  Kaisers  ränkevolle  Schwester 
Eulogia ;  diese  reizte  ihre  Tochter  Maria  auf,  um  dem  Kaiser  Unannehm- 
lichkeiten zu  bereiten,  —  da  trat  plötzlich  Konstantins  Erkrankung  ein. 

Die  Zunahme  des  Leidens  bot  der  herrschsüchtigen  Maria  die 
erwünschte  Gelegenheit,  die  Zügel  der  Regierung  an  sich  zu  reissen.  Sie 
liess  den  Knaben  Michael  zum  König  krönen  und  führte  in  seinem  Namen 
die  Regierung.  Was  sich  ihr  in  den  Weg  stellte,  wurde  mit  allen  zu  Gebote 
stehenden  Mitteln  aus  dem  Wege  geschafft.  Wie  wir  unten  sehen  werden^ 
h^t  sie  auch  den  mächtigen  Despoten  Jakob  Svetslav  beseitigen  lassen. 

15.  Zar  Ivajlo. 

Inmitten  der  durch  die  herrschsüchtige  Zarin  hervorgerufenen  Wirren 
trat  ein  Abenteurer  des  Namens  Ivajlo  *  auf. 

*  Jireeek  27G  ist  der  Erste,    der   ihn    so  nennt.  Er  stützt  sich  hierbei  auf  die 
Notiz  in  einem  Evangelium,  welches  im  Jahre  6787  (1.  Sept  1278  bis  1.  Sept.  1279) 
.    Ungarisehe  Bttvaa,  XI.  1891.  I.  Heft.  3 


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^  GLOSSEN   ZCR   BULGARISCHEN   ZAREN -GENEALOGIE. 

Er  war  von  Geburt  ein  Walache  und  Anfangs  Schweinehirt.  Seine 
Landsleute  nannten  ihn  Eordokubas,  die  Griechen  übersetzten  diesen  Namen 
mit  Lachanos  (übrigens  ist  auch  Kordokubas  —  richtiger  Bordokubas  —  das 
gräzisirte  Brdokva  (Lattich).  —  Durch  anfangs  ganz  unbedeutende  Manö- 
ver wusste  sich  dieser  Mensch  unter  dem  leichtgläubigen  Bauemvolke  ein 
gewisses  Ansehen  und  die  Bolle  eines  zu  einer  höheren  Mission  Bestimm- 
ten zu  verschaffen  und  als  es  ihm  gar  gelang,  mit  Hilfe  der  sich  ihm  täg- 
lich mehr  anschliessenden  Volkshaufen  einige  tatarische  Guerillahäuflein 
glücklich  zu  bewältigen^  war  aus  dem  Schweinehirten  im  Handumdrehen 
ein  Mann  geworden,  mit  dem  zwei  Höfe,  der  griechische  und  der  bulga- 
rische, zurechnen  begannen.  Zar  Konstantin,  der  ihm  entgegenzog,  fand  — 
wie  wir  wissen,  —  Ende  1277  seinen  Tod  durch  die  Hand  des  Aben- 
teurers. Durch  solche  ungeahnte  Erfolge  übermütig  gemacht,  streckte  der 
Emporkömmlingseine  Hand  nach  der  Krone  aus;  mehr  und  mehr  näherten 
sich  seine  Schaaren  der  Hauptstadt.  Zarin  Maria,  auch  von  griechischer 
Seite  bedroht  —  dort  hatte  man,  wie  wir  wissen,  den  Prinzen  Johann 
As^n  zum  Zaren  Bulgariens  designirt  und  die  Auslieferung  Maria's  von 
den  Bulgaren  verlangt,  —  warf  sich  nun  dem  Ivajlo  in  die  Arme :  sie  trug 
ihm  Hand  und  Tron  an ;  sie  erlebte  die  Schmach,  dass  der  einstige  Schweine- 
hirt sie  nur  aus  Gnade  zu  seiner  Gattin  nahm  (Frühjahr  1278). 

Nicht  lange  nach  seiner  Krönung  verliess  Ivajlo  die  Arme  der  Grie- 
chin, um  seinen  von  griechischer  und  tatarischer  Seite  bedrohten  Tron  zu 
verteidigen.  Als  sich  Anfangs  1279  das  Gerücht  verbreitete,  Ivajlo  sei 
gegen  die  Tataren  gefallen,  öffneten  sich  Tirnova's  Tore  dem  Zaren  Johann 
As6n  m.  Die  von  Ivajlo  schwangere  Maria  wurde  nach  Adrianopel  abge- 
führt. Sie  hat  Bulgarien  nicht  mehr  gesehen. 

Da  erschien  der  verschollene  Ivajlo  1280  wieder  mit  einem  Heere 
vor  Timova  und  schlug  zweimal  die  ihm  entgegengestellten  Griechen;  als 
er  aber  durch  Georg  Terterij,  den  Schwager  Johann  AsSns  HI.,  Ende  1280 
geschlagen  wurde,  flüchtete  er  zu  Nogaj  Khan,  um  diesen  zur  Unter- 
stützung seiner  Herrschaft  zu  bewegen.  Hier  wurde  dem  Abenteurer  auf 
Befehl  des  trunkenen  Khans  die  Gurgel  durchschnitten. 

1294  trat  ein  Pseudo  Ivajlo  auf,  der  aber  durch  Maria  entlarvt  wurde. 

Maria*s  Ende  ist  unbekannt. 

(SchluBB  folgt.)  MOR.  WbBTNER. 

•V  dni  care  Ivajla  i  pri  jepiskupe  Nisevscßm  v  l^to  6787  indikta  7,  jegi  stojacliu 
Grci  pod  gradom  Trnovom»  (ap.  Glasnik  2(),  245.)  Da  hier  von  der  Belageining  Tir- 
nova's durch  die  Griechen  zu  Gunsten  Johann  Asön's  III.  die  Rede  ist,  kann  der  Zar 
Ivajlo  kein  anderer  als  jener  Abenteurer  sein. 


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DAS   BUDGET   UNGARNS   FÜR   DAS  JAHR    1891.  ^^ 


DAS  ßUD(iET  UNÜARNS  FUß  DA8  JAHR  1891. 


Nichts  bezeugt  deutlicher  die  gründliche  Aenderung  der  finanziellen 
Lage  Ungarns,  als  jene  Gleichgültigkeit,  welche  dem  Budget  und  im  allge- 
meinen finanziellen  Fragen  gegenüber  wahrgenommen  werden  kann.  Noch 
vor  1 — 2  Jahren  nahm  das  Budget  nicht  nur  die  Aufmerksamkeit  der  den- 
kenden PoUtiker,  sondern  auch  des  PubUkums  Monate  hindurch  in  Anspruch. 
Finanz-Projecte,  Entwürfe  und  finanzielle  Gesichtspunkte  dominirten  damals 
im  öffentlichen  Leben,  gegenwärtig  hingegen  wird  das  Expose  des  Finanz- 
ministers mit  wohlverdienten  !^ljen-Bufen  aufgenommen ;  die  allgemeine 
Freude  und  Befriedigung  über  die  Herstellung  des  Gleichgewichtes  im  Budget 
findet  in  zwei  drei  Artikeln  und  Beden  Ausdruck  und  damit  kehrt  man  zur 
Tagesordnung  über;  gegenwärtig  wird  die  allgemeine  Aufmerksamkeit  nicht 
nur  durch  die  auf  der  Schwelle  stehenden  Beform-Entwürfe,  sondern  auch 
durch  die  nur  auf  einige  Minuten  in  den  Vordergrund  tretenden  Tagesfragen 
dermassen  in  Anspruch  genommen,  dass  keine  Zeit  übrig  bleibt,  um  sich 
mit  der  finanziellen  Lage  ernsth'ch  zu  befassen,  man  kann  sagen  es  werden 
die  finanziellen  Gesichtspunkte  ausser  Acht  gelassen. 

Eine  derartige  Umgestaltung  der  öffentlichen  Auffassung  ist  erklärlich, 
hüllt  aber  grosse  Gefahren  in  sich. 

Die  Hauptbedingung  der  Begelung  der  Staatsfinanzen  Ungarns  bildete 
.  jene  regelmässige  Consequenz,  mit  welcher  in  allen  Zweigen  des  Staatshaus- 
haltes so  im  Kleinen  wie  im  Grossen  die  strengste  Sparsamkeit  durchgeführt 
wurde ;  eine  neuerliche  Störung  des  kaum  hergestellten  Gleichgewichtes  ist 
nur  dann  nicht  zu  befürchten,  wenn  —  diese  Sparsamkeit  auch  in  der 
Zukunft  mit  unerbitthcher  Strenge  durchgeführt  wird,  die  zunehmenden  Ein- 
nahmen nicht  auf  kleinliche  Ausgaben  vergeudet  werden  und  wenn  die  vor 
uns  stehenden  grossen  Ziele  in  jener  Beihenfolge  und  in  solchem  Maasse 
verwirklicht  werden,  als  die  hiezu  erforderlichen  Kosten  factisch  gesichert 
sind  und  zur  Verfügung  stehen. 

Ueber  diese  Grenze  dürfen  uns  weder  die  edelsten  Intentionen,  noch 
■die  besten  Beformideen  verleiten ;  diese  Grenze  muss  jeder  Factor  des  öffent- 
lichen Lebens  in  allen  Zweigen  des  staatlichen  Lebens  sorgsam  vor  Augen 
halten,    dieser  Grenze  müssen  sich  alle  an  den  Staat  gerichteten  noch  so 
gerechten  Forderungen  anbequemen. 

Es  ist  daher  unumgänglich  notwendig,  dass  wir  uns  die  Mühe  nehmen, 
•mit  der  finanziellen  Lage  Ungarns  möglichst  gründlich  bekannt  zu  werden; 
dies  zu  erleichtem  wäre  Aufgabe  dieser  kurzen  Abhandlung  über  das  Budget 
-<ie8  Jahres  1891. 

3* 


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3ö  DAS   BUDGET   UNGARNS   FÜR   DAS   JAHR    1891. 

Für  das  Jahr  1891  sind  die  ordentlichen  Einnahmen  mit  363.49,  die- 
durchlaufenden  mit  5.ßs  Millionen  Gulden  in  Voranschlag  gebracht ;  dem 
Voranschlag  des  Vorjahrs  gegenüber  zeigen  erstere  eine  Zunahme  von 
15.86  Millionen  Gulden,  letztere  hingegen  eine  Abnahme  von  l.e«  Millionen 
Gulden,  die  gesammte  Zunahme  der  Einnahmen  beträgt  demnach  13.7  Mil- 
lionen Gulden.  Trotz  dieser  immensen  Zunahme  gestaltet  sich  die  Bilanz 
nur  um  525.000  Gulden  günstiger,  das  heisst,  die  Zunahme  der  Ausga- 
ben nimmt  fast  gänzlich  die  Mehreinnahmen  in  Anspruch. 

Mit  der  wirklichen  Tragweite  dieser  nur  für  den  ersten  Augenblick 
constemierenden  Erscheinung  kann  man  nicht  ins  Beine  kommen,  ohne 
die  Natur  der  zunehmenden  Ausgaben  einer  Untersuchung  zu  unterziehen. 

Fasst  man  die  durchlaufenden  Ausgaben  mit  den  Investitionen  und  den 
ausserordentlichen  gemeinsamen  Ausgaben  zusammen,  so  ergibt  sich  bei 
diesen  drei  Titeln  eine  Zunahme  von  1.4  Millionen  Gulden,  wovon  Militär- 
zwecke beinahe  l.i  Millionen  Gulden  in  Anspruch  nehmen.  Die  bei  den 
übrigen  Titeln  vorkommenden  Aenderungen  gleichen  sich  fast  gänzlich 
aus.  Die  Gespanntheit  der  internationalen  Verhältnisse,  sowie  die  ungün- 
stige finanzielle  Wirkung,  welche  durch  die,  eine  fortwährende  Umge- 
staltung der  Bewaffnung  des  Heeres  zur  Folge  habenden  Erfindungen  ver- 
ursacht wird,  gelangt  auch  in  diesem  Jahre  zur  Geltung  und  es  stieg  der 
ausserordentliche  Bedarf  der  kön.  ung.  Landwehr  und  des  gemeinsamen 
Heeres,  welcher  im  Jahre  1887  nur  4.8  Millionen  Gulden  betrug,  im  Jahre 
1890  hingegen  schon  mit  lO.e  Millionen  Gulden  in  Voranschlag  gebracht 
wir  —  im  laufenden  Jahre  auf  11.7  Millionen  Gulden.  Leider  jedoch  gibt 
diese  Zunahme  in  sich  selbst  genommen  nicht  das  ganze  Maass  der  ungünsti- 
geren Gestaltung  der  Lage.  Während  nämlich  noch  vor  einem  Jahr  mit 
Eecht  gehofft  werden  konnte,  dass  die  ausserordentlichen  Militär- Ausgaben 
für  das  Jahr  1892  um  mehrere  Millionen  herabgesetzt  werden  können, 
stehen  wir  gegenwärtig  —  besonders  zu  Folge  Annahme  des  rauchlosen 
Pulvers  —  einer  gänzlich  veränderten  Lage  gegenüber. 

Laut  diesjährigem  Bericht  des  gemeinsamen  Kriegsministers  beziffert 
sich  der  Bedarf  bei  den  noch  erforderlichen  Gewehren  und  rauchlosen  Pulver - 
auf  21.2  Millionen  Gulden,  hievon  wurden  für  das  laufende  Jahr  4^/a  Millio- 
nen Gulden  votirt,  mit  1.  Jänner  1892  blieben  noch  unbedeckt  16.7  Millionen 
Gulden.  Zu  gleichen  Zwecken  und  in  Anbetracht  genommen,  dass  im  künfti- 
gen Jahr  nicht  einmal  die  Gewehre  der  Infanterie  gänzlich  beschafft  werden 
können,  wird  nach  annähernder  Berechnung  auch  bei  der  k.  ung.  Land- 
wehr ein  Bedarf  von  beiläufig  5  Millionen  Gulden  entstehen,  die  auf  Ungarn 
entfallende  gesammte  Last  beträgt  daher  mindestens  10  Millionen  Gulden. 
Nachdem  aber  unter  diesen  Titeln  bei  dem  Heer  und  der  ung.  Landwehr 
zusammengenommen  das  ungarische  Budget  mit  4.5  Millionen  Gulden  belas- 
tet erscheint,  ist  eine  Abnahme  bei  diesem  Bedarf  wenigstens  zwei  Jahre  hin- 


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DAS   BUDGET   UNGARNS    FÜR    DAS   JAHR    1891.  «^7 

-durch  ausgeschlossen.  Die  Sicherheit  dem  Auslande  gegenüber,  sowie  der 
-Äusserst  wichtige  Gesichtspunkt  der  Wehrfähigkeit  begründen  zwar  voll- 
ständig diese  Ausgaben,  mit  den  drückenden  Lasten  jedoch,  welche  hieraus 
für  Ungarn  entstehen,  mit  den  grossen  Schwierigkeiten,  welche  hiedurch 
dem  finanziellen  Fortkommen  in  den  Weg  gelegt  werden,  müssen  wir  als 
mit  einer  unvermeidlichen,  aber  sehr  ernsten  Erscheinung  im  Klaren  sein. 
Der  Löwenanteil   an  der  Zunahme  der  Ausgaben,  11.76   Millionen 
Gulden,  entföUt  auf  die  ordentlichen  Ausgaben.  Um  über  diese  Zunahme  ein 
Urteil  fällen  zu  können,  müssen  die  Ausgaben  nach  ihrer  Verschiedenartig- 
keit  gruppirt  werden  und  die  vorkommenden  Aenderungen  bei  den  Staats- 
schulden, Militär-,  Betriebs-  und  Adminbtrations- Ausgaben  separirt  einer 
-Untersuchung  unterzogen  werden. 

L 
Unter  dem  Titel  streng  genommener  Staatsschulden  betrugen : 

Tausende  Golden 
1891  1890 

die  Ausgaben        119.524     120.018 

die  Einnahmen.. 4.491         4.349 

Netto- Ausgabe        115.033  115.669 

Hiezu  kommen  zu  Folge  Verstaatlichung  von 

Eisenbahnen  übernommene  Schulden     .._     10.773  6.990 

und  Zinsgarantie-Vorschüsse    1.354  4.596 

Zusammen 12.1^7  11.586 

Gesammte  Netto-Ausgaben     127.1601  127.255 

Während  —  laut  obigen  Zahlen  —  die  Hauptsummen  bei  der  Gruppe 
^eser  Ausgaben  fast  gar  keine  Aenderung  aufweisen,  zeigen  die  einzelnen 
Posten  sehr  namhafte  Unterschiede. 

1.  Den  auffallendsten  Unterschied  verursacht  die  Verstaatlichung  der 
Nordostbahn ;  während  nämlich  im  Vorjahre  der  Bedarf  dieser  Bahn  mit 
2,800.000  Gulden  unter  den  Zinsgarantie-Vorschüssen  aufgenommen  war, 
fällt  diese  Post  zu  Folge  Verstaatlichung  der  Bahn  weg  und  kommt  an  Stelle 
dieser  Post  der  gesammte  Bedarf  an  Zinsen  und  Amortisationsquoten  des 
Capitals  der  Bahn  mit  3,835.000  Gulden  unter  die  zu  Folge  Verstaatlichung 
der  Eisenbahnen  übernommenen  Schulden.  Der  auf  diese  Weise  entstehen- 
den Mehrausgabe  von  1,035.000  Gulden  gegenüber  steht  das  Erträgniss  der 
Bahn,  welches  zu  Folge  der  Verstaatlichung  in  dem  Einkommen  der  Staats- 
bahnen inbegriffen  ist  und  fast  dieselbe  Summe  beträgt.  Abgesehen  daher 
von  dieser  ganz  und  gar  scheinbaren  und  durch  die  Mehreinnahme  der 
-Staatsbahnen  im  Gleichgewicht  gehaltenen  Mehrausgabe,  kann  bei  dem  Titel 


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38  DAS   BUDGET   ITNGARNS   FÜR    DAS   JAHB    1891. 

Eisenbahn-Scholden  und  Zinsgarantie- VorBcbüsse  ein  günstigeres  Ergebniss 
von  500.000  Gulden  constatiert  werden,  welobes  grösstentheils  durch  Hebung 
des  Verkebrs  und  in  Folge  dessen  durch  die  Abnahme  bei  dem  Bedarf  von 
Zinsgarantie- Vorschüssen  verursacht  wird. 

Das  günstigere  Ergebniss  von  636.000  Gulden  bei  dem  Netto-Bedarf 
der  streng  genommenen  Staatsschulden  ist  das  Resultat  mehrerer,  teilweise 
entgegengesetzter  Factoren. 

Eine  Zunahme  zeigt  sich  1.  bei  den  Entschädigungen  für  das  Schank- 
regale  704.000  Gulden ;  bievon  entfallen  475.500  Gulden  auf  die  Aufnahme 
der  Amortisations-Quote,  der  übrige  Teil  obiger  Summe  ist  jenem  Umstände 
zuzuschreiben,  dass  das  Einlösungs-Gapital  höher  festgestellt  werden  musste 
als  im  Vorjahre.  Die  bei  dieser  Post  entstammende  Mehrausgabe  bildet 
einesteils  eine  Capitals-Amortisation,  andererseits  wird  dieselbe  reichlich 
ersetzt  durch  das  erhöhte  Erträgniss  des  Schankgefälls,  welches  statt  der 
für  das  Jahr  1890  in  Voranschlag  gebrachten  12.5  Millionen  Gulden  für  das 
Jahr  1891  mit  15  Millionen  Gulden  präliminirt  wurde,  dermassen,  dass 
obzwar  die  hiemit  verbundenen  Ausgaben 

bei  den  Staatsschulden  um    704.000  Gulden 

bei  der  Administration  um 1,035.000      « 

zusammen  um      1,739.000  Gulden 

zunehmen,  die  Bilanz  des  Schankgefälls  in  ihrem  Endresultat  sich  noch 
immer  um  759.000  Gulden  günstiger  gestaltet. 

2.  Bei  der  schwebenden  Schuld  ergibt  sich  als  Endresultat  eine 
Zunahme  von  556.000  Gulden,  dies  ist  ausschliesslich  das  Ergebniss  des  im 
Interesse  der  Flussregulierungs- Gesellschaften  verfassten  Gesetzes,  mit  wel- 
chem diesen  Gesellschaften  die  Kückzahlung  ihrer  aus  den  Theiss-Szegediner 
Anlehen  erhaltenen  Darlehen  zugestanden  wurde.  Nachdem  nach  diesen  ein- 
laufenden Gapitalien  die  Amortisation  und  die  Zinsen  der  Staat  zu  zahlen 
verpflichtet  ist,  zeigt  sich  bei  diesem  Titel  —  im  J.  1891  1,231.000  Gulden — 
den  vorjährigen  445.000  Gulden  gegenüber,  ein  Mehrbedarf  von  786.000  fl. 
Dass  aber  die  gesammte  Mehrausgabe  immerhin  nur  556.000  Gulden  beträgt, 
ist  den  bei  den  Zinsen  der  Depositen-  und  Cassenscheine  erreichten  Erspar- 
nissen im  Betrage  von  230.000  Gulden  zuzuschreiben.  Der  Umlauf  der 
Cassenscheine  wurde  statt  der  bisherigen  21  Millionen  Gulden  um  7  Mil- 
lionen geringer  in  Voranschlag  gebracht,  und  trotzdem  die  Depositen  um 
1.8  Millionen  Gulden  zunahmen,  war  der  Zinsbedarf  immerhin  noch, 
nach  einem  Capital  von  5.8  Mill.  Gulden,  ein  geringerer.  Nachdem  jedoch 
zu  Folge  der  Convertirung  der  Theiss- Anlehen  14  Millionen  Gulden  in  die 
Staatscassc  einfliessen  sollten,  ergibt  sich  bei  den  zur  Verfügung  stehenden 
Capitalien  eine  Zunahme  von  8.s  Millionen  Gulden. 

Diese  Capitalszunahme  steht  in  sehr  ungünstigem  Verhältnisse  zu  der 


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DAß    BUDGET   UNGARNS   FÜR   DAß   JAHR    1891.  39 

jährlichen  Mehrausgabe  von  556.000  Gulden  und  könnte  aus  fiscalischem 
Gesichtspunkte  absolut  nicht  begründet  werden.  Es  beläuft  sich  schon  min- 
destens auf  150 — 200.000  Gulden  das  Opfer,  welches  der  Staat  im  Interesse 
der  mit  Flut-Begulierungs-Lasten  kämpfenden  Gegenden  bringt,  um  diesen 
den  möglichst  billigen  Credit  zugänglich  zu  machen  und  dieses  Opfer  wird^ 
wenn  die  noch  von  der  Theiss-Anlehe  ausser  Bechnung  gelassenen  circa 
10  Millionen  Gulden  convertirt  werden,  wenigstens  auf  300.000  Gulden 
steigen.  Es  wäre  ein  Fehler,  diesen  Umstand  unbeachtet  zu  lassen,  zumal 
jene  Klage  so  oft  laut  wird,  dass  der  Staat  im  Interesse  der  ungari- 
schen Landwirte,  besonders  der  Eigentümer  von  Inundations-Gebieten  gar 
nichts  thut. 

Diesen  Mehrausgaben  gegenüber  hingegen  zeigen  sich  Ersparnisse : 

1.  Bei  dem  Netto-Ergebnisse  der  Weinzehent-Ablösung  910.000  Gulden. 
Die  Ausgabe  unter  diesem  Titel  hört  im  laufenden  Jahre  auf,  und  wird  sich 
daher  die  Bilanz  in  der  Zukunft  um  beinahe  1  Million  günstiger  gestalten» 

2.  Bei  dem  Goldagio  eine  2  o/o -ige  Differenz,  d.  h.  um  675.000  Gld.^ 
diesbezüglich  können  wir  mit  Becht  die  Hoffnung  hegen,  dass  bei  Inan- 
spruchnahme der  gegenwärtigen  Conjuncturen  der  Bedarf  an  Gold  mit  einem 
wesentlich  geringeren  Agio  beschafft  werden  kann ;  andererseits  aber  darf 
nicht  ausser  Acht  gelassen  werden,  dass  der  gegenwärtige  sehr  niedrige 
Curs  nicht  als  stabil  zu  betrachten  ist  und  wenn  die  Valuta- Begelung  nur 
halbwegs  dermassen  durchgeführt  wird,  als  dieselbe  die  Gerechtigkeit,  sowie 
die  wichtigen  Interessen  der  Völkswirtschaft  erfordern,  der  Zinsenbedarf 
der  Goldanlehen  nach  dem  gegenwärtigen  Stande  viel  höher  sein  wird,  als 
die  Summe,  welche  in  diesem  Budget  unter  diesem  Titel  aufgenommen 
erscheint. 

3.  Bei  den  im  J.  1889  emittirten  Eisenbahn- Anlehen  250.000  Gulden,, 
nachdem  die  Amortisations-Quoten  in  das  richtige  Geleise  gelangten. 

Die  bei  den  übrigen  Titeln  vorkommenden  kleineren  und  grösseren 
Differenzen  sind  ganz  unbedeutend  und  gleichen  sich  fast  gänzlich  aus. 

Als  Endresultat  —  die  gänzlich  scheinbare  Mehrausgabe  bei  der  Nord- 
ostbahn ausser  Bechnung  gelassen  —  kann  bei  der  Gruppe  dieser  Ausgaben 
in  deren  Netto-Ergebniss  eine  Besserung  um  1,132.000  Gulden  constatirt 
werden ;  hiezu  kommt  noch  die  Zunahme  von  8.2  Millionen  Gulden  der  in 
der  Staatscassa  vorhandenen  Capitalien.  Hiebei  darf  aber  nicht  ausser  Acht 
gelassen  werden,  dass  weder  der  Ertrag  dieser  8.2  Millionen  Gulden,  noch 
der  im  Eigentum  des  Staates  befindlichen  Begalablösungs-Obligationen,  noch 
auch  der  Ertrag  der  Baarvorräte  in  das  Budget  eingestellt  ist.  Teilweise 
das  glückliche  Zusammentreffen  der  Verhältnisse,  teilweise  die  consequent 
dieses  Ziel  verfolgende  weise  Politik  der  Eegierung  ermöglichten  es,  dass 
namhafte  Capitalien  zur  Verfügung  des  Finanzministers  gestellt  wurden. 

Diese  Gapitalien  müssen  nicht  nur  zusammengehalten,  sondern  nach 


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^^  DAS    BUDGET    UNGARNS    FÜR    DAb    J>HR    1891. 

Möglichkeit  Doch  vermehrt  werden,  damit  dieselben  zur  Erreichung  eines 
wichtigen  Zieles  im  entscheidenden  Augenblicke  zur  Verfügung  stehen.  Bis 
aber  diese  Eventualität  eintrifft,  können  diese  Gapitalien  fruchtbringend  ver- 
waltet werden,  was  auch  factisch  geschieht,  und  werden  dieselben  im  künf- 
tigen Jahr  mit  einer  bedeutenden  Einnahme  zur  günstigeren  Gestaltung 
der  Bilanz  beitragen. 


IL 

Es  zeigt  sich  eine  Zunahme  bei  dem 

ordentUchen  Bedarf  der  k.  ung.  Landwehr  v.  296.000  G. 

«  gemeinsamen  Bedarf  v 576.000  G. 

zusammen     872.000  G. 


bei  den  ordentlichen  Militär- Ausgaben. 

Bei  diesen  Ausgaben  sind  wir  gezwungen  mit  den  ihre  Wehrkraft  rapid 
entwickelnden  ausländischen  Staaten  wenigstens  halbwegs  Schritt  zu  halten 
und  es  wäre  eine  Illusion  zu  glauben,  dass  in  dieser  Beziehung,  wenigstens 
in  der  nächsten  Zukunft,  ein  radicaler  Umschwung  eintreten  könnte.  Bei  den 
gesammten  MiUtär- Ausgaben  kann  dem  Vorjahr  gegenüber  eine  Zunahme 
von  2  Millionen  Gulden,  dem  J.  1887  gegenüber  eine  Zunahme  von  nahe  an 
12  Millionen  constatirt  werden;  dies  ist  ein  Factum,  welches  ebenso  bei 
Würdigung  der  in  der  Vergangenheit  erzielten  Ergebnisse,  als  auch  bei  den 
Zukunfts-Projecten  in  Anbetracht  genommen  werden  muss. 


III. 

Die  Betriebs-  und  die  mit  diesen  verwandten  Ausgaben  weisen  durch- 
wegs eine  Zunahme  auf.  Die  Zunahme  betrug 

bei  dem  Finanzministerium       1,718.000  Gulden 

ff        «    Handelsministerium.- -     .  .  5,087.000       • 

«        fl    Ackerbauministerium 422.000        « 

zusammen     7,227.000  Gulden, 

diesem  gegenüber  stiegen  die  Einnahmen 

bei  dem  Finanzministerium  um        ...  1,638.000  Gulden 

a       «    Handelsministerium  um ...  7,325.000       « 

«        «    Ackerbauministerium  um   ...  711.000       « 


zusammen     ...     ...         9,674.000  Gulden, 

das  heisst :  es  gestaltet  sich  die  Bilanz  um  2,447.000  Gulden  günstiger,  wenn 
aber  behufs  Begleichung  der  bei  den  Staatsschulden  vorkommenden  Mehr- 
ausgaben von  1,035.000  Gulden  diese  Summe  als  Ertrag  der  Nordostbahn 


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DAS   BUDGET    ÜK<>ARN8   FÜR    DAS  JAHR    1891.  ^^ 

in  Abrechnung  gebracht  wird,  so  beziffert  sich  die  Besserung  der  Bilanz  nur 
mit  1,412.000  Gulden. 

Die  Bilanz  der  unter  Leitung  des  Finanzministeriums  stehenden  Be- 
triebe gestaltet  sich  um  80.000  Gulden  ungünstiger;  von  dieser  Summe  ent- 
fallen 51.000  Gulden  auf  die  Verminderung  des  Verkaufes  von  Staatsgütern, 
was  keiner  weitern  Erklärung  bedarf;  auffallend  ist  jedoch  jene  Erscheinung, 
-dass  trotz  der  projectirten  intensiveren  Entwickelung  der  übrigen  Betriebe 
auch  die  Bilanz  dieser  sich  ungünstiger  gestaltet,  u.  z.  um  29.000  Gulden. 
Das  Szomolnoker  Bergwerk  wurde  um  1  Million  veräussert  und  obzwar 
deren  Erträgniss  in  dem  Budget  nicht  mehr  eingestellt  ist,  bedarf  auch  bei 
Inbetrachtnahme  dieses  Umstandes  die  Unverhaltnissmässigkeit,  welche 
zwischen  der  Zunahme  der  Auslagen  und  der  erzielten  finanziellen  Ergeb- 
nisse obwaltet,  immerhin  eine  Erklärung. 

Wenn  wir  aber  das  Budget  der  Bergwerke  einer  gründlichen  Prüfung 
unterziehen,  so  ist  es  notwendig,  dass  von  der  1,799.000  Gulden  betragen- 
den Mehrauslage  der  einzelnen  Posten  als  rein  durchlaufende  Ausgaben 
nachstehende  Summen  in  Abrechnung  gebracht  werden,  u.  zw.: 

bei  den  Hütten-Werken    .       ... 225.000  Gulden 

bei  der  Münzpräge        248.000        « 

bei  der  Altsohl-Brezoer  Röhren-Fabrik 251.000       « 

zusammen     734.000  Gulden 

es  verbleibt  daher  eine  eigentliche  Mehrausgabe  von  1,075.000  Gulden, 
welche  zur  Hebung  der  Eisenwerke  verwendet  wurde.  Diese  Summe  steht 
mit  den  bei  den  durchlaufenden  Einnahmen  und  Ausgaben  aufgenommenen 
600.000  Gulden  und  mit  dem  hiedurch  zum  Ausdruck  gelangenden  Plan 
des  Finanzministers  im  Zusammenhange,  dass  der  Preis  der  zum  Verkaufe 
gelangenden  minder  einträglichen  Bergwerke  zur  grösseren  Entwicklung  der 
Perle  der  Eisenwerke  Unoarns,  des  Eisenhammers  in  Vajda-Huuyad,  verwen- 
det werde.  Nachdem  aber  der  Finanzminister  die  Verwirklichung  dieses 
Planes  von  dem  Umstand  abhängig  machte,  dass  er  sich  über  dessen  Erträg- 
lichkeit üeberzeugung  verschaffe,  können  wir  beruhigt  sein,  dass  in  dem 
Fall,  wenn  die  geplante  Investition  und  die  hiemit  verbundene  Steigerung 
der  Betriebs-Ausgabeu  Thatsache  wird,  das  active  Ergebniss  wesentlich 
günstiger  sein  wird  als  der  Voranschlag. 

Ueber  die  Lage  gewinnen  wir  ein  noch  günstigeres  Bild,  wenn  wir  den 
Voranschlag  mit  den  activen  Ergebnissen  vergleichen.  Während  nämlich  vor 
dem  Jahr  1887  die  Schlussrechnungen  der  Bergwerke  sehr  oft  ein  Millionen 
betragendes  stabiles  Deficit  aufwiesen,  sinkt  das  Deficit  im  Jahre  1887  auf 
248.000  Gulden,  im  J.  1888  hingegen  ergibt  sich  schon  ein  Ueberschuss 
von  639.000,  im  J.  1889  von  855.000  Gulden.  Wenn  diesen  activen  Er- 
gebnissen gegenüber  der  Ueberschuss  bei  den  Bergwerken  für  das  J.  1 890 


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^2  DAS  BUDGET  UNGARNS  FÜR  DAS  JAHR  18iU. 

mit  76.000,  für  das  J.  1891  mit  58.000  Gulden  in  Voranschlag  gebracht  er- 
scheint, so  erklärt  die  scheinbare  Ungünstigkeit  dieses  Ergebnisses  die  fast 
übermässige  Scrupulosität,  welche  das  ganze  Budget  des  Finanzministers  so 
vorteilhaft  charakterisirt. 

Der  Zunahme  von  422.000  Gulden  der  gleichnamigen  Ausgaben  des 
Ackerbauministeriums  (Staatsforste,  Domänen  und  Gestütslandwirtschaften*) 
gegenüber  steht  eine  Steigerung  der  Einnahmen  um  711.000  Gulden,  so 
dass  sich  die  Bilanz  dieser  Betriebszweige  um  289.000  Gulden  günstiger 
gestaltet.  Es  entspricht  diese  Besserung  so  der  naturgemässen  Entwickelung 
bei  der  Verwertung  der  Waldungen,  als  auch  jener  intensiveren  Verwaltung, 
deren  Ergebniss  bei  den  Gestütslandwirtschaften,  hauptsächlich  bei  der 
Mezöhegyeser  Domäne  wahrgenommen  werden  kann.  Obzwar  es  unzweifel- 
haft ist,  dass  die  in  Voranschlag  gebrachten  Erträgnisse  der  Gestütslandwirt- 
schaften auch  gegenwärtig  noch  nicht  ganz  frei  sind  von  einem  gewissen  Grad 
Optimismus  und  wenn  in  Anbetracht  genommen  wird,  dass  deren  Erträgniss 
im  Jahre  1889  laut  den  Schlussrechnungen  nur  210.000  Gulden  betrug  und 
im  J.  1888  als  in  den  bisher  günstigsten  auch  nur  397.000  Gulden  ergab, 
können  mit  Becht  Bedenken  auftauchen  gegen  die  Bealität  des  im  Budget 
eingestellten  Ueberschusses  von  672.000  Gulden ;  dem  gegenüber  steht  jene 
Thatsache,  dass  bei  den  Staatsforsten  im  Jahre  1889  um  400.000  Gul- 
den mehr  eingenommen  wurde,  als  für  das  laufende  Jahr  präliminirt  ist, 
so  dass  Hoffnung  vorhanden  ist,  dass  die  hieraus  zu  erwartende  Mehrein- 
nahme das  wahrscheinlich  eintretende  Deficit  bei  ersterem  Titel  im  Gleich- 
gewicht halten  wird. 

Bei  den  Betrieben  des  Handelsministeriums  stiegen  die  Ausgaben  um 
5,087.000  Gulden,  die  Einnahmen  um  7,325.000  Gulden,  es  gestaltet  sich 
demnach  die  Bilanz  um  2,238.000  Gulden  günstiger.  Der  Löwenanteil  an 
dieser  Zunahme  entfällt  auf  die  Staatsbahnen,  bei  diesen  betrugen  nänüich : 

im  J.  1890  im  J.  1891  Plus  im  J.  1891 

Gnlden  Gulden  Gulden 

die  Ausgaben    ...     ...  24,897.000  30,000.000  5,103.000 

die  Einnahmen   ...       41,500.000  48,660.000  7,166.000 

die  Mehreinnahme  .-.  16,603.000  18,660.000  2,063,000 

Hiebei  ist  aber  die  Verstaatlichung  der  Nordostbahn  nicht  ausser  Acht 
zu  lassen,  in  Folge  dessen  die  für  das  Jahr  1890  in  Voranschlag  gebrachte 
Ausgabe  von  3,122.010  Gulden,  sowie  die  Einnahme  von  4,014.000  Gulden 


*  Von  den  Ausgaben  und  Einnahmen  unter  dem   Titel  « Pferdezuchtanstalten  • 
glaube  ich  jene  der  Gestütslandwirtschaften  am  geeignetesten  hieher  reihen  zu  können,, 
die  übrigen  Posten  hingegen  unter  die  streng  genommenen  Staats- Ausgaben. 


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DAS    BUDGET    UNGARNS    FÜR    DAS   JAHR    1S9I.  ^ 

dieser  Bahn  auch  in  das  Budget  der  Staatsbabnen  aufgenommen  wurde. 
In  Anbetracht  dessen  zeigt  sieb  bei  den  Staatsbabnen  eine  Zunabme,  u.  z. 

bei  den  Ausgaben       ... 1,980.990  Gulden 

bei  den  Einnahmen       _.         3,152.000       « 

bei  dem  Gesammterträgniss      1,171.010       • 

Diese  Zunahme  des  Voranschlages  ist  die  natürliche  Folge  der  riesenhaften 
Entwickelung  des  Verkehrs  und  ist  ein  abermaUges  Zeichen  des  glänzenden 
Sieges  der  Eisenbahn-Politik  Ungam's.  In  Folge  der  rapiden  Entwickelung 
des  Verkehrs  war  die  Steigerung  der  Verwaltungs- Auslagen  unvermeidlich, 
es  konnten  aber  auch  die  Einnahmen  getrost  höher  in  Voranschlag  gebracht 
werden  und  wenn  in  Betracht  genommen  wird,  dass  das  factische  Bein- 
erträgniss  der  Staatsbabnen  (mit  Einrecbnung  des  beiläufigen  Erträgnisses 
der  Nordostbahn  von  900.000  Gulden) 

im  Jahre  1888    19.i  Millionen  Gulden 

f       f       1889        20.7         «  • 

betrug,  so  kann  zuversichtlich  erhofft  werden,  dass  das  Erträgniss,  welches 
für  das  laufende  Jahr  mit  18.6  Millionen  Gulden  in  Voranschlag  gebracht 
wurde,  in  der  Wirklichkeit  sich  wesenthch  günstiger  gestalten  wird.  In 
dieser  Hinsicht  dienen  besonders  zur  Beruhigung  die  Erfahrungen  des 
Jahres  1889.  Während  nämlich  die  günstigen  Ergebnisse  der  Jahre  1887 
und  1888  mit  der  guten  Ernte  dieser  Jahre  begründet  werden  konnten,  so 
wurde  das  noch  günstigere  Ergebniss  des  Jahres  1889  trotz  der  misshchen 
Ernte  und  trotz  des  Bäckfalles  bei  dem  Getreide -Verkehr  erzielt.  Jene  höhere, 
zugleich  weise  und  kühne  Verkehrs-Politik,  welche  bei  den  ungar.  Staats- 
bahnen während  der  letzten  Jahre  inaugurirt  vnirde,  findet  in  dieser  That- 
sache  ihren  schönsten  Sieg,  weil  diesbezüglich  getrost  gesagt  werden  kann, 
dass  gegenwärtig  der  Verkehr  und  das  Erträgniss  der  Bahnen  von  den 
Eventualitäten  der  Getreideproduction  nunmehr  emancipirt  ist.  Es  gelang, 
die  Prseponderenz  des  Getreideverkehrs  zu  bekämpfen  nnd  den  Verkehr 
so  vielseitig  zu  gestalten,  dass  der  Entwickelung  und  dem  Erträgnisse  der 
Bahnen  nicht  einmal  eine  ungünstige  Ernte  schaden  kann.  Es  ist  heutzutage 
dergestalt  Mode,  den  Herrn  Handelsminister  zu  loben,  er  ist  in  solchem 
Maasse  der  Zielpunkt  von  Schmeicheleien  aller  Art,  dass  man  fast  den 
guten  Ton  verletzt,  wenn  man  ihn  lobt,  es  wäre  aber  ein  Verschweigen  der 
Wahrheit,  wenn  wir  jener  unvergänglichen  Verdienste  nicht  gedenken  wür- 
den, durch  welche  er  sich  auf  dem  Gebiete  der  Staatsbabnen,  so  aus  volks- 
wirtschaftlichem, wie  aus  finanziellem  Gesichtspunkte,  ein  bleibendes  Denk- 
mal errichtet  hat. 


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^  PAS    BUDGET    UNGARNS    FÜR    DAS   JAHR    1891. 


IV. 

Bei  den  aus  den  eigentlichen  staatlichen  Funktionen  entstammenden 
Ausgaben,  ist  von  der  3,580.000  Gulden  betragenden  Mehrausgabe  in  Ab- 
rechnung zu  bringen : 

1.  die  Mehreinnahme  unter  demselben  Titel...     362.000  G. 

2.  die  Mehrausgabe  bei  dem  Schankregale     1,035.000  G. 

3.  die  Mehrausgabe  bei  den  Verzehrungs- 

steuern               323.000  G. 

4.  die  Mehrausgabe  bei  dem  Tabakgefäll  67.000  G. 

zusammen     ...       .     1,425.000  G. 
da  diese   Summe  mit  den  zunehmenden  Einnahmen  unter 
diesem  Titel  im  Zusammenhange  steht;  im  Ganzen  sind 

daher 1,787.000  G. 

in  Abrechnung  zu  bringen ;  es  verbleibt  daher  eine  durch 
Entwickelung  der  staatlichen  Einrichtungen  verursachte 
Netto-Mehrausgabe  von  ...     1,793.000  G. 

Von  dieser  Summe  nimmt  der  innere  Bedarf  Kroatien -Slavoniens  um 
191.000  Gulden  zu,  dies  ist  die  natürliche  Folge  der  in  dieser  Beziehung 
bestehenden  gesetzlichen  Anordnungen  und  der  Zunahme  der  Einnahmen ; 
364.000  Gulden  aber  entfallen  auf  Pensionen.  Letztere  zeigen  zu  Folge  der 
Verhältnisse  und  besonders  der  freigebigeren  Anordnungen  des  Gesetzes 
vom  Jahre  1885,  fortwährend  eine  unaufhaltsame  Zunahme  und  bildet  dieser 
Titel  jene  seltene  Ausnahme,  bei  welchem  eine  Mehrausgabe  bisher  noch 
immer  nicht  vermieden  werden  konnte.  Die  Daten  vorangegangener  Jahre 
in  Augenschein  genommen,  ergibt  sich  folgendes  Resultat: 

Voranschlag  f.  d.  J.  1887  4,989.000  G.     Netto- Ausgabe  5,634.000  G. 

fl  fl   «   «  1888  5,314.000  «  «  «         5,999.000    « 

«  «   «   fl  1889  5,789.000  «  «  «        6,345.000    t 

f  «   «   «  1890  6,316.000  « 

«  «    «   «  1891  6,680.000  « 

Hieraus  erhellt,  dass  die  jährliche  Mehrausgabe  unter  diesem  Titel  beiläufig 
350.000  Gulden  beträgt  und  dass,  obzwar  das  entsprechende  Gapitel  des 
diesjährigen  Budgets  ebenfalls  an  Realität  gewann,  die  Aussicht  auf  eine 
Mehrausgabe  von  2 — 300.000  Gulden  noch  immer  vorhanden  ist. 

In  der  noch  immer  zurückbleibenden  Mehrausgabe  von  1,238.000  Gul- 
den findet  eigentlich  die  Zunahme  bei  dem  aktiven  administrativen  Mecha- 
nismus Ungarns  Ausdruck ;  um  diese  Summe  wurde  die  Action  des  ungari- 
schen Staates  in  sämmtlichen  Zweigen  des  administrativen,  kulturellen  und 


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DAS   BUDGET   UNGARNS    FÜR    DAS   JAHR    1H91.  *»> 

volkswirtschaftlichen  Lebens  theurer.  Wenn  die  einzelnen  Posten  dieser 
Mehrausgabe  der  gewissenhaftesten  Beurteilung  unterzogen  werden,  finden 
sich  einige  in  sich  selbst  genommen  geringfügige  Summen  (sporadische 
Gtehaltaufbesserungen,  Vermehrungen  des  Personals  etc.)  vor,  gegen  welche 
aus  dem  Gesichtspunkte  der  strengsten  Sparsamkeit  Einwendung  erhoben 
werden  kann,  denn  die  geringste  derartige  Erscheinung  berührt  alle  jene 
unangenehm,  die  sich  der  schweren  Stunden  der  Nächstvergangenheit 
und  der  Hauptursache  der  kaum  behobenen  Uebel  noch  zu  erinnern  ver- 
mögen. Die  ganze  in  Bede  stehende  Summe  jedoch  ist  so  gering,  dass  die- 
selbe fürwahr  kaum  erwähnt  werden  sollte,  wenn  es  nicht  nothwendig  wäre 
bei  jeder  Gelegenheit  darauf  hinzuweisen,  dass  jeder  einzelne  Schritt  bei 
laxerer  Beurteilung  der  Lage  und  bei  Ausserachtlassung  der  finanziellen 
Gesichtspunkte  mit  ernsten  Gefahren  verbunden  ist.  Diese  Auffassung  kann 
als  kleinlich  und  kreuzerhaft  verspottet  werden  und  es  erscheint  dieselbe 
als  trocken  und  prosaisch,  besonders  heutzutage,  da  die  Atmosphäre  von 
grossen  Ideen,  grossen  Prinzipien  und  grossen  Losungsworten  erzittert.  Es 
sei  aber  nicht  vergessen,  dass  air  diese  schönen  Sachen  ohne  die  Gefahr,  aus- 
gelacht zu  werden,  nicht  einmal  erwähnt  werden  könnten,  wenn  nicht  durch 
die  consequente  Durchführung  dieser  kreuzerhaften  Auffassung  die  Ordnung 
im  Staatshaushalte  hergestellt  wäre  und  dass  zur  Verwirklichung  der  Her- 
stellung des  Gleichgewichtes  das  strenge  Beharren  bei  dieser  Auffassung 
auf  allen  Gebieten  des  staatlichen  Lebens  die  Hauptbedingung  ist.  Eines  der 
grössten  Verdienste  der  Regierung  bildet  es,  dass  sie  diese  undankbare  und 
eine  grosse  Selbstverleugnung  erfordernde  Aufgabe  mit  eiserner  Energie 
löste,  und  es  wäre  die  Begierung  untreu  zu  ihrer  Vergangenheit,  untreu  za 
den  grossen  Plänen,  deren  Durchführung,  zu  den  edlen  Aspirationen,  deren 
Verwirklichung  von  ihr  erwartet  werden,  wenn  sie  sich  von  diesem  Gebiet 
durch  was  immer  verleiten  lassen  würde. 

Im  Grossen  und  Ganzen  genommen  —  und  abgesehen  von  einigen 
insgesammt  nur  wenige  tausend  Gulden  betragenden  Ausnahmen  —  kann 
mit  vollständiger  Beruhigung  constatirt  werden,  dass  die  ganze  Mehrlast  nicht 
jene  Grenze  überschreitet,  welche  bei  Entwickelung  unserer  Verhältnisse  als 
ganz  normal  betrachtet  werden  kann.  Nebst  den  zunehmenden  Anforderungen 
des  sich  fortwährend  entwickelnden  Lebens,  kann  in  den  Functionen  des  Staaten 
auch  keine  Stagnation  eintreten ;  die  naturgemässe  Entwickelung  des  staat- 
lichen Organismus  erfordert  unvermeidlich  —  abgesehen  von  grösseren  Befor- 
men—  eine  jährliche  Zunahme  der.  Ausgaben  von  beiläufig  1*5  Millionen 
Gulden.  Diese  Grenze  überschreitet  auch  das  diesjährige  Budget  nicht  und 
wenn  die  zunehmenden  Ausgaben  besser  ins  Augenmerk  genommen  werden,, 
gelangt  man  zu  der  Ueberzeugung,  dass  dieselben  wirklich  notwendig  sind 
und  zur  Erreichung  nützlicher  Zwecke  dienen.  Diese  Ausgaben  verteilen  sieb 
folgendeimassen  unter  die  einzelnen  PortefeuiUes : 


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DAS   BUDGET    UNGARNS    FÜR   DAS   JAHR    1891. 


1.  Der  grösste  Teil  der  Mehrausgabe,  230.000  Gulden,  welche  bei  den 
bisher  noch  unerwähnt  gelassenen  Titeln  des  Finanzministeriums  ins  Auge 
tritt  —  entfallt  auf  Finanzdirectionen  und  Finanzwachen,  und  ist  eigent- 
lich nur  die  naturgemässe  Folge  der  grösseren  Einnahmen.  Besonders  in 
Folge  rapider  Entwickelung  der  indirecten  Steuern,  müssen  die  Kosten  der 
pünktlichen  Manipulation  und  Controlle  zunehmen :  es  liegt  daher  die  auf 
Verstärkung  der  äusseren  Organe  der  Finanz-Administration  verwendete 
Mehrausgabe  sowohl  im  Interesse  des  Aerars  als  auch  der  steuerzahlenden 
Bürger. 

2.  Bei  den  ordentlichen  Ausgaben  des  Ministeriums  des  Innern  zeigt 
sich  eine  Zunahme  von  204.000  Gulden,  dem  gegenüber  steht  eine  Mehr- 
einnahme von  77.000  Gulden,  die  netto  Mehrlast  beträgt  daher  127.000  Gul- 
den. Von  dieser  Summe  entfallen  102.000  Gulden  auf  den  öffentlichen  Sicher- 
heitsdienst. Die  stufenweise  Entwickelung  der  Gendarmerie,  als  auch  der 
Polizei  der  immermehr  das  Gepräge  einer  Weltstadt  zeigenden  Hauptstadt 
ist  eine  unaufschiebbare  Notwendigkeit,  die  hierauf  verwendeten  Auslagen 
werden  durch  die  andauernde  unbestreitbare  Besserung  der  öffentlichen 
Sicherheitszustände  so  dem  Staat  als  auch  der  Gesellschaft  reichlich  ersetzt. 
Ebenso  sind  die  Ausgaben  des  Sanitätswesens  im  steten  Steigen  begriffen,  und 
wird  gewiss  die  Hemmung  der  naturgemässen  Entwickelung  dieses  Dienst- 
zweiges niemand  einfallen,  unter  diesem  Titel  zeigt  sich  eine  Netto- Mehraus- 
gabe von  47.000  Gulden,  so  dass  das  öffentliche  Sicherheits-  und  Sanitäts- 
wesen das  Budget  des  Ministeriums  des  Innern  zusammen  mit  149.000 
•Gulden  belastet.  Bei  all  den  übrigen  Titeln  dieses  Portefeuilles  kommt  nicht 
nur  keine  Mehrausgabe  vor,  sondern  es  ergibt  sich  eine  Ersparniss  von 
22.000  Gulden. 

3.  Die  Mehrausgabe  von  197.000  Gulden  des  Handelsministeriums 
sinkt  nach  Abrechnung  der  Mehreinnahme  von  44.000  Gulden  auf  153.000 
<Tulden.  Diese  Summe  nehmen  fast  gänzlich  die  zur  Subsidiirung  der  Stras- 
senfonde  der  Munizipien  in  das  Budget  eingestellten  140.000  Gulden  in 
Anspruch ;  bei  sämmtlichen  übrigen  Titeln  kommt  nur  eine  Mehrausgabe 
von  13.000  Gulden  vor. 

4.  Einigermassen  anders  gestaltet  sich  die  Sache  bei  dem  Ackerbau- 
ministerium: die  Netto-Mehrausgabe  von  147.000  Gulden  (216.000  Gulden 
Mehrausgabe,  69.000  Gulden  Mehreinnahme)  verteilt  sich  fast  gleichmäs- 
sig  unter  die  verschiedenen  agriculturellen  Zwecke.  Dagegen,  dass  in  einem 
überwiegend  agriculturellen  Land  wie  Ungarn  derartige  Leistungen  des 
'Staates  mit  erforderlicher  Vorsicht  gesteigert  werden,  kann  man  fürwahr  keine 
Einwendung  erheben  und  ist  die  ganze  Mehrausgabe  von  147.000  Gulden 
in  Anbetracht  der  Wichtigkeit  und  productiven  Natur  der  fraghchen  Ausga- 
ben absolut  nicht  übermässig.  Fraglich  bleibt  es  aber,  ob  es  für  die  Agri- 
'Cultur  nicht  von  grösserem  Nutzen  wäre,  wenn  diese  Mehrausgabe  tunlichst 


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DAS    BUDGET   UNGARNS    FÜR   DAS   JAHR    1891.  47 

4iaf  die  Vorschableistung  von  einem  oder  zweier  der  allerwichtigsten  Zwecke 
konzentrirt  werden  würde. 

5.  Von  der  Netto-Mehraosgabe  von  346.000  Golden  des  Justizministe- 
riums stehen  262.000  Gulden  mit  der  Decentralisation  der  königlichen 
Tafel,  50.000  Gulden  mit  der  rascheren  Verfertigung  der  Grundbücher  im 
Zusammenhange,  das  heisst,  diese  Mehrausgabe  von  312.000  Gulden  ist 
schon  die  Folge  der  Durchführung  des  Reformprogrammes.  Die  Kosten  der 
laufenden  Administration  nahmen  nur  um  34.000  Gulden  zu. 

6.  Endlich  zeigt  sich  noch  bei  dem  CultusminL<»terium  eine  Netto- 
Mehrausgabe  von  178.000  Gulden  (326.000  Gulden  Ausgabe,  148.000  Gul- 
den Einnahme),  hievon  entfallen  24.000  Gulden  auf  die  unumgänglich 
notwendig  gewordene  Uebersiedelung  des  Ministeriums,  127.000  Gulden 
auf  Lehranstalten. 

Bei  der  erfreulichen  Entwicklung  der  nationalen  Cultur  ist  es  unver- 
meidlich, dass  die  Lehranstalten  auch  in  der  Zukunft  stufenweise,  nach 
einem  gut  durchdachten  Plan  auf  allen  Gebieten  entwickelt  werden.  Hiebei 
muss  aber  der  Gultusminister  sehr  oft  jene  undankbare  Aufgabe  vor  Augen 
halten,  dass  der  Oekonomie  jeder  einzelnen  Lehranstalt  die  möglichste 
Sparsamkeit  zu  Grunde  gelegt  werde  und  dass  die  jährlich  zu  diesem  Zwecke 
erforderlichen  Mehrausgaben  zur  factischen  Entwickelung  der  Culturanstal- 
ten  verwendet  werden. 

Auf  Grund  dieser  Daten  gewinnen  wir  nachstehendes  Bild  unserer 
:finanziellen  Lage. 

Die  diesjährige  Ausgabe  beträgt  bei  dem  Ordinarium 
mehr  als  die  vorjährige  (hauptsächlich  Militär- 
Zwecke)  um 1,439.000  Gulden 

bei  den  Staatsschulden  um    47.000        « 

bei  den  Militär- Ausgaben -     ...      872.000        • 

bei  den  Betrieben  und  den  gleichnamigen  Ausgaben  7,227.000        « 
bei  den  mit  den  zunehmenden  Einnahmen  in  direc- 

tem  Zusammenhange  stehenden  Ausgaben       —  1,425.090        « 

bei  den  übrigen  Staats- Ausgaben  um _..       2,155.000        « 

bei  dem  Titel  «übrige  hier  nicht  angeführte  unbedeu- 
tende Differenzen»  um 24.000        « 

zusammen  um 13,189.000  Gulden 

^em  gegenüber  zeigt  sich  bei  den  schon  erwähnten  Einnahmen  eine  Zu- 
nahme von  und  zwar : 

bei  den  Staatsschulden     ...     ...  142.000  Gulden 

bei  den  Betrieben 9,674.000        « 

bei  den  verschiedenen  Administrations-Zweigen  ...  362.000        « 

zusammen     10,188.000  Gulden. 


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4>^  DAS    BUDGET    UNGARNS    FÜR    DAS   JAHR    1891. 

Es  ist  daher  ersichtlich,  dass  die  Mehreinnahme  die  Mehrausgabe  von 
9,:229.000  Gulden  der  Staatsschulden,  Betriebe  und  der  streng  genommenen 
staatlichen  Ausgaben  reichlich  deckt  und  dass  jenes  Ziel,  dass  in  dem  reinen 
Erträgniss  der  sich  stets  entwickelnden  Betriebe  der  mit  der  normalen  Zu- 
nahme des  staatlichen  Organismus  verbundene  Mehrbedarf  Deckung  iinde^ 
erreicht  wurde.  Ja  es  kann  sogar  von  dem  949.000  Gulden  betragenden 
üeberschuss,  mit  Ausnahme  von  kaum  einer  halben  Million  Gulden,  auch 
jene  Mehrausgabe  des  Finanzministeriums  bestritten  werden,  welche  mit 
neuen  oder  zunehmenden  Einnahmequellen  in  Verbindung  steht  (Schank- 
regale  und  Verzehrungssteuem). 

Das  günstige  Ergebniss  der  naturgemässen  Entwickelung  sämmtlicher 
hier  erwähnten  Ötaats-Einnahmen  könnte  daher  zur  besseren  Gestal- 
tung der  Bilanz  des  Staatshaushaltes  beitragen,  wenn  nicht  die  neuer- 
liche Zunahme  der  Militär-Ausgaben  dazwischen  gekommen  wäre.  Diese 
Ausgaben  beanspruchen  von  diesen  zunehmenden  Einnahmen  fast  zwei 
Millionen  Gulden  und  zehren  die  in  Voranschlag  gebrachten  Mehrein- 
nahmen fast  gänzlich  auf,  so  dass  die  Bilanz  nur  eine  Besserung  von  einer 
halben  Million  aufweist  Die  eigentliche  Besserung  ist  zwar  nicht  nur  so- 
viel, sondern  es  beträgt  dieselbe  in  der  Wirklichkeit  2V2  Millionen  Gulden, 
nachdem  im  Budget  bei  dem  Verkaufe  von  Staatsgütern  um  zwei  Millionen 
Gulden  weniger  in  Voranschlag  gebracht  wurde ;  diese  Besserung  ist  aber 
immerhin  noch  eine  viel  geringere  als  jene  der  nächst  vergangenen  Jahre  und 
verursacht  ernstliche  Bedenken,  besonders  wenn  in  Betracht  genommen  wird, 
dass  die  in  das  Programm  der  Begierung  aufgenommenen  und  allgemein 
erwünschten  Be formen  eine  ständige  Mehrausgabe  von  mindestens  10  bis 
l!2  Millionen  Gulden  verursachen  werden. 

Dies  würde  sehr  gewichtige,  kaum  zerstreubare  Bedenken  verursachen, 
wenn  die  erzielten  Ergebnisse  der  Schlussrechnungen  keine  Beruhigung 
bieten  würden.  Die  Ergebnisse  der  Schlussrechnungen  sind  seit  dem  J.  1887 
fortwährend  günstiger,  als  jene  des  Budgets.  Im  Jahre  1887  war  das  wirk- 
liche Ergebniss  um  7,  im  Jahre  1888  um  12,  im  Jahre  1889  um  13  Millionen 
Gulden  günstiger,  als  das  in  Voranschlag  gebrachte,  und  es  kann  haupt- 
sächlich letztere  Schlussrechnung  auch  bei  Ausübung  der  strengsten  Kritik 
gerechte  Freude  verursachen  und  darf  dieselbe  den  gerechten  Stolz  der  Regie- 
rung bilden,  deren  unermüdliche,  gewissenhafte  Thätigkeit  darin  zum  Aus- 
druckegelangt. Jede  Seite  der  Schlussrechnung  bekundet  die  strengste  Ordnung 
und  Sparsamkeit,  Creditübertretungen  kommen  kaum  vor,  bei  den  Ein- 
nahmen ergibt  sich  fast  ohne  Ausnahme  ein  Üeberschuss.  Und  wenn 
zwischen  den  Einnahms-Ergebnissen  der  Schlussrechnung  und  jenen  des 
diesjährigen  Budgets  ein  Vergleich  angestellt  wird,  so  kann  mit  Freude  und 
Beruhigung  constatirt  werden,  dass  dieselben  auch  für  dieses  Jahr  mit  der- 
selben, fast  an  Pessimismus  grenzenden  Realität  in  Voranschlag  gebracht 


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DAS    BUDGET    UNGARJJS    FÜK    DAS   JAHR    1891.  4f9 

^wtirden,  welche  die  in  YoraDschlag  gebrachten  Einnahmen  der  nächsten 
Vergangenheit  charakterisirte. 

Wenn  nunmehr  in  Anbetracht  genommen  wird : 

1.  dass  die  Einnahmen  des  Finanzministeriums  ohne  das  im  Jahre 
1889  noch  nicht  bestandene  Schankregale  im  Budget  mit  vier  Millionen 
Gulden  niedriger  aufgenommen  wurden,  als  das  factische  Ergebniss  des 
Jahres  1889; 

2.  dass  der  Voranschlag  der  Bergwerke  um  800.000  Gulden  ungünsti- 
ger ist,  als  das  factische  Ergebniss  des  Jahres  1889  ; 

3.  jener  der  Staatsbahnen  um  zwei  Millionen  Gulden ; 

4.  dass  daa  Erträgniss  der  zur  Verfügung  des  Finanzministers  stehen- 
den Gapitalien  und  der  Begalablösungs-Obligationen  in  das  Budget  nicht 
aufgenommen  erscheint  ; 

5.  dass  die  Hälfte  des  Jahres  1889  die  fast  allgemeine  missliche  Ernte 
empfindlich  beeinflusste  und 

6.  dass  der  grösste  Teil  der  Einnahmen,  so  hauptsächlich  jene  der 
Staatsbahnen,  Stempel,  Gebühren,  des  Tabakgefälls  und  der  Verzehrungs- 
steuem  eine  rapide  Zunahme  aufweisen,  und  inwiefern  von  den  für  das  Vor- 
jahr bisher  erschienenen  Ausweisen  gefolgert  werden  kann,  diese  Zunahme 
im  erfreulichen  Maasse  fortdauert^ 

so  kann  mit  voller  Bestimmtheit  behauptet  werden,  dass  —  inwiefern 
ganz  ausserordentliche  Umstände  die  volkswirtschaftliche  und  finanzielle  Lage 
Ungarns  nicht  zerrütten,  —  das  factische  Ergebniss  des  laufenden  Jahres 
mindestens  um  8  bis  10  Millionen  Gulden  sich  günstiger  gestalten  wird, 
als  der  Voranschlag  und  dass,  wenn  wir  auch  in  der  Zukunft  die  Sparsam- 
keit mit  unerbittlicher  Strenge  einhalten,  und  wenn  wir  femer  unsere  Kräfte 
nicht  zersplittern,  der  Bedarf  der  auf  der  Schwelle  stehenden  grossen  Beform- 
Frojecte  in  den  gegenwärtigen  Einnahmsquellen  Deckung  finden  wird. 

Stefan  von  Tisza. 


UNGARN  BETREFFENDE  SANITÄTSVERORDNÜNGEN 
JOSEFS  DES  n. 

(Beitrag  znr  Sanitätsgeschichte  Ungarns.) 

Von  einem  geregelten  Sanitätswesen  kann  in  Ungarn  im  Mittelalter 
und  selbst  in  der  Neuzeit  noch  nicht  die  Bede  sein.  Einzelne  mehr  oder 
minder  wichtige  Anordnungen,  die  im  Laufe  der  Jahrhunderte  getroffen 
wurden  und  dieBegelung  einzelner  Zweige  des  Sanitätswesens  bezweckten,* 

*  So   z.    B.    einzelne  Bestimmungen    in     dem    Statutenbuch    der    Stadt    Ofen 
(1244—1421).  Punkt  102  und  298  handelt  von  den  Apothekern  (s.  meine  Schrift  fZur 
Ungarisehe  Reme,  XI.  1891.  I.  Heft.  4 


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oO 


UNGARN    BETREFFENDE    8ANITÄTSVER0RDNUNGEN    JOSEFS    DES    II. 


vermochten  nicht  einen  allgemeinen  Aufschwung  des  öflfentlichen  Gesundr 
heitswesens  herbeizuführen,  umsomehr,  da  diese  Verordnungen  nie  zur 
Gesetzkraft  erhoben,  auch  nicht  auf  allgemeine  Anwendung  rechnen  konn- 
ten. Temporäre  Erlässe,  deren  Veranlassung  grösstenteils  die  in  damaUger 
Zeit  häufig  auftretenden  Epidemien  gewesen,  hatten  auch  nur  temporäre 
Bedeutung  und  ephemeren  Wert,  denn  bei  der  Kritiklosigkeit  der  damaUgen 
Ansichten  über  öflFentüche  Hygiene  wurden  oft  auch  bessere  und  lebensfähi- 
gere Einrichtungen  ohne  Weiteres  über  den  Haufen  geworfen.  Daher  die  quan- 
titativ wohl  bemerkenswerten,  doch  qualitativ  höchst  untergeordneten  Sani- 
tätsverordnungen der  damaligen  Jahrhunderte,  die  durchaus  nicht  geeignet 
waren,  eine  Verbesserung  des  öflfentlichen  Gesundheitswesens  zu  veran- 
lassen. 

Im  XVni.  Jahrhunderte  macht  sich  der  Sinn  für  die  öflfentliche 
Gesundheitspflege  in  Ungarn  bereits  im  hohen  Grade  bemerkbar.  Dies  ist 
wohl  dem  Aufschwünge  auf  dem  Gebiete  der  Natur-  und  Heilwissenschaft 
zu  verdanken,  die  eine  radikale  Reform  der  betreflfenden  äusserst  mangelhaf- 
ten Institutionen  herbeiführte  und  den  leitenden  Kreisen  der  Gesellschaft 
die  Ueberzeugung  beibrachte,  dass  eine  geregelte  Sanitätspflege  im  Staats- 
wesen eine  hochwichtige  Rolle  spielt.  Hauptsächlich  unter  Leopold  L, 
Carl  VI.  und  Maria  Theresia  häufen  sich  die  Verordnungen,  die  auf  die 
Regelung  des  Sanitätswesens  und  der  mit  demselben  in  Verbindung  stehen- 
den Faktoren  abzielten.  Es  war  dies  —  unter  der  Regierung  Maria  The- 
resia's  —  auch  eine  natürliche  Folge  der  Creirung  einer  medizinischen 


Geschichte  der  Medizin  in  Ungarn»  Budapest  1890,  S.  34.),  P.  103,  dessen  Text  fehlt, 
fahrt  die  Ueberschrift  «Von  den  wuntärzten.»  P.  104  bestimmt,  «das  kain  safran  sol 
iinbeschawt  weder  gekauft  noch  verkauft  werden.»  —  lOG :  Der  fleischagker  zech- 
maichter  süllen  allzeit  als  das  vleisch  peschawen,  das  in  den  pengken  ist,  dwf  das 
rain  vnd  gerecht  üt,  vnd  nicfU  stingkund,  noch  wademg^  noch  phinnod  sei/  etc.  P.  110 
lind  111  untei-sagt  den  Verkauf  todter  Fische.  P.  182  (Text  fehlt):  «Von  dem  pader» ; 
P.  186 :  «Von  den  freyen  tochtem  und  gleichen  desz».  Mehrere  Punkte  berühren  das 
Prostitutionswesen.  Hieher  gehören  auch  die  Statuten  der  Pressburger  Fleischhauer 
vom  Jahre  1376,  die  in  einer  ihrer  Bestinamungen  ausdrücklich  bemerkten :  «Es  sol 
auch  nyemant  in  seiner  panch  phinnaste^  fleisch  vail  haben,  man  sol  iz  vor  den 
penkchen  vail  haben  her  dan  her ;  vnd  welicher  maister  phirmnsUz  fleisch  verchaufft 
in  seiner  panch,  vnd  wem  ers  verchauflft  auz  der  panch,  dem  sol  er  sein  geld  wider- 
geben, vnd  sol  zwen  vnd  sybenczich  phenninge  geben  zue  der  stat,  also  daz  iz  die 
2wen  gesworen  maister  suUen  beschawen,  vnd  ob  er  denne  schelmiges  vieh  siecht,  daz 
sol  man  im  nemen^  vnd  sol  daz  in  daz  syitol  geben  armen  lewten,  (Michnay  u.  Lichner 
Ofner  Stadtrecht  S.  79.  Linzbauer  Codex  sanitario-med.  Hungarise  I.  106.)  —  Im 
16.  Jahrhunderte,  zm*  Zeit  der  verheerenden  Epidemieen,  sowie  später  im  17.  Jahr- 
hunderte mehren  sich  diese  mannigfachen  Sanitätsverordnungen  beträchtlich.  Es 
wäre  zu  weitläufig  hier  auch  nur  einen  kurzgedrängten  Auszug  dieser  Vorkehrungen 
mitzuteilen  und  will  ich  diesbezüglich  auf  die  mögliclist  ausführUche,  doch  keines- 
wegs erschöpfende  Sammlung  im  Linzbauer'schen  Codex  verweisen. 


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UNGARN    BETREFFENDE   8ANITÄTS\'ER0RDNUNGEN   JOSEFS    DES  II.  ^1 

Fakultät,  mit  der  sich  auch  der  Wunsch  nach  Ordnung  der  Verhältnisse 
ihrer  Mitglieder,  der  Bechte  und  Pflichten  der  Aerzte  und  Sanitätspersonen 
rege  machte.  So  kam  es  bereits  unter  Maria  Theresia  zur  Schöpfung  mehre- 
rer hochwichtiger  sanitätspolizeiücher  Verordnungen,  die  den  Grundstock 
der  später  ins  Leben  gerufenen  Sanitätsgesetze  bildeten. 

EkBchöpfender  wurde  das  Material  unter  Josef  II.  behandelt.  Josef  IL, 
der  als  «Schätzer  der  Menschheit»  ebenfalls  den  Menschen  für  das  kostbarste 
Capital  der  Gesellschaft  hielt,  sorgte  in  reichlichem  Maasse  für  die  Erhal- 
tung und  Verwertung  dieses  Capitals. 

Während  seiner  zehnjährigen  Regierung  gelangte  eine  Fülle  von  Sani- 
tätsverordnungen zur  Ausgabe,  die  in  seinem  letzten  Begierungsjahre  von 
Josef  Keresztury  de  Szinerszök  unter  dem  Titel  tConstituta  regia,  quae  re- 
gnante  August.  Imperatore  et  Bege  Apostol.  Josepho  ü.  pro  regno  Hungarise 
eidemque  adnexis  provinciis  nee  non  M.  Principatu  Transilvanise  condita 
sunt»  im  Druck  erschienen.  Diese  Verordnungen,  in  logischer  Reihenfolge 
geben  ein  klares  Bild  von  den  Bestrebungen  des  für  sein  Volk  väterlich  sor- 
genden Fürsten  und  verdienen  die  Mühe,  näher  beleuchtet  zu  werden. 

Der  deutlichen  üebersicht  halber  wird  es  wohl  angezeigt  sein,  die  ein- 
zelnen Verordnungen  nicht  in  chronologischer  Beihenfolge,  sondern  aus 
sanitätsadministrativem  Standpunkte  in  sachUcher  Folge  mit  Berücksichti- 
gung der  für  die  einzelnen  Fächer  getroffenen  Verfügungen  zu  betrachten. 
Früheren  Bestimmungen  zufolge  (Decretum  Caroli  VI.  Imperatoris  ac 
Begis  vom  19.  Juni  1723)*  untersteht  das  gesammte  Sanitätswesen  dem  kön. 
Statthaltereirat,  dem  im  Jahre  1738  —  gelegentlich  der  grassirenden  Pest  — 
«ine  Sanitätscommission  und'im  Jahre  1742  ein  Arzt  «als  Bat  und  Beisitzer» 
beigegeben  wurde.  Die  Agenden  dieser  Sanitäts-Oberleitung  bestimmt  des 
Nähern  die  Constitutio  NormativaBei  Sanitatis  vom  17.  September  1770.** 
Im  Jahre  1783  wurde  bei  der  k.  Statthalterei  ein  besonderes  Sanitäts- 
Departement  gebildet.  Dasselbe  wird  einem  Bäte  zugeteilt,  fder  darüber  im 
vollen  Bäte  vorträgt». 

Am  21.  August  1786  wird,  f  da  durch  die  bisher  der  medizinischen 
Fakultät  in  Pest  von  der  königl.  Statthalterei  aufgetragenen  Angelegenhei- 
ten, welche  den  Gesundheitsstand  des  Landes  betreffen,  die  Lehrer  in  dem 
Unterricht  der  Jugend,  welcher  stets  der  wichtigste  Teil  ihrer  Pflicht  ist, 
{^hindert  wurden,  auch  dieselben  nicht  füglich  zu  andern  G^chäften  ver- 
wendet werden  können,  als  welche  unmittelbar  ihren  Lehrgegenstand  und 
<lie  innere  Polizei  der  Universität  betreffen,  so  haben  Se.  Maj.  beschlossen, 
dass  nach  dem  bereits  in  den  übrigen  Erbländern  bestehenden  Beispiele^ 

*  linzbauer  Codex  sanitario-medicinalis  Hnngariae  I.  583. 
**  Linzbauer   1.  c.  IL  535.    Zßoldos   Constituta  rei  sanitatis  in  Hungaria  parti- 
4)U8qae  adnexis  1819.  S.  18. 

4* 


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'>'  UNGABN    BETREFFENDE   SANITÄTSVBRORDNtNGEN   JOSEFS    DES   II. 

auch  in  dem  Königreich  Ungarn  ein  Protomedicus  an  dem  Orte,  wo  sich  die- 
Liandesstelle  befindet,  angestellet  und  die  Oberaufsicht  und  Leitung  dea 
Arzeneistandea  und  die  Sorgfalt  für  die  in  öffentlicher  Verpflegung  stehen- 
den Kranken  aufgetragen  werden  soll.» 

Der  allerhöchsten  Entschliessung  vom  29.  Jänner  1787  gemäss  erhält 
der  Protomedicus  ein  jährliches  Gehalt  von  1500  Gulden  und  500  Gulden 
Personalzulage  als  Beisitzer  der  Studiencommission. 

Die  unmittelbare  Aufsicht  über  das  Sanitätswesen  liegt  den  Comitats- 
und  Stadtbehörden  ob  (17.  Sept.  1770),  während  die  unmittelbare  oberste 
Aufsicht  die  Pflicht  der  königl.  Commissäre  und  der  Obergespäne  ist.  (2.  Jän- 
ner 1778.) 

In  dem  Intimat  vom  13.  Juni  1785  wird  allen  Behörden  die  Beobach- 
tung der  Sanitäts Vorschriften  zur  Pflicht  gemacht.  —  Am  21.  Dezember 
1 786  wird  die  Bestimmung  getroffen,  dass  von  nun  an  in  jedem  Comit^te 
nur  ein  Arzt  (Comitatsphysikus)  angestellt  werde. 

Am  ausführlichsten  wird  natürlicher  Weise  das  Capitel  von  den  Ge- 
sundheitsbeamten behandelt. 

Bestimmungen,  die  sich  auf  die  Personal-  und  Berufsverhältnisse  des 
Medicinalstandes  beziehen,  sind  in  Ungarn  verhältnissmässig  ganz  jungen 
Datums.  Dies  erklärt  wohl  der  Umstand,  dass  der  Mangel  einer  vaterlän- 
dischen Universität  resp.  einer  medicinischen  Facultät  auch  nicht  das 
Bedürfniss  nach  Regelung  der  Verhältnisse  des  Sanitätsstandes  fühlbar 
machte.  Ausländische  oder  im  Auslande  herangebildete  Aerzte  brachten 
Vorschriften  und  Gesetze  mit  sich,  nach  denen  sie  dann  hier  ohne  weitere 
Controle  ihre  Praxis  ausübten.  Später,  wo  der  Druck  der  Verhältnisse,  das 
Auftreten  verheerender  Krankheiten  die  Aufmerksamkeit  der  competenten 
Kreise  auf  die  zur  Saniruug  der  Uebel  berufenen  Personen  lenkte,  musste 
natürlich  das  Verhältniss  des  Medicinalstandes  zum  Staate  und  zur  Gesell- 
schaft geregelt,  geordnet  werden.  Und  so  sehen  wir  dann,  dass  das  XVIL 
Jahrhundert  —  das  epidemieenreiche  Säculum  —  eine  Fülle  einschlägiger 
Verordnungen  brachte.  Im  XVIII.  Jahrhundert,  wo  sich  zu  diesem  Umstände 
auch  noch  der  erwachte  Sinn  für  Naturwissenschaften  und  öffentliche  Hy- 
giene gesellte,  finden  wir  schon  ziemlich  geordnete,  dem  Zeitgeiste  vollkom- 
men entsprechende  Verhältnisse. 

Den  Grund  zu  den  diesbezüglichen  Bestimmungen  legte  Maria  Theresia, 
mit  ihrem  bereits  erwähnten  Generale  Normativum  Sanitatis  vom  17.  Sep- 
tember 1770.*  Hier,  sowie  in  dem  am  10.  April  1773  erlassenen  Anhange 
wird  auf  die  erforderliche  Qualifikation  des  Aerztestandes  grosses  Gewicht 
gelegt.  «Jedermann  ist  es  bekannt  —  sagt  das  Normativum  von  1770  —  waa 
Unheil  oft  durch  unerfahrene  Medicos  dem  Nächsten  zugefüget  wird,  dahero- 

*  Linzbauer  1.  c.  I.  821.  Zsoldos  1.  c.  S.  18. 


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UNGARN    BETREFFENDE    SANITATSVERORDNüNGBN   JOSEFS    DES   II. 


53 


bestehet  schon  durch  viele  Jahre  die  Gesetzgebung,  dass  alle,  die  ihre  Kunst 
in  den  kaiserl.  königl.  Erblanden  üben  wollen,  den  Gradum  Doctoratus  auf 
-«iner  Innländischen  Universität,  bey  welcher  eine  Facultas  medica  vor- 
handen ist,  genommen  haben  müssen,  wobey  es  auch  in  Zukunft  sein  Be- 
wenden hat,  dermassen,  dass  andere  weder  angenommen,  weder  ihnen  die 
allenfalls  übende  Praxis  beygelassen  werden  solle,  es  wäre  denn  Sache,  dass 
sie  sich  durch  das  vorgeschriebene  Examen  hierzu  tauglich  gemacht 
hätten  etc.» 

Im  Jahre  1771,  wo  die  Tymauer  Universität  eine  medicinische  Facul- 
tät  erhielt,*  erschien  folgendes  kgl.  Rescript:  «Es  scheinet  auch  zweck- 
mässig, dass  alle  Heil-  und  Wundärzte,  welche  künftig  in  diesem  Königreiche 
ihre  Kunst  ausüben  wollen,  vorher  an  der  Universität  zu  Tymau  geprüfet 
werden  sollen.  Aerzte,  welche  jedoch  bereits  an  der  Universität  zu  Wien 
geprüfet  sind,  können  ohne  fernere  Prüfung  in  allen  Erbländem  zur  Aus- 
übung ihrer  Kunst  zugelassen  werden.  Die  schon  angestellten  Aerzte  sind 
inzwischen  von  der  Prüfung  so  lange  ausgenommen,  bis  sie  zu  einem  grös- 
seren Physikate  angestellt  werden.» 

Diese  Verordnungen  wurden  am  13.  März  1786  von  Josef  11.  neuer- 
dings genehmigt  und  bestätigt.  Hieran  anknüpfend  wird  in  dem  Bescripte 
vom  18.  December  1786  nochmals  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  nur 
vorschriftsmässig  geprüfte  Aerzte  zur  Praxis  zugelassen  werden.  Um  die 
Ausbildung  der  Aerzte  vielseitiger  zu  gestalten,  bestimmt  der  Erlass  vom 
3.  Januar  1787,  «dass  nach  Errichtung  des  Lehrstuhles  der  Vieharzenei 
an  der  hohen  Schule  zu  Pest,**  in  Zukunft  weder  ein  Heilarzt  noch  Wund- 


'■'  Die  Professoren  der  luedizinischen  Fakultät  zu  Tymau,  die  auf  Vorschlag 
van  Swietens  mit  je  1200  Gulden  Gehalt  ernannt  wurden,  waren  damals:  Michael 
Schoretits  (Pathologie  und  Therapie),  Ignaz  Prandt  (Physiologie  und  Pharmakologie), 
Jakob  Winterl  (Chemie  und  Botanik),  Wenzel  Tmka  (Anatomie)  und  Josef  Plenk 
(Chirurgie  und  Geburtshilfe).  Rektor  der  Universität  war  im  Schuljahre  1770  71 
Graf  Alexander  Keglevich,  Senior  der  med.  Fakultät  Mich.  Schoretits,  Dekan  der 
med.  Fakultät  Ign.  Pi-andt. 

*  Die  Universität  wurde  nämUch  im  Jahre  1777  nach  Ofen,  im  Jahre  1784 
nach  Pest  verlegt.  Der  Professor  der  im  Jahre  1786  mit  600  Gulden  Gehalt  syste- 
misirten  Lehrkanzel  für  Thierheilkunde  war  Alexander  Tolnay.  Die  Lehrgegenstände 
und  Professoren  der  medizinischen  Fakultät  waren  zur  Zeit  Josefs  folgende  :  Specielle 
Pathologie  und  Therapie:  Michael  Schoretits  (seit  1770),  Wenzel  IVnka  (seit  1785); 
Anatomie:  Wenzel  Trnka;  Physiologie:  Adam  Ign.  Prandt  (1770),  Samuel  Rdcz 
(1783);  Pharmakologie:  A.  I.  Prandt;  Praktische  Chirurgie:  Josef  Plenk  (1770), 
Georg  St4hly  (1783);  Geburthilfe:  Plenk  (1770),  J.  R&cz  (als  Supplent),  G.  StdMy 
^1783),  Botanik:  J.  Winterl;  Chemie:  derselbe;  Zoologie:  Mathias  Piller  (1783), 
Josef  Schönbauer  (1788);  Mineralogie:  die  Professoren  der  Zoologie;  Theoretische 
Arzneikunde:  Stipsics  Ferdinand  (1783);  Thierarzneikunde :  Alexander  Tolnay.  Dr. 
-Joh.  Rupp's  Festrede  zum  hundertjähr.  Jubilemn  der  medic.  Fakultät  der  k.  ung. 
Universität.  Ofen,  1871,  S.  130. 


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54f  UNOARN   BETREFFENDE   SANITÄTSVERORDNÜNGEN   JOSEFS    DES   H. 

arzt  bei  einer  Gespanscbaft  oder  Stadt  angestellt  werden  könne,  der  nicht 
diese  Vorlesungen  gehört,   und  darüber  ein  gutes  Zeugniss  erhalten  bat.» 

In  ausführlicher  Weise  werden  auch  die  Pflichten  der  Aerzte  fest- 
gesetzt. Allgemein  behandelt  dieselbe  schon  das  Normale  vom  Jahre  1770,. 
indem  es  in  mehreren  Punkten  das  Verhältniss  der  Aerzte  zu  dem  Publicum 
und  dem  Sanitätspersonale  bestimmt.  Im  Anschlüsse  an  diese  Anordnungen 
erliess  Josef  IL  am  27.  November  1787  ein  Intimat  in  der  Form  eines. 
«Amtsunterrichts  für  die  Comitats- Aerzte  in  dem  Königreiche  Ungarn,  und 
den  dazu  gehörigen  Provinzen.»  Dieser  Erlass  enthält  in  32  Punkten  eine 
ausführliche  Unterweisung  für  die  Cbmitatsärzte  und  verdient  wohl,  in 
seinen  Hauptpunkten  hier  registrirt  zu  werden. 

Die  Agenden  der  Comitatsärzte  beziehen  sich  —  nach  dieser  Amts- 
unterweisung —  «auf  den  allgemeinen  Gesundheitsstand  des  ihnen  anver- 
trauten Bezirks,  auf  den  besonderen  der  einzelnen  Kranken  und  auf  die 
ihnen  von  der  öffentlichen  Aufsicht  in  landgerichtlichen  Fällen  gemachten 
Aufträge  und  Untersuchungen.» 

Betreffs  des  ersten  Punktes  haben  die  Comitatsärzte  ihre  Aufmerk- 
samkeit den  Epidemieen,  Viehseuchen,  Affcerärzten,  der  Geburtshilfe,  den 
Apotheken  und  allen  denjenigen  Gegenständen  zuzuwenden,  welche  durch 
Verunreinigimg  der  Luft  Krankheiten  zu  verursachen  im  Stande  sind. 

Bezüglich  der  epidemischen  Krankheiten  wird  folgende  Anordnung 
getroffen : 

«Die  Ortsobrigkeiten  haben  bereits  die  Verordnung  *,  sobald  wahrge- 
nommen wird,  dass  in  einem  Orte  mehrere  Menschen  durch  einerlei  Krank- 
heit in  kurzer  Zeit  aufgerieben  werden,  sogleich  unter  der  schwersten  Ver- 
antwortung die  Anzeige  an  die  Gespanschaftsbehörde  zu  machen. 

Wenn  eine  solche  Anzeige  einläuft,  hat  sich  der  Gespanschafts-Arzt 
auf  Verordnung  des  Comitats,  unverzüglich  nach  dem  angezeigten  Orte  zu 
begeben,  die  Art  und  Beschaffenheit  der  Krankheit,  ihre  Verbreitung,  und 
der  dadurch  verursachten  Sterblichkeit  genau  zu  untersuchen,  und  über  die 
erhobenen  Umstände  Bericht  an  den  Vicegespan,  nebst  Anschliessung  der 
Tabelle  aller  Kranken,  Genesenen,  oder  Verstorbenen,  mit  der  Voraus- 
setzung der  Volksmenge  des  Orts  zu  machen. 

Bestätiget  sich,  dass  wirklich  eine  Epidemie  herrscht,  so  hat  der  Arzt 
über  die  den  Umständen  angemessene  Heilungs-  und  Verwahrungsmethode^ 
und  sonst  über  die  diätetischen  Mittel  auf  der  Stelle  die  Vorschrift  zu 
erteilen,  und  so  lange  an  dem  Orte  zu  verbleiben,  bis  das  Uebel,  wo  nicht 
gänzlich,  doch  wenigstens  grösstenteils  gehoben  ist ;  von  Zeit  zu  Zeit  aber 
muss  er  den  Fortgang  und  die  Wirkung  seiner  Vorkehrungen,  immer  mik^ 
Anschluss  obiger  Tabelle,  dem  Vicegespan  berichten. 

*  Unter  Andern  in  dem  mehrerwälmten  Normativum  vom  Jahre  1770. 


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UNGARN    BETREFFENDE   SANITATSVERORDNTNOEN   JOSEFS   DES  II.  -^^ 

Wenn  ungeachtet  der  angewendeten  Heilungsmittel,  das  Uebel  weiter 
um  sich  greifen  sollte,  so  muss  der  Comitats-Arzt  dem  Vicegespan  die 
genaue  Beschreibung  der  Krankheit,  nebst  bemeldeter  Tabelle  der  dabei 
wahrgenommenen  Umstände,  und  der  gebrauchten  Arzeneien  auf  das  schleu- 
nigste zusenden,  und  wegen  gemachter  Vorkehrungen,  wie  auch  des  Erfolgs 
derselben,  die  umständliche  Anzeige  erstatten,  zugleich  aber  fernere  Ver- 
haltungsbefehle ansuchen.» 

In  gleicher  Weise  hat  der  Comitats-Physikus  bei  einer  ausbrechenden 
Viehseuche  vorzugehen. 

Femer  hat  er  darauf  zu  achten,  dass  die  Gesundheit  der  Bewohner 
durch  das  betrügerische  Verfahren  sogenannter  Afterärzte  nicht  gefährdet 
werde. 

Zu  seinen  Pflichten  gehört  es  auch,  darauf  zu  achten,  «dass  kein  Weib 
als  Wehemutter  die  Geburtshilfe  ausübe,  welche  nicht  zuvor  auf  einer  erb- 
ländischen  Universität  geprüft  und  tauglich  befunden  worden  ist,  welches 
aus  dem  von  der  Universität  erhaltenen  Diplome  zu  ersehen  seyn  wird.»  — 
«Wo  die  Entfernung  von  Ofen  und  Pest  zu  gross  ist,  sollen  die  Weiber, 
welche  die  iGreburtshilfe  als  Wehemütter  ausüben  wollen,  zuvor  von  dem 
(Jomitats-Chyrurgus,  der  vermöge  der  bestehenden  Gesundheits- Vorschriften 
ohnehin  ein  Geburtshelfer  seyn  muss,  *  unterrichtet,  und  von  dem  Comi- 
tats-Physikus mit  Beiziehung  des  Gomitats-Ghyrurgus  über  ihre  Fähigkeit 
ordentlich  geprüft,  und  nur  wenn  sie  tauglich  befunden  worden,  densel- 
ben ein  von  beiden  unterschriebenes  Zeugniss  ausgefertiget  uud  die  Gre- 
burtshilfe  auszuüben  erlaubet  werden. » 

Um  die  Verbreitung  der  Lustseuche  hintanzuhalten,  möge  der  Comi- 
tats-Arzt dieser  gewöhnlich  geheimgehaltenen  Krankheit  nachspüren  und 
sie  nach  Möglichkeit  auszurotten  suchen. 

Den  Apothekern  gegenüber  hat  er  darauf  zu  achten,  dass  dieselben  ord- 
nungsmässig  geprüft  und  diplomirt  seien.  Femer  hat  er  dafür  Sorge  zu 
tragen,  dass  in  jeder  Apotheke  die  Arzneien  stets  in  erforderlicher  Menge 
und  Güte  vorhanden  seien  und  nach  der  vorgeschriebenen  Taxe,  ohne  Be- 
vorteilung  des  Publicums  veräussert  werden.  Um  sich  hie  von  zu  über- 
zeugen, soll  der  Comitats-Physicus  jährlich  einmal  —  von  Mitte  Juli  bis 
Ende  October  —  in  allen  Apotheken  seines  Bezirkes  eine  Visitirung  vor- 
nehmen. Constatirte  Mängel  sind  an  den  Vicegespan  zu  melden.  —  Ebenso 

*  A.  h.  Verordnung  vom  10.  April  1773  nnd  12.  Mai  1785.  Letztere  hat  fol- 
genden Wortlaut:  fln  Zukunft  soll  kein  Wundarzt  in  einer  Stadt,  einem  Maikte 
oder  einem  grösseren  Dorfe  dieses  Königreichs  angestellet  werden,  wenn  er  nicht  ein 
2jengnis8  aufweisen  kann,  dass  er  auch  aus  der  Hebanamenkuust  gehörig  ist  geprüfet 
worden.  Dieses  kann  mn  so  mehr  von  jedem  Wundarzte  gefordert  werden,  da  dieser 
Unterricht  sowohl  an  der  Universität  zu  Pest,  als  in  allen  Universitäten  uud  Liceen 
der  deutschen  Erbländer  bestehet  • 


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56  UNGARN    BETREFFENDE    SANITÄTSVERORDNUNGEN   JOSEFS    DES   H. 

hat  er  auch  auf  die  zum  Veräusßem  von  Giftwaaren  berechtigten  Spezerei- 
händler  sein  Augenmerk  zu  richten. 

«In  Ansehung  der  Luftansteckung  und  anderer  Gegenstände^  die  Krank- 
heiten veranlassen»  bestimmt  die  Amtsinstruction folgendermassen :  «Wenn 
der  Gomitatsarzt  in  seinem  Bezirke  Gegenstände  bemerkt,  welche  Orts- 
krankheiten veranlassen,  oder  durch  Ansteckung  der  Luft  auf  die  Gesund- 
heit nachtheilige  Wirkung  haben  könnten,  z.  B.  grosse  Pfützen,  oder  Schind- 
anger nahe  an  bewohnten  Orten,  oder  an  den  Strassen  hingeworfenes  todtes 
Vieh  oder  Aeser,  die  nicht  vorschriftsmässig  eingescharret  sind,  ingleichen, 
dass  die  Leichen  nicht  tief  genug  unter  die  Erde  gebracht  werden  und 
dergleichen,  so  hat  er  darüber,  so  wie  auch  über  die  allenfalls  bemerkte 
Verunreinigung  der  Brunnen  an  das  Comitats-Offizialat  die  Anzeige  zu 
machen.» 

Um  seinen  Pflichten  «in  Ansehung  des  besondem  Gesundheitsstandes 
einzelner  Kranken»  gerecht  zu  werden,  hat  er  alles  zu  beobachten,  wozu  er 
sich  in  seinem  Amtseid  verpflichtet.  «Die  Armen  hat  er  ohne  Unterschied 
unentgeltlich  zu  besorgen,  überhaupt  aber  an  Kranke,  denen  er  beisteht, 
bei  ernstlicher  Ahndung  keine  übertriebene  Forderung  zu  machen,  und  da 
er  von  dem  Staate  eigends  dazu  besoldet  wird,  so  ist  er  den  Unvermögenden 
in  ihren  Krankheiten  mit  der  nänüichen  Sorgfalt  und  Mühe,  wie  dem  Kel- 
chen beizustehen  schuldig,  und  hat  derselbe  mit  kostbaren  Arzeneien  nie- 
mand in  unnöthige  Kosten  zu  bringen.»  «Wenn  der  Comitats-Arzt  über 
Land  gerufen  wird,  so  muss  demselben  die  Fuhre  hin  und  zurück  von  denen, 
die  seinen  Besuch  verlangen,  unentgeltlich  verschafft  werden.» 

Die  Pflichten  des  Comitatsarztes  bezüglich  der  in  gerichtlichen  Fällen 
gemachten  Aufträge  bestimmt  die  Sanitätsordnung  folgendermassen :  «Wenn 
er  zur  Beschau  in  Sicherheitsfällen,  als  Todtschlägen,  Verletzungen,  und 
anderen  Gewaltthätigkeiten  gerufen  wird,  muss  er  nach  der  landesgericht- 
Hchen  Vorschrift  den  Augenschein  nehmen,  und  das  ordentliche  Besichti- 
gungszeugniss  ausstellen.  Eben  das  ist  zu  beobachten,  wenn  bei  plötzlichen 
Todesfällen,  oder  bei  dem  Verdachte  einer  Vergiftung,  und  dergleichen,  von 
der  Obrigkeit  die  Besichtigung  oder  Zergliederung  eines  Körpers  befohlen 
wurde,  in  welchen  Fällen  er  mit  der  grössten  Genauigkeit,  die  etwa  sich 
zeigenden  Merkmahle  aufzuzeichnen,  und  das  Erhobene  an  das  Gericht  ein- 
zuschicken hat.» 

Die  Vielseitigkeit  der  Agenden  des  Comitatsphysikus  macht  es  demnach 
erforderlich,  dass  er  sich  ohne  Wissen  und  Bewilligung  des  Vicegespaug  von 
seinem  Aufenthaltsorte  nicht  entferne. 

Nebst  dieser  ziemlich  erschöpfenden  Amtsinstruction  erschienen  noch 
während  der  Kegierung  Josefs  sporadisch  mehrere  auf  die  Verhältnisse  der 
Aerzte  bezügliche  Verordnungen.  So  z.  B.  am  21.  März  1785  betreffs  Einsen- 
dung ausführlicher,  mit  statistischen  Daten  belegter  Krankheitsberichte,  um 


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XJNGARN    BETREFFENDE   8ANITÄT8VERORDNUNGEN   JOSEFS    DES   H.  57 

diese  für  eine  herauszugebende  Zeitschrift  tActa  Medica  Hungariae»  verwer- 
ten zu  können. 

Die  Agenden  der  Chirurgen,  die  von  denen  der  Medici  scharf  geschieden 
'waren,  werden  auch  in  ausführlicher  Weise  bestimmt. 

Die  Anordnung  vom  Jahre  1770  betreffend  die  durch  eine  Universitäts- 
prüfung  zu  erhärtende  Qualifioation  der  Wundärzte  wird  am  13.  März  1786 
und  25.  Juni  1788  bestätigt,  mit  dem  Zusätze,  dass  diejenigen,  die  schon 
vor  dem  im  Jahre  1 770  erlassenen  Sanitätspatente  durch  einen  Landes -Proto- 
medicus  oder  Sanitätsrat  oder  von  einer  Sanitätscommission  gehörig  geprüft 
worden  sind,  von  diesem  Examen  enthoben  werden. 

Am  31.  Oxtober  1786  wird  folgendes  Rescript  erlassen:  tDie  Wund- 
ärzte der  Städte  und  Dörfer,  denen  es  wegen  ihres  Hauswesens  oder  Alters 
zu  beschwerlich  wäre,  den  vorgeschriebenen  zweijährigen  Kurs  der  Chirurgie 
an  der  Universität  zu  vollenden,  können  auch  eher  zur  strengen  Prüfung 
gelassen,  und  woferne  sie  aus  allen  Theilen  dieses  Unterrichts  hinlängliche 
Kenntnisse  an  den  Tag  legen,  bestätiget  werden.» 

Vom  12.  Mai  1785  resp.  3.  Jänner  1787  datirt  die  Verordnung,  wonach 
die  Wundärzte  auch  die  Prüfung  aus  der  Geburtshilfe  resp.  aus  der  Vieh- 
arzneikunde  ablegen  müssen.  Um  das  Studium  dieser  Gegenstände  auch  den 
vor  Errichtung  der  betreffenden  Lehrkanzel  an  der  Pester  Universität  ange- 
stellten Wundärzten  zu  ermöglichen,  sollen  —  nach  dem  Intimat  v.  8.  Sept. 
1788  —  aus  jedem  Comitate  zwei  Processual- Wundärzte  abwechselnd  je  einer 
an  die  Pester  Universität  entsendet  werden. 

Bei  Besetzung  der  erledigten  Wundarztstellen  soll  —  Rescript  vom  5. 
Juli  1787  —  ohne  Bücksicht  darauf,  ob  die  Betreffenden  vom  Civil-  oder 
Militärstande  sind,  nur  die  Fähigkeit  und  Geschicklichkeit  in  Anbetracht 
kommen. 

Gleichzeitig  mit  der  Amtsinstruction  für  die  Aerzte  wurde  auch  am  27. 
November  1787  eine  Amtsunterweisung  für  die  Chirurgen  erlassen. 

Diese  Instruction  stützt  sich  grösstentheils  auf  die  am  17.  Septem- 
ber 1770  getroffenen  Bestimmungen  der  Constitutio  normalis,  enthält  sonst 
im  Allgemeinen  den  auf  die  Aerzte  bezüglichen  Bestimmungen  ähnliche 
Anordnungen.  «Die  Pflicht  der  Menschlichkeit  und  des  Berufs,  —  heisst  es 
im  11 .  Punkte  der  Instruction  —  erstrecket  sich  bei  einem  Comitats-Chirur- 
gen  auch  bis  auf  die  scheinbaren  Todten.  Zuweilen  finden  sich  Ertrunkene, 
Erfrorne,  aus  Schwermuth,  oft  von  betäubenden,  schwefehchen,  eingesperr- 
ten, faulenden  Dünsten  erstickte  Menschen,  oft  sieht  man  todtscheinende 
Kinder  auf  die  Welt  kommen,  oft  erblickt  man  hypochondrische  und  hyste- 
rische Personen  in  einer  dem  Tode  ähnlichen  tiefen  Ohnmacht  hingesunken, 
alle  diese  Elende  sind  der  Gegenstand  der  Sorgfalt  eines  rechtschaffenen 
Comitats-Chirurgen,  und  es  ist  Pflicht  für  ihn,  sich  mit  einer  vernünftigen 
Behandlung  in  solchen  dringenden  Fällen  im  voraus  vertraut  zu  machen» 


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•>*^  UNG-\BN    BETREFFENDE   SANITÄTSVERORDNTJNOEN    JOSEFS  DES   H. 

dass  er  im  Falle  der  Not  allezeit  fertig  sei,  und  wisse  was  er  zu  thun 
habe.t 

Bezüglich  der  Bader  (Barbiere)  wird  am  30.  Mai  1 786  folgende  Bestim- 
mung getroffen  : 

fEs  liegt  den  Gespanschaftsärzten  ob  sorgfältig  zu  wachen,  damit  die 
Bartscherer  ausser  den  minderen  chirurgischen  Operationen  ihres  Berufs,. 
sich  nicht  beikommen  lassen,  Heilungen  innerer  Krankheiten  zu  überneh- 
men, und,  wenn  sich  dieselben  nicht  davon  abbringen  lassen,  ist  es  der  Aerzte 
Pflicht,  sie  bei  dem  Ortsgerichte  anzugeben,  welchem  obliegt,  solche  Wider- 
spänstige  in  Schranken  zu  setzen,  für  begangene  Fehltritte  zu  bestrafen,  und 
sie  zur  Beachtung  der  Verordnung  anzuhalten.» 

Im  Rescripte  vom  13.  Juni  1786  werden  die  «gemeinschaftlichen  Pflich- 
ten der  Heil-  und  Wundärzte  in  den  Gespanschaften»  festgesetzt.  tDiesfr 
mögen  vereint  auf  die  Beobachtung  der  in  Sanitätssachen  ergangenen  Ver- 
ordnungen wachen,  und  alle  Uebertretungen,  die  sie  bemerken,  der  Gespan- 
schaft anzeigen »  etc. 

Als  vom  Staate  besoldete  Beamte  mögen  sie  den  Armen  unentgeltliche 
Hilfe  angedeihen  lassen,  «von  den  übrigen  Personen  aber,  für  geleistete 
Pflege,  nach  Verhältniss  ihres  Vermögens,  eine  angemessene,  doch  niemals 
übertriebene  Belohnung,  bei  schwerer  Ahndung,  abgenommen  werde»  (Re- 
script  vom  17.  August  1786.) 

Die  notwendigen  chirurgischen  Instrumente  hat  das  Comitat  auf  eigene- 
Kosten  anzuschaffen  und  den  Comitatschirurgen  zu  übergeben.  (Rescr.  vom 
4.  Mai  1786.) 

Am  7.  Dezember  1 786  wird  das  von  Georg  Stähly,  Professor  der  Chi- 
rurgie an  der  Pester  Universität  (1783 — 1802)  entworfene  Verzeichniss  jener 
Instrumente  herausgegeben,  «welche  ein  Comitats-Chyrurgus  in  jeder  Grespan- 
schaft  nothwendig  haben  muss.»  Das  Verzeichniss  enthält  Instrumente: 
«zu  verschüdenem  Gebrauche,»  (wie  Heftnadeln,  Polypzangen,  Zahnzangen^ 
Lanzetten,  Scalpel,  Troicarta  zur  Eröffnung  der  Luftröhre,  Catheter, 
Bistouris,  Aneurysmanadeln,  Sonden,  Kugelzieher  etc.),  «zur  Trepanirung* 
(Trepanbogen ,  Perforations-  und  Exfoliativtrepan ,  Tirefond,  Elevator^ 
Hebeisen  etc.),  t^zur  Amputirung>>  (wie  Knöbel,  Toumiquet,  Arterien- 
Zangel,  Bromfieldischer  Hacken  etc.),  «für  Gebahrend'e*  (Kopfzange, 
Bessaria,  Mutterkräntzel  etc.),  «zur  Sectionn  (Hirnschale -Brecher,  Hirn- 
schale-Spachtel, Hammer,  Blasrohr,  Hamulie,  Pincetten  etc.)  und  gibt  eia 
deutliches  Bild  von  dem  damaligen  Stande  der  Chirurgie  und  dem  Wir- 
kungskreise der  Wundärzte. 

Auch  die  Regelung  des  Apothekerwesens  ei  freute  sich  unter  der  Regie- 
rung Josefs  des  H.  einer  weitgehendsten  Berücksichtigung.  Ausführliche 
Bestimmungen  in  Bezug  auf  die  Qualifikation  und  Pflichten  der  Apotheker 
enthalten  schon  ältere  Verordnungen,  hauptsächlich  die  Apothekerordnung 


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ITNOARN   BETREFFENDE   SANITATßVERORDNUNGEN   JOSEFS   DES   II. 


5» 


vom  Jahre  1644.*  Die  im  Normativ  vom  Jahre  1 770  enthaltenen  Anordnun- 
gen ivon  den  Pflichten  der  Apotheker»  wiederholen  theilweise  die  Bestim- 
mungen der  erwähnten  Apothekerordnung.  Bemerkenswert  ist  das  Bescript 
Josefs  des  IL  vom  23.  Jänner  1 786,  das  in  mehreren  Punkten  die  Einrich- 
tung, Besorgung  etc.  der  Apotheken  regelt :  Es  heisst  daselbst :  «Damit  künf- 
tig allen  Fehlern  und  Betrügereien  der  Apotheker  gehörig  vorgebeuget  wer- 
den könne,  haben  Se.  Majestät  beschlossen,  dass 

Erstens :  auf  der  Universität  keine  Kosten  gesparet  werden  sollen,  voll- 
kommene Apotheker  zu  bilden. 

Zweitens :  Soll  den  Apothekern,  welche  durch  kein  ganzes  Jahr  sich 
an  der  Universität  aufhalten  können,  sondern  nur  Privat-Collegien  hören  wol- 
len, der  Zutritt  dazu  zur  Sommerszeit  frei  sein,  wo  Gelegenheit  ist,  in 
dem  zu  Pest  befindUchen  botanischen  Garten  die  Kräuterkenntniss  zu 
erlangen. 

Drittens :  Kein  Apothekenkauf  soll  giltig  sein,  wenn  nicht  der  Käufer 
vorher  schon  alle  zur  Ausübung  der  Apothekerkunst  erforderlichen  Wissen- 
schaften erlernet  hat,  und  darüber  sich  gehörig  hat  prüfen  lassen.  Ebenso 
wenig  wird  ohne  diese  Prüfung  ein  Apotheker  von  einer  Obrigkeit  zum  Princi- 
palen,  oder  von  einer  Witwe  zum  Provisor  können  aufgenommen  werden» 
etc.  «Es  sind  die  Apotheker  anzuhalten,  zu  desto  genauerer  Beobachtung 
der  im  Jahre  1779  publicirten  pharmaceutischen  Taxordnung  den  Preis  der 
abgenommenen  Medicamente  auf  das  Recept  zu  setzen.»**   «Es  wird  der 


'••  S.  meine  «Beiträge  zur  Gesch.  d.  Medizin  in  Ungarn»  S.  42. 
**  Es  würde  hier  jedenfalls  zu  weit  führen,  die  bezogene  Arzneitaxe  aucJi  nur 
auszugsweise  zu  reproduziren.  Ich  will  liier  nur  den  Anhang  der  Taxe,  der  den 
Titel  fPür  verschiedene  Apotecker- Arbeiten»  führt,  anführen.  Die  Taxe  «für  einen 
Umschlag  (Cataplasma)  zu  kochen»  beträgt  6  kr;  «für  einen  Trank  (Decoctum) 
*/2  Stande  zu  kochen»  6  kr.;  «für  einen  Trank  durch  ein  oder  zwei  Stunden 
zu  kochen»  9  ki*;  «für  ein  Seidel  gemeine  Molken  oder  Käsewasser •♦  (Serum 
Iactis)4kr. ;  «für  ein  Seidel  mit  Eyerklar  geläutei-tes  Käsewasser»  10  kr.;  «für 
eine  Kemmilch  (Emulsion)  auszupressen»  3  kr.;  «für  einen  Aulguss»  (Infusion) 
3  kr.;  «fttr  ein  Quintel  Pillen  zu  formiren»  2  kr.  «Fttr  Gläser,  Schachteln,  Hafher- 
geschirre  u.  d.  gl.  kann  wegen  Verschiedenheit  der  Grösse  und  Materie  nichts 
Gewisses  bestimmet  werden. »  —  Es  sei  hier  nur  noch  bemerkt,  dass  eine  selbstständige 
ungarische  Arzneitaxe  (ein  iWerk  des  Pressburger  Stadtphysikus  Just.  Job.  Torkos)- 
für  ganz  Ungarn  am  12.  Juli  1745  sanctionirt  und  auch  später  —  15.  Juli  1760  und 
30.  März  1769  —  trotz  der  Bestrebungen  in  Ungarn  die  Engersche  österreichische  Taxe 
vom  J.  1765  einzuführen,  bestätigt  wurde.  Später  wurde  aber  die  Pharmacopoea 
austriaca-provinciaüs  1774  5  mit  einer  neuen  Arzueitaxe  (vom  1.  Jänner  1776  an 
giltig)  auch  in  Ungarn  anbefohlen,  jedoch  offiziell  erst  im  Jahre  1786  eingeführt. 
In  Folge  des  Abusus,  dass  in  mancher  Apotheke  die  Torkos'sche,  in  einer  andern 
die  Engel'sche  Taxe  massgebend  war,  wurde  am  23.  Jänner  1786  und  26.  Juni 
1787  die  allgemeine  Einführung  der  Wiener  Taxe  angeoi-dnet.  Linzbauer:  Das  Inter- 
nat. Sanitätswesen  der  ung.  Kronländer.  S.  29. 


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<y^  UNGARN    BETREFFENDE    SANITÄTS VERORDNUNGEN   JOSEFS   DES    H. 

Unfug,  dass  die  Aerzte  von  den  Apothekern  zum  neuen  Jahre  Geschenke 
annehmen,  hiermit  gänzlich  abgestellt,  und  sollen  die  betretenen  Geber  und 
Abnehmer  zur  empfindlichen  Strafe  gezogen  werden.« 

Kontrakte  zwischen  einer  Gemeinde  und  Apotheke  wegen  Ablieferung 
der  Arzeneien  sollen  —  der  Bestimmung  vom  23.  April  des  Jahres  1786 
gemäss  —  nur  in  dem  Falle  bestätigt  werden,  «wenn  sie  schon  vorder  unter 
dem  21.  Nov.  des  Jahres  1785  erlassenen  Verordnung  geschlossen  worden 
sind»  und  «wenn  das  Publikum  dabei  gegen  alle  Be vorteilung  gesichert  ist, 
und  dadurch  der  Gemeindecasse  ein  merklicher  Vorteil  erwächst.»  In  Zukunft 
soll  aber  die  Abschliessung  derartiger  Kontrakte  unter  keinem  Vorwande 
mehr  zugelassen  werden. 

Am  24.  September  1787  wird  auch  die  von  dem  k.  ung.  Statthalterei- 
Tat  ausgearbeitete  Apothekerordnung  publicirt. 

Ein  Intimat  vom  5.  August  1788  bestimmt,  dass  «von  den  Verzeich- 
nissen der  Arzeneien,  welche  den  armen  ünterthanen  abgereichet  werden 
zum  Nutzen  des  allerhöchsten  Aerariums,  20  vom  Hundert  abzuziehen 
sind.» 

Auch  das  Geburtshilfewesen  wird  in  mehreren  Verordnungen  geregelt, 
teils  durch  Bestätigung  der  im  Sanitätsnorinativum  vom  Jahre  1770  enthal- 
tenen diesfälligen  Bestimmungen,  teils  durch  neue,  entsprechendere  Anord- 
nungen. So  wird  z.  B.  die  Dislocirung  der  mit  der  Geburtshilfe  vertrauten 
Personen  —  auf  Grund  einer  Bestimmung  vom  J.  1770  —  den  Oomitats- 
behörden  und  den  kgl.  Kommissären  übertragen  (21.  Dezember  1786.) 

Das  dritte  Hauptstück  der  Josefinischen  Sanitätsverordnungen  behan- 
-delt  das  Capitel  der  Krankheiten  in  gesundheits-polizeilicher  Beziehung  und 
gliedert  sich  in  folgende  Abschnitte:  §.  I.  Vorsichten  den  Krankheiten  vor- 
zubeugen. Hieher  gehören  :  1.  Erhaltung  gesunder  Luft:  «Vorschrift  wegen 
Einrichtung  der  Grüften,  Gottesäcker  und  Leichenbegängnisse  etc.»  «Von 
Austrocknung  der  Sümpfe.»  —  2.  Vorschriften  in  Ansehung  der  Gifte.  — 
3.  Andere  der  Gesundheit  schädliche  Dinge.  —  4.  Eröffnung  und  gerichtliche 
Untersuchung  der  Leichen. 

§.  II.  Von  den  Anordnungen,  wenn  auf  der  Stelle  Hilfe  geschafft  wer- 
den soll. 

§.  HI.  Von  den  Verfügungen,  damit  das  Uebel  der  Krankheiten  nicht 
weiter  sich  verbreite. 

Bezüglich  der  Anlegung  von  Krypten  wird  mittels  eines  Rescriptes 
vom  22.  August  1777  die  bautechnische  und  hygienische  Untersuchung  der 
Umgebung  angeordnet.  In  sanitätspolizeilicher  Beziehung  wird  folgende  Ver- 
fügung getroffen:  «Wenn  aus  solchen  Grüften  durch  Fenster,  Spalten  oder 
wie  sonst  immer,  ausserhalb  oder  innerhalb  der  Kirche,  böse  Ausdünstun- 
gen sich  drängen  können,  wonach  genau  zu  forschen  ist,  sind  alle  diese 
Oeffnungen  auf  das  sorgfältigste  zu  vermachen  und  stets  wohl  verschlossen 


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UNGARN    BETREFFENDE    SANITÄTSVERORDNUNGEN    JOSEFS    DES    II.  61 

ZU  halten,  damit  nie  die  bösen  Dünste  sieh  durchdrängen  können. »  Aehn- 
liches  wird  auch  betreffs  der  Anlegung  von  Friedhöfen  bestimmt.  Auf  Grund 
eines  Rescriptes  vom  24.  Juli  1788  werden  alle  in  bewohnten  Orten  befind- 
lichen Grüfte  aufgehoben,  ebenso  auch  die  in  einer  geschlossenen  Kirche  oder 
Capelle  (1.  Dec.  1788.) 

Am  27.  März  1783  wird  die  Verordnung  «wegen  Leichenbegängnissen 
und  Erdbestattungen  der  nichtunirten  Griechen»  erlassen;  «Den  nichtunir- 
ten  Griechen  ist  erlaubt,  dass  sie  ihre  Todten  nach  dem  von  alten  Zeiten 
herrührenden  Gebrauche  begraben,  und  die  Grüften  gebrauchen,  wenn  sie 
eine  solche  auf  dem  Gottesacker  bei  der  Kirche  haben ;  doch  werden  fol- 
gende Fälle  ausgenommen,  nämlich,  wenn  einer  an  einer  ansteckenden 
Krankheit  oder  Seuche  gestorben  ist,  oder  wenn  gleich  nach  dem  Tode  die 
Leiche  sehr  aufschwillt,  ein  grässhches  Ansehen  erhält,  eher  als  gewöhnlich 
in  Fäulung  übergeht  und  einen  eckelhaften  Gestank  von  sich  gibt.  In  diesen 
Fällen  müssen  die  Leichen  gleich  mit  ungelöschtem  Kalke  belegt,  und  nur 
nachdem  der  Sarg  wohl  verschlossen  worden  ist,  aus  dem  Hause  nach  der 
Grabstätte  gebracht  werden,  und  wofern  dagegen  gehandelt,  und  eine  solche 
Leiche  mit  unbedecktem  Gesichte  nach  der  Kirche  gebracht  wird,  so  ver- 
lieren sämmtliche  Einwohner  des  Orts  sogleich  die  ihnen  durch  gegenwär- 
tiges Bescript  ertheilte  Erlaubniss,  und  werden  künftig  den  wegen  der  Be- 
gräbnisse im  Allgemeinen  ertheilten  Vorschriften  in  allen  Punkten  genau 
nachleben  müssen.» 

Im  Bescripte  vom  19.  Jänner  1789  wird  auch  thatsächlich  die  den 
griechischen  Nichtunirten  eingeräumte  Begünstigung  aufgehoben. 

Am  7.  Oktober  1784  wird  folgende  Verfügung  erlassen:  «Da  die  Ge- 
wohnheit, die  Todten  im  offenen  Sarge  zu  Grabe  zu  bringen,  noch  an  einigen 
Orten  bestehet,  so  wird  der  Befehl,  dass  Todte,  welche  in  Ansteckung  dro- 
henden Krankheiten  gestorben  sind,  nicht  in  offenen  Särgen  herumgetragen 
werden  dürfen,  hiermit  erneuert,  und  sollen  sich  die  Geistlichen  der  nicht- 
unirten Gemeinden  angelegen  seyn  lassen,  das  ihrer  Sorgfalt  anvertraute 
Volk  von  dem  noch  herrschenden  abergläubischen  Vorurtheile  wegen  Blut- 
säuger, sogenannten  Wampieren,  dem  es  den  Tod  der  Anverwandten  zu- 
schreibt, endlich  ganz  abzubringen. » 

Bezüglich  der  Leichenbegängnisse  und  Beerdigungen  der  Juden  wird 
am  7.  Oktober  1788  nachfolgende  Bestimmung  getroffen:  «Es  haben  Se. 
Majestät  in  Betrachtung  dessen,  dass  bei  den  Juden  gewöhnlich  viele  zahl- 
reiche Familien  beisammen  wohnen,  unter  denen  ein  48  Stunden  lang  lie- 
gender Körper,  wenn  er  zu  faulen  anfinge,  leicht  eine  Ansteckung  verur- 
sachen könne,  als  auch  in  der  Bücksicht,  dass  am  Sabath  und  anderen 
Festtagen  ihnen  die  Beerdigung  eines  Verstorbenen  vermöge  Beligions- 
gesetzen  verbothen  ist,  wesswegen  der  Todte  bisweilen  über  die  festgesetzte 
Zeit  unbegraben  bleiben  müsste,  die  Beerdigung  derselben  vor  Verlauf  der 


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*2 


UNGARN    BETREFt'ENDE    HANITATS\^RORDNUNGEN    JOSEFS    DES  II. 


festgesetzten  48  Stunden,  in  sonderheitlicb  ausgewiesenen  Fällen,  jedoch 
unter  den  Bedingungen  und  Vorsichten  zu  gestatten  geruhet,  dass  an  Orten, 
wo  nicht  ein  eigens  abgesondertes  Behältniss  für  die  Verstorbenen  ausge- 
wiesen werden  kann,  der  Gomitats-Physikus,  oder  bei  dessen  Abwesenheit, 
der  Bezirks- Wundarzt,  oder  endlich  auch  in  dessen  Ermanglung  oder  Abwe- 
senheit, der  nächste  für  das  offene  Land  bestätigte  Wundarzt,  zur  Besichti- 
gung herbei  gerufen,  und  nach  desselben  Erkenntniss  in  Hinsicht  auf  die 
aus  der  Natur  der  Ej:^nkheit,  oder  aus  was  immer  für  andern  Ursachen 
überhandnehmende  Fäulniss,  so  wie  bei  einfallendem  Sabath,  oder  sonst  den 
Juden  heiligen  Festtagen,  der  Beerdigungstermin  abgekürzet  werden  soll. 

Doch  versteht  sich  von  selbst,  dass  alle  Missbräuche  einzuschränken, 
und  nur  damals  der  Gebrauch  von  dieser  Erlaubniss  zu  machen  sei,  wenn 
wirkliche  Gefahr  der  Ansteckung  und  sichtbare,  unläugbare  Zeichen  der 
Fäulniss  vorhanden  sind,  und  über  die  Notwendigkeit  einer  schleunigen 
Beerdigung  die  schriftliche  Bestätigung  des  Arztes  oder  Wundarztes  bei  der 
Obrigkeit  eingelegt  werden.» 

Betreffs  der  Veräusserung  von  Giftstoffen  waren  —  nebst  der  im  P.  5 
des  Normativum  vom  Jahre  1770  enthaltenen  Bestimmung  («Vorsicht  bei 
dem  Verkauf  gefährlicher  Arzeueien,  als  Gift  u.  dgl.»)  —  der  bereits  erwähnte 
Punkt  in  der  Amtsinstruktion  für  die  Comitatsärzte  vom  27.  November  1787 
massgebend.* 

In  einem  Intimatum  vom  13.  September  1785  wird  allen  Mautämtem 
zur  Pflicht  gemacht,  «darauf  zu  wachen,  dass  die  fremden  Materialisten 
keine  Gifte  oder  giftige  Waaren  einführen,  und  wenn  sie  bei  Untersuchung 
ihrer  Waaren  dergleichen  Gifte  finden,  sind  ihnen  solche  abzunehmen  und 
der  Obrigkeit  zu  behändigen». 

Unter  dem  Titel  «Andere  der  Gesundheit  schädliche  Dinge«»  wird 
zuerst  «Vermischung  des  Bleies  mit  den  Zinn»  angeführt.  (17.  Juli  1775. 
2.  November  1784.)  In  letzterer  Verordnung  wird  aufs  AusdrückUchste  be- 
tont, dass  «alle  diejenigen  Gefösse,  worin  Speise,  Trank  oder  Arzenei  für 
Menschen  zubereitet,  aufbewahrt  oder  genossen  wird,  wie  auch  chyrurgische 
Instrumente  unfehlbar  aus  reinem  Zinne  verfertigt  und  die  Einführung  der- 
gleichen aus  vermischtem  Zinne  verfertigter  Waaren  keineswegs  gestattet 
werden  soll». 

Am  3.  August  1782  wird  der  Verkauf  der  mit  dem  gesundheitsschäd- 
lichen Glasemail  (vitirum  aspergibile)  belegten  Waaren  unter  Androhung  der 
Oonfiscirung  derselben  und  einer  Geldstrafe  von  50  Beiohsthalem  untersagt 
Ebenso  wird  auch  (Bescript  vom  6.  Dec.  1784)  der  allgemeine  Verkauf  des 

*  Die  bieher  gehörige  Bestimmung  vom  Jahre  1773  (Constitutionis  Normativ» 
'Bei  Sanitatis  Anni  1770  Explanatio.  P.9.  Zsoldos  1.  c.  S.  31,  Keresztöri  1.  c.  S.  115> 
iviirde  in  Ungarn  nicht  kundgemacht. 


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IT^ÜARN    BBTBEFFENDE    KANITÄTSVERORDNl  NGEX    JOSEFS    DES  II.  ^»^ 

Salpeters,  und  —  7.  Sept.  1785  —  der  sogenannten  Weisserde  (terra  albi- 
•cans)  verboten. 

In  Folge  des  Auftretens  von  Mutterkomvergiftungen  im  ßaranyaer 
-Comitate  *  nach  dem  Genüsse  des  vom  sogenannten  Mutterkorne  gebackenen 
Brodes  wird  am  18.  December  1786  das  ausführliche  «Gutachten  der  medi- 
zinischen Fakultät  zu  Wien  über  das  in  der  Baranyaer  Gespanschaft  gewach- 
sene Aftergetreide  allen  Gespanschaften  zur  Wissenschaft  mitgetheilt.» 
«Leute  —  sagt  das  Gutachten  —  die  vom  Mutterkorn  gebackenes  Brod 
essen,  verfallen  meistenteils  in  die  sogenannte  Kriebelkrankheit;  sie  fühlen 
Anfangs  eine  Ermattung  und  ein  Kriebeln  in  den  Fingerspitzen  und  Zehen, 
^  ob  Ameisen  darin  wären ;  es  folgt  Erbrechen,  der  Leib  wird  hart  und 
■aufjgeblähet,  es  entstehen  Zuckungen  und  Fraisen,  und  endlich  folgt  der 
Tod  mit  abwechselndem  Frost  und  Hitze».  «Uebrigens  ist  von  diesem  After- 
getreide weder  für  Menschen  noch  für  irgend  Vieh  ein  Gebrauch  zu  machen, 
fiondem  es  muss  ganz  vertilget,  und  nicht  ins  Wasser  geworfen,  weil  die  Er- 
fahrung lehret,  dass  ein  solches  Wasser  Hunde,  Schweine,  Gänse,  Enten  etc. 
tödte». 

Die  hygienische  Fürsorge  der  Josefinischen  Verordnungen  geht  auch 
«o  weit,  selbst  das  Heben  allzugrosser  Getreidegarben  «mit  einer  strengen 
Ahndung  gegen  die  Uebertreter»  zu  verbieten  (20.  December  1782),  «weil 
bemerket  worden  ist,  dass  es  auch  den  stärkesten  Leuten  schädlich  wird, 
wenn  sie  zur  Zeit  der  Ernte  allzugrosse  Garben  auf  die  Wägen  und  von  die- 
sen auf  die  Schober  werfen». 

Interessant  ist  auch  das  Verbot  bezüglich  des  Gebrauches  des  weib- 
lichen Mieders,  das  am  14.  August  1783  publicirt  wurde.  Es  heisst  in  dem- 
selben :  «Da  die  Erfahrung  lehret,  dass  der  Gebrauch  der  weiblichen  Schnür- 
brust, oder  des  gewöhnlich  sogenannten  Mieders,  der  Gesundheit,  und 
besonders  der  Ausbildung  des  weiblichen  Körpers  sehr  oft  schädhch  gewesen 
ist,  im  Gegenteile  aber  es  nicht  wenig  zur  Erlangung  einer  guten  Leibes- 
beschaffenheit und  zur  Fruchtbarkeit  der  Weiber  beiträgt,  wenn  der  Gebrauch 
-der  Schnürbrust  unterbleibt,  so  wird  hiermit  festgesetzt,  dass  in  Waisen- 
häusern, Klosterschulen  imd  allen  andern  zur  Erziehung  der  Mädchen  ge- 
widmeten öffentlichen  Anstalten,  der  Gebrauch  der  Schnürbrust  ganz  unter- 
sagt seyn,  und  kein  Mädchen  in  die  Schule  aufgenommen  oder  zugelassen 
werden  soll,  wenn  sie  diesem  Gebrauch  nicht  entsagt.» 

Mit  Verordnung  vom  24.  December  1783  wird  die  in  alle  in  Ungarn 
gebräuchlichen  Sprachen  verfasste  Abhandlung  des  Dekans  der  Wiener  me- 

*  Hirsch  erwähnt  das  Auftreten  der  Ergotismus- Epidemie  in  Ungarn  im 
Jahre  1786  in  dem  tChronologisohen  Verzeichniss  der  Ergotismus-Epidemieen» 
(Handbuch  der  historisch -geogr.  Pathologie  2.  Th.  S.  141)  nicht.  Derartige  Epidemieen 
.grassirten  übrigens  schon  im  Mittelalter  in  Ungarn  imd  kommen  in  den  Chroniken 
tmter  der  Bezeichnung  •  Heiliges  Feuer,  Set  Antonsfeuer,  pestis  ignea»  etc.  vor. 


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ö*  UNGARN    BETREFFENDE    SANITÄTSVERORDNUNGEN    JOSEFS    DES    II. 

dizinischen  Fakultät,  Dr.  Johann  Michael  Schosulan:  «Ueber  die  Schädlich- 
keit der  Schnürbrüste  (Mieder)»  an  sämmtliche  Behörden  Ungarns  verteilt. 

Hieran  fügt  sich  noch  ein  Erlass  vom  5.  August  1784.  Derselbe  lautet 
folgendermassen :  «Das  Verboth  der  Schnürbrust  leidet  in  den  Fällen  eine 
Ausnahme,  wenn  zur  Erhaltung  eines  schadhaften  Leibbaues  der  Grebrauch 
der  Schnürbrust  durch  den  Arzt  selbst  vorgeschrieben,  und  von  demselben 
darüber  das  Zeugniss  beigebracht  vrird.»* 

Bezüglich  der  gerichtUchen  Sektion  der  Leichen  wird  (20.  März  1786) 
die  Verfügung  getroffen,  dass  dieselbe  regelmässig  48  Stunden  nach  einge- 
tretenem Tode  erfolge. 

Am  14.  September  1786  wird  die  für  die  Geschichte  des  medizinischen 
Unterrichts  in  Ungarn  bemerkenswerte  Bestimmung  erlassen,  dass  «in  An- 
sehung der  Zergliederung  todter  Körper  bei  dem  anatomischen  Unterrichte, 
da  hierzu  immer  solche  todte  Körper  erfordert  werden,  die  durch  die  Fäulimg 
noch  nicht  zerstöret  sind,  so  können  an  den  Orten,  wo  Universitäten  sind, 
den  Lehrern  der  Anatomie  und  Chyrurgie,  aus  den  Krankenhäusern  todte 
Körper  auch  vor  Verlauf  der  48  Stunden  ohne  Anstand  geliefert  werden, 
weil  nicht  leicht  zu  befürchten  ist,  dass  die  in  Krankenhäusern  Verstorbenen 
zu  frühe  begraben,  oder  zur  Anatomie  abgegeben  werden,  da  in  diesen  Häu- 
sern immer  Aerzte  und  Chyrurgi  vorhanden  sind,  welche  die  Kranken  be- 
handeln, und  aus  der  Art  der  Krankheit,  und  den  vorhergegangenen  Ur- 
sachen und  Zufällen  kennen  müssen,  ob  der  Körper  wirklich  entseelet  sey 
oder  nicht». 

Erhöhtes  Interesse  verdienen  die  Verordnungen,  die  die  Leistung  der 
ersten  Hilfe  bei  plötzlichen  Unglücksfällen  zum  Gegenstande  haben,  nicht 
nur  deshalb,  weil  sie  dafür  sprechen,  in  welch  hohem  Maasse  schon  damals 
der  Sinn  für  das  Rettungswesen  bei  uns  entwickelt  war,  sondern  auch  darum, 
weil  sie  uns  zeigen,  mit  welchen  Mitteln  damals  die  erste  Hilfe  geleistet 
wurde. 

Schon  Maria  Theresia  erliess  am  1.  Juli  1769  eine  diesbezügliche  all- 
gemeine Verordnung  und  setzt  «ein  Prämium  von  fünf  und  zwanzig  Gulden 
auf  die  Erhaltung  jedes  Ertrunkenen,  oder  sonst  erstickten  Menschen».  Am 
5.  Feber  1779  wird  eine  ausführliche  Instruktion  über  die  Leistung  der 
ersten  Hilfe  bei  plötzlichen  Unglücksfällen  pubUcirt.  Diese  enthält  folgende 
Kapitel:  1.  «Unterricht,  wie  und  durch  welche  Hülfsmittel  Ertrunkene  imd 

'*'  Diesbezüglich  war  die  Angabe  Schostilans  1.  c.  §.34  massgebend :  «Dass 
aber  in  manchen  Krankheiten  sonderlich  der  Beine  einige  Gattungen  Mieder  auch 
nützlich  seyn,  ist  nicht  zu  leugnen,  doch  muss  der  Gebrauch  und  die  Verfertigung 
solcher  Maschinen  nicht  von  Müttern,  Erzieherinnen  und  Schneidern,  sondern  von 
Leib-  und  Wundärzten  anbefohlen  und  bestimmt  werden.  Die  Mieder,  wenn  ai& 
demnach  nützlich  seyn  können,  sind  nur  für  eine  gewisse  Art  Kranker,  niemals  aber 
für  Gesunde.» 


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UNGAKN   BETREFFENDE   8ANITÄTSVEB0BDMUMGBN   JOSEFS   DES   II.  ^^ 

Erbenkte  am  fäglicbsten  hergestellet  werden.»  Die  hier  in  Anwendung  kom- 
menden Mittel  sind  a)  die  Eröffnung  der  Drosselader  (vena  jugularis)  auf 
der  einen  oder  andern  Seite  (•  damit  die  Lunge  und  das  Gehirn  von  dem  an- 
gehäuften und  stillstehenden  Geblüthe  befreiet,  und  dessen  ordentlicher 
Lauf  wieder  hergestellet  werde»);  b)  Entkleidung  und  Abtrooknung;  der 
Verunglückte  soll  mit  trockenen  Kleidern,  Decken,  Kotzen  bedeckt  werden; 
c  I  Einleitung  der  künstlichen  Atmung  durch  direkte  Einblasung  von  Luft 
oder  mit  Hilfe  eines  Blasbalges  u.  s.  w.  —  ü.  Unterricht,  wie  von  Kohlen- 
dunste erstickte  Menschen  gerettet  werden  sollen.  Mittel :  Die  Entfernung 
des  Verunglückten  vom  Thatorte  und  Ueberbringung  auf  die  freie  Luft, 
Aderlass,  Bespritzungen  mit  kaltem  Wasser  und  im  Allgemeinen  die  Ein- 
leitung künstlicher  Atmung.  (Vor  Verabreichung  von  Brechmitteln  wird 
aufs  Eindringlichste  gewarnt.)  —  IIL  Unterricht,  wie  allem  Unglücke  von 
dem  in  den  Kellern  gährenden  Moste  sowohl  vorzukommen,  als  auch  den 
Erstickten  die  nöthigen  Hülfsmittel  verschaffet  werden  sollen.  —  IV.  Unter* 
rieht,  was  vor  der  Reinigung  lange  verschlossener  Brunnen  zu  unternehmen 
und  mit  welchen  Hülfsmitteln  die  darin  erstickten  Menschen  zu  retten 
seyn.  —  V.  Unterricht  von  dem  Sonnenstiche.  Anknüpfend  an  diese  Instruk- 
tion wird  am  1.  Feber  1781  das  Bettungsverfabren  beim  Bisse  wütender 
Hunde  publicirt.  Selbstverständlich  im  Oeiste  der  damaligen  antirabischen 
Ansichten,  beschränkte  sich  diese  Instruktion  beinahe  nur  auf  Präventiv- 
massregeln, Symptomatologie  und  widmet  der  Therapie  (Auswaschung  mit 
Urin,  lauem  Salzwasser,  Aufritzung  mit  einem  spitzig-scharfen  Instru- 
mente etc.)  nur  primitive  Aufmerksamkeit. 

Am  31.  Jänner  1783  werden  die  Behörden  beauftragt,  die  Schrift  des 
Protomedicus  Störk  «Von  der  Heilung  des  tollen  Hundsbisses»  allgemein 
bekannt  zu  machen. 

Am  3.  Feber  1783  wird  noch  eine  Supplement-Instruktion  für  die 
Giirurgen  herausgegeben,  die  sich  hauptsächUch  mit  dem  zu  befolgenden 
Heilverfahren  befasst,* 

Der  dritte  Punkt  des  Capitels,  das  die  Krankheiten  umfasst,  behandelt 
die  Verfugungen,  mittels  welcher  der  Verbreitung  der  Krankheitsübel  vor- 
zubeugen ist.  Diese  erstrecken  sich  auf  die  Massregeln  zur  Localisirung  der 
Lustseuche,  Lungensucht  und  endemischen  Leiden  (2.  August  1783,  30.  Jän- 
ner, 3.  JuH  1784  und  26.  September  1789;  19.  September  1785;  21.  März 
1785,  19.  Juni  1787.) 

Wichtig  ist  die  Verordnung  vom  21.  März  1785,  «wie  die  medizini- 
schen Berichte  über  die  Eigenschaft  der  an  verschiedenen  Orten  des  König- 
reichs beobachteten,  besonders  endemischen  Krankheiten,  alljährlich  von 


^  Kereszturi  1.  c.  S.  171. 
Uoguiseh«  B«tim  XI.  1891.  I.  Heft. 


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66  UNGARN   BETREFFENDE   SANITÄTSYER0RDNUN6EN   JOSEFS    DBS  H. 

den  Gespanschaftsärzten  verfasst  und  an  die  Landesstelle  *  gesendet  werden 
sollen,  i  Dieser  Verordnung  gemäss  sollen  nämlich  die  endemischen  Krank- 
heiten, c  welche  bisher  in  den  Tabellen  namentlich  angeführet  wurden,  häufig 
auch  ausser  der  Tabelle  umständlich  und  deutUch  beschrieben  werden.  •  Das 
statistische  Material,  nach  angeführten  Fragen  geordnet,  soll  eine  Art  von 
Sammelforschung  repräsentiren  und  für  die  Herausgabe  eines  literarischen 
Unternehmens  «Acta  Medica  Hungaria»  verwertet  werden.  (Die  Herausgabe 
einer  solchen  Zeitschrift  wurde  wiederholt  geplant,  doch  immer  erfolglos. 
So  auch  im  Jahre  1787,  1819,  1823,  bis  endlich  im  Jahre  1830  die  erste 
ungarische  med.  Zeitschrift  «Orvosi  Tär»  (Medizinisches  Magazin)  zu 
erscheinen  begann.) 

Das  vierte  Gapitel  der  Sanitätsverordnungen  umfasst  das  Arzneiwesen 
mit  Bezug  auf  die  unentgeltliche  Verabreichung  der  Arzneimittel  seitens  der 
Landesverwaltung,  auf  den  Verkauf  ausserhalb  der  Apotheke,  gesundheits- 
schädliche Mittel  etc. 

BezügUch  der  kostenfreien  Verabreichung  von  Arzneimitteln,  bestimmt 
eine  allerhöchste  Entschliessung  vom  12.  Dezember  1780  Folgendes :  «Wenn 
in  irgend  einem  Bezirke  die  Gefahr  der  Krankheit  stärker  wird,  sollten  die 
nöthigen  Untersuchungen  durch  Aerzte  sogleich  veranlasset,  und  für  die 
armen  Leute  aus  der  Cassa  domestica  angeschafft,  auch  den  Landleuten 
überhaupt,  so  gut  es  geschehen  kann,  mit  Vorstellung  der  daraus  erfolgen- 
den Gesundheit,  die  gewöhnliche  Abneigung  gegen  Arzeneien  benommen, 
und  die  Nothwendigkeit  ihnen  fühlbar  gemacht  werden,  dass  sie  in  Erkran- 
kungsfällen den  nächsten  Heil-  oder  Wundarzt,  die  ohnehin  verpflichtet 
sind,  den  Unterthanen  unentgeltlich  beizuspringen,  sogleich  herbeirufen 
müssen.» 

Die  Bestimmung  der  Constitutio  rei  sanitarise  vom  Jahre  1770,  wonach 
«den  Materialisten,  Marktschreiern,  Gewürzkrämem,  Distillanten,  Okulisten, 
Operateurs  u.  dgl.  Leuten»  die  Herstellung  und  der  Verkauf  von  Arznei- 
mitteln untersagt  wird,  wurde  abermals  bestätigt  und  auch  auf  die  soge- 
nannten «Oelmänner»  — denen  bisher  «der  Handel  mit  Oel  und  Wasser 
in  so  weit,  als  diese  unter  die  Klasse  der  Simplicia  gehören»  gestattet  war  — 
geltend  gemacht  (31.  Jänner  1777),  unter  Androhung  der  Confiscirung  ihrer 
Waaren  und  Abschiebung  in  die  Heimat  (20.  März  1786).** 

Zur  Hintanhaltung  des  Geheimmittelschwindels  wird  am  30.  Jänner 
1787,    «sämmtlichen    Druckereien    bei   schwerer  Ahndung   verboten   für 


*  An  den  k.  Stattbaltereirat. 
**  Trotz  dieses  Verbotes   wanderten  —   nocb   bis    zum    Ausbrucbfe    der   ersten 
französiscben  Bevolution    —    alljäbrlicb    nabezu    300()   solcber   Oeknänner    (Olejkari) 
bauptsäcbüch  aus  Oberungarn  nacb    Frankreicb,   wo  ibnen  ibr  Rosmarin wasser,  das 
sogenannte  Eau  de  la  reine  d'Hongrie,  sebr  teuer  bezablt  wurde. 


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UNGARN   BETREFFENDE   8ÄNITATSVER0RDNÜNGEN   JOSEFS    DES  H. 


67 


Quacksalber  und  dergleichen  Leute,  Zettel  zu  drucken,  wodurch  sie  gegen 
Warzen,  zum  Haarwachsen,  gegen  Hühneraugen  (Leichdome)  an  Fassen, 
Zahnschmezen,  sowie  gegen  Wanzen,  Mäuse  etc.  sogenannte  Arcana  anzu- 
kündigen und  zu  empfehlen  suchen.» 

Die  verbotenen  Arzneimittel  dürfen  nur  dann  veräussert  werden,  wenn 
sie  von  einem  «ordentlichen  Medico»  für  brauchbar  befunden  worden  sind 
(Bescript  ddo  18.  Jänner  1787). 

Vom  wahren  Sinne  für  das  Gesundheitswesen  zeugen  die  Verordnun- 
gen, die  sich  auf  die  Hebung  des  Bades  Balatonfüred  beziehen.  Josef  U. 
schenkte  diesem,  damals  im  eigentlichen  Werden  begriffenen  Kurorte  eine 
Aufmerksamkeit,  der  allein  das  Bad  seine  Entwicklung  verdankte.  Die 
Anordnungen,  die  sich  auf  Füred  beziehen,  haben  einerseits  den  Zweck, 
seinem  Mineralwasser  Verbreitung  zu  verschaffen,  andererseits  aber  den 
Kurort  dem  In-  und  Auslande  zugänglich  zu  machen.  Bezüglich  der  Versen- 
dung des  Mineralwassers  ins  Ausland  wird  die  Verfügung  getroffen,  dass  die 
in  Gegenwart  des  Brunnenarztes  regelrecht  zu  füllenden  Flaschen  mit  einem 
Siegel  mit  der  Aufschrift :  Föns  Acidularum  Fürediensis  zu  versehen  sind. 
Versendungen  ins  Ausland  dürfen  nur  im  Frühjahr  geschehen.  Der  Gebrauch 
des  Wassers  für  eigene  Person  ist  Jedermann  gestattet.  (Intimat  ddo 
lo.  November  1785.)  —  Essoll  auf  die  Reinhaltung  der  Umgebung  der 
Quellen  geachtet  und  auch  die  Vermengung  von  Süsswasser  mit  dem  Was- 
ser des  Sauerbrunnens  hintangehalten  werden.  (19.  April  1784.) 

Laut  eines  Rescriptes  vom  20.  Feber  1786  «ist  bei  dem  Füreder 
Brunnen  ein  Heilarzt  mit  400  Gulden  jährlichen  Gehalts,  ein  Wundarzt  mit 
200  Gulden  und  ein  Apotheker  mit  100  Gulden  von  der  Herrschaft  anzu- 
stellen, diese  aber  bezieht  alle  Einkünfte  von  der  AnfüUung  und  Verkorkung 
der  Flaschen.» 

«Der  Arzt  des  Sauerbrunnens  ist  gehalten,  den  Armen  und  den  Sol- 
daten, nach  Inhalt  des  Amtsunterrichts  vom  1.  Nov.  des  J.  1785,  unentgelt- 
lich Hülfe  und  Wartvmg  zu  widmen.»  (^0.  Feber  1786). 

«Die  Kenntniss  der  landesüblichen  Sprachen  ist  dem  am  Sauerbrunnen 
angestellten  Wundärzte  um  so  nötiger,  als  er,  vermöge  des  Sanitätsnormals 
vom  J.  1773  in  Abwesenheit  oder  im  Verhinderungsfalle  des  Leibarztes,* 
auch  innere  Krankheiten  behandeln  muss.»  (Bescript  ddo  6.  März  1786.) 

Was  die  Verwaltung  des  Kurortes  anbelangt,  wird  am  19.  April  1784 
die  Verfügung  getroffen,  dass  «ein  wohlhabender  und  in  Ansehen  stehender 
Beisitzer  der  Gerichtstafel  die  Kurzeit  über  die  Stelle  eines  Polizei-Gommis- 
särs  vertrete  und  nicht  nur  die  Befolgung  aller  bisher  ergangenen  Polizei- 
und  Verbesserungs- Anstalten  eifrig  besorge,  sondern  überhaupt  alles,  was 
-zur  Beförderung  der  bereits  getroffenen  und  noch  sonst  zu  treffenden  Mass- 

*  Im  Sinne   tals  Arzt  für  innere  Leiden»  zu  verstehen. 

5* 


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UNGARN    BETREFFENDE    SANITATSVERORDNÜNOEN   JOSEFS   DES   H. 


regeln  abzweckt,  sie  mögen  die  Sicherheit  und  Bequemlichkeit  der  Gäste- 
oder die  Beinigkeit  des  Brunnens  zum  Gegenstand  haben,  als  Oberaufseher 
über  sieh  nehme.»  Es  soll  auch  eine  Wohnungstaxe  festgesetzt  und  dieselbe^ 
im  Mietkontrakt  bestimmt  werden.  (19.  April  1784.) 

Am  23.  Mai  1786  wird  die  Zahl  und  Taxe  der  Wohnräumlichkeiten 
in  Füred  veröffentlicht.  Es  befanden  sich  «mit  Ausschluss  der  4  Speisesäle 
und  des  Billiardzimmers  bei  den  2  Sauerbrunnen  und  in  den  benachbarten 
Dörfern  Fured,  Aracs  und  in  den  Weingebirgen  170  Zimmer,  51  Küchen 
und  für  319  Stück  Pferde  hinlängliche  Stallungen.  In  den  an  dem  Sauer- 
brunnen unmittelbar  anliegenden  Gebäuden  sind  75  Zimmer,  7  Küchen,, 
welche  80  Pferde  zu  fassen  hinlänglich  sind,  wie  auch  einige  Wagen- 
schoppen.» 

Die  Taxe  der  Zimmer  wird  folgendermassen  festgesetzt:  «Zimmer 
vom  ersten  Range  werden  um  30  Kreuzer,  zwei  andere  jedes  um  24  kr.,  die 
übrigen  gemalenen  Zimmer  zu  18  kr.,  nicht  gemalene  um  15  kr.,  die 
hölzernen  Unterdach-Zimmer  eines  um  9  kr.,  auf  24  Stunden  gelassen.» 
(Intimat  vom  20.  Mai  1786).  Am  19.  April  1784  und  15.  November  1785  wird 
die  Errichtung  von  Gasthäusern  angeordnet,  «wo  jeder  Gast  nach  seinem 
Geschmacke  und  seinen  Vermögensumständen,  wie  er  will,  gegen  eine  mas- 
sige, zum  voraus  bekannte  Taxe,  bewirtet  werden  kann.» 

«Die  Speisen  sollen  gut,  reinlich  und  so  zubereitet,  dass  sie  auch 
Personen  von  schwächerer  Gesundheit  gemessen  können,  in  Totiser  Thon- 
geschirren  aufgetischet  werden.»  (23.  Mai  1786.)  Im  Intimate  vom  19.  April 
1784  wird  die  Anlegung  von  Alleen  am  Ufer  des  Plattensees  und  den  Stras- 
sen, die  stricte  Beobachtung  der  Reinlichkeit,  die  Gangbarmachung  der 
Zufahrtsstrassen,  bequeme  Beförderung  etc.  anbefohlen. 

Diesen  in  jeder  Hinsicht  vorzüglichen  Anordnungen  verdankt  der  Kur- 
ort seinen  fernem  Aufschwung. 

Das  fünfte  Capitel  der  Stmitätsverfügungen  betitelt  sich :  «Von  Erhal- 
tung des  allgemeinen  Gesundheitsstandes  in  Bücksicht  auf  die  angränzenden 
Länder.» 

Durch  die  Regelung  des  Gontumazwesens  und  Einführung  eines 
Absperrungssystems  kam  Ungarn  sozusagen  in  einen  internationalen  Sani- 
tätsverkehr. 

Die  ersten  Pestordnungen,  wie  z.  B.  jene  vom  Jahre  1506, 1521,  1551, 
1558,  1562  beschränken  sich  grösstenteils  auf  die  interne  Localisirung 
der  Ansteckungsgefahr;  erst  im  Jahre  1690  finden  wir  die  Verfügung,  dass 
wegen  der  in  Ofen  herrschenden  Pest  alle  nach  Wien  Beisenden  in  der  Stadt 
Pest  eine  vierwöchentliche  Gontumaz  zu  halten  haben.*  Ebenso  wurden  inii 


Linzbaner  Codex  I.  S.  335. 


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UNGARN    BETREFFENDE    SANITÄTSVERORDNÜNGEN   JOSEFS   DES   U.  ^^ 

Jahre  1691  an  der  unganscben  Grenze  Contumazanstalten  errichtet.^  cQoa- 
rantän-Häuser»  ordnet  femer  die  von  Kollonics^ischof  von  Baab^  verfasrte 
und  für  Ungarn  bestimmte  Pestordnung  vom  Jahre  1692  an.^  Am  20.  No- 
vember und  27.  Dezember  1709  wurde  eine  «Absperrungs-Norm  für  Ungarn 
festgesetzt  und  durch  die  königl.  ungar.  Hofkanzlei  den  Gomitaten  des  Lan- 
des mitgeteilt.^  «Ambulante»  Contumazanstalten  wurden  1712  in  der  Nähe 
Pressburgs  errichtet^  wo  die  Deputirten  des  Beichstages  sich  einer  Beinigimg 
unterziehen  mussten.^  Diesbezügliche  Verordnungen  wurden  noch  am 
11.  September  und  24.  November  1713  erlassen.  In  Folge  des  Auftretens 
•der  Pest  in  der  Türkei  im  Jahre  1726  wurde  am  16.  September  anbefohlen, 
«in  denjenigen  Orthen,  wo  bis  dato  keine  Gontumazhäuszer  sind,  solche  also- 
gleich zu  erbauen  und  in  brauchbaren  Stand  zu  setzen.»^  Am  3.  Feber 
1734  wurde  die  Errichtung  einer  Contumazanstalt  gegen  Bosnien  am  Berge 
Oapella  und  in  Sluin  angeordnet.®  1738  wurden  in  Peterwardein  imd  Sza- 
lankemen  Gontumazhäuser  eingerichtet.^  Im  Jahre  1741  wurden  im  Grenz- 
gebiete bleibende  Contumazanstalten  errichtet;  ebenso  im  Jahre  1755,  1760 
(Vissö  und  Buskova-Poljana  in  der  M&rmaros),  1769  (Borsa,  Körösmezö 
und  Vereczke),  1770  (Eom&mik  und  Gabolto  gegen  Polen  und  die  Moldau.) 

Die  Bestimmungen  vom  J.  1770  ordnen  die  Leitung  derbleibenden 
Contumazanstalten  an.^ 

Die  in  der  Constitutio  normalis  vom  Jahre  1770  enthaltenen  diesbe- 
zügUchen  Bestimmungen  standen  während  der  folgenden  Pestjahre  in  voller 
'Giltigkeit. 

Die  damals  fungirenden  Contumazstationen  waren :  Borsa  (Com.  Mar- 
maros),  Mehadia,  Zsuppanek,  Pancsova  (Temeser  Banat),  Banovcze,  Semlin, 
Mitroviczn,  Brod,  Gradiska  (Slavonien),  Szluin,  Badonovacz,  Eosztanicza 
(Kroatien),  in  Siebenbürgen:  Bothenthurm,  Tömös,  Terzburg,  Buzan  und 
Vulkan  (gegen  die  Walachei),  Bodna,  Ojtos,  Csik-Ghymes,  Bizicske  (gegen 
die  Moldau). 

Die  Verordnungen  unterscheiden  nach  der  Beschaffenheit  der  ein- 
laufenden Nachrichten  in  der  Zeit  der  Contumaz  1.  die  kürzeste  Dauer 
<21  Tage),  2.  die  mittlere  Dauer  (28  Tage),  3.  die  längste  Dauer  (42  Tage). 
«Obschon  den  Sanitätsobrigkeiten  eingeräumet  ist,  mit  Genehmigung  der 
Xandesstelle,  den  Grad  der  vorgeschriebenen  Contumazdauer  nach  Beschaf- 

^  linzbauer  I.  8.  338. 
'  Linzbauer  I.  S.  342. 
■  Lmzbauer  I.  8.  391,  396. 

*  Lmzbauer  I.  8.  410. 

*  Linzbauer  11.  8.  4. 

•  Linzbauer  11.  8.  49. 
'  Linzbauer  EL  8.  98. 

•  Linzbauer  L  8.  821.  11.  8.  535. 


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70  UNGARN    BETREFFENDE    SANITÄTSVERORDNUNOEN    J0ßEF8    DES    II. 

fenheit  der  einzuholenden  verlässlichen  Nachrichten,  den  Umständen  mit 
Behutsamkeit  anzuschicken,  die  oftmahls  von  der  Dringlichkeit  sind,  keine 
Anfragen  zu  gestatten,  so  wird  ihnen  doch  hiermit  ernstlich  aufgetragen, 
hierin  mit  Klugheit  vorzugehen,  durch  übermässige  Strenge  dem  Wohlstande 
des  gegenseitigen  Handels  und  der  freundschaftlichen  Nachbarschaft,  ohne 
gute  Ursachen,  nicht  beschwerlich  zu  fallen.  Jede  Fristverlängerung  aber 
sollen  sie  dann  sogleich  mit  allen  Umständen  und  Ursachen,  durch  die 
Landesstelle  und  ungarische  Hofkanzlei  uns  anzeigen,  den  einmahl  erhöhe- 
ten  Termin  aber,  ohne  vorläufig  die  Ursachen  der  Herabsetzung  hinterbracht 
und  weitere  Verhaltungsbefehle  zu  haben,  für  sich  allein  nie  mindern.» 

Zur  Hintanhaltimg  der  Ansteckungsgefahr  wurden  Sanitätskordone 
aufgestellt.  «Wenn  nun  das  gefährliche  Pestübel  wirklich  in  den  türkischen 
oder  anderen  angränzenden  Landschaften  ausgebrochen  seyn  sollte,  so  wird 
dieser  Pestkordon,  wo  er  noch  nicht  besteht,  aufzustellen,  oder  wo  er  schon 
besteht,  nach  Massgebung  der  Umstände,  dermassen  zu  verstärken  seyn, 
dass  die  ausgesetzten  Posten,  davon  einer  den  andern  ohnehin  allezeit,  so 
viel  möglich  im  Gesichte  behalten,  umso  enger  zusammengezogen,  oder 
auch  bei  gefährlichster  Dringlichkeit,  nebst  dem  auswärtigen  Kordon  wohl 
gar  ein  zweiter  formirt  werde,  um  durch  solche  Mittel  alle  Zugänge  aus 
den  verdächtigen  Gegenden  auf  das  strengste  zu  beobachten.» 

•Es  sollen  die  Kordonsposten,  die  allenfalls  an  der  Gränze  eines  Orts 
ankommenden  Personen  sogleich  zurück  oder  in  die  otfen  stehende  Kon- 
tumazstation weisen,  im  Falle  der  Weigerung  aber,  wenn  die  Ermahnung 
nichts  verfinge,  und  eine  Person  mit  Gewalt  eindringen  wollte,  sie  zu  Folge 
des  unter  dem  25.  August  1766  ergangenen,  und  überall  kundgemachten 
Strafgesetzes  an  der  Stelle  todtzuschiessen  keinen  Anstand,  überhaupt  aber 
sich  zur  Eichtschnur  nehmen,  dass  aus  dem  türkischen  Gebiethe  je  und 
allezeit  der  Eintritt  in  die  Erbländer  auf  keine  andere  Art,  als  durch  die 
Kontumazstationen  auf  die  vorgeschriebene  Weise  gestattet  sei. »  »Ohne  Keini- 
gungsurkunde  —  Zeugniss  über  die  mit  Erfolg  bestandene  Quarantaine  — 
soll  kein  Ankömmeling  beherberget  werden.»  «Wider  solche  unvorsichtige 
Aufnehmer  soll  mit  den  empfindlichsten  Strafen  vorgegangen  werden,  die 
bei  gefährlichen  Umständen  verschärfet,  und  bei  der  in  dem  angränzenden 
Gebiethe  wirklich  wüthenden  Pest  wohl  gar  bis  zur  Todesstrafe  vergrössert 
werden  sollen.» 

Dem  Kontumazdirektor  wird  die  Instandhaltimg  des  Kontumazgebäu- 
des, eine  sorgfältige  Absonderung  der  verdächtigen  Menschen,  Viehe  und 
Waaren  und  die  Beobachtung  der  Bequemlichkeit  für  die  in  Quarantaine 
befindlichen  Personen  zur  Pflicht  gemacht. 

Die  königl.  Statthalterei  hat  die  Kontumazstationen  alljährlich  durch 
einen  Arzt  tmtersuchen  zu  lassen. 

Die  die  Station  passirenden  Personen,  Fuhren,  Waaren  etc.  sind  aufs 


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URGARN    BETREFFENDE    SANITÄTSVERORDNUNGEN    JOSEFS    DES  H.  'I 

sorgfaltigste  ZU  visitiren.  «Falls  sich  in  der  Visitation  bei  einer  Person  wirk- 
liche Zeichen  der  Pest  veroffenbarten,  ist  dieselbe  ohne  Ausnahme  zu  ent- 
lassen, und  zu  entfernen,  auch  im  Weigerungsfalle  mit  Gewalt  anzuhalten, 
sich  sammt  Vieh  und  Habseligkeiten  zurück  zu  begeben.»  «Wenn  hingegen 
bei  der  vorgenommenen  Untersuchung  keine  Anzeichen  einer  Ansteckung 
sich  offenbaren,  ist  zu  der  vnrklichen  Reinigung  in  den  vorgeschriebeneu 
Zeitfristen  nach  folgenden  Massregeln  zu  schreiten : 

Vor  allem  sind  die  Personen  in  abgesonderte  Wohnungen  zu  bringen, 
und  dann  ist  entweder  durch  sorgfältige  Verschliessung  oder  allenfalls 
durch  erforderliche  Sanitätswächter,  die  nach  Beschaffenheit  der  Umstände 
in  genügsamer  Anzahl  den  Kontumazpersonen  beizugeben  sind,  dafür  zu 
sorgen,  dass  keine  Vermischung  zwischen  den  Kontumazpersonen  und 
Gesunden,  oder  zwischen  Kontumazpersonen  von  verschiedenen  Perioden 
erfolgen  möge ;  denn  bei  der  mindesten  Berührung  würde,  nicht  nur  ein 
Gesunder  oder  Unverdächtiger,  wegen  der  vorgegangenen  Berührung  und 
des  darauf  gegründeten  Verdachtes,  die  Kontumaz  mitzumachen  haben, 
sondern  auch  die  bereits  angefangene  Kontumaz  würde  auf  das  neue  anzu- 
fangen haben.» 

Der  Kontumazdirektor  soll  auch  für  die  Möglichkeit  einer  billigen  und 
sorgfältigen  Verpflegung  der  in  Quarantaine  befindlichen  Personen  sorgen. 

«Wenn  die  Kontumazpersonen  Gelder  und  Briefschaften  bei  sich 
haben,  muss  das  Geld  mit  warmem  Wasser,  und  bei  verdächtigen  Zeiten 
mit  Essig  durch  die  mit  den  Kontumazpersonen  ausgesetzten  Eeinigungs- 
knechte  gewaschen  werden.  Die  Briefschaften  aber  sind  bei  guten  Zeiten, 
blos  mit  dem  gewöhnlichen  Pestrauche  auszurauchen,  bei  verdächtigen 
Umständen  folglich  erhöhter  Kontumazfrist  aber  durch  warmen  Essig  zu 
ziehen,  und  sodann  erst  abzugeben. » 

Wäsche  soll  sorgfältig  gewaschen,  Kleider  gelüftet  werden.* 

Die  Kontumazprotokolle  sind  vorschriftsmässig  zu  führen,  giftfangende 
Waaren  (merces  susceptibiles)  von  nicht  giftfangenden  abzusondern.  Als 
giftfangende  Waaren  werden  solche  bezeichnet,  «die  fähig  sind  den  EEauch 
einer  ansteckenden  Krankheit  an  sich  zu  ziehen,  und  wieder  mitzutheilen», 
als  nicht  giftfangende,  «welche  einer  solchen  Ansteckung  unfähig  sind.» 
Unter  den  letztern  werden  angeführt:  Alaun,  Aloe,  Antimon,  Arsenik,. 
Blech,  Butter,  Borax,  Calmus,  Caffee,  Corallen,  Cremor  Tartari,  Datteln^ 
Diamanten,  Eicheln,  Esswaaren,  Feigen,  Fleisch,  Fische,  Getreide,  Glas, 
Gummi,  Holz,  Honig,  Ingwer,  Kampfer,  Käse,  Limonen,  Mandeln,  Mar- 
mor, Metalle,  Mehl,  Gel,  Opium,  Porcellan,  Perlen,  Pech,  Pfeffer,  Quecksil- 

*  Bezüglicli  der  Beinigung  der  Kleidung  wurde  den  sog.  Keinigungsknechteu 
die  Beobachtung  der  in  Chenot'B  «Abhandlung  von  der  Pestseuchet  (Cap.  IV.  u.  V.) 
enthaltenen  Vorschriften  zur  Pflicht  gemacht.  (Rescr.  vom  18.  August  1785). 


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72  UNGARN    BETREFFENDE    SANITÄTSVERORDNUNGEN   J08EP^    DES   II. 

ber,  Reise,  Safran,  Salz,  Stärke,  Spargel,  Torf,  Vitriol,  Wein,  Wachs,  Zucker, 
Zimmt,  2iinn  u.  m.  A. 

Diejenigen,  die  eine  aosgebrocbene  Pest  verfaeimlicben,  werden  bei 
einreissender  Gefabr  mit  dem  Tode  bestraft. 

Nach  Ablauf  der  Kontumazdauer  sind  die  Betreffenden  nacb  erfolgter 
Visitirung  durch  den  Arzt  mit  einem  Beinigungszeugnisse  verseben  zu 
entlassen. 

Der  Direktor  hat  allmonatlich  einen  kurzen  Bericht  an  die  Statthai- 
terei  einzusenden, 

Der  Stationsarzt  soll  den  Direktor  in  seinen  Agenden  unterstätzen, 
die  in  der  Station  befindlichen  Personen  unentgeltlich  behandeln  etc.  Die 
Beinigungsknechte,  Sanitätswächter  haben  in  ihren  Obliegenheiten  mit  der 
nötigen  Vorsicht  und  Sacbkenntniss  vorzugehen. 

Zur  Erleichterung  des  Dienstes  wird  eine  übereinstimmende  «Beini- 
gungstaxordnungi  festgesetzt.  So  wurde  z.  B.  für  die  Beinigung  von 
100  Pfund  roher  und  gesponnener  Baumwolle  15  kr.,  von  100  Pf.  Flachs 
16  kr,  von  100  Stück  Hemden  10  kr,  von  einer  Ochsen-,  Pferde  oder  Kuh- 
haut Va,  von  einem  Fuchsbalge  ^/4,  von  einem  Paar  türkischer  Stiefel 
(ocreae  turcicae)  ^4,  von  100  Pf.  Schafwolle  15,  von  einem  Zentner  Seide  25, 
von  100  Pfund  Tabak  7Va,  von  Hausthieren  1 — 3  kr.  gezahlt. 

Am  10.  Jänner  1783  vrird  die  Verfügung  erlassen,  «wie  wegen  der 
im  türkischen  Gebiete  herrschenden  Pestseucbe  Gewissheit  zu  erhalten  ist.» 
«um  Gewissheit  zu  erhalten,  ob  in  den  türkischen  Provinzen,  welche  mit 
den  k.  k.  Staaten  gränzen,  die  Pest  wirklich  herrschet,  und  daher  ein 
gegründetes  Besorgniss  einer  Ansteckung  vorhanden  sei,  ist  mit  der  Bepublik 
Venedig,  mit  welcher  vermöge  Verträgen  die  Angelegenheiten  des  öffent- 
lichen Gesundheitsstandes  gemeinschaftlich  behandelt  zu  werden  pflegten,* 
das  Einverständniss  getroffen,  dass  von  jeder  Seite  erfahrne  Aerzte  abge- 
sandt werden  sollen,  welche  sorgfältig  zu  erforschen  haben,  ob  in  den  tür- 
kischen Ländern  die  Pest  herrsche,  und  also  ein  zureichender  Grund  die 
strenge  Kontumazverwahrung  notwendig  mache.  Sie  werden  darüber 
genaue  Berichte  erstatten,  nach  deren  Inhalt  die  nötigen  Vorsichten  zu 
ermessen  sind.» 

Ein  Bescript  vom  14  Sept.  1786  verfügt  Folgendes:  «So  noth wendig 
die  Vorsicht  gegen  das  Pestübel  ist,  so  sorgfältig  ist  dahin  stäter  Bedacht  zu 
nehmen,  dasa  man  davon  sogleich  zuverlässige  Nachrichten  einziehe ;  denn 
oft  geschieht  es,  dass  Kaufleute,  die  mit  einem  geringen  Yfaarenvorrathe  am 
den  angränzenden  Ländern  ankommen,  wenn  sie  wissen,  dass  bald  ein  gros- 

■^  S.  diesbezüglich  die  a.  h.  Entschliessung  vom  16.  September  1726.  ap.  Linzbauer 
II.  S.  3.  Verfügungen  Venedigs  zur  Hintanhaltung  der  Ansteckungsgefahr  in  Form 
Ton  Eontumazanstalten  und  Quarantainen  datiren  schon  vom  14.  Jahrhundert. 


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UNGARN    BETREFFENDE    SANn'ÄT8VER0RDNUNöEN    JOSEFS    DES    II. 


73 


serer  Vorrath  eben  dieser  Waare  folgen  soll,  damit  sie  mit  diesem  die  Kon- 
kurrenz vermeiden,  Geiiichte  von  einer  ausgehrochen en  Pest  ausstreuen ;  es 
sollen  daher,  so  lange  das  Uebel  noch  so  weit  entfernet  ist,  die  Kontumaz- 
nmchen  nicht  vermehret,  und  die  Ankömmlinge,  nach  gehöriger  Reinigung 
mid  Abwaschung,  wenn  sie  ihre  Kleider  nicht  mit  sich  nehmen  wollen,  nur 
durch  drei  Tage  in  der  Kontumaz  behalten  werden ;  aber  auch  diese  Vorsicht 
hat  nur  so  lange  zu  währen,  bis  sichere  Nachrichten  eingehen,  und  wenn 
vermöge  derselben  keine  Gefahr  obwaltet,  ist  die  Kontumaz  gänzlich  auf- 
zuheben.» 

Zu  den  Josefinischen  Sanitätsverordnungen  gehören  noch  die  Bestim- 
mungen «von  den  politischen  Verbrechen,  die  dem  Leben  oder  der  Gesund- 
heit der  Mitbürger  Gefahr  oder  Schaden  bringen.»  Diese  sind  in  dem  «allge- 
meinen Gesetz  über  Verbrechen  und  derselben  Bestrafung  vom  13.  Jänner 
1787»  (2.  Teil  3.  Cap.)  enthalten  und  zählen  10  Paragrafe  (§.  19— §.  29). 
Nach  §§19,  20  und  21  machen  sich  Private  und  auch  Apotheker,  «die 
•durch  Verkauf  einer  Giftwaare  ihren  Nächsten  Schaden  zufügen  oder  auch 
nur  einen  entfernten  Anlass  zur  Beschädigung  gegeben  haben,  verbotene 
Arzneien  verkaufen,  oder  dieselbe  falsch  zubereiten»  eines  politischen  Ver- 
brechens schuldig  und  sind  mit  «hartem  Gefängniss  oder  öffentlicher  Arbeit» 
resp.  («wenn  des  Verbrechers  That  nur  die  entfernte  Gelegenheit  zur  Beschä- 
digung war»)  «mit  zeitlichem  strengem  Gefängniss»  zu  bestrafen. 

«Wenn  einem  Kinde,  oder  einem  Menschen,  der  sich  selbst  gegen 
<7efahr  zu  schützen  nicht  vermag,  durch  Ueberfahren,  in  das  Wasser  fallen, 
eigene  Verletzung,  oder  sonst  auf  eine  Art  Tod  und  Verwundung  zugefüget 
worden,  welchen  durch  die  schuldige  Aufmerksamkeit  desjenigen  hätte  aus- 
gewichen werden  können,  dem  die  Aufsicht  über  das  Kind,  oder  einen 
«olchen  Menschen  aus  natürlicher  Pflicht,  oder  aus  obrigkeitlichem  Auf- 
trage oblag,  so  ist  dessen  Sorglosigkeit  ein  politisches  Verbrechen»  (§22). 

«Insgemein  ist  die  Strafe  dieses  Verbrechens  zeitliches  gelindes  Gefäng- 
niss Dasselbe  muss  aber,  wenn  Tod  oder  schwere  Verwundung  erfolget  ist, 
nach  dem  eintretenden  höheren  Grade  der  Sorglosigkeit  verschärfet  wer- 
<ien»  (§  23). 

Durch  schnelles  Reiten  oder  Fahren  verursachte  Beschädigung  oder 
Tödtung  ist  ebenso  zu  ahnden  (§  23). 

Eines  politischen  Verbrechens  macht  sich  schuldig  (§25)  derjenige, 
<ler  aus  einer  kontumazirten  Provinz  auf  Umwegen  ins  Land  kommt  oder 
Waaren  importirt ;  h)  der  ohne  vorgeschriebene  Meldung  den  Kordon  passirt ; 
€)der  durch  Angabe  eines  falschen  Abgangsortes  die  Kontumazbehörde 
irreführt;  d)  der  Passirscheine  fälscht  oder  den  Fälschern  solcher  Vorschub 
leistet;  e)  der  sich  eines  auf  fremden  Namen  ausgestellten  Zeugnisses 
bedient;/)  der  eine  derartige  Handlung  verheimlicht;  g)  der  vor  erfolgter 
Beinigung  die  Kontumazstation  verlässt;  h)  der  vor  vollendeter  Kontumaz 


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74 


UNGARN    BETREFFENDE   SANITATSVERORDNUNGEN   JOSEFS   DES   H. 


mit  gesunden  Personen  in  Verkehr  tritt ;  i)  eine  gesunde  Person,  die  mit 
den  in  Quarantaine  befindlichen  Personen  ohne  Erlaubniss  der  Kontumaz- 
behörde in  Verkehr  tritt.  Ferner  machen  sich  des  politischen  Verbrechens 
schuldig  Beamte,  die  aj  Personen  und  Waaren  auf  unerlaubten  Wegen 
passiren  lassen ;  b)  die  falsche  Gesundheitspässe  ertheilen;  c)  die  auf  einen 
falschen  oder  unrechtmässig  gebrauchten  Gesundheitspass  jemanden  durch- 
lassen; dj&VLch  der  Unterbeamte,  welcher  von  einer  solchen  unerlaubten 
Durchlassung  in  das  Land,  Entlassung,  oder  Entweichung  aus  der  Kontumaz 
Wissenschaft  hat,  ohne  sogleich  die  Anzeige  zu  machen.  Endlich  begeht 
auch  ein  politisches  Verbrechen  jeder,  a)  der  Personen  oder  Waaren  zu 
Umgehung  der  ausgezeichneten  Wege,  durch  Rat,  W^egweisung  oder  auf 
sonst  immer  eine  W^eise  behülflich  ist ;  b)  wer  fremde  Personen  oder  Waaren 
aus  verdächtigen  Gegenden  ohne  das  gehörige  Gesundheitszeugniss  und  Pass 
übernimmt,  frachtet,  befördert ;  c)  wer  in  den  dem  Pestkordon  nahe  liegen- 
den Ortschaften  fremde  Personen  oder  Waaren  ohne  alles  Gesundheits- 
zeugniss, oder  ohne  dass  das  Gesundheitszeugniss  nach  Vorschrift  von  der 
Obrigkeit  recognoscirt  worden,  beherbergt.  Unterstand  gibt.» 

Solche  Verbrecher  sind  dem  Militärgerichte  zu  übergeben  *  «und  von 
demselben  allein  nach  den  Gesetzen  abzuurtheilen,  die  zur  Sicherheit  der 
Erbländer  nach  Verhältniss  der  Gefahr  zu  erlassen  nöthigseyn  wird.»  (§  26). 

Als  Vergehen  gegen  die  Sanitätsvorschriften  wird  noch  betrachtet, 
a)  «wenn  todtes  Vieh  in  einen  Brunn,  Bach,  Fluss  geworfen  wird ;  b)  wenn 
bei  dem  in  einer  Viehseuche  gefallenen  Viehe  die  durch  die  Sanitätsgesetze 
bestimmten  Vorsichten  übertreten  werden ;  c)  wenn  jemand  die  an  seinem 
Viehe  entdeckten  Zeichen  der  Wuth  anzuzeigen  unterlässt ;  d)  wenn  an 
gangbaren  Orten  Fangeisen  (laqueum  ferreum)  aufgestellt,  oder  Fanggruben 
gegraben  werden»  (§  !27).  «Die  Strafe  dieses  Verbrechens  ist  öffentliche 
Arbeit  mit  oder  ohne  Eisen,  deren  Dauer  nach  dem  Verhältnisse  des  Scha- 
dens zu  bestimmen,  so  durch  seine  Handlung  entstanden  ist.»  (§  28). 

Wenn  wir  die  in  das  Sanitätswesen  einschlägigen  Verfügungen  Josef 
des  II.  betrachten,  drängt  sich  uns  die  Anerkennung  und  Bewunderung  für 
den  Schöpfer  derselben  auf. 

Wenn  die  Folgen  auf  diesem  Gebiete  auch  seinen  edlen  Intentionen 
nicht  vollkommen  entsprachen,  werden  wir  dennoch  in  Josef  dem  II.  den 
eigentlichen  Begenerator  unseres  Sanitätswesens  betrachten  müssen.  Er  war 
bestrebt  das  kostbare  Gut  der  Gesellschaft  mit  allen  ihm  zu  Gebote  stehen- 
den Mitteln  zu  bewahren,  das  geistige  und  materielle  Wohl  der  Bürger  zu 
fördern.  Die  während  seiner  zehnjährigen  selbständigen  Eegierung  geschaf- 
fenen Sanitätsverordnungen  überraschen  nicht  nur  durch  ihre  Zahl,  son- 

"^^  Am  9.  Feber  1776  wiirde  nämlich  die  Leitung  des  Samtätswesens  im  Grenz- 
gebiete dem  k.  k.  Militärstande  übertragen« 


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BrDAPEST   von    HINDERTSIEBZIG   JAHREN.  75 

dem  auch  durch  ihren  in  jeder  Hinsicht  modernen  Anstrich,  durch  ihre 
Vielseitigkeit  und  wissenschaftlich  begründete  Logik,  so  dass  sie  es  wohl 
verdient  hätten] —  nicht  nur  des  historischen  Werts  wegen  —  die  Grundlage 
unseres  heutigen,  eingestandener  Massen  höchst  mangelhaften  Sanitäts- 
gesetzes zu  bilden. 

Wien,  Oktober  1890.  Ion.  Schwarz. 


BUDAPEST  VOK  HUNDERTSIEBZIG  JAHREN. 

Aus  einem  Vortrage  von  Alad4r  Ballagi. 

Ein  arabisches  Sprichwort  sagt,  dass  da,  wohin  der  Türke  einmal  seinen 
Fuss  setzt,  kein  Gras  wächst.  Wenn  das  wahr  ist,  so  trägt  keineswegs  der  Islam 
die  Schuld  daran  ;  denn  die  Araber  vermochten,  wenn  sie  auch  Bekenner  des  Islam 
waren,  durch  ihre  civilisatorischen  Schöpfungen  in  Bagdad,  in  Spanien  und  Nord- 
afrij£a  die  Welt  in  Erstaunen  zu  setzen.  Bei  den  Türken  scheint  es  mehr  ein  Fehler 
der  Bace  zu  sein,  dass  sie  keine  Organisatoren  sind.  Thatsache  ist,  dass  ihre  lange 
Herrschaft  auf  die  Städte  Ofen  und  Pest  eine  ungemein  verheerende  Wirkung 
hatte.  Ein  trauriges  Bild  dieser  Verwüstung  entwirft  uns  der  Kaschauer  Bürger- 
meister Johannes  Bocatius,  der  die  beiden  Städte  im  Jahre  1 605,  ungefähr  um  die 
Mitte  der  Türkenperiode,  besuchte.  Ueberall  sah  er  blos  elende,  fast  ungedeckte 
Hütten,  aus  Lehmziegeln  errichtete  Häuser  und  mit  Stroh  verstopfte  Fenster; 
auch  die  wenigen  grösseren  Gebäude  waren  verraucht  und  schmutzifr,  die  Kirchen 
wurden  als  Viehställe  benützt,  aus  den  Friedhöfen  hatten  die  Türken  die  marmor- 
nen Grabmonumente  auf  die  Strasse  geschleppt  und  benützten  sie  als  Sitzplätze, 
um  ihre  Barte  in  der  Sonne  trocknen  zu  lassen,  oder  als  Verkaufsstände  für  ihre 
Waaren.  Als  der  wackere  Bürgermeister  von  Ofen  nach  Pest  herüberkam,  konnte 
er  sich  nicht  enthalten  auszurufen  :  «0,  Pest,  wie  treffend  ist  dein  Name,  denn  du 
bist  eine  wirkliche  Pestilenz  ! » 

Der  aussergewöbnliche  Verfall  beider  Städte,  und  besonders  Ofens,  wäre 
nur  in  dem  Fall  zu  entschuldigen  gewesen,  wenn  dieselben  zur  Zeit  der  Türken- 
herrschaft ihres  hauptstädtischen  Charakters  verlustig  geworden  wären.  Dem  war 
aber  nicht  so ;  denn  auch  während  der  Türkenzeit  war  Ofen  die  Hauptstadt  ihrer 
ungarischen  Besitzungen,  Residenzstadt  eines  Beglerbegs,  noch  mehr :  Ofen  war 
der  eigentUche  Centralpunkt  aller  gegen  die  Christenheit  gerichteten,  grossmäch- 
tigen Kriegsopeititionen.  Ungeheuere  Geldsummen  und  Wert«  waren  da  in  Ver- 
kehr gesetzt,  was  bei  jedem  andern  Volke,  wenn  sonst  nichts,  wenigstens  Auf- 
blühen der  Stadt  auf  ewige  Zeit  gesichert  hätte. 

Ausser  der  Paschawirtschaft,  welche  um  Vergangenheit  imd  Zukunft  unbe- 
kümmert blos  das  Heute  im  Auge  hatte,  trugen  zum  Verfalle  Ofens  die  in  den 
1680-er  Jahren  sich  öfter  wiederholenden  Belagerungen  der  Stadt  viel  bei.  Als 
nach  der  letssten  Belagerung  1686  die  kaiserlichen  Sieger  in  die  Festung  einzogen, 
fanden  sie  kein  schützendes  Dach  unversehrt. 


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7« 


BUDAPEST    VOR    Hl  NDERT8IEBZIO    JAHREN. 


Während  der  150  Jahre  dauernden  Türkenherrgchaft  war  die  alte  unga- 
risobe  und  deutsche  Einwohnerschaft  der  beiden  Städte  fast  verschwunden ;  an 
ihre  Stelle  waren  Baitzen,  die  man  ihrer  Beligion  wegen  Griechen  nannte,  Kroaten 
und  Juden  gekommen  ;  in  der  ersten  Zeit  nach  der  Wiedereroberung  nahmen  die 
Baitzen  durch  neue  Ansiedler  bedeutend  zu ;  die  besseren  Elemente  derselben  trie- 
ben Handel,  die  ärmeren  brachen  Steine  in  Steinbruch  oder  trugen  Donauwasser 
nach  der  Festung,  deren  Wasserleitung  durch  die  wiederholten  Belagerungen  zer- 
stört worden  war.  Die  Kroaten  hatten  sich  in  grosser  Menge  in  der  heutigen 
Wasserstadt  niedergelassen,  so  dass  man  diesen  Stadtteil  noch  lange  Kroatenstadt 
nannte,  ja  auch  heute  noch  bewahrt  das  Andenken  derselben  die  sogenannte 
Kroaten-Gasse,  Die  Deutschen,  zumeist  kaiserliche  Soldaten,  Beamte  und  Hand- 
werker, Hessen  sich  in  grosser  Anzahl  in  der  Festung  und  in  der  nächsten  Umge- 
bung derselben  nieder,  während  sich  in  der  Neustift  sehr  viele  wallonische,  italie- 
nische und  spanische  Soldaten  aus  dem  kaiserlichen  Heere  ansiedelten.  Auch  von 
der  früheren  türkischen  Einwohnerschaft  waren  ungefähr  hundert  Familien  hier 
geblieben,  die  sich  taufen  Hessen  und  mit  der  christlichen  Bevölkerung  ver- 
schmolzen. 

Ofen  war  zu  jener  Zeit  viel  bedeutender,  während  Pest  ein  verwahrloster 
kleiner  Flecken  war.  Noch  im  Jahre  1709  zählte  das  letztere  nicht  mehr  als 
500  Einwohner,  unter  welchen  es  blos  16  Bürger  mit  einem  für  ihre  Bedürfnisse 
genügenden  Einkommen  gab.  Die  Stadt  zählte  damals  319  Häuser,  von  welchen 
jedoch  151  vollständig  leer  standen.  Ein  Einkehr-Gasthaus  und  eine  Bierbrauerei 
waren  die  einzigen  halbwegs  städtischen  EtabHssements. 

Die  Umgebung  der  heutigen  Hauptstadt  war  eine  unfruchtbare  Haide.  Der 
Froschteich,  der  weisse  und  der  Binsenteich  breiteten  hier  ihre  schlammigen 
•Gewässer  aus.  Sümpfe  und  sandige  Flächen  umgaben  die  Hauptstadt  in  einem 
mehrere  Meilen  betragenden  Umkreise.  Die  nächsten  Ortschaften  waren  Palota, 
Föth,  Mogyoröd,  Peczel,  Qyömrö,  ÜllcJ,  Öcsa,  N^medi  und  Sziget-Szent-Miklös, 
welche  ursprünglich  von  Ungarn  bewohnt,  aber  nunmehr  fast  vollständig  verödet 
waren.  Um  Ofen  herum  sah  es  noch  wüster  aus ;  Tinnye,  Tök,  Päty  und  Bia  waren 
die  nächsten  Ortschaften  im  Umkreise  desselben. 

In  der  Umgebung  von  Pest  wurden  mit  Ausnahme  von  Neupest  alle  grösse- 
ren Gemeinden  unter  der  Begierung  Karls  HI.  von  den  Vorfahren  ihrer  heutigen 
Bewohner  besiedelt.  Die  bereits  vorhandenen  imgarischen  und  serbischen  Ort- 
schaften wurden  durch  neue  Zuzüge  verstärkt.  Um  jene  Zeit  wurden  in  der  Umge- 
bung der  Hauptstadt  slovakische  Kolonisten  in  den  Dörfern  Csömör,  Czinkota, 
Kerepes,  Ecser  und  Maglöd  angesiedelt,  da  sich  aber  die  Colonisation  durch  Inlän- 
der als  ungenügend  erwies,  so  mussten  zu  diesem  Zwecke  Ausländer  herbeigerufen 
werden. 

Die  Hofkammer,  in  deren  Bessort  das  Golonisirungswesen  fiel,  hatte  es  um 
Jene  Zeit  als  Princip  aufgestellt,  dass  alle  Colonisten  ausschHessHch  Deutsche  und 
römisch -kathoHsch  sein  müssen,  daher  kam  es,  dass  sich  in  der  Umgebung  der 
Hauptstadt  blos  Franken,  Schwaben,  Baiem  und  Oesterreicher  niederHessen.  In 
Soroksär  gibt  es  daher  noch  heute  eine  Frankengasse ;  die  heutige  Schulgasse  in 
Pest  hiess  früher  Untere  Baumgasse,  während  der  heutige  Sebastianiplatz  und 


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BUDAPEST   VOR   HÜNDERT8IEBZIO   JAHREN. 


77 


die  Donangasse  Obere  Baiemgaase  hiessen ;  auch  der  Name  des  Schwabenberge» 
in  Ofen  und  in  Bogddny  bildet  eine  Erinnerung  an  jene  Zeit. 

Nicht  blos  die  Hofkammer,  sondern  auch  die  Magnaten  und  Ordensgeistli- 
chen waren  eifrigst  beflissen,  die  Schwabencolonisation  zu  befördern.  Herzoge 
Engen  von  Savojen  besetzt  in  seiner  lUczkeve-er  Herrschaft  mit  schwäbischen 
Colonisten  die  Gemeinden  Csepel,  Becse,  Cs^p,  Budafok,  welch*  letztere  Oemeinde^ 
von  ihrem  Besitzer  Promontorium  Eugenii  benannt  wurde.  Die  früheren  Colonisten 
der  Insel  Csepel  werden  in  bereits  bestehende  serbische  Dörfer  versetzt,  woher  die 
alten  Einwohner  von  den  neuen  Ankömmlingen  verdrängt  wurden. 

In  der  Altofner  Herrschaft;  der  Grafen  Zichy  wurden  Budaörs,  Budakeszi^ 
Solymär,  B^käsmegyer,  Bogd^y  gegründet.  Die  Familie  Szunyogh  bringt  Schwa- 
ben nach  Hidegküt,  Graf  Josef  Eszterhäzy  nach  Vörösviir,  Graf  Grassalkovich 
eolonisirt  Soroksär,  die  Familie  Vattay  Nagy-KovÄcsi,  der  Wiener  Benedictiner-,. 
benannt  « schottischer  t  Orden  besetzt  Jen6  und  Telki,  die  Ofher  Clarissen-Schwe- 
stem  colonisiren  Boro8-Jen6  und  Taksony.  Zu  gleicher  Zeit  wurden  auch  Harapzti, 
Klein-Turbal  und  Szent-Ivto  von  Schwaben  besetzt. 

Dass  solches  Volk  sich  in  der  nächsten  Nähe  der  Hauptstadt  ansiedelte, 
daraus  ergaben  sich  später  bedeutende  Folgen  für  die  Sprachen^ge.  Die  ihren: 
Traditionen  und  ihrer  Sprache  treu  anhänglichen  deutschen  Bewohner  der  Buda- 
pest umgebenden  Ortschaften  versahen  von  Zeit  zu  Zeit  die  Vorstädte  mit 
deutschen  Colonisten,  bewirkten,  dass  der  Markt  vorläufig  ein  deutsches  Ansehen 
bekam,  und  wurden,  ohne  es  zu  wollen,  wahre  Hemmschuhe  für  die  einheitliche^ 
Entwicklung  des  Magyarentums. 

Von  national  ökonomischer  Seite  war  es  von  besonderer  Bedeutung,  dass  dio 
deutschen  Colooisten  fast  ausschliesslich  Ackerbautreibende  waren,  und  kaum  hie 
und  da  sich  ein  Industrieller  befand.  Das  war  zu  jener  Zeit  ein  wahrer  Segen  für 
die  Cnltur  des  Ofner  Gebirges  und  des  Räkos.  Ackersleute  waren  nötig,  um  aus  den 
brachhegenden  Gründen  Aecker  und  Weingärten  zu  bilden.  Unsere  guten  Schwa- 
ben gelüstete  es  nicht,  den  Pflug  zu  verlassen.  Seit  hundertsiebzig  Jahren  weiss 
man  ausser  Prof.  Georg  Volf,  dem  aus  Gross-Turbal  gebürtigen  Hprachwissenschaft- 
lichen  Schriftsteller,  Niemanden,  der  von  den  Deutschen  der  Ofner  Gebirgsgegend 
sich  den  Wissenschaften  oder  der  Eimst  gewidmet  hätte. 

So  sehr  es  angezeigt  war,  die  Umgegend  der  Hauptstadt  mit  tüchtigen 
Ackersleuten  zu  besetzen,  so  nachteihg  erwies  es  sich,  dass  auch  die  Hauptstadt 
solche  Einwohner  in  grosser  Anzahl  erhielt.  Denn  das  Emporblühen  einer  grossen 
Stadt  wird  nicht  durch  ackerbautreibende,  sondern  durch  industrielle  und  handel- 
treibende Bewohner  bewirkt. 

Mit  der  Einwanderung  der  ausländischen  Deutschen,  welche  man  hier  unter 
der  Gesammtbezeichnung  Schwaben  zusammenfasste,  beginnt  die  Geschichte  des 
modernen  Budapest ;  diese  neuen  Ankömmlinge  drängten  die  hier  vorgefundenen 
Bewohner  teils  hinaus,  teils  vei*schmolzen  dieselben  mit  ihnen.  Diese  neuen 
Elemente  waren  intolerant  und  man  erkannte  auch  hieraus,  dass  sie  aus  der 
Fremde  gekommen  waren,  da  in  Ungarn  die  Intoleranz  früher  nie  Boden  gefunden 
hatte.  Von  ihrer  Unduldsamkeit  legt  auch  der  Umstand  Zeugniss  ab,  daas  dio 
Griechisch-Nichtunirten  erst  im  Jahre  1721  nach  schweren  Kämpfen  in  die  Reihe- 


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BUDAPEST    VOR    HÜNDEBTSIEBZIG   JAHBEN. 


der  Bürger  aufgenommen  wurden,  dass  nmn  sie  aber  bereits  im  Jahre  1739  wieder 
aus  derselben  hinausstiess.  In  Bezug  auf  Protestanten  und  Griechen  gab  es  ein 
städtisches  Statut,  welchem  zufolge  blos  Diejenigen  von  ihnen  innerhalb  der 
Stadtmauern  geduldet  wurden,  welche  schon  früher  hier  gewohnt  hatten,  während 
neue  Ansiedler  nicht  mehr  zugelassen  wurden ;  das  Haus  oder  Grundstück  eines 
KathoUken  durfte  an  keinen  Protestanten  oder  Griechen  verkauft  werden ;  die 
Juden  aber  wurden  noch  imter  Kaiser  Leopold  in  der  im  Besitze  der  königlichen 
Kammer  befindlichen  Gemeinde  Aitofen  intemirt. 

Dagegen  wurden  den  deutschen  Katholiken  von  der  Landesregierung  Begün- 
stigungen zuteil,  welche  heute  fast  fabelhaft  khngen.  Es  war  ihnen  seclisjäh- 
rige  Steuerfreiheit  versprochen  worden,  die  Handwerker  erhielten  sogar  eine 
solche  auf  fünfzehn  Jahre.  Ausserdem  erhielten  die  neuen  Einwohner  eine  grosse 
Anzahl  sehr  wichtiger  Privilegien.  Ln  Jahre  1711  erhielten  sie  von  der  Kammer 
nicht  blos  Hausgründe,  sondern  auch  ganze  Häuser  unentgeltUch,  gegen  die 
einzige  Verpflichtung,  dass  sie  den  Grund  im  Verlaufe  emer  gewissen  Zeit  ein- 
zäunen und  das  Haus  neu  aufbauen  oder  wenigstens  bewohnbar  herstellen 
werden. 

Regierungsbeamte,  Generale,  KammeiTäte,  später  auch  die  Comitatsbeamten 
gelangten  unentgelthch  zu  ungeheuren  Grundstücken.  Im  Jahre  1715  erhielt  der 
Hofkammerrat  Johann  Georg  Haruckern  das  in  der  damaligen  Herrengasse  (heute 
Kecskemetergasse)  gelegene  Förster' sehe  Haus  sammt  dazugehörigem  Gnmde, 
welches  seither,  wenn  auch  in  veränderter  Form  —  da  es  im  Jahre  1 853  vollstän- 
dig umgebaut  wurde  —  unausgesetzt  seiner  Familie,  das  heisst  den  von  der  weib- 
üchen  Linie  derselben  abstammenden  Grafen  Wenckheim,  gehört.  Die  Famiüe 
Wenckheim  ist  demzufolge  die  älteste  Realitäten  besitzende  Familie  in  der  Haupt- 
stadt. Die  grossen  Städte  des  Alföld :  Kecskemet,  Koros,  Jäszbei-eny  etc.  bauten 
hier  zu  jener  Zeit  grosse  Häuser  in  der  Fonn  von  Csärden,  mit  Einkehrwirtshäu- 
sern und  riesigen  Höfen.  Die  Bürgerschaft  sah  die  Comitatsherren  gerne  in  ihren 
Mauern  und  befreite  ihre  Häuser,  wie  z.  B.  dasjenige  des  Vicegespans  des  Pester 
Comitates  Söter,  an  der  Stelle  des  heutigen  « Kronen  »-Kaflfeehauses  in  der  Waiz- 
nergrsse,  des  Grafen  Grassalkovich  in  der  Hatvanergasse  etc.  von  allen  Abgaben. 

Das  neue  Pest  und  Ofen  nahm  einen  ungemein  raschen  Aufschwung  in  Folge 
der  langen  Friedensperiode,  die  nun  eintrat.  In  Ofen  erbaute  der  kaiserliche 
Architekt  und  Stadtrichter  Venerio  Ceresola  im  Jahre  1715  das  Stadthaus ;  in  dem- 
selben Jahre  wurde  auch  mit  der  Ausbesserung  der  Festungsmauern  begonnen. 
Das  während  der  Erstürmung  zerstörte  Weissenburger  Thor  erhob  sich  aus  seinen 
rauchgeschwärzten  Trümmern ;  da-^  ehemalige  Szombatthor  wurde  nach  seiner 
Renovirung  Wienerthor,  das  Sankt-Johannistlior  Wasserthor  genannt.  Auch  die 
alten  ungarischen  Gassenbezeichnungen  gerieten  in  Vergessenheit;  die  ehemalige 
Italienergasse  wurde  Herrengasse  genannt,  die  Sankt- Paulgasse  (heutige  Land- 
hausgasse) Beckengasse,  und  die  Allerheiligengasse  wurde  der  Paradeplatz ;  aus 
der  Goldschmiedgasse  (heute  Fortunagasse)  wurde  die  Wienergasse ;  nur  die  Gasse 
des  heiligen  Sigismund  oder  Judengasse  wurde  auch  ferner  alte  Judengasse 
genannt,  obwohl  durch  dieselbe  unter  Karl  IH.  Juden  nur  am  Tage  verkehren 
-durften  und  am  Abend  stets  nach  Altofen  zurükkehren  musst^n. 


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BUDAPEST   VOR   HUNDERTSIEBZIG   JAHREN. 


79 


Weder  die  frühem  Namen  der  Gassen,  noch  die  der  Stadtteile  lebten  in  Ofen 
Je  wieder  auf ;  hingegen  dauern  die  1711  erhaltenen  Benennungen  bis  auf  den 
heutigen  Tag  fort,  zum  Beweise  dessen,  dass  in  der  Geschichte  unserer  Hauptstadt 
die  statige  Entwickelung  und  die  Beständigkeit  mit  dem  Jahre  1711  beginnt, 
d.  h.  nach  Beendigung  der  Eäköczischen  Bewegung,  wo  der  ständige  innere  Fiie- 
den  des  Landes  seinen  Anfang  nimmt. 

Pest,  das  heisst  die  heutige  innere  Stadt,  war  von  einer  Ringmauer  umge- 
hen. Seine  Basteien  waren  mit  sieben  Bondellen  versehen,  von  welchen  zwei  nach 
dem  Riikos,  zwei  auf  die  Donau  gingen.  Pest  hatte  drei  grosse  Tore  :  das  Ofner-, 
s^ter  Waizner-,  das  Erlauer-,  später  Hatvaner-  und  das  Czegl6der-,  später  Kecs- 
kem^ter-Tor. 

Das  Vorhandensein  einer  Pilast«rmaut  sollte  darauf  schliessen  lassen,  dass 
die  Stadt  gepflastert  war,  allein  der  Umstand,  dass  es  noch  im  Jahre  1801  blos 
drei  vollständig  gepflasterte  Gassen  in  Pest  gab,  lässt  keine  hohe  Meinung  über 
das  damalige  Pflaster  aufkommen  ;  von  der  Strassenreinigung  geschieht  im  Jahre 
1 722  zuerst  Erwähnung,  in  welchem  sie  sammt  der  Erhaltung  der  Gefangnisse 
und  der  Polizei  auf  916  Gulden  und  91  Vi  Denare  zu  stehen  kam.  Freilich  bestand 
die  ganze  Polizei  damals  aus  einem  städtischen  Wachtmeister  und  drei  Trabanten. 

Auch  der  städtische  Beamtenkörper  war  noch  sehr  unanselmlich.  Seine  Mit- 
glieder hiessen  Senatoren,  an  deren  Spitze  der  Stadtrichter  mit  einer  Jahresgage 
von  150  Gulden  stand.  Die  sämmtlichen  Gagen  der  städtischen  Beamten  und 
Diener  behefen  sich  jährlich  auf  3090  rheinische  Gulden,  allein  ausserdem  erhiel- 
ten mehrere  derselben  auch  Deputate  an  Schweinen,  Bier  und  Wein  von  der 
Stadt.  Drei  städtische  Musikanten  erhielten  je  eine  Monatsgage  von  1  Gulden  und 
40  Denaren ;  der  Schulmeister,  der  gleichzeitig  als  Begenschori  fungirte,  erhielt 
monatlich  4  Gulden  und  10  Denare  ohne  jedes  Deputat. 

Das  städtische  Kanzleipersonal  bestand  blos  aus  zwei  Kanzhsten  und  im 
Jahre  1 733  wurde  ein  junger  Mann,  der  um  eine  solche  Stelle  competirte,  mit  dem 
Bemerken  zurückgewiesen,  dass  man  für  einen  dritten  Kanzlist^n  keine  Ven^^en- 
dnng  habe.  Dass  in  der  That  in  der  städtischen  Kanzlei  Dicht  zuviel  zu  thun  sein 
musste,  davon  gibt  der  Umstand  Zeugniss,  dass  der  gesammte  Papierverbrauch  für 
das  Jahr  1733  bei  der  Stadt  7  Ries  betrug,  was  einen  Betrag  von  11  Gulden 
55  Denaren  repräsentirte. 

Im  Jahre  1737  betrug  das  gesammte  Einkommen  der  Stadt  13,430  Gulden 
79*/ 4  Denare,  ihre  Ausgaben  13,656  Gulden  1*/ 4  Denar.  Das  städtische  Einkommen 
wurde  in  sehr  patriarchalischer  Weise  verwaltet,  so  zwar,  dass  der  Stadtkämmerer, 
wie  man  den  Kassier  nannte,  die  Rechnungslegung  über  das  Jahr  1722  dem 
Magistrate  erst  am  28.  Januar  des  Jahres  1 728,  also  erst  nach  sechs  Jahren  unter- 
breitete. 

Die  Stadt  Pest  war  auf  ein  so  kleines  Einkommen  beschiänkt,  da  ihr  aus- 
gebreiteter Gnmdbesitz,  der  zumeist  aus  Sandflächen  und  Sümpfen  bestand,  bei- 
nahe gar  kein  Erträgniss  abwarf.  Der  Gmndbesitz  hatte  zu  jener  Zeit,  in  Folge  des 
Mangels  an  arbeitenden  Händen,  einen  so  geringen  Wert,  dass  z.  B.  Graf 
Haruckem  für  gelieferten  Proviant  im  Werte  von  140,000  Gulden  fast  das  ganze 
B^keser  Comitat  als  Eigentum  erhielt. 


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^»  BUDAPEST   VOR    HUNDERTSIEBZIG   JAHREN. 

Wohl  besass  die  Stadt  Pest  auch  viele  Häuser  imd  Stadtgründe,  allein  auoh 
diese  warfen  ihr  zusammen  blos  einen  Pacht  von  517  Golden  jährlich  ab.  Wie 
hätte  da  auch  ein  grösseres  Einkommen  resiütiren  sollen,  wenn  z.  B.  der  bürger- 
liche Schustermeister  Michael  Pichler  für  das  an  der  Ecke  des  Christophplatzes 
gelegene,  108  Quadratklafter  umfassende  Haus  einen  Jahreszins  von  40  Denaren 
zahlte.  Die  Stadt  besass  auch  achtzehn  Mühlen  auf  der  Donau,  für  welche  sie 
zusammcD  36  Gulden  als  fArenda»  von  der  Müller-Zunft  erhielt. 

Aus  solchen  minimalen  Einkommensbeträgen  vermochte  die  Stadt  ihr  Aus- 
gaben-Budget von  13,00()  Gulden  nicht  zu  decken;  ihre  Haupt-Einnahmsquellen 
wflren  das  städtische  Brauhans,  welches  ihr  jährlich  2345  Gulden,  und  der  Lücken- 
Zoll,  der  Pest  und  Ofen  je  2746  Gulden  68  Denare  trug.  Der  Brückenzoll  war  dom- 
znfolge  die  grösste  Einnahmspost  von  Budapest. 

In  der  Türkenzeit  befand  sich  die  Brücke  in  der  Gegend  des  heutigen  Schwur- 
platzes und  des  jenseits  der  Donau  hegenden  Bruckbades,  woher  dasselbe  noch 
heilte  seinen  Namen  führt;  im  Jahre  1711  wurde  die  neue  Schiffbiücke  ausserhalb 
der  Ringmauer,  an  der  Ecke  der  grossen  Brückgasse  geschlagen,  welche  heute 
bekanntlich  Deäkgaase  heisst. 

Gleichzeitig  mit  den  neuen  Colonisten  kommen  auoh  Mönchsorden  in  die 
Hauptstadt.  Im  Gefolge  des  christlichen  Kriegsvolkes  erscheint  alsobald  «die  strei* 
ten de  Kirche  Gottes.»  Die  Jesuiten  nehmen  in  Ofen  die  Marienkirche  als  wich- 
tigste Position  in  Besitz.  Die  hohe  GeistUchkeit  errichtet  eine  Hochschale  mit 
einer  Akademie,  einem  Seminar  für  Geistliche  und  einem  Convict  für  adelige 
Jünglinge;  zugleich  wird  auch  dafür  Sorge  getragen,  dass  das  Fortbestehen  benann- 
ter Institute  durch  Fundationen,  die  sich  auf  hunderttausende  belaufen,  gesichert 
werde.  Sämmtliche  Pfarrer  Ofens  sind  Jesuiten,  mit  Hilfe  derer  die  Stadt  am 
Bombenplatz  die  St.  Annakirche  erbaute,  die  der  Wasserstadt  als  Pfarre  diente» 
Die  ältesten  Ordensgeistlichen  der  Hauptstadt  waren  die  Franziskaner.  Während 
der  Türkenzeit  war  es  dieser  Orden  allein,  der  die  Befriedigung  der  geistlichen 
Bedürfnisse  der  katholischen  Einwohnerschaft  besorgte.  Nach  Vertreibung  der 
Türken  erhielten  die  Fi'anziskaner  in  Ofen  die  Gamisonskirche,  in  deren  Nähe 
sie  ihr  Kloster  erbauten.  Ebenfalls  in  der  Festung  etablirten  sich  die  KarmeUter, 
der  Orden  der  böhmischen  Ritter  mit  dem  roten  Kreuze,  sowie  auch  die  von 
Pressburg  hieher  übersiedelten  Klarissaschwestem,  in  deren  Kloster  gegenwärtige 
die  Hilfsbeamten  des  Ministeriums  des  Innern  placirt  sind.  In  der  Wasserstadt 
erbauen  Kapuziner,  Franziskaner  aus  Bosnien,  Elisabethiner-Nonnen  aus  Wien,, 
sowie  an  der  Ijandstrasse  Augustiner-Mönche  ihre  Klöster. 

In  Pest  siedeln  sich  zuvörderst  die  ungarischen  Pauliner  auf  dem  Grunde, 
wo  jetzt  die  Universität  ist,  an.  Ihnen  gegenüber,  im  Yersatzamtsgebäude,  welches- 
später  kleines  Seminar  hiess,  placirten  sich  die  Klarissen- Schwestern.  Die  Franzis- 
kaner und  die  Serviten  etablii*ten  sich  da,  wo  sie  jetzt  bestehen  ;  die  Dominikaner,, 
wo  gegenwärtig  das  Kloster  der  englischen  Fräulein  steht. 

Das  Unterrichtswesen  war  zu  Ofen  in  den  Händen  der  Jesuiten,  anfänghoh 
auch  in  Pest.  Hier  aber  treten  an  ihre  Stelle  bald  die  Piaristen,  welche  mit  Hilfe 
der  Stadt  Pest  das  noch  bestehende  Institut  enichten. 

Einer  der  wichtigsten  Faktoren  des  raschen  Aufschwunges  unserer  Haupt- 


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BUDAPEST   VOR   HUNDBRTSIEBZIG   JAHREN.  81 

Stadt  waren  ausser  ihrer  centralen  Lage  auoh  ihre  von  altersher  berühmten  Heil- 
quellen, welche  von  den  Türken  schon  aus  religiösen  Gründen  in  gutem  Stand  erhal* 
ten  wurden,  und  die  bereits  kurze  Zeit  nach  der  Wiedereroberung  zahlreiche  Fremde 
anlockten.  Von  diesen  Bädern  ist  das  älteste  das  bereits  seit  400  Jahren  bestehende^ 
Baitzenbad,  das  wahrscheinlich  noch  aus  der  Zeit  des  Königs  Mathias  stammt. 
Die  einzigen  segensreichen  Spuren,  welche  die  Türken  in  der  Hauptstadt  zurück- 
gelassen haben,  sind  einige  durch  sie  gegründete  Bäder.  Türkische  Statthalter  in 
Ofen  errichteten  das  Bruckbad  im  Jahre  1540,  das  Königsbad  (1560),  das  aber 
seinen  Namen  erst  im  verflossenen  Jahrhundert  von  seinem  Eigentümer  Franz 
König  erhielt ;  fast  gleichzeitig  mit  dem  Königsbade  liese  Sokoli  Mustapha  vom 
Jahre  1566  bis  1579  das  Kaiserbad  erbauen,  das  seinen  heutigen  Namen  von  Kai- 
ser Iieopold  erhielt ;  hiezu  kam  noch  das  <  Jungfrauenbad  i,  welches  heute,  als  am 
Fusse  des  Blocksberges  gelegen,  Blocks  bad  genannt  wird. 

Der  Reichtum  an  Heilquellen  wäre  allein  schon  genügend  gewesen,  dass  hier 
eine  grosse  Stadt  entstehe.  In  der  That  war  derselbe  zu  allen  Zeiten  eine  der 
Hauptnrsachen  des  grossen  Fremdenzuflusses.  Dieser  letztere  Umstand  brachte 
es  wieder  mit  sich,  dass  sowohl  in  Ofen  als  auoh  in  Pest  von  altersher  die  schönsten 
Hänser  sich  im  Besitze  von  Gastwirten,  Bierbrauern  und  Kaffeesiedem  befanden. 
Die  grössten  Gasthäuser  in  Pest  waren  das  Weisse  Schiff,  an  dessen  Stelle  sich 
jetzt  die  Wienergasse  hinzieht,  in  der  Nähe  befand  sich  das  Weisse  Lamm,  femer 
das  gräfliche  Wirtshaus  und  das  Gasthaus  zum  Weissen  Ochsen,  nächst  dem  Kecs- 
kem^ter  Hause. 

Das  erste  KaffeehauR  in  Pest  wurde  Im  Jahi-e  1714  eröffnet ;  sein  Eigentümer 
ist  in  den  städtischen  Eegistem  als  fCavesieder  Blasius,  ein  Bacz  Cath.  Belig. » 
verzeichnet ;  sein  Kaffeehaus  war  ein  solches  von  primitiver  türkischer  Einrich- 
tung. Ein  nach  ausländischer  Mode  fmit  ein  Pilliard»  versehenes  Kaffeehaus 
errichtete  später  der  deutsche  Bürger  Johann  Starck ;  der  erste  Zuckerbäckerladen 
wurde  im  Jahre  1 734  von  einem  Itahener,  Namens  Franz  Bellieno,  eröffnet,  der 
in  den  städtischen  Registern  als  •Zschokoladimacher  und  allerhandt  Wasserbren- 
ner» verzeichnet  ist. 

Ausser  den  Bädern  hat  zum  Aufblühen  der  Stadt  am  meisten  das  Militär 
beigetragen,  da  sie  eine  lange  Periode  hindurch  der  Centralpunkt  der  gegen  die 
Türken  unternommenen  Operationen  war.  In  Ofen  in  der  Nähe  der  Festung,  in 
Pest  an  der  Stelle  des  der  heutigen  Universitätskirche  gegenüber  hegenden  Eck- 
hauses werden  Kanonengiessereien  errichtet.  Provianthäuser  bestehen  in  Ofen 
an  der  Stelle,  wo  später  das  Volkstheater  bestand,  in  Pest,  wo  jetzt  der  Sitz 
der  Curie  ist.  Auf  dem  Grunde,  wo  heute  der  Wurmhof  ist,  befand  sich  ein  Salz- 
amtsgebäude und  an  mehreren  Punkten  beider  Städte  sah  man  den  Bauch  aus 
militärischen  Backöfen  emporsteigen.  In  Ofen  waren  zwei  Pulvertürme,  deren 
einer  1723  in  die  Luft  flog  und  die  Umgebung  des  Stuhl weissenburger  Thores 
zerstörte.  In  Altofen  war  eine  Pulvermühle  und  ein  Salpetermagazin.  Mit  einem 
Worte,  beide  Städte  waren  gleichsam  ein  militärisches  Depot,  als  dessen  noch 
bestehendes  Denkmal  das  von  Karl  dem  Dritten  in  Ofen  erbaute  Zeughaus  bezeich- 
nend ist. 

Der  erste  monumentale  Bau  der  Stadt  Pest,  der  auch  heute  als  solcher 

Ungnbeh«  B«-nie,  XI.  1891.  I.  Heft.  5 


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82 


DIE    KINGA-SAGE. 


zählt,  wurde  ebenfalls  in  jener  Zeit  zn  militärischen  Zwecken  vollendet.  Die  mas- 
siven Mauern  der  nach  dem  Monarchen  benannten  Karls- Kaserne  wurden  «.uf 
dem  (rrunde  der  Serviten  auf  Kosten  der  Kaiserin,  des  Primas  und  der  Bischofs 
1716 — 1727  nach  den  Plänen  des  italienischen  Baumeisters  Martinelli  erbaut.  Eine 
Zeit  lang  diente  dasselbe  als  Invalidenhaus,  später  als  Grenadier-Kaserne,  wovon 
die  anstossende  Grenadiergasse  benannt  wurde. 

Mit  einem  Worte,  seit  1715,  wo  Ofen  und  Pest  zum  Mittelpimkt  der  militä- 
rischen Vorkehrungen  gegen  die  Türken  wurde,  waren  beide  Städte  in  raschem 
Aufschwung  begriffen.  Und  hier  zeigte  sich  der  grosse  Unterschied  zwischen  Tür- 
ken und  westlicheuropäischer  Einwohnerschaft.  An  den  türkischen  Bewohnern 
und  ihrer  Stadt  verriet  nichts  die  ungeheuren  Schätze,  die  hier  in  Circulation 
gesetzt  wurden,  während  die  deutsche  Bürgerschaft  die  günstige  Gelegenheit  zur 
Hebung  ihrer  materiellen  Verhältnisse  und  ihrer  Stadt  benützt. 

Man  behaupte  daher  nicht,  dass  die  Bäder,  die  centrale  Lage  der  Stadt,  der 
hochwichtige  Zug  der  Donau  die  zwei  Städte  dahin  erhoben,  wo  sie  sind.  Denn 
nicht  zunächst  von  solchen  todten  Dingen,  sondern  vor  Allem  von  den  den  Bürgern 
innewohnenden  lebendigen  Kräften  hängt  das  Aufblühen  grosser  Städte  ab.  Auch 
Budapest  hat  es  in  erster  Reihe  dem  viel  verspotteten  prudens  et  circumspectus 
Bürgersinn  zu  verdanken,  dass  es  in  verhältnissmässig  kurzer  Zeit  zu  einer  der 
hervorragendsten  Städte  Europa' s  geworden. 


DIE  KINGA-SAGE. 

Bekanntlich  hat  Momus,  der  schellenkappentragende  lustige  Rat  des  heim- 
gegangenen  Olympes,  bei  der  Stichprobe  der  Machtvollkommenheit  der  um  die 
Schutzherrlichkeit  über  Athen  werbenden  Götter,  als  Vei*ti'auen  geni essender 
Schiedsrichter,  dem  dazumal  neu  geschaffenen  Hause  nachgetragen,  es  tauge  des- 
halb nichts,  weil  es  bei  böser  Nachbarschaft  nicht  könne  vom  Flecke  gerückt 
werden.  Diese  tiefsinnige  Mythe,  welche  den  privilegirten  Schalksnarren  der  weiland 
Himmlischen  ein  grosses  Wort  gelassen  aussprechen  lässt,  berechtig^;  zu  zwei 
wesentlich  verschiedenen  Schlussfolgerungen.  Erstens,  das«^  es  weder  in  der  Voll- 
versammlung der  Götter  jener  Tage,  noch  in  dem  wetteifernden  Concurrentenzirkel 
der  nunmehr  seligen  Unsterblichen  einen  amerikanischen  Ingenieur  gegeben  habe, 
der  bei  der  Verschiebung  eines  auch  mehrstöckigen  Hauses  ebensowenig  Kopfzer- 
brechens bedurft  hätte,  wie  der  gewinnsüchtige  Knabe,  welcher  seiner  beim  Spiele 
zurückgebhebenen  Marmelkugel  durch  einen  unbeachteten  aber  wohl  berechneten 
Ruck  seiner  Fussspitze  ganz  kaltblütig  den  gewünschten  Vorschub  leistet.  Zweitens 
aber  —  und  nun  auch  Scherz  bei  Seite,  lehrt  aus  dieser  nicht  unergötzlichen  my- 
thologischen Episode  tieferer,  dem  practischen  Leben  anzupassender  Sinn,  daas 
die  Nachbarschaft  —  wie  unter  einzelnen  Privaten  so  zwischen  ganzen  Völker- 
schaften —  Verhältnisse  zu  gestalten  vermöge,  deren  social  zersetzender  Natur 
kein  durchgreifend  wirkendes  Heilmittel  Einhalt  zu  thun  vermöge. 

Zum  segensreichen  Glücke  für  die  beiden,  in  weit  ausgedehnten  Grenzzügen 


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DIE   KINOA-8AGE.  ^ 

dch  berührenden  Beiche  Polen  und  Ungarn,  hatte  das  Nachbarschafteverhältniss 
beider  Staaten  jederzeit  ein  so  freundschaftliches  Gepräge  nicht  etwa  zur  trüge- 
rischen Schau  getragen,  sondern  als  zur  vollen  That  bestehend  vorgewiesen,  dass 
es  noch  heutzutage  sprichwörtlich  heisst : 

«W^gier,  Polak,  dwa  bratanki, 
«Jak  do  szabli  tak  do  szklanki  !i 

was  in  freierer  Uebersetzung  etwa  dahin  lauten  würde : 

«Pol'  und  Ungar,  Brüder  sind  es  allzumal 
«Gelt'  es  Schwertesschärfe,  gelt*  es  Zechpokal  !• 

Diese  beiderseitig  volkstünüich  gewordene  Würdigung  des  freundnach- 
barhchen,  treuen  Zusammengehens  im  vielgestaltigen  Wechsel  von  Freude 
imd  Leid,  entsprang  zimächst  —  wir  glauben  keineswegs  zu  viel  behaupten  zu 
wollen  —  den  historisch  nachweisbaren  Beziehimgen  zwischen  der  magyarischen 
Zipser  Grafschaft  und  dem  polnischen,  zur  Krakauer  Wojewodschaft  gehörenden 
Sandecer  Gelände. 

Bis  tief  hinab  in  die  ersten  Uranfange  des  magyarischen  staatlichen  Daseins 
reicht  ja  die  traditionelle  Kunde  von  der,  spätere,  friedhche  Verbindungen  an- 
bahnenden Berührung  beider  Völker.  Schon  Holgowice  nächst  Szlachtowa  weiset 
nach  allgemeinem  Dafürhalten  sowohl  ungarischer  wie  polnischer  Quellenkenner, 
anf  hunnische,  somit  auf  vormagyarische  Siedlungen  am  nördlichen  Karpatenhange, 
folglich  auf  Niederlassungen  der  jenseitigen  Nachbarn  im  Umfange  des  nachträghch 
polnischen  Krongebietes  ^  hin,  und  historisch  ist  der,  während  eingebrochener 
Tatarennot,  von  Ungarn  aus,  unter  dem  Befehle  des  «adleräugigeni  (Jeorg  Tho- 
warski,  dem  Herrn  von  Tarkow  am  Tarcsal,  zwischen  Palota  und  Cobinow  ge- 
leistete, nachdrückliche  Beistand.'  Dieser  tapfere  Degen  war  es  aber  auch,  wel- 
cher über  Befehl  Andreas  III.,  des  letzten  Sprossen  des  Mannsstammes  der  Ärpäden 
wider  den,  mittelst  seines  Anhanges  die  Ruhe  des  Reiches  erschütternden  Pseudo- 
bruder  des  Königs  die  Waffen  ergriff  und  den  Prätendenten  glücklich  zum  Lande 
hinausdrängte,  der  nun  flüchtig,  bei  Kinga,  nach  angeblich  beigebrachten  Beweisen 
der  Vollberechtigung  seiner  verwandtschaftlichen  Ansprüche,  vorübergehend  eine 
mildherzig  zugestandene  Zufluchtsstätte  sich  gewährt  sah.  * 

Bei  diesem  Ereignisse,  das  beide  Länder  berührt,  angelangt,  fragen  wir 
weder  nach  den  ferneren  Geschicken  des  von  seiner  bisher  eingeschlagenen  Bahn 

^  Morawski:  «Sandecozyzna»  d.  L  «Das  Sandezer  Gelände.!  Krakau  1863. 
8.  p.  21. 

*  Ideni:  ibid.  p.  164. 

•  Szajnocha:  «Szkice  historj'czne »  d.  i.  «Historißche  Skizzen»  Lemberg.  1854. 
p.  45.  No  78,  wo  die  Urkunde  vom  Datum  Korczyn  2.  März  1257  wörtlich  ange- 
führt wird,  kraffc  welcher  imter  Andern  von  einer  «Donatio  terre  Sandecensis  usque  ad 
metam  Himgari»  cum  theloneo  in  Poprad*  ausdrücklich  die  Bede  ist.  Szajnocha  bemerkt 
ausdrückhch,  diese  Urkunde  nach  einer  amtlich  beglaubigten  Copie  zu  bringen, 
<lie  sich  im  Besitze  des  gräflich  Ossolinskischen  Nationalinstitutes  zu  Lemberg  befindet 
and  dem  Frauenkloster  in  Altsandec  entstammen  soll. 

6* 


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84  DIE    KINGA-SAGB. 

80  kläglich  Verdrängten,  auch  lassen  uns  die  frühzeitig  nachweisbaren,  durch  lan- 
desfürstliche,  beiderseits  erteilte  Freiheitsbriefe  geförderten  commerziellen  Be- 
ziehungen zwischen  diesen  Teilen  des  Piasten-  nnd  Ärpädenreiches,  bei  welchen 
auch  der  Poprad,  als  bequeme  Wasserstrasse  seinen  Teil  beansprucht,  deshalb 
unberührt,  weil  eben  unser  Augenmerk  ausschhesslich  nur  auf  die  genannte 
Einga  sich  concentrirt,  welche  zum  fesselnden  Mittelpunkte  der  weit  verbreiteten 
und  um  so  schöneren  Volkssage  geworden  ist,  als  in  der  letzteren  Wahrheit  und 
Dichtung  nicht  derart  in  einander  aufgegangen  sind,  um  nicht  in  belehrender 
Weise  wahrnehmen  zu  können,  wie  die  geschäftige  Phantasie  des  Volkes  Zettel 
und  Einschlag  des  traditionell  auf  uns  gekommenen  Gewebes  gesponnen  und  auf 
ihren  Webestuhl  gebracht  hatte. 

Demgemäss  gliedert  sich  auch  die  vorliegende  Besprechung  der  Einga-Sage 
wie  von  selbst  und  ganz  naturgemäss  in  drei  von  einander  scharf  geschiedene 
Teile.  Wir  meinen  in  den  Wortlaut  der  Sage  selbst,  in  die  geschichtüch  begründete 
Darstellung  des  zu  dieser  Sage  den  Anstoss  gebenden  factischen  Thatbestandes  und 
in  die  Darlegung  der  Umgestaltung  des  letzteren  durch  die  «sancta  simplicitasi 
des  köhlergläubischen,  wimdersüchtigen  Volkes. 


Die    Sage. 

Vor  vielen  hundert  Jahren  —  so  spricht  der  redselige  Mund  der  Sage  — 
gab  es  in  Ungarn  einen  gar  mächtigen  König,  reich  gesegnet  an  den  kostbarsten 
Schätzen  aUer  Art.  Stadt  imd  Land  steuerten  Jahr  aus  Jahr  ein  immer  wieder 
bei,  seinen,  in  tiefen  und  festen  Gewölbem  hinter  siebenfachen  Schlössern  imd 
Biegein  liegenden  Eronschatz  in  das  Fabelhafte  zu  mehren.  Er  berühmte  sich  aber 
bei  allem  dem  auch  noch  stolz,  der  Herrscher  eines  Beiches  zu  sein,  in  dessen 
weitem  Umfange  nicht  allein  hochbegabte  Menschen,  sondern  auch  die  ge- 
heimnissvollen Tiefen  der  Berge  seinen  Diensten  huldigen,  indem  letztere  Ku- 
pfer, Silber,  ja  sogar  Gold  und  —  was  allem  Anderen  vorgehe,  das  vielbegehrte, 
weil  unentbehrliche  Salz  in  unglaubhchen  und  unerschöpflichen  Massen  zur  Ver- 
fügung stellen.  Und  dieser,  mit  Erdengütem  aller  Art  so  namenlos  gesegnete  Eönig 
von  Ungarn  hatte  nur  eine  einzige  Tochter,  ein  wahres  Musterbild  weiblicher 
Schönheit,  zugleich  auch  von  Gott  begnadeter  weibUcher  Vollkommenheit,  deren 
persönhcher  Liebreiz  viel  gepriesen  war,  weit  hinaus  über  des  ausgedehnten  Beiches 
Grenzen.  Viele  meinten,  diese  Prinzessin  allein  wiege  des  königHchen  Vaters  Beich- 
tümer,  so  gi'oss  dieselben  immerhin  seien,  vollständig  auf  und  so  meldeten  sich 
frühzeitig  der  Freier  viele,  für  welche  Beides  verlockend  war,  die  Eönigstoohter 
uud  ihr  Malschatz. 

So  jugendlich  männhch  schön,  so  ritterhch  und  ebenbürtig  auch  die  sich 
meldenden  Freier  waren,  Einga  begünstigte  lange  Zeit  keinen  derselben  und  auch 
der  könighche  Vater  schien  nicht  im  entferntesten  daran  zu  denken,  von  seinem 
vielbegehrten  und  viel  umworbenen  Einde  sich  zu  trennen.  Da  sprachen  eines. 


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DIE    KINGA-SAOE.  ^ 

'Tages  die  Oeeandten  eines  benachbarten  polnischen  Prinzen  vor  und  verstanden 
68  nur  zu  gut,  ihre  Werbung  in  des  Letzteren  Namen  so  zur  Geltung  zu  bringen, 
dass  Vater  und  Tochter  sich  bestimmt  fanden,  auf  den  gestellten  Antrag  einzugehen. 
Es  flogen  nun  Boten  hin  und  her,  die  Bande,  welche  Neigung  und  Staatsklugheit 
zur  Hand  gegeben,  fest  zu  knüpfen  und  endlich  erschien  auch  der  Auserwählte  per- 
sönlich und  übertraf  im  Erscheinen  und  Oebahren  den  ihm  vorausgegangenen 
günstigen  Ruf.  So  wurde  denn  zur  Hochzeit  gerüstet  und  der  Tag  derselben  prunk- 
voll begangen. 

Als  die  Stunde  schlug,  wo  das  viel  beneidete  Paar  in  das  eigene  Heim  ziehen 
sollte,  fiel  die  Königstochter  dem  tiefgerührten  Yater  demütig  zu  Füssen,  um 
seinen  Abschiedssegen  zu  erflehen.  Da  bot  ihr  derselbe  viel  Geldes  imd  Goldes, 
damit  sie  als  wohlthätige  Spenderin  hilfreicher  Gaben  die  Herzen  des  Volkes  ge- 
winne, dessen  Landesmutter  sie  nunmehr  geworden  war.  Sie  aber  meinte :  c  Lieber 
€  Vater  I  Gold  und  Geld  verhelfen  mir  nicht  zu  der  Liebe  meines  Volkes,  das  — 
«wie  ich  höre,  beraubt  ist  der  nothwendigsten,  weil  unentbehrlichsten  Gottesgabe, 
«des  Salzes.  Dein  Beich  hat  der  gnädige  Himmel  damit  so  sehr  gesegnet,  dass  der 
«Ueberfluss  in  fremde  Länder  fortgeführt  wird,  zu  Wasser  und  zu  Lande,  der 
«Armen  drückenden  Bedarf  zu  stillen.  Behalte  daher  dein  Gold  und  dein  Geld  und 
«schenke  mir  als  Brautschatz  nur  Einen  Schacht  deiner  Marmaroscher  Salzberg- 
« werke,  damit  ich.  gläubigen  Herzens  auf  Gott  vertrauend,  was  er  bergen  mag, 
«hinüberleite  nach  der  Heimat,  als  ein  trostreiches,  weil  rettendes  Geschenk  für  die 
notleidende  Armut !»  — 

Und  innig  bewegten  Herzens  beugte  sich  der  König  über  sein  vor  ihm 
knieendes,  engelmildes  Kind,  blickte  tränenfeuchten  Auges  in  dessen  holdes  An- 
gesicht schloss  es  in  seine  Arme,  zog  es  an  seine  Brust  heran,  in  welcher  es  wonnig 
hämmerte  imd  sprach,  einen  väterlichen  Kuss  auf  die  Lilienstime  drückend,  mit 
zitternder  Stimme :  «Gott  sei  mit  Dir  und  gewähre  Deinem  barmherzigen  Wollen 
seinen  besten  Segen,  wie  Dein  Vater  Dir  in  diesem  Augenbhcke  seinen  besten  Segen 
ertheilt,  für  alle  Zeiten  Deines  Erdenwallens,  in  diesem  Augenblicke,  wo  das 
Weh  des  Scheidens  auf  immer,  so  schwer  auf  uns  Beiden  lastet.  • 

Und  so  zog  Kinga,  mit  zahlreichem  Gefolge,  weit  hin  zu  den  unerschöpflichen 
Salzbergwerken  der  Marmarosch,  barfuss  und  den  Pilgerstab  in  der  Hand,  sie  und 
ihre  Begleitung,  um  des  Himmels  ersehnte  Gnade  sich  zu  sichern.  An  Ort  und 
Stelle  gelangt,  befahl  sie  der  Arbeiter  vollen  Zahl  einen  weiten  Kreis  um  sich 
herum  zu  bilden  imd  fragte  sie.  welcher  Schacht  und  welches  Stollengebiet  den 
ergiebigsten  Bergsegen  zu  Tage  fördere.  Man  zeigte  ihr  diesen  und  herantretend 
an  dessen  Tagesmündung,  nahm  sie  denselben  als  väterliches  Geschenk  für  sich 
als  ausschliessüchen  Eigenbesitz  in  Ansprach  und  ihren  Ehering  vom  Finger  strei- 
fend, warf  sie  denselben  in  die  gähnende  Tiefe,  worauf  sich  der  Boden  sogleich 
über  der  bisherigen  Oeffnung  von  selbst  zusammenwölbte.  Ein  heiliger  Schauer 
bemächtigte  sich  der,  erstaunten  Bückes  diesem  Wundervorgange  Zusehenden  und 
Alle  fielen  fromm  in  die  Kniee,  die  Gnade  des  Himmels  preisend,  welche  zu  er- 
kennen gegeben,  wie  sehr  Kinga's  Begehren  das  Wohlgefallen  desselbon  er- 
rungen habe. 

Den  Wanderstab  zuerst  an  diese  von  Gott  offenbar  geheiligte  Steile  setzend 


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86 


DIE   KINGA-SAGE. 


und  mit  ihm  den  onterirdischen  Schatz  gleichsam  an  ihrer  Füsse  Sparen  fessehid^^ 
und  nach  sich  ziehend,  begann  Einga  die  rauhe  Fusspilgerechaft  über  das  Oehänge 
der  Karpaten,  gegen  Erakau,  des  jungen  Gemahles  fürstliche  Residenz.  Mit  Einga 
zogen  Einige  der  Marmaroscher  Bergbaukundigen  mit  und  sechs  Meilen  vor 
Erakau  machte  sie,  gleichsam  einer  höheren  Eingebung  folgend,  bei  dem  Dorfe 
Bochnia  Halt  und  liess  an  dem  Orte,  dessen  Schacht  heute  noch  ihren  Namen 
trägt,  einschlagen.  Und  siehe,  bereits  in  äusserst  geringer  Tiefe  stiessen  die  mit 
Haue,  Erampen  und  Schlägel  arbeitenden  Bergleute  auf  ein  festes  Salzgestein  und 
als  sie  den  ersten,  freudig  heraufgehobenen  Block  zerkleinerten,  fanden  sie  den 
goldenen  Ehenng  wieder,  den  Einga  vor  ihren  Augen,  vor  Wochen  in  den  Mar- 
maroscher Schacht  geworfen. 

Seit  jenem  Tage  fördert  man  dort  den  reichsten  Bergsegen  fort  und  fort  zu 
Tage,  so  dass  an  Stelle  des  ärmlichen  Dorfes  bald  eine  wohlhabende  Stadt  trat  und 
unter  derselben  gleichfalls  die  Gassen  sich  kreuzen  und  Namen  führen  und  in  ge- 
räumige Plätze  münden,  wo  die  rastlos  geschäftigen  Hände  des  gewerkkundigen 
Enappen  zu  jeder  Tages-  und  Nachtzeit,  bereits  Jahrhunderte  hindurch  unermüdet 
sich  regen,  um  dem  unendlich  fruchtbaren  Schosse  des  Bodens  die  unentbehrliche 
Würze  für  Arm  und  Reich  zu  entnehmen  und  selbst  hinauszusenden  in  die  Weiten, 
Kinga's  Andenken  in  frommer,  von  Geschlecht  auf  Geschlecht  forterbender  Dank- 
barkeit zu  segnen. 

Selbst  aber  fand  sich  Einga  dem  ehelichen  Glücke  nur  zu  bald  entrückt  und 
bezog,  seit  der  Witwenschleier  über  ihres  Hauptes  Scheitel  herabfloss,  das  Elarisse- 
rinnenkloster  zu  Altsandec,  wo  sie  wenige  Jahre  darauf,  im  Rufe  wunderthätiger 
Heiligkeit  zur  ewigen  Ruhe  ging,  um  noch  in  ihren  sterbUchen  Resten  der  Gegen- 
stand allseitiger  Verehrung  zu  seiij. 

So  die  Sage,  noch  heute  rings  in  der  Umgegend  und  weit  über  dieselbe  hin- 
aus fortiebend,  wie  sie  der  siebenzigjährige  Schreiber  dieser  Zeilen  in  den  Tagen, 
wo  er  in  jenen  Gegenden  als  lebensfroher  Enabe  sich  herumgetummelt,  beim  pras- 
selnden Eaminfeuer  langer  Winterabende  vielfach  erzählen  hörte  und  gläubig 
hinnahm.  Mit  heiliger  Scheu  betrachtete  er  sodann  die  rings  den  Elosterhof  be- 
schattenden Lindenbäume,  zu  denen  sich  Einga's  und  ihres  Gefolges  in  die  Erde 
gesteckten  Wanderstäbe  sollten  herausgewachsen  haben  und  der  nordösthch 
ausserhalb  der  Elostermauer  sprudelnde  Quell,  den  Kinga  soll  aus  dem  Boden  ge- 
schlagen haben,  wurde  von  dem,  so  manchen  Schelmenstückes  sich  schuldig  fühlen- 
den Wildfange  weit  umgangen. 

Will  aber  erörtert  und  klargelegt  werden,  wie  dieser,  kindermärchenhaft 
klingenden  Tradition  gegenüber 

n. 

Die  Geschichte 

sich  verhalten  und  selbst  bewusststellen  könne,  so  werden  wir  angesichts  der  mitt- 
lerweile thatsächlich  vor  sich  gegangenen  Heiligsprechung  der  uns  beschäftigenden 
Eönigstochter,  aus  zweifachen  Quellen  schöpfen  müssen,  aus  einer  profanen  und  — 
so  weit  dies,  bei  aller  Hochachtung  für  die  «unsterblichen*  Bollandisten  und  ihr- 


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DIE   KINGA-SAGE.  87 

wissenschaftliches  Wirken,  mit  timsichtiger  Reserve  geschehen  kann  —  aus  eccle- 
siafitischen. 

Die  skeptisch  kaltblütig  und  unbeirrt  objectiv  zu  Werke  gehende  Profan- 
geschichte meldet  über  die  Ereignisse,  die  wir  in  dem  Sagenberichte  sich  um 
Einga  gruppiren  sehen,  Folgendes  : 

B61a,  seines  Namens  der  Vierte  (1235 — 70),  der  Nachfolger  Andreas  11.  und 
Vorgänger  Stephan's  V.,  der  Einundzwanzigste  der  ungarischen  Königsreihe,  be- 
sass  mehrere  Töchter,  darunter  Einga,  nach  latinisirender  Benennung  auch  Cune- 
gnndis  geheissen,^  die  älteste  war,  und  allem  Anscheine  nach  1224  das  licht  der 
Welt  erblickt  hatte.'  Schon  1 239,  somit  in  dem  zarten  Alter  von  fünfzehn  Jahren, 
wurde  sie  mit  dem,  lediglich  um  drei  Jahre  älteren  Boleslaw  dem  Schamhaften, 
dem  Fürsten  von  Sandomir  und  des  ausgedehnten  Krakauer  Geländes  vermählt 
und  brachte  dem  jugendlichen  Ehegemahle  den  für  jene  sowie  für  unsere  Zeit  sehr 
namhaften  Malschatz  von  Vierzigtausend  Mark  Silbers  oder  Vierthalb  Millionen 
Gulden  heutigen  Geldes  zu." 

Und  König  B^la  that  sich  mit  dieser  grossartigen  Aussteuer  seiner  allgemein 
gepriesenen  und  alle  Herzen  bezaubernden  und  nahezu  von  Jedermann  fast  ver- 
götterten Tochter  schon  deshalb  keinesfalls  wehe,  weil  dieser  sogar  in  seinen 
dffenthchen  Urkunden  ganz  rückhaltslos  bekannte,  an  allerhand  Schätzen,  wie  auch 
an  Gold  und  Geld  mehr  als  übergenug  zu  besitzen.*  Dass  aber  Er,  der  mächtige 
Gebieter  über  ein  weitgestrecktes,  von  der  Natur  verschwenderisch  gesegnetes 
Beich,  sein  theures  Kind,  den  —  trotz  aller  Jugend  —  mit  aussergewöhnlichen 
Vorzügen  des  Körpers,  Geistes  und  Herzens  bedachten  Liebhng  des  Volkes  und 
Sprossen  eines  alten  und  ruhmvollen  Königsgeschlechtes,  einem  —  vergleichs- 
weise —  tief  unter  ihm  stehenden  Fürsten  zur  Ehe  zu  geben,  gleich  bei  der  dies- 
Mligen  Werbung  des  Letzteren  durch  Klimunt  den  Castellan  und  Janusz  den 
Wojewoden  von  Krakau  sich  entschloss:  dazu  hatten  wohl  zumeist  gewichtige,  das 
Wohl  des  eigenen  Kelches  im  Auge  behaltende  Motive  das  Zünglein  der  Wagschale 
i^wischen  «Ja  oder  Nein»  zu  Gunsten  des  Freiers  niedergezogen. 

Keineswegs  das  geringste,  wenn  nicht  sogar  den  entscheidenden  Ausschlag 
veranlassende  dieser  Motive  war  wohl  die  seit  einigen  Jahren  immer  wieder  auf- 

*  «Kinga»  und  «Gunegundis»  ist  urkundlich  beglaubigt  In  den  «Acta  Sancto- 
nim»  der  Boütmdisten,  JuH  V.  661  begegnet  uns  der  erstere,  wahrscheinlich  als  ein- 
heimiflch'nationaler  und  daher  vorzuziehender  Name. 

'  Ueber  das  Jahr  der  Geburt  Kinga's  stossen  wir  auf  divergirendes  Dafürhal- 
ten. Bei  ÜlugoHZ  (VI.  663)  wird  1205  genannt,  und  dann  wieder  1234.  Katona^  Hist 
crit  V.  437  aber  setzt,  aller  kritisch  verfechtbaren  WahrscheinUchkeit  folgend,  1224 
an,  welches  Jahr  auch  bei  den  BoUandisten  (1.  c.)  Au&iahme  fand.  (JuU  V.  673.) 

*  Nach  DliigoHz  Hist.  VI.  663.  Die  Reduction  auf  den  heutigen  Geldwert  voll- 
zog Szajnocha  1.  c.  p.  35  nota  7  nach  Czackis  Tabellen  in  dessen  1843  herausgegebe- 
nen Werken  (I.  p.  201.) 

*  Siehe  die  betreffende  Urkunde  des  Jahres  1238  bei  Katona,  Hist.  crit.  V.  822. 
c  Verum,  quum  noe  et  nostros  nee  honoris  ambitio,  nee  diuitiamm  oupiditas,  quse  nobis 
divina  gratia  largiente  abundanter  stmt  concessa,  sed  salus  animarum  ac  apostoUcae 
sedis  devota  ad  hsec  exsequenda  pro  viribus,  inducati  etc.  etc. 


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38  DIE    KINOA-8AGE. 

tauchende,  weit  and  breit  Alles  in  beillosen  Sohreoken  versetzende,  weil  geglaubte, 
wie  später  leider  auch  verwirklichte  Kunde  von  einem  bevorstehenden  Mongolen- 
oder TatareneinüaUe/  Für  diesen  gefurchteten,  das  Aufbot  aller  verfügbaren 
Widerstandsmittel  beanspruchenden  Fall,  versprach  diese  Verbindung  durch  das 
Hinübergreifen  verwandtschaftlicher  nationaler  Verhältnisse  nach  Botreussen' 
«ine  Vormauer  für  Ungarn  zu  schaffen,  geeignet,  den  Wogenschwall  der  heran- 
flutenden  Gefahr  so  zu  brechen,  dass  von  der  verheerenden  Wirkung  ihres  An- 
sturmes Ungarn  verschont  bleibe.  Der  bedeutende,  der  Tochter  mitgegebene  Braut- 
schatz hätte  somit  in  B^la's  IV.  Augen  vorwaltend  die  Bestimmung  gehabt,  die 
namhaften  Kosten  der  in  erster  Linie  den  Ländern  der  Stephanskrone  zu  Gute 
kommenden  Büstungen  decken  zu  helfen.*  Und  als  der  Feind  1241  thatsäohUch 
vor  Sandomir  und  vor  Krakau  seine  riesigen  Schwärme  sengen  und  brennen  und 
rauben  und  morden  Hess,  da  leistoten  die  Polen  ehrenhaft  das  Möglichste,  kämpften 
und  bluteten,  Hessen  aber  das  teuere  Leben  am  13.  Febmar  *  und  im  März  ^  ver- 
gebUch.  Ungarn  war  dem  unwiderstehlich  gewordenen  Feinde  durch  die  verhäng- 
nissvollen Niederlagen  zugänghch  geworden,  der  sich  nicht  allein  durch  die  heutige 


^  «Gf.  fRecueil  de  voyages  et  de  memoires,  publik  par  la  soci^t^  de  G^grapliie» 
Pariß  1839.  V.  p.  213  und  603. 

'  Der  von  den  Bewohnern  von  Botreussen  den  Tataren  thateächlich  geleis- 
tete, von  aller  Welt  und  voraus  von  dem  Feinde  selbst  mit  Staunen  anerkannte 
und  bewimderte  Widerstand,  wird  bezeugt  bei  Schwandtner  88.  rer.  Hung.  HL 
p.  601. 

*  Zu  dieser  Vermutung  berechtigen  die  Worte  des  Herzogs  Boleslaus  in  der 
8ub  Nota  3  hier  bezogenen  Urkunde.  Sagt  er  doch  darin:  «Qu»  (Cunegundis),  impe- 
«rante  Deo  temporalis  sufi&agii  adminicula  nobis  tempore  nostrse  permaximse  neoessi- 
«tatis  prestitit  copiose,  ut  ex  his,  quse  subneotuntur,  Uquebit  luculenter.  Cum  enim 
«temxK)re  malo,  permittente  Deo  peccatisque  nostris  exigentibus,  Tartari  terrae  nostraß 
«nobis  subjectas  mucrone  crudeli  depopulati  fuissent,  terramque  subita  et  inopinate 
«debriassent  (siel)  profluvio  sanguinis  Ghristiani,  demumque  pereunte  cultore  omnia 
«deperiisse  viderentur;  nobis  more  principali  ac  magni&centia  omnibus  gratiosissima 
«imperare  non  liceret  dumque  nihil  perfunctoriarum  pecuniamm  sub  duro  cordis 
«lapide  et  sitibundo  et  avaritise  sestu  in  thesauris  nostris  lateret,  magisque  nobilis 
«militiae  oohorte,  ex  insolitse  largitatis,  imo  laudabilis  prodigaUtatis  innata  generositate, 
«quam  divitiarum  cumulo  stipati  gauderemus,  ac  ob  id  consequenter  ad  notabilem 
«inopiam  fuissemus  devoluti  ex  eo,  quod  stipendia  soUta  militise  nostrse  imde  solvere- 
«mus,  penitus  non  inveniremus,  et  ex  prsemissis  ssapedicta  venerabilis,  gloriosa  Domina 
«consors  nostra  charissima  cemens  nos  plurimum  anxiari  in  inefifiabili  et  infaUibili 
«glutino  ferirdse  charitatis,  quo  nostris  affeotibus  jugiter  inhsesit,  ooncitata,  oompatiens 
«ex  intimis,  ssepediotas  pecunias  seu  dotalitii  per  plures  vices  in  pensionem  stipendio- 
«rum  jamdictorum,  largiflue  exhibnit»  etc.  etc. 

*  Dlwjosz  Hist  Vn.  p.  671. 

^  Dieses  Datum  erscheint  nicht  kritisch  richtig ;  doch  würde  die  hierauf  ein- 
gehende Beweislieferung  zu  weitläufig  werden,  um  hier  eingeschaltet  Iverden  zu  kön- 
nen. Bemerken  wiU  ich  nur,  dass  die  «Dominica  in  albisi  nicht,  wie  Szajnocha  1.  o. 
p.  13.  meint,  der  letzte  Sonntag  vor  dem  Palmsonntage,  sondern  der  erste  Sonntag 
nach  Ostern  ist. 


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DIE    KINGA-SAGE.  89 

Bukowina/  sondern  auch  von  Norden  aus  durch  Mähren  unaufgehalten  dahin 
•ergoss  '  und  am  Saj6  durch  seinen  sprichwörtlich  gewordenen,  furchtbaren  c  Ta- 
tarentanz t  in  den  Blättern  der  ungarischen  Geschichte  blutig  sich  verewigte.^ 

Während  dieser  traurigen  und  folgenschweren  Vorgänge  scheint  Herzog 
Boleslaw  und  Einga,  dessen  Gemahlin,  in  dem  mährischen  Gisterzienserkloster 
zu  Welehrad  vorübergehend  eine  sichere  Zufluchtsstätte  gefimden  zu  haben/  so- 
dann, nach  des  Feindes  Wegziehen,  in  Ungarn,'^  schliessHch  aber,  dem  Land- 
frieden wenig  trauend,  in  dem,  der  ungarischen  Grenze  nahen,  am  rechten  Ufer 
des  Dunajec  gelegenen  festen  Schlosse  zu  Neu-Sandec/  Von  diesen  Tagen  an 
waren  aber  die  Tataren  in  imverhältnissmässig  kurzen  Zeitzwischenräumen 
wieder  vorsprechende  Gtäate  der  Polen,  bei  denen  der  glühende  Wunsch,  um 
^inen  warmen,  der  dauernden  Erinneruug  forderUchen  Empfang  nicht  verlegen  zu 
werden,  es  mit  sich  brachte,  dass  die  ritterliche  Jugend  des  Landes  —  bei  sorgfaltig 
betriebener  Unterweisung  in  flinker  und  nachdrückUcher  Handhabung  der  ver- 
schiedenen Schutz-  und  Trutz wxffen  —  frühzeitig  angeleitet  wurde,  wie  später 
anderwärts  gegen  den  auf  einen  Pfahl  gesteckten,  beweglichen  Türkenkopf,  so  von 
nun  an  gegen  ein  derartiges  Tatarenhaupt  schiessen,  rennen,  hauen  und  stechen 
zu  lernen. 

Gleichzeitig  mit  dem  berührten  Mongolen-  oder  Tatareneinfalle,  weil  nur 
mn  Ein  Decennium  später,  setzt  die  Geschichte  die  Eröffnung  des  Bochniaer  Salz- 
bergwerkes. Nach  dem  Zeugnisse  des  polnischen,  trotz  aller  Verdächtigungen  bei 
der  Ansetzung  der  kritischen  Sonde  höchst  verlässlich  erscheinenden  Geschichts- 
schreibers Dlngosz,^  wurden  schon  seit  unvordenklichen  Zeiten  die  auf  den  Grün- 
den von  Bochnia  zu  Tage  tretenden,  überreich  quellenden  Solenspenden  zur  Berei- 
tung von  Koch-  oder  Sudsalz  in  Pfannen  ^  benützt,  während  Wieliczka  neben  sol- 
cher Salzgewinnung  seit  langem  bereits,  aber  in  imzureichender  Menge  Salz  zu 
Tage  förderte,  was  aber  nicht  die  Folge  des  spärlichen  Bergsegens,"  wohl  aber  der 

^  Roger  oarmen  miserabüe,  bei  Schwandtner  I.  302.  Inter  Busciam  et  Cuma- 
niam  per  Silvas  trium  diermn  pervenit  ad  civitatem  Budanam  (Bodna),  d.  i.  durch 
den  Bukovinaer  Wald  und  die  Moldau,  das  damalige  Eumanien. 

■  Boger  1.  c.  L  202. 

*  Ideni  ibid.  p.  307  und  Hist.  Salonit  bei  Schwandtner:  HI.  604:  •  Uni  versa 
-exercitus  Tartarorum  multitudo  velut  qusedam  chorea  circumdedit  omnia  castra 
Üngaromm.! 

^*  Dlugosz  Hist.  VIII.  675  sagt  «in  quodam  claustro  Cisterciensi»,  doch  begabte 
Herzog  Boleslaw  später  das  Erlöster  Welehrad  mit  dem  Bezüge  von  50  Blöcken  Salz 
aus  den  Werken  zu  WieUczka.  A.   Wolny,  Kirchliche  Topographie  Mährens  VI.  444. 

*  Szajnocha:  1.  c.  p.  20. 

*  Ideni:  ibid. 

'  Dlugosz  Hist.  I.  14. 

^  Im  mittelalterUohen  Latein  «caldar,»  nach  Du  Gange  Glossarium  medise  et 
Infimff  latinitatis  IH.  41  Caldarium,  vas  ex  aere  caldario,  in  quo  aqua  igni  admovetur, 
^aldariae  ad  coquendum  salem. 

'  Der  Name  deutet  eben  auf  den  Salzreichtum  hin.  Urkundlich  in  ältester 
JSeit  csal  magnimi»  genannt,  weiset  dies  auf  das  Polnische:  «wielet  viel,  also  auch 
•auf  wielka  d.  i.  viel  und  gross  hin. 


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IK) 


DIE    KINGA-8AGE. 


schwerfälligen  uDd  mit  imzulänglichen  Kräften  betriebenen  Benützung  oder  Ans- 
beutiing  dieser  unerschöpflichen  Ablagerung  an  fossilem  Salze  gewesen  zu  sein 
scheint.  Und  der  Herzog  Boleslaw  selbst  besagt  in  der  Urkunde  vom  6.  Dezem- 
ber 1 279,  womit  er  die  Krakauer  Cathedralkirche  mit  jährlichen  200  Mark  Silbers 
ans  den  Erträgnissen  des  Bochniaer  Salzbergwerkes  bedenkt,  ausdrückhch,  dasselbe 
sei,  was  dessen  Steinsalzschätze  betreffe,  während  seiner  Zeit  aufgeschlossen 
worden/  Da<?egen  verlegen  die  gleichzeitigen  Aimalisten  den  Zeitpunkt  des  Er- 
schluspes  übereinstimmend  in  das  Jahr  1251.* 

Dass  hiebei  die  Gemahlin  des  Herzogs  Boleslaw  von  Sandorair  und  Krakau,. 
die  ungarische  Königstochter  Eanga,  in  Person  mitgewirkt  habe,  wird  in  den 
unverfönglichen  histoiischen  Quellen  nirgends  erwähnt  und  ihre  Teilnahme 
an  der  Eröffnimg  des  Bochniaer  Steinsalzbergwerkes  kann  vom  historischen  Stand- 
punkte aus  nur  dahin  verstanden  werden,  dass  zur  entsprechenden  Inbetrieb- 
setzimg  der  vielversprechenden  Fundgrube,  der  bei  den  Rüstungen  wider  de 
Tataren  glückücherweise  nicht  aufgebrauchte  Rest  der  splendiden  väterUchen  Mit- 
gift zu  weiterer  praktischer  Verwertung  gebracht  worden  sei. 

Die  schöne,  den  leichtfertigen  Wunderglauben  so  gar  naiv  in  Anspruch 
nehmende  Legende  von  der  Besitznahme  eines  Marmaroscher  Schachtes  durch  die 
Selbstinvestitur  des  hineingeworfenen  Ringes  '  und  somit  selbstverständlich  die 
weitere,  sagenhafte  Hei-überleitung  des  derart  in  das  Eigentum  übergegangenen? 
unterirdischen  Reichtumes  in  das  Krakauer  Gelände,  namentlich  nach  Bochnia, 
finden  wir  nur  bei  den  Bollandisten  —  denen  es  ausgemachte  Sache  zu  sein  scheint,* 
wenngleich  das  nahezu  vierhundert  Jahre  später  (1629),  d.  i.  vor  Kinga's  HeiUg- 
sprechung  vorgenommene  Zeugenverhör  eben  nur  nach  der  Sage  formulirte  und 
von  dem  leichtgefangenen,  starrgläubigen  Volke  festgehaltene,  daher  keineswegs 
zu  unanfechtbarem  historischen  Rechte  bestehende  Daten  liefern  konnte. 

Ganz  anders  gestalten  sich  die  Verhältnisse  bei  der  Erörterung  der  Frage 
betreffs  der  Wahl  des  Witwensitzes  Kinga's  in  einem  Frauenkloster,  wo  sie  als 
Nonne  das  Leben  im  Rufe  der  Heiligkeit  beschlossen  habe.  Denn  hiebei  finden  wir 
uns  im  Besitze  mancher  unanfechtbaren  Zeugnisse  für  die  Berechtigung  zu  posi- 
tiver Bejahung  dieser  Frage.  Besitzen  wir  doch  heute  noch  jenes  kostbare  Docu- 
ment,  welches  Kinga  1280,  somit  während  ihres  ersten  Witwenjahres,  in  der  Octave 

^  Nach  einer  amtlich  beglaubigten  Copie  des  Lemberger  Osßolinßki'schen  National- 
in stitutes. 

*  Der  nunmehr  verstorbene  BibUothekar  des  Lemberger  Ossolinski'schen  National- 
institutes, August  Bielüwszki  besass  eine  —  gegenwärtig  unbekannt  wo?  aufbewahrte 
Sammlung  derartiger  handschriftlicher  Jahrbücher,  in  denen  es  übereinstimmend  ver- 
lautet: MCCLI.  sal  durum  (zum  Unterschiede  des  Sudsalzes)  in  Bochnia  repertum 
est,  wobei  von  einigen  Chronisten,  in  Bezug  auf  die  geglaubte  Tradition  über  die 
Hertiberleitimg  des  Salzstockes  aus  der  Majmarosch  hinzugefügt  wird  Mquod  nunquam 
ante  fuit.» 

^  Nach  Du  Cantje  1.  c.  HI.  1556;  HI.  1523  und  1528  gab  es  eine  Investitur 
per  pileum,  per  terram  et  per  annuliim. 

*  A.  a.  O.  wobei  noch  hinzugefügt  wird :  Et  res  qiiidem  tunc  acta  locum  magis; 
quam  serium  habere  a  circumstantibus  visa  est. 


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DIE   KINGA-SAGE.  ^I 

des  Festes  der  Apostelförsten  Peter  und  Panl  ausgestellt  hat,  um  das  zu  dem 
eigenen  Witwensitze  bestimmte,  neu  zu  begründende  Elarissinenkloster  zu  Alt- 
sandec  zu  stiften,  nachdem  diese  Gründung  und  Stiftung  die  Genehmigung 
des  Cardinaldiakones  Mathias  in  Portion  S.  MarisB,  als  obersten  Schutzherm  der 
verschiedenen  Franziskanerordensverbrüderungen  und  des  Graner  Franziskaner- 
ordensprovinziales  Stephan  erhalten  hatte.  Nicht  mehr  und  nicht  weniger  als  die 
Einkünfte  von  dreissig,  in  der  Nähe  von  Altsandec,  dem  projectirten  Kloster- 
standorte, sowohl  an  den  beiderseitigen  Ufern  des  Poprad  wie  des  Dunajec  ge- 
legenen Ortschaften  sollten  zur  Aufrechterhaltung  dieses  frommen,  sowohl  zum 
eigenen,  als  des  verewigten  Gemahles  Seelenheil  zu  errichtenden  Gotteshauses 
dienen.* 

Zweitens  wird  ausdrücklich  bezeugt,  dass  bei  dem  1:287  wiederholten  Ta- 
tareneinfalle das  Altsandezer  Elarissinenkloster  zwar  noch  nicht  vollendet  gewesen 
sei,  wohl  aber  die  Stadt  in  einem  adaptirten  Privathause  die  zur  Bevölkerung  des 
Klosters  bestimmten  Nonnen  unter  Kinga^s  Leitxmg  beherbergt  habe.  Denn  sie 
flüchten  insgesammt  vor  der  drohenden  Gefahr  in  die  karpathischen  Vorgebirge  der 
nahen  ungarischen  Grenze.'  Hiezu  wäre  sodann  drittens  Kinga*s  eigenes  Zeugniss 
beizufügen.* 

Wird  nun  die  Sage  mit  der  Geschichte  verglichen,  resultirt  wohl  von  selbst,  was 

m. 

Die  Volksphantasie 

mit  ihrer  gewohnten,  das  Wunderbare  in  die  Thateachen  verwebenden  Geschäf- 
tigkeit, der  Darstellung  über  die  historisch  begründete  Bedeutung  Kinga's 
hinzufügen  zu  müssen  glaubte,  damit  das  Wertbewusstsein  des  reichen  Salzsegens^ 
der  mit  ihrem  Erscheinen  im  Uerzogtume,  gerade  in  Bochnia  sicli  erschloss  und 
seit  vielen  Jahrhunderten  unzähligen  Tausenden  zur  Segensquelle  geworden  war, 
recht  eindringlich  an  das  köhlergläubische  Herz  pocbe,  mitwirkend  bei  der  belieb- 
ten, ahnungsvoll  grübelnden  und  in  diesem  Grübeln  schwelgenden  Sucht,  Irdisches 
und  Ueberirdisches,  d.  i.  Vorhandenes  und  sinnlich  Fassbares  mit  dem  Ueberirdi- 
schen,  der  einzelnen  Menschen  und  ganzer  Völker  Geschicke  bestimmenden,  vor- 
bereitenden und  in  geregelte  Bahnen  leitenden  —  sollen  wir  sagen  —  wenn  nicht 
fatalistischen  so  doch  unbegreiflichen  und  unergründUchen  höheren  Mächten  in 

*  Die  Urkunde  in  beglaubigter  Abschrift  in  der  Ossolinski'schen  National- 
bibliothek zu  Lemberg.  Unter  den,  dem  Kloster  verschriebenen  Ortschaften  kommt 
auch  das  in  der  Zips  liegende  Pudlein  vor.  Es  wäre  der  historischen  Untersuchung 
jedenfiEÜLls  wert,  ob  das  sogenannte  Sandecer  Gelände,  die  terra  Sandecensis  im  XIIL 
Jahrhunderte  so  weit  in  die  Zips  hineingereicht  oder  —  wenn  nicht  —  welche  Bewandt- 
niss  es  habe,  dass  Kinga  über  Pudlein  derartig  zu  verftlgen  vermochte. 

»  Dlugosz  Hist  VH.  847. 

*  In  den  Urkunden  bei  Wagner^  Analecta  tense  Scepus.  I.  195  und  Supplem 
Analect.  p.  305,  worin  es  heisst ;  Nos  Cunegundis  . . .  sub  Ordine  S.  Francisci  divinis 
mancipata  obsequiis. 


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"^2  DIE    KINGA-SAGE. 

«ine  plausible,  dem  Alltagsmenschen,  der  denkfaul,  die  Lebenserscheinungen  sich 
zurechtlegt  wie  er  kann,  in  plausible  Wechselwirkung  zu  bringen. 

Wenngleich  aber  auch  die  heilige  Einfalt  an  Dinge  sich  hängt,  welche  der 
Gebildete,  der  Wissende  und  Aufgeklärte  belächelt,  will  diese  Gefühls-  imd  Glau- 
benswelt nichtsdestoweniger  achtungs-  und  schonungsvoU  behandelt  werden.  Denn, 
welcher  wahrhaft  menschhch  Denkende  wollte  die  kindüche  Einfalt  trüben,  wenn 
dieselbe  selbstthätig  nach  den  fruchtbaren  Ursachen  unverstandener  oder  auffallen- 
der Erscheinungen  forscht,  und  weil  sie  entweder  zu  geistesarm  oder  geistig  viel 
zu  wenig  geübt  ist,  die  gewünschte  Aufklärung  sich  selbst  zu  verschaffen,  trotz 
aller  leichtverständhchen  Schaffnngskraft  der  Natur  und  der  Menschenfindigkeit, 
im  Glauben  an  ein  Wunder  und  im  Gefühle  der  Verehrung  des  Wunderthätigen 
volle  Befriedigung  findet  ?  -  So  hat  denn  auch  hier  die  Phantasie  des  Volkes  um 
die  unau%eklärt  gebliebene,  wabrscheinUch  zufällige  Bloss  legung  des  heute  noch  in 
sehr  lohnendem  Betriebe  stehenden  Bochniaer  Steinsalzlagers,  ganz  unbefangen 
ihre  goldenen  Fäden  gesponnen  und  so  dicht  verwoben,  dass  eine,  fromme  Ge- 
müter bestechende  Wundermäre  den  Legendenkranz  mit  einer  neuen  Blüte 
bereichert,  der  sich  um  Kinga's  verehrte  PersönUchkeit  unter  den  Fingern  dank- 
barer Jahrhunderte  sinnig  und  üppig  herumgeschlungen  hat. 

Die  volksmündliche  UeberHeferung  von  der  Verschmähung  aller  anderen 
Mitgift,  als  der  Einen,  der  Schenkung  eines  Marmarosclier  Schachtes ;  das  Hinein- 
werfen des  Ringes,  der  gerade  der  Brautring  imd  ja  kein  anderer  gewesen  sein 
musste,  zum  Zeichen  der  Besitzergreifung  von  dem  erbetenen  Geschenke ;  die  Her- 
überführung  des  gewonnenen  Schatzes  mittelst  der  eigenen,  später  zur  breitästigen 
und  ganze  Bienencolonien  beherbergenden  Linde ;  das  Wiederfinden  des  in  der 
Marmarosch  in  die  Tiefe  geworfenen  Binges  |  bei  der  Zutageförderung  und  Zer- 
schlägenmg  des  ersten  Salzstockes :  diese  —  sagen  wir  Sonntagsgeburten  der  Volks- 
phantasie bethätigen  zwar  den  im  Volke  heiss  pulsirenden  Geist,  sind  aber  für  den 
skeptischen,  keine  speciell  ethnographischen  Moment«  verfolgenden  Forscher  leider 
nur  leere  Blüten.  Wilhelm  Schmidt. 


KÜRZE  SrrZÜNGSBERIOHTE. 

—  Ungarische  Akademie  der  Wissenschaften.  In  der  Sitzung  der  ersten 
Classe  am  1 .  Dezember  hielt  don  ersten  Vortrag  das  Ehrenmitglied  Georg  Joauno- 
vics  unter  dem  Titel :  JHe  endlose  Frage.  Die  endlose  Frage  ist  der  alte  unerquick- 
liche Streit  zwischen  der  Orthologie  und  Neologie.  Von  den  drei  Tribunen  der 
letzteren,  Franz  Toldy,  Johann  Fogarasi  und  Moriz  Ballagi,  ist  nur  noch  der  Letzte 
auf  dem  Kampfplatze.  Auf  seine  im  Jahre  1884  und  im  Jänner  d.  J.  gehaltenen 
Apologien  des  Neologismus  antwortet  suaviter  in  modo,  sed  fortiter  in  re  der  Vor- 
tragende, wobei  er  auf  Grund  eines  reichea  sprachgeschichtlichen  Materials 
bestrebt  war,  einerseits  die  Absurditäten  der  sprachgeistwidrigen  neologischen 
Bildungen,  andererseits  die  Berechtigung  der  besonnenen,  dem  Sprachgeist  fol- 
genden orthologischen  Richtung  des  «Nyelvori  darzulegen. 

Hierauf  las  das  conespondirende  Mitglied  Bernhard  Munkäcsi  eine  Abhand- 


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KURZE    8ITZUNGSBER  CHTE.  ^S- 

Ixmg  von  Josef  Balassa  über  die  Classification  und  Charakteristik  der  ungarischen 
Mundarten,  Verfasser  wirft  einen  kurzen  historischen  Rückblick  auf  die  bisheri- 
gen Classificatoren  der  ungarischen  Mundarten  (Stefan  Grdti,  Adam  Horväth^ 
Sigmund  Simonyi)  und  untersucht  dann,  auf  welcher  Grundlage  die  ungarischen 
Mundarten  classifizirt  werden  könnten.  Für  die  Classification  der  Mundarten 
können  folgende  Umstände  entscheidend  sein :  1.  Die  Teilung  des  Volkes  in  Volks- 
stamme ;  2.  die  geographische  Lage  des  ganzen  Sprachgebiets  und  seiner  einzelnen 
Teile,  und  vornehmlich  3.  die  Verbreitung  der  die  einzelnen  Gegenden  charakte- 
risirenden  Eigenheiten.  Doch  mancherlei  Schwierigkeiten  machen  es  unmöglich, 
einen  dieser  Umstände  für  sich  zur  Basis  der  Classification  zu  nehmen.  Wenn  die 
Classification  richtig  sein  soll,  müssen  alle  diese  Umstände  berücksichtigt  werden. 
Auf  dieser  Grundlage  teilt  Verfasser  das  ungarische  Sprachgebiet  zuerst  in 
einzelne  grössere  Mundartengebiete,  deren  Sprache  nur  hinsichtlich  der  wich- 
tigsten Eigenheiten  übereinstimmt  und  damit  auf  gemeinsame  Abstammung  und 
Entwicklung  hinweist.  Innerhalb  dieser  Gebiete  zieht  er  dann  die  aus  den  ver- 
schiedensten Gründen  entstandenen  Differenzen  in  Betracht,  welche  die  einzelnen 
Mundarten  hervorbringen.  Er  teilt  das  ganze  imgarische  Sprachgebiet  in  acht 
Mundartgebiete,  welche  er  dann  im  Einzelnen  charakterisirt  und  welche,  je  nach- 
dem ihre  verschiedenen  Teile  einzelne  Eigenheiten  besser  bewahrt  oder  weiter 
entwickelt  haben,  in  mehrere  besondere  Mundarten  zerfallen. 

—  In  der  Sitzung  der  zweiten  Classe  am  9.  Dezember  hielt  den  ersten  Vor- 
trag das  ordentliche  Mitglied  Alexander  Szilägyi.  Vortragender  legte  sein  soeben 
erschienenes  Werk :  Siebenbürgen  und  der  Krieg  im  Nordosten  1648 — 1665,  Briefe 
und  Urkunden  mit  Einleitungen  und  Anmerkungen,  herausgegeben  von  Alexander 
Szilägyi ;  Band  I.  Budapest  1890,  vor  und  gab  einen  kurzen  Ueberblick  des  Inhalts 
desselben.  Die  mit  diesem  Bande  begonnene  Urkundensammlung  bringt  einige 
controverse  Fragen  der  Geschichte  jener  Zeit  zur  Entscheidung  und  klärt  einige 
dunkle  Punkte  derselben  auf.  Das  Bild,  welches  Vortragender  an  der  Hand  der  in 
dem  vorgelegten  Bande  enthaltenen  Briefe  und  Urkunden  entwirft,  ist  reich  an 
Details,  welche  für  den  Geschichtsforscher  jener  Zeit  von  Interesse  sind. 

Hierauf  las  das  correspondirende  Mitglied  Josef  Jekelfalussy  eine  Abhand- 
lung des  Gastes  Julius  Mandello  über  Währwngs-  und  Münzrecht,  ein  Capitel 
Ober  die  rechtliche  Bedeutung  des  Währungswechsels  vor.  Den  Ausgangspimkt  der 
Untersuchung  hat  der  rechtliche  Begriff  des  Geldes  zu  bilden,  resp.  die  Frage  : 
Welches  sind  die  rechtlich  relevanten  Functionen  des  (Jeldes?  Der  Verfasser 
entscheidet  sich  für  die  Auffiassung,  dass  blos  die  Function  als  gesetzliches 
Zahlungsmittel  relevant  sei,  da  alle  anderen  Functionen  entweder  wirtschaftlicher 
Natur  sind,  oder  aus  der  Function  als  Zahlungsmittel  hervorgehen.  Der  Verfasser 
unterscheidet  drei  Gebiete,  in  welchen  das  Geld  als  gesetzliches  Zahlungsmittel 
wirkt.  1.  Ist  das  Valutageld  das  letzte  zwangsweise  Solutions-  und  Befriedigungs- 
mittel ;  2.  ist  dasselbe  Gegenstand  der  Geld- Obligationen  und  3.  sind  im  Glelde 
als  gesetzlichem  Zahlungsmittel  alle  Zahlungen  in  den  Staat  zu  leisten  und  bedient 
sich  desselben  der  Staat  bei  seinen  Zahlungen.  Verfasser  untersucht  nun  die  Wir- 
kung des  Währungswechsels  bezüglich  dieser  drei  Gebiete  und  findet,  dass  derselbe 
blos  für  die  Geld-Obligation  und  die  Zahlungen  an  den  Staat  (resp.  des  Staates) 


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"94  KURZE   SITZUNGSBERICHTE. 

von  Belang  ist,  weil  es  sich  nur  hiebei  um  fixe  Beträge  handelt,  deren  Umrech- 
nung aus  der  alten  Valuta  in  die  neue  nötig  erscheint.  Dass  der  Staat  diese 
Umrechnimg  für  seine  eigenen  Verhältnisse  selbst  vorzunehmen  hat,  wurde  nie 
bezweifelt.  Auch  bezügüoh  der  Verbindlichkeiten  von  Privaten  ist  gewiss,  dass 
dieselben  nicht  in  der  alten,  sondern  in  der  neuen  Valuta  zu  erfüllen  sind.  Allein 
die  Begründung  dieses  Satzes  gibt  zu  wichtigen  Verschiedenheiten  in  der  Auffas- 
sung Anlass.  Es  gibt  eine  falsche  privatrechtliche  und  eine  richtige  staatsrecht- 
liche Auffassung.  Die  erstere  geht  dahin,  dass  die  Erfüllung  der  auf  Silber  lauten- 
den Verpflichtunfsren  in  Folge  der  Einführung  der  Goldwährung  unmöglich  wird, 
und  dass  daher  die  Hingabe  von  Gold  an  Silberstatt  eine  datio  in  solutum  bildet. 
Demgegenüber  sieht  die  staatsrechtliche  Auffassung  in  der  Erfüllung  in  Gold  das 
wirkliche  soldere  der  auf  Valuta  lautenden  Obligationen.  Wenn  nun  schon  aus 
der  letzteren,  richtigen  Auffiassung  die  Notwendigkeit  einer  staatlichen  Bestim- 
mung des  Valutaverhältnisses  an  und  für  sich  folgt,  wurde  nichtsdestoweniger  in  der 
Literatur  ein  heftiger  Streit  geführt  darüber,  ob  die  Bestimmung  des  Valuta  Verhält- 
nisses durch  den  Staat  zu  geschehen  habe,  oder  ob  dieselbe  der  Vereinbarung  der  Par- 
teien, respective  dem  Urteile  des  Richters  zu  überlassen  sei.  Die  eben  berührte  Con- 
troverse  geht  von  zwei  Voraussetzungen  aus :  entweder  davon,  dass  der  Staat  über- 
haupt absieht,  eine  Bestimmung  zu  treffen,  oder  davon,  dass  der  Staat  für  seine 
eigenen  Verbältnisse  eine  andere  Norm  trifft,  als  für  die  privatrechtlichen  Ver- 
hältnisse. Im  Sinne  dieser  Voraussetzungen  gibt  es  vier  Zeitpunkte,  die  für  die 
Bestimmung  der  Verhältnisse  der  Valuten  massgebend  sein  können,  und  zwar  der 
Zeitpunkt  1.  der  Entstehung  der  Obligation,  2.  des  Währungswechsels,  3.  der 
Erfüllung,  4.  der  Zahlung.  Der  Verfasser  bespricht  die  Bedeutung  dieser  vier 
Bestimmungsmodalitäten,  nachdem  er  die  Ansichten  von  Godschmidt,  Hartmann, 
Bekker,  Behrend,  Grünhut  und  Menger  dargelegt  hat.  Im  Gegensatze  zur  herr- 
schenden Auffassung,  welche  den  Zeitpunkt  des  Währungswechsels  für  massgebend 
hält,  erklärt  er  sich  für  den  Zeitpunkt  der  Erfüllung,  welcher  allein  einer  streng 
privatrechtlichen  Auffassung  entsprechen  könne.  Allein  die  privatrechtliche  Auf- 
fassung an  und  für  sich  hält  Verfasser  für  verfehlt.  Eine  Betrachtimgsweise,  die 
von  der  staatlichen  Bestimmung  abstrahirt,  kann  nur  zur  Aufstellung  privatrecht- 
licher Analogien  führen,  nicht  aber  zur  Auffindung  eines  materiellen  Bechtssatzes. 
Hierauf  untersucht  der  Verfasser  den  Inhalt  der  staatsrechtlichen  Bestimmung 
der  Relation  und  weist  den  wirtschaftlichen  Charakter  der  Relationsbestimmung 
nach.  Die  Relation  kann  zwar  wirtschaftUch  zweckmässig  gewählt  werden  und 
eine  gerechte  Lösung  annähernd  erstreben,  allein  dieselbe  nicht  vollkommen 
erreichen.  Verfasser  weist  noch  die  Relativität  der  Bestimmungsarten  (Tageskurs 
und  Durchschnittsberechnungen)  nach  und  gibt  zum  Schlüsse  der  Hoffnung 
Ausdruck,  dass  gleichzeitig  mit  der  Valutaregulirung  in  Ungarn  auch  ein  Münz- 
und  Währungsrecht  geschaffen  werde,  welches  an  die  Stelle  der  spärlichen 
Bestimmungen  unseres  Staatsrechtes  treten  wird. 

Zum  Schlüsse  hielt  Moriz  Wosinszky  (Pfarrer  von  Apar  in  der  Fünfkirchner 
Diöcese),  als  Gast,  einen  archäologischen  Vortrag  über  die  älteste  LeichenbestxU' 
^tmgsweise  der  Urzeit,  bei  welcher  Arme  und  Beine  der  Leichen  zurückgebogen  und 
fest  an  den  Körper  gebunden  wurden,  wie  dies  an  dem  vom  Vortragenden  aus 


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KURZE   SITZUNGSBERICHTE. 


95 


dem  Lengyeler  Gräberfeld  herausgehobenen  and  im  Nationalmuseum  ausgestellten 
Exemplar  sichtbar  ist.  Diese  Bestattungsweise  kommt  von  der  paläolithischen  bis 
zur  Hallstädter  Periode  in  ganz  Europa  vor ;  in  Ungarn  ist  sie  bisher  blos  im  Len- 
gyeler Gräberfeld  im  Comitat  Tolna  gefunden  worden.  Diese  Sitte  erfuhr  im  Laufe 
der  Zeit  verschiedene  Modificationen,  welche  Vortragender  in  drei  Hauptgruppen 
znsammenfasst.  Die  zusammengebogene  Stellung  der  Leichen  entspricht  der  Lage 
des  Embryo  im  Mutterleibe.  Man  legte  den  todten  Menschen  in  derselben  Lage 
in  den  Mutterschoss  der  Erde,  in  welcher  er  aus  dem  Mutterleibe  kommt,  damit 
er  gelegentlich  der  jenseitigen  Wiedergeburt  in  der  natürlichen  Lage  gefunden 
werde.  Die  an  den  verschiedenen  derartigen  Beatattungsfunden  constatirten  ver- 
«chiedenen  Culturstufen  bezeugen,  dass  sich  diese  Sitte  in  zwei  verachiedenen 
Völkerwanderungsrichtungen  von  Asien  her  nach  Europa  verbreitet  hat. 

—  In  der  Plenarsitzung  am  1 5.  Dezember  las  Professor  Julius  König  eine 
Denkrede  auf  das  ord.  Mitglied  Eugen  Ihmyady,  Die  Denkrede  feiert  in  würdiger 
Weise  das  Andenken  des  vor  Jahresfrist  dahingeschiedenen  ungarischen  Mathema- 
tikers. Eugen  Himyady  hat  auf  dem  grossen  internationalen  Gebiete  seiner  Wis- 
senschaft Hervorragendes  geschaffen,  ja  er  ist  in  einem  Kapitel  derselben  der  Erste 
gewesen.  Er  hat  sich  aber  nicht  allein  um  die  grosse  gemeinsame  Wissenschaft  bedeu- 
tende Verdienste  erworben,  sondern  auch  um  die  Förderung  der  nationalen  Cultur, 
indem  der  für  die  Gegenwart  überaus  günstige  Unterschied,  welchen  der  Stand 
der  mathematischen  Wissenschaften  in  Ungarn  im  Jahre  1890,  verglichen  mit 
demjenigen  vom  Jahre  1865  zeigt,  grossenteils  Hunyady's  Verdienst  ist.  Als 
Hunyady  im  Jahre  1865  vom  Aiislande  heimkehrend  seine  wissenscheftliche  Thä- 
tigkeit  in  der  Hauptstadt  begann,  existirte  eine  mathematische  Fachwissenschaft 
in  Ungarn  nicht.  Die  Arbeit  eines  Jahrhunderts,  in  welchem  die  Mathematik  eine 
in  der  Geschichte  der  Wissenschaften  beispiellose  Entwicklung  gewonnen  hatte, 
war  hier  nachzaholen.  Hunyady,  welcher  am  il8.  April  1838  in  Pest  geboren  wurde, 
erreichte  nicht  die  natürliche  Grenze  des  menschlichen  Lebens,  aber  sein  Leben  war 
doch  ein  ganzes  Leben,  seine  Arbeit  eine  ganze  Mannesarbeit.  Er  hat  seiner  Wis- 
senschaft eine  neue  Heimat  und  seiner  Heimat  eine  neue  Wissenschaft  erworben. 
Deshalb  wird  in  der  Geschichte  der  imgarischen  Wissenschaft  sein  Andenken  ein 
ewigdauemdes  sein. 

Die  Mitteilung  der  laufenden  Angelegenheiten  eröffnet  der  Generalsecretär 
Koloman  Szily  mit  der  Meldung  von  dem  am  10.  September  in  Kalkutta  erfolgten 
Ableben  des  auswärtigen  Mitgliedes  Atkinson,  dessen  Andenken  die  HI.  Classe  in 
einer  Denkrede  feiern  wird.  Hierauf  beantragt  der  Generalsecretär,  dass  dem  aus- 
wärtigen Mitgliede  Dr.  Alfred  Ameth,  k.  u.  k.  Hof-  und  Staatsarchivar  in  Wien, 
der  die  Schätze  des  Hof-  und  Staatsarchivs  den  ungarischen  Forschern  geöffnet  und 
hiedurch,  um  die  Entwicklung  der  ungarischen  Geschichtsforschung  sich  grosse 
Verdienste  erworben  hat,  anlässlich  seines  am  27.  Dezember  in  Wien  zu  feiernden 
fünfzigjährigen  Dienstjubiläums  seitens  der  Akademie«  eine  Glückwunsch- Adresse 
zugesandt  werde.  Wird  zustimmend  angenommen.  —  Eine  Zuschrift  des  Unter- 
richtsminist^rs,  welche  das  Gutachten  der  Akademie  in  der  Frage  der  von  der  königl. 
italienischen  Regierung  angeregten  Feststellung  eines  einheitlichen  Zerusmeridians 
und  einer  einheitlichen  Zeitzählung  ansucht,  wird  der  HI.  Classe  zugewiesen.  — 


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öö  mXdoheniuche. 

Das  Anstichen  desselben  Ministeriums  um  ein  Gutachten  über  das  Bittgesuch  de» 
königlich  griechischen  Generalconsuls  Paul  Haris  um  Einführung  der  neugriechi- 
schen Aussprache  in  den  Mittelschulen  wird  der  I.  Classe  zugewiesen.  —  Die 
n.  Classe  empfiehlt  folgende  drei  Anträge  der  archäologischen  Commission  zur 
Annahme :  f.  Die  Akademie  möge  die  von  der  Legislative  für  archäologische 
Publicationen  bewilligten  5000  fi.  zur  Hälfte  auf  Publicationen  über  vaterländische 
Baudenkmäler  und  zur  Hälffce  auf  andere  Publicationen  verwenden ;  2.  die  Aka- 
demie möge  die  Dotation  der  archäologischen  (Kommission  von  6000  auf  7000  fl. 
erhöhen ;  3.  die  Akademie  möge  beim  Unterrichtsminister  die  Erlaubniss  der 
Benützung  der  Zeichnungen  der  Landescommission  für  Kunstdenkmäler  durch 
die  archäologische  Commission  auswirken.  Die  IT.  Classe  bittet  zugleich  auf  Antrag 
der  archäologischen  Commission  um  Bestätigimg  der  Wahl  der  folgenden  Com- 
missionsmitglieder :  Sigmund  Bubics,  Bischof  von  Kaschau,  Dr.  Julius  Forster, 
Kamill  Fittier,  Stefan  Möller,  Ludwig  Rauscher,  Friedrich  Schulek  und  Emericb 
Steindl.  Wird  zustimmend  angenommen. 


MÄDCHENRACHE. 

Frei  nach  Alexander  Endrödi. 

Die  Sultanstochter  ruht  allein  Der  schwarzen  Hüter  wilder  Tross 

Am  Rosenstrauch,  im  Myrthenhain,  Vor  Wuth  und  Eifer  überfloss ; 

Da  stürzt  heran  ein  Jüngling  und  —  Sie  führen  bald  den  Jüngling  vor  — 

Küsst  ihren  Mund.  0  armer  Thor ! 

Vor  Scham  und  Aerger  purpurrot,  Das  Antlitz  blass,  aus  edlem  Blut, 

Klagt  sie  dem  Vater  ihre  Not :  Im  Auge  Leid  und  Liebesglut, 

«Ein    Fremdling   that's  .    o  Schmach,  Er  blickt  sie  an  so  traurig-kühn, 

Und  ist  entflohn  li  [o  Hohn,  Mit  stillem  Glühn. 

Kaum  war  der  Frevler  angeklagt,  cDer  hier  ist's !  i  ruft  der  Häscher  rauh, 

Bogann  auf  ihn  die  Menschenjagd.  t  Sein  Haar  ist  schwarz,  sein  Eaftan  blau  I» 

Die  Sultanstochter  ruft  mit  Dräun  :  Der  And're  murrt :  fFür  solche  Schuld 

«Er  soll's  bereun I •  Giebt's  keine  Huld  !• 

«Durchforscht  nach  ihm  die  Palmenau,  Der  Sultan  selbst  im  Zorn  entbrannt, 

Sein  Haar  ist  schwarz,  sein  Kaftan  blau  1 1  Legt  drohend  an  das  Schwert  die  Hand  : 

Die  Sultanstochter  zürnend  spricht:  «Zum  Tode  geht  des  Jünglings  Bahn, 

« Verschont  ihn  nicht  1 1  Hat  er's  gethan  I 

Mein  gold'nes  Kind,  bezeuge  mir, 
Beging  die  Tollheit  dieser  hier?i  — 
Die  Sultanstochter  leise  spricht : 
«Er  war  es  nicht  N 

Stefan  Rönat. 


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GRAF  MORITZ  BENYOYSZKY  ALS  GEOfiRAPHISCHER 

FORSCHER. 


Im  laufenden  Jahre  wird  es  ein  Jahrhundert  sein,  seit  Nicholson  das 
berühmte  Buch  über  die  Heldenthaten,  Beisen  und  Eroberungen  des  kühnen 
und  unternehmenden  ungarischen  Grafen  Moritz  Benyovszky  herausgegeben 
hat.^  Das  Buch  schildert  des  Grafen  kurzes,  jedoch  umso  thatenreicheres 
Leben.  Er  wurde  im  Jahre  1746  geboren,**  durchkämpfte  als  junger  Mann 
den  ganzen  polnischen  Krieg  und  wurde  von  den  Bussen  gefangen  genommen, 
die  ihn  nach  Sibirien  verbannten.  Er  durchreiste  Europa  und  Asien,  bis  er 
endlich  den  Ort  seiner  Verbannung,  Kamtschatka,  erreichte.  Mit  seinen 
Genossen  knüpfte  er  gar  bald  einen  Bund  zu  seiner  Befreiung;  der  Umstand, 
dass  sich  die  Tochter  des  Gouverneurs  in  ihn  verliebte,  erleichterte  seine 
Flucht  Eines  Tages  brach  der  langsam  vorbereitete  Aufstand  los,  der  Gou- 
verneur und  die  Garnison  wurde  niedergemetzelt,  Benyovszky  entfloh  und 
bestieg  ein  gebrechliches  Fahrzeug.  Fünf  Monate  hindurch  trieb  er  sich  auf 
dem  Meere  herum,  bis  er  endlich  Macao  erreichte,  von  wo  er  nach  Europa 
gelangte.  Dann  trat  er  in  französische  Dienste  und  begab  sich  nach  Mada- 
gaskar um  dort  französische  Colonien  zu  gründen.  Jedoch  die  Eingeborenen 
gewannen  ihn  lieb  und  wählten  ihn  zu  ihrem  Fürsten.  Benyovszky  nahm 
an  ihren  Kämpfen  Theil,  nachdem  er  aber  den  Frieden  gesichert  hatte  und 
da  er  von  den  französischen  Gouverneuren  der  Isle  de  France  schmählich 
betrogen  worden  war,  kehrte  er  nach  Europa  zurück,  um  das  Protektorat 
irgend  eines  Staates  für  sein  Volk  zu  gewinnen.  Allein  die  Franzosen  wollten 
nur  von  Colonien,  aber  nichts  von  Verbündeten  hören,  England  und  Deutsch- 
land waren  anderwärts  beschäftigt,  und  so  war  das  Resultat  aller  seiner 

*  Memoirs  and  Travels  of  Mauritius  Augustus  Count  de  Benyovszky,  Written 
by  liimself.  Translated  from  the  Original  manuscript.  In  two  volumes.  London,  Robin- 
son, 1790.  Benyovszky  schrieb  das  Originalmanuscript  französisch. 

-'^  Benyovszky  wurde  nach  Nicholson,  dem  ersten  Herausgeber  der  Memoiren, 
1741  geboren,  wie  aber  J6kai  in  seiner  Biographie  erwähnt,  ist  das  Geburtsjahr 
Benyovszky's  nach  dem,  vom  Seelsorger  zu  Verbö  ausgefertigten  authentischen 
Taufschein  nicht  1741,  sondern  1746.  J6kai  M.,  Benyovszl^  ^letrajza.  Budapest, 
1888,  L,  11. 

ünguiMb«  Beyne.  XT.  1891.  U.  Heft  7 


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^8  GRAF   MORITZ   BENY0V8ZKY   ALS   OEOGRAPHTSCHER   FORSCHER. 

Bemühungen  das^  dass  ihn  ein  amerikanischer  Kaufmann  an  die  Spitze 
seiner  Frivatuntemebmungen  stellte.  Benyovszky  erreichte  Madagaskar, 
wurde  aber  von  den  Franzosen  angegriffen  und  am  23.  Mai  1786  getödtet. 

Die  erste  englische  Ausgabe  von  Benyovszky's  Beisebericht  erschien 
1790  und  schuf  eine  ganze  Literatur ;  ^  sie  wurde  von  Nicholson  veranstaltet, 
der  zu  dem  Werke  eine  Einleitung  schrieb,  in  der  er  die  Verlässlichkeit  der 
Angaben  Benyovszky's  kritisch  untersuchte.  Auf  die  Frage,  ob  Benyovszky 
die  geschilderte  Reise  überhaupt  unternommen  habe,  oder  nicht,  —  denn 
selbst  dies  wurde  in  Zweifel  gezogen,  —  antwortete  er  mit  einem  entschie- 
denen Ja.  Die  Resultate  seiner  Kritik  fasst  Nicholson  in  folgendem  zu- 
sammen: «So  lange  als  Benyovszky 's  Daten  auf  ihn  selbst  Bezug  haben, 
müssen  wir  seine  Behauptungen  für  authentisch  halten ;  der  grösste  Theil 
derselben  kann  jedoch  auch  durch  Nebenargumente  gestützt  werden.  Die 
Theilnahme  an  den  polnischen  Unruhen  bezieht  sich  auf  jüngstverflossene 
Ereignisse ;  die  Mehrzahl  der  von  ihm  genannten  Persönlichkeiten  sind  von 
hohem  Rang  und  leben  noch  heute.  Ja  sogar  bezüglich  seiner  Continentreise 
durch  das  asiatische  Russland  und  im  Nordosten  der  alten  Welt  sind  wir 
nicht  mehr  ganz  ohne  Kenntnisse.  Wenn  wir  aber  die  Lage  der  Inseln  und 
Ufer  des  Meeres  zwischen  Asien  und  Amerika  untersuchen,  müssen  wir 
gestehen,  dass  wir  grossen  Schwierigkeiten  begegnen.»  ^ 

Unzuverlässig  ist  der  Theil  des  Benyovszky'schen  Reiseberichtes,  der 
sich  auf  die  Strecke  von  Kamtschatka  bis  Macao  bezieht  und  hauptsächlich 
dieser  Theil  seines  Journals  war  der  Stein  des  Anstosses  und  die  Ursache 
des  Zweifels  an  der  Authenticität  seiner  Behauptungen ;  diesem  Theil  seines 
Tagebuches  gegenüber  müssen  wir  daher  die  volle  Schärfe  der  Kritik  ob- 
walten lassen.  Es  ist  leicht  begreiflich,  dass  sich  dieser  Schärfe  der  Kritik 
weder  Nicholson,  noch  ein  anderer  Geograph  seiner  Zeit  bedienen  konnte» 
denn  jene  Gegenden  waren  zu  der  Zeit  noch  eine  terra  incognita ;  erst  die 
Russificirung  Sibiriens,  dann  die  Eröffnung  des  nordamerikanischen  Eisen- 
bahnnetzes —  beides  Ereignisse  unseres  Jahrhunderts  —  waren  die  mäch- 
tigen Faktoren,  denen  wir  die  genaue  Kenntniss  der  Geographie,  Natur- 
und  Volkskunde  jener  Gegenden  verdanken.  Die  Kritiker  mussteu  sich 
Benyovszky's  Reisebericht  gegenüber  passiv  verhalten,  daher  stammt  der 
grosse  Unterschied  in  der  Behandlung,  die  diesem  Theile  seines  Werkes  zu 
Theil  wurde.  Es  war  nur  recht  und  billig,  als  Nicholson  schrieb  ^ :  «jenem 
Theil  des  Werkes  gegenüber,  der  mit  anderen  Daten  nicht  zu  vergleichen 


^  In  der  ungarischen  Literatur  erschienen  1888  drei  Werke  über  Benyovszky. 
die  Uebersetzung  seiner  Memoiren  von  Jokai,  die  Biograplüe  von  Jokai  und  eine 
Jugendschrift  von  W.  Radö. 

•  Engüflohe  Ausgabe  I.  Bd.  III.  S. 

»  L.  0.  IV.  S. 


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GRAF   MOBITZ   BBKYOVSZKY   ALS   OBOORAPHTSCHBR   POR80HBR.  ^ 

war,  .  .  .  suchte  ich  keine  anderen  Beweise,  da  sie  anderen  Entdeckungen 
gleich  gestellt  werden  dürfen,  in  deren  Verlässlichkeit  wir  solange  keinen 
Zweifel  setzen,  bis  dieselben  durch  neuere  Forschungen  entweder  gestützt, 
oder  widerlegt  werden,  t  Dem  gegenüber  ist  die  Böswilligkeit  des  deutschen 
Verlegers  Ebeling  kaum  zu  erklären,  der  zu  dem  Kapitel,  in  dem  Benyovszky 
die  Entdeckungsreisen  im  Osten  von  Kamtschatka  zusammenstellt,  bemerkt : 
«einige  gänzlich  überflüssige  Sachen  haben  wir  in  der  deutschen  üeber- 
setzung  doch  weggelassen»,  wo  doch  die  Vergleichung  des  englischen  Ori- 
ginaltextes und  der  deutschen  Uebersetzung  beweist,  dass  Ebeling  nicht  ein 
Wort  weggelassen  hat.^  Diesen  verschiedenen  Ansichten  gegenüber  hat 
unser  Jahrhundert  unsere  geographischen  Kenntnisse  mit  zahkeichen  neuen 
Daten  bereichert,  und  die  Uebereinstimmung  dieser  mit  den  Angaben 
Benyovszky's  ist  das  einzige  Mittel,  dessen  wir  uns  bei  Beurtheilung  seines 
Berichtes  bedienen  können,  auf  Grund  dessen  wir  im  Stande  sein  werden, 
die  Verlässlichkeit  jenes  Theiles  seiner  Beschreibung  zu  beurtheilen,  der 
durch  historische  Dokumente  nicht  gestützt  werden  kann.  Obwohl  Benyovszky 
seine  Memoiren  in  einer  fremden  Sprache  geschrieben  hat,  obwohl  sich  mit 
den  von  ihm  bereisten  Gebieten  hauptsächlich  die  ausländischen  Literaturen 
beschäftigen,  hat  sich  doch  in  neuerer  Zeit  Niemand  gefunden,  der  die 
Authenticität,  aber  auch  die  Verdienste  Benyovszky's  festzustellen  versucht 
hätte.  Müssen  wir  auch  mit  Bedauern  sehen,  dass  die  grössten  Geographen 
und  Forscher  unserer  Zeit,  Nordenskiöld  ^  und  Beclus,^  den  Grafen 
Benyovszky  rücksichtslos  ignorieren,  so  glauben  wir  doch,  dass  die  folgenden 
Zeilen,  deren  Zweck  es  ist,  den  strittigen  Theil  der  Keise  von  Kamtschatka 
bis  Macao  kritisch  zu  beleuchten,  jedermann  überzeugen  werden,  dass  das 
in  dem  stillschweigenden  Uebergehen  des  ungarischen  Grafen  inbegriffene 
ürtheil  der  genannten  Gelehrten  ein  unbegründetes  ist. 

Unsere  Aufgabe  beginnt  mit  der  Beurtheilung  der  durch  Benyovszky 
gestifteten  Unruhen  und  der  Flucht  aus  Kamtschatka.  Es  ist  unbestreitbar, 
dass  die  städtischen  Archive  des  europäischen  oder  asiatischen  Bussland 
diesbezüglich  amtliche  Urkunden  enthalten  müssen,  dieselben  sind  jedoch 
bis  heute  nicht  bekannt  und  so  können  wir  uns  noch  nicht  auf  historische 
Dokumente  berufen.*  Wir  kennen  trotzdem  drei  verschiedene  Beschrei- 
bungen dieser  Begebenheit,  die  aus  dem  letzten  Decennium  des  18.  Jahr- 
hunderts stammen;  zuerst  Benyovszky's  Beschreibung,  die  in  seinen 
Memoiren  enthalten  ist,  dann  die  Schilderung  eines  gewissen  Stefanow,  die 
auch  heute  noch  seht  wenig  bekannt  ist,  endlich  die  Darstellung  des  fran- 

*  EbeUngs  Ausgabe  der  BenyovsEkyschen  Memoiren.  I.  Bd.,  287.  S.  i 
'  Die  Umsegelung  Asiens  und  Europas.  II.  Bd. 

'  Nouvelle  Geographie  Universelle.  VII.  Bd. 

*  Thallöczy  schreibt  an  M.  R&th  "/?  1887:    «In  Pans,    Moskau, '  Finme  finden 
sich  wohl  viele  Daten  zur  Biographie  Benyovszky's,  mit   der  ich  mich  beschäftigte.» 


7* 


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lö^       ORAP  MORITZ  BBKYOVSZKY  ALB  OROORAPHrsCHBR  FORSCHER. 

eösiscben  Gonsnls  Lesseps.  Hieran  schliesst  sieb  noch  die  BeecbreibuDg 
Gocbrane's  vom  Beginne  unseres  Jabrbunderts. 

Nacb  Benyovszky's  Beschreibung  brach  der  Aufstand  in  den  ersten 
Tagen  des  Mai  aus,  als  das  Wetter  schon  mild  war  und  die  gefrorene  See 
bereits  auftbaute ;  die  Festung  wurde  niedergebrannt,  der  Gouverneur  Nilow 
ermordet,  die  Aufständischen,  an  ihrer  Spitze  Benyovszky,  bemächtigten  sich 
des  Schiffes  «St. -Peter  und  St. -Paul»  und  verliessen  am  11.  Mai  1771 
Kamtschatka. 

Benyovszky's  Schilderung  wird  durch  Lesseps  vollkommen  bestätigt, 
ja  sogar  ergänzt.  Lesseps  begleitete  im  Auftrage  seiner  Begierung  La  Perouse 
und  De  Laugle  auf  deren  Beise  um  die  Welt.  1787  landeten  sie  in  Kamt- 
schatka und  da  sie  infolge  der  unfreundlichen  Witterung  gezwungen 
waren  dort  längere  Zeit  zu  verweilen,  hatten  sie  Gelegenheit,  die  nach  der 
Bevolution  eingetretenen  Veränderungen  zu  studieren  und  über  Benyovszky 
Daten  zu  sammeln.  Lesseps  fasst  dieselben  in  folgendem  zusammen:  «Wir 
wissen,  dass  Benyovszky  1769  während  der  polnischen  Bevolution  in  den 
Diensten  der  Conföderirten  kämpfte,  er  wurde  seiner  Unerschrockenheit 
wegen  an  die  Spitze  eines  Heeres  zusammengetrommelter  Ausländer  oder 
eher  Bäuber,  —  wie  auch  er  einer  war,  —  gestellt ...  er  vernichtete  alles, 
was  er  in  seinem  Wege  fand.  Die  Bussen  ergriffen  ihn  .  .  .  verbannten  ihn 
nach  Sibirien.  Kaum  schmolz  jedoch  der  Schnee,  so  erschien  er  an  der  Spitze 
von  Conspiratoren,  auf  die  er  seinen  Einfluss  auszubreiten  wusste,  in  Bol- 
scheretzk.  Er  attaquirte  die  Garnison,  beraubte  sie  ihrer  Waffen,  ermordete 
den  Gouverneur  Nilow  eigenhändig.  Im  Hafen  ankerte  ein  Schiff;  Benyovszky 
bemächtigte  sich  desselben ;  ein  Blick  genügte,  um  Alles  erzittern  und'ibm 
unterthan  zu  machen.  Er  zwang  die  Kamtschadalen  zur  Beschaffung  von 
Lebensmitteln,  begnügte  sich  jedoch  nicht  mit  diesem  Opfer,  sondern  opferte 
sogar  ihre  Wohnungen  der  Baubwuth  seiner  Genossen  und  bot  selbst  Bei- 
spiele des  Eidbruches  und  wilder  Grausamkeit.  Endlich  segelte  er  mit  seinen 
Genossen  davon,  wie  man  sagt  nach  China.  Der  Fluch  der  Kamtschadalen 
folgte  ihnen.»  * 

Zwei  Thatsachen  finden  wir  in  dieser  Beschreibung,  die  mit  Benyovszky's 
Schilderung  nicht  übereinstimmen :  nicht  Benyovszky,  sondern  sein  Gefährte 
Panow  ermordete  Nilow,  und  hierin  schenken  wir  Benyovszky's  Worten  mehr 
Glauben,  als  jenen  der  Kamtschadalen,  die  dieser  Scene  überhaupt  nicht 
beiwohnten.  Wir  kennen  Benyovszky's  humane,  edle  Gesinnungsweise  und 
halten  es  für  unwahrscheinlich,  dass  er  in  die  Plünderungen  eingewilligt 
habe ;  es  ist  unleugbar,  dass  die  Kamtschadalen  im  Kampfe  viel  zu  leiden 
hatten,  und  wir  finden  es  erklärlich,  dass  Benyovszky's  Abreise  vom  Fluch 

*  Journal  historique  du  Voyage  de  Lesseps.  Paris,  1790.  I.,  154.  —  Mitgeteilt 
auch  in  der  Ebeling^schen  Ausgabe. 


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GRAF    MORITZ    BBNYOVßZKY    ALS   GEOGRAPHISCHER   FORSCHER.  101 

der  KamtBobadalen  begleitet  war;  derselbe  Umstand  erklärt  jedoch  anch^ 
dass  das  Volk  m  seiner  Erbitterung  die  Thatsachen,  deren  Folgen  es  zu 
ertragen  batte^  in  übertriebenem  Masse  entstellte. 

Unsere  dritte  Schilderung  stammt  von  Stefanow,  einem  von  denen,  die 
den  Grafen  von  Kamtschatka  bis  Macao  begleiteten  und  ihm  mit  ihrer  fort- 
währenden Unzufriedenheit  viel  Ungemach  bereiteten.  Stefanow  gelangte 
von  Macao  nach  Batavia  und  schrieb  dort  seine  Erlebnisse  aus  dem  Gedächt- 
niss  nieder.  Er  starb  in  grossem  Elend,  seine  Beschreibung  gelangte  in  die 
Hände  des  Pfarrers  von  Batavia,  Metzlaers,  welcher  dieselbe  in  hollän- 
dischem Auszuge  in  einer  Amsterdamer  Wochenschrift  herausgab,  der  es 
dann  das  Journal  encyclopedique  im  November  1789  entnahm.  Stefanow 
schildert  den  Aufstand  und  die  Flucht  folgendermassen  : 

«Der  Gouverneur  von  Bolscheretzk  behandelte  im  Frühjahr  die  Gefan- 
genen mit  imgewohnter  Grausamkeit.  Stefanow  zettelte  daher  eine  Ver- 
schwörung an,  in  die  er  32  Gefangene  einbezog,  was  genügend  schien,  um 
die  für  sie  gefährlichen  Personen  zu  entwaffnen.  Ihr  Unternehmen  ward 
dadurch  erleichtert,  dass  der  Ort  ausser  von  drei  Kanonen  und  sechs  Sol- 
daten durch  nichts  geschützt  war.  Am  18.  April  führten  sie  den  Plan  aus. 
Die  Verschworenen  bemächtigten  sich  vor  Allem  der  Zaarkassen,  versahen 
sich  dann  mit  Lebensmitteln,  entwaffneten  die  Wachmannschaft,  zogen  auf 
dem  Festland  bis  Tscbekawka,  40  Werst  von  Bolscha,  wo  sie  Anfangs  Mai  an- 
kamen. Ihr  Schiff,  das  hier  vor  Anker  lag,  musste  zuvörderst  aus  dem  Eis 
befreit  werden,  denn  obwohl  die  Ufer  Kamtschatkas  oft  auch  schon  früher, 
z.  B.  Anfangs  April,  eisfrei  sind,  bedeckte  den  Ankerplatz  doch  Eis,  da  die 
hohen  Gebirge  den  Hafen  bis  Mitte  Juni  von  den  Strahlen  der  Sonne  ab- 
schliessen.  Nach  11  Tagen  war  das  Schiff  reisebereit,  und  am  V2.  Mai  segelte 
es  ab  .  .  .  zusammen  waren  70  Mann  an  Bord.»  * 

Stefanow's  Schilderung  widerspricht  in  einzelnen  Punkten  jener 
Benyovszky's ;  wir  dürfen  jedoch  nicht  vergessen,  dass  Stefanow  seine  Reise 
nur  aus  dem  Gedächtniss  niederschrieb,  Benyovszky  hingegen  regelmässig 
Journal  führte.  Tbeils  der  persönliche  Hass  gegen  Benyovszky,  theils  die 
Hoffnung,  sich  durch  seine  Beisebeschreibung  zu  nützen,  erklären  den  Um- 
stand, dass  Stefanow  die  Person  Benyovszky's  ganz  in  den  Hintergrund  stellt 
und  —  der  Wahrheit  entgegen  —  sich  selbst  an  die  Spitze  der  Bewegung 
gestellt  zu  haben  behauptet.  Der  Graf  gibt  an,  in  der  Festung  hätten  sich 
12  Soldaten  und  21  Kanonen  befunden,  und  der  Hetman  sei  im  Stande 
gewesen,  ein  Heer  von  7 — 800  Mann  zusammenzustellen ;  kein  Zweifel,  dass 
sich  diese  Zahlen  nicht  genau  fixieren  lassen,  doch  wenn  es  auch  möglich 
ist,  dass  Benyovszky's  Daten  übertreiben,  so  ist  doch  gewiss,  dass  Stefanow's 
Schilderung  unrichtig  ist,  denn  einer  so  geringen  Kriegsmacht  gegenüber 

*  EbeUng's  Ausgabe,  IL  Bd.  p.  285« 


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102  GRAF   MORITZ   BBNYOVSZKY   ALS   GBOGRÖPHIBCHER   FORSCHER. 

dürften  sich  kaum  so  heftige  Kämpfe  entwickelt  haben^  die  sich  noch  Jahr- 
zehnte hindurch  in  der  Erinnerung  der  Eamtschadalen  behaupteten.  Da  Stefa- 
now  seine  Schilderung  russisch  geschrieben^  entspricht  sein  18.  April  unserem 
29.,  während  Benyovszky  den  £26.  April  angibt.  Der  Unterschied  kann  nur 
auf  Stefanow's  Irrthum  zurückgeführt  werden,  da  Benyovszky  seine  Erlebnisse 
von  Tag  zu  Tag  angibt.  Benyovszky  erwähnt  nirgends,  dass  er  genöthigt 
gewesen  sei,  sein  Schiff  aus  dem  Eise  zu  befreien,  er  erwähnt  nur,  dass  dem 
Schiffe  eine  Eistafel  den  Weg  versperrte,  die  jedoch  durch  einen  Kanonen- 
schuss  zertrümmert  wurde.  Eigenthümlich  ist  es,  dass  Stefanow  den  18.  April 
dem  gregorianischen  Kalender  gemäss  angibt,  während  er  den  Tag  der  Ab- 
reise (12.  Mai),  der  mit  Benyovszky 's  Angabe  übereinstimmt,  nach  unserer 
Zeitrechnung  bezeichnet ;  der  Fehler  dürfte  vom  Uebersetzer  Metzlaer  her- 
rühren. Nach  Stefanow  waren  auf  dem  Schiffe  70  Personen,  nach  Benyovszky 
06,  deren  Namen  er  auch  anführt ;  der  Irrthum  ist  daher  wahrscheinlich 
auf  Stefanow's  Seite. 

Gochrane,  unser  vierter  Autor  schreibt:  «In  Bolscheretzk  hörte  ich 
wunderbare  Dinge  vom  bekannten  Benyovszky,  der  von  hier,  nachdem  seine 
Verschwörung  gelungen,  nach  Kanton  geflohen  war.  Eine  alte  Dame,  die 
später  meine  Schwägerin  wurde,  kannte  ihn  noch,  ihre  Aeusserungen  jedoch 
lauteten  nicht  günstig  .  .  •  Die  Kamtschadalen  halten  Benyovszky  noch  jetzt 
für  ihren  Fluch.»*  Ich  glaube,  diese  persönliche  Bekanntschaft  ist  der 
sicherste  Beweis  dessen,  dass  Benyovszky  wirklich  in  Kamtschatka  gewesen. 

Am  II.  Mai  1771,  einem  Mittwoch,  verliess  Benyovszky  Kamtschatka, 
den  Schauplatz  so  vieler  Leiden  und  Kämpfe.  Er  übernahm  das  Gommando 
des  Schiffes,  das  —  die  Mündung  des  Flusses  Bolscha  verlassend  —  sich 
nach  Süden  wandte,  um  das  Gap  Lopatka  zu  umfahren  und  längs  der 
Kurilen  dem  Stillen  Ocean  zuzusteuern.  Der  Weg  von  Bolscha  zum  Cap 
Lopatka  dauerte  zwei  Tage,  war  ruhig,  der  Himmel  jedoch  fortwährend 
bewölkt,  und  vom  Ufer  nichts  zu  sehen.  Am  1 3.  Mai  sahen  sie  das  Felsen- 
Cap  Alayd  gen  Westen,  das  nördlichste  Glied  der  Kurilen-Kette,  welches 
noch  heute  den  Namen  Alaid  oder  Araid,  nach  Cook  Arugan,  führt. 

Am  14,  Mai  umfuhr  Benyovszky *s  Schiff  das  Cap  Lopatka  und 
segelte  zwischen  den  zwei  nördlichsten  Inseln  der  Kurilen  in  den  Stillen 
Ocean,  Hier  irrte  es  vier  Tage  umher;  das  Wetter  war  nebelig,  trübe, 
es  gab  Schnee,  Begen,  Stürme  und  grosse  Fluth,  die  Richtung  des 
Schiffes  wurde  nicht  notirt.  Sie  mochten  nicht  fern  vom  Lande  sein,  denn 
schwimmendes  Gras  umfasste  öfters  ihr  Schiff  und  sie  sahen  auch  Adler 
umherfliegen.  Am  fünften  Tage  (19.  Mai)  erreichten  sie  die  Behring-Insel, 


*  Capt.  J.   D.  Gochrane,  Fussreise  durch  Busshind  und  die  Blbirische  Tartarey. 
nach  Kamtschatka.  Wien,  1826,  p.  140  und  196. 


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GRAF  MORITZ  BENYOVHZKY  ALS  GEOGRAPHISCHER  FORSCHER.       ^03 

sie  mussten  daher  vom  Gap  Lopatka  nach  NO.  gesegelt  sein  und  etwa 
75  Meilen  zurückgelegt  haben. 

Benyovszky  verbrachte  mit  seinen  Genossen  fünf  Tage  auf  der  Insel 
und  benutzte  die  Zeit  sehr  gut.  Nachdem  er  sich  überzeugt  hatte,  dass  die 
Insel  kaum  von  Eingeborenen  bewohnt  sei,  ankerte  er  in  einer  Bucht,  die 
nach  ihm  Moritz-Bucht  benannt  wurde,  Hess  am  Ufer  Hütten  errichten, 
ordnete  die  Beinigung  des  Verdeckes  und  die  Ventilation  der  Lebensmittel 
an,  Hess  Brod  backen,  Fische  einsalzen,  schaffte  durch  Jagd  Fleisch  und 
Leberthran,  liess  Holz  hacken  und  setzte  Alles  in  Bewegung,  um  die  Fort- 
setzung seiner  Reise  zu  sichern.  Hier  traf  er  auch  Spuren  anderer  Bei- 
sender; er  fand  die  durch  Feter  Kreniczin,  den  nach  GaUfomien  ausge- 
sandten Beisenden  errichteten  —  in  Europa  bis  dahin  unbekannten  — 
fünf  Gedenkkreuze,  was  gleichfalls  ein  Beweis  der  Glaubwürdigkeit  seines 
Berichtes  ist. 

Unterdessen  brach  unter  der  Mannschaft  eine  Revolte  aus,  Stefanow 
zeigte  eine  Verschwörung  an,  die  strenge  Bestrafung  erheischte.  Der  Gerichts- 
stuhl der  Gesellschaft  verurteilte  die  drei  Verschwörer,  allein  auf  die  Insel 
ausgesetzt  zu  werden.  Benyovszky  gab  sich  damit  zufrieden,  und  so  wurden 
die  drei,  Ismailoff,  Parentschin  und  seine  Frau  die  ersten  Golonisten  der 
Behring-Insel.  Ismailoff  war  vom  Glücke  begünstigt,  nach  sieben  Jahren 
fand  ihn  Cook  auf  der  Insel  Unalaska  und  schreibt  Folgendes  von  ihm :  * 
«Am  14.  October  Abends,  als  ich  mit  Herrn  Weber  in  der  Nähe  des  Dorfes 
Sanagandha  war,  sah  ich  einen  Russen  landen,  der^  wie  ich  später  erfuhr, 
eine  der  hervorragendsten  Persönlichkeiten  war.  Sein  Name  ist  Erasim 
Gregorioff  Sin  Ismailoff.  Er  kam  auf  einem  Kahn,  den  drei  Männer  trieben, 
und  den  ausserdem  20— 30  Nachen  begleiteten....  Ismailoff  scheint  ein 
intelligenter  Mann  zu  sein,  der  bedeutende  Erfahrungen  hat ;  ich  bedaure 
daher,  dass  ich  mit  ihm  nur  durch  Zeichen  verkehren  konnte.»  Hieraus  ist 
ersichtUch,  dass  Ismailoff  auf  Unalaska  überfuhr  und  dort  das  Haupt  einer 
Colonie  wurde. 

Die  Behring-Insel  liegt  nach  den  neuesten  Angaben,  die  Nordenskjöld 
zusammenstellte,  unter  54^  40'  und  55  ^  25'  nördl.  Breite,  und  somit  ist 
Benyovszky's  Bestimmung  —  55°  15'  —  vollkommen  richtig.  Die  östliche 
Länge  beträgt  166®  40'  Gr.;  Benyovszky  schreibt  nur:  ihre  geographische 
LÄnge  schätze  ich  auf  S''  von  Bolscha,  —  was  mit  jenen  Daten  gleichfalls  fast 
genau  übereinstimmt.  ** 

Wir  finden  jedoch  in  Benyovszky's  Beschreibung  einige  auf  die 
Behring-Insel  Bezug  habende  Daten,  die  einigen  Verdacht  erwecken  können. 

*  Cook's  ßäinmtliche  Beißen  und  Entdeckungen  um  die  Welt.  Wien,  Bauer 
1803,  Bd.  UI.,  p.  411. 

*'^'  Nordenskiöld,  1.  c. 


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104  qbJlF   MORITZ   BENYOV8ZKT   ALS   GEOGRAPraSCHER   FORSCHER. 

Denselben  zum  Teile  zu  zerstreuen  ist  aber  nicbt  allzuscbwer.  Benyovszky 
schreibt  in  seinem  Tagebuch^  dass  er  hier  Holz  habe  schlagen  lassen ;  dem 
gegenüber  wissen  wir,  dass  auf  der  Insel  Bäume  weder  zu  Zeiten 
Stellers^  des  ersten  Beschreibers  der  Insel^  noch  zu  Nordenskjöld's  Zeit 
wuchsen.  Kjellmann,  Nordenskjöld's  Begleiter^  schreibt  von  der  Flora  der 
Insel:  lÄn  dem  langsam  ansteigenden  Ufer  sind  zwei  Zonen,  eine  äussere, 
ohne  jedwede  Flora,  und  eine  innere  mit  Heracleum  sibiricum,  Angelica 
archangelica,  Ammailenia  peploides,  Elymus  mollis  etc.  genau  zu  unter- 
scheiden.»* Es  scheint,  dass  Benyovszky's  Brennholz  auch  solchem  Jung- 
wald entstammte. 

Benyovszky  hebt  von  den  Tieren  nur  die  Seeotter  hervor,  denn  er 
bekam  150  Otterfelle  von  dem  auf  der  Insel  wohnenden  Ochotin.  Ein  merk- 
würdiges Tier  der  Insel  war  der  Eisfuchs,  der  in  unglaublichen  Massen 
auf  der  Insel  lebte,  von  den  Pelzjägern  aber  so  sehr  ausgerottet  wurde,  dass 
Nordenskjöld  kein  Exemplar  desselben  finden  konnte.  Benyovszky  erwähnt 
den  Eisfuchs  nicht»  was  jedenfalls  sonderbar  ist,  da  er  seit  1771  noch  nicht 
gänzlich  ausgerottet  sein  konnte.  Viel  natürUcher  ist,  dass  Benyovszky  die 
heute  schon  gänzlich  ausgestorbene  Steller'sche  Seekuh,  die  von  1768  an 
nur  selten  gefunden  wurde,  nicbt  erwähnt,  sowie  es  uns  auch  nicht  wundem 
darf,  dass  er  der  Seebären  nicht  Erwähnung  thut,  die  ja  doch  nur  Ende 
Mai  oder  Anfangs  Juni  das  Ufer  aufsuchen,  zu  welcher  Zeit  Benyovszky  die 
Insel  schon  verlassen  hatte.  ** 

Ich  wiD  nur  noch  zwei  Thatsachen  von  Benyovszkys  Aufenthalt  auf 
der  Behring-Insel  erwähnen,  und  dies  ist  der  Unterschied,  welcher  sich 
zwischen  Ochotins  erstem  Brief  vom  :24.  Janar  1771  und  der  Bemerkung 
Benyovszky *s  in  seinem  Brief  vom  20.  Mai  ergibt :  tals  ich  den  Brief  genauer 
untersuchte,  fand  ich,  dass  die  Schrift  noch  ganz  frisch  gewesen.»  Entweder 
stammt  daher  der  Brief  nicht  vom  24.  Januar,  oder  ist  Benyovszky's  Bemer- 
kung irrig ;  welchen  Zweck  so  Benyovszky,  wie  Ochotin  mit  der  Fälschung 
des  Datums  verfolgen  wollte,  ist  uns  unerfindlich. 

Die  Behring-Insel  war  zu  Stellers  Zeit  von  Menschen  noch  nicht 
bewohnt ;  auch  Benyovszky  fand  auf  derselben  keine  Bewohner,  und  obwohl 
•wir  nicht  wissen,  wann  die  Insel  bevölkert  wurde,  so  können  wir  doch  auf 
Grund  von  Benyovszky's  Bemerkungen  annehmen,  dass  dies  nach  1771 
geschah.  Benyovszky  hinterliess  auf  der  Insel  ein  Gedenkkreuz  und  verliess 
am  25.  Mai  1771  die  Insel,  um  dem  Wunsche  seiner  Gefährten  gemäss 
Amerika  aufzusuchen. 

Benyovszky  hatte  schon  während  seiner  Grefangenschaft  in  Kam- 
tschatka Gelegenheit,  die  Schriften  der  Kanzlei  zu  studieren;  unter  diesen 

*  Ejellmann,  Nordenskjöld,  1.  c.  IX.  Bd.  Beschreibung  der  Behring-Insel. 
♦*  S.  Nordenskjöld  über  die  Behring-Insel;  op.  cit.,  Bd.  IL 


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GRAF   MORITZ    BENY0V8ZKY   ALS   OEOORAPHIßCHER   FORSCHER.  105 

Schriften  fanden  sich  zahlreiche  Beisebenchte,  die  Benyovszky  eingehend 
studierte  und  excerpirte.  In  einem  Capitel  seines  Werkes,  das  aus  diesen 
Berichten  zusammengestellt  ist,  gibt  er  eine  historische  Skizze  jener  Beisen, 
die  östlich  von  Kamtschatka  unternommen  wurden.  An  die  Schilderung 
jener  17  Beisen  können  wir  nur  wenige  Bemerkungen  knüpfen;  nur  Einer 
fehlte  in  der  Beihe  ihrer  Unternehmer,  Deschnew,  der  erste  Erforscher  der 
Behring- Strasse,  der  die  Strasse  1648  durchschifft  und  den  Weg  von 
Nischni-Kolimsk  nach  Anadir  zurückgelegt  hatte.  Da  Deschnew's  Beise- 
ergebnisse  zu  jener  Zeit  noch  sehr  wenig  bekannt  waren,  selbst  Feter  dem 
Qrossen  nicht,  der  ihn  ausgesandt  hatte,  so  ist  es  nicht  zu  verwundern,  dass 
auch  Benyovszky  nichts  von  ihm  wusste ;  hatte  ja  auch  Behring  selbst  keine 
Eenntniss  davon,  von  dem  wir  übrigens  auch  nicht  wissen,  wie  weit  er  auf 
seiner  ersten  Beise  vorgedrungen  war.  * 

Die  Erforschung  dieser  G^enden  Sibiriens  kam  erst  damals  auf  die 
Tagesordnung,  als  das  Innere  desselben  bereits  genügend  bekannt  war.  Die 
in  Benyovszky's  Geschichte  aufgezählten  Beisenden  lieferten  zur  Kenntniss 
des  Behring- Meeres,  der  Aleuten  und  des  nordwestlichen  Teiles  Amerikas 
reiches  Material,  und  er  selbst  kannte  die  Gestalt  tmd  Grösse  des  Behring- 
Meeres  sehr  gut,  obwohl  als  erste  verlässliche  Quelle  Cooks  Beise  betrachtet 
wird,  die  sich  über  die  Behring-Strasse  hinaus  erstreckte. 

«Noch  nach  Gook's  Beise  waren  Sachalin,  Jeso,  die  Kurilen  und  deren 
Meere  zum  grössten  Teil  unbekannt.  La  Perouse  war  der  erste,  der  die  Ufer- 
linien dieser  Inseln  bestimmte,  der  Sachalin  als  Insel  erkannte  und  die 
Verbindung  der  Meere  von  Japan  und  Ochotzk  durch  die  Enge  von  Sachalin 
feststellte.  Hiemit  war  der  letzte,  bis  dahin  noch  unbekannte  Teil  der  Küsten 
Sibiriens  festgestellt,  und  die  späteren  Forschungen  mussten  sich  nur  auf 
die  Fixirung  der  Details  beschränken.» 

So  schreibt  der  grosse  Geograph  Beclus  **  und  wir  müssen  mit  Be- 
dauern bemerken,  dass  auch  er,  der  so  viele  Beisende  von  kleinerer  Bedeu- 
tung kennt,  Benyovszky's  Verdienste  nicht  anerkennt.  Ueberblicken  wir  in 
Kürze  die  Geschichte  der  Entdeckung  Sachalins  und  lesen  wir  Benyovszky's 
Beschreibung  der  Insel,  so  müssen  wir  zu  der  Ueberzeugung  gelangen,  in  wie 


*  Einen  Teil  dieser  Beisen  finden  wir  auf  Reclus'  Karte  (Nouv.  Geogr.  Univ. 
VI.,  t.  V.)  —  Aeltere  Quellen:  1.  Müller's  Sammlung  Russischer  Geschichte,  Peters- 
burg, 1732;  auch  französisch  imter  dem  Titel:  Voyages  et  D^couvertes  fiutes  par 
les  Busses  &  C.  Amsterdam  1766.  —  ±  Neue  Nachrichten  von  den  neuentdeck- 
ten Inseln  in  der  See  zwischen  Asia  und  Amerika  von  J.  L.  S.  Schulze,  Ham- 
burg, 1776.  —  3.  William  Ooxe's  Account  of  the  Russians  Discoveries  between  Asia 
and  America.  London,  1780.  —  4.  Pallas,  Nachricht  von  den  russischen  Entde- 
kungen  in  dem  Meere  zwischen  Asia  imd  Amerika.  Aus  dem  Russischen  übersetzt 
in  0.  E.  R  Büsching's  Magazin  16.  B.  935—286. 

**  Nouyelle  Geographie  Universelle,  Bd.  VL,  p.  582. 


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106  GRAF   MORITZ   BBNYÖVSZKT   ALS   GEOGRAPHISCHER   FORSCHER. 

ungerechter  Weise  die  Geographen  des  Auslandes  Benyovszky's  Verdienste 
geschmälert  haben. 

Der  Holländer  Martin  Gents  de  Vries  war  der  erste,  der  1643  im 
Geduld-Hafen  der  Insel  vor  Anker  ging,  das  Festland  aber  für  die  Insel 
Jeso  hielt.  Auch  auf  Cooks  im  Jahre  1784  in  London  erschienener  Karte 
findet  sich  nur  eine  kleine  Insel  an  der  Mündung  des  Amur.  Somit  consta- 
tirte  er  1787  — nach  Reclus  —  sechzehn  Jahre  nach  Benyovszky's  Reise 
die  gegenwärtige  Gestalt  und  Grösse  der  Insel ;  doch  auch  später  war  man 
noch  der  Meinung,  die  Insel  hänge  mit  dem  Gontinent  zusammen.  1797 
bereiste  Broughton  das  westliche,  1805  Krusenstem  das  nördliche 
Ufer,  doch  ohne  diese  Meinung  zu  ändern,  sowie  sich  denn  auch  diese 
Ansicht  bis  in  die  Mitte  unseres  Jahrhunderts  aufrecht  erhalten  hat,  obwohl 
einige  Jahre  nach  Krusensterns  Beise  der  japanische  Gelehrte  Mamia  Rinso 
von  der  Tataren-Bucht  zwischen  der  Insel  und  dem  Festand  zur  Amurmün- 
dung  gesegelt  war.  Die  gelehrte  Welt  nahm  erst  nach  Nevelskoi's  1849 — 52 
ausgeführten  genauen  Aufnahmen  Kenntniss  davon,  dass  Sachalin  eine  Insel 
sei,  die  durch  die  Mamio  Binso  genannte  Strasse  vom  Festlande  getrennt  ist ; 
die  Strasse  selbst  friert  im  Winter  zu,  so  dass  man  von  der  Insel  mittelst 
Schlitten  ins  Mandschu-Beich  gelangen  kann. 

Aus  alldem  ist  ersichtlich,  dass  die  Geographen  von  Anbeginn  an 
zwei  Fragen  nicht  zu  beantworten  vermochten :  ob  Sachalin  eine  Insel  sei, 
und  wenn  ja,  von  welcher  Grösse  sie  sei?  Benyovszky,  dessen  Werk  1790 
erschien,  war  der  erste,  der  auf  Grund  des  in  der  Kanzlei  zu  Kamtschatka 
gesammelten  Materials  genau  und  positiv  behauptete  (32.  Cap.  der  engli- 
schen Ausgabe),  dass  Sachalin  keine  Halbinsel,  sondern  eine  Insel  ist,  und 
er  bestimmte  deren  Grösse  viel  genauer  als  alle  anderen  späteren  Beschreiber 
der  Insel  bis  1840  d.  h.  bis  Nevelskoi,  dem  man  dies  als  ein  Verdienst 
anrechnet.  In  Benyovszky's  Beschreibung  der  Insel  Sachalin  findet  sich  nur 
eine  Angabe,  die  von  denen  der  übrigen  Forscher  abweicht ;  Benyovszky 
schreibt  nämlich,  die  Insel  habe  gute  Buchten.  Dem  gegenüber  schreibt 
lieclus:  «Die  2000  Km.  lange  Küste  Sachalins  weist  keinen  einzigen  Hafen 
auf,  in  dem  Schiffe  gefahrlos  ankern  könnten.»  Beclus'  Behauptung  ist 
jedenfalls  richtig,  wir  dürfen  jedoch  nicht  vergessen,  dass  Benyovszky 
seine  Daten  nicht  aus  Autopsie  schöpfte,  und  dass  sich  Heclus'  Behauptung 
nicht  auf  jene  kleinen  Segelboote  bezieht,  mit  denen  die  Bussen  die  Insel 
zuerst  aufsuchten. 

Benyovszky's  Reise  auf  dem  Behring- Meere  haben  bisher  nur  sehr 
Wenige  eingehender  verfolgt,  die  meisten  begnügten  sich  mit  jenen  kurzen 
Bemerkungen,  die  der  englische  Herausgeber  Nicholson  im  Vorworte 
gemacht  und  in  denen  er  drei  Punkte  der  Reisen  Benyovszky's  erwähnt:  er 
ging  von  der  Behring-Insel  aus,  berührte  die  Glerke-Inseln  und  verliess  bei 
der  Insel  Unemak  das  Behring-Meer,  um  in  den  Stillen  Ocean  zu  segeln. 


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GRAF   MORITZ   BBNY0V8ZKY   ALS    aEOGRAPHlSCHER   FORSCHER.  107 

Diese  kurze  Skizze  entspricht  wohl  der  Wahrheit^  genügt  jedoch  nichts  um 
die  Authenticität  der  Angaben  des  abenteuerlichen  Grafen  zu  bestätigen. 

Es  ist  gewiss  keine  leichte  Sache^  Benyovszky's  lieiseroute  von  Tag  zu 
Tag  zu  verfolgen,  da  aber  Benyovszky  während  seiner  Gefangenschaft  sich 
viele  Kenntnisse  erwarb^  ist  dies  auf  Grund  seines  Tagebuches  nicht  unmög- 
lich. Während  seiner  Irrfahrt  auf  dem  Behring- Meer  erwähnt  er  wohl  selten 
die  Bichttmg  seiner  Fahrt  und  die  zurückgelegten  Distanzen,  doch  macht 
er  einige  Bemerkungen,  auf  deren  Grund  die  Eichtung  seiner  Fahrt  den 
Umständen  angemessen  mit  ziemlicher  Genauigkeit  bestimmt  werden  kann. 

Am  28.  Mai  1771  erblickte  Benyovszky  ein  Kap,  das  er  -  obwohl  es 
mit  den  Angaben  der  Karte  nicht  übereinstimmte  —  für  das  Gap  Apaka- 
zana  hielt,  und  dessen  Lage  er  astronomisch  59^  nördl.  Breite  und 
13^  20'  östlicher  Länge  von  Bolscha  bestimmte.  Dies  ist  der  erste  Fixpunkt 
seiner  Fahrt.  Benyovszky's  Breitenbestimmungen  sind  annähernd  genau, 
seine  Fehler  machen  selten  einen  Grad  aus ;  weniger  genau  sind  die  Längen- 
bestimmungen, doch  betragen  die  Abweichungen  —  wie  schon  Nicholson 
bemerkt  hat  —  ziemlich  constant  5^  und  finden  ihre  Ursache  in  der 
östlichen  Declination  der  Magnetnadel.  Unter  dem  60^  nördlicher  Breite 
weist  das  asiatische  Festland  kein  bedeutenderes  Gap  auf,  einen  Grad 
gegen  Norden  ist  das  Pakatschinskoi  Gap,  eben  so  weit  gegen  Süden 
das  Gap  Oljutorskij;  nachdem  aber  letzteres  nur  14^,  das  erste  hin- 
gegen 18®  von  Bolscha  entfernt  ist,  was  mit  Benyovszky's  (von  Nicholson  corri- 
girten)  Angaben  übereinstimmt,  so  können  wir  das  Gap  Apakazana  mit  dem 
Gap  Fakatschin  umsomehr  für  identisch  halten,  als  auch  der  Name  hiefür 
spricht,  und  die  Fahrt  bis  hieher  ebenso  lange  dauerte,  als  von  hier  zum 
Gap  Lopatka,  der  Südspitze  Kamtschatkas,  was  der  geographischen  Lage 
vollkommen  entspricht.  * 

Der  nächste  Punkt,  dessen  Lage  wir  ziemlich  genau  bestimmen 
können,  wurde  von  Benyovszky  am  4.  Juni  erreicht.  Es  ist  eine  Insel,  deren 
Bewohner,  die  Benyovszky  auf  zwei  Booten  aufsuchten,  den  Tschuktschen 
ähnlich  sind,  jedoch  von  Benyovszky  nicht  so  genannt  werden.  Die  zwei 
Inwohner  verstanden  das  Korjakische  des  gräflichen  Steuermannes,  waren 
jedoch  auch  keine  Korjaken.  Von  ihnen  erfuhr  Benyovszky,  dass  die  Insel 
nur  14  Meilen  von  Tschukotzkoinsk  entfernt  sei,  welche  Daten  auf  die  Insel 
Glerke  oder  St.  Lorenz  hinweisen.  Die  Lage  der  Insel  bestimmte  Benyovszky 
astronomisch  für  65°  30'  nördl.  Breite  und  25°  30'  östl.  Länge  von  Bolscha; 
nach  unseren  jetzigen  Karten  liegt  sie  unter  63°  30'  nördl.  Breite  und  170° 
östl.  Länge,  was  34°  von  Bolscha  entspricht. 

Die  St  Lorenz-Insel  wurde  von  Behring  1741  entdeckt;  später,  1791, 

*  Whymper,  Alaska,  Beisen  und  Erlebnisse  un  hohen  Norden.  Braunschweig 
S.  die  Karte. 


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108  GRAF   MORITZ   BENYOVSZKY    ALS    GBOGRAPHIßCHER   FORSCHER. 

landete  auch  Billing  auf  der  Insel,  fand  dort  Spuren  von  Menschen,  konnte 
jedoch  keine  Eingeborenen  zu  Gesicht  bekommen.  Nach  Nordenskjöld  war 
der  erste  europäische  Besucher  der  Insel,  der  mit  den  Eingeborenen  ver- 
kehrte, Otto  Eotzebue,  im  Jahre  1816.*  Nordenskjöld,  der  Benyovszky  nicht 
zu  kennen  scheint,  muss  hier  berichtigt  werden,  denn  es  war  entschieden 
Benyovszky,  der  mit  den  Eingebornen  zuerst  verkehrte  und  über  sie  genaue 
Angaben  lieferte. 

Viel  schwieriger  ist  es,  Benyovszky's  Beise  vom  Gap  Apakazana  bis 
zur  Insel  Si  Lorenz  festzustellen ;  er  erreichte  die  Insel  am  5.  Juni,  seine 
Fahrt  dauerte  daher  eine  volle  Woche,  da  aber  die  Entfernung  in  gerader 
Linie  bequem  in  3 — i  Tagen  hätte  zurückgelegt  werden  können,  so  ist  es 
evident,  dass  das  Schiff  genötbigt  war,  grosse  Umwege  zu  machen,  oder  dass 
es  durch  die  Eisverhältnisse  im  Vordringen  gehindert  worden  war.  Das  Schiff 
musste  der  Eisverhältnisse  w^en  sehr  viel  leiden,  und  dies  mochte  die  Be- 
mannung bewogen  haben,  auf  die  nördliche  Durchfahrt  zwischen  Asien  und 
Amerika  zu  verzichten  und  Amerika,  das  heisst  dem  ersten  civilisirten 
Lande,  zuzusteuern. 

Vom  Gap  Apakazana  verfolgte  das  Schiff  eine  Zeit  lang  die  Küste, 
änderte  aber  auf  Wunsch  der  Mannschaft  die  Bichtung  und  wendete  sich 
gegen  Westen ;  noch  am  30.  Mai  sah  Benyovszky  die  Küsten  Kamtschatkas, 
doch  schon  am  31.  verschwanden  dieselben  und  er  entfernte  sich  in  öst- 
licher Bichtung  segelnd  vom  Gontinent.  Wir  kennen  die  Tiefenverhältnisse 
des  Behring- Meeres  und  können  daher  constatiren,  dass  Benyovszky  sich 
den  mittleren,  tieferen  Teilen  des  Meerbeckens  zuwendete,  denn  nur  dort 
konnte  er  jene  bedeutenden  Tiefen  (68  Faden)  beobachten,  deren  er  Erwäh- 
nung thut.  Das  Behring-Meer  ist  im  Allgemeinen  nicht  tief;  die  Uferbil- 
dung und  die  Tiefe  des  Meeres  geben  uns  Beweise  an  die  Hand,  die  dafür 
sprechen,  dass  Asien  und  Amerika  in  dieser  Breite  einst  in  Verbindung 
waren;  auch  die  Tschuktschen  wissen,  wie  Nordenskjöld,  Whymper  und 
EUiot  angeben,  dass  die  zwei  Erdtheile  unter  den  Wellen  des  Meeres  zusam- 
menhängen, ja  sie  behaupten  sogar,  eine  Landenge  habe  dieselben  einst 
verbunden  und  dieselbe  sei  —  wie  sie  Neumann  erzählten  —  nur  infolge 
eines  heftigen  Kampfes  zwischen  einem  Helden  und  dnem  Eisbären  in  die 
Tiefe  versunken.  Die  bedeutendste  Tiefe  in  der  Behring-Slarasse  beträgt 
58  M. ;  die  mittlere  Tiefe  erreicht  jedoch  weder  an  der  asiatischen,  noch  an 
der  amerikanischen  Küste  40  M.  und  der  eigentliche  Ocean  mit  seinen 
Wirbeln,  Strömungen  und  berghohen  Wellen  reicht  gegen  Norden  nicht 
über  die  Aleuten  hinaus,  an  deren  Felsklippen  die  Wut  des  Meeres  bricht.** 

Audi  ein  anderer  Umstand  spricht  dafür,  dass  Benyovszky  sich  dem 

*  IJordenßkjöld,  1.  c,  IL  Bd. 
**  Elliot:  Alasca,  an  arotic  province. 


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ÖRAP  MORITZ   BENT0V8ZKY   ALS   OBOaRAPHIBCHER  FOBSOHBB.  ^09 

Gentrum  des  Bebring-Meeres  sngewendet  habe ;  er  scbreibt,  dass  nacbdem 
sich  das  Scbi£f  yom  Ufer  entfernt  hatte,  das  Eis  ihm  keinerlei  Hindemisse 
mehr  in  den  Weg  gelegt  habe ;  er  schrieb  das  der  Luftströmmig  zu,  doch 
wissen  wir,  dass  die  Bichtung  der  Eisberge  nicht  von  den  Winden,  sondern 
von  den  Meeresströmungen  bestimmt  wird.  Die  Küsten  Asiens  werden  von 
einem  kalten  Meeresstrom  bespült,  der  die  durch  die  Behring-Strasse 
hindurchgedrungenen  Eisberge  gegen  Süden  führt ;  über  den  verhältniss- 
massig  schmalen  Streifen  dieser  Strömung  hinaus  erwärmt  sich  das  Wasser 
des  Behring- Meeres  unter  Einäu»9  der  heissen  Strömungen  und  ist  daher 
zumeist  eislos;  wenn  daher  Benyovszky  am  1.  Juni  keinem  Eise  begegnete, 
so  ist  dies  ein  Beweis  dafür,  dass  er  sich  ausserhalb  des  Bereiches  der 
üferströmiuig  befand.* 

An  diesem  Tage  erblickte  er  im  NO.  ein  Gap,  im  SO.  eine  Insel ;  es 
unterliegt  keinem  Zweifel,  dass  dies  nicht  Uferinseln  waren,  sondern  Inseln 
des  Behring-Meeres.  Das  Gap  kann  wohl  nichts  anders  gewesen  sein,  als 
die  südlichste  Spitze  der  Insel  St.  Lorenz.  Die  Insel  im  SO.  musste  eine 
Insel  der  Mathew-Gruppe  gewesen  sein;  Benyovszky's  Freunde  von  der 
Si  Lorenz-Insel  behaupteten  von  dieser  Ghruppe,  dass  dieselbe  aus  4  Inseln 
gebildet  werde,  deren  südlichste  die  grösste  sei.  Diese  Beschreibung  kann 
nur  auf  zwei  Inselgruppen  des  Behring- Meeres  bezogen  werden,  entspricht 
aber  keiner  ganz:  in  der  Mathew-Gruppe  sind  nur  drei  Inseln,  doch  ist  die 
südliche  die  grösste;  die  Prybilow-Ghruppe  hingegen  besteht  aus  vier  Inseln, 
unter  diesen  ist  aber  die  nördlichste  die  grösste.  Benyovszky  konnte  nicht 
nach  den  Prybilow-Inseln  gelangt  sein,  denn  der  grosse  Umweg  gegen  Süden 
hätte  mehr  Zeit  erfordert,  auch  wären  die  Windrichtungen  dieser  Fahrt  nicht 
günstig  gewesen ;  wir  müssen  daher  annehmen,  er  habe  nach  NO.  fahrend 
die  Mathew-Gruppe  gesehen,  und  sei  bezüglich  der  Zahl  der  Inseln  von  den 
Tschuktschen  ungenau  unterrichtet  worden.** 

Nachdem  Benyovszky  zwischen  den  Mathew-  und  St  Lorenz-Inseln 
durchgefahren,  entdeckte  er  im  Osten  ein  Gap,  das  —  wie  er  später  von  den 
Bewohnern  der  Insel  St.  Lorenz  erfuhr  —  die  äusserste  Spitze  des  grossen 
Alaksina-Beiches  bildete;  seiner  Angabe  nach  zieht  sich  vor  dem  Gap  ein 
Bifif  hin,  über  dem  das  Eis  ungeheuer  fluthet.  Dies  Gap  kann  nach  Nicholson 
nur  Point  Shallow  Water  sein,  das  heute  Gap  Bomanzow  genannt  wird. 
Von  hier  erreichte  Benyovszky's  Schiff  die  Insel  St.  Lorenz,  den  nörd- 
lichsten Punkt  seiner  Beise.  Von  hier  schiffte  er  durch  das  Behring-Meer 
in  NS-Bichtung  bis  zur  Kette  der  Aleuten;  das  Meer  war  eisfrei,  eine  Zeit 
lang  verfolgte  das  Schiff  die  Küsten  Amerikas,  wendete  sich  aber  später 
nach  Süden. 


*  Andree,  AÜas. 
**  EUiot,  op.  oit 


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11^^  GRAF  MORITZ   BE^OVSZKT  ALS   OBOORAPHISCHER  FOftSCflB». 

Bevor  wir  auf  die  Aleuten  übergehen,  müftsen  wir  noch  einige  Bemer- 
kungen über  jene  Teile  der  Memoiren  machen,  die  sich  nach  der  bis- 
herigen Meinung  auf  die  Behring-Strasse  beziehen.  Benyovszky  bestimmte 
die  kürzeste  Überfuhr  zwischen  Alaska  und  den  Aleuten  vom  Behring-Meer 
in  den  StiUen  Ocean;  und  indem  er  hierüber  de  dto  9.  Juni  schreibt,^  bringt 
er  seine  Entdeckung  mit  der  Behring-Strasse  auf  eine  Art  in  Verbindung, 
die  die  durch  die  falschen  Aufnahmen  der  russischen  Karte  verursachte 
Verwirrung  leicht  erkennen  lässt.  Es  lässt  sich  nicht  leugnen,  dass  Benyov- 
szky*s  Aeusserungen  sich  auch  auf  die  Behring-Strasse  beziehen,  obwohl  er 
sich  hierüber  nirgends  präcis  ausspricht;  doch  lässt  sich  durchaus  nicht 
behaupten,  Benyovszky  habe  die  Strasse  durchsegelt,  wie  es  einzelne 
deutsche  Herausgeber,  z.  B.  Ebeling  gewaltsam  thun,  um  die  Verlässlichkeit 
der  Angaben  zu  erschüttern. 

Die  Küstenlinie  Nord- Amerikas,  die  Benyovszky's  Schiff  befuhr  und 
an  die  sich  die  Kette  der  Aleuten  anschliesst,  gehört  zu  Alaska,  dem  nord- 
westlichsten Teil  Amerikas,  jener  grossen  Halbinsel,  deren  politische  Grenze 
genau  mit  dem  14f.^  ö.  L.  zusammenfällt.  Das  Land  Alaska  teilt  sich  in 
drei  Bezirke,^  deren  jeder  in  klimatischer,  floristischer  und  physischer 
Beziehung  gänzlich  verschieden  ist.  Der  nördlichste  führt  nach  dem  Haupt- 
flusse den  Namen  Jukon-District;  seinen  westlichen  Ufern  entlang  segelte 
Benyovszky.  Den  zweiten  District,  den  Sitka-District,  der  den  SO.  Alaskas 
bildet,  berührte  Benyovszky  bei  der  Insel  Kadiak.  Den  dritten  Bezirk  bilden 
die  Aleuten  mit  der  südwestlichen  Halbinsel  Alaska*s;  Benyovszky  hat 
diesen  Bezirk  nicht  nur  in  vielen  Teilen  bereist,  sondern  auch  in  einem 
separaten  Kapitel  eingehend  geschildert.^ 

Eine  kurze  Bemerkung  Benyovszky's,  das  Schiflf  sei  an  den  Ufern 
Jukons  von  Treibholz  umgeben  gewesen,  erweckt  unser  Interesse.  So  son- 
derbar diese  Bemerkung  für  diesen  öden  und  pflanzenlosen  Teil  der  Polar- 
gegend klingt,  ist  sie  doch  nicht  unerklärlich.  Fast  alle  Teile  des  Jukon- 
Districts  sind  mit  Holz  reich  gesegnet;  auch  die  Küsten  des  Eismeeres 
erhalten  von  den  Flüssen  angeschwemmtes  Holz  in  grosser  Menge,  es  kann 
daher  ein  Schiflf  ohne  Schwierigkeit  auf  Treibholz  stossen. 

Im  Kapitel  über  die  Aleuten  beschreibt  Benyovszky  zwölf  Inseln,  die 
ich  hier  nur  in  Kürze  anführe  : 

N.  B.    .Länge  v.  BolichH 

1.  Insel  Baru  59°  23°13' 

2.  •      Ala-GiffcBcha        58°  25°33' 

3.  •      Kadik  54°30'        33°16' 

4.  Fucbsen-Insel  53°45'        31°28' 


*  Memoü'en,  Bd.  L,  p.  281. 

'  A.  Molitor:  Alaska,  Földr.  Közlem^nyek,  Budapest  1881,  p.  345, 

*  Cap.  XXXIV.  des  Bd.  I.  der  englischen  Ausgabe. 


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GRAF   MORITZ   BENY0V8ZKY   ALS   GEOGRAPHISCHER   FORSCHER.  Hl 


N.  B. 

Länge  ▼.  Bolacha. 

5. 

Insel  Amsnd 

53° 

29°14' 

6. 

»      ürumißir 

52*>35' 

28°15' 

7. 

3  Bieber-Insel 

58« 

26^55' 

8. 

Euh-Insel 

61°35' 

24°45' 

9. 

Behring-Insel 

55°45' 

8^30' 

10. 

Kupfer-Insel 

54°45' 

9^50 

11. 

Insel  Kusma 

48^46' 

23° 

12. 

Perlen-Insel 

47^32' 

24°18' 

Obwohl  BenyoYSzky  diese  Inseln  als  zu  den  Alenten  gehörig  beschreibt 
and  auch  ihre  Lage  genau  zu  bestimmen  bestrebt  ist,  wozu  er  ausser  seinen 
Erfahrungen  auch  das  Material  des  Archives  von  Kamtschatka  verwendet, 
so  können  wir  doch  die  angeführten  Inseln  —  ein-zwei  ausgenommen  — 
auf  den  gegenwärtigen  Karten  nicht  ausfindig  machen.  Die  erste  und  Haupt- 
ursache dieses  Umstandes  bildet  die  Ungenauigkeit  seiner  astronomischen 
Aufnahmen,  deren  Fehler  umso  grösser  wird,  je  mehr  er  sich  gegen  0.  wendet. 
Nach  BenyovBzky's  Angabe  liegt  die  Behring-Insel  unter  54*^45'  n.  Er.  und 
8^  30'  ö.  L.  von  Bolscha,  die  Kadik-Insel  unter  54^30'  n.  Br.  und  33^18'  ö.  L. 
von  Bolscha.  Die  Längenbestimmung  der  Behring-Insel  ist  ziemlich  genau. 
Die  Kadiak-Insel  ist  zweifelsohne  mit  der  Insel  Kadjak  oder  Kadik  identisch. 
Jene  ist  die  westlichste,  diese  die  östlichste  Aleuten-Insel,  nach  Benyovszky 
ist  der  Längenunterschied  zwischen  diesen  beiden  Inseln  20^46',  wogegen 
er  thatsächlich  das  Doppelte,  nämlich  42^  beträgt. 

Auch  in  den  Breitenangaben  finden  wir  ähnliche  Abweichungen. 
Die  südUchste  (Perlen) -Insel  verlegt  Benyovszky  unter  47^32'  n.  Br.,  die 
nördlichste,  auf  der  noch  Menschen  leben  (Baru),  auf  59°  n.  Br.,  der 
Unterschied  würde  also  11  ^/a°  betragen;  thatsächlich  existirt  aber  zwischen 
dem  40  und  51°  n.  Br.  unter  der  geogr.  Länge  der  Aleuten  keinerlei  Insel, 
sowie  auch  zwischen  dem  58  und  60°  nicht,  infolge  dessen  sich  die  Distanz 
von  llVa°  auf  höchstens  7°  reducirt,  der  Irrtum  daher  4°  beträgt. 

Aus  den  früheren  Ausführungen  ersahen  wir,  wie  schön  Benyovszky's 
Erfahrungen  mit  unseren  gegenwärtigen  Kenntnissen  übereinstimmen,  und 
wie  weit  sich  auf  Grund  seiner  Angaben  die  Boute  seiner  Fahrt  bestimmen 
lässt ;  es  muss  uns  daher  die  fehlerhafte  Beschreibung  der  Aleuten  über- 
raschen und  wir  müssen  unwillkürlich  die  Frage  stellen,  worin  wir  den 
Grund  dieser  Thatsache  zu  suchen  haben?  Wir  finden  den  Grund  in 
Benyovszky's  Bescheidenheit.  Er  hatte  die  Daten  über  die  AJeuten  zu- 
sammengestellt, noch  ehe  er  sie  besucht  hatte.  Nachdem  er  sie  nun  besucht 
hatte,  meinte  er  keine  Ursache  zu  haben,  an  den  Daten  der  Kanzlei  in 
Kamtschatka  zu  zweifeln,  er  nahm  daher  die  alten  Bestimmungen  als 
richtig  an  und  war  mehr  darauf  bedacht,  in  der  Beschreibung  der  Inseln 
Neues  zu  bieten.  Was  er  aus  eigener  Erfahrung  über  die  Aleuten  mitteilt, 
ist  daher  zur  Festsetzung  seiner  Beise  von  viel  grösserem  Gewicht. 


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Hd  ORAF   MORITZ   BENY0V8ZKT   ALS   OBOGRÄPHISOHBR  FOBSOHfift. 

Uns  damit  zu  beschäftigen,  die  Lage  der  von  Benyovszky  beschrie- 
benen zwölf  Inseln  auf  unseren  Karten  festzusetzen,  wäre  vergebliche 
Arbeit:  wir  würden  über  die  Behring-,  Kupfer-  und  Kadiak-Insel  kaum 
hinausgelangen;  es  lässt  sich  auch  annäherungsweise  nicht  bestimmen, 
welches  Gap  an  der  Westküste  Alaskas  das  Gap  Baru  sein  soll ;  die  Ala- 
und  Otter- Insel  dürften  —  ihrer  Entfernung  nach  —  den  Prybilow-Inseln 
entsprechen,  einer  nördlichen  Gruppe  der  Aleuten ;  die  Amsud-Insel  dürfte 
ihrem  Namen  nach  mit  Amsitka  identisch  sein ;  die  Fuchsen-Insel  ist  eine 
der  heutigen  Fuchsen-Inseln ;  in  die  Bestimmung  der  Kuzma  und  Perlen- 
Inseln  wollen  wir  uns  gar  nicht  einlassen ;  endlich  dürfte  Urumsir  und  die 
Kuh-Insel  zwischen  Amsud-  und  der  Kupfer-Insel  zu  suchen  sein. 

Hingegen  können  wir  mit  voller  Genauigkeit  die  Insel  festsetzen,  an 
der  Benyovszky  zuerst  landete.  Benyovszky  nennt  ihren  Namen  nicht,  er- 
zählt jedoch.,  dass  seine  Leute  einen  Ausflug  ins  Innere  der  Insel  unter- 
nahmen, wo  sie  4  Meilen  entfernt  ein  Dorf  mit  14  Häusern  vorfanden  ;  die 
Insel  musste  daher  entschieden  einen  grösseren  Durchmesser  als  4  Meilen 
haben.  Kutznezow,  der  an  der  Spitze  der  Excursionisten  stand,  erzählt, 
dass  die  Bewohner  bei  ihrem  AnbUcke  davon  liefen,  eine  alte  Frau  jedoch 
mit  einigen  Kindern  dort  blieb,  dass  ihre  Gesichtsfarbe  sehr  dunkel  war,  die 
Stirn  mit  verschiedenen  Figuren  geschmückt,  die  Ohrlappen  durchbohrt 
waren.  Sie  sprach  weder  korjakisch,  noch  tsohuktschisch ;  in  ihrer  Hütte 
fand  man  Pfeile,  Speere  und  Kleider  aus  Vogelfedern.  All  dies  spricht  dafür, 
dass  es  sich  hier  um  Indianer  handelte.  Nehmen  wir  noch  dazu  in  Betracht, 
dass  Benyovszky  von  einem  Ganal  zwischen  einer  Insel  und  dem  amerika- 
nischen Festlande  spricht,  so  können  wir  behaupten,  dass  Benyovszky  am 
7.  Juni  auf  der  Insel  Unimak,  dem  ersten  Gliede  der  Aleutischen  Inselkette 
gelandet  hatte. 

Es  existieren  nur  wenige  photographische  Aufnahmen  von  dieser 
Gegend,  noch  weniger  von  den  Aleuten ;  Gegenden,  die  durch  mehrere  Pho* 
tographen  aufgenommen  wurden,  existieren  fast  gar  nicht ;  in  letzterem  Falle 
stimmten  die  Aufnahmen  selten  überein,  da  dieselben  zumeist  von  verschie- 
denen Standpunkten  herrühren.  Zwischen  der  Insel  Unimak  und  Alaska 
führt  ein  schmaler,  jedoch  tiefer  Kanal,  der  den  Namen  des  berühmten  ßei- 
senden  Krenitzin  führt.  Dieser  Kanal  ist  für  die  Schiflffahrt  insoweit  von 
Bedeutung,  als  durch  denselben  der  kürzeste  Weg  von  den  westlichen  Häfen 
Amerikas  in  die  Behring-See  führt.  Von  bedeutend  grosserem  Interesse  ist 
diese  Gegend  für  den  Maler;  auf  der  Insel  Unimark  erhebt  sich  der  8935' 
hohe  Sisaldin,  dessen  kahle  Spitze,  von  einer  zweiten  flankirt,  schon  von 
bedeutender  Entfernung  sichtbar  ist.  Als  Benyovszky  am  9.  Juni  1779  den 
Unimak-Kanal  {».ssirte,  erregte  dieser  Berg  so  sehr  sein  Interesse,  dass  er 
ihn  nicht  nur  beschrieb,  sondern  auch  abzeichnete.  Die  Beschreibung  ist 
nur  kurz,  jedoch  sehr  charakteristisch;   «um  10  Uhr  erblickten  wir  ein 


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GRAF   MORITZ   BENY0V8ZKY   ALS   GBOGRAPHISOHSB  FOR80HEB.  H^ 

zweites  Kap,  dessen  Endpunkt  dnrch  einen  znckerhntfönnigen  Berg  kennt- 
lich ist.»  Etwa  100  Jahre  später  zeichnete  auch  EUiot  den  Kanal,  obwohl 
von  grösserer  Entfernung,  jedoch  von  derselben  Richtung,  und  beide  Abbil- 
dungen stimmen  so  sehr  überein,  dass  kein  Zweifel  bezüglich  der  Identität 
des  auf  denselben  dargestellten  Berges  sein  kann ;  es  ist  daher  constatirt, 
dass  Benyovszky  durch  die  Unimak-Strasse  den  stillen  Ocean  erreicht  habe  ; 
Photographie  und  Zeichnung  haben  hier  ein  interessantes  geographisches 
Problem  zur  endgiltigen  Lösung  gebracht* 

Am  10.  Juni  verliess  Benyovszky  den  Unimak-Eanal  und  damit  das 
Behring-Meer.  Hier  ändert  sich  das  Bild  der  Gegend  vollständig;  das  Schiflf 
schwebt  auf  dem  stillen  Ocean,  und  dieser  ist  nicht  so  rauh :  «wir  hatten  einen 
sehr  angenehmen  Tag  —  schreibt  er  in  seinen  Memoiren  —  den  ersten 
guten  Tag,  seit  wir ;  Kamtschatka  verUessen.»  Das  Eis  hinderte  das  Schiff 
nicht  mehr;  die  Tiefe  des  Meeres  schwankt  zwischen  45  und  76  Faden,  was 
unseren  gegenwärtigen  Kenntnissen  vollkommen  entspricht;  die  Omis  wird 
reicher,  das  Klima  milder;  Benyovszky  wird  einiger  Inseln  gewahr  und 
landet  endlich  nach  einer  gefahrvollen  Fahrt  von  einer  Woche  am  19.  Juni 
auf  Kadik.  Noch  eine  Woche  treibt  er  sich  auf  den  Aleuten  herum,  beschreibt 
die  Insel  ürumisir  —  die  wir  nicht  auffinden  können  —  sehr  interessant, 
berährt  nach  Westen  fahrend  noch  einige  Inseln  und  verlässt  endlich  die 
Aleuten.  Nach  einer  achttägigen  Fahrt  landet  er  auf  einer  Insel,  auf  welcher 
Kusnetzow  «den  Chinesen  ähnliche»  Bewohner  trifft,  die  ihm  einen  Sonnen- 
schirm und  eine  Pfeife  schickten.  Der  Schirm  war  aus  mit  Oel  gebeiztem 
Papier  gemacht  und  mit  chinesischen  und  japanischen  Figuren  geschmückt. 
Die  Pfeife  war  aus  irgend  einem  weissen  Metall  angefertigt,  der  Tabaksack 
aus  gesticktem  Atlas.  Benyovszky  entnahm  aus  Kusnetzow's  Beschreibung, 
dass  er  sich  auf  den  Kurilen  befand ;  nach  einer  Irrfahrt  von  zwei  Mopaten 
hatte  er  sie  erreicht  und  hier  traf  er  zuerst  die  Produkte  der  japanischen  In- 
dustrie und  Kunst. 

Benyovszky  beschreibt  die  Kurilen  in  einem  separaten  Kapitel,  als 
dessen  Quellen  er  Spanberg,  Walton,  Irtisen,  Smitevskoi,  Sind  und  Zomi 
nennt ;  er  setzt  die  Zahl  der  Inseln  auf  28  und  nennt  22  mit  Namen,  gibt 
ihre  astronomische  Lage  an  und  bietet  eine  kurze,  jedoch  charakteristische 
Beschreibung  derselben.  Wir  können  mit  Befriedigung  constatiren,  dass 
Benyovszky  zu  seiner  Zeit  der  gründlichste  Kenner  der  Kurilen  war,  und 
wenn  wir  auch  einen  Teil  der  Namen  heute  nicht  finden,  können  wir  doch 
die  GUeder  der  Kette  mit  ziemlicher  Genauigkeit  zusammenstellen. 

Die  durch  die  Kurilen  gebildete,  zum  Teile  submarine  Bergkette  hat 
sich  in  einer  Ausdehnung  von  650  Km.  mit  bewunderungswürdig  regel- 
mässiger Structur  ausgebildet.  Sie  wird  vom  südlichsten  Teil  Kamtsohatkals, 

*  Elliot,  op.  cit.  ♦ 

üngmxiiche  Berae,  XI.  1891.  IL  Heft  g 


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114-  GRAF   M0RIT2    BENYOVSZKY   ALS   GEOGRAPHISCHER   FORSCHER. 

von  Lopatka  oder  Omoplate  nur  durch  einen  13  Km.  breiten  und  18  M. 
tiefen  Kanal  getrennt,  dort  beginnen  die  «Tausend  Inseln,»  —  wie  die 
Japaner  die  Kurilen  mit  dem  Wort  Kissima  nennen  —  mit  der  vulkanischen 
Masse  des  Sumku  (bei  Benyovszky  Sumassu),  der  gen  Westen  auf  die  Insel 
Araido  (Benyovszky's  Alayd)  blickt,  während  sich  im  Süden  die  bergige  Insel 
Paramuschir  (bei  Benyovszky  Poromusur)  an  ihn  knüpft  und  Kamtschatka 
eigentlich  mit  dieser  Insel  endet ;  der  Kanal  ist  nämlich  sehr  seicht,  während 
im  S.  von  Paramuschir  der  stille  Ocean  und  das  Ochotzkische  Meer  durch 
einen  ziemlich  breiten  Kanal  mit  einander  communicieren,  und  die  sich  an 
einander  schliessenden  Inseln,  Onnekotan,  Haramukotan,  Siaskotan,  Matua- 
Bakna,  Simussir  etc.  nur  die  über  das  Meer  herausragenden  Spitzen  der 
submarinen  Bergkette  sind.  Da  die  Kurilen  bisher  nur  teilweise,  u.  z.  in 
Bezug  auf  SchifiFfahrt  und  Fischerei  untersucht  wurden,  bilden  sie  heute 
einen  noch  viel  weniger  bekannten  Complex  als  die  Aleuten.  Wir  wissen, 
dass  die  Vulkane  Kamtschatkas  mit  den  feuerspeienden  Kegeln  Jeso's  durch 
die  Vulkane  der  Kurilen  verbunden  sind,  aber  gänzlich  unbekannt  ist  uns 
auch  heute  die  Zahl  der  thätigen  Vulkane,  ja  wir  kennen  sogar  die  Namen 
der  Inseln  nicht ;  die  Benennungen  sind  nicht  einheitlich  und  manche  Insel 
kommt  auf  den  Karten  unter  verschiedener  Benennung  vor.  Nach  Milne 
sind  auf  den  Kurilen  52  Vulkane;  nach  der  Zusammenstellung  Alexis 
Perrey's  waren  seit  der  Entdeckung  der  Inseln  wenigstens  13  in  Thätigkeit.* 

Am  16.  Juli  erreichte  Benyovszky's  Schiff  eine  Insel,  auf  der  er  fast 
eine  Woche  verweilte.  Am  nördlichen  Teil  der  Insel  fand  Benyovszky  einen 
sehr  günstigen  Hafen,  in  den  sich  ein  Bach  ergoss,  der  die  dürstende  Mann- 
schaft mit  vorzügUchem  Wasser  versah ;  auf  der  Insel  fand  Benyovszky  viel 
Schweine  und  Ziegen,  sowie  prächtige  Obstgattungen,  die  er  aber  nur  in 
gekochtem  Zustande  zu  geniessen  vermochte.  Er  nannte  die  Insel  —  nach 
dem  guten  Trinkwasser  —  Wasser-Insel,  ein  Name,  der  sich  in  der  Geo- 
graphie nicht  erhalten  hat.  Benyovszky  erwähnt  von  den  Obstgattungen 
Aepfel,  Kokusnüsse,  Ananas,  Marillen  u.  A.  Er  fand  femer  Markasit  und 
Zinnober  und  seine  Leute  hofften  reiche  Goldminen  und  Diamanten  zu 
finden.  Dies  bot  die  Veranlassung  zu  einem  Aufstande,  an  dessen  Spitze  der 
unzufriedene  Stefanow  stand,  und  Benyovszky  konnte  sich  der  Folgen  des 
Aufstandes  nur  so  erwehren,  dass  er  versprach,  von  Japan  Weiber  zu  holen 
und  dann  auf  die  reiche  Insel  zurückzukehren. 

Benyovszky  zählt  die  Wasser-Insel  nicht  unter  die  Kurilen,  sondern 
verlegt  sie  unter  32°  nördl.  Breite  und  355*^  8'  Länge  von  Bolscha.  Hier 
suchen  wir  vergebens  nach  einer  Insel,  und  wir  dürfen  die  Ortsbestimmung 
nicht  für  richtig  halten.  Wenn  wir  aber  in  Betracht  ziehen,  dass  Benyovszky 
früher  auf  einer  Insel  landete,  wo  er  schon  japanischen  Einfluss  fand,  femer 

*  Bein  J.  J.»  Japan.  Leipzig,  1881,  I.  Bd. 


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GRAF   MORITZ   BENYOVSZKY   ALB   GEOGRAPHISCHER  FORSCHER.  U«^ 

dass  er  zur  Jeso-Gruppe  nur  grosse  Inseln  rechnet,  unter  dieselben  aber  die 
Wasser- Insel  nicht  zählt,  endlich  dass  er  nach  Süden  reiste  und  die  Ostufer 
Japans  befuhr,  so  glauben  wir  nicht  zu  irren,  wenn  wir  unter  der  Wasser- 
Insel  eine  südliche  Kurilen-Insel  etwa  unter  42®  47'  nördl.  Breite  ver- 
muten. 

Am  21.  Juli  verliess  Benyovszky  die  Wasser- Insel  und  erreichte  nach 
einer  Irrfahrt  von  acht  Tagen  Japan,  wo  er  im  Hafen  von  Usilpaskar  lan- 
dete. Aus  unseren  Karten  lässt  sich  die  Lage  dieses  Hafens  nicht  bestimmen, 
wir  glauben  jedoch  nicht  zu  irren,  wenn  wir  ihn  auf  die  nördliche  Hälfte 
des  Ostufers  der  grössten  japanischen  Insel  verlegen.  In  dieser  Woche  war 
also  Benyovszky  den  Ufern  Jesos  entlang  gesegelt,  die  er  in  einem  beson- 
deren Capitel  auch  beschreibt,  obwohl  er  nicht  erwähnt,  sie  gesehen  zu 
haben. 

Die  grösste  Wichtigkeit  Jesos  bilden  das  aussterbende  Volk  der  Aino, 
auf  das  wir  die  Aufmerksamkeit  aus  dem  Grunde  lenken  wollen,  weil 
Benyovszky  dasselbe  wenigstens  aus  Beschreibungen  (Manuscripten,  nicht 
Büchern)  gekannt  hat.  Er  erwähnte  schon  bei  Beschreibung  der  20-ten  Ku- 
rilen-Insel Marikan :  «Sie  wird  von  bärtigen  Kurilen  bewohnt,  die  die  Russen 
Mahuati  nennen.»  Das  Epitheton  «bärtig»  ist  so  charakteristisch,  dass  es 
sich  nur  auf  die  Aino  beziehen  kann. 

Schon  die  ältesten  japanischen  Bücher  und  UeberUeferungen  erwähnen 
unter  den  Namen  Jebisch,  Jebbsis,  Jemissi,  Mosin  oder  Maojin  eines  uralten 
wilden  Volkes^  der  «östUchen  Barbaren»,  deren  Name  «langhaarige  Men- 
schen» bedeutet;  dies  Volk  bewohnte  den  nördlichen  Teil  der  grossen  Insel 
und  bildete  die  Ahnen  der  Aino.  Im  Namen  Maojin  erkennen  wir  Benyov- 
ßzky's  Mahutin.  Obwohl  kein  directer  Beweis  für  die  Verwandtschaft  der  Japa- 
nesen mit  dem  wilden  Barbarenvolk  spricht,  müssen  wir,  wenn  zwischen 
beiden  Völkern  Verwandtschaft  existirt,  dieselbe  auf  die  seit  Jahrhunderten 
vorhandene  Kreuzung  zurückführen.  Wenn  heute  im  Norden  der  grossen 
Insel  keine  Aino  wohnen,  dürfen  wir  nicht  glauben,  es  wären  alle  durch 
die  erobernden  Japaner  des  XV.  Jahrhunderts  vernichtet  worden,  denn 
unter  dem  Namen  Adsma  Jebisch  haben  sie  sich  mit  den  civilisirten  Völkern 
des  Nordens  vermischt,  und  wir  erkennen  noch  heute  die  äusseren  Zeichen 
dieser  Verwandtschaft,  sowie  wir  dort  die  SteinwafFen  der  Aino  in  grosser 
Menge  vorfinden.  Im  nördlichen  Teil  Hondo's  haben  namentUch  die  Frauen, 
die  Erhalter  der  Rassensymptome,  viel  vom  Typus  der  Aino  bewahrt.  Auch 
die  japanischen  Bewohner  der  Insel  Ogasima,  die  von  den  Bewegungen  der 
Givilisation  fast  ganz  abgeschnitten  sind,  ähneln  den  Nachkommen  der 
Kurilen  in  grossem  Maasse ;  ja  auch  in  den  Bewohnern  der  Ebenen  Jeddos 
circulirt  Aino-Blut.  Heute  leben  die  Aino  fast  ungemischt  auf  Jeso,  den  Süd- 
Kurilen  und  der  Insel  Sachalin;  die  Volkszählung  von  1873  ergab  auf  Jeso 
12,281  Seelen^  und  so  dürfte  die  Totalsumme  der  ganzen  Basse  nicht  über 

8* 


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116  GRAF   MORITZ   BBNYOVSZKT   ALS   ÖEOGRAPHISOHBR   P0R8CHBXR. 

20>000  betragen.  In  früheren  Zeiten  nannte  man  sie  allgemein  «haarige 
Kurilen»,  nach  den  Inseln  die  sie  bewohnten;  so  nannten  sie  Sibold  Em- 
senstem,  Golownin  und  Benyovszky,  die  ersten,  die  jene  Gegenden 
erforschten.^ 

Mit  der  Ankunft  Benyovszky's  auf  Japan  wird  die  Analyse  seiner  Reise 
bedeutend  leichter;  ausser  einigen  Namen,  die  zu  einer  Gontroverse  Veran- 
lassung gaben,  hat  er  von  dort  nichts  Neues  mitgebracht.  Am  3.  August 
verUess  er  den  Hafen  Usilpatkar  und  segelte  an  den  üfem  Japans  gen  Süden; 
er  entfernte  sich  nicht  weit  vom  Ufer,  denn  die  Tiefe  des  Meeres  überschritt 
nirgends  20  Faden,  während  einige  Tagereisen  gegen  Osten  der  stille  Ocean 
schon  eine  ungeheure  Tiefe  erreicht.  Am  5.  August  erklärt  Benyovszky 
bereits  bestimmt,  dass  er  sich  westUch  vom  Königreich  Idso  befinde ;  das 
dem  Stillen  Ocean  zugewendete  Ufer  der  Insel  Hondo  besteht  nämlich  aus 
zwei  Abschnitten,  deren  einer  von  N.  nach  S.,  der  andere  nach  SW.  streicht; 
am  Knie,  welcher  das  Ufer  hier  bildet,  liegt  das  Königreich  Isodo  (heute 
Jesso),  und  wenn  sich  Benyovszky  im  Westen  desselben  befand,  musste  er 
das  Knie  bereits  überschritten  haben.  Dem  entspricht  auch,  dass  Benyovszky 
am  5.  August  in  Misaki  landete,  das  am  westlichen  Ufer  der  den  Hafen  von 
Tokio  abschliessenden  Halbinsel  lag ;  von  hier  sandte  er  einen  Brief  an  den 
in  Nangasaki  lebenden  Vorsteher  der  holländischen  Faktorei.^ 

Am  11.  August  erreichte  Benyovszky  den  Hafen  Tosa  auf  der  Insel 
Xicoco.  Die  Insel  führt  noch  heute  den  Namen  Schikoku  und  die  grosse  Bucht 
sowie  der  Bezirk  am  Südufer  Toshin-nada.  Die  Hauptstadt  der  Insel  heisst 
jedoch  nicht  Tosa,  sondern  Kotschi ;  Benyovszky  erwähnt  nur  den  Hafen, 
die  Stadt  nicht.  ^ 

Von  Tosa  ausgehend,  umschiffte  Benyovszky  am  12.  August  das  «Kap,» 
das  kein  anderes  sein  kann,  als  die  Südspitze  der  Insel  Schikoku,  IsasakL 
Von  hier  erreichte  er  Tags  darauf  Takasima,  dessen  Name  vielerlei  Ausdeu- 
tungen erlaubt.  Wo  lag  Takasima?  Diese  Frage  zu  beantworten  ist  schwie- 
riger als  die  Lösung  jeder  anderen.  Benyovszky  erwähnt  ausser  Takasima 
noch  zwei  Namen,  die  Insel  Ximo  und  Nangasaki;  beide  sind  separate  Inseln. 
Die  Lage  Takasimas  lässt  sich  folgendermassen  bestimmen :  Tosa  liegt  nach 
Benyovszky  32^  15'  Breite  und  350''  16'  Länge,  Takasima  unter  30''  0'  Breite 
und  328 '^  0'  Länge.  Wir  müssten  zuerst  constatieren,  dass  sich  in  die  Grad- 
angabe Tosa's  ein  Druckfehler  eingeschlichen  hat;  es  liegt  nicht  unter  350 '', 
sondern  330°  westl.  Länge.  Zwischen  Tosa  und  Takasima  bleibt  daher  ein 
Unterschied  von  2^^  16'.   Auf  unseren  heutigen  Karten  von  Japan  finden 


^  Dr.  A.  Török :  Die  Aiuos.  Budapest!  Szemle  1889,  März  und  April. 
•In  der  Jokai'schen  ung.  Uebersetzung  fehlt  Benyovszky's  Ankunft  in  Misaki, 
sowie  sein  Brief  nach  Nangasaki.  Warum,  ist  uns  nicht  bekannt. 
»Rein  1.  o.  I.  11,  14,  19,  59,  92,  112,  545  und  595. 


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GRAF   MORITZ    BBNYOV8ZKY   ALS   GEOGRAPHISCHER  FORSCHER.  117 

wir  2^/4^  westlich  und  lä^A  südlich  von  Tosa  den  südöstlichen  Teil  der 
grossen  Insel  Eiusiu,  deren  höchste  Spitze  Takasima  heisst.  Soviel  ergibt 
sich  aus  der  Vergleichung  der  astronomischen  Bestimmungen^  dem  jedoch 
widersprechen  alle  übrigen  Thatsachen. 

«  Grehen  wir  von  der  Erklärung  des  Namens  Takasima  aus,  so  wird  die 
Frage  noch  verwickelter ;  wir  finden  in  Japan  nicht  weniger  als  3  Takaschima  : 
eine  Stadt  an  der  NO-Spitze  Schikokus,  der  genannte  Berg,  und  die  erste 
grosse  Insel  südlich  von  Eiusiu,  die  Takasima  und  auch  Tanega  genannt 
wird.  Benyovszky's  Daten  sind  keineswegs  auf  die  Stadt  Takaschima  zu  be- 
ziehen, viel  mehr  auf  Tanega,  das  thatsäcblich  unter  demselben  Längengrad 
liegt  wie  Takaschima  und  auch  in  seiner  Breite  nur  20'  von  Benyovszky's 
Bestimmung  abweicht.  Obwohl  die  astronomische  Ortsbestimmung  die  An- 
nahme erschwert,  Benyovszky  habe  nicht  auf  Eiuschiu,  sondern  auf  Tanega 
gelandet,  spricht  doch  der  Umstand  dafür,  dass  Kiuschiu  auch  Shimo  genannt 
wird,  daher  wir  Benyovszky 's  «Bewohner  der  Insel  Ximo»  für  die  Bewohner 
Kiuschius  halten  müssen.  Dem  widerspricht  jedoch  Benyovszky's  Angabe, 
Nangasaki  und  Shimo  seien  besondere  Inseln ;  verstehen  wir  unter  Shimo 
Kiuschiu,  so  ist  dies  nicht  möglich,  denn  Nangasaki  hegt  auf  der  Insel  Eiusiu 
und  bildet  nur  eine  Halbinsel  derselben.  Wir  haben  keinerlei  weitere  Auf- 
zeichnungen darüber,  was  Benyovszky  über  die  Bewohner  Ximos  sagt :  sie 
seien  «gottlose  Bestien» ;  in  diesem  Kufe  stehen  die  Bewohner  der  westlich 
von  Süd-Eiuschiu  gelegenen  Koschiki-Inseln,  deren  eine  Shimo-Eoschiki 
heisst ;  es  ist  daher  auch  die  Möglichkeit  vorhanden,  dass  sich  der  Name 
Ximo  eben  auf  Schimo-Eoschiki  beziehe. 

Alles  zusammengefasst  halten  wir  es  für  wahrscheinlich,  dass  Be- 
nyovszky sich  nur  in  der  Breitenbestimmung  um  20'  geirrt,  und  that- 
säcblich auf  Tanega  gelandet  sei,  und  unter  der  Insel  mit  den  bestialischen 
Bewohnern  Schimo-Eoschiki,  unter  Nangasaki  aber  ganz  Kiuschiu  zu  ver- 
stehen sei. 

Benyovszky's  Schiff  warf  hierauf  auf  Üsmai-Lygon,  einer  der  Liukiu- 
(Iiequeja)-Inseln  Anker.  Diese  Insel  auf  unseren  Earten  aufzufinden,  ist 
uns  nicht  möglich.  Benyovszky's  astronomische  Bestimmungen  sind  falsch, 
die  Daten  jedoch,  die  er  über  diese  Insel  mitteilt,  sind  von  so  grosser 
Bedeutung,  dass  wir  dieselben  als  eine  der  wichtigsten  Quellen  für  die 
Liukiu-Inseln  betrachten  müssen ;  was  Benyovszky  über  Usmay-Lyon  mit- 
teilt, bezieht  sich  auf  den  nördlichen  Teil  der  ganzen  Liukiu-Gruppe 
und  seine  Mitteilungen  über  das  Beich  der  «durchsichtigen  Eorallen»  sind 
die  ersten,  die  nach  Europa  gelangt  sind ;  die  Mitteilungen  des  chinesischen 
Gelehrten  Supao-Euang,  den  Eaiser  Eanghi  schon  1719  zur  Erforschung 
der  Biukiu-Inseln  aussandte,  gelangten  erst  zu  Anfang  des  19.  Jahrhunderts 

'■^  Forcade,  Annales  de  la  Propagation  de  la  foi,  1846,  jul.  7. 


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118       GRAF  MORITZ  BENTOVSZKY  ALS  GEOGRAPHISCHER  FORSCHER. 

nach  Europa,  daher  gebührt  das  Prioritätsrecht  nicht  —  wie  Keclus  be- 
hauptet —  ihnen,  sondern  Benyovszky.* 

Benyovszky  schreibt  von  den  Bewohnern  der  Insel,  sie  verstünden 
nicht  japanisch.  Dies  ist  vollkommen  zutrefifend,  obwohl  die  Biukiu-Sprache 
mit  der  japanischen  verwandt  und  auch  die  Schrift  dieselbe  ist.^  Später 
bemerkt  Benyovszky  noch :  tdie  Häuptlinge  der  Inselbewohner  sprechen 
die  Sprache  der  Mandarine»,  d.  h.  chinesisch,  was  umso  wahrscheinlicher 
ist,  als  die  Biukiu-Sprache  viel  chinesische  Worte  enthält,  die  infolge  histo- 
rischer Berührung,  wie  auch  bei  Uebemahme  der  Schriftweise  in  die  Sprache 
übergegangen  sind.  Benyovszky  schreibt  über  die  damahgen  politischen 
Verhältnisse  der  Bewohner  Liukiu's:  cdies  Volk  lebt  ganz  unabhängig  von 
China  und  Japan.»  Da  Liukiu  zwischen  China  und  Japan  liegt,  kämpften 
die  beiden  Staaten  fortwährend  um  dasselbe.  Thatsache  ist,  dass  es  bald 
Japan,  bald  China  unterworfen  war,  insofeme  als  es  einigen  Tribut  zahlen 
musste ;  übrigens  war  das  Volk  unabhängig  und  frei.  Wohl  gab  es  Zeiten, 
wo  Liukiu  beiden  Kaiserreichen  Tribut  schuldete,  der  grösste  Reichtum  der 
Insel  aber  verschwand  auch  damals  nicht.^  Erst  1874  änderten  sich  diese 
Verhältnisse,  als  Japan  die  Inseln  eroberte,  ihrer  Könige  beraubte  und  sie 
in  einfache  japanische  Bezirke  einteilte. 

Von  der  friedlichen  Natur  des  Volkes,  die  Supao-kuang,  Broughton, 
Matwell,  Basil  Hall,  Graviore,  Beechey,  Belcher,  Perry  und  Andere  hervor- 
hoben, schrieb  Benyovszky:  «die  Bewohner  sind  sehr  tugendhaft, . . .  massig, 
frei ...  die  Naivität  ihrer  Antworten  lässt  auf  ihre  ehrliche  und  unschul- 
dige Natur  schliessen  ....  Ich  gestand  ihrem  Führer  Nikolaus,  dass  ich 
fürchte,  ihren  Frieden  zu  stören;  er  aber  beruhigte  mich,  denn  meine 
Leute  könnten  auch  mit  den  Mädchen  sprechen,  nur  die  Frauen,  die  sie 
übrigens  auch  an  ihren  Schleiern  erkennen  könnten,  mögen  sie  schonen.» 
Ergreifend  ist  die  warme,  aufrichtige  Freundschaft,  mit  der  die  Insel- 
bewohner Benyovszky  empfiengen,  und  die  am  letzten  Tage  auch  in  einem 
Vertrage  Ausdruck  fand. 

Von  den  Liukiu-Inseln  schiffte  Benyovszky  auf  Formosa.  Hier  kämpfte 
er  einen  ganzen  Krieg  und  verhalf  einem  Häuptling  zum  Siege ;  über  Land 
und  Leute  schreibt  er  aber  um  so  weniger.  Und  dies  ist  umso  leichter  ver- 
ständhch,  als  Formosa  für  ihn  keine  Bedeutung  hatte.  Seine  Seele  durch- 
drang der  innige  Wunsch,  einen  europäischen  Hafen  zu  erreichen,  um 
Freiheit  zu  erlangen  und  sich  für  seine  grossen  colonisatorischen  Unter- 
nehmungen vorzubereiten,  deren  Idee  im  Laufe  seiner  Beise  zur  Beife 


'  Leon  de  Bosny,  Introduction  ä  TEtude  de  la  langue  japonaise. 

'  Serrurier,  De  Live-Kive  Archipel. 

'  Reclus,   Nouv.    G^og.    Univ.   VII.    Bd.   p.  731.  —  Gaubil,   LettreB  ödifiantee, 

Bd.  xxm. 


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ORAP   STEFAN    SZEOHBNYl's  BRIEFSr.  H^ 

gelangt  war,  und  zu  deren  Verwirklichung  ihn  die  mühevollste  Vorschule 
befähigt  hatte.  Er  war  gewiss  einer  der  glückUchsten  Menschen,  als  er  am 
^1.  September  das  Fort  Macao  erblickte. 

Und  hiemit  endet  der  abenteuerlichste  Teil  von  Benyovszky's  Reisen 
und  ganzem  Lebens,  welche  bisher  zugleich  für  den  am  wenigsten  bekannten 
Teil  seines  Leben  galt.  Wir  versuchten  nachzuweisen,  welchen  Wert 
Benyovszky's  Beobachtungen,  seine  ßeiseergebnisse  und  Forschungen  be- 
sitzen, und  wenngleich  dieser  Werth  von  der  Höhe  der  modernen  geogra- 
phischen  Wissenschaft  betrachtet  nicht  so  gross  ist,  als  der  einer  Expedition 
von  Cook,  La  Perouse  u.  A.,  so  genügt  er  doch,  um  die  Authenticität  der 
Reisen  Benyovszky's  festzustellen  und  ihm  die  Anerkennung  der  Nachwelt 
zu  sichern,  anderseits  um  ihm  in  vielen  Fragen  die  Priorität  zu  erobern,  die 
spätere  streng  kritische  Forscher,  ein  Nordenskjöld,  Reclus  und  Andere,  so 
leicht  Anderen  zugeschrieben  hatten.  Dem  strengen  Urteil  der  Nachwelt 
gegenüber  kann  nur  die  Constatirung  der  Wahrheit  die  Glaubwürdigkeit 
der  Berichte  Benyovszky*s  retten  und  dies  zu  erreichen,  war  das  Ziel 
meiner  Zeilen.  Dr.  Johann  Janeö. 


GRAF  STEFAN  SZfiCHENYrS  BRIEFE. 

L 

Stefan  Szechenyi  war  eine  so  vollendete,  in  sich  gefestete  Persönlich- 
keit, dass  jede  geringste  Emanation  derselben  in  Wort,  Schrift  und  That  den 
charakteristischen  Stempel  trägt.  Die  von  Bela  Majläth  mit  dankenswerter 
Unterstützung  der  Ungarischen  Akademie  herausgegebenen  Briefe*  gewähren 
einen  durchaus  interessanten  Einblick  in  den  Werdegang  dieses  providen- 
tiellen  Mannes,  rücken  ihn  uns  menschlich  näher  und  geben  uns  ein  getreues 
Bild  von  den  zahllosen  äusseren  und  inneren  Kämpfen,  gewissermassen 
Geburtswehen,  unter  denen  die  erstaunlichen  Leistungen  des  Grafen  das 
Licht  der  Welt  erblickten.  Diese  Briefe  sind  keine  Meisterwerke  des  Styls, 
sie  sind,  ob  ungarisch,  deutsch,  lateinisch,  englisch  oder  französisch  verfasst, 
mit,  wir  möchten  sagen,  aristokratischer  Nachlässigkeit  geschrieben.  Und 
doch  sind  sie  gerade  in  dieser  Gestalt  am  wertvollsten,  weil  sie  uns  den 
echten,  ungeschminkten  Menschen  zeigen,  der  selbst  ohne  den  geringsten 
Aufputz  seine  ganze  Nation  überragte,  ihr  Führer  in  die  Welt  positiven 
Schaffens  war. 

Niemals  konnten  die  Briefe  des  grossen  Patrioten  besser  wirken,  als 

*  Gr6f  Szechenyi  Istv&n  levelei.  A  Magyar  T.  Akad^mia  megbiz484b61  össze- 
gyüjtötte  Majlath  B^la.  II.  kötet.  Budapest,  Atbena^um.  729  Seiten, 


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120  GRAF   STEFAN   SZ^HENYl's   BRIBFE. 

eben  jetzt.  Krasser  Materialismus  zersetzt  alle  unsere  Kreise^  der  Hass  gegen 
die  Phrase  hat  auch  den  berechtigten  Ideahsmus  hinweggeschwemmt.  Die 
Gesellschaft  ist  atomisirt.  Wie  wohlthuend  ist  es  daher^  wieder  einmal  das 
volle  Fener  der  Vaterlandsliebe  zu  verspüren,  einer  Liebe,  die  heute  kaum 
mehr  als  rhetorischer  Aufputz  zu  verwenden  ist.  Bei  Szechenyi  lodert  dies 
Gemeingefühl  noch  mit  voller  Jugendkraft,  sonnengleich.  Es  ist  unmöglich, 
dass  beim  Lesen  dieser  Briefe,  welche  sich  alle  immer  wieder  um  das  Götter- 
bild des  Vaterlandes  und  seine  zukünftige  Grösse  und  Glorie  drehen,  nicht 
auch  in  uns  die  alte  Glut  unter  der  Asche  wieder  aufflamme.  So  wirkt  ein 
grosser  Geist,  ein  grosses  Herz  auch  nach  dem  Tode,  sein  Vermächtniss  lebt 
in  uns  immer  neu  auf.  Zur  rechten  Zeit  hat  die  Ungarische  Akademie  die 
Herausgabe  der  Szechenyi'schen  Schriften  begonnen  *  und  namentlich  die 
Briefe  sind  es,  welche  ungeahntes  Licht  über  viele  Perioden  der  Wirksam- 
keit Szechenyi*s  verbreiten.  Während  Kossuth,  die  Personifikation  der  unga- 
rischen Freiheits-  und  Unabhängigkeitsidee,  noch  lebt,  erscheint  uns  der 
Geist  Szechenyis,  seines  grossen  Gegners,  fortwährend  in  seinen  neuedirten 
Schriften,  als  ob  die  Genies  der  Vergangenheit,  welche  das  heutige  Ungarn 
begründeten,  noch  immer  Wache  stehen  wollten  über  dem  geliebten  Volke 
und  Vaterlande.  Doch  während  aus  Kossuth  nur  die  erhabene,  aber  starre 
Negation  spricht,  weht  uns  aus  jeder  Zeile  Szechenyi*s  ein  positiver,  schaf- 
fender Hauch  entgegen.  Aus  einer  Wüste  war  eine  Gulturwelt  zu  gestalten. 
Das  von  Sz6chenyi  so  'sehr  geliebte  Vaterland  war  eine  Einöde,  ein  Wirrsal 
schlechtester  Administration,  verrotteter  Privilegien,  Denk-  und  Wirkfaul- 
heit. Sz^henyi  musste  für  Alle  denken,  reden,  schreiben,  agitiren,  Geld 
hergeben,  conspiriren,  Pläne  entwerfen,  ausführen.  Er  war  damals  Alles  in 
Allem,  Ungarns  Vorsehung  auf  jedem  Gebiete.  Was  heute  ein  vielgliedriges 
Ministerium  denkt  und  schafft,  das  war  damals  in  ihm,  dem  Privaten,  ver- 
einigt. Und  unermüdlich,  rastlos  sehen  wir  ihn  kämpfen,  entwerfen,  orga- 
nisiren,  schaffen.  Auf  alle  Widerstände  und  Kränkungen  ist  er  vorbereitet, 
die  Bomirtheit  seiner  Mitlebenden  weckt  oft  den  Humor  in  ihm.  Er  geht 
auf  sein  Ziel  los,  unbeirrt,  wie  eineJSomnambule.  Und  alles  gelingt  endlich  : 
die  Wettrennen,  die  Akademie,  die  Donau-Dampfschifffahrt,  die  Ketten- 
brücke, und  Vieles  sollte  später  gelingen,  was  er  mit  Seherblick  geahnt :  die 
Sprengung  des  Eisernen  Thores^  die  Verschönerung  Budapests  und  Anderes 
mehr,  als  ob  er  der  Prophet  seiner  Nation  gewesen  wäre. 

Kehren  wir  zu  den  Schriften,  insbesondere  zu  diesen  Briefen  Szöchenyi's 
zurück,  als  eines  Mannes,  der  neben  der  Liebe  zum  irdischen  Weibe  noch  eine 
andere,  höhere  Liebe  kannte,    zu  einer  höheren,  erhabeneren  Braut,  deren 

♦  Bisher  sind  erschienen :  I.  Naplöi  (Tagebücher),  11.  Besz^dei  (Reden),  beide 
herausgegeben,  eingeleitet  und  kommentirt  von  Anton  Zichy,  HI.  Levelei  (Briefe), 
von  denen  jetzt  schon  der  zweite  Band  vorliegt. 


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GRAF   STEFAN   SZ^HBNTl's  BRIEFE.  121 

Züge  ihm  vorschwebten^  von  seiner  mutwilligen  Jugendzeit,  bis  zu  seinem 
düsteren  Grabe  in  der  Geistesnacht  I  Diese  Braut,  Hungaria,  war  die  Leuchte 
seiner  Seele,  an  ihrer  Flamme  entzündete  sich,  bei  ihrem  Erlöschen  brach 
sein  Herz. 

Wir  haben  den  ersten  Band  dieser  Briefe  bei  dem  seinerzeitigen  Er- 
scheinen gewürdigt,  dieselben  gaben  uns  Aufschluss  über  die  Erziehung  und 
die  ersten  Gemütsregungen  des  jungen  Grafen  und  lehrten  ims  ihn  als 
nachdenkenden,  mit  sich  oft  entzweiten  Charakter  kennen.  Die  ersten  dieser 
Jugendbriefe  lassen  nichts  weniger  als  die  zukünftige  Grösse  ahnen.  Der 
schlichte,  natürliche  Mensch  spricht  aus  ihnen.  Doch  sehr  bald  meldet  sich 
der  praktische  Sinn ;  das  Gasino,  die  Wettrennen,  die  Akademie,  die  Schiff- 
fahrt und  das  Eiserne  Thor  beschäftigen  den  thatendurstigen  Mann.  Er  geht 
mit  nüchternem  Urteil  von  den  thatsächlichen  Bedürfhissen  des  Landes 
aus  und  stiftet  und  gründet  stets  das,  wonach  das  dringendste  Verlangen 
ist.  Er  ist  kein  Doctrinär,  sondern  ihn  peinigen  die  actuellen  Erfordernisse 
und  er  scheut  weder  Opfer  noch  Mühe,  um  das  Nothwendige  herbeizu- 
schaffen. Es  ist  ein  eminent  praktischer  Kopf,  der  sich  ein  weitaussehendes 
Programm  von  der  Regenerirung  des  Landes  entworfen  hat  und  Schritt  für 
Schritt  unaufhaltsam  an  dessen  VerwirkUchung  arbeitet. 

Der  uns  vorliegende  zweite  Band  dieser  Briefe  beginnt  mit  einigen 
interessanten  Nummern  aus  dem  Jahre  1S^27,  In  einer  Eingabe  an  das  Pester 
Comitat  erbietet  sich  Graf  Szechenyi  zur  Errichtung  einer  Actien- Dampf- 
mühle,  nicht  damit  Ungarn  eine  solche  Anstalt  besitze,  sondern  damit  das 
Beispiel  zur  allgemeinen  Einführung  der  Dampfmüllerei  und  zur  Ablösung 
des  Getreidehandels  durch  den  Mehlhandel  gegeben  werde.  Die  nächst- 
folgenden Briefe  zeigen  die  rastlose  Sorge  Szechenyi*s  für  die  Inscenirung 
des  von  ihm  geplanten  National-Gasinos.  Er  wendet  sich  an  Sartory,  als 
den  Obmann  des  Pester  Handelsstandes,  um  ihn,  sowie  den  Handelsstand 
zum  Eintritt  in  das  im  Herbste  zu  gründende  Gasino  einzuladen.  Mit  einer 
noch  heute  nachahmenswerten  Höflichkeit  und  Herzlichkeit  ist  dieser  Brief 
des  Aristokraten  an  die  Corporation  der  Handelsleute  geschrieben,  t  Wir  haben 
den  guten  Willen,  dem  Lande  zu  dienen,»  —  äussert  er  —  tSie  haben  die 
Mittel,  reichen  wir  uns  die  Hände !  .  .  .  Sie  kennen  die  Grundsätze,  die  wir 
bisher  aufgestellt  haben:  •  Welch  immer  für  eine  Geburt  und  Stand  — 
wa^  immer  für  Glaube,  was  immer  für  politische  Meinung,  Alleseins  I  Nur 
gesittete  Lebensart,  gleiche  Rechte,  gleiche  Zahlung  /  Kein  Einzelner  ent- 
scheidet, der  allgemeine  Wunsch  und  die  Mehrheit  allein  bestimmt.» 

Im  Jahre  1830  sehen  wir  Szechenyi  an  seinem  Lieblingswerke,  an  der 
Begulirung  der  unteren  Donau  thätig.  Schon  im  vorigen  Bande  war  eine 
grosse  Anzahl  von  Briefen  veröffentlicht,  aus  denen  hervorging,  wie  rastlos 
Graf  Szechenyi  beim  Palatin,  bei  der  Wiener  Regierung,  bei  den  Finanz- 
grossen  die  Sache  des  Donauhandels  und  der  damit  verbundenen  Institu- 


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122  GRAF   STEFAN   SZÄCHENYl's  BRIEFE. 

tionen  betrieb.  In  dem  oben  erwähnten  Briefe  vom  17.  Juli  1830  sehen  wir 
Szechenyi  zum  ersten  Mal  die  untere  Donau  bis  Sistow  bereisen.  Die  Keise 
sollte  ihm  schlecht  genug  bekommen :  ein  furchtbares  Fieber  mit  hochgra- 
digem Asthma  verbunden  überfiel  ihn  und  er  glaubte  schon  sein  letztes 
Stündlein  gekommen.  Und  da  schreibt  er  an  den  mit  ihm  reisenden  Grafen 
Johann  Waldstein  in  Selbstmordgedanken  ob  der  erlittenen  Qualen  und  in 
nächster  Erwartung  des  Todes  folgende  Zeilen,  die  auch  Max  Falk  in  seinem 
Buche  über  Szechenyi  veröffentlicht  hat  und  die  charakteristisch  genug 
lauten :  «Nur  drei  Mittel  gibt  es,  um  Ungarn  zu  heben :  Nationalität,  Ver- 
kehr und  Handelsverbindungen  mit  anderen  Nationen.  Dies  lege  ich  Euch 
ans  Herz :  hebet  die  Nationalität  nach  Euren  Fähigkeiten  und  erziehet  sie 
zu  echtem  Adel.  Hebet  den  Verkehr  in  unseier  Hauptstadt  Budapest!  Thut 
Alles,  damit  Budapest  aufhöre  ein  blinder  Sack  zu  sein  und  darum  eröffnet 
die  Donau  dem  Handel  und  der  Schifffahrt  !• 

Zwischen  den  Briefen,  welche  sich  mit  grossen  Angelegenheiten  be- 
schäftigen, erscheint  wohl  mitunter  auch  einer,  der  uns  so  recht  in  das  Herz 
Szechenyi's  blicken  lässt.  Da  ist  ein  Brief  an  einen  Unbekannten,  der,  wie 
zahllose  Andere,  ihn  um  eine  Gefälligkeit  angegangen  haben  mochte.  In  der 
Antwort  beklagt  sich  der  Graf,  er  sei  so  sehr  mit  Anfragen  und  Bitten  über- 
häuft, dass  er  nicht  einmal  mit  Hilfe  eines  Secretärs,  und  wenn  der  Tag 
achtundvierzig  Stunden  hätte,  auf  Alles  nach  den  Kegeln  der  Höflichkeit 
antworten  könnte.  Viel  weniger  könnte  er  Jedermann  helfen ;  wollte  er  so 
höflich  und  gutherzig  sein,  wie  es  die  Leute  verlangen,  so  würde  er  keine 
Zeit  haben,  sich  mit  seinen  eigenen  Angelegenheiten  zu  befassen,  und  wäre 
bald  selbst  so  arm,  wie  die  Petenten,  die  sich  schaarenweise  an  ihn  wenden. 
Trotzdem  er  es  sich  also  zum  Princip  hatte  machen  müssen,  die  meisten 
derartigen  Briefe  unbeantwortet  zu  lassen,  macht  er  doch  mit  unserem  Un- 
bekannten eine  Ausnahme,  indem  er  ihm  nicht  nur  ein  Erwiderungsschreiben, 
sondern  auch  noch  die  wahrscheinlich  erbetenen  —  5000  fl.  schickt. 

Es  folgt  nun  vom  Jahre  1833  an  eine  grosse  Zahl  von  Briefen, 
welche  sich  mit  der  zuerst  von  Stefan  Szechenyi  inscenirten  Sprengung  des 
Eisernen  Thores  beschäftigen.  Am  23.  Juli  1833  schreibt  er  an  die  Berg- 
werksdirection  in  Semlin,  dass  er,  von  der  «allerhöchsten  Regierung»  nut 
dem  Auftrag  der  Kegulirung  des  Eisernen  Thores  betraut,  um  Ingenieure 
und  «geschickte  Bergleute,  die  mit  Felsensprengungen  vertraut  sind,»  bitten 
müsse.  Im  Sommer  desselben  Jahres  erblicken  wir  schon  den  genialen  In- 
genieur Paul  Väsärhelyi  an  der  Arbeit.  Wir  sehen,  wie  Szechenyi  sich  vor 
dem  Wissen  und  Können  des  simpeln  Mannes  beugt  und  Alles  thut,  um  ihm 
seine  Stellung  sowohl  politisch  wie  materiell  zu  erleichtem.  Szechenyi  leitet 
aus  der  Feme  das  grosse  Werk  mit  dem  ganzen  Aufwände  seiner  Diplomatie 
und  mit  rastlosem  Feuereifer. 

In  welchen  geringfügigen  Dimensionen   und  mit  wie   bescheidenen 


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GRAF    STEFAN    8ZECHENYI  S   BRIEFE. 


123 


Mitteln  damals  gearbeitet  wurde,  davon  sollen  zwei  kleine  Briefe  Szechenyi's 
an  den  Palatin  Erzherzog  Josef  Kunde  geben. 

L 
Ew.  k.k.  Hoheit! 
Durchlauchtigster  Herr  Erzherzog! 
An  den  Wegen  längs  der  Donau  von  Plavischevitza  abwärts  wurde  nach 
Bericht  des  dirigirenden  Ingenieurs  von  Väsärhelyi  den  vergangenen  Winter  mit 
grossem  Erfolge  gearbeitet. 

Die  Gelder  sind  aber  erschöpft,  weswegen  ich  mir  die  Freiheit  nehme  Ew. 
kaiserl.  Hoheit  in  aller  Unterthänigkeit  zu  bitten :  Erstens  fünftausend  Oulden 
C.'M.  direct  an  den  obbenannten  Ingenieur  Yäsärhelyi  in  Ofen,  —  fünfzehntaasend 
Gulden  C.-M.  hingegen  an  den  Ingenieur  Wolfram  in  Orsova  gnädigst  zahlbar 
anweisen  zu  lassen,  über  welche  Summen  ich,  sowie  ich  de  dato  27.  Februar  1 835 
meine  Schlussrechnung  für  das  Jahr  1834  eingab,  seinerzeit  Rechenschaft  geben 
werde. 

Ich  lege  mich  Ew.  kaiserl.  Hoheit  mit  dem  Gefühle  der  tiefsten  Ehrerbietimg 
zu  Füssen  und  nenne  mich  mit  dem  Gefühle  der  allertiefsten  Ehrfurcht 

Ew.  kais.  Hoheit 
ganz  unterthänigster  Diener 
Stefan  Graf  Sz^chenyi. 
Preesburg,  5.  März  1835. 

n. 

Ew.  k.k.  Hoheit! 
Durchlauchtigster  Erzherzog ! 
Soeben  erhalte  ich  des  dirigirenden  Ingenieurs  Yäsärhelyi  Bericht,  dass  die 
anter  ihm  stehenden  Arbeiten  mit  gutem  Erfolge  gehen,  die  Geldmittel  aber  wieder 
erschöpft  sind,  weshalb  ich  Ew.  k.  k.  Hoheit  bitte,  gleich  !20,000  Gulden  C.-M.  — 
dass  ich  nicht  sobald  wieder  lästig  fallen  dürfe  —  an  das  Orsovaer  Dreissigst-Amt 
zahlbar  anzuweisen  geruhen  zu  wollen,  der  ich  mich  Allerhöchstdenselben  zu  Füs- 
sen lege  und  mich  mit  der  tiefsten  Ehrfurcht  nenne  Ew.  k.  k.  Hoheit 
Pressburg,  17.  Mai  1835. 

unterthänigster  Diener 
Stefan  Graf  Sz^chenyi. 

Während  der  Beschäftigung  mit  der  grossen  Donau- Afifaire  hat  Graf 
Szechenyi  Zeit,  einen  Agenten  abzufertigen,  der  unbefugterweise  eine  Inter- 
ventionsgebühr für  eine  nicht  vollzogene  Vermittlung  verlangte,  und  wendet 
sich  dann  mit  Eifer  der  Angelegenheit  der  Budapester  Stadtverschönerung 
zu.  Wieder  schreibt  er  einen  sehr  höflichen  und  herzlichen  Brief  an  den 
Stadtmagistrat  um  Ueberlassung  eines  Grundstückes  von  235  Joch  für  den 
Wettrennplatz.  Er  schliesst  die  Eingabe  mit  den  charakteristischen  Worten : 
«Ich  wäre  glücklich,  wenn  ich  dem  löblichen  Magistrat  und  allen  meinen 
Mitbürgern  einen  neuen  Beweis  geben  könnte,  mit  welcher  religiösen  Ge- 
wissenhaftigkeit ich  jenes  Schwures  eingedenk  bin,  den  ich  leistete,  als  ich 
das  Glück  hatte,  zum  Bürger  der  löblichen  Stadt  Pest  erwählt  zu  werden 


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124  GRAF   STEFAN    SZEOHBNYl's   BRIEFE. 

und  dessen  tiefsten  Sinn  ich  so  auffasste :  Alles,  was  in  meiner  Kraft  liegt, 
zur  Entmcklung,  Verschönerung  und  somit  zum  Aufblühen  der  Stadt  und 
zum  Gedeihen  und  Glück  ihrer  Einwohner  beitragen  zu  müssen.» 

Wie  sehr  Szechenyi  mit  dem  Gedanken  der  Verschönerung  Pests  immer 
beschäftigt  war,  beweise  folgender,  an  den  Palatin  Erzherzog  Josef  gerichteter 
Brief  vom  28.  Juni  1835: 

Ew.  k.  k.  Hoheit,  durchlauchtigster  Erzherzog  l 

In  aller  Unterthänigkeit  nehme  ich  mir  die  Freiheit  Ew.  k.  k.  Hoheit  hier 
beigebogen  zwei  Pläne  zu  überreiclien,  die  in  einigem  Zusammenhange  stehen.  Der 
eine  stellt  ausschliesslich  den  Grundriss  des  Unterbaues  für  den  Eiranich  dar ;  der 
andere  hingegen  den  Grundriss  mehrerer  schon  stehenden  Häuser  der  Stadt  Pest 
und  jener  Stellen,  wo  —  meinem  unterthänigsten  Vorschlag  gemäss  —  das  Theater, 
das  Dreissigstamt,  und  im  Einklang  mit  diesem  letzteren  der  Kranich  anzubrin- 
gen wäre. 

Man  kann  sehr  oft,  einem  alten  Sprichwort  gemäss,  mit  einem  Stein  mehrere 
Würfe  machen,  und  hier  scheint  der  Fall  in  der  That  einzutreffen,  denn  sollte  der 
von  mir  vorgeschlagene  Plan  von  Ew.  k.  k.  Hoheit  huldreichst  genehmigt  werden, 
so  wird : 

1 .  ein  Schritt  vorwärts  gethan,  um  die  zwischen  den  beiden  Städten  Ofen  und 
Pest  stehenden  Donau-Ufer  zu  reguliren. 

2.  ein  Iheissigstamt  wird  erbaut,  das  schon  seiner  LokaUtät  zufolge  weit 
passender  sein  wird,  als  das  jetzige,  und  durch  dessen  zweckmässige  Anordnung 
ohne  Zweifel  den  Anfordenmgen  der  jetzigen  Zeiten  und  Bedürfnisse  weit  naher 
gebracht  werden  könnte  als  das  jetzige  ist 

3.  Anstatt  des  jetzigen  Dreissigstamtes  entstünde  in  Mitte  von  so  vielen 
schönen  Häusern  gleichfEills  ein  schönes  Haus,  wohin  —  besonders  den  Josef- 
Ftatz  berücksichtigend  —  das  heutige  Dreissigstgebäude  wirklich  nicht  mehr  sehr 
zu  passen  scheint. 

4.  Es  würde  für  ein  ungarisches  Theater  ein  Terrain  angewiesen  werden 
können,  auf  welchem  mit  der  Zeit  und  nach  Umständen  ein  solches  Theater  erbaut 
werden  könnte.  Und  dies  wäre  eine  (}abe,  welche  die  Dankbarkeit  der  ganzen  Nation 
aufs  bestimmteste  zur  Folge  hätte. 

Es  handelt  sich,  die  Sache  zu  beginnen,  die  wohl  nicht  anders,  als  bei  der 
Erbauung  des  Dreissigstamtes  ihren  AnfiEmg  nehmen  kann.  Diesen  Bau  wünschte 
ich  aber  auf  eigene  Kosten  unter  folgenden  Berücksichtigungen  zu  übernehmen 
und  je  ehestens  zu  beginnen. 

a)  Es  werde  von  Seite  der  kön.  img.  Hofkammer  mir  ein  Plan  vorgelegt, 
nach  welchem  das  neue  Dreissigstamt  —  auf  dem  Grunde  vor  dem  Kardetter-  und 
Varga' sehen  Hause  erbaut  werden  sollte. 

h)  Die  kön.  ung.  Hofkammer  wolle  die  Summe  aussprechen,  für  welche  sie 
das  jetzige  Dreissigstamt  —  nach  gänzlicher  Vollendung  des  neuen  Dreissigst- 
amtes —  mir  überlassen  würde,  —  und  ich  werde 

c) je  nach  dem  kostbaren  oder  minder  kostbaren  Gebäu,  das  die  kön. 

ung.  Hofkammer  in  dem  neu  zu  erbauenden  Dreissigstamte  zu  haben  wünscht, 


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ORAF   STEFAN    8Z]£0HENTI*S   BKIEPB.  ^^^ 

meine  Bereohnimg  einreiohen,  ans  der  sich  die  Balance  ergeben  wird,  welche 
Summe  ich  von  Seite  der  kön.  nng.  Hofkammer,  zu  meiner  Schadloshaltung,  mit 
Klligkeit  anzusprechen  hätte. 

d)  Da  indess  das  Wort  Billigkeit  nicht  hinlänglich  definirt  ist,  so  erkläre  ich 
hiemit,  dass  ich  nach  rechtlicher  Schätzung  des  jetzigen  Dreissigstamtes  und  dem 
authentischen  Eostenüberschlag  des  neu  zu  erbauenden  zufrieden  sein  werde,  wenn 
ich  das  ausgelegte  Qeid  k  4  Perzent  verzinset  werde  haben,  sollte  diese  Summe 
noch  so  bedeutend  sein,  —  was  ich  hoffe ;  denn  es  wäre  schade  —  wenn  man  nur 
halbwegs  die  Entwickelung  der  Stadt  Pesth  vor  den  Augen  hat  —  an  den  Ufern 
der  Donau  ein  mesquines  Dreissigstamt  aufzubauen ;  wie  ich  meinerseits,  an  die 
Stelle  des  jetzigen  Dreissigstamtes,  auch  ein  nobles  Gebäude  aufzuführen  gedenke. 

Die  Ursache,  die  mich  bewog,  Ew.  k.  Hoheit  den  soeben  auseinandergesetzten 
Vorschlag  zu  unterbreiten,  beruhet  beiläufig  auf  Folgendem : 

1.  Wttnsche  ich  meinerseits,  so  viel  es  in  meinen  Kräften  stehet,  zur  Ver- 
schönerung der  Stadt  Pesth  beizutragen,  wo  ich  bereits  so  lange  lebte,  und  wo  ich 
wahrscheinlich  mein  Leben  beschUessen  werde. 

2.  Qlaube  ich  die  mir  zu  Gebote  stehenden  Gelder  auf  keine  schlechte  Hypo- 
theke  zu  steUen,  wenn  ich  solche  in  Pesther  Häuser  investire,  —  und  dass  diese 
Sicherheit  die  geringere  Beute  in  Gleichgewicht  setzt,  die  überdies  mit  der  Zeit 
höchst  wahrscheinlich  wachsen  dürfte. 

3.  Fühle  ich  mich  einigermassen  verpflichtet,  auf  Höchstdero  Gnade  bauend* 
eine  passende  Stelle  zur  Erbauung  eines  ungarischen  Theaters  auszumitteln,  da 
ich  —  wie  Ew.  k.  Hoheit  bewusst  —  in  der  Congregation  des  Pesther  Comitats 
den  Bau  eines  Theaters  auf  der  Eerepescher  Strasse  hinderte.  Auch  ist  seit  der  Zeit 
das  Auge  des  Publikums  auf  mich  gerichtet,  und  ich  würde  viel  in  der  allgemeinen 
Achtung  verlieren,  wenn  ich  in  dieser  Angelegenheit  nichts  gethan,  als  nur  gehin- 
dert haben  würde ;  weshalb  ich  auch  jene  Opfer,  die  mit  der  Erbauung  zweier  gros- 
sen, nur  4  Prozent  tragenden  Gebäude  verbunden  sind,  zu  bringen  bereit  bin. 


n. 

In  den  Jahren  1835 — 40  concentriren  sich  für  den  anermädlich  thä- 
tigen  Nationaltribunen  die  wichtigsten  Angelegenheiten :  die  erste  ständige 
Brücke  zwischen  Pest  und  Ofen,  die  allmälige  Schaffung  einer  Donau- 
Dampfschifffahrt,  in  Verbindung  damit  die  Stromregulirung^  endlich  die 
Errichtung  des  ersten  ständigen  Nationaltheaters  in  Pest. 

Es  ist  doch  traumhaft,  zu  denken^  dass  vor  kaum  mehr  als  einem 
halben  Säcnlum  Pest  und  Ofen  zwei  ganz  getrennte  Welten,  Ofen  ein  Dorf 
und  Pest  eine  armselige  Handelsfactorei  war,  dass  damals  der  grosse,  länder- 
verbindende Strom  noch  jungfräulich,  ohne  das  Eheband  einer  stabilen 
Brücke,  ohne  mit  dem  reichsten  Getreidesegen  auf  schnellsegelnden  Schiffs- 
coloBsen  belastet  zu  sein,  dahinbrauste,  eine  zweck-  und  ziellose  Naturkraft, 
die  der  Ungar  so  wenig  zu  benützen  wusste,  wie  so  vieles  Andere,  was  in 
dem  Schoss  seiner  JErde  sich  barg,  und  wie  er  es  auch  heute  noch  lange  nicht 


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126  GRAF   STEFAN   SZÄOHENYI*S   BBIBPB. 

genug  auszubeuten  weiss.  Es  ist  traumhaft  zu  denken^  dass  die  heute  so 
riesig  entwickelte,  nach  allen  Himmelsrichtungen  unabsehbar  ausgreifende 
Stadt  durch  das  Handelsstandsgebäude  und  durch  das  Hatvaner  Thor  be- 
grenzt war,  und  dass  Szechenyi  vor  der  heute  so  schön  aufblühenden  Eere- 
peserstrasse  einen  wahren  Ekel  besass  und  so  lange  er  konnte,  gegen  die 
Benützung  des  Grassalkovich 'sehen  Grundes  zu  einem  Theaterbau  an- 
kämpfte. Und  selbst  innerhalb  dieses  engbegrenzten  städtischen  Gemein- 
wesens war  noch  keine  Spur  von  monumentalen  Baulichkeiten,  von  com- 
munaler  Sorgfalt  in  allen  Fragen  der  Gesundheit  und  des  Wohllebens.  Und 
wie  gestaltete  sich  dies  Alles  nun  unter  der  rastlosen  Energie  und  dem 
Schönheitssinn  Szechenyi's !  Man  kann  nicht  dankbar  genug  das  Andenken 
dieses  Mannes  hüten,  der  Pest  eine  Akademie,  ein  Casino,  die  wundervolle 
Kettenbrücke,  den  Donauhafen  und  die  Schiflfswerfte  gab  und  endlich  auch 
zur  Errichtung  des  ersten  ständigen  ungarischen  Theaters  in  Pest  beitrug. 
Und  dieser  Aufstieg  der  Budapester  Stadtschönheit  aus  den  Wellen  der 
Donau  begann  erst  gestern,  vor  kaum  mehr  als  einem  halben  Säculum ! 
Welcher  Traum ! 

Lehrreich  ist  aber  der  soeben  veröffentlichte  Briefwechsel  Stefan  Sze- 
chenyi's  schon  darum,  weil  er  uns,  wir  mögen  von  der  Kraft  des  Genies 
halten  so  viel  wir  wollen,  doch  wiederum  nur  beweist,  dass  nach  den  Griechen 
odie  Götter  vor  alles  Gute  den  Schweiss  gesetzt  haben.»  Man  glaube  ja  nicht, 
dass  dem  Grafen  Szechenyi  Alles  mühelos  gelang  !  Nein,  wir  sehen  es  un- 
widerleglich vor  uns,  dass  er  gekämpft  und  gerungen,  gefürchtet,  gehofft, 
gebetet  und  gearbeitet  hat,  wie  der  gewöhnUchste  Sterbliche,  der  alle  seine 
Sehnen  anspannen  muss,  um  das  tägliche  Brot  zu  verdienen.  Nur  in  den 
Zielen,  in  den  Gedanken  war  Szechenyi  genial,  in  der  Ausführung  war  er 
ein  so  tapferer,  unverdrossener  Arbeiter,  wie  jeder  Andere.  Wenn  dieser 
Briefwechsel  keine  andere  Wirkung  haben  sollte,  als  unsere  für  das  öffent- 
liche Wohl  wirkenden  Kräfte  anzufeuern  und  sie  in  ihrem  oft  dornenvollen 
Wirken,  auf  den  häufig  unentwirrbaren  Wegen  des  Schicksals  in  ihrer  Mission 
zu  bestärken,  so  wäre  Wohlthat  genug  damit  geübt.  Etappe  für  Etappe  legt 
sich  das  Wirken  des  grossen  Reformators  vor  uns  aus  und  wir  ziehen  die 
heilsame  Nutzanwendung  daraus,  dass  die  grössten  Entfernungen  am  sicher- 
sten durch  die  kleinsten  Schritte  zurückgelegt  werden. 

Es  ist  geradezu  rührend,  die  vielen  Einladungsbriefe  zu  lesen,  welche 
Szechenyi  höchst  eigenhändig  an  eine  Anzahl  von  Casino- Mitgliedem 
schreibt,  deren  Beitrag  abgelaufen  ist,  und  die  er  zu  einer  erneuerten  Bei- 
tragsleistung  für  weitere  sechs  Jahre  auffordert.  An  Jeden,  selbst  an  ihm 
Unbekannte,  schreibt  er  ganz  besonders,  er  variirt  seinen  Styl  und  gibt  jeder 
Epistel  eine  neue  Dosis  von  aus  dem  Herzen  kommender  Beredsamkeit. 
Als  echter  Reformator  gebietet  er  über  alle  Tonarten,  er  bittet,  schmeichelt, 
malt  goldene  Berge,  lobt  das  Geschehene,  feuert  zum  Zukünftigen  an,  packt 


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ORAF   Sl-BPAN  SZ^jÄOHENYl's   BRIEFE.  127 

Jeden  bei  seiner  persönlichen  Schwäche.  Es  liegt  etwas  unendlich  Liebens- 
würdiges in  diesen  Briefen,  die  ein  grosser  Mann  schreibt  um  einer  kleinen, 
aber  ihm  liebgewordenen  Aufgabe  willen.  Auch  sein  Factotum  Tasner,  dem 
er  allerlei  Kosenamen :  «Old  Tasnert  etc.  gibt,  und  dem  er  gewöhnlich  in 
einem  humoristischen,  aus  allen  Sprachen  zusammengesetzten  Kauderwelsch 
schreibt,  belehrt  er  darüber,  dass  wenn  man  die  Leute  für  seine  Zwecke 
gewinnen  wolle,  man  Jeden  solo  fassen  und  die  schablonenhaften  Girculare 
vermeiden  müsse. 

Doch  das  Gasino  war  eine  nebensächliche,  wenn  auch  ihm  sehr  lieb- 
gewordene Angelegenheit  neben  der  grossen  A£faire  der  stabilen  Donaubrücke 
zwischen  Pest  und  Ofen.  Man  weiss,  einen  wie  grossartigen  politischen 
Hintergrund  Szechenyi  der  Brückenfrage  gab.  Obzwar  ein  echter  Aristokrat, 
war  der  Graf  doch  ein  glühender  Feind  des  Feudalismus,  in  welchem  er  das 
Grab  der  nationalen  Wohlfahrt  sah.  Ein  materielles  Aufblähen  des  Landes, 
eine  moderne  Volkswirtschaft  war  nur  möglich,  wenn  das  Feudalsystem, 
wenn  die  Privilegien  gebrochen  wurden.  Wie  traumhaft,  dass  in  Ungarn  vor 
kaum  mehr  als  fünfzig  Jahren  das  Steuerzahlen  als  entehrend  für  den  Edel- 
mann, nur  gut  für  die  bäuerliche  und  bürgerliche  Canaille  betrachtet  wurde. 
Durch  den  Brückenzoll  sollte  der  ungarische  Adel  zum  ersten  Mal  an  die 
Gleichheit  der  Tragung  der  Staatskosten  gewöhnt  werden ! 

Mit  unsäglichen  Mühen  kam  Szechenyi  in  dieser  Frage  vorwärts.  Erst 
die  Stände,  dann  die  Magnatentafel,  die  Wiener  Begierung  gewinnen  und 
mit  den  zwei  Municipien  Pest  und  Ofen  sich  herumschlagen,  so  viele  Leute 
unter  einen  Hut  bringen  —  dazu  gehörte  wahrlich  ein  prophetischer  Mut. 
Weit  mehr  noch  als  heute  war  der  Ungar  damals  gegen  jeden  Fortschritt 
verstockt,  der  ihm  förmlich  aufgezwungen  werden  musste ;  weit  mehr  noch 
als  heute  scheute  man  vor  jeder  Neuerung  zurück;  weit  ärger  noch  als  heute 
hauste  der  Gantönligeist  und  das  Philistertum  in  Stadt  und  Land.  Ganz  ab- 
scheuhch  waren  die  Verkehrsverhältnisse  in  Pest  und  Ofen.  Man  sollte 
meinen,  dass  ein  Stadtmagistrat  mit  Freuden  die  Gelegenheit  ergriffen  hätte, 
die  Misere  einer  Schiffbrücke  über  den  grossen  Strom  zu  beseitigen.  Die 
heutige  Generation  der  Hauptstadt,  welche  drei  wunderbare  stabile 
Brücken  besitzt  und  noch  eine  vierte  und  fünfte  begehrt,  wird  sich  kaum 
mehr  eine  Vorstellung  von  der  Jänunerlichkeit  einer  Schiffbrückenverbin- 
dung machen  können.  Man  muss  nach  Gran  oder  Komorn  gehen,  um  zu 
ermessen,  wie  entsetzlich  tödtend  der  Winter,  der  eine  Schiffbrücke  unmög- 
lich macht,  auf  Handel  und  Verkehr  wirkt.  Die  ganzen  Uferstädte  liegen  da 
im  Winterschlaf.  Es  ist  demnach  kaum  zu  fassen,  dass  gerade  Magistrat 
und  Bepräsentanz  der  Stadt  Pest  sich  aus  allen  Kräften  gegen  die  Beseiti- 
gung der  Schiffbrücke  sträubten.  Mit  Ofen  war  Szechen}^  bald  fertig,  der 
Widerstand  von  Pest  war  aber  kaum  zu  besiegen.  Zahllos  sind  die  Klagen, 
welche  Szechenyi  ausstösst,  er  verwünscht  die  Stadt  und  sich,  er  verzweifelt 


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1^^  GRAF  STEFAN   SzioHENTl's   BRIEFE. 

und  hofft  wieder,  flucht  wie  ein  Besessener  —  kurzum^  die  Bräckenangele- 
genheit,  welche  zehn  Jahre  später  die  Ideen  Szechenyi's  zum  glänzendsten 
Siege  führen,  Pest  in  die  Beihe  der  sehenswürdigen  Städte  einführen  sollte, 
hat  dem  genialen  Seher  viele  Jahre  der  Buhe  geraubt  und  ihn  zum  Spiel- 
ball der  Bomirtheit  und  philisterhaften  Bosheit  gemacht. 

Merkwürdig,  dass  dieser  Mann,  den  man  gern  zum  psychiatrischen 
Gegenstände  machen  möchte  und  der  doch  nach  diesen  Briefen  so  logisch 
dachte  und  handelte,  dass,  wenn  dies  Wahnsinn  heissen  sollte^  man  sofort 
die  banale  Gesundheit  des  Gehirns  dagegen  eintauschen  möchte^  merk- 
würdig ist  es,  sagen  wir,  dass  dieser  Mann  in  den  tüchtigsten  Arbeitsjahren 
von  1835 — 1 840  auch  einen  geradezu  ausgelassenen  Humor  besass,  der  sich 
in  dem  burschikosen  Ton  so  vieler  seiner  Briefe  äussert.  Er  schien  sich 
recht  wohl  zu  fühlen  im  Kämpfen,  Bingen,  Arbeiten.  Es  war  dies  auch  die 
glücklichste,  die  Wonnezeit  seines  Lebens.  Er,  der  sich  so  lange  gegen  das 
Ehejoch  gesträubt,  er,  der  Tasner  mutwillig  vor  der  Heirat  und  vor  dem 
Verlassen  des  Junggesellenstandes  warnt,  er  ist  der  Gefongene  Amors  ge- 
worden, er  hat  den  treuesten  Altar  der  Liebe  in  der  Zeit  errichtet,  da  er  die 
Gräfin  Zichy  heimführte.  Dithyrambisches  Jauchzen  hört  man  aus  den 
Zeilen  dieser  Briefe  heraus.  Die  Bösen  standen  der  lorberbekränzten  Stime 
so  wohl ! 

Die  Ehe  macht  den  Grafen  Sz^chenyi  nicht  müssig,  sie  stachelt  viel- 
mehr seine  Kräfte.  Mehr  als  je  macht  ihm  die  Errichtung  und  Vervoll- 
kommnung der  Donau- Dampf  schiff  fahrt,  die  aus  so  winzigen  Anfängen 
entstand,  zu  schaffen.  Die  Sprengungen  am  Eisernen  Thor  nehmen  seine 
ganze  Aufmerksamkeit  in  Anspruch  und  sein  diplomatischer  Verkehr  mit 
Wien,  Ofen,  Belgrad,  Constantinopel  lässt  uns  seine  Gewandtheit,  Vielsei- 
tigkeit und  sein  praktisches  Wirken  bewundem. 

Zwischen  den  grossen  politischen  und  commerziellen  Plänen  vergisst 
Szechenyi  der  Musen  niemals.  Er,  der  die  Akademie  mit  Verschenkung  eines 
ganzen  Jahreseinkommens  gegründet,  freut  sich  der  ersten  Talentproben 
auf  dem  Gebiete  der  Malerei,  begrüsst  Barabäs  und  ist  beglückt,  ungarische 
Architekten  und  Baumeister  beim  Bau  des  ersten  ständigen  ungarischen 
Theaters  in  Pest  verwenden  zu  können. 

Mit  richtigem  Blicke  hatte  Sz6chenyi  in  dem  Gultus  der  Musen  eine 
wichtige  nationale  Mission  erkannt.  Er  war  es,  der  die  ersten  Schritte  beim 
Landtag,  beim  Comitat,  beim  Erzherzog  Josef  that,  um  in  Pest,  das  bisher 
nur  der  deutschen  Muse  ein  stattliches  Heim  geboten  hatte,  ein  Centrum 
ungarischer  Kunst  zu  schaffen.  Nur  Klausenburg  hatte  damals  schon  ein 
stabiles,  für  jene  Zeiten  ziemlich  stattliches  Gebäude.  Die  Hauptstadt  sollte 
nach  fünfzehn  Jahren  erst  nachhinken.  Nach  Szechenyi*s  Idee  sollte  das 
Nationaltheater  an  das  Donau-  Ufer  gebaut  werden.  Er  hatte  demnach  den- 
selben Gedankengang,  der  in  viel  späterer  Zeit  die  Verlegung  des  Parla- 


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GEAP   STEFAN   BZ6cHJSfrn'B  BBIBFß.  ^^ 

mentspalastes  vor  die  QijiaiBtufen  zur  Folge  hatte.  Szechenyi  erwirkte,  daas 
der  Paiatin  Josef  zu  Zwecken  eines  Theaters  einen  Grund  am  Donau-Ufer, 
ungefähr  wo  heute  der  Eötvös-Platz  ssu  finden  ist,  und  zwar  einen  freiste- 
henden Grund  von  etwa  700  Quadratklalter  Umfang  anwies.  Szechenyi 
selbst  subskribirte  10.000  Gulden  unter  der  Bedingung,  dass  das  Theater 
auf  diesen  Grund  gebaut  werde,  den  er  nach  der  damaligen  Lage  und  Ent- 
wicklung der  Stadt  für  den  passendsten  hielt.  Viel  Unmut  fiösate  ihm 
jedoch  der  Verlauf  dieser  Angelegenheit  ein.  Stadt  und  Gomitat  suchten 
ihm  die  Initiative  zu  entwinden,  Grassalkovich  schenkte  den  heutigen  Grund 
vor  dem  Hatvaner  Thor,  das  Land  votirte  400.000  Gulden  für  den  Bau  und 
Szechenyi,  der  in  Paris  die  umfassendsten  Planstudien  hatte  vornehmen 
lassen,  blieb  mit  seinen  Absichten  allein.  Fürder  sehen  wir  Szechenyi  sich 
nicht  mehr  um  das  Theater  kümmern,  aber  unstreitig  gebührt  ihm  das 
Verdienst  der  Initiative  auch  hierin  und  sein  durchdringender  Seherblick 
wurde  glänzend  gerechtfertigt  durch  die  ausserordentUch  bedeutsame,  ja 
nahezu  entscheidende  Bolle,  welche  unser  Nationaltheater  in  der  Geschichte 
Budapests,  sowie  der  gesammten  ungarischen  Gultur  gespielt  hat. 


HL 

In  der  letzten  Hälfte  des  vorliegenden  Bandes  seiner  Briefe  sehen  wir 
Szechenyi  vorzugsweise  mit  der  Finanzirung  der  Kettenbrücke  beschäftigt. 
Wie  langsam  gingen  damals  alle  ungarischen  Angelegenheiten !  Am  23.  Sep- 
tember 1836  schreibt  Szechenyi  an  den  Weg-  und  Brückenbau-Commissär 
Friedrich  Schnirch:  •  Nach  unsäglicher  Mühe  von  Yier  Jahren  ist  es  mir 
gelungen,  ein  Gesetz  zu  erhalten,  nach  welchem  auf  der  zu  erbauenden 
Brücke  Jedermann  zu  zahlen  habe.  Hiedurch  sind  wir  quasi  in  einer  sicheren 
Revenue  von  200,000  fl.  C.-M.  Man  sollte  also  glauben,  dass  man  ohne  Wei- 
teres anfangen  sollte  etc.  Weit  gefehlt !  Es  muss  noch  und  noch  und  noch 
abgedroschen  werden.» 

Nun,  und  zum  Dreschen  hatte  wahrlich  Szechenyi  Mut  und  Geduld 
genug.  Dauerte  es  doch  abermals  drei  Jahre,  bis  er  die  Finanzirung  der 
Brücke  durch  Baron  Georg  Sina  gesichert  hatte. 

Die  Briefe  an  Georg  Sina  sind  die  piece  de  resistance  der  zweiten 
Hälfte  dieses  Bandes.  Viel  wichtige  Erkennungszeichen  für  den  Charakter 
und  die  Handlungsweise  des  Grafen  Szechenyi  finden  sich  darin.  Zuerst 
klopft  unser  Patriot  schüchtern  bei  Baron  Sina  an.  Schon  der  erste  Brief,  in 
welchem  der  ungarische  Patriot  sein  Lieblingsproject  dem  Wiener  Finanz- 
potentaten anträgt,  ist  bezeichnend  genug.  Er  lautet  : 


üngariselM  Bama,  XI.  1891.  11.  Heft. 


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130  GRAF   STEFAN    SZÄOHENYI*S   BRIEFfi. 

Czenk,  18.  Oktober  1836. 

Mein  sehr  hochgeachteter  Freund  I 

«Hier  beigebogen  sende  ich  Ihnen  ein  Schreiben,  das  Sie  die  Güte  haben 
wollen  einstweilen  zu  beherzigen,  bis  mir  das  Vergnügen  werden  wird,  mich  Ihnen 
persönlich  vorzustellen,  wenn  ich  sodann  über  ADes  nähere  Auskunft  zu  geben  mir 
vorbehalte.  Ich  bitte  um  nichts,  als  dass  Sie  dem  in  Frage  stehenden  Gegenstand 
etwas  Zeit  gewinnen  und  ihn  mit  kaüem  Blut  prüfen  inögen, 

Untersuclien  kostet  nichts  —  und  es  dürfte  sich  zeigen,  dass  während  Millio- 
nen und  Millionen  in  England  und  auf  dem  Kontinent  unzweckmässig  und  unfrucht- 
bringend zersplittert  werden  —  der  Bau  einer  Brücke  zwischen  Ofen  und  Pest  eine 
der  nützlichsten  Unternehmungen  wäre,  die  man  nur  ergreifen  könnte ;  und  zwar : 
nützlich  für  den  Staat  im  höheren  Sinne,  weil  durch  dessen  Bau  das  Princip  des 
gleichförmigen  Zahlens  auf  Strassen  und  Communicationen  aller  Ai-t  in  Ungarn  auf 
immer  begründet  wäre,  ohne  dem  dieses  Land  sich  nie  entwickeln  kann ;  aber  auch 
nützlich  für  den  immediaten  Handel  des  Landes  und  die  Verbindung  der  beiden 
Städte,  —  und  endlich  tivarzugsweise  nützlich ßlr  die  Unternehmer,* 

Ich  gedenke  gegen  den  24.  d.  in  Wien  einzutreffen,  wann  ich  dann  nicht 
säumen  werde,  an  Ihre  Thüre  anzuklopfen.* 

Artiger  und  zugleich  gescbäftsmässiger  hat  wohl  noch  kein  Graf  einer 
Finanzmacht  geschrieben.  Bald  vereinigt  sich  Szechenyi  mit  Kappel,  Koväcs 
und  Tüköry,  um  Sina  direct  und  ausdrücklich  zu  ersuchen,  sich  an  die 
Spitze  der  Brückenbau-Unternehmung  zu  stellen.  Es  ist  gewiss,  dass  der 
Baron  durchaus  nicht  so  hitzig  dreingehen  wollte.  Wenigstens  kommt  Sze- 
chenyi in  einem  Brief  an  Sina  vom  15.  Jänner  1837  abermals,  und  zwar 
sehr  dringend  auf  diesen  Gegenstand  zurück.  Obzwar  Sina  ihm  schon  münd- 
lich die  Durchführung  der  Angelegenheit  zugesagt  hatte,  wünscht  Szechenjd 
doch  durchaus  eine  «an  alle  Viere  gerichtete  baldmöglichste  geneigte  Ant- 
wort». Charakteristisch  ist  folgende  Stelle  dieses  urgirenden  Briefes: 

•Sie  beschuldigen  mich,  dass  ich  mich  nicht  fest  an  Sie  gehalten,  sondern 
auch  in  die  Arme  Anderer,  wie  der  Freiherm  v.  Eskeles,  Pereira  und  Herrn  Ulimann 
geworfen  hätte.  Sie  thuen  mir  aber  Unrecht;  denn  vor  allen  anderen  braucht  das  in 
Frage  stehende  Unternehmen  —  welches  auf  guter,  gesunder  Grundlage  basirt 
ist  —  durchaus  keines  so  ängstlichen  Anbietens,  imd  sodann,  weil  Niemand  besser 
weiss,  als  ich,  wie  vom  Ziel  führend  jeder  Concurs  und  jede  Aemulation  bei  Unter- 
nehmen v<m  so  grossem  Belange,  wie  das  in  Frage  stehende,  zu  sein  pflegt  Wenn 
ich  aber  als-  Vorsitzer  der  Landes-Subdeputation  von  Leuten  wie  Baron  Eskeles, 
Pereira  etc.  angegangen  werde,  was  soll  ich  thun  ?  sie  geradezu  rebutiren  9  ich,  der 
ich  durchaus  keine  Vollmacht  dazu  habe,  nnd  die  Verantwortung  solches  willkür- 
lichen Verfahrens  in  einer  Sache  nie  auf  mich  nehmen  wollt«,  über  welche  einzig 
und  allein  die  reichstägige  Deputation  zu  entscheiden  hat.  Setzen  Sie  sich  in  meine 
Lage,  und  urteilen  Sie  über  mich  gerecht ;  vor  allen  anderen  aber  lassen  Sie  mich 
nicht  in  diesem  paralitischen  Zustande,  in  welchen  Sie  mich  versetzt  haben  !• 


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GRAF   STEFAN   SZÄCHBNYl's   BBIBFE.  131 

Szechenyi  schreibt  aber  noch  an  demselben  Tage  an  den  Grafen  Anton 
Mailäth  nach  Wien :  Sina  nehme  eine  zweideutige,  schwankende  Stellung 
ein  und  Mailäth  sollte  allen  Einfluss  auf  den  Baron  aufbieten^  damit  dieser 
endlich  «losschiesse  und  sich  als  Unternehmer  mit  dem  Erzherzog  Palatin 
und  der  Begnikolar-Deputation  in  Verbindung  setzet.  Es  scheint  jedoch^ 
dass  Baron  Sina  zu  jenen  Zauderern  in  Geschäftssachen  gehörte,  die  vor 
lauter  Aengstlichkeit,  vor  lauter  Sucht  nach  Garantien  und  Furcht  vor 
möglichem  Verlust  lange  zu  keinem  Entschluss  kommen  können.  So  that 
zwar  Baron  Sina,  wozu  ihm  Graf  Szechenyi  geraten  hatte,  er  wendete  sich 
mit  einer  Eingabe  an  den  Erzherzog  Palatin,  dieser  aber  war  von  dem  Ton 
der  Eingabe  durchaus  nicht  erbaut  und  äusserte  sich  zu  Szechenyi,  dieselbe 
wäre  weder  schwarz  noch  weiss,  und  es  solle  ihm  Leid  thun,  wenn  er  Sina, 
den  er  sonst  schätze,  die  Unternehmung  nicht  übertragen  könne.  Nun  gerät 
Szechenyi  ins  Feuer  und  bombardirt  Sina  mit  Concepten,  Calculationen, 
Batschlägen,  er  beschwört  ihn,  der  Goncurrenz  bei  diesem  brillanten  Ge- 
schäfte nicht  Zeit  zu  lassen  und  ihn,  den  Grafen  Szechenyi  nicht  zu^blamiren. 
Zum  Ueberfluss  trägt  ihm  Graf  Szechenyi  noch  sein  ganzes  flottes  Vermögen 
von  300,000  fl.  als  Einlage  zum  Brückenbau  an. 

Endlich,  nach  wiederholten  Urgenzen,  liess  sich  Baron  Sina  herbei, 
eine  bestimmte  Erklärung  abzugeben.  Am  13.  April  1837  bestätigt  Szechenyi 
den  Erhalt  der  «im  Ganzen  vortrefflichen  Eingabe.»  Am  25.  April  gedenkt 
er  Baron  Sina  in  Wien  aufzusuchen,  um  ihm  «einige  kleine  Bemerkungen 
mündlich  vorzutragen,  i 

Nun  ist  also  Sina  der  erklärte  Mann  Sz^chenyi*s  und  dieser  beweist 
fortan  der  Goncurrenz  gegenüber,  dass  er  seinem  Geschäftsgenossen 
unter  allen  Umständen  treu  bleiben  will.  Man  lese  nur,  was  er  schon  am 
11.  Juni  1837  an  den  Erzherzog  Palatin  schreibt: 

«Herrn  Wodianers  « Gross! landlungshäusen  sind  heute  durch  eine  neue  Ein- 
gabe an  das  Tageslicht  gekommen.  Diese  werde  ich  Ew.  k.  k.  Hoheit  Morgen,  so 
bald  sie  dictirt  ist,  einzusenden  die  Ehre  haben.  Bis  dahin  nehme  ich  mir  die  Frei- 
heit, Ew.  k.  k.  Hoheit  die  Unterzeichneten  hier  anzuführen : 

Woilianer  Samuel  ^s  fia.  Magyari  Imre. 

Ulimann  Möricz  maga  nev^ben.  Bobitsek  Jözsef. 

Ugyanaz  Bär6  Dietrich  Jözsef  nev^ben.     HegedÜa  Zsigmond. 

Grof  ötäray  Albert. 

Bärö  Orczy  György. 

Bärö  ßedl  Imre. 

Premsperger  Päl. 

Jeder  Unbefangene  und  Gutmeinende  würde  leicht  einsehen,  dass  lüer  nur 
•  Hindern*  das  lAmmgswort  ist.  Da  indessen  mit  vieler  Befangenheit  und  vielem 
bösen  Willen  zu  kämpfen  ißt,  so  wäre  meine  Meinung,  anjetzt  nichts  Anderes  zu 
thun,  als  um  Sina  nicid  abzuschrecken,  ihm  auf  eine  gute  Art  beiläufig  so  viel 
zukommen  zu  lassen :  « Scheuen  Sie  eine  solche  Goncurrenz  nicht,  lassen  Sie  Ihre 

9* 


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132  GRAF   STBFAK    SZ^CHENYI^S   BRIEFE. 

Pläne  je  eher  verfertigen,  und  rechnen  Sie  auf  Billigkeit.!  Ob  ich  nun  in  der  Depu- 
tation 80  viel  zu  Wegen  bringen  kann,  bin  ich  nicht  sicher,  bitte  also  Ew.  k.  k» 
Hoheit  unterthänigßt  •helfen  Höchstdieselben  mir  Schwachen.^ 

Baron  Sina  legt  sich  morgen  um  10  Uhr  Früh  Sr.  k.  k.  Hoheit  dem  Erzherzog 
selbst  zu  Füssen.  Ein  solches  Wort  i Lassen  Sie  Ihre  Leute  aus  England  und 
Amerika  ohne  weiters  kommen,  setzen  Sie  sich  über  alle  Concurrenten  hinaus,  und 
überreichen  Sie  ihre  Pläne  baldmöglichst  ohne  Scheu,  und  bauen  Sie  auf  den  Recht- 
sinn einer  allerhöchsten  Eegierung»  würde  auf  jeden  Fall  alles  retten. 

Ich  fürchte  unbescheiden  zu  sein,  Ew.  k.  k.  Hoheit  Höchstdero  kostbare 
Zeit  auch  jetzt  in  Anspruch  zu  nehmen.  Höchstdero  unversiegbare  Güte  hat  mich 
aber  verdorben,  und  meine  Absicht,  ich  kann  es  mit  Selbstgefühl  sagen,  ist  nicht 
unedel.  Ew.  k.  k.  Hoheit  ganz  unterthänigster  Diener 

Graf  Stephan  Sz^chenyi. 

So  eben  bemerke  ich,  dass  ich  auf  bereits  beschriebenes  Papier  diese  Zeilen 
setzte.  Bitte  tausendmal  um  Vergebung.» 

Der  Erzherzog  erwies  sich  als  feste  Stütze  Sz^chenyi's.  Am  nächsten 
Tage  schreibt  dieser  an  Ersteren :  tNach  der  heutigen  Audienz,  die  Baron 
Sina  bei  Ew.  k.  k.  Hoheit  hatte  und  von  der  er  erfreut,  ermutigt  und  ge- 
stählt zurückkehrte,  bin  ich  des  Gelingens  aller  Vorarbeiten  sicher.  • 

Sz^chenyi  war  es,  dank  seiner  Energie  und  Schlauheit,  noch  mehr 
aber  durch  die  Treue  des  Erzherzogs  gelungen,  die  Concurrenz  aus  dem 
Felde  zu  schlagen.  Höchst  realistisch  klingen  die  fröhlichen  Zeilen,  welche 
der  Graf  hierüber  an  Sina  schreibt : 

iihre  Angelegenheit  steht  so  gut  wie  möglich.  Wir  hätten  Wodianer  et  Co. 
oder  eigentlich  Stäray,  Ullmann  et  Co.  ganz  vor  den  Kopf  schlagen  können,  ich 
wollte  es  aber  nicht,  denn  ich  fürchte  mich  ganz  erbärmlich  vor  Beaktionen.  Jetzt 
haben  wir  sie  beseitigt,  und  unsere  Opposition  ganz  gelähmt.  Graf  Stäray  —  da  er 
das  Ganze  nicht  zerfallen  machen  konnte  —  stimmt  jetzt  ein  anderes  Lied  an,  über 
welches  ÜUmann  et  Wodianer  heulen  möchten ;  er  (Stäray)  spielt  nämlich  den  Zufrie- 
denen, den  Retter  des  Vaterlandes.  tWir  haben  unsem  Zweck  erreicht,  unsere. 
Rolle  ist  ausgespielt,  sagt  er,  wir  haben  die  Deputation  in  ihre  Schranken  gewiesen, 
sonst  hätte  sie  ohne  Bedingniss  Alles  dem  Baron  Sina  zugesagt.»  Ullmann  et 
Wodianer  scheinen  aber  mit  dieser  politischen  Demonstration  nichts  weniger  wie 
zufrieden,  und  werden  gewiss  einen  Chef  suchen.  Ich  wunderte  mich  nicht,  wenn 
Rothschild  dennoch  in  dieses  Unternehmen  entrirte.  Es  wäre  unangenehm.  Zeit- 
gewinn ist  alles,  denn  am  Ende  ist  das  Ganze  in  den  Händen  des  Erzherzogs,  und 
dieser  ist  ganz  für  Sie.  Wenn  er  auch  nur  so  lange  lebt,  als  ich  wüni^che !  In  den 
Ausschuss  werde  ich  ausser  Kappel,  Tüköry  imd  Eoväcs,  noch  Andrässy,  PoUak, 
und  wenn  der  Erzherzog  erlaubt,  Väsärhelyi  hineinnehmen,  um  alles  vorzuberei- 
ten. Nun  werde  ich  nächstens  die  Antwort  aufsetzen,  die  Sie  der  Deputation  geben 
müssen,  um  sich  gegen  Eins  und  das  Andere  zu  verwahren,  denn  tqui  tacet,  con- 
sentire  videtur». 

Sz6chenyi  ist  jetzt  wieder  bei  bestem  Humor.  Am  20.  Juni  schreibt  er 
an  den  BaroU;  dieser  möge  seinen  mündlichen  Auftrag,  wonach  er  die  Kosten 


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GBAF   STEFAN    BZ^CHENTl's    BREBFE.  133 

der  Vorarbeiten  a  fond  perdu  zu  tragen  erkläre,  in  einigen  an  den  Präses 
der  Begnicolar-Deputation  gerichteten  Zeilen  wiederholen,  da  er,  Szechenyi, 
ja  sterben  könne  und  dann  hätte  die  Deputation  nichts  in  Händen.  Und  am 
nächsten  Tage  erklärt  er  seinem  «sehr  geachteten  Freunde»  den  Bescbluss 
der  Begnicolar-Deputation  folgendermassen : 

•Es  freuet  mich  täglich  mehr,  mit  Ihnen  zu  thun  zu  haben,  da  ich  aus  Allem 
Hure  Umsicht  und  Ihren  praktischen  Scharfsinn  hervorleuchten  sehe,  ohne  welche, 
man  mag  sagen,  was  man  will,  weder  Kleines,  noch  Grosses  gelingt,  da  Patriotis- 
mus, Seelengrösse  etc.  allein  keineswegs  auslangen. 

Eines  begreife  ich  nicht,  wie  Sie  das  nämlich  verstehen  zu  müssen  glauben, 
was  (^ie  Beicbs-Deputation  Ihnen  und  den  Wodianem  sagte. 

Diesen  sagt  sie :  «Wenn  Eure  Pläne  und  Bedingungen  die  besten  sind,  so 
habt  Ihr  den  Vorzug  •. 

Ihnen  aber:  cWenn  Ihre  Pläne  und  Bedingungen  ebenso  gut  sind,  wie  die 
andern,  so  haben  Sie  den  Vorzug  •. 

Sehen  Sie  durch  diese  Aussage  nicht  die  ganze  Sache  bereits  in  Ihren  Hän- 
den? Ja;  sie  gehört  Ihnen,  wenn  Sie  NB.  bei  Zeiten  zugreifen  und  sich  in  Besitz 
setzen,  was  die  Hauptsache  ist ;  die  Begierung  ist  für  Sie,  der  Erzherzog  ist  für  Sie, 
die  Deputation  ist  für  Sie ;  und  endUch  sind  Sie  der  Mann  der  Vorsehung,  der 
seine  Mission  vollenden,  und  somit  imter  Andern  auch  die  Pesther  Brücke  bauen 
muss.  Also  vorwärts/ 

Ebenso  wie  es  unmöglich  ist,  zu  viel  Umsicht  zu  haben,  so  muss  man  ande- 
rerseits auch  dreiuzuhauen  verstehen,  wie  Sie 's  gewohnt  sind,  also  noch  einmal 
« Vorwärts/ 9  und  erfreuen  Sie  mich  bald  mit  einigen  vollgewichtigen  Zeilen •. 

In  ebendemselben  Briefe  hat  Szechenyi  Zeit,  den  Baron  an  die  ihm 
versprochenen  tausend  Ziganen  zu  erinnern.  Da  Baron  Sina  in  grossen  wie 
in  kleinen  Dingen  ein  schlechtes  Gedächtniss  zu  haben  schien,  so  erinnert 
ihn  Szechenji  kurz  darauf  sowohl  an  die  schriftliche  Erklärung,  als  auch  an 
die  tausend  Zigarren,  von  welchen  er  mit  nächstem  Schiff  Hundert  zuge- 
sendet haben  will,  um  seine  entzündete  Leber  zu  erfreuen. 

Sina  hatte  also  die  Vorarbeiten  zugesprochen  erhalten  und  die  Ver- 
sicherung bekommen,  dass  er  unter  gleichen  Bedingungen  der  Bevorzugte 
sein  werde.  Die  Goncnrrenzpartei  ruhte  aber  durchaus  nicht  und  suchte  sich 
durch  Bothschild  zu  verstärken.  Szechenyi  erwies  sich  auch  fernerhin  als 
guter  Geschäftsmann  und  treuer  Bundesgenosse.  Er  rät  Sina,  die  Actien- 
gesellschaft  möglichst  rasch  zu  formiren.  Einen  dirigirenden  Ausschuss  hatte 
Szechenyi  in  Pest  bereits  gebildet.  Als  leitender  Ingenieur  für  die  Vor- 
arbeiten, dem  auch  der  Brückenbau  übertragen  werden  sollte,  fungirte  der 
Engländer  Gark.  Sz^henyi  verlangt,  Sina  solle  zwei  Kaufleute  herunter- 
schicken, um  die  Preise  der  Materialien  zu  erheben,  damit  Clark  einen 
approximativen  Eostenvoranschlag  machen  könne,  auch  sei  mit  Clark  selbst 
bald  ein  bindender  Vertrag  zu  schliessen.  Der  Graf  bittet  Sina,  vor  der  Grösse 
der  Vorauslagen  nicht  zu  erschrecken,  da  sich  dieselben  bei  der  Grösse  des 


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134  GRAF    STEFAN    SZ^CHENYl's   BRIEFE. 

Unternehmens  leicht  einbringen  Hessen.  Und  nun  hören  wir  Szechenyi  einen 
Ausspruch  thun,  welcher  beweist,  dass  er  in  alle  Unternehmerkniffe  bereits 
eingeweiht  genug  ivar.  Er  schreibt  nämlich  als  Nachschrift  an  den  wahr- 
scheinlich sehr  engherzigen  Baron  Sina :  «Die  Vorauslagen  gewähren  übri- 
gens einen  grossen,  wiewohl  indirecten  Vortheil,  und  zwar  —  dies  bleibe 
aber  unter  uns !  —  dass  sie  viel  Aufsehens  machen,  nicht  controlirt  werden 
können,  folglich  in  dem  Finaltractate  mit  der  Beichsdeputation  man  sie  als 
eine  sehr  grosse  Last  anführen  kann.» 

Etwas  vorsichtiger  drückt  sich  Szechenyi  aus,  indem  er  Sina  die  Bil- 
dung einer  Actiengesellschaft  dringend  empfiehlt.  «Welche  Motive  mich  in- 
dessen bewegen,  diese  Ansicht  zu  haben,  kann  ich  unmöglich  dem  Papier 
anvertrauen ;  ich  muss  sie  mündlich  darstellen,  und  zwar  an  Sie  selbst  oder 
an  Jemanden,  der  Ihr  vollstes  Vertrauen  besitzt  und  der  auch  die  Einleitung 
solcher  Angelegenheiten practisch  versteht!» 

Baron  Sina  scheint  nunmehr  volles  Vertrauen  zum  Grafen  Szechenyi 
gefasst  zu  haben.  Wenigstens  schreibt  dieser  am  10.  September  1837  an 
Erstem:  «Sie  haben  mich  zwar  in  einem  Ihrer  Briefe  auf  das  Schmeichel- 
hafteste mit  Ihrem  grössten  Vertrauen  beehrt  und  mir  eine  grosse  Vollmacht 
eingeräumt,  es  handelt  sich  nun  aber  um  den  Teil  des  Unternehmens,  der 
kaufmännisch  zu  berücksichtigen  kommt  und  da  gestehe  ich  mich  viel  zu 
wenig  competent,  um  allein  ohne  Gontrole  dastehen  zu  wollen.»  Die 
schlimmen  Folgen  des  innigen  Attachements  des  Grafen  an  Sina  sollten 
nicht  ausbleiben;  am  8.  November  1837  schreibt  er:  «Meine  Stellung  ist  als 
Mitglied  der  Landesdeputation  sehr  schwierig,  ich  bekomme  von  allen  Seiten 
Insinuationen  der  niedrigsten  Art:  ich  hätte  mich  an  Sie  verkauft,  um 
tüchtig  Geld  zu  machen,  was  mit  meiner  Stellung  als  eines  der  Hauptmit- 
glieder der  Landesdeputation  incompatibel  sei.  Man  sieht  aus  Allem,  wie 
sehr  die  Juden  durch  ihre  100  Kamificationen  emsig  gewesen  sind,  Sie  und 
mich  in  ein  verdächtiges  Licht  zu  setzen.»  Am  Schlüsse  desselben  Briefes 
bittet  Szechenyi  den  Baron:  «seine  Briefe  und  Alles,  was  er  an  ihn  sage, 
auf  das  Scrupulöseste  geheim  zu  halten  /» 

Die  Concurrenzpartei,  mit  Wodianer  an  der  Spitze,  hatte  sich  inzwi- 
schen verstärkt  und  Graf  Szechenyi  musste  wieder  einmal  Alles  aufbieten, 
um  seinem  Freunde  Sina  das  Brückenbaugeschäft  zu  retten. 

IV. 

Die  auf  die  Kettenbrücke  bezüglichen  Briefe  des  Grafen  Szechenyi 
nehmen  noch  fortwährend  unser  Interesse  in  Anspruch,  da  sie  uns  von  der 
Zähigkeit,  Principientreue  und  geschäftlichen  Umsicht  des  grossen  Ungars 
einen  ziemlich  deutlichen  Begriff  geben.  Wie  oben  erwähnt,  hatte  Graf 
Szechenyi  dem  Baron  Sina  gegenüber  sich  verpflichtet,  ihm  den  Bau  zu 


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GBAP   STEFAN    SZECHENTl's   BRIEFE.  135 

sichern,  während  eine  von  Wodianer  geführte  Gruppe  dagegen  conourrirte. 
Beide  Parteien  Hessen  Pläne  von  der  Brücke  anfertigen,  Sina  durch  Olark, 
Wodianer  durch  Rennie.  Im  Verfolg  des  Briefwechsels  mit  Sina  vertieft  sich 
Szechenyi  auch  in  die  Eisenbahnprojecte  (Wien  Raab-Ofen)  des  Ersteren. 

Am  16.  August  1837  schreibt  Sz6chenyi  an  Sina  bezüglich  der  Ketten- 
brücke : 

iDie  Kanone  ist  losgebrannt,  die  Sclüacht  beginnt,  ganz  Europa  wird  näch- 
stens davon  reden.  Ihr  Name  steht  obenan,  vergessen  Sie  das  nicht,  hochgeachteter 
Freimd!  (Vielen  Dank  für  die  Zigarren!  Wenn  auch  nur  jene,  die  kommen,  ebenso 
gut  sind,  wie  die  Sie  mir  sandten.  Auch  hierin  wussten  Sie  das  Beste  zu  finden. 
Ich,  der  ich  ganz  Europa  ausforschte,  fand  sie  nicht  !)> 

Am  17.  November  schon  schreibt  er  an  Ebendenselben: 
•Soviel  können  Sie  einstweilen  als  sicher  annehmen,  dass  Sie  auf  jeden  Fall 
auf  das  EhrmroUste  und  beinahe  so  sicher,  wie  2x2=4,  als  Sieger  aus  diesem 
Kampfe  hervorgehen  werden.  Es  ist  aber  die  aüergrösste  Umsicht  notwendig,  und 
nicht  als  ob  Gefahr  wäre,  dass  das  Geschäft  in  Wodianer' s  Hände  übergeht,  son- 
dern weil  wirkliche  Gefahr  droht,  dass  Wodianer  u.  Cie.  Alles  aufbieten  werden, 
eher  das  Ganze  zerfallen  zu  machen,  als  Ihnen  den  Bau  zu  überlassen.  Ob  ihnen 
nun  dies  gelingt,  weiss  ich  nicht  imd  werde  idas  Meinige  thun»,  um  es  zu  hindern. 
Zu  besorgen  bleibt  es  dennoch  in  grösstem  Maasse,  denn,  wie  Sie  wissen,  ein  Narr 
kann  oft  mehr  verderben,  als  hundert  Weise  zurecht  richten.  Und  wie  erst  i bos- 
hafte Narren  !• 

Eben  von  Wodianer  schreibt  er  am  24.  December : 

•Ich  hätte  in  ihm  nicht  so  viel  Energie  und  Ausdauer  vermutet  und  man  wird 
viel  aufbieten  müssen,  um  sie  zu  besiegen,  denn  sie  haben,  wenn  wir  ims  nicht 
betrügen  wollen,  die  Mehrheit  der  Stimmen  für  sich.  Der  Erzherzog  wird  aber  den 
Ausschlag  geben.  • 

Wie  eingehend  Graf  Szechenyi  sich  mit  seinen  Projecten  befasste,  be- 
weist folgender  Fragebogen,  den  er  an  den  Baron  richtet : 

•Welche  Arenda  bezahlt  der  Arendator  der  Taborbrücke  (Schiffbrücke)  ? 
Nach  welchem  Tarif  zieht  er  die  Brückenmaut?  Zahlen  Regiei-ungsleute  auch  Maut 
oder  zahlt  die  Regierung  ein  Pauschale?  Wessen  Eigenthum  ist  die  Kettenbrücke 
in  Böhmen?  Wer  baute  sie?  Was  kostete  sie?  Nach  welchem  Tarif  wird  darauf 
bezahlt?  Wie  lange  dauert  die  stipulirte  Zahlung  ?  Ewig  oder  auf  bestimmte  Zeit- 
frist ?  Was  hat  die  Regierung  dazu  gegeben?  Oder  zahlt  die  Regierung  auch?» 

In  einem  zwei  Tage  später  datirten  Briefe  fragt  Szechenyi  den  Baron, 
ob  er  etwas  in  Hinsicht  der  Preise  des  Granits  und  des  Holzes  gesammelt  ? 

Der  strenge  Winter  von  1837/38  hatte  zur  Folge,  dass  man  diei  Not- 
wendigkeit einer  starken  Brücke,  aber  nur  auf  zwei  Pfeilern,  einsehen  lernte 
und  somit  das  Project  Clark's  an  Beliebtheit  gewann : 

«Wodianer  und  Co.  machen  lange  Gesichter.  Sie  sind  aber  sehr  gewandt  und 
stets  auf  den  Beinen,  so  dass  ich  sie  imm^r  fürchte  und  gegen  sie  all  unser  Geschütz 


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136  GRAF   STEFAN    SZl^ENTl's   BRIEPE. 

aufsuföhren  anrate.  —  —  —  Eb  ist  gegen  meine  Gewohnheit,  die  Bärenhaut 
früher  zu  verkaufen,  als  sie  vollkommen  ausgegerbt  ist,  denn  die  zu  frühen  Sieges- 
FaDfaren  pflegen  gar  oft  in  Klagetönen  den  Ueberwindem  zu  enden.  So  viel  aber 
menschlicher  Weise  prognostizirt  werden  kann,  so  können  Sie  von  Ihrem  Siege 
bereits  sicher  sein.» 

Man  sollte  es  nicht  glauben^  dass  die  Stadt  Pest  nicht  aufhörte,  den 
Brückenbau  zu  hintertreiben.  Wir  citiren  folgende  charakteristischen  Stellen 
aus  Szechenyi*s  Brief  vom  12.  Jänner  1838 : 

•Einige  Stimmen  haben  sich  bereits  verlauten  lassen:  •Die  Stadt  würde 
gegen  jede  AH  Brücke  protestiretiy  und  bis  zu  S.  M,  dem  Kaisergeken,  da  sie  wegen 
einer  Theorie  nicht  ihre  Habe  aufs  Spiel  gesetzt  haben  wollten.»  Ich  ignorire  dies 
zu  Schein  ganz,  thun  Sie  einstweilen  dasselbe.  Wir  müssen  aber  machen.  Clark 
annoncirt  mir  ein  Paquet,  das  er  durch  Sie  an  mich  sendet.  Es  ist  'Fliee  darin,  und 
vielleicht  einige  Zeichnungen.  Ich  bitte  Sie,  es  aus  den  Klauen  der  Maut  zu  ret- 
ten, und  mir  ehebaldigst  übersenden  zu  lassen,  da  ich  —  besonders  nach  dem 
Thee  —  wirklich  schon  lechze.  Bei  dieser  Gelegenheit  bringe  ich  die  guten,  dicken 
und  leichten  Cigarros  dellos  amicos  in  Ihr  Gedächtniss,  von  denen  Sie  mir  bereits, 
ich  glaube  100  sendeten  —  wovon  ich  übermorgen  die  allerletzte  rauchen  werde, 
1000  Stück  aber  bringen  zu  lassen  mir  gütigst  versprachen ! 

Ich  höre,  oder  lese  vielmehr  in  den  Zeitungen,  dass  Sie  Ihr  Eisenbahn-Privi- 
legium  für  die  Strecke  von  Wien,  über  Baden  ?  Neustadt  ( ?)  Oedenburg  ( ?  ?)  nach 
Raab  bereits  erhalten  haben.  Ich  hoffe,  d<iss  Sie  auf  mich  doch  nicht  ganz  vergessen, 
und  mir  einige  Stück  Aktien  um  den  Emissions-Preis  zukommen  lassen  werden,* 

Am  1.  Februar  1838  teilt  Szechenyi  seinem  Freunde  Baron  Sina  mit  : 

•Heute  ist  grosse  Conferenz  bei  Gr.  StAray,  der  vor  einigen  Tagen  angekom- 
men ist  imd  bei  dem  sich  alle  lUre  Widersacher  vereinigen  werden.  Sie  aber  sollten 
Wodianer  abtrünnig  machen.  Er  ist  ein  Kaufmann,  er  will  gewinnen,  sein  Spiel 
ist  somit  zu  begreifen  und  zu  verzeihen.  Die  St.  et  Co.  sollten  aber  eine  Lehre 
bekonmien,  die  man  ihnen  unmögUch  besser  geben  könnte,  als  wenn  man  W.  ver- 
möchte, sie  in  Stich  zu  lassen,  denn  dann  wären  sie  wirklich  in  einer  lächerlichen 
Szene,  da  W,  der  mizige  praktische  Kopf  unter  ihnen  ist, » 

Im  März  sollte  die  Beichsdeputation  über  die  vorgelegten  Concurrenz- 
pläne  von  Sina  und  Wodianer  entscheiden.  Szechenyi  schreibt  an  Sina  : 
«Präsidirt  Graf  Batthyäny,  so  wäre  es  wohl  rätlich,  ihn  bei  Zeiten  für  Sie 
zu  stimmen,  wie  nicht  minder  den  Protonotär  Vegh,  der  die  Feder  führt 
und  auf  den  natürlich  sehr  viel  ankommt.  • 

Bald  darauf  gelingt  es  Szechenyi,  die  Fusion  zwischen  Wodianer  und 
Sina  zu  Stande  zu  bringen,  was  ihn  sehr  erfreut,  weil  er  Wodianer  für  die 
Seele  der  Gegenpartei  hält.  Inzwischen  hat  Baron  Sina  seinen  Prospect  von 
der  Wien-Baaber  Eisenbahn  lanzirt  nnd  Szechenyi  ins  Gomite  gewählt.  In- 
teressant ist  folgende  Gewissensfrage,  welche  Szechenyi  am  9.  März  1838  an 
Sina  richtet : 


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GRAF   STEFAN   aZÄCHENYl's   BRIBFK.  137 

«In  Hinsicht  der  zu  vertheilenden  Aktien  der  Baab-Wiener  Eisenbahn, 
erkiube  ich  mir  eine  Anfrage  an  Sie  zu  machen :  Dürfen  and  sollen  die  Mitglieder 
jener  Deput.,  deren  Einer  ich  zu  sein  die  Ehre  habe,  von  jenen  2500  Stück  Aktien, 
die  Sie  für  Ungarn  bestimmen,  frei  und  ungehindert  schöpfen?  Es  ist  eine  kitzliche 
Sache.  Geschieht  keine  starke  Nachfrage,  dann  könnte  ich  z.  B.,  um  den  Weg  zu 
zeigen,  um  das  Beispiel  zu  geben,  für  50.000  oder  100.000  fl.  unterfertigen,  werden 
sie  aber  gesucht,  dann  kann  ich,  den  man  ohnehin  im  Yei  dacht  eines  interessirten 
Menschen  zu  haben  anfängt,  weil  er  noch  keinen  Sequester  auf  dem  Bücken  hat, 
höchstens  5  bis  10  Stück  Aktien  quasi  zum  Kosten  nehmen.  Nun  haben  sich  aber 
bereits  zwei  hiesige  Grosshändler  mit  m/260  bei  mir  vorgemerkt,  so  dass  ich  es  bei 
der  nächsten  Zusammenkunft  melden  werde  müssen ;  ich  aber  möchte,  als  einer  der 
ersten  Besitzer  im  Oedenburger  Komitat,  wenigstens  für  m/50  in  diesem  Geschäft 
interessirt  sein.  Wie  ist  das,  ohne  mich  ab  Mitglied  dieser  Deput.  zu  kompromitti- 
ren  —  zu  erzielen?  Hierüber  wollen^Sie  mir  ein  geneigtes  Wörtchen  sagen.! 

Die  im  März  1838  eingetretene  Ueberschwemmung  von  Pest  machte 
allen  Brückenprojecten  vorläufig  ein  Ende,  welche  Graf  Szechenyi  nunmehr 
sieben  Jahre  lang  mit  Bienenfieiss  betrieben.  Der  von  der  üeberscbwemmung 
datirte  Brief  ist  zu  charakteristisch,  als  dass  wir  ihn  nicht  reproduciren 
sollten: 

•Pesth  ist  für  den  AugenbUck,  man  kann  sagen,  t zerstört.^  Jede  Beschrei- 
bung, die  man  Ihnen  bis  jetzt  gegeben  hat  von  den  Verheerungen,  kann  nur  schwacli 
fein.  Wie  sich  das  Ganze  entwickeln,  ob  gänzHches  Versinken,  Vegetiren  oder  ein 
kräftigeres  Aufblühen  eintreten  wird,  ist  zu  erwarten.  Ihre  seelenvolle  Gabe  hat 
Wunder  gewirkt ;  und  nie  war  eine  mehr  zu  seiner  Zeit  gespendet,  denn  sie  glänzte 
nicht  nur  als  ein  edles,  nachahmenswertes  Beispiel,  sondern  erhob  vor  allem  die 
Gemüter,  und  diese  im  Allgemeinen  zu  erheben,  war  eine  noch  weit  grössere 
Wohlthat,  als  hie  und  da  ein  sieches  Leben  zu  fristen  oder  einstweilen  leere  Mägen 
zu  füllen. 

Plews  and  Stater,  die  während  dieser  Katastrophe  mehrere  Tage  im  Jäger- 
hom  gefangen  waren  und  nichts  mehr  zu  leben  hatten,  brachte  ich  mit  einem 
Boot  zu  mir.  Sie  können  Ihnen  keine  Details  über  das  Elend  gegeben  haben,  da  sie 
dessen  weites  Feld,  nämUoh  in  den  Vorstädten,  nicht  sahen. 

Ich  wurde  durch  körperliche  Anstrengung  ganz  erschöpft.  Vorgestern  war  ich 
mit  meiner  unglücksehgen  Leber  wieder  ausnehmend  leidend.  Seit  gestern  stehe 
ich  neuerdings  —  obschon  schwach  —  auf  den  Beinen.  Heute  Morgens  schiffte  ich 
meine  Frau  mit  8  Kindern  und  12  Dienern  aller  Gattung  auf  den  Ärpäd  ein,  um 
sie  über  Gönyö  nach  Zinkendorf  zu  senden.  Seitdem  sie  weg  sind,  bin  ich  in  mei- 
nem Innern  weniger  bange  und  gedenke  nun  vorläufig  hier  zu  bleiben,  da  ich  es 
für  einen  Mann,  der  hier  etabHrt  ist,  wirkUch  für  schimpflich  halten  würde,  diesen 
Ort  jetzt  zu  verlassen.  Der  Erzherzog  trifft  alle  Anstalten  selbst,  ist  für  jeden  sicht- 
bar und  voller  Energie.  Wir  sollten  Ptsth  nickt  sinken  lassen.  Eine  Anleihe  von  ein 
paar  Millionen  an  die  Stadt  könnte  das  Ganze  repariren.  Die  Stadt  könnte  eine 
gute  Hypotheke  sein.  Denn  die  Stadt  würde  allen  industriösen  Inwohnern  ihre 
Häuser  aufbauen,   und  von  ihnen  allmählig  zurückzahlen  lassen.   Das  Prinzip 


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1^  GRAF    STEFAN    SZ^CHENYI'b   BRIEFE. 

wäre  gilt,  nur  müsste  die  Application  gut  geschehen.  Eine  Kommission  von  ehrli- 
dien  LeiUeti  sollte  das  Ganze  manipnliren ;  und  könnte  ich  das  letzte  Mitglied  dieser 
Kommission  sein,  so  schätzte  ich  mich  glücklich.  Ein  Oeschenk  war  jetzt  aasserst 
wohlthnend;  nun  wäre  aber  eine  Anleihe  an  der  Tages-Ordnnng.» 

Die  Anstrengungen,  welchen  sich  Graf  8z6chenyi  bei  der  Pester  Ueber- 
schwemmung  unterzog,  hatten  eine  schwere  Krankheit  zur  Folge,  eine 
Affection  der  Leber,  des  Magens  und  der  Gedärme,  mit  starkem  Fieber  unter- 
mischt. Der  Graf  hatte  unsäglich  viel  zu  leiden,  die  Gelbsucht  entstellte  ihn 
und  Gallergüsse  störten  den  ganzen  Organismus.  Er  machte  Testament. 
Dabei  war  er  bei  vollem  Bewusstaein  und  gibt  in  den  Briefen  an  Tasner  die 
umständlichsten  Beschreibungen  seiner  Krankheit  und  von  dem  dagegen 
angewendeten  Verfahren.  In  den  Briefen  an  Tasner  enthüllt  sich  überhaupt 
der  Privatcharakter  Szechenyi's,  den  wir  als  sehr  guten  Wirth  und  als  sehr 
misstrauischen  Geschäftsmann  kennen  lernen. 

Im  September  des  Jahres  1838  ist  Stefan  Szechenyi  endlich  soweit 
genesen,  dass  er  sich  wieder  seinem  Kettenbrückenproject  zuwenden  kann. 
Einen  geradezu  exaltirten  Brief  schreibt  er  am  3.  September  an  den  flrzher- 
zog  Stefan : 

•Ew.  k.  k.  Hoheit,  durchlauchtigster  Erzherzog! 

Indem  ich  die  Ehre  habe  Ew.  k.  Hoheit  die  Eingaben  des  Barons  Sina  im 
Drucke  hiemit  zu  tibersenden,  rufe  ich  laut  auf « Victoria. •  Alles  gehet  vortrefflich; 
und  wem  haben  wir  es  zu  verdanken  ?  Höchstdero  verehiimgswürdigem  Vater,  der 
mit  gewohnter  Weisheit  den  ganzen  Gegenstand,  —  ohne  viele  Kraftäusserung, 
aber  nur  ebenso  viel,  als  nötig  war  —  in  ein  solches  Gleis  zu  bringen  wiisste, 
dass  derselbe  nun  —  ausser  es  käme  ein  unberechenbarer  feindseliger  Komet 
inzwischen  —  bestimmt  zu  seiner  vollkommenen  Entwicklung  gelangen  wird.  Auch 
diesmal  hat  der  Löwe,  wie  bisher  bei  jeder  schwierigen  Stellung,  der  Maus  aus  dem 
Netze  geholfen !  Ach  Gott,  dass  es  der  Maus  nur  gegeben  wäre,  ihre  Dankbarkeit  zum 
Löwen  auf  irgend  eine  recht  erprobliche  Art  an  den  Tag  zu  legen  ft 

Ebenso  schreibt  er  am  11.  September  an  den  Erzherzog  Josef: 
t Gottlob  wir  sind  endlich  glücklich  mit  dem  Baron  Sina  übereingekommen, 
und  zwar  mit  der  Annahme  des  von  ihm  vorgeschlagenen  Tarifs  und  97  priv.  Jahre- 
Es  bleibt  nun  nichts  Anderes  übrig,  als  den  Vertrag  zu  entwerfen,  zu  concertiren 
und  zu  unterschreiben.  • 

Bei  der  Abfassung  des  Vertrages  hat  Graf  Szechenyi  an  Baron  Sina  die 
dringende  Bitte  zu  richten,  er  möge  an  den  Punktationen  der  Begnicolar- 
Deputation  weder  etwas  ändern,  noch  etwas  hinzufügen,  sonst  wäre  «die 
Sache  verloren.»  «Sie  denken  nicht,  welches  Aufsehen  das  Ganze  hier  erregt, 
und  wieviel  feindliche  Kräfte  sich  gegen  uns  und  die  Brücke  überhaupt 
erhoben»  und  sehr  charakteristisch  ist  der  Bat,  den  er  dem  Baron  Sina 
bezüglich  «der  Uebertragbarkeit  des  Privilegiums»  gibt.  Er  möge  ja  nicht 
die  leiseste  Erwähnung  davon  machen,  «zu  was  aber  auch?  Es  versteht  sich 


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GRAF   STEFAN   SZÄCHENTl's   BRIEFE.  l'^9 

ja  von  selbst ....  und  geben  Sie  alle  Ihre  Actien  weg  ....  so  haben  Sie  ja 
das  Ganze  an  Andere  übertragen !» 

Wir  fürchten  nicht,  unsere  Leser  zu  langweilen,  indem  wir  ihnen  noch 
einige  Geschäßsbriefe  des  genialen  Grafen  vorlegen,  da  diese  grosse  Erschei- 
nung unseres  öffentlichen  Lebens  von  dieser  in  alle  Kleinigkeiten  eindrin- 
genden practischen  Seite  noch  nicht  genügend  bekannt  ist.  Es  scheint  fast, 
als  ob  Graf  Sz6chenyi  bei  der  Brückenbau-Unternehmung  selbst  stark 
betheiligt  gewesen  wäre.  Man  vmrdige  folgende  Epistel  an  Baron  Sina  vom 
20.  October  1838: 

«Hochwohlgebomer  Freiherr,  Sehr  geachteter  Frennd! 

Ihr  Schreiben  vom  19-ten  1.  M.  beantwortend,  eile  icli  Ihnen  zu  sagen,  daaa 
mir  Clark  durchaus  keine  speziellen  Uebersobläge  oder  Dimensionen  über  das 
nöthige  Holz  etc.  für  die  Brücke  von  Pesth  übergeben  oder  eingesendet  hat,  dass 
aber  alles  das  noch  zu  gewärtigen  kommt. 

Einstweilen  kann  indessen  zu  Yorausberechnungen  und  um  die  nötigen 
Lieferanten  zu  finden,  jene  Spezifikation  dienen,  die  er  Ihnen  gab,  die  Sie  in  Hän- 
den haben  müssen,  und  die  den  in  Frage  stehenden  Bedarf  —  wie  ich  mir  es  auf- 
zeichnete —  folgendermaesen  angibt : 

3333  Blöcke  von  bestem  Granit,  jeder  5  Fuss  lang,  5  Fuss  breit  und  15  bis 
18  oder  20  Zoll  dick. 

3333  Blöcke  von  Csobdnkaer  oder  andei-em  guten  Stein.  5  Fuss  lang,  2Vi  Fuss 
breit,  und  von  15,  18  bis  !20  Zoll  dick. 

6666. 

9999. 

Sodann 

1200  piles  60'  lang  15"  quadrat  (von  Ende  zu  Ende.) 
Eichen 

1200  43'  lang  15"  quadrat, 
240  20'  lang  etc. 

Da  für  den  Augenblick  nichts  zu  thun  ist,  als  sich  cumzusehem,  imd  alles 
üebrige  noch  einige  Wochen  Zeit  hat,  so  wollen  Sie  mir  erlauben,  dass  ich  mich 
über  alles  dies  höchstens  die  ersten  Tage  November  in  Wien  expektoriren  dürfe. 

Gut  wäre  es,  wenn  Sie  einstweilen  jene  Bittschrift  aufsetzen  Hessen,  die  Sie, 
wegen  der  Magazine  und  der  freien  Einfuhr  des  Eisens,  an  die  Begierung  einzu- 
reichen haben,  und  die  im  völligen  Einklang  mit  der  lateinischen  Bepräsentation 
der  Deputation  an  Se.  Majestät  sein  muss,  in  deren  Besitz  Sie  sind  und  ich  nicht  bin. 

Für  dieses  Jahr  ist  nichts  Anderes  zu  thun,  aber  dies  muss  gethan  werden,  als : 

1.  Mit  der  allerhöchsten  Begierung  in's  Beine  zu  kommen. 

2.  Die  Ordres  geben,  dass  das  nötige  Holz  den  kommenden  Winter  in  Slavo- 
nien  geschlagen  werde. 

3.  Sich  vorläufig  über  das  nötige  Quantum  Stein  zu  assekniiren,  imd  viel- 
leicht, wenn  die  Genehmigung  einer  allerhöchsten  Begierung  noch  Mhzeitig  genug 
erfolgen  sollte, 

4.  Die  Ordres  an  Clark  wegen  der  Verfertigung  des  Eisens  in  England  geben. » 


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^^  GRAF   STEFAN    SZlScHENYl'ß  BMEFB. 

Aehnliche  Briefe  im  Bauunternehmerstyl  finden  sich  noch  mehrere. 
Auch  etwas  vom  Bankier  steckt  in  Szechenyi.  Am  28.  October  schreibt  er  an 
den  Baron :  «Ich  höre,  unsere  Begierung  wird  wieder  eine  Anleihe  nego- 
ciiren.  Da  Sie  dabei  gewiss  die  Persona  prima  spielen,  so  bitte  ich  Sie, 
vergessen  Sie  mich  nicht  I» 

Nun  kam  noch  ein  allerletzter,  harter  Prüfstein  für  das  Eettenbrücken- 
project,  welchem  Szechenyi  eine  so  grosse  socialpohtische  Bedeutung  in 
Folge  der  beabsichtigten  Besteuerung  des  Adels  beilegte.  Es  hiess,  dass 
Metternich  den  zwischen  Sina  und  dem  Landtag  bereits  abgeschlossenen 
Gontract  abändern  und  dadurch  die  ganze  Sache  wieder  in  Frage  stellen 
wolle.  Man  beachte  nun  den  Ton,  in  welchem  Graf  Szechenyi  an  den  all- 
mächtigen Staatskanzler  schreibt  (9.  December  1838) : 

«Ew.  Durchlaucht! 

Ew.  Durchlancbt  haben  sich  in  Hinsicht  der  zwischen  Ofen  und  Pest  zu 
erbauenden  Brücke  gegen  mich  stets  so  zu  äussern  geruht,  dass  Hochdieselben  ganz 
für  die  Sache  sind,  nur  hätte  sie  nicht  ausschUesslich  von  einzelnen,  sondern  im 
engsten  Zusammenhang  mit  einer  allerhöchsten  Begierung  ausgehen  sollen.  —  Ew. 
Durchlaucht  sind  also  für  die  Sache,  billigen  indessen  die  Form  nicht.  Da  nun 
meine  Person  der  eigentliche  Urheber  dieses  ganzen  Glegenstandesist,  so  verspreche 
ich  hiemit,  dass  ich  nie  wieder  einen  Gegenstand  dieser  Art  in  Diskussion  bringen 
will,  ohne  darüber  die  Billigung  einer  allerhöchsten  Regierung  früher  einzuholen; 
bitte  aber  zugleich  für  diesmal  die  Sache  der  Form  nicht  aufzuopfern.  So  aber,  wie 
sich  die  Gerüchte  verbreiten,  scheint  sie  in  grosser  Gefahr  zu  sein,  da,  wie  man 
sagt,  jener  Kontrakt,  den  die  Beichsdeputation  in  der  fraglichen  Angelegenheit 
mit  dem  Baron  Sina  scbloss,  von  S.  M.  nur  conditionatim  sanktionirt,  oder  gar  bis 
zum  künftigen  Landtag  verschoben  werden  soll.  Ist  das  der  Fall,  so  Mt  das  Ganze, 
was  seit  sieben  Jahren  mit  unsägUcher  Mühe  und  nicht  geringerem  Glück  ganz 
nahe  zu  einer  Konklusion  gebracht  wurde,  wieder  in  Nichts  zusammen  und  wird 
zur  Folge  haben,  dass  der  ungarische  Adel  sich  nie  wieder  dazu  bequemen  wird, 
freiwillig  und  gesetzlich  —  was  doch  etwas  wert  ist  —  selbst  den  ersten  Schritt 
zu  thun,  um  sich  der  allgemeinen  Last  zu  unterwerfen  und  dass  den  unausbleibH- 
eben  Gesetzen  der  Beaktion  gemäss,  —  soUte  die  vollkommene  Sanktion  S.  M. 
nicht  erfolgen  —  gerade  Jene  zu  seiner  Zeit  am  meisten  gegen  die  Begierung 
schreien  werden,  dass  diese  nicht  einmal  da  einen  Schritt  vorwärts  thun  will,  wo 
sich  der  Adel  zum  Zahlen  selbst  anträgt,  die  jetzt  Alles  auibieten,  um  das  bereits 
gebrachte  Gesetz  zu  vereiteln,  was  sie  auch,  ich  stehe  dafür  —  denn  ich  kenne  das 
Terrain  zu  gut  —  erreichen  werden,  wenn  Ew.  D.  zugeben,  dass  der  besagte  Kon- 
trakt noch  einmal  an  die  Beichs-Deputation  zurückgesendet  werde  —  was  natür- 
Ucher  Weise  geschehen  muss,  wenn  S.  M.  den  Kontrakt  nicht  allsogleich  zur  Effek- 
tuirung  zu  befördern  geruhen  —  oder  wenn  die  ganze  Sache  gar  auf  den  kommen- 
den Landtag  postponirt  wird,  dessen  Folgen  nicht  abzusehen  sind. 

Das  Gesetz  wurde  nach  allen  Formen  gebracht,  S.  M.  sanktionirte  es,  die 
Beichs-Deputation  hat  laut  Gesetzes  eine  illimitirte  Vollmacht  erhalten ;  bewirken 
£.  D.  demnach,  dass  S.  M.  die  Effektuirung  des  Gesetzes  Wort  für  Wort  nach  dem  besag- 


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ORAF   STEFAN    SZÖOHBNYI'b   BRIEFE.  1*^ 

ten  Kontrakt  ohne  Verzug  befehle  —  so  ist  die  Sache  konkhidirt.  E.  D. !  Die  Sache 
ist  för  Ungarn  von  -einer  unendlichen  Wichtigkeit  —  denn  dieser  Schritt,  der  bereite 
als  klares  Gesetz  da  stehet  —  wird  ohne  den  geringsten  Konklusionen  allmälig  das 
nach  sich  ziehen,  dass  der  ung.  Adel  ein  allen  Lasten  des  Landes  Teil  nehme.» 
loh  habe  personlich  gar  keinen  Vorteil  dabei,  im  Gegenteil  werde  ich,  als  Urheber 
der  Sache  nnd  Mitglied  der  Beichs-Deputation,  dem  allermeisten  Odium  ausgesetzt 
sein.  Ich  bin  aber  überzeugt,  dass  das  Gelingen  des  in  Frage  stehenden  Gegenstan- 
des, in  jeder  Hinsicht,  so  viel  wesentliche  Vorteile  für  Ungarn  nach  sich  ziehen 
wird,  dass  ich  jede  Zensur  meiner  Person  und  meiner  Absichten  gern  ertrage.  Und 
diese  meine  Ueberzeugung  ist  so  gross,  dass  sie  mich  auch  zur  Absendung  dieser 
Zeilen  bewegt  und  mir  fühlen  macht,  dass  E.  D.  meine  ehrhch  und  gut  gemeinte 
Absicht  nicht  missdeuten,  mich  Höchstdero  WohlwoUen  auch  femer  erfreuen 
lassen  und  von  dem  gesagten  nach  Hochdero  Weisheit  Gebrauch  machen  werden, 
der  ich  mich  —  «mir  auf  jeden  Fall  die  Hände  waschend»  —  mit  der  imbegr&nz- 
testen  Hochachtung  und  aufrichtigsten  Ehrerbietung  nenne  Ew.  Durchlaucht  gehor- 
samsten Diener  etc.» 

Doch  nicht  genug  mit  diesem  demütigen  Briefe  an  Mettemich,  er 
schreibt  am  nächsten  Tage  an  Baron  Sina,  er  möge  «alle  Minen  springen 
lassen,  zum  Erzherzog  Ludwig,  zu  Mettemich,  zu  Kolowrat  gehen  und  möge 
ihnen  vorhalten  1 .  dass  der  Palatin  bereits  seine  Unterschrift  gegeben,  2. 
dass  Graf  Sz^cbenyi  bereits  70.000  fl.  ausgegeben,  3.  dass  die  Absicht  mit 
der  Besteuerung  des  Adels  sonst  für  lange  vereitelt  würde,  4.  dass  Graf 
Szechenyi  bereits  Contracte  für  Holz  und  Stein  abgeschlossen  hätte  und  man 
ihn  nicht  sitzen  lassen  dürfe,  5.  dass  Europa  den  Kopf  über  die  Wiener 
Eegierung  schütteln  würde.»  Graf  Szechenyi  schreibt  und  hetzt,  wie  ein 
echter  Agitator.  Baron  Sina  soUe  nichts,  ^auch  die  kleinsten  Hilfsmittel 
nicht  unversucht  lassen.»  Ihm  selbst  geht  es  «miserabel,  aber  die  Hetze  thue 
ihm  wohl.  Es  mache  ihm  viel  Spass.  Je  mehr  darunter  und  darüber,  desto 
besser.» 

IndesB  die  Hetze  wurde  immer  ärger  und  Graf  Szechenyi  konnte  seine 
Gkklle  nicht  mehr  zurückhalten  und  erhob  sich  zu  dem  Mute,  seihst  den 
Reichskanzler  anzugreif eUy  wovon  der  folgende  Brief,  am  14.  December  1838 
an  Erzherzog  Josef  gerichtet,  ein  für  immer  denkwürdiges  Zeugniss  ablegt : 

«Ew.  k.  k.  Hoheit,  Durchlauchtigster  Erzhensogf 
Indem  ich  Ew.  k.  Hoheit  das  letzte  Schreiben  des  Barons  Sina,  welches  ich 
gestern  spät  Abends  bekam,  hier  beigebogen  zu  unterbreiten  die  Ehre  habe,  erlaube 
ich  mir  zugleich,  die  Ansicht  Sr.  Durchlaucht  des  F.  Mettemich,  wie  er  sich  kürz- 
lich in  seinem  Salon  äusserte,  E.  k.  H.  hier  ganz  imterthänigst  mitzuteilen.  Se.  D. 
findet,  dass  das,  was  durch  den  Bau  der  Brücke  gewonnen  wird,  die  Opfer  nicht 
wert  wäre,  die  das  Land  bringen  soll.  Die  anderen  Feinde  der  Brücke  in  Wien 
führen  hingegen  als  Hauptargument  —  damit  die  Sache  bis  auf  den  Landtag  post- 

ponirt  werde,  das  an,  dass  sie  unpopulär  sei.  Man  muss  gestehen zwei 

gehaltvolle  Argumente  fürwahr,  um  ein  klares  Gesetz  nicht  zu  erfüllen,  weil  es  nicht 


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1^^  GRAF   STEFAN   SZ^CHBNYl's   BRIEFE. 

SO  viel  nützen  soll,  als  es  kostet,  und  weil  es  unpopulär  ist !  In  den  Theiss-Oegen- 
den  wollen  hingegen  Einige,  wie  die  Herren  Szombathelyi,  Elauzäl,  Beötby,  Noväk 
etc.  (die  sich  sammt  und  sonders  gegen  die  Brücke  prononciren,  weil  sie  dies 
populär  halten  und  es  somit  für  klüger  erachten,  sich  dagegen  zu  äussern,  um  es 
mit  ihren  etwaigen  Wählern  nicht  zu  verderben)  in  dem  29.  Gesetzartikel  1832/6 
das  finden,  dass  die  Deputation  gar  nicht  das  Recht  hatte,  mit  B.  Sina  abzusohlies- 
sen,  sondern  erst  die  Ratifikation  des  Landtages  hätte  einholen  sollen ;  sie  behaup- 
ten demnach,  die  Deputation  habe  ihre  Vollmacht  überschritten :  da  doch  der  Eon- 
trakt für  das  Land  weit  vorteilhafter  ist,  als  es  die  Grenzen  des  Gesetzes  erlauben 
würden.  Ueberdies  behaupten  sie :  B.  Sina  hätte  eine  volle  Garantie  gewähren  sollen, 
nach  97  Jahren  die  Brücke  dem  Lande  im  besten  Zustande  zu  übergeben;  repräsen- 
tiren  werden  sie  indessen  nicht,  ausser  wenn  sie  nun  hören  sollten,  dass  man  dies 
in  Wien  quasi  verlangt  und  erwartet  I  Eine  Karrikatur  ist  bereits  auch  auf  dem 
Tapet  —  wo  die  Deputat,  durch  Aktien  gehetzt  —  in  einem  Thermometer  darge- 
stellt mit  dem  Tarif  imd  den  Jahren  immer  höher  steigt,  bis  meine  Person  die  ent- 
setzlichen 97  Jahre  ausspricht.  —  Korcher,  hiesiger  Magistratsrat,  mit  dem  Fiska- 
len Sigmund  Hegedüs  hat  berechnet,  dass  Baron  Sina  50.000,000  fl.  K.-M.  durch 
die  Brücke  gewinnt  I  Graf  Josef  Esterhäzy  in  Wien  findet  das  am  härtesten,  dass 
nach  der  Erbauung  der  Brücke  kein  Mensch  ein  Schiff  auf  der  Donau  wird  haben 
dürfen,  und  dass  B.  Sina  nur  die  Hälfte  der  Aktien  für  Ungarn  bestimmte !  ?  etc. 

Alles  dies  ist  albernes  Zeug,  ohne  Zweifel,  und  man  sieht,  dass  die  Leute 
nicht  nur  von  der  Sache  nichts  verstehen,  sondern  nicht  einmal,  die  so  reden,  das 
Gesetz,  noch  den  Kontrakt  gelesen  haben.  Wenn  man  sich  aber  an  das  Sprichwort 
erinnert,  dass  viele  Gänse  einen  Wolfen  tödten,  dann  wird  einem  doch  bange  und 
wahrUch  nicht  mehr  um  die  Brücke  und  alles  das,  was  damit  verbunden  ist,  son- 
dern —  ich  muss  es  offen  heraussagen  —  unter  einer  solchen  Regierung  Gut  und 
Leben  zu  haben,  die  sich  auch  nur  einen  Augenblick  durch  derlei  Gewäsch  von  der 
strengen  Vollziehimg  des  Gesetzes  abhalten  lässt !  —  Ich  bin  sehr  leidenschaftlich, 
E.  k.  H.,  ich  weiss  es,  und  habe  meine  Sympathien  und  Antipathien,  wie  ein 
Anderer,  ich  will  es  eingestehen ;  aber  abgesehen  von  jeder  Persönlichkeit,  muss 
ich  bekennen,  ^7ide  ich  es  für  unser  Land  ein  grosses  Ungliwk,  dass  solclw  VerhäU- 
yiisse  obwalten,  wo  der  Kanzler  ein  Separat- Votum  über  das  geben  kann,  was  E,  k. 
IL  mit  Höchstdero  Handschrift  und  Insiegd  bekräftigen,* 

In  einem  weiteren  Briefe  an  Baron  Sina  vom  14.  December  treibt  er 
diesen  zu  ruheloser  Thätigkeit  an,  nennt  ihm  eine  Anzahl  Intriganten  und 
Feinde,  auf  welche  man  Acht  haben  müsse  und  schreibt  sogar,  auf  Wunsch 
des  Palatins,  an  Se.  Majestät.  Zum  Schluss  äussert  er  sich  gegen  Baron  Sina 
folgendermassen : 

•Jetzt  bitte  ich  Sie  um  Folgendes:  «Geben  Sie  auf  Ferdinand  Pälffy  recht 
Acht.i  Dieses  Männlein  soll  sicliilie  Füsse  ungeheuer  ablaufen,  um  die  Sache  zu 
zertrümmern.  Sie  haben  ihn  ja  in  Händen.  Sodann  soll  man  im  Salon  von  Fürst 
Mettemich  sehr  gegen  die  Brücke  schwätzen,  Fürstin  Melanie  besonders,  und  blos 
aus  Unkenntnias  der  Saclie  etc.  Die  sollten  Sie  auch  nicht  negligiren.  Nagy  Päl  läuft 
sich  auch  ab,  um  zu  schaden,  und  ist  ein  verdammt  zäher  kecker  Intrigant,  auch 


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(SHUF   STEFAN   SZ^HBNYT^S   BRIKFBS.  14^ 

diesen  bitte  ich  wo  möglich  im  Zaum  zu  halten.  E.  H.  Ludwig  imd  6r.  Eolowrat 
Bind  —  wenn  ich  mich  nicht  irre  —  ganz  für  sie  gestimmt.  Können  Sie,  so  senden 
Sie  mir  das  Votum  separatum  von  Pälfiy  per  extensum  oder  wenigstens  in  der 
Essenz,  damit  ich  es  dem  Erzherzog  mitteile,  der  —  wie  ich  weiss  —  es  sehr  gerne 
haben  möchte. 

Es  war  übrigens  voraus  zu  sehen,  dass  Wir  Adelige  in  Ungarn  einen  horren- 
den Lärm  schlagen  würden,  wenn  es  einmal  ad  firactionem  panis  kommen  wird, 
dass  wir  die  Jungferachaft  (des  Nicht  Zahlens)  verlieren  würden. 

Hier  verbreitet  sich  auch  das  Gerücht,  Eskeles  hätte  sich  angetragen,  gerade 
dasselbe  zu  leisten,  was  Sie,  aber  mit  50  privat  Jahren !  Was  ist  an  dieser  Sache?! 

So  sehen  wir  den  Grafen  Szechenyi  nun  schon  im  achten  Jahre  für 
sein  Brückenproject  kämpfen.  Und  noch  sollte  es  kein  Ende  nehmen.  Als  er 
die  allerhöchste  Sanction  schon  erhalten  zu  haben  glaubte,  meldete  sich  ein 
neuer  Concurrent  —  das  Wiener  Haus  Arnstein  u.  Eskdes,  verbunden  mit 
Graf  Sztäray,  Ullmann  und  Consorten.  Am  6.  März  1839  schreibt  der  Graf 
an  seinen  Baron : 

•Hochwohlgebomer  Freiherr,  Sehr  geachteter  Freimdl 

Ihrem  Schreiben  vom  3-ten  zu  Folge  —  das  ich  gestern  bekam  —  konnte 
ich  erst  heute  spät  (nach  dem  Abgang  der  Post)  mich  Sr.  Hoheit  vorstellen.  Ich 
kann  Ihnen  in  Kürze  nur  das  sagen,  dass  nach  dem  unumwimdeneu  Ausspruch  S. 
k.  H.  in  so  ferne  die  Entscheidung  der  fraglichen  Angelegenheit,  wie  Sie  mir  berich- 
ten, wirklich  herabgesendet  und  Höchstdemselben  übertragen  werden  wird,  dieselbe 
als  apodictisch  und  auf  der  Stelle  zu  Ihren  Gunsten  beendigt  angesehen  werden 
kann,  und  wir  somit  die  Siegesposatme  ohne  alle  Eücksicht  in  die  Ohren  von  Sztäray, 
Ulimann  et  C.  ertönen  lassen  können,  denn  S.  k.  H.  wird  —  wie  er  erklärte  und 
mir  auch  erlaubte,  Ihnen  dies  mitzuteilen,  —  die  ganze  Angelegenheit  höchstens 
3  Tage  bei  sich  behalten,  und  mit  solchen  48-Pfündem  auftreten,  Äie  Eskeles  und 
Konsorten  gewiss  nicht  anticipirten  und  die  selbst  M.  Ullmann  ^üfetzen*  machen 
dürften.  Indessen  glaubt  der  E.  H.  zuversichtlich,  dass  die  Sache  nicht  zu  ihm 
komme,  sondern  in  der  grossen  Conferenz,  auch  ohne  sein  Zuthim,  zu  Ihren  Gunsten 
entscliieden  sein  wird.  Gott  gebe  es !  Da  gestehe  ich  aber,  bin  ich  nicht  Höchst- 
seiner Meinung,  und  fürchte,  dass  es  dort  auf  jeden  Fall  ein  Hackerl  haben  oder 
lange  liegen  bleiben  dürfte ;  während  die  Sache  als  concludirt  zu  betrachten  ist, 
kommt  sie  hierher.  Ich  bitte  Sie,  —  vergeben  Sie  mir  den  Ausdruck  —  ■  schlafen 
Sie  ja  nicht  ein,  •  oder  vielmehr :  lassen  Sie  sich  durch  nichts  einschläfern,  bis  Sie 
den  Eontrakt  auch  von  der  Begierung  genehmiget  nicht  im  Sack  haben.  Unsere 
Antagonisten  sind  wie  der  Teufel,  «sonder  Buh  und  sonder  Bast.i 

Während  dieser  «Hetze»  um  die  Kettenbrücke,  um  welche  als  Bewerber 
zum  Schluss  noch  Baron  Pereira  auftritt,  hat  Graf  Szechenyi  Zeit,  sich  mit 
dem  Grafen  Moriz  Sändor  über  Wettrennen  und  Pferdezucht  auszusprechen, 
für  das  Casino  zu  agitiren,  an  der  Gründung  der  Walzmühle  teilzunehmen 
und  den  Baron  Sina  für  Lonyay  um  20.000  fl.  anzupumpen.  «Er  ersucht 
Sie,  ihm  diese  Summe  auf  sechs  Monate  zu  leihen ;  er  kann  Ihnen  viel 


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J 


t44  GRAF   STEFAN   BZiOHENYI^B   BRIBPE. 

nützen.  Sicherheit  iRt  da,  ich  glaube,  Sie  sollten  ihm  diese  Gefälligkeit  thnn.t 
Am  8.  April  1839  erinnert  Szechenyi  den  Baron  wieder,  ihn  bei  der  nächst- 
kommenden Anleihe  von  30,000.000  fl.  zu  betheiligen,  «mit  einer  kleinen 
Summe  —  versteht  sich,  um  den  Emissionspreis.  • 

In  einem  Briefe  an  Eillias  wegen  der  zu  gründenden  Walzmühl-Actien- 
Gesellschaft  beharrt  Szechenyi  auf  der  Notwendigkdt,  dass  das  gründende 
Haus  die  Hälfte  der  Actien  übernehmen  müsse,  denn  nur  darin  sähen  Alle 
die  Garantie  des  Gelingens.  Hiebei  macht  Szechenyi  folgenden  denkwürdigen 
Ausspruch :  «Ich  habe  das  Glück,  dass  jede  meiner  kleinen  Entreprisen  bis 
jetzt  mit  Erfolg  gekrönt  wurde.  Ich  habe  aber  auch  nichts  begonnen,  was  ich 
früher  nicht  combinirt  hätte;  denn  ich  halte  es  geradezu /ür  ein  Verbrechen^ 
in  einem  Lande,  wie  Ungarn,  wo  noch  Alles  zu  erschaffen  ist,  so  etwas  zu 
unternehmen,  was  nicht  höchst  wahrscheinlich  gelingt;  indem  eine  moderne 
Buine  auf  lange  Zeit  das  Publikum  abschreckt  und  die  nützlichsten,  die 
bestcombinirten  Unternehmungen  schon  im  Keime  erstickt.»  Graf  Szechenyi 
selbst  zeichnet  10.000  fl.  und  gibt  weitaussehende  Ansichten  über  die 
Zukunft  des  ungarischen  Mehlhandels  zum  Besten. 

Endlich  —  endlich  —  am  16.  Mai  1839  kann  Graf  Sz6chenyi  an  Baron 
Sina  über  die  endgiltige  Annahme  des  Brückenprojectes  schreiben :  «Endlich 
brachte  mir  Ihr  Schreiben  die  lang  erwünschte  Nachricht  Gott  Lob !  Das 
Warten  hat  mich  aber  beinahe  müde  gemacht  I »  Szechenyi  ist  mm  wieder 
frisch  und  munter,  er  gibt  dem  Baron  Sina  Batschläge,  wie  weitere  Zuge- 
ständnisse von  Landtag  und  Begierung  zu  erlangen  seien,  und  vertieft  sich 
in  die  näheren  Details  des  Baues. 

Nun  kommt  es  aber  auch  zur  Abrechnung  zwischen  dem  Grafen 
Szechenyi  und  dem  Baron  Sina.  Szechenyi  schreibt  am  I.August  1839, 
dass  er  sich  zwar  vor  drei  Jahren  angetragen  habe,  300.000  fl.  zum  Brücken- 
bau zu  zeichnen  und  ihm  Sina  wirklich  für  1 50.000  fl.  Actien  offen  gelassen 
habe,  die  er  nun  mit  Gewinn  weiter  geben  könne,  er  jetzt  aber  Gründe  habe, 
von  diesem  Geschäfte  abzustehen,  er  daher  den  Baron  aus  dem  Worte  lasse. 
Hierauf  antwortet  Baron  Sina  in  einem  sehr  charakteristischen  Briefe : 

«Hochgebomer  Graf,  Sehr  geehrter  Freund  I  Ich  antwortete  auf  Ihr  Schrei- 
ben vom  1  -ten  August  1839  deshalb  nicht  früher,  weil  ich  unmöglich  glauben  konnte, 
da88  Sie  sich  einem  Unternehmen  im  vollen  Emnt  entziehen  wollten,  welches  Sie 
zuerst  in  Anregimg  brachten,  und  zu  dessen  Gelingen  Sie  so  viel  beitrugen.  Da  Sie 
indessen  auf  Ihr  Ansinnen  durchaus  bestehen,  imd  mich  um  eine  Antwort  so  oft 
angegangen  sind,  so  muss  ich  Ihnen  geradezu  erklären,  dass  ich  den  Bau  der  Ofen- 
Pester  Brücke  nie  unternommen  haben  würde,  wenn  Sie  mich  dazu  nicht  überredet 
und  sich  mir  angetragen  hätten,  auch  in  finanzieller  Hinsicht  die  Cliancen  des  Ver- 
lustes sowohl,  als  des  etwaigen  Gewinnes  mit  mir  tragen  zu  wollen.  Nachdem  nun 
das  schwierigste  der  Arbeit  erst  zu  vollenden  sein  wird,  und  ohne  Ihnen  schmei- 
cheln zu  wollen,  es  im  Interesse  des  ganzen  Unternehmens  liegt,  dass  Sie  an  selbe 


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äLOSSEN    ZUR   BULOARISG^EN   ZAREN -OENEALOaiB. 


Ii5 


anch  in  finanzieller  Hineicht  gebunden  sein  sollen :  so  werden  Sie  es  mir  nicht  übel 
deuten,  wenn  ich  Ihren  Antrag  nicht  annehmen  kann,  und  femer  darauf  beharre, 
dass  Sie  ad  vires  von  150.000  fl.  E.-M.  in  dem  fraglichen  Bau  beteiligt  bleiben* 
Mit  vorzüghcher  Hochachtung  verharre  ich,  Hochgebomer  Graf,  Wien  den  3-ten 
Februar  1840.  Ihr  gehorsamster  Diener  und  Freund  Georg  Freiherr  v.  Sina.» 

Der  vorliegende  Band  endigt  mit  dem  Jahre  1839  und  wir  scheiden 
mit  der  mannigfachsten  Belehrung  von  demselben.  Die  Herausgabe  dieser 
Briefe,  welchen  bislang  noch  keine  rechte  Würdigung  zuteil  geworden  ist, 
wird  sich  immer  mehr  als  höchst  werthvoUer  Beitrag  zur  Culturgeschichte 
Ungarns  und  zur  Charakteristik  des  Regenerators  unseres  Landes  heraus- 
stellen. Man  wird  sich  an  dem  Feuereifer,  an  der  Zähigkeit,  an  der  Umsicht 
und  Geschäftskenntniss  Szechenyi's,  dessen  Gehirn  vollkommen  gesund  war 
trotz  aller  Leberkrankheit,  ein  Beispiel  nehmen  können,  man  wird  aber  auch 
bescheiden  werden  im  Hinblick  auf  die  fürchterlichen  Kämpfe,  welche  noch 
vor  50  Jahren  wegen  einzelner  bedeutender  Neuerungen,  wie  Kettenbrücke, 
Nationaltheater,  Dampf  mahlen,  Donau-Dampfscbifffahrt  und  ähnlicher 
Institutionen,  bestanden  werden  mussten.  Die  gütige  Vorsehung  hat  Ungarn 
sehr  viel  Zeit  zur  Einholung  seiner  Culturversäumnisse  gelassen.  Heute  geht 
zwar  schon  Vieles  in  raschem,  beinahe  zu  raschem  Tempo,  aber  wer  weiss 
es,  ob  nicht  die  Zeit  unser  teuerstes  Gut  ist,  mit  welchem  wir  in  vielen 
Dingen  weit  sparsamer  umgehen  sollten,  damit  der  ungarische  Staat  noch 
vor  dem  Sturm  unter  sicheres  Dach  gebracht  werde  ?  Ad.  Silbbrstein. 


GLOSSEN  ZUR  BÜIXMRTSCHEN  ZAREN-GENEALOöTE. 

(Sohluss.) 

16.  Der  Despot  Jakob  Svetslav. 

Im  Wenzerschen  «Codex  Arpadianus  continuatus»  XH.  pag.  8,  Nr.  3 
stossen  wir  auf  eine  Urkunde  ddo.  10.  Dezember  1270,  mittelst  welcher  König 
Stefan  V.  von  Ungarn  den  Ban  Ponych  mit  den  Gütern  des  treulosen 
Nikolaus,  des  Sohnes  des  Obergespans  Arnold  beschenkt  Unter  Ponych's 
Verdiensten  wird  in  der  Urkunde  Folgendes  angeführt :  « Porro  mm  Zvetis- 
laus  Bulgarorum  Imperator,  carissimus  gener  noster, 
tunc  nostre  Majestati  opposüus,  terram  nostram  de  Zeurina  miserabfliter 
deuastasset,  nos  injuriam  nostram  hujusmodi  propulsantes,  ctun  ad  Bulga- 
riam  congregato  exercitu  venissemus,  dictus  Ponych  Banus  ibidem  incepte 
fidelitatis  ardore  äagrans  castrumP/^^/2.  Bulgarorum  obtinuit  expugnando.» 

Um  diese  merkwürdige  Stelle  zu  erläutern  und  den  «gener«>    (Zve- 

üngmrlwhe  Berae,  XL  1891.  11.  Heft.  ^q 


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Ii6  GLOSSEN   ZUR   BULaARIßOHEN    ZAREN -GENEAIiOÖIE. 

tislaus^  Imperator  der  Bulgaren)  Stefans  V.  kritiscb-genealogisch  zu  wür- 
digen, müssen  wir  etwas  tiefer  in  die  Vergangenheit  greifen. 

Die  Beziehungen  des  ungarischen  Hofes  zu  Bulgarien  hatten  durch 
den  im  Jahre  1237  erfolgten  Tod  der  ungarischen  Prinzessin  Maria,  der  Gattin 
des  Bulgarenzaren  Johann  Asßn  ü.  durchaus  nicht  aufgehört;  selbst 
der  Umstand,  dass  Maria's  Söhne  kinderlos  gestorben,  änderte  an  diesen 
Beziehungen  nichts ;  wir  finden,  dass  teils  durch  die  eheliche  Allianz,  teils 
durch  die  Anregung  des  päpstlichen  Stuhles  ein  manchmal  stärker,  manch- 
mal schwächer  sich  manifestirendes  Bestreben  der  ungarischen  Könige  auf- 
tauchte, sich  in  die  Angelegenheiten  Bulgariens  zu  mengen  und  sich  daselbst 
eine  Fräponderanz  zu  schaffen. 

Dieses  den  regierenden  Kreisen  und  einzelnen  mächtigeren  Boljaren 
sicherlich  nicht  genehme  Streben  des  imgarischen  Hofes  war  jedenfalls  der 
Anlass  zu  jenen  in  den  letzten  Jahren  B^las  lY.  so  häufig  erfolgten  Guerilla- 
kämpfen zwischen  Ungarn  und  Bulgarien,  die  wir  ebensowenig  politisch  wie 
strategisch  kennen  und  von  denen  uns  nur  die  Urkunden  einige  Kunde 
geben.  Mir  sind  ausser  der  schon  citirten  noch  folgende  diesbezügliche  docu- 
mentarische  Daten  bekannt : 

1.  In  einer  seinem  Oberstallmeister  Dionysius  (aus  dem  Geschlechte 
Tomaj)  1235  ausgestellten  Donationsurkunde  ^  spricht  Bela  lY.  von  einem 
vor  1235  erfolgten  Feldzuge  in  Bulgarien.  Dionysius  ist  gelegentlich  eines 
Ausfalles  der  von  den  Ungarn  belagerten  Besatzung  des  bulgarischen  Castells 
Widin  (=  Budung)  mit  derselben  ins  Handgemenge  gerathen  und  hat  sie, 
ohne  verwundet  zu  werden,  in  das  Castell  zurückgedrängt.  Während  des- 
selben Feldzuges  wurde  Dionysius  auch  gegen  die  Truppen  des  Prinzen 
Alexander,  des  Bruders  des  Bulgarenzaren,  der  durch  seine  Guerillakämpfe 
häufig  das  Gebiet  der  zerstreuten  Ungarn  verwüstet  und  den  "^  Obergespan 
der  Szekler  gefangen  genommen  hatte,  geschickt. 

2.  1260  schenkt  Stefan  V.  dem  Torda,  Sohne  des  Györ«  das  imZalaer 
Comitate  gelegene  Grundstück  Cheusy.  «Quod  idem  Torda  de  nostro  man- 
dato  in  acie  domini  sui  in  Bulgariam  proficiscens  ibidem  exhibuit  laudis 
merita  recolende  obponens  se  pro  alüs  exercitu  Bulgarorum  pro  honore 
regio  fortune  casibus  se  committere  non  formidans.» 

3.  1262  ^  belohnt  ß61a  IV.  den  Merse  und  dessen  Bruder  Nicolaus, 
die  Söhne  des  Benedikt,  weil  Merse  «fidelis  juvenis  noster»  sowohl  in  Bulga- 
rien, als  gelegentlich  anderer  Expeditionen  des  Königs  demselben  grosse 
Dienste  geleistet ;  speziell  ist  während  des  bulgarischen  Feldzuges  Nicolaus 
im  Gefechte   «circa  coronam  nostrse  regise  maiestatis  fideliter  dimicando» 

'  Fejör,  Cod.  diplom.  IV.  1.  21—27. 
«  Hazai  okmÄnyt&r  VI.  105/68. 
•  Fej^r  IV.  3,  60. 


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aLÖSSEK    ZUB  BULGARISOHBN   ZAKBN-GBNEALOOIB . 


U? 


gefallen  und  hat  Merse  trotz  seiner  lebensgefährlichen  Verletzungen  tapfer 
fortgekämpft. 

4.  1263  ^  schenkt  Stefan  Y.  dem  Grafen  Jakob  de  Pank  einige  zum 
Schlosse  üng  gehörige  Besitzungen  für  seine  Verdienste  «specialiter  quando 
habuimus  pugnam  in  regno  Bulgarie  sitbtus  civitatem  Budun  nuncupatam.* 

5.  1264,  am  13.  April*  schenkt  Bela  IV.  dem  Meister  Lorenz,  Judex 
Aul»  und  Obergespan  des  Wieselburger  Comitats,  einige  im  Comitate 
Baranya  gelegene  Güter  und  begründet  diese  Donation  unter  Anderm 
folgendermassen :  «als  schliesslich  der  Uebermut  der  Bulgaren  zur  Zeit 
des  zwischen  uns^  dem  Könige  von  Böhmen  und  dem  Herzoge  von  Oester- 
reich  und  Steiermark  geführten  Krieges  unser  Severiner  Banat  feindlich 
verwüstet  und  die  meisten  unserer  Barone  die  Verteidigung  dieses  Ba- 
nates  nicht  übernehmen  wollten,  trotzdem  wir  dieselben  hierzu  öfters 
aufgefordert,  war  es  der  mehrerwähnte  Lorenz,  der,  nachdem  wir  ihm 
das  genannte  Banat  übergaben,  das  Bulgarenheer  besiegte,  dessen  Baub 
und  Beute  abnahm  und  einige  Bulgaren  längs  des  Donauufers  auf- 
hängen Hess,  und  so  durch  Niederschlagen  ihrer  bösen  Pläne  das  genannte 
Banat  in  seinen  früheren  guten  Stand  brachte  und  unserer  Majestät  zurück- 
gewann. ...» 

6.  1269*  werden  die  Brüder  Gosztony  belohnt.  Es  heissthier:  «In 
Anbetracht  der  Treue  und  der  verdienstvollen  Leistungen  Nicolaus'  und 
Michsels,  der  Söhne  Nicolaus'  von  Gosztun,  die  sie  sich  in  Bulgarien  vor  den 
Augen  unserer  Majestät  im  vorzüglichen  Kampfe  unter  unserer  Fahne 
lobenswert  errungen,  indem  sie  namentlich  unter  der  Fahne  unseres  Taver- 
nicus  Aegydius,  unter  mannigfachen  Wechseln  und  Todesgefahr  unsere 
bulgarischen  schismatischen  Feinde  ganz  bis  zum  Schlosse  Turnow 
(=  Tmova)  auf  unseren  Befehl  zu  verfolgen,  zu  plündern  und  einzufangen 
nicht  zögerten,  sondern  nach  Art  des  brüllenden  Löwen  die  Spuren  des 
Feindes  verfolgend,  zu  unserem,  des  Reiches  und  der  Krone  Glücke  das 
feindliche  Gebiet  zerstörten  und  die  gefesselten  Gefangenen  uns  zu- 
führten. ...» 

7.  1270^  erfolgt  Stefans  V.  Donation  an  den  Oberstallmeister  Bainald, 
den  Ahn  der  Bozgonyi.  Es  heisst:  «Als  wir  noch  zu  Lebzeiten  unseres 
Vaters  (Bela  IV.)  das  Herzogtum  Steiermark  innehatten,  zeichnete  sich 
Meister  Reynoldus  mit  seiner  tüchtigen  und  bewaffneten  Familie  in  unserem 
Heere,  welches  wir  unter  der  Anführung  noch  anderer  Barone  nach  Grie- 
chenland geschickt,  vor  den  Augen  Aller  gelegentlich  des  Angriffes  und  der  Ver- 

'  Hazai  okmÄnytÄr  VL  116/78. 
»  Fej4r  IV.  3,  196. 
»  Fej^r  IV.  3,  525. 
*  Wenzel.  XII,  12. 

10* 


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I4f8  GLOSSEN   ZUR  BULOAMSCHEN   ZAREN -OENEALOGlti. 

Wüstung  des  griechischen  Reiches  als  tapferer  Soldat  aus.  Nachdem  er  aus 
diesem  Feldzuge  glücklich  zurückgekehrt,  hat  der  genannte  Meister  Bey- 
nold  nachträglich  fünfmal,  zweimal  unter  unserer  persönlichen  und  drei- 
mal unter  der  Anführung  anderer  unserer  Barone  an  den  Feldzügen  in  Bul- 
garien Teil  genommen,  und  indem  er  sich  nicht  scheute  den  mannigfachen 
Eriegsgeschicken  die  Stirne  zubieten,  lobenswerte  Erfolge  errungen » 

8.  1273  ^  schenkt  Ladislaus  IV.  dem  Nicolaus,  dem  Sohne  Buda's,  die 
Besitzung  Magyar- Rokolan  im  ZalaerComitate  und  führt  unter  den  Verdiensten 
des  Beschenkten  Folgendes  an :  «als  dieser  Nicolaus  zur  Verteidigung  der 
königUchen  Krone,  damals  als  unser  Vater  sein  Heer  gegen  die  Bulgaren 
entbot,  mit  seinem  Bruder  Caslou,  der  Todesgefahr  Trotz  bietend,  vor  dem 
Schlosse  Budun  (=  Widdin)  unter  Anrufung  des  Namens  Christi,  sich 
mächtig  auf  die  feindlichen  Schaaren  stürzte,  einige  derselben  mit  seinem 
Schwerte  tödtete,  andere  siegreich  in  die  Flucht  schlug  oder  gefangen 
nahm  ...» 

9.  1274  ^  beschenkt  Ladislaus  IV.  den  Peter  v.  CsÄk  dafür,  dass  «cum 
idem  carissimus  Pater  noster  in  Bulgariam  pro  pulsandis  injuriis  confinii 
regni  sui  insultum  faceret,  idem  Magister  Petrus  ut  leo  fortissimus,  cuius  et 
insigna  gessit  in  vexiUo,  postposito  timore  mortis  imminentis  in  adversa 
Bulgarorum  acie  militans,  victoriam  magnificam  reportavit. » 

10.  1278  am  1.  September^  schenkt  Ladislaus  IV.  dem  Grafen  Peter, 
dem  Sohne  Dorogs  (aus  dem  Geschlechte  Gutkeled)  die  Besitzung  Szekelyhid 
und  führt  unter  des  Beschenkten  Verdiensten  an:  «qui  (Peter)  in  quadam 
expedicione  predicti  gloriosi  Regis  Stephani  patris  nostri  sub  Budum,  rela- 
tionibus  veridicis,  fertur  letale  vulnus  dimicando  cum  hostibus  excepisse . .  ■ 

11.  1279  am  21.  Juni*  sagt  Ladislaus  IV.  von  den  Söhnen  Kilian's 
V.  Saagh,  Amanus  und  Uz:  «quia  tempore  Domini  Stephani  Illustris  Regis 
gloriosse  recordationis,  parentis  nostri  charissimi,  tunc  cum  suam  ad  juris- 
dictionem,  potestatem  seu  Regnum  Bulgarin  subjugavit.  ...» 

Durch  die  Heirat  des  jungen  Bulgarenzaren  Michael  Asön  (Sohnes 
Asßn's  n.)  mit  der  Tochter  Rostislavs,  Bans  von  Macsö,  Schwiegersohnes 
B61a's  IV.  —  um  1255  —  nahmen  —  wie  wir  wissen  —  die  Beziehungen 
des  ungarischen  Hofes  zu  Bulgarien  eine  festere  Gestalt  an.  Rostislav  ver- 
mittelte im  Frühjahre  1257  einen  Frieden  zwischen  seinem  Schwiegersohne 
und  dem  Kaiser  Theodor  II.  von  Nikaea,  und  als  nach  Michaelas  Ermor- 
dung Rostislav,  die  Ehe  seiner  Tochter  mit  Eoloman  II.  nicht  billigend,  mit 
einer  Armee  gegen  Tirnova  zog,  musste  Eoloman  die  Flucht  ergreifen  und 
wurde  auf  derselben  getödtet. 

^  Hazai  oklev^lt4r  67/59. 

*  Fej^r  V.  2.  174/5. 
^  Wenzel  IX.  196. 

*  Fej^r  VII.  2.  73. 


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GLOSSEN    ZUR   BULGARISCHEN   ZAREN -GENEALOGIE. 


149 


Wie  wir  oben  gesehen^  unterliegt  es  keinem  Zweifel,  dass  sich 
Rostislav  durch  diesen  Sieg  zum  Herrn  der  Situation  in  Bulgarien  empor- 
geschwungen, dass  er  sich  urkundlich  Imperator  Bulgarorum  genannt 
und  dass  selbst  bulgarische  Truppen  auf  ungarischer  Seite  gegen  Ottokar 
von  Böhmen  kämpfen  mussten.  Der  kräftigste  Ausdruck  seiner  Oberherr- 
schaft aber  war,  dass  er  den  Mytzes,  den  Schwager  des  ermordeten  Zaren 
Michael  zum  Könige  der  Bulgaren  unter  seiner  und  —  da  er  selbst  auch 
ungarischer  Vasall  war  —  ungarischer  Oberhoheit  einsetzte.  Dass  aber 
Bostislav  seine  Erfolge  in  Bulgarien  dem  Eingreifen  ungarischer  Truppen 
zu  verdanken  hatte,  ist  selbstverständlich. 

Da  Mytzes  1258/9  durch  Konstantin  verdrängt  wurde,  ward  eine  kräf- 
tigere Unterstützung  desselben  seitens  Ungarns  notwendig ;  hierzu  gesellte 
sich  noch  das  Abwehren  der,  in  Folge  dieser  Einmischung  der  Ungarn,  die 
ungarischen  Grenzen  verwüstenden  Bulgaren,  unter  denen  wir  aber  nicht 
ausschliesslich  die  Truppen  des  Zaren  Konstantin  zu  verstehen  haben,  son- 
dern die  Unterthanen  und  Söldner  auch  mancher  einzelner  bulgarischer 
Dynasten,  die  im  Trüben  fischen  wollten.  Diese  Periode  ist  es  nun,  in  der 
.sich  der  jüngere  König  Stefan  zu  wiederholten  Malen  in  bulgarischen  Feld- 
zügen thätig  erwies.  Laut  der  Urkunde  7)  geschah  es  zweimal  imter  seiner 
persönlichen  Anführung,  dreimal  unter  jener  seiner  Generale.  Zum  ersten 
Male  befehligte  er  persönlich  das  Heer  vor  Widin  (Urkunde  Nr.  4).  Das 
zweite  Mal  nahm  er  persönlich  Teil  an  jenem  Feldzuge,  in  dem  sich  die 
Brüder  Gosztony  auszeichneten  (Urkunde  Nr.  6),  und  drang  bis  Timova 
vor.  Dass  sich  Mytzes  in  den  gebirgigen  Gegenden  Bulgariens  längere  Zeit 
gegen  seinen  Gegner  halten  konnte,  hatte  er  offenbar  Stefans  Unterstützung 
zu  verdanken,  und  da  dieser  —  wie  es  urkundlich  festgestellt  ist  *  —  selbst 
Widin  eingenommen,  so  is  es  leicht  erklärlich,  dass  sein  Ansehen  in  Bul- 
garien dem  eines  Oberherrn  in  Nichts  nachgestanden  haben  mag,  was  übri- 
gens Liadislaus  IV.  in  der  Urkunde  Nr.  1 1  genug  deutlich  bestätigt. 

Der  neuerlich  erfolgte  Ausbruch  der  Feindseligkeiten  zwischen  Stefan 
und  seinem  Vater  hatte  zur  Folge,  dass  Konstantin  den  von  Stefan  nicht 
mehr  unterstützten  Mytzes  1265  in  die  Flucht  jagte;  — wie  wir  wissen,  zog 
Mytzes  zuletzt  an  den  griechischen  Hof. 

Die  Urkunde  vom  10.  Dezember  1270  zeigt  nun,  dass  trotz  der  Flucht 
des  Mytzes  die  ungarisch-bulgarischen  Feindseligkeiten  nicht  aufgehört 
hatten ;  sie  deutet  einen  Feldzug  Stefans,  resp.  des  Bans  Ponych,  zur  Vertei- 


*  lieber  die  Einnahme  Widins  aussein  sich  die  Chronisten  folgendermAssen : 
KSzat  IV.  13:    «Dieser  (Stefan  V.)  brachte  auch    die  Stadt  Budun  unter  seine 

Herrschaft,  und  zwang,  so  lange  er  lebte,  den  Herrn  der  Bulgai*en  zum  Gehorsam.» 
Turöczi  n.  77 :  *«qui .  .  prseterea   Budam   oivitatem   Bulgarorum  expugnavit  et 

Bulgaros  superavit,  Eegem  eorum  sibi  compulit  deservire,! 


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150  GLOSSEN    ZUR   BULGARISCHEN    ZAREN- GENEALOGIE. 

digUDg  des  von  den  Bulgaren  verwüsteten  Severiner  Banates  an^  welcher 
Feldzug  etwa  zwischen  die  Jahre  1267 — 1269  fällt;  die  Urkunde  zeigt  aber 
auch;  dass  damals  der  Feind  der  Ungarn  nicht  Zar  Konstantin,  sondern 
•Zuetislaus  Imperator  Bulgarorumi  gewesen,  der  vordem  10.  Dezember  1270 
sich  der  Majestät  Stefans  entgegengestellt,  am  10.  Dezember  1270  aber  als 
«gener»  Stefans  der  allergetreueste  Schützling  Ungarns  geworden. 

Wer  ist  dieser  «Zuetislaus,  Imperator  Bulgarorum»,  was  haben  wir 
von  seiner  genealogischen  Verknüpfung  mit  der  Familie  Stefans  V.  zu  hal- 
ten  ?  Im  Jahre  1262  kommt  der  Name  dieses  Mannes  —  Jakob  Svetslav's  — 
zum  ersten  Male  vor.  Damals  sandte  er  dem  Kiever  Erzbischofe  Kyrill  III. 
eine  Abschrift  des  Nomokanons,  wobei  er  seine  Abstammung  in  dem  Begleit- 
schreiben folgendermassen  angibt :  «Vseja  ruskyja  zemli,  blagoderzavnago 
rodia  mojego,  ich  ie  otrasl  i  korön  az  bych  svjatych  ot*c  mojich.»  *  Er  nennt 
sich  also  einen  Nachkommen  russischer  Fürsten,  und  da  der  Name  Svjae- 
toslav  bei  den  Burikiden  oft  genug  vorkommt,  mag  auch  er  (vielleicht  nur 
von  mütterlicher  Seite)  dieser  Familie  entsprossen  sein. 

Während  der  Begierung  Konstantins  treffen  wir  ihn  als  selbständigen 
Despoten  in  den  Balkangegenden  (Jire6ek  meint:  f vielleicht  im  Western, 
unsere  Urkunde  ddo.  10.  Dezember  1270  gibt  durch  Anführung  Plevna's 
näheren  Aufechluss)  und  ist  er  den  Byzantinern  als  «Sphenthostlabosi 
bekannt.  Dieser  mächtige  Boljar  hatte  wahrscheinlich  die  Jahre  1260 — 1270 
dazu  benützt,  um  sich  auf  Kosten  des  Mytzes  und  Konstantins  ein  Gebiet 
zu  erwerben,  über  welches  er  als  selbständiger  Souverain^  quasi  als  Nebenzar 
des  regierenden  Zaren  von  Bulgarien  herrschen  wollte.  Durch  Verheiratung 
mit  einer  ihrem  Namen  nach  unbekannten  Tochter  des  Kaisers  Theodor  U. 
von  Nikaea  **  kam  Svetslav  in  äusserst   vornehme  Verwandtschaft    Die 


*  Vostokov,  Beschreibung  der  Codices  der  Bumjancover  Bibliothek  (russisch), 
ßt-Petersburg  1842,  pag.  290. 

*'•'  Theodor  11.  war  1258  gestorben  und  hatte  ausser  der  an  Konstantin  ver- 
mählten Irene  und  der  veruiälilten  Maria  noch  drei  Töchter  hinterlassen.  Michael 
Palaiologos  heeilte  sich  dieselhen  an  nicht  allzu  vornehme  imd  mächtige  Männer  zu 
vermälilen,  um  ihnen  dadurch  jede  Lust  und  MögUclikeit  zur  Geltendmachung  ihrer 
Ansprüche  auf  ihres  Vaters  Erbschaft  abzuschneiden.  Theodor's  Töchter  sind  also 
folgendermassen  vereheUcht: 

a)  Maria  |  vor  1265,  Gem.  September  1256  Nikephor  I.,  nachmaliger  Despot 
von  Epiros  (reg.  seit  1271  f  1296.) 

b)  Irene  f  1270,  vermählt  1258  mit  Konstantin  von  Bulgarien. 

c)  Anonyma,  vermählt  mit  dem  Despoten  Jakob  Svetslav. 

d)  Theodora,  verm.  mit  Mathias  von  Valainoourt. 

e)  Eudokia,  vermählt  mit  Wilhelm  Peter  (Balbo),  Grafen  von  VentimigHa. 
Aus  dieser  Ehe  stammten  die  Laskaris  in  der  Grafschaft  Nizza.  Man  leitet  die  Venti- 
miglia  von  Konrad  ab,  dem  vierten  Sohne  des  Markgrafen  (und  Kaisers)  Berengar 
von  Ivrea  und  der  Gisela,  der  Tochter  Boso's  von  Toskana.  Das  Haus  spaltete  sich  in 


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GLOSBEN    ZUR    BULGARISCHEN    ZAREN-GENEALOGIE.  151 

älteste  Schwester  seiner  Gattin  war  seit  1256  an  den  Kronprinzen  von 
Epiros^  die  zweite  seit  1258  an  den  regierenden  Zaren  Konstantin  von  Bul- 
garien vermählt  und  —  was  die  Hauptsache  gewesen  sein  musste  —  als 
Tochter  der  Helene  von  Bulgarien  war  seine  (jattin  eine  Enkelin  der  unga- 
rischen Königstochter  Marie.  * 

Durch  seine  Erfolge  übermütig  geworden,  und  stolz  auf  die  vor- 
nehme Verschwägerung,  mag  ihm  vielleicht  das  Entgegenkommen  des  noch 
stolzeren  Stefan  nicht  so  entsprochen  haben,  wie  er  es  erwartet  hatte.  Die 
Urkunde  Stefans  vom  10.  Dezember  1270  beweist,  dass  zwischen  1267/69 
Svetslav  es  war,  der  das  Severiner  Banat  mit  seinen  Kaubzügen  heim- 
suchte. —  Von  den  Ungarn  geschlagen,  vom  Zaren  Konstantin  und  wahr- 
scheinlich auch  vom  griechischen  Hofe  keine  Sympathien  erhoffend,  fand  er 
es  zur  Sicherung  seines  Besitzes  und  seiner  Herrschaft  angezeigt,  sich  an 
Stefan  V.  von  Ungarn  anzuschliessen  und  sich  ganz  und  gar  unter  unga- 
rische Aegide  zu  begeben.  Dies  ist  sicherlich  die  Genesis  des  «genert  und 
des  «Imperator  Bulgarorum.» 

Im  Geiste  der  damaligen  Zeit  konnte  man  sich  ein  politisches  Schutz- 
und  Trutzbündniss  ohne  eheliche  Allianz  nicht  einmal  vorstellen ;  Stefan  V. 
verlobte  daher  eine  seiner  Töchter  dem  Despoten  Jakob  Svetslav,  und  daher 
ist  es  erklärlich,  dass  er  seinen  Schwiegersohn  zum  Imperator  Bulgarorum 
avanciren  liess ;  der  Imperator  Bulgarorum  war  noch  lange  kein  Imperator 
GermaniflB,  und  dann  war  ja  das  Ganze  nur  ein  Schachzug  gegen  den  Zaren 
Konstantin  von  Bulgarien.  Der  ehelichen  Allianz  ging  aber  auch  eine  zwi- 
schen Stefan  und  Svetslav  abgeschlossene  Militärconvention  voraus.  1270 
belohnt  nämlich  Stefan  **  die  Brüder  Peter  und  Jakob,  Söhne  Samsons  aus 
dem  DorfeGerend,  für  ihre  militärischen  Verdienste,  die  sie  sich  u.  A.  während 
jener  Expedition  erworben,  die  Stefan  unter  Commando  der  Wojwoden 


mehrere  Zweige  ab.  Wilhelm  Peters  Mutter  soll  eine  Balbo  gewesen  sein.  Er  konmit 
1278  und  1285  in  einem  zwischen  seinem  jüngeren  Bruder  Peter  und  Karl  I.  von 
Anjou  geschlossenen  Vertrage  vor.  Kurz  vor  der  Vertreibung  Balduins  II.  aus  Kon- 
stantinopel befand  er  sich  in  dieser  Stadt  und  daher  rührt  seine  Bekanntschaft  mit 
Michael  Palaiologos,  der  die  Eudokia  Laskara  ihm  vermählte. 

Walirscheinlioh  sind  sämmtliche  drei  Schwestern  gleichzeitig  und  bald  nach 
Michaels  Tronbesteigung  vermälilt  worden.  K^ri  (Hist.  Byz.  101 )  setzt  die  Vermählung 
der  Anonyma  mit  «Sventistlavus,  dem  Herrn  einer  gebirgigen  Landschaft  in  Bul- 
garien» auf  1262.  Die  Angabe  des  Mor^ri'schen  und  Zedler'schen  Lexikons  (unter 
Berufung  des  Letzteren  auf  AkropoUta,  Spondanus,  Ducange  etc.),  dass  der  Gemahl 
dieser  unbekannten  Prinzessin  ein  bulgarischer  Herr  Namens  Wenzel  sei,  ist  dahin 
zu  erklären,  dass  das  griechische  cSphenthosthlabos»  von  diesen  Autoren  für  einen 
gracisirten  Wenzel  gehalten  wurde. 

*  Vgl.  meine  Stammtafel  der  Aseniden  in  dem  oben  zitirten  ungarischen 
Werke. 

**  Hazai  okmanytar  VI.  166, 


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152  GLOSSEN   ZUR   BULGARISCHEN   ZAREN -GENEALOGIE. 

Nicolaus  und  Ladislaus  zur  Unterstützung  Zuetislaus'  gegeti  die  Griechen 
abgeschickt.  Bezüglich  der  Zeit  dieser  ehelichen  Allianz  ist  Folgen- 
des zu  bemerken.  Aus  der  Fassung  der  Urkunde  ist  allerdings  nicht  zu 
entnehmen,  ob  Svetslav  vor  oder  nach  dem  Feldzuge  Ponych's  der  gener 
Stefans  geworden ;  mir  scheint  jedoch  das  Letztere  fast  unwiderleglich,  denn 
das  ftunc  nostrse  Majestati  oppositust  scheint  darauf  hinzudeuten,  dass 
8tefan  damit  sagen  will,  es  sei  Svetslav  vor  dem  Feldzuge  noch  nicht  sein 
gener  gewesen ;  er  will  mit  diesem  Passus  gewissermassen  erklärlich  machen, 
wie  so  es  komme,  dass  er  seinen  einstigen  Gegner  jetzt  als  carissimus  gener 
noster  bezeichnet.  Svetslav's  erste  Gattin,  die  nikäische  Eaiserstochter,  dürfte 
zur  Zeit  dieses  Verlöbnisses  wohl  nicht  mehr  gelebt  haben;  übrigens 
wäre  sie  selbst  in  diesem  Falle  kein  Hindemiss  zum  Abschlüsse  der  neuen 
Allianz  gewesen,  da  ja  fast  jeder  serbische,  bulgarische  Herrscher,  wenn  sich 
ihm  eine  vornehmere  oder  vorteilhaftere  Gattin  in  Aussicht  stellte,  seine 
erste  Gemahlin  nach  Belieben  verstiess.  Zar  Konstantin  ging  ja  hier  mit  dem 
Beispiele  voran,  als  er  zur  Zeit  seiner  Tronbesteigung  seine  erste  Gattin 
verstiess,  um  Theodor's  II.  Tochter  zu  heiraten. 

Ob  nun  unter  «gener»  wirklich  ein  Schwiegersohn  Stephans  V.  zu  verste- 
hen sei,  scheint  mir  heute  nur  im  bejahenden  Sinne  beantwortet  werden  zu 
können.  Es  ist  allerdings  wahr,  dass  die  Arpäden  manchmal  von  einem  gener 
sprechen,  der  nicht  die  Tochter  desjenigen  zur  Gattin  hat,  der  die  Urkunde 
ausstellt,  und  dass  unter  « gener »  oft  nur  ein  Gemahl  einer  Ärpäden-Frinzessin 
überhaupt  verstanden  wird;  insolange  aber  nicht  der  Nachweis  geliefert 
wird,  dass  Svetslav  eine  Andere  als  Stephan 's  Tochter  erhalten,  müssen  wir 
in  diesem  gener  Stephan's  den  Verlobten  oder  Gemahl  seiner  Tochter  er- 
kennen. Uebrigens  ist  in  der  Beihe  der  uns  aus  jener  Zeit  bekannten  unga- 
rischen Prinzessinen  keine  einzige  vorhanden,  auf  welche  dieses  Verhältniss 
mit  Svetslav  anderswie  passen  würde. 

Welche  von  Stephan's  Töchtern  Ende  1270  mit  Svetslav  verlobt  oder 
vermählt  gewesen,  lässt  sich  nicht  bestimmen.  —  Katharina  war  damals 
schon  mit  Stephan  Dragutin  von  Serbien,  Maria  mit  Karl  von  Neapel  ver- 
mählt. Sollte  es  die  nachmalige  Nonne  Elisabeth  gewesen  sein  ?  Ich  glaube 
nicht,  weil  sie  1.  schon  1270  urkundlich  als  im  Kloster  anwesend  angeführt 
wird  und  weil  2.  schon  im  nächsten  Jahre  Svetslav  im  Friedensvertrage 
zwischen  Stephan  V.  und  Ottokar  von  Böhmen*  do.  3.  Juli  1271  nur  mehr 
als  «Svetislaus  Imperator  Bulgarorum»  ohne  den  Zusatz  « gener  •  vorkommt, 
wo  hingegen  Stephan  Dragutin,  Andronikos  Palaiologos  und  Andere  als 
Schwiegersöhne  und  Verschwägerte  Stephan's  V.  genannt  werden.  Da  nun 
das  freundschaftliche  Verhältniss  zwischen  Stephan  und  Svetslav,  wie  wir 
aus  dem  Friedens-Instrumente  ersehen,  nicht  aufgehört  hat,  deutet  die  Ab- 

ir  V.  1.  124^-126. 


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GLOSSEN    ZUR    BULGARISCHEN    ZAREN -GENEALOGIE.  153 

Wesenheit  des  Wortes  «gener»  höchstwahrscheinlich  an,  dass  Svetslav's  Ver- 
lobte (oder  Gattin)  zwischen  dem  lO.December  1270  und  3.  Juli  1271  gestor- 
ben sein  muss  ^  und  dass  demzufolge  zwischen  Maria  und  Elisabeth  noch 
eine  Tochter  Stephan's  einzuschalten  sei. 

In  einem  Schreiben  des  Bischofs  von  Olmütz,  Bruno  von  Schauen- 
bürg,  an  Papst  Gregor  X.  do.  1272*,  kommt  folgende  Stelle  vor:  «Due 
filie  Begis  Ungarie  Buthenis,  qui  sunt  scismatici,  desponsati»  fuerunt.  Soror 
juvenis  hujus  Begis  Yathatio  est  tradita,  Ecclesie  inimico».  Unter  den  an 
Bussen  vermählten  Königstöchtern  haben  wir  Bela's  lY.  Töchter  Anna  und 
Konstanze  zu  verstehen.  —  Die  Bedeutung  der  dem  kirchenfeindlichen 
f  Vathatius»  übergebenen  Prinzessin  ist  schwerer  zu  klären.  Sicher  ist,  dass 
unter  der  Schwester  des  jungen  Königs  eine  Tochter  Stephan's  V.  zu  ver- 
stehen sein  muss.  Nun  hat  aber  den  Namen  •  Vatatzes»  (=  Vathatius  des  Bi- 
schofs Bruno)  meines  Wissens  nur  der  am  30.  Oktober  1254  gestorbene 
Kaiser  von  Nikaea,  Johann  (lH.)  Dukas  geführt,  während  sein  Sohn  Theo- 
dor II.  und  sein  Enkel  Johann  IV.  den  Namen  Laskaris  vorzogen;  Letzterer  — 
bereits  am  25.  December  1261  geblendet  und  in  Dakibyza  eingekerkert  — 
scheint  überhaupt  nicht  vermählt  gewesen  zu  sein. 

Ich  glaube  nun,  dass  sich  Bruno's  Angabe  einzig  und  allein  auf  Anna, 
die  Schwester  des  jungen  Königs  Ladislaus  IV.  (Tochter  Stephan's  V)  bezieht, 
welche  1272  als  Gemahlin  des  griechischen  Kronprinzen  Andronikos,  Sohnes 
des  Kaisers  Michael  Palaiologos,  sich  am  Hofe  zu  Konstantinopel  befunden. 
Michael  oder  sein  Sohn  dürften  entweder  auch  den  Namen  Vatatzes  geführt 
haben,  oder  hat  ihn  der  Bischof,  als  bezeichnend  für  einen  der  abendlän- 
dischen Kirche  feindlichen  Fürsten,  wie  ein  solcher  Johann  III.  gewesen, 
den  Palaiologen  eigenmächtig  beigelegt.  Sollte  aber  meine  Annahme  sich 
nicht  bestätigen,  so  hätten  wir  es  hier  mit  einer  auf  der  Stammtafel  der 
Ärpäden  noch  nicht  untergebrachten  Tochter  Stephan's  V.  zu  thun,  die  mög- 
licherweise auch  mit  dem  Despoten  Svetslav  in  Verbindung  zu  bringen 


wäre. 


8 


Nach  Pachymeres  hatte  unser  Despot  ein  tragisches  Ende  gefunden. 
Konstantin's  Gemahlin  Maria  Kantakuzena,  die  während  der  Krankheit  ihres 
Gatten  die  Begierung  in  ihren  Händen  hatte  und  die  Zukunft  ihres  unmün- 

*  Es  wäre  denn,  dass  die  Verlobung  noch  vor  dem  3.  Jtdi  1271  mit  gegenseitiger 
Uebereinstimmung  und  ohne  Schädigung  des  freundschaftlichen  Verhältnisses  gelöst 
worden  wäre. 

«  Wenzel  IV.  10/6. 

^  Engers  Vermutung,  dass  Svetslav  sich  deshalb  an  den  ungarischen  Hof 
angelehnt,  weil  Stefans  Tochter  Anna  1271  an  den  griechischen  Tronfolger  vennählt 
worden,  wird  durch  unsere  Urkvmde  widerlegt,  da  Svetslav  schon  1270  Stefans 
cgeneri  war.  Eher  mochte  die  Annäherung  Konstantins  an  Kaiser  Michael  1270 
(Vermähltmg  mit  des  Kaisers  Nichte)  hier  mitgewirkt  haben. 


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154  GLOSSEN   ZUR   BULGARISCHEN   ZAREN -GENEALOGIE. 

digen  Sohnes  Michael  gegen  alle  Eventualitäten  sichern  wollte,  fürchtete,  der 
mächtige  Svetslav  könnte  dem  Prinzen  einmal  hindernd  in  den  Weg  treten. 
Um  den  Despoten  einzuschläfern,  bot  sie  ihm  das  Thronfolgerecht  an,  wenn 
er  sich  von  ihr  als  jüngerer,  zweiter  Sohn  adoptiren  lassen  wolle.  Der  alte 
Mann  machte  sich  so  lächerUch,  dass  er  sich  in  Timova  vor  dem  Altare, 
beim  Scheine  vieler  Kerzen,  durch  Umschlagung  des  Mantels  der  jungen 
Zarin  in  den  jüngeren  Bruder  des  sechsjährigen  Michael  verwandeln  liess. 
Kaum  durch  den  Titel  « Sohn  der  Königin  der  Bulgaren,  als  zweiter  nach 
dem  Knaben  Michael»  eingeschläfert,  liess  die  ränkevolle  Zarin  ihn  und 
seinen  Anhang  heimUch  aus  dem  Wege  räumen. 

Von  etwaigen  Nachkommen  Svetslav's  haben  wir  keine  Kunde. 

17.  Die  Terterijden. 

Johann  AsSn  m.  war  noch  kaum  auf  dem  Trone,  als  Kaiser  Michael  die 
Wahrnehmung  machte,  dass  sein  SchützUng  nicht  der  Mann  sei,  die  Krone 
für  die  Dauer  zu  behaupten ;  somit  musste  dafür  Sorge  getragen  werden,  den 
Leiter  der  mächtigsten  und  einflussreichsten  Partei  in  Bulgarien  auf  des 
schwachen  Zaren  Seite  zu  bringen.   Dieser  Parteichef  war  Gborg  Terterij.  * 

Seine  Abstammung  ist  unbekannt ;  wir  wissen  nur,  dass  sein  Vater  ein 
Kumane,  seine  Mutter  mit  den  vornehmsten  bulgarischen  Familien  ver- 
wandt gewesen.  Die  Lockungen  des  Hofes  und  eine  ihm  von  griechischer 
Seite  offerirte  eheliche  Verbindung  mit  einer  Prinzessin  thaten  das  Ihre,  um 
den  Mächtigen  an  den  Hof  zu  ketten;  zudem  erhielt  er  den  Despotentitel. 

Alles  dies  half  aber  der  griechischen  Politik  dennoch  nicht.  —  Der  todt- 
geglaubte  Ivajlo  erschien  plötzlich  vor  Tirnova  und  schlug  zweimal  die  ihm 
entgegengestellten  griechischen  Truppen ;  der  ehrgeizige  Terterij  fand  jetzt 
mehr  als  je  Gelegenheit  seinen  Einfluss  zur  Erlangung  der  Krone  geltend 
zu  machen,  und  als  Johann  Äsen  schmählich  die  Flucht  ergriffen,  ward 
Georg  I.  Ende  1280  zum  Zaren  gekrönt.  Selbstverständlich  verfolgte  der 
neue  Zar  eine  griechenfeindliche  Politik.  Er  verbündete  sich  mit  den 
Gegnern  des  griechischen  Hofes :  Karl  von  Anjou-Neapel  und  Johann  Fürsten 
von  Neopatrae.  1284  schloss  er  indess  mit  Kaiser  Andronikos  IL  Frieden. 
1285  brachen  Nogaj's  Tataren  in  Bulgarien  ein  und  Terterij  konnte  nur 
durch  Aufopferung  einer  seiner  Töchter  seinen  Tron  behaupten ;  doch  nicht 
lange  dauerte  seine  Sicherheit.  Durch  die  fortgesetzten  Drohungen  des  Ta- 
tarenkhans eingeschüchtert,  floh  er  zum  Kaiser,  um  diesen  zu  Hilfe  zu  ru- 
fen ;  in  der  Nähe  von  Adrianopel  hielt  er  sich  so  lange  auf,  bis  ihn  die  Grie- 
chen in  Haft  nahmen.   Auf  die  Kunde  seiner  Flucht  setzte  der  Khan  (um 

*  So  Bchreibt  diesen  Namen  Jirecek  nach  den  Worten  des  Pomenik :  Terterija 
starago.  Bei  den  Byzantinern  heisst  er  TipteprJ^.  Der  Papst  nennt  ihn  cEönig  Oeoig.i 


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OLOBSEN   ZXJB   BUL6ABIS0HEN    ZABEN-OENEAL06IE. 


155 


1292)  in  der  Person  des  Smiltzes  (siehe  18.)  einen  neuen  Zaren  ein.  Als  aber 
des  Georg  Sohn  Svetslav  in  der  Folge  znm  Throne  gelangte  und  (um  1298) 
mit  Griechenland  Frieden  schloss,  befand  sich  unter  den  beiderseits  aus- 
gewechselten Gefangenen  auch  Georg  I.  Dieser  erhielt  nun  wohl  seine  Frei- 
heit, nicht  aber  den  Tron ;  sein  Sohn  wies  ihm  eine  anständige  Apanage 
an,  dass  er  den  liest  seiner  Tage  vergnügt  und  sorgenlos  verleben  könne. 
Wann  und  wo  er  gestorben,  ist  unbekannt. 

Georg's  erste  Gemahlin  war  eine  Bulgarin,  des  Namens  Maria.  ^  Engels 
Angabe,  sie  sei  eine  Schwester  des  Boljaren  Eltimeres  gewesen,  ist  falsch,  da 
wir  heute  Eltimir  als  Georges  Bruder  kennen.  Als  nun  Georg  1 280  sich  dem 
griechischen  Hofe  anschloss,  verstiess  er  Maria  mit  ihrem  ältesten  Sohne 
und  überlieferte  sie  dem  Kaiser,  der  sie  in  Nikaea  bewachen  liess. 

Als  nach  Georg's  Krönung  die  bulgarische  Geistlichkeit  die  Zurück- 
berufung  der  Verstossenen  urgirte,  benützte  er  1284  einen  Frieden  mit 
Andronik  11.,  um  seine  verstossene  Gemahlin  zurückzufordern,  was  ihm  auch 
gelang ;  seitdem  sind  die  Schicksale  dieser  Zarin  Maria  unbekannt. 

Georg's  zweite  Gemahlin  war  eine  Schwester  des  Zaren  Johann 
As^n  KL,  gleichfalls  Maria  genannt.  Sie  wurde  ihm  1280  vermählt,  um  ihn 
in  das  Interesse  Johann  Asän's  und  des  kaiserlichen  Hofes  zu  ziehen.  — 
1284  sah  er  sich  genötigt,  um  seine  Geistlichkeit  zu  versöhnen,  die  Prin- 
zessin Maria  nach  Konstantinopel  zurückzusenden.  ^  Was  weiter  mit  ihr  ge* 
schah,  ist  unbekannt. 

Von  Georg's  Kindern  kennen  wir:  1.  Zar  Theodor  Svetslav.  2.  Voj- 
slav.  3.  und  4.  zwei,  ihrem  Namen  nach  unbekannte  Töchter.  Vojslav  er- 
richtete nach  dem  Tode  seines  Neffen  Georg  n.  ein  unabhängiges  Fürsten- 
tum im  oberen  Tundiatale  mit  der  Residenz  auf  der  Burg  Kopsis.  ^  Sein 
Gebiet  umfasste  vier  Städtchen,  seine  Armee  zählte  3000  Mann.  ^  Im  Bunde 
mit  Andronikos  dem  Jüngeren  belagerte  er  4  Monate  vergeblich  Philippopel. 
Als  Michael  II.  zum  Zaren  der  Bulgaren  gewählt  worden,  wollte  er  den 
Fürsten  Vojslav  unterwerfen.  Er  widerstand  dem  Angriffe  ein  ganzes  Jahr, 
bis  ihn  die  Unzufriedenheit  seiner  Unterthanen  und  der  Mangel  an  Zufuhr 
im  Frühjahre  1324  zur  Flucht  nach  Konstantinopel  nöthigten.  Seine 
Familienverhältnisse  sind  unbekannt. 

Georg's  ältere  Tochter  (geboren  von  semer  bulgarischen  Gattin)  ist  ein 
Opfer  der  Politik  geworden.  Als  1285  sich  Nogaj's  Tataren  auf  Bulgarien 
warfen,  wusste  sich  Georg  ihrer  nicht  anders  zu  erwehren,  als  dass  er  seine 


*  Synodik  (Pomenik) :  «Maria,  Gattin  des  Zaren  Terter  des  Aelteren.« 

*  Pachymeres  ed.  Bonn  ü.  57. 

'  Eantakozenos  I.  172  ed.  Bonn. 

*  Durch  Huldigung  erhielt  er  vom  griechiechen  Hofe  die  Erlaubniss  sich  «Des- 
pot von  Mysien»  zu  nennen. 


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156  GLOSSEN   ZUR   BULGARI8CHBN    ZAREN -GENEALOGIE. 

Tochter  dem  Öoki,  Sohne  des  Nogaj,  vermählte.  Wie  wir  wissen,  schützte  ihn 
dies  aber  doch  nicht  vor  dem  Verderben.  Öoki  (auch  Czakas)  *  zog  nach  dem 
1293  erfolgten  Tode  seines  Vaters  abermals  nach  Bulgarien^  um  daselbst,  als 
Georg's  Schwiegersohn,  sich  zum  Zaren  erklären  zu  lassen.  Um  seine  Herr- 
schaft populär  zu  machen,  nahm  er  den  Bruder  seiner  Gattin,  Svetslav,  zum 
Mitregenten  an.  Kaum  hatte  aber  Svetslav  durch  eine  reiche  Heirat  sich  ein 
Ansehen  verschafft,  Hess  er  Coki  meuchlings  ergreifen  und  im  Gefängnisse 
erdrosseln  (1:295).  Des  Ermordeten  Kopf  schickte  er  in  die  Krim  zu  dessen 
Feinden.  Coki's  Kinder  aus  der  Ehe  mit  der  Terterijdentochter  sind  unbekannt 
Auch  was  mit  Coki's  Witwe  geschehen,  wissen  wir  nicht ;  aber  es  ist  mehr 
als  gewiss,  dass  sie  sich  nach  ihres  Gatten  Ermordung  an  den  Hof  ihres 
Bruders  begeben,  weil  wir  sie  in  einer  Action  ihres  Bruders  aus  dem  Jahre 
1308  erwähnt  finden. 

Die  im  Jahre  1302  in  griechische  Dienste  getretenen  Catalonier  hatten 
sich  nämlich,  als  ihnen  die  Griechen  ihren  Sold  nicht  zahlen  wollten,  von 
denselben  losgesagt  und  auf  eigene  Faust  eine  autonome  Körperschaft  ge- 
bildet, die  für  Geld  für  Jeden  und  gegen  Jeden  zu  haben  war.  1308  knüpfte 
nun  Svetslav  mit  einem  der  Chefs  dieser  Catalonier,  genannt  Boccaforte  (bei 
Engel  Eomofortus),  Unterhandlungen  an,  um  diese  Schaaren  zu  einer  Expe- 
dition gegen  Byzanz  zu  gewinnen.  Um  Boccaforte's  Zustimmung  zu  er- 
werben, schlug  er  demselben  eine  Heirat  mit  seiner  Schwester,  der  Witwe 
6oki*s  vor,  doch  führten  die  Verhandlungen  nicht  zu  dem  gewünschten  Re- 
sultate. ** 

Georg's  jüngere  Tochter  —  Engel  nennt  sie  Kotanicza  —  (geboren 
um  li281  von  der  AsSniden-Prinzessin)  war  zweimal  vermählt: 

a)  1296  mit  dem  Könige  Stephan  Urosch  H.  von  Serbien.  Bald  nach 
der  Heirat  fand  es  aber  Stefan  Urosch  geraten,  sich  mit  dem  griechischen 
Hofe  zu  liiren.  Kaiser  Andronikos  H.  der  den  häufigen  Einfällen  des  ser- 
bischen Königs  in  griechisches  Gebiet  ein  Ende  bereiten  wollte,  bot  dem- 
selben eine  Falaiologentochter  an  und  verfocht  die  Meinung,  dass  die  Ehe 
mit  der  Bulgarin  keine  gesetzliche  sei,  weil  zur  Zeit  ihrer  Schliessung  Ste- 
fan Urosch'  erste  (verstossene)  Gemahlin  noch  am  Leben  gewesen.  Da 
diese  jetzt  gestorben,  sei  der  Serbenkönig  erst  Witwer  geworden  und  dürfe 
er  erst  jetzt  eine  zweite  Ehe  eingehen.  Stefan  Urosch,  der  es  in  Sachen 
der  Abwechslung  des  «ewig  Weiblichen»  nicht  zu  strenge  nahm,  verstiess 
nun  1298  die  Bulgarin  und  lieferte  sie  dem  Kaiser  aus. 

b)  Kaiser  Andronikos  11.  fürchtete,  es  könne  Zar  Svetslav  die  seiner 
Schwester  angethane  Schmach  rächen  wollen,  und  beeilte  sich,  die  Sache 

*  Bei  Hammer  auch  Coke,  Cuke. 

='^*  Paohymeres  II.  600—603,   606.    Nach   Engel  438   hat  Svetslav  seine  verwit- 
wet« Schwester  dem  Bomofortus  zur  Gemahlin  gegeben. 


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atiOSSEI^   ZÜK   BtJLOAlUSCHBK   2ARE^-OENEALOOIE.  1-^>7 

irgendwie  auszugleichen.  Das  beste  Mittel  hierzu  glaubte  er  in  einer  Standes- 
massigen  Verheiratung  der  Yerstossenen  zu  finden. 

Demetrius  Angelos  (auch  Michael  Dukas  Eutrules)^  Sohn  des  Despoten 
Michael  11.  von  Epiros  und  der  Theodora  Petralipha,  war  in  erster  Ehe  mit 
Anna,  Tochter  des  ELaisers  Michael  VIII.  (der  einstigen  Braut  Milutins)  ver- 
mählt gewesen.  Witwer  geworden,  warf  er  seine  Augen  auf  die  in  Griechen- 
land intemirte  Tochter  Terterij's.  Andronikos  IL  kam  die  Sache  sehr  er- 
wünscht, und  er  negocürte  mit  möglichster  Raschheit  die  Vermählung  des 
Paares  1301.  Diesmal  war  der  Umstand,  dass  der  Gemahl  der  Yerstossenen 
noch  am  Leben  gewesen,  kein  Ehehindemiss  I 

Michael  führte  den  Titel  eines  Despoten  von  Fatras,  den  er  gelegent- 
lich seiner  Vermählung  mit  Anna  erhalten ;  diesen  Titel  erhielt  nun  Svetslav's 
Schwester.  Diese  hatte  ihrem  Gatten  bereits  mehrere  (ihrem  Namen  nach  un- 
bekannte) Kinder  geboren,  als  es  1305  dem  Kaiser  schien,  Michael  habe 
grössere  Aspirationen,  als  sich  mit  der  Despoten- Würde  zu  begnügen.  Am 
13.  März  dieses  Jahres  liess  er  ihn  sammt  seiner  Gemahlin  und  seinen  Kin- 
dern ohne  Weiteres  verhaften  und  seitdem  spricht  die  Chronik  nichts  mehr 
von  diesem  Schwager  Svetslav's.  Die  Zurücksetzung  seiner  Schwester  be- 
schwor aber  einen  Krieg  zwischen  Bulgarien  und  Byzanz. 

Der  Zar  Theodor  Svetslav. 

Aeltester  Sohn  Georg's  I.  aus  dessen  erster  Ehe  mit  der  bulgarischen 
Maria.  Als  diese  1280  Verstössen  und  nach  Griechenland  geschickt  wurde, 
musste  sie  auch  ihren  Sohn  Svetslav  mit  sich  nehmen.  Als  sie  1284  wieder 
zu  ihrem  Gatten  zurückgelangte,  blieb  Svetslav  noch  ferner  in  Griechenland, 
bis  sich  der  Kaiser  durch  den  bulgarischen  Patriarchen  Joachim  zur  Frei- 
lassung des  Prinzen  bewegen  liess. 

Als  der  Tatare  Öoki  nach  der  Entsetzung  des  Zaren  Smiltzes  sich 
selbst  zum  Herrn  der  Bulgaren  aufwarf,  glaubte  er  in  der  Erhebung  seines 
Schwagers  Svetslav  zum  Mitregenten  ein  Mittel  zum  Populärmaehen  seiner 
Herrschaft  gefunden  zu  haben.  —  Er  hatte  sich  aber  verrechnet.  Svetslav 
liess  den  Schwager  aus  dem  Wege  räumen  und  bestieg  1295  als  t  Befreier 
des  Vaterlandes»  den  Tron. 

Die  erste  Hälfte  seiner  Regierung  war  mit  Streitigkeiten  gegen  Byzanz 
ausgefüllt,  die  zweite  verfloss  in  Frieden.  Er  starb  1322.  Er  war  zweimal 
vermählt 

Noch  zur  Zeit  als  er  in  Nikaea  sich  als  Geissei  befand,  benützte  sein 
Vater  den  Tod  des  Kaisers  Michael  VTQ.  (1282)  und  den  Regierungsantritt 
Andronikos'  H.,  um  durch  ein  Bündniss  mit  Johann  I.  (Angelos  Komnenos 
Dukas),  Fürsten  von  Neopatrae,  die  Befreiung  Svetslav's  zu  erwirken ;  eine 
Vermählung  des  Prinzen  mit  Johann*s  Tochter  sollte  das  Bündniss  krönen. 


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^^  aiiOSSBN    ZUR    BÜLOARI80HBN   ZARBN-OBNBALOGHt. 

Als  nun  Andronikos  II.,  durch  diese  Allianz  eingeschüchtert,  mit  Georg  Ter- 
terij  seine  freundschaftlichen  Beziehungen  erneuerte,  gab  Letzterer  auch 
sein  Verhältniss  zu  Johann  Angelos  auf;  er  entsagte  nicht  nur  dem  Schutz- 
und  Trutzbündnisse,  sondern  lieferte  auch  dessen  Tochter,  die  ihm  als  Braut 
Svetslav's  anvertraut  war,  dem  Kaiser  aus. 

Johannas  von  Neopatrae  uns  bekannte  Töchter  sind  folgende : 

a )  Johanna,  Gem.  um  1276  Stephan  Urosch  11.  von  Serbien,  Verstössen, 

b)  Helene,  Gem.  1.  Wilhelm  I.  (de  la  Boche),  Herzog  von  Athen, 

2.  Hugo  von  Brienne,  reg.  1291—1296, 

c)  Tochter,  Gem.  Andronikos  Tarcboniata,  Gross-Connetable,  Neffe  des 
Kaisers  Michael  Vm.,  t  1283  (?) 

d)  Tochter,  (?) 

Ob  Svetslav's  Verlobte  eine  dieser  gewesen  oder  ob  sie  (wie  z.  B.  Mor^ri 
u.  A.  annehmen)  eine  fünfte  Tochter  Johann 's  war,  ist  nicht  festgestellt. 

Svetslav  war  durch  die  Wirren  nach  der  Flucht  seines  Vaters  ganz 
arm  geworden ;  er  suchte  und  fand  eine  reiche  Gattin.  Ein  gewisser  Mankus 
hatte  eine  Tochter,  deren  Taufpathin  des  Khans  Nogaj  Gemahlin  Euphro- 
syne  (natürliche  Tochter  Michael's  VÜI.)  gewesen.  Pachymeres  nennt  die- 
selbe Enkone,  der  Pomenik  nennt  sie :  Zarin  Euphroeina,  Gattin  des  Zaren 
Svjatislav,  welchen  Namen  sie  nach  ihrer  Taufpathin  erhielt.  Der  Vormund 
dieser  Euphrosyne,  der  reiche  Kaufmann  Pantoleon,  hatte  das  Mädchen  zu 
seiner  Erbin  eingesetzt  und  Svetslav's  Bewerbung  um  deren  Hand  angenom- 
men. Von  dieser  Zarin  wissen  wir  sonst  gar  nichts;  sie  ist  sicherlich  vor  1320 
gestorben.  Im  Jahre  1320  vermählte  sich  Svetslav  zum  zweiten  Male.  Diesmal 
warf  er  seine  Augen,  um  mit  dem  griechischen  Hofe  in  näheren  Gonnex  zu 
treten,  auf  eine  byzantinische  Prinzessin  und  so  erhielt  er  Theodora  Pa- 
laiologa  zur  Gemahlin.  Sie  war  die  Tochter  des  am  12.  October  1320  gestor- 
benen Kronprinzen  Michael  und  Enkelin  des  Kaisers  Andronikos  II.  Witwe 
geworden,  heiratete  sie  um  1323  den  Bulgaren- Zaren  Michael  H.  (s.  19a). 

Svetslav  hatte  aus  erster  Ehe  einen  einzigen  Sohn,  der  ihm  als  Oeorg 
Tertmj  IL  folgte.  *  Er  starb  nach  einem  gegen  Byzanz  imtemommenen 
Feldzuge  schon  im  Jahre  1323.  Er  war  der  letzte  regierende  Terterijde. 

Zu  den  Terterijden  gehört  noch  der 


Despot  Eltimir. 

Dieser  war  der  Bruder  des  Zaren  Georg  I.   und   hatte  sich   zum 
Despoten  von  Krun  (um  Karnobad)  emporgeschwungen.  Als  1298  die  Grie- 


*  In  einem  für  ihn  1322  geschriebenen,  im  Ghilandarkloster  befindlichen 
Evangelium  heisst  es:  cvelikyj  oar  Georgije,  syn  velikago  carja  Theodora  SvetslaTat 
(der  grosse  Zar  Georg,  Sohn  des  grossen  Zaren  Theodor  Svetslay). 


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<)L0S8EN   ZÜB   BULOABI80HEK   ZABBN'GBNEALOGIJS.  ^^^ 

eben  den  Michael,  den  Sohn  Konstantin 's,  mit  griechischen  Truppen  nach 
Bulgarien  sandten,  um  Syetslav  anzugreifen,  vertrat  Eltimir  seines  Neffen 
Interessen  so  gut,  dass  er  den  Sebastokrator  Badoslay  schlug  und  blendete. 
Um  1306  unterstützte  Eltimir  seinen  Neffen  neuerdings  und  es  gelang  ihnen 
die  Städte  Diampolis,  Ancbialos,  Mesembria  und  SozopoUa  zu  erobern ;  um 
1309  gelang  es  indess  den  griechischen  Intriguen,  Onkel  und  Neffen  zu  ent- 
zweien. Bei  dieser  Gelegenheit  wurde  Eltimir  durch  die  Griechen  aus  seinem 
Besitze  verjagt.  Um  sein  Land  zurückzuerhalten,  söhnte  er  sich  wieder  mit 
Svetslav  aus  und  schüchterte  dadurch  den  Kaiser  ein.  Da  er  aber  einige  von 
Svetslav  für  seine  Unterstützung  erhaltene  Städte  dem  Kaiser  zurückgab, 
befeindete  ihn  Svetslav  1308  aufs  Neue.  Eltimir 's  fernere  Geschichte  kennen 
wir  nicht.  Seine  Gemahlin  war  eine  Tochter  des  Zaren  Smilec.  Ob  dieses  Paar 
Kinder  gehabt,  wissen  wir  nicht. 

18.  Zar  Smilec  (Smiltzos). 

Nach  Georges  I.  Flucht  setzte  Khan  Nogaj  um  1292  den  Boljaren 
Smilec  auf  den  Tron  Bulgariens. 

Smilec's  Eltern  sind  unbekannt.  Seine  Güter  lagen  an  der  Topolnica, 
wo  noch  jetzt  bei  dem  Dorfe  Akydzi  zwischen  Tatar-Pazardzik  und  Ichtiman 
die  Ruinen  des  «Smilcev-Monastir»  zu  sehen  sind,  welches  Kloster  nach  einer 
dort  befindlichen  Inschrift  der  «Knez  Smilec»  1286  in  den  Tagen  des  Zaren 
Georg  I.  erbaute.*  Sein  Zarentum  war  von  nur  sehr  kurzer  Dauer.  Nach  Nogaj 's 
Tode  (f  1293)  zog  dessen  Sohn  Öoki  nach  Bulgarien  und  setzte  Smilec  ab. 
Seitdem  wird  dieser  Zar  nicht  mehr  erwähnt.  Er  dürfte  gleichzeitig  mit 
Coki  aus  dem  Wege  geräumt  worden  sein  (um  1295). 

Seine  Gattin  spielte  in  der  Diplomatie  der  Höfe  von  Byzanz  und  Bul- 
garien eine  grosse  Bolle. 

Ihr  Vatf^r  war  Prinz  Konstantin,  Sohn  des  Kaisers  Michael  VIII.  Er 
starb  am  5.  Mai  1306.  Seine  Gemahlin  war  eine  Tochter  des  Protovestiars 
Johann  Baoulis.  Die  Angabe  Jener,  welche  des  Smilec  Gattin  für  äne  En- 
kelin Andronikos'  IL  (nach  dessen  Sohne  Konstantin)  halten,  ist  deshalb 
nicht  stichhältig,  weil  diese  Prinzessin,  als  Tochter  Konstantins  und  Enkelin 
Andronikos'  IL,  in  den  90er  Jahren  des  13.  Jahrhunderts  und  ersten  Jahren 
des  14.  Jahrhunderts  noch  keine  verheiratete  Tochter  haben  konnte.  Nun  ist 
Michael,  der  äheste  Sohn  Andronikos'  IL  erst  1277  geboren  und  Smilec^ 
Gattin  um  die  oben  erwähnte  Zeit  bereits  Schwiegermutter. 

Diese  Palaiologa  wurde  1305  von  Andronikos  ü.  benützt,  um  den 
Eltimir,  ihren  Schwiegersohn  mit  Svetslav  zu  entzweien  und  für  Griechen- 


*  Jiredek  283. 


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IßO  GLOSSEN   ZUR   BULGARI8CHBN    ZAREN -GEKBALOOHÖ. 

land  zu  gewinnen.  Die  Mission  gelang  auf  kurze  Zeit,  bis  Eltimir  1307  seine 
Schwiegermutter  nach  Konstantinopel  zurückschickte. 
Von  Smilec  kennen  wir  nur  zwei  Töchter: 

1.  eine  1293  an  den  Serben -Prinzen  Stefan  (Urosch  Decsanski)  und 

2.  eine  an  Eltimir,  den  Bruder  des  Zaren  Georg  Terterij  I.  vermählte 
Tochter. 

Zur  Familie  Smilec's  gehören  noch  seine  zwei  Bruder: 

a)   Badoslav. 

Dieser  war  unter  Andronikos  II.  Sebastokrator  in  Thessalonich  und 
wurde  1298  mit  einer  griechischen  Armee  gegen  Svetslav  nach  Bulgarien 
geschickt.  Im  Kampfe  gegen  Eltimir  wurde  er  geschlagen  und  geblendet. 

/>>   Vojslav   (Bossilas). 

Dieser  jüngste  Bruder  des  Smilec  stand  gleichfalls  in  griechischen 
Militärdiensten  und  kämpfte  1306  gegen  Svetslav.  Er  blieb  aber  seiner  bul- 
garischen Abstammung  eingedenk  und  entliess  sämmthche  bulgarische 
Kriegsgefangene  des  Mannschaftsstandes,  wodurch  es  den  Bulgaren  gelang, 
die  Griechen  zu  schlagen. 

Weder  Radoslav's  noch  Vojslav's  Familienverhältnisse  sind  bekannt. 
Engel  ist  mit  Bezug  auf  Radoslav  sehr  confus  und  gibt  ihm  eine  Schwester 
Eltimir's  zur  (Jattin,  ohne  dies  aber  plausibel  zu  machen. 

19.  Die  jüngeren  äismaniden. 

Zu  des  Zaren  Georg  Terterij  I.  Zeiten  sass  in  Vidin  und  in  ganz  West- 
bulgarien ein  unabhängiger  Fürst  des  Namens  Simian,  der,  gleich  den  Ter- 
terijden,  dem  in  Bulgarien  eingewanderten  kumanischen  Adel  verwandt 
war.*  Wir  wissen  von  ihm,  dass  er  um  1292  einen  Einfall  ins  Serbische 
that  und  plündernd  bis  Ipek  vordrang.  Als  König  Milutin  dann  Vidin  be- 
setzte, floh  Sisman  über  die  Donau  in  das  Severiner  Banat  nach  Ungarn, 
erhielt  jedoch  im  Frieden  seine  Länder  zurück.  Sein  Todesjahr  ist  unbe- 
kannt. 

Dass  er  1292  schon  einen  Sohn  gehabt,  beweist,  dass  er  damals  ent- 
weder verwitwet  war  oder  seine  Gattin  verstiess,  denn  in  dem  Frieden  dieses 
Jahres  vermählte  er  sich  mit  der  Tochter  des  Dragos,  eines  serbischen  Va- 
sallen. Namen  und  Chronologie  seiner  beiden  Gattinnen  sind  unbekannt. 
Nach  Engel  war  Michaels  IL  Mutter  eine  Rumänin.  Von  seinen  Kindern 
kennen  wir  zwei  Söhne :  Michael  und  Belaur  und  eine  Tochter  Kerata. 


*  Jü-e^ek  282. 


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GliOSSBN   ZUR   BÜLÖARISCHfiN    ZAREN-GENEALOGIE.  i^l 

a)  Zar   Michael  n. 

Sohn  äiöman's  aus  erster  Ehe ;  folgte  seinem  Vater  als  Despot  von 
Bulgarien  und  Herr  von  Widin.  Als  solcher  schloss  er  mit  Venedig  Freund- 
schaftsverträge. Nach  Georg  Terterij's  IL  Tode  erwählten  ihn  die  Boljaren 
zum  Zaren  Bulgariens  (1323). 

Seine  Regierung  verstrich  unter  Kriegen  gegen  Griechenland  und  Ser- 
bien. In  dem  Streite  zwischen  Kaiser  Andronikos  11.  und  dessen  gleich- 
namigem Enkel  schlug  sich  Michael  anfangs  auf  des  Enkels  Seite,  später  auf 
jene  des  Kaisers. 

Die  Spannung  mit  Serbien  führte  zur  Entscheidungsschlacht  zwischen 
Bulgarien  und  Serbien,  in  welcher  Michael  am  28.  Juni  1330  (an" einem 
Samstage)  aufs  Haupt  geschlagen  wurde.  Sein  Schlachtross  strauchelte,  er 
stürzte  zu  Boden,  erlitt  schwere  Verletzungen  und  wurde  von  einigen  nach- 
setzenden Serben  getödtet ;  seine  Leiche  hob  man  auf  ein  Pferd  und  brachte 
sie  vor  den  siegenden  Serbenkönig  Stefan  Urosch  IE.*  Auf  Bitten  der  bulga- 
rischen Grossen  wurde  die  Leiche  in  dem  Kloster  von  Nagori6in  bestattet. 

Michael  hatte  zwei  Göttinnen  : 

1.  Im  Friedensschlüsse  1292  hatte  der  junge  Michael,  gleichzeitig  mit 
seinem  Vater,  eine  serbische  Gattin  erhalten.  Sie  hiess  Anna  (Neda)  und 
war  des  Königs  Milutin  natürliche  Tochter.  Als  aber  Michael  sich  1324  mit 
dem  byzantinischen  Hofe  versöhnte,  verstiess  er  Anna  mit  deren  Kin- 
dern. Diese  Verstossung  war  die  Ursache  jener  zwischen  ihm  und  dem 
serbischen  Hofe  ausgebrochenen  Spannung,  die  ihm  1330  Tron  und  Leben 
kostete.  2.  1324  hatte  man  eben  am  griechischen  Hofe  eine  Kriegserklärung 
an  Michael  beschlossen,  um  die  durch  denselben  verursachte  Verwüstung 
Oberthrakiens  zu  rächen,  als  zwei  seiner  Boljaren,  Grud  und  PanSe  am  kai- 
serUchen  Hoflager  erschienen  und  die  Meldung  brachten,  Michael  habe  die 
Serbin  sammt  ihren  Kindern  Verstössen  und  sich  mit  Theodora,  der  Witwe 
des  Zaren  Svetslav  vermählt.  Die  Nachricht  erregte  natürlicherweise  freu- 
dige Bewegung  am  kaiserlichen  Hofe  und  es  wurde  sofort  zwischen  Beiden 
Friede  geschlossen.  Diese  Ehe  hatte  zur  Folge,  dass  sich  Michael  seinem 
Schwager,  dem  jüngeren  Andronikos,  gegen  dessen  Grossvater  anschloss. 

Theodora  wurde  nach  MichaeFs  Tode  zur  eiligen  Flucht  nach  Griechen- 
land genötigt.  Theodora's  Kinder,  die  sie  auf  ihrer  Flucht  nach  Griechen- 
land mitnahm,  sind  unbekannt.  Von  Micha^Fs  Kindern  erster  Ehe  kennen 
wir  Sisman  und  Johann. 


'^  So  erzählt  den  Sachverhalt  sein  Zeitgenosse,  der  serbische  Erzbischof 
Daniel  (f  1338).  Nach  den  Byzantinern  Kantakuzenos  und  Nikephoros  wäre,  er  erst 
nach  einigen  Tagen  in  der  Gefangenschaft  seinen  Wunden  erlegen. 

TTngarUehe  Bevoe,  XL  1891.  II.  Heft.  l\ 


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)^S  GLOSSEN   ZUB   BULOARISOHEN    ZARBK-OENBALOOIfi. 

Siiman  (auch  Stefan)^  wurde  durch  seinen  siegreichen  Oheim  Stefan 
Urosch  in.  1330  zum  Zaren  erhoben. 

Seine  Herrschaft  war  aber  yon  nicht  langer  Dauer.  Kaiser  Andronikos 
hatte,  um  Theodora's  Vertreibung  zu  rächen,  einige  bulgarische  Städte  er- 
obert, weshalb  gegen  Siäman  und  seine  Mutter  eine  (jährung  ausbrach. 
Anna  floh  nach  Serbien,  Sisman  zu  den  Tataren  (FrühUng  1331);  unter- 
dessen bestieg  ein  Anderer  den  Zarentron.  Der  Ex-Zar  begab  sich  nun 
nach  Eonstantinopel  und  als  sich  ihm  hier  keinerlei  Aussichten  boten,  ^  ging 
er  nach  Italien,  wo  er  sich  unter  dem  Namen  Ludwig  an  den  Hof  der  Anjous 
in  Neapel  begab.  Wir  stossen  auf  ihn  urkundlich  am  IS.  Jänner  1338^  in 
einem  Schreiben  des  Königs  Robert  yon  Neapel,  welches  folgenden  Passus 
enthält :  «Quatenus  Spectabili  Lodoyco  filio  Incliti  Imperatoris  Bulgarie  nepoti 
nostro  carissimo  ad  nos  pridem  venienti,  quem  in  comitiva  nostra  providimus 
moraturum,  uncias  auri  X.  ponderis  generalis  mense  quoUbet  in  principio 
mensis,  qutts  ei  pro  expensis  suis  et  familie  sue  mense  quolibet  usque  ad  be- 
neplacitum  providimus  exhiberi  de  quacunque  pecunia  ....  solvere  et  ex- 
hibere  curetis  .  .  .  . »  1 363  geriet  er  in  Siena  gelegentlich  eines  Gefechtes 
sammt  einem  bulgarischen  Bischöfe  in  Gefangenschaft  und  starb  1373^  zu 
Neapel.  Seine  Gemahlin  war  eine  natürliche  Tochter  des  Prinzen  Philipp  I. 
von  Tarent  aus  dem  Hause  Anjou.  * 

Johann  floh  mit  seiner  Mutter  1331  nach  Serbien.  Seine  Spur  verliert 
sich.  Nach  Engel  starb  er  in  Bagusa. 

bj  Belaur. 

Dieser  hatte  während  Michaers  Abwesenheit  (zur  Zeit  des  Serben - 
krieges  1330)  mit  anderen  Boljaren  die  Regierung  geleitet.  Auf  die  Nachricht 
von  dem  Tode  seines  Bruders  schickte  er  dem  siegreichen  Stefan  Urosch 
bis  Izvor  eine  Gesandtschaft  entgegen  und  unterwarf  sich  demselben.   Eine 


^  Bei  Daniel:  Stefan,  bei  Eantakuzenos;  AiSman.  Stefan  ist  der  Name  fleiuei« 
mütterlichen,  Sisman  der  seines  väterlichen  Grossyaters. 

*  Zar  Alexander  verlangte  Sommer  1341  vom  Reichsverweser  Johann  Kantakiize- 
nos  die  Ausliefenmg  ^iämans  und  drohte  im  Weigerungsfalle  mit  Krieg.  Kantaknzen  gab 
zur  Antwort,  er  werde  den  Sisman  die  Donau  aufwärts  nach  Widin  (wo  er  noch 
eine  mächtige  Partei  erhoffen  durfte)  mit  einigen  Kriegsschiffen  senden  und  ausser- 
dem ein  türkisches  Mietsheer  in  Bulgarien  einmarschieren  lassen.  Alexander  beeilte 
sich  nun  in  Folge  dieser  Antwort,  fi-iedliche  Saiten  anzuschlagen. 

"  Diplom,  eml.  az  Anjoukorböl  I.  300. 

*  Mm-alt  n.  Ü9f). 

"  Luccari  hält  diesen  Schwiegersohn  Philipps  für  einen  Schwindler  des  Namens 
Nikolaus  Sapina,  Sohn  eines  ragusanisclieii  Krämers.  Zai-  Johann  SiSnian  III.  soll  ihn 
durch  seinen  (Sapiua's)  Kanzler  oder  durch  seine  Konkubine  Dunava  haben  vemften 
lassen  (1372). 


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atiOBSBli    ZUB  BULGARiaOHBN   ZABBN-dHNEALOOl^.  ^^^ 

Zeitlang  befehdete  Belaur  seinen  Neffen^  den  Zaren  Alexander,  dann  hören 
wir  nichts  mehr  von  ihm.  Seine  Familienverhältnisse  sind  anbekannt. 

c)   Zar  Johann   Alezander  Äsen. ^ 

Nach  äiäman'sIL  Vertreibung  wählten  die  Bulgaren  1331  den  Johann 
Alexander  zum  Zaren,  der  sich  nach  seiner  Tronbesteigung  den  Namen  Äsen 
beifügte.  Wie  wir  wissen,  hatte  Zar  Michael  IL  eine  Schwester  Kerata.  Diese 
war  an  einen  bulgarischen  Despoten,  genannt  Stracimir  vermählt  und  führte 
als  Nonne  den  Namen  Theophania.^ 

Hieraus  dürfen  wir  also  schliessen,  dass  sie  nach  ihrem  Gatten  Stra- 
cimir gestorben.  Dies  ist  aber  auch  Alles,  was  wir  über  die  Chronologie  dieses 
Paares  wissen.  Aus  dieser  Ehe  stammen  zwei  Söhne  und  zwei  Töchter:  Zar 
Alexander,  Johann  As^n,  Helene  und  eine  Anonyma. 

Alexander's  Regierungsantritt  inaugurirte  eine  Goalition  Bulgariens, 
Serbiens  und  der  Walachei  gegen  Ungarn  und  Byzanz.  1333  besiegte  er  die 
Griechen.  1341  mischte  er  sich  in  die  Tron- Aspirationen  Johann  Eanta- 
kuzen's.  Unter  ihm  begannen  schon  die  Türken  ihre  Arme  nach  Bulgarien 
auszustrecken.  Sein  Tod  fällt  wahrscheinlich  ins  Frühjahr  1365;^  seine 
Leiche  wurde  in  dem  Marienkloster  zu  Stenimachos  beigesetzt. 

Er  war  zweimal  vermählt. 

a)  Mit  Theodora,  Tochter  des  Rumänenfürsten  Ivanko  Bassaraba.  Nach 
Jire^ek  war  er  zur  Zeit  seiner  Tronbesteigung  (1331)  schon  mit  ihr  vermählt. 
Nach  ihrer  Yerstossung  ging  sie  in  ein  Kloster,  wo  sie  ihre  Tage  als  Nonne 
Theophana  beschloss. 

h)  Einmal  nahm  ein  schönes  Weib,  eine  Jüdin,  bei  Alexander 
Audienz.  Der  Zar  verliebte  sich  in  sie,  sie  nahm  das  Christentum  an 
und  wurde  ihm  als  tneu  erleuchtete  Zarin»  angetraut.  Das  Datum  der 
Trauung  ist  unbekannt.  Ebensowenig  kennen  wir  die  Eltern  und  den  Ge- 
burtsnamen dieser  Zarin.  Als  Christin  führte  sie  den  Namen  Theodora.  Der 
Pomenik  erwähnt  sie  folgendermassen :  t  Zarin  Theodora,  (Jattin  des  Zaren 
Alexander  Johann,  stammend  aus  hebräischer  Familie,  nahm  das  Christen- 
tum an,  hielt  die  rechtgläubige  wahre  Religion,  gründete  viele  Kirchen,  baute 
viele  Klöster  auf  .  .  .•  Ihre  sonstige  Geschichte  ist  unbekannt 

d)   Alexander^R   Geschwister. 

1.  Johann  Äsen  nKomnenos*,  Alexander's  Bnider,  war  als  Schwager 
des  Serbenkönigs  Duschan  dessen  Statthalter  in  ValonaundKanina.  Er  starb 

*  DasR  er  diesen  Namen  geführt,  ist  nrknndlich  bewiesen. 

*  Der  Pomenik  nennt  sie:  «Despotin  Kerata,  Mntter  des  Zaren  Alexander 
Johann,  als  Nonne  Theophana.» 

*  So  naoh  Jirecek.  Nach  Luccari  V,^i(\  nach  Orbini  1353,  nach  einer  rmnä- 
nischen  Chronik  1371,  nach  manchen  Anderen  1356.  Engel  acceptirt  1353. 

11* 


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164 


aLOSSBN   ZUR   BULGARISGHEN    ZARBN-GENBAIiOOlB. 


1356.  Seine  Gemahlin  war  Anna,  die  letzte  Despina  von  Epiros,  die  ihren 
ersten  Gemahl  durch  Gift  ans  dem  Wege  geräumt.* 

2.  Helene,  vermählt  1330 — 1331  an  den  Serbenkönig  Stefan  Duäan 
(s.mein  oben  zitirtes  ungarisches  Werk),  f  als  Nonne  EUsabeth. 

3.  Anonyma,  erwähnt  von  Nikephorlll.  148  und  Kantakuzen.  1356 — 
1357  verlangte  der  Despot  von  Epiros,  Nikephoros  IL,  der  Sohn  Johann'sIL 
und  der  Anna,  die  Schwester  Alexander's ;  wir  irren  wohl  nicht,  wenn  wir 
in  dieser  Anonyma  die  von  Nikephor  Geworbene  erkennen.  Nikephor's  Gkittin 
war  übrigens  seit  1340  Maria,  die  Tochter  des  Kaisers  Johann  Kantakuzenos. 
Nikephor  starb  1358. 

e)   Alezander's  Kinder. 

Aus  erster  Ehe : 

1.  Michael  Äsen.  Erstgeborener  Sohn  seines  Vaters,  seit  1337  zu 
dessen  Mitregenten  erklärt ;  er  starb  frühzeitig  und  soll  von  seiner  Stief- 
mutter vergiftet  worden  sein,  eine  Angabe,  die  sich  nicht  beweisen  lässt. 
Gelegentlich  des  zwischen  seinem  Vater  und  dem  Kaiser  Andronikos  IIL 
1337  geschlossenen  Friedens  wurde  er  im  Sinne  einer  von  Alexander  schon 
vordem  ausgesprochenen  Absicht  mit  des  Kaisers  Tochter  Maria  vermählt. 
Sie  war  die  Tochter  von  Andronikos'  zweiter  Gemahlin  Anna  (Johanna)  von 
Savoyen.  Die  Hochzeit  wurde  8  Tage  lang  in  Adrianopel  gefeiert. 

2.  Johann  Äsen  (IV.)  figurirt  um  1355  neben  seinem  Vater  auf  dem 
Concil  zu  Tirnova.  Von  ihm  besitzen  wir  eine  Urkunde  do.  1347;  auch  er- 
wähnt ihn  eine  griechische  Inschrift  in  Mesembria.  Auch  er  starb  vor 
seinem  Vater. 

3.  Johann  Stracimir.  Diesem  gab  Alexander  die  Landschaft  Widin, 
um  dort  als  selbstständiger  Zar  zu  regieren  (s.  f). 

Aus  zweiter  Ehe : 

1.  Zar  (Johann)  l^isman  IIL  (s.  g). 

2.  Maria.  Diese  heisst  im  Pomenik  «Bazilissa,  Tochter  des  Zaren 
Alexander  Johann •,  Nikephor  in.  557  nennt  sie  Maria;  Rakovski  (Asßn  101, 
ap.  Jire6ek  321)  nennt  sie  Kyratza.  Sie  ist  1346  geboren  und  wurde  1355 
mit  dem  im  selben  Jahre  geborenen  Prinzen  Andronikos,  dem  Sohne  de^ 
Kaisers  Johann  Palaiologos  vermählt.**  Dieser  suchte,  gestützt  auf  seine  bul- 
garischen Verwandten  zu  wiederholten  Malen  seinen  Vater  zu  stürzen.  Eine 


*  Jirecek  300.  Diese  Anna  kann  nach  meinem  Dafürhalten  nur  die  Gemahlin 
des  epirotisclien  DeRpoten  Johann  IT.  ans  dem  Hanse  Orsini  sein,  der  von  1323 — 1335 
regierte.  Anna  war  die  Tochter  des  Andronikos  Angelos,  eines  Sohnes  des  nns 
bekannten  Michael  (Deinetrins)  Kntrnles.  Andronikos  war  Protovestiar  und  starb  1326. 
**  Vertrag  vom  17.  August  1355  ap.  Miklosich  und  Müller,  Acta  patr.  I. 
Bakovski  Asdn  101. 


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GLOSSEN   ZUR  BULGARISCHEN    ZAREN- GENEALOGIE.  165 

Zeitlang  hatte  er  den  Kaisertron  als  Andronikos  IV.  inne  und  starb  am 
28.  Juni  1385.  Seine  Witwe  Eyratza  kommt  noch  1390  vor. 

Ausser  diesen  Kindern  kennen  wir  noch  folgende  Töchter  Alexander's, 
ohne  jedoch  zu  wissen,  von  welcher  seiner  Gattinnen  sie  geboren  wurden. 

1.  ThamaTf  nach  dem  Pomenik  (ap.  Wenzel)  Maria  Kerata;  nach 
jenem  bei  Bakovski  (AsSn  52)  Eyra  Thamar. 

Als  Zar  Johann  Sisman  (das  Jahr  ist  unbekannt)  vom  türkischen 
Sultan  Murad  I.  hart  bedrängt  wurde,  gab  er  demselben  seine  Schwester 
Thamar  zur  Gattin.  Da  das  Ereigniss  in  die  Begierungszeit  Sisman's,  also 
nach  dem  Tode  Alexander's,  fällt  und  der  Sultan  wohl  kein  Gelüste  nach  einem 
älteren  Mädchen  gehegt  haben  dürfte,  können  wir  getrost  Thamar  ah  Toch- 
ter der  zweiten  Gattin  Alexander's,  betrachten.  —  Der  Pomenik  ap.  Bakovski 
gedenkt  ihrer  folgendermassen  :  «Der  Kyra  Thamar,  der  Tochter  des  grossen 
Zaren  Johannes  Alexander,  der  grossen  Frau,  welche  dem  grossen  Amir 
Amurat  für  das  bulgarische  Volk  gegeben  wurde,  und  als  seine  Gtemahlin 
sowohl  den  christlichen  Glauben  bewahrte,  als  auch  ihr  Volk  rettete,  gut 
und  fromm  lebte  und  im  Frieden  verschied,  —  es  sei  ihr  ein  ewiges  An- 
denken». Die  Erinnerung  an  sie  lebt  noch  heute  fort  in  dem  bulgarischen 

Volksliede : 

•Gar  Morat  Mari  dumaäe : 

Maruljo,  bela  Bulgarko !» 

Die  «weisse  Bulgarin»  Mara,  so  wird  in  demselben  erzählt,  habe  sich 
von  Murad  die  Sophienkirche  und  Galata  in  Konstantinopel,  die  üzun- 
carsia  in  Adrianopel,  die  weissen  Städte  am  Meere  und  die  Burgen  längs 
der  Donau  erbeten.  Murad  jedoch  habe  ihr  statt  der  Sophienkirche  eine 
Moschee  voll  Silberleuchter  angeboten.  Sie  aber  wollte  keine  Moschee  und 
wies  das  Anerbieten  mit  den  Worten  zurück:  «Teuer  ist  mir  mein  Glaube, 
eine  weisse  Kadina  (türkische  Frau)  mag  ich  nicht  werden.»  * 

2.  Descislava.   Von  dieser  Prinzessin  kennen  wir   nur  den  Namen 

(Pomenik). 

f)  Johann   Straöimir. 

Auf  seinen  Münzen  heisst  er  «Ivan  Stracimir  blagovemyj  car  Blgarom.» 
Er  regierte  als  selbstständiger  Zar  in  Widin.  Im  Sommer  1365  eroberte 
Ludwig  I.  von  Ungarn  Widin,  nahm  Stracimir  sammt  dessen  Gemahlin 
gefangen  und  hielt  ihn  vier  Jahre  lang  auf  der  Burg  Gumnik  in  Kroatien 
gefangen.  1369  setzte  sich  Stracimir  mit  Hilfe  seines  Bruders  und  Schwagers 
wieder  in  Widin's  Besitz.  1388  musste  auch  er  sich  der  Türkenherrschaft 
ergeben.  1396  ergab  er  sich  dem  Könige  Sigmund  von  Ungarn,  als  dieser  an 
der  Spitze  eines  gewaltigen  Heeres  gegen  Gross- Nikopolis  zog.  Sigmund's 
Niederlage  führte  auch  Stracimir's  Ende  herbei.   Wir  besitzen  hierüber  nur 

*  Jirecek  326. 


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(1^  GLOSSEN   ZUR   BULGARISCHEN    ZAREN-GENEALOGIE. 

eine  kurze  Notiz  in  den  serbischen  Annalen  ^ :  «Im  Jahre  6906  (1398)  führte 
Zar  Bajazit  den  Zaren  Stracimir  aus  Bdyn  heraus.  • 

Stracimir's  Gemahlin  war  die  Tochter  des  walachischen  Wojwoden 
Alexander  und  dessen  Gemahlin  Klara. '^ 

Aus  dieser  Ehe  kennen  wir  zwei  Kinder : 

a)  Konstantin,  Mitregent  seines  Vaters  ^  floh  nach  der  türkischen  In- 
vasion erpt  nach  Ungarn,  später  nach  Serbien,  wo  er  —  vom  Serbenfürsten 
Stefan  Lazarevics  beweint  —  am  16.  September  1422  (zu  Belgrad)  starb. 

b)  Dai'othea  (Doroslava),  vermählt  um  1376 — 1378  mit  dem  Könige 
Stefan  Tvrtko  I.  von  Bosnien  *  Sie  starb  vor  1382. 

g)   Zar  (Johann)   Sisman   IIL 

Sohn  Alexander's  aus  aweiter  Ehe.  Obgleich  er  viel  jünger  als  Stracimir 
war,  bestimmte  ihn  Alexander  dennoch  zum  Tronfolger.  Nach  dem  Tode 
seines  Vaters  folgte  er  (mit  dem  Sitze  in  Timova)  als  Herr  des  Mittellandes 
Bulgariens.  Den  Anfang  seiner  Regierung  eröfifnete  er  mit  Gefangennahme 
des  Kaisers  Johann  Palaiologos,  musste  ihn  aber  auf  die  bewaffnete  Inter- 
vention Amadeus'  VI.  von  Savoyen  bald  wieder  freigeben.  Gleich  darauf  be- 
gannen die  Keibungen  mit  den  Türken  und  Ungarn.  1388  zogen  die  Türken 
von  Adrianopel  auf  und  rückten  gegen  Norden.  Timova  ergab  sich  nach  kur- 
zem Widerstände.  Sisman  schloss  sich  in  Gross-Nikopolis  ein,  musste  aber 
mit  dem  persönlich  heranrückenden  Sultan  Murad  Frieden  schhessen.  Als  er 
aber  nach  Murad's  Abzüge  noch  einmal  verzweifelten  Widerstand  leisten 
wollte,  belagerte  ihn  der  Grossvezier  Ali  Pascha  zum  zweiten  Male  in  Niko- 
polis.  Der  unglückliche  Zar  soll  mit  Frau  und  Kindern  dem  Grossvezier  zu 
Füssen  gefallen  sein  und  um  Gnade  beim  Sultan  gebeten  haben.   Sie  wurde 

^  äafarik,  Pam&tky  74  ap.  Jirecek  356. 

'^  Nach  einem  päpstlichen  Schreiben  an  die  Wojwodin  Klara  ap.  Theiner  Mon. 
Hung.  II.  95,  98  do.  19.  Jänner  1370  und  nach  einem  ChrysobiiUon  des  Woj- 
woden Mirca,  stellt  sich  der  Stammbaum  Alexandei-s  folgendermassen  dar: 

Wojwode  Alexander 
Gem.  1.  N.  N.  2.  Klara,  katholiaoh. 

I.  Wladislav  (Vlajko),  Johann  Badul.  2.  Toohter  2.  Ancha' 

orientaUsch.  i  1370  kathoUsoh.  1370  orientalisch, 

STl^^i löhi^  Jöhi^  ^"^^^    W*IS?n°^'  '"^^"^     ^'^'^•• 

Gem.  Zar  Urosch  V.  Dan.  Mirca.  ^^^  ^^^*^ 

Yon  Serbien. 

^  Joasaph,  MetropoUt  von  Widin  (ap.  Golubinski  224-)  nennt  ihn  cMladyj  oar» 
(=  junger  Zar). 

*  Ducange  spricht  von  zwei  Töchtern  Stracimir's,  nennt  aber  nur  die  eine 
Dorothea. 

•  1370  war  VlkaÄin  König  von  Serbien.  Nach  einer  Urkunde  do  1370  ap.  Miklosloh 
180  heisst  seine  Gattin  fKralica  Kyr.  Aldnat.  Nach  Ljubic  wäre  Ancha  des  Zaren  Urosoh 
Frau  gewesen. 


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GL08SBN    ZUR    BULGARISCHEN    ZAREN -GENEALOGIE.  1Ö7 

ihm  gewährt  und  er  blieb  vorläufig  (1388)  noch  auf  seinem  Trone.  Am  17. 
Juli  1393  wurde  Timova  schliesslich  dennoch  von  den  Türken  erstürmt  Sis- 
man*8  Schicksal,  der  damals  von  Tirnova  abwesend  war,  ist  in  Dunkel  gehüllt. 

Nach  türkischen  Berichten  habe  er,  in  ein  Todtenhemd  gekleidet,  um 
Gnade  gebeten,  sei  zu  Philippopel  eingekerkert,  nach  einer  Version  hin- 
gerichtet, nach  der  anderen  am  Leben  gelassen  worden.  Nach  dem  Zeit- 
genossen Bchiltberger  wäre  er  mit  seinem  Sohne  von  Bajezid  gefangen  wor- 
den und  im  Gefängnisse  gestorben.  Kussische  Quellen  bestätigen  die  Ge- 
fangennahme ;  eine  rumänische  Chronik  sagt,  dass  Bajezid  den  Sisman, 
Herrn  der  Bulgaren,  im  Jahre  6903  gefangen  genommen  und  getödtet  habe. 
Nach  bulgarischen  Sagen  fand  er  jedoch  seinenTod  auf  dem  Schlachtfelde.  * 

Sisman^s  Gemahlinen  waren : 

1.  Maria,  Tochter  der  Descislava.  Die  Fassung  des  Pomenik,  der  di^se 
Zarin  Maria  erwähnt,  lässt  nicht  deutlich  verstehen,  ob  Maria  oder  ihre 
Mutter  «in  Engelgestalt t  den  Namen  Debora  geführt. 

!2.  Despinay  eine  Tochter  des  Fürsten  Lazar  I.  von  Serbien. 

Von  Sisman's  Kindern  kennen  wir  folgende  ; 

1.  Alexander.  Nahm,  um  sein  Leben  zu  retten,  den  Islam  an,  und 
wurde  Statthalter  in  Klein- Asien.  Durch  Sultan  Mohammed  I.  erhielt  er  als 
Lohn  für  die  Beaiegung  des  Teilfursten  D^uneid  die  Verwaltung  Smyma's. 
1418  wurde  er  gegen  des  Fanatikers  und  Beformators  Mahmud  Bedreddin 
Anhänger  ausgesandt,  um  sie  zu  bezwingen,  er  fand  aber  mit  seiner  ganzen 
Armee  in  den  stylarischen  Schluchten  seinen  Tod  unter  den  Schwertern  der 
fanatischen  Bebellen. 

:2.  Fruzin  floh  zu  König  Sigmund  von  Ungarn,  bei  dem  er  Schutz  und 
Unterstützung  fand.  Engel  465  teilt  eine  Urkunde  Sigmund 's  mit,  die  fol- 
genden auf  Fruzin  bezüglichen  Passus  enthält :  « Attentis  et  in  animo  nostrse 
considerationis  sedula  meditatione  pensitatis  fidelitatibus  et  fidelium  servi- 
tiarum  digne  attoUendorum  meritis  et  synceris  complacentiis  fidelis  nostri 
dilecti,  Magnifici  Fruschin,  filii  quondam  Susman  Imperatoris  Bulgarorum, 
quibus  idem  in  nonnuUis  nostris  et  regnorum  nostrorum  arduis  expeditioni- 
bus,  sicuti  prosperis,  ita  etiam  adversis,  contra  Turcas  aliosque  Grucis  Chri- 
sti et  nostros  inimicos  laboribus  sudorosis,  plerumque  pro  nostri  regü  honoris 
exaltatione  et  incremento  viriliter  infudantem  seque  et  bona  sua  diversis 
fortuna'  casibus,  summo  alacrique  fidelitatis  fervore  studuit,  et  ipsum  in 
antea  non  haesitamus  velle  complacere.  Cupientes  itaque  pramissorum  Me- 
ritorum  suorum  contemplatione  sibi  nostrse  Majestatis  benevolentiam  osten- 
dere  favorosam  quandam  possessionem  nostram  N.  vocatam  in  Gomitatu 
Tbemessiensi  sitam  cum  Gastello  in  eadem  habito,  cunctisque  villis,  seu 
possessionibus  ad  eandem  pertinentibus,  ipsiusque  et  earundem  utilitatibus 

*  VgL  Jirecek  350,  351,  352. 


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168  DIE   FRANZ  JOSEF-BRÜCKE   BEI   PRESSBÜRG. 

et  pertinentiis  quibuslibet,  quovis  nominis  vocabulo  vöcitatur  ad  ipsum  et 
easdem  de  jure  spectantibus  eidem  Frusyn  pro  deBcensu  duximus  daudum 
et  concedendum,  imo  damus  donamus  et  conferimus  prsesentium  per  tenorem 
possidere,  tenere  pariter  et  habere.  Salvo  jure  alieno.  Harum  nostrarum 
vigore  et  testimonio  literarum  mediante.  Datum  in  Feldwar  partium  uostra- 
riun  Transsilvanarum.»  Leider  gibt  Engel  nicht  das  Datum  der  Urkunde. 

In  der  altserbischen  Biographie  des  Fürsten  Stefan  Lazarevics,  die 
einen  Augenzeugen  zum  Verfasser  hat*,  heisst  es,  dass  um  1405  sich  die 
Städte  Bulgariens,  über  Aufwiegelung  der  Söhne  der  bulgarischen  Zaren, 
gegen  die  Türken  empörten,  doch  gelang  es  dem  Sultan  Soliman,  die- 
selben zu  bezwingen.  Im  Sinne  des  uns  bisher  Bekannten  können  unter 
diesen  Söhnen  der  bulgarischen  Zaren  nur  die  beiden  Vettern  Konstantin 
und  Fruzin  gemeint  sein. 

3.  Kerata. 

4.  Herrin  Maria,  «rechtgläubige  Zarin,  Tochter  des  grossen  Zaren 
Jobann  Sisman»  («Kyr  Maria»).  Dr.  Moriz  Wertner. 


DIE  FßANZ  JÜSEF-BKÜCKE  BEI  PEESSBÜßG. 

Am  vorletzten  Tage  des  abgelaufenen  Jahres  hat  die  feierliche  Erö&ung 
der  neuen  ständigen  Donaubrücke  bei  Pressburg  in  Anwesenheit  Sr.  Majestät  des 
Königs  und  der  Spitzen  der  Regierung  stattgefunden.  Im  Folgenden  geben  wir 
zunächst  in  kurzer  Uebersicht  die  Vorgeschichte  der  neuen  stabilen  Brücke,  die 
den  Namen  Franz -Josef-Brücke  führt. 

Schon  im  Jahre  1838,  als  es  sich  um  die  Herstellung  der  Eisenbahn  von 
Wien  nach  Raab  handelte,  beabsichtigte  man,  dieselbe  über  Pressburg  zu  führen  t 
es  fanden  auch  bezügUch  der  Herstellung  einer  sowohl  von  der  Bahn,  als  auch 
von  gewölmUohen  Fuhrwerken  zu  benützenden  Brücke  Verhandlungen  statt ;  die- 
selben führten  aber  nicht  zum  Ziele  und  die  erwähnte  Eisenbahn  wurde  vom 
rechten  Ufer  über  Brück  an  der  Leitha  geführt. 

Im  Jahre  187:2  projectirte  die  Waagtalbahn  für  ihre  Linie  Pressburg- 
Oedenburg  eine  nächst  der  Tuchfabrik  auszuführende  Brücke  über  die  Donau. 
Lange  Verhandlimgen  führten  wohl  zu  bestimmten  Entschlüssen,  aber  trotzdem 
blieb  die  Brücke  unausgebaut,  weil  inzwischen  die  Gesellschaft  in  grosse  finan- 
zielle Bedrängniss  geriet  imd  auf  den  Ausbau  der  Linie  Pressbiu-g-Oedenburg 
verzichten  musste. 

Nun  versuchte  es  die  Stadt,  eine  Brücke  für  den  Landverkelir  aus  eigener 
Initiative  zu  Stande  zu  bringen ;  durch  den  Wiener  Ingenieur  Frey  wmde  im 
Jahre  1880  ein  Project.  für  eine  Strassenbrücke  vorgelegt.  Die  Stadtrepräsentanz 
beschloss  die  Durohführimg  dieses  Projects,  wenn  der  Staat  die  den  Betrag  von 

*  Konstantin,  den  Philosophen,  einen  Bulgaren  aus  Eostenec. 


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DIB   FRANZ  JOSEF- BRÜCKE    BEI   PRESSBURG.  169 

600,000  fl.  übersteigenden  Baukosten  decken  würde ;  die  Begiening  lehnte  aber 
diese  Zumutung  ab  und  es  blieb  wieder  beim  Alten. 

Im  Jahre  1887  hatte  der  k.  und  k.  FML.  Dunst  die  Vorkonzession  für  eine 
Localbahn  von  Pressburg  nach  Oedenburg  erhalten  und  er  suchte  die  Bahnbrücke 
mit  einer  stabilen  Communication  für  gewöhnliches  Fuhrwerk  zu  verbinden.  Allein 
auch  Herr  v.  Dunst  musste  auf  die  Durchführung  seines  Planes  verzichten,  da  die 
Capitalisten,  welche  das  Geld  für  die  Bahn  und  die  Brücke  hergeben  sollten,  au 
den  Staat  solche  Anfordeiomgen  stellten,  denen  derselbe  nicht  entsprochen  wollte 
Inzwischen  hatte  der  damalige  Communications-Minister  Gabriel  v.  Baross  die 
Angelegenheit  gründlich  kennen  gelernt  und  er  beschloss,  im  Falle  die  königliche 
Freistadt  Pressburg  auf  ihr  Mautrecht  zu  Gunsten  des  imgarischen  Staates  Ver- 
zicht leiste,  den  erforderlichen  Grund  und  Boden  für  die  Brücke  und  die  Zufahrts- 
rampen unentgeltlich  zu  überlassen  und  die  Brücke  auf  Staatskosten  auszubauen. 
Dem  Entschlüsse  folgte  auch  sofort  dieThat.  Es  wurden  zwei  inländische  Brücken- 
bau-Unternehmungen, nämlich  die  Firma  Gregersen  in  Budapest  und  der  Inge- 
nieur und  Unternehmer  Franz  Julius  Cathry,  zur  Einreichung  von  Projecten  und 
Offerten  aufjgefordert,  femer  mit  der  königl.  Freistadt  Pressburg  in  dem  obigen 
Sinne  ein  definitives  Abkommen  getroffen.  Im  Oktober  1888  wurde  Cathry 's  Offert 
angenommen. 

Gathiy  hatte  bereits  im  März  1889  die  Vorbereitungen  für  den  Bau  im 
grossen  Masstabe  begonnen.  Am  12.  August  wurde  der  erste  Caisson  in  die  Finten 
der  Donau  versenkt,  am  20.  das  Sclüff,  welches  die  Dampfmaschinen  und  Luft- 
pressen trug,  die  nunmehr  Monate  hindurch  den  tief  unter  dem  Wasserspiegel 
schaffenden  Arbeitern  die  Luft  zum  Atlimen  zuzuführen  und  das  Wasser  aus  der 
Arbeitskammer  zu  verdrängen  hatten,  durch  den  Abt  und  Stadtpfarrer  Bimely 
eingesegnet  Von  da  ab  wurde  Tag  und  Nacht  ununterbrochen  über  und  unter  dem 
Wasser  bis  zu  Weihnachten  fortgearbeitet;  am  1.  Jänner  1890  waren  die  Wider- 
lager an  beiden  Ufern,  dann  zwei  Strompfeiler  auf  der  Auseite  und  ein  Strom- 
pfeiler auf  der  Stadtseite  fertig  fundirt  imd  bis  über  den  gewöhnlichen  Wasser- 
stand heraufgereutet,  überdies  der  grösste  Teil  des  Bedarfes  an  Bausteinen  bei- 
gestellt. In  den  folgenden  Monaten  ging  die  Arbeit  flott  von  Statten.  An&ngs  Juli 
wurde  die  Pilotirung  für  das  Genist  der  grossen  Mittelöffnung  begonnen,  doch 
wurde  ein  rasches  Vorwärtskommen  durch  den  fortwährenden  hohen  Wasserstand 
und  die  grosse  Geschwindigkeit  des  Wassers  wesentlich  verhindert.  Um  diese  Zeit 
ging  das  Programm  des  Unternehmers  dahin,  die  Brücke  sammt  allen  Neben- 
arbeiten bis  Ende  October  zu  vollenden.  Der  alte  Danubius  war  aber  mit  einer 
so  raschen  und  glatten  Bezwingung  seiner  bisher  unbeschränkt  ausgeübten  Macht 
nicht  einverstanden ;  während  es  in  Ungarn  grösstenteils  heiter  und  trocken  war, 
regnete  es  in  den  Monaten  Juli  und  August  in  Oberösterreich  und  Tirol  ohne 
Unterlass ;  die  Nebenflüsse  der  Donau  wurden  zu  reissenden  Strömen  und  führten 
der  Donau  grosse  Wassermassen  zu,  so  dass  sie  die  für  die  Sommermonate  ausser- 
gewöhnliche  Höhe  von  4  bis  4Vs  Meter  erreichte.  Dabei  hatte  der  Strom  eine  Ge- 
schwindigkeit von  i — 4V»  Meter  per  Sekunde  erreicht.  —  Das  Montirungsgerüst 
der  grossen  Mittelö&ung  der  neuen  Brücke  hatte  bis  jetzt  dem  ungeheuren 
Wasserstande  widerstanden,  obwohl  die  Montirung  eben  bei  Eintritt  des  Hooh- 


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170  DIB   FRANZ- JOBEF-BRÜOKE   BEI  PRBSSBURG, 

waesers,  Ende  August,  begonnen  worden  war  und  nur  das  verhältnissmässig  geringe 
Gewicht  von  1 300  Meterzentner  Eisen  dasselbe  beschwerte.  Nun  erreichte  der 
Wasserspiegel  die  unerhörte  Höhe  von  5*/i  Meter ;  da  beobachteten  die  Ingenieure, 
dass  die  ursprünglich  in  vollkommen  gerader  Linie  auf  dem  Gerüste  znsammen- 
gefalzte  Eisenconstruction  eine  kleine  Ausbiegung  stromabwärts  zeigte ;  es  konnte 
dies  nur  von  einem  Nachgeben  oder  Verschieben  des  Gerüstes  stammen  und  man 
verbuchte  der  Bewegung,  welche  von  Stunde  zu  Stunde  stärker  wurde,  durch  Ver- 
ankerungen und  Belastung  mit  Steinen  entgegenzutreten ;  allein  der  Strom  wollte 
sein  Opfer  haben  und  erhielt  es  auch.  Am  7.  September,  5  Uhr  Früh  gab  das 
Gerüst  bei  einem  Wasserstande  von  6  M.  25  Cm.  über  Null  dem  ungeheuren  Drucke 
nach  und  versank  sanmat  den  darauf  bereits  montirten  Eisenteilen  im  Gewichte 
von  180,000  Kilogramm  in  den  Fluten  des  brausenden  Stromes!  —  Ein  Schrei 
des  Entsetzens  drang  durch  die  ganze  Stadt,  man  glaubte  nun,  die  VoUendimg 
der  Brücke  sei  wieder  auf  viele  Monate  hinausgerückt;  Unternehmer  Cathry 
hatte  aber  bereits  vor  Eintritt  der  nicht  mehr  abzuwendenden  Katastrophe  die 
Folgen  derselben  ins  Auge  gefasst,  sich  das  Holz  für  die  Wiederanlegnng  des 
Gerüstes  sichergestellt  und  war  entschlossen,  auf  die  Wiederverwendung  der  ins 
Wasser  gestürzten  Eisenteile  zu  verzichten.  Am  8.  September  wendete  er  sich 
persönlich  an  den  Handelsminister  Baross  und  bat  um  dessen  Unterstützung, 
damit  die  staatlichen  Eisenwerke  in  möglichst  kurzer  Zeit  den  Ersatz  für  die 
vom  Wasser  verschlungenen  Brückenteile  liefern ;  diese  Unterstützung  wurde  ihm 
auch  zuteil. 

Inzwischen  trat  der  bis  zur  Höhe  von  6  M.  75  Gm.  angeschwollene  Strom 
nur  sehr  langsam  in  sein  normales  Bett  zurück,  so  dass  erst  Anfangs  October  bei 
noch  sehr  hohem  Wasserstande  mit  dem  Schlagen  der  Joche  begonnen  werden 
konnte ;  das  Gerüst  wurde  aber  dennoch  in  etwa  drei  Wochen  hergestellt ;  Ende 
October  begann  man  neuerdings  mit  dem  Aufbringen  und  Zusammenstellen  der 
Eisenconstruction.  Gegen  den  20.  November  war  man  damit  soweit  vorgerückt, 
dass  sich  die  Brückenträger  schon  selbst  zu  tragen  vermochten  und  daher  ein  all- 
fällig  eintretender  Eisstoss  nicht  mehr  gefahrlich  werden  konnte.  Unterdessen 
waren  auch  sämmtUche  übrigen  Arbeiten  sowohl  an  der  Brücke  selbst  als  auch  bei 
den  Zufahrtsrampen  soweit  vorgeschritten,  dass  man  für  die  gänzliche  Vollendung 
einen  bestimmten  Tag  in  Aussicht  nehmen  und  für  den  22.  Dezember  die  Vor- 
nahme des  technisch-poHtischen  Augenscheines  ansetzen  konnte.  Am  9.  Dezember 
begannen  unter  der  Leitung  des  Sectionsrathes  ^ltet6  die  Probebelastungen  und 
dauerten  fast  ununterbrochen  bis  zum  20.  Dezember,  weil  jede  OefiEnung  für  sich, 
und  zwar  unter  zwei  Voraussetzungen  —  Belastung  des  Fahrweges  allein  und 
gleichzeitige  Belastung  des  Fahrweges  und  des  Gehsteges —  geprüft  werden  musste. 
Die  Resultate  der  Probebelastung  waren  aussergewöhnlich  günstige  und  lieferten 
ein  glänzendes  Zeugniss  sowohl  für  die  richtige  Protection  als  für  die  exacte  Aus- 
fülirung  der  ganzen  Eisenconstruction.  Am  22.  Dezember  fand  der  Augenschein 
statt,  bei  welchem  protokollarisch  ausgesprochen  wurde,  dass  die  Brücke  und 
sämmtliche  Nebenarbeiten  vollendet  und  anstandslos  dem  öffentlichen  Verkehre 
übergeben  werden  können. 

Der  neue  Donauübergang  bei  Fressburg  besteht  aus  drei  Teilen  und.ewar : 


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DIE   FRANZ  JOSEF^BBÜOEE   BEI   PKBS6BÜRG. 


171 


aus  der  Pressborger  Zufohrterainpe,  aus  der  eigentlichen  Donaabrücke,  aus  der 
Abfahrtsrampe  in  der  Au  und  der  Ligeter  Strasse.  Die  Länge  der  Pressburger 
Rampe  beträgt  l!20  Meter,  jene  der  Brücke  selbst  zwischen  Parapet- Anfang  und 
Parapet-Ende  465  Meter,  die  Länge  der  Ligeter  Rampe  und  Sti-asse  820  Meter, 
daher  die  ganze  Baulänge  1405  Meter.  Beide  Rampen  haben  eine  Breite  von 
13  Meter.  Die  linksufrige  Rampe  ist  mit  eisernen,  die  rechtsufrige,  sowie  die  Ligeter 
Strasse  mit  harthölzemen  Geländern  versehen. 

Die  Donaubrücke  ist  in  ihrem  Unterbaue  derart  angelegt,  dass  auf  den  Pfei- 
lern ausser  der  gegenwärtig  bereits  hergestellten  Fahrbahn  für  gewöhnhches  Fuhr- 
werk und  dem  Gehwege  für  Fussgänger  auch  noch  eine  zweite  Brückenconstruction 
zur  Legung  eines  Eisenbahngeleises  Platz  findet.  Es  bestehen  ^  Widerlager,  1  Ufer- 
pfeiler auf  der  Pressburger  Seite,  5  Strompfeiler  und  7  vollständig  von  einander 
getrennte  Brückenconstructionen  aus  Eisen.  Die  ganze  Länge  der  Eisenconstruc- 
tion  misst  460*4  Meter.  Als  Unterlage  für  die  Eisenconstruction  dienen  Granit- 
quadem,  welche  durchwegs  70  Cm.  hoch,  1*20  bis  1*50  breit  und  1'60  bis  180  M. 
lang  sind  imd  von  welchen  die  grössten  Stücke  ein  Gewicht  von  50  bis  60  Meter- 
zentner haben.  Zum  gesammten  Brückemmterbau  und  für  die  Uferschutzbauten 
wurden  folgende  Materialquantitäten  verbraucht:  Etwa  16,000 Kubikmeter  Bruch- 
steine aus  den  Granitbrüchen  von  Pressburg,  Earlsdorf,  Berg-  und  Wolfsthal,  circa 
1460  Kubikmeter  Quader-  und  Haokelsteine  aus  denselben  Brüchen,  circa  1289 
Kubikmeter  Qiiader-  imd  Hackelsteine  aus  den  Steinbrüchen  von  Theben- 
Neudorf,  circa  1350  Kubikmeter  Quadern  von  Neuhaus-Mauthhausen,  circa 
13,000  Meterzentner  Romancement  von  Sattel-Neudorf,  circa  1200  Meterzentner 
Portlandcement  von  diversen  Fabriken. 

Die  neue  Brücke  ist  auch  von  grosser  strategischer  Bedeutung.  Die  wich- 
tigste Donaustrecke  für  unsere  Monarchie  ist  jene  zwischen  Wien-Budapest,  denn 
sie  bildet  die  Centralbasis  für  jede  Operation,  und  die  letzte  Verteidigungslinie 
in  jedem  Kriege.  Als  nächster  stabiler  Donauübergang  abwärt«  von  Wien  besitzt 
Pressburg  vermöge  seiner  Nähe  zu  Wien  (zwei  Märsche)  imd  den  daraus  bei  der 
Verteidigung  der  Donau  resultirenden  innigen  Wechselbeziehungen  zum  Gentnim 
der  Monarchie  eine  in  allen  Kriegsfallen  hervorragende  mihtänsche  Bedeutung. 
Die  Lage  des  Punktes  bringt  es  mit  sich,  dass  Pressburg  alle  wichtigen,  aus  dem 
March-  und  Waagtale  zur  Donau,  und  alle  zwischen  der  Donau  und  dem  Neu- 
siedler-See führenden  Communicationen  vereinigt,  beziehungsweise  beherrscht. 
Jeder  von  Norden  oder  Süden  her  der  Donau  sich  nähernde  Gegner  wird  ange- 
sichts der  im  befestigten  Lager  bei  Wien  stehenden  eigenen  Armee  schon  durch 
den  Zug  der  Communicationen  auf  den  Uebergangsversuch  bei  Pressburg  hinge- 
wiesen (so  1805,  1809  und  1866).  Es  ist  klar,  dass  der  neue  stabile  Uebergang  in 
der  Basis  befestigt  werden  muss,  um  die  Verbindung  mit  dem  Hinterlande  auf- 
rechtzuerhalten, hauptsächlich  aber,  um  sich  da  den  Uferwechsel  auch  im  An- 
gesichte des  Feindes  sichern  zu  können.  Ein  befestigtes  Pressburg  ist  als  Eisen- 
bahn-, Wasser-  und  Landstrassen-Knotenpunkt  berufen,  in  allen  Kriegsfallen  eine 
hervorragende  Rolle  zu  spielen. 

Die  Herstellung  der  neuen  Brücke  hat  zu  einer  interessanten  Gelegenheits- 
schrift Veranlassung  gegeben,  in  welcher  Dr.  Johann  Kiräly  die  Geschichte  des 


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172  DIB  FRANZ  JOSEF-BRÜCKE   BEI   PRESSBURG. 

Pressburger  Maut-  und  Urfalirrechtes  behandelt.  *  Diese  interessante  Schrift,  ein 
Product  Üeissiger  und  intelligenter  Quellenforschungen,  gibt  sich  lediglich  als 
eine  Chronik,  in  welcher  Alles,  was  auf  die  Entwicklung  des  Pressburger  Brücken- 
wesens  Bezug  hat,  verzeichnet  ist.  Aber  die  Schrift  ist  bei  all  ihrer  Anspruchs- 
losigkeit weit  mehr,  als  sie  selbst  scheinen  will.  Sie  stellt  sich  dar  als  ein  Sttick 
nationaler  Geschichte,  als  ein  Bild  von  acht  Jahrhunderten  ungarischen  Lebens, 
aus  der  Pressburger  Vogelperspective  betrachtet.  Das  ürfahr-  und  Mautrecht  in 
der  altehrwürdigen  Stadtgemeinde  Pressburg  steht  im  Mittelpunkte  des  Werkes 
als  fixer  Punkt  im  reichbewegten  Wandel  der  Ereignisse.  Und  wir  sehen  an  diesem 
Pimkte  eine  Epoche  imi  die  andere  vorüberrauschen  :  die  Ai-päden-Zeit,  in  welcher 
der  Grund  zu  der  tausendjährigen  Institution  des  Pressburger  ürfahrs  gelegt 
worden  ist ;  die  Aera  der  Anjous,  welche  diese  Institution  zu  raschem  Aufblähen 
gebracht  Imt;  das  Jahrhundert  der  Könige  aus  gemischten  Häusern,  *in  welchem 
die  kluge  und  patriotische  Bürgerschaft  von  Pressburg  dieser  Stadt  zu  hohem  An- 
sehen verholfen  und  ihre  Donaubrücke  gewissermassen  zu  einem  geschichtlichen 
Factor  erhoben  hat ;  die  Habsburgische  Epoche  endlich,  in  der  die  Stadt  Pressburg 
und  ihre  Brücke  in  drei  grossen  Kriegen  (in  dem  Feldzuge  gegen  die  Türken,  in 
den  napoleonischen  Kriegen  und  in  den  1866er  Kämpfen)  eine  bedeutende  strate- 
gische Bolle  gespielt. 

Das  Pressburger  ürfahr  ist  so  alt  wie  das  ungarische  Königtum.  König 
Stefan  der  Heilige  hat  in  seiner  Urkunde  betreffend  die  Stiftung  der  Martinsberger 
Abtei  schon  im  Jahre  1001  das  Donau-Urfahr  bei  Pressburg  als  Beneficium  diesem 
Stifte  verliehen.  Später  teilten  sich  in  diese  Einkünfte  der  Graf  von  Pressburg  und 
die  Piliser  Abtei,  sowie  das  Graner  Erzbistum,  welch'  letzterem  ein  Zehntel  des 
gesammten  Einkommens  zugesprochen  war.  Wahrscheinlich  befand  sich  die 
Ueberfuhr  in  diesen  Zeiten  unterhalb  des  Sclilossberges  in  der  heutigen  Press- 
burger Theresienstadt,  wie  dies  aus  einer  Urkunde  des  Königs  B61a  lY.  aus  dem 
Jahre  1 254  hervorgeht,  durch  welche  dem  Abte  Johannes  von  Pills  das  Eigen- 
tumsrecht auf  den  von  demselben  erbauten  Wasserturm  in  Vepricz  (Wödritz) 
zugesichert  wird.  Was  diesen  Wasserturm  betrifft,  so  mag  er  wohl  ein  Vorwerk 
des  befestigten  Schlosses  gewesen  sein,  doch  weist  ja  schon  seine  Benennung 
darauf  hin,  dass  er  in  irgend  einem  Zusammenhange  mit  dem  Ürfahr  gestanden 
sein  muss.  Im  Jahre  1 306  schenkte  der  Erzbischof  von  Gran  seinen  Anteil  vom 
Einkommen  aus  dem  Pressburger  Maut-  und  Urfahrrecht  dem  Domprobste  und 
dem  Capitel  zu  Pressburg,  um  deren  schwache  Dotation  zu  erhöhen.  Bald  nach- 
her treten  aber  merkwürdigerweise  auch  Privatpersonen  als  Inhaber  von  Anteilen 
an  den  Ürfahr-  und  Mautgerechtsamen  auf.  So  verkauft  im  Jahre  1 37 1  Elisabeth 
Barthö  yhren  Anteil  an  der  Wödritzer  Maut  an  einen  sichern  Slaginkauf.  Vier 
Jahre  später  vermacht  •  Hanns  der  PoUe,  Purger  zu  Pressburg t,  seinem  Sohne 
Andreas  ^sein  Ürfahr  an  dem  Türmt ;  und  der  Bürger  t Jakob  der  Patzhan»  setzt 
die  Set.  Martinskirche ,  im  Jahre  1381  zum  Erben  eines  Teiles  seines  Urfahrs  ein. 
Desgleichen  testirt  Thomas  Frank  1419  seine  fünf  Urfahrteile  der  Set.  Lorenz- 

*  A  pozsonyi  nagy-dunai  viim-  ^8  'r^yjog  törtöuete.  Irta  dr.  Kir41y  J4no8. 
Fozsony,  1S90  Heckenast  G.  utöda.  Auch  in  deutscher  Sprache. 


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t>m   FRAi^Z  JOgBF-BRÜOK>^   BEI    PRB88BURO.  1^^ 

kirohe»  welche  ausserhalb  des  Stadtweichbildes  lag,  ein  Filial  der  Dompfarre  bil- 
dete und  stets  einen  Domherrn  des  Pressburger  Capitels  zum  Pfarrer  hatte.  Die 
Schatzkammer  dieser  Kirche  war  eine  so  reichhaltige,  dass  man  sie  1484  in  einem 
besondem  Anbau  unterbringen  musste.  Die  Kirche  selbst  wurde  im  Jahre  1529, 
als  die  Türken  nahten,  vorsichtshalber  demolirt  und  ihren  Schatz  Hess  die  Stadt 
zu  Verteidigungszwecken  einschmelzen.  Wie  waren  nun  Privatpersonen  in  den 
Besitz  einzelner  Teile  des  Urfiahr-  und  Mautrechtes  gelangt  ?  Der  Verfasser  findet 
eine  plausible  Antwort  auf  diese  Frage.  Er  spricht  die  Vermutimg  aus,  dass  die 
ursprunghchen  Eigentümer  dieser  Gerechtsame  die  letztere  verpfändet  hatten : 
eine  Annahme,  welche  ^unterstützt  wird  durch  die  Thatsache,  dass  in  jener  Zeit 
die  Piliser  Abtei  sowohl  wie  der  König  selbst  sich  in  beständigen  Oeldnöten 
befunden  haben.  Musste  doch  König  Sigismund  tals  Vormund  des  Landest  die 
Stadt  Pressbarg  selbst  im  Jahre  1 385  an  seine  Schwäger  Jodochus  und  Procopius 
verpfänden,  um  eine  Wegzehrung  für  seine  Fahrt  nach  Böhmen  zu  haben ;  aller- 
dings hat  er  dieses  Pfand  vier  Jahre  später  getreulich  wieder  ausgelöst.  Dans  der 
König  auch  kleinere  Beträge  zu  pumpen  genötigt  war,  erhellt  aus  dem  von  Stefan 
Bakovszky  festgestellten  Umstände,  dass  Sigismund  von  den  Pressburger  Bürgern 
148,  dann  150  Qulden,  ja  einmal  sogar  die  Summe  von  32  bölunischen  Groschen 
sich  ausgeliehen  hat.  Unter  solchen  Verhältnissen  ist  wohl  anzunehmen,  dass 
manche  Urüahrteile  im  Wege  der  Verpfändung  in  die  Hände  einzelner  Bürger 
geraten  seien. 

Bis  an  das  Ende  des  XTV.  Jahrhunderts  war  die  Art  imd  Weise  der  Besor- 
gung der  Donau-Ueberfuhr  bei  Pressburg  ganz  imd  gar  dem  Beheben  der  Bechts- 
inhaber  und  ihrer  Pächter  überlassen.  Dass  es  dabei  recht  patriarchaHsch  herging, 
lässt  sich  wohl  denken ;  sicherUch  sind  die  Schiffe  zumeist  morsch,  ist  der  Verkehr 
über  die  Donau  stets  ein  langsamer  und  ein  lebensgefälirlicher  gewesen.  Erst  durch 
König  Sigismund  griff  hier  die  Staatsgewalt  reformirend  ein,  offenbar  aus  mihtä- 
rischen  Motiven,  unter  den  Eindrücken  des  drohenden  Türkenkrieges.  So  ordnete 
der  König  im  Jahre  1396  an,  dass  behufs  Beschleunigimg  des  Verkehrs  an  beiden 
Ufern  je  drei  Schiffe  stets  verfügbar  sein  mussten ;  und  sechs  Jahre  später  gab  er 
sogar,  um  den  Verkehr  zu  fördern,  das  Ueberfuhrsrecht  jedem  Pressburger  Bürger 
hei.  Doch  all  das  scheint  wenig  genützt  zu  haben ;  nach  wie  vor  mochte 
der  Verkehr  ein  langsamer  und  unregelmässiger  sein,  denn  König  Sigismund  sah 
sich  vei*anlasst,  in  Pressburg  auf  eigene  Kosten  eine  Brücke  zu  bauen  ;  diese  iiihte 
auf  Jochbäumen  imd  auf  Schiffen,  doch  ist  sie  offenbar  sehr  nachlässig  gebaut 
gewesen,  denn  bald  darauf  wurde  sie  unpraktikabel.  Im  Jahre  1439  schenkte  König 
Albert  diese  Brücke  der  Stadt  Preesburg  gegen  die  Veri)flichtung,  dieselbe  her- 
richten zu  lassen  und  sie  in  Stand  zu  erhalten.  Von  da  ab  ist  Pressburg  fast  nie 
ohne  Brücke  gewesen ;  —  ifast  nie»,  denn  Treibeis  imd  Hochwasser  zerstörten 
gar  oft  die  Pressburger  Donaubrücke  so  gründhch,  dass  dieselbe  wohl  ein  dutzend- 
mal und  darüber  vom  Grund  auf  neuerrichtet  werden  musste,  wie  dies  aus  zahl- 
reichen Urkunden  des  städtischen  Kammeramtes  hervorgeht  Der  Umstand,  dass 
den  Pressburger  Bürgern  zugleich  mit  der  Brückensohenkung  die  Mautfreiheit 
im  ganzen  Comitate  verliehen  wurde,  hat  in  der  Folge  zu  manchem  scharfen  Con- 
flicte  mit  den  Oligarohen  auf  Kittsee  geführt.  Die  Pressburger  Kaufleute,  die  nach 


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174 


DIE   FRANZ  JOgBF-BRÜOKB   BBI   PRASSBÜtUl. 


Hamburg  zogen,  wurden  von  den  Burgbauptleuten  auf  Kittsee  genötigt,  ihren 
Weg  statt  über  das  tOerinn»  an  Kitsee  vorbei  zu  nehmen;  hier  wurden  sie  dann 
von  den  Hauptleuten  angeMlen,  zur  Mautzahlung  genötigt  und  im  Weigeninge- 
falle  tüchtig  geplündert.  Zu  Beginn  des  XV.  Jahrhunderts  zeichnete  sich  beson- 
ders der  Burghauptmann  Heinrich  Slandersperger  durch  solche  Raubritter-Excesse 
aus,  ßo  zwar,  dass  König  Sigismund  im  Jahre  1416  aus  Paris  und  im  Jahre  1418 
aus  Padua  ihn  brieflich  ermahnen  musste,  seine  Umtriebe  einzustellen ;  als  dies 
nichts  half,  setzte  der  König  den  Pressburger  Obergespan  Peter  v.  Kappler  als 
Commissarius  mit  königlichen  Gewalten  ein,  um  der  Baubwirtschaft  des  Ölig- 
archen  von  Kittsee  zu  steuern.  Nahezu  durch  zwei  Jahrhunderte  währte  dar 
Kampf  der  Pressburger  Bürgerschaft  ge^ren  diese  Brandschatzungen  und  Ueber- 
gnffe,  in  welchen  später  merkwürdigerweise  sich  gerade  die  Nachfahren  des  ober- 
wähnten Peter  v.  Kappler  am  imrühmlichsten  hervorthaten. 

Im  Frühjahre  1440  litt  die  Pressburger  Brücke  manchen  schweren  Schaden 
durch  die  Treibhölzer,  welche  der  Eisstoss  wider  ihre  Jochbäume  geführt  hatte. 
Die  ehrsame  Stadtgemeinde  entsandte  demnach  den  Ratsherrn  Peter  Jungetl  zu 
der  in  Komom  weilenden  Königin- Witwe  Elisabeth,  um  von  ihr  einen  Beitrag  zu 
den  Kosten  der  Instandsetzung  zu  heischen.  Die  Königin  empfing  Herrn  Jungetl 
sehr  gnädiglioh  und  sagte  ihm  einen  Beitrag  von  hundert  Ooldgulden  zu.  Aller- 
dings wai'  der  würdige  Batsherr  nicht  mit  leerer  Hand  vor  das  Antlitz  der  Koni- 
gin  getreten,  vielmehr  hatte  er  als  Huldigungs- Angebinde  seiner  Mitbürger  ein 
Fässchen  kostbaren  Weines  mitgenommen,  wie  dies  m  den  Kammeraoten  gewis- 
senhaft verzeichnet  steht  in  den  Worten :  lAm  Erichtag  vor  Tiburtii  und  Vale- 
riani  der  Königin  ein  lagl  malvasia  gebn  durch  Jungetl. »  Herr  Jungetl  muss  aber 
bei  dieser  Gelegenheit  für  seine  Pressburger  Landsleute  auch  noch  manches  Andere 
solUzitirt  haben,  denn  am  Tage  nach  seiner  Audienz  bei  der  Königin  schreibt  er 
an  die  Herren  vom  Rate  einen  Brief,  worin  er  dringend  bittet,  dass  die  Stadt  den 
Küchenmeistern  des  Kanzlers  Johann  und  des  Grafen  Ulrich  Czilley  je  einen  Gentner 
Oel,  Feigen  und  Häring  und  «ein  guets  lagl  wein,  der  suess  sy>  schicke,  damit 
diesen  Herren  lein  besunder  wohlgevallen  erczaigt  sei».  Bald  nachher  erschien 
auch  die  Königin  selbst  mit  ihrem  neugeborenen  und  als  Säugling  gekrönten  Sohne 
Ladislaus  in  Pressburg,  wo  sie  einige  Zeit  verweilte ;  sie  hatte  in  dem  ehemals 
Spindler' sehen  Hause  in  der  Yenturgasse  ihr  Absteigquartier.  Die  Stadt  gab  der 
ankommenden  Königin  zu  Ehren  ein  Festessen,  wie  dies  bezeugt  wird  durch  die 
folgende  Anmerkung  der  Kammeracten :  fitem  am  Sambstag  vor  St.  Veitstag  kam 
unsere  gnedige  Fraw  die  Kunigin ;  haben  wir  gebn  zu  Obendessen  mancherley 
ding,  als  man  das  hernach  geschrieben  fint. »  In  den  folgenden  zwei  Jahren  fand 
die  Königin  sich  wiederholt  in  Pressburg  und  in  der  Umgegend  dieser  Stadt  ein ; 
wie  denn  überhaupt  ein  Band  wechselneitiger  Vorliebe  die  Pressburger  und  «ihre» 
Königin  mit  einander  verknüpfte.  Um  auf  die  Brücke  zurückzukommen,  so  scheint 
sie  in  den  letzten  Jahren  der  Königin  Elisabeth  vollständig  zugrunde  gegangen 
zu  sein;  denn  König  Ladislaus  V.  ordnet  1453  ihren  Wiederaufbau  an  und  sta- 
tuirt,  wohl  mit  Rücksicht  auf  die  hohen  Instandhaltungskosten,  die  Mautpflicbt 
auch  für  Edelleute.  Dies  ist  wohl  als  der  erste  Eingriff  in  die  Privilegien  des  unga- 
rischen Adels  anzusehen ;  und  wenn  der  Landtag  damals  sich  nicht  stürmisch 


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hm   PRAKZ  JOJSEF-BRUGKE   BBI   PR^SBURG.  1?5 

dagegen  auflehnte,  so  nnterliess  er  solohes  wohl  nur  in  der  Erwägung,  dass  diese 
Bestimmung  in  der  Praxis  sich  werde  umgehen  lassen,  eine  Annahme,  die  sich  ja 
auch  nachmals  als  eine  gerechtfertigte  erwies.  Bald  darauf  kam  der  König  auch 
persönlich  nach  Pressburg ;  da  die  Brücke  noch  nicht  stand,  wurde  die  üeberfuhr 
auf  sechs  Schiffen  bewirkt.  Die  Pressburger  verehrten  bei  dieser  Gelegenheit  tdem 
genadigsten  herm  Kunig  Laszla»  Kirschen  als  Erfrischung.  Der  Wiederaufbau  der 
Brücke  ist  aber  erst  unter  Mathias  I.  erfolgt,  in  dessen  Auftrag  Ernst  Johann  Graf 
von  Sohl  die  Sache  betrieben  hat.  Bis  zum  Ende  des  XV.  Jahrhunderts  wurde  die 
Brücke  wiederholt  durch  Treibeis  beschädigt,  durch  Hochwasser  fortgerissen  und 
jedesmal  wieder  aufgebaut,  so  dass  die  Stadt  und  ihr  Säckel  ihre  liebe  Not  damit 
liatten.  Aber  auch  das  Strassenwesen  in  Preesburg  scheint  damals  sich  nicht  des 
besten  Zustandes  erfreut  zu  haben ;  denn  in  den  städtischen  Kammeracten  findet 
sich  eine  Notiz  darüber,  dass  der  Wagen  des  iKunigs  Wlaslai  eines  Nachts  im 
tiefen  Wege  stecken  geblieben  sei  und  dass  man  aus  dem  Rathause  iden  Fass- 
zieher  mit  seinen  Helfemt  hinausgeschickt  habe,  um  den  Wagen  wieder  flottzu- 
machen. 

In  den  Kämpfen  der  Gegenkönige  Ferdinand  von  Habsburg  und  Johann 
von  Zäpolya  spielten  die  Stadt  Preesburg  und  ilire  Brücke  eine  bedeutsame  Bolle. 
Zunächst  fand  die  Wahl  Ferdinand's  zum  König  von  Ungarn  auf  dem  in  der  Press- 
burger Franziskanerkirche  abgehaltenen  Landtag  statt.  Doch  hatte  Ferdinand  noch 
manchen  harten  Strauss  zu  bestehen,  ehe  er  den  ihm  angebotenen  Tron  besteigen 
durfte.  Es  galt  vorerst,  den  Nebenbuhler  Johann  von  Zdpolya  aus  dem  Felde  zu 
schlagen,  ihm  seine  zahlreichen  Parteigänger  abwendig  zu  machen  und  das  von  den 
Schrecknissen  des  Bürgerkrieges  heimgesuchte  Land  zu  pazifiziren.  Pressburg  ist 
dem  König  Ferdinand  in  diesen  Kämpfen  eine  wichtige  Position  gewesen  und  leicht 
begreift  es  sich,  dass  der  König  aus  strategischen  Gründen  die  baldigste  Wieder- 
herstellung der  Pressburger  Brücke  betrieb.  Auch  gingen  die  bezüglichen  Arbeiten 
recht  flott  von  Statten,  so  zwar,  dass  die  Brücke  schon  binnen  Jahr  und  Tag  — 
wieder  vom  Hochwasser  fortgerissen  werden  konnte.  Beschädigt  und  wieder  aus- 
gebessert, zugninde  gegangen  und  wieder  aufgebaut,  unterlag  diese  Brücke  den 
mannigfachsten  Wandlungen,  welche  die  Zuversicht  in  ihre  Stärke  nicht  eben  zu 
fordern  geeignet  waren.  So  ist  es  denn  durchaus  nicht  zu  verwundem,  dass  die 
Könige,  wenn  sie  die  Stadt  passirten,  es  vorzogen,  auf  Schiffen  über  die  Donau  zu 
setzen ;  und  femer,  dass  bei  besonders  festlichen  Anlässen  jedesmal  auch  beson- 
dere Brücken  aufgeführt  worden  sind.  So  gab  es  1578  eine  besondere  Landtags- 
Schiffbrücke,  welche  das  Staatsärar  hatte  errichten  lassen  und  für  welche  die  Stadt 
Pressburg  lediglich  drei  ungarische  Dolmetsche  beizustellen  hatte.  Im  Jahre  1 563 
aber  wurde  speziell  zur  Krönung  Maximilian' s  eine  Krönungsbrücke  gebaut.  Nim 
geboten  aber  wieder  strategische  Kücksichten  die  Errichtung  einer  starkem  Brücke 
bei  Pressburg ;  die  Türkenkriege  standen  in  Sicht  und  der  Hofkriegsrat  in  Wien 
begehrte  nachdrücklich  den  Aufbau  einer  Schiffbrücke.  Der  Pressburger  Stadtrat 
fürchtete  für  seine  Mauteinkünfte  und  schrieb  an  den  König,  dass  dieser  wohl 
eine  Brücke  bauen,  aber  die  Mautverwaltung  an  niemand  Andern  ab  an  die 
Stadtgemeinde  verpachten  dürfe,  worauf  der  Delegirte  des  Kriegsrates,  Herr 
von  Sprinzenstein,  replicirte,  er  sei  bereit,  dem  König  fünf  feste  Brücken  zu  bauen, 


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176 


DIB   FRANZ   JOSEF-BRÜCKE   BEI    PRBSSBÜR6. 


wenn  ihm  die  Mauteinkünffce  der  Pressburger  Brücke  überlassen  werden.  Inzwi- 
schen wurden  die  durchziehenden  Truppen  mittelst  einer  Anzahl  von  Schiffen 
über  die  Donau  geführt.  Die  Brücke  aber  wurde  erst  erbaut,  als  der  nächste  Land- 
tag zum  Behufe  der  Königswahl  nach  Pressburg  einberufen  worden  war. 

Von  da  ab  wiederholt  sich  dAs  altgewohnte  Spiel.  Es  werden  wiederholt 
Schiffbrücken  erbaut,  durch  das  Treibeis  zerstört,  um  dann  abermals  errichtet  und 
durch  die  Hochflut  fortgerissen  zu  werden.  Erst  vom  Jahre  1676  datirt  eine  grös- 
sere Dauerhaftigkeit  im  Pressburger  Brückenwesen.  Das  System  der  fliegenden 
Brücken  wird  eingeführt  und  bewährt  sich  besser  als  die  bisherigen  Schiffbrücken. 
In  den  mannigfaclien  Wechselfallen  der  Türkenkriege  wird  aber  auch  die  fliegende 
Brücke  wiederholt  abgetragen  und  niedergebi-annt.  Auch  scheint  die  Instandhal- 
tung der  Brücke  zu  Beginn  des  XVlU.  Jahrhunderts  bereits  erheblich  höhere 
Kosten  als  bis  dahin  gefordert  zu  haben,  denn  als  Karl  lEE.  die  ärari«che  Brücke 
der  Stadtgemeinde  zum  Geschenk  machte,  da  protestirte  der  Magistrat  gegen  diese 
Danaergabe  mit  dem  Bedeuten,  dass  die  Instandhaltung  jährlich  2500  fl.  und 
darüber  erheische.  Im  Jahre  1722  drängt  sich  dem  Landtage  bereits  die  Erkennt- 
niss  auf,  dass  eine  stabile  Brücke  bei  Pressburg  aus  wirtschaftlichen  wie  aus  stra- 
tegischen Gründen  gleich  notwendig  sei.  Freihch  scheint  in  diesem  Jahrhundert 
auch  die  Rentabilität  der  Brücke  sich  in  bedeutendem  Maasse  gesteigert  zu  haben, 
denn  im  Jahre  1791  nahm  der  Pressbnrger  Arzt  Dr.  Johann  Szluha  das  Maut- 
recht der  Brücke  gegen  einen  jährlichen  Pachtschilling  von  10,750  fl.  auf  sechs 
Jahre  in  Pacht.  Bei  dem  Anbruche  des  XIX.  Jahrhunderts  verschlugen  sich  die 
letzten  Wellenringe  der  napoleonischen  Kriege  liieher  und  die  Pressburger  Donau- 
brücke pah  am  10.  Dezember  1805  den  Marschall  Davoust  mit  sechs  Regi- 
mentern Fnsstruppen  imd  zwei  Regimentern  Reiterei  nach  dem  Weichbilde  der 
Stadt  ziehen,  um  die  durch  den  Waffenstillstand  vereinbarte  Demarkationslinie  zu 
besetzen.  In  Pressburg  wurde  auch  am  27.  Dezember  zwischen  Talleyrand  einer- 
seits und  den  Feldmarschall- Lieutenants  Fürst  Johann  Lichtenstein  und  Graf 
Ignaz  Gyulai  andererseits  der  definitive  Friede  abgeschlossen.  Nicht  so  glimpflich 
kam  die  Stadt  Pressburg  im  Frühjahre  1809  davon.  Nach  der  Schlacht  von  Aspem 
warf  sich  Davoust  mit  14,009  Mann  auf  Audoi-f  und  als  diese  Position  sich  ihm 
nicht  ergeben  wollte,  liess  er  am  3.  Juni  Pressburg  selbst  bombardiren.  Die  Be- 
schiessung  währte  von  10  Uhr  Vormittags  bis  1  Uhr  Nachmittags,  während  wel- 
cher Zeit  der  Verkehr  auf  der  fliegenden  Brücke  ungestört  fortbelrieben  wurde. 
Vom  ti6.  bis  28.  Jimi  wurde  in  drei  aufeinander  folgenden  Nächten  das  Bombar- 
dement fortgesetzt,  ohne  dass  die  Audoi-fer  Schanzen  aufgegeben  wurden.  Bis  zum 
Abschluss  des  Wiener  Friedens  1 809  war  die  Gemarkung  von  Pressburg  beständig 
von  französischen  Besatzungstruppen  und  von  mehr  minder  heftigen  Scharmützeln 
heimgesucht.  Nach  dem  Friedensschlüsse  berief  Franz  I.  nach  Pressburg  den 
Landtag  ein  und  ordnete  zugleich  in  Anerkennung  der  patriotischen  Verdienste 
dieser  Stadt  die  Emchtung  einer  grossen  ständigen  Schiffbrücke  durch  die  in 
Pressburg  gamisonirenden  Pionniertruppen  an.  Diese  nach  der  Kaiserin  und  Kö- 
nigin Karolina  genannte  Brücke  wurde  am  29.  Dezember  1 825  unter  grosser 
Feierlichkeit  dem  Verkehr  übergeben ;  sie  war  aus  32  Schiffen  zusammengesetzt 
und  mass  in  der  Länge  148  Klafter,  in  der  Breite  24  Klafter.  In  das  Erbe  dieser 


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MITTELALTBRLICHE   GRABDENKMÄLER   AUS   UNGARN. 


IW 


Schiffbrücke  tritt  nun  die  neue,  mit  allen  Emmgenschaften  der  modernen  Technik 
auegeetattete  Eisenbahnbrücke,  welche  am  30.  Dezember  1890  durch  Se.  Majestät 
den  König  persönlich  eröffnet  worden  ist. 


MinELAIiTERIJCHE  GRABDENKMÄLER  AUS  UNGARN 

VI.  Grabstein  des  Andreas  Scolari.  XV.  Jahrhundert. 

Der  Grabstein  des  Bischofs  Scolari  ist  unstreitig  das  interessanteste 
unter  den  wenigen  alten  Monumenten,  welche  im  Dome  von  Grosswardein 
uns  bis  zur  Gegenwart  erhalten  geblieben  sind.  Das  Materiale,  aus  welchem 
derselbe  verfertigt  ist,  ist  grauer  Sandstein,  seine  Höbe  2  M.  0*7  Gm.,  die 
Breite  aber  79  Gm.,  was  also  eine  bei  Grabsteinen  ganz  ungewohnte 
Schmalheit  zu  bedeuten  hat,  welche  auch  dem  minder  geübten  Auge  sofort 
auffällt. 

Abgesehen  von  einem  in  schräglinker  Bichtung  laufenden  Bruche, 
welcher  oben  beim  linksseitigen  Schriftenrande  beginnt  und  sich  über 
einen  Teil  des  Polsters  sowie  über  den  Hals  bis  zur  rechten  Schulter  der 
das  Figurenfeld  belegenden  Gestalt  zieht,  abgesehen  femer  von  der 
starken  Beschädigung  des  Gesichtes  derselben  Figur,  welche  das  erstere 
vollkommen  unkenntlich  gemacht  und  auch  ein  vorderes  Stück  der  Mitra 
etwas  in  Mitleidenschaft  gezogen  hat,  —  ist  dieser  Denkstein  sammt  seiner 
durchwegs  lesbaren  Inschrift  wohlerhalten  zu  nennen. 

Diese  letztere,  in  ausnehmend  regelmässigen  und  zierlichen  Minus- 
keln, aus  den  vier  Seiten  des  beiderseits  mit  dünnen  Leisten  eingefassten 
schmalen  Schriftenrandes  herausgemeisselt,  beginnt  linksseitig  oben  und 
lautet : 

iHic  jacet  reverendus  in  Christo  pater  dominus  Andreas  Floren- 
tius  hujus  ecclesie  Yaradiensis  pontifex  venerandus  deo  ac  gentibus  hung| 
arie  dilectus  qui  obüt  X°  VIII  die  mensis  januarii  VII  hora  noctis  anno  do- 
raini  M«""  CCCCX|  XVI  hie  honorifice  sepultus.» 

Das  glatte  Figurenfeld  wird  von  der  liegenden  und  zugleich  stehenden 
Gestalt  des  in  pontificalibus  dargestellten  Bischofs  Andreas  Scolari  vollstän- 
dig ausgefüllt.  Das  Haupt,  mit  beiderseits  bis  zu  den  Ohrläppchen  reichenden, 
rundgeschnittenen  Haaren,  ist  mit  einer  hohen  Mitra  bedeckt,  deren  Spitze 
bis  zur  Mitte  des  Schriftenrandes  hinaufreicht,  und  ruht  auf  einem  mit  einer 
Schnur  eingefassten  Polster,  dessen  vier  Ecken  mit  eben  so  vielen  Quasten 
besteckt  erscheinen.  Die  mit  Handschuhen  versehenen  Hände  erscheinen 
(wie  dies  bei  Veratorbenen  der  Brauch)  nach  vorne  abwärts,  über  die  Mitte 
des  Körpers,  in  Form  ein^s  Andreaskrt-uzes  gelegt ;  die  mit  einer  breiten 

Ungwineh«  Bevae,  XL  1891.  IC.  Heft.  XS 


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178  MITTB!LAI.TERUCHE    ORABDEKKMÄLER   AUS   UNÖARN. 

Bordare  und  vorne  mit  einem  Passionskreuze  verzierte  Gasula  aber,  mit 
hohem  weiten  Halskragen,  sowie  darunter  die  Tunicella  und  dann  die  bis 
zn  den  (sichtbaren)  Fassspitzen  abfallende,  reiche  Alba  amhüUen  die  Ge- 
stalt des  unter  diesem  Grabsteine  ruhenden  Prälaten.  Sichtbar  machen  sich 
auch  die  beiden  schmalen  Enden  des  Manipulus,  sowie  unten  die  befranste 
Stola.  Links  vom  Bischöfe  befindet  sich  gerade  aufgerichtet  und  die  untere 
Leiste  des  oberen  Schriftenrandes  etwas  überragend,  das  Pedum  oder  der 
Hirtenstab,  dessen  einwärts  gekehrte,  schneckenartige  Windung  mit  zierli- 
chem künstlichen  Laubwerke  besteckt  erscheint  und  um  dessen  Stiel,  einige 
Spannen  weiter  unten,  das  Sudarium,  von  einem  Krönlein  überhöbt, 
mehrfach  gewunden  ist  und  mit  den  Enden  nach  abwärts  hängt. 

Noch  haben  wir  Eines  unerwähnt  gelassen :  es  ist  dies  die  —  wohl 
nicht  gelungene  —  Gestalt  des  Hundes  (als  Symbol  der  Treue),  auf  welcher 
die  Fussflächen  des  Bischofes  ruhen.  Wir  werden  über  diese  Sitte  ver- 
gangener Jahrhunderte,  wo  Personen  die  in  ganzer  Gestalt  auf  Grabsteinen 
dargestellt  erscheinen,  Tiere,  in  gleicher  Verwendung  wie  hier,  beigegeben 
wurden,  noch  später  Gelegenheit  finden,  eingehender  zu  sprechen. 

Wir  können  unser  Augenmerk  demnach  dem  Wappenschilde  des  An- 
dreas Scolari  zuwenden.  Dieses  befindet  sich,  die  scharfe^  halbrunde 
Dreieckform  seiner  Zeit  aufweisend,  in  einer  Höhe  mit  dem  Eniee  der 
Gestalt,  aufrecht,  sowie  den  rechten  Schriftenrand  berührend  und  zeigt 
drei  Schrägbalken. 

Es  stimmt  dieses  Wappen  vollkommen  überein  mit  demjenigen  des 
Pipo  de  Ozora,*  Grafen  von  Temes,  eines  Florentiners  aus  vornehmem 
Geschlechte,  welcher  zu  König  Sigismund's  Zeiten  eine  hervorragende 
Bolle  in  unserem  Vaterlande  gespielt,  —  dessen  eigentlicher  Name  aber 
Philipp  Scolari  gewesen  und  welcher  der  ältere  Bruder  des  vorstehenden 
Bischofs  Andreas  war. 

Erst  nach  seiner  Vermälung  mit  Barbara  Ozoray,  mit  welcher  er 
auch  die  Burg  Ozora  erhalten  hatte,  nahm  er  den  Namen  dieses  (uralten, 
nunmehr  ebenfalls  schon  lange  erloschenen)  Geschlechtes  auf,  unter 
welchem  derselbe  vornehmlich  in  der  Geschichte  bekannt  ist. 

Domherr  Vincenz  von  Bunyitay,  der  gelehrte  Verfasser  des  Werkes : 
«Nagyvaradi  püspökseg  törtenete»,**  welcher  uns  diesen  Grabstein  (der 
auch  sein  eigenes  vorzügliches  Buch  ziert)  mit  grösster  Liberalität  zur  Ver- 
fügung gestellt  hat,  führt  eben  dortselbst  (I.  243)  noch  ein  anderes  Wap- 


*  Siehe :  B.  A.  B.  Pesth  9432  etc.  D.  O.  woselbst  dieses  Wappen  completer,  wie 
folgt  erscheint:  Schild,  wie  das  Grabstein wappen  des  Bischofes  Scolari.  -  Kleinod: 
Armloser,  mit  einem  Oberkleide  versehener  wachsender  Männemimpf.  —  Vergl.  audi 
Siebmacher,  Der  Adel  v.  Ungarn,  XX. 

'•'*  Geschichte  des  Grosswardeiner  Bisthums,  I,  243. 


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GRABSTEIN    DES    ANDREAS    SCOLARI. 


12* 


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i80 


MITTELALTERLICHE  GRABDENKMALER    AÜB  üNÖARK. 


pen  des  Andreas  Scolari  auf,  das  sich  jedoch  nur  allein  auf  die  Person  des- 
selben und  auf  seine  Würde  als  Bischof  bezieht.^ 

Derselbe  Andreas  Scolari,  welcher  von  Einigen  (nach  seinem  eben 
hier  genannten  Bruder)  magyarisirt  auch  als  «Ozorai»  genannt  erscheint, 
nahm  von  1409  bis  1426  den  Bischofstuhl  von  Grosswardein  ein,  nachdem 
er  bereits  früher  Bischof  von  Agram  gewesen  war.  Er  war  ein  GänstUng 
des  Königs  Sigismund,  den  er  auch  zum  Goncile  nach  Gonstanz  begleitete 
und  an  dessen  Seite  er  bis  zur  Beendigung  desselben  verblieb.  Er  starb, 
wie  wir  auch  aus  der  Legende  ersehen,  in  der  Nacht  des  18.  Januar,  im 
Jahre  1426.« 

Vn.  Familiengrabstein  der  Berzeviczy.  XV.  Jahrhundert. 

Es  muss  insbesondere  den  ungarischen  Heraldiker  mit  Freude  und 
Genugthuung  erfüllen,  wenn  er  in  die  Lage  versetzt  wird  constatiren  zu 
können,  dass  das  eine  oder  das  andere  heimatliche  Geschlechtswappen 
durch  viele  Jahrhunderte  hindurch  bis  auf  die  jüngste  Zeit  in  seiner 
ürfom  unverändert  beibehalten  und  von  der  zersetzenden  Wirkung  der 
Zeit,  welche  sich  insbesondere  auch  in  unserem  nationalen  Wappenwesen 
so  fühlbar  gemacht  hat,  —  in  keiner  Weise  beleckt  wurde.  Wir  können 
nämlich  die  Thatsache  nicht  wegläugnen,  dass  das  Festhalten  an  dem 
ererbten  Blason,  welches  speciell  beim  guten  alten  Adel  deutscher  sowie 
lateinischer  Zunge  fast  zur  Regel  geworden,  bei  uns  leider  nur  zu 
den  selteneren  Fällen  gezählt  zu  werden  hat,  —  wenn  wir  es  auch  zurück- 
weisen müssen,  was  gewisse  heraldische  Vielwisser  (Nichtwisser)  zu 
behaupten  für  gut  befunden  haben :  dass  von  einer  intacten  Beibehaltung 
des  Urwappens  seit  geraumer  Zeit  bei  uns  überhaupt  nicht  mehr  gespro- 
chen werden  kann,  weil  unsere  alten  Geschlechter  ihre  Blasons  (mit  Sanc- 
tion  des  Landesherrn  oder  aber  willkürlich)  wiederholt  schon  verändert 
haben.  Diesen  Ausfluss  der  völligen  Nichtorientirtheit  lassen  diese  Herrn 
aber  zugleicl^  auch  als  Beweis  dafür  gelten,  dass  unserem  nationalen  Wap- 
penwesen, schon  von  sehr  alten  Zeiten  her,  nicht  die  geringste  Wichtigkeit 
beigelegt  worden  war. 

Schlagende  Gegenbeweise  wurden  nach  der  einen  wie  nach  der 
anderen  Richtung  hin,  in  verschiedenen  wissenschaftlichen  Organen*,  von 
Seite  unserer  neuen  Schule  schon  zur  Genüge  erbracht  und  werden  auch  in 
diesen  Blättern  noch  geliefert  werden.  Wenden  wir  uns  daher  einem  jener 


^  Es   zeigt   dieses   andere   Wappen   einen    aus    der  obern    linken  Schihierecke 
ragenden,  gebogenen  Arm,  welcher  einen  Kmmmstab  hält. 

«  Siehe  auch:  Nagyvaradi  pflspöks^g  tört^nete  T.  232—243  und  III.  110—112. 
»  Siehe :  Tnrul  und  Archseologiai  ]6rtesit6.  Jahrgänge  1887—1889. 


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MITTELALTERLICHE    GRABDENKMÄLER    AUS   UNGARN.  1^1 

Wappen  zu,  welches,  als  zur  oben  hervorgehobenen  Kategorie  gehörig, 
stets  unverändert  geblieben  ist  und  seit  einem  halben  Jahrtausende  sich 
typisch  zu  erhalten  gewusst  hat 

Es  gehört  dasselbe  dem  bekannten  und  vornehmen  Geschlechte  der 
Berzeviczy  de  Berzevicze  und  Eakas-Lomnicz  an  und  findet  sich  auf 
einem  wohlerhaltenen  190  Gm.  hohen  und  114  Gm.  breiten  Grabsteine  aus 
rotem  Marmor  vor,  welcher  in  der  Kirche  von  Berzevicze  im  S&roser 
Gomitate  [und  nicht  in  Kis-Szeben  (Zeeben)  wie  Bömer  im  Arch.  6rt.  VII. 
4.  1887  Oktoberheft,  irrtümlich  angibt],  —  in  der  westlich  gelegenen  Fa^ade 
unter  dem  Thurme  senkrecht  in  der  Mauer  eingefügt  erscheint.  Die  an 
Gapiiälstelle  beginnende,  beiderseits  mit  einem  massig  verflachten  Bande 
versehene  Legende,  welche  alle  vier  Seiten  des  Schriftenrandes  ausfällt  und 
in  regelmässigen  Minuskeln  aus  dem  Steine  herausgemeisselt  erscheint, 
lautet  wie  folgt : 

.Sßpulfura  •  magntfttt 

uiri  •  bomi  ♦  pcfri  •  I;erm  •  b  •  bttiomtt 

lecottnitoi  •  rglm  •  magri  •  ntt 

non  •  comüia  •  acepus  ac  •  fuDrum 

(Lies :  Sepultura  magnifici  viri  domini  petri  herinici  (oder  henrici)  de 
brezovice  tavernicorum  regalium  magistri  nee  non  comitis  scepusiensis 
ac  suorum.) 

Aus  dem  letzten  Worte  der  vorstehenden  Inschrift  ersehen  wir,  dass 
dieses  Monument  als  Familien-Grabstein  anzusehen  ist  und  aus  diesem 
Grunde  finden  wir  auch  keine  Jahreszahl  dort  vor. 

Wenn  wir  jedoch  in  Betracht  ziehen,  dass  Peter  Berzeviczy,  dessen 
Namen  wir  auf  dem  Epitaphe  verzeichnet  finden,  zwischen  den  Jahren  1432 
und  1433  mit  Tod  abging,  sowie  anderseits,  dass  in  derselben  gemeinsamen 
Buhestätte  (wie  es  zweifellos  erscheint)  auch  die  irdischen  Ueberreste  von 
Peters  Vater  bestattet  worden  sein  dürften,  so  werden  wir  unwillkürlich 
zu  der  Annahme  gedrängt,  dass  das  fragliche  Monument  vor  den  Jahren 
1432 — 33  verfertigt  worden  sein  dürfte,  u.  z.  auf  Veranlassung  des  erwähn- 
ten Peter  selbst  noch  zu  seinen  Lebzeiten. 

Bomer  hat  zweifellos  auch  hier  nicht  das  Bichtige  getroffen,  indem  er 
gelegentlich  der  Auslegung  der  Legende  (siehe:  Arch.  l^tt.  wie  oben), 
einen  fHermann»  (bezw.  einen  «Peter  Hermann»)  vorführte,  ganz  abgese- 
hen davon,  dass  es  uns  bisher,  auf  Grabsteinen  des  XV.  Jahrhundertes, 
noch  niemals  vorgekommen  ist,  dass  auf  solchen  einer  und  derselben  Person 
zwei  Taufnamen  beigegeben  worden  wären ;  abgesehen  auch  femer  davon, 
dass  derselbe  Feter,  welchen  unser  Grabstein  deckt,  urkundlich  nie  anders 


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184  MITTBI^ALTERLICHE    GRABDENKMÄtER    AUS    UNGARN. 

als  eben  nur  einfach  als  «Peter»  aufgeführt  erscheint.  Wohl  ist  es  aber  ande- 
rerseits aus  Urkunden  ganz  wohl  bekannt,  dass  wieder  dieser  Peter  ein 
Sohn  des  Heinrich  Berzeviczy  aus  seiner  Ehe  mit  Helene  Derencsenyi 
gewesen  ist. 

Indem  wir  es  uns  für  den  Schluss  vorbehalten,  noch  einige  Worte 
über  das  Leben  und  Wirken  des  vermeintlichen  Erbauers  dieser  Berzeviczy- 
Gruft  zu  verlautbaren,  schreiten  wir  zur  Blasonirung  des  Wappens,  welche 
wie  folgt  zu  lauten  haben  wird:  In  Blau  ein  aufspringender  weisser  (?) 
Bock.  —  Kleinod  :  Der  Bock  wachsend.  —  Decken  :  blau- weiss  ?  —  Der 
Drachenorden.* 

Der  ausführende  Künstler  hat  sich  hier  jedenfalls  bemüht,  in  den  vor- 
geschriebenen Grenzen  zu  bleiben.  Das  Figurenfeld  ist  für  das  Wappen,  so- 
wie der  Schriftenrand  für  die  Legende  ausgenützt  worden,  ohne  dass 
gegenseitig  etwas  «erborgt»  worden  wäre.  So  soll  es  sein,  und  deshalb 
berührt  die  ganze  Vorstellung  das  Auge  auch  sofort  in  angenehmer 
Weise.  Nicht  minder  gefallig  präsentirt  sich  das  Wappen  als  solches, 
mit  welchem  auch  die  Gesetze  der  Baumausfüllung  in  Bezug  auf  das 
Figurenfeld  vollkommen  richtig  eingehalten  wurden.  Die  Form  des 
nach  rechts  geneigten  Dreieckschildes  ist  regelrecht ;  an  dem  Stechhelme 
und  an  seiner  Placirung  nichts  auszustellen.  Die  Helmdecke,  welche  (ana- 
log wie  bei  Tornay)  als  Fortsetzung  des  Felles  der  wachsenden  Schild- 
figur (des  Bockes)  sich  nach  aufwärts  schwingt,  ist  ebenfalls  schön,  obwohl 
nicht  mehr  so  einfach  wie  diejenige  des  Tornay- Wappens,  Sie  beginnt  zwar 
mit  den  gewöhnUchen  Zadd-  lungen,  nimmt  aber  dann,  obwohl  gleichfalls 
nur  einen  Ast  bildend,  in  Folge  der  tiefen,  blätterartigen  Einschnitte,  einen 
bereits  decorativen  Charakter  an. 

Lobend  muss  hervorgehoben  werden  die  Stylisirung  sowie  die  Art 
und  Weise  der  Placirung  des  den  Schild  umgebenden,  feuerspeienden  ge- 
flügelten Drachens,  —  dieses  alten  Kitteroniens,  welcher  hier  als  Ehren- 
zeichen (und  keineswegs  als  Schildhalter)  fungirt  und  über  welchen  wir 
gelegenthch  der  weiter  unten  folgenden  Besprechung  des  Johann  Perenyi- 
schen  Grabsteines  eingehend  berichten  werden. 

Betrachten  wir  dieKcs  fabelhafte  Tier  näher,  wie  es  hier  reproducirt 
erscheint,  so   ist  es  jedenfalls  die  höchst  gelungene  Position   des   vom 


*  Die  Edelleiite  Berzeviczy  de  Berzevicze  führen  gegenwärtig  (wie  bereits  seit 
dem  Jahre  16] 9  und  mutmasslich  schon  früher)  den  Bock  auf  einem  kleinen  golde- 
nen Krönlein,  gegen  eine  spitze  Felsengruppe  anspringend.  —  Dies  sind  unbedeu- 
tende Zuthaten,  welche  dem  llaupttypus  keinen  Eintrag  machen.  Der  Book  ist  bei 
den  adehgen  Linien  des  genannten  Geschlechtes  weiss,  bei  der  dem  gänzlichen 
Erlöschen  sich  nähernden  freiherrlichen  Linie,  —  schwarz.  Die  Decken  sind  gegen- 
wärtig schwarz -golden  und  blau-sübem,  sonst  Alles,   wie  hier  oben  blasonirt. 


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>iA*tifr)^^**fM* 


FAMILIBNORABSTBIN  DEB  BBBZBYIOZY. 


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184-  MITTELALTERLICHE    GRABDENKMÄLER   AUS   UNGARN. 

Schwaiusende  umschlungenen  aufwärtsstrebenden  Kopfes  (sammt  Hals), 
was  die  Aufmerksamkeit  sofort  erregt.  Auch  dies  geschah  im  Uebrigen 
Yomehmlich  deshalb^  um  keinen  leeren  Baum  zwischen  Schild  und  Helm 
entstehen  zu  lassen,  welcher  jedenfalls  sich  orgeben  hätte,  da  es  schon 
ursprünglich  in  der  Absicht  gelegen  zu  haben  scheint,  die  Helmdecke 
nicht  zweiBSÜg  darzustellen. 

Was  nun  den  Bock  betrifft  (welcher  sich  hier  auch  als  Heimkleinod 
wiederholt),  so  ist  dieses  Wappentier,  wie  es  sich  im  gestürzten  Schilde 
(ganz  richtig  nach  der  Achse  gerichtet)  zeigt,  zwar  nicht  als  heraldisch 
incorrect  zu  qualificiren,  hätte  aber  jedenfalls  gefälliger  ausgeführt  werden 
können.  Der  Leib  ist  nämlich  zu  dick,  insbesondere  der  Unterleib,  der  Hals  zu 
lang,  die  Beine  nicht  genug  schmal,  die  Homer  endlich  ohne  Knorpeln  und 
zu  Beginn  viel  zu  wenig  aufgebogen ;  sie  sollen  die  Stirnseite  überragen, 
nicht  aber  eine  eben  verlaufende  gerade  Linie  mit  dieser  bilden.  Der  Bock 
des  Schildes  ist  mit  einem  Worte  zu  plump  und  ohne  jeden  heraldischen 
Schwung,  was  bei  einem  Producte  jener  guten  Zeit,  in  welcher  der  Ber- 
zeviczy-Grabstein  verfertigt  wurde,  sowie  in  Ansehung  der  im  Grossen  hier 
vollkommen  gelungenen  sonstigen  Ausführung,  überrascht.  Das  gleiche  gilt 
von  der  Kleinodfigur,  deren  Körperformen  jedoch  bereits  etwas  gefälliger 
erscheinen.  Es  ist  hier  der  rechte  Yorderfuss  sammt  E^aue  verzeichnet. 

Dass  endlich  in  der  Heraldik  jeder  Bock  einen  Steinbock  zu  bedeuten 
hat,  sollte  zur  Genüge  bekannt  sein.  —  Deshalb  glaubten  wir  auch  die 
Berechtigung  zu  haben,  auf  das  Fehlen  der  Hömerknorpeln  aufmerksam 
machen  zu  dürfen. 

Wir  haben  die  beiden  Eltern  des  Peter  Berzeviczy  bereits  nam- 
haft gemacht.  Er  selbst  hatte  eine  wissenschaftliche  Erziehung  erhal- 
ten und  kam  bereits  in  jungen  Jabren  an  den  Hof  des  Königs  Sigis- 
mund,  woselbst  er  auch  den  wichtigeren  Beratungen  beigezogen  wurde. 
Insbesondere  nahm  er  auch  lebhaften  Anteil  an  den  Bündnissbesprechungen 
der  ungarinchen  und  polnischen  Stände.  Wiederholt  sehen  wir  ihn  ferner, 
mit  verschiedenen  Missionen  betraut,  an  den  Hof  des  Königs  von  Polen 
eilen.  Später  in  türkische  Gefangenschaft  geraten,  wird  er  aus  derselben 
befreit  und  übernimmt  endlich  die  Würde  eines  Oberst- Schatzmeisters, 
welche  er  bis  zu  seinem  Ableben  behält,  das,  wie  schon  früher  berich- 
tet, in  den  Jahren  143:2  oder  1433  erfolgte.  Er  war  auch  Obergespan 
der  Zips.  Gsergheö  und  Csoma. 

*  Hier  brechen  wir  die  Fortsetzung  dieser  Studie  ab,  da  inzwischen  das  voll- 
ständige Werk  unter  dein  Titel  Alte  Grahdenkmälrr  aiis  Ungarn  von  Geza  Csergheö 
und  Josef  Csoma.  122  S.  mit  25  Illustrationen  im  Verlage  von  Friedr.  Kilian  in 
Budapest  erschienen  ist.  D.  B^d. 


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JOHANN   DANIBLIK.  ^^5 


JOHANN  DANIELIK.* 

Danielik  erblickte  das  Licht  der  Welt  in  einer  romantischen  Gegend  unse- 
res Vaterlandes,  am  Fasse  der  von  unseren  Dichtem  besungenen  Muränyer  Burg, 
in  Mur&ny-Älja  im  Gömörer  Komitat  am  20.  Mai  1817.  Sein  Vater  war  ein  wissen- 
schaftlich gebildeter,  seiner  vorzüglichen  Kenntniss  der  lateinischen  Sprache 
wegen  in  der  ganzen  Gegend  bekannter  SicherheitsCommissär,  welcher  in  seinem 
Sohne  frühzeitig  die  Liebe  zur  Wissenschaft  und  Lektüre  erweckte.  Demzufolge 
ragte  der  talentirte  Jünghng  denn  immer  unter  seinen  Mitschülern  hervor.  Als 
Bosenauer  Gleriker  auszeichnungsweise  in  das  Pester  Seminar  gesandt,  erwarb  er 
hier  noch  als  Studirender  das  philosophische  Doctordiplom,  und  da  er  hierselbst 
auch  durch  seine  kirchenliterarischen  Erstlingsarbeiten  Aufmerksamkeit  erregte, 
wurde  er  nach  Beendigimg  seines  Studienkurses,  noch  vor  seiner  Priesterweihe, 
1839  am  Rosenauer  Lyceum  Professor  der  Philosophie  und  ungarischen  Literatur 
und  einige  Jahre  später  Professor  der  Bibelstudien  an  der  theologischen  Facultät. 

1848  in  die  Bedaction  des  Blattes  «Religio  6s  Nevel^s»  berufen,  traf  er  in 
der  Hauptstadt  in  den  stürmischen  Märztagen  ein,  von  starken  katholischen 
Grundsätzen  inspirirt,  allen  revolutionären  Ideen  abhold.  Da  dies  der  Wiener 
Regierung  nicht  verborgen  blieb,  wurde  Danielik  von  ihr  zu  grossen  Diensten  in 
den  antimagyarischen  Bewegungen  ausersehen  ;  schon  am  1.  Oktober  1849  wurde 
er  zum  Mitglied  des  Erlauer  Domcapitels  ernannt. 

Einer  der  um  Csengery's  «Pesti  Hirlapt  geschaarten  Gentralisten,  Baron 
Sigmund  Eemöny,  suchte  Danielik,  dessen  grosse  Bildung  und  Befähigung  er 
erkannte,  der  nationalen  Sache  zu  gewinnen.  Und  dies  gelang  ihm  dermassen,  dass 
Danielik  alsbald  seine  politische  Gesinnimg  teilte,  welche  das  Blatfc  •  Religio», 
dessen  Eigentümer  und  Redacteur  er  1849  wurde,  in  solchen  Ausdrücken  zu 
Tage  treten  liess,  dass  die  Polizei  dasselbe  1851  in  Beschlag  nahm  und  Danielik 
selbst  zu  zweimonatlicher  Haft  verurteilte.  Im  Herbste  des  folgenden  Jalires 
indessen  konnte  dieser  auf  Intervention  des  Fürstprimas  Scitovszky,  unter  den 
Glückwünschen  des  ungarischen  kathohschen  Lesepublikmns,  die  Redaction  seines 
Blattes  wieder  aufnehmen. 

Ein  wichtiges  Moment  seines  Lebenslaufes  ist  seine  im  Sommer  1853  er- 
folgte Wahl  zum  Vicepräsidenten  der  Set.  Stefan-Gesellschaft.  In  diesem  seinem 
Wirkungskreise  konnte  er  unseren  Uterarischen  und  nationalen  Interessen  grosse 
Dienste  leisten  und  er  leistete  sie  auch ;  denn  jene  Gesellschaft  war  damals  das 
einzige  Feld,  auf  welchem  sich  unser  Ungartum  und  Schriftstellertum,  wiewohl 
unter  Controle,  mit  einiger  Freiheit  bewegen  durfte.  Er  wusste  hier  mit  grosser 
Geschickhchkeit  —  man  darf  sagen  —  die  sämmtlichen  kathohschen,  kirchlichen 
und  weltlichen  NotabiUtäten  des  Landes  in  den  Verband  des  Vereins,  ja  selbst  in 
den  Ausschuss   desselben   einen  Franz  Deäk,  Baron   Josef  Eötvös,  Graf  Georg 

'*'  Aus  Josef  SzYor^nyi*B  in  der  Januar-Plenarsitzung  der  ungar.  Akademie  der 
Wissenschaften  gelesenen  Denkrede. 


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186 


JOHANN   DANIBLIK. 


E4rolyi,  Paul  Somssich,  Baron  Ladislans  Wenckheim,  und  unsere  ei-sten  belehr- 
ten :  Franz  Toldy,  Dr.  Johann  6rdy  u.  A.  hineinzuziehen,  welche  nicht  allein 
die  Sitzungen  des  Vei-eins  besuchten,  sondern  dort  regelmässig  berieten,  debat- 
tirten  und  Commissions-Präsidien  tibemahmen,  während  unsere  Grelehrten  ihre 
Arbeiten  mit  Vergnügen  dem  Verein  zur  Pubhcation  Überhessen.  Diese  seine 
Thätigkeit  wird  allezeit  ein  glänzendes  Blatt  in  den  Annalen  des  Vereins  bilden, 
denn  er  leistete  damit  den  Uterarischen  und  nationalen  Interessen  gerade  in  der 
kritischesten  Zeit  grosse  Dienste,  deren  Wert  er  noch  dadurch  erhöhte,  dass  er, 
zur  Unterstützung  unserer  auf  literariscben  Verdienst  angewiesenen  zahlreichen 
guten  Schriftsteller,  die  in  riesigen  Dimensionen  geplante  •  Allgemeine  ungarische 
Encyklopädiei  begann  imd  deren  olme  Unterschied  des  Glaubens  gewählten 
Mitarbeitern  durch  glänzende  Honorirung  einen  sicheren  Erwerb  verschaffte.  Er 
initiirte  auch  die  ferneren  grossen  Publicationen  des  Vereins:  Cäsar  Cantu's 
«Weltgeschichte»,  das  «Leben  der  HeiUgen»  u.  s.  w.  und  stimmte  durch  diesen 
Thateifer  und  beträchtlichen  Erfolg  mehrere  hohe  geistüche  und  weltliche  Herren 
zu  bedeutenden  Opfern. 

Nachdem  er  1857  die  Bedaction  seines  Blattes  «Beligioi  in  andere  Hände 
gegeben,  konnte  er  das  von  Baron  Sigmund  Eemeny  redigirte  «Pesti  Naplö» 
häufiger  mit  seinen  Artikeln  au£9uchen.  Diese  erregten  alsbald  grosses  Aufsehen, 
so  dass  Baron  Eemeny  bezüglich  des  Verfassers  derselben  wiederholt  massenhaften 
Interpellationen  ausgesetzt  war.  Seine  Leitartikel  «Ueber  die  PoUtik  der  Zukunft», 
in  welchen  er  die  Stellung  unseres  Landes  gegenüber  den  Agitationen  Preussens 
constatirte,  hatten  eine  so  ausserordentliche  Wirkung,  dass  sich  daraus  ein  wirk- 
licher diplomatischer  Krieg  zu  entwickeln  begann.  Bismarck  wütete,  unsere 
Minister  erschraken  imd  die  ausländische  Presse  beschäftigte  sich  damit  noch 
anhaltender,  als  mit  Franz  Deäk's  berühmter  « Oster-Epistel ».  In  Anbetracht  sei- 
ner um  dieselbe  Zeit  erschienenen  Abhandlungen  und  selbständigen  Werke 
(«Der  Geist  der  Geschichte»,  «Golombus»  u.  s.  w.)  wählte  ihn  die  Ungarische 
Akademie  der  Wissenschaften  1858  zu  ihrem  EhrenmitgHed. 

Am  Ausgang  der  fünfziger  Jahre  keimte  in  seinem  Geiste  ein  grosser  und 
weitgreifender  Plan :  der  Plan  der  Errichtung  einer  auf  Liegenschaften  zu  grün- 
denden Bodencreditbank,  in  welche  der  ungarische  hohe  Clerus  mit  seinen  sämmt- 
lichen  Besitztümern  eintreten  soUto,  und  zwar  so,  dass  zwischen  den  Kirchen- 
gütem  und  der  geplanten  Bank  als  nationalem  Geldinstitut  ein  so  enger  Verband 
organisirt  werden  sollte,  dass  in  Folge  desselben  eventuell,  wann  immer  diese 
Güter  angegriffen  würden,  die  ganze  Nation  dagegen,  als  gegen  eine  Gefährdimg 
ihres  eigenen  Interesses,  zu  protestiren  gezwungen  sein  müsste.  Da  indessen  der 
Plan  auf  unüberwindhche  Hindernisse  stiess,  gab  er  den  Versuch  der  Ausführung 
desselben  vorläufig  auf  und  spann  seine  Entwürfe  in  Betreff  eines  anderen,  viel 
umfangreicheren  Unternehmens  weiter.  Er  hatte  die  grandiose  Absicht,  eine 
Bundesvereinigung  der  Kirchengüter  der  sämmtlichen  katholischen  Staaten 
Europas  zu  dem  Zwecke  zu  bewerkstelligen,  um  vermittelst  Erhöhung  der  Ein- 
künfte des  katholischen  Vermögens  die  grossen  Aufgaben  und  Institutionen  der 
Weltkirche  zu  fördern.  Er  schickte  sich  an,  die  von  Langrand-Dumoncean  geleite- 
ten belgischen  katholischen  Banken  für  seinen  Plan  zu  gewinnen.  Zu  diesem 


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JOHANN    DANIEUK.  187 

Zwecke  nahm  er  einen  auf  vier  Monate  nach  Deutschland,  Frankreich,  Spanien, 
ItaHen,  Belgien  und  Holland  lautenden  Beisepass  heraus  und  trat,  iu  Wien  auch 
vom  König  und  mehreren  hohen  Persönlichkeiten  empfangen,  seine  Reise  an. 
Langrand  trat  seinen  grossen  Bestrebungen  bereitwillig  bei,  und  zwar  mit  dem 
Versprechen,  dass  er  mit  den  Wohlthaten  der  dem  Plane  gemäss  zu  errichtenden 
neuen  katholischen  Banken  in  erster  Linie  die  volkswirtschaftliche  Entwicklung 
Oesterreichs  und  Ungarns  ins  Werk  setzen  werde.  Zu  grossem  Vorteile  gereichte 
der  Angelegenheit  die  eben  in  diese  2ieit  fallende  Erhöhung  des  AnseheuH  und 
Einflusses  Daniehk's,  welcher  Anfangs  1861  mit  dem  Titel  eines  Wahlbischofs 
von  Pristina  zum  Mitgliede  des  könighohen  Stattlialtereiraten  ernannt  wurde. 

Im  Frühling  desselben  Jahres  constituirte  er  den  auch  heute  segensreich 
wirkenden  Set.  Ladislaus- Verein,  dem  er  als  katholisch-patriotische  Aufgabe :  die 
Subvention  der  Schulen  und  Kirchen  der  Moldauer,  Biikowinaer  u.  a.  Csängö- 
Magyaren,  die  Konservirung  der  vaterländischen  alten  Kirchengebäude  imd  end- 
lich die  Förderung  der  grossen  Aufgaben  des  HeiUgen  Stuhles  vorsteckte.  Ferner 
bildete  den  Gegenstand  seiner  Sorge  vomehmhch  die  Sache  der  politischen  Erlö- 
sung unseres  Vaterlandes.  Er  stand  von  186:2  angefangen  in  Angelegenheit  des 
•Ausgleichs»  in  Briefwechsel  mit  dem  Kanzler  Grafen  ForgÄch,  in  häufiger 
Berührung  mit  Franz  Deäk,  und  gar  mancher  hochgestellte  und  einflussreiche 
Mann  stand  unter  seiner  pohtischen  Leitung  und  sozusagen  Vormundschaft. 
Damals  entstand  auch  sein  sogenannter  «Politischer  Programmentwurf»,  welcher, 
die  definitive  Regelung  der  öffentlichen  Angelegenheiten  im  Wege  der  Vertretung 
Bämmtlicher  Völker  der  Monarchie  entwickelnd,  den  Zweck  verfolgt,  vor  Allem 
die  Einheitsansprüche  der  Monarchie  vollständig  zu  befriedigen,  jedoch  sämmt- 
liehe  Rechte  Ungarns  zu  sichern ;  feiner  sämmthche  aus  den  früheren  Gesetz- 
gebungen noch  an  der  Oberfläche  befindhehen  Fragmente  miteinander  in  Einklang 
zu  bringen,  die  definitive  Gestaltung  —  insofern  sie  keine  Retraction  erfordert  - 
ohne  jegUches  Compromiss  des  Herrschers  zu  bewerkstelligen,  und  endlich  durch 
all  dies  die  volle  und  sichere  Hoffnung  auf  Bildung  einer  siegreichen  Partei  zu 
bieten.  Und  dieser,  grosse  Vorteile  verheissende  Programmentwiirf  wurde  auch 
an  competenter  Stelle  vorgelegt ;  da  jedoch  der  auf  anderer  Grundlage  einberufene 
«Reichsrat»  damals  bereits  tagte,  konnte  derselbe  nicht  mehr  verhandelt  werden. 

Inmitten  dieser  seiner  gross  angelegten  Thätigkeit  reifte  zugleich  seine, 
vereint  mit  den  belgischen  Geldinstituten  Anfangs  1 864  zu  beginnende  Operation. 
Als  ersten  Schritt  beschloss  er  die  persönliche  Ueberreichung  einer  an  den  Heili- 
gen Vater  zu  richtenden  Bittschrift,  in  welcher  er  die  Zustimmung  und  den  Segen 
Pills'  IX.  zur  katholischen  Unternehmung  Langrand  erbitten  wollte.  Und  diese 
seine  Mission  wurde  durch  den  Nuntius  in  Wien  und  in  Brüssel  und  durch 
mehrere  hochgestellte  belgische  und  französische  Kathohken  nicht  blos  gutge- 
heissen,  sondern  auch  urgirt.  Er  überreichte  die  Bittschrift  am  13.  April  1864, 
worauf  die  zustimmende  Antwort  und  der  Segen  des  Papstes  noch  in  demselben 
Monat  an  Langrand  gelangte.  Der  bittstellende  ungarische  Bischof  wurde  in  Rom 
mit  grossen  Ehren  empfangen ;  die  «Accademia  dei  Quiriti»  wählte  ihn  zu  ihrem 
Mitgliede  und  die  vatikanischen  Notabilitäten  wetteiferten,  ihn  auszuzeichnen. 

In  Folge  der  Wirkung  dieses  ersten  Erfolges  kamen  die  den  Interessen  der 


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188  JOHANN   DANIBLIK. 

belgisclien  Bank  und  in  Verbindung  damit  des  Heiligen  Stuhles  günstigen 
Momente  zu  rascher  Entwicklung.  Die  Bank  begann  in  unserem  Vaterlande  am 
1.  Mai  1864  durch  den  Ankauf  von  vier  Herrschaften  (180,000  Joch)  Fuss  zu  fas- 
sen. Danielik  aber  förderte  in  Born,  durch  seine  geräusclilos  fortgeführten  Nego- 
ziationen, die  Frage  eines  zu  Gunsten  der  römischen  Curie  bei  den  belgischen 
katholischen  Banken  imter  den  günstigsten  Bedingungen  abzuschhessenden  Anle- 
hens  bis  hart  an  die  Grenze  des  Vollzuges. 

Und  als  Jedermann  in  Anbetracht  seiner,  Europa,  ja  die  ganze  katholische 
Welt  berührenden  Thätigkeit,  dieser  seiner  gewaltigen  morahschen  Wirkung  und 
politischen  Bedeutung  eine  nahe  bevorstehende,  glanzvolle  Zukunft  weissagte, 
wurde  seine  Laufbahn  Anfangs  1865  ganz  unerwartet  abgebrochen.  Er  geriet  in 
materielle  Wirren.  Die  belgische  Bank  und  zahlreiche  Notabihtäten  beeilten  sich 
vergebens,  dem  nahenden  Uebel  zuvorzukommen.  Er  selbst  wandte  sich  noch 
einem  grossen  rettenden  Gedanken  zu.  Er  fasste  im  Bunde  mit  dem  berühmten 
Wiener  Ingenieur  Heinrich  Bessel  den  Plan,  die  in  der  Nähe  Boms  über  33,000 
Quadrat-Eatastraljoch  ausgedehnten,  Malaria  erzeugenden  tPontinischen  Sümpfe» 
auszutrocknen  und  in  berieselbares  Wiesenland  umzugestalten.  Der  Plan,  die 
Vermessung  und  der  Kostenvoranschlag  (2,700.000  fl.),  all  dies  war  am  ±  Novem- 
ber 1865  fertig,  —  aber  zu  spät;  denn  der  Anfang  des  verhängnissvollen 
Endes  war  bereits  da.  Nachdem  er  auf  sein  eigenes  Ansuchen  von  seiner  Statthai- 
tereiratswürde  unter  Verleihung  des  Hofratstitels  enthoben  worden,  zog  er  sich  von 
seiner  öffenthchen  Stellung  zurück. 

Das  Jahr  1 865  beschloss  er  noch  imter  grosser  politischer  Thätigkeit  in  der 
Hauptstadt.  Er  nahm  lebhaften  Anteil  an  dem  Werke  des  c Ausgleichest  und 
anderen  schwebenden  Fragen  jener  Zeit  Ihm  gebührt  der  Löwenanteil  an  dem 
Zustandekommen  des  zu  Gunsten  der  Pest-Leopoldstädter  imd  der  O&ier  Festungs- 
kirche  geplanten  iKirchenunterstützungs -Vereins»,  in  dessen constituirender  Ver- 
sammlung, im  Ofner  Bathaussaale  am  23.  Jänner  1865,  seine  durch  Wissenschaft- 
lichkeit und  Vortrag  gleichmässig  glänzende,  begeisternde  Bede  eine  grosse  Wir- 
kung hervorrief.  Endlich  zog  er  sich  Mitte  Dezember  desselben  Jahres  nach  Erlau, 
einige  Monate  nachher  aber  zu  seinem  Freunde,  dem  damaligen  Probst  von  Jäszö 
zurück.  Hier  verfasste  er  sein  grosses  Werk :  tDie  Prämonstratenser»  (515  Seiten), 
welches  die  Kritik  mit  ungeteiltem  Lob  begrüsste.  In  derselben  Zeit  schrieb  er 
auch  im  tPesti  Naplö»  wirkungsvolle  Artikel  «Ueber  die  Begelung  der  Eomitatei 
und  andere  zeitgemässe  Fragen ;  nach  dem  Ausgleich  aber  nahm  er  vereint  mit 
Baron  Sigmund  Eem^ny  kräftigen  Anteil  an  dem  Kampfe  gegen  die  ihr  Haupt 
erhebende  Beaction,  welche  besonders  in  ihrem  «Der  14.  April  1849»  betitelten 
geheimen  Blatte  gegen  die  Deäk-Partei  einen  wahren  Feldzug  eröffnete  und  den 
Parteiführer  selbst,  in  anonymen  Briefen,  wiederholt  mit  dem  Tode  bedrohte. 

Von  1871  an,  als  Baron  Sigmund  Kem^ny  durch  seine  Erkrankung  gänzlich 
von  der  Politik  abgezogen  wurde,  zog  sich  auch  Daniolik  immer  mehr  zurück 
imd  erschien  nur  noch  im  cEgri  Egyhdzmegyei  Közlöny»  (Erlauer  Diözesan- 
Zeitschrift),  im  tUj  magyar  Sion»  (Neues  ungarisches  Sion),  in  der  «Budapesti 
Szemle»  (Budapester  Bevue)  und  endlich,  als  Direktor  des  juridischen  LyoeimiB, 
in  einigen  rechtswissenschaftlichen  Studienheften  auf  dem  Felde  der  Literatur. 


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JOHANN   DANIELIS.  lÖ* 

Als  ihn  1883  sein  Erzbisohof  zu  seinem  eigenen  Stellvertreter  ernannte,  lebte  er 
beinahe  ausschliesslich  nur  noch  diesem  seinem  Wirkungskreise.  Sein  letztes 
öffentliches  Auftreten  fand  am  26.  März  1 885  im  Magnatenhause  statt,  wo  er  in 
einer  glänzenden  Bede  für  das  Becht  der  Einberufung  der  Titular-Bisohöfe  in  das 
Oberhaus  eintrat. 

Am  Anfang  des  folgenden  Jahres  1886  begann  sich  bei  ihm  ein  Gehimlei- 
den  zu  zeigen.  Es  drohte  ihm  dasselbe  traurige  Ende,  welches  seinen  Freimd,  den 
Baron  Sigmund  Eemöny  traf,  —  sein  glänzender  Geist  verdunkelte  sich  allmälig. 
Er  beschloss  seine  Tage  am  23.  Jänner  1 888  in  Erlau  bereits  als  ein  Lebendigtod- 
ter.  Sein  Oberhirt,  der  Erzbischof  Dr.  Josef  Samassa,  würdigte  sein  Hinscheiden 
in  seiner  Diöcese  unter  besonderer  Hervorhebung  seiner  erspriesslichen  und 
ruhmreichen  Thätigkeit  auf  dem  Gebiete  der  kirchheben  Literatur.  Seine  Schö- 
pfungen sowohl  auf  dem  Utoraiischen,  als  auch  auf  dem  Felde  der  Wolilthätigkeit 
werden  ihm  ein  langes  Andenken  sichern.  Jene  sind  zahlreiche  selbstständige 
Werke,  Abhandlungen,  Beden,  Bücheranzeigen,  Kritiken  u.  s.  w.  Auf  literarischem 
Gebiete  zeigte  er  den  edlen  Zug,  ausgezeichnete  junge  Kräfte  zu  fördern.  Viele 
unserer  Schriftsteller  hatten  ihr  literarisches  und  sonstiges  Emporkommen  seiner 
Aneiferung,  seinen  Batschlägen  und  Unterstützungen  zu  verdanken. 

Als  Mensch  war  er  von  lebhaftem  Temperament,  menschenfreundhch,  opfer- 
willig, ein  grosses  Herz,  ein  grosser  Geist.  Weil  er  aber  seinen  Lebenspfad  nicht 
ohne  Verirrungen  zu  wandeln  verstand :  wurde  auch  ihm  der  Welt  Lohn  zuteil. 
Viele  bekrittelten  seine  Vergangenheit,  auch  Solche,  die  weder  Hterarische  Werke 
von  dauerndem  Werte  imd  einen  Set.  Ladislaus -Verein,  noch  andere,  auf  Jahr- 
hunderte hinaus  wirkende  Denkmäler  der  Wohlthätigkeit  liinterlassen  haben. 
In  Verbindung  mit  seinen  materiellen  Wirren  wurden  am  meisten  seine  sogenann- 
ten «lucullischen  Gelage»  erwälmt.  Nun,  er  liebte,  in  Gemeinschaft  mit  seinem 
Freunde  Baron  Sigmimd  Kem^ny,  die  lustige  Gesellschaft ;  darum  empfingen  sie 
an  ihrer  Tafel  lieber  öfter  einzelne,  als  auf  einmal  viele  ihrer  Freimde.  Und  dann 
bedeuteten  ihre  Gastmähler  keine  Schwelgerei,  sondern  gehörten  zur  politischen 
und  socialen  Bewegung.  Dort  wurden  viele  gute  Ideen  und  Pläne  gezeitigt ;  und 
daneben  bewies  er  bei  solchen  Gelegenheiten  des  Oefteren  seine  Güte  gar  manchen 
in  bedrängter  Lage  befindlichen  Schriftstellern,  welche  derlei  Unterstützung  von 
ihm  in  anderer  Form  weder  gebeten,  noch  angenommen  haben  würden.  Seine 
materiellen  Verlegenheiten  müssen  weit  mehr  auf  Bechnung  seiner  grossen  Her- 
zensgüte, seiner  Spenden,  der  Verlagskosten  seiner  sieben  Jahre  hindurch  mit 
einem  jährHchen  Deficit  von  3 — 4000  fl.  redigirten  Zeitschrift  tBeligio»  und 
endlich  seiner  mehrmaligen,  grossen  Beisen  gesetzt  werden.  Glücklicherweise 
kann  ihm  kein  Lebender  des  Gesagten  wegen  ein  schweres  Wort  in  das  Grab 
nachsenden. 

Als  sich  die  Nachricht  von  seinem  Hinscheiden  verbreitete,  erregte  sie  in 
Vielen  Bührung  über  das  Erlöschen  des  glänzenden  Geistes  des  einst  eine  euro- 
päische Bolle  spielenden,  im  Lande  hochangesehenen  Mannes.  Nur  Diejenigen,  die 
seinen  ruhelosen  Geist  in  der  Vergangenheit  und  seinen  traurigen  Verfall  in  sei- 
nen letzten  zwei  Jahren  kannten  und  sahen,  konnten,  versölmt,  seinem  Geiste  die 
•Bohei  wünschen,  deren  er  nicht  in  grossem  Maasse  teilhaft  wurde,  bis  er  end- 


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^^  KURZfe    SITZUNOSBfiRiCHTi:. 

lieh  die  Zeit  mit  der  stillen  Ewigkeit  verbinden  konnte.  Nicht  allein  seine  Kirche, 
sondern  auch  die  literarische  und  wissenschaftliche  Welt  konnte  in  ihm  mit  Recht 
einen  ihrer  grossen  Todten  betrauern,  nebst  jenen  Vielen,  die  in  dem  Dahinge- 
scliiedenen  ihren  Wohlthäter  liebten  und  denen  er  —  wiewohl  dahingegangen  — 
lange  im  Gedächtniss  gegenwärtig  nnd  lebendig  bleiben  wird. 


KURZE  srrZTINGSBERTCHTE. 

—  ungarische  Akademie  der  Wissenschaften.  In  der  Sitsung  der  ersten 
Classe  am  5.  Jänner  las  das  c.  M.  Bemliard  Munkiicsi  eine  Abhandlung  des  c.  M. 
Sigmund  Simonyi  über  Die  Sprachneuerung  und  die  Fremdartigkeiten  (A  nyelv- 
ujitäs  ^s  az  idegenszeWis^gek).  Verfasser  gibt  der  Ansicht  Ausdruck,  dass  der 
principielle  Streit  über  die  Sprachneuerung  —  selbst  wenn  er  im  Stande  wäre,  noch 
etwas  Neues  zu  produciren  —  heute  kaum  mehr  einen  Zweck  hat,  sondern  dass  es 
unsere  Aufgabe  ist,  einerseits  jene  fehlerhaften  Ausdrücke  zu  verfolgen,  welche 
sich  noch  nicht  ganz  eingewurzelt  haben,  und  andererseits  uns  eingehender  mit 
der  Geschichte  der  Sprachneuerung  imd  unserer  neueren  Literatursprache  zu 
beschäftigen.  Zu  diesem  Zwecke  arbeitet  Verfasser  an  einem  Kazinczy- Wörterbuch 
und  legt  auf  Gi-und  seiner  zu  diesem  Zwecke  gemachten  Studien  eine  ausführliche 
Abhandlung  über  die  fremdartigen  Ausdrücke  Kazinczy's  vor. 

Hierauf  legte  Dr.  G6za  N^methy  als  Gast  sein  Werk  Cato8  Weisheitsspräcke 
vor,  welches  demnächst  als  Publication  der  klassisch-philologischen  Commission 
der  Ungarischen  Akademie  erscheinen  soll.  Vortragender  bietet  in  demselben  von 
dem  unter  dem  Titel  «Catonis  disticha  moralia»  aus  dem  III.  oder  IV.  Jahrhun- 
dert nach  Chr.  stammenden  Lehrgedicht,  welches  beinahe  bis  zur  jüngsten  Zeit 
eines  der  verbreitetsten  Schulbücher  in  ganz  Europa  gewesen  ist,  eine  metrische 
ungarische  Uebersetzung  nebst  einer  kritischen  Textausgabe  auf  Grund  der  ältesten 
und  besten  Handschrift,  des  Veroneser  Codex.  In  einer  längeren  Einleitung 
spricht  er  über  den  Charakter  und  die  Entetehungszeit  des  Werkes  und  führt 
schliesslich  in  möglichster  Vollständigkeit  die  zahlreichen  ungarländischen 
Uebersetzungen  und  Editionen  desselben  auf.  Demzufolge  wird  das  Werk  nicht 
allein  für  die  klassischen  Philologen  von  Interesse  sein,  sondern  auch  zur  unga- 
rischen Literaturgeschichte  und  Bibliographie  zahlreiche  neue  Beiträge  liefern. 

—  In  der  Sitzung  der  zweiten  Classe  am  12.  Jänner  las  das  correspondi- 
rende  Mitglied  Josef  Jekelfalussy  über  Die  Rolle  der  Eisenbahnen  in  unserem 
Staatshauslialte.  Diesen  Vortrag  teilen  wir  im  nächsten  Hefte  vollständig  mit.  — 
Hierauf  hielt  das  correspondirende  Mitglied  Gabriel  Tögläs  einen  Vortrag  Ethno- 
grajihische  Verhältnisse  und  administrative  Organisation  des  dacisciten  Berg- 
baues der  Römer,  Der  Vortrag  bildet  den  zweiten  Teil  der  Studien  des  Vortra- 
genden über  den  dacischen  Goldbergbau  der  Römer.  Das  einleitende  Capitel  wirft 
einen  Rückblick  auf  die  volkswirtschaftliche  und  rechtsgeschichtliche  Entwicklung 
des  Bergbaues.  Das  zweite  Capitel  schildert  Trajan's  planmässiges  Vorgehen  bei 
der  Besiedelung  des  Bergbangebietes,  welches  sich  vornehmlich  darin  äusserte, 


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RÜRZB   SITZUNGSBERICHTE. 


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daas  er  die  Goldberge  mit  den  aasgezeicbnetsten  Bergbauem  jener  Zeit,  mit  Dal- 
maten  und  Pimsten  bevölkerte.  Ausser  diesen  haben  die  Inschriften  das  Anden- 
ken vieler  syrischen,  pannonischen,  griechischen  Geschäftslente  und  Golonisten 
erhalten,  sowie  auch  die  massenhafte  Anwesenheit  von  Daciem  constatirt.  Und 
eben  diese  Vielartigkeit  der  Sitten,  Bacencharaktere  und  Religionen  verhinderte 
eine  engere  Verschmelzung  der  dacischen  Volkselemente.  Der  Bergbau  indessen 
erfreute  sich  dabei  einer  schönen  Blüte  und  Trajan  liess  die  Bergwerke  foi  das  kaiser- 
liche Aerar  durch  kaiserUche  Beamte  verwalten.  Das  dritte  Capitel  behandelt  das 
Personal  der  Bergbauverwaltung  und  des  Polizeidienstes.  Es  weist  nach,  dass  die 
administrative  Organisation  des  römischen  Goldbergbaues  in  Dacien  eine 
höchst  vollkommene  gewesen  und  unter  der  Leitung  des  Procurator  aurari- 
arum  stand. 

—  In  der  Plenarsitzung  am  26.  Januar  wurden  —  nachdem  Emerich  Pauer 
Josef  Szvor^nyi's  Denkrede  auf  Johann  Danielik  (s.  oben)  verlesen  und  der  Präsi- 
dent Baron  Boland  Eötvös  dem  Andenken  des  dahingeschiedenen  Fürntprimas 
Johann  Simor,  der  auch  Mitglied  des  Directionsrates  der  ungar.  Akademie  der 
Wissenschaften  gewesen,  einen  warmen  Nachruf  gewidmet  hatte  —  folgende  lau- 
fende Angelegenheiten  erledigt. 

Der  Unterrichtsminister  teilt  mit,  dass  die  von  Theodor  Duka  der  Akademie 
geschenkten  zwei  Buddha-Götzen  am  13.  November  in  Calcutta  eingeschifft  wur- 
den und  über  Triest  hiehergelangen  werden.  —  Der  Unterrichtsminister  übersen- 
det den  Entwurf  des  neuen  Stiftungsbriefes  der  Fek^shAzy  Stiftung  zur  Begut- 
achtung. Wird  an  die  L  Olasse  gewiesen.  —  Der  Unterrichtsminister  übei*sendet 
ein  alphabetisches  Verzeichniss  der  von  den  nichtmagyarischen  Bewohnern  des 
Landes  am  meisten  gebrauchten  Taufnamen  mit  der  Bitte  um  Angabe  der  ent- 
sprechenden ungarischen  Taufnamen.  Wird  der  I.  Classe  zugewiesen.  —  Der 
Honv^dminister  meldet,  dass  er  wieder  100  Exemplare  der  «Eriegsgeschichtlichen 
Mitteilungen  i  für  die  Honv^dtruppen  und  Commanden  bestellt  habe.  Dient  zur 
Kenntniss.  —  Die  königlich  Dänische  Akademie  meldet,  dass  sie  die  auf  die  astro- 
nomische Expedition  HelFs  bezügHchen  Daten  in  den  dänischen  Archiven  mit 
Vergnügen  sammeln  werde  und  übersendet  zugleich  die  Begesten  der  im  Staats- 
arclüv  gefundenen  Acten.  Wird  der  III.  Classe  zugewiesen.  —  Das  auswärtige 
Mitglied  Alfred  Ameth  dankt  für  die  anlässlich  seines  Dienstjubiläums  erhaltene 
Olückwunschadresse  der  Akademie.  Dient  zur  Kenntniss.  —  Die  II.  Classe  unter- 
breitet die  Antworten  der  Historischen  und  Archäologischen  Commission  auf  die 
an  die  Akademie  gerichteten  Fragen  in  Betreff  der  liistorischen,  ethnographischen 
nnd  archäologischen  Anhaltspunkte  für  das  die  Landnahme  durch  Herzog  Arpiid 
darstellende  Plafondgemälde,  welches  Michael  Munkäcsy  für  das  neue  Psrlaments- 
gebäude  anfertigen  soll.  Wird  der  Parlamentsbau-Commission  zugestellt  werden.  — 
Die  n.  Classe  befürwortet  die  Bitte  der  Historischen  Commission,  Dr.  Rudolf 
Yin  die  Herstellung  einer  kritischen  Ausgabe  der  Hauptquellen  der  ältesten  unga- 
rischen Geschichte  (der  Werke  der  Kaiser  Leo  und  Constantinus  Porphyrogenitus) 
zu  ermöghchen.  Der  Unterrichtsminister  soll  ersucht  werden,  Dr.  Rudolf  Väri 
durch  Verleihung  eines  Staatsstipendiums  die  Vergleichimg  der  alten  Handschrif- 
ten in  Neapel,  Rom,  Florenz,  Mailand,  Paris  u.  s.  w.  möglich  zu  machen.  —  Die 


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JÖ2  KURZE   8ITZTJNGSBBRI0HTE. 

I.  Classe  unterbreitet  den  Prospect  der  von  der  literarhistorischen  CommisBion 
unter  Bedaotion  des  corre8i>ondirenden  MitgHedes  Aladär  Ballagi  herauszugeben- 
den Vierteljahrsschrift  «Irodalomtört^neti  Közlem^nyeki  (Literarhistorische  Mittei- 
lungen). Dient  zur  Kenntniss.  —  Für  die  Christian  Lukäcs-Preisaufgabe  (mathe- 
matische oder  mathematisch-physikalische  Monographie)  sind  bis  31.  Dezember 
fünf  Concurrenzwerke  eingelaufen.  Werden  der  III.  Classe  zugewiesen.  —  Bei  der 
Akademiecasse  wurden  die  Legate  von  Samuel  Jdszay  (2000  fl.)  und  Alexander 
Than  (500  Ü.)  und  die  Stiftung  der  Stadt  Dobschau  (5000  fl.)  eingezahlt.  —  Den 
Schluss  machte  die  Vorlage  der  eingelangten  Geschenk-  und  Tauschwerke. 

Nach  der  Gesammtsitzung  fand  eine  geschlossene  Sitzung  statt,  in  welcher 
das  diesjährige  Budget  der  Akademie  festgestellt  wurde. 

Die  Einnahmen  erscheinen  mit  1 52,000  fl.  prähminirt,  und  zwar :  Stiftungs- 
zinsen  9000  fl.,  aus  Forderungen  3000  fl.,  Wertpapiere  51,000  fl.,  aus  anderen 
Realitäten  3500  fl.,  Zinsertiägniss  39,000  fl.,  Bücherverkauf  6000  fl.,  zurückzuzah- 
lende Vorschüsse  lOOOfl.,  Landesdotation  für  historische  und  literaturgeschichtliche 
Zwecke  15,000  fl.,  für  Veröffentlichimg  von  Kunstdenkmälem  5000  fl.,  für  naturwis- 
senschaftliche Foi-schungen  5000  fl.,  für  klassisch-philologische  Zwecke  1500  fl.,  für 
die  Bibliothek  5000  fl.  imd  zur  freien  Verfügung  der  Akademie  8500  fl.  Im  vergange- 
nen Jahr  betrugen  die  Einnahmen  1 46,000  fl.  Die  Ausgaben  für  das  laufende  Jahr  sind 
mit  1 50,000  fl.  in  Vorschlag  gebracht.  Die  bedeutenderen  Posten  derselben  sind :  Die 
I.  Classe  und  deren  Ausschüsse  16,500  fl.,  die  II.  Classe  29,500  fl.,  die  UI.  Classe 
16,500  fl. ;  zur  Unteretützung  der  Büchereditions-Unternehmungen  3000  fl.,  für 
die  Edition  der  Werke  des  Grafen  Stefan  Sz^clienyi  1500  fl.,  für  die  Edition  der 
Briefe  Kazinczy's  2000  fl.,  für  Preise  5000  fl.,  Subvention  der  iBudapesti  Szemle» 
5000  fl.,  Pi'ännmerationen  auf  die  «Ungarische  Revue»  und  auf  die  «Naturwissen- 
schaftlichen Berichte » 30(X)fl.,  für  dieBibhothek  7000  fl.,  Personalgebühren  28,650fl., 
Heizung,  Beleuchtung  u.  s.  w.  9500  fl..  zur  Ausschmückung  des  Prunksaales  700  fl. 
Gegen  das  Vorjahr  werden  an  Interessen  424-  fl.  94  kr.,  nach  den  Realitäten  65  fl. 
32  kr. ;  aus  dem  Bücherverkauf  527  fl.  22  kr.  mehr,  hingegen  nach  Wertpapieren 
109  fl.  60  kr.,  an  Hauszins  807  fl.  62  kr.  weniger  eingenommen,  so  dass  das  Ein- 
nahmeplus nur  100  fl.  ausmacht.  Aus  dem  Büchereditions-Untemehmen  nimmt 
die  Akademie  ebenfalls  um  3569  fl.  84  kr.  mehr  ein  als  sie  ausgibt ;  dieser  Betrag 
wird  zur  teilweisen  Deckimg  des  Deficits  der  früheren  Cyclen  verwendet,  so  dass 
dieses  Unternehmen  nunmehr  keiner  Subvention  bedarf.  Mehrausgaben  kommen 
vor  bei  den  Posten :  Personalbezüge  (645  fl.  22  kr.),  allgemeine  Auslagen  (1 026  fl.  29 
kr.),  Preise  (2708fl.),  BibHothek  (526  fl.  27  kr.),  auf  Gebäude  (3499  fl.  24  kr.),  verschie- 
dene Ausgaben  (1098  fl.  54  kr.) ;  hingegen  sind  die  Ausgaben  geringer  bei  Steuern 
(82  fl.),  Ausschmückung  des  Pninksaales  (600  fl.),  alten  Gebühren  (111  fl.)  und 
bei  den  Werken  Sz^chenyi's  (356  fl.).  Das  Ausgabenplus  beträgt  7413  fl.  86  kr., 
welches  aus  dem  Einnahmeplus  der  nächsten  Jahre  gedeckt  werden  muss.  Das 
Vermögen  der  Akademie  betnigEnde  1889  2.269,978  fl.  66  kr.,  am  Ende  des  vori- 
gen Jahres  aber  2.299,194  fl.  60  kr.,  dasselbe  hat  daher  um  29,215  fl.  94  kr.  zuge- 
nommen. In  diesem  Vermögen  sind  der  Akademiepalast,  das  Akademiezinshaus, 
die  Bibliothek  und  das  Inventar  im  Werte  von  einer  Million  aufgenommen.  Die 
Plenarsitzung  nalun  das  Budget  unverändert  an. 


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UNGARNS  INDUSTEIE.  HANDEL  UND  VERKEHE  IM  JAHRE  1889. 


Ein  stattlicher  Qaartband  von  861  Seiten  berichtet  über  die  amtliche 
Thätigkeü  des  kön.  ung.  Handelsminisiers  im  JaÄreiSSP.  Schon  dieser 
äusserliche  Umfang  des  Berichtes  flösst  Bespect  ein ;  noch  mehr  erhöht 
wird  aber  die  Achtung  vor  der  unermüdlichen,  vielseitigen  Wirksamkeit 
unseres  Handelsministers^  Sr.  Excellenz  des  Herrn  Gabriel  Baboss 
DE  Belüs,  wenn  wir  den  Inhalt  dieses  Quartanten  einer  aufmerksamen 
Prüfung  unterziehen.  Trotz  der  nahezu  besorgnisserregenden  Fülle  mnd 
Mannigfaltigkeit  der  amtlichen  Agenden,  womit  dieses  Ministerium  bedacht 
ist,  erfüllt  den  Leser  dieses  Berichtes  allenthalben  das  Gefühl  der  Befriedi- 
gung über  die  allenthalben  zu  Tage  tretende  Einsicht,  Sachkenntniss  und 
Sorgfalt,  mit  welcher  dieses  ebenso  weitläufige  als  höchst  wichtige  Bessort 
geführt  wird.  Die  glückliche  und  mit  zielbewusster  Zuversicht  leitende  Hand 
des  jetzigen  Handelsministers  ist  übrigens  auch  aus  jeder  Zeile  dieses  Be- 
richtes erkennbar,  der  ebenso  durch  den  Beichtum  seiner  Daten  und  durch 
mannigfache  Anregungen  in  volkswirtschaftlicher  Hinsicht  als  durch  die 
Anordnung  und  Klarheit  in  der  Darstellung  befriedigt. 

Minister  Baboss  gehört  zu  den  schöpferischen  Naturen ;  sein  gestal- 
tender Geist  begnügt  sich  keineswegs  mit  dem  Fortschreiten  im  alten 
Geleise ;  er  sucht  und  findet  neue  Formen,  deckt  frische  Quellen  des  Fort- 
schrittes auf,  bricht  neue  Bahnen  und  zwingt  durch  seine  wohlerwogenen, 
dann  aber  auch  mit  Kühnheit  und  Energie  in  Angriff  genommenen  und 
durchgeführten  Beformen  selbst  den  Gegnern  die  Achtung  und  Anerkennung 
ab.  Die  Neuerungen  im  Personen-  und  Frachtentarif  der  ungarischen  Staats- 
bahnen haben  den  Namen  und  Kuhm  des  Ministers  weit  über  die  Grenzen 
des  Landes  getragen.  Aber  auch  in  den  andern  Zweigen  seines  Amtes  ent- 
faltete Herr  v.  Babohs  eine  nimmerruhende,  lebenweckende  Thätigkeit,  wor- 
über im  Nachfolgenden  auf  Grund  des  vorliegenden  ministeriellen  Berichts 
für  das  Jahr  1889  das  Wichtigste  in  möglichster  Kürze  mitgeteilt 
werden  soU. 

Das  mittelst  Gesetzartikel  XVIII  vom  Jahre  1889  neu  organisirte 
ungarische  Handels-Ministerium  umfasst  folgende  Zweige  amtlicher  Thätig- 

ünguiMlM  B«TiM,  ZI.  1891.  m.  Heft.  13 


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194  UNGABNS  INDUSTRIE,  HANDEL  UND  VBRKEHB  IM  JAHRE    1889. 

keit :  I.  Strassen,  Brücken  und  öffentliche  Bauten.  II.  Post,  Telegraphen  und 
Telephon.  IIL  Die  königl.  Fostsparcasse.  IV.  Industrie  und  Binnenhandel 
V.  AuBsenhandel,  Zoll  und  Seeschiffahrt.  VI.  Ejisenbahnen  und  Binnen- 
schiffahrt. Vn.  Landesstatistik.  VIII.  Beamtenbildungs-Institute.  Von  dieser 
Reihenfolge  etwas  abweichend  wollen  wir  uns  mit  den  wichtigsten  Daten 
von  allgemeinem  Interesse  bekannt  machen,  wobei  wir  in  diesem  ersten 
Artikel  uns  mit  den  Verzweigungen  der  Industrie  und  des  Handels,  in  einem 
zweiten  Artikel  aber  mit  den  verschiedenen  Verkehrsanstalten  befassen 
werden. 

In  Bezug  auf  Industrie  und  Binnenhandel  betrachtet  Minister  Baross 
als  leitendes  Frincip  seiner  Thätigkeit  vor  Allem  die  richtige  Handhabung 
der  Industrie- Verwaltung.  Den  Rahmen  und  die  geeignete  Grundlage  hiefür 
hat  das  neue  Gewerbegesetz  (G.-ArtXVII:  1884)  geschaffen.  Demzufolge 
bildet  der  Minister  das  oberste  Aufsichts-  und  Entscheidungsforum  in 
gewerblichen  Angelegenheiten.  Die  pünktliche  EUnhaltung  und  Anwendung 
der  Bestimmungen  des  Gewerbegesetzes  gibt  zugleich  den  erforderlichen 
Schutz  und  die  Sicherheit  für  gesunde  und  auf  solider  Basis  ruhende 
Industrie-Bestrebungen.  Dabei  war  der  Minister  bemüht,  einerseits  den  Un- 
ternehmungsgeist nicht  durch  unbegründete  Vexationen  und  Einschrän- 
kungen behelligen,  anderseits  die  berechtigte  und  heilsame  Goncurrenz 
nicht  in  Schwindel  ausarten  zu  lassen. 

Diese  mehr  negative,  beaufsichtigende  und  abwehrende  Thätigkeit  fand 
ihre  entsprechende  Ergänzung  in  den  positiven  Massregeln  zur  Unter- 
stützung und  Förderung  unserer  Industrie.  Jene  Unterstützung  meint  der 
Herr  Minister  aber  nicht  in  dem  Sinne,  als  ob  der  Staat  selber  auf  das 
Gebiet  der  industriellen  Thätigkeit  treten  sollte,  um  dadurch  etwa  die  Privat- 
concurrenz  anzuspornen,  sondern  er  erblickte  diese  Förderung  vielmehr  in 
anderen,  systematischen  und  zielbewussten  Massnahmen  der  Regierung. 
Anregung,  Aufmunterung,  wohlwollende  Unterstützung,  unablässige  Auf- 
merksamkeit und  Verfolgung  der  wirtschaftlichen  Regungen,  nötige  Sorg- 
falt hinsichtlich  der  gewerblichen  Interessen,  Entwickelung  und  Verbesse- 
rung der  geistigen  Ausbildung  d^  Arbeiter  sowie  unablässige  Beobachtung, 
Prüfung  und  Verwertung  der  Gestaltungen  und  Erscheinungen  des  prakti- 
schen Lebens  —  das  sind  ebensoviele  Mittel  der  Staatsge^calt  zur  Entwicke- 
lung und  Förderung  der  Industrie,  welche,  zur  richtigen  Zeit  benützt  und 
angewendet,  gar  bald  zu  dauerndem  Erfolg  führen.  Der  Minister  hat  deshalb 
seine  positive  Mitwirkung  zur  Hebung  der  Industrie  nur  dort  eingesetzt,  wo 
es  die  Notwendigkeit  geboten  hatte  und  ein  concreter  Erfolg  erreichbar  war. 

Es  ist  ein  gutes  Wort,  das  der  «Berichti  hierbei  ausspricht:  «Bei  der 
Industrie  sind  vor  Allem  eine  von  Illusionen  freie  praktische  Tüchtigkeit, 
sowie  ein  unermüdlicher  Fleiss  notwendig.! 

Die  Thätigkeit  der  Regierung  hinsichtlich  der  Industrie  erstreckte  sich 


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UNGARNS  INDUSTRIE,  HANDEL  UND  YBRKEHR  IM  JAHRE   1889.  1^5 

zunächst  auf  die  •  Induslrieverwaltung » (Gewerbegenossenschaften,  Industrie- 
gesellschaften, Lehrlingsschulen,  Bauführer-,  Steinmetz-  etc.  Prüfungen, 
Fabriksinspection) ;  dann  auf  die  t^Entmckelung  der  Industrie»  (Klein- 
gewerbe, Fabriks-  und  Hausindustrie,  Lehrwerkstätten,  Handels-  und  Ge- 
^erbekammem,  Ausstellungs- Angelegenheiten) ;  femer  auf  91  Merkantile 
Angelegenheiten»  (die  Börse,  kaufmännische  Firmen,  Jahr-  und  Wochen- 
märkte, Hausierwesen,  Maass  und  Gewicht,  Pfandleih- Anstalten)  und  end- 
lich auf  •Indtistrieüe  Privilegien  und  Schutzmarken». 

Nach  Aufhebung  der  alten  Zünfte  (durch  G.-Art.  Vm  vom  Jahre  1872) 
haben  sich  auf  Grund  des  neuen  Gewerbe-Gesetzes  (G.-Art.  XVH  vom  Jahre 
1884)  Gewerbe- Genossenschaften  gebildet,  deren  gegenwärtig  844  im  Lande 
vorhanden  sind.  Mit  diesen  Genossenschaften  sind  135  Unterstützungs- 
Gassen  mit  einem  Stammcapital  von  149,215  fl.  90  kr.  für  kranke  oder 
erwerbsunfähige  Gewerbetreibende  verbunden.  Manchen  Orts  betreiben 
diese  Gassen  auch  gemeinsamen  Ankauf  des  Bohmaterials  für  ihre  Mit- 
glieder. Für  die  Gehilfen  oder  Arbeiter  bestehen  dermalen  blos  54  Hilfs- 
cassen  mit  einem  Vermögen  von  104,802  fl.  16  kr. 

Die  im  Gewerbegesetz  vorgesetzten  Gewerbe- Cor porationen,  welche 
über  die  Angehörigen  des  Gewerbes  die  Aufsicht  und  die  Gontrole  fähren 
und  zugleich  in  mancher  Beziehung  auch  behördliche,  namentlich  friedens- 
richterliche Functionen  besorgen,  haben  sich  nur  in  der  Hauptstadt  Buda- 
pest nach  einzelnen  Industriezweigen  oder  Industriegruppen  gestaltet,  wäh- 
rend in  den  übrigen  Städten  und  Gemeinden  in  der  Begel  sämmtliche 
Gewerbetreibende  zu  einer  Corporation  verbunden  sind.  Solcher  Gewerbe- 
Corporationen  zählt  man  gegenwärtig  im  Lande  189;  von  diesen  haben 
62  Hilfscassen  für  ihre  Mitglieder  mit  einem  Vermögen  von  70,002  fl. 
05  kr. ;  für  die  Gehilfen  bestehen  88  Unterstützungs-Cassen  mit  186,606  fl. 
86  kr.  Die  Gonstituirung  und  die  entsprechende  Wirksamkeit  der  Gewerbe- 
(Jorporationen  stossen  noch  immer  auf  beträchtliche  Hindemisse  im  Schosse 
der  Gewerbetreibenden  selbst. 

Wenig  Erfreuliches  zeigen  die  Lehrlingsschulen,  obgleich  der  Fort- 
schritt hierin  seit  1884  ebenfalls  ein  augenfälliger  ist.  Damals  bestanden 
im  Lande  (angeblich)  nur  19  Lehrlingsschulen,  von  denen  sieben  auf  die 
Hauptstadt  entfielen.  Gegenwärtig  gibt  es  deren  309,  von  denen  20  niedere 
Handelsschulen  sind.  Wie  mangelhaft  aber  die  Zahl,  die  innere  Einrichtung 
und  der  Besuch  dieser  Schulen  ist,  lehrt  schon  das  dne  Factum,  dass  selbst 
in  der  Hauptstadt,  wo  Staat  und  Municipium  scharfe  Aufsicht  ausüben,  von 
9765  Lehrlingen  nicht  weniger  als  3869  Lehrlinge,  somit  weit  über  ein 
Dritte],  die  Lehrlingsschulen  nicht  besuchen.  Der  energischen  Thätigkeit  des 
Handels-  und  des  Unterrichts-Ministers  sowie  der  untergeordneten  Behörden 
in  Comitat  und  Stadt  bleibt  auf  diesem  Gebiete  noch  ein  grosses  Stück 
Arbeit  zu  thun  übrig ;  da  namentlich  zahlreiche  Industrielle  sich  um  die 

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196  UNGABNB  INDUSTRIE,  HANDEL  UND  VERKEHR  IM  JAHRE   1889. 

geistige  AusbilduDg  ihrer  Lehrlinge  gar  nicht  bekämmem  und  deshalb  auch 
dem  Abschlüsse  eines  ordentlichen  Lehrlings  Vertrages  gerne  ausweichen. 

Die  Institution  der  staatlichen  Fabriks-Inspection  hat  in  Ungarn  noch 
keine  entsprechende  Organisirung  erhalten,  obwohl  der  jetzige  Handels- 
Minister  auch  in  dieser  Bichtung  bereits  die  erforderlichen  Einleitungen 
getroffen  hai  Im  Jahre  1889  wurden  555  Fabriken  durch  staatliche  Organe 
inspicirt,  wobei  in  301  Fällen  das  Ministerium  zur  Abstellung  der  wahr- 
genommenen Mängel  und  Ordnungswidrigkeiten  einschreiten  musste.  Unter 
Einem  liess  der  Minister  das  Muster  einer  Arbeitsordnung  ausarbeiten  und 
in  den  betreffenden  Fabrikslocalitäten  öffentlich  anschlagen.  Die  gesetzlich 
vorgeschriebenen  Arbeiterlisten  fehlen  noch  immer  in  vielen  Fabriken.  In 
den  im  Jahre  1889  inspicirten  555  Fabriken  gab  es  626  Dampfmotoren  mit 
37,481  Pferdekraft,  214  Wassermotoren  mit  4523  Pferdekraft  und  26  Luft- 
druckmotoren mit  155  Pferdekraft;  ohne  Motoren  waren  103  Fabriks- 
anlagen. Die  Zahl  der  Arbeiter  war  41,336;  der  Lehrlinge  1619;  der  Tag- 
löhner  5887;  zusammen:  48,842  Arbeiter,  von  denen  35,673  (75  o/o)  dem 
männlichen  und  13,169  (25  o/o)  dem  iWeibUchen  Geschlechte  angehörten. 
Erwachsene  waren :  44,333 ;  von  14—16  Jahren :  3459 ;  von  12 — 14  Jahren: 
101 1 ;  unter  zwölf  Jahren :  39.  Die  meisten  männlichen  Arbeiter  gab  es  bei 
der  Eisen-  uud  Metall-Industrie,  die  meisten  Arbeiterinen  bei  der  Tabak- 
fabrikation. Die  Arbeitsbücher  mangeln  leider  noch  vielenorts,  am  meisten 
sträuben  sich  dagegen  die  Ziegelfabrikanten,  welche  ihre  beschäftigten 
Arbeiter  gerne  nur  als  Taglöhner  bezeichnen  wollen. 

Die  Arbeitszeü  in  den  ungarischen  Fabriken  dauert  gewöhnlich  8  bis 
12  Stunden,  je  nach  den  verschiedenen  Industriezweigen;  eine  fünf  zehn- 
stündige Arbeitszeit  wurde  nur  an  einem  Orte  vorgefunden.  In  einigen 
Dampfmühlen  Siebenbürgens  wechselt  24  Stunden  Arbeit  mit  24  Stunden 
Buhe;  eine  längere  Arbeitszeit  als  12  Stunden  findet  man  bei  der  Sprit-, 
Hefe-  und  Glas-Industrie,  wo  aber  die  Arbeit  nicht  ununterbrochen,  sondern 
mit  mehrstündigen  Pausen  betrieben  wird.  Die  tägliche  Arbeitspause  dauert 
in  den  meisten  Fabriken  2,  in  anderen  nur  IVa  Stunden.  Die  Stnckarbeiter 
sind  an  keine  Stundenzeit  gebunden.  Nachtarbeit  findet  hauptsächlich  in 
Eisen-  und  Metallfabriken,  in  Mühlen  und  Spiritus-Fabriken  derart  statt, 
dass  in  der  Begel  morgens  und  abends  6  Uhr  der  Schichtwechsel  eintritt 
Eine  Hauptaufgabe  der  Fabriks-Inspectoren  besteht  darüber  zu  wachen,  damit 
jugendliche  Arbeiter  nicht  des  Nachts  übermässig  beschäftigt  werden. 
Interessant  ist  es,  dass  im  Jahre  1889  Zwistigkeiten  zwischen  Arbeitgebern 
und  Arbeitern  in  den  ungarischen  Fabriken  kaum  vorgekommen  sind  und 
damals  kein  einziger  Arbeiterstrike  stattgefunden  hat.  Eine  besondere  Sorg- 
falt müssen  die  Inspectoren  auch  den  gesetzlich  vorgeschriebenen  Vorkeh- 
rungen zur  Sicherung  des  Lebens  und  der  Gesundheit  der  Arbeiter  zu- 
wenden. 


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ÜKOARKS  IKBÜSnofi,  BAKDEL  tlKD  VISRKfifilt  IM  JABfifi  18^.  1^7 

Gegenüber  der  auch  in  Ungarn  rasch  zunehmenden  Fabrika-Industrie 
hat  das  Kleingewerbe  einen  wachsend  schwierigen  Stand  und  man  macht  die 
betrnbende  Wahrnehmung,  dass  gewisse^  bisher  handwerksmässig  betrie- 
bene Gewerbe  in  manchen  Landesteilen  gänzlich  verschwunden  sind.  Der 
Herr  Handelsminister  erachtet  diesen  Niedergang  des  Kleingewerbes  für 
keine  naturgemässe  Erscheinung.  Er  findet  die  Ursachen  dieses  Verfalles 
vor  Allem  in  dem  Mangel  an  Betriebscapital,  resp.  an  Credit,  wodurch  auch 
die  Anschaffung  der  heute  unentbehrlichen  Hilfs- Maschinen  verhindert  wird. 
Daraus  folgt  femer  die  Verteuerung  der  Kleingewerbe- Production.  Nichts- 
destoweniger steht  diesem  Gewerbe  noch  ein  breites  Terrain  zu  Gebote,  auf 
welchem  es  eine  lebensfähige,  ja  lohnende  Thätigkeit  entwickeln  kann.  Der 
Minister  ist  bemüht,  das  Kleingewerbe  bei  Bestellungen  für  den  Staat  zu 
berücksichtigen,  er  begünstigt  die  Bildung  von  Creditverbänden,  Productiv- 
Genossenschaften  etc. 

Mit  Ende  des  Jahres  1889  gab  es  in  Ungarn  1132  grössere  Industrie- 
Anlagen  und  267  landwirtschaftliche  Spiritusbrennereien,  somit  insgesammt 
1400  Etablissements.  Kroatien-Slavonien  zählte  damals  117  Fabriken, 
somit  die  Länder  der  ungarischen  Krone  zusammen  1516 ;  doch  bieten  diese 
Zahlen  noch  keinen  vollständigen  Ausweis.  Im  Jahre  1889  allein  vermehrte 
sich  die  Zahl  der  Fabriken  um  151  mit  einem  Anlagecapital  von  über 
20  Milhonen  Gulden  und  einem  Arbeiterstand  von  mehr  als  10,000  Seelen ;  — 
jedenfalls  ein  deutlicher  Beweis  wachsender  Unternehmungslust  und  erstar- 
kender Gapitalskraft  in  Ungarn.  Dass  hiezu  auch  der  G.-A.  XLIV  vom  Jahre 
1881  über  die  staatlichen  Begünstigungen  der  einheimischen  Industrie 
Vieles  beigetragen  hat,  wird  durch  Thatsachen  bewiesen. 

Ausser  der  Heilung  des  Uebels  beim  Kleingewerbe  und  nebst  der  Ent- 
wickelung  der  Grossindustrie  befasste  sich  der  Handelsminister  noch  in 
hervorragender  Weise  mit  der  Unterstützung  und  Beförderung  der  Haus- 
industrie, welche  unter  unseren  Verhältnissen  eine  ausserordentliche  Wich- 
tigkeit hat.  Sieht  man  von  der  Deckung  der  häuslichen  Bedürfnisse  ab,  so 
werden  ausserdem  die  verschiedensten  Zweige  der  gewerblichen  Produotion 
durch  hausindustrielle  Arbeit  betrieben.  Hieher  gehören :  Hanf-,  Flachs-  und 
WoUespinnerei  und  Weberei,  Spitzenerzeugung,  Teppichweberei,  Ausnähen 
und  Stickerei,  Korb-,  Binsen-,  Stroh-  und  Weidenflechterei,  Kürschnerei 
und  Hutmacherei^  Erzeugung  von  Holzgefässen  und  häusHchen  Gerät- 
schaften, Kinderspielwaaren,  Möbeltischlerei,  Töpferei,  Schwammarbeiten, 
Siebflechten,  Holzschachteln-  und  Brettererzeugung,  Bürsten-  und  Besen- 
binderei —  Alles  das  sind  Beschäftigungen,  welche  in  Ungarn  von  der 
Hausindustrie  getrieben  werden.  Es  gibt  Gegenden,  in  denen  dieser  Betrieb 
geradezu  eine  Lebensfrage  für  die  Bewohner  bildet  und  schon  deshalb  eine 
besondere  Aufmerksamkeit  und  Berücksichtigung  verdient.  Dies  gilt  nament- 
lich von  jenen  Landesteilen,  wie  z.  B.  von  Gebirgsgegenden  Siebenbürgens 


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198  UNGARNS  INDtSTftrt:,  fiAKDfcL  ÜNt)  VteRKfiHR  Ilf  JaBRK  1880. 

und  Obemngams,  wo  es  weder  eine  Fabriks-Indnstrie  noch  eine  ausgiebige 
Landwirtschaft  gibt  und  die  Bevölkerung  aus  Mangel  an  Erwerbsquellen 
zur  Auswanderung  nach  Bumänien  oder  Amerika  genötigt  ist.  Allein  auch 
in  Gegenden  mit  landwirtschaftlicher  Production  hat  die  Haus-Industrie 
grossen  Wert,  weil  sie  in  den  arbeitsfreien  Wintermonaten  eine  angemessene 
und  lohnende  Beschäftigung  bietet  und  dadurch  zu  fortgesetzter  Arbeitsam- 
keit und  Sparsamkeit  gewöhnt.  Nicht  minder  werden  durch  die  Haus- 
industrie die  tauglichen  Arbeitskräfte  für  die  Grossindustrie  vorgebildet. 

Leider  entbehrt  trotz  dieser  mehrseitigen  grossen  Bedeutung  die  Haus- 
industrie in  Ungarn  noch  immer  (mit  wenig  Ausnahmen)  der  erforderlichen 
Beachtung  sowie  der  entsprechenden  Organisation.  Bei  uns  werden  bei- 
spielsweise die  Erzeugnisse  der  Hausindustrie  noch  immer  von  den  Erzeu- 
gern selbst  durch  monatelanges  Hausiren  im  Lande  und  ausserhalb  des- 
selben in  Umsatz  gebracht.  Eine  solche  Hausindustrie  ist  nach  des  Mini- 
sters Ansicht  nicht  lebensfähig ;  es  sei  unvermeidlich  notwendig,  dass  die 
Hausindustrie  mit  Unternehmern  in  Verbindung  stehe,  die  dem  armen 
Volke  das  Bohmaterial  liefern,  eventuell  Vorschüsse  leisten  und  die  fertigen 
Waaren  gegen  einen  anständigen  Preis  übernehmen.  Dabei  3teht  allerdings 
zu  besorgen,  dass  die  Hausindustriellen  auf  diesem  Wege  gar  leicht  in  die 
völlige  wirtschaftliche  und  persönliche  Abhängigkeit,  ja  in  die  Schuld- 
knechtschaft des  l)etreffenden  Unternehmers  und  Arbeitgebers  verfallen. 

Zur  Hebung  der  Hausindustrie  ist  in  erster  Reihe  die  verbesserte  Vor- 
bildung der  Hausindustriellen  vonnöten.  Der  Handelsminister  hat  deshalb 
den  bestehenden  Lehrwerkstätten  seine  besondere  Aufmerksamkeit  zuge- 
wendet und  ist  bemüht,  dieselben  nicht  nur  zu  erhalten  und  weiter  zu  ent- 
wickeln, sondern  sie  nach  Thunlichkeit  auch  zu  vermehren.  Im  Jahre  1889 
gab  es  zehn  solcher  Lehrwerkstätte^,  welche  teils  vom  Staate,  teils  von 
einzelnen  eifrigen  Interessenten  erhalten  wurden. 

In  das  Ressort  des  Handelsministers  gehören  auch  die  gewerblichen 
Fachschulen y  welche  in  zwei  Gruppen  zerfallen:  in  solohe,  welche  vor 
Allem  fachmännisch  gebildete  Industriearbeiter,  insbesondere  Werkführer 
vorzubilden  haben,  und  in  solche,  welche  zwar  auch  gewerbliche  Arbeiter 
heranbilden,  aber  zunächst  zur  Entwicklung  der  Hausindustrie  beru- 
fen sind. 

Zur  ersten  Gruppe  gehören  :  die  staatlich  subventionirte  mechanische 
Lehrwerkstätte  in  Budapest,  die  mittlere  Maschinen-Industrieschule  in 
Easchau,  die  Lehrcurse  für  Maschinenführer  und  Dampfkesselheizer  in 
Budapest  und  Elausenburg,  die  Lehrwerkstätten  für  Bau-^  Holz-  und  Eisen- 
industrie in  Klausenburg,  die  Strick-  und  Webeschule  in  Easchau,  die  Eunst- 
webeschule  in  Käsmark,  die  Lehrwerkstätte  für  Eunstschnitzerei  in  Ho- 
monna,  der  Lehrcurs,  resp.  die  Fabrik  zur  Erzeugung  von  Einderspielwaaren 
in  Bartfeld  und  M.-Väsärhely  und  der  Schuhmacher-LehrcursinHermannstadi 


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tmOAims  iKDtSntm»  StAKD^i  und  VEltKCHU  IM  JAfitlS  I8dd.  I9ft 

Zur  zweiten  Gruppe  gehören :  die  Lelnrwerkatatten  für  Spitzen-Erzeu- 
gung in  Eremnitz,  für  Weberei  in  Gsikszereda  und  Sz6kely-Eeresztur,  für 
Tuchweberei  in  Heitau,  für  Teppichweberei  in  Gross-Becskerek ;  dann  die 
Frauen-Indüstrie-Schulen  inBudapest,  Elausenburg  und  Szepsi-Szentgyörgy, 
endlich  die  Lehrwerkstätte  für  die  Erzeugung  von  Einder-Spielwaaren  in 
Gyergyö-Szent-MiklÖB,  Hermannstadt  und  Szel-Akna. 

Alle  diese  Anstalten  sind  jedoch  nur  spärlich  dotirt,  entfalten  aber 
nichtsdestoweniger  auch  bisher  schon  eine  erfreuliche  Wirksamkeii 

Die  Institution  der  Handels-  und  Gewerbekammern  besitzt  eine  wichtige 
volkswirtschaftliche  Bedeutung,  indem  diese  Kammern  einerseits  die  entspre- 
chend organisirte  Interessen-Vertretung  des  einheimischen  Gewerbes  und 
Handels  bilden,  andererseits  die  Regierung  in  ihren  volkswirtschaftlichen  Ver- 
fügungen durch  vertrauenswürdige,  auf  praktische  Erfahrung  gegründete  Mit- 
wirkung unterstützen  sollen.  Der  Herr  Handelsminister  v.  Baboss  hatte  bei 
üebemahme  seines  Bessorts  angesichts  der  zahlreich  aufgetauchten  Klagen 
über  die  Handels-  und  Gewerbekammem  für  den  5.  Oktober  1889  eine  fach- 
männische Gomroission  zur  Beratung  einer  Reihe  von  Beformfragen  hin- 
sichtUch  dieser  Handels-  und  Gewerbekammem  einberufen.  Auf  Grund  der 
Resultate  dieser  Beratungen  verfügte  sodann  der  Minister  eine  teilweise 
Reform  dieser  Institution,  namentUch  in  dreifacher  Beziehung :  a)  Ver- 
mehrung der  Kammern  und  entsprechendere  Einteilung  der  Kammer- 
bezirke ;  b)  Zuweisung  jenes  Wirkungskreises  und  Einflusses,  welcher  den 
Kammern  als  begutachtenden  Oorporationen  in  Gewerbe-  und  Handels- 
angelegenheiten gebührt ;  c)  Gkirantie  der  Berücksichtigung  der  von  den 
Kammern  erstatteten  Gutachten  und  Berichte. 

Auf  dem  Gebiete  des  Königreiches  Ungarn  bestanden  zu  Ende  des 
Jahres  1889  fünfzehn  Handels-  und  Gewerbekammem,  und  zwar : 

1.  Arad  mit  den  Gomitaten  Arad,  B^kes,  Gsanäd  und  Hunyad  und  der 
königlichen  Freistadt  Arad  ; 

2.  Kronstadt  (Brassö)  mit  den  Oomitaten  Kronstadt  (Brassö),  Osik, 
Udvarhely,  Gross-Kokeln  (Nagy-KüküUö),  Hermannstadt  (Szeben),  Fogaras 
und  H&omsz^k. 

3.  Budapest  mit  der  Landeshauptstadt  Budapest,  mit  den  Komitaten 
Pest-Pilis-Solt-Klein-Kumanien,  Gran(Esztergom),Stuhlweis8enburg  (Feh^r)^ 
Neograd,  Heves,  JazygienGross-Kumanien-Szolnok,  Osongräd,  Bäcs-Bodrog 
und  Sohl  (Zolyom),  mit  den  königlichen  Freistädten  Stuhlweissenburg,  Sze- 
gedin,  Neusatz,  Maria-Theresiopel  und  Zombor  und  den  Municipalstädten 
Baja,  Hödmezö-Väsärhely  und  Kecskem^t. 

4.  Debreczin  mit  den  Komitaten  Hajdü,  Bereg,  ügocsa,  Marmaros, 
Bihar,  Szabolcs,  Szatmär  und  Szilägy,  mit  den  königlichen  Freistadten 
Debreczin  und  Szatmär-N^meti  und  der  Municipalstadt  Grosswardein ; 

5.  Essegg  mit  den  Oomitaten  Veröcze,  Pozsega  und  Syrmien,  mit  den 


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200  TTNOABNS  INDÜ8TRIB,  HAKDfiL  UND  VEBRBHB  IM  JAHBB   188d. 

königücben  Freistadten  Essegg  und  Pozsega  und  mit  den  (ehemaligen)  Grenz- 
distrikten  von  Gradiska,  Brood  und  Peterwardein ; 

6.  Finme  mit  dem  Gebiete  der  Stadt  Fiume ; 

7.  Eascbau  mit  den  Comitaten  Abauj-Toma,  Liptau,  Säros,  Zipa,  üng 
und  Zemplin  und  mit  der  königlichen  Freistadt  Eascbau ; 

8.  Elausenburg  für  die  Gomitate  Unterweissenburg,  Bistritz-Naszod, 
Elein-Eokeki  (Eis-Eüküllö),  Eolozs,  Maros-Torda,  Szolnok-Doboka  und 
Torda-Aranyos  und  für  die  königlicben  Freistädte  Elausenburg  und  Maros- 
VÄsÄrbely. 

9.  Miskolcz  für  die  Comitate  Borsod  und  Gömör-Eis  Hont ; 

10.  Fünfkircben  für  die  Gomitate  Baranya^  Somogy  und  Tolna  sowie 
für  die  königlicbe  Freistadt  Fünfkircben ; 

11.  Pressburg  für  die  Eomitate  Pressburg  (Pozsony),  Neutra  (Nyitra), 
Trencsin,  Ärva,  Turocz,  Hont,  Bars  und  Eomom,  und  für  die  königl.  Frei- 
städte Eomorn,  Sobemnitz-B^labänya  und  Pressburg ; 

12.  Oedenburg  für  die  Comitate  Oedenburg  (Sopron),  Eisenburg  (Vas), 
Zala,  Raab  (Györ)  und  Wieselburg  (Moson)  und  für  die  königlicben  Frei- 
städte Oedenburg  und  Baab ; 

13.  Temesvär  für  die  Gomitate  Temes,  Erassö-Szöreny  und  Torontäl, 
für  die  königlicbe  Freistadt  Temesvär  und  für  die  Municipalstädte  Panosova 
und  Werscbetz ; 

14.  Agram  für  die  Gomitate  Agram  (Tt&gt&h),  Warasdin,  Ereuz  (Eörös) 
und  Belovär  und  für  die  (früheren)  Grenzdistrikte  Banal  und  Ogulin-Sluin, 
mit  Ausnahme  des  Bezirkes  Bründl ; 

15.  Zengg  für  das  Gomitat  Fiume,  für  den  ehemaligen  Grenzdistrikt 
ljika-Oto6a2  und  für  den  Bründler  Bezirk. 

Die  Gesammtkosten  dieser  Eammern  beliefen  sich  im  Jahre  1889  auf 
180.346  fl. 

Vom  1.  Jänner  1891  an  ist  die  Anzahl  dieser  Eammern  auf  SO  erhöbt, 
also  um  fünf  vermehrt  worden  und  zwar  haben  die  neuen  Eammern  ihre 
Sitze  :  in  Neusohl  (Beszerczebänya)  für  die  Gomitate  Ärva,  Bars,  Hont,  Lip- 
tau, Neograd  und  Sohl  mit  der  königlichen  Freistadt  Schemnitz-Belab&nya; 
in  Baab  mit  den  Gomitaten  Gran,  Baab,  Eomom  und  Veszprim  und  der 
königlichen  Freistadt  Baab ;  in  Maros- Väs^hely  mit  den  Gomitaten  Gsik, 
Häromszek,  Maros-Torda  und  üdvarhely  und  mit  der  königlichen  Freistadt 
Maros-Väsärhely ;  in  Grosswardein  für  das  Gomitat  Bibar  und  die  Municipal- 
stadt  Grosswardein ;  endlich  in  Szegedin  für  die  Gomitate  Bäcs-Bodrog  und 
Gsongr&d  sowie  für  die  Städte  Baja,  Hödmezö-V&särbely,  Maria-Theresiopel 
(Szabadka),  Szegedin,  Neusatz  (Ujvid^k)  und  Zombor. 

Nach  dieser  Ausscheidung  ändern  sich  mehrfach  auch  die  bisherigen, 
weiter  oben  angeführten  Territorien  der  älteren  Eammern. 

Eine  ganz  besondere  Aufmerksamkeit  widmet  der  Handelsminister  den 


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ÜKÖARN8  INDUSTRIE,  HANDEL  UND  VKBKEHB  IM  JaHBC   1889.  ^1 

öffentlichen  Lieferungen  für  staatliche  Zwecke,  wobei  er  bestrebt  ist,  der 
eiobeimischen  Prodaction  den  ihr  gebührenden  Anteil  zu  gewinnen  nnd  zn 
sichern,  ohne  jedoch  die  verschiedenen  Prodnctionskreise,  Industrie-  und 
Gewerbezweige  in  einseitiger,  monopolistischer  Weise  zu  begünstigen.  Ganz 
richtig  erscheint  auch  des  Ministers  Anschauung,  dass  eine  Fabrik  oder  eine 
(Jewerbsgruppe  sich  nicht  bloss  für  ärarische  Lieferungen  einrichten  solle.  Die 
Bildung  von  Verbänden  Kleingewerbetreibender  zur  Uebemahme  und  Be- 
sorgung solcher  Lieferungen,  namentlich  unter  Aufsicht  der  Gewerbe-Gor- 
porationen,  begegnet  mit  Recht  der  Förderung  von  Seiten  des  Ministers. 

Unter  den  Angelegenheiten  des  Handels  steht  in  erster  Linie  die 
Waartn-  und  Effecten-Börse  in  Budapest^  welche  sich  aus  der  schon  in  der 
ersten  Hälfte  unseres  Jahrhunderts  bestandenen  Pester  Getreidehalle  ent- 
wickelt und  ihre  erste  festgestellte  Organisation  im  Jahre  1 864  erhalten  hat 
Ihre  gegenwärtige  Verfassung  regeln  die  vom  Handelsminister  im  Jahre  1888 
bestätigten  Statuten  auf  Grund  einer  weitgehenden  Autonomie.  Die  Oberauf- 
sicht über  das  Institut  gebührt  dem  Handelsminister ;  die  Aufgabe  der  Börse 
besteht  in  der  Erleichterung  und  Begulirung  des  kaufmännischen  Verkehrs 
in  allen  Arten  von  Waaren,  Wertpapieren,  Wechseln,  Münzen  und  Edel- 
metallen. Der  Besuch  und  die  Mitgliedschaft  der  Börse  ist  sehr  erleichtert. 
Zur  Leitung  der  gesammten  Börse-Angelegenhaiten  besteht  ein  von  den 
Mitgliedern  auf  drei  Jahre  gewählter  Börsenrat.  Dieser  verfügt  über  alle 
Vermögens-  und  Verwaltung^ngelegenheiten  der  Börse,  er  bestimmt  die 
Geschäfts-Usancen,  entscheidet  über  die  Börsenwerte  und  die  ofßciellen  Gurs- 
notirungen,  ernennt  die  beeidigten  Börsensensale,  setzt  alle  Taxen  und  Ge- 
bühren fest  u.  s.  w.  Eines  der  wesentlichsten  Rechte  dieser  Selbstverwaltung 
besteht  in  der  Gerichtsbarkeit  des  Börsenrates  in  Börsen-  und  Merkantil- 
Streitsachen«  Keine  Börse  auf  dem  Gontinente  besitzt  eine  Autonomie  von 
solchem  Umfange,  die  Regierung  ist  bei  der  Budapester  Börse  bloss  durch 
zwei  Gommissäre  vertreten. 

Im  Jahre  1889  zählte  die  Börse  951  ordentliche  Mitglieder  und  162 
Börsenbesucher;  die  Zahl  der  beeidigten  Sensale  oder  Agenten  betrug  166. 
An  der  Getreide-Börse  fand  ein  Verkehr  von  13,188.300  Meterzentner  statt, 
womit  jedoch  keineswegs  der  gesammte  Geschäftsverkehr  der  Börse  in  dieser 
Richtung  bezeichnet  wird.  Eine  vertrauenswürdige  Statistik  über  Zahl  und 
Umfang  dieses  Verkehres  ist  überhaupt  noch  nicht  vorhanden.  Das  Börsen- 
gericht hatte  in  1764  Fällen  zu  entscheiden,  von  denen  711  Fälle  appellirt 
wurden. 

Nur  im  Vorbeigehen  bemerken  wir,  dass  im  Jahre  1889  im  Lande  ins- 
gesammt  4561  Handelsfirmen  improtocollirt  worden  sind  und  wenden  unsere 
Aufmerksamkeit  sofort  den  Wochen-  und  Jahrmärkten  zu. 

Auf  dem  Gebiete  der  Länder  der  ungarischen  Krone  werden  in  1600 
Gemeinden  Jahrmärkte  abgehalten,  und  zwar  in  der  Regel  jährlich  2 — 4, 


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^^  ÜKGABNS  iKDtTSTRIE,  HANDEL  UND  VERKEHK  IM  JAHEB   1880. 

dooh  gibt  es  auch  Gemeinden^  welche  die  Berechtigung  zu  6 — 8  Jahrmärkten 
besitzen.  Ebenso  verschieden  ist  auch  die  Dauer  dieser  Märkte ;  die  meisten 
dauern  blos  einen  Tag,  dann  gibt  es  aber  auch  Märkte  von  2—4  Tagen,  ja 
in  grösseren  Städten  dauert  der  Markt  8 -14  Tage.  Die  Jahrmärkte  sind 
entweder  allgemeine  oder  Vieh- Märkte,  letztere  bei  mehrtägigen  Märkten 
in  der  Regel  nach  Viehgattungen  abwechselnd. 

Gegen  die  übermässige  Vermehrung  der  Märkte  haben  die  gewerb- 
lichen Kreise,  namentlich  die  Handels-  und  Gewerbekammem,  Einsprache 
erhoben.  Auch  haben  die  Märkte  in  Folge  der  erleichterten  und  vermehrten 
Gommunicationsmittel  an  ihrer  früheren  Bedeutung  vieles  verloren ;  aber  die 
Abhaltung  dieser  Märkte  kann  dennoch,  insbesondere  für  kleinere,  abgele- 
genere Orte  nicht  entbehrt  werden  und  es  bilden  namentlich  die  Viehmärkte 
für  einen  grossen  Teil  unserer  Bevölkerung  ein  dringendes  Bedürfniss. 

Noch  weit  nötiger  als  die  Jahrmärkte  sind  die  Wochenmärkte,  deren  Zu- 
nahme um  so  weniger  beanstandet  werden  kann,  je  zahlreicher  selbst  in 
kleineren  Gemeinden  jene  Familien  werden,  die  ihre  Lebensbedürfnisse  sieh 
nicht  selbst  erzeugen  können,  wie  z.  B.  Beamte,  Militärpersonen,  Industrielle, 
Fabriksarbeiter  u.  dgl.  Die  engherzige  Bestimmung  des  Gewerbegesetzes  vom 
Jahre  1884,  der  zufolge  die  Wochenmärkte  von  fremden  Handwerkern  nicht 
beschickt  werden  durften,  wurde  im  Jahre  1887  teilweise  modificirt.  Die 
nach  dem  G.  A.  VE  v.  J.  1888  verschärften  strengen  Veterinär-Massregeln 
haben  namentlich  kleinere  Gemeinden  veranlasst,  ihrem  Marktrechte  zu 
entsagen  oder  dessen  Ausübung  mindestens  zu  suspendiren,  da  sie  den 
erhöhten  gesetzlichen  Vorschriften  nicht  entsprechen  konnten. 

Einen  Gegenstand  stetiger  Klage  der  Gewerbetreibenden  in  Stadt  und 
Land  bildet  das  Hamiertvesen,  welches  gemäss  dem  mit  Oesterreich  geschlos- 
senen Zoll  und  Handelsbündnisse  in  der  ganzen  Monarchie  nach  gleichen 
Grundsätzen  geregelt  ist.  Doch  sowohl  damit,  wie  mit  dem  GimentirungS' 
wesen  können  wir  uns  an  dieser  Stelle  nicht  weiter  beschäftigen  und  wenden 
deshalb  den  königlich  ungarischen  Pf andleihanstaUen  in  Budapest  die  Auf- 
merksamkeit zu. 

Die  Institution  eines  königlich  ungarischen  Pfandhauses  verdankt  ihre 
Entstehung  der  Kaiserin-Königin  Maria  Theresia,  mittelst  deren  Entschlies- 
sung  vom  1.  Juli  1773  die  erste  Anstalt  dieser  Art  in  Ungarn  tzur  Unter- 
stützung der  hilfsbedürftigen  armen  Volksclassen  und  zur  Verhinderung  des 
Wuchers»  zu  Fressburg  ins  Leben  gerufen  wurde.  Dieses  Pfandhaus  dauerte 
bis  zum  Jahre  1855. 

Nach  dem  Muster  des  Pressburger  Institutes  wurde  von  Kaiser  Josef  EL 
am  6.  Juni  1787  das  •  königlich  privilegirte  ungarische  Pfandhaus»  in  Ofen 
errichtet,  zu  dessen  Gunsten  der  Kaiser  unter  dem  28.  Juni  d.  J.  den  Ankauf 
und  die  Adaptirung  eines  Hauses  um  13.962  fl.  51  kr.  anordnete  und  das 
Umsatzcapital  der  Anstalt  auf  6000  fl.  bestimmte.   Ausserdem  sollte  das 


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tJKOARNS  INDUSTRIE,  HAKDEL  ÜKD  VERKBHn  IM  JAHBE   1889.  203 

Institut  für  seine  Bedürfnisse  vom  königlich  ungarischen  Statthaltereirate 
Darlehen  zu  3Vs%  Verzinsung  erhalten.  Das  Institut  nahm  bald  einen 
bedeutenden  Aufischwung  und  wurde  nach  der  Entscheidung  des  Statthal- 
tereirates vom  Jahre  1801  auf  die  Pester  Seite  der  ungarischen  Hauptstadt 
verlegt^  wo  es  in  seinem  noch  gegenwärtig  innehabenden  Gebäude  in  der 
inneren  Stadt  am  1.  Januar  1803  seine  Thätigkeit  eröffnete.  Die  monat- 
lichen Versteigerungen  dar  nichtzurückgelösten  Pfand-Objecte  begannen  am 
1.  Oktober  1788  und  fanden  seitdem  in  jedem  Monate  statt. 

Das  königlich  ungarische  Leihhaus  in  Budapest  hat  innerhalb  der 
letzten  zwei  Decennien  hinsichtlich  der  Verpfändungen  eine  bedeutende 
Zunahme,  in  Bezug  auf  die  hiefür  erhaltenen  Beträge  aber  eine  beträchtliche 
Abnahme  aufzuweisen.  Während  z.  B.  bis  zum  Jahre  1876  die  Verpfän- 
dungen von  321,701  auf  439,800  Fälle  und  die  Pfandsummen  dort  2.672,624, 
hier  3,401.631  fl.  betrugen;  ist  seither  zwar  die  Zahl  der  Verpfändungen 
erheblich  grösser  geworden  (im  Jahre  1889  betrug  sie  550,520),  dagegen 
aber  die  Höhe  der  ausbezahlten  Beträge  continuirlich  gesunken;  im  Jahre 
1889  steht  sie  nur  auf  2.476,405  fl.,  also  niedriger  als  im  Jahre  1871,  da  sie 
2.672,624  fl.  gewesen. 

Ein  erfreuliches  Moment  zeigen  die  erfolgten  Auslösungen  der  Pfand- 
Objecte.  Während  nämUch  bis  zum  Jahre  1 876  die  Höhe  der  Auslösungs- 
summe stets  hinter  der  Grösse  der  ausbezahlten  Pf^dbeträge  zurückgeblieben 
war,  machen  seither  die  zurückgezahlten  Summen  in  der  Regel  mehr  aus  als 
die  geborgten  Beträge.  Im  Jahre  1889  wurden  541,219  Pfandstücke  um 
2,488.323  fl.  ausgelöst.  Die  Bestanzen  bewegen  sich  in  Bezug  auf  die  Objecte 
in  aufsteigender  Linie,  hinsichtlich  des  Geldwertes  zeigen  sie  mit  einigen 
Variationen  im  Grossen  und  Ganzen  abnehmende  Tendenz. 

Im  Jahre  1876  war  z.  B.  die  restliche  Stückzahl  246,837  mit  einem 
belehnten  Werte  von  2.255,863  fl.,  im  Jahre  1889  hatte  erst^re  251.121 
Stücke,  letzterer  1.389,660  fl. 

Bei  der  Gründung  des  königlich  ungarischen  Leihhauses  hatte  dasselbe 
einen  Zinsfuss  von  lOVe^/o,  der  bis  zum  Jahre  1840  aufrechterhalten  blieb. 
In  diesem  Jahre  wurde  derselbe  auf  9^Va7®/o  herabgesetzt,  dagegen  im  Jahre 
1874  (in  Folge  der  Krisis  vom  Jahre  1873)  auf  12®/o  erhöht  und  erst  im 
Jahre  1879  wieder  auf  10  Percent  reducirt.  Dieser  Zinsfuss  ist  auch  heute 
noch  in  Geltung.  An  Zinsen  flössen  im  Jahre  1889  im  Budapester  könig- 
lichen Leihhause  159,598  fl.  78  kr.  ein. 

Das  zum  Umsatz  erforderliche  Oapital  entiehnt  das  Leihhaus  teils 
einzelnen  Geldinstituten,  teils  von  Privaten  zu  verschiedenem  Zinsfusse. 
Im  Jahre  1889  hatte  die  Anstalt  auf  solche  Weise  982.304  fl.  94 Vs  kr.  auf- 
genommen und  an  Zinsen  54,099  fl.  34  kr.  gezahlt. 

Ausser  dem  innerstädtischen  königl.  Leihhause  besteht  in  Buda- 
pest   noch    eine     Filiale     desselben    in    der    Vorstadt    Theresienstadt. 


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^^  UK0ARN8  INDUSTRIE,  BaKDBL  XJKD  VBRKEHE  IM  JAHfiE   iSSd. 

Diese  Zweiganstalt  wurde  am  1.  Juni  1881  im  eigenen  neuen  Oebäude 
eröffnet;  sie  ist  in  Bezug  auf  den  Pfandverkehr  selbständig,  hat  jedoch  kein 
eigenes  Vermögen,  denn  ihre  Einkünfte  kommen  alle  auf  Bechnung  des 
innerstädtischen  Hauptinstituts.  Desgleichen  untersteht  sie  derselben 
Direotion.  Ihr  Geschäftsverkehr  ist  ein  bedeutender;  denn  im  Jahre  1889 
war  die  Zahl  der  Verpfandungen  276,000  Stück  mit  einem  Capital  von 
1.224,768  fl.  und  die  Zahl  der  Auslösungen  259,720  Stück  mit  einem  Be- 
trage von  1.212,707  fl.  An  Bestanzen  zählte  man  122,488  Stück  mit 
624,091  fl.  Capital.  An  Zinsenerträgniss  ergaben  sich  65,739  fl.  83  kr. 

Im  Jahre  1889  wurden  in  beiden  Anstalten  83,240  Pfandobjecte  ver- 
steigert. Die  Institute  hatten  darauf  eine  Forderung  von  339,303  fl.  71  kr.; 
das  Licitations-Ergebniss  war  463,840  fl.  81  kr.,  so  dass  nach  Befriedigung 
der  Instituts-Forderungen  noch  124,537  fl.  10  kr.  zu  Gunsten  der  Parteien 
übrig  blieben.  Was  innerhalb  drei  Jahren  nicht  in  Empfang  genommen  wird, 
verfällt  der  Gasse  des  Leihhauses. 

Für  die  königl.  ung.  Pfandleihanstalten  wirken  drei  Vermittlungs- 
Institute,  welche  dann  wieder  Pfandsammei-Geschäfte  in  verschiedenen 
Teilen  der  Stadt  errichten.  Solcher  Sammelgeschäfte  zählte  man  im  Jahre 
1889  insgesammt  78. 

Die  nach  G.-Ari  XIV:  1881  geschaffenen  Privatleih-Anstalten  unter- 
stehen gleichfalls  dem  Handelsminister,  dessen  Hauptbestreben  darauf 
gerichtet  ist,  die  Leihgebühren  nach  den  jeweiligen  Localverhältnissen  zu 
ermässigen,  damit  das  verpfändende,  zumeist  arme  Publicum  nicht  über- 
mässig belastet  werde. 

Der  Schutz  der  industriellen  Erfindungen  wurde  in  Oesterreich  zuerst 
im  Jahre  1810  durch  ein  Statut  geregelt;  diesem  folgte  hauptsächlich  unter 
Einfluss  des  französischen  Privilegien- Gesetzes  am  8.  Dezember  1820  ein 
kaiserliches  Patent,  welches  durch  die  ung.  Hofkanzlei  im  Wege  des  kön.  ung. 
Statthaltereirates  unter  dem  21.  August  1821  allen  Municipalbehörden  zur 
Damachachtung  zugestellt  wurde.  Die  Municipien  empfingen  dieses  Patent 
mit  grossem  Missfallen  und  dasselbe  bildete  auf  dem  Landtage  von  1825/27 
eines  der  Landes-Gravamina.  Die  weiteren  österr.  Gesetze  und  Verordnungen 
in  Angelegenheit  der  Industrie-Privilegien  fanden  zwar  in  Siebenbürgen  und 
in  der  Militärgrenze  Einführung ;  im  eigentlichen  Ungarn  beschäftigte  sich 
erst  G.-Art.  66  vom  Jahre  1840  mit  den  Privilegien,  dieses  Gesetz  kam  jedoch 
kaum  zur  Geltung.  Im  Jahre  1 852  regelte  ein  kaiserliches  Patent  die  industriel- 
len Privilegien  und  diese  Verordnung  blieb  bis  zimi  Jahre  1867  in  Kraft. 

Erst  der  G.-A.  XVI  vom  Jahre  1867  ordnete  in  Ungarn  die  Privile- 
girung  der  gewerblichen  Erfindungen.  Darnach  stehen  diese  Erfindungen 
nach  gleichen  Grundsätzen  in  beiden  Beichshälften  unter  gesetzlichem 
Schutze;  diese  Bestimmung  wurde  dann  auch  in  den  Jahren  1878  und  1881 
bei  Ernouerung  des  Zoll-  und  Handelsbündnisses  beibehalten ;  nur  in  Betreff 


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ÜNÖABNS  INDUB131IB,  HANDEL  UND  VBRKEHB  IM  JAHRE    1889.  205 

der  Gebührenverteilang  zwiscfaen  Ungarn  und  Oesterreich  fanden  einige 
Abänderungen  stau  Uebrigens  erbeiscbt  die  zeitgemäase  Begelung  der 
Patentsachen  eine  entsprechende  Beform  des  betr.  Gesetzes,  worüber  zwi- 
schen den  beiderseitigen  Regierungen  die  Verbandlungen  bereits  im 
Zuge  sind. 

Im  Jahre  1889  wurden  insgesammt  3481  Patente  erteilt;  davon  ent- 
fielen auf  ungarische  Staatsangehörige  261  (7*469  o/o),  auf  Oesterreicher 
1265  (36-340  o/o)  und  auf  Ausländer  1956  (56191  o/o)- 

Die  Zoll'  und  HandeU- Angelegenheiten  stehen  mit  den  übrigen  Fac- 
toren  und  Entwicklungen  der  Handels- Politik  im  unmittelbaren,  wechsel- 
seitigen organischen  Zusammenhang,  weshalb  bei  der  amtlichen  Erledigung 
der  hieher  gehörigen  Agenden  der  leitende  Minister  seine  Aufmerksamkeit 
auf  die  Anforderungen  des  praktischen  Lebens  überhaupt  und  insbesondere 
jener  Bichtung  zuwenden  musste,  welche  unter  objectiver  Berücksichtigung 
unserer  volkswirtschaftlichen  und  staatlichen  Lage  und  der  durch  die  gegen- 
wärtigen europäischen  Wirtschaftsverhältnisse  geschaffenen  Situation  der 
Befriedigung  des  praktischen  Lebens  am  meisten  zu  entsprechen  schien. 
Das  Hauptbesfreben  des  Handelsministers  war  indessen  dahin  bemüht, 
die  drnckenden  Folgen  der  jetzt  herrschenden,  absperrenden  Schutzzoll- 
Politik  möglichst  zu  oompensiren  oder  mindestens  abzuschwächen  und  zur 
Erleichterung  und  Beförderung  sowohl  des  Binnen-  wie  des  Aussenhandels 
alle  zur  Verfügung  stehenden  Mittel  und  jede  sich  darbietende  (jelegenheit 
zu  rechter  Zeit  und  mit  gehöriger  Vorsicht  und  Energie  zu  benützen. 

Hinsichtlich  der  Zoll- Angelegenheiten  steht  für  das  Jahr  1889  an 
erster  SteUe  die  nach  G.-Art  XXIV  vom  Jahre  1887  mit  dem  31.  Dezember 
1889  vorgeschriebene  Auflassung  der  Freihäfen  von  Triest  und  Fiume.  Da 
jedoch  die  Vorarbeiten  hinsichtlich  Triests  bis  zu  dem  obigen  Termine  nicht 
beendigt  waren,  so  wurde  der  Aufhebungs-Termin  bis  zum  1.  Juli  1891 
verlängert 

Den  an  Getreidemangel  leidenden  dalmatinischen  und  Quamero- 
Inseln  wurde  gestattet,  jährlich  höchstens  80,0(X)  Q.  Mais  und  20,000  Q. 
Weizen  und  Hirse  zollfrei  einzuführen.  Einer  ähnlichen  Vergünstigung 
erfreuten  sich  im  Jahre  1889  auch  die  südtirolischen  Gemeinden  Casotto 
und  Pedemonte. 

Die  sonstigen  Detail  Verfügungen  in  Zoll- Angelegenheiten  können  wir 
an  dieser  Stelle  nicht  weiter  verfolgen. 

In  Bezug  auf  die  Hebung  und  Beförderung  des  Aussenhandels  kommt 
die  Initiative  und  Ausbreitung  zunächst  der  Privatthätigkeit  zu ;  die  Begie- 
rung  kann  hierin  kaum  etwas  anderes  thun,  als  die  der  Entwickelung  im 
Wege  stehenden  Hindernisse  hinwegzuräumen  und  auf  die  Interessenten 
aneif^md  einzuwirken.  Dabei  legte  der  Minister  ein  besonderes  Gewicht 
darauf,  die  Ooncurrenzfähigkeit  unseres  Handels  zu  erleichtem,  die  auf- 


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206  UNGARNS  INDUSTRIE,  HANDEL  UND  VERKEHR  IM  JAHRE    1889. 

täucfaenden  Schwierigkeiten  möglichst  zu  bewältigen  und  zur  Eroberung  und 
Sicherung  des  uns  nahegelegenen  Marktes  in  den  orientalischen  Ländern 
das  Interesse  und  die  zielbewusste  Bewegung  in  den  weiteren  Kreisen  unserer 
Industriellen  zu  wecken  und  wach  zu  erhalten. 

Hierher  gehört  die  Errichtung  des  Handels- Museums  inBudapest, 
welches  im  Jahre  1885  entstanden  ist  und  seither  durch  Minister  Baross 
eine  bedeutsame  Erweiterung  erfahren  hat.  Ziel  und  Aufgabe  dieses  Mu- 
seums ist :  a)  Bekanntmachung  aller  jener  Waaren- Artikel,  welche  in  Ungarn 
concurrenzfähig  erzeugt  werden  und  deshalb  auf  Export  rechnen  können ; 

b)  Bekanntmachung  aller  jener  Handels-Artikel,  welche  im  Aaslande, 
namentlich  im  Orient  in  grösserem  Maasse  consumirt  werden,  um  so  den 
inländischen  Erzeugern  und  Händlern  die  nötigen  Fingerzeige  zu  bieten ; 

c)  möglichste  Orientirung  der  Producenten  über  jene  Bedürfnisse  des  ein- 
beimischen und  des  fremden  Consums,  an  dessen  Deckung  wir  Teil  nehmen 
können. 

An  dieser  permanenten  Ausstellung  im  Handels-Museum  nahmen  im 
Jahre  1887  671,  im  Jahre  1888  750,  im  Jahre  1889  746  Aussteller  Anteil. 
Ausserdem  finden  jährlich  periodische  Obst-,  Honig-  und  Eäse-Ausstel- 
lungen  statt.  Das  Budapester  Handels-Museum  hat  in  Salonichi  und  in  Belgrad 
seine  Vertreter  und  in  Serajewo  soll  eine  Filiale  desselben  errichtet  werden. 

Um  die  Wirksamkeit  des  Instituts  zu  erhöhen,  hat  Minister  Baross 
bei  Gelegenheit  der  neuesten  Organisation  dieses  Handels-Museums  dasselbe 
mit  dem  Handels-Ministerium  in  nähere  Verbindung  gebracht  und  zur  Lei- 
tung und  Ueberwachung  eine  Aufsichts-Gommission  bestellt,  an  welcher 
ausser  einigen  Mitgliedern  aus  dem  Schosse  des  Ministeriums  noch  eine 
Anzahl  ernannter  Vertreter  des  Handels-  und  Gewerbestandes  teilnehmen. 
Die  Hauptthätigkeit  richtet  das  Institut  auf  die  Hebung,  Belebung  und  För- 
derung des  ungarischen  Exporthandels  in  den  Balkanstaaten.  Dazu  dienen 
nicht  blos  die  schon  erwähnten  Vertretungen  und  Musterlager  des  Museums 
in  Belgrad  und  Salonichi  sowie  die  Filial- Anstalt  in  Serajewo,  sondern 
auch  besondere  reisende  Handels-Agenten  und  an  verschiedenen  wichti- 
geren Handelsplätzen  zu  bestellende  Berichterstatter  und  Gorrespondenten. 
Denselben  Zweck  der  Aufklärung  und  Orientirung  hat  auch  die  im  Handels- 
Museum  errichtete  bosnisch-herzegowinische  Abteilung  und  das  mit  einer 
Fachbibliothek  verbundene  merkantilische  Auskunfts-Bureau.  Ungemein 
erschwert  wird  diese  Action  des  Ministers  durch  die  oft  fast  unglaubliche 
Scheu,  ünerfahrenheit  und  vollständige  Unorientirtheit  unserer  Geschäfts- 
leute in  Sachen  des  Aussenhandels.  Es  soll  durch  das  Handels-Museum  die 
Selbstthätigkeit  der  Interessenten  keineswegs  geschmälert  oder  gar  beseitigt 
werden ;  die  Aufgabe  des  Museums  besteht  nur  in  der  Anregung,  Beförde- 
rung und  Unterstützung  der  Handels-Unternehmungen  Einzelner  und 
ganzer  Gesellschaften  und  Vereine. 


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UNGARNS  INDUSTRIE,  HANDEL  UND  VERKEHR  IM  JAHRE    1889.  207 

Ein  besonderes  Angenmerk  wendet  Minister  Baross  der  «Bückerobe- 
rang  des  griechischen  Marktes  für  den  nngarischen  Export»  zm  Deshalb 
soll  Fiume  mit  den  vornehmsten  Häfen  Griechenlands  in  nnmittelbaren 
Verkehr  gesetzt  werden. 

Ebenso  ist  der  Minister  bestrebt,  die  Hindemisse  des  ungarisclhen 
Wein- Exports  zu  bewältigen.  Der  Minister  hat  zu  diesem  Zwecke  Sachver- 
ständige zum  Studium  der  Weinconsum-Verhältnisse  namentlich  in  der 
Schweiz  entsendet  und  sodann  deren  Berichte  einer  Fach-Enquete  zur  Be- 
gutachtung und  Beurteilung  vorgelegt.  Hauptsache  sei,  dass  dem  auslän- 
dischen Gonsumenten  das  ungarische  Product  in  seiner  gesicherten  Reinheit 
und  Unver&lschtheit  bekannt  und  leicht  zugänglich  gemacht  werde. 

Von  grosser  Wichtigkeit  für  Ungarns  Aussenhandel  sind  ferner  die 
Beziehungen  zum  deiUschen  Reiche,  und  da  kommt  für  das  Jahr  1 889  nament- 
lich das  Verbot  der  Einfuhr  von  Schweinen  dahin  in  Betracht.  Den  aus- 
dauernden Bemühungen  des  Ministers  Baross  und  seines  GoUegen,  des 
Ackerbau-Ministers,  ist  es  gelungen,  den  deutschen  Beichskanzler  zu  be- 
stimmen, dass  er  dieses  Einfuhrverbot  für  Transporte  lebender  Schweine 
aus  Steinbruch  mindestens  für  eine  Anzahl  bestimmter  Einfuhrsplätze  er- 
heblich gemildert  hat.  Die  Schweineausfnhr  Ungarns  bewegte  sich  in  den 
Jahren  1882  und  1889  zwischen  542,099  (1888)  und  778,119  (1887)  Stück 
und  den  Geldwerten  von  31.119,840  (1888)  und  44.377,760  fl.  Im  Jahre 
1889  wurden  exportirt  601,502  Stück  im  Werte  von  37.831,591  fl. 

Auch  die  von  Frankreich  her  drohende  Gefahr  einer  empfindlichen 
Einschränkung,  ja  Verhinderung  unseres  Exportes  von  Schafen  und  Schaf- 
fleisch wurde  glücklich  überwunden;  im  Allgemeinen  litt  jedoch  der  ge- 
sammte  Vieh-Export  an  Bindvieh,  Schafen^  Ziegen  und  Schweinen  der 
österreichisch-ungarischen  Monarchie  im  Jahre  1889  erheblich  durch  die 
ausgebrochene  Maul-  und  Klauenseuche. 

Ungünstig  beeinflusst  wird  Ungarns  Spiritus-Export  durch  das  seit  1887 
in  der  Schweiz  eingeführte  Sprit-Monopol  und  dann  durch  die  drückende 
Goncurrenz  der  deutschen  Branntwein -Production.  Zu  mehrfachen  Klagen 
gab  das  serbische  Zollamt  in  Belgrad  Anlass,  namentlich  deshalb,  weil  es 
von  jedem  Marktbesucher  aus  Semlin  bei  Uebertretung  der  Grenze  von  dem 
einzelnen  Stück  Vieh  einen  Gesundheitspass  mit  einer  Stempelmarke  von 
einem  Dinar  abforderte.  Mit  Bussland  gab  es  im  Jahre  1889  Schwierigkeiten 
wegen  der  Einfuhr  von  Weinreben,  Weintrauben,  Obst  und  Gemüse ;  mit  der 
Türkei  hinsichtlich  der  Einfuhr  von  Bum  u.  a.  m. 

Indem  wir  auf  die  im  Jahre  1889  mit  fremden  Staaten  geschlossenen 
handelspolitischen  Verträge  und  Uebereinkommen^  welche  sich  jedoch  haupt- 
sächlich auf  die  Begelung  der  Patentsteuerfrage  in  der  Türkei,  in  Aegypten 
und  in  Bulgarien  beziehen,  sowie  auch  auf  die  ohnehin  einer  gründlichen 
Beform  unterliegenden  Oonsular- Angelegenheiten  hier  des  Näheren  nicht 


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208 


UNGARNS  INDUSTRIE,  HANDEL  UND  VERKEHR  IM  JAHRE    1889. 


eingeben,  geben  wir  nur  nocb  die  wicbtigsten  statistiBcben  Daten  mit  Bezug 
auf  den  ungariscben  AusBenbandel  in  den  Jahren  von  1885 — 1889. 
Damacb  betrag  die  Eivjvhr  im  Jahre  in  Tausenden  von 


Meterzentnern 


Stack 


Geldwert 


(Tatuenden  von  Golden) 

im  Jahre  1885 

15,419 

307 

448,889 

<     •       1886 

13,527 

236 

416.237 

.     .       1887 

13,913 

220 

434,504 

.     .       1888 

15,283 

274 

446,631 

•     <       1889 

16,438 

267 

459,478 

Die  Ausfuhr  dagegen  war: 


Heteizentoer 

Stock 

Geldwert 
(TauBenden  von 

im  Jahre  1885 

29,923 

48,831 

396,148 

.     •       1886 

29,682 

32,298 

417,846 

.     .       1887 

31,769 

41,206 

402,528 

.     •       1888 

36,976 

52,081 

444,383 

.     .       1889 

34,479 

63,346 

460,563 

Jahre 


Der    Gesammtverkehr  in  Tausenden  von   Gulden  betrug  somit  im 


1886 

845,037 

1886 

834,083 

1887 

837,032 

1888 

891,014 

1889 

920,041 

Die  Einfuhr  zeigt  sich  nur  in  den  zwei  Jahren  1886  und  1889  activ^ 
dort  mit  1,609,  hier  mit  1,085  Tausend  Gulden. 

Ungarns  Aussenhandel  befindet  sich  sowohl  hinsichtlich  seines 
Umfanges  wie  seiner  Richtung  im  Ganzen  in  fortschreitender  Entwickelung. 
Die  hauptsächlichsten  Import- Artikel  sind:  Textil-Producte,  Baum-  und 
Schafwoll-,  Leinen-,  Flachs-,  Jute-  und  Seidenwaaren  und  Bekleidungs- 
stücke; diese  Gruppen  allein  betrugen  im  Jahre  1889  die  Summe  von 
195.550^000  fi.  Ausserdem  werden  in  grösseren  Mengen  eingeführt:  Leder 
und  Lederwaaren,  Holz-,  Eisen-  und  Möbelwaaren,  wissenschaftliche  und 
musikalische  Instrumente,  Uhren,  Getränke,  Schlacht-  und  Zugvieh,  Zucker, 
Uterarische  und  Kunstgegenstände,  Petroleum,  Steinkohle  u.  a.  Der 
Getreide-Import  hat  seit  dem  Zollkriege  mit  Bumänien  erheblich  abge- 
nommen. 


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UNGARNS  INDUSTRIE,  HANDEL  UND  VERKEHR  IM  JAHRE   18S9. 


209 


Ausfuhrproducte  sind  vor  Allem  Getreide,  Hülsenfrüchte,  Mehl  u.  s.  w. 
Ungefähr  die  Hälfte  des  ungarischen  Exports  gehört  dieser  Gruppe  an. 
Hierauf  folgen:  Schlacht-  und  Zugthiere,  Holz,  Kohle,  Torf,  Wolle 
und  WoUwaaren,  Mineralien,  Getränke,  Gemüse,  Obst,  thierische  Pro- 
ducte  u.  s.  w. 

Der  Haupthandelsverkehr  Ungarns  findet  selbstverständlich  mit  dem 
benachbarten  Oesterreich  statt,  das  bei  der  Einfuhr  mit  80— 86Vo,  bei  der 
Ausfuhr  mit  69 — 74®/o  beteiligt  ist.  Das  deutsche  Beich  liefert  Ungarn  in 
bedeutender  Menge  BaumwoUwaaren,  Frankreich  hauptsächlich  Seiden- 
fabrikate. Deutschland  ist  ein  guter  Abnehmer  des  ungarischen  Schlacht- 
viehes,  namentlich  der  Schweine  (Jahresausfuhr  1889:  93,378  Stück);  da- 
gegen haben  wir  seit  1882  für  unser  Mehl  den  deutschen  Markt  fast  gänzlich 
verloren ;  ebenso  ist  unser  Mehl-Export  nach  der  Schweiz  zurückgegangen 
und  in  En^nd  stationär  geblieben.  Von  unseren  südlichen  Nachbarn  ist  das 
Königreich  Serbien  mit  seinen  wichtigsten  Export- Artikeln  (hauptsächlich 
Schweine,  Ochsen,  gedörrte  Pflaumen,  Wein)  nahezu  ausschliesslich  auf 
Ungarn  und  Oesterreich  angewiesen ;  die  Einfuhr  von  dort  betrug  im  Jahre 
1889  schon  17*9  Millionen  Gulden;  im  Jahre  1884 erst  1 1*4 Millionen  Gulden. 
Hinsichtlich  Rumäniens  ist  der  Zollkrieg  bei  der  Einfuhr  weit  fühlbarer  als 
bei  unserer  Ausfuhr.  Eine  günstige  Entwickelung  nimmt  der  Handelsverkehr 
mit  Bosnien-Herzegowina,  wohin  unser  Export  von  2.882,000  fl.  (1884)  auf 
4.905,000  fl.  im  Jahre  1 889  gestiegen  ist.  Auch  mit  Bulgarien  und  Ost- 
rumelien  zeigt  unsere  Ausfuhr  eine  zunehmende  Tendenz. 

Einen  erfreulichen  Aufschwang  hat  in  den  letzten  Jahren  Ungarns 
maritimer  Handelsverkehr  genommen.  Angesichts  der  europäischen  Schutz- 
zollpolitik und  der  hohen  Eisenbahntarife  musste  man  zur  Gewinnung  und 
Behauptung  eines  unabhängigen  und  wohlfeilen  Ezportweges  vor  Allem  den 
Verkehr  zur  See  pflegen.  Diesem  Zwecke  dienten  alle  jene  Vorkehrungen  des 
Handelsministers,  welche  im  Interesse  der  Förderung  des  Handelsverkehres 
mit  Fiume  getroffen  wurden.  Diese  Vorkehrungen  bezogen  sich  aber  nicht 
blos  auf  die  Erleichterungen  in  der  Zufuhr,  sondern  auch  auf  die  Hebung 
des  See- Verkehres  selbst,  um  so  Eisenbahn  und  Schifffahrt  in  gehörigen 
Zusammenhang  und  in  üebereinstimmung  zu  bringen.  Andererseits  wurden 
die  Verkehrsmittel  zur  See  vermehrt,  neue  überseeische  Verbindungen  ange- 
knüpft und  neue  Handelslinien  eingeführt.  Ebenso  regelte  der  Handels- 
minister die  amtliche  Behandlung  der  Marine-Angelegenheiten  in  zweck- 
dienlicherer Weise. 

Auf  die  Anführung  von  Details  müssen  wir  an  dieser  Stelle  verzichten 
und  begnügen  uns  mit  der  Angabe  einiger  Hauptziffem,  welche  den  unge- 
meinen Aufschwung  des  Seeverkehrs  des  ungarischen  Haupthafens  von 
Fiume  klar  beweisen.  Es  war  nämlich  in  Fiume  an  Geldwert 

UngwiMhe  Banie,  XI.  1891.  lU.  Hell.  14 


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210 


UNGARNS  INDUSTRIE,  HANDEL  UND  VERKEHR  IM  JAHRE    1889. 


im  Jahre  1880 
1881 

1882 
1883 
1884 
1885 
1886 
1887 
1888 
1889 


die  Einfuhr 
7.851,655  fl 
12.179,211 
14.828,127 
21.712,293 
23.224,335 
21.882,325 
20.8il,027 
20.719,611 
23.723,477 
26.202,627 


die  Ausfuhr 
13.362,498  fl. 
22.323,810 
29.149,865 
43.011,562 
44.950,026 
54.333,479 
54.931,288 
54.459,675 
68.204,551 
62.319,470 


zusammen 
27.214,153  fl 
34.503,021 
43.977,992 
64.723,855 
68.174,361 
76.772,315 
75.772,315 
75.179,286 
91.928,028 
88.522,097 


Während  dieses  Decenniums  hat  also  die  Einfuhr  um  18.350,972  fl. 
oder  221.80/0,  die  Ausfuhr  um  42.956,972  fl.  oder  211-8o/o,  der  Gesammt- 
verkehr  um  61.307,944  fl.  an  Geldwert  zugenommen. 

Vom  Einfuhrswert  entfielen  im  Jahre  1889  auf  Schiffe  unter  öster- 
reichisch-ungarischer Flagge  44.1  o/o  >  auf  sämmtliche  fremde  Flaggen  aber 
55.90/0.  Beim  Export  war  die  österreichisch-ungarische  Flagge  mit  42.9  0/0, 
die  fremden  Flaggen  jedoch  mit  57.1 0/0,  beteiligt.  Im  Vergleich  mit  dem 
Jahr  1888  zeigen  diese  Verhältnisszahlen  für  unsere  Flagge  eine  Besserung 
mit  5.70/0. 

Eine  Staatssubvention  genossen:  1.  die  ungarische  Seeschiffahrts- 
Gesellschaft  cAdria»;  2.  der  •  österreichisch-ungarische  Lloyd»;  3.  dasFiuma- 
ner  Dampfschiffahrts-Ünternehmen  tSwerljuga  &  Comp.t;  4.  das  Dampf- 
schiffahrts-Untemehmen  «Erajacz  &  Comp.»  in  Zengg  und  5.  der  Unter- 
nehmer Leopold  Schwarz  in  Agram.  Den  Hauptexport  aus  Fiume  unter- 
hält die  Actiengesellschaft  lAdria»  mit  zehn  eigenen  Dampfern  zu  8847 
Tonnengehalt.  Ausserdem  steht  die  Gesellschaft  mit  englischen  Bhedem 
in  festem  Vertragsverhältnis  behufs  Lieferung  von  Export-Schiffen.  Im  Jahre 
1889  unternahm  die  GeseUschaft  272  Fahrten  und  zwar  156  für  Export 
und  116  für  Import.  Der  Gesammtverkehr  umfasste  279,489  Tonnen  und 
21,161  Kubikmeter.  Die  Hauptrichtung  unseres  Exports  zur  See  geht  nach 
dem  Westen  und  darin  liegt  die  grosse  Bedeutung  der  ungarischen  See- 
sohiffahrts-GeseUschaft  «Adria.» 

Der  Schiffsverkehr  Fiumes  im  Jahre  1889  betrug:  angekommen 
5,158  Schiffe  (2948  Dampf-  und  2,210  Segelschiffe)  mit  814,632  Tonnen- 
gehalt (davon  114,270 Tonnen  leer);  ausgelaufen  5145Schiffe(  2932 Dampfer 
und  2213  Segler)  mit  825,948  Tonnen  (davon  115,599  Tonnen  leer).  Gegen 
1888  war  die  Zahl  der  Dampfer  um  462,  der  Tonnen  um  113,785  grösser; 
dagegen  die  Zahl  der  Segler  um  425,  der  Tonnen  um  28,533  geringer;  so 
dass  insgesammt  der  Schiffsverkehr  sich  blos  um  37  Fahrzeuge  mit  85,253 
Tonnengehalt  erhöht  hatte. 

Gegenüber  jenem  von  Fiume  ist  der  Schiffsverkehr  der  übrigen  Seehäfen 


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UNGARNS  INDUSTRIE,  HANDBL  UND  VERKEHR  IM  JAHKB   1889.  211 

an  der  ungarisch-kroatischen   Küste  ein  zanaeist  wenig  bedeutender.  Es 
verkehrten  im  Jahre  1889  in  den  H&fen : 


Angekommen : 

Aosgelanfan: 

beladen 

leer 

beladen       leer 

Buccari     

426 

80 

362          121 

Portorö _. 

1141 

45 

1182            8 

Girqaenizza 

911 

51 

857         101 

NoTi      

482 

151 

219        412 

Selze 

620 

206 

313        513 

Zongg    

762 

103 

786          54 

San  Giorgio      

58 

73 

95          38 

Stinizza 

5 

89 

42          — 

Jablanacz 

76 

19 

18          77 

Garlopago     

173 

5 

156         22 

Zasammen 

4654 

770 

3830      1346 

Bescheiden  wie  dieser  Schiffsverkehr  in  den  zehn  ungarisch-kroati- 
schen Küstenplätzen^  ist  selbstverständlich  auch  der  hierdurch  vermittelte 
Güterumsatz.  Die  meisten  der  ein-  und  auslaufenden  Schiffe  sind  nur 
Küsten-  und  Lokalfahrer  und  die  grosse  Anzahl  der  leer  verkehrenden 
Fahrzeuge  beweist  deutlich  die  Geringfügigkeit  des  hier  betriebenen 
Handels. 

Ueberhaupt  (und  darauf  weist  auch  der  Minister  nachdrücklich  hin) 
hemmt  einen  kräftigeren  Aufschwung  unseres  Handelsverkehrs  zur  See 
der  Mangel  an  einheimischen  Gapitalien  sowie  die  geringe  Initiative,  der 
schwache  Unternehmungsgeist  und  der  fehlende  merkantilische  Blick, 
welcher  über  die  engen  Grenzen  des  unmittelbaren  Verkehrs  hinausreichend 
die  Verhältnisse,  Bedingnisse  und  Fördemisse  überseeischer  Handelsbezie- 
hungen aufzufassen,  zu  würdigen,  zu  pflegen  und  zu  erweitem  vermag. 
Möge  hierin  das  voranleuchtende  Beispiel  des  ung.  Handelsministers  G.  v. 
Baross  in  den  zunächst  interessirten  Kreisen  die  gewünschte  frachtbare 
Nachfolge  finden ! 

Prof.  Dr.  J.  H.  Sohwiokbb. 


14* 


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212  BEZIEHUNGEN  DES  KÖNIGS  MATHIAS  COBVINUS  ZU  WIENER- NEUSTADT 


BEZIEHUNGEN  DES  KÖNIGS  MATHIAS  CORVINUS  ZU  WIENER- 
NEUSTADT  UND  DER  CORVINUS-BEGHER. 


Nicht  lange  nach  dem  Antritt  seiner  Regierung  trat  Mathias  Corvinus 
in  Beziehungen  zu  der  österreichischen  Grenzfestung  Wiener-Neustadt.  Die 
Bürger  dieser  Stadt  besassen  zahlreiche  Weingärten  auf  ungarischem  Gebiete, 
insbesondere  in  der  Oedenburger  Gespanschaft,  und  zwar  in  solcher  Aus- 
dehnung, dass  schon  Herzog  Albrecht  III.  (1378)  eine  Beschränkung  dieses 
Besitzes  in  fremdem  Lande  geraten  fand.  Diese  Weinberge  waren  es  auch, 
welche  den  ersten  Befehl  (sowie  die  meisten  folgenden)  des  Königs  Mathias 
zu  Gunsten  von  Wiener-Neustadt  veranlassten.  Derselbe  erfloss  zu  Oeden- 
burg  am  20.  Juli  1463*  und  bedeutete  den  Dreissigsteinnehmern,  von  den 
Neustädtem  für  ihre  auf  dem  ungarischen  Boden  gebauten  Weine  keinen 
Dreissigst  mehr  einzuheben,  wie  zuvor  imberechtigter  Weise  geschehen 
sei ;  denn  die  Weinberge  der  Bürger  von  Wiener-Neustadt  in  Ungarn  seien 
von  dieser  Abgabe  zufolge  eines  Privilegiums  von  König  Ludwig  (dem 
Grossen)  befreit.  An  demselben  Tage  ergeht  auch  an  den  Bischof  von  Raab 
die  Weisung,  dass  er  von  den  Neustädtern  für  ihre  ungarischen  Bauweine 
keine  anderen  Abgaben  zu  erheben  habe,  als  von  seinen  inländischen  Unter- 
thanen.  Da  diese  beiden  Erlässe  schon  am  nächsten  Tage  nach  dem  end- 
giltigen  Abschluss  des  Friedens  zu  Oedenburg  zwischen  Kaiser  Friedrich  III. 
und  König  Mathias  ausgefertigt  wurden,  so  liegt  die  Vermutung  nahe,  dftös 
der  Kaiser  selbst  bei  den  Unterhandlungen,  die  bereits  1462  begonnen 
hatten,  die  Sicherung  der  Rechte  seiner  Unterthanen  in  Ungarn,  die  durch 
den  vorausgegangenen  Krieg  gefährdet  waren,  in  die  Hand  genommen  habe. 
Bei  dem  nächsten  Erlass  des  Ungarkönigs  für  Wiener-Neustadt  ist  dies  aus- 
drücklich hervorgehoben:  am  14.  November  1468  trägt  nämlich  König 
Mathias  von  Ofen  aus  den  ZoUeinnehmem  auf,  den  Bürgern  von  Wiener- 
Neustadt,  wenn  sie  ihre  auf  ungarischem  Boden  gebauten  Weine  abführen, 
keine  Abgaben  abzuverlangen,  wie  es  geschehen  sei;  nur  die  von  den 
genannten  Bürgern  in  Ungarn  gekauften  Weine  sollen  der  Besteuerung 
unterliegen.  Er  gestatte  jenes  aus  Ehrfurcht  und  aus  Gefälligkeit  (ob  respec- 

*  Es  findet  sich  im  hiesigen  Archiv  wohl  auch  ein  angeblicher  Befehl  des 
Königs  Mathias  Dienstag  nach  Lukas  1458  in  einer  Abschrift  aus  der  Mitte  des  17. 
Jahrhunderts.  Die  erste  Vergleichung  ergibt  sofort,  dass  derselbe  identisch  ist  mit  dem 
Befehle  vom  20.  Oktober  1478. 


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ÜltD  t)teB  CORVn^S-BfeCHÄÄ.  213 

tum  et  complacentiam)  gegen  den  Kaiser,  der  sieb  für  Wiener-Neustadt  ver- 
wendet habe.  Kaiser  Friedrich  residirte  ja  in  dieser  Stadt,  und  man  konnte 
sich  daher  gleich  direct  an  ihn  wenden.  Zehn  Jahre  später,  am  20.  October 
1478,  abermals  nach  Beendigung  eines  Krieges  mit  Kaiser  Friedrich  EI., 
ergeht  von  Ofen  aus  neuerdings  ein  königlicher  Befehl  an  den  Hauptmann, 
Bürgermeister,  Eichter  und  die  Geschwornen  zu  Oedenburg,  welcher  darauf 
hinweist,  dass  in  der  vergangenen  Weinernte  abermals  manche  Weine  von 
Wiener-Neustädter  Bürgern  angehalten  wurden,  und  der  den  Auftrag  gibt, 
dies  fürder  hintanzubalten. 


n. 


Das  letzte  Jahrzehent  der  Regierung  des  Königs  Mathias  ist  von  wie- 
derholten Kämpfen  gegen  Oesterreich  ausgefällt ;  in  diese  Zeit  fallt  auch  die 
zweimalige  Belagerung  von  Wiener-Neustadt  1486  und  1487  und  die  Ein- 
nahme der  Stadt  im  letzterwähnten  Jahre  zufolge  eines  Vertrages.  Da  näm- 
lich trotz  der  wiederholten  Zuschriften  und  Versprechungen  des  Kaisers 
und  seines  Sohnes,  des  römischen  Kaisers  Maximilian,  der  Entsatz  nicht 
eintraf,  und  Wiener- Neustadt  in  Hungersnot  geriet,  so  traf  der  Ungarkönig 
mit  der  Stadt,  vertreten  durch  ihren  kaiserlichen  Hauptmann  Hans  Wül- 
fenstorflfer,  durch  Bernhard  von  Westernach,  Karl  Augspurger,  Balthasar 
Hagen,  Siegmund  Wienberger,  Hans  Kunigsfelder,  sowie  durch  ihren  Bür- 
germeist-er  Jacob  Kelbel,  ihren  Stadtrichter  Wolfgang  Färstenberger  und 
den  Rat,  am  St.  Peter-  und  Paulstage  die  Vereinbarung,  dass  die  Stadt  nach 
Ablauf  von  sieben  Wochen  sich  ihm  ergeben  solle,  falls  es  während  dieser 
Zeit  nicht  dem  römischen  Kaiser  oder  seinem  Sohne  gelinge,  mit  3000 
Wehrhaften  den  ungarischen  Cordon  zu  durchbrechen,  und  ohne  Unter- 
stützung von  Seite  der  Belagerten  in  die  Stadt  zu  dringen.  Der  Besatzung 
und  ihrem  Hauptmann  und  wer  von  Geistlichen  oder  Weltlichen  mit  ihnen 
gehen  wolle,  wird  freier  Abzug  mit  Wehr  und  Waffen  gestattet;  doch  sollen 
sie,  was  des  Kaisers  sei,  weder  mit  sich  wegführen,  noch  vergraben,  ver- 
mauern oder  sonst  verbergen.  Die  Gerechtsame  der  Stadt  verspricht  der 
König  in  ganzem  Umfange  zu  belassen ;  und  was  den  Bürgern  oder  der 
Geistlichkeit  in  Wiener-Neustadt  Schadens  an  ihren  Häusern,  Weinbergen, 
Wiesen,  Aeckem  oder  anderem  liegenden  Besitze  in  diesem  Kriege  zugefügt, 
oder  was  anderen  gegeben  worden  seif  das  solle  ihnen  wieder  zurückersetzt 
werden.  Auch  wolle  er  sie  mit  ihrem  Gesuche  bezüglich  des  Ungelds  und 
bezüglich  der  Juden  fgnediglich  bedennckhen».  Der  Status  quo  solle  von 
deb  Belagerten  und  von  den  Belagerern  streng  eingehalten  werden. 

Die  Frist  lief  am  17.  August  ab,  ohne  dass  das  gehoffte  Entsatzheer 
sich  zeigte,  und  so  kam  die  Stadt  in  den  Besitz  des  Mathias  Gorvinus,  und  die 


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il4r  BEZIEHUNGEN  DBS  KÖNIGS  MATHIAS  CORVINUS  ZU  WlENER-NEUSTABf 

Bewohner  mossten  ihm  sofort  huldigen  und  schwören.  Boeheim  *  erzählt 
nach  Bonfin  sehr  ausführlich  die  darauf  folgenden  Feierlichkeiten,  darunter 
ein  Faradegefecht  auf  der  Haide.  Etwa  zwei  kleine  Wegstunden  nördlich 
von  Wiener-Neustadt,  in  der  Nähe  des  Dorfes  Sobnau,  ist  ein  derzeit  viel- 
leicht noch  2  M.  hoher  künstlicher  Hügel  auf  dieser  Haide,  der  nach  der 
Aussage  des  dortigen  Grundbesitzers  früher  etwa  doppelt  so  hoch  war,  in 
dessen  Innerem  sich  Quadern  vorfanden  und  noch  vorfinden  sollen.  Diese 
Erhöhung  heisst  noch  jetzt  Eönigshügel  und  würde  sich  zu  einer  Ueber- 
blickung  des  Steinfeldes  besonders  eignen.  Allerdings  lässt  sich  ein  Zusam- 
menhang mit  Mathias  Corvinus  und  seiner  Anwesenheit  in  Niederösterreich 
nicht  weiter  nachweisen,  und  von  den  über  diesen  Hügel  gehenden  Sagen, 
die  übrigens  sämmtlich  unhaltbar  sind,  erinnert  keine  an  die  fragliche  Zeit 

m. 

Nun  handelte  es  sich  darum,  die  in  den  üebergabsbedingungen  gege- 
benen Zusagen  zu  erfüllen.  Mathias  Corvinus  zeigte,  dass  es  ihm  Ernst  mit 
denselben  gewesen  war :  er  wollte  jedesfalls  die  Burger  von  Wiener-Neu- 
stadt, das  ihm  einen  wichtigen  Stützpunkt  an  dem  Westufer  der  Leitba  bil- 
dete, für  sich  und  seine  Herrschaft  gewinnen.  Daher  bestätigte  er  schon  am 
7.  September  1487  alle  Privilegien  der  Stadt,  die  sie  je  erhalten  hatte.  Wohl 
konnte  man  nicht  darauf  rechnen,  dass  die  Unterthanen  des  ungarischen 
Königs  in  den  Erblanden  des  Kaisers  der  Mautfreiheit,  einer  der  ältesten 
Begünstigungen  von  Wiener-Neustadt,  hinfür  werden  geniessen  können; 
dafür  wird  den  Neustädtem  diese  Freiheit  in  allen,  von  Mathias  beherrschten 
Landen  —  das  Privilegium  nennt  Ungarn,  Böhmen,  Mähren,  Schlesien  — 
für  alle  Zeiten  gewährleistet ;  auch  werden  ihnen  alle  Bechte  zugestanden, 
deren  die  freien  Städte  seiner  Lande  teilhaftig  sind.  Und  falls  etwa  ein 
Erlass  seiner  Vorgänger  auf  dem  Trone  hiemit  im  Widerspruch  stände,  so 
solle  derselbe  den  Neustädtern  kein  •  schaden,  abpruch  oder  Verletzung 
bringen.» 

Mathias  gieng  aber  noch  weiter.  Schon  vier  Tage  später  (am  11.  Sep- 
tember) vergünstigte  er  den  Bürgern  der  Stadt,  dass  sie  von  dem  Wein- 
gulden frei  blieben,  der  für  jeden  fDreiling»  Wein  bei  der  bevorstehenden 
Lese  eingehoben  werden  sollte ;  und  zwar,  i  damit  Sy  aus  dem  verderben 
darein  Sy  gesetzt,  widerumb  zu  aufnemen  komen»,  damit  sie  die  Türme, 
Mauern,  Stadtwehren,  die,  wie  der  König  selbst  in  der  vorerwähnten  Bestä- 
tigung aller  Privilegien  sich  ausdrückt,  mit  ciain  zerrüttet  und  verwüstet 
waren,  wieder  aufbauen  können».  Am  3.  October  trägt  er  dann  allen  unga- 

*  Ferdinand  Carl  Boebeims  Chronik  von  Wiener-Neustadt,  herausgegeben  von 
Wendelin  Boeheim.  I.  Band.  S.  150  tL 


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ÜKD  DER  CORViKüS-BfiCHBR.  215 

rifichen  Beamten,  Bebörden  und  ünterthanen  auf,  die  Neust&dter  wegen 
ihrer  Weinberge  nirgends  und  in  keiner  Weise  zu  belästigen.  Am  6.  Juni 
des  folgenden  Jahres  ei^eht  an  den  Vicegespan  des  Oedenburger  Gomitats 
Benedict  von  «Eysfalwd»  und  die  Geschworenen  wieder  eine  Weisung  zu 
Gunsten  der  Neustädter :  trotzdem  die  Bewohner  von  Wiener-Neustadt  gleich 
denen  von  Ofen  von  jeder  Zahlung  von  Steuern  (tributi  seu  thelonii)  durch 
seine  Huld  befreit  seien^  werden  sie  doch  an  manchen  Orten  des  Gomitats 
hiezu  verhalten,  worüber  sich  jene  beschwert  hätten.  Von  dieser  Bedrängung 
sei  unbedingt  abzustehen.  Am  13.  Dezember  1488  wird  Wiener-Neustadt 
neuerdings  ein  wichtiges  Privilegium  verliehen.  König  Mathias  statuirt,  dass 
die  Bürger  der  Stadt  nirgends  mit  Leib  oder  Gut  wegen  irgend  einer  Fropess- 
sache  angehalten  werden  dürfen.  Wer  eine  Forderung  an  einen  der  Neu- 
städter habe,  müsse  sich  an  den  Bürgermeister,  Richter  und  Bat  ihrer  Stadt 
wenden ;  alle  anderweitig  über  Leib  oder  Gut  derselben  geBchöpfte^  Urteile 
haben  nicht  Kraft  noch  Geltung. 

üebergehend  auf  die  Gutmachung  der  Verluste^  welche  Neustädter 
Bürger  durch  den  letzten  Krieg  erlitten  haben,  kommen  wir  zunächst  auf 
jene  Häuser,  welche  durch  die  Belagerung  der  Stadt  zerstört  worden  waren. 
Aach  in  dieser  Richtung  that  Mathias  Gorvinus  das  Seinige,  um  die  Nea- 
anterworfenen  für  sich  zu  gewinnen.  Schon  am  4.  September  1487  wurde 
Leopold  von  Wehing  auf  Befehl  des  Königs  für  ein  Haus  in  der  Neun- 
kirchnerstrasse an  Gewähr  geschrieben ;  am  16.  September  wurde  dem  Bür- 
germeister der  Ststdt,  Jacob  Kelbel,  für  seine  drei  abgebrochenen  (kleinen) 
Häuser  und  «von  Gnadenwegen»  das  Haus  des  Wilhelm  von  Auersperg 
überlassen.  Am  13.  März  1489  ergeht  dann  von  Wien  aus  eine  Zuschrift 
des  Königs  an  den  Rat  von  Wiener-Neustadt :  es  sei  sein  Wille,  dass  die 
Mitbürger  der  Stadt,  deren  Häuser  in  den  Vorstädten  i^gebrochen  wurden, 
und  die  jetzt  keine  Unterkunft  haben,  jene  Häuser  und  Gärten  erhalten 
sollen,  die  ihnen  auf  königlichen  Befehl  sein  Kämmerer  und  Burggraf  i  Jan 
Tartzay»  ausgezeigt  habe.  Darauf  hin  werden  am  18.  März  drei,  am  19.  März 
vier  Bürger,  am  20.  März  eine  Bürgersfrau  mit  ihren  Kindern  und  am 
5.  Mai  ein  Bürger  an  Gewähr  für  die  zugewiesenen  Häuser  geschrieben. 

Am  3.  März  war  der  Stadtgemeinde  selbst  ein  Haus  verliehen  worden : 
auch  sie  hatte  Verluste  in  den  Vorstädten  erlitten.  Einige  weitere  An- 
schreibungen  am  6.  und  am  15.  Mai  veranlasste  der  königliche  Stadthaupt- 
mann  «Fogam  Fetter».  Die  betrefifenden  Häuser  rührten  grösstenteils  von 
Männern  her,  die  mit  dem  kaiserlichen  Hof  in  Verbindung  standen,  so  z.  B. 
von  Georg  von  Herberstein,  Pfleger  zu  Stixenstein,  von  dem  Truchsess  Ritter 
Heinrieh  Himelberger;  und  es  kam  bei  diesem  Wechsel  der  Stadt  noch  der 
Umstand  zu  gute,  dass  Freihäuser,  die  von  den  Lasten  der  Gemeinde  aus- 
genommen waren,  ihrer  Sonderstellung  entkleidet  wurden.  Auch  die  Ver- 
leihungen des  Ungarkönigs  an  sein  eigenes  Hofgesinde  verwandelten  eine 


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21  ö  BEZrBHUNGEN  DBS  KÖNIGS  MATHIAS  OORVINÜS  Zu  WIENER-NEüSTADf 

Anzahl  Freihäuser  in  mitleidende  Häuser,  die  ins  Gewäbrbnch  eingelegt 
wurden,  und  gereichten  so  der  Stadt  zum  Vorteil.  So  wird  am  25.  Sep- 
tember 1487  der  königliche  Schatzmeister  «Bischof  Urban  zuErlacb»  für 
ein  ehemaliges  Freihaus  als  Besitzer  im  Gewährbuch  angeschrieben,  für 
ein  zweites  ebenderselbe  mit  seinen  Brüdern  Blasius  und  Hans  von 
« Nagluche t.  Am  16.  October  desselben  Jahres  weist  das  Gewährbuch  die 
Anschreibung  des  königlichen  Secretärs  Lucas  Snitzer  für  das  Freihaus  des 
•Gastelwartert,  dann  des  königlichen  Secretärs  Nicolaus  von  Fuechau  für 
jenes  des  Grafen  von  Mantfort  aus,  wofür  der  Befehl  am  11.  September 
ergangen  war.  An  dem  gleichen  Tage,  16.  October,  kommt  der  königliche 
Hauptmann  Jacob  Zeckler  mit  seinen  Brüdern  Nicolaus,  Hans  und  Bene- 
dict in  Gewähr  und  Besitz  des  Freihauses,  das  dem  Siegmund  von  Niedem- 
thor  gehört  hatte  (Befehl  des  Königs  vom  15.  October),  und  eben  so  wird 
am  29.  April  1488  der  Hauptmann  «Lassla  Graf  zu  Eanyscha»  an  Gewähr 
für  ein  Freihaus  geschrieben,  das  dem  Jacob  von  Emau  gehört  hatte.  Fs 
bleibt  einzig  die  Eintragung  des  Hans  Biedrer,  königlichen  Barbiers,  von 
11.  August  1489,  die  ein  Bürgerhaus  betraf. 

Was  die  Bemerkung  in  dem  Vertrag  anbelangt,  der  König  werde  der 
Stadt  wegen  des  Ungelds  (vielleicht  wegen  Pachtung  dieser  Abgabe)  und 
wegen  der  Juden  (vielleicht  zum  Zwecke  der  Einschränkung  derselben) 
gedenken,  so  können  wir  diesbezüglich  nichts  constatiren. 

IV. 

Mathias  Corvinus  soll  überdies  der  Stadt  Wiener-Neustadt  sein  eigenes 
Bildniss  und  einen  silbernen,  vergoldeten  Focal  geschenkt  haben.  * 

Bezüglich  des  ersten  Stückes  muss,  abgesehen  von  allen  berechtigten 
Bedenken  gegen  das  hohe  Alter  dieses  Oelgemäldes  auf  Leinwand,  das  im 
Museum  von  Wiener-Neustadt  sich  befindet,  insbesondere  betont  werden, 
dass  die  Schenkung  des  eigenen  Conterfeis  an  neugewonnene  ünterthanen, 
deren  Treue  gegen  die  angestammte  Dynastie  der  Eroberer  selber  rühmt, 
gar  nicht  grossköniglich  erscheint.  Daher  wollen  wir  dieses  Geschenk  nicht 
weiter  in  Betracht  ziehen.  Was  jedoch  die  Schenkung  des  erwähnten  PocaJs 
anbetrifft,  so  verdient  dieser  Punkt  einer  eingehenderen  Berücksichtigung, 
schon  wegen  des  Kunstwertes  des  Objectes.  Der  Pocal  ist  allgemein  unter 
der  Bezeichnung  iCorvinusbechert  bekannt.  Und  die  Meinung,  dass  er  von 
dem  Eroberer  Mathias  Corvinus  an  die  Gemeinde  Wiener-Neustadt  gekom- 
men sei,  lässt  sich  etwas  zurückverfolgen.  So  wird  bei  den  Vorkehrungen 
für  das  Friedensfest  vom  3.  October  1797  gesagt,  dass  bei  der  Tafel  die 
Gesundheit  Sr.  Majestät  des  Kaisers  «aus  dem  grossen  Silber-  und  vergol- 

*  Siehe  Boeheim,  Chronik,   L  Bd.  8.  153. 


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UND  bfiH  CORVlNüS-BECäßB.  5*1 1^ 

deten  Focal,  welcher  als  ein  Geschenk  des  Königs  Mathias  Corvinus  in  dem 
Stadtarchive  aufbewahrt  wird»,  getrunken  werden  soll.  Ebenso  heisst  es  bei 
dem  Feste,  welches  zur  Geburt  des  nachherigen  Kaisers  Josef  U.  gefeiert 
wurde,  *  dass  die  Gesundheiten  der  fürstlichen  Hoheiten  «aus  dem  von  dem 
Hungar :  König  Mathias  Corvinus  der  Statt  Neustatt  wegen  dem  Allerdurch- 
lauchtigsten  Erzhausz  von  Oesterreich  vnverbrüchlich  erzeigten  Treu  und 
Tapfrer  gegen wöhr  annoch  im  Jahr  1462  zum  ewigen  andenkhen  Verehrten 
Kostbahren  groszen  Silber  und  Vergolten  Pöcal,  dessen  Deckl  eine  Crone 
darstellet,  worinnen  dessen  Portrait  und  Jahreszahl  zusehen,  getrunkhen 
worden.»  Hier  erhalten  wir  zugleich  Einblick  in  die  Meinungen,  die  man 
sich  über  die  Formen  an  dem  Focale  damals  schon  gebildet  hatte. 

Wenn  sich  eine  Belegstelle  auch  nicht  weiter  nachweisen  lässt,  so  ist 
doch  so  viel  sicher,  dass  man  im  vorigen  Jahrhundert  ein  Trinkgefäss  von 
solchen  Dimensionen,  das  mehr  als  drei  Liter  fasst,  nicht  mehr  «Corvinus- 
becher»  genannt  hätte,  wie  ja  die  angezogenen  Notizen  zeigen.  Und  bei  dem 
Umstände,  dass  derartige  Zusammensetzungen  kaum  ein  Bestimmungswort 
abstossen,  um  ein  anderes  anzunehmen,  kann  die  Sache  viel  weiter  hinauf 
als  belegt  angesehen  werden,  gewiss  bis  in  die  Zeit  so  grosser  «Becher». 
Ueber  die  Abnahme  der  Grösse  der  Becher  schon  im  XVI.  und  noch  mehr 
im  XVn.  Jahrhundert  können  wir  uns  hier  als  zu  weit  ab  führend,  nicht 
einlassen. 

Und  nun  wollen  wir  an  die  Frage  herantreten,  ob  wirklich  Mathias 
Corvinus  den  Bürgern  von  Wiener-Neustadt  den  Becher  geschenkt  haben 
kann.  Wir  sind  hier  natürlich  bei  dem  Mangel  schriftlicher  Anhaltspunkte 
auf  blosse  Vermutungen  angewiesen  und  kommen  im  günstigsten  Falle  zu 
einer  Wahrscheinlichkeit.  Zu  diesem  Zwecke  wird  es  notwendig,  eine  kurze 
Beschreibung  des  Pocals  mit  allen  seinen  Schrift-  und  Wappenzeichen 
voranzuschicken. 

Der  Corvinusbecher  ist  ein  grosser,  etwa  80  Cm.  hoher  Silber-Pocal 
mit  Deckel,  stark  vergoldet,  voll  reich  aufgesetzter  Ornamentik  aus  vergol- 
detem Silberblech  und  mit  verschiedenfarbigem  Drahtemail.  **  Der  Fuss 
hebt  dreiteilig  an,  indem  die  Basis  einen  Sechspass  von  17  Cm.  Durch- 
messer bildet,  zieht  sich  sofort  ein,  zuerst  concav,  dann  vertical  aufsteigend, 
und  wird  in  diesem  letzteren  Teile  etwa  1*5  Cm.  breit  durch  ein  breites 
Emailband  bedeckt,  das  auf  dem  hellblauen  Grunde  an  einer  fortlaufend 
gewundenen  Draht-Banke  grüne  fünfblättrige  Blütenkelche  mit  rotem  stark 
hervortretenden,  etwas  gebogenen  Griffel  und  kleine  längliche  (grüne) 
Blätter  trägt. 


*  RaisprotokoU  741,  Pol.  73. 

**  Auf  die  einzelnen   zahlreichen    Abbildungen   des   Corvinus-Bechers   braucht 
wohl  nicht  verwiesen  zu  werden. 


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4l8  BEZIEHUNGEN  DES  KÖNIGS  MATÖIAÖ  CÖRVimJS  ZU  WlENteB-NEÜSTAl)t 

Von  den  sechs  Winkeln  der  Basis  legen  sich  Distelblätter  an  das  Ejmail 
herauf.  Oberhalb  dieses  Bandes  verengt  sich  der  Fuss  durch  sechs  Bund- 
buckel in  Form  von  Eugelsegmenten^  über  welche  von  innen  ausgehend  eine 
schmale,  steile  Erhöhung  nach  beiden  Seiten  fort-  und  hinablauft,  zu  dem 
eigentlichen  Ständer.  Zwischen  diesen  Buckeln  und  an  deren  innem  Enden 
sind  zwei  Beihen,  also  zwölf,  kleine  Drachengestalten  nach  Art  der  gothi- 
sehen  Wasserspeier  aufgenietet.  Der  Ständer  ist  14*5  Gm.  hoch,  anfänglich 
ebenfalls  sechsseitig  und  in  gleicher  Weise  emaillirt,  wie  früher  angedeutet ; 
er  geht  sodann  in  die  Kreisform  über,  innerhalb  welcher  er  einfach  durch 
blaues  Email  bedeckt  ist,  und  wird  unmittelbar  unter  dem  Wulst,  der  das 
Bindeglied  mit  dem  eigentlichen  Focalleib  bildet,  durch  ein  zweimaliges 
abwärts  fallendes  und  sich  erweiterndes  Distelomament  eingefasst,  das  den 
Knauf  des  Ständers  vertritt.  Das  obere  dieser  Blattomamente  zeigt  vier 
Kletten  und  bildet  so  den  Uebergang  aus  dem  dreiteiligen  in  den  vierteiligen 
Bhythmus,  welcher  den  Becher  selbst  beherrscht.  Der  eigentliche  Focal 
beginnt  mit  zweimal  acht  Buckeln  und  verengt  sich  im  Verlaufe  derselben 
etwas.  Die  unteren  sind  gehalten  und  verziert  wie  jene  am  Fusse,  die  oberen 
verflachen  sich  allmählich  nach  aufwärts  und  laufen  zu  einer  Spitze  zu,  so 
dass  von  der  Guppa  des  Bechers  acht  gleiche  Buckel  zwischen  dieselben  ein- 
laufen. Mit  diesen  beginnt  die  Ausweitung  des  Leibes,  die  sich  in  acht  neuen 
Buckeln  über  den  letzterwähnten  kräftig  fortsetzt  und  abschliesst.  In  den 
Vertiefungen  zwischen  den  Buckeln  dieser  vier  Reihen  der  eigentlichen 
Focalhöhlung  sind  selbstredend  wieder  Ornamente  sichtbar.  Bei  den  zwei 
unteren  und  der  ersten  oberen  Reihe  begegnen  wir  den  früher  erwähnten 
Drachengestalten;  zwischen  die  acht  obersten  Buckel  fallen  Distelblätter 
herab,  die  über  diesen  an  einem  mehrfachen  gedrehten  Silberdraht  sich  um 
die  Cuppa  ziehen  und  den  ornamentirten  Becher  von  jenem  Rande  trennen, 
der  den  Deckel  aufnimmt.  Die  oberste  Buckelreihe  ist  durch  eine  Emaillirung 
auf  eigenem  Grunde  überdeckt,  zwischen  welcher  die  vergoldete  Fläche 
glänzend  hervorblickt.  Dieses  Email  zeigt  in  der  Mitte  jedes  Buckels  einen 
grösseren  Blütenkelch  mit  fünf  Blättern  und  mit  sehr  starkem  Griffel,  rings 
um  denselben  kleinere  ähnlich  gestaltete  Blüten  und  Blätter.  Der  Kelch  der 
grossen  Mittelblumen  hat,  wie  es  scheint,  dunkelblaues  Email,  das  Centrum 
ist  entweder  blaugrün  mit  rotem  Griffel  oder  rot  mit  blaugrünem  Griffel ;  die 
Kelche  der  kleineren  Blumen  sind  dunkelgrün  oder  blaugrün,  der  Griffel  rot, 
die  Blätter  der  Pflanze  selbst  (natürlich)  grün. 

Der  Deckel  des  Pocals,  der  in  der  That  eine  Krone  bildet,  ist  zu  unterst 
zwischen  zwei  mehrfachen  Silberdrähten  wieder  von  einem  1*5  Cm.  breiten 
Emailband  umgeben,  gleich  jenem  am  Fusse,  nur  sind  die  Blätter  des  Blüten- 
kelches rot,  die  Griffel  blau.  Mitten  in  diesem  Email  sind  überdies  im 
ganzen  Umfange  sechs  Blüten  eingesetzt,  bestehend  aus  je  sechs  schmalen 
am  Ende  etwas  gefaserten  Blättern  von  SUberblech,  vergoldet.   Von  diesem 


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Xn^D  DiSR  CÖRVnJtJS-BECfifeR.  ^lö 

Bande  erhebt  sich  abermals  ein  Distelomament^  die  Krone^  ringsum  sechzehn 
grössere  und  dazwischen  sechzehn  kleinere  Ereuzformen  bildend ;  inmitten 
der  letzteren  begegnen  wir  je  einem  Blumenkelch  aus  Silberblech  mit  sechs 
Blättern  und  äberstarkem  Pistill.  Von  da  schliesst  sich  der  Deckel  durch 
zweimal  acht  Buckel  mit  denselben  steilen  Falten- Erhöhungen  wie  früher 
rasch,  wie  der  Fuss  zu  einem  Stengel  zusammen,  die  Vertiefungen  zwischen 
den  Buckeln  gleichfalls  mit  zwei  Drachenreihen  ausfüllend.  Der  schlank  auf- 
schiessende  kreisförmige  Stengel  23  Cm.  hoch,  wird  durch  einen  breit  vor- 
tretenden Wulst  in  zwei  Hälften  geteilt  und  durch  einen  eben  solchen  oben 
abgeschlossen.  Er  ist  einfarbig  dunkelblau  emaillirt.  Die  bekannten  Distel- 
omamente  umkleiden  die  untere  Hälfte,  nach  abwärts  fallend,  umfassen 
sechsstrahlig  von  unten  und  von  oben  den  Mittelwulst  und  breiten  sich  vor 
der  oberen  Hälfte  nach  der  Bildung  von  drei  Kletten  über  die  ünterfläche 
des  zweiten  abschliessenden  polsterartigen  Wulstes  aus,  denselben  in  sechs 
Zweigen  tragend,  so  dass  in  dem  obersten  Teile  das  Eunstgebilde  zu  dem 
dreiteiligen  Rhythmus  des  Fusses  zurückkehrt.  Die  Oberfläche  dieses  Polsters 
bedeckt  ein  Stern  mit  zehn  Strahlen,  auf  welchem  ein  Bitter  mit  blossem 
Haupte  kniet.  Stern  und  Ritter  möchten  wir  auf  ihre  Originalität  nicht  zu 
strenge  prüfen.  Die  Rittergestalt  hält  in  ihrer  Rechten  schief  aufwärts  ein 
gestieltes  Herz,  auf  dessen  einer  Seite  wir  die  Jahreszahl  1.  ^  6. 2.  erblicken, 
während  die  andere  halbgestielte  Seite  rechts  (heraldisch)  das  AEIOV  und 
den  Doppelaar  des  Kaisers,  links  den  Schriftzug  M  und  den  Raben  mit  dem 
Ring  im  Schnabel  zeigt.  Noch  bleibt  des  länglichen,  nach  unten  in  einem 
geschweiften  Bogen  endigendes  Schildes  zu  erwähnen,  der  im  Innern  an  dem 
Scheitel  des  Deckels  sich  vorfindet.  Dieser  Schild  in  kreisförmigem  Medaillon 
trägt  eine  bartlose  Heiligengestalt  (bis  zur  Brust),  mit  goldenem  Haar  und 
Heiligenschein ;  das  Gewand  und  der  Schildgrund  sind  von  rotem  Email.* 
Ueberdies  hat  der  unterste  Rand  des  Deckels  innen  die  Zeichen  FI  in  der 


nebenstehenden  Form.  |^^B  Diese  Zeichen  kehren  in  der  gleichen  Weise  an 


der  Innenseite  des  Fusses  wieder,  wo  wir  auch  nicht  weit  hievon  entfernt  eine 

Andeutung  über  das  Silbergewicht  des  Bechers  finden :  MR  XIII  %ül  XI.** 

Mit  der  Erwähnung  eines  Z,  das  in  nebenstehender  Form  am  äusser- 


^  Der  Annahme,  dass  hier  das  Porträt  des  Königs  Mathias  vorliege,  wie  die 
Noüz  von  1741  meint  (s.  o.),  fehlt  jede  Begründung,  und  der  Heiligenschein  spricht 
dagegen. 

**  Verfasser  sieht  sich  genötigt  nach  genauer  Untersuchung  der  betrefifenden 
Zeichen  sich  diesbezüglich  der  Meinung  Boeheims  (Chronik  I.  S.  154)  und  Dr.  Ho- 
mers (Arch.  Ert.  1869)  anzuschliessen,  im  Gegensatz  zu  einer  früher  abgegebenen 
(Correspondenzblatt  des  Vereins  f.  siebenb.  Landeskxmde  1889,  Nr.  2). 


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i^ 


BEZIEHUNGEN  DES  KÖNIGS  MATHIAS  COEVINUS  ZU  WIENEB-NÄUSTAbT 


sten  Uande  des  Fusses  eingeschlagen  ist^  sind  die  Schriftzeichen 
auf  dem  Corvinus-Becher  erschöpft;  die  im  Ratsprotocolle  von  1741 
(s.  o.)  erwähnte  Jahreszahl  im  Innern  des  Deckels  findet  sich  nicht* 
Am  Schlüsse  der  Beschreibung  müssen  wir  noch  bemerken,  dass  der 
Becher  mannigfach  schadhaft  ist.  So  fehlen  sämmtliche  Drachengestalten 
an  der  unteren  Hälfte  des  Pocalleibes,  so  ist  das  blaue  Email  (an  der  oberen 
Hälfte  des  Ständers,  an  dem  ganzen  Stengel  der  Krone,  in  den  Kelchblättern 
der  grossen  Blumen,  an  den  Buckeln  der  Cuppa)  zum  allergrössten  Teile  ver- 
schwunden. Die  übrigen  Emailfarben  haben  sich  besser  gehalten,  sind  jedoch 
auch  nicht  schadlos.  Das  gestielte  Herz  ist  ganz  neu,  eine  Arbeit  des  Gold- 
schmiedes F.  Beger,  doch  versicherte  dieser  dem  Verfasser  dieser  Zeilen, 
dass  er  die  Zeichen  genau  so  gemacht  habe,  wie  sie  auf  dem  alten  Herzen 
gewesen  seien.  Soweit  die  Ziffern  der  Jahreszahl  ein  Urteil  zulassen,  kann 
man  diese  Aussage  im  grossen  Ganzen  als  verlässlich  ansehen.* 


Nun  zur  Deutung.  —  Die  Buchstaben  und  Wappenzeichen  auf  dem 
Herzen  sprechen  für  sich  selbst.  Nach  denselben  muss  der  Becher  in  Berüh- 
rung stehen  mit  einer  Action,  welche  den  Kaiser  Friedrich  IH.  und  den 
König  Mathias  Gorvinus  zugleich  betrifft.  Schon  die  Deckelkrone  weist  auf 
derartiges  hin.  Und  für  diese  Action  gibt  uns  die  Jahreszahl  1462  den  Fin- 
gerzeig. In  diesem  Jahre  endeten  nämlich  die  Feindseligkeiten  der  beiden 
Fürsten.  Am  4.  März  1459  hatte  Friedrich  HI.  die  von  einer  Gegenpartei  des 
Mathias  ausgegangene  Wahl  zum  König  von  Ungarn  angenommen ;  die  St. 
Stefanskrone  war  noch  in  seiner  Hand.  Es  handelte  sich  somit  bei  den 
Friedensverhandlungen  des  erwähnten  Jahres  in  der  That  um  hochwichtige 
Angelegenheiten:  um  den  Verzicht  Friedrichs  HI.  auf  den  ungarischen 
Tron,  um  die  Herausgabe  der  Krone,  auch  um  die  Nachfolge  in  Ungarn, 
für  welche  ja  das  Haus  Habsburg  alte  Erbeinigungen  besass.  Ein  dauernder 
Friede  sollte  fortan  zwischen  beiden  Fürsten  herrschen ;  und  es  lässt  sich 
wohl  denken,  dass  man  den  Friedensschluss  durch  ein  Versöhnungsfest 
feiern  und  den  Umtrunk  halten  wollte,  zu  welchem  Zwecke  nur  ein  neuer 
prächtiger  Becher  dienen  konnte.  Wir  wollen  wenigstens  vorübergehend 
auch  auf  die  Pflanzensymbolik  aufmerksam  machen,  die  in  dem  ganzen 
Zierat  des  Bechers  zu  liegen  scheint,  und  die  im  Mittelalter  keine  geringe 
Bolle  spielt. 

Die  fünfblättrigen  Blüten  kelche  der  Emailbänder  sind  vielleicht 
durch  Nachbildungen  des  Jelänger-jclieber  (Solanum  dulcamara)    oder  des 


*  Wir  können  wohl   in  gleicher  Weise  annehmen,    dass  etwaige  frühere  Kepa- 
raturen  an  dem  Becher  die  Zeichen  nicht  geändert  haben  werden. 


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UND  DEB  CORVINÜ8-BECHBR.  221 

Johanneskrautes  (Hypericnm  perforatum)  entstanden.  Beide  sollten  gegen 
Zauberei  und  Anfechung  schützen,  weshalb  sich  die  weite  Verbreitung  der 
Floren  erklären  würde.  Die  Kletten  versinnbilden  die  Anhänglichkeit; ;  zwi- 
schen alle  anderen  Blumen  und  Ornamente  hinein  legt  sich  beherrschend 
die  männliche  Tüchtigkeit  der  Distel.  Manche  Formen  sind  wohl  allgemein ; 
einzelne  scheinen  jedoch  speciell  dem  Becher  angehörig  und  verdienen  wohl 
Beachtung.  Insbesondere  aber  predigt  der  heilige  Evangelist  Johannes,  als 
welcher  am  ehesten  jene  Figur  im  Innern  des  Deckels  aufzufassen  ist,  den 
Vertragschliessenden  die  Liebe. 

Die  vorausgegangenen  Erwägungen  als  richtig  angenommen,  gelangen 
wir  zu  dem  weiteren  Ergebnisse,  dass  einer  der  beiden  genannten  Herrscher 
die  Anfertigung  des  Pokals  veranlasst  habe.  Dieser  Auftraggeber  aber  ist  mit 
Wahrscheinlichkeit  an  dem  Kunstgegenstande  genannt :  er  findet  sich  auch 
bei  Kunstwerken  jeder  anderen  Art  aus  jener  Zeit  viel  regelmässiger  verewigt 
als  der  Künstler.  Erinnern  wir  uns  denn  des  F  I  im  Innern  des  Deckels  und 
des  Fusses  vollkommen  an  richtiger  Stelle,  so  können  wir  diese  Buchstaben 
nur  Fridericus  Imperator  lesen.  Dass  der  Kaiser,  der  höchste  aller  weltlichen 
Fürsten,  als  Auftraggeber  erscheinen  werde,  war  im  voraus  zu  vermuten. 
Man  kann  nicht  einwenden,  dass  Kaiser  Friedrich  ein  karger  Mann  war,  der 
eine  solche  Ausgabe  schwerlich  gemacht  hätte.  Ihn  auch  bei  aussergewöhn- 
lichen  Anlässen,  wie  bei  dem  vorliegenden,  eines  Aufschwunges  für  unfähig 
halten,  hiesse  ihn  vollständig  zum  Filz  stempeln,  und  das  war  er  wahrhaftig 
nicht.  Ueberdies  war  für  die  Auslieferung  der  ungarischen  Königskrone  ein 
hohes  Lösegeld  in  Aussicht  gestellt,  so  dass  auch  die  immerwährende  Geld- 
verlegenheit Friedrichs  HE.  hier  wegfällt.  Ist  der  Versöhnungspocal  auf 
Gebot  des  Kaisers  gefertigt,  so  ist  beinahe  selbstverständlich,  dass  derselbe 
in  der  Besidenz  Wiener  Neustadt  entstanden  ist,  wo  sich  damals  das  Gold- 
schmiedhandwerk einer  hohen  Entwicklung  erfreute,  wo  von  mehreren  Mei- 
stern dieses  Handwerkes  (z.  B.  Heinrich  Maierhirsch,  Wolfgang  Nachschuss) 
durch  vereinzelte  Urkunden  direct  bewiesen  werden  kann,  dass  sie  für  den 
Kaiser  gearbeitet  haben.  Es  bleibt  wirklich  an  dem  Becher  noch  ein  Zeichen 
für  den  Künstler  übrig,  wieder  an  richtiger  Stelle,  jenes  Z  nämlich  an  dem 
äusseren  Bande  des  Fusses.  Bei  der  Aufsuchung  des  Namens  müssen  wir  uns 
vergegenwärtigen,  dass  die  Technik  des  Pocals  mit  ungarischen  Schulen  jener 
Tage,  und  zwar  nach  Dr.  J.  Hampel  *  mit  der  oberungarischen  und  der  Press- 
burger Schule  eine  grössere  Gemeinsamkeit  hat.  Der  Forderung,  eine  solche 
herzustellen,  entspricht  einzig  der  Goldschmied  Wolfgang  Zulinger,  und  zwar 
in  folgender  Weise :  Seit  dem  Jahre  1431  wird  in  Wiener  Neustadt  ziemlich 


*  Siehe  dessen  eingebendes  interessantes  Büchlein  t  Das  mittelalterliohQ  Draht- 
email.» Dort  sind  auch  einzelne  Details  der  Ornamentik  des  Corvinus-Beohers  abge- 
büdet  (S.  23.) 


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222  BEZIEHUNGEN  DES  KÖNIGS  MATHIAS  CORVINUS  ZU  WIENER- NEUSTADT 

oft  ein  Goldschmied  Siegmund  Wallach  *  genannt,  der  hier  nach  und  nach 
eine  hochangesehene  Stellung  erreichte,  ein  bedeutendes  Vermögen  besass 
und  zu  Anfang  des  Jahres  1450  starb. 

Schon  sein  Name  lässt  auf  eine  rumänische  Abkunft  schliessen.  Durch 
eine  Sippschaftsweisung  seiner  Geschwisterkinder,  veranlasst  durch  die  Erb- 
schaft nach  Siegmund's  Tode,  wird  dies  auch  bestätigt :  er  bat  nämlich  diese 
Verwandten  in  Langenau,  Gimpolung  in  der  Walachei,  nicht  weit  von  der 
Grenze  Siebenbürgens,  und  mehrere  Zeugen  sagen  aus,  dass  daselbst  die 
Verwandtschaftsverhältnisse  des  verstorbenen  Wiener  Neustädter  Meisters 
hinreichend  bekannt  seien.  Es  mag  sich  Siegmund  auf  die  Wanderschaft 
begeben,  daselbst  die  ungarischen  Werkstätten  kennen  gelernt  und  sich  end- 
lich in  Wiener  Neustadt  dauernd  niedergelassen  haben.  Seine  erste  Frau  war 
Elisabeth,  und  ihre  Schwester  Ghristina  war  ebenfalls  mit  einem  Kunst- 
handwerker Hans  Schwertfeger  vermählt,  dessen  Sohn  Wolfgang  das  Gold- 
schmiedhandwerk erlernt.  Es  liegt  nahe  zu  glauben,  dass  dies  bei  dem 
Gemahl  seiner  Tante  geschah.  Obwohl  nun  zufallig  der  Familienname  dieses 
Wolfgang  nie  an  einer  solchen  Stelle  genannt  wird,  aus  welcher  sich  dessen 
Verwandtschaft  unmittelbar  festsetzen  liesse,  und  obwohl  in  der  zweiten 
Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  nicht  wemger  als  vier  Goldschmiede  mit  dem 
Namen  Wolfgang  in  Wiener  Neustadt  erwähnt  werden,  so  lässt  sich  doch 
durch  Verfolgung  aller  einschlägigen  Notizen  mit  Sicherheit  aussprechen,  dass 
der  Neffe  Elisabeth's  nur  Wolfgang  Zulinger  sein  kann.**  Auf  dem  gleichen 
Wege  lässt  sich  erweisen,  dass  Wolfgang  Zulinger  mit  der  Witwe  Anna,  der 
zweiten  Frau  des  Siegmund  Wallach,  sich  verheiratete.  Das  kann  als  ein 
Mitbeweis  dafür  dienen,  dass  er  in  der  Werkstätte  Siegmund*s  sein  Hand- 
werk erlernt  hat.  Wolfgang  Zulinger  war  schon  1457  Kirchmeister,  zu  wel- 
chem Amte  man  gern  tüchtige  Goldschmiede  nahm :  auch  Siegmund  Wal- 
lach war  viele  Jahre  Kirchmeister  von  Zemendorf,  einem  Vororte  von 
Wiener  Neustadt  gewesen. 

VI. 

Die  Friedensverhandlungen  zwischen  Friedrich  m.  und  Mathias 
gingen  nicht  so  rasch  von  statten,  als  vielleicht  zu  hoffen  gewesen  war ;  die 
Ungarn  wollten  dem  getroffenen  Vergleiche  ihre  Zustimmung  nicht  geben. 
So  verrauchte  die  Begeisterung,  und  ak  der  Friede,  erst  am  19.  Juli  1463, 
zu  Oedenburg  abgeschlossen  wurde,  fand  der  Frachtpocal  vielleicht  nicht 


*  Siehe  hierüber  den  Artikel  des  Verfassers  «Siebenbürger  in  Wiener  Neu- 
stadt .  .  .  .•  in  dem  Gorrespondenzblatt  des  Vereines  für  siebenbtlrgisohe  Landes- 
kunde 1889,  Nr.  2. 

**  Siehe  den  citirten  Artikel  des  Verfassers. 


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UND  DER  CORVINHö-BECHER.  22.^ 

einmal  die  ihm  zugedachte  Verwendung  —  war  ja  der  Kaiser  schon  wieder 
durch  andere  Sorgen  in  Anspruch  genommen.  Mochte  man  sich  desselben 
indees  bedient  haben  oder  nicht,  jedesfalls  kam  der  Pocal  in  die  Burg  zu 
Wiener  Neustadt  und  blieb  daselbst.  Und  als  Mathias  Gorvinus  im  Jahre  1487 
Herr  der  Ststdt  wurde^  musste  auch  der  Becher  in  seine  Oewalt  kommen. 
Wenn  der  König  denselben  —  etwa  bei  der  Huldigung  —  den  Bürgern  über- 
gab^ so  konnte  er  auf  die  vereinigten  Embleme,  auf  die  einstens  abgeschlos- 
sene dauernde  Versöhnung  hinweisen^  gemäss  welcher  ja  nach  dem  Tode 
des  Mathias  (ohne  Erben)  die  Dynastie  der  Habsburger  auf  dem  ungarischen 
Trone  folgen  sollte;  lauter  Momente,  welche  etwas  zur  Gewinnung  der 
Bürger  von  Wiener  Neustadt  für  seine  Herrschaft  beitragen  konnten.  Und 
damit  wäre  die  Bezeichnung  «Corvinus-Becher»  erklärt. 

vn. 

Was  die  Halskrause,  das  Barret,  den  Sattel  und  das  Reitzeug  des 
Königs  betrifft,  die  sich  gleichfalls  im  Museum  von  Wiener  Neustadt  befin- 
den, so  sind  diese  erst  im  vorigen  Jahrhundert  dorthin  gekommen.*  Sie  sol- 
len an  einem  ßeiterstandbilde  gewesen  sein,  mit  dem  der  siegreiche  Ungar- 
könig die  Kirche  der  Burg  in  Wiener  Neustadt  geziert  habe.  Dies  wäre 
zugleich  die  letzte  Beziehung,  die  Mathias  zu  Wiener  Neustadt  gehabt  -und 
zu  einer  dauernden  gemacht  hätte.  Vor  der  Frage,  wie  man  das  Standbild 
beinahe  drei  Jahrhunderte  in  der  Burg  zu  Wiener  Neustadt  stehen  lassen 
konnte^  eilischt  unsere  Aufgabe.  Dr.  Jos.  Mater. 


DER  URSPRUNG  DES  AR6IRUS-MÄRCHENS. 

Ea  ist  wohl  keine  seltene  Erscheinung,  dass  poetische  Producte  des 
einen  Volkes  zu  einem  anderen  hinwandem,  dort  durch  den  Zusammen- 
stoss  and  die  Berührung  verwandter  Bildungselemente  die  ursprüngliche 
Form  verlieren,  umgebildet,  verschmolzen  werden,  oder,  wenn  keine  ver- 
wandten Bildungselemente  vorhanden  sind,  der  entlehnte  Stoff  unverändert 
bis  in  die  untersten  Volksschichten  dringt.  Und  bei  Völkern,  welche  seit 
Jahrhunderten  auf  derselben  Erdscholle  zusammen  wohnen,  wie  Ungarn 
und  Rumänen,  ist  ein  gegenseitiger  Einfluss,  ja  ein  direktes  Entlehnen 
poetischer  Producte,  besonders  der  Volkspoesie,  etwas  fast  Selbstverständli- 
ches. Wenn  dann  der  Literarhistoriker  daran  geht,  eigenes  und  fremdes 

*  Boeheim,  Chronik  I.  S.  153. 


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224  DER   ÜB8PRÜNG   DES   ARGIRÜ8-MÄRCHBN8. 

Gut  ZU  unterscheiden,  so  stösst  er  oft  auf  Partien^  die  er  mit  einem  Frage- 
zeichen versehen  muss,  —  die  Literaturgeschichte  hat  eben  auch  ihre  Pro- 
bleme. Ein  solches  Problem  nun  bildet  auch  die  Geschichte  des  Argirus, 
welche  heute  ein  gemeinsames  Eigentum  des  rumänischen  und  ungarischen 
Volkes  ist.  Welches  hat  vom  andern  entlehnt  ? 

In  ungarischer  Sprache  erschien  die  Geschichte  des  tArgirus»  von 
Albert  Gergei  am  Anfange  des  XVIII.  Jahrhunderts  im  Druck;  in  rumäni- 
scher Sprache  dagegen  erst  am  Anfange  unseres  Jahrhunderts  von  loan 
Barac,  und  zwar  unstreitig  nach  Gergei  bearbeitet.  Nach  diesen  Thatsachen 
schien  die  Frage^  wie  die  Geschichte  des  «Argirus»  bei  den  Rumänen  popu- 
lär wurde,  eigentlich  von  selbst  gelöst:  durch  Barac's  Bearbeitung  des 
Gergei*schen  Stoflfes. 

Ganz  andere  Schwierigkeiten  dagegen  bot  die  Frage,  woher  Gergei 
den  Stofif  genommen  hat  ?  Er  selbst  gibt  an,  denselben  einer  italienischen 
Chronik  entlehnt  zu  haben,  wenigstens  kann  man  seine  Worte  so  verste- 
hen, denn  er  sagt  in  der  dritten  Strophe:  «Wo  die  Burg  des  Argirus  war, 
weiss  ich  nicht,  in  der  Chronik  aber  lese  ich,  dass  sie  im  Feenlande  gelten 
seL»  Welcher  Art  nun  die  Chroniken  waren,  die  er  las,  gibt  er  in  der 
ersten  Strophe  an,  er  wo  sagt :  «üeber  das  Feenland  habe  ich  Vieles  in  den 
itaUenischen  Chroniken  gelesen,  die  ich  ins  Ungarische  übersetzt  habe.» 
Aus  diesen  Aeusserungen  könnte  man  ohne  Weiteres  schliessen^  dass  auch  die 
Geschichte  des  «Argirus»  aus  einer  italienischen  Chronik  stamme.  Da  man  aber 
diese  Chronik  bis  heute  nicht  finden  konnte,  so  hegt  man  mit  Becht  Zweifel 
an  der  Richtigkeit  der  Aussagen  Gergei's.  Die  Frage  über  die  Quelle  des 
Argirus  in  der  ungarischen  Literatur  ist  somit  unentschieden,  und  ich 
glaube,  sie  wird  so  lange  unentschieden  bleiben,  als  man  die  Geschichte 
des  «Argirus»  nicht  näher  ins  Auge  fasst,  wie  dieselbe  im  Munde  des  rumä- 
nischen Volkes  lebt ;  aus  einem  Vergleiche  zwischen  dem  rumänischen  und 
ungarischen  Stofife  dürfte  man  eher  die  Quelle  dieses  Märchens  entdecken, 
als  durch  das  Suchen  nach  einer  italienischen  Chronik.  —  Wir  wollen  im 
folgenden  diesen  Versuch  anstellen. 

Im  Jahre  1856  erschien  in  Berlin  ein  Buch  von  Josef  Haltrich: 
«Deutsche  Volksmärchen  aus  dem  Sacbsenlande  in  Siebenbürgen.»  In  der 
Einleitung  äussert  sich  Haltrich  auch  über  die  rumänische  Volkspoesie  wie 
folgt:  «Es  ist  doch  merkwürdig,  dass  sich  kein  Rumäne  gefunden  hat,  die 
epische  Volkspoesie  zu  sammeln  und  die  grossen  geistigen  Schätze,  die  in 
der  rumänischen  Volkspoesie  verborgen  sind,  ans  TagesUcht  zu  fördern  und 
sie  vom  wissenschaftlichen  Standpunkte  zu  erläutern. »  Nun,  gesammelt  hat 
man  sie  wohl,  aber  sie  vom  wissenschaftlichen  Standpunkte  zu  erläutern, 
das  ist  schwieriger,  und  zwar  aus  folgenden  Gründen :  Wer  sich  nur  flüch- 
tig mit  der  epischen  Voikspoesie  der  Rumänen  befasst  hat,  der  muss  unbe- 
dingt   Eines    wahrgenommen  haben:   dass  die   epische   Volkspoesie   der 


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DER   URSPRUNG   DES   ARGIRUS-MÄROHBNS.  225 

Bumänen,  aIso  die  Märchen,  Erzählungeiii  Balladen,  besonders  aber  die 
sogenannten  «Colinde,»  d.  h.  Weihnachtslieder,  einen  eigentümlichen, 
dunklen,  mystischen  Gharakterzng  an  sich  tragen.  Schon  die  Namen  der 
einzelnen  Helden  klingen  höchst  merkwürdig,  z.  B.  «Serean  und  Diorean», 
«Fata  din  Daphin»  (das  Mädchen  aus  Daphin),  «ImperatulDaphin»  (Kaiser 
Daphin),  «Delia  Damian»,  «Beana  Sandiana»  oder  «Beana  Gosandiana», 
•Argir»  etc.  Man  wusste  schlechterdings  nicht,  was  man  mit  diesen  exoti- 
schen Namen  anfangen  solle,  woher  sie  stammen,  was  sie  bedeuten  ?  Und 
vielleicht  wäre  man  auch  heute  in  Bezug  auf  Vieles  im  Unklaren,  wenn 
nicht,  so  zu  sagen,  das  Volk  selbst  den  Gelehrten  Aufschluss  in  diesem  Punkt 
ertheilt  hätte.  Diese  Märchen  und  Erzählungen  haben  nämlich  die  Eigen- 
tümlichkeit, dass  sie  ausserordentlich  viele  Varianten  aufweisen,  so  dass 
z.  B.  unter  den  190  Märchen,  die  Dr.  Atanasie  Marienescu  gesammelt  hat, 
kaum  80  selbstständig  sind ;  die  übrigen  sind  alle  Varianten  der  einen  oder 
der  anderen  Erzählung.  Diese  Varianten  liefern  sozusagen  den  Schlüssel 
zum  Qeheimniss,  denn  wo  in  der  eigentlichen  Erzählung  vieles  dunkel  und 
unverständlich  ist,  darüber  erteilen  die  Varianten  oft  vollständigen  Auf- 
schluss. So  wurde  es  mögUch,  mittelst  dieser  Varianten  das  constitutive 
Element  der  rumänischen  Volksmärchen  festzustellen.  Dieses  Element  ist 
die  griechisch-römmhe  Mythe.  Nicht  nur  die  Bumänen,  auch  Fremde  haben 
dieses  erkannt.  Die  Brüder  Arthur  und  Albert  Schott  haben  im  Jahre  1845 
in  Stuttgart  ein  Werk  eben  drucken  lassen:  a  Walachische  Volksmärchen.» 
In  der  Einleitung  heisst  es:  «Die  uralten  Dichtungen  eines  Volkes,  dessen 
Schicksal  eng  verknüpft  ist  mit  dem  Schicksal  der  Brüder  in  Italien,  .... 
finden  Widerhall  in  den  Traditionen  über  die  Götter  des  Altertums.»  In 
diesem  Punkt,  kann  man  sagen,  ist  heute  jede  Discussion  ausgeschlossen, 
nur  über  die  Frage  können  die  Meinungen  auseinander  gehen,  welche 
Bolle  des  Helden  in  der  Mythologie  der  Bolle  des  Helden  im  Märchen 
entspricht  und  umgekehrt,  also  nicht  die  mythischen  Elemente  erst  con- 
statiren ,  sondern  diese  Elemente  richtig  anwenden,  das  ist  die  Aufgabe. 
Und  auf  diesem  Gebiete  hat  sich,  meines  Wissens,  Dr.  Atanasie  Marienescu 
vor  Allen  das  meiste  Verdienst  erworben.* 

Unter  den  zahlreichen  Märchen,  die  bis  jetzt  bei  den  Bumänen  gesam- 
melt wurden,  bildet  die  Geschichte  des  Argirus  und  der  Helena  den  Glanz- 
punkt, was  auch  daraus  zu  ersehen  ist,  dass  man  von  dieser  Geschichte  bis 
jetzt  nicht  weniger  alz  !21  Varianten  kennt,  die  im  Munde  aller  Bumänen 
leben :  in  Ungarn,  Bukowina,  Bumänien,  Macedonien.  In  allen  diesen  Va- 
rianten heisst  die  Heldin  Bena  oder  Jana,  mit  dem  Beinamen  Gosandiana 
oder  Sandiana,  der  Held  dagegen  Argir  oder  Fet  frumos  oder  Petrus.  Wie 
eine  und  dieselbe  Person  unter  verschiedenen  Namen  vorkommen  kann  und 

*  Siehe  die  diesbezügliohen  Publikationen  in  der  AWina,  1870 — TL 
Ungarische  Bem«,  XL  1891.  HL  HofL  ]5 


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22b  DER   UB8PBXJKO   DER   AROIRUS-MABCHENS. 

was  dieselben  bedeuten,  werden  wir  später  sehen.  Vorerst  ist  es  notwendig, 
den  Inhalt  dieses  Märchens,  wenn  auch  nur  in  allgemeinen  Zügen  kennen 
zu  lernen,  und  zwar  in  der  Gestalt,  wie  Gergei  und  Barac  uns  dasselbe 
überliefert  haben,  da  wir  von  ihnen  aus  unsere  weiteren  Untersuchungen 
anstellen  wollen. 

Argir  ist  der  jüngste  Sohn  eines  mächtige  Königs,  Namens  Adeton.  Im 
Feenlande  steht  sein  Reich.  Dieser  König  bekommt  plötzlich  in  seinem  Garten 
ein  seltsames  Wunder  zu  sehen :  einen  Apfelbaum,  der  am  Tage  blüht,  in  der 
Nacht  schon  goldene  Früchte  trägt,  die  aber  mit  dem  Morgengraaen  jedesmal 
spurlos  verschwinden.  Erbost,  dass  er  die  Aepfel  nie  zu  Gesicht  bekommen  kann, 
lässt  er  eines  Abends  Wächter  anstellen,  um  den  Bäuber  zu  ertappen.  Wie  erstaunt 
er  aber,  als  er  am  andern  Morgen  die  Wächter  alle  schlafend  findet.  Zur  Bede 
gestellt,  antworten  sie,  dass  gegen  Morgen  ein  Wind  gekommen  sei,  so  sanft  und 
berückend,  dass  sie  alle  todesähnlich  eingeschlummert  wären.  —  Nun  lässt  der 
König  einen  Hofwahrsager  holen,  der  ihm  das  Geheimniss  entdecken  soll.  Der 
Zauberer  verkündet,  dass  nur  des  Königs  8ohn  in  diese  Sache  licht  bringen  könne, 
er  solle  unter  dem  Baume  Wache  halten.  Dieses  geschieht ;  des  Königs  ältester 
Sohn  steht  Wächter,  aber  am  Morgen  findet  man  ibn  ebenfalls  schlafend.  Dasselbe 
geschieht  mit  dem  zweiten  Sohn.  Schon  hat  der  König,  ergrimmt,  den  Zauberer 
köpfen  lassen,  als  Argir,  der  jüngste  Sohn,  sich  die  Erlaubniss  erbittet,  auch  sein 
Glück  zu  versuchen.  Mit  Widerstreben  geht  der  König  auf  seinen  Wunsch  ein  und 
Argir  begibt  sich  in  den  Garten.  Er  sieht  den  Baum  grünen,  Knospen  treiben, 
sieht,  wie  die  Aepfel  schon  spriessen,  grösser  und  immer  grösser,  dann  dunkel- 
rot werden  —  als  plötzlich  sechs  Pfauen  herbeifliegen,  zuletzt  ein  siebenter,  der 
sich  zu  Argir's  Haupt  niederlässt.  Dieser  streckt  hastig  die  Hand  nach  ihm  ans, 
erfasst  ihn,  während  die  anderen  sechs  davonfliegen.  Plötzlich  schüttelt  der  Pfau 
sein  Gefieder,  ahmt  Menschenstimme  nach  —  und  vor  dem  erschreckten  Argir 
steht  ein  wunderschönes  Mädchen,  dessen  goldene  Haare  bis  zu  den  Füssen  herab- 
wallen. Das  Mädchen  erzählt  nun,  dass  sie  den  Baum  in  den  Garten  gepflanzt 
habe,  Argir  zu  Liebe,  und  dass  sie  aus  ihrem  fernen  Lande  gekommen  sei,  sich 
ihm  zum  Geschenke  zu  geben.  Unter  süssen  Worten  schlafen  sie  ein. 

Die  Königin  Mutter  indess,  vor  Begierde  brennend,  das  Besultat  ihres 
Sohnes  zu  erfahren,  schickt  schon  am  frühen  Morgen  eine  Dienerin  in  den  Garten, 
um  ihr  Nachricht  zu  bringen.  Als  die  Dienerin  die  goldenen  Haare  des  schlafen- 
den Mädchens  sieht,  schneidet  sie  hastig  ein  Büschel  ab  und  läuft  damit  athemlos 
zur  Königin.  Unterdessen  erwacht  die  Fee  und  als  sie  ihr  Haar  verunziert  sieht, 
bricht  sie  in  Wehklagen  aus ;  umsonst  sucht  sie  Argir  zu  besänftigen,  sie  kann  die 
Schande  nicht  vergessen  und  ist  fest  entschlossen,  ihn  wieder  zu  verlassen.  Da 
alle  Torstellungen  vergebUch  sind,  bittet  Argir  schUesslich,  sie  möge  ihm  ange- 
ben, wo  ihre  Burg  hege,  denn  er  will  sie  daselbst  aufsuchen.   Doch  sie  spricht: 

«Was  auch  nützt  dir's,  wenn  ich*s  sage? 
Da  kein  Mensch  es  anzufangen 
Wüsste,  dorthin  zu  gelangen. 
Denn  du  wirst  der  Schwarzburg  wegen, 


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DEi;  URSPRUNG   DEH   ARGIRUS-MÄRGHENS.  ^^7 

Die  gen  MiUernaoht  gelegen, 
Magst  da  dich  auch  no'ob  so  plagen, 
Jedermann  vergeblich  fragen ; 
Sollst  den  Ort  du  auch  ergründen, 
Eine  Sprache  dir  ihn  künden, 
Jeder  wüsst'  es  dort,  gelingen 
Kann  dir's  nicht,  zu  mir  zu  dringen.!* 

Und  damit  schwingt  sie  sich  von  der  SteUe.  Argir  zieht  nun  in  die  Welt 
hinaus,  seine  Braut  aufzusuchen.  (Bei  Gei-gei  geben  ihm  seine  Eltern  einen  Diener 
mit,  bei  Barac  lassen  sie  ihm  ein  mutiges  Pferd  satteln  ;  so  zieht  er  vom  Haus.) 

lieber  Berg  und  Tal  wandernd,  gelangt  er  nach  vielen  Drangsalen  in  eine 
Wildniss,  wo  ein  Biese  haust,  ein  einäugiges  Menschen -Ungeheuer.  Bei  diesem 
erkundigt  sich  Argir  nach  der  Schwarzburg.  Der  Biese  erwidert,  er  habe  nie  davon 
gehört,  doch  solle  er  bis  Morgen  warten,  es  kämen  zu  ihm  die  Zwerge,  einer  unter 
ihnen  müsse  ihm  sicherlich  Auskunft;  erteilen  können.  Bei  Oergei  erwartet  der 
Riese  nicht  die  Zwerge,  sondern  die  Feen,  und  als  diese  keine  Auskunft  erteilen 
können,  erscheint  zuletzt  ein  hinkender  Zwerg,  der  schon  von  Weitem  ruft,  er 
wisse,  wo  die  Schwarzburg  sei.  Auf  das  GeheisQ  des  Biesen  begleitet  der  Zwerg  den 
Eönigssohn  dahin ;  an  der  Grenze  des  Feenlandes  trennen  sie  sich.  Argir  und  sein 
Diener  nehmen  zuerst  Quartier  bei  einer  alten  Frau,  um  hier  nähere  Erkundi- 
gungen einzuziehen.  Die  AHe  erzählt  nun,  dass  in  der  Nähe  ein  ZauWrgarten 
liege,  darin  sich  jeden  Tag  die  Königin  der  Feen  ergehe.  Argir  ahnt  sogleich,  dass 
er  am  Ziele  sei.  Schon  ist  er  nahe  daran,  die  Jungfrau  wieder  zu  sehen,  als  durch 
den  Verrat  des  Dieners  und  der  Alten  die  beiden  Liebenden  für  unbestimmte  Zeit 
von  einander  wieder  getrennt  werden.  Nachdem  Argir  den  Diener  und  die  Alte' 
wegen  ihrer  Treulosigkeit  mit  dem  Tode  bestraft  hat,  zieht  er  aufs  Nene  in  die 
Welt  hinaus.  Obwohl  er  bereits  Länder  imd  Meere  hinter  sich  zurückgelassen  hat,' 
scheint  ihn  diesmal  das  Glück  verlassen  zu  haben.  Schon  will  er  verzweiflungs-* 
voll  Hand  an  sich  legen,  als  plötzhch  furchtbares  Gebrüll  an  sein  Ohr  dringt. 
Näher  in  die  Bichtimg  eilend,  gewahrt  er  drei  scheussliche  Dämonen,  die  mit  ein- 
ander in  wutentbranntem  Tone  z^iken.  Voll  Mut  tritt  Argir  zu  ihnen  und  fragt 
sie  nach  der  Ursache  ihres  Streites. 

f  Wisse,  dass  wir  Brüder  sind. 
Die  des  Vaters  Erbschaft  teilen 
Und  aus  diesem  Grund  uns  keilen  f 
Gegenstände  sind  es  drei,  f 

i  >  Die  vorhanden  sind,  und  fcei 

Sollst  du  deine  Meinung  sagen. 
Wem  dieselben  zuzuschlagen  ?  ^  .  . 
Eine  Schleuder,  ein  Paar  Schuh 
Macht  das  Erbe,  und  dazu 
Eine  Peitsche  derb  und  schUohj; ; 


*  Aus  dem  Bumanischen  des  Barac  von  L.  Vj  Fischer. 


15* 


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^^  DEB  UB8PBUNG   DES   ARGIBUS-MÄBCHENS. 

Wenn  man  dreimal  knallt  und  spricht : 
ccHip,  Hopf  trag'  mich  rasch  dahin, 
Wo  ich  weile  jetzt  im  Sinn  !•  • 
Ist  man  mit  Gedankenschnelle 
Fliegend  schon  an  Ort  and  Stelle !  .  .  . 
Unserm  mittlem  Bruder  doch 
Ward  dabei  die  Qabe  noch, 
Dass  er  den  herunterziehen 
Kann,  der  fliegend  will  entfliehen, 
Was  uns  andere  ärgern  thut!  — 
Fälle  nun  dein  ürtheil  gut  f  • 

Argir  besinnt  sich  nicht  lange  und  spricht : 

•Geht  auf  drei  verschiedene  Seiten, 
Wer  zuerst  zurück  dann  kehrt, 
Der  sei  auch  des  Erbes  wert  !i 

Jeder  läuft  ohne  Weile  davon.  Und  Argir  nimmt  sofort  die  Schleuder  um, 
zieht  die  Schuhe  an,  knallt  dreimal  mit  der  Peitsche  und  spricht : 

cHip,  hopl  bei  der  Liebsten  mein. 
Bei  der  Spröden  möcht'  ich  sein  !• 

Und  mit  Gedankenschnelle  fliegt  er  davon.  Als  die  geprellten  Dämonen 
zurückkehren,  führen  sie  aufs  neue  Streit,  besonders  der  mittlere  Dämon  sieht 
sich  arg  bedrängt  von  seinen  beiden  Brüdern,  da  er  eigentlich  an  dem  Unglück 
Schuld  sei.  Nur  dadurch  entgeht  er  dem  Tode,  dass  er  verspricht,  mittelst  seiner 
Qabe  den  Bäuber  aus  dem  Fluge  herabzuziehen.  Dies  geschieht,  und  Argir  fällt  aus 
den  Lüften  auf  ein  Gebirge,  dessen  Spitze  bis  zum  Himmel  emporzusteigen 
scheint  Er  entschliesst  sich,  hinaufsuklettem.  Unter  grossen  Beschwerlichkeiten 
erklimmt  er  die  Höhe,  und  was  er  hier  sieht,  erfüllt  ihn  mit  Staunen  und  Bewun- 
derung, —  eine  Burg,  deren  Zinnen  weithin  in  die  Feme  winken,  mit  Mauem  und 
prachtvollen  Gärten  umgeben.  Es  ist  der  Palast  der  Feenkönigin.  Während  er 
sich  derselben  nähert,  kommt  eine  Fee  des  Weges  gegangen.  Wie  sie  den  Jüng- 
ling erblickt,  läuft  sie  zurück,  um  Argir  bei  der  Königin  anzumelden.  Die  Königin 
jedoch  hält  dies  für  eine  Neckerei  und  gibt  der  Fee  einen  Streich  auf  die  Wange ; 
einer  zweiten  und  dritten  Fee,  die  mit  derselben  Meldung  eintreten,  ergeht  es 
nicht  besser ;  endlich  erscheint  Argir  selbst,  und  jauchzend  stürzen  die  Liebenden 
einander  in  die  Arme.  —  Mit  grossem  Aufwand  und  Pomp  wird  nun  Hochzeit 
gefeiert.  Da,  mitten  in  der  Fröhlichkeit  und  Lustbarkeit,  versetzt  Argir  seiner 
Braut  drei  Streiche  auf  die  Wange.  Beschämt  fragt  diese  nach  der  Ursache  und 
Argir  erwidert: 

•Was  musst'  Allee  ich  ertragen. 

Was  für  Schrecken,  was  für  Plagen, 

Dass  ich  könnt'  zu  dir  gelangen. 

Da  ich  hieher  eilte,  sahen 

Mich  drei  holde  Jungfraun  nahen, 

Die  dir  froh  die  Botschaft  brachten. 


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DBR  tJBSPRtmO   DBS  AfiOlBUS-MÄBOHflKS.  tl9 

Doch  da  sagteet  mit  Yeraohten, 
Soleher  Lüge  glaubst  du  nicht, 
Schlugst  dabei  sie  ins  Oesieht.  — 
Um  zu  mahnen  dich  daran, 
Und  dich  aus  dem  Zauberbann 
Zu  entreissen  für  das  Leben, 
Musst'  ich  dir  die  Streiche  geben.» 

Die  Braut  verzeiht  ihm,  und  von  nun  an  trübt  kein  Schatten  mehr  ihr 
Glück. 

Dies  ist  in  Kurzem  der  Inhalt 

Ich  glaube,  in  dieser  Gestalt,  wie  uns  Gergei  und  Barac  die  Geschichte 
überliefert  haben,  wird  schwerlich  Jemand  irgend  welche  mythische  Ele- 
mente erblicken  können.  Wie  kam  man  trotzdem  zu  dieser  Ueberzetigung? 
Das  Volk  selbst  spriclit  es  aus. 

In  den  sechziger  Jahren  hat  Atanasie  Marienescn  eine  Sammlung  rumä- 
nischer Yolksballaden  veranstaltet,  in  welcher  sich  eine  Ballade  befindet,  die 
auch  in  der  Alhina  1868  gedruckt  erschienen  ist,  unter  dem  Titel:  t Sonne 
und  Mondi  oder  t Jana  Cosandiana».  Es  wird  darin  erzahlt,  dass  sich  die 
Sonne  einst  in  den  Mond  verliebt  habe  und  ihn  zu  seinem  Weibe  machen 
wollte.  Der  Mond,  «Jana  Cosandiana»  genannt,  wollte  durchaus  nicht  ein- 
willigen, da  sie  ja  Geschwister  und  himmlische  Körper  wären.  Die  Sonne 
wollte  seine  Schwester  mit  Gewalt  entführen,  da  stürzte  sich  der  Mond  in 
das  Meer,  die  Sonne  ihm  nach,  und  seit  dieser  Zeit  sinken  Sonne  und  Mond 
in  das  Meer  hinab,  steigen  aus  demselben  empor  und  jagen  am  Himmel 
einander  nach.  Also  dieselbe  Idee,  die  wir  auch  bei  Ovid  in  seinem  L  Buche 
der  Metamorphosen  finden.  Was  aber  die  Ausführung  anbelangt,  gehört  diese 
Ballade  zu  dem  Schönsten,  was  rumänische  Volkspoesie  hervorgebracht  hat. 
Als  dieselbe  publicirt  wurde,  musste  es  selbstverständlich  sogleich  auffallen, 
dass  hier  der  Mond  unter  dem  Namen  «Jana»  mit  dem  Beinamen  «Cosan- 
diana» vorkommt,  also  unter  denselben  Namen,  unter  welchen  man  Argir's 
Braut  in  den  Volksmärchen  kennt. 

Es  fragt  sich  nun,  woher  hat  das  Volk  diese  Benennung  für  4en 
Mond  ?  —  Wenn  wir  die  Mythologie  aufschlagen,  so  sehen  wir,  dass  bei  den 
Bömem  der  Mond  thatsächlich  auch  «Dea  Jana»  oder  blos  «Jana»  genannt 
wurde,  auch  war  er  die  leibUche  Schwester  des  Sonnengottes  «Janus». 
Varro  I.  37,  sagt :  «Nunquam  rure  audisti  octavo  Janam  et  crescentem  et 
contra  senescentem.»*  Aus  «Dea  Jana»  wurde  später  «Dijana»  (Diana)  als 
Name  des  Mondes.  Durch  die  Berührung  mit  dem  griechischen  Cultus  wurde 
später  Diana  nicht  mehr  als  Mond-,  sondern  als  Jagdgöttin  gefeiert ;  für  den 

*  8.  At.  Marienesou :  Esplicativm  lal  Argir  si  Ilina  Cosamditma  in  der 
Albma,  1871. 


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-^  Dfift  tJl»PIlÜK6   DfiS  ABGmüS-MÄROHliNd. 

Mond  hingegen  wurde  bei  den  Bömem  allmälig  der  Name  tLuna»  gebräuch- 
lich, und  im  Rumänischen  kommt  der  Mond  nur  unter  diesem  Namen  vor. 
Der  ältere  Name  dagegen  (fJana»)  hat  sich,  wie  wir  aus  der  oben  ange- 
führten Ballade  sehen,  als  alte  Tradition  in  der  rumänischen  Volkspoesie 
bis  heute  erhalten. 

Aber  auch  der  Name  « Diana ■  zur  Bezeichnung  des  Mondes  kommt 
im  Bumänischen  vor.  Wir  haben  dafür  einen  eklatanten  Beweis,  unter  den 
yahireibhen  Varianten  des  Argirus  finden  sich  einige/ in  welchen  Argir's 
Braut  Ilona  den  Beinamen  fSandianat  führt.  Dieses  Wort  ist  entschieden 
aus  tSänt  und  Diana  zusammengesetzt;'  «Sani»  ist  das  lateinische  «San- 
ctus»,  denn  wir  haben  im  Bumänischen :  «San-Pfetru»  (heiliger  Petrus),  «San- 
Giorgiu»  (heiliger  Georg),  tSan-Mihaiut  (heiliger  Michael)  u.  s.  w.,  und 
San-Diana  (Sandiana)  muss  ohne  Zweifel  «heilige  Diana»  heissen.  Nun  sind 
San-Petru,  Sän-Giorgiu,  San-Mihaiu  u.  s.  w.  bestimmte,  von  der  Kirche 
eingesetzte  Feiertage,  zum  Andenken  an  diese  Heiligen.  Wie  ist  es  mit  Sän- 
Diana  ?  Dies  ist  ebenfalls  ein  Fieiertag,  der  auf  den  '24.  Juni  fällt.  Aber 
wem  zu  Ehren  ?  Wir  werden  sehen. 

«Sandiana»  nennt  man  im  Bumänischen  dine  gelbe,  wohlriechende 
Blume,  welche  besonders  auf  Waldwiesen  wächst,  deutsch :  «da^s  Labkraut» 
oder  «Waldmeister»  genannt.  Am  Vorabend  des  24.  Juni  nun  windet  das 
Volk  Kränze  ans  diesen  Blumen,  welche  dann  ,  in  d^t  Abenddämmerung, 
nachdem  die  Sonne  schon  untergegangen  ist,  auf  das  Hausdach  hinauf- 
geworfen werden.  Am  nächsten  Morgen,  bevor  noch  die  Sonne  aufgeht, 
werden  die  Kränze  einer  genauen  Besichtigung  unterzogen,  wobei  das  Volk 
allerlei  Betrachtungen  für  das  betreffende  Jahr  anstellt  Die  Jugend  dagegen 
schmückt  sich  mit  diesen  Blumen,  ja  selbst  das  Zugvieh  wird  damit  bekränzt 
Der  Name  «San  diana»  nun,  dann  der  Umstand,  dass  die  Kränze  nach 
Sonnenuntergang  auf  das  Dach  hinaufgeworfen  und  vor  Sonnenaufgang 
besichtigt  werden,  beweisen  deutlich,  dass  diese  Blumen  einstens  der  Diana 
als  Mondgöttin  geweiht  waren,  und  dass  wir  es  hier  mit  Beminiscenzen  des 
alten  heidnischen  Gultus  zu  thun  haben,  —  Die  christliche  Kirche  hat  dann 
auf  diesen  Tag  die  Geburt  Joh^nnis  des  Täufers  gesetzt  Dass  dies  nur  will- 
kürlich geschehen  ist,  leuchtet  ein :  es  ist  eben  der  übliche  Vorgang,  den 
die  Kirche  in  den  ersten  Jahrhunderten  stets  befolgt  hat,  wenn  es  sich  darum 
handelte,  den  heidnischen  Gultus  zu  verdränged.  So  ist  fast  alles,  was  wir  beim 
Volke  mit  dem  Namen  «Aberglaube»  bezeichnen,  bekanntlich  nichts  anderes, 
als  Beminiscenzen  des  alten  heidnischen  Gultus.  Wit  haben  demnach  nicht  nur 
in  der  Volkspoesie,  sondern  auch  in  den  Sitten  und  Gebräuchen  des  rumä- 
.  nischen  Volkes  Beweise  dafür,  dass  unter  «Jana»  und  «Sandiana»  der  Mond 
zu  verstehen  sei. 

Nun  kommt  Argir's  Braut  in  den  Varianten  auch  unter  dem  Namen 
«Ilena  Gosändiana»  vor.  Il^na  ist  hier  identisch  mit  der  Helena  aus  der 


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T>mt,  ÜRSPlttlKG  DfiS  ARGIBU8-MÄR0HBK8.  ^1 

Mythologie,  welche  ebenfalls  als  Mondgöttin  gefeiert  wurde ;  sie  hatte  a,uf 
dem  Berge  Therapne  einen  Opferaltar.  (Ovid,  Meth.  XII.)  Durch  die  Berüh- 
mng  mit  dem  römischen  Gultus  geschah  dann  eine  gewisse  Amalgamisi- 
mng :  beide  Namen  blieben  aufrecht  zur  Bezeichnung  des  einen  Begriffes, 
des  Mondes,  nämlich  Il^na  d.  h.  Helena,  und  Jana  oder  Sandiana,  und 
fanden  ihre  Weitererhaltung  in  der  Poesie,  in  den  Sitten  und  Gebräuchen 
des  rumänischen  Volkes.  Bezüglich  des  Namens  «Gosandiana»  ist  man  bis 
heute  zu  keiner  endgiltigen  Deutung  gelangt.  In  der  letzten  Silbe  jedoch  ist 
Diana  deutlich  zu  erkennen.  Wie  dem  auch  sein  mag,  aus  dem  bisher  Ge- 
sagten ist  ohne  Zweifel  zu  ersehen,  dass  unter  «Jana  Gosanidianai  oder 
•Ilena  Sandianat  der  Mond  zu  verstehen  sei.  Nun  ist  es  leicht  zu  erraten, 
wer  Argirus  sein  soll. 

Zuerst  gelangen  wir  auf  Grund  jener  Ballade  zu  dem  Schlüsse,  dass 
Argirus  die  Sonne  sein  müsse.  Aber  auch  der  Name  sagt  dieses.  Der  Sonnen- 
gott Apollo  hatte  auch  den  Beinamen  «Argirotoxos»,  also  Träger  eines  gol- 
denen Bogens,  und  wie  uns  Hesiod  versichert,  stammt  diese  Benennung 
von  den  leuchtenden  Strahlen  der  Sonne,  die  Pfeilen  verglichen  wurden. 
Nun  nehme  man  einmal  die  Varianten  zur  Hand  und  man  wird  sehen,  dass 
Argirus  stets  mit  Bogen  und  Köcher  bewaffnet  erscheint,  so  als  er  in  dem 
Garten  Wache  hält,  so  als  er  auszieht,  seine  Braut  aufzufinden.  Gewiss  ist  diese 
etymologische  Deduction  nicht  hinreichend  genug,  um  uns  diesbezüglich 
volle  Ueberzeugung  zu  gewähren.  Und  da  nehmen  wir  wieder  zu  den  Va- 
rianten unsere  Zuflucht.  Wie  bereits  erwähnt,  zieht  Argirus  bei  Barac  zu 
Pferd  in  die  Welt  hinaus.  In  anderen  Varianten  wird  nun  dieses  Pferd  näher 
beschrieben.  So  wählt  sich  Argirus  für  seine  Wanderung  ein  Pferd  aus,  wel- 
ches mit  Feuer  gefüttert  wird.  Dies  erinnert  an  die  vier  Pferde  des  Apollo, 
von  denen  das  eine  Pyrois  (Feuerpferd),  das  zweite  Aethon  (der  Leuchtende), 
das  dritte  Eos  (der  Dämmernde),  das  vierte  Phlegon  (d^r  Sprühende)  genannt 
wird.  Also  alle  sind  mit  dem  Feuer  in  Verbindung  gebracht,  weil  eben  die 
Sonne,  nach  der  Anschauung  der  Alten,  auf  einem  Feuerwagen  mit  vier 
Feuerpferden  dahinfährt.  Daher  lässt  auch  Argirus  sein  Pferd  mit  Feuer 
füttern.  In  einer  anderen  Variante  heisst  es,  dass  dieses  Pferd  von  sieben 
Jungfrauen  gepflegt  wird.  Dies  erinnert  an  die  sieben  Hören,  welche  nach 
der  Mythe  die  Pferde  Apollo 's  ein-  und  ausspannten.  In  einer  anderen  heisst 
es,  dass  der  Palast  der  Helena  auf  einer  Insel  im  Meere  gelegen  sei,  von 
wo  sie  auf  einem  zweispännigen  Wagen  ausfuhr.  Dies  erinnert  an  die  An- 
schauung der  Alten,  womach  alle  Gestirne  in  das  Meer  hinabsinken  und 
aus  dem  Meer  emporsteigen,  hier  aber  speziell  an  die  obenerwähnte  Ballade. 
Der  zweispännige  Wagen  dagegen  erinnert  an  die  Anschauung  der  Bömer, 
dass  nämlich  der  Mond  auf  einem  zweispännigen  Wagen  fahre.  tLunae  biga 
datur  semper,  solique  quadriga.»  Nach  einer  anderen  Variante  trifft  Argirus 
auf  seiner  Wanderung  einen  Greis  an,  der  über  einen  Schwann  Bienen 


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^32  D£^  ÜBSPBÜKG   Dfi8  A^GIBUB-BCÄBCHEKS. 

gebietet.  Diese  Bienen  schickt  der  Greis  aus,  um  die  Burg  der  Helena  aufzu- 
finden. Nur  eine  unter  ihnen,  die  als  die  letste  zurückgekehrt  ist,  hat  die 
Burg  aufgefunden.  Hier  ist  der  Greis,  nach  der  Anschauung  der  Alten,  die 
Personification  der  Nacht;  die  Bienen,  über  die  er  gebietet,  sind  die  Sterne.* 
Die  Biene,  die  als  die  letzte  zurückkehrt,  ist  der  Morgenstern,  denn  während 
die  anderen  Sterne  beim  ersten  Sonnenstrahl  sich  in  das  Meer  stürzen,  hat 
der  Morgenstern  allein  den  Mut,  der  Sonne  ins  Angesicht  zu  sehen,  er  weiss 
folglich  am  besten,  wohin  sich  der  Mond  versteckt  hai  (Ovid.  Met.  ü.  erkl.  von 
B.  Suchier).  Wir  sehen  also,  dass  diese  Varianten  sich  durchaus  nicht  auf 
Aeusserlichkeiten,  sondern  auf  sehr  wesentliche  Momente  beziehen.  Sie  allein 
geben  uns  vollständigen  Aufschluss  über  den  Ursprung  und  die  Bedeutung 
unserer  Erzählung,  sie  allein  bestätigen  auch  unsere  Behauptung,  dass  unter 
Argirus  die  Sonne  zu  verstehen  sei. 

Nun  kommt  in  einigen  Varianten  statt  Argirus  der  Name  Petrus  vor. 
Es  ist  schwer,  die  Ursache  anzugeben.  Indess  eine  Andeutung  zur  Lösung 
dieser  Frage  finden  wir  in  einem  rumänischen  Weihnachtsliede,  betitelt : 
«Der  Reiche  und  der  Arme».**  Dieses  Lied  ist  in  Allem  identisch  mit  der 
Mythe  von  Philemon  und  Baucis.  Zeus  pflegte  sich  nämlich  unter  allerlei 
Gestalten  zu  verbergen,  um  die  Menschen  besser  belauschen  zu  können.  So 
suchte  er  einst  in  Gesellschaft  seines  Sohnes  Hermes  eine  Gegend  Phry- 
giens  auf.  Beide  hatten  sich  als  Pilger  verkleidet,  die  eines  Obdachs  bedurf- 
ten. Ueberall  fanden  sie  die  Türen  der  Reichen  verschlossen;  nur  ein 
frommes  Ehepaar,  Philemon  und  Baucis,  gewährte  den  Unbekannten 
herzUche  GastfreundHchaft,  trotz  der  eigenen  Armut,  die  es  drückte.  Die 
beiden  Gatten  wurden  demzufolge,  als  die  Götter  von  ihnen  Abschied 
nahmen,  für  den  Beweis  ihrer  Nächstenliebe  in  einen  glückUcheren  Zustand 
versetzt,  die  reichen  Nachbarn  dagegen,  welche  den  Zorn  der  Himmlischen 
gegen  sich  heraufbeschworen  hatten,  büssten  unter  einer  sofort  über  sie 
hereinbrechenden  Wasserfluth.  Ganz  dieselbe  Geschichte  wird  nun  in  dem 
erwähnten  Weihnachtsliede  von  dem  Reichen  und  dem  Armen  wieder- 
gegeben. Die  Namen  aber  sind  unter  dem  Einflüsse  des  Christentums  durch 
andere  ersetzt.  Statt  Zeus  figurirt  Christus,  statt  Hermes  —  Petrus.  Warum 
gerade  Petrus  ?  Wahrscheinlich,  weil  Petrus  unter  den  Aposteln  als  der 
unzertrennlichste  und  intimste  Freund  an  der  Seite  Christi  erscheint ;  er 
hat  sich  sozusagen  zu  einer  zweiten  Person  nach  Christus  emporgeschwun- 
gen, zum  Apollo  neben  Zeus. 

Dass  diese  Deduction  nicht  allzu  gewagt  ist,  beweist  folgender  Um- 
stand. In  einer  Variante  aus  der  Bukovina  heisst  es,  dass  Petrus  im  Meere 

*  S.  Nork,  Mytholoffie  aus  den  VoUmnärchen,—  Friedreich,  SifmhoHk  imd  Mytho- 
logie der  Natur. 

**  S.  ColindSi  Nr.  23,  von  At.  Marieneson. 


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DER  ÜRÖPittmO   DB8   AftÖIRÜa-MARCHBNS.  ^33 

von  einem  Fische  geboren  wurde.  Wir  treffen  hier  deutlich  wieder  auf  jene 
Anschauung,  wonach  die  Sonne  und  alle  Gestirne  aus  dem  Meere  ent- 
stehen. Ovid,  Met.  V.  sagt:  «Venus  sub  pisce  latuit»,  Venus  war  in  Gestalt 
des  Fisches  verborgen,  d.  h.  Venus  wurde  aus  dem  Elemente  des  Baches, 
aus  dem  Wasser  geboren.  Petrus  ist  demnach  identisch  mit  Apollo,  mit  der 
Sonne,  mit  Argirus,  ist  eine  lAchtgoUheit,  die  nach  der  Mythe  alle  aus  dem 
Meere  geboren  werden. 

Endlich  treffen  wir  in  den  meisten  Varianten  statt  Argirus  den  Namen 
«Fet  frumos»  an.  «Fet»  ist  das  lateinische  «Fetus»  (das  Erzeugte),  im  Ru- 
mänischen speziell  auf  das  Kind  bezogen,  «frumos»  heisst  «schön»,  dem- 
nach «Fet  frumos»  das  schöne  Kind.  Dieser  «Fet  frumos»  i^t  die  wichtigste 
und  interessanteste  Gestalt  in  der  rumänischen  Volkspoesie.  Mit  äbematür- 
lichen  Kräften  geboren,  besiegt  er  Biesen,  Drachen  und  andere  Ungeheuer, 
und  befreit  die  Mensohhdt  von  ihnen.  Die  gefährlichsten  und  hidsbreche«- 
rischsten  Aufgaben,  die  man  ihm  stellt,  weiss  er  geschickt  zu  lösen.  Und 
wenn  wir  seine  Thaten  näher  ins  Auge  fassen,  so  werden  wir  nicht  eine 
einzige  finden,  die  nicht  ihren  Ursprung  in  der  griechisch-römischen  Mythe 
hätte.  Als  Beweis  mögen  hier  einige  der  auffallendsten  angeführt  werden. 
So  wird  dem  «Fet  frumos»  einmal  die  Aufgabe  gestellt,  er  solle  Wasser 
bringen  von  dort,  wo  zwei  gewaltige  Felsen  auf-  und  zuklappen.  «Fet  fru- 
mos» begibt  sich  zuerst  zur  heiligen  Venus —  «santa  Vinere»,  um  sich 
Bat  zu  holen.  Die  «santa  Vinere»  belehrt  ihn,  zuerst  einen  Vogel  durch- 
fliegen zu  lassen.  «Fet  frumos»  befolgt  ihren  Bat,  und  während  die  Felsen 
nach  dem  Zusammenklappen  beim  Durchfliegen  des  Vogels  wieder  aus- 
einandergehen, schöpft  «Fet  frumos»  Wasser  und  schwingt  sich  auf  sein 
geflügeltes  Boss.  Die  Klippen  rennen  sogleich  gegen  einander,  doch  konnten 
sie  nur  noch  die  Hinterfnsse  des  Pferdes  erreichen.  —  Wer  erinnert  sich 
hier  nicht  an  die  Argonauten  und  die  Symplegaden?  Auch  die  Argonauten 
lassen  zuerst  eine  Taube  durchfliegen,  auch  ihnen  wird  der  Hinterteil  des 
Schiffes  zertrümmert. 

Auch  die  Art  und  Weise,  wie  «Fet  frumos»  zu  dem  geflügelten  Pferde 
gelangt,  ist  echt  mythisch.  «Fet  frumos»  soll  einst  von  einem  Einsiedler 
einen  Halfter  als  Geschenk  bekommen  haben.  Wenn  er  den  Halfter  einmal 
schüttelte,  erschien  sofort  ein  geflügeltes  Boss,  das  sich  ihm  zu  Diensten 
stellte.  —  Dies  erinnert  an  den  Halfter,  den  Athene  dem  Korinthischen 
Sonnenhelden  Bellerophon  schenkte;  das  geflügelte  Boss  aber  an  den 
Pegasus,  der  nur  von  Bellerophon  gebändigt  werden  konnte,  auf  dem  dieser 
dann  gegen  Ungeheuer  kämpfte,  die  er  gewöhnlich  aus  den  Lüften  mit  einem 
Bogenschuss  eilegte.  Pegasus,  der  nach  dem  Schwertstreiche  des  Perseus 
aus  dem  Haupte  der  Medusa  entsprungen  war,  erhielt  später  bekanntlich 
seine  besondere  Bedeutung  als  Musenross. 

Ein  andermal  soll  sich  «Fet  frumos»  am  Hofe  eines  Königs  gerühmt 


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i^  f>fim  ÜftÖPRtmo   DfiS  ABGIRÜS-MABOHEKS. 

haben^  er  sei  im  Stande;  die  goldenen  Haare  der  «S6na  CJösändiaüat  m 
rauben.  Der  König  nimn(it  ihn  beim  Wort,  und  iFet  frumos»  geht  an  die 
Aasführung,  die  sehr  gefährlich  war,  denn  bis  zur  «Ilena  Goaandiana»  musste 
man  das  Grebiet  eines  neunköpfigen  Ungeheuers  passiren.  Doch  «Fet  ftumos» 
nimmt  Pfeil  und  Bogen,  schüttelt  seinen  Halfter,  das  Pferd  erscheint,  er 
schwingt  sich  auf  dasselbe  und  während  das  Ungeheuer  mit  furchtbarem 
Gebrüll  auf  sie  losstürzt,  schwingt  sich  das  Pferd  in  die  Lüfte  und  tFet 
frumos»  sendet  dem  Ungeheuer  einen  Pfeil  durch's  Herz.  HieY  haben  wir 
einen  Teil  der  Geschichte  des  Perseus,  Dieser  hat  sich  vor  dem  König  Poly- 
dektes  ebenfalls  gerühmt,  er  sei  im  Stande,  das  Haupt  der  Medusa  zu  holen. 
Der  König  nimmt  ihn  beim  Wort  und  Perseus  muss  sein  Versprechen  erfüllen. 
Der  andere  Teil  ist  wiederum  mit  der  Geschichte  des  Bellerophon  verwebt. 

Wie  diese  Yerwebung  möglich  wurde  und  warum  in  den  rumänischen 
Volksmärchen  fast  ein  und  dersiBlbe  Held  die  Thaten  verrichtet,  die  in  der 
Mythe  von  verschiedenen  Personen  ausgeführt  erscheinen,  ist  leicht  erklärlich. 
Die  meisten  mythischen  Namen  verdunkelten  sich  nämlich  im  Verlaufe  der 
Jahrhunderte,  auch  wurden  sie  direct  durch  christhche  Namen  verdrängt,  bis 
sie  sich  in  nebelhafter  Feme  verloren.  Die  Fabeln  und  Märchen  jedoch  blieben 
in  der  Erinnerung  des  Volkes  und  diejenigen,  welche  eine  gewisse  Aehn- 
lichkeit  mit  einander  hatten,  wurden  nun  Einer  Person  zugeschrieben,  die 
mittelst  Abstraction  vom  Volke  gebildet  wurde:  diese  Person  ist  tFet  frumos», 
der  als  das  Ideal  eines  Jünghnges,  wie  «U^na  Ciosandiana»  als  das  Ideal  einer 
Jungfrau  beim  rumänischen  Volke  erscheint.  Nun  können  wir  uns  auch  leicht 
erklären,  woher  die  zahlreichen  Varianten  stammen.  Jene  mythischen  Ele- 
mente, ihr  Sinn  und  Zusammenhang,  ihre  ursprüngUche  Bedeutung  ent- 
schwand dem  Volke  nach  und  nach,  die  Fabeln  und  Sagen  aber,  das  Material, 
vererbte  sich  von  Generation  zu  Generation  und  lieferte  Stoff  zu  den  mannig- 
faltigsten Gombinationen.  Solche  Combinationen  finden  sich  schon  im  Alter- 
tum und  nicht  nur  von  der  Volksphantasie,  sondern  auch  von  einzelnen 
Dichtern  ausgeführt.  Was  sind  Ovid's  Methamorphosen  anders,  als  eine 
Sammlung  von  Fabeln  und  Sagen  aus  der  griechisch-römischen  Mythologie, 
die  sich  auf  die  Verwandlungen  von  Menschen  in  Tiere,  Bäume,  Steine, 
Wasser,  Feuer  u.  s.  w.  beziehen,  und  die  Ovid  dichterisch  zu  einem  Ganssen 
zu  gestalten  suchte  ?  AUe  diese  Fabeln  und  Sagen  lebten  auch  im  Munde  des 
Volkes,  bildeten  einen  Teil  seines  Glaubens  und  hatten  ihren  Grund  in  der 
frühesten  Beobachtung  der  Verwandlungen  und  Veränderungen  in  der  Natur. 

Und  so  werden  wir  sehen,  dass  auch  die  Geschichte  deo.  Argirus  aus 
mythischen  Elementen  zusammengesetzt  ist,  die  ursprüngUch  gar  nicht  zu 
einander  gehörten,  und  die  nur  die  Volksphantasie  zu  einem  Ganzen  auf- 
gebaut hat.  Ich  meine  die  goldenen  Aepfel  und  die  sieben  Pfauen,  und  die 
Motive  mit  den  Flügelschuhen,  der  Peitsche  und  dem  Mantel.  Woher  stam- 
men sie  ?  Hören  wir,  was  uns  die  Mythologie  erzählt.   Zuerst  über  die  gol- 


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•deDen  Aepfel.  Als  Zeus  und  Hera  Hochzeit  feierten,  brachten  alle  Götter  ihre 
Geschenke  dar.  Gaia,  die  Mutter  der  Erde,  Hess  den  goldenen  Baum  wachseh, 
der  am  Ende  der  Welt  neben  Okeanos  steht  und  von  den  sieben  Hesperiden 
bewacht  wird.  Bezüglich  der  anderen  drei  Motive  erzählt  uns  die  Mythologie : 
•Als  Perseus  in  seinem  schwärmerischen  Ehrgeiz  jenes  Versprechen  abgab, 
das  Haupt  der  Medusa  zu  holen,  hatte  er  sich  unbewusst  in  eine  Gefahr 
gestürzt,  die  so  furchtbar  war,  dass  er  sie  ohne  götthche  Mitwirkung  nicht 
zu  überwinden  vermfocht  hätte.  Die  allen  Helden  geneigte  Athene  geleitete 
ihn  daher  zu  einem  Nymphengeschlechte,  das  von  Zeus  mit  der  Themis 
erzeugt  war.  Von  diesen  Nymphen  erhielt  Perseus  die  nötigen  Gegenstande, 
die  er  zur  Besiegung  der  Medusa  brauchte,  nämlich  ein  Paar  Flügelschuhe, 
•einen  unsichtbar  machenden  Helm  oder  eine  Nebelkappe  und  einen  Schnapp- 
sack. Ich  glailbe,  hiemit  haben  wir  die  Quelle  aller  jener  Elemente,  aus 
denen  unsere  Geschichte  zusammengesetzt  ist,  festgestellt :  Mythisch  ist  die 
Geschichte  an  sich  selbst,  und  ihren  eigentlichen  Kern  haben  wir  in  jener 
bereits  erwähnten  Ballade  kennen  gelernt;  mythisch  sind  die  Namen  Argi- 
rus,  d.  h.  Sonne  und  Helena,  d.  h.  Mond,  mythisch  sind  die  goldenen  Aepfel 
und  mythisch  sind  die  letzterwähnten  drei  Motive.  Nachdem  wir  so  die  Basis, 
auf  welcher  eigentlich  unsere  Geschichte  ruht,  festgestellt  haben,  wollen  wir 
nunmehr  an .  die  Beantwortung  der  Frage  gehen,  woher  Gergei  diese  Ge- 
schichte entlehnt  hat. 

Untersuchen  wir  zunächst  folgende  Frage:  hat  sich  diese  Geschichte 
unter  dem  rumänischen  Volke  durch  Barac's  Bearbeitung  des  Öergei'schen 
Stoffes  verbreitet,  oder  nicht  ?  Ist  es  einmal  constatirt,  dass  nicht  Barac  sie 
unter  die  Rumänen  gebracht  hat,  nun,  so  hat  es  auch  Gergei  nicht  gethan, 
denn  Gergei's  und  Barac's  Dichtung  ist  eins. 

Nehmen  wir  an,  Barac's  üebersetzung  hätte  den  denkbar  grössten 
Erfolg  unter  den  Rumänen  in  Ungarn  gehabt.  Aber  da  fragen  wir  uns,  wie 
ist  diese  Erzählung  zu  den  Bukovinem,  zu  den  Rumänen  in  der  Moldau  und 
Walachei,  zu  den  Macedo-Rumänen  gedrungen?  Sollte  E|arac's  Dichtung 
dies  Wunder  bewirkt  haben?  Femer,  da  die  rumänischen  Volksmärchen 
erwiesenermassen  als  mythische  Erinnerungen  von  Generation  zu  Generation 
sich  fortgeerbt  haben,  sollte  allein  die  Geschichte  des  Argirus  mit  ihrem 
mythischen  Inhalt  aus  einer  nicht  auffindbaren  italienischen  Chronik  durch 
Vermittlung  einer  ungarischen  Eunstdichtung  unter  die  Rumänen  gedrungen 
sein  und  sich  daselbst  den  ersten  Platz  errungen,  ja  eine  Menge  Varianten 
hervorgebracht  haben?  Warum  hat  das  ungarische  Volk  keine  Varianten 
hervorgebracht?  Und  wie  ist  es  zu  erklären,  dass  auch  diese  Varianten  lauter 
mythische  Elemente  in  sich  fassen  ?  Vor  Allem,  wie  ist  es  zu  erklären,  dass 
man  in  dieser  Oeschichte,  welche  die  Rumänen  nur  am  dem  Anfange  unseres 
Jahrhunderts  haben  sollen,  jene  uralten  Namen  für  den  Mond :  «Sandiana» 
und  cJana»  wiederfindet?  Sollte  dies  ein  Zufall  sein? 


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Wir  Beben,  auf  diesem  Weg  stossen  wir  auf  lauter  Unmöglichkeiten. 
Aber  nocb  viele  andere  Fragen,  die  bier  aufgeworfen  werden  müssen,  lassen 
sieb  bei  dieser  Annahme  soblecbterdings  nicht  erklaren«  So  wird  bei  Barac 
Argir*8  Braut  stets  Helena  genannt;  Oergei  dagegen  erwähnt  mit  keiner 
Silbe,  wie  sie  beisst,  er  nennt  sie  blos  «tünd^r  le&ny»  (tFeenmädebeni). 
Nun  ist  es  sehr  wichtig,  dass  auch  bei  ungarischen  Schriftstellern  Argims  mit 
Helena  in  Verbindung  gebracht  wird.  So  finden  wir  in  «DMalus  templomat 
(DaBdalus*  Tempel)  von  Gyöngyössi  folgende  Stelle :  «Auch  Argirus  erging  es 
so  mit  der  Fee  Helene,  t^  Es  fragt  sich  nun,  woher  weiss  Gyöngyössi,  dass 
Argirus  mit  der  Helena  in  Verbindung  zu  bringen  sei?  Von  Gergei?  Schwer- 
lich I  Denn  Gergei's  Argirus  ist  1763  erschienen ;  einer  älteren  Ausgabe  aus 
1749  wird  blos  Erwähnung  gethan.  «D^dalus  temploma»  aber  erschien  1727. 
Allerdings  spricht  Otroköcsy  schon  im  Jahre  1693  von  Gergei's  Argirus,  aber 
der  Helena  wird  nirgends  Erwähnung  gethan.  Demnach  müssen  wir  Gyön- 
gyössi's  Quelle  anderwärts  suchen.  Vorläufig  führen  wir  noch  eine  andere 
Stelle  aus  der  ungarischen  Literatur  an,  bevor  wir  irgend  einen  Scbluss 
ziehen.  In  einem  Gedichte  von  Abraham  Barcsay  heisst  es : 

Megbocsdss,  }6  n^näm,  ^n  ki  Däciäban 
Születtem,  Ilona  tündSr  orszdgdban  — 
Ämbiir  sz6p  olähnäk  hordoztak  pölyAban ** 

Auf  Grund  dieser  Stellen  fragen  wir  uns  nun,  ist  es  möglich,  dass 
Jemand  das  Land  Siebenbürgen  «Helene's  Feenlandt  nenne  auf  Grund  des 
Gergei'scheu  Gedichtes,  in  welchem  mit  keiner  Silbe  weder  das  Wort  Sieben- 
bürgen noch  Helene  vorkommt,  aber  auch  sonst  kein  anderes  Wort  existirt, 
aus  welchem  man  diesen  Scbluss  ziehen  könnte  ?  —  Ist  es  möglich,  dass 
Jemand  Argir's  Braut  Helene  nenne  auf  Grund  des  Gergei'schen  Gedichtes, 
in  welchem  dieser  Name  gar  nicht  vorkommt?  Nein,  Gergei's  Dichtung  gibt 
weder  in  der  einen  noch  in  der  anderen  Beziehung  Veranlassung  dazu.  Wo 
ist  also  die  Quelle  zu  suchen  ?  Etwa  unter  dem  ungarischen  Volke,  welches 
nur  die  Gergei'scbe  Dichtung  kennt,  oder  unter  dem  rumänischen  Volke, 
wo  die  Geschichte  des  Argirus  und  der  Helena  in  massenhaften  Varianten 
lebt,  wo  jede  schöne  weibliche  Person  in  seinen  Märchen  den  Namen  Helena 
führt  und  wo  diese  Helena  zu  einem  nationalen  Typus  geworden  ist  ?  Ich 
glaube,  Barcsay  spricht  deutlich  genug :  Rumänische  Frauen,  die  ihn  als 
Kind  auf  ihren  Armen  getragen,  haben  ihm  diese  und  ähnliche  Geschichten 
von  der  schönen  Uena  erzählt,  und  wie  er,  werden  hunderte  und  tausende 
Ungarn  gewesen  sein,  die  auf  diesem  Wege  oder  durch  täglichen  Umgang 


"^  Siehe  Gustav  Heiniich,  Argirus  in  Budapesti  Szemle  pro  Angnst  1890. 
**  D.  h.  Verzeih'  giite  Tante,   ich,  der  ich  in  Dacien,  im  Feenlande  der  lidme^ 
geboren  bin  —  obwohl  mich  schöne  Rumäninnen  in  den  Windehi  getragen. .... 


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DER  UBSPBÜNO   DES  ABOIBT78-MÄBOHEM6.  ^^7 

mit  Bumänen  solche  Feengeschichten  gehört  haben.  Nun  finden  wir  es  begreife 
lieh,  wenn  Otroköcsy  sagt :  tN41unk  Tünderorsz^  alatt  rendesen  Erdtiyt 
ertik».*  Aber  wir  finden  jetzt  auch  begreiflich,  warum  Barac  in  seiner  Dich- 
tung das  ergänzt,  was  (rergei  unterlassen  hat :  als  Barac  nämUch  den  unga- 
rischen Text  las,  erinnerte  er  sich  sogleich,  wie  diese  Geschichte  im  Munde 
des  rumänischen  Volkes  lebt,  und  sd  setzte  er  den  Namen  Helena  ein.  Dass 
er  sich  trotzdem  fest  an  Gergei  klammert,  hat  seinen  guten  Grund.  Barac 
wollte  diese  Geschichte,  die  im  Volke  in  Prosagestalt  lebt,  in  Verse  und 
Beime  umsetzen,  und  so  nahm  er  sich  Gergei's  Dichtung  zum  Muster,  denn 
Barac  spielt  als  Dichter  eine  ziemlich  untergeordnete  Bolle. 

Indess  weichen  sie  auch  wesentlich  von  einander  ab.  Und  gerade  in 
jenen  Punkten,  in  denen  sie  von  einander  abweichen,  erkennen  wir  ihre 
gemeinsame  Quelle.  Eine  kurze  Analyse  des  Gedichtes  wird  das  Gesagte 


Gergei  erzählt,  dass  der  Biese  den  Argirus  aufigefordert  hätte,  bis 
Morgen  zu  bleiben,  es  kämen  die  Feen,  die  müssten  über  die  Schwarzbuig 
Auskunft  erteilen  können.  Die  Feen  kommen  —  aber  keine  kann  Bescheid 
geben.  Da  sei  ein  hinkender  Zwerg  gekommen,  der  habe  Argirus  nach  der 
Schwarzburg  hingeleitei  Nun  fragen  wir  uns,  ist  es  möglich,  dass  die  Feen 
den  Aufenthalt  ihrer  Königin  nicht  wissen  sollten,  denn  Gergei  nennt  Argir's 
Braut  ausdrücklich  die  t Königin  der  Feen»  ?!  Und  dann,  wie  kommt  der 
Zwerg  in  die  Geschichte  hinein,  denn  wenn  der  Biese  die  Absicht  gehabt 
hätte»  auch  die  Zwerge  zu  sich  zu  citiren,  so  hätte  er  sie  alle  dtirt,  nicht 
nur  den  einen,  und  noch  dazu  den  hinkenden,  von  dem  am  allerwenigsten 
etwas  SU  erwarten  war?!  Wenn  wir  die  rumänischen  Varianten  zur  Hand 
nehmen,  so  erklärt  sich  die  Bache.  In  einigen  derselben  erscheinen  nämlich 
nur  die  Feen,  und  diese  erteilen  auch  Auskunft,  weil  eben  von  ihrer  Königin 
die  Bede  ist.  In  anderen  erscheinen  nur  die  Zwerge,  und  der  letzte,  der  hin- 
kend herankommt,  weiss  Bescheid.  Gergei  hat  nun  beide  Varianten  gekannt 
und  hat  von  beiden  etwas  genommen,  ohne  den  Widerspruch  zu  bemerken. 
Barac  ist  vorsichtiger  in  diesem  Punkt,  bei  ihm  erscheinein  nur  die  Zwerge, 
und  ohne  Zweifel  hat  er  sie  aus  einer  Variante  entnommen,  denn  sonst 
sehen  wir  wahrlich  keinen  Grund,  warum  er  gerade  in  diesem  Punkt  hätte 
von  Gergei  abweichen  sollen.  Ferner  spricht  Barac  von  sieben  Pfauen,  Gergei 
dagegen  von  sieben  Schwänen;  bei  Barac  ist  der  Aufenthalt  Argir*s  beim 
Biesen  mit  einigen  Episoden  verbunden,  Gergei  übergeht  diese  gänzlich. 
Auch  hier  sehen  wir  keinen  Grund,  warum  Barac  von  Gergei  hätte  abweichen 
sollen,  wenn  nicht  die  Varianten  ihn  dazu  getrieben  hätten,  denn  in  den* 
selben  wird  thatsächlich  bald  von  Pfauen,  bald  von  Schwänen,  bald  von 


*  Siehe  G.  Heinrich,  a.  a.  0.  (cBei  uns  versteht  man  unter  dem  Feenhmde  in 
der  Begel  Siebenbürgen.  •) 


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2^  DER  URSPRUNG  DES  AROIRUS-MÄRCHBNS. 

Tauben  und  bald  —  von  Sternen  gesprochen,  ein  Beweis  mehr,  dass  diese 
Geschichte  unter  den  Bumänen  vor  Barac  existirt  hat,  und  diese  Existenz 
kann  es  doch  unmöglich  dem  Gergei  verdanken,  da  (}ergei  erst  dureh  Barac. 
in's  Bumänische  äbersetzt  wurde. 

Dagegen  ist  dem  Barac  an  einer  anderen  Stelle  ein  Lapsus  widerfahren. 
Er  erzählt  nämlich,  dass  Argirus  zu  Pferd  ausgezogen  sei,  ohne  irgend  eine 
Begleitung.  Im  Verlaufe  der  Erzählung  scheint  er  dies  vergessen  zu  haben, 
denn  wir  hören  nichts  mehr  von  dem  Pferde.  Diese  Stelle  ist  lehrreich,  denn 
sie  zeigt  uns  zugleich,  wie  unsere  Geschichte  aus  verschiedenen  Elementen 
zusammengesetzt  ist.  Wir  haben  nämlich  Varianten,  wo  Argirus  zu  Pferde 
auszieht.  In  diesen  aber  fehlt  consequent  die  Greschichte  mit  den  drei  Wun- 
derdingen. Selbstverständlich^  denn  in  diesem  Falle  sind  sie  unbrauchbar; 
das  Pferd  hat  Flügel,  wird  mit  Feuer  gefüttert,  ist  ühernatürUch  und  weiss 
somit  wo  die  Schwarzburg  liegt,  nur  ist  der  Weg  dahin  mit  Gefahren  ver- 
bunden, und  diese  Gefahren  besiegt  AVgirus  eben  mit  seinem  Wunderpferde. 
In  anderen  Varianten,  wie  bei  Gergei,  fehlt  das  Pferd,  aber  da  treten  die  drei 
Wunderdinge  in  die  Composition  ein,  denn  anders  könnte  Argir  zu  seiner 
Braut  nicht  gelangen.  Sowohl  das  Wunderpferd  als  auch  die  drei  Wunder- 
dinge gehören,  wie  wir  gesehen  haben,  verschiedenen  Mythenkreisen  an.  Das 
Volk  aber,  das  sich  an  den  ursprünglichen  Sinn  und  Zusammenhang  dieser 
Sagen  nicht  mehr  erinnern  konnte,  hat  nun  diese  Elemente  in  geschickter 
Weise  zu  den  verschiedenartigsten  Varianten  verwendet  Es  ist  vielleicht 
nicht  uninteressant,  hier  über  die  Entstehungsweise  solcher  Varianten  etwas 
anzuführen.  Der  Ort,  wo  solche  Varianten  entstehen,  ist  gewöhnlich  die 
Spinnstube.  In  jeder  Gemeinde  existiren  während  des  Winters  mehrere  der- 
selben. Spinnen  und  Märchen  erzählen  bilden  daselbst  zwei  fast  unzertrenn- 
liche Begriffe.  Das  Märchenerzählen  geht  folgendermassen  vor  sich :  Jemand 
beginnt  mit  einem  Märchen.  Nach  einer  kurzen  Weile  wird  der  Name  irgend 
einer  der  anwesenden  Personen  aufgerufen  oder  man  wirft  ihr  irgend  ein 
Zeichen  zu.  Diese  muss  sogleich  in  der  Erzählung  fortfahren.  Wenn  sie 
glaubt,  genug  erzählt  zu  haben,  wirft  sie  das  Zeichen  einer  dritten  Person  zu 
u.  s.  w.  Auf  diese  Weise  dauert  ein  einziges  Märchen  oft  stundenlang.  Dasa 
dabei  die  verschiedenartigsten  Stoffe  unter  einander  gemengt  werden,  ist 
selbstverständlich.  Ja,  man  betrachtet  es  als  ein  Zeichen  des  Scharfsinnes 
und  der  Geistesgegenwart,  wenn  die  aufgeforderte  Person  an  die  begonnene 
Erzählung  sogleich  irgend  einen  verwandten  Stoff  anknüpfen  kann.  Es  lässt 
sich  somit  leicht  erklären,  woher  die  zahlreichen  Varianten  stammen.  Aber 
wir  haben  hier  zugleich  einen  Fingerzeig,  wie  rumänische  Märchen  auch 
unter  die  anderen  mitwohnenden  Nationen  dringen  konnten.  In  Gemeinden 
von  gemischter  Bevölkerung  nämlich  hat  die  Spinnstube  oft  einen  inter- 
nationalen Charakter,  der  Ungar  besucht  sie  ebenso  wie  der  Sachse.  Wir 
brauchen  uns  demnach  nicht  mehr  zu  wundem,  wenn  in  der  Samnüung 


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DBB  ÜB8PBUNO  DBS  AlCGIBUß-lCABCHENS.  ^^^ 

sächsischer  Volksmärchen  von  Halbrioh  nicht  weniger  als  fünfzehn  Stücke 
für  rumänisch  erkannt  wurden.* 

Sowohl  Gergei  als  auch  Barac  haben  mehrere  Varianten  des  « Argirus» 
gekannt,  aber  sie  schlecht  angewendet,  wie  wir  gesehen  haben,  denn  sonst 
hätten  sie  solche  Compositionsfehler  nicht  begehen  können,  und  dass  beson- 
ders Barac  mehrere  derselben  gut  gekannt  hat,  beweist  folgender  Umstand. 
Barac's  Dichtung  ist  um  Vieles  länger  und  breiter  als  die  Gergei's.  Dieses 
Plus  fallt  entschieden  auf  die  Ausschmückung  in  der  Erzählung.  Und  diese 
ist  sehr  schön :  einfach,  leichtdahinfliessend,  hie  und  da  schalkhaft  —  eine 
echte  volkstümliche  Darstellung.  Manche  Partien  finden  sich  wörtlich  in 
den  Varianten  wieder.  Nun  lese  man  von  demselben  Dichter  beispielsweise 
iDie  Zerstörung  Jerusalem  *si  in  neun  Gesängen.  Man  glaubt  einen  Menschen 
vor  sich  zu  sehen,  der  in  einen  lehmigen  Boden  gesunken  ist  und  nun  aus 
demselben  sich  herauszuarbeiten  sucht,  —  so  schwerfä,llig  und  unbeholfen 
ist  er  an  manchen  Stellen.  Natürlich,  hier  konnte  er  nicht  aus  dem  Volks- 
munde hören,  wie  man  erzählen  und  beschreiben  soll. 

Auch  die  drei  Wunderdinge  sind  in  unserer  Erzählung  von  der  Volks- 
phantasie der  Grundidee  entsprechend  umgeändert  worden.  In  der  Mythe 
hat  jedes  Ding  seinen  besonderen  Zweck,  ebenso  in  den  einzelnen  Varianten. 
Die  Kappe  macht  unsichtbar,  die  Schuhe  verleihen  Flugkraft,  die  Peitsche 
oder  Schleuder  verwandelt  nach  Wunsch  jeden  Gegenstand  sogleich  in  Stein. 
In  unserer  Erzählung  haben  alle  drei  Gegenstände  eine  und  dieselbe  Kraß : 
die  Weiterbeförderung  im  Fluge  an  den  gewünschten  Ort.  Und  dies  ent- 
spricht vollkommen  der  -Grundidee  in  der  Erzählung :  Argirus  wünscht  sich 
nichts  anders,  als  die  Burg  seiner  Braut  aufzufinden.  Diese  drei  Motive 
bekommen  in  den  Varianten  nur  dann  ihre  specielle  Kraft,  wenn  Argunis  mit 
Ungeheuern  su  kämpfen  hat 

Und  eben  auch  dieser  Umstand,  dass  diese  verschiedenartigsten  Va- 
rianten unter  den  Bumänen  vor  Barac  existirten,  lassen  keinen  Zweifel  dar- 
über, dass  Gergei  den  Stoff  zu  dieser  Geschichte  aus  dem  Bumänischen  ent- 
lehnt hat.  Diese  Behauptung  haben  wir  bisher  blos  auf  Deductionen  basirt. 
Nun  finden  sich  auch  im  ungarischen  Texte  einige  Ausdrücke,  die  entschieden 
zu  dieser  Annahme  hindrängen.  Dort,  wo  Gergei  von  den  drei  Wunderdingen 
spricht,  gebraucht  er  zur  Bezeichnung  der  Flugelschuhe  den  Ausdruck 
«bocskort.  Da  nun  das  ungarische  Volk  den  «bocskort  nicht  trägt,  so  muss 
Gergei  in  der  Quelle,  aus  der  er  geschöpft  hat,  Ursache  gefunden  haben, 
diesen  Ausdruck  zu  wählen.  Und  die  Ursache  kann  nur  darin  liegen,  dass 
Gergei  aus  einer  rumänischen  Quelle  geschöpft  hat,  denn  das  rumänische 
Volk  hat  nur  den  t bocskor»  und  in  seinen  Märchen  tragen  sogar  die  Königs- 
si^me  und  Prinzen  den  «bocskort.  Man  beachte  nur,  wie  diese  drei  Wunder- 

*  Siehe  Doi  fiU  ootofeU  von  At.  Marienescu  in  der  AUma,  1871. 


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DER  URSPRUNG   DBS   ARGIRUS-MARCHENS. 


dinge  bei  anderen  Völkern  vorkommen.  Der  Türke  z.  R  spricht  von  Turban, 
Pantoffeln  und  Teppich ;  die  Motive  sind  also  vorhanden,  aber  bei  der  Gon- 
cretisirung  wurden  sie  sozusagen  nationalisiri  Koch  deutlicher  spricht  eine 
andere  Stelle  im  ungarischen  Texte.  Es  heisst  daselbst :  tMonda  a  sz^p 
leäny:  t^r^ir^y  szerelmem!»  («Sprach  das  schöne  Mädchen:  Argire,  mein 
Liebster  !•)  Wie  wir  sehen,  ist  «Argire»  der  Vocativ.  Aber  in  welcher  Sprache? 
In  der  ungarischen  nicht !  In  der  italienischen  ?  Auch  nicht,  denn  im  Italie- 
nischen gibt  es  keinen  Vocativ,  es  müsste  also  der  Nominativ  sein.  Aber  da 
fragen  wir  uns,  warum  gebraucht  Gergei  diese  Form  des  Nomiilativs  nicht 
auch  an  anderen  Stellen?  er  wendet  fünfundzwanzigmal  den  Ausdruck 
«Argirusi  an,  warum  gebraucht  er  gerade  hier  diese  Form  des  Nominativs? 
Indess  der  Nominativ  kann  es  auch  nicht  sein,  denn  dieser  müsste  von 
Argirus,  nach  dem  Geiste  deir  italienischen  Sprache,  «Argiro»  lauten.  Es  ist 
eben  weder  eine  italienische,  noch  eine  ungarische  Form,  es  ist  der  reine 
rumänische  Vocativ,  der  von  «Argirus»  nicht  anders  als  «Argire»  lauten  darf, 
und  Gergei  hat  diese  Form  benützt,  weil  er  sie  so  gehört  hat  und  weil  sie 
ihm  in  das  Versmass  passte. 

Wie  steht  es  aber  mit  den  eigenen  Aussagen  Gtergei's,  dass  er  nämlich 
diese  Geschichte  aus  dem  Italienischen  übersetzt  habe?  Wir  haben  gesehen, 
dass  die  diesbezügliche  Stelle  dunkel  genug  ist.  Doch  geben  wir  zu,  Gergei 
habe  thatsächlich  sagen  wollen,  er  habe  die  Geschichte  des  Argirus  einer 
italienischen  Chronik  entnommen,  wie  gestaltet  sich  dann  die  Sache?  Wir 
müssen  in  diesem  Falle  folgende  Frage  untersuchen :  hat  Gergei  Ursache 
gehabt,  statt  der  rumänischen  Quelle  eine  itaUenische  anzugeben?  Auf  diese 
Frage  können  wir  mit  einem  entschiedenen  «Ja»  antworten.  Wir  dürfen 
dabei  nicht  etwa  an  politische,  sondern  an  rein  literarische  Beweggründe 
denken.  Seit  die  Ereuzzüge  die  Völker  des  Occidents  und  Orients  in  nähere 
Berührung  mit  einander  brachten,  begann  auch  der  Geist  orientalischer 
Volkspoesie  nach  Europa  zu  strömen.  Diese  Strömung  hatte  im  XV.  und 
XVL  Jahrhunderte  ihren  Höhepunkt  erreicht  und  die  Vermittlung  stellte 
Italien  her,  so  dass  dieses  Land  die  eigentliche  Heimat  der  Feenmärchen  in 
Europa  wurde.*  Alles,  was  in  diesem  Grenre  poetisch  bearbeitet  und  erzeugt 
wurde,  mochte  es  woher  immer  stammen,  führte  man  auf  Italien  zurück. 
Aus  einer  italienischen  Chronik  geschöpft  zu  haben,  war  das  beste  Empfeh- 
lungsschreiben, das  man  einem  derartigen  poetischen  Froduote  in  die  Welt 
mitgeben  konnte  —  gerade  so,  wie  man  in  Deutschland  im  XVIH.  Jahr- 
hunderte sogar  die  urgermanische  Geschichte  Siegfried's  für  französisch  aus- 
gab, um  ihr  die  grösstmögliche  Verbreitung  zu  verschaffen.  Nun  wissen  wir 
allerdings  nicht  genau,  wer  Gergei  war,  wann  und  wo  er  gelebt  hat  Die  all- 
gemein acceptirte  Ansicht  jedoch  ist  die,  dass  er  ein  Siebenbürger  war  und 

*  Siehe  Gustav  Heinrich,  a.  a.  O. 


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DIE   GBTKEIDB-VEBSORGUNG   OSTERKEICH- UNGARNS  UND   DEUTSCHLANDS. 


2U 


dass  sein  Leben  in  das  XVI.  Jahrhundert  fallt,  also  in  jene  Zeit,  wo  die 
obenerwähnte  Manie  so  mächtig  war,  dass  er  nur  dem  herrschenden  Zeit- 
geiste folgte,  wenn  er  die  Geschichte  des  Argirus  für  italienisch  ausgab.  Um 
dann  diese  seine  Aussage  halbwegs  glaubwürdig  zu  machen,  bediente  er  sich 
auch  in  der  Darstellung  solcher  Ausdrücke,  die  auf  Italien  hinweisen,  wie 
Cypressen,  Orangen,  Lorbeer  u.  s.  w.  Dass  es  sich  hier  aber  nur  um  einen 
ganz  unschuldigen  und  zeitgemässen  Kunstgriff  handelt,  und  dass  Gergei 
aus  einer  rumänischen  Quelle  geschöpft  hat,  ersieht  man  auch  daraus,  dass 
dieses  Märchen  unter  den  Magyaren  in  Ungarn  bei  Weitem  nicht  so  ver- 
breitet und  volkstümlich  ist,  als  unter  den  Magyaren  in  Siebenbürgen,  weil 
sie  eben  hier  in  grösserem  Gontacte  mit  den  Rumänen  leben,  als  im  eigent- 
lichen Ungarn. 

Auf  Grund  dieser  äusseren  und  inneren  Kriterien  glaube  ich  entschie- 
den annehmen  zu  dürfen,  dass  Gergei  den  Stoff  zur  Geschichte  des  Argirus 
aus  dem  Bumänischen  entlehnt  hat.  Georg  Popp.^ 


DIE  GETREIDMEESOKGÜNG  ÖSTERREICH-UNGARNS  UND 

DEUTSCHLANDS. 
Aus  dem  (^esiohtspmikte  des  abzuachliessenden  Handels-  und  ZoUvertrages.^ 

Der  Finanzminister  Busslands  befasste  sich  in  einer  vor  kurzer  Zeit 
erschienenen  sehr  interessanten  Publication,^  in  welcher  er  die  Stellung 
Busslands  auf  dem  internationalen  Getreidemarkte  untersucht,  auch  mit 
der  wichtigen  Frage,  ob  die  Agrar- Zölle,  mit  welchen  Deutschland  und, 
dessen  Beispiel  folgend,  die  meisten  europäischen  Staaten  ihre  Agricultur 
vor  der  Concurrenz  der  im  grossen  Maasse  Getreide  producirenden  Staaten 

^  VgL  zu  diesem  Artikel  den  Auszug  aus  einem  Vortrage  Gustav  Heinrich 's 
über  Argirus  in  dieser  Ungarischen  Revue  IX.,  1889,  S.  46  —  Die  obige  Darstellung 
wird  unstreitig  dazu  beitragen,  das  Dunkel  zu  lüften,  welches  auf  der  Frage  nach  dem 
Ursprünge  dieses  Märchens  lastet,  denn  —  hei  aller  Anerkennung  für  die  Umsicht 
und  den  Schar&lnn  des  Verfassers  —  darf  doch  behauptet  werden,  dass  seine  Folge- 
rungen über  die  Grenze  der  Wahrscheinlichkeit  nicht  hinausreichen.  D.  Red* 

*  Diese  Abhandlung  wurde  noch  im  vergangenen  Herbst  geschrieben  und 
erschien  im  Dezember-Heft  der  imgar.  Nationalökonomischen  Revue.  Was  seitdem 
geschah,  dient  zur  Rechtfertigung  der  hier  entwickelten  Ideen.  Die  Frage  ist  jedoch 
bisher  noch   nicht   gelöst,    demnach   diese  Abhandlung   auch  jetzt   noch  zeitgemäfi& 

D.Bed. 

*  Ein  weitläufiger  Auszug  hie  von  ist  im  April-Heft  vom  Jahre  1890  des  durch 
den  französischen  Ackerbau-Minister  herausgegebenen  « Bulletin  •  enthalten. 

UagftTtooh»  BeriM,  XI.  1891.  m.  Heft.  IQ 

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242  DIE   GETREIDB-VBRBOROÜNG 

schützen,  eigeDtlich  durch  die  Producenten  der  Export- Länder  oder  durch 
die  Consumenten  jener  Staa.ten  getragen  werden,  in  welchen  die  Schutzzölle 
in  Anwendung  stehen? 

Diese  Frage  ist  für  Bussland  von  grosser  Wichtigkeit,  denn  wenn  es 
wahr  wäre,  womit  man  die  (Getreide-Zölle  zu  begründen  pflegt,  dass  die- 
selben nämlich  ohnehin  durch  die  ausländischen  IVoducenten  bezahlt  wer- 
den, würde  Bussland  nur  in  dem  einen  Jahre  1888  an  Deutschland  12*5 
MilUonen,  an  Frankreich  11*8  Millionen«  an  Italien  aber  15  Millionen  Me- 
tallrubel Tribut  entrichtet  haben. 

Das  Ajüom  der  Schutzzölle  wäre  —  nach  dieser  Quelle  —  richtig, 
wenn  die  Production  der  importirenden  Staaten  die  zur  Ernährung  der 
Bevölkerung  erforderliche  Menge  an  Getreide  decken  würde;  denn  es  könnte 
in  diesem  Falle  fremdes  Getreide  nur  dann  auf  die  inländiscl^en  Märkte 
gelangen,  wenn  die  ausländischen  Exporteure  ihr  Getreide  um  den  ganzen 
Zollbetrag  billiger  als  die  Local- Marktpreise  anbieten  würden.  In  jenen 
Staaten,  in  welchen  Schutzzölle  bestehen,  ist  aber  der  Bedarf  factisch 
grösser  als  das  Angebot,  was  notwendigerweise  das  Steigen  der  Preise  ver- 
ursacht, wodurch  der  Zollertrag  so  ziemlich  ausgeglichen  wird. 

In  der  schon  erwähnten  Quelle  ist  ein  Vergleich  aufgestellt  zwischen 
den  Preisen  des  russischen  Getreides  auf  den  Märkten  jener  Staaten,  welche 
sich  durch  Zölle  nicht  schützen  und  den  Marktpreisen  derjenigen  Staaten, 
wo  Schutzzölle  bestehen,  und  das  Endresultat  dieser  Parallele  ist,  dass  der 
grösate  Teil  der  Getreidezölle  nicht  die  fremden  Producenten,  sondern  die 
inländischen  Consumenten  belastet.  Gleichzeitig  wird  die  Behauptung  auf- 
gestellt, dass,  in  welchem  Maasse  die  Nachfrage  in  jenen  Staaten,  deren 
Production  den  inneren  Gonsum  zu  decken  nicht  im  Stande  ist —  zunimmt,  ein 
umso  grösserer  Teil  an  Zollabgaben  auf  dieselben  ei^t&llt,  die  Getreide 
exportirenden  Länder  hingegen  von  den,  ihren  Export  belastenden  Tribut 
in  demselben  Maasse  befreit  werden. 

Diese  Schlussfolgerung  bestätigen  auch  andere,  auf  gleichen  Grund- 
lagen aufgestellte  Studien  und  es  steht  gegenwärtig  schon  fast  ganz 
ausser  Zweifel,  dass,  wenn  auch  von  den  deutschen  Agrar-ZöUen  für  die 
deutschen  Landwirte  einiger  Nutzen  sich  ergab,  dieselben  für  die  ganze 
Volkswirtschaft  der  deutschen  Nation  nur  mit  Schaden  verbunden  waren. 
Deutschland  beging  daher  auch  aus  dem  Gesichtspunkte  der  eigenen  Inter- 
essen einen  grossen  Fehler,  als  es  mit  den  Agrar-Zöllen,  welche  das  Land 
vor  der  Concurrenz  der  im  riesenhaften  Maasse  Getreide  billig  produzie- 
renden Staaten  zu  schützen  berufen  waren,  nicht  nur  diese  von  den  Märkten 
ausschloss,  sondern  auch  jene  Staa^n,  welche  weder  durch  die  Menge  noch 
die  Billigkeit  ihrer  Production  gefährliche  Gonourrenten  der  deutschen  Agri- 
eultur  waren. 

Wir  wollen  uns  keinen  Becriminationen  hingeben ;  die  gewonnenen 


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Ö8TBRREIC5H-UNGARN8   UND    DEUTSCHLANDS.  2i3 

Erfahrungen  jedoeh  müssen  in  der  Zukunft  nach  Möglichkeit  nützlich  ver- 
wertet werden.  Diese  Erfahrungen  sind  eben  gegenwärtig  von  grösstem 
Nutzen,  da  Deutschland  mit  der  bisherigen  engherzigen  Wirtschafts-Politik 
zu  brechen  und  mit  der  österreichisch-ungarischen  Monarchie  einen  neuen 
Zollvertrag  zu  schliessen  beflissen  ist. 

Die  Verhandlungen  zwischen  der  ungarischen  und  österreichischen, 
sowie  der  deutschen  Regierung  haben  thatsächlich  begonnen^  und  man 
kann  dem  Abschlüsse  derselben  mit  Aussicht  auf  Erfolg  entgegensehen. 
Ein  sehr  günstiger  Umstand  ist  vor  allem  jene  Aufrichtigkeit  und  Innigkeit 
des  politischen  Bündnisses,  welche  so  den  Völkern  der  Monarchie  wie 
den  Bewohnern  Deutschlands  bereits  ins  Blut  übergegangen  ist.  Dieser 
Umstand  führt  die  Regierungen  der  verbündeten  Staaten  mit  der  Kraft  der 
logischen  Notwendigkeit  dem  Abschlüsse  eines  wirtschaftlichen  Bündnisses 
entgegen.  Ein  derartiger  Factor  ist  femer  die  Solidarität  der  Interessen 
beider  Staaten  der  österreichisch-ungarischen  Monarchie,  welche  der  unga- 
rische Handelsminister^  als  er  sich  unlängst  im  Parlament  äusserte,  so 
beBttmnl»  so  überzeugend  und  mit  so  viel  staatsmännischer  Weisheit  betont 
hai  Die  SoUdarität  der  Interessen  wird  es  nicht  gestatten,  dass  das  in  Aus- 
sicht genonunene  wirtMhaftliche  Bündniss  mit  Deutschland  aus  kleinlicher 
Eifersüchtelei  oder  Selbstsucht  SchifiTbruch  leide.  Wahrscheinlich  aber  werden 
es  die  deutschen  Landwirte  auch  begreifen  —  in  dieser  Beziehung  kann 
oberwähnte  russische  Publication  als  überzeugendster  Beweis  dienen  — 
dasB  ihre  eigenen  Interessen  es  nicht  erheischen,  dass  die  österreichischen 
und  nngarischen  Producenten  von  den  Märkten  Deutschlands  femgehalten 
werden; 

Es  ist  kaum  glaublich,  dass  Deutschland  mit  der  bisherigen  SchutzzoU- 
Teüdenz  so  bald  brechen  werde,  um  den  Principien  des  Freihandels  zu  hul- 
digen. Jene  Staaten,  welche  Bohproducte  im  grossen  Maasse  erzeugen,  sind 
gegenwärtig  viel  mehr  zu  befürchten,  als  vor  der  Epoche  der  Schutzzölle, 
da  dieselben  eben  hiedurch  angeeifert,  ihre  Production  billiger  und  reich- 
licher gestalteten,  die  Beförderungsmittel  erstaunlich  entwickelten,  und  die 
Transportkosten  auf  ein  Minimum  reduoirten.  Wie  könnten  einer  derartig 
verstärkten  Goncurrenz  die  Landwirte  jener  Staaten,  bei  welchen  Schutz- 
zölle in  Anwendung  stehen.  Trotz  bieten,  da  die  Klagen  dieser  Glasse  im 
Qrunde  genommen  schon  früher  gerechtfertigt  waren,  obzwar  dieselben 
unleugbar  eiidgermassen  übertrieben  wurden  ? 

Die  deutschen  Märkte  beherrscht  gegenwärtig  das  russische  Getreide ; 
in  dem  freien  Verkehr  des  Jahres  1889  entstammten  von  Weizen  58*9  <>/o, 
von  Roggen  88-2  o/o,  von  Hafer  92*5  o/o,  von  Gerste  48-0  o/o  aus  Russland; 
von  den  wichtigeren  Getreidegattungen  war  die  nordamerikanische  Waare 
nur  bei  dem  Mais  im  Uebergewicht;  den  zweiten  Platz  nahm  aber 
Bxsxk  hier  Bussland  ein.  Dieses  Uebergewicht  Würde  Bussland  auch  nach 

16* 


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244  DIE   OETBEIDE-YER80ROUNO 

Abechaffung  der  Zölle  beibehalten^  sogar  vielleicht  noch  steigern,  und  es 
würden  die  deutschen  Landwirte  eben  den  im  grössten  Maasse  und  am  bil- 
ligsten producirenden  Concurrenten  schutzlos  gegenüberstehen,  lieber  die 
Productionskosten  liegen  keine  verlässlichen  Daten  vor,  können  auch  natur- 
gemäss  nicht  vorhanden  sein,  es  stehen  aber  mehr  oder  weniger  annähernde 
Schätzungen  zur  Verfügung^  und  die  schon  mehrmals  erwähnte  rus- 
sische Quelle  stellt  auch  einen  Vergleich  zwischen  den  Productions- 
kosten des  nordamerikanischen,  des  ostindischen  und  russischen  Weizens 
auf  und  gelangt,  auch  die  Transportkosten  in  Anbetracht  genommen,  zu 
der  Schlussfolgerung,  dass  der  Weizen  dem  russischen  Producenten  auf  dem 
Markt  in  London  per  Pud  (1  Pud  =16  Kilogramm)  um  2  Kopeken  billiger 
zu  stehen  kommt,  als  dem  ostindischen,  und  um  8  Kopeken  billiger,  als 
dem  nordamerikanischen  Producenten. 

Für  die  deutschen  Producenten  ist  daher  der  Schutz  vor  Bussland  eine 
Lebensfrage;  wenn  jedoch  die  allgemeinen  Interessen  des  Reiches  nicht 
geopfert  werden  sollen,  ist  es  notwendig,  mit  solchen  Staaten  in  2jollverband 
zu  treten,  deren  Productions*  Verhältnisse,  obzwar  dieselben  über  einen 
Ueberschuss  an  Getreide  verfügen,  nicht  stark  von  jenen  Deutschlands 
abweichen. 

In  dieser  Hinsicht  kommt  in  erster  Reihe  die  österreichisch-ungarische 
Monarchie  in  Betracht  Viele  behaupten,  dass  die  Monarchie  nur  noch  kurze 
Zeit  hindurch  unter  die  Getreide  exportirenden  Staaten  gereiht  werden 
kann,  und  dass  der  Zeitpunkt  nicht  mehr  ferne  ist,  in  welchem  die  Produc- 
tion  nicht  einmal  den  inneren  Bedarf  zu  decken  im  Stande  sein  werde. 
Die  Daten  über  den  Waarenverkehr  des  gemeinsamen  Zollgebietes  recht- 
fertigen diese  Behauptung  nicht  Es  ist  zwar  wahr,  dass  sich  die  Ver- 
kehrsbilanz vom  Roggen  meistenteils,  vom  Mais  aber  ständig  passiv  gestal- 
tet, von  den  übrigen  Getreidegattungen  jedoch  und  unter  diesen  von  dem 
Hauptproduot  Ungarns,  vom  Weizen,  nimmt  die  Exportfahigkeit  der  Mon- 
archie (besonders  wenn  auch  der  Mehlexport  in  Betracht  genommen  wird), 
nicht  nur  nicht  ab,  sondern  es  steigt  dieselbe,  und  es  gelangten  besonders 
während  der  letzten  Jahre  neuerlich  grosse  Mengen  auf  die  Weltmärkte. 

Was  speziell  die  Export&higkeit  Ungarns  betrifft,  so  sprach  Karl 
Keleti  in  seinem  ausgezeichneten  Werke  über  die  Pariser  Weltausstellung 
vom  Jahre  1878  die  Ansicht  aus,  wir  müssten  ims  mit  der  Idee  befreunden, 
dass  die  zweifelhaft  ruhmvolle  Rolle,  zu  Folge  welcher  wir  uns  als  einen 
Hauptverpfleger  Europas  und  als  einen  par  excellence  Getreide-Export-Staat 
betrachteten,  in  der  nächsten  Zukunft  aufhören  werde.  Die  früheren  Ergeb- 
nisse der  Production  Ungarns,  welche  damals  die  amtliche  Statistik  schon 
über  10 — 11  Jahre  constatirte,  in  Betracht  genommen,  konnte  diese  Behaup- 
tung mit  Recht  aufgestellt  werden ;  denn  wahrlich,  wenn  auch  Ungarn  in 
den  siebziger  Jahren  Brotfrüchte  exportirte,  so  war  dies  nur  so  möglich,  dass 


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OSTBBREIOH-tmÖAfiKS  tT^)   DfitJl^&LAKDS.  245 

das  Volk  das  zum  Verkaufe  bestimmte  Material  dem  eigenen  Munde  entzog, 
und  es  konnten  diejenigen,  die  an  der  Zukunft  der  Industrie  Ungarns  niobt 
zweifelten,  getrost  bebaupten^  dass  die  Bevölkerung  nur  ein  wenig  mebr 
Abwecbslung  in  ibrer  Bescbäftigung  und  im  Einklänge  biemit  nur  ein  wenig 
mebr  Woblstand  und  Woblbabenbeit  benötigt^  um  aucb  die  Production  der 
günstigeren  Jabre  selbst  consumiren  zu  können.  Seitdem  macbte  aber  die 
Agrioultur  Ungarns,  Dank  der  intellectueÜen  und  moraliscben  Kraft  der 
Bevölkerung,  riesenbafte  Fortscbritte.  Dies  ist  am  deutlicbsten  ersicbtlicb, 
wenn  ein  Vergleicb  aufgestellt  wird  zwischen  der  Production  der  unlängst 
verflossenen  Zeit.  Im  Jabre  1868,  welcbes  als  ein  sebr  reicblicbes  betrachtet 
wurde,  betrug  die  Weizen-Ernte  Ungarns  29*56  Millionen  Hectoliter,  im 
Jabre  1889  hingegen,  als  nicht  nur  unter  den  Froducenten  sondern  auch  in 
Handelskreisen  überall  im  ganzen  Lande  wegen  der  Missemte  Klagen  laut 
wurden,  betrug  die  Weizen-Ernte  32'96  Millionen  Hectoliter.  In  den  ver- 
gangenen Jahrzehnten  wurde  es  schon  als  eine  günstige  Ernte  betrachtet, 
wenn  die  Production  30  Millionen  Hectoliter  nahe  kam ;  die  günstigen  Fech- 
Bungen  der  letzteren  Jahre  producirten  sogar  mebr  als  50  Millionen  Hecto- 
Kter. 

Sämmtliche  Brotfrüchte  in  Betracht  genommen,  wurden  in  Ungarn 
allein  produdrt : 

Im  Dnrchscbnitte  der  Jahre  1869—73    31*78  Millionen  Hect. 

•  €  €       •       1874—78 39-61         •  • 

«  •  •       •       1879—83     47-22        t  t 

«  €  •       €       1884— 88. _.     ...  60-70        t  « 

Die  Menge  der  Brotfrüchte  sank  zwar  im  Jahre  1889  zu  Folge  der 
misslicben  Ernte  auf  4f8'00  Millionen  Hectoliter,  es  übertrifft  jedoch  diese 
Menge  noch  immer  mit  Ausnahme  des  letzteren,  alle  fünfjährigen  Durch- 
schnitte früherer  Jahre;  die  Abnahme  ersetzt  übrigens  reichlich  die  Ernte 
des  Jahres  1889  von  75*87  Millionen  Hectolitem.  Es  sei  hier  bemerkt,  dass 
diese  Daten  nur  die  Ernte-Ergebnisse  des  im  strengeren  Sinne  des  Wortes 
genommenen  Ungarns  repräsentiren ;  Kroatien- Slavonien  producirt  ausser- 
dem noch  jährlich  beiläufig  1*89  Millionen  Hectoliter  Weizen,  1*19  Millionen 
Hectoliter  Boggen  und  811,000  Hectoliter  Halbfrucht,  insgesammt  daher 
3*89  Millionen  Hectoliter  Brotfrüchte.  Der  Mais  wurde  weder  bei  Ungarn 
noch  bei  Eroatien-Slavonien  in  Bechnung  genommen ;  dieses  Product  spielt 
aber  in  vielen  Gtegenden  eine  wichtige  Bolle  in  dem  Gonsum  der  Bevölkerung. 

Mne  derartige  Menge  consumirt  das  Land  nicht,  nicht  einmal,  wenn 
der  Brotoonsum  Ghross-Britanniens  als  Bichtschnur  angenommen  wird,  und 
es  können  noch  immer  bedeutende  Mengen  für  den  österreichischen  oder  für 
den  übrigen  ausländischen  Ck>nsum  exportirt  werden. 

Der  Export  Ungaras  wird  weder  zu  Folge  natürlicher  Zunahme  der 


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^  blE  OBTIÜälDfi-Vk&SO&äüMÖ 

Bevölkerung,  noch  in  Folge  der  eventuellen  gunstigeren  Gestaltung  des  bA" 
gemeinen  Wohlstandes  abnehmen,  da  die  Production  die  Grenzen  ihrer  Ent- 
wickelunggfahigkeit  bei  Weitem  noch  nicht  erreicht  hat;  die  sich  fortwährend 
rationeller  entwickelnde  Gultur  wird,  wenn  auch  nicht  von  Jahr  zu  Jahr  — 
die  Agricultur  ist  stets  von  der  wechselhaften  Launenhaftigkeit  der  Witte- 
rung abhängig  —  so  doch  im  Durchschnitte  mehrerer  Jahre  noch  lange  Zeit 
hindurch  die  durchschnittliche  Production  steigern. 

Grosse  Ersparnisse  können  noch  ohne  Einschränkung  des  Consums 
erreicht  werden  bei  der  Aussaat  Heutzutage  geht  noch  sehr  viel  Aussaat  in 
Verlust.  Drill- Maschinen  stehen  nur  bei  den  Gross-Grundbesitiem  in  An- 
wendung, in  der  Classe  der  mittleren  Grundbesitzer  bloe  bei  sehr  wenigen,  bei 
den  Elein-Grundbesitzem  überhaupt  nicht.  Die  Säemaschinen,  bei  welchen 
übrigens  die  Erspamiss  nur  sehr  unbedeutend  ist,  stehen  in  noch  geringerem 
Maasse  in  Verwendung ;  bei  den  Mittel-  und  Eleingrundbesitzem  ist  der 
Anbau  mit  der  Hand  gebrauchlich.  Es  stehen  viele  Beispiele  zur  Verfügung, 
dass  bei  einem  Eleingrundbesitz  140—150  Liter  Weizen  auf  ein  ungarisches 
Joch  (1200  U  Klafter)  angebaut  werden ;  dies  entspricht  324—327  Litern 
per  Hectar ;  wogegen  in  Deutschland  vom  Winterweizen  durchschnittheh 
auf  einen  Hectar  170 — 172  Liter  gerechnet  werden«  Die  Weizenfläche 
Ungarns  beträgt  jährlich  beiläufig  3  Millionen  Hectare  und  es  wird  auf  einem 
bedeutenden  Teil  dieser  Fläche  die  Aussaat  maasslos  verschwendet.  Wenn 
aber  auch  diejuittleren  Besitzer  die  Drill-Maschinen  benützen  werden,  ja 
sogar  die  Eleingrundbesitzer  mit  einander  vereint  diese  ausserordentlich 
nützliche  Maschine  beschaffen  werden,  so  wird  eine  beträchtliche  Menge 
Getreide  für  den  Consum  oder  Export  erspart  werden  können ;  diese  Menge 
bleibt  stets  gleich,  so  unter  günstigen  als  auch  unter  ungunstigen  Verhält- 
nissen, da  die  Aussaat  auch  nach  einer  Missemte  erforderlich  ist,  und  soll  die 
zukünftige  Ernte  nicht  schon  im  voraus  vereitelt  werden,  so  ist  ebensoviel 
Saatkorn  notwendig,  als  nach  einer  günstigen  Ernte. 

Wenn  wir  den  Netto-Getreide-Export  Ungarns  seit  dem  Jahre  1882  (als 
die  neue  Waarenverkehrsstatistik  ins  Leben  trat)  betrachten,  ergibt  8i<^, 
dass  die  jährliche  durchschnittliche  Ausfuhr  (nach  Abrechnung  der  impor- 
tirten  Mengen)  von  Weizen  5*3  Millionen,  von  Boggen  1*31  Millionen,  von 
Gerste  2*64  Millionen,  vom  Hafer  0*91  Millionen,  von  Mais  0*78  Millionen 
und  von  Mehl  3*64  Millionen  Metercentner  betrug;  im  Jahre  1888  hingegen, 
als  das  meiste  exportirt  wurde,  zeigen  sich  folgende  Ergebnisse.  Weizen 
7*89  Millionen,  Mehl  4*65  Millionen,  Boggen  1*65  Million^,  Gterste  3*65  Mil- 
lionen, Hafer  905  Tausend  und  Mais  1*06  Millionen  Metercentner;  das  Mehl 
auf  Weizen  umgerechnet,  betrug  allein  der  Weizen-Export  dieses  Jahres 
13*95  Millionen  Metercentner.  Der  Export  des  laufenden  Jahres  (1890)  wird 
wahrscheinlich  auch  noch  diese  kolossale  Menge  übertreffen. 

Den  überwiegenden  Teil  der  Getreide- Ausfuhr  Ungarns  nimmt  jedoch 


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OSTEBBBICÄ-tJNGAKNB   tlND   D)SÜT8CmiA^D8. 


U^l 


der  Gonsum  Oesterreiohs  in  Anspmch ;  bei  dem  Zollbändniss  mit  Deutsch- 
land kann  daher  nur  der  Uebeirflusa  des  ganzen  dsterreichisoh-ungarischen 
Zollgebietes  in  Betracht  kommen.  Nach  dem  Durchschnitte  von  10  Jahren 
gestaltet  sich  die  jährliche  Mehrausfuhr  der  österreichisch-ungarischen  Mon- 
archie von  den  wichtigeren  Getreide-Gattungen  und  von  Mehl  folgeüder- 
massen: 

Weizen  ...    _ 1.222  Tausend  Meter-Centner 

Roggen       (— )     407 

Gerste     2.695 

Malz    959 

Hafer      363 

Mais    (--)  1.363 

Mehl       1.419 

Das  Mehl  auf  Weizen,  das  Malz  aber  auf  Gerste  umgerechnet,  betrug 
der  Ueberfluss  an  Weizen  3*19  Millionen,  an  Gerste  hingegen  3*91  li^ionen 
Meter-Centner.  Bei  diesen  beiden  wichtigen  Getreide-Gattungen  ze^  sich 
daher  ein  sehr  bedeutender  Ueberfluss,  beim  Hafer  hingegen  nur  mehr  ein 
massiger,  vom  Boggen  jedoch  und  besonders  von  Mais  weist  die  Waaren- 
Bilanz  einen  grossen  Abgang  auf. 

Um  die  Exportfähigkeit  der  Monarchie  beurteilen  zu  können,  musste 
der  Durchschnitt  mehrerer  Jahre  in  Betracht  genommen  werden,  damit  sich 
in  diesen  die  durch  günstige  und  missliche  Ernten  verursachten  extremen 
Ergebnisse  ausgleichen.  Während  der  zehn  Jahre,  deren  Durchschnitt  mit- 
geteilt ist,  gelangten  bei  dem  Gtotreide-Verkehr  auch  derartige  Momente  zur 
Geltang,  welche  nicht  mit  dem  Wanken  der  jährlichen  Production,  sondern 
mit  anderen  Ursachen  im  Zusammenhange  stehen.  So  war  die  Monarchie 
während  der  letzteren  Jahre  bei  Weitem  nicht  auf  eine  so  grosse  Menge  von 
Mais  angewiesen,  wie  in  früheren  Jahren,  die  Mehreinfuhr  betrug  hievon 
im  Jahre  1888  nur  mehr  385,000  Meter-Centoer,  im  Jahre  1889  hingegen 
74,000  Meter-Centner.  Die  nahmhafte  Einfuhr  von  Mds  sank  seit  dem  Zoll- 
kriege mit  Bumänien,  jedoch  nicht  nur  aus  diesem  Grunde,  sondern  auch 
in  Folge  Einschränkung  der  Branntwein-Production,  hauptsächlich  der 
industriellen  Branntwein-Production.  Als  nämlich  der  Branntwein-Etport 
in  Abnahme  begriffen  war  und  als  bei  dem  inneren  Gonsum  auf  Kosten  der 
industriellen  Branntweinbrennereien  die  grösstenteils  Elrdäpfel  aufarbeiten- 
den wirtschaftliehen  Branntweinbrennereien  immer  mehr  Terrain  eroberten, 
musste  notwendigerweise  der  Consum  von  Mais  abnehmen  und  wir  halten  es 
kaum  für  möglich,  dass  wenn  auch  der  Zollkrieg  mit  Bumänien  aufhört, 
neuerdings  solche  Mengen  Mais  eingeführt  werden  wie  früher. 

Die  Ein-  und  Ausfuhr  Deutschlands  (in  und  aus  dem  freien  Verkehr) 
gestaltet  sich,  ebenfalls  nach  dem  Durchschnitte  der  zehn  Jahre  1 880—  1889, 
fcd^ndermassen : 


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ä48 


DIE   GETBKTDB-VERSORGtKÖ 


Einfohrin 

Angfohr  in 

MehreinfnliT 

Metar-Centeern 

Meter-Oentnein 

in  Meter-Centeern 

4,923  Tausend 

438Taaaend 

4,485  Tausend 

Boggen 

7,347       . 

86       € 

7,261       . 

Gerate.. 

3,353      . 

622      € 

2,730       . 

Ma]ü 

...    ...           606      « 

63      € 

545       « 

Hafer  .. 

2,232      . 

201       f 

2,031       < 

Mais 

2,171       € 

f 

2,171       € 

Mehl    .. 

439      . 

1,182      • 

—      < 

Deutschland  bat  daher  nur  aus  dem  Mehl  eine  Mehrausfuhr  von 
742,000  Meter-Centner;  diese  Menge  auf  Weizen  umgerechnet*  und  von 
dem  Bedarf  an  Weizen  in  Abrechnung  gebracht,  sinkt  der  Netto-Bedarf  an 
Weizen  auf  3*58  Millionen  Meter- Centner,  der  Bedarf  an  Gerste  stieg  hin- 
gegen nach  Umrechnung  des  Malzes  auf  Gerste  auf  3*43  Millionen  Meter- 
Centner. 

Wenn  nun  zwischen  dem  üeberfluss  der  Monarchie  und  zwischen  dem 
Bedarf  Deutschlands  ein  Vergleich  aufgestellt  wird,  zeigt  sich  im  Durch- 
schnitte der  zehn  Jahre  ein  jährlicher  Abgang: 

beim  Weizen  von  ...    ...    0*48  Millionen  Meter-Gentner 

•  Boggen    €        7*67       t  t 

i     Mais        «  ...    3*53      <  « 

•  Hafer      •        ...        1*67       t  t 
hingegen  bei  der  Gerste  ein  Üeberfluss  von  484,000  Meter-Zentnern. 

Diese  Daten  beweisen  unzweifelhaft,  dass  im  Falle  einer  Zollvereini- 
gung  die  Monarchie  und  Deutschland  zu  den  auf  Getreide-Einfuhr  ange- 
wiesenen Ländern  gehören  würden.  Dies  wäre  für  Ungarn  gewiss  nur  ein 
Vorteil,  da  die  volkswirtschaftlichen  Verhältnisse  Ungarns  mit  dem  Auf- 
blähen der  Agrioultur  dermassen  eng  verbunden  sind,  dass  selbe  mit  dieser 
sich  entwickeln  oder  ungünstiger  gestalten ;  die  bedeutende  Zunahme  der 
Preise  würde  einen  allgemeinen  Aufschwung  bedeuten ;  jedoch  wäre  es  für 
die  in  Zollverband  tretenden  Staaten  im  allgemeinen  gar  nicht  wünschens- 
wert, wenn  nebst  dem  Steigen  der  Localpreise  der  Getreide-Gattungen  die 
im  grossen  Maasse  Getreide  producirenden  Staaten  auch  fernerhin  mit  meh- 
reren Millionen  Meter-Centnern  Getreide  das  Zollgebiet  überfluten  würden 
und  hiedurch  die  Zollgebühren  den  einheimischen  Consumenten  zu  Lasten 
fallen  würden.  Zwar  ist  es  unleugbar,  dass  für  die  Consumenten  Deutsch- 
lands auch  dieser  Zustand  einen  Fortschritt  bedeuten  würde,  da  nämlich  die 


*  Die  deutsche  landwirtschaftliohe  Statistik  nimmt  100  Kilogramm  Weizen  fär 
SQ  Kilogramm  Mehl;  es  wurde  bei  der  Umrechnung  dieses  Verhältniss  angenommen 
{abweichend  von  dem  bei  der  Ausfuhr  Oesterreich-Üngams  in  Anwendung  stehenden 
Verhältnisse,  welches  den  Productionsdaten  der  Budapester  Mühlen  entnommen  wurde. 


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OSTERRBIOH-imOABKS   UKD   DftÜtSOfiLANDÖ.  ^ 

GoDsnmenteD  Dentscblands  in  demselben  Maasse  von  den  sie  belastenden 
QetreidezöUen  befreit  würden,  in  welcbem  Grade  die  Getreide-Einfohr  die 
znr  Verfügung  stehenden  üeberflüsse  der  österreichisch-ungarischen  Mon- 
archie yermindem  würde. 

In  neuerer  Zeit  tauchte  die  Nachricht  auf,  und  es  besitzt  dieselbe  nicht 
wenig  Wahrscheinlichkeit,  dass  das  mit  Deutschland  abzuschliessende  Zoll- 
bündniss  auch  auf  Italien  ausgedehnt  wird.  Verwirklicht  sich  diese  Nach- 
richt, so  wird  dieselbe  all  jenen  Freude  verursachen,  denen  das  wirtschaft- 
liche Fortkommen  der  in  Verband  tretenden  Völker  am  Herzen  liegt.  Denn 
es  würde  auf  einem  so  grossen  wirtschaftlichen  Gebiete,  als  jenes  der  zu 
Stande  kommenden  neuen  wirtschaftlichen  Trippelallianz,  der  unbeschrankte 
richtigerweise  mit  weniger  Hindernissen  belastete  Verkehr  auf  die  vollstän- 
dige Entwiokelung  und  Geltendmachung  der  wirtschaftlichen  Kräfte  die  gün- 
stigste Wirkung  ausüben.  Was  jedoch  die  Versorgung  der  betreffenden 
Staaten  mit  Getreide  anbelangt,  wäre  hiezu  in  diesem  Falle  die  eigene  Pro- 
duction  des  Zollverbandes  noch  weniger  im  Stande.  Italien  ist  von  Weizen 
auf  einen  sehr  grossen  Import  angewiesen ;  im  Durchschnitte  von  10  Jahren 
(1880—1889)  betrug  die  Mebreinfuhr  4*93  Millionen  Meter-Gentner.  In  der 
ersten  Hälfte  des  Deoenniums  war  die  Mehreinfuhr  noch  massig,  seit  dem 
Jahre  1884  jedoch  erreichte  dieselbe  immense  Dimensionen  und  repräsen- 
tirte  die  Mehreinfuhr  im  Jahre  1886  7*11  Millionen,  im  Jahre  1886  9*29  Mil- 
lionen, im  Jahre  1887  10*11  Millionen,  im  Jahre  1888  6*67  Millionen  und 
im  Jahre  1889  8*72  Millionen  Meter  Centner.  Wenn  die  Mebreinfuhr  von 
Mehl  (346,000  Meter-Centner)  auf  Weizen  umgerechnet  wird,  so  beträgt 
der  gesammte  vom  Auslande  zu  deckende  Weizenbedarf  Italiens  5*28  Mil- 
lionen Meter- Gentner.  Von  den  übrigen  Getreide- Gattungen  ist  der  zu 
deckende  Bedarf  ein  viel  geringerer,  vom  Mais  durchschnittlich  nur  29,000^ 
vom  Hafer  19,000,  von  Gerste  nur  6000  Meter  Centner;  Italiens  Bedarf  an 
Boggen  ist  ein  sehr  geringer,  in  der  Waarenverkehrötatistik  ist  die  Ein-  und 
Ausfuhr  dieser  Getreide-Gattung  nicht  einmal  separat  ausgewiesen. 

Wenn  nun  auch  Italien  zu  dem  ZoUbündniss  gerechnet  wird,  so  ändern 
sich  die  oben  angeführten  Zahlen  insofeme,  dass  der  durchschnittliche  jähr- 
Uche  Bedarf  an  Weizen,  welcher  vom  Auslande  zu  decken  ist,  von  480,000 
Meter  Gentnem  auf  5*76  Millionen  Meter-Centner  steigt 

Wenn  uns,  wie  schon  früher  erwähnt,  egoistische  Gesichtspunkte 
leiten  würden,  könnten  wir  uns  über  eine  derartige  Gestaltung  der  Verhält- 
nisse niur  freuen,  weil  es  eben  Ungarns,  als  des  Landes  von  Bohproducten, 
Interesse  ist,  dass  auf  den  Märkten  der  verbündeten  Staaten  eine  je  grössere 
Nachfrage  auftrete,  und  dass  hiedurch  die  Preise  sich  je  höher  gestalten 
mögen.  Die  Stabilität  des  wirtschaftlichen  üebereinkommens  jedoch,  ja  sogar 
dessen  Zustandekommen  kann  nur  von  der  billigen  Befriedigung  aller  Inter- 
essen erhofft  werden.  Wären  vielleicht  Deutschland  und  die  Consumenten 


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^  t>lB  aSTBfilD»-7ttB8ÖBOÜK<;t 

Oesterreicbs  befriedigt^  wenn  die  Lage  aufrechterhalten  bliebe,  gegen  welche 
in  Deutschland  eine  so  grosse  Unzufriedenheit  herrscht,  und  welcher  der 
Getreide-Ueberfluss  Ungarns  nur  Linderung,  aber  nicht  Abhilfe  zu  bieten 
im  Stande  wäre  ? 

Unter  diesen  Yerhältnissen  ist  nur  eine  richtige  Losung  erdenklich, 
dass  nämlich  der  Zollverband  sich  auch  auf  andere  Staaten,  welche  zur 
Deckung  des  oben  ausgewiesenen  Abganges  einen  hinlänglichen  Ueberfluss 
an  Getreide  besitzen,  erstreckt  wird. 

An  Bussland  ist  natürlich  nicht  zu  denken»  teils  wegen  der  Verschlos- 
senheit dieses  Staates,  den  es  vergebliche  Mühe  wäre,  in  eine  bessere  Rich- 
tung zu  lenken;  teils  wegen  der  Billigkeit  und  immensen  Menge  der  russi« 
sehen  Getreide- Production,  wodurch  eben  —  wenn  üb^haupt  der  Schutz 
vor  den  im  grossen  Maasse  producirenden  Staaten  berechtigt  ist  —  in  erster 
Beihe  die  Agrarzölle  begründet  wird.  An  aussereuropäisehe  Staaten  ist  eben- 
falls nicht  zu  denken.  Es  wären  daher  allein  die  Balkan-Länder  berufen,  in 
der  Kette  der  wirtschaftlich  verbündeten  mitteleuropäischen  Staaten  die 
fehlenden  Glieder  zu  ersetzen.  Obzwar  auch  diese  Länder  billiger  prodnciren, 
als  Deutschland  und  als  Ungarn,  so  gleicht  die  höhere  Intelligenz,  das 
grössere  Capital,  mit  einem  Worte  die  höhere  Entwickehmg  d^  Agricultur 
ziemlich  jene  Vorzüge  aus,  welche  den  Balkan-Ländern  der  billigere  Boden, 
die  billigere  Arbeitskraft  und  die  extensivere  Landwirtschaft  zusichert. 

Von  diesen  Ländern  könnten  hauptsächlich  Rumänien  und  Bulgarien 
in  Betracht  kommen.  Griechenland  ist  selbst  ein  Import-Staat;  die  Türkei 
hingegen  müsste  wegen  der  Eigentümlichkeit  ihrer  Interessen  und  Verbind* 
lichkeiten  ausser  Acht  gelassen  werden.  Serbien  würde  naturgemäss  auch 
zu  diesem  Verbände  gehören,  obzwar  auch  auf  diesen  Staat  derzeit  kein 
grosses  Gewicht  gelegt  werden  kann,  da  hier  die  Netto- Weizen- Ausfuhr  im 
Durchschnitte  von  fünf  Jahren  kaum  350,000  Meter-Gentner  betrug,  die 
Ausfuhr  von  den  übrigen  Getreide-Gattungen  hing^en  ganz  unbedeu- 
tend war. 

Desto  wichtiger  ist  die  Rolle  Rumäniens  und  Bulgariens.  Das  neue  Bul- 
garien, welches  mit  seiner  grossen  Energie  und  politischen  Reife  die  gerechte 
Bewunderung  der  civilisirten  Welt  eroberte  —  macht  in  wirtschaftlicher  Hin- 
sicht rapide  Fortschritte.  Das  Umsichgreifen  der  Landwirtschaft  bekundet 
am  deutlichsten  die  fortwährende  Zunahme  der  bebauten  Flächen.  Das 
Weizengebiet  stieg  nämlich  während  der  Jahre  1881 — 1888  von  249,000 
Hectaren  auf  401,000,  das  Roggengebiet  von  61,000  auf  94,000,  das  Gerste- 
gebiet aber  von  299,000  auf  357,000  Hectare ;  der  Hafer  und  Mais  zeigt 
keine  derartige  Entwickehmg :  ersterer  stieg  von  91,000  Hectaren  auf  93,000, 
lelzterer  von  90,000  Hectaren  auf  ebensoviel ;  —  eine  grosse  Zunahme  zeigt 
aber  der  Weinbau  und  die  Tabakproduction :  das  Gebiet  und  die  Production 
verdoppelte  sich  bei  dem  Weinbau  und  verdreifachte  sich  fast  bei  dem  Tabak. 


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O8TEBilMl0&-UllGABH8  Ültb   bEDTBCfitAKD^. 


tei 


Auch  die  produoirte  Getreidemenge  nahm  im  grossen  Maasse  zu  und  es 
gewann  in  Folge  dessen  auch  die  Ausfuhr  einen  grossen  Aufsdiwung.  Im 
Jahre  1882  betrug  die  Weizen-Ausfuhr  nur  740,000  Meter-Gentner,  im 
Jahre  1889  hingegen  schon  3.215,000  Meter-Centoer';  während  derselben 
Zeit  stieg  die  Boggen-Ausfuhr  von  220,000  auf  527,000,  die  Hafer- Ausfuhr 
von  20,000  auf  93,000,  die  Mais- Ausfuhr  von  696,000  auf  778,000  Meter- 
Geutner.  Während  letzterer  Jahre  hatte  Bulgarien  sogar  schon  eine  Ausfuhr 
von  Mehl  beiläufig  40  bis  50,000  Mjöter-Gefitner.  Die  Ausfuhr  von  Gerste 
zeigt  einen  Verfall;  dieselbe  sank  ?on  431,000  auf  287,000  Meter-Gentn^. 
In  dieser  Bntwickelung  Bulgariens  spielt  unzweifelhaft  auch  die  Vereinigung 
mit  Ostnunelien  eine  Bolle.  Seit  der  Vereinigung  betrug  tlie  Ausfuhr  im> 
Durchschnitte  von  vier  Jahren  u.  z. : 

Weizen^ —  2*33  MiUionen  Meter-Gentner 

Epggen       0*32 

Gerste     Q19 

Hafer 0O3 

Mais       ...     ^ 0-61 

Mehl 0-04 

Da  aber  Bulgarien  keine  beachtenswerte  Getreide-Einfuhr  besitzt, 
können  diese  Mengen  als  Netto- Ausfuhr  betrachtet  werden«  —  Die  Ausfuhr 
Rumäniens  ist  noch  viel  grösser;  dieselbe  betrug  im  Durchschnitte  der 
JTahre  1879-^1888: 


Weizen 
Roggen 
Gerste 
Hafer  .. 
Mais 
Mehl   .. 


4*14  Millionen  Meter-Gentner 

0-94 

2-20 

0*31 

614 

0O9 


Wenn  wir  diese  Ergebnisse  mit  dem  früher  ausgewiesenen  unbedeckten 
Getreidebedarf  der  österreichisch-ungarischen  Monarchie,  Deutschlands  und 
Italiens  vergleichen,  ergibt  sich,  dass  auf  dem  ganzen  Gebiete,  welches  wir 
uns  in  einem  ZoUbändniss  vereint  denken,  der  Ueberfluss  bei  der  Gerste  3  37 
Millionen,  bei  dem  Mais  3'32  Millionen,  bei  dem  Weizen  1*22  Millionen  Hecto- 
liter  betragen  würde,  hingegen  zeigt  sich  ein  unbedeckter  Abgang  beim  Bog- 
gen von  6*38  Millionen  und  beim  Hafer  von  1*25  MilUonen  Meter-Gentner, 
den  Ueberfluss  und  den  Abgang  separat  addirt:  7*91  Millionen  Meter-Gentner 
üeberfluss  und  7*63  Millionen  Meter-Gentner  Abgang,  was  sich  gänzlich  aus- 
gleicht. Wir  wollen  natürlich  nicht  behaupten,  dass  der  Bedarf  an  Boggen 
mit  Gerste  oder  Mais  gedeckt  werden  könnte ;  Thatsiche  ist  es  aber,  dass 
sieh  die  Production  bis  zu  einem  gewissen  Grade  dem  Bedarf  anbequemt 
und  dass  sich  die  Aufmerksamkeit  der  Landwirte  jener  Getreide-Gattung 
zuwendet,  welche   einträglicher  ist,   die  EinträgUchkeit  aber  bestimmt  in 


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erster  Reihe  der  Bedarf.  Dass  auch  unter  diesen  Umständen  Boggen  impor* 
tirt  wurde^  ist  unzweifelhaft ;  dies  wäre  jedoch  kein  Uebel,  dem  gegenüber 
bleibt  uns  der  Export  von  Qerste  und  Mehl.  —  Es  wäre  ein  grosser  Pehlar, 
eben  wegen  dieser  beiden  Waaren-Artikel  die  Handelsverbindung  mit  Eng- 
land abzubrechen ;  dies  würde  sich  in  einzelnen  günstigen  Jahren  bei  einem 
grösseren  üeberflusse  als  jener  der  Durohschnittsjahre  ernstlich  rächen. 

Der  Weizen  der  Balkan-Länder  dürfte  nicht  ohne  jedweden  Gegen- 
dienst zollfrei  oder  bei  ermässigtem  Zoll  auf  das  Gebiet  des  Zollverbandes 
eingeführt  werden.  Entweder  müssten  diese  Staaten  gänzlich  in  den  Zoll- 
verband einbezogen  werden^  oder  es  müssten  für  die  Industrie- Artikel  der  im 
2jollverbande  stehenden  Staaten  thunlichst  niedrige  Zollsätze  gesichert  wer- 
den, —  viel  massigere  als  allen  übrigen  Staaten  gegenüber  bestehen.  Die 
Balkan-Länder,  entschiedene  Länder  der  Bohproducte,  würden  sehr  viel 
gewinnen,  wenn  deren  Getreide  auf  nahen,  sicheren  und  hinsichtlich  der 
Preise  günstigen  Märkten  zum  Verkaufe  gelangen  würde  und  dieselben  nicht 
gezwungen  wären,  die  unsicheren  Märkte  Englands,  wo  die  Goncurrenz  der 
ganzen  Welt  zusammenwirkt,  um  die  Preise  herabzudrücken  —  aufzusuchen ; 
es  würde  aber  auch  Deutschland,  ebenso  Oesterreich,  ja  sogar  Ungarn 
gewinnen,  wenn  die  Balkan-Länder  als  vor  der  westeuropäischen  Goncur- 
renz gesicherter  Absatzort  für  die  Industrie-Artikel  der  erwähnten  Staaten 
erworben  werden  könnten.  Dies  wäre  ein  sehr  grosser  Erfolg.  Es  würde  sich 
verwirklichen,  —  wovon  so  lange  Zeit  hindurch  geträumt  wurde  und  was 
der  Handelsminister  Ungarns  mit  entschlossenem  Willen  und  selbstbewusster 
Thatkraft  zu  verwirklichen  bestrebt  ist  —  die  Eroberung  der  Märkte  des 
Ostens.  Es  wäre  dies  eine  Eroberung,  bei  welcher  sich  alle  Parteien  für  Si^er 
betrachten  könnten,  denn  es  würde  hiedurch  weder  die  wirtschaftliche  noch 
die  politische  Unabhängigkeit  der  Balkan-Länder  Abbruch  erleiden.  Und  den- 
noch würde  dieses  Handelsbündniss  neben  den  wirtschaftlichen  Vorteilen  auch 
zur  unschätzbaren  Quelle  der  politischen  Vorteile.  Die  Völker  des  Balkans  mit 
ihren  wirtschaftlichen  Interessen  dem  Westen  angewiesen  und  angereiht,  wür- 
den sich  unter  wohlthuender  Wirkung  der  westlichen  Givilisation  frei  und 
stark  entwickeln  -—  zum  Vorteil  der  ganzen  civilisirten  Welt;  die  Grenzen  des 
östlichen  Barbarentums  würden  durch  den  Westen  zurückgedrängt  werden. 
Und  Ungarn,  diese  grosse  Landstrasse  zwischen  Ost  und  West,  welches  Land 
nur  durch  die  umwälzende  Wirkung  der  türkischen  Eroberungen  dieser  Bolle 
verlustig  wurde,  würde  seine  frühere  Mission  neuerdings  aufnehmen,  um  der- 
selben mit  viel  grösserer  Fähigkeit  zu  entsprechen.  Auf  den  Eisenbahnen 
Ungarns  würden  sich  die  Bohproducte  des  Ostens  und  die  Industrie- Artikel 
des  Westens  kreuzen,  eine  reichliche  Verzinsung  des  in  den  Eisenbahnen  an- 
gelegten Gapitales  von  vielen  Hundert  Millionen  zusichernd;  die  Waaren- 
Artikel  würden  auf  den  Märkten  Ungarns  zum  Auslande  gelangen,  die  grossen 
Handelsgeschäfte  würden  die  mit  lebhaftem  Blute  gefüllten  Adern  des  Ver- 


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ÖSTEBBBICH-UNaARNS   UND   DEl/TSGHIiANDB.  ^^ 

kebree  in  regere  Girculation  bringen.  Und  andererseits  würde  diese  lebbafte 
GtfUinmg  auf  die  Landwirtscbaft  von  aufinuntemder^  auf  die  Industrie  von 
anspornender  Wirkung  sein.  Es  könnte  in  der  nächsten  Nacbbarscbaft  der 
östlicben  Märkte,  in  dem  gebirgigen  Siebenbürgen,  die  Industrie  aufblühen, 
und  die  entstehenden  Fabriksmittelpunkte  würden  zu  wirklichen  Schutz- 
mauem  der  gefährdeten  ungarischen  Nationalität.        Dr.  Julius  v.  Vabqha. 


XLIV.  JAHRESVERSAMMLUNG  DER  KISFALIJDY- 
GESELLSCHAFT. 

Diese  älteste  und  hervorragendste  belletristische  Gesellschaft  Ungarns  hielt 
ihre  diesjährige  Jahresversammlung  am  8.  Februar  im  Palaste  der  Ungar.  Akademie 
der  Wissenschaften,  in  Gegenwart  eines  ebenso  zahlreichen  als  distinguirteu  Pub- 
likums. Der  Präsident  Paul  Gyulai  eröffnete  die  Versammlang  mit  der  folgenden 
Bede,  deren  wesentlicher  Gegenstand  die  EntivuMung  der  ungarischen  Beredsam^ 

keit  ist: 

Geehrte  Versammlung ! 

Das  Arbeitsfeld  unserer  Gesellschaft  ist  die  Aesthetik  und  das  Gesammtgebiet 
der  redenden  Künste,  also  auch  die  Redekunst.  Sie  hat  auch  in  dieser  Hinsicht 
gethan,  was  in  ihren  Kräften  stand.  Sie  hat  die  rhetorischen  Werke  des  Aristoteles 
und  des  Anaximens  in  unsere  Sprache  übersetzt  und  Preisau|gaben  aus  dem  Bereiche 
der  Bedekunst  ausgeschrieben.  Ich  gehe  also  nur  von  den  Traditionen  der  Gesell« 
Schaft  aus,  wenn  ich  die  ungarische  poUtische  Beredsamkeit  zum  Gegenstande 
'meiner  Betrachtung  mache,  einen  flüchtigen  BUck  auf  ihre  jüngste  Vergangenheit 
werfe  und  einige  Ideen  in  Bezug  auf  ihre  Gegenwart  ausspreche.  Dazu  bestimmt 
auch  einigermassen  auch  die  Pietät.  Denn  auch  zwei  MitgUeder  unserer  Gesell- 
Schaft  haben  an  der  Begründung  der  neueren  ungarischen  politischen  Beredsam- 
keit lebhaften  Anteil  genommen :  Paul  Szemere,  dessen  sämmtliche  Werke  die 
Gesellschaft  jüngst  herausgegeben  hat,  und  Franz  Kölcsej,  dessen  hundertste 
Geburtstagswende  wir  im  August  des  vorigen  Jahres  gefeiert  haben. 

Paul  Szemere  war  kein  Bedner,  er  interessirte  sich  aber  fortwährend  für 
jedes  Moment  der  imgarischen  Literatur  und  Gultur.  Er  nahm  nut  Bedauern 
wahr,  dass  die  Veijüngung  des  Geschmacks  und  der  Kunst  des  Stils  zwar  in  der 
Entwicklung  unserer  Poesie  und  Kunstprosa  immer  grössere  Erobenmgen  mache, 
dagegen  die  kirchliche  Bednerkanzel  und  die  Tribüne  der  Beichstags-  imd  Com!- 
tatssäle  ziemlich  unberührt  lasse.  Als  er  in  den  zwanziger  Jahren  seine  Zeitschrift 
i^et  es  Literaturai  (Leben  und  Literatur)  begann,  wechselte  er  über  dieses  Thema 
wiederholt  Briefe  mit  Kölcsey.  Sie  kamen  d*  rin  überein,  dass  das  Publikum  auch 
auf  die  literarische  Seite  der  Beredsamkeit  aufmerksam  gemacht  werden  müsse. 
Aber  Kölcsey  glaubte,  dass  das  Beispielgeben  mehr  wert  sei  als  die  Theorie,  und 
wünschte,  dass  Jemand  mit  einem  auch  aus  Uterarischem  Gesichtspunkte  wertvol- 
len Werke  aus  irgend  einem  Zweige  der  bürgerUchen  Beredsamkeit  auftreten 


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^^  XLIV.  JAHKB8VER8AMMLUNO  DER   ÜSPALUDY-OBSELLSCHAFT. 

möchte.  Szemere  forderte  ihn  seihet  hiezn  auf  nnd  so  schrieh  Eölcsey  mehrere, 
niemals  vorgetragene  Beden,  von  welchen  einige  auch  in  f^et  6s  Litoratnrat 
erscbienen.  Es  ist  eigentümlich,  dass  Eölcsey  so  spät  zum  Bewusstsein  sdnes 
Bednertalents  kam,  dass  er  bis  zu  seinem  39.  Lebennjahre  öffentlich  nie  gesprochen 
hat  und  auch  als  Zuliörer,  wie  er  selbst  sagt,  blos  einmal  in  der  Generalversamm- 
lung des  Szatm4rer  nnd  zweimal  auf  der  Galerie  in  der  Generalversammlung  des 
Pester  Gomitats  Erschienen  war.  Aber  1829  trat  der  schreibende  Redner  im  Szat- 
märer  Gomitatssaale  und  1832 — 1836  im  Reichstage  auch  ab  sprechender  auf  und 
riss  nicht  blos  seine  Zuhörer  hin,  sondern  übte  auch  einen  entscheidenden  Ein- 
flufls  auf  die  Entwicklung  der  neueren  ungarischen  politischen  Beredsamkeit. 

In  den  ersten  Jahrzehnt^i  diesem  Jahrhunderts  stand  unsere  politische 
Beredsamkeit,  besonders  vom  Gesichtspunkte  der  ungarischen  Literatur  betrach- 
tet, auf  keiner  hohen  Stufe.  Die  Oberhausmitglieder  sprachen  grosMntoik  latei- 
nisch, die  Unterhausmitglieder  grossenteils  ungarisch,  aber  nicht  in  der  veijüng^ 
ten  ungarischen  Sprache  und  nicht  unter  dem  Einflüsse  unserer  sich  entwickeln- 
den Eunstprosa.  Auch  in  unserer  Literatur  selbst  war  die  rednerische  Prosa  am 
wenigsten  ausgebildet.  Faludy,  Bänöczy  und  Eazinczy  hauchten  unserer  Prosa 
gewfililte  Eleganz,  wendungsreidhe  Leichtigkeit,  Pracision  uq^d  Anmut  ein ;  aber  der 
re&orische  Schwung  ging  ihr  noch  immer  ab.  Diesen  versuchte  Eölcsey  mit 
Erfolg  und  verpflanzte  ihn  zugleich  aus  der  Literatur  in  die  Säle  des  Comitats  und 
des  Reichstags.  Die  verjüngte  ungarische  Sprache  und  die  kunstmässigere  Bered- 
samkeit feierten  gleichzeitig  ihren  Triumph,  als  Eölcsey  auf  dem  Pressburger  Reichs- 
tage erschien.  Die  jüngere  Generation  empfing  die  neue  Richtung  der  Beredsam- 
keit mit  Begeisterung.  Deäk,  der  ebenfalls  auf  diesem  Reichstage  zum  ersten  Male 
erschien  und  unter  den  Inspirationen  der  verjüngten  ungarischen  Literatur  aufge- 
wachsen war,  schloss  sich  ihm  an ;  Graf  Stefeui  Sz^chenyi,  der  früher  Schriftsteller 
als  Redner  war,  konnte  sich  seinem  Einflüsse  nicht  entziehen;  Eossuth,  dei; 
Während  dieses  Reichstages  eine  geschriebene  Zeitung  redigirte,  war  ein  Bewun- 
derer Eölcsey's  und  folgte  seinen  Fussstapfen  ;  Graf  Aurel  Deesewffy  und  Baron 
Josef  Eötvös,  die  inmitten  ihrer  literarischen  Versuche  eben  um  diese  Zeit  die 
politische  Laufbalm  betreten  wollten,  waren  ebenfalls  Anhänger  dieser  neueren 
Richtung  der  Redekunst. 

Es  vergingen  kaum  zwei  Jahrzehnte  und  die  ungarische  politische  Bered- 
samkeit war  ebenso  zur  Blüte  gelangt  wie  unsere  Dichtung,  und  beide  wetteifer- 
ten gleichsam  miteinander.  Die  wertvollsten  Producte,  welche  unsere  Literatur  in 
den  SOer  und  40er  Jahren  aufweisen  konnte,  waren  vornehmlich  poetische  und 
oratorische  Werke,  und  die  Hauptvertreter  der  neueren  Redekunst  blieben  diesel- 
ben, welche  diese  Eunst  gegründet  hatten,  wiewohl  sich  ihnen  auch  jüngere 
Talente  anschlössen.  Eölcsey  schwebten  die  Meisterwerke  der  klassischen,  vor- 
nehmlich der  griechischen  Redekunst  vor  Augen,  aber  er  drückte  moderne  Ideen 
nnd  Empfindungen  aus  imd  schöpfte  aus  der  Tiefe  seines  starken  Geistes  niid 
seines  weichen  Herzens  jene  Elemente  des  Pathos  und  des  Spottes,  der  Versen- 
kung und  Erhebimg,  welche  für  seine  Beredsamkeit  so  charakteristisch  sind.  Seine 
hervorragenderen  Genossen  überflügelten  ihn  in  Hinsicht  auf  Reichtum  an  poli- 
tischen Ideen  imd  auf  parlamentarische  Taktik,  aber  Formschönheit  und  Spmch- 


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XUV.    JAHRBSVERÖAMMLÜNO   DER   KISFALUpT-OBSELLSCHAPT.  ^55 

konst  lernten  Alle  von  ihm.  Sz^chenyi  war  gewissermassen  das  Gegenteil  Kölosey's; 
er  kümmerte  sich  wenig  um  die  Form,  aber  in  seinen  sohwerfälligrai  Sätzen  blitz- 
ten die  Funken  des  Genies  auf  und  so  impfte  er  unserer  Bedekunst  ein  neues 
Element,  den  Humor,  ein.  An  den  Eeden  Aurel  Dessewffy*s  und  Josef  Eötvös*  war 
auch  der  Einfluss  der  englischen  und  französischen  parlamentanschen  Beredsam- 
keit bemerkbar.  Aurel  DessewfiPy's  lebendige  Klarheit,  wendungsreiche  Leichtig- 
keit und  feine  Dialektik  bereicherten  die  ungarische  Beredsamkeit  von  einer  neuen 
Seite.  Eötvös  erschloss  uns  die  Schätze  seines  denkenden  Geistes  und  fohlenden 
Herzens,  indem  er  mit  der  ungarischen  Vaterlandsliebe  europäisobe  Ideen  ver- 
schmelzte. 

Indessen  ragten  aus  der  Gruppe  der  ausgezaichneten  Bedner  zwei  Gestalten 
empor,  nicht  blos  als  die  höchsten  Bepräsentanten  unserer  Beredsamkeit,  sondern 
zur  Zeit  auch  als  die  Verkörperungen  des  nationalen  Geistes :  Deäk  und  Eossuth. 
Dieser  erreichte  den  Höhepunkt  seiner  Wirkung  1848 — 1849,  jener  1861— J  876. 
Die  Beredsamkeit  Beider  hatte  grosse  Thaten  zur  Folge,  welche  ihre  Gestalt,  sowie 
das  Fiedestal  und  den  Hintergrund  derselben  noch  mehr  hervorhoben.  Ihr  Charak- 
ter, ihre  Bedekunst,  ihre  Politik  waren  gleicherweise  verschieden  von  einander, 
aber  eben  in  Folge  dieser  Verschiedenheit  wurden  sie  in  verschiedenen  Zeiten  zu 
Führern  der  Nation.  Ein  Hauptelement  der  Bedekunst  Deäk's  ist  das  st^ke  Urteil 
und  die  scharfe  Logik,  jener  Eossuth's  die  lebendige  Phantasie  und  flammende 
Leidenschaft;.  Deäk's  Stil  ist  einfach,  präzis,  aber  zugleich  plastisch,  jener  Eos* 
suth*s  bisweilen  in  IBombast  überschlagend,  aber  immer  klangvoll  und  Ranzend. 
Niemand  verstand  es  besser  alsDeäk  über  die  Verwicklungen  einer  Frage  licht  zu 
verbreiten,  die  Hörer  aufzuklären  und  zu  überzeugen ;  Eossuth's  Eunst  war  die 
Agitation  und  Begeisterung.  Deäk  schien  die  Bednerkunst  gleichsam  beiseite  zu 
lassen,  er  wollte  mehr  nur  den  Verstand  aufklären,  aber  erwärmte,  ohue  zu  wollen« 
auch  4as  Herz ;  seine  edle  Würde,  seine  aufrichtige  Ergriffenheit  hob  seine  Gedan- 
ken, machte  seine  Ausdrücke  wirkungsvoller,  und  er  drückte  die  Wahrheit,  von 
welcher  er  ausging  oder  welche  er  entwickelte,  in  so  vollendeter  Form  aus,  wie  die 
grossen  Glassiker  des  Altertums.  Eossuth  war  ganz  Bedner,  er  wollte  dies  auch 
bleiben  und  nahm  alle  Mittel  der  rednerischen  Eunst  in  Anspruch.  Er  war  ein 
Meister  in  der  Auseinandersetztmg  der  allgemeinen  Ideen,  in  der  Verkündigung 
der  Losungsworte  der  neuzeitlichen  Freiheit  und  in  der  Ausmalung  der  Licht- 
und  Schattenseiten  irgend  eines  Gegenstandes  oder  Factums,  aber  ein  noch 
grösserer  Meister,  wenn  er  die  Saiten  der  nationalen  Erinnerungen,  Wünsche  und 
Ho£Ennngen  anschlug  und  mit  einem  pathetischen  Aufschrei  oder  scharfen  Spott- 
wort den  Sturm  der  Leidenschaft  entfachte.  Hiezu  kam  noch  der  Wohlklang  und 
grosse  Umfang  seiner  Stimme,  der  Zauber  seines  fliessenden  und  abwechslungs- 
reichen Vortrags,  welcher  von  gewählten  und  doch  natürlichen  Gesten  begleitet 
war.  Alles  dies  fehlte  bei  Peak.  Dabei  war  Deäk  blos  Parlamentsredner,  Eossuth 
aber  gewissermassen  ein  Mittelding  zwischen  Parlaments-  und  Volksredner,  und 
diese  Eigenschaft  destinirte  ihn  gleichsam  zur  Bevolution. 

In  der  Bevolution  zeigt  unsere  Bedekunst  keine  neuere  Entwicklung.  Im 
Parlament  gab  es  kaum  einen  Eampf  der  Parteien  und  Eossuth's  Beredsamkeit 
erfüllte  das  Land  bis  zur  Eatastrophe.  Zwölf  Jahre  lang   waren  die  Säle  der 


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256 


XlilV.    JAHBB8VEB8AMMLUNG    DER   KISFALUDT-GESBLLSOHAFT. 


Landes-  nnd  Gomltatshäuser  geschlossen  and  als  sie  sich  wieder  anftaten,  begeg- 
nen wir  groesenteils  den  älteren  Rednern  in  denselben,  in  deren  Fassstapfen 
anch  die   neueren  traten.   Erst  nach    der  Wiederherstellang    unserer    Verfas- 
sung, als  unsere  älteren  Redner  nach  und  nach    abstarben    und    eine  neue 
Generation  auf  die  Bühne  trat,  gewahren  wir  eine  augenfälligere  Veränderong. 
Die  politische  Beredsamkeit  unserer    Tage   ist  in  der    That   nicht   mehr  die 
alte.  Und  dies  ist  auch  nicht  anders  möglich.  Die  alte  Beredsamkeit  schöpfte 
aus  zwei  Hauptquellen:  aus  den  Quellen  der  Oravamina    und    der    Reform- 
ideen. Der  factische  Zustand  der  Verfassung  stand  in  scharfem  Gegensätze  zu  den 
geschriebenen  Gesetzen,  und  die  Reformen,  selbst  die  minder  bedeutenden,  wurden 
unablässig  gehemmt.  Beide  Umstände  waren  eine  reiche  Quelle  der  pairiotiBchen 
Erregung  und  rednerischen  Inspiration.  Die  Verfassung  zu  verteidigen,  unsere 
Institutionen  umzugestalten,  die  Nation  zu  regeneriren,  das  war  die  grosse  Auf- 
gabe. Die  grossen  Erinnerungen  der  Vergangenheit,  die  kühnen  Hofihungen  der 
Zukunft  hoben  die  Geister  und  nährten  die  Begeisterung.  Jetzt  ist  der  factische 
Zustand  in  Einklang  mit  den  Gesetzen,  die  grossen  Principien  der  Reformen 
haben  gesiegt  and  auf  der  Tagesordnung  ist  mehr  nur  die  Ausführung  der  Detailst 
die  schwere  Arbeit  des  Ausbauens,  welche  viel  Fachkenntniss  erfordert,  aber  weni- 
ger auf  die  Phantasie  und  das  Gemüt  wirkt.  Deshalb  neigt  sich  unsere  Redekunst 
gewissermassen  dem  referirenden,  abhandelnden,  conversirenden  Stil  zu.  Dies  ist 
nicht  allein  bei  uns,  sondern  in  ganz  Europa  der  Fall.  Auch  Frankreich  und 
England  haben  heute  nicht  Redner  von  der  Art,  wie  in  der  ersten  Hälfte  unseres 
Jahrhunderts.  Dies  lässt  sich  auf  mehrere  Ursachen  zurückführen :  teils  auf  die 
Veränderung  des  Geschmacks,  dessen  Element  derzeit  in  geringerem  Maasse  das 
Pathos  ist,  teils  auf  den  Sieg  mancher  Principien,  welche  die  Geister  bis  zur 
Ermüdung  zu  grosser  Eraftanstrengung  gezwungen  hatten,  teils  auf  die  Enttäu- 
schung hinsichtlich  gewisser  Ideen,  welche    grosse  Redner  so  laut  verkündet 
hatten.  Ja  auch  die  Wohlredenheit  selbst  ist  in  Verruf  gekommen.   Es  gibt  im 
Auslande  und  anch  bei  uns  genug  Leute,  welche  die  Redekunst  überhaupt  für  ein 
theatralisches  Kunststück,  für  literarisches  Geistreichthun  halten,  das  eines  ernsten 
Politikers  nicht  würdig  sei.  Trotz  alledem  wird  die  Redekunst  ebenso  wenig  aas 
der  Welt  verschwinden,  wie  die  Dichtkunst.  Beide  wechseln  ihren  Gegenstand, 
ihre  Form,  geben  den  Schwankungen  des  Geschmacks  nach,  ja  schaffen  dieselben ; 
in  ihrem  Wesen  aber  bleiben  beide  unverändert.  In  den  öffentlichen  Verhandlun- 
gen wird  immer  Derjenige  am  meisten  Wirkung  erzielen  und  ein  wahrer  Redner 
sein,  der  die  Ideen  klar  zu  ordnen,  die  Beweise  wohl  zu  gruppiren,  die  Teile  zu 
proportioniren,  den  natürlichen  und  charakteristischen  Ausdruck  zu  finden,  über 
seinen  Gegenstand  die  Lebendigkeit  des  Geistes,  die  Wärme  des  Gemüts  ausza- 
giessen  versteht,  möge  er  sich  nun  in  das  Bereich  der  höheren  Redekunst  erbe- 
ben oder  zum  abhandelnden  und    conversirenden  Vortrage  herabsteigen.    Der 
Dichter  bleibt  immer  Dichter,  ob  er  nun  eine  Ode  oder  eine  Elegie  oder  ein  Lied 
oder  ein  Epigramm  schreibt.  Wie  in  der  Poesie,  hat  auch  in  der  Prosa  jede  Kunst- 
gattung, jode  Kunstform  ihre  eigene  Schönheit,  wenn  sie  aus  ihrem  Gegenstande 
hervorquillt,  ein  individuelles  Gepräge  trägt,  unsere  Aufmerksamkeit,  unser  In- 
teresse zu  erregen  weiss  und  auf  uns  zu  wirken  vermag. 


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XLIY.   JAHKB8VEBSAMMLUNG   DBB   KI8FALUDY-GBSELLB0HAFT.  ^7 

Es  ist  daher  nioht  ein  Niedergang  unserer  Bedekunst,  wenn  sie  unter  den 
veränderten  Verhältnissen  andere  Formen  sucht  und  findet,  als  die  alte.  Wir 
müssen  aber  ihre  Eigentümlichkeiten  prüfen  und  ihre  Qefahren  vermeiden.  Auch 
unsere  alte  Bedekunst  hatte  ihre  Schattenseiten.  Selbst  unsere  besseren  Bedner 
verfielen  leicht  in  Bombast,  und  die  klangvollen  Sätze,  welche  mehr  das  Qhr,  als 
die  Seele  erfüUen,  waren  in  der  Mode.  Unsere  jetzigen  Bedner,  selbst  die  besseren, 
werden  leicht  nachlässig,  und  der  oonversirdnde  Ton,  der  sorglos  sprühende  Witz 
passt  bisweilen  mehr  in  einen  vertraulichen  Kreis,  als  in  das  Parlament.  Die  For- 
cirung  der  Würde  und  des  Pathos  erzeugt  Gezwungenheit,  die  übertriebene  Zwang- 
losigkeit  wird  zur  Alltäglichkeit.  Es  ist  unleugbar,  dass  unsere  heutigen  Bedner  viel- 
seitigere Kenntnisse  haben,  als  die  alten ;  die  alten  waren  zumeist  im  Staats  imd 
Privatrecht  und  der  allgemeinen  PoUtik  bewandert ;  jetzt  nötigt  der  viel  umfang- 
reichere Wirkungskreis  unseres  Parlaments,  die  complicirtere  Organisation  des 
Staates  und  der  Gesellschaft  unsere  Bedner  zu  vielseitiger  Vorbildung.  Aber  es  ist, 
als  ob  die  Aelteren  das,  was  sie  wussten,  lebendiger  vorgetragen  hätten  und  weni- 
ger in  Trockenheit  verfallen  wären.  Wir  sprechen  viell^cht  übermässig  viele 
sogenannte  grosse  oder  grossangelegte  Beden,  welche  in  vielen  Fällen  blos  lang 
sind.  Dazu  kommt  noch  die  übertriebene  Mode  der  Polemik.  Das  Parlament  ist 
allerdings  der  Kampfplatz  der  Ideen,  der  Parteien,  ja  der  politischen  Leidenschaf- 
ten und  auch  die  persönliche  Polemik  ist  unvermeidhch,  aber  es  ist  etwas  ganz 
Anderes,  die  in  der  ZergUederung  oder  Verteidigimg  irgend  einer  Frage  vorge- 
brachten oder  möglichen  Einwürfe  gruppiit  und  in  ihrem  Wesen  zu  widerlegen, 
als  im  Einzelnen  bis  in  die  Kleinlichkeit  hinein  die  einzelnen  Bedner  zu  kritisiren, 
was  häufig  der  gehörigen  Beleuchtung  der  Hauptidee,  der  Abrundung  der  Bede 
Eintrag  thut  und  zu  Abschweifungen,  Gegenreden  und  Erläuterungen  Anlass  gibt, 
ludespen,  wie  immer  wir  hierüber  denken,  so  viel  ist  gewiss,  dass  aU  das,  was  den 
überflüssigen  Wortaufwand  befördert,  nicht  die  Quelle  der  wahren  Beredsam- 
keit ist. 

Zwischen  imserer  älteren  und  neueren  Bedekunst  besteht  auch  noch  ein 
anderer  beachtenswerter  Unterschied.  Unsere  ältere  Bedekunst  stand  in  engerem 
Zusammenhang  mit  den  literarischen  Studien,  ja  mit  der  Literatur  selbst.  Die 
ausgezeichnetsten  Beden  wetteiferten  zugleich  mit  den  besten  Producten  unserer 
Prosa.  Wir  haben  auch  jetzt  aiisgezeichnete  Bedner,  aber  dies  kann  von  ihren 
Beden  bei  aller  Anerkennung  nicht  behauptet  werden,  wenigstens  keinesfalls  in 
solchem  Maasse.  Es  ist  als  ob  der  Siim  für  die  literarischen  Formen  abgenommen 
hätte.  Wollten  sich  doch  unsere  Bedner  neben  ihren  Staats-  und  reohtswissenschaft- 
hchen,  finanziellen  imd  nationalökonomischen  Studien  mehr  mit  literarischen  Stu- 
dien befassen !  Ein  guter  Scliriftsteller,  ja  selbst  ein  guter  Verfasser  von  Beden  ist 
darum  noch  kein  guter  Bedoer  auf  der  Tribüne.  Das  Schreiben  und  das  Beden  sind 
zwei  vei^schiedene  Dinge ;  überdies  kann  der  Schriftsteller  ohne  die  Kunst  der  Bede 
bestellen,  der  Bedner  aber  ist  ohne  eine  gewisse  Kunst  des  Schreibens  nicht  denkbar. 
Das  wissenschaftUche  Buch  wendet  sich  an  die  Fachverständigen,  aber  die  Dich- 
tung, die  Literatur  im  engeren  Sinne  imd  die  Bedekunst  an  das  Publikum.  Mit  je 
mehr  Leichtigkeit,  Klarheit,  Lebendigkeit  der  Bedner  seine  Ideen  entwickelt,  je 
mehr  er  die  Wirksamkeit  des  Vortrages,  die  Feinheiten  der  Sprache  in  der  Gewalt 
hat,  desto  besser  dient  er  der  Sache,  für  die  er  kämpft,  desto  mehr  wirkt  er  nicht 

üngadMlM  BeTne,  XI.  1891.  IlL  Heft.  17 


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258  XLIV.   JAHRESVERSAMMLUNG   DER  KISFALÜDY-OBSBLLSCHAPT 

nur  auf  seine  Hörer,  sondern  anoh  auf  das  grosse  Publikum,  weil  in  unseren  Tagen 
eine  gesprochene  Bede  am  andern  Tage  bereits  in  allen  Teilen  des  Landes  gelesen 
werden  kann.  Alles  dies  kann  der  Redner  am  besten  aus  den  grossen  Dichtem 
und  Prosaikern  erlernen.  Ein  französischer  Kritiker  macht  die  richtige  Bemerkung, 
dass  die  Dichtkunst,  welche  der  höchste  Ausdruck  der  literarischen  Kirnst  ist, 
auch  die  Prosa  mit  sich  reisst  und  zur  Erhebung  zwingt;  wenn  die  Prosa  keine 
höhere  Kunst  vor  sich  sieht,  mit  welcher  sie  wetteifern  kann,  wenn  sie  nicht 
unentwegt  die  kritischen  BUcke  des  geübten  und  verfeinerten  Geschmacks  auf  sich 
geheftet  fohlt,  gibt  sie  ihrer  Natur  nach  und  fallt  in  die  Alltäglichkeit  zurück. 

Wenn  indessen  der  Unterschied  zwischen  der  älteren  und  neueren  Bede- 
kunst derart  gezogen  wird,  ist  diese  Charakteristik  mehr  nur  allgemein  zu  verstehen 
und  es  kann  nicht  geleugnet  werden,  dass  wir  auch  stürmische  Tage  haben,  wo  in 
unserer,  der  abhandelnden  und  conversirenden  Prosa  zuneigenden  Bedekunst  das 
Pathos  auflebt  Aber  der  Uebelstand  ist  der,  dass  dies  im  Yerhältniss  zum  Gegen- 
stande und  zur  Situation  selten  der  Fall  ist  und  bisweilen,  wie  Mirabeau  zu  sagen 
pflegte,  dem  Blitz  und  Donner  der  Oper  ähnelt.  Die  Bedekunst  ertragt,  ja  sie  liebt 
eine  gewisse  Uebertreibung,  eine  stärkere  Zeichnung  und  Farbengebung ;  aber 
wenn  wir  auch  die  Uebertreibung  übertreiben,  wenn  wir  die  starken  Züge  und 
Farben  forciren,  verirren  wir  uns  leicht  in  die  Karrikatur.  Wenn  wir  die  Gefahr 
des  Vaterlandes,  den  Verrat  an  den  Interessen  der  Nation,  den  Verfall  der  ö£Eent- 
lichen  Moral  sehr  oft  erwähnen ;  wenn  wir  auch  bei  den  verhältnissmässig  nicht 
eben  allerwichtigsten  Fragen  die  Sturmglocke  läuten,  verderben  wir  unsere  Bede, 
denn  da  die  Erregung  und  der  Ton  mit  der  Wirklichkeit  nicht  im  Einklänge  ist, 
ruft  er  mehr  oder  weniger  einen  komischen  Gegensatz  hervor ;  überdies  wenn  das 
Pubhkum  etwas  oft  hört,  gewöhnt  es  sich  so  sehr  daran,  dass  wir  vielleicht  gerade 
dann  keinen  Widerhall  finden,  wenn  wirklich  eine  Gefahr  im  Anzüge  ist.  Wenn 
wir  beim  Verluste  eines  uns  teueren  Tieres  imsere  Tränen  ausweinen  und  wehkla- 
gen, was  bleibt  uns  für  den  Fall,  wenn  uns  unser  teuerster  Freund  oder  unser  Kind 
stirbt  ?  Der  Bedner  hat  auch  noch  aus  anderem  Gesichtspunkte  die  Selbstbeherr- 
schung inmitten  der  Aufwallungen  der  Leidenschaft  nötig.  Das  Parlament  ist 
allerdings  kein  Salon  und  erträgt  bis  zu  einem  gewissen  Grad  den  Spott  und  die 
Schärfe,  aber,  euphemistisch  gesprochen,  nicht  die  Bohheit,  am  wenigsten  dann, 
wenn  dieselbe  beabsichtigt  und  berechnet  ist.  Die  Bauferei  in  Worten  verdirbt  die 
Bedekunst  ebenso,  wie  in  Griechenland  die  blutigen  Schauspiele  des  Gircus,  ab 
die  römischen  Eroberer  dieselben  dort  einführten,  die  dramatische  Kunst  verdar- 
ben. Aber  vor  der  bis  dahin  gehenden  Entartung  bewahrt  uns  die  Autorität  unse- 
rer Parteiführer,  das  Beispiel  unserer  hervorragenden  Bedner  und  auch  die  Macht 
der  öffentlichen  Meinung. 

Es  sind  nun  fünfzig  Jahre  dahingegangen,  seit  sich  unsere  neuere  politische 
Bedekunst  zu  entwickeln  begonnen  und  in  ihrer  Entwicklung  so  tiefe  Spuren  in 
der  Geschichte  unseres  öffentlichen  Lebens  und  unserer  Literatur  zurückgelassen 
hat.  An  sie  knüpfen  sich  die  grossen  Erinnerungen  unserer  Wiedergeburt,  unseres 
Buhmes  und  unseres  Leides,  unserer  Erhebung  und  unserer  Weisheit.  Gebe  Gott, 
dass  die  folgenden  fünfzig  Jahre  der  vorangegangenen  fünfzig  würdig  seien  und 
unsere  politische  Bedekunst  unseren  nationalen  Bestand  inmier  mehr  festige  und 
unsere  Literatur  bereicheret 


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XLIV.    JAHB£»VEB8AMMLÜNG   DER   EISFALUDY-GE^BLLSOHAFT.  ^^ 

Und  hiemit  erö£fne  ich  die  vierundvierzigste  feierliche  Jahressitznng  der 
Kisfialudy-Gesellschaft. 

Hierauf  las  der  Secretär  ZoltAn  Beötby  seinen  Bericht  über  die  Wirksam- 
keit der  Gesethchafi  im  Jahre  1890,  dem  wir  folgende  Daten  entnehmen :  < 

In  die  bescheidene  und  stille  Thätigkeit  der  Eisfaludy-Gesellschafb  drang 
auch  in  diesem  Jahre  mehrmals  das  begeisterte  Getöse  nationaler  und  literarischer 
Festlichkeiten.  In  Arad  feierte  die  Nation  ihre  Blutzeugen  durch  Aufstellung  eines 
Erzdenkmals  auf  dem  cPlatze  der  Märtyrer •.  Der  schöne  Tag  war  zugleich  ein 
Fest  der  ungaiischen  Bildhauerkunst.  Unsere  Poesie  und  Literatur  verdankt  ihre 
Wiedei^eburt  der  nationalen  Idee,  und  wie  die  ungarische  Schauspielkunst  ist 
auch  die  ungarische  Bildhauerkunst  im  und  zum  Dienste  dieser  Idee  geboren  wor- 
den. Auss^em  wurde  im  Yoijahre  eine  ganze  Beihe  literarischer  Gedenkfeste 
gefeiert.  Das  Comitat  Szatm4r  feierte  die  hundertste  Geburtstagswende  seines  gross- 
ten  Sohnes,  Franz  Eölcsey.  Debreczin  giündete  auf  den  Namen  und  zum  Andenken 
Michael  Cspkonai's  einen  Verein,  welcher  seine  Thätigkeit  mit  einer  Festsitzung 
eröfiEnete;  das  Comitat  Neograd  enthüllte  feierlich  das  Porträt  Emerich  Madäch's; 
das  evang.  Lyceam  in  Oedenburg  feierte  am  hundertsten  Jahrestage  der  Grründung 
seiner  ungarischen  Gesellschaft  das  Andenken  ihres  Gründers  Joh.  Kis.  An  allen 
diesen  Festen  nahm  unsere  Gesellschaft  durch  ihre  Vertreter  teil. 

Der  Erneuerung  des  Andenkens  unserer  ehemaUgen  Literaturgrössen  dien- 
ten auch  mehrere  Publicationen  der  Gesellschaft.  Sie  edirte  im  Yoijahre  in  drei 
grossen  Bänden  die  gesammelten  Werke  Paul  Szemere's,  des  Meisters  des  feinen 
Geschmacks,  unter  der  Bedaction  seines  gelehrten  Schülers  Josef  Szvorönyi ;  femer 
einen  weiteren  Band  der  Studien  Johann  Erdölyi's,  eines  jener  grossen  Kritiker, 
welche  wissen,  dass  die  Kunst  die  ewige  Verjüngung  des  Menschengeistes  ist. 

Hieran  reihen  sich  mehrere  PubUcationen,  welche  in  gelungenen  Uebersetzun- 
gen  klassische  Werke  fremder  Literaturen  der  unsiigen  aneignen.  Diese  sind:  der 
Kyklop  des  Euripides  in  der  preisgekrönten  Uebersetzung  Gregor  Csiky's ;  Göthe's 
Iphigenie  in  Tauris  in  der  trefflichen  Uebersetzung  Johann  Csengeri'^;  die 
Gedichte  Giacomo  Leopardi's  in  der  gelungenen  Uebersetzung  Anton  Bad6*s> 
endlich  Konrad  Ferdinand  Meyer's  historischer  Boman  cDer  Heiliget  in  der 
Uebersetzung  Eugen  Pöterfy's.  Ausserdem  veröffentlichte  die  Gesellschaft  im 
Vorjahre  den  M.  Band  ihrer  c  Jahrbücher  •,  welcher  unter  Anderem  eine  grössere 
Arbeit  über  die  rumänische  Volksdichtung  von  Oskar  Mailand  enthält,  dessen 
ethnographische  Studienreise  die  Gesellschaft  durch  eine  Subvention  gefördert 
hatte,  wie  sie  auch  im  Vorjahre  Julius  Sebesty^n  unterstützte,  der  eine  reiche 
Sammlung  ungarischer  Volksdichtungen  von  jenseits  dei  Donau  heimbrachte.  Wer 
die  Geringfügigkeit  der  Mittel  der  Gesellschaft  kennt«  wird  diese  ihre  Editionen 
und  Forschungen  nicht  geringachten. 

Eine  andere  Seite  der  Thätigkeit  derKisfaludy-Gesellschaft  waren  ihre  öffent- 
Uchen  Vorträge.  Ihre  zehn  monatlichen  Vortragssitzungen  versammelten  ein  distin- 
guirtes  und  zahlreiches  Auditorium.  An  den  daselbst  gehaltenen  Vorträgen  betei- 
ligten sich  16  Mitglieder  der  Gesellschaft  und  10  Gäste.  Die  Zahl  der  Vorträge 
belief  sich  auf  51,  wovon  15  in  Prosa  und  36  in  Versen ;  Originale  45,  übersetzte 
Dichtungen  6 ;  ästhetischen  und  literarhistorischen  Inhalts  10,  Prosaerzählungen 
5,  erzählende  Gedichte  7,  dramatische  4,  lyrische  20. 

17* 


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2W  XLIV.   JAHRBSVBRßABfMLüNG    DER   KISPALÜDY-OBSBLLSCHAFT. 

Aach  ausser  dem  zahlreichen  Aaditorium  ihrer  Yortragssiieimg^xi  erhielt  die 
Gesellschaft  ermunternde  Anerkennimg  imd  materielle  Unterstützong.  Die  Pester 
Erste  Yaterlfindisohe  Sparacsse  vermehrte,  wie  alljährlich,  auch  im  Vorjahre  mit 
200  fl.  das  Stammcapital  der  Gesellschaft,  welches  nunmehr  112.091  fl.  50  kr. 
beträgt.  Daro  trugen  im  letzten  Jahre  noch  bei :  Emerieh  Baghi  imd  der  Tordaer 
Frauenverein  je  100  fl.  als  Gründerbeiträge,  Ste&n  Balogh  100  fl.  und  Karl  Värady 
200  fl.  als  Legate.  Andererseite  erlitten  wir  durch  den  Tod  einen  schweren  Verlust. 
Es  veriiess  uns  einer  unserer  wertesten  Genossen :  Karl  P.  Szathm&ry,  der  in 
vielen  Zweigen  iet  Literatur  thätig  war,  besonders  aber  auf  dem  Felde  des  histo 
riechen  Romans  Werke  lieferte,  welche  den  Beifall  weiter  Kreise  fanden. 

Nach  diesen  officiellen  Enunoiationen  folgten  die  Vorträge.  Zuerst  las  Karl 
Szäsz  Erinnerungen  an  Michael  Tompa  vor  dessen  Bude,  welches  von  Ignaz 
Boskovits  im  Auftrage  der  Gesellschaft  gemalt,  auf  der  Estrade  des  Stales  auf- 
stellt war.  Der  Vortragende  wendete  sich  direct  an  das  vorzügliche  Porträt. 
In  diesem  meisterhaft  gelungenen  Bilde  —  dies  die  wesentlichsten  Züge  der 
künstlerisch  ausgeführten,  mit  voller  Wärme  geschriebenen  und  vorgetragenen 
Bede  —  steht  Michael  Tompa's  Antlitz  und  Gestalt,  wie  sie  sich  jenseits  des 
Lebensmittags,  auf  dem  Gipfel  des  Mannesalters  dem  Auge  präsentirte,  in  voller 
Wirklichkeit  vor  mir.  Aber  das  geistige  Auge,  unterstützt  von  Gedächtniss  und 
Phantasie,  ist  stärker  und  die  von  ihm  geschauten  Bilder  sind  lebendiger  und 
reicher,  als  die  vor  dem  leiblichen  Auge  stehende  Gestalt.  Ich  sehe  ihn  in  der  Fülle 
seiner  Manneskraft,  wie  ich  ihn  1851  —  den  33-jährigen  Mann  —  zum  ersten  Mal 
in  seiner  halbverfallenen  Nelem^rer  Pfarrerwohnung  besuchte,  die  er  mit  so  viel 
Humor  besungen  hat,  in  der  er  so  glücklich  war,  die  seine  herzensgute,  liebend- 
geliebte  Gemahlin  innerlich  und  äusserlich  mit  seinen  Lieblingen,  den  in  seinen 
«Blumenmärchen»  verherrlichten  Blumen  geschmückt  hatte.  Damals  fühlten  die 
glücklichen  Gatten  noch  nicht  jene  Schläge  des  Lebens,  welche  ihnen  später  so 
reichlich  zugemessen  wurden,  welche  Tompa*8  Leben  brachen  und  ihn  frühzeitig 
alt  machten :  den  Mhzeitigen  Tod  ihrer  Kinder,  das  langwierige  Kränkeln  der  zart- 
gebauten Frau,  sein  eigenes,  sich  rapid  entwickelndes  Herzleiden,  welche  ihn  der 
Welt  und  den  Menschen  gegenüber  krankhaft  empfindlich  machten  und  seinen 
gemütvollen  Humor  in  bittere  Satire  umschlagen  UessMi.  Aber  wenn  seine  Leiden 
sein  Cbmüt  auch  gewissermassen  verbitterten,  gruben  sie  seinen  Empfindungen 
nur  ein  desto  tieferes  Bett  und  gaben  seinem  poetischen  Geiste  eine  nur  noch 
potenzirte  Kraft.  Selbst  unter  unseren  Vortrefflichsten  haben  nur  Wenige  so  tief 
aus  sich  selbst  und  nur  aus  sich  selbst  geschöpft.  Auch  die  aus  der  Volksdichtung 
empfangenen  Stimmungen  läuterte  er  erst  durch  sein  eigenes  Gemüt,  wie  unter 
seinen  Volksliedern  die  wertvollsten  bezeugen.  Seine  Liebeslyra  hatte  wenige 
Saiten,  diesen  aber  wusste  er  wahrhafte  Töne  zu  entlocken.  Seine  patriotische 
Leier  vermochte  nicht  die  Begeisterung,  nur  den  Patriotenschmerz  ei^lingen  zu 
lassen.  In  den  Tagen  der  Revolution  und  des  Freiheitskampfes  gab  sie  kaum  einen 
Ton,  da  sein  zur  Betrachtung  hinneigender  Geist  zum  plötzlichen  Aufflammen 
minder  geeignet  war.  Aber  als  die  Nation  niedergeschmettert  schwieg  und  litt,  da 
schlug  er  in  seinen  Gedichten  cDer  Storch»,  tAuf  derPussta»,  tBrief  an  einen 
ausgewanderten  Freund»  Saiten  an,  welche  in  allen  Heizen  Widerball  weckten. 


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XlilV.   JaHBÜBVHBBAMMLUHO  DBB  KISFAtÜBY-ÖSSttLLSOHAFt.  ^^ 

indem  ae  dem  verbüllten  Qedanken  eibenao  wahren  wie  ergreifenden  AoBd^rock 
gaben.  Und  dennoch  erreicht  Tompa's  Dichtung  nicht  in  diesen  unmittelbaren 
Ansdrftcken  des  patriotischen  Schmerzes  ihren  Oipfelpankt.  Dieselbe  Phantasie, 
welche  die  reizenden  «Volksmärchen»  und  cBlumenmärchen»  geschaffen,  schuf  im 
Bunde  mit  dem  Hanptdiarakterzuge  seines  Oeistes,  der  sinnenden  Betrachtung, 
jene  Allegorien,  deren  tielian  Sinn  Jedermann  verstand  und  deren  Wirkung  sich 
Niemand  entziehen  konnte:  «Der  Vogel  an  seine  Jungen»,  «Der  yerfallende 
Wald»,  «Der  breitkronige  Bieeenbaum» ,  «Alte  Gtenchichte»,  «Der  verwundete 
Hirsch»,  «Bamaon»,  «Hebräische  Legende«,  «Herodes»,  «Ikarus»,  «Sturm», 
«Der  neue  Simeon».  Wer  erinnert  sieh  nicht  noch  heute  der  Wirkung,  welche 
diese  Allegorien  übten,  und  welche  er  auch  mit  seinen  Einkleidungen  ähnlicher 
Ideen  in  das  Qewand  der  Ode  nicht  überbie/en  konnte,  wiewohl  sich  auch  hier 
Meisterstücke  finlen,  wie:  «Im  Schlosse  zu  Pressburg»,  «Im  November»  und  vor 
Allem  «Erinnerung  an  Eazinczj».  —  Ich  kannte  ihn  in  dieser  vollen  Olanizeit 
seiner  Blüte,  besser  gesagt,  seines  geistigen  Fruchttragens,  und  h^ite,  wo  sein 
Bild  Tor  meinen  Oeistesaugen  wieder  lebendig  wird,  mein  Herz  vom  Zauber- 
hauche seines  Andenkens  wieder  erzittert,  weiss  ich  nicht,  ob  meine  liebe  oder 
meine  Verehrung  od^  meine  Bewunderung  für  ihn  grösser  gewesen. 

Als  ich  ihn  nach  Jahren  wiedersah,  lauerte  in  den  zahlreichen  Runzeln  seines 
Antlitzes,  den  tiefen  Furchen  seiner  Stime  und  im  matten  Lodern  seiner  Feuer- 
augen schon  jener  «böse  Geist»,  der  nach  Vernichtung  sehnsüchtige  Selbstmord- 
gedanke, vor  welchen  ihn  Johann  Arany  warnte.  Doch  war  derselbe,  wiewohl  et 
ihn  oft  quälte,  blos  der  Schatten  einer  vorüberziehenden  Wolke  auf  seinem  Geiste 
und  seinem  Antlitze.  Er  weist  ihn  zur  Buhe  in  den  herrlichen  Gedichten:  «Glaube», 
«Gottes  Wille»,  «Liebe»,  «Am  Grabe  des  Theuren»  (seines  kleinen  Sohnes)  und  den 
«Letzten  (Gedichten»  (an  seine  Frau).  —  Der  Mensch  krümmt  sich  bereits  unter 
den  Qualen  der  Auflösung,  dass  es  Qual  ist,  ihn  zu  sehen  —  ich  sah  ihn  — ,  aber 
der  Dichter  steht  noch  in  der  Fülle  seiner  Kraft  da ;  der  Körper  erkaltet,  die  Extre- 
mitäten erstarren  bereits,  aber  das  Gehirn  g^ht  noch,  das  Herz  ist  noeh  warm 
und  —  liebt  f 

Noch  drei  Bilder  drängen  sich  vor  mein  geistiges  Auge:  die  Bahre,  die 
Witwe,  das  Grab.  Die  beiden  ersten  führt  mir  blos  die  Phantasie  vor,  das  dritte  die 
Erinnerung.  Als  ich  es  sah,  ruhten  bereits  alle  Drei  darin :  das  teure  Kind,  der 
Dichter  und  die  Witwe.  Ihre  Hoffnung  auf  ein  Wiedersehen  in  der  Ewigkeit  ist 
bereits  in  Erfüllung  gegangen ;  trösten  auch  uir  uns  mit  dieser  Ho&ung,  und  bis 
sie  in  Erfällung  geht,  gedenken  wir  ihrer  f  Unser  Gedenken  nähren  jene  herrlichen 
Lieder  des  Patriotenschmerzes  und  der  patriotischen  Erlösungshoffhung,  welche 
Tompa  seiner  Nation  in  der  Periode  des  düstersten  Schmerzes  gesungen ;  dasselbe 
unterstützt  auch  dieses  Bildniss,  welches  sein  leibliches  Antlitz  uns  treu  vorstellt 
und,  um  seine  äussere  Gestalt  dem  Gemeinbewusstsein  einzuprägen  und  -darin  zu 
erhalten,  von  unserer  Gesellschaft  der  gegenwärtigen  und  den  künftigen  Genera- 
tionen hiemit  übergeben  wird. 

Hierauf  las  Victor  Dalmady  zwei  eigene  Gedichte  imter  dem  gemeinsamen 
Titel:  tin  Siebenbürgen^, you  denen  das  erste  «Mathias*  Geburtshaus»  angesichts 
des  Geburtshauses  des  grossen  Königs  in  Klausenburg,  seinem  Andenken  eine 
Lobeehymn^    singt,  während  das  zweite:    «Losungswort»  die   Losung  ausgibt, 


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*ßi  tlECAUfÖIS   OOPPiSe   über  UKÖAittßiiflft  LtTÄ&ATÜft. 

jede»  Herz,  das  noch  nicht  ungarisch  ist,  der  ungarischen  YaterlandsUebe  zn 
gewinnen. 

Nun  las  Karl  Yadnai  eine  längere  humorvolle  Geschichte :  Hymen,  Erzäh- 
lung von  einem  heiratsföhigen  Jimgling.  Der  Held  der  Erzählung  ist  ein  junger 
Huszaren-Iieutenant,  der  die  vom  Vater  ererbte  eine  halbe  Million  verschwendet, 
überdies  hunderttausend  Gulden  Schulden  macht,  deshalb  aus  dem  Militärverbande 
austreten  muss,  aber,  da  zu  jener  Zeit  die  Verfassung  Ungarns  suspendirt  ist,  von 
keiner  Verwandten-Clique  mit  einem  Comitatsamt  versorgt  werden  kann,  nach 
einigen  misslungenen  Versuchen,  sich  durch  Arbeit  seinen  Unterhalt  zu  erwer- 
ben, sich  schliesslich  einer  bejahrten  reichen  Witwe  an  den  Hals  wirft,  in  der 
Hofihung,  sie  binnen  zwei  Jahren  beerben  zn  können,  in  dieser  Hoffnung  jedoch 
arg  getäuscht  wird,  da  die  kränkelnde  Gattin  in  Carlsbad  volle  Genesung  findet, 
ihn  unter  steter  Vormundschaft  hält  und  schliesshch,  nachdem  er  sich  beim 
Jagdvergnügen  ein  Podagra  zugezogen,  ihn,  der  sie  zu  begraben  gehofft  hatte,  zu 
Gntbe  geleitet. 

Zum  Schlüsse  las  Anton  VArady  ein  Gedicht  Josef  L^vay*s :  tDer  alte  Nuss- 
baunf  vor,  welches  das  Lob  eines  alten  Nusnbaumes  singt,  der  einer  glücklichen 
armen  FamiHe  ein  schattiges  Obdach  und  labende  Früchte  spendet  und  dafür  ihres 
Segens  teilhaft  wird. 

Nun  folgte  noch  die  kurze  Meldung,  dass  die  letztjährigen  P^reisaussohrei- 
bungen  der  Gesellschaft  leider  resultatlos  geblieben  seien,  worauf  der  Präsident  Pftul 
Gyulai  mit  kurzem  Dankwort  an  das  zahlreiche  und  aufinerksame  Auditorium 
die  44.  feierliche  Jahressitznng  der  Gesellschaft  schloss. 


FRANCOIS  COPPlßE  ÜBER  UNGARISCHE  LITERATUR. 

♦ 

Fran9ois  Copp^e  hat  zu  der  von  Fräulein  E.  Hom,  der  Tochter  des  verewig- 
ten imgarischen  Staatssecretärs  Eduard  Hom,  herausgegebenen  französiscben 
Bearbeitung  Eoloman  Mikszäth'scher  Novellen  (Kdlmdn  de  Mikszäth,  Scenes  Hon- 
groises,  traduites  par  E,  Harn.  Prdface  de  Frangois  Copp^e  de  VAcaddmie  Fran- 
qaise,  Paris,  1890,  Quantin)  ein  Vorwort  geschrieben,  das  in  vollständiger  Ueber- 
setzung  folgendermassen  lautet : 

dm  Jahre  1885,  anlässlich  der  Budapester  Industrie-  und  Kunstausstellung 
habe  ich  eine  feenhafte  Beise  in  Ungarn  gemacht.  Wir  waren,  an  vierzig  Franzo- 
sen, die  Gäste  des  magyarischen  Volkes,  welches  in  uns  ganz  Frankreich  accla- 
mirte  und  festlich  bewirtete.  Für  mich  bleibt  es  eine  unvergessliche  Erinnerung. 
Ich  habe  nur  die  Augen  zu  schliessen,  um  sie  wiederzusehen,  die  illuminirten 
Städte,  die  geräumigen  Banketsäle,  wo  alle  Tokajergläser  sich  uns  zu  Ehren  erhe- 
ben, um  zu  hören,  wie  auf  den  tollen  Geigen  der  Zigeuner  die  Marseillaise  und  der 
Bäköczi-Marsch  losbrechen.  Ungarn  handelte  damals  in  sehr  edelmütiger  und  sehr 
rührender  Weise :  es  reichte  Besiegten  die  Hand.  Gewiss,  es  waren  uns,  auch  nach 
unserer  Niederlage,  sehr  wackere  Freunde  erhalten  geblieben.  Allein  zum  ersten 


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PRAN901Ö  OÖPP^  ijBHB  ÜNOABISÖHB  IJTBRATtJR.  ^^ 

Mal  seit  dem  verderblichen  1870-er  Krieg  fühlte  Frankreich  eine  Nation,  eine 
ganze  Nation  darch  einen  grossen  Zug  von  Sympathie  zu  sich  hingezogen.  Dieses 
Oeffthl  —  ich  mfe  meine  Beisegeföhrten  als  Zeugen  an  —  haben  wir  Alle  tief 
empfunden  und»  zu  wiederholten  Malen,  haben  wir  bei  diesen  enthusiastischen 
Manifestationen  zu  Gunsten  unseres  lieben  Vaterlandes  gefühlt,  wie  Tränen  der 
Dankbarkeit  und  Freude  uns  in  die  Augen  traten. 

Wenn  jedoch  diese  verzauberte  Excursion  durch  zahlreiche  Städte  im  Feet- 
gewand  mich  Ungarn  inniglich  lieben  lehrte,  so  kann  ich  nicht  sagen,  dass  sie 
mich  Ungarn  kennen  lernen  liees.  Ich  habe  dieses  schöne  Land  nicht  in  seinem 
normalen  Znstande  gesehen.  Ich  sah  es  zu  sehr  geschmückt,  sozusagen  zu  viel  in 
seinem  Sonntagsstaate.  Ich  bin  nicht  in  sein  intimes  Leben  eingedrungen.  cAuf 
Wiedersehen,!  sagte  ich  am  Tage  der  Abreise,  indem  ich  meinen  lieben  Gaatfreun- 
den  die  Hand  drückte.  Und  ich  nahm  den  lebhaften  Wunsch  mit  mir,  bald  wieder- 
zukommen, die  blonde  Donau  wiederzusehen  —  denn  sie  macht  dem  Strauss'schen 
Walzer  nicht  das  Vergnügen,  blau  zu  sein  — ,  meine  magyarischen  Freunde 
wiederzufinden,  mit  ihnen  die  vergoldeten  Tiefebenen  und  die  Akazienwälder  zu 
durchjagen  und  auf  dem  Osärdatische  jenen  Wein  zu  trinken,  von  dem  der  Dich- 
ter Pet6fi  sagt :  t Alt  wie  mein  Ahn'  und  warm  wie  meine  Liebstei,  während  der 
Zigeuner,  immer  näher  an  meinem  Ohr  geigend,  mir  jene  berückenden  Improvisa- 
tionen eingeschänkt  hätte,  die  uns  anfangs  in  so  süssen  Schlummer  wiegen  und 
Bchliesfllich  unsere  Nerven  bis  zum  Weinen  erschüttern. 

Ja,  ich  war  entschlossen,  dorthin  zurückzukehren.  Allein  es  ist  weit  vom 
Eelchesrand  bis  zu  den  Lippen,  es  ist  weit  vom  zärtlich  gehegten  Vorsatze  bis  zu 
dessen  Verwirklichung.  Zu  viele  Bande,  zu  viele  Pflichten  hielten  mich  in  Paris 
zurück,  und  fünf  Jahre  sind  verflossen,  ohne  dass  ich  ein  zweites  Mal  den  Orient- 
Expresflzug  hätte  besteigen  können,  um  Zigarretten  aus  türkischem  Tabak  auf  den 
Donanqnais  rauchen  zu  gehen,  angesichts  der  stolzen  und  pittoresken  Silhouette 
der  altehrwürdigen  Veste  von  Ofen. 

Nun  denn,  von  diesem,  fast  sehnsüchtigen  Bedauern,  dass  es  mir  nicht 
möglich  war,  Ungarn  wiederzusehen  und  besser  kennen  zu  lernen,  ward  ich  so- 
eben ein  wenig  getröstet,  nachdem  ich  ein  kurzes  und  köstliches  Buch  gelesen, 
«Scdnes  Hongroises»  von  Herrn  Eoloman  de  Mikszäth. 

Der  Herausgebcur,  Herr  L^grädy,  einer  unserer  liebenswürdigsten  Bewirter 
im  Jahre  1885,  bittet  mich  bei  her  Zusendung  der  französischen  Uebertragung  der 
«Seines  Hongroisest,  ich  möge  denselben  als  Einfnhrer  beim  französischen  Pub- 
likum dienen,  und  er  teilt  mir  einige  biographische  Notizen  über  den  Verfasser 
mit,  die  ich  vorerst  resumiren  werde,  da  sie  notwendig  sind,  um  den  Ursprung 
seiner  Inspiration  und  die  Natur  seines  Talents  zu  erklären. 

Der  Vater  Eoloman  de  Mikszäth's,  Johann  v.  Mikszäth  de  Kis-Gs61t6, 
gehörte  dem  Eleinadel  an,  der  auf  seinem  Grund  und  Boden  lebt  nach  Art  der 
Bauern,  die  Wände  seiner  Herrenwohnung  wohl  mehr  mit  Pfeifen  und  Jagd- 
gewehren, als  mit  Büchereien  ausschmückend,  welche  die  Fächer  einer  Bibliothek 
füllen  könnten.  Er  dachte,  sein  Sohn  werde  genug  wissen,  um  sein  Out  zu  bear- 
beiten, und  er  hielt  ihn  gar  nicht  zum  Studiren  an.  Wir  müssen  darob  dem  wür- 
digen Edelmann  Dank  wissen.  Nichts  ist  gefährlicher,  als  frühzeitiger  Unterricht 
Wenn  man  zu  früh  Bücher  liest,  wird  man  ein  Buchmensch,  «hvresque»,  wie 


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^ö*  PRAN9OIS   OOPPÄB   ÜBER   UNOARISCHB  LiTHRATtÄ. 

Montaigne  sich  atiadrüokt.  Man  denkt  nicht  mehr  ans  sieh  selbst  hiMraus ;  man 
abdicirt  von  seiner  ganzen  Persönlichkeit.  EolomaD  v.  Mikssäth  hatte  somit  eine 
freie  tmd  glückliche  Kindheit  und  verbrachte  seine  ersten  Jahre  in  voller  Natur 
mit  den  Baiiem.  Später  verpflichtete  ihn  zweifellos  seine  Mutter,  seine  Studien 
wieder  aufzunehmen  und  er  absolvirte  sogar  sein  Jus  ihr  zu  Qefalton ;  als  er  dieee 
jedoch  während  der  1873-er  Cholera-Epidemie  verloren  hatte,  wollte  der  junge 
Mann,  der  frei  handeln  konnte,  von  ^?ar  keiner  iutellectueUen  Arbeit  mehr  reden 
hören  und  nahm  seine  unabhängigen  Gewohnheiten  wieder  auf.  Er  blieb  auf 
seinem  Oütchen,  jagte,  ritt  und  brachte  mit  Schäfern  und  Feldhütern  seine  Tage, 
ja  sogar  seine  Nächte  zu.  Er  setsste  sich  an  ihre  Hirtenfeuer,  blieb  bei  ihnen  bis 
zum  Morgenrot  unid  hess  sich  ihre  Geschichten  erzählen.  Auf  diese  Art  lernte  er 
die  Charaktere  und  Sitten  dieser  von  der  westlichen  Civilisation  noch  unberührten 
und  noch  halb  barbarischen  Bevölkerung  kennen.  Mit  seinen  wilden  Freunden 
von  einer  zuweilen  bis  zur  Herrlichkeit  gehenden  Freigebigkeit,  verwaltete 
Mikszäth  seine  Besitzimgen  so  gut,  dass  er  sich  in  zwei  Jahren  bis  zürn  lösten 
Gulden  ruinirt  hatte,  und,  um  seinen  Lebensunterhalt  zu  gewinnen,  ward  der 
Landedelmann  zum  Schriftsteller.  Gleich  bei  seinen  ersten  Publicationen  war  der 
Erfolg  ein  enormer.  Ungarn  begriff  sogleich,  dass  eines  seiner  Kinder  für 
dieses  Land  dasselbe  zu  thun  im  Begriffe  sei,  was  Sacher-Masoch  för  GaU^ 
zien  und  Bret  Harte  für  Kalifornien  gethan;  es  erkannte  in  Mikszith  ein 
Talent  voller  Saft  und  Ursprünghchkeit ;  es  applaudirte  diesem  reisenden 
Erzähler,  diesem  wahren  Dichter,  den  der  nationale  Genius  so  wohl  inspirire. 
In  wenig^i  Jahren  wurde  er  volkstümlich ;  seine  Werke  wtirden  ins  Deutsche 
und  Bussische  übersetzt.  Ohne  das  literarische  Genre,  dem  er  seinen  Böhm 
verdankte,  zu  vernachlässigen,  leistete  er  auch  joumalistisohe  Kriegsdienste, 
nahm  an  der  Politik  Anteil  imd  wurde  ins  ungarische  Parlament  gewählt,  in 
dem  er  auch  heute  sitzt.  So  hatte  sich  endlich  der  ndnirte  Edelmann,  dei 
bizarre  und  vagabundirende  Familiensohn,  den  fr^iher  sidierlich  ibehr  als^ner 
als  schlechtes  Subjekt  behandelt  hatte,  mit  Hilfe  seiner  Feder  ein«  glückliche 
und  geehrte  Existenz  rekonstituirt. 

Ich  habe  soeben  Mikszäth's  «Sctoes  Hongroises»  gelesen  und  ich  bin  über- 
zeugt, dass  dieselben  für  das  französische  Publikum  eine  reizende  Enthüllung  bil* 
den  werden.  Es  sind  dies,  wie  der  Titel  zeigt,  nur  sehr  kurze  Scenen,  Bilder,  die 
ebenso  rasch  verschwinden,  wie  sie  erschienen  sind.  Der  Autor  liat  Novellen, 
Erzählungen  von  grösserer  Ausdehnung  veröffentlicht.  Hier  aber  hat  er  mit  künst- 
lerischer Kraftleistimg,  oder  vielmehr  mit  bewundernswertem  Dichterinstinkt,  alle 
seine  Eindrücke  concentrirt,  seine  Gedanken  in  einigen  wesenvoUen  Seiten  ver- 
dichtet. Es  sind  Erzählungen,  die  auch  Gedichte  sind.  Eine  jede  dieser  ländlichen 
Scenen  enthält  zugleich  ein  kleines  Drama,  ein  landschaftliches  Gem^de,  eine 
Charakterstudie  und  ein  Bild  localer  Sitten.  In  einigen  Worten  heben  sich  Per- 
sönlichkeiten voller  Wahrheit  und  Leben  empor,  die  Umgebung,  in  der  sie  sich 
bewegen,  wird  hervorgezaubert,  die  Handlung  gelangt  zum  Ausdruck  und  zu 
raschem  Ende.  Es  ist  Bapidität,  mit  Vollkommenheit  gepaart  Und  wenn  ich 
meine  Kritikerloupe  noch  so  sehr  ans  Auge  drücke,  vermag  ich  da  keine  Autoren- 
manier, keine  Künstlichkeit  zu  entdecken.  Man  beachte,  dass  ich  es  mit  einer 
Uebersetzung  zu  thun  habe.  Diese  verdankt  man  der  eleganten  Feder  einer  jongon 


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PlUK^OtS  OOPFlte   ÜBBB  üHOABtdOfilB  UTfiRATÜfi.  ^^ 

Ungarin,  fttr  welche  Frankreich  ein  zweites  Vaterland  ist,  und  die  alle  Feinheiten 
unserer  Sprache  besitzt.  Allein  eine  Uebersetzung  ist  bei  der  literarischen  Servor- 
bringong  das,  was  der  Qoss  bei  der  plastischen  Scböpfang  ist.  Wie  tren  und  ebr- 
förchtig  sie  auch  sein  möge,  so  drückt  eine  Uebersetzung  stets  das  Original  ein 
wenig  nieder  und  läset  die  Mängel  nur  mehr  zum  Vorscheine  gelangen.  Nun 
denn,  von  Mängeln  sehe  ich  gar  nichts  in  diesen  köstlichen  Eunstobjecten,  welche 
die  Ausdehnung  von  Miniaturen  haben,  obgleich  sie  mit  meisterlicher  Grosse  aus- 
geführt sind. 

Und  wie  man  sie  lieb  gewinnt,  nachdem  man  Mikszäth's  Buch  gelesen, 
diese  magyarischen  Bauern,  naive  Naturen,  abergläubisch,  sinnlich,  leidenschaft- 
lich, allein  mit  einem  Fond  von  Adel,  ja  sozusagen  Bitterlichkeit  f  Man  lese  die 
schöne  Oeschichte  von  Filcsik,  dem  c Heiden»,  und  seinem  alten  Pelz,  der  mit 
Tulpen  ans  roter  und  grüner  Seide  bestickt  ist.  Der  Mann  ist  voll  wilder  Grösse, 
wenn  er  über  die  unter  freiem  Himmel  eingesohlafene  Bettlerin  dieses  kostbare 
Gewand  wirft,  das  er  soeben  vom  Sterbelager  seiner  entehrten  Tochter  gerissen. 
Man  bewundere  Elisabeth  Vede*s  Unschuld  und  Bechtlichkeit  vor  dem  Richter,  da 
sie  sich  erbötig  macht,  die  Gef&ngnissmonate  zu  verbüssen,  zu  denen  ihre  Schwe- 
ster verurteilt  ist,  die,  ehe  sie  ihre  Strafe  überstanden,  gestorben.  Doch  nein,  ich 
will  mir  nicht  den  Anschein  geben,  unter  ^esen  ausgezeichneten  Erzählungen  zu 
wählen.  Alle  sind  gleich  vortrefflich,  und  wenn  man  dieses  kleine  Buch  begonnen 
haben  wird,  so  wird  man  es  in  einem  Zuge  bis  ans  Ende  lesen  und  es  dann  wieder 
lesen,  um  sich  darin  die  Seiten,  für  die  man  besondere  Vorliebe  gewann,  zu 
bezeichnen. 

Niemals  haben  wir  uns  in  Frankreich  so  viel  mit  fremden  Literaturen 
beschäftigt  wie  heute.  Wir  müssen  um  jeden  Preis  Neues  haben  und  wir  suchen 
dasselbe  im  Exotischen.  Dieser  Geschmack  —  für  Viele  ist  es  nur  eine  Mode  — 
macht  uns  zuweilen  ungerecht  gegen  uns  selbst  und  wir  sind  dahin  gelangt,  bei 
Anderen  das  zu  bewundem,  was  jene  Anderen  uns  entlehnt.  Um  nur  ein  Beispiel 
zu  citiren,  so  hat  uns  Bussland  gewiss  einige  Bücher  ersten  Ranges,  ja  ersten 
Genies,  in  den  letzten  zwanzig  Jahren  gegeben.  Allein  wer  würde  es  zu  behaupten 
wagen,  dass  Tolstoi,  indem  er  seine  Kriegsbüder  von  solch  ergreifendem  Realis- 
mus zeichnete,  sich  nicht  ein  wenig  der  bewundernswerten  Schlacht  von  Waterloo 
erinnerte,  welche  den  Roman :  tLa  Chartreuse  de  Panne»  erö&et.  Gewiss,  es  gibt 
keine  schmerzlichere  und  rührendere  Figur,  als  die  der  Sonia  aus  «Crime  et 
chätiment»,  allein  hat  unser  Mitleid  nicht  schon  auf  die  todte  Stime  Fantine's 
(in  Viktor  Hugo's :  «Les  Miserables»)  einen  Euss  des  Friedens  und  der  Vergebung 
für  alles  menschliche  Leiden  niedergelegt  ? 

loh  will,  Gott  behüte,  nicht  an  dem  grossartigen  Aufschwung  der  Meister 
des  zeitgenössischen  Russland  mit  meiner  Bewunderung  fbiischen.  Ich  sage  nur« 
dass,  insoweit  es  sich  um  Neues  handelt,  ich  ganz  Neues  haben  will ;  hinsichtlick 
des  Exotischen,  will  ich  ganz  exotisches.  Das  ist  die  Befriedigung,  welche  mir 
Mikszäih*s  «Sc^es  Hongroises»  gewährt  haben.  Dieses  kleine  Buch  ist  absolut 
originell,  es  verdankt  nichts  irgend  einer  anderen  Literatur.  Es  ist  magyarisch, 
exciusiv  magyarisch.  Ich  stelle  es  vertrauensvoll  den  französischen  Lesern  vor. 
Es  wird  ihnen,  Ich  bin  despen  sicher,  ein  Gefühl  exquisiter  Ueberraschung  geben, 
•und  sie  werden  sich  wollüstig  an  dem  Dufte  berauschen,  der  dieser  Garbe  frischer 


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iM  ÜKdAfilSOHlS  JOtJBKALtBTtK. 

Idyll^,  diesem  Feldstransse  entströmt,  der  aasseUiesslich  ansBlamen  der  ungari- 
schen Paszta  znsammengesetzt  ist. 


UNGARISCHE  JOURNALISTIK  IM  JAHRE  1891. 

Josef  Szinyei  veröffentlioht  in  der  Vasdmapi  Vjsdg  (Sonntags-Zeitung)  eine 
mit  ausserordentlichem  Fleisse  verÜEtöste  Uebersicht  über  den  Stand  der  ungari- 
schen Zeitungen  und  Zeitschriften  am  Beginne  des  Jahres  1891,  welcher  wir 
folgende  Daten  entnehmen. 

Es  erschienen  am  Beginne  der  letzten  beiden  Jahre  in  Ungarn : 


j^piftf^g 

1890 

1891 

Differeiui 

L  Politische  Tagesbl&tter 

23 

23 

— 

n.  Politische  "Woohenbl&ttor 

43 

41 

-  2 

m.  Vermischte  ülustrirte  Blätter 

3 

3 

— 

IV.  Kirchen-  tmd  Schtdbl&tter 

40 

39 

—  1 

V.  Belletristische  Blätter    

15 

17 

+   2 

VI.  Hmnoristisohe  Blätter        ...    ... 

13 

10 

—  3 

VU.  Fach-Jonnsle 

134 

137 

+  3 

VlU.  Nicht-politische  Provinzblätter... 

149 

147 

—  2 

IX.  Inseraten-Bl&tter    

5 

5 

— 

X.  Zeitschriften       

176 

187 

+  11 

XI.  Vermischte  Beilagen    

35 

36 

+  1 

Zusammen: 

636 

645 

+  9 

Im  Laufe  des  Jahres  1890  und  am  Beginne  des  Jahres  1891  gingen  zusam- 
men 92  Journale  ein  und  entstanden  75  neue  Zeitungen  und  Zeitschriften. 

Die  erste  ungarische  Zeitung  erschien  am  1.  Januar  1780  (der  «Magyar 
Hirmondö,»  herausgegeben  von  Mathias  Bäth  in  Pressburg) ;  in  Budapest  erschien 
die  erste  ungarische  Zeitung  am  8.  October  1788  (der  «Magyar  Merkuriust  im  Ver- 
lage von  Franz  Paczkö),  doch  erst  die  seit  dem  2.  Juli  1806  erscheinenden  «Hazai 
Tudösitiisok^  (Vaterländische  Nachrichten)  von  Stefan  Kulcsär  wussten  sich  län- 
gere Zeit  zu  erhalten.    - 

Der  erste  Aufschwung  der  ungarischen  Journalistik  beginnt  mit  dem  Jahre 
1830,  in  welchem  10  Zeitungen  und  Zeitschriften  erschienen.  Schon  1840  hatten 
wir  26,  1847 :  33  und  in  den  Sturmjahren  1848/9  plötzlich  86  ungarische  Journale. 
Die  Niederwerfang  des  Freiheitskrieges  vernichtete  auch  die  ungarische  Joumali- 

"^^  Wir  erinnern  hier  unsere  LeRer,  dass  ein  Band  ausgezeichneter  Mikszith'scher 
Skizzen  und  Erzählungen  auch  in  deutscher  Uebersetznng  vorliegt:  Die  guten  Hoch- 
länder, Ungarisclie  Dorfgescki^fiten  von  Kolommt  Mi-kszdth,  Uehertragen  durch  Dr.  Adolf 
Silbersiein.  Mit  28  Illustrationen.  Szegedin,  1884,  Druck  u.  Verlag  Von  L.  £ndr4nyi  & 
Comp.,  150  S.  D.  Bed. 


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RtmZft  6ItZUKG8fiftttT0»T£:.  ^7 

stik.  Im  Jahre  1850  hatten  wir  blos  9  nngarisohe  Blätter,  welche  Zahl  bis  1861  auf 
52  nnd  bis  1867  auf  80  stieg.  Der  Ausgleich  und  das  neu  erwachte  politische 
Leben  verliehen  der  Journalistik  einen  grossartigen  Aufschwung.  Schon  im  Jahre 
1868  betrug  die  Zahl  der  ungarischen  Journale  140,  1876:  240,  1880:  368,  1885: 
494,  1889 :  600  und  heute  645. 

Von  diesen  645  Zeitungen  und  Zeitschriften  erscheinen : 

in  der  Hauptstadt    298 

in  der  Provinz      346  (an  140  Orten) 

im  Auslande  (New- York) 1 

In  fremden  Sprachen  erscheinen  ausserdem  in  Ungarn  1 89  Zeitungen  und 
Zeitschriften  und  zwar: 

Anfang 


1890 

1891 

Difleiens 

in  dentsoher  Sprache    

110 

132 

+  22 

•  alavifloher      .      

32 

37 

+  5 

<  mmSiiiseher  » 

19 

15 

—  4 

•  itaUenisoher  «      

2 

2 



•  franisödsoher  < 

3 

3 



Zosammen: 

166 

189 

+  23 

Die  GFesammtzahl  der  in  Ungarn  in  ungarischer  oder  einer  anderen 
Sprache  erscheinenden  Journale  ist  demnach  derzeit  834  (Anfang  1890:  803. 
Differenz  -f  32). 


KURZE  SnZUNGSBERICHm 

—  Akademie  der  Wissenschaften.  In  der  Sitzung  der  I.  dasse  am  3. 
Februar  hielt  den  ersten  Vortrag  das  correspondirende  Mitglied  Ivan  T^liy  unter 
dem  Titel :  Karl  Kisfaludy*8  Elegie  ^Mohdcs*  griechisch.  —  Im  tEgyetemes  Philo- 
logiai  Eözlönyi,  Heft  9.,  1890,  erschien  Karl  KisfEdudy's  Elegie  tMohäcs»  von 
Gustav  Eassai  im  Originalversmass  (Hexameter  und  Pentameter)  ins  Griechische 
übersetzt.  Im  10.  Heffe  derselben  Zeitschrift  veröffentUcht  Dr.  Rudolf  Väri  kritische 
Bemerkungen  zu  dieser  Uebersetzung.  Vortragender  kritisirt  zuerst  diese  Kritik, 
hierauf  die  Uebersetzung  selbst  und  gibt  schliesslich  seine  eigene  Uebersetzung  der 
genannten  Elegie  in  griechischen  Distichen,  begleitet  von  Bemerkungen,  in  welchen 
er  jeden  gebrauchten  Ausdruck  durch  Citate  aus  der  Sprache  der  griechischen 
Epiker,  Elegiker  und  Dramatiker  rechtfertigt. 

Den  zweiten  Vortrag  hielt  das  Ehrenmitglied  Anton  Zichy  Ueber  einige  an 
den  Grafen  Stefan  Sz^chenyi  in  den  Jahren  1827 — 1886  gerichtete  Briefe,  Als  dem 
Grafen  Steüan  Sz^chenyi  seine  dem  Dienste  des  Vaterlandes  geweihte  Zeit  kost- 
barer wurde,  sah  er  sich  genötigt,  den  grössten  Teil  der  an  ihn  gelangenden  Briefe 
unbeantwortet  zu  lassen,  ja  ungelesen  zu  vernichten.  Wir  dürfen  daher  jene  wenigen 
(im  Ganzen  40)  Briefe,  welche  er  der  Aufbewahrung  in  einer  besonderen  Enveloppe 
würdig  erachtete,  nicht  gering  scliätzen.  Drei  darunter  stammon  von  zarter  Damen - 
band,  nämlich  von  der  Herzogin  L.,  von  der  Gräfin  E.,  welche  psychologisch  inter- 


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z^  KÜB2£  BITZÜK6SBfifiI0fil1S. 

essant  eind,  und  von  dar  Fnxx  v.  Petröoiy  geb.  Delevicz^nyL  Uoter  den  von 
Mftnnerhand  stammenden  behandelt  Vortragender  eingehender  den  Brief  dee  Su- 
perintendenten Johann  EIb,  welcher  sich  anf  die  von  der  Emancipation  der  EatlM>- 
Uken  liandekiden  und  von  ihm  teilweise  auch  übersetzten  Artikel  «Bidinbnigh  Be^ 
viewt  bezieht  und  von  den  aufgeklärten  liberalen  Ansichten  seines  Schreibers  ein 
schönes  Zeugniss  ablegt.  Hierauf  den  Brildf  des  ref.  Predigers  und  Dichters 
Gregor  ^es,  der  im  70.  Lebensjahre  seine  eigenen  Ideen  mit  Freuden  in  Sz4- 
chenyi*s  Werke  c Hitelt  (über  den  Credit)  abgespiegelt  sieht.  Aber  auch  katholische 
Priester  (Joh.  Tatay,  f  ranz  Somogyi  und  ein  Erlauer  Priester)  beeilten  sich,  ihrer 
Huldigung  Ausdruck  zu  geben.  Einer  der  interessantesten  indessen  ist  ein  ausführ- 
licher Brief  des  Orafen  Josef  Dessewfiy,  dessen  grössere  Hälfte  sich  mit  den  Aus- 
stellungen befasst,  welche  Sz^chenyi  an  der  äusseren  Form  der  Zeitschrift  tFelsd- 
magyarorszägi  Minerva»  (Oberungarische  Minerva)  machte.  Interessant  ist,  was  er 
vom  damaligen  geheimen  Spionirsystem,  den  t Spitzeln»,  sagt  Vor  diesen  förchtete 
sich  auch  Graf  Stefan  Fi^,  welcher  hoch  und  teuer  schwört,  daas  er  Sz6chenyi*8 
Antwort,  wenn  er  ihn  einer  solchen  würdige,  nie  einer  MensohdBBeele  seigen  werde. 
Dieser  Graf  sieht  übrigens  in  der  Urbarial- Ablösung,  einer  der  Gkundideen  Sz6- 
chenyi's,  wenn  sie  verwirklicht  würde,  den  Untergang  unseres  Yateriandes.  Ein 
Brief  Alexander  Bertha's  gibt  dem  Grafen  Nachricht  von  dem  Erscheinen  und  der 
grossen  Wirkung  des  Sz^chenyi'schen  «Stadium».  Manche  suchten  ihrer  Huldi- 
gung durch  Geschenksendungen  mehr  Nachdruck  zu  geben.  Georg  Chmel  sendet 
Gartenerde,  Johann  N(^meth  Yerpel^ter  Tabak,  unser  berühmter  Amerikareisender 
Wolfgang  Bölönyi  sechs  Bouteillen  feinen  Wein,  welcher  es  mit  dem  Madeira  auf- 
nimmt, Johann  Zeyk  seine  Gedichte  u.  s.  w.  Der  schönste  Brief  stammt  aus  der 
Feder  Nicolaus  Wessel^nyi's,  welchen  Vortragender  bereits  im  I.  Band  seines 
Werkes  über  Sz^chenyi's  Tagebücher  mitgeteilt  hat  Oberfeldwebel  Buzits  stellt 
sich  beiläufig  als  Tacitus-Uebersetzer  vor.  Den  Bchlnss  machen  zwei  Mitglieder  der 
damaligen  Bifliichstagsjugend :  Ste&n  Baksay  verwahrt  sich  gegen  den  von  ungefähr 
auf  ihn  gefallenen  Vorwurf  der  Unehrerbietigkeit  und  Anton  Noszlopy  sendet  ihm 
das  Poem  nach,  mit  welchem  er  den  aus  dem  Auslande  heimkelnrenden  Sz6chenyi 
in  Pressburg  im  Namen  der  Jugend  begrüsat  hatte.  —  Anknüpfend  an  diesen  Vor- 
trag liest  der  General-Secretär  Koloman  Szily  das  Antwortschreiben  Sz6chenyi*s 
ai\f  ein  Huldigungsschreiben  des  Ingenieurs  Johann  Gserna-Udvardy,  welches  sich 
im  Nachlass  des  Letzteren  vorfand. 

—  In  der  Sitzung  der  H.  Classe  am  9.  Februar  las  Franz  Pulszky  über  dir 
ungarischen  heidnischen  Oräberfunde.  Die  Gräberfunde  sind  die  einzigen  Denk- 
mäler, ans  welchen  wir  auf  die  Cultur  unserer  heidnischen  Vorfaliren  einiger- 
massen  Schlüsse  ziehen  können.  Deshalb  verdienen  sie  mit  Becht  das  Stadium  der 
Archäologen.  Vortragender  zählt  die  bisherigen  heidnisch-ungarischen  Gräberfunde 
in  der  chronologischen  Beihenfolge  ihrer  Auffindung  auf.  Sechzehn  dieser  Funde 
werden  im  Nationalmuseum  aufbewahrt;  andere  in  Provinzialsammlungen.  Die 
Funde  betreffen  ausschliesslich  Grabstätten  vornehmer  Personen.  In  diesen  Taj?en 
wurde  in  Szegedin  ein  reicher  Fund  gemacht,  den  Vortragender  später  besprechen 
will.  Pulszky  zählt  die  reichsten  Funde  auf,  bemerkt  jedoch,  dass  dieselben  an 
Wert  und  Interesse  weit  hinter  anderen  Völkerwanderungsfunden  zurückstehen. 
Die  Zahl  der  Gegenstände  ist  gering,  die  Kunst  daran  unbedeutend.  Zum  Schlüsse 


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KUBZB   BTTZUNOSBEBIGHTE.  ^^ 

sählt  der  VerÜBsser  der  Reihe  nach  die  (Gegenstände  der  eiozehien  heidnisoh-onga- 
nsohen  Gräberfunde  auf,  ohne  fär  jetzt  die  Ergebnisse  der  Untersnohnng  zu 
resnmiren. 

Hierauf  hielt  das  oorrespondirende  Mitglied  Alad4r  Ballagi  einen  Vortrag 
über  die  Eheschliessimgen  in  Ungarn  im  XVIL  Jahrhundert.  Für  die  damalige 
Unentwickeltheit  unseres  gesellschaftliohen  Lebens  spricht  nichts  so  sehr  als  die 
Ckeohiohte  der  Ehen.  In  den  höheren  Kreisen  kam  das  Princip  der  Erhaltung  des 
Geschlechtes  und  des  Vermögens  rückstohtsloe  zui  Geltung.  Da6  Abhangigkeits- 
yerhältniss,  in  welchem  die  su  Verheiratenden  zu  ihren  Eltern  standen,  vernichtete 
jedes  Becht  der  Individualität.  Zahlreiche  historische  Beispiele  beweisen,  dass  die 
beiden  gehorsamen  Geschöpfe  den  Willen  ihrer  Eltern  ab  Gesetz  ehren  und  mit 
ihrer  Wahl  ziemlich  im  Beinen  sind,  bevor  sie  einander  noch  gesehen  haben.  Das 
Uofiren  ist  ganz  dberflüssig :  die  die  äusseren  Umstände  erwägenden  Eltern  machen 
das  untereinander  aus,  was  eine  spätere  Zeit  durch  Salon-Eroberungamanöver 
erzielen  lässt.  Auch  die  einander  zugedachten  jungen  Leute  selbst  sind  reine  Skla- 
ven der  Präoocupation,  ihre  Neigung  lediglieh  atif  das  optbche  Moment  des  ersten 
Eindrucks  angewiesen.  Die  Brantschau  hat  kaum  einen  anderen  Zweck  ab  den, 
dass  die  einander  zugedachten  Parteien,  welche  in  der  Begel  einander  damab  zum 
ersten  Male  im  Leben  begegnen,  einige  Worte  mit  einander  wechseln,  um  nicht 
ganz  ohne  einander  gesehen  zu  haben,  den  ewigen  Bund  zu  schliessen.  Nach  statt- 
gehabter Brautschau  sendet  die  Familie  des  Jünglings  ein  angesehenes  Mitglied 
ab.  Werber  zur  Familie  des  Mädchens.  Im  Falle  günstigen  Bescheides  wird  der 
Zeitpunkt  der  «Handreichungt  oder  Verlobung  durch  Bingwechsel  festgesetzt,  bei 
welcher  Gelegenheit  der  Priester  die  Verlobten  einander  vermählt,  welche  von  da 
an  bereits  Ehegenossen  sind,  aber  nicht  die  Ehe  vollziehen.  Die  Braut  bleibt  näm- 
lich nach  der  Handreichung  noch  eine  geraume  Zeit,  bisweilen  auch  zwei  Jahre 
lang,  noch  daheim,  und  bt  zwar  Frau,  aber  im  Jungfranenstande.  Der  Bräutigam 
und  seine  Verwandten  setzen  den  Tag  der  Hochzeit  fest.  Diese  wird  bei  allen 
Ständen  mit  möglichst  grossem  Pomp  voUzogen  und  die  Neuvermählten  werden 
dadurch  dermassen  in  Unkosten  versetzt,  dass  z.  B.  dem  übrigens  wohlhabenden 
Grafen  Nioolaus  Bethlen  nach  seiner  Hochzeit  nicht  mehr  Geld  als  25  fl.  übrig 
blttbi  Die  Gäste  erscheinen  insgesammt  von  Dienertross  umgeben  mit  unzähligen 
Wagen.  Bei  der  Hochzeit  der  Gräfin  Barbara  Thurzö  mit  dem  Grafen  Ohristoph 
Erdödy  erschienen  die  hohen  Ctäste  mit  einem  (befolge  von  2621  Personen  und 
4324  Pferden.  Sie  vertilgen  40  Ochsen,  19  Kühe,  140  Kälber,  350  Lämmer,  200 
Schweine,  30  Auerochsen,  30  Bebe,  1400  Hühner,  6000  Eier  u.  s.  w.,  femer  650 
Eimer  Wein  und  295  Eimer  Her.  Die  glänzendste  Hochzeit  rüstete  die  Witwe  des 
Palatins  Georg  Thurzö,  Elisabeth  Czobor,  gelegentlich  der  Vermählung  ihres 
Sohnes  im  Jabre  1618  in  Helmecz,  welche  nur  in  Baargeld,  nach  heutigem  Wert 
berechnet,  mehr  als  hunderttausend  Gulden  kostete.  Vortragender  weist  schliesslich 
auf  Grund  ethnographischer  und  volkspoetischer  Studien  nach,  dass  der  grösste 
TeU  der  alten  Hochzeitsgebränche  hie  und  da  noch  heute  besteht,  mit  dem  Unter- 
schiede, dass  Dasjenige,  was  ehemals  in  den  höchsten  Kreisen  Sitte  war,  heute  nur 
noch  unter  dem  Volke  bräuchlich  ist,  welches  die  alten  Gebräuche  bis  heute 
bewahrt  hat. 

Naeh  Beendigung  der  Vorträge  kündete  der  Classen-Secretär  Emeriph  Pauer 


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270  KURZE   SITZUNOBBBRICHTE. 

an,  dass  am  1 1.  d.  eine  aiisserordentliche  Sitzung  der  zweiten  Classe  der  Akademie 
stattfindet,  deren  einzigen  Gegenstand  ein  Vortrag  des  ordentlichen  Mitgliedes 
Karl  Keleti  über  die  vorläufigen  Ergebnisse  der  1890er  Volkszählung  bildet.  Diesen 
Vortrag  teilen  wir  im  nächsten  Hefte  vollständig  mit. 

—  In  der  Plenarsitzung  am  23.  Februar  las  das  correspondirende  Mitglied 
Alexander  Matlekovits  eine  Denkrede  auf  das  ordenüiche  Mitglied  Stefan  Apdtky. 
Penkredner  schilderte  den  Lebenslauf  Apäthy's  und  würdigte  dessen  Thatigkeit 
als  Professor,  Codificator  und  juristischer  Schriftsteller,  insbesondere  auf  dem  Ge- 
biete des  Handels-  und  Wechselrechtes.  Die  Akademie  hatte  ihn  1873  zum  corre- 
spondirenden,  1885  zum  ordentlichen  Mitgliede,  der  ungarische  Juristentag  1889 
zum  Präsidenten  gewählt.  Apäthy  gehört  auf  literarischem  Gebiete  zu  den  Bahn- 
brechern unserer  rechts-  und  staatswissenschaftlichen  Literatur.  Ueber  die  Lebens- 
verhältnisse und  Werke  Apäthy's  s.  den  Nekrolog  in  dieser  tUngarischen  Bevue», 
1890.  S.  173. 

Hierauf  unterbreitete  der  Akademie-Präsident  der  Plenarsitzung  den  Plan 
einer  am  21.  September  1.  J.  durch  die  Akademie  zu  begehenden  Feier  des  hundert- 
jährigen Geburtstages  ihres  grossen  Gründers,  des  Grafen  Stefan  Sz6chenyi  und 
der  Verbindung  derselben  mit  der  Enthüllung  einer,  an  der  Stelle  des  leeren  Schluss- 
steines  am  Akademie-Palaste  anzubringenden  und  die  Beichstagsscene,  in  welcher 
Graf  Stefan  Sz^chenyi  zur  Gründung  der  Akademie  ein  Jahreseinkommen  anbot, 
darstellenden  Belief-Denktafel ;  femer  machte  er  Mitteilung  über  die  behufs  Ver- 
wirklichung dieses  Planes  bisher  unternommenen  Schritte,  respective  die  bezüg- 
lichen Beratungen  einer  gestern  von  ihm  zusammenberufenen  Commission.  Die 
Commission  schlug  vor,  zum  Zwecke  der  Zusammenbringung  der  auf  12,000  fl.  ver- 
anschlagten Kosten  der  auf  Grund  einer  Strobrschen  Skizze  aaszuführenden  Denk- 
tafel die  Unterstützung  jener  Factoren,  Körperschaften,  Inschriften,  Institute, 
Unternehmungen  anzusuchen,  welche  ihr  Aufblühen  der  Initiative  des  Grafen 
Stefan  Sz^henyi  verdanken,  so  der  Hauptstadt,  Donau-Dampfschififahrts-Gesell- 
schaft,  Walzmühle,  Kettenbrücken-Gesellschaft  u.  s.  w.,  deren  der  gestrigen  Com- 
missionssitzung  beigezogene  Leiter  in  dieser  Beziehung  die  günstigsten  Aussichten 
erö£fheten.  Präsident  beantragt,  die  Zustinmiung  des  Directionsrates  m  diesem 
Plane  einzuholen  und  die  Commission  aus  den  Beihen  der  Akademiker  durch  Fach- 
männer zu  ergänzen.  In  die  Commission  werden  Zoltdn  Beöthy,  Karl  Keleti,  Julius 
Pasteiner,  Karl  Pulszky  und  B^la  Czobor  entsandt  und  der  Präsident  mit  dem 
Arrangement  der  Denkfeier  betraut. 

Hierauf  meldete  der  General-Secretär  das  Ableben  des  correspondirenden 
Mitgliedes  Carl  Hofi&nann,  dem  er  einen  warmen  Nachruf  widmete.  Dann  verlas  er 
eine  Zuschrift  des  k.  u.  k.  Oberstkämmerer- Amtes  an  den  Akademie-Präsidenten, 
welche  die  Mitteilung  enthalt,  dass  Se.  Majestät  den  Auftrag  erteilt  habe,  das  für 
den  Porträtsaal  der  Akademie  bestimmte  Porträt  des  ehemaligen  Ehrenmitgliedes 
Kronprinzen  Erzherzogs  Budolf  durch  den  Meister  Julius  Benczur  anfertigen  zu 
lassen.  Dieses  neue  Zeichen  allerhöchster  Huld  wurde  zu  freudiger  Kenntniss 
genommen.  — Hierauf  unterbreitete  der  General-Secretär  der  Plenarsitzung  behufs 
Verhandlung  den  Conmiissionsvorschlag  betreffend  die  Abänderung  der  Geschäfts- 
ordnung in  Bezug  auf  die  Mitgliederwahlen.  Der  Vorschlag  zerfallt  in  zwei  Teile, 


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AX78  PBTOFI  S   GEDICHTEN. 


271 


von  denen  der  erste  die  Untergliederang  der  Glassen  in  je  zwei  Fachgruppen,  der 
andere  die  gelegentlich  der  Wahlen  seitens  jeder  dieser  Fachgruppen  vorzuneh- 
mende Wahl  eines  fünf-  bis  siebengliedrigen  Candidations- Ausschusses  empfiehlt. 
Nach  längerem  Ideen-Austausche  wurden  beide  Teile  des  Vorschlages  mit  geringen 
Amendements  in  der  Fassung  der  Gommission  mit  überwiegender  Stimmenmehrheit 
angenommen. 

Hierauf  machte  der  General-Secretär  betreffend  die  Vervollständigung  der 
Wandgemälde  des  Prunksaales  der  Akademie  die  Mitteilung,  dass  Meister  Karl  Lotz 
die  Ausführung  der  projeotirten  drei  Oruppenbilder  übernommen  und  die  Samm- 
lungen zur  Aufbringung  der  Kosten  (6000  fl.)  bereits  vor  einiger  Zeit  erfolgreich 
begonnen  haben,  indem  zu  diesem  Zwecke  der  verewigte  Fürstprimas  Simor  700  fl., 
Bischof  Baron  Hornig  500  fl.,  die  Bischöfe  Schuster  und  Lonhardt  je  200  fl«,  die 
Bischöfe  Zalka,  Bende,  DuUnszky  je  100  fl.,  und  andere  Spender  zusammen  1300  fl. 
beigetragen  haben. 


AUS  PETOFI'S  GEDICHTEN. 


L  Das  Lied  der  Hunde. 

Der  Winter  ist  des  Armen  Fluch, 
Wie  8türmt*s  so  eisig  kalt! 
Mit  weissem,  todtem  Leichentuch 
Bedeckt  der  Schnee  den  Wald. 

Was  kümmert*s  uns  ?  wir  liegen  weich 
In  warmer  Ecke  hier ; 
Denn  unser  Herr  ist  gnadenreich. 
Und  schenkt  uns  Frei-Quartier ! 

Dabei  ein  Fressen  sorgenlos, 
Aufschnappen  Stück  um  Stück ! 
Drum  sind  wir  auch  in  Treue  gross, 
Ein  wahres  Hundeglück ! 

Fnsstritte  gibt  es  freilich  auch. 
Doch  dulden  wir  sie  gern ; 
Die  Demut  ist  ja  Hundesbrauch, 
Und  Laune  ziert  den  Herrn. 

Schlägt  er  für  unsem  Unverstand 
Den  Bücken  uns  oft  wund : 
Dann  lecken  wir  ihm  hübsch  die  Hand, 
So  machVs  ein  braver  Hund  t 


n.  Das  Lied  der  Wölfe. 

Der  Winter  ist  des  Armen  Fluch, 
Wie  stürmt's  so  eisig  kaltt 
Mit  weissem,  todtem  Leichentuch 
Bedeckt  der  Schnee  den  Wald. 

Wir  streifen  hin  durch  Schilf  und  Rohr, 
Durch  Sumpf  und  Wäldermoos ; 
Wir  kauern  auf  dem  Haidemoor, 
Und  immer  obdachlos  f 

Wir  heulen  in  das  Sturmgebraus 
Vor  bittrer  Hungerqual, 
Verjagt  von  Hürde,  Hof  und  Haus, 
Veifolgt  durchs  Schluchtental. 

Wir  beissen  in  den  harten  Grund, 
Das  Lamm  ist  unser  Becht ; 
Doch  feindlich  ist  uns  jeder  Hund, 
Und  jeder  Hürdenknecht. 

Wir  tragen  wilden  Hungers  Weh, 
Uns  trifft  des  Jägers  Blei ; 
Eb  rötet  unser  Blut  den  Schnee : 
Doch  sind  wir  Wölfe  frei  f 

Stefan  Bönat. 


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272  UNGARISCHE   BIBLIOGRAPHIE. 


UNGARISCHE  BIBLIOGRAPHIE.* 

Band  Jozsef\  ütazds  ismei'eüen  dllomds  feU,  (Beise  nach  einer  anbekannten 
Station,  18i9— 185G.  Erinnerungen  von  Josef  Barsi.)  Budapest,  1890,  Franklin,  414  S. 

Bdnö  Jena.  ÜH  kdi^ek  Amerikäböl  (Reisebilder  aus  Amerika  von  Eugen  B&n6). 
Mit  fünfzehn  Hlustraiionen  und  zwei  Karten.  Budapest,  1890,  Nagel,  216  S. 

Cdky  Gerffely,  A  szokoH  urasdg  kdt  lednya.  (Die  beiden  Töchter  der  Sokoler 
Herrschaft.  Novelle  von  Gregor  Csiky.)  Budapest,  1890,  Franklin,  112  S. 

—  —  A  nagyraiermeU,  ( Grössen wahn.  Prei^ekröntes  Lustspiel  in  drei  Auf- 
zügen von  demselben.)  Das.,  175  8. 

Domarumzky  Endre,  A  renaismncie'kon  bölcadszet  törUnete,  (Geschichte  der 
Philosophie  im  Zeitalter  der  Renaissance  von  Andreas  DomanovszkL  Auch  unter  dem 
Titel:  Geschichte  der  Philosophie,  IV.  Band.)  Budapest,  1890,  Franklin,  492  S. 

Ember  öyörgy,  Csak  eyy  nun,  (Nur  ein  «auch»,  Roman  von  Georg  Ember.) 
Grosswardein,  1891,  Lang,  210  S.  

Euripidesy  Der  Oyclop,  ins  Ungarische  tibersetzt  von  Gregor  Csiky.  Von  der 
Kisfaludy-Gesellschaft  preisgekrönte  Uebersetzimg.  Budapest,  1890,  Franklin,  56  S. 

FrakncH  Vünios,  Mdtyde  kirdly,  (König  Matthias  Qorvinus  1440 — 1490,  von 
Wilhelm  Fraknöi.  Mit  zahlreichen  Blustrationen  im  Text  und  mehreren  Kunstbeila- 
gen.) Budapest,  1890,  Verlag  der  Historischen  Gesellschaft,  416  8. 

Goethe' 8  Iph'genie  auf  Taurüy  ins  Ungarische  tibersetzt  von  Johann  CsengerL 
Von  der  Kisfaludy-Gesellschaft  belobte  Uebersetzimg.  Budapest,  1890,  Franklin,  86  8. 

Qyulai  PdU  Arany  Jänos,  (Denkrede  auf  Johann  Arany  von  Paul  Gyulai.) 
Budapest,  1890,  Franklin,  56  S. 

Kenes^  B^la^  Kdivli-emlekkönyc  (Zur  Erinnerung  an  den  ersten  ungarischeii 
Bibeltibersetzer  Kaspar  K&roli  von  Adalbert  Kenessey),  Budapest,  1890,  Homyanszky, 
197  8. 

Kirdly  Pdl,  ülpia  TroQana,  (Ulpia  Trajana  Augusta  Colonia  Daciea  8armiz^ge- 
tusa  metropolis,  Daciens  Hauptstadt,  V4rhely  im  Komitate  Hunyad  in  Biebenbüigen, 
von  Paul  Kir41y.)  Budapest,  1891,  Athenäum,  178  S. 

Kis  Jdnos  sujtenntendens  emldkezdm,  (Erinnerungen  aus  dem  eigenen  Leben  von 
dem  8uperintendenten  Johann  Kis.)  2.  Auflage.  Budapest,  1890,  Franklin,  702  8. 

Kldn  Gyulu^  Emldkbeszed  Heer  ^  Oszcald  fököU  (Denkrede  auf  das  auswärtige 
Mitglied  der  Akademie  Oswald  Heer  von  Jtüius  Klein).  Budapest.  1890,  Akademie 
36  8eiten. 

Lubrich  AyosU  Tenndszetbölcselet,  (Naturphilosophie,  auf  Grund  der  neuesten 
Ergebnisse  der  im  Sinne  des  h.  Thomas  von  Aquino  geförderten  Forschungen,  von 
August  Lubrich.  HI.  Band:  Die  christlich-dualistische  Weltanschauung.)  Budapest, 
1890,  Selbstverlag,  712  8. 

Ungarn  in  Wort  und  Bild,  Bearbeitet  von  Bell  F.  A.,  Diaconovich  C,  Draga- 
lina  P.,  Gerlas  W.,  Imendörfler  A.,  Kenedi  G.,  Kraus  F.,  Plavsic  A.,  Römer  C.  J.,  Sieg- 
meth  K.,  Siegrus  E.,  Stemberg  A.,  Sziklay  J.  und  Weingärtner  C.  Mit  260  Dlustratio- 
nen  und  neun  Karten.  Ztirich,  1890,  (Budapest,  Grill),  534  8. 

*  Mit  AHSschiiiSB  der  mathematisch-natorwissenBchaftlichen  Literatur,  der  Sohnlbücher 
Erbanungsschriften  nud  Uobersetzungen  aus  fremden  Sprachen,  dagegen  mit  Berucksichti- 
'  gung  der  in  fremden  Sprachen  erschienenen,  aof  Ungarn  bezüglichen  Schriften. 


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GRAF  JULIUS  ANDßASSY. 


Graf  Julius  Andrässy  de  Osik-Szentkir&ly  und  Erasznahorka  wurde 
geboren  in  Easchau  am  3.  März  1823  als  Sprössling  des  älteren  Zweiges  der 
Familie  Andrässy.  Er  war  der  Sohn  des  Grafen  Karl  Andr&ssy  und  der 
Gräfin  Etelka  Szapäry.  Er  absolvirte  die  Mittelschule  in  Sätora^a-Ujhely 
und  Tata,  beendigte  seine  Universitätsstudien  in  Pest  und  bereiste  nachher 
Deutschland^  Frankreich,  Spanien  und  England.  In  die  Heimat  zurück- 
gekehrt, beschäftigte  er  sich  lebhaft  mit  öffentlichen  Angelegenheiten,  und 
obzwar  noch  ganz  jung,  stand  er  in  Folge  seiner  geistigen  Reife  dennoch 
alsbald  in  den  vordersten  Beihen.  Im  Frühling  des  Jahres  1846  schrieb  er 
als  S3-jähriger  junger  Mann  in  den  «Pesti  Hirlap»  einen  Artikel,  worin  er 
das  Syst'Cm  der  Obergespan-Stellvertreter,  der  sogenannten  Administratoren, 
welches  im  Lande  eine  fieberhafte  Erregtheit  hervorgerufen  hatte,  tadelte, 
gegen  die  Gonservativen  Stellung  nahm  und  gegen  die  Angriffe  derselben  die 
von  Franz  Deäk  in  der  Gravaminalfrage  in  der  Gongregation  des  Zalaer 
Comitates  beantragte  Adresse  in  Schutz  nahm.  Der  Zeitungsartikel  erregte 
Aufsehen,  und  Graf  Emil  Dessewffy  polemisirte  gegen  denselben  Wochen 
hindurch  im  iBudapesti  Hiradöi.  Mit  dieser  Arbeit  zog  Andrässy  die  Auf- 
merksamkeit Franz  Deäk's  auf  sich,  und  an  diese  knüpften  sich  die  ersten 
Fäden  ihres  Freundschaftsverhältnisses,  welches  in  der  Folge  von  epoche- 
machender Bedeutung  wurde  für  Ungarn  und  die  Monarchie.  Graf  Stefan 
Sz^henjd  kannte  Andrässy  schon  von  dessen  Eindeszeit  her,  er  gewann  ihn 
äusserst  li^b  und  hing  an  ihm  mit  der  ganzen  Innigkeit  seines  Herzens,  wo- 
von die  nachgelassenen  Tagebücher  Sz^chenyi's  in  rührendster  Weise  Zeu- 
genschaft ablegen.  Er  erblickte  in  Andrässy  den  Mann  der  Zukunft,  ausge- 
stattet mit  dem  Talente,  das  von  ihm,  Szechenjd,  begonnene  Werk  der  Be- 
form Ungarns  zu  glücklichem  Abschluss  zu  bringen.  Die  erste  Theissregu- 
lirungs-Gesellschaft  wählte  am  1.  Dezember  1845  den  22-jährigen  Andrässy 
auf  Vorschlag  Szechenyi's  zu  ihrem  Präsidenten  und  nahm  in  ihr  Sitzungs- 
protokoll die  folgenden  Worte  auf:  tZum  ordentlichen  Präsidenten  wurde 
mit  Stimmeneinhelligkeit  der  hochgeborene  Graf  Julius  Andrässy  gewählt, 
den  die  Gesellschaft  auch  bisher  schon  als  würdigen  Sprossen  seiner  ruhm- 
reichen Ahnen  und  als  neuen,  mit  leuchtendem  Glänze  aufsteigenden  Stern 

UngaiUchc  Ravao,  XI.  1891.  IV.  Heft.  lg 


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274  GRAF   JULIUS   ANDRiSSY. 

des  Vaterlandes  zu  kennen  so  glücklich  war.»  Es  war  um  diese  Zeit,  dass 
Szeebenyi  dem  Vicegespan  des  Szabolcser  Gomitates,  Ludwig  Eröss  sagte : 
•Nicht  ich  werde  dieses  Reguhrungswerk  durchführen,  sondern  der  Jüngling 
Julius  Andrassy.» 

Auf  dem  Reichstage  der  Jahre  1847 — 1848  wirkte  Andrassy  als  einer 
der  Ablegaten  des  Zempliner  Gomitates.  Am  2.  Februar  1848  schrieb  über 
ihn  Szechenjri  in  seinem  Tagebuche:  «AndrÄssy  ist  violleicht  der  Einzige, 
der  unsere  Angelegenheiten  von  einem  höheren  Gesichtspunkte  aus  be 
trachtet.»  Andrassy  unterwarf  sich  nicht  blindhngs  den  Ansichten  Sz6- 
chenjd's,  er  widersetzte  sich  in  jener  trüben  Zeit  mehr  als  einem  Plane  des- 
selben, in  noch  grösserem  Maasse  opponirte  er  aber  den  Uebergriffen  der 
Radikalen.  Ueber  die  Vorgänge  auf  diesem  denkwürdigen  Reichstage  sandte 
Andrassy  an  sein  Gomitat  regelmässige  Ablegatenberichte.  Wir  citiren  aus 
einem  dieser  Berichte,  der  das  Datum  des  9.  Mai  1849  trägt,  einige  Sätze, 
welche  die  politische  Richtung  des  nachmaligen  Ministers  des  Aeussem  bereits 
in  klaren  Umrissen  zeigen. 

«Wir  als  ehemalige  Schutzmauer  der  Christenheit»,  heisst  es  in  diesem 
Berichte,  «sind  die  unmittelbaren  Nachbarn  des  nordischen  Riesen,  und  es 
ist  vielleicht  unsere  Bestimmung,  dass  gleichwie  in  der  Vergangenheit  die 
Macht  des  Orients  an  unseren  Mauern  sich  brach,  so  in  der  Zukunft 
die  Macht  des  Nordens  sich  hier  breche.  Falls  das  Schicksal  uns  diese  Be- 
stimmung zugewiesen  hat,  dann  wollen  wir  dieselbe  mit  in  Grott  gesetztem 
Vertrauen  hinnehmen,  nicht  allein  darum,  weil  diese  Schicksalsfügung  eine 
grossartige  ist,  sondern  auch  deswegen,  weU  wir  in  dem  grossen  Kampfe, 
der  unserer  vielleicht  harrt,  auf  die  Sympathien  der  europäischen  dvilisirten 
und  freien  Völker  rechnen  können.  Wir  wollen  aber  dabei  bedenken,  dass 
wir  nur  dann  siegen  können,  wenn  wir  im  Kampfe  nicht  vereinzelt  dastehen. 
Ungarn  hat  durch  die  Ereignisse  der  jüngsten  Vergangenheit  eine  wichtige 
Position  in  der  Mitte  der  europäisch  gebildeten  und  freien  Nationen  einge- 
nommen. Damit  es  diese  seine  Stellung  behaupte,  bedarf  es  der  Eintracht 
und  der  Einigkeit,  wodurch  es  stark,  und  der  Sympathien,  von  welchen  es 
unterstützt  sei.  Das  Freiheitsgefühl  erweckt  diese  Sympathien,  und  diese 
werden  Nährung  und  Stärkung  finden  in  der  Interessengemeinschaft  zu- 
nächst mit  jenen  Völkern,  mit  welchen  wir  durch  die  pragmatische  Sanction 
und  durch  die  Geschichte  verknüpft  sind,  und  in  weiterer  Folge,  unter  Auf- 
rechthaltung unserer  nationalen  Selbstständigkeit,  mit  jenem  Volksstamme, 
welcher  die  Wiege  der  Civilisation  war  und  die  Buchdruckerkunst  und  das 
Schiesspulver,  diese  gewaltigsten  Waffen  des  menschlichen  Geistes,  unter 
seine  Erfindungen  zählt.» 

Das  erste  verantwortliche  Ministerium  ernannte  Andrassy  zum  Ober- 
gespan des  Zempliner  Gomitates.  Unterdessen  war  der  Bürgerkrieg  ausge- 
brochen und  auf  die  erste  Nachricht  von  der  organisirten  Erhebung  der 


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GRAF   JUIilüS   ANDRÄSSY.  275 

Kroaten  und  Serben  griflf  Andrässy  zum  Schwert.  Im  Juli  zum  Major  der 
Nationalgarde,  im  September  zum  Adjutanten  des  Generals  Moga  ernannt, 
nahm  er  an  der  Schlacht  bei  Päkozd,  welche  mit  der  Niederlage  Jellachich*s 
endigte^  theil ;  nicht  wenig  trag  zum  Erfolge  des  Tages  das  wirksame  Ein- 
greifen einer  Batterie  bei,  welcher  Andrässy  auf  eigene  Verantwortlichkeit 
die  Position  angewiesen  hatte.  Unter  den  Offizieren,  die  aus  Anlass  des 
Sieges  mit  besonderem  Lob  erwähnt  wurden  und  denen  das  Abgeordneten- 
haus in  seiner  Sitzung  vom  1.  Oktober  im  Namen  des  Vaterlandes  feier- 
lichen Dank  zollte,  befindet  sich  auch  der  Name  Andrässy's.  Auch  an  der 
unglücklichen  Schlacht  bei  Schwechat,  in  welcher  die  undisciplinirten,  in  der 
Eile  zusammengelesenen  ungarischen  Heerhaufen  den  feindlichen  Truppen 
nicht  Stand  zu  halten  vermochten,  war  Andrässy  betheiligt  und  hier  gab  er 
wiederholt  Proben  grossen  persönlichen  Muthes.  In  den  siegreichen  Schlach- 
ten von  Hatvan,  Täpiö-Bicske  und  Isaszeg  focht  Andrässy  als  Adjutant 
Görgey's.  Nun  wurde  aber  seiner  noilitärischen  Thätigkeit  ein  Ziel  gesetzt. 
Er  war  bereits  Honved- Oberst,  als  ihn  der  Minister  des  Aeussem  Graf 
Kasimir  Batthyäny  im  Juni  1849  in  diplomatischer  Mission  nach  Gonstan- 
tinopel  sandte.  Nur  zu  bald  hatte  er  Gelegenheit  seine  diplomatische  Geschick- 
lichkeit zu  bethätigen,  denn  mittlerweile  war  die  Katastrophe  von  Vilägos 
erfolgt  und  zahlreiche  ungarische  Patrioten  suchten  vor  der  Wärgarbeit 
Haynau*s  Zuflucht  auf  türkischem  Boden.  Auf  die  Entschiedenheit  der  Pforte, 
womit  diese  das  Verlangen  nach  Auslieferung  der  ungarischen  Emigranten 
zurückwies,  hatte  Andrässy's  Action  wesentlichen  Einfluss.  Von  Constan- 
tinopel  begab  sich  Andrässy  nach  London  und  zwei  Jahre  später  nach  Paris. 
Inzwischen  wurde  er,  nebst  35  seiner  Genossen,  als  Hochverräther  vom 
Pester  Militär- Gerichte  am  21.  September  1851  in  contumatiam  zum 
Tode  verurteilt  und  am  darauf  folgenden  Tage  auf  dem  Platze  hinter  dem 
Neugebäude  in  effigie  gehenkt.  Das  militärgerichtliche  Urteil  lautete 
wie  folgt : 

«Julius  Graf  Andrässy,  zu  Zemplin  geboren,  bei  26  Jahre  alt,  katho- 
lisch, ledig,. gewesener  Obergespan  des  Zempliner  Comitats  und  Mitglied  des 
Oberhauses,  am  1.  Januar  1850  wegen  angeschuldeten  Hochverrats  edicta- 
liter  citirt,  aber  nicht  erschienen,  ist  bei  gesetzlich  erhobenem  Thatbestande 
durch  rechtskräftige  Zeugnisse  überwiesen,  trotz  des  Allerhöchsten  Mani- 
festes vom  3.  Oktober  1848  als  Major  der  Nationalgarde  des  Zempliner  Co- 
mitats an  der  Schlacht  bei  Schwechat  am  30.  Oktober  1848  teilgenommen, 
das  schon  vorher  bekleidete  Amt  eines  Obergespans  des  besagten  Comitats  in 
revolutionärer  ßichtung  bis  Ende  März  1849  versehen,  darauf  von  der  revo- 
lutionären Begierung  in  der  Eigenschaft  eines  Agenten  die  Mission  nach 
Konstantinopel  angenommen,  als  solcher  auf  dem  Wege  dahin  im  Monate 
Juni  1849  die  Regierung  des  Fürstenthums  Serbien  zu  einer  feindseligen 
Haltung  gegen  Oesterreioh  und  vorläufigen  Bückberufung  der  Serben  und  des 

18* 


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276  GRAF  JXTL11I8   ANDRjtsST. 

Generals  Kniianin  zu  bewegen  gesucht  und  behufe  sicheren  Gelingens  dieses 
Planes  zur  Unterjochung  der  Serben  und  Kroaten  der  revolutionären  Regie- 
rung die  kühnsten  und  hinterlistigsten  Vorschläge  gemacht,  in  Eonstantinopel 
selbst  aber  bis  zur  Unterdrückung  der  Bebellion  Alles  angewendet  zu  haben, 
um  seine  officielle  Anerkennung  bei  der  ottomanischen  Pforte  durchzusetzen 
und  deren  Begierungsorgane,  wenn  nicht  anders,  so  durch  ihre  eigene  Gom- 
promittirung,  wozu  er  Mittel  der  verwerflichsten  Art  bei  der  revolutionären 
Regierung  in  Antrag  gebracht  hatte,  zum  feindseligen  Handeln  gegen  Oester- 
reich  zu  nötigen.» 

In  seiner  Verbannung  beobachtete  er  scharf  und  sammelte  wertvolle 
Erfahrungen  für  die  Zukunft.  Mit  klarem  Blicke  durchschaute  er  die  innere 
Hohlheit  des  glanzvollen  Empire  und  er  hielt  sich  fem  von  der  Conspiration 
der  Emigranten-Politik,  welche  auf  das  Eingreifen  Napoleons  zu  Gunsten 
des  niedergetretenen  Ungarn  ihre  Hoffnungen  baute.  In  Paris  befestigte  sich 
in  ihm  «immer  mehr  die  Ueberzeugung,  dass  Ungarns  Heil  nicht  von  einem 
Kampf  gegen  die  Dynastie,  sei  es  aus  eigener  Kraft,  sei  es  mit  fremder  Hilfe 
zu  erwarten  sei,  sondern  von  der  ehrlichen  Versöhnung  Ungarns  und  des 
Königshauses.  Darum  machte  er  auch  im  Jahre  1858  von  der  ihm  auf  Ver- 
wendung seiner  Mutter  gewährten  Amnestie  Gebrauch  und  kehrte  in  die 
Heimat  zurück.  Noch  in  Paris  vermählte  er  sich  mit  der  gefeiertesten  jungen 
Dame  Ungarns,  Gräfin  Katinka  v.  Kendeffy,  und  in  diesem  Herzensbupde, 
welchem  zwei  Söhne  und  eine  Tochter  entsprossen  sind,  fand  er  ein  beseli- 
gendes Glück  bis  ans  Ende  seines  Lebens. 

Mit  seiner  Heimkehr  aus  der  Emigration  beginnt  seine  eigentliche 
politische  und  staatsmännische  Thätigkeit,  welche  sich  fortschreitend  in  auf- 
steigender Linie  bewegte,  um  von  Erfolgen  gekrönt  zu  werden,  welche  in  der 
neueren  Geschichte  Ungarns  und  der  Habsburg'schen  Monarchie  ohne  Bei- 
spiel sind.  Nach  dem  italienischen  Feldzuge  wurde  die  ungarische  Frage 
akut.  Die  Notwendigkeit,  sich  mit  der  ungarischen  Nation  zu  verständigen, 
wurde  in  Wien  erkannt,  doch  scheute  man  vor  der  Wiederherstellung  der 
ungarischen  Verfassung  und  insbesondere  der  Gesetze  von  1848  zurück  und 
meinte,  Ungarn  als  einen  Teil  der  constitutionalisirten  Gesammtmonarchie 
behandeln  zu  können.  An  den  friedlichen  Verfassungskämpfen,  wie  an  den 
politischen  Gestaltungen,  welche  den  Dualismus  begründeten,  hatte  Andrässy 
nächst  Deäk  den  grössten  Anteil.  Der  Emigranten-PoUtik,  welche  eine 
grosse  Partei  zuhause  fortsetzen  wollte,  trat  er  mit  aller  Entschieden- 
heit entgegen,  er  strebte  mit  Deäk  den  «Ausgleich»,  aber  auf  jenen  histo- 
rischen und  verfassungsmässigen  Grundlagen  an,  wie  sie  durch  die  prag- 
matische Sanction  begründet  und  durch  die  Gesetzgebung  von  1848  weiter 
entwickelt  wurden,  ohne  dabei  die  Bedingungen  der  Grossmachtstellung  der 
Habsburg'schen  Monarchie  aus  dem  Auge  zu  verlieren.  Auf  dem  Beichstage 
von  1861,  wo  Andrässy  von  Deäk  zum  ersten  Vice-Präsidenten  vorgeschlagen 


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ÖftA^  JüIilÜB  AKDRitsST.  ^7? 

WQrde^  aber  dem  Führer  der  Bescblnss-Partei^  Eoloman  Tisza,  erlag,  war 
Ändrässy  in  diesem  Sinne  thätig.   Doch  dieser  Reichstag  wurde  bald  aufge- 
löst und  es  wurde  in  Ungarn  ein  militärisches  Provisorium  etablirt.  In  nutz- 
losen Experimenten  und  Versuchen,  Ungarn  für  den  Eintritt  in  den  Wiener 
Reichsrat  zu  gewinnen,  erschöpfte  Schmerling  seine  Staatskunst  bis  zum 
Jahre  1865.  In  diesem  Jahre,  am  16.  April,  erschien  der  berühmte  Osterartikel 
Franz  De&k's,  woran  Andr&ssy  abermals  wesentlichen  Anteil  hatte.   Der 
leitende  Gedanke  dieses  Artikels  war,  dass  Ungarn  seine  Hoffnungen  in  den 
König  setze  und  mit  unerschütterlichem  Vertrauen  von  ihm  sein  künftiges 
Heil  erwarte,  im  Uebrigen  jedoch  bereit  sei,  seine  historischen  Rechte  mit 
den  Bedingungen  der  Sicherheit  und  Grossmachtstellung  der  Monarchie  in 
Einklang  zu  bringen  und  der  Freiheit  und  dem  Gonstitutionalismus  der 
österreichischen  Kronländer  keinerlei  Hindernisse  zu  bereiten.   Die  nächste 
Folge  dieses  Artikels  war  der  Sturz  Schmerling's ;  der  Conservative  Georg  v. 
Majläth  wurde  zum  ungarischen  Hofkanzler,  der  ebenfalls  conservative 
Baron  Paul  Sennyey  zum  Tavernikus  Ungarns  ernannt,  der  ungarische 
Reichstag  wurde  einberufen.  Andrässy  wurde  zum    Vice-Präsidenten  des 
Reichstages  und  zum  Präsidenten  der  Adresscommission  gewählt.   Nun  galt 
es,  die  allgemein  gehaltenen  Ausgleichs-Ideen  in  concrete  Formeln  zu  fassen. 
Andrässy  hielt  dafür,  dass  die  friedliche  Wiederherstellung  der  1848er  Gesetze 
nicht  eher  möglich  ist,  als  eine  praktische  Lösung  gefunden  wird  für  die 
Frage :  in  welcher  Weise  die  gemeinsamen  Angelegenheiten  der  Monarchie, 
welche  schon  die  1848er  Gesetze  anerkannt  hatten,  von  den  beiden  Legis- 
lativen der  Monarchie  auf  verfassimgsmässigem  Wege  behandelt  werden 
sollten  ?  Es  stand  für  ihn  fest,  dass  Ungarn,  welches  auf  dem  historischen 
Rechtsboden  des  Dualismus  steht,  niemals  einer  Lösungsformel  beitreten 
werde,  welche  das  Princip  der  nationalen  Selbstständigkeit  und  des  Dualis- 
mus bis  auf  die  Person  des  Herrschers,  wo  der  Dualismus  selbstverständlich 
seine  Grenze  findet,  nicht  voll  zum]] Ausdrucke  bringt.  Ferner  müsse  die  Lö- 
sungsformel dem  Princip  der  Verfassungsmässigkeit  angepasst  werden,  weil 
sie  sonst  von  der  anderen  Hälfte  der  Monarchie  nicht  angenommen,  und 
endlich  den  Interessen  der  Grossmachtstellung  der  Monarchie  nach  aussen 
hin  Rechnung  tragen,  weil  sie  sonst  vom  Könige  zurückgewiesen  werden  würde. 
Die  Beweggründe  aller  drei  Factoren,  Ungarns,  Oesterreichs  und  8r.  Majestät, 
waren   in  gleicher  Weise  gerechtfertigt,  wenn  auch  ihrem  Ausgangspunkte 
nach   verschieden.    Andrässy    hielt  dafür,   dass  Niemand  berufener  sei 
Ungarns  staatsrechtliche  Forderungen  auf  historischer  Grundlage  darzule- 
gen und  mit  Nachdruck  zu  vertreten,  als  Franz  Deäk.   Andererseits  war 
aber  Andrässy  auch  davon  überzeugt,  dass  der  Nachweis  für  die  Berechti- 
gung der  ungarischen   Forderungen,   selbst   wenn    er    aufs    glänzendste 
geführt  wird,  allein  für  sich  zur  Ausgleichung  der  divergirenden  Gesichts- 
punkte  nicht   genüge,  so  lange    für    die  Behandlung  der  gemeinsamen 


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^?8  ÖRAl?   JÜLUTS   ANDRi(s8Y. 

Angelegenheiten  nicht  eine  Formel  gefunden  wird,  welche  dem  Dualis^ 
mus  und  der  Verfassungsmässigkeit  in  gleichem  Maasse  gerecht  wird.  In 
diesem  letzteren  Punkte  schienen  die  Hauptschwierigkeiten  für  eine 
gedeihliche  Lösung  der  obschwebenden  Fragen  zu  liegen,  darum  beschäf- 
tigte er  sich  hauptsächlich  mit  diesem  Punkte.  Andrässy  im  Vereine 
mit  Deäk  arbeitete  die  Lösungsformel  aus,  welche  dahin  ging,  dass  die 
gemeinsamen  Angelegenheiten  der  beiden  Staaten  7on  Delegationen,  die  sich 
als  vollständig  gleichberechtigte  Körperschaften  gegenüberstehen,  vertreten 
werden  müssten.  Der  ungarische  Reichstag  hätte  demnach  eine  bestimmte 
Anzahl  von  Delegirten  aus  seinem  Schosse  zu  wählen,  die  jedoch  keinerlei 
verbindliche  Instructionen  annehmen  dürften.  Jede  der  beiden  Delegationen 
bildet  für  sich  eine  selbstständige,  abgeschlossene  Körperschaft,  die  ihre  Be- 
ratungen gesondert  hält.  Dies  ist  der  Ursprung  der  Delegations-Institution,  die 
seither  fortbesteht  und  sich  im  Laufe  der  Jahre  nur  immer  besser  bewährt 
In  dem  67er  Ausschusse,  welchen  der  Reichstag  zur  Ausarbeitung  des  Aus- 
gleichs-Elaborats am  3.  März  1866  einsetzte  und  in  der  VQ^  diesem  Aus- 
schusse gewählten  engeren  Fünfzehner-Commission,  deren  Präsident  er  war, 
teilte  Andrässy  mit  Deäk  die  führende  Rolle.  Das  Elaborat  wurde  fertig, 
auch  vor  den  Reichstag  gebracht,  doch  war  mittlerweile  der  österreichisch- 
preussische  Krieg  ausgebrochen  und  der  Reichstag  am  26.  Juni  vertagt 
worden.  Nach  dem  böhmischen  Feldzuge  nahm  die  Ausgleichs-Action  einen 
raschen  Gang,  die  Lösung  der  ungarischen  Frage  war  nun  eine  brennende 
Notwendigkeit  geworden,  und  da  ist  es  bezeichnend,  dass  Deäk  und  Andrässy, 
weit  entfernt,  das  Missgeschick  des  Hofes  auszubeuten,  nur  die  nämlichen 
Forderungen,  wie  vor  dem  unglücklichen  Kriege,  geltend  machten.  Das 
erwähnte  Elaborat  der  Fünfzehner-Commission  wurde  in  Wien  als  Grund- 
lage des  Ausgleiches  angenommen,  Andrässy  am  17.  Februar  1867  zum 
Minister-Präsidenten  Ungarns  ernannt  und  mit  der  Bildung  des  verantwort- 
lichen Ministeriums  betraut.  An  diesem  denkwürdigen  Tage  sprach  Franz 
Deäk  in  Gegenwart  der  Partei  für  die  erfolgreiche  Vertretung  und  Verdol- 
metschung der  Wünsche  derselben  und  den  um  das  Zustandekommen  des 
Ausgleiches  bethätigten  Eifer  t  seinem  Freunde  Andrässy,  dem  uns  von  der 
göttlichen  Vorsehung  gegebenen  providentiellen  Manne,  seinen  Dank  ansi. 
Die  Situation,  welche  Andrässy  bei  der  Uebemahme  der  Regierung  vor- 
fand, war  eine  überaus  schvnerige.  Von  dem  ungarischen  Staatswesen  bestand 
nichts  als  die  Idee.  Der  Ausgleich  selbst  wurde  von  einer  starken  staatsrecht- 
lichen Opposition  heftig  angefochten.  Die  Nationalitätenverhältnisse  des 
Landes  waren  überaus  unerquicklich.  Die  Beziehungen  zu  Kroatien  sollten 
erst  geregelt  werden.  Binnen  kurzer  Zeit  jedoch  gelang  es  Andrässy,  den 
Staat  zu  organisiren^  die  ausgleichsfeindlichen  Elemente  zurückzudrängen, 
die  Einflüsse  der  österreichischen  Militärpartei,  welche  der  Selbständigkeit 
Ungarns  spinnefeind  war,  zu  paralysiren,  die  Militärgrenze  zu  entmilitari- 


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ÖRAB^  JtJLIXJS  ANDRASSY.  ^9^ 

siren,  die  Bewegung  der  Serben  und  Rumänen  zu  dämpfen,  die  kroatische 
Frage  zu  lösen.  Unter  seiner  glücklichen  Hand  bestanden  die  gemeinsamen 
Institutionen  die  erste  Probe.  Die  Armee  wurde  auf  Grundlage,  der  allge- 
meinen Wehrpflicht  organisirt  und  die  ungarischen  Honv^ds  atif  vollkom- 
men nationaler  Grundlage  wiederhergestellt  Andr^y  hat  das  Programm 
Szechenyi's  wiederbelebt :  er  schuf  die  vereinigte  Hauptstadt  und  legte  den 
Grundstein  zu  der  künftigen  Grösse  Budapests  nieder. 

Wichtiger  jedoch  für  die  allgemeine  europäische  Politik  und  für  die 
Geschicke  der  Monarchie  ist  die  Art  und  Weise,  wie  Andrässy  den  gesetz- 
Uchen  Einfluss  Ungarns  auf  den  Gang  der  auswärtigen  Angelegenheiten 
ausübte.  In  dem  entscheidungsschweren  Jahre  1870  war  es  Andrässy^  der 
gegenüber  den  abenteuerlichen  Plänen  Beust's  die  Neutralität  der  Monarchie 
verfocht  und  durchsetzte.  Die  Stellung  Beust's  war  durch  sein  Verhalten  in 
der  von  Bussland  aufgeworfenen  Pontusfrage  und  durch  seine  Zweideutig- 
keit gegenüber  den  föderalistischen  Experimenten  Hohenwarts,  welche  eben- 
falls von  Andrässy  zum  Scheitern  gebracht  wurden^  unhaltbar  geworden, 
und  Andrässy  wurde  am  13.  November  1871  zum  gemeinsamen  Minister 
des  Auswärtigen  und  des  kaiserlichen  Hauses  ernannt.  Auch  bei  Antritt 
dieser  Stellung  fand  Andrässy  eine  höchst  unerquickliche  Situation  vor.  Die 
Monarchie  war  vollständig  isolirt,  von  teils  misstrauischen,  teils  feindseligen 
Mächten  umgeben;  aus  der  alten  historischen  Position  in  Italien  und 
Deutschland  hinausgedrängt,  schien  sie  die  Grundlage  und  Ziele  ihres 
Bestandes  inmitten  der  neuen  Machtverhältnisse  verloren  zu  haben. 
Andrässy  hatte  den  Mut^  nicht  nur  an  der  Existenzberechtigung  Oester- 
reichs^  sondern  selbst  an  seiner  grösseren  Zukunft  nicht  zu  zweifeln.  Er  war 
vom  ersten  Augenblick  an  darüber  im  Klaren,  dass  dieselbe  nicht  im  Zurück- 
greifen nach  Verlorenem^  sondern  im  Ausgreifen  nach  dem  natürlichen 
Gravitationspunkt  der  Ostmark,  nach  dem  Osten  zu  suchen  sei.  Es  ist 
Andrässy's  Verdienst,  dass  die  Monarchie  vom  Jahre  1872  ab  auf  alle  deut- 
schen und  italienischen  Aspirationen  definitiv  verzichtet  und  eine  klare 
Orientpolitik  inaugurirt  hat,  ohne  in  einen  Conflict  mit  Bussland  zu  gera- 
ten, als  dessen  offener  Bivale  im  Orient  sie  mit  Erfolg  auftrat.  Andrässy 
war  es,  der  die  Orientpolitik  Oesterreichs  in  ganz  neue  Bahnen  lenkte,  indem 
er  als  Ungar  den  Mut  hatte,  sieh  von  dem  Dogma,  dass  die  Türkei  um 
jeden  Preis  zu  erhalten  sei,  loszusagen.  Er  trat  im  Verein  und  Wetteifer 
mit  Bussland  offen  als  Protector  der  Emancipation  der  christHchen  Balkan- 
völker auf,  welche  sich  bis  dahin  gewöhnt  hatten,  in  Oesterreich  den  prin- 
dpiellen  Feind  auch  ihrer  gerechtesten  Ansprüche  zu  sehen;  er  suchte 
aber  auf  demselben  Wege  auch  den  Verfall  der  Türkei  aufzuhalten,  indem 
er  ihr  zu  Beformen  riet,  welche  geeignet  waren,  jene  Völker  dem  russischen 
Einfluss  zu  entziehen.  Hierin  gipfelte  die  Politik,  welche  Andrässy  vom 
Anbeginn  bis  ans  Ende  seiner  Thätigkeit  als  Minister  des  Auswärtigen  ver- 


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^ÖO  OÄAP  itJUUS   AKDrIssY. 

folgte.  Seine  zweite  grosse  Idee,  an  der  er  in  allen  Phasen  seiner  Action 
unverbrüchlich  festhielt,  war  der  Gedanke  einer  Allianz  mit  Deutschland. 
«Die    klare    und  aufrichtige  Friedenspolitik •,   welche    er    in  seiner  Cir- 
culamote   bei  der  Uebemahme   der   auswärtigen   Geschäfte  proclamirte, 
machte  bald  genug  Eroberungen.  Allmälig  tritt  die  Monarchie  aus  dem  Zu- 
stande der  Isolirtheit  heraus.  Sollte  die  Annäherung  an  Deutschland  voll- 
zogen werden,  so  musste  man  auch  die  Entfremdung  zwischen  Oesterreicb- 
Ungarn  und  Bussland  überwinden,  denn  das  deutsche  Reich  stand  in  engen 
Beziehungen  zu  Bussland.  Im  Jahre  1872  kam  die  Drei-Eaiser-Entente  zu 
Stande,  welche  in  der  Folge  allerdings  nach  Aussen  den  Schein  gewann,  den 
russischen  Orientplänen  zugute  zu  kommen ;  allein  mit  der  Annäherung  an 
Bussland  war  der  erste  Schritt  zur  Anbahnung  des  freundschaftlichen  Ver- 
hältnisses mit  dem  deutschen  Beich  gethan.  1 875  wusste  Andrässy  den  Kaiser- 
König  Franz  Josef,  dessen  Heroismus  in  der  Pflichterfüllung  noch  keiner 
seiner  Minister  besser  erkannt  hatte,  zum  Besuche  Victor  Emanuels  in  Vene- 
dig zu  bestimmen.  Diese  Beise  legte  den  Grund  zur  späteren  Ausdehnung  des 
deutsch-österreichisch-ungarischen  Bündnisses  auf  Italien.  Bussland  gegen- 
über hat  Andrässy  nicht  nur  in  seiner  allgemeinen  Haltung,  sondern  auch  in 
den  auftauchenden  concreten  Fragen  der  allerkritischesten  Natur  jene  Stim- 
men Lügen  gestraft,  die  seinen  Amtsantritt  mit  der  Losung  «Bevanohe  für 
Vilägosi  begrüssten.  Er  hatte  in  allen  seinen  Handlungen  einzig  und  allein 
das  Interesse  der  Monarchie  vor  Augen.  Von  diesem  geleitet,  nahm  er  im 
serbisch-türkischen  Kriege  (1876)   eine  neutrale  Stellung  ein,  und  hinderte 
die  Bussen  nicht  an  dem  Kriege  gegen  die  Türkei.  Aber  die  vielfache  An- 
nahme, dass  in  Beichstadt  eine  Art  Teilung  der  Türkei  besprochen  wurde, 
ist  durch  die  Thatsachen  widerlegt.  Bussland  hätte  sich  auf  dem  Congresse 
gewiss  nicht  die  eroberten  Balkanländer  entreissen  lassen,  wenn  es  ein  von 
Deutschland  mitsignirtes  Versprechen  Oesterreich- Ungarns  besessen  hätte. 
Die  Mission  des  Generals  Sumarakoflf  (1877),  deren  Ziel  war,  Oesterreich- 
Ungam  zur  Cooperation  gegen  die  Türkei  zu  bewegen,  scheiterte  an  dem  Wider- 
stände Andrässy's,  der  es  hiebei  nicht  unterliess,  Bussland  vor  diesem  Kriege 
eindringlich  zu  warnen :  auch  dies  kann  als  Beweis  angesehen  werden,  dass 
in  Beichstadt  nichts  gegen  die  Türkei  beschlossen  wurde.  Wohl  aber  scheint 
Andrässy  seine  ganze  Politik  darauf  gerichtet  zu  haben,  dass  der  Orientkrieg 
sich  nicht  auf  Oesterreich-Ungam  entlade,  dass  aber  das  Habsburger  Beich 
seine  Orientinteressen  auf  politischem  Wege  zur  Geltung  bringe.  Diese  Politik, 
die  nach  Andrässy's  Auffassung  ebenso  gelten  musste,  wenn  Bussland  siegte, 
wie  wenn  es  unterlegen  wäre,  hatte  fast  die  gesammte  öffentliche  Meinung 
gegen  sich,  aber  den  Erfolg  für  sich.    Nach  dem  Fall  von  Plewna  dictirte 
Bussland  der  Türkei  bei  San  Stefano  Bedingungen^  die  Oesterreich-Ungam 
verwerfen  konnte :  denn  die  decimirte  russische  Armee  hatte,  sobald  sie 
Konstantinopel  occupirte,  die  englische  Flotte   vor   sich  und  die  intacte 


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GRAB*   JULIUS   ANDRASSY.  28l 

HeeresmachtOesterreich-Ungarns  hinter  sich.  Andrässy  widerstand  der  Versu- 
chung^ diese  Position  zu  einem  Kriege  auszunützen,  dessen  Erfolg  sicher  war; 
er  begnügte  sich  mit  dem  weniger  glänzenden,  aber  auch  weniger  gefährli- 
chen Erfolg,  Bussland  vor  das  europäische  Forum  zu  citiren.  Das  siegreiche 
Zarenreich  musste  der  Ladung  zum  Berliner  Gongress  folgen,  wo  Andrässy 
anscheinend  unter  deutscher  Patronanz,  die  leitende  Bolle  spielte.  Es  gelang 
ihm,  von  Europa  das  bedingungslose  Mandat  zur  Besetzung  Bosniens  zu 
erwirken,  während  sich  Bussland  verpflichten  musste,  die  von  ihm  besetzten 
Teile  der  Türkei  binnen  Jahresfrist  zu  räumen :  ein  Besultat,  das  überall 
mehr  gewürdigt  wurde,  als  in  Oesterreich-Ungam.  Hier  war  die  öflfentliche 
Meinung  nach  den  wiederholten  Versicherungen  der  offiziösen  Presse,  dass 
die  Occupation  Bosniens  nicht  der  Endzweck  der  österreichisch-ungarischen 
Politik  sei,  desorientirt,  durch  die  Schwierigkeiten  und  vielfach  überschätzten 
Opfer  der  Occupation  selbst  erbittert  und  durch  den  Wahn  erschreckt,  dass 
das  Ausgreifen  nach  slavischen  Gebieten  den  Dualismus,  die  Herrschaft  des 
deutschen  und  magyarischen  Elements,  bedrohe.  Andrässy  hatte  harte  par- 
lamentarische Kämpfe  zu  bestehen,  aus  denen  er,  unter  Aufopferung  seiner 
einst  unermesslichen  Popularität,  siegreich  hervorging,  allerdings  mit 
dem  Entschlüsse,  sich  solchem  Bingen  nicht  wieder  auszusetzen.  1879 
reichte  er  seine  Demission  ein  und  hielt  sie  trotz  des  Drängens  seines 
Monarchen  aufrecht.  Aber  noch  als  demissionirter  Minister  vollführte  er  die 
bedeutsamste  seiner  Thaten :  er  schloss  mit  Fürst  Bismarck,  der  auf  die 
Nachricht  von  Andrässy's  Bücktritt  nach  Gastein  geeilt  war,  das  deutsch- 
österreichisch-ungarische Bündniss.  So  hinterliess  er  die  Monarchie,  deren 
Eiistenz  bei  seinem  Amtsantritt  fraglich  schien,  in  einer  Position  neuen 
Ansehens  und  gemehrten  Prestiges. 

Er  selbst  trug  den  Keim  der  Krankheit,  die  ihn  zehn  Jahre  später,  am 
18.  Februar  1890,  dahinraffen  sollte,  bereits  in  sich.  Er  hörte  jedoch  nicht  auf, 
sich  als  Privatmann  und  Parlamentarier  an  den  öffentlichen  Angelegenheiten 
ratend  und  controllirend  zu  beteiligen.  Vieles,  was  seither  auf  dem  Gebiete 
der  äusseren  und  inneren  Politik  Oesterreich-Ungams  geschah,  vielleicht  noch 
mehr,  was  nicht  geschah,  ist  auf  seinen  Einfluss  zurück  zu  führen.  Sein 
Bücktritt  hat  ihm  nichts  von  seiner  Bedeutung  genommen  und  ihm  seine 
Beliebtheit  zurückgegeben.  Er  blieb  auch  seither  immerfort  der  Batgeber 
des  Königs  und  des  Landes,  und  in  kritischen  Augenblicken  war  sein  Wort 
entscheidend  für  die  Bichtung,  die  eingeschlagen  werden  sollte.  In  der  stür- 
mischen abgelaufenen  Wehrdebatte  vor  zwei  Jahren  war  es  Andrässy,  der 
die  Krone  über  die  Berechtigung  des  Wunsches  der  Nation  aufklärte,  wäh- 
rend er  zu  gleicher  Zeit  im  Oberhause  das  System  der  gemeinsamen  Armee 
verteidigte.  Nebstdem  hatte  er  stets  ein  reges  Interesse  für  unser  gesell- 
schaftliches und  Kunstleben,  für  jede  Bewegung  auf  dem  Gebiete  unserer 
Volkswirtschaft  und  unserer  Cultur,  —  für  die  Angelegenheiten  der  unga- 


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^^2  (j^AF  JttLItTR   ANDRjCsRt. 

rischen  Akadeniie  der  Wissenschaften  aber  ganz  besonders  ein  warmes 
Herz.  Unter  seiner  Premierschaft  hat  die  Gesetzgebung  die  Staatssnbvention 
für  die  Akademie  systemisirt.  Seine  am  10.  Juni  1876  erfolgte  Wahl  zum 
Directionsmitgliede  nahm  er  freudig  an,  und  nach  seiner  Heimkehr  aus 
Wien  liess  er  vielmals  in  den  Beratungen  der  Akademie  seine  entschei- 
dende Stimme  vernehmen.  Im  Jahre  1888  wurde  er  zum  Ehrenmitglied  der 
n.  Glasse  gewählt,  und  er  erschien  fleissig  zu  den  Classensitzungen.  Nach  dem 
Heimgänge  Treforts  wurde  er  1 889  für  die  Präsidentschaft  der  Akademie 
candidirt,  er  konnte  jedoch  aus  Bücksicht  auf  seinen  Gesundheitszustand 
diese  Würde  nicht  annehmen. 

Anlässlich  seines  Todes  bezeugte  die  Akademie  ihre  Verehrung  für  den 
Heimgegangenen  auch  dadurch,  dass  sie  ihre  Säulenhalle  für  die  Aufbah- 
ruDg  des  Leichnams  zur  Verfügung  stellte.  Von  hier  wurde  er  am  21.  Februar 
1890  zur  ewigen  Buhe  bestattet.  Seit  dem  Hinscheiden  Franz  Deäk's  gab  es 
keine  Trauerkundgebung,  die  derjenigen  glich,  mit  welcher  der  Verlust 
Andrässy's  beweint  worden  ist.  * 


VORLÄUFIGE  ERGEBNISSE  DER  VOLKSZÄHLUNG  1890. 

Gelesen  in   der   aiiflserordentlichen    Sitzung   der  ungarischen   Akademie  der  Wissen- 
schaften am  11.  Februar  1891. 

Wie  der  sorgsame  Landwirt  und  Kaufmann  von  Jahr  zu  Jahr  sein  In- 
ventar macht  und  sich  Klarheit  schafft  über  sein  Vermögen,  dessen  Hebung 
oder  Bäckgang  die  Bilanz  ausweist,  so  inventirt  auch  der  Staat  von  Zeit  zu 
Zeit  seinen  wertvollsten  Besitz,  die  Bevölkerung.  Was  jedoch  der  Einzelne 
von  Jahr  zu  Jahr  ausfährt,  vollbringt  der  Staat,  dem  ein  längeres  Leben  be- 
schieden ist,  nur  in  jedem  zehnten  Jahre.  Auch  Ungarn  macht,  getreu  den 
internationalen  Bestimmungen,  am  letzten  Tage  jedes  ablaufenden  Jahr- 
zehntes seine  Bevölkerungs-Bilanz ;  —  so  hat  es  auch  um  Mittemacht  des 
31.  Decembers  1890,  zum  dritten  Male  seit  Wiederherstellung  der  selb- 
ständigen ungarischen  Begierung,  gethan. 

Die  vorläufigen  Ergebnisse  der  Volkszählung,  welche  im  statistischen 
Landesbureau  zusammengestellt  werden,  habe  ich  zunächst  dem  mit  der 
Durchfährung  des  die  Volkszählung  verordnenden  Gesetzes  betrauten  Mini- 
ster in  amtlicher  Vorlage  mitgeteilt,   der  dieselben  wieder  Sr.  Majestät, 

*  Diesen  auf  den  verläaslichsten  Informationen  beruhenden  Nekrolog,  der  aus 
der  Feder  eines  Mannes  stammt,  der  dem  grossen  Staatsmann  nahegestanden,  ent- 
nehmen wir  dem  Feber  Hefte  des  «Anzeigerat  (Ertesitö)  der  Ungar.  Akademie.      D.  Bed. 


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VORLÄUFIGE   ERGEBNlBSfe   DER   VOLKSZÄHLUNG  1890.  ^S^i 

unserem  für  das  Glück  und  den  Fortschritt  seines  Volkes  warm  fühlenden 
gekrönten  Könige  unterbreitet  hat. 

Hier,  in  der  ungarischen  Akademie  der  Wissenschaften^  bringe  ich  nun 
diese  Elrgebnisse  zur  Eenntniss  der  ganzen  Nation,  welche  dieselben  gewiss 
mit  Freude  und  Genugthuung  empfangen  wird.  Denn  wir  haben  an  Zahl 
und  an  Kraft  zugenommen.  Die  Bevölkerung  des  ungarischen  Reiches  ist  in 
dem  verflossenen  Jahrzehnte  um  10  Percent  angewachsen,  d.  h.  die  Civil- 
bevölkerung  der  Länder  der  St.  Stefanskrone  hat  17  Millionen  überschritten! 
Wenn  wir  das  activ  dienende  k.  u.  k.  Militär  mit  91,396,  die  kön.  ungarische 
Honved  mit  16,074  und  die  kön.  ung.  Gendarmerie  mit  6306,  insgesammt 
mit  113,776  Mann  hinzurechnen,  so  hebt  sich  die  Zahl  der  thatsächlich  An- 
wesenden auf  17.449,705,  sie  beträgt  also  rund  17  Vi  Millionen. 

Diese  Ziffer  hat  eine  grosse,  eine  riesige  Bedeutung,  denn  darin,  dass 
die  Bevölkerung  unseres  Vaterlandes  um  mehr  als  anderthalb  Milhonen  zu- 
nahm, spiegeln  sich  sämmtliche  politischen,  volkswirtschaftlichen  und  sani- 
tären Errungenschaften  des  vergossenen  Jahrzehntes  wider.  Vergleichen  wir 
nur  die  jüngste  Vergangenheit  mit  der  Gegenwart  und  wir  werden  uns  von 
der  Wahrheit  meiner  Behauptung  überzeugen.  Mit  welch  drückenden,  ja 
niederschmetternden  Gefühlen  war  ich  gezwungen,  meinem  geehrten  Audi- 
torium vor  10  Jahren  von  derselben  Stelle  aus  zu  gestehen,  dass  Ungarns 
Bevölkerung  in  dem  Jahrzehnt  1870 — 1880,  ja,  richtiger  seit  1869,  also  in 
eilf  Jahren  von  15.417,000,  nur  auf  15.610,000  Seelen  gestiegen  ist,  so  dass 
der  Zuwachs  kaum  1 V*  Percent  betrug  und  einem  Jahresdurchschnitt  von 
kaum  0*1 1  Percent  entsprach.  Wohl  fallen  in  diese  traurigen  unvergesslichen 
siebziger  Jahre  ausser  der  Handelskrise  die  Cholera,  die  unfruchtbaren  Jahre, 
die  üeberschwemmungen  u.  s.  w.  und  alle  Kämpfe  und  Opfer  der  volkswirt- 
schaftlichen Beconstruction. 

Die  anwesende  bürgerliche  Bevölkerung  betrug : 

Im  Jahre  1890  Im  Jahre  1880  Also  im  Jahre  1890  mehr 

In  Ungarn 15.122,514  13.728,622     1.393,892  =  10-15  Vo 

In  Fiume  und  dessen  Gebiet                29,001  20,981           8,020  =  38-22  % 

In  Kroatien-Slavonien     2.184,414  1.892,499       291,915  =  15'42  7o 

Insgesammt  im  UDgsr.  Reich      17.335,929     15.642,102     1.693,827  =  10-82  Vo 

Es  ist  natürlich,  dass  die  Bevölkerungsverhältnisse  in  einem  so  grossen, 
ge<^raphisch  und  volkswirtschaftlich  so  verschiedenartigen  und  322,000 
Quadrat-Kilometer  übersteigenden  Staat  wie  Ungarn  weder  einen  gleichen 
Zustand,  noch  eine  gleiche  Zunahme  aufweisen  können.  Wir  können 
uns  also  besser  orientiren,  wenn  wir  das  ungarische  Mutterland,  von 
welchem  ich  in  erster  Beihe  sprechen  will,  wenn  auch  nicht  nach  Gomitaten, 
welche  schliesslich  nur  politische  oder  administrative  Begriffe  sind,  so  doch 


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'^^  VORLÄUFIGE   ERGJfeBkiSSE   DER   VOLKSZAHLUNG   18Ö0. 

nach  natorgemäss  gebadeten  Gruppen  betrachten  und  die  Bevölkerung  so 
untersuchen. 

Die  anwesende  bürgerliche  Bevölkerung  betrug : 

Im  Jahre  1890  Im  Jahre  1880  Im  Jahre  1890  also  mehr 

Am  linken  Donaimfer     ...     1.875,140     1.752,04.9     123,091  =     7-02% 

«    rechten       €         2.751,357     2.566,946     184,411   =     7-15% 

Zwischen  der  Donan  und  derTheiss    2.757,635    2.343,384    414,251  =  17*67  % 
Am  rechten  Theissufer       .,.     ...         1.516,991     1.440,028      76,963=    5*34% 

€    Unken        € 2.068,027     1.820,855    247,172=13-57% 

Im  Donau-Maros- Winkel 1.906,315     1.721,312     185,003=10-74% 

In  den  siebenbürgischen  Comitaten     2.247,049     2.084,048     163,001  =     7-82% 
Insgesammt       15.122,514  13.728.622  1.393,892  =  10-15% 

Am  stärksten  ist  die  Zunahme  also  zwischen  der  Donau  und  der 
Theiss:  17*67  Percent;  dann  kommen  die  Gomitate  am  linken  Theissufer 
mit  1 3*57  Percent.  Beide  Gegenden  sind  H^uptsitze  des  Ungartums.  Aber 
auch  in  dem  etwa  90  Percent  Ungarn  besitzenden  Comitat  Borsod  beträgt 
die  Zunahme  12*03  Percent,  im  Donau-Maros- Winkel,  in  Gs&n&A,  wo  nahezu 
70  Percent  der  Bevölkerung  Ungarn  sind,  beläuft  sich  die  Zunahme  auf 
nahezu  20  Percent.  Eine  Stagnation  kommt  blos  im  Comitat  Abauj-Toma 
vor,  wo  die  Bevölkerung  beinahe  dieselbe  ist,  wie  vor  10  Jahren.  Ein  Rück- 
fall ist  nur  in  drei  Municipien  wahrzunehmen :  im  Wieselburger  Comitat  um 
715Seelen,  im Säroser Comitat  um 494  und  im  ZipserComitat  um  8793Seelen. 
In  allen  vier  Comitaten  war  die  Auswanderung  nach  Amerika  erwiesen, 
welche  nur  im  Zipser  Comitat  grössere  Dimensionen  angenommen  hat,  wo 
die  Abnahme  der  in  ihrer  Heimat  keinen  gehörigen  Erwerb  findenden  Be- 
völkerung wahrscheinlich  dem  Verfall  des  Bergbaues  zuzuschreiben  ist. 

Wenn  wir  auch  innerhalb  der  Comitate  kleinere  Flächen  und  auch  die 
Kreise  in  Betracht  ziehen,  zu  welchen  auch  die  Städte  mit  geordnetem  Ma- 
gistrat gehören,  so  können  wir  noch  an  mehreren  Orten  eine  Verminderung 
der  Bevölkerung  finden,  was  aber  die  Zunahme  der  in  gesunderen  Verhält- 
nissen befindlichen  Kreise  wieder  ausgleicht  Ein  Beispiel  hiefür  ist  das 
Säroser  Comitat.  Die  Bevölkerung  desselben  hat  um  494  Seelen  abgenommen, 
welcher  Umstand  der  continuirlichen  Auswanderung  nach  Amerika  zuzu- 
schreiben ist.  Dies  geht  aus  der  Thatsache  hervor,  dass  die  Abnahme  aus- 
schliesslich auf  die  Kreise  Also-  und  Felsö-Tarcza  entfällt,  wo  die  Auswande- 
rung später  begonnen  hat,  während  in  den  übrigen  Kreisen  des  Comitates 
eine  geringe  Zunahme  sich  zeigt,  weil  in  diesen  die  Auswanderung  schon  im 
Jahre  1879  begonnen  hat  und  schon  in  der  1880er  Volkszählung  zum  Aus- 
druck gekommen  ist. 

Die  Bevölkerung  der  Stadt  Werschetz  ist  um  500  Seelen  zurückge- 
gangen.  Der  Bürgermeister  dieser  Stadt  sagt  hierüber:  «Im  Jahre  1880  er- 


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VORLÄUFIGE   ERGEBNISSE   DER   VOLKSZÄHLUNG    189t).  285 

freute  sich  der  Weinbau  noch  der  schönsten  Blüte,  weshalb  damals  noch 
viele  fremde  Taglöhner  in  unserer  Stadt  wohnten  und  bei  der  damaligen 
Volkszählung  mitgerechnet  wurden.  Seither  hat  die  Phylloxera  solch  schreck- 
liche Verheerungen  angerichtet,  dass  das  Weinbau-Terrain  von  9000  Joch 
auf  2600  Joch  zurückgegangen  ist.  Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  demzufolge 
nicht  nur  die  überflüssig  gewordenen  Taglöhner  fortgezogen  sind,  sondern 
auch  die  zugrunde  gegangenen  Weingartenbesitzer  zu  Hunderten  teils  nach 
anderen  Gemeinden,  teils  nach  dem  Auslande  (Bulgarien,  Serbien,  Amerika) 
ausgewandert  sind.» 

Hier  haben  also  locale  Ursachen  zur  Verminderung  der  Bevölke- 
rung geführt.  Zu  diesen  localen  Ursachen  zählt  an  vielen  Orten  auch  die 
Verlegung  der  Garnisonen.  Die  Verheerungen  der  Phylloxera  möchte  ich 
indessen  nicht  zu  den  localen  Ursachen  zählen,  vielmehr  betrachte  ich  sie 
als  ein  das  ganze  Land  betrefifendes  Uebel.  Ich  werde  kaum  fehlgehen,  wenn 
ich  behaupte,  dass  in  dem  jenseits  der  Donau  gelegenen,  so  hervorragenden 
Teile  des  Landes,  welcher  im  Jahre  1880,  als  in  vier  grossen  Gegenden  des 
Landes  die  Bevölkerungsziffer  eine  Abnahme  zeigte,  doch  um  6  Percent  zu- 
genommen hatte,  die  jetzige,  blos  7*18  Percent  betragende  Zunahme  dieser 
Landes-Calamität  zuzuschreiben  ist. 

Die  eingelaufenen  Volkszählungsdaten  sind  noch  nicht  aufgearbeitet 
und  so  kann  ich  nicht  untersuchen,  was  für  eine  Bevölkerung  es  ist,  welche 
beispielsweise  die  Zunahme  in  Slavonien  herbeigeführt  hat.  Da  ich  aber 
weiss,  dass  auch  am  Plattensee  die  Weingärten  dem  Verderben  verfallen  sind 
und  da  ich  sehe,  dass  die  Bevölkerung  des  Veszprimer  Gomitates  kaum  um 
3  Percent,  die  der  Somogy  kaum  um  6  Percent  zugenommen  hat,  liegt  der 
Schluss  nahe,  dass  Viele  von  ihrem  verheerten  Weingarten- Gebiet  anders- 
wohin gezogen  sind.  Wenn  nämlich  die  gut  situirten  Alfölder  Comitate, 
welche  im  Jahre  1880  um  100,000  Seelen  abgenommen  hatten,  jetzt  eine 
Zunahme  von  10  bis  15  Percent  und  mehr  zeigen,  so  scheint  es  unmöglich, 
dass  nicht  auch  die  wohlhabenden  Comitate  jenseits  der  Donau  in  demselben 
Verhältnisse  zugenommen  haben  sollen.  Wohl  gibt  es  einen  abscheulichen 
Grund,  welcher  besonders  im  Somogyer  Comitat  und  merkwürdigerweise 
unter  den  Beformirten  in  trauriger  Weise  der  natürlichen  Zunahme  Eintra 
thut,  doch  will  ich  diese  Ursache  hier  nicht  des  Näheren  erörtern ;  ich  gehe 
vielmehr  zu  den  erfreulicheren  Seiten  der  Volkszählung  über. 

Hieher  gehört  vor  Allem  die  Zunahme  der  Bevölkerung  der  Städte, 
dieser  Brennpunkte  der  Intelligenz  unseres  Volkes.  Schon  bei  Vorlage  der 
Resultate  der  1880er  Volkszählung  habe  ich  die  Populations- Verhältnisse 
unserer  143  Städte  besonders  gewürdigt.  Seitdem  haben  sich  einige  kleinere 
Städte  mit  geregeltem  Magistrat  in  Grossgemeinden  umgestaltet  und  figu- 
riren  somit  nicht  mehr  in  den  Listen.  In  den  übrig  gebliebenen  136  Städten 
hat  sich  die  Bevölkerung,  welche  insgesammt  2.130,294  Seelen  betrug,  auf 


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28« 


VORLÄUFIGE   ERGEBNISSE    DER   VOLKSZÄHLUNG  1890. 


2.451,136  Seelen  erhöht,  was  einer  15'06percentigen  Zunahme  entspricht. 
Dass  Budapest,  die  blühende  Hauptstadt  unseres  Vaterlandes  mit  einer  Zu- 
nahme von  37*19  Percent  an  erster  Stelle  steht,  ist  aus  den  in  den  Blättern 
veröffentlichen  Yolkszählimgs-Resultaten  bereits  bekannt.  Weniger  bekannt 
dürfte  die  Thatsaohe  sein,  dass  nach  Budapest  den  höchsten  Percentsatz  die 
Stadt  Marmaros-Sziget  aufweist,  deren  Bevölkerung  während  des  letzten 
Decenniums  von  10,000  sich  auf  ungefähr  15,000  Seelen,  d,  i.  um  36*34 
Percent  vermehrt  hat.  Mit  Freude  könnten  wir  dieses  Factum  begrüs- 
sen,  wenn  wir  es  der  natürlichen  Entwicklung  der  Stadt  zuschreiben 
dürften,  doch  glaube  ich,  dass  diese  staunenswerte  Zunahme  mehr  den 
gewissenlosen  und  gewaltsamen  Massregeln  Busslands  zuzuschreiben  ist,  — 
und  ich  überlasse  den  PoUtikem  die  Beurteilung  der  Frage,  ob  das 
Hereinströmen  dieser  aus  einem  anderen  Staate  verdrängten  Vermögens- 
und  erwerbslosen  Volksschichten  für  unser  Vaterland  als  vorteilhaft  ange- 
sehen werden  kann. 

Eine  Zunahme  von  über  30  Percent  weisen  nur  noch  die  Städte  Alt- 
sohl und  Eaposvär  auf,  was  bei  beiden  mehr  auf  locale  Ursachen  zurück- 
zuführen ist,  indem  dieses  Ergebniss  namenthch  bei  der  Stadt  Altsohl  durch 
den  Umstand  zu  erklären  ist,  dass  sie  zum  Mittelpunkte  eines  grossen  Eisen- 
bahnnetzes gemacht  wurde.  Auch  Miskolcz  zeigt  eine  Zunahme  von  25*19 
Percent,  was  wir  der  naturgemässen  Entwicklung  dieses  den  Hiuidel  zwischen 
Unter-  und  Oberungam  vermittelnden  commerziellen  Emporiums  verdanken. 
Ausserdem  ergeben  noch  6  Städte  eine  mehr  als  20  Percent  betragende  Zu- 
nahme der  Bevölkerung,  darunter  Grosswardein,  Steinamanger  und  Zalh- 
Egerszeg ;  unsere  grossen  Agrarstädte  des  Alföld  haben  im  Durchschnitte 
um  15 — 18  Percent  an  Bevölkerung  zugenommen. 

Im  Allgemeinen  haben  wir  ausser  den  genannten  noch  1 1  Städte,  die  um 
15—18  Percent,  1 9  Städte,  die  um  11  —  15  Percent  und  8  Städte,  die  um  mehr 
als  10  Percent  zugenommen  haben,  wobei  nur  solche  Städte  in  Bechnung 
gezogen  wurden,  die  zugleich  eine  Bevölkerung  von  mehr  als  5000  Seelen  auf- 
weisen. Von  wesentlicherer  Bedeutung  ist,  dass  von  unseren  grösseren  Städten 
mehrere  in  eine  höhere  Volkszählungs-Kategorie  eingetreten  sind,  denn  nur 
das  dichtere  Zusammenwohnen  kann  einer  Gemeinde  den  städtischen  Cha- 
rakter verleihen.  Es  waren  : 


Städte  mit  über 


5,000  Seelen 
10,000 
i20,000 
30,000 
40,000 
50,000 
60,000 
70,000 
80,000 
100,000 


Im  Jahre  1890 

30 

30 

19 
8 
4 
3 

1 
\ 
1 


Im  Jahre  1880 
34 
33 
20 

3 

2 

2 

1 

1 

1 


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VORLÄUFIGE   ERGEBNISSE   DER   VOLKSZÄHLUNG  1890.  287 

Die  Zahl  der  Städte  mit  einer  Einwohner-Zahl  von  5000  bis  20,000 
war  im  Jahre  1880  noch  eine  grössere;  indem  aber  die  Bevölkerung  in  den- 
selben zugenommen  hat,  vermehrten  sie  die  folgenden  Kategorien.  So  ist  die 
Stadt  Arad  von  30,000  auf  40,000,  in  die  50,000  die  Städte  Pressburg  und 
Debreczin,  in  die  70,000  Szabadka,  in  die  80.000  die  Stadt  Szegedin  ge- 
stiegen. 

Die  Stadt  Fiume  hat  um  mehr  als  8000  Seelen  zugenommen  ;  doch  ist 
auch  Kroatien  Slavonien  hinsichtlich  der  Zunahme  der  Bevölkerung  nicht 
hinter  dem  Mutterlande  zurückgeblieben.  Agram  und  Mitrovitz  ergeben  eine 
Zunahme  von  über  30Vn,  (Agram  =  31 '63^/0),  Belovar  und  Brood  über 
20^/^  Karlovitz  und  Sissek  10— 12o/o.  Dagegen  hat  Karlstadt  um  ^2'8lVo 
abgenommen,  was  aber  der  fehlerhaften  Gonscription  zugeschrieben  wird, 
deren  Bectification  soeben  im  Zuge  ist.  Die  drei  Littoralstädte  Buccari, 
Zengg  und  Carlopago  sind  in  ihrer  Bevölkerung  auch  schon  von  1870  auf 
1880  zurückgegangen ;  im  letzten  Jahrzehnt  gestalteten  sich  hier  die  Ver- 
hältnisse noch  trauriger.  Es  scheint,  dass  die  starke  Zunahme  der  Städte 
Triest  und  Fiume  diesen  kleineren  Hafenstädten  nicht  günstig  ist  Yerhält- 
nissmässig  hat  die  Bevölkerung  der  Nebenländer  sich  stärker  vermehrt,  als 
die  des  Mutterlandes,  denn  die  im  Jahre  1880  constatirte  Givilbevölkerung 
mit  1.892,499  Seelen  ist  bis  1890,  wie  wir  gesehen,  auf  2.184,144  Seelen 
gestiegen,  was  15*42 Vo  entspricht,  dem  nur  10*157o  betragenden  Zuwachs 
des  engeren  Ungarn  gegenüber.  Diese  Ziffer  entspringt  aber  nicht  blos  aus 
dem  Geburtsplus  des  dortigen  Volkes.  Der  eifrige  und  strebsame  Leiter  des 
Agramer  statistischen  Amtes  Dr.  Zoricsics  trachtete  vor  der  fac tisch  durch- 
geführten Zählung  im  Wege  der  (Kombination  der  Daten  der  Populations- 
bewegung die  annähernde  Bevölkerungszahl  der  dortigen  Comitate  zu  erfor- 
schen. Dies  ist  ihm  auch  ziemlich  gut  gelungen.  Nur  in  vier  Comitaten, 
namentlich  in  Pozsega,  Belovar,  Kreuz  und  Veröcze  überstieg  die  factisch 
ermittelte  Bevölkerung  die  ausgerechnete  um  beinahe  55,000  Seelen.  «Und 
eben  dies  sind  jene  vier  Komitate  —  sagt  er  selbst  — ,  in  welchen  die  Ein- 
wanderung aus  Ungarn,  Böhmen  und  Mähren,  wie  auch  aus  anderen  Comi- 
taten Ejroatien-Slavoniens  vor  längerer  Zeit  begonnen  hat,  und  auch  jetzt 
noch  ständig  oder  zum  grossen  Teil  anhält.» 

Wer  sieht  nicht  in  diesen  Populationsdaten  der  benachbarten  Neben- 
länder die  Quelle  einiger  geringerer  Zunahmen  unserer  transdanubischen 
Comitate,  da  der  Umstand  bekannt  ist,  auf  welchen  auch  schon  die  Gesell- 
schaft ihr  Augenmerk  gerichtet  hat,  dass  die  Bevölkerung  dieser  Gegenden  sich 
insbesondere  in  Slavonien  niederlässt,  in  diesem  Complex,  welcher  aus  Co- 
mitaten besteht,  die  vor  noch  nicht  gar  langer  Zeit  ungarisch  waren. 

Wird  man  dort  drüben  —  was  ich  übrigens  eben  unter  unseren  heu- 
tigen politischen  Verhältnissen  eher  glaube,  als  wir  es  noch  vor  Kurzem 
hoffen  konnten  —  im  Sammeln  der  auf  die  Muttersprache  bezüglichen  Daten 


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288 


VORLÄÜFIGK   ERGEBNISBE   DER   VOLKSZÄHLUNG  1890. 


80  gewissenhaft  vorgehen,  wie  dies  bei  uns  geschehen  ist?  In  diesem  Falle 
wird  es  nach  der  Aufarbeitung  der  Details  nicht  eben  überaus  schwer  sein, 
unsere  engeren  Landsleute  auch  jenseits  der  Drau  zu  finden. 

Denn  ein  anderes  Mittel  als  die  Sprache  steht  uns  nicht  zur  Verfügung, 
um  die  ungarische  Nationalität  festzustellen ;  wenn  wir  aber  dieses  Mittel, 
frei  von  jeder  chauvinistischen  Absichtlichkeit,  richtig  anwenden,  kommen 
wir  der  Ermittlung  dessen  sehr  nahe,  wieviel  wir  Ungarn  sind  ? 

Ich  weiss  sehr  gut,  dass  diese  Frage  meine  geehrten  Zuhörer  am 
meisten  interessirt.  Ich  leugne  es  nicht,  dass  auch  ich  in  erster  Reihe  dies 
ergründen  wollte.  Da  jedoch  die  sprachlichen  Verhältnisse  nur  nach  mehr- 
maligem Durchsehen  und  combinirtem  Vergleichen  der  mehr  als  17  Millionen 
Zählzettel  ermittelt  werden  können,  habe  ich  eine  einigermassen  conjecturale 
Berechnung  angewendet,  über  deren  Unschitldi^keit  ich  übrigens  sofort 
Rechenschaft  geben  werde,  wobei  ich  im  vorhinein  überzeugt  bin,  dass  mich 
Niemand  einer  parteiischen  Schönfärberei  zeihen  wird.  '^ 

Bevor  ich  jedoch  auf  diesen  interessanten  und  zu^^^^  letzten  Teil 
meines  Vortrages  übergehe,  ist  es  meine  Pflicht,  auf  noch  eim^^orteilhafte, 
ebenfalls  bei  diesem  Anlasse  ermittelte  Thatsache  hinzuweisen,  wP^  welcher 
ausser  der  ziffermässigen  Zunahme  unseres  Volkes  auch  die  Ve^^^B^'^^" 
zunähme  desselben  gefolgert  werden  kann.  Dies  ist  die  Zahl  der  ^^user, 
welche  bei  der  letzten  Zählung  ebenfalls  gesammelt  wurde. 

Betrachten  wir  daher  dieses  Verhältniss  näher  und  sehen  wir  die 
der  Häuser  ;  diese  war  : 

Im  Jahre  1890  Im  Jahre  1880 

In  Ungarn 2.543,086  2.299,366 

In  Fiume  und  Gebiet             1,831  1,503 

In  Kroatien-Slavonien       3i4,565  276,554 
Zusammen 


Im  J.  1890  mehr 
243,720 
328 
68,011 


2.889,482      2.577,423      312,059 


Diese  absoluten  Ziffern  zeigen  uns  nur  in  geringem  Maasse  den  rich- 
tigen Weg.  Der  Vergleichbarkeit  wegen  müssen  wir  auch  hier  zu  den  Per- 
centen  unsere  Zuflucht  nehmen  und  die  gewonnenen  Besultate  auch  mit  den 
Percenten  der  Populationszunahme  vergleichen.  Dann  finden  wir,  dass  die 
Zunahme 

der  Häuser  der  Population 
..       10-59  Vo  10-15  % 

21-82  Vo  38-22  % 

^.._  24^59%^  15-42% 

12-18  % 


in  Ungarn _     ... 

in  Fiume  nnd  Gebiet  ._ 
in  Kroatien-Slavonien 
im  Durchschnitt 


\ 


i 


10-82  Vo  betragen  hat. 


Und  wie  beredt  sprechen  diese  Zahlen !  Anscheinend  präsentirt  sich 
das  Mutterland  am  ärmsten,  insofern  hier  zwischen  der  Vermehrung  der 
Bevölkerung  und  der  Steigenmg  der  Häuserzahl  kaum  ein  halbes  Peroent 


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VORLÄUFIGE   ERGEBNISSE   DER    VOLKSZÄHLUNG   1890.  289 

Unterschied  ist.  Wir  lassen  Fiume  bei  Seite,  wo  die  Zunahme  der  Häuser 
hinter  der  der  Bevölkerung  um  16*4  Percent  zurückblieb,  was  daraus  erklär- 
lich ist,  dass  in  Fiume,  hervorgehend  aus  dem  Charakter  der  Hafenstadt, 
auf  engem  Baume  mehrere  Stockwerke  hohe  Häuser  erbaut  werden.  Das 
grössere  Fercentuale  Ejroatien-Slavoniens,  wo  die  Bevölkerungszunahme 
ebenfalls  um  9*17  Percent  überschritten  ist,  macht  uns  nicht  irre;  hier 
kommt  die  früher  erwähnte  Golonisation  und  Einwanderung  zum  Ausdruck, 
da  neue  Ankömmlinge  zuerst  für  Wohnhäuser  Sorge  tragen  müssen. 

Es  gibt  auch  bei  uns  Comitate,  z.  B.  Hont,  Neutra,  Baranya,  Weissen- 
burg,  Tolna,  Bäcs,  Gsongräd,  Bekes,  sogar  ganze  Landesteile,  wie  das  Donau- 
Maros-Eck  und  die  siebenbürgischen  Comitate,  in  welchen  das  Häuser- 
zunahme-Percentuale  das  der  Bevölkerungszunahme  übersteigt.  Wenn  wir 
aber  bedenken,  dass  im  ganzen  Lande  nur  in  Wieselburg  die  Häuserzahl 
um  0*83  Percent  abnahm,  während  sich  in  dem  an  Bevölkerung  stagniren- 
den  Abauj-Toma  die  Häuserzahl  doch  um  0*94  Percent,  in  den  abnehmen- 
den Comitaten  Säros  und  Zips  die  Häuserzahl  doch  um  6*23  Percent  bezie- 
hungsweise 6*33  Percent  hob,  müssen  wir  zu  der  Ueberzeugung  kommen, 
dass  die  Auswanderung  sich  nicht  in  sehr  tiefe  Schichten  erstreckte,  und  dass 
das  Volk  die  Auswanderung  nur  als  Erwerbsquelle  betrachtet  und  weniger 
aus  Expatriirungsabsicht  das  Vaterland  verlässt.  Diese  Ansicht  scheint  noch 
ein  anderer  Umstand  zu  rechtfertigen. 

In  Ungarn  entfallen  1031  Frauen  auf  je  1000  Männer.  Nach  meinen 
früheren  Untersuchungen  habe  ich  klargestellt,  dass  die  westeuropäische 
Proportion  zwischen  den  Geschlechtern  die  Mitte  Ungarns  durchschneidet ; 
in  der  westlichen  Hälfte  unseres  Vaterlandes  gilt  eine  der  westeuropäischen 
Proportion  ganz  gleiche,  während  in  der  östlichen,  insbesondere  unter  den 
beiden  griechischen  Confessionen,  das  umgekehrte  Verhältniss  immer  mehr 
zum  Vorschein  kommt.  Hier  überschreitet  die  Anzahl  der  Frauen  die  der 
Männer  nicht,  sie  erreicht  sie  nicht  einmal,  so  zwar,  dass  in  einigen  Comi- 
taten, z.  B.  in  Krassö-Szöreny,  Besztercze-Naszod,  Csik,  Hunyad  und  Udvar- 
hely  auf  je  1000  Männer  kaum  950—980  Frauen  entfallen. 

Wenn  wir  nun  in  Erfahrung  bringen,  dass  in  dem  als  stagnirend  cha- 
rakterisirten  Abauj-Torna  1 147,  in  dem  an  Bevölkerung  abnehmenden  Zipser 
und  Säroser  Comitat  1136  und  1163  Frauen  auf  je  1000  Männer  entfallen, 
müssen  wir  folgern  —  und  diese  Erfahrung  machte  ich  bereits  im  Jahre  1881, 
als  die  Auswanderung  noch  nicht  so  sehr  in  Mode  war  — ,  dass  die 
männliche  Bevölkerung  nur  zeitweilig  in  andere  Comitate  oder  Länder  zieht 
oder  sogar  über  den  Ocean  geht,  dass  sie  also  mit  nur  wenigen  Ausnahmen 
ihr  Vaterland  nicht  endgiltig  zu  verlassen  gedenkt,  sondern  zu  ihren  Lieben 
zurückkehrt,  für  die  auch  unter  dem  groben  Eotzentuche  ihr  Herz  warm 
schlägt,  und  dass  sie  durch  die  zeitweilig  auf  sich  genommene  freiwillige 
Verbannung  das  Schicksal  ihrer  daheimgebliebenen   Familie   verbessern 

Ungarische  Beme,  XI.  1801.  IV.  H^tt,  |9 


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290  VORLÄUFIGE  EBGEBNI8SE   DER   VOLKSZÄHLUNG  189a 

will.  —  Es  ist  daher  kein  Grund  zu  grosser  Besorgniss  über  das  Verkommen 
unserer  Bevölkerung,  wohl  aber  örund^  uns  über  die  Zunahme  des  Magya- 
rentums  zu  freuen. 

Woher  ich  dies  weiss?  Ich  habe  es  schon  eingestanden,  —  nicht  aus 
der  Zählung  der  Zählkarten ;  ich  schliesse  es  auch  nicht  aus  der  zehnjährigen 
Wirkung  des  Gesetzes,  welches  die  ungarische  Sprache  in  die  Volksschule 
einführte  und  mit  welchem  wir  wohl  in  Städten  und  in  Gegenden  mit  ge- 
mischter Bevölkerung^  nicht  aber  dort,  wo  die  Nationalitäten  fremder 
Zunge  dicht  beisammen  wohnen,  flroberungen  machen  werden.  Ich  brauchte 
aber  auch  zu  keinem  Kunstgriff  meine  Zuflucht  zu  nehmen.  Die  sprach- 
lichen und  Nationalitätsverhältnisse  sind  bekannt.  Wir  wissen  bereits 
seit  1880  in  Percenten,  wie  viel  ungarische  und  anderssprachige  Einwohner 
in  jedem  Gomitat  und  in  jeder  Stadt  leben.  Wenn  ich  daher  den  etwaigen 
Vermehrungsvorrang  des  ungarischen,  als  des  herrschenden  Stammes,  ganz 
ausser  Bechnung  lasse,  sondern  nur  die  im  Jahre  1880  eruirte  Percentual- 
zahl  der  ungarischen  Bevölkerungszunahme  als  Multiplicator  für  die  in  den 
einzelnen  Gomitaten  vorhandene  Bevölkerungszahl  nehme,  muss  ich  die 
Minimalzahl  erhalten  —  ich  wiederhole  es,  unter  Fernhaltung  jeden  Neben- 
umstandes  —,  um  welche  sich  die  magyarische  Bevölkerung  im  letzten  Jahr- 
zehnte vermehrt  hat. 

Ich  will  mein  Verfahren  durch  ein  Beispiel  verständlich  machen  und 
illustriren:  Im  Gomitat^  Jäsz-Nagykun-Szolnok  war  im  Jahre  1880  das 
ungarische  Bevölkerungs-Percentuale  94*91  Vo,  die  ungarische  Bevölke- 
rung war  damals  39,310,  also  bat  sich  das  Magyarentum  daselbst  um 
39,310  X  94-91  :  100  =  37,309  vermehrt.  Richtig  ist,  dass  dies  eines  der 
günstigsten  Beispiele  meiner  Berechnung  ist,  denn  ein  grösseres  Percent 
hat  die  magyarische  Bevölkerung  in  keinem  Comitat.  Wir  können  aber 
auch  das  andere  Extrem  nehmen.  Da  ist  das  Ärvaer  Gomitat,  welches  im 
Jahre  1880  nur  0*43 Vo  Ungarn  aufwies.  Obige  Bechnung  ergibt  für  die 
1890er  Vermehrung  3251  X  0-437o  :  100  =  14  d.  h.  in  Irva  hätte  nach 
dieser  Rechnung  die  magyarische  Bevölkerung  nur  um  14  Seelen  zugenom- 
men, was  sicherlich  die  Arvaer  selbst  nicht  behaupten. 

Ich  hoffe,  nach  diesen  Beispielen  wird  mich  Niemand  des  Chauvinismus 
zeihen  oder  mich  —  wie  ich  seinerzeit  vom  deutschen  Schulverein  ver- 
dächtigt wurde  —  der  Datenfalschung  anklagen ! 

Nach  Durchführung  dieser  Arbeit  hatte  ich  in  Erfahrung  gebracht, 
dass  sich  das  Ungartum  folg^idermassen  vermehrt  hat : 

Auf  der  linken  Seite  der  Donau  um      36,123  Seelen 

Auf  der  rechten  Seite  der  Donau  um _  1 19,862      c 

Zwischen  Donau  und  Theiss  um     286,925      • 

Auf  der  rechten  Seite  der  Theiius  um 47,159      « 


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VORLÄUFIGE  ERGEBNISSE   DER   VOLKSZÄHLUNG  1890.  291 

Auf  der  linken  Seite  der  Tbeiss  um       128,142  Seelen 

Im  Maros-Donau- Winkel  um      34,913       • 

In  den  siebenbärgisohen  Comitaten  um       42,740       f 

Zusammen  um     695,864  Seelen ; 

somit  entfallt  von  der  gesammten  Vermehrung  der  Bevölkerung  im  Mutterlande 

mehr  als  die  Hälfte  auf  die  Ungarn. 

Die  Volkszählung  vom  Jahre  1880  hat  6.165,088  Ungarn  aasgewiesen. 
Hinzugerechnet  die  vom  Lande  provisorisch  Abwesenden  nach  dem  allge- 
meinen Landespercent,  sowie  die  im  factischen  Militär-  und  Honv^ddienste 
Stehenden  und  jene  817,668,  welche  ungarisch  verstehen:  hatte  ich  damals 
schon  7.342,800  Ungarn  festgestellt.  Nur  die  Anwendung  einer  einzigen  con- 
jectoralen  Zahl  möge  gestattet  sein,  dass  ich  nämlich  zu  der  aus  dem  vorigen 
Jahrzehnte  stammenden  Summe  der  ungarisch  verstehenden  Anderssprachi- 
gen 20  Percent  hinzuschlage.  Ich  weiss,  das  ist  eine  willkürliche  Zahl ;  allein 
mit  eineSr  Bundschau  im  Vaterlande  und  blos  die  jüngste  Greneration  in  Be- 
tracht gezogen  und  die  schon  im  Jahre  1880  factisch  festgestellten  Sprach- 
Verhältnisse  als  Grundzahl  genommen,  wird,  glaube  ich,  Jedermann  einsehen, 
dass  ich  mit  diesen  163,000  Seelen  diesseits  der  anzunehmenden  Zahl  ge- 
blieben bin,  was  unsere  definitiven  Daten,  wie  ich  hoffe,  bekräftigen  werden. 
Es  steht  sogar  die  Gonstatinmg  eines  noch  besseren  Besultates  zu  erwarten. 

Wir  erhalten  daher  eine  runde  Zahl  von  8.200,000  ungarisch  sprechen- 
den Landsleuten.  Ob  diese  Alle  mit  Leib  und  Seele  Ungarn  sind  ?  Wer 
könnte  daran  zweifeln  ?  Aber  um  hier  nicht  fehl  zu  gehen,  liess  ich,  auf 
Rechnung  der  Malcontenten  und  der  ungarisch  sprechenden  Agitatoren 
fremder  Nationalität,  zur  Ausgleichung  der  Zahl  2200  Seelen  fallen,  und 
dann  repräsentirt,  die  heutige  factische  Volkszabl  in  Betracht  gezogen, 
das  Ungartum  im  Mutterlande  54*22  Percent  und  dies  bildet  in  der  Bevöl- 
kerung des  Landes  eine  starke  absolute  Majorität. 

Fürderhin  kann  uns  Niemand  mehr  den  Vorwurf  machen,  dass  in 
diesem  Lande  die  nationale  Minorität  herrsche,  denn  die  zahlreichste  nicht- 
magyarische Nationalität  übersteigt  in  unserem  Lande  kaum  15  Percent,  und 
die  absolute  Majorität  gehört  allezeit  der  ungarischen  Nation. 

Earl  Eeleti. 


19* 


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^^2  DIE  EISENBAHNEN   IM   UNGARISCHEN   STAATSHAUSHALTE. 

DIE  EISENBAHNEN  IM  UNGARISCHEN  STAATSHAUSHALTE. 

Gelesen  am  12.  Jänner  1891  in  der  ungar.  Akademie  der  Wissenschafken. 

Das  Ziel,  nach  welchem,  unterstützt  von  der  Opferwilligkeit  der  Nation, 
Begierung  und  Legislative  beständig  strebten,  ist  endlich  erreicht :  das 
1891er  Staatsbudget  zeigt  das  Qleiohgewicht  im  Staatshaushalte  völlig  her- 
gestellt und  mit  demselben  schliesst  die  zweiundzwanzigjährige  Periode 
chronischer  Defizite. 

Eigentlich  dürfen  wir  schon  das  1890er  Jahr  nicht  zu  diesem  Zeit- 
abschnitt rechnen,  denn  es  scheint,  dass  das  thatsächliche  Ergebniss  nicht 
nur  das  kleine,  auf  eine  halbe  Million  veranschlagte  Defizit  Verschwinden 
liess,  sondern  die  Staatscasse  um  einen  erheblichen  Ueberschuss  berei- 
cherte,  so  dass  sich  jener  Zeitraum,  welcher  ein  so  wechselndes  Bild  schwäch- 
lichen Yerzagens  und  grosser  Eraftanstrengung,  unerfahrener  Missgriffe  und 
zielbewusster  Vorhersicht  vor  uns  entrollt,  eigentlich  nur  auf  21  Jahre 
erstreckt. 

Eine  gründliche  Studie  über  diesen  Zeitabschnitt  aus  finanziellem 
Gesichtspunkte  anzufertigen,  wäre  eine  ungewöhnlich  interessante  und 
dankbare  Aufgabe,  und  in  der  That  ist  die  Zeit  gekommen,  in  welcher  die 
Fachliteratur  sich  bemühen  sollte,  mit  objectiver,  geschichtlicher  Auffas- 
sung die  dunklen  Pfade,  auf  welchen  unsere  Staatsfinanzen  während  dieser 
Periode  wandelten,  zu  beleuchten. 

Jedermann  weiss  im  Allgemeinen,  dass  die  anhaltende  Störung  des 
Gleichgewichtes  unseres  Staatshaushaltes  zum  Teil  durch  den  üebereifer 
hervorgerufen  wurde,  mit  welchem  wir  die  Versäumnisse  von  Jahrhunderten 
auf  einmal  nachholen  wollten,  zum  Teil  durch  die  wachsenden  Militärlasten, 
die  uns  der  Zwang  der  europäischen  Situation  aufbürdete,  zum  Teil  aber  auch 
durch  den  Mangel  gebührender  Rigorosität  auf  staatsfinanziellem  Gebiete  und 
durch  die  etwas  leichtfertige  Auffassung,  welche  lange  Zeit  hindurch  das 
kreuzerweise  Sparen  verachtete,  das  doch  bei  einer  so  armen  Nation  von 
vornherein  völlig  motivirt  gewesen  wäre.  Ausserdem  wirkten  natürlich 
viele  andere  Ursachen  zusammen,  um  dieses  bedauerliche  Resultat  hervor- 
zurufen. Dieses  ist  teils  ein  Ausfluss  unserer  Wirtschaftsverhältnisse,  teils 
eine  Folge  unserer  mit  Oesterreich  abgeschlossenen  Verträge,  bei  denen  wir 
die  anfangs  begangenen  Fehler  erst  später  und  auch  dann  nicht  einmal 
vollständig  zu  rectificiren  vermochten. 

In  welchem  Maasse  die  verschiedenen  Ursachen  auf  die  Verschlimme- 
rung unseres  Staatshaushaltes  Einfluss  übten,  ist  bisher  ziffermässig  noch 
nicht  nachgewiesen  worden.  Es  ist  auch  schwer,  apodiktisch  sichere  Posten 


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M^  IKiBäNBAHKEK   IM   UKGARISOHEM   STAAT8HAU8HAI/CE.  ^^^ 

an&nstellen.  Jene  staatlichen  Bedärfnisse,  welche  während  dieser  21  Jahre 
in  unserem  Budget  als  Ausgaben  figuriren^  haben  fast  ausnahmslos  mit 
vollem  Rechte  ihre  Befriedigung  fordern  können.  Die  Frage  ist  nur,  bis  zu 
welcher  Grenze?  Ob  sie  aufschiebbar  waren  oder  nicht,  und  im  letzteren 
Falle,  wie  weit  sie  ihre  Deckung  aus  den  eigenen  staatlichen  Erträgnissen 
fanden  und  wie  weit  sie  Yeranlasser  des  Defizits  und  der  riesigen  Last  der 
in  Folge  des  Defizits  sich  anhäufenden  Staatsschulden  gewesen  sind.  Die 
befriedigende  Beantwortung  aller  dieser  Fragen  erheischt  ausser  der  bis  ins 
kleinste  Detail  eingehenden  Durchforschung  unseres  Staatshaushaltes  und 
ausser  der  Durcharbeitung  der  Schlussreehnungen  noch  die  ernste  Inbe- 
trachtnahme  unserer  wirtschaftUchen  und  politischen  Verhältnisse  und  die 
helle  Beleuchtung  ihrer  Wechselwirkung. 

Diese  anspruchslose  Abhandlung  will  keine  so  grosse  und  kühne  Auf- 
gabe lösen ;  ich  habe  mich  in  den  folgenden  Blättern  nur  bemüht,  nachzu- 
weisen,  welchen  Anteil  die  im  Interesse  des  vaterländischen  Eisenbahn- 
wesens gebrachten  Opfer  an  der  Hervorbringung  der  seit  1869  ununter- 
brochen anhaltenden  Defizite  hatten,  natürlich  ohne  zu  vergessen,  dass 
diese  Opfer  zum  Teil  ihre  Gompensation  fanden  in  jenem  Zuwachse  des 
Staatsvermögens,  welchen  der  Wert  der  Staatsbahnen  jetzt  repräsentirt^ 
und  dass  sie  dieselbe  vielleicht  ganz  finden  in  dem  uncalculirbaren  indirecten 
Nutzen,  welchen  sämmtliche  Zweige  unserer  Yolkswirthschaft  den  Eisen- 
bahnen verdanken. 

Wie  viel  wir  seit  1869  für  den  Ausbau  unseres  Eisenbahnnetzes  und 
für  die  Erhöhung  der  Yerkehrscapadtät  desselben  auf  deren  heutigen  Stand 
geopfert  haben,  ist  nicht  leicht  festzustellen.  Es  wird  nicht  ausgedrückt  durch 
das  Investitionscapital  der  Staatsbahnen,  selbst  dann  nicht,  wenn  wir  den 
Betrag  der  an  die  garantirten  Eisenbahnen  verabfolgten  Zinsengarantie- 
y  orschüsse  hinzurechnen ;  denn  das  Beinerträgniss  der  Eisenbahnen  deckte 
beiweitem  nicht  die  Jahreszinsen  und  Tilgungsquoten  des  Investitions- 
capitals,  uiid  die  Zinsengarantie-Yorschüsse  waren,  obschon  sie  den  betref- 
fenden Eisenbahnen  sammt  vier  Peroent  Zinsen  zur  Last  geschrieben  wur- 
den, meist  nur  fictive  Werte,  und  der  Staat  verzichtete  auch  gelegentlich 
der  später  erfolgten  YerstaatUchung  auf  deren  Bückersatz.  Es  genügt  selbst 
nicht,  wenn  man  die  unbedeckten  Annuitäten  des  InvestitionsGapitals  und 
die  jährlich  bezahlten  Zinsengarantie- Yorschüsse  in  Rechnung  nimmt. 
Denn  der  Staat  war  genötigt,  da  er  diese  Summen  aus  seinen  eigenen 
Einnahmsquellen  nicht  zu  decken  vermochte,  zu  Staatsanlehen  seine  Zu- 
flucht zu  nehmen ;  es  sind  daher  in  jedem  einzelnen  Jahre  nicht  nur  die 
thatsächlich  in  Eisenbahnen  investirten  Summen,  die  Zinsengarantie -Yor- 
sehüsse  und  die  Annuitäten  der  direct  zu  Bahnzwecken  aufgenonmienen 
Anlehen  in  Rechnung  zu  nehmen,  sondern  auch  der  Proportionalteil  der 
Annuitäten  jener  Anlehen,  aus  welchen  die  unbedeckt  gebliebenen  EÜsen- 


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5^4-  DIB   EISENBAHNEN   IM    ül^GARIftOHEN    STAATßÖAÜSttALTfi. 

bahnauagaben  des  früheren  Jahres,  beziehungsweise  der  früheren  Jahre 
ersetzt  wurden.  So  bildet  sich  eine  ununterbrochene  Verkettung,  bei  welcher 
die  für  die  Entwicklung  des  Eisenbahnwesens  geopferten  Nettobeträge  und 
die  zu  deren  Bedeckung  aufgewendeten  verschiedenen  Änlehen  als  Glieder 
aneinander  gereiht  sind,  wobei  jedes  vorherige  Glied  auch  das  nächstfol- 
gende influenzirt,  weil  man  in  jedem  späteren  Jahre  auch  die  Zinsen  der  im 
vorangehenden  Jahre  zur  Deckung  der  aus  dem  Eisenbahnwesen  herrüh- 
renden Ausgaben  aufgenommenen  Anlehen  in  die  Beihe  der  übrigen  Passiv- 
posten einfügen  muss.  Wenn  man  die  Frage  so  au£Easst  —  und  richtig 
kann  man  sie  nur  so  aufifiassen,  —  dann  ist  die  Eraftanstrengung,  welche 
die  Nation  im  Interesse  der  Verkehrsbahnen  und  insbesondere  der  Elisen- 
bahnen  gemacht  hat,  zweifellos  eine  viel  grössere,  als  man  auf  den  ersten 
Blick  denken  mag.  Wenn  unsere  Staatsschuld  lawinenartig  anwuchs,  dann 
hatten  gerade  diese  Eraftanstrengungen,  gerade  diese  Opfer,  wie  wir  dies 
weiter  unten  auch  ziffermässig  nachweisen  werden,  hieran  den  gröesten 
AntheiL 

Ob  aber  der  Vorgang,  welchen  wir  befolgen,  ein  richtiger  ist?  Ob  diese 
combinative  Berechnung  sich  der  Wirklichkeit  nähert  und  ob  wir  nicht, 
indem  wir  nach  Wahrheit  forschen,  die  wichtige  Frage,  welche  wir  ins 
Beine  bringen  wollen,  in  falsches  Licht  setzen  ?  Diese  Fragen  kann  man  mit 
Becht  aufwerfen,  und  ich  muss,  bevor  ich  an  meinen  Gegenstand  heran- 
trete, die  Bechtfertigung  meines  Vorgehens  voranschicken. 

Es  ist  unmöglich,  mit  voller  Bestimmtheit  nachzuweisen,  aus  welchen 
Quellen  die  in  Eisenbahnen  investirteh  oder  im  Allgenieinen  im  Interesse 
des  Eisenbahnwesens  geopferten  Summen  herbeigesdiafft  worden  sind. 
Wenn  wir  die  in  Folge  der  Eisenbahnverstaatlichung  übernommenen  Lasten 
nicht  zählen,  hatten  wir  nur  zwei  Anlehen,  welche  ausschliesslich  oder  fast 
ausschliesslich  in  Eisenbahnen  investirt  wurden :  das  1 867er  Eisenbahn- 
Anlehen  und  das  Pfandbrief- Anlehen  der  Gömörer  Industriebahnen.  Die 
Bestimmung  des  30-Millionen-Anlehens  war  zwar  teilw^e  gleichfalls  die 
Deckung  von  Eisenbahnbaukosten,  aber  die  bestimmungsgemässe  Manipu- 
lation dieses  im  Jahre  1872  realisirten  Anlehens  hörte  schon  im  Jahre  1873 
auf  und  der  Ueberrest  desselben  vom  Jahre  1872  wurde  in  die  übrigen 
Staatseinnahmen  einbezogen  und  verlor  seinen  specifizisohen  Charakter. 
Wie  man  demnach  bestimmen  köime,  ob  die  späteren  Eisen  bahnbaukosten, 
Investitionen,  Eisenbahn-Zinsengarantiezuschüsse  u.  s.  w.  aus  den  ordent- 
lichen Einnahmen  des  Staates  oder  aber  aus  Staatsanlehen  gedeckt  wur- 
den und  aus  welchen  Staatsanlehen,  ist  eine  unwillkürlich  auftauchende 
Frage.  Es  ist  wahr,  dass  bei  den  Ausgabeposten  der  Ursprung  der  ver^ 
brauchten  Summe  nicht  ersichtlich  gemacht  ist,  und  dies  wäre  auch  über- 
flüssig ;  zweifellos  ist  aber,  dass  aus  den  ordentlichen  Staatseinnahmen  die 
Ausgaben  nicht  gedeckt  werden  konnten  und  dass  demnach  die  im  Interesse 


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t>te   tilS&KBAH^&K   IM    ÜKGARlSOfiEK   8TAA!r8HAtJS6AI/rt&.  ^^ 

unseres  fÜsenbnhnweseDS  gebrachten  Opfer  in  dem  jährliehen  Staatshaus- 
halts-Defizit zum  Ausdruck  gelangten.  Und  nachdem  die  Legislative  für  die 
Deckung  dieser  Defizite  mit  besonderer  Bezeichnung  der  Oreditquellen  Sorge 
getragen,  Verstössen  wir  offenbar  nicht  gegen  die  Wahrheit,  wenn  wir  den 
Betrag  der  von  Jahr  zu  Jahr  für  Eisenbahnen  geopferten  Netto- Ausgaben  zu 
Lasten  jenes  Staatsanlehens  schreiben,  aus  welchem  in  dem  betreffenden 
Jahre  das  Gassendefizit  bedeckt  wurde. 

Die  Basis,  auf  welcher  ich  meine  Bechnungen  veranstaltete,  ist  dem- 
nach eine  genügend  feste,  eine  genügend  reelle.  Trotzdem  schmeichle  ich 
mir,  nicht  mehr,  als  ein  annähernd  wahres  Besultat  zu  geben ;  zweifellos 
ist  zwischen  der  Wirklichkeit  und  den  von  mir  deduciiien  Zahlen  einige 
Abweichung.  Wer  unsere  Staatsschlussrechnungen  kennt,  wird  wissen,  wie 
schwer  es  ist,  aus  denselben  nach  irgend  welcher  Bichtung  zwischen  der 
Gegenwart  und  der  Vergangenheit  ein  vergleichendes  Bild  zu  gewinnen. 
Die  wechselnden  Principien,  welche  zeitweise  bezüglich  der  Bedaction  der 
Staatsschlussrechnungen  und  bezüglich  der  Verrechnung  herrschten,  machen 
jede  solche  Vergleichung  überaus  mühsam,  und  obgleich  ich  zur  Extrahirung 
der  Daten  die  freundliche  Mithilfe  einiger  (Kollegen  in  Anspruch  nahm,  wage 
ich  doch  nicht  zu  behaupten,  dass  meine  Daten  ohne  Lücken  und  frei 
von  jeglichem  Lrrtume  seien.  Indessen  bei  Beträgen,  welche  sich  auf  Hun- 
derte von  Millionen  belaufen,  verändern  kleine  Irrtümer  oder  Abweichun- 
gen das  Besultat  nicht. 

Da  wir  die  im  Interesse  der  Eisenbahnen  gebrachten  Opfer  in 
erster  Beihe  mit  dem  staatlichen  Defizit  vergleichen  wollen,  haben  wir  das 
Schlussrechnungsdefizit  während  des  in  Bede  stehenden  Zeitraumes  voran- 
zuöchicken.  Der  Staatsrechnungshof  weist  in  dem  den  Schlussrechnungen 
beigegebenen  detaillirten  Berichte  alljährlich  das  Defizit  aus,  und  zwar 
nimmt  derselbe  den  Standpunkt  ein,  als  Defizit  das  ganze  Plus  anzunehmen, 
um  welches  die  Ausgaben  die  aus  den  eigenen  Hüfsquellen  des  Staates 
resultirenden  Einnahmen  fiberschreiten.  Dieser  Standpunkt  gibt  zweifellos 
das  reellste  und  strengste  Maass  für  die  Beurteilung  der  Finanzlage.  Wollte 
man  minder  streng  vorgehen,  so  könnte  man  die  Investitionen,  welche 
eigentlich  eine  Vermögensvermehrung  repräsentiren,  von  dem  Defizit 
abziehen.  Dies  Vorgehen  würde  aber  leicht  auf  einen  Irrweg  führen.  Bei 
Investitionen  ist  nämlich  nicht  nur  deren  Herstellungswert  und  deren  wirt- 
schaftlicher Wert  in  Betracht  zu  nehmen,  sondern  auch  deren  Erträgniss ; 
denn  vom  Standpunkte  der  Staatshaushaltung  sind  solche  Investitionen, 
welche  zwar  öffentlichen  Nutzen  gewähren,  aber  dem  Staate  unmittel- 
bar gar  kein  oder  nur  ein  geringes  Erträgniss  bringen,  kein  äquipari- 
render  Wert  mit  den  im  Wege  von  Anlehen  aufgebrachten  Summen, 
welche  eine  Verzinsung  erheischen  und  dem  Staate  fortwährend  Lasten 
snferlc^n. 


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^6  DIE   BIBBNBAHNEN    IM   UKGARISGHBN    STAATSHAÜSHAt/lä. 

Nehmen  wir  daher  die  Daten  des  Obersten  Bechnungshofes  an^  so 
finden  sich  seit  1869  folgende  Jabresdefizite : 

1869:  13.066,790;  1870:  28.749,345;  1871:  35.554,853;  1872 
42.153,134;  1873:  64.080,907;  1874:  61.518,925;  1875:  40.498,436 
1876:  31.260,933;  1877:  26.451,034;  1878:  58.924,721;  1879:  38.260,045 
1880:41.963,574;  1881 :48,065,401 ;  1882:  46.343,544;  1883:  39.135,892 
1884:  41.018,451 ;  1885:  40.200,527 ;  1886:  43.041,767;  1887:  49.416,735 
1888 :  24.103,491 ;  1889 :  1.386,898. 

W&hrend  dieser  21  Jahre  können  wir  zwei  oder  richtiger  drei  Perioden 
unterscheiden.  Die  erste  währte  bis  1874,  als  die  alte  DeÄk-Partei-Begierung 
die  Zügel  in  Händen  hatte ;  die  zweite  von  1875  bis  inclusive  1877,  die  Ent* 
wirrung  der  Staatsfinanzen  unter  dem  Fusionscabinet ;  die  dritte  aber  von 
1878  (bosnische  Occupation)  bis  heute.  Da  jedoch  die  beiden  letzten  Perioden 
weder  durch  das  System,  noch  durch  die  Personen  von  einander  getrennt 
sind,  sondern  blos  durch  das  auswärtige  Ereigniss  der  bosnischen  Occupa- 
tion —  obwohl  dies  zweifellos  bedeutenden  Einfiuss  auf  unseren  Staats- 
haushalt hatte,  —  scheint  es  richtiger  blos  zwei  Perioden  zu  unterscheiden : 
die  vor  1875  und  die  seitherige.  In  der  ersten  sechsjährigen  Periode  belief 
sich  die  Summe  der  Defizite  auf  245*12  Millionen  Gulden  und  das  durch- 
schnittliche Jahresdefizit  war  40*85  MilUonen  Oulden,  während  in  der 
zweiten  Periode,  welche  anderthalb  Jahrzehnte  umfasst,  die  gesammten 
Defizite  570*07  Millionen  Gulden  ausmachten  und  das  durchschnittliche 
Jahresdefizit  38  Millionen  Gulden  betrug.  Ein  sehr  grosser  Unterschied  zwi- 
schen den  durchschnittUchen  Jahresdefiziten  zeigt  sich  demnach  nicht, 
allein  wir  wollen  sehen,  wie  weit  die  Eisenbahnen  die  Veranlassung  dieser 
grossen  Defizite  gesondert  in  der  ersten  und  in  der  zweiten  Periode  gewe- 
sen sind. 

Der  Staat  war  nach  zwei  Richtungen  hin  bestrebt,  der  Entwickelung 
des  ungarischen  Eisenbahnnetzes  Vorschub  zu  leisten,  teils  direct  durch  den 
Bau  staatlicher  Linien,  teils  —  zu  Folge  Ännahine  des  Principes  der  Erträg- 
niss-Garantie —  indirecte  dadurch,  dass  mit  einer  Aussicht  auf  staatliche 
Garantie  das  Privat-Capital  zur  Teilnahme  an  Eisenbahn-Unternehmungen 
angespornt  wurde.  Letzteres  Vorgehen  war  das  regelmässige,  ersteres  wurde 
nur  ausnahmsweise  verfolgt.  Gegenwärtig  aber,  da  wir  die  wirtschaftliche 
Wirkung  des  damaligen  Systems  auf  Grund  vollendeter  Ergebnisse  zu  beur- 
teilen im  Stande  sind,  können  wir  ohne  Zaudern  über  das  System  der  Zinsen- 
Garantie  den  Stab  brechen.  Damals  jedoch  wurden  und  konnten  auch  die 
Verhältnisse  nicht  aus  demselben  Gesichtspunkte  betrachtet  werden,  wie 
gegenwärtig.  Das  System  der  Zinsengarantie  dominirte  nicht  nur  in  Oester- 
reich,  sondern  auch  in  Ungarn ;  die  ungarische  Begierung  erbte  dasselbe 
von  der  österreichischen.  Dieses  System  wurde  nach  den  damaligen  Erfah- 
rungen nicht  einmal  für  gefahrvoll  angesehen,  garantirte  Bahnen  waren  ja 


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DIE   EISEKBAHNEN    IM    UNGARISCHEN    STAATSHAUSHALTE. 


2«? 


die  damals  im  Betrieb  Ertebenden  österreiobiscben  Staatsbabnen/ die  Süd- 
babn  und  die  Tbeissbabn^  und  die  Erträgniss- Garantie  war  —  wenigstens 
niebt  andauernd  —  mit  keiner  Belastung  des  Staates  verbunden.  Dies 
konnte  aucb  bezüglicb  der  in  neuerer  Zeit  concessionirten  garantirten 
Babnen  erbofft  werden.  Es  bestand  jedocb  ein  wesentlicber  Unterscbied 
zwiscben  den  älteren  und  neueren  Babnen ;  erstere  fübrten  durcb  die  best- 
situirten  Teile  des  Landes^  letztere  bingegen  durcb  solcbe  Gegenden,  in 
welcben  dem  Eisenbabnverkebr,  ebenso  den  Personen-  wie  aucb  den 
Waaren-Verkebr  betreffend,  keine  derartig  ausgiebigen  Quellen  zur  Verfü- 
gung standen  wie  in  jenen  Teilen  des  Landes,  deren  Bevölkerung  eine  dicb- 
tere  ist,  und  deren  culturelle  Yerbältnisse  ziemlicb  entwickelt  waren.  Die 
Folge  bievon  war,  dass  die  Zinsengarantie- Vorscbässe  in  kurzer  Zeit  die 
Staatscassa  derartig  in  Ansprucb  nabmen,  dass  diese  Summen  allein  im 
Stande  gewesen  wären  die  Störung  des  finanziellen  Gleicbgewicbtes  zu 
verursacben.  Diese  Last  war  jedocb  in  den  ersten  Jabren  der  Periode,  über 
welche  sieb  diese  Abhandlung  erstreckt,  nocb  nicht  fühlbar ;  eine  Ausgabe 
unter  diesem  Titel  tritt  zum  erstenmal  in  der  Staatsschlussrechnung  des 
Jahres  1870  hervor. 

Das  erste  materielle  Opfer,  welches  Ungarn  nach  Eroberung  seiner  Ver- 
fassung im  Interesse  der  Eisenbahnen  brachte,  war  der  Ankauf  der  Pest- 
Losonczer  Linie  der  in  missliche  finanzielle  Verhältnisse  geratenen  Unga- 
rischen Nordbahn  im  Jahre  1 868.  Zu  diesem  Zwecke  wurde  das  auf  Grund 
des  G.-Art.  Xni  vom  Jahre  1867  aufgenommene  Eisenbahn- Anleben  ver- 
wendet, welches  im  nominellen  Werte  von  85.125,600  Silber-Gulden  emit- 
tirt  wurde.  Von  der  Verwertung  dieser  Obligationen  flössen,  wie  dies  aus 
den  nach  gänzlicher  Abwickelung  der  Anleihe  durcb  den  Obersten  Staats- 
rechnungshof  und  die  Schlussrecbnungs-Commission  vorgelegten  Berichten 
ersichtlich  ist,  nur  68.969,178  Gulden  im  Bankwerte  in  die  Staatscassa  ein ; 
bievon  wurden  zu  Ankauf  und  zum  Bau  von  Eisenbahnen  und  Eisenbahn- 
Fabriken  67.511,733  Gulden  verwendet,  —  doch  nahmen  von  dieser  Summe 
5.799,887 .  Gulden  die  Intercalar-Zinsen  der  in  Eisenbahnen  angelegten 
Capitalien  in  Ansprucb. 

Von  der  Eisenbahn- Anleihe  wurden  im  Jahre  1868  10*  12  Millionen 
Gulden  auf  Eisenbahnen  verwendet,  in  diesem  Jahre  resultirt  die  Staats- 
Schlussrechnung  noch  mit  einem  Ueberschuss. 

Im  Jahre  1869  nabmen  die  Eisenbahn-Bauten  11*20  Millionen  in  An- 
spruch. Li  diesem  Jahr  wurde  die  Eisenbahn- Anleihe  nocb  fondsmässig 
verwaltet,  und  es  erbellt  aus  den  diesbezüglichen  Rechnungen,  dass  nicht 
nur  diese  ganze  Summe  von  der  benannten  Anleihe  gedeckt  wurde,  sondern 
aucb  jene  1*23  Millionen  Gulden,  um  welche  Summe  die  geleisteten  Liter- 
calar-Zinsen  die  Zinsen  der  aus  der  Eisenbahn-Anleihe  nutzbringend  ange- 
legten Gapitalien  und  das  Netto  Erträgniss  der  erstandenen  Staatsbahn  über- 


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Dite   BiSENBAHNtiK   IM    ÜNOABlSOHteM    STAATSftAÜSÖALtB. 


trafen.  Die  Netto- Ausgabe  für  Eisenbahnen  betrug  im  Jahre  1869  12*43  Mil- 
lionen öulden  und  ist  daher  nur  um  637  Tausend  öulden  geringer  als  das 
Defizit  desselben  Jahres. 

Im  Jahre  1870  gestalteten  sich  die  Ausgaben  folgendermassen  : 

Bau  von  Eisenbahnen,  Investitionen  und  Ankauf  der 
Maschinen-Fabrik  _ —     13.115,425  fl. 

Netto- Ausgabe  beider  fondsmässig verwalteten  Eisenbahn- 
Anleihe    ._ 2.089,136  € 

Zinsengarantie- Vorschüsse _.     ...    ...  3.034,332  t 


Zusammen    18.238,893  0. 

Von  dieser  Summe  wurden  14.051,980  Gulden  aus  der  Eisenbahn- 
Anleihe  gedeckt,  4.186,913  Gulden  hingegen  sind  in  dem  unbedeckten  Ab- 
gang der  Schlussrechnung  enthalten.  Das  Defizit  dieses  Jahres  übertraf  die 
auf  Eisenbahnen  verwendeten  Summen  schon  um  10.510,452  Gulden. 

Ausgaben  im  Jahre  1871 : 

Bau  von  Eisenbahnen,  Investitionen,  Maschinen-Fabrik  16.334,026  fl. 
Netto- Ausgabe  bei  der  fondsmässig  verwalteten  Eisen- 
bahn-Anleihe    2.317,343  € 

Zinsengarantie-Vorsohusse    3.828,114  t 


Zusammen 22.479,483  fl. 

In  diesem  Jahre  war  die  auf  Eisenbahnen  verwendete  Summe  schon 
um  mehr  als  13  Millionen  Gulden  geringer  als  das  Defizit  des  Jahres.  Da 
zur  Beendigung  der  im  Bau  begrififenen  Eisenbahnen  die  Eisenbahn- Anleihe 
vom  Jahre  1867  voraussichtlich  nicht  hinreichend  war,  wurde  die  Regie- 
rung mit  dem  G.-Art.  XLV  zur  Emission  einer  30  Millionen  Silber-Gulden - 
Anleihe  bevollmächtigt,  welche  Anleihe  teilweise  auch  zur  Deckung  des 
jährlichen  Defizites  diente.  Im  Jahre  1872  wurde  ausserdem  auch  noch  eine 
andere  Eisenbahn- Anleihe  emittirt,  das  mit  dem  G.-Art.  XXXVII  vom  Jahre 
1871  concessionirte  Pfandbrief- Anlohen  der  Gömörer  Industrie-Bahnen. 
Bevor  jedoch  die  Verwendung  dieser  beiden  Anleihen  detaillirt  würde,  teilen 
wir  die  im  Jahre  1872  auf  Eisenbahn- Zwecke  verausgabten  Summen  mit: 

Bau  von  Eisenbahnen,  Investitionen,  Maschinen-Fabrik  19.453,332  fl. 
Netto- Ausgabe  bei  derfondsmässigverwaltetenEisenbalm- 

Anleihe 4.582,774  t 

Gömörer  Anlehen,  Zinsen  und  Amortisation       390,777  « 

30  Millionen-Anleihe,  die  auf  dieses  Jahr  entfallenden 

Zinsen  und  Amortisation      302,046  • 

Zinsengarantie' Vorschüsse      ...     ...     6433,243  t 


Zusammen.. 31.162.172  fl. 


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blfi   EtRt:l4ßAHNB>(    IM    UNOARISCHEN    STAA'TSHAÜBaALTfi.  ^^ 

Hievon  wurden  14.731,175  Gulden  von  der  Eisenbahn- Anleihe, 
5.472,335  Gulden  von  der  30  Millionen  Anleihe,  und  982,105  Gulden  von 
dem  Gtömörer  Pfandbrief- Anlehen  gedeckt. 

Im  Jahre  1873  betrugen  die  Ausgaben: 

Bau  von  Eisenbahnen  und  Investitionen 18.551,995  fl. 

Eisenbahn- Anleihe,  Zinsen,  Amortisation  und  Manipula- 
ti^ns-Kosten    _ _    ._.      5.393,055  • 

Gömörer  Pfandbrief- Anlehen,  Zinsen,  Amortisation  mid 

Manipulations-Kosten    ..      427,733  • 

80  Millionen-Anleihe,  Zinsen,  Amortisation  und  Mani- 
pulations-Kosten          2.110,460  • 

54  Millionen- Anleihe,  die  auf  dieses  Jahr  entfallenden 
Zinsen  und  Amortisation 312,976  • 

Zinsengarantie- Vorschüsse      __.         13.858,672  • 

Zusammen 40.654,891  fl. 

In  Abrechnung  gebracht  das  Beinerträgniss  der  Staats- 
bahnen und  der  Maschinen-Fabrik  ...  ' ...     1.198,723  • 


Verbleibt       39.456,168  fl. 

Es  ist  nunmehr  notwendig  anzugeben,  welche  Summen  von  der 
30  Mfllionen-  und  von  der  laut  G.-Art.  XXXII  des  Jahres  1872  emittirten 
54  Millionen-Anleihe  auf  Eisenbahn-Zwecke  verausgabt  wurden.  Von  der 
30  Millionen- Anleihe  wurden  im  Jahre  1872  5.472,335  Gulden,  im  Jahre 
1873  aber  7,250,774  Gulden  zum  Bau  von  Eisenbahnen  und  auf  Investi- 
tionen bei  den  Staatsbahnen  verwendet.  Da  aber  von  der  ganzen  An- 
leihe —  mit  Einrechnung  der  Intercalar- Zinsen  der  nutzbringend  ange- 
legten Gapitalien  —  25.920,200  Gulden  im  Bankwerte  in  die  Staatsoassa 
einflössen^  standen  von  dieser  Anleihe  mit  Ende  des  Jahres  1872  nach  Ab- 
rechnung obiger  Summen  nur  mehr  13.197,091  fl.  zur  Verfügung.  In  den 
Jahren  1870,  1871  und  1872  betrugen  aber  allein  jene  Ausgaben  zu  Eisen- 
bahn-Zwecken, welche  weder  von  der  Eisenbahn-Anleihe,  weder  von  dem 
Gtömörer- Anlehen,  noch  von  der  30  Millionen  Gulden- Anleihe  gedeckt  wur- 
den, 19.111,312  Gulden,  daher  um  vieles  mehr,  als  der  oben  angeführte 
restliche  Betrag  der  30  Millionen-Anleihe.  Es  kann  demnach  die  ganze 
30  Millionen  Gulden- Anleihe  auf  Bechnung  der  Eisenbahnen  geschrieben 
werden,  die  unbedeckten  5.914,221  Gulden  fallen  schon  zu  Lasten  der 
54  Millionen  Gulden-Anleihe.  Von  derselben  Anleihe  wurden  laut  Schluss- 
rechnung im  Jahre  1878  auf  Eisenbahn-Bauten  und  Investitionen  factisch 
6.832,201  Gulden  verwendet,  —  und  da  von  den  Eisenbahn- Auslagen  des 
nämlichen  Jahres  1.609,578  Gulden  noch  von  dem  resüichen  Betrag  der 
Eisenbahn- Anleihe  gedeckt  werden  konnten,  4.112,687  Gulden  hingegen 
von  dem  Gömörer  Pfandbrief- Anlehen,  müssen  noch  weitere  19*65  Mil- 
lionen Gulden  zu  Lasten   der  54  Millionen  Gulden- Anleihe  geschrieben 


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3(K)  D]E   EISENBAHNEN    IM    UNGARISCHEN    STAATSäAÜSHALTfi. 

werden,  so,  dass  76*54  pGt.  dieser  Anleihe  (natürlich  das  Gotische  Ergebniss 
der  Anleihe  im  Bankwerte  als  Qrundcapital  betrachtet)  durch  Eisenbahn- 
Bauten  und  sonstige  im  Interesse  des  Eisenbahnwesens  gebrachte  Opfer 
in  Anspruch  genommen  wurden.  In  den  nachfolgenden  Jahren  sind  zu  den 
Eisenbahn- Auslagen  nach  obigen  VerhiUtnissen  die  jährlichen  Zinsen,  Amor- 
tisation und  Manipulationskosten  der  54  Millionen-Gulden  «Anleihe  hinzu- 
gerechnet. Noch  eines  sei  bemerkt:  die  Eisenbahn- Anleihe  vom  Jabre  1867 
sowohl,  als  auch  die  30  und  54  Millionen  öulden- Anleihe  waren  im  Silberwert 
festgestellt,  erstere  in  Frankwährung,  die  beiden  letzteren  in  Pfund  Ster- 
lingen.  Dies  war  damals  von  keiner  Wichtigkeit,  denn  das  Gold  hatte  dem 
Silber  gegenüber  noch  kein  Agio ;  später  jedoch,  als  das  Silber  immer  mehr 
und  mehr  an  Wert  verlor,  wurden  die  in  Franken  und  Sterlingen  rückzahl- 
baren Anleihen  in  Gold-Anleihen  umgewandelt.  Und  nun  setze  ich  die 
von  Jahr  zu  Jahr  schreitende  Mitteilung  der  schon  begonnenen  ziffermässi- 
gen  Ausweise  fort. 

Im  Jalure  1874: 

Bau   von  Eisenbahnen,   Investitionen    bei  den  Staats- 

bahnen  und  bei  der  Staats-Maschinen-Fabrik    10.851,298  fl. 

Eisenbahn-Anleihe _ 5.314,486  t 

Gömörer  Kandbrief-Anlehen    ...     ^ 424,604  * 

30  Millionen-Gulden-Anleihe 2.101,422  • 

54  Millionen-Gulden- Anleihe 2.352,306  t 

Zinsengarantie- Vorschüsse    16.420,505  fl. 


Zusammen    ...     _..     37.464,621  fl. 
Abgerechnet  das  Netto-Ergebniss  der  Staatsbabnen  und 
der  Maschmen-Fabrik    76,890  fl. 


Verbleibt       ...    ...        37.387,731  fl. 

Hievon  wurden  1.441,364  Gulden  von  dem  Gömörer  Pfandbrief- 
Anlehen  gedeckt,  die  restlichen  35.946,367  Gulden  hingegen  entfallen  zu 
Lasten  der  auf  Grund  des  G.-Art.  XXXIII  vom  Jahre  1873  emittirten 
schwebenden  Schuld  im  Werte  von  76Vs  Millionen  Gulden.  In  Betracht 
genommen,  dass  nach  dem  nominellen  Wert  von  76^/«  Millionen  Silber- 
gulden in  die  Staatscassa  im  Bankwerte  nur  71.655,889  Gulden  einflössen, 
waren  zur  Deckung  obigen  Abganges  Obligationen  im  nominellen  Werte 
von  38.372,400  Gulden  erforderlich. 

Im  Jahre  1875: 

Bau  von  Eisenbahnen,  Investitionen  bei  den  verschie- 
denen Staatsbabnen  und  bei  der  Staats-Mascbinenfabrik  2.679, 1 96  fl. 
Eisenbahn- Anleihe...     _..     ...        .     _..     ...     ...     ...  5.207,220  € 

Gömörer  Pfandbrief-Anlehen    __ 424,338  • 


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DIB   ET8ENBAHNEN    IM   UNOARISCHEN    STAATSHAUSHAJiTE.  301 

30  Millionen-Gulden- Anleihe ...  2.141,793  fl. 

54.         •               €           t          .....     _.  2.995,088  • 

76V«     •               .           . ..  2.532,578  • 

ZinsengarantJe-Yorsohüsse        14.713,358  • 

Zusammen     30.693,571  fl. 

Abgereohnet  das  Netfco-Ergebniss  der  Staatsbabnen  und 

der  Maflchinen-Fabrik    _.     ...  1.529,701  fl. 

Verbleibt       29.163,870  fl. 

Dieser  Abgang  belastet  ausschliesslich  die  auf  Grund  des  G.-Ari  XIV 
vom  Jahre  1874  emittirte  76 Va  Millionen  Gulden- Anleihe,  richtigerweise 
die  zweite  Hälfte  der  153  Millionen- Anleihe.  Diese  76 Vj»  Millionen  Gulden 
resultirten  im  Bankwerte  70.186,757  Gulden,  zur  Deckung  des  ausgewie- 
senen Abganges  mussten  daher  Obligationen  im  nominellen  Werte  von 
31.785,600  Gulden  emittirt  werden.  Diese  Emission,  hinzu  gerechnet  die 
vorjährige,  beziffert  sich  daher  im  Ganzen  auf  70,158,000  Gulden. 

Im  Jahre  1876: 

Bau  von  Eisenbahnen,  Investitionen        ...     2.41 1,019  fl. 

Eisenbahn- Anleihe 5.682,420  • 

Gömörer  Pfandbrief-Anlehen    _     455,653  • 

30  Millionen- Anleihe ..    2.258,081  • 

54       t            t                3.131,933  t 

153       €             t ...  5.051,376  t 

Zinsengarantie- Vorschüsse*)     14.048,457  • 

Zusammen     33.038,939  fl. 

Abgerechnet  das  Netto-Ergebniss  der  Staatsbabnen  und 

der  Maschinen-Fabrik 2.177,044  fl. 


Verbleibt       ,      30.861,895  fl. 

Zur  Deckung  dieser  Summe  war  —  als  Grundlage  die  bei  der  Emission 
des  Jalires  1876  erzielten  Ergebnisse  angenommen  —  die  Emission  von 
6percentigen  GoldrenteObligationen  im  nominellen  Werte  von  33.273,000 
Gulden  erforderlich. 

Im  Jahre  1877  : 

Bau  von  Eisenbahnen  und  Investitionen .     ...       2.907,013  fl. 

Eisenbahn-Anleihe... 5.706,577  t 

Gömörer  Pfandbrief-Anlehen    464,355  t 

*  Die  rückgezahlten  Vorschüsse  sind  sowohl  hier  als  auch  bei  den  übrigen 
Jahren  von  den  an  die  Eisenbahnen  ausbezahlten  Zinsengarantie-Vorschüssen  in 
Abrechnung  gebracht. 


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302  piE   EIRENBAHNEN    IM   I'NGARISCHEN   STAATSHAUSHALTE. 

30  Millionen- Anleihe     „ 2.330,629  fl. 

54        •             •        ^    3.382,917  • 

Verstaatlichung  der  Ostbahn 810,349  • 

Zinsen  der  153  MilUonen- Anleihe    5.177,660  t 

Zinsen  der  Goldrente ...  2.550,375  • 

Zinsengarantie-Yorschüsse       15.446,881  • 


Zusammen     38.776,756  0. 

Abgerechnet  das  Netto-Erträgniss  der  Staatsbahnen  und 

der  Maschinen-Fabrik 2.625,000  fl. 


Verbleibt    36.151,756  fl. 

Diese  Summe  entspricht  6percentigen  Goldrenten- Obligationen  von 
39.141,000  Gulden  im  nominellen  Werte  (den  überwiegenden  Teil  bildet 
die  Emission  vom  Jahre  1877)  und  da  im  Jahre  1878  auch  die  zweite 
Hälfte  der  153  Milhonen- Anleihe  in  eine  6percentige  Goldrente  convertirt 
wurde,  verminderte  sich  der  von  der  153  Millionen -Anleihe  auf  Eisenbahn- 
Auslagen  entfallende  Teil  auf  31.785,600  Gulden,  die  Goldrenten-Obliga- 
tionen stiegen  hingegen  auf  125.248,000  Gulden.  In  den  Ausweisen  für  das 
Jahr  1878  sind  die  Zinsen  schon  nach  diesen  Summen  berechnet. 

Im  Jahre  1878 : 

Bau  von  Eisenbahnen,  Investitionen,  Maschinen-Fabrik  2.248,142  fl. 

Eisenbahn-Anleihe    5.460,774  • 

Gömörer  Pfandbrief- Anlehen ...  446,292  • 

30  Millionen- Anleihe _ 2.251,505  f 

54        •            €            3.227,718  t 

Verstaatlichung  der  Ostbahn     ._ 552,547  • 

Zinsen  der  153  Millionen- Anleihe*     ...      ._     3.699,585  t 

Zinsen-Quote  der  6-percentigen  Goldrente  ** 3.055,158  t 

Zinsengarantie- Vorschüsse    14.531,370  t 

Zusammen        35.473,091  fl. 

Abgerechnet  das  Netto-Erträgniss  der  Staatsbahnen  und 

der  Maschinen-Fabrik    2.218.824  fl. 


Verbleibt       33.254,267  fl. 

Zur  Deckung  dieser  Summe  waren  6percentige  Goldrenten-Obligationen 
im  nominellen  Werte  von  39.317,000  Gulden  nach  dem  Gnrse  vom  Jahre 
1879  erforderlich.  Mit  dieser  Summe  stieg  der  auf  die  Eisenbahnen  veraus- 
gabte Teil  der  Goldrente  (nachdem  in  diesem  Jahre  auch  die  zweite  Hälfte 

i"  In  Anbetracht  dessen,  dass  die  Gon Version  der  ersten  Hälfte  der  153  Mü- 
lionen-Anleihe  nicht  mit  Anfang  dos  Jahres  vollzogen  wurde. 

**  Nach  Abrechnung  der  bei  dem  Verkauf  der  Obligationen  erfolgten  Ck>apon- 
Bückerstattungen. 


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DIE   EISENBAHNEN    IM    UNOARISCHEN    STAATSHAUSHALTE.  '^^^ 

der  153  Millionen  Anleihe  einbezogen  and  in  Goldrenten-Obligationen  um- 
getauscht wurde)  auf  208,147.000  Gulden. 
Im  Jahre  1879: 

Bau  von  Eisenbahnen,  Investitionen,  Maschinen- Fabrik  3.519,625  fl. 

Eisenbahn- Anleihe 5.512,520  • 

Gömörer  Pfandbrief- Anlehen        444,185  « 

3Ü  MiUionen- Anleihe —  2.247,194« 

54        «            «            ... -  3.U2.566  « 

Capitals- Amortisationen  der  Waagthalbahn    600,000« 

Verstaatlichung  der  Osfcbahn ._     —      .      __.  4.637,161« 

Zinsen-Quote  der  153  Millionen- Anleihe*      1.035,238« 

Zinsen-Qaote  der  6-percentigen  Goldrente  **     8.842,716  « 

Zinsengarantie-Yorschüsse        ...  ir^l7,742_«^ 

Zusammen     41.798,947  fl. 

Abgerechnet  dos  Netto-Ergebniss  der  Staatsbahnen  und 

der  Maschinen-Fabrik    ,.-  3.583,567  fl. 

Verbleibt       38.215,380  fl. 

Diesen  Abgang  nach  dem  Curse  vom  Jahre  1 879  auf  Goldrente  um- 
gerechnet, gewinnen  wir  als  Ergebniss  6percentige  Goldrente  im  nominellen 
Werte  von  45.182.000  Gulden,  wodurch  der  vorjährige  Stand  der  Goldrente 
auf  253.329,000  Gulden  erhöht  wird. 
Im  Jahre  1880: 

Bau  von  Eisenbahnen,  Investitionen,  Maschinen-Fabrik  1.239,558  fl. 

Eisenbahn-Anleihe     5.404,824  « 

Gömörer  Pfandbrief- Anlehen        ._ 434,517« 

30  Millionen- Anleihe...     ... 2.255,344  • 

54        •             «            3.140,651  • 

Verstaathchung  der  Ostbahn    4.628,739  « 

«                der  Theissbahn 2.556,925  « 

Capitals-Amortisation  der  Waagtalbahn 600,000  « 

Zinsen  nach  dem  rückständigen  Kaufpreis  der  Waag- 
talbahn   .._ ...  314,470  « 

Linie  Agram-Earlstadt ' 140,748« 

Zinsen  der  6-percentigen  Goldrente 17.935,693  • 

Zinsengarantie-Vorsohüsse _ 12.128,363  • 

Zusammen 50.779,822  fl. 

Abgerechnet  das  BeinerträgniBs  der  Btaatsbahnen  und 

der  Maschinen-Fabrik    4.954,712  fl. 


Verbleibt       45.825,110  0. 

*  In  Anbetracht  dessen,  dass  die  Conversion   der  zweiten  Hälfte  der  153  Mil- 
lionen-Anleihe nicht  mit  Anfang  des  Jahres  vollzogen  wurde. 

**  Naoh  Abrechnung  der  bei  dem  Verkauf  der  Obligationen  erfolgten  Ooupon- 
Bückerstattoogen. 


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304  piE    EISENBAHNEN    TM    INGARISCHEN    RTAATSHAüRHALtE. 

Hievon  können  15.019,585  Gulden  (rund  15  Millionen  Gulden  in 
nominellem  Werte)  zu  Lasten  der  in  demselben  Jahr  emittirten  Goldrente 
geschrieben  werden,  —  es  steigt  hiedurch  die  im  Interesse  des  Eisenbahn- 
wesens verwendete  Summe  der  Goldrente  auf  268.329,000  Gulden  —  die 
restlichen  30.805,525  Gulden  fallen  hingegen  zu  Lasten  der  im  Jahre  1881 
emittirten  Papierrenten- Obligationen.  Diese  Summe  entspricht^  nach  dem 
damaligen  durchschnittlichen  Curs  von  80*01,  38.502,000  Gulden  Papier- 
renten-Obligationen nominellen  Wertes. 

Im  Jahre  1881 : 

Bau  von  Eisenbahnen,  Investitionen,  Maschinen-Fabrik  7.438,618  fl. 

Eisenbahn-Anleihe 5.393,665  • 

Gömörer  Pfandbrief-Anlehen        449,160  • 

30  MiUionen- Anleihe 2.187,953  t 

54        •             •             ..  3.118,228  • 

Verstaathchung  der  Ostbahn     _ 4.645,884  • 

•                 der  Theissbahn     3.836,149  t 

Capitals-Amortisation  der  Waagtalbahn 600,000  t 

S^insen  nach  dem  rückständigen  Eaofyreis  der  Waag- 
talbahn      275,470  i 

Linie  Agram-Karlstadt 280,200  • 

Zinsen  der  6-percentigen  Goldrente 18.997,693  t 

Zinsen  der  Papierrente 1.925,100  t 

Zinsengarantie- Vorschüsse        ...     ., 13.758,519  t 


Zusammen     62.906,639  fl. 

Abgerechnet  das  Netto-Erträgniss  der  Staatsbahnen  und 
der  Maschinen-Fabrik    6.800,000  fl. 


Verbleibt       56.106,639  fl. 

Diese  Summe  teils  auf  die  im  Jahre  1881,  teils  auf  die  im  Jahre  1882 
emittirten  Papierrente  (Curs  86'29)  umgerechnet,  gewinnen  wir  65.999,200 
Gulden  Papierrente  nominellen  Wertes ;  die  Summe  der  Papierrente  steigt 
hiedurch  auf  104.501,200  Gulden.  Angenommen,  dass  von  der  vorjährigen 
6percentigen  Goldrente  100  MiUionen  convertirt  wurden,  was  139.309,000 
Gulden  4percentiger  Goldrente  gleichkommt,  kann  auf  Rechnung  der  Eisen- 
bahn-Auslagen die  gleiche  Summe  4percentiger  und  168.320,000  Gulden  im 
nominellen  Werte  6percentige  Goldrente  geschrieben  werden. 

Im  Jahre  1882: 

Bau  von  Eisenbahnen,  Investitionen,  Maschinen-Fabrik  18.423,314  fl. 

Eisenbahn- Anleihe     *     5.626,808  t 

Gömörer  Pfandbrief-Anlehen        448,441  t 

30  Millionen-Anleihe ._     ...  2.260,296  t 

54        t             •            3.188,457  t 


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MB   EISBNBAUNEN   IM    UNGARISCHEN    STAATSHAUSHALTE.  305 

Verstaatlichung  der  Ostbahn     1.645,881  fl. 

t                  der  Theissbahn    '    3.908,525« 

Capitals -Amortisation  der  Waagthalbahn        .._     .._     ...  600,000« 

Zinsen  nach  dem  rückständigen  Kaufpreis  der  Waag- 
talbahn  :  -236,470  « 

Zinsen  der  6percentieen  Ooldrente ,  12.018,690  « 

«         •    4       •            Goldrente*    5.175,908« 

«         •    5       «            Papierrente  *     _     4.625,060  « 

Zinsengarantie-Vorschüsse _.     10.610,616  « 


Zusammen 72.054,519  0. 

Abgerechnet  das  Netto-Erträgniss  der  Staatsbahnen  und 

der  Maschinen- Fabrik    11.620,451  fl. 

Verbleibt       60.434^817 

Hieven  wuräen  39.406,224  Gulden  durch  Papierrenten  im  nominellen 
Werte  von  46.308,600  Gulden  gedeckt,  die  gesammte  Emission  belastet 
diese  Rechnung.  Die  restliche  Summe  von  21.037,844  Gulden,  da  dieselbe 
durch  keine  Anleihe  Deckung  fand,  wird  in  den  nachfolgenden  Ausweisen 
—  um  den  Einfluss,  welchen  dieser  Abgang  auf  die  Gestaltung  der  finaa- 
zieUen  Verhältnisse  ausübt,  beachten  zu  können,  —  als  fictive  Capitalsanlage 
aufigenommen  und  mit  5Vo  Zinsen  berechnet.  Es  könnte  diese  fictive  Capi- 
talsanlage mit  dem  Course  der  Papierrente  berechnet  werden,  Wir  wollen 
jedoch  in  unseren  Berechnungen  lieber  rigoroser  vorgehen  und  rechnen  die- 
selbe daher  al  pari.  In  diesem  Jahre  wurde  6percentige  Goldrente  im  nomi- 
nellen Werte  von  37.491.200  Gulden  auf  4percentigq  Goldreute  im  nomi- 
nellen Werte  von  50.260,000  Gulden  convertirt ;  jene  Summe  daher,  welche 
zu  Lasten  der  Eisenbahnen  geschrieben  werden  kann,  bilden  folgende 
Posten :  130.837,800  Gulden  6percentige  Goldrente,  189.569.400  4percentige 
Goldrente,  150.809,800  Gulden  Papierrente,  sämmtliche  im  nominellen 
Werte,  femer  21.027,844  Gulden  fictive  Capitalsanlage. 

Im  Jahre  1883 : 

Bau  von  Eisenbahnen,  Investitionen,  Maschinen- Fabrik  1 8.781, 32 i  fi. 

Eisenbahn-Anleihe     _.      5.514,551  « 

Gömörer  Pfandbrief- Anlehen .._     .._     ...     449,370  « 

30  Millionen- Anleihe  „....'  ...     :       2.352,025« 

5^        f             «            .i 3.209,971  • 

Verstaatlichung  der  Ostbahn     4.682,515  « 

«            der  Theissbahn    .,.    3.810,730  « 

Capitals- Amortisation  der  Waagtalbahn 600,000« 

Zinsen  nach  dem  rückständigen  Kaufpreis  der  Waag- 
talbahn      ...  197,470« 

*  Nach  Abrechnung  der  Cöupon-Rückerstattungen. 
ungarische  Berae  XT.  1891.  IV.  Heft.  ^ 


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306  DIB   BI8ENBAHNBN    IM    UNGARIßCHEN    STAATSHAUSHALTE. 

Linie  Agram-Karlstadt ...     .       _ _.  286,875  fl. 

Zinsen  der  6percentigen  Goldrente 9.420,321  t 

€         •    4        c          Goldrente*    ..  7.416,049  • 

€         •    5         €          Papierrente*     6.367,512  t 

Fictive  Capitals- Anlage ... 1.051,400  t 

Zinsengarantie- YorBchüsse        ...    .._     11.180,307  t 


Zusammon 75.320,420  fl. 

Abgerechnet  das  Netto-Erträgniss  der  Staatsbahnen  imd 

der  Maschinen-Fabrik    ... ..     .„     ...      0.646,878  fl. 


Verbleibt       65.673,542  fl. 

Von  dieser  Summe  können  42.145,872  Gulden  für  im  Jahre  1884 
emittirte  Papierrente  von  48.459,200  Gulden  im  nominellen  Werte  gleich 
angenommen  werden,  es  verbleiben  daher  23.527,670  Gulden  auf  fictive 
Gapitalsanlage.  Wenn  dies,  sowie  auch  jener  Umstand  in  Betracht  genommen 
wird,  dass  in  diesem  Jahre  auch  6percentige  Goldrente  im  nominellen  Werte 
von  51.091,300  Gulden  convertirt  wurde,  so  belaufen  sich  jene  Capitalien, 
deren  entsprechende  Zinsen  zu  Lasten  des  Eisenbahnwesens  verrechnet 
werden  müssen,  auf  nachstehende  Summen : 

6percentige  Geldanleihe    79.746,500  fl. 

4  t  €  259.569,400  t 

5  t  Papierrente _  199.269,000  t 

Fictive  Capitals- Anlage 44.555,514  t 

Im  Jahre  1884: 

Bau  von  Eisenbahnen,  Investitionen,  Maschinen-Fabrik  17.238,320  fl. 

Eisenbahn- Anleihe     5.683,577  t 

Gömörer  PÜEUidbrief-Anlehen        464,547  t 

30  MilKonen- Anleihe 2.305,476« 

54        t             t „    3.300,294  t 

Verstaatlichung  der  Ostbahn    4.766,607  t 

t              der  Theissbahn 4.011,838  t 

t              der  L  Siebenbürger  Bahn      2.055,229  t 

Verstaatlichung  der  Donau-Drau-Eisenbahn      599,097  t 

Capitals- Amortisation  der  Waagtalbahn  ...     _..     _ 600,000  t 

Zinsen  nach  dem  rückständigen  Kaufpreis  der  Waagthal- 
Bahn        -     -  158,470  f 

Tauschwert  der  Neu-Szöny-Brucker  Bahn 2.611,704  t 

Zinsen  nach  dem  rückständigen  Kaufpreis  der  Neu-Szöny- 

BruckerBahn 47,573  t 

Linie  Agram-Karlstadt 291,900  t 


*  Nach  Abrechnung  der  Goupon-Bückerstattongen. 


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DIB  HIOTNBAHNBN   IM   UNGAMSOHBN    STAATSHAUSHALTE.  -^07 

Zinsen  der  Gporcentigen  Goldrente  ..  5.813,520  fl. 

•  f    4        «  Goldrente* 11.494,347  « 

•  «5         •  Papierrente      8.545,05!2  t 

Zinsen  der  fictiven  Capitals- Anlage     2.227,784  • 

Zinsengarantie- Vorschüsse         9.513,050  • 


Zusammen     81.728,385  fl. 

Abgerechnet  das  Netto-Erträgniss  der  Staatsbahnen  und 
der  Maschinen-Fabrik    8.510,108  fl. 

Verbleibt       ~  "73^1^,277117 

Hieven  30.033,500  Gulden  auf  Papierrente  —  Emission  vom  Jahre 
1885  —  umgerechnet,  kommt  diese  Summe  32,924.900  Gulden  Papierrente 
nominellen  Wertes  gleich,  die  restlichen  43.184,777  Gulden  werden  als 
fictive  Gapitalsanlage  verrechnet.  In  diesem  Jahre  wurden  auch  noch  die 
räckständigen  6percentigen  Goldrente-Obligationen  convertirt.  Statt  der 
6percentigen  Obligationen  von  79.746,500  Gulden  nominellen  Wertes 
muflsten  107.702,077  Gulden^  ebenfalls  nominellen  Wertes,  4percentige 
Obligationen  emittirt  werden.  Demnach  betrug  der  verzinsbare  Stand  : 

4percentige  Goldrente       ...  367.271,477  fl. 

5        •         Papierrente...     232.193,900  • 

Fictive  Capitals-Anlage 87.740,291  t 

Im  Jahre  1885 : 

Bau  von  Eisenbahnen,  Investitionen,  Maschinen-Fabrik  12.146,056  fl. 

Bisenbahn- Anleihe 5.784,696 

Gomörer  Pfandbrief- Anlehen         ..     ...     ...     ...     ...  467,920 

30  MiUionen- Anleihe 2.307,698 

54        •  •  —  3.309,976 

Verstaatlichung  der  Ostbahn    4.744,524 

•  der  Theissbahn 3.708,023 

f  der  L  Siebenbürger  Bahn       _ 2.061,404 

t  der  Donau-Drau-Eisenbahn'      ...     604,813 

•  der  Alföld-Fiumaner  Bahn     2.071,593 

Tauschwert  der  Neu-Szöny-Brucker  Bahn 2.500,000 

Zinsen  nach  dem  rückständigen  Kaufpreis  der  Neu-Szöny- 

Braoker  Bahn _ 250,000 

Capitals- Amortisation  der  Waagtal-Bahn     ._ 600,000 

Zinsen  nach  dem  rückständigen  Kaufpreis  der  Waagtal- 

Bahn.. ._     ...     ...     ...     .i.  119,470 

Linie  Agram-Karlstadt 291,900 


*  Nach  Abrechnung  der  Coupon-Rückerstattnngen. 


20* 


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^B  DIB  EISENBAHNEN   IM   UNGARISCHEN   STAATSHAUSHALTE. 

Zinsen  der  4peroentigen  Goldrente 17.042,807  fl. 

f        €     5        t          Papierrente    ...     ._ 10.833,677  « 

Zinsen  der  fictiven  Capitals- Anlage „     4.386,522« 

Zinsengarantie-Vorschüsse    7.736,975  • 

Zusammen 80.968.054  0. 

Abgerechnet  das  Netto-Erträgniss  der  Staatsbahnen  und 

der  Maschinen-Fabrik    ,    12.265,182  fl. 


Verbleibt       68.702,872  fl. 

Hievon  fanden  47.241,034  Gulden  in  der  im  Jahre  1886  emittirten 

Papierrente  von  51.203,900  Gulden  im  nominellen  Werte  Deckung, 
21.461,838  Gulden  entfallen  auf  fictive  Gapitalsanlage,  und  es  beträgt  dem- 
nach der  verzinsbare  Stand : 

4percentige  Goldrente     367.271,477  fl. 

5        «  Papierrente 283.397,800  « 

Fictive  Capitals- Anlage 109.202,129  t 

Im  Jahre  1886 : 

Bau  von  Eisenbahnen,  Investitionen,  Maschinen-Fabrik  8.961,583  fl. 

Eisenbahn- Anleihe      ,..    5.947,097 

Gömörer  Pfandbrief- Anlehen 481,463 

30  Millionen- Anleihe        _.     ... 2.423,931 

54        f             •            3.359,692 

Verstaatliehnng  der  Ostbahn    ..,    4.811,662 

•             der  Theissbahn    ...  3.597,115 

«             der  I.  Siebenbtirger  Bahn       2.082.727 

f             der  Donau-Drau-Bahn 609,913 

f             der  Alföld-Fiumaner  Bahn      2.102,324 

Tauschwert  der  Neu-Szöny-Brucker-Bahn 2.500,000 

Zinsen  nach    dem  rückstandigen   Kaufpreis    der  Nen- 

Szöny-Brucker  Bahn      ... 125,000 

Capitals- Amortisation  der  Waagtal-Bahn    ...  600,000 

Zinsen  nach  dem  räckständigen  Kaufpreis  der  Waagtal- 
Bahn 80,470 

Linie  Agram-Karlstadt 300,150 

Zinsen  der  4percentigen  Goldrente 18.452,623 

f         €5        «           Papierrente 13.130.463 

Zinsen  der  fictiven  Oapitals-Anlage 5.459,614 

Zinsengarantie- Vorschüsse    7.803,617 

Zusammen.. 82.829,444  fl. 

Abgerechnet  das  Netto-Erträgniss  der  Staatsbahnen  und 

der  Maschinen-Fabrik       14.579,939  fl. 

Verbleibt  ...    _     ...  68.249,505  fl. 


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bl^  iBIS£)lBABK£N   IM   tJNGABISCHBN   Sf  AATSBAXJBHALTti. 


309 


Hievou  können  56.616,651  Gulden  durch  die  im  Jahre  1^87  emittirte 
Papierrente  im  nominellen  Werte  von  64.863,100  Gulden  als  gedeckt  ange- 
nommen werden,  die  übrigen  1 1 .632,854  Gulden  entfallen  auf  die  fictive 
Gapitalsanlage.  Älldies  in  Bechnung  genommen,  gestaltet  sich  der  verzins- 
bare  Stand  folgendermassen : 

4percentige  Goldrente 367.271,477  fl. 

5        «         Papierrrente ...        348.260,900  t 

Fictive  Capitals-Anlage ...    ...     120.834,983  t 

Im  Jahre  1887 : 

Bau  von  Eisenbahnen,  Investitionen,  Maschinen-Fabrik  9.477,331  fl. 

Eisenbahn-Anleihe    5.%8,671 

Gömörer  Pfandbrief- Anlehen 484,086 

30  Millionen- Anleihe 2.449,168 

54        •  f  3.369,670 

Verstaatlichung  der  Ostbahn    4.800,979 

'  •  der  Theiss-Bahn 3.512,058 

f  der  I.  Siebenbürger  Bahn      2.068,643 

f  der  Donau-Drau-Bahn       606,897 

•  Alföld-Piumaner  Bahn 2.107,589 

Capitals- Amortisation  der  Waagtal-Bahn    600,000 

Zinsen  nach  dem  rückständigen  Kaufpreis  der  Waagtal- 
Bahn        41,470 

linie  Agram-Karlstadt 302,100 

Zinsen  der  4percentigen  Goldrente 18.509,234 

r        •    5        •  Papierrente    16.067,941 

Zinsen  der  fictiven  Capitals-Anlage 6.040,756 

Zinsengarantie- Vorschüsse    7.021,806 

Zusammen 83.428,399  fl. 

Abgerechnet  das  Netto-Erträgniss  der  Staatsbahnen  und 

der  Maschinen-Fabrik ...  15.601,671  fl. 

Verbleibt       67.826,728  fl. 


Hievon  fanden  44.117,355  Gulden  in  der  im  Jahre  1888  emittirten 
Goldrente  von  47.000,000  Gulden,  7.510,481  Gulden  hingegen  in  der  in  dem- 
selben Jahre  emittirten  Papierrente  von  8.814,600  Gulden  Deckung,  beide 
Benten  dem  nominellen  Werte  nach  genommen;  die  restlichen  16.198,892 
Gulden  werden  auf  Bechnung  der  fictiven  Gapitalsanlage  geschrieben« 

Der  verzinsbare  Stand  ist  daher  nachfolgender: 


4percentige  Goldrente 
5        «  Papierrente 

Fictive  Capitals- Anlage   . 


414.271,477  fl. 
357.075,500  « 
137.033,875  • 


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•^10  DIE   EIRE^RAHNBt«    ik    Ü^OABISCH^   BtAAtBÖAÜSttAtTtt. 

Im  Jahre  1888 : 

ßau  von  Eisenbahnen,  Investitionen,  Maschinen-Fabrik  8.424,770  fl. 

Eisenbahn-Anleihe 5.766,503  t 

Gömörer  Pfimdbrief-Anlehen    462,316  t 

30  Millionen-Anleihe     2.315,562  t 

54        f             •         —     3.367,482  • 

Verstaatlichung  der  Ostbahn        4.782,179  • 

«              der  Tlieissbahn       3.423,923  t 

•  der  I.  Siebenbürger  Bahn 2.065,172  c 

i              Donau-Drau-Bahn  ...     —     .._     (509,217  • 

•  Alföld-Fiumaner-Bahn       2.103,678  t 

Capitals-Amortisation  der  Waagtal-Bahn...     ._ 488,000  • 

Zinsen  nach  dem  rückständigen  Kaofyreis  der  Waagtal- 
Bahn        ...     _..     6,110  • 

Linie  Agram -Karlstadt 294,600  t 

Zinsen  der  4percentigGn  Gk)ldrente 18.905,945  • 

•         •    5         •        Papierrente ...  17.320,392  • 

Zinsen  der  fictiven  Gapitals- Anlage 6.851.202  t 

Zinsengarantie-Yorschüsse    6.618,643  • 

Zusammen 83.805,694  fl. 

Abgerechnet  das  Reinerträgniss  der  Staatsbahnen  imd 

der  Maschinen-Fabrik    ...     _. ...  18.694,754  fl. 


Verbleibt       65.110,940  fl. 

Hieven  1.367,006  Gulden  zu  Lasten  der  im  Jahre  1889  emittirten 
Papierrente  geschrieben,  welche  1.411,500  Gulden  im  nominellen  Wert  re- 
präsentirt,  die  übrigen  63.743.934  Gulden  hingegen  zu  der  fictiven  Gapitals- 
anlage  gerechnet,  betragen  die  verzinsbaren  Schulden  ausser  der  Eisenbahn- 
Anleihe  vom  Jahre  1867,  ausser  dem  Gömörer  Pfandbrief- Anlehen,  der  30 
und  54  Millionen-Anleihe,  ferner  ausser  der  zu  Folge  Verstaatlichung  von 
Eisenbahnen  entstandenen  Lasten,  u.  z. : 

4percentige  Goldrente 414.271,477  fl. 

5        •  Papierrente 358.487,000  t 

Fictive  Capitals-Anlage   ...    ...     ...    _.     ...    ...     ...    200.777,809  • 

Im  Jahre  1889 : 

Bau  von  Eisenbahnen,  Investitionen,  Maschinen-Fabrik  6.557,228  fl. 

Eisenbahn- Anleihe     4.617,971  • 

Gömörer  Pfandbrief- Anlehen 333,727  t 

30  Millionen- Anleihe 1.410,345  • 

54        •             «            1.767,622  • 

Verstaatlichung  der  Ostbahn    i.  -  ...  4.658,190« 

«              der  Theissbahn ...  2.879,118« 

«               der  I.  Siebenbürger  Eisenbahn     1.637,190  • 


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l>tfi  filSlBNBAHi^N   I^   ÜKOAftlSCH^   StAA^HAÜSäALTB.  ^ll 

Verstaatüchung  der  Donau*Drau  Bahn 470,043  fl, 

«              der  Alföld-Fiumaner  Bahn      1.673,235  t 

«              der  I.  Galizischen  Eisenbahn      1.081,031  • 

€              der  ungarischen  Westbahn 1.785,933  « 

«              der   Budapest-Fünfkirchner   Eisenbahn  287,700  c 

Linie  Agram-Karlstadt      _ 282,000  t 

Zinsen  der  4percentigen  Goldrente      20.127,157  t 

€         f    5         «          Papierrente        17.881,800  • 

•       der  fictiven  Capitals-Anlage      10.038,398  t 

Zinsengarantie-Yorsohüsse       4.174,600  • 


Zusammen    81.663,897  fl. 

Abgerechnet  das  Netto-Erträgniss  der  Staatsbahnen  und 

der  Maschinen-Fabrik 19.865,302  fl. 


Verbleibt       61.798,595  fl. 

Wir  gelangten  biemit  zu  dem  Ende  der  mühevollen,  yielleicht  für  die 
Leser  ermüdenden  Berechnungen,  und  können  nun  von  den  aa^eklärten 
Besultaten  die  Schlassfolgerungen  ableiten.  Das  Defizit  unseres  Staatshaus- 
haltes hat|  wie  oben  erwiesen^  von  1869  bis  1889  inclusive  insgesammt 
815.195,403  Gulden  betragen  und  während  derselben  Zeit  haben  die  im 
Interesse  der  Entwicklung  des  Eisenbahnwesens  geopferten  Summen  und 
deren  Zinseszinsen  nicht  weniger  als  961.717,480  Gulden  repräsentirt;  sie 
haben  demnach  die  Staatshaushaltungsdefizite  um  146*55  Millionen  Gulden 
überstiegen. 

Diese  Ziffern  erweisen  am  besten,  wie  riesig  das  Opfer  war,  welches 
der  ungarische  Staat  der  Entwicklung  des  Eisenbahnwesens  brachte.  Ohne 
dieses  Opfer  hätten  wir,  wenn  auch  alle  anderen  Ausgaben  ebenso  gross 
geblieben  wären,  als  sie  thatsächlich  waren,  wenn  auch  die  Kosten  der  bos- 
nischen Oconpation  und  die  ganze  Last  des  Eriegsbudgets  auf  unsem  Staats- 
haushalt ebenso  gedrückt  hätte,  wie  dies  der  Fall  war,  und  wenn  auch  die 
eigenen  Einkünfte  des  Staates  reichlicher  eingeflossen  wären,  dennoch  unsere 
gesammten  Ausgaben  aus  unseren  eigenen  Einnahmsquellen  zu  decken  ver- 
mocht und  hätten  noch  einen  b^rächtlichen  üeberschuss  bebalten. 

Wenn  wir  indess  die  beiden  finanziellen  Perioden,  die  vor  1875  und 
die  nachherige  gesondert  betrachten,  wird  ein  scharf  pointirter  Unterschied 
in  die  Augen  fallen.  Während  nämlich  in  der  sechsjährigen  Periode  von 
1869  bis  1874  die  Defizite  zusammen  83*97  Millionen  Gulden  oder  per  Jahr 
dorchschnittlich  um  14  MilHdfieB  mehr  ausmachten  als  die  für  Eisenbahnen 
geopferten  Summen,  haben  in  der  fünfzehnjährigen  Periode  von  1875  bis 
1889  die  Staatshaushaltsdeficite  zusammen  S30*52  Millionen  Gulden  betra- 
gen und  machten  jährlich  durchschnittlich  um  15*37  Millionen  Gulden 
weniger  aus  als  die  Beträge,  welche  die  Eisenbahnen  direct  oder  indirect 
verschlangen.  Hieraus  ist  ersichtlich,  dass  vor  1875  auch  ohne  Eisenbahn- 


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31*2  DIB   EISENBAHNEN   IM    UNGAftlftCHEN    STAATSHAÜRÖALtÖ. 

Bau,  Eisenbahnzinsen-Ghurantie  u.  s.  w.  ein  Defizit  gewesen  wäre^  während 
seit  1875  die  Hauptquelle  des  Defizites  unmittelbar  auf  das  Eisenbahnwesen 
zurückgeführt  werden  kann.  Nach  der  Fusion  war  das  Staatshaushaltungs- 
defizit nur  bis  1881  grösser  als  diese  Opfer  und  auch  damals  nicht  alljährlich 
(beträchtlich  nur  1875  in  der  Uebergangszeit,  femer  1878  im  bosnischen 
Kriegsjahre),  später  blieb  sogar  das  übergrosae  1887er  Deficit  um  18-41  Mil- 
lionen Gulden  unter  den  directen  und  indirecten  Eisenbahn-Ausgaben. 

Wir  wiederholen  ein  allbekanntes  Factum,  indem  wir  aussprechen, 
dass  für  die  Eisenbahn-Lasten  die  Verantwortung  nicht  die  Gegenwart,  son- 
dern die  Vergangenheit  trifft.  Der  grösste  Teil  der  staatlichen  Bahnbauten 
und  die  Feststellung  des  ganzen  Zinsengarantie- Systems  fällt  in  die  ersten 
Jahre  der  constitutionellen  Aera  oder  in  die  derselben  vorangebende  Zeil 
In  dem  fün&ehnjährigen  Zeitraum,  obschon  während  desselben  unser  Bahn- 
netz von  6422  Kilometern  auf  10,870  Kilometer  stieg,  wurde  keine  einzige 
Eisenbahn  mit  Gewährung  von  Zinsengarantie  concessionirt.  Staatsbahnen 
wurden  zwar  auch  während  dieser  Zeit  gebaut,  diese  bildeten  aber  Ergän- 
zungen des  alten  unterbrochenen  Bahnnetzes  und  waren,  abgesehen  vom 
wirtschaftlichen  Nutzen,  auch  aus  finanziellem  Gesichtspunkte  vorteilhaft, 
indem  sie  das  ganze  Netz  ertragsfähiger  machten.  Alldas,  was  in  den  letzten 
anderthalb  Jahrzehnten  in  Gestalt  von  in  Eisenbahnen  investirten  Summen 
oder  von  Zinseszinsen  der  durch  nie  rückersetzte  Garantie- Vorschüsse  ver- 
schlungenen Anlehen  den  ungarischen  Staatshaushalt  bedrückte,  war  eine 
ererbte  Last.  Wie  gross  diese  war,  zeigen  die  obigen  Ziffern  in  erstaunlicher 
Weise.  Es  gab  Jahre,  wo  die  Last  73  Millionen  betrug,  und  in  der  That  ver- 
mögen wir  erst  bei  Inbetrachtnahme  dieser  Zahlen  gebührend  zu  würdigen, 
wie  gross  die  Aufgabe' war,  unseren  Staatshaushalt  zu  regeln,  und  welche 
Kraftanstrengung,  welcher  Heroismus  nötig  waren,  um  die  gleich  einer  La- 
wine anwachsende  Zinsenlast,  welche  beinahe  das  ganze  Gebäude  unserer 
Staatlichkeit  zu  zerschmettern  drohte,  zum  Stillstand  zu  bringen. 

Noch  eine  sehr  interessante  Lehre  ergeben  obige  Zahlen.  Während  näm- 
lich die  directen  und  indirecten  Eisen bahn-Netto- Ausgaben  bis  1884  unauf- 
hörlich, und  zwar  in  rascher  Progression  wuchsen,  sehen  wir  seit  1883  eine 
stufenweise  Abnahme.  iBin  oberfiä^^icher  Beobachter  würde  sich  vielleicht 
mit  der  Erklärung  begnügen,  dass  die  Eisenbahn-Ausgaben  notwendiger- 
weise abnehmen  mussten,  weil  in  diesem  Jahre  die  grösseren  Bahnbanten 
(Budapest- Semlin  und  die  Brucker  Linie)  beendigt  wurden.  Dies  stehl  jedoch 
nicht,  was  sich  am  besten  erweisen  wird,  wenn  wir  das  1884er  Jaht,  wo  die 
Ausgaben  den  Höhepunkt  erreichten,  mit  einem  späteren  Jahre  vergleichen, 
allein  nicht  cumulativ,  sondern  unter  Gruppirung  der  Ausgabenpostien  na(^ 
ihrer  Beschaffenheit.  Wir  wollen  das  Jahr  1888  als  Beispiel  nehmen,  obwohl 
das  Jahr  1 889  noch  günstiger  wäre,  weil  bei  letzterem  die  Gonversion  der 
Eisenbahn -Anlehen  die  Bechnung  erschweren  würde.  Es  beitrugen: 


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DIE   filSENBAHNBN    IM    ukOARISOHEN    STAATSHAUSHALTE.  313 

1884  1888 

Bahnbau-Ankauf  und  Investition       20.947,967  fl.  9.213,480  fl. 

Lasten  nach  verstaatlichten  Bahnen      ...  11.432,771  •  12.984,169« 

Alte  Eisenbnhn-Anlehen      ...     11.753,894«  11.911,863« 

Entsprechende  Zinsen  der  Gold-  und  Papier- 
Rente 28.080,703  «  43.077,539  « 

Zinsengarantie- Vorschüsse      9.513,050  «  6.618,643  fl. 

Für  Eisenbahnban  and  Investition  wurden  demnach  im  Jahre  1888 
zwar  um  11*73  Millionen  Gulden  weniger  ausgegeben,  als  1884,  allein  die 
Zinsen-Last  der  zu  Eisenbahn^wecken  verwendeten  Beträge  warum  15'15 
Millionen  Gulden  grösser,  was  jene  Ersparnisse  überwiegt,  —  und  wenn  das 
Endresultat  im  Jahre  1888  ungeachtet  dessen  nahezu  um  8  Millionen  Gulden 
günstiger  ist,  können  wir  dies  den  Verstaatlichungen,  der  Ergänzung  des 
Staatsbahnnetzes  und  jenet  selbstbewussten  Eisenbahnpolitik  zuschreiben, 
die  gleichzeitig  dem  wirtschaftlichen  Wohle  des  Landes  und  den  Interessen 
des  Staatsschatzes  dient.  Die  Belastung  des  Staates  durch  die  für  die  ver- 
staatlichten Bahnen  übernommenen  Schulden  und  für  die  Zinsengarantie- 
Vorschüsse  war  im  Jahre  1 888  nicht  grösser,  sondern  sogar  kleiner  als  1 884 
und  doch  hob  sich  das  Beinerträgniss  der  Staatsbahnen  von  8*51  Millionen 
Gulden  auf  18*69  Millionen  Gulden.  Wenn  wir  auch  die  Neubauten  in  Be- 
tracht nehmen,  ist  dies  ein  so  glänzender  Erfolg,  von  welchem  man  sich 
noch  vor  fünf  Jahren  nichts  träumen  liess,  und  dies  dient  für  die  Zukunft  als 
Bürgschaft,  dass  die  Entwicklung  der  Staatsbahnen  von  Jahr  zu  Jahr  mehr 
von  jener  Last,  welche  die  im  Interesse  des  Eisenbahnwesens  gebrachten 
riesigen  Opfer  den  Steuerträgem  auferlegten,  von  deren  Schultern  herab- 
nehmen werde. 

Dass  noch  viel  übrig  bleibt,  was  aus  den  sonstigen  Einnahmsquellen 
des  Staates  beizutragen  ist,  um  die  Zinsenlast  der  zu  Eisenbahnzwecken 
verwendeten  Beträge  zu  decken,  lässt  sich  nicht  leugnen.  Allein  heute 
betrachtet  man  die  Staatsfinanzen  aus  dem  Gesichtspunkte  des  starren  Fis- 
calismus,  und  wir  können  jene  Opfer,  welche  indirect  mittelst  des  Auf- 
schwunges der  verschiedenen  Zweige  der  Volkswirtschaft  und  mittelst  der 
Steigerung  des  Wohlstandes  der  Steuerträger  zurückerstattet  werden,  keines- 
wegs für  unfruchtbare  Ausgäben  erklären.  Wäre  wohl  der  ungarische  Staat 
im  Stande  gewesen,  alle  jene  Aufgaben,  die  sich  an  den  Begrifif  des  modernen 
Staates  knüpfen,  nur  annähernd  zu  lösen,  wäre  er  im  Stande  gewesen,  jene 
Lasten,  welche  die  Landesverteidigung  und  die  Eriegsbereitschaft  uns  auf- 
laden, ohne  zusammenzubrechen,  zu  ertragen,  und  wäre  wohl  selbst  die  Ge- 
sellschaft und  die  Volkswirtschaft  fähig  gewesen,  ohne  eine  Katastrophe  jene 
grossen  Krisen  auszuhalten,  welche  die  civilisirte  Welt  von  einem  Ende  zum 
andern  durchliefen,  wenn  unsere  wirtschaftlichen  Kräfte  in  den  Eisenbahnen 
und  in  der  ungarischen  Eisenbahnpolitik  nicht  einen  so  wirksamen  Stütz- 


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•^^i  DIE   EISfiKBAfiKfiN    IM   ÜNOARtSCHBN    HTAATSHAÜSHaLUS. 

punkt  gefanden  hätten  ?  Die  grossen  Eraftanstrengongen  sind  daher  nicht 
nur  motivirt,  sondern  sie  waren  unbedingt  notwendig,  und  wir  mussten 
sie  machen,  wenn  wir  nicht  yom  grossen  Concurrenzkampf  der  modernen 
Nationen  endgiltig  fernbleiben  wollten. 

Indess  wollen  wir  nicht  im  entferntesten  behaupten,  dass  Alles  so  am 
besten  war,  wie  es  geschah.  Es  lässt  sich  nicht  leugnen,  dass  anfangs  auf 
dem  Gebiete  der  Eisenbahn -Angelegenheiten  viele  Irrtümer  vorkamen  und 
dass  sich  imsere  Finanzlage  zum  Teil  anders  gestaltet  hätte,  wenn  immer 
dieselbe  Einsicht  und  Fachkenntniss  bei  Leitung  dieser  Angelegenheiten 
geherrscht  haben  würden,  wie  in  neuerer  Zeit  Es  kann  nicht  unser  Zweck 
sein,  auf  die  Irrtümer  hinzuweisen ;  diese  Fragen  sind  genügend  ventilirt 
und  geklärt  und  die  öffentliche  Meinung  will  sie  nicht  nur  nicht  beschö- 
nigen, sondern  ist  vielleicht  geneigt,  sie  übermässig  streng  zu  beurteilen. 
Unsererseits  wollen  wir,  indem  wir  den  gegenwärtigen  Elrfolgen  unsere  volle 
Anerkennung  zollen,  auch  gegen  die  Vergangenheit  Billigkeit  walten 
lassen.  Man  darf  die  Anfangsschwierigkeiten  nicht  übersehen  und  darf  die 
neueren  und  älteren  Bahnbauten  nicht  blos  nach  der  Grösse  des  per  Kilo- 
meter investirten  Gapitales  beurteilen.  Wie  viel  höher  war  damals  der 
Eisenpreis  und  wie  viel  theuerer  das  Capital !  Schon  diese  beiden  Factoren 
sind  genügend,  um  die  damaUgen  und  die  gegenwärtigen  Baukosten  nicht 
mit  gleichem  Maasse  zu  messen. 

Vielleicht  der  grösste  Tadel,  welcher  die  Vergangenheit  trifft,  ist,  dass 
man  die  damalige  Kraft  der  Nation  nicht  genügend  in  Anspruch  nahm, 
sondern  die  Lasten  leicht,  man  kann  sagen  fast  leichtsinnig  auf  die  Zukunft 
überwälzte.  England  hat  sogar  die  Kosten  seiner  grossen  Kriege,  welche  in 
den  letzten  zwei  Jahrhunderten  32  Milliarden  Francs  betrugen,  nicht  rein 
mittelst  Staatsanlehen  bedeckt,  sondern  ein  Driitel  dieser  kolossalen  Summen 
durch  Steigerung  der  Staatseinkünfte  aufgebracht.  Wir  aber  haben  unsere 
gesammten  Investitionen  mittelst  geborgter  Gelder  bewerkstelligt,  welches 
Vorgehen  das  chronische  Deficit  nach  sich  zog.  Die  mit  Zinseszinsen  an- 
wachsende Last  führte  das  Staatsschiff  auf  eine  Untiefe,  von  welcher  man  es 
kaum  flott  zu  machen  vermochte. 

Heute  ist,  dank  der  Vorsehung  und  der  mit  Energie  gepaarten  Weis- 
heit unserer  leitenden  Staatsmänner,  das  Defizit  verschwunden.  Die  grosse 
Kraftanstrengung,  mittelst  der  wir  dies  erreicht  haben,  kann  uns  als  glän- 
zende Kraftprobe  mit  Vertrauen  erfüllen ;  aber  wir  müssen  auch  die  Ab- 
gründe beleuchten,  die  zu  vermeiden  sind,  wenn  wir  nicht  das  Heiligste, 
wofür  unser  Herz  schlägt,  aufs  Spiel  setzen  wollen :  Ungarns  zukünftige 
Grösse  und  staatliche  Selbstständigkeit.  Josef  v.  Jbkelfalüsst. 


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GRAF   B^IiA   SZ^HENYI*S   REIßE   IM    ÖSTLICHEN   AStkS.  -^^'^ 


GRAF  BfiLA  SZtoENTI'S  REISE  IM  ÖSTLICHEN  ASIEN. 

Vor  kurzer  Zeit  erregte  das  jüngste  Werk  über  diese  nunmehr  allbe- 
kafinte  Expedition  nicht  nur  in  den  wissenschaftlichen,  sondern  fast  in  allen 
Kreisen  Ungarns  berechtigtes  Aufsehen,  denn  so  weit  wir  uns  erinnern 
können,  wurde  eine  so  bedeutende  Beise  von  Ungarn  bisher  nicht  unter- 
nommen,  und  dann  gibt  es  wohl  kaum  ein  zweites  ungarisches  Buch, 
welches  an  Pracht  der  Ausstattung  mit  diesem  Werke  wetteifern  könnte.  Ja, 
wir  wollen  noch  weiter  gehen  und  behaupten,  dass  es  in  der  ganzen  grossen 
geographischen  Literatur  nur  wenige  Bücher  gibt,  welche  in  jeder  Hinsicht 
diesem  Werke  Sz^henyi's  an  die  Seite  gestellt  werden  können. 

Ein  ungarischer  Magnat,  der  ausser  seinem  grossen  Namen  noch  ein 
bedeutendes  Vermögen  besitzt,  unternimmt  eine  auf  mehrere  Jahre  berech- 
nete Beise,  aber  nicht  zum  Vergnügen,  sondern  um  der  Wissenschaft  und 
dem  Vaterlande  Dienste  zu  leisten.  Denn  obwohl  wir  Magnaten  in  grosser 
Zahl,  und  diese  auch  enorme  Beichtümer  besitzen,  so  ist  dies  in  Ungarn 
sozusagen  der  erste  Fall,  dass  auf  Kosten  eines  derselben  eine  wissenschaft- 
liche Expedition  unternommen  wurde.  In  England  sorgt  der  « Spleen  •,  der 
in  Wirklichkeit  oft  nur  Wissens-  und  Thatendurst  ist,  für  dergleichen  Unter- 
nehmungen ;  Amerika,  das  Land  der  Beklame,  stellt  ebenfalls  ein  grosses 
Gontingent  von  Forschem ;  Deutschland,  Frankreich,  Belgien,  Spanien,  ja 
sogar  das  kleine  Portugal  sorgt  durch  ein  selbstständiges  Budget  für  die 
Wahrung  seiner  wohlerkannten  Interessen;  nur  unsere  Monarchie  und 
unsere  Lords  geben  für  dergleichen  kein  Geld  aus.  Um  so  mehr  Lob  und 
Anerkennung  verdient  es,  wenn  sich  ein  Mitglied  der  höchsten  Gesellschaft 
entschliesst,  einige  Jahre  in  uncivilisirten  Ländern  zuzubringen  und  sich 
Gefahren  auszusetzen,  um  eben  eine  ivissenschafüiche  Beise  zu  unter- 
nehmen. Für  uns  ist  dies  die  Hauptsache,  die  Wissenschaft ;  denn  wie  viel 
Opfer  derselben  auch  gebracht  werden,  ist  sie  dennoch  reich  genug,  um  die- 
selben zurückzuerstatten.  Und  die  wissenschaftlichen  Er^bnisse  dieser  Expe- 
dition sind  in  ihrem  geradezu  grossartigen  Erfolge  schon  an  sich  Lohn  genug. 
In  einem  grossen  Band,  dem  noch  ein  zweiter  folgen  soll,  finden  wir  eine  ganze 
Geographie,  (Geologie  und  Naturgeschichte  des  Beiches  der  Mitte.  All  diese 
Fächer  sind  mit  einer  Gewissenhaftigkeit  in  Datenmaterial  und  Quellen- 
studium behandelt,  dass  das  Werk  seinen  Verfassern,  dem  Grafen  Szechenyi, 
dem  Prof.  Ludwig  v.  Löczy  und  dem  Consul  Kreitner  alle  Ehre  macht,  ja,  wir 
müssen  dem  Grafen  ganz  besonderen  Dank  wissen  für  die  gute  Wahl,  die  er 
bei  seinen  Beisegefährten  getroffen,  welche  sich  in  jeder  Beziehung  der  ihnen 
gestellten  Aufgabe  gewachsen  und  würdig  zeigten.  Unsere  Wissenschaft  und 
unser  Vaterland  sind  daher  dem  Grafen  Bela  Szechenyi  zu  grösstem  Danke 


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*^^ß  GRAF   BELA    SZ^CHENTI*S   REIBE   IM    ÖSTLICHEl*   ASifeM. 

verpflichtet^  und  es  bliebe  nnr  zu  wünschen^  dass  unsere  Magnaten  dem 
edlen  Beispiele  des  Yortreffliohen  Mannes  nacheifern  würden. 

Abgesehen  von  den  wissenschaftlichen  Erfolgen  solcher  Expeditionen 
ist  auch  die  commerzielle  Ausbeute  derselben  nicht  zu  unterschätzen.  Wir 
Ungarn  sind  schon  seit  langer  Zeit  gleichsam  prädestinirt,  mit  dem  Oriente 
Handelsverbindungen  zu  schaffen  und  aufrecht  zu  erhalten ;  wir  sind  vielleicht 
die  einzige  «saturirte»  Nation,  die  nicht  auf  Vergrösserung  des  Terrains  aus- 
geht; wir  haben  nirgends  Colonien ;  wir  brauchen  auch  keinen  Fuss  breit 
fremden  Landes ;  aber  Handel  und  Industrie  sollen  und  können  sich  darum 
um  so  leichter  entwickeln.  Es  war  sicherlich  sehr  wohl  bedacht,  warum  Graf 
Szechenyi  sich  nach  China  begab.  Vor  ihm  hatten  sich  schon  viele  und 
bedeutende  Beisende  dort  umgesehen,  wenn  sie  auch  nicht  in  die  unfruchtbare 
Wüste  und  überhaupt  nicht  so  weit  vorgedrungen  sind.  Denn  zu  Abenteuern 
oder  auch  zu  Studien  dürfte  ja  selbst  Afrika  geeigneter  sein.  Aber  wir  glau- 
ben nicht  zu  irren,  wenn  wir  denken,  dass  der  Graf,  der  von  seinem  unver- 
gesslichen  Vater  wohl  ein  grosses  Stück  Geist  und  Talent  geerbt  hat,  auch 
die  handelspolitischen  Interessen  unserer  Monarchie  vor  Augen  hatte,  als  er 
seinen  Weg  eben  nach  China  einschlug.  Es  ist  dies  nur  eine  Vermutung, 
welche  jedoch  unleugbar  viel  Wahrscheinlichkeit  für  sich  hat.  Denn  gerade 
China  ist  jenes  Land,  welches  auf  einer  relativ  hohen  Stufe  der  Civilisation 
stehend,  in  Bälde  einem  ungeahnten  Aufschwung  entgegensehen  darf,  da  es 
erst  vor  Kurzem  der  europäischen  Cultur  erschlossen  wurde,  und  obzwar 
das  ganze  seefahrende  Europa  —  Amerika  nicht  zu  nennen  —  eine  riesige 
Concurrenz  bietet,  so  hat  doch  auch  unser  Land  berechtigte  Aussicht,  nur 
müssen  wir  die  dortigen  Verhältnisse  aufs  genaueste  kennen  lernen.  Es  ist 
wohl  nicht  daran  zu  zweifeln,  dass  wir  in  nicht  langer  Zeit  vom  Chef  des 
Unternehmens  selbst  oder  doch  von  einem  seiner  Begleiter  auch  in  dieser 
Hinsicht  ausführlichen  Bericht  zu  erwarten  haben. 

Was  den  edlen  Forscher  speciell  veranlasst  hat,  die  Reise  zu  unter- 
nehmen, darüber  berichtet  er  selbst  in  seiner  Widmung.  «Ich  widme  dieses 
bescheidene  Werk  dem  Andenken  meiner  unvergesslichen,  engelhaften  Gat- 
tin, Gräfin  Hanna  Erdödy.  —  Als  ich  Dich  noch  mein  nennen  konnte,  war 
ich  der  Glücklichste  auf  der  Welt,  nun  ich  Dich  verlor,  bin  ich  einer  der 
Unglücklichsten  unter  den  Sterblichen  . .  .  Der  brennende  Sand  der  Wüste, 
welcher  kein  Leben  auf  sich  duldet,  die  zum  Himmel  ragenden  Schneeberge 
von  Tibet,  die  dort  herrschende  Buhe  und  Einsamkeit  ist  die  rechte  Heimat 
der  Unglücklichen.  Als  wäre  sie  nur  für  solche  geschaffen  worden.  Fem  vom 
Getöse  der  Welt,  ungestört,  konnte  ich  immer  wieder  in  Gedanken  die  glück- 
lichen Augenblicke  der  Vergangenheit  durchleben,  und  gebrochenen,  doch 
dankbaren  Herzens  wiederhole  ich  die  Worte  des  Dichters,  welche  Du  slß 
Braut  an  mich  richtetest : 


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GRAF   BÄLA   SZ^CHBNYI*8   REIßE   IM    ÖSTLICHEN    ARIEN.  ^^^ 

«Je  pense  ä  toi  quand  le  soleil  se  l^ve^ 
J'y  pense  encore^  quand  il  a  fibi  son  cours ; 
Mais  si  parfois  dans  mon  sommeii  je  reve 
C'est  mon  bonheur  de  te  cherir  toiyours !» 

Drei  Jahre  lang  dauerte  die  Vorbereitung  zur  Expedition,  von  1874 — 
1877.  Ausser  den  Vorstudien,  die  der  Graf  machen  inusste,  war  eine  der 
schwierigsten  Aufgaben  die  Wahl  geeigneter  Beisegefährten.  Obzwar  Sze- 
chenyi  in  dieser  Beziehung  sehr  liberal  dachte:  «Die  Wissenschaft  und  die 
Kunst  haben  keine  scharf  begrenzte  Heimat»,  so  wollte  er  doch  dem  Wahl- 
spruche getreu  bleiben :  «ä  tous  les  coeurs  bien  n^s,  la  patrie  est  ch^re».  Und 
so  fiel  seine  Wahl  nach  langem  Suchen  auf  drei  heimische  Kräfte,  6.  v.  Bälint 
als  Philologen,  Oberlieutenant  6.  Kreitner  als  geographischen,  und  L.  y.  Löczy 
als  naturgeschichtlichen  Observator.  In  wie  fem  diese  Wahl  nicht  nur  ge- 
rechtfertigt, sondern  auch  eine  gelungene  war,  beweist  schon  der  erste  Band 
des  uns  vorliegenden  Werkes,  mit  dem  sich  —  betreffs  der  wissenschaftlichen 
Resultate  —  ausser  Bohlfis'  Beise  kein  neueres  Werk  dieser  Gattung  mes- 
sen kann. 

Die  ganze  Bäuberromantik,  wie  sie  sich  ähnlichen  Beisebeschreibungen 
so  verführerisch  aufdrängt,  fehlt  hier,  und  die  männliche  Würde,  mit  welcher 
die  Erinnerung  an  manches  Abenteuer  unterdrückt  ist,  wird  den  denkenden 
Leser  die  Grösse  der  ausgestandenen  Gefahren  nicht  vergessen  lassen;  —  das 
Beisewerk  wendet  sich  eben  mit  dem  ganzen  Ernste  der  grossen  Errungen- 
schaften nur  an  den  ernsten,  durch  Effecthascherei  nicht  mehr  zu  blenden- 
den Leser. 

Der  erste  Band  des  Werkes  enthält  eine  Einleitung  mit  einem  Vor- 
wort aus  der  Feder  des  Grafen  Szdchenyi,  einem  geographischen  Teil  von 
Kreitner,  und  einer  Geologie  China's  von  Loczy. 

Im  Jahre  1877,  den  4.  December,  bestieg  die  Expedition  in  Triest  den 
Lloyd-Dampfer  «Polluce».  Nach  kurzem  Aufenthalt  in  Dschedda  warf  man 
endlieh  am  9.  Januar  1878  in  Bombay  Anker.  Nach  einem  Aufenthalte  von 
18  Tagen  machten  die  Beisenden  einen  Ausflug  auf  die  von  ihren  in  Fels 
gehauenen  Tempeln  berühmte  Insel  Elephante.  In  Bombay  teilte  sich  die 
Gesellschaft.  Graf  Szechenyi  fuhr  mitBälint  nach  Ahmadabad  auf  die  Jagd, 
um  nach  derselben  sich  nach  Süd-Indien  zu  begeben,  während  Kreitner  und 
Löczy  nach  Galcutta  gingen. 

Es  war  nämlich  eine  ganz  vorzügliche  Idee  Szdchenyi's,  seine  Arbeits- 
kraft vor  dem  Beginn  ihrer  eigentlichen  Thätigkeit  auf  möglichst  grosse 
Territorien  zu  verteilen,  um  nicht  nur  eine  einzige  Boute  kennen  zu  lernen, 
soAdem  aus  verhältnissmässig  riesigen  angrenzenden  Gegenden  so  viel  Daten 
als  möglich  und  die  gehörige  Uebung  zur  Erforschung  der  zu  bereisenden 
unbekannten  Gegenden  zu  erlangen,  Löczy  und  Kreitner  besuchten  Allaha- 
bady  Benares,  die  beilige  Stadt  am  Ganges,  und  kamen  am  24.  Januar  in 


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^'^  «RAF   b6la    8ZI?.rHENTl'fl   REISE   TM   ÖSTLICHEN    ASIEN. 

Calcutta  an.  Von  hier  aus  machten  sie  einen  Ausflug  in  das  Himdlaya- 
Gebirge,  speciell  nach  Dardschiling,  wo  ein  Landsmann,  der  Linguist  Ale- 
xander Körösi  Csoma  begraben  liegi  Hier  bot  sich  ihnen  im  Anblicke  der 
höchsten  Berge  der  Welt  ein  nicht  alltagliches  Bild  dar!  —  Professor 
Loczy  dehnte  jedoch  seinen  Ausflug  noch  bis  an  die  tibetanische  Grenze  am 
Dselep-la  aus. 

Am  2.  März  traf  auch  Graf  Szdchenyi  mit  B&lint  in  Calcutta  ein.  Von 
hier  fuhr  die  ganze  Expedition  nach  Singapore,  wo  dann  wieder  Graf  Sze- 
chenyi  mit  Loczy  ein  Schiff  nach  Batavia,  B41int  und  Ereitner  eines  nach 
Hongkong  bestiegen.  Auf  Java  unternahmen  der  Graf  und  Loczy  besondere 
Ausfluge  und  fuhren  nach  kurzem  Aufenthalte  über  Singapore,  Macao,  Kan- 
ton nach  Hongkong. 

Von  Hongkong  fuhr  die  Expedition  nach  Schanghai,  wo  sie  von  einem 
sehr  schweren  Schlage  getroffen  wurde^  indem  der  Linguist  Bälint  auf  Drän- 
gen der  Aerzte  sofort  nach  Europa  zurückkehren  musste,  was  für  die  erhoffte 
linguistische  Ausbeutung  der  Expedition  natürlich  einen  fast  unersetzlichen 
Verlust  bedeutet 

Von  Schanghai  aus  begaben  sich  Szechenyi  und  Ereitner  nach  Japan> 
während  Löczy  die  Aufgabe  erhielt,  eine  in  geologischer  Beziehung  fast 
unbekannte  Gegend  zu  besuchen.  Er  konnte  seme  Aufgabe  nicht  ganz  aus- 
führen^ da  er  vom  Fieber  ergriffen  wurde  und  nach  Schanghai  zurückkehren 
musste.  Doch  brachte  er  von  dieser  Beise  Material  genug  mit,  das  in  einem 
besonderen  Oapitel  der  dritten  Abteilung  unseres  Werkes  eine  entsprechende 
Verarbeitung  fand. 

Unterdessen  besuchten  die  beiden  erwähnten  Herren  Nagasaki,  Osaka, 
Kioto,  Nagoya,  Yokohama  und  endlich  Tokio,  wo  sie  den  erloschenen  Vul- 
kan Fusiyama  bestiegen.  Von  Tokio  führte  der  Weg  nach  Hakodate  auf 
Jesso.  Hierher  reiste  Ereitner  allein,  da  Szechenyi  nach  Schanghai  zurück- 
fuhr. Ereitner  erwarb  sich  auf  Jesso  Verdienste  um  die  Erforschung  der 
Aino*s,  eines  eingeborenen,  jedoch  dem  Untergange  geweihten  Volksstammes. 
Er  wies  zuerst  nach,  dass  die  Aino's  von  Natur  nicht  braun,  wohl  aber 
schrecklich  schmutzig  sind  und  wohl  nur  aus  diesem  Grunde  bis  jetzt 
für  braun  galten. 

Während  Ereitner  noch  in  Japan  war,  reiste  der  Graf  nach  Peking,  um 
sich  dort  Beisepässe  zu  verschaffen.  Noch  in  Budapest  erhielt  Graf  Szechenyi 
vom  damaligen  Minister  des  Aeussem,  Grafen  Andrässy  und  dem  Minister- 
präsidenten Tisza  Legitimationen  und  Empfehlimgsschreiben  an  alle  Ge- 
sandtschaften, und  so  von  allen  Seiten  aufs  Wirksamste  unterstützt,  gelang 
es  ihm  auch  ziemlich  leicht,  das  Gewünschte  zu  erlangen.  Sehr  hilfreich 
und  zuvorkommend  war  ihm  gegenüber  einer  der  Mächtigsten  im  chinesi- 
schen Beiche,  der  Vice-Eönig  von  Petschili,  Li-Hung-Tschang,  einer  der- 
jenigen, die  in  China  zuerst  die  Fahne  des  Fortschrittes  entfalteten,  weshalb 


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GRAF   BBLA    RZÄCHENTI*R   REISE   IM    ÖSTLICHEN    ASIEN.  319 

er  wohl  gründlich  verhasst,  aber  anderseits  auch  anerkannt  ist.  Li-Hung- 
Tscbang  empfing  den  Grafen  und  den  General-Gonsul  von  Boleslawski  in 
zuvorkommendster,  freundlicher  Weise.  Er  versprach  seine  mächtige  Befür- 
wortung des  Unternehmens  im  Tsungli-Yamen^  und  hielt  auch  Wort,  denn 
das  Minister-Gollegium  war  bereits  bei  der  Ankunft  des  Grafen  von  Allem 
unterrichtei 

Den  8.  October  wurde  Graf  Sz^henyi  im  Tsungli-Yamen  empfangen. 
Das  Präsidium  im  Ministerrate  führte  Prinz  Eung^  der  Gross- Oheim  des 
Kaisers  von  China.  Nachdem  der  Zweck  der  Expedition  schriftlich  darge- 
stellt und  dem  Bäte  übergeben  worden  war,  was  in  China  unerlässlich 
notwendig  ist,  und  nachdem  Sz^chenyi  versprochen  hatte,  Berichte  über  die 
inneren  Zustände  des  Beiches  einzusenden,  erhielt  er  nach  einigen  Tagen 
den  gewünschten  Pass.  Den  Transport  des  Geldes  (in  Silber)  übernahm  aus 
Gefälligkeit  einer  der  ersten  chinesischen  Banquiers,  Herr  Hu,  und  nachdem 
auch  die  Ausrüstung  der  Expedition  vollendet  war,  schiffte  sich  diese  am 
7.  December  in  Schanghai  ein,  um  den  Yang-Tze-Kiang  hinaufzufahren. 
Im  Tagebuche  Sz^henyi's  steht:  «Endlich  brechen  wir  von  Schanghai  auf, 
wohl  ausgerüstet  mit  Allem.  Jeder  Schritt  nach  Westen  führt  uns  unserem 
geliebten  Vaterland  entgegen;  bis  wir  es  jedoch  durch  Mongolien  und  Buss- 
land oder  durch  Tibet  und  Indien  erreichen,  werden  wir  vielen  Entbeh- 
rungen, Mühseligkeiten  und  Gefahren  ausgesetzt  sein.  Vielleicht  hilft  uns 
Gott  und  vielleicht  führt  uns  unser  Stern  nach  Hause.  —  Heute  beginnen 
unsere  ernsteren  wissenschaftlichen  Studien.  Die  bisherigen  waren  üebung, 
Zdtvertreib  und  Vergnügen.  Wir  können  nun  zeigen,  ob  wir  etwas  zu 
leisten  im  Stande  sind,  und  ob  wir  den  Erwartungen,  welche  die  gebildete 
Welt  an  solche  Expeditionen  knüpft,  einigermassen  entsprechen  werden?» 
Als  regelmässiger  Begleiter  und  Dolmetsch  wurde  ein  Chinese  aufge- 
nommen, der  im  Bewusstsein  seiner  ünentbehrlichkeit  §  unverschämt  stahl». 
Auch  eine  der  vielen  Annehmlichkeiten !  —  Es  ist  übrigens  merkwürdig  und 
auch  charakteristisch  für  die  Autoren,  dass  sie  das  Volk  in  China  fast  überall 
loben ;  nur  sehr  selten  zeigt  sich  Groll  gegen  dasselbe.  Auch  erfahrt  man 
gleich  die  Gründe  für  das  feindUohe  Verhalten  des  Volkes.  Hauptsächlich 
ist  letzteres  dort  zu  beobachten,  wo  schon  vor  unseren  Forschem  Europäer 
gereist  waren! 

Nanking  wurde  in  der  Nacht  passirt,  und  da  ausser  in  Kiu-Kiang 
nicht  gelandet  wurde,  kam  die  ganze  Gesellschaft  wohlbehalten  in  Wu- 
Tschang,  respective  in  Hankau  an.  Hier  besuchte  die  Expedition  Li-Hang- 
Tschang,  den  Bruder  des  früher  erwähnten  Li-Hung-Tschang,  welcher  der- 
selben ausser  einem  Boote  noch  ein  Kanonenboot  als  Bedeckung  zur  Ver- 
fügung stellte.  Mit  Empfehlungen  an  die  Mandarine  in  La-Ho-Eu  versehen, 
verliess  die  Gesellschaft  alsbald  Hankau.  «Von  diesem  Momente  an  befanden 
wir  uns  in  den  Händen  der  Chinesen.»  Da  das  Boot  sich  als  zu  schwer  erwies, 


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•^20  GRAF    BISlA    SZEOHENYi'b   REISE   TM   ÖSTLICHEN   ASIEN. 

musste  man  drei  kleinere  Boote  nehmen  und  kam  nach  22  Tagen  in  La-Ho- 
Ku  an.  Nach  einer  weiteren  Wasserfahrt  von  30  Tagen  verliess  die  Expedi- 
tion bei  Tin-Tse-Kuan  den  Fiuss,  um  die  Landreise  anzutreten. 

Zu  diesem  Zwecke  musste  man  sich  das  einzige  Gommunicationsmittel, 
nämlich  Lasttiere,  Pferde  oder  Maultiere  verschaffen.  Durch  Protection  (für 
Geld  und  gute  Worte)  waren  die  gewünschten  Tiere  auch  zu  haben  und 
nach  Uebersteigen  des  T^m-Ltn^-Gebirges  erreichte  die  Expedition  Si- 
Ngan-Fu.  Auf  diesem  Wege  sahen  die  Beisenden  zuerst  Lösswohnungen, 
denen  sie  später  öfter  begegneten. 

Die  chinesischen  Städte  besitzen  zwei  Haupttypen ;  sie  sind  nämlich 
entweder  befestigt,  d.  h.  von  einer  Mauer  umgeben,  oder  offen,  in  letzterem 
Falle  sind  sie  gewöhnlich  grosse  Dörfer.  Die  Zahl  der  Einwohner  varürt 
stark;  doch  findet  man  nicht  selten  Städte,  welche  über  100,000  Seelen 
zählen.  Die  Gebäude  an  und  für  sich  genügten  noch,  würde  nicht  überall 
ein  so  riesiger  Schmutz  herrschen.  Auf  den  Gassen  hegen  Kehrichthaufen, 
in  welchen  Borstenvieh  wühlt ;  menschliche  Leichname  und  Cadaver  von 
Tieren  liegen  oft  tagelang  unbeerdigt  mitten  in  den  belebtesten  Gassen 
und  so  fort.  —  Dem  Volke  ist  aber  ein  gewisser  Humor,  eine  Nonchalance 
eigen,  die  es  demselben  möglich  machen,  über  alles  Aufregende  leicht  hin- 
wegzugehen ;  in  der  grössten  Wut  genügt  ein  Witz,  eine  Bemerkung,  um 
einen  ganzen  Haufen  Menschen  zum  Lachen  zu  bringen,  und  danü  hat  man 
bekanntlich  gewonnenes  Spiel.  Dem  Geologen  Loczy  passirte  es,  dass  er  von 
einer  wütenden  Menge  veifolgt,  in  einen  Laden  flüchten  musste ;  eine  Be- 
merkung über  ein  gut  gemästetes  Schwein  veränderte  jedoch  die  Lage  im 
Augenbhcke.  Die  Chinesen  sind  sozusagen  noch  Kinder,  welche  auch  nur 
dem  momentanen  Gefühl  gehorchen. 

Trotzdem  gibt  es  j edoch  in  China  eine  verhältnissmässig  sehr  entwickelte 
Cultur  und  Wissenschaft.  Es  gibt  hier  keine  öffentlichen  Schulen ;  sie  haben 
den  Charakter  der  Privatanstalten.  Die  Studien  beziehen  sich  nur  auf  Ge- 
schichte und  KeUgionsjphilosophie  nebst  der  Elrlemung  von  Classikem, 
während  die  exacten  Wissenschaften  ganz  vernachlässigt  werden.  Die  Stu- 
denten erhalten  im  Collegium  ausser  Wohnung  und  Kost  vom  Gouverneur 
monatUches  Gehalt,  wofür  sie  jedoch  je  eine  philosophische  Arbeit  liefern 
müssen.  Die  beste  Arbeit  wird  prämürt.  Das  Alter  der  Studenten  varürt 
zwischen  15 — 70  Jahren.  Nach  absolvirtem  Studium  muss  jeder  Student 
in  Gegenwart  des  Vicekönigs  und  zahlreicher  Würdenträger  öffentUche  Prü- 
fungen ablegen.  Wer  das  erste  Bigorosum  gemacht  hat,  besitzt  das  Becht, 
ein  zweites  und  zuletzt  ein  drittes  abzulegen.  Jede  gelungene  Prüfung  erhebt 
den  Studenten  über  seine  Mitmenschen.  Diejenigen,  die  erst  die  zweite  Prü- 
fung abgelegt,  bilden  die  Beamten-Classe,  welche  neun  Bangstufen  hat 
Wenn  jemand  auch  die  dritte  Prüfung  bestanden,  so  besitzt  er  das  Becht, 
vor  dem  Kaiser  die  höchste  Prüfung  zu  machen.  Nach  dieser  wird  er  MitgUed 


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ORAF   B&LA   8ZECHENYI*8    REISE   IM    ÖSTLICHEN    ASIEN.  -^21 

der  Akademie  Han-Lin;  als  solches  erhält  er  lebensläDgliches  Gehalt.  «Erb- 
liche Würden  besitzen  nur  die  Angehörigen  der  kaiserlichen  Familie.»  Wird 
jemand  also  geadelt,  so  ist  dieser  Adel  nicht  erblich,  sondern  im  Gegenteile 
rückwirkend,  indem  manchmal  sogar  der  sechste  Vorahne,  durch  und  für 
die  Verdienste  seines  Ur-Ürenkels,  den  Adel  erhält !  Wenn  auch  diese  Sitte 
an  und  für  sich  ebenso  unrichtig  ist,  wie  das  Gegenteil,  ist  es  immerhin 
bemerkenswert,  dass  man  in  einem  zurückgebliebenen  Lande  solch*  merk- 
würdige Ansichten  trifft.  Man  scheint  hier  den  «seif  made  man»  schon  länger 
zu  schätzen,  als  in  der  «neuen»  Welt. 

Eine  merkwürdige  Eigenschaft  ist  femer  die  Etiquette  der  Chinesen. 
Diese  ist  Lebensbedürfniss,  wenn  auch  oft,  besonders  für  den  Fremden, 
höchst  lästig.  Etiquette  ist  immer  das  Besultat  einer  Epoche  geistiger  Stag- 
nation, welche  mancherlei  Ursachen  haben  kann,  hauptsächlich  aber  eine 
Folge  von  Unterdrückung  seitens  eines  fremden  Volkes  ist.  —  eine  auch  in 
der  Geschichte  Ghina's  sehr  leicht  nachweisbare  Erscheinung.  Bevor  man 
einen  Schritt  aus  dem  Hause  thut,  muss  man  sich  sog.  «grosse»  und 
«kleine»  Visitkarten  machen  lassen.  Letztere  zeigen  nur  den  Namen,  erstere 
aber  alle  Titel  des  Besitzers  an.  «Vom  Vicekönig  angefangen  bis  zum 
Nachtwächter,  jeder  verlangt  die  Einhändigung  der  Visitkarte  eines  eintref- 
fenden Beisenden,  und  ist  glücklich,  wenn  er  in  den  Besitz  der  «grossen» 

gelangen  kann» «Wurde  ein  Pferdekauf  abgeschlossen,  so  war  der 

Händler  erst  zufrieden,  wenn  er  die  grosse  Karte  mit  in  den  Kauf  bekam, 
und  selbst  die  als  Escorte  beigestellten  Soldaten  wurden  erst  gefügig,  wenn 
sie  die  schriftliche  Aufklärung  erhalten  hatten,  wen  sie  begleiteten.» 

Die  Art  der  Begrüssung  ist  verschieden.  Untergeordnete  knien  nieder^ 
um  ihre  Ehrfurcht  zu  bezeigen.  Es  kam  vor,  dass  selbst  commandirende 
Generale  vor  den  Mitgliedern  der  Expedition  niederknieten.  Von  Ebenbür- 
tigen wird  man  durch  Verbeugung  begrüsst.  Handschlag  ist  noch  nicht 
überall  eingebürgert.  Bei  der  Tafel  oder  auch  bei  anderen  Gelegenheiten 
sitzt  der  Fremde  auf  dem  Ehrenplatze  zur  Linken  des  Gastwirtes.  Das 
Mahl  ist  gewöhnlich  sehr  lang  und  schliesst  mit  ungezuckertem  Th^e.  Hat 
man  die  Theetasse  vom  Munde  abgesetzt,  so  erhebt  man  sich  sofort  und  geht 
unter  fortwährenden  Complimenten  und  « Tschin  »-s  aus  dem  Hause.  Die 
Chinesen  kochen  zwar  gut,  doch  ist  die  unbekannte  Provenienz  der  Speisen 
unbehaglich  ;  auch  wird  Alles  so  stark  gewürzt,  dass  es  für  einen  eiuropäi- 
schen  Gaumen  fast  ungeniessbar  wird ;  die  Beisenden  konnten  eine  lange 
Zeit  hindurch  nirgends  geniessbare  Milch  erhalten!  Zum  Essen  bedient 
sich  der  Chinese  nicht  der  Gabeln  und  Messer,  sondern  elfenbeinerner 
Essst&be. 

Eine  merkwürdige  Sitte  ist  es,  dass  man  nach  Genuss  der  letzten, 
unausbleiblichen  Tasse  Thee  augenblicklich  das  Mahl  verlässt.  Uebrigens 
gibt  es  noch  unzählige  Gebräuche,  welche  den  unserigen  diametral  entgegen- 

Ungariflch«  Berue.  XI.  1891.  IV.  Heft.  21 

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3:^2  GRAF   B^LA   8Z^CHENTl's    REISE   IM   ÖSTLICHEN    ASIEN. 

gesetzt  sind.  «So  ist  die  Trauerfarbe  in  China  weiss,  der  Ehrensitz  ist  zur 
Linken  des  Hausherrn ;  zum  Zeichen  der  Ehrfurcht  wird  der  Hut  aufbe- 
halten, die  Männer  tragen  kein  Hemd,  die  Frauen  kennen  keinen  Bock.  In 
den  Sattel  steigt  man  von  rechts;  geschrieben  wird  nach  unten  und  von 
rechts  nach  links;  mit  der  Bussole  orientirt  man  sich  immer  nach  Süden.  Als 
Höllenqualen  denkt  man  nicht  an  das  Brennen,  sondern  an  das  Erfrieren  in 
Eiskrystallen.» 

«Eine  eigentümliche  Stellung  nehmen  die  Frauen  ein.  Die  ganze  Be- 
gierung  hat  einen  familiären  Anstrich ;  die  Ehrfurcht  vor  den  Eltern,  haupt- 
sächlich aber  vor  der  Mutter  bildet  die  Basis  der  Moralität.  Trotzdem  sind  die 
Frauen,  wenigstens  in  den  vornehmeren  Familien,  ganz  und  gar  von  den 
Männern  abgesondert  Die  Absonderung  ist  aber  gründlich  verschieden  vom 
Leben  in  den  Harems ;  die  Frau  in  China  besitzt  vielmehr  Freiheiten,  ja 
sogar  bestimmte  Vorrechte,  so  dass  die  Absonderung  viel  eher  als  Ausfluss 
der  Schicklichkeit  und  Eleganz  erscheini  Bei  der  Handwerker-  und  acker- 
bauenden Classe  besitzen  die  Frauen  und  Mädchen  dieselben  Freiheiten, 
wie  bei  uns.  Einzig  und  allein  die  vermögenden  und  vornehmen  Damen 
huldigen  den  Sitten,  welche  der  chinesische  «bon  ton»  erfordert.  In  solchen 
Fällen  werden  schon  die  Kinder  streng  abgesondert ;  es  ist  unschicklich,  den 
Vater  nach  seiner  Frau  und  seinen  Töchtern  zu  befragen ;  sein  bester  Freund 
sogar  darf  sie  nicht  sehen.  Meistens  heiratet  der  Bräutigam  die  Braut,  ohne 
sie  gesehen  zu  haben  und  erbhcki  ihr  Gesicht  erst,  wenn  sie  schon  seine 
Frau  ist .  .  .  Der  Chinese  liebt  Geselligkeit  und  Plauderei  ausserordentlich, 
die  Frau  darf  aber  an  solchen  nicht  teilnehmen.  Und  trotzdem  ist  die  Frau 
das  belebende  Glied  in  der  Familie  und  ihr  Einfluss  ist  sehr  gross.  So  wor- 
den wir  in  Si-Nying-Fu  von  einem  Mandarin  ersucht,  ihn  zu  besuchen,  da 
seine  Frau  uns  sehen  möchte,  natürlich  durch  eine  Maueröffnung»  . . . 

Doch  kehren  wir  jetzt  zu  den  Beisenden  zurück.  «In  St  Ngan  Fu  sah 
ich  eine  grosse  Menge  Bettler,  arme  Leute  und  grosses  Elend.»  Hier  besich- 
tigte die  Expedition  auch  die  berühmte  «Nestorianische  Tafel».  Diese  stammt 
aus  dem  Jahre  781  und  beweist,  dass  die  Nestorianer  schon  vor  so  vielen 
Jahrhunderten  ihr  Bekehrungswerk  begonnen.  Ueber  diese  Tafel  haben  wir 
im  demnächst  erscheinenden  H.  Bande  des  Werkes  von  Bector  Heller  eine 
sehr  interessante  Arbeit  zu  erwarten.  Von  Si-Ngan-Fu  erreichte  die  Expe- 
dition in  20  Tagen  Lan-Tschou-Fu.  Die  Beisenden  bestiegen  Maultiere, 
während  ihr  Gepäck  auf  Wagen  geladen  wurde.  Auf  dieser  Tour  traf  die 
Herren  der  erste  Frost;  sie  sahen  den  Hoang-Ho  fast  ganz  zugefroren.  «Dies 
ist  einer  der  namhaftesten  Ströme  unserer  Erde.  Schon  oft  wechselte  er  sein 
Bett.  In  früheren  Zeiten  lag  seine  Mündung  bei  dem  Golf  von  Pe-TschüLi, 
unter  dem  39.  Grad,  jetzt  mündet  er  um  ungefähr  5  Grad  südlicher.  Ob 
diese  Veränderungen  kataklismatisch  sind  oder  aber  durch  Verschlammung 
hervorgerufen  wurden,  kann  nicht  festgestellt  werden.  Ein  Blick  auf  die 


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GRAF   Bihk   SZEOHBNYl's   REISE   IM    ÖSTLICHEN    ASIEN.  323 

Karte  zeigt  nns  seinen  merkwürdigen,  unregelmässigen  Lauf;  der  Fluss 
richtet  gewöhnlich  grössere  Verwüstungen  an,  als  er  Segen  verbreiten 
könnte.! 

Die  Beisenden  beobachteten  zweimal  sogenannte  Neben-Sonnen  und 
öfter  Mondhöfe^  deren  Entstehung  sie  dem  feinen  Staube  der  in  der  Luft 
schwebte,  zuschreiben. 

Von  letzterem  hatten  sie  besonders  viel  zu  leiden.  So  schreibt  Kreitner : 
«Ich  will  nichts  erzählen  von  dem  unstillbaren  Sehnen  nach  reinen  Händen, 
in  deren  durch  die  Trockenheit  der  Luft  zerrissenen  Flächen  der  Staub  sich 
als  unausrottbare  Tättowirung  eingefressen  hat  .  .  .»,  doch  erging  es  ja  be- 
sonders auch  dem  Gesichte  so^  und  die  kleinste  Berührung  desselben  genügte, 
um  es  bluten  zu  machen.  Der  Schmutz,  der  in  dem  grossen  Lande  herrscht, 
übt  einen  deprimirenden  Einfluss  aus;  bei  Tag  Strapazen  aller  Art,  bei 
Nacht  keine  Buhe  wegen  gewisser  Insecten,  immerwährend  vom  Pöbel 
begafft,  und  als  « Jang-kwei-tse»  (fremde  Teufel)  titulirt,  das  sind  fürwahr 
Plagen,  die  im  Stande  sind  «Apathie,  Stumpfsinn  und  Gleichgiltigkeit»  zu 
erzeugen. 

Die  ganze  Boute  fährte  durch  sehr  langweilige  G^enden ;  nichts  als 
LÖSS  und  Sand,  «eine  wirkliche  Mondlandschaft» ;  im  Löss  sieht  man  ganze 
Städte,  doch  sind  dieselben  wüst  und  leer ;  ein  trostloser  Anblick !  Nirgends 
etwas  Grünes,  höchstens  einige  Büschel  Gras.  Hinter  Sing-Jing-Tschou 
sieht  man  ganze  Städte-Buinen ;  wo  früher  entwickelte  Cultur  geherrscht 
und  viele  Menschen  gewohnt,  dort  sieht  man  heute  einen  verkümmerten 
Menschenschlag.  Der  Grund  hiefür  ist  schwer  anzugeben;  es  wird  behauptet, 
dass  die  Moslim-Bevolution  die  Einwohner  gezwungen  hätte,  sich  eine  neue 
Heimat  zu  suchen,  während  Szechenyi  die  in  trockenen  Jahren  auftretende 
Hungersnot  als  wahrscheinlicheren  Grund  annimmt.  Und  gerade  hier  be- 
nahm sich  das  Volk  sehr  anständig ;  dasselbe  scheint  von  den  unerquick- 
lichen Verhältnissen  gar  sehr  gedrückt  zu  sein. 

Die  Stadt  Lan-Tschou-Fu  ist  eine  der  bedeutendsten  Städte  im  Innern 
Gbina's.  Die  Einwohnerzahl  beträgt  vielleicht  eine  halbe  Million,  die  Zahl  der 
Häuser  ungefähr  40,000.  Nur  die  wenigsten  sind  aus  Stein,  die  meisten  aus 
Holz.  Das  Strassenpflaster  besteht  aus  Granit-  oder  aus  Marmortafeln.  «Lan- 
Tschou-Fu  ist  keine  arme  Stadi  Das  bemerkt  der  Fremde  sogleich,  sobald 
er  die  Hauptstrassen  betritt,  an  der  grossen  Zahl  der  Geschäftsiocale,  in 
welchen  die  behäbigen  Gestalten  der  Verkäufer  vollauf  zu  thun  haben,  um 
die  Kunden  zu  befriedigen,  welche  von  allen  Seiten  herbeiströmen.  Seiden- 
stoffe, Seidenstickereien,  Holz-  und  Steinschnitzereien,  Silber-  und  Nephrit- 
schmuck, Messing-  und  Eisengefässe,  endlich  Feldfrüchte,  Obst,  Tabak  und 
Thee  sind  die  gangbarsten  Handelsartikel  der  Stadt ...  In  allen  Handels- 
geschäften repräsentirt  sich  der  Chinese,  besonders  dem  Europäer  gegenüber, 
als  Gentleman ;  er  zeigt  ein  unbedingtes  Vertrauen,  und  wenn  auch  seine 


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324  GRAF   BÄLA   SZlÄCHBNTl's   EEISB   IM    ÖSTLICHEN    AßDSN. 

innersten  G^anken  immer  den  grösstmöglichen  Gewinn  anstreben  mögen, 
so  contrastirt  besonders  die  äussere  Abwickelung  der  Greldgeschäfte  mit  der 
angeborenen  Habsucht  des  Volkes  in  seltsamer  Weise  .  . .  Wenn  wir  nun 
die  chinesischen  Handarbeiten  im  Allgemeinen  betrachten^  z.  B.  Holz- 
schnitzereien, Giselirarbeiten,  Steinschleifereien  etc.,  so  steht  (an  Ort  und 
Stelle)  der  niedere  Preis  nicht  im  geringsten  Verhältnisse  zu  der  verbrauch- 
ten Mühe  und  der  künstlerischen,  sich  auf  das  kleinste  Detail  erstreckenden 
Genauigkeit  der  Arbeit.  Solche  Resultate,  die  in  Europa  mit  Gold  aufge- 
wogen werden  müssten,  wenn  sie  überhaupt  zu  erzielen  wären,  sind  nur 
erreichbar,  wenn  eine  genügende  Anzahl  anspruchsloser  und  genügsamer 
Kräfte  vorhanden  ist.  Und  in  der  That,  an  solchen  Künstlern  ist  in  China 
kein  Mangel.  So  wie  MiUionen  von  Menschen  iu  jenem  Lande  zufrieden, 
heiter  und  glücklich  sind,  die  Tag  für  Tag  ihren  Nacken  unter  centner- 
schwere  Lasten  beugen,  wenn  sie  dadurch  nur  den  nötigen  Beis,  einige 
Schalen  Thee  und  den  erforderlichen  Tabak  für  die  Wasserpfeife  erwerben 
können,  so  schneiden,  schnitzen  und  schleifen  wieder  andere  Millionen  tag- 
täglich an  den  erdenklichsten  Kunstwerken,  denen  eine  unermüdliche 
Phantasie  immer  neue  Formen  und  Gestalten  zu  verleihen  vermag.  Eine 
enorme  Concurrenz  drückt  den  Wert  der  Arbeit  herab  . . .  Der  geringe  Lohn 
lässt  dem  Arbeiter  nicht  Zeit,  darüber  nachzudenken,  wie  es  anders  sein 
könnte,  als  es  ist,  sondern  treibt  ihn  nur  zu  regerer  Thätigkeit  an  ;  rastlos 
arbeitet  er  für  seinen  Härm,  ohne  in  Erwägung  zu  ziehen,  dass  dieser  durch 
seinen  Schweiss  zum  reichen  Manne  wird ;  er  stellt  über  die  ungleiche  Ver- 
teilung des  Eigentums  keine  Betrachtung  an Der  müssiggehende 

Arbeiter  muss  und  wird  in  China  verhungern.  Wenn  zwei  Arme  den  Dienst 
verweigern,  so  ersetzen  am  nächsten  Morgen  zwanzig  andere  die  ver- 
lorene Kraft. 

Daher  stammt  die  Anspruchslosigkeit  und  Bescheidenheit  vom  chine- 
sischen Lastträger  angefangen  bis  zum  Künstler.  Diese  Tugenden  sind  ein- 
gewurzelt, sie  sind  angeboren.  Und  wenn  z.  B.  in  Califomien  jüngst  die 
amerikanischen  Arbeiter  vorderhand  vergebliche  Anstrengungen  machten, 
die  massenhaft  eingewanderten  fleissigen,  unermüdlichen  und  wohlfeilen 
Chinesen  zu  verdrängen,  weil  sie  neben  denselben  zu  Grunde  gehen  müssen, 
so  beweisen  diese  Factoren  der  Volksbewegung  in  erster  Linie  doch  nur  die 
grellen  Gegensätze  zwischen  der  bescheidenen  Genügsamkeit  der  Chinesen 
und  den  verfeinerten  Ansprüchen  der  Amerikaner.  Die  meisten  ausgewan- 
derten Chinesen  kehren  nach  mehreren  Jahren  wieder  zurück.  Sie  verstan- 
den es,  so  zu  sparen,  dass  sie  durchwegs  den  Buf  geniessen,  vermögende, 
ja  reiche  Leute  zu  sein.» 

Von  Lan-Tschou-Fu  reiste  die  Expedition,  ohne  bemerkenswerteres 
Ereigniss,  den  zugefrorenen  Hoang  Ho  übersetzend,  über  Hung-Tschung-Je, 
Tscha-Ko'Je,  wo  die  Boute  Przewalskij's  gekreuzt  wurde,  und  kam  dann 


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äflAlP  Bl^   SZ^CHBNYI^S   BEISE  IM   ÖSTUGHEN   ASIBN.  3^3 

nach  Ku'Lari' Hsien,  wo  die  Wüste  Gobi  beginnt.  (Szeehenyi  schreibt 
consequent  «Eopi»,was  etymologisch  richtiger  ist,  als  das  corrumpirte,  doch 
allgemein  gebräuchliche  «Gobi».)  Von  £/Uin9-T5c/k>zi-f\i  an  sahen  die  Bei- 
senden fast  immer  die  berühmte  chinesische  Mauer. 

Endlich,  104  Tage  nach  der  Abreise  von  Schanghai,  nach  Zurücklegung 
von  523  geographischen  Meilen  Weges,  gelangte  die  Expedition  nach  Su- 
Tschou,  wo  der  mächtige  und  Li-Hung-Tschang  gleichgestellte  Tzo-Tzung- 
Tang  seine  Besidenz  aufgeschlagen  hat.  «Tzo-Tzung-Tang  ist  ein  ältlicher 
Herr,  der  die  60er  Jahre  schon  überschritten  hat;  sein  Schnurrbart  ist  schon 
grau  melirt,  aber  noch  nicht  weiss.  Er  ist  von  kleiner,  gedrungener  Statur, 
mit  einem  grossen  Kopf  auf  starken  Schultern.  Er  ist  stolz,  duldet  keinen 
Widerspruch ;  seine  Umgebung  zittert  vor  ihm.  Um  in  seiner  Armee  das 
Opiumrauchen  unmöglich  zu  machen,  erfand  er  eine  neue  Strafe:  er  liess 
den  Soldaten  die  Lippen  oder  die  Ohren  abschneiden.  Doch  nützte  das 
nichts.  Seitdem  sein  Lieblingssohn  gestorben,  ist  Tzo-Tzung-Tang  milder 
und  nachsichtiger.  Doch  verfällt  er  manchmal  wieder  in  seine  Wildheit,  und 
läset  einige  Soldaten,  oder  wie  in  meiner  Anwesenheit,  vier  Mandarine  in 
seinem  Lager,  vor  seinem  Hause,  enthaupten.»  Obzwar  ein  Parvenü  im 
strengsten  Sinne  des  Wortes,  ist  er  doch  ein  Grand-Seigneur,  und  als  einer 
derjenigen  Beamten  gekannt,  die  unbestechlich  sind. 

So  liebenswürdig  Li-Hung-Tschang  war,  so  unliebenswürdig  zeigte 
sich  Tzo.  —  Er  trachtete  nach  Möglichkeit,  den  Beisenden  von  einer  Beise 
in  die  Mongolei  abzureden,  ja  war  sogar  entschlossen,  denselben  alle  Hin- 
demisse in  den  Weg  zu  legen.  §  Höchst  wahrscheinlich  wünschte  er  nicht, 
dass  Europäer  die  dortigen,  ungeordneten  Verhältnisse  beobachten  und 
kennen  lernen ;  denn  diese  sind  gar  nicht  so  glänzend  und  so  zufrieden- 
stellend, als  Tzo  es  dem  Tsungli-Yamen  weismachen  möchte.»  Er  ist  eben 
ein  Despot  von  reinstem  Wasser. 

Oraf  Szeehenyi  reichte,  wie  gewöhnlich  in  China,  eine  Bittschrift  ein, 
um  die  Erlaubniss  zur  Fortsetzung  der  Beise  zu  erhalten.  Die  Antwort  dar- 
auf war  trostlos.  «Ich  glaube  und  bin  dessen  sicher,  dass  es  unmöglich  ist, 
in  jene  Bichtung  zu  reisen.  Ich  habe  an  das  Tsungli-Yamen  einen  Brief 
geschickt,  in  welchem  ich  dasselbe  schreibe  ...  Sie  sind  ein  Europäer,  folg- 
lich kann  ich  Ihnen  nicht  befehlen,  thun  Sie,  was  Sie  wollen;  ich  verliere 
keine  Zeit,  um  mit  Ihnen  den  Gegenstand  noch  ein  Mal  zu  besprechen  . . . 
Ihren  Dolmetsch  Sin  werde  ich  aber  bitten,  in  meinem  Yamen  zu  verweilen, 
während  Sie  Ihre  Beise  unternehmen  ...»  Endlich,  nach  langem  Parlamen- 
tiren erhielten  die  Beisenden  die  unerwartete  Erlaubniss:  tsammt  und  son- 
ders die  Mauer  zu  passiren,  um  nach  Tung-Hoan-Hsien  zu  reisen.» 

Am  17.  April  brach  die  Expedition  von  Su-Tschou-Fu  auf,  um  nach 
einer  Tagereise,  bei  Kia-Yü-Kuan  die  «grosse  Mauer»  zu  verlassen.  Diese 
ist  gegen  3300  Kilometer  lang,  und  reicht  von  der  Mandschu-Stadt  Oirin 


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^^  GRAF    B^LA   SZ^CHENYl's   REISE   IM   ÖSTLIGHEK   ASIEN. 

bis  circa  50  Kilometer  hinter  Kia-  Yü-Kuan ;  ihre  durchschnittliche  Höhe 
beträgt  ungefähr  9*4  Meter,  in  je  250  bis  300  Meter  Entfernung  erheben  sich 
viereckige,  18  bis  20  Meter  hohe  Verteidigungstürme;  die  Krone  ist  breit 
genug,  um  eine  doppelspurige  Eisenbahn  aufzunehmen.  Diese  immense 
Arbeit  wurde  im  Jahre  214  v.  Chr.  begonnen,  zur  Abwehr  der  Mandschu- 
Tataren,  und  wurde  erst  im  15.  Jahrhunderte  beendet.  Die  Mauer  besteht 
grössten  Teils  aus  aufgeworfener  Erde,  welche  jedoch  an  manchen  SteUen 
mit  Ziegelwerk  verkleidet  ist 

Drei  Tage  vor  der  Ankunft  in  An-Si-Fan  erlebten  die  Reisenden  einen 
Sturm  in  der  Wüste.  «Der  Wind  und  der  aufgewirbelte  Sand,  welcher  wie 
Nadelspitzen  auf  das  Gesicht  wirkte,  machten  das  Athmen  fast  unmöglich.» 
Sonst  scheint  aber  ein  solcher  Orkan  nicht  besonders  gefährlich  zu  sein, 
und  wie  man  gewöhnt  ist,  unter  «Wüste»  den  Inbegriff  aller  Schrecknisse 
zu  verstehen,  so  ist  es  auch  falsch,  wenn  man  sich  von  einem  Wüstensturme 
ungeheuerliche  Vorstellungen  macht.  Wir  werden  später  Gelegenheit  haben, 
ausführlicher  über  die  Wirkung  des  Windes  zu  sprechen,  und  wollen  nur 
vorläufig  erwähnen,  dass  die  Mauern  der  Stadt  An-Si-Fan  bis  zu  ihrer 
Krone,  d.  h.  bis  zu  einer  Höhe  von  6  Meter  mit  einem  Walle  von  Flugsand 
umgeben  sind. 

Nach  einer  viertägigen  Reise  erreichte  die  Expedition  Tung-Hoan- 
Hsien.  Diese  Stadt  ist  eine  Oase  in  der  Steinwüste ;  ihre  Einwohnerzahl 
beträgt  ungefähr  20,000. 

Diese  Station  war  der  letzte  Punkt  gegen  Westen  auf  der  Landreise. 
Von  hier  kehrten  die  Reisenden  auf  demselben  Weg,  den  sie  gekommen, 
zurück  nach  Su-Tschou-Fu,  wo  sie  von  Tzo-Tzung-Tang  sehr  gut  empfangen, 
zu  einem  Festmahl  geladen  und  nach  jeder  Richtung  hin  befragt  wurden. 
Auch  jetzt  wiederholte  er,  wenn  auch  unter  fortwährenden  Widersprächen 
und  Versicherungen  seines  Wohlwollens,  dass  es  unmöglich  sei,  vom  See 
Kuku-Nor  nach  Lhassa  vorzudringen.  Seine  Macht  reiche  nicht  so  weit ; 
doch  später  gab  er  unter  anderen  väterlichen  Ratschlägen  auch  einen  von 
vitalem  Interesse :  Szechenyi  solle  sich  nämlich  einer  mongolischen  Kara- 
wane anschliessen,  um  Lhaasa  zu  erreichen. 

Am  24.  Mai  traten  die  Reisenden  den  Rückweg  nach  Sining-Fu  an, 
welche  einen  vollen  Monat  in  Anspruch  nahm.  In  Kan-Tschou-Fu  unter- 
nahm Loczy  einen  Ausflug  in  das  NanSan-Gebirge. 

Von  Kan-Tschou-Fu  musste  Kreitner  auf  einem  Wagen  transportirt 
werden,  da  er  an  häufigen  Fieber- Anfällen  und  grosser  Schwäche  liti 

In  Sining-Fu  verhandelte  man  geraume  Zeit  mit  dem  dortigen  Gou- 
verneur, der  im  Rufe  eines  den  Europäern  feindlich  gesinnten  Menschen 
stand,  doch  diese  Gesinnung  gut  zu  verbergen  wusste.  Auch  er  riet  von  der 
Reise  nach  Lhassa  ab,  indem  er  Schauergeschichten  zum  besten  gab,  erteilte 
jedoch  zu  guter  letzt  die  Erlaubniss,  die  Reise  anzutreten,  falls  man  sich 


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6mAF   Bl^A   SZl^CHBNYI^S   REIgE   IM   Ö8TLI0HEN   A8IBN.  ^^7 

ausser  allem  Nötigen  noch  einen  Dolmetsch  verschaffen  könne.  Das  ist  aber 
fast  gleichbedeutend  mit  der  Vereitelmig  der  Expedition.  Doch  versprach 
der  Gouverneur  den  Reisenden  bis  zum  Euku-Nor  eine  Militär-Escorte  mit- 
zugeben und  versah  dieselben  ausserdem  mit  Empfehlungsschreiben  an 
die  Lama's. 

Das  war  sehr  wichtig.  Denn  früher  schon  hörten  die  Herren,  dass  es 
am  besten  wäre,  die  Protection  eines  «Hutuctu»,  d.  h.  eines  Ober-Lama's 
oder  eines  sogenannten  •  Heiligen»  zu  erlangen;  denn  selbst  die  regierenden 
Fürsten  besitzen  nicht  so  viel  Macht  und  Einfluss,  wie  diese. 

Die  Lama's  sind  die  fechten  Repräsentanten  der  buddhistischen  Re- 
ligion»,  die  bekanntlich  erst  im  VH.  Jahrhunderte  von  Indien  hier  einge- 
drungen ist 

iDie  Lehren  des  Buddhismus  kamen  von  einem  Manne,  dessen  Gemüt 
in  nahezu  krankhafter  Erweichung  die  ganze  Welt  in  ein  Paradies  umzu- 
gestalten wünschte :  Liebe^  Friede,  Freundschaffc  und  Brüderlichkeit,  das 
waren  die  Ideen,  mit  welchen  Sakia  Muni,  ein  indischer  Fürstensohn,  alles 
Lebende  zu  einer  ungetrübten,  harmonisirenden,  seligen  (Gemeinde  ver- 
einigen wollte,  indem  er  hoffte^  in  solcher  Weise  den  ärgsten  Feind  alles 
Bestehenden,  den  «Schmerz»,  in  wirksamster  Weise  bekämpfen  zu  können. 
Sakia  Muni  —  Buddha  ist  nur  ein  Ehrentitel,  bedeutet  «Erleuchteter»  — 
gründete  die  Religion,  nachdem  er  allen  Reichtümern  und  Ehren  seines 
Standes  entsagt  hatte,  ungefähr  500  Jahre  v.  Chr.  Da  er  alle  blutigen 
Opfer  beseitigte  und  mit  dem  Grundsätze,  dass  die  am  meisten  Hilfsbedürf- 
tigen in  erster  Linie  zum  Heile  berufen  sind,  das  Kastenwesen  der  Brah- 
minen  verwarf,  bewegte  sich  die  Reform  in  einem  streng  socialen  Rahmen 
und  fand  in  kurzer  Zeit  bei  den  unteren  Volksschichten  ungeheueren  Anhang. 
Als  dann  die  Mohamedaner  bei  Gelegenheit  ihrer  Invasion  in  Indien  alle 
buddhistischen  Tempel  und  Klöster  zerstörten,  flüchteten  die  Gläubigen  nach 
Tibet,  welches  dadurch  das  eigentliche  Heim  der  Buddhisten  wurde.» 

Da  diese  Religion  auch^  wie  jede  andere,  den  Priestern  eine  grosse 
Macht  einräumte,  welche  diese  raissbrauchten,  wurden  Reformen  nötig.  Im 
XIV.  Jahrhundert  trai  ein  solcher  Reformator,  Tsong-Kaba  auf,  der  in  dem 
von  der  Expedition  besuchte  Kloster  Kum-Bum  geboren  wurde;  «er  verbot 
die  Ehe  der  Priester,  die  Zauberei,  den  Genuss  des  Tabaks,  aller  geistigen 
Getränke  und  des  Knoblauchs.  Infolge  dieser  Reformen  spaltete  sich  die 
Religion  in  die  sog.  gelbe  und  in  die  rote  Kirche.  Seit  Tsong-Kaba's  Tod 
datirt  auch  der  Glaube  an  die  Unsterblichkeit  hoher  Priester.»  Die  jewei- 
ligen Nachfolger  Tsong-Kaba's  heissen  «Dalai-Lama»,  und  sind  in  einer 
Person  Papst  und  König  in  Tibet.  Stirbt  ein  solcher,  so  wird  von  den  Lama's 
selbstverständlich  alsbald  jenes  Kind  gefunden,  in  welches  die  Seele  des 
früheren  Lama's  hineingefahren  ist ;  natürlich  muss  dieses  Kind  von  gänz- 
lich einfiusslosen  Eltern  stammen,  um  den  Priestern  die  Regierung  nicht 


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328  GRAF   B^LA   SZlÄOHENTl'ß   REISE   IM    ÖSTLICHEN   ABSM. 

streitig  machen  zu  können.  Denn  der  Dalai-Lama  ist  eigentlich  nur  eine 
«machtlose  Scheingrössei,  eine  Puppe  in  den  Händen  der  Priesterschaft. 
Die  Priester  wollen  und  brauchen  es,  dass  man  dem  Dalai-Lama  eine  unbe- 
grenzte Hochachtung  und  Verehrung  entgegen  bringe,  denn  nur  so  sind  sie 
im  Stande,  ihre  ausserordentliche  Macht  und  Gewalt  aufrecht  zu  erhalten. 
Dies  ist  auch  der  Orund,  warum  die  Lama's  sich  allen  Forschungen  gegen- 
über so  verschlossen,  ja  feindlich  zeigen.  Durch  Bekanntmachung  ihrer  Ma- 
nipulation würden  sie  am  allerwenigsten  gewinnen;  «sie  wissen  recht  gut, 
dass  einem  Europäer,  der  ihr  Land  betritt,  andere  nachfolgen  würden,  die 
dem  Volke  Sachen  erzählen  möchten,  die  es  nicht  zu  wissen  braucht.  Ihre 
Macht  wird  unerschütterUch  bleiben,  so  lange  ihr  Königreich  von  keinem 
Unberufenen  entweiht  wird.  Darum  ist  Tibet  verschlossen  und  darum  wird 
Tibet  noch  lange  verschlossen  bleiben.»  Selbst  der  berühmte  «goldene  Esel» 
kann  hier  nicht  eindringen  (Przewalskij  wurde  in  Lhassa  nicht  eingelassen, 
trotz  der  reichen  Oeschenke,  die  er  vom  Zaren  für  den  Dalai-Lama  mit- 
brachte), und  es  war  bis  jetzt  nur  sehr  wenigen  Europäern  gegönnt,  diesen 
Hauptort  des  Buddhismus  zu  besuchen.  Auch  der  Expedition  des  Grafen 
Szechenyi  gelang  es  aus  den  oben  etwas  ausführlich  behandalten  Gründen 
nicht,  Lhassa  zu  erreichen. 

Doch  folgen  wir  den  Beisenden  auf  ihrer  Boute. 

Am  28.  Juni  verliessen  dieselben  Si-Ning-Fu  unter  militärischer  Be- 
gleitung und  erreichten  das  Kloster  Kum-Bum  noch  an  demselben  Tage. 
Hier  wurden  sie  von  den  drei  Haupt-Lama*s  empfangen,  welche,  vom  Gou- 
verneur schon  früher  instruirt,  dem  Grafen  in  einer  langen  Bede  dasselbe 
mitteilten,  was  er  schon  x-mal,  in  allen  möglichen  Tonarten  und  Variationen 
gehört  hatte :  der  Weg  sei  wegen  der  Fan-Tse  (gleichbedeutend  mit  dem 
«Barbaras»  der  Bömer)  ungangbar,  sogar  Lama's  seien  der  Ermordung  aus- 
gesetzt etc.  etc. ;  mit  einem  Worte,  es  sei  unmögUch,  nach  Lhassa  zu  kom- 
men. Es  war  auch  unmöglich,  mit  irgend  einem  der  Lama's  eine  Privat- 
Abmachung  zu  treffen,  da  sich  Alle  den  Bestechungen  gegenüber  fest  zeig- 
ten. Von  Si-Ning-Fu  unternahmen  die  Herren  Szechenyi  und  Löczy  (Kreitner 
war  unwohl)  noch  einige  kleinere  Ausflüge  nach  den  Klöstern  Altin  und 
Tschobson,  welche  aber  von  gleichem  Misserfolg  begleitet  waren. 

Endlich  brachen  die  beiden  Herren  auf,  um  wenigstens  den  Kuku-Nor 
zu  besuchen.  Trotzdem  sowohl  der  Gouverneur  als  auch  sein  Vertreter  sehr 
dagegen  waren,  mussten  sie  sich  endlich  doch  entschliessen,  die  Erlaubniss 
zur  Beise  und  zur  Erlangung  einer  Escorte  zu  erteilen. 

Die  Boute  führte  über  Tonkerr  und  über  das  Kloster  Tunkurr-Gomba, 
wo  den  Beisenden  ein  unfreundlicher  Empfang  zu  Teil  wurde,  zum  See 
Kuku-Nor  (Nor  selbst  bedeutet  schon  See).  Letzterer  wurde  vor  Szöchenyi 
nur  von  den  Missionären  Huc  und  Gäbet,  -femer  vom  Obersten  Przeu^alskij 
besucht.   Der  Kuku-Nor  nimmt  ausser  einer  Menge  kleinerer  Flüsse  drei 


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GRAF   B^LA    BZ^OHBNYl's   REISE   IM    ÖSTLICHEN    ASIEN.  '^ 

bedeutendere  auf;  da  der  See  keinen  Abflugs  bat,  hängt  sein  Wasserstand  von 
demjenigen  der  einmündenden  Flüsse  ab.  Wie  es  scheint^  ist  der  Euku- 
Nor  im  stetigen  Fallen  begriffen,  worauf  seine  üferterrassen  hindeuten.  Sein 
Wasser  ist,  wegen  der  grossen  Verdunstung,  salzig.  Der  Euku-Nor  ist  aber 
keineswegs  ein  Teil  eines  früheren  Meeres,  sondern  ein  gewöhnlicher  See,  in 
welchen  einige  Flüsse  Salz  einführen,  was  sich  aus  dem  umstand  zeigt,  dass 
in  der  ganzen  Umgebung  nur  Süsswasserschnecken  gefunden  werden.  Nach- 
dem der  Graf  und  Loczj  noch  die  Berge  der  Umgebung  bestiegen,  kehrten 
sie  nach  Si-Ning-Fu  zurück. 

Noch  einen  Ausflug  unternahmen  die  beiden  Herren  von  hier  aus  nach 
Kwei'Ta,  einer  kleinen  Stadt  am  Hoang-Ho. 

Abermals  in  Si-Ning-Fu,  übernahm  der  Graf  die  Briefe,  welche  ihm 
aus  Peking  zugesandt  wurden.  Unter  Anderen  war  einer  vom  Tsungli- 
Yamen,  welcher  folgenden  Passus  enthält :  •  Was  nun  Ew.  pp.  Absicht  anbe- 
trifift,  vom  Euku-Nor  aus  über  Lhassa  nach  Indien  zu  gehen,  so  erlauben 
wir  uns,  Sie  darauf  aufmerksam  zu  machen,  dass  für  Chinesen  der  Weg  von 
Lhassa  nach  Indien  nicht  offen  steht .  . .  Unser  Yamen  hat  nunmehr  bereits 
an  den  General-Gouverneur  Tso-Tzung-Tang  und  an  den  Besidenten  in 
Lhassa  geschrieben,  und  denselben  unter  Mitteilung  aller  Umstände  zur 
Pflicht  gemacht,  sich  Ihrer  in  jeder  Weise  auf  das  Angelegentlichste  anzu- 
nehmen.» Da  nun  aber  trotz  des  ausgesprochenen  Willens  seitens  des 
Tamen's  die  Würdenträger  in  Si-Ning-Fu  die  Erlangung  von  Lasttieren, 
Führern  und  hauptsächlich  eines  Dolmetsches  förmlich  unmöglich  machten, 
so  musste  die  höchst  wichtige  Boute  Euku-Nor  —  Lhassa  unterbleiben,  wäh- 
rend man  Lhassa  auf  einem  anderen  Wege  zu  erreichen  gedachte. 

Am  10.  August  1879  verliess  die  Expedition  endgiltig  Si-Ning-Fu. 
Nach  siebentägiger  Beise  erreichte  dieselbe  die  schon  früher  besuchte  Stadt 
Lan-Tschou-Fu  und  von  hier  in  weiteren  9  Tagen  Tsing-Tschou-Fu.  Ueber 
Lomen  erreichte  man  nach  Ueberschreiten  des  Flusses  Wei-Ho  Kung- 
Tschang-Fu,  wo  der  Graf  am  Tage  der  Ankunft  vom  Pöbel  verfolgt  und 
insultirt  wurde.  Ebenso  war  auch  in  Tsing-Tschou-Fu  der  erste  Empfang 
unfreundlich.  In  China,  scheint  es,  muss  man  ziemlich  grob,  sehr  rücksichts- 
los und  sehr  energisch  vorgehen,  dann  kann  man  meistens  erreichen,  was 
man  will ;  die  Beisebeschreibung  gibt  uns  hiefür  unzählige  Beispiele. 

Zwischen  Tsing-Tschou-Fu  und  Hoj-Hsien  ist  die  Gegend  sehr  schön. 
Dunkle  Laubholzwälder  bedecken  die  Berge  und  umrahmen  fruchtbare, 
wohl  cultivirte  Thaler.  Man  findet  neben  dem  verschiedenartigsten  Laubholze 
die  mannigfaltigsten  Fruchtbäume.  Eastanien,  Granatäpfel,  Pfirsiche  und 
Aepfel  wachsen  wild.  Es  ist  fast  eine  paradiesische  Gegend. 

Hinter  Hqj-Hsien  passirten  die  Beisenden  die  Grenze  der  Provinz 
Kan-Sm.  Bei  der  Stadt  Pai-Suj-Kiang  wird  der  gleichnamige  Fluas  schiff- 
bar.  Der  Graf  und  Ereitner  benützten  Schiffe,  um  bis  nach  Lo-  Yang  auf 


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•^•^0  GRAF    BlÄLA   SZ^CHENYI*B   BEIßE   IM    ÖSTLICHE^    ASUSM. 

dem  Wasser  zu  fahren,  während  Löczy  mit  den  Tieren  den  Landweg  betrat 
In  Lo-  Yang  wurden  die  Boote  gegen  andere  vertauscht^  so  dass  auch  die 
Pferde  ihr  Unterkommen  darauf  fanden. 

Bei  Kuan-Juön  nimmt  der  Fluss  den  Namen  Kia-Ling  an.  Erst  nach 
Zurückweisen  eines  Geschenkes  kam  der  unhöfliche  Bürgermeister  der  Stadt 
dem  Verlangen  des  Grafen  nach  Maultieren  nach. 

Mit  der  Stadt  Tschau- Ghwa  verliessen  die  Reisenden  das  Plussgebiet 
des  Kia-Ling. 

Nach  langwieriger  Reise  zu  Lande  erreichte  die  Expedition  endlich  die 
Hauptstadt  der  Provinz  Se-Tschuen,  nämlich  Tsching-Tu-Fu. 

In  Tsching- Tu-Pu  waren  zur  Zeit  der  Ankunft  gerade  die  grossen  Prü- 
fungen, zu  welchen  sich  nicht  weniger  als  14,000  Teilnehmer  gemeldet 
hatten.  Die  Examinatoren  leben  eine  Zeit  hindurch  mit  den  Examinanden 
abgeschlossen  von  der  Welt,  um  eventuellen  äusseren  Einflössen  fem  zu 
bleiben,  um  den  Prüfungen  ein  grösseres  Ansehen  zu  geben,  ist  der  Vice- 
könig  der  Provinz,  seine  Vertreter  und  höhere  Mandarine  anwesend,  die 
gleichfalls  der  Clausur  unterworfen  sind. 

Aus  diesem  Grunde  musste  Graf  Szechenyi  einige  Tage  in  Tsching- 
Tu-Fu  verweilen,  um  mit  dem  Gouverneur,  der  ihm  tetwas  Wichtiges»  zu 
sagen  hatte,  sprechen  zu  können.  Der  Gouverneur  erklärte.,  seine  Macht 
reiche  nur  bis  Batang;  um  von  dort  nach  Lhassa  zu  gelangen,  müsse  man 
von  dem  dortigen  Residenten  unterstützt  werden,  der  aber,  falls  er  schon 
etwas  thun  würde,  nicht  in  der  Lage  wäre,  die  Expedition  ungefährdet  durch 
das  aufgewiegelte  Land  zu  führen.  Hierauf  übergab  der  Graf  eine  Schrift, 
in  welcher  er  seine  Forderungen  formulirte.  Er  verlangte,  dass  der  Gouver- 
neur im  Einverständnisse  mit  demjenigen  in  Lhassa,  der  Expedition  mili- 
tärische und  moralische  Unterstützung  zu  Teil  werden  lasse ;  die  Kosten 
werde  der  Graf  persönlich  tragen. 

In  einer  schriftlichen  Antwort  erklärte  der  Gouverneur,  dass  er,  so 
weit  es  in  seiner  Macht  steht,  jede  Forderung  erfüllen  und  den  Gouverneur 
von  Lhassa  von  Allem  verständigen  werde.  Die  Bitte,  dass  chinesische  Sol- 
daten die  Expedition  so  lange  begleiten,  bis  die  tibetanischen  ankämen, 
könne  nicht  erfüllt  werden,  da  die  ersteren  tibetanisches  Gebiet  nicht 
betreten  dürfen.  Die  Spesen  würden  einem  Gaste  gegenüber  selbstverständ- 
lich von  der  Regierung  getragen  werden.  Uebrigens  sei  der  Plan  nach  Lhassa 
zu  reisen,  unausführbar. 

Am  11.  October,  nach  Einhändigung  der  schriftlichen  Erlaubniss, 
brach  die  Expedition  gegen  Batang  auf. 

Merkwürdiger  Weise  war  man  überall  der  Meinung,  die  Regierung  in 
China  sei  die  directe  Ursache  dessen,  dass  die  Expedition  Lhassa  nicht  erreicht 
hat,  wogegen  Graf  Szechenyi  bemüht  ist,  zu  beweisen,  dass  nur  das  Volk 
und  die  Lamas  in  Tibet  die  Schuld  tragen,  während  die  chinesische  Regie- 


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rang  aufirichtig  bestrebt  war,  die  Expedition  nach  jeder  Richtung  hin  zu 
unterstützen. 

In  Ta-Tsien-Lu  angelangt,  wurden  die  Beisenden  von  französischea 
Missionären  vorzüglich  empfangen.  In  Ta-Tsien-Lu  lebten  damals  der 
Bischof  Birt,  der  Abb6  Dejean  und  der  berühmte  Tibet-Forscher  Abb6  Des- 
Godim.  Diese  Herren  waren  dem  Grafen  in  jeder  Beziehung  hilfreich  und 
von  grossem  Nutzen.  Der  Dolmetsch  Sin  verliess,  wahrscheinlich  aus  Furcht 
vor  wohlverdienter  Strafe,  die  Expedition.  Dieser  im  ersten  Augenblicke 
unersetzlich  scheinende  Verlust  wurde  durch  die  Missionäre  ersetzt,  da  die- 
selben einen  eingeborenen  Christen,  der  lateinisch  sprach,  für  die  ganze 
Dauer  der  Beise  engagirten. 

In  Ta-Tsien-Lu  besuchte  der  Graf  auch  den  Fürsten  der  Tibetaner ; 
dieser  ist  dem  chinesischen  Gouverneur  gänzUch  unterworfen  und  tribut- 
pflichtig. Die  Tibetaner  selbst  sind  eine  schöne,  kräftige  und  abgehärtete 
Basse,  deren  Einfachheit,  imposante  Erscheinung  und  tiefer  Ernst  wohlthätig 
von  dem  Wesen  der  Chinesen  abstach.  Die  Männer  gehen  immer  bewaffnet 
und  tragen  Amulete  gegen  die  bösen  Geister.  Die  Frauen  leben  auch  viel 
freier  als  in  China  und  sind  auch  vorteilhaft  verschieden  von  jenen.  Merk- 
würdig ist  in  Tibet  die  Vielmännerei,  Polyandrie. 

Ihr  Fürst  erwiderte  den  Besuch  des  Grafen,  und  entzückt  von  einer 
ihm  geschenkten  Flinte,  versprach  er  die  nötigen  Lasttiere  herbeizu- 
schaffen. Thatsächlich  erhielt  der  Graf  die  ganze  Karawane  unentgeltlich. 
Nach  herzlichem  Abschiede  von  den  Missionären  schied  die  Expedition  am 
12.  November  von  Ta-Tsien-Lu. 

Ueber  das  Wirken  der  Missionäre  im  Allgemeinen  drückt  sich  Graf 
Sz6chenyi  recht  drastisch  und  deutUch  aus :  «In  China,  ganz  wie  bei  uns  in 
Europa  wollte  die  Geistlichkeit  unter  der  Firma  Gottes  einen  Staat  im  Staate 
bilden;  dies  machte  dieselbe  unmöglich  und  verhasst.»  An  einer  anderen 
Stelle  bemerkt  er:  «Bei  dem  Missionär  A.  G.  lernte  ich  einen  jungen  Chi- 
nesen kennen,  der,  jetzt  Christ,  früher  Secretär  Tso-Tzung-Tangs  war.  Der 
Missionär  rühmte  denselben  als  einen  sehr  geschickten,  nützUchen  Men- 
schen, durch  den  er  Alles  erfahre.  «Der  Zweck  heiligt  das  Mittel.»  Ich  muss 
gestehen,  dass  man  in  diesem  Manne  einen  schönen  Christen  erzieht,  indem 
man  ihn  zu  gemeiner  Spionage  verwendet !» 

Unter  starker  militärischer  Escorte  reiste  die  Expedition  in  der  Bich- 
tung  nach  Batang.  Nach  Uebersteigung  verschiedener  hoher  Gebirge  und 
nach  Passiren  mancher  grösserer  Flüsse  erreichte  man  eine  «bedeutendere» 
Stadt,  Ho-Keu  am  Ya-Long-Kiang  —  einen  Ort,  der  im  Ganzen  35  Häuser 
zählt.  Die  Beisenden  mussten  hier  einen  ganzen  Tag  warten^  da  der  chine- 
sische Mandarin  dieselben  so  lange  nicht  über  den  Fluss  setzen  liess,  bis 
nicht,  einem  Auftrage  gemäss,  eine  vollkommen  sichere  Brücke  geschlagen 
sei,  —  wieder  ein  Beweis,  dass  die  chinesische  Begierung  vom  besten  Willen 


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3:^2  GRAF    B^    BZÄCHENYI*S   REISE   IM   OSTLICHEN   ASiMI. 

beseelt  war,  den  Weg  der  Expedition  nach  Möglichkeit  zu  ebnen  and  ihre 
Interessen  zu  fördern. 

Die  nächste  grössere  Station  war  Ld-Tang,  an  einem  Nebenflüsse  des 
Ya-Long-Kiang.  Merkwürdig  ist  hier  die  Bevölkerung :  6000  Lama,  3000 
Tibetaner  und  nur  mehr  60  Chinesen.  Die  Lamaserie  war  für  die  Beisenden 
verschlossen.  Einige  Tage  später  wurden  dieselben  vom  König  von  Batang 
empfangen. 

Hier  entschied  es  sich  endgiltig,  ob  die  Expedition  Lhassa  erreichen 
werde  oder  nicht.  Wir  wollen  einige  Stellen  aus  den  in  Batang  erhaltenen 
Briefen  citiren :  «Es  ist  schwer  von  hier  aus  zu  beurteilen,  ob  die  gegenwär- 
tige Meldung  des  chinesischen  Besidenten,  dass  die  Tibetaner  den  einmü- 
tigen Entschluss  gefasst  (und  beschworen !)  hätten,  jedem  Fremden  den 
Eintritt  in  ihr  Land  zu  verwehren,  auf  Wahrheit  beruht.  Die  Absicht  des 
ministeriellen  Schreibens  läuft  offenbar  darauf  hinaus,  Ihnen,  Herr  Ghraf, 
von  der  Weiterreise  nach  Tibet  abzuraten  ....  Es  ist  immerhin  möglich, 
dass  jene  angebliche  Meldung  nur  eine  Finte  der  fremdenfeindlichen  Partei 
im  Ministerium  ist.  Die  Vermutung  ist  aber  auch  nicht  ausgeschlossen, 
dass  die  chinesische  Begierung  betreffs  Ihrer  Sicherheit  wirkliche  Besorgnisse 
h6gt.i  So  schreibt  der  österreichisch-ungarische  Besident  in  Peking.  Graf 
Szechenyi  meldet:  «Ich  hörte  unterwegs,  dass  an  der  tibetanischen  Q-renze 
einige  tausend  bewaffnete  Lama  vereinigt  mit  tibetanischer  MiUz  auf  mich 
harren,  um  mir  und  meinen  Begleitern  mit  der  Waffe  in  der  Hand  den 
Weg  nach  Lhassa  zu  versperren.  Alle  Gespenster  werden  wach  gerufen,  um 
uns  Schrecken  einzuflössen  ....  eine  Menge  alberner  Nachrichten,  die  nur 
belächelt  werden  kann.»  Sogar  vor  Vergiftung  wurden  die  Beisenden 
gewarnt.  Dass  übrigens  diese  Nachrichten  gar  nicht  so  lächerlich  waren,  als 
der  in  etwas  aufgeregtem  Zustande  geschriebene  Brief  behauptet,  ist  bei  der 
Gesinnung  der  Lama  und  bei  ihrem  Bestreben,  ihr  Treiben  geheim  zu  halten, 
begreiflich;  übrigens  «hatten  die  Missionäre,  unter  dem  Verdachte,  uns  nach 
Batang  gerufen  zu  haben,  selbst  nach  unserer  Abreise  von  dem  tibetanischen 
Baubgesindel  Vieles  zu  leiden,  und  es  vergingen  Monate,  bis  sich  die  Auf- 
regung der  Lama  so  weit  legte,  dass  die  französischen  Priester  nichts  mehr 
für  ihr  Leben  zu  fürchten  hatten.»  Erst  einen  Monat  später  erhielt  der  Graf 
Nachrichten  aus  Peking,  welche  die  Lage  etwas  günstiger  darstellten ;  da 
war  es  aber  schon  zu  spät  zurückzukehren  und  den  schweren  Kampf  neuer- 
dings zu  beginnen.  Nach  langem  Zögern  musste  daher  der  Plan,  Lhassa  zu 
besuchen,  zum  grössten  Leidwesen  nicht  allein  der  Beisenden,  sondern  der 
ganzen  wissenschaftlichen  Welt  fallen  gelassen  werden.  Es  blieb  jetzt  nichts 
mehr  übrig,  als  von  Batang  aus  nach  Börma  zu  reisen. 

Am  15.  Dezember  bestiegen  die  Beisenden  ihre  Pferde  und  ritten  in 
der  Bichtung  nach  Tali-Fu.  ungefähr  nach  einem  Monate  wurde  diese  Stadt 
erreicht.   Der  Weg  dahin  war  der  denkbar  schlechteste  und  zugleich  gefähr- 


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GRAF   B^LA   SZ^CHENYl's   REISE   IM   Ö8TUCHEN    ASIEN.  '^^3 

liebste.  Tiere  konnten  denselben  fast  gar  nicht  passiren.  Oft  musste  man 
über  fussbreite  Stege  gehen,  neben  welchen  in  2000  Fiiss  Tiefe  Bergströme 
brausten.  Statt  der  Lasttiere  mussten  150  tibetanische  Männer  und  Frauen 
zum  Befördern  des  Gepäckes  gemietet  werden.  Doch  ging  alles  glücklich 
von  Statten  und  man  hatte  keinen  erheblichen  Verlust  zu  beklagen.  In 
Tali'Fu  wurden  die  Beisenden  sowohl  von  einem  französischen  Missionär, 
als  auch  von  den  Mandarinen  sehr  freundlich  empfangen.  Von  Tali-Fu  aus 
ging  es  nach  BhamOf  wo  sich  die  Expedition  alsbald  auflöste. 

Der  Weg  nach  Bhamo  bot  nicht  nur  sehr  grosse  Schwierigkeiten, 
sondern  brachte  auch  die  Beisenden  in  ernste  Lebensgefahr.  In  Manuin 
war  es,  wo  sich  den  Beisenden  ein  Eatschin-Fürst  als  Begleiter  antrug;  da 
er  auch  für  die  Lasttiere  sorgen  wollte,  wurde  mit  ihm  ein  Abkommen 
getroffen.  Der  Fürst,  welcher  nicht  an  übermässig  viel  Verstand  litt,  benahm 
sich  sehr  frech,  und  wurde  darum  vom  Grafen  in  dessen  eigenem  Hause  zur 
Tür  hinausgeworfen.  Darüber  geriet  er  in  förmliche  Baserei. 

Erst  nach  Zahlung  von  circa  800  Gnlden  und  Uebergabe  eines 
Wemdl-Gewehres  beruhigte  sich  das  G^müt  des  Fürsten  so  weit,  um  die 
Expedition  nach  Bhamo  zu  geleiten.  Einige  Meilen  von  der  börma- 
nischen  Grenze  musste  der  Graf  jedoch  noch  feierlich  schwören,  denselben 
nicht  anzuzeigen. 

Endlich  erreichten  die  Beisenden  Mamo,  eine  kleine  Stadt  am  Tapeng 
(oder  Mamo-Ho).  Von  hier  fuhren  Kreitner  und  Loczy  nach  Bhamo  am 
Irawaddi,  um  ein  Schiff  zu  mieten,  welches  den  Grafen,  die  Dienerschaft 
und  das  Gepäck  abholen  sollte. 

Der  Graf  blieb  noch  etwa  14  Tage  in  Bhamo  um  zu  jagen,  während 
Kreitner  und  Löczy  über  Rangun,  GahuJtta,  Suez  und  Gonstantinopel  nach 
Europa  zurückkehrten. 

Graf  Sz^chenyi  schreibt :  «So  blieb  ich  nun  mit  meinen  beiden  Hunden 
allein.  Meine  Expedition  war  aufgelöst,  die  Mitglieder  derselben  nach  ver- 
schiedenen Bichtungen  zerstreut.  So  vergeht  Alles  auf  der  Welt,  doch  in  mir 
bleibt  die  Hoffnung,  dass  mein  der  Wissenschaft  gewidmeter  Weg,  die 
darauf  verwendete  Zeit  und  erheblichen  Kosten  nicht  ganz  nutzlos  gewesen. 
Und  wäre  es  mir  gelungen,  die  Wissenschaft  nur  um  ein  Körnchen  zu  berei- 
chern, so  würde  ich  mit  Beruhigung,  ja  Zufriedenheit  zurückblicken  auf  die 
zahllosen  Entbehrungen,  Mühseligkeiten  und  Enttäuschungen.» 

Dass  dies  gelungen  ist,  lässt  sich  aus  dem  Folgenden  leicht  ersehen. 
Schon  der  zweite  Teil  des  Werkes  (von  Kreitner  verfasst),  enthält  neben 
einem  grossen  Daten-Material  die  Topographie  des  ganzen  Weges. 

Das  erste  Gapitel  behandelt  die  geographischen  Ortsbestimmungen. 
Die  Bestimmung  der  geographischen  Lage  eines  Ortes  ist  besonders  wichtig, 
wenn  man  eine  Gegend  bereist,  die  entweder  ganz  unbekannt  oder  aber 
unrichtig  aufgenommen  ist.  In  China  war  letzteres  sehr  häufig  der  Fall,  und 


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33 i  GRAF    Bthk   SZi5cHENYT's   REIRE   TM    ÖSTLICHEN    ASIEN. 

wir  können  dem  Verfasser  des  ü.  Teiles  nur  Dank  wissen,  wenn  er  falsche 
Angaben  und  Positionen  berichtigt.  Die  ersten  Aufnahmen  wurden  im 
Anfange  des  XVIQ.  Jahrhunderts  von  den  Jesuiten  gemacht.  Trotzdem  ihre 
Instrumente  noch  sehr  primitiv  waren,  zeigt  sich  doch  eine  verhäJtniss- 
massig  merkwürdige  Uebereinstimmung  mit  den  Observationen  Kreitners. 
Dies  ist  jedoch  nur  bei  den  Breitebestimmungen  der  Fall;  bei  den  Längen- 
bestimmungen sind  schon  grössere  Differenzen  zu  finden,  was  hauptsächlich 
den  mangelhaften  Apparaten  zuzuschreiben  ist.  Ereitner's  Instrumente 
waren  jenen  natürlich  weit  überlegen.  Er  besass  ein  sogenanntes  Universal- 
Instrument  von  Starke  &  Kämmerer,  einen  sogen.  Transit-TheodoUth  von 
Gasella  und  überdies  noch  einen  Prismenkreis  von  Starke  &  Kämmerer  — 
Instrumente  von  minutiöser  Ausführung. 

Im  zweiten  Capitel  werden  die  Höhenmessungen  behandelt.  Diese 
wurden  auf  zweierlei  Art  ausgeführt,  durch  Triangulation  oder,  was  viel 
einfacher  und  rascher  von  Statten  geht,  mit  Barometern.  Letztere  sind 
entweder  Quecksilber-  oder  Anero'id-Barometer  (Holosterique).  Die  Queck- 
silberbarometer sind  den  Aneroiden  an  Genauigkeit  überlegen,  erfordern 
jedoch  grosse  Vorsicht  im  Transport;  aus  letzterem  Grunde  wurde  nur  ein 
Instrument  vou  Kapeller  mitgeführt,  welches  jedoch  verunglückt  ist 

Aneroide  sind  am  leichtesten  zu  handhaben  und  geben  auch  ganz 
genaue  Besultate,  wenn  deren  Correcturen  richtig  bestimmt  und  die  Instru- 
mente keinen  plötzUchen  Veränderungen  oder  Stössen  ausgesetzt  sind,  was 
bei  einer  Beise  nur  schwer  zu  vermeiden  ist.  Die  Aneroide  stammten  von 
Negrctti  &  Zambra  in  London  und  waren  Nr.  5648,  Nr.  6018  und  Nr.  6800 
gezeichnet.  Das  erste  Holosterique  wurde  als  Normal  betrachtet,  doch  litt 
es  während  der  Beise  sehr  bedeutend.  Die  beiden  anderen  Instrumente 
waren  nur  sehr  klein  und  sind  daher  kaum  in  Betracht  zu  ziehen. 

An  Uhren  besass  die  Expedition  ausser  den  eigenen  Taschenuhren 
einen  schweizer  Taschen-  und  einen  Schiffschronometer  Nr.  65  von  Vorauer. 
Ersterer  versagte  schon  bei  Beginn  der  Beise.  Der  zweite  war  zwar  besser, 
doch  bemerkt  Kreitner:  «Um  die  unangenehme  Lage  zu  verstehen,  in  wel- 
cher ich  mich  mit  den  Uhren  befand,  genügt  es  zu  sagen,  dass  ich  mich 
glückUch  schätzte,  wenn  der  Chronometer  (Nr.  65)  während  einer  einzigen 
Observation  seinen  Gang  einhielt,  t  Trotzdem  functionirte  Nr.  65  nach 
einiger  Beparatur  doch  bis  zum  Ende  der  Beise. 

Dass  die  Expedition  nicht  mit  besseren  Instrumenten  ausgerüstet  war, 
ist  sehr  zu  bedauern,  umsomehr,  als  bei  Kreitner's  BienenÜeiss  die  Daten 
eine  viel  grössere  Genauigkeit  erhalten  hätten.  Die  Menge  der  Daten  selbst 
ist  geradezu  erstaunUch  gross.  Hier  ist  natürUch  nicht  der  Ort,  sieb  des 
weiteren  mit  denselben  zu  beschäftigen  oder  Ausführung  und  Methode  der 
Observationen  zu  kritisiren. 

Die  zweite  Abteilung  von  Kreitner*s  Arbeit  enthält  die  Topographie 


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GRAF   B^LA   SZÄlHBNYl's    REISE   IM    ÖSTLICHEN    ifilEN.  -^35 

der  bereisten  Gegenden.  In  den  elf  Capiteln  dieser  Abteilung  ist  ein  äusserst 
reicher  Stoff  in  geschickter  Gruppirung  und  von  interessantem  Standpunkte 
aus  behandelt  Abgesehen  von  dem  streng  geographischen  Teil,  dessen 
Hauptaufgabe  die  Oro-  und  Hydrographie  ist,  finden  wir  in  dem  Werke  viel 
interessimte  ethnographische,  geschichtliche  und  culturhistorische  Notizen, 
die  dem  Fachmanne  weithinaus  als  reiche  Quelle  dienen  werden.  In  diesem 
Teile  der  Geographie  ist  Kreitner  heimisch  wie  Wenige ;  bei  jedem  grösse- 
ren Flusse  ist  die  Gommunication  auf  demselben  eingehend  behandelt,  fast 
in  jedem  Gapitel  finden  wir  zwei  ständige  Rubriken  für  die  commerciellen 
Verbindungen  und  für  später  zu  erbauende  Eisenbahnen  und  selbstver- 
ständlich sind  auch  die  Producte  sehr  eingehend  behandelt,  ihr  commerziel- 
1er  Wert  hervorgehoben,  ja  es  sind  sogar  mit  grossem  Fleisse  Daten  über 
die  Ekport-  und  Importartikel,  natürlich  mit  Angabe  der  Provenienz 
und  des  Wertes,  gesammelt  und  in  Tabellen  zusammengestellt;  auch 
über  die  Bevölkerungsverhältnisse  bietet  dieser  Teil  höchst  dankenswerte 
Aufschlüsse. 

Nach  diesem  übersichtlichen  Bericht  über  die  Reise  selbst  bleibt  uns 
nur  noch  übrig,  einige  ergänzende  Bemerkungen  Kreitoers  hinzuzufügen. 

Ueber  die  Annehmlichkeiten  des  Aufenthaltes  während  der  Beise 
äussert  er  sich  folgendermassen :  «Die  Gasthäuser  bestehen  aus  einem 
kleinen  Fremdenzimmer,  mit  heizbarer,  gemauerter  Lagerstätte,  ausserdem 
aus  einer  Küche  und  einem  Stall  für  die  Beittiere.  Die  Gebäude  sind  zumeist 
ans  Lehm  aufgeführt,  stehen  auf  trocken  zusammengesetzten  Steinfunda- 
menten und  sind  mit  rinnenförmigen  gebrannten  Ziegeln  oder  nur  mit,  von 
Steinen  belasteten  Brettern  und  Matten  gedeckt.  Die  Bäumlichkeiten  sind 
sehr  schmutzig  und  voller  Insecten.  Zur  Heizung  bedient  man  sich  in  China 
der  Holzkohle,  welche  in  grossen  eisernen  Becken  brennt  An  einigen 
Orten  wird  die  Kohle,  um  den  unangenehmen  Bauch  zu  vermeiden,  auf 
folgende  Art  präparirt :  dieselbe  wird  zu  Pulver  gestampft  und  mit  Wasser 
gemengt  zu  einer  plastischen  Masse  verknetet ;  aus  dieser  werden  hohle 
Kugeln  geformt,  welche  mit  feuchtem  Lehm  gefüllt  und  an  der  Sonne 
getrocknet  werden.  Sechs  Stück  von  diesen  orangengrossen  Kugeln  genügen 
für  eine  dreistündige  Heizung  eines  Zimmers. » 

Den  regen  Handelsverkehr  unterhalten  grosse  Karavanen,  die  haupt- 
sächlich im  Innern  des  Landes  grössere  Dimensionen  annehmen.  In  China 
bilden  die  folgenden  Gegenstände  Handelsartikel :  europäische  Glassachen, 
Beibhölzchen,  Opium,  Tabak,  verschiedene  Stoffe,  Seide,  Stickereien, 
Teppiche,  Pelzwerk,  Holz-  und  Steinarbeiten,  Geschmeide,  Messing-  und 
Eisengeschirr,  Thee  (in  Ziegeln),  Heilmittel,  Bhabarber,  Safran,  Moschus, 
Getreide,  Früchte,  Haustiere  u.  s.  w.  Diese  Artikel  finden  überall  grossen 
Absatz,  sowohl  im  Innersten  des  Landes,  als  auch  in  den  Seestädten.  Die 
Communicationsmittel  sind  nicht  gross ;  entweder  werden  die  Waaren  auf 


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336  GRAF   B#.LA    RZlSrHENTl's   REISE  ni   ÖRTLICHEN    ASIEN. 

dem  Wasser,  oder  zu  Lande  auf  Lasttieren  und  Trägern  transportirt.  Die 
Schiffe  sind  zumeist  elende  Eähne^  nur  selten  in  grösserer  Form,  in  welchem 
Falle  dieselben  auch  Segel  besitzen ;  Anker  scheint  man  in  ganz  China  gar 
nicht  zu  gebrauchen ;  statt  dessen  benützt  man  eine  eisenbeschlagene  Bam- 
busstange, die  durch  ein  an  Bord  befindliches  Loch  in  den  Flussboden 
gestossen  wird. 

Die  Lasttiere  sind  Maultiere  oder  Pferde.  Wenn  es  an  solchen  man- 
gelt, mietet  man  Menschen  zum  Lasttragen. 

Der  Personenverkehr  ist  auch  schwierig.  Zumeist,  d.  h.  in  den  Man- 
darinkreisen und  bei  den  Beichen,  lässt  man  sich  in  der  Sänfte  tragen, 
welche  nur  sehr  selten  verlassen  wird.  Die  Träger  müssen  die  steilsten 
Berge  emporklimmen,  während  die  Herren  gemütlich  in  der  Sänfte  sitzen. 
Die  Reisenden  ritten  grössten  Teils  auf  Pferden.  Diese  schwierige  Commu- 
nication  veranlasst  den  Verfasser  des  11.  Teiles,  schon  jetzt  die  eventuellen 
Eisenbahnbauten  zu  besprechen  und  eine  Menge  von  Batschlägen  folgen 
zu  lassen. 

i  Alles  weist  darauf  hin,  dass  die  Chinesen  in  nicht  langer  Zeit  ihre 
Antipathie  gegen  Eisenbahnen  ablegen  und  deren  Vor-  oder  Nachteile  in 
ihrem  eigenen  Lande  erproben  werden.  .  .  Der  an  vielen  Orten  sich  fühlbar 
machende  Holzmangel  bietet  keine  besonderen  Schwierigkeiten,  da  man, 
wie  in  Brit.-Börma,  steinerne  Schwellen  oder  eventuell  solche  aus  Eisen 
verwenden  könnte. . .  Doch  erfordern  die  in  grosser  Anzahl  zu  erbauenden 
Viaducte  und  Tunnels  nicht  nur  erfahrene  Kräfte,  sondern  auch  unbere- 
chenbare Geldsummen.  Denn  obzwar  die  inländischen  Arbeiter  sehr  biUig 
wären,  so  machen  verschiedene  Mängel  im  Innern  des  Landes  (Holzman- 
gel, schlechte  Verkehrsmittel  etc.)  den  Bau  sehr  teuer,  hauptsächlich  aber, 
weil  sämmtliches  Material  aus  Europa  importirt  werden  müsste.  An  Kohlen 
herrscht  nirgends  Mangel ;  diese  sind  in  fast  unerschöpflichen  Lagern 
anzutreffen.» 

Der  Handelsverkehr  mit  Tibet  ist  ziemlich  gering,  weil  der  Transport 
schwierig  ist  Zum  Lasttragen  werden  Pferde,  Maultiere  und  Yak*s  benutzt 
Die  Besorgung  einer  «Wula»  (Karavane)  obliegt  dem  Fürsten  der  betreffen- 
den Gegend,  was  eine  Einkommen-Quelle  bildet.  Eine  solche  Wula  besteht 
oft  aus  vielen  Hunderten  von  Tieren. 

Trotzdem  die  Beisenden  sich  nicht  überall  längere  Zeit  hindurch  auf- 
gehalten haben,  ist  es  doch  merkwürdig,  wie  detaillirt  die  Schilderung  von 
Land  und  Leuten  durchgeführt  ist.  Man  kann  sich  dies  wohl  aus  der  grossen 
Boutine  Kreitner's  erklären,  der  die  wichtigsten  Fragen  wie  fertige  Bubriken 
im  Kopfe  trug,  welche  er  dann  ausfüllen  musste.  Natürlich  gehört  auch 
grosse  Uebung  dazu,  auf  offene  Fragen  gleich  mit  richtigem  Blicke  die 
wahre  Antwort  zu  finden ;  doch  erscheint  die  Methode  der  Beobachtung  so 
rationell,  dass  man  den  Angaben  wohl  gerne  Glauben  schenkt. 


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GRAF   B^A   SZ^HBNYI'b   REISE   IM    ÖSTLICHEN   ASIEN.  '^37 

So  währte  z.  B.  der  Aufenthalt  bei  den  Katschin'Yö]kem  verhältniss- 
mässig  nur  kurze  Zeit,  trotzdem  findet  sich  in  Kreitners  Arbeit  manch 
interessantes  Detail :  «Die  Eatschin's  nennen  sich  Tsching-Foss.  Obzwar  der 
Gesammt- Eindruck,  den  dieselben  machen,  nicht  besonders  ansehnlich  ist, 
da  dieselben  von  kleiner  Statur  und  schwach  sind,  so  spricht  doch  in  ihren 
Augen  ein  trotziges  Feuer,  welches  einen  merkwürdigen  Gegensatz  zu  ihrem 
furchtsamen  Benehmen  bildet.  Die  Form  des  Schädels  ist  länglich  und  edel, 
die  Augen  liegen  horizontal,  die  Nase  ist  stark  und  grade,  die  roten  Lippen 
sind  feingeschnitten.  Die  Gesichter  der  Männer  und  Frauen  können  keines- 
falls hässlich  genannt  werden.  Die  Zähne  sind  vom  Betelkauen  schwarz. 
Die  Männer  tragen  eine  nicht  besonders  aufifallende  Kleidung,  deren  Schnitt 
oft  derjenigen  der  Pa-Jü  ähnlich  ist.  An  Waffen  tragen  sie  Säbel,  Lanzen 
von  2  Meter  Länge,  Luntengewehre,  welche  die  Bergbewohner  vorzüglich 
handhaben,  und  endlich  Pfeil  und  Bogen.  Die  Pfeile  werden  häufig  mit 
Aconit  vergiftet. 

Das  Haar  wird  in  die  Stirne  gekämmt  und  über  den  Brauen  abge- 
schnitten; rückwärts  hängt  es  nur  bis  zum  Nackenwirbel.  Sowohl  die 
Männer,  als  auch  die  Frauen  tragen  in  den  Ohren  die  verschiedensten 
Zierate« 

Hemden  scheinen  ganz  unbekannt  zu  sein;  sogar  die  Frauen  tragen 
ihre  Kleider  auf  dem  nackten  Körper. 

Die  schwere  Arbeit  wird  nur  von  den  Frauen  und  Mädchen  verrichtet ; 
wenn  die  Männer  noch  ruhen,  beschäftigen  sich  die  Weiber  schon  mit  dem 
Reinigen  der  Küche  und  Ställe,  und  mit  dem  Bereiten  des  aus  Beis  beste- 
henden Frühstücks.  Holz  sägen  und  zerkleinern,  die  Tiere  zu  warten, 
kochen  und  Kleiderstoffe  zu  verfertigen  ist  Sache  der  Frauen.  Die  Männer 
hingegen  verrichten  keinerlei  Handarbeit.  Den  Tag  verbringen  sie  mit 
Visite-machen,  wobei  natürlich  viel  Sehern  (süsses  Getränk  aus  Beis)  und 
Opium  vertilgt  würd. 

Wegen  der  überwiegenden  Unsittlichkeit  der  Katschins  sind  die  Hei- 
raten in  den  niederen  Glassen  meistens  nur  Geschäfte,  wo  natürlich  der  Preis 
der  Braut  in  erster  Reihe  von  ihrer  Mitgift  und  physischen  Kraft  abhängt. 
Bei  den  besseren  Glassen  bildet  jedoch  die  Heirat  ein  sehr  wichtiges  Ereig- 
niss,  welches  mit  bestimmten  Gebräuchen  und  Feierlichkeiten  verbunden  ist. 

Die  Leichen  werden  gewaschen  (obzwar  Reinlichkeit  nicht  zu  den  her- 
vorragendsten Tugenden  der  Katschins  gehört),  in  neue  Kleider  gehüllt 
und  in  den  Sarg  gelegt.  Die  Verwandten  legen  der  Leiche  ein  Silberstück  in 
den  Mund,  danüt  die  Seele  beim  üebersetzen  über  einen  breiten  Fluss  den 
Fahrpreis  bezahlen  könne.  Die  Kleider  des  Verstorbenen  werden  sammt  einer 
Schüssel  Reis  aufs  Grab  gelegt,  und  zu  Hause  wird  dann  das  Ereigniss  mit 
Gesang  und  Tanz  gefeiert. 

So  ist  es  denn  sicher,  dass  die  Religion  der  Katschins  vom  Buddhismus 

Ungulaohe  Bevne,  XI.  18Q1.  IV.  Heft  22 


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338  GRAF   BÄA   SZlScHBNYl's   REISE   IM   ÖSTLICHEN    ASIEN. 

wesentlich  verschieden  ist.  Sie  enthält  den  Glauben  an  ein  höchstes  Wesen, 
welches  Alles  geschaffen  hat,  glaubt  an  das  Leben  nach  dem  Tode,  an  Be- 
lohnung der  guten  und  Bestrafung  der  bösen  Thaten. 

Die  Sklaverei  ist  eine  uralte  Ueberlieferung.  * 

Die  Männer  essen  gesondert  von  den  Frauen«  Ihre  Speisen  bestehen 
aus  Beis,  Gemüse,  Schweinefleisch  und  getrockneten  Fischen.» 

Der  dritte  Teil  führt  in  die  naturwissenschaftlichen  Ergebnisse,  wo 
Löczy  wirksam  zu  Worte  kommt. 

Mit  der  Geologie  von  China  beschäftigten  sich  vor  ihm  nur  sehr  wenige 
Gelehrte ;  darum  beschränkt  sich  auch  die  geologische  Literatur  dieser  Ge- 
genden nur  auf  eine  kleine  Anzahl  von  neueren  Werken. 

Abgesehen  von  den  allerersten  flüchtigen  Beisen  des  amerikanischen 
Geologen  /?.  Pumpelly  hat  erst  in  jüngster  Zeit  Freiherr  von  Richthofen, 
d.  Z.  Universitäts-Professor  in^  Berlin,  in  den  Jahren  1868 — 1872  eine  Beise 
in  China  unternommen,  die  in  geologischer  Hinsicht  grundlegend  war,  deren 
wissenschaftliche  Besultate  jedoch  bis  jetzt  noch  nicht  ganz  verwertet  und 
gewonnen  sind. 

Selbstverständlich  richtete  sich  das  Bestreben  der  Szechenyi'schen 
Expedition  dahin,  möglichst  unerforschte  Gegenden  zu  bereisen,  und  ver 
mied  es  darum  so  weit  als  mögUoh  Biohthofen*s  Wege  zu  kreuzen.  Dies 
gelang  auch  zum  grössten  Teile.  Trotzdem  äussert  sich  Löczy  dahin,  dass  er 
nur  die  geologischen  Kenntnisse  erweitern  wollte  und  bedauert  sehr,  den 
letzten  noch  nicht  erschienenen  Band  vonBiohthofen*s  Werk  nicht  zu  kennen. 

Löczy's  Arbeit  besteht  aus  vier  Teilen.  Der  erste  behandelt  die  Unter- 
suchungen der  Küstenländer  Mittel-China's ;  der  zweite  das  Gebirgssystem 
des  Kuen-Luen  und  dessen  Umgebung  im  westlichen  China;  der  dritte 
Teil  spricht  von  den  hinterindischen  Gebirgsketten,  während  der  vierte,  und 
zugleich  wichtigste,  ein  Besume  der  geologischen  Besultate  enthält.  Ueber 
seine  eigene  Arbeit  äussert  sich  Tjoczy  folgendermassen :  «Die  Früchte  einer 
raschen  Beise  können  nicht  vollkommen  sein ;  ein  treues  und  erschöpfendes 
Bild  der  geologischen  Geschichte  des  von  uns  besuchten  östlichen  Asien  zu 
geben,  bin  ich  auch  nach  langjährigem  Studium  nicht  im  Stande.  Möge  der 
Leser  nachsichtig  sein  gegen  die  Fehler  und  Mängel,  welche  ich  selbst  auch 
kenne.  Es  ist  mein  sehnlichster  Wunsch,  dass  mir  so  bald  als  möglich  andere 
Forscher  nachfolgen,  um  die  geologische  Kenntniss  von  Ost- Asien  zu  erwei- 
tem und  meine  eventuellen  Irrtümer  zu  berichtigen.  § 

Wie  aus  dem  Erstangeführten  ersichtlich,  geht  der  Weg  der  Expedition 
bis  Hstang-Yang-Fu  demjenigen  Bichthofen's  parallel;  von  hier  bis  Hsi- 
Ngan-Fu  lag  ziemlich  unerforschtes  Terrain.  Eine  kurze  Strecke  vou  hier 
waren  die  beiden  Bouten  wieder  parallel.  Von  da  ab  jedoch  führte  der  Weg 
die  Beisenden  bis  tief  ins  Innere  Asiens»  auf  dem  Bückweg  zum  Kuku-Nar, 
um  bei  Kuang-Yüen-Hsien  neuerdings  bis  Ya-Tschou-Fu  neben  Bichtho- 


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GRAF   bAlK   SzA^HBNYI's   REISE   IM   ÖSTLICHEN    ASTEN.  339 

fen's  Boute  zu  gehen.  Etwas  unterhalb  Ya-Tschou-Fu  verliess  die  Expe- 
dition Bichthofen's  Weg  ganz^  um  denselben  nie  mehr  zu  kreuzen. 

Die  archäische  (d.  h.  älteste)  Formation  ist  im  innerasiatischen  Hoch- 
land durch  folgende  Schichten  vertreten :  krystalUnische  Schiefer,  Gneiss, 
Amphibol-Gneiss,  Amphibol- Schiefer,  GUmmerschiefer,  Chloritschiefer,  kry- 
stallinischer  Kalkstein  und  eine  Menge  von  Phylliten.  In  dieser  Einteilung 
ist  auch  eine  bedeutende  Abweichung  von  Bich<^hofen's  Meinung  zu  bemer- 
ken ;  dieser  hält  nämlich  die  im  nördlichen  Sü-Tschuan  auftretenden  kry- 
stallinischen  Schiefer  für  Silur,  während  Löczy  sie  in  die  archäische  For- 
mation reiht. 

Die  palaeozoische  Formatiomgruppe  teilt  Löczy  in  die  untere  und 
obere  Formation.  Die  untere  palaeozoische  Formation  zeigt  halb  krystalU- 
nische Ealksteinbänke,  gewaltige  Ealksteinfelsen,  metamorphe  Schiefer, 
gelbe  Thonschiefer  und  schieferigen  Thon.  Die  abyssodynamische  Wirkung 
zeigt  sich  in  dieser  Periode  in  Eruptionen  von  Diabas  und  Diabasporphyrit. 

Die  obere  palaeozoische  Formation  wird  vertreten  durch  die  im  Norden 
des  Tsin'Ldng'QehirgeB  gelagerten  productiven  Kohlenlager,  durch  Kalk- 
stein und  durch  eine  mächtige  Sandsteinformation.  Ausserdem  unterscheidet 
Löczy  auf  Grund  stratigraphischen  Zusammenhanges  eine  Ferm-Triasfor- 
mation. 

In  der  mesozoischen  Formationsgruppe  tritt  die  Mittel-Trias,  die 
Bhaetische  und  die  Juraformation  auf.  Vulkanische  Erscheinungen  kom- 
men kaum  vor. 

Die  kainozoische  Formationsgruppe  zeigt  lacustrinen  Löss  und  als 
Product  subaerischer  Wirkung  ausser  ersterem  noch  Laterii 

Mittel- Asien  erhob  sich  erst  zur  Zeit  der  Jura-Periode  aus  dem  Meere. 
Vulkanische  Erscheinungen  treten  sehr  häufig  auf,  müssen  aber,  wie  auch 
die  Gletscherperiode  eingehend  untersucht  werden. 

Dieses  für  den  Geologen  hochwichtige  Gapitel  schliesst  mit  der 
genauen  Anführung  derjenigen  Gegenden,  in  welchen  die  oben  erwähnten 
Formationen  auftreten. 

Das  zweite  Gapitel  behandelt  die  Tektonik  des  östlichen  Abhanges  des 
innerasiatischen  Hochlandes. 

Die  Expedition  bereiste  zwischen  dem  40.  und  23.  Breiten-  und  dem 
96.  und  106.  Längengrade  in  einem  Halbkreise  das  innerasiatische  Hochland 
und  zwar  von  Tung-Hoan  aus  über  Lan-  Tschou,  Tsing-  Tscliou,  Kuang-  Yuön, 
Tsching-Tu-fu  und  Tali-fu  bis  nach  Bamx).  Es  ist  ein  sehr  wichtiges  Besul- 
tat  der  Beise,  constatirt  zu  haben,  dass  in  der  Bichtung  dieses  Halbkreises 
am  tibetanischen  Hochlande  hohe  Bergketten  liegen  und  dass  die  mongoli- 
schen, wie  auch  die  chinesischen  Ebenen  von  den  hochgelegenen  innem 
Wüsten  im  Allgemeinen  durch  stark  bewachsene  Alpenländer  und  mit  ewi- 
gem Schnee  bedeckte  Gletschergebirge  getrennt  sind. 


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340  GRAF   B^LA   SZÄCHBNTl's   REISE   TSi   ÖSTLICHEN   ASIEN. 

Die  Kettengebirge  am  Rande  des  Hochlandes  stellen  es  ausser  Frage, 
dass  dieses  kein  Taffelland  ist,  sondern  aus  demselben  Faltenwurf  besteht 
vrie  sein  Rand.  Zwiacben  dem  26.  und  40.  Parallelgrad  besteht  Ost- 
tibet grösstenteils  aus  Bergketten,  welche  im  Allgemeinen  die  Richtung 
West-Ost  einhalten.  Auch  ist  es  jetzt  schon  gerechtfertigt,  einen  grossen 
Teil  des  Hochlandes  als  Plateau  zu  betrachten,  da  dessen  nördlicher  Teil  in 
grosser  Ausdehnung  von  horizontalen  Schichten  aus  den  jungem  mesozoi- 
schen Perioden  bedeckt  ist. 

Sehr  interessant  ist  die  folgende  Betrachtung  und  Besprechung  der 
vier  Bergketten:  1.  Mittel -Kuen-Lun;  2.  das  Sin-Ling  Gebirge,  3.  die 
hinterindische  Bergkette;  4.  die  östlichen  Ausläufer  des  Himilaya.  Besonders 
schätzenswert  ist  der  dritte  Teil,  da  Löczy  der  erste  war,  der  den  geologi- 
schen Aufbau  dieser  Gegend  erforschte. 

Das  letzte  Capitel  des  geologischen  Teiles,  zugleich  auch  das  letzte  des 
ersten  Bandes,  bespricht  die  «Formationen  der  (geologischen)  Gegenwart» 
Diese  zeigen  im  östlichen  Bande  des  tibetanischen  Plateaus  folgende  Perio- 
den: I.Periode  der  grossen Süsswasserseen  im  tibetanischen  Hochlande  und 
im  Becken  der  Gobi  Wüste;  Entstehung  <^es  lacustrinen  Löss.  2.  a)  Ver- 
dunstung dieser  Seen  zu  Salzseen ;  Denudation  im  Süden,  b)  Verbreitung 
der  Wüstenformation  in  der  Wüste  Gobi ;  Entstehung  des  Löss  im  nördlichen 
China,  c)  Ausdehnung  der  Gletscher  um  die  hohen  Gipfel ;  Eiszeit.  — 
3.  Entwässerung  des  oberen  Quellengebietes  des  Hoang-Ho ;  Miteinbezie- 
hung grosser,  abflussloser  Gebiete  in  die  peripherischen  Gegenden ;  Fort- 
dauer der  Lössbildung.  Im  Süden :  Zurückweichen  der  Gletscher,  Bildung 
des  Laterit.  Diese  Perioden  repräsentiren  der  Reihe  nach  die  Formationen 
Pliocän,  Diluvium  und  Alluvium. 

Dies  der  knappe  Inhalt  des  grossen  Werkes,  welches  die  Geologie  des 
östlichen  Asien,  grösstenteils  auf  Grund  eigener  Beobachtung,  zum  Teile  von 
neuen  Standpunkten  und  durchwegs  selbstständig  behandelt.  Nicht  allein 
falsche  Ansichten  und  Daten  sind  corrigirt,  sondern  auch  neue  Hypothesen 
und  Theorien  sind  in  dem  Werke  niedergelegt,  welches  in  der  einschlägigen 
Literatur  gewiss  einen  hervorragenden  Platz  einnehmen  wird. 

Betrachtet  man  dabei  die  würdige  Ausstattung  des  Werkes  —  Format 
und  Umfang  sind  freilich  zu  wohlgemeint !  —  so  sieht  man  sich  einem 
Reisewerke  gegenüber,  das  nicht  nur  dem  edeln  Führer  und  seinen  fach- 
männischen Mitarbeitern  zur  vollen  Ehre  gereicht,  sondern  überhaupt 
seinesgleichen  sucht.  Die  typographische  Schönheit  des  Werkes  ergänzt 
sich  durch  einen  Atlas  von  32  Karten,  dessen  meisterhafte  Ausführung 
nach  den  Entwürfen  Kreitner's  (17)  und  Löczy's  (15)  dem  militär-geogra- 
phischen  Institute  in  Wien  zu  danken  ist.  Ebenso  ist  das  Werk  auch  mit 
seinen  175  zum  Teile  colorirten  Illustrationen  ein  sprechender  Beweis  für 
den  reinen  Idealismus,  von  welchem  sich  Graf  B61a  Szechenyi  bei  der 


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t)&tt  AKl8T0Tfe:iifi8-PAPYRÜS   D£:S  JSBtTISli   Mt78&UM8.  341 

Durchführung  des  grossangelegten  Planes  leiten  liess.  Der  Kleinigkeit  von 
20,000  Gulden,  welche  die  Karten  allein  erforderten,  schliessen  sich  noch 
etwa  30,000  als  Gesammtkosten  des  Werkes  an,  denen  aber  noch  80,000 
Gulden,  welche  von  der  Expedition  selbst  in  Anspruch  genommen  wurden, 
gegenüberstehen. 

Noch  aber  hat  uns  der  hochverdiente  Graf  nicht  alle  Errungenschaften 
geboten !  Ein  besonderer  Band  bringt  eine  Studie  über  die  Dravida-Spra- 
chen  von  Bälint  und  das  vom  Grafen  Szechenyi  selbst  aufgearbeitete 
Material  in  Listen  und  Tabellen,  endlich  die  Detailstudien  und  Bearbei- 
tung der  mitgebrachten  naturhistorischen  Sammlungen  von  etwa  14  Mit- 
arbeitern —  ein  Gewinn  der  Wissenschaft  und  ein  Stolz  Ungarns ! 

Leopold  Szabvas. 


DER  ARISTOTELES-PAPYRUS  DES  BRITISH  MUSEUMS. 

Hat  diese  Schrift  wirklich  den  Aristoteles  zu  ihrem  Verfasser  ?  Ich  sehe 
durchaus  keinen  Grund  zu  einer  solchen  Annahme.  Man  deutet  auf  den 
umstand  hin,  dass  55  Fragmente  einer  von  Plutarchos,  PoUux,  Harpokration 
und  Sopatros  (bei  Photios)  citirten,  gleichfalls  dem  Aristoteles  zugeschriebe- 
nen A^vaCa>v  7coXite(a  mit  den  entsprechenden  Stellen  des  von  Mr.  Kenyon 
soeben  herausgegebenen  Textes  (AristoÜe  on  the  Constitution  of  Athens. 
Second  Edition,  London,  Brit.  Museum  1891)  t klappen.»  Ja,  aber  ist  es  viel- 
leicht schon  unumstösslich  erwiesen,  dass  diese  von  Plutarchos,  Pollux  u.  s.  w. 
citirte  —  seit  vielen  Jahrhunderten  nicht  mehr  vorhandene  —  Schrift  kein 
Anderer  habe  verfassen  können,  als  Aristoteles?  und  •  klappt»  denn  die 
Stelleim  Texte  des  British  Museums  (c.41)  —  il)  exl  Oyjo^öx;  fsvoiiivT]  (iixp6v 
«apeTxXtvoooa  njc  ßaotXix'^c  thatsächlich  mit  der  Stelle  bei  Plutarchos  (Thes. 
c.  25)  —  Sri  8^  irpibtoc  iicixXtve  icpöc  töv  J^^ov  (nämlich  Ottjosö?)  oic  'Aptoto- 
t^Xtj«;  «pTjoC  (wo?)  xal  (i^f^xe  t6  {lovap^etv  —  wie  dies  Mr.  Kenyon  und  seine 
Proselyten  gar  so  emphatisch  zu  betonen  heben?  Gewiss,  nur  ein  sehr  ein- 
seitiger Philolog  kann  da  eine  vollkommene  Goincidenz  des  politischen 
Inhalts  erblicken;  ein  staatwissenschaftlich  geschulter  Kritiker  wird  das 
i?pi?Jxs  TÖ  (lovap^etv  doch  von  der  (ii^pov  icapsYxXtvoooa  nj^  ßaotXtxTj«;  wohl 
gehörig  zu  unterscheiden  wissen.  Und  wenn  der  Lexikograph  Harpokration 
sich  s.  V.  tpttT6<;  ausdrückUch  auf  'ApiototdXTjc  sv  rg  ' A^valoDv  icoXits^  beruft, 
indem  er  sagt :  tpitüc  sott  t6  tpttov  (lipoc  r^c  «poXfJc*  a5n]  fotp  8tigpY]tai  eic  zpia 
{lipiq,  Tptttöc  xal  I^vtj  xal  cppaTpia<;  —  klappt  denn  der  Wortlaut  der  trockenen 
durch  und  durch  objectiven  Gonstatirung  dieser  staatsrechtlichen  Thatsache 
vollkommen  mit  der  Stelle  im  Texte  des  British  Museums,  wo  (c.  21)  von 
Kleisthenes  gesagt  wird  Stivstfis  S^  xal  til)v  /a>pav  xaxd  Si^fiouc  xpidxovxa 


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342  DER   ARISTOTELßa-PAPYRÜS   DES   BRITISH    MUSEUMS. 

fiipTj  —  xal  taötac  i7covo|idoa<;  zpizzbQ  ixXiQpcöoev  Tp6t<;  elc  tTfJv  ^oXVjv  ixdoTTjv,  — 
um  die  Stelle  (c.  8)  sx  8k(vfi(;  ^üXtJ<;  sx)«^^^)^  r^oav  vsveiiTjiJivat  tpixtis^  |iiv 
tpsic,  vaoxpaptat  8^  SwSexa  xad'  sxdonr)v  gar  nicht  zu  erwähnen?  Die  pj-tho- 
kleideische  Schülerschaft  des  Perikles,  aber,  welche  Plutarchos  aus  der 
Schrift  des  Aristoteles  erfuhr  (Pericl.  4  'AptototÖ^Tjc  8k  xapd  IIo^oxXstSiQ 
(loootxifjv  Staffovirj^vat  töv  5v8pa  ^pYjatv)  kommt  im  Texte  des  British  Museums 
gar  nicht  vor.  —  Auch  in  Betreff  der  StajietpYjiiivTj  Tljji^pa  beruft  sich  (s.  y.) 
einmal  Harpokration  auf  die  Auetoritat  des  Aristoteles  und  zwar  mit  den 
Worten :  'ApiorotfXYji;  8*iv  rj  'AdTjva^cov  iroXtre^q^  StSdoxst  luepl  toörwv.  Ja  was 
klappt  denn  mit  dieser  Stelle  in  dem  Texte  des  British  Museums? 

Oder  sollen  wir  den  vom  Mr.  Kenyon  herausgegebenen  Torso  schon 
aus  dem  Grunde  dem  Aristoteles  zuschreiben,  weil  Aristoteles  selber  in  der 
«Ethik»  der  aoviQifiiivcDv  nokizsim  erwähne  und  Aristoteles  thatsächlich  ein 
Sammelwerk  unter  dem  Titel  IloXitsiat  ttöXscov  Sootv  8so6oaty  sSiQxovta  xal 
§xat6v  veröffentlicht  hatte,  mithin  ein  Sammelwerk,  in  welchem  unter  den 
158  (Ammon.  255)  Staatsverfassungen  wohl  auch  die  athenische  Staatsver- 
fassung vorkommen  musste?  Sonderbare  Logik!  Hätte  denn  sonst  kein 
anderer  Grieche  ein  solches  Werk  zu  schreiben  vermocht,  blos  einzig  und 
allein  Aristoteles  ?  Der  Text  des  British  Museums  muss  nach  329  v.  C.  und 
vor  322  V.  C.  geschrieben  worden  sein :  nach  329  v.  C,  weil  der  Name 
« Ammonias»  statt  «Salaminia»  darin  erwähnt  und  das  Jahr  329  v.  C.  durch 
die  Worte  ItcI  K-yjcptoo^wvTOc  äpyovTO<;  fixirt  wird;  und  vor  322  v.  C,  weil  der 
Verfasser  derselben  den  in  diesem  Jahre  vollzogenen  Umsturz  der  atheni- 
schen Demokratie  durch  Antipatros  noch  ebensowenig  kennt  wie  die  Resti- 
tution der  Demokratie  im  Jahre  318  durch  Polysperchon  oder  wie  die  Epi- 
stasie  des  Demetrios  von  Phaleron.  —  (Mr.  Kenyon  ist  viel  zu  orthodox,  um 
derartige  verfassungspolitische,  resp.  verfassungsgeschichtliche  Kriteria  ins 
Auge  zu  fassen :  er  denkt  weder  an  Antipatros  und  Polysperchon,  noch  an 
Demetrios  von  Phaleron,  sondern  glaubt  das  chronologisch  Mögliche  gelei- 
stet zu  haben,  indem  er  die  10  Phylen  als  Kennzeichen  beherzigt  wissen 
will:  «from  internal  evidence  it  is  certain  that  it  must  have  been  compoaed 
before  307  B.  C.  for  the  author  in  describing  the  Constitution  of  Athens  in 
his  own  day  speaks  always  of  ten  tribes,  which  number  was  increased  to 
twelve  in  the  year  just  mentioned).  Also  ist  die  Schrift  gewiss  nicht  nach  322 
V.  C.  verfasst  worden.  Nun,  gab  es  denn  zwischen  329  und  322  v.  C.  keinen 
anderen  Griechen  auf  der  Oberfläche  dieses  Planeten,  der  über  die  athenische 
Verfassungsgeschichte  hätte,  wenn  auch  nicht  ausführlich,  so  doch  eingehend 
schreiben  können,  ausser  dem  weltberühmten  Philosophen  und  bewunde- 
rungswürdigen Vielschreiber  Aristoteles  ?  Was  haben  denn  Theophrast  und 
Demetrios  von  Phaleron.  verbrochen,  dass  man  ihre  Namen  anlässlich  dieses 
überaus  sensationellen  Fundes  ganz  und  gar  zu  verschweigen  sucht,  als  ob 
sie  zwischen  329  und  322  v.  C.  gar  nicht  gelebt  und  über  Politik  geschrieben 


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bkB  ABl8T0TBL&8-PAFYRtT8   DES   BRitlSB   MUSEUMS.  343 

haben  würden?  Hat  denn  Theopbrast  nicht  ein  Werk  Ilepl  vo(iodst6»v  (Diog. 
Laert.  V,  45,  Cic,  De  Leg.  II,  15,  ad  Attic  VI,  1,  18),  ein  anderes  Nö|iiiov 
xata  otor/etov  (Diog.  Laert  V,  44,  Cic.  De  Pin.  V,  11)  und  ausserdem  wohl 
noch  ein  Halbdutzend  ähnlichen  Inhalts  geschrieben,  um  des  Kallimacheers 
Hermippos  (Athen.  Deipnos.  IV,  154  d.  XIH,  555  o.  XIV,  619  b.  Diog.  Laert. 
V,  78)  sowie  des  ApoUodors  von  Athen  (Diog.  Laert.  I,  58),  welche  auch 
über  die  Gesetzgebung  IIspl  vo(io^ala<;  geschrieben  hatten,  gar  nicht  zu  er- 
wähnen ?  und  war  denn  Demetrios  von  PhcUeron,  der  schon  vor  322  v.  C. 
als  Denker  und  Staatsmann  hervorragte  (geboren  um  350  v.  C),  nicht  schon 
vermöge  dieser  seiner  Stellung  zu  Athen  unvergleichlich  besser  dazu  befähigt, 
die  Quellen  der  älteren  Phasen  athenischer  Verfassungsgeschichte  im  Staats- 
archiv dieses  gegen  Fremde  und  Metoiken  so  argwöhnischen  Gemeinwesen 
des  Näheren  zu  studiren  als  Aristoteles,  der  blos  als  Metoike  in  Athen 
lebte  und  als  solcher  die  urkundlichen  Schatze  im  Metroon  autoptisch  gar 
nicht  gehörig  benutzen  durfte?  Ich  will  nicht  kategorisch  behaupten,  dass 
der  Text  des  British  Museums  nur  von  Demetrios  von  Phaleron  herrühren 
kann :  doch  will  ich  die  Möglichkeit  eines  solchen  Ursprungs  nicht  um  jeden 
Preis  ausser  Acht  lassen,  um  ja  nur  die  sensationelle  Bedeutung  des  Fundes 
nicht  zu  gefährden.  In  der  That,  diese  Möglichkeit  liegt  nahe,  ja  dieselbe 
steigert  sich  sogar  bis  zur  Wahrscheinlichkeit  in  Aller  Augen,  denen  sowohl 
die  erhaltenen  Fragmente  des  Demetrios  als  auch  seine  handschriftlich  be- 
glaubigten Bnchertitel  des  Näheren  bekannt  sind«  Was  enthält  der  Text  des 
British  Museums  ?  Eine  Schilderung  der  athenischen  Staatsverfassung,  in 
welcher  jedoch  die  Verfassungsgeschichte  als  solche  entschieden  überwiegt. 
Der  Titel,  den  Demetrios  von  Phaleron  einem  seiner  verloren  gegangenen 
Werke  gegeben  hatte  —  Ilepl  täv  Adi^vtjot  tcoXitsiäv  —  « lieber  die  verschie- 
denen  Staatsverfassungen,  welche  zu  verschiedenen  Zeiten  in  Athen  bestan- 
dene —  dieser  Titel  *  würde  unvergleichlich  besser  auf  den  Text  des  British 
Museums  passen,  als  auf  was  immer  für  ein  Fragment  des  Aristoteles«  Die 
Fragmente  der  ausser-athenischen  IIoXit8laiir6Xe(ov  Soolv  Seoöoatv  e^i^xovraxal 
Ixatöv  enthalten  allerlei  Märchenhaftes  (Drepane,  Eerkjra  u.  s.  w.)  und 
können  sich  mit  den  verfassungsgeschichtlichen  Schilderungen  des  Textes 
des  British  Museums  bei  Weitem  nicht  messen,  weder  an  staatsrechtlicher 
Schärfe  noch  an  Detail-Eenntniss.  Auf  der  anderen  Seite  steht  der  Text  des 
British  Museums  und  zwar  in  Bezug  auf  die  allerwichtigsten  verfassungs- 


*  Unglücklicherweise  steht  auch  im  Texte  meines  I.  Bandes  (Die  Demokratie 
von  Athen,  p.  522)  in  Folge  eines  Druckfehlers  Ugpi  xa>v  'Aj^Tjvrjai  TcoXeibJv  statt  Uzpi 
Tüiv  'A5i[vTiai  ;coXiTetü>v.  Schon  Cobet  und  luegrand  (D^m^trius  de  Phal^re  in  den  Verh. 
der  königl.  belgischen  Akademie  der  Wissenschaften)  hahen  —  und  zwar  auf  Grund 
der  besten  italienischen  Handschriften  das  fehlerhaft«,  wenn  auch  auf  den  ersten 
Bück  gewiss  viel  plausiblere  ;:oX(Ta>v  auf  diese  Weise  —  nämlich  7:cXiTEta>v  —  emendirt 


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^^  Dfift   ARISTOTlGLfiS-PAPlrRtJS   DAS   BRlTlaä   MtJSEtiMß. 

geschichtlichen  Momente  im  schroffsten  Widerspruch  mit  den  rioXittxd  des 
Aristoteles.  Dieser  sagt  ausdrücklich,  dass  Drakon  seine  gar  so  schrecklich 
harten  Strafgesetze  einer  bereits  bestandenen  Staatsordnung  angepasst,  mit- 
hin überhaupt  keine  Verfassungsreform  initiirt  oder  durchgeführt,  und  Alles 
in  Allem,  keine  verfassungspolitische  Thätigkeit  an  den  Tag  gelegt  habe  — 
Polit  n,  1274  a  40:  Apdxovtoc  8^  vöjioi  ji^v  elol,  KoXttetof  S'tiirapxoöoiQ  to6<; 
vöfioDC  l^xev  i8tov  8*iv  tot;  v6(iot<;  oi8iv  sottv  o  tt  xal  (iveiac;  44tov,  icXVjv  t, 
XoXeicörijc  8ta  t6  ttJc  dpi^ac  (liife^c  —  und  der  Text  des  British  Museums 
schildert  uns  (c.  4)  diesen  selben  Drakon  als  einen  epochalen  Reformator  der 
athenischen  Verfassung  —  iice8i8oTo  (t^)  icoXttsCa  tote  Z^kcn  Kopexo^oit;' 
T^poöVTO  8^  Tooc  jiiv  ivvda  äpxovrac  (xal  t*)  ooc  (t)  «[jLt  —  a<;  oootav  xexnjiiivoo^ 
oäx  IXctTTCrt  8dxa  {ivÄv  iXeo*dpav  x.  t.  X.  —  ßooXeü&tv  8^  TSTpaxootooc  xal  Iva 
X,  t.  X.  i^Tjv  8^  t4>  i8txoo{iiv(j)  7cpö(c)  Ti)v  T<b(v)  Apeo7ca7ett(ü)v)  ßooXi^v  eioaYY^XXstv 
X.  t.  X.  —  Auch  in  Betreff  der  Timokratie  steht  der  Text  des  British  Museums 
im  schärfsten  Widerspruch  mit  der  *  Politik»  des  Aristoteles.  Dieser  be- 
hauptet, Solon  habe  die  Wahl  der  Beamten  eingeführt  —  Pol.  U.V.  1274.  — 
tö  ta^  ^PX^^  atpetoftat  xal  si*6vs:v  —  sx  täv  icevTaxooio|i88[pLva)v  xal  CeüiftTwv 
xal  Tpkoo  tdXotx;  rrjc  xaXoo(iiv7]<;  ijocdSoi;  —  und  dieselben  auf  die  Pentako- 
siomedimneU;  in  aweiter  Reihe  auf  die  Zeugiten  und  in  dritter  Reihe  auf  die 
Ritter  —  C7ncd8a  —  beschränkt  (mithin  eine  timokratische  Rangstufenleiter, 
die  sowohl  der  Nachricht  bei  Plutarch  (Solon)  und  unseren  sonstigen  Quellen 
als  auch  dem  gesunden  Menschenverstände  zuwiderläuft,  da  derjenige,  der 
ßich^ein  paar  Ochsen  halten  konnte,  wohl  noch  nicht  notwendigerweise  ver- 
mögend genug  war,  sich  ein  Schlachtross  nebst  Bewaffnung  aas  eigenen 
Mitteln  zu  verschaffen) ;  —  dagegen  meldet  der  Text  des  British  Museums 
mit  nicht  zu  missverstehenden  Worten,  dass  Solon  die  Aemter  durch  das 
Los  besetzen  Hess  und  zwar  aus  der  Reihe  der  Prokriten,  welche  die  Phylen 
zu  erwählen  hatten  —  (c.  8)  ta<;  8'  ap/a;  sicotTjoe  xX'if]pa)td<;  sx  icpoxpitwv, 
(o)5;  (ixdo>nr]  icpoxplvsi  täv  fp?>Xü)v.  Und  derlei  Widersprüche  gibt  es  da  in 
Hülle  und  Fülle.  Wie  wäre  es  denkbar,  dass  ein  und  derselbe  Verfasser  sieh 
derlei  Widersprüche  zu  Schulden  kommen  lassen  sollte  ?  So  wie  damit  noch 
nicht  geholfen  ist,  wenn  Susemihl  die  Worte  tptxoo  tdXoo<;  unter  die  Klam- 
mem setzt:  so  würde  die  Schwierigkeit  wohl  auch  noch  bei  Weitem  nicht 
gelöst  sein,  wenn  man  die  Abfassungszeit  der  lloXttsiat,  deren  integrirenden 
Teil  die  AdYjvaCcov  icoXtTsia  gebildet  haben  soll,  nicht  wie  Zelkr  vor,  sondern 
nach  der  Abfassungszeit  der  rioXttixd  gesetzt  wissen  wollte. 

Werfen  wir  nur  einen  Blick  auf  die  schriftstellerische  Thätigkeit  des 
Demetrios  von  Phaleron.  Von  diesem  sagt  Cicero  (De  Leg.  III.  14  Brut  9) 
«Phalereus  successit  eis  senibus  adolescens,  eruditissimus  ille  quidem  horum 
omnium  —  processerat  enim  in  solem  et  pulverem,  non  ut  a  militari  taber- 
naculo,  sed  ut  e  Theophrasti,  doctissimi  hominis  umbraculis  »  Demetrios 
schrieb  u.  A.  ein  Werk  Hepl  vöjicov  (Diog.  Laert.  V.  80,  81),  ein  zweites  Depl 


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t)»ft  A»lSTÖtELEfl-l>APYRÜß   DAS   BftmsH   MüSfiÜMS.  UTy 

njc  ' A^vTjoi  vopio^soia^  (Diog.  V,  80 ;  Harpocr.  v.  Suidas  v.  icapaoraoic) ,'  ein 
drittes  flepl  icoXttixTj?  (Cobet :  TcoXttixwv)  (Diog.  Laert.  V,  80) ;  ein  viertes 
Tc^p  Trjc  «oXiteiac  (D.  L.  V,  81);  ein  fünftes  Hspl  Sexaeteta;,  welches  nicht 
den  Trojanischen  Krieg,  wie  man  auf  eine  äusserst  alberne  Weise  vermu- 
tete, sondern  seine  eigene  zehnjährige  Staatsverwaltung  (317 — 307  v.  C.) 
zum  Gegenstande  hatte,  wie  dies  auch  schon  Hübner  (Diog.  Laert.  p.  657) 
erkannte.  Es  ist  dasselbe  Werk,  von  welchem  der  gründlichst  gelehrte, 
scharfsinnigst  kritisch  sichtende  Strabon  sagt  —  (IX,  398)  —  oo  jtovov  oü 
xat^Xoae  tVjv  Sir][i^xpattav,  äXkä  xal  s7njv<i)pft(oos,  SyjXoi  8s  td  07co|iVTQ|JLaTa  a 
oovlYpa({»e  icepl  tijc  ÄoXtT8£a<;  totonjc;  sxetvoc.  {Henkd  führt  irrigerweise  diese 
strabonische  Stelle  zu  der  Schrift  Tic^p  njc  icoXitsioc«;  an).  In  einem  sechsten 
Werke  hielt  er  dem  Volke  von  Athen  seine  Schwachheiten  und  Laster  ent- 
gegen 'A^vaicov  xaTa8po|jn^  (Diog.  L.  V,  5,  81),  in  einem  siebenten  hinter- 
liess  er  sachliche  Notizen  staatsrechtlichen  Inhalts  zu  der  Geschichte  der 
athenischen  Archonten  'Apx^^vtoDv  iva7pa?pirj  (Diog.  L.  I,  3,  22,  II,  3,  7 ;  Mar- 
cellm.  Vit.  Thucyd.  50),  in  einem  achten  Ilepl  SYjiJuxYWYiac  (Diog.  L,  V,  80) 
schilderte  er  die  Demagogen  seines  Vaterlandes  und  in  einem  neunten, 
IIspl  xm  A^vYjoi  TcoXfetÄv  (Diog.  L.  V,  80)  schrieb  er  eine  Verfassungsge- 
schichte  des  Staats  Athen  bis  auf  den  Umsturz  der  athenischen  Demokratie 
durch  Antipatros.  Der  Titel  [lepi  iroXiteUbv  (und  nicht  Ilepl  TcoXttcov),  den  die 
besten  italienischen  Handschriften  beurkundeen,  soll  uns  nicht  befremden : 
hat  ja  doch  auch  das  Werk  des  Herakleides  von  Poutos  den  selben  Titel  — 
Ilepl  icoXtxeiidv  —  geführt.  (MüUer  u.  Heitz  gegen  Welcker  u.  Köler.)  Leider 
wird  dieses  hochbedeutende,  seinem  Wesen  nach  unverkennbar  verfassungs- 
geschichtliche Werk  als  solches  mit  seines  Verfassers  Namen  nirgends  citirt. 
Doch  sowohl  die  Fragmente  seines  Werkes  Ilepl  tfj?  Adi^vTQot  vojio^oto^,  als 
auch  die  seiner  ApxövtcDv  dcva^patpiQ  dürften  uns  schon  an  sich  einen  Finger- 
zeig geben,  mit  welch'  einem  staatsurkundlichen  Apparat  Demetrios  die  Ge- 
schichte der  athenischen  Staatsverfassungen  zu  Wege  gebracht  haben  mag. 
Doch  betrachten  wir  ein  wenig  zuerst  die  Ap/övicov  diva^pacpi^.  Fragm.  I  bei 
Diog.  Laert.  I,  3,  22  erwähnt  des  Archonten  Damasias,  xad'  6v  xal  ot  eircd 
0090I  sxXi^^oav.  Frg.  11.  ibid.  H,  3,  7  fixirt  die  Epoche  der  Lehrthätigkeit 
des  AnaxagorasaufdasArchontatdes  Kalliades.  —  Fragm.  HI.  (Marcell.Vit. 
Thucyd.  50)  erwähnt  den  xdO-oSoc,  der  e86dTf)  zou;  feöifoüotv.  —  Reichhaltiger 
sind  die  Fragmente  seiner  Schrift  Ilepl  ttJc  ÄdiQVYjot  vo|JLo*eob(;.  Fragm.  I. 
(Lex.  Bhet.  p.  672  ad  calc.  Phot)  ist  augenscheinlich  verfassungsrechtlichen 
Inhalts:  Kopia  xi  sxxXTr)o/a.  Air]|jLi^tpio<;  6  4>aXY]p6ü<;  Iv  z(^  Seotipcp  itepl  rij^ 
AdiQvatcov  vo(i^^a{a<;.  (Kopta  exxXirjata,  o6x  sv  ^)  icXetota  expTjli^tiCov  7]  {li^iota 
ttt)v  xotva>v,  iXX'  ev  -ß  ta;  xm  87](jieüO|Jiiva)v  x.  t.  X.  —  Fragm.  H.  (Harpokration 
V.  £xacpY)(pöpoi'  ?p7)olv  Sri  Äpoo^tarcev  6  vöfioc  tote  (j^ToCxotc  ev  tat^  irotiscaie  ab- 
zotx;  (jiv  oxdcpac  cpdpetv  x.  t.  X.  —  Fragm.  HL  Harp.  v.  '^Epxetoc  Ze6<:.  — 
Fragm.  IV.  Harpokration  v.  Ilapdotaotc*  Ayjjitqtpioc  Sk  6  4>aX7]pe6<  h  xou; 


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^^">  DER   ARISTOTELES-PAPYRUS   DES   BRITISH   MtJSfetMS. 

TOpl  vo(io^oCa<;  tOD<:  Statnjtd;  ^tjot  Xafißdvstv  tdc  Spa^ftd^,  jiCav  jiiv  aicö  tfjc 
Xf^^eox;,  ijv  icapaoraotv  IxdXoov,  etipav  8^  xata  twca)[i.ootav  sxdonjv.  (VgL 
Aristot.  Fragm.  31  in  Vol.  11  Fragmentor.  Histor.  Graecor  ed.  Mueller ;  Hudt- 
walcker  De  Diaetetis  p.  134;  Scfaoemann  Histor.  jur.  publ.  284,  267,  Legrand 
p.  1 73).  —  Fragm.  V.  Plut.  8ol.  c.  23.  ol  icspl  zm  Yovaixwv  v6|i.ot,  allgemein 
bekannt.  —  Fragm.  VI.  Scboliast.  ad  Nub.  Aristoph.  v.  37.  Aijjn^ptoc 
6  4>aXY)ps6<;  ^Yjot  xal  8Tj[i.dp5(oi)<;  ol  irepl  £6Xa)va  xadCoravro  Iv  icoXX'g  (3icot>S'5, 
Iva  ot  xatd  Sfjfi.ov  StScbot  xal  Xa|i.ßdva)otv  td  Slxata  icap'  dXXiQXcöv.  Vgl.  Aristot. 
Fragm.  18.  p.  111  in  Vol.  II.  Fragmentor.  Histor.  Graecor  ed.  Muell., 
wo  die  Einföbrung  der  Demarchen  dem  Eleisthenes  zugeschrieben  wird. 
Dies  würde  aber  nur  beweisen,  dass  Demetrios,  indem  er  sein  Werk 
riepl  töv  ilftT^vTQot  7coXtr8t(bv  schrieb,  noch  nicht  wusste,  was  er  später, 
als  er  sein  Werk  IIspl  rijc  'A^vYjat  vo|i.o*so£a^  verfasste,  etwa  auf  Grund 
eingehender  Studien  im  Metroon,  bereits  zur  Eenntniss  genommen  hatte; 
übrigens  können  schon  vor  Eleisthenes  Demarchen  mit  einer  Compe- 
tenz  im  Sinne  dieses  Fragments  des  Demetrios  existirt  haben,  und  da  diese 
Competenz  nicht  mit  der  der  Naukraren  coincidirte,  so  konnte  der  Ver- 
fasser sowohl  des  Textes  des  British  Museums  als  des  angebl.  Fragments 
des  Aristoteles  in  Fragm.  Histor.  Graec.  noch  immerhin  behaupten,  dass 
Eleisthenes  die  Demarchen  (freilich  mit  einer  anderen  Competenz  und 
zwar  statt  der  alten  Naukraren)  eingeführt  habe.  Rose  —  in  seiner  sonst 
gewiss  sehr  wertvollen  Fragmenten*  Sammlung  (Aristotelisquae  ferebantur  Üb- 
rorum  fragmenta.  Lips.  1 886)  macht  eine  solche  Annahme  ebensowenig  unmög- 
lich, als  Heitz  in  seinem  nicht  minder  wertvollen  Buche  (Die  verlorenen 
Schriftendes  Aristoteles,  1865).  —Fragm.  Vn  und  Vm  (Cic.  De  Leg.  H,  25, 
26,  De  Offic.  II,  17)  über  die  Feierlichkeiten  bei  Begräbnissen,  sowie  gegen 
Perikles,  der  zu  viel  Geld  auf  die  Propylaien  verschwendet  habe.  Fragm. 
vm  Lex.  Bhetor.  ad.  calc.  Phot.  v.  sbaT^eXta  und  Pollux  VEI,  segm.  53 
berichtet  über  jikiiüv  irevxaxoo^cov  (Sxptvov  Sk  td;  etoaT^eXfac).  Sodann  die 
Fragmente  X  und  XI  bei  Legrand  13  und  14)  (Lex.  Rhetor.  p.  673  v.  |i.t^  oooa 
StxY]  und  Pollux  Vin,  segm.  102:  oiivSsxa.)  Wer  insbesondere  das  Fragment 
über  die  \s.ii  oooa  Sixtj  liest  und  daselbst  die  tief  in  die  Details  der  atheni- 
schen Gerichtspraxis  gehenden  Auseinandersetzungen  des  Verfassers  des 
Werkes  Hspl  ryj(;  'A^vif]at  vo(i.o^sota<:  gehörig  zu  würdigen  weiss :  der  wird 
gewiss  eher  eine  fachschriftstellerische  Verwandtschaft  einerseits  zwischen 
Demetrios  Phalereus  und  anderseits  dem  Verfasser  des  Textes  des  British 
Museums,  als  zwischen  diesem  letzteren  und  Aristoteles  wahrnehmen.  Hat 
ja  doch  Aristoteles  nirgends  in  den  acht  Büchern  seiner  IloXttixcbv  verraten, 
dass  er  irgendwie  all  zu  grosses  Gewicht  auf  die  Detailschilderungen  staats- 
rechtlicher Natur  zu  legen  geliebt  hätte ! 

Demetrios  von  Phaleron  hatte  sich  frühzeitig  entwickelt ;  als  24-jähriger 
Staatsbürger  stand  er  schon  da  in  der  ersten  Reihe  politischer  Grössen ; 


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htXL  AKlßTOTBLBS-PAPirRÜS   DES   BRITISH   MUSEUMS.  '^^^ 

seine  Beredtsamkeit,  so  sehr  bewundert  von  Cicero  und  Qoinctilian,  machte 
ihn  zum  Machtfactor  in  Athen  in  einem  Lebensalter,  in  welchem  Hermoge- 
nes  schon  wie  ein  halbtodter  durch  die  Strassen  von  Tarsos  wandelte.  Doch 
hätte  er,  der  Sohn  des  Sclaven  Phanostrates,  sich  wohl  so  rasch  zu  einer 
Höhe  emporzuschwingen  vermocht,  wenn  er,  der  Schüler  des  Aristoteles  und 
des  Theophrast,  sich  nicht  bereits  in  diesen  Jahren  der  Demokratie  zugleich 
als  Schriftsteller  und  Denker  hervorgethan  hätte?  Auch  ging  er,  nachdem  er 
den  athenischen  Staat  zehn  Jahre  (317 — 307  v.  C.)  hindurch  ruhmvollst 
verwaltet  hatte,  als  ein  echt  culturstaatsmännischer  Epistat,  nach  Aegypten, 
wo  seiner  am  Hofe  der  Ptolemaier  welthistorisch  bedeutende  culturpoliti- 
sche  und  literarische  Aufgaben  harrten.  Auch  hauchte  er  seine  Seele  hier, 
im  Nilthale  aus,  —  als  leitender  Geist  der  wundervollen  Bibliothek  von  Ale 
xandrien,  ja  noch  mehr  als  dies,  als  zielbewusster  Vorkämpfer  der  Ver- 
schmelzung hellenischer,  ägyptischer,  semitischer  und  babylonischer  Bil- 
dung. Bastlos  war  —  unseren  Quellen  nach  —  seine  Production  auch  noch 
in  Aegypten ;  dabei  sammelte  er  die  Erzeugnisse  hellenischen  Geistes  mit 
Flammeneifei  so  viel  er  nur  konnte.  Der  Text  des  British  Museums  stammt 
angeblich  aus  Aegypten  her :  nun  wäre  es  denn  gar  so  unwahrscheinlich, 
dass  eine  Schrift  des  epochalen  Bibliothekars  von  Alexandrien,  hier  auf 
diesem  hamitischen  Boden  wie  immer  erbalten  und  dann  des  öfteren  copirt 
oder  gar  in  eine  plagiatorische  Form  gegossen  werden  sollte,  um  der  Nach- 
welt als  ein  Geisteserzeugniss  des  Aristoteles  verkündet  zu  werden?  Der 
sinnige  Aufarbeiter  hätte  nicht  einmal  die  isokratischen  Rhythmen  des 
Satzbaues  entkleiden  dürfen,  welche  so  manche  philologische  Brabeuten  der 
Gtegenwart  in  dem  Texte  des  British  Museums  entdeckt  zu  haben  meinen. 
Sind  solche  Rhythmen  wirklich  vorhanden :  dann  ist  noch  um  einen  Grund 
mehr  vorhanden,  nicht  an  Aristoteles  zu  denken,  sondern  an  Demetrios, 
•cuius  oratio  —  wie  Cicero  sagt  Grat.  26,  27,  Brut.  82  —  quum  sedate 
placideque  labitur,  tum  illustrant  eum  quasi  steUae  quaedam  translata 
verba  aut  immutata.i  Derselbe  Cicero  sagt  von  ihm  (Brut.  9)  u.  A.  auch 
«hie  primus  inflexit  orationem  et  eam  moUem,  teneramque  reddidit,  et 
suavis,  sicut  fuit,  videri  maluit  quam  gravis :  sed  suavitate  ea  qua  perfunderet 
animoe,  non  qua  perstringeret :  tantum  ut  memoriam  concinnitatis  suae 
non,  quemadmodum  de  Pericie  scripsit  Eupolis,  cum  delectatione  aculeos 
etiam  relinqueret  in  animis  eorum,  a  quibus  esset  auditus.»  Ich  glaube, 
wenn  man  dies  liest,  dürften  einem  die  «Isokratischen  Rhythmen»  doch 
noch  vielleicht  eher  einfallen,  als  wenn  man  den  Styl  des  Aristoteles  «rhyth- 
misch» zu  geniessen  sucht.  —  Alles  in  Allem  wäre  es  doch  zu  riskirt,  den 
Text  des  British  Museums  kategorisch  für  ein  Geisteserzeugniss  des  Aristo- 
teles erklären  zu  wollen,  zumal  solche  Belege  vorliegen,  dass  sowohl  die 
'A*Tjvala)v  icokixsia,  deren  Stellen  Plutarch,  Pollux,  Harpokration  und  Sopa- 
tros  citiren,  als  auch  der  Text  des  British  Museums  von  einem  Demetrios 


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•^^  DteR   ABtBTO*rteLteB-t>APtRtJS   DfcS   BlUtlSÖ    MÜSBÜM^. 

von  Phaleron  herrühren  können.  Ja  können,  denn  mehr  will  ich  auch  nicht 
l)ehaupten.  Die  Thatsache,  daes  die  Schrift  des  Demetrios  flepl  twv  'A^vr^oi 
7toXtt6i(bv  von  keinem  Zeitgenossen  und  auch  von  keinem  späteren  Griechen 
oder  Römer  dem  Namen  nach  citirt  wird,  diese  Thatsache  überzeugt  mich 
in  entgegengesetzter  Bichtung  wohl  noch  keineswegs.  Auch  die  'AdY]vato)v 
:coXiteia  figurirte  Jahrhunderte  lang  unter  den  Werken  Xenophons :  und 
obwohl  man  weder  von  Phrynichos  noch  von  dem  unbekannten  Oligarchen 
nus  der  Umgebung  des  Thukydides  «Sohn  des  Melesias»  je  eine  Zeile* 
gelesen  hat:  mau  würde  es  heutzutage  dennoch  für  eine  Akrisie  halten, 
wollte  man  jene  'Adir]va[ü)v  icoXiteia  aus  den  letzten  Jahren  des  Perikleischen 
Zeitalters  trotzdem  um  jeden  Preis  als  das  Werk  des  Verfassers  der '  Avapa-^tc 
gelten  lassen.  Hat  denn  die  «Oikonomik»  nicht  auch  Jahrhunderte  lang  als 
das  Erzeugniss  des  Aristoteles  und  sogar  der  «Epinomis«  als  das  Erzeugniss 
des  Piaton  figuriren  können,  ohne  dass  Jemandem  eingefallen  wäre,  jene 
ganz  ernsthaft  dem  Theophrast  und  diesen  dem  Phiiippos  von  Opus  zu 
vindiciren  ?  Nun  sei  dem  wie  immer;  eines  ist  gewiss:  der  Text  des  British 
Museums  enthält  eine  wahre  Fundgrube  höchst  interessanter  Angaben, 
welche  so  manche  Partien  der  athenischen  Yerfassungsgeschichte  auf  eine 
völlig  neue  Weise  beleuchten.  Abgesehen  von  den  sonst  gewiss  recht  inter- 
essanten staatsrechtlichen  Verschwommenheiten,  welche  uns  die  Schrift 
auch  in  ihrem  auf  uns  gelangten  Torso  in  Bezug  auf  Jons  und  Theseus'  Zei- 
ten zum  Besten  gibt,  sind  aus  dem  verfassungsgeschichtlichen  Berichte  über 
die  Cap.  41  betonten  1 1  (letaßoXa^  —  ausser  Jons  grundlegendem  Synoikis- 
mos  und  Phylenerrichtung-  die  Verfassangsphasen  des  Theseus,  Drakon, 
Solon,  Peisistratos  (den  die  Schrift  zuweilen  niaiarpdxot)  schreibet),  sowie 
des  Eleisthenes,  Aristeides,  Ephialtes,  der  400,  der  restituirten  Demokratie 
(Therameues)  der  30  und  der  zum  zweitenmale  unter  dem  Archonten  Pytho- 
doros  (nicht  Eukleides  ?)  restituirten  Demokratie  —  besonders  hervorzuhe- 
ben :  1 .  die  tdSu;  Tf)<;  ip^a^ac  icoXtteCa^  vor  Drakon,  beruhend  auf  einer  Herr- 
schaft der  genealogisch  verklärten  Geschlechter  und  des  Reichtums  — 
(ipi(TrtvS7]v  xQil  icXootCvSiQv  und  culminirend  einerseits  zuerst  in  lebenslängli- 
chen, nachher  aber  in  zehnjährigen  Archonten  (ßaoiXeii;,  nok&\kOLpyoi;,  äpxwv) 
und  andererseits  in  dem  Bäte  auf  dem  Areiopage;  der  Bat  auf  dem  Areiopag 
soll  sich  schon  damals,  d.  i.  vor  Drakon,  aus  den  austretenden  Archonten 
ergänzt  und  sowohl  die  höchste  Begierungs-  resp.  Verwaltungsbehörde  als 
auch  den  höchsten  Gerichtshof  abgegeben  haben.  —  Cap.  3 :  tt^v  (liv  tdjtv 
tlye  toü  8tanf)petv  toü(;  v6(i.ooc,  8t<f)xet  8^  ta  TuXetota  xai  ra  |i^7tota  t<bv  ev  rj 
i:6Xet,  xal  xoXdCooaa  xal  l^7i^(io)boa  jcdtvtac  toü<;  (ixoo(ioüvtac  xop^ox;.  Das  kann 
jedoch  erst  eingetreten  sein,  nachdem  die  jährlich  erwählten  neun  Archonten 

*  Abgesehen   von    den    Worten,    welclie   ihm    Tlmkydides  der  Geschichtschrei- 
ber  u.  A.  in  den  Mund  zu  legen  liebten. 


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DER   ARI8T0TBLB8-PAPYRÜ8   DBS   BRITISH   MUSEUMS. 


349 


schon  da  waren,  deren  Collegium  68i2  v.  G.  zugleich  mit  der  Abschaffung 
des  Decennial-Systems  eingeführt  worden  zu  sein  scheint.  Auf  die  Schilde- 
rung, laut  welcher  der  König  —  ßa-siXsü«;  —  als  solcher  noch  von  Verfas- 
sungswegen weiter  zu  fungiren  hatte,  nachdem  er  bereits  einen  grossmäch- 
tigen CoUegen  in  dem  Polemarch  und  einen  zweiten,  minder  mächtigen  in 
dem  äpxö>v  erhalten  hatte,  ist  vorläufig  kein  besonderes  Gewicht  zu  legen.  — 
2.  Die  xdiit;  der  auf  diese  icpwrr)  jcoXiTsta  (cap.  4)  folgenden  J)ra/[;on'schen 
Verfassung.  Die  Ausübung  der  Souverainitätsrechte  —  hier  bedeutet  soviel 
die  TcoXtxeta  —  wurde  denen  übergeben,  welche  fähig  waren  sich  aus  eigenen 
Mitteln  mit  Waffenrüstung  zu  versehen  —  aTceS^Soto  (i^)  nokizzia  xoU  SicXa 
3capsxo|iivoic.  Also  nicht  Prodikos  von  Keos,  nicht  Phok^lides  oder  Pseudo- 
Phokylides,  nicht  Theramenes  ist  der  Erfinder  dieses  Gedankens :  schon  die 
Drakonische  Verfassung  hat  ihn  verkörpert !  Man  wählte  die  neun  Archon- 
ten,  so  wie  die  Schatzmeister  —  xa^ia<;  —  aus  der  Reihe  jener  Staats- 
bürger, welche  ein  freies  Vermögen  von  mindestens  10  Minen,  die  übri- 
gen Beamten  aus  der  Beihe  der  Selbstbewaffnungsfahigen  —  oicXa 
3cap(8/o|iiva>v) ;  —  die  Strategen  und  Hipp  irchen  jedoch  aus  der  Beihe 
derer,  welche  mindestens  ein  freies  Vermögen  von  100  Minen  und  Kin- 
der aus  rechtmässiger  Ehe  über  10  Jahre  hatten.  Nun  folgt  eine  lücken- 
hafte Stelle  im  Texte,  die  —  leider  —  sehr  verdorben  und  eben  deshalb 
unverständlich  ist.  Der  Staatsrat  —  ßooXi^  —  war  schon  vorhanden 
auf  Grund  dieser  Drakon*schen  Verfassung,  bestand  aus  401  Mitgliedern, 
welche  aus  der  Gesammtheit  der  Staatsbürgerschaft  —  touc  Xaxövta^  sx  r^< 
xoXitetac  —  erloost  wurden.  Die  Mitglieder  dieses  Staatsrates,  so  wie  die 
übrigen  Beamten  wurden  aus  der  Beihe  derer  erloost  —  xX7]poöa^ai  —  welche 
ihr  30.  Lebenerjahr  bereits  überschritten  hatten.  Mithin  scheint  Drakon, 
der  •  entsetzlich  strenge  Codificator  des  Strafrechtes»,  zugleich  der  Ein- 
führer  des  Looses  gewesen  zu  sein.  Auch  die  timokratischen  Bangolassen 
der  Pentakosiomedimnen,  Hippeis  und  Zeugiten  bestanden  schon  auf  Grund 
der  Drakonischen  Verfassung.  Drakon  hat  den  Areiopag  zum  Wächter  der 
Gesetze  gegenüber  der  Verwaltung  gemacht :  sein  Areiopag  erscheint  schon 
als  eine  Art  Staatsgerichtshof  —  cap.  4 :  cp6Xa4  i^v  xm  v6|i.6i>v  xai  St8nQp(8i  xa)^ 
Äpxa?  Sico)^  xata  xofx;  v6|jloo^  äp^cootv.  —  Die  (freie)  Bevölkerung  blieb  — 
setzt  der  Text  emphatisch  hinzu  —  dermassen  verschuldet,  dass  sogar  die 
Körper  dieser  verschuldeten  Staatsbürger  ihren  Gläubigern  verpfändet  waren, 
und  die  Staatsgewalt  lag  (thatsächlich)  in  der  Hand  einiger  Weniger.  Um 
diesem  Zustande  ein  Ende  zu  machen,  erhob  sich  das  Volk  —  Siy]|i.o^  —  gegen 
die  Vornehmen  —  7Vft)pf(i.ot^.  —  Der  Elegiendichter  Solon  wurde  nun  zum 
Pacificator  und  Archon  —  StoXXaxti^v  xal  äp^ovra  —  erwählt  Solon  über- 
nahm die  höchste  Gewalt  —  %6pto«  —  und  befreite  das  Volk  —  töv  SfJitov  — 
für  die  Gegenwart  sowie  für  die  Zukunft.  Er  bewerkstelligte  die  Seisachthie  — 
und  ordnete  das  Staatswesen  auf  Grund  einer  neuen  Verfassung,  wobei  die 


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350  PER    ART8T0TET.E8-PAPYRTTS    DES    BRITISH    MUSEUMS. 

Drakon'schen  Gresetze  —  mit  Ausnahme  der  Strafgesetze  über  den  Mord  — 
ausser  Kraft  gesetzt  wurden.  Die  Gesetze  Solons  sollten  100  Jahre  lang 
GOtigkett  lukben.  Er  heliess  die  bestehende  —  xal  :cpötepov  —  timokratische 
Eintheilung  der  StaalBbürger  in  Pentakosiomedimnen,  Hippeis,  Zeugiten 
und  Theten.  Beamten  konnten  nur  Fentakosiomedimnen,  Hippeis  und  Zeu- 
giten werden,  so  die  9  Archonten,  die  ächatrareiBter  —  tafitac  — ,  die  Poleten, 
die  Elf,  die  Eolakreten :  alle  diese  Aemter  durften  nur  im  Verhältniss  zu 
ihrer  Wichtigkeit  aus  der  betreffenden  Vermögensrangclasse  besetst  werden. 
Den  Theten  ertheilte  er  nur  das  Becht,  an  der  Ekklesie  und  an  des  Ge- 
schwornengerichten  —  Stxaanjp^oDv  — teilzunehmen.  (Pentakosiomedimnen: 
500  |iitpa  ta  ot)vd(i.f  cd  $Tjpa  xal  o^pa  —  Hippeis :  300  {litpa  oder  wie  einige 
behaupten  das  iicicotpocpsiv  —  Zeugiten :  mindestens  !200  (tetpa ;  die  weniger 
hatten,  Theten).  Auch  Solon  liess  die  Aemter  durch  das  Loos  besetzen,  ledig- 
lich jedoch  aus  der  Beihe  derjenigen,  welche  die  Phylen  zu  diesem  Behufc 
zu  Gandidaten  —  icpoxpCtcov  —  erwählt  hatten.  Eine  jede  der  4  Phylen  er- 
wählte 10  Prokriten,  und  aus  diesen  wurden  die  9  Archonten  erloost.  Einst 
hatte  der  Areiopag  selber  ein  jedes  Amt  nach  seinem  eigenen  Gutdünken 
besetzt,  wobei  es  dem  Areiopag  ausschliesslich  auf  die  geeigneten  Männer  — 
sicitigSeiov  —  ankam ;  später,  lange-lange  nach  Solon 's  Zeiten  wurden  sogar 
die  Prokriten  erloost  —  cap.  8 :  xXYjpoöv  —  Solon  behess  die  4  Phylen  und  die 
4  Phylobasileis.  Jede  Phyle  enthielt  3  tptttösc  — jede  rptttöc  12  Naukrarien. 
Den  Naukraren  lag  es  ob,  für  Eintreibung  der  eioffopd  und  für  Veraus- 
gabung? der  SaicCdvac)  zu  sorgen.  Solon  setzte  den  Staatsrat  —  ßooXiQ  — 
aus  400  Mitgliedern  zusammen,  100  aus  jeder  Phyle ;  den  Areiopag  bestellte 
er  zum  Wächter  der  Gesetze  —  vo(i.o(poXax8lv  —  im  Sinne  der  ererbten 
Staatsordnung  —  iictoxoicoc  o(6)oa  tfj^  i:oXtTsta(;  sc  td  te  äXXa  xal  td  zkslrca 
xal  td  (li^tota  twv  TuoXttwv  Sien^pei  xal  toöc  aiiaptdvovtac  Y)5dov6v  xop{(a)  oo(oa 
Toö  CiQH.i(oöv)  xal  xoXdCetv  —  auch  sass  er  zu  Gericht  über  diejenigen,  die  sich 
zum  Sturze  der  Demokratie  to6<  ^;cl  xatoXäaei  toö  Siq|i.o!)  aov(t)ota[iivoD<;  — 
verbunden  hatten.  Im  fünften  Jahre  nach  der  Begierung  Solons  machte 
zuerst  Damasias  den  Versuch  sich  gegen  die  Verfassung  aufzulehnen,  indem 
er,  der  blos  auf  1  Jahr  zum  Archon  erwählt  wurde,  2  Jahre  und  2  Monate 
im  Amte  sitzen  blieb;  sodann  aber  gewann  ^e  Reaclion  der  Eupatriden 
Oberhand :  man  erwählte  10  Archonten :  darunter  5  Eupatriden,  3  Agroiken 
und  2  Demiurgen.  Zu  dieser  Zeit  —  setzt  der  Text  hinzu  —  war  das  aller- 
gewaltigste  Amt  das  Archontat:  die  Besetzung  desselben  gab  Anlass  zu  end- 
losen Zwistigkeiten. 

Diese  völlig  neue  Angabe  bestätigt  nur,  was  ich  (Demokratie  I.)  über 
den  Grund  der  Popularität,  sowie  über  die  demokratische  Natur  der  Tyran- 
nis  des  Peisistratos  gesagt  habe.  Der  soeben  erwähnte  Sieg  der  eupatridi- 
schen  Beaction  trieb  die  Masse  der  athenischen  Staatsbürger  in  die  Arme 
des  Peisistratos,  der  die  völlige  Unzufriedenheit  des  Volkes  mit  der  timokra- 


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DER   ARI8T0TBLB8-P>PYRÜS   DES   BRITI8H    MUSEUMS. 


351 


tischen  Freiheit,  trotz  der  Seisachthie,  mit  Scharfblick  erkennend,  seiae 
Tyrannis  auf  eine  ernsthaft  consequente  und  energische  Durchführung  der 
staatsbürgerlichen  Rechtsgleichheit  zu  begründen  suchte,  und  mit  Erfolg. 
Weit  entfernt  davon,  mit  den  Ueberresten  des  Eupatridentums  politisch  lieb- 
äugeln zu  wollen,  wurde  er  der  Bahnbrecher  und  Lehrmeister  der  Demo- 
kratie,  wie  noch  keiner  unter  seinen  Landsleuten  —  cap.  13:  dfwsjo^vmzaxot; 
etvat  Soxcbv.  —  Nicht  nur  die  Armen  als  solche,  auch  die  Söhne  der  geneolo- 
gisch  nichtverklärten  Geschlechter,  noch  mehr  aber  die  Staatsbürger  nicht 
völlig  reinen  Ursprungs  suchten  bei  ihm  Hilfe  gegen  die  ererbte  Bedrückung, 
welche  unter  dem  wohlklingenden  Namen  der  aüherkömmlichen  Freiheit 
die  Menge  peinigte  —  xal  ol  xcp  y§vsi  (it^  xa^pol  8ta  töv  ^ößov.  —  Nun  Mr. 
Kenyon  konnte  ein  Liebäugeln  des  Peisistratos  mit  der  eupatridischen  Beac 
tion  aus  diesem  Texte  herauslesen  :  ein  staatswissenschaftlich  geschulter  Phi- 
lolog,  der  weiss,  was  das  Wort  xaraoraotv  in  dem  Satze  ott  (leta  n^v  TDpdvvcov 
xatdotaotv  eicoiijoav  Stat^tj^topiöv  o)^  icoXXödv  xotvo)vo6vttt>v  r^c  ÄoXttsia^  oö 
TcpoafpKjoy  bedeutet,  wird  diesen  Sia(pt)<pia(i.6v  gewiss  nicht  als  eine  auf  die 
Herstellung  eupatridischer  Präponderanz  abzielende  Abstimmung  auffassen, 
sondern  nur  als  einen  Akt  der  Dankbarkeit  der  Menge,  welche  der  Aus- 
übung seiner  Souveränitätsrechte  gern  entsagte,  um  die  Staatsgewalt  in  der 
Hand  eines  Einzigen  wie  Peisistratos  concentrirt  zu  sehen,  xatdata^si«;  be- 
deutet nämlioh  nicht  nur  die  allererste  Verkörperung  irgend  einer  Staats- 
ordnung, sondern  wohl  auch  das  Fortbestehen  derselben;  auch  scheint 
topdwfidv  ein  Lapsus  des  Abschreibers  zu  sein  anstatt  topdvvoo.  Alles  in  Allem 
sagt  der  Text  des  British  Museums  lauter  Dinge,  welche  meine  verfassungs^ 
politischen  Ausführungen  in  Betreff  der  demokratischen  Natur  der  Tyrannis 
des  Peisistratos  nur  bekräftigen  können.  Der  Text  weiss  nichts  von  dem 
conservativen  Princip,  resp.  Kastengeist,  welcher  diesen  nicht  minder  auf- 
geklarten ak  hochbegabten  Gewalthaber  zur  Einführung  seiner  angeblichen 
Kleider-Ordnung  angestachelt  haben  soll ;  Peisistratos  —  der  sanfte  Men- 
schenfreund—  cap.  15:  cpiXdcv^p(i)7co<;  i^v  xal  ;cpa:o^  hatte  seine  Landsleute 
vor  Allem  zum  Ackerbau  im  ernsthaftesten  Sinne  des  Wortes  anhalten  wol- 
len,  um  hiedurch  einerseits  dem  Pauperismus  sowie  den  ewigen  parteipoli- 
tischen Wühlereien  steuern,  anderseits  aber  —  in  Folge  der  SexdiT)  —  der 
Staatscasse  einen  namhaften  Zuwachs  verschaffen  zu  können.  Wenn  er  also 
auch  ein  besonderes  Kleidungsstück  (oder  eigentlich  nur  Kennzeichen)  den 
Bewohnern  des  flachen  Landes  vorschrieb :  so  geschah  dies  wohl  nur,  um  die 
allzuhäufig  in  die  Stadt  strömenden  landjunkerlichen  und  bäuerlichen  Fau- 
lenzer und  Bummler  mit  wachsamer  Sorge  verfolgen  zu  können.  Peisistratos 
regierte  staatsmännisch  und  nicht  tyrannisch  —  |i.atXXov  icoXitixco^  t) 
topawix^  —  er  erfreute  sich  einer  allgemeinen  Beliebtheit :  er  gefiel  den 
Vornehmen  —  ^iapl^ay^  —  ob  seiner  Bildung  und  die  Menge  liebte  ihn  wegen 
seiner  volksfreundlichen  Natur  —  tö  8Y)|i.ottxöv  slvai  x(f  -Jj^t  xal  (ptXdvd-pwjcov.— 


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352  PER   ARISTOTELEß-PAPYRtTS   DBS   BRITISH    MUSEUMS. 

Darum  konnte  er  sich  so  lange  in  der  Regierung  aufrechterhalten  und  so 
oft  er  auch  verdrängt  wurde,  die  höchste  Gewalt  immer  wieder  mit  leichter 
Mühe  zurückerobern.  Nach  dem  Text  sei  es  dieser  menschenfreundlichen, 
weisen  Regierung  des  Peisistratos  zuzuschreiben,  wenn  die  Athener,  auch 
nachdem  sie  bereits  ihre  Freiheit  zurückerlangt  hatten,  von  Gesetzwegen 
keine  härtere  Strafe  auf  den  Versuch,  eine  Tyrannis  zu  gründen,  oder  auf 
den  einem  solchen  Attentäter  geleisteten  Beistand  gesetzt  haben,  als  die 
Atimie  und  den  Verlust  der  staatsbürgerlichen  Rechte.  —  Neu  ist  die 
flüchtige  Erwähnung  eines  Au&tandes,  den  ein  gewisser  Kedon  gegen  die 
Söhne  des  Peisistratos  versucht  haben  soll.  Den  Kkisthenes  nennt  der  Text 
rjYS|iü)v  und  toö  SrjpLoo  ::f>ootdTYj?.  Im  vierten  Jahre  nach  der  Vertreibung 
der  Söhne  des  Peisistratos  habe  Kleisthenes  die  4  Phylen  aufgehoben  und 
sämmtliche  Staatsbürger  in  10  neue  Phylen  eingereiht  um  eine  Vermi- 
schung (d.  i.  Vereinheitlichung)  der  Staatsbürgerschaft  herbeizuführen,  da 
er  auf  diese  Weise  die  Anzahl  der  an  der  Ausübung  der  Staatsgewalt  Teil- 
nehmenden erheblich  steigern  zu  können  hoffte;  cap.  21:  —  ava|i.i4ai 
ßot)X6(isvo(;  Zkia<;  (isTdo/oDai  wXeiooc  tyJc  iroXttstac  — .  Aus  diesem  Grunde 
machte  er  die  Zugehörigkeit  zu  den  Phylen  vollständig  unabhängig  von 
jedweder  Prüfung  in  Betreff  der  Zugehörigkeit  zu  den  Geschlechtem  — 
Y^vTj.  —  Dann  erhob  er  die  Anzahl  der  Mitglieder  des  Staatsrates  —  ßooXiQ  — 
von  400  auf  500,  von  jeder  Phyle  50.  Kleisthenes  errichtete  zielbewusst 
nur  10  und  nicht  12  Phylen,  damit  die  12  Trittyen  ja  nicht  etwa  mit 
jenen  irgendwie  zusammenfallen;  das  Land  —  tt^v  ^((opav  —  teilte  er 
gemeindeweise  —  xatd  SrjpLoix;  —  in  30  neue  Trittyen  ein  (10  Ttepi 
zb  aaro,  10  Tf)c  TuapaXta^,  10  tyJc  (isooYetoo)  und  in  eine  jede  der  10 
Phylen  reihte  er  je  3  Trittyen  ein  und  zwar  derart,  dass  eine  jede  Phyle 
eine  städtische,  eine  küstenländische  und  eine  binnenländische  Trittys  in 
sich  enthielt.  Kleisthenes  machte  all  diejenigen,  welche  in  irgend  einem 
Sfjji.o«;  wohnten,  zu  Demoten  und  verordnete,  dass  man  die  Neubürger  — 
veoÄoXttac  —  officiell  nicht  nach  ihrem  Vater  —  (i.t^  jcatpöftev  —  sondern 
nach  den  Gemeinden  —  S-fj^oi  —  benenne,  in  welchen  dieselben  wohnen. 
Hiedurch  wollte  er  all  den  Vorurteilen  geneologischen  Selbstbewusstseins 
steuern,  welche  bis  auf  seine  Zeit  einer  gehörigen  Verwertung  der  staatsbür- 
gerlichen Rechtsgleichheit  im  Wege  standen.  Kleisthenes  stellte  auch  De- 
marchen mit  derselben  Gompetenz  auf  —  si:t|idXsiav  —  welche  früher  den 
Naukraren  zukam  :  dann  hatte  er  die  Demen  —  8fj|Jiot><;  —  an  die  Stelle  der 
vaoxpaptÄv  eingeführt.  «Auf  dieser  Grundlage  wurde  die  Verfassung  — 
TüoX'.teta  —  bei  Weitem  volkstümlicher  —  87](ioTtx(ür^pa  jcoXö  —  als  die 
Solon'sche  gewesen  ist;  Solans  Gesetze  kamen  unter  der  Tyrannis  axisser 
Gelturuf  —  too«  (i.^v  XöXcovoc  vöjigoc  Atpavtaai  tV^v  topavvCSa  Sid  t6  (i.t^  -/pfjo^t. 
Kleisthenes  machte  nun  ganz  neue  Gesetze ;  dabei  schwebte  ihm  jedoch  nur 
ein  Ziel  vor  den  Angen :  die  Gesammtheit  der  Staatsbürger  —  toö  icXi^^tK  — . 


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DBB   ARTSTOTELE8-PAPYKÜS   DBS   BRITISH   MUSBUMS.  ^53 

Zu  diesen  seinen  Gesetzen  gehört  wohl  auch  der  über  den  Ostrakismos,  das 
recbteigentlich  nur  darum  geschaffen  wurde,  um  die  Verwandten  und  Freunde 
der  Peisistratiden  entfernen  zu  können.  Der  Ostrakisirte  hatte  die  Wähl,  ent- 
weder auf  der  Südspitze  von  EiUboia  zu  wohnen,  oder  in  Atimie  zu  verfallen. 
Die  10  Strategen  wählte  man  auch  auf  Grund  der  Kleistheneischen  Verfas- 
sung phylenweise  aus  jeder  Phyle  einen,  aber  der  Chef  des  gesammten 
Heeres  -^  ty)(;  8^  iTüdcnic  crcpattäc  Tq78(id)v  —  war  der  Polemarch.  Zwei  Jahre 
nach  dem  Sieg  von  Marathon  ostrakisirte  das  Volk  —  damals  wohl 
schon  in  erhöhtem  Selbstgefühl  —  ^appoövro^  -JjSyj  toö  81^(1.00  —  zum  ersten 
Male  einen  athenischen  Staatsbürger :  es  war  Hipparchos  aus  der  Gemeinde 
Kolyttos,  ein  Verwandter  der  Peisistratiden.  —  Bald  hatte  man  darauf  die 
Eyamose  der  neun  Archonten  phylenweise  aus  der  Beiheder  500Gandidaten  — 
icpoxpt^vTwv  —  welche  die  Demoten  —  8Y)(iotü)v  —  erwählt  hatten.  Dies 
geschah  unter  dem  Archontat  des  Telesinos  (487  v.  C.).  Unter  dem  Archon- 
tat  des  Nikodemos  entdeckte  man  die  Bergwerke  in  Maroneia  ,*  mit  den 
100  Talenten,  welche  aus  denselben  in  die  Staatscassa  flössen,  liess  The- 
mistokles  lOOTrieren  erbauen,  welche  dann  bei  Salamis  siegten.  Man  wollte 
die  hundert  Talente  unter  den  Staatsbürgern  austeilen :  doch  Themistokles 
verhinderte  dies,  um  das  Geld  auf  den  Bau  von  Kriegsschiffen  zu  ver- 
wenden. 

Jetzt  würde  man  erwarten,  dass  der  Text  von  der  Reform  des  Arisiei- 
des  berichte,  nachdem  einerseits  der  Text  selber  (cap.  41)  ihn  als  den  Initia- 
tor einer  Verfassungsphase  betont  und  auch  unsere  Quellen  von  dem  Psephisma 
erzählen,  wodurch  Aristeides  unter  dem  Drucke  der  im  Seekriege  angehäuf- 
ten Reichtümer  der  Theten  und  zugleich  aus  Gerechtigkeit  die  Archonten- 
stellen  sämmtlichen  Staatsbürgern,  ohne  Rücksicht  auf  ihre  Vermögensrang- 
classe,  mithin  wohl  auch  den  Theten  eröffnet  habe.  Der  Text  weiss  nichts 
von  einer  derartigen  Reform  der  Verfassung.  Derselbe  schreibt  jedoch  dem 
Aristeides  eine  staatsmännische  Thätigkeit  zu,  welche  diesen  nichtsweniger 
denn  als  einen  conservativen  Politiker  erscheinen  lässt.  Nicht  nur  soll  Aris- 
teides den  Athenern  sowohl  die  Massregelung  der  Bündner  als  auch  jene 
Politik  der  staatlichen  Besoldungen  suggerirt  haben,  welche  dann  ziel- 
bewusst  zu  einer  Plünderung  der  nach  Athen  verschleppten  Delischen  Bun- 
descassa  führen  musste  —  um  u.  A.  auch  20,000  Männer  mit  Sold  versehen 
zu  können,  welche  der  Text  als  besoldete  Organe  des  athenischen  Staats 
betont  —  cap*  24 :  xaxionjaav  H  xal  tot?  tcoXXoI«;  söicopiav  Tpo?pfJ(;,  Soirep 
'AptOTsC8t]<  eloTfjfi^cjato  —  oovdßatvsv  ^dp  inb  zm  cpöpcöv  xal  zm  teXäv  xal 
(}oti|i.dx<ov  7ckBlory<:  ri  Sto(JLt>p(oD<;  $v8pa(;  tp^tpsolfat  —  sondern  auch  dadurch 
soll  Aristeides  ein  gewaltiger  Beförderer  der  Demokratie  geworden  sein,  dass 
er  die  Landleute  massenhaft  in  die  Stadt  heranzog,  um  die  politische  Kraft 
des  Demos  steigern  zu  können. 

Recht  interessant  und  völlig  neu  ist  für  uns  die  leitende  Rolle,  welche 

UngAriMli«  Bara«,  XI.  1891.  FV.  Heft.  23 

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3^^  DER  ARISTOTELBe-PAPYBUS    DES   BRITISH   MUSEUMS. 

der  Areiopag  sich  allsogleich  nach  den  Perserschlachten  zurückerobert  und 
über  17  Jabre  hindurcb  stets  unversehrt  ausgeübt  haben  soll.  Der  Areiopag 
habe  i^ein  standgehalten  und  das  Volk  auf  die  Schiffe  zu  locken  gewusst, 
indem  derselbe  einem  jeden  Staatsbürger  acht  Drachmen  in  die  Hand  gab, 
wo  selbst  die  Strategen  schon  den  Kopf  verloren  und  dem  Volke  ein  •Bette 
sich  —  v)er  —  kann»  zugerufen  hätten :  dieses  mannhafte  Auftreten  des 
Areiopags  habe  diesen  wieder  an  die  Spitze  des  athenischen  Staatswesens 
gebracht.  Wie  ist  dies  nun  zu  erklären?  Höchstwahrscheinlich  hat  Kimon, 
dieser  legendarisoh  verklärte  Held  des  massenhaften  Seelenkaufs,  nicht  min- 
der leutselig  im  geselligen  Verkehr  als  kriegstüchtig  und  voll  junkerlicher 
Gesinnung,  den  Volksbeschluss  des  Aristeides  vom  Jahre  477  v.  G.  wied^ 
aufgehoben  und  das  Archontat  blos  auf  die  Pentdkosiomedimnen  und 
Hippels  beschränkt ;  auch  der  Sold  scheint  wiederum  rückgängig  gemacht 
oder  erst  später  eingeführt  worden  zu  sein,  da  sonst  Myronides  «6  YevvdSa(;i 
nidit  als  der  soldlose  Repräsentant  der  tedeltüchtigen»  Herrlichkeit  gerade 
dieser  Jahre  bei  Aristophanes  figuriren  könnte.  Auf  der  anderen  Seite  erhält 
meine  Schilderung  des  Kimon^achen  Zeitalters  im  L  Bande  der  Demokratie 
auch  darin  eine  nicht  unerhebliche  Bestätigung,  dass  der  Text  des  British 
Museums  nicht  das  Mindeste  von  dem  •gesunden  Athenertum*  weiss,  welches 
unsere  orthodoxen  Philologen  —  irregeleitet  durch  das  politisirende  Ge- 
schwätz der  grösatenteÜB  durch  junkerliche  Ghoregen  protegirten  Dichter  der 
alten  Komödie  —  gerade  diesen  Jahrzehnten,  der  •guten  alten  Zeit»  des 
Myronides  und  des  Kimon,  andichten  zu  dürfen  wähnen.  Massenhafter  Unter- 
schleif besudelt  das  Andenken  der  Archonten  und  sonstiger  Politiker  inner- 
halb dieser,  von  unseren  Orthodoxen  so  sehr  besungenen  Periode  des 
•gesunden  Athenertums»  auch  nach  der  Schilderung  des  Textes  des  British 
Museums.  Ephialtes,  den  der  Text  einen  unbestechlichen  —  iScopoSöxTipro^  — 
und,  wie  wir  sagen  würden,  ehrenhaften  Staatsmann  —  S{xaio<;  icpöc  tifv 
:roXiT8(av  —  nennt,  hat  sich  eben  dadurch  eine  politische  Laufbahn  zu  eröff- 
nen vermocht,  dass  er  die  unterschleifsüchtigen  Areiopagiten  —  in  ihrer 
Eigenschaft  als  gewesene  Archonten,  massenhaft  vor  das  Gericht  laden  und 
sie  dort  wegen  Unterschleif  der  Beihe  nach  verurteilen  liess.  —  Allein  auch 
die  Kriegstüchtigkeit  dieses  •gesunden  Aihencrtums^  erscheint  nach  der  Schil- 
derung des  Textes  des  British  Museums  durchaus  nicht  besser,  als  ich  es 
in  meiner  Demokratie  —  zum  Entsetzen  orthodoxer  Kritiker  —  geschil- 
dert habe.  Das  Volk  von  Athen  wählte  innerhalb  der  Periode  dieses  seinen 
•gesunden  Athenertums^  meist  ahnenreiche  Persönlichkeiten  zu  Strategen  — 
wahrscheinlich  um  recht  stramm  an  den  sogenannten  altherkömmlichen 
SiXten  festzuhalten,  deren  •Zuckte  ihm,  gegenüber  der  hohen  Geburt,  noch 
viel  mehr  aber  dem  legendarisch  verklärten  Stammbaum,  stets  unversehrte 
Pietät  gebot.  Nun,  die  Strategen,  welche  dieses  •gesunde  Aihenertum*  zu  wäh- 
len liebte,  hatten  glorreiche  Ahnen  genug,  um  einem  solchen  Postulat  ent- 


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DER   ARISTOTELES-PAPYRUS   DBS   BRITISH   MUSEUMS.  355 

sprechen  zu  können  —  cap.  26 :  Sia  ra(;  7üatptxa(;  8ö4a^  —  woran  es  ihnen 
jedoch  völlig  fehlte,  das  war  eben  die  persönliche  Qnalification  zum  Feld- 
bermamte  *  —  diTrsEpcov  toö  7coXe(ietv.  —  Teuer  hatten  die  Athener  diese 
ihre  conservative  Liebhaberei  bezahlen  müssen:  jeder  Feldzug  kostete 
ihnen  2000 — 3000  Hopliten  —  ßirs  ivoXtaxeo^at  toö^  sictstxet<;  xal  toö 
8ii\jj)o  xai  xmv  eoiröpiDv.  —  Es  geschah  unter  dem  Arohontat  des  Konon,  dass 
Ephialtes  dem  Areiopag  seine  gesammte  staatsrechtliche  Competenz  nehmen 
und  diese  teils  auf  die  ßooXi^,  teils  auf  die  Ekklesie  —  Sf]|jLO^  —  teils  auf  die 
Sixaan^pia  übertragen  Hess.  Die  gesammte  staatsrechtliche  Competenz  ist  in 
dem  Text  mit  den  nachstehenden  Worten**  ausgedrückt:  Sicavta  icepisiXe  xa 
kni^za  8C  m  f^v  ifj  t^^  icoXtteta^  cpoXaxT).  Dies  geschah  im  Jahre  462  v.  C.  — 
Ephialtes  bediente  sich  bei  der  Durchführung  dieser  seiner  Beform  des 
Bänkeschmiedes  Themistokles  als  parteipolitischen  Sodalen:  doch  die 
Beform  wurde  von  Gesetzeswegen  —  vöjjioog  —  zu  Wege  gebracht,  und  — 
wie  der  Text  berichtet  —  auch  ein  gewisser  Archeslratos  hatte  einen 
wesentlichen  Anteil  an  diesem  Acte  athenischer  Gesetzgebung.  Ephialtes 
wurde  bald  darauf  durch  Aristodikos  aus  Tanagra  ermordet.  In  den  ersten 
Jahren  der  Demokratie  des  Ephialtes  hat  man  an  der  Wahl  —  atjpeaiv  — 
der  9  Archonten  noch  nicht  gerüttelt  —  wahrscheinlich  hatte  der  Areiopag 
im  Laufe  seiner  17-jährigen  Begierung  diese  Art  und  Weise  der  Besetzung 
des  Archontats  restituirt  — ;  allein  im  sechsten  Jahre  nach  der  Ermordung 
des  Ephialtes  hat  das  Volk  beschlossen,  die  Candidaten  für  das  Archontat  — 
7cpoxpivso*at  —  auch  aus  der  Beihe  der  Zeugiten  zu  erloosen  —  xal  Ix 
CeoYttcbv  wpoxptveoftai  toö«;  xX7]pcooo|iivoü(;  täv  sw^a  ip/övrcov  —  die  Stelle  ist 
dunkel,  man  könnte  sie  wohl  auch  so  verstehen,  dass  man  fernerhin  auch 
aus  der  Beihe  der  Zeugiten  Candidaten  wählen  Hess  und  aus  der  Beihe  dieser 
erwählten  Prokriten  hatte  man  dann  die  9  Archonten  eiioost.  Der  erste  Archon, 
der  aus  dieser  Vermögensrangclasse  das  Amt  einnahm,  hiess  Mnesitheides. 
Die  Worte :  sl  {itq  tt  Tcapecopdtto  töv  ev  rot(;  vö{W)t<;  —  scheinen  darauf  hinzu- 
deuten, dass  trotz  des  bestehenden  Staatsrechts  hie  und  da  die  Majorität 
auch  schon  vor  Mnesitheides  im  Sinne  des  Beschlussantrages  des  Aristeides 
ihre  Candidaten  ins  Archonten-Amt  zu  bringen  verstand.  Im  fünften  Jahre 
nach  dieser  Beform  stellte  man  die  30  Bichter  auf  —  xata  Stqjjlooc.  —  Drei 
Jahre  darauf  gab  Perikles  sein  bekanntes  Staatsbürgergesetz  —  ti  i^tfoly 
AaTowtv.  —  Auch  Perikles  hatte  seine  Laufbahn  damit  begonnen,  dass  er 

'^'  Ganz  anders  war  es  bei  den  Eömem,  wo  sich  die  Kriegskunst  als  herkömm- 
liche Erfahrung  eine  Zeitlang  innerhalb  des  Patriciertums  von  Generation  zu  Gene- 
ration forterbte,  wie  auch  die  vortreffliche  Kriegstüchtigkeit  dem  hohen  Adel 
mancher  modemer  CuJturvölker  gewiss  nicht  abzusprechen  ist.  Doch  es  ist  eine 
wahre  Akrisie,  wenn  man  auch  die  athemschen  Verhältnisse  auf  eine  analoge  Weise 
beurteilt  wissen  will,  um  nur  dadurch  als  recht  Mcomervativ  erscheinen  zu  können- 
**  Man  dürfte  izi^i-x  wörtlich  wohl  mit  *AttrUmJtmt  übersetzen. 

•  23* 


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356  DBB   ARISTOTELES-PAPYRUS   DBS   BRITISH    MUSEUMS. 

einige  Areiopagiten  verurteilen  liess,  sowie  er  wohl  auch  dem  Kimon  einen 
Process  bei  der  Becbenschafisabnahme  anhängte.  Perikles  pflegte  vor  Allem 
die  Seemacht.  Das  Volk  —  8yJ(i.o<;  —  nahm  jetzt  die  Verwaltung  des  Staates 
selber  in  die  Hand.  Die  Zusammenhäufung  aussergewöhnlich  grosser  Men- 
sohenmassen  in  der  Stadt  während  des  Peloponnesischen  Krieges,  welche 
schon  gewohnt  waren,  auf  den  Feldzügen  besoldet  zu  sein  —  (itadt>^op8tv  — 
brachte  diese  unmittelbare  Selbstverwaltung  der  Massenherrschaft  zu  Stande. 
Perikles  gab  den  Bichtern  Sold  —  (i.toOt)cpöpa  ra  Sixaotfjpta  —  um  dadurch  dem 
parteipolitischen  Seelenkauf  des  steinreichen  Kimon  zu  steuern.  Damonides 
aus  Oa  gab  diesen  Bat  dem  Perikles ;  auch  den  Peloponnesischen  Krieg  soll 
dieser  auf  dessen  Bat  begonnen  haben.  Zu  dieser  Zeit  kam  auch  das  Be- 
stechen der  Gerichtshöfe  —  tö  SsxaCetv  —  in  Aufschwung.  Der  Strateg  Anytos 
soll  dazu  zuerst  ein  namhaftes  Beispiel  gegeben  haben. 

Unter  der  Prostasie  —  Tcposton^xst  toö  St^iioo  —  des  Perikles  güig  es  mit 
der  Staatsverwaltung  noch  besser ;  nach  seinem  Tode  ward  es  bei  Weitem 
schlechter.  Und  was  hat  diese  VerschUmmerung  herbeigeführt?  Die  Albernheit 
des  Volkes  —  8f)|jioc  — ,  das  seit  diesem  Zeitpunkte  nimmermehr  darauf 
sehen  wollte,  dass  ihre  Prostaten  —  7cpoatatY)v  —  alle  jene  Eigenschaften  in 
sich  vereinten,  welche  die  QuaUfication  der  zur  Verwaltung  des  Staates  taug- 
hchen  Männer  —  tot^  lictetx^otv  —  kennzeichnen.  Auch  der  Text  des  British 
Museums  rügt  an  Kleon,  den  derselbe  den  Sohn  des  Kleainetos  nennt,  sein 
unbesonnen  ungestümes  Wesen  und  seine  geschmacklosen  Manieren  auf 
der  Bednerbühne.  KleopJion  der  Leiermacher  —  XDpojcotd(;  —  habe  die  Dio- 
bolie  —  n^v  StwßoXCav  —  eingeführt,  Kallikrates  aus  Paiania  erhöhte  den 
Sold  auf  drei  Obolen.  Später  wurden  Beide  hingerichtet !  Seit  Kleophon 
trachteten  die  Demagogen  das  Volk  nur  durch  Waghalsigkeiten  und  Schmei- 
cheleien zu  gewinnen,  und  hatten  es  nur  auf  die  Interessen  des  Augenblicks 
abgesehen.  Theranienes  habe  alle  Begierungen  nur  mitgemacht,  um  unter 
allen  Begierungen  gegen  das  Böse  ankämpfen  zu  können. 

Die  Einsetzung  der  Probulen  allsogleich  nach  der  Katastrophe  auf  Si- 
kelien  erwähnt  der  Text  mit  keinem  Wort ;  die  Einsetzung  der  Vierhundert 
schildert  er  auf  eingehende  Weise,  jedoch  so,  dass  dabei  Thukydides  (De 
Bello  Pelop.  Vni)  als  ein  durchaus  schlechtunterrichteter  Zeitgenosse  er- 
scheinen dürfte.  Ein  Melobios  tritt  als  ekklesiastischer  Vorkämpfer  der 
tcbv  tsTpaxooCcov  nokixBla  —  (cap.  29)  in  den  Vordergrund  und  Pythodaros  als 
formeller  Antragsteller.  Das  Volk  habe  die  Demokratie  blos  aus  dem  Grunde 
zu  Gunsten  der  400  gestürzt,  weil  man  ihm  weiss  gemacht  habe,  dass  der 
Perserkönig  nur  unter  dieser  Bedingung  den  Athenern  Geld  zur  Fortsetzung 
des  Krieges  hergeben  werde.  Pythodoros  beantragte  die  Wahl  —  töv  SfJitov 
k\iod-ai  —  von  20  Männern  (über  40  Jahr  alt),  damit  diese  mit  den  bereits 
vorhandenen  10  Probulen  einen  Vorschlag  ausarbeiten  über  die  Wege  und 
Mittel,  welche  zur  Bettung  des  Vaterlandes  führen  würden ;  auch  sonstige 


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DKR  AttlÖTÖTßLfiS-PAPtRÜS   DfiS  BJOTISfi  MUSEUMS.  So? 

Staatsbürger  seien  jedoch  befugt  ein  solches  Gutachten  einzureichen.  Das 
Volk  entscheide  sich  dann  für  den  Vorschlag,  den  es  für  den  allerbesten 
unter  sämmtlichen  hält.  Kleitophon  unterstützte  den  Antrag  des  Pythodoros, 
doch  verlangte  er  noch  dazu,  dass  die  Commission  —  ol  aipe^^vts«;  —  auch 
zugleich  die  Gesetze  des  Kldsthenes  —  tki  xa^biT)  tV^v  8Y](ioxf>aT{av  —  zu- 
sammenschreibe, da  die  Verfassung  des  Kleisthenes  durchaus  nicht  volks- 
tümlich —  w<;  00  8Y)(JL0TtxVjv  —  sondern  mit  der  So/on'schen  nahe  ver- 
wandt gewesen  sei.  Alle  diese  Anträge  wurden  angenommen;  die  Ypa^ilJ 
:rapavö(i.a)v  sowie  die  Eisangelien  und  TcpoxXi^aeK;  wurden  aufgehoben,  um 
der  Bedefreiheit  freie  Zügel  zu  lassen ;  wer  dagegen  sündigt,  soll  mit  dem 
Tode  bestraft  werden.  Dieselbe  Commission  verordnete  nun,  dass  alle  Staats- 
gelder nur  auf  Kriegszwecke  verwendet  werden  dürfen ;  —  abgesehen  von  den 
9  Archonten  und  den  jeweiligen  Prytanen,  die  3  Obolen  täglich  beziehen 
werden,  soll  kein  Beamter  —  ipx«?  —  einen  Sold  beziehen,  solange  der 
Krieg  nickt  beendet  ist  —  iax;  av  6  7cöXs|i.o<;  -g  — ;  zu  der  Ausübung  der  Sou- 
veränitätsrechte —  iroXttsia  —  sollen  unter  den  Athenern  nur  diejenigen 
befugt  sein,  solange  der  Krieg  nicht  beendet  ist  —  io)«  av  6  7cöXs(ioc  •g  — 
welche  sowohl  zum  Kriegsdienst  als  zum  Leiturgien-Dienst  am  Besten  pas- 
sen ;  die  Anzahl  dieser  Bürger  soll  jedoch  nicht  geringer  sein,  als  5000  ; 
ausserdem  soll  jede  Phyle  10  Männer  aus  der  Beihe  derjenigen  erwählen, 
welche  ihr  40.  Lebensjahr  bereits  überschritten  haben,  und  diese  100  Männer 
sollen  beeidet  die  5000  ausersehen  —  xataX^Soüot.  —  All  dies  wurde  von 
Volkstagswegen  angenommen  —  xopw^^vtcöv  —  und  die  5000  wählten  jetzt 
100  Männer  zur  Ausarbeitung  der  Verfassung  —  to6«  iva^pd^povrac  tt^v 
icoXtteCav.  —  Die  100  Männer  unterbreiteten  —  ^ST^vs-pcav  —  ihre  Vorlagen  : 
Die  Mitglieder  der  ßoDX*^  sollen  keinen  Sold  beziehen,  und  sollen  über  30 
Jahre  alt  sein;  gleichfalls  ^  über  30  Jahre  alt  sollen  sein  die  Strategen,  die 
9  Archonten,  der  Hieromnemon,  die  Taxiarchen,  die  Hipparchen  und  Phyl- 
archen  sowie  die  Wachpostenbefehlshaber  und  die  Schatzmeister  der  Göttin 
und  die  10  Schatzmeister  der  anderen  Götter,  die  Hellenotamien,  die  20  Ver- 
walter der  gesammten  übrigen  heiligen  —  6ota)v  —  Güter,  die  Hieropoien 
und  die  10  Epimeleten.  Alle  diese  sollen  erwählt  werden  und  zwar  aus  der 
Beihe  —  wXsCooc  —  jener  Candidaten  —  icpoxptxtov  —  welche  die  jeweiligen 
Mitglieder  der  ßooXiQ  vorschlagen  werden  —  ix  twv  iel  ßooXsoövtcov  icXeloog 
irpoxpCvovtac  —  die  übrigen  Aemter  sollen  indess  erloost  —  xXirjpcoTdc  —  und 
zwar  nicht  aus  der  Beihe  der  von  Staatsratswegen  Prokrinirten  erloost  werden. 
Die  Hellenotamien,  welche  Gelder  verwalten,  dürfen  nicht  Mitglieder  des 
Staatsrates  sein.  Der  Staatsrat  zerfällt  in  4  Sectionen  ^  —  Senate,  —  ßooXac 

*  und  •  Der  Text  hier  ist  entschieden  comipt  und  harrt  einer  gründlichen  Emen- 
dation,  darum  gehe  ich  auch  hier  nicht  weiter  in  die  Details  ein.  Was  Mr.  Kenyon 
p.  84  hiezu  sagt,  ist  eine  harmlose  Hypothese. 


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358  DKit  A»IST0TBL»8-I>Al>tÄÜS   Mß   ÖRlTlgH   MtJSfiÜMft. 

8i  xoiYjoat  t^rcapac.  —  Der  Staatsrat  verwaltet  nach  seinem  Gutdünken  das 
öffentliche  Vermögen,  sieht  nur  darauf,  dass  es  unversehrt  —  awa  —  bleibt 
und  Ausgaben  nur  zur  Bedeckung  wirklich  notwendiger  und  votirter  Posi- 
tionen gemacht  werden,^  die  übrige  Verwaltung  leitet  der  Staatsrat  nach 
seiner  besten  Möglichkeit.  Falls  der  Staatsrat  es  für  nötig  erachtet,  so  ergänzt 
er  sich  durch  die  Heranziehung  von  Epeiskleten,  welche  jedoch  ebenfalls 
über  30  Jahre  alt  sein  müssen.  Batssitzungen  werden  der  Regel  nach  jeden 
fünften  Tag  gehalten,  falls  nötig,  wohl  auch  öfter.  Die  Mitglieder  des  Staats- 
rates werden  nicht  erwählt,  sondern  erhalten  ihre  Stelle  durch  das  Loos ;  die 
flrloosung  derselben  leiten  die  neun  Archonten ;  die Gheirotonien  werden  durch 
5  erlooste  Mitglieder  des  Staatsrates  gerichtet ;  für  jeden  Tag  wird  Biiner  von 
diesen  5  zum  Leiter  der  Abstimmung  —  eicwpTj^'.oövta  —  erloost.  Jetzt  folgt 
wiederum  eine  höchst  wahrscheinlich  corrupte,  jedenfalls  aber  bis  zur  Un- 
brauchbarkeit  dunkle  Stelle.  Mitglieder  des  Staatsrates,  welche  zur  fest- 
gesetzten Stunde  nicht  im  Buleuterion  erscheinen,  zahlen  1  Drachme  Busse 
tägUch. 

Dieser  Verfassungsvorschlag  sollte  jedoch  erst  in  der  Zukunft  --  etc 
töv  (liXXovta  —  ins  Leben  treten ;  für  den  augenblicklichen  Bedarf  machten 
die  Hundertmänner  den  nachstehenden  Vorschlag.  Die  400  sollen  im  Sinne 
der  herkömmlichen  Staatsordnung  —  cap.  31 :  xatdt  td  icdtpia  als  Staatsrat 
fungiren,  40  aus  jeder  Phyle ;  sie  sollen  genommen  werden  aus  den  Gandi- 
daten  —  sx  ÄpoxpCtwv  —  welche  erwählt  werden  —  SXwvrat  —  durch  die- 
jenigen Angehörigen  der  Phylen  —  (poXstat  — ,  welche  ihr  SO-stes  Lebens- 
jahr überschritten  haben.  Die  400  sollen  die  Aemter  besetzen  *,  die  Eides- 
formel feststellen,  und  in  Betreff  der  Gesetze  sowie  der  Bechenschaftsabga- 
ben  und  sonstigen  Angelegenheiten  schalten  und  walten,  wie  es  ihnen  am 
zweckmässigsten  für  das  Gemeinwohl  erscheint  —  Tcparrsiv  -q  4v  T^^Ävtai 
(ot)(t)(p^pstv.  —  Falls  sie  staatsrechtliche  GeMtze  gehen,  so  sollen  sie  sich  den 
selben  wohl  auch  fügen  ;  es  sei  verboten  dieselben  ausser  Kraft  zu  setzen  oder 
au4^h  nur  abzuändern.  —  tot?  8^  vö(i.otc  o?  sdv  te^wotv  ;cepl  täv  itoXitixäv 
)(pfjo^at,  xal  (i.'il)  s$Etvat  [istaxivstv  (tT)8'  et^poo(;  ^^o^at.  —  Die  Strategen 
sollen  für  jetzt  durch  die  5000  ohne  Bück  sieht  auf  die  10  Phylen  —  i^ 
aTcdvtcov  —  erwählt  werden ;  der  Staatsrat  aber  soll  eine  Musterung  über  die 
Wehrkraft  abhalten  und  sodann  10  Männer  und  dazu  noch  einen  Schrift- 
führer —  Ypa(i(i.at^a  —  erwählen  —  kXio^i  —  und  diese  erwähUen  10 
Männer  sollen  dann  als  Autokratoren  regieren,  gegebenen  Falls,  wenn  sie 
es  für  notwendig  erachten,  wohl  auch  im  Einvernehmen  mit  dem  Staatsrat 

'  Das  To  8^ov  kann  hier  weder  mit  Budget^  noch  mit  DiJtpodtiomfond  tiber- 
setzt werden. 

*  Oder  einsetzen,  d.  i.  nene  Aemter  errichten?  Allerdings  würde  dies  besser 
der  üblichen  Bedeutung  des  xa7aoTf|9ai  entsprechen;  auch  der  Umstand,  dass  blos 
]  Hipparch  erwählt  wurde,  scheint  darauf  hinzudeuten. 


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—  xal  Äv  tt  SicDvtai  ot)(tßot>X86ea^t  {teta  tfjc;  ßooXYjc  —  1  Hipparch  und  10 
Pbylarchen  seien  zu  wählen ;  im  Uebrigen  sollen  sie  in  Betreff  der  Wahlen 
v^ahren,  wie  dies  die  Vorlage  —  ta  YSTPö^lM^va  —  vorschreibt.  Abgesehen 
Ton  der  ßouXi^  so  wie  von  den  Strategen  soll  es  Niemandem  gestattet  sein, 
ein  und  dasselbe  Amt  mehr  als  einmal  zu  verwalten.  Auch  sollen  die  Hun- 
dertmänner Sorge  kagen,  damit  die  Einreihung  der  400  in  die  4  Sectionen 

—  Xiq46ic  —  ohne  Beeinträchtigung  der  Rechte  der  ausserhalb  der  Stadt 
wohnenden  Staatsbürger  vc^rgenommen  werde.* 

Die  Menge  —  toö  icXi^doo<;  —  hat  den  Vorschlag  akigenommen  —  lictxo- 
pa»^dvt(ov  —  der  alte  Staatsrat  hat  sich  au|gelöst>  und  die  400  übernehmen 
die  Regierung.  Peisandros,  Antiphon  und  Theramenes,  diese  braven 
Männer  —  'f8Y8VTj(iiva>v  eo  —  voll  Scharfsinn  —  oovdost  —  und  Gedanken- 
reichtom —  T^^V'^  —  hatten  hauptsächlich  diese  Umwälzung  bewirkt. 
Freilich  sind  die  5000  blos  dem  Namen  nach  eingesetzt  worden  —  'gp^^- 
oav  —  aber  die  400  mit  den  10  Autokratoren  sind  in  das  Buleuterion  einge- 
zogen uud  übernahmen  die  Regierung;  sie  unterhandelten  mit  den 
Lakedaimonern  u.  s.  w.  Vier  Monate  hindurch  bestand  die  Verfassung 

—  Tcokiziia  —  der  400.  Nach  der  Niederlage  bei  Eretria,  wozu  noch  dann 
der  Abfall  von  Euboia  hinzukam,  setzen  die  Athener  die  400  ab  und  über- 
geben die  Staatsgewalt  —  ta  vpd'(^za  —  den  selbstbewaffnungsfähigen 
6000,  unter  der  Bedingung  jedoch,  dass  kein  Amt  besoldet  werde.  AriUO' 
krates  und  Iheramenes  haben  die  400  gestürzt :  denn  sie  konnten  nicht 
gutheissen,  dass  die  400  alles  selber  verrichteten,  ohne  die  5000  an  der 
Regierung  teilhaftig  werden  zu  lassen. 

Nun  auf  diese  Schilderung  habe  ich  nur  noch  zu  bemerken,  dass  die 
Einsetzung  4er  10  AtUokratoren  sowie  die  ausbedungene  Herrschaft  staats- 
rechtlicher Gesetze  die  Oligarchie  der  400  wohl  in  einer  Beleuchtung  erschei- 
nen lassen,  von  welcher  man  auf  Grund  der  Schilderung  bei  TImkydides 
nicht  die  leiseste  Ahnung  haben  konnte.  Anderseits  muss  ich  auch  einge- 
stehen, dass  der  Text  des  British  Museums  die  phylenweise  vorzunehmen- 
den Wahlen  ^uch  innerhalb  der  Verfassung  der  400  figuriren  lässt,  was  ich 
in  meiner  DemokrcUie  für  ausgeschlossen  erachtet  wissen  wollte.  Der  Text  des 
British  Museums  lobt  das  Veriassungsleben  der  5000  nahezu  mit  denselben 
.Worten  wie  Thukydides.  Als  Vorkämpfer  der  Partei,  welche  nach  der  Nie- 
derlage bei  Aigospotamoi  xi^v  icdtptov  icoXiteCav  suchte  —  gegenüber  den 
Anhängern  der  demotischen  Massenherrschaft  und  der  Oligarchie  —  betont 
der  Text  den  Archinos,  Anytos,  Kleüophon,  Phormisios  und  vorzugsweise 
den  Theramenes.  Auch  nach  dem  Text  hat  das  Machtwort  des  Lysandros 
dem  Volke  von  Athen  jetzt  die  Oligarchie  aufgezwungen.  Den  Vorschlag 

*  Die  Stelle  ist  ofienkundig  oorrupt,  wie  dies  auch  Mr.  Eenyon  p.  88  con- 
statirt 


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^ÖO  DSU  A&IÖTOtfilJBS-PAPYRÜft   Dfc8  BÄITiSH   MÜSfcÜMö. 

tnachte  DraJcofUides  aus  Aphidna.  Die  Begierung  der  30  habe  sowohl  die 
500  Mitglieder  der  ßooXT^  als  auch  die  übrigen  Amtsetellen  —  ta(;  BXat; 
dpx«^  —  aus  Candidaten  besetzt,  welche  die  1000  —  cap.  35:  sx  tov 
/tXCfiDv  —  bestellt  hatten ;  wie  aber  diese  1000  selber  bestellt  wurden,  hierüber 
sagt  der  Text  kein  Wort  Auch  hätten  die  30  die  Archonten  des  Peiraieua 
und  die  1 1  Gefängnisswächter  so  wie  auch  300  Peitschenlräger  —  {laoriYO- 
f öpot>^  Tpta(x)ootoD(;  uiaipixa/;  —  zu  sich  genommen  und  mit  Hilfe  aller 
dieser  Organe  hätten  sie  den  Staat  beherrscht.  Im  Anfange  benahmen 
sie  sich  den  Staatsbürgern  gegenüber  maassvoll ;  ja,  sie  geberdeten  sich 
" —  icpoosicoioövto  —  als  wollten  sie  den  Staat  im  Einklänge  mit  den 
Maximen  des  altherkömmlichen  Yerfassungslebens  —  Sioixelv  v^  icdctptov 
iroXtTsCav  —  verwalten ;  sie  hoben  die  Gesetze  des  Ephialtes  und  Arche- 
Stratos  über  den  Areiopag  auf,  so  auch  die  So/on'schen,  insofeme 
diese  durch  streitige  Ausdrücke  Anlass  zu  Controversen  gaben  —  8ta|f 
tpi(3pY]t(T^o)ei(;  —  auch  toben  sie  die  souveraine  Gerichtsherrlichfceit  — 
t6  xöpoc  —  der  Geschwornenrichter  —  Stxaotatc  —  auf  und  trachteten 
die  Normen  des  Staats-  und  Rechtslebens  —  icoXttefav  —  unzweideutig  — 
Äva(i.^taßi^i7)tov  —  zu  machen.  So  schafften  sie  u.  A.  wohl  auch  das  Gesetz 
ab,  welches  die  testamentarischen  Verfügungen  all  derjenigen  für  nichtig 
erklärte,  welche  anlässlich  ihrer  letzten  Willensäusserung  unzurechnungs- 
fähig wegen  Alterschwäche  —  -pjpwv  —  oder  toll  —  (jLaviwv  — >  waren 
oder  der  Intrigue  irgend  eines  Weibes  aufgesessen  sind  —  fovatxi  ici*6pLe- 
vo<;.  —  und  indem  die  30  die  testamentarische  Freiheit  von  diesen  Schran- 
ken befreiten,  steuerten  sie  einer  Unzahl  von  Sykophanten-Kniffen.  That- 
sächlich  hatte  anfangs  das  Volk  —  wöXk;  —  eine  wahre  Freude  daran, 
als  die  Dreissig  di6  Sykophanten,  Volksschmeiohler,  Intriguenmacher  — 
xaxoicpdYjtovac  —  und  Bösewichte  —  7covTf]po6(;  —  aus  dem  Wege  räutnten. 
Doch  bald  sollte  es  anders  werden ;  als  ihre  Machtstellung  erstarkt  war, 
ermordeten  —  dtTc^xtetvav  —  die  Dreissig  die  Reichen,  die  geneologisch  Vor- 
nehmen —  tq)  Y^vst  —  und  die  persönlich  hochansehnlichen  —  (iSwü|ta^tv  — 
Staatsbürger  nacheinander,  um  nur  die  Bevölkerung  in  Schrecken  zu 
versetzen  und  die  Güter  der  Ermordeten  an  sich  reissen  zu  können.  Binnen 
Kurzem  haben  sie  nicht  weniger  denn  1500  Staatsbürger  auf  die  iSeite 
geschafft.  — Theramenes  opponirte  ihnen  und  forderte,  dass  man  die 
Regierung  den  Tüchtigsten  —  tot<;  ßsX^btotc  —  übergebe.  Sie  widersetzten 
sich  zuerst,  später  aber  gaben  sie  sich  doch  herbei,'  2000  Staatsinkger  auszu- 
wählen —  xataXsYooatv  —  als  ob  sie  diesen  läOOO  die  Staatsgewalt  über- 
geben wollten :  denn  Theramenes  war  bei  der  Menge  beliebt  und  die  Dreissig 
befürchteten,  das  Volk  —  8tq|ioo  —  könnte  noch  mit  Therarhenes  an  derSpitze 
—  wpoatdnjc  Yevö(jievo(;  —  die  Dynastie  der  30  —  cap.  36 :  ti^v  Sovaorsiav  — 
zu  Boden  werfen.  Theramenes  wollte  sich  damit  noch  keineswegs  zufrieden 
geben.  Er  forderte  die  Uebergabe  der  Staatsgewalt  nicht  an  2000,  sondern 


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t)feli   AtllBTÖtELfifl-l>APYRtJ8   D'ES'BlattBfi    MÜSfiÜMS.  '^«1 

ab  3000  Staatsbürger,  indem  er  behauptete,  iächtig-taugliche  Männer  — 
ktsix^ot  —  welche  die  zur  Ausübui^  der  Staatsgewalt  erforderliche  Qualifi- 
caiion  —  Apetfj^;  —  besitzen,  gebe  es  in  Athen  unter  den  Staatsbürgern 
gerade  300Ö  —  cap.  36 :  w^  sv  to6T«|)  tcp  TcX-i^^t  xf)<;  iptvfi<;  a>ptö|i.^Y)c.  — 
Ausserdem  sei  ihre  Begierung  zwar  eine  gewaltsame,  doch  vemakshlässigten 
sie  dabei  das  Interesse  der  Begierten.  Dieser  Satz  kommt  aueh  bei  Xeno- 
phon  vor  (Hellen.  II,  3,  19),  scheint  also  wörtlich  aus  der  Rede  des  Thera- 
menes  genommen  zu  sein.  Die  Dreissig  fanden  sich  betroffen;  liessen  die 
3000  zusammenschreiben:  doch  hielten  sie ^en  Katalog  versteckt  bei  sich 
und  ^sehten  die  Namensliste  von  Fall  zu  Fall,  je  nach  ihrem  Gutdünken.- — 
Nachdem  Thrasybidos  Phyle  genommen,  beschlössen  die  30  die  Leute  zu 
entwaffnen  ucid  Th^ramenes  aus  dem  Wege  zu  räumen.  Sie  liesaen  zwei 
Gesetzesvorschläge  durch  die  ßooXi^  annehmen;  das  eine  Gesetz  gab  den 
30  die  autokratoirische  Befugniss,  wen  immer  Einrichten  zu  lassen,  dessen 
Namen  in  dem  Kati^og  der  30  nicht  enthalten  ist ;  das  zweite  Gesetz  scbloss 
von  der  Staatsbürgerschaft —  tfl(;  Tcapo&oYjc  icoXtteCa?  —  all  diejeüigeü  aus, 
welche  an  der  Niederreissung  der  Mauer  von  Eetoneia  beteiligt  waren,  oder 
den  400  keinen  Gehorsam  geleistet  oder  den  Vorkämpfern^  der  ^gegenwärti- 
gen Oligarchie  —  der  30  —  opponirt  hatten.  All  das  paöste  auf  Therame- 
nes,  der  auch  unter  diesem  Bechtstitel  -. —  eictxopwi^^^vtoDv  täV  v6{ia>v  —  hin- 
gerichtet wurde.  Zugleich  wurden^  alldiejenigen  entwaffnet,  welche  nicht  zu 
den  3000  gehörten.  Nach  der  Eroberung  von  Munychia  durch  die  Ehiigranten 
setzten  die  Athener  die  30  ab^ —  xatlXooav  —  und  wählten  zehn  Autokra- 
toren  aus  d^  Beihe  der  Staatsbürger  —  cap.  38 :  afpoovtat  8^^  fi^xa  täv 
9CoXitä>v  a4toxptixTopa(;  •— ^,*um  den  Krieg  au  feeenden.  Diese  zelin  Autokrato- 
ren  suchten  Hilfe  bei  und  nahmen  ein  Darlehen  auf -^  ^T^{iaTa  8av&tCö- 
{isvoi  —  von  den  Lakedaimonem.  Nachdeiii  das  ganze  Volk  abgefallen 
^—  iÄOdtdvto^  wavTÖc  toö  STfj|i.oü  — wurden  ^e  10  Autokratoren  abgesetzt  und 
10  andere  aus  der  Beihe  det*  Tüchtigsten  gewählt  —  äXXooc;  s'lXovto  Sixa  toug 
ßsXt{(3T0t>c --^  die  dann  unter  Mitwirkung  des  spartanischen  Königs  Paw^a- 
fiias  die  Aussöhnung  zu  Wege  brachten.  Rhinon  aus  Paiania  und  Phaylloß 
6  ' A^fpSoD^  oiöc  — ? —  standen  jetzt  an  der  Spitze  —  Äpo^tdn^x^oov*  Rhinon 
(den  auch  Isokrates  oontr.  Gallim.  c.  7,  p.  372  erwähnt)  und  seine  Collegen 
wurden  sehr  gelobt,  was  sie  auch  verdienten,  denn  obwohl  sie  ihr  Mandat  zur 
Uebemahme  der  Staatsgeöchäfte  —  eittjiiXsiav  —  von  der  Oligarchie  erhalten 
hatten,  haben  sie  dennoch  vor  der  Den^okratie  Beohenschaft  abgelegt^ — e&^6* 
va^  Jiooav  — und  Niemand  hat  i3ie  gerichtlich  belangen  wollen  —  oöSelc 
£vexdXsoe(v)  —  weder  von  denen,  welche  in  der  Stadt  geblieben  sind,  noch 
von  denen  aus  dem  Peiraieus.  Bald  darauf  wurde  Rhinon  zum  Strategen 
gewählt  —  So  erscheint  nicht  Thrasybulos  wie  bei  Xenophon,  sondern 
Rhinon  als  die  hervorragendste  Gestalt  anlässlich  der  Bestitution  der  Demo- 
kratie. Unter  dem  Archontate  des  Ettkleides  ist  der  innere  Frieden  — 


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8iaX6(i8ic  —  auf  Grund  eines  formellen  Vertrags  —  oov^i^c  —  K  Stande 
gekonunen.  Auffallig  ist  die  Wichtigkeit,  welche  in  diesem  Vertrag  der  Frage 
des  staatsrechtlichen  Verhältnissee  Athens  zu  Eleusis  beigel^  worden  lu 
sein  scheint  Mordprocesse  —  xata  xa  Tcdrpia  —  Eine  aUgemeine  Amnestie  — 
(iYjSevl  icp6c  |i.7]S^va  {ivtjoixaxslv  —  wovon  jedoch  die  30,  die  10,  die  11  und 
die  Beherrscher  des  Peiroieus  ausgenommen  wurden ;  allein  auch  diese  durften 
nicht  dem  —  (ivrjaixaxelv  —  zum  Opfer  fallen,  falls  sie  Eluthyne  bestan- 
den. —  Als  der  zweite  grosse  Pacificator  erscheint  Archinos.  (Nach  Suidas 
hatte  er  das  Jonische  Alphal)et  zum  Gebrauche  in  den  öffentlichen  Urkun- 
dcQ  in  Anwendung  bringen  lassen,  nach  Aisckines  *  soll  er  den  Tbrasy- 
bulos,  der  einen  seiner  Freunde  bekränzt  wissen  wollte»  ico(pavö(Ui>v  belangt 
haben.)  Archinos  setzte  alle  Mittel  in  Bewegung,  um  nur  die  Gemäter  mit 
einander  zu  Tersöhneo.  Einen  Unruhstifter,  der  trotz  der  allgemeinen 
Amnestie  manche  Leute  dennoch  wegen  ihres  parteipolitischen  Verhaltens 
gerichtlich  verfolgen  —  {iviqotxo^xsiv  —  wollte,  liess  Archinos  vor  die  ßooXi^ 
schleppen  und  un verurteilt  hinrichten.  «Nur  auf  diese  Weise  sei  die  Demo- 
kratie zu  erretten.**  Nachdem  dieser  hingerichtet  wurde,  würde  wohl  Nie- 
mand mehr  sich  wieder  einfallen  lassen,  sich  gegen  die  Amnestie,  die  man 
gegenseitig  beschworen  habe,  versündigen  zu  wollen.»  Archinos  habe  auch  das 
Psephisma  des  Thrasybulos  mit  der  Ypa^i^  icoef>avö{jL(ov  angegriffen,  weil  Thrasy- 
bulos  das  Staatsbürgerrecht  all  denjenigen  geben  liess,  welche  aas  dem  Pei- 
raieus  hereingezogen  sind,  darunter  wohl  auch  solchen,  die  offenkundig  Scla- 
ven  —  f  avep«»c  8o5Xoi  —  waren.  Und  diesen  Angriff  des  Archinos  gegen  den 
Thrasybtdos  nennt  der  Text  des  British  Museums  dne  schöne  That  von  staats- 
männischer Bedeutung !  Alles  in  Allem  habe  das  Volk  von  Athen  jetzt  ein 
wahrhaft  staatsmännisches  Benehmen  —  xdXXiota  dij  xal  iroXittx«btata  — 
an  den  Tag  gelegt;  ja  das  Volk  von  Athen  habe  die  Lehre  im  vollsten 
Maasse  beherzigt,  die  ihm  nur  seine  früheren  Leiden  erteilen  konnten.  Das 
Volk  von  Athen  habe  nunmehr  getrachtet,  nie  mehr  wieder  die  Fehler  zu 
begehen,  welche  wiederum  zu  derartigen  misslichen  Lagen  führen  könnten. 
Zwar  hätten  die  Athener  das  Vermögen  der  Dreissig  und  der  ersteren  Zehn 
u.  s.  w.  unter  das  Volk  verteilt  —  cap.  40 :  xal  ti^v  x^9^^  ivdSaotov  «otoöotv  — 
doch  hätten  sie  sogar  dier  Anleihe,  welche  die  Dreissig  von  den  Lakedaimo- 
nem  aufjgenommen,  diesen  von  Staatswegen  —  xoiv^  —  zurückgezahlt 
(ohne  darauf  zu  sehen,  dass  diese  Anleihe  einst  blos  aufgenommen  wurde, 
um  damit  die  Getreuen  der  Demokratie  zu  vernichten !) 

Befremdend  ist,  dass  der  Text  des  British  Museums  weder  der  Gesetz- 


♦  Contr.  Ctes  p.  82. 
**  iBokrates  erwähnt  (contr.  Gallim.  c.  3.  p.  371)  eines  Ghesetzes,  das  dieser  Ar- 
chinos gegen   die   Sykophantie  nach   der  Amnestie  eingebracht   hatte,  was  auch  ICr. 
Kenyon  zur  Kenntniss  nimoat,  ohne  an  eine  Parallele  mit  Thraaybulo»  tu  denken. 


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ÜNOAlUÖCJÖ»  HiSTÖMÖCBfi   OfiSfiLLÖCfiAFT.  -^^ä 

gebung  in  Betreff  der  sogenannten  —  S^parpot  v6(jlov,  —  noch  überhaupt 
der  verfassungsrechtlichen  Verfügungen  erwähnt,  so  auf  Vorschlag  des 
Tisamenos  getroffen  wurden.  Den  Agyrrhios  betont  der  Text  in  einer  Weise, 
als  ob  dieser  Demagog  zuerst  den  Sold  —  cap.  41 :  Tcpwxcv  ißoX6v  —  <  inge- 
führt  hätte,  was  jedoch  seiner  eigenen  Schilderung  (s.  oben)  widerspricht. 
Wahrscheinlich  meint  der  Text  die  Wied'  reinfuh-ung  des  Soldes  nach  der 
Vertreibung  der  30.  Hnakleides  der  Klazomenier  soll  die  Diobolie,  und  der 
erwähnte  Ag^hios  die  drei  Obolen  (wieder)  eingeführt  haben. 

Der  zweite  Teil  des  Textes  handelt  von  den  athenischen  Staatsorga- 
nen, ist  jedoch  lückenhaft  und  hie  und  da  corrupt  bis  zur  Unverstand  lieh - 
keit.  So  manche  Einzelheiten  erscheinen  in  einer  völlig  neuen  Beleuchtung, 
80  u.  A.  die  Verwaltung  des  Armemvesens  u.  s.  w.  So  die  'AOTjvaCwv  TcoXttcCa 
im  Texte  des  British  Museums.  Nun,  ich  glaube,  ich  darf  —  falls  wir  es 
nicht  mit  einer  Mystification  zu  thun  haben  —  mit  Genugthuung  eoustatiren, 
dass  —  abgesehen  von  etlichen  wenigen  minder  wesentlichen  Einzelheiten, 
Alles  in  Allem  es  nicht  meine  Auffassungsweise  und  Kritik  im  I.  Bande 
meiner  n  Demokratie  von  Athen»  ist,  was  durch  die  Entdeckung  des  Textes 
des  British  Museums  irgend  einen  Abbruch  erleidet  —  sondern  wohl  einzig 
und  allein  die  Auffassungsweise  und  Kritik  der  philologisch  prüfenden 
Orthodoxie.  Juuus  Söhvaboz. 


UNGARISCHE  HISTORISCHE  GESELLSCHAFl'. 

JahresverRamiuluikg  am  12.  Feber  1891. 

Die  diesjährige  solenne  Jahresversammlung  der  Ungarischen  Historischen 
Gesellschaft,  welcher  auch  die  Söhne  des  Erzherzogs  Josef,  die  Erzherzoge  Josef 
August  und  Ladialans,  beiwohnten,  wurde  von  dem  Präsidenten  Ghrafen  Anton 
Sz^en  mit  der  folgenden  Rede  eröffiiet : 

Indem  ich  die  Elhre  habe,  unsere  heutige  Versammlung,  die  zugleich  die 
Feier  des  25jährigen  Bestehens  unserer  Gesellschaft  ist,  zu  eräffoen,  glaube  ich 
im  Sinne  der  Historischen  Gesellschaft  zu  bandeln,  wenn  ich  vor  Allem  Ihren 
k.  u.  k.  Hoheiten,  den  Herren  Erzherzogen  im  Namen  unserer  Gesellschafti  warmen 
Dank  sage  för  ihr  Erscheinen.  Ihre  Anwesenheit  legt  ja  glänzendes  Zeugniss  von 
jenem  wahren  Interesse  ab,  das  ihr  erlauchter  Vater  und  sie  selbst  der  vaterländi- 
schen Literatur  und  Geschichte  gegenüber  fühlen.  Empfangen  Sie  diesen  Gruss 
aus  dem  Munde  eines  Mannes,  der  so  glücklich  war,  seine  Laufbahn  noch  unter 
den  fettigen  Ihres  Grossvaters  ruhmreichen  Angedenkens,  des  Palatins  Josef,  zu 
beginnen,  während  der  weisen  Präsidentschaft  jenes  Mannes,  der  ein  sorgsamer 
Hüter  der  Bechte  unseres  Landes,  ein  folgerichtiger  Verteidiger  der  Interessen 


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^^4.  ÜKOARlßCHE  HlSTömSOHß  OESELLSCHAW. 

der  Monai'obie  gewesen,  der  mit  der  soharfeiohtigen  AuffHssung  der  Verhältnisse 
die  tiefe  Einsicht  des  Staatsmannes  in  sich  vereinigte  und  eine  Bolle  gespielt  hat, 
die  in  der  imgarischen  Geschichte  ewig  iinvergessHch  bleiben  wird. 

Unsere  heutige  Generalversammlung  erneut  das  Andenken  derer,  die  die 
Begründer  und  ersten  Präsidenten  unserer  Gesellschaft  gewesen.  GrafEmerich 
Mikö,  MicDael  Horvath,  Arnold  Ipolyi  und  Baron  Gabriel  Kem^ny  waren  es,  die 
unsere  Gesellschaft  in  den  ersten  Jahren  leiteten. 

Ich  halte  es  für  unnötig,  zu  ihrem  Angedenken  jene  Worte  zu  citiren,  die 
in  imseren  Jahrbüchern  aufgezeichnet  sind  und  die,  wenn  sie  im  Laufe  der  Zei- 
ten den  bitteren  Stachel,  der  im  eraten  Gefühle  des  Verluste:)  so  schmerzHch  ist, 
auch  verloi-en,  angesichts  der  errungenen  Besultate  im  Laufe  der  Jahre  noch  tie- 
fere Wurzel  geschlagen  in  den  Herzen  derer,  die  die  Wichtigkeit  der  ungarischen 
geschichtUohen  Literatur  voll  erfassen  und  würdigen. 

In  den  fünfundzwanzig  Jahren,  die  seit  der  Begründung  der  historischen 
Gesellschaft  verflossen,  haben  sich  auf  dem  Felde  der  geschichtlichen  Literatur 
manche  neue  Bichtungen  entwickelt,  deren  Einfluss  immer  mehr  und  mehr  fühl- 
bar wird. 

Die  gehörige  Darstellung  der  Entwicklung  dieser  Bichtungen  würde  eigentlich 
die  Charakteristik  der  Hauptwerke  in  der  gesammten  geschichtlichen  Literatur  in 
Anspruch  nehmen,  wozu  ich  mich  weder  geeignet  noch  berufen  fühle ;  doch  möge 
es  mir  gestattet  sein,  geehrte  Vei-sammlung,  einige  Hauptzüge  hervorzuheben, 
welche  die  Hauptrichtungen  in  den  verschiedenen  Fächern  der  historischen  Lite- 
i-atur  charakterisiren.  Ich  will  hier  nicht  von  den  Alten  reden,  denen  ihr  geistiger 
Schwung  und  ihre  Formvollendung,  von  der  streng  kritischen  Prüfung  der  Bege- 
benheiten ganz  abgesehen,  Jahrhunderte  hindurch  die  Anerkennung  der  gebildeten 
Welt  sicherte.  Nach  dem  Entschwinden  des  Mittelalters  können  wir  in  der  moder- 
nen Weltliteratur  hauptsächUch  drei  Bichtungen  erkennen. 

Der  charakteristische  Zug  der  ersten  war  dass  die  Begebenheiten  traditio- 
nell übertragen,  in  klarer  und  anziehender  Weise  zusammengefügt  wurden. 

In  dem  darauf  folgenden  Zeitalter  wurde,  ungeachtet  der  gründlichen  Unter- 
suchung der  Begebenheiten,  das  Hauptgewicht  auf  die  kunstvolle  Gruppimng  und 
auf  den  Gewinn  allgemeiner  Ideen  gelegt.  Der  glänzendste  Vertreter  dieser  soge- 
nannten philosophischen  Schule  ist  Gibbon,  dessen  unsterbhches  Werk  selbst  die 
Anerkennung  jener  Nachfolger  errimgen  hat,  die  viele  seiner  Ansichten  nicht  teilen, 
und  zu  denen  man  nebst  Hume  und  Bobertson  auch  noch  den  auf  geschichtlichem 
Gebiete  oft  nicht  wenig  oberflächlichen  Volt  ire  im  •  Jahrhunderte  Ludwig  des 
XIV.»  rechnen  kann,  der  in  foimeller  Hinsicht  ersetzt  hat,  was  seinen  Werken  im 
Wesentlichen  der  Dinge  mangelte. 

In  neuerer  Zeit  hat  sich,  besonders  in  den  süddeutschen  Gelehrtenkreisen 
und  in  einem  Teile  der  französischen  Literatur,  eine  neue  Biohtung  entwickelt,  die 
ich,  wenn  ich  es  wagen  dürfte,  die  Schule  der  Oberflächlichkeit  nennen  möchte, 
welche  die  hochklingenden  Worte  jener  Zeiten  auf  ihre  Fahnen  schrieb  und,  oft 
von  edlen  Gefühlen  beseelt,  eine  geschichtHche  Auffassung  zur  Geltung  brachte, 
die,  wenn  sie  der  Gunst  des  Publikums  auch  gewärtig  sein  konnte,  der  ernsten 
geschichtlichen  Kritik  kaum  Stand  hielt.  Das  am  meisten  charakteristische  Beispiel 
dieser  Bichtung  ist  in  den  c Girondisten»  Lamartines  zu  finden,  von  dem  man  dreist 


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UNGARISCHE   HISTORISCHE   GESELLSCHAFT.  ^^^ 

behaupten  kann,  es  sei  eine  eben  so  blendende  und  effectvoUe,  als  auch  gefährliche 
Carricatur  der  wirklichen  Geschichte. 

In  der  zweiten  Hälfte  der  25-jährigen  Epoche,  deren  ich  Erwähnung  ihat,  wird 
das  Hauptgewicht  suf  traditionelle  Allgemeinheiten,  auf  die  Feststellung  der  That- 
sachen  und  die  Prüfung  ihrer  Wahrhaftigkeit  gelegt.  Die  literarische  Indivi- 
dualität des  Geschichtschreibers  wird  in  den  Hiatergrond  gerückt,  und  an  seiner 
Statt  spricht  grösstenteils  das  trockene  Wort  der  Daten  und  Documente.  Dies 
Vorgehen  der  geschichtlichen  Literatur  führt  oftmals  zu  Ergebnissen,  unter 
deren  Einfluss  die  bisherigen  historischen  Auffassungen  eine  grosse  Veränderung 
erleiden. 

So  bildete  in  der  Geschichte  unseres  Vaterlandes  die  heillose  Wirtschaft  der 
fremden  Söldner  immer  eine  der  am  meisten  begründeten,  ärgsten  Klagen,  und 
andererseits  wurde  es  ab  Thatsache  angesehen,  dass  diese  schweren  Schicksals- 
schläge insbesondere  nur  unser  Vaterland  betroffen.  Wenn  wir  jedoch  nun  den 
geschichtlichen  Forschungen  mit  Aufmerksamkeit  folgen,  werden  wir  sehen,  dass 
dies  heillose  Wüten  auch  im  Heere  Johann  Kasimirs,  das  den  Hugenotten  zu  Hilfe 
zog,  ebenso  wie  in  Ungarn,  eine  Hauptrolle  spieUe  —  unter  den  Ausbrüchen  seiner 
wilden  Gewaltthätigkeiten  hatten  Freund  und  Feind,  Hugenotten  und  Katholiken, 
in  gleichem  Maasse  zu  leiden,  eben  wie  in  unserem  Vaterlande,  so  dass  sie  in 
Frenndes-  wie  in  Feindesland  ebenso  heillos  wüteten,  wie  die  Heere  Bourbons 
im  erstürmten  Rom.  Jede  Soldatenmaoht,  die  ihren  constitutionellen  Charakter 
nicht  von  einer  höheren  geistigen  Macht  oder  Idee  erhält,  kann  leicht  in  ein  unge- 
füges Mittel  gewaltthätiger  Unterdrückung  ausarten.  Macaulay  bemerkt  in  einem 
Essay  aus  seinen  Jugendjahren,  das  er  über  Macohiavelli  schrieb,  sehr  richtig,  das 
damalige  Söldnerheer  in  Italien  sei  nur  das  Mittel  einer  Art  Geschäft  gewesen, 
das  so  weit  ging,  dass  die  Anführer  den  Zusammenstössen  gegenseitig  auswichen, 
um  ihr  lebendes  Capital  ja  nicht  zu  gefährden. 

Den  jüngsten  Jahrhunderten  war  es  seit  dem  Verfalle  des  römischen  Kaiser- 
reiches zuerst  vorbehalten,  die  Idee  der  organisirten  Soldatenmacht  zu  verwirkli- 
chen. Diese  hatte  zwar  auch  ihre  Schattenseiten,  Ausschreitungen  und  Nachteile ; 
doch  andererseits:  die  einzelnen  Individuen  auf  Grund  einfacher  Ideen  und  Ver- 
pflichtungen zu  einem  organisirten  Ganzen  zusammen  zu  fügen,  diesem  unterzu- 
ordnen und  seine  Geltung  nur  dort  und  dann  in  Anspnich  zu  nehmen,  wo  helden- 
mütige Opfer  verlangt  werden,  —  ibt  im  richtigsten  und  edelsien  Sinne  aufgefasst 
eine  glänzende  Errungenschaft  der  europäischen  Civilisation. 

Ein  anderes,  mit  der  Geschichte  unseres  Vaterlandes  eng  verknüpftes  Detail 
wird  uns  auch  ein  Beispiel  liefern,  wie  neue  Ansichten  sehr  oft  einen  günstigen 
Grund  zur  Aenderung  der  Auffassungen  abgeben  können.  Eine  der  traurigsten 
Epochen  in  der  Geschichte  unseres  Vaterlandes  ist  der  sogenannt«  lange  türkische 
Krieg,  als  imter  der  Begierung  Kaiser  Rudolfs  und  des  Königs  Mathias  des  Il-ten 
das  Volk  mit  Becht  darüber  jammei-te,  dass  es  in  der,  ohne  Unterlass  zwischen 
Unheholfenheit  und  Gewaltthätigkeit  schwankenden  Begierung  keine  Stütze  mehr 
fände  und  der  Zustand  des  Reiches  immer  unerträglicher  werde.  Als  Ferdinand 
der  I.  den  ungarischen  Tron  hestieg,  konnte  er  zu  Folge  der  Persönlichkeit  und 
der  mächtigen  Mittel  seines  Oheims,  Karb  des  V.,  als  der  Herr  von  nahezu  halb 
Europa  angesehen  werden,  auf  dessen  Hilfe  jeder  seiner  Verbündeten  mit  Sicher- 


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366 


UNGARIßCHE    HISTORISCHE   OESELL8GHAPT. 


heil  rechnen  konnte*  Es  ist  zwar  richtig,  dass  zu  dieser  Zeit  die  Reformation  in  den 
Vordergrund  der  Verhältnisse  trat,  doch  konnte  Niemand  ahnen,  dass  mit  diesem 
Ausgangspunkte  der  geistigen  und  rehgiösen  Bewegung,  zufolge  der  Fehltritte  und 
Sünden  der  einander  gegenüber  stehenden  Parteien  und  Anschauungen,  Europa 
eine  solche  politische  Umwälzung  erleiden  würde,  die  in  ihren  Resultaten  den  gan- 
zen staatlichen  Organismus  Mittol-Europas  aus  den  Angeld  heben  und  insbeson- 
dere die  kaiserliche  Macht  geradezu  —  nach  der  Aussage  der  damaligen  Schrift- 
werke —  zu  einem  Schemen  herabdrücken  werde :  es  ist  daher  auch  gar  nicht  zti 
verwimdem,  wenn  auf  die  Hilfe  dieser  Sohattenmacht  nicht  mehr  gerechnet 
werden  konnte.  Und  es  ist  wirklich  als  ein  Wunder  zu  betrachten,  dass  die  Staaten 
unter  der  Last  dieser  Jahre  lang  dauernden  Zustände,  ungeachtet  der  alle  Kräfte 
des  staatlichen  Lebens  beherrschenden  Verwirrungen  und  Unordnungen,  nieht 
vollends  iu  Tiümmer  gegangen  sind,  was  vielleicht  nur  daraus  zu  erklären  ist,  dass 
damals  weder  die  Zeit  noch  der  Raum  deigestalt  im  Bereiche  des  menschlichen 
Geistes  und  Willens  lag,  wie  in  imserem  Zeitalter,  und  dass  eben  darum  viele 
Schicksal  schlage,  die  heute  zu  einer  entscheidenden  Katastrophe  führen  würden, 
nur  einen  episodischen  Charakter  an  sich  trugen  and  sich  ohne  Endresultat  wie- 
derholen und  gegenseitig  ablösen  konnten. 

Unser  erster  Präsident  hat  in  seiner  Eröffnimgsi-ede  mit  grossen  Zügen  den 
Geist  skizzirt,  von  dem  beseelt  nach  seiner  Ansicht  die  ungarische  Geschichte  ihren 
Anfang  nehmen  musste,  und  man  kann  sagen,  dass  er  mit  Seheraugen  jene  Rich- 
tung erkannt  hatte,  in  der  sich  die  ungarische  Geschichte  seitdem  entwickelt  hat. 
Er  sprach  damals  das  Wort  aus,  dass  wir  eine  wahi-e  und  treue  Geschichte  unseres 
Vaterlandes  nicht  isolirt,  sondern  nur  im  Zusammenhange  mit  der  Geschichte 
unserer  Nachbai'völker  schreiben  können,  und  ich  setze  hinzu:  nur  verknüpft 
mit  einem  vollständigen  Erfassen  der  allgemeinen  europäischen  Verhältnisse  und 
Richtungen. 

Die  Mitarbeiter  der  Historischen  Gesellschaft  befolgten  (wie  dies  viele  Arbei- 
ten in  der  von  unserer  Gesellschaft  herausgegebenen  Zeitschrift  «Szäzadoki  [Jahr- 
hunderte] glänzend  beweisen)  treu  seine  massgebenden  Woi*te  und  indem  sie 
einerseits  durch  das  genaue  Studium  und  die  sorgsame  Verarbeitung  der  vaterlän- 
dischen Geschichte  und  ihrer  Details  einen  festen  Grund  legten,  der  die  unum- 
gänglich notwendige  Bedingung  der  fortschreitenden  Entwicklung  ist,  richteten  sie 
andererseits  ihre  Aufmerksamkeit  auch  auf  alle  jene  Factoren,  die  in  anderen 
Verhältnissen  wurzeln  und  auf  die  ungarische  Geschichte  irgend  welchen  Einflnss 
ausgeübt  haben. 

Schreiben  wir  also  unsere  Geschichte  auch  weiterhin  in  diesem  Geiste, 
schreiben  wir  sie  mit  nationaler  Begeistenmg,  doch  zugleich  mit  jenem  männlichen 
Selbstbewusstsein,  das  jede  Uebertreibung  und  Selbstanbeterei  ausschliesst.  Der 
ungarische  Volksschlag,  seit  Jahrhunderten  mit  der  ungarischen  poHtischen  und 
geschichtlichen  Nation  identisch,  ist  hinsichtlich  der  Zahl  den  übrigen  europäischen 
Völkern  und  Nationen  gegenüber  in  Minorität  und  so  kann  es  psychologisch 
begründet  und  erklärt  werden,  wenn  er  geneigt  ist,  seine  Individualität  manchmal 
ein  wenig  stärker  zu  betonen.  Diejenigen  jedoch,  die  eine  derartige  übertriebene 
Betonung  nicht  für  richtig  halten,  vergessen,  dass  dieser  Nachteil  in  maneker  Hinsicht 
auch  Vorteile  besitzt,  insbesondere  weil  eben  diese  Minorität  eines  der  stärksten 


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UNGABIßCHB   HISTORISCHE   GESELLSCHAFT.  367 

Motive  nnd  Factoren  der  zähen  Ansdaner  der  ungarischen  Basse  ist,  die  keinerlei 
hochkUngender  Selbstverherrliohang  bedarf,  um  in  ihrem  vollen  Werte  zur  Oeltnng 
zn  gelangen.  Wenn  wir  in  der  Itiohtang  nnd  in  dem  Geiste,  den  nns  die  ersten 
Begründer  vorgezeicbnet,  weiter  wirken,  so  werden  wir  nicht  unr  unserer  national- 
historischen  Literatur  einen  Dienst  erweiE-en«  sondern  werden  auch  dem  pietats- 
voUen  Andenken  jener  Männer  die  gebührende  Anerkennung  zollen,  die  uns  als 
Bahnbrecher  mit  ihrem  Beispiele  vorangeleuchtet  haben.  ' 

Hierauf  las  der  Generalsecretär  einen  kurzen  Bericht  über  das  vtertelhun- 
dertjährige  Wirken  der  tmgariechen  Hietorischen  Oesdlschafi.  Die  Idee  der  Grün- 
dung einer  •  Ungarischen  Historischen  Gesellschaft!  wurde  bereits  1 845  gelegentlich 
einer  Wanderversammlung  der  ungarischen  Aerzte  nnd  Naturforscher  von  Johann 
Luczenbacher  angeregt,  gelangte  jedoch  damals  nicht  zur  Ausführung.  Etwa  andert- 
halb Jahrzehnte  später  verbanden  sich  einige  Geschäftsfreunde  jenseits  der  Donau 
zn  Forschungs-Ausflügen,  gründeten  eine  historisch-archäologische  Zeitschrift 
(redigirt  von  Bömer  und  Bäth)  und  begannen  die  Edition  des  Codex  Patrius  (redi- 
girt  von  Emerich  Nagy,  Johann  Paur,  Bäth,  Ipolyi.  V6ghelyi).  Diese  Vereinigung 
war  der  Vorläufer  unserer  Historischen  (Gesellschaft  und  verschmolz  später  mit 
derselben.  Im  Jahi*e  1867  am  2.  Feber  beriefen  Friedrich  Pesty  und  Arnold  Ipolyi 
eine  neungliedrigo  Conferenz  zur  Verwirklichung  der  Idee  der  Ungarischen  Histo- 
rischen Gesellschaft.  Am  7.  Feber  verhandelte  und  acceptirte  die  auf  zwölf  Glieder 
ergänzte  Conferenz  die  von  Eoloman  Thaly  verfossten  Statuten.  Die  Gesellschaft 
hielt  1867  am  17.  Mai  ihre  erste,  am  13.  Juni  ihre  zweite  Genemlversammlung. 
Die  letztere  wählt«  die  Präsidenten  und  den  Ausschuss,  und  dieser  conclamirte 
als  (Generalsecretär  Koloman  Thaly,  dessen  Energie,  Fachkenntniss  und  Eifer  die 
beste  Gewähr  für  das  Aufblühen  der  Gesellschaft  war.  Seine  unermüdliche  Thätig- 
keit  nnd  tactvoUe  Leitung  wurden  von  Erfolgen  gekrönt  und  als  er  nach  neun 
Jahren  aus  Gresundheitsrücksichten  sein  Amt  niederlegte,  war  seinem  Nachfolger 
der  Weg  vorgezeichnet,  auf  welchem  die  Gesellschaft  seit  anderthalb  Jahrzehnten 
auch  fortschreitet  und  sich  entwickelt.  Daes  dieser  Weg  wohl  gewählt  war,  beweist 
das  Ergebniss  der  viertelhunder^ährigen  Wirksamkeit.  Die  Publication  und  Anf- 
arbeitnng  des  Materials  spielen  in  derselben  eine  ebenso  grosse  Bolle*  wie  die  Ma- 
törialsammlung,  und  die  der  Gesellschaft  zur  Verfügung  stehenden  drei  Zeitschrif- 
ten haben  der  ungarischen  Geschichtschreibung  ebenso  wichtige  Dienste  geleistet, 
wie  die  Abhaltung  der  Wanderversammlungen.  Denn  die  15  Ausflüge  in  die  18  von 
den  türkischen  Eroberungen  verschonten  C!omitate  förderten  auH  143  Archiven  ein  so 
reiches  Quellenmaterial  zu  Tage^  dass  die  Cresellsohaft  davon  einen  Teil  auch  der 
historischen  Commission  der  Akademie  und  dem  Codex  Patrius  überlassen  musste, 
während  einige  Magnatenfamilien  sich  selbst  zur  Herausgabe  des  reichen  historischen 
Materials  ihrer  Archive  entschlosssen,  deren  zwei,  die  Grafenfamilien  Zichy  und 
Teleki,  die  (Gesellschaft  mit  der  Edition  ihrer  Codices  betrauten.  Andererseits 
weckten  die  in  verschiedenen  Städten  des  Landes  abgehaltenen  Versammlungen 
das  Interesse  für  Geschichtsforschung  in  weiteren  Kreisen  und  gaben  Anstoss  zur 
(Gründung  von  Provinzialvereinen.  Die  Gesellschaft  beeinflusste  auch  die  Entwick- 
lung der  jüngeren  Geschichtschreiber-Generation,  welche  sich  nicht  blos  das  Stu- 
dium der  Disciplinen  zur  Aufgabe  machte,  sondern  auch  auf  die  Eunstform  der 


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UNGARISCHE    HISTORISCHE    GESELLSCHAFT. 


Bearbeitung  Sorgfalt  verwendete.  Die  Opferwilligkeit  einer  Patriotin,  Helene  Yay, 
ermöglichte  die  Aiarechreibung  von  Preisen,  welche  mehrere  gelungene  Studien  zn 
Tage  förderte.  Die  Gesellschaft  veranlasste  die  Abhaltung  eines  Congresses  der 
vatwländischen  Gescliichtschreiber,  welcher  aur  Klärung  wichtiger  Fragen  beitrug. 
Sie  regte  die  feierliche  Begehung  der  wichtigsten  Jahreswenden  der  ungarischen 
Geschichte  an:  der  Bevindication  Ofens,  des  Todes  Königs  Mathias  und  des  Mil- 
leniums.  Die  Gesellschaft  dai-f  mit  Befriedigung  auf  die  Ergebnisse  ihres  viertelhan- 
dertjährigen  Wirkens  und  auf  die  gewonnene  Teilnalmie  der  Nation  zurückblicken. 
Nun  hielt  der  Yicepräsident '  der  Akademie  Bischof  Wilhelm  Fraknöi  seine 
Denkrede  aufhlorian  Römer  (1815— 1889 X  die  wir  in  Folgendem  kurz  resumiren : 
«Unser  unvergesslicher  Genosse  —  beginnt  Denkredner  — ,  dessen  Andenken  ssn 
feiern  ich  berufen  bin,  beanspmcht  auf  Grund  mehrerer  Beohtstitel  die  Pietät 
der  Ungarischen  Historischen  Gesellschaft.  Florian  Bömer  ist  einer  j.ener  acht 
Geschichtsforscher,  welche  vor  eben  24  Jahren  auf  Arnold  Ipolyi's  Anregung  die 
Gründung  unserer  GeseUsohaft  beschlossen,  und  er  hat  stets  zu  den  eifrigsten 
Arbeitern  derselben  gehört  Ja,  ich  kaim  oliüe  Uebertreibung  pagen,  zur  Errei- 
chung Eines  ihrer  in  ihren  Statuten  bezeichneten  Zwecke :  czur  Popularisimng 
der  vaterländischen  Goschichtswissenschaft,  zur  Belebimg  des  Interesses  für  die- 
selbe in  je  weiteren  Kreisen,  •  war  kaum  Einer  im  Stande,  so  erfolgreich  mitzu- 
wirken, wie  Florian  Römer.  Denn  in  seiner  Person  hatte  der  den  abstrakten  Auf- 
gaben lebende,  in  geriluscliloser  Thätigkeit  Befriedigong  findende  wahre  Gelehrte 
einen  Bund  geschlossen  mit  dem  volkstümlichen  Manne,  der  sich  überall  daheim 
fühlt,  mit  Jedermann  in  seiner  Sprache. spricht  und  auf  Jedermanns  Niveau  hinab- 
steigt, um  ihn  dsnn  zu  seiner  Höhe  emporzuheben.  Seine  leicht  entflammende 
Begeisterung,  seine  aus  der  Tiefe  eines  edlen  Hertens  quellende  Freundlichkeit, 
die  unverwüsthche  Heiterkeit  seines  Gemüts  dienten  ihm  als  gewaltige  Waffen, 
mit  welchen  er  die  weitverbreitete  Gleichgiltijitkeit  gegen  die  Denkmftler  der 
nationalen  Vergangenheit  niederkämpfen  half.  Er  hat  mit  seiner  in  der  Presse 
und  imPrivatverkehr  entwickelten  Thätigkeit  der  ungarischen  Geschichtswissen- 
schaft ein  ganzes  H^er  von  Freunden  zusamxnengeworben,  —  mit  seinem  vom  Lehr- 
stuhl aus  geübten  Einfluss  eine  Reihe  würdiger  Schüler  und  Nachfolger  ei-ssogen. 
Und  neben  dem  unvergänglichen  Wert  dieser  seiner  Wirksamkeit  hat  er  uns  noch 
eine  lange  Folge  wissenschaftlidier  Werke  als  Erbe  hinterlassen.  Sein  wissen- 
schaftlicher Geist  und  Thateifer  ist,  als  Trieb  eines  lebenskräftigen  Zweiges  eines 
uralten  Stammen,  zwischen  den  Mauern  der  Martinsberger  Benediktiner- Abtei  ent- 
sprosFen.*  Nach  einer  Würdigimg  des  Benediktiner-Ordens  führt  uns  nun  Denk- 
redner den  1815  geborenen  und  1830  mit  dem  Ordenskleid  bekleideten  Pressbur- 
ger Bürgersohn  vor,  wie  er  in  seinem  dreijährigeti  philosophischen  Curs  in  Baab 
dtircli  Bonifaz  Maar  und  Isidor  Guzmics  die  Biohtung  auf  das  Geschichtsstndinm 
erhält«  während  seines  vierjährigen  theolo$2:ischen  Studiums  in  Martinsberg  in 
seinen  freien  Stunden  die  dort  bewahrten  Literatur-  imd  Kunstdenkmäler  studirt, 
alte  Urkunden  und  Kimstdenkmäler  copirt,  die  Vorarbeiten  zu  einer  imgarländi- 
schen  Monasteriologie  beginnt;  dann  aber,  1839  zum  Professor  der  Naturwissen- 
schaften am  Baaber  Gymnasium  und  1845  an  der  Preiasburger  kön.  Hochschule 
ernannt,  vom  Geschiohtsstudium  mit  vollem  Eifer  zum  Naturstudium  überg^t ; 
1848  von  der  nationalen  Begeistenmg  ergriffen,  im  Pionniercorps  als  Lieutenant 


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ITNGARISOHE    HIBTOBISCHB   GESELLSCHAFT.  369 

and  Hauptmann  den  1848/49er  Freiheitskampf  mitmacht;  nach  der  Katastrophe 
eine  fiinQährige  Festangshaft  in  Olmütz  und  Josefstadt  unter  ernsten  Studien 
verbüsst ;  nach  dreijährigem  Privatisiren,  teils  in  Bakonyb^l,  teils  als  Erzieher«  von 
1857/58  bis  1860/61  wieder  als  Baaber  Oymnasialprofessor  seine  naturwissen- 
schaftlichen, aber  daneben  auch  von  neuem  seine  gescbichtsforschenden  Studien 
aufnimmt;  in  seinem  ersten  selbstständigen  Werk:  «Der  Bakony.  Naturgeschicht- 
Hche  und  archäolo.^sche  Skizze  •  (Raab,  1860)  ein  gemeinsames  Product  des 
Natur-  und  Altertumsfoi-schers  bietet  und  als  Anerkennung  zum  correspondirenden 
Mitglied  der  Akademie  gewählt  wird ;  dann  sich  definitiv  der  Oeschichts-  und 
Altertumswissenschaft  widmet;  1861  als  Archivar  der  Akademie  nach  Pest  über- 
siedelt; hier  dann  als  Director  des  königL  kathohschen  Gymnasiums,  bald  als 
Gustos  der  Alteiiümer- Abteilung  des  Nationalmuseums  und  Universitätsprofessor 
der  Alteiiiumswissenschaft,  daneben  als  Referent  der  archäologipchen  Commission 
der  Akademie  und  Redakteur  des  «Archäologischen  Anzeigers»,  Veranstalter 
archäologischer  Studienausflüge  und  Grabungen  im  Lande,  Leiter  des  1876er 
Budapester  internationalen  Congresses  für  Anthropologie  und  Archäologie,  Fach- 
repräsenttvnt  Ungarns  auf  den  internationalen  archäologischen  Congressen  in 
den  verschiedenen  Hauptstädten  Europas  eine  sta.unenswürdige  Thätigkeit  entfal- 
tet ;  daneben  Zeit  findet,  der  fruchtbarste  Arbeiter  der  archäologischen  Faehhtera- 
tur  zu  sein^  ausser  zahlreichen  Beiträgen  zum  «Archäologischen  Anzeiger»  drei 
selbstständige  Werke:  «Handbuch  der  Kunstarchäologie»,  «Die  römischen  Stein- 
denkmäler des  Nationalmuseums»  und  «Studien  über  alte  Wandgemälde»  zu 
schaffen;  neben  der  Archäologie  aber  auch  das  Feld  der  Kirchen-,  Orts-  und  Cul- 
turgeschiohte  cultivirt,  die  «Monographie  des  Sanct  Jakobsklosters  zu  Arpäs» 
(1865),  «Das  alte  Pest»,  seine  fünfzehn  Abhandlungen  über  die  Corvina  publioirt 
imd  an  anderen  unvollendet  gebliebenen  Werken  arbeitet ;  um  dieselben  zu  voll- 
enden, seine  Professur  und  Custosstelle  1877  mit  einem  literarischen  Stallum  am 
Grosswardeiner  Domcapitel  vertauscht ;  im  neuen  Lebenskreise  jedoch  seine  rast- 
lose Thätigkeit  durch  neue  Aufgaben  in  Anspruch  genommen  wird ;  wie  von  1886 
an  aber  immer  stärker  auftretende  Symptome  eines  schweren  Siechtums  seine 
Arbeitskraft  lähmen ;  der  Gedanke,  einen  grossen  Teil  seiner  Werke  unvollendet 
zurücklassen  zu  müssen,  ihm  trübe  Stunden  bereitet,  daneben  aber  die  Pietät 
sein^  vielen  Freunde  und  Verehrer  ihm  Trost  bietet.  « Aus  der  langen  Reihe  der- 
selben —  sagt  Denkredner  —  erfüllte  ihn  besonders  die  treue  und  auszeichnende 
Anhänglichkeit  Eines  mit  den  Gefühlen  des  Glückes  und  Stolzes,  jenes  Einen,  in 
dem  den  Glanz  der  menschhchen  un  \  patriotischen  Tugenden  der  Zauber  fürstli- 
cher Abstammung  erhöhte.  Jenes  in  seiner  Art  ohnegleichen  dastehende  Yerhält- 
niss,  welches  durch  vier  Jahrzehnte  zwischen  Florian  Römer  und  Erzherzog  Josef 
bestand,  darf  ich  bei  dieser  feierlichen  Gelegenheit  nicht  unerwähnt  lassen,  denn 
ich  weiss,  dass  einst  auch  die  vaterländische  Geschichte  davon  reden  wird.» 

Und  nun  schildert  Denkredner  in  anziehender  Weise  das  Yerhältniss,  wel- 
ches begann,  als  zur  Zeit  des  1847/48-er  Reichstages  der  damak  15jährige  Erzher- 
zog, im  Kreise  seiner  Familie  in  Pressburg  weilend,  seine  Mittelschnlstudien 
machte  und  Florian  Römer  als  Lehrer  der  Naturgeschichte  zu  ihm  berufen  wurde. 
Der  Lehrer  weckte  in  seinem  erlauchten  Schüler  nicht  blos  ein  dauerndes  Literesse 
fir  die  Naturwissenschaften,  sondern  aoeh  eine  bis  zu  seinem  .Tode  dauernde  Sym- 

üngMiMli«  Betne,  XL  1801.  FV.  Heft.  ^ 


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370  KUBZB   SITZUNOSBERICEITE. 

patbie  für  seine  Person.  Diese  Sympathie  bethätigte  sich  während  der  Gefangen- 
schaft Römer's  durch  wiederholte  Intervention  des  Erzherzogs  zu  seinen  Gunsten 
und  durch  seinen  persönlichen  Besuch  in  Josefstndt.  Aus  ihr  entwickelte  fdch  eine 
ebenso  herzliche  wie  interessante  Correspondenz,  aus  welcher  Denkredner  eine 
Beihe  interessanter  Bruchstücke  mitteilt.  Als  der  Erzherzog  seinen  Wohnsitz  nach 
Ofen  und  AIcsuth  verlegt,  erneuert  sich  auch  die  persönliche  Berührung  und  wird 
immer  intimer.  Bömer  weiss  beim  Erzherzog,  wie  einst  für  das  Naturstudium,  so 
jetzt  für  das  archäologische  Studium  ein  lebhaftes  Interesse  zu  wecken,  welches 
jedoch  sein  Interesse  für  die  Natur  nicht  aufliebt.  In  Betreff  der  Erziehung  seiner 
Söhne  und  der  Wahl  des  Erziehers  pflegt  der  Erzherzog  eingehende  Beratungen 
mit  Römer.  Das  schöne  Verhältniss  besteht  fort,  auch  nachdem  Bömer  nach  Gross- 
wardein  übersiedelt  ist,  wo  ihm  der  Erzherzog  gelegentlich  auch  seinen  Besuch 
macht.  Die  Denkrede  schhesst  mit  einem  Lobe  auf  Bömer,  in  dem  der  liebreiche 
Mensch,  der  treue  Freund,  der  begeisterte  Patriot,  der  unermüdete  Gelehrte 
und  der  strenge  OrdensgeiFÜiche  sich  zu  harmonischem  Einklang  vorbanden  .  . . 

Zum  Schlüsse  wurde  die  Stimmenabgabe  für  die  Erneuerung  des  ausscheiden- 
den ältesten  Drittels  des  Ausschusses  vorgenommen.  Nachdem  sich  die  Scrutininms- 
Commission  unter  Führung  Greorg  Bäth's  mit  den  Stimmzetteln  in  den  Nebensaal 
begeben,  verlas  der  Schriftführer  Julius  Nagy  den  Bericht  der  Rechnungsrevisions- 
Gommission  über  die  Bechnungen  imd  den  Gassestand  vom  Jahre  1890,  welcher 
zustimmend  zur  Kenntniss  genommen  wurde.  Hierauf  verlas  derselbe  den  Kosten- 
voranschlag für  das  Jahr  1891.  Derselbe  weist  als  Gesammt-Einnahme  13,900  fl. 
90  kr.,  als  Gesammt- Ausgabe  1 1 ,844  fl.  aus.  Von  dieser  Gesammt-Ausgabe  bilden 
2065  fl.  eine  ausserordentUche  Ausgabe  zum  Zwecke  der  Befundation  der  von  der 
Gesellschaft  erlittenen  Vermögensverluste.  Endlich  verkündete  der  Obmann  der 
Scrutinioms-Cüommission  das  Ergebniss  der  Abstimmung  für  das  neuzu wählende 
Ausschussdrittel.  Von  den  ausscheidenden  17  Ausschussmitgliedem  sind  zwei, 
Baron  Blasius  Orbän  und  Karl  Szabö  gestorben;  von  den  überlebenden  15  wurden 
folgende  14  durch  absolute  Stimmenmehrheit  wiedergewählt :  Franz  Balässy,  Josef 
Bänö  sen.,  Josef  Hsmpel,  Axp&ä  Horvät,  Stefan  Melczer  de  Eellemes,  Emench 
Nagy,  Baron  Eugen  Nyäry,  Ladislaus  B^thy,  Ludwig  Szädeczky,  Wol£gang  Sz^ll, 
Alex.  Szilägyi,  Josef  Szinnyei  sen.,  Ludwig  Thallöczy  und  Gustav  Wenzel.  Ausser 
diesen  erhielt  blos  Johann  Väczi  die  absolute  Majorität,  eo  dass  zwei  Stellen 
unbesetzt  blichen.  Bei  wiederholter  Abstimmung  erhielt  blos  Edmund  Boncz  die 
absolute  Majorität  und  es  musste  zur  Besetzung  der  letzten  Stelle  eine  dritte 
Abstimmung  vorgenommen  werden,  welche  die  absolute  Majorität  für  den  Grafen 
Eugen  Zichy  ergab. 


KURZE  SmüNGSBERICHTE. 

—  Akademie  der  Wissenschaften.  In  der  Sitzung  der  ersten  Glasse  am 
2.  März  legte  das  o.  M.  Emil  Thewrewk  de  Ponor  die  Aushängebogen  seiner  Aus- 
wahl griechischer  Epigramme  in  Uebersetzung  und  mit  Einleitung  und  erlaben- 
den Anmerkungen  versehen  vor.  Im  Gunzen  hat  er  427  Epigramme  der  griechischen 
Anthologie  übersetzt,  vornehmlich  aus  jenen  Büchern,  die  die  erotischen  Gedichte 


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und  die  Orabinsohriften  enthalten.  Die  Einleitung  erstreckt  sich  nicht  nur  auf  die 
Ueberlieferung  der  Anthologia  Palatina  und  Planudea  selbst  und  auf  die  eingehende 
Oharakteristik  der  Dichter,  die  sich  mit  der  Zusammenstellung  von  Anthologien 
nachweislich  einen  Namen  gemacht  haben,  sondern  gibt  auch  von  der  Thätigkeit 
der  neueren  Herausgeber  und  Sammler  um  die  griechische  Anthologie  ein  über- 
sichtliches Bild.  Am  Ende  der  Ausgabe,  die  als  VUI.  Band  der  durch  die  classisch- 
philologische  Commission  der  Akademie  veröffenÜichten  •  Griechischen  und  latei- 
nisohen  Autoren  in  ungarischer  Uebersetzung»  erscheint,  gibt  Thewrewk  ein 
genaues  Bepertorium  aller  bisher  in  das  Ungarische  übersetzten  epigrammatischen 
Dichtungen  der  alten  Griechen.  Dem  Fachmanne  empfiehlt  sich  das  Werk  durch 
manche  Textverbesserungen  und  neue  Bemerkungen  bezüglich  vieler  Detailfragen. 

Hierauf  legte  dasselbe  Mitglied  eine  Arbeit  vor,  die  sich :  Scholia  Vetera  in 
Nicandri  Alexipharmaca  e  codice  Gotttugensi  edita.  Adiecta  sunt  scholia  recentia. 
Recensionem  ab  Eugenio  Abel  inchoatam  adfinem  perdtLxit  Rudohphus  Vdri,  phiL 
dr,  betitelt.  —  Von  dem  aus  Eolophon  stammenden  Lehrdichter,  Grammatiker  und 
Arete  Nikander,  dessen  Blüte  man  in  das  U.  Jahrhundert  v.  Chr.  zu  setzen  pflegt,  sind 
ausser  einem  grösseren,  Theriaka  betitelten  Gedichte  und  zahlreichen,  aus  anderen 
Werken  auf  uns  gekommenen  Fi*sgmenten,  auch  ein  in  630 Hexametern  verfasstes 
Gedicht,  Alexipharmaka,  erhalten  geblieben,  das  sich  mit  verschiedenen  Gegen- 
mitteln, die  nach  dem  Genüsse  vergifteter  Speisen  anzuwenden  sind,  befasst.  Das 
Gedicht  ist  trocken  und  ungeniessbar,  die  Sprache  geschraubt,  doch  sein  reicher 
und  schwer  verständlicher  Sprachschatz  reizte  die  griechischen  Grammatiker  zu 
Studien  an  und  in  dem  Zeitalter,  als  das  Gefühl  für  Originalität,  für  Tiefe  des 
Gedankens  und  Grossartigkeit  der  Conception  abhanden  gekommen  war  und  nur 
mythologisches  und  lexikales  Wissen  dem  Publikum  imponirte,  war  Nikander  ein 
ziemlich  gelesener  Poet.  Selbst  die  lateinischen  Dichter,  hauptsächlich  Yergil  und 
Ovid,  haben  aus  seinen  Dichtungen  vielfach  geschöpft.  Es  spricht  für  diese  Be- 
hauptung auch  die  Anzahl  der  Handschriften  und  die  zu  beiden  Gedichten  ge- 
schriebenen reichhaltigen  Scholien.  In  Ermanglung  dieser  (Kommentare  wären  die 
ungeniessbaren  Dichtungen  noch  unversiändhcher  und  dunkler  als  dies  thatsäch- 
lich  der  Fall  ist.  Wichtiger  noch  sind  aber  diese  Commentare  für  das  Studium  der 
griechischen  Lexicographie  und  Grammatik. 

Die  zu  den  Theriaka  auf  uns  gekommenen  Scholien  haben  in  Keil  einen 
berufenen  Herausgeber  gefunden.  Die  Frage  ihrer  handschriftlichen  Ueberlieferung 
kann  zwar  noch  nicht  als  ganz  erledigt  betrachtet  werden  und  auch  ihr  Wert  ist 
noch  nicht  genügend  festgestellt,  doch  hat  man  die  dazu  erforderliche  kritische 
Ausgabe  von  Keil.  Die  Scholien  zu  den  Alexipharmaka  hingegen  sind  in  der  Gestalt, 
wie  sie  in  den  bisher  erschienenen  Ausgaben  vor  uns  liegen,  die  unzuverlässigste 
rndis  indigestaqne  moles.  Die  Schoha  Vetera  sind  nicht  nur  von  den  Becentia 
nicht  geschieden,  ihre  Scheidung  kann  ohne  einen  handschriftUchen  Fingerzeig 
auch  nicht  einmal  versucht  werden.  Und  trotzdem,  dass  die  anerkannt  beste  Hand- 
schrift, deren  genauere  Vergleichimg  der  häufig  aufgeworfenen  Klage  ein  Ende 
bereitet  hätte,  sich  an  einem  durch  seine  centrale  Lage  zugänglichen  Punkte 
Deutschlands,  in  der  Universitätsbibliothek  Göttingens  befindet,  ^d  sich  nahezu 
hundert  Jahre  kein  Philologe  der  an  eine  neue  Ausgabe  der  Schohen  zur  Alexi- 
pharmaka geschritten  wäre.  Ein  ungarischer  Gelehrter,  der  der  Wissenschaft  leider 

24* 


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•^'*  KtJRZi!   SITZÜllOSBfiMCHTÄ. 

80  früh  entri886D6  Engen  Abel,  hat  zum  ersten  Male  genau  und  znverlaasig  die 
schwer  lesbare  Handschrift  verglichen.  Dazu  verschaffte  er  sich  noch  die  Lesarten 
eines  Leydener  Manuscriptes,  das  die  Vulgata  enthält,  und  einer  Dresdener  Hand- 
schrift, welche  die  wertlose  Abschrift  der  bei  Aldus  im  Jahre  1499  vei-öffentliohten 
Scholien  ist.  Vier  Tage  vor  seinem  (am  13-ten  Dezember  1889  erfolgten)  Tode 
schickte  er  die  Otto  Schneider'schen  Nicandrea  an  Rudolf  Vari  nach  Florenz  mit 
dem  Ersuchen,  ihm  eine  in  der  Bibliotheca  Biccardiana  befindliche,  die  Vulgata 
enthaltende  Handschrift  zu  collationiren.  Viri  hatte  der  Bitte  noch  nicht  Folge 
geleistet,  als  er  schon  die  Todesnachricht  des  unvergesslichen  Gelehrten  erhielt. 
Im  Interesse  der  Wissenschaft  entsprach  er  aber  dennoch  der  an  ihn  gerichteteB 
Aufforderung. 

Bei  seiner  Bückkehr  hatte  er  Gelegenheit,  sich  zu  überzeugen,  dass,  obzwar 
der  durch  Abel  gesammelte  und  mit  den  Lesarten  des  Biccardianns  bereicherte 
Apparat  noch  nicht  vollständig  sei,  die  Lesarten  der  Göttinger  Handschrift  an  und 
für  sich  für  eine  neue  Ausgabe  eine  genügende  Stütze  ergeben  und  zur  Scheidung 
der  Scholien  einen  imbedingt  sicheren  Weg  weisen  können.  Schon  J.  G.  Schneider, 
der  in  seiner  1 792  erschienenen  Ausgabe  den  Text  der  Vulgata  aus  dem  Codex 
Gottingensis  vielfach  verbessert  herausgegeben  hat,  erkannte  die  eminente  Bedeu- 
tung der  Handschrift.  Aber  er  benützte  den  Codex  mit  der  die  Philologen  des  vei^ 
gangenen  Jahrhundertes  aUgemein  charakterisirenden  Leichtfertigkeit  und  las  so 
Manches  heraus,  was  unmöglich  in  der  Handschrift  gestanden  haben  konnte.  Vor 
Schneider  nahm  Mitscherlich  von  der  Handschrift  Gebrauch,  jedoch  nur  sur 
Emendierung  des  zum  130.  Verse  der  Alexipharmaka  gehörenden  Scholions.  Den 
vollständigen  Wert  der  Handschrift  läset  erst  die  neue  Ausgabe  erkennen. 

Die  Aufgabe,  die  des  neuen  Heransgebers  der  Scholien  wartet,  bezeichnet 
V.  Wilamovitz-Moellendorff  kurz  in  diesen  Worten  :  tDie  Scholien  dei*  Alexiphar- 
maka warten  noch  auf  einen  Bearbeiter,  der  sie  wenigstens  auf  einen  älteren  Zu- 
stand zurückführe,  als  der  jetzige  ist.  >  Die  alten  Scholien  von  den  neuen  zu  schei- 
den :  das  ist  die  HauptanfjfZfabe.  Ohne  jedweden  handschriftlichen  Fingerzeig  wäre 
das  Unterscheiden  nicht  überall  zuverlässig.  Im  Göttinger  Codex  sind  nun  aber  die 
Scholien  von  zwei  verschiedenen  Händen  geschrieben ;  die  von  der  ersten  Hand 
weisen  auf  das  XHI.,  die  von  der  zweiten  ungefähr  auf  das  XIV.  Ji^rhundert 
Untersucht  man  die  von  den  zwei  verschiedenen  Händen  geschriebenen  Scholien, 
80  kommt  man  zu  dem  Besultate,  dass  die  von  erster  Hand  geschriebenen  die  wert- 
vollen, hingegen  die  von  zweiter  Hand  die  ungleich  wertloseren  sind.  In  den  letz- 
teren nämlich  finden  sich  häufig  Wiederholungen,  Unverstandenes  und  unver- 
ständlich Erklärtes.  Diese  jüngei-en  Scholien  gehen  unter  Anderem  auf  die  Apollo- 
nius  Bhodius-Scholien,  auf  Hesychius  Alf^xsndrinus,  kurz  nicht  auf  literarhistorische 
oder  exegetische  Specialwerke  zuiück ;  sie  erhalten  ihre  Daten  aus  zweiter  Hand, 
was  das  Hauptmerkmal  wertloser  Scholien  ist.  Ob  sie  alle  Tzetzes  compilirt  hat,  iat 
zweifelhaft ;  dass  sie  aber  teilweise  auf  Tzetzes  zurückgehen,  höchst  wahrscheinticb. 

Die  alten  Scholien  entstanden  nach  der  Meinung  der  Gelehrten  im  U.  Jahr- 
hundert V.  Chr.  und  gehen  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  auf  das  zu  den  Dich- 
tungen des  Nikander  geschriebene  exegetische  Werk  des  Pamphilns  und  auf  den 
in  den  Scholien  an  einer  Stelle  citirten  Lysimachus  den  Hippokrateer  zuilUdc. 
Doch  mag  auch  Manches  nach  der  Meinung  VAri*s  auf  Erasietratus  zurückgehen, 


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der  nach  dem  Zeagniase  des  Hesychius  Mileeius  eine  Arzoeikunde  in  neun 
Büchern  verfiEisst  bat,  in  welchem  Werke  er  auf  die  Alexipharmaka  des  Nikandros 
wohl  Bezug  zn  nehmen  hatte.  DenErasistratos  citiren  unsere  Scholien  zum  65.  Verse. 

In  der  d^  Classe  vorgelegten  Ausgabe  sind  auf  Gh-undlnge  der  Götfinger 
Handttchrift  die  alten  Schoben  mit  grossen,  die  jüngeren  mit  kleinen  Lettern  in 
der  Weise  publioirt,  dass  sie  zusammen  nach  Möglichkeit  derVulgata  sich  nähern. 
Conjeeturen  von  Abel  und  Väri  versuchen  den  Le^er  über  die  verdorbenen  Stellen 
hinwegzuhelfen. 

Zum  Schlüsse  hielt  Dr.  Alexander  K^gl  als  Gast  einen  Vortrag  Studien  zur 
der  Geschichte  der  neueren  persischen  Literatur,  welche  der  Verfapser  während 
eines  längeren  Aufenthaltes  in  Persien  zu  studieren  Gelegenheit  hatte.  Die  irani- 
sche Literatur  der  Neuzeit,  speziell  des  19.  Jahrhunderts,  kann  nicht  originell 
genannt  werden,  Sie  enthält  wenig  Neues.  Die  meisten  Dichter  geben  nur  Copien 
der  alten  klaasisehen  Dichter.  Ka'ani,  der  berühmteste  moderne  pei-sische  Dichter, 
schreibt  genug  geschickt,  aber  seine  Dichtungen  sind  nichts  weiter  als  photogi-a- 
phisch  treue  Nachbildungen  der  klaseiseh  glatten  Gedichte  Sa'adi's  und  des  bom- 
bastischen Minocsehvi.  Ein  anderer  grosser  persischer  Autor  der  Neuzeit,  Jagma, 
der  persische  ZoUt,  behandelt  mit  Vorliebe  die  Schattenseiten  des  Lebens  und 
schreibt  in  möglichst  unflätiger  Manier  im  Geiste  der  naturalistischen  Selude. 
Biaa  E«li  Khan  ist  ein  gutes  Muster  eines  orientalischen  Gelehrten,  der,  alle 
denkbaren  Wissenschaftszweige  cultivirend,  eine  ganze  Bibliothek  zusammen- 
geschrieben hat.  Er  hat  ein  ausgezeichnetes  persiFches  Wörterbuch  und  eine  aus 
reiche«  Quellen  geschöpfte  Literaturgeschichte,  das  vorzüglichste  Werk  dieser  Art 
in  Persien,  ves&sst  u.  s.  w.  Der  Vortragende  bespricht  die  einzelnen  Werke  je 
nach  ihrer  Bedeutung  mehr  oder  \\  eniger  ausführlich  und  gibt  au«  den  poetischen 
grössere  Partien  in  tmgarisdier  Uebersetznng. 

—  In  der  Sitzung  der  zweiten  Classe  am  9.  März  las  das  o.  M.  Julius  Schvarcz 
über  die  Verfassumgsgeschiekte  Athens  auf  Grund  der  neuentdeckten  Pupyrus-Capie 
des  Briiish'Museums,  Einen  Auszug  aus  diesem  Vortrage  theilen  wir  oben  S.  341  mit. 
'Hierauf  las  der  Universitäts-Prolessor  Julius  Länozj  (als  Gast)  ein^i  Ab- 
schnitt aus  einer  grösser  angelegten,  zusanunenhängenden  Arbeit :  DatUe  und  Bo- 
nifaz  VIILf  welche  insgesammt  oidit  nur  das  Verfaältniss  des  Dichters  zu  dem 
genannten  Papst  und  dem  Papsttum  im  Allgemeinen,  sondern  gleicbF^eitig  aueh 
jene  innere  Krise  der  mittelalterlichen  Kirche  zur  Darstellung  bringen  soll,  welche 
sich  von  dem  Pontificate  Nioolaus  HI,  angefangen  bis  in  die  zweite  Hälfte  des 
XrV.  Jahrhunderts,  die  «babylonische  Gefangenschaft»  hindurch  erstreckt.  Ue  bei- 
den bisher  zur  Veröffentlichung  gelangten  Capitel  beherrscht,  gewissermassen  als 
Leitmotiv,  der  Kampf  der  Spiritualen  (Franziskaner)  gegen  die  herrschende 
Kirche  ui^d  cUe  römische  Curie,  welch  letztere  in  ihren  weltlichen  Maeht-Gelü3ten 
von  den  verhältmsanässig  beschränkten  simonistisch-nepotischen  Anfangen  unter 
Nioolaus  ni,,  bis  zu  den  extremen  Entfaltungen  dieser  Tendenz  unter  Bonifaz  VUI. 
und  dessen  tragischem  Fall  —  an  einen  Wendepunkt  ihres  welthistorischen  Oa- 
seins gelangt  ist.  Der  vom  Verfasser  verlesene  Abschnitt,  führt  den  Titel:  CöUstin 
V.  und  die  Spiritualen  —  die  Anfänge  des  Rmtificats  Bonifaz  VUI.  und  bietet 
^en  Essay  von  rei(äihaltigem  Inhalte,  der  neben  der  grossen  Kirchenfrage  und 
den  ersten  Zügen  der  miäohtigen,  weltlichen  Ludividualüät  des  letztgenannten 


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'^'^  Ktmzte  srrztmosBBSRlCHT». 

Papstes,  Punkte  von  actneller  Wichtigkeit  für  das  Yerständniss  der  ungarischen 
Qesehichte  in  ihrer  Ueberleitung  von  den  letzten  Ärpäden  auf  das  Hans  Anjon, 
behandelt.  Rs  wird  hier  jene  merkwürdige,  in  ihrer  allgemeinen  Bedeutung  noch 
nicht  genügend  gewürdigt«  Episode  der  päpstlichen  G^chichto  dargestellt,  in 
welcher  das  extreme  asketische  Mönchstnm  in  der  einfachen  und  dennoch  ergrei- 
fenden Gestalt  jenes  greisen,  weltentrückten  Einsiedlers,  der  unter  dem  Namen 
Cölestin  V,  bekannt  ist,  auf  den  päpstlichen  Tron  und  für  einen  flüchtigen  Augen- 
blick zur  Herrschaft  über  die  Kirche  gelangte.  Die  Interpretirung,  welche  der  Ver- 
fasser dem  «gran'  rifiufot  der  Divina  Commedia  verleiht,  zeigt  uns  Dante  süß  den 
Wortführer,  jedenfalls  den  begeisterten  Anbänger  jener  streitbaren  Aspirationen, 
welche  die  extremen  Schattirungen  des  Franziskaner-Ordens  von  Jacopone  de  Todi 
üher^Ubertino  di  Casale  hinaus  bis  zu  den  Ausgängen  des  •FroMceUeif -tames 
beseelten.  Anknüpfend  an  eine  Stelle  der  florentinischen  Chronik  des  Villani  sucht 
der  Verfasser  gegenüber  Reumont  den  Beweis  zu  führen,  dass  die  Erwählung  Bo- 
nifaz  Vm.  zum  Papste  in  Neapel  unbedingt  auf  einer  Verständigung  mit  dem  Hause 
Anjou  und  dessen  Bestrebungen,  auf  der  zugesagten  Unterstützung  der  Anspi-üche 
Karl  U.  nicht  blos  auf  Sizilien,  sondern  auch  auf  Ungarn  notwendigerweise  be- 
ruht haben  musste.  Bei  diesem  Anlasse  wird  nicht  blos  des  Verhältnisses  Karl 
MarteWs  zu  Dante  und  Bonifaz  VHI.  gedacht,  sondern  die  schattenhafte,  uner- 
hellte  Gestalt  des  Prätendenten  Titnlar-Königs  von  Ungarn,  von  welchem  die  unga- 
rische Historiographie  bisher  kaum  Notiz  genommen  hatte,  erfährt  auch  in  ihrem 
Verhältnisse  zu  Gölestin  V.  einige  Aufhellung.  Wir  ersehen  femer,  dase  der  Ver- 
fasser in  der  Beuunciation  des  Papst-Eremiten,  und  in  dem  nachfolgenden  gewalt- 
samen Einschreiten  seines  Nachfolgers  Bonifaz  VHI.  gegen  denselben,  gewisser- 
massen  als  die  Exposition  der  tragischen  Katastrophe  des  Letzteren  erblickt  und 
den  mittelalterlichen  Streit  über  die  Rechtmässigkeit  der  Benunciation  und  der 
nachfolgenden  Papstwahl  in  einem  weiteren  Abschnitt  über  die  Fehde  der  CdUmnas 
darzustellen  gedenkt.  Wir  werden  auf  diese  infceressanten  eigenartigen  literarisch- 
historischen Studien  des  Verfassers  noch  zurückkommen,  wenn  dieselben  in  ihrem 
vollständigen  Zusammenhang  zur  literarischen  Veröffentlichung  gelangen  werden. 
Wir  bemerken  noch  zum  Schluss,  dass  ausser  den  speciellen  hagiographischen 
Quellen,  die  ausgiebige  Benützung  des  in  Denifle-Ehrle*s  Arohiv  angehäuften 
Materials  für  mittelalterliche  Kirchen-  und  Ketzer-Geschichte  ftlr  den  Kenner 
merklich  hervortritt 

—  In  der  am  19.  März  gehaltenen  ausserordentlichen  Plenarsitzung  refe- 
rirte  das  c.  Miglied  Ärpäd  Berczik  über  das  Schicksal  der  letztjährigen  Con- 
currenz  um  den  Teleki-Preis,  um  welchen  sich  im  abgelaufenen  Jahre  Trauer- 
spiele bewarben.  Es  liefen  im  Ganzen  26  Stücke  zur  Concurrenz  ein,  von 
welchen  jedoch  eines,  weil  es  ein  Lustspiel  ist,  und  ein  zweites,  weil  es  bereits 
aufgeführt  wurde,  im  Sinne  der  Statuten  von  der  Concurrenz  ausgeschlossen 
wurden.  Das  Preisrichter-Gollegium  bildeten  von  Seite  der  Akademie  Moriz 
Jökai,  Karl  Szäsz  und  Ärpäd  Berczik ;  von  Seite  des  Nationaltheatera :  Ärp^ 
Gabänyi  und  Emerich  Nagy.  Das  Präsidium  in  demselben  führte  Moriz  Jökai, 
mit  dem  Beferat  wurde  Ärpäd  Berczik  betraut.  Der  Referent  spricht  in  der 
kurzen  allgemeinen  Einleitung  seines  Beferates  von  dem  verschiedenen  Maasse 
der  Anforderungen,  welche  die  Schaffung  einer  guten  Tragödie  an  den  Dichter 


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TRAÜEBFLOB. 


375 


stellt,  je  nachdem  dieser  den  Sto£f  derselben  entweder  der  Geschichte  entnimmt, 
oder  aus  dem  Leben  der  Gegenwart  schöpft  oder  eine  Familien-Tragödie  auf  histo- 
rischem Hintergrunde  schafft,  welchem  Genre  auch  jenes  Stück  angehört,  welches 
die  Jury,  als  alle  seine  Mitconcurrenten  in  jeder  Hinsicht  weit  überragend,  ein- 
stimmig zur  Preiskrönung  empfiehlt.  Beferent  charakterinirt  hierauf  in  kurzen 
Zügen  die  Concurrenzstücke,  welche  ihre  Stoffe  teils  der  antiken,  teils  der  unga- 
rischen Geschichte,  teib  dem  Leben  der  Gegenwart  entnommen  haben.  Er  thut  die 
schwächsten,  bei  denen  er  beginnt,  mit  wenigen  Worten  ab,  widmet,  nach  der 
Stufenfolge  des  Wertes  fortschreitend,  denjenigen,  welche  neben  bedeutenden 
Schwächen  mehr  und  mehr  des  Anerkennenswerten  aufweisen,  eine  etwas  ein- 
gehendere Würdigung  und  verweilt  schliesslich  etwas  länger  bei  der  Analyse  des  in 
jeder  Beziehung  besten  und  durch  absoluten  Wert  das  Ergebniss  der  gegenwärtigen 
Concurrenz  zu  einem  befriedigenden  gestaltenden  Stückes,  welches  den  Titel: 
«A  k^t  szerelmesi  (Die  beiden  Liebenden)  führt  und  auf  dem  historischen  Hinter- 
grunde der  Eurutzen-  und  Labanczen-Zeit  eine  in  der  Hauptstadt  Oberungams, 
Kaschau,  sich  abspielende  Familientragödie  vorführt.  Die  tadellose  Oomposition, 
die  schwungvolle  Diction,  die  Eraftfülle  der  Leidenschaften,  das  erschütternde 
Schicksal  der  Hauptgestalten  und  die  hervorragende  Bühnenmässigkeit  Hessen 
dieses  Stück  sämmtlichen  Preisrichtern  als  der  Preiskrönung  vollkommen  würdig 
erscheinen.  Als  Verfasser  des  Stückes  ging  aus  dem  eröffneten  Devisenbriefe  Gre- 
gor Cdky  hervor. 


TRAUEßFLOR. 

Michael  Vörösiiuuiy. 


YerdoiTet  ist  der  Bosenbaum, 

Es  hangt  ein  Flor  am  Heckensaum, 

0  weh,  o  weh  I 
Entflohn  ist  meines  Glückes  Traum. 


Warum  hast  du  nicht  mein  geharrt, 
Herzhebchen  mein,  du  Böslein  zart  ? 

0  weh,  o  weh  ! 
Wie  trifft  mich  nun  das  Schicksal  hart ! 


Wer  hess  den  Baum  verdorren,  wer? 
Wer  band  den  Flor  ums  Zweiglein  her? 

0  weh,  0  weh  I 
Der  Flor  ist  schwarz  und  tränenschwer. 


Todmüde,  sieh  1  mm  steh*  ich  hier, 
Gleich  wundgehetztem  Waldestier« 

0  weh,  o  weh  I 
Nun  sterb'  nach  dir  vor  Gram  ich  schier  I 


Den  Baum  liees  welken  Liebchens  Hand,      Bleib' ,  Bosenbäumchen ,  bleib'  verdorrt  I 


Den  Flor  auch  um  den  Zweig  es  band, 

O  weh,  o  weh ! 
Vor  Gram,  vor  Gram  den  Tod  es  fand. 


Bleib',  Trauerflor,  dran  hangen  fort : 

0  nimmer,  weh ! 
Erheb'  ich  mich  von  diesem  Ort. 

Adolf  Handmann. 


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376  UNGARISCHE   BIBLIOGRAPHIB. 


UNOARISCHE  BIBLIOGRAPH LE.* 

Bikefy  Hemif^,  Ä  PUüi  AjMitsdg  törtenete,  (Geschichte  der  Abtei  zu  Pilis 
1184 — 1541,  von  Dr.  Remigius  Bikefy).  Fünfkirchen  1891.  4^  515  S.  mit  Illustrationen. 

Birö  Pdl,  A  magyar  kir.  honvddelmi  ministenum  müködese,  (Die  Thätigkeit 
des  königlich  ungarischen  Landesvertheidigungs-Ministeriums  in  den  Jahren  1870 — 
1890.  Im  Auftrage  des  königlieh  ungarischen  Landesvertheidigungs-Ministers  auf 
(jTund  amtlicher  Akten  bearbeitet  von  Paul  Birö.)  Budapest,  1891,  2  Bände,  4«,  399 
und  472  8. 

Kanyarö  Ferencz,  Unitänusok  Magyawrszdgon.  (Die  Unitarier  in  Ungarn,  mit 
Bttoksicht  auf  die  aUgemeine  Geschichte  des  Unitarismus,  von  Franz  E&nyaro.) 
Klausenburg,  1891,  229  S. 

Petrik  Geza,  Moffyarorszdg  Biblioyraphidja,  (Bibliographie  Ungarns  von  1712 
bis  1860,  verfasst  und  mit  einem  wissenschaftlichen  Fachregister  versehen  von  Göza 
Petrik.)  Zweiter  Band.  Budapest,  1890,  Dobrowsky,  956  S. 

Stromp  J.dszlo^  Samoyyi  Peter  fogadya.  (Die  Gefangenschaft  Peter  Somogyi's, 
Ein  Bild  aus  der  Zeit  der  Leiden  des  Protestantismus  unter  dem  Primate  Nikolaus 
014h'8,  von  Ladislaus  Stromp.)  Pressburg,  1891,  123  8. 

Szddeczky  Lajos^  Kovacsöczy  Farkas.  (Wol%ang  von  Kovacsöczy,  1576 — 94.  von 
Ludwig  Sz&deczky.)  Budapest,  1891,  R4th,  140  8.  und  zahlreiche  Illustrationen. 

Szana  Tamds,  Petofin^  Szendrei  Julia.  (Julie  Szendrei,  Alex,  Petöfi*s  Gattin, 
von  Thomas  Szana.)  Mit  zahlreichen  Illustrationen.  Budapest,  1891,  Grill,  238  8. 
(Im  Anhange  Juliens  Gedichte.) 

SzSchenyi  Istvdn  külföldi  utirajzai.  (Graf  Stefan  Sz^chenji's  Reiseberichte  und 
Tagebücher  von  seinen  Reisen  im  Auslande,  im  Auftrage  der  ungarischen  Akademie 
der  Wissenschaften  herausgegeben  von  Anton  Zichy.)  Budapest,  1891,  Akademie,  440  8. 

Szemerei  Szemere  Pdl  munkdi.  (Paul  Szemere's  sämmtliche  Werke,  im  Auftrage 
der  Kisfeludy-GeseUschaft  herausgegeben  von  Josef  Szvor^nyi.)  Budapest,  1890. 
FrankUn,  3  Bände,  294,  325,  449  8. 

Thswrewk  Emil,  A  magyar  zene  tudomdnyos  tdryyaldsa.  (Die  wissenschaftliche 
Behandlung  der  ungarischen  Musik  von  Emil  Thewrewk  von  Ponor.)  Budapest,  1891, 
Akademie,  24  8. 

Tipray  JdnuSy  Magyar-n^net  da  nemet-magyar  zsebszötdr,  (Ungarisch-deutsches 
und  deutsch-ungarisches  Taschenwörterbuch  von  Johann  Tipray.)  Budapest,  1890, 
Franklin,  258  8. 

Zrinyi  Miklös  hadtudomdnyi  munkdi.  (Die  kriegswissenschaftUchen  Werke  des 
Dichters  und  Feldherrn  Gr.  Nikolaus  Zrinyi,  im  Auftrage  der  ungarischen  Akademie 
der  Wissenschaften  herausgegeben  von  Eugen  Horv4th.  Mit  Zrinyi 's  Porträt.)  Buda- 
pest, 1891,  Akademie,  403  8. 


*  Mit  AusschlusH  der  mathematisoh-natur\vi8Beni<chaftlichen  Literatur,  der  Schulbücher, 
ErbauuDgsschriften  und  Uebersetznngen  ans  fremden  Spracheo,  dagegen  mit  Berücksichti- 
gung der  in  fremden  Sprachen  erdohienenen,  auf  Ungarn  bezüglichen  Schriften. 


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EINE  ANTWORT  AUF  DIE  DENKSCHRIFT  DER  BÜKURESTER 
UNIVERSITÄTS-JIJGEND. 


Bekanntlich  hat  die  Bukurester  Universitäts- Jugend  vor  Kurzem  eine 
«Denkschrift*  im  Namen  der  «akademischen  Jugend  Rumäniens»  aber 
die  Lage  der  Rumänen  in  Ungarn  und  Siebenbürgen  verfasst,  und 
dieses  Schriftstück  in  rumänischer,  deutscher,  französischer  und  italieni- 
scher Sprache  durch  den  Druck  weithin  verbreitet.  Diese  «Denkschrift» 
wendet  sich  «an  das  Forum  Europas»,  um  dessen  «ernste  Aufmerksamkeit» 
auf  «einen  unglückseligen  Conflict»  zu  lenken,  «welcher  im  Schosse  der 
österreichisch-ungarischen  Monarchie  zwischen  den  culturellen  und  vermöge 
ihrer  humanen  und  liberalen  Tendenzen  durchaus  modernen  Bestrebungen 
der  Rumänen  einerseits,  und  der  seitens  der  magyarischen  Nation  sich  ent- 
gegenstellenden, für  unsere  europäische  Denkart  jedoch  fremdartig  beschaf- 
fenen Gegenströmung  andererseits,  zum  Ausbruche  gelangt  ist,  und  welcher 
verderbliche  Zwiespalt  Complicationen  nach  sich  ziehen  könnte,  deren  Trag- 
weite zur  Stunde  nicht  voraus  erwogen  werden  kann.» 

Was  nun  die  rumänische  «Denkschrift»  zur  Beleuchtung  und  Erhär- 
tung dieses  «unglückseligen  Conflictes»  in  breitspurigen  Ausführungen 
bietet,  das  ist  eine  Fülle  von  historischen  Irrtümern  und  willkürlichen 
Deutungen,  von  entstellten  oder  verdrehten  Thatsachen,  von  Verleumdungen, 
unbegründeten  Anklagen  und  Beschuldigungen,  die  im  Vereine  mit  dem 
vom  leidenschaftlichsten  Rassenhasse  erfüllten  Tone  dieses  Schriftstück  zu 
einem  der  giftigsten  Pamphlete  gestalten  und  bei  unorientirten  Lesern  Miss- 
achtung und  Gehässigkeit  gegen  Ungarn  und  die  ungarische  Nation  hervor- 
rufen  können.  Die  Ignoranz  und  hasserfüllte  Leidenschaft  dieser  akade- 
mischen Jugend  wird  nur  überboten  von  jenem  insolenten  Hochmute  und 
jener  arroganten  Selbstüberschätzung,  womit  diese  angeblichen  «Söhne  des 
göttUchen  Trajan»  auf  jedes  andere  Staats-  und  Volkstum  herabblicken 
und  sich  eine  ganz  ungerechtfertigte  Culturmission  im  Osten  beilegen,  als  ob 
nur  sie  hier  die  Träger  und  Verteidiger  der  modernen  Givilisation  wären. 

Es  war  deshalb  ebenso  im  Interesse  der  Wahrheit  und  der  Gerechtigkeit 
wie  im  Dienste  des  Vaterlandes,  wenn  der  Klausenburger  k.  u.  Universitäts- 
Professor  Dr.  Gregor  MoLDOVÄN,  ein  Rumäne,  eine  Widerlegung  dieser  schimpf- 

UngaiiMhe  BeTO«,  XL  1891.  V.  Heft.  ^^ 


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378  EINE    ANTWORT   AUF   DIB   DENK80HKIFT 

lieben  «Denkschrift»  der  Bukurester  Universitäts- Jugend  unternommen 
hat.  Die  Widerlegung  ist  in  ungarischer  Sprache  verfasst  und  führt  den 
Titel:  «Välaszirat  a  bukaresti  romän  ifjak  Memorandumira»  (t Antwort  auf 
das  Memorandum  der  Bukarester  rumänischen  Jünglinge».)  Elausenburg, 
1891,  gr.  8®,  70  Seiten.  Wir  bringen  im  Nachstehenden  diese  ebenso 
scharfe  und  schneidige,  als  von  aufrichtiger  Wahrbeits-  und  Vaterlands- 
liebe erfüllte  «Antwort»  im  vollen  Wortlaut. 
Professor  Dr.  G.  Moldov^n  schreibt : 

I. 

Einige  Worte  zur  Einleitung. 

Als  einige  siebenbüigische  Auswanderer:  Giurcu,  Sacasan  und  Genossen 
im  Jahre  1885  in  Kumänien  die  ewig  schandvolle  Proclamation  veröflfent- 
Uchten,  in  welcher  sie  uns  siebenbürgische  Rumänen  zur  Treulosigkeit,  zum 
Umsturz  der  öffentlichen  Ordnung,  zur  wahrhaften  Revolution  aufforderten : 
da  verwies  der  damalige  rumänische  Ministerpräsident,  Juon  Bratianu,  die 
Betreffenden  sofort  des  Landes  und  in  der  rumänischen  Kammer  richtete  er 
an  den  interpellirenden  Cogalnicean  die  denkwürdigen  Worte : 

«Wenn  diese  siebenbürgischen  Rumänen  mit  den  Ungarn  etwas  zu 
schUchten  haben,  so  mögen  sie  ihre  Angelegenheiten  auf  dem  Boden  ihres 
eigenen  Vaterlandes  besorgen,  nicht  aber  die  Gastfreundschaft  Rumäniens 
missbrauchen,  nicht  uns  Schwierigkeiten  bereiten  und  Rumänien  Compli- 
cationen  aussetzen,  welche  das  freie  rumänische  Königreich  in  Gefahr 
stürzen  können.» 

Und  Herr  Ciurcu  und  dessen  Genossen  traten  auch  damals  in  unserem 
Namen  auf;  sie  fanden  dort  auf  dem  freien  Boden  Rumäniens  unsere  Uebel- 
stände  unerträgUch,  und  erachteten  es  deshalb  für  gut,  uns  aufzumuntern, 
dass  wir  gegen  unsern  König,  gegen  unser  Vaterland  und  gegen  unsere  Ver- 
fassung die  Waffen  ergreifen  und  unsere  Uebelstände  auf  dem  Wege  der 
rohen  Gewalt  heilen  sollen. 

Kein  Mensch  hatte  Herrn  Ciurcu  und  dessen  Genossen  gebeten,  dass 
sie  uns,  die  wir  unserem  Könige,  unserem  Vaterlande  und  unseren  Institu- 
tionen treu  ergeben  sind,  auf  solch  rohe  Art  compromittiren,  und  Niemand 
hat  in  Siebenbürgen  auch  nur  einen  Pinger  gerührt  in  Folge  jener  Procla- 
mation, welche  in  vielen  tausend  Exemplaren  über  unsere  Grenzen  und  im 
ganzen  gebildeten  Europa  verbreitet  worden  ist. 

So  lange  Juon  Bratianu  als  erster  Ratgeber  des  rumänischen  Königs 
fungirte,  schien  es  in  der  Tbat,  als  ob  Rumänien  seinen  Beruf  erkannt  habe 
und  sich  um  seine  eigenen  Angelegenheiten  bekümmere. 

Im  Jahre  1888  wurde  die  Macht  Juon  Bratianu's  durch  die  rohe  Gewalt 
auf  inconstitutionellem  Wege  und  in  verfassungswidriger  Art  gebrochen. 


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DER  BUKUKB8TER  ÜNIYBBSITÄTS'JÜGBND.  379 

Die  nach  dem  «Memorandum»  als  «Wächter  der  Civilisation  und  der  Ord- 
nung» waltenden  Humanen  rüsteten  sich  mit  Stöcken,  Mistgabeln  und 
Sohiesswaffen,  drangen  in  das  Abgeordnetenhaus,  schössen  den  Saalwächter 
nieder,  trieben  die  Regierung  und  das  Parlament  auseinander  und  schlugen 
dem  Könige  die  Fenster  ein.  Die  Männer  der  «Civilisation  und  der  Ord- 
nung» forderten  im  Namen  des  russischen  Czars  Grund  und  Boden,  zer- 
rissen ihre  eigene  Verfassung  gleich  einem  unnützen  Papierfetzen,  der  nur 
so  lange  Wert  hat,  als  die  Altconservativen  das  liberale  Bumänien  regieren. 

Die  Legislative,  die  Regierung  und  der  König  wurden  terronsirt,  und 
mitten  im  Frieden  auf  den  Ministerpräsidenten  Juon  Bratianu  der  mörde- 
rische Revolver  abgefeuert  —  einzig  und  allein  aus  Partei-Interesse  —  und 
dann  übernahmen  die  Regierung  Catargiu  und  seine  Gefährten,  eben  die- 
selben Leute,  welche  diese  argen  Verletzungen  der  Constitution  vollbracht 
hatten  und  die  in  Rumänien  auch  jetzt  noch  auf  ungesetzlichem  Wege  die 
Macht  im  Besitz  haben. 

Und  seitdem  Juon  Bratianu,  der  Führer  der  Liberalen,  den  Minister- 
■stuhl  verlassen  hat,  ist  Rumänien  der  Sammelplatz  vieler  zweifelhafter  £xi- 
jitenzen  und  gefährUcher  Strömungen  geworden.  Allerlei  Unkraut  wuchert 
empor  und  gedeiht  hier  üppig. 

Die  aufeinanderfolgenden  schwachen  Regierungen  wagten  es  nicht, 
der  chauvinistischen,  besser  gesagt :  der  irredentistischen  Strömung  ent- 
gegenzutreten, welche  Juon  Bratianu  gebrochen  hatte,  und  sie  wagten  den 
Widerstand  schon  deshalb  nicht,  weil  sie  uns  gerne  compromittiren  und  in 
solchem  Lichte  darstellen  wollten,  als  ob  wir  siebenbürgische  Rumänen  mit 
nnseren  sämmtlichen  Bischöfen  und  unserer  ganzen  Intelligenz  den  russi- 
schen Interessen  dienenden  rumänischen  Regierungen  zur  Verfügung  stehen 
-würden. 

Man  errichtete  die  Liga,  gab  das  Memorandum  heraus,  arbeitete  mit 
Einem  Worte  in  unserem  Namen,  compromittirte  uns  auf  Schritt  und  Tritt 
vor  Europa,  vor  imseren  ungarischen  Mitbürgern,  um  uns  die  Rückzugs - 
wege  abzuschneiden  und  damit  wir  uns  gänzlich  in  jenem  russischen  Kreise 
bewegen ;  uns  griechische  Katholiken  und  freie  Bürger  eines  selbständigen, 
anderen  Landes,  bei  denen  nichts  so  grossen  Ekel  erregt  als  jenes  Spiel, 
-das  Catargiu  und  seine  Gesinnungsgenossen  mit  dem  rumänischen  Ele- 
mente im  Interesse  des  Slavismus  treiben. 

Wir  haben  zu  diesen  Umtrieben  Niemandem  eine  Vollmacht  gegeben, 
hiezu  Niemanden  ermuntert.  Weder  unsere  Bischöfe  noch  der  rumänische 
Grundbesitz  oder  das  rumänische  Volk  Siebenbürgens  überhaupt  haben 
-eine  Verbindung  mit  der  Liga  oder  mit  den  Verfassern  oder  Verbreitern  des 
«Memorandums»  imd  ich  gestehe,  dass  die  siebenbürgischen Rumänen  dieses 
«Memorandum»  mit  Entrüstung  aufgenommen  haben,  nicht  blos  darum, 
weil  sie  hiezu  keinem  Menschen  ein  Mandat  erteilt  haben,  sondern  auch 

24* 


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3^  EINE    ANTWOBT  AUF   DIE   DBNKBOHRIFT 

deshalb,  weil  darin  über  ihren  König  in  unehrerbietiger  Weise  gesprochen  p 
weil  da  unsere  Bischöfe  beschimpft,  unsere  constitutionellen,  freien  Insti- 
tutionen verkleinert  und  über  Zustände  und  Verhältnisse,  die  nicht  exi- 
stiren  und  überhaupt  nicht  vorhanden  waren,  lügenhafte  Mitteilungen  ver- 
breitet werden. 

Wir,  die  wir  hier  auf  dem  Boden  des  ungarischen  Staates  ebenso  gute 
Rumänen  als  aufrichtige  Patrioten  und  getreue  Unterthanen  sind  und  bleiben 
wollen,  —  wir  müssen  gegen  solche  Verleumdungen  und  Missbräuche  Protest 
erheben;  müssen  vorGtott  und  der  Welt  erklären,  dass  wir  mit  diesem  zur 
Treulosigkeit  aufreizenden  Elemente  keinerlei  Gemeinschaft  haben.  Zwischen 
den  Ungarn  und  den  Bumänen  können  Missverständnisse ,  vielleicht  auch 
Gonflicte  oder  sonstige  Unannehmlichkeiten  obwalten ;  fehlt  es  doch  an 
solchen  auch  bei  Euch  nicht,  die  Ihr  heute  der  russischen,  morgen  der  deut- 
schen und  dann  wieder  der  rumänischen  Richtung  gefolgt  seid :  —  aber  jene 
Misshelligkeiten  sind  dann  ausschliesslich  unsere  Sache.  Wir  gleichen  die- 
selben aus  oder  legen  sie  hier  zu  Hause  bei ;  uns  ist  ja  hiezu  kein  Weg  ver- 
schlossen. Wir  können  uns  versammeln,  können  die  Angelegenheiten  bespre- 
chen, können  schreiben,  denn  wir  haben  eine  freie  Presse.  Die  Erledigung 
unserer  internen  Angelegenheiten  übertragen  wir  also  weder  auf  Europa, 
noch  weniger  auf  Euch,  Bukurester  JüngUnge.  Wir  haben  unser  National- 
Comite  in  Hermannstadt ;  wir  haben  unser  Parlament,  unsere  Krone,  unsere 
Regierung ;  haben  unsere  Politiker,  die  niemals  bei  den  Jünglingen  Rumä- 
niens um  Hilfe  und  Beistand  angesucht  haben. 

Und  dieser  Entrüstung  wurde  von  Seiten  des  sieben  bürgischen  Ru- 
mänentums  auch  bereits  Ausdruck  verliehen.  Nach  Befragung  des  rumä- 
nischen «National-Comit^s»  in  Hermannstadt  äusserte  Kornel  Diakonovics, 
der  Herausgeber  der  §  Romanischen  Revue»  (1891,  8.  166)  «zur  Steuer  der 
Wahrheit  offen»,  dass  «die  Verfasser  des  Memorandum  mit  den  in  dem- 
selben angeführten  concreten  Fällen  nicht  immer  die  glücklichste  Wahl 
getroffen  haben»  und  dass  man  in  den  Ausführungen  «den  ruhigen  und 
würdigen  Ton»  mitunter  vermisse.  Es  sei  dies  übrigens  auch  schon  aus  dem 
Grunde  leicht  erklärlich,  «da  ja  die  Bukurester  Kreise  ihre  Informationen 
über  die  Lage  der  Dinge  in  Ungarn  und  Siebenbürgen  von  jenen  Elementen 
erhalten,  welche  ausgewandert  sind,  und  von  denen  man  ein  unbeeinflusstes 
ruhiges  Urteil  nicht  erwarten  kann.» 

Auch  selbst  das  rumänische  Tagblatt,  die  «Tribuna»  in  Hermannstadt 
anerkennt  (1891,  Nr.  65)  die  Incorrectheit  der  Daten  des  «Memorandums»  ; 
aber  im  Solde  einer  unmoralischen  und  vaterlandsverräterischen  Politik 
stehend  giebt  sie  uns  den  Rat,  dass  wir  über  die  Lügen  des  «Memoran- 
dums» «aus  Taktik»  schweigen  sollen.  Das  ist  Unmoral;  eine  solche  Moral 
ist  nur  für  die  Kreise  der  «Tribuna»  massgebend.  Wir  können  weder  «aus 
Taktik»   noch  aus  anderen  Gesichtspunkten  schweigen.  Nein!   Denn  wir 


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DBB  BUEUEESTER   ÜNIVEBSITÄTS-JUOEND.  381 

gestatten  die  Lügen  nicht  und  lassen  es  nicht  zn,  dass  man  uns  siebenbür- 
gische  Rumänen  besudelt.  Wir  wollen  nicht  um  den  Preis  von  Lügen  vor 
Europa  einen  zweifelhaften  Erfolg  erringen.  Wir  Bumänen  bilden  hier  keine 
Maffia,  keine  unsittliche  Geheim -Gesellschaft,  deren  Mitglieder  für  ihre 
eigenen  Ausschreitungen  und  Vergehungen  Solidarität  und  ewiges  Schweigen 
gelobt  haben.  Wäre  das  die  freie  Meinungs-Aeusserung?  Wir  sollen  des- 
halb Blindheit;  Stummheit,  geduldige  Einfältigkeit  heucheln,  weil  die 
•Taktik»  irgend  eines  Menschen  dieses  fordert? 

Das  •  Memorandum»  wird  daher  in  Ungarn  von  allen  Bumänen,  die 
Männer  der  «Tribuna»  ausgenommen,  verurteilt.  Wir  verurteilen  dasselbe, 
weil  es  unsere  Angelegenheit  compromittirt  und  unsere  Lage  wie  unsere 
gesellschaftlichen  Berührungen  erschwert. 

Diese  wiederholte  Beschämung,  diese  wiederholte  Verletzung  unseres 
Patriotismus  und  unserer  Loyalität  weisen  wir  zurück. 

So  viel  zur  Einleitung.  Als  Bumäne  und  als  ungarischer  Staatsbürger 
spreche  ich  nun  zu  der  Bukurester  rumänischen  Jugend. 

II. 

Brüder,  Nachbarn !  Wir  siebenbürgische  Bumänen  haben  das  •  Memo- 
randum» erhalten  und  gelesen,  welches  Ihr,  die  Bürger  der  jüngsten  Uni- 
versität in  Europa,  in  mehreren  Sprachen  veröffenthcht  habt,  um  eine 
«Anomaliet  bekannt  zu  machen,  welche  die  ernste  Aufmerksamkeit  aller 
Jener  erheischt,  die  sich  für  den  socialen  Fortschritt  unseres  Continents 
interessiren.  Nach  Eurer  Ansicht  handelt  es  sich  «um  einen  unglückseligen 
Conflict,  welcher  im  Schosse  der  österreichisch-ungarischen  Monarchie  zwi- 
schen den  culturellen  und  vermöge  ihrer  humanen  und  liberalen  Tendenzeü 
durchaus  modernen  Bestrebungen  der  Bumänen  einerseits  und  der  seitens 
der  magyarischen  Nation  sich  entgegenstellenden,  für  unsere  europäische 
Denkart  jedoch  fremdartig  beschaffenen  Gegenströmung  andererseits,  zum 
Ausbruche  gelangt  ist.t  Und  Ihr  habt  darum  das  Wort  erhoben,  weil  Ihr 
besorget,  dass  dieser  «verderbliche  Zwiespalt  Gomplicationen  nach  sich 
ziehen  könnte,  deren  Tragweite  zur  Stunde  nicht  vorauserwogen  werden 
kann.» 

Wir  Bumänen  in  Ungarn  freuen  uns  ungemein  darüber,  dass  im  kaum 
dreizehnten  Jahre  Eurer  Unabhängigkeit  und  staatlichen  Selbsständigkeit  Ihr 
bereits  so  sehr  erstarkt  seid,  dass  Ihr  Eure  Verwaltung,  Justiz-,  Unterrichts-, 
Heeres-,  Industrie-  und  Handels-Angelegenheiten  bereits  derart  geregelt, 
Bure  social  en  Probleme  schon  fo  weit  gelöst,  Eure  Sprache  und  Literatur 
bereichert,  Eure  Beziehungen  zu  den  fremden  Staaten  geordnet  habt;  dass 
Ihr  mit  einem  Worte,  bei  Euch  zu  Hause  auf  allen  Grebieten  bereits  auf 
so  festen  Füssen  steht,  dass  Euch  nichts  Anderes  mehr  übrig  bleibt,  als  Euch 


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^2  ÄINE    ANTWORT  AUF  DIB   DENKSCHRIFT 

in  die  inneren  Angelegenheiten  eines  benachbarten,  für  Euch  fremden, 
obwohl  befreundeten  Grossstaates  einzumischen,  um  da  einzelne  interne 
Fragen  lösen  zu  wollen.  Unsere  Freude  ist  hierbei  um  so  grösser,  als  Ihr, 
wie  es  scheint,  unsere  Brüder  in  Bessarabien,  in  Mazedonien,  im  Epirur 
u.  s.  w.  für  vollkommen  glücklich  haltet;  dass  Ihr  Euch  bereits  davon  über- 
zeugt habet,  wie  die  russische,  die  griechische  und  die  türkische  Herrschaft 
im  Einzelnen  in  der  Unterstützung  der  rumänischen  Aspirationen  wett- 
eifern, und  dass  einzig  und  allein  die  ungarische  Herrschaft  es  ist,  die  das 
rumänische  Element  mit  dem  Untergänge  bedroht. 

Wir  erkennen  Niemandem,  und  sei  er  auch  ein  Rumäne,  das  Recht 
zu,  sich  in  unsere  inneren  Angelegenheiten  einzumengen.  Um  so  weniger 
gestehen  wir  dieses  Recht  Euch  zu,  die  Ihr  Euch  im  Glänze  des  ungarischen 
Staates  gesonnt  und  die  Fundamente  Eurer  heutigen  Cultur  von  uns  erhal- 
ten habt.  Eher  einem  Andern,  aber  Euch  um  keinen  Preis  können  wir  das 
Recht  einräumen,  über  unsere  Cultur,  unsere  Einrichtungen  und  Zustände 
Kritik  zu  üben ;  denn  Eure  Leidenschaften  und  Vorurteile  machen  Euch 
nicht  nur  blind  für  Alles,  was  ungarisch  ist,  sondern  Eure  Cultur  ist  auch 
noch  nicht  so  weit  entwickelt,  dass  Ihr  die  freiheitlichen  Institutionen  des 
ungarischen  Staates  in  ihrem  Wesen  auffassen  und  begreifen  könnet.  Wir 
mengen  uns  nicht  in  Eure  inneren  Angelegenheiten ;  seit  den  dreizehn  Jah- 
ren, als  Ihr  einen  unabhängigen  Staat  bildet,  haben  wir  diese  Unabhängig- 
keit stets  respectirt.  Ihr  aber  handelt  nicht  auf  gleiche  Weise  und  es  reift 
dadurch  in  uns  der  Gedanke,  dass  Ihr  wegen  Eurer  Jugend  noch  nicht  völlig 
im  Reinen  seid  über  die  schuldigen  Verpflichtungen  gegenüber  anderen 
selbstständigen  Staaten.  Obgleich  wir  nun  gegen  eine  solch  unbedachte  und 
unberufene  Einmischung  feierlich  Verwahrung  einlegen,  acceptiren  wir  den- 
noch die  Thatsache  und  treten  derselben  entgegen,  denn  wir  glauben,  dass  es 
im  Interesse  des  Gemeinwohles  und  ebenso  im  Interesse  des  Rumänentums 
liege,  wenn  vrir  die  Situation  beleuchten  und  die  europäische  öflfentliche 
Meinung  durch  die  Mitteilung  des  wahren  Thatbestandes  gehörig  informiren. 

In  jedem  Falle  erachten  auch  wir  es  für  notwendig  und  wichtig,  dass 
alle  Jene,  die  zur  Beurteilung  und  Analysirung  der  socialen  Fragen  in  der 
Gegenwart  berufen  sind,  mit  Allem,  was  auf  diesem  civilisirten  Continent 
geschieht,  auch  in  den  Einzelheiten  und  Details  vertraut  seien  und  wir  legen 
deswegen  ein  Gewicht  darauf,  weil  diese  Berufenen  auf  solche  Weise  erfah- 
ren, dass  Ihr  Euch  mit  der  Aufwühlung  der  geordneten  Verhältnisse  Ande- 
rer befasset,  während  es  doch  bei  Euch  zu  Lande  genug  zu  ordnen  gibt,  und 
dass  Ihr  mit  Eurer  Mission  im  Oriente  nicht  völlig  im  Reinen  seid  und 
weder  den  europäischen  Interessen  auf  entsprechende  Weise  dienet,  noch 
den  ausserordentlichen  Nutzen  des  Friedens  aufcsufassen  wisset  So  wird  ea 
klar  und  aller  Welt  offenbar,  dass  Ihr  mit  Eurer  dreizehnjährigen  Unabhän- 
gigkeit, mit  Eurer  fünfundzvvanzigjährigen  Verfassung,  mit  unentwickelten 


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DER   BUKURBSTEB  UNIVBRSITÄTB-JXJGBND.  ^^ 

Einrichtungen  und  mit  Eurer  primitiven  Gultur  gar  kein  Becbt  habt  uns  zu 
beurteilen^  die  wir  eine  tausendjährige  Verfassung  besitzen  und  die  wir  seit 
vielen  Jahrhunderten  an  der  Seite  der  Magyaren  im  Dienste  der  europäi- 
schen Givilisation^  der  freiheitlichen  Ideen  und  des  Constitutionalismus 
stehen. 

Die  Gerechtigkeit  unserer  Angelegenheit  hat  Niemanden  und  Nichts 
zu  fürchten.  Während  Ihr  diese  Euch  unbekannte  oder  von  Euch  nie  ver- 
standene Frage  mit  dem  düstem  und  schwankenden  Scheine  Eures  Lämp- 
chens  zu  beleuchten  suchet,  werde  ich  im  vollen  TagesUchte  arbeiten  und 
die  Sache  in  ihrer  vollen  Gestalt  darstellen.  Wir  wollen  nichts  Anderes,  als 
die  Situation  klären,  welche  auch  für  Euch  bisher  im  Dunkeln  geblieben 
ist.  Und  diese  unsere  Arbeit  wird  leicht  sein.  Wir  fähren  die  Thatsachen  auf 
den  Schauplatz  und  diese  werden  sprechen,  die  Erklärung  aber  finde 
der  urteilende  Bichter,  das  Publicum  selbst.  Wir  werden  Eurem  Memoran- 
dum Schritt  für  Schritt  folgen  und  uns  klar  und  deuüich  ausdrücken.  Wir 
nehmen  keine  rhetorischen  Kunstgriffe  zu  Hilfe,  um  solche  Behauptungen 
aufrechtzuerhalten,  welche  den  Thatsachen,  der  Wahrheit  nicht  entsprechen 
würden. 

Und  was  in  dieser  Frage  die  Hauptsache  ist :  Wir  werden  unsere  eige- 
nen rumänischen  Quellen  benützen,  damit  man  uns  nicht  beschuldigen 
könne,  wir  seien  den  befangenen  ungarischen  Quellen  gefolgt,  gleichwie  Ihr 
nur  den  rumänischen,  befangenen  Quellen,  welche  die  Wahrheit  absichtlich 
entstellt  haben,  gefolgt  seid. 

Wir  thun  dies  deshalb,  weil  wir  wünschen,  dass  in  der  Sache  Klarheit 
werde.  Der  Gebildete,  dessen  sind  wir  gewiss,  wird  diese  offene  und  wahre 
Beleuchtung  der  Dinge  und  Zustände  von  Seite  der  dabei  wirklich  Interes- 
sirten^  nämlich  seitens  des  siebenbürgischen  Bumänentums,  mit  Interesse 
und  Sympathie  entgegennehmen. 

Wir,  die  wir  inmitten  der  Zustände  leben,  können  doch  eher  auf  Glau^ 
ben  und  Vertrauen  rechnen,  als  Ihr  dort  in  der  Ferne,  die  Ihr  von  böswilli- 
gen Personen  Eure  Informationen  empfangen  habt.  Diese  Personen  sind 
hasserfüllten  Herzens  von  hier  geschieden ;  sie  führen  den  Hass  auch  gegen 
das  eigene  Blut.  Darum  beschimpft  das  «Memorandum»  auch  unsem  rumä- 
nischen Glerus  in  schonungsloser  Weise. 


in. 

Vor  Allem  muss  man  mit  einer  Frage  ins  ßeine  kommen,  welche  in 
dem  «Memorandum»  aufgeworfen  ist,  welche  unser  ganzes  Wesen  erfasst 
und  die  uns  auch  gegenüber  den  bisherigen  Ergebnissen  der  Geschichte 
befangen  und  blind  gemacht  hat. 


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3^  EINE    ANTWORT  AUF   DIE   DENKSOHRIFT 

Diese  Frage  ist  jene  nach  der  römischen  und  dacischen  Herkunft  des 
rumänischen  Volkes. 

In  dem  «Memorandum»  verbindet  Ihr  die  Geschichte  des  rumänischen 
Volkes  mit  der  Geschichte  der  Römer.  Die  dacische  Geschichte  der  Bömer 
setzt  Ihr  in  der  Geschichte  des  rumänischen  Volkes  fort;  diese  beiden  sind 
darnach  im  Grunde  genommen  nur  Eins ;  die  dacische  Herrschaft  der  Bö- 
mer  hat  nach  dem  «Memorandum»  niemals  aufgehört,  sondern  ihre  Fort- 
setzung in  der  Herrschaft  der  Rumänen  erhalten. 

Und  diese  rumänische  Besitzergreifung  auf  fabelhaftem  Wege  wird 
mit  grosser  Vorliebe  festgehalten.  Asiatische  Völker  kommen  und  gehen, 
aber  das  rumänische  Volk  bleibt  nach  deren  Abzug  stets  Besitzer  in 
Dacien.  Die  Herrschaft  der  Gothen,  der  Hunnen,  der  Avaren  bedeutet  gar 
nichts;  das  rumänische  Volk  befindet  sich  stets  hier  in  Siebenbürgen, 
beziehungsweise  in  Dacien,  wo  uns  die  Magyaren  zu  Ende  des  neunten 
Jahrhunderts  angeblich  vorfinden. 

Ihr  beginnt  die  Geschichte  der  Rumänen  mit  dem  Jahre  106  n.  Chr. 
und  behauptet,  dass  dieses  Land  uns  gehöre,  weil  es  im  Jahre  106  den  Rö- 
mern gehört  hat  und  wir  es  seither  dauernd  im  Besitz  haben. 

Und  Ihr  rühmet  Euch  staxk  mit  der  Latinität  und  mit  der  römischen 
Abkunft  des  rumänischen  Volkes,  das  im  Osten  das  erste  Volk  sei,  einzig 
und  allein  aus  dem  Grunde,  weil  wir  angeblich  die  Nachkommen  der  Rö- 
mer seien. 

Mit  dieser  römischen  Abkunft  befinden  wir  uns  in  derselben  Lage  wie 
die  Neger  Afrika*»  mit  den  farbigen  Glasstücken  der  Reisenden.  Diese 
unnützen,  wertlosen  Waaren  werden  über  Alles  geschätzt  und  wer  sie 
besitzt,  ist  überaus  glücklich.  Dieses  Nichts  macht  den  Neger  hochfahrend, 
herausfordernd ;  denn  er  sieht  durch  diese  Glasscherben  die  Welt  grün,  rot 
oder  gelb.  Diese  Täuschung  ist  ihm  aber  vor  Allem  angenehm. 

Ihr  da  drüben  im  rumänischen  Königreiche  schlaget  stolz  an  Eure 
Brust  und  ruft  vor  Europa  aus,  dass  Ihr  «Römer»  seid. 

Die  Franzosen,  die  Italiener  und  die  Spanier  besitzen  zusammen  nicht 
so  viel  Hochmut,  als  in  einem  der  Unterzeichner  dieses  «Memorandums» 
hinsichtlich  seiner  Abstammung  vorhanden  ist. 

Aber  Ihr  tretet  nicht  vor  Europa  mit  den  Beweisen  dafür,  wie  Ihr 
Eure  Pflichten  gegen  die  ruhmvollen  Ahnen  erfüllt  habt.  Denn  nach  geläu- 
terten Anschauungen  verleiht  die  rühmliche  Herkunft  nicht  nur  Rechte, 
sondern  sie  legt  den  Abkömmlingen  auch  Pflichten  auf.  Und  wie  habt  Ihr 
diese  Pflichten  gegen  die  ruhmvollen  Römer  erfüllt,  wie  erfüllet  Ihr  sie 
heute  ? 

Worin  äussert  sich  Eure  Latinität,  wie  habt  Ihr  bisher  dem  Latinis- 
mus gedient  ? 

Ihr  habt  ihn  immer  gehasst !  Ihr  dort  auf  dem  Balkan  und  in  den 


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DER  BUKURBSTBR  UNTVERSITÄTS-JÜGEND.  385 

mmänischen  Fürstentümern  seid  zu  Slaven,  zu  Griechen  geworden ;  Ihr  habt 
Eure  Kleidertracht  abgelegt,  Eure  Sprache  weggeworfen,  den  römischen 
Glauben  der  Ahnen  verläugnet;  Ihr  habt  mit  Bom,  dem  Centrum  des  gebil- 
deten Westens  und  dem  eifrigen  Pfleger  des  Latinismus  jede  Verbindung 
angegeben,  die  Schrift  der  Bömer  weggeworfen  und  die  (slavische)  Cyrillica, 
resp.  die  Glagolitika  angenommen ;  Ihr  seid  in  Eurer  Seele,  in  Eurem  Her- 
zen, in  Eurem  Denken  Slaven  und  Griechen  geworden  und  nichts  Bömisches 
ist  in  Euch  geblieben. 

Schmach,  tausendfache  Schmach!  Den  Namen  des  «Bomanen»  («Rö- 
mersi)  habt  Ihr  beschmutzt,  indem  Ihr  den  Sklaven,  den  Hörigen  «Bumänet 
(«rumäni)  genannt  habt,  wahrlich  zur  grösseren  Verherrlichung  der  ruhm- 
vollen römischen  Ahnen!  (Vergl.  Conv.-Lit.  1887,  p.  10). 

Und  wie  erfüllet  Ihr  heute  in  Rumänien  Eure  Pflichten  gegen  den 
Latinismus?  Ihr  seid  der  Interessensphäre  des  Slavismus  verfallen.  Eure 
Eeligion  ist  jene  der  slavischen  Welt ;  krampfhaft  haltet  Ihr  deshalb  an  dem 
Aberglauben  des  Slaventums,  an  den  aus  Moskau  und  Kiew  durch  Bussen 
importirten  slavischen  Heiligenbildern  fest ;  Ihr  könnt  Euch  nicht  befreien 
aus  den  Traditionen  des  Slaventums,  weil  Ihr  Euch  daraus  nicht  befreien 
livollet ;  Eure  Kirche,  die  Kirche  des  freieü  und  unabhängigen  Bumäniens  ist 
noch  heute  nicht  geschützt  vor  den  Einmischungen  Constantinopels  (s.  Bi- 
sericä  fi  scoalä  d,  i.  Kirche  und  Schule  VII.  Jahrg.  Nr.  1 — 5).  Auf  diesem 
Gebiete  habt  Ihr  gar  keine  Berührungspunkte  mit  dem  gebildeten  Europa. 
Ihr  geht  wallfahrten  nach  Moskau  und  Kiew  und  lähmet  Euren  Geist  mit 
den  für  die  Nachkommen  Eoms  so  gefährlichen  Thorheiten  des  Slavismus. 

Was  sagte  doch  Titus  Maioreseu?  «Die  grösste  Sünde  in  der  heutigen 
Bichtung  unserer  Cultur  ist  die  Lüge.  Die  Lüge  in  den  Aspirationen,  die 
Lüge  in  der  Politik,  in  der  Dichtung,  in  der  Grammatik  und  in  allen  Kund- 
gebungen des  öffentlichen  Geistes.»  («Critice»  p.  327).  und  wieder:  «Ohne 
Cultur  kann  ein  Volk  existiren,  aber  mit  einer  falschen  Cultur  kommt  es 
zu  Fall.i 

Und  was  sagt  er  über  Euch,  den  «Stolz  des  rumänischen  Volkes»  ? 

«Ein  Teil  unserer  Jugend  beschäftigt  sich  mit  der  Erzeugung  litera- 
rischer Makulatur,  der  andere  Teil  vergeudet  mit  dem  Lesen  derselben  die 
Zeit. » 

«Mit  der  römischen  Abstammung  oder  mit  den  Schlagwörtern» :  «Mi- 
haiu  viteazul»  («Michael  der  Tapfere»)*  und  «Stefan  celmare»  («Stefan  der 
Grosse»)  **  kann  man  die  Geistesarmut  und  unsere  Unwissenheit  nicht  ver- 
decken.» (Am  a.  a.  0.  p.  385,  430). 

Und  wer  war  dieser  Mann,  der  es  gewagt,  in  solchem  Tone  zu  Euch 

*  Wojvod  der  Wallache!  von  1593—1601. 
=^*  Wojvod  der  Moldau  von  1458—149:2. 

ünguitohe  B«Tae,  XI.  1891.  V.  Heft  "^ 


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386 


EINB    ANTWORT   AUF   DIE    DENKSCHRIFT 


ZU  sprechen  ?  Auch  diesen  Titus  Maiorescu  haben  wir  Euch  als  eine  Geisel 
gegeben,  damit  er  Euch  aus  jener  Lethargie  herausreisse,  in  der  Ihr  ver- 
sunken wäret.  Jetzt  hält  er  gerade  für  Euch  Vorlesungen  an  der  Bukurester 
Universität ;  fraget  ihn  doch,  dem  Ihr  ja  täglich  begegnet,  was  ihn  zum  Aus- 
sprechen dieser  bitteren  Wahrheiten  bewogen  hat.  Und  Ihr  habt  trotz  dieser 
•  Wahrsprüche  ihn  dreimal  zum  Minister  gemacht ;  freilich,  stand  Rumänien 
damals  nicht  im  Dienste  der  russischen  Clique  eines  Catargiu,  sondern  es 
neigte  in  seinen  Beformen  wie  in  anderen  Aeusserungen  des  öffentlichen 
Geistes  dem  gebildeten  Westen  zu. 

Wozu  also  das  viele  Prahlen  mit  der  römischen  Abkunft,  welche  Ihr 
auch  jetzt  auf  Schritt  und  Tritt  verleugnet?  Warum  bedeckt  Ihr  Eure  nackten 
Glieder  mit  dieser  Phrase,  die  Eure  Nacktheit  noch  auffallender  macht  ? 
Warum  wollt  Ihr  nicht  lieber  durch  ernste  Arbeit,  durch  moderne  Institu- 
tionen thatsächlich  dem  Latinismus  der  europäischen  Cultur  dienen  ?  Gebt 
lieber  ein  Stück  Boden  jenem  rumänischen  Nachkommen,  der  um  dessent- 
willen  auf  die  schillernden  Glasscherben  der  Abstammung  für  immer  Ver- 
zicht leistet. 

Ich  werde  beweisen,  dass  wir  hier  auf  dem  Gebiete  des  ungarischen 
Staates,  an  der  Seite  der  ungarischen  Nation  dem  Latinismus  treuer  gedient 
haben  als  Ihr  dort  im  freien  Rumänien,  und  dass  die  Idee  des  Latinismus 
uns  weder  der  Slave  noch  der  Grieche,  sondern  der  Magyar  mitgeteilt  hat. 
Zur  Pflege  der  lateinischen  Tendenzen  hat  uns  weder  der  Slave  noch  der 
Grieche,  sondern  der  Magyar  ermuntert,  sowie  der  Magyar  auch  unpere 
Sprache  von  der  slavischen  und  griechischen  Sklaverei  befreit  hat ;  die  Ma- 
gyaren errichteten  uns  Buchdruckereien,  jene  Magyaren,  von  denen  Ihr 
behauptet,  dass  sie  ein  wildes  Asiatenvolk  seien,  welches  in  den  Rahmen 
Europas  nicht  hineinpasse. 

Die  Theorie  von  der  dacischen  Abkunft  des  rumänischen  Volkes  haben 
die  magyarischen  Historiker  in  Anregimg  gebracht ;  denn  diese  ganze  Theorie 
beruht  auf  der  Erzählung  des  «Anonymus»  eines  Königs  Bela  von  der 
Besitzergreifung  des  Landes  durch  die  Magyaren  (vgl.  Endlicher,  Anonymi 
Belae  regis  notarii  de  gestis  hungarorum  liber,  p.  138 — 145).  Ihm  folgten  die 
Magyaren  auch  in  der  Aufstellung  unserer  römischen  Abstammung.  Gostin 
Miron  und  die  Chronisten  der  rumänischen  Fürstentümer  (um  1630 — 1690} 
benützten  zu  ihren  Arbeiten  ungarische  Quellen,  denen  auch  Georg  Sinkav, 
der  die  dakoromanische  Herkunft  zum  Dogma  erhob,  nachfolgte,  als  er  zu 
Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  seine  «Cronica»  schrieb,  welche  von  den 
rumänischen  Historikern  als  heilige  Schrift  betrachtet  wird. 

Also  die  Magyaren  regten  diese  Abstammungstheorie  an  und  nicht  Ma- 
gyaren waren  es,  die  den  balkanischen  Ursprung  der  Rumänen  entdeckten. 
Diese  Ansicht  von  der  balkanischen  Herkunft  stammt  von  den  Deutschen 
und  wurde  in  den  letzten  Decennien  des  vorigen  Jahrhunderts  von  ihnen  in 


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DER  BTJKURE8TER  UNFVERSITÄTS-JUGEND.  -^87 

Verkehr  gesetzt.  Die  Deutschen  machten  hierüber  weitere  Forschungen  und 
hielten  diese  Theorie  aufrecht.  Schon  Thunmann  («Untersuchungen  über  die 
Geschichte  der  östlichen  europäischen  Völker»,  1774)  begann  zu  zweifeln;  der 
Zweifel  verwandelte  sich  später  in  Glauben,  der  für  unwiderlegbar  gehalten 
wurde  (Vgl.  Dr.  Josef  Sulzer  «Geschichte  des  transalpinischen  Daciens». 
Wien,  1781,  Bd.  I.  p.  101—114.  —  Auch  Engel  «Geschichte  der  Moldau 
und  Walachei»,  Halle  1804).  Nach  den  Zeugnissen  der  rumänischen  Sprache 
und  der  Geschichte  stammt  Sprache  und  Volk  der  Rumänen  von  der  Bal- 
kanhalbinsel. 

Die  rumänischen  Historiker  haben  bisher  alle  Bibliotheken  der  Welt 
durchforscht,  die  griechischen  Schriftsteiler  von  oben  bis  unten  untersucht, 
aber  dennoch  kein  einziges  Datum  gefunden,  welches  für  die  dacische  Ab- 
kunft der  Rumänen  sprechen  würde.  Der  Gestaltungsprozess  der  rumäni- 
schen Sprache  ist  bekannt,  wir  kennen  jedes  einzelne  ihrer  Gesetze,  den 
Ursprung  eines  jeden  Wortes ;  allein  in  dieser  Sprache  findet  man  kein 
einziges  Zeugniss,  welches  unsere  dacische  Abstammung  documentiren 
würde. 

Allerdings  hat  Trajan  Dacien  erobert  und  es  haben  die  Römer  hier 
geherrscht ;  aber  mit  dem  Ende  des  HI.  Jahrhunderts  hören  in  Siebenbürgen 
die  römischen  Denkmale  auf  und  kein  einziger  Stein  bekundet  weiter,  dass 
dieses  Land  im  römischen  Besitz  gewesen  sei.  In  unserer  Sprache  gibt  es 
kein  einziges  Wort,  welches  zu  Gunsten  der  dacischen  Abkunft  sprechen 
würde.  Femer :  Ist  es  möglich,  dass  in  Siebenbürgen,  in  Dacien  das  rumä- 
nische Volk  mehr  als  sechshundert  Jahre  hindurch  so  fortleben  konnte,  ohne 
ein  einziges  Lebenszeichen  von  sich  zu  geben,  dass  es  von  den  daselbst  woh- 
nenden Göthen,  Hunnen  und  den  durchziehenden  Völkern  auch  nicht  ein 
einziges  Wort  entlehnen  sollte  ? 

Nach  den  Zeugnissen  der  Geschichte  erscheint  das  rumänisohe  Volk 
zuerst  auf  der  Balkanhalbinsel.  In  den  griechischen  SchriftsteUem  begegnet 
man  Meldungen  über  die  balkanischen  Rumänen.  Unser  erstes,  handgreif- 
liches Sprachdenkmal  ist  jener  Zuruf:  «Toma,  torna  fratre» !  (um  580  n. 
Chr.),  der  sich  (bei  Theophilaktus  Simocatta)  auf  ein  balkanisches  Ereigniss 
bezieht.  Bei  dem  byzantinischen  Schriftsteller  Procopius  (De  aedificiis)  aus 
der  Zeit  Justinians  begegnet  man  rumänischen  Ortsnamen  an  der  Donau. 
Die  Sprache  selbst  zeigt  in  den  Zahlwörtern  und  beim  Artikel  balkanische 
Erinnerungen  und  Einwirkungen.  Das  ist  unzweifelhaft. 

Und  nachdem  diese  Thatsachen  mit  der  Präcision  des  Einmaleins 
nachgewiesen  sind,  dürfen  wir  jetzt,  da  vor  den  Erfolgen  der  Wissenschaft 
jedes  Volk  sich  beugt,  Märchen  und  Lügen  blos  aus  Taktik  und  politischen 
Gründen  hartnäckig  festhalten  wollen,  um  den  Magyaren  gegenüber  den 
früheren  Besitz  dieses  Landes  behaupten  zu  können  ? 

Man  zeige  mir  aus  der  Geschichte  Siebenbürgens  seit  106  v.  Chr.  ein 

25* 


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388  EINE    ANTWORT   AUF   DIE   DENKSCHRIFT 

einziges  Blatt,  welches  das  rumäDiscbe  Eigentumsrecht  auf  dieses  Land,  die 
rumänische  Herrschaft  und  rumänische  Cultur  bezeugt,  und  ich  gelobe  ewiges 
Verstummen !  Beweiset  Ihr,  die  Ihr  das  behauptet,  dass  Siebenbürgen  im 
Besitze  der  Bumänen  war ;  zeiget  mir  ein  einziges  Gesetz,  einen  einzigen 
Fürsten,  eine  Münze,  eine  Waffenthat,  welche  die  rumänische  Herrschaft,  die 
rumänische  Gesetzgebung  und  Verwaltung  bekundet  und  Ihr  habt  gesiegt! 
Die  Bolle  des  Wojwoden  Michael  (des  Tapfem)  *  in  Siebenbürgen  zählet  nicht 
hierher,  denn  dieser  war  Euer  Fürst,  also  kein  Siebenbürger ;  berufet  Euch 
auf  unsere  rumänische  Herrschaft,  auf  uns  Siebenbürger,  von  denen  Ihr 
behauptet,  dass  wir  dieses  siebenbürgische  Land  als  unser  Eigentum  besessen 
haben.  Ihr  wollet  die  Geschichte  in  dieser  Beziehung  fälschen  mit  der  soge- 
nannten «Chronik  des  Hurul» ;  allein  die  Fälschung  dieser  Chronik  hat  die 
rumänische  Gelehrtenwelt  selbst  ausgesprochen  (Vgl.  Georg  Saulescu  «Cro* 
nica  lui  Huru»  1856.  —  AI.  Urechea,  «Schite  de  ist.  lit.  rom.t  p.  55.) 

Und  weshalb  k  lammern  wir  uns  gerade  an  Siebenbürgen  ?  Warum 
verlangen  wir,  dass  Siebenbürgen  ein  rumänischer  Besitz  sein  soll,  da  dieses 
Land  einst  Besitztum  der  Römer  gewesen  ?  Nach  den  Römern  besassen  es 
die  Gothen,  die  Hunnen,  die  Avaren,  die  Magyaren,  und  dennoch  soll  es 
ein  «römisches»  Besitztum  sein?  Warum  verlangen  wir  nicht  gleich  die 
halbe  Welt;  denn  die  Römer  besassen  ja  einstens  die  Hälfte  der  damals 
bekannten  Erde.  Weshalb  fordern  wir  nicht  lieber  von  Europa  eine  inter- 
nationale Commission,  um  vor  derselben  unsere  Ansprüche  und  Rechte  auf 
den  altrömischen  Besitz,  auf  die  halbe  Welt  nachzuweisen  ?  Es  ist  eine 
Thorheit,  sich  auf  die  Zustände  vom  Jahre  106  zu  berufen.  Sämmtliche 
Staaten  Europa*s  haben  sich  erst  viel  später  zu  entwickeln  begonnen ;  ein- 
zelne Völker  und  Nationen  haben  mit  bewaffneter  Hand  ihr  Land  in  Besitz 
genommen,  dessen  Grenzen  erweitert,  Staaten  gegründet  und  diese  mit  dem 
Rechte  der  Waffengewalt  erobert  und  behauptet.  Nur  Siebenbürgen  sollte 
den  Rumänen  gehören  auf  den  Grund  hin,  dass  es  im  Jahre  106  römisches 
Besitztum  war?! 

Ich  und  mit  mir  die  nüchtern  denkenden  Rumänen  legen  aus  Taktik 
auf  das  Autochthonentum  keinen  Wert.  Wir  acceptiren  die  Resultate  der 
forschenden  Wissenschaft  und  diese  Wissen^^chaft  hat  constatirt,  dass  man 
dem  rumänischen  Volke  die  römischen  Elemente  nicht  abstreiten  könne, 
dass  aber  weder  die  Sprache  noch  das  Volk  dacischen,  sondern  beide  balka- 
nischen Ursprunges  seien. 

Und  was  schadet  diese  Wahrheit  der  Ehre  des  rumänischen  Volkes? 
Nichts,  rein  gar  nichts.  Aber  das  kann  uns  allerdings  in  schlimmer  Weise 
kennzeichnen,  wenn  wir  an  einer  fixen  Idee  leiden,  von  der  uns  Nichts  und 


*  Wojwod  der   Walachei    von    1593 — 1601,    der   im   Jahre  1599  Siebenbürgea 
überfiaDen  und  daselbst  die  fürstliche  Gewalt  usupirt  hat.  D.  R 


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DER   BÜKUBEBTER  UNITER8ITÄTS-JUGBND.  '^^9 

Niemand  befreien  kann ;  wenn  wir  hinsichtlich  unserer  localen  Abstammung 
ein  Falsum  festhalten  und  unsere  Jugend  in  diesem  Falsum  heranziehen. 
Die  Magyaren  haben  einer  edleren  Abstammungstheorie  entsagt  und  die 
finn-ugrische  Verwandtschaft  angenommen ;  die  Verwandtschaft  mit  einem 
armen  Fischervolke,  dessen  man  sich  wahrlich  nicht  berühmen  kann. 

Ganz  zutreffend  charakterisirt  uns  G.  Missail,  wenn  er  sagt:  «Wir 
schreiben  schlecht  Geschichte.  .  .  Wir  schreiten  in  den  alten  Spuren  weiter. 
Was  der  Eine  gesagt  hat,  sagen  wir  Alle  nach ;  wo  der  Eine  geirrt  hat,  irren 
wir  Alle.  Wir  sind  wie  die  Schafe :  Einer  springt  dem  Andern  nach.  Nicht 
forsche,  lieber  Sohn,  sondern  glaube  mirlt  (lEpoca  lui  Vasilie  Lupul», 
p.  7-8.) 


Sind  also  vom  Gesichtspunkte  des  Latinismus  die  Magyaren  unsere 
Gegner?  Nein. 

Als  Ihr  in  Euren  eigenen  Fürstentümern  slavisch  gebetet  und  gesungen 
habt  und  Eure  nationalen  Fürsten  in  slavischer  Sprache  Eure  Angelegen- 
heiten besorgen  Hessen :  haben  wir  hier  in  Ungarn  die  üebersetzung  der 
Kirchenbücher  in  die  rumänische  Sprache  in  Angriff  genommen. 

Schon  zu  Ende  des  XV.  Jahrhunderts  haben  wir  gerade  unter  magya- 
rischem Einflüsse,  der  durch  die  Sprache  bezeugt  wird,  die  üebersetzung 
des  Buches  der  Psalmen  (Psaltirea  Scheiana)  und  mehrerer  Teile  des  neuen 
Testaments  (Codex  Voronetziu)  bewerkstelligt. 

Auch  im  folgenden  Jahrhunderte  habt  Ihr  noch  im  Schlamme  des 
slavischen  und  griechischen  Aberglaubens  gewatet,  habt  mit  Eurem  ganzen 
Dasein  in  einer  orientalischen  Welt  gelebt,  als  wir  die  ersten  Eindrücke  der 
europäischen  Gvilisation  im  Wege  der  Reformation  empfingen,  Bücher  in 
unserer  eigenen  Sprache  drucken  Hessen  und  im  Jahre  1544  der  rumäni- 
schen Literatur  das  erste  gedruckte  Werk  (Katechismus)  lieferten. 

Während  Ihr  nicht  wisset,  auf  welche  Art  die  Volkssprache  in  die 
Kirche  gelangt  ist,  war  es  der  siebenbürgische  Fürst  Georg  Räköczy,  der  im 
Jahre  1643  die  slavische  Sprache  in  den  rumänischen  Kirchen  verbot  und 
an  deren  Stelle  den  Gebrauch  der  rumänischen  Sprache  anordnete.  (Vgl. 
P.  Major,  Ist.  bis.  p.  72  flf.)  Und  dieser  ungarische  Fürst  hatte  im  Jahre 
1638  in  Karlsburg  eine  rumänische  Druckerei  errichtet  und  damit  eine 
zweite  Folge  rumänischer  Bücher  veranlasst. 

Und  was  habt  angesichts  dieser  Thatsachen  Ihr  gethan  ?  Euer  Metro- 
polit in  Bukurest,  Theodosius,  befahl  uns,  dass  wir  in  unseren  Kirchen  den 
(Gebrauch  der  rumänischen  Sprache  nicht  wagen,  sondern  die  früheren 
Zustände  aufrecht  erhalten  sollen  (vgl.  AI.  Urechea,  Schi^.  de  ist.  lit.  rom. 
p.  103 — 104).  Wir  aber  schenkten  Euren  vom  slavischen  und  griechischen 
Geiste  erfüllten  Befehlen  keine  weitere  Beachtung.    Während  Ihr  unter 


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390  EINE    ANTWORT   AUF    DIE   DBNKgCHBIFT 

Euren  Nationalfürsten  Slaven  und  Griechen  wäret  und  Euch  vor  der  euro- 
päischen Civilisation  hermetisch  abgeschlossen  verhieltet :  haben  wir  an  der 
Seite  der  Ungarn  unsere  nationale  Sprache  gepflegt  und  die  Segnungen  der 
westlichen  Gultur  genossen.  Allerdings  habt  auch  Ihr  in  dieser  Zeit  die  Ein- 
führung der  rumänischen  Sprache  in  die  Kirche  ausgesprochen  (Metropolit 
Barlaam  in  Jassy) ;  aber  dieser  Befehl  blieb  ein  todtes  Wort.  Denn  gerade 
damals  errichtete  der  Fürst  Basilius  Lupul  in  Jassy  Schulen  nicht  zur  Pflege 
der  rumänischen,  sondern  der  slavischen  Sprache  und  Hess  hiefür  slaviscbe 
Lehrer  aus  Bussland  bringen. 

Ihr  konntet  nicht  einmal  in  lateinischer  Schrift  lesen  ;  die  lateinischen 
Buchstaben  waren  Euch  noch  völlig  unbekannte  Zeichen  zu  einer  Zeit,  da 
wir  bereits  mit  lateinischen  Lettern  Bücher  herausgaben  und  nach  den 
Anleitungen  der  Ungarn  uns  mit  den  Schriftzeichen  des  gebildeten  Europa 
bekannt  machten  (vgl.  Stef.  Fogarasi^  Kathechismus,  1648). 

Ihr  hieltet  krampfhaft  fest  an  sämmtlichen  Traditionen  des  Slavismus 
und  des  Byzantinismus,  als  wir  (1697)  mit  Rom  die  Unterhandlungen  be- 
gannen, um  uns  von  den  zerstörenden  Einflüssen  des  Orients  zu  befreien. 
Mit  Unterstützung  der  Ungarn  haben  wir  uns  mit  Bom  vereinigt  und  unsere 
Jugend  der  westlichen  Gultur  zugeführt.  Bumänische  Jünglinge  studirten 
in  Bom,  dem  Mittelpunkte  des  Latinismus,  wo  sie  ihr  nationales  Bewusst- 
eein  empfingen  und  kräftigten ;  was  aber  thatet  Ihr  angesichts  dieser  Strö- 
mung? Ihr  habt  uns  die  E^uger  (Mönche)  der  slavischen  Fabelwelt  auf 
den  Hals  gehetzt,  die  dann  nach  Siebenbürgen  kamen  und  Unkraut  säeten, 
an  dessen  bösen  Früchten  wur  bis  heute  leiden !  Diese  Feinde  des  Latinis- 
mus und  der  westlichen  Cultur  wollten  uns  vom  Westen  zurückhalten ;  sie 
warfen  die  Fackel  der  Zwietracht  in  unsere  Mitte,  steckten  unsere  Häuser 
in  Brand  und  entzündeten  unter  uns  einen  Bruderkrieg,  der  ein  volles  Jahr- 
hundert dauerte.  Als  unsere  griechisch-orientalische  Kirche  vor  einiger  Zeit 
beschloss,  kein  Kirchenbuch  mehr  mit  cyrillischen  Lettern,  sondern  alle 
liturgischen  Schriften  nur  mit  lateinischen  Buchstaben  drucken  zu  lassen  : 
da  standet  Ihr  auf  Seiten  der  Bussen  und  erhöbet  den  Vorwurf,  dass  wk 
dadurch  gegen  die  orthodoxe  Beligion  gehandelt  haben ! 

Allein  trotzdem  kam  die  von  uns  im  Wege  des  Latinismus  erlangte 
Aufklärung  Euch  ganz  wohl  zu  Gute.  Während  man  Euch  im  Sklavenjoche 
des  Griechentums  und  des  Slavismus  festhielt,  erhoben  sich  bei  uns  in  Sie- 
benbürgen rumänische  Schulen.  Sinkay  schreibt  nach  ungarischen  Quellen 
unsere  Geschichte  und  erweckt  bei  Euch  die  Idee  der  Union ;  es  kommt  zu 
Euch  Läzär  und  führt  Euch  in  den  rumänischen  Unterricht  ein ;  zahlreiche 
Gelehrte,  die  an  den  Brüsten  der  ungarischen  Wissenschaft  erzogen  wur- 
den, wandern  aus  und  schaffen  bei  Euch  eine  neue  Aera.  Diese  haben  Euch 
die  Augen  geöffnet,  damit  Ihr  schauen  konntet,  und  sie  haben  die  Grund- 
steine niedergelegt  zum  heutigen  Bumänien  sowie  zu  Eurer  Gultur. 


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DER  BÜKURESTBR  UNIVEBSITATS-JÜOEND. 


391 


Oder  verhält  es  sich  etwa  nicht  also  ?  Wo  wäret  Ihr  Bukurester  Jüng- 
linge heute,  wenn  wir  hier  im  rumänischen  Brennpunkte  inmitten  der 
ungaripchen  Freiheit  uns  nicht  erheben  aus  dem  tiefen  Schlafe,  in  den  uns 
der  Einfluss  des  Slavismus  und  des  Griechentums  versenkt  hatte  ? 

Wie  kam  es,  dass  Ihr  stolzes  Volk  von  Rumänien  bei  Euren  freien 
Institutionen,  bei  Euren  nationalen  Fürsten,  im  Besitze  eines  eigenen  Lan- 
des, dennoch  auf  uns  angewiesen  wäret,  auf  uns,  die  wir  Eurer  Anschauung 
zufolge  im  magyarischen  Sklavenjoche  schmachteten  ?  Ihr  behauptet,  dass 
Ihr  mit  den  Türken  beschäftigt  wäret ;  allein  der  Türke  hat  bei  Euch  nicht 
so  viel  verwüstet  als  bei  uns.  Ihr  habt  Euch  mit  dem  Türken  gar  bald  ver- 
tragen (die  Walachei  im  Jahre  1418,  die  Moldau  im  Jahre  1538)  ;*  Euer 
Ungemach  war  darum  auch  nicht  besonders  gross ;  aber  wir  standen  im  fort- 
währenden Kampfe  gegen  diesen  Feind  der  Christenheit  und  dienten  als 
Bollwerke  der  westlichen  Givilisation  gegen  die  Barbarei  des  Ostens,  und 
trotz  dieses  unaufhörlichen  Kampfes  vermochten  wir  uns  aus  dem  Staube  zu 
erheben  und  höhere  Begionen  zu  erklimmen;  denn  der  ungarische  Ein- 
fluss geleitete  uns  in  die  Interessensphäre  der  occidentaliscben  Gultur,  während 
Ihr  im  Schlamme  slavischer  und  grichischer  Willkür  verbUeben  seid. 

Und  jetzt  wollet  Ihr  Euch  über  uns  erheben !  ?  Ihr,  die  Ihr  nach  dem 
Zeugnisse  der  Geschichte  uns  in  der  Vergangenheit  nur  Unheil  gebracht 
habet?  Ihr,  deren  ganzes  Bestreben  dahin  ging,  uns  von  der  westungarischen 
Gultur  zurückzuhalten  im  Interesse  des  Sklaventhums  ? 

Ihr  habt  Eurer  Pflichten  dem  Bomanismus  gegenüber  in  Bessarabien 
vergessen.  In  Bessarabien  ist  für  Euch  ein  dankbares  Feld  der  Thätigkeit. 
Dort  werden  114  rumänische  Ortschaften  über  kurz  oder  lang  russificurt 
und  Ihr  gebt  Euch  damit  zufrieden !  Vor  Euren  Augen  gehen  einige  hundert- 
tausend Bumänen  dem  Latinismus  verloren  und  Ihr  mildert  die  Qualen  der 
Sterbenden  nicht  einmal  durch  Kundgebungen  der  Teilnahme.  Oder  hat 
man  die  Unglücklichen  im  Jahre  1878  nicht  gerade  aus  Eurem  Leibe  heraus- 
gerissen ?  Und  doch  habt  Ihr  seither  Alles  vergessen  und  Ihr  wendet  Euch 
nicht  in  ihrem  Interesse  an  Europa,  sondern  unsertwegen,  die  wir  unter  der 
ungarischen  Herrschaft  unser  Bumänentum  nicht  nur  erhalten,  sondern 
auch  dem  Bomanismus  überhaupt  Dienste  leisten  können  ?  Wendet  Eure 
Aufmerksamkeit  nicht  nach  dem  Westen,  sondern  kehrt  Euch  nach  dem 
Osten,  von  wo  die  Wehrufe  der  Bumänen  an  Europa  ergehen,  aber  nur 
Eure  Ohren  nicht  berühren. 

Lasst  uns  im  Frieden !  Selbst  Euer  Aufruf  nützt  nur  dem  Slavismus ; 
diese  Eure  Einmischung  geschieht  nur  in  seinem  Interesse,  damit  ein  etwa- 

*  Eigentlich  war  die  Walachei  bereits  seit  1391  den  Türken  tributpflich- 
tig; die  Moldau  wurde  es  im  Jahre  1512;  abei^  eine  unmittelbare  Tttrkenherrschaft 
machte  sich  in  beiden  FUrstentÜmem  andauernd  nicht  geltend.  D.  B. 


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392  EINE    ANTWORT  AUF   DIB   DENKSCHRIFT 

ger  Krieg  mit  Busslaxid  udb  hier  in  Zwietracht  mit  den  Magyaren  finde^ 
denen  wir  misere  ganze  Cultur  zu  verdanken  haben.  Ihr  wollet  Emropa  irre- 
führen und  erhebt  als  unberufene  Anwälte  Klage  in  einer  Sache,  welche 
uns  allein  gehört  und  an  der  Ihr  auch  nicht  den  mindesten  Anteil  habt. 

Was  ist  unsere  Pflicht  ? 

Nichts  Anderes,  als  uns  zu  beugen  vor  der  Wahrheit,  die  Thatsachen 
anzuerkenneu.  Es  ist  aber  eine  Thatsache,  dass  die  Ungarn,  die  ungarische 
Cultur  für  uns  mehr  gethan  hat,  als  wir  Alle  zusammen,  und  dass  wir  dem 
slavischen  und  griechischen  Einflüsse  nichts  Anderes  zu  danken  haben,  als 
traurige  Erinnerungen  und  Sklavenketten.  Seien  wir  nicht  undankbar,  bethö- 
ren wir  mit  lügenhaften  Verdrehungen  der  Wahrheit  nicht  uns  selber  und 
Europa ;  denn  man  ertappt  uns  und  wir  stehen  beschämt. 

Man  kann  Alles  behaupten.  Man  kann  sagen,  dass  wir  mit  der  unga- 
rischen Cultur  gebrochen  und  zum  Zwecke  einer  besonderen  rumänischen 
Cultur  uns  den  Franzosen  angeschlossen  haben ;  dass  wir  die  Magyaren  in 
der  Seele  hassen  und  es  nicht  ruhig  zusehen  können,  wenn  ungarische 
Gesetze  unsere  Zustände  sanctioniren ;  allein  ohne  Erröten  kann  und 
darf  man  Eines  nicht  behaupten  wollen,  dass  nämlich  die  ungarische  Cul- 
tur uns  nicht  zum  Guten  gereicht  habe,  dass  nicht  sie  ehedem  die  einzige 
Stütze  gewesen,  an  der  wir  uns  emporgerafift  und  gekräftigt  haben. 

IV. 

Ihr  sprecht  auch  von  der  Grundunterthänigkeit  und  von  der  Befrei- 
ung aus  deren  Fesseln  und  behauptet,  dass  die  Ungarn  uns  zu  Höri- 
gen gemacht,  die  Oesterreicher  aber  aus  dieser  Sklaverei  befreit  haben ;  femer 
fügt  ihr  hinzu,  die  Magyaren  seien  uns  gegenüber  unmenschlich  gewesen  und 
unsere  Feinde  seit  der  Besitzergreifung  ihres  Landes. 

Das  ungefähr  sind  Eure  Behauptungen.  Kennt  Ihr  das  Staatsrecht 
und  die  Geschichte  dieses  Landes  ?  Und  kennet  Ihr  das  Staatsrecht  und  die 
Institutionen  sowie  die  Geschichte  Eures  eigenen  Vaterlandes  ?  Weder  das 
Eine,  noch  das  Andere  ist  Euch  bekannt,  oder  besser  gesagt :  Ihr  schliesst 
Eure  Augen  gegenüber  den  von  Euch  gegen  den  Bomanismus  begangenen 
Sünden  und  zwingt  Euch,  uns  gegenüber  solche  Dinge  zu  erblicken,  welche 
überhaupt  nicht  vorhanden  sind.  Im  Angesichte  von  Europa  und  im  schrof- 
fen Gegensatze  zur  Wahrheit  macht  Ihr,  auf  frischer  That  ertappt,  es  gleich 
dem  Zigeuner,  den  man  wegen  eines  Diebstahls  verfolgte  und  der  zur  Ablen- 
kung der  öffentlichen  Aufmerksamkeit  von  sich  selber:  «Fangt  den  Dieb  !» 
ausrief. 

Die  Geschichte  unseres  Vaterlandes  liegt  offen,  Ihr  könnet  darin 
lesen.  Die  siebenbürgische  App.  Comp.  Constitutio  ist  vor  Niemandem  ver- 
schlossen. Dieses  unser  Gesetzbuch  verfügt  eingehend  hinsichtlich  unserer 


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DER  BUKUKBßTBR   üNIVBBßlTÄTß-JUGEND.  393 

rumäniscben  Kirche  und  in  Bezug  auf  die  Grunduntertbanenschaft.  Die  in 
diesem  Gesetzbuch  enthaltenen  einzelnen  Verfügungen  geben  Zeugniss  davon, 
dass  wir,  ein  von  den  Magyaren  unterdrücktes  Volk,  unsere  eigenen  Institu- 
tionen besassen;  es  wird  darin  bezeugt,  dass  die  Magyaren  sich  gegen  uns 
verteidigen  mussten,  weil  wir  oft  unsere  Hechte  missbraucht  haben.  (Vgl. 
Approb.  Const.  I.  Tb.  VIIL  1.  Comp.  Const.  I.  Theil;  Art.  I.  9.  u.  a.) 

Das  siebenbürgische  Gesetzbuch  enthält  keine  einzige  Verfügung,  welche 
für  den  Grundunterthanen  unmenschlich  gewesen  wäre.  Die  Gesetzgebung 
und  die  öffentliche  Meinung  betrachtete  bei  uns  die  Hörigen  immer  als 
Menschen,  sorgte  oft  für  die  Verbesserung  ihres  Loses  und  liess  ihnen  Ver- 
günstigungen zuteil  werden.  Der  Grundherr,  der  die  Ehen  seiner  Untertha- 
.neu  verhinderte,  wurde  mit  100 fi.  in  Geld  bestraft.  Das  gleiche  Los  hatte 
übrigens  auch  der  magyarische  Hörige  zu  ertragen.  Die  Hörigkeit  wurde  bei 
uns  nicht  unsertwegen,  nicht  der  Bumänen  wegen  aufrechterhalten ;  es  war 
dies  vielmehr  ein  unglückliches  System,  das  in  anderen  Staaten  Europas  eine 
noch  weit  abschreckendere  Gestalt  angenommen  hatte. 

unsere  Schulen  waren  auch  den  Kindern  der  Hörigen  geöffnet.  Ein 
Gesetzartikel  belegt  mit  einer  hoher  Strafe  jene  Grundherren,  welche  den 
Kindern  ihrer  Unterthanen  den  Besuch  der  Schulen  werwehren  würden. 
(Nach  dem  G.  A.  VIII:  1624  betrug  die  Strafe  10(X)  fl.)  Trotz  dem  Fortbe- 
stände des  Hörigkeits-Systems  erlangten  bei  uns  sehr  viele  Bumänen  die 
Freiheit  und  erstiegen  die  höchsten  Stufen  in  Staat,  Kirche  und  Gesellschaft. 
Erhielt  der  Eine  oder  der  Andere  den  Adel,  so  fragte  Niemand  weiter  nach 
seiner  NationaUtät ;  es  standen  ihm  alle  Wege  offen.  Die  rumänischen  Edel- 
leute  und  Grundherren  waren  überhaupt  in  gar  nichts  verschieden  von  den 
übrigen  Adeligen;  natürlich  war  auch  der  rumänische  Unterthan  seinem 
magyarischen  Standesgenossen  gleich. 

Und  in  diesem  Zustande  der  Dinge  haben  wir  trotz  des  von  Euch  ver- 
kündigten tyrannischen  Joches  der  Magyaren  unsere  Pflichten  gegen  unsere 
Religion  und  gegen  unser  Volkstum  nicht  vergessen.  Ich  habe  es  Euch 
nachgewiesen  und  Ihr  wisst  es  auch,  dass  wir  hier  in  der  magyarischen 
Sklaverei  eine  Gultur  entwickelt,  unsere  Sprache  gepflegt,  unsere  Kirche 
unterstützt  haben.  Das  ungarische  Gesetz  und  die  ungarische  Freiheit  haben 
uns  daran  nicht  gehindert. 

Zeiget  mir  ein  einziges  Volk  in  Europa,  das  nach  der  grossen  fran- 
zösischen Bevolution  früher  als  die  Ungarn  die  Principien  der  Freiheit, 
Gleichheit  und  BrüderUchkeit  verkündigt  hätte. 

Verweilen  wir  ein  wenig  bei  dieser  wichtigen  Thatsache ! 

Die  ungarische  Nation  öffnete  diesen  herzerhebenden,  volksbeglücken- 
den grossen  Ideen  zuerst  die  Tore  ihres  Landes !  Hierher  drangen  die  ersten 
Strahlen  der  Sonne  in  vollem  Glänze,  mit  ganzer  Wärme» 

Der  15.  März  1848  war  jener  grosse  Tag,  an  dem  die  Fesseln  unserer 

UngwiMhelUTne,  XI.  1891.  V.  Heft.  25a 


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394-  EINE    ANTWORT   AUF   DIE   DENKSCHRIFT 

Völker  fielen,  die  Sklavenketten  gebrochen  wurden  und  die  Nationalitaten 
im  Wonnegefühl  der  Gleichheit  und  Brüderlichkeit  einander  umarmten. 
Von  Freiheit,  von  Liebe  tönte  es  damals  wieder  in  allen  Teilen  Ungarns, 
wahre  Freude  erfüllte  jedes  Herz,  denn  wir  waren  gleichberechtigte  Bürger 
des  Vaterlandes  geworden.  Die  ungarische  Nation  erkannte  im  Menschen 
den  Menschen,  in  dem  Bewohner  des  Landes  den  Bürger,  mit  dem  sie  alle 
ihre  bürgerlichen  Rechte  und  Güter  teilte.  Mit  diesem  Schmucke  prangten 
jetzt  auch  unsere  armen  rumänischen  Grundholden!  Sie  empfingen  alle  Frei 
heiten,  ohne  sie  verlangt  zu  haben ;  unsere  Kirchen  wurden  gänzlich  unab- 
hängig, selbstständig,  die  Presse  von  allen  Schranken  befreit,  —  es  gab 
zwischen  uns  keinen  Unterschied.  Die  ungarische  Gesetzgebung  sprach  den 
rumänischen  Hörigen  von  allen  Verpflichtungen  los,  beschenkte  ihn  mit 
Grund  und  Boden,  machte  ihn  zum  Menschen,  erhob  ihn  zum  Mitbürger;  — 
es  geschah  mit  Einem  Worte  das  grosse  Wunder,  von  dem  der  rumänische 
Unterthan  gar  nicht  einmal  geträumt  hatte. 

Und  welchen  Anteil  hattet  Ihr  an  den  bisherigen  Erfolgen  dieser 
Ereignisse?  Wer  hat  den  Magyaren  daran  gemahnt,  dass  er  den  rumä- 
nischen Hörigen  befreien,  ihn  zu  sich  emporheben  möge?  Wer  hat  ihm  dies 
befohlen,  wer  ihm  den  Gedanken^  seiner  Seele  die  Kraft  eingeflösst  zu  solch' 
grossen  Beformen,  welche  die  gesammten  Zustände  seines  Landes  umstür- 
zen mussten?  Habt  Ihr  vielleicht  Euch  damals  auch  an  Europa  gewendet  und 
Europa  dazu  bewogen,  dass  es  sich  in  die  inneren  Angelegenheiten  des  unga- 
rischen Staates  auf  solche  Weise  einmischen  solle?  Nein.  Die  Ungarn  sind 
ihrer  eigenen  Einsicht  gefolgt,  haben  nach  den  edlen  Eingebungen  ihrer 
Seele  gehandelt  und  dadurch  eine  That  vollbracht,  für  die  wir  ihnen  ewigen 
Dank  schuldig  sind.  Oder  gaben  etwa  die  Oesterreicher  im  Jahre  1848 
unsere  freisinnigen  Gesetze?  Haben  sie  am  15.  März  in  Ungarn  die  allge- 
meine Freiheit  verkündigt  ? 

Hüten  wir  uns  vor  Verdrehungen  und  vor  Lügen  und  besudeln  wir  uns 
nicht  mit  dem  Schmutze  der  Undankbarkeit ! 

Wohl  hattet  auch  Ihr  einen  Anteil  am  ungarischen  Befreiungskampfe. 
Wir  auf  dem  freien  ungarischen  Boden  begeisterten  uns  für  die  Magyaren ; 
wir  schlössen  diese  edle  Nation  an  unser  Herz ;  sie  hatte  aus  uns,  aus  den 
armen  Hörigen^  Menschen  gemacht.  Schaguna*  (der  Bischof  und  erste  Erz- 
bischof der  griechisch-orientalischen  Rumänen  in  Siebenbürgen)  und  mit 
ihm  die  gesammte  rumänische  Intelligenz  schwärmten  damals  für  die 
ungarischen  Ideen.  Wir  wurden  Anhänger  der  Union  (Siebenbürgens  mit 
Ungarn)  und  glaubten  schon,  dass  es  keine  Macht  gebe,  welche  die  beiden 
Völker  von  einander  trennen  könnte. 


'^  Seit  1848  Bischof^   seit    1864   der  erste   Erzbischof  der  gr.  or.  Bomäneii  in 
Siebenbürgen;  f  1873. 


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DER  BUKUBBSTEB  UKIVEBSITÄTS^ JUGEND.  '^^ 

Und  dennoch  habt  Ihr  sie  getrennt ! 

Ihr  habt  auch  Bevolution  gemacht,  weil  Ihr  die  russische  Willkür 
nicht  ertragen  konntet.  Am  21.  Juni  1848  habt  Ihr  nach  ims  die  Ideen 
der  Freiheit  proclamirt.  Von  Islaz  gieng  die  Freiheit  aus,  dort  wurde  ihr 
Banner  entfaltet,  und  von  hier  aus  hielt  sie  ihren  Einzug  in  Bukurest. 
Juon  Bratianu,  G.  A.  Bosetti,  Balascu  waren  die  entschiedensten  Vertreter 
der  rumänischen  Freiheits-Ideen.  Aber  Euch  hat  der  Busse  sofort  nieder- 
geworfen und  Ihr  habt  das  Joch  wieder  aufgenommen  und  es  weitergetragen. 

Eure  vertriebenen  Manner  kamen  hieher  zu  uns,  und  ergriffen  die 
Waffen  für  die  ungarische  Freiheit.  Im  Lager  Berns  befanden  sich  zahl- 
reiche nunänische  Emigranten,  welche  für  die  ungarische  Freiheit  begeistert 
waren.  Eure  Emigranten  haben  im  Interesse  der  ungarischen  Freiheits- 
Ideen  mit  grossen  Opfern  hier  eine  rumänische  Zeitung  («Espatriatul»  von 
Oäsar  Boliac)  gegründet  und  waren  dahin  bestrebt,  dass  Magyaren  und 
Bumänen  sich  vereinigen!  Es  war  Bosetti's  höchster  Wunsch,  mit  den 
Magyaren  gegen  Bussland  und  Oesterreich  ein  Bündniss  zu  schliessen. 

Wer  aber  war  der  grösste  Freiheiteheld  Eures  Landes  ?  C.  A.  Bosetti 
hat  das  heutige  Bumänien  geschaffen,  ihn  habt  Ihr  vne  einen  Halbgott 
verehrt,  und  dennoch  verläugnet  Ihr  in  jedem  Augenblick  seine  Ideen  und 
die  Anordnungen  seines  letzten  Willens. 

Kennet  Ihr  die  Memoiren  Juon  Ghika's,  des  ausgezeichneten  rumäni- 
schen Staatsmannes?  (•  Amintiri  din  pribegie. »)  Als  Ihr  euer  «Memorandum» 
an  Europa  gerichtet,  habt  Ihr  diese  Memoiren  nicht  gekannt,  weil  ihr  als- 
dann von  der  Befreiung  anders  geschrieben  hättet. 

Diese  «Memoiren»  legen  die  rumänischen  Ereignisse  von  1848  klar 
und  man  ist  entsetzt  von  den  vielen  Niederträchtigkeiten,  welche  sich  unter 
Euch  zu  unserem  ewigen  Schaden  zugetragen  haben. 

Damach  kam  Eliade  Badulescu  nach  Siebenbürgen,  schlug  seinen 
Sitz  in  Hermannstadt  auf  und  beanspruchte  als  Mitglied  der  Bukurester 
rumänischen  Bevolutions-Dictatur  grossen  Bespect  und  einen  weiten  politi- 
schen Gesichtskreis.  Er  setzte  sich  unserem  rumänischem  Nationaloomit^ 
auf  den  Nacken  und  wendete  dessen  politische  Haltung  und  Action  nach 
einer  andern,  entgegengesetzten  Bichtung. 

Gott,  Eliade,  Schaguna  und  die  Wiener  Femde  der  Freiheit  vnssen,  was 
geschehen  ist ;  aber  eines  Tages  vnurden  wir  gewahr,  dass  man  uns  gegen 
die  Magyaren  hetzt,  gegen  jene  Magyaren,  die  uns  erst  kürzlich  mit  so  rei- 
chen irdischen  Gütern  betheiligt  hatten.  Eliade,  dieser  blinde,  hochmütige, 
keine  andere  Meinung  duldende,  hass-  und  racheerfüllte  Mensch,  drückte 
Schaguna  und  uns  die  Waffen  in  die  Hand,  und  Schaguna  der  Schlaue  und 
wir,  die  Thoren,  ergriffen  diese  Waffen  und  erhoben  sie  gegen  jene  Nation, 
'die  uns  Alles  gegeben,  wessen  ein  freier  Bürger  bedürftig  ist. 

25* 


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396  EINE    ANTWOBT  AUF  DIE   DENEBCHBIFT 

Ich  wundere  mich  nicht  über  die  Verzweiflung  C.  A.  fiosetti's^  Weim- 
er sagt: 

«Ich  will  so  lange  leben,  bis  ich  Bumänien  von  den  Bussen,  von  den' 
Türken  und  von  Eliade  gesäubert  sehe . . .  Ah,  die  Magyaren,  die  Magyaren ! 
Böge  mir  doch,  wenn  du  diesen  Namen  hörst,  ist  es  dir  nichts  als  müsstest  du 
Asche  auf  dein  Haupt  streuen?  Drängt  es  dich  nicht,  eine  Pistole  zu  ergrei- 
fen, um  erst  Eliade  und  dann  dich  selber  zu  erdchiessen  ?  Schande,  tausend- 
fache Schmach  und  Schande !  Aber  was  sage  ich,  Fluch  über  Jene  (und  zu 
Diesen  gehöre  auch  ich),  die  den  Buhm  Bumäniens  verspielt  haben,  um  der 
langen  Beihe  der  Leiden,  der  schändlichen  Sclaverei  zu  verfallen!  Ach, 
hätten  wir  eine  wirkliche  rumänische  Begierung  besessen,  dann  wäre  der 
Buhm,  die  Welt  vom  Sklavenjoch  befreit  zu  haben,  nicht  den  Magyaren 
zugefallen,  sondern  wir  hätten  ihn  errungen.  Oder  im  Vereine  mit  den 
Magyaren  würden  wir  sicherlich  Wien  erobert  und  die  Bepublik  proclamirt 
haben.  Jetzt  aber  zittern  wir  und  bemühen  uns,  dib  Brosamen  von  der 
Tafel  der  Magyaren  aufzulesen.» 

Und  weiter:  «...  Würde  man  uns  gehört  haben,  dann  wären  die 
rumänischen  Bussen  heute  im  Grund  der  Hölle,  die  Bumänen  aber  mit  den 
Magyaren  vor  den  Toren  von  Wien.  Jetzt  ist  es  zu  spät.»  (Bosetti's  Brief  bei 
Ghika  VU.  u.  ft.) 

So  dachte  der  Begründer  rumänischer  Freiheit  über  die  Magyaren. 
Er  erkennt,  dass  der  Buhm  der  Befreiung  der  Bumänen  aus  den  Banden 
der  Hörigkeit  den  Magyaren  gebührt,  und  Ihr  wagt  es  dem  gegenüber  vor 
Europa  zu  behaupten,  dass  Bosetti  gelogen  habe?  Was  für  eine  Nach- 
kommenschaft ist  das,  die  den  Qrössten  ihres  Vaterlandes  in  solcher  Weise 
Lügen  strafen  will? ! 

Ja,  Ihr  habt  Eliade  hierher  gesendet  und  uns  aus  unserer  Bahn  ver- 
drängt. Wir  Hessen  uns  missbrauchen,  und  als  wir  die  Waffen  ergriffen,  da 
entfernte  sich  Bosetti  voll  Verzweiflung  nach  Paris.  Ihr  aber  schlösset  Euch 
als  Söldner  den  russischen  Heeren  an,  die  soeben  Euer  Land  geknechtet 
hatten  und  wir  (Schaguna)  riefen  auf  Euem  Bat  die  Bussen  herbei,  welche 
Eure  Constitution  zertraten,  damit  sie  auch  unsere  Freiheiten  vernichten. 

Die  ungarische  Bevolution  entwickelte  sich  vor  den  Augen  Europa's 
und  Europa  sah  diesen  Verzweiflungskampf,  sah  ein  kleines,  auf  Leben 
und  Tod  kämpfendes  Volk  gegen  ein  Meer  von  Feinden ;  sah  wie  österrei- 
chische und  russische  Heere,  wie  die  bis  an  die  Zähne  bewaffneten 
Nationalitäten :  Kroaten,  Slovaken,  Sachsen,  Bumänen  gegen  die  Nation 
wüten,  welche  die  Freiheit  des  Landes  verteidigte.  Ein  trauriger  Anblick! 

Intrigue  und  Hinterlist,  rohe  Gewalt  und  Uebermacht  bewältigten  die 
Nation  und  vernichteten  alle  Freiheiten ! 

Wir  waren  die  Sieger.  Wir  setzten  unsem  Fuss  den  Magyaren  auf  die 
Brust  —  und  weshalb  ?  Was  war  der  Erfolg  ? 


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DBB  BÜKURE8TER  UNIYEBSITÄTS- JUGEND.  397 

Die  Gestalt  Schaguna's  hebt  sieh  aus  dem  Pulverdampfe  hervor,  denn 
das  ganze  Land  stand  in  Bauch  und  Flammen,  und  Schaguna  eilte  nach 
Olmütz,  um  dort  den  Lohn  zu  empfangen.  Er  wollte  diesen  Staat  zer- 
trümmern, er  forderte  für  die  Eumänen  ein  besonderes  Territorium,  eine 
eigene  Verwaltung,  einen  rumänischen  Fürsten  (1849)  und  begnügte  sich 
am  Ende  mit  einem  erzbüchößichen  Stuhle.  Wir  hatten  bei  der  Niederwer- 
fung der  ungarischen  Nation  40,000  Menschen  verloren  und  erwarben  ein 
Erzbistum  für  Schaguna !  Eliade  aber  verlangte  eine  Pension. 

Alle  Freiheiten  waren  dahin.  Das  rumänische  Volk  gewann  gar 
nichts.  Die  von  den  Magyaren  verkündigten  Freiheitsideen  wurden  vernich- 
tet, die  freien  Listitutionen  confiscirt  und  die  Fesseln  des  Sklaven  uns 
neuerdings  angelegt. 

Das  Land  hüllte  sich  in  Trauer ;  die  Wiege  der  Freiheit  wurde  zum 
Todesacker.  Die  Mütter  trugen  die  düstersten  Trauergewänder,  alle  Frauen 
Ungarns  kleideten  sich  in  diese  Zeichen  des  Schmerzes.  Die  Seufzer  der 
Kinder,  der  Bräute  und  der  Waisen  ertönten  von  einem  Ende  des  Landes 
bis  zum  andern.  Die  Väter,  die  blühenden  Jünglinge  irrten  im  Auslande 
umher  und  ertrugen  die  Leiden  der  Verbannung.  Der  Galgen  und  die 
Gewehrkugel  forderte  täglich  ihre  Opfer  und  in  dunklen  Kerkern  büssten 
Jene,  welche  die  Freiheit  des  Vaterlandes  verteidigt  hatten.  Und  dann  trat 
die  Stille,  die  fürchterliche  Stille  des  Grabes  ein !  .  .  .  Weg  lüit  dem  Bilde ! 

Wir  hatten  ja  gesiegt !  Wir,  ein  Meer  von  Feinden,  hatten  die  Magya- 
ren besiegt ;  —  welchen  Lohn  erhielten  wir  dafür  ?  Die  Enttäuschung.  Wir 
wollten  ein  Ungarn  ohne  die  ungarische  Nation  schaffen  und  das  Besultat 
war  :  Solferino  und  Königgrätz.  In  der  Brust  des  getäuschten,  aufrichtigen 
Runoiänen  kochte  das  Gefühl  der  Bache.  Janku,  der  rumänische  Freiheits- 
held, den  wir  den  «König  der  Alpen»  zu  nennen  gewöhnt  waren,  wurde 
zur  Anerkennung  seiner  ausgezeichneten  Verdienste  ins  Gefängniss  gewor- 
fen. Und  der  Mann,  der  für  die  Ideen  der  Freiheit  begeistert  war,  fühlte  das 
gegen  die  ungarische  Freiheit  verübte  Unrecht  und  wurde  wahnsinnig. 
Janku  durchschweifte  das  Hochgebirge  von  Topänfalva  bis  Körösbänya  und 
zurück ;  fünfundzwanzig  Jahre  wanderte  er  barfuss,  in  Lumpen  und  nahm 
in  seinem  Wahnsinne  von  seinen  Getreuen  in  der  Bevolution  kein  Almosen 
an,  sondern  —  nur  von.  den  Ungarn.  Wie  Vieles  mochte  der  Mann  um  sei- 
ner Enttäuschungen  willen  gelitten  haben,  bis  er  den  Verstand  verlor? 
.Sever  Axente  und  Andere  erhielten  ebenfalls  gar  bald  den  Kerker  zur 
Belohnung !  . .  . 

In  der  Freude  über  unsem  grossen  Sieg  gelangten  wir  bis  dahin,  dass 
wir  uns  nach  der  Wiederkehr  der  Hörigkeit  sehnten.  Wir  gewannen  die  von . 
den  Oesterreichem  uns  gebrachte  Befreiung  so  lieb,  dass  wir  die  Knecht-; 
Schaft  zurückwünschten. 

Wie  und  warum  lernet  Ihr  die  Geschichte  Eures  Vaterlandes  und  des 


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398  jgoHE    ANTWORT  AUF   DIB  DENKSCHBIFT 

rumänischen  Volkes,  wenn  Ihr  nicht  die  Lehren  daraus  ziehen  wollet? 
Wenn  Ihr  bis  jetzt  die  grössten  Gegner  und  die  natürlichen  Freunde  Eures 
Landes  und  Eures  Volkes  nicht  erkennet?  Das  Volk  und  der  Staat,  die 
durch  die  Geschichte  ihrer  Vergangenheit  nicht  belehrt  werden ;  für  die 
die  Ereignisse  ohne  Belehrung  ablaufen  :  — '  dieses  Volk  und  dieser  Staat 
werden  immer  unreif  bleiben  und  in  jedem  Augenblicke  den  Enttäuschun- 
gen, der  Gefahr  ausgesetzt  sein. 

Die  ungarische  Nation  söhnte  sich  aufrichtig  mit  der  Krone  aus ;  im 
Jahre  1867  wurde  die  Verfassung  auf  Grund  der  Gesetze  von  1848  wieder 
hergestellt .  .  .  Wir  Bumänen  hierzulande  machten  für  uns  ein  politisches 
Progranmi ;  dasselbe  mochte  gut  oder  schlecht  sein,  genug !  wir  selber  wa- 
ren die  Verfasser  desselben.  Damals  schicktet  Ihr  uns  wieder  einen  Eurer 
Agenten  (Slavici),  der  in  Eurem  Organe  (in  der  «Tribuna»  zu  Hermann- 
stadt) dieses  unser  Programm  verwarf  und  neue  Lehren  predigte.  Er  ver- 
langte für  das  Rumänentum  die  Zeit  des  Absolutismus  zurück ;  er  verkün- 
dete, dass  wir  rumänische  Unterthanen  des  ungarischen  Königs  eigentlich 
dem  (rumänischen)  Könige  Karl  zu  gehorchen  verpflichtet  seien  («Tribuna» 
1887,  Nr.  65,  66);  dass  wir  gegen  den  König  von  Ungarn  gar  keine  Pflich- 
ten hätten  («Romanul»  1891,  Nr.  v.  6.  März :  «dar  fa^  cu  regele  maghiari- 
lor  (rumanii)  n'au  nici  o  datorie») ;  er  verletzte  unsere  Loyalität,  compromit- 
tirte  uns  vor  aller  Welt  und  verunreinigte  das  Volk,  das  zu  jeder  Zeit 
seinem  Könige  in  Treue  anhieng,  mit  dem  Makel  der  Treulosigkeit.  Er 
schleuderte  die  brennende  Fackel  der  Zwietracht  in  unsere  Mitte,  er  be- 
schimpfte unsere  Bischöfe  und  dann  wanderte  er  wieder  aus,  um  in  der 
rumänischen  Hauptstadt  eine  gut  bezahlte  Stelle  einzunehmen.  Er  setzt  die 
Feigen  in  Angst  und  Schrecken,  vor  ihm  ziehen  sich  die  besten  unserer 
Männer  zurück  und  über  unsere  Presse  verbreitet  er  den  Glauben,  dass 
sie  vaterlandsverräterisch  sei.  Bis  dahin  brachte  er  die  Dinge,  dass  dieses 
zum  Treubruche  aufreizende  Blatt,  welches  in  den  heiligen  Empfindungen 
der  rumänischen  Loyalität  mit  roher  Hand  wühlt,  gerade  deshalb  zu  Grunde 
gehen  musste.  («Romanul»  1891,  Nr.  v.  9.  April). 


Und  jetzt  stehet  still  und  legt  auch  Ihr  Rechnung  über  die  Hörig- 
keits-Zustände  in  Eurem  Lande!  Denn  dass  Euch  zufolge  bei  uns  dar 
Unterthan  von  dem  Magyaren,  der  nach  Eurer  Ansicht  uns  feindselig  gesinnt 
ist,  gedrückt  worden  sei,  das  Hesse  sich  noch  begreifen ;  denn  der  Magyare  ist 
nicht  Fleisch  von  unserem  Fleische;  was  aber  habt  Ihr  Bumänen  mit  Euren 
rumänischen  und  anderen  Hörigen  gethan  ? 

Ich  spreche  keine  Unwahrheiten ;  Ihr,  die  der  Sache  nahe  stehet,, 
müsset  es  ganz  gut  wissen. 


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DBB  BUKUBBSTEB   UNIVERSITÄT8-JÜGEND.  399 

In  den  rumänischen  Fürstentümern  war  der  Hörige  kein  Mensch,  son- 
dern eine  Waare.  Er  wurde  gekauft  und  verkauft  wie  das  Vieh,  wie  ein  Huhn 
oder  wie  eine  Pfeife  Tabak.  Diese  Menschenkauf-  und  Verkauf- Verträge 
waren  alltägliche  Urkunden,  an  denen  Niemand  Anstoss  nahm.  Ihr  habt 
Eure  Leute  mit  glühenden  Eisen  gebrandmarkt  gleich  dem  Nutzvieh ;  Ihr 
habt  den  Sohn  vom  Vater,  die  Tochter  von  der  Mutter  gerissen  und  an 
fremde  Herren  verkauft,  als  ob  es  sich  um  Neger  in  Afrika  gehandelt 
hätte.  Der  grosse  Wojwode,  Michael  der  Tapfere,  hat  zahlreiche  solche 
Sklaven  gekauft;  denn  bei  Euch  nannte  man  die  Hörigen  auch  «Sklaven» ! 
Doch  ich  drücke  mich  incorrect  aus;  «Sklaven»  hiessen  diese  Unglückli- 
chen auch  anderwärts.  Wie  aber  nanntet  Ihr  sie  ?  Rumänen  (ruman)  und 
damit  habt  Ihr  den  rumänischen  Namen  entehrt;  denn  bei  Euch  war 
«Sklave»  und  «Eumäne»  gleichbedeutend.  Auf  solche  Weise  dientet  Ihr 
der  Idee  des  Latinismus.  Processe  aus  solchen  Menschen-Kauf-  und  Ver- 
kaufcontracten  wurden  noch  im  Jahre  1882  geführt,  also  in  einer  Zeit,  da 
Ihr  bereits  ein  Königreich  constituirt  und  Eure  völlige  staatliche  Unabhän- 
gigkeit erlangt  hattet,  (vgl.  Brezoian  «Vechile  institu^uni  de  Bomaniei», 
p.  78,  79.) 

Wer  das  Alles  leugnen  wollte,  der  nehme  die  Schriften  von  Florian 
Papu  («Tesaur»  Bd.  IH.  p.  193—196),  Negruzzi  (Convorb.  Lit.  1887, 
p.  10)  u.  A.  zur  Hand  und  er  wird  sich  aus  den  Büchern  der  Historiker 
Rumäniens  überzeugen,  dass  ich  kein  einziges  Wort  gegen  die  Wahrheit 
gesagt  habe. 

Rumänien  befreite  seine  Hörigen  durch  das  Gesetz  vom  23.  April  1865, 
somit  achtzehn  Jahre  später  als  Ungarn.  Und  wie  ?  Der  befreite  rumänische 
ünterthan  war  gezwungen  durch  seinen  eigenen  Schweiss  die  Ablösungs- 
summe zu  erwerben  und  zu  bezahlen.  Bei  uns  gelangte  der  frühere  Ünter- 
than ohne  jedes  Entgelt  in  den  Besitz  von  Grund  und  Boden;  denn  die 
Grundentlastung  bezahlte  der  Staat.  Die  ungarische  Nation  nahm  dio 
Riesenlast  der  Unterthanenbefreiung  auf  ihre  Schultern. 

Und  damals,  da  Ihr  dem  Bauern  mit  der  einen  Hand  ein  Stück  Feld 
gegeben,  habt  Ihr  mit  der  andern  ihm  dasselbe  wieder  genommen.  Im  Jahre 
1865  erhielten  414,000  rumänische  Unterthans -Familien  ungefähr  drei 
Millionen  Joch  Feld,  und  dafür  bezahlten  sie  15  Millionen  Francs  Entschä- 
digung. Sie  hatten  also  ihren  Grund  und  Boden  einfach  —  kaufen  müssen. 
Aber  sie  konnten  diesen  so  schwer  errungenen  Besitz  nicht,  behaupten 
gegenüber  den  Grundherren,  die  auf  verschiedenen  Wegen  das  überantwor- 
tete Feld  wieder  in  ihre  Gewalt  brachten,  so  dass  seit  dem  Jahre  1865  bis 
heute  mehr  als  die  Hälfte  der  befreiten  Bauern  wieder  der  Unterthanschaft 
verfallen  ist.  Und  Ihr  im  freien  Rumänien  habt  mit  Eurem  rumänischen 
Blute  abermals  das  Hörigkeitssystem  hergestellt  und  haltet  es  fortdauernd 
aufrecht. 


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^^  EINE    ANTWORT  AUF  DIE   DENK8CHBIFT 

Was  rief  im  Jahre  1888  in  Bumänien  den  Banern -Aufstand  hervor? 
Nur  der  umstand,  dass  Ihr  für  das  Landvolk  neuerdings  Hörigkeits-Zustände 
geschaffen  habt.  Das  Landvolk  arbeitet  gleich  dem  lieben  Vieh,  aber  nicht 
für  sich,  und  die  Arbeit  hat  nicht  einmal  den  Erfolg,  dass  der  gehetzte  Mann 
und  seine  Familie  sich  des  Tages  auch  nur  einmal  satt  essen  könne.  Wie 
häufig  herrscht  die  Hungersnot  in  Bumänien !  Die  Hungersnot  tritt  aber 
nicht  deswegen  ein,  weil  kein  Oetreide  vorhanden  ist,  sondern  deshalb, 
weil  der  Bauer  keinen  Acker  hat,  der  ihn  und  die  Seinigen  ernähren  könnte. 
Wenn  nun  Euer  Herz  für  das  Heil  des  rumänischen  Volkes  so  sehr  glüht ; 
wenn  Ihr  die  Sache  des  Bumänentums  in  Eure  Hand  genommen  habt,  diese 
vertreten  und  regeln  wollt :  warum  ordnet  Ihr  nicht  vor  Allem  die  Angele- 
genheiten der  rumänischen  Bauernschaft  bei  Euch  im  Lande,  damit  Ihr 
den  Magyaren,  den  Bussen,  den  Türken  und  den  Qriechen  ein  Beispiel 
zeigen  könnet  und  sagen :  Sehet,  so  muss  man  mit  dem  rumänischen  Ele- 
mente umgehen !  Ihr  schuldet  in  Eurem  eigenen  Vaterlande  dem  rumäni- 
schen Bauer  noch  so  Vieles,  dass  Ihr  uns  gar  nicht  erreichen  könnet. 

Angesichts  dieser  Eurer  Zustände  kommt  hierher  nach  Ungarn.  Der 
rumänische  Besitz  hat  sich  hier  bedeutend  vermehrt.  Nehmt  die  Statistik 
zur  Hand  und  ihr  werdet  finden,  dass  der  Besitz  der  Bumänen  sich  ver- 
doppelt hat.  Bumänische  landwirtschaftliche  Institute  und  Ausstellungen 
findet  man  im  ganzen  Lande. 

unter  der  ungarischen  Begierung,  also  seit  1867  sind  insgesammt  30 
rein  rumänische  Banken  und  Geldinstitute  entstanden,  deren  jährlicher 
Umsatz  über  40  Millionen  Gulden  ausmacht ;  und  gerade  unter  der  unga- 
rischen Begierung  hat  das  Gewerbe  und  der  Handel  einen  solchen  Auf- 
schwung genommen,  dass  selbst  die  «Tribuna»,  das  einzige  von  Euch  als 
glaubwürdig  anerkannte  Journal,  eingestehen  muss:  «Jedermann  wird  es 
begreifen,  wie  stolz  wir  darauf  sind,  von  der  Thätigkeit  des  rumänischen 
Volkes  auf  wirtschaftlichem  Gebiete  sprechen  zu  können.  Vor  Allem  ver- 
mehren und  kräftigen  sich  unsere  Geld-  und  Credit-Institute,  welche  den 
unleugbaren  Nutzen  haben,  dass  sie  unsere  Leute  aus  den  Klauen  der  sie 
wirtschaftlich  zu  Grunde  richtenden  Individuen  befreiten.  («Trib.»  1891, 
Nr.  72.) 

Was  nun  bedeutet  dieses  ?  Wie  konnten  die  rein  rumänischen  Institute 
sich  vermehren  und  kräftigen,  wenn  die  Begierung,  welche  die  Concession 
für  die  Errichtung  derselben  erteilt,  den  Bumänen  feindlich  gesinnt  wäre  ? 
Die  materielle  Lage  der  Bumänen  hat  sich  bei  uns  wesentlich  gebessert, 
viele  von  ihnen  haben  sich  bereichert,  die  Lebensexistenz  ist  ihnen  erleich- 
tert worden ;  denn  die  Begierung  hält  nicht  das  Emporkommen  des  Bumä- 
nen, des  Magyaren  oder  des  Slovaken  vor  Augen,  sondern  ihr  li^  die  Hebung 
des  Gemeininteresses,  das  zugleich  das  Interesse  des  Vaterlandes  ist,  am 
Herzen. 


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DER  BÜKÜRE8TER  UNIVEB8ITÄT8- JUGEND.  *01 

Besteht  daher  zwischen  uns  ein  Unterschied  ?  Gewiss ;  aber  der  Erfolg 
spricht  zu  unseren  Gunsten.  Der  ungarische  Grundherr  suchte  nicht  von 
dem  betreiten  Hörigen  den  Grundbesitz  zurückzuerwerben,  und  diese  That- 
Sache  gereicht  unter  allen  Umständen  den  ungarischen  Grundherren 
zur  Ehre. 

Und  Ihr  wendet  Euch  dennoch  zu  unserer  Verteidigung  an  Europa? 


Gehen  wir  zu  den  einzelnen  Anklagen  über ! 

Ihr  behauptet,  dass  die  rumänischen  Kirchen  und  Schulen  verfolgt 
werden ;  dass  auf  dem  Gebiete  des  ungarischen  Staates  die  rumänischen 
Beligions-  und  Schulangelegenheiten  nicht  gehörig  gesichert  seien,  und 
betrachtet  es  als  einen  harten  Schlag,  dass  unsere  Bischöfe  durch  die  Krone 
ernannt,  resp.  bestättigt  werden,  sowie  dass  in  den  rumänischen  Schulen  die 
ungarische  Sprache  als  ordentlicher  Lehrgegenstand  eingeführt  worden  ist. 
Mit  Einem  Wort :  Der  Magyar  sei  ein  Feind  der  rumänischen  Kirche  und 
Schule. 

Ihr  behauptet,  dass  überall  magyarische  «Cultur- Vereine»  gegründet 
worden  seien  und  dass  insbesondere  der  «Siebenbürgische  Cultur- Vereint 
die  Rumänen  magyarisiren  wolle,  sonach  der  Magyar  der  rumänischen 
€ultur  ein  geschworener  Feind  sei. 

Und  dennoch  ist  es  sehr  auffallend,  dass  unter  solchen  ungünstigen 
Verhältnissen  auf  dem  Gebiete  des  ungarischen  Staates  die  rumänische 
Kirche  und  Schule  blühender  gedeiht  als  bei  Euch  im  freien  Rumänien, 
unter  Eurem  eigenen  Einflüsse. 

Es  ist  bedauerlich  und  überaus  traurig,  dass  Ihr  die  Vergangenheit 
Eures  Vaterlandes  und  seiner  Institutionen  nicht  kennet.  Wie  können  Euch 
dann  unsere  Angelegenheiten  genau  bekannt  sein  ?  Noch  trauriger  aber  ist  es, 
wenn  Ihr  vor  Europa  Dinge  behauptet,  von  deren  Grundlosigkeit  Europa 
überzeugt  ist.  Oder  haltet  Ihr  Europa  für  so  bornirt,  dass  es  Dinge  vergesse, 
welche  erst  kürzlich  vor  seinen  Augen  geregelt  wurden? 

Halten  wir  hier  ein  wenig  still ! 

In  die  inneren  Angelegenheiten  des  ungarischen  Staates  hat  Europa 
flieh  niemals  eingemischt,  insbesondere  nicht  unter  dem  Vorwande,  weil  man 
hier  die  Freiheit  unterdrücke  und  morde.  Im  Gegenteil !  Wenn  eine  fremde 
Intervention  geschah,  so  war  es  deshalb,  um  bei  uns  die  Freiheit  zu  ver- 
nichten. 

Bei  Euch  hat  man  auf  brutale  Weise  die  Glaubens-Bekenntnisse  An- 
derer verfolgt,  während  bei  uns  die  Religionsfreiheit  proclamirt  ward.  Der 
Wojwode  Stefan  drang  zu  Pferde  in  die  Kirche  der  christlichen  Armenier 
ein  (1551),  nahm  das   Allerheiligste  vom   Altar  und  warf  es  zur  Erde, 

üngaiiMhe  BaTo»  Xr.  1891.  V.  Heft.  ^g 


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402  KnnB    ANTWOBT   AUF   DIE   DENKSCHRIFT 

beraubte  die  Kirche,  liess  die  Priester  und  Mönche  binden  und  in  den 
Kerker  werfen. 

«In  meinem  Lande»;  sagte  der  Wojwod,  «darf  kein  Armenier  ver- 
bleiben ;  Jeder  muss  den  griechischen  Glauben  bekennen.  Wenn  Ihr  die 
griechische  Religion  nicht  annehmet,  werde  ich  Euch  alle  mit  Feuer  und 
Schwert  verderben.  Wer  widerstrebt,  den  schlage  ich  mit  dgener  Hand 
nieder,  dem  bohre  ich  die  Augen  aus ! »  Wir  wollen  aus  diesen  Vorfallen 
kein  politisches  Capital  schlagen ;  denn  blindeifrige,  für  ihren  Glauben  fana- 
tisirte  Menschen,  die  weder  Gott  noch  den  Nächsten  kennen,  hat  es  zu  allen 
Zeiten  gegeben. 

Gehen  wir  auch  nicht  so  weit  zurück,  um  die  schreckUchen  Beispiele 
religiöser  Verfolgungen  aus  der  Vergangenheit  zu  citiren ;  bleiben  wir  bei 
der  Gegenwart.  Europa  wurde  in  jüngster  Zeit  von  den  Judenverfolgungen 
stark  in  Anspruch  genommen.  Diese  Judenverfolgungen  waren  an  der  Tages- 
ordnung und  heute,  da  Ihr  im  Interesse  der  freien  Beligionsübung  Euer 
«Memorandum»  an  Europa  richtet,  packen  hinter  Eurem  Bücken,  auf  dem 
Boden  Eures  Vaterlandes  die  Juden  zu  Tausenden  ihre  HabseUgkeiten 
zusammen,  um  ein  besseres  Heim  aufzusuchen.  Ihr  wünschet  ihnen  spott- 
weise eine  «glückliche  Reise.» 

Nicht  ohne  Grund  hat  also  Europa  sich  in  Eure  inneren  Angelegen- 
heiten eingemischt.  Als  Ibr  an  der  Seite  der  ungeheuren  russischen  Kriegs- 
macht Eure  Freiheit  mit  Tapferkeit  erkämpft  hattet,  wolltet  Ihr  dennoch 
ein  orientalischer  Staat  verbleiben ;  wolltet  Euch  nicht  auf  das  Niveau  der 
europäischen  Givilisation  erheben.  Europa  erkannte  Eure  Souveränetät 
nur  unter  der  Bedingung  an,  wenn  Ihr  der  europäischen  Givilisation  die  Thore 
öffnet  und  für  diese  Givilisation  Garantien  leistet. 

Was  sagt  der  Berliner  Vertrag  vom  Jahre  1878? 

Die  hohen  Contrahenten  erkennen  die  Unabhängigkeit  Rumäniens  an,, 
aber  unter  folgenden  Bedingungen : 

1.  Der  Religions-  oder  Glaubens- Unterschied  darf  gegen  Niemanden 
als  Motiv  gelten,  um  ihn  von  dem  Genüsse  der  bürgerlichen  und  politischen 
Rechte  auszuschliessen  oder  ihn  zur  Bekleidung  öffenthcher  Aemter  und 
Würden  untaugUch  zu  machen  oder  ihn  an  der  Fortsetzung  der  verschie- 
denen Geschäfte  und  Gewerbe  an  welchem  Orte  immer  zu  verhindern. 

2.  Die  Freiheit  und  äusserUche  Ausübung  der  Religion  ist  garantirt 
sowohl  den  Angehörigen  des  Staates  wie  den  Ausländem  und  es  darf  den 
verschiedenen  Confessionen  weder  in  Hinsicht  ihrer  kirchhchen  Organisa- 
tion noch  bezüglich  der  Verhältnisse  zu  ihren  Glaubensvorstehern  irgend 
welches  Hindemiss  in  den  Weg  gelegt  werden.  Die  Angehörigen  eines  jeden 
Staates,  seien  es  Handelsleute  oder  Andere,  gemessen  ohne  Unterschied  des 
Glaubens  in  Rumänien  auf  Grund  der  vollständigen  Gleichberechtigung  die 
gleiche  Behandlung.  (Art.  43,  44.) 


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DER  BÜKURESTBR  UNTVEBSITÄTS-JUGEND.  ^^ 

Untersuchen  wir  die  übrigen  Bedingungen  nicht  weiter  !  Diese  beiden 
bezeugen  es  deutlich,  dass  in  Eurem  Staate  Europa  die  freie  Religionsübung 
vorgeschrieben  hat  und  dass  nicht  Ihr  Euch  zu  jener  Höhe  der  Freiheit 
erhoben  habt,  ohne  welche  in  Europa  kein  Land  den  Anspruch  auf  den 
Namen  eines  «Culturstaates»  machen  kann. 

Und  wie  erfüllt  Ihr  Eure  diesbezüglichen  Verpflichtungen  ?  Ihr  be- 
freiet die  jüdische  Bevölkerung  nur  partienweise  und  knüpfet  die  Emanci- 
pation  an  gewisse  Bedingnisse.  Gegen  die  griechischen  und  römischen 
Katholiken  wird  in  Euren  Kirchenblättem  fortwährend  agitirt.  Den  nach 
fiumänien  zur  Visitation  seiner  Glaubensgemeinden  gehenden  evangelisch- 
reformirten  Bischof  aus  Siebenbürgen  stellet  Ihr  unter  Polizei- Aufsicht  und 
Ihr  gesteht  Niemandem,  der  nicht  zum  griechisch-orientalischen  Bitus 
gehört,  das  Becht  der  Beteiligung  an  den  staatlichen  Vergünstigungen  zu. 
Eure  Gesetze  verfügen  in  vielen  Dingen  derartig,  dass  nur  das  griechisch- 
orientalische Bekenntniss  den  Ausschlag  gibt. 

Und  wie  fasset  Ihr  die  Gleichberechtigung  hinsichtlich  der  Aemter 
und  Würden  auf?  Gehen  wir  nicht  weit.  Der  Fall  mit  dem  rumänischen 
Gelehrten  Lazar  Sainean  ist  Euch  bekannt.  Ihr  habt  diesen  Gelehrten, 
weil  er  ein  Jude  war,  vom  Universitäts-Katheder  verdrängt  und  ganz  Bu- 
mänien  gegen  ihn  aufgehetzt,  und  doch  hat  er  der  rumänischen  Sprache 
und  Literatur,  der  rumänischen  Cultur  so  viele  Dienste  geleistet,  wie  wenige 
von  Euren  sogenannten  Halbgöttern ! 

All  das  führe  ich  aber  nicht  als  Verbrechen  an.  Ich  anerkenne,  dass 
dies  krampfhafte  Festhalten  an  der  Bace,  an  der  Staatsgewalt,  an  den  Be- 
dingnissen des  Nationalstaates  kein  Verbrechen  sein  kann.  Man  kann  dadurch 
gegen  die  Freiheit  sündigen,  allein  es  kann  kein  derartiges  Verbrechen  sein, 
dass  jemand  vom  Standpunkte  der  Selbsterhaltung  den  Stein  aufbeben 
dürfte.  Wer  jedoch  in  dieser  Beziehung  unter  gläsernem  Dache  sitzt,  der 
werfe  nicht  mit  Steinen  und  wende  sich  nicht  an  Europa  in  solchen  Din- 
gen, in  denen  er  selber  schuldig  ist. 

Bei  uns  geschehen  derartige  Dinge  nicht ;  sie  geschahen  selbst  damals 
nicht,  als  noch  die  Theorie  der  «recipirten  Confessionen»  herrschend  war. 
Wegen  unseres  Glaubens  haben  wir  in  unserem  Lande  niemals  eine  Ver- 
folgung erlitten.  Einzelne  Confessionen  waren  bemüht,  uns  über  ihre  Glau- 
benssätze aufzuklären  und  dafür  zu  gewinnen ;  aber  wegen  unserer  eigenen 
Beligion  hatten  wir  keine  Verfolgung  erduldet.  Wer  aus  der  Geschichte 
Siebenbürgens  uns  ein  einziges  Blatt  zeigt,  welches  eine  solche  Verfolgung 
documentirt,  der  wäre  in  Wahrheit  ein  ausserordentlicher  Mensch.  Einzel- 
nen mag  wohl  Unirecht  geschehen  sein,  aber  wegen  seiner  Beligion  wurde 
Niemand  behelligt 

Unsere  Kirchenverfassung  winrde  durch  königliche  Bescripte  und  Lan- 
desgesetze garantirt.  Die  kirchlichen  Institutionen  der  griechischen  Katho- 

26* 


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-*<^  EINE    ANTWORT  AUF  DIE   DBNK80HRIFT 

liken  und  die  freie  Uebung  ihres  Glaubens  sicherten  mehrere  königliche 
Schreiben.  So  verfügt  z.  B.  in  dieser  Beziehung  das  Manifest  des  Kaisers 
und  Königs  Leopold  I.  vom  2.  Juni  1698  in  bestimmter  Weise.  Der  Gesetz- 
artikel 66  vom  Jahre  1761  spricht  es  klar  aus,  dass  die  freie  Beligions- 
übung  den  Griechisch -Orientalischen  gewährleistet  sei.  Das  königliche 
Bescript  vom  2.  Mai  1 792,  womit  das  Gesetz  über  die  Beligionsfreiheit  zur 
Inartikulirung  herabgesendet  wurde,  constatirt  zugleich  die  allgemeine 
Äemterfähigkeit  auch  für  die  Griechisch-Orientalischen.  «In  Bezug  auf  diese 
Anordnung  (bemerkt  das  Bescript)  gab  es  unter  den  Ständen  des  Landes 
keinerlei  Schwierigkeiten ;  aber  die  für  die  heiligen  Kirchenangelegenheiten 
entsendete  Deputation  wird  die  Pflicht  haben,  für  die  Heranbildung  des 
Wallachentums  zu  sorgen.» 

Der  siebenbürgische  G.-A.  IX  :  1848  setzt  die  «vollständige  und  voll- 
kommene Bechtsgleichheit»  unter  den  Confessionen  fest  und  diese  Bechts- 
gleichheit  spricht  auch  der  G.-A.  XX :  1848  des  ungarischen  Beichs- 
tages  aus. 

Nach  Wiederherstellung  der  Verfassung  war  es  die  erste  Pflicht  der 
xmgarischen  Gesetzgebung,  die  Beligionsfreiheit  zu  sichern  und  die  Auto- 
nomie der  Kirche  zu  kräftigen.  Der  G.-A.  IX :  1868  verleiht  den  Griechisch- 
Orientalischen  eine  auf  breitester  Basis  ruhende  Autonomie,  welche  vollkom- 
men selbständig,  unabhängig  und  frei  von  allen  Einmischungen  ist. 

Und  dennoch  sollten  die  Magyaren  die  Feinde  der  rumänischen 
Kirchen,  des  rumänischen  Glaubens  sein  ? ! 

Gehen  wir  nicht  zu  weit.  Lesen  wir  nur  die  diesjährige  Nr.  27  der 
Berliner  «Kreuzzeitung»  oder  die  heurige  Nr.  59  der  Hermannstädter 
«Tribuna»,  worin  es  heisst:  «Die  Griechisch-Orientalischen  in  Ungarn 
stehen  unzweifelhaft  unter  allen  griechisch- orientalischen  Christen  auf  der 
fortgeschrittensten  Stufe  der  Gultur.  Sowohl  die  «Unirten»  als  auch  die 
«Nichtunirten»  besitzen  eine  vorzügliche  Kirchen  Verfassung  und  einen  wis- 
senschaftlich gebildeten  Glerus.  Sie  haben  die  gesammte  griechisch-orien- 
talische Kirche  reformirt!» 

Während  Ihr  also  vor  Europa  von  Glaubens-  und  Kirchenverfolgung 
redet,  gibt  Euch  die  «Tribuna»  eine  Auskunft,  dass  Eure  Kirchen  weit 
zurückgeblieben  seien  hinter  den  unsrigen  hier  unter  den  feindseligen  Ma- 
gyaren. 

Und  ist  es  ein  Uebel,  dass  unsere  Bischöfe  vom  Könige  ernannt,  resp. 
bestätigt  werden?  In  welchem  Staate  ist  dies  anders?  Wie  steht  es  bei 
Euch  ?  Auch  dort  ist  es  nicht  anders.  Nach  Eurer  Kirchenverfassung  wird 
die  Wahl  der  Erzbischöfe  und  Bischöfe  ebenfalls  durch  den  Cultusminister 
dem  Könige  zur  Bestätigung  unterbreitet.  Wenn  dies  bei  Euch  kein  Unheil 
ist,  warum  soll  dieser  Gebrauch  gerade  bei  uns,  wo  er  von  den  ältesten  Zei- 
ten her  besteht,  ein  Uebel  sein?  Er  bestand  hierlands  schon  zu  jener  Zeit^ 


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DER  BUKUBBSTBR  ÜNIYBRSITÄTß-JUGfiND.  40f> 

da  Griechen  und  Slaven  gegen  Euren  Willen  und  ohne  Eure  Zustimmung 
Euch  die  Bischöfe  auf  den  Hals  schickten.  Und  war  es  unter  dem  Absolu- 
tismus etwa  anders  ?  Wurden  Schaguna,  Schulutz  und  deren  Genossen  nicht 
auch  von  der  Krone  ernannt?  Und  das  habt  Ihr  damab  ganz  einfach  und 
natürlich  gefunden. 

Es  ist  eine  unbestreitbare  Thatsache,  dass  die  rumänischen  Kirchen  bei 
uns  eine  grössere  Freiheit  geniessen,  als  die  Eurigen  im  freien  Bumänien 
und  das  Uebel  liegt  bei  uns  eben  in  dieser  zu  grossen  Freiheit.  Die  kirch- 
lichen Synoden  und  Congresse  begnügen  sich  nicht  mehr  mit  der  Erledi- 
gung kirchlicher  Angelegenheiten,  sondern  ziehen  auch  die  Politik  in  daa 
Bereich  ihrer  Verhandlungen.  Unsere  kirchlichen  Körperschaften  politisiren 
ganz  offen.  Welcher  Staat  gestattet  es,  dass  die  kirchlichen  Gorporationen 
ihre  gesetzlich  garantirte  Autonomie  missbrauchen  ?  Unser  grösstes  Elend 
liegt  eben  darin,  dass  wir  unsere  Kräfte  durch  die  Aufreizung  der  politi- 
schen Leidenschaften  aufzehren.  Wir  betreiben  keine  ernste  Arbeit  mehr; 
auf  allen  Gebieten:  in  der  Kirche,  in  der  Schule,  in  der  Gesellschaft  wütet 
die  politische  Farteisucht  und  indessen  vergessen  wir  unsere  heiligsten 
Pflichten  gegen  uns  selber,  sowie  gegen  das  Vaterland  und  unsere  übrigen 
Mitbürger.  Die  ungarische  Begierung  aber  lässt  uns  trotzdem  in  Frieden 
und  hat  unsere  Autonomie  nicht  im  Geringsten  geschmälert. 

Wir  sind  hier  so  frei  und  haben  gebildete  Geistliche  in  solcher  Anzahl,, 
dass  hier  disciplinarisch  gemassregelte  Individuen  (Simion  Popescu)  bei 
Euch  zu  den  höchsten  geistlichen  Stellen  gelangen;  ihnen  vertrauet  Ihr  die 
theologische  Lehrkanzel  an,  welche  wir  ihnen  wegen  ihrer  Unfähigkeit  ent- 
zogen haben. 

Wie  wagt  Ihr  unter  solchen  Umständen  vor  Europa  mit  der  Anklage 
aufzutreten,  dass  in  Ungarn  die  rumänische  Beligion  und  Kirche  verfolgt 
werde  und  dass  die  Magyaren  deren  geschworene  Feinde  seien  ?  Wenn  das 
wahr  wäre,  dann  sagt  uns  doch,  weshalb  haschet  Ihr  nach  den  Brosamen, 
die  von  unserem  Tische  fallen ;  warum  nehmt  Ihr  unsere  Leute  mit  solchem 
Eifer  auf  imd  weshalb  benutzt  Ihr  so  gerne  die  Erfolge  unserer  Studien  ? 

Habt  Ihr  unserer  Kirche  auch  nur  einen  einzigen  Mann  gegeben  ?  Habt 
Ihr  von  der  ältesten  Zeit  her  unsere  Kirchenliteratur  auch  nur  mit  einem 
Buche  bereichert?  Ist  von  Euch  auf  kirchlichem  Gebiete  auch  nur  ein  ein- 
ziger Lichtfunke  ausgegangen,  eine  einzige  Massregel  in  Betreff  der  kirch- 
lichen Organisation,  ein  einziger  Anstoss  für  den  kirchlichen  Fortschritt? 
Nichts,  gar  nichts.  Wir  selber  haben  uns  Alles  geschaffen  und  dabei  noch  sa 
viel  Ueberschuss  erworben,  dass  wir  auch  Euch  befriedigen  konnten.  Oder, 
faUs  die  Magyaren  die  Feinde  unserer  Beligion  und  Kirche  gewesen  wären, 
hätten  wir  dann  wohl  diese  Erfolge  erzielt,  an  deren  Früchten  wir  uns  heute 
erfreuen  dürfen  ?  Nein !  Euer  Beispiel  zeigt  uns  dies  deutlich.  Ihr  hattet 
die  slavischen  und  griechischen  Feinde  im  Lande  und  konntet  deshalb  auf 


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406  EINE    ANTWORT   AUF   DIB   DENKSCHRIFT 

eigenem  Boden  nichts  erringen.  Das  ist  sicherlich  ein  schweres  Unglück,  aber 
es  interessirt  nur  Euch  und  darum  wollen  wir  keinerlei  Capital  daraas 
schlagen. 

Jetzt  aber  kommt  Ihr  nach  Eurem  alten  Gebrauch  und  wollet  all  das 
bedrohen,  was  wir  besitzen  Ja,  Ihr  stürzet  unsere  freien  Institutionen  und 
die  Interessen  des  Bumänentums  in  Gefahr,  indem  Ihr  uns  zur  Untreue,  zum 
Yaterlandsverrat,  zur  Bevolution  verleiten  wollet.  Welche  patriotische  Begie« 
rung,  welche  die  Interessen  des  Staates  vor  Augen  hat,  müsste  nicht  Schutz- 
vorkehrungen treffen  gegen  diese  zur  Treulosigkeit  aufreizenden  Strömungen? 
Wie  sollte  die  Begierung  nicht  bemüht  sein,  jene  Elemente  zu  vernichten, 
denen  ihr  Vaterland  kein  Vaterland,  ihr  König  kein  König,  ihre  Gesetze  keine 
Gesetze  mehr  sind  ?  Was  würdet  Ihr  auf  dem  Boden  Bumäniens  mit  solchen 
Elementen  anfangen,  die  Karl  I.  nicht  als  König  erkennen,  Eure  Gesetze 
nicht  als  Gesetze  respectiren  würden  ?  Und  Ihr  anerkennet  weder  Gesetz  noch 
Vaterland ;  Ihr  sendet  Eure  Agenten  hierher  und  führt  unsere  Bumänen 
nach  der  Dobrudscha,  in  deren  Sümpfen  sie  elend  umkommen !  Ihr  schwä- 
chet hier  das  rumänische  Element,  dessen  Kirchen  und  Schulen;  Euren 
Spuren  folgt  die  Verwüstung ;  unsere  Felder  veröden,  sowie  Eure  Schritte 
sie  betreten ;  wir  werden  misstrauisch,  argwöhnisch ;  Euretwegen  können  wir 
in  diesem  reichen  Vaterlande  nicht  leben,  hier  nicht  mehr  fortbestehen ! 


Wie  steht  es  mit  unseren  Schulen  ? 

Wir  müssen  darüber  im  Beinen  sein,  dass  wir  uns  hier  auf  dem  Terri- 
torium des  ungarischen  Staates  befinden,  Ihr  aber  daheim  in  Eurem  eigenen 
Königreiche  seid.  Nach  Eurer  Ansicht  stehen  wir  hier  mit  einem  feindlich 
gesinnten  Volke  in  Berührung,  welches  unsere  Sprache  und  Cultur  be- 
kämpft 

Wunderbare  Erscheinungen  !  Wir  Bumänen  auf  dem  angeblich  feind- 
seligen ungarischen  Boden  haben  um  die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts 
unsere  Schulen  zu  Blasendorf  eröffnet  und  bis  zu  Ende  dieses  Jahrhunderts  hat 
Georg  Sinkay  allein  etwa  300  rumänische  Schulen  gegründet ;  Ihr  aber  hattet 
zu  derselben  Zeit  auch  nicht  eine  einzige  rumänische  Nationalschule.  Bei 
uns  war  die  Unterrichtssprache  rumänisch,  in  Euren  Schulen  griechisch  und 
slavisch ;  die  rumänische  Sprache  wurde  nicht  einmal  unter  die  ordentUcheo 
Lehrgegenstände  aufgenommen.  Bei  uns  entstanden  rumänische  Gymnasien, 
Priesterseminarien,  Lehrerbildungsanstalten  und  bei  Euch  gab  es  kaum  Ele- 
mentarschulen. Am  Schlüsse  des  vorigen  Jahrhunderts  haben  wir  nach  dem 
Vorbilde  der  Magyaren  (Aranka)  die  Idee  der  Gründung  einer  rumänischen  Ge- 
lehrten-Gesellschaft ins  Auge  gefasst  (Hil.  Papiu,  Via^  etc.  lui  Georgiu  Sinkai, 
p.  85 — 86),  während  Ihr  erst  im  Jahre  1867  eine  solche  Gesellschaft  in  Buku- 


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DBB  BUKUKB8TBR  ÜNTVERSITATS- JUGEND. 


407 


rest  errichten  konntet.  Es  ist  also  eine  grobe  Unwahrheit,  wenn  Ihr  behauptet, 
dass  wir  erst  nach  dem  Jahre  1850  das  Recht  erlangt  haben,  die  Schulen 
zu  besuchen  und  öffentliche  Aemter  zu  bekleiden.  Wer  hat  Euch  diese  Weis- 
heit gelehrt?  Ihr  wisset  also  nicht,  dass  die  Schulen  in  Blasendorf  im  Jahre 
1 754  von  mehr  als  300  rumänischen  Kindern  besucht  wurden ;  ja  dass  schon 
ein  Gesetz  vom  Jahre  1624  jeden  Grundherrn  mit  harter  Strafe  bedroht,  der 
die  Kinder  seiner  Untertanen  vom  Besuche  der  Schulen  zurückhalten  würde  ? 
Woher  ist  am  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  die  ansehnliche  Zahl  wissen- 
schaftlicher rumänischer  Männer  gekommen,  wenn  wir  erst  nach  1850  an- 
fingen, die  Schule  zu  besuchen?  Wie  vermochten  wir  schon  zu  Anfang  dieses 
Jahrhunderts  Euch  einen  Läzär  zu  geben,  falls  uns  hier  der  Besuch  der 
Schulen  verboten  gewesen  wäre  ?  In  den  öffentlichen  Aemtem  fanden  die 
Rumänen  schon  zu  Ende  des  XYII.  Jahrhunderts  Verwendung  imd  diese 
unsere  Rechte  wurden  uns  zu  Anfang  des  vorigen  Jahrhunderts  durch 
königliche  Rescripte,  in  der  Mitte  dieses  Jahrhunderts  aber  durch  Gesetze 
gesichert. 

Worin  liegen  also  die  Verfolgungen  der  rumänischen  Sprache  und 
Schule? 

Der  ungarische  Gesetzartikel  38  :  1868  gibt  den  Confessionen,  den 
Gesellschaften  und  Einzelnen  das  Recht  zur  Gründung  und  Erhaltung  der 
Volksschulen.  Die  rumänischen  Kirchen  können  also  Schulen  erhalten,  in 
denen  die  UnterrichtBsprache  die  rumänische  ist.  Die  rumänischen  Schüler 
lernen  ihre  Religion  und  die  vaterländische  Geschichte  in  rumänischer 
Sprache,  in  dieser  Sprache  erhalten  sie  den  Unterricht  in  allen  Lehrgegen- 
ständen ;  der  rumänische  Lehrer  unterrichtet  und  leitet  sie ;  rumänisch  sind 
die  Lehrbücher,  die  ganze  Schulverfassung,  rumänisch  das  Schulprotokoll 
und  die  unmittelbare  Beaufsichtigung  der  Schule ;  denn  die  aus  rumänischen 
Mitgliedem  bestehenden  Ortsschulcommissionen  wachen  über  die  rumäni- 
schen Schulen.  Die  JüngUnge  declamiien  und  singen  rumänisch ;  sie  lernen 
überdies  Arbeiten  an  der  Erzeugung  rumänischer  Hausindustrie- Artikel,  — 
wo  ist  hier  die  so  laut  beklagte  «Verfolgung»  ? 

Von  den  Oesterreichern  hat  die  ungarische  Regierung  im  Jahre  1867 
insgesammt  S500  rumänische  Elementarschulen  übernommen  und  wie  viele 
solcher  Schulen  bestehen  heute?  Die  Zahl  der  rumänischen  Volksschulen 
hat  sich  in  den  Jahren  von  1867  bis  1888  unter  der  «feindlich  gesinnten» 
ungarischen  Regierung  auf  etwa  3700  Schulen  vermehrt,  in  denen  die  Unter- 
richtssprache rumänisch  ist.  Allein  das  betrachte  man  nicht  als  einen  Erfolg 
auf  dem  Gebiete  des  Unterrichtswesens ;  denn  ich  finde  die  Schule  nicht  in 
dem  Gebäude,  sondern  in  dem  inneren  Leben  derselben.  Während  im  Jahre 
1861  die  Anzahl  der  beruflich  qualificirten  Lehrer  nur  eine  geringe  war, 
wirken  heute  mit  wenigen  Ausnahmen  in  allen  rumänischen  Volksschulen 
geprüfte  Lehrkräfte.  Es  hat  somit  nicht  nur  die  Zahl  der  rumänischen 


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^08  BINE    ANTWORT   AUF   DIB   DENKSCHRIFT 

SchuleD  sieb  stark  vermehrt,  sondern  diese  Schulen  worden  auch  vom 
Gesichtspunkte  der  Lehrerbildung,  der  Ausstattung  und  des  hygienischen 
Zustandes  auf  das  Niveau  unserer  Zeit  gehoben.  Ueber  das  ganze  Land  ist 
ein  Netz  von  rumänischen  Lehrer-,  Cultur-,  Frauen-,  Gesang-,  Selbstbildungs- 
Vereinen  ausgebreitet,  deren  Wirksamkeit  keinerlei  Hindemisse  in  den  Weg 
gelegt  werden  und  die  der  rumänischen  Cultur  sicherlich  zum  Nutzen  dienen. 

Man  beschäftigt  sich  heute  gerne  mit  der  Statistik.  Diese  zeigt  nun, 
dass  unter  den  24  Jahren  der  ungarischen  Regierung  die  rumänischen 
Volks-  und  Mittelschulen  bedeutende  Fortschritte  gemacht  haben. 

Wo  steckt  nun  das  Uebel  ? 

Das  Uebel  beruht  darin,  dass  in  der  allgemein  verpflichtenden  Schul- 
ordnung auch  die  ungarische  Sprache  als  ordentlicher  Lehrgegenstand  vor- 
geschrieben ist.  In  den  rumänischen  Schulen  muss  in  der  Woche  nicht  in 
18  Stunden,  wie  Ihr  verdreht  behauptet,  sondern  in  2 — 6  Unterrichtsstunden 
auch  die  ungarische  Sprache  gelehrt  werden.  Das  kann  aber  doch  nicht  vom 
Uebel  sein  ?  Den  Unterricht  in  der  ungarischen  Sprache  hat  ja  der  Reichs- 
tag schon  im  Jahre  1 792  angeordnet  Ein  königliches  Bescript  vom  2.  Mai 
1792  machte  es  der  zur  Begelung  der  rumänischen  kirchlichen  Angelegen- 
heiten entsendeten  Deputation  zur  Pflicht,  dass  sie  für  die  Verbreitung  der 
ungarischen  Sprache  unter  den  Rumänen  Sorge  tragen  möge. 

Die  Nützlichkeit  der  ungarischen  Sprache  haben  die  rumänischen 
Bischöfe  jederzeit  anerkannt.  Bischof  Ladislaus  Moga  trägt  in  einem  Rund- 
schreiben vom  14.  Juni  1813  den  Dechanaten  auf,  dass  sie  zu  geistlichen 
Stellen  nur  solche  Individuen  in  Vorschlag  bringen,  die  der  ungarischen 
Sprache  und  auch  anderer  Sprachen  kundig  sind.  —  Derselbe  Bischof  führte 
am  13.  Oktober  1829  das  Ungarische  als  ordentlichen  Lehrgegenstand  in  das 
Priesterseminar  ein.  Vordem  haben  die  Rumänen  gegen  den  Unterricht  in 
der  ungarischen  Sprache  niemals  Protest  erhoben;  denn  sie  haben  den 
Nutzen  dieser  Sprache  stets  anerkannt.  Die  rumänischen  Jünglinge  besuch- 
ten ungarische  Schulen  und  wenn  für  diese  Schüler  die  gesammte  magya- 
rische Schulbildung  nicht  gefährlich  war,  wie  sollten  dies  die  2 — 6  Stunden 
ungarischer  Unterricht  in  den  rumänischen  Schulen  sein?  Wie  man  die 
Sache  immer  drehen  und  wenden  mag,  es  bleibt  die  Thatsache^  dass  die 
ungarische  Sprache  bei  uns  die  Staatssprache  ist. 

Unter  der  absolutistischen  Regierung  (1850 — 1860)  war  in  unseren 
Schulen  die  Unterrichtssprache  das  Deutsche  und  doch  gehörte  der  Staat 
nicht  den  Deutschen.  Weder  wir,  noch  Ihr  haben  uns  damals  gegen  die 
deutsche  Sprache  verwahrt ;  weder  wir  noch  Ihr  haben  damals  befürchtet, 
dass  die  deutsche  Sprache  uns  germanisiren  werde.  Wir  diesseitigen  Rumä- 
nen haben  (obgleich  unrichtig)  die  deutsche  Sprache  als  Unterrichtssprache 
angenommen  und  doch  war  diese  Sprache  für  uns  mehr  fremd  als  daa 
Ungarische.  Trotzdem  sind  wir  keine  Deutschen  geworden. 


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DBB  BUEÜBESTER  TJNIVBBßlTÄTS-JTJÖEND.  406 

Die  Staatsbürger  von  der  Eenntniss  der  Staatssprache  fernhalten 
wollen  ist  mehr  als  Gewissenlosigkeit.  Im  Verkehre  des  staatlichen  und 
socialen  Lebens  bedürfen  wir  dieser  Eenntniss  bei  jeder  Berührung  und 
wir  dürfen  nicht  jener  strengen  Pflichten  vergessen,  welche  wir  nicht  nur 
gegen  uns  selbst,  sondern  auch  gegen  den  Staat  zu  erfüllen  haben. 

Und  diese  unsere  Pflichten  müssen  wir  um  so  getreulicher  erfüllen, 
weil  wir  sehen  und  uns  davon  überzeugen,  dass  der  ungar.  Staat  uns  nicht 
unserer  Nationalität  entkleiden,  sondern  uns  nur  in  den  Stand  versetzen 
will,  dass  wir  durch  die  Kenntniss  der  ungarischen  Sprache  unseren  bürger- 
lichen Verpflichtungen  umso  besser  entsprechen  und  unsere  gesetzlichen 
Freiheiten  umsomehr  ausnützen  können. 

Hat  Jemand  während  der  24-jährigen  ungarischen  Begierung  auf  dem 
Boden  des  ungarischen  Staates  nur  einen  einzigen  entnationalisirten  Bumä- 
nen  gesehen?  Wer  einen  solchen  entdeckt  hat,  der  trete  hervor;  er  könnte 
unseren  Gegnern  einen  grossen  Dienst  erweisen.  Nach  den  rumänischen 
Statistikern  leben  in  Ungarn  drei  Millionen  Bumänen  —  von  diesen  drei 
Millionen  melde  sich  auch  nur  Einer,  dem  man  gesagt,  dass  er  Magyar 
geworden  sei.  Der  ungarische  Staat  bedarf  solcher  zweifelhafter  Eroberun- 
gen nicht. 

Ihr  erwähnet  auch  das  Kleinkinderbewahrgesetz  als  eines  Mittels  für 
Magyarisirung.  Kennt  Ihr  dieses  Gesetz  ?  Kein  Buchstabe  desselben  befiehlt 
dem  rumänischen  Kinde  den  Besuch  der  ungarischen  Bewahranstalt,  wohl 
aber  wird  die  Kinderbewahrung,  der  Kinderschutz  zur  Pflicht  gemacht.  Das 
Gesetz  gestattet  den  Confessionen,  den  Gesellschaften  und  Einzelnen  die 
Errichtung  von  Kinderbewahranstalten.  Die  rumänischen  Kirchengemeinden 
mögen  also  diese  Anstalten  einrichten  und  ihre  Kinder  behüten.  Gerade  mit 
Bücksicht  auf  die  Populations Verhältnisse  hat  die  ungarische  Legislative 
dieses  Gesetz  geschaffen  und  damit  Veranstaltungen  ermöglicht,  wodurch 
gerade  die  rumänischen  Kleinen  erhalten  werden  können.  Wer  aber  hat 
diesen  Kinderschutz  notwendiger  als  eben  das  rumänische  Volk? 

Unsere  Gesetze  werden  beherrscht  von  dem  Bestreben,  die  Freiheit,  das 
höchste  Gut  des  ungarischen  Staatsbürgers,  zu  behüten  und  zu  bewahren. 
Wenn  man  sich  vor  Thatsachen  nicht  beugen  will,  wenn  man  von  kabalen- 
Büchtiger,  übelwollender  Gesinnung  erfüllt  ist ;  wenn  man  nicht  den  Geist 
der  Gesetze  in  Betracht  zieht,  sondern  alles  verdreht  und  verkehrt:  —  dann 
kann  man  auch  aus  jedem  beliebigen  Satze  der  heil.  Schrift  eine  Anklage 
gegen  die  Magyaren  herausdeuten  und  doch  waren  die  Magyaren  damals 
in  Europa  noch  gar  nicht  vorhanden. 

Das  Uebel  ist  also,  dass  die  ungarische  Gesetzgebung  in  allen  Schulen 
des  ungarischen  Staates  die  ungarische  Sprache  als  ordentlichen  Lehrgegen- 
stand vorgeschrieben  hat. 

üagadMhe  Beme,  XI.  1891.  V.  Heft.  26a 


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410  EiKB    ANTWORT  AUF   DIE   DENKSGHBIFT 

Und  Ibr^  die  «Bollwerke  der  GivUisation  im  Osten»,  was  thut  Ihr? 
Eure  Schulen  kämpfen  auch  jetzt  noch  mit  den  Mühseligkeiten  des  Anfangee. 
Wir  hiesigen  Rumänen  haben  bereits  selber  an  empfindlichem  Mangel  zu 
leiden,  weil  wir  Eure  Schulen  mit  Lehrern  versehen  müssen.  Wir  können 
nicht  so  viele  Volksschullehrer  heranbilden,  um  Euch  zu  befriedigen.  In  der 
Hand  von  rumänischen  Jünglingen,  die  von  der  Elementarschule  bis  zur 
Universität  an  den  Brüsten  ungarischer  Wissenschaft  herangewachsen,  be- 
findet sich  bei  Euch  der  Unterricht,  und  Ihr  habt  dennoch  gegen  diese  Lehrer 
und  Professoren  keine  Klage  ?  .  .  . 

In  Euren  Mittelschulen  habt  Ibr  neben  der  rumänischen  Sprache  noch 
die  Sprachen  entfernter  Völker :  die  italienische,  die  französische  und  die 
deutsche  Sprache  obligatorisch  gemacht  und  Ihr  besorget  nicht,  dass  Ihr  zu 
Italienern,  Franzosen  und  Deutschen  werdet.  Ja  Ihr  lerntet  ehedem  selbst  das 
Neugriechische  und  das  Slavische.  Eure  Mittelschulen  sind  nichts  Anderes 
als  die  Brennpunkte  des  Sprachenunterrichts  und  dennoch  habt  Ihr  keine 
Besorgniss,  dadurch  Eure  NationaUtät  zu  verlieren ! 

Wir,  die  wir  seit  längerer  Zeit  Bumänen  sind  als  Ihr;  die  das  Bumänen- 
tum  aus  seinem  tiefen  Schlafe  aufgerüttelt  und  ihm  die  neuen  Bahnen  gewie- 
sen haben;  wir,  die  Euch  die  Idee  der  Vereinigung,  des  rumänischen  König- 
tums gegeben,  Eure  Politik  geschaffen  und  das  Glaubensbekenntniss  der 
rumänischen  Ideen  verfasst  haben :  warum  sollen  wir  schwächer  sein  als  Ihr 
und  nicht  so  viel  Kraft  besitzen,  um  neben  der  Kenntniss  der  ungarischen 
Sprache  auch  noch  unsere  Behgion  und  Nationalität  bewahren  zu  können? 
Wir  sind  in  unserem  Selbstgefühl  verletzt,  wenn  Ihr  von  uns  voraussetzet, 
dass  das  Erlernen  der  ungarischen  Sprache  für  uns  genügend  sei,  damit  wir 
zu  Magyaren  werden.  Ihr  wäret  Slaven  und  Griechen ;  wir  aber  sind  stets 
Bumänen  gewesen  und  werden  es  bleiben !  Und  Ihr  habet  Sorge  um  uns ; 
Ihr,  die  Ihr  Euer  Bumänentum  bisher  so  oft  verleugnet  habt  ? 

Ferner :  Bomanisirt  Ihr  heute  etwa  nicht  ? 

Nach  dem  neuen  Gesetzentwurfe  ist  die  rumänische  Sprache  in  allen 
Schulen  Bumäniens  obligater  Lehrgegenstand.  Eines  solchen  Gesetzes  bedarf 
es  übrigens  gar  nicht,  denn  in  den  ungarischen  Schulen  Bumäniens  wird  die 
rumänische  Sprache  auch  jetzt  per  longum  et  latum  gelehrt.  Wem  käme 
es  in  den  Sinn,  deswegen  bei  Euch  Klage  zu  erheben?  Die  Kenntniss  der 
rumänischen  Sprache  ist  dort  allgemeines  Bedürfniss,  also  lerne  sie  Jeder- 
mann. Auch  wir  verlangen  nichts  Anderes. 

Ihr  aber  romanisirt  aus  allen  Kräften.  In  der  Dobrudscha  z.  B.  sind 
die  nichtrumänischen  Nationalitäten  in  der  Majorität,  die  Bumänen  bilden 
die  verschwindende  Minderheit.  Im  tBomanul»  erscheint  eben  jetzt  eine 
lange  Studie,  in  welcher  der  Verfasser  Vorschläge  zur  Bomanisirung  der 
Türken  und  anderer  Völkerschaften  in  der  Dobrudscha  macht.  Theodor 
Burada  aber  spricht  es  in  einem  seiner  Werke  offen  aus,  dass  die  Nationali- 


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DER  BUKÜRB8TBB  UNIVEBSITÄTS -JUGEND.  4-11 

-täten  in  der  Dobrudscha  um  jeden  Preis,  mit  Güte  und  Gewalt  romanisirt 
i^erden  müssen. 

Ihr  steckt  also  den  Eopf  in  den  Sand  gleich  dem  Vogel  Strauss  und 
meinet,  es  sähe  Euch  niemand ;  Ihr  wendet  Euch  gegen  die  Magyaren  an 
Europa,  während  doch  bei  Euch  zu  Hause  das  Uebel  riesenmässig  ist. 

Es  ist  nicht  wahr,  dass  unseren  rumänischen  Jünglingen  das  Studiren 
im  Auslande  verboten  ist ;  es  ist  ebenso  unwahr,  dass  deshalb  irgend  Jemand 
Verfolgungen  zu  erleiden  hätte.  Ein  beträchtlicher  Teil  der  Studenten  an 
der  Wiener  Universität  besteht  aus  ungarischen  Eumänon.  Der  ungarische 
^taat  selbst  entsendet  junge  Leute  ins  Ausland;  darunter  befand  sich 
auch  Professor  Babesch,  der  jetzt  bei  Euch  ist  und  eine  Zierde  der 
Bukureeter  Hochschule  bildet!  Oder  sollte  Europa  so  blind  sein,  dass 
es  die  rumänischen  Jünglinge  aus  Ungarn  an  seinen  Universitäten  nicht 
sehen  könnte? 

Auch  behauptet  Ihr,  man  habe  die  ungarischen  Cultur- Vereine  errich- 
tet, um  magyarisiren  zu  können.  Wieder  eine  Engherzigkeit!  Wir  haben  schon 
im  Jahre  1861  einen  rumänischen  Cultur-Verein  (Asotiaciunea  transilvana) 
gegründet,  dessen  Vermögen  seither  auf  mehrere  hunderttausend  Gulden 
angewachsen  ist.  Aehnliche  Gesellschaften  haben  wir  dann  in  Arad  und  an 
anderen  Orten  des  Liandes  errichtet  und  die  Magyaren  fürchten  sich  vor 
denselben  nicht  und  schreien  nicht  in  die  Welt  hinaus,  dass  das  rumänische 
Element  Siebenbürgen  romanisiren  wolle.  Im  Gegenteil!  der  rumänische 
Cultur-Verein  wurde  freundlich  begrüsst  und  seine  Ziele  durch  erheb- 
liche materielle  Opfer  gefördert.  Auf  den  Versammlungen  erschienen  auch 
Magyaren  und  schon  gelegen tUch  der  ersten  Versammlung  wählten  die 
Rumänen  mit  Begeisterung  einen  Ungarn  (den  Grafen  Csäky)  zum  Ehren- 
mitgliede,  da  dieser  1000  fl.  in  Baargeld  und  etwa  1700  Joch  Feld  zu  Gunsten 
der  rumänischen  Cultur  gespendet  hatte.  (VgL  L.  A.  Wläd  «A  romän  nep» 
p.  46)  Und  wie  viele  Ungarn  sind  in  der  Mitgliederliste  des  rumänischen 
•Cultur- Vereines  eingetragen!  Nehmt  sie  nur  zur  Hand,  sie  stehen  Euch 
ja  zur  Verfügung,  wenn  Ihr  Euch  wirkUch  für  die  Wahrheit  einigermassen 
interessiret. 

Die  Ungarn  begannen  mit  der  Gründung  ihrer  eigenen  Cultur- Vereine 
im  Jahre  1885.  Sollten  sie  etwa  kein  Becht  zu  dem  haben,  was  wir  schon 
Yorher  gethan  haben  ?  Wer  darf  behaupten,  dass  dem  einen  Teile  Alles, 
dem  a  ndem  Nichts  erlaubt  sein  solle  ?  Die  magyarischen  Cultur- Vereine 
sind  für  die  Rumänen  nicht  gefährlicher  als  die  rumänischen  Vereine  für 
die  Magyaren.  Wie  kommt  es,  dass  trotz  der  von  Euch  so  heftig  ausposaun- 
ten langjährigen  Magyarisirung  wir  dennoch  nicht  abnehmen,  die  Magya- 
ren aber  sich  nicht  vermehren  ?  Stünde  es  mit  diesen  Dingen  in  der  ange- 
klagten Art,  dann  gäbe  es  in  diesem  Lande  keinen  Rumänen  mehr,  dann 
wären  wir  nicht  drei  Millionen,  wie  wir  das  so  gerne  glauben,  und  befänden 

26* 


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41^  EINE    AKTWOBT  AUF   DIE   DENS80HBIFT 

sich  die  Magyaren  nicht  noch  immer  in  der  Minorität,  wie  man  das  so 
laut  verkündet. 

Ich  habe  nachgewiesen,  dass  Viele  von  den  Magyaren  die  rumänischen 
Gultur-Vereine  unterstützt  haben ;  ein  Drittel  ihrer  Stiftungen  kam  durch 
die  Magyaren  zu  Stande.  Wer  hat  die  Naszöder  Schalfonds  geschaffen?  Die 
ungarische  Regierung  hat  aus  dem  öffentUchen  Vermögen  Millionen  Gulden 
zu  rumänischen  Bildungszwecken  überlassen !  Zeiget  Ihr  ein  solches  Stif- 
tungsvermögen für  Erziehungszwecke,  wie  wir  es  besitzen  und  zwar  durch 
das  Wohlwollen  der  Ungarn  besitzen !  Ihr  habt  den  Slaven  und  Griechen  80 
Millionen  Francs  Entschädigung  gegeben  und  konntet  für  Euch  keine  öffent- 
lichen Schulfonds  schaffen. 

Wie  viele  von  uns  sind  dem  magyarischen  Cultur- Vereine  beigetreten  ? 
denn  schliesslich  wirdja  dadurch  auch  die  Cultur,  und  zwar  die  vaterländische 
Cultur  gefördert.  Es  sind  nur  Wenige,  die  solches  gethan  haben  ;  denn  wir 
fürchteten  uns  vor  Jenen,  die  da  verkündigten,  dass  wir  gegen  das  Interesse 
der  Bumänen  handeln.  Das  Interesse  der  Bumänen  kann  jedoch  hier  in 
diesem  Lande  von  dem  Interesse  der  Magyaren  nicht  getrennt  werden  ;  die 
Bürger  dieses  Vaterlandes  können  nur  einerlei  Interesse  haben :  die  Förde- 
rung der  allgemeinen  Bildung,  des  allgemeinen  Fortschrittes.  Allein  wir 
haben  auch  in  dieser  Frage  unsere  Interessen  von  jenen  der  Magyaren 
getrennt,'  doch  nicht  mit  der  erforderlichen  Billigkeit ;  denn  während  die 
Magyaren  nachweisen  können,  und  zwar  auf  glänzende  Weise,  dass  sie  für 
die  rumänische  Cultur  viele  Opfer  gebracht  haben  :  sind  wir  nicht  im  Stande 
darzuthun,  dass  wir  im  Interesse  der  ungarischen  Cultur  auch  nur  das 
Geringste  gethan  haben.  Und  wir  befürchten  die  Magyarisirung  durch  die 
magyarischen  Culturvereine,  wir,  die  das  halbe  Siebenbürgen  romanisirt 
haben,  und  zwar  gerade  in  Folge  des  Wohlwollens,  das  uns  die  übrigen  Natio- 
nalitäten bezeugt  haben ! 

Seien  wir  keine  Schelme  und  spielen  wir  nicht  die  Fabel  vom  Lamm 
und  dem  Wolfe !  Wir  sehen  wohl  romanisirte  Magyaren,  ja  ganze  Gremein- 
den ;  aber  das  Gegenteil  findet  man  nicht.  Das  ist  die  Wahrheit ! 


VL 

Ihr  behauptet,  dass  die  Magyaren  aus  dem  Parlament  das  gesammte 
rumänische  Element  ausgeschlossen  haben  und  dass  in  Ungarn  wegen  der 
Gereiztheit  der  Nationalitäten  die  Beichstagswahlen  in  förmliche  Schlachten 
ausarten,  wobei  nach  Kriegsbrauch  die  Todten  gezählt  und  die  verursachten 
Schäden  auf  Hunderttausende  geschätzt  werden.  Auch  behauptet  Ihr,  dass 
die  öffentliche  Verwaltung  in  feindseliger  Stimmung  gegen  die  Bumänen 
organisirt  wird,  dass  unser  Wahlgesetz  schlecht  sei  und  die  Bechtspflege  sich 


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DER  BÜKUBESTER  UNTVERSITÄTS- JUGEND.  4-13 

nur  in  Händen  der  Magyaren  befinde^  sowie  dass  die  Missbräncbe  allgemein 
üblich  seien.  Die  Presse  wurde  verfolgt,  13,  sage  dreizehn  rumänische 
Zeitungen  wurden  durch  die  Schwurgerichte  verurteilt,  und  was  die  Haupt- 
sache ist,  der  Bumäne  erhalte  bei  den  Functionen  des  ungarischen  Staa- 
tes keine  Verwendung. 

Ich  muss  wiederholen :  Ihr  kennet  unsere  politische  Vergangenheit 
nicht,  oder  wenn  Ihr  sie  kennet,  dass  Ihr  die  Wahrheit  fälscht.  Wir  Bumä- 
nen  hatten  auf  dem  Eeichstage  von  1867  unsere  eigenen  Vertreter ;  wir 
waren  bei  der  Krönung  des  ungarischen  Königs  zugegen  und  nahmen  Teil 
an  dem  staatsrechtlichen  Ausgleiche  vom  Jahre  1867. 

Aber  uns  behagte  die  Budapester  Athmosphäre  nicht ;  wir  zerbrachen 
uns  stets  den  Kopf  mit  Gravaminalpolitik  und  kehrten  deshalb  nach  Sieben- 
bürgen zurück,  wo  wir  bereits  am  7.  März  1869  unter  dem  Vorsitze  des  Elias 
Macellariu  zu  Beussmarkt  die  Passivität,  die  Politik  der  Thatlosigkeit  aus- 
sprachen. Wir  glaubten,  dass  unser  Beschluss  den  Lauf  der  Dinge  in 
Ungarn  umkehren  werde ;  glaubten,  dass  der  ganze  Ausgleich  nichts  als  ein 
«Larifari- Werk»  sei  und  zogen  nicht  in  Betracht,  dass  der  Ktinig  die  Ver- 
fassung beschworen  habe.  Wir  stellten  uns  also  in  den  Hinterhalt,  begannen 
wieder  zu  flüstern  mit  den  Sachsen  und  Beziehungen  anzuknüpfen  mit  den 
malcontenten  Kreisen  in  Wien.  Auch  damals  gab  es  unter  uns  Männer,  die 
klarer  als  das  Tageslicht  nachwiesen,  dass  die  Passivität  für  uns  der  reine 
Selbstmord  sei.  Josef  Hosszü,  Samuel  Porsitz,  Cristra,  Bärdos  und  viele 
Andere  stimmten  gegen  die  Passivität ;  dennoch  wurde  diese  ünthätigkeits- 
Politik  angenommen  und  diese  That  mit  Fackelzug  und  Musik  zu  Ehre 
Macellarius  gefeiert.  Es  war  die  feierliche  Bestattung  unserer  politischen 
Existenz. 

Was  dann  Schlechtes  für  uns  Bumänen  folgte,  das  war  Alles  eine 
Consequenz  dieser  verwerflichen  Politik.  Wir  dachten,  unsere  politische 
Beserve  werde  höchstens  einige  Jahre  dauern ;  aber  sie  dauert  fort  bis  zum 
heutigen  Tage.  Später  mussten  wir  aus  Schande  an  der  Passivität  festhalten. 
Wir  schwebten  gleich  dem  Sarge  Mohammeds  zwischen  Himmel  und 
Erde ;  wir  hatten  keinen  Boden  unter  unseren  Füssen ;  wir  strengten  uns  an, 
machten  Lärm  —  aber  ohne  Nutzen,  ohne  Erfolg ;  die  Welt  konnten  wir  in 
ihrem  Laufe  nicht  zurückhalten.  Fluch,  tausendfacher  Fluch  über  uns, 
dass  wir  im  Jahre  1869  uns  abermals  von  den  Ungarn  trennten  und  den 
Buhm  der  Organisirung  des  Staates  ihnen  überliessen.  Jetzt  haben  die 
Magyaren  ohne  uns  den  Staat  geschaffen  und  zwar  einen  kräftigen,  angese- 
henen !  Und  was  haben  während  dieser  ruhmvollen  Arbeit  wir  gethan  ?  Wir 
haben  als  Fessel  gedient,  haben  die  Welt  alarmirt,  dass  man  uns  hier 
morden  wolle,  und  doch  war  es  nur  der  Fehler,  dass  wir  selber  uns- 
ermordeten. 

Wenn  also  schon  im  Jahre  1869,  gleich  zu  Anfang  der  konstitutionellen 


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*1*  EINE    ANTWORT  AUF   DIE   DENK8CHBIFT 

Aera  wir  zurücktraten  vom  politischen  Kampfplätze  und  nicht  in  das  unga- 
rische Parlament  gehen  wollten,  sondern  diese  Passivitäts-Politik  hier  in 
Siebenbürgen  durchsetzten:  wie  könnet  Ihr  nun  behaupten,  dass  die 
Magyaren  uns  aus  dem  Parlament  verdrängt,  dass  sie  uns  von  den  Wohl- 
thatendesConstitutionalismus  ausgeschlossen  haben,  und  zwar  auf  Grund  des 
im  Jahre  1874  geschaffenen  Wahlgesetzes?  Hat  doch  die  magyarische  Presse 
gerade  diese  Passivitätspolitik  aufs  Schärfste  gegeisselt  und  gewünscht,  dass 
die  Rumänen  nicht  schmollen,  sondern  an  den  politischen  Kämpfen  Anteil 
nehmen  mögen.  Wir  haben  nicht  mit  den  Magyaren  gehalten,  diese  aber 
haben  nicht  gewartet,  bis  wir  ausgegrollt  haben:  sondern  sind  mit  dem 
Zeitgeiste  vorwärts  gegangen  und  haben  dns  Finanz-,  das  Landesverteidi- 
gungs-  und  ünterrichtswesen,  den  Handel  und  die  Industrie  Ungarns 
geschaffen. 

Uns  Passivisten  behagte  es  allerdings  nicht,  dass  die  Magyaren  ohn& 
uns  die  Fundamente  des  ungarischen  Staates  gelegt  und  damit  vor  aller 
Welt  verdienten  Ruhm  geerntet  habeo.  Und  jetz  treten  wir  vor  Europa  als 
Einbläser  und  Ankläger  auf  und  verlangen  von  Europa,  dass  es  für  uns  die 
Zustände  vor  dem  Jahre  1867  wieder  herstellen  solle!  Was  für  abstossen- 
des  Unterfangen  ist  das ! 

Wie  konntet  Ihr  behaupten,  dass  die  Wahlen  deshalb,  weil  die  Magya- 
ren uns  den  Stuhl  vor  das  ungarische  Parlament  gesetzt  haben,  zu  wahren 
Schlachten  entarten?  Wir  Rumänen  sind  ja  Passivisten;  wir  wählen  ja  gar 
nicht,  schlagen  uns  also  auch  nicht  und  kein  Mensch  insultirt  uns.  Zeigt 
mir  ein  einziges  Beispiel  seit  1867  aus  der  Geschichte  der  Wahlen,  wo 
Magyaren  und  Rumänen  einander  befehdet  hätten,  und  wir  halten  Euch  in 
der  That  für  grosse  Männer !  Das  rumänische  Volk  selbst  hat  jedoch  überall 
gewählt. 

Ueberall,  wo  Menschen  von  Fleisch  und  Blut  im  Parteileben  einander 
gegenüberstehen,  hat  es  Conflicte  gegeben  und  wird  es  solche  geben.  Von  dem 
constitutionellsten  Engländer  bis  zu  dem  besonnenen  Deutschen  gab  und 
gibt  es  stets  solche  Zusammenstösse.  Bei  uns  sind  derartige  Conflicte  rela- 
tiv selten  und  kommen  am  häufigsten  dort  vor,  wo  magyarische  Parteien 
einander  gegenüberstehen.  Wir  Rumänen  haben  in  Folge  politischer  Parteiun- 
gen  uns  nicht  geschlagen,  haben  noch  keinen  Tropfen  unseres  Blutes  des- 
halb vergossen. 

Wie  aber  stehen  die  Dinge  bei  Euch  ?  Habt  Ihr  die  Todten  und  Ver- 
wundeten bei  Gelegenheit  Eurer  letzten  Wahl  (1888)  zusammengezählt? 
Habt  ihr  gezählt,  an  wie  vielen  Orten  Schlägereien  entstanden  sind  und  wo 
das  Militär  von  den  Waffen  Gebrauch  machen  musste  ?  Oder  hat  nicht  der 
Fall  zu  Dorrho  auch  Euch  erschrekt?  Was  bei  Euch  vorkommt,  hat  kein 
Beispiel  in  der  ganzen  Welt.  Bei  Euch  hat  sich  nämlich  gegen  die  freie  Aus- 
übung der  Redefreiheit  und  des  Wahlrechtes  eine  Institution  entwickelt,. 


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DER  BUKURBBTER  UNIVBRSITÄT8-JTJÖBND.  4fl5 

welche  Euch  zur  Schande  gereicht.  Bei  Euch  sind  die  Sohlägerbanden  (bände 
de  bätausi)  in  der  Mode,  deren  Beruf  es  ist,  die  Gassen  zu  durchstreifen 
und  jeden  Begegnenden,  der  einer  anderen  Partei  angehört,  unbarmherzig 
durchzubläuen.  Solche  Schlägerbanden  hat  natürlich  auch  die  Gegenpartei 
und  wenn  zwei  dieser  gegnerischen  Banden  zusammentreffen,  dann  ist  der 
heillose  Skandal  fertig.  Diese  Euch  niederschlagende  Thatsache  will  ich 
nicht  weiter  ausbeuten,  will  sie  nicht  unter  die  Landesärgemisse  rechnen, 
welche  Euch  scharf  kennzeichen  könnten. 

Unsere  Presse  ist  frei.  Die  Zahl  der  rumänischen  Zeitungen  hat  sich 
beträpchtlich  vermehrt ;  allein  es  hat  auch  die  Anzahl  derjenigen  zugenommen, 
welche  die  Wohlthaten  der  Presse  missbrauchen.  Gibt  es  bei  Euch  keine 
Pressprozesse?  Kamen  wegen  Aufreizungen  Pan  und  mehrere  seiner  Genos- 
sen nicht  ins  Gefängniss  ?  Was  für  Zustände  wären  es,  wenn  es  nicht  gestat- 
tet wäre,  den  Schriftsteller  für  das,  was  er  geschrieben,  zur  Verantwortung 
zu  ziehen  ?  Was  für  Zustände  würden  sich  in  einem  Staate  entwickeln,  wenn 
der  Schriftsteller  wüsste,  dass  er  Alles,  was  ihm  beliebt,  schreiben  könne, 
ohne  dass  ihn  dafür  irgend  Jemand  zur  Verantwortung  ziehen  darf?  Die 
Zahl  der  vor  die  Schwurgerichte  gelangenden  Prozesse  ist  verschwindend 
gering  und  mehr  als  50o/o  der  Angeklagten  werden  freigesprochen.  Seit  dem 
Jahre  1867  wurden  nach  Eurer  Angabe  13  rumänische  Schriftsteller  von 
dem  Geschwomengericht  verurteilt.  Während  24  Jahren  von  3  Millionen 
Seelen  13  Individuen  macht  für  jedes  zweite  Jahr  einen  Veruteilten, 
Aber  Ihr  vergesset  anzuführen,  dass  von  diesen  13  Verurteilten  Einige  auf 
Privatklagen  hin  wegen  Verleumdung  oder  Ehrenbeleidigung  verurteilt  wor- 
den sind,  wie  z.  B.  der  Kedacteur  des  «Calicul»  und  der  «Tribuna»,  weil  sie 
die  Ehre  ihrer  eigenen  Mitbürger  geschädigt  hatten.  Oder  wäre  der  rumä- 
nische Journalist  bei  uns  schon  eine  solche  Macht,  dass  er  ungestraft  Jedwe- 
den beschmutzen  darf?  Die  Zahl  der  wegen  politischer  Vergehen verurtheil- 
ten  ramänischen  Individuen  betrug  innerhalb  der  24  Jahre  ungefähr 
sieben,  es  kam  also  auf  3^/2  Jahre  ein  einziger  Verurteilter,  trotz  der  zahl- 
reichen agitatorischen  Artikel  und  Mitteilungen,  welche  in  unseren  Blättern 
erscheinen.  Und  wie  viele  rumänische  Journalisten  wurden  seit  1867  bei 
Euch  verurteilt?  Mehr  als  einundreissig.  Weshalb  hat  denn  Euer  rumäni- 
sches Gesetz  die  rumänischen  Journalisten  verurteilt?  Warum  zieht  man 
bei  Euch  diejenigen  zur  Verantwortung,  die  gegen  das  Gresetz  die  Pressfrei- 
heit missbrauchen  ? 

Femer  behauptet  Ihr,  dass  die  öffentliche  Verwaltung  gegen  die 
Bumänen  organisirt  sei,  dass  die  Rechtspflege  sich  in  den  Händen  der 
Magyaren  befinde,  dass  wir  keine  öffentlichen  Aemter  erhalten  und  Ungarn 
der  klassische  Boden  der  Defraudationen  geworden  sei. 

Ist  das  die  Wahrheit?  Unsere  Verwaltung  ist  musterhaft;  es  gibt 
Gomitate^  welche  fast  ausschliesslich  in  Händen  von  Bumänen  sich  befin- 


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^-le  EINE    ANTWORT   AUF   DIE   DENKSCHRIFT 

den.  unsere  Eechstspflege  steht  auf  europäischem  Niveau ;  —  doch  was 
soll  man  vor  Europa  erst  noch  beweisen,  da  bei  uns  das  rechtsuchende 
Publikum  Europas  sich  hievon  täglich  überzeugen  kann  ? 

Defraudationen  kommen  bei  uns  vor  wie  überall  in  der  Welt,  mag  der 
Staat  auch  noch  so  gebildet  und  fortgeschritten  sein.  Schlechte  Menschen 
hat  es  zu  allen  Zeiten  gegeben  und  wird  es  immer  geben.  Untersuchen  wir 
diese  Frage  nicht  näher  und  zwar  auch  deshalb  nicht,  weil  bei  uns  die 
Defraudanten  nicht  blos  unter  den  Magyaren  sondern  auch  bei  den  andern 
Nationalitäten  angetroffen  werden.  Wir  machen  au'^  unseren  Fehlern  kein 
Hehl.  Die  Tagespresse  stellt  jedes  Verbrechen  an  den  Pranger  und  der 
Schuldige  wird  bestraft.  Vom  üebel  wäre  es,  wenn  man  die  Verbrecher 
laufen  liesse.  Unsere  Gesetze  sind  strenge  und  werden  gewissenhaft 
gehandhabt. 

Und  dann :  Ihr  werfet  uns  die  Defraudationen  vor,  Ihr  zerrt  unsere 
Ehre  vor  Europa  und  seid  doch  selber  arge  Sünder !  Oder  habt  Ihr  die 
ÖffentUchen  Skandale  vom  Jahre  1888  in  den  Spitälern,  mit  Euern  Ministern 
und  Generalen  schon  vergessen  ?  Was  sagte  doch  damals  der  Staatsanwalt 
und  was  wiederholt  die  rumänische  Presse?  «Europa  betrachtet  uns  noch 
als  einen  orientalischen  Staat,  wo  man  für  Geld  Alles  erreichen  kann.» 
Weder  uns  noch  Europa  kam  es  in  den  Sinn,  die  öffentliche  Moralität  des 
rumänischen  Staates  deshalb  zu  verurteilen  oder  zu  behaupten,  dass  dieser 
Fälle  wegen  die  öffentUche  Moral  erschüttert  sei.  Derartige  Unglücks- 
fälle kommen  überall  vor;  es  sind  bedauerliche  Thatsachen,  aber 
den  Staat  kann  man  deshalb  nicht  beschuldigen.  Und  Ihr  sprechet  vor 
Europa  dem  ungarischen  Staate  die  öffentUche  Moral,  das  sittliche  Selbst- 
bewusstsein  ab!  Was  lernt  Ihr  an  der  Bukurester  Universität?  Welche 
Wahrheiten  verbreitet  Euer  Lehrkörper,  wenn  Ihr  auf  solche  Art  denken 
könnet  ? 

Wir  erhalten  keine  öffentlichen  Anstellungen.  Zu  bemerken  ist,  dass 
vni  Passivisten  sind,  welche  die  gesammte  ungarische  Begierung  perhorres- 
ciren ;  dass  wir  ihr  gegenüber  eine  Phalanx  bilden  und  die  Gesetze  des 
Landes  nicht  anerkennen.  Und  dennoch  bekommen  wir  Aemter.  Wie 
können  wir  übrigens  Anstellungen  verlangen  von  einer  Regierung,  welcher 
wir  opponiren  ?  Was  für  eine  Verwirrung  der  politischen  Begriffe,  wenn  wir 
von  demjenigen  System,  das  wir  für  ungesetzlich  halten,  Anstellungen 
erwarten  ?  Das  ist  eben  der  Fluch  der  PassivitätspoUtik. 

Allein  die  Dinge  stehen  trotzdem  nicht  also.  Die  Sache  ist  vielmehr 
diese,  dass  wir  ungarische  Rumänen  nicht  genug  geschulte  Leute  für  Rumä- 
nien heranbilden  können.  Rumänien  reflectirt  schon  auf  unsere  Kinder  in 
der  Wiege.  Es  zieht  die  an  den  Brüsten  der  ungarischen  Wissenschaft  aufge- 
wachsenen besseren  Jünglinge  zu  sich^  und  wollen  diese  nicht  auswandern, 
dann  sichert  es  ihnen  durch  ein  besonderes  Gesetz  reichliche  Besoldungen, 


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DBB   BUKÜRB8TBR  UNI VBR8ITÄTS- JUGEND.  4fl7 

wie  dies  z.  B.  mit  Viktor  Babes  geschah.  Daher  verarmen  wir  hier  an 
unserer  Intelligenz.  Mit  den  Zurückgebliebenen  vermögen  wir  unsere 
Bedürfnisse  an  Geistlichen  und  Lehrern  nicht  zu  decken ;  wir  können 
uns  namentUch  in  den  Comitaten  keinen  gesunden,  tüchtigen  Beamtenstand 
schaffen,  denn  es  bleiben  nur  Jene  im  Lande,  deren  Ausbildung  eine  man- 
gelhafte ist. 

Wir  erhalten  keine  öffentlichen  Aemter.  Zeiget  mir  doch  einen  einzi- 
gen Rumänen  mit  beendigten  Studien  ohne  eine  Anstellung?  Stellet  uns 
den  Mann  vor,  der,  wenn  er  die  Fähigkeiten  besitzt,  keine  entsprechende 
Stelle  gefunden  hat.  Dass  wir  nicht  viele  unserer  Volksgenossen  in  den 
Aemtem  haben,  gebe  ich  zu ;  vnr  haben  sie  nicht,  weil  Ihr  unsere  Leute, 
die  wir  mit  unseren  Stiftungen  erzogen  haben,  von  uns  wegführet.  Ihr  ruft 
die  Statistik  zu  Hilfe,  um  darzuthun,  dass  es  in  diesem  und  jenem  Zweige  des 
Staatslebens  keine  Rumänen  als  Beamte  gebe.  Wie  sollte  aber  deren  Anzahl 
so  gross  sein,  wie  dies  nach  dem  Verhältnisse  der  Bevölkerung  sein  könnte, 
wenn  wir  die  Blüte  unserer  Jugend  an  Euch  abliefern,  damit  Rumäniens 
Glanz  und  Ruhm  gehoben  werde  ? 

Bei  uns  verbleiben  die  Halbgebildeten,  die  dann  Notare,  Gensdarmen, 
Finanzwächter,  kleinere  Comitats-  und  Staatsbeamte  werden,  aber  wegen 
Mangels  an  geistiger  Qualification  es  nicht  weiter  bringen  können.  Und 
dafür  sollten  die  Ungarn  verantwortlich  sein?  Sie  sollten  dafür  verantwort- 
lich sein,  wenn  Ihr  durch  ein  besonderes  Gesetz  20,000  Francs  Besoldung 
und  lebenslängliche  Anstellung  dem  zögernden  Babes  sichert,  damit  er  nur 
zu  Euch  komme  ?  Trotzdem  haben  wir  auf  allen  Gebieten  der  Staatsverwal- 
tung angesehene  Beamte  rumänischer  Nationalität. 

Wenn  wir  nicht  viele  Taugliche  besitzen,  woher  soll  der  ungarische 
Staat  verwendbare  Leute  aus  imserer  Mitte  nehmen  ?  Lasset  unsere  Jüng- 
linge zurück ;  gebt  uns  wieder  den  Kern  und  die  Blüte  unserer  Jugend,  und 
wenn  die  Regierung  diese  nicht  anstellt,  dann  werdet  Ihr  vielleicht  ein 
Recht  haben,  mit  solchen  Klagen  vor  Europa  aufzutreten ;  aber  bis  dahin 
nicht ! 

vn. 

Welches  ist  nun  Euer  Standpunkt  und  derjenigen,  die  zu  Euch  halten? 
Es  ist  kein  anderer  als  der,  dass  wir  hier  verpflichtet  sind,  Eueren  Interessea 
drüben  zu  dienen.  Und  welches  ist  unser  Standpunkt?  Dass  wir  getreue 
Bärger  des  ungarischen  Staates,  getreue  Unterthanen  der  ungarischen 
Krone  sind. 

Die  Deutschen  haben  andere  poUtische  Pflichten  in  Berlin,  andere  in 
Wien ;  die  Slaven  andere  in  St.  Petersburg,  andere  in  Sophia  oder  in  Bel- 
grad ;  verschieden  sind  die  Pflichten  der  Türken  in  Stambul  und  in  der 

üagMrlMhe  Bern«.  XI.  1891.  V.  Heft.  27 


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418 


EINE    ANTWORT   AUF    DIE    DENKSCHRIFT 


Dobrudscha;  ebenso  der  Engländer  in  London  und  in  New- York;  der 
Spanier  in  Spanien  und  in  Brasilien  u.  s.  w.  Auch  der  Eumäne  hat  ver- 
schiedene Bürger-  und  Unterthanen-Fflichten  in  der  Bukowina,  in  Bessara- 
bien  und  Macedonien  und  andere  bei  uns  und  in  Eumänien.  Die  Vereini- 
gung der  zerstreuten  Yolkselemente  in  einem  Centrum  mag  ein  frommer 
Wunsch,  ein  Ideal  sein ;  aber  die  Bürger-  und  Unterthanen-Pflichten  bleiben 
deshalb  immer  Pflichten,  und  wer  diese  verletzt,  begeht  ein  schweres 
Verbrechen. 

In  Eurem  «Memorandum»  verletzt,  beleidigt  und  betrübt  uns,  die  wir 
unsere  Unterthanentreue  aufs  Höchste  schätzen,  am  meisten  jener  gering- 
schätzige Ton,  in  welchem  Ihr  von  unserer  Krone  sprechet,  jener  Ton,  der 
seit  einiger  Zeit  stets  lauter  und  vernehmbarer  von  Bukurest  her  erschallt. 
Diese  allergrösste  Unehrerbietigkeit  wird  in  Europa  allenthalben  Aufsehen 
erregen ;  denn  das  gebildete  Europa  kennt  unsem  ruhmreich  regierenden 
König  als  den  weisesten  und  constitutionellsten  Monarchen,  den  keinerlei 
Mittel  gegen  das  Gesetz  und  die  Gerechtigkeit  einschüchtern  und  davon 
abbringen  kann.  In  der  Achtung  vor  dem  Gesetze  liegt  seine  Kraft  und  die 
ausserordentliche  Liebe  und  Anhänglichkeit  seiner  Völker,  welcher  er 
überall,  wo  er  erscheint,  begegnet. 

Und  Ihr,  die  Ihr  daheim  Euren  Herrscher  «njämcz»  («Deutschen, 
«Schwabe»)  und  «venitora»  («Hergelaufener»)  nennet,  jenen  Herrscher,  der 
Euch  aus  den  primitiven  Zuständen  eines  orientalischen  Staatswesens 
emporgehoben  und  die  Unabhängigkeit  des  rumänischen  Königreiches 
geschaffen  hat,  —  Ihr  glaubet,  dass  wir  in  Sachen  der  Loyalität  und  der 
Liebe  mit  Euch  auf  Einem  Niveau  stehen !  Bei  Euch  ist  die  Unterthanentreue 
noch  nicht  in  Fleis.  h  und  Blut  übergegangen  wie  bei  uns.  Darum  weisen 
wir  Eure  Unbedachtsamkeiten  zurück  und  verurteilen  sie.  Die  Person  unse- 
res Königs  ist  heilig  und  unverletzlich.  Wir  haben  ein  Beispiel  dafür,  dass 
der  ungarische  König  mit  unbewaffneter  Hand  ganz  allein  den  aufständi- 
schen Parteiführer  mitten  aus  der  rebellischen  Menge  herausgeholt  hat  und 
es  wurde  ihm  kein  Haar  gekrümmt. 

Gerade  in  Folge  unserer  unerschütterlichen  Treue  und  Anhänglichkeit 
gegen  die  Krone  sind  wir  verpflichtet  auch  dem  Vaterlande  und  der  vom 
Könige  beschworenen  Verfassung  treu  zu  sein.  Wir  Bürger  des  ungarischen 
Staates  und  getreueste  Unterthanen  unseres  Königs  können  keine  anderen 
Aspirationen  haben,  als  sie  der  ungarische  König  und  der  ungarische  Staat 
besitzen.  Nach  dieser  Aspiration  können  wir  uns  keinem  fremden  Staate 
anschliessen,  wenngleich  von  unserem  Blute  die  Bede  ist;  denn  dann 
würden  wir  fremde  Götzen  anbeten. 

Und  Ihr  beleidigt  consequent  durch  Eure  Agenten  und  durch  Eure 
Blätter  ansere  Unterthanentreue  und  wühlet  Tag  für  Tag,  um  unsere  Loya- 
lität zu  untergraben,  damit  wir  unsere  Pflichten  gegen  unser  Vaterland  und 


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DER   BUKURB8TER   üNIVERSITÄTß -JUGEND.  4.19» 

gegen  unsern  König  verleugnen.  Welchen  Gewinn  hättet  Ihr  von  einem  treu- 
losen Volke,  das  ja  Euch  dann  auch  verraten  könnte?  Welche  Irrlehre, 
dass  wir  Gegner  des  Bumänentums  seien,  weil  wir  der  von  unserem  Könige 
sanctionirten  Verfassung  getreu  anhängen  !  Steht  denn  das  Bumänentum 
im  Widersprnch  mit  der  Verfassung,  mit  der  Treue  des  ünterthanen?  Wenn 
das  der.  Fall  ist,  dann  verachten  wir  diesen  Bomanismus  und  wollen 
mit  ihm  nichts  gemein  haben. 


Noch  einige  Worte  zum  Schlüsse. 

Aus  dem  Gesagten  wird  es  jedem  nüchtern  denkenden  Menschen  klar, 
dass  es  bei  uns  allerdings  malcontente  rumänische  Herren  gibt ;  aber  das 
Volk  selbst  ist  nicht  unzufrieden.  Das  Volk  ist  ruhig  und  stilL  Es  gedeiht 
unter  den  ungarischen  Gesetzen,  entrichtet  ohne  Widerrede  seine  Geld-  und 
Blutsteuer,  übt  seine  Beligion  aus,  redet  seine  Sprache,  entwickelt  seine 
Cultur,  und  keinem  Menschen  wurde  deshalb  ein  Haar  gekrümmt,  weil  er 
kein  Magyar  ist.  Das  Volk  hat  Vertrauen  zu  den  Magyaren,  und  in  jenen 
Gemeinden,  wo  es  mit  ihnen  zusammenlebt,  gibt  es  keine  Gonflicte.  Die 
Einwohner  leben  miteinander  in  gegenseitiger  Liebe  und  Achtung;  nir- 
gends auf  dem  Gebiete  des  ungarischen  Staates  ist  der  Arbeitslustige  in  den 
Eüntergrund  gedrängt  oder  wird  er  an  seinem  Lebenserwerbe  gehindert.  Das 
ißt  die  Wahrheit !  Zeiget  uns  Gonflicte,  aber  nicht  jene  zu  Feldra ;  denn  hier 
handelte  es  sich  um  einen  Zusammen^toss  der  Bumänen  mit  Bumänen ; 
sondern  einen  solchen  Conflict,  wo  Ihr  documentarisch  nachweisen  könnet 
dass  unser  Volk  nicht  friedlich  gesinnt  ist  und  dem  Magyaren  nicht  in 
Liebe  begegnet.  Ihr  werdet  hiefür  kein  Beispiel  finden. 

Unser  Glück  beruht  ja  gerade  in  der  Zufriedenheit  des  Volkes  und 
darin,  dass  das  Malcontententum  nur  an  der  Oberfläche  einzelne  Wellen  wirft. 
Es  wäre  sehr  vom  üebel,  wenn  im  Volke  selbst  Zerwürfnisse  sich  zeigten 
und  die  Oberfläche  glatt  und  ruhig  wäre.  Allein  die  Sache  verhält  sich 
nicht  so. 

Nehmet  es  mir  nicht  übel,  dass  ich  Euch  entgegengetreten  bin  und 
unsere  Zustände  den  Eurigen  gegenüber  gestellt  habe !  Das  geschah  nicht 
in  böser  Absicht  oder  deshalb,  um  Eure  culturellen  Errungenschaften  zu 
verkleinem.  Ihr  habt  bedeutende  Fortschritte  gemacht  und  ich  freue 
mich  über  diesen  Fortschritt;  denn  ich  erblicke  einen  selbstständigen 
rumänischen  Staat  und  eine  rumänische  Cultur,  der  ich  unter  keinen 
Umständen  meine  Sympathie  entziehen  könnte.  Nur  müsste  die  Selbst- 
ständigkeit und  diese  Cultur  durch  eine  entsprechende  solide  Politik  und 
durch  die  richtige  Auffassung  Eurer  Interessen  für  ewige  Zeiten  gesichert 
werden. 

27* 


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420 


EINE    ANTWORT   AUF  DIE   DENKSCHRIFT 


Rumänien  hat  dem  ungarischen  Staate  Vieles  zu  verdanken,  denn 
dieser  hat  an  der  ru  manischen  Unabhängigkeit,  an  der  Erkämpfung  des  König- 
tums sowie  an  der  Anerkennung  desselben  wesentlichen  Anteil  genommen. 
Bumänien  kann  auch  auf  die  Freundschaft  und  Unterstützung  Ungarns 
immer  zählen.  Auch  in  Zukunft  sichert  nichts  so  sehr  die  Selbständigkeit 
des  rumänischen  Staates  als  das  benachbarte  selbständige,  starke  und  mäch- 
tige Ungarn.  Wir  sind  gleichfalls  eifersüchtig  auf  die  Unabhängigkeit 
Eumäniens,  und  werden  mit  Euch  gegen  diejenigen  sein,  welche  die  Unab- 
hängigkeit angreifen.  Wenn  Ihr  es  wollet,  sind  wir  Freunde  und  werden  es 
bleiben. 

Unter  solchen  Umständen  hättet  Ihr  eine  andere  Aufgabe,  als  den 
ungarischen  Staat  vor  Europa  herabsetzen  zu  wollen.  Statt  der  Abenteurer- 
politik solltet  Ihr  eine  naturgemässe  Politik  betreiben,  welche  uns  und 
Europa  über  Eure  consolidirten  Zustände  und  über  Eure  Besonnenheit 
beruhigen  könnte.  Es  gab  und  gibt  hier  Beibereien  zwischen  den  Magyaren  und 
den  Bumänen.  Eure  Aufgabe  wäre  es,  vermittelnd,  beschwichtigend  und 
beruhigend  auf  uns  Bumänen  einzuwirken  und  nicht  noch  selber  bei  uns 
den  öflFentlicheu  Frieden  stören  zu  wollen.  Das  kann  weder  in  Eurem  noch 
in  unserem  Interesse  sein.  Ihr  spielt  nur  die  Bolle  der  Zange  in  den  Händen 
unserer  Gegner,  die  auf  solche  Weise  durch  Euch,  wenn  es  gelingt,  die 
heissen  Kastanien  aus  der  Glut  scharren  wollen.  Die  Jugend,  die  künftige 
Generation  Bumäniens  sollte  weise  und  besonnen  sein.  Der  ungarische  Staat 
kann  mit  Euch  im  Bunde  die  Unabhängigkeit  der  kleinern  Staaten  im 
Oriente  gegen  jedermann  aufrechterhalten ;  aber  im  Lager  unserer  Feinde 
geht  Ihr  sicherlich  zu  Grunde.  Ist  das  Euer  Streben  ? 

Ein  Bumäne  fragte  mich,  wer  mich  beauftragt  habe,  im  Namen  der 
siebenbürgischen  Bumänen  zu  sprechen.  Niemand.  Ueber  Auftrag  habe 
ich  noch  niemals  geschrieben. 

Wer  aber  hat  Euch  beauftragt,  dass  Ihr  mit  Euem  Mängeln  und 
Schwächen  beladen  Euch  in  unsere  Angelegenheiten  einmischt  und  in  un- 
serem Namen  zu  Europa  sprechet?  Ich  bin  davon  überzeugt,  dass  Euch 
kein  Mensch  hiezu  den  Auftrag  gegeben  hat.  Euch  hat  ein  Mann  irrege- 
führt, der  Euer  Agent  gewesen  und  der  in  der  «Tribuna»  alle  möglichen 
Lügen  verbreitet  hat,  um  Eurem  Auftrage  zu  entsprechen.  Er  hat  Euch 
benützt,  um  an  einem  Kirchenhaupte  ekle  Bache  auszuüben,  gegen  wel- 
ches Kirchenhaupt  er  aus  persönlichem  Hasse  einen  Vernichtungskrieg 
geführt  hat.  Ihr  aber  liesset  Euch  zu  einer  schmutzigen  Privatrache  miss- 
brauchen, welche  Euch  charakterisirt  und  jenen  Menschen,  der  Euch  so 
schmachvoll  benützt  hat. 

Woher  habt  Ihr  Eure  Daten,  welche  Lügen  sind  und  von  der  Wahr- 
heit so  fern  stehen  wie  der  Nord-  vom  Süd-Pol  ?  Ihr  habt  alle  Eure  Daten 
aus  der  «Tribuna»  geschöpft,  aus  jenem  Blatte,  welches  durch  einen  Eurer 


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DER  BÜKURESTBR  UNIVBRSITÄTS-JUGEND.  *21 

böswilligen  Agenten  redigirt  wurde  und  dessen  Nachrichten  Ihr  uns  jetzt 
als  Wahrheiten  an  den  Kopf  schleudern  wolltet.  Ihr  seid  dem  hinter- 
listigen Vogelsteller  gefolgt  und  habt  Euch  in  seinem  lügnerischen  Netze 
gefangen. 

Und  weil  Ihr  Euch  unberufen  in  unsere  inneren  Angelegenheiten 
eingemengt  habt,  um  die  Fackel  der  Zwietracht  in  unsere  Mitte  zu  schleu- 
dern und  unter  uns  Zwiespalt  mit  unseren  Mitbürgern  hervorzurufen :  so 
hat  jeder  friedlich  gesinnte  Kumäne  nicht  nur  das  Recht,  sondern  auch  die 
Pflicht,  gegen  diese  Einmischung  Verwahrung  einzulegen  und  Euch  aufzu- 
fordern, dass  Ihr  daheim  vor  Eurer  eigenen  Türe  kehren  möget. 

Wie  soll  Jemand  Eure  Selbständigkeit  respectiren,  wenn  Ihr  die  eines 
Andern  nicht  achtet? 

Ich  will  kein  Schaf  sein  und  einem  Andern  zu  Liebe  ins  Wasser 
springen,  weil  er  hineingesprungen  ist.  Der  Mensch  ist  deshalb  ein  denken- 
des Wesen,  um  selbständige  Gedanken  zu  fassen.  Wer  mit  fremdem  Kopfe 
denkt,  der  lasse  sich  den  eigenen  herabschlagen ;  denn  wozu  hat  er  ihn 
noch  nötig? 

Ich  bin  ein  echter  Rumäne  und  will  es  bleiben ;  ich  räume  Nieman- 
dem das  Recht  ein,  sich  für  einen  bessern  Rumänen,  als  ich  es  bin,  halten 
zu  wollen. 

Von  mir  verlange  auch  Keiner,  dass  ich  kein  Rumäne  sein  solle.  Mein 
Volk  habe  ich  niemals  verleugnet  und  werde  mein  Blut  und  Geschlecht  zu 
keiner  Zeit  verleugnen.  Aber  ich  weiss  dieses  mein  aufrichtiges  unbefleck- 
tes Rumänentum  ganz  wohl  zu  vereinigen  mit  meinen  Rechten  als  ungari- 
scher Staatsbürger. 

Das  ungarische  Staatsbürgerrecht  steht  mit  meiner  Nationalität  in 
keinem  Widerspruch.  Den  Gegensatz  habt  nur  Ihr  gemacht ;  Ihr,  die  Ihr 
unberufen  Euch  in  unserem  Namen  an  Europa  gewendet.  Ja,  wir  sind  Ru- 
mänen, aber  zugleich  Bürger  des  ungarischen  Staates,  deasen  Interessen 
auch  die  unserigen  sind.  Jeder  echte  Rumäne  kann  nur  so  und  nicht  an- 
ders denken.  Wer  anderer  Meinung  ist,  der  ist  weder  ein  echter  Rumäne 
noch  ein  wahrer  Bürger  dieses  Vaterlandes.  Mit  dieser  Wahrheit  kann  ich 
unterliegen;  aber  meine  Niederlage  bedeutet  noch  nicht  den  Triumph 
Eurer  Ideen,  sondern  nur  meine  eigene  Schwäche. 

Dixi  et  salvavi  animam  meam ! 


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*22  UNGARNS   HANDEL   UND   VERKEHR  IM  JAHRE  1889. 


UNGARNS  HANDEL  UND  VERKEHR  IM  JAHRE  1889. 

IL 

Auf  dem  Gebiete  des  öf entliehen  Verkehrswesens  erfreut  sich  Ungarn 
gleichfalls  eines  ungemeinen  Aufschwunges  und  stetigen  Gedeihens,  so  dass 
die  Fortschritte  hierin  für  Jedermann  deutheh  in  die  Augen  springend  sind. 
Die  Begierung  des  Landes  konnte  hier  weit  unmittelbarer  und  energischer 
eingreifen  und  selber  schaffend  die  Hand  ans  Werk  legen,  als  dies  bei  der 
Industrie  und  dem  Handel  schon  nach  der  Natur  des  Gegenstandes  der  Fall 
sein  kann.  Bilden  doch  diese  directe,  zielbewusste  Hebung,  Vermehrung  und 
Förderung  der  Mittel  des  öffentlichen  Verkehrs  zugleich  die  wirksamsten 
Werkzeuge  zur  Belebung,  Kräftigung  und  Ausdehnung  der  Industrie  und 
der  gewerblichen  Thätigkeit  überhaupt,  sowie  zur  Erleichterung  und  Erwei- 
terung des  Handels,  der  ja  ohne  ausreichende  und  stets  brauchbare  Gom- 
municationen  gar  nicht  zu  blühen  vermag.  Ganz  besondere  Verdienste  um 
die  Hebung  der  öffentlichen  Verkehrswege  und  Verkehrsmittel  in  Ungarn 
-erwarb  sich  nun  Se.  Excellenz  der  Herr  Handelsminister  Gabriel  v.  Baross  teils 
in  seiner  früheren  Eigenschaft  als  «Minister  für  Gommunicationen  und  öffent- 
liche Bauten»,  teils  als  jetziger  Minister  für  Handel,  Industrie  und  Gommu- 
nicationen. Die  Wirksamkeit  des  Handelsministers  im  Interesse  der  öffent- 
lichen Verkehrsmittel  Ungarns  im  Jahre  1889  soll  der  Gegenstand  der 
nachfolgenden  Skizze  sein.  Wir  folgen  hierin  selbstverständlich  ebenfalls 
den  reichlichen  Daten  und  Aufschlüssen,  welche  der  dem  Reichstage  vor*' 
gelegte  ministerielle  «Bericht»  "über  die  einschlägigen  Verwaltungsobjecte 
darbietet. 

Die  öffentlichen  Strassen  und  Wege  werden  erst  in  Folge  einer  ent- 
sprechenden Durchführung  des  im  Jahre  1890  geschaffenen  Gesetz- Artikels  I 
über  «öffentliche  Wege  und  Mauten»  die  erforderliche  Vermehrung  und 
Verbesserung  gewinnen.  Zu  diesem  Behufe  mussten  vor  allem  in  Kroatien 
und  Slavonien  die  königlich  ungarischen  Staatsbau- Aemter  einer  Neuorgani- 
«ation  unterzogen  werden.  Demgemäss  bestehen  anstatt  der  neun,  jetzt  nur 
fünf  Staatsbau-Aemter  in  Agram,  Sissek^  Fozsega,  Essek  und  Gospics  mit 
je  zwei  Beamten. 

In  Bezug  auf  Verwaltung  und  Erhaltung  der  öffentlichen  Staatsstraasen 
war  das  Bestreben  des  Ministers  darauf  gerichtet,  dieselben  einerseits  in 
dauernd  gutem  Zustande  zu  erhalten,  andererseits  hiebei  die  Grundsätze  der 
Sparsamkeit  strenge  zu  beobachten.   Zu  diesem  Behufe  wurde  die  Aufsicht 


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UNOABNS   HANDEL   UND   YEBKEHB  IM   JAHRE  1889.  ^^^ 

und  Gontrole  über  das  öffentliche  Strassenwesen  neugeregelt  und  für  den 
Bau  der  Brücken  eine  besondere  Instruction  herausgegeben. 

Die  Länge  der  in  Staatsregie  befindUchen  öffentlichen  Strassen  beträgt 
Ende  1889  im  eigentlichen  Ungarn  5969*743  Km.,  in  Kroation-Slavonien 
1206-922  Km.,  zusammen  7176-665  Km.  Die  Aufsichts- und  Erhaltungs- 
kosten belaufen  sich  in  Ungarn  durchschnittlich  auf  413>  in  Kroatien  auf 
352  Gulden  per  Kilometer.  Der  Fortschritt  seit  dem  Jahre  1867,  d.  i.  seit 
der  Wiederherstellung  der  verfassungsmässigen  Begierung,  ist  auch  auf 
diesem  Gebiete  ein  nennenswerter.  Denn  im  Jahre  1867  betrug  die  Gesammt- 
länge  der  Staatsstrassen  oder  Chausseen  in  Ungarn  und  Kroatien  erst 
5612  Km.,  die  Zunahme  ist  somit  1565  Km.,  d.  i.  27-9o/o. 

Die  Municipalstrassen  und  Brücken  waren  bis  zum  Jahre  1890  im 
Wesentlichen  den  Comitats-  und  Stadtbehörden  anvertraut,  der  Staat  subven- 
tionirte  jedoch  die  Municipien  namentlich  bei  Erhaltung  solcher  Wege  und 
Brücken,  welche  von  strategischer  Bedeutung  sind.  Diese  Staatssubvention 
beanspruchte  im  Jahre  1 889  in  runder  Summe  600,000  fl.  Zur  Erbauung 
und  Erhaltung  dieser  Municipalstrassen  und  Brücken  wird  übrigens  die 
gesetzlich  verpflichtete  öffentliche  Arbeitsleistung  der  Steuerträsier  entweder 
in  natura  oder  in  bestimmter  Geldablösung  in  Anspruch  genommen. 

Zu  Ende  des  Jahres  1889  war  die  Länge  der  Municipalstrassen 
33,394-4  Km.,  davon  ausgebaut  23,4002  Km.,  unvollendet  9994-2  Km.  Für 
diese  Strassen  waren  im  Jahre  1889  an  öffentlichen  Arbeitsleistungen  ins- 
gesammt  vorgeschrieben  2.391,845  zwei-  und  119,821  einspännige  Tages- 
fuhren und  6.603,979  Handarbeitstage.  Hievon  waren  in  natura  zu  leisten  : 
850,301  zwei-,  38,740  einspännige  Tagesfuhren  und  2.410,368  Handarbeits- 
tage. Die  übrigen  Leistungen  mussten  um  den  Betrag  von  4.954,807  fl.  82  kr. 
in  Geld  abgelöst  werden. 

Die  Einhebung  der  Strassen-  und  Brückenmaut  unterzog  der  Minister 
«iner  strengen  Prüfung  und  Aufsicht,  damit  nicht  zum  Schaden  des  Publi- 
cums  und  zur  Hemmung  des  Verkehrs  unrecht-  oder  übermässige  Maut- 
gebähren abgefordert  werden.  Eine  wohlthätige  Wirkung  erwartet  man  auch 
in  dieser  Sichtung  von  dem  neuen  Gesetze  über  das  Wege-  und  Mautwesen 
vom  Jahre  1890. 

Das  Post-  und  Telegraphen-  Wesen  befindet  sich  in  einem  gedeihlichen 
Zustande  und  dient  nicht  nur  dem  öffentlichen  Verkehre,  sondern  bringt  auch 
der  Staatscassa  ein  jährlich  zunehmendes  reines  Einkommen,  welches  im 
Jahre  1889  bereits  den  Betrag  von  drei  Millionen  Gulden  überstieg.  Der 
Herr  Handelsminister  wendet  deshalb  diesen  Verkehrsmitteln  eine  besondere 
Aufmerksamkeit  zu  und  verdankt  man  seiner  Initiative  und  Energie  hierin 
wichtige  Erleichterungen  und  Neuerungen,  wofür  namentlich  die  Geschäfts- 
welt dem  Minister  grossen  Dank  weiss. 

Im  Interesse  des  Handels  wurde  die  Postp:ebühr  für  Drucksachen  und 


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4-24  UNGARNS   HANDEL   UND   VERKEHR  IM  JAHRE  1889. 

Waaren-Muster  um  ein  Beträchtliches  herabgesetzt,  so  dass  für  Drucksachen 
bis  zu  10  Gramm  die  Gebühr  nur  1  kr.  betragt;  bei  Waaren-Mustem  bis  5() 
Gramm  blos  2  kr.  In  ähnlicher  Weise  hat  der  Minister  dem  telegraphischen 
Verkehre  der  Zeitungen  die  erhebliche  Concession  geboten,  dass  Zeitungs- 
telegramme, welche  in  den  Abend-  und  Nachtstunden  aufgegeben  werden, 
mit  Nachsicht  der  Grundtaxe  von  24  kr.  blos  für  jedes  Wort  einen  Kreuzer 
Gebühr  zu  entrichten  haben,  wenn  sie  sich  jährhch  zu  einem  gewissen 
Fauschal-Minimum  der  Gebuhren-Einnahme  verpflichten.  Der  wohlfeile  Post- 
tarif für  Zeitungen  wurde  auch  auf  die  Sendungen  der  Abonnenten-Sammler 
und  der  Colporteure  ausgedehnt. 

Von  grossem  Werte  für  die  Erleichterung  und  Beschleunigung  des 
Postverkehrs  sind  ferner  die  vom  Minister  Baross  getroflfenen  Verfügungeu 
über  die  promptere  und  raschere  Zustellung  der  Geld-  und  Packetsendungen 
sowie  der  ausländischen  Zeitungen  und  der  Geldanweisungen. 

Nicht  minder  eifrig  und  erfolgreich  waren  des  Ministers  Bemühungen 
im  Interesse  der  Einbürgerung  und  Verbreitung  des  Telephon-  tVe^ens,  Auf 
Grund  einer  getroflfenen  Vereinbarung  mit  dem  österreichischen  Handels 
minister  wurde  die  telephonische  Verbindung  zwischen  Budapest  und  Wien 
hergestellt ;  desgleichen  wurden  .Verfügungen  getroflfen,  um  das  Telephon 
in  allen  grösseren  Städten  des  Landes  einzuführen  und  diese  dann  mit  dem 
Telephon-Netz  in  der  Hauptstadt  zu  verbinden.  Auch  wurde  der  Fernsprecher 
zur  Ergänzung  des  Telegraphennetzes  benützt. 

Der  Herr  Minister  erhebt  die  berechtigte  Klage,  dass  er  in  diesen  seineu 
Beformbestrebungen  bei  einem  grossen  Teile  unseres  Publicums  nicht  das 
richtige  Verständniss  oder  das  erforderliche  Entgegenkommen  findet,  wodurch 
die  Organe  des  Post-  und  Telegraphenwesens  in  ihrem  Dienste  unterstützt 
würden.  Nahezu  ein  Viertel  der  aufgegebenen  Briefe  ist  nlangelhaft  adressirt 
oder  schlecht  couvertirt,  so  dass  z.  B.  im  Jahre  1889  wegen  Nichtbestell- 
barkeit  13,966  Stück  Briefe  den  Aufgebern  zurückgegeben,  97,647  Stück  aber 
aus  derselben  Ursache  vernichtet  werden  mussten.  Die  schlechte  Gouverti- 
nxnn  kommt  selbst  bei  grösseren  Geldsendungen  noch  immer  vor,  obgleich 
die  Erfahrung  hier  doch  schon  längst  das  Publicum  eines  Besseren  belehrt 
haben  sollte.  Ebenso  beklagt  der  Minister  die  oft  schleuderhafte  und 
unzweckmässige  Verpackung  bei  Packetsendungen,  wodurch  die  Parteien 
häufig  ohne  Schuld  und  Verantwortung  der  Postverwaltun;^  empfindlichen 
Schaden  erleiden. 

Die  Einzelheiten  über  die  Verbesserungen  im  inneren  Postdienst 
können  wir  an  dieser  Stelle  nicht  mitteilen. 

Im  internationalen  Verkehr  hat  der  Herr  Handelsminister  namentlich 
die  Briefpost  mit  Serbien,  Bulgarien  und  der  Türkei  wesentlich  vermehrt, 
desgleichen  mit  der  serbischen  Regierung  einen  vorteilhaften  Vertrag  zur 
Erleichterung  des  transitorischen  Brief-  und  Geldverkehrs  nach  Bulgarien 


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UNGABNS   HANDEL   UND   VERKEHB   IM   JAHBE  1889. 


425 


geachloBsen.  Ferner  wurde  das  Gebiet  des  internationalen  Postverkehrs  für 
Packet-  und  Wertsendungen  erheblich  erweitert. 

Von  wesentlichem  Belange  für  die  Förderung  des  Telegraphen-  und 
Telephon- Wesens  ist  die  Errichtung  einer  electro-technischen  Abteilung  im 
Handelsministerium,  bestehend  aus  Post-  und  Telegraphen-Oberingenieuren 
mit  1400  und  1300  fl.  Gehalt  und  300  (Budapest)  und  200  fl.  Quartiergeld ; 
aus  zwei  Kategorien  von  Post-  und  Telegraphen-Ingenieuren  mit  4  Gehalts- 
stufen (1200,  1100,  1000  und  900  fl.  Gehalt  und  200  fl.  in  der  Hauptstadt, 
150  fl.  in  der  Provinz  an  Quartiergeld)  und  aus  Post-  und  Telegraphen - 
Hilfsingenieuren  mit  zwei  Gehaltsstufen  (800  und  700  fl.  Gehalt,  200  und 
150  fl.  Quartiergeld).  Ausserdem  errichtete  der  Minister  einen  Lehrcurs  für 
das  Hilfspersonal  beim  Post-  und  Telegraphenwesen. 

Das  Personal  bei  den  ärarischen  Post-  und  Telegraphen-Aemtem 
bestand  im  Jahre  1889  aus  160  Leitern,  aus  2334  Manipulationsbeamten 
und  aus  2293  Dienern,  zusammen  aus  4787  Personen,  deren  Gesammt- 
bezüge  an  Gehalt,  Quartiergeld  und  Lohn  3.361,690  fl.  ausmachten.  Ln 
Jahre  1887  waren  es  4994  Personen  mit  3.665,500  fl.  Bezügen.  Bei  den 
nichtärarischen  Postämtern  waren  3617  (23(X)  Männer,  1317  Frauen)  Post- 
meister und  300  Diumisten  mit  Gesammtbezügen  von  952,046  fl.  Von  den 
Postmeistern  wurden  im  Postdienste  verwendet  247  männliche  und  323 
weibliche  Expeditoren.  Das  Dienstpersonal  zählte  3754  Personen.  Die  Ver- 
kaufsstellen für  Post-  und  Telegraphen- Wertzeichen  stiegen  von  1898  des 
Jahres  1887,  im  Jahre  1889  auf  2150. 

In  der  Post-  imd  Telegraphen- Verwaltung  gab  es  im  Jahre 

Post-  imd  Telegraphendireotionen 

Aerariscbe  Postämter     

Nicbtärariscbe  •  .__     ..., 

Aerariscbe  Post-  u.  Telegrapbenämter 
Nicbtärariscbe  i     c           «  • 

Aerariscbe  Telegrapbenämter 
Nichtärarische    «             « 
Rollende  Postämter        __.     ._.     .. 
Speditions-Postämter ...     .._     .._ 
Zusammen 
Ausserdem  Eisenbahn-Telegraphen 
Privat- Telegraphen     

Von  sämmtlichen  Telegraphen-Aemtem  hatten  im  Jahre  1889  Tag- 
und  Nachtdienst  10  Staats-  und  41  Eisenbahn-Telegraphen- Aemter ; 
vollen  Tag-  und  Nachtdienst  bis  Mitternacht  91  Staats-  und  41  Eisenbahn- 
Telegraphen- Aemter;  beschränkten  Tagesdienst  645  Staats-  und  889  Eisen- 
bahn-Telegraphen- Aemter. 

rngarisolM  Borue,  XI.  1891.  V.  Haft.  ^y^ 


1887 

1888 

1889 

9 

9 

9 

57 

U 

38 

.   3321 

3169 

3101 

r    213 

189 

195 

428 

499 

533 

46 

26 

16 

15 

4 

2 

60 

117 

240 

216 

187 

184 

.   4365 

4244 

4318 

907 

927 

956 

16 

40 

40 

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_J 


426 


UNGABNS   HANDEL   UND   VERKEHR  IM   JAHRE  1889. 


Bei  dem  ärarischen  Telegraphendienste  waren  in  Verwendung  39 
Hughes-,  1179  Morse'sche  und  3  andere  Apparate,  bei  den  Eisenbahn- 
Telegraphen- Aemtern  1262  Morse'sche  Apparate. 

Die  Zahl  der  Briefkästen  war  2085  (1887  :  1805) ;  an  Miete  für  Post- 
und  Telegraphen-Aemter  wurden  192,535  fl.  (1887  :  206,965  fl.)  bezahlt 

Im  Dienste  des  Postverkehrs  standen  2898  Wagen  (1887  :  3124)  und 
4017  Pferde  (1887  :  4214).  Die  Abnahme  erklärt  sich  aus  der  zunehmenden 
Menge  der  Eisenbahnlinien,  welche  auch  den  Postverkehr  vermitteln.  Die 
Zahl  dieser  Linien  stieg  1887 — 1889  von  456  auf  502  und  die  zurückgelegte 
Länge  von  18.034,878  auf  19.140,454  Kilometer.  Mittelst  der  Flussdampfer 
wurde  der  Postverkehr  in  einem  ümfanjre  von  419,472  (1887 :  422,1 72)  Kilo- 
meter vermittelt;  zur  See  auf  424,292  Seemeilen  (1887  :  238,922). 

Die  LinienlängH  des  Telegraphennetzes  war  im  Jahre  1889  bei  den 
Staatstelegraphen  18,693*035  Kilometer  (1887  :  17,632*972),  bei  den  Eisen- 
bahntelegraphen 857-617  Kilometer  (1887  :  1134*246),  bei  den  Privattele- 
graphen 341-529  Kilometer  (1887  :  344*414),  zusammen  19,892*181  Kilo- 
meter (1887  :  19,111*632).  Die  Kabellänge  hingegen  bei  diesen  drei  Kate- 
gorien 47,918*780  Kilometer  (1887:45,381-112).  24,883-944  Kilometer 
(1887:23,287*320)  und  597-318  Kilometer  (1887:506-404),  zusammen 
73,400-042  Km.  (1887  69.174*836). 

Die  Einnahmen  aus  Post  und  Telegraphen  waren  12.308,145  fl.,  di> 
Ausgaben  9.222,683  fl.,  das  Plus  der  Einnahmen  somit  3.085,462  fl. 

Der  Postverkehr  zeigt  im  Briefverkehr  (einfache  und  recommandirte 
Briefe,  Correspondenzkarten,  Zeitungen,  Waaren-Muster  und  Drucksachen) 
folgende  Ergebnisse : 


1887 

1888 

1S89 

1.  Inländische  Briefe    

76.537,900  St. 

76,9-22,000  St. 

79.770,000  St. 

•        Zeitungen     ... 

40.966,180  i 

42.155,000  • 

44.140,000  • 

c       sonst.  Sendungen 

30.152,400  • 

32.403,000  t 

33.539,000  . 

2.  Oesterreichißche  Briefe     ... 

16.906,620   • 

15.947,660  t 

17.247,000  . 

•        Zeitungen 

4.926,8S0  t 

5.215.680   • 

5.381.000  . 

•        sonst.  Sendungen 

10.500,780  • 

11.152,100  « 

11.386,000   . 

3.  Ausländische  Briefe 

3.996,200   • 

4.297,100   « 

4.807,000  . 

•        Zeitungen 

689,420   • 

783,760  i 

860,000  « 

•       sonst.  Sendungen 

1.918,560  t 

2.154,280  i 

2.708,000  « 

Zusammen  Briefe    ... 

97.440,720  St. 

97.166,760  St. 

101,909,000  St 

Zeitungen 

46.582,460  t 

48.154,440   i 

50,381,000  . 

Sonst.  Send. 

42.571,740  i 
186.659,040  St. 

45.709,380  • 

47.548,000  € 

Der  ges.  Briefpostverkehr 

191.030,580  St. 

199.838,000  St 

Postaufträge  geschahen  aus  dem  Inlande:  59,656  Stück  mit 
1.989,534  fl.  Geldwert;  ausgelöst  wurden  34,791  Stück  um  1.172,361  fl.; 
aus  Oesterreich :   68,823  Aufträge  mit  3.154,342  fl.  Geldwert;  ausgelöst: 


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UNGARNS   HANDEL  TTND   VEBEEHB  IM  JAHRE  1889.  4^7 

34.752  Stück  um  1.665,980  fl. ;  vom  Auslände:  1 1,896  Stück  mit  524,306  fl. ; 
ausgelöst:  6394  Stück  mit  285,877  fl.  Insgesammt  waren  also  140,375 
(1887:  123,694)  Postaufträge  im  Geldwerte  von  5.668,182  fl.  (1887: 
4.288,240  fl.),  wovon  ausgelöst  wurden :  75,937  Stück  (1887  :  63,038)  im 
Werte  von  3.124,218  fl.  (1887  :  2.233,268  fl.). 

Die  Postanweisungen  und  Postnachnabmen  betrugen:  10.521,223 
<1887  :  8.860,443)  Stück  mit  314.730,536  fl.  (1887  :  256.165,378)  Ein- 
Zahlung  und  8.794,195  Stück  (1887  :  7.166,228)  mit  238.776,702  fl.  (1887  : 
187.860,307)  Auszahlung.  Rechnet  man  hiezu  noch  die  an  Oesterreich  zur 
Begleichung  ausgezahlte  Summe  von  76.100,000  fl.  (1887  :  67.650,000  fl.), 
so  macht  die  ausgezahlte  Gesammtsumme  314.876,702  fl.  (1887  : 
255.510,307)  aus. 

Noch  ist  höchst  interessant,  dass  in  Ungarn  für  Oesterreich  eingezahlt 
wurden :  108.980,251  fl.  (1887 :  94.372.087),  dagegen  sind  von  Oesterreich 
eingelangt:  33.419,901  fl.  (1887:  26.706,716);  für  die  occupirten  Provinzen 
wurden  eingezahlt:  344,977  fl.  (1887:  242,744)  und  von  dort  hieher  ange- 
wiesen: 1.321,768  fl.  (1887:  1.307,844);  für  das  Ausland  eingezahlt: 
3.048,156  fl.  (1887:  2.737,775),  von  dort  hieher:  1.905,557  fl.  (1887: 
1.440,555).  Zusammen  eingezahlt:  112.373,384  fl.  (1887:  97.352,606), 
hierher  angewiesen:  36.647,226  fl.  (1887:  29.455.115). 

An  Paketen  und  Geldbriefen  langten  an : 

aus  dem  Inlande :  7.541,000  Stück 

21.463,000  Kilogramm  Gewicht 
1,216.746,000  fl.  Geldwert; 
aus  Oesterreich :  3.207,840  Stück 

11.970,220  Kilogramm  Gewicht 
296.903,060  fl.  Geldwert; 
vom  Auslande :  433.840  Stück 

1.360,700  Kilogramm  Gewicht 
45.710,500  fl.  Geldwert. 
Znsammen :         11.1 82,680  Stück 

34.793,920  Kilogramm  Gewicht 
1,559.359,560  fl.  Geldwert. 

Im  Jahre  1887  war  der  letztere  1,651.814,560  fl. 

Der  tdegraphische  Verkehr  weist  gleichfalls  eine  ungemeine,  continuir- 
liche   Steigerung  auf.  Die  Zahl  der  gebührenpflichtigen   Telegramme  bei 
:8ammtlichen  Staats-  und  Eisenbahn-Telegraphenstationen  war 
im  J.  1887 2.607,458  Stück 

•  M    1888       2.857,142     • 

•  •    1889 -    2.881,527      • 

Dazu  kommen  in  diesen  drei  Jahren  an  gebührenfreien  Depeschen 
144,590;  186,383  und  240,743  Stück,  so  dass  also  der  Gesammtdepeschen- 

27* 


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42S 


X7NOARNB   HANDEL  UND   YERKEHB  IM  JAHKE  1889. 


verkehr  sich  folgendermassen  gestaltet  hat :  2.752,048 ;  3.043,495 ;  3.122,270* 
Stück.  Von  den  gebührenpflichtigen  Telegrammen  waren  im  Jahre  1887  erst 
2.536,522,  im  Jahre  1889  schon  2.811,581  Privatdepeschen. 

Den  gesteigerten  persönlichen  und  geschäftlichen  Verkehr  bezeugen 
auch  die  von  ausserhalb  Ungarns  hieher  gerichteten,  zunehmenden  tele- 
graphischen Mittheilungen.  Innerhalb  des  obigen  Trienniums  1887 — 1889 
betrug  deren  Zahl  747,591;  804,056;  828,882  Stück.  Aus  Oesterreich 
allein  kamen  608,224  bezahlte  und  6857  gebührenfreie,  zusammen  615,081 
Depeschen. 

Noch  verzeichnet  der  ministerielle  Bericht  die  im  inländischen  und 
im  internationalen  Verkehre  vermittelten,  «durchlaufenden»  Telegramme, 
v^odurch  der  gesammte  telegraphische  Verkehr  von  1887 — 1889  folgende 
Besultate  erzielte : 

1887  1888         1889 

Aufgegeben  wurden 2.752,048  St.  3.043,495  St.  3.122,270  St. 

Vom  Auslande  angekonmien      ...  747,591    «  804,050   «  828,882    • 

Durchlaufende  Depeschen      ...     ,■,  2.697,201    t  2.908,241    t  3.189,009   « 

Zusammen     ...  6.196,840  St.  6.755,792  St.  7.140,161  St. 

Im  Jahre  1889  gab  es  in  den  Ländern  der  ungarischen  St.  Stefanskrone 
zehn  Städte  mit  öffentlichem  Telephon-  Verkehr,  und  zwar  :  Budapest  (ver- 
pachtetes Staatstelephonnetz),  Szegedin,  Arad,  Temesvär,  Pressburg,  Pünf- 
kirchen,  Agram,  Debreczin,  Grosswardein  und  Miskolcz. 

Das  Institut  der  königlich-ungarischen  Postsparcassa  hat  auch  im 
Jahre  1889  eine  erfolgreiche  Wirksamkeit  entfaltet;  die  Zahl  der  Einleger  ist 
bedeutend  gestiegen,  wodurch  auch  der  geschäftUche  Verkehr  an  Lebhaftig- 
keit gewonnen  hat.  Das  Qedeihen  dieser  öffentlichen  Institution  ist  umso 
erfreulicher,  da  ihre  Thätigkeit,  wie  die  Erfahrung  lehrt,  nach  kein  er  Rich- 
tung die  Frivatsparcassen  und  Credit-Institute  in  nachtheiliger  Weise  beein- 
flusst.  Beweis  dessen  ist  schon  die  Thatsache,  dass  seit  dem  Bestände  der 
Postsparcassen  (seit  dem  Jahre  1886)  bis  Ende  1888  die  Zahl  der  vaterlän- 
dischen Sparcassen  von  395  auf  424  gestiegen  ist  und  ausserdem  zahlreiche 
Geldinstitute,  namentlich  Creditverbände  gebildet  wurden,  welche  sich 
ebenfalls  mit  der  Entgegennahme  und  fruchtbringenden  Verwendung  von 
Spareinlagen  beschäftigen. 

Der  Minister  war  vor  Allem  bemüht,  die  Einzahlstellen  bei  den  Post- 
und  Telegraphen- Aemtem  zu  vermehren.  Die  Zahl  derselben  betrug  im  Jahre 
1886  erst  2000,  im  Jahre  1889  schon  3815,  so  dass  also  der  grösste  Teil 
dieser  Aemter  zugleich  als  Einlagstelle  für  die  Postsparcassa  dient. 

Im  Jahre  1889  betrugen  die  Einlagen  sammt  den  capitalisirten  Zinsen 
4.271,070  fl.  76  kr.,  die  Bückzahlungen  3.459,630  fl.  60  kr.,  so  dass  der 
Bestand  um  811,440  fl.  10  kr.  zunahm.  Dazu  der  Status  aus  dem  Jahre 
1888  mit  2.927,845  fl.  50  kr.  gibt  mit  Ende  des  Jahres  1889  einen  Gesammt- 


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UNGARNS  HANDEL  UND   VERKEHR  IM  JAHRB  1889.  ^^ 

Einlagenstand  von  3.739,285  fl.  60  kr.  Der  gesammte  Geldverkehr  des  Insti- 
tutes war  im  Jahre  1886  erst  3.937,630  fl.  56  kr.;  im  Jahre  1889  aber 
7.730,701  fl.  42  kr. ;  die  Steigerung  beträgt  sonach  96-5o/o. 

Da  nach  dem  Gesetzartikel  IX  vom  Jahre  1885  jeder  Einleger  nur  ein 
Einlagsbüchel  haben  darf,  so  bezeichnet  die  Zahl  der  Einlagsbächel  zugleich 
die  Anzahl  Einleger  selbst  Damach  traten  im  Jahre  1889  dem  Verbände 
der  Postsparcassa  60,997  Personen  bei,  die  in  Verbindung  mit  den  Ende 
1888  verbliebenen  129,887  Personen  einen  Gesammtbestand  von  190,884 
Einlegern,  resp.  Einlagsbücheln  ausmachen.  Hievon  wurden  definitiv  heraus- 
genommen 40,074,  so  dass  zu  Ende  1889  noch  150,810  Einlagsbächel  ver- 
«blieben. 

Im  Jahre  1888  waren  bei  sämmtlichen  ungarischen  Privat-Geldinsti- 
tuten  623,176  Spareinlagebüchel  vorhanden,  von  denen  auf  die  eigentlichen 
Sparcassen  498,048  Stück  entfielen.  Die  Postsparcassa  trägt  also  auch  hin- 
sichtlich der  Zahl  ihrer  Einlagsbächel  (150,810  Stück)  den  Charakter  eines 
Landes-Instituts  an  sich.  Die  zunehmende  Verbreitung  der  Teilnahme  an 
dem  Institute  beweisen  auch  noch  andere  Zahlverhältnisse.  Während  näm- 
lich im  Jahre  1886  erst  jede  200.  Person  im  Lande  ein  Postsparcassabüchel 
besass,  war  dies  im  Jahre  1887  bereits  bei  jeder  157.,  im  Jahre  1888  bei 
jeder  127.  und  im  Jahre  1889  schon  bei  jeder  110.  Person  in  der  Bevöl- 
kerung der  Fall.  Auf  1000  Seelen  kamen  9*1  Postsparcassaeinleger ;  bei 
den  übrigen  Creditinstituten  auf  je  1000  Seelen  42  Einleger.  In  der  Haupt- 
stadt Budapest  zählte  man  Ende  1889  nicht  weniger  als  23,088  Postspar- 
cassa-Einleger;  hier  entfiel  also  ein  Einlagsbüchel  schon  auf  je  20  Personen 
(im  Jahre  1886  erst  auf  je  27  Personen). 

Interessant  ist  auch  der  Nachweis  über  die  Benützung  der  ein-  und 
mehrsprachigen  Einlagebüchlein.  Am  Ende  des  Jahres  1889  waren  im 
Gebrauche  : 

nur  in  ungarischerSprache        —     104,109  Einlagebüchlein  =  6903o/o 

in  ungar.kroat.             • 5,587              t                =   3*70 1 

«       «     -deutscher       « 30,526               •                 =20*24« 

•  «     -rumänischer  Sprache             2,195               «                 =    l«46f 

«        •     -slovakischer        «               6,596               «                 =   4*37  • 

•  «     -serbischer,  ruthenischer,  italieni- 

scher Sprache        1,797 i =    1-20  t 

Zusammen     ...     150,810  Einlagebüchlein       —    — 

Unter  den  Einlegern  gehörten  Ende  1889  24'5  Percent  dem  Liebens- 
^ter  unter  10  Jahren,  32%  dem  zwischen  10  und  20,  18*8%  zwischen  20 
und  30  Jahren  an.  35%  der  Einleger  waren  Kinder  und  Schüler;  12-5% 
Handwerker;  8*9^/o  Beamte  und  Soldaten;  5*7  Kaufleute;  5*1  ^/o  Geistliche, 
Professoren,  Lehrer,  Schriftsteller,  Künstler,  Aerzte,  Ingenieure,  Advokaten 


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^^  UNGARNS   HANDEL   UND   VERKEHR  IM   JAHRE  1889. 

u.  8.  w.;  3-5<>/o  Dienstboten;  2'9>  Land-  und  Forstwirte,  l'SVo  Taglöhner^ 
21'l^/o  sonst  Beschäftigte  u.  s.  f.  Femer  teilten  sich  die  Einleger  dem 
Geschlechte  nach  in  65-9Vo  männliche  und  32*9 Vo  weibliche  Personen; 
1-2%  waren  neutrius  generis,  d.  h.  juristische  Personen. 

Der  ministerielle  Bericht  untersucht  die  Anzahl  und  Höhe  der  Ein- 
lagen und  der  Bäckzahlungen  noch  nach  anderen  G^chtspunkten,  auf 
welche  wir  jedoch  im  Hinblicke  auf  den  zur  Verfügung  stehenden  Baum 
nicht  mehr  des  Näheren  eingehen  können.  Bios  die  allgemeinen  Anden- 
tungen seien  noch  erlaubt,  dass  die  meisten  Einlagen  (und  Bückzahlungen) 
im  Budapester  Post-  und  Telegraphen-Directionsdistrict  erfolgen,  nach  die- 
sem kommt  derOedenburger,  dann  der  Pressburger  District;  am  Geringsten 
sind  die  Einlagen  in  den  Postdistricten  Hermannstadt  und  Agram.  Die 
meisten  Bäckzahlungen  geschahen  im  Dezember,  die  wenigsten  im  Monate 
Jänner. 

Da  die  Postsparcassa  ihre  Wirksamkeit  hauptsächlich  dem  finanziell 
schwachem  Publikum  zuwendet,  so  ist  es  klar,  dass  auch  die  durchschnitt- 
liche Höhe  der  Einlagen  und  Bäckzahlungen  i^jich  nur  in  bescheidenen 
Dimensionen  bewegt  Nichtsdestoweniger  bemerkt  man  auch  hierin  ein  an- 
dauerndes Wachstum,  was  auf  die  Zunahme  des  Sparsinnes  und  der  Wohl- 
habenheit auch  in  diesen  Kreisen  der  Bevölkerung  schliessen  lässt.  Der 
Durchschnittsbetrag  der  Einlagen  war 

im  Jahre  1886      5  fl.  67  kr. 

€       t      1887  ...     6  i   95  « 

i       i      1888      8  •  34  « 

t      1889 9  t  38  i 

Der  Durchschnittsbetrag  der  Bäckzahlungen  war 

im  Jahre  1886      18  fl.  76  kr. 

t       €      1887  ...     .  .     ...      21   i  74  • 

•      1888      ...  23  .  67  • 

i       •      1889  .       .       ...       25  .  26  • 

Subtrahirt  man  die  mit  Ende  1889  zurückgezahlten  Beträge  von  den 
Einlagen  und  addirt  man  hiezu  die  capitalisirten  Zinsen,  so  ergibt  sich  für  den 
genannten  Zeitpunkt  ein  Einlagenstand  von  3,739.285  fl.  60  kr.;  im  Durch- 
schnitt entfallen  auf  je  einen  Einleger  an  reinem  Erspamiss  24  fl.  79  kr. ; 
im  Jahre  1886  waren  es  nur  16  fl.  60  kr.  Auch  daraus  ist  ersichtlich,  euier- 
seits  die  erfreuliche  Zunahme  der  Einlagenhöhe,  andererseits  die  haupt- 
sächliche Betheiligung  des  «kleinen  Mannes»  mit  seinen  Sparkreuzera  an 
dem  Institute  der  Pontsparcassa.  Lauten  doch  von  den  sämmtlichen  Einlage- 
bücheln  nicht  weniger  als  72-97o  d.  i.  nahezu  drei  Viertel  auf  Sparbeträge 
bis  zu  10  fl.  Wert. 

Die  Fructificirung  der  eingezahlten  Spareinlagen  erfolgt  durch  An- 


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UNGABNS   HANDEL   UND   VERKEHR  IM   JAHRE  1889.  4-31 

läge  derselben  in  57o  nngar.  Papierrente,  welche  in  den  Jahren  1887 — 1889 
mit  einem  durchschnittlichen  Gnrse  von  92  fl.  02  kr.  angekauft  wurde,  so 
dass  die  Verzinsung  5*43%  abwarf, 

Dass  der  Staat  mit  der  Postsparcassa  bis  nun  kein  Geschäft  gemacht 
hat,  was  übrigens  auch  nicht  die  Au^be  des  Instituts  ist^  beweisen  die  That- 
sachen,  dass  sich  im  Jahre  1888  ein  Deficit  von  50,316  fl.,  im  Jahre  1888 
von  39.807  fl.  ergeben  hat.  Die  Deckung  dieses  Abganges  erfolgte  vorschuss- 
weise aus  den  Postverwaltungsgeldem.  Mit  der  Erstarkung  des  Instituts 
wird  indess  die  Zeit  kommen,  wo  es  sich  ohne  Deficit  wird  behaupten 
können.  Eine  erhöhte  Bedeutung  und  Wichtigkeit  erhielt  das  Institut  der 
Postsparcassa  durch  den  mittelst  G.-A.  XXXIV  v.  Jahre  1889  im  Jahre  1890 
eingeführten  Check-  und  Clearingverkehr.  Der  Herr  Handelsminister  hat  zur 
Einführung  dieses  neuen  Geschäftszweiges  nicht  blos  dem  manipulirenden 
Amtspersonale,  welches  entsprechend  vermehrt  wurde,  eingehende  Instruc- 
tionen erteilt,  sondern  auch  durch  eine  populär  gehaltene  Flugschrift  das 
grosse  Publikum  über  das  Wesen  und  die  Vorteile  des  neuen  Geschäfts- 
zweiges aufgeklärt. 

Eünen  hervorragenden  Anteil  an  der  erspriesslichen  Wirksamkeit  des 
Herrn  Handelsministers  Gabriel  v.  BeLYOsshshen  die  Eisenbahn- Angel erjen- 
heilen,  denen  der  vorliegende  ministerielle  Bericht  von  S.  363  bis  841  eine 
ebenso  eingehende  als  instructive  Behandlung  angedeihen  lässt.  Bekannt- 
lich hat  Herr  v.  Baross  noch  als  Minister  für  Communicationen  dem  unga- 
rischen Staatseißenbahnwesen  eine  ganz  neue  Aera  eröffnet  und  Beformen 
angebahnt  und  durchgeführt,  welche  den  ehrenvollen  Ruf  seines  Namens 
weit  über  die  Grenze  seines  Vaterlandes  hinaustrugen,  ja  ihn  als  einen  der 
bahnbrechenden  Keformer  auf  dem  Gebiete  des  Verkehrswesens  für  alle 
Zeiten  denkwürdig  gemacht  haben.  Wenn  unsere  Zeit  vor  Allem  «unter  dem 
Zeichen  des  Verkehrs»  steht,  so  hat  dieses  Zeichen  Niemand  besser  erkannt 
und  energischer  zur  Geltung  zu  bringen  versucht,  als  eben  Ungarns  gegen- 
wärtiger Handels  minister,  der  Schöpfer  des  epochalen  Zonentarifs  im  Per- 
sonen- und  Güterverkehr  der  ungar.  Staatsbahnen. 

Die  Action  in  der  Eisenbahnverstaatlichung,  welche  seit  1884  zu  einem 
gewissen  Stillstand  gelangt  war,  kam  dadurch  wieder  in  Fluss,  dass  der 
Gesetzartikel  XIV  v.  Jahre  1889  die  Ablösung  der  ungarischen  West-  und 
der  ungarisch-galizischen  Bahn  genehmigte  und  der  G.-A.  XV  desselben 
Jahres  dieBegierung  bevollmächtigte,  die  Ablösimg  der  Budapest-Pünfkirch- 
ner  Eisenbahn  gleichfalls  zu  bewerkstelligen,  was  durch  den  G.-A.  VH  v. 
Jahre  1890  auch  thatsächlich  zum  Vollzug  gelangte.  Bei  Gelegenheit  dieser 
Eisenbahn- VerstaatUchungen  wurden  für  den  Staat  besonders  günstige 
Vereinbarungen  getroffen.  Noch  sei  erwähnt  die  mittelst  G.  A.  X.  vom 
Jahre  1889  genehmigte  Stempel-  und  gebührenfreie  Convertirung  des  Prio- 
ritätsanlehens der  für  den  Export  wichtigen  Kaschau-Oderberger  Eisenbahn ; 


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*32  UNOABNB   HANDEL   UND   VERKEHB  IM   JAHRE  1889. 

dann  die  (jenehmigung  (G.  A.  I  vom  Jahre  1889)  der  schmalspurigen  Eisen- 
bahn Mostar-Bama- Mündung  in  der  Herzegowina;  insbesondere  verdient 
aber  hervorgehoben  zu  werden,  dass  Regierung  und  Gesetzgebung  im  Jahre 
1889  mit  der  Vermehrung  der  Vicinalbahnen  sehr  in  Anspruch  genommen 
waren.  Unter  den  bis  Ende  1889  concessionirten  3110  Kilometer  Vicinal- 
bahnen wurden  1648  Kilometer  oder  53<)/o  nur  auf  Grund  legislatorischer 
Bevollmächtigung  conoessioniri  Ein  näheres  Eingehen  sowohl  auf  diese 
legislatorischen  Acte  wie  auch  auf  die  Thätigkeit  des  Handelsministers  g^en- 
über  der  Verwaltung  und  Leitung  sowohl  der  Staats-  wie  der  Privat-Eisen- 
bahnen  müssen  wir  uns  an  dieser  Stelle  versagen.  Das  zielbewusste,  ener- 
gische Vorgehen  des  Ministers  im  Interesse  der  Hebung,  Vermehrung, 
Erleichterung  und  Verwohlfeilerung  des  Verkehrs  ist  überall  deutlich  zu 
erkennen,  ebenso  das  Streben  nach  Geltendmachung  der  Interessen  des 
Staates  und  Beiner  verkehrspolitischen  Oberhoheit. 

Im  Jahre  1889  wurden  474*908  Km.  Eisenbahnlinien  gebaut,  so  dass 
die  Gesammtlänge  des  Eisenbahnnetzes  am  Ende  dieses  Jahres  10,874*624 
Kilometer  betrug.  Unter  den  obigen  474*908  Km.  neuen  Bahnlinien  gehörten 
den  königlich-ungarischen  Staatsbahnen  75*143  Kilometer,  den  privat- 
gesellschaftlichen Hauptlinien  1*626  Kilometer  und  den  Vicinalbahnen 
399*915  Kilometer.  Im  Bau  begriffen  waren  558*0  Kilometer.  In  Goncessions- 
Verhandlung  standen  nicht  weniger  als  1722*3  Kilometer;  auf  weitere 
Linien  von  ungefähr  5600  Kilometer  wurden  Vorconcessionen  erteilt. 

Auf  dem  Gebiete  des  Eisenbahnbauwesens  herrschte  somit  in  dem 
hier  betrachteten  Jahre  1889  eine  ungemeine  Bührigkeit  und  ein  schaffens- 
lustiger Unternehmungsgeist. 

Zu  Ende  des  Jahres  1888  kamen  auf  je  100,000  Einwohner  66*5  Kilo- 
meter, mit  Ende  1889  schon  69*7  Kilometer;  auf  je  100  Quadratkilometer 
damals  3*2  Kilometer,  jetzt  3*4  Kilometer  Eisenbahnen. 

Das  Gesammtnetz  der  ungarischen  Bahnlinien  zerfiel  in  technischer 
Beziehung 

im  J.  1888  im  J.  1889 

in  Eisenbahnen  ersten  Ranges      7385-222  km  =  71-Oo/o  7531-077  km  =  69-3<Vt 

•  t           zweiten      •           2891-334    •    =  27-8  •  3219-497    •    =  296 1 
€  schmalspurige   Eisenbahnen      123-160    •    =    1-2«  124-050    «    =    11« 

Davon  waren 

im  J.  1888  im  J.  1889 

K.  ung.  Staatsbahnen       ...     ._.   4240*298  km  =  40-8o/o  4827*648  km  =  44'4ojü 

Gesellschafts-Hauptlinien    ...       4007-716    «    =38-5«  3495-352    «    =32-1« 

Vicinalbahnen 2151-702    «    =20*7«  2551-624    «    =23-5« 

Zieht  man  den  Betrieb  selbst  in  Betracht,  so  waren 

im  J.  1888  im  J.  1889 

im  Staats-Betrieb     ...     ...     ...    5288-860  km  =  50*9 o/o      6141-237  km  =  öö-ö«»«» 

•  Privat-      «       5110-856    «    =491«       4733-387    «    =43-5« 


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UNGARNS   HANDEL  UND   YEBKEHB   IM   JAHRE  1889.  ^33 

Die  zunehmende  Präponderanz  der  Staatsgewalt  in  Eisenbahn- Ange- 
legenheiten tritt  insbesondere  deutlich  in  der  wachsenden  Uebemahme  der 
Localbahnen  in  den  Staatsbetrieb  hervor.  Es  waren  nämlich  von  diesen 
Yicinalbahnen 

im  J.  1888  im  J.  1889 

im  Staatsbahnbetrieb       989-518  km  =  46-Co/o  1304-545  km  =  5Mo/o 

«  Betrieb  der  grossen  Qesellsch.     665*876    •    =  309  •  700-648    •    =27-5i 

«Eigenbetrieb    496-308    •    =23-1«  546-431    •    =21-4« 

Bis  zu  Ende  1889  betrug  das  in  das  ungarische  Eisenbahnnetz  inve- 
stirte  sämmtliche  Capital  882.029,110  fl. ;  gegen  das  Vorjahr  1888  war  die 
Zunahme  29.346,957  fl.  Und  zwar  entfielen  von  dem  investirten  Capital 

im  J.  1888  im  J.  1889 

auf  die  Staatsbahnen 400.006,493  fl.  =  47-0«>/o  447.813,923  fl.  =  50-8o/o 

t     «    Gesellschaftsbahnen      390.288,873  t  =  45-7 «  362.069,281   €=41-0« 

i     «    Yicinalbahnen    ...          62.386,787  «=    7-3  •  72.145,906  •  =    8-2« 

Auf  die  Bahnlängen  verteilt,  zeigt  sich,  dass  nach  diesen  drei  Haupt- 
gruppen an  Investitionscapital  per  Kilometer  durchschnittlich  entfielen 


im  J.  1888 

im  J.  1899 

ei  den  Staatsbahnen        ...    ... 

94.334  fl. 

92,761  fl. 

«     •    Gesellschaftsbahnen ... 

97,555  t 

103,795  • 

•     •    Yicinalbahnen       

28,937  • 

28,227  « 

im  Durchschnitte    ...        82,100  fl.        81.130  fl. 

Mit  der  Yerlängerung  der  Bahnlinien  und  mit  dem  steigenden  Per- 
sonen- und  Güterverkehre  müssen  naturgemäss  auch  die  Yerkehrsmittel, 
namentUch  die  Locomotive  und  Güterwagen,  ungemein  vermehrt  werden. 
Wie  sehr  dies  im  Jahre  1889  der  Fall  war^  lehren  folgende  ziffermässige 
Thateachen.  Es  hatten  Locomotive  erster  Classe : 


Ende  1888 

Ende  1889 

die  Staatsbahnen 

657 

709 

«  Oesellschaftsbahnen  ... 

545 

550 

Zusammen    ... 

1202 

1259 

Lokomotive  zweiter  Classe : 

Ende  1888 

Ende  1889 

die  Staatsbahnen 

147 

155 

«  Gesellschaftsbabnen  ... 

110 

108 

•  Yicinalbahnen 

74 

82 

Zusammen... 

331 

345 

Gesammtstand  der  Lokomotive 

1533 

1604 

•riteh.  B.ra.,  ZI.  18>1.  V.  Heft. 

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4-34  UNGARNS   HANDEL   UND   VERKEHR  IM   JAHRE  1889. 


Personen  -Wagen : 

Ende  188H 

Ende  1889 

die  Staatsbahnen 

1391 

1415 

«   Gesellschaftebahnen  ... 

106S 

1966 

•  Vicinalbahnen        ...     ._. 

154 

171 

Zusammen... 

^613 

2652 

Güter -Wagen: 

Ende  1888 

Ende  1889 

die  Staatflbabnen 

18,94tJ 

20,682 

•   Gcsellßchaftsbahnen  ... 

12,901 

13.703 

•   Vicinalbahnen        

1,085 

1,198 

Zusammen... 

32,928 

35,583 

Daraus  ist  ersichtlich,  dass  der  überwiegende  Teil  der  Vermehrung 
(bei  den  Locomotiven  60,  bei  den  Güterwagen  1740  Stück)  auf  die  könig- 
lich-ungarischen Staatsbahnen  entfallt;  doch  haben  über  Andringen  des 
Ministers  auch  die  Gesellschaftsbahnen,  insbesondere  die  österreichisch - 
ungarische  Staatseisenbahn- Gesellschaft,  dann  die  Nordostbahn-,  die 
KaschauOderberger  und  die  Raab-Oedenburg-Ebenfurter  Gesellschaft  ihren 
Waggonbestand  um  ein  Beträchtliches  vermehrt.  Nichtsdestoweniger  hat 
diese  Vermehrung  der  Betriebsmittel  mit  dem  Wachstum  des  Bahnnetzes 
nicht  gleichen  Schritt  gehalten  und  ist  in  dieser  Beziehung  eine  grössere 
Productivität  im  Interesse  des  ungestörten  Exporthandels  höchst  wünschens- 
wert. Der  Herr  Handelsminister  widmet  denn  auch  dieser  notwendigen  Ver- 
mehrung der  Betriebsmittel  seine  ganz  besondere  Aufmerksamkeit;  denn 
nur  dadurch  ist  es  ihm  möglich  gewesen,  die  im  Jahre  1889  eingeführte 
einschneidende  Reform  mit  dem  Zonentarife  für  den  Personen- Verkehr  ohne 
erhebliche  Störungen  ins  Werk  zu  setzen. 

Das  in  den  Betriebsmitteln  investirte  Capital  war 

Ende  1888  Ende  1889  Zunahme 

bei  den  Staatsbahnen 66.023,987  fl.  68.737,573  fl.  2.713,586  fl. 

.     t    Gesellschaftsbahnen  ...          54.013,343  •  55.676,928  «  1.663,585  • 

€     .    Vicinalbalmen        ,..                3.U5.025  t  3.948,342  ^  503.317  t 

Zusammen     ...         123.482,355  fl.  1 28.362,843  fl.  i.880,488  fl. 

An  Eisenbahnstationen  zählte  man 

im  J.  1888  im  J.  1889  Znnahme. 

bei  den  Staatsbahnen      ._      ...         548  554  6 

•     N    Gesellschaftsbahnen              453  454  1 

«     «    Vicinalbahnen    ...                335  397  62 

Zusammen      ...           1336  1405  69 

Zieht  maoi  auch  die  Ladeplätze  und  Haltestellen  in  Betracht,  so  war 
das  Eisenbahnnetz  hinlänglich  intensiv  entwickelt ;  denn  darnach  entfiel  je 
eine  Station 


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i  J 


UNGARNS   HANDEL   UND    VERKEHR  IM   JAHRE  1889.  *35 


1888 

1889 

bei  den  Staatsbahnen  auf 

8-7  km. 

8-9  km. 

«     •    Gesellschaftsb.  •    ...     

7-8    « 

7-8  . 

•     •    Yicinalbahnen  «       

6-6    « 

6-6    . 

durchschnittlich  auf...     ... 

8-0  km. 

7-9  km. 

Eine  eigentliche  Bahnstation  kam  auf  11,  resp.  10*9  Kilometer.  In 
nenester  Zeit  gibt  sich  nun  das  erfreuliche  Bestreben  nach  Vermehrung  und 
Verdichtung  der  Bahnstationen  kund.  Ebenso  beobachtet  man  das  zu- 
nehmende Auflassen  der  für  den  Verkehr  in  mehrfacher  Hinsicht  nach- 
teiligen gemeinsamen  Bahnhöfe.  Noch  sei  bemerkt,  dass  Ungarn  im  Ganzen 
19  Grenz-Eisenbahnstationen  hat,  wovon  14  auf  der  österreichisch-ungari- 
schen, 5  auf  der  eigentlichen  Auslands- Grenze  (Bumänien,  Serbien,  Bosnien) 
liegen.  Dieser  Unterschied  ist  in  die  Augen  springend;  die  mangelhafte 
Anzahl  von  Grenzstationen  nach  Serbien  ist  übrigens  begreiflich  durch 
die  grosse  Schwierigkeit  der  Donauüberbrückungen ;  weniger  motivirt 
erscheint  dieser  Mangel  gegenüber  von  Bumänien.  Erst  in  neuester  Zeit  ist 
es  gelungen,  den  schon  im  Vertrage  von  1874  in  Aussicht  genommenen 
Bahn -Anschlüssen  nach  dem  rumänischen  Königreiche  drei  weitere  hin- 
zuzufügen. 

Die  Ergänzungs- Arbeiten  beanspruchten  im  Jahre  1889 

bei  den  kön.  ung.  Staatsbahnen  ...     ...     ...     2.800,573  fl. 

•  t    garantirten  Hauptlinien    6.002,919  t 

•  «    nichtgarantirten    •         _..     ...     304,258  t 

Dadurch  stieg  das  zweite  Geleise  von  690*334  Km.  auf  701*595  Km. 
Länge;  femer  wurden  drei  Bahnen  zweiten  zu  Bahnen  ersten  Banges 
erhöht ;  ebenso  erfolgte  die  fortgesetzte  Umtauschung  der  Holzbrücken  mit 
Eisenbrücken ;  die  Vertauschung  der  Eisen   mit  Stahlschienen  u.  s.  w. 

Die  Lokal-  (o.  Strassen-)  Bahnen  waren  im  Jahre  1888  erst  92*888  Km., 
im  Jahre  1889  schon  106*167  Km.,  darunter  sind  6*5  Km.  mit  elektrisohem 
Betrieb.  Concessionirt  wurden  im  Jahre  1889  an  Lokal-  und  Strassenbahnen 
47*9  Km.,  darunter  6*5  Km.  mit  elektrischem  Betriebe.  Alle  elektrischen 
Bahnen,  von  denen  gegenwäxtig  bereits  an  10  Km.  in  Betrieb  sind,  befinden 
sich  in  der  Hauptstadt  Budapest.  Das  investirte  Capital  für  die  Lokal-  und 
Strassenbahnen  betrug  mit  Ende  1889:  8.456,986  fl.  (86,018  fl.  auf  den 
Kilometer).  Die  Höhe  dieser  Livestirung  vnrd  namentlich  durch  die  Kosten 
der  Budapester  Zahnradbahn  auf  den  Schv^abenberg  und  der  Drahtseil- 
Bampe  in  die  Ofher  Festung  wesentlich  beeinflusst.  In  Bezug  auf  die 
Betriebskraft  waren  zu  Ende  1889  87*209  Km.  Pferde-,  12*458  Km.  Loko- 
motiv-  und  6*5  Km.  elektrische  Lokalbahnen.  Es  wurden  dazu  benützt: 
1302  Herde,  14  Lokomotive  und  12  elektrische  Wagen;  femer  458  Per- 
sonen- und  98  Güter- Waggons.  Die  Entwickelung  des  Local-  und  Strassen- 

28* 


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^*36  UNGARNS   HANDEL   UND   VERKEHR  IM   JAHRE  1889. 

babnwesens  lässt  mit  Ausnahme  der  Hauptstadt  in  Ungarn  noch  Vieles  zu 
wünschen  übrig,  obgleich  die  ungarische  Gesetzgebung  den  Bau  dieser 
Lokalbahnen  durch  ganz  besondere  Begünstigungen  erleichtert. 

Mit  Bezug  auf  die  in  Budapest  bestehenden  elektrischen  Bahnen 
bemerkt  der  ministerielle  Bericht,  dass  die  Anlage  solcher  Bahnen  mit 
xmterirdischer  Stromleitung  für  die  gros8>städti8chen  Verhältnisse  auch  aus 
Ästhetischen  und  polizeiUchen  Gesichtspunkten  von  Wichtigkeit  erscheint 
Noch  bleibt  zu  beachten,  dass  Budapest  die  erste  Stadt  ist,  wo  solche  unter- 
irdische Leitung  des  elektrischen  Stromes  mit  gutem  Erfolge  ins  Werk 
gesetzt  worden  ist. 

An  privaten  Industrie-Bahnen  besitzt  Ungarn  (Ende  1889)  1091*1 35 
Km.,  d.  i.  111 -035  Km.  =  11-3%  mehr  als  im  Jahre  1888.  Hievon  wurden 
663-949  Km.  =  51-7Vo  mit  Dampfkraft,  527-186  Km.  =  48-3%  mit  Pferde- 
kraft betrieben.  Ihrer  Bestimmung  nach  dienten  diese  privaten  Industrie- 
bahnen : 

montanistischen  Zwecken 440'615  km  =  40-4o/o 

forstwirtschaftlichen    t    298-134    •    =27-3« 

landwirtschaftlichen    •        ...     ...     102-451    i    =    9-4t 

sonstig,  industriellen  «     1 63*509    •    =15*0t 

Verwaltungs-  •        ...     ...      86*426    t    =    7-9 « 

Die  eigentUchen  Industriebahnen  (Fabriksbahnen)  haben  von  1888 
auf  1889  um  nahezu  30®/o  zugenommen.  59*833  Km.  dieser  Industrie- 
bahnen dienen  in  beschränktem  Umfange  auch  dem  öffentlichen  Verkehre. 

Das  ungarische  Gesammt-Eisenbahnnetz  bestand  aleo  Ende  1889  aus 
folgenden  Bahnlinien : 

a)  Oeffentliche  Lokomotivbahnen     10,874*624  km 

b)  Lokalbahnen      ... 106167    t 

c)  Bahnen  mit  beschränktem  öffentl.  Verkekr 59*833    t 

Zusammen     ...       11 ,040*  1 24  km 

d)  sonstige  Industriebahnen      _     _     1,091'135    t 

insgesammt     ...       1 2, 1 31  '259  km. 

Um  den  riesigen  Fortschritt  Ungarns  in  seinem  Eisenbahnwesen 
richtig  zu  beurteilen,  beachte  man  noch  folgende  Daten. 

Zu  Ende  des  Jahres  1866  hatte  die  österreichisch -ungar.  Monarchie 
6125  Km.  Eisenbahnen  und  davon  entfielen  auf  Ungarn  2160  Km.=35-2^/o. 
Ende  1879  betrug  das  Gesammt-Netz  bereits  18,419*839  Km.,  wovon  auf 
Ungarn  7071-068  Km.  =  38*4%  kamen.  Ende  1889  jedoch  war  die  Länge 
aller  österreichisch-ungar.  Bahnlinien  25,231-068  Km.;  der  ungarischen 
allein  10,394*420  Km.  =  41*2%.  Man  sieht  demnach,  dass  die  Zunahme 
des  ungarischen  Bahnnetzes  in  absoluter  und  in  relativer  Hinsicht  eine 
überaus  bedeutende  war. 


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UNGARNS   HANDEL   UND   VERKEHR  IM   JAHRE  1889.  437 

Indem  wir  nun  zun  Betrachtung  der  wichtigsten  Thatsachen  über  den 
Verkehr  der  ungarischen  Eisenbahnlinien  im  Jahre  1889  übergehen,  fähren 
wir  vor  Allem  an,  dass  die  Betriebslänge  der  im  Verkehr  befindlichea 
Eisenbahnen  Ende  1889  war: 

bei  den  kön.  ung.  Staatsbahnen 4,915*422  km 

«     •    Gesellschaftsbahnen  ...     ...        3,526-458    • 

f     t    Vicinalbahnen .._  ^,615^29    • 

Zusammen     ...       1 1 ,057 -609  km. 

d.  i.  um  530-124  km.  länger  alsimXTahre  1888. 
Hierbei  waren  beschäftigt : 

Beamte   Unterbeamte  n.  Diener  Zusammen 


bei  den  img.  Staatsbahnen    ...     3, 1 25 
«     •    Gesellschaftsbahnen         2,183 
«     «    Vicinalbahnen       ...            166 

11,467 

6,316 

450 

14,592 

8,499 

616 

Zusammen    5,474 

kut  je  einen  Kilometer  Bahnlinie  kommen : 

Beamte 

bei  den  img.  Staatsbahnen 0*52 

«     •    Gesellschaftsbahnen    ...        0'52 
•     «    Vicinalbahnen 0*31 

18,233 

Diener 
1-89 
1-52 
0-82 

23,707 

Znsammen 
2-41 
204 
M3 

Die  Bezüge  dieser  Beamten  und  Diener  waren  im  Jahre  1889 : 

Beamte                   Diener  Zusammen 

bei  den  ung.  Staatsbahnen     3.780,615  fl.      6.114,439  fl.  9.895,054  fl, 

•  i    Gesellschaftsbahnen      ...        2.615,488  •        2.658,689  •  5.274,177  • 

•  •    Vicinalbahnen    167,063  • 186,844  «  362,907  t 

Zusammen     ...        6.572,166  fl.      8.959,972  fl.     15.532,138  fl. 

Auf  den  Kilometer  entfallen  von  diesen  Bezügen  im  Durchschnitte : 

Beamte  Diener  Znsammen 

bei  den  ung.  Staatsbahnen  ...     62416  fl.  1009*47  fl.  1633-63  fl. 

«     <    GeseUschaftsbahnen       632*10  «  642*53  «  1274*63  • 

«     •    Vicinalbahnen     ...        324*00  •  343*85  •  667*85 « 

Eine  weitere  Beihe  von  Daten,  auf  deren  Anführung  im  Einzelnen 
wir  verzichten,  beweist,  dass  sowohl  die  staatlichen  als  auch  die  nicht- 
staatlichen  Eisenbahn- Verwaltungen  bemüht  waren,  •  die  zur  Verfügimg  ste- 
henden Betriebsmittel  (Lokomotive,  Personen-  und  Güterwagen)  in  mög- 
lichster Weise  auszimützen.  Von  namhaftem  Einflüsse  auf  die  Steigerung 
des  Verkehrs  der  Personenwagen  war  der  seit  1 .  August  1889  auf  allen  Staats- 
bahnen eingeführte,  überaus  ermässigte  Zonentarif,  wodurch  nur  allein  bei 
den  Staatsbahnen  die  Mehrleistung  der  Personenwagen  über  13  o/o  betrug* 
Die  eigentliche  Wirkung  der  epochalen  Beform   durch  Einführung  dea 


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*38  UNGARNS   HANDEL   UND   VERKEHR   IM   JAHRE  1889. 

Zonentarifs  für  den  Personenverkehr  machte  sich  erst  im  Jahre  1890  deut- 
Hch  geltend  und  es  können  die  günstigen  Verkehrs-  und  Finaoz-Resnltate 
erst  seitdem  entsprechend  gewürdigt  werden.  Der  Herr  Handelsminister  wid- 
met dieser  seiner  Schöpfung  selbstverständlich  fortwährend  die  eingehendste 
Sorgfalt  und  er  hat  durch  die  Einführung  eines  ebenfalls  sehr  ermässigten 
Zonentarifs  für  den  Güterverkehr  sein  Reformwerk  in  wirksamster  Weise 
vervollständigt.  Die  gesammte  gebildete  Welt  verfolgt  die  Weiterentwickelung 
des  ungarischen  Tarif- Wesens  mit  grösstem  Interesse  und  es  gereicht  ebenso 
dem  schöpferischen  Minister,  wie  dem  Lande  zur  Ehre^  dass  nicht  nur  im 
benachbarten  Oesterreich  die  Regelung  des  Personen-  und  Güterverkehrs 
über  Anregung  und  nach  den  Grundsätzen  der  Reform  in  Ungarn  vorge- 
nommen wurde,  sondern  dass  man  auch  in  Deutschland  und  in  anderen 
Staaten  sich  eben  in  Folge  der  guten  Resultate  des  uugarischen  Zonentarifs 
mit  einer  entsprechenden  Reform  des  Eisenbahnverkehrs  auf  das  Lebhaf- 
teste beschäftigt. 

Unserer  Aufgabe  gemäss  beschränken  wir  uns  hier  nur  auf  die  Anfangs- 
resultate in  den  ersten  fünf  Monaten  (August — December  1889)  der  Ein- 
führung des  Zonentarifs  für  den  Personenverkehr,  wobei  wir  bemerken,  dass 
das  Vorgehen  der  Staatsbahn  Verwaltung  auch  auf  die  übrigen  Bahnlinien, 
namentlich  auf  die  Goncurrenzlinien,  von  bestimmendem  Einflüsse  sein 
musste. 

Damach  war  der  gesammte  Personenverkehr 

im  J.  1888  im  J.  1889 

auf  den  Staatsbahnen       ...     5.958,^209  Personen  9.344, 1 58  Personen 

•       •  Gesellschaftsbahnen     6.265,  li21         •  6.875,220 

€       i  Vicinalbahnen  ...         1.194,256         •  2.772,252         « 


Zusammen     ...  13.417,586  Personen     18.991,630  Personen. 

Die  Zunahme  beträgt  sonach  über  5V2  Millionen  Personen. 

Allein  nicht  nur  die  Zahl  der  Reisenden  hat  unter  dem  Einflüsse  des 
Zonentarifs  sich  ungemein  vermehrt,  sondern  auch  die  von  ihnen  zurückge- 
legten Strecken,  und  zwar  haben  an  dieser  doppelten  Erhöhung  im  Per- 
sonenverkehr sowohl  die  Staats-  als  auch  die  Gesellschaftsbahnen  participirt 
Die  Zunahme  beträgt  bei  den  Reisenden  auf  den  Staatsbahnen  57 o/o,  bei 
den  von  diesen  zurückgelegten  Kilometern  24o/o.  Dadurch  hat  sich  die  Zahl 
der  Reisenden  auf  den  Kilometer  im  Durchschnitte  verdoppelt.  Trotzdem  ist 
die  Ausnützung  der  Personenwagen  von  23'4o/o  nur  auf  28*4o/o  gestiegen. 

Einen  der  wichtigsten  Erfolge  des  Zonentarifs  bildet  die  grossartige 
Entwicklung  des  Nachbarverkehrs. 

Jene  Besorgniss,  dass  durch  die  Bestimmung  Budapests  zum  durch- 
schneidenden Mittelpunkte  des  Zonentarifes  die  Städte  in  der  Provinz  in 
ihrem  Verkehre  geschädigt  würden,  hat  sich  nicht  bestätigt ;  ja  die  Erfah- 


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UNGARNS   HANDEL   UND   VEBKEHB  IM  JAHBE  1889. 


439 


rung  zeigt,  dass  der  Personen- Verkehr  bei  zahlreichen  Pronnzstädten  eine 
relativ  weit  stärkere  Zunahme  erfahren  hat,  als  der  allerdings  schon  vordem 
viel  mehr  entwickelte  Personen-Verkehr  der  Hauptstadt,  und  zwar  beträgt 
diese  Verkehrs-Zunahme  in 

Kronstadt  148o/o,  in  Csaba  97 o/o,  in  Fiume  93o/o,  in  Gödöllö  und 
Hodmezö-VÄsÄrhely  890/0,  in  Kaschau  880/0,  in  Zombor  85o/o,  in  Szabadka 
(Maria-Theresiopel)  83  0/0,  in  Szegedin  75  0/0,  in  Klausenburg  72  0/0,  in  Mis- 
kolcz  680/0,  in  Essek  5:2 0/0,  in  Raab  43  0/0,  in  Budapest  aber  nur  35  0/0. 

Im  Güterverkehr  weist  das  Jahr  1889  eine  betrachtliche  Abnahme  auf. 
Und  zwar  war  die  transportirte  Gütermenge  in  Tonnen  auf  sämmtlichen 
Bahnlinien : 

1888  1889 

Gepäck       60,055  56,606 

Eil- und  Lastengüter    ...         19.862,125     19.207,373 
Manipulationsgut      2.540,916      4.650,924 

Im  Jahre  1888  entfielen  auf  je  einen  Kilometer  zurückgelegte  Bahn- 
strecke durchschnittlich  245,542  Tonnen,  im  Jahre  1889  nur  232,514  Ton- 
nen. Die  absolute  Abnahme  am  Güterverkehr  des  Jahres  1889  gegen  das 
Vorjahr  war  654,752  Tonnen. 

Die  Hauptursache  dieses  geringem  Güterverkehrs  lag  in  dem  gemin- 
derten Getreide-Export,  der  namentlich  an  den  Emporien  für  den  Getreide- 
bandel  Budapest,  Arad  und  Fiume  wahrnehmbar  war.  Ein  näheres  Eingehen 
auf  diesen  Teil  des  ministeriellen  Berichtes  ist  an  dieser  Stelle  nicht  mög- 
lich; ebenso  verzichten  wir  auf  die  Detailberichte  über  die  «Anschaffungen» 
bei  den  verschiedenen  Bahnlinien,  um  den  finanziellen  Ergebnissen  des 
Eisenbahnverkehrs  noch  einige  Aufmerksamkeit  zu  widmen. 

Die  Gesammt-Einnahme  war  in  Gulden 


bei  den  kön.  ung.  Staatsbahnen 
«     •    GeseUschaftsbahnen .._ 
«     •    Vicinalbahnen 

1888 
42.908,047 
34.929,025 
3.718,346 

1889 
42.978,681  +    69,634  =  -f    0-16o/o 
34.412,621  —  516,400=—    l-48f 
4.402,875  -f  684,529  =  -h  18-41 1 

Zusammen     ...    81.556,418 
Die  Gesammtauslagen  in  Gulden 

1888 

bei  den  Staatsbabnen    23.533,125 

<     •    Gesellschaftsbahnen        17.992,038 
«     •    Vicinalbahnen 1.942,331 

81.794.177  -♦-  237,754  =  -h    0-29o/o 

1889 
23.219,204—313,921=—    l-33o/o 
17.815,077  —  176,961  =  —    0-98 « 
2.382,798  +  440,467  =  +  22-68  • 

Zusammen... 

43.467,494 

43.417,079—    50,415=—    0-12o/o 

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^^  UNOABNS   HANDEL   UND   VEBKEHB  IM   JAHRE  1889. 

Das  Betriebs-Plus  war  also  in  Golden 

1888  1889 

bei  den  Staatsbahnen    19.275,9i2:2  19,759,477  +  483.555=-!-    2-51  o^, 

«     •    Gesellechaftsbahnen  16.936,987  16.597,544—339,443=—    2-00  • 

t     «    Vicinalbahnen 1.776,015  2.020,077  -I-  244,062  =  +  13-74« 

Zusammen...  37.088,924  38.377,098  -h  388,174  =  -h     l-02<v'a 

Das  Plus  im  Betriebe  der  Staatsbahnen  ist  ein  Resultat  des  gesteiger* 
ten  Personenverkehrs  in  Folge  des  Zonentarifes.  Während  nämlich  wegen 
der  schwachen  Ernte  die  Einnahmen  der  Staatsbahnen  aus  dem  Güter- 
verkehr im  Jahre  1889  um  813,197  fl.  geringer  waren  als  im  Jahre  1888, 
hat  der  Personenverkehr  im  Jahre  1889  ein  Plus  von  1.045,234  fl.  gegen 
das  Vorjahr  ergeben,  wodurch  nicht  blos  jener  Ausfall  gedeckt,  sondern 
noch  eine  Mehreinnahme  von  483,555  fl.  erzielt  wurde. 

Was  nun  die  Höhe  des  in  den  ungarischen  Eisenbahnlinien  investürten 
Gapitals  und  dessen  Verzinsung  anbelangt,  so  enthält  der  ministerielle 
Bericht  hierüber  folgende  Hauptdaten.  Im  Jahre  1889  war  der  Capitalstand 

efiFectives         nominales  Capital  CarB 
in  Gald«D 

bei  den  Staatsbahnen 449.243,923        539.734,032  83-3 

•  f    Gesellschaftsbahnen       365.930,897        429.162,995  83-3 
«     «    Vicinalbahnen     ...          66.884,290          77.247,500  83'1 

Znsammen     ...    882.059,110       1046.144,527      83*2 

Die  Verzinsung  des  effectiven  Capitals  betrug 

bei  den  Staatsbahnen        ...     .„     4-40o/o  gegen    4•55o^  im  J.  1888 

•  •    Gesellschaftsbahnen...        4*54 «       •         4*58 «    •     §     « 
«     •    Vicinalbahnen      ...    ._..     3-29  «       «         3  28  •    «     «     « 

Die  Ungar.  Staatsbahnen  kommen  demnach  in  ihren  Erträgnissen 
den  privaten  Gesellschaftsbahnen  schon  ziemUch  nahe. 

Interessant  ist  der  Vergleich  der  Erträgnisse  bei  den  drei  gemein- 
samen Bahnlinien,  nämlich  bei  der  österreichisch-ungarischen  Staatsbahn,. 
bei  der  Südbahn  und  bei  der  Easchau-Oderberger  Bahn.  Damach  war  im 
Jahre  1889  nach  dem  Nominal-Gapitale  das  Erträgniss 

auf  den  ungarischen  Linien  der  österr.-ung.  Staatsbahn   „_     .__     5'03<yo 

bei  dem  ganzen  Unternehmen      5•16o^ 

auf  den  ungarischen  Linien  der  Südbahn    ...     .•_ 6*67  « 

bei  dem  ganzen  Unternehmen      ...     _..     ._ 5*77o/o 

auf  der  ungarischen  Linie  der  Kaschau-Oderberger  Bahn 2*58  i 

bei  dem  ganzen  Unternehmen      „    3*1 7o^ 

Von  welch*  segensreichen  Erfolgen  sowohl  in  finanzieller  wie  in  all- 
gemein volkswirtschaftlicher  Hinsicht  das  insbesondere  vom  jetzigen  ungar. 


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rNGARNS   HANDEL  UND   VERKEHB  IM  JAHBE  1889.  441 

Handelsminister  mit  energischer  Consequenz  betriebene  Werk  der  Eisen- 
bahn-Verstaatlichung gewesen,  lehren  nachstehend  verzeichnete  Thatsachen. 
Nach  Wiederheistellung  der  Ungar.  Verfassung  stürzte  man  sich  mit  einem 
wahren  Feuereifer  auf  die  möglichst  rasche  Vermehrung  der  Communis 
cations-Mittel,  insbesondere  der  Eisenbahnen.  Damals  hatte  das  System  der 
vom  Staate  garantirten  Bahnen  auch  in  Ungarn  die  meisten  Anhänger  und 
so  stiegen  diese  Bahnen  von  1867  bis  1875  von  278  Km.  auf  2938  Km. 
Das  war  die  grösste  Höhe  dieses  Systems,  welches  schon  mit  dem  nächsten 
Jahre  1876  den  Niedergang  antreten  musste.  Das  Werk  der  Verstaatlichung 
begann  erst  langsam  und  bedächtig,  dann  seit  1884  mit  rascher  Energie, 
so  dass  schon  im  Jahre  1887  die  Länge  der  garantirten  Bahnen  bis  auf 
1489  Km.  gemindert  war  und  Ende  des  Jahres  1889  nur  noch  die  folgenden 
vier  Linien  umfasste : 


die  Ungar.  Nordostbahn       

749-367  km 

i    Arad-Temesvärer  Bahn     __.     ... 

55-458    « 

*    Kascbau-Oderberger  «...     ...     ... 

362-614  .  i 

«    Fünfkirchen-Barcser «       ...     ... 

66-698    • 

Zusammen     ... 

1234-137  km. 

Nach  der  seither  erfolgten  Verstaathchung  der  ungar.  Nordostbahn 
ist  die  Länge  dieser  garantirten  Bahn  gegenwärtig  auf  blos  484*770  Km. 
herabgesunken,  d.  i.  sie  beträgt  nicht  einmal  das  Doppelte  der  Länge  aus 
dem  Jahre  1867. 

Ungarn  hat  das  System  der  garantirten  Bahnen  teuer  bezahlt.  Bis 
Ende  1889  wurden  nämlich  an  diese  Bahnen  181.353,143  fl.  UVg  kr.  in 
Silber  und  12.542,186  fl.  40V2  kr.  in  Gold  aus  der  Staatscassa  zur  Deckung 
der  gesetzlich  garantirten  Einkünfte  dieser  Bahnlinien  bezahlt. 

Da  nun  das  Netto-Einkommen  der  kön.  ung.  Staatsbahnen  im  Jahre 
1889  die  Summe  von  19.759,477  fl.  betrug,  wovon  die  Einkünfte  der  vor 
dem  Jahre  1884  verstaatlichten  Linien  mit  5.507,206  fl.  in  Abzug  konmien, 
80  machen  die  Erträgnisse  der  Verstaatlichungs-Operation  14.252,271  fl. 
aus.  Diese  sind  nun  mit  der  Deckung  der  Capitalzinsen  und  garan- 
tirten Beuten  in  der  Höhe  von  8.172,000  fl.  belastet  und  es  bleibt  demnach 
als  reines  Erträgniss  der  Eisenbahnverstaatlichung  im  Jahre  1889  der  an- 
sehnliche Betrag  von  6.080,271  fl.  —  gewiss  ein  sehr  erfreuliches  Resultat 
gegenüber  dem  früheren  Zustande,  der  jährlich  Millionen  Gulden  ver- 
schlungen, ohne  dem  Staate  oder  auch  der  Volkswirtschaft  die  gehofften 
Früchte  gebracht  zu  haben. 

Damit  beenden  wir  die  Mitteilungen  aus  dem  reichen  Datenschatze 
des  officiellen  Berichtes  des  kön.  ung.  Handels-Ministers  vom  Jahre  1889. 
Das  Gebotene  erschöpft  in  keiner  Weise  die  Fülle  des  überaus  instruktiven 
Materials,  welches  der  Herr  Minister  zur  Beleuchtung  der  industriellen,  der 

ünguiMbe  BeTQ«,  XI.  1801.  V.  Heft.  28a 


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442 


SIEBENBÜRGEN   UND   DER   ERIEa  IM   NORDOSTEN. 


Handels*  und  der  Verkehrs-Verhältnisse  Ungarsn  in  meist  anschaulicher  und 
auch  wissenschaftlich  befriedigender  Weise  hier  veröffentlicht  hat.  Zur 
richtigen  Erkenntniss  und  Beurteilung  der  volkswirtschaftlichen  Zustände, 
sowie  der  Leistungs-  und  Entwickelungsfähigkeit  Ungarns  in  materieller 
Hinsicht  sind  diese  Berichte  des  Handelsministers  geradezu  unentbehrlich. 
Sie  bieten  aber  nicht  nur  Kunde  von  zahhreichen  erfreulichen  Thatsachen  des 
fortgesetzten  Aufschwunges  und  der  zunehmenden  Entwickelung,  sondern 
sie  enthalten  auch  überaus  wichtige  und  lehrreiche  Andeutungen  über  die 
vorhandenen  Lücken,  Mängel  und  Gebrechen,  sie  decken  mit  löblichem 
Freimute  diese  Schäden  auf  und  geben  dankenswerte  Fingerzeige  zur 
Abstellung  derselben.  Ueberschaut  man  die  Weite  und  Wichtigkeit  des 
Arbeitsfeldes  und  erwägt  man  die  erzielten  Resultate :  dann  erst  gewinnt  man 
ein  Bild  von  der  seltenen  Arbeitskraft,  von  der  Umsicht,  der  allseitigen  Ini- 
tiative, sowie  von  der  rastlosen  Energie  des  Herrn  Handelsministers,  der  im 
Dienste  des  Staats-  und  Volkswohles  den  vollen  Dank  der  Nation  und  die 
rühmliche  Anerkennung  und  Wertschätzung  des  Auslandes  sich  errun- 
gen hat.  Prof.  Dr.  J.  H.  Sohwicker. 


SIEBENBÜRGEN  UND  DER  KRIEG  IM  NORDOSTEN.* 

Bis  zum  Ausbruch  des  dreissigjährigen  Krieges  war  Siebenbürgen  in 
Europa  blos  als  türkischer  Vasallenstaat  bekannt.  Im  16.  Jahrhundert 
machten  zwar  die  französischen  Könige  Versuche,  dasselbe  in  ihre  Habsburg- 
feindliche  Politik  einzubeziehen,  dessenungeachtet  aber  spielte  dieses  Land 
in  den  europäischen  diplomatischen  Unterhandlungen  entweder  gBa  keine 
oder  eine  sehr  untergeordnete  Rolle. 

Mit  dem  Ausbruch  des  dreissigjährigen  Krieges  änderte  sich  Alles.  Der 
geniale  Landesfürst  Gabriel  Bethlen  führte  das  Land  in  die  europäische 
Diplomatie  ein :  die  protestantischen  Fürsten  schlössen  mit  ihm  Bündnisse; 
Richelieu  aber  dachte  ihm  jene  Bolle  zu,  welche  nachher  Gustav  Adolf  mit 
so  glänzendem  Erfolge  fortsetzte.  Und  wenn  zwischen  den  beiden  Staats- 
männern kein  engeres  Verhältniss  zu  Stande  kam,  war  es  nur  der  frühe  Tod 
Bethlen's,  der  dies  verhinderte. 

Bethlen 's  Nachfolger  Georg  L  Räköczy  setzte  die  Politik  seines  Vor- 
gängers fort  und  es  gelang  ihm  auch,  mit  den  Franzosen  und  den  Schweden 
ein  Bündniss  zu  schliessen,  in  Folge  dessen  er  dann  am  Kriege  teilnahm. 


*  Unter  diesem  Titel  ist  im  Verlage  der  ungarischen  Akademie  der  Wissen- 
schaften der  erste  Band  eines  Diplomatariums  erschienen,  welches  auf  die  Oeschiclite 
der  östlichen  Staaten  Europas  in  vieler  Hinsicht  ein  neues  Licht  wirft  und  eben  des- 
halb verdient  imseren  Lesern  bekannt  gemacht  zu  werden. 


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SnSBENBÜKdBN   UND   DER  ERISa  IM  NORDOSTEN. 


443 


Er  starb  in  demselben  Jahre,  in  welchem  der  dreissigjährige  Krieg  sein 
lEnde  erreichte.  Sein  Sohn  und  Nachfolger  Georg  II.  Bäköczy  trat  in  Betreff 
^ei  auswärtigen  Diplomatie  ganz  in  die  Fussstapfen  seines  Vaters.   Er  ent- 


OEORG  n.  rIköczy. 

wickelte  den  Plan  seiner  Vorgänger,  Siebenbürgen  zum  Mittelpunkte  und 
Haupte  der  kleineren  östlichen  Staaten  zu  machen,  und  entfaltete  in  dieser 
Kichtung  eine  grosse  diplomatische  Thätigkeit,  welche  auf  die  Entwickelung 
^er  Ereignisse  im  Nordosten  nicht  ohne  Einfluss  blieb. 

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4^  BIBBBNBÜBOEN   UND   DER  KRIEG  IM   NORDOSTEN. 

Da  aber  seine  in  dieser  Bicbtung  entwickelte  Thätigkeit  der  eatopäi- 
sehen  Gteschichtschreibung  beinahe  vollständig  anbekannt  ist,  dürfte  es  nicht 
ohne  Interesse  sein,  dieselbe  wenigstens  in  ihren  umrissen  zu  skizziren. 

Bevor  wir  jedoch  daran  gehen,  möchten  wir  eine  interessante  Parallele 
hervorheben.  Der  dreissigjährige  Krieg  brachte  zwischen  zwei  kleineren  protes- 
tantischen Staaten,  wenn  auch  nicht  ein  Bündniss,  so  doch,  wie  sie  es  selbst 
nannten^  eine  intimere  Bekanntschaft  zu  Stande.  Beide  benützten  die  günstige 
Gelegenheit,  sich  auszudehnen  und  zu  erheben,  und  beide  gingen  aus  dem 
langen  Kampfe  mit  einem  Zuwachse  an  Kraft  und  Grewicht  hervor.  Aber, 
was  sie  erreichten,  barg  erst  den  Keim  der  künftigen  Erhebung  in  sich  — 
und  aus  dem  dort  und  damals  ausgesäeten  Samen  erwuchs  die  künftige 
Grösse  des  einen  und  der  Niedergang  des  anderen. 

Diese  beiden  Staaten  sind :  Brandenburg  und  Siebenbürgen. 

Nahezu  ein  Jahrhundert  lang  wandelten  sie  einen  gleichen  Weg.  Bei- 
nahe zu  derselben  Zeit,  wo  Albrecht  von  Brandenburg,  als  Grossmeister  des 
deutschen  Bitterordens,  die  Oberhoheit  des  Polenkönigs  anerkannte,  wurde 
der  verbündete  türkische  Sultan  der  Lehensherr  des  Sohnes  Johann  Zäpolya^s. 
Brandenburg  aber  bildete  einen  Teil  Deutschlands,  wie  Siebenbürgen  einen 
Teil  des  üngarlandes  bildete.  Ein  Teil  des  Reiches  des  Churfürsten  hing, 
wenn  auch  noch  so  lose,  vom  deutschen  Kaiser  ab,  und  ein  Teil  Sieben- 
bürgens,  die  «Partium»,  war  in  derselben  Weise  vom  König  von  Ungarn 
abhängig  —  und  wie  bekannt,  schmückte  die  ungarische  Königs  und  die 
deutsche  Kaiserkrone  ein  und  dasselbe  Haupt.  Demnach  waren  sowohl  der 
Churfürst,  als  auch  der  Fürst,  in  Bezug  auf  ihre  Herrschaftsgebiete  je  zweien 
Lehensherren  unterworfen,  von  welchen  keiner  ihr  Beligionsbekenntniss 
teilte.  Und  die  Teilnahme  am  dreissigjährigen  Kriege  verschaffte  dem  einen 
einen  Teil  Pommerns  und  vier  Bistümer,  während  sie  die  «Partium»  des 
anderen  um  zwei  Gomitate  vermehrte,  derart,  dass  diese  zwei  Gomitate  auch 
erblich  waren. 

Ein  so  eigentümliches  Verhältniss,  wie  dasjenige  dieser  zwei  Staaten, 
konnte  sich  nur  in  einer  Uebergangsperiode  entwickeln,  wie  diejenige,  wel- 
cher der  westphälische  Friede  ein  Ende  machte.  Aber  wenn  die  eine  Hälfte 
des  Eeiches  der  Churfürsten  nicht  zum  Verbände  des  deutschen  Reiches 
gehörte  —  und  wenn  auch  der  Fürst  des  eigentlichen  Siebenbürgens  sich 
längst  der  Oberhoheit  des  Ungarkönigs  entzogen  hatte :  hatte  im  Falle  einer 
Interessen-Gollision  nicht  ebenso  der  eine,  wie  der  andere  das  Recht,  gegen 
seinen  Lehnsherrn  zu  kämpfen  ?  Und  wenn  einerseits  der  Polenkönig  und 
der  deutsche  Kaiser,  andererseits  der  Sultan  und  der  König  von  Ungarn  mit 
einander  in  Conflict  gerieten :  war  es  nicht  ganz  natürlich,  wenn  der  Chur- 
fürst ebenso  wie  der  Fürst  sich  auf  diejenige  Seite  stellten,  welche  ihren 
eigenen  Interessen  und  den  Interessen  ihres  Landes  am  meisten  entsprach  ? 

Und  diese  Interessen-Collisionen  traten  alsbald  ein :  als  nach  einigen 


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SIEBENBÜBOEN   UND   DEB  KBEBG   IM  NORDOSTEN.  ^^ 

Jahren  der  grosee  nordische  Krieg  ausbrach,  konnte  sich  demselben  anch 
keiner  dieser  beiden  Staaten  entziehen.  Aber  während  sie  im  dreissigjährigen 
Kriege  für  ein  gemeinsames  Ziel  gekämpft  hatten :  rangen  sie  jetzt  für  entge- 
gengesetzte Interessen.  Hier  trennten  sich  die  Wege  der  beiden  Staaten.  £[ier 
entschied  sieh  ihr  Geschick.  Wie  der  eine  von  ihnen  durch  die  ausdauernde 
und  consequente  Arbeit  zweier  Jahrhunderte  zu  einem  der  gewaltigsten  Staaten 
der  neuen  Zeiten  geworden  ist,  dafür  sammeln  hervorragende  Oeschicht- 
schreiber  mit  ausdauerndem  Fleisse  das  Urkundenmaterial.  Was  den  Nieder- 
gang  des  anderen  verursacht  habe,  dies  zu  beantworten  ist  die  Aufgabe  der 
ungarischen  Geschichtschreiber.  Aber  wie  weit  voneinander  abliegend  der 
Verlauf  der  beiden  Angelegenheiten  auch  scheinen  mag,  der  Zusammenhang 
imd  die  Zusammengehörigkeit  der  Begebenheiten  war  doch  so  gross,  dass  nur 
ein  vereinter  Ueber blick  derselben  den  Schlüssel  zur  richtigen  Beurteilung 
derselben  in  die  Hand  gibt.  Und  wie  unbedeutend  auch  Siebenbürgen,  die 
beiden  Walachenländer  und  das  Gebiet,  jedes  einzeln  genommen,  scheinen 
mögen:  vereinigt  hätten  sie  ein  wichtiger  politischer  Factor  werden  können. 
Und  das  Gelingen  des  missglückten  Planes :  aus  denselben  einen  Föderativ- 
ätaat  zu  bilden,  würde  Umgestaltungen  von  nicht  geringer  Wichtigkeit  her- 
beigeführt haben.  Dies  kann  heute  als  Chimäre  erscheinen,  aber  zu  seiner 
2eit  war  es  keine  solche  und  es  war  auch  vom  Stadium  seiner  Yervmrklichung 
gar  nicht  mehr  weil  entfernt. 

1648. 

In  den  letzten  Jahren  des  dreissigjährigen  Krieges  nahm  in  dem 
mächtigsten  Staate  des  nordöstlichen  Europa,  in  Polen,  eine  in  ihren  Folgen 
weithin  wirkende  Empörung  überhand,  welche  Europa  mehrere  Jahre  hin- 
durch geringer  Aufmerksamkeit  würdigte,  weil  es  dieselbe  anfangs  aus- 
schliesslich als  eine  innere  Angelegenheit  Polens  betrachtete,  welche  sich 
aber  nachher  zu  einem  grossen  internationalen  Kriege  herauswuchs  und 
die  gesammte  Diplomatie  nicht  allein  des  nordöstlichen,  sondern  auch 
Mitteleuropas  beschäftigte :  der  Kosaken- Aufstand. 

Der  Kosaken- Aufstand  war  eine  lange  Reihe  von  Jahren  hindurch  eine 
regelmässige  Erbschaft  der  polnischen  Könige.  Ein  grosser  Teil  von  Klein- 
Hussland  und  das  Gebiet  der  Saporoger  Kosaken  war  die  Grenjzmark  Polens 
gegen  Osten  und  Süden :  von  Bussland  und  der  Tartarei  her.  Aber  die  reli- 
giöse Intoleranz  der  polnischen  Katholiken  und  die  Grausamkeit  der  pol- 
nischen Herren  hielt  jenes  Gebiet,  dessen  Beruf  hätte  sein  sollen,  die 
Sicherheit  des  Beiches  dem  russischen  und  tatarischen  Nachbar  gegenüber 
za  schützen,  in  evriger  (Hhrung.  Diese  Verfolgung  wurde  1638  nachgerade 
unerträglich,  aber  die  zur  Bächung  derselben  entstandene  Bewegung  gewann 
erst  dann  Kraft,  als  am  7.  August  1647  Zenobius  Bogdan  Ghmielniczki,  ein. 


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^^  BDEBEKBÜROEN    UND   DBB   KBEBO   IM   NORDOSTEN. 

Agitator  von  seltener  Befähigung  und  nicht  alltäglicher  Heerführer,  sich  an* 
die  Spitze  der  Bewegung  stellte. 

Der  Wirrwarr  in  Polen  wurde  dadurch  nur  vermehrt,  dass  der  Könige 
Vladislav  IV.,  damals  bereits  kränkelte  und  am  22.  Mai  1648  mit  Tode 
abging.  Der  alte  Fürst  Georg  RÄköczy  arbeitete,  ebenso  wie  seine  Vorganger 
Bethlen  und  Bocskay,  nach  dem  Vorbilde  Stephan  Bäthorys,  auf  die  Erwer- 
bung der  polnischen  Krone  hin.  Er  trat  einerseits  mit  seinen  polnischen 
Freunden,  vornehmlich  den  Dissidenten  durch  seine  Gesandten  Franz  Beth- 
len und  Klobusiczky,  die  er  auch  mit  Geld  gehörig  unterstützte,  in  nähere^ 
Verbindung,  andererseits  knüpfte  er  mit  den  aufständischen  Kosaken  Unter- 
handlungen an.  Der  neue  Kosaken-Hetman  Bogdan  Chmielniczki  erkannte 
sofort  den  Wert  des  mit  Siebenbürgen  zu  knüpfenden  Bündnisses  und  nahm 
die  Zustandebringung  desselben  mit  seiner  gewohnten  Energie  und  Geschick- 
lichkeit ins  Werk.  In  Polen  leitete  die  Geschäfte  während  des  Interregnums 
der  Kanzler  Ossolinski,  welcher  zur  Beschwichtigung  der  Kosakenbewegung 
gar  nichts  that.  umso  thätiger  war  Chmielniczki.  Am  28.  September  trug  er 
über  die  von  Wisniowieczki  geführten  polnischen  Heere  einen  Sieg  davon  und 
weil  er  es  nicht  für  wahrscheinlich  hielt,  dass  er  seine  Unabhängigkeit  aus 
eigener  Kraft  erkämpfen  werde,  fasste  er  den  Entschluss,  die  Wahl  Bäköczy's 
zum  König  mit  seiner  ganzen  Kraft  zu  unterstützen,  indem  er  des  Königs 
Stephan  Bäthory  gedachte,  dem  die  Kosaken  ihre  Freiheit  zu  verdanken 
hatten.  Bereits  am  17.  November  1648  fordert  er  Bäköczy  direct  dazu  auf, 
dass  sie  mit  ihren  Heeren  gemeinschaftlich  in  Polen  zur  Königswahl  eindrin- 
gen mögen.  Als  der  Brief  in  Weissenburg  ankam,  fand  er  Bäköczy  auf  dem 
Katafalk.  Der  Fürst  war  am  10.  Oktober  gestorben  und  damit  war  der  gimze 
Plan  zunichte  geworden. 

Mit  dem  Bescheid  auf  Ghmielniczki's  Brief  wurde  gezögert,  so  dass  der 
Hetman  am  1.  Jänner  1849  denselben  auch  urgirte.  Indessen  hatte  inzwi- 
schen Johann  Kemeny,  der  sich  zu  derselben  Zeit  beim  unverlässlichen 
Moldauer  Woiwoden  Lupul  befand,  um  ihn  für  ßäkoczy  zu  gewinnen, 
Gregor  Mösa  und  G^org  Bäcz  behufs  Fortsetzung  der  Unterhandlun- 
gen mit  Chmielniczki  zu  den  Kosaken  geschickt  Nach  geschehener  polni- 
scher Königswahl  schickte  auch  der  Fürst  selbst  einen  Gesandten  hin. 

Die  dritte  Gesandtschaft,  welche  Bäköczy  wiewohl  mittelbar,  im  Inter- 
tesse  der  Erwerbung  des  polnischen  Königtums  entsandte,  war  jene  Johann 
^Kem^nys,  der  seit  dem  Tode  des  Kanzlers  Kassay  der  intimste   und  ver- 
trauteste Beirat  des  alten  Fürsten  war.    Zwei  Berichte   sandte  Kem6ny 
dem  Fürsten  während  seiner  Beise. 

Was  die  Sendung  Bethlens  und  Klobusiczkys  anbelangt,  so  ruhte  der 
wichtigste  und  schwierigste  Theil  der  Unterhandlungen  auf  ihren  Schultern. 
Der  erstere  war  ein  Siebenbürger,  der  letztere  ein  Ungar.  Es  war  nicht 
Misstrauen,  sondern  Vorsicht  seitens  des  Fürsten,  dass  er  in  dieser  Gesandt- 


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SIEBENBUBOEN   UND   DEB   KRIEG  IM   N0BD08TEK. 


447 


Schaft  beide  Hälften  seines  Beiches  vertreten  liess.  Was  Jobann  Eemeny  in 
seinen  Memoiren  über  diese  Gesandtschaft  sagt^  wird  ausserordentlich 
interessant  durch  diese  Berichte  illustrirt^  welche  reichliche  und  wertvolle 
Beiträge  zur  Eenntniss  der  damaligen  polnischen  Verhältnisse  liefern« 
Räkoczy  hatte  in  Polen  viele  Freunde,  ohne  jedoch  eine  starke  Partei  zu 


BOGDAN   CHMIELNIOZKI. 

haben.  Er  konnte  sich  hauptsächlich  nur  auf  die  Dissidenten  stützen; 
dessenungeachtet  würde  er,  wenn  er  nicht  vorzeitig  stirbt,  ein  mächtiger 
Nebenbuhler  Johann  Kasimirs  geworden  sein,  welcher  am  17.  November 
ganz  unerwartet,  ohne  jeden  grossen  Kampf,  zum  König  gewählt  wurde. 

Die  Unterhandlungen  mit  der  Pforte  aus  dieser  Zeit  sind  ebenfalls 
von  grosser  Wichtigkeit.  Kapitiha  war  damals  Franz  Gyärfäs,  von  dem 


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446  SIEBBNBÜBOEN   UND   DBB  KKISa  IM   NORDOSTEN. 

wir  Übrigens  weder  vorher,  noch  nachher  irgend  etwas  hören,  und  der  mit 
Ablauf  seines  Eapitihatums  yom  Felde  der  politischen  Thätigkeit  abtraL 
Er  begab  sich  noch  Ende  1646  auf  die  Pforte  und  dort  traf  ihn  die 
Nachricht  vom  Hinscheiden  seines  Fürsten,  von  welchem  vorläufige  Anzeige 
EU  machen  seine  Pflicht  war.  Der  ältere  Sohn  des  alten  Fürsten  Georg  IL 
hatte  noch  vor  des  alten  Fürsten  Angriff  auf  ÜDgam  die  Bestätigung  seitens 
der  Pforte  erhalten,  und  so  war  seine  Anerkennung  an  dieser  Stelle  nicht 
mit  Schwierigkeiten,  nur  mit  Zahlungen  verbunden.  Bei  der  Pforte  waren 
auch  einige  schwebende  Fragen,  unter  anderen  die  vom  alten  Fürsten  g3- 
forderte  Nachtragszahlung  für  die  im  dreissigjährigen  Kriege  occupirten 
sieben  Eomitate ;  aber  diese  Fragen  kamen  jetzt  nur  nebenbei  zur  Sprache. 

1649. 

Chmielniczky  benützte  seinen  über  Wisniowieczky  davongetragenen 
Sieg  zum  Vordringen.  Er  zog  gen  Lemberg  (1648  6.  Okt.)  und  brach  nach 
zwanzigtägiger  Belagerung  nur  um  den  Preis  einer  beträchtlichen  Brand- 
schatzung die  Belagerung  ab.  Von  hier  nahm  er  seinen  Weg  nach  der  Burg 
Zamoisk  und  hier  erhielt  er  die  Kunde  von  der  Erwählung  Johann  Kasimirs 
zum  König,  welcher  sich  beeilte,  ihn  als  seinen  Unterthan,  zur  sofortigen 
Abbrecbung  der  Belagerung  aufzufordern.  Der  Hetman  gehorchte  auch  und 
erklärte  sich  auch  bereit,  unter  billigen  Bedingungen  die  Waffen  nieder- 
zulegen ;  gleichzeitig  indessen  war  der  vorsichtige  Mann  auch  darauf  be- 
dacht, dass  die  mit  Bäköczy  angeknüpften  Unterhandlungen  keine  Unter- 
brechung erfahren. 

Bäköczy  wurde  durch  die  Erwählung  Johann  Kasimirs  unangenehm 
überrascht.  In  gewisser  Hinsicht  kann  es  seiner  unentschlossenen  Haltung 
zugeschrieben  werden,  dass  die  Wahl  so  glatt  ablaufen  konnte,  und  jetzt 
setzte  er  seine  Hoffnung  nur  darauf,  ob  es  ihm  nicht  gelingen  möchte,  durch 
die  alten  Freunde  seiner  Familie,  insbesondere  durch  die  Dissidenten  die 
Krönung  zu  vereiteln,  wodurch  sodann  die  Giltigkeit  der  Wahl  umgestossen 
worden  wäre.  Aber  auch  diese  seine  Hoffnung  erwies  sich  als  eitel:  die 
Polen  beriefen  den  Beichstag  auf  den  15.  December  1648  und  setzten  die 
Krönung  auf  den  17.  Jänner  1649  fest.  Und  die  Krönung  ging  unter  den 
üblichen  Formen  in  regelrechter  Weise  vor  sich,  zwar  «genug  schmählich!, 
wie  an  Bäköczy  berichtet  wurde,  aber  sie  ging  vor  sich,  ohne  dass  die  Dissi- 
denten und  Bäköczy's  Freunde  einen  Versuch  zur  Vereitelung  derselben 
unternommen  hätten.  Nach  Ablauf  der  Feierlichkeiten  verlobte  sich  der  neue 
König,  um  seinen  Tron  zu  befestigen,  sofort  mit  der  verwitweten  Königin. 

Ebenso  eitel  erwies  sich  auch  Chmielniczkys  Hoffnung,  mit  den  Polen 
einen  billigen  Frieden  schliessen  zu  können.  Diese  sahen  in  den  Kosaken 
nur  rebellische  Unterthanen  und  forderten  unbedingte  Unterwerfung;  dairan 


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SIEBENBÜRGEN    UND   DER   KRIEG   IM   NORDOSTEN.  4*49 

wollten  sie  nicht  einmal  denken,  die  vielen  Ungerechtigkeiten,  Bechts* 
beraubungen,  Verfolgungen,  welche  sie  gegen  dieselben  durch  viele  Jahre 
hindurch  verübt  hatten,  gutzumachen.  Die  Kosaken  unterbreiteten  ihnen 
ihre  Forderungen  in  acht  Punkten,  aber  die  Polen  wollten  von  der  Annahme 
derselben  nicht  einmal  hören :  sie  beschlossen  den  Krieg  gegen  die  Kosaken, 
von  denen  sie  bedingungslose  Ergebung  forderten.  Unter  so  beschaffenen 
Umständen  entsandte  der  Hetman  die  bei  ihm  befindlichen  Abgesandten  des 
Fürsten,  vielleicht  eben  Bäcz  und  Mösa,  zugleich  mit  seinen  eigenen  Abge- 
sandten zum  Zwecke  der  Fortführung  der  angeknüpften  Unterhandlungen 
nach  Siebenbürgen.  Sie  erwarteten  voll  Besorgniss  Sigmund,  um  ihm  von 
Angesicht  zu  Angesicht  ihre  Kniebeugung  darbringen  zu  können.  Die 
Abgesandten  befanden  sich  am  19.  März  bereits  in  Fogaras,  von  wo  sie  am 
7.  April  die  Rückreise  antraten,  aber  noch  immer  ohne  die  Grundlagen  des 
zu  schliessenden  Bündnisses  festgestellt  zu  haben.  Räköczy  wäre  vor  einer 
definitiven  Beschlussfassung  gerne  mit  der  Pforte,  den  Tataren  und  Lupul 
ins  Beine  gekommen.  Zu  diesem  letzteren  entbot  er  Gilänyi  als  Abgesandten. 

Dem  König  von  Polen  blieben  diese  Botensendungen  nicht  verborgen, 
wenngleich  er  über  den  Zweck  derselben  nicht  vollkommen  orientirt  war. 
Er  sandte,  wahrscheinlich  in  der  Absicht,  die  Kosaken  ihrer  stärksten 
Stützen  zu  berauben,  zu  gleicher  Zeit  Gesandtschaften  zum  moskovitischen 
Czar  und  zum  siebenbürgischen  Fürsten :  zum  ersteren  sandte  er  Boleslaw 
Cieklinski  und  zum  letzteren  Johann  Wielopolski. 

Wielopolski  hatte  die  Mission,  mit  Räköczy  ein  Bündniss  zu  schliessen 
und  von  ihm  Unterstützung  gegen  die  Kosaken  auszuwirken.  Zu  dieser  Zeit 
war  Järmi  als  fürstlicher  Gesandter  in  Polen,  und  der  Bericht,  den  er  dem 
Fürsten  von  dort  sandte,  Hess  die  dortigen  Verhältnisse  nicht  in  solchem 
Lichte  erscheinen,  dass  sie  den  Fürsten  zur  Annahme  des  Bündnisses 
hätten  geneigt  machen  können,  umsoweniger,  da  er  der  Hoffnung,  die 
Krone  Polens  für  sich  erwerben  zu  können,  noch  nicht  entsagt  hatte. 

Der  König  von  Polen  legte  auf  die  Gewinnung  Bäkoczy's  grosses 
Oewicht;  deshalb  betraute  er  mit  dieser  Gesandtschaft  einen  so  hervor- 
ragenden Magnaten  wie  Wielopolski.  Dieser  liess  am  21.  April  dem  Fürsten 
melden,  dass  er  als  der  Gesandte  des  Königs  von  Polen  komme.  Zu  der- 
selben Zeit  befand  sich  Johann  Daniel  in  Polen.  Er  war  in  Angelegenheit 
der  Heirat  des  Prinzen  Sigmund  nach  Deutschland  gereist  und  schickte 
Ton  unterwegs  Nachricht  über  die  Sendung  Wielopolski's,  welcher  «grosse 
Keiseanstalten  treffe,  mit  nahezu  200  Rossen  und  100  Menschen»,  und 
zum  Zwecke  des  Abschlusses  eines  engen  Bündnisses  komme.  Daniel  schrieb 
aber  auch  seltsam  klingende  Nachrichten :  der  Hetman  wäre  bereit  dem 
Könige  zu  huldigen,  wofern  dieser  «ihm  eine  sichere  Stellung  und  irgend 
-ein  Kapitanat  gäbe.»  Noch  verlässlichere  Nachrichten  erhielt  der  Fürst  von 
dem  Vertrauensmanne  und  Geheimcorrespondenten  der  Familie,  Wladislaw 

üngaorlsoh«  Bevo«,  XL  1801.  V.  Htft.  29 


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452 


SIEBENBURGEN   UND    DER  KRIEa  IM   NORDOSTEN. 


Lubieniczki,  der  als  Agent  der  ßäköczy  auch  selbst  in  Polen  war.  Und 
so  geschah  es,  dass  der  Gesandte  zwar  mit  dem  ihm  gebührenden  Pomp 
empfangen,  aber  mit  einem  ausweichenden  Bescheid  entlassen  wmrde. 

Wielopolski  benachrichtigte  den  Prinzen  Sigmund  am  5.  Mai  noch 
vom  polnischen  Boden  über  seine^bevorstehende  Ankunft  und  schrieb  ihm 
am  17.  Mai  schon  vom  ungarischen  Boden,  aus  Sz&lärd.  Sein  Empfang  in 
Weissenburg  fand  mit  dem  seinem  Gesandten-Range  gebührenden  Pomp 
imd  Glanz  statt.  Am  4.  Juni  erhielt  er  den  Bescheid,  welcher,  wie  es  scheint, 
keinen  endgiltigen  Beschluss  enthielt  und  den  König  blos  des  Wohlwollens 
des  Fürsten  versicherte. 

Zu  derselben  Zeit  erwartete  der  Fürst  aus  dem  Kosakenlande  Paul 
Göcs,  welcher  den  Bescheid  in  Czeherin  am  14.  Mai  erhalten  hatte. 

Der  Hetman  trat  mit  dem  Anerbieten  auf,  Sigmund  Räkoczy  möge 
sich  an  die  Spitze  der  Kosakenbewegung  stellen  und  mit  seinen  Truppen 
zu  ihnen  stossen.  Solcherweise  suchte  jede  der  beiden  kämpfenden  Parteien 
das  Bündniss  des  Hauses  Räkoczy  —  die  eine  das  des  Fürsten,  die  andere 
das  des  Prinzen.  In  dieser  heikein  Lage  berief  der  Fürst  für  den  14.  Juni  die 
Herren  vom  Rate  und  seine  Vertrauten  in  den  Badeort  Gyogy  zu  einer 
Beratung  zusammen  und  diese  erklärten  sich  direct  gegen  jede  Inter- 
vention zu  Gunsten  des  einen  oder  des  anderen  Teiles,  weil  der  Fürst  ohne 
Einwilligung  der  Stände  keinen  Angriffskrieg  beginnen  dürfe.  Ob  Prinz  Sig- 
mund die  Einladung  annehmen  und,  wie  die  Kosaken  wünschen,  zu  ihnen 
gehen  solle,  hänge  von  ihm  ab  —  doch  könne  er,  schon  aus  Rücksicht 
auf  die  Türken  und  die  Deutschen  nicht  anders  gehen,  als,  wie  einst  König 
Stephan,  mit  einer  Ehrengarde.  Es  müsse  jedoch  erwogen  werden,  dass 
zwischen  dem,  was  die  Gesandten  sagen,  und  dem,  was  die  Kosakenhäupt- 
linge fordern,  ein  Widerspruch  bestehe:  jene  sagen,  dass  sie  blos  einen 
«Patron»  ohne  Truppen  benötigen  —  die  Häuptlinge  aber  fordern,  dass 
die  Räkoczy  mit  ihren  eigenen  Truppen  Krakau  einnehmen.  Unter  solchen 
Umständen,  wo  auch  der  Kaiser  selbst,  auf  Grund  der  von  Lubomirsky 
erhaltenen  Meldungen,  in  dieser  Angelegenheit  an  den  Fürsten  eine  Anfrage 
richtete  —  empfehlen  die  Herren  des  Rates,  es  mögen  zum  Zwecke  der 
Klarstellung  der  sich  widersprechenden  Forderungen  neue  Gesandte  zu  den 
Kosaken  gesandt  werden.  Auch  Prinz  Sigmund  selbst,  welcher  Anfang  Mai 
d.  J.  noch  in  Patak  gewesen  und  zu  den  Verhandlungen  nach  Siebenbürgen 
herabgekommen  war,  erklärte  sich  mit  diesem  Beschlüsse  einverstanden. 

Wieviel  Weisheit  und  Besonnenheit  auch  in  den  Beschlüssen  der 
Vinczer  Beratung  gewesen  sein  mag,  dieselben  waren  nicht  dazu  ange- 
than,  eine  emporstrebende  Dynastie  in  ihrem  Fortschritte  zu  fördern.  Die 
Kosakenfrage  stand  am  Entscheidungspunkte.  Sobald  der  Hetman  erfuhr, 
dass  die  Polen  seine  Forderungen  zurückwiesen  und  bedingungslose  Hul- 
digung forderten,  berief  er  eine  Volksversammlung,  welche  den  bewaflfneten 


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SIBBENBÜROEN   UND   DER   KBIE»  IM   KORDOSTEN«  4f53 

Widerstand  beschloss.  Zu  den  Fahnen  des  Hetmans  strömten  ungeheuere 
Massen  zusammen,  aber  undisciplinirtes  und  im  Kriegsdienst  unerfahrenes 
Volk,  welches  er  in  Divisionen  zertheilte.  Ausser  von  Baköczj  erwartete 
der  Hetman  noch  vom  Moldauer  Wojwoden  Lupul  und  vom  Tataren-Chan 
Hilfe  —  erhielt  sie  aber  blos  vom  letzteren;  jedoch  nur  Schaaren,  welche  die 
Zahl  der  undisciplinirten  Masse  vermehrten,  welche  Zahl  indessen  —  nach 
Pistorius'  Angabe  —  so  gross  war,  wie  Europa  sie  seit  den  Einfällen  der 
Hunnen  und  Tamerlans  nicht  gesehen  hatte. 

Angesichts  dieser  drohenden  Gefahr  beschloss  der  Könip:,  sich  persön- 
lich an  die  Spitze  des  polnischen  Heeres  zu  stellen.  Er  that  seine  Hochzeit 
mit  der  verwitweten  Königin  in  grosser  Eile  ab.  Die  Blüte  des  polnischen 
Adels,  die  sich  in  Warschau  versammelte,  schloss  sich  ihm  an.  Er  brach 
Anfang  Juli  auf  und  nahm  seinen  Weg  nach  Lublin,  von  wo  am  1 8.  (n.  Z.  28.) 
Juli  Wielopolski  noch  einen  Brief  an  BÄkoczy  richtete  und  das  Polenheer 
weiter  gegen  die  Kosaken  vordrang.  Am  15 — 16.  August  fand  bei  Zborow 
(2  Meilen  von  Sbarask)  die  Entscheidungsschlacht  statt,  welche  mit  der 
vollständigen  Niederlage  der  Polen  endigte.  Das  Terrain  selbst  war  den 
Polen  nicht  günstig;  ihre  Eeiterei  wurde  zerstreut,  teilweise  umzingelt. 
Aber  Chmielniczky  vermochte  eben  wegen  der  Disciplinlosigkeit  seiner 
Truppen  seinen  Sieg  nicht  auszunützen.  Die  Folge  des  glänzenden  Sieges 
war  ein  Waffenstillstand  und  der  Zborower  Friede  vom  19.  August,  welcher 
die  Erfüllung  der  übrigens  billigen  Forderungen  der  Kosaken  enthielt. 

Der  Friede,  das  Werk  zwingender  Notwendigkeit,  rief  in  Polen  Aufre- 
gung hervor.  Für  den  22.  November  wurde  der  Reichstag  einberufen,  welcher 
die  Sanctionirung  des  Friedens  zum  Zwecke  haben  sollte.  Auch  der  Hetman 
selbst  hatte  kein  Vertrauen  in  die  Dauerhaftigkeit  desselben,  noch  auch 
darin,  dass  er  ausgeführt  werden  wird.  Der  Gedanke,  sich  von  Polen  los- 
ziureissen,  war  in  ihm  noch  nicht  zur  Keife  gelangt,  desto  lebhafter  war 
jedoch  sein  Wunsch,  die  errungenen  Vorteile  dem  Volke,  an  dessen  Spitze 
er  stand,  zu  sichern.  Er  war  überzeugt,  dass  die  Gewinnung  der  Räkoczy 
von  entscheidendem  Gewichte  sein  werde,  und  beschloss,  die  Fortsetzung 
der  begonnenen  Verhandlungen  mit  voller  Kraft  zu  betreiben.  Er  beab- 
sichtigte, seinen  Sohn  Timus  nach  Siebenbürgen  zu  senden  —  doch  dies 
stiess  auf  Schwierigkeiten  und  er  entschloss  sich,  seinen  Notarius  Tetera 
an  die  Spitze  der  Gesandtschaft  zu  stellen.  Die  Briefe,  welche  Tetera  dem 
Fürsten  und  dessen  jüngerem  Bruder  mitbrachte,  beweisen,  dass  sich  der 
Hetman  den  Polen  gegenüber  keinen  Illusionen  hingab  und  dass  er  auf 
richtig  und  ernstlich  die  Gewinnung  der  Bäköczy  anstrebte,  deren  einen 
er  —  die  Wahl  ihnen  selbst  überlassend  —  an  die  Spitze  der  Bewegung 
stellen  wollte. 

Tetera  traf  am  17.  Nov.  in  Bistritz  6in.  Von  hier  sandte  er  an  den 
Prinzen  Sigmund  die  dringende  briefliche  Bitte,  ihm  den  Ort  zu  bezeichnen. 


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^^  .SIEBENBÜRGEN   UND    DER   KRIEG  IM   NORDOSTEN. 

WO  er  ihn  aufsuchen  könne.  Auch  der  Fürst  schrieb  an  Sigmund,  welcher 
zu  dieser  Zeit  in  Oberungam  weilte.  Er  wusste  von  dem  Anerbieten,  welches 
der  Kosaken-Gesandte  brachte :  sie  mögen  selbst  untereinander  entscheiden, 
welcher  von  beiden  in  das  Eosakenland  kommen  sollte.  Und  Georg  überliess 
die  Wahl  geradezu  seinem  Bruder.  Er  hatte  von  seinem  Vater  die  Vorsicht 
geerbt  und  war  kein  Freund  des  gewagten  Spieles.  Bezäglich  seiner  selbst 
hielt  er  die  Annahme  der  Anerbietungen  der  Kosaken  für  unmöglich,  und 
auch  hinsichtlich  seines  Bruders  hegte  er  Besorgnisse.  Er  empfahl  es  nicht, 
dass  welcher  immer  von  ihnen  •  lediglich  mit  der  Macht  der  Kosaken  gegen 
die  Bepublik  auftrete.»  Es  wäre  gut,  wenn  die  ganze  Bepublik  mit  ihnen 
hielte,  doch,  weil  dies  nicht  erreichbar  ist,  wäre  es  gut,  wenn  auch  nur 
einige  «von  den  Erstem  gewonnen  werden  könnten.  Sigmund  kam  auch 
selbst  nach  Siebenbürgen,  doch  gaben  sie  den  Endbescheid  erst  nach  der 
Heimkehr  des  nach  Polen  geschickten  Gesandten  Klobusiczky  heraus.  Auch 
Tetera  kehrte  mit  der  Vertröstung  zurück,  dass  ein  Gesandter  zum  Zwecke 
der  Fortsetzung  der  Verhandlungen  zu  ihnen  kommen  würde. 

Weder  der  Fürst,  noch  der  Prinz  gaben  die  Hoffnung  auf,  dass  es 
zwischen  dem  König  und  der  Bepublik  zum  Bruche  kommen  werde,  welcher 
dann  die  Gelegenheit  zur  Intervention  herbeiführen  würde.  Der  vertraute 
Geheimcorrespondent  der  Familie,  Wladislaw  Lubienieczky,  selbst  Mitglied 
einer  vornehmen  Familie,  benachrichtigte  die  Bäköczy  fortwährend  von  den 
Ereignissen  und  Stimmungen  in  Polen  und  wenn  er  in  seinen  Berichten 
vielleicht  bisweilen  auch  grellere  Farben  auftrug,  waren  dieselben  doch  im 
Allgemeinen  verlässlich.  Was  er  an  Sigmund  in  Geheimschrift  schrieb,  dass 
«rex  Poloniae  apud  subditos  suspectus  est,  apud  non  parvos  exosus»,  erwies 
sich  nach  dem  Zborower  Vergleich  als  wahr.  Ebenso  fand  die  Verhältnisse 
auch  Klobusiczky,  den  der  Fürst  nach  Warschau  als  Gesandten  zum  König 
und  zur  Bepublik  gesandt  hatte,  dem  Anschein  nach  um  sie  zu  begrüssen, 
in  Wirklichkeit,  um  sich  über  die  Lage  zu  orientiren. 

Klobusiczky  kam  am  15.  Nov.  in  Warschau  an,  wohin  die  Stände 
imd  Magnaten  sieh  nur  langsam  sammelten.  Er  hatte  Besprechungen  mit 
Badziwill,  Psitkowius,  Wisniowicki  (Korybut)  und  fand,  dass  jeder  von 
ihnen  unzufrieden  sei,  keiner  von  ihnen  an  die  Beständigkeit  des  Friedens 
glaube:  trotzdem  aber  unter  ihnen  «nemo  est,  qui  caput  per  se  erigatt 
Und  dies  war  das  Bichtige.  Sie  hätten  es  gerne  gesehen,  wenn  Bäköczy 
ihnen  die  Kastanien  aus  dem  Feuer  geholt  hätte ;  sie  wussten  auch,  dass 
sich  am  Hofe  desselben  ein  Gesandter  der  Kosaken  befinde ;  Klobusiczky 
klärte  sie  auch  darüber  auf,  dass  der  Hetman  nicht  abgeneigt  sei,  sich  den 
Türken  anzuschliessen  —  aber  zu  einer  Initiative  konnten  sie  sich  nicht 
entschliessen. 

Klobusiczky  hatte  am  18.  Nov.  beim  König  und  am  23.  Nov.  beim 
Kanzler  eine  Privataudienz.  Inzwischen  wurde  auch  der  Beichstag  eröffnet. 


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SIEBENBÜRGEN    UND    DEB  KRIEG   IM    NORDOSTEN. 


455 


welcher  den  mit  den  Tataren  und 
Kosaken  geschlossenen  Zborower 
Frieden  acceptirte.  Erst  hierauf 
kehrte  Elobusiczky  Anfang  1650 
heim. 

Die  reeervirte  Haltung  der 
Bäköczys  in  Betreff  der  Einmi- 
schung in  den  polnisch- kosaki- 
schen Zwist  findet  ihre  Erklärung 
in  den  obsch webenden  Differen- 
zen mit  dem  Kaiser  und  in  der 
Complication  der  Pforten-Ange- 
legenheiten. Der  alte  Fürst  hatte 
seinen  Söhnen  eine  unabgewi- 
ckelte  Angelegenheit  zurückge- 
lassen: die  Pforte  forderte  von 
ihm  für  die  oberungarischen 
Komitate  einen  besonderen  Tri- 
but, welchem  er  ausweichen 
wollte.  Dem  gegenüber  wollten 
sich  die  Erben  des  Fürsten  das 
Wohlwollen  des  Kaisers  sichern 
imd  sandten  bald  nach  dem  Tode 
ihres  Vaters  Johann  Daniel  als 
Gesandten  nach  Wien.  Der  auf 
ihre  Repräsentation  erfolgte  Be- 
scheid ist  S.  7.  ff.  der  «ürkun- 
densammlung  zur  Geschichte 
der  diplomatischen  Verbindungen 
Georgs  IL  Bäköczyt  erschienen. 
Diese  Repräsentation  unterbrei- 
tete Räköczy  dem  für  Anfang  Jän- 
ner 1649  einberufenen  Reichs- 
tagy  welcher  Klobusiczky  nach 
Wien  schickte  und  in  seiner  an 
den  Kaiser  gerichteten  Antwort 
auf  die  von  der  Pforte  her  dro- 
hende Gefahr  und  die  tauf  die 
Untedrückung  der  Freiheit  des 
Landes  abzielenden  Wünsche 
derselben!  hinwies.  Sie  fanden 
keine  Unterstützung :  ja  die   zu 


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^^  SIEBENBÜRGEN   X7ND    DER   KRIEO   IM   NORDOSTEN. 

ihrem  Sturze  angesponnene  Intrigue  Franz  Wesselenyis  machte  ihre  Situa- 
tion noch  schwieriger. 

Eine  andere  nicht  minder  wichtige  und  noch  immer  in  der  Schwebe 
befindliche  Frage  war :  die  Einbeziehung  Siebenbürgens  in  den  Frieden, 
über  welchen  die  Bevollmächtigten  der  kämpfenden  Parteien  zum  Zwecke 
der  Consolidirung  der  durch  den  dreissigjährigen  Krieg  geschaffenen 
neuen  Verhältnisse  in  Münster  und  Osnabrück  berieten.  Die  Familie 
brachte  den  Tod  des  alten  Fürsten  Anfang  1649  zur  Kenntniss  des  Königs 
von  Frankreich.  Auch  waren  die  Verhandlungen  in  Angelegenheit  der 
Heirat  des  Prinzen  Sigmund  bereits  im  Zuge  —  und  war  mit  der  Fortfüh- 
rung derselben  Johann  Daniel  betraut,  welcher  beauftragt  war,  auch  nach 
Münster  zu  gehen.  Er  erhielt  am  9.  Juni  1649  den  Bescheid,  der  die 
Erfüllung  des  Wunsches  bis  zur  definitiven  Erledigung  der  Verhandlungen 
verschob. 

Im  März  1649  ging  zur  Pforte  eine  Botschaft,  mit  dem  Auftrage,  die 
Tronbesteigung  des  neuen  und  von  der  Pforte  schon  lange  bestätigten 
Fürsten  anzuzeigen,  die  zur  Installation  erforderUchen  Insignien  und 
zugleich  die  Erlassung  des  für  die  oberungarischen  Komitate  geforderten 
Tributs  zu  erwirken.  An  der  Spitze  der  Botschaft  stand  Stephan  8er6dy, 
ein  alter  Vertrauensmann  des  alten  Fürsten,  welcher  bereits  seit  1632  zur 
Pforte  gieng  und  seit  1639  fast  alle  zwei,  drei  Jahre  als  Botschafter  daselbst 
erschien.  Er  war  ein  verlässlicher  Mann  von  gutem  Gemüt,  aber  scharfer 
Zunge,  dem  Stephan  Ebedy  und  Sigmund  Bänflfy  als  Begleiter  beigegeben 
waren,  und  der,  wenn  ihm  die  Erwirkung  des  Tributerlasses  auch  nicht 
gelang,  seine  Aufgabe  soweit  löste,  dass  er  in  Begleitung  eines  Kapucser 
Paschas  die  Insignien  mitbrachte,  welche  am  27.  Juli  in  Weissenburg  über- 
reicht werden.  Der  Kapitiha  war  auch  in  diesem  Jahre  noch  Gyärfäs. 

1650. 

Klobusiczky  kam  von  Warschau  erst  im  Jänner  zu  Hause  an.  Prinz 
Sigmund  schreibt  am  2.  Feber  seinem  Bruder :  «Länger  dort  zu  bleiben  war 
ihm  nicht  mögUch,  nachdem  er  vom  König  und  von  der  Bepublik  die  Ant- 
wort hatte,  denn  wenn  er  nun  noch  länger  geblieben  wäjre,  würden  sie 
gleich  inne  geworden  sein,  dass  er  nicht  blos  zum  König  und  zur  Bepu- 
blik, sondern  in  Wahrheit  zu  dem  Zwecke,  die  königsfeindliche  Partei  zu 
organisiren,  gekommen  sei.  Klobusiczky's  Wahrnehmungen  waren  nicht 
sehr  ermutigend,  aber  auch  nicht  derart,  dass  sie  die  Möglichkeit  ausge- 
schlossen hätten,  dass  eine  Aenderung  der  Verhältnisse  der  Sache  eine 
günstigere  Wendung  geben  könne.  Deshalb  beschloss  der  Fürst,  als  Tetera 
zurückgesandt  wurde,  die  Verhandlungen  mit  dem  Hetman  nicht  abzubre- 
chen, und  entsandte  auch  seinerseits  Stephan  Märiässy  als  Gesandten  zu 


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SIEBENBÜRGEN    UND    DER   KRIEG   IM   NORDOSTEN.  ^7 

demselben^  mit  der  Instraction,  derselbe  möge  zwischen  ihm  und  dem  Tata- 
ren ein  ebensolches  Freundschafts-  und  Bundesverhältniss  schaffen^  wie  er, 
der  Hetman,  es  mit  ihm  habe,  weil  nur  in  diesem  Fall  Hofihung  vorhanden 
sei,  dass  er  in  der  polnischen  Fehde  mit  Erfolg  auftreten  könne.  Auch 
Sigmund  selbst^  welcher  am  12.  December  nach  Siebenbürgen  gekommen 
war,  eilte  zurück  an  die  polnische  Grenze,  so  dass  er  sich  am  13.  Jänner 
bereits  in  Zborö  befand. 

Dies  war  der  geeignetste  Ort,  die  Gestaltung  der  polnischen  und  orien- 
talischen Verhältnisse  mit  Aufmerksamkeit  zu  verfolgen,  und  dass  die 
Baköczys  dies  erkannt  hatten,  beweist  der  Umstand,  dass  das  in  der  Makovi- 
czaer  Herrschaft  angestellte  wirtschaftliche  Personal  zugleich  eine  diploma- 
tische Körperschaft  war.  Die  Verwalter  der  den  Türken  gegenüber  stehen- 
den Grenzfesten  waren  zugleich  Soldaten :  die  Verwalter  der  an  das  polnische 
und  moldauische  Gebiet  grenzenden  Gegenden  hatten  häufig  politische  Mis- 
sionen und  ihre  ökonomischen  Berichte  sind  auch  mit  poUtischen  Nachrich- 
ten angefüllt  Sie  unterhielten  die  Verbindung  mit  den  polnischen  und 
moldauischen  Freunden  des  Hauses  Bäköczy  und  unter  ihnen  gab  es  immer 
welche,  die  zu  wichtigeren  Missionen  verwendet  werden  konnten.  Sie  sorg- 
ten dafür,  dass  die  Briefe  prompt  eingehändigt  werden  und  die  Posten  und 
Gesandten  rasch  und  sicher  an  ihren  Bestimmungsort  gelangen  können. 
Und  dies  war  um  so  wichtiger,  weil  nicht  nur  die  nach  dem  Polen-,  Kosa- 
ken- und  Moskowiter-Lande,  sondern  auch  die  nach  Westeuropa  reisenden 
Gresandten  ihren  Weg  in  der  Regel  hier  herüber  nahmen.  Die  litthauer,  kur- 
länder  und  danziger  (gedauer)  Briefe  gelangten  auf  diesem  Wege  an  ihren 
Bestimmungsort.  Das  Centrum,  welches  den  Knoten  dieser  Verbindungen 
festhielt,  war  Prinz  Sigmund,  der  sich  meist  in  Oberungarn  aufhielt,  und 
durch  dessen  Hände  auch  die  nach  Siebenbürgen  adressirten  Briefe  gingen. 

Sobald  Geoig  H.  Bäköczy  die  von  seinem  Vater  begonnenen  orientali- 
schen Verbindungen  aufrechthalten  wollte,  war  er  Polen  gegenüber  darauf 
hingewiesen,  mit  der  Moldau  in  freundUchen  Beziehungen  zu  stehen,  weil 
das  Beich  der  krimischen  Tataren  und  die  Kosakengebiete  an  die  Moldau 
grenzten  und  somit  der  kürzeste  Weg  zum  Chan  imd  zum  Hetman  durch  dies 
Land  fährte.  Aber  der  seit  1634  regierende  Hospodar  der  Moldau,  Lupul,  war 
ein  unverlässlicher  Mensch.  Viele  Unannehmlichkeiten  hatte  mit  ihm  auch 
schon  der  alte  Georg  gehabt,  der  ihn  auf  dem  Schlachtfelde  und  in  diploma- 
tischen Fehden  erfolgreich  bekämpfte,  ohne  ihn  stürzen  zu  können.  Im  letzten 
Jahre  der  Herrschaft  Georgs  tauchte  der  Plan  auf,  seine  Interessen  mit  dem 
Interesse  des  Hauses  Bäköczy  durch  eine  Heirat  zu  verbinden,  und  es  war 
bereits  abgemacht,  dass  Prinz  Sigmund  seine  jüngere  Tochter  heiraten  solle 
(die  ältere  war  an  den  Fürsten  Badziwill  vereheUcht),  aber  dieser  Plan  wurde 
durch  den  Tod  des  Fürsten  vereitelt.  Denn  wie  eifrig  Lupul  an  der  Verwirk- 
lichung dessen  zu  Lebzeiten  Georgs  I.  arbeitete,  so  lau  behandelte  er  den- 

UngwriMh«  Berae,  XI.  1891.  V.  Heft.  29a 


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SZEBENBÜBGEN   UND   DBB   KREBO  IM   NORDOSTEN. 


selben  unter  Georg  II.  Er  zog  die  Sache  ohne  bestimmte  Bescheidgebnng 
in  die  Länge,  üeber  diese  ünverlässlichkeit  empört^  suchten  die  Bäköczy 
unter  der  Hand  für  Sigmund  in  Deutschland  eine  Braut:  Lupul  aber 
liess  es  noch  unentschieden,  was  er  mit  seiner  Tochter  machen  werde.  Er 
liess  das  ganze  Jahr  1650  in  zuwartender  Stellung  Torüberstreichen ;  daran 
war  jedoch  gar  nicht  zu  denken^  dass  er  die  Gestaltung  der  Verhältnisse 
lange  unthätig  ansehen  und  sich  nicht  entschliessen  werde,  dieselben  zu  sei- 
nem Vorteile  auszubeuten. 

Damals  sah  es  Lupul  noch  nicht  an  der  Zeit,  etwas  zu  thun.  Die  Nioht- 
verwirklichung  des  Planes  der  engeren  Familienverbindung  störte  das  freund- 
nachbarliche Verhältniss  durchaus  nicht  und  zwischen  beiden  Ländern  wur- 
den häufig  Gesandte  gewechselt.  Intimer  war  Bäköczy's  Verhältniss  zur 
Walachei,  deren  Wojwode,  der  alte  Matthäus^  das  mit  dem  alten  Fürsten 
geschlossene  Bündniss  bekräftigte  und  Gesandte  nach  Kronstadt  schickte, 
welche  am  18.  Februar  auf  die  Einhaltung  desselben  den  Eid  ablegten;  wie- 
wohl, wie  die  aus  der  Eidablage  entsprungenen  Differenzen  bewiesen,  auch 
sein  Ausgleich  nicht  aufrichtig  war. 

Die  Wendung  der  Dinge  in  diesen  neutralen  Ländern  hing  von  der 
Gestaltung  der  polnisch-kosakischen  Frage  ab,  welche  trotz  des  Zborower 
Friedens  ihre  Schärfe  nicht  verloren  hatte.  Denn  der  Zborower  Friede  befrie- 
digte keinen  von  beiden  Teilen.  Die  Kosaken  deshalb  nicht,  weil  er  sie  von 
der  polnischen  Oberhoheit  nicht  befreite ;  die  Polen  aber  hielten  ihn  geradezu 
für  erniedrigend.  Diese  schmähten  den  König,  jene  den  Hetman,  und  während 
Johann  Kasimir  zur  Beschwichtigung  der  Aufregung  des  Adels  gar  nichts 
that,  berief  Ghmielniczky  die  Kosaken  im  März  nach  Pereslawa  zum  Beichs- 
tage  zusammen  und  nahm  unter  dem  Volke  eine  neue  Heereseinteilung  vor. 
um  diese  Zeit  trat  der  Hetman  Märiässy  zu  Bäköczy  zurück,  indem  er  ihm 
in  warmem  Ton«^  seine  Freundschaft  anbot  und  um  die  seinige  bat. 

Die  bevorstehende  neue  Gestaltung  warf  indessen  bereits  ihre  Schatten 
voraus.  Kurze  Zeit  darauf  kamen  zwei  Gesandtschaften  nach  Warschau :  die 
des  Tataren- Chans,  welcher  vom  König  den  versprochenen  Ehrenlohn  for- 
derte,  und  die  des  Bussen- Gzars,  an  deren  Spitze  Puschkin  stand,  und  welche 
die  Bückgabe  der  früher  occupirten  Gebiete  und  die  Bestrafung  derjenigen 
forderte,  welche  die  Bussen  «Barbaren»  schimpfen.  Sie  wurden  aber  mit 
abschlägigem  Bescheid  heimgeschickt.  Indessen  that  der  König  soviel,  dass  er 
auch  seinerseits  einen  Gesandten,  Bartlinszki,  nach  Moskau  sandte,  welcher 
dann  mit  dem  Versprechen  heimkehrte,  dass  die  Bussen  den  Frieden  halten 
werden,  und  mit  der  Erklärung,  dass  Puschkin,  indem  er  mit  Krieg  drohte, 
seine  Instruction  überschritten  habe.  Gleichzeitig  kam  ein  zweiter  russischer 
Gesandter  nach  Warschau,  welcher  nunmehr  nichts  weiter,  als  die  Bestra- 
fung des  Verfassers  der  gegen  den  Czar  gerichteten  Schmähschrift  forderte. 
Es  wurde  Genugthuung  geleistet :  das  Buch,  welches  den  Zorn  des  Czars 


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glEBENBÜBGBN   UND  DBB  KBEOa  IM   NORDOSTEN. 


459 


err^  hatte,  ein  Werk  Teyardowski's,  wurde  von  Henkershand  verbrannt 
und  dessen  Verbreitung  im  Wege  des  Buchhandels  streng  yerboten. 

Der  greise  Biesterfeld,  der  alte  Vertraute  des  Hauses  Bäköczy,  schrieb 
zu  derselben  Zeit :  ich  würde  es  für  lächerlich  halten  «Poloniam  ambire  et 
SUDS  affligere».  Ein  richtiger  Bat  zu  einer  Zeit,  wo  auch  die  Polen  am 
Scheidewege  standen  und  auf  den  Pfaden  einer  gründlich  verfehlten  Politik 
faerumirrten.  Er  stimmte  in  seinem  Wesen  mit  der  traditionellen  Politik  der 
Familie.  Man  hielt  die  freundschaftliche  Verbindung  mit  den  alten  Freunden 
der  Familie  aufrecht,  verpflichtete  sich  aber  dem  Könige  gegenüber  zu  nichts. 
Man  sorgte  für  die  Aufrechthaltung  des  freundnachbarlichen  Verhältnisses 
und  erwies,  wo  es  anging,  kleinere  Gefälligkeiten ;  man  that  die  nötigen 
Schritte  zur  Unterdrückung  der  Grenz-Bäubereien,  erleichterte  den  Freun- 
den den  Einkauf  des  edlen  Tokaierweines,  und  empfing  dafür  auch  Gegen- 
gefälligkeiten, aber  man  liess  sich  zu  keiner  Unterstützung  der  gegen  die 
Kosaken  gerichteten  Unterdrückungsbestrebungen  herbei  An  die  Dauer- 
haftigkeit des  Friedens  glaubte  niemand  und  Prinz  Sigmund  war  frühzeitig 
von  den  sich  vorbereitenden  Bewegungen  unterrichtet;  vornehmlich  durch 
Lubieniecki,  welcher  in  Folge  seiner  Verbindung  mit  den  Potocki's  die  Stim- 
mung gut  kannte  und  den  Ausbruch  des  Krieges,  vornehmlich  wegen  der 
zwischen  den  Polen  und  Kosaken  herrschenden  erbitterten  Stimmung,  nicht 
für  unwahrscheinUch  hielt. 

Aber  auf  die  Wendung,  welche  die  Dinge  nahmen,  war  niemand  vor- 
bereitet. Diese  Wendung  wurde  durch  die  Heirat  der  Tochter  Lupuls  herbei- 
geführt. Die  Bäköczy  waren  noch  im  Sommer  1650  —  als  noch  die  Unter- 
handlungen mit  den  deutschen  Höfen  in  Betreff  der  Heirat  Sigmund*s  in 
vollem  Zuge  waren  —  nicht  im  Stande,  Lupul  zur  Entscheidung  zu  bewegen. 
Er  liess  seine  Tochter  von  der  Pforte,  wo  dieselbe  als  Geisel  für  die  Treue 
ihres  Vaters  weilte,  und  wo  man  diese  Heirat  gerne  gesehen  hätte,  nach 
Hause  bringen,  verschob  jedoch  die  Verlobung.  Schliesslich  aber  zog  er, 
unter  dem  Vorwande  des  Beligionsunterschiedes,  sein  Versprechen  zurück. 
Inzwischen  fand  sich  für  seine  Tochter  ein  neuer  Freier.  Ghmielniczky  hielt 
für  seinen  Sohn  Timotheus  um  ihre  Hand  an.  Diese  Heirat  fand  Lupul  zu 
gering,  gab  aber  auch  dem  Hetman  keinen  bestimmten  Bescheid,  sondern 
machte  die  Entscheidung  von  der  Pforte  abhängig.  Aber  Lupul  verrechnete 
sich.  Der  Hetman  war  bei  der  Pforte  persona  grata  und  erhielt  die  Zustim- 
mung derselben  sehr  bald.  Trotzdem  entschloss  sich  Lupul  nicht  zur  Ein- 
willigung; er  hätte  seine  Tochter  in  der  That  gerne  an  irgend  einen  polni- 
schen Palatin  verehelicht.  Durch  dieses  Zögern  fand  sich  der  Hetman  belei- 
digt und  begann  zu  rüsten.  Gleichzeitig  mit  ihm  rührten  sich  auch  die 
Tataren.  Von  diesen  Vorbereitungen  waren  die  Bäköczy  durch  ihre  Corre- 
spondenten  unterrichtet  und  sandten  zum  Zwecke  genauerer  Orientirung 
Michael  Mikes  nach  Warschau  unter  dem  Vorgeben,   von   dort  Musketiere 

29* 


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^^  8IEBEMBÜB6EM    UND    DBB   KRIBO   IM   NORDOSTEN. 

ZU  bringen,  in  Wahrheit  aber,  damit  er  dort  mit  den  Freunden  der  Familie 
Bücksprache  nehme. 

Die  Böstnngen  der  Kosaken  xmd  Tataren  stärzten  den  Polenkönig  in 
grosse  Besorgniss.  üeber  ihre  Absichten  wusste  er  gar  nichts,  war  aber 
wegen  der  Eventualitäten  besorgt.  Es  gingen  beunruhigende  Gerächte  um^ 
dass  der  Hetman  der  Pforte  huldigen  wolle  —  man  wollte  sogar  schon  wissen, 
dass  türkische  Gesandte  bei  ihm  gewesen,  —  was  den  vollen  Abfall  von 
Polen  bedeutet  haben  würde.  Ende  Juli  befahl  der  König  die  Aufstellung^ 
von  Beobachtungstruppen  und  der  Oberfeldherr  Potocki  gab  Befehl  ins  Feld 
zu  ziehen.  Inzwischen  nahm  das  Zusammenströmen  der  kosakischen  Heer- 
schaaren  immer  grössere  Dimensionen  an  und  dies  steigerte  immer  mehr  die 
Besorgniss  des  Königs,  welcher  schliesslich  auch  einen  Q^esandten  an  den 
Hetman  schickte,  um  von  diesem  die  Ziele  seiner  kriegerischen  Vorkehrungen 
zu  erforschen.  Ghmielniczki  empfing  den  Gesandten  zuvorkommend  und 
erklärte  ihm,  er  beabsichtige  nicht,  die  Böpublik  anzugreifen,  wohl  aber, 
wenn  ihm  nicht  Genugthuung  gegeben  und  die  Beligionsfreiheit  zugesichert 
werde,  sich  von  Polen  gänzlich  loszureissen  und  dem  Türken  zu  huldigen« 
Mittlerweile  begannen  aber  auch  die  Tataren  zu  rüsten  und  jetzt  sandte  der 
Oberfeldherr  Potocki,  welcher  einen  combinirten  Einfall  der  beiden  Heere 
befürchtete,  einen  Gesandten  an  den  Hetman,  den  er  mahnen  liess,  er  möge 
sich  nicht  mit  den  Feinden  der  Christenheit  gegen  die  Christen  verbinden. 
Chmielniczki  verriet  auch  jetzt  seine  wahren  Ziele  nicht.  Im  Gegenteil, 
als  ob  es  ihm  Freude  gemacht  hätte,  die  Polen  in  üngewissheit  zu  erhalten,, 
erklärte  er  dem  Gesandten :  wenn  Potocki  Krieg  wünsche,  könne  er  ihn  haben; 
Koniecpolski  sei  gestorben  —  nun  komme  es  zum  koniec  polski  (=  finis 
Poloniae).  Und  indem  er  in  seinem  Lager  Marschbefehl  gab  und  auch  den 
Zuzug  der  Tataren  urgirte,  brach  er  wirklich  auf. 

Das  polnische  Heer  befand  sich  bei  Kamienecz  in  ziemlich  schlechtem 
Zustand  xmd  wäre  kaum  im  Stande  gewesen,  mit  den  Kosaken  erfolgreich  zu 
kämpfen.  Aber  der  Hetman  nahm  seinen  Weg  nicht  dorthin :  er  wollte  mit 
Lupul  abrechnen,  weil  dieser  die  Hand  seiner  Tochter  dem  Sohne  des 
Hetmans  versagt  hatte.  Er  überschwemmte  am  1.  September  die  Moldau 
mit  seinen  Truppen  und  drang  plündernd  und  verwüstend  bis  Jassy  vor, 
wo  er  gerade  in  einem  glücklichen  Momente  eintraf.  Der  Wojwode  wollte 
gerade  den  jährlichen  Tribut  und  die  üblichen  Geschenke  an  die  Pforte 
abgehen  lassen,  welche  nun  der  Hetman  mit  leichter  Mühe  in  Beschlag 
nahm.  Hierauf  zog  er  nach  gehöriger  Verwüstung  und  Brandschatzung^ 
Ende  September  seine  Truppen  aus  der  Moldau  heraus.  Dieser  rasche 
Bückzug  erschreckte  den  König  von  Polen  noch  mehr.  Er  berief  für  den 
5.  December  den  Beichstag  nach  Warschau  ein  und  vorhergängig  die  ein- 
zelnen Palatine  zur  Partial- Versammlungen  auf  den  7.  November,  wie  es  zur 
Zeit  einer  grossen  Gefahr  üblich  war. 


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SIEBENBÜRGEN    UND  DER   KRIEG   IM   NORDOSTEN.  4f61 

Aber  der  Hetman  zog  auch  jetzt  nicht  gegen  das  Lager  von  Eamienecz^ 
^e  der  König  gewähnt  hatte ;  sondern  wartete,  bis  seine  Bandesgenossen, 
die  Tataren,  ebenfalls  in  die  Moldan  einfielen  und  kehrte  auch  selbst  dort- 
hin zurück.  Der  Chan  brandschatzte  den  Wojwoden  gehörig,  der  Hetman 
aber  zwang  ihn,  mit  den  Waffen  in  der  Hand,  seine  Tochter  mit  seinem 
Sohne  zu  verloben,  was  auch  wirklich  geschah,  und  nun  zogen  die  Tataren 
und  Kosaken  schon  wirklich  aus  der  Moldau  heraus.  Lupul  aber  atmete 
auf.  Sein  erster  Gedanke  war,  wie  er  sich  der  durch  die  Verlobung  ihm 
auferlegten  Verpflichtung  entziehen  könnte  und  es  schien  ihm  das  beste, 
sich  unter  den  Schutz  Polens  zu  begeben.  Er  that  es  auch  und  erhielt  dem- 
zufolge auf  dem  December-Beichstage  das  polnische  Indigenat. 

Ghmielnitzky  war  vorsichtig.  Er  fühlte,  dass  der  Moldauer  Feldzug 
zum  Kri^e  mit  Polen  führen  könne  und  schaffte  sich  rechtzeitig  Verbün- 
dete. Mit  den  Tataren  kam  er  zu  vollster  Einigkeit  und  bei  der  Pforte  stand 
er  in  grosser  Gunst.  G^gen  die  Polen  erblickte  er  eine  starke.  Stütze  in 
Bäköczy,  mit  dem  seine  Unterhandlungen  noch  nicht  zu  Ende  gediehen 
waren,  und  er  sandte  aus  seinem  Lager  am  Pruth  am  19.  September  eine 
Gesandtschaft  an  den  Fürsten,  mit  der  directen  Aufforderung,  er  möge  ihn 
gegen  die  Polen  schützen  und  behufs  Verabredung  der  Modalitäten  einen 
Oesandten  zu  ihm  schicken.  Er  könne  dies  nun  getrost  thun,  —  schrieb  er,  — 
denn  der  Weg  durch  die  Moldau  sei  sicher. 

B&köczy  war  der  Fortsetzung  der  Unterhandlungen  nicht  abgeneigt 
und  sandte  im  November  nahezu  gleichzeitig  nach  vier  Sichtungen  Gesandt- 
schaften :  Gilänyi  und  Paul  Göcs  nach  Polen,  wo  der  Beichstag  vor  der 
Thüre  stand,  Nikolaus  Sebesi  zum  Tartaren-Khan,  Thomas  Pävai  zum 
Moldauer  Wojwoden,  den  der  König  aufgefordert  hatte,  «sich  mit  den  Kosa- 
ken auszugleichen»,  und  Ladislaus  Ujlaki  zum  Kosaken-Hetman.  Der  wich- 
tigste war  dieser  letztere. 

Der  Fürst  nahm  es  übel,  dass  einerseits,  wie  das  Gerücht  ging,  der 
Polenkönig  den  walachischen  Wojwoden  zur  Friedenstifter-BoUe  aufgefor- 
dert hatte,  andererseits  aber  Ghmielniczky,  der  sich  noch  vor  einem  Jahre 
so  sehr  um  sein  Bündniss  und  Patronat  bewarb,  die  ganze  Moldauer  Expe- 
dition ausgeführt  hatte,  ohne  ihn  davon  auch  nur  zu  verständigen,  üjlaki 
war  beauftragt,  dem  Hetman  einerseits  zu  verstehen  zu  geben,  dass  diese 
Geheimthuerei  mit  dem  zwischen  ihnen  bestehenden  freundschaftlichen 
Verhältnisse  in  Widerspruch  stehe,  und  andererseits,  dass  Siebenbürgen 
keine  besondere  Ursache  habe  für  Polen  zu  schwärmen,  welches,  so  oft 
Siebenbürgen  durch  die  Deutschen  oder  Türken  bedroht  war,  demselben 
gegenüber  eine  feindselige  Haltung  beobachtete.  Wenn  daher  der  Hetman 
mit  diesem  Lande  ein  sicheres  Bündniss  wünsche,  müsse  er  den  Grund  zu 
demselben  damit  legen,  dass  er  ihm  bei  der  Pforte  sichere  Securität.  mit 
dem  Tataren  aber  ein  so   enges  Bündniss,  wie  das  seinige,  zuwege  bringe. 


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^2  SIEBENBÜRGEN   UND   DER  KBDSO  IM   NORDOSTEN. 

Mit  dieser  Instructioii  machte  sich  üjlaki,  durch  die  Moldau,  auf  den  Weg 
nach  Czeberin.  Bald  daraufbrachen  auch  Gilänyi  mit  Qöca  nach  Warschau  auf. 

Hier  gingen  wundersame  Gerüchte  über  lULköczy  um.  Potocki  meldete 
dem  König  aus  dem  Eamieniczer  Lager,  dass  Bäköczy  Polen  mit  einem 
30,000  Mann  starken  Heere  bedrohe,  und  der  Kanzler  erklärte  dies  auch 
seinen  Gesandten  gleich  bei  der  ersten  Zusammenkunft,  die  er  ihnen 
gewährte,  ganz  offen.  Gilänyi  war  es  leicht,  die  Grundlosigkeit  dieser 
Anklage  zu  erweisen.  Der  Beichstag  war  stürmisch  und  beschloss  den 
Krieg  gegen  die  Kosaken.  Aber  auch  nach  Schluss  desselben  hielt  Fürst 
Badzivil,  der  Schwager  des  Wojwoden  Lupul,  die  Gesandten  eine  Woche 
lang  in  Warschau  zurück,  bis  sie  mit  ihm  zusammen  kommen  konnten. 
Und  auch  dann  konnten  sie  erst  nach  Tagen  mit  ihm  eine  Entrevue  haben 
und  ihm  den  Zweck  ihrer  vertraulichen  Mission  eröffnen. 

•Was  soll  unser  Herr  thun,  —  firugen  sie  —  wenn  der  Hetman  in 
seiner  Sache  energisch  vorginge?»  Nach  langem  Zögern  erhielten  sie  fol- 
gende Antwort :  Ghmielniczky  ist  ein  un verlässlicher  Mensch  und  plaudert,, 
besonders  wenn  er  betrunken  ist,  Alles  aus.  Der  Fürst  soll  dahin  trachten, 
dass  der  Friede  durch  ihn  zu  Stande  komme.  Wenn  aber  der  Friede  nicht 
zu  Stande  kommen  könnte  und  der  Fürst  Krakau  belagern  müsste,  könne  er 
auf  ihn  rechnen.  Er  werbe  jetzt  fremde  Söldlinge,  und  zwar  in  Ueberzahl, 
damit  er,  wenn  es  zu  Etwas  käme,  die  Papisten  im  Zaum  halten  könne.  Er 
bitte  den  Fürsten  nur,  dahin  zu  wirken,  dass  Lupul  in  seinem  Wojwoden- 
tum  verbleibe ;  er  werde  sich  dafür  gewiss  nicht  undankbar  zeigen. 

Damit  machten  sich  die  Gesandten  auf  den  Heimweg.  Aber  die  Ver- 
handlungen wirbelten  nach  allen  Seiten  hin  viel  Staub  auf  und  der  durch 
den  Palatin  aufmerksam  gemachte  Kaiser  richtete  in  dieser  Angelegenheit 
auch  eine  Frage  an  Bäköczy. 

Durch  den  kandischen  Krieg,  d.  h.  den  Krieg,  den  die  Pforte  schon 
seit  Jahren  um  den  Besitz  der  Insel  Kreta  mit  Venedig  führte,  wurde  die 
Macht  derselben  in  nicht  geringem  Maasse  gelähmt ;  wenigstens  wurde  sie 
dadurch  zu  neueren  Unternehmungen  unfähig  gemacht.  Deswegen  war  sie 
nach  Möglichkeit  darauf  bedacht,  dass  ihr  weder  eine  tatarische  Interven- 
tion, noch  ein  moldauischer  Krieg  eine  Distraction  herbeiführe.  Sie  war  sozu- 
sagen nur  eine  Zuschauerin  der  Dinge,  die  da  vorgingen  —  dessenunge- 
achtet aber  blieb  Konstantinopel  ein  wichtiger  diplomatischer  Fokus. 

Der  siebenbürgische  Tribut  und  die  Geschenke  wurden  herkömmli- 
cherweise um  den  Set.  Demetriustag  abgeführt,  und  zwar  stets  durch  eine 
Botschaft,  in  welcher  die  drei  Nationen  vertreten  waren  und  an  deren  Spitze 
der  vom  Fürsten  ernannte  Botschafter  stand.  Ende  1649  begab  sich  Stephan 
Sulyok  als  Botschafter  auf  die  Pforte,  ein  in  der  Schule  des  alten  Bäköczy 
aufgewachsener  Staatsmann,  welcher  bereits  mehrmal,  mit  mehreren  Bot- 
schaften bei  der  Pforte  gewesen  war.  Mit  dieser  Botschaft  reiste  auch  der 


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DAS   PRÄHIST0BI8CHE   SCHANZWBRK   VON    LENGTEL.  ^^ 

neue  Eapitiba  Wolfgang  Jösika,  welcher  Franz  Otj&d&B  ablöste.  Josika  kann 
kein  alter  Mann  gewesen  sein ;  denn  sein  Name  kommt  diesfalls  in  einer 
historischen  Bolle  zum  erstenmal  vor  und  wahrscheinlich  auch  zum  letzten- 
mal, denn  wir  hören  von  ihm  nicht  wieder  —  ja  sein  Name  kommt  auch  in 
den  bisher  bekannten  Familienstammbäumen  nicht  vor. 

Jösika's  Berichte  liefern  interessante  Beiträge  zur  Eenntniss  der  kosa- 
kisch-tatarischen Beziehungen  und  zur  Geschichte  der  damaligen  Pforten- 
Unterhandlungen.  Wir  ersehen  aus  denselben,  dass  die  Pforte  den  Tenden- 
zen Bäköczy's  nicht  abhold  war,  wiewohl  man  es  dort  auffallend  fand,  dass 
er  bisher  noch  keine  Schritte  zur  Erlangung  der  Einwilligung  der  Pforte 
gethan  hatte.  Es  ist  zu  bedauern,  dass  Jösika's  Berichte  gerade  aus  der 
wichtigsten  Zeit,  aus  der  Zeit  der  Moldauer  Einfälle,  nicht  erhalten  geblieben 
sind.  Im  April  dieses  Jahres  wurde  Stephan  Ebeni  und  im  October  Boros 
an  die  Pforte  als  Gesandte  geschickt.  Von  letzterem  ist  gar  kein  Bericht 
erhalten  geblieben.  (Fortsetzung  folgt.)  Alex.  Szilägyi. 


DAS  MHISTORISCHE  SCHANZWERK  VON  LENGYEL. 

(Forteetzimg.) 

Nr.  84.  In  grösserer  Entfernung  fanden  sich  um  die  Wohnstatten 
herum  zerstreut  : 

Vierzehn  grössere  Nuclei;  50  teils  Jaspis-,  teils  Silex-Messer ;  2  win- 
zige Obsidianspäne ;  12  meist  in  gerader  Linie  gekerbte  Schaber.  Am  Unter- 
teile des  einen  Messers  klebt  schwarzer  Theer,  womit  dasselbe  wahrschein- 
lich an  das  Heft  befestigt  war.  Wie  es  scheint,  wurde  Theer  von  den  prä- 
historischen Völkern  allgemein  zur  Befestigung  der  Steinspäne  verwendet. 
In  die  schönen  Beinharpunen  des  Stockholmer  Museums  waren  die  scharfen 
und  spitzen  Steinspäne  stets  mit  Theer  befestigt,  auch  fanden  wir  hier  in 
der  Lengyeler  Ansiedlung  schon  wiederholt  grössere  Theerstücke. 

Das  durchbohrte  Bruchstück  eines  aus  grünem  Stein  geschliffenen 
Beiles  und  ein  trapezförmiges  kleines  geschliffenes  Steinbeil. 

Ein  1 5  Cm.  langer,  durchbohrter  und  geschliffener  Beinhammer.  Das 
Bohrloch  hat  2  Cm.  Durchmesser. 

Zwei  Gerätstiele  aus  Hirschhorn,  bei  welchen  ausser  der  im  zelligen 
Teüe  der  Länge  nach  gehenden  Durchbohrung,  auch  noch  die  eine  Hälfte 
des  Zweiges  belassen  worden  war,  um  das  in  das  Bohrloch  gepasste  Werk- 
zeug noch  überdiess  durch  Anbinden  an  den  flachen  Ausläufer  des  Stieles 
fester  mit  demselben  zu  verbinden. 

Zehn  Stück  nur  an  einem  Ende  zugespitzte  Beinpfriemen.    ■ 


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TAFEL  XXX. 
NB.  Die  Bruohzohlen  bedeuten  den  Teil   der  NatargrÖBBe  der  Figuren,  die  ganzen  Zahlen  die  Figurennammern. 


mi 


2a9<^.H 


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im 


2241 


\5lJ 


231  § 


227  § 

,  Halbfertiges    Steinbeil.  —  225.  a,  b,   Gefässdeckel.    —  226.   Armband  aus   Muschel.  —  227.   Süex-Mesaer.  - 
.  Bruchstück  eines  Steinbeiles.  —  229.  Hirschgeweih  mit  Sägespuren.   ^  230.  Bruohstäok  eines    Thongeg«»- 
Standes.  —231.  Doppelangel  aus  Bronze.  —  232.  Bruchstück  eines  Mondbüdes.^— ^  2^,  ^^  Thopgefiasa. 


DAS    PRÄHISTORISCHE    SCHANZWERK   VON    LENGYEL.  ^5 

Ein  18  Cm.  langes  Hirschhorngerät,  welches  nicht  nur  am  dicken 
Ende,  sondern  auch  der  Länge  nach  beiderseits  flach  geschnitten  ist. 

Ein  grosses  Hirschgeweih,  dessen  Zweige  abgesägt  sind ;  ein  am  un- 
teren Ende  glatt  abgeschnittener  Gemshomzapfen  und  ein  starker  Eber- 
hauer. 

Vier  unverzierte,  gut  gebrannte  WirtI  und  ein  kegelförmiger,  senk- 
recht durchbohrter  Spindelknopf. 

Bruchstücke  von  vier  unvollkommen  gebrannten,  durchbohrten  Thon- 
pyramiden,  von  welchen  nur  die  eine  am  oberen  Teile  das  tief  eingeschnit- 
tene schiefe  Kreuz  hat. 

Ein  halbgebrannter  Löfifel  aus  grobkörnigem  Thon,  mit  kurzem  durch- 
bohrtem Stiel. 

Ein  10  Cm.  hohes,  8  Cm.  weites  becherförmiges  Gefäss  mit  kleinem, 
wagrecht  durchbohrtem  Henkel,  ohne  Verzierung. 

Ein  unverziertes  Gefäss  mit  langem  Hals  und  bogenförmigem  Henkel. 

Eine  einfache  Thonschale,  5  Cm.  hoch,  am  Oberrande  12  Cm.  weit. 

Ein  spitz  auslaufender  Gefässdeckel  von  8  Cm.  Durchmesser.  Die  Ver- 
zierung besteht  am  Aussenteile  aus  vier  in  Kreuzform  verteilten,  blattför-  xxx. 
migen  Vertiefungen  und  dazwischen  angebrachten  zwei  Punkten.  Der  obere  225  r.b 
Ausläufer  ist  horizontal  durchbohrt.  Der  Band  des  Deckels  ist  ebenfalls  an 
zwei  entgegengesetzten  Punkten  durchbohrt,  um  ihn  an  das  Gefäss  befe- 
stigen zu  können. 

Ein  grösseres  Graphitstück,  das  Bruchstück  eines  aus  reinem  Graphit 
verfertigten,  dicken  Gefässes.  (S.  Nr.  82.) 

Nr.  85.  Gelegentlich  des  Besuches  eines  ausländischen  Fachgelehrten 
unterbrachen  wir  die  Arbeiten  bei  den  Wohnstätten  und  begannen  am 
Grabfelde  eine  Grube,  um  eines  jener  in  kauemd-liegender  Stellung  begra- 
benen Skelette  vorweisen  zu  können,  welche  in  neuerer  Zeit  die  Aufmerk- 
samkeit der  Archäologen  ganz  besonders  erregt  hatten. 

In  Italien  lieferte  Chierici,  *  in  Böhmen  aber  Jelinek**  neuere  Daten 
AUS  zahlreichen  Funden  über  die  «liegenden  Hocker»,  von  welchen  man 
bisher  nur  wenig  wusste.  Diese  neueren  Daten  will  ich  hier  zunächst  nach- 
tragen. In  der  Nähe  von  Prag  wurden  in  den  Gemarkungen  der  Gemeinden 
Branik'Hodkovicky  sieben  Skelette  gefunden,  welche  auf  der  rechten  Seite 
liegend,  mit  der  rechten  Hand  unter  der  Schläfe,  stark  zusammengekauert 
waren.  Der  Kopf  war  gegen  Süden,  die  Füsse  aber  gegen  Norden,  während 


*  Bulletino  di  Paletnologia  Italiana  An  X.Nro  9,  10.  I  sepolchri  di  Remedello 
nel  Bresciano  e  i  Pelasgi  in  Italia  und  Anno  XI.Nro  9.  10.  Nuovi  scavi  nel  sepolcreto 
di  Bemedello. 

**  iMitteilungen    der  anthropol.  Ges.   in  Wien»  XLV.  B.  IV.  H.  Jelinek  «Aus 
•den  Grabstätten  der  liegenden  Hocker.» 

Ungvisoha  Betne,  ZI.  1801.  V.  Haft.  30 


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TAPEIj  XXXI. 
NB.  Die  Bruchzahlen   bedeuten  den  Teil   der  Natnrgrösse  der  Figuren,  die   ganzen  Zahlen  die  Fignrennmiimeni. 


Ui».H 


im 


237  § 


mi 


24Ǥ 


244  «».H 


241«.*.«i 


235.  o,  6.  Gefässdeokel.  —  236.  Thonpyramide.  —  237.  Brnehstüok  eines  homförmigen  Qefässes.  —  238.  GeS» 
mit  Kreidererzierung.  —  239.  Fnss  aus  Thon.  —  240.  Beinpfrieme.  —  241.  a,  b,  e.  GeOssdeckel.  —  241  Ab^i- 

höhlter  Thonblook.  —  244.  o,  6.  OefindeckeL         '    ~    "    "O" 


TAFEL  XXXH. 
NB.  Die  Brnchzahlen  bedeuten  den  Teil    der  Nattirgrösse  der  Figuren,  die  ganzen  Zahlen  die  Figorennammem. 


248« 


248  i 


247 


niniti7firl  hy  V^jOOQ  IC 
247.  Im  IiösB  gegrabene  Wohnung.  —  248.  a,  b.  Querschnitt  am  Ostrande  der  Schanze. 


^^  DAS    PRÄHISTORISCHE    SCHANZWERK  VON     LENOYEL. 

das  Antlitz  gegen  Osten  sah.  Von  den  unsrigen  unterscheiden  sie  sich  nur 
darin,  dass  alle,  mit  Ausnahme  eines  einzigen,  in  Gräbern  aus  unbehauenen 
Steinen  gefunden  wurden.  Die  Gefässe  sind  mit  Graphit  überzogen  und 
angeblich  auf  der  Scheibe  verfertigt,  ihre  Form  ist  ähnlich  jener  der  uns- 
rigen, und  fand  man  solche  nicht  nur  in  den  Gräbern,  sondern  auch  ober- 
halb derselben,  unmittelbar  unter  der  Humusschichte,  wo  sich  starke 
Feuerspuren  zeigten.  Neben  den  Skeletten  fand  man  Bronzegegenstände. 
Die  unter  dem  Sandboden  vergrabenen  Knochen  zerfielen —  mit  Ausnahme 
der  Kinnladen  —  bei  der  Berührung  in  Staub.  In  Bechlin  bei  Raudnitz  (in 
Böhmen)  wurden  fünf  auf  der  rechten  Seite  liegende,  vom  Grünspan  ge- 
färbte Skelette  in  kauernder  Stellung  und  in  einer  bei  unseren  Funden 
üblichen  Bestattungs-Richtung  gefunden,  —  und  zwar  kaum  40  Cm.  unter 
dem  Niveau.  Die  Gefässe  waren  aus  grauem,  dünnem  Thon,  angeblich  teils  auf 
der  Drehscheibe  verfertigt.  Die  Schädel  weisen  sich  meist  als  Dolichocephale 
aus  und  deuten  daher  auf  eine  reine,  noch  ungekreuzte  Race  hin,  was  übrigens 
in  Böhmen  wiederholt  constatirt  wurde.  Bei  iCt/w^a7a/(i*  in  Mähren  fand  man 
auf  einem  Hügel  zehn  Gräber  in  zwei  Reihen ;  die  Gerippe  lagen  von  Süd- 
osten gegen  Nordwesten,  mit  zusammengekrümmten  Händen  und  Füssen 
auf  der  linken  Seite,  0-90 — 1*50  M.  tief,  etwas  über  der  Sohle  der  heu- 
tigen Humusschichte.  Ihre  Beilagen  bestanden  aus  kleineren  schwarzen 
Gefässen  und  einigem  Bronzeschmuck.  Einzelne  Schädel  waren  trepaniri 
Gleichartige  wurden  bei  Klein-Cicevic,  Schallau  und  Unetic  in  Böhmen 
gefunden. 

/^a&n.  Chierici  berichtet  über  eine  neue  paläontologische  Gruppe  aus 
Remedello  (Kreis  Brescia),  Cumarola  (Kr.  Modena),  Scurgola  (Kr.  Rom)  und 
Cantalupo  (Ki\  Rom),  welche  er  «eneo-litico»  nennt,  da  in  diesen  Gräber- 
feldern die  Beigaben  der  Skelette  aus  meisterhaften  Steinwaflfen  bestehen, 
unter  denen  sich  jedoch  auch  Kupfer-  und  Bronzewaflfen,  namentlich  Dolche 
finden.  Die  Skelette  sind  sowohl  in  ausgestreckter,  als  auch  in  kauernder 
Lage  bestattet,  doch  deuten  ihre  Beigaben  auf  ein  gleiches  Zeitalter.  Auf 
dem  Leichenfelde  bei  Remedello  am  Po  wurden  bereits  über  80  Gräber 
geöffnet,  in  welchen  die  Skelette  regellos  in  jeder  Richtung  gelegt  zumeist 
ausgestreckt,  nur  vereinzelt  mit  zusammengezogenen  Füssen  auf  der  Seite 
liegend  (und  zwar  bald  rechts,  bald  links)  gefunden  wurden.  In  einem  Falle 
wurde  sogar  eine  sitzende,  in  einem  anderen  eine,  der  in  Hissarlik  üblichen 
ähnliche,  knieende  Lage  constatirt.  Die  Körper  sind  in  die  blosse  Erde,  in 
ovale  Gräber  gebettet.  Die  Schädel  sind  teils  dolichocephale,  teils  bracliy- 
cephale.  Auch  auf  dem  Leichenfelde  bei  Cantalupo  wird  «scheletro  alquanto 
i-aggrupato»  und  «scheletro  quasi  disteso»  unterschieden. 

Alle  diese  Umstände  und  die  zahlreichen  Arten  der  Bestattung  bilden 

*  «Mitt.  der  anthr.  Gesellschaft  in  Wieui.  XIV.  2  und  3.  F.  59. 


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DAS    PRÄHI8TOBI8CHE    SCHANZWBRK   VON  LENGTBL.  4p6^ 

ebensoviele  Abweichungen  von  der  bei  Lengj^el  gefundenen  strengen 
Gleichmässigkeit.  Aber  auch  die  Gegenstände,  welche  bei  der  ganzen  Gruppe 
einen  sehr  consequenten  und  einheitlichen  Typus  aufweisen,  sind  von  jenen 
aus  Lengyel  ganz  verschieden. 

Niederösterreich.  P.  Lambert  Kamer  entdeckte  in  Roggendorf  (Bezirk 
OberhoUabrunn)  ein  ähnliches  Leichenfeld  mit  gekauert  liegenden  Gerippen 
und  beigelegten  Steingeräten  und  Bronzezieraten.  Die  «Mitteilungen 
der  anthrop.  Ges.  in  Wien»  1883,  B.XIII.  beschreiben  die  sieben  seit  187& 
zu  Tage  geförderten  Gräber  und  deren  Beigaben;  in  einem  an  mich 
gerichteten  Schreiben  berichtet  Herr  P.  L.  Kamer :  dass  seither  zahlreiche 
und  sehr  wichtige  Funde  gemacht  wurden,  welche  er  in  einem  grösseren 
Werke  zu  beschreiben  beabsichtigt.  Die  einzelnen  Merkmale  dieser  Funde 
zeigen  eine  auffallende  Aehnlichkeit  mit  jenen  aus  Lengyel.  Alle  Skelette 
sind  in  gekrümmter  liegender  Stellung  mit  dem  Kopfe  gegen  Süden,  das 
Gesicht  gegen  Osten  gewendet.  Dieselben  liegen  nur  0%5 — 0-55  M.  unter 
der  heutigen  Erdoberfläche,  weshalb  die  Annahme  nicht  ausgeschlossen 
ist,  dass  man  die  Leichen  nicht  in  Gräber,  sondern  einfach  auf  die  Erde 
legte  und  sie  mit  Erde  bedeckte.  Auffallend  ist,  dass  auch  unter  diesen 
sieben  Skeletten  eines  mit  zusammengezogenen  Knieen  und  zur  Erde  ge- 
wendetem Antlitz  gefunden  wurde ;  daher  ganz  dieselbe  Variante,  welche 
auch  bei  Hissarlik  (Hanai-Tepeh)  und  in  Bemedello  wahrgenommen  wurde. 
Der  entschieden  dolichocephale  Typus  der  Schädel,  der  Mangel  an  Bronze- 
waffen, die  Buckelverzierungen  an  den  Gefässen,  sowie  deren  winzige  Basis 
bei  beträchtlichem  Bauminhalt  bilden  ebensoviele  Analogien  mit  deu 
Funden  aus  Lengyel. 

Am  interessantesten  ist,  dass,  wie  ich  aus  dem  Briefe  P.  Kamer's 
entnehme  —  man  dort  neuerdings  auch  die  Wohnstätten  auffand,  einzelne 
gleichfalls  tonnenförmig,  nach  oben  offen,  und  ganz  in  die  Erde  gegrabene 
Gruben. 

Li  dieser  Grube  Nr.  85  stiessen  wir  auf  ein  ganz  unversehrtes  Skelett, 
in  der  bisher  wahrgenommenen  Stellung  gegen  Osten  gewendet,  auf  der 
rechten  Seite  liegend,  mit  stark  zusammengezogenen  Händen  und  Füssen. 
Die  Beigaben  desselben  bestanden  aus  Folgendem  ; 

Unter  dem  Kinn  17  tertiäre  Dentalium-Schnecken,  zumeist  mit  braun- 
rother  Masse  überzogen.  Unter  diesen  geraden,  langen,  fossilen  Schnecken 
fanden  wir  drei  kleine,  flache  Metallperlen,  an  welchen  das  Metall  von  der 
lichtgrünen  Patina  ganz  zerfressen  war.  Tiefer  suchend  fanden  wir  um  die 
Halswirbel  abermals  19  Dentalin-Schnecken,  an  welchen  ebenfalls  die 
Spuren  jener  roten  Masse  wahrnehmbar  waren.  Zwischen  diesen  Schnecken 
lagen  14  kleine  flache  Metallperlen,  einzelne  sogar  noch  an  jene  gereiht. 
Nachdem  wir  schon  mehrfach  zwischen  diesen  Dentalien  solche  Metall- 
perlen  fanden,  scheint  es  sehr  wahrscheinlich,  dass  der  ganze  Halsschmuck 


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TAFEL  XXXTTT. 
KB.    Die  Binchzahlen  bedeuten  den   Teil  der  Naturgrösse  der  Figuren,    die  ganzen  Zahlen  die  FigurennommeriL 


im  2511  Uhi 

243.  Thongefäsß.  —  245.  Steinbeil.  —  246.  Bruchstück  einer  Thonpyramide.  -j|^j!j^^^£äs8deckel.  —  230.  Bronse* 
haken.  —  251.  Bruchstück  eines  Seihergefässes.  —  252.  Thongefäss.  —  253,  254.  Steinmeissel.  —  255.  TlionlöffeL  — 

256—258.  Durchbohrte  Thierzähne. 


TAFEL   XXXrV. 
NB.  Die  Bruchzahlen  bedeuten  den  Teü  der  Naturgrösae  der  Figuren,  die  ganzen  Zahlen  die  Fignrennnnunem. 


m'^i 


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2591 


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im 


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259.  Vogelfigur  aus  Thon.  —  260.  Triposförmiger  Fuss  einer  Kinderklapper.  —  261.  Thonplatte.  —  262.  Kleeblatt-) Q[g 
fönniger  GefaashenkeL   —  263.  Fuss  eines  Thonge&sses.  —  264.  Gefäss  mit  Kreideverzierung.   —  265.  Wirtl.  —  O 
266.  a,  b.  Gefasshenkel  mit  Thiergestalt.  —  267.   Bronzenadel.   —  268.   Gefässdeckel. 


472 


DAS  PRÄHISTORISCHE  SCHANZWERK  VON  LBNOTEL. 


derart  entstand,  dass  die  ineinander  gepassten  Dentalien  durch  die  daran 
gereihten  Perlen  fester  zusammengehalten  wurden. 

Aus  Dentalien  oder  Vogelknochen  verfertigen  die  wilden  Stämme 
Amerikas  mit  dazwischen  angebrachten  kleinen  Perlen  einen  Bandschmuck, 
welchen  sie  am  Hinterschädel  befestigen,  so  dass  er  über  den  Rücken  hinab- 
hängt. *  Bei  den  im  nördlichsten  Amerika  wohnenden  Indianern  fand 
Swan  **  einen  eigentümlichen  Kopfschmuck,  und  zwar  Bänder  aus  Den- 
taliumschalen  zusammengesetzt;  dieser  umgibt  diademförmig  den  Kopf, 
während  an  beiden  Seiten  ebenso  verfertigte  Anhängsel  herabhängen.  Auf 
dem  prähistorischen  Gräberfelde  bei  Koban  *  (Kaukasus),  fand  man  statt 
Dentalien  aus  Bronzeröhren  zusammengesetzte,  gegliederte  Kettenbänder, 
üebrigens  fanden  wir  solche  Bronzeröhren  bereits  wiederholt  neben  Den- 
talien an  den  Skeletten  von  Lengyel.  Cylinderähnliche  Bohren  als  Schmuck 
getragen  ausGagath,  Bein  und  Bronze  kommen  auch  in  den  französischen 
Dolmen  vor. 

Um  den  linken  Arm  ein  aus  einer  prachtvollen  Muschel  geschlif- 
fenes, ovales  Armband.  Der  Längendurchmesser  desselben  beträgt  8  Cm., 
der  Breitendurchmesser  7  Cm.  Es  ist  an  der  dicksten  Stelle  1*8  Cm.  starke 
ixx  während  es  sich  beiderseits  regelrecht  verjüngt,  und  an  der  dünnsten  Stelle 
^^^*  nur  0*8  Cm.  misst.  An  mehreren  Stellen  klebt  noch  die  dicke  rote  Farbe 
daran.  An  der  breitesten  Stelle  hat  es  drei  je  1  Cm.  weit  von  einander  ent- 
fernte Löcher,  an  welchen  wahrscheinhch  wieder  grössere,  aus  Muscheln 
verfertigte  Perlen  hingen,  denn  wirklich  fanden  wir  neben  dem  Armband 
grössere,  1*5  Cm.  lange  und  0*8  Cm.  dicke,  der  Länge  nach  durchbohrte 
Perlen  aus  der  gleichen  Muschel.  —  An  dem  Armband  befinden  sich  zwar 
noch  an  zwei  Stellen  schief  und  unregelmässig  durchgestossene  Löcher, 
doch  ist  deutlich  zu  erkennen,  dass  diese  durch  Zersetzung  in  der  Muschel- 
masse gebohrt  wurden. 

Neben  der  linken  Hand  ein  entzwei  gebrochenes  Silex-Messer. 

Eine  sehr  schöne,  13  Cm.  lange,  3*5  Cm.  breite  Axt  aus  licht- 
grauem Stein  geschliffen.  Das  Bohrloch  hat  einen  Durchmesser  von 
1*5  Cm.  Selbe  war  noch  wenig  gebraucht.  Im  Allgemeinen  fanden  wir 
mit  wenigen  Ausnahmen  nur  neben  den  Skeletten  unversehrte  Steinbeile. 

Vor  dem  Gesichte  ein  gutgebranntes,  rohes,  primitives  Gefässchen. 

Ein  aus  dem  äusseren  festen  Teile  des  Hirschgeweihes  geschnitztes,, 
durch  Schleifen  geschärftes  Messer. 
XXI.  Neben  dem  Rumpf  ein  ganz  weissliches  2*5  Cm.  breites,  1 2  Cm.  lan- 

^^^*    ges,  sehr  schön  und  regelmässig  gespaltenes  Silex-Messer. 

*  R.  Virchow  «Das  Gräberfeld  von  Eobam.  S.  40. 

**  James  G.  Swan,  The   Indians   of  Cape  Flattery  (Smithsonian  Contribution) 
Washington  1869.  p.  16,  Fig.  3.  R.  Virchow  a.  a.  0. 
***  R.  Virchow  a.  a.  0. 


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DAS   PBAHiaXORISCHE   SGHANZWBBK  VON   LBNOYEL.  ^^3 

Eine  trichterförmige,  3  Cm.  lange,  und  am  dickeren  Ende  0*5  Cm. 
breite  Schnecke,  am  breiteren  Ende  durchlöchert. 

Ein  sehr  morsches  G^fäss  aus  feinkörnigem  Thon,  auf  schwarzem 
Grunde  rot  angestrichen.  Um  das  Gefass  herum  zeigte  sich  ein  Kalk- 
niederschlag, der  auch  den  roten  Anstrich  in  sich  aufnahm.  Von  diesem 
Gefässe  gelang  uns  nur  einige  Bruchstücke  auszuheben. 

Nr.  86.  In  der  Nähe  der  vorigen  Wohnstätten  abermals  eine  am 
Boden  deutlich  sichtbare  ovale  Grube.  Dieselbe  ist  260  Cm.  tief,  242  Cm. 
lang  und  237  Cm.  breit.  Zumeist  in  derselben  und  nur  teilweise  in  deren 
Umgebung  fanden  wir  folgende  Gegenstände  : 

Zehn  grössere  Nuclei,  von  deren  Seiten  Späne  abgespalten  worden 
waren. 

Fünfzehn  grösstenteils  aus  Jaspis  sehr  regelrecht  gespaltene  Messer. 
Zwei  haben  am  unteren  Ende  eine  durch  sorgfältige  Kerbung  hergestellte 
schmale  und  lange  Spitze,  welche  in  einen  Stiel  gepasst  war;  an  dieser 
klebt  eine  weisse  dicke  Masse,  mit  welcher  man  wahrscheinlich  wie  mit 
Pech  die  Messer  in  den  Stiel  befestigte. 

Einundzwanzig  Jaspisstücke,  welche  bei  Verfertigung  der  Messer  als 
unbrauchbare  Späne  abfielen. 

Zwei  Stück  am  oberen  Ende  in  gerader  Linie  gekerbte  Jaapis- 
Schaber. 

Sieben  Obsidianspäne,  von  welchen  vier  schmale,  lange  Stücke  zu 
Messer  gespalten  sind;  der  eine  ist  ein  breiter  scharfer  Schaber;  zwei 
dagegen  sind  Abfälle,  an  der  Rückseite  die  ursprüngliche,  rauhe,  narbige 
Struktur  des  Steines  zeigend. 

Ein  zum  Spalten  von  Spänen  verwendetes,  an  allen  Ecken  abge- 
stumpftes Steinstück. 

Ein  durchscheinendes,  reines  Stück  Bergkrystall. 

Vier  Bruchstücke  von  geschliffenen  Steinäxten,  von  welchen  nur 
eines  Spuren  der  Bohrung  zeigt. 

Eine  oben  convexe,  unten  flache,  stumpfe  und  sehr  abgenützte,  ge-  X3X. 
schliffene  Steinaxt,  welche  an  der  Bohrstelle  gebrochen  war. 

Ein  glattes  Stück  Sandstein,  in  dessen  schmaler  Fläche  man  wahr- 
scheinlich Beinpfriemen  geschliffen  hatte. 

Vierzehn  Bruchstücke  eines  grossen  Reibsteines,  und  drei  zum  Glätten 
von  Gefässen  verwendete  Bachkiesel. 

Ein  am  Ende  rund  geschliffenes,  flaches  Beingeräte,  welches  wahr- 
scheinlich zum  Glätten  von  Gefässen  diente,  und  sieben  geschliffene  spit- 
zige Beinpfriemen. 

Ein  i^4  Cm.  langer  Röhrenknochen  eines  Tieres,  in  der  Mitte  ge- 
glättet. Derselbe  konnte  kein  Schlittschuh  gewesen  sein,  da  er  nicht  in  der 
ganzen  Länge  geschliffen  ist.  Vielleicht  wurde  derselbe  zum  Glätten  von 

Ungftriseh«  Beroe,  XI.  1S91.  V.  Heft.  30a 


228. 


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474 


DAS   PBAHISTORI80HB   BOHANZWEBK  YON  LENOTBL. 


229. 


Leder  verwendet,  wie  auch  heute  noch  die  Schuhmacher  das  übers  Knie 
gelegte  Leder  mit  solchen  Knochen  glätten. 
HI.  Drei  Stück  Hirschgeweihe,  welche  sämmtlich  an  mehreren  Stellen 

tiefe  und  sehr  breite  Sägespuren  zeigen.   Das  Ende  des  einen  Stückes  ist 
spitz  zugeschnitzt. 

Sieben  stumpfe  Pyramiden  diverser  Grösse,  von  welchen  jedoch 
keines  mit  dem  üblichen  schiefen  Kreuze  versehen  ist.  Sie  sind  zumeist 
nur  halb  gebrannt,  das  eine  Stück  ist  aber  gar  nicht  gebrannt  und  gleicht 
unseren  heutigen  getrockneten  Lehmziegeln. 

Ein  gut  gebrannter  Thonblock  von  26  Cm.  Durchmesser  und  fünf 
homförmige,  senkrecht  durchbohrte,  hohe  Gefasshenkel,  von  denen  drei 
an  der  Bruchstelle  glatt  gewetzt  sind. 

Ein  dicker,  gut  gebrannter  Thoncylinder,  der  Länge  nach  dünn  durch- 
bohrt. Derselbe  ist  13  Cm.  lang  und  6  Cm.  dick. 

Ein  am  oberen  Teile  geglättetes  Stück  eines  Feuerherdes.  Am  unteren 
TeUe  hat  es  eine  quer  gehende  Vertiefung,  und  ist  es  mehrfach  mit  grös- 
seren Löchern  versehen,  durch  welche  die  Asche  vom  Herde  entfernt  wurde. 
Vergl.  Grube  79. 

Sechs  Wirtl  diverser  Grösse  und  vier  Bruchstücke  von  pilzenför- 
migen  Böhrengefässen. 

Drei,  am  oberen  Teile  mit  halbkreisförmigen  Handgriffen  versehene 
grosse  Gefässdeckel  aus  rohem  Thon.  Die  Gefässwand  ist  2*5  Cm.  dick. 

Ein  sehr  roher  Deckel  aus  kömigem  Thon,  innen  und  aussen  rot 
angestrichen.  Durchmesser  9  Cm.  Der  Deckel  hat  am  oberen,  convexen 
Teile  einen  7  Cm.  langen,  2*5  Cm.  hohen  und  mit  sechs  Domen  verzierten 
Bippenansatz,  welcher  nebeneinander  vier  horizontale  Bohrlöcher  hat. 

Viele  Bmchstücke  von  rauhen,  meist  schmucklosen  Gefässen,  an  ein- 
zelnen sind  mit  Kreide  grosse  Dreiecke  ausgefüllt ;  gebrannte  Thonklötze 
vom  Feuerherd,  Asche,  Knochenabfälle,  damnter  Süsswassermuscheln,  daa 
Bückgratswirbel  eines  grossen  Fisches,  ein  starker  Eberhauer  und  ver- 
schiedene andere  Tierzähne. 

Nr.  87.  Eine  kreisförmige  Wohnstätte,  254  Cm.  tief,  245  Cm.  lang, 
213  Cm.  breit.  Inhalt: 

Dreizehn  Jaspisnuclei  mit  breiten  Flächen,  elf  schön  geschlagene 
Steinmesser,  acht  unbrauchbare  Jaspisstücke ;  drei  schmale,  dünne  Obsi- 
dianspäne ;  fünf  am  oberen  Ende  halbrund  gekerbte  Jaspis-Schaber. 

Zwei  Bruchstücke  von  sehr  abgenützten,  und  an  der  Bohrstelle  ge- 
brochenen Steinbeilen.  An  dem  Bohrloche  des  einen  sind  mit  freiem  Auge 
deutlich  parallele  Furchen  zu  sehen,  die  Spuren  des  zum  Bohren  verwen- 
deten Sandes  oder  Quarzes. 

Ein  aus  Eberhauer  geschnittener  und  scharf  geschliffener  Schaber. 
S.  XXIV.  264,  265. 


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DAS   PBÄHIST0BI8CHE   8CHANZWERE  VON   LENOYEL. 


475 


XXI. 


Zehn  geschlififene  Beinpfriemen  verschiedener  Grösse,  von  denen 
zwei  an  beiden  Enden  zugespitzt  sind.  Die  aUerprimitivsten  Beinangehi 
sind  ebenso  geformt,  nur  haben  letztere  in  der  Mitte  gewöhnlich  eine  kleine 
Vertiefung  zum  Befestigen  des  Fadens,  welche  jedoch  hier  fehlt. 

Fünf  Hirschgeweihe,  von  denen  bei  zweien  die  spitzen  Enden  mit- 
tels ächleifens,  bei  zweien  aber  mittels  Schnitzens  ausgearbeitet  sind.  An 
dem  dicken  Ende  des  einen  hatte  man  eine  Bohrung  begonnen. 

Der  Stamm  eines  starken  Hirschgeweihes,  an  beiden  Enden  ziemlich 
glatt  abgesägt. 

Ein  einem  Striegel  ähnlicher,  2*5  Gm.  langer,  in  einen  dünnen  Stiel 
auslaufender  Thongegenstand,  am  breiten  Ende  mit  vier  Zähnen  versehen.   230. 
Derselbe  wurde  wahrscheinlich  zum  Einkratzen  der  parallelen  Furchen- 
verzierung an  den  Thongefässen  verwendet. 

Das  Bruchstück  eines  pilzförmigen  Eöhren-Gefasses,  kohlschwarz  und 
geglättet.  Der  innere  Boden  der  Schüssel  ist  mit  einem  gekratzten  schiefen 
Kreuz,  und  um  dasselbe  mit  Würfelaugen  verziert.  Eine  solche  Kreuz- 
verzierung kommt  hier  schon  in  der  Grube  Nr.  41  vor. 

Fünf  Bodenteile  von  grossen  primitiven  Töpfen ;  ein  mit  Kalkgebilde 
überzogenes  unbearbeitetes  Hirschgeweihe,  und  ein  starker  Eberbauer. 

Asche  oder  Klötze  vom  Feuerherd  wurden  in  dieser  Grube  nicht  ge- 
funden, und  konnte  selbe  daher  ausschliesslich  nur  als  Wohnstätte  gedient 
haben. 

Nr.  88.  Kreisförmiger  Wohnraum,  246  Cm.  tief,  268  Cm.  lang, 
214  Cm.  breit.  Den  Boden  bedeckte  eine  starke  Aschenschichte,  in  welcher 
sich  folgende  Gegenstände  befanden : 

Neun  Nuclei,  13  regelmässige  Stein-Messer,  sechs  Spanabfälle,  drei 
schöne  Obsidian-Messer,  vier  Jaspis-Schaber,  wovon  an  zweien  schwarzes 
Pech  klebte,  mittelst  dessen  man  sie  in  den  Stiel  befestigt  hatte,  und  drei 
kleine  schwarze  Pechstücke. 

Drei  weichere  Sandsteinstücke,  an  beiden  Seiten  mit  eingeschliffenen 
Furchen  versehen. 

Sechs  glatte  Steine,  an  deren  concaver  Seite  man  Steingeräte  ge- 
schliffen hatte.  Der  eine  ist  roter  Sandstein,  der  auch  noch  an  den  dicken 
Enden  vier  dünne  Furchen  zeigt,  in  welchen  man  noch  wahrscheinlich 
Beinpfriemen  schliff. 

Sieben  Bruchstücke  von  dem  Unterteile  eines  Kalksteines ;  an  zweien 
klebt  ziemlich  dick  eine  schmutzig  weisse  Masse. 

Ein  kleinerer  runder  Stein  von  5  Cm.  Durchmesser.  Man  würde  den^ 
selben  wegen  seiner  Winzigkeit  kaum  für  einen  Reibstein  halten,  und  doch 
zeigt  auch  dieser  Spuren  jener  weissen  Masse. 

Ein  zum  Schleifen  verwendeter  dreieckiger  flacher  Stein,  ein  kleiner 
glatter  Bachkiesel  und  zwei  Bruchstücke  einer  geschliffenen  Steinaxt. 

30* 


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TAFEL  XXXV. 
NB.   Die  Braohzahlen  bedeuten  den  Teil  der  Natnrgrösse  der  Figuren,   die  ganzen  Zahlen  die  Figorennnmmeni. 


im 


27e«.6§ 


271  § 


im 


2776 


278  i 


269.  Kreideverzierter  Fnss  eines  Gefässes.  —  270.  a,  6.  Kettenglied  ans  Bronze.   —  271.   Armband  ans  Brons^" 
272.  Bronzenadel.  —  273.  Durchbohrtes  Brachstück  eines  Gefässes.  —  274.  Beingerath.  —  275.  Fibula  aas  Bron» 
276.  Bruchstück  aus  Bronzedraht.  —  277.  a,  b,  Armbrustfibel  aus  Bronze.  —  278.  Bronzemesser. 


TAFEL  XXXVI. 
KB.  Die  Bruchzahlen  bedeuten  den  Teil  der  Naturgrösse   der  Figuren,  die  ganzen  Zahlen  die  Figurennummern 


381  § 


mi 


•- — i.' 


282  «i§ 


2813 


mi 


285  «* 


79.  Steinbeil.  —  280.  Hunmer  aus  Hirsohhom.  —  281.  Lanzenspitze  aas  Hinohhorn.  —  2S2^izfeclQfa^fiasdeckeL)^  LC 
B3.  EreideTeiziertes  Oefäss.  —  284.  Stiel  eioes  Werkzeuges.  —  285.  a,  b.  Oassform  ans  Sandstein.  —  286.  Vfitß 


478 


DA6   PRÄHISTORISCHE   SCHANZWERK    VON   LENOTEL. 


in.  Zwei  winzige  Bronzeblättohen  und  eine  W-förmige  Doppelangel  ohnfr 

231.  Widerhaken  aus  Bronze.  Diese  Art  Doppelangeln  *  gehört  unstreitig  zu 
den  ältesten  Angel-Formen,  und  wird  zumeist  in  den  schweizerischen  ** 
Pfahlbauten  gefunden. 

Zwei  spitz  zugeschliffene  Hirschgeweihe,  am  dicken  Ende  eng  durch- 
bohrt 

Zwei  dünne  Spitzen  von  einem  Hirschgeweihe,  die  eine  mit  zwei,  die  an- 
dere mit  sieben  tief  eingeprägten  Furchen  versehen.  Diese  tiefen  Furchen  las- 
sen auf  die  Anwendung  von  Sägen  aus  Stein-Messern  schliessen.  (S.  XXX.  229.) 
Fünf  Stück  mit  dicker  Ealklage  überzogene,  an  beiden  Enden  ziemlich 
glatt  abgesägte,  teilweise  zugeschnitzte  Hirschgeweihe. 

Ein  Hirschgeweih,  an  einem  Ende  zugespitzt,  am  dicken  Ende  aus- 
gehöhlt, um  in  dasselbe  einen  Stiel  befestigen  zu  können. 

Ein  Bruchstück  eines  aus  fossiler  Muschel  verfertigten  Armbandes, 
3  Cm.  breit,  1  Cm.  dick.  (Vgl.  XXX,  226.) 

Fünf  gut  gebrannte,  geglättete  Wirtl  ohne  Verzierung. 
Fünf  homförmige  hohe  Gefässhenkel,  von  denen  zwei  an  den  Bruch- 
stellen abgestumpft  sind. 

Ein  kurzer,  durchbohrter  Thonlöffel,  und  das  Bruchstück  eines  dicken 
Thonringes. 

Ein  1 1  Cm.  langer,  5  Cm.  dicker,  gut  gebrannter  Thoncylinder,  der 
Länge  nach  mit  einem  dünnen  Bohrloch  versehen. 

Fünf  Stück  am  oberen  Teile  unbezeichnete,  durchbohrte  Thonpyra- 
miden,  von  deren  Seiten  kleine  Stücke  abgesprungen  sind.  Wenn  das  durch 
gegenseitiges  Aneinanderstossen  geschehen  ist,  so  könnte  es  als  Argument 
dafür  dienen,  dass  diese  Gegenstände  als  Webstuhlsenkel  verwendet  wurden. 
TYY  Ein  widderhomähnliches,   ganz  mit  parallelen  Vertiefungen  umge- 

232.  benes  Thonstück.  Dasselbe  bildete  wahrscheinlich  die  Spitze  eines  sogenann- 
ten thönemen  «Halskissens»  oder  eines  Gefässhenkels,  wie  sie  auch  in  His- 
sarlik  vorkommen.  (Vergl.  Schliemann,  tDios»  S.  659,  f.  1369.) 

Ein  kleines,  4'5  Cm.  hohes,  sehr  primitiv  gearbeitetes,  unversehrtes 
233.*   Thongefässchen.  Der  winzige  Hals  endigt  in  eine  zwei  Cm.  weite  Oeffhung, 
am  bauchigen  Teile  hat  es  dagegen  5  Cm.  Durchmesser. 

Ein  12  Cm.  hoher,  15  Cm.  breiter,  roh  gearbeiteter  Topf  mit  dicken 
Wänden,  dessen  Boden  innen  eine  weissliche  Schichte  bedeckt,  vermutlich 
Reste  einer  Speise. 

Sehr  dicke  Bodenteile  von  sechs  grossen  Töpfen,  fast  auf  jedem  ist 
eine  weissliche  Schichte  wahrnehmbar. 

*  S.  Otto  Hermann  cösi  elemek  a  naagyar  n^pies  haliBzeszközökben.  U.  Arch. 
Erti  B.  V.  Nr.  3.  8.  159.  Fig.  12. 

**  Mortillet  gibt  im  «Mus^e  pr^historiquei  T.  LXXXVII.  1025.  die  Abbildung 
einer  solchen,  welche  in  den  Nenfchateler  Pfahlbauten  gefanden  wurde. 


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DAS   PRÄHIBTOBIBCHE   80HAKZWERK   VON   LBNGYEL.  ^79 

Zehn  Stück  unbearbeitete  Hirschgeweihe,  zwei  Homzapfen,  viele  rohe 
Thonscherben  und  gebrannte  Thonblöcke. 

Nr.  89.  Eine  kreisförmige,  schön  abgegrenzte  Wohnstätte,  vom  jetzi- 
gen Niveau  gemessen  !258  Cm.  tief,  287  Cm.  lang,  253  Cm.  breit.  An  der 
Südseite  dieses  Wohnraumes  befand  sich  in  einer  Tiefe  von  circa  150  Cm. 
eine  Nische,  in  welcher  Thonscherben  und  dazwischen  verkohlte  Hirse 
lag.  Ausserhalb  des  Wohnraumes,  aber  in  dessen  unmittelbarer  Nähe 
fand  sich  ein  unversehrter  Menschenschädel,  aber  sonst  keinerlei  mensch- 
liche Knochen.  Im  Wohnräume  selbst  fanden  wir  viel  Asche  und  Thon- 
scherben. Femer: 

Eine  flache  runde  Bronzescheibe  von  1*5  Cm.  Diameter,  welche  an 
der  Bückseite  einen  sich  im  Halbkreis  erhebenden  Bogenansatz  hat  Dieser 
Bronzegegenstand  ist  nicht  geschmiedet,  sondern  gegossen.  Als  Knopf 
konnte  derselbe  kaum  gedient  haben,  da  sich  der  ohrförmige  Bogenansatz 
in  einer  Höhe  von  fast  1  Cm.  abhebt. 

Eine  Bronze-Halbkugel  von  1*4  Cm.  Durchmesser,  mit  einem  kleinen 
Griff  am  convexen  Teile.  Die  dunkelgrüne,  bröckelige  Patina  hatte  dieselbe 
fast  ganz  durchfressen.  Diese  halbkugelförmigen  Knöpfe  sind  unter  den 
Funden  aus  der  Bronzezeit  häufig,  und  zwar  entweder  an  zwei  entgegen- 
gesetzten Stellen  durchlocht,  oder  mit  einem  Oehr  zum  Annähen  versehen. 
In  der  späteren  Bronzezeit  dienten  sie  allgemein  als  Kleiderschmuck.  Nach 
den  Malereien  auf  Gefässen  aus  der  Krim  brachte  man  sie  an  verschiedenen 
Kleidungsstücken  an.  Im  Kobaner  *  (Kaukasus)  Leichenfelde  wurden  sie 
meist  um  den  Kopf  herum  gefunden,  woraus  zu  schliessen  ist,  dass  sie  als 
Schmuck  der  Kopfbedeckung  dienten.  Sehr  häufig  sind  sie  in  Ungarn,  • 
Oesterreich,  Polen  und  Deutschland,  auch  das  Stockholmer  Museum  besitzt 
eine  ziemliche  Anzahl. 

Zwei  Stück  3  Cm.  lange,   1*5  Cm.  breite,  röhrenförmig  zusammen- 
gebogene Bronzeplättchen,  von  dunkelgrüner  Patina  überzogen. 

Eine  sehr  dünne,  zweireihige  Bronzespirale,  an  beiden  Enden  spitzig, 
von  sehr  schöner  lichtgrüner,  glänzender  Patina  überzogen.  Der  Durch- 
messer des  Binges  beträgt  1  *5  Cm.  Sie  diente  wahrscheinlich  zum  Locken 
des  Haares  oder  Bartes,  ^  und  kommen  solche  nicht  nur  in  den  Ausgra- 
bungen Schliemanns  bei  Hissarlik,  sondern  auch  in  den  Pfahlbauten  vor. 
Vier  regelmässige  Stein-Messer  und  sieben  unbrauchbare  unregel- 
mässige Jaspisspäne. 

Ein  trapezförmiges,  geschliffenes  Beil  aus  dunkelgrauem  Stein,  und 
das  Bruchstück  eines  geschliffenen  Stein-Hammers. 

^  R  Virchow  «Daß  Gräberfeld  von  Koban».  8.  50, 
•  Hampel  «Aroh.  ilrt.»  1886.  VI.  B.  1.  8.  U. 
'  Heibig  «Das  homerische  Epos.»  8.  167. 


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TAFED  XXXVn. 

NB.   Die  Bmcbzahlen  bedäQt^u  den  Teil  der  NfiturgrösBe  der  Figuren,  die  ganzen  Z&Men  die    FigurennimunflTii  ' 


287,Bnichi5tück  ßines  Mondbüdes.  —  288.  KindeTklapper.  —  £89,  TlicinlöfleL    —    «M),  Gftfefip.   —   291.    Ki^idtTp- " 
ziörtefl  ThoDBtüok.  —  IM.  Bruchstück  eiöes  Gefttäses  mit  Hakenkreuz.  —  im.  Lan^enspitäse  aus  Hirseb^wr^ih 
494,    Brachstnck    eines   Thongefftaaes.    —    ii96,    Beinpfrieme.    —    298,   Aue  IK^In  .^i|obySetier_St=reiÄDlbea,  - 

299,    Solunuckgegenßtflnd  &ns  Bronze,  ^ 


i 


TAFEL  XXXVm. 
NB.  Die  Bruchzahlen   bedeuten  den  Teil  der  Naturgrösse  der  Figuren,   die  ganzen  Zahlen  ^die  Figurennummem. 


im 


80H 


mi 


297  i 

i95.  KreideTerziertes  Oefäss.  —  297.  Durchbohrter   Span  aus  Eberzahn.  —  300.  Bruchstück  eines  Mondbilder.  —  ^ 
301.  Thongefäss.  —  302.  Senkel  aus  Sandstein.  —  903.  Fischereigerät  aus  Bein.   —  304.  Bruchstück  eines  dur^l^[^ 
bohrten  Senkels  aus  Stein.  —  305.  Bruchstück  einer  Kopfnadel   (?)  aus  Bein.         '  O 


4^2  BAß   PRÄmSTORIßCHB   80HANZWEBE   VON   LENOTBL. 

Das  Bruchstück  eines  Steingerätes,  an  einer  Seite  mit  dicht  anein- 
ander laufenden  parallelen  Furchen  versehen. 

Ein  rhombischer,  glatter  Werkstein,  10*6  Cm.  lang,  5*5  Cm.  breit. 

Eine  trapezförmig  geschliffene  Axt  aus  weisslichem  Stein,  8  Cm.  lang, 
o'4  Cm.  breit.  In  Folge  starken  Gebrauches  sind  an  beiden  Seiten  grössere 
Späne  abgesprungen,  doch  ist  die  Schneide  ganz  unversehrt.  Als  bereits  sehr 
abgenützt  und  ungeeignet,  verwendete  man  dieselbe  zum  Beiben  von  roter 
Farbe,  welche  auch  noch  dick  daran  klebt. 

Ein  an  der  Bohrstelle  gebrochenes  Steinbeil,  von  welchem  beiderseits 
Späne  abgesprungen  sind,  auch  dieses  zeigt  an  einer  Fläche  Spuren  roter 
Farbe. 

Ein  cylinderförmiger  schmaler  und  langer  geschliffener  Steinhanmier, 
an  dem  dünnen  Bohrloche  gebrochen.  Er  ist  bis  zur  Bohrstelle  7  Cm.  lang 
und  2  Cm.  dick. 

Einbimförmiger,  schwärzlicher,  gutgebrannter  Spindelknopf  aus  Thon, 
3  Cm.  hoch.  Derselbe  ist  mit  horizontalen  und  verticalen  Kratzlinien 
verziert. 

Ein  gut  gebrannter  massiver  Schürhaken  aus  sandigem  Thon,  6*6  Cm. 
breit.  (Vgl.  XXVn.  199  a.  b.) 

Ein  gebranntes  Thonstück,  welches  die  Seitenwand  eines  sogenannten 
«Mondbildes»  war.  Am  oberen  glatten  Teile  hatte  man  mit  dem  Finger 
spiralförmige  Verzierungen  eingedrückt  und  geglättet  Deutliche  Spuren 
einer  weissen  Masse  überzog  die  ganze  Oberfläche  dieses  Thonstückes. 

Das  Bruchstück  eines  glänzend  schwarzen  doppelbauchigen  Grefässes; 
die  oberste  feine  Thonschichte  blättert  sich  ab.  Sie  ist  so  glatt  und  schwarz 
glänzend,  dass  man  sie  sehr  leicht  mit  einem  Graphit-Ueberzug  ver- 
wechselt. 

Ein  sehr  hübsches,  ganz  unversehrtes,  rotgebranntes  starkes  Geiäss- 
chen,  5  Cm.  hoch  und  ebenso  breit.  Der  Boden  desselben  ist  rund  und  die 
Mündung  hat  2'5  Cm.  Durchmesser,  unter  dem  Bande  ist  es  an  zwei  ent- 
gegengesetzten Stellen  zimi  Befestigen  des  Deckels  durchbohrt. 

Eine  17  Cm.  lange,  am  dicken  Ende  1*5  Cm.  breite  geschliffene  Bein- 
pfrieme, nur  an  einem  Ende  zugespitzt. 

Ein  aus  dem  äusseren  harten  Teile  des  Hirschgeweihes  geschnitztes 
und  geschliffenes  Messer  und  ein  Tierknochen,  welcher  an  einem  Ende 
schief  abgeschliffen  ist. 

Ein  1 1  Cm.  hohes,  sehr  dickwandiges  Gefäss.  Der  dicke  Henkelansatz 
ist  wagrecht  durchlocht.  Der  Band  hat  schiefe  Kratzlinien. 

Ein  anderes,  kleines,  6  Cm.  hohes  Gefäss,  dessen  knapp  am  Bande 
sitzender  Buckelansatz  senkrecht  durchbohrt  ist. 

Ein  kleines  kugelförmiges  Gefäss  aus  sehr  grobem  Thon,  an  zwei  ent- 
234.    gegengesetzten  Stellen  mit  senkrecht  durchbohrten  Ansätzen  zur  Befesti- 


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DAB   PRAHISTOBIBCHE   BCHANZWERK   VON   LBNGTEL. 


483 


gung  des  Deckels  versehen.  Dasselbe  ist  5  Cm.  hoch,  und  hat  7  Cm.  Durch-  xm. 
messer.  Unmittelbar  daneben  lag  ein  kleiner  Deckel,  der  sicherlich  dazu  ^^^' 
gehörte,  da  er  vollkommen  darauf  passte.  Letzterer  ist  an  zwei  entgegen- 
gesetzten Stellen  durchbohrt,  und  hat  in  der  Mitte  einen  senkrechten  1  '5  Cm. 
hohen  Dom,  um  welchen  als  Verzierung  einige  unregelmässige  Kreise 
laufen.  —  Eine  rotgebrannte,  unversehrte  Schüssel  aus  grobem  Thon. 
Dieselbe  hat  10  Cm.  Höhe  und  oben  15  Cm.  Durchmesser. 

Sechs  gut  gebrannte  Thonpyramiden,  von  welchen  nur  eine  am 
oberen  Teile  die  schiefe  Ereuzvertiefung  hat. 

Zwei  schwärzUche,  glänzend  polirte  Wirtl  und  ein  Graphitstück. 

Ein  24  Cm.  langer,  17  Cm.  breiter  Stein,  oben  glatt,  unten  convex; 
ein  eiförmiger  Mahlstein,  8  Cm.  breit,  13  Cm.  lang;  eine  geschliffene  dünne 
Sandsteinplatte.  —  Das  Bruchstück  eines  hohen,  pilzförmigen  Bohren- 
Gefässes,  sowie  viele  Thonscherben  und  Knochenabfälle. 

Nr.  90.  Kreisförmiger  Wohnraum,  269  Cm.  tief,  310  Cm.  lang  und 
300  Gm.  breit.  Darin  befanden  sich  Unmassen  von  Asche,  Thonscherben 
und  Knochenabfällen,  und  zwischen  diesen : 

Siebzehn  grosse  Jaspis-Nuclei,  von  welchen  man  Späne  gespalten 
hatte ;  28  regelmässige  und  schöne  Stein-Messer,  von  denen  einige  mit 
einer  dicken  Pechschichte  überzogen  sind,  mit  welchem  sie  an  den  Stiel 
befestigt  waren.  An  diesen  Exemplaren  sah  ich,  dass  ein  grösserer  Teil  des 
Messers  in  den  Stiel  gepasst  war,  wodurch  es  darin  fester  hielt  und  die 
Klinge  dem  Brechen  beim  Gebrauch  nicht  so  sehr  ausgesetzt  war ;  einige 
waren  selbst  bis  zur  Hälfte  in  den  Stiel  befestigt. 

Vierzig  Stück  Jaspisabfölle,  welche  von  der  Verfertigung  der  Messer 
herrühren. —  Acht  Stück  oben  sehr  regelmässig  gekerbte  Schaber,  einige 
hie  von  sind  an  beiden  Enden  zu  gebrauchen,  oder  um  die  Hand  vor  Ver- 
wundung durch  die  spitzen  Bruchstellen  zu  schützen. 

Zwölf  Stück  gut  gebrannte  Wirtl  diverser  Form  und  Grösse,  von  denen 
einige  mit  tiefen  Furchen  verziert  sind. 

Sieben  Stück  sehr  regelmässige,  schmale,  schwarze  Obsidian-Messer, 
welche  so  dünn  geschnitten  sind,  dass  ihre  Schärfe  fast  jener  eines  Basir- 
messers  gleichkommt. 

Drei  schwarze  Obsidianabfälle,  welche  die  Bänderteile  der  Steine 
bildeten,  da  sie  auf  einer  Seite  eine  ganz  rauhe  Oberfläche  haben. 

Neun  Stück  polirte  Beinpfriemen,  von  welchen  einige  an  beiden 
Enden  sehr  spitz  zugeschliffen  sind.  Das  eine  8  Cm.  lange  Exemplar  bildet 
an  einem  Ende  eine  sehr  spitzige  Pfrieme,  am  andern  dagegen  einen  1  Cm. 
breiten  Meissel. 

Ein  Hirschgeweih,  an  der  Basis  der  Böse  ziemlich  glatt  abgesägt. 

Ein  rechteckiges,  ziemlich  glatt  polirtes  Steinwerkzeug,  14  Cm.  lang, 
7  Cm.  breit.  Ein  Stück  Sandstein,  auf  einer  Seite  convex  geschliffen. 


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4^  J>A8   PRÄHISTORISCHE   SCHANZWERK  VON    LENGTEL. 

Ein  flacher,  halbkreisförmig  geschliffener  Stein,  14  Cm.  breit,  am 
Bande  rundherum  mit  kleinen  Vertiefungen  versehen,  was  darauf  schliessen 
lässt,  dass  er  als  Senkel  gedient  haben  dürfte. 

Sieben  Stück  Thonpyramiden  diverser  Grösse,  von  denen  die  meisten 
XXXL  oben  mit  dem  schiefen  Kreuze  geziert  sind.  Die  eine  ist  aufiEallenderweise 
'  oben  schwarz  gebrannt,  während  die  Basis  rot  ist.  Das  eine,  mit  dem 
schiefen  Kreuze  gezierte  Exemplar  ist  nicht,  wie  sonst  an  einer  Seite,  son- 
dern an  beiden  Seiten  durchlocht.  Es  ist  jedoch  ausgeschlossen,  dass  das 
vertiefte  Kreuz  von  den  Eindrücken  der  kreuzweise  gebundenen  Fäden 
herrühre,  da  sich  das  Bohrloch  in  der  Mitte  der  Seitenteile  befindet,  wäh- 
rend die  Linien  des  schiefen  Kreuzes  die  Ecken  miteinander  verbinden. 

Ein  4  Cm.  langer,  2  Cm.  breiter,  weicher  Sandstein,  an  dessen  einer 

Seite  eine  muldenartige  Vertiefung,  an  der  anderen  aber  ein  schiefes  Kreuz 

sichtbar  ist. 

XXXI.  Das  Bruchstück  eines  homartigen  Gefässes,  an  einer  Seite  mit  einem 

^^^'    kleinen  durchbohrten  Knoten  versehen.  Dasselbe  ist  aus  sehr  grobem, 

weisskömigem  Thon,  und  dessen  Wand  1  Cm.  stark. 

Das  Bruchstück  einer  grösseren  Süsswassermuschel  und  ein  Eber- 
hauer. —  Ein  kleiner  Löffel  aus  Thon. 
jjji^  Ein  sehr  hübsches,  bauchiges,  mit  Kreideeinlage  verziertes,  unver- 

238.    sehrtes  Gefäss,  von  welchem  nur  der  weite  Band  abgebrochen  ist.   Es  hat 
dieselbe  Form,  wie  die  meisten  dünnwandigen,  kreideverzierten  Gefässe. 
Die  Verzierung  besteht  wie  gewöhnlich  aus  W-Figuren  und  breiten  weissen 
Bändern.  —  Eine  massive,  gut  gebrannte  Thonkugel  von  3  Cm.  Durchmesser. 
Ein  5  Cm.  breites,  auf  einer  Seite  convex  geschliffenes  Steinwerkzeug. 
Das  Bruchstück   eines  pilzförmigen  Böhren-G^fässes,   welches  am 
Oberteile  der  Bohre  und  am  Boden  der  Schüssel  starke  Brandspuren  zeigt 
Die  Bohre  ist  7*5  Cm.  breit. 
^^^'  Ein  hartgebranntes,  einen  menschlichen  Fuss  darstellendes  Gebilde 

aus  Thon  mit  gebogenem  Knie  und  am  Oberschenkel  gebrochen.  Er  ist  von 
der  Sohle  bis  zum  Knie  6'5  Cm.  hoch,  der  Vorderfuss  2*5  Cm.  lang.  Der 
Unterschenkel  ist  etwas  über  1  Cm.,  der  Oberschenkel  dagegen  2  Cm.  dick. 
Wahrscheinlich  diente  derselbe  als  Fuss  eines  Gefässes,  nicht  aber  eines 
Gtitzenbildes,  da  wir  Götzenbilder  überhaupt  noch  nicht  fanden,  während 
Nachbildungen  des  menschlichen  Fusses  schon  mehrfach  vorkamen. 

Mob.  Wosinsky.* 

*  Hier  brechen  wir  die  weitere  Mittheilung  dieser  umfassenden  Studie  ab,  da 
dieselbe  inzwischen  als  selbständiges  Werk  im  Verlage  von  Friedrich  Kilian  in  Budapest 
erschienen  ist.  D.  Red. 


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KUBZE   8ITZtJKC»6BERICHTE.  ^^ 


KÜRZE  SnZUNGSBERICHTE. 

Akademie  der  Wissenschaften.  In  der  Plenarsitzung  am  23.  März  las 
das  correspondirende  Mitglied  Josef  Hampel  eine  Denkrede  auf  das  ordentliche 
Mitglied  Florian  Romer.  Denkredner  war  als  vieljähriger  Schüler  und  Mitarbeiter 
des  (Gefeierten  besonders  berufen,  dessen  unermüdliche  und  erfolgreiche  bahn- 
brechende Thätigkeit  in  allen  Zweigen  der  vaterländischen  archäologischen  Wis- 
senschaft zu  schildern  und  er  that  dies  in  einer  schön  gearbeiteten  und  schön  vor- 
getragenen umfangreichen  Bede  in  lebendig  veranschaulichender,  fesselnder 
Weise.  Er  schilderte  Bömer's  Studiengang,  sein  vorwiegend  den  naturhistorischen 
Disciplinen  gewidmetes,  anregendes  Wirken  als  Professor  in  Baab  und  Pressburg, 
sein  an  letzterem  Orte  als  Privatlehrer  der  Naturgeschichte  beim  Erzherzog  Josef 
beginnendes  Yerhältniss  zu  diesem,  seine  Teilnahme  am  Freiheitskampfe  1848/49 
und  dessen  Folgeleiden,  sein  1858  wieder  aufgenommenes  Wirken  als  Professor  in 
Baab,  wo  er  durch  Ipolyi  auf  das  archäologische  Studium  gelenkt  wurde,  dem  er 
fortan,  anfangs  vereint  mit  dem  Naturstndium,  später  ausschliesslich  oblag,  seine 
naturhistorisch-archäologischen  Streifzüge ;  wie  er,  sich  selbst  für  Alles  interessi- 
rend  und  das  Interesse  weiterer  Kreise  weckend,  immer  mehr  Zweige  der  archäolo- 
gischen Forschung  in  den  Bereich  seiner  Thätigkeit  zog,  deren  Ergebnisse  er  in 
seiner  Schrift  über  den  Bakony  und  in  t archäologischen  Briefen •  niederlegt;  sein 
Wirken  als  Archivar  der  Akademie,  von  1862  an  als  Director  des  katholischen 
Obergymnasiums,  in  den  Wanderversammlungen  der  Aerzte  und  Naturforscher, 
als  Mitglied  der  archäologischen  Commission,  seine  Studien  über  die  Beste  der 
Corvina-Bibliothek,  seinen  «Archäologischen  Wegweiser •  und  Jahre  hindurch  fast 
von  ihm  allein  geschriebenen  «Archäologischen  Anzeigen ,  sein  eifriges  Wirken  als 
Dozent,  ausserordentlicher  und  ordentlicher  Professor  der  Archäologie  an  der 
Universität,  als  Vertreter  Ungarns  für  Archäologie  auf  der  Pariser  Weltausstellung 
1878,  dann  als  Custos  der  archäologischen  Section  des  Nationalmuseums,  als 
Sammler  und  Anreger  von  Sammlungen,  seine  Beisen  und  Grabungen  in  verschie- 
denen Landesteilen,  die  Schaffung  von  Provinzialvereinen  und  Provinzial-Museen, 
die  Entwicklung  der  ungarischen  Hausindustrie  und  ihre  Bepräsentation  auf  der 
Wiener  Weltausstellung,  die  von  ihm  zusammengebrachte  imd  beschriebene  reiche 
Sammlung  pannonischer  epigraphischer  Denkmäler,  seine  monographischen  Arbei- 
ten über  unsere  Eunstdenkmäler,  Eirchenbauten,  Wandmalereien,  Goldschmiede- 
kunst, Siegel,  Wappen,  Münzen,  Glocken,  seine  «Ungarische  Bücher-Bevuei,  seine 
Verdienste  um  die  Zustandebringung  und  Leitung  des  1876  in  Budapest  tagenden 
internationalen  prähistorischen  Congresses,  sein  «Compte  rendui  über  denselben, 
seine  Anregungen  zum  Studium  der  Geschichte  der  Gewerbe.  Seine  Werke  sind 
unvollendete  Torsos  geblieben,  aber  Niemand  hat  als  Anreger,  Wegweiser,  Samm- 
ler auf  allen  Gebieten  des  vaterländischen  archäologischen  Studiums  mehr  gethan, 
als  er,  und  er  hat  dadurch  mehr  genützt,  als  wenn  er  seine  Kraft  einseitig  auf  einen 
Zweig  concentrirt  hätte.  Die  Denkrede  schloss  mit  einer  Charakteristik  des  lieb- 
reichen Mannes,  edlen  Freundes  und  trefflichen  Patrioten. 


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486  EÜBZE  SnZUKOBBEBIOHTB. 

Hierauf  las  das  Ehrenmitglied  Anton  Zichy,  welcher  mit  Josef  L^vay  und 
Albert  Lehr  die  Jury  für  die  diesjährige  Concurrenz  um  den  Farkas-Baskö-Preis 
für  ein  patriotisches  Gedicht  bildete,  sein  kurzes  Referat  über  dieselbe  vor.  Unter 
den  33  Concurrenzstücken  fanden  die  Preisrichter  kaum  vier,  die  sie  einiger  Beach- 
tung wert  fanden.  Diejenigen  zwei,  welche  noch  am  meisten  poetische  Eigen- 
schaften zeigen,  —  das  eine  enthält  eine  Verherrlichung  der  drei  Dichter  Arany, 
Petofi  und  Tompa,  das  andere  eine  Verherrlichung  der  Toldi-Trilogie  Arany's,  — 
haben  mit  der  Preisaufgabe  nur  sehr  geringen  Zusammenhang,  zwei  andere  —  «Die 
Kurutzen»  und  «Die  Hunyadi»  — welche  dieser  etwas  näher  liegen,  entsprechen 
wieder  weniger  den  Anfordenmgen  an  ein  Gedicht.  Da  somit  keines  derselben  der 
Preiskrönung  würdig  erscheint,  stimmen  die  Preisrichter  für  die  Nichtausfolgung 
des  Preises.  Das  Plenum  schloss  sich  diesem  Urteil  an  und  die  Devisenbriefe  mit 
den  Verfassemamen  wurden  den  Flammen  übergeben. 

Hierauf  folgten  die  laufenden  Angelegenheiten.  Der  Generalsecretär  Kolo- 
man Szily  meldete  den  am  3.  März  erfolgten  Tod  des  ordentlichen  Mitgliedes  Eugen 
Jendrässik,  dem  er  einen  warmen  Nachruf  widmet  und  über  den  die  dritte  Glasse 
eine  Denkrede  halten  wird.  Dann  meldete  der  Präsident  der  ersten  Classe  Paul 
Hunfalvy  den  am  7.  März  erfolgten  Tod  des  auswärtigen  Mitgliedes  IBranz  Miklo- 
49ich  und  betonte  in  dem  demselben  gewidmeten  Nachruf  den  engen  Zusammenhang 
mehrerer  seiner  Werke  mit  der  ungarischen  Wissenschaft.  Die  erste  Classe  wird  für 
die  Denkrede  auf  den  ausgezeichneten  Sprachforscher  sorgen. 

Sodann  machte  der  Generalsecretär  folgende  Mitteilungen :  Der  Unterrichts- 
minister bewilligte  1000  fl.  Reisestipendium  für  Dr.  Rudolf  Väri  zum  Zwecke  der 
Vorbereitung  einer  kritischen  Ausgabe  der  Werke  der  Kaiser  Leo  und  Constanti- 
nus  Porphyrogeneta.  —  Derselbe  Minister  teilt  auszugsweise  den  Bericht  des 
l.  u.  k.  Consuls  in  Odessa  über  die  im  Auftitige  des  russischen  Marineministeriums 
vom  27.  Juni  bis  27.  Juli  im  Schwarzen  Meere  ausgeführten  Tiefenmessungen  mit. 
Wird  der  dritten  Classe  zugewiesen.  —  Der  Ackerbauminister  ladet  als  Präses  der 
ornithologischen  Gongress-Commission  die  Akademie  zu  dem  am  17.  Mai  in  Buda- 
pest tagenden  zweiten  internationalen  Ornitbologencongress  ein.  Wird  der  dritten 
Classe  zugewiesen.  Ferner  wird  die  Academie  zu  dem  vom  10.  bis  17.  August  in 
London  tagenden  siebenten  internationalen  Congress  für  Hygiene  imd  Demo- 
graphie und  zu  dem  im  Monat  September  in  London  tagenden  neunten  interna- 
tionalen OrientaUstencongress  eingeladen.  Wird  der  zweiten,  respective  eriten 
Glasse  zugewiesen. 

Hierauf  legte  das  in  Angelegenheit  der  Sigmund  Brödy- Stiftung  entsendete 
€omit6  die  vom  Stifter  genehmigte  Textirung  des  auf  die  Stiftung  bezüglichen 
Statuts  vor.  Dieselbe  lautet :  Sigmund  Brödy  hat  in  seinem  vom  14.  November 
1890  datirten  Stiftungsbrief  20,000  fl.  in  fünfpercentiger  ungarischer  Papier-Rente 
der  Akademie  zu  dem  Behufe  zur  Verfügung  gestellt,  damit  die  Zinsen  dieses 
Betrages  alle  drei  Jahre  als  publicistischer  Preis  ausgefolgt  werden.  Bei  der  Stif- 
tung dieses  Preises  hielt  der  Stifter  die  wichtigen  Dienste  vor  Augen,  welche  die 
Publicistik  in  kritischen  Zeiten  den  nationalen  Literessen  geleistet  hat,  sowie  er 
auch  auf  die  grossen  nationalen  und  culturellen  Interessen  Rücksicht  nahm,  deren 
treue  Befolgung  den  gegenwärtigen  und  zukünftigen  Beruf  der  Publicistik  bildet 


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KURZE   SITZÜNG8BBRICHTE.  ^7 

Demzufolge  schreibt  die  Akademie  alle  drei  Jahre  einen  9000  fl.  betragenden  Preis 
ans,  welcher  zum  ersten  Male  1894  in  der  feierlichen  Jahresversammlung  auszufol- 
gen sein  wird.  Die  Bedingungen  der  Prämiirung  werden  in  Folgendem  festgestellt: 
1.  Der  publicistische  Preis  ist  von  1894  angefangen  alle  drei  Jahre  unbedingt  aus- 
zufolgen. 2.  Der  Goncurrenzpreis  gebührt  denjenigen  Zweigen  der  socialen  Wissen- 
schaften, welche  in  den  Kreis  der  tStaatswissenschaften  und  ihrer  Geschichtet, 
des  cintemationalen  Bechtesi  und  des  t Staatsrechtest  gehören,  mit  Ausschluss 
der  Statistik  und  Ethnographie,  des  Privatrechts  und  Kirchenrechts,  der  Geschichte 
der  Bechtswissenschaft  und  der  vergleichenden  Bechtswissenschaft  Das  prämiirte 
Werk  verbleibt  Eigentum  des  Autors.  Der  publicistische  Preis  wird  auf  Vorschlag 
einer  von  der  11.  und  I.  Glasse  der  Academie  entsendeten  Commission  durch  die 
Jahresversammlung  zugeurteilt.  Präses  der  Commission  ist  der  Präsident  der  11. 
Olasse,  oder  falls  derselbe  verhindert  wäre,  ein  hiezu  erwähltes  Ehrenmitglied ;  von 
den  Mitgliedern  der  Commission  werden  zwei  von  der  II.,  zwei  von  der  I.  Glasse 
erwählt.  3  Der  Preis  ist  in  erster  Linie  zu  verwenden :  a)  Zur  Prämiirung  eines 
solchen  publicistischen  Werkes  (Buch,  Broschüre,  Essay,  Artikelserie),  welches  im 
Laufe  der  letzten  drei  Jahre  im  Druck  erschienen  ist.  Zu  diesem  Behufs  richtet  in 
der  vorhergehenden  Jahresversammlung  die  Akademie  an  all  Diejenigen,  von 
denen  im  Laufe  der  letzten  drei  Jahre  ein  einschlägiges  Werk  erschienen  ist,  die 
Aufforderung,  dasselbe  bis  zum  Jahresschlüsse  dem  Gtoneralsecretär  der  Akademie 
einzusenden.  Durch  diese  Aufforderung  erscheint  es  jedoch  keineswegs  ausge- 
schlossen, dass  ein  nicht  eingesendetes  Werk,  von  dem  die  Mitglieder  Kenntniss 
haben,  nicht  mitconcurriren  dürfe.  Der  Preis  kann  auch  einem  anonym  erschiene- 
nen Werke  zugesprochen  werden ;  in  diesem  Falle  hat  der  Verfasser,  wenn  er  den 
Preis  beheben  will,  seine  Autorschaft  nachzuweisen,  bj  In  Ermangelung  eines  der- 
artigen Werkes  ist  der  Preis  zur  Belohnung  der  allgemeinen  journalistischen  Thä- 
tigkeit  eines  solchen  Publicisten  zu  verwenden,  dessen  ganzes  Wirken  als  des 
Preises  würdig  befunden  wird.  Ein  und  derselbe  Schrifsteller  kann  für  seine  allge- 
meine journalistische  Thätigkeit  innerhalb  zehn  Jahre  nicht  zweimal  prämiirt 
werden ;  einzelne  Werke  hingegen  können  prämiirt  werden  ohne  Rücksicht  darauf, 
ob  ihr  Verfasser  den  Preis  schon  einmal  gewonnen  habe  oder  nicht. 

Zum  Schluss  legt  der  Generalseoretär  die  Tagesordnung  der  diesjährigen  (51.) 
Generalversammlung  der  Akademie  vor.  Dieselbe  beginnt  am  5.  Mai  (Dienstag) 
mit  den  Classenconferenzen,  worauf  am  6.  Mai  die  erste  Plenarsitzung  (Preis- 
zuerkennung),  am  7.  Mai  die  Directionsrats-Sitzung,  am  8.  Mai  die  zweite  Plenar- 
sitzung (Mitgliederwahl)  und  am  10.  Mai  die  Festsitzung  stattfindet. 

—  In  der  Sitzung  der  ersten  Glasse  am  6.  April  las  das  correspondirende 
Mitglied  Sigmund  Simonyi  Ueber  die  ungarische  Rechtschreibung.  Vortragender 
beantragt  die  Bevision  der  akademischen  tBechtschreibungt,  beziehungsweise  die 
Vereinfachung  einiger  Begeln  derselben.  Er  empfiehlt  namentlich :  1.  die  Annahme 
des  einfachen  Zeichens  c  statt  des  zusammengesetzten  cz ;  2.  die  gleichmässige 
Schreibung  der  doppelten  Consonanten  in  allen  Fällen,  also  z.  B.  nicht  iszsza, 
sondern  issza  (sowie  vissza)^  nicht  aranynyai,  sondern  arannyal  (sowie  annyi) 
u.  s.  w. ;  3.  die  ungarische  Transscription  der  fremden  Wörter  mit  Ausnahme  der 
auf  Fachwerke  beschränkten ;  4.  das  Schreiben  der  B^ativa  ofct,  ami,  amdy,  ahd 
u.  8.  w.  als  ein  Wort,  indem  dieselben  heute  ebenso  einheitlich  sind  wie  die  fran- 


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^88  KUBZB   SrrZTTNGSBERICHTE. 

zösischen  lequel,  laquelle  n.  s.  w.  Endlieh  empfiehlt  er  die  Weglassimg  jener  Begeln, 
welche  nicht  die  Bechtschreibang,  sondern  die  richtige  Aussprache  betreffen,  wie 
z.  B.  die  Unterscheidung  von/öZ  und  /rf,  jok.jök  xmäjuk^jük  u.  dgl.  —  Der  Vor- 
schlag des  Vortragenden  wird  auf  Antrag  P.  Gyulai's  den  herkömmlichen  Weg 
durch  die  sprachwissenschafthche  Commission,  die  Glassenoonferenz,  die  Classen- 
Sitzung  und  die  Plenarsitzung  machen. 

Hierauf  hielt  das  correspondirende  Mitglied  B^la  Majlit  einen  Vortrag 
Ueber  die  Bibliothek  des  Dickters  Grafen  Nicolaus  Zrinyu  Vortragender  erneuert 
in  einer  längeren  Einleitung  das  Andenken  des  epochalen  Dichters,  genialen  kriegs- 
wissenschaftlichen  Schriftstellers  und  Feldherm  und  geht  dann  zur  Betrachtung 
der  «geistigen  Nahrung  dieses  grossen  Geistes»,  seiner  einst  in  Cs4ktomya  auf - 
bewahrten  und  nach  dem  im  Jahre  1662  verfertigten  Catalog  aus  404  Druckwerken 
und  16  Handschriften  bestandenen  Bibliothek  über,  welche  nach  dem  Tode  des 
einzigen  erwachsenen  Sohnes  des  Dichters,  Adam  Zrinyi,  des  letzten  männlichen 
Sprossen  der  Familie,  im  Wege  der  weibUchen  Descendenz  an  die  gräfliche  Familie 
Daun  gelangte  und  im  Daun'schen  Schlosse  zu  Vöttau  aufbewahrt  wurde,  wo  sie 
nach  einem  1880  angefertigten  Catalog  damals  nur  202  Druckwerke  und  5  Hand- 
schriften umfaa'^te,  und  von  woher  sie  jüngst,  bevor  die  berufenen  ungarischen 
Factoren  von  der  FeUbietung  Kunde  erhielten,  in  den  Besitz  eines  Wiener  Anti- 
quars kam,  der  das  Wertvollste  weiter  verkaufte.  Vortragender  bedauert,  dass  es 
trotz  der  von  unserem  Unterrichtsministerium  und  der  Direction  des  National- 
museums gemachten  splendiden  Anbote,  in  Folge  nicht  näher  angedeuteter  Hin- 
demisse, nicht  möglich  gewesen  ist,  diesen  vor  Allen  für  ims  wertvollen  Nachlass 
unseres  grossen  Dichters  und  Helden  für  unser  Land  zu  erwerben.  Hierauf 
bespricht  er,  nach  bibliographischen  Gruppen,  den  Bestand  der  BibUothek,  welcher 
bezüglich  des  Eigentümers  derselben  Zeugniss  ablegt  von  dessen  altclassischer 
Bildung,  dessen  ausgedehnten  historischen  (164  historische  Werke)  und  kriegs- 
wissenschaftlichen  Studien,  dessen  Pflege  der  classischen  römischen  und  modernen 
romanischen  poetischen  Literaturen  und  dessen  Kenntniss  von  sechs  Sprachen 
(ausser  dem  Ungarischen),  nämlich :  lateinisch,  italienisch,  spanisch,  französisch, 
deutsch  und  kroatisch.  Homer  las  er  in  lateinischer  Uebersetzung,  Tasso,  dessen 
Einfluss  auf  seine  Zrinyiade  von  Toldy  u.  A.  behauptet  wurde,  fehlt  anfallender- 
weise  in  der  Bibhothek,  dagegen  ist  Ariosto,  dessen  Einfluss  auf  Zrinyi*s  Dichtung 
Arany  hervorhob,  vorhanden.  Schätzbarer  als  die  Druckwerke  findet  Vortragender 
4  Handschriften,  welche  er  ausführhcher  bespricht  Es  sind  dies:  1.  ein  Kochbuch; 
2.  ein  Tractat  vom  MiUtär ;  3.  eine  ungarische  poetische  Bearbeitung  der  Ghariklia 
des  HeUodorus,  welche  im  Manuscript  dem  Dichter  Stefan  Gyöngyösi  zur  Ver- 
fügung stand  und  von  diesem  bei  seiner  Bearbeitung  des  griechischen  Bomans 
benützt  wurde ;  endlich  4.  eine  14  Strophen  umfassende  schöne  Elegie  auf  den  Tod 
eines  im  zarten  Alter  gestorbenen  zweiten  Sohnes  des  Dichters,  welche  bisher  ganz 
unbekannt  war. 


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LT,  JAHRESVERSAMMLUNG  DER  UNGARISCHEN  AKADEMIE 
DER  WISSENSCHAFTEN  AM  10.  MAI  189L 

I. 

Eröffnungsrede  des  Präsidenten  B.  Roland  Eötvös. 


Geehrte  Versammlung ! 

Die  feierliche  Jahressitzung  der  Akademie  ist  immer  mehr  weniger 
ein  nationaler  Festtag  der  Ungarn  gewesen. 

Es  war  eine  Zeit,  wo  inmitten  der  nationalen  Zertrümmerung  einzig 
und  allein  die  Tribüne  der  Akademie  aufrecht  stand,  von  welcher  die  unga- 
rische Rede  freier  erklingen  durfte.  Damals  lauschte  die  ganze  Nation  hie- 
her.  Sie  erwartete  ja  von  hier  Trost,  Stärkung  des  Glaubens,  Belebung  der 
HoflFnung. 

In  neuerer  Zeit  scheint  das  Interesse  für  unsere  Feier  abzunehmen, 
wiewohl  wir  nicht  schlechter  geworden  sind,  und  ich  glaube  nicht,  dass  die 
Nation  in  ihren  besseren  Tagen  gleichgiltiger  geworden  sei.  Wir  suchen  die 
Ursache  auch  nicht  in  unseren  Fehlem,  sondern  erkennen  dieselbe  in  der 
unzweifelhaft  von  Fortschritt  zeugenden  Thatsache,  dass  in  unseren  Tagen 
die  politische  Bedeutsamkeit  der  Akademie  eine  geringere,  ihre  wissen- 
schaftliche Aufgabe  dagegen  eine  grössere  geworden  ist. 

Wir  leben  friedliche  Zeiten.  Diejenigen,  die  im  Kampfe  Schulter  an 
Schulter  fest  zusammen  gestanden,  haben  sich  auf  ihre  eigenen  Wirkungs- 
kreise zurückgezogen.  Und  dies  ist  so  recht.  Denn  gleichwie  der  Kampf  nur 
dann  zum  Siege  führen  kann,  wenn  wir  alle  vereint  in  die  Schlacht  ziehen, 
so  kann  die  friedliche  Arbeit  nur  dann  Früchte  tragen,  wenn  wir  alle  ein- 
zeln arbeiten.  In  der  fieihe  der  arbeitenden  Söhne  der  Nation  kann  heute 
auch  die  Akademie  ungestört  ihre  eigene  Arbeit  verrichten.  Deswegen  wun- 
dem wir  uns  nicht,  dass  ihre  wissönschaftliche  Beschäftigung  heute  das 
Feuer  der  patriotischen  Begeisterung  nicht  so  unmittelbar  anfacht,  wie  in 
jener  Zeit,  wo  jede  ihrer  Lebensäusserungen  eine  politische  Bedeutsam- 
keit hatte. 

UngMriich«  Revne    XI.  1S91.  VI— VII.  Heft.  31^ 


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•tÖO  LI.   JAHRESVERSAMMLUNG   DER   UNGARISCHEN 

Wiewohl  aber  die  ArbeitsteiluDg  verlangt»  dass  wir  uns  in  gesonderte 
Gruppen  scbaaren,  müssen  wir  doch  einig  und  vereint  empfinden,  wenn 
wir  der  Freude  der  Nation  oder  des  Schmerzes  der  Nation  gedenken.  Darum, 
ich  weiss  es,  ist  heute  jeder  Ungar  mit  uns,  da  wir  diese  feierliche  Sitzung 
dem  Andenken  des  Grafen  Julius  Andrässy  weihen. 

Die  Akademie  kann  darauf  stolz  sein,  dass  ihr  diese  Aufgabe  zufiel 
Sie  kann  stolz  darauf  sein,  dass  Graf  Julius  Andrässj  ein  Akademiker  — 
ich  muss  mehr  sagen  —  dass  er  ein  ungarischer  Akademiker  gewesen, 
«ungarischer  Akademiker.»  Diese  Bezeichnung  drückt  besser,  als  lange 
Erörterungen,  aus,  was  er  in  unserem  Kreise  gewesen,  und  sie  drückt 
zugleich  das  aus,  was  wir  selbst  sind.  Sein  Andenken  wird  unsere  Akade- 
miker immer  daran  erinnern,  dass  sie  ungarische  Akademiker  sein  soUen. 
Es  wird  sie  aber  auch  daran  mahnen,  dass  das  echte  Ungartum,  gleichwie 
sein  Ungartum,  nicht  darin  bestehe,  dass  wir,  uns  von  der  grossen  Welt 
abschliessend  und  alle  unsere  Sehritte  nur  mit  unserem  Maasse  messend, 
uns  vor  uns  selbst  erheben,  sondern  vielmehr  darin,  dass  wir  mit  aller 
unserer  Kraft  dahin  trachten,  in  die  Beihe  der  gebildeten  Nationen  tretend, 
unseren  Platz  unter  ihnen  mit  Ehren  auszufüllen. 

Darum  müssen  in  der  Stunde,  wo  unser  dazu  berufener  Bedner  sagen 
wird,  was  Graf  Andrässy  für  die  ungarische  Nation  im  Ungarlande  und  was 
er  für  sie  im  Auslande  getan  hat,  auch  wür  dieser  miserer  doppelten  Aufgabe 
gedenken.  Denn  unter  allen  nationalen  Anstalten  ist  gerade  die  Akademie 
durch  die  Eigenart  ihrer  Thätigkeit  am  meisten  dazu  berufen,  daheim  sowie 
draussen  der  ungarischen  Nation  Ehre  zu  machen. 

Das  Andenken  grosser  Männer  lebt  nicht  allein  in  ihren  eigenen 
Schöpfungen  fort,  sondern  auch  in  jenem  aneifemden  Beispiele,  mit 
welchem  sie  die  Nachkommen  zu  neueren  Schöpfungen  oder  wenigstens 
zur  treuen  Erfüllung  ihrer  Pflicht  anspornen.  An  dem  Tage,  wo  wir  das 
Andenken  des  Grafen  Julius  Andrässy  feiern,  möge  es  auch  mir  erlaubt 
sein,  mit  einigen  Worten  zu  sagen,  wie  ich  meine  Pflicht  an  dieser  Stelle 
auffasse. 

Als  auf  den  Präsidentensitz,  auf  welchem  wir  Alle  so  gern  eben  den 
Grafen  Julius  Andrässy  gesehen  hätten  und  noch  sehen  möchten,  das  Ver- 
trauen der  Akademie  mich  erhob,  schrieben  manche  dieser  Wahl  eine  gewisse 
principielle  Bedeutung  zu. 

Es  war  in  der  That  überraschend  und  neu,  als  auf  jene  hohe  Stelle, 
welche  bisher  die  Grossen  unseres  Vaterlandes,  seine  im  öffentlichen  Leben 
hochverdienten  Männer  eingenommen  hatten,  ein  bescheidener  Professor 
gesetzt  wurde,  der  bisher  so  ziemlich  nur  im  Kreise  seiner  Zuhörer  gelebt 
und  für  eine  politische  Bolle  nicht  einmal  eine  Ambition  besessen  hatte. 
Mit  Becht  erwartete  Jedermann,  dass  ich  mich  dieser  grossen  Auszeichnung 
durch  Thaten  würdig  erweisen  werde,  und  darum  erwarteten  Manche  mit 


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AKADEMIE   DER  WISSENSCHAFTEN.  4?91 

Ungeduld  die  Beformen,  mit  welchen  der  neue  Präsident  der  nach  ihrer 
Ansicht  veralteten  Institution  neues  Leben  einflössen  wird. 

Sie  haben  sich  geirrt.  Denn  ich  bin  nicht  der  Ansicht,  dass  die  Initii- 
rung  von  Beformen  eben  die  Aufgabe  des  Präsidenten  sei,  und  ich  hege  die 
Ueberzeugung,  dass  auf  dem  Gebiete  der  Literatur  und  Wissenschaft  die 
ungestörte,  stetige  Arbeit  eine  grössere  That  sei,  als  das,  was  man  heutzu- 
tage bei  uns  in  der  Begel  Beform  nenni 

In  früherer  Zeit  hat  das  Wort  Beform  etwas  Grosses  bedeutet,  einen 
grossen,  ausserordentlichen  Fortschritt  der  Menschheit  oder  einzelner  Natio- 
nen, welchen  mehr  weniger  immer  der  Zwang  der  unhaltbaren  Zustände 
herbeiführte  und  welcher  der  Bethätigung  bisher  gefesselter  Kräfte  freien 
Baum  schuf. 

Heute  wenden  wir  dieses  grosse  Wort  auch  auf  sehr  kleine  Dinge  an. 
Wir  nennen  oft  Beform,  was  keine  Neugestaltung,  sondern  höchstens  eine 
Aenderung  ist.  Wir  suchen  das  Uebel,  welches  aus  unserm  Mangel  an 
Arbeitskraft  oder  Arbeitslust  entspringt,  oft  in  der  Fehlerhaftigkeit  der 
Formen  und  Begeln,  erdenken  statt  derselben  neue  und  bleiben  bei  den 
neuen  Formen  und  Begeln  die  Alten.  Damit  schaffen  wir  oft  mehr  Schaden, 
als  Nutzen.  Dend  wenn  die  neue  Begel  auch  an  und  für  sich  nicht  schäd- 
lich ist,  kann  sie  doch  viel  schaden,  weil  die  Begelmacherei  und  die  damit 
verbundene  Aufregung  viel  nützliche  Arbeitskraft  vergeudet. 

Derjenige  fasst  die  Aufgabe  unserer  Akademie  nicht  richtig  auf,  der 
um  jeden  Preis  ihre  Beform  fordert.  Denn  während  die  Akademie  einerseits 
von  dem  ihr  durch  ihre  grosse  Aufgabe  —  die  Pflege  und  Verbreitung  der 
Literatur  und  Wissenschaft  in  ungarischer  Sprache  —  vorgezeichneten 
Wege  nicht  um  eines  Haares  Breite  abweichen  darf,  würde  es  andererseits 
ihrer  nicht  würdig  sein,  den  etwa  notwendig  scheinenden  Abänderungen 
ihrer  Begeln  die  Bedeutung  von  Beformen  zuzuschreiben.  Ein  gutes  Buch, 
welches  sie  herausgibt,  eine  wissenschaftliche  Wahrheit,  deren  Aufhellung 
sie  fördert,  ist  ein  bedeutenderes  Ereigniss  in  ihrer  Geschichte,  als  eine 
noch  so  scharfsinnig  ausgeklügelte  Umgestaltung  ihrer  Organisation. 

Es  gibt  indessen  neben  der  Beformthätigkeit  eine  andere  Art  der 
Thätigkeit,  welche  zwar  viel  schwerer  ist,  aber  viel  sicherer  zu  Besultaten 
führt.  Dies  ist  die  stille,  stetige  Beschäftigung,  welche  unser  grosser 
Stifter  uns  zur  Aufgabe  machte,  als  er  in  seinem  Stiftungsbriefe  also 
«chrieb : 

fleh  bedinge  namentlich  aus,  dass  diese  selbstständig  dastehende, 
durch  sich  selbst  zu  regierende,  rein  wissenschaftUche  Anstalt  nie  mit 
irgend  welchen  anderen  Anstalten  verbunden  werde,  sondern  ihre  unschul- 
digen wissenschaftlichen  Beschäftigungen  zum  vereinten  Wohle  meines 
Königs  und  Vaterlandes,  und  nur  zu  diesem,  für  sich  still  zu  treiben 
vermöge.» 

31* 


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^92  LI.    JAHRESVERSAMMLUNG    DER   UNGARISCHEN 

Ich  mtiss  mich  auf  Szeohenyi's  Autorität  berufen,  indem  ich  dem 
stillen  Betriebe  unserer  Arbeit  das  Wort  rede.  Denn  bei  uns  wird  dies  in 
der  Begel  als  Stillstand  verspottet  und  die  stille  Arbeit  wenig  geachtet. 
Und  doch  hängt  von  dem  mannhaft  ausdauernden  Fleisse  dieser  stillen 
Arbeiten  die  Bildung,  der  Beichtum  und  durch  diese  grossenteils  auch  die 
Macht  einer  Nation  ab.  Wie  hat  stille^  ausdauernde  Arbeit,  um  anderer  gar 
nicht  zu  gedenken,  unsere  deutschen  Nachbarn  gross  gemacht ! 

Doch  ich  habe  mein  Beispiel  vielleicht  schlecht  gewählt.  Man  könnte 
mir  sagen :  die  ungarische  Akademie  ist  nicht  dazu  da,  die  Ungarn  nach 
dem  Muster  der  deutschen  Professoren  zu  modeln.  Ich  gestehe  das  zu,  aber 
sowie  es  unzweifelhaft  ist,  dass  unsere  Akademie  gegen  ihre  eigene  Existenz- 
berechtigung anstürmen  würde,  wenn  sie  die  Sicherung  und  Hebung  unserer 
Nationalität  nicht  als  ihre  Hauptaufgabe  ansehen  wollte,  ebenso  ist  es  auch 
gewiss,  dass  sie  diese  ihre  Aufgabe  nicht  durch  momentane  Aufwallungen, 
nicht  durch  Ungeduld  und  Uebertreibungen,  sondern,  wie  Szechenyi  gesagt, 
nur  «Schritt  um  Schritt  thuend,  Sandkorn  zu  Sandkorn  tragend,  Tropfen 
zu  Tropfen  träufelnd  wird  erfüllen  können.  >» 

Ich  habe  von  unserer  nationalen  Aufgabe  gesprochen.  Und  wer  von 
unserer  Akademie  redet,  darf  diese  auch  nicht  mit  Stillschweigen  übergehen. 
Denn  sie  ist  das  höchste  treibende  Motiv  unserer  Thätigkeit  immer  gewesen 
und  wird  es  immer  sein.  Und  dennoch  trifft  uns  gerade  in  Bezug  auf  sie  am 
öftesten  der  Vorwurf  der  Lauheit. 

Wir  dürfen  aber  diesem  Vorwurf  ruhig  entgegentreten.  Denselben 
können  nur  Diejenigen  erhalten,  welche  die  ausdauernde  stille  Arbeit  nicht 
zu  schätzen  wissen. 

Wir  können  für  die  Sicherung  unserer  Nationalität  auf  zweierlei  Weise 
kämpfen.  Die  eine  ist  die,  dass  wir  die  in  unserer  Hand  l)efindlicbe  Macht 
benützend,  das  Ungartum  überall  und  um  jeden  Preis  ausbreiten  und  so 
unsere  Zahl  scheinbar  vermehren.  Die  andere  ist  die,  dass  wir,  unsere 
Sprache  cultivirend,  unsere  Wissenschaft  fördernd,  unsere  Industrie  ent- 
wickelnd, uns  zu  jener  geistigen  Superiorität  emporschwingen,  welche  uns 
inmitten  anderer  Nationalitäten  die  Führerrolle  sichern  soll.  Die  Ungarische 
Akademie  der  Wissenschaften  hat  diese  zweite  Kampfweise  gewählt  Auch 
ihre  Waffen  sind  nur  für  diese  geeignet,  und  auch  darin,  wie  in  allem  Andern, 
folgt  sie  der  Mahnung  ihres  grossen  Stifters. 

«Durch  Superiorität  und  durch  nichts  Anderes  können  wir  unsere 
Bace  vor  dem  Untergange  bewahren  und  uns  zu  einer  grossen,  mächtigen, 
herrlichen  Nation  erheben.»  So  hat  er  zu  uns  gesprochen  und  dann  hinzu- 
gefügt :  «Ich  glaube  wohl,  dass  es  leichter  und  unvergleichüch  bequemer 
und  mit  weit  weniger  Mühe  und  Präliminarien  verbunden  sein  würde,  wenn 
jeder  Bewohner  dieses  Landes  so  quia  sie  volo  sie  jubeo  augenblicklich  ein 
Ungar  würde  oder  es  schon  geworden  wäre,  weil  er  neben  drei,  vier  anderen 


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AKADEMIE    DER   WISÖENSCHAFTEN.  *93 

Sprachen  auch  noch  ungarisch  reden  kann.  So  bequem  geht  aber  die  Sache 
nichi  Denn  gleichwie  in  einem  einzigen  ausgebildeten  Menschengehirn 
mehr  Anziehungs-  und  Assimilationskraft  vorhanden  ist,  als  in  tausend 
leeren  oder  confusen  Köpfen,  ebenso  kann  auch  Nationalität  nur  durch 
Siiperiorität  und  durch  nichts  Anderes  verbreitet  werden.  Denn,  Gott  sei 
Dank,  auf  diesem  Erdball,  wo  jeder  nach  dem  Besseren  strebende  Mensch, 
welcher  darum,  weil  er  das  eigene  Blut  liebt,  die  Bace  des  Anderen  nicht 
verachtet,  nicht  nur  das  Interesse  seiner  Bace,  sondern  dasjenige  seines 
ganzen  Geschlechts  am  Herzen  zu  tragen  verpflichtet  ist,  —  auf  diesem 
Erdball,  sage  ich,  geht  nicht  der  Bessere  in  dem  Niedrigen,  sondern  umge- 
kehrt und  allen  Bänken  zum  Trotz  der  Niedrige  in  dem  Besseren  auf ; 
«owie  jedes  Volk,  ohne  irgend  eine  Ausnahme,  nur  in  sich  selbst^  d.  i.  in 
eeinen  Söhnen,  den  Keim  des  Lebens  und  der  Ehre,  oder  des  Todes  und 
der  Schmach  tragt. » 

Diesen  Worten  folgend,  können  wir  unsem  Weg  nicht  verfehlen,  und 
wenn  auch  auf  demselben  der  ^Ijenruf  seltener  erklingt,  als  auf  dem  Wege 
Derjenigen,  welche,  die  Fahne  des  Chauvinismus  schwingend,  lieber  nur 
kämpfen,  als  erobern,  dürfen  wir  darum  nicht  den  Mut  sinken  lassen,  denn 
80  wie  wir  uns  nicht  für  den  Kampf  eines  Tages,  sondern  für  eine  viele  Jahre 
hindurch  dauernde  Thätigkeit  engagirt  haben,  so  kann  auch  unser  Lohn 
nicht  ein  rasch  verklingendes  Wort,  sondern  nur  die  bleibende  Anerkennung 
<ies  durch  langwierige  Mühe  erreichten  Ergebnisses  sein. 

Bleibt  aber  dieses  Ergebnlss  nicht  etwa  sehr  lange  aus?  Nein,  ent- 
schieden nein!  Wir  können  auf  die  ersten  Früchte  unserer  Arbeit  schon 
jetzt  mit  Stolz  hinweisen,  wie  sehr  auch  an  denselben  jene  böswillige  Ver- 
kleinerungssucht nagt,  welche  heute  in  der  Nachbarschaft  einer  jeden 
grossen  und  schönen  Sache  wie  irgend  eine  Seuche  ausbricht  und  welche 
weiss  Gott  woher  zu  uns  gekommen  ist  —  denn  wahrhaftig  eine  ungarische 
Xjewohnheit  ist  sie  nicht.  Aber,  Dank  sei  dem  Himmel,  diese  Nation  besteht 
nicht  blos  aus  Verkleinerern ;  die  Meisten  sehen  das  Grosse  und  Schöne 
ungeachtet  seiner  Mängel  auch  heute  noch  mit  Vergnügen  an.  An  sie,  an 
<l"ese  echten  ungarischen  Patrioten  wende  ich  mich :  sie  mögen  über  das 
Ergebniss  unserer  Thätigkeit  urteilen. 

Sie  werden  das  Grosse  nicht  zerstückeln  und  zerkleinern,  um  unter 
den  vielen  Stückchen  Fehler  zu  suchen.  Es  wird  sie  auch  das  Ganze  inter- 
essiren.  Und  im  Hinblick  darauf  werden  sie  nicht  leugnen  können,  dass 
<lie  halbhundertjährige  Thätigkeit  unserer  Akademie  an  der  Entwicklung 
unserer  nationalen  Cultur  einen  grossen,  vielleicht  den  grössten  Anteil 
gehabt  hat.  Es  ist  ein  grosses  Ding,  eine  Nation,  welche  eine  schöne  Lite- 
ratur kaum,  eine  wissenschaftliche  Literatur  aber  gar  nicht  hatte,  inner- 
halb einer  so  kurzen  Zeit,  wenn  auch  nicht  mit  einer  vollkommenen,  aber 
^och  schon  in  jedem  Fache  so  brauchbaren  Literatur  zu  bereichem,  wie  die 


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^94-  LI.    JAHRESVERSAMMLUNG   DER   UNGARISCHEN 

unserige  ist.  Und  dies  ist  das  Verdienst  der  Akademie.  Denn  wenn  aucb 
nicht  sie  jedes  schönliterarische  Werk  preisgekrönt,  nicht  sie  jedes  gute 
Bach  herausgegeben  hat,  so  hat  doch  sie  zuerst  die  zerstreuten  Kräfte, 
welche  unsere  neuere  Literatur  begründeten,  zu  einem  lebensfähigen  Körper 
vereinigt,  und  hat  sie  fortwährend  das  Niveau  bezeichnet  und  höher  geho- 
ben, nach  welchem  die  Arbeiter  unserer  Literatur  streben  müssen. 

Es  hätten  auch  ohne  unser  Mitthun  genug  ungarische  Bücher  erscheinen 
können,  es  hätte  auch  die  Schule  allein  die  ungarische  Sprache  und  in  un- 
garischer Sprache  die  für  das  Leben  notwendigsten  Kenntnisse  verbreiten 
können ;  aber  dass  in  diesen  Büchern  die  Sprache  sich  fortwährend  ent 
wickelt  hat,  dass  in  diesen  ungarischen  Schulen  das  Licht  der  Wissenschaft 
leuchtet,  daran  gebührt  uns  ein  grosses  Verdienst.  Der  Gelehrte  konnte  in 
Ungarn  nur  darum  ein  ungarischer  Gelehrter  bleiben,  weil  er  ein  ungarisches 
Centrum  und  Fonim  hatte. 

Ich  rede  nicht  weiter.  Wir  sollen  unser  Verdienst  nicht  verkleinem 
und  es  auch  nicht  vergrössem.  Wir  haben  noch  viel  zu  thun.  Wir  haben 
noch  mächtige  Unterstützung  nötig.  Aber  ich  vertraue  diy*auf,  dass  der 
bessere  Teil  der  Nation  auch  heute  mit  uns  hält,  wo  wir  auf  unsere  Fahne 
statt  hochtönender  Phrasen  blos  so  viel  schreiben :  Arbeiten  wir  still !  Schrei- 
ten wir  stetig  vorwärts ! 

Und  damit  eröffne  ich  die  51.  feierliche  Jahressitzung  der  Akademie. 


n. 

Bericht  des  Oeneralsecretärs  Eoloman  y.  Szily. 

Geehrtes  Publicum !  Vor  wenigen  Monaten  waren  es  hundeii;  Jahre,, 
dass  der  erste  Almanach  über  die  Ungarische  Gelehrte  Gesellschaft  und  über 
ihre  Mitgliedercanditaten,  aus  denen  sich  die  zu  errichtende  Gesellschaft 
constituiren  sollte,  Anfang  1791  an  die  OeflfentUchkeit  trat*  Die  Statuten 
derselben  hatten  die  begeisterten  Führer  bereits  im  vorangegangenen 
Jahre  veröffentlicht.  Ihr  Vorschlag  wurde  seitens  des  Reichstages  günstig 
aufgenommen  und  dieser  betraute  auch  eine  seiner  Begnicolar-Deputationen, 
die  «deputatio  literaria»,  mit  der  Ausarbeitung  eines  Gesetzentwurfes  über 
die  Errichtung  der  Academia  Scientiarum. 

Alles  schien  darauf  hinzudeuten,  dass  Georg  Bessenyei's  vor  zehn 
Jahren  veröffentlichter  «Frommer  Wunsch»  (Jämbor  szänd6k)  binnen  Kur- 
zem in  Erfüllung  gehen  werde.  Wer  hätte  es  im  Bausche  der  damaligen 
allgemeinen  Begeisterung  glauben  mögen,  dass  erst  im  Herbste  jenes  Jahres^ 

*  Candidati  erigendse  Emditse  Societatis  Hungaric»  .  .  .  Janrmi,  1791. 


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AKADEMIE    DER   WISSENSCHAFTEN.  *^5 

jener  Mann  geboren  werden  sollte,  welcher  den  nahezu  schon  der  Vergessen- 
heit anheimgefallenen  alten  Plan  der  Errichtung  einer  Akademie  dereinst 
nicht  auf  dem  langen  Wege  der  Beratungen,  sondern  mit  einem  raschen 
Entschlüsse  verwirklichen  wird? 

In  dem  vor  hundert  Jahren  veröffentlichten  Namensverzeichniss  sind 
sechsundvierzig  Schriftsteller  und  Gelehrte  als  Mitglieder  candidirt  Das 
Andenken  eines  grossen  Teiles  derselben  cultivirt  die  dankbare  Literatur- 
geschichte noch  heute  mit  Pietät;  aber  unter  ihnen  sind  nur  zwei,  deren 
Buhm  und  Glanz  nicht  nur  nicht  vom  Moose  der  Zeiten  überwuchert  wurde^ 
sondern  heute  noch  heller  strahlt,  als  vor  hundert  Jahren.  Der  eine  der 
beiden  ist  der  Beformator  unserer  Literatursprache,  Franz  Eazinczy,  der  an-^ 
dere  der  Begründer  unserer  historischen  Sprachwissenschaft,  Nikolaus  B^vai. 

Die  Ungarische  Akademie  der  Wissenschaften  hat  gleich  bei  ihrer 
Constitnirung  das  System  Bevai's  zu  dem  ihrigen  gemacht  und  die  Bestre- 
bungen Eazinczy's  sanctionirt.  Die  für  beide  empfundene  Verehrung  und 
Dankbarkeit  ist  eine  teure  Tradition,  welche  sich  in  unserer  Akademie  nun 
bereits  durch  mehrere  Generationen  vererbt. 

Im  verflossenen  Jahre  erschien  der  L  Band  von  Franz  Kazinczy's 
Correspondenz,  dieser  unvergleichlich  reichen  Dat  nquelle  unserer  Literatur- 
geschichte. Dieselbe  ist  das  dauerndste  Denkmal  der  Laufbahn  Kazinczy^s. 
An  diese  Correspondenz  knüpfen  sich  grosse  literarische,  ja  auch  politische 
und  sociale  Interessen  und  sie  ist  für  die  neuere  Geschichte  der  Entwicke- 
lung  des  ungarischen  Geistes  von  hoher  Wichtigkeit ;  sie  bietet  die  wertvoll- 
sten Beiträge  zur  Eenntniss  der  ungarischen  Civilisation,  welche  auf  die 
neuere  Periode  sowohl  unserer  Sprache  und  Literatur,  als  auch  unserer 
socialen  Gultur  Licht  werfen,  indem  sie  den  von  unseren  Schriftstellern  in 
den  letzten  zwei  Jahrzehnten  des  vorigen  und  den  ersten  drei  Decennien  des 
jetzigen  Jahrhunderts  geführten  Kampf  enthüllen,  welcher  unsere  Sprache, 
Literatur  und  gesammte  Bildung  neugeschaffen  und  die  Geister  zur  Auf- 
nahme der  politischen  Beform,  welche  der  literarischen  Neugeburt  auf  dem 
Fusse  folgte,  vorbereitet  hat. 

Aber  unsere  Genossen  haben  sich  auch  in  besonderen  Studien  mit  der 
literarischen  Laufbahn  Eazinczy's  beschäftigt.  Das  ordentl.  Mitglied  Zoltan 
Beöthy  hat  ihn  als  Aesthetiker  gewürdigt ;  das  corr.  Mitgl.  Sigmund  Simonyi 
hat  eine  eingehende  Studie  über  die  Fremdartigkeiten  der  Sprache  Eazinczy's 
geschrieben,  gleichsam  als  Einleitung  zu  dem  von  ihm  geplanten 
Eazinczy-Wörterbuch,  welches  Eazinczy's  gesammten  Wortschatz  um- 
fassen wird.  Wenn  die  ganze  Serie  seiner  Correspondenzen  veröffentUcht 
sein  wird  und  den  eben  erwähnten  ähnliche  Studien  Eazinczy's  Laufbahn 
von  allen  Seiten  beleuchten  werden,  dann  erst  kann  die  Biographie  des 
grossen  Agitators  in  einer  seiner  und  der  Akademie  würdigen  Weise  ange- 
fertigt werden. 


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^^Ö  LI.    JAHRESV'ERSAMMLÜNG   DER   UNOARISCHEN 

Von  dem  anderen  grossen  Reformator,  Nicolaus  ßevai,  besitzen  wir 
bereits  zwei  Biographien.  Die  eine  ist  das  preisgekrönte  Frodact  einer  vor- 
zeitigen Preisausscbreibung,  schön  geschrieben,  aber  noch  der  nötigen  Daten- 
kenntnisB  ermangelnd;  die  andere,  von  welcher  bereits  vier  Bände  erschienen 
sind,  ist  die  Frucht  ordensbrüderlicher  Pietät  und  unermüdlichen  Fleisses, 
ausserordentlich  reich  an  wertvollem  und  ganz  neuem  Material.  Das  schönste 
Denkmal  jedoch,  welches  die  Akademie  ihm  bisher  errichten  konnte,  ist  das 
sprachhistorische  Wörterbuch,  welches  nicht  allein  das  umfangreichste,  son- 
dern auch  das  wertvollste  unter  den  bisher  über  die  Geschichte  der  unga- 
rischen Sprache  geschriebenen  Werken  ist,  und  welches  die  Träume  des 
grossen  Sprachforschers  verwirklicht. 

Die  Begehaltung  der  nationalen  Pietät  und  die  Entwickelung  derselben 
durch  die  Ergebnisse  der  wissenschaftlichen  Forschung  zählt  die  Akademie 
unter  ihre  ersten  Pflichten  nicht  allein  gegenüber  den  grossen  Gestalten  der 
Wissenschaft  und  Literatur,  sondern  auch  gegenüber  denen  der  vaterlän* 
dischen  Geschichte.  Die  vorjährige  vierhundertste  Jahreswende  des  Todes- 
tages des  Mathias  Hunyadj  würde  ohne  bleibende  Spur  vorübergegangen 
sein,  wenn  das  Andenken  dieses  Trauertages,  dieses  kritischen  Wendepunktes 
unserer  vaterländischen  Geschichte  nicht  durch  die  Akademie  und  ihre  Mit- 
glieder, wie  es  ihnen  am  besten  ansteht,  mittelst  literarischer  Werke  au%e- 
friecht  worden  wäre.  Das  geplante  Prachtwerk  «Denkmäler  der  Zeit  des 
Königs  Mathias»  jWelcheB  drei  Commissionen  unserer  Akademie  mit  vereinten 
Kräften  zu  Stande  bringen  wollten,  konnte  zwar  wegen  sachlicher  Schwie- 
rigkeiten nicht  erscheinen,  doch  können  unter  den  literarischen  Producten 
des  Vorjahres  mehrere  hiehergehörige  wertvolle  Werke  verzeichnet  werden : 

•  Das  Leben  des  Königs  Mathias»  vom  ord.  Mitgliede  Wilhelm  Fraknoi, 

•  König  Mathias  und  die  Renaissance»  Vortrag  des  Ehrenmitghedea  Franz 
Pulszky,  der  11.  Band  der  •Litei'arhistorischen  Denkmäler» ,  einer  Sammlung 
jener  literarischen  Denkmäler,  welche  von  italienischen  Schriftstellern  aus 
der  Zeit  Mathias  Hunyadi*s  herrühren  und  sich  mit  der  Individualität  des 
grossen  Königs  beschäftigen.  Hieher  gehört  auch  Desider  Csänky's  grosses 
Werk:  « Historische  Geographie  Ungarns  in  de)'  Hunyadenzeit».  Indem  die 
Akademie  dasselbe  schreiben  liess,  förderte  sie  nicht  blos  die  Kenntniss  jener 
grossen  Epoche,  sondern  erfüllte  zugleich  eine  Pflicht,  indem  sie  die  Ver- 
vollständigung des  unvollendet  gebliebenen  Werkes  ihres  ersten  Präsidenten 
und  grossen  Wohlthäters,  des  Grafen  Josef  Teleki,  ihrem  alten  Wunsche 
entsprechend  in  Vollzug  setzte. 

Mit  der  Manifestation  ihrer  Pietät  dient  die  Akademie  auch  der  vater- 
ländischen Kunst.  Hier  von  diesem  prächtigen  Wandgemälde  blicken  die 
Gestalten  unserer  Könige,  Stephan  der  Heilige,  Koloman  und  Ludwig  der 
Grosse  auf  uns  herab  und  in  Bälde  wird  der  Mittelpunkt  der  gegenüber- 
liegenden Loggia  König  Mathias,  umgeben  von  seinen  Gelehrten  und  Künst- 


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AKADEMIE   DER   WISSENSCHAFTEN. 


497 


lern,  im  Hintergrunde  mit  seiner  berühmten  Bibliothek,  der  Corvina, 
schmücken ;  rechts  von  ihm  wird  Peter  Päzmän  mit  den  hervorragenden 
Gestalten  der  Reformation,  links  der  Dichter  Zrinyi  mit  den  Celebritäten 
der  Literatur  Platz  finden.  Sowie  jene  erste  Bildertrias,  wird  auch  diese 
zweite  die  Meisterhand  Karl  Lotzens  verfertigen,  und  sowie  die  Kosten  jener 
ersten  die  Opferwilligkeit  des  ungarischen  hohen  Clerus  deckte,  wurde  auch 
für  diese  zweite  unsere  patriotische  hohe  Geistlichkeit  als  MaBcenas  ge- 
wonnen. 

Der  21.  September  des  laufenden  Jahres  ist  ein  denkwürdiger  Tag, 
—  die  hundertste  Jahreswende  des  Geburtstages  des  Grafen  Stefan  Sze- 
chenyi. 

Wir  alle  fühlen  es,  dass  die  Ungarische  Akademie  der  Wissenschaften 
diesen  Tag  zu  einem  Festtage  des  Dankes  und  des  pietätvollen  Gedenkens 
machen  müsse.  Unser  Directionsrat  hat  denn  auch  beschlossen,  zum  Anden- 
ken dieses  Tages  an  der  Akademiegassenfront  des  Akademiepalastes  eine 
Denktafel  anzubringen,  welche  in  einem  Belief  aus  Bronzeguss  jene  histo- 
rische Scene  darstellt,  wie  Szechenyi  in  der  Districtualsitzung  des  18i25-er 
Eeichstages  die  Ungarische  Akademie  der  Wissenschaften  gründet.  Der 
Directionsrat  war  der  Ansicht,  dass  zur  Zustandebringung  und  Feier  jenes 
Erinnerungswerkes  all  jene  hauptstädtischen  Institutionen  vereinigt  werden 
müssten,  die  ihr  Inslebentreten  oder  Aufblühen  Szechenyi  verdanken :  somit 
in  erster  Keihe  die  Hauptstadt,  welche  Szechenyi  so  viel  verdankt,  wie  keinem 
zweiten;  femer  die  von  Szechenyi  geschaffenen  Vereine  und  unter  ihnen, 
was  ich  zuerst  hätte  erwähnen  sollen,  der  Vertreter  des  heutigen  Eigen- 
tümers der  Kettenbrücke,  unser  Finanzministerium.  Ich  kann  mit  Freude 
kundthun,  dass  auf  diese  unsere  Aufforderung  Se.  Excellenz  der  Herr 
Finanzminister,  die  Hauptstadt  und  die  sämmtlichen  aufgeforderten  Gesell- 
schaften mit  der  grössten  Bereitwilligkeit  ihre  Beitragleistung  zum  Denkmal 
und  ihre  Beteiligung  am  Feste  zugesa<<t  haben. 

Ein  Denkmal  aber  wird  die  Akademie  dem  Genius  Stefan  Szechenyi's 
auch  noch  fernerhin  schuldig  bleiben:  eine  seiner  Grösse  entsprechende 
Biographie.  Wir  besitzen  bereits  so  viele  von  speciellen  Gesichtspunkten  aus 
geschriebene  Biographien  Szechenyi's,  dass  wir  uns  über  die  —  wie  wohl 
noch  vorzeitige  —  Ungeduld  nicht  wundem  dürfen,  mit  welcher  die  Nation 
eine  von  Künstlerhand  verfasste,  treue  Schildemng  des  Lebens  Szechenyi's 
erwartet.  Heute  können  wir  für  den  künftigen  Künstler  nur  erst  Quellen- 
beiträge sammeln  und  veröffentlichen.  Solche  Beiträge  sind:  fi Stefan  Sze- 
chenyi's  Brie fe^t,  von  welchen  im  verflossenen  Jahre  der  zweite  Band  erschien; 
seine  «^ Ausländischen  Reiseskizzen  und  Notizen^yVfelGhe  das  Ehrenmitglied 
Anton  Zichy  aus  seinen  Tagebüchern  gesammelt  hat ;  und  eine  solche  wird 
«die  Sammlung  der  Zeitungsartikel  Szechenyi' S1^  sein,  welche  ebenfalls  Anton 
Zichy  jetzt  zusammenstellt. 

üng»rif«he  Revue,  XI.  1891.  VI— \TI.  Heft.  32 


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4*98  LI.    JAHRESVERSAMMIiUNG    DER   UNGABI8CHEN 

leb  würde  bei  den  FietätsmanifeBtationen  der  Akademie,  welcbe  ich 
nocb  nicbt  alle  aufgezählt  habe,  gerne  noch  länger  verweilen,  aber  die  Stnnde 
mahnt  mich  zu  einem  anderen  Abschnitte  meines  Berichtes,  zur  Skizzirung 
der  Thätigkeit  der  Qassen,  überzugehen. 

Die  I.  Classe  (diese  steht  dem  Herzen  und  zugleich  der  Kritik  der  Na- 
tion am  nächsten)  hat  in  ihrer  schöntcissenschaftlichen  Section  auch  jetzt,  so 
wie  in  den  früheren  Jahren,  vornehmlich  auf  dem  Gebiete  der  Literatur- 
geschichte eine  grössere  Thätigkeit  entfaltet  Hieher  gehört  der  grösste  Teil 
der  in  ihren  Sitzungen  vorgelesenen  Abhandlungen,  hieher  ihre  neuesten 
Preisaufgaben:  «Geschichte  der  ungai*ischen  dramatischen  Literatur»,  t Le- 
ben und  Werke  des  Grafen  Nikolaus  Zrinyi».  Sie  hat  auch  ein  ständiges 
Organ  gegründet,  welches  der  Literaturgeschichte  bisher  gefehlt  hatte ;  indem 
sie  die  Vierteljahrschrift  ttlAteraturhistorische  Mitteilungen*  unter  der  Be- 
daction  des  corr.  Mitgl.  Aladär  Ballagi  begann,  um  den  einschlägigen  For- 
schungen Baum  zu  bieten,  das  Hauptgewicht  auf  die  historische  Seite  des 
Gegenstandes  legend.  Die  Päege  der  schönen  Literatur  im  engeren  Sinne 
überlässt  sie  sehr  richtig  unseren  schönliterarischen  Gesellschaften,  während 
sie  sich  selbst  nur  den  noch  einer  grösseren  Unterstützung  bedürftigen  wis- 
senschaftlichen Teil  zurückbehält. 

Die  Thätigkeit  der  sprachwissev schaftlichen  Section  der  I.  Classe  äussert 
sich  in  drei  Hauptrichtungen :  in  den  die  ungarische  Sprache  betreffenden 
Forschungen ;  in  der  Pflegender  altaischen  und  besonders  der  uns  am  nächsten 
angehenden  ugrischen  vergleichenden  Sprachwissenschaft;  und  in  der 
classischen  Philologie,  und  am  lebhaftesten  —  wie  es  auch  natürlich  ist, 
weil  es  unsere  nationale  Pflicht  ist  —  in  der  ungarischen  Sprachwissenschaft 
im  engeren  Sinne. 

Das  Sprachgeschichtliche  PTöit^rfeucÄ  nähert  sich  jetzt  nach  18-jähriger 
Vorarbeit  rasch  seiner  Vollendung.  Der  H.  Band  ist  erschienen  und  bis  zur 
nächsten  Generalversammlung  wird  auch  der  abschliessende  HI.  Band  er- 
schienen sein.  —  Unmittelbar  auf  dem  Fusse  wird  ihm  folgen :  das  ebenfalls 
schon  lange  vorbereitete  Idiotikon,  das  sehnsüchtig  erwartete  Terminologische 
Wörterbuch,  welches,  die  im  Volksmunde  lebenden  Eunstausdrücke  benüt- 
zend, dazu  beitragen  wird,  dass  sich  die  Terminologie  der  Industrie  und 
der  Handwerke  in  richtiger  Richtung  entwickle,  und  endlich  das  Arany- 
Wörterbuch,  dieses  ausserordentlich  interessante  literarische  Wörterbuch, 
welches  den  ganzen  Wort-  und  Phrasenschatz  des  grossen  Nationaldichters 
Johann  Arany  umfassen  wird. 

Noch  im  Laufe  dieses  Jahres  wird  als  Publication  der  sprachwissen- 
schaftlichen Commission  Josef  Balassa's  grundlegendes  Werk  *die  unga- 
rischen Mundarten»  erscheinen,  welches  auf  Grund  im  ganzen  Lande 
gemachter  genauer  Aufzeichnungen  die  ungarischen  Dialecte  phonetisch 
classificirt  und  charakterisirt.  —  Auch  die  alte  Klage,  dass  wir  keine  wissen- 


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AKADEMIE    DER   ^VIBßEN  SC  HAFTEN.  *9^ 

schaftliche  ungarische  Syntax  besitzen,  wird  demnächst  gegenstandlos  wer- 
den. Die  beiden  Preiswerke  des  corr.  Mitgliede  Sigmund  Simonyi  von  den 
Bindexcörtern  und  den  Umstandswörtern  enthalten  die  ganze  Geschichte  der 
Satzlehre  und  bieten  eine  verlässliche  Basis  für  die  weitere  Forschung.  — 
Die  nahezu  hundertjährige  Fehde  der  Orthologen  und  Neologen,  die  noch  vor 
wenigen  Jahren  in  der  Literatur  sehr  hitzig  geführt  wurde,  ist  nahezu  im 
Erlöschen  begriffen.  Wir  hören  wohl  zuweilen  noch  eine  Vorlesung,  vielleicht 
mehr  für  die  Ehre  der  Fahne,  —  aber  eine  principielle  Differenz  besteht 
zwischen  den  Streitenden  nicht  mehr.  Auch  die  Neologen  erkennen  schon 
bereitwillig  an,  dass  sie  in  der  Vergangenheit  viel  des  Gesetzwidrigen  und 
Willkürlichen  eingebürgert  haben,  und  dass  diesem  Vorgang  heute  nimmer- 
mehr Folge  geleistet  werden  darf;  andererseits  entsagen  auch  die  Orthologen, 
wiewohl  an  ihrer  Verwahrung  festhaltend,  der  Hoffnung,  die  bereits  einge- 
bürgerten,  gesetzwidrig  gebildeten  Wörter  ausmerzen  zu  können.  Es  ist  that- 
sächlich  die  Zeit  eingetreten,  welche  Paul  Szemere  vor  85  Jahren  mit  den 
Worten  voraussagte:  «es  wird  die  Zeit  des  Stabilwerdens  der  Sprache  ein- 
treten •  (soweit  nämlich  im  Leben  der  Sprache  von  Stabilwerden  die  Bede 
sein  kann).  Wenn  heute  nach  dem  alten  Verfahren  geset.zwidrige  Wörter 
gebildet  werden,  nimmt  sie  der  Zeitgeist  nicht  mehr  auf;  er  nimmt,  wie  eines 
unserer  Mitglieder  richtig  sagte,  den  läekidomär  nicht  auf,  selbst  wenn  ihn 
Jökai  gebraucht;  er  nimmt  den  äponcz  nicht  auf,  wenngleich  ihn  die  Begie- 
rungsverordnung auf  Millionen  Blättern  verbreitet,  und  er  nimmt  den  täv- 
heszäö  nicht  auf,  wenngleich  ein  Beichsgesetz  über  ihn  existirt. 

Auf  dem  Gebiete  der  Erforschung  der  verwandten  ugrischen  Spra- 
chen tritt  gegenwärtig  vornehmlich  die  Thätigkeit  des  corr.  Mitgl.  Bernhard 
Munkäcsi  in  den  Vordergrxmd.  Er  beginnt  jetzt  die  Ergebnisse  seiner  mit 
Unterstützung  der  Akademie  vollführten  Studienreise  zu  veröffentlichen. 
Am  Ende  des  vorigen  Jahres  ist  das  I.  Heft  seines  Votjaküchen  Wörter- 
buches auf  Kosten  der  Konstantin  Bökk'schen  Stiftung  erschienen.  Dieses 
Wörterbuch  beleuchtet  nicht  allein  die  Sprache  von  allen  Seiten  —  indem 
*  sie  die  Wortbedeutungen,  Bedensarten,  Sprichwörter  mitteilt,  —  sondern 
bietet  ausserdem  zahlreiche  Beiträge  zur  Kenntniss  der  Mythen,  Gebräuche, 
Geräte  des  Votjaken- Volkes,  solcherweise  die  Kenntniss  der  ugrischen 
Völker  auch  in  ethnographischer  Hinsicht  fördernd.  Auf  Grund  seiner  von 
seiner  sibirischen  Beise  mitgebrachten  Sammlungen  hat  Munkäcsi  auch 
Musterproben  vogulischer  Volksdichtungen  und  grammatische  Skizzen  der 
Vogulensprache  mitgeteilt.  Unser  armer  Beguly,  welcher  vor  fünfzig  Jahren 
dieselbe  Beise  unternommen  hat  und  an  Körper  und  Geist  gebrochen 
nur  schon  seine  •Ueherlieferungen  der  Vogulen»  heimbringen  konnte,  kann 
versöhnt  auf  seinen  glücklicheren  Nachfolger  herabblicken,  den  Fort- 
setzer jener  wissenschaftlichen  Bestrebungen,  welchen  er  selbst  sein  Leben 
geopfert  hat. 

32* 


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500  LI.  JAHRES\'ERSAMMLUNG    PER    UNGARISCHEN 

Ein  geisterhebendes  Beispiel  des  Heldentums  der  Liebe  zur  Wiesen - 
Schaft  ist  auch  das  posthume  Werk,  welches  unter  den  vorjährigen  Publica- 
tionen  der  classisch- philologischen  Commission  den  ersten  Platz  einnimmt: 
die  Pindar- Schölten  von  Eugen  Abel.  Auf  dem  Siechbette,  von  verzehrendem 
Fieber  gequält,  mit  zitternder  Hand  beendet  der  junge  Gelehrte  sein  Werk 
und  sein  Leben,  mit  seinem  Werke  das  so  schwierige  Verständniss  der  pin- 
darischen  Dichtungen  um  einen  gewaltigen  Schritt  vorwärts  bringend. 

Wir  gehen  nun  zur  Skizzirung  der  Thätigkeit  der  H.  Classe  über.  In 
der  ersten  Section  derselben,  zu  welcher  Philosophie,  Rechtswissenschaft 
und  Nationalökonomie  gehören,'  hielten  die  Mitglieder  Paul  Hoflfmann  und 
Thomas  Vecsey  rechtswissenschaftliche,  Julius  Schwarcz  verfassungs- 
geschichtliche, Alexander  Matlekovits  und  Josef  Jekelfalussy  nationalökono  • 
mische  Vorträge.  Die  nationalökonomische  Commission  begann  ein  hoch- 
wichtiges neues  Unternehmen,  die  Herausgabe  einer  *  Sammlung  der  Werke 
der  vorzüglichsten  nationalökonomischen  Schriftsteller*  in  ungarischer  lieber- 
Setzung,  welche  eine  lang  gefühlte  Lücke  unserer  Literatur  auszufüllen  sucht 
Die  Publication  begann  mit  Adam  Smith's  epochalem  grossen  Werke,  einge- 
leitet durch  eine  Abhandlung  des  ordentlichen  Mitgliedes  Julius  Eautz  über 
Smith  als  Begründer  der  nationalökonomischen  Wissenschaft.  Diesem  Werke 
werden  die  Werke  von  Malthus :  über  die  Population,  von  Bicardo :  über  die 
Grundsätze  der  Volkswirtschaft  u.  a.  folgen.  Diesem  Unternehmen  wurde 
durch  die  im  Vorjahre  von  Sigmund  Schossberger  zu  diesem  Zwecke  gemachte 
Stiftung  eine  bedeutende  materielle  Unterstützung  zu  Teil. 

Hier  gedenke  ich  auch  jener  hochherzigen  Stiftung,  welche  ebenfalls 
im  vorigen  Jahre  Dr.  Sigmund  Brody  zur  Hebung  eines  verwandten  Faches, 
der  ungarischen  Publicistik,  in  unserer  Akademie  gemacht  hat.  «Vor  Augen 
haltend  jene  wichtigen  Dienste,  welche  die  ungarische  Publicistik  in  kriti- 
schen Zeiten  den  nationalen  Interessen  geleistet  hat  und  auch  mit  Hinblick 
auf  jene  grossen  nationalen  und  culturellen  Interessen,  deren  treue  Pflege 
die  gegenwärtige  und  künftige  Aufgabe  der  Publicistik  ist»  —  hat  er  der 
Akademie  20,000  fl.  zu  dem  Zwecke  zur  Verfügung  gestellt,  dass  die  Zinsen 
dieses  Betrages  alle  drei  Jahre  als  publicistischer  Preis  ausgeschrieben  wer- 
den. Dieser  Preis  wird  zum  erstenmal  auf  der  1894er  Generalversammlung 
ausgefolgt  werden. 

Die  zweite  oder  historische  Section  der  II.  Classe  kann  ausser  Sitzungs- 
vorträgen der  Mitglieder  Wilhelm  Fraknoi,  Alex.  Szilägyi,  Ignaz  Acsädy, 
Johann  Csontosi,  Theodor  Ortvay,  Ludwig  Szädeczky  aus  dem  Vorjahre  eine 
ganze  Beihe  grösserer  Publicationen  aufweisen.  Namentlich  aus  der  Eeihe 
der  fortlaufenden  Publicationen :  Ungmische  Bächstagsdenkmäler.  Bd.  10. 
Bed.  von  Wilhelm  Fraknoi  und  Ärpäd  Kärolyi ;  —  Corpus  stattttorum  Bd.  2. 
red.  von  Alex.  Kolosväry  und  Clemens  Oväry ;  —  Ungarländische  türkische 
Aerarial'Defter  Bd.  2.  red.  von  Anton  Velics  und  Ernst  Kammerer;  femer 


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AKADEMIE    DER   WISSENSCHAFTEN.  oOl 

selbständige  Werke:  •Charakteristik  Colberts,  Ministers  Ludwigs  XIV •  von 
Aladär  Ballagi;  *  Leben  oberungarischer  Städte  im  lÖ.  und  16.  Jahrhundert» 
von  Koloman  Demkö;  •  Diplomat arium  zur  Geschichte  der  Regierung  des  Für- 
sten  Gabriel  Beihlen*  vom  Prager  üniversitÄtsprofessor  Anton  Gindely ;  •Sie- 
benbürgen und  der  nordöstliche  Krieg.  Bd.  i.»  von  Alex.  Szilägyi.  Des  Gegen- 
standeswegen reibe  ich  bieber  die  von  der  kriegswissenscbaftlicben  Commission 
der  ni.  Glasse  unter  Bedaction  Eugen  Könai's  besorgte  neue  Ausgabe  der 
« Kriegsmissenschaftlichen  Werke  des  Dichters  und  Feldlierrn  Grafen  Nico- 
laus  Zrinyi*. 

Die  bistoriscbe  Commission,  welcbe  bisber  blos  die  Aufsuchung, 
Sammlung  und  Herausgabe  von  Quellen  der  ungarischen  Geschichte  als 
ihre  Aufgabe  betrachtet  hatte,  findet  es  an  der  Zeit,  ihren  Wirkungskreis 
auch  auf  die  Aufarbeitung  der  Urkunden  auszudehnen  und  meldet,  dass  sie 
diese  Erweiterung  ihres  Programmes  nächstens  in  Vollzug  zu  setzen  in  der 
Lage  sein  werde.  Das  o.  M.  Julias  Pauler  ist  mit  seiner  Geschichte  der 
Ärpäden-Periode  grossenteils  fertig;  dieses  Werk  wird  unter  dem  Titel  •  Ge- 
schichte der  ungarischen  Nation  im  11. — IS.  Jahrhundert^  aus  zwei  Bän- 
den bestehen,  deren  erster,  der  bis  zur  Zeit  Bela's  IV.  reicht,  schon  im  näch- 
sten Jabre  unter  die  Presse  geben  kann.  Ebenso  ist  der  1.  Teil  des  zwei- 
bändigen Werkes  Paul  Hunfalvy 's  ^Allgemeine  Geschichte  der  Bumänen», 
welcher  bis  zur  Mohäcser  Katastrophe  reicht,  vollständig  fertig  und  so  ist 
sicher  zu  hoffen,  dass  die  Commission,  welche  ihrem  neuen  Programm  ent- 
sprechend auch  die  Zahl  ihrer  Mitglieder  vermehrt  hat,  auch  auf  diesem 
Gebiete  eine  rege  Thätigkeit  entfalten  wird. 

Die  archäologische  Commission  hat  im  Vorjahre  ausser  ihrem  sorg- 
fältig redigirten  «Anzeiger»  auch  einen  Band  ihrer  «Mitteilungen»  (den 
16)  veröffentlicht,  welcher  neben  Gabriel  Tegläs's  Arbeit  über  den  Bergbau 
Korabiens  und  das  zweifache  Grabfeld  von  Zalaina,  Maurus  Wosinsky's 
Detailbeschreibung  der  Funde  der  Lengyeler  prähistorischen  Anlage,  welche 
das  weltberühmte  Museum  des  Grafen  Alex.  Apponyi  bilden,  enthält.  Auf 
Antrag  dieser  Commission  hat  unsere  Akademie  beschlossen,  dass  sie  fortan 
die  reichstäglich  für  archäologische  Publicationen  votirte  Dotation  zur  Hälfte 
zur  Veröffentlichung  vaterländischer  Baudenkmäler  und  zur  Hälfte  zu 
anderartigen  archäologischen  PubUcationen  verwenden  wird. 

Die  Thätigkeit  der  HI.  Classe  in  ihrer  mathematisch-physikalischen 
und  ihrer  naturgeschichtlichen  Section  anbelangend,  übergehe  ich  die  lange 
Beihe  der  in  den  Sitzungen  vorgetragenen  und  entweder  in  den  •Abhand- 
lungen» und  dem  •Anzeiger»  der  Classe  oder  in  den  •Mathematischen  und 
naturmssenschaftlichen  Mitteilungen»  derselben  publicirten  Arbeiten  und 
Forschungen  mit  Hinweis  auf  den  gedruckt  verteilten  Bericht  und  lenke  die 
Aufmerksamkeit  blos  auf  jene  zwei  grösseren  Werke,  welche  als  besondere 
Publicationen  der  Classe  veröffentlicht  wurden.  Das  eine  ist  die  ^^Geologische 


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502  LI.  JAHRESVERSAMMLUNG    DER    UNGARISCHEN 

Beschreibung  der  Umgebung  von  Schemnitz*  von  Josef  Szabö.  Verfasser  fassi 
nicht  nur,  nacb  14jäbrigem  Studium,  unsere  auf  Schemnitz  bezüglichen 
geologischen  Kenntnisse  in  ihrer  vollen  Gänze  in  Terten  und  prächtigen 
Eartenbeilagen  zusammen,  sondern  will  zugleich,  unter  geologisch  compli- 
cirten  Verbältnissen,  den  als  rother  Faden  das  ganze  Werk  durchziehenden 
Grundgedanken,  nämlich  die  natürliche  Classification  der  Tracbyte,  zu  voller 
Geltung  bringen.  —  Das  zweite  ist  der  L  (einleitende)  Teil  eines  auf  sechs 
Bände  berechneten  Werkes,  MT^oretische  Physik»  von  Isidor  Fröhlich,  wel- 
ches vom  Verfasser  im  Auftrage  der  Glasse  verfertigt,  eine  stark  fahlbare 
Lücke  unserer  wissenschaftlichen  Literatur  ausfüllen  wird. 

Geehrtes  Publikum !  Die  ersten  Statuten  der  Ungarischen  Gelehrten- 
Gesellschaft  enthielten  bis  zum  Jahre  1848  einen  Punkt  (den  42.),  welcher 
anordnete,  «dass  über  den  zweckentsprechenden  Fortgang  der  Gesellschaft 
die  Comitate  alljährlich,  die  Landstände  aber  gelegentlich  der  Beichstags- 
Session  zu  verständigen  seien». 

Dann  ist  eine  Zeit  gekommen,  in  welcher  die  neuen  Statuten  (§.  53) 
befahlen,  «dass  alle  ProtocoUe,  ohne  Unterschied,  binnen  acht  Tagen  nach 
Abhaltung  jeder  Sitzung  oder  Versammlung  an  das  k.  k.  General-Gouverne- 
ment zum  Zwecke  der  Eenntnissnahme  und  Prüfung  hinaufzusenden  seien». 

Heute  legen  wir  nicht  mehr  den  Gomitaten,  auch  nicht  den  Land- 
ständen, sondern  der  auch  alle  diese  in  sich  fassenden  Oeffentlichkeit  «über 
den  Fortgang  der  Gesellschaft»  Rechenschaft  ab,  und  nicht  alljährlich,  son- 
dern allmonatlich,  in  Form  der  Zeitschrift  t^  Akademischer  Anzeiger»,  welche 
die  Verbandlungen  der  Sitzungen^  Conferenzen  und  Gommissionen,  die  im 
Verlag  oder  mit  Unterstützung  der  Akademie  erschienenen  Werke  und  Zeit- 
schriften eingehend  bespricht^  und  welche  die  Zeitungen,  Bibliotheken, 
Gasinos,  ja  vom  Beginn  dieses  Jahres  auch  Einzelne,  die  nur  einiges  In- 
teresse für  die  Thätigkeit  der  Akademie  bekunden,  unentgeltlich  zugesandt 
bekommen. 

Heute  ist  der  Vorwurf  der  Abschliessung,  welcher  vor  Zeiten  der 
Akademie  gemacht  wurde,  nicht  mehr  zutreffend.  Sie  stellt  ihr  Licht  nicht 
unter  den  Scheffel,  ist  vielmehr  bestrebt,  ihr,  wenn  auch  kleines  Licht  in  je 
weiteren  Kreisen  leuchten  zu  lassen. 

Mit  schwerem  Herzen  wende  ich  mich  dem  letzten  Teile  des  Berichtes 
zu;  der  Aufzählung  der  Verluste,  welche  die  Akademie  durch  den  Tod 
erlitten  hat. 

Im  Vorjahre  sind  aus  der  I.  Glasse  ein,  aus  der  II.  zwei,  aus  der  HE. 
nicht  weniger  als  sieben  Mitglieder  verstorben.  Unter  unseren  auswärtigen 
Mitgliedern  verschieden :  E.  T.  Atkinson,  der  Gelehrte  eines  entfernten  Erd- 
teiles, der  gewesene  Finanzminister  des  indischen  Kaisertums,  der  Forscher 
der  Geschichte  und  der  Käferwelt  Indiens,  in  Calcutta,  und  Franz  Miklo- 
sich,  der  weltberühmte  slavische  Sprachforscher  in  Wien,  welcher,  vnewohl 


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AKADEMIE   DER   WISSENSCHAFTEN.  503 

answärtiges  Mitglied  unserer  I.  Classe,  dennoch  nicht  nur  unserer  Sprach- 
wissenschaft, sondern  auch  unserem  Herzen  nahe  stand.  Sein  öfterer  Auf- 
enthalt in  Budapest  gab  den  Mitgliedern  unserer  Akademie  Gelegenheit^ 
jenen  Mann  lieb  zu  gewinnen,  den  sie  wegen  seiner  wissenschaftlichen  Ver- 
dienste, und  besonders  wegen  seines  für  unsere  Sprachwissenschaft  höchst 
fördersamen  Werkes  über  die  slavischen  Elemente  im  Ungarischen,  schon 
lange  verehrt  hatten. 

Unter  unseren  internen  Mitgliedern  verloren  wir  aus  der  Reihe  der  II. 
Glasse :  das  ordentUche  Mitglied  Karl  Szabö,  einen  der  ehrenwertesten  Pfle- 
ger der  vaterländischen  Geschichtschreibung,  den  Neubegründer  der  unga- 
rischen Bibliographie,  den  verdienstvollen  Sammler  der  «^ alten  ungarischen 
Bibliothek»,  dessen  unterbrochenes  Werk  die  Akademie  pietätsvoll  zur  Voll- 
endung führen  lässt,  und  das  correspondirende  Mitglied  Grafen  Emanuel 
Andrässy,  den  kunstverständigen  Mäcen  der  Archäologie,  welcher  bereits 
zu  jener  Zeit,  als  die  ungarische  Wissenschaft  noch  keine  Landesdotation 
genoss,  die  archäologische  Thätigkeit  unserer  Akademie  eifrig  unterstützte. 
Aus  den  Beihen  der  KL.  Glasse  wurde  uns  geraubt :  unser  Nestor,  Johann 
Udvardy  Ghema,  58  Jahre  lang  correspondirendes  Akademie-Mitglied,  in  den 
30er  Jahren  Schriftsteller  und  anfänglich  übereifriger,  später  ganz  entmu- 
tigter Beformer  auf  dem  Gebiete  der  Oekonomie- Wissenschaft,  femer  das 
correspondirende  Mitglied  Johann  Pettko,  einer  der  ersten  bahnbrechenden 
Arbeiter  der  ungarischen  geologischen  Literatur,  und  aus  demselben  Fache 
das  correspondirende  Mitglied  Karl  Ho£fmann,  ein  Gelehrter  von  seltener 
Gewissenhaftigkeit  und  Bescheidenheit;  unter  den  ordentiüchen  Mitgliedern 
in  letzter  Zeit  Eugen  Jendrässik,  der  erste  ungarische  vortragende  Professor 
der  Physiologie  an  unserer  Universität  und  Einbürgerer  der  Dubois-Beymond'- 
schen  Bichtung  bei  uns,  und  vor  ihm  Guido  Sohenzl,  der  Begründer  der  me- 
teorologischen Landesanstalt,  dem  Ungarn  eine  zweite  Heimat  wurde,  nach 
der  er  sich  auch  von  seinem  glänzenden  Abtsitze  zurücksehnte ;  und  morgen 
vor  einem  Jahre,  in  derselben  Stunde,  in  der  wir  in  diesem  Saale  unsere 
feierliche  Sitzung  hielten,  beschloss  sein  Leben  das  ordentliche  und  Directions- 
ratsmitglied  unserer  Akadenue,  ihr  gewesener  Vice-Präsident  und  stellvertre- 
tender Präsident,  dessen  Namen  es  mir  unmöglich  ist  ohne  innige  Bührung 
auszusprechen :  Josef  Stoczek,  ein  hervorragender  Physiker,  Organisator  des 
vaterländischen  höheren  technischen  Unterrichtes,  durch  mehr  als  dreissig 
Jahre  der  leitende  Geist  des  ungarischen  Polytechnicums,  der  unvergessliche 
Lehrer  der  heute  lebenden  Ingenieurs,  mir  aber  —  es  sei  auch  dem  Schüler 
gestattet,  dem  Kranze  der  Akademie  ein  Blatt  hinzuzufügen  —  nicht  nur  Pro- 
fessor, sondern  väterlicher  Freund,  Aneiferer,  Leiter,  dem  ich  auf  meiner 
wissenschaftlichen  Laufbahn  das  meiste  verdanke. 


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^0*  LI.  JAHRESVERSAMMLUNG    DER   UNOARISCHEN 


ni. 

Denkrede  auf  Graf  Julius  Andrässy. 

Von  Benjamin  v.  Källay. 

Ein  Jahr  ist  kaum  dabingegangen,  seitdem  die  ungarische  Nation,  in 
tiefe  Trauer  gehüllt,  in  diesem  nämlichen  Palaste  sich  um  die  Bahre  des 
Grafen  Julius  Andrässy  geschaart  hat.  Und  in  diesem  weiten  Vaterlande 
ist  die  Akademie,  dieser  Mittelpunkt  ungarischer  Cultur,  der  würdigste  Ort, 
des  heimgegangenen  grossen  Staatsmannes  zu  gedenken.  Denn  nirgends 
besteht  ein  so  inniger  Zusammenhang,  wie  gerade  bei  uns,  zwischen  den 
allgemeinen  Interessen  geistiger  Entwicklung  und  der  praktischen  Politik. 
Die  ganze  Vergangenheit  unseres  Volkes  und  dessen  Zukunft  verweisen  uns 
ja  darauf,  dass  wir,  deren  hauptsächlichste  Stärke  nicht  in  der  Ueberzahl 
wurzelt,  in  diesem  polyglotten  Lande  als  Hüter  der  universellen  Bildung 
auftreten  und  durch  Verbreitung  der  letztem  uns  auch  die  politische  Supre- 
matie sichern  sollen.  Durch  tausend  Jahre  haben  wir  uns  nur  dadurch  als 
Nation  zu  behaupten  vermocht,  dass  wir  uns  den  Ideen,  welche  dem  Westen 
entstrahlt  sind,  nie  verschlossen  haben.  Und  auch  für  die  Zukunft  können 
wir  nur  in  dem  Falle  auf  die  Führerrolle  zählen,  wenn  wir  stets  eingedenk 
bleiben  des  Berufes,  der  uns  in  den  Reihen  der  Streiter  für  den  Fortschritt 
des  menschlichen  Geistes  zuteil  geworden. 

Niemand  war  mehr  durchdrungen  von  der  Richtigkeit  solcher  Auffas- 
sung, Niemand  hing  ihr  bis  an  das  Grab  treuer  an,  als  Julius  Andrässy. 
Schon  im  Jahre  1861  sagte  er:  «Wie  immer  man  die  Idee  des  menschlichen 
Fortschrittes  benennen  möge,  heisse  sie  nun  Christentum,  Religionsfreiheit, 
Constitutionalismus  —  stets  finden  wir  unsere  Nation  unter  ihrer  Fahne 
streiten.  Haben  wir  Wunden,  so  wurden  sie  auf  diesem  Schlachtfelde  em- 
pfangen.! Und  einige  Jahre  später  äusserte  er:  tEs  gibt  Nationen,  die,  um 
sich  zu  erhalten,  nur  das  Interesse  ihrer  Race  und  ihrer  Sprache  sich  als 
ausschliessliche?  Endziel  auszustecken  brauchen.  Uns  hat  die  Vorsehung 
vielleicht  nur  darum  in  so  geringer  Anzahl  erschaffen,  damit  es  in  diesem 
Teile  der  Welt  ein  Volk  gebe,  welches  sich  lediglich  dadurch  und  nur  inso- 
lange  zu  behaupten  vermag,  dass  und  als  es  für  die  heiligsten  Interessen 
der  Menschheit  kämpft.» 

Andrässy's  innerste  Gedanken,  die  letzten  Ziele  seines  Strebens,  die 
ganze  Richtung  seines  Lebens  offenbaren  sich  uns  in  diesen  Worten.  Gross 
und  hehr  ist  die  Aufgabe,  deren  Lösung  er  als  den  Lebensberuf  der  ungari- 
schen Nation  ansah.  Voranzuschreiten  in  dem  Erstreben  dieses  Ziels,  der 
Nation  ein  Führer  zu  sein  auf  dieser  Bahn :  das  war  Andrässy's  einziges 


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AKADEMIE    DER   WISSENSCHAFTEN.  505 

Sehnen,  das  die  Triebfeder  all  seines  "Wirkens  seit  dem  Augenblicke,  da  er 
das  Feld  der  Oeffentlichkeit  betrat. 

Nicht  um  der  Macht  willen  zog  es  ihn  hin  zum  Besitze  der  Macht ; 
nicht  Ehrgeiz,  noch  Buhm  spornte  ihn  an.  Ein  Ideal  nur  schwebte  ihm  vor: 
die  ungarische  politische  Nation  im  ungarischen  Staate.  Der  Verwirklichung 
dieses  Ideals  weihte  er  all  sein  Können,  seine  gesammten  Kräfte. 

Es  mag  paradox  erscheinen  und  doch  ist  es  wahr,  dass  Julius 
Andr&ssy,  der  auf  dem  Gebiete  der  praktischen  Politik  so  glänzende  Erfolge 
errungen,  der  den  Ausweg  aus  den  verworrensten  Situationen  stets  mit  so 
erstaunlicher  Gewandtheit  gefunden  hat,  einer  der  grössten  Idealisten 
gewesen  ist.  Ja,  gerade  diese  seine  Eigenschaft  war  es,  der  er  seine  unver- 
gänglichsten Erfolge  zu  danken  hatte.  Dreissig  Jahre  werden  es  sein  in 
diesem  Monate,  seit  er  einer  seiner  Beden  die  folgenden  Worte  eingewoben 
hat:  «Die  Geschichte  erweist  es  durch  ihre  Beispiele,  dass  die  Monarchien, 
selbst  die  grössten,  ihre  Zukunft  in  Ideen  besitzen  und  dass  sie  nur  durch 
diese  ein  Gewicht  in  der  Waagsschale  der  Menschheit  gewinnen.» 

Der  so  gedacht  hat,  war  gewiss  von  der  tiefsten  Achtung  für  die 
Macht  der  Ideen  und  der  Ideale  beseelt.  Und  er  hatte  Becht.  In  den  Käm- 
pfen des  Lebens  und  insbesondere  auf  politischem  Gebiete  ist  Derjenige, 
der  mit  dem  Ergebniss  des  Heute,  als  mit  einem  Endziele,  sich  zufrieden 
gibt,  keiner  grossen  Schöpfung  fähig.  Nur  das  Festhalten  des  Ideals  verleiht 
Einzelnen  sowohl  wie  Völkern  jene  Kraft,  welche  unverzagt,  durch  alle 
Wechselfälle  hindurch,  zum  Triumphe  führt. 

Ein  grosses  Glück  ist  es  für  uns,  dass  Andrässy,  dem  eine  für  die 
Schicksale  unseres  Vaterlandes  so  entscheidende  Bolle  zuteil  wurde,  niemals 
von  seinen  idealen  Höhen  hinabgestiegen  ist.  Es  ist  ein  grosses  Glück, 
denn  der  einzige  Gegenstand  seines  Idealismus  ist  die  Wohlfahrt  unserer 
Nation  gewesen.  In  ihm,  wie  in  keinem  Zweiten,  war  das  Wesen  unseres 
Volkstums  mit  allen  seinen  schönen  und  guten  Eigenschaften  verkörpert. 
Er  war  Ungar  durch  und  durch,  Ungar  in  seinen  Empfindungen  und  Ungar 
in  der  Bichtung  seines  Denkens.  Nur  dass  in  seiner  Individualität  die  west- 
europäische Cultur,  für  deren  Errungenschaften  er  sich  so  sehr  zu  begei- 
stern gewusst  hat,  unzertrennlich  verschmolzen  war  mit  urwüchsig  ungari- 
scher Auffassung.  Er  war  der  vornehmste  Vertreter  der  aus  der  allgemeinen 
Cultur  hervorgehenden  specifischen  nationalen  Entwicklung  in  unserem 
Vaterlande.  Und  darin  wurzelte  seine  Kraft,  darin  jener  unaussprechliche 
Zauber,  der  seinem  ganzen  Wesen  entstrablte.  Das  empfanden  im  Uebrigen 
auch  die  Fremden  ausserhalb  der  Grenzen  unseres  Landes ;  wie  ja  der 
«ungarische  Graf»  (so  nannte  man  ihn  zuweilen),  so  lange  er  an  der  Spitze 
der  auswärtigen  Angelegenheiten  der  Monarchie  stand,  durch  die  ungarische 
Ursprünglichkeit  seines  Geistes  und  seiner  Denkungsart  dem  Bufe  Ungarns 
im  Auslande  mehr  Achtung  und  Notorietät  erworben  hat,  als  so  manche 

VngtaUehB  Reme,  XI.  1891.  VI— VII.  Heft.  32^ 


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o(K»  u.  JAHRE8\^RSAMMLUNO    DER   UNGARISCHEN 

politische  Emingenschaft,  zu  welcher  unsere  Nation  beute  mit  sonst  be- 
rechtigtem Stolze  emporblickt. 

Allein  zu  welcher  Höhe  Andrässy  sich  auch  in  seinen  politischen 
Strebungen  emporgeschwungen  habe,  nie  ward  er  befangen  und  stets  blieb 
er  frei  von  Einseitigkeit.  Und  so  geschah  es,  dass  er^  der  immer  für  Ideen 
kämpfte,  zugleich  der  praktischeste  Staatsmann  wurde.  Dieser  wunderbare 
Einklang  zwischen  Idealismus  und  praktischer  Auffassung  charakterisirt  am 
getreuesten  das  ganze  p  )litische  Wirken  Andrässy's.  Solche  Harmonie  offen- 
bart sich,  wenn  auch  vorerst  ein  wenig  verschwommen,  so  doch  in  deutlich 
erkennbarer  Weise  schon  in  der  Seele  des  Jünglings,  um  alsdann  im  Ver- 
lauf der  Jahre  immer  kraftvoller  zur  Geltung  zu  kommen.  Aus  seinem 
Idealismus  schöpfte  er  die  Ueberzeugung,  dass  eine  wirkliche  Bedeutung  nur 
das  eine  Ziel  besitze,  nach  welchem  hin  sich  all  sein  Streben  concentrirte, 
dass  er  davon  nicht  zurückweichen,  noch  auch  das  Geringste  davon  opfern 
dürfe.  Andererseits  freilich  belehrte  ihn  die  praktische  Auffassung  darüber, 
dass  dieses  Ziel  keine  unfruchtbare  Theorie  und  keine  blosse  Phantasmago- 
rie  sein  könne  und  dass  er  es  auch  in  Wirklichkeit  erreichen  müsse.  Und 
um  dieses  Ergebnisses  willen  war  er  bereit,  mit  der  Zeit  und  den  jeweiligen 
Verhältnissen  zu  transigiren,  unbekümmert  darum,  dass  ihn  seine  Zeit- 
genossen zuweilen  missverstanden  oder  gar  nicht  verstanden  haben. 

Als  im  Beginne  des  Jahres  1 848  das  ganze  Land  mit  lebhaftem  Inter- 
esse die  Frage  des  Wahlcensus  discutirte,  sprach  Andrässy  sich  für  den 
hohem,  d.  i.  für  den  Gensus  der  «halben  Session»  aus.  Manche  meinten,  er 
sei  hiebei  durch  aristokratische  und  conservative  Neigungen  geleitet  worden. 
Aber  man  täuschte  sich.  Keinen  aufrichtigem  Freund  hatte  der  liberale 
Fortschritt  je  in  Ungarn  als  Andrässy.  Aber  nicht  aus  dem  Gesichtspunkte 
des  LiberaUsmus  oder  des  Gonservativismus  entschied  er  die  Frage  der 
Wählerqualification.  Solche  Distinction  ist  ihm  belanglos  gewesen.  Wohl 
aber  dachte  er  an  eine  höhere,  wichtigere  Ermngenschaft.  Die  politische 
Suprematie  des  ungarischen  Volkes,  als  des  eigentUchen  Vertreters  des 
Grundbesitzes  in  diesem  Lande,  woUte  er  durch  den  hohem  Gensus  begrün- 
den. Und  um  dieses  Zweckes  willen  opferte  er  gern  und  ohne  Zaudern  das 
Losungswort  des  Liberalismus. 

Niemand  liebte  mehr  als  er  das  Volk,  dem  er  entstammt  war,  die 
Sprache,  welche  auch  die  seine  gewesen  ist.  Aber  wenn  er  an  die  künftige 
Grösse  der  ungarischen  Nation  dachte,  da  galt  ihm  als  die  hauptsächlichste 
Bedingung  derselben  nicht  ausschUesslich  die  Wahrnehmung  der  nationalen 
Interessen  der  ungarischen  Bace.  Andrässy  glaubte  nicht  daran,  dass  in 
einem  von  mannigfachen  Völkerschaften  bewohnten  Staate  eine  der  Bacen 
das  dauernde  Uebergewicht  über  die  anderen  schon  lediglich  dadurch  zu 
erringen  vermöchte,  dass  sie  die  rein  äusseren  Erfordernisse  ihrer  Sprache 
und  ihrer  Nationalität  in  den  Vordergrund  gelangen  lässt.  Vielmehr  war  er 


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AKADEMIE   DER   WISSENSCHAFTEN.  507 

<ler  Ansicht,  dass  verschiedene  Völker  in  einem  und  demselben  Gebiete 
-durch  das  bleibende  Beisammenleben,  die  gemeinschaftliche  historische  Ver- 
gangenheit und  den  solidarischen  Kampf  für  Becht,  Freiheit  und  staatliches 
Sein  viel  fester  und  unlöslicher  als  durch  die  Sprache  und  das  nationale 
Moment  an  einander  geknüpft  werden.  Aber  auch  davon  war  er  freilich 
überzeugt,  dass,  wenn  es  unter  diesen  Völkern  ein  Volk  gibt,  welches  den 
grossen  Ideen  des  Fortschrittes  stets  die  Wege  geebnet  hat ;  ein  Volk,  das 
den  übrigen  vorangeschritten  ist  auch  dann,  als  es  zu  opfern  und  Blut  zu 
vei^essen  hatte  für  Alles,  was  dem  Menschen  hoch  und  heilig  ist;  ein  Volk, 
in  welchem  die  staatsbildende  und  staatserhaltende  Kraft  mächtiger  pulsirt : 
dass  dann  dieses  Volk  allein  dazu  berufen  sein  kann,  der  Mittelpunkt  zu 
sein,  um  den  die  übrigen  auch  unwillkürlich  sich  gruppiren,  und  aus  diesem 
ethnographisch  und  sprachlich  mannigfachen  Gemisch  unter  seinem  Namen 
und  unter  seiner  Führung  eine  einheitliche  politische  Nation  zu  bilden. 
Andrässy  zweifelte  nicht  daran,  dass  in  Ungarn  diese  Bolle  schon  vermöge 
ihrer  Vergangenheit  der  ungarischen  Bace  gebühre,  und  darum  hatte  er  auch 
Becht  in  der  Annahme,  dass  Jedermann,  der  das  Wohl  der  ungarischen 
Nation  am  Herzen  trägt,  zugleich  für  das  Interesse  aller  Nationalitäten  dieses 
Staates,  für  die  Zukunft  des  Staates  kämpft. 

Kann  es  uns  nunmehr  Wunder  nehmen,  dass  der  so  fühlende  und  so  den- 
kende Andrässy  einer  der  Ersten  war  unter  Jenen,  die  sich  der  allgemeinen 
Bewegung  anschlössen,  von  welcher  die  Nation  im  Frühjahre  1848  erfasst 
wurde?  Wie  so  Viele,  sah  auch  er  eine  neue  Epoche  herandämmem,  welche  auf 
Grund  des  wechselseitigen  Einvernehmens  zwischen  Krone  und  Nation  dem 
ungarischen  Staate  nebst  der  Gewährleistung  der  historischen  Bechte  die 
gesetzliche  Freiheit,  die  verfassungsmässigen  Institutionen,  die  ungehemmte 
Entwicklung  des  staatlichen  Lebens  bescheeren  wird.  Das  war  die  Summe 
dessen,  was  Andrässy  damals  ersehnte,  das  Ziel,  das  er  durch  gesetzliche 
Mittel  und  auf  gesetzlichem  Wege  zu  erreichen  trachtete. 

Aber  sein  scharfer  Verstand  vermittelte  ihm  schon  damals  die  Einsicht, 
dass  die  ungarische  Nation  das  Erzielen  jener  Vorteile  nur  erhoffen  kann, 
wenn  sie  «nebst  der  eigenen  Kraft  und  ihrer  innem  Eintracht  auch  noch 
durch  die  Sympathien  Anderer  unterstützt  wird.»  Und  diese  Unterstützung 
suchte  Andrässy  nicht  in  der  Ferne,  sondern  vor  allem  dort,  wo  sie  vermöge 
der  Natur  der  Verhältnisse  am  leichtesten  zu  finden  war.  Am  9.  Mai  1848 
schreibt  er  diesfalls  in  einem  seiner  üblichen  Ablegatenberichte  an  das 
Zempliner  Comitat:  «Das  Gefühl  der  Freiheit  erweckt  diese  Sympathie, 
genährt  und  gefestigt  wird  dieselbe  durch  die  Interessengemeinschaft  mit 
jenen  Völkern  werden,  mit  welchen  Geschichte  und  Gesetz  durch  die  prag- 
matische Sanction  uns  verbunden  haben.»  Die  politische  Bichtung  also, 
welche  Andrässy  schon  zu  Beginn  des  Jahres  1848  als  correct  und  für  die 
^^ation  heilsam  angesehen  hat,  unt.erschied  sich  in  ihrem  Wesen  durch 

32* 


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508  LI.    JAHRESVEKßAMMLUNO    DER   rNOARISCHEN 

nichts  von  jener  Politik,  deren  Sieg  er  im  Jahre  1867  so  mächtig  beför- 
dern sollte. 

Indessen  die  im  Interesse  der  gesetzlichen  Reformen  eingeleitete 
Reform  schlug,  wie  dies  so  oft  im  Leben  der  Völker  geschieht,  nachmals  in 
eine  Revolution  um.  Andrässy  harrte  bis  zum  Schlüsse  auch  unter  der 
Fahne  der  letztem  aus.  Er  harrte  aus,  denn,  wie  die  Diuge  sich  damals 
gestalteten,  glaubte  auch  er,  dass  es  keinen  andern  Ausweg  als  den  bewaff- 
neten Widerstand  gab ;  und  vorwiegend  harrte  er  deshalb  aus,  weil  es  sich 
mit  seinem  ehrUchen,  wahrhaften  Charakter  nicht  vertragen  hätte,  gerade 
im  Augenblick  der  Gefahr  eine  Sache  im  Stiche  zu  lassen,  der  er  aus  freien 
Stücken  sich  angeschlossen  hatte. 

Die  Revolution  wurde  besiegt,  —  und  Andrässy  suchte  mit  vielen 
Anderen  Zuflucht  im  Auslande.  Allein  die  Jahre,  die  er  fem  von  Ungarn 
verbrachte,  sie  sind  nicht  spurlos  über  ihn  hinweggezogen.  Nicht  unter  jene 
politischen  Emigranten  war  er  zu  zählen,  die  nichts  lernen  und  nichts  ver- 
gessen. Vergessen  hat  Andrässy  freilich  nicht,  keinen  Augenblick  lang  ver- 
gass  er  seines  Vaterlandes  und  der  Zukunft  desselben.  Aber  gelernt  bat  er 
Vieles  und,  was  in  der  Politik  als  das  feste  Kriterium  des  richtigen  Wissens 
gilt,  er  hat  gelernt  durch  scharfe  Beobachtung,  persönliche  Erfahrung  und 
durch  wohlerwogenes  Prüfen  der  sich  umgestaltenden  Verhältnisse.  Dem 
hatte  er  es  zu  dankeu,  dass  er  die  gefährlichen  Klippen  vermied,  an  denen 
bislang  noch  jede  Emigration  scheitern  musste :  das  erfolglose  optimistische 
Träumen  oder  die  verzweifelte  Resignation. 

Der  Mensch  bedarf  so  sehr  dessen,  worin  er  sein  Glück  aufzufinden 
hofft,  dass,  wenn  er  es  verlor,  er  nicht  leichterdings  sich  in  sein  Schicksal 
fügt.  Keine  Empfindung  ist  dauerhafter,  keine  zäher  als  der  Glaube,  dass 
unser  gescheitertes  Sehnen  dereinst  noch  in  Erfüllung  gehen  könne.  Diesem 
Glauben  entspringt  jener  geheimnissvolle  Trieb,  der  den  Menschen  so  oft 
selbst  zu  hoffnungslosen  Versuchen  anspornt.  Und  in  dieser  Hinsicht  bilden 
die  Völker  keine  Ausnahme. 

Auch  die  imgarische  Emigration  betrachtete  die  Niederlage  der  natio- 
nalen Bewegung  lediglich  als  einen  vorübergehenden  Schicksalsschlag. 
Solche  Illusion  ist  umso  begreiflicher,  als  Exilirte  auch  in  der  Fremde 
zumeist  sich  im  Kreise  jener  Gefühle,  Ideen  und  Hoffnungen  bewegeu, 
welche  bei  ihrem  Scheiden  aus  der  Heimat  ihre  ganze  geistige  und  sittiiche 
Welt  gebildet  hatten.  Die  Führer  der  ungarischen  Refugi^s  blickten  in  der 
That  lange  mit  unverbrüchlichem  Vertrauen  in  die  Zukunft,  von  der  sie  die 
Möglichkeit  erhofften,  den  Kampf  daheim  wieder  aufzunehmen,  wenn  es 
ihnen  geUngen  würde,  die  Sympathien  Westeuropas  wachzurufen  und  von 
diesem  thätige  Hilfe  zu  gewinnen.  Diesem  Ziele  wandte  sich  denn  auch 
fortab  all  ihr  Streben  zu. 

Andrässy  trennte  sich  nicht  von  seinen  Gefährten,  ja  im  An&ng  teilte 


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AKADEMIE    DER   WISSENSCHAFTEN.  509 

^r  sogar  ihre  Hoffnungen.  Aber  es  währte  nicht  lange  und  Bedenken  stiegen 
in  ihm  auf.  Was  er  um  sich  erblickte  und  was  er  erfuhr,  machte  ihn  stutzig« 
In  einem  Teile  der  europäischen  Presse,  in  manchen  politischen  Salons 
und  auf  öffentlichen  Meetings  äusserten  sich  allerdings  lebhafte  Sympathien 
für  das  Geschick  Ungarns,  und  der  Emigration  kamen,  wenigstens  insgeheim> 
sogar  von  officieller  Seite  Aufmunterungen  zu.  Indessen  Andrässy  täuschte 
sich  nicht  lange  über  den  wahren  Wert  solcher  Teilnahme  und  der  gehet* 
men  Zusagen.  Je  eingehender  er  die  Verhältnisse  studirte,  desto  mehr 
drängte  sich  ihm  die  Ueberzeugung  auf,  dass  die  Sympathien  der  euro- 
päischen öffentUchen  Meinung  für  die  ungarische  Sache  ein  hell  aufflam- 
mendes, aber  rasch  verknistemdes  Strohfeuer  seien,  und  dass  die  Cabinete 
^ie  Emigration  lediglich  als  Mittel  zur  Förderung  ihrer  Zwecke  zu  benützen 
vorhatten.  Indem  mächtigen  Frankreich  sowohl  wie  in  dem  damals  noch 
kleinen  Piemont  hatte  die  ungarische  Frage  nur  insofern  Belang,  als  sie  im 
Falle  eventueller  Verwicklungen  eine  bequeme  Diversion  gegen  Oesterreich 
ermöglichte.  Daran  dachte  jedoch  Niemand,  um  Ungarns  wiUen  sich  in  einen 
<liplomati8chen  Gonflict.  oder  vollends  in  einen  Krieg  mit  Oesterreich  ein- 
zulassen. Noch  hoffnungsloser  war  diesfalls  die  Auffassung  der  englischen 
Kreise.  In  diesem  Musterlande  der  politischen  Freiheit  und  des  Gonstitu- 
tionalismus  legte  die  Regierung  ein  viel  zu  grosses  Gewicht  auf  die  Erhal- 
tung des  zwischen  Deutschland,  Bussland  und  die  Türkei  eingekeilten, 
wenn  auch  absolutistischen  Oesterreich,  als  d  iss  sie  geneigt  gewesen  wäre, 
^en  Bestand  des  letztern  durch  Unterstützung  der  ungarischen  Sache  zu 
geföhrden.  Andrässy  begegnete  allenthalben  der  bald  offen  geäusserten, 
bald  schlecht  verhehlten  Auffassung  —  und  zwar  auch  von  Seite  Derer, 
<lie  im  Uebrigen  nicht  gerade  Freunde  der  österreichischen  Macht  waren  — , 
dass  in  jenem  Teile  Europas,  wo  Oesterreich  liegt,  die  civilisirte  Welt  eines 
solchen  Grossstaates  bedürfe,  welcher  vermöge  seiner  Bevölkerungszahl, 
noch  mebr  aber  durch  die  Bedeutung  seines  Heeres  stets  als  willkommener 
Bundesgenosse  fi^uriren  kann. 

Diese  Auffassung  bewog  Andrässy  zur  genauen  Beobachtung  der 
politischen  Richtung  der  neuen  Zeit.  Er  sah,  wie  die  Einheitsbestrebungen 
Piemonts,  wenngleich  vielfach  zurückgedrängt,  auf  der  ganzen  italienischen 
Halbinsel  lebhaften  Widerhall  erweckten.  Er  erkannte,  dass  das  in  aller 
Stille  sich  entwickelnde  Preussen  zur  Verschmelzung  der  kleinen  deutschen 
Staaten  berufen  sei.  So  wies  denn  Alles  darauf  hin,  dass  die  zweite  Hälfte 
des  Jahrhunderts  die  Epoche  des  Werdens  grosser  Staaten  sein  werde.  Das 
Bild  der  allgemeinen  europäischen  Politik,  wie  es  sich  den  Augen  Andrässy's 
entrollte,  erfüllte  ihn  mit  Besorgnissen  in  Hinsicht  der  Zukunft  Ungarns. 
Wenn  wir  auf  ausländische  Hilfe  nicht  zählen  können  —  diese  Frage  warf 
sich  ihm  unwillkürlich  auf,  —  ist  es  dann  überhaupt  möglich,  und  wenn  ja, 
würde  es  nicht  geradezu  einen  Selbstmord  bedeuten,  dass  die  völlig  erschöpfte 


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510  u.    JAHREBVEBSAMMLUKG    DER   UNGARISCHEN 

• 

Nation  lediglich  aus  eigener  Kraft  den  ungleichen  Kampf  wieder  aufnehme?^ 
Und  da  die  Entwicklungstendenz  des  Westens  das  Entstehen  grosser  Staaten 
zu  heischen  schien,  während  von  Nordost  her  das  riesige  Gzarenreich  auf 
uns  drückt;  —  würde  die  Selbstständigkeit  Ungarns,  vorausgesetzt,  dass  sie 
auf  den  Trümmern  Oesterreichs  sich  errichten  liesse,  uns  nicht  in  den 
unglücklichsten  Zustand,  in  den  ein  Volk  geraten  kann,  führen :  in  die 
scheinbare  Unabhängigkeit  bei  thatsächlicher  Abhängigkeit  von  einem  mäch- 
tigen Nachbar? 

Indessen,  wie  wenig  zuversichtsvoll  auch  die  Antwort  auf  diese  Fragen 
ausfiel,  Andrässy  verzagte  nicht.  Weder  konnte,  noch  wollte  er  sich  befreun- 
den mit  dem  Gedanken,  dass  die  ungarische  Nation  ihre  Bolle  für  immer 
ausgespielt  habe.  Er  hoffte  bestimmt,  dass  in  dem  ungarischen  Staate  das 
nationale  Sein  wiedererstehen  werde,  wenn  auch  unter  anderen  Verhält- 
nissen und  Bedingungen,  als  die  Führer  der  ungarischen  Emigration  gehofft 
und  gewünscht  haben  mögen.  Und  das  Zeugniss  der  Weltgeschichte  war  es,, 
was  ihn  in  diesem  Glauben  zumeist  bestärkte. 

Andrässy  erblickte  darin  eine  der  packendsten  Lehren  der  historischen 
Vergangenheit  des  ungarischen  Volkes,  dass  nicht  lediglich  Gewalt,  noch 
Eigennutz,  noch  auch  Einschüchterung  unsere  Vorfahren  zur  Anerkennung 
der  Herrschaft  des  Hauses  Habsburg  über  Ungarn  bewogen  haben.  Schon 
in  seinen  Anfängen,  fast  gleichzeitig  mit  der  Landnahme,  trat  der  neu- 
begründete Staat  in  häufigere  und  unmittelbarere  Berührung  mit  den  west- 
lichen Grenzländern,  als  mit  jenen  in  anderer  Bichtung.  Und  es  ist  wahrlich 
ein  beachtenswerter  Umstand,  dass  nicht  allein  unsere  westlichen  Nachbarn 
das  ungarische  Gebiet  wiederholt  in  ihre  Machtsphäre  einzubeziehen 
getrachtet  haben,  sondern  dass  auch  Ungarn  häufig  Versuche  gemacht  hat, 
gerade  diejenigen  Länder,  welche  das  heutige  Oesterreich  bilden,  unter  der 
Suprematie  der  heiligen  Stefanskrone  zu  vereinigen.  Welches  auch  die 
Ursachen  dieser  wechselseitigen  Bivalität  in  jed^m  einzelnen  Falle  waren, 
die  auf  Jahrhunderte  sich  erstreckende  Dauer  dieser  Bivalität  ist  jedenfalls 
ein  Beweis  dafür,  dass  beide  Teile  die  Notwendigkeit  näherer  Beziehungen 
zu  einander  empfunden  haben.  Und  war  es  auch  zunächst  die  vom  Osten 
drohende  Gefahr,  welche  zu  Beginn  des  XVI.  Jahrhunderts  die  beiden  Teile 
zur  engem  Vereinigung  bewogen  hat,  so  war  solch  inniger  Anschluss  im 
Grunde  doch  auch  durch  tiefere  Erwägungen  eingegeben.  Durch  das 
Band  zwischen  ihren  Erbländem  und  Ungarn  gewann  die  Dynastie  neue^ 
Kraft  im  Bahmen  des  heiligen  römischen  Kaiserreiches  gegenüber  den 
Schwankungen  des  letzteren,  ja  sogar  für  den  Fall  des  Zusammenbruches 
desselben.  Ungani  aber  fand  in  diesem  Anschlüsse  die  Brücke  für  seine 
Verbindung  mit  dem  civilisirten  Westen,  wodurch  es,  wenn  auch  nicht  auf 
einen  Schlag,  der  vom  Osten  ausgehenden  Eroberung,  wie  auch  der  Gtefahr 
des  Versumpfens  im  orientalischen  Geiste  zu  entrinnen  vermochte.  Darin 


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AKADEMIE   DER   WISSENSCHAFTEN. 


5J1 


erkannte  Andrässy  die  historische  Tragweite  dieses  Ereignisses^  aber  auch 
die  Notwendigkeit  desselben  für  unsere  Nation. 

Indessen  er  blieb  bei  dieser  Grenzlinie  nicht  stehen.  Aus  den  Jahr- 
hunderten nach  dem  Unstern  von  Mohäcs  schöpfte  er  noch  weitere  geschicht- 
liche Zeugnisse.  Die  ungarische  Krone  ging  auf  das  Haus  Habsburg  über, 
allein  das  Land  wurde  weder  ein  Erbland  der  Dynastie,  noch  ging  es  in  das 
Deutsche  Reich  auf.  Ungarn  behauptete  auch  fernerhin  seine  abgesonderte 
Staatlichkeit  und  sein  selbstständiges  nationales  Dasein  kraft  seiner  Eechte, 
welche  seitens  der  Fürsten  anerkannt  und  sanctionirt  wurden. 

Indessen  das  Beisammenleben  ging  nicht  ungetrübt  von  Statten. 
Mancher  Widerstreit  entstand  zwischen  Krone  und  Nation  und  häufig  griffen 
beide  zu  den  Waffen.  Aber  es  ist  sicherlich  eine  der  bedeutsamsten  histo- 
rischen Erscheinungen,  dass,  nach  welcher  Seite  auch  das  Glück  der  lang- 
wierigen Kämpfe  sich  neigte,  keiner  der  beiden  Gegner  je  seinen  Triumph 
auf  Kosten  des  andern  voll  ausgenützt  hat. 

Stets  klang  die  Fehde  in  einem  Ausgleich  aus,  wobei  die  Djmastie  die 
Gesetze  des  Landes  und  die  Privilegien  desselben  aufs  neue  bekräftigte,  die 
Nation  aber  aufrichtig  und  rückhaltslos  dem  Monarchen  huldigte.  So  folgte 
den  Kämpfen  eines  Bocskai,  eines  Bethlen,  eines  Georg  Käkoczi  in  Form 
von  Friedensschlüssen  eine  ganze  Beihe  förmlicher  staatsrechtlicher 
Ausgleiche  auf  dem  Fusse,  so  wich  der  Kampf  Franz  Bakoczi's  dem  Szat- 
märer  Frieden  und  später  der  pragmatischen  Sanction,  so  auch  wurde  der 
zehnjährige  Gonflict  am  Ausgange  des  vorigen  Jahrhunderts  durch  die 
Gesetzgebung  von  1790/91  abgelöst.  Wenn  sich  dies  nun  in  der  Vergangen- 
heit so  oft  wiederholt  hat,  war  dann  die  Annahme  nicht  richtig,  dass  es 
auch  in  der  Zukunft  so  geschehen  müsse  ?  War  die  Berechnung  nicht 
gerechtfertigt,  dass  auch  den  1849-er  Ereignissen  ein  neuer  Ausgleich  zwi- 
schen Krone  und  Nation  folgen  werde  ?  Und  musste  nebst  den  grossen 
Interessen,  welche  Dynastie  und  Land  an  einander  wiesen,  welche  die  gegen- 
seitige Versöhnung  als  ein  Lebensbedürfniss  Beider  erscheinen  Hessen,  nicht 
auch  jener  mächtige  Factor  mit  in  Betracht  gezogen  werden,  den  die  über- 
lieferten dynastischen  Gefühle  der  ungarischen  Nation  darstellen  ?  Aus  dem 
Osten  hatten  wir  dieses  Gefühl  mit  uns  gebracht,  aber  erst  hier  auf  diesem 
Boden,  im  neuen  Vaterlande  ist  es  gross  und  kräftig  geworden.  Jene  wun- 
derbare staatßbildende  Kraft,  welche  unser  Volk  schon  damals  offenbarte, 
als  es  kaum  noch  sich  aus  den  lockeren  Banden  des  Nomadenlebens  befreit 
hatte,  deutet  ja  darauf  hin,  dass  bei  uns  das  innere  Leben  der  Nation  seit 
dem  Anbeginn  unlöslich  mit  der  staatlichen  Gewalt  verschmolzen  war. 
In  dieser  Gestalt  erschien  seit  Jahrhunderten  unsere  Entwicklung  und  sie 
hat  sich  darum  dem  nationalen  Empfinden  tief  eingeprägt.  Indessen  jedes 
ähnliche  Gefühl  heischt  ein  Symbol  und  findet  es  dasselbe,  so  wird  es  unter 
dessen  Einwirkung  noch  kräftiger.  Die  christliche  Welt  sieht  alle  Begriffe 


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512 


LI.    JAHRESVERSAMMLUNG   DER   ÜNaARISCHEN 


des  Glaubens  und  der  Gesittung  in  dem  Kreuze  versinnbildlicht ;  der  reli^ 
giöse  Eifer  des  Mohamedaners  gewinnt  am  Grabe  des  Propheten  erneute 
Lebenskraft.  So  erblicken  v^ir  Ungarn  seit  900  Jahren  das  Sinnbild  aller 
Bedingungen  und  Bürgschaften  unseres  staatlichen  und  nationalen  Lebens 
in  der  heiligen  Krone.  Diese  ist  das  Symbol  unserer  Nation,  v^elches  unter 
so  mannigfachen  Wechselfällen  die  Zuversicht  in  unseren  Herzen  nicht 
erlöschen  liess  und  uns  stets  Vertrauen  in  die  Zukunft  einflösste.  Unserer  nie 
erschütterten  Anhänglichkeit  an  die  heilige  Krone  entsprang  unsere  starke 
monarchistische  Neigung  und  das  dieser  entsprechende  dynastische  GefühL 

Die  Zauberkraft  der  Krone  schuf  das  wechselseitige  Verhältniss  zwi- 
schen Nation  und  Dynastie.  Aus  diesem  Verhältniss  aber  ergibt  sich  natur- 
gemäss  die  grosse  Lehre  unserer  Geschichte,  dass  trotz  der  häufigen  Con- 
flicte,  trotz  der  oft  jahrelangen  scheinbaren  Trennung  die  Rechte  der  Nation 
nie  verjährt,  ja  jedesmal  aufs  neue  bekräftigt  worden  sind,  wie  auch  dass 
andererseits  die  Kechtscontinuität  der  Dynastie  im  Volksbewusstsein  nie 
dauernd  unterbrochen  worden  ist. 

So  gelangte  Andrässy,  das  mahnende  Wort  der  Geschiebte  richtig 
erfassend,  zu  der  Ueberzeugung,  dass  die  ungarische  Nation  die  Befriedigung 
ihrer  berechtigten  Anforderungen  nicht  im  Kampfe  gegen  die  Dynastie,  son- 
dern lediglich  im  Wege  aufrichtiger  Versöhnung  zu  erreichen  vermag.  Und 
aus  dieser  Ueberzeugung  entstand  in  seiner  Seele  die  feste  Zuversicht,  dass 
das  Werk  der  grossen  Aussöhnung,  ob  es  auch  eine  Weile  auf  sich  warten 
lasse,  zuletzt  doch  aufgeführt  werden  wird.  Denn  so  wie  er  das  Heil  der 
Nation  einzig  und  allein  davon  erwartete,  dass  sie  in  voller  Treue  sich  wieder 
der  Dynastie  zuwende,  zweifelte  er  auch  daran  nicht,  dass  die  Dynastie  in 
einem  befriedigten  Ungarn  ihre  stärkste  Stütze  finden  werde. 

Nachdem  er  nach  langwierigen  inneren  Kämpfen  und  durch  starke 
Denkarbeit  den  seiner  Ansicht  nach  einzig  richtigen  Weg  gefunden,  den  er 
dereinst  zu  wandeln  sich  vornahm,  zog  sich  Andrässy  in  der  Emigration 
immer  mehr  von  jenen  Gefährten  zurück,  die  nach  wie  vor  dem  Wahne  an- 
hingen, dass  nur  die  Unversöhnlichkeit  eine  glücklichere  Zukunft  sichern 
könne.  Zu  jener  Zeit  hatte  sich  in  der  öffentlichen  Meinung  des  Vaterlandes 
bereits  eine  wesentliche  Wandlung  vollzogen.  Die  Nation  wollte  leben.  Weder 
die  Erinnerungen  der  Vergangenheit,  noch  die  Illusionen  der  Zukunft  befrie- 
digten sie  mehr,  in  der  Gegenwart  wollte  sie  all  das  besitzen,  was  dem  Leben 
Wert  verleiht  und  konnte  sie  nicht  Alles  auf  einmal  erreichen,  so  war  sie 
bereit,  sich  vorerst  auch  mit  Wenigerem  zu  bescheiden.  Die  darob  die  Nation 
kleinmütig  schalten,  kannten  nicht  die  Natur  des  Menschen,  noch  die  uner- 
bittlichen Lehren  der  Geschichte !  Den  Todessprung  des  Curtius  können  nur 
Einzelne  unternehmen,  Völker  und  Nationen  nimmermehr.  So  war  es  auch 
in  Ungarn.  Die  scharfen  Gegensätze  begannen  sich  zu  glätten,  neue  Hoff- 
nung blühte  allenthalben  und  ein  Geist  der  Versöhnung  wehte  durch  das 


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AKADEMIE    DER   WISSENSCHAFTEN.  513 

ganze  Land.  Viele  in  der  Emigration  übersahen  diese  Wandlung  oder  sie 
Hessen  dieselbe  unbeachtet.  Andrässy  aber  verfolgte  mit  Aufmerksamkeit 
die  Q^burtswehen  der  neuen  Ideen  in  der  Heimat;  auch  war  er  genau  davon 
unterrichtet,  wie  ein  grosser  Teil  der  Nation  bereits  ganz  anders  als  noch 
vor  wenigen  Jahren  dachte.  Nun  erachtete  er  die  Zeit  für  gekommen,  das 
Ausland  zu  verlassen ;  und  als  er  die  Amnestie  erhielt,  kehrte  er,  der  Ersten 
einer  in  die  Heimat  zurück. 

Und  seit  diesem  Augenblick  lebte  unerschütterlich  in  ihm  der  Ent- 
schluss,  alle  seine  Kraft,  sein  ganzes  Können  der  aufrichtigen  und  vollen 
Aussöhnung  zwischen  Dynastie  und  Nation  zu  weihen.  Aber  darum  ver- 
leugnete er  nie  seine  Vergangenheit^  noch  warf  er  je  die  Elrinnerung  an  die- 
selbe von  sich. 

Er  hielt  dafür,  dass  nur  eine  Alltagsseele  geringschätzig  auf  die  längst 
verflüchtigte  erste  Liebe  ihrer  Jugend  zurückblicken  könne,  wenn  sie  bereits 
in  glückUcher  Ehe  lebt.  Bald  nachher  nahm  Andrässy  seine  Thätigkeit  auf 
socialem,  wie  auf  politischem  Gebiete  auf.  Er  schloss  sich  den  Besten  der 
Nation  und  insbesondere  jenem  weisen  Manne  an,  dessen  Auffassung  mit  der 
seinigen  in  so  mancher  Hinsicht  identisch  war  und  dem  ewiger  Buhm  für 
die  Aufstellung  des  Grundsatzes  gebührt,  dass  ein  Becht  nur  dann  verloren 
gehen  könne,  wenn  wir  freiwilUg  auf  dasselbe  verzichten. 

Andrässy  teilte  vollständig  dieses  Princip  und  wir  finden  ihn  unter 
Denjenigen,  welche  in  den  sechziger  Jahren  die  Führer  der  Kämpfe  um  die 
Unverjährlichkeit  der  Bechte  des  Landes  gewesen  sind.  Allein  für  wie  not- 
wendig, für  wie  unerlässlich  auch  Andrässy  das  Becht,  als  die  Grundlage  des 
nationalen  Sems,  ansah,  so  galt  ihm  dasselbe  gleichwohl  ohne  die  äusseren 
Attribute  der  Macht  als  unzureichend  für  die  kräftigere  Entwicklung  der 
Staatlichkeit.  Denn  nicht  der  Stillstand  auf  noch  so  sicherer  Grundlage, 
sondern  der  beständige  Fortschritt  war  es,  was  er  anstrebte.  Und  in  der 
That,  ihm  zumeist  ist  es  zu  danken,  wenn  in  dem  wiederhergestellten  Beehts- 
zustande  auch  die  Machtfactoren  des  ungarischen  Staates  zur  Geltung  ge- 
langt sind.  Wenigen  unter  den  Sterblichen  ward  das  Glück  zuteil,  die  Ideale 
ihrer  Jugend  sich  verwirklichen  zu  sehen.  Andrässy  ist  einer  dieser  Wenigen 
gewesen ;  was  ihm  als  fünfundzwanzigjährigen  Jüngling  als  Lebensziel  vor- 
schwebte, er  hat  es  in  späterer  Zeit  voll  und  ganz  erreicht.  Die  aufrichtige 
Versöhnung  mit  der  Dynastie  erweckte  die  ungarische  Nation  im  ungarischen 
Staate  zu  neuem  Leben  und  der  Ausgleich  mit  Oesterreich  sicherte  ihr  die 
Vorteile  einer  Grossmacbtstellung.  Andrässy,  der  einen  so  bedeutenden 
Anteil  an  der  Wiedergeburt  seines  Vaterlandes  hatte,  der  so  unverbrüchlich 
auf  die  versöhnende  und  zugleich  einende  Kraft  der  heiligen  Krone  vertraute, 
Andrässy  verdiente  es  wahrhaftig,  das-?  er  es  war,  der,  durch  das  ungeteilte 
Vertrauen  der  Nation  hiezu  erkoren,  die  heilige  Stefanskrone  auf  das  gesalbte 
Haupt  des  Königs  legen  durfte. 

Ungarische  Rotu*,  XL  1891.  VI— VO.  Heft.  33 


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514  LI.  JAHKESVERSAMMLUNÖ    DER    UNOARIßCHEN 

Grosses  hatte  Andrässy  erstrebt  und  Grosses  erreichte  er  auch.  Es  gab 
Leute,  die,  da  sie  seine  unleugbaren  Erfolge  nicht  in  Abrede  steUen  konn- 
ten, wenigstens  seine  Verdienste  geleugnet  und  nur  sein  erstaunliches  Glück 
anerkannt  haben.  In  welchem  Irrtum  waren  diese  Leute  befangen  !  Poli- 
tische Erfolge  werden  nicht  durch  das  Glück,  nicht  durch  günstige  Fügungen 
des  Zufalles  geschaffen,  sondern  nur  Befähigung,  Willensstärke,  Mut,  Aus- 
dauer und  Thatenlust  vermögen  deren  Wiederkehr  herbeizuführen.  Das 
selbstbewusste,  consequente  Handeln  ist  aber  freilich  so  selten  hienieden, 
dass  es  allenthalben  Aufsehen  erregt  und  Erwartungen  nach  neueren,  grös- 
seren Thaten  erweckt.  Und  wenn  an  einen  Menschen  auf  solche  Art  sich  die 
Ansicht  heftet,  dass  er  Etwas  nur  anzufassen  brauche,  um  es  zu  gutem  Ende 
zu  führen,  so  verwandelt  sich  diese  Ansicht  mit  der  Zeit  allerdings  zur 
Wahrheit.  Ohne  Mühen  und  ohne  Kämpfe  lässt  sich  das  freilich  nicht  er- 
reichen. In  Mühen  und  Kämpfen  hat  denn  auch  Andrässy  durch  die  Kraft 
der  eigenen  Individualität  jene  grossen  Erfolge  errungen,  welche  seine  poli- 
tische Laufbahn  aufweist.  In  einer  Hinsicht  ist  ihm  aber  das  Glück  aller- 
dings behilflich  gewesen.  Selbst  sein  Genie  wäre  gelähmt  gewesen  ohne  die 
mächtige  Unterstützung,  die  es  in  dem  erleuchteten  Geiste,  in  der  unend- 
lichen Huld  des  Herrschers  gefunden  hat.  Der  König  und  sein  Batgeber 
haben  einander  so  ganz  und  gar  verstanden,  dass  die  Geschichte  für  dieses 
wechselseitige  Verständuiss  fast  kein  zweites  Beispiel  hat.  Jener  Fürst,  der 
nichts  höher  als  die  rechtschaffene  Ueberzeugung  schätzt;  der,  den  Ein- 
gebungen seines  Herzens  folgend,  stets  bereit  ist,  den  gegen  ihn  sich  Ver- 
gehenden zu  verzeihen,  und  der  nur  gegen  sich  selbst  immer  nachsichtslos 
ist ;  der  Fürst,  dem  selbst  das  schwerste  Opfer  eine  Freude  und  eine  Beruhi- 
gung ist,  wenn  das  Staatswohl  dasselbe  erheischt,  der  selbst  unter  den 
drückendsten  Verhältnissen  stet«  mit  sicherem  Urteil  den  rettenden  Pfad 
gefunden  hat;  —  dieser  Fürst  begriff  und  würdigte  Andrässy's  Bestrebungen 
und  indem  er  denselben  die  Sanction  seines  Willens  verlieh,  zeichnete  er 
Andrässy  durch  sein  Vertrauen  aus.  Das  war  das  einzige  und  zugleich  das 
grösste  Glück  Andrässy's.  Aber  dieses  Glückes  sind  wir  ja  sammt  und  son- 
ders teilhaftig.  Denn  es  ist  unser  Aller  gemeinschaftliches  Glück,  dass  unser 
Souverän  Franz  Josef,  der  Weise,  der  Gütige,  ist. 

So  kam  denn  die  beiderseits  gleich  aufrichtige  Versöhnung  zwischen 
Krone  und  Nation  zu  Stande.  Der  Verdienste,  welche  Andrässy  um  die  Her- 
stellung der  Verfassung  und  des  Verhältnisses  mit  Oesterreich,  sowie  um 
die  Begründung  des  Dualismus  sich  erworben,  wird  die  Geschichte  Ungarns 
gewiss  in  grösster  Dankbarkeit  gedenken.  Das  grosse  Ausgleichswerk  haftet 
aber  nicht  unmittelbar  an  seinem  Namen.  Nicht  ihm  war  in  dem  langen, 
erfolgreichen  Kampfe  die  Führerrolle  zugefallen ;  er  war  nur  einer  der  Mit- 
arbeiter, freilich  zweifellos  der  bedeutendste  unter  denselben. 

Seine  specifische  Thätigkeit,  diejenige,  welche  ganz  den  Prägestempel 


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AKADEMIE    DER   WISSENSCHAFTEN. 


515 


seiner  Individualität  an  sich  trägt,  welche  ausscbliesslicb  nach  seinem 
Willen  und  nach  seiner  Auffassung  sich  gestaltet  hat,  begann  im  Grunde 
erst  in  der  Zeit,  da  er  durch  das  Vertrauen  der  Krone  und  der  Mehrheit 
der  Nation  an  die  Spitze  der  neuernannten  verantwortlichen  Begierung  trat. 
Seit  diesem  Augenblicke  beherrschte  sein  mächtiger  Geist  die  Verhältnisse 
und  die  Begebenheiten.  Und  fürwahr,  die  Nachwelt  wird  mit  Fug  und  Recht 
jenen  Zeitabschnitt,  in  welchem  er  Ungarns  Geschicke  lenkte,  «die  Aera 
Andrässy»  benennen.  Und  zwar  nicht  lediglich  im  Hinblick  auf  jene  bedeut- 
samen Schöpfungen,  welche  damals  ins  Leben  gerufen  wurden,  sondern 
noch  mehr  mit  Bücksicht  auf  jene  tiefe  und  bleibende  Wirkung,  welche  die 
durch  Andrässy  geschaffene  Bichtung  bis  auf  den  heutigen  Tag  auf  die 
Entwicklung  der  ungarischen  Nation  bethätigt  hat. 

Den  hervorstechendsten  Charakterzug  der  innern  Politik  Andrässy's 
bildet  das  strenge  und  unerschütterliche  Festhalten  der  durch  den  Aus- 
gleich geschaffenen  Grundlage.  Diese  Basis  genügte  ihm  nicht  nur,  sie  war 
ihm  auch  die  einzige  sichere  und  mögliche  Bedingung,  auf  welche  gestützt 
die  ungarische  Nation  alle  jene  Vorteile  zu  erringen  vermag,  welche  die 
Ausübung  des  Selbstbestimmungsrechtes  mittelst  selbstständig  eingerich- 
teter staatlicher  Institutionen  einem  Volke  sichern  kann.  Er  forderte  daher 
ganz  entschieden,  dass  wir  die  staatsrechtliche  Basis  nicht  vorsätzlich 
erschüttern  sollen,  auf  welcher  unser  nationales  Dasein,  um  sich  zu  conso- 
lidiren,  lange  Zeit  wird  ruhen  müssen.  In  der  That  wäre  es  ja  das  unsin- 
nigste Beginnen  von  der  Welt,  ein  für  unsem  Gebrauch  gebautes  Haus 
lediglich  deshalb,  weil  unsere  Nachfahren  dasselbe  später  wahrscheinlich 
nach  ihrem  Geschmack  und  nach  ihrer  Bequemlichkeit  umgestalten  wer- 
den, immer  wieder  vom  Grund  auf  neu  zu  bauen.  Andrassy  sah  es  als  seine 
staatsmännische  Aufgabe  an,  jeglichen,  von  welcher  Seite  immer  kommen- 
den Versuch  energisch  abzuwehren,  der  darauf  abzielte,  in  den  Ausgleich 
eine  Bresche  zu  legen. 

Und  das  that  ja  auch  in  hohem  Maasse  not.  Denn  ob  auch  die  ganze 
Nation  mit  ungeteilter  Freude  die  Verfassungsmässigkeit  begrüsste,  so  war 
doch  nicht  die  ganze  Nation  befriedigt  von  den  Modalitäten  und  Bedin- 
gungen des  Ausgleiches.  Es  erstand  eine  starke  Opposition,  welche  zwar 
nicht  die  Gemeinsamkeit  der  Dynastie  und  im  Allgemeinen  auch  nicht  das 
Beisammenbleiben  mit  Oesterreich  anfocht,  aber  die  staatsrechtliche  Basis, 
auf  welcher  der  Ausgleich  zu  Stande  kam,  missbilligte.  Im  Interesse  der 
Zukunft  Ungarns,  wie  solche  ihm  vorschwebte,  trachtete  Andrassy  es  um 
jeden  Preis  zu  verhindern,  dass  diese  Richtung  die  Oberhand  gewinne.  Denn 
er  sah  das  Ziel,  dem  sie  zustrebte,  als  ein  verfehltes  an.  Er  sah  es  als  verfehlt 
an,  weil  das,  was  die  Opposition  anstrebte,  unter  den  gegebenen  Verhält- 
nissen unerreichbar  war  und  weil  jene  mithin  das  Reelle  um  des  Unerreich- 
baren willen  opfern  wollte.  Auf  den  weiten  Steppen  des  Alföld,  wo  das  Gros 

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516 


LT.    JAHRE8VEKSAMMLUNG    DER    UNGABISCHEN 


der  ungarischen  Bace  lebt,  reicht  der  Blick  in  die  endlose  Feme  hinaus.  Von 
Zeit  zu  Zeit  aber  erscheint  die  Fata  Morgana  und  zaubert  uns  wunderbare 
Scenen  so  lebenntreu  vor,  dass  wir  das  Trugbild  häufig  für  Wirklichkeit  an- 
sehen und  des  fernen  aber  wahren  Horizonts  vergessen.  Andrässy  besorgte 
in  der  Politik  gar  Manches  von  diesem  specifisch  ungarischen  Phänomen. 
Die  Natur  hat  den  Ungar  mit  einem  unbefangenen,  weitdringenden  Blick 
gesegnet,  doch  verliert  unser  Volk  zuweilen  die  Empfindung  des  Beeilen  und 
dann  schwelgt  es  in  den  Gaukelbildern  des  Eingebildeten,  des  Scheins.  Das 
ist  die  Einwirkung  der  Fata  Morgana  auf  die  Volksseele.  So  fasste  Andrässy 
die  Politik  der  Opposition  auf  und  er  glaubte  nicht,  dass  dieselbe  dem  Heile 
Ungarns  zuträglich  sein  könnte.  Denn  das  Bestehen  auf  dem  Unmöglichen 
konnte  doch  nur  zur  blossen  Negation,  zur  Lähmung  führen.  Die  Nation 
aber  bedurfte  der  Thaten,  des  unentwegten,  beständig  vorwärtsstrebenden 
Wirkens,  um  aus  der  ohnehin  schon  lange  genug  währenden  Versumpfung 
herauszuwaten  Andrässy  war  hievon  durchdrungen,  als  er  entschieden  die 
Bahn  des  positiven  Handelns  betrat  und  die  negative  Bichtung  der  Opposi- 
tion bekämpfte.  Und  in  diesem  Streite  fiel  der  Sieg  ihm  zu,  wie  dies  ja  gar 
nicht  anders  kommen  konnte.  Er  blieb  Sieger,  obzwar  er  jener  Waflfe  ent- 
behrte, durch  welche  auf  dem  Gebiete,  wo  diese  Fehde  sich  vollzog,  im  Par- 
lamente nämlich,  der  Triumph  am  wirksamsten  gesichert  wird.  Die  Natur 
hatte  ihm  die  Gabe  der  tönenden  Phrasen,  des  Wohllautes  der  Sprache  und 
des  fliessenden  Vi  rtrages  versas?t,  er  entbehrte  also  all  jener  Mittel,  durch 
welche  grosse  Bhetoren  die  Zuhörerschaft  zur  Begeisterung  hinzureissen 
wissen.  Aber  wie  mühsam  er  auch  die  Worte  hervorstiess :  wenn  er  sprach, 
fühlte  dennoch  Jedermann,  dass  die  Dinge,  die  er  sagte,  seiner  innersten 
Ueberzeugung  entquollen  und  eine  tiefe  Bedeutung  besassen  und  dass  er 
Dasjenige,  was  er  will,  klar  und  ganz  zu  wollen  verstand.  Darin  wurzelte  das 
Geheimniss  seiner  grossen  Wirkung  und  seiner  Superiorität  auf  dem  Gebiete 
der  parlamentarischen  Discussion,  wie  auch  im  Allgemeinen  auf  der  poli- 
tischen Wahlstatt.  Denn  seit  den  Anfängen  der  Geschichte,  durch  alle 
Schichten  der  Gesellschaft  hindurch,  bei  allen  Völkern,  von  den  barba- 
rischesten bis  zu  den  civilisirtesten,  hat  ein  einzelner  Mensch  nur  durch  nie 
schwankenden,  selbstbewussten  Willen  sich  die  bleibende  Führerschaft  über 
seine  Mitmenschen  zu  sichern  vermocht. 

Und  so  wie  er  die  Ausfälle  der  Opposition  siegreich  zurückschlug, 
ebenso  entschieden  verteidigte  Andrässy  das  Ansehen  Ungarns  und  dessen 
Bechte  gegen  die  aus  dem  verdrängten  System  stellenweise  noch  übrig  ge- 
bliebenen Gegenströmungen,  welche  den  ungehinderten  Lauf  der  neuen 
Verhältnisse  zuweilen  zu  hemmen  trachteten.  Durch  die  Aufrichtigkeit  seiner 
Ueberzeugungen,  die  strenge  Consequenz  seiner  Grundsätze  und  die  Festig- 
keit seiner  Willenskraft  errang  Andrässy  seine  Erfolge  auch  auf  diesem 
Felde,  ebenso  wie  im  Schosse  seiner  eigenen  Partei. 


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AKADEMIE    DER   WISSENSCHAFTEN.  ö^7 

Denn  zweifellos  waren  die  Schwierigkeiten,  gegen  die  er  anzukämpfen 
hatte,  nicht  lediglich  von  der  Opposition  ausgegangen.  Andrässy  war  aller- 
dings Chef  der  Kegierung,  aber  nicht  zugleich  der  Führer  jener  Partei,  aus 
welcher  die  Regierung  gebildet  worden.  Und  wirkte  schon  dieser  Umstand 
zuweilen  lähmend  auf  seine  Thätigkeit,  so  stellte  ihm  ein  anderer  Umstand 
oft  vollends  noch  grössere  Schwierigkeiten  in  den  Weg.  Die  Schöpfer  des 
neuen  Zustandes  und  die  aufrichtigsten  Anhänger  desselben,  insbesondere 
Viele  von  Jenen,  die  schon  vor  der  Revolution  eine  bedeutende  Rolle  in  den 
öffentlichen  Angelegenheiten  gespielt  hatten,  brachten  es  nicht  über  sich, 
mit  den  Ueberlieferungen  der  Vergangenheit,  noch  mit  den  einstmals  berech- 
tigten, nunmehr  aber  völlig  entkräfteten  Anschauungen  zu  brechen. 

In  jener  grossen  Partei,  welche  den  Ausgleich  zu  Stande  brachte,  gab 
es  selbst  unter  den  Besten  Solche,  die  noch  von  der  Zeit  her,  da  es  keine 
nationale  Regierung  gab,  gewöhnt  waren,  die  Regierung  als  ein  einigermassen 
notwendiges  Uebel  zu  betrachten,  das,  weil  notwendig,  zwar  geduldet  werden, 
vor  dem  man  aber,  weil  es  ein  Uebel  war,  sich  hüten  musste.  Diese  tradi- 
tionelle Anschauung  machte  sich  zu  Beginn  der  constitutioneUen  Aera  viel- 
fach geltend.  Freilich  nicht  in  so  entschiedener  Form,  wie  ehedem,  auch 
nicht  als  erklärte  Opposition  gegen  einzelne  Mitglieder  des  Gabinets,  wohl 
aber  als  latentes  Misstrauen  gegen  die  Institution  der  Regierung  überhaupt. 
Aus  der  Geschichte  der  seit  der  Revolution  verstrichenen  zwei  Jahrzehnte 
schien  sich  unverkennbar  und  spontan  die  Lehre  zu  ergeben,  dass  das  blosse 
Klammern  an  das  Recht  und  die  beständige  Betonung  der  Rechtscontinuität 
die  mächtigste  Waffe  in  der  Hand  der  Nation  sei.  Kein  Wunder  daher,  wenn 
gerade  in  Denjenigen,  die  auf  diese  Art  so  grosse  Resultate  erzielt  hatten, 
einige  Bedenken  in  der  Richtung  aufstiegen,  dass  die  Regierung  als  voll- 
streckende Gewalt  nicht  geneigt  sein  werde,  die  aus  dem  Gesichtspunkte  des 
Rechtes  geboten  erscheinenden  Einschränkungen  in  ihren  Handlungen  zu 
dulden.  Daraus  entwickelte  sich  nun  spontan  die  Auffassung,  dass  die  Haupt- 
aufgabe in  der  Kräftigung  jener  Institution,  welche  als  Quelle  und  Hüterin 
des  Rechts  betrachtet  wurde,  das  ist  in  der  Kräftigung  des  Parlaments  liege 
und  dass  die  Gesetzgebung  gegenüber  der  Regierung  einen  nicht  nur  con- 
trolirenden,  sondern  auch  thätig  eingreifenden  Einfluss  zu  nehmen  habe. 
Diese  Auffassung,  hatte  sie  sich  zur  Geltung  durchgerungen,  würde  sicher- 
lich nicht  allein  die  Omnipotenz  des  Parlaments,  sondern  auch  die  vollstän- 
dige Lähmung  der  Regierungsautorität  zur  Folge  gehabt  haben. 

Andrässy  war  nun  überzeugt  davon,  dass  wenn  irgend  ein  Volk  auf 
Erden,  gerade  das  ungarische  einer  starken  Regierung  bedurfte.  Nur  eine 
stets  thatbereite  und  energische  Regierung  konnte  erfolgreich  ankämpfen 
gegen  die  Schwierigkeiten  unseres  Verhältnisses  mit  Oesterreich  und  gegen 
die  in  unserem  Vaterlande  zuweilen  auftretenden  centrifugalen  Bestrebun- 
gen. Andrässy  hegte  die  Ansicht,  dass  im  Völkerleben  der  Regierungsgewalt 


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518  LI.    JAHRKSVERSAMMLÜNa    DER    UNOARISCHEN 

dieselbe  Bestimmung  zufalle,  wie  dem  Willen  im  menschlichen  Organismus. 
Oleichwie  im  einzelnen  Menschen  Vernunft,  Begabung  und  Veranlagung 
nur  durch  den  Willen  zur  Greltung  kommen  kann,  so  vermag  auch  eine  Re- 
gierung nur  Errungenschaften  zu  erzielen,  welche  dem  Geiste  und  den  Wün- 
schen eines  Volkes  entsprechen.  Als  unbegründet  sah  er  auch  die  Besorgniss 
an,  dass  eine  aus  dem  Vertrauen  der  Mehrheit  des  Volkes  entstandene  Be- 
gierung,  so  kräftig  sie  auch  werde,  der  Nation  selbst  gefährlich  werden 
könnte.  Die  engherzige  Einschränkung  der  gouvemementalen  Befugnisse 
unter  dem  Losungsworte  der  Verteidigung  der  im  Grunde  gar  nicht  gefähr- 
deten Verfassungsmässigkeit  betrachtete  er  als  eine  in  hohem  Masse  schäd- 
liche Tendenz.  tDIe  verfassungsmässige  Grarantie»  —  so  sprach  er  anlässlich 
der  Adressdebatte  im  Jahre  1868  —  «ist  niemals  in  einzelnen  Punkten  des 
Gesetzes  enthalten,  sondern  in  der  Reife  des  Volkes,  in  jenem  Gewichte, 
welches  die  Nationen  selbst  sich  zu  erringen  wissen ;  dies  in  Paragraphen  zu 
fassen,  ist  aber  die  bare  Unmöglichkeit.!  In  diese  Beife  setzte  Andrässy  sein 
Vertrauen,  als  er  die  Notwendigkeit  der  Begierungsautorität  und  der  gouver- 
nementalen  Actionsfreiheit  verteidigte,  und  es  ist  zweifellos  ein  Hauptver- 
dienst seiner  inneren  Politik,  dass  er  die  aus  der  Vergangenheit  überkom- 
menen Vorurteile  gegen  die  Begierungsgewalt  zerstreut  und  hiedurch  die 
Möglichkeit  geschaffen  hat,  dass  bei  uns  eine  starke  Begierung  auf  constitu- 
tioneller  Grundlage  sich  bilden  konnte. 

Allein  indem  Andrässy  diesem  Ziele  zustrebte,  war  er  nicht  geleitet 
durch  persönliche  Herrschsucht,  sondern  durch  den  Wunsch,  die  Versäum- 
nisse der  Vergangenheit  ehebaldigst  wett  zu  machen  und  die  ungarische 
Nation  auf  die  Bahn  des  möglichst  raschen  Fortschrittes  zu  lenken. 

Wohl  war  er  sich  dessen  bewusst,  dass  selbst  der  überlegenste  Ver- 
stand, sich  selbst  überlassen,  die  Regierung  eines  Landes  und  ganz  besonders 
die  Wiedergeburt  eines  Volkes  nicht  erfolgreich  zu  leiten  vermag.  Darum 
erkor  er  sich  seine  Mitarbeiter  in  der  Begierung  aus  der  Beihe  der  vortreff- 
lichsten Männer,  aus  dem  Kreise  derer,  die,  auf  dem  Niveau  westeuropäischer 
Bildung  stehend,  zu  energischem  und  selbständigem  Wirken  bereit  und  be- 
fähigt waren.  Nicht  das  ist  fürwahr  Andrässy's  Streben  gewesen,  dass  seine 
Persönlichkeit  über  die  Anderen  emporrage,  sondern  dass  Ungarn  gedeihe. 
Und  indem  er  dies  selbstbewusst  anstrebte,  musste  er  es  auch  unbewusst 
erreichen. 

Mit  der  festen  Consolidirung  der  inneren  Angelegenheiten  sich  beschäf- 
tigend, betrachtete  Andrässy  unser  Vaterland,  wie  ein  Seemann  sein  ihm 
liebgewordenes,  aber  altes  und  vom  Zahn  der  Zeit  benagtes  Schiff,  welches 
er,  indem  er  es  reparirt  und  umgestaltet,  zugleich  mit  einer  mächtigen 
Dampfmaschine  versieht,  auf  dass  es  in  Windstille  wie  im  Orkan  mit  gleicher 
Kraft  die  Wogen  durchschneide  und  den  Wettkampf  mit  allen  Schiffen  der 
W^elt  bestehe ;  aber  auch  die  einigermassen  veralteten  Segel  wirft  er  nicht 


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AKADEMIK    DER    WISSENSCHAFTEN.  '^1^ 

fort,  welche,  wenn  die  Maschine  versagt,  das  Schiff  doch  schlecht  und  recht 
vorwärtsbringen  können,  bis  wieder  alles  in  Ordnung  kommt.  So  wollte  auch 
Andrässy  nicht  einen  endgiltigen  Bruch  mit  den  von  der  Vergangenheit  er- 
erbten Institutionen,  vielmehr  strebte  er  dahin,  dass  neben  diesen  neue  Schö- 
pfungen, die  dem  Geiste  der  Nation  und  zugleich  den  Anforderungen  der 
allgemeinen  Givilisation  entsprechen,  ins  Leben  gerufen  werden.  Denn  nur 
so  hielt  er  es  für  erreichbar,  dass  die  erstarkte  ungarische  Nation  auf  der 
Stufenleiter  des  Fortschrittes  sich  unter  die  civilisirtesten  Völker  Europas 
emporschwingen  könne.  Die  neuen  Schöpfungen  heischten  freilich  schwere 
Opfer  von  der  Nation,  während  die  Vorteile  naturgemäss  nur  mälig  und  erst 
nach  geraumer  Zeit  sich  einstellen  konnten.  Gleichwohl  wäre  es  unbillig,  für 
die  ungünstige  Finanzlage,  welche  später  durch  Jahre  anhielt,  jenen  raschen 
Fortschritt  verantwortlich  zu  machen,  den  das  Gabinet  Andrässy  inaugurirt 
hatte.  Kein  Volk  auf  Erden  hat  je  ohne  Opfer  und  ohne  Kraftanstrengungen 
grosse  und  bleibende  Vorteile  errungen.  Diesen  Preis  muss  jede  Nation  ent- 
richten, welche  nicht  blos  vegetiren,  sondern  mächtig  und  geachtet  sein  will. 
Und  in  That  wer  will  es  leugnen,  dass,  wenn  heute  wieder  eine  günstigere 
Epoche  für  unser  Vaterland  herangedämmert  ist,  wir  dies  lediglich  dem  Um- 
stand zu  danken  haben,  dass  der  Opferwille,  zu  welchem  Andrässy  die  Nation 
angespornt,  endlich  seine  Früchte  getragen  hat,  und  dass  wir  treu  geblieben 
sind  jener  Entwicklungstendenz,  deren  zuverlässige  und  gesunde  Basis  er 
gelegt  hat.  Auch  zauderte  Andrässy  nie,  von  der  Nation  Opfer  zu  fordern, 
wenn  er  solche  für  das  Land  als  notwendig  sah,  und  nie  bekümmerte  er  sich 
darum,  dass  er  hierdurch  seine  Volkstümlichkeit  embüssen  möchte.  Viel 
edler  und  viel  humaner  war  sein  Empfinden,  als  dass  er  die  Anerkennung 
der  öffentlichen  Meinung  gering  geschätzt  oder  verachtet  hätte.  Allein  wie 
wohl  auch  die  aufrichtige  Würdigung  seinem  Herzen  that,  nie  war  sie  von 
Einffuss  auf  seine  Handlungen.  Denn  niemals  liess  er  sich  durch  ein  anderes 
Motiv,  als  durch  seine  reinste  Ueberzeugung  leiten.  Auch  damals  gab  er 
nicht  dem  Sehnen  nach  Volkstümlichkeit  statt,  als  er  jene  Institution  schuf, 
welche  durch  die  ganze  Nation  mit  ungeteilter  Befriedigung  und  Freude 
begrüsst  wurde :  die  Honvedarmee. 

Inmitten  der  europäischen  Staatengebilde  erblickte  Andrässy  die  zu- 
verlässigste Bürgschaft  Ungarns  in  der  gemeinsamen  Wehrkraft  mit  Oester- 
reich  im  gemeinsamen  Heere.  So  tief  überzeugt  war  er  von  der  Notwendig- 
keit dieser  Institution  für  Ungarn,  dass  er  auch  die  letzte  Bede  seines  Lebens 
ihrem  Schutze  widmete.  Allein  so  wie  er  das  gemeinsame  Heer  als  eine 
Lebensbedingung  der  dualistischen  Monarchie,  und  in  dieser  Ungarns  an- 
sah, ergab  sich  ihm  gerade  aus  dem  Geiste  des  Dualismus  die  Notwendigkeit, 
dass  sofern  dies  ohne  Schädigung  der  gemeinsamen  Interessen,  ja  zu  deren 
Nutzen  möglich  ist,  beide  Teile  mit  allen  Attributen  des  selbstständigen 
staatlichen  Seins  ausgestattet  seien.  Dies  ist  die  Bedeutung  der  Honvedarmee, 


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520  LI.    JAHRESVERSAMMLUNG    DER    UNGARISCHEN 

wie  Andräsey  eie  ins  Leben  gerufen  bat.  Die  Honvedarmee  bildet  ebenso  wie 
das  gemeinsame  Heer  einen  integrirenden  Bestandteil  der  gemeinsamen  Wehr- 
macht, zugleich  aber  ist  sie  ein  Sinnbild  der  besonderen  Staatlichkeit  Ungarns. 

Es  war  sonach  Andr^sy*s  Geist,  der  in  die  durch  den  Ausgleich  ge- 
schaffene Form  den  Lebensodem  gehaucht  hat.  Seine  Schöpfungen  und 
diejenigen  der  durch  ihn  geleiteten  Regierung  setzten  die  Nation  in  Stand, 
ihre  Kraft  in  allen  Bichtungen  frei  zu  entfalten.  Auch  ist  gegen  sein  Wirken 
nie  auch  nur  eine  einzige  ernstere  Besorgniss  laut  geworden.  Wohl  gab  es 
Manche  (u.  zw.  unter  seinen  Anhängern  mehr  als  unter  seinen  Wider- 
sachern), die  ihn  darob  anklagten,  dass  er  zu  viel  sich  mit  den  auswärtigen 
Angelegenheiten  abgab,  wodurch  die  Befürchtung  geweckt  wurde,  er  würde 
darüber  die  ungarischen  Angelegenheiten  vernachlässigen.  Indessen  war 
dieser  Vorwurf  ein  billiger?  Begeht  der  Minister-Präsident  Ungarns  wirklich 
ein  Unrecht,  wenn  er  ein  Interesse  für  die  auswärtige  Politiv  bekundet? 
Andrässy  war  durchaus  nicht  dieser  Meinung. 

Er  hielt  dafür,  dass  er,  indem  er  sich  mit  den  auswärtigen  Angelegen- 
heiten beschäftigte,  Ungarns  Interesse  nicht  vernachlässigte,  sondern  viel- 
mehr eine  wichtige  Pflicht  gegenüber  seinem  Vaterlande  erfüllte.  Nur  vou 
einer  untergeordneten  Provinz  kann  es  gelten,  dass  sie  um  auswärtige  Politik 
sich  nicht  zu  kümmern  habe.  Ungarn  aber  war  seit  dem  Zustandekommen 
des  Dualismus  ein  dem  andern  Teile  vollständig  gleichberechtigter  Factor 
geworden«  Und  so  wurde  nicht  allein  der  Bestand  der  Monarchie  auf  der 
dualistischen  Grundlage,  sondern  auch  die  Gestaltung  der  Beziehungen 
zum  Auslande  ein  ungarisches  Interesse.  Mit  Recht  war  daher  Andrässy  da- 
von überzeugt,  dass  der  ungarische  Minister-Präsident  sich  nicht  damit  be- 
gnügen könne,  alldas  abzuwehren,  was  im  Bereiche  der  auswärtigen  Politik 
aus  ungarischem  Gesichtspunkte  schädlich  erscheinen  möchte,  sondern,  dass 
er  auch  die  Pflicht  habe,  darauf  zu  achten,  dass  in  der  äusseren  Politik  nichts 
geschehe,  was  der  ganzen  Monarchie  abträglich  wäre,  andererseits  aber  Alles 
geschehe,  was  der  Machtstellung  der  Monarchie  und  ihrem  Ansehen  förder- 
lich sein  könnte. 

So  fasste  Andrässy  die  Aufgabe  des  ungarischen  Minister-Präsidenten 
auf ;  nichts  war  daher  natürlicher,  als  dass  er  den  ihm  gebührenden  Einfluss 
auch  auf  auswärtigem  Gebiete  zur  Geltung  zu  bringen  trachtete.  Sein  stets 
sicheres  und  richtiges  Urteil,  sein  hoher  Gedankenflug  sicherten  schon 
damals  seinen  Worten  ein  grosses  Gewicht  im  Rate  der  Krone.  Hiezu  kam 
noch,  dass  er  als  Minister-Präsident  sich  auf  die  öffentliche  Meinung  Ungarns 
berufen  konnte,  was  den  Wert  seiner  Anschauungen  in  nicht  geringem  Maasse 
erhöhte.  So  wurde  nicht  allein  in  Ungarn,  sondern  auch  in  Oesterreich  die 
Ansicht  immer  allgemeiner,  dass  er  zur  Leitung  der  auswärtigen  Angelegen- 
heiten berufen  sei.  Die  öffentliche  Meinung  täuschte  sich  nicht  in  ihrer  Ver- 
mutung, Andrässy  wurde  in  der  That  Minister  des  Aeussem. 


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AKADEMIE   DER   WISSENSCHAFTEN.  521 

Im  Kreise  der  europäischen  Diplomatie  wurde  da  und  dort  die  Ernen- 
nung Andrässy's  mit  einigen  Skrupeln  aufgenommen.  Man  besorgte,  sein 
heissblütig  ungarisches  Temperament  werde  ihn  zu  unbedachten  Schritten 
hinreissen,  woraus  unerwartete  und  unangenehme  Verwicklungen  entstehen 
möchten.  Wie  wenig  kannten  den  ungarischen  Charakter  und  insbesondere 
die  Individualität  Andrässy's  Diejenigen,  die  solche  Besorgnisse  hegten !  Wir 
Ungarn  setzen  uns  freilich  in  unseren  Aeusserungen  häufig  über  die  Schran- 
ken der  kühlen  Erwägung  hinweg.  Aber  anders  verhält  es  sich  um  unsere 
Handlungen.  Es  gibt  wahrlich  kein  Volk,  das  im  Laufe  eines  tausendjährigen 
Bestandes  so  viel  vernünftige  Mässigung  und  berechnende  Klugheit  bekundet 
hätte  als  die  ungarische  Nation.  Von  einem  Volke,  das  seit  Jahrhunderten 
seinen  Bestand  seinem  erstaunlichen  politischen  Gefühle  dankt,  war  es  nicht 
vorauszusetzen,  dass  es,  der  Lehren  seiner  Geschichte  vergessend,  eine  leicht- 
fertige oder  stänkernde,  äussere  Politik  heischen  werde.  Und  was  in  der 
Nation  lediglich  ein  durch  die  historische  Entwicklung  gezeitigter  Trieb  war, 
das  offenbarte  sich  in  Andrässy  als  wohlbedachte  Ueberzeugung.  Daher 
kommt  es,  dass  er  sein  Wirken  als  Minister  des  Aeussern  zur  Ueberraschung 
Vieler  nicht  mit  einer  auffälligen  That,  sondern  ruhig  und  mit  der  grössten 
Behutsamkeit  antrat.  Die  Skeptiker  in  der  Diplomatie  gewahrten  alsbald, 
dass  sie  es  mit  einem  Staatsmanne  zu  thun  hatten,  dessen  Gharakterzüge 
eine  klare  Auffassung,  ein  starker  Wille  und  zugleich  eine  ruhige  Erwägung 
der  Verhältnisse  und  der  Eventualitäten  waren.  Und  da  diese  Eigenschaften 
stets  Anerkennung  und  Achtung  erringen,  so  machten  sich  der  Einfluss 
AndrÄssy's  und  das  Gewicht  seiner  Ansichten  in  der  internationalen  Politik 
alsbald  fühlbar.  Zwar  so  manches  sehr  wichtige  Detail  seines  auswärtigen 
Wirkens  bedeckt  noch  der  Schleier  einiger  Unklarheit.  Aber  im  Grunde  ist 
das  nur  natürlich.  Nur  die  Geschichtschreibung  ist  ja  im  Stande,  die  heiklen 
Fragen  der  Diplomatie  in  vollem  Lichte  darzustellen.  Allein  die  Erfolge, 
welche  Andrässy  erzielt  hat,  stehen  klar  vor  uns,  so  klar,  dass  wir  hinsicht- 
lich der  Grundsätze,  die  ihn  leiteten,  der  Richtung,  die  er  verfolgte,  uns  ein 
vollständig  richtiges  Bild  zu  construiren  vermögen,  auch  wenn  wir  den  Weg, 
den  er  ging,  nicht  immer  verfolgen  können. 

Die  auswärtige  Politik  Andrässy's  kann  in  der  That  in  einige  Worte 
zusammengefasst  werden.  Sein  Ziel  war  einerseits,  dass  die  Monarchie  nicht 
allein  nominell  nach  Massgabe  ihrer  Gebietsausdehnung  und  ihrer  Bevölke- 
rungszahl eine  Grossmacht  sei,  sondern  auch  wirklich  als  solche  auftrete. 
Andererseits  wollte  er,  dass  die  in  der  Grossmachtstellung  wurzelnde  Kraft 
in  jene  Richtung  gelenkt  werde,  in  welcher  sie  trotz  der  ungünstigen  geogra- 
phischen Lage  und  in  Folge  der  neuen  Gestaltung  der  europäischen  Ver- 
hältnisse am  wirksamsten  zur  Geltung  kommen  kann.  Alles,  was  Andrässy 
als  Minister  des  Aeussern  initiirt  und  gethan  hat,  war  nur  ein  Mittel  zu 
diesem  zweifachen  Zwecke. 

Ungarische  ReTiie,  XI.  1891.  VI— VII.  Beft.  33^ 


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^"^^  LI.    JAHRESVERSAMMLUNG    DER   UNGARISCHEN 

Wenn  Andrässy  den  Wunsch  hegte,  dass  das  Gefühl  der  Grossmacht- 
stellung sich  auch  nach  Aussen  hin  kräftiger  offenbare,  so  wollte  er  dadurch 
keineswegs  irgend  einer  persönlichen  Politik  den  Weg  ebnen,  noch  dachte  er 
an  abenteuerliche  Unternehmungen,  welche  den  Frieden  der  Monarchie 
gefährden  konnten.  Seiner  Ansicht  nach  konnte  nur  eine  solche  audwärtige 
Politik  heilbringend  sein,  welche  die  Interessen  aller  Factoren  der  Monarchie 
in  gleicher  Weise  berücksichtigte.  Darum  strebte  er  dahin,  dass  die  Mon- 
archie ihr  Ansehen  aufs  Neue  consolidire,  ihre  Macht  der  Welt  Achtung  ein- 
flösse und  ihr  Wort  in  Europa  williges  Gehör  finde.  Er  war  durchdrungen 
von  der  üeberzeugung,  dass,  wenn  es  gelänge,  einen  solchen  Zustand  her- 
beizuführen, dies  nicht  nur  die  Sicherheit  und  Kraft  der  ganzen  Monarchie, 
sondern  auch  den  Glanz  der  Dynastie  fördern  würde,  worauf  er  bei  unserer 
monarchistischen  Organisation  grosses  Gewicht  legte.  Auch  hoffte  er,  dass 
es  gelingen  werde,  dieses  Ziel  auch  auf  friedlichem  Wege  zu  erreichen. 

Schon  in  seiner  ersten  Circularnote,  worin  er  seinen  Amtsantritt 
notificirte,  erklärte  er,  dass  er  aufrichtig  und  entschieden  eine  friedliche 
Politik  zu  befolgen  gedenke.  Und  das  waren  keine  leeren  Worte  (solche  ver- 
schmähte er  überhaupt),  sondern  sie  waren  der  getreue  Ausdruck  seines 
festen  Vorsatzes.  Indessen  nicht  den  Frieden  um  jeden  Preis  wollte  er, 
sondern  einen  nützlichen  und  thätigen  Frieden.  Einen  Frieden  also,  der 
sich  nicht  mit  dem  stillen  Genüsse  der  für  die  Völker  wichtigsten  Güter 
begnügt,  sondern  auch  deren  energische  Bewahrung  und  lebenskräftige 
Entwicklung  anstrebt.  Dies  kann  jedoch  nur  erreicht  werden,  wenn  das 
Wirken  der  staatlichen  Factoren  nach  aussen  hin  auch  in  der  Zeit  des 
Friedens  nicht  völlig  aufhört.  Denn  es  ist  unzweifelhaft,  dass  die  Staaten, 
selbst  diejenigen,  welche  durch  das  freundschaftlichste  und  friedlichste 
Verhältniss  mit  einander  verknüpft  sind,  naturgemäss  auf  einander  drücken 
und  dass  nur  eine  gleichwertige  Gegenwirkung  die  möglichen  Nachteile 
dieses  physischen  Processes  verhüten  kann.  Trotz  des  riesigen  Druckes  der 
ihn  umgebenden  Luftschichten  bleibt  selbst  der  kleinste  Ballon  gebläht,  bis 
die  Spannkraft  des  Gases  nicht  erschlafft.  Hingegen  schrumpft  selbst  der 
grösste  Ballon  zusammen,  wenn  die  innere  Spannung  nachlässt.  Einer 
solchen  Kraft,  die  beständig  von  innen  nach  aussen  wirkt,  bedarf  auch 
jeder  Staat,  um  mitten  unter  den  ihn  umringenden  Nachbarn  intact 
bestehen  zu  können.  Allein  gleichwie  die  Ausdehnung  des  Gases  den  Ballon 
nur  vor  dem  Zerdrücktwerden  bewahrt  und  nur  in  den  seltensten  Fällen 
eine  Explosion  hervorruft,  so  führt  auch  die  unter  den  Staaten  nach  aussen 
hin  geübte  Wirkung  nicht  notwendig  zum  Kriege,  ja  nicht  einmal  zu 
Conflicten,  vielmehr  ist  sie  gerade  eine  der  sichersten  Bedingungen  der 
Erhaltung  des  Gleichgewichtes.  Die  Friedenspolitik  also,  deren  Träger 
Andrässy  war,  bedeutete  keineswegs  soviel,  dass  Oesterreich-Ungarn  sich 
der  Teilnahme  an  den  auswärtigen  Fragen  enthalten  sollte.  Im  Gegenteil. 


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AKADEMIE   DER   WISSENSCHAFTEN.  523 

Langsam  zwar,  aber  in  einer  jeden  Zweifel  ausscbliessenden  Weise  gab 
Andrässy  den  Mächten  zu  verstehen,  dass  Oesterreich-Ungam  zwar  den 
Frieden  ausserordentlich  hoch  schätze,  dass  aber  der  Wert  des  Friedens 
sofort  wesentlich  abnehmen  würde,  wenn  die  Monarchie  um  seiner  Erhal- 
tung willen  auf  Kosten  ihrer  Grossmachtstellung  auch  nur  das  geringste 
Opfer  bringen  müsste.  Und  um  dieser  Auffassung  Geltung  zu  verschaffen, 
bekundete  er  ein  lebhaftes  Interesse  für  alle  wichtigeren  internationalen 
Angelegenheiten.  Dabei  betrat  er  in  Fragen,  die  er  als  in  die  specifische 
Machtsphäre  der  Monarchie  gehörend  ansah,  auch  das  Gebiet  der  Initiative 
und  bewahrte  er  die  Freiheit  seines  Handelns.  Die  klare  und  zugleich  ent- 
schiedene Politik,  welche  Andrässy  vertrat,  die  unzweifelhafte  Aufrichtig- 
keit, welche  seine  Aeusserungen  kennzeichnete,  gewannen  ihm  aUenthalben 
Vertrauen  und  errangen  ihm  auch  die  Würdigung  seiner  Gegner.  So  hob 
sich  mit  der  Autorität  ihres  Ministers  des  Aeussern  in  gleichem  Schritte 
auch  jene  der  Monarchie.  Es  ist  ein  unvergängliches  Verdienst  Andrässy's, 
dass  binnen  kurzer  Frist,  ohne  dass  sich  ihm  ein  Anlass  zu  glänzenden 
Thaten  bot,  lediglich  durch  das  Gewicht  seiner  Individualität  und  durch 
sein  unverbrüchliches  Vertrauen  in  Oesterreich-Ungams  Kraft  und  Lebens- 
fähigkeit, die  Monarchie  in  der  That  das  wurde,  was  er  in  einer  seiner 
Noten  von  ihr  sagte:  teine  notwendige  Bedingung  des  europäischen  Gleich- 
gewichts und  eine  unerlässliche  Bürgschaft  des  allgemeinen  Friedens.»  Die 
Grossmachtstellung,  welche  in  dieser  Weise  in  allen  Richtungen  zur  Gel- 
tung kam,  ist  im  Leben  der  Staaten  von  der  gleichen  Wirkung,  wie  im 
Leben  des  einzelnen  Menschen  das  Selbstvertrauen.  Indem  also  Andrässy 
jene  wieder  aufrichtete,  flösste  er  zugleich  den  Völkern  der  Monarchie  Ver- 
trauen in  deren  consolidirtes  Dasein  und  in  deren  Zukunft  ein.  Und  das 
war  schon  an  sich  eine  bedeutsame  Errungenschaft. 

Allein  hiedurch  hatte  Andrässy  nur  einen  Teil  der  selbstgesteUten 
Aufgabe  gelöst.  Nunmehr  hatte  er  auch  das  Gebiet  des  positiven  Schaffens 
zu  betreten.  Die  Thatenlust  ist  unzweifelhaft  einer  seiner  bedeutsamsten 
Gharakterzüge.  Nicht  beständiges  Sichabgeben  mit  kleinen  Geschäften  war 
seine  Sache,  sondern  die  Bealisirung  grosser  Pläne  durch  starke  Mittel  und 
unermüdliche  Thätigkeit  zu  solchem  Behüte.  Wohl  wusste  er,  dass  die  Welt 
nicht  stillsteht  und  dass  die  Wogen  der  Zeit  und  der  Verhältnisse  zusam- 
menschlagen über  dem  Haupte  Desjenigen,  der  an  der  allgemeinen  Bewe- 
gung nicht  teilnimmt.  Aber  der  Staatsmann  hat  nicht  nur  die  Aufgabe, 
mit  seiner  Zeit  Schritt  zu  halten ;  der  Entwicklung  der  Begebenheiten  muss 
er  auch  Bichtung  geben  durch  seine  eigenen  Ideen.  Und  Andrässy  griff  in 
der  That  mit  kühner  Hand  in  die  europäischen  Verhältnisse  ein,  kaum 
dass  er  die  auswärtigen  Angelegenheiten  übernommen  hatte. 

Die  Zeit  von  1870  bis  1871  bildet  einen  Wendepunkt  und  markirt 
zugleich  die  Grenze  der  bedeutsamsten  Epoche  in  diesem  Jahrhundert. 

33* 


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'^'24  LI.    JAHRESVERSAMMLrNG    DER   UNGARISCHEN 

Die  Ereignisse,  deren  Schauplatz  damals  Westeuropa  war,  besassen  eine- 
viel  grössere  Tragweite,  als  jene  gewaltigen  Umwälzungen,  welche  die  Welt 
zu  Beginn  des  Jahrhunderts  erschüttert  haben  und  die  bald  wieder  hin- 
fortgeschwimden  sind.  Im  Herbst  1870  zieht  das  italienische  Königtum 
in  Bom  ein  und  kommt  das  einheitliche  Italien  zu  Stande ;  zu  Beginn 
1871  erwacht  aus  seinem  langen  Schlafe  das  Deutsche  Beich,  mächtiger 
denn  je. 

Daran,  dass  die  österreichisch-ungarische  Monarchie  nach  diesen 
Gestaltungen,  unter  den  völlig  veränderten  Verhältnissen,  ihre  frühere 
Stellung  auf  der  apenninischen  Halbinsel  oder  auf  deutschem  Boden  wieder 
zu  erringen  versuche,  dachte  Niemand  ernsthaft.  So  standen  denn  der 
Monarchie  zwei  Wege  offen.  Entweder  musste  sie  von  den  in  Mitteleuropa 
entstandenen  zwei  Grossstaaten  sich  indifferent  zurückzieheti  oder  ein  auf- 
richtig freundschaftliches  Verhältniss  mit  denselben  eingehen.  Die  erstere 
Bichtung  betrachtete  Andräss;  als  eine  schädliche,  denn  sie  würde  die 
Monarchie  in  eine  vollständig  isolirte  Lage  gebracht  haben.  Seiner  Ansicht 
nach  konnte  und  durfte  die  äussere  Politik  Oesterreich- Ungarns  nur  dahin 
streben,  ein  freundschaftliches  Verhältniss  mit  den  benachbarten  Gross- 
mächten, dem  Deutschen  Beiche  und  Italien,  herzustellen.  Dies  versuchte 
er  auch ;  aber  langsam  nur  konnte  er  auf  diesem  Wege  vorwärtsschreiten. 
Im  Laufe  der  Zeiten  hatten  an  allen  Seiten  so  viele  Antipathien,  so  viel 
Misstrauen  und  so  viele  Miss  Verständnisse  sich  aufgehäuft  (und  bei  uns 
vielleicht  weniger  als  bei  den  anderen  zwei  Mächten),  dass  die  Schwierig- 
keiten viel  Zeit  und  Mühe  und  noch  mehr  Tact  und  Ausdauer  erheischten. 
Indessen  schon  die  blosse  Absicht  und  ihre  äussere  Bethätigung  waren  ein 
Gewinn.  Und  alsbald  bewies  die  Entrevue  in  Venedig,  dieses  leuchtende 
Beispiel  fürstlicher  Selbstverleugnung,  dass  die  von  Andrässy  empfohlene 
Politik  schon  einige  Schritte  vorwärts  gethan  hatte. 

Die  Erkenntniss  von  der  Vorteilhaftigkeit  des  Verhältnisses  mit 
Deutschland  erwachte  in  Andrässy  nicht  erst  in  jener  Zeit,  da  er  Minister 
des  Aeussem  wurde.  Viel  früher  schon  hatte  er  über  diese  Idee  gegrübelt. 
Schon  im  Frühjahre  1848  verweist  er  in  einem  seiner  Ablegaten  berichte 
auf  die  für  uns  so  notwendige  «und  unter  Intacthaltung  unserer  Nationalität 
und  Selbstständigkeit  wahrzunehmende  Interessengemeinschaft  mit  jenem 
Volksstamme,  welcher  die  Wiege  der  Civilisation  war  und  welcher  im 
Schiesspulver  und  in  der  Druckerpresse  die  mächtigsten  Waffen  des  Geistes 
unter  seine  Erfindungen  zählt.»  Es  ist  klar,  dass  er  in  diesen  Worten  auf 
die  deutsche  Nation  angespielt  hat.  Im  Jahre  1861  hinwieder  drückte  er 
anlässlich  der  Adressdebatte  die  Ansicht  aus,  «dass  Preussens  Zukunft  in 
der  deutschen  Einheit  sei.»  Derjenige,  der  schon  in  seiner  Jugend  so  dachte,, 
der  die  späteren  Entwicklungen  schon  um  viele  Jahre  vorher  so  klar 
vorausgesehen  hatte,  der  konnte  als  Minister  des  Aeussern  der  Monarchie 


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AKADEMIE   DER   WISSENSCHAFTEN.  525 

HÜe  guten  Beziehungen  zu  Deutschland  nur  eifrigst  herbeisehnen.  Falsch  ist 
auch  die  Ansicht,  als  ob  Andrässy,  blos  um  die  Freundschaft  Deutschlands 
zu  erreichen,  sich  Bussland  genähert  habe.  Denn  seine  Politik  war  gegen- 
über den  beiden  grossen  Beichen  eine  völlig  selbstständige. 

Die  Folge  hat  gezeigt,  wie  richtig  der  Weg  war,  den  Andrässy  betre- 
ten hatte,  als  er  eine  innigere  Verbindung  mit  Deutschland  anstrebte; 
bildet  doch  das  Yerhältniss,  das  er  später  schuf,  noch  heute  die  Grundlage 
der  internationalen  Politik  in  Europa,  unbegründet  ist  demnach  die  zuwei- 
len vernehmbare  Behauptung,  dass  Andrässy  um  den  Westen  sich  nicht 
genügend  gekümmert  habe ;  ja  nicht  der  unwichtigste  Teil  seiner  äusseren 
Politik  war  gerade  derjenige,  der  nach  dem  Westen  sich  richtete.  Wahr  ist 
aber  allerdings,  dass  er  die  auffälligste  Thätigkeit  gerade  in  den  orien- 
talischen Angelegenheiten  entfaltet  hat.  Aber  nicht  individuelle  Neigung, 
noch  ein  specifisch  ungarisches  Interesse  ist  diesfalls  für  ihn  massgebend 
gewesen,  wie  Manche  wohl  glauben  mochten.  Aus  viel  allgemeinerem 
Gesichtspunkte  fasste  er  die  Mission  der  Monarchie  im  Orient  auf. 

Die  Orientfrage  beginnt  in  Europa  im  Grunde  mit  der  Einnahme  Kon- 
«tantinopels  durch  die  Türken,  obzwar  die  Ereuzzüge  einen  Teil  des  Schleiers 
bereits  früher  gelüftet  hatten.  Für  uns  Ungarn  ist  aber  die  orientalische 
Frage  viel  älteren  Ursprunges.  Zugleich  mit  der  Einwanderung  offenbarte 
sich  bei  uns  das  Streben,  das  nachmals  sich  durch  unsere  ganze  Geschichte 
hindurchzog,  und  welches  uns  stets  dazu  zwang,  in  einer  oder  der  anderen 
Form  ein  engeres  Verhältniss  mit  den  Balkanprovinzen  anzuknüpfen.  Frei- 
lich würde  auch  jedes  andere  Volk,  wenn  es  da,  wo  heute  unser  Vaterland 
besteht,  einen  starken  Staat  begründet  hätte,  notwendig  der  gleichen  Ten- 
denz stattgegeben  haben.  Der  mächtige  Strom,  der  so  viele  Länder  durch- 
schneidet und  verbindet,  das  Sehnen,  das  die  Völker  aus  dem  Norden  süd- 
wärts drängt,  die  unleugbare  Suprematie,  welche  die  Bewohner  grösserer 
Ebenen  ausüben,  der  Zauber  des  die  Halbinsel  umspülenden  Meeres  und 
endlich  der  Umstand,  dass  auf  dem  Balkan  ein  einheitlicher  grosser  Staat  sich 
nie  gebildet,  die  daselbst  herrschende  Zerklüftung  aber  stets  zum  Einschrei- 
ten gereizt  hat.  Midies  zusammen  bildet  den  Complex  jener  Motive,  welche 
unsere  Orientpolitik  von  Anfang  her  bestimmt  haben.  Das  ganze  Ärpäden- 
Zeitalter  erscheint  gewissermassen  ausgefüllt  durch  das  Gravitiren  nach  dem 
Balkan  hin.  Ludwig  der  Grosse,  bald  wieder  Mathias  wandten  sich  wiederholt 
dahin.  Auch  seit  der  Begierung  der  Dynastie  Habsburg  machte  sich  die  von 
Ungarn  geerbte  Orientpolitik,  welche  ehedem  in  des  Wortes  wahrem  Sinne 
unsere  nationale  Politik  gewesen  ist,  bei  jedem  günstigen  Anlasse  geltend. 

Und  zweifellos  erwachten  auch  in  Andrässy's  Seele  die  Erinnerungen 
an  die  Traditionen  der  Vergangenheit,  wenn  er  an  den  Orient  dachte.  Aller- 
dings aber  zog  sein  practischer  Geist  auch  die  Anforderungen  der  veränder- 
ten Zeiten  und  der  bestehenden  Verhältnisse  in  Betracht  Aus  diesem  Ge- 


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52G 


LI.  JAHRESVERSAMMLUNG    DER    UNGARISCHEN 


sichtspunkte  beurteilte  er  die  Notwendigkeit,  sowie  auch  die  Bedingungen 
der  Orientpolitik  unserer  Monarchie. 

Nicht  gewaltsam  wollte  Andrässy  das  Bestehende  sprengen,  vielmehr 
wünschte  er,  dass  es  auch  fernerhin  erhalten  bleibe.  Aber  andererseits  sah 
er  es  als  verfehlt  an,  dasjenige  künstlich  aufrechtzuhalten,  was  spontan  und 
notwendig  dem  Verfall  preisgegeben  war;  denn  diese  letztere  Richtung  würde 
zur  Schwächung  unserer  Monarchie  geführt  haben.  Aus  solcher  Auffassung 
ergab  sich,  dass  Andrässy,  ohne  an  dem  Bestehenden  zu  rütteln,  auch  die 
spontan  sich  entwickelnden  lebensfähigen  Gestaltimgen  nicht  behindert  hat. 
Schon  damals  erklärte  Andrässy,  dass  er  die  selbstständige,  unabhängige 
Entwicklung  der  Orientstaaten  mit  sympathischer  Aufmerksamkeit  verfolge ; 
und  dass  er  keine  Ingerenz  auf  ihr  Schicksal  beanspruche,  aber  freilich  unter 
der  Voraussetzung,  dass  sie  auch  jede  andere  fremde  Einflussnahme  von 
sich  fernhalten  werden.  Andrässy's  Ansicht  war^  dass  die  Monarchie  es  nicht 
dulden  könne,  dass  in  ihrer  unmittelbaren  Nachbarschaft  solche  staatliche 
Centren  sich  bilden,  die  nachmals,  möglicherweise  sogar  im  ungünstigsten 
Augenblick,  sich  wider  uns  wenden  möchten.  Er  besorgte,  dass,  wenn  wir 
nicht  auf  der  Hut  sind,  unter  dem  Schutze  einer  oder  der  andern  uns 
feindseligen  Macht  ein  grösserer  einheitlicher  Staat  auf  dem  Balkan  ent- 
stehen würde,  welcher,  vom  Schwarzen  Meere  bis  zur  Adria  reichend,  unsere 
Monarchie  wie  ein  eiserner  Bing  umklammem  könnte.  Zur  Verhütung  dieser 
Gefahr  hielt  er  es  für  angezeigt,  dass  die  Monarchie  an  den  orientalischen 
Angelegenheiten  beständig  wachsamen  Anteil  nehme  und  auch  dass  die 
Monarchie  über  einen  festen  Stützpunkt  auf  der  Balkanhalbinsel  verfüge. 
Als  einen  solchen  Stützpunkt  sah  er  Bosnien  an.  Denn  diese  Provinz,  die 
weit  in  das  Gebiet  der  Monarchie  sich  hereinstreckt,  stand  uns  vermöge  ihrer 
geographischen  Lage,  wie  auch  durch  die  Macht  der  geschichtlichen  Erinne- 
rungen viel  näher,  als  irgend  ein  anderer  Teil  des  Balkangebietes.  Oft  hat 
Graf  Andrässy  gesagt,  dass  die  Monarchie  keine  Eroberungen  anstrebe.  Und 
er  hat  die  Wahrheit  gesprochen.  Den  ßechtstitel,  unter  welchem  wir  in  jenes 
Territorium  gelangen  sollten,  betrachtete  er  als  eine  indifferente  Sache.  Er 
wünschte  lediglich,  dass  wir  irgendwo  auf  dem  Balkan  factisch  Posto  fassen 
möchten.  Von  unserer  Anwesenheit  in  Bosnien  erwartete  er  zunächst,  dass 
wir  den  beständigen  Unruhen  ein  Ziel  setzend,  solche  Zustände  schaffen  soll- 
ten, welche  geeignet  wären,  das  Gedeihen  dieser  vielgeprüften  Provinz  zu 
sichern.  Dazu  hoffte  er,  dass  unser  Walten  in  Bosnien  den  Nachbarstaaten 
nicht  blos  ein  Beispiel,  sondern  vielleicht  auch  eine  Mahnung  sein  würde. 
Denn  er  war  sich  dessen  wohl  bewusst,  dass  im  Orient  nur  eine  Macht,  die 
ihre  Wirkung  in  der  Nähe  bethätigen  kann,  Autorität  besitzt.  Mithin  war  er 
innig  davon  überzeugt,  dass  wir  durch  die  Besetzung  Bosniens  ein  solches^ 
Element  der  Buhe  und  der  Stabilität  auf  der  Balkanhalbinsel  schufen,  wel- 
ches die  dortigen  Bevölkerungen  bisher  vermisst  haben. 


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AKADEMIE    DER   WISSENSCHAFTEN.  -^^7 

Auf  dem  Gebiete,  welches  seine  Orientpolitik  amfasste,  begegnete 
AndrÄssy  ßussland  auf  allen  Wegen.  Seit  jeher  hatte  die  russische  Politik 
den  Orient  als  ein  ausschliessliches  Object  ihres  eigenen  Machtkreises  be- 
trachtet. Hier  also  konnten  wir  einander  nicht  ausweichen.  Unter  solchen 
Umständen  wurde  es  zweifelhaft^  ob  es  nicht  ratsam  für  die  Monarchie  wäre, 
angesichts  des  mächtigen  Nebenbuhlers  das  Feld  gänzlich  zu  räumen  und 
überhaupt  von  der  Orientpolitik  zu  lassen  ?  Andrässy  konnte  diese  Richtung 
nicht  einschlagen.  Denn  sie  bedeutete  schlechthin  die  Abdication  von  der 
Grossmachtstellung  und  in  weiterer  Folge  den  vielleicht  mäligen,  aber  zwei- 
fellosen  Verfall  der  Monarchie.  Die  Frage  konnte  also  nur  sein,  ob  die  Mon-^ 
archie  mit  bewaffneter  Kraft  gegen  Bussland  einschreiten  solle,  um  ihrem 
Einflüsse  im  Orient  eine  unerschütterliche  Grundlage  zu  schaffen  ?  Andrässy 
schrak  auch  vor  diesem  Mittel  nicht  zurück.  Doch  erachtete  es  der  gewissen- 
hafte Staatsmann  als  seine  höchste  Püicht,  den  Knoten  nicht  mit  dem 
Schwerte  entzweizuschneiden,  bis  nicht  alle  Hoffnung  auf  eine  friedliche 
Lösung  geschwunden  war.  Denn  fürchtete  er  auch  keineswegs  das  offene 
Bingen,  so  fürchtete  er  doch  die  dauernden  und  grossen  Opfer,  die  sich  den 
Völkern  unserer  Monarchie  auferlegen,  wenn  der  in  seinem  Ausgange  unab- 
sehbare, riesige  Kampf  zwischen  uns  und  Bussland  einmal  seinen  Anfang 
nimmt.  Und  darum  hätte  er  es  nicht  nur  als  eine  Unterlassung,  sondern 
geradezu  als  eine  Sünde  betrachtet,  nicht  alle  jene  Mittel  zu  versuchen, 
welche  durch  die  Modalitäten  des  diplomatischen  Ideenaustausches  und  der 
Capacitation  geboten  werden.  Wohl  wusste  er,  dass  auf  diesem  Wege  nur 
nach  geraumer  Zeit,  nach  Ueberwindung  mancher  Schwierigkeit  und 
manches  Vorurteils  das  erstrebte  Besultat  sich  erzielen  lasse,  sofern  es  über- 
haupt erzielbar  ist.  Allein  er  glaubte  immerhin  weder  Zeit  noch  Mühe  sparen 
zu  dürfen,  so  lange  auch  noch  die  matteste  Hoffnung  erübrigt,  das  Ziel,  dem 
er  zustrebte,  zu  erreichen.  Auf  solcher  Grundlage,  aus  solchen  Motiven  ent- 
wickelte sich  das  Verhältniss,  das  in  jener  Zeit  zwischen  unserer  Monarchie 
und  Bussland  sich  etablirte. 

Es  ist  durch  die  Natur  der  Sache  begründet,  dass  Andrässy  weder 
seine  letzten  Ziele,  noch  die  angewandten  Mittel  vollständig  aufdecken 
konnte.  Dieser  Umstand  trug  wesentlich  dazu  bei,  dass  ein  Theil  der  öffent- 
lichen Meinung  in  Oesterreich  wie  in  Ungarn  seine  Politik  entweder  über- 
haupt nicht  verstanden,  oder  dieselbe  als  eine  entschieden  verfehlte  beur- 
teilt hat.  War  solche  Meinung  begründet  ?  Hatte  Andrässy  sich  geirrt,  als  er 
auf  dem  Gebiete  der  Orientfrage  auch  für  die  Eventualität  der  friedlichen 
Lösung  die  russische  Politik  in  Bechnung  zog?  Mit  nichten;  sein  Streben 
war  ein  richtiges  und  auch  in  Hinsicht  des  Gegenstandes  desselben  hatte  er 
sich  nicht  geirrt.  Wohl  aber  war  es  seinerseits  ein  Irrtum,  zu  glauben,  dass 
er  schon  damals  würde  das  erreichen  können,  was  wenigstens  zu  jener  Zeit 
noch  unmöglich  war.  Allein  dieser  Irrtum  thut  den  glänzenden  Verdiensten 


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LI.  JAHRKSVER8AMMLUNO    DER    UNGARISCHEN 


Andrässy's  durcbaus  keinen  Abbruch.  Der  ist  kein  grosser  Staatsmann,  der 
sich  nie  getäuscht  hat,  denn  in  der  Politik  ist  nur  Der  gegen  Irrtümer  gefeit, 
der  unthätig  ist.  Das  charakteristische  Merkmal  des  wahren  Staatsmannes 
besteht  darin,  dass  er  den  in  dem  ununterbrochenen  Wirken  unvermeid- 
lichen Irrtum,  wenn  ihm  ein  solcher  widerfährt,  wieder  gutzumachen  weiss. 
Und  in  dieser  Hinsicht  nimmt  Andrässy  einen  Platz  unter  den  grössten 
Staatsmännern  ein.  Dem  Frieden  von  San-Stefano  folgte  alsbald  der  Berliner 
Traktat,  der  die  Welt  beruhigte,  denn  er  bannte  jene  Conflicte  hinweg, 
welche  aus  einer  einseitigen  Aufrüttelung  der  orientalischen  Verhältnisse 
sich  hätten  ergeben  können.  Dieser  Vertrag  war  die  glänzendste  Rechtferti- 
gung jener  Politik,  welche  Andrässy  seit  Jahren  befolgt  und  durch  welche 
er  das  Ansehen  der  Monarchie  auf  eine  so  hohe  Stufe  gehoben  hatte,  auf 
welcher  sie  in  der  Gesellschaft  der  europäischen  Staaten  schon  seit  langer 
Zeit  nicht  gestanden  war. 

Allein  unmittelbar  nach  der  Vollendung  des  in  Berlin  kreirten  grossen 
Werkes,  in  dessen  Schöpfung  ihm  eine  so  entscheidende  Rolle  zugefallen 
war,  wandte  sich  in  der  Heimat  ein  Teil  der  öflfentüchen  Meinung  offen  gegen 
ihn.  Die  Occupation  Bosniens  rief  starken  Resens  hervor,  welcher  alsdann 
im  Parlamente,  wie  auch  ausserhalb  desselben  in  herben  Angriffen  sich 
äusserte.  Wer  so  wie  Andrässy  seinen  einzigen  Lebensberuf  im  Schaffen 
erblickt,  wer  mit  so  reinen  Absichten  und  in  so  aufrichtiger  Ueberzeugung 
wie  er  nur  für  die  erhabensten  staatlichen  Ziele  kämpft,  den  berührt  es 
gewiss  schmerzlich,  verkannt  zu  werden;  allein  solches  Schicksal  wird  weder 
Erbitterung  noch  Entmutigung  in  seiner  Seele  erwecken.  Das  traf  aach  bei 
Andrässy  zu.  Er  wankte  nicht  unter  den  Angriffen  auf  seine  Politik  und 
seine  Kraft  erlahmte  nicht  unter  deren  Wirkung.  Zäh  und  ohne  seine  Grund- 
sätze auch  nur  für  einen  Augenblick  zu  verleugnen,  wirkte  er  weiter  und 
zuletzt  errang  er,  wenn  auch  nicht  mühelos,  dennoch  den  Erfolg.  Fest  war 
seine  Zuversicht,  dass,  wenn  einst  auch  dieser  Teil  seiner  Politik  die  von 
ihm  sicher  erhofften  Früchte  getragen  haben  wird,  auch  er  durch  die 
Geschichte  gerechtfertigt  erscheinen  werde.  Und  rascher,  als  er  selbst  gehofft, 
erfüllte  sich  diese  Zuversicht. 

So  vollendete  denn  Andrässy  das  Werk,  das  er  im  Gebiete  der  Orient- 
politik angestrebt  hatte.  Sein  Wirken  als  Minister  des  Aeussern  aber  wäre 
unabgeschlossen  geblieben,  hätte  er  sich  mit  Solchem  Resultate  begnügt. 
Nicht  im  Osten  blos,  auch  im  Westen  war  der  Bau  der  auswärtigen  Politik 
dieser  Monarchie  einzudachen,  eine  Aufgabe,  der  er  Eifer  und  Hingebung 
widmete. 

Dieses  letztere  Ziel  erreichte  Andrässy  durch  den  Abschluss  des 
Bündnissvertrages  mit  Deutschland,  welcher  mit  Recht  als  seine  grösste 
That,  als  sein  glänzendstes  Verdienst  gepriesen  wurde. 

Es  ist  heute  bereits  gleichgiltig,  ob  die  erste  Anregung  in  Betreff  dieses 


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AKADKMIE    DKR    WISSENSCHAFTEN. 


529 


Vertrages  von  ihm  oder  von  der  andern  Partei  ausgegangen  ist.  Andrässy's 
ganze  politische  Laufbahn  ist  ein  Beweis  dafür^  dass  er  zu  allen  Zeiten  ein 
Anhänger  des  freundpchaftlichen  Verhältnisses  mit  Deutschland  gewesen  ist. 
Nicht  ohne  ihn  und  nur  mit  ihm  konnte  demnach  das  Bündniss  zu  Stande 
kommen,  und  in  der  Form,  wie  diese  Allianz  durch  sein  Hinzuthun  geschlos- 
sen wurde,  geht  sie  in  ihrer  Bedeutung  und  in  ihrer  Tragweite  weit  über  die 
gemeinsame  Defensive  hinaus,  welche  ihren  stricten  Inhalt  bildet.  Denn 
nicht  so  sehr  in  den  einzelnen  Punktationen  liegt  der  wahre  Wert  dieses 
Bündnisses,  wie  vielmehr  in  dem  Geiste,  der  es  durchweht.  Dieser  Geist 
ist  hüben  wie  drüben  allmählig  in  das  Volksempfinden  eingedrungen  und 
hat  uns  darüber  belehrt,  dass  auch  nebst  der  Abwehr  gemeinsamer  Gefahr 
in  allen  Stücken  immer  nur  Interessengemeinschaft  und  nie  Interessen- 
zwiestreit  zwischen  uns  existiren  könne  und  dass  eben  darum  nicht  allein 
die  Verpflichtungen,  sondern  auch  die  Vorteile  auf  beiden  Seiten  nur  gleich- 
wertige sein  können.  Dieses  Verhältniss  ist  dasjenige  der  aufrichtigsten,  auf 
Vemunftschlüssen  beruhenden  Freundschaft,  welche  nicht  allein  zu  einer 
wechselseitig  billigen  Erledigung  der  zwischen  uns  obschwebenden  Angelegen- 
heiten führt,  sondern  auch  nach  aussen  hin  eine  Macht  repräsentirt,  welche 
uns  Beiden  zuverlässigen  Schutz  gewährt.  So  ist  dieses  Bündniss  die  stärkste 
Stütze  einerseits  des  eiuropäischen  Friedens,  andererseits  aber  auch  der 
abendländischen  Cultur  geworden. 

Kaum  hatte  Andrässy  diesen  Vertrag  unterzeichnet,  als  er  bald  aus 
dem  auswärtigen  Amte  schied.  Er  sah  voraus,  dass  auf  der  sicheren  Grund- 
lage, die  er  geschaffen,  der  Monarchie  eine  Epoche  der  Ruhe  bescheert  sein 
werde.  Und  er  dachte,  dass  ein  Staatsmann,  der,  wie  er,  durch  seine  Thatkraft 
grosse  Errungenschaften  erzielt  hat,  recht  daran  thue,  wenn  er,  am  Ziele 
angelangt,  der  natürlichen  stufenweisen  Entwicklung  freien  Raum  eröfl&iet 
und  die  Leitung  der  Angelegenheiten  wenigstens  für  einige  Zeit  Anderen 
überlässt.  Tief  betroffen  war  die  öffentliche  Meinung  der  Monarchie  ob  seines 
Scheidens.  Die  Aufregungen  des  letzten  Jahres  waren  bereits  gewichen  und 
die  Demission  Atjdrässy's  wurde  mit  allgemeinem,  aufrichtigem  Bedauern 
aufgenommen.  Allein  wenn  er  auch  aufljörte  Minister  des  Aeussem  zu  sein, 
so  hörte  er  gleichwohl  nicht  auf,  sich  für  die  auswärtigen  Angelegenheiten 
zu  interessiren ;  und  wann  immer  er  es  für  notwendig  erachtete,  stets  äusserte 
er  mit  der  bei  ihm  gewohnten  Offenheit  seine  Meinung. 

In  seinen  letzten  Lebensjahren,  die  er  hier  in  der  Heimat  verbrachte, 
trat  mehr  der  Mensch  als  der  Politiker  in  den  Vordergrund.  Andrässy  gehörte 
unter  jene  seltenen  Persönlichkeiten,  die  lediglich  durch  den  lauteren  Wert 
ihrer  Eigenschaften  überall  und  auch  unter  den  bescheidensten  Verhältnissen 
die  öffentliche  Aufmerksamkeit  auf  sich  lenken  imd  aller  Welt  Sympathien 
und  zugleich  Achtung  einflössen.  Es  ist  demnach  nur  natürlich,  dass  in  der 
Stellung,  welche  er  in  der  Gesellschaft  eingenommen  und  im  politischen 

Ungwlich«  Rerae,  XI.  1891.  VI— VH.  H«ft.  34 


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530  LI.  JAHRESVERSAMMLUNG    DER   TNÖARISCHEN 

Leben  sich  errangen  hatte,  seine  IndividuaUtät  in  noch  lebhafterem  Glänze 
erschien.  Aufrichtigkeit,  Geradheit  war  der  Hauptzug  seines  Charakters. 
Darin  wurzelte  die  Kraft,  durch  welche  er  auf  Andere  stets  die  grösste  Wir- 
kung ausübte.  Sein  Selbstgefühl  kannte  kein  Hemmniss,  aber  nie  schlug  es 
in  Dünkelhaftigkeit  um.  Er  war  von  leidenschaftlicher  Natur  und  dieser 
dankte  er  jenen  Thatendrang,  der  in  ihm  nie  erschlaffte.  Andererseits  ver- 
stand er  es  wunderbar,  seine  Leidenschaften  zu  meistern.  Die  starken  Empfin- 
dungen paarten  sieh  in  ihm  mit  dem  originellsten  Denken.  Aus  der  Ver- 
mählung dieser  beider  entstand  jene  gewinnende  Art  und  jener  Ideenreich- 
tum im  Vortrage,  durch  welche  er,  in  welchem  Kreise  er  immer  sprach, 
seine  Zuhörer  stets  bezauberte.  Auch  hat  Andrässy  nie  Feinde,  sondern  nur 
Gegner  besessen.  Er,  der  von  dem  eigenen  Wert  mit  Eecht  so  durchdrungen 
war,  beurteilte  auch  Andere  stets  nur  nach  ihrem  inneren  Werte.  Seiner 
tiefsten  Seele  entquoll  die  Achtung,  die  er  den  Schöpfungen  des  mensch- 
lichen Geistes  und  des  menschlichen  Willens  darbrachte.  Und  keinen  wahr- 
hafteren Freund  hatte  je  die  Sache  des  Fortschrittes  der  Menschheit  als 
Andrässy.  So  erscheint  in  ihm  der  grosse  Staatsmann  mit  dem  grossen 
Menschen  unzertrennbar  verschmolzen. 

Andrässy  gehört  nunmehr  leider  der  Geschichte  an.  Sein  Leben  und 
sem  Wirken,  sowie  die  Zeit,  in  der  er  gewaltet,  werden  oft  noch  den  G^en- 
stand  eingehender  Würdigung  bilden.  Meine  Aufgabe  konnte  das  nicht  sein. 
Nur  in  grossen  Zügen  wollte  ich  gedenken  dieses  mächtigen  Geistes,  dieser 
glanzvollen  Individualität,  so  wie  ich  in  dem  vertraulichen  Verhältniss, 
dessen  er  mich  durch  eine  lange  Beihe  von  Jahren  gewürdigt  hat,  sie  erken- 
nen konnte.  Getreu  und  wahrhaft  glaube  ich  Andrässy's  Gestalt  gezeichnet 
zu  haben,  und  die  Liebe  hat  meinen  Stift  geführt.  Anders  konnte  ich  ja  gar 
nicht.  Die  kalte  Objectivität  kann  in  der  Beurteilung  der  grossen  geschicht- 
lichen Gestalten  und  auch  der  Geschichte  selbst  weder  als  richtiger  noch 
als  zuverlässiger  Leitfaden  dienen.  Ereignisse  und  Entwickelungen  sind 
menschUche  Werke,  die  Werke  menschlicher  Gefühle  und  Leidenschaften. 
Wer  diesen  Gefühlen  und  Leidenschaften  sich  verschliesst,  kann  der  sie 
kennen,  gerecht  über  sie  urteilen?  Die  Vernunft  ohne  das  Herz  irrt  in 
menschlichen  Dingen  vielleicht  häufiger  als  das  Herz  ohne  die  Vernunft  Den 
Eingebungen  beider  müssen  wir  Gehör  geben,  um  nicht  ungerecht  zu  wer- 
den gegen  die  grossen  Gestalten  der  Geschichte.  Des  Einklanges  beider 
bedürfen  wir,  indem  wir  Andrässy's  gedenken. 

Die  Wissenschaft  lehrt  uns,  dass  es  unter  den  funkelnden  Sternen  des 
Firmaments  manche  gibt,  die  schon  längst  erloschen  sind ;  wir  aber  glauben 
sie  noch  immer  zu  sehen,  denn  ihr  vor  Aeonen  ausgestrahlter  Glanz  dringt 
durch  die  Femen  des  unermessUchen  Weltenraumes  noch  immer  zu  uns. 
Für  immer  ist  Andrässy  aus  unserer  Mitte  geschieden,  aber  der  Glanz,  den 
er  über  unser  Vaterland  verbreitet  hat,  ist  nicht  mit  ihm  erloschen ;  imd  so 


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AKADEMIE    DER   WI8BENSCHAFTEN.  "J-^I 

lange  Ungarn  auf  diesem  Boden  leben,  wird  das  Andenken  Julius  Andrissy's 
jenes  Licht  sein,  welches  unserer  Nation  immerdar  die  Bahn  glücklicher 
Wohlfahrt  weisen  wird. 


DENKREDE  AUF  KARL  SZATHMÄRY. 

Von  Albert  v.  Berzeviczy.'^- 

Der  Landes-Kinderbewahrer- Verein  trägt  den  Tribut  des  Dankes  und 
der  Pietät  ab,  indem  er  in  seiner  heutigen  Generalversammlung  jenes 
Mannes  gedenkt^  an  dessen  frischem  Grabe  wir  erst  vor  Kurzem  schluchzend 
gestanden  sind  und  der  unsern  Verein  zu  zweifachem  Danke  verpflichtet  hat  : 
einerseits  durch  jene  Dienste,  welche  er  unserm  Verein  selbst  im  Interesse  der 
Begründung  und  des  Gedeihens  desselben  geleistet  hat ;  andererseits  durch 
jene  überaus  nützliche  und  erspriessliche  Thätigkeit,  welche  er  im  Interesse 
des  Einderbewahrwesens  überhaupt  im  ganzen  Lande  entwickelt  hat. 

Aber  nicht  blos  als  Mitgheder  des  Kinderbewahrer- Vereins  und  nicht 
blos  als  Arbeiter  des  Eanderbewahrer-Wesens  feiern  wir  das  Andenken  und 
segnen  wir  den  Namen  Karl  P.  Szathmäry's ;  sondern  wir  müssen  auch  als 
Ungarn  seiner  in  Pietät  gedenken,  und  diese  Pietät  teilt  mit  uns  die  ganze 
Nation,  weil  der  verstorbene  hochverdiente  Secretär  unseres  Vereins  sein 
ganzes  thatenreiches  Leben  mit  der  grössten  Selbstlosigkeit  als  Schriftsteller,, 
als  Politiker,  als  Schulmann  und  als  Menschenfreund  der  Sache  des  Vater- 
landes gewidmet  hat.  Wenn  auch  die  Nation,  leider,  nicht  reich  genug  ist, 
um  Diejenigen,  die  mit  Hintansetzung  ihrer  eigenen  Interessen  sich  voll 
Eifer  der  nationalen  Sache  widmen,  mit  materiellen  Gütern  reichlich  zu 
belohnen,  muss  doch  ihr  Herz  warm  genug  fühlen,  um  für  jeden  ihrer  hervor- 
ragenden Söhne  den  ihren  Verdiensten  entsprechenden  Grad  von  Dankbar- 
keit und  Verehrung  zu  bekunden. 

Gesteigert  wird  unsere  Pietät  für  das  Andenken  Karl  P.  Szathmäry's 
durch  jenes  wahrhaft  tragische  Zusammentreffen  seines  Lebensendes  mit 
dem  vollständigen  Triumph  jener  Sache,  welcher  er  ein  Gutteil  seiner  Thätig- 
keit  gewidmet  hat.  Wir,  die  wir  gleichfalls  im  Dienste  des  Kinderbewahrer- 
wesens  stehen,  könnten  ein  Freudenfest  begehen  in  diesen  Tagen,  wo  wir 
nunmehr  sichere  Aussicht  haben,  dass  ein  Landesgesetz  das  Aufblühen 
jener  Institution  sichern  werde,  deren  Verwirklichung  die  Aufgabe  der 
kampfreicheren  Tage  unseres  Vereins  gewesen.  Und  in  die  Preudenklänge 
dieses  Festes  mengt  sich  die  schmerzliche  Klage  ob  des  Verlustes  Desjenigen^ 
der  heute  am  meisten  berechtigt  wäre,  den  Sieg  seiner  Ideen  zu  feiern  und 
dem  das  Schicksal  diese  Freude,  diese  Genugthuung  versagt  hat.  Es  gibt 

*  Gelesen  in  der  Generalversammliing  des  Landes-Kinder-Bewahrverems  am 
3.  Mai  1891. 


34* 


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S32  DENKREDK    AUF   KARL    HZATHMARY. 

Menschen,  denen  vom  Geschick  der  schwere  aber  ruhmvolle  Anteil  geworden, 
dass  allezeit  der  aufreibende  Kampf  ihr  Lebenselement  sei.  So  auch  unser 
Szathmäry.  Als  hätte  er  geahnt,  dass  die  Tage  der  schweren,  bahnbrechen- 
den Arbeit  zu  Ende  seien  und  die  Zeit  der  friedlicheren,  fruchtbringenden 
Schöpfungen  gekommen :  beeilte  er  sich,  von  uns  zu  scheiden,  damit  sein 
Andenken  als  das  eines  unermüdlichen  und  unerschrockenen  Streiters  im 
Keiche  der  Ideen  in  unserer  Seele  verbleibe,  —  als  eines  Streiters,  der  die 
Ruhe  nur  im  Grabe  findet. 

[Nachdem  Bedner  die  Lebensgeschichte  Szathmäry's  in  grossen  Zügen 
geschildert,  fuhr  er  fort :]  In  den  letzten  Jahren  stellte  er  seine  Feder  immer 
mehr  in  den  Dienst  der  gesellschaftlichen  Agitation  im  Interesse  der  Cultur. 
Er  gründete  im  Auftrage  Tr6fort's  das  populäre  belletristische  Unternehmen 
«J6  könyvek»  (Gute  Bücher),  dessen  Berufes  war,  die  Producte  der  immora- 
lischen Marktliteratur  zu  verdrängen.  Von  seinen  populären  literarischen 
Werken  erfreute  sich  jedoch  der  grössten  Verbreitung  das  «Bote  Buch», 
welches  auch  durch  Vermittlung  der  Begierung  in  Tausenden  Exemplaren 
verkauft  wurde.  In  diesem  schilderte  Szathmäry  die  Unfälle,  von  welchen 
sich  selbst  äberlassene  Kinder  betroffen  oder  welche  durch  die  Letzteren 
herbeigeführt  wurden,  und  er  war  dadurch  bestrebt,  das  Volk  von  der  Not- 
wendigkeit der  Kinderbewahr- Anstalten  zu  überzeugen. 

Allein  dies  war  nur  ein  Glied  in  der  langen  Kette  jener  literarischen 
Propaganda,  sozialen  Agitation  und  Vereinsthätigkeit,  welche  die  Geschichte 
der  letzten  18  Jahre  des  ungarländischen  Kinderbewahrwesens  mit  dem 
Namen  Karl  P.  Szathmäry's  in  unlösliche  Verbindung  brachte. 

Aus  welch  tiefer  Empfindung  die  Begeisterung  Szathmäry's  für  das 
Kinderbewahrwesen  quoll,  verriet  er  selbst  in  dem  Vorworte  zu  dem  Werke, 
welches  er  anlässlich  der  Feier  der  50jährigen  socialen  Thätigkeit  im 
Interesse  des  Kinderbewahrwesens  im  Jahre  1887  verfasst  hat. 

«Das  Kind  —  sagt  er  —  ist  die  anmutigste  und  liebenswürdigste  Schö- 
pfung der  Natur.  Auf  der  ganzen  Erde  gibt  es  kein  einziges  Wesen,  welches 
die  selbstlose  Liebe  des  menschlichen  Herzens  in  höherem  Maasse  hervor- 
rufen würde,  als  ein  2— 6jähriges  gesundes,  fröhliches  Kind,  welches  unter 
seinen  unschuldigen  Freuden,  mit  seinem  in  Entwicklung  begriffenen  Geiste, 
seiner  naiven  Auffassung  und  seiner  anhänglichen  Zuneigung  unser  Herz  so 
sehr  gewinnt,  dass  wir  in  der  unschuldigen  Schöpfung  Gottes  Ebenbild,  die 
Idee  verkörpert  sehen,  welche  das  irdische  Wesen  mit  dem  Himmel  verbin- 
det, und  unwillkürlich  die  Verpflichtung  fühlen,  das  noch  unbeholfene  Wesen 
zu  beschützen.»  Ausser  dieser  Grundempfindung  verwies  er  aber  in  der 
schönen  Bede,  welche  er  anlässlich  der  constituirenden  Generalversammlung 
des  von  ihm  gegründeten  «Ungarischen  Landes-Kinderbewahr- Vereins»  am 
26.  Jänner  1873  gehalten,  auf  noch  ein  anderes  psychologisches  Moment. 
Er  erzählte,  dass  im  Sommer  des  Jahres  1862  in  einem  Dorfe  des  Alföld  ein 


II 


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DENKREDE   ÄVF   KARL   8ZATHMARY.  533 

Feuer  ausgebrochen  sei,  welches  iunerhalb  weniger  Stunden  die  ganze 
Ortschaft  eingeäschert  habe.  Als  er  durch  das  verheerte  Dorf  ging,  kam  er 
an  eine  Stelle,  wo  die  verkohlten  Leichen  jener  Kinder  zusammengetragen 
waren,  welche  von  ihren  Eltern  sich  selbst  überlassen  oder  zuhause  einge- 
sperrt worden  waren.  Die  verbrannten  Hände  jener  Kinder  ragten  gleichsam 
anklagend  gen  Himmel.  «Seitdem  ich  diese  verbrannten  Kinder  gesehen 
habe  —  sagte  er  — ,  finde  ich  keine  Kühe  mehr.  So  oft  sich  mir  die  Gelegen-* 
heit  bot,  war  ich  mit  meinen  geringen  Kräften  bestrebt,  das  Kinderbewahr- 
wesen  zu  verteidigen.»  Unter  dem  Eindrucke  dieser  begeisterten  Worte  con- 
stituirte  sich  der  Verein.  Zu  Präsidenten  wurden  Baronin  Paul  Sennyey, 
Frau  Koloman  Tisza  und  Gabriel  Värady  — ,  zum  Secretär  aber  wurde 
Karl  P.  Szathmäry  gewählt.  Dieser  fasste  die  Erfordernisse  der  Lage  richtig 
auf,  indem  er  von  Anfang  an  dahin  strebte  und  auch  die  anderen  Factoren 
des  Vereins  dazu  zu  bewegen  suchte,  dass  dieser  Verein  mit  dem  älteren 
Verband  —  welcher  wegen  seiner  inneren  Miseren  seit  mehreren  Jahren  nur 
geringere  Thätigkeit  entfalten  konnte  —  ehebaldigst  vereinigt  werde,  damit 
sich  alle  für  die  edle  Sache  wirkenden  Kräfte  concentriren.  Dies  geschah 
auch  in  der  That;  die  Fusion  vollzog  sich  schon  im  Jahre  1874,  und  zum 
ersten  Secretär  des  so  begründeten  «Landes-Kinderbewahr- Vereins»  wurde 
wieder  Karl  P.  Szathmäry  gewählt,  der  jetzt  mit  noch  gesteigertem  Eifer  — 
weil  mit  der  Aussicht  auf  grösseren  Erfolg  —  an  der  Verbreitung  der  gemein- 
nützigen Idee  arbeitete. 

Was  seither  in  unserem  Verein  und  durch  denselben  geschehen  ist  — 
ob  wir  nun  die  Festigung  und  Entwicklung  unserer  Kinderbewahr- Anstalt 
und  unseres  Waisenhauses,  oder  die  helfende  und  aneifemde  Wirksamkeit 
unseres  Vereines  in  der  Verbreitung  des  Kinderbewahrwesens  betrachten  — , 
an  Allem  hatte  Karl  Szathmäry  seinen  bedeutenden  und  wichtigen  Anteil. 

Als  seine  Hauptaufgabe  aber  betrachtete  er  bis  an  sein  Ende  die 
gesellschaftliche  Agitation  im  Interesse  des  Kinderbewahrwesens ;  diesem 
Zwecke  dienten  seine  im  Auftrage  unseres  Vereins  verfassten  Broschüren 
und  Anleitungen,  sowie  seine  ausgebreitete  Correspondenz ;  dies  bezweckten 
auch  seine  Reisen,  welche  er  immer  als  gute  Gelegenheit  zu  Versammlung- 
gen,  begeisterten  Beden,  Vorlesungen  und  eifriges  Zureden,  Alles  im  Inter- 
esse des  Kinderbewahrwesens  benützte ;  er  fand  solche  Gelegenheiten  umso 
häufiger,  als  ihn  weiland  der  Cultus-  und  ünterrichtsminister  August  Trefort 
im  Jahre  1881  zum  Ministerial-Gommissär  in  Sachen  des  Kinderbewahr- 
wesens ernannte.  Dies  verlieh  seinem  Auftreten  das  gebührende  Ansehen 
und  sicherte  ihm  eine  thatkräftigere  Mitwirkung  der  Jarisdictions-Grgane. 
Er  behielt  die  amtliche  Mission  bis  an  sein  Lebensende  und  gründete  mitt- 
lerweile den  •  Landesverein  der  Kinderbewahrer»,  welcher  unter  seinem 
Präsidium  fungirte  und  in  zwei  Fällen  eine  Section  des  Lehrertages  bildete. 

Indessen  aber  musste  Szathmäry  fühlen,  dass  unter  unseren  Umstän- 


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53  i  DENKBEDE    AUF   KABL   8ZATHMARY. 

den,  wo  sich  allen  kulturellen  Bewegungen  in  Gestalt  von  Armut  und  Zurück- 
gebliebenbeit,  confessioneller  und  nationaler  Eifersüchtelei  so  viele,  auf 
gesellschaftlichem  Wege  allein  nicht  zu  besiegende  Hindernisse  in  den  W^ 
stellen,  die  Sache  des  Einderbewahrwesens  insolange  keinen  entscheidenden 
Erfolg  wird  ernten  können,  bevor  durch  ein  Landesgesetz  für  seine  För- 
derung gesorgt  wird. 

»  Er  verkündete  dies  schon  zu  einer  Zeit,  als  die  Idee  in  der  Gesellschaft 
noch  nicht  Boden  gefasst  hatte  und  auch  von  Seite  der  Regierung  kühl 
behandelt  wurde.  Als  Abgeordneter  legte  er  bereits  im  Jahre  1875  einen 
Gesetzentwurf  in  Angelegenheit  der  Regelung  des  Einderbewahrwesens  dem 
Hause  vor.  Am  20.  December  ergriff  er  zur  Motivirung  des  Gesetzentwurfs 
das  Wort  und  wies  in  dieser  Rede  darauf  hin,  dass  Baron  Josef  Eötvöa 
mit  dem  Gesetzentwurfe  über  die  Volkserziehung  auch  einen  Entwurf  über 
Regelung  des  Einderbewahrwesens  im  Hause  eingebracht  hatte,  dieser 
Gesetzentwurf  aber  nie  zur  Verhandlung  kam.  Er  wies  ferner  auf  die 
Wichtigkeit  und  Nützlichkeit  des  Einderbewahrwesens  hin,  sowohl  in  päda- 
gogischer als  volkswirtschaftlicher,  nationaler  und  humanitärer  Beziehung 
und  bat  schliesslich,  seinen  Entwurf  einer  Verhandlung  zu  unterziehen.  Das 
Sitzungsprotokoll  des  Abgeordnetenhauses  verzeichnet,  dass  den  Worten  des 
Redners  «allgemeiner,  lebhafter  Beifall n  folgte  und  dass  das  Haus  einstim- 
mig beschloss,  den  Entwurf  in  Beratung  zu  ziehen.  Derselbe  wurde  dann 
auch  an  den  Unterrichts- Ausschuss  gewiesen. 

Der  Entwurf  gelangte  aber  nie  in  das  Plenum  des  Abgeordnetenhauses 
zurück,  die  Regierung  unterstützte  das  Einderbewahrwesen  in  gouveme- 
mentalem  Wirkungskreise,  jedoch  die  Zeit  des  legislativen  Einwirkens  war 
noch  nicht  gekommen. 

Eaum  hatte  der  ge;^enwärtige  Unterrichtsminister  sein  Portefeuille 
übernommen,  als  er  beschloss,  die  Initiative  auch  in  der  Gesetzgebung  zu 
ergreifen.  Jedermann  fand  es  natürlich,  dass  mit  der  Fassung  des  Gesetz- 
entwurfes Earl  P.  Szathmäry  betraut  wurde,  der  dieser  Aufforderung  im 
Frühling  des  Jahres  1889  entsprach.  Der  Entwurf  SzathmÄry's  musste  in 
mancher  Beziehung  umgeändert  werden;  in  den  organisatorischen  und 
administrativen  Teilen  musste  man  ihn  mit  den  Verfügungen  der  bestehen- 
den Volksschulgesetze  und  mit  den  gesammelten  Erfahrungen  in  Einklang 
bringen,  aber  in  Bezug  auf  die  pädagogischen  Bestimmungen  und  auf  die 
Grundidee  war  der  vor  das  Parlament  gebrachte  Entwurf  mit  jenem  Szath- 
märy's  vollständig  übereinstimmend. 

In  die  zur  Beratung  des  Gesetzentwurfes  einberufene  Enquete  wurde 
im  Feber  des  verflossenen  Jahres  auch  Szathmäry  berufen  und  bildeten 
seine  Reden  anlässlich  dieser  Beratungen  sozusagen  den  Schwanengesang 
dieses  eifrigen  Apostels  des  Einderbewahrwesens.  Er  war  schon  zu  jener 
Zeit  sehr  krank  und  das  Erscheinen  in  der  Enquete  kostete  ihm  grosse 


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DENKREDE   AUF   KARL   SZATHMIhY.  ^35 

Anstrengung.  Dort  sprach  er  es  aus,  dass  er  nach  17jäbriger  Arbeit  die 
üeberzeugung  hege,  dass  die  Zukunft  unserer  Nation  von  der  schleunigeren 
Lösung  dieser  Frage  abhänge ;  er  gebe  sich  keinen  Illusionen  hin,  dass  das 
Gesetz  sofort  seinem  ganzen  Umfange  nach  durchführbar  sein  werde,  aber 
jedes  verlorene  Jahr  bedeute  ein  Jahrhundert  auf  diesem  Gebiete  und  des- 
wegen segne  er  den  Minister,  der  das  grosse  Werk  initiirte. 

Sofort  nach  ihm  ergriff  das  Wort  der  damalige  Abgeordnete  und 
gegenwärtige  Ministerialrat  Georg  Szatmäry  und  als  derselbe  seinem  Vor- 
redner für  dessen  auf  diesem  Gebiete  entfaltete  Wirksamkeit  Anerkennung 
zollte,  billigten  sämmtliche  Gonferenzmitglieder  seine  Worte. 

Unser  verdienstvoller  Secretär  konnte  es  noch  erleben,  dass  die 
Enquete  den  Entwurf  in  mehreren  Teilen  eben  vom  Standpunkte  jener 
nationalen  Interessen  wirksamer  gestaltete,  welche  auch  dem  Herzen  Szath- 
märy's  näher  standen;  er  konnte  es  erleben,  dass  der  Entwurf  unter 
demonstrativen  ^^Ijenrufen  der  Abgeordneten  auf  den  Tisch  des  Hauses 
niedergelegt  und  sogar  im  Ausschusse  durchberaten  wurde. 

Zu  jener  Zeit  begegneten  wir  ihm  noch  hie  und  da  in  den  Couloirs 
des  Hauses ;  man  sah  es  ihm  an,  dass  er  die  Last  des  Lebens  nicht  mehr 
lange  werde  schleppen  können;  sein  Körper  war  ganz  gebrochen,  sein 
Gesicht,  welches  früher  von  einer  kränklichen  Röte  bedeckt  war,  zeigte 
schon  eine  Leichenblässe ;  er  ging  herum,  wie  Jemand,  der  hier  auf  Erden 
nur  noch  eines  zu  suchen  hat ;  er  hätte  nur  noch  seinen  liebsten  Traum, 
den  gänzlichen  Triumph  des  ungarischen  Kinderbewahrwesens  gern  ver- 
vnrklicht  gesehen ;  er  fühlte,  dass  seine  Zeit  nur  mehr  kurz  ist,  dass  die 
letzten  Sandkörner  der  Uhr  im  Ablaufen  begriffen  seien  .  .  . 

Gleichwohl  aber  arbeitete  er  und  mühte  sich  ab,  vom  Morgen  bis  zum 
Abend,  sozusagen  bis  zu  seinem  letzten  Atemzug,  für  seine  Familie,  für  das 
Vaterland,  für  seine  Ideen,  immer  begeistert,  immer  seiner  selbst  vergessend. 

Muss  man  bei  dem,  der  die  Kleinen  so  liebte  wie  er,  noch  einen 
besonderen  lobenden  Nekrolog  über  den  Menschen  schreiben  ?  Konnte  er 
als  solcher  anders  sein  als  ein  guter,  treuer  und  selbst  aufopfernder  Gatte, 
Vater  und  Freund  ? 

Im  Wesen  Karl  8zathmäry*s  herrschte  über  jedes  Element  das  Herz 
tmd  dies  machte  ihn  als  Schriftsteller,  Politiker  und  Pädagogen  zum 
Idealisten  im  vollsten  und  edelsten  Sinne  des  Wortes.  Es  ist  möglich,  dass 
er  sich  mit  weniger  Idealismus  mehr  genützt  hätte,  seinem  Vaterlande 
aber  gewiss  nicht.  Er  war  zu  keiner  führenden  Bolle  berufen,  das  fühlte 
er  auch ;  er  hatte  aber  genug  Seelengrösse,  um  zu  erkennen,  dass  auf  dieser 
Welt  zur  VerwirkUchung  jeder  grossen  Idee  nicht  nur  siegreiche  Führer,  son- 
dern auch  solche  Männer  nötig  sind,  welche  alle  Kraft,  alle  Hoffnung,  alles 
Glück  eines  Menschenlebens  im  Dienste  einer  Sache  aufzuopfern  im  Stande 
sind,  ohne  darauf  zu  sehen,  danach  zu  fragen,  ob  sie  durch  diesen  Dienst 


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5,36 


DIK    FURSTIilCHEN    NEMANJIDEN. 


materiellen  Nutzen,  Einfluss;  Macht,  lärmende  Erfolge  und  dauernden  Buhm 
gewinnen ;  und  er  übernahm  diese  edle  Bolle  der  Selbstverleugnung. 

Deshalb  wird  sein  Name  Allen  lange  in  Erinnerung  bleiben,  und  wir 
hoffen,  dass  es  lange  Zeit  zarte  Hände  geben  wird,  welche  es  nicht  zageben 
werden,  dass  sein  Grab  kahl  bleibe  und  der  Blumenzier  entbehre. 

Die  schönsten  Blumen  aber,  welche  den  Schmuck  dieses  Grabes  bil- 
den, werden  jene  blühenden  Kindergesichter  sein,  auf  welche  unsere  wohl- 
thätigen  Bewahranstalten  das  heitere  Lächeln  des  Wohlbefindens  und  der 
Zufriedenheit  und  den  Strahl  der  sich  entwickelnden  Intelligenz  zaubern ; 
das  sind  jene  «Engelgärten»»,  für  deren  Zustandekommen  und  Verbreitung 
er  mit  so  edler  Begeistt  rung,  mit  so  hingebendem  Eifer  und  mit  so  erfolg- 
reichem Besultat  thätig  war. 

Segen  seinem  Angedenken ! 


DIE  FÜRSTLICHEN  NEMANJIDEN. 

Beiträge  zur  Kenntnias  der  ungarisch -serbischen  Beziehungen. 

Der  Bürger  in  Goethe's  «Faust»»,  der  sich  an  Sonn-  und  Feiertagen 
nichts  Besseres  zu  wünschen  weiss,  als  ein  Gespräch  von  Krieg  und  Kriegs- 
geschrei, wenn  «hinten  weit  in  der  Türkei»»  die  Völker  aneinander  schlagen, 
würde  mit  seiner  Denkweise  ganz  gut  seinen  Platz  auch  in  der  Auffas- 
sung und  Beurteilung  historisch-genealogischer  Themata  seitens  zahlreicher 
Bearbeiter  dieses  Gebietes  ausfüllen. 

Occidentale  Forscher  auf  dem  Gebiete  der  sogenannten  Hilfs- 
wissenschaften der  Geschichte,  selbst  wenn  sie  in  ihrer  Liberalität  noch 
so  wenig  Unterschiede  in  Längen-  und  Breitengraden,  Nationalität  und 
Bekenntniss  aufstellen,  gehen  einem  genealogischen  Thema,  sobald  es  sich 
bedenklicherweise  in  die  Nähe  der  «weit  an  die  Türkei»  grenzenden  Länder 
(Serbien,  Bulgarien,  Bosnien  etc.)  versteigt,  mit  heiliger  Scheu  aus  dem 
Wege,  und  es  ist  schon  viel,  wenn  sie  sich  zur  Motivirung  verstehen,  dass 
ein  näheres  Eingehen  auf  dieses  Thema  aus  Mangel  an  hierauf  Bezug 
habendem  kritischen  MaUriale  unmöglich  und  überhaupt  von  nicht  allge- 
meinem Interesse  sei. 

Der  erste  dieser  Einwände  hat  allerdings  eine  gewisse  Berechtigunf? 
für  sich.  Es  ist  wahr,  dass  die  in  ungeahntem  Maasse  existirenden,  in  ver- 
schiedenen slavischen  Zeitschriften,  Diplomatarien  und  Archiven  vor- 
kommenden, in  verschiedenen  slavischen  Idiomen  verfassten  Urkunden 
dem  nichtslavischen  Forscher  teils  schwer  zugänglich,  teils  schon  ihrer 
originellen  Schriftform  halber  unverständlich  sind;  wenn  wir  aber  erwägen,. 


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DIE   FÜRSTLICHEN   NEMANJIDBN.  ^^ 

dass  auf  die  Geschichte  und  Genealogie  der  Südslaven  sich  äusserst  zahl- 
reiches urkundliches  Material  in  lateinischer  und  griechischer  Sprache  in 
ungarischen,  venetianischen,  ragusanischen,  griechischen  u.  a.  Sammel- 
werken und  Fundstätten  aufgestapelt  findet,  dürfen  wir  kühn  die  Behaup- 
tung aufstellen,  dass  eine  Aufarbeitung  selbst  nur  dieses  zugänglichen  und 
verständlichen  Materials  zur  Aufhellung  südslavischer  Genealogie  u.  dgl. 
viel  beitragen  vnirde. 

Der  zweite  Einwand  ist  hingegen  gänzlich  zu  verwerfen.  Aus  ün- 
kenntniss  der  Quellen  und  lückenhafter  Bearbeitung  der  wechselseitigen 
Berührungspunkte  sämmtlicher  Stauten  und  Völker  hat  sich  der  Glaube 
entwickelt,  dass  die  kleineren  südslavischen  Staaten  in  der  Genealogie 
keine  über  die  Grenzen  ihres  eigenen  Territoriums  reichende  Bedeutung 
hatten.  Dies  ist  entschieden  falsch.  Zur  Zeit  der  Selbstständigkeit  der 
Donaufürstentümer  und  der  Balkanstaaten  finden  wir  im  Gegenteile  zu 
der  erwähnten  Annahme  ein  äusserst  reges  genealogisches  Eingreifen  in 
die  Familien  der  Nachbarstaaten,  welches  alle  Abstufungen  mit  Bezug  auf 
Bang  und  Macht  der  einzelnen  genealogischen  Glieder  aufzuweisen  ver- 
mag, —  die  Bearbeitung  der  südslavischen  Genealogie  hat  eine  weitgehende 
Bedeutung  und  bietet  grosses  Interesse. 

Der  grosse  Diicange  (1610 — 1688)  war  der  einzige  nichtslavische 
Autor,  der  seine  Aufmerksamkeit  der  südslavischen  Genealogie  zugewandt. 
Seine  durch  die  Opferwilligkeit  eines  Mitgliedes  der  leider  heute  ausge- 
storbenen Familie  der  Mäcenaten  1749  erschienene  Arbeit  «Ulyricum 
vetus  et  novum»  enthält  so  ziemlich  die  Genealogie  der  serbischen,  bul- 
garischen, kroatischen,  montenegrinischen,  bosnischen  etc.  Häuser.  Was 
die  Benützung  der  zu  seinen  Zeiten  zur  Verfügung  gestandenen  Quellen 
betrifft,  hat  Ducange  redlich  das  Seinige  geleistet ;  dass  er  ausser  dem  in 
Johann  Luci6*s  (f  1679)  Werke  über  Kroatien  und  Dalmatien  vorkommen- 
den urkundlichen  Materiale  nur  wenig  Urkundliches  verwertet  und  sich 
zumeist  auf  Chronisten,  von  den  Römerzeiten  angefangen  bis  zu  seinen 
Tagen,  stützte,  müssen  wir  ihm  verzeihen  ;  zu  seinen  Zeiten  lag  das  riesige 
urkundliche  Material  aller  Sprachen  unbeachtet  und  unge würdigt  im 
Staube  der  Archive ;  dass  er  aber  die  Leistungen  mancher  mittelalterlicher 
Stammbaumfabrikanten  ohne  jede  Prüfung  auf  gut  Glauben  hingenommen 
und  dieselben  als  etwas  Kritisches  seinem  Werke  einverleibt,  dürfen  wir 
ihm  weniger  entschuldigen. 

Da  ich  in  vorliegender  «Kevue»  manche  Beiträge  zur  Purificirung 
der  bulgarischen  Zarengenealogie  bereits  geliefert  und  die  Bearbeitung  der 
serbischen  Fürstengenealogie  mit  besonderer  Berücksichtigung  ihrer  unga- 
rischen Berührungspunkte  ein  ebenso  wenig  gepflegtes  als  dankbares  Thema 
bildet,  erlaube  ich  mir  an  dieser  Stelle  nachfolgende  Glossen  zur  serbischen 
Fürstengenealogie  in  zwangloser  Reibenfolge  zu  veröffentlichen,  wobei  ich 

ÜDguriaeh«  Beme,  XI.  1891.  VI— VH.  Heft.  .S4a 


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538  ria  fürstlichen  nemanjiden. 

jedoch  ganz  besonders  betonen  muss,  dass  Alles,  was  ich  in  der  Einleitung 
zu  meinen  Glossen  zur  bulgarischen  Zarengenealogie  gesagt,  auch  für  meine 
heutige  Veröffentlichung  vollinhaltlich  Geltung  hat. 

1.  Bis  zum  Auftreten  der  Nemanjiden. 

Der  erste  Serbenfürst,  von  dessen  Namen  angefangen  sich  eine  genea- 
logische Reihe  von  Nachfolgern  aufzählen  lässt,  ist  Vlastimir,  bekannt 
durch  einen  siegreichen  Krieg  gegen  den  Bulgarenfürsten  Presjam ;  dieser 
Krieg  dürfte  von  836  bis  839  gedauert  haben. 

Vlastimir  hatte  drei  Söhne  und  eine  Tochter;  letztere  heiratete  den 
Krainas,  Sohn  des  Zupans  von  Trebunien,  Bela's,  durch  welche  Heirat 
Krainas  zum  unabhängigen  Fürsten  Trebuniens  erklärt  wurde. 

Muntimtr,  der  älteste  seiner  Söhne,  regierte  eine  Zeitlang  in  Gemein- 
schaft mit  seinen  Brüdern  Strojmir  und  Gojnik.  Bald  mussten  aber  die 
Letzteren  ihm  weichen ;  sie  zogen  nach  Bulgarien,  während  Peter,  Gojnik's 
Sohn,  nach  kurzem  Aufenthalte  am  Hofe  seines  Oheims,  sich  nach  Kroatien 
begab.  Strojmirs  Sohn  Klonimir,  war  gleichfalls  nach  Bulgarien  gezogen, 
wo  er  eine  Eingeborene  zur  Göttin  nahm  und  mit  ihr  den  Ceslav  zeugte. 

Muntimir  hatte  drei  Söhne :  PtihesthlaVy  Bran  (Borena)  und  Stephan. 
Gleich  im  ersten  Jahre  nach  dem  Tode  ihres  Vaters  wurden  sie  von  ihrem 
Vetter  Peter  (Sohn  des  Gojnik),  der  an  der  Spitze  kroatischer  Hilfstruppen 
in  Serbien  eingefallen  war,  vertrieben,  worauf  sie  nach  Kroatien  zogen 
(ca.  897).  Um  900  wollte  Bran  das  Verlorene  zurückgewinnen,  ward  jedoch 
gefangen  und  auf  Peters  Befehl  sammt  seinem  Sohne  Paul  geblendet.  Um 
902  machte  auch  Klonimir,  unterstützt  von  Bulgarien,  einen  Versuch  zur 
Wiedereroberung  seines  Trones ;  schon  im  Besitze  der  Residenz  Dostinik 
wurde  er  von  Peter  umzingelt  und  getödtet.  Nach  ca.  20-jähriger  Begierung 
(91 7)  gelangte  Peter  durch  die  Intriguen  seines  westlichen  Nachbars,  Michael 
Vyseviö,  des  Fürsten  von  Zachlumien  (912 — 926),  in  bulgarische  Gefangen- 
schaft, woselbst  er  auch  sein  Leben  beschloss. 

Paul,  Sohn  Brands,  den  Peter  dem  Bulgarenzaren  Simon  zur  Bewa- 
chung übergeben,  wurde,  trotzdem  er  geblendet  war,  auf  den  serbischen 
Fürstentron  erhoben.  Da  er  sich  aber  gegen  Bulgarien  undankbar  erwies, 
setzte  ihn  der  Zar  Simon  ab,  um  an  seine  Stelle  Zacharias,  den  Sohn  des 
Pribesthlav,  zum  Fürsten  zu  erheben. 

Zacharias  war  vom  griechischen  Hofe  benützt  worden,  um  in  Serbien 
Paul  vom  Trone  zu  stossen ;  von  Paul  gefangen  genommen,  wurde  er  von 
diesem  nach  Bulgarien  geschickt  (917 — 921).  Kaum  auf  den  Tron  gelangt, 
vergass  aber  auch  Zacharias  die  ihm  von  bulgarischer  Seite  geleisteten 
Dienste  und  begann  mit  dem  griechischen  Hofe  zu  liebäugeln.  Als  eine 
von  Simon  gegen  Zacharias  abgeschickte  Armee  geschlagen  wurde,  sandte 


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DIE   FÜRSTLICHEN  NEMANJIDEN. 


539 


'Simon  eine  zweite  dahin,  der  er  den  Prinzen  Öeslav,  den  Sohn  Klonimirs, 
der  in  Bulgarien  geboren  und  erzogen  wurde,  sich  anschliessen  liess.  Diese 
Expedition  hatte  zur  Folge,  dass  Zacharias  nach  Kroatien  floh,  die  serbi- 
sche Fürstenfamilie  gefangen  genommen  und  das  ganze  Land  einer  Wüste 
gleich  gemacht  wurde  (924). 

Unter  der  Regierung  des  Bulgarenzaren  Peter  (927 — 969)  gelang  es 
CeslaVt  der  mit  den  gefangenen  serbischen  Fürsten  zu  flüchten  wusste,  die 
^Ibstständigkeit  Serbiens  unter  byzantinischer  Oberherrschaft  (931)  wieder- 
herzustellen. Er  fiel  (960)  auf  einem  Feldzuge  gegen  Syrmien. 

Von  Ceslavs  Nachfolgern  oder  Nachkommen  haben  wir  keine  authen- 
tische Kenntnis«.  Leichterer  Uebersicht  halber  lasse  ich  hier  die  Stammreihe 
der  Vorgänger  Öeslavs  folgen : 


1.  VJastimir  um  870— um  880. 


8.  Bran 
geblendet. 

5.  Paul 
geblendet, 
reg.  917— 

um  922. 


2a.  Mnntimir. 


PribislaY. 

I 

6.  Zacharias 

um  9^, 

flieht  9U. 


Stephan. 


2fc.  Strojmir 
um  886  verjagt 

Klonimir. 
-^  eine  Bulgarin. 

7.  Öeslav 
geb.  in  Bulgarien 
reg.  seit  981 1960. 


2c.Gojnik 
um  886  verjagt. 

4.  Peter 

897—917. 

t  naoh  917  in 

Gefangenschaft. 


Tochter. 

~  Krainaa, 

Sohn  des  2upan 

Bela  V.  Trebinje. 

Valimir. 

Tzutzimir 
880—940. 


Um  990  stossen  wir  auf  Johann  Wladimir ,  den  serbischen  Herrscher 
von  Dioklea  (Zeta)*,  der  mit  der  Hand  der  Kosara,  einer  Tochter  des 
Bulgarenzaren  Samuel  (reg.  976 — 1014),  Nord-Albanien  als  Vasall  Bulga- 
riens erhielt.  Am  22.  Mai  1015  wurde  Wladimir  durch  den  Cousin  seiner 
Oemahlin,  den  Bulgarenprinzen  Johann  Vladislav  ermordet.  Später  wurde 
er  zum  Heiligen  erhoben. 

Wladimirs  Vater  wird  Miroslav  genannt,  der  noch  einen  Bruder 
Dragomir  gehabt,  der  in  seines  Neffen  Namen  das  Land  Ch*lm  verwaltete 
und  nach  Wladimirs  Tode  sich  mit  einem  Teile  des  Volkes  wahrscheinlich 
in  den  Bergen  von  Montenegro  und  der  südlichen  Herzegowina  verbarg. 
Seine  Gemahlin  soll  die  Tochter  Ludomirs,  des  Grosszupans  von  Bassa 
gewesen  sein  und  ihm  ausser  zwei  Töchtern  den  Prinzen  Dobroslav  geboren 
haben.  Die  weitere  Genealogie  St.  Wladimirs  ist  unbekannt. 

1034—1050  erscheint  Stephan  Vojslav  (auch  Dobroslav),  Herr  von 
Zeta  und  Travunia,  aus  dem  Geschlechte  des  heil.  Wladimir,  Gemahl  einer 
Tochter  des  einstigen  Bulgarenzaren  Gubriel  Badomir  Boman.  Er  ver- 
nichtete ein  griechisches  Heer  in  den  Schluchten  Montenegro's  und  stellte 
die  Herrschaft  Serbiens  her.  Von  seinem  um  1050  erfolgten  Tode  ist  nichts 
Näheres  bekannt. 

*  Dieses  Königreich  bestand  aus  den  vier  Landesteilen :  Dioklea  (Zeta),  Travunje, 
Podgorje  und  Ch'lm. 

34* 


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540 


DIE   FUB8TUCHEN    NEMANJIDBN. 


Sein  Sohn  und  Nachfolger  Eadoslav  L  machte  Ch'hn  vom  griechi- 
sehen  Reiche  unabhängig.  Von  Eadoslav  besitzen  wir  das  Bruchstück  einer 
Urkunde,*  welches  Folgendes  enthält :  «Ego  Radoslavus  rex  . . .  cum  uxore 
mea  Julia  et  filio  Branislavo  volo  quod  construatur  monaaterium  in  Baleni, 
et  detur  monachis  sancti  Benedicti  de  Lacroma.» 

Sein  Nachfolger  Michael  (1078 — 1081)  erhielt  vom  Papste  den  Königs- 
titel. Sein  Sohn  Konstantin  Bodin  wurde  1073  von  den  mit  der  bjrzan- 
tinischen  Herrschaft  unzufriedenen  Bulgaren  zum  Zaren  Bulgariens  pro- 
clamirt,  bei  welcher  Gelegenheit  er  den  Namen  Peter  (11.)  annahm.  Von 
den  Griechen  besiegt  und  gefangen  genommen,  g^ltmg  es  ihm  mit  vene- 
tianischer  Hilfe  zu  entkommen  und  zu  seinem  Vater  zurückzukehren. 

Michaels  Genealogie  ist  nicht  klargestellt.  Luccari  gibt  ihm  aus  einer 
ersten  Ehe  folgende  Söhne :  Wladimir,  Priaslav,  Sergius,  Derijus,  Gabriel, 
Miroslav  und  Bodin ;  aus  einer  zweiten  Ehe  mit  der  Enkelin  eines  griechi- 
schen Kaisers  soll  er  noch  folgende  Söhne  gehabt  haben:  Dobroslav,  Pria- 
slav, Nikephor  und  Theodor.  —  Mehr  Wahrscheinlichkeit  hat  es,  dass  er 
ausser  dem  Sohne  Bodin  noch  eine  an  den  griechischen  General  Longibar- 
dopulos  vermählte  Tochter  gehabt. 

Bodin  soU  1081  (Okt.),  also  noch  zu  Lebzeiten  seines  Vaters,  sich  mit 
Jakvinta,  Tochter  des  zu  Bar  in  Apulien  wohnhaften  Edelmannes  Argy- 
ritzes,  vermählt  haben.**  Aus  dieser  Ehe  sollen  folgende  Söhne  stammen : 
Michael,  Georg,  Argyritzes  und  Thomas. 

Von  Bodin  kennen  wir  eine  Urkunde  do.  1 100,  in  der  er  dem  Bene- 
diktskloster zu  Lacroma  ein  Dorf  bei  Bagusa  schenkt.  Diese  Schenkung 
wird  1115  durch  seinen  Sohn  Georg  bestätigt.*** 

Im  Nov.  1114  urteilt  der  Kichter  Gerdo  in  Bagusa  «Eegis  Georgii  filii 
ßegis  Bodini  primo  anno,  regnante  pr«dicto  Eege».  Nachdem  Marco  de 
Pari  behauptet,  der  Besitz  St.  Martin  gehöre  Eagusa,  benift  sich  der  Richter 
auf  ältere  Leute,  die  den  Sachverhalt  kennen,  z.  B.  «Bella  uxor  ProcuU  de 
Cazariza,  filia  Tidiaslavae,  quse  fuit  soror  Domini  Eegis  Dobroslavo».  Hierauf 
begibt  sich  eine  Deputation  ins  Lacromaer  Benediktskloster,  darunter 
«Mariza,  vel  Marcus  filii  Begis  Bodini». 

Von  Bodin  kennen  wir  nur  aus  Dandolo  einen  gegen  den  Kaiser 
Alexius  I.  unglücklich  geführten  Feldzug. 

Neben  ihm  erscheint  ein  Gross-Zsupan  von  Serbien  oder  Bascia,  Na- 
mens Vukan,  den  Bodin  nach  Serbiens  (Rasciens)  Eroberung  (1082 — 1085) 

*  Kukuljevic,  Codex  diplomaticuß  I.  118. 
**  Lupus  Protospatha  ap.  Engel,  Geschichte  von  Serwien,  Halle  1801  pag.  187. 
Bei  Muratori  V.  572  kommt   um    1070   zu   Zeiten    des  Kaisers  Diogenes  ein  byzan- 
tinischer Kommandant  des  apulischen  Bar,  genannt  Argerius  vor,  der  sich  später  den 
Normannen  ergeben  musste. 

***  Kukuljevic  1.  c.  I.  188,  U.  pag.  19. 


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i 


DIE   FUR8TUCHEN    NEMANJIBEN. 


541 


eingesetzt  und  dessen  Abstammung  unbekannt  ist.  Sein  Gebiet  erstreckte 
sich  auf  Skodra,  südlich  von  Dalmatien.  Er  führte  siegreiche  Kriege  gegen 
den  griechischen  Feldherm  Johann  Dukas,  den  Schwager  des  Kaisers 
Alexius  I.  Sein  Todesjahr  ist  unbekannt. 

2.  Die  ersten  Nemanjiden. 

Auf  Vukan  ist  Bieli  Urosch  gefolgt ;  Letzterer  ist  der  Ahnherr  der 
Nemanjiden.  Bezüglich  des  Ursprunges  dieser  Familie  gibt  es  verschiedene 
ältere  Hypothesen. 

a)  Rates  IL  284  *  führt  die  Behauptung  des  Chilandarischen  Ljeto- 
pisz  an,  laut  welchem  die  Abstammung  der  Nemanjiden  an  die  römischen 
Kaiser  August  und  Konstantin  den  Grossen  angereiht  wird.  Des  Letzteren 
Schwester  habe  den  Licinius  geboren,  dieser  sei  von  seinem  Oheim  wögen 
seines  Christenhasses  befeindet  und  verjagt  worden;  dessen  Sohn,  Bela 
Urosch  sei  nach  Chulmien  geraten  etc. 

Baics  sucht  den  historischen  Hintergrund  dieser  Fabel  darin,  dass 
die  Nemanjiden  in  Wirklichkeit  von  einem  Bela,  Bane  von  Trevunja 
(Wlastimirs  Schwiegersohn)  abstammen ;  doch  entzieht  sich  alles  auf  die 
weitere  Genealogie  Bezügliche  einer  kritischen  Prüfung,  so  dass  Eaics* 
Annahme  weder  befürwortet,  noch  verleugnet  werden  kann. 

b)  Luccari,  Orbini,  Ducange  und  Tomcus**  stellen  die  Sache  folgender- 
massen  dar:  Die  Nemanjiden  stammen  von  einem  Geistlichen  orien- 
talischen Bekenntnisses  ab,  der  sich  Stefan  nannte  (nach  Tomcus  haben 
sich  alle  Könige  aus  seiner  Familie  diesen  Namen  beigelegt  «ut  e  gr. 
Pharaonis»))  und  zu  Lutzk,  einem  Dorfe  in  der  Zupanei  Cholm  gewohnt 
haben  soll.  Nach  Tomcus  war  er  geboren  «in  Tuglo  Bosniensi  oppido». 
Sein  ehelicher  Sohn  Ljubimir  sei  vom  Zupan  von  Cholm  zum  Befehlshaber 
in  Trnovicza,  in  der  Nähe  des  Ursprunges  des  Drinflusses,  an  der  Grenze 
von  Serbien  und  Dalmatien,  ernannt  worden.  Des  Ljubimir  Sohn  sei 
Urosch  etc.  Kaics  meint  nun,  dass  Stefan  ein  Nachkomme  des  Bela  von 
Trevunia  gewesen. 

^  Istorija  taznih  slavenskih  narodov  etc.  1794,  in  4  Bänden  (Baics  geb.  1726). 
**  Manro  Orbini  (f  1614),  Benediktiner-Mönch  in  Meleda,  später  in  B&cs 
{Ungarn).  Der  Titel  seines  Werkes  lautet:  II  regno  de  gli  Slavi  hoggi  corottamente 
detti  Schiavoni.  In  Pesaro  1601. 

Der  Titel  des  Werkes  Jakob  Luccaris  ist :  Copioso  ristretto  degli  annali  di 
Bagusa,  Venezia  1605. 

Karl  Dufresne,  Herr  von  Dncange  (1610 — 1688)  schrieb  eine  tHistoria  byzan- 
tina»  (Paris  1680),  deren  slavische  Abteilung  als  •ülyricum  vetus  et  novum»  1749 
in  Pressburg  erschien. 

Johann  Tomcus  (Mmavchich)  f  1639.  Er  schrieb  das  Leben  des  heiligen 
Sabbas  in  den  AA.  SS.  14.  Jänner. 


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542  DIE   FÜRSTLICHEN   NEMANJIDEN. 

c)  In  Ermangelung  einheitlicher  und  zuyerlässiger  einheimischer 
Nachrichten  bleibt  uns  nichts  Besseres,  als  den  Urspmng  der  Nemanjiden 
nach  den  byzantinischen  Quellen  anzugeben. 

Um  1094  hatte  Fürst  Vlk,  den  wir  als  Bodins  Statthalter,  Vasall  in 
Serbien  kennen,  den  griechischen  General  Johann  Dukas  geschlagen.  Als 
Kaiser  Alexius  I.  sich  persönlich  an  die  Spitze  einer  Armee  stellte,  um 
die  Niederlage  seines  Generals  zu  rächen,  schloss  Vlk  Frieden,  zu  dessen 
Garantien  er  die  Prinzen  Stefan  Vlk  und  Urosch,  die  Söhne  seiner  Vettern 
als  Geisel  nach  Griechenland  schickte.  Jede  nähere  genealogische  Klärung 
des  zwischen  Vlk  und  Urosch  bestandenen  Verwandtschaftsverhaltnißses 
ist  dermalen  unmöglich.* 

Ob  auf  Vlk  Stefan  Vlk  allein  oder  in  Gemeinschaft  mit  Urosch 
gefolgt,  ist  unbestimmt;  positiv  wissen  wir,  dass  1130  ein  serbischer  Gross- 
fürst des  Namens  Urosch  vorkommt,  der  seiner  weissen  Haare  halber  auch 
Bieli  Urosch  genannt  wird.** 

Urosch  ist  ursprünglich  Fürst  (Zupan)  von  Kassa,***  tritt  aber  als 
mächtigster  seiner  fürstlichen  Genossen  in  den  Vordergrund,  so  dass  ihn 
Turoczi  n.  63,  einen  magnus  comes  Serviae  nennt. 


*  Engel  1.  c.  190  hat  folgende  Bemerkung:  «Uros  war  nacb  ihnen  (den  Byzan- 
tinern) ein  Verwandter  —  Vetterssohn  —  von  dem  regierenden  serbischen  Groes- 
zsupan  Wiilkan,  mit  dem  demnach  Stephan,  Uroschens  Grossvater,  in  Verwandt- 
schaftsbeziehtingen  gestanden  haben  moss.  Wulkan  selbst  war,  wo  nicht  ein  Bruder,, 
doch  höchst  wahrscheinlich  ein  naher  Verwandter  von  Constantin  Bodinus;  dies 
könnte  die  zufällige  Ursache  sein,  warum  das  Chilendarische  Jahrbuch  durch  Ver- 
wechslung der  Namen  und  Zeiten  von  einer  Verwandtschaft  des  Neemanschen  Hauses 
mit  Konstantin  dem  Grossen  spricht» 

**  Neuere  imd  neueste  Autoren  lieben  es,  diesen  Fürsten  «B^  Urosch»  zu 
nennen  (z.  B.  KdUay  in  der  deutschen  Ausgabe  seiner  Geschichte  der  Serben  1878 
pag.  33,  —  Hertzlterg  in  seiner  1883  erschienenen  Geschichte  der  Byzantiner  etc.). 
Ich  kann  dem  durchaus  nicht  beistimmen.  tB^la»  ist  ein  speziell  ungarischer  männ- 
licher Kufhame,  der  in  der  Familie  der  Arp4den  z.  B.  fflnfmal  vertreten  ist.  B^la  IL. 
von  Ungarn  ist  ein  Schwiegersohn  des  Grossfttrsten  Urosch  L  Dieser  selbst  führt 
den  Beinamen  des  «Weissen»  (=  Weisshaarigen),  somit  heisst  er  «bieli»  (=  weiss) 
Urosch.  Aus  «bieli»  haben  Manche  wahrscheinlich  das  ihnen  bekannter  klingende 
•B^la»  falnrizirt.  Ob  aber  der  ungarische  Name  B^la  mit  dem  slavischen  bieli  (=  weiss) 
verwandt  ist,  dies  zu  entscheiden,  ist  Sache  der  vergleichenden  historischen  Sprach- 
künde.  —  Vgl.  meinen  Aufsatz:  «Zur  Genealogie  der  Nemanjiden»  in  ider  Deutsehe 
Herold»  Berlin  1888. 

'^''^*  Sein  Enkel  Stefan  Nemanja  sagt  in  seiner  Schenkungsurkunde  an  das 
Chilandarkloster  auf  dem  Berge  Athos  (ap.  Avramovity,  Opiszanie  drevnosztij  szrbszki, . 
Belgrad  1847  pag.  160  und  Wenzel,  ^pp&dkori  üj  okmÄnytir,  I,  352,  Nr.  219  (46  b) 
do.  1198 — 1199:  «In  seiner  unermesslichen  Gnade  und  Menschenliebe  liesg  er  (QcU) 
unsere  Ur-  und  Grossväter  glekhfalh  auf  diesem  serbischen  Boden  herrschen^.  Hiemit 
ist  jedenfalls  Urosch's  Abstanmiung  von  den  früheren  serbischen  Herrschern  sicher- 
gesteUt. 


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DIE   FÜRSTLICHEN   NEMANJIDEN. 


543 


Aus  ürosch's  Leben  sind  uns  keine  directen  Daten  mitgeteilt ;  wir 
dürfen  jedoch  mit  Bestimmtheit  annehmen,  dass  er  einigemale  mit  den 
Diokleanem  und  Byzantinern  erfolgreiche  Kriege  geführt.  Sein  Todesjahr  ist 
unbekannt.  —  Seine  Gattin  Anna  wird  vom  Chilendarischen  Ljetopisz  die 
Tochter  des  Königs  von  Frankreich  (Krala  Phranatsckago)  genannt.  Wir 
finden  aber  bei  den  Capetingem  weder  eine  Anna,  noch  eine  anders  genannte 
Prinzessin,  die  sich  im  ersten  Drittel  des  Xu.  Jahrhunderts  mit  Urosch 
von  Serbien  vermählt.  Es  ist  nicht  zu  glauben,  dass  von  einer  solchen 
Allianz  der  serbische  Chronist  berichten  könnte,  wenn  z.  B.  Anselm  und  St. 
Marthe,  die  Hauptgenealogen  der  Capetinger,  von  der  Sache  nichts  wissen.^ 

Von  Urosch's  Kindern  kennen  wir  drei  Töchter  und  zwei  Söhne: 

a)  Helene,  Königin  von  Ungarn. 

Ueber  ihr  Geburtsjahr  besitzen  wir  keinerlei  Anhaltspunkte,  doch 
wissen  wir,  dass  sie  —  weil  sie  schon  im  ersten  Jahre  ihrer  Ehe  einen 
Sohn  gebar^  und  kurz  darnach  die  Zügel  der  Eegierung  für  ihren  Gutten 
mit  seltener  Kraft  und  Energie  in  die  Hand  nahm  —  zur  Zeit  ihrer  Ver- 
mählung sich  schon  in  einem  für  eine  Frau  in  jeder  Beziehung  reif  zu 
nennenden  Alter  befunden  haben  muss.  Sie  dürfte  aller  Wahrscheinlich- 
keit nach  älter  als  ihr  Gemahl  gewesen  sein  und  mochte  der  Altersunter- 
schied durch  Bela's  Blindheit  keinen  Anstand  gelegentlich  der  Verlobung 
geboten  haben.  Helene  vermählte  sich  1129  mit  dem  damals  zumTronfol- 
ger  Stefans  H.  von  Ungarn  designirt  gewesenen  Bela  dem  Blinden^  und 
wurde  mit  ihrem  (Jatten  am  28.  April  1131  in  Stuhl weissenburg  gekrönt. 

*  VgL  «der  deutsche  Herold •  1.  o.  Ranzano  (Ind.  XIV.)  giebt  Helene's  (einer 
Tochter  Uroech's)  Abstammung  folgendermassen  an :  «Ejus  (nämlich  des  ungarischen 
Königs  B^la  II.)  uxor,  matrona  singularis  prudentia,  Helena  dicta  est ;  —  quam  per- 
hibent,  neptem  <u?  sorore  fuisse  Constantinopolitani  Imperatons,*  Der  Griechenkaiser, 
auf  den  dies  Bezug  haben  könnte,  muss  unbedingt  ein  Komnene  gewesen  sein  (etwa 
der  am  15.  Aug.  1118  gestorbene  Alexius  I.)  Obzwar  wir  eine  an  Urosch  vermählte 
byzantinische  Prinzessin  Anna  auch  nicht  kennen,  ist  Banzano's  Vermutxmg,  es  könne 
Anna  mit  dem  byzantinischen  Eaiserhause  verwandt  gewesen  sein,  entschieden  wahr- 
scheinlicher, als  die  capetingische  Ableitung.  War  sie  aber  doch  eine  Französin  und  hat 
sich  der  serbische  Chronist  nicht  geirrt,  als  er  sie  einem  regierenden  Geschlechte  ent- 
sprossen nannte,  so  kann  sie  nur  irgend  einer  untergeordneten  kleinen  Lehensdynastie 
Frankreichs  entstammt  sein.  SaÜEurik,  G^ch.  d.  Südlav.  Litteratur  LH.  63.  meint, 
dass  manche  den  Ausdruck  des  Chronisten  Boda  Franciska  (d.  heisst  fränkischen 
Geschlechts)  nicht  verstanden,  und  weil  sie  Anna  für  eine  Französin  hielten,  sich 
veranlasst  fühlten,  die  Angabe  der  einheimischen  Annalen  ganz  zu  verwerfen.  Er 
bietet  aber  keinerlei  Anhaltspunkte  zur  Bestinmiung  der  Genealogie  Anna's. 

*  Turöczi  II.  63.  «quse  non  post  multos  dies  procuravit  Geycham». 

*  Schier  (Heginse  Hungari»)  schreibt  B^la  eine  andere,  erste  Gattin  zu.  Helene 
soll    nach    ihm    noch    während    B^las   Exile    dessen    Gattin    geworden  sein.  Da  der 


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544  DIE   FÜRSTUCHEN   NEBiANJIDEN. 

Dass  Stefan  IL,  der  die  Yermahlang  des  blinden  Bela  negozürte,  seine 
Augen  auf  die  serbische  Fürstentochter  geworfen  und  um  selbe  durch  eine 
Gesandtschaft  zur  künftigen  Königin  Ungarns  werben  liess,  hat  mehrere 
Gründe  gehabt.  Stefan  hatte  schon  1128  wegen  des  seinem  Oheime  Älmoa 
in  Griechenland  gebotenen  Asyls,  dem  Kaiser  Johann  11.  Krieg  erklärt 
Noch  1128  erstürmte  er  Belgrad  (nach  Einigen  auch  Branißevo);  die  Ser- 
ben, die  1122  von  Johann  eine  empfindliche  Niederlage  erlitten,  benätzten 
die  gefährdete  Situation  des  Kaisers  und  eroberten,  durch  Stefans  Erfolge 
aufgemuntert,  die  Feste  Basum  (nach  Engel  etwa  Baska  am  gleichnamigen 
Flusse),  worüber  Johann  so  erbittert  war,  dass  er  den  Kritoplos,  den  Com- 
mandanten  der  Festung,  in  Weiberkleider  stecken  und  auf  einem  Esel  über 
den  öffentlichen  Marktplatz  führen  liess.  Engel  ist  nun  der  Meinung,  dass 
dieses  Mitwirken  der  Serben  vielleicht  noch  vom  Jahre  1118,  als  Stefan  11. 
Dalmatien  der  ungarischen  Krone  zurückeroberte,  herrühre  und  die  Folge 
einer  damals  zwischen  Ungarn  und  Serbien  getroffenen  Vereinbarung 
gewesen  sei.  Dem  sei  nun  wie  immer :  soviel  steht  fest,  dass  die  serbische 
Action  während  des  ungarisch-byzantinischen  Feldzuges  112819  den  ersten 
sicheren  Anhaltspunkt  zur  Aufklärung  der  folgenden  ungarisch-serbischen 
Allianzen  bietet. 

Um  den  einstigen  Umfang  ihres  Kelches  wiederherzustellen,  hätten 
die  Komnenen  u.  A.  auch  die  Serben  unter  ihr  Joch  zwängen  müssen.  Es  war 
somit  eine  ganz  natürliche  Sache,  dass  Ungarn,  Normannen*  und  Serben, 
die  an  den  Griechen  einen  gemeinsamen  mächtigen  Feind  besassen,  es 
nötig  fanden,  den  Griechen  mit  vereinten  Kräften  zu  widerstehen.  Stefan 
schloss  daher  in  diesem  Sinne  mit  dem  Grossfürsten  Urosch  ein  Schutz- 
und  Trutzbündniss  gegen  Johann  ü.  Somit  musste  es  auch  in  Stefans 
Interesse  gelegen  sein,  durch  eine  eheliche  Verbindung  seines  blinden 
Tronfolgers  mit  einer  Tochter  des  Serbenfürsten  diese  Interessengemein- 
schaft für  die  Zukunft  auf  eine  noch  stärkere  Unterlage  zu  stellen. 

Es  waren  aber  auch  gemütliche  Gründe  vorhanden,  die  hier  mit- 
gespielt. Wir  wissen  aus  der  Folge,  dass  Helene  ausser  ihrer  Schönheit  einen 
für  eine  Frau  in  seltenem  Grade  festen,  entschlossenen  Charakter  hatte 
und  dass  sie  zur  Erreichung  ihrer  Ziele,  sowie  zur  Befestigung  der  Herr- 
schaft ihres  Gatten  und  ihrer  Kinder  vor  den  blutigsten  Mitteln  nicht 

Kinuamos'scbe  Eukel  Belas  seinem  Oheime  Stefan  (einem  Sohne  B^la's)  so  sehr  ähnhch 
gesehen,  musste  die  Geburt  seines  Vaters,  also  auch  Helene's  Vermählung  (wenn 
wir  ausser  Helene  keine  andere  Gattin  B^la's  anerkennen  —  Schier  wird  hier  sehr 
inconsequent  — )  vor  B^las  Rtickberufung  erfolgt  sein.  Schier  sucht  hierin  eine 
Bestätigung  dessen,  dass  Stefan  II.,  der  von  Almos*  Leben  wusste  und  11^  dessen 
Tochter  Adelheid  so  freundÜch  empfieng,  von  Böla's  Existenz  keine  Kenntuiss 
hatte  etc. 

*  Klaic,  Geschichte  Bosniens  63. 


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PIE   FÜRSTLICHEN   NEMAJJJIDBN. 


545 


zurückschreckte  —  ihr  Auftreten  auf  dem  Eeichstage  von  1132  ist  wohl 
ein  Vorbild  der  Scenen  vom  Beichstage  1741  in  Pressburg.  —  Vielleicht 
wusste  nun  Stefan  von  diesen  Eigenschaften  der  Prinzessin  und  fand  er 
sie  deshalb  am  ehesten  geeignet,  dem  blinden  Bela  eine  feste  Stütze  gegen 
die  von  mannigfacher  Seite  sich  ihm  entgegenstellenden  Anfeindungen  zu 
bieten,  üeber  Helene's  angebliche  Mitgift  äussert  sich  Klaid  64,  65.  folgen- 
dermassen :  «Es  ist  eine  leere,  durch  nichts  bewiesene  Vermutung,  dass 
B61a  n.  von  seinem  Schwiegervater  Bosnien  als  Heiratsgut  erhalten. 
1135  nennt  sich  Bela  IE.  zum  ersten  Male  König  von  Bama  (Fejer  11.  82). 
Es  ist  wahrscheinlich,  dass  sich  die  bosnischen  Baue,  indem  sie  sahen, 
dass  die  mächtigen  Ungamkönige  mit  dem  serbischen  Fürstenhause  ver- 
schwägert seien,  ihiien  angeschlossen.  Wenig  später,  nach  1 135  erteilte  Bela 
auf  dem  Beichstage  zu  Gran  seinem  zweiten  Sohne  Ladislaus  die  Würde 
eines  bosnischen  Herzogs,  indem  er  jedoch  in  Wirklichkeit  auch  ferner  das 
Land  unter  der  Begierung  seiner  bosnischen  Baue  beliessi». 

Aus  Helene's  Familienleben  ist  uns  Nichts  bekannt.  Wir  wissen  nur, 
dass  sie  einen  Teil  ihrer  serbischen  Verwandten  an  ihren  Hof  rief.  Urkund- 
lich wird  sie  meines  Wissens  zweimal  erwähnt.* 

Ueber  Helene's  Lebensende  haben  wir  gleichfalls  keine  positiven 
Daten.  —  Der  Umstand,  dass  Bela  in  den  allerletzten  Jahren  seines  Lebens 
sich  dem  Trünke  ergeben,**  deutete  Vielen  darauf  hin,  dass  das  wachsame 
Auge  der  Gattin  damals  nicht  mehr  gewaltet  haben  mag.  Auch  war  es  auf- 
fallend, dass  gelegentlich  des  Scheidens  ihrer  Tochter  Sophie  aus  der 
Heimat  kein  einziger  Autor  den  Schmerz  der  Mutter  erwähnt  und  schliess- 
lich fand  man  das  Hauptargument  für  den  um  1 138  erfolgten  Tod  Helene's 
darin,  dass  nach  dem  im  Jahre  1141  eingetretenen  Ableben  Bela's  11. 
nicht  seine  Witwe  Helene,  sondern  deren  Schwager  Belusch  die  Vormund- 
schaft über  den  jungen  König  Geiza  H.  erhalten.  Man  calculirte,  dass  die 
energische  Helene,  wenn  sie  damals  gelebt,  sich  die  Vormundschaft  über 
ihren  unmündigen  Sohn  nicht  hätte  aus  den  Händen  nehmen  lassen. 

Alle  diese  Combinationen  betreffs  Helenens  Ableben  vor  Bela  H. 
sind  durch  einen  von  Jaksch***  gemachten  Fund  gegenstandslos  geworden. 


*  Fejer  IL  94  in  einer  Urkunde  do.  11?8,  betreffend  die  Probstei  Dömös: 
«Anno  autem  . . .  miUesimo  ceutesimo  trigesimo  octavo,  indictione  I.  epact.  XVIII.  reg- 
nante  vero  serenissimo  et  victoriosisBimo  Rege  Bela  II.  bonse  memorise  Almi  Ducis 
filio,  cum  Helena  regina  clementissima  anno  autem  regni  septimo»  —  «Idem  Bela 
Hex  püssimus,  cum  Helena  Regina  niliilo  minus  piissima.» 

Wenzel  1,  p.  55,  No.  23,  ohne  Jahreszahl,    Schenkimg   des  Vesprimer  Propstes 
Andreas  an  die  Abtei  zu  St.  Martin :  «. .  a  püssimo   Rege  Bela  et  eins  uxore  Regina 
Elena  diBponendarum  rerum  suarum  facultatem  petiit.» 
**  Turoczi  n.  64. 
***  «Mittheüungen  des  Instituts   für   österreichische    Geschichtsforschung,    1888, 

Ungariflche  Revue,  XI.  1891.  VI— VII.  Heft  35 


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^^  DIE    FÜRSTLICHEN   NEMANJIDEN. 

Derselbe  hat  nämlich  in  einem  Pergamentcodex  der  k.k.  Stadienbibliothek 
zu  Klagenfurt  einige  Briefformeln  entdeckt,  von  denen  sechs  die  Lebens- 
geschichte Sophia's,  der  Tochter  Bela's  11.  betreffen  und  deren  eine  an 
Sophia's  Mutter  Helene  gerichtet  ist  und  folgendermassen  lautet :  «Excel- 
lentissime  matri  sue  N.  regine  nobiUssime  N.  Christi  et  ipsius  ancilla  videre 
d(ominu)m  d(eum)  in  Syon  vel  regem  r(egum)  cum*  decore  salutem. 
Audita*  dulcissima  legatione  v(e8tra),  mater  et  domina,  qua  humilitatem 
m(eam)  clementer  salutare  dignata  estis  excellentia  v(estra),  gaudens  et 
exultans  vehementer  in  domino  grates  devotissimas  serenitatis  v(estre) 
humiliter  refero.  Et  quia  dixistis  speciale  vobis  esse  gaudium  pro  amore 
sponsi  celestis  devotissimarum  deo  feminarum  me  elegisse  contubemium, 
quid  elegerim,  quid  invenerim  vobis,  domina,  paucis  intimare  decrevi. 

Dum*  serenitatis  veetre  misericordiam  oculo  cordis  intueor,  mater  et 
domina,  qua  me  vobis  commanentem  amplecti  fovere  nutrice  vestra  dig- 
nata est  excellentia,  quicquid  honoris  et  glorie,  quicquid  iocunditatis  et 
gratie  vel  leticie  excogitare  filialis  *  valet  dilectio,  totum  vobis  unice  matri 
intima  devotione  exhibeo.  Verum  tamen,  quia  gaudium  m(eum)  gaudium 
v(estrum)  esse  non  ambigo,  facta  in  me  magnalia  dei  dignitati  vestre, 
domina  mater,  intimare  cupio.  Ex  quo  loco  N.  inhabitare  cepi  regnum  et 
patriam  deo  miserante  inveni.  Nam  tanta  in  me  patris  nostri  spirituaUs 
domini  scilicet  abbatis  omniumque  mihi  commanentium  superhabundat 
gratia,  ut  velut  in  horto  deliciorum  quodam  modo  videar  esse  posita.» 

Jaksch  gelangt  betreffs  der  Abfassungszeit  dieses  Briefes  zu  dem  Re- 
sultate, dass  derselbe  nach   11.  September  1146*  und  vor  April  1147  in 

Ergänzungsband  II.  Heft  2:  iZur  Lebensgeschichte  Sophia's,  der  Tochter  König 
Bela's  n.  von  Ungarn.  • 

^  «cni  ohne  Abkürzungszeichen. 

^  Nach  «Audita»  ist  «fama»  getilgt. 

^  Der  folgende  Schluss  des  Briefes  ißt  zwischen  Formel  V.  und  VL  ein- 
getragen. 

*  « filialis  •  ober  der  Zeile  nachgetragen. 

"^  «Ziehen  wir  die  Briefe  selbst  zu  Rat,  so  finden  wir,  dass  Überall  Erzbischof 
Konrad  I.  von  Salzburg  noch  lebend  genannt  wird.  Dieselben  müssen  also  noch  vor 
April  1147  (Meiller,  Salzburg,  Reg.  56,  No.  291)  geschrieben  sein.  Im  3.  Briefe  (an 
den  Erzbischof  selbst)  gedenkt  Sophia  des  hohen  Alters  des  Erzbischofs.  Im  1.  Briefe, 
welcher  noch  aus  Regensburg  an  G^za  II,  der  in  diesem,  wie  in  allen  folgenden 
Briefen  stets  als  selbstständiger  Regent  auftritt  (er  wurde  am  11.  September  1146 
wehrhaft  gemacht),  gerichtet  ist,  stellt  Sophia  in  der  Einleitung  ihren  Kimimer  und 
ihr  Elend  der  «prosperitas  rerum»  ihres  Bruders  entgegen. 

Die  Lage  G^za's  war  nach  dem  Tode  seines  Vaters  B^la  11.  1141  durchaus 
keine  günstige;  er  selbst  erst  12  Jahre  alt,  so  dass  wir  uns  die  erste  Zeit  seiner 
Regierung  ohne  Einflussnalime  seiner  Mutter  auf  dieselbe  nicht  denken  können,  und 
schon  drohte  Boricz  aufs  neue  mit  seinen  Ansprüchen  auf  den  ungarischen  Tron 
hervorzutreten.   Am    ungünstigsten   war  dieselbe  Anfangs  des  Jahres  1146,   als  König 


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DIB   FÜRSTLICHEN   NEMANJIDEN.  547 

Admont  geschrieben  ist.  Es  ist  aber  nicht  zu  vergessen,  dass  Sophie  um 
diese  Zeit  höchstens  14  Jahre  gezählt  haben  dürfte. 

Wir  ersehen  aus  dem  Briefe,  dass  Helene  an  ihre  Tochter  eine  Ge- 
sandtschaft nach  Admont  abgeschickt  und  dass  dieselbe  ihr  die  für  sie 
hocherfreuliche  Botschaft  von  der  besonderen  Freude  gebracht,  welche 
Helene  darüber  empfunden  hat,  dass  Sophie  aus  Liebe  zum  himmlischen 
Bräutigam  sich  in  ein  Kloster  gottergebener  Frauen  zurückgezogen. 

Somit  ist  auch  durch  diesen  Brief  festgestellt,  dass  Helene  nicht  nur 
nicht  vor  ihrem  Gratten  gestorben,  sondern  dass  sie  zwischen  1146  und 
1147  noch  am  Leben  gewesen !  Dass  sie  in  der  Geschichte  Geizas  H.  nicht 
figurirt,  dürfte  darin  seinen  Grund  finden,  dass  der  tüchtige  und  ehrliche, 
um  das  Wohl  Helene's  und  ihrer  Kinder  aufrichtig  besorgte  Belusch,  die 
gesammte  Vormundschaft  in  seinen  Händen  concentrirte  und  Helene  es 
durchaus  nicht  nötig  gefunden,  durch  einen  Act  persönlicher  Eingebung 
in  den  Vordergrund  zu  treten.* 

Helene' s  Tod  ist  also  nach  1146  anzusetzen.  1157  dürfte  sie  nicht 
mehr  gelebt  haben,  weil  Geiza  IL  in  einer  Urkunde  ap.  Fejer  IL  146 
sagt:  •pro  salute  animarum  matris  et  patris  m^i.» 

Wenn  wir  die  Folgen  dieser  Allianz  betrachten  wollen,  müssen  wir 
vor  Allem  die  kraftvolle  Leitung  des  ungarischen  Reiches  während  der 
Mindeqährigkeit  und  der  Jugend  Geiza's  H.  durch  Belusch  ins  Auge  fassen. 

Belusch  hatte  seinen  Schwager  Csudomil,  den  Bruder  Helene's  bere- 
det, sich  von  der  byzantinischen  Herrschaft  loszusagen  und  sich  in  den 
Schutz  seines  königlichen  Neffen  zu  begeben.  Manuel  von  Byzanz  über- 
raschte aber  schon  1151  Csudomil,  der  sich,  da  er  damals  von  Ungarn 
keine  Hilfe  erlangen  konnte,  in  seine  Berge  zurückzog.  Manuel  nahm  den 


Konrad  Boricz  Hilfe  in  Aussicht  stellte  und  auf  des  Letzteren  Veranlassung  zwei 
bairische  Grafen  in  der  Osterwoche  (31.  März  bis  6.  April)  Pressburg  überfielen 
und  eroberten.  Günstiger  jedoch  gestalteten  sich  G^za*s  Verhältnisse,  als  im  Frühjahre 
1146  die  Wiedergewinnung  Pressburgs  glückte  und  er  ermutigt  durch  den  Erfolg 
zum  Bachekriege  gegen  Baiern  rüstete. 

Ich  glaube  daher,  dass  der  1.  Brief  (an  G^za  II.)  nach  der  Wiedereroberung 
Pressburgs,  also  im  Frühjahre  1146  geschrieben  ist.  Da  konnte  man  allenfEtUs  von 
einer  «prosperitas  rerum»  Geza's  sprechen. 

Von  den  beiden  der  zeitlichen  Reihenfolge  nach  letzten  Briefen  5  und  & 
(letzterer  an  ihre  Mutter),  welche  gleichzeitig  geschrieben  sind,  ist  der  erstere  wieder 
an  König  G^za  gerichtet.  Sophia  spricht  ihren  Bruder  als  crex  Hunnorum  yicto- 
riosissimus»  an.  Dies  dürfte  kaum  formelhaft  zu  nehmen  sein,  sondern  ist  ofifenbar 
unter  dem  Eindruck  des  grossen  Sieges  geschrieben,  welchen  G^za  IT.  am  11.  Sept. 
1146  über  den  Baiemherzog  an  der  Leitha  erfocht.  Wir  hätten  somit  als  Grenzen 
der  AbÜEussungszeit  der  6  Briefe  das  Frühjahr  und  den  Herbst  1146  gewonnen.» 

*  Jaksch  hat  seine  oben  ausgesprochene,  gegenteilige  Meinung  nicht   motivirt. 

35* 


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54^  DIE    FÜRSTUCHEN   NKMANJIDEN. 

Abfall  der  Serben  zum  Yorwande,  um  im  nächsten  Jahre  seine  auf  die 
Unterjochung  Ungarns  hinzielenden  Pläne  zu  verwirklichen. 

Schliesslich  müssen  wir  zugeben,  dass  alle  späteren  Berührungen  der 
Ärpäden  mit  den  Nemanjiden  sicherlich  Nachklänge  der  durch  Helene's 
Vermählung  mit  Bela  einst  so  starken  Interessengemeinschaft  der  beiden 
Familien  gewesen. 

b)  Maria. 

Herzog  Sobjeslav  I.  von  Böhmen,  Gemahl  der  Adelheid,  einer  Schwester 
B61as  n.  wollte  das  Verschwägerungs-  und  Freundschaftsbündniss  mit  Bela 
dadurch  fester  knüpfen,  dass  er  1134  eine  Heirat  zwischen  Bela*s  Schwäge- 
rin, der  serbischen  Prinzessin  Marie,  und  Konrad  H.,  Herzog  von  Znaim, 
einem  Przemysliden  und  nahen  Verwandten  seinerseits  negoziirte.* 

Die  Ehe  war  übrigens  ein  Ausfluss  doppelter  Verschwägerung 
Bölas  n. : 

Herzog  Brzetislav  I.  v.  Böhmen  -f  1155. 
ÄlmoB  Urosch  I  Konrad  1  \  1092.  Vratialav  H  \  1098. 

vonUoRam  von  Serbien.  LutoldfUlö.  Sobieslav  H  1140. 


KonradÜT  Znaim 


Adelheid  B^lall  ^  Helena       Maria  ^  4  ii«ui 

11140.  i  1141.  1129  1134.  ^  *'^- 

fn.ll46.  nmll22. 


Prinzessin  Marie  ist  sicherlich  Helenes  jüngere  Schwester  und  hat  sie 
sich  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  am  Hofe  des  Ungarkönigs  aufgehalten, 
wo  sie  Konrads  Bekanntschaft  machte.  Nach  Dubravius  ist  ja  Konrad  von 
Sobieslav  an  Bela  als  Helfer  gegen  die  Polen  geschickt  worden.  Maria's 
Todesjahr  ist  uns  unbekannt.  Wir  wissen  nur,  dass  sie  1190  noch  gelebt.** 
Ihre  Kinder  waren  Ernst  (115(>),  Konrad  (t  11.  November  1178)  u.Otto  HL 
(t  9.  September  1191.) 

c)  Anonynia. 

Eine  ihrem  Namen  nach  unbekannte  Tochter  Urosch*  war  an  Belusch 
vermählt.  Engel  nennt  Belusch  einen  serbischen  Boljaren  und  gibt  ihm  einen 

*  Omt,  Cosm,  Pratj,  ad  1134:  «Interea  dux  Sobieslaiis  levirum  8uum,  regem 
Ungarorum,  rogabat,  quatenuB  sororetu  conjugis  suse,  videlicet  regln»,  principi  Con- 
rado  Znoymiensi  in  conjuglum  trade ret,  quo  perouasum  foedus  invicem  hujusmodi 
caussis  corroboratum,  firmius  perduraret.» 

Pulkava  ap.  Dobner,  Mon.  in.  159  irrt  sich  in  der  Braut  Genealogie :  tCon- 
raduB  marchio  Moravie,  dominus  Znoymensis,  filius  Leupoldi,  fratris  Odalrici  predicti, 
sororem  Bele,  regis  Vngarie,  duxit  uxorem,  Sobieslao  oontractum  hujusmodi  pro- 
curante.» 

Auch  DubramiH  in  Uist.  Böem.  Lib.  11p.  101  irrt,  da  er  Eonrad's  Braut  ftür 
eine  Schwester  B^la's  hält. 

'•'*  Urkunden  bei  Boczek,  Codex  diplomaticus  Moraviae  I.  331,  342,  391. 


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DIE   FÜRSTLICHEN    NEMANJIDEN.  549 

Bruder  ürosch.  Daraus  dass  die  ungarischen  Chronisten  ihn  einen  avun- 
culus  regis  Geysae  nennen,  schliesst  Engel  mit  Bestimmtheit,  dass  er  eine 
Mutterschwester  Geysa's  und  Tochter  des  Grossfürsten  Urosch  zur  Guttin 
hatte.  Wenn  Engel  keine  andere  Begründung  seiner  Behauptung  gekannt, 
so  war  selbe  sicherlich  nicht  geeignet  zu  imponiren,  denn  avunculus  musste 
Belusch  auch  in  dem  Falle  genannt  werden,  wenn  er  ein  Sohn  des  Urosch 
und  Bruder  der  Königin  Helene  gewesen  wäre.  Der  Umstand,  dass  wir  in 
Belusch  in  Wirklichkeit  einen  Schwiegersohn  Urosch's  zu  sehen  haben, 
ist  darin  begründet,  dass  wir  Belusch  nicht  als  Serben,  sondern  als  einen 
Kroato-Dalmatiner  kennen.* 

Engel  gibt  folgende  biographische  Züge  aus  dem  Leben  des  Belusch  an : 
«Er  hielt  sich  auch,  so  lange  der  alte  Urosch  lebte,  beständig  am  Hofe  des 
Königs  Geysa  auf,  leitete  die  Regierung  während  dessen  Minderjährigkeit 
und  bezeugte  sich  sehr  tapfer  wider  die  deutsche  Armee  des  Boris.  Nach 
dem  Tode  des  Urosch  scheint  Belusch  nach  Serbien  zurückgekehrt  zu  sein, 
wo  es  aber  sehr  verwirrt  hergegangen  sein  mag.  Vielleicht  wollte  Belusch 
mit  Verdrängung  seiner  Schwäger,  Serbien  für  sich  und  den  König  Geysa 
behaupten.  Wahrscheinlich  ging  dies  nicht  von  statten ;  die  Nachricht  des 
Cinnamos,  dass  Belsis  oder  Belusch  auf  beiden  Augen  geblendet  gewesen 
(wovon  er  aber  die  Ursache  und  Veranlassung  nicht  wisse),  gibt  Anlass  zu 
glauben,  dass  Belusch  von  seinem  Schwager  Csudomil  gefangen,  geblendet 
und  nach  Ungarn  zurückgeschickt  wurde.» 

Nachdem  nun  Engel  die  Thätigkeit  Belusch's  in  Ungarn,  namentlich 
während  der  gegen  Kaiser  Manuel  geführten  Kriege,  geschildert,  gelangt  er  zu 
der  Vermutung,  dass  Belusch  den  Prinzen  Stephan,  einen  jüngeren  Bruder 
Geiza's  E.,  seinen  Liebling,  auf  dessen  Flucht  zu  Manuel  begleitet  habe. 
Diese  Flucht  hatte  (1159 —  nach  Engel)  einen  neuen  Krieg  zwischen  Ungarn 
und  den  Griechen  zur  Folge,  während  dessen  Verlaufes  Kaiser  Manuel  sich 
an  Urosch  (Primislav),  einem  Bruder  des  Belusch  der  vor  einigen  Jahren 
sich  auf  den  serbischen  Tron  geschwungen,  rächen  wollte.  Um  dem 
ihrem  Lande  drohenden  Zorne  des  Kaisers  zu  entgehen,  hätten  sich  die 
Serben  beeilt,  den  Fürsten  Urosch  abzusetzen  und  den  Bruder  desselben, 
den  dem  Kaiser  erwünschten  Belusch  auf  den  Tron  zu  erheben.  Der  Kai- 
ser bestätigte  die  Wahl  und  wies  dem  detronisirten  Urosch  einige  Güter 
ausserhalb  Serbiens  an.  1162  habe  Belusch  die  Fürstenwürde  Serbiens 
niedergelegt  und  habe  sich  wieder  nach  Ungarn  begeben,  um  dem  jungen 
Könige  Stefan  DI.  mit  Rat  und  That  beizustehen ;  in  Ungarn  habe  er  dann 
sein  Leben  beschlossen. 

Die  heutigen  ungarischen  Historiker  stellen  Belusch 's  Wirksamkeit 
folgendermassen  dar:  ist  Belusch  sofort  nach  Bela'sH.  Tode  zum  Vormunde 

*  Klaic  66;  ttbrigene  spricht  auch  Reg.  V&rad  dafür. 


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550  DIE   FÜRSTLICHEN    NEMANJIDEN. 

des  jungen  Geiza  11.  ernannt  worden.  Das  gate  Einvernehmen  Ungarns  mit 
Spalato  (Urkunde  ddo  3.  Mai  1142)  und  die  Vermählung  Geiza*s  mit  der 
russischen  Prinzessin  Euphrosyne  sind  sein  Werk.  In  der  Schlacht  zu  Ler- 
feld  neben  der  Leitha  (11.  Sept.  1146)  commandirte  er  mit  Geiza  da8  Gen- 
trum der  ungarischen  Armee  und  griff  die  deutschen  Brigaden  Ton  der  Seite 
an.  Um  1150  beredete  er  seinen  Verwandten  Gsudomil  von  Serbien  zum 
Abfalle  von  Griechenland  und  zum  Anschlüsse  an  Ungarn.  Im  Frühjahre 
1 152  schickte  Belusch  dem  Bedrängten  ein  ungarisches  Hilfscorps.  Im  sel- 
ben Jahre  zog  er  mit  einer  Heeresabteilung  gegen  den  Prätendenten  Boris. 
Er  übersetzte  die  Donau  und  begann  die  Belagerung  von  Branizova,  erlitt 
aber  durch  Kaiser  Manuel  eine  Niederlage. 

Um  den  tüchtigen  Belusch  vom  ungarischen  Hofe  zu  entfernen,  gab 
ihm  Manuel  die  Fürstenwürde  von  Serbien.  Doch  treffen  wir  Belusch  nach 
Geiza's  H.  Tode  (1 162)  wieder  in  Ungarn  als  treuen  Katgeber  und  Helfer  des 
unmündigen  Stefan  IE. 

Urkundliche  Belege  für  Belusch'  Stellung  in  Ungarn  sind  folgende  : 
1142  kommt  er  auf  einer  von  Geiza  H.  der  Abtei  St.  Martin  ausgestellten 

Urkunde  unter  den  Keichswürdenträgern  als  «Belus  Dux»  vor.  (Fe- 

jerll.  117.) 

1145  1.  c.  124  als  Belus  Palatinus  Comes. 

1146  ap.  Wenzel  L   56/24  als  «Belus  Comes  Palatinus  et  Banus.»  iBelos 
Comite  Palatino.» 

1148  ap.  Fejer  IL  129  «Bani  Beli.» 

1150  1.  c.  130  «Belus  Banus.» 

ap.  Wenzel  I.  58/25  «Belus  Banus.» 

1151  ap.  Wenzel  I.  60/27  «Belus  Banus.» 

1152  1.  c.  60/28  «Belos  Banus.» 

1156  1.  c.  62/29  als  Palatin. 

ap.  Fejer  EL.  139  «Belos  Palatinus  Comes.» 
1.  c.  140  «Belo  Palatino  Comite.» 
1.  c.  144  «Belus  Palatinus.» 

1 157  1.  c.  «Belus  Banus  et  Comes  Palatinus.» 
1.  c.  146  «Belo  Palatino  existente.» 

1158  1.  c.  148  «Belus  (Princeps  Kegni).» 

1163  1.  c.  165  gibt  Stefan  IV.  dem  Bischöfe  Bernhard  und  der  Agramer 

Kirche  das  Gebiet  Dombrov  zurück.  Hier  wird  «Belus  Banus»  aus  der 

Zeit  Ladislaus  H.  erwähnt.  Auch  kommt  er  1163  als  Belus  Banus  vor. 

In  einem  Schreiben  des  Papstes  Innocenz  HI.  ddo  1198  (ap.  Fej6r  H. 

336)  an  den  Erzbischof  Saul  von  Kalocsa  kommt  Folgendes  vor:  Adaudien- 

tiam  nostram  noveris  pervenisse,  quod  inclitae  recordatianis  Dux  Beim 

olim  in  Archiepiscopatu  tuo,  in  proprio  fundo  suo,  qui  appellatur  Caet 

(=Keu)  monasterium  in  protomartyris  Stephani  honore  construxit,  adeo 


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DIE   FÜRSTLICHEN   NEMANJIDEN.  551 

illud  amplis  possessionibus,  reditibusque  ditavit,  quod  XXX.  monachi  in 
eo,  Becnndum  beati  Benedicti  regulam,  domino  servientes,  sustentationem 
suiBScienter  habebant,  et  hospites  et  pauperes  ad  ipsum  monasterium  diver- 
tentes,  procurationem  recipiebant  de  necessariis  competentem :  quadrin- 
gentas  etiam  marcas  argenti  praeter  cruces  et  calices,  idem  nobilis  eidem 
loco  ad  ipsius  ecclesiee  concessit  omatum.» 

Dieses  von  Belusch  gegründete  Kloster  ging  in  der  Folge  auf  die 
regulirten  Chorherren  zu  St.  Abraham  von  Ebron  über;  durch  ihre 
schlechte  Wirtschaft  waren  sie  aber  bald  gezwungen  das  Kloster  zu  verlas- 
sen ;  nur  drei  von  ihnen  waren  zurückgeblieben.  Der  Papst  forderte  nun  in 
obigem  Schreiben  den  Erzbischof  auf,  die  Angelegenheiten  des  Klosters  zu 
ordnen.  Dieselbe  Angelegenheit  wird  in  einem  zweiten  Schreiben  des  Papstes 
ddo.  1198  an  denselben  Saul  ap.  Fejer  ü.  337  berührt;  nur  heisst  hier  das 
Kloster:  «in  loco,  qui  dicitur  Keu.»  Belusch  war  also  1198  nicht  mehr  am 
Leben. 

Von  Belusch'  Kindern  haben  wir  ausser  einer  einzigen  Tochter  wenig 
Nachrichten.* 

Anfangs  1150  erschien  der  russische  Prinz  Wladimk,  ein  leiblicher 
Bruder  der  ungarischen  Königin  Euphrosyne,  am  Hofe  Geiza's  ü.,  um 
diesen  im  Namen  des  Grossfürsten  Isjaslav  11.,  eines  älteren  Bruders  der 
Königin,  gegen  den  Fürsten  Wladimirko  von  Halles  um  Hilfe  anzurufen. 

*  Im  Reg.  V&rad.  No.  231  wird  ein  Martin,  Sohn  Mocsö's  tde  genere  Beli 
Bani»  zur  Zeit  Andreas  II.  (1205 — 1235)  erwähnt.  Dieser  ist  allem  Anscheine  nach 
kein  direkter  Nachkomme  Belus',  sondern  nnr  aus  dessen  Familie. 

1266  (Wenzel  VIII.  125)  wird  Stefian,  Sohn  des  Bans  Belus,  als  slavonischer 
Edelmann  erwähnt. 

1270  (W.  VIII.  284)  kommt  die  tmeta  Belus»  vor;  an  anderer  Stelle  (1.  c.  285) 
die  tmeta  Belos  filij  Belos»  neben  Praudaviz,  in  Slavonien  an  der  Di*au. 

1279  (W.  rV.  204)  vollstreckt  das  Gs4zmaer  Domcapitel  das  Urteil  des  slavo- 
nischen  Bans  Nikolaus,  laut  welchem  die  Witwe  des  Belus,  Stiefmutter  des  jüngeren 
Belus  ihre  Morgengabe  und  ihren  Schmuck  erhalten  soll.  Es  wird  i  Stefan,  Sohn  des 
Belus,  im  Namen  und  als  Stellvertreter  des  Belus,  Sohnes  seines  Bruders  Belus» 
erwähnt.  —  Comes  Mohor,  Sohn  des  Bau  Apa,  ist  ein  Bruder  der  Witwe  des 
älteren  Belus. 

Um  1280  (W.  Xn.  326)  beüelilt  König  Ladislaus  IV.  dem  Bau  von  Slavonien, 
dass  er  für  die  Söhne  des  Belus:  Belus,  Nikolaus  und  Stefan,  das  durch  Bachader 
occupirte  Dorf  L&pathk  zurückstelle. 

Belus'  Nachfolge  gestaltet  sich  demnach  vielleicht  folgendermassen : 

Ban  Belus  I.  f  vor  1198. 


Tochter  1150.  Belus  II. 

"'  ^^^«^aÄ^^'''  StepSST  Belus  m.  1270.  f  um  1280. 

von  ßussland.  1205-1279.  -  1.  N.  2.  Tochter  des  Bans 


Apa  1279. 


1.  Beins  IV.        Nikolaus         Stephan  II. 
1279.  um  1280.  um  1280. 


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552  DIE   FÜRSTLICHEN   NEMANJIDEN. 

Geiza  zog  gegen  die  an  der  Grenze  beider  Länder  sieb  hinziehende  Gebirgs- 
kette und  schickte  eine  diesbezügliche  Botschaft  an  Isjaslav.  Der  in  Beiz 
campirende  Wladimirko  eilte  auf  die  Nachricht  von  der  Ankunft  des  unga- 
rischen Heeres  nach  Przemysl ;  Geiza  zog  über  das  Gebirge,  bemächtigte 
sich  des  Städtchens  Sanok,  nahm  den  Halicser  Gommandanten  mit  seiner 
gesammten  Besatzung  gefangen  und  zog  gegen  Przemysl.  Einer  von  Wla- 
dimirko an  Geiza  abgeschickten  Deputation  gelang  es  jedoch,  diesen  in  An- 
betracht des  herbstlichen  Regenwetters  und  Isjaslavs  Verspätung  zum  Rück- 
zuge zu  bewegen.  Am  20.  October  1150  machte  Geiza  dem  Grossfürsten 
die  Mitteilung  von  seinem  Rückzuge  und  erbat  gleichzeitig  dessen  Zustim- 
mung zur  Vermählung  des  in  seinem  Gefolge  befindlichen  Prinzen  Wladi- 
mir mit  der  Tochter  seines  «obersten  Bans.t  Der  ob  des  Rückzuges  des 
ungarischen  Hilfscorps  nichts  weniger  als  erbaute  Grossfürst  konnte  seine 
Zustimmung  zu  der  von  Geiza  geplanten  ehelichen  Verbindung  nicht 
versagen.  Obzwar  nun  die  russischen  Quellen  den  Namen  des  »ersten  (vor- 
nehmsten) ungarischen  Bans»  nicht  nennen,  liegt  es  meiner  Meinung  nach 
unwiderleglich  auf  der  Hand,  dass  wir  es  hier  mit  einer  Tochter  des  Be- 
lusch  zu  thun  haben.  Belusch  wird  in  den  Urkunden  von  1 1 50  Ban  genannt 
und  hat  er  als  Oheim  Geiza's  unstreitig  den  Vorrang  vor  allen  anderen  un- 
garischen Bauen  eingenommen ;  auch  hätte  Geiza  schwerlich  den  Werber 
für  einen  simplen  TJnterthan  abgegeben.  Ganz  anders  sieht  aber  sein  Vorge- 
hen aus,  wenn  wir  erwägen,  dass  die  Braut  seine  eigene  Cousine  gewesen ; 
wir  erhalten  folgendes  Verwandtschafts-  und  Verschwägerungsbild  : 


Urosch  I 

Helena. 
Gem.  B61a  U 
von  Ungarn. 

von 

Serbien. 

Tochter. 
Gem.  Ban 
Belusch. 

1150. 

Grossftirst  Mstislav  I  von  BnBsland 
f  15.  April  118i. 

1 

Geiza  H. 

Tochter 

Wladimir.                   Euphroeyne. 

1146. 

Wladimir  dürfte  seine  Braut  kennen  gelernt  haben,  als  er  sich 
Anfangs  1 150  am  Hofe  seiner  Schwester  in  Ungarn  aufgehalten.  Nach  erfolg- 
ter Verlobung  sandte  Geiza  —  der  russischen  Sitte  entsprechend  —  die 
Braut  mit  ihrem  Range  entsprechendem  Pompe  an  den  Hof  des  russischen 
Grossfürsten,  der  ihr  sammt  ihrem  Gefolge  die  Stadt  Tilog  anwies,  von  wo 
das  Gefolge,  nach  erfolgter,  reichlicher  Beschenkung  entlassen  wurde.  Der 
Bräutigam,  der  unterdessen,  in  Folge  einer  Erkrankung,  am  Hofe  seines 
Schwagers  Geiza  zurückgeblieben,  beeilte  sich  sofort  nach  seiner  Genesung 
seiner  Braut  nachzureisen,  worauf  alsbald  die  Vermählung  gefeiert 
^vnirde.  — Als  Wladimir  im  Jahre  1151  sich  abermals  in  politischer  Mission 
an  den  Hof  Geizas  begab,  begleitete  ihn  seine  Gemahlin,  um  ihre  Eltern 
zu  besuchen.  —  Ihre  fernere  Geschichte  ist  uns  unbekannt. 


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DIE   FÜRSTLICHEN   NEMANJIDEN.  553 

Wir  haben  noch  Einiges  über  den  Fürsten  Urosch  11.  (Primislav)  zu 
bemerken,  den  Engel  für  einen  Bruder  des  Belusch  hält. 

Engel  stützt  sich  auf  eine  Stelle  des  Arenpech  ap.  Leibnitz  SS.  Ber. 
Brunsv.  in.  666,  die  folgendermassen  lautet :  «Bex  ab  episcopis  (nam  cous- 
que  in  puerilibus  annis  positus  nondum  militem  induerat)  accepta  sacerdo- 
tali  benedictione  ad  hoc  instituta  armis  accingitur.  —  Post  hoc  ordinat 
acies  —  Magnae  aciei  avunculus  Begis  Belae,  Ban  nominatus,  praeerat. 
Dux  Austriae  Heinricus  sagittarios  delevit,  post  hsBc  duas  illas  magnas  acies, 
Begis  scilicet  et  avunculi  sui,  impegit .  .  .  Hungari  hostes  usque  ad  fluvium 
Vischahe  persequuntur.  Comes  Ures  cepit  Comitem  Bapolt,  Teutonicum, 
quijam  pridem  noctumis  insidiis  castrum  Poson  occupaverat.»  — Diese 
Stelle  erlaubt  uns  allerdings  nicht  in  dem  Comes  Ures  den  alten  Gross- 
zsupan  Urosch  zu  suchen,  sie  giebt  uns  aber  auch  nicht  das  geringste 
Becht,  ihn  auf  einen  Bruder  des  Belusch  zu  beziehen.  Der  Name  Uros  ist 
zur  Zeit  der  Ärpäden  auch  von  ungarischen  Grossen  geführt  worden, 
somit  könnte  auch  ein  solcher  den  Grafen  Bapolt  zum  Gefangenen 
gemacht  haben.  —  Da  aber  Engel  auch  pag.  195  uns  den  Beweis  nicht 
erbringt,  dass  Csudomils  Nachfolger  Primislav  ein  Bruder  Urosch  des 
Belusch  gewesen,  müssen  wir  die  von  ihm  angegebenen  Verwandtschafts- 
verhältnisse eben  nur  als  seine  Combination  betrachten. 

//;  Csv/domil. 

Diesen  nennt  der  Czarostavnik  den  älteren  Sohn  des  Grossfürsten 
Urosch  I. ;  Wie  wir  oben  gesehen,  empfand  Csudomil  1151  Lustsich  von  der 
griechischen  Oberherrschaft  loszusagen  und  sich  unter  den  Schutz  seines 
ungarischen  Neffen  zu  begeben.  Kaiser  Manuel,  von  dem  Plane  kaum 
unterrichtet,  zog  gegen  Serbien  und  machte,  da  Csudomil  sich  auf  die 
Defensive  beschränkte,  seine  Herrschaft  wieder  geltend.  Im  Herbste  1152 
kam  es  zwischen  Serben  und  den  von  Belusch  geleiteten  ungarischen 
Hilfstruppen  und  den  Griechen  zu  neuen  Gefechten.  Der  General  Johann 
Eantakuzenos  kam  dem  ungarischen  General  Bägyon  so  nahe,  dass  er 
demselben  seinen  Spiess  in  den  Bücken  gestossen  hätte,  wenn  die  eiserne 
Büstung  Bägyons's  ihn  daran  nicht  verhindert  hätte.  Als  der  General  zwei 
Finger  verloren,  kam  es  zwischen  dem  Kaiser  und  Bägyon  zum  Einzelkampfe. 
Manuel  warf  seinen  Spiess  fort ;  Bägyon,  ein  Mann  von  hoher  Statur  und 
starkem  Muskelbau  führte  einen  Hieb  gegen  den  Helm  des  Kaisers  und 
verwundete  den  letzteren  am  Kinn,  konnte  aber  die  Eisenringe  des  Helmes 
über  den  Augen,  trotzdem  sie  sich  in  Folge  des  wuchtigen  Stosses,  in  die 
Stimhaut  Manuels  einschnitten,  nicht  sprengen.  Manuel  gelang  es  nun 
durch  eine  dem  Bägyon  auf  die  Hand  beigebrachte  Wunde  ihm  das 
Schwert  zu  entwinden,  und  ihn  zum  Gefangenen  zu  machen.  Aus  Bück- 

üngvis«b«  Bev1l^  XI.  1891.  VI— vn.  Haft.  35a 

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554  DIE   FÜRSTLICHEN    NEMANJIDEN. 

sichten  der  Politik  fand  es  aber  Manuel  gerathen,  seinen  Grefeingenen  bald 
freizugeben,  worauf  Csudomil  unter  erschwerenden  Umständen  seinen  Eid 
der  Treue  wiederholen  musste.  Csudomil's  fernere  Geschichte  ist  unbe- 
kannt ;  ob  er  verheirathet  gewesen,  ob  er  Kinder  gehabt,  wo  und  wann  er 
gestorben  ist,  ist  unaufgehellt. 

e)  DeSa. 

Nach  Kinnamos  sind  Primislav,  Belusch  und  Desa  (Deses)  Brüder 
(Söhne  des  ürosch).  Nach  demselben  Autor  wäre  er  von  Kaiser  Manuel 
mit  dem  Ländchen  Dendra  bei  Naisus  (Nisch)  bedacht  worden  und  habe  er 
dafür  dem  Kaiser  den  Lehnseid  geschworen.  Als  nun  die  Serben  (Dalmatier) 
nach  Enttronung  des  ürosch  (Primislav)  eigenmächtig  den  Belusch  zu 
ihrem  Fürsten  eingesetzt,  fürchteten  sie  ob  dieses  Vorgehens  den  Zorn 
Manuels  hervorgerufen  zu  haben.  Belusch's  Abdankung  bald  nach  dem  Tode 
Geiza's  11.  (also  1161 — 62)  gab  ihnen  Gelegenheit,  sich  dem  Kaiser  wieder 
als  Gutgesinnte  zu  praesentiren.  Sie  führten  nämlich  beide  Brüder,  den 
enttronten  ürosch  und  den  Desa  von  Dendra  an  den  Hof  nach  Konstan- 
tinopel und  überliessen  dem  Kaiser  die  Wahl.  Im  Sinne  alles  von  Kinna- 
mos nachträglich  Erzählten  irrt  sich  unser  Chronist  entschieden,  wenn  er 
angibt,  es  sei  des  Kaisers  Wahl  auf  ürosch  gefallen ;  Kinnamos  muss  ent- 
schieden so  ausgelegt  werden,  dass  Manuel  1162  den  Desa  zum  Fürsten 
Serbiens  ernannt  habe,  wogegen  derselbe  das  bisher  innegehabte  Dendra 
der  griechischen  Krone  zurückgeben  musste. 

Hingegen  erzählt  Presbyt.  Diocl.,  dass  es  1150  Desa  gelungen,  dem 
Könige  Radoslav  H.  von  Dioklea  dieses  Land  zu  entreissen  ;*  festgestellt 
ist  es,  dass  sich  Desa  1151  urkundlich  (ap.  Kukulje^dc  1.  c.  H.  45 — 46) 
«Dessa  dei  gratia  Dioclie,  Stobolie,  Zacholmie  dux»  nennt,  indem  er  in 
diesem  Jahre  die  Insel  Meleda  dem  Marienkloster  auf  dem  Berge  Gtu-gansko 
in  Pola  schenkt.  Nach  dem  Czarostavnik  heisst  Desa  eigentlich  Techomyl 
und  wird  als  Csudomils  jüngerer  Bruder  genannt,  welche  Angabe  ich 
annehme.  Desa  zeigte  durchaus  keine  Lust,  sich  mit  der  üebergabe 
Dendras  zu  beeilen  und  suchte,  um  sich  gegen  Manuel  zu  sichern, 
Verbindungen  mit  Stefan  HI.  von  Ungarn  und  auf  dem  Wege  einer 
ehelichen  Allianz  eine  gewisse  Annäherung  an  Deutschland.**  Als  nun 
Manuel  1165  seinen  grossen  Kriegszug  gegen  Ungarn  unternahm,  for- 
derte er  Desa  aufs  Strengste  auf,  sich  ihm  mit  seinen  serbischen  Kriegern 
anzuschliessen.  Der  vor  ein  Ultimatum  gestellte  Serbenfürst  sah  sich 
genötigt,  seine  Truppen  ins  griechische  Lager  zu  Naisos  zu  führen,  beging 

*  «Poßt  hsec  suiTCxerunt  quidam  maligni  et  adduxernnt  Dessam  filium  Uroesi 
et  dederunt  ei  Zentam  et  Tribuniam.» 
•--  Engel  197. 


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DIE  FÜRSTLICHEN   NEBfANJIDBN.  5^ 

aber  die  Unvorsichtigkeit,  den  dahin  angelangten  Gesandten  Ste&oa  III. 
zu  eröffnen,  dass  seine  Sympathien  ganz  und  gar  auf  ungarischer  Seite 
seien.  Manuel,  von  der  Sache  unterrichtet,  liess  Desa  sofort  aufs  Strengste 
überwachen,  sodann  nach  Konstantinopel  abführen.  Ob  er  daselbst  inter- 
nirt  worden  und  dort  sein  Leben  beschlossen,  ist  nicht  sicher  gestellt ;  — 
nach  Du  Gange  53  sei  er  in  der  Peterskirche  zu  Trebunje  begraben,  was,  wenn 
es  wahr  ist,  darauf  schliessen  lässt,  dass  er  sein  Leben  in  Serbien  beendet 
haben  dürfte.  Engel  197  erwähnt,  es  habe  sich  Desa  nach  seiner  Erhebung 
auf  den  serbischen  Fürstentron  eine  Gattin  aus  Deutschland  gesucht.  Engel 
belegt  diese  Angabe  mit  keinerlei  Quellen.  Wenn  sie  richtig  ist,  war  Desa 
also  im  Anfange  der  60-er  Jahre  des  XII.  Jahrhunderts  verwitwet.  Ob  er 
eine  zweite  Frau,  und  speziell  eine  Deutsche  geheiratet,  ist  aus  Engel  197 
nicht  zu  ersehen,  jedoch  führt  er  auf  der  pag.  140  seines  Werkes  angefüg- 
ten Stammtafel  der  Nemanjiden  eine  «N.  N.  eine  Deutsche»  als  die  einzige 
<7emahlin  Desas  und  quasi  als  Mutter  seiner  Söhne  an. 
Desa  werden  folgende  Kinder  zugeschrieben : 

1.  Eine  ungenannte  Tochter. 

2.  David. 

3.  Stracimir. 

4.  Miroslav. 

5.  Stephan  Nemanja. 

a)  Desa's  Toahter, 

Während  der  Jahre  1165 — 67  war  zwischen  Kaiser  Manuel  und 
König  Stefan  III.  von  Ungarn  ein  heftiger  Krieg  wegen  Dalmatien  ausge- 
brochen. Manuel  belagerte  und  eroberte  Semlin  und  Syrmien  (Frühjahr 
1164),  während  seine  Generäle  Johann  Dukas  und  Nikephor  Kaluphes 
bis  1166  das  ungarische  Dalmatien  (Trau,  Sebenico,  öpalato,  Dioklea, 
Skardona)  in  Besitz  nahmen.  In  dem  nun  seitens  der  Ungarn  behufs 
Wiedergewinnung  des  Verlorenen  fortgesetzten  Kampfe,  gelang  es  dem 
griechischen  General  Andronikos  Kontostephanos  am  18.  Juli  1167  die 
ungarische  Hauptarmee  unter  ihrem  Commandanten  Dionysius  bei  Semlin 
Äufs  Haupt  zu  schlagen. 

Diese  seitens  der  Griechen  in  Ungarisch-Dalmatien  gemachten  Ero- 
berungen wurden  von  der  venetianischen  Regierung  günstig  beurteilt 
Da  Venedig  sich  bereits  im  Besitze  einiger  dalmatinischer  Inseln  befand, 
^b  sich  der  politisch- kluge  Doge  Vitale  Michieli  H.  der  Hoffnung  hin,  es 
werde  ihm  jedenfalls  leichter  gelingen,  das  dalmatinische  Festland  den 
griechischen  Händen  zu  entwinden,  als  den  ungarischen.  Der  Doge  befolgte 
nun  eine  Politik,  die  ihm  sowohl  in  den  Augen  der  Dalmatiner  die  Popu- 
lariität,  als  in  jenen  der  ungarischen  Regierung  den  Nimbus  des  der  Situa- 
tion Gewachsensten  verschaffte. 

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J 


55« 


DIE   FÜRSTLICHEN   NEMANJIDEN. 


Stefan  lU.  konnte  dermalen  auf  die  inneren  und  äusseren  Angelegen- 
heiten keinen  Einfiiuss  ausüben  und  richtete  sein  ganzes  Streben  dahin, 
einen  Modus  vivendi  mit  den  Yenetianem  herzustellen,  damit  sie  einer 
allenfallsigen  Zurückeroberung  des  dalmatinischen  Festlandes  yon  den 
Byzantinern,  keine  Schwierigkeiten  entgegensteUten.  Diesen  modus  vivendi 
glaubte  Stefan  nicht  besser  zu  erreichen,  als  indem  er  mit  dem  mächtigen 
Dogen  Vitale  Michieli  in  Verschwägerung  trat. 

Die  Familie  Michieli  gehörte  zu  den  vornehmsten  Patrizierfamilien 
Venedigs ;  unter  dem  Dogen  Vitale  Michieli  n.  war  ihr  Glanz  auf  dem 
Höhepunkte ;  ein  Sohn  des  Dogen,  Nikolaus,  war  zum  Grafen  der  dalmati- 
nischen Stadt  Arbe  gewählt  worden  (1166),  während  ein  anderer  Sohn, 
Leonhard,  Graf  der  an  der  istrischen  Küste  gelegenen  Stadt  Osero  gewesen. 
Stephans  Plan  war  es  nun,  die  beiden  jungen  Michieli  mit  seiner  Familie 
zu  verschwägern.  Zu  diesem  Zwecke  gab  er  dem  Grafen  von  Arbe  die  Prin- 
zessin Marie,  Tochter  seines  Oheims  Ladislaus  II  (f  1162)  zur  Frau ;  dem 
Grafen  Leonhard  von  Osero  hingegen  «filiam  Ducis  Edessae.» 

Mit  diesen  Worten  erzählt  uns  dieses  Ereigniss  der  Chronist  Dan- 
dolo  in  Muratoris  Sammlung  der  italienischen  Geschichtschreiber  (Band  XII. 
pag.  292.)  Ducange  53  commentirt  diese  Angabe  folgen4^rmaBsen :  «Sed  et 
illius  (nämlich  Desa's)  fortasse  filia  fuerit,  quam  Leonardo,  Vitalii  Michae- 
lis Venetorum  ducis  filio,  in  uxorem  dedit  Stephanus  Hungarise  rex,  quam* 
Dandulus  filiam  fuisse  ait  Dessae  ducis.  •  Auf  Seite  153  hingegen  hat  er 
folgenden  Passus:  «Venetorum  amicitiam  adfinitatibus  conciliare  studuit 
(nämlich  Stephan  m.),  ülia  Ducis  G^yzae,  Leonardo  Vitalis  Michaelis  Ducis 
Venetorum  filio,  Comitique  Auserensi ;  altera  vero  Maria  Ladislai  Ducis 
filia,  Nicoiao  eiusdem  filio  coniugibus  datis.B  Dass  er  nun  hier  die  Guttin 
des  Leonard  eine  Tochter  des  Prinzen  Geiza  nennt,  ist  entschieden  ein 
Schreib-  oder  Druckfehler  und  soll  es  heissen :  Dessse. 

Johann  Luöid  ap.  Schwandtner  HE.  (ed  1748)  nennt  an  mehreren  Stel- 
len die  Gemahlin  Leonhards  «fiha  Ducis  Dessse»,  spricht  sich  aber  nir- 
gends darüber  aus,  dass  unter  dem  Dux  Dessa  ein  Fürst  von  Serbien  zu 
verstehen  sei.  Engel  in  seiner  Geschichte  Dalmatiens  1 798  pag.  485  übersetzt 
Dandolo  folgendermassen :  «eine  Tochter  des  Herzogs  von  Dessa»,  fügt  aber 
in  Anmerkung  0)  zu :  f  nach  dem  damaligen  Styl  eine  Serwische  Prinzessin.» 
Hingegen  sagt  er  pag.  198  seiner  1801  edirten  Geschichte  von  Ser- 
wien: «Nach  Dandulus  verheiratete  der  König  von  Ungarn  eine  filiam 
Ducis  Edessae  im  Jahre  1167  mit  dem  Grafen  Leonhard,  Comes  Auseris, 
Sohn  des  Doge  Vitalis.  Ist  diese  Lesart  richtig,  oder  soll  es  Ducis  Dessae 
heissen?»   Trotz  seiner  Zweifel  führt  er  aber  auf  seiner  Stammtafel  der 


*  Innoc.  III.    lib.    11.    Epist.   p.    490.    edit.    Venet    et   apud   Odoric.  Rainald 
an.  1202.  n.  8. 


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DIE   FÜRSTLICHEN   NEMANJIDBN.  o57 

Nemanjiden  unter  den  Kindern  Desas  mit  aller  Sicherheit  Folgendes  an : 
«N.  N.  Tochter,  Gemahlin  des  Venet.  Grafen  Leonhard  von  Osero.» 

Nach  meinem  Dafürhalten  ist  Dandolo's  Stelle  einzig  und  allein  auf 
eine  Tochter  Desa's  zu  beziehen  und  haben  wir  durchaus  keinen  Grund  an 
der  Richtigkeit  dieser  Auffassung  zu  zweifeln. 

An  eine  Prinzessin  des  in  dem  osrhoenischen  Edessa  bis  1165  regie- 
renden älteren  Hauses  Courtenay  zu  denken,  wäre  ein  Unsinn ;  da  aber 
Ste&n  m.  dem  Grafen  Leonhard  eine  Verwandte  geben  wollte,  so  kann 
.  diese  laut  folgendem  Stemma  nur  Desa's  Tochter  sein : 

GroBsfarst  üroeoh  I  von  Serbien. 

Helene,  Ghem.  B^la  II  von  Ungarn.  ••«.««•«•  Deda,  Fürst  v.  Ser- 

Geiza  H  f  1161.         LadislaaBlI f  1162.  Vitale  Michieli  TL  f  1 173.  bien.reg.bi8  eall65 


Stephan  HL  Maria         '^       Nikolaus  Leonhard      ->«        Tochter. 

Graf  von  Arbe.      Graf  von  Osero. 

Dies  erlaubt  uns  aber  auch  darauf  zu  schliessen,  dass  Stefans  ser- 
bische Verwandte  sich  11 67  —  da  ihr  Vater  damals  schon  enttront  gewesen 
und  wahrscheinlich  in  irgend  einer  griechischen  Stadt  intemirt  lebte  —  am 
Hofe  ihres  Cousins  Stefan  IIL,  wahrscheinlich  unter  den  Fittigen  ihres 
Oheims  Belusch  aufgehalten  und  dass  die  Negoziirung  der  Vermählungen 
der  beiden  Michieli  mit  den  dem  ungarischen  Königshause  verwandten 
Damen  ein  Werk  des  Diplomaten  Belusch  gewesen. 

Von  Leonhard  Michieli  wissen  wir,  dass  er  während  der  Kriegszüge 
seines  Vaters  als  Viceregent  der  Bepublik  Venedig  sich  äusserst  tüchtig 
zeigte.*  Er  war  einer  Derjenigen,  die  1173,  nach  dem  Tode  seines  Vaters, 
dessen  Nachfolger  Sebastian  Ziani  zum  Dogen  gewählt  und  1174  war  er 
nait  einer  Mission  seitens  der  venetianischen  Begierung  an  Kaiser  Manuel 
betraut.  Von  seiner  Deszendenz  führt  Lucius  279  blos  eine  Tochter  Daria, 
Gräfin  von  Osero  an,  die  die  Grafschaft  Osero  in  die  Familie  Morosini  über- 
trug.** 

*  Casimir  Freechot,  Lipregi  Dell  Nobilta  Veneta,  Venezia  1682,  pag.  85: 
«Leonardo,  figlio  del  suddetto  Vitale,  conte  d'Ossero,  lasoiato  Vioeregente  della  Bepub- 
lica  assente  il  Padre  nell'  imprese  d' Oriente,  fa  suggetto  di  grandissimo  talento,  rioo- 
noeciuto  ne  pacifioi  anspicii,  oon  quali  araministro  le  veci  del  Genitore  e  refe  il  suo 
nome  benemerito  della  &me.> 

^'^  Der  Doge  Dominik  Morosini  (1148 — 1156)  hatte  einen  gleichnamigen  Sohn, 
der  von  1152  bis  1180  Qraf  von  Zara  gewesen.  Dessen  Sohn  Boger  erhielt  mittelst 
Urkunde  do.  August  1174  von  dem  Dogen  Sebastian  Ziani  das  auf  der  Insel  Pago 
gelegene  Kastell  Eesse  (Chissa)  zugesprochen  (auf  der  betreffenden  Urkunde  sind 
zwei  Morosini  —  Markus  und  Moriz  —  als  Zeugen  unterschrieben).  Diese  Schen- 
kung wurde  mittelst  Urkunde  do.  April  1203  durch  den  Dogen  Heinrich  Dandolo 
für  Boger  —  nunmehrigen  Grafen  von  Osero  —  und  dessen  Nachkommen  bestätigt. 
Boger  hat  somit  seine  Ehe  mit  Daria  Michiela  vor  AprU  1203  geschlossen. 

Mittelst  Urkunde  do.  15.    März  1202   verspricht  •  Daria  Dei  Gratia  Absarensis 


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558  DIB   FÜRSTLICHEN    NEMANJIDEN. 

bj  David  fauch  Zavidj. 

Dieser  ißt  nach  dem  Troadnik  ein  Sohn  Desas.  Der  serbische  Histo- 
riker Georg  Brankovics  nennt  ihn  Zavid  und  leitet  diese  Benennung  daher 
ab,  dass  er  zur  Zeit  geboren  wurde,  als  man  seinen  Vater  am  meisten 
beneidete  («jegda  hortze  zavidachu  otzu  jego»).  —  Die  Nachrichten  über 
diesen  Prinzen  (den  aber  nur  die  serbischen  Quellen  so  nennen,  denn  bei 
den  griechischen  kommt  unter  Desa's  Söhnen  ein  Konstantin  vor)  lauten  bei 
den  verschiedenen  Autoren  so  verworren,  dass  sich  ein  klares  Bild  über 
ihn  nicht  gewinnen  lässt.  Mehr  Aufschluss  bieten  die  Nachrichten  über  die 
Kämpfe,  die  Stefan  Nemanja  mit  seinen  Verwandten  wegen  der  Gross- 
Zsupanswürde  geführt.  Es  heisst  mit  Bestimmtheit,  dass  es  im  Jahre  1 1 73 
zur  entscheidenden  Schlacht  gekommen,  in  welcher  Nemanja  über  seine 
Feinde  glänzend  triumphirte  und  auch  sein  ältester  Bruder  das  Leben 
verlor.*  Da  unter  den  nach  1173urkundHch  erwähnten  Brüdern  Nemanjas 
dieser  David  nicht  vorkommt  (aber  auch  Konstantin  nicht),  thun  wir 
gut,  sein  Todesjahr  auf  1173  zu  setzen.  Weib  und  Kinder  sind  unbe- 
kannt. 

c)  Stra^iTnir. 

Er  ist  wahrscheinlich  Nemanja's  Zweitältester  Bruder.  Er  kommt  in 
dem  am  27.  Sept.  1186**  zwischen  Eagusa  und  Nemanja  geschlossenen 
Frieden  vor.  Ausserdem  erwähnen  ihn  Chron.  Salmansveillens.  und  die 
Chronik  des  sogenannten  Ansbertus  (in  Fontes  rerum  Austriacarum  V.) 
gelegentlich  der  im  Jahre  1189  erfolgten  Unterhandlungen  Nemanja's  mit 
dßm  deutschen  Kaiser  Friedrich  I. 

Nachdem  ihn  die  Bagusaner  Gomes  nennen  und  wir  ihn  in  allen 
citirten  Stellen  als  einen  in  die  Politik  eingegriffen  habenden  Mann  kennen 


Comitissa»  ün  Vereine  mtt  ihren  Söhnen  Eobert  und  Feter,  dass  sie  den  Bürgern 
der  Stadt  Arbe  alle  ihre  anf  Keesa  erworbenen  Rechte  abtrete,  falls  die  Arbenser 
ihren  Sohn  Robert  zum  Grafen  von  Arbe  erwählten. 

Mittelst  Urkunde  do.  1205  bekräftigt  der  Doge  Peter  Ziani  den  Erben  Roger 
Morosinis  ihre  Rechte  auf  das  castnun  Chissse,  nachdem  Johann  Sisindolo,  Graf 
von  Arbe,  sich  mit  Berufung  auf  ältere  Privilegien  des  Königs  Kresimir  von  Kroatien, 
in  seinen  Rechten  auf  das  genannte  Kastell  verkürzt  erklärte. 

Als  Peters  Söhne  erscheinen  1236  Roger  und  Leonhard.  Ersteren  führt  Lucius 
im  Jahre  1243  als  Grafen  von  Arbe  an.  Der  letzte  Graf  von  Osero  aus  dem  Hause 
Morosini  war  Marino,  genannt  Bazeda,  nach  dessen  Tode  Andreas  Doria  zum  ersten 
Male  durch  den  grossen  Rat  von  Venedig  zum  Grafen  gewählt  wurde  (1304). 

*  Killay  39. 

**  Wenzel,  VI,  165/105  «ex  parte  Magni  Jopani  Neman  et  fratmm  eins  ContitU 
Strazimiri . , .»  «Hanc  pacem  cum  Megaiupano  Neman,  Strazimiro  .  .  noe  RaguseL 
fEtoimuB,  et  heredibus  eorum.i 


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DIE   FÜRSTLICHEN   NEMANJIDEN. 


559 


gelernt,  unterliegt  es  keinem  Zweifel,  dass  er  unter  der  Oberherrschaft 
Neinanjas  einen  Teil  Serbiens  als  Vasall  regiert. 

Ueber  seine  Familienverhältnisse  und  über  sein  Todesjahr  ist  nichts 
bekannt. 

d)  Miroslav, 

Wie  wir  wissen,  gelang  es  Deöa  im  Jahre  11 50  den  König  Kadoslav  II. 
Yon  Dioklea  zu  vertreiben  und  dessen  Land  zu  erobern.  Kaiser  Manuel 
von  Griechenland  nahm  zwar  später  dem  Nemanja  seine  Beute  ab,^  aber 
Nemanja  eroberte  nach  1168  das  Land  aufs  Neue  und  verband  es  mit 
Serbien.  Bei  dieser  Gelegenheit  setzte  er  seinen  Bruder  Miroslav  zum 
Fürsten  des  Landes  Ch*lm  ein.  (Es  heisst  auch  Chulmien,  Hum,  Zahlumje, 
Zachlmje  etc.  und  ist  es  das  Mutterland  der  heutigen  Herzegovina). 

Miroslav  wird  zuerst  1180  gelegentUch  eines  Streites  mit  dem  Erz- 
bischof Rainer  von  Spalato  erwähnt.  Papst  Alexander  III.  wendet  sich  in 
dieser  Angelegenheit  am  7.  Juli  1181  brieflich  an  Miroslav*  und  an  den 
König  Bela  HL.  von  Ungarn. 

In  dem  bereits  citirten  Friedensvertrage  zwischen  Nemanja  und  Ragusa 
do.  27.  Sept.  1 186  heisst  es :  «ex  parte  Magni  Jupani  Neman  et  fratrum  eins 
Comitis  .  .  .  Myroslaui»  «et  Sclaui  de  Chelmunia  .  .  ubi  voluerint  emant» 
«Hanc  pacem  cum  Megaipano  Neman  . . .  «Mirislauo,  nos  Ragusei  facimus, 
et  heredibus  eorum».  DieUnterschrift  des  Vertrages  lautet:  «Ich  der  Gross- 
zsupan  habe  geschworen  und  unterschrieben.» 

«Ich  Knez  Miroslav  habe  geschworen  und  unterschrieben.»  Aus 
dem  Jahre  1190  17.  Juni  ^  kennen  wir  eine  Vereinbarung  zwischen  Ragusa 
und  Miroslav,  wo  es  heisst:  «Salutationibus  et  locutionibus  domini  Comitis 
Miroslaui  per  nuncios  suos  Maurum  Jupanum  directis,  hec  est  Raguseorum 
responsio  .  .  Nachdem  der  Graf  Gervasius  von  Ragusa  geschworen,  heisst 
es :  «Ego  Comes  Miroslauus  .  .  idem  et  ego  illis  juro». 

Im  Jahre  1199  wird  Miroslav  schon  als  ein  Verstorbener  bezeichnet. 

Seine  Gattin  war  die  Schwester  des  bosnischen  Bans  Kulin;*  sie 
kehrte  nach  Miroslav's  Tode  in  ihre  Heimat  zurück. 

^  In  einer  Urkunde  do  !20.  Mai  1166  für  Cattaro  (ap.  Kukuljevio  ü.  73)  heisst 
es :  tlmperante  püssüno  et  semper  triumphatore  Hemanuhele,  duce  existente  Dal- 
macie  atque  Dioclie  Kyr  Izanacio.» 

•  Wenzel  VI,  143/92  «nobili  vü-o  Miroslave  Comiti  Tacholminato.i 
»  Kuknljevic  II.  157—159. 

*  Sehreiben  des  Königs  Vnkan  von  Dioklea  an  den  Papst  Innocenz  UL  do 
1199  ap.  Fej^r  11.  370:  «quia  hseresis  immodica  in  .  .  Bessina  (Bosnien)  pullulare 
videtor,  in  tantnm,  quod  peccatis  ezigentibns  ipse  Bacilinus  (=  Ban  Gulinus)  cum 
Tixore  sua,  et  cum  sorore  ma^  quae  fuü  defuncti  Mirosclawi  che(l)mensi  (uxor)  et  cum 
pluribus  eonsanguineis  suis  seductus,  plus  quam  decem  millia  chrlstianorum  in  ean- 
dem  hseresim  introduiit.i 


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^^^  DIE   FÜRSTLICHEN    NEMANJIDBN. 

Ducange  und  seine  Anhänger  lassen  Miroslav  (oder  seinen  Bruder 
Stracimir)  nicht  kinderlos  sterben.  Er  soll  einen  Sohn  Andreas  hinter- 
lassen haben,  von  dem  sich  die  Herrn  von  Ch'lm  folgendermassen  abge- 
leitet haben  sollen : 

MlroslaT. 


Andreas  von  Ch*lm. 


Vlatko  Peter,  Sohn. 

\  Tor  seinem  Vater.  Herr  von  Ohlm.  | 


Nikolans,  Gem.  Katharina,  Tollen.        Vukossava 

Schwester  des  Bans  Stefan  von  '    pjjjj! — <Jem.  Barbo  de 

Bosnien.  *  Cruce, 

Boghiscia,  LadlBlaoB.  ein  Edelmann 

^^'^^^  aus  ßagusa. 

Dem  gegenüber  ist  Folgendes  zu  bemerken : 

31.  März  1198  nennt  sich  allerdings  ein  Andreas  «Herzog  von  Ch'lm», 
doch  ist  dieser  der  Sohn  Bela's  HI.  von  Ungarn.  Er  behielt  auch  die  Herzogs- 
würde von  Ch'hn  bis  1202.^ 

1218  stossen  wir  wohl  auch  auf  einen  Herzog  Peter,  der  auch  zum 
Füi-sten  von  Spalato  gewählt  wurde  (1222 — 1225),  doch  ist  seine  Abstam- 
mung unbekannt.  Nach  Peter  folgte  sein  Neflfe  Tolen,^  der  1239  starb. 

Ihm  folgte  nun  jener  Andreas,  den  Ducange  für  Miroslav's  (oder 
Stracimir's)  Sohn  hält.  Obwohl  wir  von  diesem  Andreas  mehrere  Urkunden 
besitzen,*  sind  wir  doch  nicht  in  der  Lage,  seine  Abstammung  zu  präcisiren. 
Zum  letzten  Male  wird  er  1 249  erwähnt. 

Dass  Ducange's  Genealogie  falsch  ist,  bezeugt  eben  jene  Urkunde  do. 
1249,  in  der  Andreas  seine  beiden  Söhne  Bogdan  und  Kadoslav  anführt* 

Kadoslav  folgte  seinem  Vater.  Er  wird  in  zwei  Urkunden  vom  22.  Mai 
1254^  erwäht.  Nach  diesem  Jahre  kommt  weder  er,  noch  ein  anderer 
Herzog  von  Ch'lm  vor ;  es  ist  somit  mehr  als  wahrscheinlich,  dass  Ch*lm 


^  Kukuljeiic  IL  191,  199.  Ikal&ic,  Mon.  episcop.  Zagrab,  I,  p.  8,  9,  10,  16. 

*  Thomas  Archidiaconus  cap.  33  nennt  ihn  «Tolen  de  Chulmia,  nepos  comitis 
Petri  de  Chulmia.» 

'  Am  11.  Juli  1239  heisst  es  in  einem  Friedensschlüsse  zwischen  8palato  und 
Chlm :  fEgo  servus  Dei,  Stephanus  Comes,  Andreas^  et  Comes  Tollen»  (Thomas 
Archid.  Hist.  Salon,  ap,  Schwandtner  III.  591). 

Gleich  zu  Anfange  seiner  Regierung  (1239  40)  schliesst  er  ein  Bündniss  mit 
dem  Knez  Johann  Dandolo  von  Ragiisa;  er  nennt  sich  ilch  Andreas,  der  Qrossknez 
von  Chlm»  (Knezi  veli  chlmszky) ;  er  beruft  sich  auf  seine  Vorfahren,  deutet  also  an, 
dass  er  aus  dem  regierenden  fürstlich  Chlm 'sehen  Hause  stamme. 

Am  7.  Sept.  1241  schliesst  er  Frieden  mit  Spalato  (Thomas  1.  c.  598  ■Veniens 
Comes  Andreas  de  Chelmo  ...  in  Spalatum.»  Lucic,  deregno  Dahnatiae  p.  472—473). 

*  Wenzel  II.  356,  Friedensschluss  mit  Ragusa:  «Ich  Andreas,  Qrossknez  ron 
Chulmien,    mit    meinen   Söhnen,    dem   Zsupan  Bogdan  und  dem  Zsupan  Radoslav.» 

^  Wenzel  1.  c.  375.  «Wir  Richter  .  .  von  Ragusa  . .  schwören  Dir,  dem  Zsupan 
Radoslav  . .»  1.  c.  377:  «Ich  Zsupan   RadoBlav,    Sohn  des   Knez  Andreas  von  Chhru» 


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DIE   FÜRSTLICHEN   NEMANJIDBN.  ^6* 

nach  Badoslav  in  den  Besitz  der  serbischen  Könige  gelangt  ist,  bis  es  im 
3.  Decennium  des  XIY.  Jahrhunderts  der  bosnische  Ban  Stefan  Eotromaniö 
seinem  Banate  einverleibte. 

e)  Grossfürst  Stefan  Nemanja, 

Alle  über  die  Bedeutung  und  Provenienz  des  Namens  Neeman  als 
aquirirten  Beinamens  gemachten  Combinationen  der  Aelteren  sind  heute 
gegenstandslos.  In  seiner  dem  Chilandarkloster  gemachten  Schenkung 
1 198 — 99  ^  sagt  der  Grossfürst  selbt :  «Er  (Gott)  hat  auch  mich  zum  Gross- 
zsupan  erhoben,  der  ich  in  der  heil.  Taufe  den  Namen  Stefan  Nemanja 
erhalten  habe.»  Im  Friedensvertrage  mit  den  Kagusanem  do.  27.  Sept. 
1186*  heisst  es :  «Perut  Mendolus  Jupan,  et  Drusima  Semiga  üidossi  filii 
tx  'parte  Magni  Jupani  Neman.*  Ueber  seine  Abstammung  findet  man  noch 
in  der  heutigen  Literatur  keine  übereinstimmenden  urteile.  KÄllay  ^  nennt 
ihn  einen  «Enkel,  oder  wie  ein  neuerer  serbischer  Geschichtsforscher 
meint,  ein  Sohn  des  Gross-Zsupans  ürosch.»  Klai<$*  der  ihn  im  unmittel- 
baren Anschlüsse  an  Desa  erwähnt,  lässt  sich  über  seine  Abstammung 
nicht  vernehmen.  Da  aber  die  urkundlich  vorkommenden  Brüder  Nema- 
njas, Stracimir  und  Miroslav  von  keiner  einzigen  Quelle  als  Söhne  des  Gross- 
fürsten Urosch  genannt  werden,  haben  wir  keinen  Grund  die  Angabe  des 
Troadnik  und  Anderer  in  Zweifel  zu  ziehen,  die  Nemanja  den  jüngsten 
Sohn  Desa's  sein  lassen. 

Ueber  das  Jahr  seiner  Geburt  sind  die  Angaben  gleichfalls  abweichend. 
P.  J.  Safarik  ^  gibt  1114,  der  Czarostavnik  und  der  Ljetopisz  Chilendarski 
geben  1117,  Engel  ca.  1143  an.  Letzterer  hat  insofeme  einiges  Hecht  für 
seine  Behauptung,  als  1114—17  als  Geburtsjahr  für  den  jüngsten  Sohn 
DeSa's  entschieden  zu  hoch  gegriffen  ist;  es  müssten  ja  die  noch  1190 
urkundlich  vorkommenden  älteren  Brüder  Nemanja's  bereits  Achtziger 
gewesen  sein,  was  sie  zwar  nicht  gehindert  hätte,  eine  active  Bolle  zu 
spielen,  aber  sehr  unwahrscheinlich  klingt. 

Nach  Safarik  wäre  er  bereits  1159  zur  Regierung  gelangt,  —  eine 
Angabe,  die  auch  nur  dann  wahrscheinlich  klingt,  wenn  sie  sich  auf  einen 
Sohn  Urosch*  I.  bezieht.  Fassen  wir  aber  alle  so  mannigfach  lautenden 
Angaben  der  occidentalen  und  orientalischen  Autoren  zusammen,  so  gelan- 
gen wir  zu  dem  Ergebnisse,  dass  Nemanja  mit  geheimer  oder  öflfentlicher 
Unterstützung  des  Kaisers  Manuel  ca.  1 165  seinem  Vater  Deöa  in  dem 
von  demselben  dem  Könige  Badoslav  IE.  1150  abgerungenen  Königreiche 

^  Avrainwüy,  Opiszanie  Adrevnostij   Bzrbszki,  Belgrad  1847,  pag.  16. 
2  Wenzel  VI.  165  105. 
^  L.  c.  34. 
*  L.  c.  131. 

^  Jahrbücher  der  Literatur,  Wien  1831,  Band  53.  Anzeigeblatt  pag.  9. 
UngariMhe  HoTn«,  XI.  1891.  VI— VU.  Heft.  36 


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•^2  DIE   FÜRSTLICHEN   NEMANJIDEN. 

Dioklea  (Zeta)  gefolgt  ist.  Da  dies  aber  bei  den  in  ihren  Successionsrechten 
verkürzten  älteren  Söhnen  Desa's  böses  Blut  machte,  erhoben  sie  sich,  unter- 
stützt von  den,  den  Herrschgelüsten  Nemanja's  und  der  griechischen  Partei- 
nahme feindlich  gesinnten  übrigen  Vasallenfürsten  Serbiens,  dreimal  gegen 
Nemanja,  bis  dieser  in  einer  1173  glänzend  gewonnenen  Schlacht  sich 
zum  bleibenden  und  anerkannten  Gebietes  des  Landes  befestigt.  Ch'lm 
hatte  er  zwar  bald  nach  seiner  Tronbesteigung  an  Manuel  verloren,^  doch 
eroberte  er  es  nach  1168  abermals,  um  nun  in  seinem  Streben,  die  unter 
verschiedenen  Zsupanen  stehenden  Duodezländchen  Serbiens  unter  seine 
Herrschaft  zu  bringen  und  das  unterdessen  erworbene  Grosszsupanat 
seinen  Kindern  zu  vererben,  durch  Anschluss  an  eine  Grossmacht  geför- 
dert zu  werden,  warf  sich  Nemanja,  nachdem  er  sich  einigemale  von 
der  Unmöglichkeit  überzeugte,  seine  Pläne  im  Widerspruche  mit  der 
griechischen  Politik  zu  verwirklichen,  vollständig  dem  Kaiser  Manuel  in 
die  Arme  und  blieb  bis  zu  seinem  Tode  ein  Anhänger  des  Hofes  von 
Konstantinopel.  —  Seine  nach  Manuels  Tode  mit  Isak  Angelos  geführten 
Kriege  endeten  gleichfalls  mit  einem  engen  Anschlüsse  an  die  griechische 
Kaiserfamilie. 

Nemanja's  Verdienste  beruhen  somit  hauptsächlich  darin,  dass  er  die 
Einzelherrschaft  Serbiens,  resp.  die  zahlreichen  Duodezstaaten  zertrümmert 
und  sich  zu  einem  selbstständigen,  nationaler  Politik  huldigenden  Auto- 
kraten sämmtlicher  von  Serben  bewohnten  Gebiete  (mit  Ausnahme  Bos- 
niens) erhoben.*  Seine  Versuche  jedoch,  sich  von  dem  Einflüsse  Konstan- 
tinopels zu  emancipiren  und  sich  an  Deutschland  anzuschliessen,  sind 
durch  Kaiser  Friedrich 's  I.,  die  Bedeutung  des  Momentes  nicht  auffassender 
Politik  misslungen.  Aus  Pietismus  entsagte  Nemanja  1195  der  Krone,  über- 
gab die  Herrschaft  seinem  erstgeborenen  Sohne  und  zog  sich  als  Mönch 
Simon  in  das  von  ihm  erbaute  Kloster  Studenicza  zurück.  Zwei  Jahre 
später  begab  er  sich  von  hier  nach  dem  Berge  Athos,^  stiftete  das  Kloster 

^  In  einer  Urkunde  do  20.  Mai  1166  für  die  Stadt  Cattaro  (ap.  Kukuljevic, 
Codex  diploniaticus  ü.  73)  kommt  Manuel  als  «dux  Dioclie»  vor. 

'  Dies  Alles  deutet  er  in  der  obenerwähnten  Urkunde  folgendermassen  an: 
fleh  habe  die  grossväterliche  Erbschaft  erneuert  und  besser  gekräftigt.  Mit  Gottes 
Hilfe  und  meinem  von  Gott  gegebenen  Verstände  habe  ich  die  zerrüttete  gross- 
väterliche Erbschaft  hoch  gehoben  und  dann  noch  auch  den  Meeresgegenden  hin- 
zugefügt, i 

Indem  Nemanja  hier  isomer  nur  von  der  grossväterlichen  (er  kann  wohl  auch 
darunter  die  seiner  älteren  Ahnen  überhaupt  meinen)  Herrschaft  spricht,  gewinnt 
es  wieder  an  Sicherheit,  dass  er  nicht  des  GrossfÜrsteij  Urosch'  Sohn,  sondern  sein 
Enkel  sei. 

^  Stiftungsurkunde  von  Chilandar :  cund  habe  ich  .  .  der  Mönch  Simeon  ihn  . . 
(nämlich  seinen  Erstgeborenen)  gesegnet.  Ich  bin  aus  meinem  Vaterlande  auf  den 
heiligen  Berg  (Athos)  gezogen.» 


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DIE   FUKßTLICHEN   NEMANJIDEN. 


56:^ 


Chilandar  und  starb  in  demselben  13.  Febr.  1:200.^  —  Nemanja's  Gattin 
heisst  Anna  ;  ihre  Genealogie  ist  ein  Conglomerat  von  heterogenen  Angaben. 

Die  von  dem  serbischen  Bischöfe  Zsivkovics  1794  herausgegebene 
Biographie  des  heiligen  Sabbas  (Sava,  eines  Sohnes  Nemanja's)  gibt  an, 
Anna  sei  die  Tochter  des  Kaisers  Roman.  Da  hier  nur  von  dem  byzan- 
tinischen Kaiser  Roman  IV.  (Sohn  des  Kappadokiers  Konstantin  Diogenes, 
reg.  seit  1.  Jänner  1068  t  107  J)  —  die  Rede  sein  kann,  ist  die  genealogische 
Ableitung  der  erwähnten  Quelle  unacceptabel.  Wir  kennen  nur  eine  einzige 
Gemahlin  Romans  IV.,  die  am  1.  Jänner  1068  ihm  vermählte  Eudokia 
Dalassena,  Witwe  des  im  Mai  1067  gestorbenen  Kaisers  Konstantin  XL 
Dukas.  Wenn  nun  Romanos  allenfallsige  Tochter  noch  1068  geboren  war, 
musste  sie  gelegentlich  der  Geburt  ihres  ersten  Sohnes  1084  mindestens 
16  Jahre  gezählt  haben;  Nemanja's  1084  geborener  Sohn  wäre  dann  1195 
ein  111-jähriger  Greis  gewesen,  wo  Nemanja  in  der  bereits  citirten 
Chilendar-Ürkunde  ihn  1195  als  seinen  Nachfolger  und  den  Schwiegersohn 
des  griechischen  Kaisers  bezeichnet.  Uebrigens  ist  Anna  auch  nach  der 
Biographie  des  heil.  Wladimir  eine  geborene  Griechin  (Hilferding). 

Nach  dem  Czarostavnik  ist  Anna  die  Tochter  des  bosnischen  Bans 
Boris ;  Engel  und  Andere  sind  natürlich  sofort  bereit  in  diesem  Boris  den 
jüngsten  Sohn  des  Ungamkönigs  Koloman  zu  finden  ;  Julinacz  u.  A.  nennen 
Anna  eine  Tochter  des  Bane  Kulin  von  Bosnien.*  Da  aber  keine  einzige 
dieser  Angaben  vor  dem  Richterstuhle  der  Kritik  Stand  hält,  müssen  wir 
heute  die  Erklärung  abgeben,  dass  uns  die  Abstammung  und  das  Ver- 
mählungsjahr^  der  Gattin  Neeman's  unbekannt  sind.  Wir  wissen  nur,  dass 
sie  sich  nach  der  Abdankung  ihres  Gatten  gleichfalls  als  Nonne  einkleiden 


*  In  einer  Urkunde  bei  Fej^r  II.  390  do  1202  schreibt  sein  erstgeborener 
Sohn  an  Papst  Innocenz  III.  isicut  bonse  memorise  pater  mens.»  Sein  Tod  ap. 
Mikloßich,  Monum.  Serb.  7. 

'  Da  Cange  1.  c.  53  ist  in  seinen  diesbezüglichen  Angaben  enorm  unsicher 
und  tappt  aus  einem  Dimkel  ins  Andere.  Lesen  wir  nur  Folgendes:  «Quo  quidem 
in  hello  (nämlich  gegen  die  Brüder  Badoslav  und  Johann,  Könige  von  Bassa  und 
Zeta),  Borrichii,  Bosinensis  Bani,  cujus  filiam  uxorem  duxerat  Neeman,  vel  potius  Miro- 
ßlavus,  copiis  adjutus  est.  Borrichio  quippe  filins  ac  successor  fuit  Culinus,  vel  ut 
prseferunt  Innocentii  III.  epistolae,  Bacilinus,  vel  potius  Banculinus,  in  quibus, 
mentio  fit  matrimonii  initi,  a  Miroslavo,  cum  bani  istius  Bosnensis  sorore,  ubi  is 
Miroslavus  Chelmensis  adpellatur.i  Pegdcsevics  (Hist.  Serv.)  hat:  «quibus  . .  Stephan 
quoque  Neeman  . .  adjunctus  foit .  .  ut  . .  et  Augusto  nuptias  conciliante,  Gulini  Bosnise 
Bani  filiam,  qualicunque  nexii  Friderico  (nämlich  dem  deutschen  Kaiser  Friedrich  I.) 
coUigatam,  redux  in  Patriam  connubio  junzeriti 

Du  Gange's  Angabe,  Kulin  sei  des  Boris'  Sohn  gewesen,  hat  natürlich  dazu 
beigetragen,  dass  man  Anna  gleichfalls  als  Boris'  Tochter  betrachte. 

'  Pej4csevics'  1.  c.   Behauptung,    die    Vermählung  sei   über  Kaiser  Friedrichs 

Intervention  imi  1165  erfolgt,  ist  nicht  bewiesen. 

36* 


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564 


DIE   FÜRSTLICHEN   NEMANJIDEN. 


liess  und  dabei  den  Namen  Anastasia  annahm.^  Ihr  Todesjahr  ist 
unbekannt. 

Von  Nemanja's  Kindern  kennen  wir : 

a)  König  Stefan  I.  (siehe  den  nächstens  folgenden  Artikel :  «die  könig- 
lichen Nemanjiden»). 

b)  Vukan, 

In  einem  Schreiben  des  Papstes  Innocenz  III.  do.  8.  Jänner  1198* 
an  Vukan  heisst  es:  «Karissimo  in  Christo  filio  Wulcano  Dlustri  Regi 
Dalmatie  et  Dioclie».  (Der  Papst  empfiehlt  ihm  seine  Legaten).  In  einem 
Schreiben  Vukans  an  den  Papst  do.  1 199  *  nennt  er  sich  § (V)  eadem  gratia 
Dioclise  atque  Dalmatiae  Bex».  Uebrigens  kann  man  seinen  Namen  auch 
richtig  «Vlk»  (=  Wolf)  aussprechen. 

Er  hatte  von  seinem  Vater,  wahrscheinlich  gleichzeitig  mit  dessen 
Tronentsagung,  das  Königreich  Dioclea  erhalten,  und  wurde  sicherlich 
damals  unter  die  Oberherrschaft  seines  älteren  Bruders,  des  Grossfürsten 
Stefan  gestellt.  Dies  mochte  der  Grund  sein,  warum  der  ehrgeizige  Mann 
gegen  seinen  Bruder  intriguirte  und  schliesslich  im  Anschlüsse  an  den 
päpstlichen  Stuhl  und  an  den  ungarischen  Hof  ihn  vom  grossfürstlichen 
Trone  zu  stürzen  versuchte. 

Seine  Bestrebungen  fanden  an  König  Emerich  einen  bereitwilligen 
Förderer;  er  verhalf  ihm  eine  Zeitlang  zur  Grossfürstenwürde  und  ver- 
wendete sich  sogar  beim  Papste  um  Verleihung  der  Königskrone  an  Vlk.* 

Vlk's  hochfliegende   Träume   gingen   nicht  in   Erfüllung.   Stephan 

*  Hertzberg's  Behauptung,  Stefan  Nemanja  habe  sich  in  seinen  alten  Jahren 
nüt  der  byzantinischen  Prinzessin  Eudokia  vermählt,  und  diese  sei  dann  die  Gattin 
seines  Sohnes  und  Nachfolgers  geworden,  wird  durch  die  Ohilandarurkunde  wieder- 
legt, wo  Nemanja  zur  Zeit  seiner  Abdankung  ausdrücklich  seinen  Erstgeborenen  den 
Schwiegersohn  des  griechischen  Kaisers  Alexius  nennt. 

*  Wenzel  VI.  195/125. 
^  Fej^r  n.  370. 

*  Papst  Innocenz  III.  schreibt  am  22.  März  1203  an  den  Bischof  von  Kalocsa 
in  Angelegenheiten  des  Zustandebringens  einer  kirchlichen  Union  mit  Serbien :  iNofl 
igitur  de  salute  nobilis  viri  TT.  meganiupani  Sendaet  Fejör  II.  408.  In  einer  anderen 
Urkunde  ap.  Fej^r  11.  417  gleichen  Datums  mit  der  vorhergehenden  empfiehlt  er 
den  Erzbischof  Johann  v.  Kalocsa  gleichfalls  dem  Vlk  tnobili  viro  Megaiupano  Sena^ie,* 

In  einem  Schreiben  des  Papstes  an  König  Emerich  do.  1204  (ap.  Fej^r  II. 
432)  heisst  es:  tTu  quoque,  si  bene  recolimus,  suggessisti,  quod  tu»*  serenitati  place- 
hßbt,  ut  meganiupanus  Senüse,  debitam  et  devotam  apostolic»  sedi  reverentiam  et 
obedientiam  exhiberet,  et  a  nobis,  salvo  in  temporalibus  jure  tuo,  regium  susoiperet 
diadema* ;  dann  heisst  es  1.  c.  437 :  cTu  vero  postquam  expugnasti  Serviam  amoto 
Stephano,  et  Vuloo  substituto  in  locum  ipsius . .  Lntimasti,  quod . .  sequanimiter 
sustinebis,  ut  dictus  Vulcus  regalem  susciperet  ab  apostolica  sede  coronam  . .  Sed 
quum  jam  biennium  sit  transactum,  in  nullo  novimus  esse  profectum.» 


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DIB  FÜRSTLICHEN  NEMANJIDEN.  565 

begann  gleichfalls  mit  dem  päpstlichen  Stuhle  zn  liebäugeln ;  Kg.  Emerich 
war  durch  Streitigkeiten  mit  seinem  Bruder  Andreas  anderseitig  in  An- 
spruch genommen  und  zuletzt  nahm  der  jüngste  Bruder  der  Serbenfürsten, 
der  hochangesehene  Mönch  Sabbas  die  Sache  zur  Hand ;  es  gelang  ihm 
die  feindlichen  Brüder  zu  yersöhnen  und  Vlk's  Ansprüche  auf  das  Gross- 
zsupanat  auf  ihr  richtiges  Maass  zu  reduziren. 

Was  mit  Vlk,  nachdem  er  sich  seinem  Bruder  unterworfen,  geschehen, 
ist  unbekannt.  Man  nimmt  an,  dass  er  1217  nicht  mehr  am  Leben  gewesen, 
weil  sein  älterer  Bruder  Stefan  sich  damals  «König  von  Serbien,  Dioclea, 
TraTunje,  Dalmatien  und  Ch'lm»^  nennt;  dies  ist  aber  nicht  massgebend, 
weil  Stefan  als  erstgekrönter  König  von  Serbien  sich  des  Titels  eines 
Königs  von  Dioclea  in  seiner  Eigenschaft  als  Oberherr  dieses  Landes  auch 
zu  Lebzeiten  Vukans  bedienen  konnte.  Auch  ist  es  möglich,  dass  sich 
Vukan  nach  der  Königskrönung  Stefans  ins  Kloster  begeben. 

Vlk's  (rattin  wird  in  einem  Schreiben  Innocenz'  IQ.  do.  8.  Jänner 
1198  erwähnt,^  doch  kennen  wir  weder  ihren  Namen,  noch  ihre  Chrono- 
logie oder  ihre  Familienverhältnisse.  Da  es  aber  nicht  anzunehmen  ist, 
dass  der  Papst  in  einer  kirchenpolitischen  Angelegenheit  sich  an  Vlk's 
Gemahlin  gewendet  hätte,  wenn  diese  eine  Serbin  gewesen,  so  liegt  die 
Vermutung  nahe,  dass  Vlk's  Grattin  einer  vornehmen  abendländischen 
Familie  angehört  habe.  Diese  Annahme  wird  stark  durch  den  Umstand 
unterstützt,  dass  Desa  sich  eine  Gattin  aus  Deutschland  gesucht  haben 
soll  und  Nemanja  sich  —  wie  wir  sehen  werden  —  seine  Schwiegertöchter 
am  liebsten  aus  vornehmen  ausländischen  Häusern  erkoren.  Zu  allem  dem 
gesellt  sich  noch  der  interessante  Umstand,  dass  Vlk  in  dem  schon  citirten 
Schreiben  an  den  Papst  do.  1199  geradewegs  von  seiner  Verwandtschaß 
mit  dem  Papste  spricht.^  Papst  Innocenz  HL  (vordem  Johann  Lothar)  ist 
ein  Sohn  des  italienischen  Grafen  Transmund  von  Segni,  einer  Familie,  die 
man  aus  dem  altberühmten  Hause  der  italienischen  Conti  ableitete.  Leider 
ißt  es  mir  dermalen  nicht  möglich,  die  von  Vlk  angedeutete  Verwandt- 
schaft näher  zu  beleuchten;  es  scheint  aber,  dass  dieselbe  auf  seine 
Gemahlin  zurückzuführen  sei. 

Von  Vlk's  Nachkommen  lauten  die  Nachrichten  sehr  spärlich.  Wir 
dürfen  es  als  sicher  annehmen,  dass  König  Stefan  I.,  durch  Vlk's  Aufruhr 
gewitzigt,  sich  beeilt  hat,  nach  Vlk's  Tode  oder  Abdankung  die  Herrschaft 
in  dessen  Kindern  nicht  zu  verewigen ;  daher  ist   es  auch  erklärlich,  dass 

'  Urkunde  ap.  Raynald  ad.  1220. 

'  •Scripttun  est  super  hoc  in  eundem  fere  modum  uxori  eiusdem  RegiB 
(=  nämlich  Vulcus'). 

'  tlnterea  noverit  patemitas  vestra,  quia  augustali  stemmate  undique  insigni- 
mur,  et  quod  gloriosius  et  beatius  est,  vefftri  generod  sanguinvt  affinitatem  habere 
€OgnovimuB.i 


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^66  DIE    FÜRSTLICHEN    NEMANJIDEN. 

wir  von  Vlk's  Sohne  Demeter  nur  wissen,  dass  er  Zsupan  gewesen,  und 
dann  unter  dem  Namen  David  Mönch  geworden.  Demeter's  Sohn  Wratislaw 
kommt  als  Knez  vor,  dessen  Sohn  ist  der  Knez  Vlatko,  dessen  Tochter 
Milicza  die  GemahKn  des  nachmaligen  Grossfürsten  Lazar  geworden  sein  soll. 

c)  Prinz  Tich, 

Ansberttis  *  erzählt  gelegentlich  des  ersten  Kreuzzuges  des  deutschen 
Kaisers  Friedrich  I.,  dass  der  Kaiser  mit  dem  Serbenfürsten  Nemanja  eine 
Entrevue  gehabt  und  dass  es  im  Verlaufe  derselben  zu  einem  interessan- 
ten Heiratsprojecte  gekommen.  «Aliud  vero  negotium  aperiebant  domino 
imperatori  primitus  etiam  agitatum  agentes  precibus,  ut  in  sui  presentia 
imperiali  auctoritati  terminaretur,  scilicet  ut  filia  illustris  ducis  Dalmati« 
in  matrimonio  filio  suo  daretur.  Qua)  peticio  ad  beneplacitum  imperatoris 
et  consilio  principum  dignum  sortita  est  eflFectum,  quoniam  prenotatus  dux 
Perhtoldus  ipsam  suam  filiam  in  proximo  Sancti  Georii  feste  in  partibus 
Ystrie  memorato  iuveni  Tohu  dioto  se  assignatum  (pronüsit)  eo  pacto,  quod 
idem  Tohu  et  sui  ex  filia  ducis  Berhtoldi  heredes  mortuo  patri  in  pleni- 
tudine  potestatis  pre  Omnibus  suis  fratribus  succederent,  quod  etiam  pactum 
ipsi  comitis  datis  dextris  firmaverunt.» 

Im  Anschlüsse  zu  dieser  Ansbert'schen  Stelle  finden  wir  noch  folgende 
auf  unser  Thema  Bezug  habende  Kegesten :  ** 
1189,  29.  Mai,  Pressburg;  Berthold  im  kaiserlichen  Lager. 
ilS9,  27.  Juli,  Nisch;  Berthold  schUesst  mit  Nemanja,  Grosszsupan  und 
dessen  Bruder  Crazimer  (soll  heissen  Stracimir)  einen  durch  Hand- 
gelübde bestärkten  Vertrag,  laut  welchem  er  seine  (nicht  genannte) 
Tochter  April  23  1190  (sollte  wohl  heissen  :  24)  in  Istrien  dem  Tohu, 
Sohne  des  Nemanja,  übergeben  will,  gegen  dem,  dass  deren  Kinder 
in  Serbien  das  Successionsvorrecht  haben  sollen. 

1189,  27 — 31.  Juli,  Nisch ;  Herzog  Berchtold  wird  Bannerträger  eines  der 
drei  Haufen  des  kaiserlichen  Heeres. 

November  in  Adrianopel, 

Dezember  in  Mazedonien  und  Philippopel. 

1190,  ^i.  J/mw^r,  Stellvertreter  des  Kaisers  bei  einer  Unterhandlung  mit 
Nemanja. 

Februar,  findet  den  Grosszsupan  nicht  und  ist  am  5.  Februar  wieder 

in  Adrianopel ; 

26.  März  in  Gallipoli ; 


*  Fontes  renim  Aiistr.  I,  5.  pag.  i23. 

"'''^  Vgl.  Oefele,  Geschichte  der  Grafen  von  Andechs  1877,  pag.  168 — 169, 
gestützt  auf  Riezlers  «der  Kreuzziig  Kaiser  Friedrichs  I.  in  «Forschungen  zur  deutschen 
Geschichte  10,  24.»  Reg.  38Ji— 407. 


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DIK   FÖRSTUCHEN   NBMANJIDBN.  5ö7 

5.  Mai  in  Konjah  (=  Ikonium)  vor  Accon, 

und  noch  in  diesem  Jahre  in  Europa  zurück. 

Zur  Erklärung  des  Bisherigen  haben  wir  Folgendes  mitzuteilen. 

Als  Nemanja  Kenntniss  erhalten,  dass  Kaiser  Friedrich  I.  einen  Kreuz- 
zug nach  Palästina  unternehme,  sandte  er  eine  Botschaft  zu  dem  in  Ungarn 
weilenden  Kaiser,  um  demselben  freien  Durchzug  durch  Serbien  und  weit- 
gehendste Grastfreundschaft  anzubieten.  Nach  Arnold  von  Lübeck  ist 
Nemanja  in  Belgrad,  nach  Gottfried  von  Köln  in  Nisch  zum  ersten  Male 
mit  Friedrich  zusammengekommen.  Letzteren  Ort  gibt  auch  Bischof  Diet- 
pold  von  Passau  *  an. 

üeber  die  zwischen  den  beiden  Herrschern  gepflogenen  Unterhand- 
lungen haben  wir  verschiedene  Andeutungen. 

aj  Arnold  von  Lübeck  sagt :  «et  fecit  Domino  Lnperatori  hominium 
suscipiens  ab  ipso  terram  suam  jure  beneficiario». 

b)  Codex  M. S. Monast.  Salmansveilensis**  berichtet:  «Nostri  appro- 
pinquabant  Nissae  civitati,  quam  cum  tota  adjacente  Provincia  de  Gonstan- 
tinapolitano  prajceptam  imperio,  Neemann  et  Chrazimirus  (=  Stracimir) 
magni  comites  de  Servigia  et  Kassia  cum  tertio  fratre  Mechilavo  (= Miroslav) 
nuper  in  suam  redegerant  potestatem.  Illi  siquidem  gratanter  egrediebantur 
obviam  peregrinis,  et  maxime  Imperatoris  adventum,  prout  decebat,  cum 
ingenti  pompa  et  apparatu  magnifico  salutantes,  hunc  honorant,  hunc 
benignis  stipant  obsequiis.  Singulis  etiam  Principimi  boves,  oves,  vinum, 
frumentum  et  hordeum  dividentes  muniflce,  et  Mercatum  omnibus  mini- 
strantes,  omnimodum  Imperatori  obsequium  adversus  quamlibet  gentem, 
et  maxime  contra  Constantinopolüanum  Imperatorem,  voluntarium  offeren- 
tes  auxilium  tam  de  se,  quam  de  ipsorum  conjuratis  et  amicis,  Calo  Petro 
scilicet,  et  Asano  fratre  illius  .  .  Suadent  etiam  summopere,  cavendum  esse 
^  sermento  Grcecorum,  et  de  manu  Imperatoris  quaeinmt  recipere  memoratam 
Civitatem  Nissam  cum  illius  competentiis  et  totam  etiam  terram  ipsorum,  non 
metu  Imperatoris  Constantinopolitanis  sed  solo  Romani  amxrre  Imperii,  cui 
per  hominium  desideranter  subjici  affectahant.  Ad  haec  serenissimus  Impera- 
tor, ut  amator  pacis  ac  fidei,  solerter  proctempore  ac  convenienter  respondit : 
se  quia  crucis  gestabat  signaculum,  contra  Hierosolymee  terrae  invasores 
velle  insurgere,  non  venisse  ad  terram  Christianorum  debellandam :  si  ta- 
rnen per  Graeciam  pacificam  possit  transitum  obtinere.  Apud  Nissam  igitur 
sex  diebus  continuis  ad  recreationem  exercitus  demoratus,  pnemissis  gra- 

^  tX.  Kai.  Aug.  (23.  Juli)  vemmus  ad  Civitatem  Nisseam;  ibi  maguus  Comes 
ServiflB  cum  magno  apparatu  honeste  excepit,  et  multa  cum  eo  perti-actans,  honesta  ei 
donaria  dedit,  sicut  et  ipse  magna  ab  eo  accepit.  Similiter  omnes  Principes  a  prae- 
dicto  Comite  vino,  medone  (=  Meth)  et  animalibuB  multum  honorati  fuerunt»  ap. 
Freher,  SS.  I.  410. 

**  ap.  PejÄcsevics  146. 


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^ßS  DIE   FÜRSTUCHEN    NEMANJIDEN. 

tiarum  actionibus  de  honore  et  commoditate  percepta,  prsefatis  Comitibas 
valedixit». 

c)  Chronik  des  Bischofs  Sicard  von  Gremona :  *  «Cum  Fridericus  Nis- 
swn  Civitatem  appropinquaret,  Comites  Serviae  gratanter  subjici  affectarunt, 
sed  Serenissimus  Imperator  pacem  aflfectans,  eos  suscipere  recusaviti. 

d)  Ansbert  22.:  «Hisetiam  diebus  preambuli  magni  comitis  de  Saruia 
et  Crassia  eiusque  germani  eque  comitis  praepotentis  venerunt  nuntiante« 
eorundem  dominorum  suorum  comitum  adventum  in  serenissimi  impera- 
toris  occursum  et  omnimodum  servitium  ac  subjectionem  ipsi  promitten- 
tium.  Cum  igitur  ad  Nisam  civitatem  aUquando  munitam,  sed  a  rege  Bela 
sepefato  üngariae  sub  Antronico  Greciae  tyranno  ex  parte  dirutam  cunctus 
venisset  exercitus  ibique  per  triduum  et  ultra  propter  mercatum  mora- 
retur,  idem  magnus  Neaman  dictus  ac  germanus  suus  Crazimerus  in  magna 
pompa  domino  imperatori  occurrerunt  et  ab  ipso  seu  principibus  exercitus 
VL  Kai.  Augusti  (27.  Juli  1 1 89)  honorabiliter  sunt  suscepti.  •  « 8e  ipsos  nichi- 
lominus  et  omnes  suos  cum  armis  offerebant  devota  instantia  in  adjutorium 
presentis  expeditionis  et  specialiter  adversus  regem  Graßciae,  si  forte  con- 
tingeret  adversari  eum  Christi  exercitui,  sicut  ipsi  de  eo  tunc  opinabantur 
propter  premissos  latrunculos  nostros  indies  infestantes,  quod  nos  dis- 
pendio  personarum  et  rerum  experti  sumus.  Idem  preterea  comites  cum 
tercio  fratre  suo  Mercilao  occupaverant  in  gladio  et  arcu  suo  Nisam  civi- 
tatem et  circa  eam  ac  deinceps  usque  ad  Straliz  omnem  terram  illam  ex 
ditione  Grecorum  prereptam  sibique  eam  vendicabant,  uUerius  etiam  quaqua 
versum  dominium  mum  et  potestatem  extendere  intendantes  et  pro  ipsa  terra 
bellica  virttUe  sua  conquisita  de  manu  imperatoris  Romanorum  perdpienda 
hominium  et  ßdelitatem  ipsi  qferebant  ad  perpeltiam  Homani  imperii  glo- 
riam,  nvllo  quidem  timore  coacti,  sed  sola  ipsius  Tetdoniis  regni  dilectione 
invitati.  Sed  Dominus  imperator  illud  perpendens,  qui  ambulat  simpliciter, 
ambulat  confidenter,  alieni  belli  occasione  propositum  iter  contra  invasores 
sancti  sepulchri  nolens  vel  immutare  vel  protelare,  comitibus  quidem  illis 
gratiarum  actionibus  premissis  benigne  respondit:  se  pro  amore  Christi 
peregrinationem  laboriosam  contra  oppressores  terre  Jerosolimitan»  sus- 
cepisse  nuUumque  se  malum  fastu  alicuius  ambitionis  adversus  quemlibet 
Christianum  regem  machinari,  similiter  nee  adversus  regem  Grecie,  ita 
tamen  si  ipse  fidum  conductum,  ut  sepe  promiserat  et  bonum  forum  exer- 
citui prepararet,  alioquin  contra  falsos  christianos  insidiatores  peregrinorum 
Christi  eque  ut  contra  paganos  se  armari  et  ferro  viam  cum  suis  facturum.i 

Eine  Haupt-  und  Staatsaction  war  es  also,  die  die  Nemanjiden  damals 
in  Scene  setzen  wollten ;  um  nichts  Geringeres  hat  es  sich  damals  gehan- 
delt, als  um  die  Losreissung  der  Serben  und  Bulgaren  vom  orientalischen 

*  Sicard  f  1215;  zit.  ap.  PejÄcsevics  147. 


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DIE   FÜRSTLICHEN   NEMANJIDEN.  569 

Einflüsse  und  deren  Anschluss  an  den  deutschen  Occident ;  der  alte  Bot- 
hart  in  seinem  einseitigen  Pietismus  und  seiner  Furcht  vor  den  Griechen^ 
wollte  den  grossen  Moment  nicht  verstehen  !  .  .  . 

Wie  wir  aus  Ansbert  wissen,  führte  im  Namen  des  Kaisers  Graf  Ber- 
thold mit  Nemanja  die  Unterhandlungen.  Dieser  Berthold,  der  IV.  seines 
Namens,  stammte  aus  dem  Hause  Andechs,  war  damals  Markgraf  von 
Istrien,  Herzog  von  Dalmatien  und  seit  1195  auch  von  Meranien.  Nemanja 
lag  es  daran,  den  beim  Kaiser  einflussreichen  Magnaten  so  sehr  als  möglich 
für  seine  dynastischen  Interessen  zu  gewinnen ;  —  Berthold  musste  dies  ge- 
legen kommen,  weil  sich  hier  die  Aussicht  bot,  eine  seiner  Töchter  auf 
einen  Fürstentron  zu  setzen,  das  Ganze  sollte  die  Krönung  des  von  Nemanja 
geplanten  Anschlusses  an  Deutschland  bilden.  —  Man  verlobte  (27.  Juli 
1189)  Bertholds  Tochter  mit  Nemanja's  Sohne  Tohu  und  beschloss  die 
junge  Braut  am  Georgstage  1190  in  Istrien  dem  Bräutigam  zu  übergeben. 

Wer  ist  dieser  Prinz  Tohu?  Die  Einheimischen  nennen  wohl 
Nemanja's  drei  Söhne,  kennen  aber  unter  ihnen  keinen  Tohu. 

Wohl  wissen  wir  aber,  dass  Konstantin,  der  Zar  der  Bulgaren 
(1258 — 1277)  sich  urkundlich  einen  Enkel  des  heiligen  Simeon  Nemanja 
von  Serbien  nennt.  Wir  kennen  auch  den  Namen  des  Vaters  Konstantins, 
sind  aber  darüber  im  Unklaren,  ob  Konstantin  väterlicher  oder  mütter- 
licherseits Nemanja's  Enkel  gewesen.  Nach  seinem  Vater  nennt  man  ihn 
Konstantin  Tochos,  Techos,  nach  Jirecek  («Geschichte  der  Bulgaren»)  heisst 
der  Vater  Tich.  —  In  diesem  Techos,  Toehos,  erkenne  ich  jenen  Tohu, 
den  uns  Ansbert  als  Xemanja's  Sohn  anführt  und  finde  ihn  mit  Tich, 
dem  Vater  des  Bulgarenzaren  Konstantin  identisch  I 

Es  spricht  aber  auch  Nichts  dagegen  : 

a  j  Im  Sinne  des  Verlobungsvertrages  müsste  Prinz  Tohu  ein  jüngerer 
Sohn  Nemanja's  sein,  da  wenn  er  der  älteste  gewesen,  ihm  und  seinen  Rin- 
dern ja  von  selbst  die  Tronfolge  zugefallen  wäre  und  man  dieselbe  nicht 
ausdrücklich  hätte  bedingen  müssen.  Nemanja  bestätigt  nun  in  seiner 
Chilandarurkunde,  dass  sein  erstgeborener  Sohn  Stephan  heisst. 

h)  Man  könnte  fragen :  wenn  Tohu  die  Tochter  Bertholds  von  Meran 
geheiratet,  wie  kommt  es,  dass  weder  er,  noch  sein  Sohn  in  Serbien  gefolgt, 
ja,  dass  Letzterer  Bulgare  geworden,  wie  sich  dies  daraus  folgern  lässt,  dass 
seine  Familie  am  Fusse  des  Vitosch  bei  Sophia  begütert  war? 

Diese  Zweifel  werden  ganz  einfach  dadurch  gegenstandslos,  dass  die 
zwischen  Bertholds  Tochter  und  dem  Serbenprinzen  geplante  eheliche 
Allianz  nicht  zu  Stande  gekonmien  ist.  Nachdem  Kaiser  Friedrich  sich  den 
Anerbietungen  Nemanjas  gegenüber  auf  einen  negirenden  Standpunkt  ge- 
stellt, fiel  auch  die  auf  der  Basis  des  zwischen  Nemanja  und  dem  deutschen 
Kaiser  aufzurichtenden  politischen  Neubaues  stehende  eheliche  Allianz  in 
Nichts  zusammen.     , 

üngariflohe  B«tii«,  ZI.  1891.  VI— VH.  Heft.  3^ 


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^'^  DiK  fItrstlighen  nemanjiden. 

Prinz  Tich'8  Schicksale  sind  uns  unbekannt.  Es  hat  die  meiste  Wahr- 
scheinlichkeit, dass  er  in  Folge  der  zwischen  seinen  älteren  Brüdern  aus- 
gebrochenen Tronstreitigkeiten  sich  nach  Bulgarien  begeben,  dort  vermählt 
und  ein  neues  Heim  gegründet. 

Bertholds  Tochter  wird  leider  von  dem  Chronisten  nicht  genannt. 
Oefele  in  seinem  oben  citirten  Werke  führt  sie  unter  ihres  Vaters  Kindern 
als  erste  Tochter  an  und  nennt  ausser  ihr  noch  vier,  ihrem  Namen  nach 
bekannte  Schwestern  an.  Wenn  Oefele  dieses  sein  Vorgehen  nicht  unwider- 
leglich begründen  kann,  finde  ich  es  nicht  zu  billigen  und  meine  ich,  dass 
Berthold  nur  eben  vier,  ihrem  Namen  nach  bekannte  Töchter  gehabt,  deren 
eine  mit  Tohu  verlobt  gewesen. 

Denn  ganz  abgesehen  davon,  dass  —  wo  Berthold's  andere  Töchter 
sämmtUch  mit  Namen  verzeichnet  sind  —  eine  Tochter  dieses  grossen 
Magnaten  uns  nicht  ihrem  Namen  nach  überliefert  worden  sein  sollte, 
müssen  wir  bedenken,  dass 

1.  keine  einzige  von  Berthold*s  Töchtern  1189  schon  vermählt  ge- 
wesen; somit  könnte  ja  die  unter  ihren  Schwestern  zuerst  (Juli  1196)  an 
Mann  gebrachte  Agnes  Tohu's  Verlobte  gewesen  sein. 

2.  Da  wir  nur  die  Kinder  Bertholds  aus  seiner  frühestens  Ende  1176 
geschlossenen  zweiten  Ehe  (mit  Agnes,  Tochter  des  Grafen  Dedo  von  Koch- 
litz  und  der  Mathilde  von  Heinsberg  +  25.  März  1195)  kennen,  so  liegt  es 
sehr  nahe  anzunehmen,  dass  Tohu*s  Braut  wohl  Berthold's  älteste  Tochter 
gewesen,  die  1189  bestenfalls  12  Jahre  gezählt  haben  konnte.  Es  ist  nun 
auffallend,  dass  uns  die  Chronik  von  dieser  ältesten  Tochter  Bertholds  — 
nachdem  aus  ihrer  Heirat  mit  dem  Nemanjiden  Nichts  geworden  —  absolut 
Nichts  zu  erzählen  weiss. 

(1)  AiwmjTnes  Kind. 

In  einer  Inschrift  zu  Bojana  unter  dem  Berge  Vitosch  liest  man 
«Kalojan  der  Sevastokrator,  der  Vetter  (bratru6ed)  des  Zaren  (Konstantin), 
der  Enkel  des  heiligen  Stephan  des  Serbenkönigs».* 

Hier  wissen  wir  niclit,  ob  Johann  ein  Sohnes-  oder  Tochtersohn 
Nemanja's  gewesen ;  darum  ist  es  angezeigt,  Johann's  Vater  oder  Mutter 
auf  der  Stammtafel  der  Nemanjiden  nur  mit  NN.  zu  bezeichnen. 

e)  Ei*zhischof  Sava  L  (Rastka.) 

Wurde  nachSafarik  1169  geboren  und  erhielt  den  Namen  Kastka;  — 
ob  er  der  jüngste  Sohn  seiner  Eltern  gewesen,  ist  bei  dem  Umstände,  dass  die 
Autoren  von  der  Existenz  des  Prinzen  Tich  keine  Kenntniss  haben,  nicht 
mit  Sicherheit  zu  behaupten. 

'■'  Jirecek  269. 


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DIE   FÜRSTLICHEN    NEMANJIDEN.  ''^71 

1186  verliess  er  unter  dem  Vorwande  einer  Jagd  in  Begleitung  eini- 
ger Mönche  das  Elternhaus  und  begab  sich  in  das  russische  Kloster  Pante- 
leimon  auf  dem  heiligen  Berge  und  wurde  trotz  aller  Bemühungen  seiner 
Eltern,  ihn  zur  Kückkehr  zu  bewegen,  unter  dem  Namen  Sava  (Sabbas) 
Mönch.  In  Gemeinschaft  mit  seinem  Vater  gründete  er  1197 — 1199  das 
berühmte  Kloster  Chilandar.  Von  nun  an  lebte  er  hier  als  Hieromonach 
und  Archimandrit,  von  1208 — 1215  als  Hegumen.  1221  wurde  er  durch 
-den  griechischen  Patriarchen  Germanus  zum  ersten  Erzbischof  Serbiens 
eingeweiht ;  als  solcher  nahm  er  seinen  Sitz  Anfangs  im  Kloster  Studenica, 
darauf  bleibend  im  Kloster  Zißa. 

Er  war  es,  der  seine  feindlichen  Brüder  Stefan  und  Vuk  versöhnte» 
1211  mit  Strez  dem  Fürsten  von  Prozök  verhandelte,  Stefan  im  Jahre  1222 
zum  Könige  krönte  und  die  Streitigkeiten  seiner  Neffen  schlichtete.  1234 
übergab  er  die  Verwaltung  des  Erzbistums  in  die  Hände  des  Arsenius  I. 
und  unternahm  zum  zweitenmale  eine  Keise  in  den  Orient,  woselbst  er 
einige  Jahre  verweilt  zu  haben  scheint.  Als  er  dann  über  Konstantinopel 
und  Bulgarien  die  Kückreise  in  sein  Vaterland  antrat,  ereilte  ihn  in  der 
damaligen  bulgarischen  Haupstadt  Tmovo  der  Tod.  Dies  geschah  nach 
Safariks  Berechnung  am  14.  Januar  1237,  wohl  nicht  früher,  wo  nicht  einige 
Jahre  später. 

König  Vladislav  und  Bischof  Arsenius  holten  seine  Gebeine  im  Pomp 
von  Tmovo  ab  und  setzten  sie  im  serbischen  Kloster  Milesevo  bei.  Von  Sava's 
Begräbnisse  an  diesem  Orte  erhielt  das  alte  Kama  oder  die  spätere  Her- 
zego vina  den  lateinischen  Namen  Ducatus  S.  Sabbae.  Im  Jahre  1595 
liess  ein  türkischer  Pascha  den  als  wunderthätig  verehrten  Körper  des  Hei- 
ligen nach  Belgrad  bringen  und  verbrennen.  —  Sava  hatte  von  Natur 
einen  sehr  schwachen,  gebrechlichen  Körper:  die  beispiellosen  Entbeh- 
rungen und  Strapazen  aller  Art,  denen  er  sich  als  Mönch  unterzog,  unter- 
gruben seine  Gesundheit  dergestalt,  dass  er  (nach  Dometijan)  sehr  oft 
kränkelte. 

Es  haben  sich  mehrere  sein  Wirken  kennzeichnende  Urkunden  er- 
halten.* Dr.  MoRiz  Wertner. 


*  In  einer  Urkunde    do.    1233   ap.  Wenzel    I.  376  nennt  er  sich:    «Sava,  von 
-<jottes  Gnaden  Erzbischof  von  Serbien  und  der  Küstengegend.» 


36* 


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572  DIE   WIRKSAMKEIT    DES    KÖNIGL.  UNGARISCHEN 


DIE  WIRKSAMKEIT  DES  KÖN.  UNG.  LANDESVERTEIDIGUNGS- 
MINISTERIUMS  VON  1877—1890. 

Es  ist  eine  bekannte  goscbichtliche  Tbatsache^  dass  bei  Gelegenbeit 
der  staatsrecbtlicben  Ausgleicbsverbandlnngen  zwiscben  Ungarn,  der  Krone 
und  Oesterreicb  in  den  Jabren  1866  und  1867  die  Frage  über  die  künftige 
Webrverfassung  in  der  Monarcbie  zu  den  scbwierigsten  und  beikelsten 
Punkten  der  Verständigung  gebort  hat  Ganz  besondere  Scbwierigkeiten 
erboben  sieb  aber  gegenüber  der  Erfüllung  des  ebenso  beissen  als  gesetzlich 
berechtigten  Verlangens  Ungarns,  zur  Verteidigung  des  eigenen  Landes  und 
zur  Aufrecbterbaltung  des  inneren  Friedens  eine  der  selbständigen  unga- 
rischen Gesetzgebung  und  dem  verantwortlichen  ungarischen  Landesver- 
teidigungsminister  unterstehende  ungarische  Landwehr  (bonveds^)  zu 
besitzen. 

Die  Erinnerung  an  die  stürmischen  Ereignisse  der  Jahre  1848 — 1849 ' 
hatte  das  Misstrauen  noch  immer  wach  erhalten  und  es  bedurfte  der  zwin- 
gendsten Gründe  und  Argumente,  um  die  massgebenden  Kreise  und  Factoren 
endlich  zur  Annahme  des  ungarischen  Gesetz- Artikels  Xu  vom  Jahre  1867 
zu  bewegen,  worin  die  Bildung  einer  besonderen  königlich-ungarischen  Land- 
wehr und  die  Organisirung  des  ungarischen  Landsturmes  principiell  aus- 
gesprochen ist. 

Die  Verwirklichung  dieser  gesetzlichen  Bestimmung  nahm  selbstver- 
ständlich einige  Zeit  in  Anspruch  und  war  eine  um  so  schwierigere  Aufgabe, 
als  man  bemüht  sein  musste,  das  Misstrauen  auf  der  einen  Seite  zu  bannen 
und  das  drängende  Begehren  der  Nation  auf  der  anderen  Seite  zu  befriedigen. 
Jenes  Misstrauen,  welches  noch  Jahre  hindurch  angedauert,  bat  es  nament- 
lich auch  bewirkt,  dass  im  Anfange  der  ungarischen  verantwortlichen  Regie- 
rung die  Leitung  des  Honv^d-Ministeriums  keinem  selbständigen  Minister 
anvertraut  wurde,  sondern  der  damalige  Minister-Präsident,  Graf  Julius 
Andrässy,  zugleich  auch  das  Bersort  dieses  Ministeriums  versah. 

Das  auf  die  Errichtung  der  ungarischen  Landwehr  bezügliche  Gesetz 
wurde  im  Zusammenhange  mit  den  neuen  Wehrgesetzen  der  Monarchie  im 
Jahre  1868  geschaffen,  womit  die  allgemeine  Wehrpflicht  ausgesprochen 
wurde.  Die  ungarische  Landwehr  sollte  aus  82  Lafanterie-Bataillonen  und 
32  Huszären-Escadronen  bestehen.  Sie  wurde  gebildet:  aus  den  ausge- 
dienten Beservisten  des  gemeinsamen  Heeres,  aus  Freiwilligen  und  aus  jenen 
Bekruten,  die  bei  der  jährlichen  Abstellung  für  das  stehende  Heer  als  über- 
zählig geblieben  waren.  Die  Landwehr  wird  auf  Befehl  Sr.  Majestät  mit- 
Gegenzeichnung  des  verantwortlichen  Honv^d-Ministers  mobilisirt  und  kann. 


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LANDESVERTEIDIGUNOS-inNISTBRIUMS   VON  1877—1890.  o73 

nur  mit  Zustimmung  des  Reichstages  ausserhalb  der  Grenze  des  Landes 
verwendet  werden.  Das  Land  wurde  in  sechs  Landwehrdistricte  eingeteilt : 
dies-  und  jenseits  der  Donau,  dies-  und  jenseits  der  Theiss,  Siebenbürgen 
und  Kroatien.  Die  Fahne  und  das  Commandowort  der  HonvMschaft  ist 
ungarisch ;  letzteres  in  Kroatien  kroatisch.  Im  üebrigen  ist  der  Sold,  die 
Bangstufen,  das  Dienstverhältnisse  die  tactische  Einteilung  u.  s.  w.  mit  den 
bezüglichen  Einrichtungen  und  Vorschriften  des  gemeinsamen  Heeres  über- 
einstimmend. 

Die  Gesetzesvorlagen  über  die  Errichtung  der  ungarischen  Landwehr 
begegneten  auf  Seiten  der  damaligen  Oppositionsparteien  im  Beichstage  sehr 
heftigen  Angri£fen.  Erst  hatte  man  die  ernste  Absicht  und  den  guten  Willen 
der  Regierung  zur  Verwirklichung  dieser  gesetzlichen  Bestimmung  bezwei- 
felt, als  aber  die  Schaffung  eines  ungarischen  Nationalheeres  deutlich  in  die 
Erscheinung  trat:  da  suchte  man  die  neue  Institution  durch  Spott  und 
Hohn  vor  dem  Volke  zu  discreditiren  und  suchte  das  Zustandekommen 
des  Hon v6d' Gesetzes  zu  verhindern.  Trotzdem  gelang  es,  die  im  Gesetz 
vorausgesehene  Landwehr  ins  Leben  zu  rufen  und  gar  bald  gewann  die  neue 
Institution  im  Volke  festen  Boden  und  grosse  Sympathien.  Diese  wurden 
insbesondere  auch  dadurch  erweckt,  dass  mittelst  a.  h.  Handschreibens  vom 
10.  December  1868  der  in  Ungarn  sehr  beliebte  Prinz,  Erzherzog  Josef,  der 
Sohn  des  unvergesslichen  Palatins,  Erzherzog  Josef  (t  1847)  und  Bruder 
des  gleichfalls  in  ehrenvollem  Andenken  stehenden  Palatins,  Erzherzog 
Stefan,  zum  Oberstcommandirenden  der  Honv^d- Armee  ernannte  und  in 
einem  a.  h.  Kriegsbefehl  dem  gemeinsamen  Heere  erklärte:  c Dadurch  (näm- 
lich durch  die  Errichtung  der  ungarischen  Landwehr)  gewinnt  mein  Kriegs- 
beer  einen  solchen  Bundesgenossen,  der  dasselbe  in  Glück  und  Unglück  auf 
dErS  Kräftigste  unterstützen  wird».  Diese  «Wiedergeburt  der  Honv^ds» 
machte  selbst  die  Opposition  verstummen. 

Die  Organisation  der  Honved-Armee  war  ein  überaus  schwieriges 
Werk.  Es  gab  hiefür  weder  ein  Vorbild  noch  irgend  welche  Vorarbeit.  Es 
musste  Alles  von  Grund  aus  neu  geschaffen  werden.  Um  so  grösser  ist  das 
Verdienst  derjenigen  Männer,  die  ungeachtet  der  fortgesetzten  Angriffe,  Ver- 
dächtigungen und  Herabsetzungen  von  Seite  der  Oppositionsparteien  in  Par- 
lament und  Presse  die  ihnen  gestellte  Aufgabe  in  glücklicher  Weise  zu  lösen 
verstanden. 

Um  den  Kern  der  künftigen  Landwehr  zu  schaffen,  wurde  im  Wege 
der  Werbung  im  Sommer  1869  ein  freiwilliges  Honved-Lehrbataillon  er- 
richtet und  eingeschult.  Dasselbe  machte  überraschende  Fortschritte  in  seiner 
Ausbildung  und  erwarb  sich  selbst  die  Zufriedenheit  des  a.  h.  Kriegsherrn. 
Im  December  1869  konnten  erst  die  ordentlichen  Gadres  aufgestellt  und 
besetzt  werden,  es  erfolgten  die  Bekrutenstellungen  und  die  Formirung  der 
Bataillone.  Für  die  Standarte  des  Ofner  Honved-Bataillons  stickte  Ihre  Maje- 


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•^74  DiK    WIRKSAMKEIT     DES    KÖNIGL.  UNGARISCHEN 

stät  die  EaiBerin-Königin  Elisabäh  selber  das  Fahnenband  und  diesem  Bei- 
spiele der  hohen  Frau  folgten  dann  zahlreiche  andere  Frauen  des  Landes. 
Die  Fahnenweihen  der  Honv6d-Bataillone  wurden  zu  einer  Reihe  von  Feier- 
lichkeiten :  «Für  König  und  Vaterland» ! 

Der  Minister-Präsident  Graf  Julius  Andrässy  als  Leiter  des  Liandes- 
verteigungsministeriums  und  sein  Staatssecretär  Karl  Kerkäpoly,  konnten 
sich  mit  ihrem  Werke  bald  schöner  Erfolge  erfreuen.  Ihrer  Arbeitsamkeit 
und  Ausdauer  war  es  zu  danken,  dass  schon  zu  Anfang  des  Jahres  1870  die 
Honveds  mit  60,000  Stück  Hinterladern  versehen  und  sonst  mit  allen  Er- 
fordernissen ausgerüstet  waren.  Dabei  blieb  es  von  Anbeginn  ein  Bestreben 
dieses  Ministeriums,  die  verschiedenen  Anschaffungen  womögUch  nur  im 
Inlande  selbst  zu  besorgen,  um  der  einheimischen  Industrie  und  Production 
zu  Hilfe  zu  kommen.  Ende  Jänner  1870  zählte  der  Landwehr- Status  68,980 
Mann  und  906  Offiziere.  Bis  Ende  August  dieses  Jahres  sollte  der  Stand 
auf  1 30,000  Mann  erhöht  werden. 

Wir  können  die  weiteren  Entwickelungsstadien  der  Honved- Armee  hier 
nicht  mehr  verfolgen,  sondern  begnügen  uns  mit  der  Anführung  einiger 
kennzeichnender  Hauptdaten.  Von  1869  bis  1871  hatten  in  den  verschie- 
denen Honved-Lehrabteibungen  861  Oberoffiziere,  603  Cadeten  und 
5801  Unteroffiziere  ihre  militärische  Ausbildung  erhalten.  Im  Jahre  1871 
betrug  der  Status  der  Combatianten  in  der  Honved-Armee  122,310  Mann 
Fussvoik  und  5472  Mann  Beiterei.  Und  dass  diese  Armee  keine  blosse  Sol- 
datenspielerei bedeutete,  das  zeigte  sich  im  Jahre  1871  bei  den  grösseren 
Herbstmanövem,  welche  vom  24.  bis  27.  September  bei  Göd  in  der  Nähe  von 
Waitzen  abgehalten  wurden.  Hier  hatte  die  ungarische  Landwehr  zum  ersten 
Male  Gelegenheit,  an  der  Seite  und  in  Gemeinschaft  mit  dem  gemeinsamen 
Heere  die  Eriegsübungen  zu  machen.  Dies  geschah  in  Anwesenheit  Sr.  Ma- 
jestät und  des  obersten  Armeestabes  sowie  in  Gegenwart  der  MilitärbevoU- 
mächtigten  von  Preussen,  England,  der  Schweiz,  Belgien  und  Italien.  Die 
dreitägigen  Uebungen,  das  Zusammenwirken  mit  den  gemeinsamen  Truppen 
gaben  von  der  Gewandtheit  und  Ausdauer  der  Honveds  solch  glänzende 
Beweise,  dass  über  ihre  Eriegstüchtigkeit  kein  weiterer  Zweifel  obwalten 
konnte.  Diese  allgemein  belobte,  unblutige  «Göder  Schlacht»  war  zugleich 
ein  Triumph  des  Grafen  Andrfissy  und  seiner  Mitarbeiter  im  Honv6d-Mini- 
sterium,  wo  seit  1 870  Emest  Hollfin  das  Staatssecretariat  übernommen  und 
mit  Eifer  und  Sachverständniss  geführt  hatte. 

Bald  darauf  November  1871  übernahm  Graf  Julius  Andrässy  das  Mini- 
sterium des  Aeussem,  sein  Nachfolger  in  der  Leitung  des  Honv^d-Ministe- 
riums  war  wieder  der  Minister-Präsident  (Graf  Lönyay),  bis  endlich  am  15. 
December  1872  in  der  Person  des  Bela  Szende  ein  selbständiger  Minister  an 
die  Spitze  des  Landesverteidigungsministeriums  gestellt  wurde.  Fast  zu 
gleicher  Zeit  mit  dem  Minister  wurde  (26.  December  1872)  der  neue  Staate- 


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LANDESVERTEIDIGUNGS-MINISTERIUMS    VON  1877— 189^1.  -^75 

secretär  in  der  Person  des  k.  u.  k.  General-Majors  Baron  Geza  Fejerväry 
ernannt  und  damit  trat  jener  Mann  an  die  Spitze  der  Administration  der 
Honved-Armee,  dem  dieses  Heer  in  seiner  Fortentwickelung  und  Ausgestal- 
tung unendlich  Vieles  zu  verdanken  hat. 

Minister  Szende  bekleidete  das  Portefeuille  bis  zu  seinem  im  Jahre 
1882  erfolgten  Tode  und  dann  nach  einer  kurzen  Amtsperiode  des  Ministers 
Graf  Gedeon  Räday  (Octoher  1882  —  December  1883)  und  einem  Provisorium 
unter  Minister  Baron  Bela  Orczy  erfolgte  am  28.  October  1884  die  Ernennung 
des  Staatssecretärs  Baron  (Uza  Fejei'väry  zum  königlich  ungarischen  Landes- 
verteidigungsminister, dem  sodann  derReichsiAgaahgeoTdneteDesiderGromon 
als  Staatssecretär  zur  Seite  trat.  Beide  Männer  stehen  noch  heute  im  Amte 
und  haben  sich  durch  ihr  mehrjähriges  Wirken  die  allgemeine  Anerkennung 
erworben.  Ganz  besonders  spricht  aber  der  heutige  Zustand  der  Honved- 
Armee  zu  Gunsten  einer  Verwaltung,  welche  durch  Einsicht,  Klugheit,  Aus- 
dauer, Fleiss  und  Disciplin  eine  von  Freund  und  Feind  hochgeachtete  und 
angesehene  Institution,  die  Honved-Armee,  aufgerichtet  hat.  Minister  Fejer- 
Vary  verstand  es  aber  auch,  nicht  blos  das  Aeusserliche,  das  Mechanische 
der  Institution  und  des  Dienstes  zweckdienlich  fortzubilden,  sondern  er  war 
im  Besondem  auch  ernstlich  und  nachhaltig  bemüht,  den  soldatischen  Geist 
im  Officiers- Corps  wie  in  der  Mannschaft  der  Honved-Armee  zu  heben  und 
zu  veredeln  und  namentlich  auch  durch  eine  intensivere  geistige  Aus- 
bildung die  Honved-Officiere  ihren  Kameraden  im  gemeinsamen  Heere  eben- 
bürtig zu  erhalten.  Ein  Hauptaugenmerk  des  Ministers  blieb  überdies  stets 
darauf  gerichtet,  das  gute,  kameradschaftliche  Einvernehmen  zwischen  den 
Mitgliedern  der  gemeinsamen  Armee  und  den  Honveds  aufrechtzuerhalten 
und  das  Bewusstsein  zu  nähren,  dass  beide  Teile  gleichberechtigte  und  gleich 
verpflichtete  Factoren  zur  gemeinsamen  Verteidigung  der  Monarchie  und 
des  Vaterlandes  sind. 

Aber  das  königlich  ungarische  Honved-Ministerium  war  ausserdem 
bemüht,  von  seiner  Thätigkeit  nicht  blos  gelegentlich  der  jährlichen  Budget- 
verhandlungen im  Reichstage  Bechenschaft  abzulegen,  sondern  auch  in  um- 
fassenden literarischen  Publicationen  den  weiteren  Kreisen  des  Landes  über 
die  Wirksamkeit  dieses  Ministeriums  und  den  jeweiligen  Zustand  der  Hon- 
ved-Armee ausführliche  Mitteilungen  zu  machen. 

Bisher  liegen  drei  solcher  Publicationen  vor ;  die  erste  beschäftigt  sich 
mit  der  Thätigkeit  des  Honved-Ministeriums  in  der  Zeit  von  1867  bis  1872 ; 
die  zweite  behandelt  die  Periode  von  1873  bis  1877 ;  die  dritte  und  jüngste 
aber  führt  den  Titel:  ^A  magyar  kirälyi  Jwnvedelmi  Ministerium  miiködese 
az  1877 — 1890.  evekben.  A  honvedelmi  Minister  ür  megbizäsäbol  hivatalos 
adatok  alapjän  irta  Biro  Päl,  ministeri  tanäcsos,  a  honvedelmi  Ministerium 
elnöki  osztälyänak  vezetöje»,  d.  i.  «Die  Wirksamkeit  des  königlich  unga- 
rischen Landesverteidigungsministeriums  in  den  Jahren  von  1877 — 1890. 


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''^70  DIE   WIRKSAMKI*:!!     DES    KÖNIGL.  UNGARISCHEN 

Im  Auftrage  des  Herrn  Laadesverteidigungsnimisters  auf  Grund  amtlicher 
Daten  verfasst  von  Paul  Birö,  Ministerialrat  und  Chef  der  Präsidialsection 
des  Honved-Ministeriums.»  (Budapest,  1891 ;  zwei  Bände,  gr.  4^;  L  Bd.  XVI 
und  399  Seiten;  IL  Bd.  Vm  und  472  Seiten.) 

Auf  nahezu  neunhundert  Quartseiten  bieten  diese  beiden  Bände  des 
«Berichtest  eine  überraschende  Fülle  des  Materials,  welches  durch  seinen 
Beichtum  ebenso  von  dem  eminenten  Fleisse  des  Sammlers  wie  durch  die 
eingehende,  klare  und  lehrreiche  Aufarbeitung  und  Darstellung  von  der 
Sachkenntniss  und  der  Tüchtigkeit  des  Verfassers  ehrenvolles  Zeugniss  ab- 
legt. Das  ganze  Werk  mit  seinen  Tausenden  von  Daten  und  mit  all  den 
vielen  Ausweisen,  Uebersichten  und  Tabellen  ist  aber  nur  ein  fortlaufender 
Beleg  für  die  seltene  Arbeitsamkeit  und  Leistungsfähigkeit  dieses  Ministe- 
riums und  seines  verantwortlichen  Chefs,  des  Ministers  Baron  Geza  Fejer- 
väry,  der  als  Heerführer  wie  als  Organisator  und  Administrator,  in  gleich 
hervorragender  Weise  sich  auszeichnet. 

Indem  wir  darangehen,  aus  J.er  Fülle  des  gebotenen  und  verarbeiteten 
Materials  mindestens  die  Hauptthatsachen  zu  einer  Skizze  zu  vereinigen,  geben 
wir  vorerst  eine  kurze  Mitteilung  über  die  Anlage  dieses  «Berichtes».  Der 
erste  Teil  schildert  die  innere  Organisation  des  Landesverteidigungs-Mini- 
steriums ;  der  zweite  Teil  bespricht  die  bestehende  Wehrgesetze ;  der  diitte 
Teil  befasst  sich  mit  den  auf  Grund  dieser  Gesetze  getroffenen  ministeriellen 
Anordnungen  und  Verfügungen ;  der  vierte  Teil  gibt  eine  Darstellung  der 
Honved-Institution  selbst ;  der  fünfte  Teil  beschäftigt  sich  mit  dem  Land- 
sturm und  der  sechste  Teil  mit  der  Gensdarmerie. 

Der  Wirkungskreis  des  Landesverteidigungs- Ministeriums  in  Bezug  auf 
die  Landwehr  besteht  vor  Allem  in  der  Fortentwickelung  dieser  Institution 
im  Sinne  der  Landesgesetze ;  überdies  hat  dieses  Ministerium  hinsichtlich 
des  gemeinsamen  Heeres  einverständlich  mit  dem  gemeinsamen  Kriegs- 
minißter  vorzugehn. 

Im  Speciellen  hat  dieses  Ministerium  : 

1.  alle  auf  die  gemeinsame  Armee,  die  Landwehr,  den  Landsturm  imd 
die  Gensdarmerie  bezugnehmenden  Gesetzesvorlagen  vorzubereiten  und  mit 
der  erforderlichen  Motivirung  dem  Reichstage  zu  überreichen,  resp.  diese 
Vorlagen  vor  dem  Reichstage  zu  vertreten ; 

2.  liegt  ihm  die  Durchführung  der  Gesetze  ob ; 

3.  muss  dieses  Ministerium  sämmtliche,  zur  Durchführung  der  Gesetze 
nötigen  «Instructionen»  ausarbeiten,  ebenso  die  zur  Dienstleistung  und 
Disciplin  der  Honvödschaft  erforderlichen  Reglements,  Vorsschriften,  Wei- 
sungen, Landkarten,  literarischen  Hilfswerke  besorgen ; 

4.  ferner  übt  es  über  die  gesammte  Landwehr,  den  Landsturm  und 
die  Gensdarmerie  die  gesetzliche  Aufsicht  und  Controle  hinsichtlich  der 
raschen,  pünktlichen  und  unparteiischen  Vollziehung  der  Gesetze ; 


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LANOESVERTEIDIGUNGS-inNISTERIÜMS    VON  1877—1890.  577 

5.  66  sorgt  für  die  Anschaffung  und  Aufbewahrung  der  sachlichen 
Erfordernisse  der  Landwehr  (Gtebäude,  Montur,  Bewaffnung,  Verpflegung, 
Bücher,  Drucksachen  etc.) ; 

6.  es  leitet  gegebenen  Falles  die  nötigen  Prozesse  oder  das  Strafver- 
fahren ein  und  endlich 

7.  es  übt  in  Personal- Angelegenheiten  das  Emennungsrecht  oder  unter- 
breitet die  Ernennungen,  Vorrückungen  und  Pensionirungen,  sowie  die  Aus- 
zeichnungen 8r.  Majestät  zur  allerhöchsten  Grenehmigung. 

In  den  Jahren  von  1877 — 1890  hat  das  Honved-Ministerium  über  50 
verschiedene  Gesetzentwürfe  dem  Beichstage  vorgelegt,  welche  von  diesem 
verhandelt  und  angenommen  wurden.  Darunter  befanden  sich  zahlreiche 
organisatorische  Vorlagen,  deren  Durchführung  für  das  Wehrsystem  und 
die  Wehrkraft  der  österr,-ung.  Monarchie  und  Ungarns  von  wesentlichster 
Bedeutung  sind.  Wir  erinnern  nur  an  die  Erneuerung  und  Veränderung  des 
Allgemeinen  Wehrgesetzes  im  Jahre  1889  (G.-A.  VI:  1889)  und  an  das  neue 
Honved-Gesetz  vom  Jahre  1890  (G.-A.  V:  1890).  üeberaus  zahlreich  sind 
femer  in  diesem  Zeiträume  die  Dienstbücher,  Beglements,  Instructionen,  Vor- 
schriften, Landkarten  u.  s.  w.,  welche  das  HonvM-Ministerium  zur  entspre- 
chenden Durchführung  und  Anwendung  der  Gesetze  sowie  zur  diensttaugli- 
chen Ausbildung,  Erhaltung,  Verpflegung,  Bequartierung  etc.  der  Honved- 
Truppen  ausarbeiten  musste.  Darunter  besitzt  das  in  neuester  Zeit  (1889/90) 
erschienene  «Dienstreglement  für  das  kön.  ung.  Honved-Ministerium» 
(«A  magyar  kir.  honvedelmi  ministerium  szolgälati  szabälyzata»)  schon 
deshalb  besondere  Wichtigkeit,  weil  das  constitutionelle  Leben  Ungarns 
wenige  Producte  aufzuweisen  vermag,  welche  die  Dienst- Verhältnisse  der 
Staatsbeamten  zu  regeln  bestimmt  sind. 

Die  Deckung  der  sachlichen  Bedürfnisse  des  Ministeriums  erfolgt  fast 
ausschliesslich  im  Wege  vorausgehender  Concurs- Ausschreibung  und  der 
darnach  geschlossenen  Verträge.  Die  unmittelbare  Besorgung  geschieht  nur 
selten,  meist  nur  im  Falle  raschen  Bedarfes  oder  bei  unbedeutenden  Erfor- 
dernissen oder  wenn  die  Concursausschreibung  erfolglos  geblieben  ist.  Ganz 
besonders  steigen  von  Jahr  zu  Jahr  die  Druckkosten  sowohl  bei  der  Central- 
Leitung  wie  bei  der  Truppe.  Das  Ministerium  verausgabte  für  sich  allein  an 
Druckkosten : 

im  J.  1885       33,576  fl. 

f    •  1886 31,616  « 

•    €1887       ... 40,104  fl.  U.S.  f. 

Seit  dem  Jahre  1874  gibt  das  Ministerium  das  «Verordnungs-Blatt» 
(«Bendeleti  Közlöny»)  für  die  kön.  ung.  Landwehr,  Gensdarmerie  und  den 
Landsturm  heraus.  Es  ist  das  Amtsblatt  dieser  Truppen-Körper  und  bat  die 
Aufgabe,  die  Personalangelegenheiten  der  im  Dienstverbande  dieser  Körper 
stehenden  Personen  sowie  die  sämmtlichen  Verordnungen  und  Vorschriften 

Ungariiche  ReTO«,  XI.  1891.  VI— vn.  Heft.  37 


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578 


DIE    WIRKSAMKKn'    DES   KONIGL.  UNGARISCHEN 


je  rascher  und  genauer  zu  veröffentlichen.  Das  «Verordnungsblatt»  erscheint 
in  je  einer  ungarischen  und  einer  kroatischen  Ausgabe  und  ist  an  keine  Zeit 
gebunden. 

Der  Organismus  des  Honved- Ministeriums  besteht  gleich  dem  der 
anderen  Ministerien  aus  dem  Concepts-,  dem  Verwaltungs-  und  dem  Buch- 
haltungs-Personale,  dessen  amtliche  Functionen  hier  keiner  näheren  Erörte- 
rung bedürfen ;  nur  das  heben  wir  als  eine  specielle  Seite  des  Dienstes  hier 
hervor,  dass  von  den  Concepts-Beamten  dieses  Ministeriums  teils  juridische, 
teils  militärische  Fachkenntnisse  gefordert  werden,  in  Folge  dessen  das  Con- 
cepts-Personale  hier  zum  Teil  aus  Civil-,  zum  Teil  aus  Militärpersonen 
besteht.  Die  Hilfsämter  sind  vorwiegend  mit  Civilbeamten  versehen,  dage- 
gen ist  die  Buchhaltung  dieses  Ministeriums  militärisch  organisirt. 

Die  Concepts- Abteilung  ist  in  «Fachsectionen»  eingeteilt,  welche  dann 
zu  «Fachgruppen»  vereinigt  werden.  Seit  dem  Jahre  1884  bestehen  19  Sec- 
tionen ;  neun  derselben  sind  mit  Civil-Beamten  besetzt,  die  Agenden  der 
übrigen  besorgen  Militär-Personen.  Drei  Sectionen  unterstehen  der  unmit- 
telbaren Leitung  des  Staatssecretärs ;  die  anderen  sochszehn  Sectionen  sind 
in  sechs  Fachgruppen  vereinigt.  Die  fortwährende  Zunahme  der  Agenden 
dieses  Ministeriums  hatte  ebenso  eine  bedeutende  Vermehrung  seines  civi- 
len  und  militärischen  Beamtenpersonals  zur  Folge.  Es  waren  Concepts- 
Beamte  : 

civile     militÄrische  zasjunmen 


im  J.  1877   

41 

48 

89  Personen 

.  1878...  

41 

55 

96 

.  1879   

41 

53 

94 

.  1880 _. 

41 

51 

92 

.  18H1   ... 

42 

48 

90 

.  1882 

41 

47 

88 

■  1883   ...  

41 

53 

94 

.  1884 ... 

46 

54 

100 

.  1885   ...  ...  ... 

48 

50 

98 

188« 

48 

52 

100 

1  1887   

48 

57 

105 

.  1888  

48 

64 

112 

1  1889   

53 

71 

124 

1890 

53 

75 

128 

Dieser  Vermehrung  des  Beamtenstatus  entspricht  dann  auch  die 
Zunahme  des  amtlichen  Gescbäftverkehres.  Die  Zahl  der  Präsidial-Acten 
schwankte  in  der  Zeit  von  1877—1890  zwischen  5174  (1886)  und  8699 
Stück;  die  der  Sections- Acten  zwischen  52,000  (1880)  und  66,(KX)  Stück 
(1890).  Da  im  letztgenannten  Jahre  die  präsidialiter  erledigten  Stücke  7189 
betrugen,  so  war  damals  die  Gesammtzahl  der  in  diesem  Ministerium  normal- 
massig  behandelten  Acten  73,189  Stück;  im  Jahre  1880  erst  58,480  Stück. 


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LANDE8VERTEIDIGUNGS-MINIBTERIÜMS    VON  1877—1800.  "»^^ 

Das  Hilfsämterpersonal  zählte  im  Jahre  1890  insgesammt  37  Perso- 
nen (1  Oberdirector,  4  Directoren  und  32  Officiale)  gegen  26  im  Jahre  1877. 
Dazu  kommt  das  Dienstpersonal,  bestehend  aus  29  Personen  (1  Buch- 
drucker, 4  Buchdruckergehilfen,  1  Thürsteher,  1  Portier,  20  Amtsdiener 
und  2  Hausknechte) ;  im  Jahre  1877  waren  nur  22  Diener  vorhanden. 

Die  Buchhaltung  des  Landesverteidigungs-Ministeriums  wurde  (wie 
erwähnt)  im  Jahre  1878  militärisch  organisirt;  sie  führt  den  amtlichen 
Titel:  t Fachbuchhaltung  des  Honved-Ministeriums»  («Honv6delmi  minis- 
ten szakszämvevöseg»)  und  hat  nach  wiederholten  Umänderungen  dermalen 
folgenden  Personalstand  : 

1  Oberrechnungsrat  erster  Classe  als  Chef,  2  Oberrechnungs-Räte 
zweiter  Classe,  9  Rechnungsräte,  49  Rechnungsofficiale,  16  Adjuncten  und 
10  Praktikanten,  zusammen  86  Personen  gegen  47  im  Jahre  1878.  Die 
Buchhaltung  zerfällt  in  zwei  Hauptabteilungen  in  9  Sectionen,  für  je  ein 
Honved-Districts-Commando.  Die  Geschäftszahlen  der  Buchhaltung  bewegen 
sich  seit  1877  bis  1890  innerhalb  der  Ziffern  10,533  (1880)  und  13,252 
(1883);  im  Jahre  1890  waren  es  12,941  Stücke. 

Seit  dem  Bestände  dieses  Ministeriums  war  dasselbe  stets  in  der  Ofner 
Festung  untergebracht.  Bis  zum  Jahre  1881  musste  es  seine  Unterkunft  in 
acht  zerstreut  liegenden  Gebäuden  finden,  für  welche  ein  Jahreszins  von 
22,378  A.  65  kr.  gezahlt  werden  musste.  Im  Jahre  1881  zog  das  Ministe- 
rium in  das  auf  dem  Skt.  Georgsplatze  in  der  Ofner  Festung  um  den  Preis 
von  430,000  fl.  neuerbaute  Ministerpalais  ein,  dessen  Räumlichkeiten  sich 
aber  schon  nach  wenigen  Jahren  als  unzureichend  erwiesen,  weshalb  ein 
Teil  des  Ministeriums  abermals  in  einem  Miethause  untergebracht  werden 
musste.  Um  diesem  Uebelstande  abzuhelfen,  wurde  das  Palais  durch  Zubau- 
ten entsprechend  vergrössert  und  seit  1890  ist  das  Ministerium  wieder  in 
einem  Gebäude  vereinigt.  Dieser  Neubau  kostete  einschliessUch  des  Grund- 
ankaufes 218,000  fl.,  so  dass  das  Palais  des  kön.  ung.  Landesverteidigungs- 
Ministeriums,  in  welchem  auch  der  Minister  und  der  Staatssecretär  ihre 
Wohnungen  haben,  im  Ganzen  auf  648,000  fl.  zu  stehen  kam. 

Das  Jahreshudget  des  Honved-Ministers  hatte  in  der  Zeit  von  1877  bis 
1890,  da  die  ungar.  Landwehr  nach  allen  Richtungen  hin  einen  raschen 
Aufschwung  nahm,  mit  vielen  Schwierigkeiten  und  Hindernissen  zu  käm- 
pfen, namentlich  musste  auf  die  jeweiligen  Zustände  der  Staatsfinanzen 
Rücksicht  genommen  werden.  Bei  der  hierdurch  ernstlich  gebotenen  stren- 
gen Sparsamkeit,  der  pflichtgemässen  Fortentwickelung  und  Erhaltung  der 
Kriegstüchtigkeit  der  Honved-Truppen  Rechnung  zu  tragen,  war  sicherlich 
keine  geringe  Aufgabe.  Trotzdem  gelang  es,  das  im  Jahre  1877  aufgestellte 
•Normal-Budget»  mit  geringen  Schwankungen  festzuhalten.  Erst  seit  1884 
bemerkt  man  eine  Zunahme  der  •  ordentlichen  Ausgaben»,  welche  die  fort- 
schreitende Entwickelung  und  Vermehrung  der  Wehrkraft  und  der  damit  in 

.37* 


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580 


DIE    WIRKSAMKEIT    DES   KONIOL.  UNGARISCHEN 


Verbindung  stehenden  Institutionen  gebieterisch  forderten.  Die  «ordentii- 


chen  Ausgaben  •  waren ; 

im  J.  1877     ... 
1878... 
1879     ... 
1880... 
1881     ... 
1882... 
1883     ... 
1884... 
1885     ... 
1886... 
1S87     ... 
1888... 
1889     ... 
1890... 


5.992,025  fl. 

6.152,025  f 

6.398.015  « 

6.398,000  « 

6.480,992  • 

6.812,900  « 

6.940,200  « 

7.230,034  « 

7.442,618  « 

7.908,325  « 

8.283.426  t 

8.484,547  t 

9.814,120  € 

10.712,585  « 


Dazu  kommen  ebenfalls  bedeutend  vermehrte  •  Pensionen!  und 
f  transitorische  Ausgaben».  Während  im  Jahre  1877  die  « Pensionen •  erst 
95,000  fl.  beanspruchten,  erheischten  sie  im  Jahre  1 890  bereits  479,686  fl.  Die 
«vorübergehenden  Ausgaben»  schwankten  in  der  Zeit  von  1877 — 1888  zwi- 
schen 55,242  (1879  und  1880)  und  499,000  fl.  (1885);  im  Jahre  1889  betru- 
gen sie  jedoch  2.149,869  fl.,  im  Jahre  1890  gar  4.413,760  fl.  Die  Hauptursache 
dieser  eminenten  Steigerung  war  die  Notwendigkeit  der  Neubewaffnung  der 
Honved- Armee.  Das  finanzielle  Gesammt-Erforderniss  des  Landesverteidi- 
gungs-Miaisteriums  machte  also  im  Jahre  1890  die  Summe  von  15.606,051  fl. 
aus.  Davon  entfielen  auf  die  Central-Leitung  285,949  fl.;  im  Jahre  1877  aber 
288,678  fl.,  somit  mehr  trotz  der  seither  bedeutenden  Vermehrung  des  Perso- 
nalstandes. Auf  die  «Honved- Institute»  kamen  im  Jahre  1890  insgesammt 
448,693  fl. ;  auf  das  «Honved-Obercommando»  64,540  fl.;  auf  die  Districts- 
Commanden  254,059  fl. ;  auf  die  Truppen  9.244,490  fl.  u.  s.  w. 

Die  Einnahmen  spielen  selbstverständlich  bei  dem  Honved-Ministe- 
rium  eine  sehr  untergeordnete  Rolle.  Weit  bedeutender  sind  die  «Nachtrags- 
Credite»,  sowie  die  «Ausserordentlichen  Credite»,  welche  dieses  Ministe- 
rium auch  in  der  Periode  von  1877 — 1890  wiederholt  in  Anspruch  nehmen 
musste. 

Mit  dem  zweiten  Abschnitte  dieses  «Berichtes»,  der  von  den  « fVdir- 
gesetzerv  handelt,  können  wir  uns  kürzer  fassen,  nicht  als  ob  dessen  Inhalt 
ein  unwichtiger  wäre,  sondern  darum,  weil  diese  Gesetze  grösstenteils  allge- 
mein bekannt  sind. 

Den  wichtigen  Wendepunkt  von  durchgreifenden  weittragenden  Folgen 
bezeichnet  zunächst  der  Gesetzartikel  XV.  vom  Jahre  1868,  welcher  die 
Einführung  der  allgemeinen  Wehrpflicht  auch  in  Ungarn  gesetzlich  einführt. 


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LANDESVERTEIDIGUNGS-MINISTERIUMS    VON  1877—1890.  ^^ 

Die  Durchführung  und  Anwendung  dieses  Gesetzes,  wodurch  eine  vollstän- 
dige Umgestaltung  der  Basis  und  des  Charakters  der  Wehrkraft  in  Oester» 
reich-Ungam  überhaupt  und  in  Ungarn  insbesondere  erzielt  werden  sollte, 
bildet  seitdem  eine  der  wichtigsten  Aufgaben  des  kön.  ung.  Landesverteidi- 
gungs-Ministeriums. Die  zahlreichen  Anordnungen  und  Verfügungen  konnten 
leider  nicht  stets  mit  jener  Schnelligkeit  und  Ausdehnung  verwirklicht  wer- 
den, wie  solches  die  politische  Lage  und  das  Beispiel  der  anderen  Gross- 
mächte jedesmal  gefordert  hatten.  Man  musste  Schritt  für  Schritt  vorwärts- 
schreiten, um  die  errungenen  Vorteile  zu  behaupten  und  zu  vermehren, 
ohne  die  volkswirtschaftlichen  und  finanziellen  Interessen  des  Staates  zu 
schädigen  oder  gar  zu  gefährden. 

Eine  bedeutsame  Fortbildung  in  der  Entwickelung  der  Wehrkraft 
kennzeichnet  der  Gesetzartikel  XX,  vom  Jahre  1886  über  den  c Landsturm». 
Eine  zwanzigjährige  Erfahrung  hatte  femer  belehrt,  dass  die  Grundzüge  in 
der  österr.-ungar.  Heeresverfassung,  sowie  in  der  ung.  Honved-Armee  rich- 
tig seien ;  nichtsdestoweniger  ergab  sich  die  Notwendigkeit,  im  Einzelnen 
manche  Beform  und  Abänderung  in  den  gesetzlichen  Bestimmungen  vorzu- 
nehmen. Dies  führte  zur  Bevision  des  allgemeinen  Wehrgesetzes  durch  den 
Gesetzartikel  VI,  vom  Jahre  1889  und  des  Hon ved- Gesetzes  durch  Gesetz- 
Artikel  V,  vom  Jahre  1890,  nachdem  schon  früher  durch  Gesetzes-Novellen 
(G.-A.  XXXV:  1878,  G.-A.  LI:1879  und  G.-A.  I  und  0:1882)  einzelne 
Bestimmungen  über  die  Sicherung  und  Aufteilung  des  Heerescontingentes, 
modificirt  worden  waren.  Im  Jahre  1879  war  der  Eriegsfuss  des  gemeinsamen 
Heeres  abermals  auf  800,000  Mann  festgestellt  worden,  wovon  für  Ungarn 
342,988  Mann  gerechnet  wurden.  Nach  der  am  31.  December  1880  erfolgten 
Volkszählung  wurde  diese  Aufteilung  einer  Bevision  unterzogen  und  dar- 
nach das  ung.  Heerescontingent  auf  331,414  Mann  herabgesetzt;  die  jähr- 
liche Bekrutenstellung  mit  39,552  Mann  bestimmt  (G.-A.  I  und  E:  1882). 

Wesentliche  Abänderungen  im  Wehrgesetze  trifft  die  Novelle  G.-A. 
XXXIX,  vom  Jahre  1882.  Diese  betreffen  die  militärische  Ausbildung  der 
Ersatzreserve,  die  Festsetzung  der  ordentlichen  Dienstzeit  bei  der  Kriegs- 
marine auf  vier  Jahre,  die  ausnahmsweise  und  bedingte  Heranziehung  der 
vierten  Altersclasse  für  das  gemeinsame  Heer  und  die  Honv6d,  die  Eüafüh- 
rung  der  Einjahrig-Freiwilligen-Institution  bei  der  Landwehr,  verschiedene 
Vergünstigungen  für  einzelne  Militärpflichtige,  z.  B.  für  Kliniker  und  Theo- 
logen, für  Lehramtszöglinge.  Wichtig  ist  auch  G.-A.  XVIH:  1888,  welcher 
die  Bedingungen  angibt,  unter  denen  die  Beserve  und  zwar  blos  der  jüngste 
Jahrgang,  in  Friedenszeiten  in  Anspruch  genommen  werden  könne. 

Die  bedeutsamsten  Abänderungen,  welche  der  vielumstrittene  G.-A. 
VI:  1889  über  die  Bevision  des  allgemeinen  Wehrgesetzes  in  der  österr.- 
ungar.  Heeresverfassung  hervorgerufen  hat,  bestehen  in  folgenden  sieben 
Punkten: 


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^>'^^  DIE    WIRKSAMKEIT    DES    KÖNIOL.    UNGARISCHEN 

1.  Der  Anfang  der  Militärpäichtigkeit  wird  vom  20.  auf  das  21.  Lebens- 
jahr verlegt. 

2.  Der  Kriegsfuss  der  Armee  und  der  Kriegsmarine  wird  im  Gesetze 
ziffermässig  nicht  mehr  bestimmt;  das  jährliche  Bekrutencontingent  jedoch 
auch  fernerhin  nach  der  bisherigen  Zahl  von  800,000  Mann  Kriegsfuss 
berechnet.  Damach  beträgt  der  Jahresanteil  Ungarns  für  das  gemeinsame 
Heer  42,711  Mann;  für  die  ung.  Landwehr  12,500  Mann. 

3  Die  Ersatz-Beserve  erleidet  wesentUche  Umgestaltungen  und  zwar : 
a )  der  Präsenzstand  der  Ersatzreserve  wird  ziffermässig  nicht  beschränkt 
und  deshalb  kommen  nach  Deckung  des  Erfordernisses  für  das  gemeinsame 
Heer  und  für  die  Honved  das  Plus  sowie  die  bei  der  Rekrutirung  als  «min- 
der tauglich»  Befundenen  und  alle  Jene,  die  in  Friedenszeiten  vom  activen 
Dienst  befreit  waren,  in  die  Ersatz-Beserve.  b)  Die  Ersatzreserve  wird  zwi- 
schen Heer  und  Landwehr  verhältnissmässig  verteilt,  c)  Die  bisherige  acht- 
wöchentliche Ausbildungszeit  erwies  sich  als  durchaus  ungenügend,  weshalb 
die  Ersatz-Beserve  zu  ihrer  weiteren  Ausbildung  auch  zu  periodischen  Waf- 
feuübungen  einberufen  werden  kann. 

4.  Die  Bekrutirung  wurde  mit  dem  Territorialsystem  in  ein  engeres 
Verhältniss  gebracht,  um  das  zu  stellende  Contingent  mehr  zu  sichern. 

5.  Die  Einjahrig-Freiwilligen-Institution  wurde  einer  wesentlichen 
Modification  unterzogen,  namentlich  in  drei  Bichtungen :  a)  der  Freiwillige 
muss  während  seines  Präsenzjahres  seine  volle  Zeit  der  miUtärischen  Aus- 
bildung zuwenden  und  darf  deshalb  nicht  auch  gleichzeitig  seine  Civil-Studien 
fortsetzen  wollen;  b)  nach  Ablauf  des  Freiwilligen-Jahres  ist  der  FreiwiUige 
zur  Ablegung  der  Beserve-Offiziers  Prüfung  verpflichtet ;  cj  bei  ungünstigem 
Erfolge  dieser  Prüfung  hat  der  Freiwillige  noch  ein  Jahr  zu  dienen. 

6.  Bei  der  Kriegsmarine  wird  die  Militärpflicht  ausser  den  4  Jahren 
activer  Dienstzeit  und  5  Jahren  Beserve  noch  für  Kriegszeiten  durch  3  Jahre 
Seewehrverpflichtung  ergänzt. 

7.  Die  gesetzlichen  Vorschriften  über  die  gegen  das  Wehrgesetz  began- 
genen Vergehen  und  Uebertretungeu  und  deren  Bestrafung  wurden  auf  Grund 
der  Erfahrung  einer  neuen  Begelung,  resp.  Ergänzung  und  Abänderung 
unterzogen. 

Der  hier  besprochene  «Bericht»  unterzieht  nun  jede  einzelne  dieser 
Modificationen  des  Wehrgesetzes  einer  eingehenderen  Erörterung  und  sach- 
gemässen  Begründung,  auf  welche  wir  hier  leider  verzichten  müssen ;  denn 
der  Herr  Verfasser  des  «Berichtes»  bringt  in  diesem  Teile  seines  Werkes 
eine  Fülle  sehr  interessanter,  ethnographischer  und  statistischer  Daten. 

Ein  besonderes  Gapitel  ist  der  Einjahrig-Freiwilligen-Institution  ge- 
widmet, welche  bekanntlich  in  Oesterreich-Ungam  erst  durch  das  Wehr- 
gesetz von  1 868  geschaffen  wurde.  Diese  Institution  hat  sich  nun  auch  vom 
militärischen  Gesichtspunkte  aus  (nach  dem  Verfasser)   als  «nützlich  und 


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LANDESVERTErDIGUNGS-MINIS'n:RIUMS    VON  1877—1890.  '"^^^ 

lebensfähig»  erwiesen,  insofern  die  aus  den  Reihen  der  Einjährig-Freiwil- 
ligen hervorgegangenen  Reserve-Offiziere  sehr  verwendbare  Elemente  des 
Offiziers-Corps  bilden.  Bei  der  Neuheit  dieser  Institution  war  es  anfänglich 
das  Bestreben  der  Militärverwaltung,  die  Erwerbung  des  Rechtes  auf  diesen 
Einjährig-Freiwilligen- Dienst  zu  erleichtern  und  diese  Institution  auch  bei 
der  Landwehr  einzuführen.  Die  Constituirung  des  « Landsturmes  •  hat  ge- 
zeigt, dass  im  Falle  eines  Krieges  der  Bedarf  an  Offizieren  so  groas  ist,  dass 
eine  Deckung  nur  auf  die  Weise  möghch  erscheint,  wenn  je  mehr  Reserve- 
Offiziere  aus  den  Reihen  der  Einjährig-Freiwilligen  hervorgehen.  Zwar 
hat  die  Zahl  derjenigen,  welche  die  Reserve-Offiziers-Prüfung  ablegten,  mit 
jedem  Jahre  zugenommen,  allein  dies  geschah  dennoch  nicht  in  dem  Aus- 
maasse,  wie  es  zur  Deckung  des  gesteigerten  Bedarfes  notwendig  war.  Des- 
halb musste  auf  einen  Modus  gesonnen  werden,  einerseits  die  Ablegung 
dieser  Prüfung  leichter  zu  ermöglichen,  andererseits  aber  sie  für  die  Betref- 
fenden obligatorisch  zu  machen.  Dies  geschah  nun  durch  die  im  neuen 
Wehrgesetze  vom  Jahre  1889  ausgesprochenen  Reformen  der  Einjahrig- 
Freiwilligen-Institution,  welche  wir  schon  weiter  oben  in  ihren  wesentlich- 
sten Bestimmungen  angeführt  haben. 

Die  Vergünstigungen  des  Einjahrig-Freiwilligen-Dienstes  gemessen  in 
Oesterreich-Ungarn  ausser  den  mit  Maturitätszeugniss  versehenen  Abturien- 
ten  der  Gymnasien  und  Realschulen  noch  die  absolvirten  Zöglinge  zahlreicher 
Lehranstalten  des  In-  und  Auslandes,  welche  von  der  Militär- Verwaltung 
im  Einvernehmen  mit  dem  Unterrichtsministerium  einzeln  festgesetzt  wor- 
den sind.  Diese  Freiwilligen-Institution  ist  auch  bei  der  Kriegsmarine  und 
seit  1882  bei  den  Honveds  gesetzlich  eingeführt. 

Ebenfalls  vom  social-poUtischen  wie  militärischen  Gesichtspunkte  aus 
besonders  interessant  und  lehrreich  sind  die  in  diesem  «Berichte»  enthal- 
tenen authentischen  Mitteilungen  und  ziffermässigen  Ausweise  über  die 
Eekrutenstellung,  über  die  Militärflüchtlinge,  über  die  Selbstverstümmelung, 
über  die  im  Auslande  lebenden  Militärpflichtigen,  über  die  einzelnen  Per- 
sonen, Berufen,  Classen  der  Bevölkerung  gewährten  Erleichterungen  und 
Nachsichten  in  der  Erfüllung  ihrer  Wehrpflicht  u.  s.  w.  Für  Ungarn  sind  in 
allen  diesen  Beziehungen  von  Wichtigkeit :  die  andauernd  bedeutende  Aus- 
vranderung  nach  Amerika  und  die  Flucht  nach  Rumänien  oder  auch  nur  der 
vorübergehende  Aufenthalt  daselbst.  Ersteres  findet  hauptsächlich  in  Ober- 
iind  Westungarn,  Letzteres  im  östlichen  und  südlichen  Siebenbürgen,  hier 
namentlich  bei  Rumänen  und  Szeklern  statt.  Die  Grenzstriche  in  diesen 
Landesteilen  weisen  Jahr  für  Jahr  grosse  Lücken  in  der  Präsenz  der  Wehr- 
pflichtigen auf.  Selbst  die  schärfsten  Strafmassregeln  konnten  bis  jetzt  das 
üebel  nicht  einschränken. 

Sehr  eingehend  bespricht  der  «Bericht»  im  weiteren  Verlaufe  die  Art 
und  Weise  der  Evidenzhaltung  der  dauernd  Beurlaubten,  der  Ersatzreser- 


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^^  DIE    WIRKSAMKEIT     DES    KÖNIOL.  UNOARISCHEN 

visten  und  der  Marine-Soldaten ;  sowie  auch  den  Modus  der  Einbemfnng 
zu  den  Waffen-Uebungen  und  der  Befreiung  von  denselben. 

Die  Schilderung  der  Heeres-Organisation  beginnt  mit  dem  Gapitel  XIII 
des  zweiten  Abschnittes,  nämlich  mit  der  Darstellung  der  Territorial-Ein- 
teilung  der  Wehrkraft.  Für  diese  war  die  Ende  1882  getroffene  a.  h.  Ver- 
fügung von  besonderer  Wichtigkeit,  dass  an  die  Stelle  der  bisherigen  Militär- 
Gommanden  das  System  der  territorialen  Corps-Gommanden  eingeführt  wurde. 

Gegenwärtig  zerfällt  die  ganze  Monarchie  in  15  Militär-Districte,  und 
zwar  in  14  Corps-  und  in  ein  Militär-Commando,  von  denen  6  (das  4.,  5., 
6.,  7.,  12.  und  13.)  Corps-Commando  auf  Ungarn  und  seine  Nebenländer 
entfallen;  und  zwar  die  CorpsCommanden  zu  Budapest  mit  9  Heeres- 
Ergänzungsbezirken ;  zu  Pressburg  mit  7  Ergänzungsbezirken ;  zu  Easchau 
mit  8  Ergänzungsbezirken;  zu  Temesvär  mit  9  Ergänzungsbezirken;  zu 
Hermannstadt  mit  8  Ergänzungsbezirken  und  zu  Agram  mit  6  Ei^nzungs- 
bezirken.  Sowohl  diese  neuere  Organisation  des  Heeres  sowie  die  Errichtung 
von  22  neuen  Infanterie-Regimentern  (81 — 102)  hatten  selbstverständlich  auch 
eine  Neu-Einteilung  der  einzelnen  Heeres-Ergänzungs-  und  der  Bekrutenstel- 
lungsbezirke  zur  Folge.  Letztere  fallen  in  der  Regel  mit  den  Stuhlbezirken, 
dann  mit  den  Munieipalstädten  und  den  Städten  mit  geregeltem  Magistrate 
zusammen. 

Ausserdem  bestehen  26  gemischte  Super- Arbitrirungscommissionen  zu 
Budapest,  Fünfkirchen,  Stuhlweissenburg,  Komom,  Pressburg,  Oedenburg, 
Neusohl,  Erlau,  Easchau,  Szatmär,  Arad,  Debrezin,  Weisskirchen,  Gross- 
wardein,  Szegedin,  Temesvär,  Elausenburg,  Earlsburg,  Hermannstadt,  Eron- 
Stadt,  Agram,  Earlstadt,  Fiume,  Essek,  Peterwardein  und  Ofctoschatz. 

Im  dritten  Teile  oder  Abschnitte  befasst  sich  unsere  Vorlage  mit  den 
am  dem  Wehrgesetze  fliessenden  gesetzlichen  F^/%wn^<^,  und  zwar  zunächst 
mit  dem  Militär-Befreiungsfonde.  Die  Wehrgesetze  aus  den  Jahren  1868  und 
1889  sprechen  allerdings  die  allgemeine  Wehrpflicht  aus,  allein  in  der  Wirk- 
lichkeit mussten  von  dieser  allgemeinen  Pflicht  denn  doch  begründete  Aus- 
nahmen gemacht  werden.  Das  Wehrgesetz  vom  Jahre  1868  hat  indessen 
schon  dafür  vorgesehen,  dass  diejenigen,  welche  aus  irgend  einem  gesetz- 
lichen Grunde  zur  thatsächlichen  Erfüllung  ihrer  Wehrpflicht  nicht  heran- 
gezogen werden  können,  ihren  Anteil  an  der  Blutsteuer  auf  andere  Art  ab- 
zutragen gehalten  sind. 

Es  heisst  nämlich  im  §.  56  des  G.-A.  XL  :  1868,  dass  «solche  Wehr- 
pflichtige, die  aus  irgend  einem  Mangel  zum  Dienste  in  der  Linie  oder  in 
der  Landwehr  nicht  eingereiht  werden  können,  sowie  Jene,  die  aus  Familien- 
rücksichten zeitlich  befreit  sind  und  die  Ersatzreservisten,  die  zum  activen 
Dienste  nicht  einberufen  werden,  verpflichtet  sind,  nach  ihrem  Vermögen 
oder  nach  ihrer  Erwerbsfähigkeit  eine  Militärtaxe  zu  Gunsten  des  Invaliden- 
fondes  zu  entrichten.» 


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LANDESVERTEIDIGUNGß-MINISTERIUMS  VON  1877—1890.  ^^ 

Das  Gesetz  über  diese  Militäxtaxen  wurde  erst  im  Jahre  1880  geschaf- 
fen. Die  Zeit  der  Verpflichtung  zur  Zählung  dieser  Taxen  wurde  den  zwölf 
Militärdienstjahren  gleichgestellt  und  die  Scala  von  3  bis  120  fl.  festgesetzt. 
Die  einfliessenden  Taxen  sind  in  einem  besonderen  Fonds  zu  sammeln  und 
es  sind  die  Erträgnisse  desselben  für  die  Invaliden,  dann  auch  für  die  Wit- 
wen und  Waisen  der  vor  dem  Feinde  gefallenen  oder  in  Folge  ihrer  Ver- 
wundung oder  der  Eriegsstrapazen  verstorbenen  Soldaten  der  Linie  und  der 
Landwehr  zu  verwenden.  Gemäss  dem  Nachtragsgesetze  vom  Jahre  1887 
(Gesetz- Artikel  XX)  wurden  die  Unterstützungen  aus  diesem  Fonds  auch 
auf  die  Witwen  und  Waisen  der  im  Frieden  verstorbenen  Offiziere  und 
Mannschaft  ausgedehnt.  Die  jährliche  Vermehrungsquote  beträgt  seit  188S 
je  828,535  fl.  Der  Gesammtbestand  des  Fondes  hatte  zu  Ende  des  Jahres  1890 
eine  Höhe  an  Gapitahen  von  8.314,285  fl.  und  an  Zinsen  von  2.265,510  fl., 
also  zusammen  von  10.579,795  fl.  Verausgabt  wurden  an  die  hiezu  Berech- 
tigten seit  dem  Jahre  1882  bis  Ende  1890,  also  innerhalb  neun  Jahren  die 
Summe  von  2.078,648  fl.  39  kr.  Das  macht  durchschnittlich  im  Jahre 
230,960  fl.  93  kr. 

Gesetzartikel  XI:  1882  spricht  aus,  dass  im  Falle  der  Mobilisirung 
die  Familienmitglieder  der  Einberufenen  in  der  Zeit  des  Femseins  dieser, 
und  zwar  die  Gattin,  die  Kinder,  Enkeln,  Eltern  und  Grosseltern,  die 
Schwiegereltern  und  Geschwister  auf  Unterstützung  aus  der  Staatscassa 
Anspruch  haben,  doch  nur  in  dem  Umfange,  als  ihre  Erhaltung  gänzlich 
oder  teilweise  aus  dem  Erwerbe  der  Einberufenen  gedeckt  wurde.  Die  Höhe 
der  Unterstützung  per  Kopf  wird  nach  der  am  betreffenden  Orte  festgestell- 
ten Militär- Menage-Gebühr  bemessen. 

Die  letzte,  partielle  Mobilisirung  erfolgte  im  J.  1882  aus  Anlass  der 
Wirren  in  Bosnien-Herzogowina.  In  Folge  dessen  mussten  in  Ungarn  und 
dessen  Nebenländem  6645  Eeservisten-Familien  (6112  in  Ungarn,  533  in 
Kroatien- Slavonien)  unterstützt  werden.  Die  Unterstützungs-Summen  betru- 
gen bis  Ende  1885  in  Ungarn  254,389  fl.  09  Vs  kr.,  in  Kroatien-Slavonien 
70,394  fl.  67  kr.,  zusammen  324,783  fl.  76V2  kr. 

Zur  Deckung  des  Bedürfnisses  an  Pferde-Material  im  Falle  einer 
Mobilisirung  wurde  im  Jahre  1873  ein  Gesetzartikel  (XX)  gebracht  und  das 
Honvöd- Ministerium  war  seither  bemüht,  durch  genaue  Instructionen  und 
eine  strenge  Ueberwachung  hinsichtlich  der  Durchführung  in  jedem  Jahre 
die  Conscription  und  Glassificirung  der  kriegsdiensttauglichen  Pferde*  sicher 
zu  stellen. 

Die  Militärbequartierung  bildete  von  jeher  eines  der  schwierigsten 
C3apitel  in  der  Militärverwaltung  und  war  zugleich  der  Gegenstand  fort- 
währender Klagen  und  Beschwerden  von  Seiten  des  allerdings  oft  sehr  in 
Mitleidenschaft  gezogenen  bürgerlichen  Publikums.  Diese  Belastung  war 
um  so  schwerer  erträglieh,  als  sie  in  der  Begel  nur  einzelne  Landstriche 

UncMisebe  BeTne,  XI.  1891.  VI-VH.  Heft.  37^ 


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DIE   WIRKSAMKEIT     DES   KONIOL.  UNOARISOHEN 


traf,  während  andere,  zur  Militärbequartierong  weniger  oder  gar  nicht  geeig- 
nete Gegenden  von  dieser  Last  befreit  waren.  Schon  die  ältere  Gesetzgebung 
Ungarns  hatte  sich  mit  der  Ausgleichung  und  Beseitigung  dieser  Ungleich- 
heiten beschäftigt;  allein  erst  das  Militärbequartierungsgesetz  vom  J.  1879 
(G.  A.  XXXVI:  1879)  regelte  diese  Verhältnisse  in  befiriedigender  Weise. 

Darin  wird  die  Erbauimg  von  Gasemen  den  Municipien  zwar  nicht 
principiell  anbefohlen,  allein  es  sind  den  Erbauern  von  Gasemen  solche 
Vorteile  geboten,  dass  man  hoffen  konnte,  der  gewünschte  Erfolg  werde 
auch  ohne  die  gesetzliche  Verpflichtung  im  Interesse  der  Municipien  selbst 
je  eher  erreicht  werden.  Das  Honvedministerium  gab  auf  Gnmd  dieses 
Gesetzes  «W^weiser»  zur  Erbauung  von  Gasemen  und  Müitärspitalem 
heraus,  und  es  entwickelten  die  einzelnen  Gomitate  und  Städte  einen  löb- 
lichen Eifer,  um  durch  den  Bau  solcher  Militär- Quartiere  einerseits  den 
Interessen  des  Heeres  und  der  Landwehr  zu  dienen,  andererseits  die  Bevöl- 
kerung von  einer  oft  sehr  beschwerlichen  Last  zu  befreien. 

Schon  im  J.  1880  erfolgten  für  28  Infanterie-Bataillone,  34  Gavallerie- 
Eskadronen,  13  Artillerie-Batterien,  4  Train-Gompagnien,  1  Trainstation 
und  zwei  Divisions- Spitäler  Bau- Anbote.  Ebenso  dauerte  dieser  Eifer  in  den 
folgenden  Jahren  an  und  es  wurden  in  dem  Decennium  von  1880 — 1890  für 
das  k.  u.  k.  gemeinsame  Heer  erbaut: 


1.  z 

± 

3. 

4. 

5. 

6. 

7. 

8. 

9. 
10. 
11. 
12. 
13. 
14. 
15. 
16. 
17. 
18. 
19. 
20. 


Budapest  die  Franz  Josefs-Cavallerie-Caseme    ... 

Eaposvfir  eine  Infanterie -Caseme 

Kecskem^t  eine  Cavallerie-     •    

Zombor  die  Franz  Josefs-Infanterie-Caseme 

Trencsin  eine  InfanterieCaserae 

Oedenburg  eine  Cavallerie-Caseme 

Steinamanger  eine     «  « .. 

Easchau  eine  Infanterie-  u.  Cavallerie-Caseme     .. 

Eperies  eine  Infanterie-Caseme 

Leutschau  die  Rndolfs-Infanterie- Caseme      

Miskoloz  eine  Cavallerie-Caseme _     ...     

c  •     Infanterie-       •         

«        ein  Divisionsspital         _     

Losohontz  eine  Infanterie-Caseme 

Ungv4r  die  Franz  Josefs-InfanterieCaseme 
Szegedin  eine  Infanterie-Caseme 

•        ein  Offiziers-Pavillon    

Bistritz  eine  Infanterie-Caseme       

Agram      •  t  •        

BelovÄr    •  •  •  

Zusammen  der  Kostenbetrag 


1.651,174  fl.  61  kr 

535,000 

701,073 

304,873 

340,012 

651,122 

1.347.408 

86,500 

150,814 

301.220 

452,513 

498,027 
45,863 

197,674 

200,000 

586,730 
28,998 

263,982 

794,520 
60,000 


88 
05 
46 
24 


34 

06 
27 
92 
26 
U 

45 

06 
98 


9.157,509  fl.  02  kr. 

Wie   diese   Ziffern  lehren,  sind  es   also   stattliche  Summen,  welche 
Gomitate  und  Städte  für  den  Gasemenbau  zu  Gunsten  der  k.  u.  k.  gemein 


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LANDESVERTEIDIGÜNGS-MINISTERIUMS   VON  1877—1890. 


587 


«amen  Anneeinnerhalbzehn  Jahren  au^ewendethaben.  Im  J.  1890  wurdeauch 
im  Einvernehmen  mit  den  beiderseitigen  Landes- Verteidigungs-Ministerien 
vom  k.  u.  k.  gemeinsamen  Kriegsministerium  für  die  Zeit  vom  I.Jänner 
1891  bis  31.  Dezember  1895  ein  neues  Quartier-  und  Mietstatut  festgestellt. 

Mit  der  Errichtung  der  kön.  ung.  Landwehr  und  mit  der  Wieder- 
Verrichtung  der  militärischen  Ludovica- Akademie  in  Budapest  wurden  auch 
<lie  Ludovica-Fonde,  welche  bisher  zur  Erziehung  ungar.  Jünglinge  in 
<len  militärischen  Erziehongs-  und  Bildungsanstalten  gedient  hatten,  ihrer 
ursprünglichen  Bestimmung  zurückgegeben.  Dadurch  entstanden  jedoch 
-empfindliche  Lücken  in  den  Beihen  des  k.  u.  k.  Officiers-Gorps  in  der  Rich- 
tung, dass  die  Zahl  der  aus  Ungarn  stammenden  Offiziere  beträchtlich 
abnahm.  Diese  Lücken  wurden  noch  vergrössert  durch  die  auffällige  Scheu 
vieler  Eltern,  ihre  Söhne  der  militärischen  Laufbahn  zu  widmen.  Ebenso 
zeigte  sich  seitens  der  Municipien  eine  völhge  Gleichgiltigkeit  in  Bezug  auf 
<lie  Vermehrung  des  ungarischen  Gontingents  im  Schosse  des  k.  u.  k. 
Offiziers-Corps. 

Diese  Erscheinungen  bewogen  das  k.  u.  Landesverteidigungs-Mini- 
sterium zur  Einreichung  des  G.  A.  XXV.  v.  J.  1882,  womit  120  Militär- 
«tiftungsplätze  für  ungarländische  Jünglinge  auf  Landeskosten  errichtet 
wurden.  Interessant  ist  es  nun,  dass  trotz  der  gebotenen  Vorteile  häufig  die 
vorhandenen  erledigten  Stiftungsplätze  nicht  alle  besetzt  werden  können;  erst 
in  neuester  Zeit  schwindet  dieser  bedauerliche  Umstand  mehr  und  mehr.  Im 
Schuljahre  1889/90  befanden  sich  in  den  verschiedenen  Militär-Erziehungs- 
.und  Bildungsanstalten  128  ungarische  Stiftungsplätze  besetzt  und  zwar: 

FreiplftUe        Halbfreiplitze 

in  den  Militär-Unterrealscholen     ... 

•  der       «       Oberrealschule 

•  t    Wiener-Neustädter  Akademie 

t     «    Wiener  Genie-Akademie 

«    •    Fiumaner  Marie- Akademie 

Zusammen...       111  17 

Zu  Anfang  des  Schuljahres  1890/1  befanden  sich  in  den  gemeinsamen 
Militär-Erziehungs-  und  Bildungs -Anstalten  nur  127  ungar.  Stiftzöglinge, 
-von  denen  113  ganz  freie,  14  aber  halbfreie  Plätze  besassen;  und  zwar  waren 
iu  der  Militär-Ünterrealschule  zu  Güns     16  Stiftzöglinge 

<  c  c  •  Eisenstadt  9 

et  <  •  Easohau       28 

€        •  f  •  St.-Pölten — 

<  Militär-Oberrealsohule    •  M.  Weisskirchen  24 
f  Wiener-Neustädter  Akademie 36 

•  Wiener  Genie-  •  ...  7 

€  Fiumaner  Marine-         c         ...     —      7 

Zusammen    —      127  Stiftzöglinge. 

37* 


25 

2 

23 

5 

9 

3 

3 

2 

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^^  DIE    WIRKSAMKEIT     DES   KÖNIGL    UNGARISCHEN 

Die  Verwendung  der  ausgedienten  Unteroffiziere  wird  schon  im  Wehr- 
gesetze vom  J.  1868  kurz  erwähnt  und  bestimmt,  dass  jene  Unteroffiziere^ 
die  über  die  Zeit  ihrer  gesetzlichen  Dienstpflicht  im  activen  Dienste  geblie- 
ben sind,  den  Ansprach  haben,  entweder  im  öffentlichen  Dienste  oder  bei 
den  vom  Staate  subventionirten  Eisenbahn-^  Dampfschiffahrts-  u.  a.  Unter- 
nehmungen verwendet  zu  werden.  Diese  principielle  Bestimmung  wurde 
dann  durch  den  G.  A.n. v.J.  1873  des  Näheren  ausgeführt  Damach  erhal- 
ten jene  Unteroffiziere,  die  1:2  Jahre  und  davon  mindestens  8  Jahre  in  der 
Eigenschaft  als  Unteroffiziere  activ  gedient  und  in  disciplinarischer  Hinsicht 
sich  wohl  verhalten  haben,  den  Anspruch  auf  Verwendungen  im  Civil- 
dienste. 

Das  Landes- Yerteidigungs-Ministerium  griff  in  seiner  Wirkungssphäre 
die  Durchführung  dieses  Gesetzes  energisch  an  und  von  1873 — 187& 
erhielten  !248  Unteroffiziere  der  Honved- Armee  und  der  ung.  Gensdarmerie 
Atteste;  und  zwar  wurden  108  für  den  niedem  Verwaltungs-,  140  aber  für 
Ganzlei- Dienste,  Amtsdiener-  und  Aufseherstellen  qualificirt.  Von  diesen 
Berechtigten  hatten  im  obigen  Zeiträume  96  ehem.  Unteroffiziere  in  den 
Ländern  der  ung.  Krone  Verwendung  im  Givildienste  erlangt. 

Seit  dem  Jahre  1877  wurde  dieser  Angelegenheit  noch  ganz  besondere 
Aufmerksamkeit  gewidmet  Es  nahm  auch  die  Anzahl  der  sidi  meldenden 
Anspruch-Berechtigten  beträchtlich  zu.  Indem  Zeitraum  von  1877 — 1890 
erhielten  1229  gewesene  Unteroffiziere  ihre  Abschieds- Atteste  undQualifica- 
tionen  für  Civilbedienstungen.  Davon  fanden  639  Individuen  =  o2"0<Vq 
innerhalb  dieses  Zeitraumes  thatsächliche  Verwendung  im  Givil^Dienste. 

Der  vierte  Hauptteil  dieses  «Berichtes»  beschäftigt  sich  aufs  Ein- 
gehendste mit  der  königl.  ungar,  Landwehr  (Honv6ds6g)  und  zwar  zunächst 
mit  der  Organisation  dieser  Landwehr  selbst  gemäss  der  hier  massgebenden 
Gesetzartikeln  aus  den  Jahren  1868,  1871,  1872,  1873,  1877  und  1890.  Der 
G.-A.  V  aus  dem  Jahre  1890  besitzt  für  die  Reorganisation  der  Honved- 
Armee  eine  ganz  besondere  Wichtigkeit.  Die  hauptsächlichsten  Neuerungen, 
welche  dieses  Gesetz  in  der  Organisation  der  ung.  Landwehr  eingeführt  hat, 
bestehen  in  Folgendem : 

1.  In  diesem  Gesetzartikel  wurde  die  Bekrutenzahl  für  die  Honved 
contingentirt  und  für  die  nächsten  zehn  Jahre  das  Bekruten-Contingent  der 
Landwehr  auf  jährich  12,500  Mann  festgesetzt. 

2.  Das  Regiments- System  wurde  angenommen. 

3.  Die  Zeit  des  activen  Dienstes  für  die  Honved-Bekruten  wurde  auf 
zwei  Jahre  bestimmt. 

4.  Die  Reserve  der  Landwehr  wurde  auf  ähnlicher  Basis  wie  bei  der 
gemeinsamen  Armee  organisirt,  mit  dem  Unterschied,  dass  der  Landwehr- 
mann schon  nach  zwei  activen  Dienstjabren  in  die  Reserve  übertritt.  Ebenso 
besitzt  die  Honv6d  ihre  besondere  Ersatz-Reserve. 


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t  J 


LANDESVERTEIDIGUNGS-MINISTERIUMS   VON  1877—1890. 


589 


5.  Die  ausnahmsweise  Zurückbehaltring  der  Reservisten  und  Ersatz- 
Beservisten  zur  aktiven  Dienstleistung  in  Friedenszeiten  wurde  auch  auf  die 
Landwehr  ausgedehnt.  Von  dieser  ausnahmsweisen  Einberufung  soll  jedoch 
nur  in  seltenen  Fällen  Gebrauch  gemacht  werden. 

Nach  dem  G.-A.  V:  1890  ist  die  Honved  nicht  mehr  ein  blos  «ergän- 
zender», sondern  ein  «wesentlicher»  Bestandteil  der  Wehrkraft.  Dieses  Gesetz 
bestimmt  auch,  dass  über  den  factischen  Status  der  einzelnen  Honv6d-Trup- 
pen  der  Minister  alljährlich  bei  Verhandlung  des  Staatsbudgets  dem  Reichs- 
tage einen  Ausweis  vorzulegen  habe. 

Nachdem  in  der  Organisation  und  Formirung  der  ungar.  Landwehr  in 
dem  Jahre  1886  und  1889  wichtige  Veränderungen  vorgenommen  waren, 
fanden  dann  im  Jahre  1890  auf  Grund  der  neuen  Wehr-  und  Landwehr- 
Gesetze  abermals  neue  organisatorische  Verfügungen  statt. 

Damach  werden  die  Fuss-Truppenkörper  der  Honv6d  als  «Infanterie- 
Regimenter»  bezeichnet.  Der  active  Dienst  der  Infanterie  sowie  deren  theo- 
retische und  practische  Ausbildung  wurde  neu  geregelt.  Die  Regiments-  und 
Bataillons-Adjutanten  sind  schon  in  Friedenszeiten  beritten  zu  machen.  Bei 
jedem  Regiment  wurde  eine  Proviant-Offiziers-Stelle  systemisirt  und  der 
Beruf  und  Wirkungskreis  der  Honved-Ergänzungs-Commandos  geregelt.  Des- 
gleichen hat  man  an  dem  numerischen  Bestand  wie  an  der  innem  Organi- 
sation derHonved-Huszären  mehrere  wichtige  Abänderungen  vorgenommen. 
Wir  können  auf  alle  diese  vom  militärischen  Standpunkt  höchst  bedeutsamen 
Umänderungen  und  Neuformirungen  hier  nicht  weiter  eingehen. 

Der  Matrikularstand  der  kön.  ung.  Landwehr  in  den  Jahren  1877  bis 
1890  war  folgender. 

A)  Bei  der  Infanterie : 


1877 


1878 


1879 


1880 


1881 


activ    „_ 
beurlaubt 

--     -  -     — 

Offiziere  und 
Militär-Beamte. 

...     1,114 
1,257 

Mannschaft. 

7,438 
226,03S 

activ 
beurlaubt 

Zusammen 

.._     2,371 

1,209 

...     1,350 

233,476 
7,949 

218,968 

activ    _.. 
beurlaubt 

Zusammen... 

2,559 

...     1,082 

667 

7,750 
223.974 

activ 
beurlaubt 

Zusammen 
Zusammen... 

...     1,749 
1,075 

...        769 

231,724 

7,519 

229.943 

activ    ... 
beurlaubt 

1,844 

...     1,076 

755 

237,462 

7,010 

194,138 

Zusammen 

..      1,831" 

201,148 

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590 


DIE   WIEKSAMKKIT    DES    KONIOL.  UNOABISCHEN 


1882 


]883 


1884 


1885 


1886 


1887 


1888 


1889 


1890 


1877 


1878 


1879 


1880 


Offiziere  and 
Militär- Beamte. 

MaimMhkft 

aotiv 

.     - 

1,067 

7,421 

beurlanbt 



...       625 

182,179 

Zusammen.. 

1,692 

1  «9,600 

activ    ... 



...     1,073 

7,702 

beurlaubt 



1.187 

184,125 

Zusammen 

...    2,260 

191,827 

activ 

—    

1,074 

7,633 

beurlaubt 

Zusammen.. 

...     1,647 

169,661 

2,721 

177,294 

activ    ... 

— 

...     1,083 

7,577 

beurlaubt 

Zusammen 

1,506 

159,802 

...     2,589  ~ 

167,379 

activ 

1,103 

8,070 

beurlaubt 



...     1,410 

166,640 

Zusammen.. 

2,513 

174.710 

activ    



...     1,128 

7,845 

beurlaubt 

1,424 

174,651 

Zusammen 

...     2,552. 

182,496 

activ 

—     — 

1,123 

8,448 

beurlaubt 

— 

...     1,388 

174,525 

Zusammen.. 

2,511 

182,973 

activ    ._. 

—    

...     1,238 

13,834 

beurlaubt 

-.- 

1,370 

182,677 

Zusammen 

...     2,608 

196,511 

activ 

_  _     

1,564 

11,279 

beurlaubt 

Zusammen.. 

...     2,130 

194,711 

3,694 

205.990 

B.  Bei  der  Cavallerie : 


activ    ... 
beurlaubt 

activ 
beurlaubt 

activ    ... 
beurlaubt 

activ 
beurlaubt 


177 
73 


1,882 
16,596 


Zusammen 


Znsammen... 


Zusammen 


Zusammen.. 


.        250 

18,478 

180 

2,105 

85 

16,689 

265 

18,794 

179 

1.883 

90 

20,140 

.       269 

22,023 

177 

2,214 

111 

21,801 

288 


24,015 


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LANDESVEBTEIDIGUNGS-MINIBTERIÜMS   VON  1877-  1890. 


591 


activ    ... 
benrlanbt 



Offiziell«  und 
HUitüBeamt«. 

175 
105 

MUDMhsft 

2,430 
21,459 

activ 
beurlaubt 

Znsammen    ... 

280 
175 
121 

23,886 

2,503 

21.847 

activ    

benrlanbt 

Zueammen... 

296 
176 
137 

24,350 

2.270 

21,627 

activ 
benrlanbt 

Zusammen    ... 

313 
175 

200 

23,897 

2,298 

20,485 

activ    

beurlaubt 

activ 
beurlaubt 

Zusammen... 
Zusammen    ... 
Zusammen... 

375 
172 
185 
357 
174 
218 

22,783 
2,395 

22,425 

'  24,820 

2,391 

23,435 

activ    

beurlaubt 

392 
167 

238 

25,826 

2,418 

23,545 

activ 
beurlaubt 

Zusammen     

405 
171 
301 

25,963 

2,758 

23,932 

activ    ... 
beurlaubt 

Zusammen 

472 
212 

295 

26,690 

3,525 

24,483 

activ 
beurlaubt 

Zusammen     ... 

507 
253 
333 

28.483 
3,642 

24,882 

Zusammen 

586 

28,524"' 

1881 


1882 


1883 


1884 


1885 


1886 


1887 


1888 


1889 


1890 


Für  das  Jahr  1890  ergibt  sieb  also  ein  Gesammt-Status  von : 

activ       1,817  14,921 

beurlaubt 2.463  219^93_ 

Zusammen    ...     4,280  234,514 

Wie  obiger  Ausweis  zeigt,  hat  der  Offiziersstatus  bei  der  Honv6d- Armee 
bis  zum  Jahre  1882  eine  entschieden  abnehmende  Richtung  genommen;  erst 
seit  dem  Inslebentreten  des  G.-A.  XXXIX :  1882,  womach  die  Einjahrig-Frei- 
willigen-Institution und  die  daraus  hervorgehenden  Reserve- Offiziere  auch 
bei  der  Landwehr  eingeführt  worden  sind,  wurde  dem  fühlbaren  Offiziers-Man- 
gel einige  Abhilfe  verschafft.  Von  wesentlicher  Bedeutung  ist  jedoch  hierin 


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5«2  DIE   WIRKSAMKEIT    DEB   KÖNIGL.  UNGARISCHEN 

die  Bestimmung  des  G.-A.  VI  vom  Jahre  1889,  derzufolge  15  o/o  der  Ein- 
jährig-Freiwilligen der  Liandwehr  zugewiesen  werden.  Eäne  bedauerUche 
Erscheinung  in  der  ung.  Landwehr  ist  der  massenhafte  Austritt  der  Reserve- 
Offiziere  nach  Erfüllung  ihrer  gesetzlichen  Wehrpflichten.  Die  Erleichterun- 
gen und  Vergünstigungen,  welche  namentlich  auch  durch  die  Einreih  ung  in 
das  Verhältniss  •  ausser  Dienst»  solchen  ßeserve-Offizieren  geboten  wurden, 
konnten  diesen  Uebelstand  nur  zum  Teil  beseitigen. 

Seitdem  im  Jahre  1886  bei  der  Honved-Infanterie  das  Halbbrigaden- 
system  eingeführt,  beziehungsweise  die  Honved-Bataillone  in  28  Halbbriga- 
den zusammengestellt  wurden,  machte  sich  das  Bedürfniss  nach  Erhöhung 
des  activen  Offizierstandes  dringlich  geltend.  In  derselben  Richtung  wirkten 
noch  andere  organisatorische  Umgestaltungen  und  Neuformirungen,  so  dass 
man  seit  1889  auf  die  möglichste  Vermehrung,  resp.  Ergänzung  des  Offi- 
ziersstatus bedacht  sein  musste.  Zur  Deckung  dieses  Bedürfnisses  wurde  ein 
Teil  der  mangelnden  Offiziere  durch  Versetzung  aus  dem  Stande  der  gemein- 
samen Armee  ersetzt.  Allein  diese  zweckdienliche  und  erwünschte  Massregel 
führte  nur  teilweise  zum  Ziel :  die  weitere  Abhilfe  erwartet  man  von  der 
ausbildenden  Thätigkeit  der  militärischen  Ludovika- Akademie,  welche  für  die 
Erziehung  der  Honved-Offiziere  bestimmt  ist. 

Der  Status  der  activen  und  des  Reserve-Offiziersstatus  der  ung.  Land- 
wehr betrug  im  Jahre : 

a  j  im  Activ-Stande : 


1877 

1890 

Infanterie 

837 

1196 

Cavallerie  ... 

147 

230 

Zusammen     ... 

984 

1426" 

in  der  Reserve : 

Infanterie  „. 



427 

1264 

Cavallerie 



230 

332 

Zusammen... 

657 

1596 

Die  Zunahme  ist  somit  eine  sehr  namhafte. 

Der  MiUtärseelsorge-Clerus  wurde  durch  den  G.-A.  VI:  1889  in  den 
Stand  der  Ersatz-Reserve  versetzt;  die  Cleriker  und  Prediger- Am tscandida- 
ten  aber  kommen  nach  ihrer  Weihe,  resp.  Anstellung  als  Seelsorger  oder 
Hilfsseelsorger  in  die  Evidenzhaltung  der  Ersatz-Reserve.  In  diesen  letzteren 
Status  gelangen  auch  jene  ernannten  Militärseelsorger  der  Landwehr,  welche 
ihre  letztere  Eigenschaft  nicht  beibehalten  wollen. 

Für  die  Ausbildung  der  Honveds  haben  Gesetze  und  Verordnungen 
eingehende  Verfügungen  getroffen,  von  welchen  wir  hier  nur  die  haupt- 
sächlichsten andeuten  können. 

Die  vom  1.  Jänner  bis  1.  October  jeden  Jahres  abgestellten  Rekruten 
werden  zu  ihrer  ersten  militärischen  Ausbildung  im  Monate  October  (die 


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LANDESVERTEIDIGUNG8-MINI8TERIÜM8    VON  1877—1890.  593 

Infanterie  am  6.,  die  Gavallerie  am  1.  d.  M.)  einberufen.  Eine  Ausnahme  hie- 
von  bilden  nur  die  Lehrer,  Lehramtscandidaten  und  die  Professoren,  die  ihre 
erste  Ausbildung  in  den  Schulferien  erhalten  sowie  die  Anwohner  der  Meeres- 
küste, die  teils  vom  1.  Jänner  bis  25.  Februar,  teils  vom  1.  November  bis 
zum  26.  December,  teils  in  den  Monaten  Mai  und  Juni  einberufen  werden. 
Die  erste  militärische  Ausbildung  erhielten  in  der  Zeit  von  1877 — 1889  bei 
der  Infanterie  134,288,  bei  der  Gavallerie  19,520  zusammen  153,808  Mann. 

Die  erste  Ausbildung  erfolgt  zugsweise.  Seit  dem  Jahre  1882  wurden 
die  Lehrbataillone  errichtet,  in  denen  die  Mannschaft  ihre  weitere  Ausbildung 
empfängt.  Die  Lehrbataillone  werden  jährlich  vom  6.  April  bis  zum  14.  Juni, 
also  70  Tage  abgehalten  und  bestehen  grundsätzUch  mindestens  aus  600 
Mann.  In  diesen  Lehrbataillonen  haben  von  1882 — 1890  insgesammt 
78,312  Honved  die  weitere  militärische  Ausbildung  gewonnen. 

Eine  besondere  Aufmerksamkeit  widmet  das  königlich  ungarische 
Landesverteidigungsministerium  der  Heranbildung  tüchtiger  Unteroffiziere. 
Zu  diesem  Zwecke  werden  jährlich  vom  1.  December  bis  zum  4.  April  des 
künftigen  Jahres  bei  jedem  Bataillone  unter  der  Leitung  eines  Hauptmannes 
Unteroffiziers-Lehrkurse  eingerichtet.  Den  Unterricht  erteilen  die  Offiziere 
(und  Offiziers-Stellvertreter)  des  Bataillons.  Von  hier  aus  gelangen  die  Teü- 
nehmer  an  diesen  Lehrkursen  entweder  zur  weiteren  Ausbildung  als  Unter- 
offiziere in  die  Schulbataillons  oder  aber  sie  werden  als  untauglich  in  die 
Beihe  der  Mannschaft  zurückversetzt.  Von  1877/78 — 1889/90  wurden  in 
diesen  Lehrkursen  23,996  Infanterie- Unteroffiziere  ausgebildet. 

Für  die  Huszären  dauert  der  Unteroffizierskurs  vom  1.  Dezember  bis 
Ende  April  des  k.  Jahres  und  die  Zahl  der  ausgebildeten  Unteroffiziere  von 
1877—1890  beträgt  hier  2545  Mann. 

Für  die  besonderen  Dienstleistungen  bei  der  Landwehr  bestehen  seit 
1886  bei  den  Halbbrigaden  vom  1.  December  bis  zum  15.  Juni  k.  Jahres  Lehr- 
kurse: a)  für  Trommler  (Tambours)  und  Hornisten  (von  1877 — 1890  wurden 
ausgebildet  2558  Trommler  und  2538  Hornisten) ;  6  y  für  Sanitätsdienste 
vom  1.  October  bis  15.  November  jeden  Jahres;  ausgebildet  wurden  für  diese 
Zwecke  von  1877 — 1888  insgesammt  2370  Mann ;  cj  für  den  Pionnier-Dienst 
bei  der  Infanterie  vom  15.  April  bis  15.  Juni  jeden  Jahres ;  ausgebildet  wurden 
von  1878 — 1890  zusammen  4127  Infanterie-Konniere;  cj  für  den  Konnier- 
dienst bei  der  Gavallerie  vom  1.  Mai  bis  Ende  Juni  bei  den  Brigaden  in 
Kaschau  und  Fünfkirchen;  ausgebildet  wurden  von  1884 — 1889  zusammen 
238  Mann ;  d)  der  Gentral-Lehrkurs  für  den  Fionnierdienst  bei  der  Gavallerie 
dient  zur  Ergänzung  der  Pionnier- Abteilungen  beiden  Honved-Huszären  und 
nimmt  jedes  Jahr  am  1.  Mai  seinen  Anfang  und  dauert  3 — 8  Wochen.  Aus- 
gebildet wurden  von  1878—1889  in  diesem  Kurse  103  Unteroffiziere  und 
432  Mann.  Seit  dem  Jahre  1890  wurde  dieser  Lehrkurs  aufgelassen;  e)  die 
Lehrkurse  für  rechnungsführende  Unteroffiziere    dauern  jährlich  vom   1. 

üngarisohe  Berae,  XI.  1891.  VI— vn   Heft.  38 


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5^4  DIE   WIRKSAMKEIT    DES    KÖNIGL.  UNGARISCHEN 

Jänner  bis  15.  Juni^  also  5^/2  Monate  und  es  werden  darin  die  Rechnungs- 
führer für  Fassvolk  und  Beiterei  unter  Berücksichtigung  ihrer  besonderen 
Aufgaben  gemeinsam  unterrichtet.  Den  Unterricht  erteilt  ein  Verwaltungs- 
oMzier,  dem  ein  tauglicher  Stabs-Feldwebel  oder  Wachtmeister  als  Hilfs- 
kraft zugeteilt  ist.  Von  1877—1890  wurden  2067  Honveds  zu  Rechnungs- 
führern ausgebildet,  f)  Der  Lehrkurs  für  Büchsenmacher  dauert  seit  dem 
Jahre  1888  vom  1.  December  bis  zum  15.  Juni  k,  J.,  also  6V4  Monate  und 
es  wurden  von  1877  bis  1889  in  diesem  Lehrkarse  252  Büchsenmacher  aus- 
gebildet ;  g)  der  Lehrkurs  für  die  Feldlager- Polizei  wird  nicht  in  jedem  Jahre 
abgehalten;  von  1877—1889  wurden  202  Infanteristen  und  102  Huszären 
für  diesen  Dienst  ausgebildet.  In  Zukunft  wird  statt  dessen  ein  Lehrkurs  für 
die  Feld-G^nsdarmerie  aufgestellt  werden. 

Zur  Ausbildung  d'Cr  Honved- Offiziere  dient  in  erster  Linie  die  militä- 
rische Ludovica- Akademie  in  Budapest ;  dann  die  Central -Ca  vallerie-  oder 
Equitationsschule  und  jene  höheren  Lehranstalten  des  gemeinsamen  Heeres, 
in  denen  das  Of&sierscorps  der  königlichen  ungarischen  Landwehr  seine 
höhere  und  specielle  Ausbildung  erlangt. 

Die  Central-Equitationsschule  verdankt  ihre  Entstehung  der  aus  den 
Feldzügen  in  der  zweiten  Hälfte  unseres  Jahrhunderts  geschöpften  Erfah- 
rung, dass  eine  wohl  ausgebildete  und  gut  bewaffnete  Reiterei  im  Kriege 
höchst  wichtige  Aufgaben  zu  erfüllen  hat.  Aber  nicht  nur  auf  dem  Kriegs- 
schauplätze besitzt  diese  Waffengattung  grosse  Wichtigkeit,  sondern  nament- 
lich auch  im  Eclaireur-  und  Kundschaftsdienste,  wodurch  ihre  Bedeutung  eine 
vielseitigere  und  unentbehrUche  geworden  ist. .  Darum  hat  die  Cavallerie 
nebst  ihrer  Kampftüchtigkeit  zu  Pferde  zugleich  eine  leicht  anpassende  Ge- 
wandtheit und  Geschicklichkeit  zu  Fusse  sich  anzueignen.  Daraus  folgt  die 
Berechtigung  jener  besonderen  Aufmerksamkeit  und  Sorgfalt,  welche  das 
ungarische  Landesverteidigungsministerium  der  theoretischen  und  practi- 
sehen  Ausbildung  der  Cavallerie-Offiziere  zuwendet.  Die  Central-Cavallerie- 
Schule  wurde  im  Jahre  1873  dauernd  nach  Jäszbereny  verlegt,  wo  die  Stadt 
dem  Militär-Aerar  für  ewige  Zeiten  eine  Kaserne  überliess,  welche  auf 
Staatskosten  vollständig  ausgebaut  und  eingerichtet  wurde. 

Diese  Central-Equitationsschule  umfasst  drei  Lehrkurse :  a)  den  Vor- 
bereitungskurs;  fc^  den  Offiziers-Lehrkurs  und  cj  den  Hufschmiedkurs.  Im 
Vorbereitungskurse  werden  dieselben  Lehrgegenetände,  wie  in  dem  Vorberei- 
tungsjahrgange der  Ludovica- Akademie,  nur  mehr  abgekürzt,  unterrichtet, 
ausserdem  bildet  die  Pferdekunde  (Hyppologie),  das  Reiten  und  Scheiben - 
schiessen  (mit  Carabinern  und  Revolvern),  sowie  Fechten  und  Turnen  be- 
sonders gepflegte  Lehrfächer.  Von  1873 — 1883  besuchten  dieser  Kurs  144 
Unteroffiziere  und  Honveds,  von  denen  98  mit  gutem  Erfolge  absolvirten. 

Der  Lehrkurs  hatte  die  Aufgabe,  nicht  nur  die  jüngeren  Cavallerie- 
Offiziere  und  Offiziers-Stellvertreter  im  Reiten,  in  der  Pferdedrf'ssur  und  in 


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LANDESVERTEIDIGUNGS-lIrnNIßTERIUMS    VON  1877-1890.  '»^^ 

der  Behandlung  der  Pferde  gründlich  auszubilden^  sondern  sie  zugleich  zu 
tüchtigen  Instructoren  zu  erziehen,  welche  auch  im  Gommando  und  in  der 
Anwendung  der  ßeiterei  umfassendere  Kenntnisse  sich  erwerben.  Der  Lehr- 
kurs dauerte  für  die  Subaltern-Offiziere  1 — 2  Jahre,  ausserdem  konnten  nach 
Einsicht  des  Honved-Obercommando's  auch  einzelne  Bittmeister  einberufen 
werden.  Endlich  nahmen  Teil  jene  Infanterie-Offiziere,  die  auf  ihr  eigenes 
Ansuchen  zur  Gavallerie  transferirt  werden  sollten.  Im  Offiziers-Lehrkurs  zu 
JÄszbcreny  waren  von  1873 — 1 883  insgesammt  167  Frequentanten,  von  denen 
25  vor  Beendigung  des  Kurses  austraten,  137  aber  den  Kurs  mit  gutem  oder 
genügendem  Erfolge  beendigten. 

Der  Hufschmied-Lehrkurs  hat  die  Bestimmung,  für  den  Fall  der  Mobi- 
lisirung  die  erforderliche  Anzahl  von  Hufschmieden  für  die  Huszären  heran- 
zubilden. Dieser  Lehrkurs  dauert  fünf  Monate  und  es  nahmen  bis  zum  Jahre 
1889  an  demselben  je  20,  seitdem  aber  je  30  Frequentanten  Teil  und  da 
jährlich  zwei  solche  Lehrcurse  abgehalten  werden,  so  wurden  bis  1889  in 
jedem  Jahre  40,  seither  je  60  Hufschmiede  für  die  Honv6d-Huszären  aus- 
gebildet. 

Ausser  der  Hufschmied-Lehre  in  theoretischer  und  practischer  Bezie- 
hung erhalten  die  Frequentanten  dieses  Lehrkurses  noch  Unterricht  in  den 
meist  vorkommenden  Pferde-Krankheiten  imd  in  der  ersten  Hilfeleistung  bei 
denselben,  sowie  in  der  Abfassung  der  einfachen  amtlichen  Berichte  und 
Eingaben.  Die  mit  befriedigendem  Erfolge  austretenden  Frequentanten  be. 
kommen  ein  QuaUfications-Zeugniss  und  die  Geschicktesten  von  ihren  werden 
zur  weiteren  Ausbildung  als  Gurschmiede  in  das  königlich  ungarische  Thier- 
arznei-Institut  nach  Budapest  entsendet. 

Zur  höheren  militärwissenschaftlichen  Ausbildung  wurden  seit  1873 
jährlich  vier,  seit  1875  aber  jährlich  fünf  Honv^d-Offiziere  in  die  k.  u.  k» 
Kriegsschule  nach  Wien  entsendet.  Diese  Offiziere  mussten  vorher  den 
oberen  Lehrkurs  an  der  königlich  ungarischen  Ludovica-Akademie  mit 
entsprechendem  Erfolge  beendigt  haben.  Der  Lehrkurs  in  der  Kriegsschule 
dauert  zwei  Jahre.  Die  weitere  Organisation  dieser  höchsten  militärischen 
Lehranstalt  in  Oesterreich-Ungam  ist  bekannt.  Wir  führen  nur  an,  dass  die 
mit  gutem  Erfolge  absolvirten  Honved-Offiziere  behufs  ihrer  practischen 
Ausbildung  im  Generalstabsdienste  auf  ein  Jahr  irgend  einem  k.  u.  k.  Corps- 
commando  in  Ungarn  zugeteilt  werden. 

Ebenso  wird  in  jedem  Jahre  ein  Cavallerie-Offizier  der  Honved- 
Huszären  in  das  Reitlehrer-Institut  nach  Wien  commandirt;  desgleichen 
besuchen  seit  1884  jährhch  zwei  Honved-Offiziere  den  Vorbereitungs-Lehr- 
kurs  des  k.  u.  k.  militärisch-geographischen  Instituts  in  Wien,  um  dann  even- 
tuell als  Professoren  für  Terrainlehre  und  Terrain- Aufnahme  an  der  Ludo- 
vica-Akademie verwendet  zu  werden ;  auch  in  den  Militär-Fecht-  und  Turn- 
meister-Lehrcurs  nach  Wiener-Neustadt  wird  seit  1881  jährlich  ein  Honved- 


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596 


DIE    WIRKSAMKEIT     DES    KONIGL.  UNGARISCHEN 


Offizier  entsendet;  endlich  werden  seit  1877  in  jedem  Jahr  einige  hierzu 
taugliche  Offiziere  in  den  k.  u.  k.  Auditoren-Lehrkurs  nach  Wien  geschickt. 
Von  1877 — 1890  besuchten  diesen  Kurs  27  Honved-Offiziere,  von  den  7  vor 
Ablauf  des  Kurses  austraten,  20  aber  den  Kurs  mit  befriedigendem  Erfolge 
beendigten. 

Die  militärische  Ludovica- Akademie  zu  Budapest  (das  tLudoviceum») 
ist  da«  höchste  Militärbildungs-Institut  in  Ungarn.  Diese  Anstalt  hat  seit 
ihrer  Wiedererrichtung  verschiedene  Phasen  der  Organisation  durchgemacht. 
Uns  interessiren  hier  nur  die  Umgestaltungen  und  Erweiterungen  seit  dem 
Jahre  1877.  In  diesem  Jahre  bestand  die  Akademie  aus  drei  Lehrcursen : 
a)  Vorbereitungskurs;  6  j  Offiziers-Cadetten- Lehrkurs  und  cj  Offizierskurs. 
Allein  diese  Organisation  genügte  den  berechtigten  Ansprächen  nicht  und  der 
Landesverteidigungs-Minister  entschloss  sich  auf  Grund  der  gemachten  Er- 
fahrung zu  einer  durchgreifenden  Beorganisation  des  Instituts.  Dies  geschah 
im  Jahre  1883  und  wurde  durch  G.-A.  XXXIV:  1883  von  der  Gesetz- 
gebung angenommen. 

Nach  diesem  Gesetze  wurden  an  der  königlich  ungarischen  Ludovic«- 
Akademie  folgende  drei  militärische  Lehrkurse  organisirt : 

a)  der  Offiziers-Bildungskurs  für  Offiziere  in  der  Activität; 

h)  der  Offizierskurs  für  Offiziere  im  Urlauberstande;  und 

c)  der  höhere  Offiziers-Lehrkurs. 

Der  Bildungskurs  für  Offiziere  in  der  Activität  dauert  vier  Jahre  und 
es  werden  in  denselben  jährlich  60,  sich  freiwillig  meldende  solche  Jüng- 
linge aufgenommen,  die  in  das  militärpflichtige  Alter  noch  nicht  eingetreten 
sind,  im  Alter  von  14 — 16  Jahren  stehen  und  die  vier  unteren  Classen  der 
Mittelschule  absolvirt  haben.  Von  diesen  60  Zöglingen  erhalten  mindestens  30 
volle  Verpflegung  aus  den  Erträgnissen  der  Privatstiftungen  der  Akademie ; 
ausserdem  bestehen  20  ganz-  oder  halbzahlende  Plätze  und  10  Staats- 
stipendien, an  denen  kroatische  Jünglinge  angemessen  beteiligt  sein  müssen. 

Die  mit  gutem  Erfolge  absolvirten  Zöglinge  treten  als  Cadetten  in  die 
Honved-Armee  ein. 

Der  Lehrkurs  für  die  Offiziere  im  Urlauberstande  hatte  nur  einen  Jahr- 
gang, wurde  aber  im  Jahre  1890  aufgelassen;  dagegen  bheb  der  höhere 
Offiziers-Lehrkurs  auch  fernerhin  fortbestehend.  Die  Aufgabe  dieses  Kurses 
ist  die  wissenschaftliche  Fortbildung  der  ausgezeichneteren  Offiziere  in  den 
militärischen  Studien. 

Mit  dem  Jahre  1890  erhielt  die  Ludovica-Akademie  auf  Grund  des 
Gesetz- Artikels  XXIII :  1890  abermals  eine  Beorganisation.  Dieser  zufolge 
bestehen  an  dieser  Akademie  gegenwärtig  nur  zwei  Lehrkurse,  nämlich : 
a)  der  Offiziers-Bildungskurs  und  h)  der  höhere  Offiziers-Lehrkurs. 

Die  Zahl  der  Zöglinge  im  Offiziers -Bildungskurse  wurde  von  60  auf 
90  erhöht.  Die  Leitung  der  Akademie  führt  ein  Commandant,  dem  ein  Stell- 


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LANDESVERTEIDIGUNG8- MINISTERIUMS    VON  1877- 189i).  597 

Vertreter  beigegeben  ist.  Die  Professoren  werden,  insoferne  sie  Stabsoffiziere 
sind,  über  Vorschlag  des  Hon ved- Ministers  von  Sr.  Majestät,  sonst  vom 
Landesverteidigiings-Minister  ernannt. 

Anf  weitere  Angaben  über  den  Bestand,  die  innere  Organisation  und 
die  Resultate  der  Akademie  müssen  wir  hier  Verzicht  leisten.  Nur  in  Kürze 
gedenken  wir  noch  des  zeitweilig  erri<5hteten  Stabs-Offiziers- Kurses,  der  aller- 
dings streng  genommen  nicht  in  den  Bahmen  des  Ludoviceums  gehört.  Alle 
Hauptleute,  welche  zu  StÄbs-Offizieren  avanciren  wollen,  müssen  ihre 
Befähigung  hiezu  durch  eine  besondere  Prüfung  nachweisen.  Zur  Vorberei- 
tung auf  diese  Prüfung  wurde  an  der  Ludovica- Akademie  von  1873 — 1876 
ein  dreimonatlicher,  seit  1876  ein  fünfmonatlicher  Lehrkurs  eingerichtet,  der 
aber  auch  als  unzureichend  befunden  wurde,  weshalb  man  ihn  im  Jahre  1881 
auf  zehn  Monate  (November — August)  verlängerte. 

Ebenso  gehört  auch  die  Ausbildung  der  Einjährig-Freiwilligen  nicht 
zur  Ludovica- Akademie,  gleichwohl  wurde  sie  bis  zum  Jahre  1889/90  hier 
bewerkstelligt.  Seitdem  aber  erhalten  diese  Freiwilligen  ihre  militärische 
Ausbildung  bei  den  Honved-Districten  und  der  Lehrkurs  am  Ludoviceum 
wurde  aufgelassen. 

Das  Capitel  des  «Berichtes»  über  die  Waffenühungen  der  hon.  ung, 
Landwehr  Bohüdert  eingeh  er  d  die  bestehenden  Vorschriften  und  Einrich- 
tungen über  diesen  Abschluss  der  miUtärischen  Ausbildung  der  Infanterie 
und  Gavallerie  und  gibt  dabei  zugleich  ein  Bild  der  historischen  Entwicke- 
lung  dieser  Institutionen.  Die  Waffen  Übungen  der  ung.  Landwehr  wurden 
teils  selbständig,  teils  in  Verbindung  mit  dem  gemeinsamen  Heere  abgehal- 
ten ;  aber  auch  im  ersteren  Falle  werden  die  Honveds  mit  der  notwendigen 
Artillerie  von  Seiten  des  gemeinsamen  Heeres  versehen.  Die  Waffenühungen 
in  Gemeinschaft  mit  dem  gemeinsamen  Heere  haben  für  den  Ernstfall  des 
Krieges  eine  besondere  Wichtigkeit  und  dienen  auch  zur  Vervollkonmmung 
in  der  militärischen  Ausbildung  der  Landwehrtruppen. 

unsere  Vorlage  gibt  nun  über  die  Waffenübungen  der  Honveds  von 
1877 — 1890  eingehende  Mitteilungen,  auf  deren  Wiedergabe  wir  hier  ver- 
zichten müssen.  Der  Erfolg  bewies  jedoch,  dass  die  Opferwilligkeit  der  unga- 
rischen Nation,  die  unermüdUchen  Bemühungen  und  Fachtüchtigkeit  der 
Führer,  der  seltene  Eifer  des  Offizierskorps  und  die  angeborene  Kampffähig- 
keit der  Mannschaft  binnen  wenigen  Jahren  die  schönsten  Früchte  gezeitigt 
haben.  Die  wiederholte  allerhöchste  Anerkennung  des  obersten  Kriegsherrn, 
sowie  das  schmeichelhafte  Lob  der  einheimischen  und  fremden  Sachver- 
ständigen, sind  wohlverdiente  Errungenschaften  der  kön.  ung.  Landwehr. 

Mit  der  fortschreitenden  Entwickelung  der  Honv^d-Armee  mnsste 
auch  für  die  entsprechendere  Eegelung  der  Sanitätsverhältnisse  dieser  Trup- 
pen Vorsorge  getroffen  werden.  Dies  geschah  durch  die  Gesetzartikel  VH : 
1871,  IV :  1877  und  XVI :  1885.  Damach  besteht  das  ärztliche  Corps  im  Activ- 


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598 


DIE   WIRKSAMKEIT    DES    KONIOL.  UNGARISCHEN 


Stande  der  HoDved- Armee  aus  131  Personen,  und  zwar:  aus  1  Oberstabs- 
Arzt  erster  und  3  Oberstabsärzten  zweiter  Glasse,  aus  8  Stabsärzten,  60 
Regimentsärzten  erster  und  41  zweiter  Glasse  und  aus  18  Oberärzten.  Im 
Beservestande  sind :  9  Stabsärzte,  72  Begimentsärzte  erster  und  38  zweiter 
Classe  und  123  Ober-  und  Unterärzte,  zusammen  242  Personen. 

Diese  systemisirten  Stellen  sind  freilich  nicht  stets  besetzt;  so  waren  im 
Jahre  1890  bei  der  Infanterie  100,  bei  der  Gavallerie  12,  zusammen  nur  112 
Aerzte ;  es  fehlten  sonach  1 9  Aerzte.  Dagegen  hatte  der  Urlauber-  oder  Reserve- 
stand  267  ärztliche  Personen,  d.  i.  um  25  mehr  als  die  Zahl  der  systemisir- 
ten Stellen  beträgt. 

Die  Honved-Aerzte  in  der  Activität  werden  zu  ihrer  Ausbildung  für 
die  Dauer  von  drei  Monaten  in  die  betreffenden  k.  und  k.  Gramisonsspitäler 
des  k.  und  k.  gemeinsamen  Heeres  zur  Dienstleistung  commandirt.  Ausser- 
dem wurde  ein  Wiederholungslehrkurs  und  insbesondere  ein  « Operations »- 
neuestens  auch  ein  «Hygienischer  Lehrkurs»  für  Honv6därzte  eingerichtet. 

Der  Wiederholungslehrkurs  hat  den  Zweck,  1.  dass  die  für  den  mili- 
tärärztlichen Beruf  wichtigen  medicinischen  Lehrsätze  im  Oedächtnisse  der 
Honved-Aerzte  aufgefrischt  und  diese  mit  den  Fortschritten  der  Wissen- 
schaft sowie  mit  dem  System  und  den  Vorschriften  des  Sanitäts-Dienstes 
genau  bekannt  gemacht  und  2.  dass  während  des  Kurses  die  hiefür  Taug- 
lichen für  den  Operationslehrkurs  vorbereitet  werden.  Der  Wiederholungs- 
lehrkurs findet  jährlich  vom  24,  Mai  bis  zum  10.  August  an  der  Budapester 
Universität  statt.  Vorgetragen  werden :  a)  Chirurgie  und  Operationslehre 
mit  besonderer  Bücksicht  auf  Kriegsvei-wundungen  und  mit  Demonstratio- 
nen an  Leichen  und  an  lebenden  Personen ;  b)  militärische  Gresundheits- 
lehre  mit  praktischen  Versuchen ;  c  j  Augenheilkunde,  hauptsächlich  die 
beim  Militär  vorkommenden  Augenkrankheiten  und  Untersuchungen  des 
Auges ;  d)  System  und  Vorschriften  des  Sanitätsdienstes  im  Frieden 
und  im  Kriege.  An  diesem  Kurse  haben  bisher  69  Honv6d-Aerzte  Teil 
genommen. 

Die  Errichtung  des  Operations-Lehrkurses  geschah  in  der  Absicht, 
die  hiezu  tauglichen  Honv6d- Aerzte  zu  Operateuren  heranbilden  zu  lassen. 
Dieser  Kurs  dauert  in  jedem  Jahre  vom  1.  Oktober  bis  zum  30.  Juni  und 
wird  sowohl  an  der  Budapester  als  an  der  Klausenburger  Universität  abge- 
halten. An  jeder  dieser  Hochschulen  sind  je  zwei  Operations-Zöglings-Stel- 
len  für  die  Hon v6d- Armee  systemisirt.  Bisher  wurden  18  Operateure  für 
diese  Armee  herangebildet. 

An  beiden  diesen  Universitäten  sind  auch  die  Hygienischen  Lehr- 
kurse für  die  Honved-Aerzte  eingerichtet.  Deren  Dauer  ist  zehn  Monate  oder 
ein  Studienjahr,  nach  welcher  Zeit  die  betreffenden  Frequentanten  das 
Diplom  als  •  Professoren  der  Hygiene»  erhalten.  Bisher  haben  5  Honved- 
Aerzte  diesen  Kurs  absolvirt. 


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LANDK8VERTEIDIGUNGS-MINI8TERIUM8    VON  1877—1890.  •^>99 

Seit  1 887  ist  auch  bei  der  ung.  Landwehr  die  Einführung  und  der 
Gebrauch  der  antiseptischen  Verbandzeuge  zur  Pflicht  gemacht  worden. 

Es  ist  selbstverständlich,  dass  neben  dieser  theoretischen  Berufs-Bil- 
dung der  Honvedärzte  auch  für  deren  Einübung  in  den  practischen  Sani- 
tätsdienst ernstlich  gesorgt  wird.  Nicht  minder  ist  die  Militärverwaltung 
bemüht,  das  für  den  prompten  und  ausreichenden  Sanitätsdienst  erfor- 
derliche Hilfs-  und  Dienstpersonale  in  erforderlicher  Anzahl  und  Quali- 
tät heranzubilden.  Endlich  sind  auch  die  nötigen  Einrichtungen  und 
Krankenhäuser  für  die  Honved-Armee  hergestellt  und  der  ärztlichen  Lei- 
tung und  Aufsicht  übergeben  worden. 

Diesen  Verfügungen  und  Institutionen  ist  es  zu  danken,  dass  der 
Gesundheitszustand  der  Hon^edtruppen  sich  von  Jahr  zu  Jahr  verbessert 
und  heute  jenes  erfreuliche  Eesultat  aufzuweisen  hat,  dass  die  Kriegstüch- 
tigkeit der  ung.  Landwehr  auch  gegen  die  gesundheitsschädlichen  Einwir- 
kungen entsprechend  gewahrt  ist. 

Ein  besonders  wichtiges  und  ausgedehntes  Feld  der  Militär- Verwal- 
tung bietet  die  Besorgung  der  wirtschaftlichen  Angelegenheiten  der  kön.  ung. 
Landwehr;  denn  die  zweckmässige  Sicherung  der  Verproviantirung,  der 
Bekleidung  und  militärischen  Ausrüstung  ist  eine  wesentUche  Garantie  der 
Kampftüchtigkeit  eines  Heeres.  Deshalb  wurde  diesem  Zweige  der  Verwal- 
tung eine  ganz  besondere  Sorgfalt  zugewendet,  um  so  mehr,  als  die  allge- 
mein-europäischen Verhältnisse,  die  Steigerung  der  Wehrkraft  in  allen 
Staaten  sow^ie  die  wiederholte  und  rasche  Umgestaltung  der  Bewaffnung  in 
dieser  Hinsicht  grosse  Ansprüche  stellen.  Die  Landwehr  musste  in  jeder 
Beziehung  mit  den  Fortschritten  der  k.  und  k.  gemeinsamen  Armee  glei- 
chen Schritt  halten. 

Die  wirtschaftlichen  Angelegenheiten  besorgt  die  Intendantur  der 
Landwehr,  diese  besteht  nach  der  neuesten  Organisation  vom  Jahre  1890 
aus  einem  General-Intendanten  (V.  Diätenclasse),  aus  3  Ober-Intendanten 
erster  Classe  (VI.  Diätenclasse),  8  Ober-Intendanten  zweiter  Classe  (VIL 
Diätenclasse),  aus  12  Intendanten  (VIU.  Diätenclasse)  und  11  Unter-Inten- 
danten (IX.  Diätenclasse),  zusammen  aus  35  Personen. 

Der  Kriegsstand  der  Intendantur  wird  von  Fall  zu  Fall  festgesetzt. 

Die  Verproviantirung  der  Honveds  geschieht  teils  im  Wege  abgeschlos- 
sener Verträge,  teils  durch  unmittelbaren  Hand-Einkauf.  Seit  dem  Jahre 
1881  erhält  die  Mannschaft  als  warmes  Frühstück  eine  Einbrennsuppe. 
Für  die  Bekleidung,  Ausrüstung  und  Bewafihung  der  Landwehr  bestehen 
eingehende  Vorschriften.  Bei  Anschaffung  der  erforderlichen  Gegenstände 
und  Artikel  müssen  vor  Allem  einheimische  Producenten,  Fabrikanten  und 
Gewerbsleute  berücksichtigt  werden.  Auf  die  detaillirtere  Darstellung  aU 
dieser  Verhältnisse  können  wir  uns  an  dieser  Stelle  nicht  einlassen ;  nur 
das   eine  Factum  heben  vrir  hervor,  dass  in  der  Zeit  von    1877 — 1890 


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6^^  DIE    WIRKSAMKEIT    DES    KÖNIGL.  UNGARISCHEN 

das  Honved-Ministerium  zur  Deckung  der  Erfordernisse  der  Landwehr 
257  Verträge  geschlossen  hat  und  unter  diesen  sind  nur  16  Verträge  mit 
ausserungarischen  Unternehmern  und  zwar  für  solche  Bedürfnisse,  deren 
Deckung  im  Inlande  nicht  gesichert  werden  konnte. 

Indem  wir  mit  Eücksicht  auf  den  uns  zur  Verfügung  stehenden  Baum 
eine  Beihe  von  Detail-Einrichtungen  und  Specialverfügungen  in  der  Besor- 
gung der  wirtschaftlichen  Angelegenheiten  der  Honveds  übergehen,  verwei- 
len wir  einen  Moment  bei  dem  G.-A.  XX:  1887,  der  von  der  Versorgung 
der  Witwen  und  Waisen  verstorbener  Landwehnnänner  (Offiziere  und 
Mannschaft)  handelt. 

Zur  Versorgung  dieser  Witwen  und  Waisen  ist  Vorbedingung  die 
Pensionsfähigkeit  des  Familienhauptes,  welche  nach  zehnjähriger  activer 
Dienstzeit  eintritt ;  eine  Ausnahme  von  dieser  Bedingung  findet  nur  im 
Kriegsfalle  statt.  Den  Erziehungsbeitrag  erhalten  die  Waisen  bis  zu  ihrer 
Grossjährigkeit^  (bei  den  Offizierssöhnen  das  fO.,  bei  Offizierstöchtem  das 
18.  Lebensjahr,  bei  der  Mannschaft  das  16.,  resp.  das  14.  Lebensjahr)  doch 
nur  dann,  wenn  mindestens  zwei  unversorgte  minderjährige  Waisen 
vorhanden  sind.  Bei  gänzlich  elternlosen  Waisen  fällt  diese  Bedingung 
weg,  ja  diese  erhalten  noch  bO^/o  über  den  sonst  gesetzlichen  Erziehungs- 
beitrag. 

Das  «Honv6dasyl»,  welches  durch  Privatsammlungen  gestiftet  und 
erhalten  wurde,  befindet  sich  seit  188i2  unter  Verwaltung  und  Aufsicht  des 
Landesverteidigungs-Ministers.  Das  «Honvedasyl»  dient  zur  Aufnahme  ver- 
mögensloser Honved-Invaliden  aus  den  Jahren  1848/49.  Sobald  derartige 
Invaliden  nicht  mehr  am  Leben  sind,  wird  das  Asyl  und  dessen  Vermögen 
als  Landesstiftung  zu  Gunsten  der  Livaliden  der  jetzigen  kön.  ung.  Land- 
wehr verwendet.  Die  unmittelbare  Aufsicht  über  das  Honvedasyl  führt  eine 
Aufsichtscommission,  deren  Präses  und  fünf  Mitglieder  der  Minister  ernennt, 
die  übrigen  fünf  Mitglieder  aber  der  Central- Ausschuss  der  HonvÄd- Vereine 
wählt.  Ln  Asyl  selbst  ist  die  Leitung  einem  Commandanten  anvertraut,  dem 
das  erforderliche  Beamten-  und  Dienstpersonale  zugeteilt  ist.  Gegenwärtig 
beherbergt  das  Asyl  100  Invaliden  {i  Stabsoffiziere,  33  Ober-  und  38  Unter- 
offiziere und  27  Gemeine).  Die  Invaliden  erhalten  volle  Verpflegung  und 
ausserdem  die  Stabsoffiziere  monatlich  16,  die  Ober-Offiziere  10  fl.  Zulage; 
die  Unteroffiziere  :20,  die  Mannschaft  5  kr.  Tagessold. 

Die  territoriale  Verteilung  oder  Gktmisonirung  der  Honved-Armee 
geschieht  nach  denselben  Grundsätzen  und  Vorschriften  wie  jene  des  k.  und 
k.  gemeinsamen  Heeres.  Die  Durchführung  dieser  gesetzlichen  Bestimmun- 
gen war  jedoch  mit  besonderen  Schwierigkeiten  verbunden,  da  unter  Ande- 
rem auch  die  erforderlichen  Casernen  und  anderen  Baulichkeiten  erst 
besorgt,  resp.  neu  hergestellt  werden  mussten.  Mit  Anerkennung  gedenkt 
der  «Bericht»  der  patriotischen  Opferbereitwilligkeit,  womit  die  Gemeinden 


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LANDE8VERTEIDIGÜNGS-MINISTERIUMS   VON  1877—1890.  ^01 

und  Municipien  bemüht  waren,  die  Thätigkeit  des  Landesverteidigungs-Mini- 
steriums in  dieser  Beziehung  zu  unterstützen. 

Indem  wir  auf  die  wiederholten  Veränderungen  in  der  Gamisonirung 
und  Bequartierung  der  Honved-Truppen  nicht  weiter  eingehen  können,  geben 
wir  in  Nachfolgendem  eine  Uebersicht  der   definitiven  Stationirung  der 
kön.  ung.  Landwehr  in  den  sieben  Honved-Districts-Commanden :  Budapest, 
Szegedin,  Kaschau,  Pressburg,  Stuhlweissenburg,  Klausenburg  und  Agram. 
Jeder  District  umfasst  zwei  Infanterie-Brigaden  zu  je  vier  Begimentem 
die  Honv6d-Infanterie  zählt  sonach  gegenwärtig  28  Regimenter.  Die  Bri 
gaden  haben  ihre  Sitze  zu  Budapest,  Debreczin,  Szegedin,  Lugos,  Kaschau 
Szatmär,  Pressburg,  Neutra,  Stuhlweissenburg,  Fünfkirchen,  Klausenburg, 
Hermannstadt,  Agram ;  die  Regimenter  ihre  Stäbe  zu :  Budapest,  Bek6s 
Gyula,  Debreczin,  Grosswardein,  Szegedin,  Szabadka,  (Maria-Theresiopel) 
Werschetz,  Lugos,  Kaschau,  Miskolcz,  Munkäcs,  Szatmär,  Pressburg,  Tren 
csin,  Neutra,  B.-Bänya,  Stuhlweissenburg,  Oedenburg,  Fünfkirchen,  Gross 
Kanizsa,  Klausenburg,  Maros-Väsärhely,  Hermannstadt,  Kronstadt,  Agram 
Schwarza,  Belovär,  Vinkovcze.  Die  Infanterie  ist  in  36  ärarischen  und  58 
gemieteten  Gebäuden  untergebracht. 

Unter  der  in  Budapest  stationirten  Inspection  der  Honved-Cavallerie 
6tehen  die  Brigaden :  Budapest,  Szegedin,  Pünfkirchen  in  zehn  Husz&renregi- 
mentem  zu  Budapest,  Debreczin,  Szegedin,  KecskemM,  Kaschau,  Waitzen, 
Päpa,  Fünfkirchen,  Maros-Väsärhely  und  Warasdin.  Diese  sind  in  8  ärari- 
ßchen  und  1 2  gemieteten  Gebäuden  untergebracht. 

Die  Infanterie-Regimenter  zerfallen  in  je  3 — 4  Bataillone,  jedes 
Huszären-Regiment  in  zwei  Escadronen. 

Zeltlager  für  die  Honv6d-Armee  bestehen  in  Maros-Väsärhely,  in 
Kaschau,  in  Lugos,  in  Fünfkirchen  und  in  Neutra.  Gedeckte  Reitschulen 
für  die  Honv6d-Huszären  sind  zu  Budapest,  Jäszbereny,  Bek^s-Gyula,  De- 
breczin, Waitzen,  Fünfkirchen,  Päpa,  Maros-Väsärhely  und  Zala-Egerszeg ; 
dazu  kommt  noch  die  Reitschule  der  Ludovica- Akademie  und  der  Central- 
Equitations-Lehranstalt. 

Die  Gericht  tbarkeit  über  die  Landwehr  üben  die  seit  1 884  neu-organi- 
sirten  «Auditoriate  für  die  kön.  ung.  Landwehr  und  Gensdarmerie»  aus. 
Per  Personalstatus  des  kön.  ung.  Honv6d-Auditoriats  besteht  aus  27  Per- 
sonen und  zwar :  2  Oberst-,  4  Obristlieutenants-,  4  Majors-,  9  Hauptmanns- 
Auditore  erster  und  4  zweiter  Classe  und  4  Oberlieutenants- Auditore.  Aus- 
ser der  Landwehr  und  der  kön.  ung.  Gensdarmerie  sind  seit  der  Organisi- 
rung  des  «Landsturmes»  (G.-A.  XX:  1886)  auch  die  zur  Dienstleistung  ein- 
berufenen Landstürmler  vom  Tage  der  Einberufung  bis  zu  ihrer  Entlas- 
sung den  militärischen  Straf-  und  Disciplinar- Vorschriften  unterworfen. 
Für  das  richterliche  Verfahren  ist  die  «Militär-Strafprozess-Ordnung»  des 
k.  und  k.  gemeinsamen  Heeres  auch  für  die  kön.  ung.  Honved-Auditoriate 

UngiriMhe  Revue,  XI.  1891.  VI— VU.  Heft.  3g^ 


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ö<>^  DIE   WIRKSAMKEIT     DES   KÖNIÖL.  UNGARISCHEN 

massgebend.  Ausserdem  bestehen  über  das  Disciplinar-Verfeihren,  über 
die  militärischen  Ehrengerichte  sowie  über  den  verweigerten  Gehorsam 
bei  Einberufung  zum  Militärdienste  gesetzliche  und  behördliche  Ver- 
fügungen. 

Ein  besonderes  Gapitel  unserer  Vorlage  behandelt  die  Angelegenheit 
des  «militärischen  Brachiums»  und  wer  die  Inanspruchnahme  dieser  Mili- 
tär-Gewalt anzuordnen  und  auf  welche  Weise  die  Ausübung  dieser  Gewalt 
zu  geschehen  hat.  Eine  Uebersicht  der  Fälle,  in  denen  von  1877 — 1890  die 
Militär-Assistenz  von  der  Civilbehörde  beansprucht  worden  ist,  zeigt,  dass 
dies  zumeist  aus  Anlass  der  üeberschwemmungsgefahren,  dann  bei  politi- 
schen und  communalen  Wahlen,  femer  in  Folge  der  antisemitischen  Bewe- 
gung (namentlich  in  den  Jahren  1882  und  1883)  und  endlich  bei  Arbeiter- 
unruhen der  Fall  gewesen  ist. 

üeber  den  Pferdebestand  der  Honved  gibt  ein  Gapitel  eingehende 
Auskunft.  Wir  übergehen  jedoch  die  näheren  Angaben  über  die  Anschaffung 
und  Dressur  dieser  Pferde,  bemerken  nur,  dass  in  der  Zeit  von  1877 — 1890 
nicht  weniger  als  21,651  Keitpferde  dressirt  wurden  und  dass  die  dressirten 
Pferde  zur  Erhaltung  an  Unternehmer  hinausgegeben  werden.  Wenn  diese 
Pferde  während  sechs  Jahren  in  mindestens  «befriedigendem»  Zustande 
erhalten  werden,  so  gehen  sie  in  das  Eigenthum  des  Unternehmers  über. 
Bei  «vorzügUcher»  Erhaltung  ist  das  schon  nach  fünf  Jahren  der  FalL 
Im  J.  1890  zeigte  der  Pferdebestand  der  Honved  Cavallerie  einen  Status  von 
10,164  Pferden.  Davon  waren  alle  dressirt;  im  activen  Dienste  standen 
2260,  bei  privaten  Unternehmern  waren  7898  Pferde  untergebracht  Im 
J.  1889  hatte  der  Status  erst  8889  Pferde  aufzuweisen.  Der  Durchschnitts- 
preis eines  gewöhnlichen  Gavallerie-Bosses  ist  mit  300  fl.^  eines  Offiziers- 
Pferdes  mit  350  fl.  festgestellt. 

Das  k.  u.  Landesverteidigungs-Ministerium  hat  in  seiner  Verwaltung 
eine  grosse  Anzahl  von  militärischen  Fonds  und  Stiftungen,  welche  teils 
aus  öffentlichen,  teils  aus  Privatstiftungen  entstanden  sind  und  entweder  zu 
militär-unterrichtlichen  und  erziehlichen  Zwecken  oder  zu  Gunsten  der 
Invaliden  oder  der  HinterbUebenen  der  Militärpersonen  verwendet  werden. 
Ebenso  untersteht  diesem  Ministerium  die  Fürsorge  und  Verwaltung  von 
Liegenschaften  in  den  verschiedenen  Gegenden  des  Landes  im  Gesammt- 
wert  von  6.213,275  fl.  36  kr. 

Auf  den  eingehenden  Nachweis  über  die  Entstehung,  Natur,  Bestim- 
mung und  ziffermässigen  Bestand  dieses  bewegUchen  und  unbeweglichen 
Vermögens  müssen  wir  an  dieser  Stelle  verzichten.  Wir  eilen  dem  Schlüsse 
zu,  um  nur  noch  einige  Mitteilungen  über  den  Landsturm  und  über  die 
kön.  ung.  Gensdarmerie  in  Kürze  anzuführen. 

Die  Errichtung  des  Landsturmes  als  eines  integrirenden  BestMidteiles 
der  Wehrkraft  wurde  zwar  schon  in  dem  allgemeinen  Wehrgesetze  vom 


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LANDE8VERTEIDIGÜNG8-MINI8TERIUM8   VON  1877—1890.  603 

J.  1868  im  Principe  ausgesprochen;  aber  die  Verwirklichung  dieses  Prin* 
<5ipe8  erfolgte  doch  erst  mittelst  Gesetzartikel  XX.  v.  J.  1886. 

Dieses  Gesetz  stellt  vor  Allem  den  allgemeinen  Grundsatz  auf,  dass 
der  Landsturm  einen  ergänzenden  Teil  der  bewaffneten  Macht  bildet  und 
als  solcher  unter  dem  Schutz  des  internationalen  Bechtes  steht.  Die  Ver- 
pflichtung zur  Teilnahme  am  Landsturm  erstreckt  sich  auf  jeden  Staatsbürger, 
welcher  weder  im  Verbände  des  Heeres  (der  Kriegsmarine)  oder  deren  Ersatz- 
reserve oder  der  Landwehr  steht,  ist  also  allgemein ;  die  absolut  Untaug- 
lichen natürUch  ausgenommen.  Die  Dauer  der  Landsturmpflicht  beginnt 
mit  dem  19.  Lebensjahre  und  endigt  mit  dem  42.  Lebensjahre.  Die- 
jenigen, die  im  Heere  oder  bei  der  Landwehr  einen  Offiziersrang  besas- 
sen,  sind  (bei  sonstiger  Tauglichkeit)  bis  zum  60.  Lebensjahre  landsturm- 
pflichtig. 

Der  Landsturm  besteht  aus  zwei  Classen  der  Landsturmpflichtigen ; 
in  die  erste  Olasse  gehören  die  Pflichtigen  bis  zum  vollendeten  37.  Lebens- 
jahre ;  in  die  zweite  die  bis  zum  vollendeten  42.  Lebensjahre. 

Die  Einberufung  des  Landsturmes  erfolgt  nach  Anhörung  des  Minister-^ 
rates  über  Anordnung  Sr.  Majestät  durch  den  königlich  ungarischen 
Xiandesverteidignngs-Minister  und  es  kann  der  einberufene  Landsturm  in 
-der  Begel  nur  innerhalb  der  Landesgrenze  zum  Kriegsdienste  verwendet 
v^erden.  In  Ausnahme-Fällen  ist  die  Verwendung  ausserhalb  des  Landes 
bei  Zustimmung  der  legislatorischen  Factoren  gestattet.  Die  Landstürmler 
I.  Classe  können  zur  Ausfüllung  der  Lücken  bei  der  Ersatzreserve  des  k.  u.  k. 
gemeinsamen  Heeres  und  der  Landwehr  herangezogen  werden. 

Die  Landstürmler  I.  Classe  dienen  in  der  Eegel  zur  Versehung 
des  Wachedienstes  in  Festungen  und  Garnisonsorten,  sowie  zum  Schutze  der 
Proviantzüge;  in  gewissen,  notwendigen  Fällen  sind  sie  aber  auch  zur 
Unterstützung  der  activen  Wehrkraft  zu  verwenden.  Die  Landstürmler 
U.  Classe  werden  im  Falle  der  No<;wendigkeit  nach  jenen  der  L  Classe  einbe- 
rufen und  zu  denselben  Diensten  gebraucht,  können  jedoch  zur  Ergänzung 
und  Unterstützung  der  kämpfenden  Truppenteile  nicht  in  Anspruch  genom- 
men werden. 

Die  militärische  Organisirung,  Bewaffnung  und  eventuelle  Bekleidung 
oder  mindestens  die  Versehung  mit  erkennbaren  einheitUchen  Distinctionen 
i^ar  notwendig,  schon  vom  Standpunkte  des  internationalen  Bechtssdhutzes. 
Deshalb  wurden  auch  bestimmte  Offiziers-  und  Unteroffiziers-Cadres  ge- 
schaffen und  werden  die  Offiziere  von  Sr.  Majestät  ernannt.  Selbstverständ- 
lich ist  diese  Bestellung  von  Landsturm-Offizieren  schon  in  Friedenszeiten 
notwendig. 

Zu  diesem  Zwecke  wurden  vor  Allem  Individuen  mit  entsprechender 
Vorbildung  und  Tauglichkeit  ausgewählt,  überdies  aber  auch  aus  den  bürger- 
lichen Elementen  solche  allgemein  geachtete  Männer,  die  durch  ihren  her- 

38* 


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6^  DIE   WIRKSAMKEIT    DES    KÖNIGL.  UNGARISCHEN 

Yorragenden  Patriotismus^  ihre  öfifentlicben  Verdienste  und  ihre  Intelligeiur 
für  diese  Aufnahme  in  den  Offiziersstand  geeignet  erscheinen. 

Die  fortgesetzte  Evidenzhaltung  der  Landsturmpfiichtigen  ist  Aulgabe 
des  Landesverteidigungsministeriums ;  die  Kosten  bei  Einberufung  des 
Landsturmes  belasten  jedoch  das  Budget  des  k.  u.  k.  gemeinsamen  Eriegs- 
ministeriums. 

Die  Landstärmler  werden  in  Infanterie-Bataillone  und  Husz&ren- 
Eskadronen  eingeteilt.  Seit  dem  Jahre  1890  bildet  der  Landsturm  28  Infan- 
terie-Begimenter  und  es  wird  in  jeder  Glasse  die  Mannschaft  in  §  militärisch 
Ausgebildete!  und  in  «militärisch  Nich tausgebildete»  unterschieden. 

üeber  Aufforderung  des  Honv^d-Ministers  fand  in  den  Jahren  1886 
und  1887  eine  Gonscription  der  zu  Offiziersdiensten  im  Landsturme  taug- 
lichen Individuen  sowie  der  Aerzte  im  ganzen  Lande  statt.  Das  Besultat  war 
folgendes : 

Militärisch  ausgebildete  Personen  gab  es  4742  Personen;  nichtmili- 
tärisch gebildete  Aspiranten  für  den  Landsturm- Offiziersdienst  6886  Per- 
sonen ;  zusammen  also  1 1,628  Personen.  Hievon  meldeten  sich  für  den  Lehr- 
kurs zur  Vorbereitung  auf  den  Landsturm-Offiziersdienst  5477  (4924  für  die 
Infanterie,  553  für  die  Cavallerie)  Personen. 

Der  Offiziers-  und  Aerzte- Status  für  den  Landsturm  zählte  im  Jahre 
1890: 


a)  bei  der 
Infanterie 

b)  bei  der 

CaVÄllerie 

Offiziere     

..     4782 

677 

Aerzte    

480 

10 

VerwaltnngB-Offiziere 

..       307 

10 

Tierärzte        

— 

110 

Znsammen    . 

..     5569  ~ 

807 

Das  Gebiet  Ungarns  und  seiner  Nebenländer  wurde  in  94  Landsturm- 
bezirke  eingeteilt  und  die  in  den  Jahren  1887 — 1 890  vollzogenen  Conscrip- 
tionen  der  Landsturmpfiichtigen  ergaben  folgende  Besultate : 

militärisch  AuHgebildete      militärisch  Nichtgebildete  Zniuumnen 

im  J.  1887  439,395  Mann  1.046,526  Mann  1.485,921  Mann 

i    €1888  460,675      •  1.688,559      •  2.149,234      • 

€    «   1889  468,253      .  1.795,982      t  2.264,235      « 

€    €   1890  461,758      •  1.760,274      t  2.222.032      « 

Für  den  Kriegsfall  kommen,  wie  erwähnt,  vornehmUch  die  Landsturm- 
pfiichtigen I.  Classe  (bis  zum  vollendeten  37.  Lebensjahre)  in  Betrachts 
Solcher  waren : 

militärisch  Ausgebildete      militärisch  Nichtgebildete  Zunaramen 

im  J.  1 887  243,802  Mann  1 .020, 1 97  Mann  1 .263,999  Mann 

€    «1888  226,711      «  1.6i7,647      t  1.864,358      • 

€    €   1889  215,897      «  1.6i6,200      t  1.862,097      t 

•    «   1890  211,237      .  1.742,529      €  1.953,766      t 


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LANDESYERTEIDIGUNGS-MINISTERTÜMö    VON  1877—1890.  ^^^ 

Das  Gesetz  setzt  für  bestimmte  Berufsarten  und  Besebäftigangen  die 
Befreiung  von  dem  activen  Landsturmdienste  fest.  Im  Jahre  1890  waren  in 
der  Abteilung  der  «militärisch  Ausgebildeten»  12,959,  in  der  Abteilung  der 
«militärisch  Nichtausgebildeten»  29,935,  zusammen  also  42,894  Landsturm- 
päichtige  von  der  Teilnahme  am  eventuellen  activen  Dienste  befreit. 

Zur  Her^inbildung  der  Landsturm-Offiziere  wurden  in  den  Jahren 
1887 — 1889  drei-  bis  vierwöchentliche  Lehrkurse  an  verschiedenen  Orten 
des  Landes  abgehalten.  An  denselben  nahmen  für  die  Infanterie  1370,  für 
die  Cavallerie  273  Personen  Teil ;  hievon  wurden  als  Offiziers- Aspiranten 
beföhigt  gefunden:  für  die  Infanterie  1353,  für  die  Cavallerie  267  Personen. 

Der  letzte  Teil  unserer  Vorlage  schildert  die  Wirksamkeit  des  könig- 
lich ungarischen  Landesverteidigungsministeriums  in  Bezug  auf  die  könig- 
lieh  ungarische  Gensdarmerie,  deren  Organisation  zwar  im  ganzen  Lande 
die  gleiche  ist,  die  jedoch  hinsichtlich  des  öffentlichen  Sicherheitsdienstes 
einerseits  dem  königlich  ungarischen  Minister  des  Innern,  andererseits  für 
Kroatien-Slavonien  dem  Banus  in  Agram  untergeordnet  ist. 

Bis  zum  Jahre  1881  bestand  die  Institution  der  Gensdarmerie  nur  in 
den  siebenbürgi3chen  Landesteilen,  wo  sie  sich  nicht  nur  als  zweckmässig, 
sondern  als  vorzüglich  bewährt  hatte  und  deshalb  die  Begierung  bewog,  im 
Interesse  der  öffentlichen  Sicherheit  diese  Institution  in  ganz  Ungarn  einzu- 
führen. Dies  geschah  durch  die  Gesetzartikel  II  und  III  des  Jahres  1881. 
Die  Organisirung  dieser  Staatspolizei  erfolgte  allmählich;  im  Jahre  1882 
wurde  der  IL  Gensdarmerie-District  zu  Szegedin  organisirt,  im  Jahre  1883 
folgten  der  HI.  in  Budapest  und  der  IV.  in  Kaschau;  im  Jahre  1884  die 
Districts-Commanden  V  zu  Pressburg  und  VI  zu  Stuhlweissenburg.  Damit 
war  die  Organisation  für  Ungarn  (ohne  Bjroatien-Slavonien)  beendet  und  das 
ganze  Land  (mit  Ausnahme  der  freien  Municipal-Städte)  in  polizeilicher 
Hinsicht  der  kön.  ung.  Gensdarmerie  anvertraut.  Weitere  Gesetze  über  die 
«Pensionirung»  der  Gensdarmen  (G.  A.  XI:  1885  und  LXXI:  1886)  sorgen 
für  die  materiellen  Interessen  dieser  Staats-Polizei,  deren  Bestand  in 
Kroatien-Slavonien  gleichzeitig  ist  mit  jener  in  Siebenbürgen,  d.  h.  die 
Gensdarmerie  hier  und  dort  datirt  noch  aus  der  Zeit  des  absolutistischen 
Kegimes  von  1850 — 1860.  Im  Jahre  1881  wurde  dann  das  in  der  ehemali- 
gen Militärgrenze  bestandene  Sereschaner-Corps  mit  der  Gensdarmerie  in 
Kroatien-Slavonien  vereinigt. 

Nach  dem  Gesetze  von  1881  wird  der  Status  der  Gensdarmerie 
ergänzt :  a)  aus  gedienten  Unteroffizieren  des  gemeinsamen  Heeres  und  der 
ung.  Landwehr ;  b)  aus  Freiwilligen,  die  ihrer  Wehrpflicht  bereits  Genüge 
gethan  haben ;  c)  aus  länger  Beurlaubten,  die  freiwillig  eintreten,  wenn  sie 
bereits  im  letzten  Halbjahre  ihrer  militärischen  Dienstzeit  stehen ;  d)  aus 
freiwilligen  Reservisten  und  Ersatz-Reservisten  der  gemeinsamen  Armee 
oder  e)  aus  Angehörigen  der  ung.  Landwehr. 


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6<>^  DIE   WIBK8AMKEIT     DES    KÖNIGL.  UNGARISCHEN 

Jeder  Aufzunehmende  hat  eine  sechsmonatliche  Probedienstzeit  zube- 
stehen.  Bedingungen  der  Aufnahme  in  die  königl.  ung.  Gensdarmerie  sind  r 

a)  die  ungarische  Staatsbürgerschaft;  b)  untadeliges  sittliches  Betragen 
und  entsprechende  geistige  Befähigung,  verbunden  mit  anständigem  Auf- 
treten ;  c)  das  Alter  zwischen  20 — 40  Lebensjahren ;  d)  lediger  Stand  oder 
kinderlose  Witwerschaft :  e)  vollständige  militärdienstliche  Tauglichkeit  und 
eine  Körpergrösse  von  mindestens  163  Gm;  f)  Eenntniss  der  ungarischen 
Dienstsprache  und  dann  der  Landessprache  jener  Gegend,  wo  der  Be- 
treffende als  Gensdarm  zu  dienen  berufen  sein  wird ;  endlich  g)  Eenntniss 
des  Lesens,  Schreibens  und  Rechnens.  Nachdem  zur  Deckung  der  Bedürf- 
nisse in  den  ersten  Jahren  des  Bestandes  der  Gensdarmerie  Freiwillige  in 
hinreichender  Anzahl  nicht  erschienen,  wurden  die  Lücken  und  der  Abgang 
durch  Zuweisung  von  tauglichen  Honveds  zur  Gensdarmerie  ergänzt.  Seit 
1886  sind  solche  Zuweisungen  nicht  weiter  nötig  gewesen. 

Der  Offiziersstand  der  Gensdarmerie  wird  gebildet :  a)  durch  das  stu- 
fenweise Avancement  innerhalb  des    Gensdarmerie-Offiziers-Gorps  selbst; 

b)  durch  diensterprobte,  ledige  Unteroffiziere,  welche  das  Gymnasium,  die 
Oberrealschule  oder  eine  Lehranstalt  von  gleichem  Bange  mit  gutem  Erfolge 
absolvirt,  die  Aufnahmsprüfung  bestanden  und  den  Lehrkurs  für  Reserve- 
Offiziere  besucht,  resp.  die  Reserve-Offiziers-Prüfung  ^gelegt  und  die 
Ernennung  zu  Offiziers-Stellvertretem  erhalten  haben;  endlich  c)  durch 
Zuteilung  tauglicher  Offiziere  aus  der  k.  u.  k.  gemeinsamen  Armee  oder  aus 
der  königl.  ung.  Landwehr.  Für  Alle  ist  jedoch  die  Ablegung  der  Fachprü- 
fung für  Gensdarmerie-Offiziere  vorgeschrieben. 

Am  31.  Dezember  1890  war  der  Status  der  Offiziere  und  der  Mann- 
schaft der  königl.  ung.  Gensdarmerie  in  den  sechs  Districts-Commanden 
des  Landes  folgender : 

Offiziere  Mannschaft 

FuHfivoIk      Reiterei 

LKlaueenburg     17         910  — 

n.  Szegedin       22        763         171 

m.  Budapest 20        598        362 

IV.  Kaschau        21         893  91 

V.  Pressburg 19        816  — 

VI.  Stuhl weissenbuig 22 994  — 

Zusammen     ...  ~  1 2 1  ~  4974^       624 

5598 

Die  kroatiBch-slavoniscbe  Genedarmrie        21  951 

Hauptsumme    142  6549 

Dazu  kommen  dann  noch  214  Mann  Grenzwächter  in  Kroatien- 
Slavonien. 

Die  übrigen  Bestimmungen,  Vorschriften  und  Einrichtungen  über  die 
königl.  ung.  Gensdarmerie  können  wir    nicht  weiter  verfolgen ;  niu*  daa 


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LANDESVERTEIDIGUNGS-MINISTERIUMS   VON  1877—1890.  '><>7 

führen  wir  noch  an,  dass  die  hohe  Wichtigkeit,  welche  dem  Institut  der 
Grensdarmerie  beigelegt  wird,  auch  aus  jener  Fürsorge  hervorgeht,  mit 
welcher  Gesetzgebung  und  Regierung  für  das  moralische  und  physische 
Gedeihen  der  Angehörigen  dieser  Staatspolizei  bemüht  sind.  Die  Resultate 
entsprechen  auch' den  gehegten  Erwartungen.  Seit  dem  strengen  Walten 
dieser  Sicherheits-Wache  haben  sich  die  polizeilichen  Zustände  des  Landea 
ganz  wesentlich  gebessert. 

Damit  schliessen  wir  unsere  Skizze  über  die  Wirksamkeit  des  königL 
ung.  Landesverteidigungs-Ministeriums  in  der  Zeit  von  1877 — 1890.  Diese 
vierzehn  Jahre  bezeichnen  eine  Periode  grosser  und  weittragender  Neu-  und 
Umgestaltungen  auf  dem  Gebiete  der  österr.-ungar.  Wehrkraft  überhaupt 
und  der  königl.  Landwehr  insbesondere. 

Die  allerwärts  stürmische  Entwicklung  der  Wehrangelegenheiten  for- 
derte auch  gebieterisch  bei  uns  die  Entfaltung  und  Umgestaltung  unserer 
Wehrkraft  und  dieser  unabweislichen  Anforderung  durften  wir  nicht 
ausweichen. 

Während  der  14  Jahre  von  1877 — 1890  hat  namentlich  das  königL 
ung.  Landesverteidigungs-Ministerium  unter  der  wesentlichen  Mitwirkung, 
dann  unter  der  verantwortlichen  Leitung  des  frühem  Staatssecretärs  und 
jetzigen  Ministers,  des  königl.  ungar.  Ministers  Freiherm  Geza  von  Fejer- 
Vary,  den  Landsturm  errichtet  und  organisirt,  wodurch  alle  wehrfähigen 
Männer  des  Landes  in  die  Verteidigung  desselben  einbezogen  wurden ; 
hat  unser  gesammtes  Wehrsystem  fortentwickelt  und  neugebildet,  wie 
solches  die  Fortschritte  der  Zeit  erheischten ;  hat  endlich  die  königl.  ung. 
Landwehr  weiter  gefördert  und  in  einer  Weise  umgestaltet,  dass  sie  heute 
einen  achtunggebietenden  Bestandteil  unserer  gesammten  Wehrkraft  bildet. 

Diese  ebenso  umfassende  als  mühevolle  patriotische  Arbeit  verdient 
die  vollste  Anerkennung;  denn  sie  bedeutet  für  die  Monarchie  wie  für 
Ungarn  die  Schaffung  und  Kräftigung  jener  Garantie  des  blühenden  Bestan- 
des und  der  gedeihlichen  Entwicklung,  von  der  Baron  Josef  Eötvös  in  einer 
seiner  Parlamentsreden  sagt:  «Das  Wehrgesetz  bildet  das  Fundament 
unserer  gesammten  Staats  -Verfassung ;  denn  nur  jenes  Volk  ist  seiner  Frei- 
heit  sicher,  welches  sie  zu  verteidigen  im  Stande  ist.» 

Prof.  Dr.  J.  H.  Schwicker. 


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^^  DIE    MA8CHENPANZER   DE8    NATIONAL-MUSEUMS. 


DIE  MASCHENPANZER  DES  NATIONAL-MIJSETJMS. 

In  Mähren  neben  der  Tbaya  bekränzt  die  Yöttauer  Borg,  welche  den 
Hauptsitz  der  einstigen  feudalen  Güter  der  Grafen  von  Wlassin  bildend  am 
Anfang  des  XVIII.  Jahrhunderts  in  das  Eigentum  der  gräflichen  Familie 
von  Dann  überging,  die  Erhöbung  eines  lieblichen  Tales. 

Die  einzelnen  Mitglieder  dieses  gräflichen  Stammes  sammelten,  ver- 
mehrten und  bewahrten  durch  Jahrhunderte  die  aus  mehr  als  tausend 
Stücken  bestehende  Waffensammlung,  welche  nach  den  stürmischen  Käm- 
pfen der  vergangenen  Jahrhunderte  als  stummer  Zeuge  uns  die  Entwicke- 
lung  eines  culturgeschichtlichen  Abschnittes  zeigt,  und  uns  durch  die  lange 
Keihe  der  defensiven  und  offensiven  Waffen  bis  zur  Gegenwart  der  moder- 
nen Eampfgeräte  als  Führer  dienen  kann. 

Einzelne  Stücke  dieser  Sammlung  schmückten  den  innerhalb  der 
Bastei  liegenden  Rittersaal.  In  einem  langen  Gange  mit  Rippenwölbungen 
waren  die  vollständig  ausgerüsteten  Bitterfiguren  aufgestellt ;  sie  zeigten  die 
Waffentracht  der  einzelnen  Jahrhunderte  in  malerischen  Gruppen,  während 
am  unteren  Ende  der  in  das  Stockwerk  führenden  Wendeltreppe  eine  Ritter- 
gestalt aus  dem  goldenen  Zeitalter  des  feudalen  Geistes,  vom  Anfang  des 
XV.  Jahrhunderts,  den  charakteristischesten  Zug  dieses  Zeitalters :  die  olig- 
archische  Macht  des  Rittertums  sinnbildlich  darstellte. 

Diese  sehr  interessante  Waffensammlung,  weiche  aus  Pietät,  zur  Erin- 
nerung und  aus  Ehre  die  Vorfahren  während  acht  Jahrhunderten  sammel- 
ten, bewahrten  und  vergrösserten,  und  die  zum  überwiegenden  Teile  zu 
praktischem  Gebrauche  diente,  existirt  heute  nicht  mehr  als  Ganzes,  da  selbe 
mit  allen  Vöttauer  Mobilien  vor  Kurzem  von  der  Witwe  des  am  14.  Oktober 
V.  J.  verstorbenen  Grafen  Heinrich  v.  Daun,  des  letzten  Gliedes  der  ausster- 
benden gräflichen  Familie,  im  Licitationswege  veräussert  wurde  und  so  nebst 
anderen  wertvollen  Gegenständen  und  Reliquien  teils  auf  den  Markt  kam, 
teils  in  das  Eigentum  von  öffentlichen  Museen  oder  Privaten  überging. 

Bei  diesem  Anlasse  hatte  auch  ich  Gelegenheit  die  Sammlung  in  ihrer 
Gesammtheit  zu  sehen.  Den  Hauptstock  derselben  bildeten  Verteidigungs- 
waffen, namentlich  die  verschiedensten  Panzerarten.  Hier  fanden  sich  vor 
aus  dem  XL  Jahrhundert  sogenannte  Hauberts,  die  man  auf  das  starke 
Leder-Aermelkleid  eng  neben  einander  befestigte  und  mit  Metallringen 
bedeckte,  beharnischte  und  genagelte  Brustwehren,  Maschenpanzer,  die  im 
XVn.  Jahrhundert  beliebt  waren  und  von  den  orientalischen  Stämmen 
noch  heute  benützt  werden,  Helme  von  plumper  Form  und  andere  zierliche 
aus  kleinen,  unten  runden  Platten  schuppig  zusammengesetzte,  wie  der- 
jenige, welchen  Sobiesky  im  Jahre  1683  während  der  Befreiung  Wiens  trug. 


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DIE    MASCHENPANZER    DES    NATIONAL- MUSEUMS  ^<^-> 

Helme  aus  dem  XV.  Jahrhuodert  mit  Krebsschwanz,  wie  sie  im  Heere  des 
Königs  Mathias  üblich  waren,  und  ähnliche  aber  am  Genick  kurz  endende, 
hussitische  Helme.  Auch  Schilde  von  Herzform,  gradgehackte,  eckig  endende, 
muldenförmige,  sowie  prächtige  Stücke  mit  getriebenen  Beliefbildern  und 
mit  Goldtauschirungen  geziert,  aus  italienischen  Werkstätten  waren  vertreten. 
Die  verschiedensten  Büstungsstücke  zu  Schutz  und  Wehr  sah  man  da:  Schien- 
bein-, Oberarm-,  Schulter-  und  Kniegelenk-Stücke  im  Ganzen,  sowie  Teile 
davon.  Als  eine  der  seltensten  Erscheinungen  prcmgte  unter  den  Bitter- 
figuren ein  ganz  bewaffneter  in  Maschenpanzer  gehüllter,  ungarischer  Bitter, 
welcher  vermutlich  den  letzten  Jahren  des  XVI.  oder  dem  Anfange  des  XVII. 
Jahrhunderts  angehört. 

Betreff  der  Angriffs- Waffen  hat  diese  interessante  Sammlung,  im 
Ganzen  betrachtet,  einen  slavischen  Typus,  denn  es  gab  dort  zwar  occidenta- 
lische  Stoss-  und  Schneide-Waffen  wie  türkische  Handsohare,  Jatagane, 
gerade  Schwerter  und  krumme  Säbel,  Messer  von  bizarrer,  japanesischer 
Form,  Beile,  schwere  normannische  Schlachtschwerter  mit  langen  Griffen, 
germanische  Schwerter,  deutsche  und  französische  Hellebarden,  Klingen 
von  Damaskus  und  Toledo,  ja  auch  Schiessgewehre,  prächtig  ausgestattete, 
mit  Elfenbein  belegte,  lange,  türkische  Büchsen  aus  dem  XVII.  Jahrhundert, 
mit  Perlmutter  besetzte  Kolben  aus  sculpirten,  orientalischen  Läufen  in 
bedeutender  Zahl ;  doch  bildeten  die  mährischen,  schlesischen,  böhmischen, 
polnischen,  litthauischen,  vendischen  und  russischen  Stoss-  und  Schlag- 
waffen den  Hauptstock  dieser  Sammlung.  So  fand  man  dort  Lanzen,  gena- 
gelte Dreschflegel,  knotige,  gegliederte,  schwere  Keulen  aus  den  Hussiten- 
Kriegen  des  XV.  und  den  Bauernaufständen  des  XVII.  Jahrh.,  massenhafte 
gerade,  halbgekrümmte  Schlachtsensen,  Morgensterne  mit  Ketten  behangen 
von  verechiedenster  Form,  unter  denen  nur  stellenweise  ein  Bogen  oder 
Köcher,  sowie  eine  schwere  räderige  Armbrust  deutschen  Ursprunges  vorkam, 
während  Panzerstecher  ungarischer  Form,  Hussarensäbel  mit  freiem  Griffe 
und  geradem  Querstabe  nur  durch  je  ein  zerbrochenes  Exemplar  repräsentirt 
waren.  Auch  vier  Maschen-  Panzerhemden,  deren  ungarische  Herkunft  aus 
einem  alten  Begister  unstreitig  ist,  zogen  meine  Aufmerksamkeit  auf  sich. 

Der  Eindruck,  den  diese  Sammlung  auf  den  Beschauer  macht,  war 
der,  dass  selbe  nicht  systematisch  angelegt  war,  sondern  dass  sie  nur 
gelegentlich  vermehrt  wurde,  so  dass  einzelne  Stücke  Andenken  an  Fami- 
lienglieder waren,  oder  als  Zeichen  von  Kriegstriumphen  seit  Langem  im 
Bittersaale  der  Vöttauer  Burg  prangten.  Eine  ziemlich  grosse  Anzahl  solcher 
Fälle  fand  sich  im  Inventar  des  herrschaftlichen  Arsenals  verzeichnet,  wel- 
ches, wenn  auch  lückenhaft,  zugleich  die  Begesten  der  auf  das  Vöttauer 
feudale  Gut  bezüglichen  Urkunden  enthält.  Diese  Aufzeichnungen  sind  aber 
in  den  letzten  Jahren  des  XVII.  Jahrhunderts  unterbrochen. 

Die  oben  erwähnten  vollständigen  ungarischen  Maschenanzüge,  die 

Ungarische  Rettie.  1891.  XI.  VI— VII   Heft  39 


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610  DIE    MABCHENPANZEB    DES   NATIONAL-MTSEUMS. 

vier  Maechenhemden  und  noch  andere  Gegenstände,  aller  Wahrscheinlich- 
keit nach  auch  zwei  schöne,  türkische,  mit  Elfenbein  nnd  Perlmutter  besetzte 
Schiessgewehre,  türkische,  kroatische  und  serbische  Handschare,  einige 
Streitkolben,  der  erwähnte,  tauschirte  und  mit  wertvoller  italienischer  Belief- 
arbeit  versehene,  runde  Schild  kamen  auch  gelegentUch  aus  Ungarn  dahin. 
Diese  Behauptung  wird  durch  die  Thatsache  begründet,  dass  in  dieser 
Sammlung  auch  die  Bibliothek  des  ungarischen  Dichters  Nicolaus  Zrinyi, 
dessen  auf  dem  Sterbebette  gemaltes  Brustbild,  sowie  seine  Eriegsrüstung 
sich  befindet,  die  gewiss  alle  aus  Zrinyi 'seh em  Besitze  stammen,  wozu  noch 
die  schon  erwähnten  ungarischen  ßitterpuppen  und  die  vier  Maschenhem- 
den zu  zählen  sind,  welche  ich  für  das  Ung.  Nat.-Museum  erwarb. 

Nicolaus  V.  Zrinyi's  Sohn,  Adam,  dessen  Frau  die  Gräfin  Marie 
Katharine  v.  Lamberg  war,  starb  im  Jahre  1691  in  der  Schlacht  von  Zalän- 
kemen,  ohne  Erben  zu  hinterlassen.  Seine  Güter  sammt  den  Mobilien  fielen 
seiner  Witwe  zu,  welche  später  dem  Grafen  MaximiUan  Ernest  v.  Wlassin 
angetraut  wurde,  deren  Tochter,  Leopoldine,  den  Grafen  Maximilian  v.  Dann, 
den  Grossvater  des  jetzt  verstorbenen  Grafen  Heinrich,  heiratete,  und  so  die 
Wlassinischen  Güter  sammt  der  Vöttauer  Burg  dem  Grafen  v.  Daun  zukom- 
men Hess.  Mit  der  Verlassenschaft  von  I>opoldinen8  Mutter,  der  früheren 
Frau  Adam  v.  Zrinyi,  nahmen  die  Grafen  v.  Daun  unter  anderen  Mobilien 
auch  einen  Teil  der  Waffen,  das  Portrait  und  die  in  Vöttau  aufgestellte 
Bibliothek  des  Nicolaus  v.  Zrinyi  in  Besitz.  Dort  sah  ich  im  Januar  1.  J.  den  im 
Jahre  1662  verfertigten  Original-Catalog  der  Zrinyi'schen  Bibliothek,  wie 
auch  das  im  Jahre  1692  verfertigte,  jetzt  nur  mehr  fragmentarisch  erhaltene, 
aus  einigen  sehr  beschädigten  Blättern  bestehende  Inventar  der  Mobi- 
lien des  Adam  v.  Zrinyi.  Unter  Nr.  17  des  deutsch  verfassten,  lückenhaften 
Inventars  sind  die  vier  Maschenhemden  und  unter  Nr.  33  die  Rüstung  der 
Eitterpuppe  mit  einigen  Worten  beschrieben,  unter  Nr.  79  aber  das  Portrait 
Nicolaus  V.  Zrinyi's  erwähnt. 

Zu  den  schwierigsten  Aufgaben  der  Waffengeschichte  gehört  die  Frage 
nach  der  Entstehungszeit  der  Maschenpanzer ;  besonders  in  Ungarn  ist  die 
Beantwortung  der  Frage  schwierig,  weil  hier  weder  das  Feudalsystem,  noch 
das  Ritter- Wesen  sowie  die  Turniere  in  dem  Maasse  entwickelt  waren,  wie  in 
Deutschland  oder  in  Frankreich,  wodurch  denn  auch  jene  Zweige  des  Waffen - 
gewerbes,  die  mit  diesen  Institutionen  so  eng  verknüpft  waren,  zurückblieben. 
Wohl  diesem  Umstände  mag  es  zugeschrieben  werden,  dass  die  schwere, 
defensive  Rüstung,  die  flachen,  gerippten  und  geschienten  Stahlpanzer,  die 
Tumierhelme  etc.  in  Ungarn  verhältnissmässig  so  selten  vorkommen  und  dass 
auch  die  Maschenpanzer  verhältnissmässig  so  selten  sind.  Doch  abgesehen 
davon  ist  die  Bestimmung  der  Entstehungszeit  bei  den  einzelnen  Maschenpan* 
zern  schon  deshalb  sehr  schwer,  weil  eben  diese  Art  Rüstung  vom  Anfang  bis 
heute  nur  geringe,  kaum  bemerkbare,  minutiöse  Veränderungen  erfahren 


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DIE   MASCHENPANZER   DES    NATIONAL  MUSEUMS.  '>1I 

hat.  Unterschiede  sind  nur  wahrnehmbar  in  der  Grösse  der  Binge  und  im 
Gewichte  derselben,  darin,  ob  die  einzehien  Glieder  feiner  oder  derber  aus- 
geführt sind,  ob  das  Maschenhemd  kürzer  oder  länger  ist ;  femer  ist  die 
Form  der  Ringe  von  Wichtigkeit,  ob  sie  rund  oder  eiförmig  sind,  auch  ist 
darauf  zu  achten,  ob  die  einzelnen  Binge  gelötet  oder  genietet  sind.  Doch  ist 
auch  bei  Berücksichtigung  dieser  sämmtlichen  Momente  heute  noch  keine 
sichere  Einteilung  nach  Perioden  möglich,  da  man  nicht  in  genügend  zahl- 
reichen Fällen  alle  diese  Umstände  gehörig  beobachtet  hat.  Bisher  sind  daher 
nur  solche  Daten  sicher,  welche  direct  den  Verfertiger  oder  Besitzer  des  Objec- 
tes  angeben  oder  für  die  Erzeugungszeit  andere  historische  Beweise  liefern. 

Die  Ringelpanzer  wurden  von  den  Orientalen  viel  früher  benützt,  als 
von  den  Europäern.  Die  Araber  kannten  aus  Indien  die  Erzeugung  des 
Drahtes,  welcher  bei  ihnen  schon  im  ü.  Jahrhundert  verbreitet  war  und 
durch  selbe  als  Geschäftsartikel  im  VI.  Jahrhundert  nach  Europa  mitge- 
bracht wurde.*  Die  von  geschweissten  Eisenringen  erzeugten  sind  die  ältes- 
ten Panzer;  aus  späterer  Zeit  sind  die  genieteten,  deren  gelöteter  und  genie- 
teter Teil  wegen  seiner  Gerstenkomgestalt  grain  d'orge  benannt  wird ;  aus  noch 
späterer  Zeit  sind  die  gemischt  gelöteten  und  genieteten.  Die  mit  gröberen 
Ringen  sind  älter  als  die  mit  den  feineren ;  die  kürzeren  Aermel  deuten  auf 
ein  höheres  Alter  als  die  längeren ;  je  grösser  die  Körperlänge,  desto  jünger 
der  Panzer ;  endlich  sind  die  mit  einem  Kragen,  die  gemischt  von  Eisen- 
und  Kupferringen  erzeugten  und  die  bezackten  specielle  Erscheinungen. 

BezügUch  der  Maschenpanzer  finden  wir  in  den  betreflfenden  Fachwer- 
ken über  die  Geschichte  der  Waflfen,**  dass  selbe  in  England  im  X.  Jahrhun- 
dert noch  nicht  gebraucht  wurden ;  wenigstens  benachrichtigen  uns  das  in 
dem  Londoner  British-Museum  aufbewahrte,  «Psychomachia»  betitelte 
englisch- sächsische  und  das  Prudentius-Manuscript  nicht  davon,  da  diese 
den  dort  abgebildeten  Krieger  hoch  ohne  Maschenpanzer  darstellen.  Doch 
existirt  ein  in  Tiefenau  gefundenes  Panzer-Bruch stük,  das  aus  der  Zeit  vor 
den  Kreuzzügen,  also  etwa  vom  Anfang  des  XI.  oder  noch  vielleicht  vom 
Ende  des  X.  Jahrhunderts  stammt  und  dessen  Teile  aus  in  einander  gefüg- 
ten Ringen,  mit  je  0.5  Cm.  Durchmesser  bestehen.  Dieser  Fund  ist  zwar  in 
seiner  Art  einzig,  doch  widerlegt  er  die  Voraussetzung,  dass  die  Benützung 
der  Maschenpanzer  anlässlich  der  Kreuzzüge  durch  das  Kriegsvolk  nach 
Mittel-Europa  gebracht  worden  sei.  Das  ebendaselbst  aufbewahrte  Aelfried- 
Manuscript  aus  dem  XI.  Jahrhundert  stellt  schon  den  dort  gemalten  Ritter 

*  Boeheim :  Handbuch  der  Wafifenkunde.  S.  146. 
'''^*  August  Demmin  :  Die  Kriegswaffen  etc.  Quirin  Leitner :  Die  Waffensammlung, 
des  österreichischen  Kaiserhauses.  Herman  Meynert:  Das  Kriegswesen  der  Ungarn. 
F.  A.  E.  Specht '  Geschichte  der  Waffen.  Das  Landes- Zeughaus  in  Graz.  Boeheim : 
Handbuch  der  Wafifenkunde.  Georges  de  Kemmerer:  Arsenal  de  Tsarskoe-Zelo. 
Meirick:  Engraved  Illustration  of  ancient  arms  u.  s.  y. 

39* 


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(il^i 


DIE    MAHCHKNPANZER    DES    NATI0NAL-MU8EÜM8. 


im  Panzerhemde  dar,  dessen  Ausführung  und  Benützungsart  mit  denen  aus 
dem  XIII.  und  XIV.  Jahrhundert  identisch  ist. 

Laut  dem  im  XL  Jahrhunderte  entstandenen  Bätsel-Aldtseim-Manu- 
Scripte  wird  das  Lorica- Panzerhemd  aus  einzehien  Bingen  gemacht,  ohne 
auf  irgend  einen  Stoff  befestigt  zu  werden,  folglich  so  benätzt,  wie  im 
XV— XVI.  Jahrhundert. 

Anna  Comnena,  die  byzantinische  Kaiserin,  erzählt  in  ihren  Memoiren 
von  1083 — 1148,  dass  das  Panzerhemd,  welches  durch  die  nordischen  Völ- 
ker benützt  wird,  in  Byzanz  aber  unbekannt  ist,  aus  ineinander  geschlossenen 
und  genieteten  Stahlringeln  besteht,  folglich  war  es  so  zusammengestellt, 
wie  es  im  Osten  noch  heute  erzeugt  wird ;  die  einzelnen  Kettenringe  waren 
teils  genietet,  teils  gelötet. 

Ein  Mönch  aus  Noirmoutier  erwähnt  das  Maschen-Panzerhemd  zur 
Zeit  Ludwig  VII.,  zwischen  1137 — 1 180,  in  der  Beschreibung  der  Büstung 
Gottfrieds  von  der  Normandie. 

Der  Maschenstrumpf  erscheint  erst  gegen  Ende  des  XL  Jahrhunderts 
und  verschwindet  gänzlich  in  der  zweiten  Hälfte  des  XIIL  Jahrhunderts. 

Der  Gebrauch  der  Maschen-Handschuhe  zeigt  sich  im  XIL  Jahrhun- 
dert, ohne  dass  selbe  im  XIIL  Jahrhundert  schon  gegliedert  wären ;  sie  bil- 
deten nur  die  Fortsetzung  respective  das  Ende  des  Panzerhemd- Aermels 
und  hatten  gleichsam  die  Form  eines  Sackes. 

Erst  im  Laufe  des  XIV.  Jahrhunderts  werden  sie  selbsts'ändig  und 
die  Daumen  abgesondert.  Auf  dem  Siegel  Bichard  Löwenherz'  bilden  der 
Mascben-Handschuh  und  das  Maschenhemd  noch  immer  ein  Stück. 

Am  spätesten,  erst  im  XIII.  Jahrhundert  erscheint  der  Gebrauch  der 
Maschenhose,  die,  so  lange  der  Strumpf  benützt  wurde,  kurz  war  und  nur 
bis  zur  Hälfte  des  Schenkels  hinabreichte ;  zur  Zeit  Ludwig  des  Heiligen, 
zwischen  li26 — 1270,  deckte  dieselbe  das  ganze  Bein.  In  Frankreich  und 
Italien  trugen  die  reicheren  Edelleute  und  Bitter  einen  vollständigen 
Maschenanzug.  So  stellt  die  aus  der  zweiten  Hälfte  des  XHI.  Jahrhunderts 
stammende  Statue  des  Johann  d'Aubemon  in  der  Kirche  Stoke  d'Aubemon 
zu  Surrey,  den  vom  Kopf  bis  zum  Fuss  gepanzerten  englischen  Bitter  in 
dem  vollständigsten  Maschenpanzer  dar. 

Die  Maschenpanzer-Büstuugen  waren  durch  die  Erzeugung,  welche 
eine  minutiöse  Kunstfertigkeit  und  ausdauernde  Mühe  in  Anspruch  nahm, 
fast  drei  Jahrhunderte  hindurch  teuer ;  weshalb  sie  sich,  auch  trotz  ihrer 
ziemlichen  Verbreitung  im  XHI.  Jahrhundert,  erst  im  XIV.  Jahrhundert 
einer  allgemeinen  Benützung  erfreuten,  als  nämlich  der  Nürnberger  Budolf 
im  Jahre  1306  die  Herstellung  des  Eisendrahtes  mittelst  Maschine  erfunden 
hatte,  und  so  dieselben  durch  ihre  billigere  Production  auch  den  weniger 
bemittelten  Bittern  zugänglich  wurden.  Zu  Ende  des  XTV.  und  am  Anfang 
des  XV.  Jahrhunderts  kam  ihre  allgemeine  Benützung  in  Europa  aus  der 


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DIE    MASCHENPANZER    DES    NATIONAL  MUSEUMS. 


013 


Mode,  teils  weil  sie  den  grossen  zweihändigen  und  schweren  Lanzen  keinen 
genügenden  Widerstand  leisteten,  teils  aber  wegen  der  Erfindung  des 
Schiesspulvers,  welches  sowohl  die  Kampfart  wie  auch  die  Verteidigungs- 
waffen veränderte.  Der  Hussitenführer  Johann  Ziska  ist  auf  seinem  gleich- 
zeitigen Bilde,  in  der  Bibliothek  zu  Genf,  noch  im  Maschenpanzer  abgebil- 
det, aber  zu  gleicher  Zeit  findet  man  schon  schwere,  von  Eisenplatten  und 
Schienen  erzeugte  Panzer.  Während  man  die  Maschenpanzer  überall  besei- 
tigte, waren  selbe  in  der  österreichischen  Gavallerie  und  bei  den  ungarischen 
Husaren  noch  im  XVI.  Jahrhundert,  in  Ungarn  sogar  bis  zum  Ende  des 
XVn.  Jahrhunderts  gebräuchlich ;  im  Osten  werden  sie  durch  die  Perser, 


Cirkassier,  Chinesen,  Japanesen,  Mongolen,  Mahratten  und  Poligaren  noch 
heute  benützt. 

Nach  dieser  kurzen  historischen  Skizze  gehen  wir  zur  Beschreibung 
der  Maschenpanzer  über,  welche  in  der  archueologischen  Abteilung  des 
National-Museums  aufbewahrt  werden. 

Die  Beschreibung  beginnen  wir  bei  den  aus  dem  Arsenal  der  Vöttauer 
Burg  erworbenen  fünf  Maschen- Panzerhemden  und  der  Maschenhose. 

Für  die  Zeitbestimmung  derselben  bietet  das  oben  erwähnte  Frag- 
ment des  Vöttauer  Inventars  den  geeigneten  Stützpunkt  und  sie  können  für 
die  analogen  Stücke  des  vorherigen  Bestandes  im  National- Museum  als 
Vergleichsobjecte  dienen.  Laut  den*  Inventare  kamen  die  ersterwähnten 


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DTK    MASCHENPANZER   DES   NATIONAL-MU8EÜM8. 


Stücke  aus  der  Csäktornyaer  Waflfensammlung  Nicolaus  Zrinyi's  nach  Vöttau 
und  können  also  im  XVII.,  oder  frühestens  im  XVI.  Jahrhundert  angefer- 
tigt worden  sein.  Jedenfalls  wurden  sie  zu  dieser  Zeit  schon  benützt. 

Die  erwähnten  Maschenhemden  zeigen  in  ihrem  Bestände  dreierlei 


Fig.  4. 


Fig.  2. 


Fig.  1. 


Fig.  7. 


Flg.  8. 


Variationen.  Bei  zweien  hat  die  Körperlänge  80  cm,  die  Aermel  von  der 
Achselhöhle  sind  25  cm  lang,  die  untere  Breite  ist  51  cm.  Die  Binge  sind 
platt,  von  ovaler  Form, mit  1  und  08 Cm.  Durchmesser,  0*3 Cm.  stark,  aber 
bei  beiden  gleich  geflochten,  da  ein  jeder  Bing  andere  vier  Binge  um  sich 
zusammenkoppelt.  Abwärts  vom  Hals^  hat  ein  jedes  Hemd  in  der  Bichtung 


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i 


Fig.  6- 


Fig.  5. 


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616  DIE  maschi:npanzer  des  national-müseums. 

der  Mitte  der  Bniat  eine  Oeflfnung  von  30  Cm.  Das  dritte  zeigt  schon  einen 
wesentlichen  Unterschied,  denn  während  die  anderen  zwei  den  Hals  nicht 
decken,  hat  dieses  einen  6*5  €m.  hohen  Maschenkragen  (Fig.  1.);  dieser 
zeigt  an  dem  vorderen  linken  unteren  Bande  ein  Stückchen  Leder,  welches 
durch  einen  Nagel  mit  einem  platten  Kopfe  von  1*02  Cm.  Durchmesser 
darangenietet  war  und  gewiss  zum  Zusammenhafteln  des  Kragens  diente. 
Die  Körperlänge  hat  nur  51  Cm.,  also  ist  dieses  Hemd  auffallend  kürzer  als 
die  übrigen ;  die  Aermellänge  beträgt  61  Cm. ;  und  während  die  ovalen  Hinge 
des  Körpers  einen  Durchmesser  von  1  und  0*8  Cm.  zeigen^  haben  die  des 
Kragens  einen  Durchmesser  von  0*5  und  0*4  Cm.,  weshalb  auch  der  Kragen 
bedeutend  dichter  und  massiver  ist  als  die  übrigen  Teile  des  Hemdes.  Fer- 
ner sind  an  dem  offenen  Bande  des  Kragens  auf  beiden  Seiten  von  oben 
nach  unt^n  5  Beihen  und  am  Ende  der  Aermel  auch  5  Beihen  kupferner 
Binge  sichtbar,  die  am  Kragen  0*6  Mm.  und  am  Körper  0*3  Mm.  stark  sind. 

Das  interessanteste  von  allen  ist  aber  das  vierte  Hemd,  welches  einen 
orientalischen  Ursprung  und  zugleich  seinen  einstigen  Träger  verrät  Das 
Verhältniss  der  Dimensionen  des  Körpers  und  der  Aermel  stimmt  zwar  mit 
dem  der  anderen  überein,  die  Binge  sind  aber  nicht  oval,  sondern  rund. 
31  Cm.  vom  unteren  Ende  der  vorderen  Oeffnungist  eine  0*4  Cm.  dicke  und 
2  Cm.  lange  Eisenplombe  mit  einem  Durchmesser  von  1  '±  Cm.  angebracht  und 
an  den  dieselbe  umgebenden  acht  Bingen  befestigt ;  die  Plombe  ist  auf  ihrer 
oberen,  mit  türkischen  Lettern  gravirten  Fläche  getieft  (Fig.  !2.)«  Dass  diese 
Eisenplatte  vielleicht  zum  Bedecken  eines  durch  die  Kugel  gemachten 
Loches  gedient  hätte,  halten  wir  für  unwahrscheinlich,  weil  es  einfacher 
gewesen  wäre  die  Lücke  mit  Bingen  auszufüllen  und  weil  unweit  links  von 
diesem  Loche  noch  ein  anderer  Mangel,  welcher  un verstopft  blieb,  sichtbar 
ist.  Das  Hemd  mag  einem  türkischen  Krieger  gehört  haben,  der  in  Zrinyi's 
Kämpfen  gefangen  genommen  wurde ;  und  mit  ihm  mag  auch  das  Hemd  in 
Zrinyi's  Hände  gelangt  sein. 

Das  Maschenhemd  der  vollständig  ausgerüsteten  Bitterfigur  ist  dem 
vierten  insofern  ähnlich,  als  auch  seine  Binge  rund  sind,  nur  hat  jenes 
feinere,  0'^  Mm.  starke  Bingeln ;  auch  der  Durchmesser  ist  kleiner,  nämlich 
0*5  Cm. ;  die  Dimensionen  stimmen  auch  nicht  überein,  denn  die  Körper- 
länge beträgt  75  Cm.,  die  der  Aermel  50  Cm.,  was  übrigens  bei  der  Classi- 
fication nicht  in  Betracht  gezogen  werden  kann,  da  die  Dimensionen  der 
Aermel-  und  Schulterbreite  dem  Körperbaue  des  Eigentümers  angemes- 
sen waren. 

In  den  Sammlungen  der  Museen  finden  sich  unter  den  Maseben- 
panzern Bingelhosen  sehr  selten,  und  die  Vöttauer  Bitterpuppe  kann 
eben  darum  für  eine  wertvolle  Acquisition  gelten,  weil  sich  in  ihrem 
Anzug  auch  eine  unverletzte  Maschenhose  vorfindet,  und  obgleich  diese 
von  gröberer  Art  ist,  als  das  Hemd,  kann  die  Gleichzeitigkeit  des  gansen 


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DIE   MASCHENPANZER   DES   NATIONAL- MUSEUMS.  ^17 

Anzuges  kaum  in  Zweifel  gezogen  werden ;  höchstens  kann  man  annehmen^ 
dass  die  Hose  und  das  Hemd  von  verschiedenen  Meistern  herstammen.  Den 
Anzug  ergänzt  der  aufschiebbare  Helm  mit  niederem  Deckel  und  geripptem 
Hinterteile;  untereinander  sind  vier  Beiben  horizontaler^  schmaler,  läng- 
licher Schaulöcher  am  Visir  sichtbar.  Sowohl  das  Visir,  wie  auch  die  Schul- 
ter- und  Halsplatte  zeigen  den  Charakter  von  der  zweiten  Hälfte  des 
XVI.  oder  vom  Anfange  des  XVII.  Jahrhunderts,  obgleich  dieser 
Helm  keine  stylgemässe  Ergänzung  des  vollständig  treuen,  zeitgemässen 
Maschenpanzers  ist.  Es  müsste  ein  platter  und  halbeiförmiger  Helm  sein, 
von  welchem  das  Maschengewebe,  welches  rings  herum  die  Stime,  den 
unteren  Teil  des  Kopfes  und  den  Hals  bedeckt  und  nur  das  Gesicht  frei 
lässt,  und  auf  die  Schultern  herabhängt.  Die  ßitterpuppe  hält  ein  gerades, 
breites  Schwert  mit  Silber- tauschirtem  Griffe  und  mit  türkischen  Charakteren 
prangender  Klinge  in  der  Hand.  Eine  ärmellose  Sammtjacke  ist  über  den 
Panzer  gezogen  und  hat  an  den  Schultern  auf  beiden  Seiten  Schlitze.  Um  den 
Hals  ist  dieselbe  mit  einer  breiten  Goldborte  umsäumt.  Auf  den  Brustteil 
der  Jacke  ist  ein  dreieckiger  Schild  aus  schwarzem  Sammt  aufgenäht ;  in 
der  Mitte  des  Schildes,  im  ovalen,  roten  und  mit  Grold  umflochtenen  Felde 
prangt  ein  bäumender  goldener  Löwe  mit  doppeltem  Schweife  und  mit  vor- 
wärts gewendetem  Kopfe ;  das  Feld  wird  von  einer  fünfzackigen  goldenen 
Krone  überragt.  (Fig.  3.)  Der  aus  Eisenplatten  bestehende  Handschuh  des 
Bitters  ist  durch  genietete,  platte  Kupfemägel  zusammengehalten,  die  Arm- 
schützer reichen  bis  zur  Hälfte  des  Vorderarmes ;  der  Schulter-  und  Oberarm- 
Schützer  ist  beweglich  und  von  fünf  Stücken  zusammengesetzt;  das  Genick 
wird  von  drei  ineinander  geschobenen  Eisenplatten  gebildet. 

Im  Anschlüsse  an  diese  Neuerwerbungen  sei  noch  des  älteren  Bestan- 
des der  Waffensammlung  des  Nat.-Museums  gedacht.  Dieselbe  zählt  im 
7.  Wandschranke  38  Maschenpanzer:  iO  Hemden,  1  Hose,  12  Helme, 
4  Stück  Handschuhe  und  1  Kragen.  Ausser  diesen  ist  im  13.  Schranke  ein 
prächtig  ausgestatteter  Silber-Maschenpanzer  ausgestellt.  Die  Spange, 
welche  den  8  Cm.  hohen  Stehkragen  zusammenhält,  der  vordere  Teil,  die 
Aermel  und  der  untere  Saum  sind  reich  geziert  und  mit  sechszackigen  teils 
vergoldeten  teils  silbernen  Sternen  geschmückt;  vorne  befinden  sich  zwei 
vergoldete  Silber-Sonnen  und  ein  Halbmond,  besetzt  mit  in  vergoldeten 
Ilosetten  gefassten  und  eine  Halskette  bildenden  Steinen,  die  durch  platt- 
köpfige  Nadeln  auf  die  Maschen  festgenietet  sind ;  den  unteren  Saum  des 
Panzers  umfasst  eine  Zacken  enthaltende  Spitze.  Auf  dem  unteren  Teile 
sieht  man  eine  herzförmige  Musterung ;  die  dunkle  Farbe  derselben  stammt 
von  den  Kupferringen  her,  die  zwischen  den  silbernen  eingeflochten  sind 
und  in  ihrer  Anordnung  eine  Herzform  bilden.  Die  Spitzen  sind  gleichfalls 
ans  Kupfer.  Die  feinen  Hinge  haben  einen  Durchmesser  von  0*4  Cm.  Dieser 
Panzer  diente  vermutlich  als  Prunkkleid. 

ÜBgMisehe  Berne.  1891.  XI.  VI— VH.  Heft  39^ 


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618  DIPl    MASCHENPANZKR   DES   NATIONAL- MUSEUBiS. 

Unter  den  Etsen-Maschenpanzern  bestehen  zwei  (Nr.  28  und  32) 
auB  ovalen  Bingen ;  der  letztere  ist  von  gröberer  Aasführung,  der  erstere  ist 
von  0*5  Cm.  Durchmesser,  der  letztere  0*8  Cm.  Ein  anderer  (Nr.  30)  hat  runde 
Binge  mit  0*5  Cm.  Durchmesser.  Das  interessanteste  Stück  ist  Nr.  39  mit 
runder  Plombe  von  1  Cm.  Durchmesser,  über  welcher  zwei  andere  darüber 
durchgezogen  sind  (Fig.  4).  Anf  der  vertieften  Oberfläche  der  Plombe  sieht 
man  einen  erhöhten  Meister-Stempel,  dessen  flntzifferung  wohl  den  Zeit- 
punkt und  den  Ort  der  Entstehung  aufklären  wird.  Interessant  ist  femer 
ein  von  Eisen-  und  Eupferringen  zusammengesetztes,  teils  genietetes,  teüs 
gelötetes  Maschenhemd;  der  Durchmesser  der  Binge  beträgt  1*02  Cm.,  die 
Eörperlänge  40  Cm.,  also  das  kürzeste  in  der  Sammlung  (Fig.  5). 

Ein  Bingel-Kragen  aus  Bingeln  von  0*4  Cm.  Durchmesser  ist  das  sorg- 
fältigst ausgeführte  Stück  (Fig.  6),  es  ist  dem  Kragen  ähnlich,  welcher  in 
der  k.  k.  Waflfensammlung  in  Wien  an  einer  ungar.  Bitterpuppe  sicht- 
bar ist. 

Die  Helme  sind  im  Ganzen  von  ähnlicher  Form  und  Ausführung. 
Unterschiede  bestehen  nur  in  der  Länge  der  halsschützenden  Bingelnetze 
und  in  der  Gezacktheit  des  Saumes  (Fig.  7  und  8).  Auch  eine  Maschenhaube 
ist  vorhanden,  welche  der  halb  eiförmigen  Platte  zur  Bedeckung  des  obe- 
ren Schädelteiles  entbehrt,  sondern  im  Ganzen  aus  Maschen  besteht.  Zum 
Schutze  der  Nase  hängt  zwischen  beiden  Augen  ein  Maschenstäck  herab, 
welches  auch  den  Mund  bedeckt.  Während  die  Maschenhelme  bei  uns  lan- 
desüblich waren,  scheint  die  Bingelhaube  deutschen  Ursprungs  zu  sein. 

BiSiiA  MajiJlth. 


DIE  LESARTEN  DES  ßAVENNAS  138  III  D*  DES  LIX'ANÜS. 

In  den  dem  12.  Hefte  der  «Neuen  Jahrbücher  für  Philologie  und 
Pädagogik,  Jahrgang  1890»  beigeschlossenen  Teubnerschen  Mitteilungen 
kündigt  Herr  Dr.  phil.  Carl  Hosius  eine  neue  Textausgabe  des  Lucan  an. 
Laut  seiner  Voranzeige  steht  ihm  das  gesamte  von  Hermann  Usenet 
gesammelte  und  von  ihm  ergänzte  handschriftliche  Material  zur  Verfügung. 
Ob  sich  Usener  oder  Hosius  die  Varianten  des  Bavennas  138,  HI,  D*  ver- 
schafft haben,  ob  nicht,  ist  mir  nicht  bekannt.  Immerhin  möchte  ich  die 
Lesarten  des  Codex,  für  dessen  CoUationirung  ich  an  Ort  und  Stelle  einen 
Zeitraum  von  mehreren  Tagen  verwendet  habe,  veröffentlicht  sehen,  mögen 
sie  nun  noch  der  Ausgabe  von  Hosius,  was  ich  sehnlichst  wünsche,  oder 
einer  späteren  Edition  mit  vollständigem  kritischen  Apparate  zu  Gute  kom- 
men. Denn  der  Apparat  von  Hosius  kündigt  sich  in  sehr  knapper  Form  an, 
und  mit  dem  von  Weher  ist  den  heutigen  Erfordernissen  der  Wissenschaft 
nicht  geholfen. 


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DIE   LESARTEN    DES   RAVENNAS.  ^^^ 

Die  Handschrift,  deren  Signatur  ich  in  der  üeberschrift  dieser  Zei- 
len gegeben,  ist  ein  Membranaceus  in  8®,  der  nach  dem  Cataloge  aus  dem 
XIV.,  meines  Dafürhaltens  aber  aus  dem  XII.  Jahrhundert  stammt,  da 
Form  und  Ductus  der  Schrift  uns  ganz  an  den  Vindobonensis  lat.  194 
(saec.  Xn.)  des  Lucan  erinnern.  Der  Codex  besteht  aus  111  Blättern,  Text 
und  Schollen  füllen  die  Folien  3 — 111  uns.  Auf  einer  Seite  stehen  37  Zeilen. 
Der  Codex  fängt  unmittelbar  mit  dem  1.  Verse  der  Pharsalia  an.  Die  Hand- 
schrift habe  ich  mit  der  Stereotypausgabe  von  Tauchnitz  verglichen,  wozu 
ich  noch  bemerke,  dass  daß  mit  cursiven  Lettern  gedruckte  im  Codex  von 
zweiter  Hand  geschrieben  ist. 

I.  13.  potuit  terre.  —  rigena  et  nesoia.  —  scythicam  glaciah.  —  30.  actor.  — 

e 

37.  ista.  —  46.  petas.  —  50.  itvau.  —  51.  iurisque  tui.  —  54.  aduersi.  —  56.  imam] 

wird  corrigirt  in :  imam.  —  63.  te]  de.  —  64.  Aocipiam.  —  66.  vires  .  .  .  dandas. 

—  74.  repetens.  —  100.  mediue  belli.  —  104.  An  der  Stelle  von :  ducum  ist  ein 
Loch,  ober  Arma  steht  ducis.  —  1 10.  possidet.  —  115.  furentem.  —  118.  soceris 
medie.  —  \A0,  umbras.  —  141.  Sed.  —  154.  perstringens.  —  159.  populum.  — 
potentem.  —  160.  nimias  mundo.  —  161.  mores  rebus.  —  163.  tectisue.  —  166. 

c 

arcersitur.  —  169.  curionum.  —  170.  ignotu.  —  181.  tempore.  —  209.  iubam.  — 

o  m 

et  uasto.  —  220.  apponitar.  —  222.  flati.  —  231.  aricinum.  —  et  ignes.  —  235. 
Impulerat.  —  242.  nach  pila  steht:  tela.  —  246.  alligat.  —  251.  dedisse«.  —  253, 

saperiqne  ad  summa  Tocantes  tomp* 

castra.  —  287.  laiirus.  —  310 — 313.  Mecum  rebus  agat  veriat  longa  dux  pace 

tamor 

soluta  [Marcellnsque  loqiiax  et  nomina  nana  catonis]  Milite  cum  subito  patesque 

la88um 

in  bella  togatae.  —  315.  saoiabunt.  —  324.  lapsum.  —  334.  iam  te.  —  341.  me] 
cum.  —  349.  numina  ober  durchgestrichenem  agmina.  —  desnnt»  —  350.  nee] 

e 

neque.  —  neque]  nee.  —  359.  Scilicet.  —  369.  relinquerat.  —  397.  ripam.  — 
398.  lingones.  —  405.  nomine.  —  408.  meneti.  —  409.  iaoet.  —  410.  [quum]  ^fun- 
ditur.  —  414.  Thetios.  —  estuat.  —  416.  toUat.  —  419.  lates.  —  420.  satyri.  — 
421.  tarbellicus.  —  423.  sassones.  —  426.  monstrati.  —  [436—440].  —  442.  de- 
core.  —  446.  soithie.  —  451.  driade.  —  repetitis.  —  453.  datum  est.  —  456.  isdem. 

—  463.  crinigeros.  —  479.  ursprüngliches  uident  verbessert  in  :  pudent.  —  ferox- 

o 

^ue.  —  480.  incurrit.  —  481.  ursprüngliches  Hunc  geändert  in:  Tunc,  —  485.  ac- 
tore.  —  487.  Percussum.  —  491.  urspr.  quocumque  geändert  in  quoquemque.  — 
521.  malorum.  —  529.  mutantem.  —  534.  e]  de.  —  545.  mulcifer.  —  554.  thetis. 

—  557.  sudare.  —  563.  suam.  —  576.  iussu  qualem.  —  583.  f agiere.  —  588.  uoli- 
iantis.  —  589.  nullo  quae]  que  nullo.  —  604.  AttoUeus  apicem. " —  630.  Is.  —  631. 
monetis.  —  633.  uiscera.  —  642,  cum]  sine.  —  649.  [o].  —  655.  nemeom.  —  681. 

l  lasso 

[hic].  —  686.  equore.  —  695.  lapso.  —  deserta.  — 
Ex{^c  pm»  Incip.  Sc^.  — 

H  (von  2.  Hand) 

8.  Materiamque.  —  13.  habent.  —  casum.  —  19.  faces.  —  21.  Erraiüt.  — 

39- 


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620  DIE    LESARTEN    DBB   RAVBNNAS 

ec 

26.  natantee]  minaces.  —  "11,  Nondum.  —  57.  ignes.  —  64.  Egerat.  —  71.  uagi.  — 
79.  immensam.  —  lucem.  —  80.  deos.  —  83.  mortem.  —  93.  libicasque  ibi.  — 
97.  usus.  —  130.  Septimus  exequitur.  —   141.  putrida.  —  145.  Tunc.  —  168. 

et  oogniU  (▼.  f.  Hand) 

condita.  —  174.  tristis.  —  177.  Dum.  —  185.  urspr.  effundit  geändert  in:  effodit. 

—  188.  pondera  geändert  in:  pondere.  —  194.  receptos.  —  200.  terre  celique.  — 
206.  peotora.  —  214.  dum]  nam.  —  216.  [ad].  —  226.  maiori.  —  244.  labentem.  — 
260.  Nee.  —  263.  Ne.  —  incassnm.  —  (264.  nollet).  —  273.  magna.  —  283.  nee] 
neque.  —  289.  uelit.  —  299.  tumulos.  —  309.  frangant.  —  312.  Sie.  —  ae.  —  317. 
malonmi.  —  332.  ex]  et.  —  335.  contnsaque.  —  344.  ne.  —  346.  eomitem]  sociam. 

—  348.  relinquar.  —  356.  gradibns  adelinis.  —  359.  uitat.  —  362.  astringit.  — 
365.  seruans.  —  387.  ueneris  hnic.  —  388.  [Urbi].  —  400.  iuncto.  —  409.  equore. 

—  416.  Nee.  —  424,  423,  jedoeh  dureh  beigefügte  Buehstaben  ist  die  Reihenfolge 
beriehtigt.  —  426.  urspr.  moratos  wird  geändert  in  :  moratur.  —  458.  urspr.  icta 
geändert  in  :  iacta,  —  466.  amote.  —  aximon.  —  469.  eseulea.  —  472.  nudatiun 
eommisse.  —  473.  lueerie.  —  484.  undisque.  —  491.  neequiequam.  —  494.  muris, 
die  vier  letzteren  Buehstaben  in  Basur.  —  501.  erebro.  —  517.  quantum.  —  519. 
eui  fit]  eiui.  —  535.  perfunditur.  —  558.  fugaees  ad  bella.  —  560.  nee.  —  580. 
[ego].  —  588.  timet.  —  593.  mollesque  sophone.  —  598.  referre.  —  604.  repleta. 

—  611.  ereta  profugos.  —  613.  Hane.  —  altum.  —  618.  laxasque.  —  622.  omoe 

patet.  —  624.  epidaurus.  —  621.  e.  —  635.  me  ist  naeh träglieh  eingesehaltet.  — 
645.  latio.  —  648.  paeis.  —  651.  650.  jedoch  dureh  Buehstaben  die  riehtige  Reihen- 
folge ersiehtlieh  gemaeht.  —  650.  paeis]  segnis.  --  653.  totprimo.  —  677.  differret. 

—  689.  ne.  —  699.  hee.  —  710.  eolehida.  —  712.  littore.  —  715.  pegasea.  —  722. 
[Et].  —  boete.  —  726.  tota.  — 

Explieit  Se%c;  Incip  Tercius. 

18.  eunete.  —  21.  [est].  —  35.  urspr.  amplexum  ist  in  amplexu«  geändert 

—  38.  somni,  am  Rande  al.  uistis,  —  50.  [enim].  —  54.  eonseiret.  —  58.  plebs.  — 
73  fehlt.  —  81.  Non]  nee.  —  88.  eonspieit.  —  90.  Miratusque.  —  fatur.  —  93. 
[non].  —  95.  daeis.  —  101.  quodeumque.  —  102.  fietas.  —  124.  nostro,  am  Rande 
al.  saero.  —  127.  mouerunt.  —  135.  inquit]  unquam.  —  156.  non  taetus.  —  174. 
Boetii.  —  191.  [Et].  —  198.  197.,  jedoeh  beriehtigt.  —  202.  abluit.  —  203.  Messi- 
aque.  —  204.  arispe.  —  207.  reetis  . .  .  ripis.  —  221.  signare.  —  233.  thetios.  — 
244.  nune]  non.  —  249.  oregtas.  —  250.  quorum  iam  flexus.  —  254.  ni.  —  258.  et 
ineertum  est.  —  270.  molehis.  —  279.  negant.  —  280.  Hine  et  sidonisB.  —  28  h 
arimasphe.  293.  marmaricas.  —  296.  ne  nune.  —  305.  Pacifero.  —  306.  eicro- 
pide.  —  1^9.  Compressa.  —  345.  adnersis.  —  348.  earpere]  atingere.  —  356 : 
Finierat,  tandem  testata  est  uoce  dolorem.  —  357  :  Ira  dneis  eonturbato  iam  pro- 
dita  uoltu.  —  362.  ni  robora.  —  366.  ni.  —  rebellant.  —  371.  nil.  —  dieetis.  — 

1  mestto 

377.  munime.  —  379.  eoneendit.  —  381.  in  medio.  —  385.  fontes  et.  —  394.  per- 

det.  —  398.  prensus.  —  411.  inest  horror.  —  441.  dodonis.  —  464.  Vis  erat.  — 
nee  enim.  —  476.  extensus.  —  477.  e.  —  479.  Haut.  —  489.  et  vertere]  euertere. 

—  502.  500.  501.  jedoeh  naehträglich  beriehtigt.  —  514.,  515.,  513.  desgleichen.  ~ 


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DIE   LESARTEN   DES  RAVENNA8.  621 

l  remis  (▼.  2.  Hand) 

516.  Stocados.  —  526.  pupes.  —  533.  fronte]  classe.  —  537.  tonsis.  —  539.  possit. 

—  tonsis]  remis.  —  549.  estus.  —  eurisque.  —  552.  repulit]  retulit.  —  553.  capes- 

1  in 

sere.  —  572.  A.  —  undas.  —  586.  lagus.  —  588.  Transfigitur.  —  591.  spargitque. 

—  600.  pupem.  —  601.  inpressum.  —  613.  Diriguitque.  —  633.  cedit.  —  648.  reli- 

i  i 

-quit.  —  656.  obstrictis.  —  659.  ursprüngl.  remo  wurde  geändert  in :  remos.  — 

cum 

667.  pappe.  —  672.  hie  totum.  —  677.  uiscera]  uulnera.  —  679.  contorserit.  — 
702.  ad]  in.  —  703.  Sese.  —  707.  uulnera.  —  710.  excusse.  —  713.  procurrunt.  — 
726.  iam  in  parte.  —  748.  mersi.  —  761.  at  uictor  in  equore  brutus.  — 

ExpUcit  m«  Incipit  IUI« 

17.  minori.  —  20.  cohercet.  —  22.  suo.  —  28.  cum.  —  43.  uidet.  —  50.  sio- 
cisque.  —  57.  dilapse.  —  58.  steht  am  Rande.  —  73.  thetim.  —  86.  amnis.  — 

l.  aquas 

87.  campis.  —  102.  equos.  —  103.  sensit.  —  108.  ginnit.  —  112.  ethera.  —  113. 
inmiseris.  —  119.  dissolue.  —  132.  induta.  —  133.  superemioat  —  141.  Aut.  — 
179.  agnosceret.  —  183.  gemis]  times.  —  196.  et  oastris  miles.  -  199.  Graminei 
luxere.  —  213.  hec.  —  230.  pro:  nachträglich  eingeschaltet. — 235.  latus. — 

a 

240.  ore.  —  242.  ira]  ora.  —  244.  in  fehlt.  —  246.  corpora.  —  251.  turba  scelerum. 

—  270.  hostem.  —  274.  hoc  uulnere,  jedoch  gestrichen,  und  darüber  mihi  sanguine 

l.  fa 

geschrieben.  —  285.  in,  doch  geändert  in :  ut.  —  296.  uestigia.  —  300.  urspr.  Aut 
geändert  in  :  Haud.  —  305.  siocos  possent.  —  315.  Sordidus.  —  317.  Distinguunt. 

—  et.  —  346.  causa .  .  .  sola.  —  357.  uictis.  —  359.  nee.  —  362.  Hec.  —  367. 

an  n  (t.  2.  Hand) 

Incumbit.  —  380.  mirraque.  —  386.  uibrasse.  —  397.  diductos.  —  400.  actor.  — 

405.  iader.  —  423.  Non.  —  426.  uerberat.  —  438.  penne.  —  441.  ligans.  —  444. 
lustrare.  —  451.  laxe.  —  452.  nee  illa.  —  461.  Taurominitanam.  —  464.  et.  — 
472.  atra]  umbra.  —  477.  in  tempore.  —  484.  Arcessas.  —  486.  ciues  iugulis.  — 

at.  nimiom 

495.  [e].  —  525.  uergere.  —  535.  Promissa  sibi  morte  manu.  —  557.  minimumque. 

cum  i.  tum  pondere 

—  560.  non.  —  562.  cum]  sed.  —  563.  incurrunt.  —  564.  pectore.    —   568*  de- 

que 

^pectant.  —  586.  clipeam.  —  604.  resumpsit.  —  606.  libie.  —  620.  Mirantur  .  — 
neque.  —  622.  Exauritque.  —  639.  qua]  cum.  —  644.  Erigitur.  —  647.  terre.  — 

e  i 

649.  sustuUi  —  651.  permittere.  —  662.  seruatque.  —  666.  ceserat.  —  675.  Des- 
tinat.  —  677.  Aut  dolopes.  —  681.  c.  t.]  contorsit.  —  matax.  —  703.  miles  cam- 

a 

pum.  —  706.  [et].  —  719.  incauto.  —  720.  lacesset.  —  733.1atis.  —  739.Actorem. 

—  745.  mensos.  —  deiecit.  —  751.  in  rigidos.  —  762.  uUi.  —  771.  steterant.  — 
776.  et.  —  786.  lapsus.  —  [et].  —  806.  Ferre.  —  810.  contentus.  —  814.  Non.  — 

Explicit  im»  Incip.  V« 

3.  spargerat.  —  39.  libies.  —  45.  non  est  finem.  —  55.  rasfipolin.  —  58.  Et. 

—  59.  ptolomee.  —  61.  Permissum  est.  —  74.  triaterica.  —  77.  mmmam  nach- 
trägUch  eingeschaltet.  —  Nach  81  und  vor  82  steht  die  Zeile  :  Hec  mandata  uiriß 


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622 


DIE    LESABTEN    DES   RAVENNA8. 


dabat  ante  patarea  themis.  —  91.  hominis.  —  102.  nullisque.  —  103.  se  Bolum.  — 
106.  Mortale^.  —   138.  Carmina.  —  li5.  Horrentem.  —  150.  Intinctam.  —  154» 

I.  ho 

errore.  —  157.  sensit.  —  159.  ni.  —  171.  templa.  —  180.  Excerpit.  —  195.  [o].  — 
210.  lociita.  —  211.  ille.  —  214.  nusquam.  —  218.  multa.  —  233.  rannos.  —  237. 
remeabat  oesar.  —  249.  [est].  —  250.  ex.  —  274.  parum  est.  —  279.  galeam.  — 

tuis 

307.  certe]  cesar.  —  310.  bella]  tela.  —  31 1.  suis.  —  313.  [et].  —  314.  sceleris.  — 
322.  inbelles.  —  326.  hoc.  —  333.  defecta.  —  336.  cimcta.  —  341.  premet.  — 

t.  qnit 

349.  relinqnens.  —  350.  Non.  —  368.  dextreque.  —  372.  diri.  —  374.  Brundusium. 

—  376.  tarax.  —  377.  salpina.  —  398.  tantiim  careat.  —  399.  fastis.  —  404.  [et\ 

—  407.  Brundusii.  —  410.  hesisse.  —  41 1.  Dum.  —  426.  totosque.  —  436.  boforus. 

—  441.  meothica.  —  451.  minasque.  —  461.  iunctis  uidit.  —  462.  genesus.  — 
463.  Giroumeunt.  —  465.  genesum.  —  470.  direptos.  —  474.  infausti  sobolem.  — 
nepotis.  —  481.  malorum.  —  505.  Parua.  —  519.  tecta.  —  529.  hec.  —  531.  i-e- 
clnso.  —  535.  manibusque.  —  542.  nothum.  —  550.  nubes.  —  569.  parat.  —  Euros] 
austros.  —  572.  nenient.  —  579.  actore.  —  580.  est  hec.  —  588.  manum.  —  602. 
pareat]  ooncidat.  —  617.  mUo.  —  623.  thetis.  —  625.  Tunc.  —  638.  Quantum.  — 
644.  cumulos.  —  648.  fluctum.  —  672.  Hoc.  —  687.  [est].  —  691.  queqnam.  — 
692.  sors.  —  696.  summam  belli.  —  ille.  —  697.  qusB.  —  698.  Hü  ne.  —  706. 
docteque.  —  713.  Effirufunt  aus  Eflfugiunt.  —  717.  üt.  —  719.  temptata.  —  725. 
remota.  —  732.  blande.  —  733.  [et].  —  736.  grata]  blanda.  —  739.  non  nunc  uita. 

oiant  I.  magni 

—  751.  quatent  miserum.  —  757.  nostri.  —  760.  [etl.  —  cesserunt  [e].  —  761. 

nii 

nox.  —  782.  beUa.  —  783.  Nam.  —  786.  mittüeae.  —  801.  carina  [est].  —  805. 

t.  sibi 

tibi.  —  810.  fngam.  —  811.  quamuis  flamma  tectas.  — 
Explicit  V"  Incipit  VI«- 

1.  uom 

15.  littore.  —  17.  epireaque,  —  24.  mouentibus.  —  40.  recessu.  —  42.  nas- 

«  L  nt 

taque.  —  cingit.  —   48.  Non.  —  atoUit.  —  51.  Et.  —  58.  flexum.  —  67.  Aut.  — 

t.  ob 

69.  primus.  —  73.  Ac.  —  81.  gramina.  —  82.  atrivit.  —  85.  cum  plena]  quamuis. 

—  90.  nessuB.  —  114.  queant.  —  115.  demittere. —  1 1 6.  ante  hoc]  anteac. — 
126.  numici.  —  127.  hie.  —  128.  in.  —  134.  et  nimbus.  —  agens.  — 135.  lampadis. 

a 

—  136.  lapsusque.  —  137.  mugit.  —  139.  patebunt.  —  154.  et  in  bustis.  —  168. 

en 

Zu  scituri  am  Bande  J.  securi.  —  176.  ipso.  —  179.  stridentque.  —  181.  Admouere. 

—  199.  et.  -  -  201.  Promoueat.  —  203.  Aiit.  —  228.  furorem.  —  230.  fermm.  — 

I.  f 
231.  nil  prosunt.  —  245.  minor  est  uobis.  —  252.  deseotum.  —  253.  uelut.  — 

254.  uiuam]  tum  iam.  —  287.  subducit  ciroee.  —  291.  inmisit.  —  arma  und  l. 

uiU 

agmen.  —  292.  obsossum.  —  311.  roma.  —  314.  auerso.  —  316.  quocumque.  — 

e 

317.  sui.  —  328.  ne  quid  hello.  —  331.  gandauia.  —  337.  At.  —  rapidique.  — 
339.  auersos.  —  346.  pelago.  —  352.  teliosque.  —  354.  sagitis.  —  364.  enichinadas. 


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DIE    LEBARTEN    DES   RAVENNAS.  023 

366.  Euneoe.  —  374.  melaxque.  —  3S±  bebricio.  —  385.  magnetes.  —  388.  fragen- 
tem.  —  400.  pegaseo.  —  402.  ionos.  —  408.  antra  1.  arua.  —  411.  se]  tunc.  — 

deli  I.  ere  L  faU 

425.  phebi.  —  427.  Ore.  —  428.  Fixa.  —  437.  Transierat.  —  464.  et.  —  468.  ne- 

recMsit 

biilas  latel  —  475.  Menander.  —  479.  thetim.  —  483.  remisit.  —  485.  Omnipotens. 

cantu  i 

—  501.  duris.  —  505.  tantos.  —  celo.  —  520.  fulmina.  —  524.  litantes.    —  527. 

carp 

526.  jedoch  berichtigt.  —  541.  Immergitqne. —  544.  rapuit.  —  pressit.  —  548. 
tabe.  —  553.  e.  —  558.  sie]  si.  —  561.  [est].  —  570.  urspr.  ut  geändert  in  ubi.  — 

i.  consparsos 

573.  magistri.  —  582.  581.  —  582.  Conpressos.  —  581.  Polluto.  —  587.  quod.  — 

l.  at 

591.  deuertere.  —  592.  incertnm.  —  596.  percussa.  —  604.  letatur  uulgate.  — 

()06.  ueUet.  —  617.  At.  —  622.  ne.  —  637.  traieto.  —  656.  Sed.  —  672.  dure.  — 
673.  medulle.  —  674.  pupem.  —  675.  echinus.  —  679.  libice.  —  681.  nee]  et.  — 
686.  confundit.  —  688.  gemitusque.  —  700.  nostre.  —  703.  sores.  —  710.  exta.  — 
711.  Imposiüt.  —  729.  nimpit.  —  730.  Ctesiphone.  —  740.  ethnea.  —  742.  parens] 
ceres.  —  Zu  753  am  Rande :  1.  subrepsit.  —  758.  in  illo  est.  —  771.  tenet.  —  dis- 
cedit.  —  777.  (Tristia).  —  778.  Aspexi.  —  780.  atigit.  —  782.  Eiisiasque.  —  786. 
animas  bellis.  —  797.  calibis.  —  814.  horis  al.  aruis.  —  815.  Ipse.  —  818.  Dia- 
tribuet.  — 

Explicit  VI«  Incip.  VII«- 

I.  maxima 

3.  currusque.  —  7.  magni.  —  47.  ultima.  —  59.  Propositum  est.  —  62.  actor. 

i  8  t  tu« 

—  68.  te  o.  —  72.  Humano.  —  generi  .  —  77.  sua.  —  Zu  86  am  Bande :  al.  pro- 

h  faU 

picios.  —  nota.  —  87.  cunctis  inquit.  —  100.  mortemque.  —  102.  pugnam  ne.  — 
105.  fortissimus.  —  106.  instant.  —  130.  [est].  —  136.  terris.  —  139.  cotibus.  — 

tipho  I.  erecta 

143.  artat.  —  156.  phitonas.  —  157.fulgure. —  159.  ereptaque.  —  169.  Eumenides. 

—  176.  boetida.  —  183.  gaudens.  —  191.  nescit  in]  nescius.  —  199.  numen.  — 

L  mo 

211.  uouebunt.  —  220.  firons  dextri.  —  229.  sidonas.  —  230.  et  itereis.  ~  232. 
celtras.  —  244.  [et].  —  257.  pignora.  —  258.  emeritos.  —  262.  gladiis.  —  culpam. 

—  268.  nihil.  —  273.  toto.  l.  moto.  ~  280.  triumphum.  —  286.  quarum.  —  289. 
fallor.  —  295.  tela]  bella.  —  301.  Qaoue.  —  302.  Tantum  thessalice.  -  308.  moue- 

o  e 

bit.  —  310.  uictum.  —  hostem.  —  313.  distringere.  —  318.  Ast  ego  uos  oro.  — 
324.  uiolaberit.  —  325.  imputet.  —  327.  ut]  in.  —  331.  ceresque  uiris  capiunt.  — 

1.  domintuD 

335.  locasset.  —  343.  dies.  —  363.  compressum  est.  —  373.  domini.  —  374.  popu- 

nixiHHe 

lum  populusque.  —  380.  et  vester.  —  385.  procurrunt.  —  396.  iussisse.  —  4^)6. 

1.  annis  ,,  ,,  ,, 

corpore.  —  419.  Ostendit.  —  421.  armis.  —  436.  incognita  nostris  populis.  — 

abHtulit  (v.  2.  Hand) 

449.  petit.  —  petit.  —  450.  minantes.  —  451.  Casus.  —  452.  Intulit.  —  461.  di- 
repti.  —  463.  462.  —  462.  quaerunt]  poscunt.  —  478.  irrumpit.  —  481.  resonare. 


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an 


DIK    LESARTEN    DES   RAVBNNA8. 


iter  oon 

—  498.  torta.  —  506.  deduxit.  —  51 1.  petitur  cimctis.  —  519.  aer.  —  548. 
Non  illic  regum.  -  -  552.  partem  belli.  —  554.  liceat  bellis.  —  555.  Ha  (d.  ist  Ah). 

—  557.  populi.  —  furoris.  —  559.  ignes  animis.  —  560.  Conspicit.  —  Die  Stelle 
von  560  manent  bis  561  craenti  durch  einen  Riss  unleserlich.  —  575.  cqntondere. 

1.  rer 

—  579.  regum.  —  593.  arcem,  594.  hu(manum)  culmen  fehlt.  —  premum/V/7  — 
598.  non  m.]  commixta.  —  615.  moriar.  —  619.  vulnua]  ferrum.  —  623.  cadant 

—  634.  quod.  —  635.  ubi.  -  641.  seruiat.  -—  643.  regno.  —  664.  Obruat.  —  676. 

t.  te  Li 

(Causa).  —  tuis.  —  negatum.  —  677.  Tunc.  ~  689.  dura.  —  697.  Ostendet  — 
705.  Longo  crede  deis.  —  728.  arma.  —  739.  nee.  —  746.  nee  plura  locutus]  de 
milite  iussu.  —  751 .  uolunt.  —  753.  coniestae.  —  756.  Quodque  legit.  —  757.  [hoc], 

—  758.  disponderit.  -  768.  putem.  —  771.  meritis.  —  780.  descisset.  —  784. 
Heu]  o  et.  —  misero  pene.  —  785.  iniestaque.  —  791.  depressos]  sidentes.  —  795. 
latentes.  ~  807.  coniestas.  —  816.  Hec.  —  erunt.  —  822.  Abstrahe.  —  828.  do- 
musque.  —  844.  Degustantque.  —  870.  totum  absoluitis.  — 

Exphc.  \Ib  Incip.  Vm* 

7.  redit.  —  20.  urbes.  —  21.  penas  longi.  —  27.  pudet.  —  37.  cortina.  — 

R 

39.  rector.  —  41.  iubet.  —  57.  squalentem.  —  66.  quam.  —  77.  [pietas].  —  80. 
decessit.  —  99.  obis.  —  108.  tessalie.  —  109.  iam  pleno.  —  114.  reuisent.  —  120. 
bellum]  fatum.  —  [124.].  —  130.  nobis.  -  -  133.  uUo  littore.  —  pupem.  —  137. 
Materiam.  —  139.  0  heu.  ~  143.  est  -  157.  niülis.  —  164.  iacentem.  —  177. 
Surgit.  —  178.  Bophoron.  —  [et].  —  179.  descendit.  —  184.  sirtim.  —  194.  pup- 

et  ).  clAiutn 

pem.  —  195.  Samiaß]  asine.  —  208.    sceptraque.  —  220.  astricta.  —  222.  castra. 

—  223.  alumnos  1.  alanos.  —  224.  achimeniis.  —  decurrere.  —  227.  nipheus.  — 

230.  uos.  —  231.  Solusque  e.  —  236.  claustris.  —  237.  Zeumaque.  —  243.  littore. 
246.  Badit.  —  choo  1.  eoo.  —  248.  temesidos.  —  251.  steht  von  erster  Hand 

am  Rande.  —  phaselis.  —  255.  dipsanfca.  —  259.  sinedris.  —  260.  Quo.  — mittitque. 

a 

—  selinis.  -  270.  et  plenis.  —  271.  pulsum.  —  tenebis.  —  275.  quam  toto  gessi- 
mus.  —  277.  libiam.       279.  proceres]  uobis.  —  280.  Exponam.  —  293.  unda  est 

—  299.  Bractaque.  300.  domus.  —  302.  pharetras.  —  312.  uulga.  —  326.  Con- 
eurrent.  —  327.  crassos.  -  sensit.  —  335.  quod.  —  336.  totos.  —  338.  ciütura.  — 
339.  cause.  -    353.  sparges.  —  355.  Perdet.  —  356.  Si  ciui.  —  366.  Ibitur.  —  372. 

).  ari«H 

conscendit.  -   377.  arces.  —  378.  Aut.  —  Zu  381  am  Rande:  J.  cedisse.  —  382. 

ü 

usquam.  —  387.  uacuaque.  —  393.  te  ut.  —  395.  melior.  —  396.  non.  on  (gestrichen). 

—  397.  num.      uobis.      398.  ignam.  —  402.  uUis.  — 404.  una]  tota.--405.matris. 

de 

—  407.  oedipodionidas.  -    418.petisse.  — 419.  legisse.  -420.  tuique.  —  421.  uobis. 

1.  qai 

—  423.  bracta.  -  426.  ducum.  —  iaceret.  —  428.  tessalia.  —  436.  que.  —  448. 
ptolomeus.  —  454.  sors.  —  463.  gratum]  caeium.  —  479.  uinxerat.  —  483.  damp- 
nare  fotinus.  —  484.  ptolomee  (beständig  diese  Form!).  —  488.  ut]  et.  — 494. 

I.  pietat«  1.  umbriH 

uirtus.  —  497.  uicto«.  —  499.  nilumque.  —  502.  fiierit.  —  505.  armis.  —  506. 


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DIK    LESARTEN    DES   RAVENNA8.  ^25 

Non.  —  fugit  sed  ora.  —  524.  que  te  nostri.  —  541.  monstri  sociis.  —  564.  celsa. 

).  dura 

—  567.  uetat.  —  appellere.  —  577.  puppern.  —  582.  surda.  —  584.  [me].  —  586. 
num.  —  puppern.  —  Zu  587  am  Rande :  1.  alto.  —  fugere.  —  588.  e.  —  601.  uaca- 

ret.  —  617.  flammam.  —  618.  Sed.  —  620.  Bespexitque.  —  631.  uita.  —  632.  fit. 

—  636.  anima.  —  639.  te  eingeschaltet.  —  648.  matrum  quae.  —  650.  quem.  — 

1.  np 

665.  niohil.  —  677.  sacrum  diro.  —  681.  compressa.  —  688.  sceleris.  —  689.  nip- 

t.  peritun 

toqne.  —  692.  permiraque.  —  715.  codrus.  —  716.  ycario.  —  cirenee.  —  734.  cantu 
triöti.  —  738.  desunt.  —  741.  funere.  —  745.  semustaque.  —  746.  Subducit.  — 
761.  nudo.  —  762.  ille.  — manem.  —  764.  nee.  —  777.  magmuns  (sie  I)  lentum 
distillat.  —  786.  semusta.  —  788.  coniestaque.  —  792.  semusto.  —  799.  tumuli 
est.  —  802.  magnus.  —  803.  Rura.  —  potes.  —  806.  digneris.  —  809.  sertorii.  — 
827,  precor.  —  tantö  pro.  —  831.  Non.  —  rocepimus.  —  832.  Semideosque  oanes. 

—  835.  dederis  eingeschaltet.  —  841.  umam  1.  umbram.  —  851.  Nam.  —  853. 

iuvabit 

quis]  pars.  —  857.  Auerfcet.  —  hbebit.  —  864.  tnsco.  —  uenerantur.  —  fulmen.  — 
865.  sepulcri]  futuris.  — 

Explicit  VIII'^  Incipit  IX»« 

3.  semustaque.  —  6.  Quodque  iacet.  —  13.  nocte]  nube.  —  25.  Excipit  et. 

—  29.  Die  sui  tota.  --  38.  Certa.  —  diota.  —  39.  percludere.  —  40.  phitona.  — 

L  reng 

41.  Surgit.  —  44.  tiranno.  —  45.  Cum.  —  69.  Quod.  —  73.  Non.  —  79.  tenens. 

—  105.  Contusa.  —  111.  alte.  —  116.  morte.  —  119.  Catonis]  tonantis.  —  121.  a. 

—  122.  in.  —  126.  sora.  —  127.  Quodque.  —  129.  actore.  —  131.  Hospitiis.  — 
136.  nostri]  patris.  —  138.  qua.  —  deformia.  —  164.  genitor  populis.  —  172. 
puppe.  —  173.  rursus.  —  177.  Exuvia.  —  183.  reuocare.  —  190.  multum.  —  192. 

OH 

nulla.  —  197.  retentis.  —  213.  Fatalem.  —  217.  fremit.  —  219.  tarchon  motus.  — 

I.  aiotoK 

[225.].  —  236.  tactos.  —  243.  sequar.  —  244.  liceant.  —  246.  toto.  —  250.  patriam 
eemper.  —  252.  pupim.  —  254.  pubes.  —  261.  uocanti.  —  263.  potuit  uestro.  — 
277.  coniunx  magni.  —  285.  liquuni  —  290.  Florigeri.  —  295.  seriemque.  — 

1.  ni 

299.  catonem.  —  300.  libicis.  —  301.  uetarat.  —  310.  nullos.  —  331.  man  est.  — 

1.  ondis 

332.  effudere  frementeoi.  —  333.  liber  uentis.  —  338.  saevit]  sepe.  —  341.  aruis. 

—  342.  aque.  —  349.  murmura.  —  353.  uidit]  lauit.  —  355.  lethes.  —  358.  spolia- 

tis.  —  359.  famam  qui.  —  367.  pompa.  —  368.  proiectaque.  —  369.  garamantidas. 

—  370.  libies.  —  373.  fines.  —  376.  nee]  ne.  —  379.  secuti.  —  390.  sunt.  --  392. 
putent.  —  395.  primus  gradusque.  —  397.  nostra.  —  400.  Estuat.  —  406.  calentes. 
~  418.  Effundunt.  ~  419.  discedit.  —  420.  libies.  —  424.  neque]  nee.  —  425. 
pnra]  diues.  —  427.  usus.  —  428.  cedri.  —  umbra.  —  432.  proiecta.  —  Zu  434  am 

L  es  l.  ülum 

Bande :  habe  1.  uinee.  —  [445].  —  448.  accipit.  —  449.  ortum.  -  451.  se.  —  454. 
harenis.  —  455.  cum  toto.  —  456.  Inflexus.  —  463.  solito  quoque  romanum.  — 
uiolentior.  —  469.  nobilius.  —  470.  Nonquam  (und  so  gewöhnlich  statt  numquam). 

—  474.  extrema.  —  489.  tenetur.   -  494.  etheree.    -  499.  Ineensusque]  Exarsitque. 

üngMritahe  Beme.  1891.  XI.  VI— vn.  Heft.  40 


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626 


DIE    L>:SARTEN    DES    RAVENNAS. 


—  504.  ille.  —  506.  terra.  —  507.  mollisque.  —  508.  pena  quantum.  —  [es].  — 
510.  imum.  ~-  512.  corniger.  —  illic.  —  516.  altaria.  —  525.  abstulit.  —  528.  Hie. 

}.  qna 

—  531.  quo.  -  538.  qiücumque.  —  direpta.  —  54-1.  summo]  semper.  —  546.  cee- 
sare.  —  562.  saltem.  —  568.  et]  sed.  —  575.  actor.  —  578.  ubi]  nisi.  —  584.  pro- 
fatuB.  —  588.  uapores.  —  598.  libiesque.  —  604.  Hirne.  —  605.  quam.  —  615.  in 

dente.  —  minatur.  —  617.  libies.  —  619.  exudet.  —  632.  soluti.  —  646.  cetosque. 

—  647.  pelago  celoque.  —  652.  retorsum.  —  653.  gorgonos.  —  654.  colonis.  — 
658.  e.  —  659.  partum  danee.  —  661.  actoris.  —  664.  A.  —  668.  Gorgonos.  — 

L  colli 

aduerso.  —  673.  protecti.  —  677.  ferri.  —  682.  auersi.  —  684.  rapta  sie.  —  686. 
Aera.  —  711.  Chelidros,  —  714.  pictus.  —  719.  amphisibena.  —  721.  pbaroeas  t. 
caryas.  —  724.  cunctis.  —  728.  auratato.  —  740.  Frone.  —  743.  Et  bibit.  —  744. 

).  is 

ligam.  —  748.  quin]  ne.  —  753.  libie  morti.  —  fatique.  —  757.  sibi]  et.  -    764. 

t.  flxo 

flexo.  —  765.  arene.  —  768.  ora.  —  769.  nondum.  —  775.  Affluit.  —  777.  con- 
texta]  iunctura.  —  787.  cinipeas.  —  795.  Afflatur.  —  tollente.  —  810.  rutilatnm 

\.  leue  Htifdaii 

[pro].  —  815.  uele.  —  818.  soeias.  —  820.  uirgas  diro.  —  sabeas.  —  828.  baliscus. 

—  831.  dimittit.  —  832.  expectans.  -  837.  salpiga.  —  840.  [est].  —  847.  norant. 

a 

—  duee  celo.  —  848.  arma.  —  854.  nichil.  —  861.  horam.  —  865.  clastra.  — 

].     u 
867.  istinc.  —  870.  et]  boc.  —  887.  illum.  —  888.  in  pectore.  —  895.  cantu.  - 

).        re 

cessante.  —  901.  Letifica.  —  916.  per  regnaque.  —  917.  oatbaris.  —  919.  taxos. 

1.  erit 

—  920.  larice.  —  931.  audit.  —  938.  tandem  leuior.  —  943.  redire.  —  956.  pelagi. 

—  962.  simoontis.  ~  963.  Rohechion.  —  970.  patentes.  —  973.  oenonen.  —  975. 
sancxtus.  —  979.  Hectoreas.  —  982.  nee.  —  989.  thuriferos.  —  994.  obstruso.  — 

1009.  regnis]  muri?.  —  1019.  querens.  —  magnus.  —  1021.  tecum  est  —  [est].  — 
Am  Rande  1.  scelus.  —  1027.  facili  nobis.  —  1034.  noti mutaverat]  non  inmutauerit 

paUnt) 

—  1039.  lecto.  —  1040.  potens.  —  1047.  Huccine.  —  1049.  nefasque.  —  1052. 
Angeris.  —  1053.  alii.  —  1054.  e.  —  1062.  aude«.  —  1065.  penis.  —  1074.  [ues- 

ut 

tris].  —  1080.  ne.  —  1102.  nunc.  — 

Explicit  IX«-  Incipit  X» 

8.  populum  pro  te.  —  habebit.  —  9.  securus  fertur.  —  10.  iam.  —  14.  pauo- 
res.  —  18.  uultuque.  —  25.  sibi]  si.  —  29.  uictas.  —  37.  non.  —  40.  fronte.  —  44. 

que 

relicta.  —  48.  arcto.  —  50.  ortum.  —  53.  Jam     .  —  60.  Romana.  —  nunc.  — 

1.  ar 

agros.  —  71.  ignis.  -    74.  tessalice.  —  79.  libies.  —  80.  deprendit.  —  84.  Quam. 

—  95.  fotini.  —  99.  fimores.  —  103.  fotini.  —  106.  iudice]  cesare.  —  109.  Exple- 
uitque.  —  112.  Exstruit.  —  122.  Fulcit.  —  thoros.  —  123:  Hie  thorus  assirio 
cuius  pars  maxima  succo.  —  Nach  124  folgt :  Strata  micant  tirio  quorum  pars  ma- 
xima  succo  (123).  —  126.  tiriis.  —  130.  nullas.  —  137.  fuscata.  —  138.  contempta. 

—  144.  hinc.  —  153.  abductis.  --  155.  Infundere.  —  167.  externe.  —  terre.  — 


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KURZE   SITZUNGSBERICHTE.  ♦>i^7 

175.  Lauigerum.  —  181.  cicropium,  —  190.  latentis.  —  195.  Edere.  —  197.  celi- 
colas.  —  201.  anni]  eui.  —  211.  rapidos.  —  212.  mutatur.  —  217.  actusque.  — 
219.  quod  creecit.  —  223.  fluuium.  —  225.  [Nilus].  —  226.  Canis]  solle.  —  229. 
hibemis.  —  232.  neu.  —  234.  torpente.  —  236.  phebns  declinet.  —  240.  ascripsit. 

—  244.  rumpentes.  —  245.  Asddue.  —  flatn.  —  252.  palusque.  —  257.  Equoreas- 
que.  —  268.  cupido  est.  —  271.  uinoat.  —  272.  quem.  —  273.  misit.  —  276.  occa- 

1.  guttnre  nipto 

sum.  —  285.  nili.  —  300.  proferre.  —  302.  gurgite  rapto.  —  303.  meroes.  —  305. 

fre 

estates.  —  310.  facile.  —-  310.  309.  —  314.  ponto.  —  316.  totas.  —  321.  tremunt. 

—  322.  albescit.  —  323.  Hunc.  —  324.  percussa.  —  328.  in]  et.  —  329.  In.  — 

t.  receptig  h  saora 

quietis.  —  333.  fotini.  —  334.  tarn  clara.  —  336.  Imputat.  —  337.  deae]  umbrae. 

—  338.  Pharias]  uiles.  —  344.  fata.  —  353.  inque  simul.  -  -  356.  occurrere.  — 
364.  tuum.  —  365.  ruenues.  —  369.  e.  —  credit.  —  373.  372.  —  373.  noctiimas. 

—  380.  Quod.  —  386.  sede.  —  389.  quod.  —  400.  mox.  —  405.  iussusque.  —  415. 
superi.  —  417.  generi  socerique.  —  422.  districta.  —  428.  contenta  summi.  — 
429.  raperabile.  —  430.  üllam.  —  432.  fotini.  —  434.  prosexit.  —  437.  in.  — 

b 

440.  Diffusus.  —  447.  feruet.  —  448.  mulcifer.  —  449.  qui  nuper.  —  451.  causas. 

—  sperare.  —  470.  actore.  —  475.  Victaque.  —  483.  diuisa.  —  489.  [das  erstere 
hos].  —  aditus.  —  490.  fidnoia.  —  492.  cunctis.  —  502.  aerio.  —  decurrere.  — 
504.  paulum  clausa.  —  512.  bellorum]  ad  bellum.  —  514.  Cesar  et.  —  aditus  ac] 
ut  uidit.  —  515 :  Ostia  nou  fatum  meriti  penasque  photini.  —  517.  auido.  —  518. 
gladio  ceniix.  —  521.  arsenoe.  —  523.  agillea.  —  525.  ut]  ubi.  —  532.  nuUo.  — 
533.  una.  —  et  in  secula.  —  534.  exiguo.  —  535.  M.]  morte.  —  540.  nee]  non.  — 
5i5.  epidaune.  —  Explicit  feliciter. 

Der  zweite  Ravennas  Lucani  (Scans.  139,  VII.  G)  ist  vom  Jahre  1470, 
in  foP,  Chart,  und  initio  mutilus.  Dr.  Eudolf  Vari. 


KURZE  SnZUNGSßEWCHTE. 

Akademie  der  Wissenschaften.  In  der  Sitzung  der  zweiten  Classe  vom 
1 1.  Mai  las  Alexander  Szilägyi  über  Georg  IL  Rdköczy  in  Polen.  Räköczy's  Vor- 
bereitungen zu  seiner  Offensive  gegen  Polen  hatte  Vortragender  schon  gelegentlich 
der  Vorlage  des  I.  Bandes  seines  Werkes  «Siebenbürgen  und  der  Krieg  im  Nord- 
osten! erwähnt.  Räköczy  bildete  unter  seiner  eigenen  Führung  eine  Coalition  der 
kleineren  Oststaaten,  zu  welcher  die  beiden  Walachenländer  und  das  Kosakenland 
gehörten,  und  verband  sich  mit  dem  Schwedenkönig  Karl  X.  Anfangs  Jänner  1657 
begab  sich  Räköczy  an  den  Versammlungsort  seiner  Truppen  nach  Visli,  wo  er 
einen  kurzen  Reichstag  hielt.  Der  Kaiser,  die  Polen,  selbst  der  russische  Czar  be- 
mühten sich,  den  Fürsten  von  seinem  Plane  abzubringen,  doch  der  auf  den  Erfolg 
seines  Unternehmens  vollständig  vertrauende  Räköczy  liess  sich  durch  nichts  be- 
wegen. Allein  die  Witterung  gestaltete  sich  für  ihn  so  imgünstig,  dass  der  Ueber- 
gang  über  die  Marmaroser  Alpen  übermenschliche  Anstrengungen    erforderte. 


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628 


KURZE   SITZUNGSBERICHTE 


Seine  polnisohen  Freunde,  auf  deren  Ansohluss  er  sicher  gerechnet  hatte,  wurden 
auf  die  Kunde,  dass  er  sich  mit  König  Karl  zur  Teilung  Polens  verbunden  habe, 
sämmtlich  seine  Feinde.  Doch  die  Polen  konnten,  ohne  Truppen,  blos  ihre  Fe- 
stungen vor  ihm  verschliessen.  Rdk6czy  aber  eilte,  das  von  den  Schweden  besetzte 
imd  von  den  Polen  belagerte  Krakau  zu  entsetzen,  um  hier  seinen  Einzug  zu  halten. 
Sein  Heer  zählte  mit  den  Walachen  und  Kosaken  vereinigt  49.000  Mann.  Die 
Festnngscommandanten  Hessen  sich  in  Unterhandlungen  ein,  denen  zufolge  Lern- 
berg  und  die  anderen  Städte  sich  zur  Neutralität  verpflichteten.  Nach  Bäkdczy's 
Uebergang  über  den  San  kam  zu  ihm  der  kaiserliche  Gesandte  Szelepcs^nyi,  um 
ihn  mit  allen  Mitteln  zum  Bückzuge  zu  bewegen,  während  er  dem  polnischen 
Marschall  Lubomirski  für  den  Fall  der  Ausdauer  des  Kaisers  Hilfe  in  Aussicht 
stellte  imd  auch  zwischen  Räköczy  und  den  Kosaken  Zwieti-acht  zu  säen  trachtete. 
Doch  zog  Szelepcseuyi  un  verrichtet  er  Dinge  ab.  Nach  der  Einnahme  Przemysls 
eilte  Räköczy,  sich  mit  Karl  zu  vereinigen.  Am  28.  März  hielt  er  in  Krakau  einen 
glänzenden  Einzug  auf  einem  türkischen  Zelter,  gefolgt  von  schwedischen,  sieben- 
bürgischen  und  kosakischen  Grossen  und  zahlreichen  schwedischen,  kosakischen, 
walachischen  und  siebenbürgischen  Reitern,  und  bezog,  nachdem  der  Bat  ihm 
den  Eid  geleistet,  Stefan  Bäthory 's  alten  prächtigen  Königspalast.  Am  11.  April 
fand  in  Krzistopora  die  Vereinigung  mit  dem  Schwedenkönig  statt,  wobei  noch 
glänzendere  Festpracht  als  in  Krakau  entfaltet  und  im  Kriegsrat  das  weitere  Vor- 
gehen festgestellt  wurde.  Nach  ihrem  Weichselübergang  traf  sie  aber  die  Kimde 
vom  Tode  Ferdinand's  HI.  und  vom  Angriff  Dänemarks  auf  Schweden,  worauf  Karl 
Anfangs  Juni  sich  von  Bdköczy  trennte.  Bäköczy  nahm  seinen  Weg,  im  Vertrauen 
auf  das  Eintreffen  der  vom  Kosaken-Hetman  erwarteten  Hilfe,  nicht  nach  Galizien, 
sondern  nach  Kleinrussland.  Dies  führte  seinen  Sturz  herbei.  Denn  es  kam  nicht 
nur  die  von  den  Kosaken  erwartete  Hilfe  nicht,  sondern  hier  fielen  auch  die  bei 
ihm  befindlichen  Kosaken  von  ihm  ab,  ebenso  Hessen  ihn  die  Walachen  im  Stich 
und,  bei  Czarniostrov  von  den  polnischen  Truppen  umzingelt,  war  er  gezwungen, 
sich  den  Polen  auf  Gnade  und  Ungnade  zu  ergeben.  Erniedrigt,  gebrochen,  krank 
kehrte  er  heim,  während  sein  Feldherr  Kem^ny  mit  dem  siebenbürgischen  Heere 
in  tatarische  Gefangenschaft  geriet. 

—  In  der  Plenarsitzung  der  Akademie  am  !25.  Mai  meldete  der  General- 
secref  är  das  Ableben  von  vier  Mitgliedern :  des  corr.  Mitglieds  Bela  Grünwald, 
dessen  Tod  er  in  warmem  Nachrufe  als  grossen  Verlust  für  die  Wissenschaft  be- 
klagt-, des  corr.  Mitglieds  Daniel  Gondol  und  der  auswärtigen  Mitglieder  Karl 
Nägeli  und  Ernst  Birk.  Die  respectiven  Classen  werden  mit  der  Sorge  für  Denk- 
reden auf  die  Dahingeschiedenen  betraut.  —  Hierauf  las  der  Generalsecretär  die 
Austrittserklärung  des  corr.  Mitglieds  August  Lubrich,  welcher  es  sich  zum  Herzen 
nahm,  dass  die  Akademie  bei  der  letzten  Entscheidung  über  den  diesmal  einem 
philosophischen  Werke  zuzuerkennenden  grossen  Akademiepreis  sein  Werk  nicht 
des  Preises  würdig  erachtete.  —  Dann  las  der  Generalsecretär  die  Danksohreiben 
fünf  neugewählter  Mitglieder,  darunter  des  Directionsratsmitgliedes  Graf  Albin 
Csäky,  welcher  der  Akademie  die  wärmste  Förderung  ihrer  Interessen  verspricht. 
—  Darauf  folgte  die  Verlesung  einer  Zuschrift  des  gemeinsamen  Finanzministers 
Benjamin  Källay,  welcher  der  Akademie  ein  Exemplar  der  von  der  bosnisch-herze- 


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KURZE   SITZUNGSBERICHTE. 


cm 


gowinischen  Regierung  besorgten  Praohtedition  des  Missale  glagoliticum  Hervoias, 
Herzogs  von  Spalato,  übersendet.  Die  Akademie  spiicht  für  das  Exemplar  ihren 
Dank  ans.  —  Der  Generalseoretär  meldet,  dass  auf  die  Einladung  zu  der  am  16.  Mai 
stattgehabten  Eröfinong  der  czechischen  Akademie  der  Wissenschaften  ex  prsBsidio 
eine  lateinisch  verfasste  Begrössungsadresse  abgesandt  wurde.  —  In  Angelegenheit 
der  Sz^chenyi-Denktafel  sendet  das  kön.  ung.  Finanzministerium  1000  fl.  als  Beitrag. 
Die  Donau-Dampfschifffthrt-Gesellschaft  entsendet  vorläufig  ihren  Direktor  Ludwig 
Ullmann  in  das  Executivcomit^.  Die  Walzmühlgesellschaft  sendet  1000  fl.  Beitrag 
und  exmittirt  ihren  Präsidenten  Baron  Friedrich  Kochmeister  als  Comitömitglied. 
Das  Nationalcasino  sendet  1000  fl.  und  designirt  den  Grafen  Stefan  Kärolyi  als 
Comitemitglied.  Der  Jockeyklub  schickte  1000  fl.  und  entsendet  den  Grafen  Elemer 
Batthyäny,  eventuell  den  Grafen  Aurel  Dessewfff  als  Comitemitglied.  Ausserdem 
spendet  der  Walzmühldirector  Eonrad  Burchardt  für  sich  selbst  300  fl.  Die  Spen- 
den wurden  mit  Dank  entgegengenommen.  —  Das  in  Angelegenheit  der  Einführung 
der  neugriechischen  Aussprache  beim  Unterricht  des  Altgriechischen  in  den  Gym- 
nasien und  der  Errichtung  einer  Professur  für  Neugriechisch  an  der  Handels- 
akademie entsendete  Specialcomit6  unterstützt  den  die  Errichtung  eines  neugrie- 
chischen Lehrstuhles  an  der  Handelsakademie  betreffenden  Wunsch,  erklärt  femer 
für  den  wissenschaftlichen  Unterricht  im  Altgriechischen  die  phonetische,  soge- 
nannte erasmisohe  Aussprache  als  allein  zulässig,  jedoch  auch  den  aus  Opportuni- 
tätsgründen  etwa  damit  zu  verbindenden  Unterricht  in  der  neugriechischen  Aus- 
sprache als  annehmbar.  Das  betreffende  Memorandum  wurde  nach  kurzem  Ideen- 
austausch zum  Zwecke  klarerer  Bedaction  des  Schlusspassus  an  die  Commission 
zurückgeleitet,  im  Ganzen  aber  mit  grosser  Anerkennung  aufgenommen.  —  Eine 
Zuschrift  des  Vizebürgermeisters  K.  Gerlöczy  zeigt  an,  dass  bei  der  Evakuation 
des  alten  Kerepeser  Friedhofes  die  Gräber  der  literarischen  Notabilitäten  dem 
Wunsch  der  Akademie  entsprechend  intact  bleiben  werden.  Schliesslich  wurden 
mehrere  laufende  Angelegenheiten  erledigt. 

—  Die  nationalökonomische  Section  der  Akademie  hat  in  ihrer  Mai-Sitzung 
die  demnächst  auszuschreibenden  Preisfragen  festgestellt.  Der  Section  stehen  im 
laufenden  Jahre  folgende  Preise  zur  Verfügung: :  I.  Der  500  Gulden- Preis  der 
Ungarischen  Allgemeinen  Assecuranz  für  statistische  oder  volkswirtscbafthche 
Fragen,  eventuell  für  Prämien  ;  H.  der  500  Gulden-Preis  Heinrich  v.  L^vay's  für 
ein  nationalöconomisches  Werk,  das  einen  selbstständigen  Wert  hat,  und  HI.  der 
Preis  Karl  Ulimann  *s,  360  Gulden  in  Gold,  für  eine  volkswirtschafthohe  IVage. 
Die  Mitglieder  der  Section  Dr.  Julius  Kautz,  Dr.  KarlKeleti,  Dr.  Alexander  Matle- 
kovits,  Ladislaus  K6vdry,  Josef  E6rösi  und  Dr.  Karl  Mandello  hatten  mehrere 
Fragen  in  Vorschlag  gebracht,  von  welchen  die  Section  sich  für  folgende  erklärte  : 

für  den  Preis  der  Ungarischen  Assecuranz  :  Die  Schuldenconvertirung  sowohl 
vom  Standpunkte  der  Theorie  als  von  dem  der  Praxis ; 

für  den  L6vay-Preis :  Eine  Erörterung  der  in  den  verschiedenen  Staaten 
hinsichtlich  des  Verhältnisses  des  Kohlenbergbaues  zum  Grundbesitz  bestehenden 
legislativen  Bestimmungen  und  der  volkswirtschafthchen  Wirkung  derselben,  mit 
besonderer  Bücksicht  auf  unsere  heimischen  Verhältnisse  und  auf  das  zu  schaffende 
Bergrechtgesetz ; 


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^>'^^  KÜRZE    8ITZÜNOSBERICHTE. 

für  den  Ulimann-Preis :  Es  soll  die  Entwicklung  der  DonauschifiFfahrt  in 
Ungarn  seit  1 830  und  die  volkswirtschaftliche  Bedeutung  derselben  erörtert  wer- 
den, insbesondere  innerhalb  der  österreichisch-ungarischen  Monarchie  und  im 
Vergleich  mit  den  Verhältnissen  anderer  mitteleuropäischer  Ströme. 

Nachdem  noch  mehrere  laufende  Angelegenheiten  erledigt  worden,  hielt  der 
juristische  Director  der  Arväer  Domäne  Karl  Kubinyi  jun.  einen  Vortrag  über 
die  volkswirtschaftlichen  und  CuUurzustände  im  Arvder  Comitat.  Nach  einer 
Skizzirung  der  geographischen  und  Populationsverhältnisse  weist  er  besonders  auf 
den  Einfluss  hin,  den  das  Magura-Gebirge,  welches  das  Comitat  in  der  Mitte  durch- 
schneidet, auf  das  Elima,  auf  die  Sprache  und  die  Sitten  der  Bevölkerung  hat.  Bis 
1848  waren  95  o/o  des  Comitats  Eigentum  der  Thurzöer  Herrschaft,  und  nur  5*^0 
gehörten  anderen  Edelleuten.  Der  Mangel  an  industriellen  Unternehmungen  und 
nutzbringenden  Producten,  wie  auch  der  Umstand,  dass  blos  Hafer,  Kartoffel  und 
Gerste  im  ganzen  Comitat,  Korn  und  Weizen  aber  blos  in  den  südlichen  Teilen 
desselben  gebaut  werden  können,  machen  das  Comitat  zu  dem  ärmsten  des  Landes. 
Das  Erträgniss  der  222.000  Joch  Ackerfeld  wird  mit  je  87  kr.  angenommen,  so 
dass  auf  jeden  Bewohner  des  Comitats  2  fl.  37  kr.  entfallen.  Vortragender  schildert 
dann  den  Verfall  der  Flachs-  imd  Hanfcultui*  und  der  damit  verbundenen  Lein- 
wandfabrikation in  düsteren  Farben,  besonders  den  Missbrauch,  welcher  von  frem- 
denHändlern  getrieben  wird,  die  ausländische  Erzeugnisse  als  Ärvaer  Hausindustne- 
Ai-tikel  verkaufen,  zu  diesem  Behufe  die  Arvaer  Bauern  als  Kutscher  oder  Verkäufer 
mieten,  den  FamiUen  derselben  Vorschüsse  erteilen,  für  welche  sie  ihnen  in 
nächster  Zukimft  ^ich  das  letzte  Stückchen  Boden  entreissen  werden.  Mit  beis- 
sendem  Humor  bespricht  er  dann  die  cnlturellen  Zustände,  wobei  er  die  Intelligenz, 
Gastfreundschaft  und  Bildung  der  besseren  Classe  lobend  und  anerkennend  her- 
vorhebt. Leider  macht  jedoch  diese  Classe.  welche  etwa  mit  400  Köpfen  angenom- 
men werden  kann,  kaum  ^,o/o  der  Bevölkerung  aus,  während  die  anderen  99V j% 
auf  der  tiefsten  Stufe  der  Cultur  stehen.  Die  Behörden  tragen  daran  nicht  wenig 
Schuld,  da  sie  für  Alles  mehr  opfern,  als  für  culturelle  Zwecke.  So  führt  Vortra- 
gender als  Beispiel  die  Csaplovics  sehe  Bibliothek  an,  welche,  20,000  Bände  stark, 
vor  mehreren  Jahren  dem  Comitat  geschenkt  wurde.  Das  Comitat  hat  seither  auf 
die  Vermehrung  der  Bibliothek  nicht  einen  Kreuzer  geopfert,  ja  selbst  die  wert- 
vollen Editionen  der  Akademie,  welche  der  BibHothek  als  Geschenk  zugesendet 
werden,  bleiben  ungebunden,  ungelesen  liegen.  Dabei  verbietet  das  bezüglich  der 
Bibliothek  geschaffene  Statut  ein  Ausleihen  der  Bücher,  ein  Leseraum  steht  aber 
ebenfalls  nicht  zur  Verfügung. 

Auf  die  Nationalitätenfrage  übergehend,  bemerkt  der  Vortragende,  dass  der 
KathoHzismus  der  Träger  der  ungarischen  National-ldee  ist,  während  die  evange- 
lischen Seelsorger  und  Lehrer  die  panslavistischen  Lehren  verbreiten.  Hierin 
werden  sie  nicht  wenig  von  der  panslavistischen  Presse  unterstützt,  welche  das 
Gift  des  NationaHtätenhasses  den  Jjesem  in  kleinen,  unauffälligen  Dosen  bei- 
bringt, manchmal  aber  auch  stärkere  Dosen  eingibt,  wie  aus  dem  folgenden  Becept 
hervorgeht,  welches  vor  mehreren  Jahren  in  einem  solchen  Blatte  erschien  and 
seither  in  den  verschiedensten  Variationen  oirculirt.  Das  Becept,  welches  von 
einem  «Närodni  Olajkar»  (nationalen  Oelhändler)  imterschrieben  ist  und  auch  in 


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KURZE   SITZUNGSBERICHTE. 


631 


ein  Lesebuch  eingeschmuggelt  wurde,  lautet :  1.  Wer  gegen  die  bestandene  «Mntica» 
sein  Worl;  erhebt,  oder  auf  dieselbe  schimpft,  der  ist  Dein  Feind  und  hüte  Dich 
vor  demselben.  2.  Wer  zur  Zeit  des  Bestandes  der  «Matica»  ein  unabhängiger 
Mensch  war  (Pfarrer,  Lehrer,  Notar,  Stuhlrichter,  Advokat  u.  s.  w.)  und  nicht  deren 
Mitglied  war,  der  war  und  ist  gewiss  auch  heute  noch  nicht  Dein  Freund-  3.  Wer 
nicht  bedauert,  dass  die  slovakischen  Gymnasien  geschlossen  sind ;  wer  sich  lobend 
darüber  äussert,  dass  sie  geschlossen  wurden,  der  ist  Dein  Hauptfeind.  Da  weisst, 
dass  Du  Dich  vor  ihm  hüten  musst.  4.  Wer  imter  Slovaken  lebt  und  anstatt  slova- 
kische  Bücher  und  Zeitungen  andere  Bücher  und  Zeitungen  hält,  ist  gewiss  Dein 
Feind.  5.  Wer  Dir  sagt,  dass  irgend  eine  andere  Sprache  schöner  und  notwendiger 
sei,  als  Deine  slovakische  Sprache,  der  ist  Dein  Verräter.  6.  Wer  Dir  sagt,  dass  Du, 
wenn  Du  in  Ungarn  lebst,  ein  Magyare  sein  musst,  der  ist  ein  Hetzer  und  Revolu- 
tionär. Du  weisst,  wass  Du  von  ihm  zu  halten  hast.  7.  Wer  Dir  bei  irgend  einer 
Wahl  dafür  Geld  gibt  oder  etwas  Anderes  verspricht,  dass  Du  mit  ihm  gegen  die 
Slovaken  stimmest,  vor  dem  bekreuzige  Dich  als  vor  einem  Bösen  und  wende 
Dich  von  ihm  ab.  8.  Wer  auf  die  Panslavisten  schnupft  imd  dieselben  fort  und 
fort  im  Munde  führt,  der  will  Dich  verführen  und  verblenden.  9.  Wer  Dir  etwas 
von  der  Aufteilung  des  Landes  zu  erzälilen  beginnt  und  Dich  mit  den  Bussen 
schreckt,  der  ist  ein  Teufel,  der  den  Pferdefuss  unter  dem  Mantel  hat.  10.  Wer 
Dir  beweist,  dass  in  diesem  Lande  Jemand  die  Gesetze  und  Verordnungen  mehr 
respectirt  als  die  Slovaken,  dass  er  ein  besserer  Patriot  sei,  und  hier  mehr  Hechte 
besitzt,  der  ist  ein  Klügler ;  den  frage  nur  rasch,  wie  man  ans  Blei  Gold  machen 
könne,  und  wo  er  den  Stein  der  Weisen  entdeckt  hat,  knrz :  den  lache  aus.  — 
Vortragender  bedauert,  dass  der  Oberungarische  Culturverein  in  diesem  Comitat 
noch  keine  Spuren  seiner  Wirksamkeit  aufzuweisen  hat.  Er  glaubt,  dass  der  Verein 
hier  viel  mehr  Erfolge  erzielen  könnte,  wenn  er  anstatt  der  nationalen  Ctdtur  die 
Selbstbildung  auf  seine  Fahne  schreiben  würde,  da  das  Volk  dieser  leichter  zu- 
gänglich wäre. 

—  Li  der  Sitzung  der  ersten  Glasse  am  1.  Juni  eröffnete  die  Eeihe  der  Vor- 
träge der  Antrittsvortrag  des  ordentlichen  Mitgliedes  Josef  L^vay  über  Robert 
Burm,  den  berühmten  schottischen  Volksdichter,  verbunden  mit  der  Vorlage  von 
Levay's  einen  stattlichen  Band  bildenden  ungarischen  Uebersetzungen  Bobert 
Bums' scher  Gedichte.  Nach  dem  üblichen  Dank  für  seine  Wahl  zum  ordentlichen 
Mitgliede  gedachte  Vortragender  der  sowohl  aus  dem  Lihalt,  als  auch  aus  der 
Sprache  und  aus  der  Form  der  Robert  Bums' sehen  Gedichte  für  den  üebersetzer, 
namentlich  den  ungarischen,  entspringenden  Schwierigkeiten.  Um  Bums'  Dich- 
tungen dem  Verständnisse  näher  zu  bringen,  gab  Vortragender  hierauf  eine  kurze 
Biographie  des  unglücklichen  Dichters,  gedachte  der  bedeutsamen  Wandlungen 
und  Widerwärtigkeiten  seines  Lebenslaufes,  neben  seinen  hervorragenden  Geistes- 
fähigkeiten  seiner  Charakterschwächen,  endlich  seines  vollständigen  Niedergangs, 
in  Folge  dessen  der  berühmte  Dichter  sein  Leben  als  imtergeordneter  Finanz- 
beamter frühzeitig  beschloss.  Hierauf  zu  einer  eingehenderen  Charakteristik  seiner 
Dichtung  übergehend,  hob  der  Vortragende  die  urwüchsige  Originahtät  seiner 
Lieder,  die  Mannigfaltigkeit  und  Kraft  derselben,  den  Beichtum  der  Phantasie  und 
die  Zartheit  des  Ausdruckes  in  denselben  hervor,  welche  ihn  zum  unsterblichen 


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632 


KURZE    SITZUNGSBERICHTE. 


Poeten  seiner  Nation  erhoben.  Schliesslich  zog  L^vay  eine  kurze  Parallele  zwischen 
Petdfi  und  Bums,  indem  er  die  Verwandtschaft  und  Verschiedenheit  Beider  in 
diversen  Punkten  imd  die  charakteristischeren  Züge  der  Dichtung  der  Beiden  dar- 
legte. Zur  Illustration  des  Gesagten  schloss  Vortragender  seinen  Vortrag  mit  der 
Vorlesung  einer  Reihe  schöner  lyrischer  Gedichte  von  Bums  in  ungarischer  Ueber- 
setzung. 

Hierauf  las  das  c.  M.  Gustav  Heinrich  eine  Abhandlnng  des  o.  M.  Gabriel 
Szarvas  über  das  ungarische  sprackgeschichtliche  Wörterbuch  und  die  Kritik,  in 
welcher  verschiedene  unbegründete  Angriffe  einer  anberufenen  und  unverstandigen 
Kritik  berichtigend  und  aufklärend  zurückgewiesen  und  die  bei  der  Bedaction  des 
Werkes  befolgten  Grundsätze  zusammengehst,  klar  entwickelt  und  Wissenschaft- 
lieh  begründet  werden.  Schliesslich  las  das  Ehrenmitglied  Anton  Zichy  einige 
Partien  aus  seiner  über  die  sämmtlichen  Werke  des  Grafen  Stefan  Szechenyi  ge- 
schriebenen Studie  vor.  Er  schildert  die  ausserordentliche  Wirkung,  welche  vor 
fünfzig  Jahren  das  erste  Auftreten  eines  jungen  Magnaten  auf  dem  publicistischen 
Felde  machte.  Die  minder  Orientirten  wollten  es  gar  nicht  glauben,  dass  ein 
ungarischer  Magnat  ein  gutes  imgarisches  Buch  schreiben  könne,  und  wenn  sie 
ihm  schon  die  Originalität  der  Ideen  nicht  abstreiten  konnten,  liebten  sie  es  doch, 
wenigstens  das  Verdienst  des  Styls  und  die  Mühe  der  Ausarbeitimg  einem  ihm 
näher  stehenden  Mitarbeiter  zuzuschieben.  Wie  sehr  sie  sich  irrten,  zeigt 
Sz^chenyi's  Correspondenz  mit  Johann  Kiss  zur  Zeit  des  Erscheinens  seines  ersten 
Werkes  tLovakrul»  (Von  Pferden),  sowie  die  in  der  cObenmgarischen  Minerva» 
1 8i28  geführte  Polemik.  Sz^chenyi's  ausserordentliche  Originalität  und  sein  hoher 
Geistesflug  schlössen  ein  derartiges  Sichschmücken  mit  fremden  Federn  in  vor- 
hinein aus,  was  ihn  jedoch  nicht  hinderte,  sich  einzelne  Wörter  oder  Ausdrücke 
von  den  Wortfabrikanten  auszubitten,  ob  er  sie  nun  dann  gebrauchte  oder  nicht. 
Eine  Zeit  lang  hatte  er  die  Gewohnheit,  die  schwarze  Tafel  der  Akademie  mit 
gewissen  fremden  Wörtern  oder  Begriflfen  zu  dem  Zwecke  vollzukritzeln,  damit 
die  Gelehrten  über  die  entsprechende  Wiedergabe  dieser  Ausdrücke  nachdenken 
und  schlüssig  werden  mögen.  Vortragender  liest  ein  ganzes  kleines  alphabetisch 
geordnetes  Wörterbuch  vor,  welches  er  aus  den  von  Szechenyi  entweder  erfundenen 
oder  gebrauchten  neuen  imd  ungewöhnlichen  Wörtern  und  Ausdrucksweisen  zu- 
sammengestellt hat,  und  deren  grösster  Teil  seitdem  ausser  Gebrauch  gekommen 
ist,  während  etwa  10  Perzent  derselben  (270)  sich  bis  heute  erhalten  haben. 

—  In  der  Sitzung  der  zweiten  Classe  am  8.  Juli  las  das  c.  Mitglied  Johann 
Csontosi  über  die  Geschichte  zweier  modenesischer  Conina-Codices.  Se.  Majestät 
der  König  hat  am  8.  Mai  d.  J.  dem  ungarischen  Nationalmuseum  zwei  splendid 
ausgestattete  Corvina-Godexe  geschenkt,  welche  ein  besonderer  Abgeordneter  der 
Wiener  Hofbibliothek  der  Anstalt  übergab.  Mit  diesem  fürsthchen  (beschenk  hat 
jene  culturelle  Bewegung  ihren  Abschluss  gefunden,  welche  der  ungarische  Beidis- 
tag  vom  Jahre  1843/44  im  Interesse  der  Bevindication  der  ausländischen  lieber- 
reste  der  Corvina  für  das  ungarische  Nationalmuseum  begann,  und  welche  nach 
Jahre  lang  dauernden  diplomatischen  Unterhandlungen,  in  Folge  der  Intervention 
dee  Königs  Ferdinand  V.  zu  dem  Besultate  fährte,  dass  Franz,  Grossherzog  von 
Toscana  und  Herzog  von  Modena,  am  8.  Oktober  1847  aus  der  Modenaer  Bibho- 


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KURZE   STTZÜNGSBERTCHTE.  633 

thek  der  Este  dem  uogarischen  National rauseutn  zwei  Corvina-Codexe  schenkte 
und  dieselben  dem  ungarischen  König  Ferdinand  V.  zur  Verfügung  stellte.  Die 
beiden  Codices  kamen  auch  Ende  October  1847  in  Wien  an,  wurden  aber  wegen 
gewisser  Formalitäten,  an  welche  Fürst  Lothar  Mettemich,  der  damalige  k.  k.  Hof- 
und  Staatskanzler,  die  Uebergabe  derselben  knüpfte,  der  Wiener  kön.  ungarischen 
Hofkanzlei  nicht  eingehändigt,  sondern  vorläufig,  bis  die  königlich  ungarische 
Hofkanzlei  den  bedungenen  Formalitäten  Oenüge  leistet,  im  Archiv  der  Hof-  und 
Staatskanzlei  in  Depot  behalten.  Die  ISiSMQ-er  Eieignisse  und  die  darauffolgen- 
den politischen  Verhältnisse  lenkten  die  Aufmerksamkeit  der  competenten  Kreise 
von  den  Modenaer  Corvina-Codexen  ab.  So  gev'^cliah  es,  dass  man  dieselben  1851 
aus  dem  Ministerium  des  Aeussern  nebst  anderen  Handschriften  auf  kurzem  Wege 
in  das  geheime  Hofarchiv  übertrug  und  darüber  zur  Tagesordnung  überging. 
Hier  verblieben  sie  dann  bis  1869,  wo  Fie  nebst  78  anderen  Handschriften  des 
Geheimarchivs  bona  fide,  weil  damals  die  Provenienz  dei*selben  Niemand  mehr 
kannte,  im  Tauschwege  in  die  kaiserliche  Hofbibliothek  gelangten,  welche  zum 
Tausch  dafür  aus  ihrer  eigenen  Sammlung  Urkunden,  Briefe  und  Acten  hingab. 
Von  dieser  Zeit  an  bis  zum  8.  Mai  dieses  Jahres  waren  die  beiden  Corvina-Codexe 
im  Besitz  der  Wiener  Hofbibliothek,  welche  dieselben  ihrer  eigenen  Sammlung 
einverleibte  und  in  das  gedruckte  Register  ihrer  Handschriftensamralung  und 
zwar  in  den  1875  erschienenen  VH.  Band  derselben  unter  Nr.  13,697  und 
Nr.  13,698  aufnahm.  Jene  bibliographische  Bewegung,  welche  das  ungarische 
Nationalmuseum  im  Interesse  der  Ausforschung  der  auf  Ungarn  bezüglichen,  in 
auswärtigen  Bibliotheken  befindlichen  mittelalterlichen  Handschriften  und  Cor- 
vina-Codexe in  der  letzten  Aera  in  ganz  Europa  in  Gang  setzte,  hat  die  Folge 
gehabt,  dass  mehrere  bedeutende,  historisch,  culturhistorisch  und  sprachhistoriach 
wichtige  Handschriften  ans  Tageslicht  kamen,  von  welchen  wir  bisher  keine 
Kenntniss  hatten  und  durch  deren  Ausforschimg  unsere  Kenntniss  der  ungarischen 
mittelalterlichen  culturgeschichtlichen  Verhältnisse  nicht  nur  bedeutend  ver- 
mehrt, sondern  auch  in  mancher  Hinsicht  modificirt  wurde.  Vortragender  war, 
als  ein  Mitarbeiter  bei  dieser  Bewegung,  so  glücklich,  in  den  modenesischen  und 
andern  auswärtigen  Bibliotheken  und  Archiven  jene  Unterhandlungen  und 
Correspondenzen  aufzustöbern,  welche  sich  auf  die  Provenienz  der  erwähnten 
zwei  Corvina-Codexe  und  auf  die  Umstände  ihrer  Wanderung  bezogen,  und  aus 
welchen  der  Anspruch  des  ungarischen  Nationalmuseums  auf  diese  Codexe  in 
einer  jeden  Zweifel  ausschliessenden  Weise  nachgewiesen  werden  konnte.  Vor- 
tragender fasßte  die  Ergebnisse  seiner  Forschimg  in  einem  Memorandum  zusam- 
men und  übergab  dasselbe  dem  Director  des  Nationalmuseums,  Franz  Pulszky, 
mit  der  Bitte,  auf  Grund  der  beigeschlossenen  32  Urkunden  competenten  Ortes 
die  nötigen  Schritte  im  Interesse  der  Wiedererlangung  der  beiden  Codexe  für  das 
Nationalmuseum  zu  thun.  Pulszky  nahm  die  Sache  mit  Wärme  in  die  Hand  und 
bat  in  einer  motivirten  Kepräsentation  den  Cultus-  und  Unten-ichtsminister  Grafen 
Albin  Csäky,  er  möge  über  diese  iSjährige,  nahezu  in  Vergessenheit  geratene  Ange- 
legenheit Se.  Majestät  den  König,  welcher  wahrscheinlich  von  der  Provenienz  der 
Codexe  gar  keine  Kenntniss  hatte,  informiren  und  auf  Grund  der  beigeschlossenen 
Urkunden  erwirken,  dass  diese  bona  fide  irrtümlich  nach  Wien  gelangten,  aber 

Ungarisohe  Rerae.  1891.  XI.  VI  -VII.  Heft.  4q^ 


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«3i  RÜllZE   SITZUNGSBEfllCHTfi. 

durch  den  Herzog  von  Modena  dem  ungarischen  Nationalmu^eum  geschenkten 
Codices  durch  die  Gnade  Sr.  Majestät  ihrer  ursprüngHchen  Bestimmung  wieder- 
gegeben werden.  Im  Ministerium  gieng  der  Ministerialrat  Emerich  Szalay  als 
Referent  über  Museumsangelegenheiten  mit  ganzer  Begeisterung  an  das  Studium 
der  Angelegenheit  und  that  alle  nötigen  Schritte  im  Interesse  derpelben.  Oraf 
Albin  Csäky  aber  machte  mit  jener  ruhigen  Energie,  welche  seine  Ministerscliaft 
charakterisirt,  die  Denkschrift  des  ungarischen  Nationalmuseums  in  ihrem  vollen 
Umfange  zu  seiner  eigenen  Sache  und  unterstützte  dieselbe  auf  Grund  der  bei- 
geschlossenen Urkunden  bei  Sr.  Majestät  auf  das  wärmst«.  Sobald  Se.  Majestät 
durch  den  Beiicht  des  Ministers  Grafen  Albin  Cs^ky  von  dem  Stande  der  Sache 
Kunle  erhielt  und  aus  den  beigeschlossenes  Urkunden  sich  von  der  Berechtigung 
des  Wunsches  des  Nationalmuseums  überzeugte,  ordnete  Se.  Majestät  sofort  an, 
dass  diese  modenesischen  Corvina-Codexe  der  Hofbibliothek  entnommen  und  als 
besonderes  Zeichen  seiner  königlichen  Gnade  dem  Nationaimnseum  übergeben 
werden.  Dieses  Geschenk  Sr.  Majestät  des  Königs,  durch  welches  das  National- 
museum um  zwei  höchst  wertvolle  Kunstschätze  bereichert  wird,  bildet  ein  wich- 
tiges Ereignips  in  der  Culturgeschichte  unseres  Vaterlandes  und  verpflichtet 
unsere  Nation  zu  neuem  Danke  gegenüber  der  erhebenden  Gerechtigkeiteliebe  des 
gekrönten  Königs,  welcher  unserer  Nation  jene  Kunstdenkmäler  wiedergegeben 
hat.  Und  diesen  Dank  erhöht  die  allgemeine  Freude,  welche  jeder  wahre  Freund 
der  vaterländischen  Cultur  empfindet,  indem  er  sieht,  dass,  so  wie  zur  Zeit  des 
Königs  Mathias  im  Cultus  der  Renaissance,  so  jetzt  im  Cultus  der  Corvina- Tradi- 
tionen der  König  an  der  Spitze  der  Nation  geht. 

Nach  obiger  Darlegung  ihrer  Geschichte  legte  Vor.  ragender  die  beiden 
Handschriften  zur  Besichtigimg  vor  und  be  chrieb  sie.  Was  ihre  äussere  Au^tat- 
tung  betrifft,  stammen  beide  aus  dem  fünfzehnten  Jahrhundei-t ;  sie  sind  auf 
Folio -Pergament  in  lateinischer  Sprache  sehr  sorgfältig  geschrieben  und  enthält 
der  eine  die  Homilien  des  heiligen  Chrysostomus,  der  andere  die  Homilien  des 
heiligen  Hieronymus.  Der  erstere  hat  ein  glänzend  ausgestattetes  Titelblatt  mit 
Miniaturen  und  den  bekannten  Corvina- Emblemen.  Den  Text  zieren  siebzig  in 
Polychrom  gefasste  goldene  Initialen.  Unter  den  auf  dem  Titelblatt  sichtbaren 
Wappen  aber  zeugen  die  Wappen  Oesterreichs  und  der  Stadt  Wien  davon,  dass 
der  Codex  nach  1488  angefertigt  wurde,  wo  König  Mathias  bereits  den  Tit^l  eines 
österreichischen  Herzogs  führte.  Den  Codex  hat  der  berühmte  Florentiner 
Miniator  Attavantes  de  Attavantibus,  von  dem  wir  21  Corvina-Codexe  kennen, 
gemalt.  Der  zweite  Codex  ist  noch  splendider  ausgestattet.  Er  hat  zwei  grossartige 
Titelblätter  mit  Miniaturen,  Emblemen  und  Wappen  und  den  in  Goldmedaülon 
gefasst^n  Bildnissen  des  Königs  Mathias  und  der  Königin  Beatrix.  Der  Text  zeigt 
22  glänzende  Marginal  Ornamente  und  120  in  Polychrom  gefasste  Goldiniiialen. 
Den  Codex  hat  1488  der  Florentiner  Miniator  Francesco  Antonio  Cherico  gemalt, 
von  dem  verschiedene  ausländische  BibHotheken  glänzend  ausgestattete  Codices 
besitzen.  Mit  diesen  beiden  Codexen  steigt  die  Zahl  der  Corvina-Codexe  des  unga- 
rischen Nationalmuseums  auf  12,  von  welchen  6  Geschenke  Sr.  Majestät  des 
Königs  sind. 


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KITBZE   SITZUNGSBERICHTE.  ^*35 

—  In  der  Plenarsitzung  am  22.  Juni  las  das  corr.  Mitglied  Anton  P6r  eine 
umfassende  Detücrede  auf  dus  ordentliche  Mitglied  Johann  Hyacinth  Ronny, 
Der  Vortragende  beginnt  seine  Darstellung  von  Rönay*s  Leben  und  Wirken  mit 
der  Schilderung  der  Tage,  wo  Bönay  im  Winter  von  1849  auf  1850  in  der  Löreer 
Tanya  auf  dem  Hortob«lgy  sich  als  Flüchtling  unter  dem  Namen  Rudolf  Hegyi 
verborgen  hielt  und  die  Zeit  mit  der  Abfassung  eines  Goncurrenzwerkes  um  einen 
von  der  Akademie  auf  eine  Psychologie  ausgeschriebenen  Preis  ausfüllte.  Anfangs 
März  übergab  er  dasselbe  seinem  Wirt  mit  der  Bitte,  es  an  seinen  Bestimmungsort 
zu  befördern ;  er  selbst  Legab  sich,  um  den  immer  mehr  zunehmenden  Nachfor- 
schungen zu  entgehen,  zum  Näd-CJdvarer  Apotheker  als  Gehilfe.  Von  hier  liess  ihn 
am  22.  Mai  Mitternachts  ein  befreundeter  Kaufmann  vor  den  Abends  zu  seiner 
Verhaftung  eingetroffenen  Gendarmen  durch  seinen  Sohn  nach  Miskolcz  ent- 
führen, von  wo  ihn  die  freiwilligen  patriotischen  Retter  von  Hand  zu  Hand  gaben, 
erst  nach  Liptö-Szent-Miklös,  Alsö-Eubin,  Biala  und  endlich  über  die  Grenze  nach 
Pless  spedirten  ;  so  kam  er  dann  über  Breslau  nach  Hamburg.  Hier  und  ebenso  in 
Brüssel  wegen  Passmangels  ausgewiesen,  kam  er  am  10.  Juli  von  Ostende  nach 
London,  welchem  zwölf  Jahre  hindurch  dem  Flüchtüng  Asyl  und  Unterhalt  bot. 
Vor  Allem  erlernte  er,  um  sich  seinen  Unterhalt  durch  Unterricht  erwerben  zu 
können,  von  einem  erblindeten  Arzt,  John  Bird,  das  Englische  und  schrieb  daneben 
für  den  «Pesti  Naplöi  in  Folge  Aufforderung  des  Redacteurs  Franz  Csäszär  für 
10  Ü.  Honorar  wöchentlich  drei  Londoner  Briefe,  später  sendete  er  auch  an  «Ma- 
gyar Sajtö»  und  andere  Blätter  Arbeiten,  welche  mehr  als  ephemeren  Wert  haben. 
Vor  Ablauf  eines  Jahres  konnte  ihm  sein  blinder  Sprachmeister  schon  Schüler  ver- 
schaffen und  Mitte  Juni  1851  gab  Rönay  die  regelmässige  Correspondenz  für 
«Naplö»  auf,  um  sich  ganz  der  Erziehung  und  dem  Unterricht,  als  seiner  Lebens- 
aufgabe, zu  widmen.  Sein  Benehmen,  seine  Pünktlichkeit,  seine  Befähigung  für  den 
Unterricht  mehrerer  Sprachen  und  verschiedener  wissenschafthcher  Fächer  mach- 
ten ihn  zu  einem  gesuchten,  geliebten  und  verehrten  Ijehrer  in  verscliiedenen 
distinguirten  Häusern,  so  in  der  Familie  des  Parlamentsmitgliedes  Benjamin  Smith. 
Auf  des  Grafen  Stefan  Szechenyi  Empfehlung  unterrichtete  er  die  Marchioness  of 
Stafford,  nachmalige  Herzogin  Sutherland,  im  Ungarischen.  Den  beiden  Söhnen 
Kossuth's  gab  er  1  Va  Jahre  lang  Unterricht  im  Lateinischen.  Femer  nahm  ev  Teil 
an  der  Leitung  der  Londoner  ungarischen  Militärschule,  schrieb  für  sie  nach  fran- 
zösischen und  deutschen  Werken  militärwissenschaftliche  Handbücher  und  unter- 
richtete selbst  Zeichnen  und  Geometrie,  bis  die  Schule  nach  einem  halben  Jahre 
wegen  Mangels  an  Subvention  einging.  Neben  seiner  Erwerbsthätigkeit  setzte  er 
die  seinen  Neigungen  entspreclienden  psychologischen  Studien  fort.  Er  war 
Anfangs  1840,  nachdem  er  1839  die  Priesterweihe  und  das  philosophische  Doctorat 
erworben,  durch  den  Erzabt  von  Martinsberg  zum  Professor  der  Philosophie  am 
Raaber  Benedictiner-Lyceum  ernannt,  und  auf  Gnmd  seiner  beiden  Erstlingswerke 
«Psychologie»  und  •Charakterkimde'»  Eude  1847  zum  corr.  MitgHed  der  Akademie 
gewählt  worden,  wo  er  mit  dem  Antrittsvortrag  «Ueber  das  Gehirn  und  dessen 
Einfluss  auf  das  Geistesleben»  debutirte.  Darauf  folgte  sein  auf  dem  Hortobägy 
geschriebenes  Werk  :  «Natürliches  System  der  Psychologie»,  in  dessen  Fortsetzung 
er  nun   Befriedigung   suchte.   Schon  Anfangs  1852  plante  er  ein   Werk:    «Die 

40* 


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^»36  KÜRZE   8ITZUN08BERICHTE. 

Geschichte  des  Lebens»,  welchem  die  Umarbeitung  seines  «Systems  der  Psycho- 
logie» folgen  sollte.  Er  schrieb  dann  auch  vier  Bände  fertig,  von  der  Fortsetzung 
und  Vollendung  desselben  zog  ihn  jedoch  sein  immer  mächtiger  werdendes  In- 
teresse für  die  Geologie,  die  Erforschung  der  Entstehung  des  irdischen  Lebens  ab, 
dessen  erstes  Ergobniss,  seia  Weik :  «Der  feueranbetende  Weise  über  die  Denk- 
mäler der  Urwelten»,  er  Ende  1857  vollendete,  welches  auf  Vermitthmg  des  Grafen 
Stefan  Szechenyi,  für  dessen  «Bück»  Rönay  in  London  einen  Verleger  gefunden 
hatte,  bei  Kilian  in  Pest  ersclüen.  Auf  Bartholomäus  Szemere's  Anregung  hatt« 
Rönay  1 853  die  Briefe  des  ungarischen  Afiika-Reisenden  Ladislaus  Magyar  in  der 
«Königlichen  Geographischen  Gesellschaft»  bekannt  gemacht  und  bei  fortgesetztem 
Besuch  der  Sitzungen  dieser  Gesellschaft  seine  Begeisterung  für  die  Geologie  em- 
pfangen. 

Als  das  1860er  October-Diplom  die  Hoffnung  auf  Wiederherstellung  der  Ver- 
fassung erweckt«,  nahm  er  seine  journalistische  Thätigkeit  für  «Magyarorszdg»  und 
«Magyar  Sajtöi  wieder  auf,  doch  als  diese  Hoffnung  erblasste,  kehrte  er  von  der 
Politik  mit  der  ganzen  Glut  der  Begeisterung  zur  Geologie  zurück.  Er  schrieb  für 
mehrere  imgarische  Blätter  und  Zeitschriften  eine  grosse  Anzahl  grossenteils  auf 
diesem  Gebiete  sich  bewegender  Abhandlungen  und  Artikelserien  —  danmter 
«Entstehung  der  Racen»  in  91  Nummern,  welche  unter  dem  Titel :  «Die  Stelle  des 
Menschen  in  der  Natur  und  sein  Altertum»  auch  besonders  erschien  (Pest,  1864 
und  1867).  Daneben  Hefen  seine  theatergeschichtlichen  Artikel  für  Gabriel  Egressy's 
«Ungarische  Theater-Zeitung»  (Magyar  Szinhäzi  Lap),  von  welchen  «Charak- 
terzeichnungen aus  der  englischen  Theaterwelt»  (Pest,  1865)  auch  gesammelt 
besonders  erschienen  zum  Besten  des  Pensionsfonds  für  dienstunfähige  Schau- 
spieler. Femer  übersetzte  er  im  Auftrage  des  Prinzen  Louis  Lucian  Bonaparte  aus 
Reguly's  Nachlass  die  auf  die  Mythologie  der  Vogulen  und  die  Verwandtschaft  der 
vogulischen  und  ungarischen  Sprache  bezüglichen  Partien  ins  Englische. 

Während  dieser  Beschäftigung  schlug  für  ihn  die  Stunde  der  Befreiung  aus 
seinem  Exil.  Als  1865  wieder  der  Reichstag  einberufen  wurde,  um  den  Ausgleich 
zwischen  Krone  und  Nation  von  neuem  zu  versuchen,  forderte  ihn  der  damals  neu- 
gewählte Martinsberger  Erzabt  Chrysostom  Kruess  zur  Heimkehr  auf,  indem  er  ihm 
die  Erwirkung  der  bedingungslosen  Erlaubniss  zur  Heimkehr  zusicherte.  Nachdem 
Ronay  den  seinen  Londoner  Zöglingen  und  dem  Prinzen  Bonaparte  gegenüber  ein- 
gegangenen Verpflichtungen  entsprochen  und  in  der  «British  Association  for  the 
Advancement  of  Science»  am  !2i2.  August  1866  seinen  Vortrag  «Ueber  die  Vogulen 
mit  besonderer  Rücksicht  auf  ihre  Schöpfungssagen»  gehalten  hatte,  nahm  er  am 
17.  September  von  London  und  seinen  englischen  Freunden  Abschied  und  begrüsste 
am  26.  September  seine  Ordensbrüder  in  Martinsberg.  Ueberall  wurde  er  herzhch 
willkommen  geheiss-en,  am  herzlichsten  in  Pest  vom  Akademie-Präsidenten  Baron 
Josef  Eötvös,  der  ihn  bei  bei  der  nächsten  Generalversammlung  der  Akademie, 
am  30.  Jänner  1867  zum  ordentlichen  Mitgliede  und  Secretär  der  Akademie 
wählen  liess. 

Das  Dramenbeurteilungs-Comite  des  Nationaltheaters  wählte  ihn  zum  Mit- 
gliede und  der  Pusztaer  (heute  Perer)  Wahlbezirk  des  Raaber  Comitatee  zum 
Reichstagsabgeordneten.  Auf  diesen  dreifachen  Beruf  verteilte  sich  nun  seine  Thä- 


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KUBZE   SITZUNGSBERICHTE.  637 

tigkeit.  Daneben  trieb  er  in  den  Abendstunden  seine  geologischen  btudien  fort, 
deren  Früchte  er  imfcer  Anderem  in  den  Wanderversammlungen  der  Naturforscher 
und  Aerzte  (1867  und  1868).  in  Winterabend -Vorträgen  und  in  der  1871er  Fest- 
sitzimg  der  Akademie  in  dem  Vortrage :  «Der  Fortschritt  des  organischen  Lebens 
und  daß  Aussterben  der  Arten»  veröflfentHchte.  Ausserdem  schrieb  er  im  Feuilleton 
der  «Reform»  25Capitel  seiner  «Öhakenpeare- Biographie»,  welche  er  mit  dem  Ueber- 
gange  dieses  Blattes  in  andere  Hände  abbrach.  Gleichzeitig  tmt  eine  neue  Wen- 
dung seines  Schicksals  ein.  Am  20.  April  1871  meldete  ihm  Franz  Do*ik  im  Foyer 
des  Abgeordnetenhauses,  dass  ihn  der  Unterrichtäminister  Theodor  Pauler  zum 
Sectionsrat  ernennen  werde,  und  vor  Ablauf  eines  Monates  erhielt  er  that sächlich 
die  Ernennung.  Am  3.  Jnni  aber  teilte  ihm  der  Minister- Präsident  Graf  Julius 
Andrässy  mit,  dass  er,  im  Einvernehmen  mit  dem  Ministerrate,  ilm  zu  dem  von 
Sr.  Majestät  gewünschten  Lehrer  der  ungarischen  Geschichte  für  den  Kronprinzen 
ausersehen  habe.  Rönay  nahm  den  seiner  ünterrichtsneigung  entsprechenden  ehren- 
den Antrag  bereitwilhgst  an,  und  der  Kronprinz-Erzieher  General  Latour  gab  ihm 
Ende  September  in  Wien  für  den  Unterricht  der  ungarischen  Geschichte  in  unga- 
rischer Sprache  die  Instruction:  «Wir  wollen  Wahrheit;  folgen  Sie  Ihrer  Ueber/eu- 
gungt,  welche  Rönay's  besorgte  Seele  wie  Balsam  überlioss;  am  20.  October  fand  die 
Vorstellung  bei  seinem  hohen  Schüler  statt,  und  am  folgenden  Tage  begannen  die 
Vorträge,  über  deren  erfreulichen  Fortgang  der  fünfte  Band  des  Tagebuchei 
Rönay's  ausführliche  interessante  Berichte  enthält,  deren  Mitteilung  jedoch  dem 
letztwilligen  Wunsche  Rönay's  entsprechend  unterlassen  werden  muss.  Der  Unter- 
richt dor  ganzen  ungarischen  Geschichte  wurde  vom  21.  October  1871  bis  zum 
22.  December  1872  in  je  drei  wöchentUchen,  zusammen  127  Unterrichtsstunden  in 
ungarischer  Sprache  mit  Benützung  von  Klaus  Vaszary's  «Geschichte  Ungarns» 
als  Handbuch  und  Beachtung  der  Latour' sehen  Instruction  erteilt ;  der  Unterricht 
in  den  beiden  ersten  Perioden,  die  der  Herzoge  und  Arpäd'schen  Könige,  wurde 
am  14.  Februar  in  Ofen,  die  beiden  folgenden,  der  Könige  aus  gemischten  Häusern 
und  dem  Hause  Habsburg,  am  23.  December  1872  in  GödöUö  mit  einer  Pinifung 
abgeschlossen.  Der  unermüdliche  Fleiss,  das  scharfe  Urteil,  der  Wahrheits-  und 
Wissensdrang,  die  ungetrübte  heitere  Laune  seines  hohen  Schülers  begeisterten 
Rönay  bei  seinen  Vorträgen  und  berechtigten  ihn  zu  den  schönsten  Hoffnungen. 
Se.  Majestät  drückte  wiederholt  seine  Befriedigung  mit  dem  Ergebnisse  der  Prü- 
fimg aus. 

Nachdem  Rönay,  der  inzwischen  zum  Pressburger  Probst,  dann  zum  Titular- 
bischof  ernannt  worden  war,  seiner  Aufgabe  beim  ungarischen  Königshofe  solcher- 
weise entsprochen  hatte,  kehrie  er  zu  seinen  ihm  theuren  literarischen  Beschäfti- 
gimgen  zurück.  Ein  hoiTorragender  Verleger  bewarb  sich  um  die  Herausgabe  seiner 
gesammelten  Werke,  welche  sechs  Bände  umfassen  sollton,  doch  ehe  über  die  ein- 
zuhaltende Reihenfolge  eine  Einigkeit  erzielt  wurde,  nahm  die  Thätigkeit  Rönay's 
wieder  eine  neue  Richtung.  Schon  Ende  1871  hatte  Ihre  Majestät  die  Königin  mit 
Rönay  über  die  Fortschritte  ihres  Sohnes  gesprochen  and  sich  seine  Ansichten 
über  Erziehung  und  Unterricht  entwickeln  lassen,  welche  ihr  sehr  zusagten  und 
sie  bestimmten,  ihn  zum  künftigen  Erzieher  der  Ei-zher/.ogin  Marie  Valerie  zu 
wählen.  Am  5.  Februar  1875  kam  vom  Hofe  die  officielle  Ernennung,  welche  Rönay 


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KUBZE  SITZUNGBBERICHTE. 


mit  der  Leitung  der  Erziehung  und  de«  Unterrichtes  der  Prinzessin  betraute.  Bönay 
ging  also  wieder  nach  Wien  und  führte  sein  neues  Amt  ununterbrochen  neun  Jahre 
hindurch.  Die  Erzherzogin  machte  erfreuliche  Fortschritte.  Unterricht,  Gebet,  Con- 
versation,  Gorrespondenz  mit  Eltern  und  Geschwistern  waren  ausschliesslich  unga- 
risch. Die  hohe  Schülerin  lieferte  überraschende  Beweise  ihrer  geistigen  Begabung, 
indem  sie  unter  Anderem  ganz  selbstständig  und  mit  Leichtigkeit  über  70  kleine 
Novellen  und  Theaterstücke,  ebenfalls  in  ungarischer  Sprache,  schrieb.  Seine  freien 
Augenblicke  verwendete  der  den  Siebzigen  zuschreitende  Gelehrte,  da  er  seinen 
ernsten  Literaturbestrebungen  entsagen  musste,  zur  Aufzeichnung  und  Reinschrift 
seiner  Tagebücher  und  Erlebnisse.  R6nay  hatte  von  Jugend  an  Tagebücher  geführt 
Den  Plan,  daraus  seine  Memoiren  zu  redigiren,  hatte  er  bereits  1871  gefasst  und 
er  schrieb  zehn  Bände,  welche,  jeder  mit  einem  Schloss  versehen,  seiner  letzt- 
wiUigen  Verfügung  gemäss  im  Archiv  der  Martinsberger  Erzabtei  aufbewahrt 
werden.  Als  Rönay  am  29.  Mai  1883  von  seiner  Erzieher- Stellung  dispensirt  wurde 
und  als  wirkhcher  Geheimer  Rat,  Grosskreuz  des  Eisernen  Kronen-Ordens  und 
Eigentümer  anderer  hervorragender  Orden  in  seine  Pressburger  Residenz  zurück- 
kehrte, setzte  er  seine  Tagebücher  nicht  nur  fort,  sondern  Hess  dieselben  auch  zur 
Gontrolirung  seines  Manuscriptes  in  zehn  Exemplaren  drucken.  1885  erschienen 
in  Pressburg  die  ersten  fünf  Bände ;  die  Drucklegung  der  übrigen,  wiewohl  sie  eben- 
falls fertig  waren,  wagte  er  mit  Rücksicht  auf  sein  vorgeschrittenes  Alter  nicht  in 
Angriff  zu  nehmen.  Doch  entschloss  er  sich  später  auf  Ermunterung  seitens  Ihrer 
Majestät  der  Königin  dazu  und  so  erschien  noch  der  6.,  7.  und  kurz  vor  seinem 
Tode  der  8.  Band.  Als  das  Pressburger  Capitel  am  19.  April  1889  seinen  Probst, 
der  die  zerrütteten  Verhältnisse  dieser  uralten  kirchhchen  Stiftung  ordnete  und  ihr 
Ansehen  durch  den  seltenen  Glanz  seiner  hohen  Stellung  hob,  zum  Grabe  geleitete, 
erwies  es  einem  sanftmütigen  und  gelehrten  Geisthchen  von  fleckenlosem  Cha- 
rakter und  reiner  Lebensführung,  einem  seinem  Vaterlande  und  seinem  gekrönten 
König  mit  gleicher  Hingebung  dienenden,  ausgezeichneten  Patrioten  die  letzte 
Ehre,  an  welcher  Ehrenbezeigung  auch  die  Akademie  durch  eine  Deputation  und 
Sendung  eines  prächtigen  Lorbeerkranzes  teilnahm. 

Auf  die  Denkrede  folgten  die  laufenden  Angelegenheiten.  Der  General- 
Secretär  verhest  die  Dankschreiben  mehrerer  neugewählter  Mitglieder.  Das  Präsi- 
dium wird  beauftragt,  an  jene  drei  Akademie-Mitgheder,  welche  in  den  diesjährigen 
Ferien  das  fünfzigjährige  Jubiläum  ihrer  Mitgliedswahl  erleben,  im  Namen  der 
Akademie  Glückwunsch -Adressen  zu  richten.  Es  sind  dies :  das  DirectionsmitgUed 
Baron  Nioolaus  Vay,  das  EhrenmitgUed  Franz  Pulszky  und  das  ordentliche  Mitglied 
Paul  Hunfalvy.  Der  General-Secretär  meldet,  doss  zur  Deckung  der  Herstellungs- 
kosten der  neuen  Wandgemälde  des  Prunksaales  neuerlich  folgende  Spenden  an- 
gemeldet wurden :  300  fl.  vom  Gross wardeiner  Bischof  Lorenz  Schlauch,  200  fl. 
vom  Csanäder  Bischof  Alexander  Dessewffy,  je  100  fl.  von  den  Bischöfen  Julius 
Meszlönyi  von  Szatmär  und  Philipp  Steiner  von  Stuhlweissenburg.  Der  General- 
Secretär  legt  das  neuerliche  Gutachten  der  ersten  Classe  in  Angelegenheit  der  Ein- 
führung der  neugriechischen  Aussprache  beim  Unterricht  des  Altgriechischen  vor ; 
Ivan  T^lfy  aber  verliest  sein  ausführliches  Separatgutachten.  Das  Plenum 
beschliesst,  beide  Gutachten  dem  Unterrichtsminister  zuzusenden.   Der  General- 


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tttJ&ZE   SirZin^GSBElUCH'fE.  ^^^ 

Secretär  legt  die  für  den  Köczdn-Preis  eingelaufenen  zwei  Concurrenzwerke  vor : 
lUm  die  Krone •,  historisoheB  Drama  in  5  Acten,  und  «Vidi,  ebenfalls  fonfactigee 
historißches  Drama. 

—  ungarische  Geographische  Gesellschaft.  In  der  April-Sitzung  dieser 
Gesellschaft  hielt  zunächst  Julius  Halaväte  einen  Vortrag  Ueber  das  Aranyos  Gebirge 
im  Comitat  Krasso,  Vortragender  fuhrt  das  im  westlichen  Teile  des  Krassö- 
Severiner  Comitates  sich  von  Bogsän  nach  Norden  hin  erstreckende  Aranyos- 
Gebirge  vor.  Imposant  erhebt  sich  aus  dem  umgebenden  Hügelland  dieser  feuer- 
speiende Berg  längstvergangener  Zeiten,  welchen  ringsherum  zahlreiche  Ortschaften 
umgeben.  Im  Süden  liegen  die  beiden  Bogsän  mit  der  Burg  Bogsa-Vtlr,  welche  in 
der  Zeit  der  Türkenherrschaft  eine  Rolle  spielte,  während  die  späteren  Ansied- 
lungen  in  der  Bergbaugeschichte  des  vorigen  Jahrhunderts  hervortraten.  Der 
nördliche  Teil  aber  war  im  14.  Jahrhundert  ein  Bestandteil  des  Egerszeger  Domi 
niums  der  Hunfy,  von  welchem  östlich  sich  der  freie  Komjäter  District  erstreckte. 
Jetzt  ist  das  Gebiet  zum  besten  Teil  Eigentum  der  GesteiTeichich-Unganschen 
Staatseisenbahn-Gesellschaft  und  nur  im  nördhchen  Teile  haben  einige  Gross- 
grundbesitzer Anteile.  Die  Bevölkerung  ist  rumänisch. 

Hierauf  hielt  der  technische  Bat  im  Handelsministerium  B^la  Gonda,  als 
Gast,  einen  freien  Vortrag  Ueber  das  Eiserne  Thor  in  der  unteren  Donau  und  die 
Regtüiriing  der  dortigen  Katarakt^i,  zu  dessen  besserer  Veranschaulichung  eine  in 
grossem  Masstabe  ausgeführte  Karte  des  Donaustromes  von  seinem  Austritt  aus 
dem  ungarischen  bis  zu  seinem  Eintritt  in  das  rumänische  Tiefland,  Detailabbil- 
dungen der  besonders  i-egulirungsbedürftigen  Stellen,  femer  die  vom  Hauptmann 
Dinelli  angefertigte  Reliefdarstellung  dieses  Stromabschnittes  und  seiner  Umge- 
bung, endlich  eine  gi'osse  Anxahl  grosser  photographischer  Aufnahmen  dienten. 
Vortragender  schildert  vor  Allem  an  der  Hand  der  zuerst  erwälmten  Karte  den 
Strom  in  seinem  kampfreichen  Vordringen  durch  die  zahllosen  in  diesem  Ab- 
schnitte sich  ihm  entgegenstellenden  Hindemisse,  die  ihn  einengenden  Ufer,  ihn 
durchschreitenden  Klippen,  dadurch  bewirkten  Stromschnellen  und  Katarakte, 
sowie  die  Naturmerkwürdigkeiten  seiner  Ufer  (Höhlen,  Kolumbacser  Fliegen  etc.). 
Besonders  lange  verweilt  er  beim  eigentlichen  Eisernen  Thor.  Hieran  knüpft  er 
dann  eine  lebendige  Darstellung  der  Rolle,  welche  dieser  Stromabschnitt  in  der 
Geschichte  gespielt  hat.  Er  schildert  die  Werke  der  Römer,  die  Trajansbrücke, 
den  zur  Umgehung  der  Katarakte  unternommenen  Kanalbau,  die  Trajans8ti*asse, 
die  Trajan -Denktafeln,  die  Cultur  des  Ufergebietes  in  der  Römerzeit,  besonders 
den  römischen  Bergbau,  die  Burg  oberhalb  der  Trajansbrücke  u.  s.  w.  Er  erwähnt 
dann  die  im  Verlaufe  der  ungarischen  Geschichte,  besonders  in  der  Türkenzeit, 
an  diesem  Stromlaufe  sich  abspielenden  Ereignisse  (Galamböcz,  Veterani,  Ada- 
Kaleh).  Dann  erzählt  er,  wie  Graf  Stefan  Szechenyi,  die  Wichtigkeit  der  unteren 
Donau,  t dieser  Lebensader  Ungarns»,  für  die  Schifffahrt  erkennend,  für  die  Hin- 
wegrämnung  der  Schifffahrfchindernisse  unermüdUch  thätig  gewesen.  Er  schildert 
eingehend  die  ganze  Reihenfolge  seiner  Expeditionen  an  die  untere  Donau,  von 
der  1830  untemommenen,  bis  ins  Schwarze  Meer  und  nach  Constantinopel  aus- 
gedehnten Rekognoscirungs-  und  Agitationsreise  angefangen  ;  die  auf  seine  Anre- 


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^^^  KURZE    BITZÜNaSBEIUCHTÄ. 

gung  nusgeführten  Anfnalimen  und  ausgearbeileten  Pläne  (YäsÄrbelyi),  den  Bau 
der  1837  vollendeten  Szeclienyisirasse,  die  vorgenommenen  Sprengungen  und 
anderweitigen  Arbeiten,  welche  1 84^)  in  Folge  des  Todes  VAsdrhelyi's  und  wegen 
Geldmangels  einschliefen.  Dann  erzählt  er,  wie  zur  Zeit  des  Krimkrieges 
(1855 — 1856)  die  Schifffahrtlündernisse  der  unteren  Donau  die  Aufmerksamkeit 
der  Kriegfühlenden  erregten,  durch  hinabgeschickte  Ingenieure  ergänzende  Auf- 
nahmen und  Reguliruni^spläne  angefei-tigt,  Sprengungen  ausgeführt,  vom  Haupt- 
mann Dinelh  die  Reliefkarte  des  Stromgebietes  ausgearbeitet  wurde,  die  Ausfüh- 
rung der  Pläne  aber  unterblieb.  Vortragender  berichtet  dann,  wie  die  Regulirungs- 
Angelegenheit  einen  neuen  Aufschwung  durch  den  1871er  intei-nationalen  Congress 
erhielt,  wie  1 873  die  Uferstaaten  eine  gemischte  Fach  commissi  on  entsandten  und 
aufGnmd  der  Väsärlielyi'schen  und  der  1 855/ 56er  Pläne,  mit  Beriicksichtigung 
der  Anforderungen  der  modernen  Schifffahrt,  neue  Pläne  ausgearbeitet  und  ange- 
nommen wurden,  deren  Ausführung  aber  wieder  aufgeschoben  wurde ;  wie  dann 
1878  die  Ausfühnmg  der  österreichisch -ungarischen  Monarcliie  vei-tragsmässig 
übertragen  und  1879  auch  die  Meinungen  und  Vorschläge  der  anlässlich  der  Theias- 
überschwemmung  berufenen  ausländischen  Fachmänner  entgegengenommen  wur- 
den ;  wie  dann  die  Angelegenheit  wieder  mehrere  Jahre  hindurch  ruhte,  bis  sie 
in  die  richtigen  Hände  kam  und  der  die  Ausführung  der  Regulirung  beschlies- 
sende  1888fir  Gesetzartikel  die  Idee  Szöchenyi's  dem  Stadium  der  nahen  Ver- 
wirklicluing  zuführte.  Der  energische  Handelsminister  Baross  hat  im  Jahre  1889 
mit  grosser  l^egeistornng  die  zweckentsprechenden  vorbereitenden  Massnaliraen 
getroffen  und  die  Ausführung  des  kolossalen  Werkes  einer  Unternehmung  mit  der 
Verpflichtung  der  Vollendung  desselben  bis  1895  tibergeben.  Am  15'  September 
1890  hat  dann  in  Anwesenheit  des  Ministerpräsidenten  Szapdry  die  feierhche 
Eröffnung  der  Arbeiten  stattgefunden .  Schliesslich  schildert  Vortragender  die 
bisher  vorgenommenen  grossartigen  Voi-anstaltungen  zur  Ausführung  des  Riesen- 
unternehmens, die  Arbeitsanlagen,  die  Aufnahmen  der  unter  Wasser  befindhchen 
Felsen,  die  versclxiedenartigen  mechanischen  Vomchtungen  zur  Zertrümmerung 
derselben,  wie  zur  Hebung  und  Verwendung  der  Tinimmer,  die  bisher  durchge- 
fülirten  Sprengungen,  endlich  die  Aufstellung  der  das  Andenken  der  feierlichen 
Eröffnung  vom  15.  September  1890  verewigenden  Denktafel  und  schliesst  mit  den 
Schlussworten  der  Inschrift:  «Gottes  Segen  fei  auf  dem  Werke  1 »  den  Vortarag, 
welcher  trotz  fast  zweistündiger  Dar.er  mit  unausgesetzt  gespannter  Aufmerksam- 
keit angehört  und  mit  lebhaftem  Applaus  ausgezeichnet  wurde. 


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BOLESLAW  II.  VON  POLEN. 

Von  Prof.  Dr.  Fritz  Pichleb. 

I. 

Boleslaw  IL,  aus  dem  Hause  der  Piasten  (850 — 1139),  beigenannt 
Smialy  (der  Kühne),  Enkel  des  ersten  Boleslaw,  war  der  erstgeborene  Sohn 
des  Kazimierz  von  Polen  mit  der  Dobrognewa  (Dobrognieva,  beigenannt 
Maria),  Gi:ossfürstin  von  Eajov  (Kiew),  der  Schwester  des  russischen  Gross- 
Färsten  Jaroslaw. 

Geboren  um  1035  bis  1042,^  Aeltester  der  Brüder  Wladislaw,  Mjesko 
(Mescho,  Mieczyslaw),  Otto,  übernahm  er  nach  dem  Tode  seines  Vaters 
(t  1058,  28.  November)  das  Keich.  Dieses  umfasste  die  Landgebiete  zwi- 
schen Böhmen,  Ost-Schlesien,  Ungarn,  zwischen  Mittel- Weichsel  und  Bug, 
Podolien,  Kulmerland,  weiterhin  zwischen  Fluss  Wieperz  in  Nordost,  den 
Ostsee-Gestaden,  Kamin,  Magdeburg,  Brandenburg  und  Meissen ;  nämlich 
den  Kern  von  Grosspolen,  die  kleinpolnischen  Fürstentümer  Lenczyc  gegen 
die  Warta,  Sieradz  nahe  gegen  Oder,  Sandomirz  nordöstUch  von  Cracow 
(Krakau)  im  Gebiete  von  Ghrobacia,  ferner  Mazovia  beiderseits  des  Bug^ 
mit  Kujavia  nordwestlich  und  dem  Kulmerlande  nördUch  an  Ossa  bis 
Weichsel,  endlich  das  westlichste  Schlesien.^ 

In  Deutschland,  welchem  sowohl  Böhmen  als  Polen  damals  unter- 
würfig galten,  war  nach  dem  1056  erfolgten  Hintritte  des  Kaisers  Hein- 
rich III,  König  Heinrich  IV.,  in  Ungarn  König  Andreas  seit  1047,  in  Böh- 
men Herzog  Spitichnew  I.  seit  1055,  zu  Byzanz  gebot  Isaak  Komnenos  seit 
1057,  den  päpstlichen  Stuhl  hatte  Benedikt  X.  inne. 

Des  Boleslaw  Grossmutter  war  eine  Deutsche  gewesen,  Bicheza  (auch 
Bichenza,  Bichsa  genannt),  eine  Tochter  des  rheinischen  Pfalzgrafen  Ezo 


*  Gegen  Dhigoßz  cap.  246,  247  Naniscziewicz  V,  29  (1043). 
^  Spruner,  historisch-geographischer  Atlas  S.  46.  No.  4,  Blatt  52.  Serbien  hiesa 
das  nordkarpatische  Land. 

UngariMhe  Bevne.  XI.  1891.  Vin— IX.  Heft.  4] 


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64:^  B0LE8LAW    H.  VON    POLEN. 

mit  Mathilde,  der  Schwester  Kaiser  Otto's  EI. ;  zu  ihr,  der  Landvertriebe- 
nen, war  Eazimierz  aus  Ungarn  geflohen,  durch  ihre  Bruder  (Erzbischof 
Hermann  von  Köln,  Pfalzgraf  Otto  von  Schwaben)  am  Hofe  König  Hein- 
richs m.  eingeführt,  hatte  er  die  Vermittelung  des  mächtigsten  Beichs- 
Nachbars  und  die  Wiedereinsetzung  in  seine  Herrschaft  gewonnen.  Unte 
Boleslaw  trat  von  alledem  das  Gegenspiel  ein. 

Die  Vaters-Schwester  war  an  Herzog  Bela  von  Ungarn  vermählt,  den 
Bruder  des  Ladislaiden  Andreas.  Aus  dieser  Verbindung  erwuchs  bereits  im 
ersten  Jahre  dem  neuen  polnischen  Landesfürsten  eine  kriegerische  Ver- 
wickelung. Denn  zu  ihm  kam  geflohen  B^la  mit  seinem  gesammten  Hause, 
in  seinem  Vaterlande  unsicher  gemacht  durch  die  Krönuog  des  mit  der 
deutschen  Prinzess  Judith  verlobten  Bruders-Sohnes  Salomo  und  durch  ander- 
weitige ßechtsverkürzungen.  Drei  Armee-Gruppen  wurden  dem  Flüch- 
tigen, welcher  jetzt  nicht  das  erste  Mal  die  Mithilfe  der  Polen  in  Ansprach 
nahm,  zur  Verfügung  gestellt ;  mit  diesen  überschritt  der  Herzog,  wahrschein- 
lich unter  Uebersteigung  der  Karpathen-Durchbrüche  gegen  das  Zipserland, 
die  ungarischen  Grenzen  und  zog  bei  wachsendem  Beitritte  der  nördlichen 
Comitate  in  die  Theiss-Ebenen.  Hier  stellten  sich  ihm  nicht  nur  die  deut- 
schen Hilfstruppen  entgegen  (mit  den  Baiem  unter  Eppo,  Bischof  von 
Zeitz,  und  Wilhelm,  Markgrafen  von  Thüringen,  wohl  auch  mit  den  Beamt- 
em), sondern  auch  die  ungarischen  Schaaren  des  Königs  Andreas.  Nach 
einer  bedeutenden  Schlacht  ward  dieser  in  Folge  eines  Pferdsturzes  vom 
Tode  ereilt ;  sein  beglückter  Gegner,  auf  dem  Schlachtfelde  als  König  aus- 
gerufen, nahm  Stuhlweissenburg,  und  jetzt  waren  es  die  in  günstiger  Ein- 
tracht lebenden  Bischöfe,  welche  ihm  die  Krone  aufsetzten.  Wenn  auch 
nicht  in  persönlicher  Anwesenheit,  so  hatte  sich  Boleslaw  durch  die  Nach- 
richten seiner,  zunächst  noch  bei  der  Bildung  der  ersten  Landesvertretung 
zurückgehaltenen  Heer- Oberste  von  der  Einwirksamkeit  der  geistlichen 
Würdenträger  in  National-Sachen  überzeugen  können,  die  ihrem  Stande  nicht 
umfangreicher  und  nachdrücklicher  zukam,  als  irgend  einem  anderen.  Auch 
war  der  Polenfürst  durch  diese  Stellungnahme  nicht  auf  das  Freundlichste 
angeschrieben  beim  deutschen  Hofe  und  bei  dessen  Vasallen. 

In  Böhmen  ging  Wratisiaw,  des  ungarischen  Andreas  Schwiegersohn, 
Landesherzog  geworden  nach  dem  (im  Jahre  1061,  28.  Jänner,  erfolgten) 
Tode  seines  Bruders  Spitichnew,  daran,  sein  bisher  inne  gehabtes  Herzog- 
tum Mähren  unter  seine  jüngeren  Brüder  Konrad  und  Otto  zu  teilen,  ohne 
den  angehenden  Geistlichen  Jaromir,  den  viertjüngsten,  mit  Landesant<eil 
zu  bedenken.  Schon  hatte  dieser,  wie  wenig  freiwillig  auch,  die  Weihen 
genommen  und  mit  der  Anwartschaft  auf  das  Prager  Bistum  sich  befirie- 
digt :  allmälig  gewannen  aber  doch  seine  Parteigänger  so  viel  über  ihn,  dass 
er  seine  kirchhche  Stelle  ohne  Weiteres  verliess  und  mit  soldatischem  Trotze 
das  Land  räumte.  Auch  er  erschien  auf  dem  Hofe  der  Weichselstadt  und 


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BOLESLilW  n.  VON    POLEN.  6*3 

-schon  im  Sommer  erfolgten  die  Zusammenstösse  der  Polen  mit  den  Böh- 
men. Indem  die  zn  Gunsten  des  ungarischen  Andreas  abgegangenen 
Bilfszäge  abzuhalten  waren,  welche  Wratisiaw  selber  anführte,  so  ist  wahr* 
scheinlich  dieser  zuerst  durch  die  vorrückenden  Polen,  mit  welchen  wohl 
Jaromir  nicht  gewesen,  scharf  angegriffen  worden;  nach  Vereinigung  mehr- 
facher Schaaren  scheint  Boleslaw  die  üeberschreitung  der  Oppa  und  die  Be- 
setzung Oberschlesiens  vorgenommen  zu  haben,  bis  er  bei  Troppau  vor 
iSrätz  (Gradec)  zögerte.'  Diese  Grenzveste  wurde  belagert,  aber  wahrschein- 
lich ohne  die  den  Auswärtigen  unerlässliche  Vorsicht  und  ohne  die  erfah- 
rene Auswahl  der  tauglichen  Mittel,  so  dass  es  den  Böhmen  glücken  konnte, 
<iie  Polen  durch  eine  Umgehung  nicht  nur  in  eine  harte  Klemme  zu  ver- 
netzen, sondern  das  vielleicht  entscheidende  Bollwerk  auch  ganz  in  ihrer 
Hand  zu  behalten.  Indess  dürfte  es  beiderseits  nnr  zu  halben  Erfolgen 
gekommen  sein,  weil  denn  doch  eine  Viertteil-Entschädigung  Jaromirs  nicht 
-erzwungen  worden  ist  und  sogar  —  um  Beginn  des  Jahres  1063  —  Boles- 
law seine  Schwester  Swatana  (Sventochva,  Swatislawa)  dem  Landesherzoge 
Wratislaw  zur  (dritten)  Frau  gegeben  hat. 

Um  dieselbe  Zeit  ward  der  Polenfürst  aufs  Neue  durch  die  ungari- 
schen Veihältnisse  nach  Bela's  eben  erfolgtem  Tode  in  Anspruch  genom- 
men. Seine  Thätigkeit  drückte  sich  vollständig  in  dem  Sinne  aus,  dass  er, 
gleich  hinter  den  Deutschen  herkommend,  alles  umwarf,  was  diese  soeben 
aufgerichtet  hatten.  Das  hatte  nun  kurzweg  in  der  Anerkennung  Salomo's 
als  König  und  der  Wiederherstellung  aller  Anstalten  seines  Vaters  bestan- 
den. König  Heinrich  selbst,  erst  13  Jahre  alt,  war  nach  Ungarn  gezogen, 
begleitet  von  dem  Bremer  Bischof  Adalbert,  sowie  von  dem  Baiemherzoge 
Otto ;  in  ihrem  Beisein  und  nach  Vollzug  der  nötigen  Ausgleiche  mit  Geyza, 
Ladislaw,  Lampert;  den  Söhnen  Bela's,  war  die  Krönung  zu  Stuhlweissen- 
burg  erfolgt.  Nicht  lange  nach  der  Abreise  der  Deutschen,  im  Spätherbste 
1063,  erhoben  sich  die  Missverständnisse  unter  den  Verwandten  wieder 
und  die  Gebrüder  traten  persönlich  als  Hilfefordemde  vor.  Mit  polnischen 
Kriegshaufen  kehrten  sie  in  ihr  Vaterland  zurück,  trotzdem  für  der  Prinzen 
Auslieferung  von  Seiten  Salomo's  grosse  Geldsummen  geboten  worden  waren. 
Zur  Hälfte  konnte  diese  Intervention  immerhin  als  gelungen  erachtet 
werden,  weil  dann  die  nördlichen  Comitate  sich  für  die  Insurgenten  erklär- 
ten und  im  Uebrigen  der  König,  in  Wieselburg  sich  festsetzend,  auf  halbem 
Wege  entgegen  kam.  Nunmehr  war  es  ein  einzelner  Bischof,  Desiderius 
von  Baab,  welcher,  mit  eindringlichen  Gründen  gewiss,  Boleslaw  anriet, 
Salomo's  königliche  Gewalt  nicht  weiter  zu  erschüttern,  hingegen  die  Brü- 
der mit  einigen  Gebieten  an  der  Theiss  sich  befriedigen  zu  lassen.  Der 


*  Palacky,  Geschichte  von  Böhmen  1844.  I,  300. 

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6-*4f  BOLESLAW   n.  VON    POLEN. 

Friede  von  1604,  20.  Jänner,  hinderte  die  Vertreibung  SaJomo's,  welche 
Bolesiaw  vielleicht  geplant  haben  mochte.  Mit  Ausdrücken  des  Dankes  und 
reichen  Geschenken  wurde  Bolestaw  entlassen;  mit  seinen  mehrenteils 
gegen  die  Bussen  gerüsteten  Kriegern  zog  er  nordwärts  ab. 

Es  folgten  sechs  Jahre  (1064 — 69),  über  die  wir  nicht  einzelweise 
unterrichtet  sind,  nicht  wahrscheinlich  Jahre  des  Friedens  oder  des  that- 
losen  Wohllebens.  Da  forderten  verwandtschaftliche  Umstände  den  kriege- 
rischen l^^rsten  nach  Osten,  in  die  verkehrsreichen  Täler  von  Eäew,  der 
grossen  Handelsstadt  mit  8  Märkten  und  400  Kirchen,  der  Wetteifrerin  von 
Gonstantinopel.  Der  dortige  Grossfürst  nämlich,  Isäslaw  (Izeslaw,  Isjaslav), 
des  Boleslaw  Oheim,  vermalt  mit  der  Tante  des  Folenfürsten,  hatte  sich 
eines  Tages  auch  noch  als  Flächtiger  eingefunden,  bedroht  von  seinem,, 
durch  die  Kiewer  Bürger  demonstrativ  aus  dem  Kerker  befreiten  Gegner 
Wseslaw,  Herrscher  von  Polotzk  (Ploczko).  Obendrein  war  er  auch  besi^t 
von  den  Petschenegen  und  hatte  von  seinen  Brüdern  Swätoslaw  (Svento- 
slav)  und  Wsewolod  (Vsevofod)  nichts  Gutes  zu  erhoffen.  Wie  anzunehmen,, 
weniger  um  dem  älteren,  nicht  gut  beratenen  Manne  zu  seinem  Besitztume 
wieder  zu  verhelfen,  als  aus  angeborener  und  durch  Erfolge  gesteigerter 
soldatischer  Unternehmungslust,  marschirte  Boleslaw  mit  einem  grössten- 
teils neuausgehobenen  Heere  um  den  Sommer  1069  gegen  Kiew.  Die  Städ- 
ter schienen  sich  an  des  Grossfürsten  Brüder  halten  zu  wollen,  nachdem 
der  Polotzker  ohne  rechten  kriegerischen  Widerstand  heimwärtsgekehrt  war^ 
Die  Brüder  allerdings  konnten  zunächst  nichts  Klügeres  thun,  als  dem  heran- 
rückenden Grossfürsten  raten,  seinen  Sohn  Mstislav  mit  einer  Art  beruhigen- 
der Friedensgeleitschaft  zur  Uebemahme  der  erschreckten  Stadt  vorauszu- 
schicken. Trotz  der  den  Aufrührern  versprochenen  Verzeihung  liess  der 
kaum  zu  Macht  gekommene  Junge  Gefangensetzungen  und  Blendungen 
vornehmen  und  rief  alsdann  seinen  Vater  mit  den  gefürchteten  Polen-Heer- 
haufen herbei.  Boleslaw  war  persönlich  anwesend  und  rückte  als  der 
eigentliche  Sieger  in  der  wohlgebauten  und  dm'ch  den  Fleiss  ihrer  Bewoh- 
ner reichlich  ausgestatteten  Stadt  ein  (1069,  2.  Mai).  Es  scheint,  dass  jetzt 
der  verwandte  Hof  sowohl,  als  die  durch  Aufruhr  und  Krieg  in  letzterer 
Zeit  übermässig  stark  mitgenommene  Ortsbewohnerschaft  für  den  Unter- 
halt der  fremden  Truppen  unverantwortlich  in  Anspruch  genommen  worden 
sind.  Zehn  Monate  gefiel  es  den  Kriegern,  hier  zu  verweilen,  bis  der 
Gastfreundschaft  Maass  endlich  übervoll  geworden.  Auf  allgemeine  Verab- 
redung, vielleicht  nicht  ohne  Billigung  und  Schutz  von  oben  her,  wurden 
die  Lagerhäuser  der  Soldaten  umzingelt,  Schaaren  und  Vereinzelte  unter 
Anwendung  von  List  erschlagen  und  so  Boleslaw  um  einen  nicht  unbe- 
trächtlichen Teil  seines  Aufgebotes  gebracht,  bis  dass  er  sich  entschloss,. 
in  seine  polnische  Heimat  zurückzukehren.  Dass  es  auch  Misszufriedene  in 
dem  zuletzt  nicht  sehr  angesehenen  und ,  auch  übel  bestellten  Heere  gab> 


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B0LE8LAW   II.  VON    POLEN.  6^5 

^er  wollte  das  bezweifeln?  Wir  werden  sie  später  genauer  mustern.  Im 
Jahre  1070,  März,  war  Boleslaw  wieder  zu  Krakau. 

Keineswegs  um  Frieden  zu  gemessen,  war  er  heimgekommen.  Er 
hatte  an  den  schlesischen  Grenzthälem  (um  Trauten  au,  Döberle)  bedroh- 
liche Einfälle  der  Böhmen  abzuwehren,  ebendort  Straf-  oder  Raubzüge  in 
das  Gebiet  jenes  Fürsten  durchzuführen,  der  seit  zwei  Jahren  trotz  seiner 
"Schwägerschaft  irgend  welche  Ansprüche  mit  gewaffheter  Macht  zu  betonen 
nicht  abgelassen.  So  hatte  nach  drei  Monaten  der  aus  Bussland  mit  heiler 
Haut  Entkommene  schon  wieder  zum  Schwerte  greifen  müssen.  In  diese 
Zeitläufte  bis  ins  Jahr  1071  gehört  jener  ümgehungsmarsch  in  Polnisch- 
^hlesien,  welcher  den  Boleslaw  auf  die  Westseite  der  böhmischen  Aufstel- 
lung  und  schliesslich  dennoch  den,  auf  den  Ladungsruf  vertrauenden,  Polen - 
führer  in  Täuschung  und  Verwirrung  brachte,  so  dass  der  Feind  ihm  listig 
entfliehen  und  nur  eben  in  der  letzten  Nachhut  noch  hart  angefasst  werden 
konnte. 

Ein  Markzeichen  der  weitreichenden  deutschen  Macht  ist  es,  dass  in 
^e  durch  Jahre  fortgesponnenen  Wirmisse  der  polnisch-böhmischen  Nach* 
bam  Kaiser  Heinrich  IV.  endlich  etwas  Stillstand  und  hauptsächlich  Elä- 
Tung  gebracht  hat.  Wratislaw  sowohl  als  Boleslaw  erschienen  zu  Meissen, 
1071  Herbst,  und  schieden  mit  der  üeberzeugung,  jener  werde  die  Schneide 
der  deutschen  Wafifen  zu  spüren  haben,  welcher  zuerst  des  Nachbars  Gren- 
zen überschritte.  Ohne  der  Schlichtungs- Urkunde  sicheren  Wert  zuzuspre- 
chen, können  wir  doch  annehmen,  dass  der  den  Deutschen  näher  begüterte 
Böhmenherzog  auf  die  deutsche  Seite  neigte,  dass  er  nicht  wahrscheinlich 
der  Angreifende  der  nächsten  Jahre  war,  dass  aber  gewiss  nach  und  nach 
der  Pole  sich  zur  Stellungnahme  gegen  Deutschland  sammelte.  Möglich, 
-dass  in  Würdigung  des  Vorbereiteten  Heinrich  IV.  1073  die  Absicht  hegte, 
nach  der  Weichsel  zu  fahren ;  mindestens  sehen  wir  ihn  gerade  zur  Zeit 
>eines  wieder  ausgebrochenen  polnisch-böhmischen  Krieges  starke  Büstungen 
erheben,  welche  freilich,  wie  sich  nachmals  gezeigt  hat,  den  Sachsen  gegol- 
ten haben.  Vor  September  1074  soll  Bolesiaw  durch  Prinz  Lampert  um 
Hilfstruppen  nach  Ungarn  angegangen  worden  sein,  welches  er  abgelehnt 
habe  mit  Hinweisung  auf  die  Fehden  gegen  Swätoslaw.  Was  bis  1075  sich 
nicht  offenkundig  nachweisen  lässt,  trat  jetzt,  seitdem  Wratislaw  für  seiner 
Herrschaft  Schützung  sich  dem  deutschen  Belebe  mit  Mann  und  Macht,  6«ld 
und  Gut  zur  steten  Verfügung  gestellt,  ganz  klar  zu  Tage ;  der  Piast  nahm 
in  dem  ausbrechenden  Streite  der  Sachsen  gegen  Kaiser  Heinrich  Partei 
für  dieselben.  Nicht  blos  mit  Worten  und  Schriftstücken  der  Gesandten 
wollte  er  auf  den  Kaiser  wirken,  mit  wohlgerüsteten  und  kampferprobten 
Kriegern  versprach  er  für  die  Aufständischen  einzutreten.  Unwahrschein- 
lich ist  es  gewiss  nicht,  dass  er  das  leicht  vermocht  hätte  in  Anbetracht 
«eines  militärischen  Organisirungs-Talentes.  Denn  nicht  nur  gegen  die  Böh- 


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men  ist  er  seit  Beginn  1072  in  fortwährender  Action  geblieben^  mindestens: 
dnrch  vier  Jahre  noch,  sondern  auch  gegen  den  Kiewer  Hof  schien  sieh 
eine  nene  Feindseligkeit  vorzubereiten,  die,  nach  der  Zeiten  Mode,  nicht 
auf  einen  langen  Federkrieg  hinauskkam«  Der  Grossfürst  war  dort  wieder 
einmal  entthront,  1073,  durch  die  Brüder  vertrieben;  wieder  betrat  er  den 
Krakauer  Hof,  Hilfe  suchend,  aber  diesmal  nicht  mit  leeren  Händen.  Ob 
nun  den  Folenforsten  die  Erinnerung  an  den  schlimmen  Abschied  in  Kiew, 
ob  die  kluge  Vorsicht,  im  Westen  sich  nicht  preiszugeben  und  Mannen  wie 
Gelder  zum  Kampfe  gegen  den  mächtigen  Deutschen  zu  sparen,  im  Grunde 
abhielt,  für  Isäslaw  das  Schwert  zu  ziehen,  indess  er  mit  den  Böhmen  noch 
abzuwickeln  hatte,  wird  einmal  zu  untersuchen  sein.  Gewiss  ist  nur,  dass^ 
der  im  ersten  Anlaufe  enttäuschte  Grossfürst  im  weiteren  Verfolge  seiner 
Herrscher- Ansprüche,  und  auch  Helfer  annehmend,  wo  er  sie  gerade  finden 
mochte,  offenen  Weges  zu  Boleslaws  Feinden  ging,  dass  sonach  Boleslaw  von 
den  Gegnern  des  Flüchtigen,  von  Wlodomir  und  Oleg,  den  Söhnen  der  auf- 
ständischen Brüder,  mit  Soldaten  sich  unterstützen  liess.  Dies  geschah  in 
den  obenerwähnten  böhmischen  Kriegen,  während  Herzog  Wratislaw  mehr- 
mals beim  deutschen  Kaiser  war.  Um  1076  müssen  diese  Wirrnisse  aber 
doch  zu  einem  Abschlüsse  gekommen  sein,  sei  es,  dass  Deutschland  die 
unvergessene  Drohung  wiederholte,  sei  es,  dass  dessen  allfällige  Interven- 
tion dem  Polen  in  dem  Hinterlande  noch  unwillkommener  erschien :  denn 
jetzt,  1077,  hat  sich  Boleslaw  endlich  doch  entschlossen,  in  Kiew  einzu- 
schreiten, den  Landgebieter  wieder  einzusetzen,  wie  angenommen  werden 
kann,  ohne  sich  persönlich  in  die  Sache  weiter  einzulassen.  Noch  allen 
endlich  in  diese  Jahre  jene  Kämpfe  mit  den  die  Grenzen  nicht  achtenden 
Pommern  (Getae  als  Preussen),  welche,  anlässlich  starker  Mannschafts- 
Verluste  bei  einem  Flussübergange,  zur  Abschaffung  der  schweren  Panzer 
geführt  haben  sollen.  Volle  Plattenpanzer  hatte  man  übrigens  in  jener  Zeit 
ohnehin  nicht  getragen. 

Es  ist  nun  wohl  bemerkenswert,  dass  eine  kriegerische  Angelegenheit 
den  Polenfürsten  zuerst  in  einen  Conflict  mit  dem  römischen  Papste  bringt. 
Man  hat  also  bis  1075  nichts  von  einer  Kloster- Gründung  oder  irgendwelchen 
kirchlichen  Massnahmen  gehört,  in  welchen  allenfalls  die  Ansichten  von 
Laien  und  Nichtlaien  hätten  auseinander  gehen  können.  In  einer  rein 
militärisch-politischen  Angelegenheit  hat  sich  zuerst  die  mächtige  Stinmie 
des  Auswärtigen  vernehmen  lassen,  allerdings  nicht  ungerufen,  demnach 
auch  nicht  ganz  unberufen.  Denn  Isäslaw,  welchem  der  Piast  einen  Teil 
seines  durch  Frohnsteuem  rasch  erworbenen  Geldes  und  Gutes  abgenom- 
men hatte,  vermutlich  weil  ihm  die  Bestaurations-Kosten  seit  sechs  Jahren 
noch  nicht  völlig  gezahlt  waren,  während  neuer  Aufwand  in  Aussicht  gestellt 
schien,  war  zunächst  nach  Mainz  gereist,  dem  deutschen  König  sein  Anlie- 
gen vorbringend  (4.  Januar  1075),  vermutiich  aber  noch  zuvor  in  Boten- 


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Bendnng  den  ferneren  Papst  benachrichtigend.  Nicht  lange  darnach  äusserte 
sich  Gregor  VII.^  welcher  seiner  Einmischung  ohne  Zweifel  mehr  Aussicht 
auf  Erfolg  zutraute  als  der  vielbeschäftigte  Heinrich  der  seinen,  in  einem 
mit  Ealendis  Martii(s)  datirten  ^  Briefe  an  den  Polenfürsten  auf  sehr  gehar- 
nischte Weise,  «Boleslaw  habe  dem  Heimatlosen  Schätze  geraubt,  er  stelle 
sie  dem  Eigentümer  zurück^  denn  wer  fremdes  Gut  ohne  Anrecht  an  sich 
nehme  und  eine  Uebelthat  nicht  gut  mache,  dafern  er  solches  wohl  ver- 
möge, der  verdiene  keinen  Anteil  am  Beiche  Christi  und  Gottes.»  Ein  voU- 
führter  Diebstahl,  das  Fehlen  eines  Bechts- Anspruches  auf  Eiewer  Erongut 
war  also  vom  päpstlichen  Stuhle  aus  constatirt,  es  war  auch  angedeutet,  was 
aus  einer  Ausschliessung  aus  dem  Beiche  der  Kirche  gefolgert  werden  könnte. 
Wohl  ist  es  schwerlich  auf  diese  Note  zurückzuführen,  wenn,  wie  bemerkt, 
Boleslaw  nach  zwei  Jahren  die  Bestauration  widerwillig  dennoch  vornahm, 
ohne  in  Yolhynien  eine  Art  Faustpfandes  durch  Eroberung  zu  nehmen ; 
immerhin  aber  mag  man  verstehen,  er  habe  es  mit  dem  Papste  nicht  im 
Vorhinein  verderben  wollen,  weil  er  ja  dessen  Organe  demnächst  gut  zu 
verwerten  im  Sinne  trug.  Und  ferner  mag  man  sich  vorstellen,  wie  Gregor 
einigen  Groll  in  sich  zusammenfasst  darüber,  dass  seinem  Befehle  erst  nach 
zwei  Sommern  eine  Art  Ausführung  geworden.  Indess  auch  der  Papst  legte 
sich  guten  Bückhalt  auf,  da  ja  der  Pole  für  den  Notfall  als  einer  der  mäch- 
tigsten und  kriegstüchtigsten  Gegner  des  Franken  festgehalten  zu  werden 
verdiente.  Hochgestellte  kirchliche  Gesandte  kamen,  wahrscheinlich  nach 
März  und  April  1075  mebrfocb,  in  Erakau  an  und  begannen  mit  der  Ordnung 
der  Bistums-Yerhältnisse,  mit  der  Untersuchung  des  Besitzstandes,  der  Ein- 
künfte, des  Emennungs-Bechtes^  der  Abgaben-  und  Kriegsdienst-Freiheit, 
allerdings  um  die  Vorstudien  und  um  das  canonische  Hausleben  der  Geist- 
lichkeit, um  deren  Hausfrauen  und  Mägde,  um  deren  amthelfende  Söhne  und 
Nepoten  und  Pfarrerben  sich  je  minder  kümmernd,  als  von  Schulen,  Anstal- 
ten,  feinen  Haussitten  und  gegliederten  Verhaltnissen  des  Glerus  zu  einer 
vorwiegend  soldatischen  Hofhaltung  vielleicht  das  Geringste  vorzufinden 
war.  Gewiss  gab  es  noch  in  waldreichen  abgelegenen  rauhen  Gegenden 
mancherlei  Heidentum,  das  christliche  Wesen  schien  dort  vielfach  so  impor- 
tirt  wie  das  Sackgeld  (das  Gold  meist  byzantinisch).  Die  geltenden  rechtlichen 
Bestimmungen,  mehr  auf  Natur-  und  Kriegsgewalt  fussend,  waren  keines- 
wegs zu  solcher  Godificirung  ausgebildet,  wie  in  Ungarn  durch  Ladislaus 
seit  der  Martinsberger  Versammlung.  Desto  weniger  scheint  es  angezeigt,  für 
diese  Zeit  von  einem  localen  Kirchenrechte  zu  reden.  Geschmeidige  Worte 
hatte  der  Papst  den  Legaten  für  den  kühnen  Herrscher  mitgegeben,  seine 


*  Mansi  Sacror.  concilior.  nov.  coUectio  XX.  S.  182.  Roepell.  Gesch.  Polens. 
I.  197  Note  13  Z.  4.  v.  o.  Stenzel.  Geschichte  Deutschlands  unter  den  fränkischen 
Kaisern.  Leipzig  1829,  I,  285.  Note  23.  Vgl.  S.  211,  281,  334. 


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6^  BOLESLAW   II.  VON    POLEN. 

Liebe  und  Ergebung  für  den  heiligen  Apostelfürsten  Petrus  betonend,  ihn 
auffordernd,  dass  er  die  in  seine  Hand  gelegte  Macht  auf  eine  gottgefällige 
Art  ausübe,  die  Batschläge  der  Gesandten  befolge  nach  dem  Spruche :  «Wer 
euch  höret,  der  höret  mich,  wer  euch  verachtet,  dar  verachtet  micht.  Er 
ermahnte,  habt  Euren  Todestag  vor  Augen,  sammelt  Schätze  in  guten  Wer- 
ken, der  obere  Richter  wird  nichts  nachsehen,  Gott  ist  über  alle  Fürsten- 
tümer und  Königreiche.  Insoweit  sind  es  selbstverständliche  allgemeine 
Lehren,  welche  nur  immer  die  Auslegung  fordern,  dass  die  Stelle  Gottes  der 
Papst  in  Born  vertritt.  Speciel  ausgedrückt  sind  aber  die  Sätze :  Das  Geld 
ist  dem  König  der  Bussen  enttragen  und  dadurch  das  Becht  verletzt,  alles 
was  Ihr  entwendet  habt  oder  die  Eurigen,  soU  zurückkommen,  kein  Anteil 
am  Beiche  Christi  gebührt  sonst  demjenigen,  der  ersetzen  kann  und  sich 
nicht  bessert.  Schliesslich  auf  das  Deutlichste :  Die  Bischöfe  Eures  Landes 
haben  keinen  bestimmten  Metropolitan-Sitz,  keinen  meisterartigen  Leiter, 
die  Bischöfe  sind  zu  vagant  und  entgegen  den  heiligen  Decreten  (von  ein- 
zelnen Päpsten)  zu  frei  gestellt,  überhaupt  es  sind  in  zu  weiten  Bezirken  zu 
wenig  Bischöfe. 

Wodurch  Boleslaw  seine  Liebe  für  den  Apostelfürsten  Petrus  nach  dem 
Sinne  eines  Herrschers  bisher  in  kirchlichem  Begriffe  ausgedrückt  haben 
soU,  ist  nicht  nachgewiesen.  Mehr  als  dass  er  alte  Einrichtungen,  von  hun- 
dert Jahren  Bestandes  etwa,  Bistümer,  Pfarreien,  Klöster,  nicht  berührte, 
ist  gar  nicht  berichtet;  keine  neue  Stiftung  hat  er  irgendwo  gethan 
und  dass  jener,  durch  seine  Freigebigkeit  in  Hut  und  Mantel  schwer  Be- 
schenkte, als  man  die  Schatz-Leistungen  der  Bussen  vor  seiner  Burg  darbrei- 
tete, ein  Geistlicher  gewesen,  ist  später  in  Abrede  gestellt  worden.  Eine 
späteste  Lesung  behauptet  nun  allerdings  unter  Einem  den  geistlichen 
Stand  des  Beschenkten,  dessen  Erdrückungstod,  die  Versenkung  des  Leich- 
nams in  die  Weichsel,  alles  auf  Fürstengebot.  Scheint  das  nicht  vielmehr 
eine  Bestrafung,  und  zwar  eine  harte  und  allem  Anscheine  nach  ungerechte, 
des  nach  der  Menge  von  Schätzen  Lüsternen  ?  Immerhin,  der  Papst  belobte 
den  kirchlichen  Sinn  Boleslaws  U. 

Bis  ins  Jahr  1076  sind  jedenfalls  die  Beziehungen  des  Polenfürsten 
zum  Glerus  aufsteigend  gute  gewesen.  Es  ist  anzunehmen,  dass,  was  die 
allerkatholischesten  Fürsten  gethan,  von  Kaiser  Friedrich  IV.  bis  Franz  IL, 
Boleslaw  zur  Bestreitung  seiner  Kriegs-  und  Wehrkosten  die  Einkünfte  des 
geistlichen  Besitzes  nicht  herangezogen  hat,  ingleichen  dass  der  Glerus  noch 
im  Kerne  national  war  und  einer  ausländischen  unslavischen  Oberherr- 
schaft im  Weltlichen  abgeneigt,  ohne  das  Wälsche  in  der  Kirchen- Verwal- 
tung sich  deutlicher  zu  Gefühl  zu  bringen.  Insoweit,  kann  man  sE^en,  gieng 
die  Landeskirche  in  den  Geleisen  des  Fürsten  selber.  Und  so  waltete  Frie- 
den im  Lande.  Aber  die  Mittel  zur  Herbeiführung  eines  eclatanten  Unab- 
hängigkeits-Actes  liegen  im  Dunklen.  Der  Landesfürst  muss  in  einer  gewis- 


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BOLESLAW    II.  VON    POLEN. 


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sen  Zeit  vor  1076  bis  hinter  1073  mit  dem  grossen  Grundbesitze  zerfallen 
.sein,  die  grosse  Gefolgschaft  muss  man  ihm  verweigert  oder  schwierig  ge- 
macht haben  und  zwar  nicht  um  der  Kraftanstrengung  selber  willen,  son- 
dern vielleicht  in  Hinsicht  auf  die  geldlichen  und  rechtlichen  Ergebnisse, 
in  Hinsicht  auf  die  Fristen  solcher  Errungenschaften.  Denn  zahlreich  und 
starkmütig  ist  das  Volk  ja  gewesen,  so  weit  alle  Nachrichten  laufen.  Wie 
hätte  sonst  Boleslaw  so  angewiesen  scheinen  können  auf  Isäslaws  Schätze, 
so  ungeneigt,  ein  zweites  Mal  gen  Kiew  zu  ziehen,  so  bereit,  russische  Heer- 
hilfe gegen  die  Böhmen  anzunehmen  ?  Im  Glerus  stand  keine  einheimische 
Adelschaft.  Kein  Pole  war  vor  1059  Bischof  zu  Krakau,  vor  1027  zu  Gne- 
sen,  wie  vor  1087  zu  Plock  u.  s.  w.  laut  Dlugosz'  beiläufiger  Nachricht.  Um 
so  willkommener  konnte  vielleicht  des  Glerus  Mitwirkung  gegen  die  Edlen 
für  den  Landesfürsten  gelten.  Vielleicht  kannte  Boleslaw  so  gut  die  (erst  seit 
973  einem  Polenfürsten  augenscheinlich  gewordenen)  Einrichtungen  im 
deutschen  Reiche,  welche  bei  Würde-  und  Gebietsverlust  den  Vasallen  zur 
unbedingten  Heerfolge  dem  ßeichshaupte  gegenüber  verpflichteten,  dass  er 
die  Ausdehnung  seiner  Oberhoheit  auch  in  diesem  Sinne  unerlässlich  fan(}. 
Hatte  doch  die  Macht  der  Thatsachen  in  der  obersten  Heerführung  der 
Reihe  nach  nur  vollgünstig  für  ihn  gesprochen.  In  der  Wahl  der  Mitverbün- 
deten bei  dieser  Staatswendung  konnte  Bolestaw  einen  Zweifel  nicht  hegen. 
Es  galt,  kurz  gesagt,  der  Masse  des  Volkes  sicher  zu  sein,  einer  Leiterschaft, 
welche  dem  Volke  selber  und  dem  obersten  Kriegsherrn  näher  stand,  als  dem 
Grossgrundbesitze ;  es  galt  mit  solchen  Mitteln  infolge  ausgiebiger  Kriegs- 
züge die  Erweiterung  der  Reichsgrenzen,  vielleicht  zumeist  gegen  West  und 
Nord,  endlich  es  galt  die  Erringung  der  Krone.  So  eigentlich  ganz  moderne 
Wege  und  Ziele.  Wohl  hatte  die  Adelschaft  —  der  InbegrifiF  aller  Freien  — 
bisher  schon  öfter  dem  Landesherzoge  gegenüber  ihr  Wort,  ihre  That  in  die 
Wagsohale  gelegt;  die  Kirche,  diese  jüngere  Einrichtung,  noch  nie.  So  erkor 
er  denn  diese  jüngere  Kraft,  die  sich  gerade  im  Jahrzehent  ihres  politischen 
Aufschwunges  befand.  Was  unter  Boleslaw  Chrobry  vorsichtig  eingeleitet, 
von  Mieczislaw  und  Kazimierz  wieder  aufgegeben  war,  kam  zur  Ausführung 
bis  Weihnacht  1076:  die  Königskrone  setzte  Bolesiaw  IL.  sich  —  51  Jahre 
nach  dem  ersten  Boleslaw  —  aufs  Haupt  und  die  Bischöfe  weiheten  und 
salbten  ihn  als  König  von  Polen,  die  königlichen  Insignien,  Krone,  Scepter, 
Lanze  nachmals  in  dem  Krakauer  Kathedral-Schatze  verwahrend.  Folge - 
gemäss  wird  der  also  erhobene  Landesfürst  die  kirchliche  Mitthätigkeit  unter 
des  Papstes  Beistimmung  belohnt  haben  durch  Aufbesserung  der  Einkünfte 
der  Bischöfe  und  Kirchenvorsteher,  ihrer  Stellung  im  Hofbeirate,  ihrer 
Ausnahme  bei  Kriegsleistungen.  Das  alles  konnte  weniger  auf  Kosten  des 
Volkes  gehen,  das  bis  an  der  Möglichkeit  Grenze  durch  die  Reihe  politischer 
Unternehmungen  mancher  Jahrzehnte  in  Anspruch  genommen  war,  son- 
dern auf  jene  der  Szlachta.  Wohl  mochte  diese  zur  Zeit  der  Königskrönung 


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Ö50  B0LE8LAW   II.  VON    POLEN. 

noch  in  ziemlichem  Glänze  mitgewirkt  haben ;  nachderhand  aber,  wie  das 
Uebergewicht  des  Glerus  bei  Hofe  sich  in  Tbatsachen  erwies,  konnte  von 
kirchlicher  Seite  eine  Heranziehung  der  Adelschaft  versucht  und  erwirkt 
worden  sein,  ohne  welche  eine  nachgefolgte  gemeinsam  betriebene  Königs- 
Entsetzung  nicht  denkbar  wäre.  Nun  haben  wir  einen  ehrenwerten  zeitge- 
nössischen Zeugen,  welcher  den  Vermittler  in  der  kirchlichen  Partei  nennt, 
welcher  denselben  zugleich  als  Verräter  bezeichnet,  seine  That  als  eine  unge- 
rechte verurteilend.  Dieser  zeugenschaftgebende  Mann  ist,  was  seine  Unbe- 
fangenheit in  so  besseres  Licht  stellt,  kein  Einheimischer,  kein  LocaJpatriot, 
kein  Hofbediensteter,  er  ist  Ausländer  aus  dem  Staatencomplexe  der  Kir- 
chen-Herrschaft selber,  Wälscher,  ein  Geistlicher  obendrein,  Mönch.  Palacky 
nennt  ihn  allerdings  nur  einen  Fanegyiisten,  dem  es  um  keine  Zeitbestim- 
mung und  Geschichte,  sondern  nur  um  eine  Lobschrift  auf  den  Bolestaw 
Schiefmund  zu  thun  gewesen  seL^  Nun,  das  Lob  hat  dieser  wenigstens  nicht 
einem  Todten  entzogen,  der  ihn  keineswegs  mehr  lohnen  konnte,  die  belo- 
benswerten Tbatsachen  führt  er  auf  —  was  soll  da  die  Verdächtigung  gegen 
den  Mönch?  Es  ist  dies  Martinus,  bisher  beigenannt  Gallus  oder  Gallicus. 
Dass  beide  Namen  unrichtig,  dass  in  dem  nach  dem  Heilsberger  Codex 
vermuteten  Mönche  zeitens  Boleslaws  HL  ein  Italiener  stecke,  lebend  zwi- 
schen 1070  und  1135,  ist  durch  J.  Szlachtowski  und  R.  Koepke  nachgewie- 
sen.^ Der  Mann  war  insoweit  Zeitgenosse  unseres  Bolesiaw  ü.,  dass  er, 
noch  jung  an  Jahren,  mehr  Einsicht  in  die  öffentUchen  Verhältnisse  hatte, 
als  Einfluss  auf  dieselben.  Aber  ungefähr  dreissig  Jahre  nach  des  Bischofes 
Stanislaus  Tode  bat  er  seiner  Chronik  erstes  und  zweites  Buch  geschrieben, 
darin  war  alle  Geschichte  der  früheren  Herzoge  oder  Landesfürsten  zusam- 
mengefasst ;  in  dem  dritten  ist  die  Geschichte  Bolesiaws  HI.  eben  bis  zum 
Jahre  1113  geführt  (der  Herzog  starb  erst  1139).  Die  ersten  Bücher  müssen 
wohl  Wahrheiten  enthalten  haben,  welche  bei  aller  Vorsicht  den  Anschauun- 
gen und  Gefühlen  des  damaligen  hohen  Clerus  nicht  widersprachen,  denn  wie 
könnten  sie  sonst  gewidmet  sein  fünf  Bischöfen,  welche  der  Chronist  seine  Gön- 
ner, seine  Förderer  nennt?  Es  sind  dies  Martin  Erzbischof  von  Gnesen  (einge 
setzt  1092,  t  1118),  Simeon  Bischof  von  Plock  (1107,  +  1129,  Paulus  (nicht 
Paulinus)  von  Gruszevice  (später  Leslau,  eingesetzt  1098,  f  1110),  Maurus 
Bischof  von  Krakau  (1109,  t  1118),  ZyrosJaw  Bischof  von    Breslau  (1091, 
f  1120),  jeder  Zeitgenosse  des  zweiten  Boleslä^w,  keiner  unter  diesem  selber 
noch  als  Bischof  ordinirt.  Diese  mitsammt  dem  Kanzler  Michael  müssen 
doch  die  Ansichten  des  Schreibers  und  seine  verantwortUche  Ausdrucks- 
weise geteilt  haben.  In  seiner  antiken  Schulung,  mit  seinen  classischen 

*  Gesch.  Böhmens  I,  341,  Note  145. 

•  Gg.  Hrch.  Pertz,  Monumenta  historica,  Soriptonun  tom.  IX  (Hannover  1851). 
S.  418—478.  Chronica  Polonorum. 


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BOLESLAW   II.  VON    POLEN.  651 

Oedächtnis-Stellen,  in  der  Sprache  nicht  immer  einfach^  da  imd  dort  bilder- 
lustig, beschreibt  er  in  klaren  Schilderungen  oft  mehr  an  Einzelheiten  als  er 
(aus  Uebereinstimmung  Mehrerer)  zutreffend  wissen  konnte,  die  Anzahl 
Bewaffneter,  Flussübergänge,  besondere  Anreden,  intime  Hausbaltsachen, 
Blendung,  Entmannung  u.  dgl.  Dennoch  pflegt  er  nirgends  die  Wahrschein- 
lichkeit zu  überschreiten ;  wo  er  nicht  Bestimmtes  weiss,  zieht  er  vor,  zu  sa- 
gen z.  B.  parum  vixit,  quanto  tempore  nescio  fuerit  conversatus  udgl.  Jeden- 
falls steht  er  als  Muster  der  Yerlässlichkeit  imd  Schwulstlosigkeit  der  späte- 
ren kirchlichen  Geschichtschreiberei  gegenüber.  Er  nennt  den  zweiten 
BolesJaw  ELazimirides  gewohnter  Weise  mit  dem  Beinamen  largus,  bellico- 
sus,  wie  den  früheren  gloriosus,  nach  welchem  das  goldene  Zeitalter  ins 
bleierne  verwandelt  worden  sei ;  immerhin  stehe  er  den  Vorvorderen  durch 
seine  Thaten  zur  Seite,  doch  sei  ein  Ueberschuss  von  Ruhmsucht  und  Eitel- 
keit dabei ;  es  sei  nicht  zu  wundem,  dass  er  irregehe  aus  Unkenntnisse  wenn 
es  sich  nur  einfinde,  dass  nachderhand  die  Klugheit  das  Versäumte  nachhole 
(so  entschuldigt  er  den  König  wegen  Gradec,  cap.  22) ;  nicht  würdig  sei  es, 
die  vielseitige  BechtUchkeit  und  Freigebigkeit  des  Königs  mit  Schweigen  zu 
übergehen,  aus  dem  Vielen  sei  den  Beichsleitern  ein  Weniges  als  Muster- 
bild vorzulegen*  Als  Soldat  erscheine  der  König  kühn  und  tapfer,  als  Gast- 
freund mildherzig,  ein  allerumsichtigster  Ausspender  von  Freigaben  (cap. 
23,  Invasion  von  Kygow  1069,  Kussgeschichte).  Die  enttäuschende  Gonspi- 
ration  gegen  den  König  schildert  cap.  24  de  delusione  contra  Boleslaum  lar- 
gum  ;  die  Freigebigkeit  und  den  armen  Gleriker,  unter  Ablehnung  eines  Mor- 
des, cap.  26.  Diesem  Grallus  zufolge  ist  demnach  der  Bischof  von  Krakau, 
Stanislaus,  Verräter,  seine  That  (kirchlich  ausgedrückt)  eine  Sünde,  der 
Bischof  sei  nicht  zu  entschuldigen.  Nach  den  Kechten  des  weltlichen  Staates 
wird  also  hier  ein  Hochverrat  vorliegen.  Was  den  Schluss  dieses  durch  Ver- 
rat eingeleiteten  Zwistes  bildet,  die  Tödtung  des  Bischofs  durch  den  sich 
selbst  rächenden  König,  nennt  Gkdlus  ebenso  unverholen  eine  Sünde,  eine 
unchristliche  That,  um  des  schmählichen  Beginnens  willen  sei  der  König 
nicht  zu  loben.  Er  hat  wohl  die  Aburteilung  durch  ein  ordentliches  Gericht 
im  Auge,  da  vmrde  der  Verräter  ohnehin  verurteilt  worden  sein.  Wer  könnte 
sich  heute  unparteüscher  äussern  ? 

Das  cap.  27  de  exilio  Bolezlavi  largi  in  Ungariam  schildert :  Qualiter 
autem  rex  Bolezlavus  de  Polonia  sit  eiectus,  longum  existit  enarrare,  sed  hoc 
dicere  licet,  quod  non  debuit  christianum  in  christianos  peccatum  quodlibet 
corporaliter  vindicare.  Illud  enim  multum  sibi  nocuit,  cum  peccato  peccatum 
adhibuit,  cum  pro  traditione  pontificem  truncationi  membrorum  adhibuit. 
Neque  enim  traditorem  episcopum  excusamus  (seitliche  Beischrift  1079), 
neque  regem  vindicantem  sie  se  turpiter  commendamus,  sed  hoc  in  medio 
deferamus. 

Ausser  dieser  That  ist  es  keine,  derenthalben  Gallus  den  Boleslaw  ta- 


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BOLESLAW   II.  VON    POLEN. 


delt,  noch  viel  weniger  eine  ganze  Beihe  von  Eigenschaften,  aus  denen  eine 
Reihe  übler  Handlungen  entspriesse  (ebensowenig  hat  er  ein  Lobeswörtiein 
für  eine  angebliche  Kenntniss  des  Herrschers  von  dem  Leben  und  Schrift- 
wesen des  Apostels  Petrus.)  Die  entgegengesetzte  Beurteilung  des  Königs 
kommt  in  geschriebenen  Chroniken  erst  200  Jahre  später  auf,  überhaupt  seit 
des  Xin.  Jahrhunderts  zweiter  Hälfte,  vor  1295,  und  wird  in  Druckwerken  gar 
vulgär  seit  dem  XV.  Jahrhunderte.  Noch  in  den  jüngsten  Jahren  findet  ein 
in  kirchlichen  Bausachen  mit  hohem  Berufe  begeisterter  Kunsthistoriker  den 
König  wild,  herrschsüchtig,  roh,  ausschweifend,  tyrannisch,  einen  Verrat 
dem  Könige  gegenüber  ohne  jede  Wahrscheinlichkeit.''  Noch  ist  Boguphalus, 
Bischof  von  Posen,  der  Chronist,  gestorben  1253,  9.  Febraar  (Boguchwal), 
von  solcher  Befangenheit  ausgenommen.  Aber  schon  zu  den  Gallus- Abschrif- 
ten hat  eine  spätere  Hand  bei  Beginn  des  Cap.  22,  Bolezlavus  regnum  rexit 
u.  s.  w.,  dazuschreiben  müssen :  Iste  (man  spüre  den  verächtlichen  Ton) 
occidit  Stanislaum.® 

Durch  die  ersten  174  Jahre  scheint  des  Königs  todtbringender  Zwist 
mit  dem  Bischöfe  der  Königsstadt  allgemein  anders  beurteilt  worden  zu 
sein ;  ein  grosser  Teil  der  Schuld  und  insbesondere  der  erste  fiel  auf  Sta- 
nislaus.  *  Als  Verräter  muss  er  sich  wohl  zunächst  bethätigt  haben  —  in 
seiner  Eigenschaft  als  selbst  Adeliger  —  bei  der  Szlachta.  Was  er  zu  ver- 
raten hatte,  waren  des  neuen  Königs  Absichten  auf  deren  Macht-Beschrän- 
kung, vielleicht  auf  die  Besitz-Entsetzung  oder  wenigstens  entsprechendere 
Besteuerung  einzelner,  beim  Volke  besonders  Einflussreicher,  welche  Ab- 
sichten etwa  der  König  im  Vertrauen  den  päpstlichen  L^aten,  wenn  schon 
nicht  den  Orts-Bischöfen  selber,  mitgeteilt  haben  mochte.  Gtegen  die  deutsche 
Beichs- Herrschaft  hinaus  wird  der  Verrat  keineswegs  gegangen  sein ;  denn 
dort  war  der  Länderfürst  schon  so  weit  gebracht,  als  hier  der  Kühne  und 
Freigebige  notfalls  erst  getrieben  werden  konnte.  Ersichtlich  ist  nur  die 
nächste  Folgerung :  Die  ausbrechende  Schwierigkeit  des  Edelstandes,  dessen 
Misszufriedenheit,  dessen  Zuwendung  zu  den  kirchlichen  Würdenträgem. 
In  welcher  AVeise  aber  König  Bolestaw  an  sein  unerwartetes  Ziel  gedrängt 
wurde,  war  dem  Gallus  zu  erzählen  zu  weitläufig.  Leider,  müssen  wir  hinzu- 


'  Wie  wäre  dann  wolil  Bolesiaw  III.  von  Böhmen  zu  benennen  ?  Mitthlgn.  d. 
C.-Coinmission  f.  Kunst  und  histor.  Denkmale,  1865.  S.  57 — 60. 

"  Pertz  a.  a.  0.  S.  439.  üb.  I.  cap.  22,  Vers  10  d. 

®  Nobilis  de  Prussoriun  familia  Sciepanouius,  Szczepanowski  (die  Richtigkeit 
des  Namens  bestritten  durch  Waga)  laut  Cromer,  gew  Scepanowo  in  Schedels  Welt- 
buche 141)3.  Sczepanow  in  Woywodschaft  Cracau;  Sczepowski  laut  L.  v.  Baezko  in 
Ersch  und  Gruber  R.-Encykl.  1S23,  I,  11.  S.  :^54.  Koska,  auch  des  Königs  Bruder 
nach  Anderen.  Man  weiss,  dass  St.  Kostka  der  Jesuit  von  1550 — 68  ist  (4  Jahre  in 
Wien).  Vgl.  Cöllner  Heiligen-Lexikon  1719  S.  2082.  Laut  Dhigosz,  7  Studienjalure. 
Schul-Stiftung  richtig  1079. 


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BOLESLAW   II.  VON    POLEN. 


653 


setzen  und  herausversteben,  der  geistliche  Gewährsmann  hatte  Bäcksichten 
gelten  zu  lassen,  vermutlich  mehr  gegenüber  den  Bischöfen»  als  dem  Piasten- 
hause,  das  ja  gänzlich  hätte  abgeschafft  werden  können^  wenn  des  zweiten 
Boleslaw  alleinige  Schuld  und  Entartung  nachweisbar  gewesen  wäre.  Zwi- 
schen Krönung  und  Todtschlag  Hegen  wenige  Tage  über  zwei  Jahre  und 
drei  Monate.  Bei  der  Heftigkeit  des  Bache- Ausbruches  scheint  auch  voraus- 
setzbar, dass  die  den  König  so  empörende  Verräterei  ihm  erst  spät  ange- 
deutet, ein  thatsächlicher  Beweis  gar  erst  in  den  letzten  Tagen  beigebracht 
worden  sei.  Wäre  es  nicht  erlaubt,  das  Wohleinvernehmen  zwischen  König 
und  Clerus  noch  1077  und  1078  ungetrübt  zu  denken?  Der  ungerechte 
Gesetzgeber,  als  welcher  er  später  (nicht  in  Einer  zeitgenössischen  Quelle) 
benannt  worden  ist,  hat  sich  in  dieser  Zeit  vielleicht  mit  einer  Besteuerung 
der  Szlachta  befasst  und  da  diese  immer  von  unten  her  nimmt,  so  war  der 
Unterdrücker  der  Armen  (der  Kmeten  nicht  sowohl  als  der  Hörigen)  —  wer 
anders,  als  der  König?  Auch  zu  den  Immunitäten  und  anderen  Bevorrech- 
tungen, womit  sonst  im  Abendlande,  insbesondere  in  den  benachbarten 
Alpenländem,  die  Fürsten  und  Edlen  so  verschwenderisch  an  die  Bischöfe 
und  Mönche  herankamen,  wie  sie  genau  von  seinem  Nachfolger  sind  gewährt 
worden,  hat  sich  Bolestaw  nicht  bekennen  wollen.  Und  so  mag  er  denn  auch 
die  Ernennung  der  wenigen  Bischöfe  und  Aebte  des  Landes,  sowie  deren 
Einsetzung  mit  Bing  und  Stab  sich  vorbehalten,  das  eheliche  Leben  dieses 
Standes  aber  weislich  beim  Alten  belassen  haben.  Der  rauhe  Kriegsmann, 
nicht  anders  gewohnt  als  befehlen  und  Befehle  stracks  befolgt  zu  sehen, 
durch  sieben  Jahre  in  auswärtigen  Landen  alles  nach  seinem  Kopfe  gehen 
zu  lassen,  wie  konnte  er  schliesslich  die  Einmischungen  in  sein  Verwaltungs- 
und Hauswesen  von  Seite  eines  angeblich  in  der  Pariser  Stuben-Gelehrsam- 
keit erwachsenen,  kriegerisch  unerfahrenen  und  unerprobten,  politisch  ganz 
unverlässlichen  Mannes  dulden,  der  vorerst  (man  weiss  nicht,  bei  welchen 
ersten  Anlässen)  abmahnte,  aus  dem  Hof  beirate  wegblieb,  nach  und  nach  als 
der  widersprechende  Anwalt  der  Adelschaft  sowohl  als  des  gemeinen  Volkes, 
der  Knechte  wie  der  Gleriker  auftrat,  eudlich  ausdrücklich  die  Drohung 
des  Beichs-Unterganges  verkündete,  den  Fürsten  mit  dem  Bannflüche 
belegte,  das  Volk  von  seinem  Ünterthans-Verbande  befreite  und  dem  Ent- 
setzten die  Kirche  verbot.  ^^   Solches  hätte  kein  Mann  wagen  können,  der 


^"  Daes,  wie  man  zu  lesen  bekommt,  der  König  dem  Priester  die  Messe  ver- 
boten hätte,  zerfallt  in  sich  selbst.  Nach  seiner  Charakter- Eigentümliclikeit  hat  sich 
der  König  (scheint  es  ims)  um  die  confessionelen  Bedür&isse  des  Bischofes  nicht 
gekümmert  Einen  Streit  um  den  Kapitel-Besitz  von  Piotrowin  erachten  wir  eben- 
falls nicht  als  den  genügenden  Grund  eines  tragischen  Zusammenstosses  und  sind 
nicht  geneigt,  einen  Betrug  in  Betreff  des  als  Zeuge  erscheinenden  Toten  dem  Bischöfe 
Stanislaus  zu  unterschieben.  Das  Sprechenlassen  Toter  als  Motiv  zur  Heiligsprechung 


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^^  BOLESLAW   n.  VON    POLEN. 

nicht  die  Grossen  des  Reiches  mit  ihrer  Volksgewalt  hinter  sich  hatte ;  in 
reinen  Familiensachen  würde  er  ohnehin  nichts  ausgewirkt  haben,  indem 
dazumal  die  Ehe-Segnung  der  Kirche  noch  nicht  einmal  zustand.  Auch  ist 
der  Krakauer  Bischof  selber  nicht  unter  jenen  Ausnahmen  genannt»  welche 
dem  Cölibate  huldigten. 

In  diesen  Zeiten  möchte  der  König  schon  läaigerher  nicht  mehr  über 
die  Heeres- Gefolgschaft  verfügt  haben ;  er  hat  durch  gewisse  Gründe,  sehr 
gegen  seinen  Willen,  vorzeitig  aufgehört,  unternehmender  Soldat  zu  sein. 
Damit  ist  er  in  seinem  eigentlichen  Wesen  verneint.  Die  Mittel  versiegen 
ihm.  Anstatt  nach  dem  in  Ungarn  (laut  des  zweiten  und  dritten  Ladislai'- 
scfaen  Decretes  im  corpus  iuris)  zu  Becht  bestehenden  Grundsatze,  die  Strafe 
ungehorsamer  Bischöfe  hängt  vom  Könige  ab,  gegen  den  Verräter  vorzu- 
gehen oder  wenigstens  denselben  mit  soldatischem  Geleite  nach  jener 
Landesgrenze  zu  bringen,  wo  die  päpstlichen  Legaten  ihrer  Wege  aus  oder 
nach  Bom  gegangen  waren,  Hess  er  sich  (wenn  wir  halbwegs  der  Legende 
glauben  wollen)  unbedachter  Weise  beikommen,  den  Bischof  in  dessen  ihm 
zustehender  kirchlichen  Burg  zur  Züchtigung  aufzusuchen.  «Während  der 
Bischof  in  der  Kirche  des  heiligen  Michael  bei  Krakau  das  göttliche  Myster- 
ium celebrirte  —  wir  folgen  einseitig  der  Darstellung  aus  der  Vita  St.  Sta- 
tt islai  bei  Koepel  ^^  —  eilte  Boleslaw  herzu  und  befahl  seinem  Gefolge,  den 
Bischof  aus  der  Kirche  zu  holen.  Dreimal  versuchen  sie  einzudringen,  aber 
dreimal  fallen  sie  unsichtbar  getroffen  zu  Boden.  Da  erhebt  sich  der  König 
in  heftigem  Zorn,  schmäht  die  Diener  feig  und  entartet,  stürzt  selbst  zum 
Altare,  reisst  den  Priester  von  dem  geweihten  Orte  hinweg  und  schlägt  — 
er  selbst  der  Erste  —  ihn  mit  dem  Schwerte  nieder.»  Das  geschah  im  Jahre 
1079  (den  11.  April,  der  Michaeli-Tag  wird  dazu  angegeben;  der  Tag  des 
Heiligen  als  Landespatrones  ist  in  Polen  der  8.,  anderwärts  der  7.  Mai,  der 
29.  September.) 

Wir  unterlassen  es,  aus  dieser  Quelle  weiterhin  zu  schöpfen.  Wer 
den  König  verurteilen  will,  findet  dort  alle  seine  Schattenseiten  concentrirt  ; 
von  seinen  Tugenden  bleibt  nur,  dass  er  kühn,  kriegerisch,  grossherzig,  frei- 
gebig, unternehmend,  ausdauernd  war.  Wie  ausgiebig  aus  einem  guten 
Landesherm  ein  schlechter  gemacht  werden  kann,  hat  an  die  200  Jahre 
später  der  Bannbrief  des  Gneeener  Erzbischofes  Paul  wider  Boleslaw 
Wstydliwy,  weil  dieser  den  Krakauer  Bischof,  den  bewährten  Wein-,  Weib- 
und  Jagdfreund  und  Landesverräter,  hatte  gefangen  setzen  lassen,  zur 
Genüge  bewiesen.  Der  Anstifter  der  Adels-Revolte  war  dazumal  eben  der 


lag  allerdings  im  Sinne  jeuer  Zeiten,  jedoch  war  das  nirgend   die  unbedingte  Forde- 
rung für  die  Canonisation. 

"  Geschichte  Polens,  I,  1840,  S.  203. 


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BOLBSLAW   n.  VON   POLEN.  Ö55 

Eirchenfürst.  ^^  Man  muss  in  Betracht  ziehen,  dass  noch  unter  Boleslaw  I. 
das  Chrietentam  erst  seit  50  Jahren  sich  festgesetzt  hatte.  Der  Mann  des 
kräftigsten  Alters  hegte  vollständige  heidnische  Jugend-Erinnerungen.  Da  ist 
mit  der  milden  Menschenschonung  unserer  Tage,  wie  sie  in  Friedenszeiten  vor- 
Aviegend  giltig  heisst,  kein  rechter  Vergleich  zu  ziehen.  Die  Grausamkeit 
war  fast  der  natürliche  Ausdruck  von  Grösse  und  Macht.  Man  denke  nur 
an  das  Vorgehen  gegen  den  böhmischen  Bothaar !  Bauhe  Strafen  waren 
selbstverständlich  (laut  Thietmar  S.  247).  Bei  persönlichem  Hasse  gegen 
Höchstgestellte  bricht  noch  am  heutigen  Culturtage  die  Sucht  nach  persön- 
licher Straf- Ausführung  durch.  Und  davor  sollte  der  Kriegsmann  des  XI.  Jahr- 
hundertsan  der  Nordost-Grenze  der  Christenheit  zurückgeschreckt  sein?  üebri- 
gens  ist  die  persönliche  Straf- Ausführung  hier  eine  unbewiesene  Sache  und  seit 
65  Jahren,  ohne  dass  man  in  Deutschland  und  Italien  viel  Eenntniss  davon 
genommen,  vielmehr  der  begründete  Anlauf  zur  Beweisführung  eingeschla- 
gen worden :  der  König  als  oberster  Bichter  habe  die  Verurteilung  des  unter- 
suchten Verräters  verfügt  und  die  Hinrichtung  sei  der  Sitte  der  Zeit  gemäss 
/ollzogen  worden.  ^*  Es  ist  eben  wahrscheinlich  aller  unterwürfiger  Sinn 
des  Bolesiaw  gegenüber  dem  Glerus  nichts  als  spätere  Chroniken-Aus- 
schmückung gewesen.  Auf  seiner  Bahn  gradaus  gegen  den  sich  überneh- 
menden Gegner  gewährt  Bolestaw  das  Bild  einer  weitaus  entschiedeneren 
Erscheinung  als  sein  Zeitgenosse  und  zeitweiliger  Gegner  König  Heinrich  IV., 
dessen  Gunst-  und  Hassbezeugungen  nie  zu  trauen  war,  der  sich  überhob  und 
demütigte  nach  Anschlag  des  daraus  erwachsenden  poUtischen  Nutzens, 
üeber  die  staatliche  Macht  schien  ja  hierzulande  die  kirchliche  schon  zu 
triumphiren,  als  zu  Weihnachten  1076  der  Pole  der  kirchliche  Salbung 
sich  beugte,  einen  Monat  vor  Canossa.  Aus  solchen  Zusammenhängen 
erwuchs  wohl  aUmälig  den  Krakauer  Misszufriedenen  die  Macht,  einen 
König  seines  Landes  zu  berauben. 

Ohne  dass  irgend  ein  Best  seiner  vielverwendeten  Krieger  sich  für  den 
Führer  erklärte,  dem  es  doch  Keiner  im  Beiche  zuvorgethan  hatte,  musste 
Boleslaw  mit  der  Zeit  (annum  et  amplius  postea  regnavit,  sagt  Cromer)  vor 
dem  Andrängen  der  Szlachta  das  Feld  räumen,  das  Vaterland  als  Flüch- 
tiger verlassen.  Das  versteht  sich  vielleicht  noch  im  Jahre  1079,  vielleicht  erst 
1080  (nach  Fessler  1078  oder  1079,  nach  dem  Cölner  Lexikon  anscheinbar  um 
1082).  Der  Abzug  mit  seinem  einzigen  Sohne  Mjesko  (Mieszkon,  Mesco)  und 
wenigstem  Gefolge  geschah  in  der  Bichtung  nach  Ungarn  südseits  der  Weichsel 
entweder  gegen  den  JablunkaPass,  oder  das  Gebiet  von  Thuröcz- Arva  gegen 

**  Seit  Neuausgabe  der  Gallus-Clironik  durob  V.  Bandtke  1824  und  Aufstellung 
der  Preisfrage  durch  die  Krakauer  theologische  Facultät  1826  und  Penkalski's  (am 
Schlüsse  unserer  Abhandlung  angereihter)  üntersuchungs- Schrift.  Vgl.  auch  E.  Swie- 
zawski  Zarysy  badan  1873  S.  44  und  Angeratein  in  c  Zeitschrift  der  Hist.  Ges.  f.  d.  Prov. 
Posen.»  1888.  Jhrg.  IV.,  Heft  3,  4,  S.  279. 


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656 


BOLESLAW    U.  VON    POLEN. 


die  Zuflüsse  aus  dem  Tatry,  wo  die  Grenze  am  ersten  erreicht  wurde,  also 
etwa  gegen  die  heute  als  West-Beskiden  benannten  Berghöhen,  entweder 
zunächst  in  westlicher  Richtung  von  der  Hauptstadt  nach  dem  Wasserlaufe 
der  Skava  herauf,  alsdann  gegen  Jordanow,  oder  gleich  südwärts  längs  Baba 
hinter  Wieliczka  heraus,  alsdann  von  Neumarkt  weiter;  welche  Karpathen- 
Schluchten  vom  Vägh  herunterwärts  gegen  Trentschin,  Neutra.  Komom" 
und  welche  einzelne  Orte  in  den  (vormals  weithinauf  dem  Grauer  Bistum  zu- 
geteilt gewesenen)  Pfarrgebieteu  gewählt  worden  waren,  ist  nicht  weiter  zu 
untersuchen  möglieh.  Es  wird  hier  daran  nur  vermutungsweise  gerührt, 
um  für  den  letzten  Act  der  Königs  Tragödie  die  Oertlichkeit  erkunden  zu 
helfen. 

König  Ladislaus  von  Ungarn,  des  Boleslaw  Vetter  von  mütterhcher 
Seite,  nahm  den  Entthronten  mit  aller  Freundlichkeit  auf,  eingedenk  der 
Edelthaten  des  Polenherzogs  für  ihn  selber,  für  seinen  Bruder,  für  seinen 
Vater.  Vermutlich  war  das  kirchUche  Interdict  des  Papstes  über  alles  pol- 
nische Land  schon  vom  lebenden  Btanislaus  bereit  gehalten  gewesen  (min- 
destens ist  uns  kein  gegenteiliger  Beweis  bekannt) ;  der  Fluch  des  persön- 
lichen Bannes  begleitete  jetzt  den  machtlosen  König  durch  die  unwirtlichen 
Gebirgsmarken  und  wer  dem  kirchlichen  Gebote  allein  sich  unterthan  fühlte, 
nicht  dem  nationalen,  war  der  Treue  gegenüber  dem  Landesfürsten  ent- 
bunden. Laut  späterer  Mitteilung  soll  das  (locale  ?)  Interdict  erst  nach  dem 
Zeiträume  verkündet  worden  sein,  den  die  Nachrichtgabe  von  des  Bischofes 
Tode  nach  Rom  und  die  neue  Botschaft-Sendung  nach  der  Weichsel  gebraucht 
habe.  Keineswegs  ist  die  Abschaffung  des  Königstitels  von  dieser  Zeit  ab 
eine  That  der  päpstlichen  Curie,  vielmehr  wird  solches  von  der  AdelschafI 
zur  Vermeidung  allzustarken  Unterschiedes  erzwungen  worden  sein ;  und 
so  wie  der  nachgefolgte  Wladislaw  Hermann,  hätte  es  der  restaurirte  Bo- 
leslaw selber  halten  müssen.  Nun  freilich,  'der  kriegerische  Unternehmer 
wäre  in  Boleslaw  immer  wieder  durchgebrochen  und  da  hätte  die  Adelschaft 
wohl  oder  übel  mithalten  müssen.  Es  mag  nicht  gut  angehen,  mit  Lelewel 
«die  Excommunication  BoleslawsIL  durch  Papst  Gregor  VIL,  seinen  Bundes- 
genossen» für  eine  Fabel  zu  halten,  wie  die  dazu  erwähnte  Büssung.  Nach 
Stanislaus'  Tödtung,  die  nicht  zu  bezweifeln,  hat  der  Papst,  wäre  er  des 
Königs  Bundesgenosse  überhaupt  gewesen,  gewiss  aufgehört  das  zu  sein ; 
sehr  wahrscheinlich  hat  er  seine  verhängnissvollen  Massnahmen  getroffen 
im  Einverständnisse  mit  der  dem  Alleinherrscher  abholden  Szlachta,  Bun- 
desgenosse konnte  Gregor  VII.  für  Bolesiaw  höchstens  genannt  werden  in 
der  Haltung  gegen  König  Heinrich ;  aber  gar  kein  Anzeichen  spricht  dafür, 


"  Krakau,  Tatra,  Tepla,  Buttek,  Sz.-Marton,  Kremnitz,  Altsohl,  längs  Gran  zii 
Donau,  Gran,  (wenn  nicht  Budapest),  westwärts  Komom  oder  Totis,  südwest- 
lichst Baab. 


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B0LE8LAW   H.  VON    POLEN. 


657 


es  habe  je  nach  1079  die  Curie  sich  bundesgenossenschaftlich  gekümmert 
um  den  enttronten  Polenkönig.  Der  Machtlose  war  ihr  unwichtig. 

Der  Verkehr  mit  dem  einst  durch  göttliche  Macht  Eingesetzten^ 
dem  wegen  seiner  Hinneigung  zum  Apostelfürsten  Petrus  Belobten  — 
er  ächtete  nunmehr.  Es  war  gewiss  noch  nicht  Ausgeburt  des  Wahnsinns^ 
dass  der  flüchtige  Fürst  in  den  Weichsel-Gebieten  seines  Lebens  sich 
nicht  sicher  fühlte,  dass  er  einer  unfreundlichen  That  der  Verschwo- 
renen entgegenharrte,  dass  er  jenseits  der  Earpathen  den  standesverwandten 
Feind  wachsam  gegen  sich  gerichtet  fand,  keine  Bischofspfalz,  kein  Kloster 
gastlich-tröstend  aufgeschlossen.  Hier  stand  eben  ein  König  mit  aller  ihm 
möglichen  Macht  des  persönlichen  Urteiles,  jedenfalls  mit  der  ganzen  Stärke 
eines  rücksichtslos  dankbaren  Gemütes  für  den  Unglücklichen  ein.  Ver- 
gessen wir  auch  nicht,  dass  auf  eben  diesem  Gebiete  dem  Papste  der  Zauber 
seiner  Allwirksamkeit  versagte;  aus  guten  Gründen  hatten  zur  Zeit  die 
Bischöfe  etwas  freie  Hand .  und  so  war  es  nicht  abzusehen,  dass  sie  bei  den 
obwaltenden  Missverhältnissen  zwischen  Ladislaus  und  Salomon  etwa  auf- 
tragweise gehalten  waren,  des  Boleslaw  halber  zu  weit  zu  gehen.  Im  Früh- 
linge 1079  zuletzt  und  schon  zuvor,  1078  Juni,  hatte  der  Papst  mittels 
dringlicher  Zuschriften  versucht,  den  ungarischen  König  zu  seinem  Lehens- 
Unterthan  zu  machen ;  aber  iLadislaus,  nachmals  der  Heilige  beigenannt, 
ignorirte  alles  Andringen  vollständig  —  und  der  Papst  liess  ab.  Vermutlich 
war  damals  das  zweischneidige  Benehmen  Gregors  VU.  noch  aus  den 
Schriften  nicht  bekannt,  worin  er  der  Gattin  des  vertriebenen  Salomo,  der 
Schwester  König  Heinrichs,  schmeichelte  (1074),  indess  er  den  Vertriebenen 
verfolgte. 

Die  magyarischen  Magnaten  konnten  sich  überzeugen,  dass  der 
König  gewillt  war,  anfangs  wenigstens  alle  Entscheidung  für  Boleslaw's 
Sache  zu  wagen,  wie  er  denn  nachmals  thatsächlich  begonnen  hat,  mit 
bewaffneter  Macht  einzuschreiten  für  Mjesko's  Nachfolge,  des  Prinzen, 
den  er  gleich  einem  eigenen  mit  zärtlicher  Hingabe  erzog.  Des  Adels  Bezie- 
hungen zum  Königtume  waren  hier  jedenfalls  culturmässiger  geordnet,  so 
dass  der  Herrscher  in  seines  Willens  Ausführung  wenigstens  nicht  durch 
Ungesetzlichkeiten  eines  ganzen  Standes  behindert  wurde.  Freilich  Boles- 
^w  selber,  der  seinen  Hochmut  auf  dem  heissen  Boden  des  halbasiatischen 
Kiewer  Hofes  so  wenig  verleugnet  hatte,  als  nachmals  dem  deutschen  Kaiser 
gegenüber,  der  ihn  von  Beichswegen,  wenigstens  formel,  hätte  entsetzen 
können,  er  trug  auch  sein  Haupt  noch  gar  hoch  und  stramm  vor  dem 
Schützer  und  seinem  Hofe.  ^*  Es  ist  wohl  möglich,  dass  er  sich  mit  der  Hoff- 

"  Katona,  historia  critica  reg.  hung.  stirp.  Ai'padianae  Pestini  1779,  11,  S.  4()S: 
Principatum    quidem    initio    summa   cum  laude    gessit.  Später  nach  Cromer  lib.  IV. 
p.  m.  90,    vgl.    cap.  3  S.  54 — 62.    Martinus    Gallus  S.  72 — 76.    Chronicon    Poloniense 
UngMiiche  Revue,  XI.  1891.  Vm— IX.  Heft.  42 


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Ö58  BOLESLAW   n.  VON    POLEN. 

nung  auf  Bestauration  trug,  wie  er  solche  ja  selber  voll  Bascbbeit  und  Ent- 
Bcbiedenbeit  und  mit  mebr  als  balbem  Glücke  für  Andere  durcbgesetzt,  ja 
dass  er  auf  dieser  Gegenrecbnung  mit  Trotz  bestand,  erwägend,  wie  er  seine 
heimischen  Edlen  bestrafe,  das  Volk  aufbiete,  die  alten  Beichsgrenzen 
wieder  gewinne  (Cbrobry's  Machtbereich  hatte  ja  einst  durch  die  flucht- 
gebiete  des  Exilirten  herab  bis  an  die  Donau  gereicht),  wie  er  schliesslich 
die  früher  tributären  Nachbargauen  wieder  ans  Reich  kett«  und  seinen  Dank 
den  Helfern  sobald  als  thunlich  abstatte.  Gewiss,  eine  Menge  heftiger  Pläne 
sprudelte  in  diesem  Grehime !  In  solche  nun  mithineingezogen  zu  werden, 
stand  wohl  nicht  im  Sinne  der  Magnaten,  und  insoweit  gab  es  auch  hier 
Widerstand  und  Hass.  Die  Entwickelung  dieser  Zustände  spannt  sich  bei- 
läufig über  zwei  Jahre ;  ob  man  dies  erachte  als  «bald  nach  seiner  Ankunfti 
(mansitque  aliquamdiu,  Gromer),  sei  dahingestellt. 

An  dieser  Stelle  möchte  es  tauglich  erscheinen,  nach  urteilenden  Aus- 
sprüchen Banke's  und  Gfrörer's  hinsichtlich  des  Bolestaw'schen  Lebens  und 
Wirkens  zu  fragen.  Ausser  in  manchen  quellenmässig  beglaubigten  That- 
Sachen  war  eine  Uebereinstimmung  der  beiden  Historiker  keinesw^s  zu 
erwarten.  Nicht  mit  weltgeschichtlich  bedeutsamer  Wichtigkeit  ausgestat- 
tet scheint  Bänke  die  polnische  Umwälzung  gehalten  zu  haben.  Er  berührt 
kaum  viel  mehr  (Band  VII,  1886)  als  die  Umstände,  wie  nach  Kadlubek  und 
dessen  Nacheiferer  Boguchwal  alles  anders  erzählt  wird,  den  deutschen 
Nachrichten  aber  als  gleichzeitigen  und  zuverlässigen  voller  Wert  zukommt 
(altaicher  Annalen,  S.  226),  wie  den  drei  Herzogen  von  Schwaben,  Baiern, 
Kärnten  es  missfiel,  dem  deutschen  Königtume  die  absolute  Gewalt  von 
früher  zuverschafifen,  wie  sie  den  Heerzug  weigerten,  gewissermassen  im  Sinne 
des  Papstes  handelnd  (S.  257),  wie  dem  Chronisten  Lambert  besondere  Ehre 
gebühre  (266,  Note  22),  des  Patriarchen  von  Aquileia  Stellung  sich  kenn- 
zeichne durch  den  Empfang  von  Friaul  (290),  Umstände,  die  in  unsere 
Frage  wol  miteingreifen,  ohne  die  Verhältnisse  seit  Chrobry  und  Mjesko 
(S.  151),  namentlich  die  Stanislaus- Angelegenheit  aufzuklären. 

Mit  lebhaftem  Bestreben,  die  innersten  Triebfedern  von  Unterneh- 
mungen aufzufinden,  die  Zusammenhänge  der  Thatsachen  mit  Gesinnungen 
folgerichtig  zu  untersuchen,  dabei  gar  nicht  geneigt,  altausgetretene  Wege 
in  akademischer  Schilderei  ohne  eigene  Pfadfindung  zu  beschreiten,  natür- 
lich die  Mittel  der  Beleuchtung  stark  und  umsichtig  beherrschend,  ist  Gfrö- 
rer  dieser  Partie  der  europäischen  Staatengeschichte  nahegetreten,  sohon 
deswegen  zunächst  mit  im  Vorhinein  zu  erwartender  Wärme,  weil  ee  da 
einen  Conflict  der  Kirche  mit  der  weltlichen  Macht  gilt,  insbesondere  mit 
einem  Gegner  des  durch  Gfröror  auserwählten  Helden  (Geschichte  d.  P. 

bei   Pertz  scriptores  IX,    1,   28;  Di:ugos8  bist.  Polon.  III.  284;   Tbur6czy  II,  58.  (bei 
Scbwandtner  1746  ohne  Boleslaws  Erwähnung);  Fessler-EIlein  1867  I,  176. 


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BOLESLAW  II.  VON   POLEN.  66^ 

Oregors  VII.,  Bd.  VII,  557 — 569).  Unbeeinflusst  durch  einen  nationalen  Blick, 
nimmt  Gfrörer  keineswegs  Partei  für  Bolesiaw,  den  deutschen  Beichsfeind, 
oder  für  das  naohboleslawische  Polenreich,  da  es  den  Anlauf  begann,  ein  das 
^VL  Jhdt.  ignorirender  Hort  der  römisch-katholischen  Kirche  slavischer 
Nation  zu  werden.  Der  slavische  Einheits-Staat  der  Zukunft  wird  nie  römisch- 
katholischer Natur  sein,  das  haben  die  Wortführer  vor  und  nach  dem  Unfehl- 
4)arkeits-Dogma  übersehen  und  übersehen  es  noch.  Vielmehr  beurteilt  Gfrö- 
rer die  Begungen  des  menschlichen  Geistes  und  die  Beihe  der  durch  diesen 
geschaffenen  Thatsachen  ganz  vom  Standpunkte  der  weltoberhoheitlichen 
Bom-Kirche,  ohne  dass  er  beschöniget  Fehler  und  Sünden  der  eben  dieser 
unterworfenen  unteren  Organe.  In  diesem  überzeugungstreuen  Bestreben 
erlaubt  jer  sich  gewaltsame  Schluss-Folgerungen,  die  teils  zur  Verkennung  der 
•Gewährsmänner  führen,  teils  in  sich  selber  unrichtig  werden  durch  die  ünter- 
schätzung  oder  vollständige  Ignorirung  des  neuzeitlichen  Staatsrechtes.  So 
hat  denn,  wo  Bänke  durch  Massigkeit  und  Zurückhaltung  zu  wenig  geboten, 
ohne  Zweifel  Gfrörer  in  seinem  guten  Eifer  des  Guten  zuviel  gethan. 

Nach  Massgabe  der  bis  jetzt  bekannten  Quellen  muss  auch  der  Eir- 
^hen-Geschichtschreiber  eingestehen,  dass  in  Bolestaws  Zeiten  eigentlich  nur 
die  militärischen  Actionen  aus  dem  Dunkel  hervortreten,  das  Meiste  zuvor 
und  darnach  jedoch  trotz  der  Chronisten  (wie  Bernold  bei  Pertz  V,  433, 
Lambert  255,  Zeit  1077  und  Weihnacht  1076)  nicht  erschöpfend  berichtet  ist. 
Daran  müssen  vorderhand  noch  beide  Parteien  leiden.  Wenn  infolge  der  Bulle 
von  1075,  20.  April  (bei  Jaflfe  Beg.  3715)  auf  besonders  ausschlaggebende 
Weihgeschenke  nach  Bom  geschlossen  wird,  ebenso  auf  sichere,  die  Inter- 
vention zu  Gunsten  des  Grossbojaren  Isäslaw  betreffende  Anweisungen  oder 
Stipulationen  unter  der  Formel,  dass  seine  Angelegenheiten  nicht  schrift- 
lich zu  sagen  sind  (Gf.  S.  559),  so  geraten  wir  durch  derartige  Unterle- 
gungen schon  auf  fühlbar  wankenden  Boden.  Wie  viel  soll  denn  Boleslaw 
concedirt  haben  im  Vorhinein,  dass  er  —  um  mit  Worten  modemer  Diplo- 
matie zu  sprechen  —  durch  eine  vertrauliche,  eine  Verbal-Note  eines  (geist- 
lichen) Gesandten  in  einer  vorgehabten  Kriegs- Unternehmung  sich  habe  die 
Hände  binden  lassen,  genauer  gesagt;  Zeit  und  Mittel  vorschreiben  lassen 
seitens  einer  fernen,  ihn  weder  mit  Geld  noch  mit  Truppen  unterstützenden 
Macht? 

Man  muss  doch  den  Bealisten  Boleslaw  möglichst  reel  nehmen.  Wohl 
war  Gregor  VII.  —  nach  Job.  von  Müllers  ziemlich  zutreffendem  Ausspru- 
che —  «ein  Priester  ohne  Gold,  ohne  Eisen,  ohne  Land,  gewaltig  nur  durch 
die  Seelenkraft»  (und  durch  die  Schwäche  jener,  die  sich  von  ihm  imponi- 
ren  Hessen) ;  aber  immerhin  konnte  er  durch  Bundesgenossen  seinem  Plane 
-so  viel  bieten,  dass  ja  dem  Papste  gewisse  Goncessionen,  soweit  man  solche 
für  gut  fand,  zugestanden  werden  mochten. 

Dass  aber  der  kriegsgewandte  Pole  hinsichtlich  der  Zurückführung  des 

42* 


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ÖÖO  BOLESLAW   II.  VON    POLEN. 

Grossbojaren  sich  habe  Grenzen  setzen  lassen,  müsste  wohl  noch  durch* 
Documente  erhärtet  werden.  Wovon  der  Papst  nicht  schreiben  konnte,  daa 
sollte  auch  der  Curial-Historiker  durch  Subintelligenz  zu  ergänzen  nicht  ver- 
suchen. Wenn  wir  mit  Gfrörer  zugeben  (und  der  Bulle  Wortlaut  hat  die 
gleiche  Klage),  dass  1075  keine  (geistliche)  Metropole  in  Polen  bestand,  so 
verstehen  wir  darunter,  dass  der  hohe  Priester  zu  Gnesen  nicht  genug 
Grundbesitz,  Geldeinkunft  und  Rats-Einfluss  besass,  missliche  Umstände, 
über  welche  der  Bischof  und  Peine  Untergebenen  mehrfach  nach  dem  Tiber 
geklagt  haben  mochten.  Wahrscheinlich  wird  der  Stand  der  Bistümer  (Gfr. 
S.  560,  vieUeicht  acht  an  der  Zahl)  so  beschaffen  gewesen  sein,  dass  die 
Seelsorge  —  wie  heute  noch  in  Steppen-  und  Hochgebirgs-Ländem  — 
Beschwerden  und  Entsagungen  bereitete  wie  denn  sein  Stand  dem  Ackers- 
manne  und  dazumal  insbesondere  dem  Eriegsmanne,  der  ja  in  Friedenszeiten 
höchstens  bei  unblutiger  Arbeit  keuchte.  Wenn  nun  nach  der  Bulle  und  seit 
der  Königskrönung  insgemein  1 5  Bischöfe  in  Polen  genannt  werden,  was  ja 
den  Romanisten  ein  cultureler  Fortschritt  scheinen  kann,  so  findet  Gfrörer 
die  Behauptung  einiger  Schriftsteller,  welche  diese  Vollzahl  bestreiten  oder 
anzweifeln  und  nicht  mehr  oder  nicht  viel  mehr  als  die  alte  Fünfzabl 
gelten  lassen  wollen,  geradezu  läppisch,  weil  er  eben  an  Lamberts  Zahl  fünf- 
zehn festhält. 

Wir  müssten  inconsequent  sein,  wenn  wir  an  der  Lambertischen  Zahl 
mäkeln  wollten,  aber  die  Bedeutung  der  Zahl  zu  untersuchen,  wird  uns 
nach  scholastischem  Systeme  erlaubt  sein  und  dieses  Mittel  ist  doch  früh- 
mittelalterig  genug.  Warum  sollten  der  neuen  Bischöfe  nicht  sieben  oder 
acht  lediglich  titulare  gewesen  sein,  ohne  ein  sonderheitlich  abgegrenztes 
und  feststehendes  Bistumsgebiet?  Waren  in  so  kurzer  Frist  Erhobene  nicht 
mit  der  Ehren- Anwartschaft  zunächst  zufriedengestellt  und  fungirten  bei 
Krönung  und  Hoffesten  so  gut  als  die  grossen  P&ünden-Besitzer  und  sind 
denn  die  Infulirten,  die  Weih-  und  Feldbischöfe  überhaupt  den  Bistums- 
Oberhäuptem  in  Allem  gleichgestellt  zu  erachten  ?  Würde  selbst  BolesJaw 
in  so  kurzem  Zeiträume  das  geistliche  Regiment  so  enorm  verstärkt  haben, 
woher  hätte  er  wohl  die  Kosten  der  selbstverständlichen  und  in  Stiftungs- 
urkunden recht  ersichtlich  gemachten  Dotation  gezogen,  mangels  einer  aus- 
wärtigen Colonisation  oder  einer  ausgiebigen  Kriegs-Entschädigigung,  als  von 
der  Szlachta  oder  von   der  Bauernschaft?  Bekämen  wir  aber  auch  einmal 
die  Pergamente  der  neuen  Bistums-Gründungen  zu  Gesicht,  was  noch  aus- 
steht, so  dürften  wir  wohl  nach  dem,  wie  die  Sachen  sich  unmittelbar  dar- 
nach gestaltet  haben,  die  Szlachta  als  Geldquelle  der  Fundationen  vermu- 
ten. Soweit  sind  wir  aber  mit  den   finanzielen  Belegen  der  Zeit  um  1076 
noch  nicht. 

Mit  diesen  Vorgängen  in  Zusammenhang  zu  bringen  ist  das  Eintreten 
Gfrörers  zu  Gunsten  des  Erzbischof-Titels  für  den  Krakauer  Oberhirten 


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B0LE8LAW   II.  VON    POLEN.  66^ 

^S.  561);  wenn  man  lediglich  auf  die  Reihenfolge  der  späteren  geistlichen 
Schriftsteller,  insbesondere  der  polnischen  hören  wollte,  so  wäre  freilich  ein 
Oegenteiliges  unerhört.  Ist  den  Forderungen  der  Bulle  in  Allem  genügt 
worden,  dann  ist  Stanislaus  als  Inhaber  des  Metropolitan-Bistums,  insofeme 
der  Gnesener  nicht  ältere  Rechte  ansprach,  soviel  als  Erzbischof  gewesen,  Ober- 
haupt der  Sprengel  der  Landesbischöfe ;  dass  er  in  politicis  der  Ober- Anfüh- 
rer war,  schliesst  sich  aus  den  nachgefolgten  Thatsachen.  Indess,  dass  der 
Bischof  den  Erzbischof  fortreisst  und  der  letztere  nur  der  passive  ist, 
kommt  genugsam  vor.  Aus  solchem  Grunde  wird  nicht  jeder  Bischof  Erz- 
bischof. Und  wenn  schon  für  Ernennung  und  Finanzirung  uns  die  Docu- 
mente  fehlen,  so  liessen  wir  durch  gleichzeitige  Zuschriften  oder  Titels- 
Anwendungen  uns  beschwichtigen.  Mit  den  fünfzehn  Bistümern  Gfrörers 
stimmt  der  Erzbischof-Titel  consequent  zusammen. 

Man  muss  auch  mit  grosser  Schätzung  beobachten,  wie  der  starkmütige 
Kirchen-Geschichtschreiber  die  Biographie  des  Stanislaus  bis  auf  gewisse  Gren- 
zen mit  aller  Unabhängigkeit  sich  ansieht,  manche  KindUchkeiten  seiner  Vor- 
gänger, selbst  jesuitisch  geschulter,  preisgebend.  Der  die  BoUandisten  (Mai 
n,  200)  beeinflussende  Mönch  um  1260  schreibt  Fabeln,  das  bekennt  er 
blank  (Gf.  562) ;  Stanislaus*  Studium  zu  Paris  und  dessen  Besuch  in  Clugny 
gibt  er  zu,  mit  Folgerungen,  die  auf  eine  kühne  Vermutung  (in  betreff  des 
Aaron  aus  Qugny)  führen,  die  Eindruck  machen,  ohne  zu  überzeugen.  Bei  der 
^hilderung  des  Streit-Ursprunges  lässt  er  den  König  schon  etwas  in's  Dunkel 
treten.  Uni  Rechtsformen  habe  es  sich  anfänglich  gehandelt,  der  Ausdruck 
ist  ganz  massvoll  (S.  563).  Aber  hinter  den  Rechtsformen  war  doch  das 
Recht  im  Principe.  Es  soll  nicht  behauptet  sein,  die  Kirche,  durch  Bolesiaw 
rasch  gekräftigt  infolge  auswärtiger  Beinflussung,  habe  ihre  Rechte  über- 
schritten. Das  Wahrscheinliche  ist,  von  ihren  Rechten  hat  sie  zu  starken 
Gebrauch  gemacht.  Das  kann  sie  bei  einem  schwachen  Könige  wagen, 
nicht  wohl  bei  einem  ganzen  Manne,  der  Boleslaw  war.  Die  Kirche  hat 
zu  viel  Grundbesitz  erworben;  die  Zahl  und  Art  der  kriegstnchtigen 
•Dörfer-Bevölkerung  musste  den  Landesfürsten  kümmern.  Der  Erwer- 
bungs-Fälle durch  Kauf,  Schenkung,  Erbschaft  sind  vermutlich  viele  gewor- 
den, einer  cülminirt  mit  einer  transcendentalen  Kronzeugenschaft.  Dem 
kirchlichen  Latifundien-Wesen  musste  sich  der  König,  wenn  er  irgend  prak- 
tischen BUck  hatte,  beizeiten  widersetzen;  die  Theorie  des  Streites  griff  zuletzt 
in  die  Praxis  zweier  starker  PersönUchkeiten  über.  Was  wäre  aus  Gregor  VIL 
oder  Heinrich  IV.  geworden,  hätten  sie  jahrelang  in  ein-  und  derselben  Stadt 
leben  und   schaffen  müssen?  Auf  ein  paar  Rechtsformen  wäre  es  wohl 


*^  Wie  Wladislaw  Hermann,  der  Nachfolger,  eine  ■  friedlichere  und  scli wachere 
Natur •  war  (J.  B.  von  Weiss.) 


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662  B0LE8LAW   n.  VON   POLEN. 

nicht   angekommen;    zwei  fundamental   verschiedene   Weltanschannngeii 
stiessen  aufeinander. 

Durch  die  Eiewer  Eriegszeit  hat  Boleslaw  das  Gefühl  des  Zwistes  mit 
sich  getragen ;  nichts  hindert  anzunehmen,  dass  er,  seiner  Weise  als  Soldat 
sich  erinnernd^  dem  ungleichen  Streite  vorerst  aus  dem  Weg  gegangen  ist» 
Frühjahr  1077^  alsdann  um  Herbstzeit  1078  zurückkehrend.  Was  etvra  vor 
September  1078  von  Erakau  aus  eingeleitet,  wieviel  in  den  nächsten  acht  Mo- 
naten zur  Zuspitzung  der  Verhältnisse  beigetragen  worden,  das  entscheidet  für 
die  Beurteilung  der  Bischofs-Tödtung,  der  Königs- Vertreibung.  Nach  Gfrörer 
rast  der  König,  kaum  zurückgekehrt,  gegen  die  Bitter  und  verhöhnt  den  Sta- 
nislaus ;  es  wird  jetzt  nicht  gesagt,  den  Bauernstand  habe  er  gedrückt.  Der 
Adel  und  die  Kirche  scheinen  also  gemeinsames  Schicksal  zu  haben,  wol 
auch  gemeinsame  Parteistellung. 

Ein  Kronzeuge  unserseits  nun  wird  durch  Gfrörer  in  der  heftigsten 
Weise  abgelehnt ;  es  ist  der  wälsche  Chronist,  welcher  für  Stanislaus  das 
schwere  Wort  Verräter  hat  (Pertz  IX.  441).  Seine  Bede  ist  Greschwätz  (er 
spricht  doch  eben,  in  den  meisten  Gtlngen  zu  wenig,  das  Wenige  ist  selten 
oratorisoh,  öfter  einfach,  meist  klar,  klug,  fast  kühl),  sein  Freimut  ist  ihm 
hündisch ;  er  ist  ihm  ein  Streber  aus  niedrigen  Triebfedern  (gemeint  sind 
niedrige  Triebe,  nicht  Federn),  er  hält  ihm  das  Wahrwort  Heuchler  entgegen 
(3.  565).  Aus  allen  Stellen  seiner  Chronik  lässt  sich  ein  so  verderbter  Cha- 
rakter nicht,  dass  wir  wüssten,  herauslesen.  Freimut  muss  es  allerdings 
genannt  werden,  dass  ein  niederer  Geistlicher  den  Oberhirten  seines  Spren- 
geis mit  einem  Namen  bezeichnet,  welcher,  wenn  weltliche  Verhältnisse  in 
Betracht  kommen,  jede  gewohnte  Beziehung  zwischen  Unterthan  und  Landes- 
fürst  verschiebt.  Aber  das  Hündische  daran  ist  weltlichem  Sinne  nicht  er- 
sichtUcb ;  denn  weder  hat  der  Wälsche  .zweifeln  können,  dass  die  Curie  ihn 
bei  gegebener  Gelegenheit  gehörig  zur  Bestrafung  vornehmen  werde,  noch 
haben  wir  je  erfahren,  es  sei  von  königlicher  Seite,  von  adelschaftiicher  oder 
staatlicher  Seite  dem  schreibenden  Bekenner  irgendwie  gelohnt  worden.  Für 
seinen  guten  Stil  hätte  er  einen  der  neuen  Biscbofsitze  nachderhand  wohl 
verdient,  des  guten  Stiles  halber  auch  den  «erzbischöflicben»  Stuhl  zu  Krakau 
wahrlich  mehr,  als  der  durch  Einfachheit  und  Gradheit  nicht  gerade  aus- 
gezeichnete Vincenz  Kadlubko  um  1209 — 20.  Aber  dass  der  Chronist  in  Ver- 
scboUenheit  gerät,  während  über  seinen,  von  ihm  gar  nicht  verhimmelten 
König  die  tragische  Legende  dreier  Länder  spricht,  mag  ihn  wenigstens 
gegen  den  Vorwurf  hündischer  Gesinnung  schätzen.  Es  ist  unb^reiflicb, 
dass  Gfrörer  dem  wälschen  Pater  die  gemütliche  Aeusserung  so  übel  nimmt, 
«aus  Dankbarkeit  für  das  Brot,  das  er  bei  den  Polen  gegessen,  habe  er,  damit 
seinerseits  auch  etwas  gezollt  werde,  die  Chronik  geschrieben!.  Wie  denn, 
wenn  Andere,  der  Polen  Brot  essend,  ihnen  den  Landfrieden  untergraben,, 
dem  auswärtigen  Herrn  mehr  unterthan,  als  dem  Landesherm,  und  ihren 


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B0LE8LAW   II.  VON   POLEN.  6^ 

König  ins  Elend  treiben?  Diese  Worte  haben  wir  für  den  königstreuen 
Gleriker  einlegen  müssen,  zumal  doch  keine  unmoralische  That  über  ihn 
berichtet  ist. 

Aber  Gfrörer  geht  noch  in  zwei  anderen  Punkten  entschieden  zu  weit, 
oder  vielmehr,  was  klar  zu  Tage  liegt,  das  sieht  er  nicht.  Aus  den  Jahrbüchern 
des  Italieners  liest  er  ziemlich  unzweifelhaft  heraus,  Bolestaw  habe  das  oocu- 
pirte  Eiewer  Gebiet  annexiren  wollen.  Trotzdem  dass  Nestor,  die  hauptsäch- 
lichste russische  Quelle,  davon  schweigt,  kann  Gfrörer  hierin  nicht  gänz- 
lich widerlegt  werden.  Denn  wenn  der  König  über  die  Massen  lang  im  Fremd- 
lande bleibt  (mau  denke  an  die  geringe  Freude  der  modernen  Italiener  über 
die  Franzosen  im  Kirchenstaate),  g^en  die  Ansicht  und  Lust  der  Truppen- 
führer und  vieler  Kriegsmänner  selbst,  für  welche  Umstände  es  in  der 
Geschichte  bedeutender  Feldzüge  an  Beispielen  nicht  fehlt,  so  ist  daraus 
nimmer  zu  schliessen,  dass  er  mit  den  Heermassen  gar  nicht  heimziehen 
mochte ;  und  gebt  er  endlich  heim  und  mit  ihm  zeitgleich  ein  grösster  Teil 
der  Invasionstruppen,  so  folgert  sich  daraus  keineswegs,  dass  er  Land  und 
Hauptstadt  aus  der  Gewalt  gebe.  Insoweit  möchten  wir  das  Gegenteil  des 
Gesagten  nicht  aus  dem  Chronisten  schliessen.  Aber  Gfrörer  will,  dass 
Boleslaw  blieb,  als  ein  Unrecht  bezeichnen ;  gewisse  päpstliche  Aufträge 
sprächen  dagegen  (wir  kennen  keine  solchen). 

Obwohl  der  Zweck  erreicht  war,  sei  Boles^aw  in  Kiew  geblieben,  meint 
Gfrörer.  Der  Zweck  des  Eroberers  ist  die  Behauptung  des  Eroberten,  aus 
Zweckmässigkeits-Gründen  kann  er  davon  abgehen,  teilweise,  ganz.  Wohl 
konnte  der  Zweck  des  Papstes  erreicht  genannt  werden,  Bolesiaw  war  jedoch 
nicht  sein  Condottiere.  Für  den  kriegerischen  Staatsmann  war  der  Zweck 
genügsamer  Aufwendungen  nur  erreicht,  wenn  er  festen  Fuss  gefasst  hatte 
im  veränderungssüchtigen  Nachbarreiche,  dessen  bisheriger  Fürst,  ohnehin 
nicht  allgemein  beliebt,  sich  darin  nicht  hätte  halten  können,  ohne  die 
bessere  Berufenheit  des  Nachbars  zur  Ordnungmachung  anzuerkennen  und 
anzusuchen.  Ob  ein  souzeränes  Yerhältniss,  dem  Papste  zu  Gefallen,  einge- 
leitet werden  sollte^  ist  nicht  mehr  ersichtlich.  Jedenfalls  war  dem  Zwecke 
vom  polnischen  Standpunkte  aus  nur  dann  entsprochen,  wenn  in  Kiew  die 
polnische  Macht  galt,  sei  es  nun  durch  Isäslaw,  Tribut,  Waffenbündniss  udgl. 
Wie  lange  die  Occupation  anzudauern  hatte,  wird  Bolesiaw  zu  entscheiden 
besser  berufen  gewesen  sein,  als  die  Curie.  Scheint  nicht  der  wälsche  Anna- 
list —  um  mit  einem  letzten  Worte  auf  ihn  zurückzukommen  —  gut  unter- 
richtet, wenn  seine  Zeilen  anleiten  zu  einem  Schlüsse  auf  eine  bleibende 
Occupation?  Nun  freilich,  an  seinem  Wissen  zweifelt  Gfrörer  nicht,  nur  an 
seinem  Charakter. 

Die  Fabel  von  den  männersüchtigen  Weibern,  welche  an  Stelle  ihrer 
in  langen  Kriegen  abwesenden  Gratten  deren  Sklaven  heirateten,  ist  von  den 
Königsfreunden  erfunden  worden.  So  Gfrörer.  Demnach  wären  die  sonst  be- 


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66^  BOLEßLAW   U.  VON    POLEN. 

richteten  Strafsoenen  nicht  Wahrheit.  Die  königliche  Partei  hat  sich  der  Lüge 
bedient.  Genannt  wird  der  Erfinder  und  Verbreiter  freilich  nicht.  Auch  steht 
daneben  aufrecht  die  Thatsache :  ein  Teil  des  Heeres  ist  dem  König  abhan- 
den gekommen.  Wenn  die  KönigUchen  das  Motiv  erfunden  und  erlogen 
haben,  welches  war  also  das  Wahre  zur  wahren  Thatsache,  sagen  wir  jenes, 
welches  der  Glerus  für  wahr  hielt,  die  Szlachta,  die  Bauernschaft?  Letztere 
beide  fassen  sich  wohl  zusammen  im  Begriffe  «das  Heen  ;  wir  brauchen  es 
daher  nicht  sonderheitlich  aufzurufen.  Heer  und  Glerus  müssen  teilweise  in 
dem  Motive  übereingestimmt  haben,*  gegenüber  den  Königlichen.  Keines- 
wegs ohne  Truppen  ist  Boleslaw  heimgekehrt.  Was  Gfrörer  annimmt,  ent- 
spricht auch  unserer  Meinung:  Heeres-Desertion.  Ein  grosser  Teil  der 
Gründe  ist  in  den  jeweiügen  Kriegsleiden  selbst  zu  suchen,  wer  wollte  das 
bezweifeln?  Die  intelligentesten  und  tapfersten  Waffen-Genossenschaften 
sind  durch  Alexanders  des  Grossen  so  sehr  heimatfeme  und  langwierige 
Eeldzüge  kleinmütig,  ungeduldig,  widerspenstig  geworden.  Der  Ursprung 
imd  das  Weitergreifen  der  Verstimmung  auf  Kiewer  Boden  entzieht  sieb 
unserer  späten  Mitwissenschaft;  nur  augenfällige  Thatsachen  helfen  uns  zu 
Bückschlüssen. 

Eine  offenkundige  Ausreissung  erheblicher  Truppenteile  kann  ohne 
Teibiame  einzelner  Höherstehenden  nicht  erfolgen ;  ohne  Mitwirkung  bei 
der  Heeres-Desertion  ist  die  Schlachta  nicht  geblieben.  «Die  Vornehmen  eilen 
nach  Hause.»  Nur  ihre  Teilnahme  gab  die  Möglichkeit  des  Gelingens,  ihre 
nachmalige  Haltung,  antiboleslaisch,  bekräftiget  die  Voraussetzung.  «In  der 
That  trat  Stanislaus  sofort  als  Beschützer  der  ohne  Urlaub  Zurückgekom- 
menen auf#,  lauten  die  Worte  Gfrörers.  Und  sie  lauten  bedenklich  genug. 
Ohne  Urlaub  zurückgekommen  sind  sie  allerdings,  die  Schwachmütigen,  die 
Meineidigen,  die  Verräter,  die  Ausreisser,  wie  könnten  wir  sie  anders  be- 
nennen? Und  als  deren  Beschützer  tritt  der  Bischof  auf  und  dieser  Bischof 
findet  einen  modernen  Verteidiger?  Man  kann  es  kaum  begreifen,  wie  das 
Staatsrecht  für  nichts  geachtet  werden  kann.  Wenn  nach  der  bosnisch- 
herzegowinischen  Occupation  der  Primas  von  Ungarn,  gegen  das  «Dort- 
bleiben  der  östreichisch-ungarischen  Truppen»  sprechend,  weil  der  Zweck 
nunmehr  erreicht  sei,  eine  Massen-Desertion  protegirt  hätte  —  welchem 
Urteile  würde  er  sich  wohl  ausgesetzt  haben,  der  modernen  Weltanschauung, 
meinen  wir  nur,  um  von  dem  militär-gerichtlichen  gar  nicht  zu  sprechen. 

Da  nach  diesen  militärisch- kirchlichen  Gonflicten  der  Bischof  zum 
Bann- Ausspruche  genötiget  war,  mit  welchem  Axiome  Gfrörer  alsbald  zur 
Hand  ist,  nicht  ohne  hinzudeuten,  etwa  vor  der  Krönung  angebahnte  Con- 
stitutionen habe  der  Bischof  jetzt,  nach  dem  Feldzuge,  zu  verteidigen  gehabti 
was  liegt  näher,  als  annehmen,  das  Intriguenspiel  von  Kirche  und  Szlachta 
habe  auch  während  des  Waffenganges  nicht  geruht,  benützend  die  in  allen 
Kriegs- Geschichten  typische  Abneigung  des  Volksheeres  gegen  lange  Feldzugs- 


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BOLESLAW   n.  VON    POLEN.  665 

Auswärtigkeit  nach  befriedigenden  Erfolgen?  Setzen  wir  den  Fall,  als 
Alexander  d.  G.  gegen  die  Perser  und  Syrer  gezogen  war,  nach  dem  Siege 
am  fernen  Easpi-See  über  die  Marder,  nach  den  Schlachten  von  Arbela- 
Gaugamela,  am  Issos,  am  Granikos,  nach  dem  Treffen  im  Pendschab  am 
Hydaspes,  als  die  Soldaten  nicht  mehr  weiter  wollten  bei  Stadt  Sagala,  trotz 
Drohungen  und  Bitten,  hätte  Solches  angezettelt  oder  beschirmt  einer  der 
Statthalter  oder  —  um  den  tauglichen  Gegensatz  besser  hervorzukehren  — 
ein  oberster  Tempelpriester  des  Amun,  oder  Einer,  welcher  der  Pythia  zu 
Delphi  am  nächsten  stand  —  wie  würde  der  Macedonier  gegen  einen  Solchen 
vorgeschritten  sein?  Oder  C.  J.  Caesar  nach  seinen  Siegen  in  Germanien 
und  Helvetien,  als  er  zweimal  am  weitesten  nach  Britanien  vorgedrungen 
war,  wenn  ihm  —  nicht  Pompeius  oder  sonst  ein  berufener  Fachgenosse  — 
seine  Legionen  halbwegs  abwendig  gemacht  hätte,  ein  ansehnlicher  Sacer- 
dos  pubUcus  allenfalls  (pontifex  maximus  war  er  selber  seit  c.  48  v.  Ch.)> 
einer  der  Arvalen  etwa,  der  Auguren,  Augustalen  Fetialen,  Flamines,  der 
Salier,  Titialen  u.  dgl.  ?  In  der  sogenannten  heidnischen  Zeit  lässt  sich  die 
Parallele  für  einen  derlei  Insubordinations-Fall  nicht  genau  herausarbeiten. 
Das  ist  erst  der  christlichen  Zeit,  in  Misskennung  der  christlichen  Erdmission 
zwar,  vorbehalten.  Wenn  uns  noch  Karl  XII.  von  Schweden  in  Erinnerung 
kommt,  tapfer,  hart,  ehrgeizig,  gerecht,  consequent  bis  zum  Starrsinn,  viel 
von  Boleslaw,  doch  grösserer  Anlage,  er  greift  Bussland  in  der  Ukraine  an, 
bei  Pultawa  geschlagen,  flüchtet  er  zu  den  Türken,  drei  Jahre  in  Bender 
weilend  hält  er  sich  mit  wenig  Wehrhaften  gegen  den  Sultan,  wird  alsdann 
zu  Demotika  gefangen  gehalten,  flüchtet  endUch  durch  Ungarn  nach  Deutsch- 
land (1714);  angenommen,  in  den  Zwist  der  Generale  ßehnsköld  und  Le- 
wenhaupt,  welcher  hauptsächlich  das  Unglück  von  Pultawa  verschuldet 
haben  soll,  hätte  irgendwie  der  Stockholmer  Consistorial- Präses  oder  sons 
ein  Bischofmässiger  miteingespielt,  wäre  der  wohl  dem  Schicksale  Patkuls 
entronnen  ?  So  hat  Karl  XIL  einen  Kriegs- Anstifter  bestraft,  nicht  menschlich 
wahrlich,  aber  ungebannt  und  ungebrochen.  Bedürfte  es  noch  der  Frage  — 
um  der  Kriegskünstler  Grössten  heranzuziehen  —  was  Napoleon  verfügt 
hätte,  würde  nach  dem  15.  September  1812,  nachdem  über  eine  halbe  Mil- 
lion Menschen,  die  durchaus  kein  gemeinsames  Nations-  oder  Menschheits- 
Ideal  nach  Moskau  geführt,  Franzosen,  Polen,  Deutsche,  Oestreicher 
(Slaven,  Ungarn),  Italiener,  Spanier,  die  Russen  besiegend  bei  Smolensk,  bei 
Mosaisk  —  würde,  sagen  wir,  der  Erzbischof  von  Paris  eine  Massen  Deser- 
tion nur  der  romanischen  Brigaden  in  seine  Protection  genommen  haben. 
Man  predige  nicht,  das  ist  das  Friedensamt  des  Priesters,  dass  er  den  Krieg 
aus  der  Welt  schaffe.  Das  Fliegen  lernt  sich  nicht  im  Wasser,  das  Schwimmen 
nicht  in  der  Luft  und  in  Kriegszeiten  ist  das  gewaltsame  Friedenmachen  vom 
Bösen ;  nicht  nur  lächerlich,  sondern  auch  ungerecht.  Wo  der  Helm  erglänzt, 
bleibe  die  Mitra  zurück  und  wo  das  Schwert  die  Ziele  weist,  hat  der  Krumm - 


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ößö  BOLESUkW    II.  VON    POLEN. 

Stab  nicht  zu  leiten.  Zur  Zeit  des  Kriegsfalles  selbst  gründet  kein  Patriot 
praktisch  eine  Friedensliga ;  aber  zu  den  edelsten  Aufgaben  der  Christen  und 
NichtChristen  (Priester  und  Laien)  zählt  es  ohne  Weiteres,  auf  die  Minde- 
rung und  Abschaffung  der  Kriege  hinzuwirken,  zu  rechter  Zeit,  mit  rechten 
Mitteln. 

Wieso  endlich  Stanislaus  zum  Banne  genötiget,  dass  die  Königs-Aus- 
treibung etwas  wie  eine  gesetzliche  Folge  von  (vor  dem  Kriege  eingegangenen 
und  darnach  nicht  eingehaltenen)  Verpflichtungen  gewesen,  vermögen  wir 
nicht  einzusehen.  Hätte  die  Bulle  gar  das  Mitstimmrecht  der  Bischöfe  ge- 
wünscht inbetreff  Steuer  und  Krieg,  so  wäre  Stanislaus,  da  ja  formel  solches 
Becht  auch  der  Szlachta  erst  hätte  zugesprochen  werden  müssen  (um  vom 
dritten  Stande  gar  nicht  zu  reden),  vollends  wie  ein  Freiheitsheld,  wozu 
man  ihn  denn  doch  ernstlich  nicht  wird  machen  wollen.  Hat  doch  erst  die 
Constitution  vom  3.  Mai  1791  die  Oberherrschaft  der  Szlachta  gebrochen, 
dem  Bürger-  und  Bauernstände  Rechte  gebend.  Auch  die  Beweise,  dass 
nachmals  Boleslaw  der  Schamhafte  von  Polen  selber  die  stanislaische  Heilig- 
sprechung verlangt  und  betrieben  habe  (BoU.  H.  202)  und  der  Papst  Inno- 
cenz  IV.  in  Folge  der  jahrelangen  Untersuchung  der  Sache  durch  den  Mino- 
rit^n-Pater  Jakob  von  Velletri  nicht  habe  irren  können,  vermögen  nicht 
anzuziehen.  Immer  bleibt  die  Thatsache  haften,  wie  Stanislaus  c  durch  sein 
Ansehen  bewirkt  hat,  dass  das  polnische  Heer  zurückkehrte  ohne  Urlaub» 
(S.  568  wie  566).  Das  geflügelte  Wort  Gfrörers  von  den  Böcken,  «welche  sich 
von  jeher  vorzugsweise  zur  Gärtnerei  im  Weiuberge  des  Herrn  berufen 
glaubten»,  lässt  sich  trefflich  umwenden  auf  die  Priester,  welche  von  amts- 
wegen  in  die  Tagarbeit  des  Staats-  und  Kriegswesens  hineingreifen  zu  müssen 
glauben.  Schliesslich  concediren  wir  unter  Beschränkung,  dem  Könige  zog 
sein  Hochmut  den  Hass  der  Ungarn  zu  (vielmehr  einer  römisch-clericalen 
Partei  in  Ungarn)  und  letztlich :  «Boleslaw  ist  1031  auf  fremder  (ungarischer) 
Erde  als  Verbannter  eines  gewaltsamen  Todes  gestorben. »  (Gf.  1861  VIL568.) 
Vorsichtiger  handelt  F.  B.v.  Weiss  (W.Gesch.  Bd.  lU,  2,  1879.  S.  29)  über 
Boleslaus  «der  1083  als  FlüchtUng  in  Ungarn  endete,  ein  Opfer  des  Hasses 
der  Magyaren,  die  sein  Hochmut  verletzte». 

n. 

Nach  der  ältesten  Quelle  ist  Boleslaw  geschieden  als  Opfer  des  Hasses 
der  Magj^aren,  nach  Lelewels  Worten  in  trauriger  Vergessenheit  als  Opfer 
des  Hasses,  den  er  den  Ungarn  eingeflösst.  Gallus  berichtet  in  cap.  28  ledig- 
lich hinsichtlich  der  Aufnahme  durch  den  verwandten  König,  des  Entgegen- 
kommens, des  Pferd- Abstieges,  des  allgemeinen  Dienst- Auftrages  im  ganzen 
Lande :  sed  in  pestiferae  fastum  superbiae  cor  erexit .  .  .  postea  vero  concor- 
diter  et  amicabiliter  inter  se  sicut  fratres  convenerunt.   Ungari  tarnen  illud 


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B0LE8LAW   U.  VON    POLEN.  667 

altius  et  profandius  in  corde  notavernnt,  unde  magnam  sibi  Ungaromm 
invidiam  cumnlavit,  indeque  citias  extrema  dies  eum,  ut  aiutit  (seitlich 
1081)  occupavit.  (Obiit  autem  miserabiliter  anno  Dni  MLXXXI,  addit  3, 
setzt  unsere  Ausgabe  hinzu  S.  441,  Note  51  nach  Z  als. 

Ist  es  erlaubt,  das  auszulegen,  eine  Anzahl  von  Magyaren  oder  Na- 
mens solcher  ein  Landesgenosse  hat  den  flüchtigen  Polenfürsten  auf  eigene 
Faust  gegen  des  Landeskönigs  Willen,  aber  diesem  zur  vermeintlichen  Ent- 
lastung, heimlich  oder  in  offenem  Anfall  umgebracht?  Nirgend  ist  das 
deutlich  verschrieben.  Nicht  widersprechend  gerade  ist  die  jüngere  Nach- 
richt aus  der  Vita  S.  Stanislai  (vor  1253);  aber  sie  detailirt  mehr.  Es  kann 
immerhin  eine  Folge  der  feindlichen  Stellung  der  ungarischen  Landsleute 
gewesen  sein,  dass  Boleslaw  in  eine,  dem  Schreiber  unerhörte  Form  des 
Verfolgungs- Wahnsinnes  fiel,  und  dass  er  in  diesem  Zustande  sich  selber  den 
Tod  gab.  Diese  Selbstentleibung  entspricht  seither  den  Ansichten  der  unga- 
rischen Historiker.  ^®  Laut  der  Vita  ist  die  Zeit  des  Todes  das  zweite  Jahr 
nach  dem  Thron  Verluste,  annehmbar  1081 ;  zufolge  der  vorausgehenden 
Quellen  bleibt  das  Todesjahr  ganz  unbestimmt  nach  1079.  Boguphalus, 
Bischof  von  Posen,  gestorben  1253,  9.  Februar  (Boguchwal,  Chronik  in 
Sommersbergs  Sammelwerke  IE.  S.  28),  schreibt  beiläufig  154  bis  172 
Jahre  nach  dem  Todesfalle :  Post  hoc  autem  videns  Boleslaus,  quod  sui 
terrigense,  tam  proceres  quam  populäres,  se  a  sua  familiaritate  abstrahebant 
ad  Wladislaum  (zu  berichtigen  Salomonem)  secessit.  Qui .  .  humilem  vene- 
rentiam  exhibere  exposcens,  pedestri  veneratione  occurit.  Boleslaus  vero 
rex,  tamquam  superbus  et  elatus,  manum  sibi  porrigere  ac  osculum  dare 
contemsit,  inquiens  eo  .  .  .  Wladislaus  vero  rex  hoc  patienter  sustinens, 
ipsum  benignissime  amplectetur,  omnem  ei  humilitatis  exhibens  affectum  ; 
apud  quem  non  multo  tempore,  tactus  pessimo  ulcere,  in  amentiam  cecidit» 
sicque  miserabiliter  vitam  finiuit.  ^'^ 

Es  ist  Sache  der  ganz  Späten  Lebens-Beschreiber,  anzugeben,  auf  einer 
Jagd  sei  der  unglückliche  von  seinen  eigenen  Hunden  zerrissen  worden. 
Li  Oberungam,  zu  unbestimmter  Zeit  ist  noch  hinzuzusetzen.  Man  erinnere 
sich,  dass  König  Stephans  Prinz  Emerich  50  Jahre  zuvor  auf  der  Jagd  durch 
einen  Eber  zerrissen  worden  (1031).  In  der  Keihe  später  Geschichtschreiber 
steht  obenan  Dlugosz,  Dlugossus,  Joannes  Longinus,  geboren  1415,  welcher 
1449  nach  Rom  reiste,  1450  nach  dem  Oriente,  erst  Domherr  zu  Krakau, 
dann  Erzbischof  zu  Lemberg,  gestorben  um  1480.  Seine  historia  Polonica, 


*•  Der  Schmerz  ttber  seine  Vertreibung  hat  Boleslaw  das  Leben  geraubt,  sagt 
Engel.  (Gesch.  d.  Ungarischen  Reichs  1813,  I,  182;  vgl.  Ladisl.  Szalay  Gesch.  Ung. 
Pest  1861—66,  Klein-Fessler,  Gesch.  v.  Ung.  1867.  S.  175). 

*'  Keine  Jahrzahl;  zum  21.  März  setzt  Narusziewicz  V,  86.  Note  1:  Bogufai 
na  Karcie  28,  Kadhibek  666. 


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668 


BOLESLAW    II.  VON    POLEN. 


Ausgabe  Samicki,  Leipzig  um  1550,  enthält  die  Vita  beati  Stanislai  in  dem 
jüngsten  Neudrucke  seiner  sämmtlichen  Werke  (1876 — 1883,  14  Bde.)  im 
2.  Bande.  Diese  Vita,  zuerst  veröfifentlicht  in  Krakau  1511,  hat  gegenüber 
der  älteren  aus  der  Zeit  um  1:251 — 1:295  keinen  Wert.  ^^  Nach  des  Dlu- 
gossus  historia  polonica  lib.  XII  (mit  Berücksichtigung  der  ersten  Drucke 
1511,  1615  verbessert)  geben  die  Acta  Sanctorum  (l^enedig  1738,  Band  IL 
S.  198  bis  280)  den  Artikel  De  S.  Stanislao.  Wir  übergehen  die  Vorgeschichte 
von  Bann  und  Interdict  durch  den  Erzbischof  von  Gnesen  (cap.  XII,  alinea 
158  S.  233),  erste  Flucht  mit  Gold,  der  zwölfjährige  Mieczislaw  (cap.  XIII, 
alinea  175,  S.  237),  nach  Stanislaus  drei  Jahre  kein  Bischof,  Gregor  ML 
unerbittlich,  um  den  König  wenige  Helfershelfer,  der  Adel  abgewendet, 
Verschwörung  in  Betreff  Gefangenhaltung  oder  Tödtung,  des  Königs  Eeue 
(alinea  173),  Flucht  nach  Pannonien  (alinea  174).  Nach  zweien  Jahren  des 
Exils  lässt  nun  Dlugosz  den  König  ergriffen  werden  von  languor,  das  wäre 
modern  gesagt,  Nervosität,  Erschöpfung  der  Kräfte,  Wassersucht,  Blutzer- 
setzung und  was  in  diesem  allgemeinen  Ausdrucke  liegen  könnte.  Er  setzt 
aber  auch  die  (schon  bei  Boguphalus  begegnende)  amentia  hinzu,  alpes,  Sil- 
vas, nemores  delirando  petens,  endlich  stultitia  consummatus  periit,  a  pro- 
priis  canibus  comestus  et  devoratus.  Er  weiss  auch  zum  Jahre  1084,  dass 
alle  mit  Boleslaw  nach  Ungarn  geflohenen  Krieger  heimgekehrt  sind,  Na- 
mens Borzywon,  Sohn  des  Msta,  Slibutus,  DobrogisUus,  Paulus,  Zema, 
Odolan,  Andreas  ^^. 

Somit  hätten  wir  den  König  bis  an  sein  Lebensende  begleitet  in  den 
Landen,  die  ihm  thatsächlich  von  genügsamem  Aufenthalte  bekannt  waren 
und  worin  sein  Leben  und  Wirken  durch  glaubwürdige  Chroniken  im  All- 
gemeinen unzweifelkaft  gekennzeichnet  ist.  Die  späten  Lebens-Beschreiber 
jedoch  spinnen  das  Walten  des  Königs  noch  weiter  fort  und  versetzen  es 
westwärts  von  Ungarn  nach  den  Alpenthälern  von  Kärnten  und  TjtoI.  Weü 
es  bisher  nicht  gelang,  das  Königsgrab  etwa  zwischen  Donau,  Baab  und 
Vägh  (etwa  in  den  Jagdgebieten  zwischen  Bakony-  und  Neutra- Wald)  nach- 
zuweisen, wenngleich  es  dort  an  Erzählungen  über  den  hier  beigesetzten 
Helden  nicht  fehlen  dürfte,  so  schweift  die  geschäftige  Sage  ins  Weite  .  Das 
scheint  nicht  früher  zu  beginnen,  als  in  des  XV.  Jahrhunderts  zweiter 
Hälfte,  nicht  ganz  400  Jahre  nach  Boleslaw's  Tode.  Mit  Uebergehung  des 
vermutlich  ältesten  Anstoss-Gebers  in  des  XV.  Jahrhunderts  erster  Hälfte, 
der  weder  Pole  noch  Deutscher,  nicht  Mag^'ui-e,  nicht  Kämter  oder  Tyroler 
war,  nicht  Benedictiner  aber  Geistlicher  von  Einfluss,  nennen  wir  hier  zu- 
nächst Dlugosz,  welcher  als  42jähriger  Mann  vielleicht  zuerst  von  der  neuen 
boleslaischen   Legende   hat    hören   können.    Aus    Ungarn   sei    BolesJaw 


***  Roepell  I,  '2)1,  Note  18.  532  Vgl.  Angerstein  S.  263. 
*»  Vgl.  Roepell  I,  210.  Note  7. 


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BOLESLAW    11.    VON    POLEN.  ^6^ 

entwichen  (berichtet  dieser  I,  S.  498)  und  zuäusserst  gekommen  bis  in's 
Kloster  Vilthina  prope  Isbrug. 

Mathias  (nicht  Martinus)  de  Mechovia  (Michovia,  Miechovius,  Miecho- 
vita,  Miechoviensis),  artium  et  medicinae  doctor,  Canonicus  in  Krakau, 
schreibt  in  seinem  Chronicon  (regni)  Polonise,  Chronica  Polonorum  (Cra- 
coviae  1521  fol,  lib.  11.  S.  XLII,  cap.  XVI,  bei  Megiser  citirt  als  cap.  XX.  S.  L. : 
Deo  autem  uindicante,  cito  postea  in  amentiam  rex  Boleslaus  inoidit  et  per 
siluas  uagus  Xu  Kalendas  Aprilis  morte  interiit.  A  suis  canibus  (ut  ferunt) 
eum  insequentibus  deuoratus.  Tradunt  qusedam  annalia  quod  audita  sugil- 
latione  hungarorum,  de  occasione  beati  praesulis  Stanislai,  compunctus, 
dimissis  omnibus  et  filii  Myeszko  apud  regem  Wladislaum  relicto  atque 
commendato,  in  clamide  abiecta,  unico  comitatus  seruo,  clam  in  Corinthiam 
peruenit  ad  monasterium  Ozia  iuxta  lacum  de  prope  Villacum,  aliis  refe- 
rentibus  quod  secesserit  in  monasterium  situm  ad  Villacum.  ^^  Wir  er- 
fahren hier  einen  bestimmten  Todestag  Boleslaws,  den  21.  März,  das  Jahr 
wohl  nach  1079 ;  aber  auch  von  einer  bösen  Nachrede,  Verleumdung,  Ver- 
stimmung, wenn  man  will  Verschwörung  der  Ungarn,  welcher  also,  wenn 
er  nicht  geflohen,  Boleslaw  zum  Opfer  gefallen.  Eben  dieser  Miechov  bringt 
aber  auch  die  Versicherung,  das  Stift  Wilten  bei  Innsbruck  entbehre  jeder 
Tradition,  jedes  Denkmals  hinsichtlich  Boleslaw's. 

Im  Gegensatze  hierzu  berichtet  Dubravii  Jo.,  olomuzensis  episcopi, 
historia  boiemica,  cum  annotat.  Thom.  Jordani,  Basileae  1575,  libr.  VIII, 
S.  73  ^^.  Nam  sub  idem  tempus,  hie  ipse  Deus  iustissimus  impietatem  Bo- 
leslai  Poloniae  tyranni,  qua  se  per  insectationem  sui  pontificis  S.  Stanislai, 
dein  per  necem  eiusdem  parricidialem  impiauerat,  iusta  euidentique  uin- 
dicta  vltus  est.  Kegno  Uli  per  Kom.  Pontilicem  adempto,  actoque  in  exilium 
et  inter  tantam  amentiam  deiecto,  et  uagus  sylvas  pererraret,  a  suis  deni- 
que  canibus  deuoratus  esse  traditur.  (Ohne  Jahr,  zuvor  1106).  Hier  sehen 
wir  schon  den  Tyrannen  als  Mörder  des  Heiligen,  der  Papst  unmittelbar 
nimmt  ihm  das  Reich  und  schickt  ihn  ins  Exil. 

Jodocus  Ludovicus  Decius,  königlicher  Secretär,  sagt  in  seinem  De 
vetustatibus  Polonorum  liber  unicus  S.  XXV  (Cracoviae  1521  mense  Decem- 
bri) :  Poloniam  ille  exiens,  in  Hungariam  venit,  paulo  post  ratione  adempta, 
in  syluis  a  canibus  misere  laceratus  fertur  periisse.  Tra<litur  tarnen  ab  ali- 
quibus  in  eo  Ccenobio,  quod  ad  lacum  inter  Feltkirchen  et  Villacum  Karin- 
thise  oppidum  situm  est,  poenituisse,  inque  eo  sacello  quod  in  saxo  ad  laci 

^  Tradunt  annales,  quod  rex  Boleslaus  (den  er  benennt  Überaus  et  audax, 
postea  efferus)  de  occisione  beati  praesulis  Stanislai  compunctus,  dimissis  omnibus  in 
chlamyde  abjecta,  unico  comitatus  seryo,  clam  in  Carinthiam  pervenit  ad  monasteriiuu 
Ozia,  iuxta  lacimi,  prope  Villacum.  Dazu  Thnrocz  oder  Petrus  de  Reva,  rerum 
hungaror.  centuria  I,  par.  7,  Kromer  62,  Dhigosz  298,  Miechov  50  bei  Nanisziewicz 
V.  86,  2. 


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670 


BOLESLAW    II.  VON   POLEK. 


hostia  eminet,  tumulatum  esse.  Pari  affirmatione  extra  oppidum  Oenipon- 
tem  alias  Inspruck  in  Monasterio  Yiltha  degisse  tradant,  sed  in  bis  locis 
huius  rei  forte  nuUa  apparent  indioia,  qnomodocunque  miser  periit,  constat 
iusta  ultione  regno  pulsum  esse.  Hier  erfahren  wir  von  der  (einigen  Ein- 
zelnen) im  Ossiacber  Kloster  bekannten  Sage  ;  jedocb  entspricht  die  Grab- 
stätte «in  einem  am  Seeufer  aufragenden  Felskircblein»  nicht  einer  Selbst- 
schau.^^  Noch  ist  von  einer  Grabschrift  nicht  berichtet,  wiewohl  das  Buch 
an  die  40  Jahre  zuvor  geschrieben  oder  angelegt  sein  kann. 

Aventinus,  Johann  Thurmayer  aus  Abensbei^,  geb.  1466,  in  Wien  und 
Polen  thätig,  baierischer  G^schichtschreiber  (Annales  Boiorum,  Chronicon 
Bauari»  1522),  gestorben  1534;  Cuspinianus,  J.  Spieshammer  aus  Schwein - 
fürt,  als  Diplomat  reisend  vor  1 506  (posthumes  Werk  von  römischen 
Caesaren  und  Kaisern  1540,  deutsch  1543),  gestorben  1529,  können  nicht 
gewiss  als  Landes-  und  Ortsbesucher  bezeichnet  werden,  wie  wahrscheinli- 
cher Wolfgang  Lazius,  gestorben  1565,  welcher  in  seinem  De  aliquot  gen- 
tium migrationibus  (Frankfurt  1600  S  161,40)  nur  die  angebliche  Stiftung 
von  Ossiach,  nichts  über  Boleslaus  berichtet. 

Alle  die  Schriftsteller  dieser  Zeiten  hangen,  was  den  plastischen  Stoff 
betrifft,  von  DJugosz  ab.  An  Volltönigkeit  des  Ausdruckes  hat  es,  wie  aus 
den  wenigen  ausgezogenen  Stellen  zu  ersehen,  der  Kanzelredner  nicht 
fehlen  lassen ;  er,  der  ganze  Strafpredigten  des  Krakauer  Bischofs  wieder- 
giebt,  weitläufige  Zomreden  des  Königs  und  ein  abstossendes  übertrei- 
bendes Mord-Detail  verrät,  hat  überall  den  Anschein  des  Augenzeugen.  Seine 
Stärke  liegt  aber  nicht  in  der  Wahrheit,  sondern  in  seiner  Gewandt- 
heit als  Poet,  der  die  dankbare  Sage  schildert,  als  ßhetor,  der  sie  mit 
allen  Mitteln  glaublich  macht,  um  des  kirchlichen  Landespatrones  willen. 
So  ist  ja  auch  die  ganze  Königskrönung  BolesJaws  I.  durch  den  Erzbischof 
von  Gnesen  eine  poetische  Ergänzung  des  geringberichteten  Stoffes.  Wie 
sollte  nun  in  seinen  Fesseln  nicht  auch  der,  aus  der  Welt  ab  und  zu  mehr 
aufgesuchte,  als  die  Welt  aufsuchende  locale  Abt  des  stillen  Seestiftes 
Ossiach  gehen  ?  Zacharias  Gröblacher,  der  angebliche  48-ste  Abt  dieses 
Benediktiner-Klosters,  1588 — 93,  hat  in  seinen  mit  der  Jahrzahl  1588  verse- 
henen handschriftlichen  Annales  ozziacenses,^^  bearbeitet  nach  Archivs- 
Urkunden,  die  teils  (vor  1588)  verloren  gegangen,  teils  nach  Feldkirchen 
gekommen  sind  (vor  und  nach  1783)  folgende  Stelle:  «1084  Hoc  anno 
Boleslaus   rex  poloniae  reUnquit  regnum  suum  hie  8i    annis  poenitentia 


'^  Die  landschaftliche  Ausmalung  erinnert  zu  sehr  an  den  •  grossen  See  bei 
Rrakau,  den  kleinen  Fels,  genannt  die  Skalka»,  die  Stelle  der  alten  Götzenopfer  und 
der  St  Michaels-Kirche. 

"  Herausgeben  von  Ankershofen  im  Archiv  f.  Kunde  österr.  Geschichts-Quel- 
len  1851.  VII,  vgl.  38,  199. 


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BOLESLAW   n.  VON    POLEN. 


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acta  moritur.»  Von  Grabmal  und  Grabschrift  keine  Erwähnung.  Dies  hindert 
nicht,  dasR  sie  dazumal  bestanden  haben,  selbst  seit  100  bis  130  Jahren. 
Auffällig  bleibt,  dass  Boleslaw  erst  5  Jahre  nach  Stanislaus'  Tode  sein  Beich 
verlässt;  die  Busszeit  ist  8  oder  9  Jahre,  der  Tod  wäre  also  1092  oder 
1093.  Es  ist  dies  —  worauf  wir  später  zurückgreifen  —  die  erste  einhei- 
misch-kärntische Erwähnung  der  Bolesiaw-Legende.  Sie  liegt  in  der  Zeit 
gleich  nach  den  mehrmaligen  Beisen  des  polnischen  Bischofs  Hosius 
nach  und  aus  Bom,  vermutlich  durch  Ober-Kärnten. 

Martin  Kromer,  geboren  1512,  Domherr  in  Krakau,  bereist  in 
Deutschland  und  Italien,  Gesandter  an  Kaiser  und  Papst,  nach  Aeneas 
Sylvius,  Dantiscus,  Stanislaus  Hosius  1578  Bischof  von  Ermeland,  gestor- 
ben in  zweiten  Jahre  der  Abtzeit  Gröblachers  1589,  meldet  zuerst 
ausdrückhch  (Martini  Cromeri  De  origine  et  rebus  gestis  Polonorum 
libri  XXX,  1555  8  61,  Coloniae  Agrippinae  1589,  4-te  Ausgabe)  den  Selbst- 
mord des  Königs,  welchen  auch  der  ungarische  Geschichtschreiber  Katona 
Stephan  (historia  critica  regum  Hungar.  stirp.  arpadianae,  Pest.  1779  II 
410)  angenommen  hat  mit  den  Worten :  Amentia  correptus  ipse  sibi  violen- 
tas  manus  intulit  a.  C.  1081  —  nach  Cromer  (lib  IV.  p.  m.  90):  Conspira- 
runt  deinde  in  necem  eins  nobiles  et  proceres  nonnuUi ;  qua  conspiratione 
detecta,  veritus,  ne  ad  plures  etiam  ea  pertineret,  in  Vngariam  cum  filio 
Mescone  et  paucis  comitibus  fugit  ...  Ab  eo  (Ladislao)  Boleslaus  exsul 
sane  quam  comiter  et  honorifice  acceptus  est,  mansitque  apud  eum  ali- 
quamdiu.  Verum  exagitante  eum  in  dies  magis  ac  magis  patrati  sceleris 
conscientia,  acerbo  et  infatigabili  sceleratorum  camifice,  amentia  correptus 
mortem  sibi  ipse  consciuit  anno  post  Christum  natum  millesimo  octo- 
gesimo  primo.  Nach  diesen  Gängen  hat  Katona,  selbst  Priester  der  Erz- 
diöcese  Gran,  hinzugesetzt,  .  .  aliis  quas  ibidem  Cromerus  insinuat,  minus 
credibilibus  .  .  Dies  ist  nun  aber  (Cromer- Ausgabe  1589  S.  62) :  Alij  volunt, 
eum  in  uenatione  concito  equo  efferatione,  in  auias  syluas  delatum  esse, 
canibus  consequentibus  excessumque  ab  iis  discerptum,  ac  deuoratum. 
Alij  uero  memoriae  prodiderunt  (volunt  bei  Megiser),  eum  clam  omnibus 
errabundum  inter  Alpes  (alpes  Megiser)  ad  monasterium  quoddam  per- 
uenisse,  ibique  latentem,  quisnam  esset,  post  multos  labores  in  coquinae 
ministerio  vitro  et  poenitentia  commissi  parricidii  susceptas  et  exhaustas, 
vitam  finiuisse.  Sed  Mechouiensis  scribit,  quaerentem  se  in  Ulis  locis,  nihil 
eiuscemodi  comperire  potuisse. 

Cromer  bringt  nun  auch  die  Nachricht,  vor  einigen  Jahren  habe  ein 
ihm  befreundeter,  eleganter,  gebildeter  junger  Mann  Valentinus  Cusborius 
(Walenty  Kuczborszki),  auf  der  römischen  Beise  mit  Stanislaus  Hosius  von 
Ermeland,  später  Cardinal,  zu  Ossia  (Ossya),  sesquimiliario  distante  ab 
oppido  Feltkirchen,  im  Friedhofe  ein  Steindenkmal  des  Königs  Boleslaw 
gesehen,  equus  sella  constratus.  Die  dort  mitgeteilte  Inschrift  ist,  wie   wir 


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BOLESLAW    II.  VON    POLEN. 


später  zeigen  wollen,  weder  die  alte,  noch  die  neue,  stimmt  aber  immerhin 
mehr  zu  einer  alten.  Das  was  man  in  Ungarn  selber  für  minder  glaubwürdig— 
schon  vor  mehr  als  100  Jahren  —  erachtet  hat,  ist:  das  Verrennen  des 
Pferdes  die  Zerreissung  durch  die  Hunde,  die  Flucht  «zwischen  den 
Alpen»,  der  ganze  Kloster- Aufenthalt.  Was  Walent  Kuczborski  betrifft,  so 
scheint  er  in  Kärnten  längs  des  südlichen  Seeufers  herbeigereist  zu  sein 
aus  Feldkirchen,  sagen  wir  in  der  Richtung  aus  dem  alten  Landesvororte 
Stadt  St.  Veit,  aus  Friesach,  Obersteier,  von  Semering,  Wiener-Neustadt, 
Wien,  Mähren,  Schlesien  —  aus  Ermeland,  mit  Bischof  Stanislaus  Hosius. 
Dieser  aber,  geboren  zu  Krakau  1504,  ist  wohl  öfter  des  angedeuteten  Weges 
durch  das  Tagliamento-Gebiet  gezogen,  da  er  in  Padua,  Bologna  studiert 
hatte  und  seit  1549  Bischof  in  Culm,  seit  1551  Bischof  in  Ermeland,  auf 
den  Reisen  nach  Rom  1558  und  durch  die  Alpenländer  zur  Betreibung  des 
Tridentiner  Concils,  als  Gesandter  des  Papstes  Pius  IV.  an  Kaiser  Ferdi- 
nand seit  1560  sich  mannichfach  umgethan  haben  wird.  Da  Hosius  1561 
Cardinal  geworden,  1579  bei  Rom  gestorben  ist,  so  fällt  jene  erste  Stein- 
sicht, mitgeteilt  durch  Stanislaus  Samicki  in  seinen  1587  erschienenen 
Annales,^^  wohl  in  die  Jahre  zwischen  1558  und  1563;  seit  letzterem  Jahre 
nämlich  war  der  Cardinal  nach  Polen  zurückgekehrt  bis  1569.  Diese  Zeit- 
frist der  fünf  Jahre  ist  allerdings  erst  anderwärts  zu  erweisen,  sie  fiele 
in  die  Tage  der  Aebte  Andreas  Hasenberger,  Sigmund  Frisch,  Peter  Gröb- 
lacher. Was  Jan  Dombrowka  (laut  Lelewel  S.  332,  XIV),  der  Conunentator 
zu  Kadhibek,  1440,  gesehen  haben  soll  mit  Anfang  HIC  lACET,  ist  nichts 
als  die  belanglose  Ozzius-Insohrift.  ^*  Das  Königsdenkmal  erwähnt  nun 
nach  der  Zeit  der  ossiacher  Annales  *^  zunächst  Megiser. 

In  seinen  Annales  Carinthise  (Leipzig  1612  S.  761  cap.  39),  bearbeitet 
nach  zum  Teile  «uralten  kharndtnerischen  Chronicken»  und  des  Gothardt 
Christalnick  collectanea  historia?  Carinthiae,  findet  sich  die  Stelle  :  Es  schrei- 
bet auch  Aeneas  Sylvius  in  seinen  Historien,  wie  dass  im  1058.  Jahr 
nach  Christi  Geburdt,  Boleslaus,  ein  König  in  Poln  worden,  welcher  eines 
Fürsten  von  Keussen  Tochter  zum  Ehegemahel  gehabt,  der  hat  Stanis- 
laum,  den  Bischoff  zu  Crackaw,  vmbbracht,  welcher  (wie  die  Polacken  selbst 


^  1587,  VI,  9.  Lelewel  334  Note.  21.  Neugebauer  III.  70.  Vgl.  Th.  Hirsch  in 
Deutsche  Biographie,  XIII.  184. 

**  Mitgeteilt  bei  Ankersliofen,  Hbuch  d.  G.  v.  Kärnten  11,  539.  Note.  GraneUi 
S.  144.  Aber  Karl  Mayr  1785  giebt  jene  Verse  (S.  170)  so: 

Qiii  iacet  hoc  tumulo  comea,  hanc  fundaverat  ssdeni 
Ozziiis  ergo  polum  6  ocyus  Ozzi  cape ! 

*'•  Denn  Theophrastus  Paracelsus  in  seiner  «Chronica  und  Ursprung  dieses 
Landes  Kärnten»,  geschrieben  um  1538.  (St.  Veit,  ddo.  24.  August),  Frankfurt  16<X3, 
Strassburg  1616  (Opera,  toin.  I,  S.  249,  263,  533b,  630c)  nennt  Ossia  (Ossiae,  in  Ossien) 
nur  der  heilenden  Krystallkugeln  wegen,  er  weiss  nichts  von  Boleslaw. 


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BOLBBLAW  II.  VON   POLEN.  ö73 

anzeigen)  darnach  vnbekandter  weise,  eine  zeit  lang  in  diesem  Gotteshause 
Ossiach  sich  verborgener  auflfgehalten,  in  der  Kuchin  gedient,  vnd  allda 
gestorben.  Derwegen  dann  ihm  ein  Grabstein  gehauen  vnd  gemacht  ist 
worden,  darauflf  ein  Pferd,  vnd  diese  Vmbschrifift  gesehen  wird :  Eex  Boles- 
laus  Poloniae,  occisor  8.  Stanislai  Episcopi  Cracoviensis.  Es  wird  auch  die- 
ses Monumentum  gefunden,  so  durch  die  Polacken  verzeichnet  ist  worden 
wie  folget :  Fama  cinerum  regis  Boleslai,  qui  rebus  maximis  gestis,  regem 
Hungarorum  Belam  et  Blodiminium  ducem  Eiobiensem,  bis  pulsos  ad 
sedes  eorum  restituit,  ßegno  suo  Poloniee  firmato,  et  ampliato,  insolentior 
factus,  D.  Stanislaum  Episcopum  Cracouiensem  occidit.  Hie  inoognitus 
acta  poenitentia  Ossiaci  moritur  Anno  MLXXXIX.  Von  diesem  König  Boles- 
lao  und  seiner  heimlichen  auflfenthaltung  zu  Ossiach  schreiben  die  Polni- 
sche Authores  (volgender  massen:^®.  Merlans  Topographie  1649  nennt 
Ossiach  das  erste  Kloster  im  Lande  «zu  Carols  M.  Zeiten  gestiftet  (S.  87), 
aUda  dess  Königs  Boleslai  von  Polen  Grab  zu  sehen  isti  (Nachtrag  S  32.) 
Wie  nun  dem  Megiser  und  seinen  Gewährsmännern  (den  Polacken) 
wieder  Auswärtige  nachschreiben,  machen  wir  aus  den  Actis  Sanctorum 
ersichtlich.  Die  Annotata  nach  Caput  XIH.  170—186  S  239  (Traditio  de 
finali  Boleslai  poenitentia  apud  Carinthios)  besagen :  Quae  de  funesto  Boles- 
lai exitu  num.  184  dicuntur  et  pathetice  exaggerantur  deinde,  cum  nemine 
conscio  acta  dicantur,  aliud  fortassis  fundamentum  non  habent,  quam 
quod  venatum  egressus  infelix  ibidem  locorum  non  comparuit  amplius. 
Quare  non  prorsus  rejicienda  videntur,  qua  de  eo  mitiora  narrant  Carin- 
thii  apud  Georgium  Crugerium  in  Triumphis  Majalibus  Regum  Bohemiae 
an  1669  Litomislii  editis,  dicentes :  Boleslaum,  Vilacum  in  Carinthiis, 
ad  monasterium  Benedictinum,  errabundum  devenisse :  in  eo  receptum, 
quia  ignorabatur,  quis  esset,  multos  annos  in  rigida  poenitentia  absump- 
sisse :  imminente  porro  jam  morte  exagitantibus  conscientiam  angustiis, 
ßegem  se  denique  et  facti  sui  seriem  Abbati  fratribusque  revelasse,  ac 
sie  in  spe  bona  propitii  aetemi  Judicis  ad  immortales  abivisse.  ßelatores 
eiusmodi  eventui  audunt  insuper,  sua  memoria,  ibidem  Vilaci  lapidem 
sepulcralem  extitisse  ex  quo  inspex  quiscunque  hasc  legere  atque  addiscere 
potuerit,  Höbc  si  vera  sunt,  ut  esse  optamus,  haud  mediocriter  exaggerabunt 
glöriosi  Martyris  Stanislai  apud  Deum,  qui  desperatissimi  hominis  salutem, 
meritum  pro  qua  tantum  in  vita  laboravit,  sanguinis  sui  respectu  impetravit 
post  mortem.  Mit  sehr  grosser  Klarheit  weisen  die  Acta  Sanctorum  auf  die 

**  Folgen  die  Citate  auf  die  schon  erwähnten  Decius,  Michovia,  Cromer,  Sylvius 
(nicht  Bemardns  Vaponius  vor  Cromer)  und  Hartmanus  Schedelius.  Des  Schedelius 
Weltbuch  oder  Chronik  von  1493  behandelt  unter  Polen  Blatt  963  wohl  Stanislaus, 
Boleslaw,  dann  Ladlslaus  188,  unter  Kärnten  Bl.  275  wohl  Herzogstuhl,  Klagenfurt 
u.  8.  w.  nach  bekanntem  geistlichen  Muster,  auch  Villach,  Fluss  Draua,  jedoch 
nicht  Ossiach. 

UogMlMhe  BeToe,  XI.  1891.  Vm^IX.  Heft  43 


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674  BOLE8LAW  H.  VON   POLEN. 

Erzählung  von  Ereignissen  hin,  die  eben  Niemand  zum  Mitwisser,  so  Viele 
zu  Naeherzählem  haben ;  der  zur  Jagd  ausfahrende  König  war  eben  nie 
wieder  heimgekehrt,  diese  Lösung  ist  sehr  einfacher  Natur.  Nicht  die 
Kämter  aber  sind  die  Erfinder  des  damacbfolgenden  Bomans,  sonder- 
heitlich nicht  die  kämtischen  Benediktiner,  soweit  haben  wir  schon  aus 
den  bisherigen  Darlegungen  schliessen  können.  Vielmehr  von  Auswärtigen 
ist  ihnen  das  aufgepfropft  worden;  und  durch  die  fortwährende  Bücherschrei- 
bung und  Kanzel-Beredsamkeit  konnte  die  Kunde  nicht  anders  als  in  das 
Volksbewusstsein  übergehen.  VP^ieviel  von  der  ganzen  Erzählung  abzulesen 
getvesen  sei  aus  dem  Grabsteine  zu  Villach,  lassen  wir  dahingestellt.  Wenn 
aber  aus  alledem  deutlich  hervorschimmert,  zu  wessen  gehäuften  Ehren 
und  Glorien  der  angehängte  Königsroman  gemacht  worden,  nämlich  des 
ruhmvollen  Martyrs  Stanislaus,  so  möchte  wohl  die  öfter  hingeworfene 
Andeutung  der  liberalen  Jungpolen,  dass  die  Sache  für  die  Kämter 
viel  wichtiger  sei^  als  für  die  Polen,  auf  ihr  wahres  Maass  zurückgeführt 
sein.  Hat  man  uns  denn  vom  Standpunkte  eines  Verteidigers  der  Heiligen 
aus  sprechen  lassen,  so  setzen  wir  die  Kenntniss  von  St.  Joseph  als  Liandes- 
patrone  für  Kärnten  voraus,  welcher  bescheidene  Zimmermann  durch 
König  Boleslaus  in  Ossiach  nichts  gewinnen  und  nichts  verlieren  kann. 

Im  Jahre  1675  steht  P.  Albert  Reichart,  Benediktiner  zu  St.  Paul  an 
Lavant,  Vicar  zu  St.  Martin  im  Granitztale,  mit  seinem  Breviarium 
historiee  carinthiacae.  Er  berichtet  nach  Anführung  der  Gründungs-  und 
Wunder-Geschichten  zu  Jahr  689,  S.  30 :  Preeterea  hoc  quoque  Monasterium 
Boleslai  Polonise  Regis,  S.  Stanislai  Episcopi  Cracoviensis  caede,  nominatis- 
simi  exuvias  tenet,  frequentibus  circa  earum  sepulchrum  Polonis  per  Carin- 
thiam  peregrinis.  Nam  Boleslaus  regno  extorris,  impellente  sceleris  con- 
scientia  Romam  peregrinaturus  Ossiaci  divertit,  ficta  simplicis  et  muti  homi- 
nis persona  ulterius  progredi  occulta  vi  prohibitus,  culinaB  ministeriis  se 
Regem  commodavit,  quasi  sanguinarias  manus  illis  in  sordibus  purgaturus, 
donec  fato  admotus,  acc6rsito  Abbati  se  Poloniae  Regem  Boleslaum  poeni- 
tentem  aperuit,  in  rei  testimonium  ex  sinu  prompto  regio  annulo,  expiatis 
post  modum  confessione  noxis,  sacroque  viatico  pastus,  sanctius  devixit, 
quam  regio  in  solio  vixit.  Cuius  tumbam  nonnemo  priscorum  Poetamm  hiß 
versibus  insignivit : 

C  Boleslaus  Rex  (nach  den  später  anzuführenden  vier  Zeilen)  Aüus 
vero  antiquissimuB  in  hunc  sensum  lusit:^^ 


*'  Varianten  in  Gröbla<;hers  Annales  G,  im  Annus  miUesimns  A,  S.  108  ans 
einem  antiqiius  codex  (der  wohl  nicht  über  1457  zurückgegangen)  und  Valvaeor  V.: 
De  rege  Boleslao  G;  1  profugus  A  2  lux  A  3  admissum  statt  ob  crimen  G  sceles- 
tem  G  scelestis  A  ultor  AGV;  4  Sanguine  A  purpure  G  sidera  GV  celi  G  statt 
olympi  5  peto  sedantis  G;  6  Polonum  querens  huc  me  visurus  eas  G,  fehlt  auch  A 


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BOLBSLAW   II.  VON   POLEN. 


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ßex  homicida  ego  sum  profugus  et  scelere  dives, 

hie  latui,  luxi  deplorans  facinus  audax : 

Nö  tarnen  ob  crimen  caelestis  vindicet  vitor, 

Sanguine  purpureo  tingentem  sydera  olympi 

te  Stanislae  rogo,  precantis  advoca  causam. 
Valvasor  schreibt  in  seiner  Topographia  archiducatus  Carinthiae, 
Nürnberg,  1688,  S.  155 — 156:  In  dieser  Kirchen  ist  neben  viel  andern 
Reliquien  und  Antiquiteten,  auch  die  B<^gräbniss  zu  sehen,  worinnen  Bo- 
leslaus  n.  cognomento  Audax,  der  vierdte  König  in  Polen,  und  der  Andere 
dieses  Namens,  verschlossen,  und  zwar  an  der  Mauer,  auf  der  Mitternacht 
Seiten  gegen  Freythof,  mit  dieser  Überschrift :  Boleslaus  Rex  Poloniae, 
Occisor  Sancti  Stanislai  Episcopi  Cracoviensis.  Auf  der  andern  Seiten  lieset 
man  diese  Inscription :  Boleslaus  Rex  |  Occidit,  Romam  pergit,  placet  Os- 
siach illi,  I  Ignotus  servit,  notus  pia  lumina  claudit,  |  Ossiach  hinc  placat 
tibi,  Stanislae  Tyrannum,  |  Mitem  quöd  factum  coelestibus  intulit  astris.  So 
seynd  auch  zu  Ossiach,  in  denen  alten  Manuscriptis  folgende  Vers  von  ihme 
zu  finden :  Rex  (vgl.  oben).  Als  dieser  König  grosse  Victorien  wider  unter- 
schiedliche Völker  erhalten,  hat  er  sich  deren  sehr  übernommen,  und  al- 
lerley  Lastern  ergeben ;  desswegen  ihn  denn  der  Heilige  Stanislaus  Ertz- 
Bischof  zu  Cracau,  zu  einer  Besserung  des  Lebens,  wiewol  allezeit  vergeb- 
lich vermahnet,  auch  endlich  bey  ersehener  Halsstarrigkeit  denselben  in 
den  Bann  gethan :  Weil  aber  hierauf  der  König  verbotten  in  der  Statt 
Mess  zu  lesen,  der  Ertz-Bischoflf  hingegen,  welcher  in  geheim  über  eine 
Brücken  in  die  Kirchen  S.  Michaelis  gehen  können,  dessen  ohngeacht  all- 
dorten  den  frommen  leiten  Mess  gehalten ;  ist  der  König,  als  er  solches  er- 
fahren, armata  manu  hineinkommen,  und  hat  den  Ertz-Bischoffen  den 
Kopf  Selbsten  zerspalten,  den  Körper  zu  Stucken  zerhauen,  und  selbigen 
auf  eine  Gemein  den  Hunden  und  Vögeln  fürwerflfen  lassen.  Worüber  aber 
derselbe  von  dem  Pabst,  dem  solches  den  8.  May  Anno  1079  berichtet  wor- 
den, mit  allen  seinen  Complicibus  in  den  hohen  Bann  gethan  worden,  dass 
keiner  von  ihren  Nachkommen  bis  in  die  vierdte  Generation  zu  einem 
geistlichen  Dienst  kommen  sollte.  Dieser  König  nachdem  er  noch  über  ein 
Jahr  hernach  regiert,  und  vermerckt,  dass  er  bey  allen  verhasst,  auch  viel 
über  ihn  conspirirten,  ist  er  in  Hungam  entwichen,  da  ihme  dann  unauf- 
hörlich sein  Gewissen  dermassen  geängstigt,  dass  er  endlichen  aus  hertzli- 
cher Reu  seiner  begangenen  Missethat  sich  fürgesetzt,  in  einem  schlechten 
Kleid,  mit  Betteln  auf  Rom  Wahlfahrten  zu  gehen,  alldorfcen  Buss  zu  thun  : 
Immassen  er  auch  heimlich  davon  gezogen,  und  im  Jahr  1080  unter  Wegs 
nach  Ossiach  gekommen  allwo  als  er  auf  Bitt  von  dem  Thorwärtel  ein  Brod 
zum  Almosen  empfangen,  kunnte  und  wollte  er  nicht  weiter  gehen,  bliebe 
also  daselbst,  trug  Holtz  in  die  Kuchen  und  allerley  Unsauberkeit  hinweg, 
erkehrete  mit  Besen  die  Gemächer  aus,  verrichtete  die  allerschlechteste  Ar- 

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676  BOLESLAW   H.  VON   POLEN. 

beit  und  stellte  sich  stumm,  biss  an  sein  End,  nemlich  9  gantzer  Jahr  lang. 
Als  er  aber  endlich  im  1089.  Jahr  erkrancket  und  vermercket,  dass  seine 
letzte  Zeit  herbey  gekonmien,  da  fienge  er  an  zu  reden,  beruflffce  zu  sich  die 
Patres,  und  gäbe  sich  zu  erkennen  dass  er  der  König  Boleslaus  in  Poln,  der 
Todschläger  dess  Heiligen  Stanislai  wäre.  Zog  auch  zu  einem  Warzeichen 
dessen  den  Königlichen  Ring,  auch  gewisse  schreiben,  und  andere  Zeichen, 
aus  dem  Busen,  Übergabe  solche  denen  Patribus,  und  beichtete  seine  Sünde 
mit  grosser  Contrition,  empfienge  dass  Hochwierdige  Sacrament,  samt  der 
letzten  Oelung,  und  gäbe  im  Beiseyn  der  Geistlichen,  seliglich  seinen  Geist 
auf,  allda  er  dann  solennissime  begraben  worden. 

Der  Annus  millesimus  antiquissimi  monasterii  ossiacensis,  bestimmt 
für  das  angebliche  zehnte  Jubelfest  des  Jahres  1689,  verfasst  durch  den, 
unter  (dem  56.  und  57.  Abte  Christoph  Kapponig  1656 — 82)  Edmund  Ibel- 
pacher  1682—1725  lebenden  Prior  Joseph  Wallner  (t  vor  1725),  vermehrt 
durch  einen  ungenannten  Neubearbeiter  (Abt  Hermann  HI.  Ludinger 
1737 — 53)  im  Stifte  Ossiach  und  so  gedruckt  zu  Salzburg  bei  Mayer  1749 
und  sonach  zu  Ciagenfurt  1766,*®  enthält  unter  Abt  Teucho  oder  Deuzo  IL 
(S.  62)  die  Nachricht :  Sub  hoc  ipso  Teuchone  decessit  magnum  Ossiaci  or- 
namentum  et  rarum  poBnitentiae  Kegalis  exemplum  Boleslaus  Bex  Polonia*, 
cujus  vitam  et  conversionem  mirabilem,  mortemque  beate  obitam  cum- 
eodem  Authore  ad  finem  referemus.  Id  hie  adnotamus,  quod  in  pervetusto 
annalium  nostrorum  libro  legimus :  Hoc  anno  (id  est  1082)  Boleslaus  Eex 
Polonite  reliquit  Eegnum  suum,  hie  8,  annis  poenitentisB  acta  moritur.*^  Der 
Appendix  I.  S.  104  bis  110  De  Conversione  et  Exilio  spontaneo  B.  K.  P.  i.  0. 
M.  schildert  —  mit  dem  dunklen  Eingange :  Ante  Teuchonis  igitur  initum 
regimcn,  quod  ad  annum  1000  coepisse  memoravimus,  anno  proximo, 
priore^"  Ossiaci  decessit  B.  E.  P.  IV,  hujus  nominis  H.  cognomento  Audax 
dictus  —  die  Kriege  gegen  die  Russen,  Böhmen,  Ungarn,  die  Ausschwei- 
fungen, Grausamkeiten  bis  zu  des  Bischof  es  Tödtung  1079,  das  Verlaasen 
des  Reiches  post  spatium  anni,  die  Flucht  (also  1080)  zu  Ijadislaus  mit 
Sohn  Miescon  und  wenigen  Begleitern,  die  Gewissensregung.  Hier  beginnt 
die  Sage  S.  105  mit  der  Reise  gegen  Rom  nur  zum  Zwecke  des  Sünden-Nach- 
lasses ;  die  Ausführung  erwähnt  der  gemeinen  Kleider,  des  einzigen  Dieners, 
der  heimlichen  Reise  in  das  Innere  Kärntens,  der  Ankunft  bei  Kloster  Os- 
siach, der  Pförtner  theilt  Armengaben,  Beschluss  zu  bleiben,  einzelne 
Knechtdienste,  Schläge,  Stummheit,  Aufenthalt  7  Jahre,  nach  Anderen  9, 


'®  Vgl.  hierzu  die  Schrift:  Benedikt,  Ossiach  am  See,  Predigt.  Clagen- 
furti  1689.  4^ 

^  Octo  annis  poenitentia  acta,  oitirt  auch  Hormayrs  Arohiv  8.  376,  IntellgsbL 
d.  w.  Allg.  Lit.-Ztg.  1813  No.  2,  21,  30,  31. 

*"  Offenbar  zwei  verschiedene  Hände. 


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BOIiESLAW   n.  VON   POLEN.  677 

(im  Haupttexte  8,  das  wären  laut  dieses  Buches  die  Jahre  nach  1080  bei- 
läufig 1087,  1089,  1088,  wenigstens  nicht  früher,  man  wähle);  Entdeckung 
dem  Abte,  (dem  Beichtiger),  der  königliche  Bing  cum  litteris  arcanis,  alle 
Brüder  gegenwärtig,  die  Zelle  mit  himmlischem  Lichte  erhellt,  durch  un- 
gewohntes Beben  erschüttert,  Beisetzung  mit  grosser  Feierlichkeit  in  der 
Kirche.  Der  Autor  bezweifelt  immerhin,  dass  Boleslaw  als  Converse  oder 
Mönch  im  Ordenskleid  gestorben  sei.  Er  beschreibt  auch  den  Grabstein, 
seiner  Zeit  an  der  Kirche  Nordwand  ausserhalb,  das  Eelief  Equa  cum  sella 
nuda,  die  Inschrift  Eex  Boleslaus  Poloniae,  occisor  S.  Stanislai  Episcopi 
Cracoviensis,  die  bei  der  Grabstätte  angemalten  Bilder,  darunter  auch  des 
Boleslaus  Gebet  vor  dem  Marienbilde.  Dem  Autor  sind  nicht  unbekannt 
die  Urteile  Anderer:  Boleslaw  habe  im  Wahnsinn  sich  selber  getödtet  1081, 
er  sei  auf  der  Jagd  durch  die  eigenen  Hunde  zerrissen  worden.  Andere  mel- 
den Anderes  (Welche,  Was  ?).  Seine  Quellen  sind  genannt.®^  Alle  aber  irren, 
weil  sie  das  Cenotoph  nicht  sahen  (ein  lär  Grab,  das  allein  zum  Schein 
gemachet  ist,  laut  Ulpian,  erklärt  J.  Frisii  Dictionarium  1736  S.  95),  weil 
sie  die  Stiftsdocumente  nicht  besichtigten  (welche  des  11.  Jahrhunderts 
wären  das?).  Daraus  habe  er  eben  die  richtige  Schriftstelle  geschöpft  (citirt 
dieselbe  aber  nicht).  Endlich  Verweis  auf  Megiser  lib.  7,  c.  39  und  Fama 
cinerum  Eegis  Boleslai . .  .  hie  incognitus,  acta  poenitentiae  Ossiaci  mori- 
tur,  anno  MLXXXIX  (also  1089  ausschliesslich).  Beweis  sei  auch  das  Zu- 
strömen der  aus  und  nach  Italien  reisenden  Polen ;  ein  aus  Schonung  nicht 
zu  Nennender  dieses  Jahrhunderts  vertauschte  den  vom  Küster  gezeigten 
Ring,  der  echte  soll  nunmehr  (1749,  1766,  oder  schon  vor  1689?)  im  könig- 
lichen Schatze  liegen  (zu  Krakau  ?). 

Mezger  Historia  salisburgensis  (1692,  lib.  11,  cap.  11,  S.  202,  vergl. 
lib.  VI,  1 1 70)  wiederholt  von  dem  (689  gestifteten,  879  restaurierten) 
Kloster  die  Legende  der  zufälligen  Einkehr  des  Königs  (Boleslaus  IV.), 
dessen  Aufenthaltes,  des  Todes,  des  königlichen  Ringes,  der  Polen-Besuche, 
Jahrzahlen  nicht  angebend.  Um  diese  Zeit  lebte  Virgilius  Gleissenberg,  gebo- 
ren um  1685,  im  Stifte  Ossiach  seit  c.  1703,  nachmals  der  angeblich  58-ste 
Abt  dieses  Seestiftes  von  1725  bis  1737,^^  gestorben  19.  Juli,  von  welchem 
wir,  ausser  humoristischen  Dichtungen,  theils  auf  dem  Krankenbett 
geschrieben,  auch  ein  Heldengedicht  Boleslais  besitzen.  De  Boleslao  11. 
rege  Polonije  Ossiaci  pcenitente  libri  VI,  poema.^^  Er  führt  den  Abt  Teucho 


'*  Bacel(lmi)  Menologia  et  Nucl.  Historia  p.  2  zum  11.  April.  Neugebaner, 
Historia  Folon.  Sarnicü  Annales. 

^*  In  seiner  Zeit  erschien  J.  H.  Zediere  Üniv.-Lex.  Bd.  IV.  1733  zu  Halle- 
Leipzig,  darin  Boleslaw  S.  4f82.  Flucht  im  J.  1081,  Closter  Ossiach  in  Kärnthen,  Tod 
1090.  QueUen  S.  1179. 

^^  Es  giebt  bekanntlich  auch  ein  carmevi  de  morte  Boleslai  I.  und  eine  oantilena 


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6?8  BOlixSLAW   n.  VON   POLEN. 

als  Wemerus  ein,  den  König  aus  Pannonia  durch  Styria  nach  Garinthia 
kommend,  auf  die  Buinen  der  ßömerstadt  Salla  und  den  Herzogstuhl,  die 
Maltaschia  sieh  beziehend  u.  s.  f.  (Inhalt,  Anzeige  und  Proben  bei  Budik). 

in  Boleslaum  HI.  laut  B.  Paprocki  in  Jibro  Herby  i7cer2twa  polskiego,  Crakow  1584. 
laut  Pertz  w.  o.  S.  418  Note  3.  Vgl.  P.  A.  Budik  in  Kärntnerische  Zeitschrift  1831 
B.  Vn.  S.  161—174.  Hermann  Text  zu  Wagners  Ansichten  aus  Kärnten  1844  S.  133. 
Hermann,  Hbucli  d.  Gesch.  v.  K.  Zur  poetischen  Literatur  zahlt  noch  Korzeniowski 
€Der  Mönch»,  eine  Tragcedie,  Kraszewski,  Boleszczyce,  2  Bände,  «Virgilii  Gleissen- 
bergii  ex  ord.  S.  Benedicti  Abbatis  Ossiacensis  in  Garinthia.  De  Boleslao  n.  rege 
Poloni«  Gssiaci  pcenitente  libri  VI.  Poema»  findet  sich  abgedruckt  in  P.  Werigand 
Kogler  (Benedictino  San -Michael  Burano  nuper  Salisburgi  Mansuetiorum  Litterarmn 
Professore  publieo,  p.  t.  domi  priore)  Stillne  poetic»  ex  Pindo  Juvavio  decidu»  (sive 
etc.  Axigust»  Vindelicorum  1731).  8"  S.  1—164.  der  Zugabe  nacli  S.  402).  Die  Pnefatio 
et  argumentum  erwähnt  das  per  sex,  et  amplius  annorum  centurias  hie  quiescentis 
parentale  marmor,  ad  quod  Poloni  Romipetee  hodieque  frequentes  invisimt,  des 
Königes  Klosterweile  und  Tod  1089,  das  Grabdenkmal  mit  Belief  (eqüa  phalerata 
cum  Bella  nuda)  und  Schrift  (grandibus  per  limbum  insculptis  litteris)  BEX 
BGLESLAUS  PGLONI^  GCCISOR  S.  STANISLAI  EPISCOPI  CRACOVIENSIS 
erwähnt  sogar  die  (smü  testes,  oomplures  in  chronico  nostro;  der  Autor  führt  an 
Stelle  des  verloren  gegangenen  Abt-Namens  jenen  des  1300  verstorbenen  Werner  eio 
und  entwickelt  sonach  in  liber :  I.  Boleslaus  Rex  Polonise  Andream  Regem  Hnngarie 
acie  prostigat,  et  Belam  Andrere  fratrem  exulem  solio  restituit.  (Crebri  tumultus 
Russici  ä  Rege  Boleslao  sedati.  Initia  beUi  himgaricL  Bohemorum  in  Poloniam 
irruptio,  eorumque  strages.  Boleslaus  exercitiun  ducit  in  Hungariam,  et  suos  hortatur 
ad  prseliura.  Apparatus  utriusque  exercitus  ad  Prselium.  B.  Regis  Oratio  Polemica 
ante  conflictimi  S.  13 — 32).  11.  Gontinnatur  residuum  argumenti  ex  libro  I.  Proelium, 
et  victoria  Polonorum.  B.  Cracoviam  triumphans  ingreditur.  (Jarominis  poaito 
militise  cingulo  resumit  togam  clericalem.  B.  Regis  triumphalis  in  urbem  ingressus 
33 — 50.)  ni.  S.  Stanislaus  Cracoviensium  Episcopus  Regis  severitatem  in  desertores 
objurgat  et  obtnincatur  A  furente  Rege  cum  paulo  ant^  Petrum  Equitem  revocAsset 
ad  vitam.  Patratä  csede.  B.  fugit  cum  Miescone  filio  ad  Ladislaum  Regem  Hungari»' 
(DirFP  Regis  in  Kpiscopum,  et  calumiiiosa  Episcopi  ac^usatio  de  Pago  Petri  Eqnitis 
fide  mala  coempto.  Petrus  Eques  surgit  sepulchro,  et  Episcopi  fidem  testimonio  suo 
purgat.  Bm.  nee  raonitis,  nee  divino  prodigio  resipiscentem  S.  Stanislaus  fulmine 
anathematis  ferit,  et  obtruncatus  A  furente  rege.  B.  Procerum  oonjiiratione,  et  umbris 
Extinctorum  territus  fugit  ad  Ladislaum,  Regem  Hungari«  51 — 78.)  IV.  B.  cum 
Miescone  filio  in  Hungariam  profiigus,  recreatur  Venatione,  et  Ludo  Theatrali; 
Monetur  in  somnis,  aulam  Ladislai  ut  deserat  (Gomcedia  gratia  Bi.  in  Aula  Regis 
Hungariae  exhibita.  Fingendiis  est  hie  loci,  ne  autiqua  canamus  semper,  B.  modemara 
spectare  Comdjdiam  etc.  Siloni  caperones  etc.  bis  finis  Coraa*diie,  et  S.  Stanislai  verba 
ad  Regem  B.,  ut  Hungariam  deserat.  79 — 108).  V.  Fugiens  ex  Hungaria  B.  defertur 
ad  Mouasterium  Ossiaceiise,  ubi  paenitens  pedem  figit.  Miesco  filio  desperato  patris 
reditu,  ac  Regni  spe  depositä  Astronomise  privatus  vacat.  Copeniicus  prspceptor  Sphsp- 
ram  armillareni,  et  mixta  qusedam  imperfecta  Aristotehs  interpretatur  in  favorem 
Miesconis  (Mouasterium  Ossiacense  in  Garinthia,  Beschreibung  von  Land-  und  Wasser 
bereich,  Gründungsgeschichte,  Gzzius,  Tyffen,  Boleslaus  ex  adversä  rip&  stagni  navigat 
ad  Mouasterium  Ossiacense.  Oratio  Bi.  ad  B.  V.  Mariam.  Miesco  filius  Bi.  Amiagnm 
plorat  Patrem,  et  primis  Astronomise  elementis  animum  solatur  S.  109 — 136.)  VL  flic 


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boLESLAW  II.  VOK  POLEN.  679 

Marian-Wendenthals  Geschichte  der  östr.  Klerisey,  Wienj  1 783,  1115,  S.  340 
erzählt,  unter  Abt  Teucho  oder  Deuzo  (c.  1072,  f  1 125, 14.  Heumonates)  sei 
der  König  in  Pohlen  als  ein  Mörder  seines  Bisch  ofes  aber  auch  als  grosser 
Büsser  hier  in  diesem  Ossiachstifte  nach  zurückgelegten  8  Jahren  selig  im 
Herrn  im  Jahre  1082  verschieden,  wie  in  dem  Appendice  des  Anni  Mille- 
simi  u.  s.  w. 

Granelli,  Germaniae  Austriacae  (tom.  I.  Topographia  Carinthice, 
Wien,  1752,  S.  189—190,  1759,  144—146),  hältBich  an  Schönleben,  Eei- 
chard  u.  s.  w.,  Ossiacum,  Ozzius,  illud  ad  hoc  memorabile  istic  .  .  .  Bomam 
peteret,  occulta  quadam  vi  ultra  progredi  vetaretur  —  adversatur  Beichardi 
relatio  communis  historicorum  sensus,  qui  Longinum  .  .  .  secuti  .  .  .  B. 
anno  1080  deuorationem  tradidere. 

Froelich  Specimen  archontologiae  Carinthiae,  Wien,  1758,  2  Bde  (vgl. 
I,  S.  25 — 33,  n,  S.  22)  und  Hansizius,  Analecta  seu  coUectanea  pro  histo- 
ria  Carinthiae,  Klagenfurt,  1782,  Nürnberg,  1793,  Karl  Mayer,  Geschichte 
der  Kärnter,  Cilly,  1785  (Ozziak  8.  170),  De  Luca,  Geographisches  Hand- 
buch der  östr.  Staaten,  Wien,  1790,  H.  das  Herzogtum  Kärnten  S.  189, 
231,  259,  lassen  sich  auf  Bolesiaw  nicht  ein.  Hansiz  streift  einmal  S.  262 
den  Aeneas  Sylvius,  cuius  relatio  nonnuUis  partibus  manca  est.  Karl  Mayer, 
(Statistik  und  Topographie  Kärntens,  Klagenfurt,  1 796)  ist  später  verstan- 
den worden  als  einer,  der  den  (neuen)  Grabstein  Boleslaws,  gleich  den 
etzigen  Ozzo*s,  bekannt  gemacht  hätte.  —  Zum  Schlüsse  des  XVHI.  Jahr- 
hundertes  nennen  wir  einen  polnischen  Schriftsteller,  Adam  Stanislaw  Naru- 
Bzewicz,  geboren  1733,  Jesuit  1748,  bereist  in  Deutschland  und  Italien,  ge- 
storben 1796,  welcher  in  seiner  Historya  narodu  polskiego,  (Neuausgabe  in 
10  Bänden  durch  Jan  Nep.  Bobrowicz,  Leipzig,  1836),  gar  nicht  geneigt  ist, 
das  ossiacher  Grabmal  für  echt  zu  halten  (Bd.V.  S.  56),  was  durch  eine 
Fussnote  des  TadeuszCzacki  (1816)  bekräftiget  wird,  die  Schriftformen  dem 
XIII.  Jahrhunderte,  mögKcherweise  dem  XVI..  zuweisend.^  Der  gelehrte 
Jesuit  nennt  die  im  Seestifte  aufbewahrte  Schrift  über  den  Aufenthalt  und 
den  Tod  des  polnischen  Königs  daselbst  (ausser  dem  Annus  noch  eine  andere 
Handschrift?)  eine  so  elende  Schmiererei  und  ein  solches  Gemisch,  dass 
sie  keinen  geschichtlichen  Wert  habe.  Von  der  bei  Naruszewicz  erwähnten 
Komreise  mit  dem  Auftrage  des  Papstes  an  den  König,  seine  Tage  in  Zu- 
kunft unter  einer  Mönchskappe  zu  verbringen  (S.  87  laut  des  KadJubek- 
Commentatojrs  zu  cap.  667),  wollen  wir  nicht  weiter  Kenntniss  nehmen. 


Über  compleotitur  residuum  Libri  prioris.  B.  post  severam  psenitentiam  Divorum 
ccelitum  prsesentiÄ  recreatus  humanis  excedit  et  humatur  Ossiaci  (S.  157  Jainque 
B.  pliires  exegerat  annos.  S.  137 — 164.)  Romanzen  von  S.  N.  Vogl,  Ei'nst  Rau- 
scher (1881). 

**  RoepeU  I,  204.  Note  23. 


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680  BOLESLAW   II.  VON   POLEll. 

Immerbin  ist  nach  der  Kloster-Aufbebung  und  nach  den  Franzosen- 
Kriegen  die  alte  Sage  wieder  aufgetaucht,  stand  ja  das  Steindenkmal  immer 
als  Zeuge  da.  Indem  wir,  unter  Hinweis  auf  die  in-  und  auswärtige  Ldterator 
dieser  Frage,  ^^  nur  hervorheben,  dass  Graf  Wladislaw  Thomas  Ostrowski, 
geboren  1 790,  Landtagsmarschall  1830,  zu  Gratz  intemirt  seit  September 
1831  bis  nach  1860,  später  in  Paris  und  Krakau  lebend,  f  1869,  an  Jözef 
Straszewicz  eine  Abschrift  und  Beschreibung  des  Boleslai'schen  Grabdenk- 
males gegeben  hat  (vor  1847,  vermutlich  mit  einer  um  1831  angenom- 
menen Zeichnung),  dass  Joachim  Lelewel  in  seiner  Geschichte  Polens  (Ans- 


»'^  CarirUhia  1813  (41,  42),  1828  (4^—50),  1814  (40),  1837  (15,  17,  63),  1839  (1), 
1840  (47,  111,  187),  1855  (26),  1861  (20,  158),  1868  (325),  1869  (99). 

Wiener  AUgemeim  LiU.  Zeitg,,  Intelügensblatt  1813,  No.  2,  21,  30,  31. 

A,  Eichhorn,  Beiträge  zur  alt  Gesch.  u.  Topogr.  d.  H.  Eämien.  Klagft  2  Bde 
1817,  1819  (Bolefttaw  unerwähnt). 

Homiayr's  Archiv  f.  Gesch.  u.  Geogr.  Bd.  1815  No.  92.  Hormayr,  Der  könig- 
liche Flüchtling  zu  Ossiach;  Königs-Relief  als  Beiter,  Schrift  Epiaoc^i«  Boleslaws 
Schlechtigkeiten,  neueste  Satyren  des  Ratsohky,  B.  Stanislaus  Koska;  Bd.  1822  No.  91 
S.  495,  Primisser,  Heise-Nachrichten  üher  Denkmäler  der  Kunst  in  Oesterreich  (1750 
das  Tausendjahrfest,  Brudermord,  der  neue  Grabstein  durch  Mayer  und  Eichhorn 
bekannt,  gemaltes  Bild  der  Heilige  Wenzel  und  sein  Bruder.) 

Kloi^er  Ossiach,  Druckschrift  8^  Wien  1833. 

Q.  Schreiner  in  Ersch.  und  Grubers  Real-Encyklopädie  18^5,  m,  6,  S.  418, 
Brudermord,  B.  Tod  1089;  dagegen  1823  in  I.  11.  S.  354,  starb  1081  in  einem 
Kloster  i.  K. 

Hohenauef'j   Kirchengeschichte   von    Kärnten,   Klagft    1850,   S.   44,   45,    Busse 

8  Jahre,  Tod  1082. 

Wagner,   Das  H.  Kärnten,    Klagft    1847,    S.    148.    Rückkehr   aus   Rom,   Busse 

9  Jahre,  Tod  1082. 

Wagner,  Album  von  Kärnten.  Klagft  1845  S.  26,  Busse  9  Jahre,  Tod  1079. 

Wagner-Hartmann,  Führer  durch  Kärnten.  Klagft.  1861.  S.  111,  Busse  um  1060, 
9  Jahre,  Tod  1079. 

Pierer  Conv.-Lex.  1857,  Hl,  45,  Kloster  in  Kärnten  1083,  Entdeckung  auf  dem 
Totenbette. 

Schatibach,  Deutsche  Alpen,  1876  Bd.  5,  S.  140,  Busse  8  Jahre,  Tod  1079. 
Das  ehemalige  Kloster  und  der  stuiome  Büsser  zu  Ossiach.  Innsbruck  1868. 

Brockham,  Convei-sations-Lexikon,  1882  lU,  S.  279,  Tod  1081  in  einem  Kloster 
in  Kärnten. 

Jabornegg,  Führer  auf  der  Rudolphabahn  1882,  S.  17,  Bradermord,  Tod  1079, 
angebliches    Grabmal.    Führer   durch  "Kärnten  1887.  Erinnerung  eines  Jalirtausends. 

Maifil,  Das  ehemalige  Kloster  Ossiach,  mit  Abbildung  1883. 

Rabl  J,  Illustrirter  Führer  durch  Kärnten.  Wien,  Pest,  Leipzig,  1884,  S.  71, 
Busse  8  Jahre  (also  seit  1074),  Tod  1082. 

Aehcfücer,  Gesch.  Kärntens.  Klagft,  188.5,  I,  235,  vgl.  194-237,  737. 

Happold,  Sagen  aus  Kärnten.  1887,  S.  231,  Bo.  119.  Oettinger  Mönche  in  Tiffen, 
B.  Ankunft  Herbst  1090,  Tod  1099.  Oesterreich  in  WoH  und  Bild,  1891,  Band  Kärnten 
S.  21.  Busse  9  Jahi-e,  Grabstätte. 


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bifi   HOOHWASSBK-    UKD    WASSERBAÜ-ANGBLEGBKHEITEN   UNGARNS.  ^^^ 

gäbe  H.  F.  Handschnch  in  Zürich,  1846,  Leipzig,  Seite  10,  Note  5)  den 
Aufenthalt  und  die  Busse  Boleslaws  «im  Kloster  Ossiak  in  äteiermarkf  zu 
den  Fabeln  zählt  —  das  Weitere  in  seinem  Werke  Polska  wiekow  (1 847)  ziehen 
wir  später  in  Betracht  —  stellen  wir  die  beiden  Haupt- Autoritäten  der  einhei- 
mischen G^schicht-Schreibung  nebeneinander.  Heinrich  Hermann  behandelt 
in  seinem  «Text  zu  Wagners  Ansichten  aus  Kärnten»,  Klagenfurt  1844, 
8. 13  die  Legende  vom  Polenkönige,  der  angeblich  1079  starb,  nach  An- 
deren 1082,  und  verstärkt  die  Tradition  durch  die  Notiz  von  den  Taubstum- 
men, welche  man  hier  (bis  zur  Anzahl  von  12)  zu  ernähren  und  zu  unter- 
richten gepflegt  hat.  (Uebrigens  sozu  Admont,  ähnlich  zu  St.  Paul.).  Gottlieb 
Freiherr  von  Ankershofen  in  seinem  «Handbuch  d.  Gesch.  d.  H.  Kärnten», 
Klagenfurt  1851,  H  S.  886  thut  bezeichnender  Weise  die  ganze  Legende  in 
einer  Note  c  ab,  ohne  ihr  im  Texte  ein  Wort  zu  widmen.  «Unter  Abt  Teuzo 
soll  König  Boleslaus  IE.  von  Polen,  welcher  seinen  Bruder,  den  Erzbischof 
Stanislaus  7on  Krakau  ermordete,  auf  seiner  Bussfahrt  im  Jahre  1084  nach 
Ossiach  gekommen  sein,  wo  er  nach  einem  fünfzehnjährigen  Büsser- 
leben  in  Ossiach  gestorben  sein  soll.»  Demzufolge  wäre  die  Aufenthaltszeit 
1084  bis  1099  die  längste  aller  bisher  erwähnten.  Welche  grosse  Auswahl ! 

(Sohlnss  folgt.) 


DIE  HOCHWASSER-  UND  WASSERBAU-ANGELEGENHEITEN 

UNGARNS. 

Es  gibt  sowohl  in  der  Kunst-,  als  auch  in  der  gesammten  Cultur- 
geschichte  der  Völker  Epochen,  während  deren  sich  diese  durch  grosse 
Leistungen  hervorthun.  Obwohl  nun  aber  die  Möglichkeit  eines  solchen 
Emporschwunges  auch  an  das  Vorhandensein  hervorragender  Männer  ge- 
knüpft ist,  so  ist  dies  doch  bei  der  Kunst  in  weit  grösserem  Maasse  der  Fall 
als  bei  einem  Culturzweig  oder  überhaupt  innerhalb  irgend  eines  das  Cul- 
turleben  eines  Volkes  tangirenden  beliebigen  Gebietes,  wo  die  Cultivirung 
,  mehr  von  der  Kenntniss  des  bisher  Geleisteten,  als  von  ausserordent- 
lichen individuellen  Begabungen  bedingt  ist,  wo  folglich  hauptsächlich  auf 
Basis  der  bisherigen  Erfahrungen  weiter  gearbeitet  werden  kann,  und  zwar 
desto  leichter,  als  die  technischen  Hilfsmittel  mit  der  Zeit  einen  immer 
höheren  Grad  der  Vervollkommnung  erreichen. 

Es  wäre  demnach  vorauszusetzen,  dass  auf  Gebieten,  wo  die  Erfah- 
rung, sowie  die  technischen  Hilfsmittel  die  grössere  Rolle  spielen,  selbst  in 
Ermanglung  fördernder  Kräfte  doch  zum  mindesten  ein  Verbleiben  auf  dem 
bisher  erreichten  Niveau  und  kein  Rückfall  wahrzunehmen  sein  sollte.  Wir 
sehen  dies  jedoch  nicht  immer  eintreffen. 

Auf  manchen  Gebieten,  wo  man  sich  schon  Jahrtausende  zuvor  zu 


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6.S2  DIE   HOCHWASSER-    UND    WASSERBAU -ANGELBOENHEITBN   UNGARNS. 

einer  gewissen  Höhe  emporgeschwungen  hatte,  sehen  wir  statt  einer  Weiter- 
entwickelung später  sogar  eine  retrograde  Bichtung  einschlagen.  Der  Grund 
dieser  auf  den  ersten  Blick  seltsam  zu  nennenden  Erscheinung  wäre  wohl 
hauptsächlich  in  dem  Gesammt-Zusammenwirken  der  poUtischen,  wirtschaft- 
lichen und  rechtlichen  Verhältnisse  und  in  den  Veränderungen  derselben  zu 
suchen.  Speziell  ist  dies  auch  bei  den  Flussregulirungen  und  den  gegenüber 
dem  Hochwasser  in  Anwendung  gebrachten  Methoden  der  Fall. 

Diese  Begulirungen  sollten  von  der  Intention  geleitet  sein,  eines- 
teils das  betreffende  Inundationsgebiet  den  schädlichen  Einwirkungen  der 
Hochwässer  sowie  der  Binnenwässer  zu  entziehen,  anderseits  jedoch  auch 
diesen,  und  wohl  auch  auf  anderen  Territorien  ein  bestimmtes  regulirbares 
Nässequantum  zu  sichern. 

Auf  die  Entwickelungsgeschichte  dieser  Begulirungen  einen  Bückblick 
werfend,  gewinnen  wir  jedoch  alsbald  die  üeberzeugung,  dass  diese  Bezeich- 
nung bei  Weitem  nicht  entspricht.  Eine  «Entwicklung»  ist  es  wohl  nicht 
zu  nennen,  wo  die  Begulirungen  der  Gewässer  zur  Zeit  der  Pharaonen  z.  B. 
doch  einen  ganz  enormen  Erfolg  aufzuweisen  vermochten  gegenüber  den- 
jenigen der  Neuzeit. 

Es  scheint  dies  im  Anfang  umso  unerklärlicher,  als  es  sich  auch  hier 
um  ein  Gebiet  handelt,  auf  welchem  die  individuellen  Eigenschaften  doch 
nicht  in  dem  Maasse  den  Ausschlag  geben  könnten.  Und  wenn  dem  so  ist, 
was  waren  die  technischen  Hilfsmittel  der  Bewohner  des  Niltales,  und  was 
sind  die  Mittel  der  Neuzeit ! 

Diese  Hilfsmittel  schwangen  sich  auf  eine  damals  wohl  noch  nic|)t 
geahnte  Höhe,  und  der  Erfolg  aller  Bemühungen  blieb  später  dennoch  weit 
hinter  den  bescheidensten  Erwartungen  zurück. 

Ohne  uns  auf  eine  nähere  Erörterung  einzulassen,  wollen  wir  blos  mit 
wenigen  Worten  einige  allgemeine  Gründe  zu  skizziren  versuchen,  welche 
an  dem  Ausbleiben  des  erwarteten  Erfolges  sowohl  im  Auslande  als  auch 
in  Ungarn  Schuld  getragen  haben  mochten. 

Die  im  Nilthale  in  Anwendung  gewesene  Methode  bestand  in  einer 
Combination  von  Eindeichungen,  Canälen  und  Beservoirs,  wodurch  es 
ermöglicht  wurde,  den  befruchtenden  Schlamm  des  Hochwassers  auf  die 
bestmöglichste  Art  und  Weise  auszunützen. 

Warum  trachtete  man  nun  nicht  diese,  sich  so  vorzüglich  bewährte, 
vollkommen  zu  nennende  Methode  später  auch  anderwärts  nachzuahmen, 
da  ja  doch  die  technischen  Schwierigkeiten  mit  der  Zeit  umso  leichter  zu 
überwinden  sein  mussten  ? 

Die  Lösung  wäre  teils  darin  zu  finden,  dass  bei  der  oberwähnlen  Begu- 
lirungsmethode  die  Hauptrolle  den  Cauahsirungen,  besser  gesagt  der  Erhal- 
tung der  vorhandenen  Canäle  zufällt,  weshalb  auch  das  Gedeihen  dieser 
Methode  ganz  eigenartige  Verhältnisse  bedingt. 


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DIE   HOCHWASSER-    UND    WASSERBAU-ANGELEGENHEITEN   UNGARNS.  ^^'< 

Es  ist  nämlich  eine  allgemein  constatirbare  Thatsache,  dass  z.  B.  der 
Staat,  welcher  ohne  Zweifel  im  Standö  wäre  zu  Agriculturzwecken  Canali- 
sirmigen  im  grossen  Masstabe  vorzunehmen^  die  Erhaltung  dieser  Bauten 
ebensowenig  besorgen  kann,  als  auch  die  Uebernahme  dieser  Verpflichtung 
von  Seite  der  Interessenten  von  wegen  des  zu  raschen  UmFchwunges  zu  kei- 
nem günstigen  Resultate  führt. 

Es  muss  sich  ein  derartiges  System  vielmehr  nur  allmälig,  Schritt  hal- 
tend mit  den  wirklichen  derzeitigen  Bedürfnissen,  so  zu  sagen  ganz  unmerk- 
lich ausbilden ;  dem  Staate  fällt  dabei  blos  die  Aufgabe  zu,  durch  zweck- 
gemässe  Regelung  der  diesbezüglichen  civilrechtlichen  Verhältnisse  ein  gün- 
stiges Terrain  zu  schaffen. 

Adam  Smith's  Ansicht  nach  ist  es  unmöglich  gegen  ein  derartig 
launenhaftes  Element,  wie  es  das  Wasser  ist,  mit  vom  Staate  Angestellten 
anzukämpfen,  da  es  sich  beim  Instandhalten  von  Canalbauten  z.  B.  nicht 
um  ein  chablonemässiges  Vorgehen  handelt,  und  es  folglich  am  zweckmäs- 
sigsten  sei,  dies  die  Interessenten  selbst  besorgen  zu  lassen. 

Adam  Smith  führt  den  Languedoc-Canal*  als  Beispiel  an,  welchen 
Louis  XIV.  endlich  doch  genötigt  war,  nur  um  dessen  gän7lichen  Verfall 
zu  verhüten  (und  zwar  noch  vor  der  Vollendung)  dem  Erbauer  desselben : 
Ingenieur  Peter  Biquet  mit  der  Verpflichtung  zu  überlassen,  den  Canal  im 
guten  Zustande  zu  erhalten,  wofür  Biquet  daselbst  das  erbliche  Zollrecht 
erhielt. 

üebrigens  bekräftigt  diese  Ansicht  auch  Englands  Beispiel.  Ausser 
den  wenigen  Gesellschaften  bildeten  sich  für  die  nicht  in  Privatbesitz  ste- 
henden Canäle  «Genossenschaften  von  Eigentümern»  —  companies  of 
proprietors,  comp,  of  undertakers  —  und  blos  ein  einziger  Canal  stand 
einige  Zeit  hindurch  unter  staatlicher  Verwaltung.  Es  war  dies  der  auf  der 
Halbinsel  von  Sussex  im  Jahre  1807  zu  Kriegszwecken  erbaute  Canal.  Der- 
selbe konnte  auch  selbst  dadurch  nicht  vor  Verfall  gerettet  werden,  dass 
man  später  den  Speaker  und  noch  mehrere  höhere  Staatswürdenträger  mit  der 
Oberaufsicht  betraute,  und  es  musste  derselbe  endlich  doch  in  Privatbesitz 
übergehen,  mit  der  einzigen  Verpflichtung,  denselben  zu  Agriculturzwecken 
in  angemessenem  Zustande  zu  erhalten.  ** 

Die  Oberaufsicht  der  englischen  Staatsgewalt  beschränkte  sich  auch 
späterhin  blos  auf  die  Finanzen  sämmtlicher  derartiger  Genossenschaften, 
und  das  auch  nur  insofeme  es  die  Besteuerung  der  Einkünfte  als  notwendig 
erscheinen  liess. 

In  Frankreich  bildeten  die  Schifffahrts- Canäle  ebenfalls  vorerst  mei- 


"^  Dieser  Canal  erstreckt  sich  von  der  Garonne  aus  bis  zum  Mittelländischen 
Meere.  Gegenwärtig  führt  er  den  Namen:   ^du  midit. 

**    Weber:  Die  Wasserstrassen  Nord-Eui*opas.  Leipzig  1881. 


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6^  DIB   HOCHWASSER-    UND    WASSERBAU- ANOELBOENHEITEN   UNGARNS. 

stenteils  das  Besitztum  von  Genossenschaften,  *  später  wurden  dieselben 
dann  wohl  in  Folge  der  Centralisirungs-Bestrebungen  der  französischen 
Begierungen  verstaatlicht,  es  war  dabei  jedoch  hauptsächlich  der  Umstand 
massgebend,  dass  durch  Herabsetzen  der  Schifffahrts- Zölle  die  angrenzenden 
Besitztümer  solch  immensen  agrarischen  Aufschwung  nahmen,  dass  die 
nun  demzufolge  unter  verschiedenen  Titeln  einlangenden  Staatseinkünfte 
die  bisher  eingehobenen  Schifffahrts-ZöUe  um  ein  Erhebliches  überstiegen. 

Die  einzelnen,  später  besonders  unter  Napoleon  dem  I.  vom  Staate  un- 
ternommenen Flussregulirungen,  waren  dieselben  noch  so  genial  angelegt» 
zeigten  den  gewünschten  Erfolg  bei  Weitem  nicht. 

Die  Ganalbauten  Schwedens  sind  sämmtlich  im  Besitze  von  Gesell- 
schaften, Vereinigungen  von  Gemeinden  oder  aber  Privaten.  Der  einzige 
Canal,  welcher  Staatseigentum  bildete,  der  •AkerS'Canal,i^  wurde  gleich- 
falls im  Jahre  1861  einer  Actien-Gesellschaft  überlassen. 

Man  könnte  zu  Gunsten  des  Privatbesitzes  der  Canalbauten  —  ob 
dieselben  hauptsächlich  den  Verkehr  oder  aber  die  Agricultur  zu  heben 
bestimmt  wären  —  ausser  diesen  chronologischen  Thatsachen  noch  zahl- 
reiche Gründe  anführen ;  wir  wollen  jedoch  nur  noch  die  Entwickelungs- 
Geschichte  der  holländischen,  Agriculturzwecken  dienenden  Canalbauten 
und  derjenigen  Ober-Italiens  anführen,  welche  beide  die  richtige  Entste- 
hung und  Entwicklung  zeigen.  Es  entstanden  dieselben  allmälig,  und  fast 
unbemerkbar  vergrösserte  sich  das  Canalnetz  bis  zu  dessen  gegenwärtiger 
Ausdehnung. 

Man  könnte  wohl  gegen  die  Stromregulirungen  Italiens  und  Hollands 
vom  technischen  Standpunkte  aus  Einwendungen  erheben,  wir  sprechen 
jedoch  hier  blos  von  dem  einen  Bestandteil  derselben :  von  den  Canalbauten, 
welche  zur  Ausnützung  des  Hochwassers  unbedingt  notwendig  sind* 

Warum  eine  derartige  allmälige  Entwicklung  eines  zweckmässigen 
Canalnetzes  in  anderen  Staaten  nicht  erfolgte,  daran  sind  wohl  nächst  den 
politischen  Verhältnissen  hauptsächlich  die  Bestimmungen  des  Civilcodexes 
daselbst  von  bedeutendem  Einfluss  gewesen.  Ausser  der  Bedingung  einer  je 
längeren  friedlichen  Aera,  ohne  welche  ein  Aufschwung  der  Agricultur  denn 
doch  nicht  denkbar  ist,  ist  es  auch  das  Civilrecht,  welches  günstige  Ver- 
hältnisse zu  schaffen  im  Stande  wäre. 

Wir  wollen  hier  blos  auf  die  englischen  Verhältnisse  hinweisen. 
Pulszkifs  Ansicht  nach  konnte  sich  das  holländische  System  deshalb  in 

'^''  Hier  ist  besonderR  zu  diatinguiren,  dass  die  französiscben  GeRellscbaft^n  ak 
gewöimlicbe  Actieu  Gesellscbaften  zn  betracbten  sind,  wogegen  die  englischen  Canale 
das  ausscbliessliclie  Eigentum  der  Interessenten  bildeten.  Die  Actien  lauteten  auf  den 
Namen  des  betreffenden  Grundbesitzers  und  waren  riicbt  verkäuflieb. 

**  liodoky  Lajos :    Francziaorszag    vizi  utÄinak    ^s    csatomabal6zat4iiak   leir&sa. 
Budapest  1880. 


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DUS   HOCHWASSER-    UND    WASSERBAU -AN  OBLEOENHEITEN    UNGARNS.  6^^ 

England  keinen  Eingang  Terschaffen,  weil  es  die,  den  Grundbesitz  betref- 
fenden civilrechtlichen  Besitzungen  nicht  Buliessen.  *  Und  mit  Recht.  Dem 
fideicommissarischen  Charakter  des  englischen  Grundbesitzes  nach  konnte 
—  ausser  den  Freehold  estetes  —  das  betreffende  Grundstück  blos  und 
höchstens  auf  90  Jahre  verpachtet  werden.  Nachdem  nun  aber  nach  Ablauf 
des  Pachttermines  —  bei  den  «tenures  at  will»  nach  Belieben  des  Eigen- 
tümers auch  noch  vor  Ablauf  desselben^  das  Grundstück  mit  allen  darauf 
befindlichen  Gebäuden,  allen  Verbesserungen  etc.  ohne  Rückvergütung  dem 
Gnmdeigentümer  zufiel,  so  musste  es  wohl  dem  Pächter  die  Lust  beneh- 
men, sich  in  kostspieligere  Verbesserungen  einzulassen,  deren  Capital  nebst 
Zinsen  er  nicht  noch  während  der  Dauer  seiner  Pacht  herausschlagen 
konnte. 

Was  Ungarns  Canalbauten  betrifft,  bestätigt  sich  die  Annahme  Adam 
Smiths  auch  hier. 

Einesteils  wäre  jedoch  eine  allmälige  Entwicklung  des  oberwähnten 
Systems,  selbst  ohne  die  übrigen  obwaltenden  Hindernisse,  schon  von 
wegen  der  langjährigen  kriegerischen  Zeiten  beeinträchtigt  gewesen. 

Der  Einfiuss  dieser  Zeiten  zeigte  sich  auch  bei  den  schon  vorhande- 
nen einzelnen  Canalbauten,  indem  diese  binnen  kurzer  Zeit  in  Verfall 
gerieten. 

Was  diese  Zeiten  nicht  verhinderten,  verhinderte  der  Umstand,  dass 
in  Ermanglung  eines  das  Eigentumsrecht  der  Gewässer  regelnden  Gesetzes 
die  Grundeigentümer  in  Folge  der  sich  widersprechenden  Curial-Edicte  sich 
zu  keinen,  die  Ausnützung  der  Hochwässer  abzielenden  grösseren  Unter- 
nehmungen ermuntert  sehen  konnten. 

In  England  verhinderte  also  ein  civilrechtlicher  Grundsatz  die  Ent- 
wicklung dieses  Systemes,  in  Ungarn  war  es  hingegen  sozusagen  der  gänz- 
liche Mangel  jedweden,  das  Wasserrecht  betreffenden  Gesetzes,  welcher 
dessen  Einbürgerung  nicht  zuliess. 

Die  im  Tripartitum  sowohl  als  im  Corpus  juris  sporadisch  enthaltenen 
Grundsätze  liessen  in  Folge  ihrer  lakonischen  Kürze  ganz  verschiedene 
Deutungen  zu,  wollte  man  nach  diesen  auch  die  Lösung  anderer  das  Wasser- 
recht betreffenden  Fragen  versuchen. 

Dass  der  Staat  bei  dem  Bestreben  auf  Erhaltung  schon  vorhandener 
Canäle  mit  grossen  Schwierigkeiten  zu  kämpfen  hat,  zeigte  sich  auch  in 
Ungarn. 

Ausser  den  übrigen  Beispielen,  welche  die  Geschichte  der  Canalbauten 
Ungarns  bietet,  ist  diejenige  des  die  Donau  mit  der  Theiss  verbindenden 


*  Puhzky  Ferencz:  Töred^kes  ^szrev^telek  a  Dnnaszabilyoz^  s  a  keleti  körd^s 
irint.  Pozsony  1840. 


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686  DIB    HOCHWASSER-    UND     WASSßRBAU-ANÖELEGENHEITEN    UNGARNS. 

Fravzenscanals  lehrreich  genug,  als  dass  diese  Regel  auch  hier  einer  wei- 
teren Bekräftigung  bedürfte. 

Nachdem  der  Entwicklung  dieses  Systemes  in  den  meisten  Staaten 
verschiedene  Hindernisse  im  Wege  standen,  war  man  genötigt  andere,  den 
speciellen  Verhältnissen  entsprechende  Regulirungs- Systeme  in  Anwendung 
zu  bringen.  Es  wurden  mit  verschiedenen  «modernen»  Systemen  Versuche 
angestellt,  der  Erfolg  blieb  jedoch  so  wie  in  Ungarn  selbst,  auch  im  Auslande 
bescheiden  genug. 

Wohin  wir  auch  unsere  BUcke  wenden,  sehen  wir  mehr  oder  minder 
misslungene  Versuche,  den  erwünschten  Erfolg  auf  andere  Weise  zu  errei- 
chen. Deshalb  darf  sich  denn  auch  Ungarn  den  Vorwurf  ersparen,  dass  der 
bisher  geringe  Erfolg  einem  Mangel  zuzuschreiben  wäre,  den  dieses  Land 
dem  Auslande  gegenüber  zu  verzeichnen  gehabt  hätte. 

Es  fehlte  Ungarn  nicht  das  Geringste  mehr  als  dem  Auslande.  In 
Betre£f  der  technischen  Hilfsmittel  stand  es  auf  dem  Niveau  des  Auslandes, 
und  was  dem  Lande  im  Anfange  an  erfahrenen  Hydrotekten  gebrach,  das 
lieh  ihm  doch  das  Ausland ! 

Es  waren  die  im  Auslande  t modernen»  Systeme,  welche  bei  Ungarns 
Flussregulirungen  in  Anwendung  kamen.  Es  waren  vorerst  Canalbauten 
nach  holländischem  Muster,  unter  der  Leitung  holländischer  Ingenieure, 
und  nachdem  sich  diese  Methoden  den  oberwähnten  Ursachen  zufolge  nicht 
bewährten  —  kamen  Eindeichungs- Systeme  nach  italienischer  Art,  von 
italienischen  Hydrotecten  geleitet ;  ausserdem  wurden  die  Strombetten  auf 
die  verschiedenste  Art  und  Weise  zu  reguliren  gesucht.  Bios  ein  Mangel 
wäre  hervorzuheben,  dessen  Folgen  später  schwer  auf  dem  Lande  lasteten : 
es  waren  das  die  geringen  Geldmittel,  womit  Ungarns  grösste  und  man 
könnte  sagen  überhaupt  eine  der  grössten  Flussregulirungen,  initiürt 
wurde. 

Die  Theissregulirung,  —  das  heisst  die  Regulirung  der  Theiss  sammt 
ihren  Nebenflüssen,  mit  Einschluss  des  Temes  Bega-Complexes  —  wurde 
mit  verschwindend  geringem  Capital  begonnen,  und  der  Geldmangel  machte 
sich  noch  lange  hernach  fühlbar,  obwohl  die  Regienmg  zur  Finanzirung 
dieses  grossen  Unternehmens  später  ihr  möglichstes  that- 

Das  Parlament,  die  Vertretung  des  ungarischen  Volkes  bekundete  eine 
seines  Gleichen  suchende  Opferwilligkeit,  und  so  gelang  es  denn  auch  mit 
der  Zeit,  die  nachteiligen  Folgen  der  im  Anfange  überhasteten  ReguUrungs- 
arbeiten  abzuwenden,  und  ist  die  Regierung  gegenwärtig  in  der  Lage,  nach 
Beendigung  der  Hochwasserschutzarbeiten,  indem  sie  nun  das  Hauptgewicht 
auf  das  Protegiren  der  Wasserbenutzungen  legt,  dieses  System  nach  und 
nach  zu  einem  vollkommenen  umzugestalten. 

Doch  wir  wollen  der  Sache  nicht  zu  sehr  vorgreifen,  sondern  die 
Flussregulirungsarbeiten  dieses  Landes  in  chronologischer  Reihenfolge  dem 


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DIE   HOCHWASSER-    UND    WASSERBAU -ANGELEGENHEITEN    UNGARNS. 


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Leser  vor  Augen  führen ;  vorerst  scheint  es  jedoch  geboten,  die  zu  reguliren- 
den  Gewässer  einer  etwas  näheren  Betrachtung  zu  unterziehen. 

Das  soll  jedoch  nicht  etwa  heissen,  dass  wir  auf  eine  nähere  topogra- 
phische oder  hydrotechnische  Beschreibung  der  Objecte  einzugehen  gesonnen 
wären,  da  wir  die  Kenntniss  derselben  vorauszusetzen  uns  berechtigt  glau- 
ben, anderseits  aber  würde  dies  auch  schon  die  Beschränktheit  des  Kaumes 
nicht  zulassen.  Wir  wollen  demnach  blos  einige,  den  Verlauf  der  Hochwässer 
betreffende  Bemerkungen  machen,  um  die  Natur  der  Hochwässer  der  ver- 
schiedenen Gewässer  Ungarns  etwas  bekannter  zu  machen. 

Die  Donau,  der  Hauptfluss  Ungarns,  welcher  mit  geringer  Ausnahme 
sämmtliche  Gewässer  dieses  Landes  aufnimmt,  zeichnet  sich  durch  die  Ver- 
schiedenheit seiner  Breite,  folglich  auch  seiner  Tiefe,  sowie  durch  seine  zahl- 
reichen Verzweigungen  aus,  welch  letztere  vorzüglich  unterhalb  Pressburg, 
der  Insel  Schutt  entlang  in  grosser  Menge  vorhanden  sind.  Diese  zahllosen 
Verzweigungen,  im  Vereine  mit  den,  bei  allzu  grosser  Strombreite  sich  zei- 
genden Untiefen,  dann  einzelne  scharfe  Wendungen,  endlich  die  längs  der 
CJomitate  Tolna  und  Baranya  vorhandenen  Krümmungen  bilden  bei  diesem 
Strom  die  grösste  Ueberschwemmungsgefahr,  indem  dieselben  auf  den  ohne- 
hin starken  Eisgang  dieses  Stromes  ausserordentlich  hemmend  wirken.  Die 
Stauungen  nehmen  nicht  selten  ganz  ausserordentliche  Dimensionen  an, 
und  es  ist  als  ein  Glück  zu  betrachten,  dass  das  Brechen  der  Eisrinde  für 
gewöhnlich  an  den  unteren  Strecken  zu  beginnen  pflegt,  und  sich  von  da 
aus  stromaufwärts  fortpflanzt. 

Es  sind  denn  auch  die  Frühjahrs-Hochwasser,  welche,  herbeigeführt 
durch  die  erste  Schneeschmelze,  indem  sie  den  Eisstoss  in  Bewegung  zu 
setzen  haben,  mit  dem  meisten  Unheil  drohen.  Die  Schneewasser  des  Hoch- 
landes, welche  erst  im  Laufe  des  Sommers  den  Strom  schwellen,  erreichen 
nur  in  höchst  seltenen  Fällen  die  Höhe  der  Frühjahrs-Hochwasser. 

Es  erreichte  die  Donau  bei  Budapest  während  der  Periode  von  1830 — 
1889  (mit  Ausnahme  der  unbestimmten  Daten)  die  grösste  Ja-hreshöhe: 


Im  Monate  Jänner 
Februar 
März  __.     .. 
April     _.. 

Mai 

Juni 

Juli 

August .._ 

September 

Oktober 

November.. 

December 


5- mal 
U-  t 
11-  « 
8-  • 
2-  • 
4-  « 


4-  • 

5^     € 


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688 


DIE    HOCHWASSER-    UND    WASSERBAU -ANGELEGENHEITEN   UNGARNS. 


Was  den  höchsten  Stand  der  Hochwasser  betrifft,  so  steht  dasjenige 
vom  Jahre  1838  bisher  noch  unerreicht  da.  Es  zeigte  der  Pegel  bei  Bnda* 
pest  in  diesem  Jahre  einen  Wasserstand  von  9*19  M.  Den  nächsthöchsten 
Stand  erreichte  der  Strom  im  Jahre  1776  mit  7*83  M.  Erst  nach  diesen 
käme  das  Hochwasser  vom  Jahre  1876  mit  7*76  M.,  sodann  die  Pegelstände 
vom  Jahre : 

1775  mit  7-64  M. 

1798  •     7-43    • 

1799  •  7-30  • 
1839  •  7-20  • 
1850    €     7-12    • 

In  neuerer  Zeit  beobachtete  man  (ebenfalls  am  Budapester  Pegel)  fol- 
gende höchsten  Wasserstände*  : 


Im  Jahre  1876 

1877 
1878 
1879 
1880 
1881 
1882 


7-67  M. 

5-08  • 

6-74  f 

4-71  « 

5-75  • 

6-95  « 

4-57  t 


Im  Jahre  1883 
1884 
1885 

1886 
1887 
1888 
1889 


6-61  M. 

415  . 

4-07  € 

4-79  t 

3-63  • 

5-56  t 

4-48  • 


Die  Dauer  der  Hochflut  ist  den  einzelnen  Strecken  des  Stromes  nach 
verschieden.  Bei  Pressburg  währt  dieselbe  blos  Tage  lang,  während  an  den 
unteren  Strecken  Wochen,  ja  Monate  vergehen,  bis  die  Flut  in  ihr  gewöhn- 
liches Bett  zurücktritt.  In  Ausnahmsfällen  beträgt  diese  Dauer  wohl  2 — 3, 
ja  sogar  bis  5  Monate. 

Die  Charakterisirung  der  Hochwasser  der  kleineren  Nebengewässer,  — 
welche  sich  hauptsächlich,  von  den  Karpaten  kommend  in  die  Donau  er- 
giessen  —  wollen  wir  übergehen,  da  deren  Hochflut  ganz  den  Stempel  der- 
jenigen der  Bergflüsse  an  sich  trägt.  Diese  rapid  anschwellenden  Flüsse 
richten,  obwohl  deren  Hochflut  von  ganz  geringer  Dauer  ist,  teils  ihres 
plötzlichen  Erscheinens  wegen,  teils  aber  auch  von  wegen  der  immensen 
Menge  des  mitgeführten  Gerölles,  nicht  selten  ausserordentlich  grosse  Ver- 
heerungen an. 

Als  das  Musterbild  dieser  Flüsse  wäre  die  Waag  zu  betrachten.  Dieser 
reissendste  Fluss  Ungarns  erreichte  im  Jahre  1813,  während  einer  drei- 
tägigen Hochflut,  die  unglaubliche  Höhe  von  14  M. ! 

Von  den  Nebenflüssen  mit  geringerem  Gefälle  wäre  die  Baab  hervor- 
zuheben, deren  Fluten  sich  bei  deren  Austreten  im  unteren  Inundations- 
gebiete  gewöhnlich  mit  denjenigen  der  Donau  vermengen.  Bei  hohem  Was- 

*  Vom  neuerdings  geregelten  0  Punkt  gerechnet,  welcher  seit  dem  Jahre  1876 
um  9  cm.  herabgesetzt  wurde. 


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DIE   HOOHWASSEB-    UND    WASSEBBAÜ -ANGELEGENHEITEN   UNGARNS.  ^^ 

serdtande  der  letzteren  tritt  nicht  nur  bei  der  Baabmündang,  sondern  oft- 
mals auch  bei  den  übrigen  Nebenflüssen  der  Donan,  so  auch  bei  der  Tbeiss 
z.  B.  ein  derartiger  Bückstau  ein^  dass  dies  nicht  selten  ein  Bückwärts- 
fliessen  der  Wasser  der  genannten  Nebenflüsse  zur  Folge  hat. 

Die  Hochwasser  der  Drave  sind  ganz  unberechenbarer  Art.  Es  gibt 
fast  keine  Jahreszeit,  wo  diese  noch  nicht  erschienen  wären.  Die  Dauer  der 
Hochflut  beträgt  gewöhnlich  nur  einige  Tage,  dehnt  sich  jedoch  —  höchst 
selten  zwar  —  in  den  unteren  Strecken  bis  zu  einem  Monate  und  darüber  aus. 

Die  Save  zeigt  die  gleichen  Eigentümlichkeiten  in  Betreff  der  Hoch- 
flut. Ihre  zahlreichen  Nebenflüsse  treten  manchmal  schon  durch  den  Bück- 
stau der  Save  aus,  und  verwandeln  dann  oft  weite  Strecken  in  Moräste 
und  Sümpfe,  deren  ungesunden  Ausdünstungen  die  ganze  Umgegend  infici- 
ren.  Beide  letztere  Flüsse  befinden  sich  —  obwohl  die  Begierungen  für^deren 
Eegulirung  schon  namhafte  Summen  opferten  —  noch  sozusagen  im  Urzu- 
stände, da  diese  vereinzelten  Begulirungsarbeiten  bisher  noch  nicht  mit  dem 
gehörigen  Nachdruck  fortgesetzt  werden  konnten. 

Bei  der  Theiss  sind  es,  im  Gegensatze  zur  Donau,  die  Schneewasser 
des  Hochlandes,  welche  die  gefährlichsten  Anschwellungen  dieses  Flusses 
verursachen.  Nicht  während  des  Eisrinnens,  sondern  erst  zur  Zeit  der 
Schneeschmelze  der  Karpaten  erreicht  die  Theiss  ihren  höchsten  Wasser- 
stand ;  das  Sohneewasser  des  Flachlandes  ist  dann  gewöhnUch  schon  abge- 
flossen, obwohl  gewisse  klimatische  Umstände  ausnahmsweise  auf.  diese 
Ordnung  störend  einwirken,  so  ;da8s  das  Earpaten-Schneewasser  zum  Teile 
noch  auf  dasjenige  der  Niedenmgen  trifft. 

Eine  besondere  Bedeutung  fällt  den  Eisverhältnissen  daher  nicht  zu, 
and  obwohl  die  Eisstauungen  oftmals  ein  locales  Anschwellen  des  Flusses 
zur  Folge  haben,  geht  das  Eis  für  gewöhnlich  ohne  bedeutenderen  Schaden 
angerichtet  zu  haben  ab,  was  die  noch  immer  zahlreichen  Krümmungen 
dieses  Flusses  in  Betracht  gezogen,  ein  sehr  günstiger  Umstand  zu  nennen  ist. 

Im  günstigen  Sinne  wirkt  femer  auch  noch  der  Umstand,  dass  die 
ausserordentlichen  Hochwasser  einzelner  Nebenflüsse  der  Theiss  mit  denje- 
nigen der  Theiss  selbst  niemals  zusammenzutreffen  pflegen. 

So  auch  bei  der  Maros  und  Koros,  deren  höchster  Wasserstand  bisher 
noch  niemals  auf  den  höchsten  Stand  der  Theiss  traf.  Man  kam  später  auch 
auf  den  Gedanken,  den  Abfluss  der  Hochwasser  des  Körös-C!omplexes  durch 
Durchstiche  etc.  derart  zu  regeln,  dass  dasselbe  zuverlässlich  noch  vor  dem 
Erscheinen  des  Karpathen- Schneewassers  der  Theiss  zum  Abfluss  gelange. 

Die  auf  diese  Weise  erreichte  Beihenfolge  dürfte  dann  wohl  hoffentlich 
weiterhin  nicht  mehr  gestört  werden  —  es  wäre  denn,  dass  ganz  abnorme 
Verhältnisse  einträfen,  denen  jedoch  im  Vorhinein  nicht  Eechnung  getragen 
werden  kann. 

Der  höchste  Wasserstand  fällt  also  wie  gesagt  gewöhnlich  auf  die  Mo- 

üngarltohe  Revue,  XI.  1891.  VIU— IX.  Heft.  ^ 

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690 


DIB   HOCHWASSER-    UND    WASSERBAU -ANOBLBOENHEITEN   UNGARNS. 


Date  Mai,  Juni.  Die  Höhe,  welche  die  Anschwellungen  erreichen,  ist  im  All- 
gemeinen in  Folge  der  Eindeichungen  bedeutend  gestiegen,  so  dass  z.  B.  am 
Pegel  bei  Szegedin,  welcher  während  der  ausserordentlichen  Hochflut  von 
1830  die  bis  dahin  wohl  kaum  erreichte  Höhe  von  6*15  M.  zeigte:  seit  der 
Vollendung  der  Deiche  fast  jedes  Jahr  ein  ähnlicher  oder  aber  noch  höherer 
Wasserstand  zu  beobachten  ist. 

So  waren  die  Pegelstände  bei  Szegedin  seit  dem  Jabre  1874  folgende : 


Im  Jahre  1874 

i  1875 

t  1876 

.  1877 

«  1878 

«  1879 

t  1880 

t  1881 


6-97 
6-3^2 
7-86 
7-95 
7-20 
806 
6-27 
8-45 


M. 


Im  Jahre  1882 
1883 
1884 
1885 
1886 
1887 
1888 
1889 


6-91 
7-38 
6-31 
5-65 
5-34 
6-60 
8-47 
8-05 


M. 


Die  Dauer  der  Ueberschwemmungen  dehnt  sich  natärlicherweise  eben- 
falls der  Mändung  des  Flusses  zu  bedeutend  aus,  nur  dass  diese  Dauer  in 
Folge  des  ausserordentlich  geringen  Gefälles  der  Theiss  schon  längs  der 
oberen  Stromstrecken  eine  ausserordentliche  zu  nennen  ist. 

Schon  bei  Yäsäros-Nämeny  bleibt  die  Rut  manchmal  wochenlang 
ausserhalb  ihrer  Ufer,  bei  Szolnok  währt  es  dann  einen  oder  gar  zwei  Mo- 
nate, von  Gsongräd  abwärts  bis  Titel  wohl  auch  das  halbe  Jahr  hindurch. 

Die  Nebenflüsse  der  Theiss  zeigen  sich  sehr  verschieden  in  Bezug  ihrer 
Hochwasser.  SämmtUche  besitzen  jedoch  ein  mehr  oder  minder  bedeuten- 
deres Gefälle  als  die  Theiss  selbst. 

Die  Hochwasser  der  Szamos  z.  B.  dauern  Dank  dem  bedeutenden  Ge- 
fälle dieses  Flusses  blos  einige  Tage  lang.  Demgegenüber  sind  diejenigen  der 
Bodrog  schon  von  bedeutenderer  Dauer.  Der  Mündung  zu  kann  es  auch 
nicht  zu  den  Seltenheiten  gezählt  werden,  wenn  das  Wasser  erst  nach  Monats- 
frist in  sein  regelmässiges  Bett  zurückkehrt.  Die  Hochwasser  der  Bodrog  zei- 
gen sich  zwischen  Februar  und  April. 

Die  Körös-Berettyo,  das  heisst  der  Complex,  welcher  unter  dieser  Be- 
nennung zu  verstehen  ist,  bringt  ihr  Schneewasser  für  gewöhnlich  bereits 
mit  Beginn  des  Frühlings  herab ;  die  Dauer  zeigt  sich  den  einzelnen  Flüssen 
nach  verschieden,  die  vereinigte  Koros  —  sogenannte:  Härmas-Köröe, 
Egyesült-Körös  —  jedoch  pflegt  bei  grösseren  Wassermengen  erst  nach  2—3 
Monaten  auf  ihren  regelmässigen  Stand  zurückzukehren,  was  auch  schon 
den  Einflüssen  der  Theiss  zuzuschreiben  ist. 

Bei  der  Maros,  deren  Flussgebiet  sich  fast  über  die  Hälfte  Sieben- 
bürgens ausdehnt,  zieht  sich  die  Flut  bereits  nach  10 — 15  Tagen  zurück. 
Bei  diesem  Flusse  sind  manchmal  die  Frühjabrs-Hochwasser,  manchmal 


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DIE   HOCHWASSER-    UND    WASSBBBAU-ANOBLEGENHEITBN   UNGARNS. 


691 


wieder  die  im  Sommer  eintretenden  die  stärkeren,  auch  sind  hier  die  Eis- 
stauungen von  besonders  gefährlichem  Charakter. 

Von  einer  Dauer  der  Hochflut  bei  der  Temes-Bega  endhoh  kann  des- 
halb nicht  die  Bede  sein,  da  in  Folge  der  Begulirung  dieses  Gomplexes  auch 
das  Ablaufen  der  ausgetretenen  Flut  derart  geregelt  ist,  dass  das  einmal  aus- 
getretene Wasser  eigentUch  nie  mehr  in  das  Flussbett  zurückkehrt,  sondern 
anderwärts,  teilweise  mittelst  Schleussen  auf  geeignete  Art  abgeleitet  wird. 

Nach  diesen  einleitenden  Worten  wollen  wir  auf  die  Besprechung  der 
durch  diese  Hochwasser  verursachten  Schäden  übergehen,  das  heisst,  wir 
wollen  uns  auch  diesbezüghch  blos  einen  ungefähren  Begriff  von  alldem 
bilden,  da  uns  über  die  Hochwasserschäden  älteren  Datums  keine  verläss- 
lichen Aufzeichnungen  vorliegen.  Die  von  Seite  des  Chefs  des  königl.  un- 
garischen statistischen  Landes-Bureaus,  Ministerialrat  Dr.  Karl  Keleti 
schon  im  Jahre  1876  angeregte  Idee  einer  die  Hochwasserschäden  und 
Wasserbau- Angelegenheiten  Ungarns  betreffenden  Statistik,  welche  nach  lan- 
gem Zögern  der  Begierung  endlich  auf  Anordnung  des  gegenwärtig  mit  der 
Leitung  des  ungarischen  Handelsministeriums  betrauten  Ministers  Gabriel 
V.  Baross  verwirkUcht  wurde,  bedeutet,  was  die  Hochwasserschäden  selbst 
betrifft^  wohl  vorerst  nur  den  Anfang,  dessen  Wert  und  Einfluss  auf  die 
weiteren  Begulirungsarbeiten  sich  erst  nach  jahrelangem  sorgfältigem  Weiter- 
betrieb des  diesbezüglichen  Datensammlers  zeigen  muss,  da  die,  durch  die 
Hochflut  angerichteten  Verheerungen,  je  älter  das  Datum,  als  desto  unver- 
lässlicher  zu  betrachten  sind.  Es  bedeutet  jedoch  nichtsdestoweniger  den 
Beginn  eines  für  Ungarn  so  wichtigen  Zweiges  der  Statistik,  welcher  das 
Land  —  wären  die  Bemühungen  Keletts  vom  Anfang  an  von  Erfolg  ge- 
wesen —  nun  schon  um  die  Erfahrungen  von  15  Jahren  bereichert  hätte. 

Derjenige  Teil  dieser  soeben  erschienenen  amtlichen  Ausgabe  *  jedoch, 
welcher  die  Wasserbau- Angelegenheiten  behandelt,  ist  schon  von  viel  grösserer 
Präcisität,  und  lässt  die  Fortsetzung  und  Vervollkommnung  des  begonnenen 
Werkes  dem  Staate  ungemein  günstige  Besultate  hoffen. 

Vorläufig  bedürfen  die  Daten,  welche  sich  auf  die  Ausbreitung  der 
Hochwasser,  sowie  den  angerichteten  Schaden  beziehen,  selbstverständlich 
noch  einiger  Vervollständigung,  nachdem  z.  B.  schon  die  technischen  Arbeiten 
bezügUch  der  Constatirung  der  Ausdehnung  des  Inundationsgebietes  einzelner 
Genossenschaften   noch  immer  nicht  beendet  sind,  —  die  Ausdehnung  der 


"i-  «Magyarorsz^  vizeinek  statisztikaja»  Belltisi  BaroRs  G4bor  keresk.  m.  kir. 
minißzter  ür  megbiz^edböl  kiadja  az  orsz.  m.  kir.  statisztikai  hivatal,  felügyelete  alatt 
Bzerkesztette  Zawadowski  Alfred  min.  fogalmazö.  (Die  Statistik  der  Gewässer  Un- 
garns, im  Auftrag  des  kön.  ung.  Handelsministers  Herrn  Gabriel  Batoss  von  BeUus 
herausgegeben  durch  das  kön.  ung.  statistische  Landesbureau,  unter  dessen  Aufsicht 
verfasst  von  Alfred  Zawadowski,  Min.-Concipist.  Athenaeum  1891.) 

44. 


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692 


DIE  HOCHWASSER-    UND    WA86ERBAU-ANOELE6ENHBITBN  XJNOABH8. 


innerhalb  dieser  Genossenschaften  siehenden  Innndationsgebiete  auch  noch 
grösstenteils  unbekannt  ist. 

Desshalb  wollen  wir  auch  zunächst  nur  jene  Innndationsgebiete  in 
Betracht  ziehen,  welche  zur  Deckung  der  Kosten  des  Hochwasserschutzes 
innerhalb  der  einzelnen  Genossenschaften  gegenwärtig  beisteuern. 

Dieses  gesammte  Inundationsgebiet  der  bestehenden  47  Wasserschutz- 
Genossenschaften  beträgt  gegenwärtig  4.199,21 1^  Joch,  wovon  auf 

die  Donau  nebst  Nebenflüssen  1.167,124  i^  Joch 
€  TheisB      €  «  3.032,086  }S§B     » 

entfällt.  Hiezu  kämen  noch  die  nicht  im  Bahmen  der  Genossenschaften 
stehenden  Complexe,  deren  Ausdehnung  jedoch  wie  erwähnt  vorläufig  noch 
unbekannt  isi  Doch  bereits  aus  diesen  Zahlen  lässt  sich  schliessen,  dass  die 
der  Hochwassergefahr  ausgesetzten,  der  Gultur  grösstenteils  bereits  unter- 
zogenen Gebiete  von  immenser  Ausdehnung  sind. 

Nachdem  die  Verwüstungen,  welche  die  zur  Landplage  gewordenen 
Hochwasser  während  langer  Zeit  an  diesem  ausgedehnten  Gebiete  vollzogen, 
leider  schon  nicht  mehr  zu  bestimmen  sind,  einzelne  Aufzeichnungen  pri- 
vater Natur  von  wegen  ihrer  Lückenhaftigkeit  und  Unzuverlässigkeit  nicht 
berücksichtigenswert  erscheinen,  so  wollen  wir  nach  Hinweis  auf  einzelne 
ausserordentliche  Hochwasser-Katastrophen  gleich  auf  die  Besprechung  des 
Hochwassers  vom  Jahre  1888  übergehen  (bis  auf  welches  sich  die  obge- 
nannte  PubUcation  des  königlich  ungarischen  statistischen  Landes-Bureaus 
erstreckt),  nachdem  die,  auf  dies  Hochwasser  bezüglichen  Daten  einigen  Auf- 
schluss  über  die  Ausdehnung  und  den  Schaden  eines  ebeo  nicht  ungewöhn- 
lich zu  nennenden  Hochwassers  geben  könnten. 

Die  ausserordentlichen  Hochwasser  der  Donau  sind  die  bereits  oben 
angeführten,  unter  welchen  diejenigen  von  1775  und  1838  erwähnenswert 
sind,  welche  —  besonders  aber  das  letztere  —  auch  die  Hauptstadt  Ungarns 
hart  mitnahmen. 

Uebrigens  finden  wir  in  den  Annalen  einzelne  Aufzeichnungen  aus 
noch  viel  älterer  Zeit.  Die  älteste  derselben  erwähnt  einer  Hochflut  aus 
dem  Jahre  1012,  in  welcher  c  unzählige  Menschen  und  Thierei  umgekommen 
sein  sollen. 

Die  Jahre  1126,  1193  dann  1210  und  1211  sind  gleichfalls  als 
Hochwasserjahre  bezeichnet,  jedoch  erst  im  Jahre  1267  finden  wir  die  erste 
Spur  eines  Hochwassers,  welches  die  Hauptstadt  erreichte. 

Es  würde  zu  weit  führen  uns  in  diese  —  allenfalls^joteressanten,  den 
beschränkten  Baum  jedoch  allzu  sehr  in  Anspruch  nehmenden  —  Einzelnhei- 
ten einzulassen,  wir  begnügen  uns  daher  blos  noch  das  Hochwasser  vom  Jahre 
1693  anzuführen,  als  erstes,  dessen  Höhe  uns  bekannt  ist;  nachem  der  ita- 


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DOS  HOOHWASSEB-   UND    WASSBBBAÜ-ANOELBGENHEITEN   ÜKGABNS.  693 

lienkche  Gelehrte  A.  F.  Marsigli  dieselbe  1726  auch  durch  eine  Zeichnung 
veranschaulichte.* 

Von  den  späteren  Hochfluten  der  Donau  seien  noch  diejenigen  aus  den 
Jahren  1732,  1744,  1775  und  1799  erwähnt,  welche  unter  Anderem  auch  die 
Hauptstadt  teilweise  verwüsteten.  Besonders  bemerkenswert  wäre  das  Jahr 
1775,  in  welchem  einzig  und  allein  in  der  Stadt  Pest  611  Häuser  zu  Grunde 
gingen,  was  bei  der  damaligen  Zahl  der  die  Stadt  bildenden  Häuserzahl  — 
1 200  —  als  sehr  grosser  Percentsatz  zu  betrachten  ist.  Die  letztgenannte 
Hochflut  vom  Jahre  1799  endlich  vernichtete  den  eben  erst  entstandenen 
Stadtteil,  die  «Franzstadt»,  und  richtete  auch  anderwärts  erheblichen  Scha- 
den an.  Es  trugen  daran  ohne  Ausnahme  die  Eisverhältnisse  Schuld,  welche 
jene  ungeheuren  Stauungen  verursachten. 

Die  traurigsten  Erinnerungen  knüpfen  sich  jedoch  an  das  Jahr  1838. 

In  Folge  der  Eisanschoppung  unterhalb  der  Hauptstadt  schwoll  der 
Strom  rapid  bis  zu  der  ausserordentlichen  Höhe  von  9*19  M.  an.  Am  6.  März 
trat  die  Flut  schon  an  mehreren  niedriger  gelegenen  Stellen  der  Ofener  Seite 
aus,  und  am  13.  Abends  durchbrachen  auch  die  Pester  Schutzdämme.  Es 
fielen  diesem  Hochwasser,  Privatberichten  **  zu  Folge,  153  Menschenleben  zu 
Opfer,  ausserdem  stürzten  von  den  7510  Häusern  der  Hauptstadt  insgesammt 
2882  ein,  1363  aber  wurden  stark  beschädigt. 

Der  Gesammtschaden  dieses  Hochwassers  wurde  auf  70  Millionen 
Gulden  geschätzt. 

In  neuerer  Zeit  war  es  das  Jahr  1876,  welches  zu  grossen  Besorgnissen 
Anlass  gab.  Die  Donau  setzte  in  diesem  Jahre  das  zu  einer  königlichen  Frei- 
stadt und  zu  116  Gemeinden  gehörige  Territorium  von  ungefähr  410,000 
Cat.-Joch  unter  Wasser.  Ausser  59  Mensehen  kamen  4441  Hausthiere  um 
ihr  Leben  und  wurden  insgesammt  3296  Gebäude  ruinirt. 

Im  Jahre  1883  war  das  dem  Verbände  von  48  Gemeinden  zugehörige 
Gebiet  von  104,000  Cat.-Joch  unter  Wasser.  Es  waren  wieder  vier  Menschen- 
leben zu  beklagen. 

Die  nennenswerteren  ausserordentlichen  Hochwasser  der  Nebenflüsse 
der  Donau  waren: 

Bei  der  iVaag  das  vom  Jahre  1813,  wobei  287  Menschen  und  14,298 
Hausthiere  umkamen.  Der  Gesammtschaden  wurde  auf  4.638,898  Gulden 
geschätzt. 

Bei  der  Baab  das  vom  Jahre  1883,  wobei  ausser  dem  mit  dem  Hoch- 
wasser der  Donau  gemeinschaftlich  inundirten  Gebiete  die  Baab  allein  an 
27,000  Cat.-Joch  unter  Wasser  setzte. 


*  Marsigli  A.  F.  C.  Danubius,  Pannonico-Mysicus  etc.  Amstelodami  MDCCXXVI. 
**  Trattner:  J^gszakadds   ^s   Duna  kiiradius  1838-ban  stb.  magy.    ford.   Sz.  J. 
Bad^  1848. 


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694  DIE   HOCHWASSER-    UND    WASSERBAU -ANaEUßÖENHETTEN   UliöAfiNS. 

Von  den  Hochwassern  der  Theiss  sind  die  von  den  Jahren  1772,  1813, 
1816  und  1817  nennenswert  Besonders  die  beiden  Letzteren,  welche  grös- 
sere Verwüstungen  anrichteten.  Im  Jahre  1816  war  auch  die  Stadt  Szegedin 
teilweise  unter  Wasser. 

Dann  die  Jahre  1830,  1853,  1855,  1860,  1867,  1876  und  die  Kata- 
strophe vom  Jahre  1879,  welche  die  blühende  zweitgrösste  Stadt  UngamB, 
Szegedin,  in  einen  Trümmerhaufen  verwandelte,  so  dass  selbst  der  Schaden 
nicht  mehr  constatirbar  war,  indem  die  Administration  daselbst  natürlicher- 
weise zu  functioniren  aufhörte,  da  es  sozusagen  keine  Stadt  mehr  gab. 

Es  sollen  jedoch  in  der  Stadt  151  Menschen  zu  Grunde  gegangen 
sein>  ausserdem  wurden  5762  Grebäude  ruinirt.  Der  Schaden  soll  ungefähr 
llVa  Millionen  betragen  haben. 

Ausserhalb  der  Stadt  fielen  auch  noch  zwei  Menschenleben  dar  Hoch- 
flut zum  Opfer,  7337  Gebäude  wurden  mehr  oder  minder  beschädigt,  der 
Gesammtschaden  betrug  hier  ungefähr  8  Millionen. 

Die  durch  die  Nebenflüsse  der  Theiss  angerichteten  Schäden  näher 
zu  besprechen  wäre  nicht  angezeigt.  Insgesammt  betrug  das  durch  dieselben 
inundirte  Gebiet : 

Im  Jahre  1879  nngefähr  107,000  Cat.-Joch 
.       •      1881        t  204,000    .       • 

€       .       1887        .  154,000    .       € 

Wovon  unter  anderen  entfällt  : 

Ajif  die  KSrös-BereUyö    Auf  die  Terae8*B««a 

Im  Jahre  1879  88,000  17,000 

i       .       1881         163,000  38,000 

•       •      1887  42,000  90,000 

Die  Daten  des  Jahres  1888  wollen  wir  jedoch,  da  dieselben  als  die  ver- 
lässlichsten zu  betrachten  sind  —  sämmtliche  Flüsse  Ungarns  bezüglieb 
gleichzeitig  anführen. 

Es  war  in  diesen  Jahren  das  in  den  Verband  von  5  königl.  Frei- 
städten und  462  Gemeinden  gehörige  Territorium  von  zusammen  777,739 
Catastral-Joch  unter  Wasser.  Hievon  entfällt  auf  die 

Donau  sammt  Nebenflüsse     134,810  Cat.-Joch 
Theiss       «  •  642,929    «       « 

Speziell  aber  auf  die 

Donau  102,772  Cat.-Joch 
Theiss  398,777    «       « 

Es  war  also  18*5  o/o  des  gesammten  Territoriums  der  Genossenschaften 
inundirt,  und  zwar  bei  der  Donau  11*6  ^Iq,  bei  der  Theiss  21*1  o/o  des  be- 


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bre   HOCHWASSER-    UND    WASSERBAU -ANOBLEGENHEITEN   Ul^aARNS.  695 

treffenden  Gebietes.  Ausser  zwei  Menschen  verloren  auch  4257  Haustiere  ihr 
Leben.  Eigentümlich  erscheint  es,  dass  mit  Ausnahme  von  einem  verschwin- 
dend kleinen  Bruchteil  sämmtliche  Haustiere  der  Theiss  zum  Opfer  fielen. 
Nur  ein  geringer  Bruchteil  fallt  auf  die  Waag,  wo  der  Verlust  von  Haustieren 
in  Folge  des  plötzlichen  Erscheinens  der  Hochflut  nicht  zu  verwundem  ist. 
Von  den  ruinirten  7518  Gebäuden,  welche  einen  Schaden  von 
979,503  fl.  repräsentiren,  fallen  auf 

die  Donau  nebst  Nebenflüssen      148  Gebäude  im  Werte  von      11,960  fl. 
€   Theiss     «  «  7370       «  «         c         c     967,5i3  t 

Von  dem  an  Haustieren  und  Gebäuden  erlittenen  Schaden  fällt  auf 
die  Donau  nebst  Nebenflüssen  1*2  o/o  —  auf  die  Theiss  nebst  Nebenflüssen 
hingegen  98*8  Percent. 

Der  an  Bodenerzeugnissen  innerhalb  der  Inundations- Gebiete  der  Ge- 
nossenschaften erlittene  Schaden  beziffert  sich  insgesammt  auf  4.998,270  fl., 
wovon  auf  die  Donau  981,088,  auf  die  Theiss  4.017,182  fl.  entfällt. 

Es  sollen  diese  Daten  wie  gesagt  blos  zum  Zwecke  angeführt  sein,  einen 
beiläufigen  Begriff  von  der  Ausdehnung  und  dem  angerichteten  Schaden  eines 
Hochwasser- Jahres  zu  gewinnen,  das  betreffs  der  Höhe,  welche  die  Flut 
erreichte,  wohl  nicht  zu  den  gewöhnlichen  gehört,  in  Bezug  des  Schadens 
jedoch  nicht  zu  den  ganz  abnormen  gezählt  werden  kann. 

Nun  wollen  wir  auch  auf  die,  den  Hochwasserschutz  anstrebenden 
Stromregulirungen  und  Wasserschutz- Bauten  übergehen,  und  zwar  soll  die 
Entwicklung  derselben  auch  hier  blos  in  allgemeinen  grossen  Zügen  ver- 
folgt werden,  um  uns  sodann  umso  eingehender  mit  der  Besprechung  der 
derzeit  bestehenden  Verhältnisse  befassen  zu  können. 

Einzelne  Spuren  von  Flussregulirungen  führen  selbst  bis  in  das  graue 
Altertum.  Es  sind  das  sowohl  Ganalbauten  als  auch  Schutzdämme,  deren 
Ursprung  in  die  Zeit  der  römischen  Herrschaft  zurückführt. 

Ausser  den  vom  Kaiser  Trojan  herrührenden,  vorzugsweise  eine  be- 
queme Handelsverbindung  mit  dem  Orient  bezweckenden  Bauten  an  der 
unteren  Donau,  woselbst  Trajan  in  der  Nähe  der  Felsenriffe  von  Prigrada 
auch  Dämme  errichten  Hess,  existiren  auch  Ueberreste  von  Flussreguli- 
rungen aus  Kaiser  Probus'  Zeiten.  Es  sind  dies  Ganalbauten,  welche  mit 
der  Save  in  Verbindung  gebracht  wurden.  Dieselben  führen  auch  gegen- 
wärtig noch  den  Namen  dieses  Imperators. 

Desgleichen  befinden  sich  am  linken  Saveufer  zum  Schutze  einzelner 
Gemeinden  aufgeführte  Dämme,  welche  nach  den,  bei  Gelegenheit  neuerer 
Ausbesserungs-Arbeiten  vorgefundenen  Münzen  zu  urteilen  —  ebenfalls  auf 
römischen  Ursprung  schUessen  lassen. 

Ausserdem  verdient  noch  jener  eigentümliche  Graben  erwähnt  zu 
werden,  welcher  sich  im  Ganzen  und  Grossen  von  Waitzen  an  der  Donau 


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ti?>6  DIE    HOCHWASSER-    UND    WASSERBAU-ANGELEOENHBITBIN   ÜNGABKS. 

bis  nächst  Tokay  hinzieht,  von  dort  aus  jedoch  eine  sädliche  Richtung 
nimmt,  und  die  Niederungen  des  Theisstales  durchkreuzend  bis  hinab  zur 
Donau  reicht. 

Man  nennt  diesen  Graben  von  jeher  t  csörszÄrok».  Was  es  für  ein  Be- 
wandtniss  mit  demselben  gehabt  haben  musste,  ob  derselbe  zu  Kriegs- 
zwecken oder  aber  zur  (Tommunication  diente,  ist  bis  jetzt  eigentlich 
noch  fraglich,  und  obwohl  sich  an  seiner  Benutzung  in  letzterer  Eigenschaft, 
von  dem  Gutachten  einiger  Sachverständigen  abgesehen^  auch  eine  uralte 
ungarische  Legende  knüpft,  kann  dies  doch  keineswegs  als  ausschlaggebend 
anerkannt  werden. 

Aus  späteren  Zeiten  fehlt  es  an  Aufzeichnungen  und  wohl  auch  an 
grösseren  Begulirungsuntemehmungen  selbst.  Einzelne,  in  den  Gomitats- 
Archiven  aufgefundene  Documente  bezeugen  jedoch,  dass  es  schon  während 
der  Herrschaft  der  ersten  ungarischen  Könige  einzelne  Hochwasserschutz- 
Bauten  gab.  So  z.  B.  besagt  eine  in  dem  Archiv  des  Bereger  Comitats  befind- 
liche, über  ein  Besitztum  ausgestellte  Urkunde,  dass  im  Jahre  1299  ein 
gewisser  «Andräs»  an  dem  Flusse  *Zypoa*  eine  tclausura»  *  besass.  (re- 
gen wärtig  ist  es  fraglich,  wo  sich  der  Fluss  «Zypoa»  eigentlich  befunden 
haben  mag,  da  seither  selbst  der  Name  desselben  verschwunden  ist. 

Das  sind  jedoch  blos  vereinzelt  dastehende  Zeugnisse  derartiger  Unter- 
nehmungen. Von  der  auf  diesem  Gebiete  später  immer  reger  werdenden 
Thätigkeit  zeugen  erst  einige  Gesetz- Artikel  des  XVII.  Jahrhunderts.  So 
z.  B.  der  G.-A.  XXVII  vom  Jahre  1613,  welcher  die  Errichtung  von  Schutz- 
dämmen an  der  Theiss  und  anderen  Flüssen  Ungarns  mit  Inanspruch- 
nahme der  öffentlichen  Arbeitskraft  verordnet.  Es  wurden  unter  König 
Mathias  II.  (G.  A.  UV  vom  Jahre  1618),  dann  unter  Ferdinand  H.  und  HI. 
(G.-A.  XLn  vom  Jahre  1622;  G.-A.  XV  vom  Jahre  1625;  G.-A.  XIV  vom 
Jahre  1630;  G.-A.  LXIV  vom  Jahre  1635;  G.-A.  XIII  vom  Jahre  1638; 
G.-A.  CXXIX  vom  Jahre  1647)  Commissionen  zur  Raab  und  der  Donau 
entsendet.  Femer  wurde  eine  Commission  auch  im  Jahre  1659  (G.-Art. 
LXXrV),  dann  im  Jahre  1687  (G.-A.  XVI)  behufs  Rectification  des  unteren 
Laufes  der  Waag  entsendet.  Auch  die  Regelung  des  Raaber  Donauarms 
längs  der  Insel  Schutt  ward  schon  ins  Auge  gefasst,  und  zwar  vorerst  im 
Jahre  1569,  sodann  im  Jahre  1618  (G.-A.  LIV)  u.  s.  w. 

In  dieses  Jahrhundert  fällt  auch  der  erste  grössere  Versuch  einer 
Regulirung  der  Theiss.  Im  Jahre  1646,  also  genau  2(K)  Jahre  vor  der  Inan- 
griffnahme der  allgemeinen  Theissregulirungsarbeiten,  wurde  auf  Anordnung 
Georg  Rdköczy's  unter  der  Leitung  belgischer  und  venetianischer  Ingenieure 
ein  von  Tärkäny  —  mit  Inanspruchnahme  des  Bettes  der  Karcsa  —  bis 

*  Unter  «clausiira»  ist  ein  das  Wasser  hemmendes  Werk  zu  verstehen,  dessen 
altungarisclie  Bezeichnung:  tsegye»,  tsz^gyei,  «segistö»  war. 


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biB   HOCHWASSER-    UND    WASSERBAU- AKGELEGEIJHEITEN   UNGARNS.  ^^7 

Tokaj  sich  erstreckender  Ganal  ausgehoben,  wodurch  teils  der  Transport  des 
Salzes  daselbst  eine  wesentliche  Erleichterung  erfuhr,  anderseits  aber  auch 
ausfi^edehnte  Flächen  fruchtbaren  Landes  der  Cultur  gewonnen  wurden. 

Mit  ausserordentlichem  Eifer  wurden  die  Begulirungsarbeiten  im 
XVm.  Jahrhundert  betrieben.  Unter  Karl  HE.  wurde  dem  Landtage  im 
Jahre  1722  ein  grossartiges  GanaJisirungsproject  unterbreitet.  Es  sollte 
1 .  Ein  Ganal  von  Dob  an  der  Theiss,  durch  Debreczin  und  Mezötur  bis 
Gsongr^  gezogen  werden.  2.  Sollte  die  Donau  mit  der  Theiss  entweder 
durch  die  Linie  Waitzen  Szolnok  oder  Pest-Szolnok  oder  Hatvan-Szabadka 
in  Verbindung  gebracht  werden.  3.  War  ein  GanaJ  projectirt,  welcher  von 
Äroktö  aus  gegen  Füged  in  den  Fluss  Tarna  münden  sollte,  des  weiteren  in 
der  Richtung  von  Tama-Örs  und  J^z-Dözsa  ziehen  und  unterhalb  Jäsz- 
bereny  mit  der  Zagyva,  von  hier  aus  endlich  bei  Szolnok  auch  mit  der 
Theiss  in  Verbindung  gebracht  werden.  Die  Ausführung  dieses  Projectes, 
sowie  auch  des  späteren,  auf  Anordnung  Maria  Theresia's  durch  hollän- 
dische Ingenieure  projectirten  Ganalnetzes  blieb  jedoch  aus.  Bios  ein  Teil 
des  letzteren  wurde  verwirklicht,  nämlich  das  Project  der  Trockenlegung  der 
Sümpfe  und  Moräste  des  «Banats»,  welches  Werk,  dank  dem  unermüdlichen 
Eifer  Mercy's  nach  Anleitung  des  holländischen  Hydrotecten  Max  Fremaut 
auch  alsbald  beendet  wurde.  In  das  Ende  dieses  Jahrhundertes  fällt  auch 
der  Beginn  der  Regulirung  der  Flüsse  Särviz,  Si6  und  Kapos,  der  Trocken- 
legung der  Sümpfe  des  Särviz,  welche  Bauten  schon  damals  zu  den  schön- 
sten Hoffnungen  berechtigten. 

Während  dieser  Periode  ward  auch  ein  in  grösserem  Maasstabe  ange- 
legter Versuch  mit  Hochwasserschutzdämmen  gemacht,  uixd  zwar  mit  sehr  gün- 
stigem Erfolg,  welcher  bei  einem  vereinzelten,  relativ  geringen  Inundations- 
gebiete  wohl  nicht  ausbleiben  konnte.  Es  wurde  also  derart  durch  die 
Errichtung  eines  32,000°  langen  Schutzdammes  ein  Gebiet  von  ungefähr 
100,000  Joch  fruchtbaren  Landes  gewonnen. 

Auch  wurden  in  dieser  Zeit,  dem  Beferate  des  damaligen  königl.  Gom- 
missärs  Grafen  Franz  Zichy  nach,  fünf  Donaukrümmungen  bei  Mohäcs  und 
Paks  mittelst  Durchstichen  beseitigt,  wodurch  diese  Stromstrecke  um  17,650** 
verkürzt  wurde. 

Das  grösste  Werk  dieser  Periode  jedoch  war  die  topographische  und 
hydrographische  Aufnahme  aller  bedeutenderen  Flüsse  Ungarns.  Diese  vom 
Palatin  Erzherzog  Josef  initiirte,  im  grossartigsten  Style  unternommene 
Arbeit  konnte  den  späteren  Regulirungsprojecten  als  Basis  dienen,  und 
wurde  dieselbe  auch  selbst  durch  die  im  Jahre  1879  ihr  Gutachten  über  die 
Flussregulirungen  Ungarns  abgebenden  ausländischen  Experten  als  ausser- 
ordentliche Leistung  gewürdigt. 

Der  erste  Schritt  zur  Regulirung  des  eisernen  Thores  fällt  ebenfalls  in 
den  Anfang   des   XIX.  Jahrhunderts.    Auf  Anregung  des   Grafen  Stefan 


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698  DIE   HOOHWABSER-    UND    WASSEBBAÜ-AKGELEORNHEITBli  TJNaARKS. 

Szichenyi,  welcher  später  die  Seele  aller  unternommenen  Begnlirangsbauten 
ward  —  machte  der  ausgezeichnete  ungarische  Ingenieur  Paul  Väsdrhelyi 
im  Jahre  1830  die  Scbiffahrthindemisse  der  unteren  Donan  zum  Gegenstand 
eingehenden  Studiums  —  es  wurde  jedoch^  nach  Anlegen  eines  60^  langen 
und  16^  breiten  Schiffahrts-Ganals  längs  der  Felsenriffe  von  Dajka»  von 
weiteren  Arbeiten  vorläufig  abgesehen. 

Acht  Jahre  hernach  trat  die  Katastrophe  von  1838  ein,  welche  die 
Aufmerksamkeit  des  gesammten  ungarischen  Volkes  auf  das  geschehene 
Unglück  sowohl,  als  auch  auf  das  weitere  Schicksal  der  Hauptstadt  lenkte. 

Ueber  die  Ursache  dieser  Katastrophe  war  man  nicht  im  ZweifeL  Es 
handelte  sich  nur  um  die  Eliminirung  derselben,  nämlich  einen  geeigneten 
Modus  zu  finden,  wie  sich  die  Eisanschoppungen  unterhalb  der  Hauptstadt 
verhindern  Hessen  ? 

Es  wurden  diesbezüglich  so  zahlreiche  conträre  Meinungen  laut,  dass 
sich  die  Sache  ausserordentlich  in  die  Länge  zog  und  es  gingen  denn  auch 
mehr  als  40  Jahre  vorbei,  bis  diese  so  wichtige  Frage  endhch  eine  endgil- 
tige  Lösung  fand. 

Doch  wollen  wir  vorerst  die,  während  jener  langwierigen  Beratungen, 
Gutachten  u.  s.  w.  anderwärts  unternommenen  Begulirungen  verfolgen. 

Auf  Grund  der  oberwähnten  hydrographischen  Aufnahmen  richtete 
nämlich  der  Palatin  schon  im  Jahre  1842  ein  Memorandum,  welchem  auch 
ein  diesbezüglicher  Gesetzentwurf  beigeschlossen  war,  an  den  damaligen 
königl.  ungarischen  Statthaltereirat.  Das  Memorandum  blieb  jedoch  erfolg- 
los —  der  Gesetzentwurf  selbst  gelangte  nicht  einmal  zur  Behandlung. 

Das  ausserordentliche  Hochwasser  vom  Jahre  1845  liess  jedoch  kein 
Verschieben  mehr  zu,  so  dass  sich  der  Palatin  veranlasst  sah,  die  Direction 
des  königl.  ungarischen  Landesbaurates  anzuweisen :  unverzüglich  ein  Pro- 
ject  zur  Begelung  der  Theiss  auszuarbeiten,  und  berief  auch  gleichzeitig 
die  Interessenten  der  Inundationsgebiete  des  Theisstales  für  den  12.  Juni 
1845  zur  Beratung. 

Der  Versammlung,  unter  deren  Mitgliedern  sich  auch  der  später  mit 
der  Leitung  dieses  grossen  Werkes  betraute  Graf  Szechenyi  befand,  lag 
bereits  das  während  dessen  schon  beendete  Project  Paul  Vdsärhelyi's  vor. 
In  Folge  der  Beratungen  äusserte  sich  die  Versammlung  wohl  sehr  aner- 
kennend über  dieses  Project  —  hielt  es  jedoch  für  zweckmässig,  zuvor  auch 
noch  das  Gutachten  ausländischer  Sachverständigen  zu  vernehmen. 

Den  Bemühungen  Szechenyi' s  gelang  es  in  der  am  26.  Jänner  1846  in 
Pest  abgehaltenen  Versammlung  die  Interessenten  zur  Constituirung  der 
nTlieisstal' Gesellschaft  zu  bewegen.  Es  wurde  eine  bindende  Erklärung 
unterfertigt,  ein  executives  Gomite  gewählt  und  nun  begann  sich  unter  der 
Leitung  Szeehenyi's  eine  rege,  aller  Anerkennung  würdige  Thätigkeit  zu 
entfalten. 


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DIE   HOCHWASSER-    UND    WASSERBAÜ-ANGBLEOENHEITRN   UNGABNS.  ^^^ 

Trotz  des  verschwindend  geringen  Geldfondes,  über  welchen  die  Ge  • 
Seilschaft  verfügte  —  es  waren  das  insgesammt  400,000  fl.  —  war  man 
nach  Zusammentritt  der  Interessenten  jedes  abgegrenzten  Inundations- 
gebietes  zu  Genossenschaften  alsbald  so  weit,  dass  es  nur  noch  an  der  An- 
nahme des  Begulirungs-Projectes  lag,  um  mit  den  Arbeiten  unverzüglich 
beginnen  zu  können. 

Es  wurde  denn  auch,  dem  Wunsche  der  ersten  Generalversammlung 
gemäss,  die  Beruftmg  des  Oberdirectors  des  venetianischen  Bauamtes  Peter 
Paleocapa  beschlossen,  welcher  im  Bufe  eines  der  ausgezeichnetsten  Hydro- 
tecten  stehende  Ingenieur  sein  Gutachten  nach  üeberprüfung  der  Projecte, 
und  Inaugenscheinnahme  des  Theisstales  alsbald  dem  Grafen  Szechenyi 
überreichte. 

Es  sei  nur  in  Kürze  erwähnt,  dass  das  Project  Yäsirhelyi's  haupt- 
sächlich auf  je  rascheren  Abfluss  des  Hochwassers  abzielte,  was  Yäsärbelyi 
durch  das  Ausheben  von  120  Durchstichen  erreichen  wollte,  wodurch  die 
Bahn  des  Flusses  um  458'518  Kilometer  verkürzt  worden  wäre.  Das  Gefälle 
der  Theiss  zu  vermehren,  schien  ihm  deshalb  als  unumgänglich  not- 
wendig, da  dasselbe  gleich  dort,  wo  der  Fluss  die  gebirgigeren  Gegenden  ver- 
lässt,  schon  ein  ungemein  geringes  ist.  Bei  Kärad  hat  die  Theiss  nämlich  nur 
mehr  em  Gefälle  von  00001 8,  von  Tisza-Eoff  abwärts  aber  sogar  nur  0*00002 
und  O'OOOOl  Meter  I  Paleocapa  hingegen  legte  das  Hauptgewicht  auf  das 
Errichten  von  Sehutzdämmen  und  behandelte  die  Durchstiche  nur  neben- 
sächlich, deren  er  blos  21  als  unumgängUch  notwendig  erachtete,  wodurch 
die  Theiss  sonach  blos  eine  Verkürzung  von  205*325  Kilometer  erlitten 
haben  würde.  Nach  Paleocapa's  Ansicht  wären  jedoch  gegen  das  Ausheben 
weiterer  Durchstiche,  welche  durch  locale  Verhältnisse  geboten  erschienen  — 
keine  Einwendungen  zu  erheben. 

Nachdem  man  sich  für  das  Project  Paleocapa*8  entschieden  hatte, 
wurden  die  Arbeiten,  deren  Gesammtkosten  auf  7.797,356  fl.  veranschlagt 
waren  —  hauptsächlich  nachdem  Se.  Majestät  der  König  für  die  nächst- 
jährigen Arbeiten  einen  Credit  von  einer  Million  Gulden  concessionirte  — 
noch  in  demselben  Jahre  —  1846  —  mit  aller  Energie  in  Angriff  genommen. 

Es  begann  das  Ausheben  der  Durchstiche  und  das  Errichten  der 
Schutzdeiche,  zu  deren  Beginn  Szechenyi  eigenhändig  den  ersten  Spaten- 
stich that.  Die  Arbeiten  schritten  nun  rasch  vorwärts,  bis  der  ungarische 
Freiheitskampf  denselben  auf  längere  Zeit  Einhalt  that. 

Nach  Beendigung  des  letzteren  wurden  die  Arbeiten  von  Neuem  auf- 
genommen. Die  Administration  der  Agenden  der  Theisstal- Gesellschaft 
wurde  jedoch  im  centralistischen  Sinne  einer  gänzlichen  Umänderung 
unterworfen,  desgleichen  wurde  auch  nach  den  Hochwassem  von  1853 
und  1855,-*-  deren  jedes  bedeutender  war  als  das  vom  Jahre  1830  — 
welche  denn  auch  fast  sämmtliche  Schutzdämme  hinweggefegt  hatten,  zur 


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700  DIE   HOCHWASSER-   UND    WASSERBAU-ANGELEGENHEITEN   UNGARNS. 

Bevision  der  Begulirungs-Pläne  selbst  geschritten.  Man  vereinigte  nun  auf 
Anraten  des  österreicbisohen  Ministerialrates  Florian  y.  Pasetti  die  Projecte 
Väsärhelyi's  und  Paleocapa's  zu  einer  Composition  von  Durchstichen  und 
Bohutzdämmen. 

Die  Durchstiche  verteilten  sich  nun  den  einzelnen  Siaromstrecken  nach 
folgendermasf  en : 

Nach  y^sirfaelTi's  Nach  Paleocapa*«    Nach  c 

I.  Tisza-Ujlak — Väsdros-NÄm^ny 
n.  Yäsäros-Näm^ny — Csap  __.     ___ 

in.  Csap— Tokaj        

IV.  Tokaj— Szohiok      

V.  Szolnok — CßongrÄd     

Vi.  CsongdLd — Szeged _     .„ 

Vn.  Szeged— Titel     


Projecte 

Pnieete 

oomhinirten  Proi«ete 

u 

— 

u 

12 

— 

u 

-      37 

— 

33 

30 

11 

28 

7 

4 

4. 

7 

1 

7 

13 

5 

11 

Summe     ...     120  21  111 

Es  gingen  nun  die  Arbeiten,  trotzdem  es  der  Theisstal-Gesellscbi^ 
erst  nach  Ueberwindung  zahlreicher  Schwierigkeiten  gelang,  endlich  mit  d^ 
Wiener  Bank  einen,  für  diese  Bank  sehr  vorteilhaften  Credit  abzuschlies- 
sen  —  dennoch  rasch  von  statten. 

Im  Jahre  1860  war  bereits  ein  Inundationsgebiet  von  zusammen 
1  «7064 02  Joch  durch  Dämme  geschützt,  deren  Gesammtlänge  ungefähr 
376,000''  betrug.  Die  Eostenderseiben  beliefen  sich  bis  dahin  auf  5.801,378 
Gulden. 

Von  den  Durchstichen  war  im  selben  Jahre  (in  einer  Gesammtlänge 
von  40,000^)  bereits  544,432  ia°  Material  ausgehoben,  was  die  Summe 
von  1.991,078  fl.  in  Anspruch  nahm. 

Es  war  daher  bis  dahin  bereits  die  Summe  von  7.792,456  fl.  für  die 
Theissregulirung  verausgabt  worden. 

Während  die  Arbeiten  im  Theisstale  mit  ungeschwächter  Energie 
fortgesetzt  wurden,  war  man  bezüglich  der  Sicherung  der  Hauptstadt  noch 
lange  nicht  zu  einem  endgiltigen  Entschluss  gekommen.  Hauptsächlich 
machte  sich  auch  hier  der  Mangel  an  finanziellen  Mitteln  fühlbar,  weshalb 
auch  der  Eifer  für  die  Sache  schon  ziemlich  zu  erlahmen  schien,  bis  es 
endlich  dem  kgl.  Oberingenieur  Franz  Reitter  gelang,  die  Stadt  durch 
sein  jedenfalls  originelles  Project  aus  ihrer  Lethargie  aufzurütteln. 

Zu  der  Annahme  seines  Projectes  gelang  es  ihm  wohl  nicht  die  mass- 
gebenden Kreise  zu  gewinnen,  immerhin  ist  es  jedoch  seinen  Bemühungen 
zu  danken,  dass  man  sich  doch  zum  Wenigsten  von  Neuem  mit  der  Sache 
zu  befassen  begann.  Und  diesmal  führten  die  Beratungen  auch  endlich  zu 
einem  günstigen  Resultat. 

Durch  den  G.  A.:  X.  v.  J.  1870  wurde  die  Regierung  ermächtigt,  eine 


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DIB   HOCHWASSER-    UND    WASSERBAU -ANGELEGENHEITBN   UNGARNS. 


701 


Anleihe  von  24  Millionen  zu  schliessen,  welche  Summe  zum  Teil  zur 
Sicherung  der  Hauptstadt  verwendet  werden  sollte. 

Gleichzeitig  wurde  die  Beviaion  aller  früheren  diesbezüglichen  Pro- 
jecte  vorgenommen,  worauf  ein  ganz  neues  Project  ausgearbeitet  wurde, 
welches  dann  im  Jahre  1871  durch  die  Legislative  die  Genehmigung 
erhielt. 

Die  Eegulirungs-Arbeiten,  deren  Kosten  auf  7.730,535  fl.  10  kr.  ver- 
anschlagt waren,  wurden  auch  bereits  im  September  desselben  Jahres  in 
Angriff  genommen.  Während  der  Ausführung  des  Projectes  zeigten  sich 
jedoch  einige  Abweichungen  von  demselben  als  zweckmässig,  deshalb  wol- 
len wir  hier  nur  die  faktisch  unternommenen  Arbeiten  kurz  aufzählen. 

An  dem  oberen  Ende  der  Margarethen-Insel  wurde  ein  Wasserteil- 
werk erbaut,  dann  das  Strombett  von  oberhalb  der  Margarethen-Insel  bis 
unterhalb  des  Blocksberges  stellenweise  entsprechend  verengt,  so 
dass  die  bis  dahin  allzugrossen  Differenzen  der  Strombreite  ausgegli- 
chen wurden. 

Um  die  mit  den  meisten  Gefahren  drohenden  Eisstauungen  unterhalb 
der  Hauptstadt  zu  verhindern,  wurde  der  SoroksÄrer  Donauarm  weiter  unter- 
wärts der  oberen  Mündung  desselben  durch  einen  Sperrdamm  verschlossen, 
in  welchen;  behufs  Verhütung  gänzlicher  Verschlammung  dieses  Donau- 
ArmeS)  eine  Schleusse  von  20  M.  Lichtenweite  gefügt  wurde. 

Um  nun  auch  das  Eindringen  des  Eises  in  den  Soroksärer  Donau- Arm, 
und  dadurch  das  Stauen  desselben  an  der  oberen  Spitze  der  GsepeMnsel  zu 
verhindern,  wurde  auch  die  obere  Mündung  dieses  Donau-Armes  durch  ein 
Parallelwerk  derart  teilweise  verschlossen,  dass  der  gesammte  Eisstoss  in 
den  Promontorer  Arm  dirigirt  werde,  gleichzeitig  aber  auch  eine  genügende 
Menge  frischen  Wassers  durch  die  belassene  Oeffnung  und  weiters  durch  die 
Schleusse  des  Sperrdammes  in  den  unteren  Teil  des  Soroksärer  Armes  gelange. 

Diese  Arbeiten  waren  nach  fünfjähriger  Arbeitsaeit  im  Jahre  1875  be- 
endigt, und  nahmen  insgesammt  die  Summe  von  8.186,000  Gulden  in  An- 
spruch. 

Gleich  nach  Bewilligung  der  Kosten  dieser  Begulirungsarbeiten  be- 
schäftigten die  Begierung  einesteils  die  (Tonflicte,  anderseits  aber  auch  die 
finanziellen  Galamitäten,  in  welche  einige  der  Theiss-Begulirungagenossen- 
schaften  geraten  waren.  Dieselben  häuften  sich  derart,  daas  ein  diese  An- 
gelegenheiten gründlichst  regelndes  Gesetz  zur  brennendsten  Notwendigkeit 
wurde.  Es  kam  demnach  auch  endlich  der  Gesetz- Artikel  XXXIX  vom 
Jahre  1871  zu  Stande,  welcher  sowohl  die  Begelung  der  inneren  Angelegen- 
heiten der  Genossenschaften  bezweckte,  als  auch  die  zur  Hebung  des  Gredites 
derselben  als  genügend  erachteten  Verfügungen  enthielt.  Hauptsächlich 
aber  die  Verordnung,  dass  die  als  Zusteuerungsquote  zu  den  Kosten  der 
Begulirungsarbeiten  auf  einen  Teil  des  Inundationsgebietes  fallende  Summe 


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702  DIE   HOCHWASSER-    UND    WASSERBAU -ANGELEOEKHEITEN    UNGARNS. 

als  eine,  dieses  Territorium  belastende  solche  Schuld  zu  betrachten  sei, 
welche  —  mit  Ausnahme  der  Steuerrückstände  —  allen  intabulirten  und 
nicht  intabulirten  Forderungen  vorangeht 

Um  sich  einigen  Einfluss  auf  die  Regelung  der  inneren  Angelegenheiten 
der  Genossenschaften  zu  sichern,  behielt  sich  die  Begierung  das  Recht  vor, 
im  Falle  eine  der  Genossenschaften  in  irgend  einer  Art  in  Calamitäten 
geraten  sollte,  die  Ordnung  dieser  Angelegenheit  einem  Begierungscom- 
missär  übertragen  zu  können. 

Dieses  Gesetz  erwies  sich  jedoch  mit  der  Zeit  als  unzulänglich.  Da  der 
Begierung  den  Gtenossenschaften  gegenüber  fast  gar  kein  discretionelles  Becht 
zu  Gebote  stand,  fühlten  sich  die  Letzteren  recht  unabhängig,  wovon  Ge- 
brauch zu  machen  sie  auch  keineswegs  ermangelten. 

Nachdem  nun  aber  ein  einheitliches  Vorgehen  der  Genossenschaften 
eine  der  Hauptbedingungen  des  Erfolges  der  Theiss-Begulirungsarbeiten  bil- 
dete, war  man  genötigt  der  Begierung  auch  ein  entsprechendes  Einmischungs- 
recht in  die  Agenden  der  Genossenschaften  einzuräumen,  dann  aber  auch 
die  Mittel  in  die  Hand  zu  legen,  dass  sie  im  Stande  sei,  ihren  Anordnungen 
den  gehörigen  Nachdruck  zu  verleihen. 

Dies  bezweckte  auch  endlich  der  Gesetz-Artikel  XXXIV  vom  Jahre 
1879,  welcher  diesen  Uebelständen  abzuhelfen  bestimmt  war. 

Namentlich  erwiesen  sich  aber  auch  die,  auf  das  Schliessen  von  An- 
leihen bezüglichen  §§.  des  Gesetz- Artikels  XXXIX  vom  Jahre  1871  als  unge- 
nügend, da  von  Seite  der  Geldinstitute  gegenüber  den  Genossenschaften 
noch  immer  die  grösste  Reserve  beobachtet  wurde,  und  zwar  deshalb,  weil 
dem  Gesetze  nach  der  Gredit-Anstalt  gegenüber  blos  die  Genossenschaft  als 
solche  verpflichtet  war,  die  Begünstigungen  aber,  welche  seitens  des  Staates 
betreffs  der  Amortisation  der  Anleihen  eingeräumt  wurden,  nur  die  durch 
die  Genossenschaft  approbirte  Zusteuerungsquote  betraf,  folgUch  die  Besitzer 
der  einzelnen  Teile  des  Inundationsgebietes  der  Gredit-Anstalt  gegenüber 
weiter  keine  Verpflichtungen  hatten. 

Um  das  Zustandekommen  der  Anleihen  nunmehr  so  weit  als  möglich 
zu  fördern,  wurde  der  betreffende  Artikel  derart  abgeändert,  dass  dieselben 
Begünstigungen  nicht  nur  betreffs  der  Eintreibung  der  Beisteuerungsquote, 
sondern  der  Anleihe  selbst,  als  auch  deren  Amortisationsquoten  und  Zinsen 
zugesichert  worden. 

Betreffs  der  Erweiterung  der  Bechte  des  Staates  verfügte  das  Gesetz, 
dass  die  Regierung  ermächtigt  werde,  im  Falle  eine  Genossenschaft  trotz  der 
Ermahnung  von  Seite  der  Regierung,  ihre  Schutzwerke  etc.  nicht  in  dem 
entsprechenden  Zustande  halten  sollte:  die  betreffenden  Reconstructions- 
arbeiten  auf  administrativem  Wege  und  auf  Kosten  der  betreffenden  Ge- 
nossenschaft anzuordnen  und  durchführen  zu  lassen. 

Im  Jahre  des  Zustandekommens  dieses  Gesetzes  wurde  das  Land 


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DIB   HOCHWASSEK-    tWD    WASSERBAU-ANGELEGENHEITEN   UNGARNS.  703 

jedoch  von  einem  harten  SohioksalHSchlage  betroffen^  der  von  Neuem  die 
ganze  Energie  der  Begierung  in  Ansprach  nahm. 

Das  traurige  Yerhängniss,  welches  die  Stadt  Szegedin  ereilte,  erschüt- 
terte nicht  nur  das  ganze  Land^  sondern  es  erweckte  auch  die  Teilnahme  des 
gesammten  Auslandes  für  die  unglückliche  Stadt. 

Es  wurden  in  Folge  dessen  auch  alsbald  Stimmen  laut^  welche  das  bei 
der  Begulirung  der  Theiss  bisher  befolgte  System  bemängelten  und  in  der 
angebUch  falschen  Wahl  desselben  die  Ursache  des  Unterganges  Szegedins 
erblickten. 

Um  die  allgemeine  Missstimmung  der  Bevölkerung  zu  beschwichtigen^ 
sah  sich  denn  die  Begierung  veranlasst^  dieses  System,  sowie  auch  dessen 
Durchführungsweise  einer  eingehenden  Fachkritik  zu  unterwerfen,  und  ging 
auch  zu  diesem  Zwecke  mehrere  ausländische  Begierungen  an,  einige  ihrer 
im  hydrotechnischen  Fache  tüchtigsten  Kräfte  behufs  Ueberprüfung  des 
Systemes  zu  delegiren. 

Die  von  Seite  der  französischen,  deutschen,  italienischen  und  hollän- 
dischen Begierung  delegirten  Sachverständigen  überreichten,  nach  genauer 
Prüfung  der  Verhältnisse  und  der  betreffenden  Arbeiten,  alsbald  ihr  Gut- 
achten der  Begierung. 

Das  Gutachten  befasste  sich  hauptsächlich  mit  der  Sicherung  der  Stadt 
Szegedin,  erstreckte  sich  jedoch  nicht  nur  auf  die  Begulirungsarbeiten  längs 
der  Theiss  und  ihrer  Nebengewässer,  sondern  es  betraf  auch  die,  zum  Schutze 
der  Hauptstadt  bereits  durchgeführten,  sowie  auch  die  längs  des  sogenannten 
eisernen  Thores  eventuell  durchzuführenden  Begulirungsarbeiten. 

Der  im  Grossen  und  Ganzen  den  bisherigen  Begulirungsarbeiten 
zustimmende  Bericht  enthielt  dennoch  auch  einige  begründete  tadelnde 
Bemerkungen.  Hauptsächlich  bemängelten  unter  anderem  die  Experten  die 
stellenweise,  insbesondere  längs  der  Stadt  Szegedin  allzu  geringe  Breite  des 
Vorgebietes ;  als  auch  den  Umstand,  dass  die  Schutzdämme  nicht  der  allge- 
meinen Bichtung  der  Hochwasserflut  angepasst  seien,  sondern  hie  und  da 
längs  der  Krümmungen  des  Flusses  laufen.  Bezüglich  der  zum  Schutze  der 
Hauptstadt  bestimmten  Werke  sprach  sich  die  Gommission  sehr  anerkennend 
aus  —  nur  wollte  sie  das  am  oberen  Ende  des  Soroksärer  Donau- Armes 
befindliche  Parallel  werk  niedriger  haben,  den  Sperrdamm  dieses  Donau- Armes 
aber  in  einen  Ueberlassdeich  verwandelt  sehen,  da  ihrer  Ansicht  nach  der 
Promontorer  Donau- Arm  nicht  im  Stande  sein  würde  allein  so  immense 
Wassermassen  abzuleiten,  wie  z.  B.  diejenigen,  welche  sich  im  Jahre  1876 
zeigten.  Betreffs  der  Begulirung  des  sogenannten  «eisernen  Thores»  endlich 
hielten  die  Experten  unter  Anderem  am  zweckmässigsten,  längs  der  Felsen- 
riffe von  Prigrada  einen  Schleussen-Canal  zu  errichten,  dessen  Kosten  sie 
sammt  den  übrigen  Arbeiten  auf  24. 144,480  Francs  veranschlagten. 

Die  Erweiterung  des  Vorgebietes  entschloss  sich  die  Begierung  auch  so 


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704  DIE    HOCHWASSER-    UND    WASSEBBAU-ANGELBeENHEITEN    UNaARNS. 

weit  es  die  Verhältnisse  eben  erlaubten^  durchführen  zu  lassen,  und  zwar 
wurde  die  normale  Breite  desselben  von  Tokaj  bis  Szegedin  auf  760  M., 
von  da  ab  jedoch  mit  Bücksicht  auf  die  Wassermassen  der  Maros  auf  800  M. 


Die  Schutzdämme  sollten  ebenfalls  den  Umständen  entsprechende  Di- 
mensionen erhalten,  wobei  eine  Höhe  von  1  M.  über  den  bisher  höchsten 
Wasserstand,  nebst  einer  Eronenbreite  von  4  M.  genügend  schien. 

Die  Begelung  des  Yorgebietes  war  jedoch  keine  geringe  Aufgabe.  Es  war 
anlässlich  des  Baues  der  Schutzdämme,  infolge  der  allzu  grossen  Selbststän- 
digkeit der  Wasserschutz-Genossenschaften,  von  Seite  der  letzteren  meisten- 
teils ihren  speciellen  Interessen  entsprechend  vorgegangen  worden.  Auch  wäre 
die  Einhaltung  eines  einheitlichen  Vorgehens  schon  von  Anfang  an  auf 
Schwierigkeiten  gestossen,  nachdem  beim  Beginne  der  allgemeinen  Theiss- 
Begulirung  an  vielen  Orten  Schutzdämme  bereits  vorhanden  waren,  deren 
Verschiebung  aus  finanziellen  Gründen  damals  nicht  geraten  schien. 

Hauptsächlich  waren  es  die  Schutzdämme  der  «Felsö  torontäli  tärsulatt, 
welche  in  der  Zeit  von  1816 — 184fO,  also  gleichfalls  noch  vor  der  Ausführung 
des  Theiss-Beguliruugsprojectes' erbaut  waren.  Diese,  derzeit  mit  Inanspruch- 
nahme der  öffentUchen  Arbeitskraft  errichteten  Dämme  übergingen  später 
in  den  Besitz  der  Interessenten,  welche  sich  nun  weigerten,  dieselben  von  der 
Nähe  des  Ufers  zurückzuziehen,  da  sie  selbe  seither  schon  wiederholt  er- 
höhten und  verstärkten.  Obwohl  nun  diese  Genossenschaft  schon  vorher  dea 
öfteren  von  Seite  der  Regierung  zum  Auflassen  ihrer  Dämme  ermahnt  wurde, 
weigerte  sich  erstere  immerwährend  dieser  Anordnung  Folge  zu  leisten,  und 
zwar  auf  Grund  dessen,  dass  die  Regierung  zur  Zeit  der  ersten  Errichtung 
der  Dämme  gegen  dieselben  keine  Einwendungen  erhoben  hatte. 

Dergleichen  Schwierigkeiten  gab  es  noch  mehrere,  so  dass  die  Durch- 
führung der  schon  längst  geplanten,  und  nun  auch  von  Seite  der  Experten 
als  notwendig  erkannten  Vergrösserung  des  Keceptionsvermögens  des  Vor- 
landes auf  grosse  Schwierigkeiten  stiess. 

Dem  gegenüber,  dass  die  Schutzdämme  die  Krümmungen  des  Flusses 
und  nicht  die  Abflussrichtung  der  Hochwasser  verfolgten,  Hess  sich  auch  vor- 
erst nur  wenig  thun,  da  die  Durchschnitte  sich  von  wegen  ihrer  geringen 
Dimensionen  teilweise  noch  immer  nicht  zum  Flussbette  ausgebildet  hatten, 
folglich  das  alte  Flussbett  auch  an  solchen  Stellen  noch  nicht  überdeioht 
werden  konnte. 

Man  musste  also  vorerst  auf  die  je  raschere  Ausbildung  der  Durch- 
stiche selbst  bedacht  sein,  zu  welchem  Zwecke  denn  auch  schon  seit  Jahren 
bedeutende  Summen  geopfert  wurden,  nachdem  die  derzeit  mit  minimalen 
Dimensionen  ausgehobenen  Durchschnitte,  besonders  in  der  unteren  Theiss- 
Gegend  den  oberen  entgegen  bedeutend  zurückgeblieben  waren. 

BetreflEs  der  Begulirung  der  Budapester  Stromstrecke  endlich  trachtete 


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DIE   HOOHWABSBB-   ÜMP    WASSBBBAU-AKOELEOENHEITEN    CNGABN8.  705 

die  Regierung  die  Bedenken  der  Bevölkerung  dadurch  zu  zerstreuen,  dass 
man  den  Sperrdamm  sowohl,  als  auch  das  an  der  oberen  Mündung  des 
Soroksärer  Donau-Armes  befindliche  Parallelwerk  dermassen  zu  schwächen 
beschloss,  dass  dieser  Donau-Arm  im  Notfalle  in  kürzester  Zeit  frei  ge- 
geben werden  könnte.  Auch  entschloss  man  sich  das  (Tonsumationsvermögen 
des  Promontorer  Donau-Armes  nebstbei  durch  Baggern  entsprechend  zu 
Yergrössem. 

Die  Beratungen  über  die  Zweckmässigkeit  des  Projectes  der  Begulirung 
des  f  eisernen  Thores»  endlich  wurde  einstweilen  wegen  deren  geringerer 
Dringlichkeit  verschoben. 

Vorläufig  war  die  Regierung  vollauf  beschäftigt,  die  untergangene 
Stadt  Szegedin  in  einer  allen  wirtschaftlichen  und  commerciellen  Anforde- 
rungen entsprechenden  Art  zu  reconstruiren.  Bis  zur  Feststellung  des  Re- 
construotionsplanes  wurden  einstweilen  blos  (Toncessionen  erteilt,  die  zu 
Wohnungen  und  Waarenhäusem  unumgängUch  notwendigen  Liocalitäten 
provisorisch  herzustellen,  wobei  der  Besitzer  verpflichtet  war  —  im  Falle  das 
provisorische  Gebäude  mit  den  Reconstructionsplänen  nicht  im  Einklang 
sein  sollte :  dasselbe  auf  eigene  Kosten  demoliren  zu  lassen. 

In  der  That  entstanden  auch  in  kürzester  Zeit  an  4000  solcher  provi- 
sorischer Bauten,  welche  meistenteils  nur  aus  einem  Zimmer  und  Küche 
bestanden,  doch  war  auf  diese  Weise  wenigstens  dem  unmittelbarsten  Elende 
gesteuert. 

Auf  längere  Zeit  hin  war  dieser  Zustand  jedoch  teils  vom  technischen, 
teils  auch  schon  vom  hygienischen  Standpunkte  aus  unhaltbar,  weshalb  die 
Regierung  mit  allen  ihr  zu  Gebote  stehenden  Mitteln  den  endgiltigen  Ausbau 
der  Stadt  zu  beschleunigen  trachtete.  Um  den  zerrütteten  Finanzen  der 
Stadt  aufzuhelfen,  wurde  derselben  —  nachdem  sie  nicht  im  Stande  war,  ihre 
Schutzdämme  in  wehrhaften  Zustand  zu  versetzen,  ja  sogar  zur  Deckung  der 
eigenen  administrativen  Auslagen  die  Hilfe  der  Regierung  in  Anspruch  zu 
nehmen  genötigt  war  —  einesteils  die  bis  dahin  vorgestreckte  Summe  von 
369,042  fl.  56  kr.  erlassen,  anderseits  aber  wurde  der  zum  Schutze  der  Stadt 
unbedingt  notwendige  Ringdamm  auf  Kosten  des  Staates  neu  aufgeführt, 
welcher  dann  nach  dessen  Beendigung  unentgeltlich  in  den  Besitz  der  Stadt 
Szegedin  überging. 

Ausser  dieser  Unterstützung  musste  die  Regierung  auch  auf  die  spätere 
Zukunft  bedacht  sein.  Um  sowohl  der  Stadt  selbst  als  auch  den  Genossen- 
schaften des  Theiss-Thales  <lie  Existenz  auch  für  die  Zukunft  zu  sichern,  er- 
mächtigte der  Gesetz- Artikel  XX  vom  Jahre  1880  die  Regierung,  eine  Anleihe 
von  40  Millionen  zu  schliessen,  welche  Summe  durch  Emittiren  von  Obliga- 
tionen im  Nominalwerte  von  44  MilUonen  zu  decken  wäre. 

Von  den  40  Millionen  entfielen  dem  Gesetz-Artikel  nach  25  Millionen 
auf  die  Theiss-Thal-Genossenschaften,  wodurqh  dieselben  i)iren  älteren  Yer- 

UngulMbe  BeTue.  Xf.  1891.  VIU-IX.  H«ft.  45 


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706  DIE   HOCHWASSER-    UND    WASSEBBAU-ANOELBOENHEITEN   ÜNGABNS. 

pflichtungen  nachzukommen  mid  hauptsächlich  die  auf  Grand  des  Gesetz- 
Artikels  XXXV  vom  Jahre  1879  erhobenen  provisorischen  Staatsvorschüsse 
zu  convertiren  im  Stande  waren.  Des  Weiteren  fielen  auf  die  Errichtung  von 
öflfentlichen  Gebäuden  in  Szegedin  5  Millionen,  —  zum  Behelf  der  geschä- 
digten Einwohner,  behufs  Wiedererbauung  ihrer  Wohnhäuser  aber  10  Mil- 
lionen. 

Die  einzelnen  Anordnungen  dieses  Gesetz-Artikels  erfuhren  mit  der 
Zeit  einige  den  Umständen  angepasste  Umänderungen  und  so  gelang  es 
endlich  —  nach  grossen  Schwierigkeiten  zwar  —  das  begonnene  Werk  der 
Reconstrairung  auf  befriedigende  Weise  zu  Ende  zu  fähren. 

Das  nächstfolgende  Jahr  kam  auch  die  Angelegenheit  der  Besteuerang 
der  geschätzten  Inundationsgebiete  zur  Hegelung. 

Bis  dahin  war  seit  dem  in  Bechtskrafttreten  des  Gesetz- Artikels  XXV 
vom  Jahre  1868  alldenjenigen  Inundationsgebieten,  welche  mittelst  kost- 
spieliger Schutzbauten  culturfähig  gemacht  worden,  eine  Steuerfreiheit 
von  15  Jahren  zugesichert,  welche  Verfügung  durch  den  Gesetz- Artikel  VII 
vom  Jahre  1875  auch  erneuert  wurde. 

Nun  war  jedoch  dieser  Termin  nicht  entsprechend,  da  die  Genossen- 
schaften ausser  den  ersten  Investitionen  durch  das  stete  Anwachsen  des 
Hochwasser- Niveaus  zu  immer  grösseren  Auslagen  gezwungen  waren,  und 
neuestens  ein  abermaliges  Verstärken  der  Schutzdämme  in  Aussicht  stand,  so 
dass  nebst  diesen  Kosten  die  Möglichkeit  des  Erschwingens  der  eventuellen 
Besteuerungsquote  in  Frage  stand. 

Wohl  besagt  der  §.18  des  Gesetz- Artikels  VII  vom  Jahre  1875,  dass 
die  Kosten,  welche  das  Instandhalten  der  Schutzwerke  erheischt,  zu  den 
ordnungsmässigen  wirtschaftlichen  Auslagen  zugeschlagen  werden  sollen,  die 
Durchführung  dieser  Anordnung  erwies  sich  jedoch  als  unausführbar.  Dort, 
wo  das  betreffende  Werk  einer  einzelnen  kleineren  Parzelle  zum  Schutze 
diente,  hatte  es  weiter  keine  Schwierigkeiten.  Anders  verhielt  sich  die  Sache 
jedoch  dort,  wo  ausgedehntere  (Komplexe  in  Frage  standen.  Es  war  die 
Durchführung  des  betreffenden  Paragraphen  in  dem  Falle  auch  schon  des- 
wegen unmöglich,  weil  die  Kosten  des  Hochwasserschutzes  meistenteils  nur 
auf  Grund  von  einfachen  Verträgen  eingehoben  wurden,  welch  letztere  die 
Genossenschaft  mit  den  einzelnen  Gemeinden  abschloss,  somit  eigentlich 
nicht  dem  Grundbesitzer  die,  dem  Verhältnisse  seines  Inundationsterrains 
angemessene  Quote  zufiel,  sondern  für  die  Kosten  des  Hochwasserschutzes 
sämmtlicher  in  den  Verband  der  betreffenden  <jlemeinde  gehörigen  Inun- 
dationsgebiete die  gesammte  Gemeinde  aufkommen  musste. 

In  solchen  Fällen  war  demnach  die,  auf  die  einzelnen  Parzellen  &1- 
lende  Quote  umso  weniger  bestimmbar,  als  die  technische  Aufnahme  des 
Inundationsgebietes  bei  den  meisten  Genossenschaften,  deren  nicht  geringer 
Kostspieligkeit  wegen  immer  noch  hinausgeschoben  wurde. 


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DIE    HOCHWASSER-    UND    WASSERBAU -ANGELEGENHEITEN    UNGARNS.  707 

Anderseits  führte  dieses  Vorgehen  auch  in  vielen  Fällen  zu  Unbillig- 
keiten, Wurde  der  fragliche  Acker  mit  Rücksichtnahme  auf  die  oberwähnten 
Rosten  in  eine  höhere  Glasse  der  Grundsteuer  gereiht,  so  wurde  der  catastra- 
lische  ßeiügewinn  ohne  Grund  um  ein  Erhebliches  herabgesetzt.  Wurde  der- 
selbe jedoch  in  der  früheren  Classe  belassen,  dann  war  wieder  den  Erhaltungs- 
kosten der  Schutzwerke  nicht  Rechnung  getragen.  Endlich  waren  bei  der 
Repartition  der  Participirungsquoten  innerhalb  der  einzelnen  Genossen- 
schaften grundverschiedene  Systeme  in  Anwendung,  und  es  gab  einzelne 
Complexe  Ackerlandes,  welche  von  wegen  der  enormen  Besteuerungsquote 
in  absolut  keine  Glasse  der  Grundsteuer  einzureihen  waren. 

Diesen  Uebelständen  abzuhelfen,  so  wie  auch  anderseits  nicht  nur 
die  ünterhaltkosten,  sondern  auch  die  Zinsen  des  investirten  Capitales  in 
Rechnung  zu  ziehen,  kam  der  Gesetz- Artikel  XLII  vom  Jahre  1881  zu 
Stande. 

Dieser  Gesetz-Artikel  regelte  in  erster  Reihe  den  Termin  der  gänz- 
lichen Steuerbefreiung,  indem  die  bisherigen  Anordnungen  dahin  modificirt 
wurden,  dass  die  15jährige  Steuerfreiheit  auch  über  diesen  Termin  hinaus 
verlängert  werden  könne,  und  zwar  im  Falle  die  Restitutions-Kosten  oder 
aber  das  neuerdings  investirte  Capital  mindestens  den  vierten  Teil  des  zu 
Beginn  investirten  Capitales  betrügen,  soll  die  Steuerbefreiung  um  weitere 
5  Jahre,  im  Falle  dieselben  mindestens  die  Hälfte  des  Anlage-Capitals  aus- 
machten, um  10  Jahre ;  im  Falle  dieselben  endlich  drei  Viertelteile  des 
Anlage-Capitals  überstiegen,  um  15  Jahre  verlängert  werden. 

Um  eine  gerechte  Besteuerung  ]  des  Inundationsgebietes  zu  erreichen, 
verfügte  dieser  Gesetz-Artikel,  dass  die  Genossenschaften  im  Verhältnisse 
zu  deren  investirtem  Capitale,  sowie  im  Verhältnisse  der  ständigen  Erhal- 
tungs-Kosten einen  Teil  der  Steuer  rückerstattet  erhalten  sollen. 

Die  rückzuerstattende  Summe  wurde  nun  folgendermassen  bestimmt : 

Bei  solchen  Genossenschaften,  welche  [die  technische  Aufnahme  des 
Inundationsgebietes  bereits  durchführten,  sollten  die  Erhaltungskosten  in 
demselben  Percentsatze  von  dem  Catastral-Reingewinn  der  betreffenden 
Parzelle  in  Abzug  gebracht  werden,  welcher  Percentsatz  das  Verhältniss  der 
Erhaltungskosten  zum  Catastral-Reingewinn  des  gesammten  genossenschaft- 
lichen Inundationpgebietes  ausdrückt. 

Im  Falle  die  technische  Aufnahme  des  Inundationsgebietes  jedoch 
ncch  nicht  durchgeführt  worden  sein  sollte,  oder  aber  die  betreffende  Genos- 
senschaft von  obiger  Art  der  Besteuerung  absehen  wollte :  soll  der  in  Baarem 
der  Genossenschaft  rückzuvergütende  Teil  der  Grundsteuer  in  der  Weise 
berechnet  werden,  dass  von  der  gesammten  Grundsteuer  (nebst  dem  Grund- 
entlastungs-Zuschlag  und  dem  allgemeinen  Einkommensteuer-Zuschlag) 
jener  Zeit  rückvergütet  wird,  welcher  der  Summe  der  gesammten  «Wasser- 
echutz-Kostent  entspricht, 

45^^ 


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708  DIE   HOCHWASSER-    UND    WASSERBAU-ANGBLEOENHBITEN   UNOABNB. 

Unter  Wasserscbutz-Rosten  ist  aber  zn  verstehen :  8  ^k  des  zum  ein- 
maligen Ausbau  der  Scbutzwerke  benötigten  Gapitales  nebst  dem  Jahres- 
diurchschnitt  der  secbsjäbrigen  Erbaltungskosten  derselben. 

Die  dergestalt  bestimmte  Summe  der  Steuerrückerstattung  kann  dann 
nur  in  dem  Falle  eine  Aenderung  erleiden,  wenn  die  betreffende  Genossen- 
schaft zu  neueren  Inyestitionen  gezwungen  wäre,  welch*  letztere  das  Yorma- 
lige  Anlage-Gapital  um  mindestens  ein  Yiertteil  übertreffen. 

Die  der  Anwendung  dieses  Gesetz  Artikels  entsprechend  commissionell 
durchgeführten  Liquidationen  führten  zu  folgendem  Resultat  : 

Geschütztes  Inundationsgebiet  fand  man  insgesammt  3.800,682  i£g 
Joch.  Wovon : 

Fraohibares  Land      ünfmchtbares  Land  Zasammen 

Genossenschaftliches  Gebiet      3.039,47 1  ^      1 76,449  ^     3.2 1 5,920  ^ 

Anderwärtiges  « 554,993  i^S  _  29,765^        584,761^ 

Summe  3^594,468^     206,214  }Sg     3.800,682  }Jg 

Von  diesem  Terrain  entfiUlt  nun  auf  das 

Donau-Gebiet       686,152  J^  Joch 

Gebiet  der  Nebenflüsse  der  Donau  551 ,066  HäB     « 

Theiss-Gebiet       1.676,760  igö     • 

Gebiet  der  Nebenflüsse  der  Theiss  886,703  ^     i 

Der  Catastral-Reingewinn  betrug  14.816,548'43  fl.  Wovon  auf: 

das  genossenschaftliche  Gebiet 1 2.246,409*79  fl. 

das  anderwärtige  Gebiet       2.570,1 3864  • 

entfällt. 

Desgleichen  entfällt  vom  Oatastral-Beingewinn  auf  das : 

Donau-Gebiet      2.705,75538  fl. 

Gebiet  der  Nebenflüsse  der  Donau  2.739,056*03  c 

Theiss-Gebiet 5.742,584*33  « 

Gebiet  der  Nebenflüsse  der  Theiss  3.629,152*69  t 

Zusammen    ...     14.816,548-43  fl. 

Das  commissionell  geschätzte  Anlage-Gapital  betrug  bei  den : 
genossenschaftlichen  Schutzwerken  ...    36.870,430  42  fl. 
anderwärtigen  •  4.591,275*89  • 

Zusammen...    41.461,706*31  « 

Von  diesem  Anlage-Gapital  entfällt  auf  das : 

Donaugebiet       6.802,832-21  fl. 

Gebiet  der  Nebenflüsse  der  Donau  4.141,5  '4*87  • 

Theissgebiet       18.467,870*52  t 

Gebiet  der  Nebenflüsse  der  Theiss  12.049,408*71  c 


Zusammen...    41461,706-31  fl. 
Die  8  o/o  des  Anlage-Capitals  machten  im  Ganzen:  3.310,936*41  fl., 
der  Jahres-Durchschnitt  der  Instandhaltung  der  Schutzwerke  1 .031,256*88  fl« 


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biß   HOCHl^ASSER-    UND    WASSERBAU -ANGELEGENHEITEN   UNGARNS.  709 

aus^  folglich  wurde insgesammt  die  zu  zahlende  Steuer^  welche  4.342^193*29  fl. 
Beingewinn  entspricht,  rückerstattet. 

Von  dieser  letzteren  Summe  entfällt  auf  das : 

Donaugebiet , 753,109-72  fi. 

Gebiet  der  Nebenfl.  der  Donau       ._.  450,86642  • 

TheisBgebiet ...     ...     1.985,342-57  « 

Gebiet  der  Nebenfl.  der  Theiss  1.152,874-58  t 

Zusammen  ...    4.342, 19329  fl. 

Auf  diese  Weise  war  den  Rosten  der  Schutzwerke  vollkommen  Bech- 
nung  getragen,  nur  führte  die  nun  auf  verschiedener  Grundlage  beruhende 
Berechnung  der  Summe  der  Steuerrückerstattung  und  der  Grundsteuer 
selbst  mit  der  Zeit  die  Anomalie  herbei,  dass  es  zu  befürchten  stand,  dass 
nach  den  späteren  Liquidationen  manche  der  Genossenschaften  eine  gtös^ 
sere  Summe  als  Steuerrückerstattung  erhalten  werde,  als  die  Steuer  der- 
selben beträgt,  welcher  Fall  bei  einer  der  Genossenschaften  auch  thatsäch- 
lich  eintrat.  Darauf  werden  wir  jedoch  noch  zurückkommen,  vorerst  wollen 
wir  noch  zweier  Gesetz-Artikel  Erwähnung  thun,  welche  noch  während 
desselben  Jahre  sanctionirt  wurden.  Es  sind  das  die  G.-A.  L  und  LU 
vom  Jahre  1881. 

Der  Erstere  derselben  betrifft  die  Begulirung  des  Donaubettes  von  der 
Haufitstadt  abwärts.  Die  Hauptstadt  selbst  schien  bereits  gegen  unmittel- 
bare Gefahr  gesichert,  nun  musste  man  aber  zur  Ergänzung  dieser  Arbeiten 
nicht  nur  dem  Fromontorer  Donauarm  ein  genügendes  Gonsumations- Ver- 
mögen sichern,  sondern  auch  die  unterhalb  desselben  befindliche  Strecke 
(bis  Makäd)  so  gut  als  möglich  zu  verbessern  suchen.  Einzelne  Teile  dieser 
Strecke  zeigten  nämlich  gar  keine  Zeichen  eines  Fortschrittes,  die  übrigen 
bildeten  sich  eher  der  Breite  als  der  Tiefe  nach,  so  dass  die  Wahrschein- 
licbbsit  der  Eisanschoppungen  mit  der  Zeit  eine  immer  grössere  wurde. 

Im  Fromontorer  Bett  konnte  das  gewünschte  Querprofil  durch  Bagge- 
rungen allein  nicht  erhalten  werden,  da  der  felsige  Untergrund  desselben 
dem  Baggern  ein  Ziel  setzte.  Man  war  demnach  genötigt,  auch  die  Spren- 
gung der  Felsen  in  Combination  zu  ziehen,  wobei  an  60,000  m®  Felsen  zu 
entfernen  waren 

Der  gesammte  Eostenvoranschlag  betrug  sammt  den  an  den  übrigen 
Strecket  vorzunehmenden  Begulirungsarbeiten  5.330,000  fl.  wovon : 

5.110  203  m'»  Baggerung per  8360 fl.  =  4.272,204-95  fl. 

197,810    «    Material- Ausheben  im  Trocknen 
75,315    «  «  t  €  € 

79,488    «    Steinanwurf. 

38,280    •  €  

59,239-6«    Felsen  entfernen 


.     0-70 . 

= 

138.46700  . 

.     0-71  . 

= 

53,473-65  . 

.     2-00. 

=  . 

158,976-00  . 

.     2-50 . 

= 

95,700-00  « 

•     3-50« 

207,338-60  . 

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710  DIE    HOCHWASSER-    UND    WASSERBAU- ANGELEGENHEITEN   UNGARNS. 

60  Joch  Expropriation    ...     ...     ...     ...         per  50'— fl.  =         3,000'00  fl. 

für  230     •     Wald-Entschädigung    ...     «    30—  t    =         6,900-00 1 

Zusammen     4.936,060-20  0. 

für  imvorhergesehene  Fälle  und  Aufsicht  ungefähr  8<»/o  =     393,939*80  ■ 

Summe.. ...      5.330,000-00  fl. 

Noch  im  Laufe  desselben  Jahres  wurde  mit  der  Aushebung  einer 
Cunette  auf  der  Promontorer  Strecke  begonnen,  worauf  später  an  der  Erd- 
Teteny-Ercsi,  Adony  und  HÄczalmäser  Strecke  Baggerungen  folgten,  sowie 
die  Erhöhung  der  Absperrung  bei  der  Häros-Insel,  die  Goupirung  des  Eacsaer 
undErcsier,  dann  des  Adonyer  Nebenarmes,  Parallelwerke  bei  iferd  und  Adony, 
Abgraben  der  Bezd&n-,  sowie  der  grossen  Ercsier  sogenannten  «Szunyogi- 
Insel  und  der  MakÄder  Insel  u.  s.  w.  Diese  Arbeiten,  welche  im  Jahre 
1885  grössten  Teils  zum  Abschluss  gelangten,  nahmen  die  Summe  von 
4.144,500  fl.  in  Anspruch. 

Der  zweite  Gesetz- Artikel,  dessen  wir  Erwähnung  thaten,  enthielt  die 
Regelung  der  Hoch  wasserschutz- Angelegenheiten  jenes  Inundations-Gtebietes, 
welches  sich  zwischen  der  Koros,  Theiss  und  Maros  erstreckt.  Dieses  insge- 
sammt  über  400,000  Cat.-Joch  betragende  Gebiet  bildet  ein  einziges,  zusam- 
menhängendes Inundationsterrain,  nichtsdestoweniger  war  dasselbe  bis 
dahin  mittelst,  im  Besitz  verschiedener  Genossenschaften,  Gemeinden 
und  Privaten  stehender  Dämme  geschützt  —  obwohl  ein  einziger  Damm- 
bruch den  gesammten  riesigen  Complex  gefährden  konnte. 

Ausserdem  waren  die  Schutzdämme  daselbst  nicht  eben  im  besten 
Zustande,  und  es  schienen  auch  wiederholte  Aufforderungen  von  Seite  der 
Kegierung  diesbezüglich  nichts  zu  fruchten. 

So  sah  sich  endlich  die  Regierung  genötigt  von  ihrer  gesetzlichen 
Gewalt  Gebrauch  zu  machen  und  die  Schutzwerke  auf  administrativem 
Wege  in  den  gehörigen  Zustand  versetzen  zu  lassen.  Die  gesammten  Inter- 
essenten wurden  von  Amts  wegen  unter  dem  Titel :  «Körös-Tisza-Marosi 
ärmentesitö  es  belvizszabälyozo  tärsulat»  zu  einer  einzigen  Genossenschaft 
vereinigt,  und  man  schritt  auch  unverzüglich  zum  Ausbau  der  Dämme,  deren 
Kosten  voraussichtlich  auf  mehrere  Millionen  zu  stehen  kommen  werden. 

Derselbe  Gesetz- Artikel  enthielt  jedoch  ausser  diesen  speziellen  Anord- 
nungen auch  eine  Aufforderung  an  die  Regierung :  der  Legislative  sobald 
als  möglich  einen  die  endgiltige  Regelung  der  Theisstal-Angelegenheiten 
bezüglichen  Vorschlag  zu  unterbreiten. 

Nach  längeren  Beratungen,  während  welcher  selbst  die  gänzliche  Ver- 
staatlichung der  Hochwasserschutz-Angelegenheiten  in  Gombination  kam, 
entschloss  man  sich  endlich  dennoch  zur  Beibehaltung  der  Autonomie  der 
Genossenschaften,  und  zwar  aus  dem  Grunde,  damit  das  Interesse  für  die 
betreffenden  Schutzarbeiten,  welch'  letztere  doch  in  erster  Reihe  zur  För- 


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DIE   HOCHWASSER-    UND    WASSERBAU-ANGELBGENHBITEN   UNGARNS. 


^li 


denmg  von  Privat-Interessen  dienen  —  in  den  bisherigen  Interessenten 
selbst  nicht  gänzlich  erschlaffe.  Ohne  also  die  Autonomie  der  Genossen- 
schaften mehr  als  es  eben  die  Notwendigkeit  gebot  einschränken  zu  wollen^ 
war  man  vorzüghch  darauf  bedacht^  dass  man  in  die,  an  den  einzelnen 
Flüssen  des  Theiss-Complexes  verrichteten  und  noch  zu  verrichtenden 
Schutzarbeiten  den  gehörigen  Einklang  zu  bringen  im  Stande  sei^  wes- 
wegen denn  auch  der  diesbezügliche  G.-A.  XIV  vom  Jahre  1884  in  erster 
Beihe  alle  jene  Flussregulirungen  und  Hochwasserschutz-Arbeiten,  welche 
an  der  Theiss  nebst  deren  Nebengewässern  —  mit  Einschluss  der  Temes- 
Bega  —  vorgenommen  werden,  vom  technischen  Standpunkte  aus  für  ein 
einheitliches  Ganzes  erklärte. 

Dm  dieö  nun  auch  durchführen  zu  können,  wurden  die  Bechte  der 
Begierung  gegenüber  den  Genossenschaften  aufs  Neue  in  angemessener 
Weise  erweitert.  NamentUch  wurde  unter  Anderem  die  Begierung  ermäch- 
tigt, die  Abgrenzungen  der  Genossenschaften  untereinander  nach  Ermes- 
sen bestimmen  zu  können,  eventuell  die  Interessenten  eines  noch  nicht 
geschützten  Gebietes  von  Amtswegen  zu  einer  Genossenschaft  zu  vereinigen, 
oder  aber  das  betreffende  Gebiet  dem  Verbände  einer  schon  bestehenden 
Genossenschaft  einzuverleiben. 

Nach  Fräcisirung  der  Agenden  der  Generalversammlungen  innerhalb 
der  einzelnen  Genossenschaften  übergeht  der  Gesetz- Artikel  auf  die  Ange- 
legenheiten der  «Theisstal-Genossenschafti,  auf  welche  Angelegenheiten 
sich  die  Begierung  zu  oberwähntem  Zwecke  den  grösstmöglichen  Einffuss 
zu  sichern  bestrebte. 

Noch  eine  ausserordentlich  wichtige  Entscheidung  enthält  dieser 
Gesetzartikel.  Es  wird  nämlich  die  Grenze  der  maximalen  Belastung  der  Ge- 
nossenschaften präzisirt,  welche  im  Interesse  des  Ganzen  noch  zulässig 
erscheint.  Man  konnte  einzelnen  Genossenschaften  auch  nicht  zumuten, 
dass  dieselben  im  Interesse  der  Gesammtheit,  zum  Tragen  von  solch  bedeu- 
tenden Lasten  bereit  sein  sollten,  welche  ihren  eigenen  Nutzen  eventuell 
bei  Weitem  überwogen.  Es  wurde  demnach  bestimmt,  dass  im  Falle  das 
Investitions-Capital  mehr  als  60  %  des  20fachen  Catastral-Beinertrages  — 
bei  jenen  Genossenschaften,  wo  auch  höher  gelegenes  Gebiet  einbezogen 
wurde  und  dasselbe  nun  in  geringerem  Maasse  an  den  Rosten  participirt : 
noch  überdies  20  0/5  des,  das  höhere  Gebiet  betreffenden  20fachen  Catastral- 
Beinertrages  hinzugerechnet  ~  betragen  sollte :  so  werden  bei  Genossen- 
schaften, deren  Weiterbestand  das  allgemeine  Interesse  erheischt,  die  wei- 
teren Kosten  vom  Staate  selbst  getragen. 

Während  dergestalt  in  die  Angelegenheiten  des  Theisstales  Ordnung 
gebracht  wurde,  hatte  man  bereits  die  hydrotechnische  Aufnahme  an  der 
oberen  Donau  so  weit  gebracht,  dass  man  auch  diesbezüglich  zur  Antrag- 
stellung schreiten  konnte. 


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712 


DIE   HO0HWA88ER-    tJND    WASSERBAU -ANOELEOBNHEITEN   UNGARNS. 


Das  unaufschiebbarste,  nämlich  die  Entfernung  der  grossen  Sandbank 
unterhalb  Eomom  hatte  man  bereits  vorher  in  Angriff  genommen.  Es  ward 
ein  Längegraben  längs  der  Sandbank  ausgehoben,  und  durch  Einengung 
des  Bettes  mittelst  Parallelwerken  das  üebrige  der  Strömung  selbst  über- 
lassen. 

Die  Schiffahrtshindemisse  und  HochwassergeCeihren  wurden  auf  der 
Strecke  zwischen  Döv^ny  und  Duna-Badyiny  hauptsächlich  durch  die  zahl- 
losen Donau- Arme  verursacht,  in  welche  sich  der  Fluss  kaum  IS  Kilometer 
unterhalb  Pressburg  schon  zu  teil^i  beginnt. 

Das  am  meisten  verwilderte  Bett  war  jenes  zwischen  Guter  und  Suly, 
wo  die  meistenteils  aus  Alluvium  gebildeten  Ufer  Urne  g^iug  waren,  um 
dass  der  Strom  seinen  Lauf  fortwährend  wdem  konnte.  Von  Süly  abwärts 
werden  die  Abzweigungen  schon  seltener,  und  zwischen  Szögye  und  Duna- 
Badväny  treffen  sich  nur  mehr  einzelne  zu  breite  Stromstrecken  an. 

An  der  gesammten  145  Kilometer  langen  Strecke  gab  es  53  solche 
Stellen,  wo  die  zur  ungehinderten  Schifffahrt  unumgänglich  notwendige 
minimale  Tiefe  von  2  Meter  (unter  Null)  nicht  vorhanden  war. 

Die  Länge  der  einzelnen  seichten  SteUen  varürte  zwischen  0*12  und 
und  1*81  Kilometer.  Ihre  gesammte  Länge  betrug  S6*12  Km.,  folglidi 
machte  dies  den  0*18.  Teil  der  ganzen  Strecke  aus. 

Es  konnte  eine  Tiefe  von  2  M.  umsomehr  als  genügend  betrachtet  wer- 
den, da  den  bisherigen  Erfahrungen  nach  die  Donau  nur  in  ausserordentlich 
trockenen  Jahren  auf  den  Null-Punkt  des  Pressburger  Pegels  zu  sinken  pflegt 

Als  Hauptarm  wurde  beschlossen  im  Grossen  und  Gktnzen  den  gegen- 
wärtigen zu  belassen,  mit  Ausnahme  der  Strecke  Gutor-Gsölösztö,  dann  bei 
Süly  und  Baka,  wo  es  zweckdienlich  erschien,  einen  der  besser  situirten 
Nebenarme  als  Hauptarm  auszubilden. 

Die  Gesammtkosten,  welche  durch  den  G.-A.  VIH  vom  Jahre  1885 
genehmigt  wurden,  sind  auf  17  Millionen  veranschlagt.  Hievon  fällt  auf: 

Parallelwerke 5.891 ,599-30  fl. 

Sperr- und  andere  Dämme      ...    ...     ...  2.537,896-65« 

Uferschutzwerke _ 1.088,625-68  « 

Durchschnitte  u.  Abtragen  von  Sandbänken  5.367,637*26  « 


Zusammen     ...     U.885,758-89  fl. 

Dies  gibt  nach  Abzug  der  714,177*90  fl.,  welche  Summe  zur  Entfer- 
nung der  <iLydia»-Sandbank  noch  benötigt  wurde,  bis  zum  Zustandekom- 
men dieses  Gesetz- Artikels  jedoch  bereits  in  dem  ordentlichen  Jahres  Budget 
gedeckt  war:  14.171,580-99  fl.,  wozu  noch  ungefähr  20  »/o  auf  unvorher- 
gesehene FäJle,  Aufsichts-Kosten  u.  s.  w.  hinzuzurechnen  wäre,  welch  letz- 
tere Summe  auf  2.828,419*01  fl.  veranschlagt,  die  Gesammt-Summe  von 
17  Millionen  ergibt. 


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DIE   HOCHWASSER-    UND    WASSläfflAUANöRLiJÖENHiEITBli   UNOAHNS.  ^13 

Noch  Über  eine  zweite  Regulirungsarbeit  von  fast  gleich  grosser  Wich- 
tigkeit wurde  im  Jahre  1885  eine  endgiltige  Entscheidung  getroffen.  Es  war 
dies  die  Atigelegenheit  der  Räabregulirung,  mit  welcher  man  sich  zwar 
schon  seit  langer  Zeit  befasste,  die  jedoch  erst  in  diesem  Jahre  soweit 
reifte^  dass  ein  entgiltiger  Beschluss  zu  fassen  war. 

Die  Vorgeftohichte  dieser  langwierigen  Augel^enheit  auch  nur  in 
deren  Hauptzügen  zu  geben,  würde  hier  zu  weit  führen,  wir  wollen  demnach 
blos  des  Haupthindernisses  E^rwähnung  thun,  welches  die  Begulirung  des 
Baabflusses  so  lange  Zeit  hindurch  "verzögerte,  welches  jedoch  anderseits 
auch  der  unmittelbare  Grund  zur  Einmischung  und  schleunigsten  Lösung 
dieser  Frage  von  Seite  der  Begierung  ward. 

Dieses  Hindemiss  bildete  nämlich  der  Zwist,  welcher  im  Schosse  der 
im  Jahre  1873  sich  constituirten  Baabregulirungs-Genossenschaft  zwischen 
den  Interessenten  des  obern  und  denjenigen  des  unteren  Baabtales  zum 
Ausbruch  gelangte. 

Der  Grund  dieser  Zwistigkeiten  war  in  Kürze  der,  dass  die  Interessen- 
ten des  oberen  Baabtales,  nachdem  die,  das  Austreten  des  Flusses  im  oberen 
Baabtale  hauptsächlich  verursachenden  Sperren  der  zahlreichen  daselbst 
befindlichen  Mühlen  auf  Kosten  der  Genossenschaft  entfernt  waren,  und 
demzufolge  die  Anrainer  der  oberen  Baab  sich  von  den  lästigen  üeber- 
schwemmungen  befreit  sahen :  sich  nun  weigerten,  an  den  Kosten  der  weite- 
ren Begulirungsarbeiten  zu  participiren,  nachdem  sie  daraus  denn  doch 
keinen  weiteren  Nutzen  zu  erwarten  hatten. 

Die  Besitzer  des  unteren  Inundations-Gebietes  hingegen,  deren  Lage 
durch  die  nunmehr  mit  desto  grösserer  Vehemenz  herabgelangenden  Was- 
sermassen wesentlich  verscblimmerl  war,  bestanden  darauf,  dass  die  oberen 
Interessenten  an  den  weiteren  Begulirungskosten  nun  umsomehr  teilneh- 
men müssten,  da  sie  —  die  unteren  Interessenten  -^  doch  auch  an  den 
Kosten  der  oberen  Baabregulirung  teilgenommen  hatten,  welch  letztere 
ausschliesslich  nur  den  oberen  Besitzern  zu  Gute  kam,  die  unteren  aber 
eben  durch  diese  Begulirungs-Arbeiten  in  eine  desto  schwierigere  Lage 
gerieten. 

Um  nun  dem  Abhalten  einer  Generalversammlung  zuvorzukommen, 
welch  letztere  voraussichtlich  die  gänzliche  Auflösung  der  Genossenschaft 
zur  Folge  gehabt  hätte,  da  in  derselben  die  oberen  Interessenten  in 
Stimmenmehrheit  waren,  sah  sich  die  Begierung  veranlasst,  dem  Be- 
streben der  oberen  Interessenten  durchwein  energisches  Einschreiten  ent- 
gegenzutreten. 

Den  Interessenten  wurde  eine  entsprechende  staatliche  Unterstü- 
tzung in  Aussicht  gestellt,  und  die  Begierung  brachte  auch  bald 
darauf  einen  Gesetzentwurf  betreffs  der  Schlichtung  aller  Zwistigkeiten 
und  über  das  weitere  Vorgehen  bei  den  diesbezüglichen  Begulirungsarbeiten 


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714  DIE   HOOhWaSSBR-   und    WAS8BRBATT-ANOELBOEKHEITBN   ÜNOABNS. 

ein,  welcher  auch  noch  im  Laufe  desselben  Jahres  die  allerhöchste  Sanc- 
tion  erhielt. 

Der  G.-A.  XV  v.  J.  1885  wäre  in  zwei  Teile  teilbar.  Der  erstere  ent- 
halt die  gesammten  Hochwasserschutz-Arbeiten  nebst  dem  unabweislich 
notwendigen  Teil  der  Binnenwasser-Begulirungen,  der  zweite  Teil  behandelt 
die  vollständige  Regelung  der  Binnenwässer,  sowie  auch  die  Ableitung  des 
Neusiedler- Sees. 

Die  Kosten  des  ersten  Teiles  der  Arbeiten  sind  folgende : 

Bauten 6.028,500  fl. 

Regie _     _  571,500  t 


Zusammen  ...  6.600,000  fl. 

Die  Kosten  des  zweiten  Teiles : 

Bauten 4.971,500  fl. 

Regie 428,500  t 


Zusammen...    5.400,000  fl. 

Was  den  Hochwasserschutz  der  k.  Freistadt  Raab,  sowie  der  Gemeinde 
iQyörsziget»  betrifft,  entschloss  sich  die  Regierung,  da  diese  Arbeiten  schon 
das  allgemeine  Interesse  erheischt:  dieselben  auf  Staatskosten  verrichten  zu 
lassen,  und  bedang  sich  blos  eine  mit  dem  daraus  entwachsenden  unmit- 
telbaren Nutzen  der  Stadt,  sowie  der  obigen  Gemeinde  in  Verhältniss  ste- 
hende billige  Beisteuer  aus.  Die  Kosten  dieser  letzteren  Arbeiten  sind  auf 
426,574-24  fl.  veranschlagt. 

Nachdem  es  aus  finanziellen  Gründen  geraten  erschien,  vorerst  nur 
die  notwendigsten  Arbeiten  vorzunehmen,  beschloss  man  sich  vorläufig 
blos  auf  den  ersten  Teil  der  Arbeiten  zu  beschränken,  den  übrigen  jedoch 
auf  spätere  Zeiten  zu  verschieben. 

Demnach  wurden  diese  Arbeiten  auf  sechs  Jahre  verteilt,  während 
welcher  Zeit  dieselben  unter  der  Leitung  eines  Regierungscoramissärs  ver- 
richtet werden.  Die  Kosten  derselben  wurden  folgendermassen  veranschlagt  : 

Raabregolinmg    und  Eindeichung  der  Raab  von  der  Särvärer 

Brücke  der  ung.  Westbahnen  bis  zum  Patona-Györer  Canal  2.226,236*11  fl. 

Patona-Györer  Canal  nebst  Deiche  daselbst        1.043,479-78  t 

Räbcza-Regulirung  und  der  Hansäg-Canal      1.573,022-02  ■ 

Marcsal-Regulirung        ...     ...     .        ..     ...     ...     491,92443  • 

Binnenwasser-Regulirung  ... 257,082-—  ■ 

Deiche  entlang  der  «kleinen»  Donau _.  436,754-08  • 

Zusammen. ..         6.028,498-42  fl. 
Regie- Auslagen 571,501-58  < 

Summe    .  .         6.600,000-—  fl. 


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THOMAS    V.    8ZÄC8I?.NY,    WOJWODR    VON    8IKBBNBÜROBl<}.  715 

Dazu  kommt  noch  die  grösstenteils  auf  Staatskosten  durchzuführende 
Begulirung  zum  Schutze  der  k.  Freistadt  Baab  und  der  Gemeinde  Oyör- 
sziget,  deren  Rosten  betragen : 

Ringdamm  der  Stadt  Raab 113,417-38  fl. 

«          von  Gy^r-UjvÄros       197,193-98« 

«          von  Györ-Sziget      ... 69,962-88« 

Erhöhung  der  Brücken ... 8,000- —  « 

Aufsichts-  und  unvorhergesehene  Ausgaben   ...  38,000- —  « 


Summe      ..        426,574-24  fl. 

Was     mit     den    Kosten    der    übrigen    Baabregulirung    zusammen 
7.026,574*24  fl.  ausmacht.     (Sohiuss  folgt)  Alfrbd  Zawadowsei. 


THOMAS  V.  SZtol^.NY,  WOJWODE  VON  SIEBENBÜRGEN. 

Lebensbild  aufl  dem  XIV.  Jahrhunderte. 

Am  16.  August  1255  ^  figurirt  zum  ersten  Male  selbstständig  Gomes 
Fulko  von  Szecseny  im  Neograder  Comitate.  Alles,  was  wir  von  ihm  wissen, 
concentrirt  sich  auf  den  Umstand,  dass  er  ein  Spross  des  Geschlechtes 
Kathyz  (Kachich)  gewesen. 

Dieses  Geschlecht  war  zu  seiner  Zeit  ziemlich  begütert  und  hatte 
ausser  ihm  noch  zahlreiche  andere  Glieder  aufzuweisen. 

Sechzehn  Jahre  später,  am  28.  Juni  1271  *  versammeln  sich  nämlich 
die  Mitglieder  des  Geschlechtes  vor  dem  Graner  Domcapitel  und  nehmen 
eine  Güterteilung  vor. 

Zwischen  den  Söhnen  des  obigen  Fulko :  Com  es  Michael,  Meister 
Wolfgang  (Parkas)  und  Zoloch  einerseits,  andererseits  zwischen  Elias*  Sohn 
Comes  Peter,  Simon  Sohn  des  Bans  Simon  und  Leustach's  Sohne  Comes 
Nicolaus  war  es  wegen  der  Güter  Libercse,  Guräb,  Procha  und  Szalatna  (im 
Neograder  Comitate)  zu  Prozessen  gekommen.  Am  genannten  Tage  ver- 
glichen sich  die  streitenden  Parteien  dahin,  dass  die  genannten  Besitzungen 
den  Söhnen  Fulko's  verbleiben. 

Wolfgang,  der  documentarischen  Keihenfolge  nach,  Fulko's  zweiter 
Sohn,  vergrösserte  bald  darauf  seinen  Besitz,  indem  er  am  27.  April  1274^ 
mit  Posa,  Sohn  des  Posa  aus  dem  Geschlechte  Zäch,  einen  Gütertausch  ein- 


'  Knauz,  Mon.  Eccl.  Strigon.  L  423. 

«  Wenzel,  Arp&dkori  uj  okmÄnytÄr  VIII.  353.  364. 

*  Sopronmegyei  oklev^lt&r  I.  39. 


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716  tHÖMAS    y.   BzAcsiHYy   WOJWODE   VON   SIBBENBÜttOElJ. 

gieng.  Posa  besass  im  Neograder  Gomitate  die  zur  Szecsenyer  Herrschaft 
gehörigen  Güter  Gecz,  Kimocz  und  Almas  nebst  einem  grösseren  Complexe 
in  Szecheny  selbst,  die  er  Wolfgang  für  dessen  im  Oedenburger  Gomitate 
gelegenen,  auf  200  Mark  Silber  geschätzten  Besitz  Krako  gegen  eine  durch 
Wolfgang  geleistete  Aufzahlung  von  60  Mark  abtrat.  Krako  hatte  Wolfgaug 
seinerzeit  durch  königliche  Schenkung  erhalten. 

Wolfgang  hatte  sich  schon  lange  der  königlichen  Gunst  erfreut ;  er 
hatte  auch  das  im  Borsoder  Gomitate  gelegene  Mucsony  der  königlichen 
Donation  zu  verdanken.  Im  Jahre  1275  baten  aber  Oliver  und  Leustach 
aus  dem  Geschlechte  Bathold^  der  König  möge  ihnen  das  ihnen  vorteil- 
hafte und  nötige  Mucsony  verleihen.  Ladislaus  IV.  erfüllte  ihr  Ansuchen 
und  vergrösserte  dafür  Wolfgangs  Besitz  in  Szöcseny,  indem  er  ihm  für 
Mucsony  den  Grundbesitz  einiger  Neograder  Schlossunterthanen  in  Sze- 
cseny  verlieh.  ^ 

Wolfgangs  Geschlecht  war  vordem  auch  im  Besitze  des  im  Neograder 
Gomitate  gelegenen  Losoncz.  Ladislaus  lY.  hatte  kaum  den  Tron  bestie- 
gen, als  Leustach 's  Sohn  Nicolaus  und  unser  Wolfgang  im  Namen  der 
übrigen  Verwandten  ein  Majestätsgesuch  einreichten,  in  welchem  sie  die 
Wiederverleihung  Losoncz's  ansuchten.  Sie  motivirten  ihr  Ansuchen  damit, 
dass  Losoncz  ihr  Erbgut  sei,  und  dass  dies  ihnen  ohne  ihr  Verschulden 
entrissen  worden  sei.  Die  Petenten  hatten  am  Hofe  mächtige  Freunde,  die 
es  durchzusetzen  wussten,  dass  der  junge  König,  über  den  Sachverhalt  nicht 
unterrichtet,  Losoncz  den  bisherigen  Besitzern,  Söhnen  des  einstigen  Pala- 
tins  DionyBius  aus  dem  Geschlechte  Tomaj,  nahm  und  den  Bittstellern 
zusprach.  —  Im  Jahre  1 277  änderten  sich  die  Verhältnisse  am  Hofe ;  gele- 
gentlich des  mit  Eudolf  von  Habsburg  geschlossenen  Friedens  tagte  der 
Reichsrat  und  auf  diesem  wuMe  die  Besitzfrage  Losoncz'  wieder  aufs 
Tapet  gebracht.  Man  instruirte  den  König,  dass  Wolfgangs  und  Nikolaus 
Vorfahren  allerdings  Losoncz  einst  besassen,  dass  es  ihrer  Familie  aber 
wegen  Majestätsverbrechen,  respective  wegen  Teilnahme  an  der  Ermordung 
der  Königin  Gertrud  (1214)  weggenommen  und  durch  Andreas  H.  imd 
dessen  Nachfolger  dem  Palatin  Dionysius  resp.  dessen  Söhnen  geschenkt 
wurde.  —  In  Folge  dessen  revozirte  Ladislaus  die  Schenkung  und  gab 
Losoncz  den  Söhnen  des  Dionysius  zurück.* 

Der  in  der  Vermehrung  seines  Besitzes  rastlose  Wolfgang  suchte  nun 
in  Folge  dieses  Verlustes  einerseits  den  ihm  gebliebenen  Besitz  zu  con- 
solidiren,  andererseits  war  er  sichtlich  bestrebt,  die  Gütei^emeinschaft  mit 
seinen  Verwandten  aufs  Minimalste  zu  reduziren  und  sich  so  wie  seinen 


»  Wenzel  XH.  131. 

»  Hazai  olmidnytar  VI.  257  do.  10.  Aug.  1280  und  1.  c.  VII.  165  do.  1277. 


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THOBfAß    V.    eZÄCSÄNY,   WOJWODlf  VON   SIEBBNBÜBGBN.  717 

directen  Nachkommen  eine  von  der  anrüchigen  Verwandtschaft  möglichst 
isolirte  Stellung  zu  schaffen. 

Seine  erste  Sorge  war  nun  unter  Andreas  DI.  Regierung  sich  von 
seinen  Brüdern  und  Neffen,  sowie  den  Seitenverwandten  die  Erklärung 
abgeben  zu  lassen,  dass  sie  an  seinen  in  Szecs6ny  und  Umgebung  erwor- 
benen Gütern  keinen  Anteil  haben  und  dass  sie  ihn  speziell  im  Besitze  von 
Szecs6ny,  Bimocz  und  Almas  nie  stören  würden.^  Dabei  unterliess  er  es 
nichts  jede. zum  Verkaufe  gelangende  Scholle  in  Szecseny  behufe  Vergrös- 
serung  seines  dortigen  Besitzes  anzukaufen,  wie  er  z.  B.  1294  ^  einige  Joche 
Sz6csenyer  Feldes  von  den  Neograder  Schlossunterthanen  für  25  Mark  an 
sich  brachte. 

In  der  Mitte  der  90er  Jahre  lernen  wir  Wolfgang  schon  mehr  nach 
seiner  öffentlichen  Thätigkeit  kennen.  1295  (24.  November)  und  1296  »  tritt 
er  öfters  als  Schiedsrichter  auf;  1298  ist  er  Oberstmundschenk  der  Königin^ 
in  welcher  Eigenschaft  er  sich  von  König  Andreas  die  Besitzurkunde  von 
1291  erneuern  lässt.^  Am  31.  Juü  1299  erscheint  er  als  Mitglied  des  Richter- 
collegiums  unter  dem  Vorsitze  des  Vice-Judex  Curias  Stefan.*  In  demselben 
Jahre  lässt  er  sich  von  seinen  sämmtlichen  Verwandten  abermals  die  bin- 
dende Erklärung  abgeben,  dass  sie  ihn  und  seine  Erben  als  alleinige  Be- 
sitzer von  Szecs6ny,  Bimocz,  G6cz  und  Almäjs  betrachten  und  niemals 
etwaige  Ansprüche  auf  diese  Oüter  machen  wollen.  Bei  dieser  Gelegenheit 
tauchen  zum  ersten  Male  Wolfgangs  Söhne  in  folgender  Beihe  auf:  Johann, 
Thomas,  Michael,  Nicolaus,  Peter,  Stefan,  Ijeustach  und  Blasvus.^ 

1300  fungirt  der  alte  Wol^gang  als  Untersuchungsrichter,^  am  18. 
Mai  1301  ist  er  Vertrauensmann  in  der  Angelegenheit  seines  Bruders 
Michael  contra  Thomas  von  Draa,  ®  mit  welcher  Function  die  Nachrichten 
über  ihn  aufhören.  Er  dürfte  bald  nach  1301  gestorben  sein. 

Seine  Gemahlin  ist  unbekannt.  Von  seinen  acht  Söhnen  ist  Thomas 
derjenige,  dessen  Lebensbild  wir  hier  zeichnen  wollen. 


Dass  der  alte  Wolfgang  lange  Jahre  hindurch  das  Bestreben  an  den 
Tag  gelegt,  sich  und  seine  Söhne  gewissermassen  von  den  übrigen  Anver- 


'  Wenzel  X.  35  do.  1391  und  X.  121  do  1293. 

•  Wenael  X.  156. 

»  Hazai  okm&nyt4r  IV.  90.  91.  Wenzel  X.  242.  330. 

*  Wenzel  X.  294. 

*  Hazoi  okni&nyt4r  VE.  447. 

•  Wenzel  X.  345. 
'  Wenzel  X.  385. 

"  Asjoukori  okm4nyt&r  I,  11. 


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718  THOMAS    V.    SZEOS^NY,    WOJWODE    VON    STEBENbItROBN. 

wandten  abzusondern,  findet  seine  Erklärung  in  dem  Verhalten  jenes 
seiner  Söhne,  der  unter  allen  seinen  Geschwistern  die  grösste  Bolle  gespielt. 
Schon  bei  Wolfgang  musste  es  uns  auffallen,  dass  er  der  einzige  in  seiner 
Familie  war,  der  königliche  Donationen  erhielt  und  sogar  ein  ansehnliches 
Hofamt  inne  hatte.  Wir  täuschen  uns  nicht,  wenn  wir  den  Grund  hieför 
darin  suchen,  dass  die  ganze  Familie  dem  Hofe  gegenüber  eine  ableh- 
nende Haltung  eingenommen  und  dass  blos  Wolfgangs  Zweig,  mit  den 
Traditionen  der  Familie  brechend,  ein  dynastisches  Benehmen  an  den 
Tag  legte. 

Bei  Thomas  von  8zecs6ny  finden  wir  dies  aufs  Glänzendste  bestätigt 
Bei  ihm  stossen  wir  auf  die  seltene  Erscheinung,  dass  er  das  einzige  Mit- 
glied seiner  zahlreichen  Familie  (aber  nicht  des  ganzen  Geschlechtes,  da 
dieses  noch  einen  andern  Zweig  hatte)  war,  das  treu  zu  seinem  Könige 
gehalten,  während  alle  übrigen  sich  den  revolutionären  und  opponirenden 
Bestrebungen  angeschlossen,  —  und  dass  er  die  Güter  seiner  als  Bebellen 
und  Hochverräter  verurteilten  Verwandten  in  seiner  Eigenschaft  als  des 
Königs  allergetreuester  Unterthan  erhalten. 

Aus  Thomas'  Jugendzeit  ist  uns  nichts  bekannt.  Einzelne  Andeu- 
tungen lassen  darauf  schliessen,  dass  auch  er,  wie  alle  übrigen  jungen 
Sprossen  des  damaligen  höheren  Adels  seine  Jugendjahre  am  Hofe  ver- 
bracht. So  viel  steht  aber  fest,  dass  Thomas  schon  frühzeitig  von  der  üeber- 
zeugung  durchdrungen  war,  dass  die  Begierung  eines  aus  der  Mitte  der 
Nation  gewählten  Königs  nach  dem  Aussterben  der  Ärpäden  unmöglich  sei 
und  dass  unter  den  ausländischen  Tronaspirationen  jene  Karl  Boberts  von 
Neapel  die  einzig  lebensfähige  sein  müsse. 

Conform  dieser  Anschauung  war  er  einer  der  ersten,  die  sich  der 
Person  des  jungen  Königs  Karl  beigesellten  und  ununterbrochen  an  seiner 
Seite  blieben.  Dass  er  hiedurch  mit  den  Anschauungen  seiner  Familie  in 
Confliet  geraten,  dass  er  mannigfachen  Anfeindungen  seitens  der  Gegner 
des  Königs  ausgesetzt  war  und  alle  Wechselfälle  einer  angefeindeten 
Königsherrschaft  unter  Gefährdung  seiner  Person  und  seines  Vermögens 
mitmachen  musste,  Hess  ihn  unberührt. 

Das  zum  Bürger-Kriege  geführte  Auflehnen  des  mächtigen  Oligarchen 
Matthäus  von  Trencsön  (aus  dem  Geschlechte  Csäk)  bot  unserem  Thomas 
die  passendste  Gelegenheit,  seiner  Gesinnung  den  thätigsten  Ausdruck  zu 
verleihen.  Der  Anschluss  an  Matthäus  war  für  Thomas*  Familie  das  Grab, 
für  ihn  war  die  Bekämpfung  dieser  Partei  die  Wiege  des  höchsten  Glückes. 
Weder  auf  seine  Verwandtschaft,  noch  auf  sein  Eigentum  Bücksicht  neh- 
mend, stellt  er  sich  dem  Könige  ganz  und  gar  zur  Verfügung.  Gleich  einem 
«Borne  der  Beständigkeit,»  wie  sich  König  Karl  einmal  ausdrückte,  nahm 
er  an  allen  militärischen  Expeditionen  dieser  Periode  Teil,  ohne  sich  durch 


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THOMAS    V.    SZ^SiSnT,   WÖJWODfe  VON   SIEBENBÜRGEN.  719 

irgend  welche  Beschwerden  stören  zu  lassen ;  namentlich  zeichnete  er  sich 
1311  vor  Raschau  aus. 

Welche  Würden  er  bis  dahin  bekleidet,  wissen  wir  nicht ;  am  24.  April 
1313  ist  er  Burghauptmann  von  Lublö  und  an  diesem  Tage  erfolgt  an  ihn 
seitens  des  Königs  die  erste  uns  bekannte  Donation. 

An  dem  Kaschauer  Kampfe  hatte  sich  ein  sicherer  Hon  aus  dem 
Pressburger  Komitate  beteiligt.  Am  obigen  Tage  verlieh  nun  Karl  Robert 
unserem  Thomas  Höns  Besitzung  Szeli  sammt  seinen  sämmtlichen  in  und 
neben  der  Stadt  Nagyszombat  (Tymau)  gelegenen  Häusern,  Gründen, 
Mühlen  und  Weingärten. 

Thomas'  Verwandter,  Peters  Sohn  Myke,  stand  unterdessen  auf  anti- 
königlicher Seite  und  gieng  in  seinem  Eifer  für  die  von  ihm  vertretene 
Sache  so  weit,  dass  er  sein  im  Neograder  Komitate  gelegenes  Castell 
Hollokd  der  Garnison  Matthäus'  öffnete  und  dasselbe  zum  Ausgangspunkte 
bewaffneter,  mit  Mord,  Kaub  und  Plünderung  verbundener  Ausfälle  machte. 
Vor  Kaschau  focht  auch  er  gegen  die  Königlichen.  König  Karl  verlieh  nun 
gleichzeitig  mit  Szeli  auch  Schloss  Hollökö  sammt  Zugehör  an  Thomas.* 

Die  Teilname  an  dem  Gefechte  vor  Kaschau  war  nicht  die  einzige 
Waffenthat  Thomas';  er  hatte  auch  hervorragende  Verdienste  um  die 
Wiedereroberung  der  von  Matthäus  okkupirten  Festung  Visegräd,  wie  dies 
König  Karl  später  in  einer  Urkunde  hervorhebt. 

Nach  Bekämpfung  des  Aufstandes  bot  sich  Thomas  Gelegenheit, 
seinem  Könige  auch  in  diplomatischer  Beziehung:  nützlich  zu  sein.  — 
Karls  erste  Gemahlin  war  im  Jahre  1315  gestorben  und  hatte  er  sein 
Augenmerk  auf  Beatrix,  Tochter  des  deutschen  Königs  Heinrich  (VIT.)  von 
Luxemburg,  Schwester  des  Böhmenkönigs  Johann  geworfen.  Hier  war  es, 
wo  Thomas  ein  neues  Gebiet  seiner  Thätigkeit  gefunden. 

Der  König  betraute  ihn  mit  der  Durchführung  des  Heiratsplanes. 
Thomas  nahm  in  Folge  dessen  einen  längeren  Aufenthalt  in  Böhmen, 
überliess  unterdessen  die  Verwaltung  'seiner  Güter  fiemden  Händen, 
scheute  nicht  die  beträchtlichen  Kosten  seiner  ausserordentlichen  Mission 
und  war  aufs  eifrigste  bemüht,  alle  Schwierigkeiten  aus  dem  Wege  zu 
räumen,  die  sich  der  Verwirklichung  der  geplanten  Allianz,  auf  die 
Karl  ein  besonderes  Gewicht  legte,  entgegenstellten.  Seine  Bemühungen 
waren  von  Erfolg  gekrönt  und  führte  Karl  die  sehnlichst  erwartete  Beatrix 
am  24.  Juni  1318  zum  Altare.  Karls  Freude  über  den  diplomatischen  Er- 
folg Thomas'  war  so  gross,  dass  er  in  einer  hierauf  bezüglichen  Urkunde 
«von  einer  sanften  Beruhigung  seines  Gemütes»  spricht.  Am  27.  Juli  1319 
erfolgte  nun  die  Belohnung  des  grossen  Dienstes.  An  diesem  Tage  verleiht 
Karl  unserem  Thomas,  der  damals  Obergespan  von  Arad,  Bäcs,  Syrmien, 

*  Anjoukori  okm&nytdr  I,  289.  Fejör,  Codex  diplom.  VHI.  L  489, 

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7äO  THOMAS    V.    8Z^C«6NYy   WOJWODB   VON   SIEBRNBUBfiKN. 

Oberrichter  der  Eumanen,  Castellan  von  Hasznos  und  Bolymos  ist,  1.  die 
sämmtlichen,  namentlich  im  Neograder  Komitate  gelegenen  Güter  des 
erbenlos  verstorbenen  Peter  von  Pilin,  2.  die  im  selben  Komitate  gelegenen 
Güter  Stefans  von  Yarsäny,  der  mit  seinen  Angehörigen  sich  dem  Mat- 
thäus*schen  Aufstande  angeschlossen;  namentlich  werden  in   der  Dona- 
tionsurkunde  die  beiden  Ortschaften  Varsäng  und  Pilis  angeführt^ 
Von  nun  an  steigt  Thomas  auch  in  seinen  Würden. 
1321*    ist  er    Oberschatzmeister    der  Königin,    Obergespan    von 
Syrmien,  Bäcs  und  Arad.  —  In  dieser  Eigenschaft  vermehrt  er  abermals 
seinen  Besitz.  Die  ihm  benachbarten  Herren  von  Dr&h,  Söhne  Thomas', 
waren  als  Anhänger  des    Matthäus  von  Trencsin  gewaltig  compromittirt. 
Szecseny,  die  Besitzung   unseres   Thomas,  wurde  während  der  Kriegs- 
wirren, durch  sie  zum  Schauplatze  der  wildesten    Soldateska   gemacht; 
Baub,  Brandlegung,  Verwüstung  des  Eigentums,   Schändung  der  Frauen 
und  Mädchen  waren  durch  sie  zur  Tagesordnung  geworden.   Die  Strafe 
blieb  allerdings  nicht  aus,  da  König  Karl  sie  ihrer  Güter  verlustig  erklärt 
und  dieselben   als   Becompensation    für  die  Verwüstung  Szecsenys  und 
anderer  Besitzungen  des  Thomas  dem  letzteren  zusprach.  Die  Verurteilten 
^wandten  sich  nun  an  die  Güte  und  Gnade  des  Nachbars,  der  sich  dies- 
mal erweichen  liess.  Vor  dem  Graner  Kapitel   erfolgte   durch   Thomas' 
Vertreter  Kych'  Sohn  Comes  Benedikt  und  den  Notar  Meister  Johann  die 
Aussöhnung ;  Thomas  gab  den  Herren  von  Dräh  ihre  Besitzungen  Lam- 
pert,  Dsva  (im    Komitate   Kraszna )  und    Mayod  (im  inneren  Szolnoker 
Komitate)   zurück,   behielt  aber    Drdh,    Dolyän,   Rdros,  Sztrugna  und 
Sztracsin  im  Neograder  Komitate  für  sich. 

Am  1.  November  1321^  bekleidet  Thomas  schon  die  Würde  des 
Wojwoden  von  Siebenbürgen  und  Obergespans  von  Szolnok,  1322  ist  er 
ausserdem  noch  Obergespan  der  Sz6kler*,  1324*  Obergespan  von  Szeben.* 
Am  6.  März  1323^  ergreift  König  Karl  abermals  die  Gelegenheit,  seinen 
treuen  Thomas  auszuzeichnen.  Diesmal  sind  es  aber  nicht  allein  Thomas' 
Verdienste  auf  dem  Schlachtfelde  und  am  grünen  Tische,  die  ihm  zur  Aus- 
zeichnung verhelfen,  sondern  der  Umstand,  dass  er  es  war,  der  dem  Könige 
die  grösste  Freudenbotschaft  brachte,  nämlich  die  Geburt  des  ersten  Sohnes 
desselben;  obwohl  der  Prinz  am  6.  März  1323  nicht  mehr  lebte,  vibrirte 
der  Eindruck  der  durch  Thomas  empfangenen  freudigen  Botschaft  (1321) 

'  Anjoukori   okm&nyt4r  I,  528.   Fejör    VHI.  2,  202   und  am  24.  Febr.  1324  L 
c.  558  erneuert. 

'  Anjoukori  okm4nyt&r  I.  640. 
»  Fej6r  Vm.  2.  316. 

*  Fej6r  vm.  2.  395. 

*  Fej6r  VnL  2.  589. 

'  Anjoukori  okminyt&r  II.  65. 


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THOMAS    y.    BZ^OS]£nT,   WOJWODE   von   SIEBENBÜRGEN.  721 

in  ihm  noch  so  lebhaft,  dass  er  sich  äusserte,  man  hätte  ihm  seinerzeit 
keine  freudigere  bringen  können. 

Die  nun  erfolgte  Auszeichnung  war  allerdings  eine  Bereicherung 
Thomas',  aber  gleichzeitig  eine  Strafe  für  seine  nächsten  Geschlechtsver- 
wandten. Ausser  dem  uns  schon  bekannten  Myke  hatten  sich  an  Matthäus 
von  Trencsin  noch  Peters  Söhne  Leustach  und  Jakob  aus  dem  Geschlechte 
Kachyk  (Kathyz)  angeschlossen.  Selbstverständlich  wurden  ihre  Güter  con- 
fiscirt  und  so  kam  es,  dass  Karl  unter  obigem  Datum  die  ihnen  vordem 
angehörig  gewesene  Burg  Somoskö  im  Neograder  Komitate  an  Thomas 
übertrug. 

Es  sollte  gar  nicht  lange  dauern,  bis  Thomas  auch  die  übrigen  Güter 
dieser  Linie  seines  Geschlechtes  in  seine  Hände  bekommen.  Am  8.  Mai 
1324*  erfolgt  die  Schenkung  ihrer  Castelle  und  Güter  Hollöko,  Baglos, 
Sztrahora,  Rimöcz  und  Lapujtß  (im  Neograder  Komitate),  Eigentum  der 
rebellischen  Enkel  Elias',  der  Söhne  Peters,  Michael,  Peter,  Leustach,  Mykus 
und  Jakob  an  den  Sohn  des  weil.  Meister  Wolfgang,  Thomas,  Wojwoden 
von  Siebenbürgen  und  Obergespan  von  Szolnok. 

Von  welchem  Grade  des  Königs  Zuneigung  um  diese  Zeit  zu  Thomas 
gewesen,  bezeugt  am  klarsten  der  königliche  Erlass  do.  25.  März  1324.* 
Die  zur  Zeit  des  Regierungsantrittes  Karls  ausgebrochenen  Unruhen  waren 
der  Anlass  dessen,  dass  Karl  die  Gerichtsbarkeit  des  Wojwoden  von  Sieben- 
bürgen eingeschränkt.  Diesem  Ausnahmezustande  machte  er  nun  unter 
obigem  Datum  zu  Gunsten  seines  geliebten  treuen  Thomas,  «den  er  über 
inständiges  Bitten  und  Ansuchen  der  Siebenbürgener,  als  einen  in  Treue 
beständigen  und  friedliebenden  Mann  zum  Wojwoden  ernannt  und  der  laut 
Zeugniss  der  Siebenbürgener  sein  Amt  in  Buhe  und  Berücksichtigung  jeder 
Gerechtigkeit  ausübt»,  ein  Ende  und  stellte  die  volle  Gerichtsbarkeit  des 
Wojwoden  wieder  her,  indem  er  gleichzeitig  alle  zum  Nachteile  des  Wojwo- 
den erlassenen  königlichen  Freibriefe  annullirt.  Bald  darauf  verleiht  er  ihm, 
am  11.  Aug.  1324,*  in  wiederholter  Anerkennung  seiner  bei  Kaschau  und 
Visegräd  geleisteten  militärischen  Dienste  die  Mauteinkünfte  des  in  der 
Nähe  von  Ny6k,  einem  Gute  der  Königin,  im  Pressburger  Komitate  gelegenen 
Geerche.  Der  Spätsommer  1324  *  brachte  Thomas  Gelegenheit,  abermals  an 
die  Spitze  der  bewaflfheten  Macht  zu  treten.  Li  diesem  Jahre  erlässt  er  nämlich 
vor  Gastell  Köhalom  in  Siebenbürgen  ein  Edikt  in  Angelegenheit  des  Be- 
sitzes Szent-Märtrm,  in  dem  er  erwähnt,  dass  er  über  Befehl  des  Königs,  in 
Gemeinschaft  mit  den  Grossen  und  anderen  Einwohnern  ein  starkes  Heer 

'  Anjoukori  okm&nyt4r  n.  134  Fej^r.  VIII.  2.  504. 

*  Anjoukori  okmanytdr  IL   118. 
'  Anjoukori  okm&nyt4r  II.  152. 

*  Fej^r  Vni.  2.  589.  599. 

Ungarisehe  Beyoe.  1891.  XI.  Vin— IX.  Hett  4f} 


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722  THOMAS    V.    BZÄOßiNY,   WOJWODB   VON    BIBBENBÜBOBN. 

gegen  die  Gegner  und  Ungetreuen  des  Königs  in  Siebenbürgen  geführt  und 
dass  vor  Kastell  Köhalom  Stefans  Sohn  Ladislaus,  genannt  Lebee,  vor 
Szent-Mäj:ton  den  Heldentod  gefunden.  —  Eine  nähere  Erklärung  dieser 
militärischen  Intervention  bietet  die  Urkunde  des  Thomas  do.  1325,^  aus  der 
wir  entnehmen,  dass  kurz  zuvor  die  Sachsen  Siebenbürgens  sich  gegen  den 
König  aufgelehnt,  das  Land  feindlich  durchzogen  und  sich  unter  die  Fahne 
eines  sicheren  Comes  Henning  von  Pöterfalu  geschaart.  Der  Wojwode  er- 
hielt vom  Könige  eine  aus  Kumanen  bestehende  Verstärkung.  Henning, 
der  den  Kampf  mit  den  Kumanen  aufgenommen,  liess  sein  Leben  auf  dem 
Schlachtfelde,  womit  wahrscheinlich  der  Putsch  sein  Ende  gefunden.  Hen- 
nings Güter  schenkte  Karl  dem  Wojwoden  Thomas,  der  sich  über  instän- 
diges Bitten  von  Hennings  Verwandten  bewogen  gefunden,  die  confiscirten 
und  ihm  dotirten  Güter  gegen  eine  Ablösung  von  200  Mark  feinen  Silbers 
denselben  zurückzustellen. 

Ob  es  die  Bekämpfung  des  Aufstandes  in  Siebenbürgen  gewesen, 
was  den  König  für  Thomas  gar  so  sehr  gestimmt,  wissen  wir  nicht;  soviel 
aber  steht  fest,  dass  das  Jahr  1327  ihm  eine  Fülle  königlicher  Auszeich- 
nungen brachte,  wie  solche  in  der  Geschichte  königlicher  Gnadenanwwid- 
lungen  nur  selten  verzeichnet  werden. 

Am  21.  Mai  1327  *  verleiht  ihm  Karl  die  im  Heveser  Comitate  gele- 
genen Güter  Gyöngyös,  Bette,  Haläsz  und  Nagyut,  die  vordem  den  Nach- 
kommen des  Csobänka  aus  dem  Geschlechte  Aba  angehört  und  ihnen 
wegen  Teilnahme  an  des  Matthäus  Aufstande  abgenommen  wurden.  Am 
selben  Tage  entsendet  Karl  das  Ofner  Capitel,  um  Thomas  in  Hollokö  (s.  o.) 
und  den  dazu  gehörigen  Ortschaften  immatrikuliren  zu  lassen.® 

Am  26.  Mai  1327*  immatrikulirt  man  ihn  in  dem  im  Syrmier 
Comitate  gelegenen  Nyek  und  in  den  im  Bäcser  Comitate  gelegenen 
Thamana,  Pethejalva  und  Perhtynfalva.  Losoncz,  Eperjes,  Szdnästelek, 
Izbische,  Zugehörigkeiten  von  Castell  Baglyaskd\  gleichfalls  Eigentum 
von  Thomas  Verwandten,  Enkeln  Elias',  werden  ihm  am  4.  Juni  des- 
selben Jahres  zugeteilt;^  ausserdem  erfolgt  unter  demselben  Datum 
die  Immatrikulirung  in  Alpughy  Felpugh  und  Ujnyerges  (im  Neogra- 
der  Comitate),  Eigentum  der  rebellischen  Söhne  eines  gewissen  An- 
dreas (Endere).*  Einen  Tag  später,  am  5.  Juni  immatrikulirt  man 
ihn  in  Sztregova,   Räros   und   Harkäny  (im   selben  Comitate),  welche 


*  Fej^r  VIII.  2.  649.  651. 

*  Anjotikori  okm4nyt4r  U.  280. 

»  Anjotikori  okm&nyt&r  II.  285.  286. 

*  Anjoukori  okm&nytÄr  H.  286.  313. 

*  Anjoukori  okm&nyt&r  U,  290. 

*  Anjotü(ori  okinÄnyt4r  IL  294, 


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THOMAS    V.    SZ^CS^NY,   WOJWODE   VON    SIEBENBÜRGEN.  723 

den  rebellirenden  Enkeln  Aba's,  Söhnen  Stefans,  Dominik,  Aba  und  Johann 
gehörten.' 

Am  6.  Juni  erfolgt  seine  Statuirung  in  Sztrahora,  Kovacsi  und  Var- 
säny  (Neograder  Comitat),*  welche  vordem  Peters  Sohne  Michael  und  An- 
deren gehört  hatten. 

Am  8.  September  1327  ®  schenkt  ihm  Karl  Orbö  und  Strdzs  im  Neo- 
grader Comitate,  die  er  dem  Eebellen  Michael,  Sohne  Martins  von  Orbö 
abgenommen ;  dieser  war  nämlich  auch  ein  Anhänger  Matthäus'. 

Am  23.  Juli  1328*  schenkt  ihm  Karl  abermals  sämmtliche  Güter 
seiner  Verwandten,  der  Enkel  Elias*.  Ausserdem  vermehrt  er  zeitweise 
seinen  Besitz  auch  durch  Kauf.  1329  z.  B.^  verkauft  Desiderius  von  Mar- 
czal  (aus  dem  Geschlechte  P6cz)  ihm  seinen  Besitz  Megyer  um  150  Mark. 

1330®  ist  er  unter  Anderem  auch  Obergespan  von  Arad  und 
Csongräd. 

Am  29.  September  1331  "^  bekleidet  er  neben  seiner  Würde  als  Woj- 
wode  von  Siebenbürgen  noch  die  eines  königlichen  Oberschatzmeisters. 

Andererseits  beschenkt  er  auch  Manchen  aus  Eigenem,  um  dadurch 
seiner  königstreuen  Gesinnung  Ausdruck  zu  verleihen.  Thomas'  Sohn  Konya 
war  nämlich  1330  Obertruchsess  der  Königin  und  hatte  als  solcher  den 
Dienst  gelegentlich  der  Hoftafeln  zu  verrichten.  An  dem  verhängnissvollen 
Tage,  an  welchem  Felizian  aus  dem  Geschlechte  ZÄch  mit  gezücktem 
Schwerte  in  den  Hofsaal  stürzte,  um  die  an  der  Tafel  befindliche  königliche 
Familie  zu  tödten,  war  Konya  nicht  anwesend  und  liess  sich  durch  den 
Beamten  seiner  Famüie,  Alexanders  Sohn  Johann  (aus  dem  Geschlechte 
Akos)  vertreten.  Johann  gelang  es,  dem  wütenden  Felizian  das  Schwert 
aus  der  Hand  zu  reissen ;  deshalb  verlieh  ihm  Thomas  im  selben  Jahre  ® 
mit  Zustimmung  des  Königs  den  Neograder  Besitz  TJjnyin,  den  er  vordem 
durch  königliche  Donation  erhalten. 

Diese  Einbusse  an  seinem  Eigentume  wurde  indess  bald  wett- 
gemacht, da  er  am  8.  Oktober  1331  ^  in  die  sechs  Somogyer  Ortschaften 
Merke,  Topsiiriy  Terebezd,  Sitke,  Zoob  und  Bennek,  sowie  in  die  Veszprimer 
Pata  und  Esgrem  immatrikulirt  wurde.  Der  Herr  dieser  Güter,  Nicolaus 


Anjoukori  okmanytdr  11.  296. 
Anjoukori  okm&nyt4r  ü.  299. 
Fej^r  Vin.  3.  203. 
Anjoukori  okm4nytar  U.  368. 
Fej^r  Vni.  6.  109. 
Fejör  Vni.  3.  423. 
Anjoukori  okm&nytdj*  II.  552. 
Fej^r  Vni.  6.  114.  116. 
Anjoukori  okmdnytar  II.  558, 


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724  THOMAS    V.    BZÄCSÄNY,   WOJWODB   VON    8IEBENBÜBOBN. 

von  Tengurd  war  erbenlos  verstorben,  worauf  Karl  dieselben  dem  Thomas 
schenkte. 

Ob  und  in  welchem  Grade  Thomas'  zahlreiche  Brüder  ßxt  der  glän- 
zenden Laufbahn  desselben  participirt,  wissen  wir  nicht,  bis  1333  wird  keiner 
derselben  in  den  Urkunden  genannt :  erst  in  diesem  Jahre  stossen  wir  auf 
einen  von  ihnen. 

Thomas  und  seine  Söhne  Nicolaus  tKönya»  und  Michael,  Probst  zu 
Pressburg  einerseits,  andererseits  Thomas'  Bruder  Peter  und  dessen  Söhne 
Stefan,  Thomas  und  Dominik  hatten  schon  vordem  vor  dem  Ofner  Capitel 
Schritte  zur  Aufteilung  ihrer  gemeinsamen  Güter  Szecseny  und  Värad  (im 
Neograder  Comitate)  eingeleitet ;  im  Sinne  eines  vor  dem  Judex  Curiae  Paul 
von  Nagymiirton  1 333  geschlossenen  Vertrages  erfolgt  nun  am  8.  Novem- 
ber 1333^  durch  das  Graner  Domcapitel  die  durch  genaue  Abgrenzung 
erzielte  Aufteilung  der  beiden  Besitzungen.  —  Weder  Thomas  noch  seine 
Söhne  sind  gelegentlich  dieser  Transactionen  anwesend ;  sie  senden  stets 
ihre  Vertreter,  indess  Peter  mit  seinen  Söhnen  persönlich  erscheint,  ein 
Zeichen,  dass  sie  wahrscheinlich  keine  öffentlichen  Würden  innegehabt  und 
sich  zu  Hause  mit  der  Leitung  ihrer  Güter  beschäftigt. 

In  demselben  Jahre  1333  (22.  November)*  stossen  wir  auf  eine  Be- 
zeichnung Thomas',  die  nicht  leicht  zu  analysiren  ist.  Sowohl  König  Karl, 
als  seine  Gattin  Elisabeth  nennen  in  diesem  Jahre  unseren  Thomas  ihren 
•proximus».  An  eine  Blutsverwandtschaft  oder  Verschwägerung  zwischen 
Thomas  und  den  königlichen  Gutten  ist  nicht  zu  denken,  es  hat  alle  Wahr- 
scheinlichkeit für  sich,  dass  Karl  und  Ehsabeth  die  Pathenstelle  bei  Thomas' 
jüngstem  Sohne  übernommen.  —  Ein  Ausfluss  dieser  Proximität  zeigt 
sich  am  25.  Jänner  1334,*  indem  Königin  Elisabeth  dem  Grosswardeiner 
Capitel  Befehl  erteilt,  die  zu  Gunsten  Thomas  im  äusseren  Szolnoker 
Comitate  fälligen  Strafgelder  einzukassiren.  Ein  höherer  Ausfluss  ist  aber 
entschieden  Karls  Urkunde  ddo.  5.  Mai  1334,*  in  der  er  Thomas  förmlich 
zur  Würde  eines  königlichen  «Proximus»  erhebt  und  dessen  Erbsitz  Sze- 
cseny im  Neograder  Comitate,  ßimaszombat  in  Hont  und  Gyöngyös  in 
Heves  mit  denselben  Privilegien  ausstattet,  deren  sich  die  Bürger  der  Stadt 
Ofen  erfreuen. 

Thomas  ist  nun  wieder  bestrebt,  die  Verwaltung  seiner  Güter  auf  vor- 
teilhafte Weise  zu  befördern.  Am  24.  Juni  1334  ^/tauscht  er  im  Vereine  mit 
seinen  Söhnen  Nicolaus  «Konya»  und  Michael  mit  dem  Kalocsaer  Erz- 


*  Anjoukori  okmdnytar  III.  44. 

"  Anjoukori  okm&nytdr  IH.  53.  Fejör  Vni.  3.  679. 
^  Anjoukori  okmiuiyt&r  in.  57.  63.  73. 

*  Anjoukori  okm&nyt&r  IH.  71.  Fej^r  Vm.  3.  716. 

*  Anjoukori  okm&nytar  m.  79.  Fejör  VIH.  5.  216. 


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THOMAS    V.   SZE^IÄNY,  WOJWODB   VOK   SIEBENBÖRGBN.  725 

bischofe  Ladislaus.  Thomas  erhält  die  Honter  Ortschaften :  Rimaszombat, 
Bänyay  Turek,  Szkälnoky  Ürreve,  KaraszkSy  Szkork,  zwei  Pokorag,  Tomocz, 
Cserencsen,  Brezö  und  Tizocz  und  in  Gömör  Majori  und  Majsa  ;  der  Erz- 
bischof nimmt  hingegen  dafür :  im  Bäcser  Comitate  Gerecs,  Totfalu,  Csa- 
länos,  LugoSy  Bätorfalva,  andere  Lugas,  Szurdok,  Gumulchen,  Venecie, 
JJjfalu,  Läzärfalva,  Tamana,  Zuchy ;  femer  die  Syrmier  Ortschaften  M(W- 
töch  und  Gerech.  Den  Bäcser  Besitz  Ket-Lugas  hatte  Thomas  1328  nach 
dem  Tode  seines  erbenlosen  Besitzers  vom  Könige  geschenkt  erhalten,  und 
beeilte  er  sich,  die  hierauf  bezügliche  Urkunde  am  2.  November  1335* 
neuerdings  bestätigen  zu  lassen. 

1335  *  ist  er  auch  Obergespan  von  Neograd. 

1338  schenkt  er  hinwieder  eines  seiner  Güter  weiter.  —  Stefan 
«Pogäny»  aus  dem  Geschlechte  Huntpäzmän,  den  er  seinen  Proximus 
nennt,  erhält  von  ihm  das  im  inneren  Szolnoker  Comitate  gelegene  Bona, 
wozu  Thomas'  Söhne  Könya,  Michael  und  der  unmündige  Kaxpar  ihre  Zu- 
stimmung erteilen.  Am  4.  Juli  des  genannten  Jahres  ratifizirt  der  König 
diese  Schenkung.  *  Bona  war  Eigentum  eines  sichern  Benold  sen.,  nach 
dessen  erbenlosem  Ableben  es  der  König  an  Michaels  Sohn  Simon,  Ge- 
span der  Sz6kler  und  Obergespan  von  Bistritz  übertragen;  da  sich 
Simon  mannigfache  schwere  Delicte  zu  Schulden  kommen  liess,  kam 
der  Besitz  auf  gerichtlichem  Wege  in  Thomas'  Hände.  Zwei  Wochen  nach 
der  Batifikation  der  Schenkung  Bonas  erweitert  Thomas  seine  Besitzungen 
durch  Kauf.  Am  15.  Juli  1338*  verkaufen  nämlich  die  Nachkommen  Pauls 
und  Pethö's  von  Apony  die  Hälfte  ihres  im  Honter  Comitate  gelegenen 
Besitzez  Bela  für  300  Ofener  Mark  an  den  Wojwoden  von  Siebenbürgen 
Thomas. 

Im  nächsten  Jahre  (1339)  ^  geht  Thomas  einen  Gütertausch  ein.  Die 
Nachkommen  Csobänka's  aus  dem  Geschlechte  Aba  waren,  wie  wir  wissen, 
ihrer  Güter  verlustig  erklärt  worden  ;  einen  Teil  derselben,  nämlich  die  zum 
Patronate  des  Heveser  Klosters  Särmonostor  gehörenden,  hatte  Thomas 
erhalten ;  diese  gab  er  nun  an  Emerich  aus  dem  Geschlechte  Aba  (Zweig 
Kompold),  der  ihm  dafür  seinen  Anteil  an  dem  Heveser  Zsadäny  abtrat. 

Im  selben  Jahre  (1339)*  erfolgte  seine  Immatrikülirurig  in  Szäraz- 
berek  und  Syma  im  Szathmärer  Comitate,  welche  Besitzung  ihm  der  König 
geschenkt,  nachdem  deren  Eigentümer,  Stefans  Sohn  Ladislaus,  der 
Falschmünzerei  beschuldigt  worden  war. 

*  Anjoukori  okmanyt&r  m.  207. 
«  Fej^r  Vni.  6.  128. 

>  Anjoukori  okm&nyt&r  m.  470.  611. 

*  Anjoukori  okni4nyt&r  HE.  475. 
«^  Fej6r  Vni.  4.  415. 

*  Fej^r  Vm.  4.  418. 


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726  THOMAS    V.    SZlfiCBÄNY,   WOiWODE   VON    SIEBENBÜBGEN. 

Am  13.  Mai  1339  ^  ist  Wojwode  Thomas  auch  stellvertretender  Leiter 
des  königlichen  Oberschatzmeisteramtes,  in  welcher  Würde  wir  ihn  noch 
1340*  und  am  29.  Jänner  1341  ^  antreffen.  1340  *  schenkt  ihm  der  König  die 
im  Küküllöer  Comitate  gelegenen  Güter  Huzuriczo  und  Mtkehäza  des  er- 
benlos verstorbenen  Comes  Nikolaus  von  Tolmäcs. 

Am  6.  Oktober  1341  **  endet  ein  Process,  den  Thomas  mit  den  Söh- 
nen Lorenz',  Enkeln  Balduin's,  Johann  und  Ladislaus  aus  dem  Greschlechte 
Batold,  Herren  von  Tamäfihida  im  Zaränder  Comitate  seit  1339  geführt 
—  König  Karl  hatte  nämlich  die  Ortschaft  Endrelaka  im  Zaränder  Komi- 
tate  dem  Rebellen  Stefan,  Sohn  Endere's,  abgenonmien  und  selbe  dem 
Wojwoden  Thomas  geschenkt.  Balduins  Enkel  traten  nun  mit  der  Behaup- 
tung auf,  dass  die  von  Thomas  in  Besitz  genommene  Ortschaft  nicht 
Endrelaka,  sondern  Tamäshida  heisse  und  ihr  Erbgut  sei;  der  Prozess 
wird  unter  obigem  Datum  dahin  geschlichtet,  dass  Thomas,  der  in  diesem 
Jahre  auch  Obergespan  von  Neograd  ist,  seinen  Bechten  entsagt  und  dafür 
von  Balduins  Enkeln  die  Gömörer  Ortschaften  Csamatelek  und  Korräd- 
földe  erhält. 

Am  S.Mai  1342®  wird  ein  anderer  Process  beendet,  den  Thomas 
gegen  Michaels  Söhne  Stefan  und  Benenik  geführt.  —  Thomas  hatte  näm- 
lich behauptet,  dass  ihm  der  König  die  Heveser  Besitzung  TagadöteUk 
nach  dem  erbenlosen  Sebastian  übertragen  habe.  Die  Gegner  wandten  ein, 
dass  das  von  Thomas  unter  diesem  Titel  occupirte  Gut  gar  nicht  den 
Namen  Tagadotelek  geführt,  Sebastian  niemals  angehört  und  ihr  eigenes 
Erbgut  sei.  Der  Process  wird  durch  Vergleich  entschieden,  indem  jede 
Partei  einen  Teil  des  strittigen  Gebietes  erhält. 

Am  16.  Mai  1342'  tauscht  Thomas  seine  Besitzungen  Baha  und 
KorläUelek  um.  Er  erhält  für  dieselben  den  Neograder  Besitz  Szvtnyebänya, 
Eigentum  Petös  von  Zagyvafö. 

Das  Jahr  1342® ist  reich  an  Besitzprocessen  Thomas';  so  wird  unter 
Anderem  am  31.  Mai  dieses  Jahres  sein  Process  wegen  des  im  Biharer  Co- 
mitate gelegenen  Csalänos  entschieden.  —  Thomas  glaubte  sich  berechtigt, 
auf  Grundlage  einer  königlichen  Donation  Anspruch  auf  den  Ö-Csalänos 
genannten  Teil  des  Gutes  erheben  zu  dürfen.  Die  Söhne  des  gewesenen 


1 


Anjoukori  okm^yt4r  IIT.  552. 
Fej^r  Vm.  4.  437. 
Hazai  okm4nyt4r.  I.  183. 
Fej^r  vm.  5.  275. 
Anjoukori  okm&nyt4r  IV.  148. 
Anjoukori  okm&nyt&r  IV.  204. 
Anjoukori  okm4nyt4r  IV.  217. 
Anjoukori  okm&nyt&r  IV.  226. 


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THOMAS    V.   Szioß^NY,   WOJWODB  VON   SrEBENBUROEN.  727 

Palalins  Dözsa  von  Debreczen  behaupteten  aber,  dass  es  eigentlich  nur  ein 
einziges  Gsalänos  gebe,  das  vordem  dem  Bebellen  Beke  aus  dem  Geschlechte 
Borsa  gehört  habe.  lieber  Auftrag  des  Judex  CurisB  Paul  von  NagymÄrton 
wurde  nun  das  Erlauer  Capitel  beauftragt,  in  dieser  Angelegenheit  das 
Zeugenverhör  vorzunehmen.  Thomas  konnte  für  seine  Behauptung  nur 
120Edelleute  aufbringen,  während  die  Gegenpartei  ihre  Behauptung  durch 
mehr  als  3000  Zeugen  bekräftigte.  Selbstverständlich  zog  Thomas  den  Kür- 
zeren und  fand  es  für  gut,  am  27.  August  1342^  seinen  diesbezüglichen 
Ansprüchen  zu  Gunsten  der  Herren  von  Debreczen  zu  entsagen ;  —  aller- 
dings suchte  er  auch  hieraus  Capital  zu  schlagen,  indem  er  sich  die  Ver- 
zichtleistüng  auf  Csalänos  mit  der  Ortschaft  Paagh  im  Piliser  Comitate 
bezahlen  Hess. 

1343  ist  Thomas  nicht  mehr  Wojwode  von  Siebenbürgen.  *  Das  Jahr 
eröffnet  er  abermals  mit  einem  Güterprocesse.  Er  hatte  nämlich  die  dem 
Graner  Erzbistume  gehörenden  Neograder  Besitzungen  Vonuntotelek, 
Mokafölde  und  Lukafölde  für  sich  beansprucht,  wogegen  der  Graner  Erz- 
bischof 1341  Protest  erhob.  Er  berief  sich  auf  eine  Urkunde  B61a*s  IV.  aus 
dem  Jahre  1 250,  in  der  der  merkwürdige  Umstand  ans  Licht  kam,  dass 
unter  Anderen  eben  der  Ahn  Tliomas',  Fulko  von  Szecseny  es  war,  der  z.  B. 
Luka,  Mocka  und  Vononto  als  Diener  der  Graner  Kirche  bezeichnete.  Der 
Process  wird  zu  Gunsten  des  Erzbischofs  entschieden. 

Thomas  bekleidet  1343  die  Würde  des  Oberschatzmeisters  und  ist 
daneben  Obergespan  vonSzepes  undBihar;  sein  Nachfolger  in  derWojwoden- 
würde  Siebenbürgens  ist  Nicolaus  aus  dem  Geschlechte  Aba,  der  im  selben 
Jahre  1343  das  Siebenbürger  Capitel  beauftragt,  den  Weissenburger  Probst 
Thatamer  in  den  Gyulafejervärer  Besitz  Bükös  zu  immatrikuliren,  den  ihm 
sein  Compater  Thomas,  königlicher  Oberschatzmeister,  mit  Zustimmung 
seiner  Söhne  geschenkt® 

König  Ludwig  war  dem  langjährigen  Diener  seines  Vaters  gleichfalls 
gewogen  und  wir  irren  wohl  nicht,  wenn  wir  annehmen,  Thomas  habe  von 
seiner  Wojwodenwürde  freiwillig  abgedankt,  um  etwa  mehr  in  der  Nähe 
des  Hofes  zu  leben  und  sich  die  Verwaltung  seiner  Güter  angelegen  sein 
zu  lassen.  Möglich  haben  ihn  auch  dazu  Familienverhältnisse  bewogen. 
1 345  *  bestätigt  nämlich  König  Ludwig,  dass  der  gewesene  Wojwode  von 
Siebenbürgen,  Thomas,  den  Honter  Besitz  Kürth,  den  ihm  Karl  Robert 
geschenkt,  der  Graner  Adalbertkirche  zum  Seelenheile  seiner  selbst,  seiner 
GaUin  Frau  Anna,  seiner  schon  geborenen  und  etwa  noch  zu  erhoffenden 


*  Anjoukori  okm&nyt&r  IV.  257. 
«  Fej^r  IX.  1.  168. 

^  Fej^r  rX.  1.  186. 

*  Fej^r  IX.  1.  278.  455. 


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728  THOMAB   Y.   SZl^GS^NY,    WOJWODB   VOK    SIBBEMBlbtaBlt. 

Kinder  vermache.  Es  scheint  nach  diesem  letzteren  Passus  durchaus  nicht, 
dass  Thomas  sich  1 345  in  sehr  vorgerücktem  Alter  befunden  haben  dürfte. 
Anna  war  wahrscheinlich  seine  zweite  GkUtin. 

1346^  macht  er  mit  seinem  Sohne  Nicolaua  Eon  ja  der  soeben 
erwähnten  Kirche  ein  weiteres  Geschenk,  indem  er  ihr  seinen  Besitz  Berun 
überträgt. 

Am  25.  Juni  1347  *  ist  Thomas  Obergespan  von  Erassö  und  Castellan 
von  Galamböcz.  An  diesem  Tage  unterwirft  er  sich  einem  Schiedsgerichte 
in  Angelegenheit  der  Grenzumschreibung  von  Jmötelek  und  Baehanad, 
wegen  welcher  Ortschaften  er  mit  dem  königlichen  Notar  Stefan  einen 
Streit  hat.  Jenötelek  ist  Thomas'  Eigentum. 

Einige  Tage  später,  am  13.  Juli  1347^  ist  er  Obergespan  von  Keve 
und  Krassö.  An  diesem  Tage  bestätigt  ihm  König  Ludwig  eine  Urkunde  aus 
dem  Jahre  1340,  aus  welchem  Anlasse  er  seiner  ausgezeichneten  Dienste 
gedenkt. 

Am  24.  Mai  1348  *  wird  sein  Besitz  in  Szirazberek  und  Sima  erwei- 
tert, da  Ladislaus'  Sohn  Johann  als  Falschmünzer  erklärt  und  sein  Besitz-, 
anteil  laut  Urteil  des  Palatins  an  Thomas  fiült. 

Einige  Tage  darauf  (1.  Juni)*  überlässt  er  aber  diesen  Teil  dem 
Johann  von  Csähol  aus  dem  Geschlechte  Käta. 

Am  17.  Oktober  hingegen*  entsagt  er  allen  seinen  Ansprüchen  auf 
das  im  Heveser  Comitate  gelegene  BessenyöteUk  und  tritt  es  dem  könig- 
lichen Notar  Stefan  ab,  indem  er  sich  der  an  Stefan  erfolgten  königlichen 
Schenkung  unterwirft. 

Wenn  wir  meinen,  Thomas  sei  bisher  in  der  Erwerbung  seiner  Güter 
stets  gerecht  und  ohne  Gewalt  vorgegangen,  irren  wir  uns  sehr.  Ein  Bei- 
spiel entgegengesetzter  Art  ist  so  drastisch,  dass  es  bezeichnend  sein  muss 
für  das  ganze  Gebahren  des  Mannes.  Vor  dem  Graner  Capitel  klagte  1348  ^ 
Andrees  von  Pochk  in  eigenem,  sowie  im  Namen  seiner  zahlreichen  Ver- 
wandten, dass  Thomas,  gewesener  Wojwode  von  Siebenbürgen,  ihn  und  seine 
Verwandten  schon  seit  30  Jahren  von  ihren  Gütern  verjagt  und  sich  die- 
selben (nämlich  zwei  Pochk,  Pelen  Iriny,  Kaplan,  Nyerges-Lehota  in  Neo- 
grad,  zwei  Volkaz  in  Bars,  Säros  und  Kengyel  in  Värad)  vom  Könige  ver- 
leihen lassen.  Hiermit  nicht  zufrieden,  und  um  sich  diesen  Besitz  umso 


Fej^r  IX.  1.  359. 
Anjoukori  okm&nytÄr  V.  97. 
Fej4r  IX.  1.  465.  521. 
Anjoukori  okm4nyt4r  V.  195. 
Anjoukori  okm4nyt&r  V.  204. 
Anjoukori  okm4nyt4r  V.  241. 
Fej^r  IX.  1.  597. 


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^OMAS    V.    SZlicsiNY,   WOJWODE   VOIJ    SIEBENBÜRGEN.  72Ö 

ungestörter  aneignen  zu  können,  nahm  er  Andreas  gefangen,  liess'ihn 
blenden  und  einer  Hand  berauben,  ausserdem  seien  in  Thomas'  Q^föng- 
nissen  eilf  seiner  Verwandten  vor  Qual  und  Hunger  gestorben.  Der  durch 
Thomas  ihm  erwachsene  materielle  Schaden  betrage  bis  jetzt  5000  Mark. 

So  hart  diese  Beschuldigungen  auch  waren,  schadeten  sie  dem  in  der 
Gunst  des  Hofes  fest  sitzenden  Thomas  dennoch  nicht.  Am  18.  März  1349  ^ 
sehen  wir  ihn  das  hohe  Amt  des  Lord-Oberrichters  bekleiden,  neben  dem 
er  noch'die  Thuröozer  Obergespanswürde  inne  hat.  Am  13.  Oktober  des- 
selben Jahres  ist  er  auch  Obergespan  von  Keve.^ 

Nichtsdestoweniger  ist  er  iti  der  Vermehrung  seines  Besitzes  noch 
immer  unersättlich.  Am  15.  März  1350  lässt  er  seine  Güter  Gyöngyös  und 
Bene  frisch  umgrenzen  und  setzt,  trotz  des  Protestes  der  Nachbarn  seinen 
Willen  durch,  sechs  Tage  später  (21.  Juni)^  meldet  das  Erlauer  Capitel  dem 
Könige,  dass  es  gelegentlich  dieser  Grenzbestimmung  den  Lord-Oberrichter 
Thomas  davor  gewarnt  habe,  sich  etwas  von  Thomas'  Sohn  Demeters  Gute 
Solymos  anzueignen ! 

Zum  letzten  Male  erscheint  Thomas  als  Judex  Curise  am  26.  Sep- 
tember 1356.*  —  Bald  darnach  dürfte  er  gestorben  sein. 

Wann  seine  Grattin  Anna  gestorben  und  welcher  Familie  sie  ange- 
hört, wissen  wir  nicht. 

Von  seinen  Kindern  kennen  wir  die  Söhne  Nikolaus  «Könya»,  Mi- 
chael, Bischof  von  Erlau,  Kaspar  und  Ladislaus.  Könya's  Nachkommen  spie- 
len als  Herren  von  Szecs^ny  eine  bedeutende  Rolle,  bekleiden  hohe 
Beichsämter  und  gehören  zum  Hochadel.  Da  eine  Geschichte  der  Nach- 
kommen Thomas*  hier  nicht  geplant  ist,  beschränken  wir  uns  nur  auf  die 
Bemerkung,  dass  Thomas'  direkte  Nachkommenschaft  in  der  zweiten  Hälfte 
des  XV.  Jahrhunderts  erloschen  ist. 


Wir  haben  das  Lebensbild  dieses  Mannes,  soweit  es  das  bisher  publi- 
cirte  urkundliche  Material  erlaubt,  nach  Möglichkeit  skizzirt  und  es  erüb- 
rigt uns  nur  noch,  ein  resumirendes  Gesammtbild  desselben  zu  bieten.  — 
Im  Grossen  und  Ganzen  erweist  es  sich  für  ihn  nicht  am  glänzendsten. 

Einer  oppositionellen  Familie  entsprossen,  deren  Glieder  einst,  um 
die  Misswirtschaft  eines  herrschsüchtigen  und  übermütigen  Weibes  zu  be- 


*  Anjoukori  okmÄnyt&r  V.  268. 
'  Anjoukori  okm4nyt4r  V.  327. 

»  Anjoukori  okm&nyt&r  V.  365.  384. 

*  Fej^r  IX.  2.  483, 


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J 


730  THOMAS   V.    SZl^CSlto,   WOJWODE   Vt>N   SIHBBNBÜROliN. 

seitigen,  selbst  vor  der  Ermordung  dieses  Weibes  nicht  zurücksoheuten,  ist 
Thomas  von  Szecs^ny,  dem  Beispiele  seines  Vaters  folgend,  von  frühester 
Jagend  an  bestrebt,  den  antikönigliehen  Buf  seiner  Abstammung  durch  die 
denkbar  loyalste  Gesinnung  und  durch  vollständiges  Aufgehen  in  der  Hof- 
atmosphäre zu  verwischen.  Während  seine  Verwandten  sich  an  Matthäus' 
von  Trencseny  Opposition  beteiligen,  Gut  und  Blut  opfern,  ihrer  Besit- 
zungen verlustig  und  vogelfrei  erklärt  werden,  wirft  er  sich,  das  einzige 
Glied  seiner  Familie,  dem  Könige  Karl  in  die  Arme,  nimmt  an  den  Käm- 
pfen gegen  Matthäus  und  seine  eigenen  Verwandten  den  activsten  Anteil, 
kehrt  nach  Beendigung  des  Krieges  an  den  Hof  zurück,  wo  er  unter  Opfe- 
rung von  Zeit  und  Geld  im  Interesse  des  Königs  Ehewerber  wird  und  ver- 
bringt, als  des  Königs  allergetreuester  Anhänger  und  proximus,  sein  ganzes 
Leben  in  Amtsstellungen,  die  ihm  den  ununterbrochenen  Verkehr  mit 
König  und  Hof  sichern. 

Seine  dynastische  Gesinnung  erweist  sich  ihm  dankbar.  22  Jahre 
hindurch  ist  er  Wojwode  von  Siebenbürgen,  darauf  wird  er  der  oberste 
Kichter  des  Landes,  in  welcher  Eigenschaft  er  seine  Tage  beschliesst ;  des 
Königs  Gnade  überschüttet  ihn  mit  materiellen  und  moralischen  Auszeich- 
nungen, seine  Söhne  sieht  er  noch  zu  seinen  Lebzeiten  in  höchst  angese- 
hener Lebensstellung,  er  hat  mit  einem  Worte  das  vollkommen  erreicht, 
was  er  sich  am  Beginne  seiner  Laufbahn  vorgesteckt.  Für  einen  Sprossen 
der  Königinmörder  und  Verwandten  von  Rebellen  gegen  den  regierenden 
König  ein  fabelhafter  Erfolg. 

Fragen  wir  aber,  was  der  Mann  geleistet,  in. welcher  Weise  er  die 
unerhörte  Gunst  seiner  beiden  königlichen  Gebieter  ausgebeutet  und  ob 
ihm  in  der  Geschichte  seiner  Nation  ein  bleibendes  Denkmal  seines  Lebens 
durch  seine  Thaten  errichtet  worden,  so  haben  wir  darauf  nur  eine  negi- 
rende  Antwort. 

Wir  wollen  von  seinen  Kämpfen  gegen  Matthäus  absehen ;  er  war 
damals  ein  junger  Mann,  der  in  seiner  Beteiligung  an  diesen  Kämpfen  nur 
das  Mittel  zur  Erreichung  von  Ansehen  und  Macht  sah.  Kaum  hatte  er  es 
aber  erreicht,  finden  wir,  dass  er  die  grenzenlose  Gnade  des  Hofes  zu 
nichts  anderem,  als  zur  eigenen  Bereicherung  verwendet.  Kaum  wird  in 
der  langen  Reihe  von  Jahren  irgendwo  ein  Gut  frei,  sehen  wir  den  aller- 
getreuesten  Thomas  vor  seinen  König  treten,  um  ihn  an  die  vor  Jahren 
gegen  Matthäus  geleisteten  Dienste  unterthänigst  zu  erinnern  und  sich  das 
freigewordene  Gut  als  erneuerten  Beweis  königlichen  Dankes  zu  erbitten. 
Dabei  ist  er  in  der  Auswahl  derselben  durchaus  nicht  skrupulös ;  dass  die 
Güter  manchmal  seinen  eigenen  Verwandten  als  Rebellen  weggenommen 
wurden,  berührt  ihn  wenig,  genug,  wenn  er  das  Erbe  der  ihrer  Habe  Be- 
raubten antritt;  und  wo  er  sich  nicht  in  den  Schutzmantel  königUcher 
Donation  hüllen  kann,  weicht  er  selbst  vor  Gewalt  nicht  zurück ;  er  occu- 


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^HOkAS  V.  SZlfiCß^NY,  WOJWODE  VON  BIEBRNBÜROEN. 


731 


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732  DIB   LANDNAHME   DER   tmOAR!}   UND   DIE   ASTRONOMIE. 

pirt  fremdes  Gut,  wirft  die  rechtmässigen  Eigentümer  in  den  Kerker,  wo  er 
sie  yerbungem  lässt. 

Dass  ein  Mann,  der  es  im  Laufe  der  Jabre  zu  einem  Beichtume 
bringt,  wie  er  in  der  Gescbicbte  des  damaligen  Hocbadels  nur  selten  ver- 
zeichnet ist,  weder  der  Eircbe,  nocb  Anderen  etwas  schenkt,  ist  gleichfalls 
charakteristisch.  Er  beschenkt  seinen  Beamten  einmal^  weil  er  die  könig- 
liche Familie  gerettet,  und  in  seinem  Alter  spendet  er  ein-zweimal  zu  sei- 
nem Seelenheile  Etwas  der  Kirche ;  dies  ist  aber  auch  Alles,  was  wir  von 
seiner  Grosmut  und  Wohlthätigkeit  wissen.  • 

Bewegende  Ideen,  Sinn  für's  allgemeine  Wohl,  schaffende  und  orga- 
nisatorische Thätigkeit  suchen  wir  bei  ihm  vergebens ;  ihm  schwebte  immer 
und  überall  nur  der  eine  Gedanke  vor :  seines  Königs  allerunterthänigster 
Diener  zu  heissen  und  sich  auf  jede  Art  zu  bereichem ;  er  war  kein  Staats- 
mann, sondern  ein  Höfling,  der  ausserhalb  der  Hofatmosphäre  jeden  Halt 
verloren  hätte ;  sein  König  konnte  mit  ihm  zufrieden  sein  .  .  . 

Schliesslich  wollen  wir  noch  die  Stammtafel  (S.  731)  jenes  Hauptzwei- 
ges des  Geschlechtes  Kathyz  bieten,  aus  welchem  neben  den  Herren  von 
Sz6cseny  noch  die  Familien  Satgoi  und  Libercsei  stammen. 

Dr.  MoRiz  Wertneb. 


DIE  LANDNAHME  DER  UNGARN  UND  DIE  ASTRONOMIE. 

Die  Untersuchungen  über  den  Zeitpunkt,  da  die  Ahnen  des  magyari- 
schen Volkes  das  Land  in  Besitz  genommen,  haben  in  jüngster  Zeit  unsere 
Historiker  zu  den  eingehendsten  Forschungen  veranlasst,  ohne  dass  bisher 
eine  Einigung  in  einem  bestimmten  Datum  erzielt  worden  wäre.  In  einem 
Punkte  jedoch  stimmen  so  ziemlich  alle  Ansichten  überein,  dass  nämlich  die 
Bestimmung  des  Jahres  der  Landnahme  in  Pannonien  davon  abhängt,  wel- 
ches Jahr  wir  für  jenen  bulgarischen  Feldzug  annehmen,  der  der  Eroberung 
Pannoniens  voranging.  Dieser  bulgarische  Feldzug  wird  auf  die  Jahre  893, 
894,  895  und  896  angesetzt,  demnach  erfolgte  auch  die  Landnahme  selbst 
zwischen  894 — 898.  In  Bezug  auf  diesen  bulgarischen  Feldzug  erzählen  die 
Chronisten  jener  Jahre,  dass  um  jene  Zeit  in  Byzanz  eine  grosse  Sonnen - 
finstemiss  sichtbar  war.  Diese  Himmels-Erscheinung  erklärt  es  nun,  dass 
die  Astronomie  in  dieser  Frage  der  Geschichte  zu  Hilfe  eilt. 

Dass  wir  —  ob  wir  nun  das  erste  Auftauchen  unserer  Ahnen  in  Pan- 
nonien oder  ihre  teilweise  Ansiedelung  oder  endlich  die  bereits  beendete 
Landnahme  ins  Auge  fassen  —  einen  ganz  bestimmten  Zeitpunkt,  wie  etwa 
für  ein  Ereigniss  der  Gegenwart  oder  auch  nur  für  ein  oder  das  andere 
wichtigere  Ereigniss  in  der  Geschichte  der  damals  schon  hier  in  Mittel- 
Europa  ansässigen  Völker,  nie  angeben  werden  können,  darüber  sind  wir 


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DIE    LANDNAHME    DBB   UNOABN   UND    DIE   ASTRONOMIE.  738 

wohl  im  Reinen.  Nichtedestoweniger  ist  es  unsere  Pflicht,  unseren  gegen- 
wärtigen Kenntnissen  entsprechend  wenigstens  die  engsten  Zeügrenzen  des 
wahrscheinlichen  Zeitpunktes  jenes  Ereignisses  festzustellen. 

Die  Bestimmung  eines  Zeitpunktes  bleibt  eigentlich  immer  eine  astro- 
nomische Frage,  da  ja  der  Mensch  das  Maass  und  die  Einteilung  der  Zeit 
von  allem  Anfang  an  aus  dem  Ejreise  astronomischer  Erscheinungen  genom- 
men hatte. 

Die  Herstellung  der  Chronologie  —  dieses  Gerippes  der  Geschichte  — 
war  und  bleibt  stets  nicht  nur  Aufgabe  der  Geschichte  allein,  sondern 
zu  gutem  Teil  auch  die  der  Astronomie.  Die  Bestimmung  der  Zeitrech- 
nung verschiedner  Völker  und  Zeitalter,  ihre  Vergleichung  mit  unserer  Zeit- 
rechnung und  ßeduction  auf  dieselbe  ist  ja  auch  jetzt  ebenso  eine  astro- 
nomische Aufgabe,  wie  seinerzeit  die  Wahl  des  Jahres,  die  Berechnung 
seiner  Länge  und  die  Anpassung  an  die  Erscheinungen  der  Natur  es  war. 

Doch  könnte  Jemand  einwenden,  dass  wenn  die  Menschen  sich  ein- 
mal im  Zeitmaasse  und  der  Art  ihrer  Zeit-  und  Jahres-Bechnung  geeinigt 
haben,  der  Nachweis  der  Beihenfolge  der  geschichtlichen  Ereignisse  nicht 
mehr  Sache  des  Astronomen,  sondern  des  Historikers  ist.  Und  da  zur 
Zeit  der  Eroberung  Pannoniens  auch  bei  unseren  Ahnen  die  Astronomie 
ihren  Urzustand,  die  Anfänge  der  Zeitrechnung,  schon  überschritten  hatte, 
so  könnte  der  Geschichtsforscher  zur  Bestimmung  der  Chronologie  jener 
Zeit  der  Astronomie  wohl  entbehren. 

Nichtsdestoweniger  spielt  die  Astronomie  auch  in  der  Bestimmung  des 
Datums  einzelner  Begebenheiten  in  dieser  verhältnissmässig  nicht  allzusehr 
entfernten  Zeit  eine  nicht  unbedeutende  Bolle.  Es  ist  dies  zwar  nicht  jene 
grundlegende  Beteiligung,  auf  die  wir  früher  hingewiesen  haben,  sondern 
vielmehr  eine  Art  der  Wegweisung  und  Unterstützung.  Denn  wenn  auch  — 
nach  Houzeau  —  die  Astronomie  nicht  so  sehr  deshalb  die  erste  objective 
Wissenschaft  war,  weil  der  helle  Glanz  der  Sterne  die  allgemeine  Aufmerk- 
samkeit auf  sich  zog,  sondern  vielmehr  darum,  weil  der  Mensch  sich  fort- 
während zu  den  Sternen  wenden  musste,  um  im  practischen  Leben  durch- 
zukommen :  so  begleitet  die  Astronomie  auch  heute  noch  fortwährend  den 
Menschen,  der  ihrer  teils  benötigt  und  immer  benötigen  wird,  teils  sich 
unwillkürlich  dorthin  wendet,  wo  jede  menschliche  Schwäche  verschwindet ! 

Aus  diesem  Grunde  finden  wir  in  den  Überlieferungen  jeder  Zeit  Auf- 
zeichnungen der  Himmelserscheinungen,  welche  uns  dann  das  Mittel  an 
die  Hand  geben,  das  Alter  und  die  Zeit  jener  Aufzeichnungen  zu  bestim- 
men, da  sehr  häufig  das,  was  in  jenen  Aufzeichnungen  sonst  hierauf  Bezug 
hat,  jetzt  nicht  mehr  verständUch  und  auch  nicht  controlirbar  oder  ab^r 
so  nichtssagend  ist,  dass  wir  darauf  nicht  bauen  können.  Hingegen  haben 
die  Aufzeichnungen  der  Himmels-Erscheinungen  eine  kaum  genug 
schätzbare  Eigenschaft,  welcher   zufolge    sie  wie  geschaffen  erscheinen, 


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734  DIE    LANDNAHME    DEB    UNGARN    UND    DIE   ASTRONOMIE. 

entweder  das  —  anderweitig  gefolgerte  —  Alter  als  richtig  zu  erweisen,  oder 
zwischen  zwei  strittigen  Jahreszahlen  zu  entscheiden,  oder  endlich  allein 
die  einzige  Stütze  der  Zeitrechnung  abzugeben.  Die  Aufzeichnungen  der 
Himmelserscheinungen  können  nämlich  in  den  meisten  Fällen  rückberech- 
net werden,  und  hierin  liegt  eben  ihre  Wichtigkeit.  Wir  kennen  nämlich 
die  Bewegungs-Gesetze  und  Verhältnisse  der  Himmelskörper  und  die  Lage 
unserer  Erde  im  Welträume,  und  so  sind  wir  im  Stande,  für  jede  —  noch 
so  entfernte  —  Epoche  und  für  einen  gewissen  Erdenort  das  Bild  des  Him- 
mels zu  reconstruiren.  Oft  steht  allerdings  auch  der  Ort,  auf  welchen  sich 
die  betreffende  Beobachtung  bezieht,  in  Frage,  —  in  diesem  Falle  ist  dann 
die  Bestimmung  der  Zeit  nur  nach  langwieriger  Bechnung  möglich  und 
kann  häufig  überhaupt  nicht  endgiltig  entschieden  werden.  Doch  geben 
uns  die  eriudtenen  Besultate  auch  in  solchen  Fällen  häufig  neuere  Daten 
oder  führen  zu  gana  unerwarteten  Folgerungen  in  Bezug  auf  Alter,  Ort  oder 
andere  umstände  der  in  Frage  stehenden  üeberlieferung.  Denn  —  was  wohl 
nicht  des  Näheren  erläutert  zu  werden  braucht  —  wenn  das  Alter  einer 
derartigen  alten  Beobachtung  entweder  aus  der  Aoi^ichnung  selbst  oder 
sonstwie  bekannt,  der  Ort  der  Beobachtung  aber  unbekannt  wäre,  so  kön- 
nen wir  aus  den  für  jene  Zeit  reconstruirten  Orten  der  Himmeldtwper 
auch  jene  Gegend  und  jene  Orte  der  Erde  bestimmen,  wo  die  fragliobe 
Erscheinung  sichtbar  war,  und  somit  auch,  wo  die  Beobachtung  und  Auf- 
zeichnung geschah. 

Einige  Beispiele  sollen  uns  dies  näher  illustriren.  In  der  «Syntaxis» 
des  Ptolemäus  (bekannter  ist  dies  alte  Werk  unter  dem  Namen  der  arabi- 
schen Uebersetzung :  «Almagest»)  geschieht  unter  anderem  nach  Hipparchus 
Erwähnung  einer  Mondesfinsterniss,  derart,  als  ob  sie  zu  Babylon  beobach- 
tet worden  wäre.  Doch  schon  in  der  Einleitung  des  Almagest  heisst  es, 
«Hipparchus  sagt,  dass  er  diese  drei»  (nämlich  die  in  Frage  stehende  und 
zwei  andere)  «Finsternisse  zu  denen  aus  Babylon  überlieferten  hinzugefügt 
habe,  als  ob  sie  dort  beobachtet  worden  wären.»  Oppoltzer  findet  nun,  dass 
hier  sicher  die  Finstemiss  vom  22.  Dezember  382  v.  Chr.  gemeint  ist  und 
die  Beobachtung  in  Athen  oder  auf  einer  der  jonischen  Colonien  angestellt 
und  von  Hipparchus  dann  auf  Babylon  reducirt  wurde.  Hier  aber  war 
die  Finstemiss  gar  nicht  sichtbar,  da  Oppoltzer  auf  Grund  seiner  Syzigial- 
Tafeln  den  Anfang  der  Finstemiss  für  Babylon  4  Minuten  nach  Sonnen- 
Aufgang  berechnet.  Die  Berechnung  entschied  also^in  diesem  Falle,  dass 
die  Beobachtung  so  wie  sie  erzählt*  ist,  gar  nicht  hat  geschehen  können. 

Auf  drei  der  kleinen  Thontäfelchen,  die  aus  der  Seleucidenzeit  und 
dem  Orte  nach  aus  Abu  Habba  (wahrscheinlich  der  alten  chaldäischen 
Sternwarte  zu  Sippara)  stammen,  finden  sich  zahlreiche  astronomische 
Angaben,  besonders  auf  die  Bewegung  des  Mondes  Bezug  habende  und 
unter  anderen  auch  Erwähnungen  von  Mondesfinstemissen.  Die  Jesuiten* 


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DIE   LANDNAHME   DER   ÜKGAB|7   UND   DIE   ASTBONOMt£  735 

patres  Epping  und  Strassmaier  haben  nun  in  der  Annahme,  dass  die  eine 
Tafel  dem  Jahre  189  der  seleucidiscben  Aera  [=  123  v.  Chr.]  angehört,  die 
Finsternisse  berechnet  und  gefunden,  dass  diese  Finsternisse  mit  den  Ta- 
felangaben thatsächlich  übereinstimmen  und  dass  auch  kein  anderes  Jahr 
die  Mondesfinstemisse  in  der  von  den  Titfein  geforderten  Weise  enthält. 
Somit  konnte  der  Anfang  der  seleucidiscben  Aera  für  das  Jahr  311  v.  Chr. 
vollkommen  sicher  festgestellt  werden. 

Einen  geschichtlich  wie  astronomisch  interessanten  Fall  hat  Gin»ef 
endgiltig  entschieden,  nämUch  die  von  Plutarch  in  seinem  Gespräche 
«Ueber  das  Gesicht  in  der  Mondscheibe»  erwähnte  Sonnenfinstemiss,  welche 
Ginzel  mit  der  vom  20.  März  71  n.  Chr.  identificirt,  und  hiedurch  für  das 
Alter  von  Plutarch,  —  der  demnach  damals  gegen  26  Jahre  alt  gewesen 
sein  dürfte ,  —  und  somit  für  die  klassische  Philologie  ein  bemerkenswertes 
Pactum  gewonnen  hat.  Hiebei  musste  Ginzel  die  Epoche  der  Jahre  27  bis 
103  n.  Chr.  systemastisch  durchmustern,  was  das  oben  gesagte  über  die 
Langwierigkeit  der  manchmal  nötigen  Bechnungen  zweifellos  illustrirt. 

Doch  kommen  auch  Fälle  vor,  wo  entweder  in  Folge  des  zu  allge- 
mein gehaltenen  Wortlautes  oder  auch  wegen  der  Möglichkeit  der  verschie- 
denen Deutung  des  Textes  eine  Beconstruirung,  respective  eine  vollkom- 
men eindeutige  Identificirung  nicht  gelingt.  Ich  will  hier  beispielweise  nur 
auf  eine  bei  dem  jonischen  Dichter  Archilochos  erwähnte  Finstemiss  (nach 
Schwartz  und  Oppoltzer  entweder  die  vom  14.  April  657  oder  5.  April 
648  V.  Chr.)  und  auf  die  zu  mannigfaltigen  Combinationen  Anlass  gegebene 
Ennius'sche  (nach  Oppoltzer  21.  Juni  399  v.  Chr.,  nach  Anderen  12.  Juni 
391  V.  Chr.)  Finstemiss  hinweisen. 

Bevor  ich  nun  selbst  auf  die  Bestimmung  der  Zeit  einer  derartigen 
alten  Beobachtung,  welche  für  uns  von  Interesse  ist,  des  Näheren  eingehe, 
muss  ich  zweierlei  bemerken.  Erstens  muss  ich  an  jene  Schwierigkeiten 
erinnern,  welche  in  dem  Umstände  begründet  sind,  dass  trotz  der  grossen 
Vollkommenheit  der  Theorie  der  Bewegung  der  Himmelskörper,  der 
s.  g.  Mechanik  des  Himmels,  bei  ihrer  Anwendung,  der  numerischen  Be- 
rechnung der  Bewegungen  der  Himmelskörper,  dennoch  kleine  Unsicher- 
heiten zurückbleiben,  welche  zur  Folge  haben,  dass  die  in  der  Gegenwart 
giltigen  Zahlenwerte  bei  ihrer  Anwendung  auf  eine  Jahrhunderte  und 
Jahrtausende  entfernte  Epoche  ein  von  der  thatsächlichen  Erscheinung 
mehr  oder  minder  abweichendes  Eesultat  ergeben.  Ich  will  dies  statt  län- 
gerer Auseinandersetzungen  an  einem  Beispiele  erläutern.  Jeder  Planet 
und  Trabant  hat  heute  schon  seine  sogenannte  Theorie,  d.  h.  seine  Bahn 
im  Weltenraume,  und  seine  Bewegungen  in  dieser  Bahn  sind  berechnet  und 
auf  Grund  dieser  Zahlen  wurden  Tafeln  construirt,  mittelst  deren  Hilfe  wu: 
im  Stande  sind,  den  jeweiligen  Ort  dieser  Himmelskörper  an  der  schein- 
baren Himmelskngel  für  jede  Zeit  anzugeben.  So  also  z.  B.  auch  den  Ort 


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736  DIE    LANDNAHME   DKR  ÜNGABN    UND   DIE   ABTBONOMIE. 

unseres  Mondes.  Nachdem  aber  die  Zahlenwerte  selbstverständlich  auf 
Grund  der  Beobachtungen  berechnet  werden,  die  Beobachtung  aber  be- 
kanntlich nie  die  thatsächlich  wahren,  sondern  immer  nur  die  yHihrschein- 
lichsten  Werte  liefert,  so  werden  die  numerischen  Werte  mit  gewissen  Un- 
sicherheiten, 8.  g.  Fehlem  behaftet  sein,  welche  sich  für  so  entfernte  Zeiten 
summiren  und  grössere  Abweichungen  zwischen  Theorie  und  Wirklichkeit 
zur  Folge  haben  müssen.  Es  kann  uns  aber  zur  Beruhigung  dienen,  dass 
diese  Fehler  heute  schon  äusserst  klein  sind,  in  Bezug  auf  den  Ort  des 
Himmelskörpers  meistens  nur  Bruchteile  der  Bogensecunde.  In  der  Mond- 
theorie existiren  ausserdem  noch  Glieder,  welche  sich  mit  der  2jeit  ändern, 
ohne  dass  wir  das  allgemeine  Gesetz  der  Aenderung  bisher  genügend  ken- 
nen würden,  und  welche  also  nur  für  jene  Zeit  als  endgiltige  gelten  kön- 
nen, in  welcher  die  zu  ihrer  Berechnung  benutzten  Beobachtungen  gemacht 
wurden.  Doch  auch  hier  werden  unsere  eventuellen  Zweifel  dadurch  ent- 
kräftet, dass  di  >  Theorie  eben  alle  Beobachtungen,  also  auch  die  aus  den 
früheren  Zeiten  stanmienden,  zur  Bestimmung  dieser  mit  der  Zeit  veränder- 
lichen Werte  für  die  in  Frage  kommende  Epoche  benützen  kann  und  auch 
fortwährend  benützt.  Es  ist  also  möglich,  dass  ein  Beobachter  vor  1000  Jahren 
den  Mond  nicht  gerade  zu  dem  auf  Grund  unserer  heutigen  Mondtafeln  be- 
rechneten Zeitpunkte  auf  einem  bestimmten  Ort  gesehen  hat,  sondern  ein 
wenig  früher  oder  später.  Dennoch  wird  die  Abweichung  in  den  allerselten- 
sten  Fällen  so  viel  betragen,  dass  die  Beconstruction  oder  Identificirung 
der  Beobachtung  fraglich  bliebe. 

Meine  zweite  Bemerkung  ist  die,  dass  in  der,  nun  schon  mehrere 
Jahrtausende  umspannenden  Geschichte  der  Menschheit  die  meisten  —  und 
wir  können  gleich  hinzusetzen,  die  für  Geschichtswissenschaft  und  Archäo- 
logie wichtigsten  —  Aufzeichnungen  sich,  wie  schon  die  oben  angeführten 
Beispiele  andeuteten,  auf  Finsternisse  beziehen. 

Auf  den  ersten  Blick  scheint  es  leicht  verständlich,  warum  eben  die 
Finsternisse  die  Aufmerksamkeit  der  Menschen  auf  sich  zogen,  anderseits 
bietet  aber  eben  dieser  Umstand  Anlass  zu  einem  eingehenderen  Studium 
bezüglich  der  culturellen  Entwickelung  der  Menschheit.  Das  Unerwartete 
und  Ungewöhnliche  der  Erscheinung,  dann  auch  die  abergläubische  Furcht 
und   der  Eigendünkel    der  Menschen,    all    dies   wurde  noch  gesteigert 
durch  die  eigentliche  Ursache,   daes   es    nämlich    ausser    den  Cometen 
und  Meteoriten  kaum  eine  auffallendere  Erscheinung  des  Himmels  gibt, 
als   eben  die    Finsternisse.    Ausser   ihrer   Häufigkeit  sind  sie  aus  dem 
oben  erwähnten  Gesichtspunkte  auch  noch  darum  von  besonderer  Wich- 
tigkeit, weil  gerade  die   Theorie    der    Finsternisse    eines   der   wohl   am 
vollkommensten   ausgearbeiteten  Capitel  der   Astronomie  isi  Sie  konnte 
ja  die  Lösung  solcher  Aufgaben  versuchen,  welche   bis  in  die  Zeit  der 
ältesten  Denkmäler  des  bewussten  Daseins  des  Menschen  zurückreichen, 


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DIB   LANDNAHME   DEB  UNGARN   UND   DIB  ASTBONOIHH.  737 

wie  z.  B.  die  Finstemiss  des  Su-king,  welche  vor  nahe  4000  Jähreh  statt- 
gefunden hat. 

Dass  die  Astronomie  die  Geschichte  in  der  wissenschaftlichen  Bear- 
beitung einer  Begebenheit,  in  der  Bestimmung  des  Alters  einer  ausgegra- 
benen Gedenktafel  unterstützt,  glaube  ich  zur  Genüge  dargethan  zu  haben ; 
dass  die  Astronomie  dieses  Ziel  hauptsächlich  durch  die  Neuberechnung 
der  Finsternisse  erreicht,  ist  nach  dem  Letztgesagten  auch  klargestellt. 

Aufzeichnungen,  bezüglich  welcher  eine  Neuberechnung  irgendeiner 
Finstemiss  notwendig  wird,  haben  wir  nicht  nur  in  den  Zeiten  des  fernsten 
Altertumes  zu  suchen,  sondern  wir  finden  solche  auch  aus  verhältniss- 
mässig  nicht  so  femer  Zeit  stammend.  Der  Chronist  des  Mittelalters  z.  B. 
beginnt  nur  zu  oft  mit  der  Erzählung  der  Erschaffung  der  Welt,  durch- 
läuft dann  das  Wenige,  was  man  zu  seiner  Zeit  Welt-  oder  im  Allgemeinen 
Geschichte  nannte,  und  kommt  schliesslich  zur  Gründung  seiner  Vater- 
stadt, deren  Geschichte  er  weitläufig  erzählt.  In  dieser  teilt  er  dann  oft 
mit,  zu  welcher  Tagesstunde  dieses  oder  jenes  geschehen,  wer  an  dieser 
oder  jener  Procession  teilnahm ;  doch  in  welchem  Jahre  sich  das  alles 
begeben  hatte,  verschweigt  er  entweder,  oder  seine  Chronologie  ist  derart 
unzuverlässig,  dass  seine  Jahreszahlen  ganz  unbrauchbar  werden. 

Vielleicht  noch  häufiger  ist  aber  der  Fall,  dass  die  verschiedenen 
Chroniken  —  von  je  einem  anderen  Ausgangspunkte  aus  rechnend  —  für 
dieselbe  Begebenheit  verschiedene  Jahreszahlen  angeben,  oder  aber,  dass 
die  heutige  Geschichtsforschung  nach  den  verschiedenen  Urkunden  ver- 
schiedene Jahreszahlen  für  dasselbe  Ereigniss  folgert.  In  diesem  Falle 
kann  dann  eine  von  dem  einen  oder  dem  anderen  Chronikschreiber  erwähnte 
Finstemiss  die  Entscheidung  bringen.  Zu  dieser  Classe  der  Finsternisse  zählt 
auch  jene,  die  um  die  Zeit  des  bulgarischen  Feldzuges  in  Byzanz  sichtbar 
war  und  mit  welcher  wir  uns  nun  eingehender  beschäftigen  wollen,  zugleich 
diesen  Zweig  der  rechnenden  Astronomie  berührend. 

Damit  wir  auch  sehen,  welcher  Art  diese  Aufzeichnungen  sind,  und 
wie  immer  engere  und  engere  Kreise  gezogen  werden  müssen,  bis  wir 
behaupten  können,  dass  diese  und  nur  diese  Finstemiss  die  fragliche  ist, 
schreibe  ich  die  Worte  des  Fortsetzers  der  Chronik  des  Georgius  Monachus 
her.  In  dem  9.  Punkte  der  Chronik  der  Kegierung  Kaiser  Leo's  heisst  es : 
«Eine  Sonnenfinstemiss  trat  ein,  so  dass  es  Nacht  wurde  in  der  sechsten 
Stunde  und  die  Sterne  erschienen.  Und  es  donnerte  und  stürmte  und 
blitzte,  sodass  sieben  Menschen  auf  den  Stufen  des  Fomms  verbrannten.»* 


*  Der  griechische  Text  lautet:    iF^yove  8g    «Xe^i;  fjXtou,  ajaie  vüxta  yt^h^cu  &pa 

Ixt?)  xo^  tou(  aat^pa^    fabM^cti,   oXXa  ßpov';a\    xa\    ouvo^^at    av^jjicov  xot    a7Tpa7ca\    y^^^^^^^» 
a»aTe  xaTJvai  ^v  toi(  avaßo^^iot^  tou  oöpou  avj^pcu7Cou(  ItctÄ.» 

ÜDgwItohe  Beine.  1891.  XI.  vni— DL  Heft.  47 


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738  DIE   LANDNAHME   DEB  UNGABN  UND   DIE  A8TB0N0MIB. 

An  einer  Stelle,  unweit  der  citirten,  erwähnt  zwar  der  Fortsetzer  des 
Georgius  eine  Jahreszahl,  nämlich  das  Jahr  der  Tronbesteigung  Kaiser 
Leo's,  886  n.  Chr.,  doch  da  darauf  wieder  lange  keine  Jahreszahl  folgt, 
konnte  man  nicht  genau  wissen,  welche  Sonnenfinstemiss  gemeint  ist,  wie 
denn  auch  Ginzel  es  nur  als  wahrscheinlich  hinstellt,  dass  die  vom  8.  August 
891  gemeint  sei.  Ausserdem  leidet  die  Chronologie  gerade  dieses  Zeit- 
raumes Mangel  an  zweifellos  bestimmten  Jahreszahlen.  Unser  ausgezeich- 
neter Geschichtsforscher,  Prof.  Salamon,  sagt  in  seiner  Brochüre :  « A  hon- 
foglaläs  6ve»  (das  Jahr  der  Landnahme)  in  Bezug  auf  die  fragliche  Him- 
melserscheinung, «es  sei  Schade,  dass  nicht  einmal  das  Jahr  der  Sonnen- 
finstemiss mit  genügender  Sicherheit  controUirbar  ist»,  —  wie  das  damals 
auch  thatsächlich  nicht  der  Fall  war.  Ich  habe  gerade  auf  seine  Aufforderung 
hin  im  Jahre  1883  meine  hierauf  bezüglichen  Eechnungen  angefangen, 
konnte  sie  aber  —  häufig  und  verschiedenartig  verhindert  —  erst  im  ver- 
flossenen Jahre  beenden. 

Um  die  Sonnenfinstemiss  zu  bestimmen,  musste  ich  mich  darauf 
stützen,  was  bekannt  war,  ich  musste  also  jene  Sonnenfinstemiss  suchen, 
welche  in  den  letzten  10 — 15  Jahren  des  IX.  Jahrhunderts  in  Byzanz  total 
oder  wenigstens  sehr  nahe  total  war  und  zwar  in  der  sechsten  Tagesstunde, 
also  nach  unserer  jetzigen  Zeitrechnung  um  die  Mittagszeit. 

Ohne  hier  auf  die  Theorie  der  Finstemisse,  noch  weniger  auf  die 
Art  und  Weise  ihrer  Berechnung  des  Näheren  einzugehen,  will  ich  nur 
kurz  den  Weg  angeben,  welcher  bei  der  Lösung  derartiger  Aufjgaben  zu 
befolgen  ist. 

Aus  den  Daten  der  Sonnen-  und  Mondtafeln  berechnen  wir  zuerst 
für  die  Zeit  der  Conjunction,  d.  h.  für  den  Augenblick  des  Neumondes,  jene 
Werte,  welche  die  Oerter  der  Sonne  und  des  Mondes  bestimmen  :  die  Coor- 
dinaten  der  beiden  Himmelskörper,  ihre  scheinbaren  Durchmesser  und 
ihre  Horizontal-Parallaxen.  Oppoltzer  gab  in  seinen,  im  Jahre  1881  von  der 
«Astronomischen  Gesellschaft»  herausgegebenen  «Syzigial  -  Tafeln  des 
Mondes»  bereits  diese  zur  Zeit  der  Syzigien  giltigen  Werte,  so  dass  ein 
Rückgreifen  auf  die  Mond-  und  Sonnentafeln  direct  nicht  mehr  notwendig 
ist.  Aus  diesen  Tafeln  die  einem  gewissen  Datum  entsprechenden  Zahlen 
entnehmend,  berechnen  wir  die  Elemente  der  Finsterniss,  —  wenn  eine 
Finstemiss  in  der  fragUchen  Syzigie  im  Allgemeinen  möglich  ist,  welchen 
Umstand  uns  ebenfalls  gewisse  zwischen  diesen  Zahlen  bestehende  Relatio- 
nen anzeigen. 

Unter  den  Elementen  der  Finsterniss  verstehen  wir  gewisse  Relationen 
und  Beziehungen  zwischen  den  obenerwähnten  Daten  der  beiden  Himmels- 
körper (Sonne  und  Mond),  welche  uns  auch  in  den  Stand  setzen,  durch 
weitere  Rechnungen  die  Lage  und  den  Weg  des  Schattenhegels  des  Mondes, 
also  allgemein  die  Sichtbarkeit  der  Finstemiss  für  einen  gewissen  Erden- 


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DIB  LANDNAHME   DEB  UNOABN   UND   DIB   A8TB0N0MIB.  739 

Ort  und  andere  Umstände  derFinstemiss  zu  bestimmen.  *  —  Wenn  wir  nun 
die  geographischen  Coordinaten  eines  Erdenortes  kennen  und  dieser  inner- 
halb der  Sichtbarkeitsgrenzen  der  Finstemiss  liegt,  können  wir  durch  wei- 
tere Näherungs-Kechnungen  die  näheren  Umstände  der  Finstemiss  für 
diesen  Ort  —  Anfang  und  Ende  der  Finstemiss,  Grösse  und  Zeit  der 
grössten  Phase  —  bestimmen.  Die  «^äÄ^rwngf«» -Rechnungen  sind  nicht 
etwa  so  zu  verstehen,  dass  wir  die  eben  erwähnten  Umstände  —  Anfang, 
Ende  u.  s.  w.  —  der  Finstemiss  nur  annähernd  richtig  erhielten  (abge- 
sehen natürlich  von  den  früher  erwähnten  Abweichungen  der  Theorie  von 
der  Wirklichkeit),  sondern  so,  dass  wir  nur  durch  Wiederholung  derselben 
Rechnungsvorschriften  dem  der  Theorie  entsprechenden  Werte  der  ge- 
wünschten Daten  mit  der  von  uns  erstrebten  Genauigkeit  immer  näher 
kommen,  welche  Genauigkeit  mit  unseren  Tafeln  bis  zum  Bruchteile  der 
Zeitsekunde  geht.  Die  Ursache  hievon  ist  (um  dies  nur  kurz  zu  berühren 
und  um  gleichzeitig  die  Ausdehnung  derartiger  Rechnungen  zu  charakte- 
risiren),  dass  wir,  um  für  einen  gewissen  Ort  den  Anfang  und  das  Ende  der 
Finstemiss  berechnen  zu  können,  schon  den  Ort  der  Himmelskörper  für 
jenen  Augenblick,  also  diesen  selbst,  das  heisst  das,  was  wir  eben  berechnen 
wollen,  kennen  müssten.  Darum  beginnen  wir  die  Rechnung  mit  einer  — 
meistens  der  ungefähren  Mitte  der  Finstemiss  entsprechenden  Zeit,  und 
bekommen  für  den  Anfang,  Ende  u.  s.  w.  gewisse  Werte,  mit  denen  wir 
die  Rechnung  wiederholen,  und  dieses  Verfahren  so  lange  fortsetzen,  bis 
das  Endresultat  mit  dem  letzten  Anfangswerte  übereinstimmt.  Mit  den 
Tafeln  Oppoltzers  und  den  dort  gegebenen  Vorschriften  werden  wir  kaum 
je  mehr  als  einer  dreimaligen  Näherung  bedürfen. 

In  dieser  Weise  bin  ich  mit  der  Sonnenfinsterniss  des  Fortsetzers 
von  Georgius  verfahren.  In  Bezug  auf  dieselbe  wusste  ich  nur  so  viel,  dass 
sie  sich  zu  Ende  des  IX.  Jahrhunderts  ereignet  hatte  und  in  Byzanz 
central  war.  Ich  berechnete  also  die  ElefnerUe  der  in  den  Jahren  887 — 896 
möglich  gewesenen  Sonnenfinsternisse,  für  die  centralen  unter  denselben 
die  geographischen  Oerter  jener  Rmkte,  in  Bezug  welcher  die  Centralität 
eben  zu  Sonnenaufgang,  Mittag  und  Sonnenuntergang  eintrat,  d.  h.  die 

^  Von  nnn  an  wird  im  Allgemeinen  auch  die  Inanspruchnahme  der  Syzigial- 
tafeln,  resp.  die  Berechnung  der  Fin6temL<«-Elemente  nicht  mehr  notwendig  sein, 
da  Oppoltzer  in  seinem  nCanon  der  f instemissen  die  Elemente  und  Hilfsgrössen, 
wie  auch  die  später  zu  erläuternden  Hauptpunkte  sämmtlicher  Finsternisse  von 
1908  a.  Ch.  n.  bis  2161  p.  Ch.  n.  berechnen  und  zusammenstellen  Hess.  Da  der 
Canon  erst  1887  von  der  kais.  Akademie  in  Wien  edirt  wurde,  somit  vor  1888  nicht 
benützt  werden  konnte,  ich  aber  schon  1885  zum  grössten  Teile  die  Bechnungen 
ausgeführt  hatte,  konnte  ich  noch  keinen  Gebrauch  von  diesem  Canon  machen,  sondern 
musste  den  längeren  Weg  wählen.  Ohnehin  bekam  ich  den  Canon  ei*st  nach  meinem 
diesbeztlglichen  Vortrage,  resp.  nach  Erscheinen  meines  Auüsatzes  im  Term^szet- 
tndom&nyi  Eözlöny  zu  Gesicht. 

47* 


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740 


DIE   LANDNAHME   DER   ÜNOABN    UND   DIB   ASTRONOMIE. 


geographischen  Coordinaten  der  s.  g.  drei  Hauptpunkte,  da  die  diese 
Punkte  verbindende  Gurve  das  annähernde  Bild  jenes  Weges  gibt,  welchen 
die  Axe  des  Yollschattens,  resp.  des  Schattenkegels  auf  der  Erde  beschreibt 
Wenn  wir  nämlich  diese  Hauptpunkte  in  eine  Landkarte  einzeichnen  und 
sie  z.  6.  mit  einem  Kreisbogen  verbinden,  sehen  wir  gleich,  in  welchen 
Gegenden  die  Finstemiss  central  war,  können  uns  also  schon  ein  ungefäh- 
res Urteil  bilden,  ob  die  Finstemiss  an  einem  gewissen  Orte  als  eine  grös- 
sere sichtbar  war  oder  nicht.  Endlich  berechnete  ich  für  Byzanz  —  dessen 
geographischen  Ort  ich  nach  Nr.  2365  der  «Astronomischen  Nachrichten • 
(Turm  des  Seraskierat)  zu  41°0'54".ll  nördl.  Breite  und  28^53'46".6 
östl.  von  Greenwich  annahm  —  Anfang,  Zeit  der  grössten  Phase  und  Ende 
der  Finstemiss,  wie  auch  die  in  Teilen  des  Sonnendurchmessers  ausge- 
drückte Grösse  der  grössten  Verfinsterung  (grösste  Phase),  —  wenn  näm- 
lich die  Finstemiss  in  Byzanz  überhaupt  sichtbar  war. 

Die  Conjunctionszeit,  Jahr,  Monat,  Tag,  Stunde  und  Minute  —  also 
auch  das  Datum  —  der  Finstemiss  in  wahrer  bürgerlicher  Zeit  von  Ctreen- 
wich  (den  Tag  zu  24  Stunden  von  Mittemacht  zu  Mittemacht  gerechnet) 
und  die  letztgenannten  Grössen,  wie  auch  die  Art  der  Finsternisse  (c  = 
central,  t  =  total,  r  =  ringförmig,  p  =  partiell)  gibt  für  die  von  nrir  berech- 
neten 21  Sonnenfinstemisse  folgende  Zusammenstellung : 


Nr. 

T. 

wahre  bürg. 
Qreenwioh 

Zeit 

Anfang 

Grösste 
Phase 

Ende 

Grösse 

der 
g.Ph. 

Art 

mittl.  Zeit  Byzanz 

1. 

887. 

IV. 

27. 

»1 

0.1m 

nicht   sichtbar 

c.  r. 

2. 

877. 

X. 

20. 

12 

18.1 

13h    51.1m  1    14ii    23.3m 

14^ 

57.2m 

0.10 

a  t. 

3. 

888. 

IV. 

15. 

3 

36.4 

nicht  sichtbar 

5 

49.6 

■ 

0.  r. 

4. 

888. 

X. 

9. 

4 

29.3 

nicht  sichtbar 

6 

19.9 

, 

c  t. 

5. 

889. 

IV. 

4. 

4 

50.0 

nicht  sichtb.  |     5     52.2 

7 

1.0 

0.78 

P- 

6. 

889. 

IX. 

28. 

18 

21.0 

nicht   sichtbar 

, 

P. 

7. 

890. 

II. 

23. 

0 

56.4 

nicht   sichtbar 

, 

0.  t. 

8. 

890.  VIII. 

19. 

9 

54.4 

13     21.0      1    13     56.1      1    14 

29.8 

0.20 

P- 

9. 

891. 

n. 

12. 

16 

25.0 

nicht   sichtbar 

c  t 

10. 

891. 

vm. 

8. 

1« 

14.4 

1«    5.76 

11    4«.«2 

13  23.M 

m 

c  r. 

11 

892. 

IL 

2. 

8 

14.9 

9     32.7 

10       5.  5 

10 

40.8 

0.11 

c.  t. 

12. 

892. 

vn. 

27. 

14 

5.9 

nicht  sichtbi  ar 

. 

c.  r. 

13. 

893. 

I. 

21. 

19 

52.6 

nicht   sichtbar 

P- 

14. 

893. 

VI. 

17. 

17 

13.3 

nicht   sichtbar 

P- 

15. 

893. 

XII. 

12. 

4 

32.3 

nicht   sichtbar 

, 

P- 

16. 

894. 

VL 

7. 

10 

35.6 

11      59.7      1   13       0.7      1    14 

3.3 

0.38 

c  t. 

17. 

894. 

XTT, 

1. 

4 

10.0 

nicht   sichtbar 

, 

c  r. 

la 

895. 

V. 

28. 

2 

19.0 

nicht   sichtbar 

, 

c  t. 

19. 

895. 

XI. 

20. 

9 

38.0 

nicht   sichtbar 

, 

ۥ  r. 

20. 

896. 

V. 

16. 

12 

10.7 

nicht   sichtbar 

, 

c  r. 

21. 

896. 

XI. 

8. 

22 

6.5 

ni 

cht   sichtl 

>At 

• 

c  t. 

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DTR  LAl^DKAHHE   DEB  UKOABN   ÜNB   DIE  ASTROMOMIB.  741 

Schon  diese  Zusammenstellung  zeigt  deutlich,  dass  nur  die  Pinster- 
niss  vom  8^  August  891  diejenige  in  diesen  10  Jahren  sein  kann,  welche 
unsere  Chronik  erwähnt,  wie  denn  auch  die  Verbindungs-Curve  der  drei 
Hauptpunkte,  —  welche  der  Reihe  nach  durch  die  Coordinaten :  <p»+41  °.8, 
X.  =  310^0;  <p„=  +  36°.7,  K  =  30^6;  9»=  —  4°.3,  K  =  87°.2  gegeben 
sind,  —  durch  das  Mittelmeer  und  nahe  bei  Byzanz  vorbei  geht.  Eine  ein- 
gehendere Besprechung  der  Finsternisse  wird  uns  obige  Behauptung  noch 
unumstösslicher  erläutern  lassen.  Von  den  21  Sonnenfinsternissen  waren 
in  Byzanz  überhaupt  nur  8  sichtbar,  u.  z.  Nr.  2,  3,  4,  5,  8,  10,  11  und  16, 
doch  können  wir  die  mit  3  und  4  bezeichneten  centralen  Finsternisse 
sogleich  ausschliessen,  da  eben  nur  das  Ende  der  Finstemiss  sichtbar 
gewesen  wäre,  wenn  Jemand  —  die  Zeit  und  Erscheinung  schon  vorhinein 
wissend  —  dasselbe  beobachtet  hätte.  Aus  eben  demselben  Grunde  müssen 
wir  auch  die  Finstemiss  Nro  5  ausschliessen,  welche  zwar  für  Byzanz,  als 
eine  grössere,  bis  auf  Va  Teil  des  Sonnendurchmessers  sich  erstreckende 
Finstemiss,  sichtbar  war  (ihre  Centralitäts-Curve  geht  durch  Mittelafrika) ; 
doch  war  die  Erscheinung  derart,  dass  die  Sonne  schon  verfinstert  aufging, 
ein  Umstand,  in  Folge  dessen  eine  Stadtbevölkerung  nicht  viel  davon  sehen 
und  erfahren  konnte,  wie  dies  z.  B.  auch  bezüglich  der  Finstemiss  vom 
19.  August  1887  in  Erinnerung  sein  dürfte.  Dieser  ohnehin  nicht  «zur  sechs- 
ten Stunde»  gewesenen  Sonnenfinsternisse  erwähne  ich  besonders  nur  aus 
dem  Grunde,  weü  sich  Prof.  Salamon  seinerzeit  dahin  äusserte,  dass  andere 
Chroniken  eine  frühere,  vormittägige  Stunde  angaben  und  unser  Georgius 
sich  möglicherweise  in  der  Stunde  irren  konnte.  Doch  von  den  bisher  aus- 
geschlossenen können  wir  ganz  bestimmt  behaupten,  dass  sie  damals  in 
Byzanz  von  Niemandem  bemerkt  worden  waren. 

Gleichfalls  unbemerkt  gingen  die  Finsternisse  Nr.  2,  8  und  1 1  vor- 
über, da  diese  für  Byzanz  partiell  und  von  geringer  Grösse  waren,  indem 
die  grösste  Phase  nur  0.1  resp.  0.2  und  0.1  des  Sonnendurchmessers  be- 
trug, was  so  geringfügig  ist,  dass  eine  Aenderung  in  der  Belichtung  gar 
nicht  bemerkt  wird.  Ausserdem  war  die  Erscheinung  für  Byzanz  bei  den 
Finsternissen  Nr.  2  und  8  schon  Nachmittags  von  2  bis  3  ühr,  resp.  ca. 
^/i  2  bis  ^/9  3  eingetreten ;  die  Finstemiss  Nr.  1 1  hatte  aber  um  ®/4  1 1  schon 
ihr  Ende  erreicht. 

Die  Bezeichnung  der  sechsten  Stunde,  d.  i.  des  Mittags^  kann  somit  nur 
mehr  auf  die  Finsternisse  Nr.  10  und  16  angewendet  werden.  Da  jedoch  die 
grösste  Phase  der  letzteren  erst  Nachmittags  1  ühr  eintrat  und  sich  ausser- 
dem nur  auf  ^/s  des  Sonnendurchmessers  erstreckte,  so  bleibt  uns  nur  die 
ringförmige  Finstemiss  vom  8.  August  891,  welche  nach  unseren,  mit  den 
Oppoltzer'schen  Tafeln  berechneten  Elementen  für  Byzanz  eine  partielle 
Finstemiss  war  und  von  10  Uhr  6  Min.  Vormittags  bis  1  ühr  24  Min. 
Nachmittags,  also  nahezu  3^/s  Stunden  dauerte.  Die  grösste  Phase  derselben 


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74^  DIE   liANDNAHltE   DEtl  Ü^GABK   UND   DIE   ASl^NOMIE. 

trat  14  Minuten  vor  12  Uhr  ein  und  erstreckte  sieh  bis  auf  0.9  des  Sonnen- 
durchmessers ;  es  musste  also  die  Finstemiss  auch  schon  in  dieser  Form 
zweifellos  Aufsehen  erregen  und  konnte  Schrecken  verbreiteh,  so  dass  der 
Erzähler  ihrer  nicht  nur  erwähnt,  sondern  des  grösseren  Eindruckes  halber 
auch  ein  Gewitter  entstehen  lässt,  wobei  sieben  Menschen  um's  Leben 
kamen,  was  aber  mit  dem  Zusätze,  dass  während  der  Sonnenfinstemiss  die 
Sterne  am  Tage  bemerkt  wurden,  schwer  vereinbar  ist. 

Unsere  Erwägungen,  dass  nur  die  Sonnenfinstemiss  vom  8.  Äugast 
891  die  in  Bede  stehende  gewesen  sein  kann,  erhalten  eine  weitere  Stütze 
in  der  Mondtheorie  selbst,  auf  welchen  Umstand  ich  noch  kurz  eingehen 
möchte.  Es  kann  nämlich  mit  Becht  gefragt  werden,  ob  denn  die  Finstemiss 
nicht  doch  —  wie  es  erzählt  wird  und  auch  recht  wahrscheinlich  ist  — 
eine  von  grösseren  Dimensionen  war,  als  unsere  Tafeln  sie  ei^eben  ,und  ob 
sie  nicht  auch  für  Byzanz  central-ringförmig  war,  während  nach  unseren 
Elementen  Byzanz  schon  ausserhalb  der  Centralitäts-Zone  Wli?  Dass 
innerhalb  der  erwähnten  10  Jahre  keine  anderen  centralen  Sonnenfinster- 
nisse möglich  waren,  als  die  angegebenen,  muss  der  g.  Leser  mir  —  und 
auch  dem  Canon  —  glauben ;  dass  unter  diesen  das  von  Georgius  Conti- 
nuatus  erzählte  sich  nur  auf  die  vom  8.  August  891  beziehen  kann,  giatibe 
ich  zur  Genüge  dargethan  zu  haben ;  doch  habe  ich  schon  früher  darauf 
hingewiesen,  dass  die  Werte  der  Mondtafeln  strenge  und  genau  nur  für 
jene  Zeit  gelten ;  in  welcher  die  zu  Grunde  gelegten  Beobachtungen  ange- 
stellt wurden,  oder  noch  für  solche  Epochen,  die  in  nicht  zu  grosser  Ent- 
fernung vor  oder  hinter  diesem  Zeitpunkte  liegen.  Theoretisch  sind  zwar 
die  einzelnen  Glieder,  besonders  durch  Oppoltzer,  schon  mit  einem  sehr 
grossen  Grade  von  Genauigkeit  berechnet,  und  sie  würden  auch  für  alle 
Zeiten  gleichmässig  anwendbar  bleiben,  wenn  nicht  in  der  Mondtheorie, 
resp.  in  der  Bewegung  des  Mondes,  wie  schon  erwähnt,  auch  solche  Glieder 
vorkämen,  deren  Wert  mit  der  Zeit  veränderlich  ist,  ohne  dass  wir  das 
allgemeine  Gesetz  der  Aenderung  schon  vollkommen  kennen  würden. 
Anderseits  ändern  sich  mit  der  Zeit  gewisse  Glieder  gleichmässig,  werden 
grösser  oder  kleiner,  und  die  in  solchen  Werten  noch  bestehenden  ver- 
schwindend kleinen  Unsicherheiten  —  Fehler  —  werden  bei  ihrer  Anwen- 
dung auf  so  ferne  Epochen  zur  Folge  haben  können,  dass  die  berechnete 
Centralitäts-Zone  jene  Orte  picht  mehr  in  sich  schliesst,  an  welchen  die 
Finstemiss  in  der  That  noch  als  centrale  gesehen  wurde.  Wie  geringfügig 
aber  diese  Abweichungen  selbst  für  eine  1000  Jahre  entfernte  Zeit  sind,  das 
beweist  eben  die  betrachtete  Finstemiss  in  glänzender  Weise.  Die  nörd^ 
liehe  Grenze  der  Centralitäts-Zone  bleibt  nämUch  nur  ungefähr  1 V*  Grad 
südlich  von  Byzanz  und  wirklich  reicht  eine  ganz  geringe,  von  der  Theorie 
nicht  nur  zugelassene,  sondern  nach  dem  Gesagten  gewissermassen  gefor- 
derte Correction  der  Elemente  schon  aus,  damit  die  so  construirte  Centra- 


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litäts-Zorie  auch  Byzanz  in  sich  schliesse,  während  keine  der  übrigen  cen- 
tralen Finsternisse  mit  beliebigen,  theoretisch  noch  erlaubten,  aber  will- 
kürlichen Aenderungen  durch  Byzanz  gehen  wird.  Man  kann  sich  augen- 
scheinlich hievon  überzeugen ,  wenn  man  die  Hauptpunkte  in  eine 
Landkarte  einzeichnet  und  die  zu  einer  Finstemiss  gehörigen  untereinan- 
der z.  B.  mit  Kreisbögen  verbindet,  wie  es  auch  die  Iconographie  des 
Canon  gibt;  man  sieht  dann  sogleich,  dass  die  übrigen  centralen  Finster- 
nisse gar  nicht  in  Betracht  kommen  können.  —  Von  den  partiellen  hingegen 
sa^  Oppoltzer  mit  Eecht,  dass  sie  ihrer  grösseren  Häufigkeit  wegen  ent- 
weder nicht,  oder  nur  nebensächlich,  also  nicht  als  etwas  besonders  ins 
Auge  Fallendes,  erwähnt  werden. 

Ich  glaube  zweifellos  dargethan  zu  haben,  dass  die  um  die  Zeit  der 
Landnahme  der  Magyaren  in  Pannonien,  jedenfalls  aber  vor  dem  bulgari- 
schen Feldzuge  in  Byzanz  sichtbar  gewesene  Sonnenfinstemiss  —  welche 
nach  unserer  Chronik  noch  vor  dem  Tode  des  Patriarchen  Stefan,  umso- 
mehr  also  vor  dem  darauffolgenden  bulgarischen  Kriege  eingetreten  war,  — 
die  vom  8.  August  891  tvar.  Wir  haben  also  eine  Jahreszahl  als  untere 
Grenze,  die  keinerlei  Zweifel  mehr  zulässt,  unterhalb  welcher  wir  also  das 
Millenium  nicht  feiern  können ;  es  ist  das  Jahr  1891.  Und  wenn  wir  natur- 
gemäss  auch  nicht  den  Tag  der  Landnahme  kennen,  die  Zeit  ist  heute 
doch  schon  in  recht  enge  Grenzen  geschlossen.  Wenn  auch  der  bulgarische 
Feldzug  einige  Jahre  nach  891  stattfand,  und  diesem  die  Landnahme 
folgte,  so  steht  die  tausendste  Jahreswende  doch  schon  an  unserer  Schwelle. 

Dr.  Franz  Lakits. 


ULPIA  TRAJANA. 

Die  neueste  Monographie  über  die  mächtige  Metropole  Daciens  *  wendet 
sich,  unbeschadet  ihres  wissenachaftlichen  Charakters  und  Wertes,  an  die  gebil- 
dete Lesewelt  und  insbesondere  an  die  Jugend.  Der  Verfitöser  bietet  hier  eine  lehr- 
reiche Skizze  der  wechselvollen  Geschichte  Daciens,  wobei  er  die  Erfahrungen, 
welche  er  während  der  wissenschaftlichen  Bearbeitung  der  im  Auftrage  der  «Histo- 
rischen und  archäologischen  Gesellschaft  des  Comitates  Hunyad»  schon  seit  1881 
geführten  Ausgrabungen  um  Värhely  gewonnen  und  die  sich  auf  das  Gemeinleben 
der  ganzen  Provinz  erstrecken,  in  gefälliger,  anziehender  Weise  zu  verwerten  ver- 
steht. Der  hübsch  ausgestattete  Band  leitet  mit  der  Eroberung  Daciens  ein  und 
knüpft  in  zwanzig  Abschnitten  sämmtliche  Daten  zusammen,  welche  im  Verlaufe 
von  Jahrhunderten  emportauchten  und  in  den  bis  Born  verstreuten  beschriebenen 

*  Ulpia  Trajana  Augusta  Colonia  Dacioa  Sarmizegetusa  Metropolis.  Dacia 
föv&rosa,  a  mai  Varhely  Hunyadmegy^ben.  (Daciens  Hauptstadt,  das  heutige  Värhely  im 
Comitate  Hunyad.)  Von  Prof.  Paul  Kiraly.  Budapest,  1891,  Verlag  des  Athenäums,  178  S. 


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^**  ÜLPIA  TBAJANA, 

DenkmälerD,  Scolpturen  und  anderweitigen  EunRtgegenständen,  isowie  in  den  mit 
nicht  gewöhnlichen  Erfolgen  begleiteten  Ausgrabungen  der  thiBtoriBchen  und 
archäologischen  Oesellschaft  des  Comitates  Hunjad»  zur  Verfügung  stehen. 

Die  Einleitung  stellt  uns  mit  beinahe  dramatischer  Lebhaffcigk^t  die  helden- 
mütigen Verteidigungskämpfe  Decebals  vor  Augen.  Schon  Julius  Gsesar  wurde 
durch  die  tollkühnen  Angriffe  des  daciscben  Königs  Burivista  beschäftigt  und  nur 
sein  plötzlicher  Tod  hinderte  ihn  an  der  Ausführung  seiner  Eroberungspläne.  Nach 
Burivista  zerbröckelte  das  mit  eiserner  Faust  zusammengehaltene  Yolksconglomerat 
wieder.  Indess  fügen  sich  auch  die  germanischen  Stämme  ihrer  neuen  Lage  und 
das  römische  Beich  kann  vier  von  den  hier  beschäftigten  Legionen  zur  Verstärkung 
des  unteren  Donau-Ufers  senden.  Unter  Domitian,  der  zwar  ein  ausgezeichneter 
Administrator  war,  jedoch  wenig  Feldherm-Talent  besass,  hoben  die  Dacier  wieder 
tollkühn  das  Haupt.  Er  eilt  persönlich  auf  den  Schauplatz  der  öefahr,  nach  Moesien, 
doch  vergebens  :  er  kann  die  Verheerungszüge  des  jungen,  willenskräfldgen  daci- 
schen  Königs  nicht  vereitehi  unddst  zuletzt  gezwungen,  der  gemarterten  Provinz  den 
Frieden  unter  entehrenden  Bedingungen  zu  erkaufen.  Laut  einer  dieser  Friedens- 
bedingungen  musste  Domitian  Arbeiter  zum  Burgbaue  herbeischaffen  imd  Decebal, 
der  keinen  Augenblick  im  Zweifel  darüber  war,  dass  seine  momentanen  Erfolge  die 
Angriffe  des  niedergebeugten  Kaiserreiches  nur  in  erhöhtem  Maasse  herausfordern 
würden,  sorgt  in  fieberhafter  Hast  für  die  Befestigung  seines  kleinen  Reiches.  Wie 
brennend  jedoch  auch  die  Schamröte  auf  den  Wangen  Roms  glühte :  Domitian 
konnte  es  nicht  wagen,  in  der  schweren  finanziellen  Lage  des  Reiches  mit  den 
demoralisirten  Truppen  die  von  allen  Seiten  geforderte  Rache  zu  üben.  Den  be- 
jalirten  Nerva,  seinen  Nachfolger  im  Jahre  96  nach  Chrisi  schreckte  der  Schlach- 
ten aufregendes  Gewühle ;  er  sendete  die  unter  dem  Vorwand  von  Geschenken  aus- 
bedungenen Steuern  pünktlich  ein  und  konnte  auf  diese  Art  das  Kriegsgelüste  der 
Dacier  beschwichtigen.  GlückHcherweise  adoptirte  er  den  tüchtigsten  Soldaten  des 
Reiches,  Marcus  Ulpius  Trajanus,  der  sein  Erbe  im  Januar  des  Jahres  98  n.  Chr. 
thatsächhch  antrat.  Trajanus  vertagte  die  Antrittsfeierlichkeiten,  eilte  vom  Rhein- 
ufer augenblicklich  an  das  Gestade  der  unteren  Donau  und  erst  nachdem  er  sich 
mit  den  örtUchen  Verhältnissen  zur  Genüge  vertraut  gemacht  und  über  das  zunächst 
zu  Verrichtende  orientirt  hatte,  denkt  er  an  die  Feierhchkeiten  der  Installation. 

Decebal  merkte  sehr  bald  den  Umschwung  der  Zeiten.  An  Stelle  der  folgen- 
den Jahressteuer  erscheinen  Soldaten  am  eisernen  Thore,  um  Strassen  zu  bahnen ; 
aus  Pannonien  und  MoBsien  wird  die  Streitmacht  gegen  Dacien  conoentrirt  Aber 
auch  ihn  selbst  finden  die  Vorbereitungen  nicht  müssig.  Es  genügt  ihm  nicht» 
sein  Volk  in  Waffen  zu  rufen,  er  ist  auch  eilig  bemüht,  mit  den  benachbarten 
Curen,  Sarmaten,  Germanen  und  Sueben  ein  Bündniss  zu  schliessen,  ja  seine  Bot- 
schafter bringen  selbst  den  parthischen  König  Pacorus  zur  Action.  Man  rüstet 
beiderseits,  um  sich  in  entscheidendem  Kampfe  zu  messen.  Trajan  überschreitet 
mit  einer  Heeresmacht  von  beiläufig  achtzigtausend  Mann  im  Frühlinge  des  Jahres 
101  die  Donau ;  bei  Tapaa  (in  der  Gegend  von  Karänsebes)  wartet  seiner  ein  so 
blutig  ergrimmter  Kampf,  dass  er  selbst  nur  nach  einer  Rast  von  mehreren  Tagen 
die  Trümmer  seines  zerstreuten  Heeres  sammeln  kann,  um  bich  durch  das  eiserne 
Thor  im  Hunyader  Comitate  auf  das  königliche  Sarmizegetusa  zu  werfen.  Die 


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ÜLPIA  TRAJAliA.  745 

Bobneile  Niederlage  zwingt  Deoebal  zur  Untei-werfnng  und  er  gerat  in  dieselbe 
feudale  Lage,  deren  Joch  die  Könige  von  Judaea  schon  seit  einem  Jahrhunderte 
trugen.  Doch  kaum  waren  in  Born  die  Festlichkeiten  der  glänzenden  Triumphzüge 
Trajans  verrauscht :  da  ertönten  neuerdings  die  Eriegsdrommeten  Decebals.  Zu 
allererst  suchte  er  t Borns  Freunde»,  die  zwischen  der  Donau  und  Theiss  wohnen- 
den Jazygen  zu  züchtigen,  weil  sie  seinen  Feind  unterstützt  hatten.  Den  Protest 
des  durch  die  Jazygen  alarmirten  Eom  beantwortete  er  mit  der  Niedermetzelung 
und  Vertreibung  der  dacischen  Wachposten. 

Das  stolze  Eom  ist  gezwungen,  dieser  offenen  Herausforderung  mit  einer 
neuen  Kriegserklärung  zu  begegnen,  und  im  Jahre  105  besetzt  Trajan  die  Engpässe 
Daoiens  mit  einer  noch  viel  grösseren  und  schrecklicheren  Heeresmacht.  Beim 
Anblicke  der  Uebermacht  schrecken  die  schwankenden  Verbündeten  Decebals 
zurück ;  er  kämpft  mit  seinen  treuen  Daoiern  bis  zum  letzten  Athemzuge  und 
stürzt  8ich  schliesslich  in  das  Schwert,  um  der  Schande  der  Knechtschaft  zu  ent- 
gehen. Die  Freude  über  die  Niederschmetterung  des  unbändigen  Feindes  feiert 
Trajan  in  Bom  in  den  auserlesensten  Festlichkeiten  und  lässt  den  Verlauf  des 
blutigen  Krieges  in  den  noch  heute  sichtbaren  Beliefm  der  auf  dem  Forum  Traianum 
aufigestellten  Columna  Traiana  verewigen.  Diese  Säule  ersetzt  uns  auch  den  Ver- 
lust nach  dem  Vorbilde  Julius  CflBsars  verfEUister  Denkschriften,  und  gibt  auch 
nodi  nach  so  vielen  Jahrhunderten  ein  treues  Bild  von  den  Schrecknissen  des 
langen  Krieges. 

Bom  konnte  sich  der  Eroberung  insbesondere  aus  zwei  Ursachen  freuen. 
Brst^is,  weil  der  am  meisten  gefürchtete  Buhestörer  der  unteren  Donaugrenze  zu 
seinen  Füssen  lag ;  und  zweitens,  weil  es  die  Naturschätze  Daciens,  insbesondere 
den  reichen  Goldgehalt  seiner  Berge  ganz  nach  Belieben  zur  Verbesserung  seiner 
zerrütteten  Finanzen  verwenden  konnte.  Die  strategische  Occupation  der  Provinz 
bezweckte  auch  nur  die  möglichste  Sicherung  des  Goldlandes,  und  längs  der  Maros 
und  Szamos  suchte  man  sich  gegen  die  von  Nord  und  Ost  drohenden  Gefahren 
durch  einen  wahren  Burgring  zu  sichern.  Kaum  vier  Jahre  nach  der  Eroberung 
steht  die  Hauptstadt  der  Provinz,  Sarmizegetusr.,  fertig  und  nachdem  die  im  Jahre 
110  unter  der  Führung  des  Legaten  Scaurianus  beim  Baue  beschäftigte  Legio  V 
Macedonica  (die  hierher  gehörige  Inschrift  ist  im  IV.  Bande  des  C.  I.  L.  Nr.  1443 
zu  lesen)  in  ihre  Station  nach  Trossmis  (Iglitza)  zurückgekehrt  war,  übernimmt  die 
Legio  Xin  Gemina  den  Wachposten  in  Dacien. 

Trajan  sammelt  in  fieberhafter  Eile  aus  allen  Teilen  des  Beiches  Colonisten. 
Von  Britannien,  Belgien,  Hispanien  bis  zum  kaspischen  Meere  und  dem  weit  ent- 
fernten Syrien  muss  jede  Provinz  ihren  Ueberfluss  an  Bevölkerung  hiezu  abgeben. 
Der  Wachposten  ist  aus  eben  solchen  bunten,  mannig&ltigen  Elementen  zusam- 
mengewürfelt. Die  XUI.  legio  Gtomina  war  aus  Pannonien,  die  legio  V  Macedonica 
aus  McBsien,  ihren  ursprüngUchen  Stationen  geworben,  bestanden  daher  aus  über- 
wiegend thrakischen  Elementen.  Die  Hilfsheere  enthielten  dagegen  britisches  und 
iturisches,  germanisches  und  maurischem  Fussvolk,  batavische  und  nnmidische 
Gavallerie,  —  wie  es  die  Agenten  Trajans  in  der  Eile  zusammenraffen  konnten. 
Die  römische  Heerführung  verstand  übrigens  das  Vermengen  der  fremden  Volks- 
elemente sehr  wohl  und  suchte  eine  Hauptstütze  ihrer  Macht  darin,  sie  gegeuBeitig 


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74Ö 


ULPlA  TRAJAl^A. 


in  Schranken  zu  halten.  Trajan  posttrte  die  erste  Gehörte  der  Briten,  denen  das 
Bürgerrecht  verliehen  worden  (Cohors  I.  Britannica  militaria  civiom  Bomanonim), 
bei  der  grossen  Szamos  in  AIsö-Eosäly  (Corpus  Inscriptionum  Latinarum  IH.  821. 
829.) ;  eine  kleinere  Abteilung  in  Algy6gy-Germizaza  längs  der  Maroe  (Corpus 
I.  Latin.  III.  B.  1 396.  Numerus  Brittanorum.  wo  wir  auch  mit  diesem  Zeichen 
gestempelte  Ziegel  fanden).  Die  Kelten  gewöhnen  sich  so  sehr  hierher,  dass  in  die  L 
Gohorte  derselben  die  Bekruten  schon  von  hier  geworben  wurden  und  jene  sich 
durch  den  Beinamen  Cohors  Dacioa  von  den  übrigen  unterschied.  (Corpus  Inscr. 
Latin.  lU.  B.  H.  M.  40).  Später  teilt  man  ihre  Cavallerie  mit  der  pannonischen 
(Corpus  Inscript.  Latin,  in.  H.  M.  44)  und  der  vom  Bosporus  in  ein  Regiment  (ala) 
ein,  wie  dies  Karl  Torma  aus  einem,  im  Nationalmuseum  aufbewahrten  Maros- 
Eereszturer  Abschiedsdiplome  herausfand. 

Da  Trajan  seiner  Abstammung  nach  Hispanier  war,  verstärkt  er  die  Bevöl- 
kerung der  neuen  Provinz  auch  mit  seinen  Stammverwandt^!.  Wir  finden  die  an- 
spruchslosen, arbeitsamen,  zu  Guerillakämpfen  ausserordentlich  geeigneten  Iberer 
überall.   Oben  im  Norden  an  der  in  die  vereinigte  Szamos  mündenden  Egregy 
in  Magyar-Egregy  (Szilägyer  Comitat)  stationirt  die  Cohors  I.  Hispanorum  Pia 
Fidelis  schon  im  Jahre  110  n.  Chr.  (C.  L  L.  6253.  H.  M.  25),  nicht  weit  von  hier 
in  Largiana  (Zutor)  die  Cohors  II.  Hispanorum,  zwischen  Torda  (Potaissa)  und 
Klausenburg  (Napoca)  baut  wieder  die  Cohors  1.  Ulpia  Hispanorum  Milliaria  Givium 
Komanorum  den  sti-ategischen  Weg  im  Jahre  110.  Im  Osten  in  der  Nähe  der  Har- 
gita  in  Enlaka  wacht  die  Cohors  HI.  Hispanorum  Equitata.  In  Micia  (dem  heutigen 
Veszel)  liegen  die  leichten  Truppen  der  Campagonen ;  von  Oermizaza  (Algyögy)  ans 
dehnen  die  Reitertruppen  des  asturischen  Regimentes  ihre  Streif-  und  Späherzuge 
bis  an  das  Erzgebirge  aus.   Auf  den  strategisch  wichtigen  Standorten  finden  wir 
neben  Hispaniem  auch  Germanen.   Bei  Magyar-Egregj  (Certia)  stationirte  die 
Cohors  I.  Batavorum  Milliaria  (C.  I.  L.  III.  830.),  auf  dem  Gebiete  des  heutigen 
Krassö'Ször^nyer  Comitates  die  Ala  I.  Batavorum  Milliaria,  die  man  aus  dem 
Rheindelta  geworben,  wo  Julius  CsBsar  oder  Drusus  dem  römischen  Adler  die 
Herrschaft  errungen  hatte.   Mit  ihnen  zugleich  dienten  die  Ubier,  Ad  Mediaxn 
(Mehadia,  C.  I.  L.  IH.  1571.  Cohors  I.  Ubiorum)  stationirt,  eine  berittene  Abtei- 
lung der  Tunguren  (C.  I.  L.  HI.  788.  Ala  I.  Tungrorum  Fontiniana  und  unter  793. 
Ala  I.  Tungronim)  lag  in  Alsö-Ilosva.  Die  Nachbarn  der  Germanen  gegen  Süden 
zu,  die  keltischen  Vindelicier  vertritt  die  Cohors  I.  Vindelicorum  (C.  I.  L.  HI. 
134-3.)  in  Micia  (Veszel).  Das  nahe  gelegene  Rhaatien  lieferte  schon  ein  grösseres 
Contingent  zur  Heeresmacht  in  Dacien.  So  stand  die  Cohors  I.  Alpinorum  Equitata 
in  Apulum  (C.  L  L.  IIL  1183.),  die  Cohors  L  Alpinorum  (n.  d.  1343.)  in  Micia. 
Auch  die  Söhne  Pannoniens  nahmen  an  der  Ueberwachung  Daciens  Teil.  Die 
Ala  IL  Pani^onionim  lagert  in  Apulum  (C.  I.  L.  HI.  1 100.),  die  Ala  Pannoniorom 
in  Micia  (n.  d.  1375),  die  Ala  IL  Pannoniorum  Equitata  in  Sarmizegetusa.  Moesien 
bereichei-t  mehr  das  bürgerliche  Element  der  neuen  Provinz,  Thr  cien  ist  durch  die 
AlaThiacorum  in  Optatiana  (Magyar- Gorbö)  vertreten  und  Anioninus  Pius  entiässt 
die  Veteranen  der  Cohors  I.  Thracum  Sagittariorum  am  13.  December  des  Jalires 
157  und  am  8.  Juli  des  Jahres  158.  (C.  I.  L.  IH.  Diploma  honestaa  mis8ioni8  40, 
K.  Torma  im  Archäol  Ertenitö,  1886.  371.)  Die  Bossen  bilden  ausser  einer  eigenen 
Cohorte  (Coh.  HI.  Flavia  Bessorum)  auch  einen  Teil  des  Bürger-Elementes,  ^lie 


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ULPU  TRAJANA. 


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Stammverwandten  der  Thraken  vom  Bo8poru8  fehlen  auch  nicht  und  sind  in  der 
Ala  Bosporanoram  in  Apnhim  und  in  der  Ala  I.  Bosporanornm  in  Micia  stationirt. 
Die  Balkan-Halbinsel  liefert  Trajan  die  tüchtigsten  Gruben-Arbeiter :  die  Peraster. 

Eine  eingehende  Schilderung  der  hellenischen,  semitischen  und  afrikanischen 
Elemente  übergehen  wir.  Auch  aus  dem  bisher  Gesagten  darf  man  schliessen,  dass 
die  Streitmacht  Daciens  in  überwiegendem  Maasse  aus  den  westlichen  Provinzen 
zusammengestellt  war ;  weil  jedoch  die  zur  Heranbildung  eines  Bürger-Elementes 
nötigen  Arbeitskräfte  von  dorther  nicht  zur  Verfügung  standen :  richtete  sich  das 
Augenmerk  der  Verwaltung  nach  Osten,  von  wo  besonders  die  Syrer  massenhaft; 
herbeigelockt  wurden.  Diese  Volkselemente,  die  so  in  moralischer  wie  in  phydischer 
Hinsicht  auf  einer  sehr  zweifelhaften  Stufe  standen,  deren  Ansichten  unter  dem 
Eindrucke  der  von  Westen  übernommenen,  kaum  verstandenen  Civilisation  auf 
Irrwege  geraten  waren,  übten  durch  die  Verbreitung  dieser  Ideen,  ihres  Aber- 
glaubens und  ihrer  religiösen  Mysterien  einen  zersetzenden  Einfluss  auf  das 
Kelch  aus,  welches  gleichzeitig  auch  noch  mit  der  Gefahr  der  übermässigen  Ausbrei- 
tung zu  kämpfen  hatte. 

Da  sich  in  dem  Mittelpunkte  der  derartig  entstandenen  Provinz  ein  nicht 
gewöhnhches  geistiges  und  materielles  Capital  zusammengehäuft  hatte,  musste 
auch  die  Bauart  desselben  ein  Bild  des  Wohlergehens  zeigen.  Den  cardo  maximus 
entlang,  der  als  Hauptstrasse  der  Stadt  von  West  nach  Ost  führte,  zogen  sich  glän- 
zende Palastreihen.  Zum  Glücke  sind  am  östlichen  Ende  von  Värhely  wenigstens 
jene  Trümmer  noch  erhalten,  wo  das  Amphitheater  emporragte.  In  seiner  Nähe 
befand  sich  das  grossartig  angelegte  öffentliche  Bad  und  jene  Prachtbauten,  deren 
Fussböden  mythologische  Darstellungen  (das  Urteil  des  Paris,  Priamos  um  seinen 
Sohn  flehend,  Victoria)  in  Mosaik  schmückten. 

Die  Tonangeber  des  öffentlichen  Lebens  waren  selbstverständlich  die  kai- 
serUchen  Beamten.  Ihnen  gegenüber  concentrirte  sich  die  st<ädtische  Bevölkerung 
in  verschiedenen  Corporationen.  Einige  dieser  hatten  einen  religiösen  Charakter, 
andere  waren  gewerbliche  oder  gesellschaftliche  Vereine.  Die  meisten  Mitglieder 
zählte  das  collegium  fabrum,  ein  Gewerbe  verein  der  verschiedenen  Metall-  und 
Holzj^^ohneider,  von  dessen  erster,  dritter  und  dreizehnter  Abteilung  wir  aus  den 
Inschriften  Eenntniss  erhalten.  Diese  Vereine  hoben  durch  ihre  Aufzüge  den  Glanz 
der  Festlichkeiten  und  des  (Gottesdienstes  und  sorgten  für  die  Unterstützung  und 
ehrenvolle  Beerdigung  ihrer  Mitglieder.  So  steuert  d:.s  Collegium  zu  den  Begräb- 
nisskosten des  A.  Januarius  400  Denare  bei  (C.  I.  L.  UI.  1 UH.)  und  lässt  dem 
C.  Jnl.  Marcus  ein  Grabdenkmal  errichten  (C.  I.  L.  HI.  1 505). 

Zur  Vei'schönernng  der  Stadt  trugen  die  Kirchen  und  öffentlichen  Gebäude 
wesentlich  bei.  Die  meisten  Inschriften  und  Heiligtümer  verkünden  die  Macht 
und  Grösse  Jupiters.  Nebst  ihm  stehen  besonders  Juno,  Minerva,  Apollo,  Diana, 
Luna,  Mars,  Silvanus,  Venus,  Liber,  Libera,  Mater  Deum,  Fortuna,  Nemesis,  Mer- 
corius,  Aesculapius,  Victoria,  Virtus,  Hercules  etc.  in  hohen  Ehren.  Die  fremden 
Ansiedler  vergessen  auch  ihrer  heimatlichen  Götter  nicht  Die  GbJater  errichten 
dem  Jupiter  Tavianus  (Corp.  I.  Lat.  IH.  860.  1088.),  die  Carier  dem  Jupiter  Eure- 
senus  (n.  d.  859.),  die  phrygischen  und  mysischen  Colonisten  der  Adrastea,  die 
Semiten  dem  Magbel  Bellahamon,  Benefal  Manavat  HeiUgtümer,  Die  DoUchner 


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ULPIA  TRAJANA. 


fuhren  die  Verehrung  des  Jupiter  Dolichenos  aas  Syrien  ein.  Von  Osten  stiunrnt 
auch  die  Verehrung  des  Mithra,  und  das  V4rhelyer  MithrsBum  wurde  eben  durch 
Paul  Kirüy  im  XV.  Jahrgange  der  §  Archäol.  Közlem^nyek»  eingehend  beschrieben 
und  erläutert.  Die  Herstellung  dieser  Bauwerke  und  Votivaltäre  beschäftigte  die 
nahe  gelegenen  Marmorbräche  im  Bisztratale  (Gegend  von  Bukova)  und  gab  ausser- 
dem Anlass  zur  Entstehung  mehrerer  anderer  Steinbrüche  zweiten  Banges  in  der 
Gbgend  umher. 

Ein  Hauptfactor  der  Bedeutung  Sarmizegetusas  war  der  Provinzstatthalter 
mit  seinem  glänzenden  Hofstaate.  Hadrian  teilte  zwar  die  Provinz  in  zwei  Di- 
strikte, Dacia  inferior  und  Dacia  snperior  (G.  I.  L.  HI.  753.),  und  nach  dem  Tode 
des  Kaisers  Lucius  Verus,  zur  Zeit  des  Statthalters  M.  Claudius  Fronto  (um  170 
n.  Chr.)  finden  wir  gar  eine  dreifache  Einteilung  (Dacia  Porolissensis,  D.  Apu- 
lensis  und  D.  Maluensis,  mit  der  unbekannten  Hauptstadt  Golonia  Maluensis). 

Das  Directionscentrum  der  Provinz  bleibt  doch  Sarmizegetusa  und  die  Statt- 
halter bedienen  sich  des  Titels  Tres  DaciflB.  Das  dacische  Statthalteramt  war  eine 
so  hochwichtige  Stellung,  dass  die  Träger  desselben  nach  Verlauf  ihrer  Amtsfrist 
mit  dem  Consulartitel  beehrt  wurden.  Der  Legat  ist  Gbuvemeur  der  Provinz  mit 
unumschränkter  Gewalt,  die  höchste  bürgerliche  und  militärische  Behörde;  er 
überwacht  die  Staatsverwaltung,  die  finanziellen  Ueberschläge  und  das  Ausheben 
der  Soldaten.  An  seinem  Hofe  wirkt  eine  grosse  Anzahl  von  Ratgebern  und  Be- 
amten, die  alle  zur  Belebung  der  hauptstädtischen  gesellschaftlichen  Verhältnisse 
beitragen.  In  den  Inschriften  werden  3  Legaten  mit  Namen  verewigt ;  die  Identität 
und  das  Zeitalter  dreier  anderer  festzustellen,  ist  bisher  nicht  gelungen.  Auch  die 
Sitzungen  des  Concilium  provinciarum  Daciarum  Trium  verliehen  der  Stadt  Sar- 
mizegetusa eine  ausserordentliche  Belebtheit.  Einmal  im  Jahre  versammelten  sieh 
hier  die  Abgeordneten  auch  der  weitesten  Provinzen  (principes  civitatum),  um  in- 
mitten religiöser  und  profaner  Festlichkeiten  die  Angelegenheiten  des  Landes  zu 
besprechen  und  die  Verdienste  der  Reichs-  und  Provinzbeamten  zu  würdigen,  Aus- 
zeichnungen für  sie  zu  erbitten,  Statuten  zu  votiren  oder  gegen  die  Beamten  Kl^e 
zu  führen.  Des  letzteren  Rechtes  bedienten  sich  zwar  die  Provinzversammlnngen 
selten,  doch  legte  man  ihren  Meldimgen  ein  so  grosses  Gewicht  bei,  dass  nach  der 
Aussage  des  jüngeren  Plinius  von  fünf  (so  viel  er  weiss)  in  Rom  angeklagten  Statt- 
haltern drei  ihres  Amtes  enthoben  wurden.  Tacitus  berichtet,  dass  von  22  Statt- 
haltei-n,  gegen  die  man  in  Rom  Klage  führte,  1 7  verurteilt  wurden,  und  es  fragt 
sich :  ob  sich  unter  ihnen  nicht  auch  jener  dacische  Statthalter  befand,  dessen 
Name  dann  vom  Altarsteine  des  Jupiter  Optimus  Maximus  fortgemeisselt  ward  7 
(C.  Inscript.  La!^.  IH.  1066.) 

An  diesen  Landtagen  konnte  der  Abgeordnete  jeder  Freistadt  teilnehmen. 
Sie  wählten  den  sacerdos  provinciflB,  der  in  Dacien  den  Titel  «sacerdos  coronatus 
ni.  Daciarum»  führte,  und  nur  ein  Mann,  der  dem  Ritterstande  angehörte  und  in 
seinem  Aufentliflltsoile  auf  der  Stufenleiter  der  Würden  hochgestiegen  war,  konnte 
diese,  von  Jahr  zu  Jahr  wechselnde  Auszeichnung  erlangen.  Die  Inschriften  geben 
uns  bis  nun  von  vier  Provinzhohenpriestern  Kunde :  1 .  Pius  Aelius  Strenuus  eqno 
publice  sacerdos  arae  Augusti  (C.  I.  L.  HI.  1209.)  —  2.  M.  Antonius  Valentinus 
eques  Romanus  decurio  municipii  Apuli,  sacerdos  arse  Augusti  nostri,  coronatus 


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ABSCHIED. 


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Daoiarum  IH.  zwischen  238—244  n.  Chr.  (C.  I.  L.  fil.  1433.)  —  3.  M.  Proc  ...  11 
vir  flamen  sacerdos  arse  Augusti  (C.  I.  L.  III.  1509.)  —  4.  M.  Comenius  quintas 
pontifex  bis  quinquennalis  coloniio  eqnes  Eomanus  sacerdos  aras  Angusti  (C.  I.  L. 
ni.  1513.) 

Bezüglich  Daciens  ist  uns  die  Zahl  der  Muoicipien,  die  das  Becht  zur  Wahl 
eines  Ageordneten  besassen,  nicht  so  bekannt,  wie  z.  B.  bezüglich  Galliens,  wo  die 
Versammlung  zu  Lugdunum  von  den  Abgeordneten  63  gallischer  Kreise  gebildet 
war.  In  Eleusia  waren  15,  in  Licya  23,  in  Asien  44,  im  bithynischen  Pontus  11,  im 
polemoner  Pontus  6,  in  Cyrene  nur  5  Districte  mit  dem  Wahlrecht  versehen. 
(Ephemens  Epigraphica  I.  Band  213—4.)  In  Dacien  konnte  die  Provinzversamm- 
lung nur  mit  dem  III.  Jahrhunderte  eingeführt  werden.  So  widmet  man  im  Jahre 
241  dem  Numen  und  der  Mnjestas  des  Marcus  Antonius  Oordianus  Pius  eine  In- 
schrift;. Es  scheint,  als  hätte  man  die  Provinzversammlung  hier  gleich  einem  poU- 
tischen  Bettungsmittel  jenen  Angriffen  gegenüber  ins  Leben  gerufen,  die  sich  als 
die  ersten  Wellenschläge  der  Völkerwanderung  geltend  machten,  teils  damit  die 
einzelnen  gesellFchaftlichen  Schichten  der  Bevölkerung  durch  die  Fäden  des  ge- 
meinsamen Interesses  an  der  selbstständigen  Begierung  um  so  enger  an  das  Beioh 
geknüpft  würden,  teils  damit  durch  die  Heranziehung  des  Bürger-Elementes  zur 
Begierung  der  aus  zwei  Legionen  bestehenden  Besatzimg  eine  neue  Verstärkungs- 
quelle eröffnet  werde,  da  die  Verteidigungsarbeiten  ihre  Kräfte  bei  weitem  über- 
stiegen. Schade  nur,  dass  des  Schicksales  Tücke  die  letzten  Anstrengungen  zu 
nichte  gemacht  hat.  Im  Jahre  253,  nach  der  Ermordung  des  Oallus  überbrandet 
der  Gbthen  Flut  die  Provinz,  welche  nun  eammt  ihrer  prachtvollen  Hauptstadt, 
nach  einer  Blütezeit  von  anderthalbhundert  Jahren,  die  Beute  der  gierigen  barba- 
rischen Horden  wird. 


OBSCHIED. 

In  Zipser  Mundart. 


Komm,  dass  ich  dich  drock '  und  poss,* 
Du  mein  eindich*  Gleckt 
Wenn  ich  dich  auch  itzt  verloss, 
Kumm  ich  dach  zureck. 

Muss  itzt  en  die  weide  Welt, 
Bleib  der  oder  trai, 
Keine  mer  wie  du  gefallt, 
Wu  ich  auch  nar  sei. 

Deine  goldijen  Lookenhoor, 
Deine  Bäusenwang, 
Deine  Äugen  himmelklor 
Halden  mich  geÜEuig. 


Grein  nech,  du  mein  goldich^  Kend,^ 
Wesch*  der  ob  die  Zährl 
Weisst,  die  Zeit  verfligt  geschwend, 
Brengt^  mich  wieder  her. 

Und  dann  bau  her*  uns  e  Haus, 
Weg  es  alle  Näuth ;  ^ 
Aus  den  zieh  ber  dann  nech  raus 
Bis  on  unsem  Täud.'^ 

Dass  ich  dich  nach  einmal  poss, 
Komm,  mein  eindich  Gleck, 
Und  auch  du  mich  nech  verloss  — 
Bis  ich  kmum  zureck. 

BuDOLF  Wbbbb. 


^umarme; 
•Not;  »«Tod. 


'küsse;    •  einziges;    *  goldenes;    *Kind;    •wisch;    'bringt; 


•wir; 


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750 


KÖNIG   ITATHIAS     GEBtJRTBHAUB. 


ES  STARB  EIN  WEIB. 

Von  Graf  G^za  Zichy. 


Eb  starb  ein  Weib  in  dieser  Nacbi, 
f£in  hübsches  blasses  Fraaenbild!t 
Die  Armen  draussen  flüstern  sacht: 
•£in  Herz  so  mild!» 


Der  Priester  spricht :  «Wir  müssen  fort!» 
«Gott  rief  die  Beine  früh  zurück.* 
Der  Gatte  haucht  ein  dumpfes  Wort: 
«Mein  Lebensglüok!» 

Stefan  Bömat. 


KÖNIG  MATHIAS'  GEBURTSHAUS. 

Von  Viktor  Dalmady.* 


Du  schlichtes  Haus,  vom  Glück  erkoren  I 
Q&hsi  uns  den  König,  gross  an  Macht, 
Nicht  ward  in  Purpur  er  geboren, 
Und  doch,  wie  strahlte  er  in  Pracht! 

Er  trug  auf  seinem  Haupt  die  Krone 
Mit  Mannesstolz  und  freiem  Mut; 
Die  Herrscher  aller  Erdentrone, 
Ich  weiss,  erfüllte  Neidesglut. 

Er  wusst'  das  Schwert  im  Arm  zu  wägen. 
Er  war  ein  Held,  dem  keiner  gleich. 
Von  seines  Schwertes  harten  Schlägen 
Erseufiet  noch  heute  manches  Beich. 

Die  Grossen  eilten  ihm  zu  dienen, 
Sie  sahn,  dass  Demut  hier  Gewinn: 
Sie  waren  gross  und  ruhmbeschienen, 
Als  sie  sich  beugten  seinem  Sinn. 


Und  wie  war  er  gesinnt  den  Weisen? 
Er  huldigte  der  Wissenschaft, 
Es  war  ihm  Ruhm,  in  ihren  Kreisen 
Zu  messen  seines  Geistes  Kraft. 

Von  seines  Hofes  Glanzestagen 
Sprach  staunend  eine  halbe  Welt, 
Doch  nicht  erscholl  darum  von  Klagen 
Der  Armen  stilles  Wohnungszelt 

Becht  und  Gesetz  floss  ihm  vom  Munde, 
Sein  Wort  war  weithin  benedeit 
Und  als  er  starb,  da  starb  im  Bunde 
Mit  ihm  —  auch  die  Gerechtigkeit 

Du  sähest  ihn  geboren  werden. 
Du  schlichtes  Haus  mit  morschem  Stein : 
Wird  je  er  noch  erstehn  auf  Erden 
Und  glücklich  unsre  Heimat  sein? 


Du  giebst  zur  Antwort  meinen  Worten: 
Wozu,  da  er  doch  längst  erstand  ? 
Er  lenkt  die  Herzen  allerorten. 
Und  stille  holft  das  Heimatland. 


Adolf  Handmann. 


*  Vom  Dichter  in  der  diesjährigen   feierlichen    Jahresversammlung  der  Kisfa* 
ludy-GeseUschaft  vorgetragen.  _    


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tJNö^ARIßCHB   BIBLIOGRAPHIE.  751 


UNGARISCHE  BIBLIOGRAPHIE* 

Badics  Ferencz,  Fdy  Andrds  Üetraiza.  (Andreas  Fay's  Leben.  Von  der  ungar. 
Akademie  der  Wissenschaften  gekrönte  Preisschrift  von  Franz  Badics.)  Budapest, 
1891,  Akademie,  671  S. 

ßaksay  Kdroly,  Communisnius  es  magdntulajdo7i,  (Comiuunismus  und  Privat- 
eigentimi  aus  christhch- socialem  Gesichtspunkte,  von  Karl  Baksay.)  Budapest,  1891, 
Nagel  192  S. 

Balassa  Jözsef^  A  magyar  nyelvjdrdsok  nsztdlyozdsa  ds  jeüeinzese,  (Die  ungari- 
schen Mundarten,  Classification  und  Charakteristik,  von  Jos.  Balassa,  mit  einer 
Karte  der  ungarischen  Mundarten.)  Budapest,  1891,  Akademie,  150  S. 

Csuday  Jeno,  A  magyarok  törtdnete,  (Geschichte  der  Ungarn  in  zwei  Banden, 
von  Eugen  Csuday.)  Steinamanger,  1891,  Seiler,  404  und  448  S. 

Dedek  Orescens  J^jos^  A  Karthausiak  Magyarorszdghan.  (Die  Karthäuser  in 
Ungarn,  von  der  ungar.  Akademie  der  Wissenschaften  gekrönte  Preisschrift  von 
Ludwig  Cr.  Dedek,  mit  einem  Vorworte  von  Wilhelm  Frakn6i).  Zweite  Auflage. 
Budapest,  1891,  Wajdits,  254  S. 

Döczi  LajoSy  Vera  grdfnö  szomonimü  3  felrondsban,  (Gräfin  Vera,  Trauerspiel 
in  drei  Aufzügen  von  Ludwig  D6czi.)  Budapest,  1891,  Verein  der  Kunstfreunde,  135  S. 

EU  OdboTy  Egy  magyar  nyomda  a  XVI IL  szdzadban,  (Eine  ungarische  Dru- 
ckerei [der  Grafen  K4rolyi  in  Szathmir]  im  XVLEI.  Jahrhundert.  Beitrag  zur  unga- 
rischen Culturgeschichte,  aus  archivalischen  Quellen,  von  Gahriel  ^e.)  Budapest, 
1891.  Homy&nszky,  99  S. 

E/ndrödi  Sdndor,  Költemenyek.  (Gedichte  von  Alexander  Endrödi.)  Budapest, 
1891,  Verein  der  Kunstfreunde,  162  S. 

Oa^  Karolina,  Vegzetes  Idtogatds,  Kegdny.  (Ein  verhängnissvoller  Besuch, 
Boman  in  einem  Bande  von  Caroline  Gaal.)  Budapest,  1891,  Bohicsek,  208  S. 

Oerecze  Peter,  Die  Fünfkirchner  Kathedrale  und  ihre  Wandgemälde,  Fünfkirchen 
1891,  Engel,  110  S. 

Haldaz  Igndcz,  Sved-lapp  nyelv.  IV,  Düi-lapp  szötdr,  (Die  schwedisch-lappische 
Sprache.  IV.  Südlappisches  Wörterbuch  von  Ignaz  Hal&sz.)  Budapest,  1891.  Akade- 
mie, 264  S. 

Jdkey  Aladdr  köUeminyd,  1879—89,  (Gedichte,  1879—89.  von  Alad&r  J^key). 
Klausenburg,  1891,  Morton,  152  S. 

Kohn  David,  A  nenizetközi  vdltdk  tana,  (Der  internationale  Wechsel,  von 
David  Kohn.)  Budapest,  1891,  B^vai,  41  S. 

Kavdry  Ldszlö,  Erdely  rigis^ei  s  törU^ltni  emMei,  (Die  Altertümer  und 
historischen  Denkmäler  Siebenbürgens,  von  Ladislaus  Köv4ry.  Neue  Ausgabe  mit 
30  Holzschnitten.)  Klausenburg,  1892,  Stein,  XII,  331  S. 

lAzdr  Gyula,  Az  orosz  Hrodahm  törtendme.  (Geschichte  des  russischen  Rei- 
ches von  Julius  L^Är.  IV.  Band:  Von  Katharina  I.  bis  auf  die  Gegenwart.)  Buda- 
pest, 1891,  R&th  Com.  606  S. 


*  Mit  Aassohlass  der  mathematisoh-natorwisBenPchaftlichen  Literatur,  der  Schulbücher 
ErbauoDgssohriften   und  Uebersetzangen  ans  fremden   Sprachen,   dagegen  mit  Berüc  kpicbti 
gong  der  in  fremden  Sprachen  erschienenen,  auf  Ungarn  bezüglichen  Schriften. 


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752  T7NGAIiI8<)HE   BIMilOORAPHIB. 

Marczali  Henrik,  Maria  Terdzia,  (Oeschichte  Maria  Theresia's  von  Heinrich 
MarcEali.  Mit  zahlreichen  lUostrationen.  Erstes  Hefit.^  Budapest,  1891,  R&th,  S.  1—128. 

Mdridssy  Bdla,  A  magyar  törvtnyhozds  es  Magyarorazdg^  törUndme.  (Die  Gesets- 
gehung  und  Geschichte  Ungarns.  XIV.  Band:  König  Franz  Josef  I.).  Baah,  1891, 
Selbstverlag,  170  8. 

PaUiffyi  LajoSt  Kontor  napok,  (Düstere  Tage.  Neuere  Gedichte  von  Ludwig 
PalÄgyi,  1889—90.)  Budapest,  1891,  Singer  und  Wolfner,  135  S. 

Pdch  Antai,  EmUkbeitze'd  Zsigmondy  Vilmos  l.  tagröl.  (Denkrede  auf  das  correep 
Mitglied  der  ungar.  Akademie  der  Wissenschaften  Wilhelm  Zsigmondy  von  Anton 
P^h.)  Budapest,  1891,  Akademie,  28  S. 

Petfik  Gdza,  Matjyarorszdg  Biblioyraphidja,  (Bibliographie  Ungarns  1712 — 1860. 
Bibliographische  Zusammenstellung  der  in  Ungarn  und  auf  Ungarn  bezüglich  im 
Auslande  erschienenen  Druckschriften,  von  G^za  Petrik.)  IV.  Band.  4.  Heft  Budapest. 
1891,  Dobrovszky,  S.  673—900. 

Pth"  Antalj  Emldkbeszdd  Rdnay  Jdnos  JdcziiWt  r.  tayröL  (Denkrede  auf  das  ord. 
Mitglied  der  Akademie  der  Wissenschaften  Johann  Hyacinth  B6nay  von  Anton  P6r.) 
Budapest,  1891,  Akademie,  39  S. 

Räkosi  Qyörgy,  Luther  Womuhan,  (Luther  in  Worms,  kirchengeechichUiche 
Studie  von  Georg  R4kosi.)  Budapest,  1891,  Homy&nszky,  103  8. 

Rudnyänszky  Oyulu,  Mdria-dalok  ds  Ugenddk.  (Marienlieder  und  Legenden  von 
Julius  Rudnyinszky).  Budapest,  1891,  Wajdits,  192  S. 

Rupp  KomdLi  Ovidius  h  Ghföngyöd.  (Ovidius  und  Gyöngyösi,  literarhistoriBche 
Studie  von  Cornelius  Bupp.)  Budapest,  1891,  R^vai,  50  S.  —  Behandelt  den  Einfluss 
Ovids  auf  StefiEm  Gyöngyösi,  den  beliebtesten  ungarischen  Epiker  des  XVIL  Jahr- 
hunderts. 

Somlay  Jözsefy  A  magyaromzdgi  nfytanüök  1890,  dd  augusztu»  20 — 23.  napjdn 
Budapesten  tartoU  negyedik  egyetenies  yyüldsdnek  napU^a,  (Diarium  der  vom  20 — ^23. 
August  1890  in  Budapest  abgelialtenen  Verhandlungen  des  IV.  allgemeinen  ungari- 
schen Lehrertages,  redigirt  von  Josef  Somlay.)  Budapest,  1891.  Lampe!   Com.,  520  S. 

Sztehlo  KomiU  Törvdnyes  Hgamia!  (Gesetzliche  Bigamie?  Ist  die  katholisch 
gebliebene  Frau  berechtigt,  den  Namen  ihres  Gatten  weiter  zu  führen,  wenn  der 
letztere  neuerdings  geheiratet  hat?  Von  Cornelius  Sztehlo.)  Budapest,  1891,  Pfeifer,  16  S. 

Teglds  Ödbor,  TantUmdnyok  a  römaiak  daciai  aranybdnydszatdrdL  (Studien  über 
den  dacischen  Goldbergbau  der  Römer.  Die  ethnographische  und  administrative  Orga- 
nisation des  Goidbergbaues  der  Römer,  von  Gabriel  T^i&s.)  Budapest,  1891,  Aka- 
mie,  99.  S. 

Tkaly  Istvdn,  Bdtori  Schätz  Bddog  dUtrajza,  (Felix  Schultz  von  BÄtor.  Sein 
Leben  von  Stefan  Thaly.)  Schemnitz.  1891,  Joerges,  64  S. 

Varga  Mihäly,  Boras  napok,  (Trübe  Tage,  Erzählungen  von  Michael  Varga) 
Budapest,  1881,  Selbstverlag,  152  S. 

Zsüinszky  Mihdly,   A   magyar  orszdggyüUsek  vaUdmgyi  idrgyaldsai  a  reform^t' 
tidtSl  kezdve.  (Die  Verhandlungen  der  ungarischen  Reichstage  über   kirchliche    Ange 
legenheiten   seit   der   Reformation,    von  Michael   Zsilinszky.    IL  Band  :  Vom  Wiener 
Frieden  bis  zum  Linzer  Frieden,  1608-47.)  Budapest,  1891,  Homy4nszky,  XIV,  518  S. 


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J 


MONTESQUIEU  UND  DIE  VERANTWORTLICHKEIT  DER  RÄTE 

DES  MONARCHEN 


Mag  aach  die  Staatsphilosophie^  welche  sich  recht  eigentlich  vorwie- 
gend um  die  Endursachen  und  Endziele  des  Staats  kümmern  sollte,  wie 
immer  Anspruch  auf  eine  eigene  Staatslehre  erheben  und  noch  fortwährend 
politeumatische  Systeme  aus  Ideen,  mithin  auf  eine  rein  deductive  Weise 
construiren:  für  die  Staatswissenschaft  hat  heutzutage  gewiss  nur  eine 
Staatslehre  Berechtigung,  welche  auf  Grundlage  der  vergleichenden  Staats- 
rechtswissenschaft und  Yerfassungsgeschichte,  mit  stetiger  Berücksichtigung 
der  Cultur-,  Sitten-  und  Wirtschaftsgeschichte  sowie  all  der  Postulate, 
Probleme  und  Strömungen  aufgebaut  wird,  welche  zur  Zeit  der  Abfassung 
des  betreffenden  staatswissenschaftlichen  Systems  die  Geister  beschäftigen. 
Nur  äusserst  wenige  Verfasser  pflegten  bis  jetzt  zielbewusst  auf  eine  solche 
Staatslehre  auszugehen;  die  meisten  haben  eine  trostlos  einseitige  und 
mangelhafte  Arbeit  zustande  gebracht. 

Woher  dieser  Misserfolg?  Der  Grund  liegt  darin,  dass  diese  Verfasser 
anstatt  die  Entwickelung  der  Staatseinrichtungen  der  Gulturvölker,  sowie 
die  wohlthätige  oder  nachträgliche  Bückwirkung  derselben  auf  die  Gesell- 
schaft bis  in  die  Gegenwart  hinein  zu  verfolgen,  stets  bei  den  Apophtheg- 
men  irgend  einer  berühmten  Autorität  längst  dahingegangener  Zeiten 
stehn  geblieben  sind  und  ihrer  Theorie  nur  den  mageren  und  lückenhaften, 
ja  oft  sogar  entschieden  oberflächlichen  und  fehlerhaften  empirischen  Stoff 
zu  Grunde  legten,  den  jene  Autoritäten  einst  von  längst  überwundenen 
Standpunkten  aus  in  ein  System  gebracht  hatten.  Um  diese  misshche  Jjage 
unserer  modernen  Staatslehre  gleichsam  mit  einem  Streiflicht  zu  erhellen, 
sei  es  mir  gestattet  auf  die  Akrisie  hinzudeuten,  mit  welcher  dieselbe  in 
Betreff  der  Zweckdienlichkeit  oder  Unzweckmässigkeit  der  verfassungsrecht- 
lichen Staatsgrundgesetzgebungen,  d.  i.  der  systematisch  angelegten  Ver- 
fassungsurkunden fertig  zu  werden  wähnt.  Abgesehen  von  primitiven 
Versuchen,  wie  die  Verfassungeurkunde  von  Lithauen  vom  Jahre  1457,  und 
von  den  schwedischen  «Begeringsformeni   (1632,   1634,   1720,  u.  s.  w.  bis 

ünguiscbe  R«vüe,  XI.  1891.  X.  Heft.  48 


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754  MONTESQUIEU   UND   DIE   VERAJ^TWORTMCHKEIT 

1809),  gab  es  in  Europa  vor  dem  Jahre  1791    Staatsgrundgesetze  nicht. 
Selbst  das  dänische  «EongeLov»  vom  J.  1670  fällt  entschieden  in  eine  andere 
Kategorie^  so  auch  das  Grundgesetz  von  Polen  vom  J.  1 768.  Noch  vielweniger 
können  Freiheitsbriefe  vrie  die  tBill  of  Rights»  oder  der  «Act  of  Settlement» 
für  systematische  Staatsgrundgesetze  angesehen  werden,  es  sei  denn,  man 
wollte  zu  dem  sinnreichen  Sir  Edward  Goke  in  die  Lehre  gehen  und  sogar 
schon  die  «Magna  Ghartat   (1215)  für  ein  Staatsgrundgesetz  erklären.— 
Nein^  erst  die  französische  Revolution  hat  die  systematischen  Staatsgrund- 
gesetze  in  das  europäische   Verfassungsleben   eingeführt,  und  zwar  nicht 
aUein  in  Frankreich  (1791,  1793,  1795,  1799,  1804  u.  s.  w.)  sondern  wohl 
auch  in  den  verschiedenen  Staaten«  welche  die  Waffenerfolge  der  Franzosen 
an  ihr  Machtgebot  gekettet  hatten.  Als  nun  die  französische  Revolution  und 
ihr  cäsarischer    Depositar  1815  endgiltig  zu  Boden  geworfen  wurden:  da 
gingen   alle   diese   durch  Waffengewalt  improvisirten  Staatswesen  —  Cis- 
alpinische  Republik,  Ligurische  Republik,  Parthenopeische  Republik,  Bata- 
vische  Republik  u.  s.  w.  —  so  wie  die  aus  diesen  gleichfalls  durch  französi- 
sches Machtgebot  organisirten  napoleonistischen  Monarchien  als  solche  in 
Trümmer,  und  wenn  auch  in  einigen  Monarchien  des  Festlandes,  z.  B.  im 
Frankreich  der  Restauration  (1814),  in  Norwegen  (1814),  in  Baden  (1818), 
in  Bayern  (1818),  in  Würtemberg  (1819),  in  Hessen   (1820)  u.  s.  w.  mehr 
oder  minder  conservativ  angehauchte  Verfassungsurkunden  erlassen  wur- 
den, um  die  schwedische  Verfassungsurkunde  vom  Jahre  1809,  welche   blos 
die  Hauptmomente  des  historisch  entwickelten  ständischen   Staatsrechts, 
nebst  einigen   Neuerungen  in  eine  systematische  Form  gegossen  hat,  gar 
nicht  zu  betonen :  so  ächzte  doch  nahezu  das  gesammte  monarchische  Fest- 
land unter  den  Massnahmen  einer  retrograden,  volksbedrückenden  «Legiti- 
mität», welche  die  an  die  feudalen   Machtüberreste  der  vor-1 789-er  Jahr- 
zehnte anknüpfende   und  jedwede   Regung  nach   Freiheit  zerstampfende 
Heilige  Allianz  ins  Leben  rief.  Enttäuscht  in  ihren  Hoffnungen  durch  das 
tragische  Ende  der  durch  die  Principien  vom  Jahre  1789  hervorgerufenen 
Bewegung,  hatten  nun  die  freisinnig  denkenden  Geister  sich  auf  die  Jagd 
nach  Idealen  geworfen,  welche  ihnen  weder  die  Missgunst  irgend  einer 
«Väterlichen  Regierung»,  noch  irgend   eine  Polizei   nehmen  konnte.  Die 
schwungvolleren  Enthusiasten  vergruben  sich  in  ihre  eigenen  Träumereien 
über  die  Demokratie  von  Athen,  welche  sie  vollends  missverstanden  hatten ; 
die  nüchterneren  verfolgten  auch  jetzt  noch  praktische  Ziele  und  glaubten 
diese  an  dem  Beispiele  der  nicht  systematisch-staatsgrundgesetzlich   nor- 
mirten,  sondern    blos  «historisch  entwickelten»   Verfassung  Englands  pflü- 
cken zu  können.  In  England  blühte  die  politische  Freiheit  sowie  die  indivi- 
duelle  Freiheit  in  den  Jahren,  wo  man  auf  dem  Festlande  selbst  den 
Athemzug  polizeilich  bewachen  Hess,  um  sodann  die  zahmsten  Seufzer  der 
Unzufriedenen  auf  die  brutalste  Weise  massregeln  zu  können,  noch  unver- 


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I 
A 


DER   RÄTE   DBS   MONAROHEN.  755 

«ehrt  fort;  man  bewanderte  in  den  Metropolen  sowie  in  den  Universitäts- 
städten des  Deutschtums,  an  der  Seine  und  an  der  Donau,  in  Turin,  in 
Neapel  und  in  Kopenhagen  das  Königreich,  wo  sowohl  im  XVIII.  als  auch 
im  XIX.  Jahrhundert  Soldaten  und  Offiziere  zum  Tode  verurteilt  zu  werden 
pflegten,  falls  sie  auf  das  Oommando  ihres  (Ungesetzlich  verfahrenden) 
Befehlshabers  auf  das  Volk  geschossen  hatten,  nicht  minder  als  die  don- 
nernden Beden  der  parlamentarischen  Grössen,  die  imposanten  Leitartikel 
der  Pressorgane,  die  unermesslichen  Beichtümer  der  Industrie  und  des 
Handels  und  die,  ferne  Weltteile  beherrschenden,  unwiderstehlichen  Flot- 
ten des  Britischen  Inselreichs,  so  wie  die  wohlthuend  frische  Luft,  welche 
durch  das  grossartige  geistige  Leben  desselben  wehte.  Die  tonangebenden 
freisinnigen  Elemente  des  Festlandes  blickten  mit  hoffnungsvoller  Bewun- 
<lerung  zu  einer  solchen  historisch-entwickelten  Verfassung  empor:  kein 
Wunder,  wenn  so  manche  Staatsrechtslehrer  des  damals  noch  jämmerlich 
geknechteten  Festlandes  zu  dieser  Zeit  nicht  den  Weg  der  tpapiernen  Con- 
stitutionen» der  Batavischen  und  Ligurischen  Bepublik  und  auch  nicht  den 
der  franzöischen  t Charte  •  be wandelt  wissen  wollten.  Allerdings  hatte  Nor- 
wegen schon  damals  eine  freisinnige  Verfassung:  allein  Norwegen  lag, 
sowie  auch  Portugal  (1826)  allzuweit  von  den  Strömungen  des  festländi- 
schen Liberalismus;  die  etUchen,  seit  1818  erlassenen  deutschen  Verfas- 
sungsurkunden hatten  sich  damals  noch  bei^Weitem  nicht  erprobt;  im 
Gegenteil,  man  betrachtete  ihre  Lebensfähigkeit  mit  bangem  Misstrauen  : 
kein  Wunder,  wie  gesagt,  wenn  unsere  aufrichtig  fortschrittsfreundlichen 
Staatsrechtslehrer  nur  Englands  historisch  entwickelte  Verfassung  liebten, 
zumal  auch  Schweden,  trotz  seiner  urkundlich  systematisirten  Verfassung 
(1809)  noch  immer  unentwegt  an  seiner  althergebracht  historischen  Verfas- 
sungs-Entwickelung  festhielt.  So  war  die  Lage  des  europäischen  Staats - 
lebens  in  den  zwanziger  Jahren,  als  die  namhaftesten,  mit  der  rechtshistori- 
schen Schule  Hand  in  Hand  gehenden  Staatsrechtslehrer  und  Politiker  die 
Lehre  von  der  Verwerflichkeit  der  systematischen,  d.  i.  alle  Grundgedanken 
-des  actuellen  Staatsrechts  in  ein  einheitliches  System  synchronistisch  hinein- 
formulirenden  Staatsgrundgesetzgebung  aufstellten. 

Seitdem  sind  drei  Menschenalter  verflossen  und  das  europäische  Fest- 
land hat  seither  wohl  ein  AntUtz  erhalten,  von  dem  jene,  sonst  gewiss  recht 
hochverdienten  Staatsrechtslehrer  der  zwanziger  Jahre  kaum  träumen  durf- 
ten. Abgesehen  von  England,  Ungarn  und  Mecklenburg,  hatte  sich  seit  den 
zwanziger  Jahreo  das  monarchische  Verfassungsleben  der  Culturstaaten 
unseres  Festlandes  zu  einer  Höhe  emporgeschwungen,  und  zwar  sowohl  in 
Betreff  des  geistigen  Fortschritts  und  der  Veredlung  der  Sitten,  als 
auch  hinsichtlich  der  Entfaltung  der  materiellen  Schätze,  dass  der  Schwer- 
punkt des  gesammten  menschlichen  Fortschritts,  dessen  sich  unser  schei- 
dendes XIX.  Jahrhundert  rühmen  darf,  gewiss  nicht  mehr  auf  England 

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756  MONTESQUraU  UND   DIB   VERANTWORTLICHKEIT 

fiillt,  wie  noch  in  den  zwanziger  Jahren,  sondern  auf  die  cultnrellsten  Flu- 
ren des  Festlandes ;  und  wenn  auch  sowohl  das  thatsächlich  ^reichte  Maass 
von  staatsbürgerlicher  Bechtsgleichheit,  als  auch  der  thatsächlich  geniess- 
bare  Grad  von  politischer  Freiheit  in  zahlreichen  Monarchien  unseres  Fest- 
landes noch  gar  Manches  zu  wünschen  lassen :  so  gemessen  doch  sowohl 
poUtisch  als  auch  gesellschaftlich  wenigstens  ein  mensdienwürdiges  Dasein 
all  die  Millionen,  deren  Voreltern  noch  in  ihrer  Kindheit  von  Staat  und 
Gesellschaft  kaum  Besseres  als  höchstens  eine  nachsichtsvoll-tierische 
Behandlung  hoffen  konnten.  Von  einem  Europa,  wie  es  sich  heute  von 
Stockholm  und  Ghristiania  bis  nach  Madrid  und  Palermo,  von  London  und 
Paris  bis  nach  Beriin  und  von  da  bis  nach  Athen  entfaltet,  hatten  die  Staats- 
rechtslehrer der  zwanziger  Jahre  noch  keine  Ahnung.  Der  Fortschritt  ist 
gross  und  über  jeden  Zweifel  erhaben. 

Nun,  hat  es  denn  unter  solchen  Umständen  wohl  noch  einen  Sinn, 
wenn  unsere  eigenen  Staatsrechtslehrer  im  letzten  Decennium  des  XIX. 
Jahrhunderts  ihre  Zeitgenossen  und  die  Nachwelt  noch  immer  mit  densel- 
ben weisen  Sprächen  über  die  unübertreffliche  Zweckmässigkeit  der  blos 
historisch  entwickelten  Verfassungen  und  über  die  Unzweckmässigkeit,  ja 
sogar  Gefährlichkeit  der  staatsgrundgesetzlich  verbrieften  Verfassungen 
beschert  wissen  wollen,  welche  ihre  sonst  gewiss  sehr  verdienstvollen  Lehrer 
in  den  vierziger  Jahren  jenen  bangevollst  freisinnigen  Lehrmeistern  d&c 
zwanziger  Jahre  einseitigst  nachzubeten  gelernt  hatten  ?  Haben  denn  seither 
nicht  nahezu  sämmtliche  Culturvölker  des  europäischen  Festlandes  den 
erwähnten,  allbekannten  grossartigen  Fortschritt  unter  der  Herrschaft  jener 
systematischen  Staatsgrundgesetze  durchgemacht,  welche  die  Lehrmeister 
der  zwanziger  Jahre  sowie  ihre  Schüler  auf  den  Lehrkanzeln  und  in  der 
Literatur  (in  ihrer  damals  wohl  noch  verzeihlichen  Anglomanie)  mit  innig- 
ster Geringschätzung,  wenn  nicht  geradezu  mit  Verachtung  zu  beurteilen 
pflegten?  Wenn  jemand  in  der  Palaeontologie  noch  heutzutage  nur  das  für 
baare  Münze  nehmen  würde,  was  ein  Sedgwick  oder  ein  Buckland  in  ihrer 
Jugend  aufgestellt  hatten :  so  würde  man  einen  solchen  Forscher  oder  Den- 
ker in  der  Palaeontologie  gewiss  nicht  als  einen  Lehrmeister  gelten  lassen, 
um  60  ärger  ist  es  dann  mit  der  Staatslehre  bestellt,  deren  Verallgemeine- 
rungen man  noch  heutzutage  in  den  engen  Gesichtskreis  der  Staatsrechts- 
lehrer und  Politiker  der  zwanziger  Jahre  hineinzwingen  wUl,  trotzdem  die 
Entwickelung  des  Staatslebens  seitdem  auf  allen  Gebieten  einen  so  enor- 
men Fortschritt  zu  verzeichnen  hat,  während  die  Versteinerungen  seit 
Bucklands  und  Sedgwicks  Jugend  doch  wohl  keine  Weiterentwicklung  an 
den  Tag  gelegt  haben  dürften. 

Allein  es  gibt  wohl  auch  noch  anderweitige  Autoritäten,  deren  längst 
überwundene  Staatsweisheit  noch  heutzutage  wie  ein  Alp  auf  unserer 
Staatslehre  drückt.  Zu  diesen  gehören  sowohl  Aristoteles  als  auch  Montes- 


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DBB   RATE   DES   MONARCHEN. 


757 


qaieu.  Ueber  die  Gebrechen  der  Staatsformenlehre  des  Stageiriten  handelt 
meine  Schrift:  «Kritik  der  Staatsformen  des  Aristoteles» ;  ich  will  mich 
hierorts  nur  mit  dem  Verfasser  des  «L'Esprit  des  Lois»  eingehender 
beschäftigen,  und  zwar  anlässlich  seiner  Lehre  von  der  Verantwortlichkeit 
der  Minister. 

Nach  einer  so  hochtrabenden  Betonung  seiner  «zwanzigährigen» 
Arbeit  hätte  man  von  Montesquieu  wohl  erwarten  dürfen,  dass  er  eine 
verfassungsgeschichtlich  einschneidender  begründete  Staatsformlehre  liefere 
als  die  es  ist,  mit  welcher  er  in  seinem,  sonst  gewiss  recht  geistvoUen,  und 
kraft  seines  befruchtenden  Hinweises  auf  Englands  Verfassung  thatsächhch 
epochalen  Werke  über  den  Geist  der  Gesetze  sowohl  seine  Zeitgenossen  als 
die  Nachwelt  zu  köstigen  suchte.  Nicht  einmal  die  bedeutungsvollsten  Ein- 
richtungen der  zeitgenössischen  Staatswesen  hat  er  ernsthaft;  und  kritisch 
in  das  Bereich  seiner  Studien  gezogen;  sein  verfassungsgeschichtlicher 
Geeichtskreis  beschränkt  sich  einerseits  auf  eine  höchst  oberflächUche  und 
lückenhafte  Eenntniss  der  Politik  der  Griechen  und  Bömer,  anderseits  auf 
eine  nicht  minder  gebrechliche  Eenntniss  der  feudalen  Einrichtungen  der 
christlich-germanischen  Staaten  sowie  der  englischen  Verfassung;  nicht 
einmal  die  wahre  Bedeutung  der  verfassungsgeschichtlichen  Entwickelung 
seines  eigenen  Vaterlandes  vermochte  er  zu  erfassen ;  und  was  er  über  noch 
sonstige,  gebildete,  halbwilde  und  ganz  wilde  Völker  zum  Besten  gibt :  das 
sind  Gedankenspäne  und  glitzernde  Einfälle,  welche  der  nächste  beste,  in 
den  Anekdotensammlungen  und  abenteuerlichen  Beiseschilderungen  etwas 
sorgfaltiger  und  mit  Geschick  herumblätternde  Schöngeist  hätte  in  die  Welt 
sehleudern  können.  FreiUch  werden  alle  Staatsgelehrten,  die  einem  herkömm- 
lichen Montesquieu-Culte  fröhnen  und  in  jeder  einzelnen  Zeile  des  «L' Esprit 
des  Lois»  irgend  eine  versteckte  Weisheit  wittern,  eine  solche  Kritik  wohl 
mit  Entsetzen  ablehnen ;  kundige  Männer  vom  Fache  jedoch,  welche  den 
verfassungsgeschichtlichen  Stoff  dieses  sonst  gewiss  monumentalen  Werkes 
ohne  Voreingenommenheit  prüfen,  werden  anders  urteilen. 

Betrachten  wir  nur  ganz  objectiv  die  Lehre,  welche  er  von  den  ver- 
schiedenen Typen  innerhalb  der  monarchischen  Staatsform  aufstellt. 

Aristoteles  hatte  in  seiner  Staatsformenlehre  auf  die  Begründung 
eines  eigenen  wissenschaftlichen  Systems  so  gut  wie  verzichtet;  in  der  That 
knüpft  der  Verfasser  der  HoXttixfi^v  nur  an  die  volkstünüiche  Einteilung 
sowie  Terminologie  an,  welche  bei  Herodot  zum  Ausdruck  gelangt  war 
(Monarchie,  Oligarchie,  Demos)  und  durch  Piaton  zu  einem  in  gewisser 
Hinsicht  wissenschaftlichen  Schema  mit  Farekbasen  erweitert  wurde  :  die 
Dreiteilung  mit  Farekbasen,  welche  in  der  «PoUtik»  des  Aristoteles  bis  ans 
Ende  seine  staatsmorpbologischen  Betrachtungen  und  Ausführungen  be- 
herrscht (Monarchie,  Aristokratie,  Politeia  —  Tyrannis,  Oligarchie,  Demo- 
kratie) ist  im  Grunde  genommen  nicht  einmal  so  weit  wissenschaftlich  wie 


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7.^8 


MONTESQUIEU    UND   DIE   VERANTWOBTUCHKEIT 


die  sokrateißche  Einteilung  bei  Xenopbon,  wo  die  Staatßfonn  «Plutokratiet^ 
zuerst  aufzutauchen  scheint  und  unvergleichlich  begründeter  ist  als  der 
verschwommene  Begriff  der  «Oligarchie»  bei  Aristoteles.  Auch  die  Begriffs- 
bestimmung, welche  Xenophon  von  der  «Aristokratie»  giebt,  ist  entschieden 
correcter  und  vemunftmässiger  als  die  bei  dem  Stageiriten,  —  von  der 
•  Demokratie»,  welche  Aristoteles,  abgesehen  von  der  bäuerlichen  Unterart 
derselben  (u.  s.  w.)  geradezu  zu  der  Herrschaft  einer  aus  raubgierigen 
Armen  bestehenden  Mehrheit  degradirt  wissen  will,  gar  nicht  zu  reden. 

Montesquieu  lässt  all  dies  ganz  gemächlich  auf  sich  beruhen ;  es  &llt 
ihm  gar  nicht  ein,  die  sokrateische  Staatsformenlehre  mit  der  aristoteU- 
schen  kritisch  zu  vergleichen ;  ja  er  scheint  nicht  einmal  den  erheblichen 
Fortschritt  gehörig  gewürdigt,  noch  viel  weniger  verdaut  zu  haben,  den  die 
Staatsformenlehre  seines  denkwürdigen  Landsmannes  Jean  Bodin  insbeson- 
dere vermöge  der  trefflichen  Auseinandersetzungen  über  die  «Legale  Monar- 
chie» gegenüber  der  idiosynkratischen  Definition  der  ßaatXeCa  xatd  vö(jlov  und 
xata  v6|i.0D<;  repräsentirt.  Dessenungeachtet  legte  Montesquieu  Hand  an  die 
Staatsformenlehre,  um  dieselbe  zu  reformiren ;  er  stellt  drei  Arten  staats- 
morphologischer Natur  auf :  Monarchie,  Republik,  Despotie  —  und  unter- 
scheidet die  Eepublik  in  Aristokratie  und  Demokratie.  Unter  Monarchie 
versteht  er  eine  Staatsform  (espece  de  gouvemement),  in  welcher  ein  Ein- 
zelner nach  ständigen  und  festgesetzten  d.  i.  solchen  Gesetzen  regiert,  wel- 
che bereits  Wurzel  gefasst  haben,  und  welche  Montesquieu  an  einer  anderen 
Stelle  Grundgesetze,  «Lois  fondamentales»  zu  nennen  liebt,  wogegen  die 
Despotie  bei  ihm  eine  Staatsform  bezeichnet,  in  welcher  ein  Einzelner,  ohne 
an  irgend  ein  Gesetz,  ohne  an  irgend  welche  Regeln  gebunden  zu  sein, 
durch  seinen  eigenen  Willen,  ja  sogar  durch  seine  Launen  alles  zu  beherr- 
schen vermag.  Da  Montesquieu  selber  sagt,  dass  der  nüchterne  Menschen- 
verstand zum  grossen  Teile  darin  besteht,  dass  man  die*Nüan<^n  der 
Dinge  zu  erkennen  wisse :  welches  sind  denn  die  staatsmorphologischen 
Unterarten,  welche  der  Verfasser  des  Werkes  über  den  Geist  der  Gesetze 
innerhalb  seiner  monarchischen  Staatsform  recht  eigentlich  erkannt  und 
zum  Ausdruck  gebracht  hat  ? 

Montesquieu  hat  keine  Ahnung  noch  von  dem,  was  unsere  heutige 
Wissenschaft  mit  dem  Worte  «Culturstaat»  zu  bezeichnen  liebt;  er  hat  kein 
Wort  über  das  Unterrichtswesen  zu  sagen ;  er  sieht  es  für  ein  Zeichen  der 
entarteten  Zeiten  an,  wenn  die  Angehörigen  eines  freien  Staatswesens 
Losungsworte  wie  Handel,  Industrie  u.  drgl.  im  Munde  führen,  anstatt  die 
Tugend  den  Staatsbürgern  (oder  vielmehr  den  Staatsphilosophen)  des  grie- 
chischen Altertums  nachzuplappern.  Allerdings  sieht  er  England  für  ein 
Staatswesen  an,  das  gar  nicht  mehr  zu  den  eigentlichen  Monarchien  gehört, 
da  es  die  «puissances  intermediaires  subordonn^es»,  ohne  welche  er  sich 
keine  wahre  Monarchie  zu  denken   vermag,  so  gut  wie  aufgehoben   habe.. 


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DER   RÄTE   DES  MONARCHEN.  759 

Allein  von  den  moderneren,  christlich-germanischen  Monarchien  des  Fest- 
landes, welche  er  zu  den  «Mod6rees»  rechnet,  schildert  er  nicht  eine  einzige 
meritorisch ;  ja  er  schildert  die  Einrichtungen  der  Monarchien  Dänemark, 
Schweden,  Spanien,  Portugal,  Sardinien,  Neapel,  Polen  und  Ungarn  nicht 
einmal  so  oberflächlich,  wie  die  der  Monarchie  der  Molosser,  der  Lakedai- 
moner  oder  der  Griechen  im  heroischen  Zeitalter.  Am  allerwenigsten  hat  er 
einen  Sinn  für  Unterschiede,  welche  den  verschiedenen  Monarchien  einen 
mehr  oder  minder  exclusiv-aristokratischen  Typus  aufprägen.  Er  scheint  gar 
kein  Gewicht  darauf  zu  legen,  dass  während  die  Monarchie  in  Dänemark 
auf  Grund  des  «Konge  Lovt  vom  J.  1670  sich  nicht  sowohl  auf  den  Adel, 
als  auf  Bärgerstand  und  Bauernstand  gestützt  hatte  und  in  Schweden  zu 
Johann  Skyttes  Zeiten  die  niederen  Stände  an  politischem  Einfluss  mit  dem 
Adel  siegreich  wetteiferten,  die  verschiedenen  monarchischen  Staatswesen 
des  Heiligen  Römischen  Reiches  Deutscher  Nation  nicht  minder  auf  exclu- 
siver  Adelsherrschaft  beruhten  als  Ungarn  oder  Polen,  wo  auf  Grund  des 
Gonföderationsactes  vom  J.  1573  einem  jeden  Edelmann  die  Landeshoheit 
über  sein  Territorium,  die  Macht  über  Leben  und  Tod  seiner  Unterthanen 
zugesprochen  wurde  und  wo  ausser  den  600,000  Edelleuten  sonst  niemand 
politische  Rechte  von  Belang  ausüben  konnte.  Wie  hätte  er  dann  einerseits 
zwischen  den  Monarchien  Aragonien  und  Castilien  und  anderseits  zwischen 
der  ungarischen  Monarchie  zu  unterscheiden  vermocht  ?  Dass  einst  in  Ara- 
gonien und  Castilien  die  Städte  eine  so  hervorragende  Rolle  auf  den  Gortes 
zu  spielen  befugt  waren,  während  in  Ungarn  sämmtliche  Städte  nur  mit 
einem  Votum  vertreten  waren,  welches  nicht  einmal  dem  eines  einzigen 
Eomitates  gleichkam :  diese  verfassungsgeschichtliche  Thatsache  hatte  für 
ihn  nicht  einmal  eine  solche  Wichtigkeit  wie  der  Akt,  wodurch  sich  König 
Fernando  zum  Grossmeister  der  Ritterorden  gemacht  haben  soll,  oder  wie 
die  Verordnung  des  Königs  Jayme  über  die  Fleischspeisen  oder  wie  so 
manche  Einrichtungen  des  einstigen  Königreichs  Batam  auf  der  Insel  Java. 
Und  so  wie  er  auf  der  einen  Seite  über  die  grossartige  Nivellirung  der 
Stände  unterhalb  der  Peerage  in  England,  deren  Rückwirkung  auf  die 
Gesellschaft  schon  die  bekannte  Aeusserung  des  Sekretärs  der  Königin  Eli- 
sabeth in  Betreff  des  Begriffs  •  Gentleman»  zum  Ausdrucke  bringt,  mit 
einer  äusserst  laienhaften  Spitzfindigkeit  dahinschreitet,  ohne  zu  bemerken, 
dass  er  durch  seinen  Ausspruch  im  ü.  Buche  des  «L'  Esprit  des  Lois»  seine 
wärmevollen  Ausführungen  über  Englands  Verfassung  im  XI.  Buche,  ganz 
und  gar  vor  einen  nicht  minder  gefahrvollen  als  krankhaft  verkommenen 
Hintergrund  stellt :  so  scheint  er  auch  das  stetige  Vordringen  des  auf  eine 
einheitUche  Staatsbürgerschaft  ausgehenden  Nivellirungsprincips  in  der 
Geschichte  seines  eigenen  Vaterlandes  nicht  zur  Kenntniss  genommen  zu 
haben.  Der  Gang  der  unaufhörlichen  Rechtserweiterung,  welche,  einzelne 
Rückfallsphasen  abgerechnet,  die  Weisheit  der  Könige  von  Frankreich  seit 


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760  MONTESQUIEU   UND    DIB   YERANTWOBTLICHEEIT 

Philipp  dem  Schönen  so  zielbewusst  zu  Gunsten  eines  Tiers-^tat  ins  Werk 
zu  setzen   wosste,   vermag  ihn   überhaupt   nicht  zu  verfassungspolitisch 
zurechnungsfähigen  Betrachtungen  zu  erregen;  der  Begriff  tboui^ois  da 
roi»,  dieses  denkwürdige  Merkmal  des  altfranzösischen  Staatsrechts^  lässt 
ihn  nicht  minder  kalt  als  die  bürgerlichen   Bäte  Karls  XII.  oder  als  die 
bürgerlichen  Gremalinen  von  Ministem  und  Marschällen,  welche  Colberts 
grandioser  Monarch  zur  Hoftafel  zieht.  Ludwig  XIV.  wusste  vielleicht  selber 
nicht,  welche  Dienste  er  der  Sache  einer  zu  vereinheitlichenden  Staatsbür- 
gerschaft, mithin  dem  demokratischen  Staatsgedanken  dadurch  geleistet, 
dass  er  mit  seiner  märchenhaften   Höflichkeit  nicht  nur  Duchessen  und 
Marquisen,  sondern  wohl  auch  Frauen  und  Töchter  der  Boture  bescherte. 
Doch  die  Thatsache  an  sich,  dass  während  gar  so  manche  christlich-germa- 
nische Monarchen  unseres  Festlandes  damals  und  wohl  auch  noch  lange, 
lange  hernach,  sogar  noch  in  den  ersten  Decennien  des  XIX.  Jahrhunderts 
mit  hochgebildeten  Frauen,  wenn  diese  nicht  zum  hohen  Adel  zählten,  nur 
in  einem  Tone  zu  discuriren   liebten,  wie  man  heutzutage  in  civilisirten 
Ländern  nicht  einmal  mit  einem  ungebildeten  Fischerweib  zu  conversiren 
pflegt,  —  Ludwig  XTV.  redet  sogar  die  bescheidenste  Bürgers&au  auf  offe- 
ner Strasse  sowie  auf  dem  Corridor  stets  im  höflichsten  Style  und  entblöss- 
ten  Hauptes  an,  sobald  er  nur  einen  gewissen  Grad  von  Bildung  an  ihrem 
Aeusseren  wahrnehmen  zu  können  meint ;  —  diese  Thatsache  an  sich  hätte 
schon  Montesquieu  zu  eingehenderen  Untersuchungen  über  die  verschiede- 
nen Unterarten  der  monarchischen  Staatsform  seines  Jahrhunderts  anspor- 
nen müssen,  hätte  Montesquieu  wirklich  den  Forschersinn  gehabt  und  über 
den  Erkenntnisskreis  verfügt,  den  man  ihm  gewöhnlich  zuschreibt.  Doch 
weit  entfernt  davon,  sich  in  die  vergleichende  Anatomie  und  Physiologie  der 
Monarchien  seines  Zeitalters  versenken  zu  wollen,  begnügte  er  sich  mit  der 
Verallgemeinerung  «Point  de  Noblesse,  point  de  Monarquet   und  verrät 
•dabei  eine  staatsmorphologische  Weltansicht  in  Betreff  der  Monarchien,  die 
nur  um   etliche   Grade   höher   steht  als  die  Weltansicht  des   sinnreichen 
Staatshistoriographen  von  Burgund,  Jean  Molinet,  der  anlässlich  der  Ver- 
mählung Maximilians  mit  Maria  von  Burgund  den  nachstehenden  Betrach- 
tungen feierlichst  Ausdruck  verleihen  zu  müssen  wähnte:  «Der  göttlichen, 
menschlichen  und  natürlichen  Einrichtung  zufolge,   sind  untergeordnete 
Wesen  durch  höhere  geleitet  und  regiert,  die  Sterblichen  durch  Unsterb- 
liche, die  sichtbaren  durch  unsichtbare,  die  menschlichen  durch  göttliche  ; 
gleichwie  es  nur  ein  einziges  himmlisches  Eeich  und  einen  einzigen  Gott 
und  ewigen  Kaiser  gibt,  welchem  alle  erschaffenen  Dinge  gehorchen  und 
welcher  durch  seine  untrügliche  Güte  diese  höhere  Monarchie  verwaltet, 
deren  Bestandteile  die  englischen,  je  nach  der  Beschaffenheit  ihrer  Natur 
und  dem  Grade  ihres  Ranges  geordneten  Schaaren,  Trone  und  Hoheiten 
bilden :  also  haben  wir  in  diesem  niedern  Erdenreich  auch  nur  einen  einzi- 


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DER   RATE    DES    MONARCHEN. 


761 


gen  Kaiser,  welchem  die  Welt  zinsbar  ist,  und  welcher  durch  seine  Majestät 
sie  und  das  Rad  der  Begebenheiten  leitet,  sowie  den  ganzen  Kreis  unter- 
geordneter Personen  als  da  sind :  Könige,  Herzöge,  Markgrafen,  Grafen  u.  s. 
w.  jeder  nach  seinem  Range.»  Das  ist  die  Staatsweisheit  des  Staatshisto- 
riographen  von  Burgund  aus  dem  XV.  Jahrhundert:  imd  Montesquieu 
ärgert  sich  über  den  Abb6  Dubos  gar  entsetzlich,  weil  dieser  behauptet 
hatte,  dass  es  bei  den  Franken  keine  Stände  (ordres),  sondern  nur  Freie  und 
Leibeigene  gegeben  habe ;  ja  er  klammert  sich  krampfhaft  an  die  Stellen 
der  Gresetze  sowohl  der  Ripuarier  als  der  Salier  und  Burgunder,  um  nur 
die  Antrustionen  als  einen  adeligen  Stand  erscheinen  lassen  zu  können,  und 
ruft  emphatisch  aus:  « Schafft  nur  in  einer  Monarchie  die  Prärogativen  der 
Herren,  des  Klerus,  des  Adels  und  der  Städte  ab,  und  Ihr  werdet  alsobald 
eine  volkstümliche  Republik  oder  eine  Despotie  vor  Euch  haben.»  Montes- 
quieu schreibt  einunddreissig  Bücher  über  den  Geist  der  Gesetze  und  zwar 
in  erster  Linie  über  das  Verhältniss,  in  welchem  dieser  zu  der  betreffenden 
Staatsform  stehen  sollte ;  er  erwähnt  an  verschiedenen  Stellen  der  Städte 
des  klassischen  Alterthums,  so  wie  auch  der  Städte  des  Mittelalters,  inso- 
feme  diese  als  Vororte  städtischer  Republiken  in  Betracht  kommen  dürften: 
doch  über  das  Städtewesen  seines  eigenen  Zeitalters  hat  er  nicht  ein  ernst- 
haftes Wort  zu  sagen,  noch  vielweniger  über  den  Bürgerstand.  Zwischen 
den  jämmerlich  privilegisirten  Lokal-Bürgern  so  mancher  zeitgenössischen 
Monarchie  und  den  •  Bourgeois  du  Roi»,  deren  Bedeutung  Thierry  in  sei- 
nem herrlichen  Werke  so  lehrreich  betont  staatsrechtlich  und  verfassungs- 
geschichtlich zu  unterscheiden,  fällt  ihm  gar  nicht  ein ;  höchstens  entfallen 
seiner  Feder  die  «Privilegien  der  Städte»  als  verwaistes  Losungswort  ohne 
jeden  Gommentar  und  nur  im  Anschluss  an  die  Vorrechte  und  Privilegien 
des  Adels  sowie  des  Klerus,  an  der  Stelle,  wo  er  die  ünentbehrlichkeit  dieser 
letzteren  verkündet;  die  Städte  kommen  in  seinem  ganzen  Werke  nur 
nebensächlich  7or;  einmal  anlässlich  der  Vereinigten  Provinzen,  und  ein 
anderesmal  anlässlich  seiner  Betrachtungen  über  die  Feiertage  u.  s.  w.  Desto 
inbrünstiger  besingt  er  die  unermesslichen  Wohlthaten,  mit  welchen  die 
Vorrechte  und  Privilegien  des  Adels  die  monarchische  Staatsform  bescheren. 
Er  betont  die  Unerlässlichkeit  der  Substitutionen  und  des  «Retrait  lignager.» 
In  seinen  Augen  ist  die  Würde  des  Edelmannes  ebenso  unzertrennlich  von 
der  Würde  seines  Lehens,  wie  die  Würde  des  Monarchen  von  der  seines 
Königreichs.  Alle  diese  Vorrechte  des  Adels  müssen  ausschliesslich  diesem 
Stande  erhalten  bleiben ;  das  Volk  darf  daran  keinen  Anteil  haben,  denn 
sonst  wird  das  monarchische  Princip  erschüttert,  und  nicht  nur  die  Kraft 
des  Adels  erleidet  eine  Schwächung,  sondern  wohl  auch  die  des  Volkes. 
«Zwar  beeinträchtigen  die  Substitutionen  den  Handel ;  auch  verursacht  der 
Retrait  lignager  eine  unendliche  Menge  von  Processen ;  alle  verkauften 
Gründe  des  Königreichs  bleiben,  wenigstens  ein  ganzes  Jahr  hindurch,  ohne 


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762 


MONTESQUIEU   UND    DIE    VERANTWORTLICHKEIT 


Herrn ;  zweifellos  verursachen  wohl  auch  die  Vorrechte,  welche  mit  den 
Lehngütem  verbunden  sind,  den  Unterthanen  aussergewöhnlich  viel  Schmers 
und  Weh :  doch  alle  diese  Leiden  verschwinden  vor  dem  grossen  NxUzen,  den 
die  Vorrechte  des  Adels  dem  Gemeinwohl  verschaffen.  Wollte  man  diese 
Vorrechte  auf  das  Volk  übertragen :  so  würde  man  alle  Principien  ohne 
jeden  Nutzen  erschüttern.  Die  Gesetze  der  Monarchien  müssen  den  Handel 
auf  alle  mögliche  Weise  begünstigen,  wie  dies  nur  die  Natur  einer  solchen 
Staatsform  gestattet :  man  muss  den  Handel  begünstigen  (den  übrigens  in 
der  Monarchie  nur  die  Angehörigen  der  nicht-adeUgen  Stände  treiben  dür- 
fen), damit  die  Unterthanen  fähig  seien,  ohne  sich  zu  Grunde  zu  richten, 
die  sich  unaufhörlich  erneuernden  Bedürfnisse  des  Herrschers  und  seines 
Hofes  zu  befriedigen».  Nicht  nur  der  Freigeist  Helvetius  hat  an  diesen  so 
sehr  naiven  Velleitäten  Anstoss  genommen ;  auch  ein  deutscher  Forscher 
und  Geschichtschreiber  von  Bedeutung,  Wilchelm  Oncken,  spricht  davon 
mit  voller  Entrüstung.  In  der  That  hätte  nicht  Montesquieu  sein  Capitel 
über  Englands  Verfassung  noch  in  dieses  selbe  Werk  über  den  Geist  der 
Gesetze  so  erfolgreich  einzukeilen  verstanden :  so  würde  die  staatewissen- 
schaftliche Kritik  heutzutage  seine  Theorie  der  monarchischen  Staatsform 
auf  Grund  der  obigen,  mittelalterlich  duftenden  Naivitäten  verdammen 
müssen  als  das  Armutszeugniss  eines  zwar  aussergewöhnlich  belesenen  und 
beredt  scharfsinnigen,  im  Ganzen  jedoch  beklagenswert  vorurteilsvollen 
und  unkritischen  Schöngeistes. 

Montesquieu  hätte  in  seinem  Hauptwerke  genug  Gelegenheit  gehabt, 
seine  Leser  über  die  Unterarten  der  mittelalterlichen  sowie  der  neueren 
Monarchie  eingehend  zu  belehren.  Unmittelbar  nach  seinem  berühmten 
Capitel  über  Englands  Verfassung  (XI,  6)  schreibt  er  ein  kurzgefasste» 
Capitel  über  die  «Monarchien,  die  wir  kennen.»  Da  hätte  er  sein  Wissen 
sowie  seinen  Scharfsinn  entfalten  können  und  zwar  in  einer  Weise,  welche 
seiner  schriftstellerischen  Ambition  nicht  minder  als  seiner  Theorie  gevnss 
nur  förderlich  hätte  sein  können.  Eine  kritische  Bundschau  der  Verfassungs- 
zustände  von  Aragonien,  Castilien,  Catalonien  bis  zum  Ende  des  XV.  Jahr- 
hunderts, von  der  spanischen  Monarchie  und  Portugal  in  den  letzten  dritt- 
halb Jahrhunderten,  von  Sardinien  und  Neapel,  von  Frankreich  insbesondere 
seit  Philipp  dem  Schönen,  von  Holland,  Dänemark  und  Schweden,  von 
Ungarn  und  Polen,  sowie  von  den  vornehmsten  Staatswesen  des  Heiligen 
Bömischen  Reiches  Deutscher  Nation  und  endlich  von  den  Einrichtungen 
des  Zarenreichs  vor  und  nach  Peter  dem  Grossen :  das  wäre  hierorts  gewiss 
recht  zweckdienlich  gewesen.  Nun,  was  sagt  also  Montesquieu  über  die 
Monarchien,  die  wir  kennen  ?  Er  deutet  nur  in  verschwommenen  Allgemein- 
heiten an,  dass  die  Monarchien  (des  Festlandes)  nicht  nach  dem  englischen 
Vorbilde  organisirt  sind,  sondern  dass  die  drei  Gewalten  in  diesen  Monar- 
chien eine  verschiedene  Verteilung  zeigen,  hie  und  da  so,  dass  sich  selbe 


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DER  RÄTE   DES   MONARCHEN.  763 

der  politischen  Freiheit  mehr  oder  minder  annähert,  anderwäorts  aber  derart, 
dass  sie  sich  von  der  politischen  Freiheit  mehr  oder  minder  entfernt.  Nun 
frage  ich,  verrät  denn  eine  solche  Behandlung  eines  so  hochwichtigen 
Gegenstandes  auch  nur  im  Entferntesten  eine  gründliche  Bewandertheit 
Montesquieus  in  der  Kunde  von  den  Staatseinrichtungen  der  festländischen 
Monarchien  oder  gar  in  der  Yerfassungsgeschichte  derselben  ?  Noch  schärfer 
tritt  sein  diesbezüglicher,  äusserst  oberflächlicher  Dilettantismus  ans  Tages- 
licht an  der  Stelle,  wo  er  sich  über  sein  sogenanntes  «Depot  des  Lois»  aus- 
spricht. «Die  ,rangs  intermödiaires'  (d.  L  der  Adel,  der  Klerus  u.  s.  w.) 
genügen  an  sich  der  Monarchie  noch  keineswegs;  eine  Monarchie  hat 
ausserdem  wohl  auch  noch  ein  Gesetz-Depot  von  Nöthen,  und  dies  kann  nur 
in  den  politischen  Körpern  (dans  les  corps  politiques)  liegen,  welche  die 
Gesetze,  sobald  diese  fertig  gemacht  worden  sind,  promulgiren  und  dieselben 
wieder  ins  Gedächtniss  rufen,  wenn  man  sie  vergisst.  Die  natürliche  Unwis- 
senheit des  Adels,  sein  Mangel  an  umsichtiger  Aufmerksamkeit,  die  Ver- 
achtung, mit  welcher  er  die  Begierung  in  Givil-Sachen  zu  betrachten  pflegt: 
all  dies  erfordert  das  Dasein  eines  Körpers,  der  die  Gesetze  fortwährend  aus 
dem  Staube  hervorzieht,  unter  welchem  dieselben  begraben  zu  sein  pflegen. 
Der  Bat  («Gonseil»)  des  Fürsten  ist  kein  gehöriges  Depot  zu  diesem  Behufe. 
Der  Bat  ist  schon  seiner  Natur  nach  blos  das  Depot  des  augenblicklichen 
Willens  des  Fürsten,  der  die  Vollzugsgewalt  ausübt.  Der  Bat  ist  nicht  das 
Depot  der  Grundgesetze.  Ja,  der  Bat  ist  stets  einem  Wechsel  in  seinen  Mit- 
gliedern unterworfen ;  er  ist  nichts  ständiges ;  seine  Mitglieder  können  nicht 
hinreichend  zahlreich  sein ;  der  Bat  hat  nicht  in  einem  hinreichend  hohen 
Grade  das  Vertrauen  des  Volkes  für  sich :  also  ist  der  Bat  auch  nicht  in 
der  Lage,  das  Volk  in  schweren  Zeiten  aufzuklären,  noch  dasselbe  zum 
Gehorsam  zurückzuführen.  In  despotischen  Staaten,  wo  es  keine  Grund- 
gesetze gibt,  gibt  es  auch  kein  Gesetz-Depot.  Aus  diesem  Grunde  hat  in 
solchen  Ländern  die  Beligion  eine  gar  so  grosse  Macht ;  aus  diesem  Grunde 
bildet  gewissermassen  die  Beligion  da  eine  Art  Depot  und  verbürgt  die 
Beständigkeit ;  und  in  despotischen  Ländern,  wo  nicht  die  Beligion  diese 
Bolle  führt,  da  sind  es  die  Gewohnheitsrechte  (coutumes),  welche  man  wie 
Gesetze  in  Ehren  hält.» 

Also  unterscheidet  Montesquieu  die  Unterarten  seiner  monarchischen 
Staatsform  nicht  darnach,  ob  und  inwiefeme  die  königliche  Gewalt  durch 
die  staatsrechtlich  giltige  Competenz  der  Beichstage  oder  wenigstens  durch 
Beschwerde-Landtage  eingeschränkt  wird;  auch  unterscheidet  er  nicht 
zwischen  Monarchien,  je  nachdem  in  diesen  die  ständische  Gliederung  der 
Gesellschaft  in  eine  exclusive  Adelsherrschaft  ausläuft  wie  in  Polen,  oder 
das  Staatsrecht  die  sämmtlichen  Stände  ganz  ernsthaft  am  Verfassungsleben 
teilhaftig  werden  lässt  wie  in  Schweden,  oder  aber  unterhalb  einer  nume- 
risch unbedeutenden  Peerage  sich  bereits  nach  der  Bichtung  eines  einheit- 


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764 


MONTESQUIEU    UND    DIE   VERANTWORTLICHKEIT 


liehen  Staatsbürgertums  abgewetzt  hat  wie  in  England ;  nein,  in  Betreff 
der  möglichen  Unterarten  der  monarchischen  Staatsform  kennt  er  blos  ein 
einziges  Eriterion :  das  Vorhandensein  oder  Nicht- Vorhandensein  eines  zum 
Einregistriren  der  Gesetze  so  wie  zu  nachträglichen  Bemonstrationen  befug- 
ten Staatskörpers  («Depot  des  Lois»),  der  nach  all  dem,  was  er  darüber  sagt, 
ebenso  gut  ein  Pariser  Parlament  sein  kann  wie  ein  russischer  Senat.  Mithin 
kein  englisches  Parlament,  kein  schwedischer  Reichstag,  keine  aragonischen 
Cortes,  kein  Diet,  sondern  blos  ein  Einregistrirungs-Körper,  der  zwar  nach- 
träglich Kemonstration  erheben  darf,  doch  weder  das  Recht  der  Gesetz- 
gebung noch  eine  Controlle  über  die  Verwaltung  ausübt,  um  das  Budget- 
recht gar  nicht  zu  betonen.  Das  Recht  der  Gesetzgebung  übt  der  König 
durch  «Arrets  du  Conseil»  aus;  mitzureden  hat  niemand  ausser  denen, 
welche  der  König  in  seinen  Rat  (Conseil  d'etat)  von  Fall  zu  Fall  zu  berufen 
für  zweckdienlich  findet.  Dieser  selbe  ernannte  und  jeden  Augenblick  durch 
blosses  Machtgebot  absetzbare  Rat  übt  auch  die  Controlle  über  die  Verwal- 
tung aus,  insofern  der  König  ihm  dies  eben  befiehlt.  Staaten,  welche  ein 
solches  «Depot  des  Lois»  vermissen,  sind  unvollkommene  Monarchien; 
Staaten,  welche  es  besitzen,  können  für  wünschenswert  ermässigte,  mithin 
als  vollkommenere  Monarchien  gelten,  sol)ald  nur  dabei  die  Vorrechte  und 
Privilegien  der  erwähnten  «puissances  intermediaires»  ungeschmälert  fort- 
bestehen. Einen  anderen  Unterschied  kennt  der  Verfasser  des  «L' Esprit  des 
Lois»  innerhalb  der  zeitgenössischen  monarchischen  Staatsform  nicht;  nur 
im  XL  Buche  schiebt  er  das  Bild  von  Englands  Verfassung  ein,  ein  Gebilde, 
das  äich  da  ungerähr  so  ausnimmt,  wie  die  silurischen  Schichten  in  den 
sedimentären  Formationen  Böhmens,  eigenartig  sondergleichen  und  isolirt 
nach  allen  Seiten  hin,  als  wäre  dieselbe  vom  Monde  herabgefallen  in  das 
Staatsleben  durchgehends  feudalistisch-ständischer  Monarchien;  ja  Mon- 
tesquieu schiebt  in  sein  Werk  Englands  Verfassung  auf  diese  Weise  ein, 
lobpreist  dieselbe  sogar  noch  mit  warmem  Schwünge,  um  dann  nach  einigen 
sporadischen  Gedankenspähnen  über  einzelne  Momente  dieser  Verfassung, 
in  der  weiteren  Fortsetzung  seines  Werkes  sowie  Englands  Verfassung,  als 
auch  die  theoretischen  Corollarien  derselben  für  die  Postulate  einer  mög- 
licherweise constitutionellen,  d.  i.  repräsentativen  Monarchie  völlig  aus  den 
Augen,  völlig  aus  seinem  Sinn  zu  verlieren,  —  und  um  unmittelbar  oder 
mittelbar  nur  an  der  Theorie  solcher  Monarchien  fortzuspinnen,  deren  gan- 
zes Wesen  lediglich  auf  den  Grundlinien  feudalistisch-ständischer  Verfas- 
sungspolitik, ohne  jedwede  Volksvertretung,  ohne  jedwede  ernsthafte  Gewal- 
tenteilung beruht.  Ja  wie  klappt  denn  das  mit  dem  Postulat,  welches  Mon- 
tesquieu in  Betreff  des  «Gouvernement  moderet  im  V.  Buche  aufgestellt 
hatte,  lange  vor  seiner  Schilderung  von  Englands  Verfassung?  Wie  klappen 
denn  seine  hingebungsvollen,  streng  feudalistischen  Ausführungen  in  der 
zweiten   Hälfte  seines  Werkes  mit  seinem  stolzen  Ausspruch,  dass  eine 


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DER   RÄTE   DES   MONARCHEN.  765 

i  Monarchie  moderee»  nur  dort  besteht,  wo  die  Gewalten  combinirt,  gere- 
gelt, ermässigt  sind,  und  wo  man  dieselben  wirken  lässt  ?  Und  doch  hat 
man  sich  nicht  damit  begnügen  wollen,  Montesquieu  als  einen  theoretischen 
Bahnbrecher  und  Vorkämpfer  der  wahren  Umrisse  des  modernen  Gonstitu- 
tionalismus  zu  verkünden ;  nein,  man  hat  sogar  noch  unsere  eigenen  Zeit- 
genossen geradezu  aufgefordert,  wohl  auch  in  den  minutiösesten  Fragen  zu 
ihm  in  die  Lehre  zu  gehen,  welche  in  unserem  heutigen  Verfassungsleben 
hie  und  da  als  GoroUarien  der  Minister- Verantwortlichkeit  zum  Durchbruch 
zu  gelangen  pflegen.  Namentlich  hat  man  auf  die  Stelle  im  ni.  Buche  des 
«L'Esprit  des  Lois»  hingewiesen,  wo  die  Entlassung  eines  schlechtberaten- 
den Bats  und  die  Berufung  eines  besserberatenden  an  die  Stelle  desselben 
als  das  Mittel  hingestellt  wird,  wodurch  es  für  den  Monarchen  ein  Leichtes 
sei,  das  Uebel  zu  repariren.  Das  soll  uns  im  Allgemeinen  Montesquieus 
richtigen  Begriff  von  der  Natur  der  parlamentarischen  Begierungsweise  an 
den  Tag  legen :  die  Stelle  jedoch  im  XL  Buche,  wo  davon  die  Bede  ist,  dass 
die  schlechtberatenden  Minister  zur  Verantwortung  gezogen  und  bestraft 
werden  können,  diese  Stelle  soll  uns  wiederum  über  die  Verantwortlichkeit 
der  Minister  nach  englischer  Weise  belehren ;  endlich  aber  sollen  die 
schwunghaften  Bedewendungen,  welche  in  einem  späteren  Capitel  desselben 
Buches  zum  Besten  gegeben  werden,  die  Gelehrtenwelt  über  das  tiefe  Wissen 
Montesquieus  m  Betreff  der  verfassungsgeschichtüchen  Vorgeschichte  des 
modernen  Gonstitutionalismus  in  sämmtlichen  Staaten  Europas  in  Stau- 
nen setzen. 

Ja,  sollen  wir  all  dies  für  baare  Münze  nehmen?  Ja,  was  hat  denn 
Montesquieu  recht  eigentlich  für  einen  Begriff  von  der  Verantwortlichkeit 
der  Minister  ?  Was  weiss  er  eigentlich  von  der  Vorgeschichte,  was  von  der 
Entwickelungsgeschichte,  was  von  der  höchsten  zeitgenössischen  Entwicke- 
lungsphase  derselben  ?  Wie  steht  es  also  mit  der  Lehre  von  der  Minister- 
verantworthchkeit  in  seinem  Werke  überhaupt  ?  in  diesem  Werke,  dessen 
Grundlinien,  trotz  des  Haupttitels  «De  Tesprit  des  lois»,  dennoch  kaum 
noch  etwas  sonst  so  ernsthaft  und  hingebungsvoll  umfassen,  wie  die  Theorie 
der  Staatsformen  —  ? 


Die  Verantwortlichkeit  der  Räte  des  Monarchen  in  Aragonien, 
Ungarn  und  Siebenbürgen  (1231—1748). 

Wenn  auch  nicht  so  reichhaltig  und  grosse  Zeiträume  hindurch  unge- 
stört erfolgreich  wie  in  England,*  so  gab  es  Gesetze  über  die  Verantwort- 
lichkeit der  Bäte  des  Königs  wohl  auch  in  so  manchen  Monarchien  des 

'^  Der  vorangehende  erste  Abschnitt  behandelt  eben  die  Verantwortlichkeit  der 
Räte  des  Monarchen  in  England.  D.  Bed. 


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766  MONTESQUIEU    UND    DIE    VERANTWORTLIOHKEIT 

Festlandes.  Diese  Monarchien  sind  Schweden,  Aragonien,  Ungarn  and  das 
einstige  Nationalfürstentum  Siebenbürgen.  Montesquieu  interessirt  sich 
zuweilen  wohl  auch  um  Schweden  und  Aragonien  —  leider  aber  nur  in 
einer  Weise,  wie  sich  heutzutage  irgend  ein  FeuiUetonschreiber  oder  der 
erste  beste  Tourist  aus  dem  Kreise  der  lektürliebenden  Jockey- Glubmänner 
um  die  Vergangenheit  der  beiden  genannten  Lander  interessiren  würde. 
Alles  in  allem  sprechen  ihn  die  Einrichtungen  von  Mazulipatan  oder  der 
Tartarei  augenscheinlich  besser  an,  als  die  Vergangenheit  oder  Gegenwart 
der  Staatseinrichtungen  dieses  trefflichen  Volkes  des  Nordens,  aus  dessen 
Verfassungsgeschichte  ein  Verfassungspolitiker  des  XVIII.  Jahrhunderts 
Bedeutendes  hätte  lernen  können.  Auch  das  Vorspiel  der  Minister-  V^erant- 
wortlickkeit,  wie  diese  im  XTTT.  und  XIV.  Jahrhundert  in  Aragonien  einen 
Anlauf  nehmen  zu  wollen  schien,  kennt  Montesquieu  nicht  im  Entferntesten. 
Er  interessirt  sich  um  die  Strafen,  mit  welchen  das  Gesetzbuch  der  Visigo- 
then  die  Fussbedeckung,  Röcke  und  Beine  der  Frauen  gegen  wollüstige 
Frevler  in  Schutz  nimmt ;  er  studirt  die  Psychologie  der  eifersüchtigen 
Spanier,  die  ihre  Frauen  viel  lieber  mit  einem  jungen  Mönche  als  mit  einem 
vielfach  verwundeten  Krieger  einschliessen ;  er  philosophirt  wohl  auch  über 
den  wohlthätigen  Einfluss  des  Klerus  auf  das  spanische  Staatswesen  und 
tischt  wonnevollst  Anekdoten  über  spanische  Könige  auf;  doch  das  denk- 
würdige Gebilde  aragonischer,  catalonischer  oder  castilischer  Einrichtungen 
des  Näheren  zu  würdigen,  fällt  dem  Verfasser  des  iL'Esprit  des  Loist  gar 
nicht  ein.  Den  Tokajer  der  Ungarn  verherrlicht  er  sondergleichen ;  er  hat 
ja  diesen  König  der  Weine  in  Pressburg  und  zwar  in  einer  nicht  minder 
lebenslustigen  als  glänzenden  Gesellschaft  recht  behaglich  schlürfen  können : 
doch  dass  er,  der  Ungarn  bis  nach  Temesvär  bereiste,  sich  irgend  einen 
Einblick  in  Ungarns  Verfassung  oder  gar  Verfassungsgeschichte  hätte  ver- 
schaffen wollen,  hievon  zeugt  nicht  eine  Stelle  in  seinen  Werken.  Demgemäss 
müssen  wir  für  ausgemacht  annehmen,  dass  Montesquieu  nie  etwas  von  den 
Verantwortlichkeits-Gesetzen  Altungams  vernommen  hatte.  Aehnliches  gilt 
von  den  Versuchen,  welche  die  Polen  gemacht  hatten,  um  eine  Verantwort- 
lichkeit der  Bäte  des  Monarchen  einzuführen. 

Werfen  wir  nun  einen  Blick  auf  all  diese  Heimstätten  des  Verantwort- 
lichkeits-Gedankens ;  zuerst  auf  Aragonien,  sodann  auf  Ungarn  und  Sieben- 
bürgen, weiter  auf  Polen  und  endlich  auf  Schweden,  um  dann  untersuchen 
zu  können,  wie  sich  all  das,  was  Montesquieu  über  die  Verantwortlichkeit 
der  Minister  sagt,  zu  dem  verfassxmgsgeschichtlichen  Stoff,  den  ein  gründ- 
licher staatswissenschaftlicher  Forscher  und  Denker  hätte  zur  Kenntniss 
nehmen  und  in  der  Theorie  verwerten  müssen,  recht  eigentlich  verhält? 

In  Aragonien,  dessen  ständisches  Verfassungsleben  sich  bereits  in  der 
ersten  Hälfte  des  XIII.  Jahrhunderts  staunenswert  üppig  zu  entfalten  und 
neben  den  Prälaten,  Magnaten  (Nobles,  Bicos  Hombres)  und  Infanzones, 


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DER   RÄTE   DES   MONARCHEN.  767 

Hidalgos  sowie  Bittern  wohl  auch  schon  die  Städte  und  sonstige  Gemeinden 
einer  bedeutungsvollen  reiohstäglichen  Bolle  teilhaftig  zu  machen  wusste, 
in  diesem  denkwürdigen  Staatswesen  des  Zeitalters  des  christUch-germani- 
sehen  Staatsgedankens^  wo  man  die  Tortur  schon  1325  als  «eines  freien 
Landes»  unwürdig  abgeschafiH;  hatte  und  wo  der  Grundgedanke  des  modernen 
Staatsgerichtshofes  zuerst  praktisch  in  der  Gompetenz-Sphäre  so  wie  in  dem 
Amtsberufe  des  Beichsoberrichters  (Justicia  oder  Justiza)  aufkeimte,  in  die- 
sem merkwürdigen  Lande  hatten  die  Beichsstände  schon  anlässlich  der 
Krönung  Alonsos  HE.  die  Forderung  an  den  König  gestellt  (12.  April  1286) : 
er  möge  sowohl  seinen  Hof  als  auch  seinen  Bat  in  Uebereinstimmung  mit 
dem  Beichstag  besetzen;  die  Beichsstände  machten  durchaus  kein  Hehl 
daraus,  dass  sie  einige  Männer,  weil  diese  dem  Beichstage  nicht  genehm 
waren,  aus  dem  Bäte  des  Königs  entfernen  wollten.  Alonso  HI.  antwortete 
ihnen  damals  nicht  minder  klug  als  diplomatisch :  er  werde  diese  Angele- 
genheit auf  eine  solche  Weise  in  Ordnung  bringen,  dass  die  Union  (diese 
grässlich  gewaltige  Liga,  welche  nahezu  die  sämmtlichen  mächtigeren  Ele- 
mente der  weltlichen  Estamentos  umfasste)  sich  zufriedengestellt  erklären 
werde.  Im  Juni  desselben  Jahres  dringen  die  Beichsstände  noch  energischer 
in  den  König:  Alonso  möge  die  Angelegenheiten  des  Beichs  mit  Zustim- 
mung des  Beichstages  zum  Wohle  des  Königs  so  wie  des  ganzen  Beiches  in 
Ordnung  bringen,  die  von  den  Beichsständen  erwählten  Männer  sowohl 
aus  dem  städtischen  Stande  als  auch  aus  dem  Adel  in  seinen  Bat  aufnehmen 
und  einige  von  denselben  stets  in  seiner  Umgebung  halten.  Falls  der  König 
diesen  Anspruch  der  Beichsstände  nicht  erfüllen  würde,  so  würden  die 
Beichsstände  ihm  nicht  dienen,  auch  ihm  kein  Geld  votiren,  und  falls  der 
König  desshalb  gegen  sie  oder  auch  nur  gegen  einen  von  den  Mitgliedern 
des  Beichstags  auftreten  würde,  so  würden  sie  (die  Beichsstände)  auf  Grund 
ihrer  Verpflichtung  sich,  eventuell  diesen  einen  schon  zu  beschützen  wissen. 
Zugleich  verpflichteten  sie  sich  unter  einander  gegen  jeden  Massregeln  zu 
treffen,  der  sich  gegen  diese  Beschlüsse  stemmen  würde.  Alonso  verweigerte 
auf  dem  Beichstag  zu  Huesca  (October  11)  noch  die  Gewährung  dieser 
Ansprüche,  da  «ihn  weder  Gesetz  noch  Gewohnheit»  zu  dergleichen  ver- 
pflichte, auch  sei  die  •Union»  (!)  nicht  einstimmig  für  diese  Ansprüche  ein- 
getreten. Der  König  wollte  nur  darauf  eingehen,  dass  seine  Bäte  sich  täglich 
zur  Beratung  versammeln  und  dass  die  Angelegenheiten  des  Beiches  in 
seiner  Gegenwart  verhandelt  würden.  Auf  dem  Beichstage  zu  Alagon  (1287 
Mai)  zögerte  er  noch  und  machte  sich  auf  den  Weg,  um  mit  Edward  I.  von 
England  zusammenzukommen.  Aber  die  Union,  mit  den  beiden  Oheimen 
des  Königs  Pedro  de  Agerve  und  Jayme  de  Exerica  an  der  Spitze,  schickte 
nun  ein  Ultimatum  an  Alonso.  Dieser  antwortete  damit,  dass  er  in  Tarra- 
gona  zwölf  angesehene  Bürger  hinrichten  liess.  Der  innere  Krieg  entflammte; 
die  Schlachten  fielen  nicht  zu  Gunsten  Alonsos  aus :  sich  fügen  war  das 


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o  MONTESQUIEU    UND    DIE   VERANTWORTLICHKEIT 

einzige,  was  er  jetzt  thon  konnte.  Er  schloss  am  SO.  December  einen  Ver- 
gleich mit  der  Union  ab,  demgemäes  er  am  29.  Dec.  seine  beiden  bekannten 
Privilegien  erliess.  In  dem  sogenannten  Batsprivilegiam  bewilligte  er :  dass 
der  König  gebalten  sei,  jedes  Jahr  im  November  zn  Zaragoza  einen  General- 
Beichstag  za  halten ;  femer  stand  den  Beichsständeu  das  Beoht  zn,  ihm 
sowie  seinen  Nachfolgern  auf  dem  Trone  Aragoniens  die  Bäte  zn  bestim- 
men, nach  deren  Batschlägen  der  König  die  Angelegenheiten  Aragoniens 
und  Valencias  zu  verwalten  habe ;  diese  Bäte  seien  verpflichtet,  anlässUch 
ihres  Amtsantrittes  den  Eid  zu  leisten,  dass  sie  dem  König  nur  solche  Bat- 
schläge erteilen  werden,  welche  weder  gegen  das  Gesetz  noch  sonst  schäd- 
lich sind ;  alle  diese  Bäte  oder  wohl  nur  einige  sollen  jedoch  entfernt  und 
durch  andere  ersetzt  werden,  sobald  eine  derartige  Aenderung  dem  Beichs- 
tag  oder  doch  demjenigen  Teile  desselben,  dem  die  Abgeordneten  von  Siara- 
goza  angehören,  wünschenswert  erscheinen  würde.  Ende  Januar  1288  wählte 
auch  auf  Orund  dieses  Batsprivilegiums  und  überdies  eigens  dazu  vom 
König  aufgefordert,  der  Beichstag  (d.  i.  thatsächlich  die  « Union  •)  die  Mit- 
glieder des  Bats  für  die  beiden  Königreiche  Aragonien  und  Valencia.  Ja, 
nicht  nur  Bat«,  auch  sonstige  Beichsorgane  sowie  Hofwürdenträger  wurden 
bei  dieser  Gelegenheit  von  den  Ständen  dem  König  zur  Ernennung  vorge- 
schlagen und  Alonso  UI.  ernannte  dieselben  jetzt  zu  den  betreffenden  Aem- 
tern  und  Hofwürden  ohne  Schmollen,  als  ob  ein  solches  Verfahren  etwas 
selbstverständliches  in  Aragonien  gewesen  wäre. 

Das  war  gewiss  eine  recht  sonderbare  Entwicklungsphase  des  noch 
embryonalen  Verantwortlichkeits-Gedankens,  welche  schon  ans  dem  Grande 
nicht  zur  parlamentarischen  Begierungsweise  hätte  führen  können,  weil 
man  in  Aragonien  nicht  sowohl  an  das  Vertrauensvotum  der  jeweiligen 
Beichstagsmehrheit,  sondern  an  die  jeweilige  Stellungnahme  einer  Minder* 
heit,  nämlich  der  Abgeordneten  von  Zaragoza  angeknüpft  hatte ;  allein  in 
Aragonien  vermochte  sich  die  politische  Verantwortlichkeit  auch  in  dieser 
abortiven  Form  nicht  aufrechtzuerhalten.  Schon  im  nächsten  Jahre  scheint 
der  in  dem  Batsprivilegium  zum  Ausdruck  gelangte  Gedanke  die  bindende 
Bechtskraft  verloren  zu  haben  und  im  J.  1347  wies  Pedro  IV.  ein  ähnliches 
Ansinnen  der  Beichsstände  —  die  Bäte  des  Königs  erwählen  zu  dürfen  — 
mit  einem  anherrschenden  Hinweis  auf  die  letzt  verflossenen  60  Jahre 
zurück,  in  deren  Verlaufe  die  Beichsstände  ein  derartiges  Becht  nicht  ein 
einzigesmal  ausgeübt  hätten.  Und  wenn  auch  dieser  Pedro  IV.  bald  daraof 
in  eine  bedrängte  Lage  kam,  in  welcher  er  nicht  umhin  konnte,  sich  dem 
Wunsche  der  Beichsstände  willfährig  zu  erweisen,  indem  er  einige  Bäte 
auf  Verlangen  des  Beichstags  entfernte  und  manche  Männer,  welche  denr 
Beichstag  genehm  waren,  in  seinen  Bat  thatsächlich  aufnahm  :  so  vnirde 
doch  die  Union  sammt  ihrem  Batsprivilegium  nach  der  Schlacht  bei  Epila 
(1348)  unbarmherzig  auf  immer  vernichtet  und  weder  Aragonien,  das  seit 


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DEB  RATE    DES   MONABOHEN. 


76» 


1348  die  Einriohtung  des  Justiza  erfolgreich  ausbildete,  noch  Gastilien^  so 
reich  an  selbstbewussten  Edelleaten,  noch  auch  Gatalonien,  ob  seiner 
Bechtsgelehrten  berühnat,  vermochten  sich  je  wieder  zu  einem  Verfassungs- 
leben  emporzuschwingen,  welches  den  Gedanken  der  politischen  Verant- 
wortlichkeit erreicht  und  staatsrechtlich  verwertet  hätte.  Höchstens  dürfte 
man  die  That  der  Gatalanen  berücksichtigen,  welche  unter  Juan  IL  auf  den 
Aufruf  der  Stadt  Barcelona  eine  Kriegsflotte  in  die  See  stechen  Hessen,  um 
unter  der  Flagge  des  Königs  nicht  gegen  diesen,  sondern  ausdrücklich  gegen 
die  schlechten  Bäte  desselben  zu  demonstriren  und  dem  unschuldig  einge- 
kerkerten Infanten  Carlos  Genugthuung  und  Befreiung  zu  verschaffen; 
doch  wenn  auch  die  Cataluüa  Bechtsgelehrte  wie  Jayme  de  Mont-Jui  und 
Jayme  de  Calieio  aufzuweisen  hatte,  weder  Capmany  y  Monpalan,  noch 
Carboneil,  noch  auch  Desclot  haben  irgend  eine  glaubwürdige  Spur  dessen 
hinterlassen,  dass  die  Gesetzgebung  CataJoniens  je  das  Princip  der  Verant- 
wortlichkeit der  Bäte  thatsächlich  codificirt  oder  auch  nur  auf  eine  ähn- 
liche Weise,  wie  die  Aragonische  Union  im  J.  1287,  hätte  verbrieft  wissen 
wollen.  Auch  in  Castüien  scheint  das  sonst  gewiss  stets  recht  lebenslustige 
Verfassungsleben  keine  derartige  ausdrückliche  Bestimmung  von  Gesetz- 
gebungswegen zustandegebracht  zu  haben.  —  Das  Streben  nach  einer 
solchen  Garantie  muss  jedoch  im  XV.  Jahrhundert  wenigstens  gewohnheits- 
rechtlich offenkundig  zum  Durchbruch  gekommen  sein ;  soll  ja  Enrique 
IV.,  als  der  aragonische  Beichstag  dem  Könige  Aragonien  angeboten  hatte, 
sich  feierlich  geäussert  haben,  dass  er  die  Krone  annehme,  da  schon  auch 
die  Mehrheit  seiner  castilischen  Bäte  ihn  in  ähnhchem  Sinne  beraten  habe. 
Schade,  dass  wir  auch  von  Cataloniens  und  Castiliens  Verfassungsgeschichte 
nur  Bruchstücke  kennen.  Freilich  ist  es  heute  schon  ganz  unmöglich,  sich 
verfassungspolitisch  ein  zusammenhängendes,  so  zu  sagen  lebensfähiges  Bild 
von  all  den  fragmentarischen  Angaben  zu  entwerfen,  welche  verschiedene  spa- 
nische Forscher  in  dieser  Beziehung,  ein  jeder  zu  einem  besonderen  Behufe, 
angehäuft  haben.  Zu  beklagen  bleibt  jedoch,  dass  die  europäische  Literatur 
bis  zur  Stunde  nicht  ein  Werk  besitzt,  welches  selbst  den  Datenschatz,  den 
Zurita,  Biancas  so  wie  die  «Coleccion  de  Fueros  y  Cartas  Pueblas»  von 
Munoz  y  Bomero  und  die  «Coleccion  de  Fueros  y  Cartas  Pueblas  de  Espana» 
der  Beale  Academia  der  Geschichtswissenschaft  retteten,  für  die  verglei- 
chende Staatswissenschaft  gehörig  aufgearbeitet  hätte. 

Ziemlich  zahlreich  sind  die  Gesetze  und  Wahlcapitulationen  über  die 
Verantwortlichkeit  der  Bäte  im  Königreich  Ungarn  (1231 — 1526)  und  im 
National-Fürstentum  Siebenbürgen  (1631 — 1692).  Insbesondere  die  «Appro- 
batae  Constitutiones»  so  wie  die  «Compilatse  Constitutiones»  dieser  denk- 
würdigen Monarchie  jenseits  des  Kirälyhägö  lassen  sich  in  dieser  Beziehung 
wie  eine  höchst  interessante  Anthologie  vom  Fache  lesen. 

Schon  die  erste  Ausgabe  der  «Goldenen  Bulle»  des  Königs  Andreas  IL 

ungarische  Boruc.  XI.  1891.  X.  Heft  49 


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770  MONTESQUIEU   UM)    DIB   VBRANTWOBTLTOHKBIT 

(1222)  ordnet  eine  jährliche  Abhaltung  des  Reichstags  an;  die  vom  Jahre 
1231  stellt  in  Aussicht,  dass  falls  der  Beichspalatin  die  Angelegenheiten  des 
Reiches  schlecht  verwalten  würde,  der  König  ihn  auf  Verlangen  der  Beichs- 
stände  seines  Amtes  entheben  und  nach  seinem  eigenen  (königlichen)  Gut- 
dünken einen  anderen,  zu  einem  solchen  Amte  geeigneteren  ernennen 
werde.  Es  weht  zu  dieser  Zeit  eine  ganz  eigentümliche  Strömung  in  Ungarn. 
Erzbischof  Robert  von  Gran  excommunicirt  nicht  den  König,  sondern  seine 
Ratgeber  wegen  der  Injurien,  welche  der  Kirche  von  Staatswegen  widerfuh- 
ren. Unter  Andreas  III.  kommt  zuerst  das  Gesetz  über  die  Verantwortüch- 
keit  der  Oberbeamten  der  Gomitate,  sodann  aber  das  denkwürdige  Gesetz 
über  die  Verantwortlichkeit  der  (gewählten)  Räte  des  Königs,  auf  dem 
Reichstage  von  1298  zu  Stande.  Ja,  der  Gesetzartikel  23:1298  —  dieses 
unvergleichliche  Denkmal  uralter  ungarischer  Verfassungspolitik  und  poli- 
tischer Gewecktheit  —  verordnet  nicht  nur  die  Wahl  der  Ratgeber  des 
Königs  durch  die  versammelten  Reichsstände;  dieses  Gesetz  verordnet 
«ogar,  dass  künftighin  nur  solche  Regierungsakte  des  Königs  Rechtskraft 
erlangen  sollen,  welche  auf  Rat  dieser  seiner  durch  den  Reichstag  gewähl- 
ten Räte  erfolgt  sind.  Man  hat  die  Vermutung  ausgesprochen,  dass  dieses 
^Gesetz  des  Ungarkönigs  Andreas  III.  eine  Nachahmung  aragonischer  Ein- 
richtungen sei ;  allein  ich  glaube  an  einem  anderen  Orte  den  Gedanken 
nahegebracht  zu  haben,  dass  Andreas  die  Grundidee  dazu  nicht  der  arago- 
nischen Monarchie,  sondern  der  venezianischen  Republik  entlehnt  habe, 
deren  Einrichtungen  er,  der  Sohn  der  Tomasina  Morosini,  ein  Neflfe  des 
Alberts  Morosini  und  ein  Urenkel  des  Dogen  Marino  Morosini,  in  seiner  Jugend 
an  Ort  und  Stelle  zu  studiren  angehalten  war.  Dies  dürfte  jedem  Forscher 
einleuchten,  der  einerseits  die  altvenezianische  Verfassungsgeschichte,  na- 
mentlich das  verfassungsgeschichtliche  Vorspiel  der  Signoiia  seit  1032,  sowie 
-die  Erziehungsgeschichte  des  Königs  Andreas  zu  Rate  zieht  und  anderseits 
-den  Wortlaut  sowohl  des  aragonischen  Unionsprivilegiums,  als  auch  des 
Gesetzartikels  1298:  23  zur  Kenntniss  nimmt.  Was  sagt  uns  die  betreffende 
Stelle  des  aragonischen  Unionsprivilegiums?  Dass  der  König  Alonso  UL 
sich  am  29.  Dezember  1287  verpflichtete,  •  jährlich  zu  Zaragoza  einen 
-General-Reichstag  abzuhalten  •  und  dass  er  zugleich  den  Reichsständen  das 
Recht  (besser  gesagt  die  Befugniss)  einräumte,  «ihm  sowie  seinen  Nachfol- 
gern die  Räte  zu  bestimmen,  nach  deren  Ratschlägen  der  König  die  Angelegen- 
heiten Aragoniens  und  Valencias  zu  verwalten  habe ;  diese  Räte  sollten 
gehalten  sein,  anlässlich  ihres  Amtsantrittes  den  Eid  zu  leisten,  dass  sie 
gut  und  gesetzmässig  den  König  beraten,  sich  nicht  bestechen  lassen,  noch 
Geschenke  annehmen  werden ;  auch  sollten  an  die  Stelle  aller  dieser  Rate 
oder  doch  an  die  Stelle  einiger  derselben  andere  Männer  angestellt  werden, 
sobald  es  dem  Reichstag  so  gefiele  oder  doch  demjenigen  Teile  des  Reichs- 
tags, zu  welchem  sich  die  Abgeordneten  von  Zaragoza  halten  wollten.!  So 


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DER   BÄTE   DES   MONABCHEN. 


771 


lautet  das  aragonische  ÜDionsprivilegium,  welches  unseres  Wissens  höch- 
stens einige  wenige  Jahre  hindurch  ausgeübt  und  von  Pedro  IV.  nach  der 
Schlacht  bei  Epila  (1348)  trotz  seines  früher  diesbezüglich  gegebenen  Wor- 
tes auf  immer  vernichtet  wurde.  Der  Gesetzartikel  1298:23  des  König- 
reichs Ungarn  lautet  dagegen  folgendermassen :  •  Damit  die  Curie  unsres 
Herrn  Königs  ehrenvoller  verwaltet  und  das  Beich  Ungarn  schicklicher 
regiert  werden  könne,  haben  wir  soeben  verordnet,  dass  unser  Herr  König 
alle  drei  Monate  je  zwei  Bischöfe,  und  zwar  einen  aus  der  Provinz  Gran, 
den  anderen  aus  der  Provinz  Kalocsa,  und  ebensoviele  Edelleute,  letztere 
in  Vertretung  der  gesammten  Edelleute  des  Beiches,  welche  wir  soeben  zu 
diesem  Behufe  erwählt  hatten,  zu  sich  nehme,  in  seiner  Umgebung  halte 
und  mit  entsprechendem  Gehalt  aus  dem  königlichen  Vermögen  unterhalte. 
Und  wenn  der  Herr  König  dies  zu  thun  unterlässt,  soll  all  das  nichtig  sein, 
was  er  ohne  den  Bat  der  erwähnten,  ihm  beizugebenden  Batgeber  sowohl 
in  bedeutenderen  Donationssachen  als  auch  in  Betreff  der  Verleihung  von 
Beichswürden  oder  auch  in  sonstigen  Beichsangelegenheiten  von  Belang 
unternimmt.»  Wo  ist  hier  eine  Nachahmung  des  aragonischen  Unionspri- 
vilegiums,  welche  eine  nach  allen  Seiten  hin  wesentliche  genannt  werden 
dürfte  ?  Eine  solche  liegt  abgesehen  von  der  reichstäglichen  Wahl  der  Bäte 
gar  nicht  vor,  wie  auch  kein  Zug,  der  an  die  complicirte  Einrichtung  der 
Beschlüsse  des  «Mad  Parliaments»  von  Oxford  (1258)  erinnern  würde. 
Dagegen  erinnern  uns  an  die  Stipulationen  des  Earl  Lancaster  (1316)  — 
wenn  sie  auch  dieselben  in  ihrer  Vollendung  bei  Weitem  nicht  erreichen  — 
die  ständischen  Verfügungen,  welche  1386  unter  der  nominellen  Be>gierung 
der  damals  gerade  in  der  Gefangenschaft  schmachtenden  Königin  Maria 
getroffen  wurden.  Der  Beschluss  der  Stände,  welche  im  Jahre  1386  in  Ofen 
ihre  Versammlung  abgehalten  hatten,  verordnet,  dass  jene  Mitglieder  des 
königlichen  Bats,  welche  dem  Monarchen  nichtsnutzigen  Bat  erteilen,  vom 
Bäte  ausgeschlossen  und  nie  wieder  zu  dieser  hohen  Körperschaft  zugelas- 
sen werden  sollen.  Hier  handelt  es  sich  jedoch  nicht  mehr  um  gewählte, 
sondern  um  vom  König  ernannte  Bäte,  welche  angehalten  werden,  beim 
Amtsantritt  den  Eid  zu  leisten :  dass  sie  nicht  nur  den  Nutzen  des  Königs, 
nicht  ihren  eigenen  Vorteil,  sondern  auch  stets  die  Interessen  des  Beiches 
und  der  heiligen  Krone  vor  Augen  halten  werden ;  aber  auch  der  König 
wird  gehalten,  gewissenhaft  zu  versprechen,  stets  nur  den  Batscblägen 
seiner  Bäte  folgen  zu  wollen.  Gleichfalls  dem  altenglischen  Verfassüngs- 
leben  scheint  der  Verantwortlichkeitsgedanke  entliehen  zu  sein,  der  in  der 
Modification  des  14.  §.  der  «Goldenen  Bulle»  (1222)  zum  Ausdruck  gelangt, 
welche  auf  dem,  durch  König  Sigismund  auf  repräsentativer  Grundlage 
Äusammenberufenen  Temesvärer  Beichstag  vom  J.  1397  decretirt  wurde. 
Namentlich  hat  dieses  Decret  vom  J.  1397  den  14.  §.  der  «Goldenen  Bulle», 
der  ursprünglich  nur  auf  die  Verantwortlichkeit  der  Obergespäne  abzielte, 

49* 


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772 


MONTESQUIEU    UND   DIE   VERANTWORTLICHKEIT 


nunmehr  dahin  modificirt^  daes  auch  der  Beicbepalatin,  sowie  der  Juder 
Curiae  und  die  Banusse  ihres  Amtes  enthoben  werden  sollen,  falls  dieselben 
überführt  würden,  ihre  Amtsgewalt  auf  eine  gemeinschädliche  Weise  aus- 
geübt zu  haben.  Ausserdem  erscheinen  unter  Sigismund  alle  Bäte  als  ver- 
antwortlich vor  dem  Beichstag,  welche  öffentliche  Gelder  oder  überhaupt 
öffentliches  Vermögen  zu  controlliren  hatten.  Auch  hier  kommen  ernannte 
und  nicht  gewählte  Batgeber  des  Königs  in  Betracht.  Nach  dem  Tode 
Sigismunds  erhob  sich  sogleich  die  conservative  Beaction  gegen  alle  solche 
Neuerungen.  König  Albert  erliess  1439  ein  reichstägliches  Decret,  in  wel- 
chem er  ganz  offen  gegen  die  (westeuropäischen  d.  i.  englisch  modellir- 
ten)  Beformen  loszieht  und  wo  zugleich  der  Beichspalatin  wieder  zu  einem 
«Judex  Mediust  im  Sinne  des  aragonischen  Justiza  zwischen  König  und 
Beichsständen  bestellt  wird :  mit  anderen  Worten,  König  Albert's  reichstäg- 
liches Decret  stellt  sich  wieder  auf  den  Standpunkt  der  «Goldenen  Bullet 
vom  J.  1222  und  repudiirt  den  der  1231 -er  Ausgabe  derselben.  Dagegen 
reactivirt  König  Wladislausl.  auf  dem  Beichstage  vom  J.  1440 den  monumen- 
talen Gesetzartikel  der  1298-er  Gesetzgebung,  d.i.  des  hochsinnigen  Königs 
Andreas  in.;  und  wenn  auch  dieBeschlüsse  derBeichsstände  v.J.  1446  u.s.  w., 
mithin  aus  den  Zeiten  der  mit  einer  wahren  Begenten-Competenz  bekleideten 
Gubematorschaft  des  grossen  Johann  Hunyadi,  als  auf  die  Minorennität  d^ 
Königs  staatsrechtlich  Bezug  nehmende  Verfügungen  vom  Gesichtspunkte 
der  Verfassungspolitik  betrachtet  auf  ein  anderes  Blatt  gehören :  so  culmi- 
nirt  wieder  die  Gesetzgebung  des  Königs  Wladislaus  U.  ganz  entschieden 
in  ihrem  Batgesetz  vom  J.  1507.  Es  ist  diesmal  ein  specifisch  altungarischee 
Gesetz,  welches  zwar  an  die  Verantwortlichkeitsgesetze  des  Königs  Andreas 
III.  anknüpft,  im  Ganzen  jedoch,  wenn  es  sich  auch  mehr  an  englische  als 
an  aragonische  Prämissen  anlehnt,  nichtsdestoweniger  in  seinem  Gefüge 
den  Typus  eines  urwüchsigen  Nationalgedankens  an  sich  zu  tragen  scheint. 
Das  Gesetz  vom  J.  1507  verordnet  nicht  nur  die  legale,  sondern  gewisser- 
massen  auch  schon  die  politische  Verantwortlichkeit  der  Bäte  des  Königs, 
welche  ihr  Amt  durch  königliche  Ernennung  erhalten.  Alle  Begierungsakte 
des  Königs  sollen  auf  Bat  seiner  Bäte  unternommen  werden.  Begierungs- 
akte, welche  der  König  ohne  Zustimmung  seiner  Bäte  vornimmt,  haben 
keine  Giltigkeit.  Wenn  jemand  im  Bäte  gegen  die  Freiheit  und  gegen  das 
Gemeinwohl  oder  auch  gegen  die  Gesetze  des  Beiches  zu  handeln  wagt,  so 
sollen  ihn  die  Assessoren  (d.  i.  die  gerichtsherrlichen  Mitglieder  des  Bats) 
bei  dem  nächstfolgenden  Beicbstag  seinem  Namen  nach  angeben,  und  den 
Beichsständen  steht  es  zu,  ihn  sowohl  in  seiner  Person  als  auch  im  Vermö- 
gen als  einen  Verräter  und  Störer  des  Staats  und  der  Freiheit  des  Vater-^ 
landes  zu  bestrafen.  Augenscheinlich  und  trotz  des  Gesetzartikels  1507:  8,. 
welcher  die  Güterconfiscation  über  etwaige  gesetzwidrig  handelnde  Magna- 
ten und  Edelleute,  sowie  den  Verlust  des  Beneficiums  über  die  renitenten 


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DBB  RATE   DES  MOKABGHEK.  773 

Prälaten  und  Geistlichen  verhängt,  gebricht  es  dem  Verantwortlichkeits- 
gesetz vom  J.  1507  an  einer  lebensfähigen  Sanction  sowie  an  verschiede- 
nen Bedingungen  der  Ausführbarkeit,  wie  ich  dies  in  meiner  Abhandlung, 
welche  ich  1889  in  der  Ungarischen  Akademie  der  Wissenschaften  vorlegte, 
eingehend  auseinandergesetzt  zu  haben  glaube.  Wie  unvollkommen  aber 
auch  dieses  Verantwortlichkeitsgesetz  als  solches  ist,  so  hatte  es  —  vermöge 
der  darin  enthaltenen  Worte  «contra  Libertatem  et  Commune  Bonum»  — 
zu  der  Zeit,  als  es  erlassen  wurde,  doch  noch  kein  Analogon  auf  dem  euro- 
päischen Festlande. 

Auch  der  unglückliche  König  Ludwig  IL  erliess  Gesetze,  welche  die 
Beichsstände  über  die  Gompetenz  des  Bats  zu  schaffen  für  zweckdienUch 
hielten;  ja,  Ludwig  U.  sanctionirte  sogar  1518  einen  Gesetzesvorschlag, 
welcher  den  Bäten  des  Monarchen  im  Bäte  einen  gleichen  Anteil  an 
Auctorität  ertheilt  wie  dem  König,  und  zugleich  verordnet,  dass  das  Becht, 
überhaupt  über  alle  Angelegenheiten  so  des  Königs,  wie  auch  des  Beiches 
Entscheidung  zu  treffen,  den  Bäten  verbleiben  soll.  Wenn  nun  auch  eine 
derartige  legislative  Verfügung,  wie  dies  Batsgesetz  vom  J.  1518  in  einem 
monarchischen  Staat  nur  gegenüber  einem  minderjährigen  oder  geistig  ver- 
wahrlosten König  zu  verzeihen  ist :  so  enthalten  die  Beschlüsse  der  gleich- 
falls unter  diesem  unglückseligen,  schwachen  König  abgehaltenen  Beichs- 
iiage  vom  J.  1524,  1525  und  1526  so  manche  Momente,  welche  den  ungari- 
schen Gonstitutionalismus  aus  dieser  Zeit  auf  eine  höchst  interessante  Weise 
beleuchten.  Im  J.  1519  hatten  die  Oligarchen  die  einfachen  Edelleute  aus 
dem  Bäte  gewaltsam  entfernt ;  im  Jahre  1524  nimmt  der  Beichstag  dem 
Bat  so  manche  Befugnisse  ab,  um  die  königliche  Gewalt  zu  vermehren. 
Stefan  Verböczy,  der  Verfasser  des  «Tripartitum»,  hielt  eine  fulminante 
Bede,  in  welcher  er  die  Entfernung  der  schlechten  Batgeber  des  Königs 
forderte.  Verböczy  gehörte  zur  Partei  des  niederen  Adels  und  war  ein  Werk- 
zeug des  Siebenbürger  Wojwoden  Johann  Zäpolya,  der  auf  die  dem  Lande 
von  Seiten  der  Türken  drohende  Gefahr  speculirte,  um  im  Trüben  fischen, 
XJjlaky's  Güter  an  sich  reissen  und  eventuell  selber  König  werden  zu  können. 
Die  Unzufriedenheit  des  niederen  Adels  war  vollkommen  begründet :  denn 
der  königliche  Bat  bestand  zu  jener  Zeit  vorwiegend  aus  solchen  Oligar- 
chen, die  Missbrauch  auf  Missbrauch  häuften  und  sich  gar  schamlose  Tha- 
ten  zu  Schulden  kommen  Hessen.  Dem  musste  abgeholfen  werden.  Allein 
eine  Sanirung  der  Zustände  konnte  unter  der  Parteiführerschaft  eines  Intri- 
guanten  wie  Zäpolya  unmöglich  zu  Stande  kommen.  Auf  dem  Beichstage 
1525,  der  aus  Beichsbaronen,  Magnaten  und  Comitatsboten  bestand,  stieg 
die  Aufregung  so  hoch,  dass  der  päpstliche  Legat  Burgio  förmlich  erschrak. 
Am  13.  Mai  schickte  dieser  Beichstag  eine  aus  60  Mitgliedern  bestehende 
Deputation  an  den  König  und  verlangte :  der  König  möge  seine  bisherii^en 
Batgeber  entlassen,  sich  mit  neuen  Batgebern  umgeban,    die  er   jedoch 


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774  MONTESQUIEU    UND   DIB    VBBANTWOBTLICHKBIT 

selber  ernennen  möge.  Auch  müsste  Emrich  Sserencses  zur  Yerantwortong 
gezogen  werden.  Der  Reichstag  erhielt  keinen  Bescheid ;  erst  als  er  eine 
zweite  Deputation,  bestehend  aus  120  Mitgliedern  zu  demselben  Behufe 
entsendete  und  die  Partei  des  niederen  Adels  den  Verkehr  zwischen  Pest 
und  Ofen  gewaltsam  absperrte,  gab  Ludwig  11.  nach :  er  erklärte,  er  werde 
den  Emrich  Szerencses  bestrafen.  Auf  die  Einladung  einer  dritten  urgiren- 
den  Deputation  erschien  Ludwig  ü.  sogar  persönlich  auf  dem  Beichstag. 
Dieser  verlangte,  seine  Beschwerden  wiederholend,  der  König  möge  augen- 
blicklich alle  seine  Batgeber  entlassen,    die  nicht  Ungarn  sind;  an  die 
Stelle  des  bisherigen  Schatzmeisters  soll  ein  anderer  treten,und  zugleich  soll 
gegen  alle  das  Strafverfahren   eingeleitet  werden,  welche  des  Königs  Ver- 
mögen, bez.  Bevenüen  verwaltet  hatten.  Der  König  versprach  nur  das  Straf- 
verfahren gegen  den  Schatzmeister  unverzüglich   einleiten  zu  lassen.  Die 
Beichsstände  beharren  auf  ihrem  Begehren,  und  da  dieses  nicht  erfüllt  wird, 
so  entsteht  ein  Tumult,  und  der  König  macht  sich  aus  dem  Staube,  um  nur 
sein  Leben  retten  zu  können.  Jetzt  berufen  die  missvergnügten  Mitglieder 
des  Beichstags,  auf  Anstachelung  Zäpolyas  und  Verb5czys,  einen  anderen 
Beichstag  nach  Hatvan.  Der  König  erschrickt  und  lässt  Szerencses  einker- 
kern ;  verspricht  ausserdem  seine  deutschen  Batgeber  zu   entfernen,  mit 
Ausnahme  von  4  Bäten,  von  denen  2  er  selber,  2  andere   die   Königin  von 
Nöten  hätte.  Zugleich  riet  er  ruhig  nach  Hause  zu  gehen.  Doch  die  Miss- 
vergnügten brechen  auf,  um  schnurstracks  nach  Hatvan  zu  gehen.  «Damit 
endlich  einmal  die  bisherigen   so   wie  auch  die    zukünftigen  Beichstags- 
beschlüsse  Giltigkeit  erlangen  (so  lauten   die  beiden  ersten  §§  der  1525-er 
Beichstagsbeschlüsse)  und  vollzogen  werden,  soll  der  königliche  Bat  refor- 
mirt  werden,  und  nicht  wie  bisher  grösstentheils  durch  Fremde  beherrscht 
werden;   und   damit  im  Bäte    alles    nach    reiflicher   Ueberlegung     und 
Beschlussfassung  geschehen  könne,  damit  die  gefa^sten  Beschlüsse  auch 
vollzogen   werden  imd   die   Mitglieder   des    Bats    die    Sünde   des   Nicht- 
Vollzugs  nicht  aufeinander  schieben,  wie  es  bisher  geschehen  ist :   wähle 
sich  der  König  einige  Männer   aus   der  Mitte    der  Prälaten   und  Beichs- 
barone  und  behalte  dieselben  bei  sich :  diese  Batgeber  werden  bevollmäch- 
tigt, bis  zum  Beichstage  von  Hatvan  in  allen  Angelegenheiten,  worüber  die 
übrigen  Bäte  unter  sich  nicht  einig  werden   können,   zu   beratschlagen, 
Beschlüsse  zu  fassen  und  diese  Beschlüsse  auch  vollziehen  zu  lassen  ;  die 
erwähnten  Batgeber  werden  befugt,  sämmtUche  königliche  Beamtenstellen, 
so  die  internen,  wie  jene  an  der  Grenze,  mit  Einwilligung  des   Königs  neu 
zu  besetzen ;  sie  sind  gehalten  darauf  zu  achten,  dass  die  königlichen  Ein- 
künfte auf  eine  Weise  verwaltet  und  verausgabt  werden,  welche  nicht  nur 
dem  König  sondern  auch  dem  Laude  zuträglich  ist;  überhaupt  sollen  sie, 
die  erwähnten  Batgeber,  alles  machen ;  die   (übrigen)  Prälaten  und  Mag- 
naten sollen  zwar  der  Würde  gemäss,  welche  sie  bekleiden,  im  Bäte  auch 


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DEB  RÄTE  DES  MONABCHEN.  775 

zugegen  sein^  auch  wohl  befugt  sein,  ihre  Meinung  im  Bäte  auszuspre- 
chen :  doch  das  Becht  Dispositionen  zu  treffen  bleibt  bei  den  erwähnten 
Batgebern,  damit  die  Angelegenheiten  des  Königs  und  des  Beiches  nicht 
in  Confusion  geraten  und  Schiffbruch  erleiden  wegen  blosser  Meinungsver- 
schiedenheiten im  Bäte.  Fremde  dürfen  fürder  zu  dem  Bat  des  Königs 
nicht  mehr  zugelassen  werden.» 

Der  Beichstag  bei  Hatvan  kam  thatsächlich  zu  Stande.  Alles  in  AUem 
ungefähr  10,000  Edelleute  zu  Pferd  sind  bewaffnet  auf  dem  Platz  erschie- 
nen ;  auch  Beichsbarone  und  Magnaten  haben  sich  eingefunden ;  und  als 
der  König  ankam,  da  liefen  ihm  Alle  entgegen  und  beteuerten  ihm,  der 
gesammte  Adel  stehe  ihm  zu  Diensten ;  nur  möge  er  sich  einmal  ermannen 
und  die  Zügel  der  Begierung  stramm  und  fest  in  die  Hand  nehmen.  Und 
doch  kulminirte  die  ganze  reichstägUche  Verhandlung  recht  eigentlich  in 
der  heftigen  Opposition,  welche  man  dem  königlichen  Bathe  machte.  Der 
Hauptredner  war  wieder  der  Bechtsgelehrte  Stefan  Verböczy.  «Nicht  der 
König  sei,  sagte  er,  an  all  dem  Uebel  Schuld,  welches  das  Land  betroffen, 
sondern  einzig  und  allein  der  königliche  Bat.  Dieser  sei  nichtsnutzig  und 
hasche  nur  nach  Schätzen.  Seine  Geldgier  und  Baubsucht  gestatteten  ihm 
nie,  dem  König  irgend  einen  guten  Bat  zu  erteilen;  darum  möge  der 
König  den  ganzen  Bath  reformiren,  seine  bisherigen  Batgeber  entlassen 
und  an  ihre  Stelle  neue,  ehrliche  Männer  zu  seinen  Bäten  ernennen.» 
Verböczy  sprach  über  volle  zwei  Stunden.  Zum  Schluss  versprach  er  dem 
König,  dass  falls  Seine  Majestät  den  Bat  reformiren  und  neubesetzen 
wollte,  der  ganze  Adel  Ungarns  von  echt  magyarischem  Geiste  beseelt  die- 
selbe Tapferkeit  an  den  Tag  legen  werde,  welche  dem  Feinde  schon  so  oft 
Furcht  einzujagen  verstand!»  Als  Verböczy  seine  Bede  beendigte,  apostro- 
phirte  er  noch  einmal  die  Anwesenden ;  er  fragte  emphatisch,  ob  er  die 
Wahrheit  gesprochen  habe?  Donnernde  Bejahungen  ertönten  von  allen 
Seiten :  alle  baten  den  König,  er  möge  doch  einmal  sowohl  sich  selber  als 
auch  das  Land  von  der  «Tyrannei»  befreien !  Nach  Verböczy  ergriff  der 
Erzbischof  von  Gran,  der  staatskluge  Szalkai  das  Wort.  «Er  habe  die  Kanz- 
lerwürde schon  an  dem  Tage  niederlegen  wollen,  wo  er  zum  Erzbischof 
ernannt  wurde,  doch  habe  der  König  in  seinen  Bücktritt  nicht  willigen 
wollen ;  jetzt  habe  er  jedoch,  und  zwar  an  dem  Tage,  wo  der  König  Ofen 
verliess,  das  Staatssiegel  Seiner  Majestät  unwiderruflich  zur  Verfügung 
gestellt :  er  wolle  nicht  mehr  E^zler  bleiben.  Bald  würde  die  Zeit  kommen, 
wo  sowohl  der  König  als  auch  der  Adel  einsehen  werden,  wie  treu  er  gedient 
habe.»  Bei  diesen  Worten  blieb  der  Kirchenfürst  stehen ;  er  harrte  würde- 
voll des  Effectes,  den  seine  Erklärung  hervorrufen  werde.  Doch  täuschte  er 
sich  recht  bitterlich.  «Man  muss  ihn  absetzen,»  riefen  so  manche  Beichs- 
tagsmitglieder,  «er  ist  ja  blos  der  Sohn  eines  Schusters !  Darum  will  er  auch 
aus  den  Edelleuten  lauter  Bauern  machen,  wie  er  selber  einer  ist!»  Jetzt 


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776 


MONTESQUIEU   UND   DIE    VERANTWORTLICHKEIT 


trat  der  Beichspalatin  auf.  «Es  sei  nicht  gerecht,  saj^te  er,  dass  man  die 
Beamten  des  Königs  ohne  ricbterUchen  Spruch  ihres  Amtes  zu  entsetzen 
sucht;  will  man  ihn  seines  Amtes  entsetzen,  so  soll  man  ihm  zugleich  auch 
sein  Leben  nehmen.  Uebrigens  sei  er  bereit,  sich  dem  Richterspruch  zu 
unterwerfen.»  Nun  schrieen  die  Einen:  «Absetzen  augenblicklich!»  die 
Anderen  dagegen  riefen:  «Das  Amt  niederlegen,  sobald  es  die  Gerechtigkeit 
verlangt ! »  Auf  den  ßeichspalatin  folgte  der  Judex  Curiae,  Ambrosius  SÄr- 
kiny.  Er  machte  es  ziemlich  prahlerisch.  Er  schilderte  die  Dienste,  welche 
er  sowohl  dem  König  als  auch  dem  Lande  geleistet  habe:  «es  gebe  im  gan- 
zen Lande  nicht  drei  Menschen,  die  würdiger  seien  als  er!»  Ein  Selbstiiob 
von  diesem  Styl  gefiel  jedoch  den  Reichstagsmitgliedem  keineswegs ;  ein 
Sturm  von  Entrüstung  brach  lo3,  Scheltworte  und  Flüche  flogen  über  den 
Kopf  des  unbescheidenen  Landes- Oberrichters,  ja  die  ganze  Versammlung 
geriet  in  eine  derartige  Aufregung,  dass  der  Judex  Curiae  nichts  besseres 
thun  konnte,  als  sich  auf  sein  Lioss  zu  schwingen  und  ohne  sich  Bast  zu 
gönnen,  mit  Windes-Schnelligkeit  nach  Ofen  zu  reiten.  Nach  diesem  Schau- 
stück versprach  der  König  seinen  Bescheid  auf  Morgen,  und  die  Versamm- 
lung ging  auseinander.  Den  andern  Tag  schickte  der  Bat  zum  König  Send- 
boten, um  ihm  einzuschärfen,  dass  es  höchst  ungerecht  wäre,  seine  Bäte 
abzusetzen,  ohne  den  Bichterspruch  abzuwarten.  Auch  sei  der  Bat  bereit, 
gegenüber  allen  Beschwerden  Genugthuung  zu  geben.  Jetzt  teilte  sich  der 
reichstäglich  versammelte  Adel  in  zwei  Parteien :  die  eine  Partei,  bestehend 
aus  ungefähr  3000  Mitgliedern,  wollte  den  gerichtUchen  Weg  betreten,  die 
andere,  bei  Weitem  zahlreichere  Partei  setzte  einfach  den  Beichspalatin  ab 
und  wählte  Stefan  Verböczy  zum  Beichspalatin;  zugleich  schickte  diese 
Majorität  eine  Deputation  zum  König,  um  die  Bestätigung  dieser  ihrer 
Palatinwahl  zu  erlangen.  Der  König  bestätigte  thatsächhch  die  Wahl  Ver- 
böczys  zum  Beichspalatin.  Hierauf  formulirte  der  neue  Beichspalatin  die 
Beichstagsbeschlüsse  als  Gesetzartikel :  darunter  diejenigen,  welche  sich  auf 
den  königlichen  Bat  beziehen.  Diese  enthielten  die  nachstehenden  Dispo- 
sitionen: «Seine  Majestät  möge  die  königlichen  Aemter  neu  besetzen ;  die 
Besetzung  dieser  Aemter  gehört  ausschliesslich  in  die  Bechtssphäre  des 
Königs,  der  dies  sein  Becht  unbehindert,  ohne  jede  Einmischung  des  Adels 
auszuüben  habe ;  darum  solle  sich  auch  der  Adel  nicht  anmassen  die  Aem- 
ter eigenwillig  zu  verteilen ;  der  königliche  Bat  soll  aber  reorganisirt  wer- 
den durch  Aufnahme  von  8  MitgUedem,  welche  dem  niederen  Adel  ange- 
hören. • 

Der  König  willigte  ein,  doch  beschwerte  er  sich  darüber,  dass  die 
Majorität  des  Beichstages  soeben  seine  Bechte  empfindsam  verletzt  habe, 
indem  dieselbe  königliche  Aemter  eigenmächtig  zu  besetzen  keinen  Anstand 
genommen.  Die  Majorität  des  Beichstages  hatte  nämlich,  nachdem  bereite 
die  Wahl  Stefan  Verböczys  zum  Beichspalatin  durch  den  König  besti^igt 


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DER   RÄTE   DES   MONARCHEN.  777 

war,  den  Erlauer  Bischof  zum  Kanzler,  Drägfi  zum  Judex  Curiae  und  Kani- 
zsai  zum  Schatzmeister  ausgerufen.  Hierüber  hat  sich  nun  Ludwig  IL  bei 
den  iteichsständen  bitterlich  beklagt  und  erreichte  damit  vollkommen  sein 
Ziel:  denn  die  versammelten  Beichsstände  riefen  nunmehr  einhellig:  «Möge 
der  König  in  dieser  Beziehung  thun,  was  er  wolle,  sie  mischen  sich  nicht 
mehr  in  diese  Angelegenheit.»  Ludwig  IL  legte  anlässlich  dieser  Krise  zwei- 
fellos Takt  an  den  Tag ;  er  ging  so  weit^  dass  er  sogar  einen  Vorgeschmack 
für  den  parlamentarischen  Gedanken  verriet :  trotz  seiner  Beschwerde  über 
die  eigenmächtige  Einmischung  der  Majorität  in  die  Angelegenheit  der 
königlichen  Aemter  ernannte  er  dennoch  zum  Judex  Curiae  denselben 
Drägfi,  dem  sich  das  Vertrauen  der  Majorität  in  erster  Linie  zugewandt  hatte. 
Das  allerwichtigste  unter  diesen  Ergebnissen  ist  freiUch  der  bereits  oben 
erwähnte  §,  welcher  die  Reorganisation  des  königlichen  Bates  zum  Ge- 
genstande hat.  Dieser  §  lautet  folgendermassen :  «Seine  Majestät  möge  seine 
Beamten  und  Bäte  aus  dem  Kreise  der  Prälaten  und  Beichsbarone  erwäh- 
len, ausserdem  sollen  aber  8  Mitglieder  aus  dem  niederen  Adel  dem  könig- 
lichen Bäte  beigegeben  werden,  in  dem  Sinne,  wie  dies  bereits  (ältere)  Ge- 
setze verordnen ;  der  König  soll  mit  Zustimmung  dieser  8  Bäte  die  Beichs- 
angelegenheiten  besorgen,  auch  wenn  die  Magnaten  mit  diesen  8  Bäten 
nicht  einig  werden  könnten ;  auch  die  Aemter  soll  der  König  über  Vorschlag 
dieser  8  Bäte  besetzen.)»  In  der  Vatican 'sehen  Gopie  der  Hatvaner  Beschluss- 
urkunde steht  noch  nach  Kovachich  unter  §  38:  «Seine  Majestät  möge 
sowohl  den  Kanzler  als  auch  den  Judex  Curiae,  sowie  den  Tavernicus 
und  den  Commandanten  von  Ofen  sofort  ihres  Amtes  entsetzen  und  andere, 
zu  diesen  Aemtem  geeignetere  Männer  an  ihre  Stelle  ernennen.»  Diese 
Stelle  fehlt  in  den  sonstigen  diesbezüglichen  Urkunden :  möglich,  dass  bei 
der  Fromulgirung  der  Beschlüsse  die  Stände  darauf  selber  verzichtet  haben, 
nachdem  der  König,  wie  bereits  erwähnt,  zum  Judex  Curiae  den  Depositar 
des  Vertrauens  der  reichstäglichen  Majorität,  Drägfi,  ernannt  hatte.  Zu 
bemerken  ist  noch,  dass  dieser  selbe  Beichstag  von  Hatvan,  der  den  Bechts- 
gelehrten  Stefan  Verböczy  zum  Beichspalatin  erwählte,  zugleich  eine 
neue  Codification  angeordnet  hat,  da  die  Gebrechen  der  Verböczyschen 
Sammlung  seit  1514  bereits  in  so  mancher  Hinsicht  offenkundig  geworden 
waren.  «Die  Bäte  des  Königs,  dieBichter  des  Obersten  Gerichtshofes  und  die 
Protonotare  sollen  bis  zum  nächsten  Beichstag  die  gesammten  Gesetze  und 
Beschlüsse  des  Landes  in  eine  Sammlung  bringen ;  mittlerweile  sollen  alle 
geschriebenen  Gesetze  des  Landes  durchgelesen  und  geprüft  werden  und 
auf  Grund  dieser  Prüfung  soll  dann  der  König  auf  dem  nächsten  Beichstag 
dieselben  bestätigen.»  So  lautet  der  §  32,  36  der  Hatvaner  Beichstags- 
beschlüsse :  man  sieht,  dass  einem  Beichstage,  der  in  der  ersten  Hälfte  des 
XVI.  Jahrhunderts  derartige  Beschlüsse  fasst,  ein  gewisser  Grad  von  geisti- 
ger Bildung  und  politischer  Beife  nicht  abzusprechen  ist. 


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778  MONTESQUIEU    UND   DIE   VERANTWOBTLICHKEIT 

Vergebens !  Die  Hatvaner  Beschlüsse  wurden  in  Bezug  auf  die  Reor- 
ganisation des  Bates  zwar  ausgeführt;  die  acht  Edelleute  nahmen  ihren 
Sitz  im  Bäte  sogleich  ein :  doch  der  Mechanismus  dieser  gesetzlich  vorge* 
schriebenen  Begierungsweise  vermochte  nicht  gehörig  zu  arbeiten:  denn 
Ludwig  n.  liess  sich  von  der  Partei  des  gestürzten  Beichspalatins  B&thory 
auf  die  bedauerlichste  Weise  bethören  und  trat,  einerseits  aus  Furcht  vor 
dem  Einfluss,  den  nun  der  durch  die  Ujlakischen  Güter  unermesslich  reich- 
gewordene, ambitiöse  Wojwode  Zäpolya  durch  seinen  Günstling,  Beichs- 
palatin  Verböczy  sowie  durch  die  acht  Edelleute  auf  den  Bat  ausübte, 
anderseits  aus  einer,  wie  es  scheint,  angeborenen  Neigung  zur  Willkürherr- 
schaft, lieber  selber  schon  im  Frühjahr  sammt  der  Königin  in  die  oligarchische 
iConfoederationt  von  Kecskemet  ein,  um  die  Hatvaner  Beschlüsse  sobald 
wie  möghch  wieder  nichtig  machen  zu  können.  Sowohl  Zäpolya  als  auch 
Verböczy  spielten  zu  dieser  Zeit  eine  Bolle,  welche  nichtsweniger  denn 
lobenswert  ist.  Verböczy  schmeichelt  hinter  den  Coulissen  den  Oligarchen 
und  Zäpolya  machte  gleichfalls  hinter  den  Coulissen  allerlei  Geschäfte 
und  willigte,  um  diese  ergiebigst  durchführen  zu  können,  sogar  ein,  dass  die 
fremden  Batgeber  des  Königs  auch  fernerhin  an  seiner  Seite  bleiben.  Unter 
solchen  Umständen  konnten  die  acht  Edelleute  nichts  Heilsames  im  Bäte  aus- 
wirken, weder  in  Sachen  der  Landesverteidigung  noch  in  sonstigen  Ange- 
legenheiten, sondern  die  Sachen  nahmen  ihren  Lauf  noch  immer  wie 
zuvor :  es  geschah  nur,  was  die  oligarchischen  Intriguanten  wollten.  Lud- 
wig U.  dachte  unter  solchen  Umständen  eine  Zeitlang  gar  nicht  mehr 
daran,  den  Beichstag  je  einzuberufen,  es  sei  denn  in  Fällen  äusserster  Not- 
wendigkeit; jetzt  berief  er  den  Beichstag  (April  24.  1526)  nach  Ofen,  nur 
um  sein  Eintreten  in  die  Confoederation  proclamiren  und  die  Hatvaner 
Beschlüsse  für  nichtig  erklären  zu  können !  Der  Beichstag  nahm  all  das 
willig  auf,  was  der  König  wollte :  denn  die  Confoederation  besass  auf  diesem 
Beichstag  entschieden  die  Majorität.  Wie  ist  dies  möglich  geworden?  Durch 
Litrigue  und  durch  Bestechung.  Die  minder  begüterten  Edelleute  nahmen 
von  den  Oligarchen  Taggelder  an.  Auch  Paul  Artändi,  der  noch  vor  Kurzem 
als  einer  der  feurigsten  Fürsprecher  der  antioligarchischen  Partei  sich  her> 
vorgethan,  war  schon  Mitglied  der  oligarchischen  Confoederation.  Der  Beichs- 
tag applaudirte,  als  die  Gründungs- Urkunde  der  Confoederation  «zur  Erret- 
tung des  Königs»  feierlich  vorgelesen  wurde  und  Verböczy,  der  Beichspala- 
tin,  der  erst  vor  einigen  Tagen  aus  seiner  oberungarischen  inquisitorischen 
Expedition  gegen  die  Lutheraner  zurückgekehrt  war,  hat  sich  ganz  einfach 
aus  dem  Staube  gemacht.  Der  Beichstag  erliess  ein  Manifest,  in  welchem 
Stefan  Verböczy  und  Michael  Zobi  sowohl  für  die  Zusammenberufung 
und  Abhaltung  des  Hatvaner  Beichstages  als  auch  für  den  Sturz  des  Beichs- 
palatins Bäthory  und  für  die  legislativen  Beschlüsse  des  Hatvaner  Beichs- 
tages verantwortlich  gemacht,    der    gebrochenen    schuldigen  Pflichttreue 


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DEB   BÄTE   DES   MONABCUEN.  77^ 

gegen  den  König  sowie  der  Verletzung  der  Gesetze  schuldig  erklärt  und  als 
f  Angreifer  der  königlichen  Gewalt,  als  Störer  des  Friedens,  der  Bube  und  der 
Freiheit  des  Landes  zu  öffentlichen  Feinden  des  Vaterlandes  und  des  Königs» 
gebrandmarkt,  und  unter  Confiscirung  ihres  Vermögens  des  Landes  ver- 
wiesen werden.  Der  Beichstag  vom  Jahre  1526  brachte  wieder  ein  Gesetz, 
welches  darauf  ausging,  den  König  von  der  Vormundschaft  seiner  Bäte  zu 
emancipiren.  «Der  König  möge  nach  seinem  eigenen  Gutdünken  alles  thun,. 
was  ihm  zur  Eintreibung  der  königUchen  Einkünfte  sowie  zur  Verausgabung 
derselben  erspriesslich  erschein  t  und  was  zur  Begierung  sowie  zur  Auf- 
rechterbaltung  der  Freiheit  u.  s.  w.  des  Landes  nötig  ist.  Da  abgesehen  von 
dem  Amte  des  Beichspalatins,  die  Besetzung  sämmtlicher  Aemter  ein 
königliches  Becht  ist,  so  möge  der  König  befugt  sein,  seine  jetzigen  Bäte  zu 
behalten  oder  zu  entlassen  und  andere  an  ihre  Stelle  zu  ernennen  je  nach 
seinem  Gutdünken.  Nachdem  Seine  Majestät  über  Prälaten,  Barone  und 
Bäte  verfügt,  welche  er  frei  wählen  kann,  so  möge  der  König  wohl  auch 
acht  Edelleute  erwählen,  welche  im  Bäte  gegenwärtig  sein  sollen.»  Zugleich 
wurde  verfügt,  dass  fürder  der  Adel  nicht  verpflichtet  sei,  auf  dem  Beichs- 
tag  öfter  als  höchstens  einmal,  am  Tage  der  Schlussverhandlung  persönlich 
zu  erscheinen,  wodurch  die  Abhaltung  der  Beichstage  auf  Grund  einer, 
damals  sicher  noch  ganz  und  gar  vagen  und  primitiven  Comitatsvertretung 
ermögUcht  wurde,  was  die  Gesetzgebung  wieder  damit  motivirte,  dass 
infolge  des  persönlichen  Erscheinens  sämmtlicher  Edelleute,  sehr  viele  auf 
den  Bettelstab  gekommen  und  da  sie  ihre  Güter  verpfänden  mussten,  zum 
ewigen  Bauernstand  erniedrigt  worden  seien ;  endlich  wurde  noch  auf  die- 
sem Beichstag  das  Amt  des  Beichspalatins  zu  einem  unabsetzbaren  gemacht,, 
was  dasselbe  sodann  bis  auf  die  spätesten  Zeiten  thatsächlich  geblieben  ist. 
«Weder  durch  Lärmen  und  Toben,  noch  durch  Willkür  soll  künftighin  der 
Beichspalatin  seines  Amtes  entsetzt  werden,  sondern  lediglich  nur  von 
Gesetzwegen,  falls  er  ein  Verbrechen  begeht,  welches  mit  der  Capitalstrafe 
zu  bestrafen  ist.  Das  Amt  des  Beichspalatins  soll  auf  Lebenszeit  vergeben 
werden  und  zwar  gegen  eine  schriftliche  Verpflichtung  des  Königs,  dass 
Seine  Majestät  ihn  dieses  Amtes  nicht  entsetzen  werde ;  diese  schriftliche 
Verpflichtung  des  Königs  soll  aber  mit  der  Krone  gemeinsam  aufbewahrt 
werden.  Niemand  dürfe  sich  erfrechen,  den  Beichspalatin  lärmend  und 
tobend  anzugreifen.» 

König  Ludwig  II.  hat  diese  Urkunde  thatsächlich  ausgestellt  gleichzei- 
tig mit  jenen,  worin  er  die  Beschlüsse  des  Bäkoser  sowie  des  Hatvaner 
Beichstags  förmlich  annullirt  und  über  Verboczy  den  Bann  ausspricht.  Doch 
all  dies  vermochte  nicht  den  verhängnissvollen  Missgrifif  wieder  gutzuma- 
chen, den  die  OUgarchen  sich  erlaubt  hatten,  als  sie  1519  die  einfachen 
Edelleute  aus  dem  königlichen  Bäte  gewaltsam  entfernt  hatten.  «Die  Mag- 
naten, sagt  der  trefifiiche  Ladänyi,  wollten  den  König  glauben  machen,  dass 


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7m 


MONTESQUIEU   UND    DIE   YERANTWORTIilOHKEIT 


er  sich  nunmehr  im  Besitze  einer  wirklichen  Macht  befinden  werde,  zugleich 
wollten  sie  aber  ]den  Ständen  zu  verstehen  geben,  dass  von  nun  an  jede 
Verantwortlichkeit  nur  den  König  treffen  könne  für  all  die  Dinge,  welche 
nun  kommen  sollten.  Und  der  titellose  Adel  hat  auch  all  dem  thatsächlich 
Glauben  geschenkt  und  diesen  seinen  Glauben  sogar  zum  Ausdrucke  ge- 
bracht, und  zwar  mit  der  ganzen  Naivität  eines  titellosen  Edelmannes. 
Allein  der  König  fing  jetzt  ernstlich  an,  die  Wucht  seiner  Verantwortlich- 
keit zu  fühlen  und  konnte  nicht  umhin  zu  betonen:  tVor  allem  wäre  Geld 
nötig,  was  wir  nicht  haben ;  zwar  sei  er  bereit,  alles  zu  thun,  was  er  nur 
vermag,  doch  seien  ihm  die  Hände  wegen  der  Armut  gebunden ;  niemand 
soll  von  ihm  UnmögUches  erwarten»  und  sich  auf  die  Gesandten  der  frem- 
den Mächte  wie  auf  Zeugen  berufend,  beteuerte  er,  dass  «falls  das  Land 
irgend  ein  Unglück  trifft,  so  habe  nicht  er  es  heraufbeschworen.» 

Das  Unglück  blieb  nicht  aus.  Sulejman  11.  vernichtete  das  winzige 
Heer  des  schmächtigen  Ungarkönigs  bei  Mohäcs;  die  Blüte  der  Magnaten 
so  wie  der  Kirchenfürsten  ,  ja  sogar  der  Universitätsjugend  von  Pünfkir- 
chen  hauchte  sein  Leben  auf  diesem  trauervollen  Schlachtfelde  aus;  der 
König  kam  auf  die  elendste  Weise  um,  als  er  sich  zu  flüchten  versuchte, 
und  das  stärkere  Heer  des  Wojwoden  Zäpolya,  unter  dessen  Fahnen  sich 
die  grosse  Masse  des  missvergnügten  titellosen  Adels  angesammelt  hatte, 
sah  in  gemächlicher  Entfernung  der  Katastrophe  zu,  welche  Ungarns  sou- 
veraine  Unabhängigkeit  auf  Jahrhunderte  begrub. 

Das  war  die  arge  Frucht  der  bösen  That,  welche  die  Oligarchen  verübt 
hatten,  indem  sie  1519  die  titellosen  Edelleute,  mithin  das  zu  jener  Zeit 
politisch  qualificirtere  und  minder  beutegierige  Element  aus  dem  königli- 
chen Bat  gewaltsam  entfernt,  die  Verantwortlichkeit  der  Bäte  des  Königs 
jedoch  zielbewusst  zu  einer  Unmöglichkeit  gemacht  hatten,  um  ihrer  Beute- 
gier ungeahndet  fröhnen  zu  können.  Auch  der  Wojwode  Siebenbürgens,  der 
Emporkömmling  Zäpolya  trägt  Schuld  an  dieser  Katastrophe :  denn  er  hatte 
sich  zum  Führer  des  titellosen  Adels  aufgeworfen,  ohne  dass  ihm  in  seinem 
Innersten  je  eingefallen  wäre,  etwas  Edleres  als  die  Güter  Ujlakys  und  die 
Vendetta  gegen  seine  Nebenbuhler  anzustreben. 

Nun  folgt  für  das  eigentliche  Königreich  Ungarn  diesseits  des  Kiräly- 
hägö  eine  Periode  von  über  dreihundert  Jahren  unverwischlich  traurigen 
Andenkens.  Der  besonnenere  Teil  der  Nation  hat  sich  der  Partei  Ferdi- 
nands von  Oesterreich  angeschlossen  und  den  Gegenkönig  Zäpolya  sammt 
dessen  Erben  endgiltig  niedergeworfen.  Ungarn  hat  in  dem  neuen  Herr- 
scherhause sowohl  einen  mächtigen  Beschützer  gegen  die  Türken  als  auch 
einen  Beförderer  der  civilisatorischen  Arbeit  erhalten ;  allein  diese  civili- 
satorische  Arbeit  wurde  im  Laufe  der  Jahrhunderte  durch  so  manche  Akte 
der  Vergewaltigung  getrübt,  welche  zu  unaufhörlichem  Hader  und  Partei- 
krieg führen  mussten  und  nahezu  die  ganze  Lebenskraft  der  Nation  lahm- 


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DBR  RÄTE   DES  MONARCHEN.  781 

legten.  Zwar  beschworen  Ferdinand  I.  wie  auch  die  folgenden  Könige  von 
Ungarn,  welche  als  römisch- deutsche  Kaiser  in  der  Wiener  Hofburg  tron- 
ten,  Ungarns  Verfassung  und  Gesetze  aufrechtzuerhalten ;  doch  dies  ver- 
hütete noch  keineswegs  blutige  Verfassungsconflicte.  Die  Wiener  Katgeber 
scheinen  weder  die  Postulate  des  ungarischen  Staatsrechts  zur  Kenntniss 
genommen,  noch  aber  auch  die  Gebote  einer  wahren  Staatsklugheit  gehö- 
rig in  Betracht  gezogen  zu  haben :  sie  betrachteten  Ungarn  als  eine  ero- 
berte Provinz  und  boten  Jahrhunderte  lang  Alles  auf,  um  das  Land  zu 
schwächen,  um  nur  seine  Widerstandsfähigkeit  auf  immer  brechen  zu 
können.  Auf  der  anderen  Seite  begingen  auch  die  Ungarn  bedauernswerthe 
Missgriffe  gegen  sich  selbst.  Gekränkt  durch  so  manchen  Verfassungsbruch, 
ja  zum  Aeussersten  gereizt  durch  unleugbare  Gesetzwidrigkeiten  und  grau- 
same Gewaltakte,  suchten  sie  die  Waffengenossenschaft  mit  den  Türken, 
und  diese  Hessen  sich's  nicht  zweimal  sagen  ;  sie  kamen  in  der  That,  zer- 
traten aber  die  Saaten  des  Ungarvolkes,  äscherten  die  Städte  ein,  schändeten 
die  Frauen  und  schleppten  die  Söhne  des  Landes  scbaarenweise  in  Ketten 
nach  Konstantinopel.  Ungarn  war  verwüstet;  das  Land,  welches  unter 
Mathias  Corvinus  in  der  CiviUsation  bereits  erfolgreich  mit  den  vorge- 
schrittensten Völkern  des  Westens  zu  wetteifern  begann,  wurde  zu  einer 
Oede,  wo  man  wieder  von  Neuem  anfangen  musste,  um  sich  mit  harter 
Mühe  allmälig  wieder  in  die  Beihe  der  civilisirten  Gemeinwesen  aufschwin- 
gen zu  können.  Erst  nachdem  die  Päpste,  insbesondere  Innocenz  XI.  sich 
endlich  der  Sache  im  Namen  der  Christenheit  nachdruckvollst  angenom- 
men hatten,  fing  es  wieder  zu  dämmern  an :  die  Morgenröte  jedoch  liess 
noch  lange  auf  sich  warten.  Werfen  wir  nun  einen  Blick  auf  diese  trüben 
Zeiten ;  erspähen  wir  vor  allem,  wie  es  mit  der  Vorgeschichte  des  Parla- 
mentarismus bestellt  war,  nachdem  Ungarn  bei  Mohäcs,  wenn  auch  nicht 
staatsrechtlich,  so  doch  thatsächlich  seine  staatliche  Unabhängigkeit  ver- 
loren. Die  Signatur  des  Verfassungslebens  des  Königreichs  Ungarn  culmi- 
nirt  zu  dieser  Zeit  in  der  Thatsache,  dass  Ferdinand  I.  schon  1545  einen 
Versuch  machte,  die  ungarische  Verfassung  in  ihrem  Lebensnerv  zu  ver- 
letzen, indem  er  die  kirchlichen  Magnaten  und  ausserdem  wohl  auch  noch 
einige  in  der  Nähe  der  österreichischen  Grenze  sesshafte  weltliche  Grossen 
im  November  des  erwähnten  Jahres  nach  Wien  berief,  um  dort  von  den- 
selben mit  Umgehung  des  Beichstages  eine  Steuerbewilligung  zu  verlangen; 
ja  nachdem  dies  abgeschlagen  wurde,  denselben  Versuch  noch  1558  im 
königlichen  Bäte  wiederholen  zu  dürfen  sich  veranlasst  fühlen  konnte. 
Energisch  war  der  Protest  sowohl  der  Prälaten  und  Magnaten  1541,  als 
auch  der  Mitglieder  des  königlichen  Bates  (1558)  gegen  eine  derartige  Zu- 
mutung. Die  ungarischen  Beichsstände  haben  sowohl  1546  und  1547,  als 
auch  1 582  dem  Wunsche  Ausdruck  verliehen,  dass  der  König  innerhalb  des 
Landes  residire,  und  die  Stände  von  1569  verlangten,  dass  die  Mitglieder 


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782  MONTESQUIEU   UND    DIE   VERANTWORTLICHKEIT 

des  königlichen  Hauses,  die  Erzherzoge,  die  ungarische  Sprache  ziemen 
mögen  (die  Diarien  des  Beichstags  wurden  nämlich  noch  1583  nicht  nur 
lateinisch,  sondern  auch  ungarisch  redigirt,  so  auch  die  königlichen  Propo- 
sitionen). Lobenswert  war  ein  solches  Verlangen,  insbesondere  seit  1567, 
wo  Maximilian  sich  auf  dem  ungarischen  Reichstag  der  deutschen  Sprache 
zu  bedienen  berechtigt  fühlte.  Doch  verrieten  die  politischen  Notabilitäten 
des  damaligen  Ungarn  nebst  einer  solchen  eifervollen  patriotischen  Bestre- 
bung betreffs  der  Residenz  des  Monarchen  und  der  Nationalsprache  wohl 
auch  einen  Stumpfsinn  hinsichtlich  der  bedeutungsvollen  Exigenzen  des 
Yerfassungslebens,  der  nicht  nur  kennzeichnend  ist  in  des  Wortes  emiedri- 
gendster  Bedeutung,  sondern  auch  die  schwersten  Folgen  hatte.  Ich  meine 
das  Verhalten  der  Mitglieder  des  königlichen  Rates,  die  1561,  als  der  König 
von  ihnen  ein  Gutachten  über  die  dem  Beichstage  einzureichenden  könig- 
lichen Propositionen  verlangte,  ein  solches,  gewiss  höchst  correctes  Ansinnen 
mit  der  Motivirung  von  sich  weisen  zu  dürfen  wähnten,  dass  «zu  früheren 
Zeiten  die  Könige  Ungarns  ihre  reichstäglichen  Propositionen  lediglich  mit 
Beihilfe  des  Kanzlers,  des  Obersthofmeisters  und  des  Thesaurarius  zu  redi- 
giren  pflegten,  und  wenn  jetzt  die  Kirchenfürsten  und  Magnaten,  die  im 
Bäte  des  Königs  sitzen,  ihr  Gutachten  über  die  Propositionen  schon  vor- 
läufig abgeben  würden,  so  dürften  sie  dann  kein  Wort  mehr  darüber  auf 
dem  Beichstag  reden ! »  So  die  ungarischen  Bäte  des  Monarchen  in  ihrer 
verblüffenden,  naiven  Indolenz.  War  es  dann  ein  Wunder,  wenn  schon  zwei 
Jahre  später,  1563,  als  die  Beichsstände  sich  darüber  beklagten,  dass  der 
König  ihre  Beschwerden  und  Anliegen  nicht  beachtet,  sondern  die  Rat- 
schläge seiner  ausländischen  Batgeber  zu  befolgen  liebt,  der  König  sie  damit 
persiflirte,  «dass  es  ihm  unmöglich  gewesen  sei,  das  Gutachten  seiner  unga- 
rischen Bäte  in  Anspruch  zu  nehmen,  da  er  darüber  belehrt  worden  sei,  dass 
dieselben  blos  in  der  Versammlung  der  Beichsstände  zu  fungiren  hätten.! 
Und  von  diesem  Zeitpunkt  an  verschwindet  jede  Einflussnahme  des  unga- 
rischen Bats  völlig ;  die  Körperschaft  war  noch  dem  Namen  nach  da ;  von 
Zeit  zu  Zeit  conferirten  die  Könige  wohl  auch  mit  den  hervorragendsten 
MitgUedem  derselben ;  alles  in  allem  war  der  königliche  Bat  kaum  mehr  als  ein 
blosser  Schatten.  Dessenungeachtet  hat  die  Vorgeschichte  des  ungarischen 
Parlamentarismus  in  einem  anderen  Lande  der  heiligen  Stefanskrone  eine 
glorreiche  Fortsetzung  erhalten ;  ja  der  Gedanke  der  VerantwortUchkeit  der 
Bäte  hat  jenseits  des  Kirälyhägö  im  Nationalfürstenthum  eine  Incamation 
erlebt  und  zugleich  eine  Entwicklung  errungen,  welche  nicht  nur  die  dies- 
bezüglichen Errungenschaften  solcher  ständischen  Monarchien,  wie  Ara- 
gonien,  Polen  und  Alt-Schweden,  entschieden  überflügelte,  sondern  wohl 
auch  verdient,  mit  der  Vorgeschichte  des  englischen  Parlamentarismus  im 
XVII.  Jahrhundert  verglichen  zu  werden.  Zu  betonen  ist,  dass  es  sich  hier 
nicht  mehr  um  massenhafte  Versammlungen  im  Style  der  auf  dem  B&kos 


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DER   RÄTE    DBS    MONARCHEN.  783 

abgehaltenen,  sondern  lediglich  um  Versammlungen  handelte,  welche  an 
die  Beschwerde-Landtage  so  mancher  deutscher  Staaten  in  der  ersten 
Hälfte  des  XIX.  Jahrhunderts  erinnern  dürften.  Im  Gesetzbuch  des  National- 
fürstentums  Siebenbürgen  steht  das  fiatsgesetz  verewigt  wie  folgt:  «Der 
Stand  der  Bäte  pflegt  zu  dem  Behufe  den  Fürsten  beigegeben  zu  werden, 
und  die  Pflicht  der  Bäte  geht  auch  dahin,  dass  sie  allerlei  nützUche  und 
dem  Gemeinwohl  zuträgliche  Batschläge  erteilen  sollen :  darum  sollen  alle 
(Bäte)  9  welche  gesetzwidrige  (oder)  nnnütze  Batschläge  erteilen,  comperta 
rei  veritate,  legitim  eque  citati  ac  convicti,  in  notam  perpetu«  infidelitatis 
incurriren.» 

In  den  Wahlcapitulationen  (Conditiones  Principum)  der  Nationalfärsten 
von  Siebenbürgen  taucht  die  Verantwortlichkeit,  abgesehen  von  den  diesbe- 
züglichen Massnahmen  Christof  Bäthorys,  erst  mit  Gabriel  Bethlens  Begie- 
nngsantritte  auf.  Noch  1607  hatte  man  in  der  Gondition  Sigismund  Bäköczys 
dasgrössteGewichtdaraufgelegtydassderMonarcb,  d.i.  der  Nationalfürst,  weder 
die  Person  sowie  die  Güter  und  die  Viehheerden  der  ünterthanen  je  beschä- 
digen, noch  irgend  eine  Neuerung  gegen  des  Landes  Sitte  und  alte  Freiheit 
einführen  dürfe ;  die  Viehheerden  und  die  Proteste  gegen  Neuerungen  figu- 
riren  wohl  auch  noch  in  der  Condition  des  famosen  Nationalfürsten  Gabriel 
Bäthory  von  1608 ;  doch  die  infamen  Orgien  dieses  LüstUngs  auf  dem 
Trone  Siebenbürgens,  welche  er  mitunter  wohl  auch  unter  den  Auspicien 
seiner  «Bäte»  celebrirt  haben  soll,  bewogen  vielleicht  in  erster  Linie  die 
Beichsstände,  dem  Gabriel  Bethlen,  als  dieser  1613  in  die  Lage  kam,  das 
Land  mit  seiner  Wahlcapitulation  zu  bescheren,  den  Gedanken  der  Verant- 
wortlichkeit der  Bäte  derart  einzuschärfen,  wie  dies  in  Siebenbürgen  wohl 
noch  nie  geschehen  ist.  Demgemäss  ordnet  auch  die  «(Kondition»  dieses 
grossen  Nationalfürsten  in  unzweideutigen  Worten  an :  Der  Fürest  ist  gehal- 
ten gesetz-,  Wahrheit-  und  friedliebende^  gewissenhafte  Bäte  aus  allen  drei 
Nationen  (Ungarn,  Szekler  und  Sachsen)  in  seine  Umgebung  aufzunehmen, 
die  er  selber  erwählt ;  er  ist  aber  auch  gehalten,  die  Batschläge  dieser  seiner 
Bäte  zu  befolgen  in  allen  inneren  und  auswärtigen  d.  i.  Angelegenheiten 
des  Landes,  welche  Bündnisse  mit  den  beiden  Kaisern  oder  mit  anderwei- 
tigen Ländern  (Staaten)  betreffen ;  auch  soll  der  Fürst  keine  Donation  von 
Belang  machen,  keine  Oberbeamten  sowie  Oberoffiziere  ernennen  ohne 
Wissen  der  Bäte.  Sollte  jedoch  jemand  von  diesen  Bäten  Seiner  Hoheit 
gegen  das  Gesetz,  gegen  die  Freiheit  oder  gegen  die  Decrete  des  Landes  auf 
gewissenlose  Weise  gefährliche  und  schädliche  Batschläge  erteilen,  so  soll 
dieser  schlechte  Batgeber  ohne  Nachsicht  comperta  rei  veritate,  mit  Pro- 
scription und  Notorietät  bestraft  werden ;  —  c.  9 :  Auch  soll  der  Fürst  die 
Grenzen,  Grenzfestungen  (u.  s.  w.)  nach  bestem  Vermögen  zu  erhalten 
trachten  und  soll  ohne  Wissen  des  Bats  sowie  des  Beichstags  nichts  an 
irgend  eine  fremde  Macht  abtreten.» 


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7^  MONTESQUIEU    UND    DIB    VERANTWORTUCHKEIT 

Die  Condition  der  Fürstin  Katbarina  (von  Brandenburg)  gehört  auf 
ein  anderes  Blatt,  docb  auch  Georg  Räköczy  war  in  seiner  Condition  (1630) 
gehalten,  sich  der  Batscbläge  seiner  Bäte  zu  bedienen  und  zwar  in  den 
inneren  Angelegenheiten  nicht  minder  als  in  den  auswärtigen.  Seine  Con- 
dition enthält  in  dieser  Beziehung  ähnliche  Verordnungen  wie  jene 
Bethlens  von  1613.  Auch  wird  in  dieser  Condition  Georg  Räköczy 's  dieselbe 
Strafe  über  die  schlechten  Batgeber  verhängt,  wie  in  jener  Gabriel  Bethlens. 
Aehnliches  gilt  von  der  Condition  Georg  Bäköczy's  des  Jüngeren  vom 
Jahre  1641. 

In  der  (Kondition  des  Fürsten  Franz  Käköczy  I.  (165^)  wird  der  Fürst 
gehalten,  sämmtliche  wichtigere  innere  und  auswärtige  Angelegenheiten 
des  Landes  mit  Uebereinstimmimg  der  Bäte  zu  verrichten ;  auch  soll  der 
Fürst  die  erledigten  Eatsstellen  nicht  längere  Zeit  vacant  lassen,  sondern 
würdige  Patrioten  ernennen,  mit  Wissen  des  Bats ;  die  Bäte  sollen  nicht 
nur  dem  Fürsten  Pflichttreue  schwören,  sondern  auch  darauf  den  Eid 
leisten,  dass  sie  die  Gesetze  sowie  die  Freiheit  des  Vaterlandes  nicht  ver- 
letzen und  stets  von  patriotischer  Treue  beseelt  verfahrien  werden.  Auch  soE 
der  Fürst  gehalten  sein,  das  Plenum  des  Rats  sogleich  davon  in  Eenntniss 
zu  setzen,  sobald  irgend  ein  Bat  sich  untersteht,  ihm  gesetzwidrige  oder 
solche  Batschläge  zu  erteilen,  welche  für  Andere  (ünterthanen)  gefährlich 
sein  oder  die  Freiheit  des  Vaterlandes  untergraben  dürften ;  und  über  solche 
schlechte  Batgeber  soll  die  in  der  Condition  des  Fürsten  Gabriel  Bethlen 
(1613)  verordnete  Strafe  verhängt  werden. 

In  der  Condition  des  Fürsten  Aca-cius  Barcsay  (1658)  ist  der  Fürst 
gehalten,  Gesandtschaften,  welche  das  Beich  und  die  öffentlichen  Angele- 
genheiten betreffen,  ohne  den  Rat  nicht  anzuhören  und  zwar  weder  anläss- 
lich ihrer  Ankunft  noch  auch  später ;  auch  soll  der  Fürst  die  Gesandt- 
schaften nicht  entlassen  ohne  den  Rat ;  der  Fürst  soll  niemanden  heimlich 
auf  die  Quartiere  der  Mitglieder  der  Gesandtschaft  schicken ;  er  soll  ihnen 
keine  Antwort  erteilen,  ohne  dieselbe  zuerst  mit  dem  Rat  festgestellt  zu 
haben ;  auch  soll  Seine  Hoheit  Gesandtschaften  nur  mit  Zustimmung  des 
Bats  instituiren.  Die  Bäte  sollen  aus  allen  drei  Nationen  mit  Zustimmung 
Seiner  Hoheit  durch  den  Beichstag  erwählt  und  zwar  pleno  numero  erwählt 
und  durch  Seine  Hoheit  bestätigt  werden.  Wenn  irgend  ein  Mitglied  des 
Bats  stirbt,  so  soll  seine  Stelle  schon  in  der  allernächsten  Batssitzung  auf 
die  vorgeschriebene  Weise  besetzt  werden.  Die  Bäte  sollen  vor  dem  Beichs- 
tag den  Eid  leisten,  dass  sie  sowohl  dem  Fürsten  als  auch  dem  Lande  treu 
dienen  werden,  und  der  Fürst  sei  gehalten,  die  wichtigeren  Angelegenheiten 
des  Beiches  nicht  ohne  zustimmende  Willensäusserung  des  Bates  zu  ver- 
richten, Oberbeamten  und  Commandanten  nicht  zu  ernennen,  und  auch 
mit  Zustimmung  des  Bats  nur  auf  Grund  der  Gesetze ;  alle  Begierungs- 
acte,  welche  der  Fürst  in  diesen  erwähnten  Angelegenheiten  vollzieht,  ohne 


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DER  RÄTE  DES    MONARCHEN.  785 

dazu  die  Zustimmung  des  Bats  eingeholt  zu  haben,  sollen  durch  den  Beichs- 
tag  annuUirt  werden.  Sollte  jedoch  irgend  ein  Bat  Seiner  Hoheit  auf  gewis- 
senlose Weise  gefahrUche  und  schädliche  Batschläge  gegen  das  Gesetz,  gegen 
die  Freiheit  oder  gegen  die  Decrete  unseres  Landes  erteilen  :  so  soll  der- 
selbe comperta  rei  veritate  ohne  Nachsicht  mit  Proscription  und  Notorietät 
bestraft  werden.  Dieselbe  Strafe  soll  über  alle  verhängt  werden,  welche  ohne 
Mitglieder  des  Bats  zu  sein,  dem  Fürsten  gesetzwidrige  und  schädliche  Bat- 
schläge erteilen.»  Zu  bemerken  ist,  dass  in  dieser  Condition  der  National- 
fürst auch  gehalten  ist,  vollste  Bedefreiheit  f  «libera  vox»J  und  zwar  nicht 
allein  in  den  Versammlungen  des  Beichstags,  der  Gomitate  u.  s  w.,  son- 
dern auch  ausserhalb  derselben  zu  gewähren  und  keinen  Unterthan  irgend- 
wie seine  Indignation  fühlen  zu  lassen,  falls  er  von  der  Bedefreiheit  auch 
in  einer  den  Ansichten  des  Fürsten  nicht  entsprechenden  Weise  Gebrauch 
machen  sollte.  Der  Fürst  soll  die  Ausübung  der  Bedefreiheit  weder  durch 
Androhung  noch  durch  Bestechung  beeinträchtigen ;  auch  soll  er  nicht  Ver- 
suche machen  auf  Schleichwegen,  durch  «Intimation»,  der  Ausübung  der- 
selben je  zu  steuern.  Endhch  ist  noch  zu  erwähnen,  dass  die  Condition  Bar- 
csay's  auch  darum  denkwürdig  ist,  weil  auf  Grund  derselben  der  Fürst  wohl 
auch  gehalten  ist,  Gesetzartikel,  welche  die  Freiheit  beeinträchtigen,  in 
Uebereinstimmung  mit  dem  Beichstag  zu  abrogiren  und  Beichstags- 
beschlüsse,  welche  mit  Uebereinstimmung  d^  drei  Nationen  zu  Stande 
gekommen  sind,  falls  diese  darauf  insistiren  und  Seine  Hoheit  hiezu  ersu- 
chen, zu  bestätigen ;  erteilt  der  Fürst  derartigen  Beschlüssen  seine  Sanction 
nicht,  so  sollen  die  erwähnten  Beichstagsbeschlüsse  dennoch  inarticulirt 
werden  und  Bechtskraft  haben.  Mithin  hatte  der  Nationalfürst  von  Sieben- 
bürgen kein  absolutes  Veto. 

Der  Wortlaut  der  Condition  des  Fürsten  Johann  Kem6ny  stimmt  in 
Betreff  der  Verantwortlichkeit  der  Bäte  mit  der  Condition  Barcsay's  überein. 

Am  gediegensten  formulirt  erscheint  die  Verantwortlichkeit  der  Bäte 
des  Monarchen  von  Siebenbürgen  in  der  Condition  des  letzten  Wahlfürsten 
dieses  hochinteressanten  Staats,  Michael  Apaffi's  H.  Dieser  Condition 
gemäss  soll  der  Fürst  an  den  Bat  seiner  Bäte  in  dem  Sinne  gebimden  sein, 
dass  er  ohne  ihr  Wissen  weder  innere  Angelegenheiten  von  Belang,  noch 
auswärtige  Angelegenheiten  des  Beiches  verrichte,  mit  den  beiden  Kaisern 
oder  anderen  Staaten  keine  Verträge  oder  Bündnisse  schliesse,  an  dieselben 
keine  Gesandtschaften  sende,  ohne  die  Bäte  keine  fremden  Gesandtschaften 
empfange,  anhöre  oder  entlasse,  keine  Schenkungen  oder  Verleihungen 
mache  und  keine  Beamten  höheren  Banges  und  Comm^danten  ernenne, 
widrigenfalls  das  Beich,  d.  i.  die  Beichsversammlung^  solche  Begierungsacte 
annulliren  soll.  Aber  auch  die  Bäte,  von  den  Ständen  und  vom  Fürsten 
zusammen  gewählt,  1 2  an  der  Zahl,  sind  dafür,  dass  der  Fürst  die  Herr- 
schaft mit  ihnen  teilt,  verantwortlich  für  ihre  Batschläge :  sie  haben  dem 

UDguriicbe  R«vxie.   XI.  1891.  X   Heft.  50 


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786 


MONTESQUIBU    UND    DIE   VERANTWORTLICHKEIT 


Reiche  und  dem  Fürsten  Gehorsam  und  Treue  zu  geloben  und  auf  die  Gre- 
setze  und  Freiheiten  des  Landes  den  Eid  abzulegen ;  sie  sind  verpflichtet, 
dem  Fürsten  gute  und  für  das  Gemeinwohl  zweckdienliche  Batschläge  zu 
erteilen ;  sie  sollen  im  Falle,  wenn  sie  gewissenlos  gegen  die  Gesetze  und  Frei- 
heiten des  Landes  handeln,  ohne  Nachsicht  in  die  Verbannung  geschickt  und 
mit  der  Nota  infidelitatis  bestraft  werden.  «Wenn  aber  aus  den  Räten  jemand 
gegen  unsere  Reichsgesetze,  Freiheit  und  zuwider  dem  Decrete  (Tripartitum) 
ohne  Hinblick  auf  seine  Gewissensverpflichtung,  Seiner  Magnificenz  dem 
Fürsten  gefährliche  und  schädliche  Ratschläge  erteilt,  so  soll  ein  solcher 
Ratgeber  nach  Befund  der  Wahrheit  ohne  Gunst  mit  der  Froscription  als 
Hochverräter  bestraft  werden.  Wenn  jemand  ausser  den  Ratsständen  zum 
Verderben  Anderer,  zum  Umstürze  der  Freiheit  unseres  Vaterlandes  in 
schädlichen  und  gesetzwidrigen  Angelegenheiten  Rat  erteilt  hätte,  so  soll 
man  verhalten  sein,  denselben  dem  ganzen  Rate  anzuzeigen,  und  derselbe 
soll  dann,  nach  vorangegangener  reichstäglicher  Untersuchung  auf  die 
erwähnte  Weise  bestraft  werden». 

Zu  bemerken  ist,  dass  diese  selbe  Wahlcapitulation  des  Apaffi  H. 
wohl  auch  noch  nachstehende  Conditionen  enthält,  woraus  ersichtlich  sein 
dürfte,  wie  in  diesem  siebenbürgischen  Staatswesen  nicht  nur  die  Herrschaft 
der  Gesetze,  sondern  auch  die  unbeschränkteste  Redefreiheit  von  VerCas- 
sungswegen  garantirt  wurde :  11  §.  Dass  seine  Magnificenz  (Hoheit)  nach 
Inhalt  des  Decrets  (des  Tripartitums)  und  der  Artikel  (der  Reichstags- 
beschlüsse),  ohne  Rücksicht  auf  die  Personen,  stets  das  wahre  Gesetz  anwen- 
den und  die  verdienten  Vollstreckungen  durchführen  lasse;  dass  er  niemand 
in  seiner  Person,  seinem  Gute  oder  irgend  einer  Art  von  Vermögen  ohne 
Gerichtsurteil  verletze  oder  anderen  gestatte  zu  verletzen ;  dass  er  nicht 
jemand  der  in  Herren- (Adliger)  und  anderer  Freiheit  lebender  Stände  vor 
gefälltem  Urteilsspruche  des  Gerichts  arretiren  lasse,  unter  keinem  Vor- 
wand, auf  keine  Weise,  sondern  nur  wenn  jemand  mittelst  gesetzmässiger 
Vorladung,  im  ordentlichen  Rechtswege,  vor  dem  competenten  Gericht  und 
in  Gegenwart  der  Richter  überwiesen  und  belastet  worden  ist ;  dass  er  nicht 
irgendwelche  Gewaltthätigkeiten  oder  (sonstige)  Gesetzwidrigkeiten  wem 
auch  immer  von  seinen  Untergebenen  gegen  jemand  wissend  erlaube ;  nicht 
den  Termin-  und  Reichstagssitzungen  oder  irgend  einer  Gesetzes-Discussion 
beiwohne,  wo  man  doch  an  die  Gegenwart  Seiner  Magnificenz  (Hoheit)  das 
Gesetz  appellirt,  als  vor  dem  höchsten  Richter.  Wobei  im  Appelliren  des 
Gesetzes  an  Seine  Magnificenz  die  Stimme  des  grösseren  Teils  der  Rats- 
stände  dafürstehen  soll,  welche  auch  verhalten  sind,  nach  dem  Decret  und 
den  Artikeln  mit  Seiner  Magnificenz  das  Gesetz  zu  macheu».  —  §.  8:  cDass 
Seine  Magnificenz  den  Rats-  und  allen  anderen  Ständen,  sowohl  auf  den 
Reichstagen  als  ausserhalb  derselben  die  Freiheit  der  Rede  (Libera  Vox) 
gestatte,  und  diese  weder  durch  oftmaliges  Drohen,  noch  durch  Verspre- 


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DER    RÄTE   DES   MONARCHEN.  787 

chongen^  noch  durch  Schenkungen,  noch  dadurch,  dass  er  draussen  ausser- 
halb der  Beichstagssitzung  mit  irgendwem  sich  unterredet,  verhindere,  und 
niemand  wegen  seiner  freimütigen  Bede  mit  Indignation  behandle ;  dass  er 
allen  Beschwerden  und  Schilderungen  wahrer  Thatsachen  die  Freiheit 
gewähre».  FreUich  muss  hier  noch  einmal  der  Unterschied  betont  werden, 
den  der  Verfassungsgesohichtschreiber  insbesondere  hervorkehren  soll.  In 
Ungarn  gab  es  bis  zum  Jahre  1 526,  wo  bei  Moh&cs  wohl  auch  die  Verant- 
wortlichkeit der  Bäte  des  Königs  von  Ungarn  begraben  wurde,  um  erst 
1848  wieder  und  zwar  auf  Grund  des  modernen  Staatsgedankens  ins  Leben 
gerufen  zu  werden,  wenn  auch  nicht  ausschliesslich,  so  doch  überwiegend 
blos  Massen-Beichstage  d.  i.  Versammlungen  persönlich,  d.  i.  nicht  in  Ver- 
tretung Anderer  erscheinender,  und  zwar  in  grossen,  nach  vielen  Tausenden 
zählenden  Massen  erscheinender  Angehörigen  des  Adels  und  der  übrigen 
reichstagsfähigen  Stände.  Es  waren  Beichstage,  welche  unter  freiem  Him- 
mel, auf  unabsehbaren  Wiesen  oder  Weiden,  zuweilen  bei  einem  Zusam- 
menfluss  von  angeblich  80,000,  grösstenteils  berittenen  Männern,  gewöhn- 
lich in  der  Nachbarschaft  der  Stadt  Pest,  auf  dem  «Bäkos»  abgehalten 
wurden.  Ja,  dieser  Bäkos  ist  der  Tummelplatz  gewesen,  wo  die  in  Blut 
getränkte  Sonne  Ungarns  bis  1526  gar  rasch  wechselnde  Adelstypen 
und  gar  verhängnissvolle  Beichstagsscenen  mitansehen  konnte.  «Der 
Bakosch»,  sagt  ein  deutsch  geschriebenes  Diarium  des  Hatvaner  Beichstags 
vom  Jahre  1525,  «ist  gebest  zwischen  den  zwayen  Hattvan,  in  frayen  Feldt 
mit  Schranken  umbzogen,  und  hatt  gehabt  zwei  tor ;  ausserhalb  der  Schran- 
ken sein  gebest  zw  Bos  und  zw  Fues  aus  einer  jeglichen  Warmegdie  i^Gomi- 
tat) ;  die  haben  gehiett  das  kein  Auffruer  nitt  soldt  geschehen.  Da  hatt  mann 
auch  Zygainer  besthelt  u.  s.  w. »  G^nz  anders  war  es  in  Siebenbürgen.  Hier 
gab  es  1613 — 1692  schon  nahezu  moderne  Stände  Versammlungen.  Im  Jahre 
1687  wurden  zu  dem  Beichstag  zu  Badnöt  berufen:  1.  elf  fürstliche  Bäte: 
2.  drei  Protonotare;  3.  vierzehn  Tafelbeisitzer  und  der  Fiscaldirector ; 
4.  zweiundachtzig  Magnaten,  teilweise  als  Begalisten ;  5.  sieben  Witwen 
verstorbener  Magnaten ;  6.  Deputirte  von  zehn  Gomitaten,  5  Szeklerstühlen, 
11  sächsischen  Kreisen  und  14  ungarischen  Städten  und  Marktflecken. 
Laut  Gesetzartikel  1667  :  4  wurden  die  legislativen  Propositionen  des  Für- 
sten mit  Zustimmung  des  Bats  verfasst  und  dem  Beichstag  vorgelegt.  Also 
war  die  Verfassung  des  Nationalfürstentums  Siebenbürgen  ziemlich  stark 
aristokratisch  angelegt:  kein  Wunder,  wenn  die  Wahlcapitulation  des 
erwähnten  Nationalfürsten  Michael  Apaffi  unter  andern  Bestimmungen  auch 
die  nachstehende,  höchst  kennzeichnende  Condition  enthält :  «Dass  Seine 
Magnificenz  des  Landes  jetzige  und  nachfolgende  ersten  Stände,  seine  Bäte, 
Beamte,  welche  das  Beich  zusammen  mit  dem  Fürsten  für  verdient  erachtet, 
in  ihren  Aemtern,  Zuständen,  in  welchen  sie  verbleiben  wollen,  aufrecht 
erhalte,  die  nicht  wollenden  dazu  nicht  zwinge  und  zu  keiner  Zeit  die  nütz- 

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788 


MONTESQUIEU   UND   DIB   VERANTWORTLICHKEIT 


lieben  Söhne  des  Vaterlandes  andrer,  Fremder  wegen  verachte ;  sieh  des 
Bates  und  der  Dienste  derselben  bediene,  einem  jeden  nach  der  Eigenschaft 
seines  niederen  oder  höheren  Standes  Achtung  erweise  und  auch  nicht 
gestatte,  dass  dieselben  von  irgend  einem  seiner  Untergebnen  mit  Miss- 
achtung behandelt  werden,  noch  auch  selber  sie  unwürdig  behandele». 

Allein  trotz  all  dieser  hocharistokratisehen  Züge  hatte  dieses  Staats- 
wesen nur  äusserst  einseitige  Berührungspunkte  mit  dem  Bilde,  welches 
Bluntschli  von  der  christlich -germanischen  Monarchie  des  Mittelalters  ent- 
wirft. Ueberhaupt  machte  Siebenbürgen  Fortschritte,  welche  in  mancher 
Hinsicht  Staunen  erregen  müssen:  während  im  eigentlichen  Königreich 
Ungarn  im  XVI.  Jahrhundert  noch  von  Beichstagswegen,  mit  Sanction  des 
Monarchen,  ein  Gesetz  geschaffen  wurde,  welches  dahin  lautete,  dass 
«Lutherani  comburantur»,  und  auch  noch  im  XVIL  Jahrhundert  die  kraft 
Gesetzartikel  1608:1;  1618:77;  1630:33;  1635:29;  1649:10  und  1681:25 
gewährleistete  freie  Ausübung  der  evangeUsch-helvetischen  Confession  im 
alltäglichen  Leben  so  vielfach  und  so  grausam  beeinträchtigt  wurde :  lebten 
die  Angehörigen  sämmtlicher  (Konfessionen  in  Siebenbürgen  in  einem  brü- 
derlichen Einvernehmen  neben  einander,  vor  dessen  Harmonie  wohl  auch 
die  Staatsgewalt  stets  einen  Bespekt  an  den  Tag  zu  legen  liebte,  wie  sonst 
in  keinem  zweiten  Staatswesen  zu  jener  Zeit  in  Europa.  Alles  in  allem 
erscheint  sowohl  das  Königreich  Ungarn  vor  der  Katastrophe  von  Mohäc» 
(1526),  als  auch  das  Nationalfürstentum  im  Zeiträume  von  1613 — 1692  als 
ein  Staatswesen,  welches  bereits  zu  Zeiten,  wo  noch  nahezu  das  gesammte 
europäische  Festland  unter  dem  Joche  der  feudalen  Machtüberreste  des 
Mittelalters  schlummerte,  mit  manchen  Zügen  seiner  Verfassungsentwicke- 
lung entschieden  auf  den  Gedanken  des  modernen  Verfassungsstaats  los- 
steuerte. Zweifellos  bieten  die  erwähnten  Erscheinungen  nicht  sowohl  die 
Merkmale  einer  stetig  progressiven  Entwicklung  des  Staatsrechts,  als  viel- 
mehr blos  isolirte,  wenn  auch  von  Zeit  zu  Zeit  sich  immer  kräftiger  wieder- 
holende Lichtpunkte  einer  sturmbewegten  und  leidensvollen  politischen 
Vergangenheit ;  allein  sie  genügen  doch  vollkommen,  um  in  der  Staatslehre 
eine  besondere  morphologische  Kategorie  für  sich  mit  vollstem  Becht  in 
Anspruch  nehmen  zu  dürfen.  Mit  anderen  Worten,  sowohl  das  Königreich 
Ungarn  in  dem  Zeiträume  von  1231 — 1526  als  auch  das  Nationalfürsten- 
tum  Siebenbürgen  in  dem  Zeiträume  von  1613 — 1692  stellen  Staatswesen 
dar,  welche  ihrer  constitutionellen  Form  nach  höher  angelegt  erscheinen, 
als  gar  manche  gleichzeitige  Monarchien,  wenn  auch  sonst  die  Gesellschaft 
der  letzteren  der  ungarischen  Gesellschaft  wohl  schon  damals  mit  Biesen* 
sehritten  vorangeschritten  war. 

Noch  gegen  das  Ende  des  fünfzehnten  Jahrhunderts  schrieb  der 
bereits  erwähnte  sinnige  Historiograph  der  damals  wohl  au^eklärtesten 
festländischen  Monarchie,  nämlich  der  Historiograph  von  Bargund,  Jean 


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DER   RATE   DES   MONARCHEN.  789 

Molinet^  nebst  so  manchen  ergötzenden  Pavordien^  auch  das  folgende 
politische  Glaubensbekenntniss  zum  Besten  der  Nachwelt.  «Diesem  Kaiser, 
welcher  den  glorreichen  Namen  eines  Augustus  angenommen,  sind  wir,  wie 
schon  Vegetius  bemerkt  hat,  Treue,  Ergebenheit  und  Gehorsam  schuldig, 
gleichsam  als  dem  gegenwärtigen  und  verkörperten  Gotte.  Jeder,  der  einem 
kaiserlichen  Edicte  Gehorsam  verweigert,  muss  als  sein  Feind  betrachtet 
werden,  da  ein  solches  Edict  gleichsam  ein  Abbild  des  Souverains  ist.»  So 
Jean  Molinet,  der  Staatshistoriograph  von  Burgund.  Wenn  sein  Zeitgenosse, 
der  Codificator  des  ungarischen  «Tripartitum»,  Stefan  Verböczy  und  seine 
gelehrten  Landsleute  dies  gelesen  hatten :  so  müssen  ihnen  solche  Worte 
geklungen  haben  wie  die  Töne  der  Aeoleharfe  in  einem  sonderbaren  Traume. 
Zweifellos  hatte  auch  den  Verfasser  des  ungarischen  «Tripartitum»  die  mit- 
telalterliche Lehre  christlich-germanischer  Politik  während  seiner  im  Aus- 
lande verlebten  üniversitätsjahre  so  wie  auch  nachher  von  gar  manchen 
Seiten  her,  und  zwar  nicht  ohne  Erfolg,  mit  ihrem  eigenartigen  Hauche 
angesäuselt ;  doch  was  weder  er,  der  sonst  durch  und  durch  royalistische, 
hingebungsvoll  loyale  Codificator  des  ungarischen  Gewohnheitsrechts,  Ste- 
fan Verböczy,  noch  seine  Landsleute  je  in  ihrem  Leben  erlernt  hatten : 
das  war  der  christlich-germanische  Ständestaats-Gedanke  mit  einer  byzan- 
tinischen Gewaltenspitze  und  ohne  politische  Verantwortlichkeit  der  Räte 
des  Monarchen. 

Aehnliches  gilt  ohne  Zweifel  von  den  Gesetzgebern  des  Nationalfürsten- 
tums Siebenbürgen  in  dem  Zeitraum  1613 — 1692,  trotz  des  stark  aristokra- 
tischen Geistes,  der  in  diesem  Staatswesen  sowie  in  der  Gesellschaft  dessel- 
ben seit  jeher  wehte. 

Montesquieu  scheint  von  all  diesen  höchst  kennzeichnenden  Zügen 
der  beiden  ungarischen  Monarchien,  sowie  diese  in  dem  Zeiträume  1231 — 1 526 
und  wieder  1613—1692  bestanden,  nicht  die  leiseste  Ahnung  gehabt  zu 
haben. 

Dr.  Julius  Schvarcz.* 

*  Aus  einem  demnächst  erscheinenden  grösseren  Werke  über  Mmitesquieu 
und  die  VeranticorÜichkeit  der  Räte  des  Monarchen^  in  welchem  der  Herr  Verfasser 
seine  Ansichten  mit  zahlreichen  Quellen-Nachweisen  belegt  und  sich  zugleich  in 
umÜEtösenden  Anmerkimgen  mit  den  Verti-etem  abweichender  Anschauungen  aus- 
einandersetzt. Diese  Nachweise  und  Bemerkungen  sind  an  dieser  Stelle,  da  sie  den 
Baum    dieser   Revue  übermässig   in  Anspruch  nehmen    würden,  weggelassen  worden. 

D.  Red. 


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790 


B0LB8LAW  U,  VON   POLEN. 


BOLESLAW  IL  VON  POLEN. 

Von  Prof.  Dr.  Fritz  Piohler. 

m.* 

Nehmen  wir  den  Faden  der  Geschehnisse  dort  auf,  wo  dieselben 
geschichtlich  schliessen  nnd  folgen  der  Legende,  die  Möglichkeit  ihres 
Inhaltes  prüfend. 

Indem  wir  noch  die  Frage  unberührt  lassen,  ob  der  Ursprung  derselben 
in  Ungarn,  in  Polen  oder  in  den  Alpenländem  zu  suchen  sei,  müssen  wir  da» 
Gegenteil  dessen  ansetzen,  was  die  vorsichtigen  Acta  sanctorum  hingestellt 
haben :  zur  Jagd  ausgegangen,  sei  der  Unglückliche  eines  Tages  in  der  Ge- 
gend überhaupt  nicht  weiter  erschienen.  Ibidem  locorum,  wir  wissen  nicht, 
welches  vornehmlich  das  Asyl  des  Polenkönigs  gewesen,  etwa  Gran  oder 
(wenn  schon  nicht  Budapest)  Komorn,  das  Waagtal,  von  wannen  er  ver- 
mutlich herbeigekommen.  Möglich,  dass  die  voUtönige  Ausdrucksweise  von 
sylvae  und  alpes  im  Vorhinein  dazu  angelockt  hat,  in  die  geographisch 
bestimmten  Alpenländer  ein  Nachspiel  zu  verlegen ;  kurz,  es  konnte  gedacht 
worden  sein,  mit  wenigen  seiner  Treuen  im  Gefolge,  unter  Bücklassung  des 
Sohnes,  vielleicht  nur  in  Begleitung  eines  Dieners  sei  er  insgeheim  ent- 
wichen, von  den  Magyaren  gar  nicht  verfolgt,  unkenntlich  durch  Kleidung, 
in  der  Richtung  gegen  Italien,  Ziel  Rom.  Anstatt  der  amentia  stets  ein 
freies  Wollen  und  Beschliessen  vorausgesetzt  oder  wenigstens  zwischen 
Anfallszeiten  lichte  Stadien,  konnte  Bolestaw  die  Bahnen  der  päpstlichen 
Legaten  im  Auge  behalten  haben,  auf  denen  solche  zu  ihm  gekommen,  nicht 
wohl  von  ostwärts  der  Adria,  sondern  westwäil»  von  Triest,  etwa  über 
Aquileia  von  Treviso,  Padua,  Ferrara,  Bologna  herauf.  Demnach  konnte  er 
weniger  dem  Earste   zustreben,  als  den  ELarawanken   und  den  julischen 


*  SohliiBR  des  Aufsatzes.  Vgl.  die  ersten  beiden  Abschnitte  in  dieser  Revue^  oben 
S.  641 — 681.  Gleichzeitig  ist  diese  Studie  auch  separat  erschienen  unter  dem  Titel : 
BoUslaw  11.  von  Polen  von  Dr,  Ftntz  PichUr^  Professor  an  der  Universität  Graz,  Buda- 
pest, 1892,  Friedr.  KiUan,  87  S.,  Preis  1  fl. 

In  dieser  Ausgabe  treten  zu  der  an  dieser  Stelle  veröffentUchten  Abhandlung 
noch  zwei  wertvolle  bibliographische  Nachträge: 

1.  Uebe?'dcht  einiger  Schiften  zur  deutschen  %i,  polnischen  Geschichte,  hauptsächlich 
des  XL  Jahrhunderts,  und 

2.  lAteratur  des  polnischen  Münzwesens,  Itesonders  der  Piasten, 


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B0LE8LAW   H.  VON   POLEN.  791 

Alpen  mit  ihren  altrömischen  Weg-Durchschnitten.  So  mochte  er  aus  den 
Gegenden  um  Gran,  Eomom  oder  Baab,  wo  um  1063  ein  kluger  Bischof 
ihm  Bater  geworden,  nach  dem  Baab-Flusse  oder  von  einem  der  Baab- 
Nebenflüsse,  Bepcze,  wo  1043  die  ungarischen  Schanzen  gegen  die  deut- 
schen Krieger  gestanden,  fort  zunächst  in  ausser- ungarisches  Gebiet  gekom- 
men sein,  in  jene  jetzt  ost-steierischen  Täler  an  Baab  (von  Päpa,  Stein- 
amanger  her)  und  Mur,  welche  dazumal  zum  Herzogthume  Kärnten 
gehörten,  Abteilung  Mark  Styre.  Er  konnte  die  Wege  gewiesen  worden 
sein,  welche  der  kämtische  Heerbann  vor  23  Jahren  zuletzt  (1058)  in  die 
Theiss-Ebene  marschirt  war. 

Nun  ist  allerdings  am  Mur-Laufe.  —  zumal  wenn  die  alte  Passage 
des  Badelberges  —  etwa  mit  dem  Abstiege  zum  Drau-FIusse  iu  Sicht 
gehalten  worden,  —  ein  im  Sinne  der  Sage  aufzufindendes  Wildan 
etwas  zu  nördlich  gelegen,  in  der  Mark  Styre,  ganz  nahe  der  Hengistburg, 
welche  König  Andreas  1052  eingenommen  hatte,  ungarischen  Soldaten 
mit  50  Lebensjahren  dazumal  noch  in  Erinnerung.  Die  Wege  eines  Flüch- 
tigen sind  übrigens  nicht  stets  auf  Geradheit  und  Kürze  berechnet.  Minde- 
stens wäre  das  mittelsteierische  Wildon  ungleich  weniger  aus  der  Beiselinie 
mit  dem  römischen  Ziele,  als  das  Wüten  (Wilden,  Wildhan,  Vilthan,  Wil- 
tein,  Viltina,  Wiltinga,  Vilthinsk,  Viltering,  Willenthein,  Veldidena),  ®*  wie 
man  es  in  dem  südlich  von  Innsbruck  gelegenen  Orte  gesucht  hat.  Aller- 
dings dort  wie  da  nicht  das  Mindeste  von  einer  Bolestaw-Sage ;  nur  dass  in 
Wüten  der  Biese  Haymo  durch  18  Jahre  als  Büsser  weüt.  ®^  Vielleicht 
ist  der  ganze  Name  nur  eine  Verschreibung  anstatt  ViUac;  jedoch 
bleibt  hbnuf. 

Der  fernere  Weg  welsch^andwärts  —  nach  etwa  sechs  Tagwanderungen 
längs  der  Baab  und  sodann  durch  die  Mittelberge  gegen  den  Badel  —  ist  ohne 
Zweifel  längs  der  Drau. 

WoUte  man  die  Sage  weiter  ausnützen,  so  könnte  man  auf  dieser 
Drau-Linie,  —  an  den  nächsten  üferbergen  «von  den  verschiedenen 
Klöstern  in  Karyntyi»  —  auch  das  Victoria  Lelewels  ausfindig  machen. 
Allerdings  wird  dieses  Siegeeklosters  Stiftung  erst  mit  1117  angegeben ;  aber 
ob  das  Seestiffc  dazumal  schon  an  die  400  Jahre  alt  gewesen,  oder  das 
Siegeskloster  an  36  Jahre  zuvor  bestehend,  geht  fast  unter  gleicher  Verant- 
wortung. Und  nun  kommt  der  Flüchtling  (wie  anzunehmen  wäre)  auf  dem 
Wege  von  oder  nach  der  Handelsstätte  Vülach  (Weüer  seit  979  und  zuvor. 


8«  Lelewel  S.  336. 

°^  Burgvesten  und  Bittersohlösser  der  österr.  Monarchie  Wien,  1840.  Bd.  10, 
S.  129.  StÄffler  Tirol  und  Vorarlberg  1841.  Bd.  2,  S.  479,  496.  Beda  Weber  Tirol  u. 
Vorarlberg,  I,  1837  S.  345.  Benediktiner  vor  8781  Neugründung  1128.  Adalbert 
Tschavellers  Stifts-Annalen  schweigen  wol  ? 


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7W  B0LE8LAW   n.  VON    POLEN. 

Markt  1060) «»  in  das  Seekloster. «»  ffier  iat  ein  Abt  Teuw),*«  Teuzzo,  Deuzo, 
Teucho,  Thencho  benannt,  wir  wissen  nicht  seit  wann ;  er  waltet  im  Jahre 
1072,  er  stirbt  1125,  14.(22.)  Juli.  Laut  H.  Hermann  ist  der  erste  bekannte 
Abt  um  1080  ein  Benediktiner  aus  Nieder-Altaich.  Sein  Stift  gehört 
zur  Diöcese  Aquileia,  benachbart  dem  Bisthume  Gurk.  Das  Landgebiet 
gehört  teils  dem  Grafen  von  Treffen,  teils  dem  im  G^walts-Umfange  be- 
schränkten comes  de  Villaco.  Stadt  Villach  mit  Gebiet  ist  unterständig  in 
Gerichtsbann,  Marktwesen,  Zoll,  Münze  dem  Bistume  Bamberg,  Bischof  ist 
Rudbrecht (1075—1 102),  Nachfolger  Hermanns  L  (Grafen  von  Formbach?). 
So  weitläufig  der  Boman  in  betreff  Kärntens  ausgesponnen  worden  ist, 
so  wenig  haben  die  ältesten  und  alten  Chronisten  Gallus,  Eadlubek,^^  Bogu- 
chwa}  eine  Wissenschaft  davon.^-  Genaueste  Kenner  der  Anschauungs-  und 
Ausdrucksweise  des  M.  Gallus  geben  gewiss  zu,  es  hätte  dieser  Mann,  wel- 
cher 11  bis  29  Jahre  nach  Boleslaws  Tode  dessen  Leben  beschrieben  hat 
(eine  Zeit,  welche  wohl  das  Schloss  von  den  Lippen  genommen  hätte,  wäre 
solches  thatsächlich  anhängens  nötig  gewesen),  und  welcher  je  später, 
etwa  desto  genauer  und  umständlicher  das  Glaubhafte  des  Schlusses  erkun- 
det haben  würde,  so  ungefähr  berichten  können :  Infelicem  vitam  lauda- 
bili  fine  concludens,  cum  sciret,  se  debitum  camis  universae  completurum, 
tum  Omnibus  suis  ad  se  abbate  Ossiacense  et  monachis  undique  congregatis, 
de  morte  .  .  .  secretius  ordinavit,  eisque  nuntiavit.  0  amici .  .  .  Tunc  vero 
luctus  et  moeror  astantium  abbatis  et  monachorum  .  .  /u.  dgl.  Nichts  der- 
gleichen. Es  war  ihm  eben  das  kleine  Kämterland  mit  seinen  Gescheh- 
nissen zu  weit  abgelegen,  er  kannte  es  vielleicht  kaum  dem  Namen  nach, 
will  man  entgegnen.  Der  Wälsche  in  Polen  ?  Das  Landgebiet  war  aber  gar 

»•  Eichhorn  Beiträge  II,  204. 

"  Osewach,  St.  Mariae  eoclesia  in  Ossewach,  Oscevvaoh  1149,  08cia(ch)  1151, 
1161,  Oziach  1106,  Ozziac  1188,  Oziach  1207,  Ozziac(um)  1210,  1220,  08ciac(um)  1217, 
Ozziaoh  (an.  mil.  S.  57),  Osceach  (ebd). 

**  Laut  Annales,  An.  mil.  Megiser  S.  762,  Abt  35  Jahre,  Marian  Klerisey  IQ, 
5,  S.  340,  zweiter  Abt.  Ein  Teuzo  monachus  erscheint  mit  Hubertus  subdiaoonus, 
Jahr  1078,  bei  Mansi  Bd.  20,  S.  254,  No.  22.  Noch  in  Teuzo's  Zeit  fiele  die  Schenkung 
des  «bleiernen  Trögleins •  mit  Inschrift  und  dem  Kopfe  eines  unschuldigen  Kindes 
aus  Betleem,  auch  anderen  Heiligen-Beinen,  durch  Papst  Victor  UT.  1088  herbei- 
geschickt, wenn  alles  zusammen  sich  erweisen  Hesse.  Was  mau  1622  in  der  offenen 
Kapelle  angestellt  hat,  waren  die  Körperteile  von  10  Heüigen  und  5  andere  Gegen- 
stände (Vgl.  Valvasor  S.  156.) 

*•**  Der  Hofrat  Prof.  Schlözer  sagt  in  seiner  Nestor- Ausgabe  1802  von  Bischof 
Kadhibek:  «Aber  welch  ein  Annalist  ist  dieser  Mann!  Beide  Chroniken  enthalten 
waliren  Unsinn.  Sein  etwas  späterer  Commentator  hat  den  Unsinn  womögHch  noch 
vermehrt .  .  .  ungelernte,  unverschämte  platte  Erdichtimg.»  Von  den  polnischen  Chro- 
niken (späterer  Zeit) :  tWas  in  ihnen  Wahrheit,  ist  Baub  aus  Nestor,  was  Unsinn, 
gehört  ihnen.» 

"  Vgl.  RoepeU  I,  204,  Note  23  in  S.  205. 


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B0LE8LAW   II.  VON   POLEN.  793 

nicht  klein^  als  Beichsherzogtum  bedeutsam  genug.  Er  kennt  es  auch 
ganz  gut ;  descendendo  per  Garintbiam  in  Bavariam,  sagt  er  in  der  geogra- 
phischen Einleitung  des  Proemiums  Vers  29  und  die  erwähnten  Yenecia, 
Aquileia,  Hytalia  (slavische  Abschreibungsart)  hat  er  als  Wälscher  ohne 
Weiteres  so  gut  gekannt^  wie  von  Garinthia  wenigstens  die  Gaue,  durch  die 
man  aus  oder  nach  Aquileia,  nach  oder  aus  Polen  reist,  Yillach  und  ümge- 
buug.  ^^  Und  wenn  nicht  M.  Gallus  selbst,  so  seine  hochkirchUchen  Gönner, 
die  Bischöfe  in  Polen,  hätten  von  dem  Lebensende,  von  der  Buhestätte  ihres 
Landesfürsten  gev^iss,  sagen  wir  selbst  bis  1113,  für  eine  Nachschrift  zu 
Gallus'  drittem  Buche  etwas  erfahren  können,  die  Benedictiner  von  den 
Benedictinem,  14  Jahre  nach  Schluss  der  längsten  Buss&ist.  Und  wenn 
schon  nicht  um  des  Königes  willen,  so  um  der  Sühnung  ihres  ihnen  gleich- 
gestellten Mitbischofes  halber.  Indess  keine  solche  Mähre  noch  im  Xu.  Jahr- 
hunderte, nicht  im  XIQ.,  nicht  im  XIV.  Jahrhunderte. 

Was  die  westseitlichen  Schriftsteller  betrifft,  so  erscheint  die  Legende 
noch  keineswegs  bekannt  dem  Joannes  Victoriensis,  ^^  welcher  (1211  bis 
1343)  neben  Welt- Ereignissen  doch  Gewitter,  Windbrüche,  Heuschrecken, 
Juden-Geschichten,  Reliquien,  Träume,  Wunder,  Grab-Feierlichkeiten  u.  s.  w. 
in  Yerschreibung  bringt,  nicht  dem  sogenannten  Ottokar  von  Homeck,  ^^ 
nicht  dem  Jacob  Unrest  von  Techeisberg,  dessen  Geschichtswerk  seit  1468 
herauf  reichliche  Daten  anreihend,  mit  1499  schliessend,  immerhin  die  Mill- 
stätter  Sage  des  Domincianus  anzieht,  welche,  keinen  geschichtlichen  Wert 
besitzend,  ein  Millstätter  Benedictiner  in  Umlauf  gesetzt  haben  soll.***  Unrest 
hat  mit  Wildon  und  Ossiach  zu  thun  (Ossia,  Ossius,  da  er  und  sein  hawsfraw 
begraben  sind  in  dem  öarch),  er  berichtet  von  des  Bauernbundes  Wirken  bei 
Ossiach,  zu  Treffen,  Yasach,  nichts  von  Boleslaw.  Man  beachte  insbesondere, 
dieser  Zeitgenosse  bis  1499  hatte  nach  dem  Seestifte  von  seinem  Pfarrsitze  aus 
nur  drei  bis  vier  Stunden  Fussweges.  **  Gotthard  Ghristallnik,  der  Yorläufer 


**  Vgl.  Montana  quae  Bavariam  et  Carinthiam  ab  Italia  seiungunt  in  Adel- 
boldi  Vita  Heinrici  II.  cap.  16  bei  Pertz  IV,  688.  Und  Boleslaus  Pins,  ußque  ad 
montes  Earintbie  principatus  eins  tendebatur.  Miracula  S.  Adalberti  cap.  9  bei  Pertz 
IV.,  S.  15  Schluss. 

**  Chrou.  car.  in  Böhmer  fontes  renun  genmanicarum  I,  276. 

**  Des  liechtensteiner  Dienstmannes,  gestorben  nach  1309,  Chronicon  austr. 
rhythmic.  in  Pez  scriptores  rer.  anstr.  Tom.  III,  17i5,  kennt  allerdings  Ciagenfart, 
Freiberg,  Friesach,  Glaneck,  Griffen,  Lavant,  Gurk,  Heunbui-g,  Maltein,  Metnitz, 
Ortenburg,  Sonneck,  Taggenbrunn,  St.  Veit,  Villach,  Völkerraaikt,  Zolleid  (Zeit 
1246 — 1300,  die  Heiligsprechung  Stanislaus'),  weiss  aber  nichts  von  Boleslaw 
und  Ossiach. 

*^  Krones,  Unrest  1872,  S.  65,  107  (No.  316)  Aelschker  G.  K.  I,  744. 

*•  Jacobi  Unresti  chronicon  carinthiacimi  in  Hahn  collectio  monumentorum  I, 
1724  S.  479  f.  austriacnm;  Wüdau  S.  499.  5(X),  560,  527,  636. 


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7-H  BOLESLAW   II.  VON    POLEN. 

Megieers,  kennt  hinwieder  nicht  ünresten,  jedoch  wie  mehrere  uns  nicht 
bestimmt  überlieferte  Landes-  und  Orts-Chronikf n^  so  auch  eine  des  Stiftes 
Ossiach.  Ueberhaupt  ist  es  wenig  erfrenlich  zu  beachten,  wie  gerade  seit 
circa  1450  die  Obsoi^e  für  die  Kloster- Jahrbücher  meistenteils  aufgehört 
hat.  War  die  Zeit  den  Humanisten  wahrhaftig  zu  geistlos  oder  traf  da  der 
Geist  keine  Humanisten  ?  Schien  das  nicht  die  bequemste  Zeit  für  Fälschun- 
gen, welche  doch,  je  geistreicher  der  Erfinder  war,  um  so  länger  vor- 
hielten ? 

Nun  wird  natürlich  die  Ossiacher  Stifts-Chronik  —  wäre  nur  eine  der 
von  Christallnik  etwa  gesehenen  älteren  noch  irgend  vorhanden  —  als  die 
berufenste  Eennerin  aller  örtlichen  Ereignisse  und  Traditionen,  ohne  Zweifel 
als  die  zeit-erste,  die  vollständigste  Haupt-Quelle  für  den  Boleslaischen  Le- 
bens-Schluss  genannt  werden  sollen.  Denn  die  hierortigen  Mönche  mussten 
doch  über  die  Gründung  ihres  Stiftes  und  über  die  wichtigsten  Geschehnisse 
der  ältesten  Jahrhunderte  eiu  Massgebendstes  wissen.  Das  gerade  G^en- 
spiel  gilt.  Die  Mönche  hielten  ihr  Kloster  für  gegründet  um  das  Jahr  600 
n.  Chr.,  689  *^  oder  doch  vor  736  und  nachmals  durch  die  Magyaren  zer- 
stört, wohl  durch  dieselben,  welche  den  Reichs- Wehr-Thurm  zu  Winklern 
im  Möllthale  berannt  oder  wenigstens  gesehen  haben  müssen.  Noch  Abt 
Andreas  11.  Hasenberger.  der  angeblich  45ste  Stifts- Vorstand,  hat  im  Jahre 
1536  eine  Urkunde  gesehen,  welche  bezeuge  (laut  Copie  existent  1749),  das 
Stift  sei  über  800  Jahre  alt.  Die  Mönche  hielten  für  den  Gründer  den  sla- 
vischen  Edlen  Ozzi(us),  Grafen  von  Tiflfen,  mit  Gemahlin  Irenburga ;  lie 
verfügten  über  den  slavischen  Briefwechsel  zwischen  dem  gräflichen  Vater 
und  Sohne,  sie  erachteten  die  Karlmannische  Stiftungs-Urkunde  von  878, 
9.  September  (ad  Otigas)  als  ihrem  Hause  giltig,  und  bewahrten  in  diesem 
Sinne  das  wertvolle  Original,  sie  bewahrten  auch  Leiber  der  Heiligen  Feü- 
citas  und  Maximilian,  sie  feierten  deshalb  die  Vigilien  für  König  Karlmann 
und  die  Gedenktage  der  Heiligen,  sie  setzten  den  die  Schenkung  überneh- 
menden Abt  Werinolfus  zu  den  Ihrigen.*®  Alledem  steht  entgegen :  In  Kärn- 
ten ist,  soviel  sich  irgend  jetzt  mit  grösster  Wahrscheinlichkeit  behaupten 
lässt,  kein  Kloster  gegründet  vor  dem  Jahre  10(X)  oder  1020,  insbesondere 
nicht  in  der  sogenannten  slavischen  Herzogszeit ;  es  ist  in  der  Geschichte 
kein  Ozzi  oder  Gz  oder  dergleichen,  und  kein  Graf  vod  Tiflfen  (höchstens 
später  von  Treffen)  bekannt,  diesem  Hause  zugehörige  Schrift- Denkmäler 
aber  wären  die  unvergleichlich  ältesten  südwest-slavischen  überhaupt.  Dass 


*''  Vgl.  Annales,  Titelblatt.  Ossiacher  Eloster-Nekrologien  vom  14.  Jakrhunderte, 
Jahrbücher,  ausserdem  Urkunden,  Fragmente,  Pergamente  (wenn  das  alles  nicht 
tautologisoh  zu  nehmen)  erwähnt  Marian  III,  5  6.  343  unter  22,  S.  339. 

**  Ann.  mü.  S.  12,  4^,  41,  39.  Ankershofen  G.  v.  K.  11,  536,  884,  Reg.  u.  Urkun- 
den S.  43,  86. 


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BOLEÄLAW   II.  VON   POLEN. 


795 


<]ie  Karlmann 'sehe  Urkunde  nach  Alt-Oetting  am  Inn  im  balerischen  Unter- 
Donau-Kreise gehört,  ist  festgestellt,  allerdings  erst  seit  40  bis  200  Jahren,** 
die  Heiligen-Leiber  lassen  sieh  zu  Ossiach  nicht  nachweisen,  P.  Wallner 
^ibt  allenfalls  Teile  davon  zu,  Andere  gar  nichts.  ^^  Die  Anwesenheit  der 
Urkunde  aber  und  die  VigiUen  sind  aus  einem  Grunde  zu  erklären,  der  mit 
vielem  Anderen  den  Mönchen  unbekannt  geblieben,  nämlich  aus  dem  Ver- 
hältnisse zum  Mutterkloster,  dieses  ist  Alt-Oetting.  Von  daher  haben  wohl 
kriegsflüchtige  Brüder  in  Alt-Ossiach  oder  in  Treffen  gewohnt  (im  X.  Jahr- 
hundert) und  in  der  See-Umgebung  gab  es  Alt-Oettinger  Besitz  bei  Trebina^ 
Treuina  (Treffen)  bis  in  die  Mitte  zwischen  den  Seen  von  Afritz  und  Feld, 
an  der  Traa  (Drau),  bei  Buochun  (Fuch  nächst  Wemberg),  Rubra  petra 
(Boterstein  oder  Boterfels  am  östlichen  Seeufer)  ^Durinbach  (der  Dürenbach 
oder  Dürenberg-Bachl  südlich),  Uillach  (Villach)  und  Sicouua  (Dürrenbach- 
wald  oder  dgl).  Dreissig  Jahre  nach  der  königlichen  Schenkung  haben  die 
vor  den  Ungarn  Fliehenden  die  Urkunden  und  Denkfeste  nach  den  kloster- 
losen Dörfern  des  friedlichen  Drau-Landes  hereingebracht  (Jahr  907,  der 
Magyaren-Zug  ins  Drau-  und  MöUthal  entfallt  also).  Eine  geistliche  Haus- 
stiftung mangelte  demnach,  Abt  Uuerinolfus  gehört  nicht  hierher,  vielmehr 
nach  Alt-Oetting. 

Möglicherweise  waren  ursprüngliche  Grossbauem  des  8.  Jahrhunderts, 
des  Namens  wie  Oz  oder  Oc  (woraus  vor  1468  das  latinisirte  Ozzius  gemacht 
worden  ist),  oder  es  waren  nur  schlechthin  nach  Otigae  oder  Otinge  genannte 
Oettinger  Hörige  und  Zinspflichtige  (bei  Treffen,  bei  Winkel  oder  bei  Alt- 
Ossiach),  reich  und  besitzend,  frei  und  beamtet  bei  Stift  oder  Beich  gewor- 
den, so  dass  sie  den  Flüchtigen  derart  an  die  Hand  gingen,  dass  letztere 
und  vielmehr  deren  Nachfolger  hierzulande  ihre  Stiftungs-Urkunde  bargen 
und  am  Südufer  des  Sees  eine  Marienkirche  mit  Wohnzellen  zuzurichten 
begannen,  etwa  nach  990.  Wir  wollen  nicht  sagen,  schon  hier  habe  die 
Irrung  begonnen,  als  man  die  Urkunde  für  Oetting  zu  Ossiach  beliess ;  das 
Schriftstück  verblieb  hier,  nicht  weil  man  das  Otigas  für  Ossiach  hielt  oder 
dafür  ausgeben  wollte,  sondern  weil  hierländische  Besitzpunkte  Garantanie^ 
Sclauinieque,  Traa  u.  s.  w.  ausdrücklich  darinnen  verschrieben  waren  und 
das  Instrument  bei  Gerichts-Qängen  hier  vorzuführen  war.  Die  Unkunde  hat 
sich  erst  allgemach  eingeschlichen  mit  anderen  Irrtümern.  Nach  den  klö- 
sterUchen  Einrichtungen  am  kleinen  Längsee,  um  1008,  zu  Sonnenburg 
um  1018  mögen  die  Treffener  Grossgrundbesitzer  sich  beeifert  haben  oder 
beeifert  worden  sein,  ein  Aehnliches  am  grösseren  See  herzustellen,  das 
älteste  Benediktiner-Kloster  Kärntens.  Urkundlich  nicht  genannte  Gründer, 
lebend  um  976  bis  nach  10S6,  hatten  zu  Söhnen  den  Comes  0.  und  den 


«  Carmthia  1839,  S.  1  nach  P.  Wallner.  Mitthlg.  d.  h.  V.  f.  Stmk.  1850  I,  83- 
*«  Ann.  null.  S.  50,  52. 


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7^6  BOLESLAW   II.  VON   POLEN. 

Poppo,  nachmaligen  Patriarchen  von  Aquileia,  1019  bis  1045;  hatten  auch 
zu  Bluts- Verwandten  die  Eltern  des  Meinvercus^  nachmals  Bischofes  von 
Paderborn.  Dieses  Bischofes  Schwester  Glismud  hatte  ihre  Tochter  Fride- 
runa  dem  kämtischen  Pfalzgrafen  Hartwich  zur  Frau  gegeben.  ^^  Die  Ver- 
wandtschaft mit  den  traungauer  Otakaren  und  deren  Beziehungen  zur 
Ossiach-Gründung  sind  erst  zu  erweisen.^*  Thatsächlich  ist  die  Stift-Grün- 
dung bestätiget  durch  Kaiser  Konrad  IL ;  im  Jahre  1039  oder  davor  muss  sie 
liegen,  vielleicht  um  Ostern  1026>  als  Patriarch  Poppo  in  der  Lombardie 
um  den  Kaiser  war.  Einrichtungen  und  Herstellungen  zuvor^  ein,  zwei 
Jahrzehnte,  kann  man  gelten  lassen.  Wir  hätten  somit  bis  zum  ersten 
urkundlich  bekannten  Abte  eine  dunkle  Vorgeschichte  von  mindestens 
40  Jahren.  Aber  die  erste  Verschreibung  über  die  Personen  der  Gründer 
selbsfe  stammt  erst  aus  dem  Jahre  1149,  Urkunde  Kaiser  Konrads  IIL,  zei- 
tens  des  angeblich  fünften  Abtes  zu  Ossiach,  Simon  des  ViUachers.*^  An- 
genommen das  GründungR-Jahr  600,  hätte  es  das  Stift  mit  der  hierortigen 
Durchschnitts-Zabl  7  für  das  Jahrhundert  (6  bis  12),  auf  etwa  90  Aebte  ge- 
bracht, indess  die  Reihe  der  bisher  genannten  60  nicht  ganz  sicher  steht 
Wir  meinen  da  jene  vom  Jahr  1040  ausgehende,  wie  sie  noch  Marian^*  abge- 
druckt hat.  Wahrscheinlich  sind  Wallners  fünf  erste  Aebte,  Vm.  bis  X.  Jahr- 
hundert, solche  zu  Oetting :  Werinolphus,  Ezelinus,  Valhardus  (Udelhardus), 
Walfrancus  (Wolframus),  Albero.  Der  Herausgeber  des  Annus  millesimus 
setzt  vor  Wolfram  die  Jahrzahl  1060;  in  diesem  Jahre,  nicht  seit  diesem, 
verstehe  sieh  die  Abtschaft.  Wallner  stellt  dann  ins  XL  Jahrhundert  ein  : 
Volframus  (Volphramus)  c.  1064 — 65,  f  1070,  laut  Aventinus,  einen  ande- 
ren als  den  vorgenannten  Wolfrancus  (Wolframus).  Domherr  Hermann 
und  Ankershofen  nennen  diesen  Benediktiner  aus  Hinter-Altaich  den  ersten 
urkundlich  bekannten  Abt  von  Ossiach;  im  Jahre  1063  ist  er  als  des  See- 
stiftes Vertreter  zu  Marienthal  erschienen  beim  Erzbischofe  Gebhard,  nach 
oder  in  1065  ist  er  Bischof  zu  Treviso  geworden.*^*  Wallner  lässt  ihm  folgen 


*»  Vgl.  zuletzt  Czörnig  Görz  1873,  S.  248  f.  Note  1,  Index  S.  987. 

**  Den  Personen-Namen  mit  Oz  (angeblich  Kürzung  für  Otgar,  Otaker)  udgL 
wie  local-urkundlich  Ozi  nach  104<),  Ovzi  c.  «70,  Wozo  c.  1065,  1096,  Azo  928,  Vaeo  c. 
lOriO,  Izo  92S,  1050,  Ogo  931,  Gotti  c.  994,  Adelgoz  1096,  Megmgoz  928,  Uuolflioz  92S. 
Hiltigoz  c.  1065,  Lintgoz  und  Meingoz  1091  und  woraus  überhaupt  auf  die  Urform 
von  Ozzius  zu  schliessen  wäre  —  um  nicht  mit  Eichhorn  Beitr.  I,  151  auf  Römer- 
namen zurückzugreifen  —  sollte  entgegengehalten  werden  ein  Versuch,  den  uukirch- 
lichen  Ortsnamen  Ossiach  abzuleiten  von  Orzz,  Orss  nach  des  Chronisten  Otakars 
Wortgebrauch  für  Pferd  unter  Hinweis  auf  uralte  Pferdezucht,  Pferdealmen,  Sauer- 
heu-Wiesen, römisches  Pferdrelief,  Eponasteiu. 

^  Ankershofen  G.  v.  K.  II,  Beilage  8.  41.  No.  50. 

"  Klerisey  1783,  III,  5,  S.  340—358. 

•'•  Ankersliofen  G.  1851,  II,  885. 


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BOLBSLAW   n.  VON   POLEN.  797 

den  DeuzO;  Abt  im  Jahre  1090 ;  das  soll  wohl  heissen :  auch  im  Jahre  1090, 
seit  1072  oder  1070?  Urkundlich  erscheint  dieser  Teuzo  nicht  vor  1096, 
sein  Todestag  ist  im  Stiftsbuche  der  14.  Juli  eines  (folgenden)  Jahres.'®  Wir 
wissen  daher  zunächst  gar  nicht,  wer  zwischen  1066  und  1096  zu  Ossiach 
Abt  gewesen.  Insoweit  verlässlich  sind  die  Anfänge  der  Hausgeschichte. 

Nim  ist  weiterhin  aus  der  Geschichte  des  seit  976  als  deutsches 
Herzogtum  (nicht  mehr  als  Mark  des  baierischen)  eingerichteten  Eärnter- 
landes  zu  erweisen,  dass  ein  Aufenthalt  des  Folenkönigs  daselbst  höchst 
unwahrscheinlich  ist  aus  staatlichen  und  kirchlichen  Gründen,  dass  die 
Annahme  eines  solchen  jedenfalls  gegen  alle  historischen  Quellen  verschlägt. 

Das  Herzogtum  mit  Inbegriff  seiner  Mark-Zugehörden  um  Windisch- 
grätz,  Cili  und  Marburg  südlich  der  Drau,  dann  den  Marken  einerseits 
von  Verona,  Treviso,  Friaul,  Krain,  Istrien  mit  dem  Meergebiete,  ande- 
rerseits der  karentanischen  von  Mittel-  und  Obersteier,  hatte  seine 
ausgesprochene  Beichs-Stellung  und  somit  sein  bestimmtes  Yerhältniss  zu 
Ungarn.  Zweimal  im  Laufe  der  Zeiten  an  die  gleiche  Person  des  Landes- 
fürsten  gewiesen,  stand  es  öfter  als  kaiserunmittelbar  da  und  hatte  sich 
jüngst  seit  dreien  Eppensteinem  aus  dem  baierischen  Ufgaue  am  Begen  als 
derzeit  erbUches  Beichslehen  ausgestaltet.  Wenn  wir  zu  unserem  Zwecke 
lediglich  den  zeitgeschichtlichen  Ausschnitt  von  beiläufig  1050  bis  1100  in 
Betracht  ziehen,^^  die  letzte  Zeit  der  Eppensteiner  vor  den  spanheimer 
Landee-Herzögen,  so  sehen  wir  zunächst  durch  Kaiser  Heinrich  m.  1047  das 
Herzogtum  Kärnten  an  den  schwäbischen  Grafen  Weif,  Herrn  in  Altorf, 
in  Tirol,  Churrätien,  Ober-Baiem  und  -Schwaben  verliehen.  Es  sind  die 
Ungarn,  Kärntens  nächste  Ost-Nachbarn  nach  des  Begensburger  Bischofs 
Baubzuge  in  Niederöstreich  eingefallen  (1050),  die  gestürzten  Mauern 
der  Heimburger  Yeste  wiedererhoben  1051),  Welfs  Mannen  längs  der 
Donau,  jene  des  Kaisers  aber  durch  Kärnten,  wohl  längs  der  Drau,  nach 
Süd-Ungarn  gezogen  und  (des  gleichen  Weges?)  heimgekehrt  (1052).  Es  ist 
Herzog  Konrad  von  Baiern,  seiner  Würde  entsetzt,  flüchtig  durch  Kärnten 
gekommen,  um  nur  rasch  den  ungarischen  Boden  zu  gewinnen  ;  den  König 
Andreas  gegen  Kaiser  und  Beich  und  das  Bündniss  aufstachelnd,  betritt 
der  Baier  mit  ungarischen  Kriegern  die  unterst^ierische  Mark  Karantaniens, 

^•*  Ank.  II,  852d,  886  und  Reg.  S.  79,  No.  33. 

^'  Ankershofen  II,  1  S.  673  vgl.  639  f.  Muchar,  Gesch.  v.  Stank.  H,  1845,  m, 
1846.  Tangl.  Die  Grafen  und  Markgrafen  und  Herzoge  aus  dem  Hause  Eppenstein 
Afkö-Gquellen  1850.  Wahnschaffe,  Das  H.  Kärnten  und  seine  Marken  im  11.  Jahrh. 
Klagft  1878.  Stenzel  Geschichte  Deutschlands  unter  den  fränkischen  Kaisem,  Leipzig 
1827  S.  178  f.  Annalen  und  Geschichtschreiherdes  11.  Jhdtes  bei  Giesebrecht,  Gesch. 
d.  d.  Kaiserzeit:  11,  1885  u.  S.  362.  Ranke's  Gesch.  d.  d.  Kaiserzeit  H,  569,  Wilmans- 
Jahrbücher  des  deutschen  Reiches  II,  190  f^  bes.  655.  Büdinger  öster.  G^ch.  I,  458  f. 
Alfr.  Huber,  öster.  Gesch.  1885, 1,  207,  213. 


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798 


B0LB8LAW   n.  VON   POLEN. 


Überschreitet  die  Mur  nnd  nimmt,  bei  teilweiser  Mithüfe  kämtiBcher  Edel- 
leute,  die  Hengstburg  (beiWildon  oder  Grätz^®,  Schlossberg,  St.  Margareten 
oberhalb  Lebring)  ein.  Selbst  bis  nach  Ost-Baiem  dringt  er  des  Oefteren  mit 
den  Magyaren  vor.  Um  dieselbe  Zeit  erreicht  Adalbero,  der  Sohn  des  1036 
nach  Baiem  geflüchteten  Eppensteiners  Adalbero,  das  Bistum  Bamberg 
(1053).  Des  Mainzer  Erzbischofs  Neffen,  die  Aribonen  von  Leoben  und 
Göss,  hielten  es  einmal  mit  der  antikaiserlichen  Partei,  dann  mit  der  kaiser- 
lichen, jedoch  alles  dieses  vor  Boleslaw's  Begierungszeit.  Eben  derselben 
geht  unmittelbar  zuvor :  dass  Kaiser  Heinrich  III.  Baiem  seinem  Sohne 
Heinrich  IV.  giebt,  der  Eämter- Herzog  Weif  mit  dem  kaiserlichen  Heere  bei 
Boncaglio  ficht  (1055),  in  die  Verschwörung  verstrickt  wird,  sich  entdeckt, 
der  Baiem-Herzog  im  Ungarland  endet,  dem  Kaiser  der  junge  Heinrich  IV. 
nachfolgt  (1056),  endlich  der  lothringer  Graf  Kuono  (Chuono)  als  Konrad  HL 
dieses  Namens  Landesfürst  in  Kärnten  wird  (1057 — 61).  In  seiner  Zeit  gilt 
aber  zu  allemächst  das  thatsächliche  und  durch  reichen  Länderei-Besitz  aus- 
gedrückte Ansehen  der  Dynasten  von  Eppenstein  durch  alles  kärntische 
Land.  Wiewohl  seit  1035  dieses  Haus  abgethan  schien  durch  die  Ent- 
setzung des  Adalbero  wegen  südslavischer  Bändnisse,^^  so  waren  doch  alle 
anderen  mittelzeitig  amtlich  in  der  Feme  eingesetzten  Herren  eben  nur 
nominele,  urkundliche,  reichsgiltige  Leheninhaber ;  inner  Landes  sah  Jeder 
die  Eppensteiner  als  die  Vornehmsten,  als  die  Grund-  und  Bodenbesitzer,  als 
die  Kriegs-Gerüsteten,  als  die  demnächst  wieder  Einzusetzenden  an.  Dieser- 
halb  hielten  sich  auch  die  gleichsam  papierenen  Lehensträger  grandsätzb'cher 
und  kluger  Weise  lieber  ausser  Landes  auf,  so  auch  Herzog  Kuono.  Er  stand 
beim  kaiserlichen  Heere  in  der  Lombardie  und  ist,  vermutlich  ohne  je  eine 
Woche  in  Kärnten  geweilt  zu  haben,  gestorben  zwischen  1058 — 61,  wäh- 
rend der  ufgauer  Marquard  seine  Allode  seit  1053  gewiss  ungehindert 
besucht  und  daselbst  geschaltet  und  gewaltet  hat.  Darauf  nun  ist  dem 
Berthold  von  Zähringen,  Grafen  von  Schwaben,  1061  das  Herzogtum  zuge- 
sprochen worden;  der  Besitz  ward  rechtmässig  und  formel  angetreten. 
Jedoch  ist  das  deutsche  Beich  vorderhand  in  den  Händen  einer  Regent- 
schaft und  die  Parteiungen  sind  am  stärksten  dadurch  ersichtlich,  dass 
1062  der  Kaiserin- Witwe  der  junge  Heinrich  IV.  entführt  wird.*^®  Berthold 


^«  Heingest  in  Zahn  Ürk.-Buch  I,  c.  1050,  66;  c.  1070,  84;  1042,  60;  c.  1066,  77. 
Kroues  Beeiedelung  der  östl.  Alpenländer  1888,  S.  62.  Felicetti,  Stmk.  im  8 — 12.  Jahrh. 
Büdinger  S.  441.  Alf.  Huber  11,  194,  Note  1.  Neueetens  A.  Cbroust  in  «Neues  Archiv 
der  Oes.  f.  alt.  deutsche  Gesch.-Kundei  Bd.  XV,  Heft  3.  Topogr.  Erklärungen  z.  e. 
St.  i.  d.  mon.  Germ.  No.  2.  Annal.  Altah.  maiores,  ad.  1053,  1054;  Chuono,  Ungri, 
Charionae,  urbem  Hengistiburg  und  Hengistiburc,  vgl.  No.  3,  zu  annal.  Fuldenses 
ad.  892. 

*»  Gfrörer,  Allg.  Kurchengeschlohte  VI,  289.  Btidinger  458. 

^  Eanke.  Weltgesch.  Bd.  VH,  1886,  S.  ±  56  f.  Weiss,  Weltgesch,  V,  352. 


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BOLBSIiAW   n.  VON    POLEN. 


799 


nun  sieht  auf  der  einen  Seite  das  Leben  von  Schwaben  einem  Gegner  ver- 
liehen, andererseits  in  den  ihm  mehr  fremden  kärntischen  Gbuen  seinen  Sohn 
mit  einer  Art  Erbrechtes  sichergestellt.  Es  ist  aber  gewiss  bis  1073  weder 
Vater  noch  Sohn  ins  Land  gekommen  und  zuletzt  hält  sich  der  Vater  in 
seiner  Miss-Stimmung  gar  völlig  vom  Hofe  abgewendet.  Insoweit  hätte  seine 
Haltung  gegenüber  dem  deutschen  Hofe  jener  Boleslaws  geglichen;  nur 
bedeutete  Boleslaw  wohl  Polen,  nicht  aber  Berthold  Kärnten.  Welche  Per- 
sönlichkeiten hierselbst,  von  Mürz  und  Palten  und  Enns  über  Mur  bis 
Sann  und  Baab,  die  oberste  Gesinnungs-Begie  in  Händen  hatten,  ist  nicht 
wohl  zu  sagen.  Vermutlich  gilt  alles  im  Gegenteile,  was  irgend  der  dux 
Garentinorum  Bertholdus  anspinnt  und  beschliesst  mit  politischen  Helfern 
wie  Herzog  Bndolph^  Weif,  dem  Erzbischofe  von  Mainz,  den  Bischöfen  von 
Metz  und  Würzburg.®^  Markwart  von  Eppenstein  (HI.),  der  ausgesprochen 
kaiserliche  Parteimann,  bisher  nur  der  Prätendent  im  Lande,  seit  34  Jahren 
durch  gegnerische  Erfolge  nicht  wirkUch  unmöglich  gemacht,  dringt  jetzt 
auch  rechtlich  und  formel  durch ;  anfangs  1073  erhält  er  auf  dem  Beichs- 
tage  zu  Bamberg  das  Herzogtum  Kärnten,  die  Entfernung  des  schwäbischen 
Berthold  wird,  ohne  gesetzmässige  Untersuchung  allerdings,  ausdrücklich 
ausgesprochen,  unter  Voraussetzung  des  Hochverrates.^^  Aber  sogleich  ist 
hier  das  nachmals  parteimässig  zum  Ausdruck  gebrachte  Bedenken  beizu- 
schliessen :  der  Antritt  des  Herzogtums  soll  ohne  königlichen  Auflirag,  ohne 
Beirat  der  Beichs-Fürsten  erfolgt  sein.  Annehmbar  hätte  Markwart  als  Titu- 
lar-Herzog  nach  Weihnacht  107:2  noch  auf  ein  eigenes  Pergament  warten 
sollen,  das  ihn  mit  der  Besitzergreifung  dessen  beauftragt,  was  er  —  laut 
allgemeiner  Kenntniss  unter  Niemandes  Widerspruch  —  ohnehin  in  der 
That  besass.  Das  war  um  die  Zeit,  als  in  gar  treuer  Weise  der  Ex-Herzog 
trotz  allerlei  Hofumtriebe  des  deutschen  Königs  Sache  mit  den  Sachsen 
austrug ;  der  Eppensteiner  wurde  in  diese  Einleitungen  zunächst  nicht  hin- 
eingezogen. In  Italien  aber  ballten  die  Wolken  sich  gefahrdrohender  zusam- 
men. Dort  war  der  Synode  gegen  die  angeblich  kirchenfeindUchen  Bäte 
Heinrichs  IV.  der  Hintritt  des  Papstes  Alexander  gefolgt  (21.  April),  die 
Erhebung  Hildebrands  als  Gregor  VH.,  nach  Agnes'  Schritten  die  Abhän- 
gigkeit Heinrichs  IV.  und,  seit  der  Synode  von  1075,  die  Sturz-Bereitschaft 
jedes  durch  Laienhand  eingesetzten  kirchlichen  Leiters.  Für  den  deutschen 
König  ist  alsdann,  wie  gegen  die  Ungarn,®^  so  gegen  die  Sachsen  Markwart 

•*  Ank.  II,   1.  Beilage  61  der  V.  Periode  No.  16  f. 

«»  Ank.  696. 

**  1074,  um  Mai  bis  August  mit  den  Baiem  und  Ostmärkem  bis  Waitzen,  wo 
er  für  Eg.  Salomon  gegen  Göza  kämpfte  und  sammt  dem  Böhmen-Herzoge,  Heinrichs 
Schwager  Semptepolug  oder  Swentibold,  verwundet  und  gefangen  worden  ist.  (So 
Thwrooz  L  52,  über  Marcarth  dux  Teutonicormn,  Lambertus  contractus  Annal.  ad 
1074,    S.  158,  161,  162,   Majlath    Gesch.  d.    Magyaren  I,  73,  Ank.  II,  767).   Vor  120 


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^^0  B0LE8LAW   U.  VON   POLEN. 

mit  Aufgebot  von  Heeresmaeht^  Mannesmut  und  Landesgut  angetreten, 
indem  er  im  Frühlinge  (über  Salzburg  und  Passau  wahrscheinlich,  gegen 
Begensburg  nach  Nürnberg,  Bamberg)  ins  Sachsenland  marschirte  und  in 
der  heftigen  Schlacht  an  der  Unstrut  mitfocht  (Juni),  wahrscheinUch  darin 
zwei  Söhne  verlierend.  Es  kommt  vieles  darauf  an,  ob  der  Bischöfe-Tag  von 
Worms  (1076,  24.  Jänner),  wo  unter  Führung  des  Gardinais  Hugo  mit  der 
gründlichsten  That,  der  Absetzung  Gregors  VII.,  vorgegangen  worden,^  von 
den  Stühlen  Salzburgs  und  Aquileias^  voUständig  ignoriert  gewesen; 
abtrünnig  geworden  sind  mindestens  die  lombardischen  Bisehöfe  seit  der 
Kirchen-Versammlung  von  Piacenza.  Ob  infolge  des  dritten  lateranenser 
Concils  (1076,  Februar),  darin  Kaiser  Heinrich  IV.  gebannt  wurde,  irgend- 
wie gegen  einen  etwa  durch  Laienhand  eingesetzten  Ossiacher  Abt  oder 
Aglaier  Patriarchen  eingeschritten  worden  sei,  ist  nicht  bekannt.  Aber 
berichtet  ist,  dass  der  Papst  den  Ex- Herzog  als  eine  seiner  Stützen  aufrecht 
erhielt  dem  Eppensteiner  gegenüber,  ihn  noch  1075  als  dux  Garentinorum 
anerkennend,  was  seit  2  bis  3  Jahren  beim  Kaiserhofe  ausser  Gebrauch 
gekommen.®^  Mit  ihm  in  gleicher  Richtung  hielt  sich,  wenigstens  mittelzei- 
tig, der  Patriarch  Sigehard  Graf  von  Peilstein  (bis  Ostern  1077  nur),®^  nicht, 
eindeutig,  Bemold  1 079 ,  Erzbischof  Gebhard  von  Salzburg,  Mitwähler  des 
Gegenkönigs  Rudolph,  Inhaber  der  friesacher  Bergvesten,^  der  sterisdie 
Otakar  V.  (EL,  f  Rom  1088),  alsdann  der  die  Ostmark  versehende  Bischof 
von  Passau  Altmann  1065 — 85  (anders  Hermann  von  Eppenst^n  1085 — 87), 
von  Würzburg  Adalbero,  von  Metz  Hermann,  die  Geistlichen  aus  der  stren- 
gen Paderborner  Schule  des  Meinwerk. 

Nach  dem  Fürstentage  von  Tribur,  1076,  18.  Oktober,  der  ohne  für 


Jahren  war  der  Ahne  gl.  Namens  noch  auf  die  Verteidigang  kärntischen  Landes 
gegen  die  Ungarn  angewiesen. 

«*  Stenzel  I,  :^79. 

^  Hohenauer  KG.  S.  602.  Patriarchen  1066—85  f,  Grote  Stammtafeln  1877, 
S.  470,  546,  Ravangerio  Patriarch  1063—68,  Sighard  1068— 1077"/«,  Heinrich  1077—84, 
(Swatobor)  Friedrich  von  Böhmen  1084^/8 — 1085"/»,  endlich  Ulrich  I.  von  Kärnten, 
1085—1121.  Garns,  Series  ep.  S.  774  seit  1049  Goteboldns  (Botbolt),  Kavengeros, 
SigeharduB  (Singifred),  Henricns,  Fridericus  (Swatobor),  Vodi^eus  (Voldaricns),  folgt 
Gerhardus  de  Primiero.  Gurk  B.  S.  278.  Günther  von  Krapfeld  1072,  Berthold  1090 
midebold  1106. 

««  Ank.  n,  676. 

«'^  Alf.  Huber  I,  220,  227. 

^  Als  Salzburger  Erzbischof  wurde  von  den  Parteien  gegen  Gebhani  den 
Sachsen-Fürsprecher,  festzuhalten  gesucht  (kirchlich  gesagt,  eingedrängt)  Berthold  von 
Moosburg,  in  3  Fristen,  zuerst  1078 — 86,  als  ein  grosser  Teil  Ungarns,  bisher  zur 
IHöcsse  gehörend,  abfiel,  alsdann  1088 — 90  nach  Gebhards  Tode,  endlich  1095  gegen 
Thiemo  (Ank.  H,  862,  788  Note.  c.  Alf.  Huber  I,  225,  228,  229,  233),  Landes-Schaden 
durch  den  Kirohenstreit.  Tangl  Eppensteiner  IH,  20. 


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BOLESLAW   n.  VON   POLEN.  801 

die  Kirche  activ  günstig  zu  sein,  gegen  den  Kaiser  gerichtet  war/^  konnte 
allerdings  Herzog  Berthold  dem  mit  Weib  und  Kind  im  December-Frost  nach 
Italien  fahrenden  Kaiser  die  Klausen  des  Tirolerlandes  versperren  und  auch 
die  Salzburger  Tauempässe  müssen  nicht  geheuer  gewesen  sein.  So  gewann 
denn  der  Kaiser  den  westlichen  Alpen- Durchbrucb,  den  Cenis  überschreitend, 
und  hatte  nach  der  bedauerUchen  That  von  Canossa  (1077^  25.  Jänner)  in 
Unglück  und  Haltlosigkeit  an  seiner  Seite  die  Eppensteiner  Liutold  (Liudolf) 
und  Heinrich,  Söhne  des  (1076,  16.  November)  verstorbenen  «Titular- 
Herzoges»  Markwart. "^^  Es  waren  seiner  Partei  zugefallen  wälsche  und 
deutsche  Bischöfe,  Patriarch  Sigihard  von  Aquileia,  nicht  zwar  der  Salzbur- 
ger Gebhard,  aber  seine  mit  nächstem  Jahre  ans  Buder  kommende  Gegen- 
partei. Im  Geleite  der  Eppensteiner  nun,  des  (vom  9.  April  1077  urkunden- 
mässig  Herzog  gewordenen)  Liutold,  durchwanderte  Kaiser  Heinrich  lY.  das 
Kärnter-Land,  entsprechend  den  Verhandlungen  von  Pavia,  und  zwar  nach 
den  zu  Verona  zugebrachten  Ostern,  vier  Monate  nach  der  Boleslaischen 
Königskrönung.  Ohne  Zweifel  ging  der  Beisezug  im  April  und  Beginn  des 
Maien  aus  Ponteba  (oder  aus  Friaul  über  den  Prediel  nach  Tavvis)  durch 
Villach,  das  Drau-  und  Liesertal,  über  den  Katschberg  (wie  ahnlich  1097 
Thiemo  von  Salzburg  hereinwärts),  durch  das  Salzburgische  nach  Baiem, 
mit  Umgehung  der  durch  Weif  von  Baiem  verlegten  Tirolerpässe. "^^  Der 
Stand  der  Dinge  ist  fernerhin  der,  dass  der  Zähringer  ^*  Berthold  (t  1077, 
Juli)  zum  deutschen  Gegenkönige  (f  1080)  schwenkt,  dass  der  Eppensteiner 
Liutold  in  einer  Zeit  der  wenigsten  That-Nachrichten  mit  Kaiser  Heinrich 
zu  Verona  weilt  (1082?),  vier  Jahre  später  zu  Mainz,  wo  Wratislaw  zum 
Könige  von  Böhmen  erhoben  worden  ist.  Patriarch  Sighard  hatte  seit 
Ostern  1077  zum  Kaiser  gehalten,  belehnt  mit  der  Grafschaft  Friaul  (nach- 
mals gehörte  auch  Krain  und  Istrien  dazu,  bestritten  durch  die  Eppen- 
steiner) ;  nicht  so  sein  seit  August  1077  ins  Auge  gefasster  Nachfolger 
Heinrich  aus  Augsburg,  der  erst  allgemach  einlenkte.  Weiterhin  wird  des 
Eppensteiner  Landes-Herzoges  Bruder  üdalrich,  als  Abt  in  St.  Gallen  «auf- 
gedrungen», nach  Tödtung  des  slavischen  Stuhl-Inhabers  Friedrich  als 
«uncanonischer  Patriarch»  eio gesetzt,  das  heisst  als  kaiserlich  gesinnter 
( 1 085),  ein  aufgeklärter,  mutiger,  ausdauernder,  auch  kirchenfreundlicher  und 
reich  begüterter  Mann.  Endlich  folgt  dem  Liutold  selbst  Heinrich  (HI.),  bis- 
her Markgraf  in  Istrien,  als  Herzog  in  Kärnten,  wohl  mit  März  1090  (erste 


•»  Bertholdi  annales  ad.  1076  bei  Pertz  V.  S.  283.  Ank.  11,  730,  Note  c. 

"""  Tangl  Eppst.  m,  7. 

"  Bertholduß  S.  294,  Bemoldns  S.  52,  Rubels  S.  535,  537.  Ughelli  Italia  sacr 
157,  Burchard  de  casib.  mon.  S.  Galli  c.  7,  Chron.  August,  a.  1077,  Continuat.  cas. 
S.  Galli  c.  21,  Meyer-Knonau  S.  45,  Tangl  Eppst.  II,  75  Note  77,  136,  HI,  10,  49,  153. 

'•  Die  Titel  von  Kärnten  fortgeftthrt  teils  bis  1146,  1153. 
UngMlMh«  BeTQe,  XI.  1891.  X.  Heft  51 


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802 


BOLESLAW   II.  VON    POLEN. 


Urkunde  1096  in  seiner  Mark  zu  Verona) ;  '*  es  erseheinen  für  kurz  durch 
des  Eaisersohnes  Eonrad  Abfall  die  Alpenpässe  bedroht  (1093),  Baiems 
Herzogtum  geht  an  den  mit  dem  Kaiser  versöhnten  Weif  über  (im  Kreuz- 
zugs-Jahre  1096)  und  der  Reichstag  von  Mainz  sichert  dessen  Söhnen  sogar 
die  Erbfolgeschaft  (1098).  Mach  Papst  Gregors  Tode  hatte  Guibert  als  der 
kaiserfreundliche  Papst  gegolten ;  Victor,  der  antikaiserliche,  gewählt  1087, 
hatte  nach  vier  Monaten  Urban  11.  zum  Nachfolger.  Am  Schlüsse  des  Jahr- 
hunderts starb  Papst  Urban,  gefolgt  von  Paschalis  11.,  endlich  schied  1100 
auch  der  vielgenannte  Guibert  oder  Clemens  IQ.  dahin. 

In  allen  diesen  Wandelungen  sind  die  Eppensteiner  als  kaisertreu  ohne 
Schwanken  anzunehmen ;  es  gilt  nichts  was  Waltramus  schon  zum  Jahre  1087 
(S.  309)  behauptet.  Eine  Wendung  liegt  erst  im  nächsten  Jahrhunderte.  In 
Kärnten  zählten  zur  kaiserlichen  Partei  ausser  den  schon  ersichtlich  gemach- 
ten die  (durch  Tangl  m^  37)  genauer  bezeichneten  weltlichen  und  geistlichen 
Hochgestellten  von  Bothenstein,  Ennsthal,  Dietrichstein,  Gurk,  Heunburg, 
Hohenburg,  Hegirmos,  Lechsgemünd,  Lungau,  Moosburg,  Ortenburg,  Puzol, 
Beun,  Schönenberg,  Siflitz,  Soune,  Treffen,  Zeltschach ;  viele  krainer  und 
friauler  Häuser  stärkten  den  Anhang.  An  irgend  welche  Beziehungen  des 
aus  ungarischen  Landen  flüchtigen  Polenkönigs  zur  Familie  der  ungari 
sehen  Prinzessin  Sophia,  Schwester  des  Königs  Koloman,  verheiratet  cuidam 
de  Carinthia  (wie  der  ungenannte  Mönch  von  Weingarten  sagt),*^^  nämlich 
an  den  Markgrafen  Ulrich  von  Istiien,  ist  nicht  zu  denken.  Denn  diese 
Sophie  war  schon  1070  verwitwet  und  sie  ist  nachmals  als  Frau  des  Her- 
zogs Magnus  nach  Sachsen  gezogen ;  ihr  Sohn  aber,  der  mit  Bichardis  von 
Spanheim-Lavantthal  verheiratete  Markgraf  Poppo,  ist  erst  um  1 105  zu 
etwas  Bedeutung  gelangt.  Der  östreichische  Markgraf  Leopold,  Gesin- 
nungs-Genosse  des  steierischen  Otakar,  konnte  allenfalls  dem  Flüchtlinge 
eine  bessere  Zuflucht  bieten,  aber  das  war  nicht  viel  weiter  erstreckt  als  auf 
die  Zeit  von  1077  bis  1079  Frühjahr.  (In  der  Passauer  Diöcese  wären  noch 
bis  1082  Kaiserfeinde  willkommen  gewesen.)  Seit  1079  stand  ein  Heer  an 
der  Donau.  Gerüstete  gab  es  auch  in  Karantanien,  da  denn  das  Gefolge 
Liutolds  nicht  gar  gross  gewesen  sein  möchte,  mit  dem  er  1081  den  König 
nach  Bom,  1082  zurück  geleitet  hat,  ebenso  1083  und  1084.  Es  soll  nicht 
geleugnet  sein,  dass  das  Baabtal  allenfalls  wegen  der  papistischen  Den- 
kungsweise  des  püttener  Markgrafen  Ekbert  einem  zum  Papste  Beisenden 
hätte  offen  stehen  können,  woran  man,  aus  ähnlichen  Gründen,  etwa  den 
Grundbesitz  des  lavantthal-sponheimer  Engelbert  I.  reihen  möchte.  Ist  an 

'*  Vgl.  Vita  Cbunradi  aepisc.  Salzbg.  bsg.  Wattenbaoh  bei  Pertz  XI,  S.  62. 
Ank.  n,  785, 

'*  De  Guelpbis  c.  10  in  Caniflii-Basnage  Tbesaur.  monument.  m,  583.  Ank- 
II,  819  e. 


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BOLBSLAW   n.  VON   POLEN.  803 

^in  andauerndes  Incognito  in  so  ausgesprochenen  Partei-Zeiten  im  Vorhinein 
nicht  zu  denken,  zumal  die  Heerstrassen  ab  und  zu  von  Kriegsleuten  beschrit- 
ten waren,  so  konnten  wir  aus  den  geschilderten  weltlichen  und  kirchlichen 
Zuständen  ersehen,  dass  das  Boleslaische  Exil  in  diesen  Landen  nur  die 
höchste  UnWahrscheinlichkeit  für  sich  habe. 

Aber  es  ist  nunmehr  geboten,  das  Grabdenkmal  des  Königs  zu  Ossiach 
in  Untersuchung  zu  ziehen,  den  Kronzeugen. 

Der  Stein  ^^  ist  eine  Platte  aus  weissgelblichem  Krystallin-Marmor 
wie  er  gemeiniglich  im  Lande  zu  den  «Römersteinen»  verwendet  ist,  und 
zwar  etwa  aus  den  Brüchen  von  Vasoyen,  Fölling  und  Treffen,  Sattendorf, 
Steindorf,  Tiffen  Sonnberg,  Pichl,  Salloch,  Ostriach,  Altossiach  u.  a.  Die 
Beliefplatte  zeigt  ein  in  langsamem  Grange  links  gewendetes  Pferd  mit  Kopf- 
halfter, Zaum  und  Band,  Brust-Biemen,  Bauchgurte  und  Sattel,  welcher 
letztere  durch  nicht  viel  mehr,  als  ein  auf  der  Croupe  ersichtliches  Auf- 
bug-Stück noch  erkennbar  ist.  Die  Ohren  fehlen.  Der  erste  Anschein  spricht 
für  ein  Belief  aus  Bömerzeiten,  vermöge  der  geläufigen  Oesteinsart  und 
Darstell  weise.  Lnmerhin  sind  die  römischen  Pferdbilder  der  besseren  Zeit 
hierzulande  auch  anders  gestaltet;  man  sehe  jene  zu  Fresnitz,  Maria-Saal, 
Moosburg,  Ton.  Allen  fehlt  Sattel  und  Bauchgurte,  nicht  jenen  zu  Moosburg 
und  manchen  in  Ungarn  ^^.  Das  ossiacher  ist  eben  ein  Beitross  und  gleicht 
auch  jenem  Belief  des  XIII.  Jahrhunderts  an-  der  Kirche  des  benachbarten 
Maria-Gail  (mit  Zaum  und  Bauchband  und  SatteF^),  so  dass  man  an  einen 
St.  Georg  denken  könnte,  wäre  nicht  die  Pferd-Stellung  gegenüber  einem 
Drachen  eine  allzu  gleichmütige.  Der  Bahmen  gleicht  zumeist  den  römi- 
schen, auch  gut  dies  von  dem  Bogen- Ansätze  obenüber  mit  den  zweiseit- 
lichen Einkerbungen.  Wir  finden  das  entsprechende  Motiv  auf  den  Beliefs 
des  Postgefährtes  und  des  sieghaften  Wagenfahrers  aus  Virunum  (zu  M.- 
Saal), allerdings  ausgebildeter,  doch  scheint  für  eine  Inschrift  oben  oder 
unten  kein  Baum  bestimmt.  Aehnliche  Bahmen  auf  den  Beliefs  zu  Moos- 
burg, den  steierischen  zu  St.  Johann  bei  Herberstein,  Leibnitz,  Pettau, 
Piber,  Tüffer  und  mehreren  ungarischen '®. 

"  Lang  176  Cm.  (5  Fuss  7  Zoll),  hoch  113-2  (3'  7"),  dick  29  (6»/V'),  schwer 
an  840-9  Kgr.  (15  Zentner). 

'«  Kärntische  Kunst-Topographie  1888—89  S.  123  fig.  134,  S.  196,  197  f.  21l! 
^12,  S.  345  f.  355,  Jabornegg,  Kärntens  Alterthtimer  Taf.  5,  Taf.  12,  No.  419  zu  418, 
Jab.  Christallnigg  K.  Altthmr  1843.  I,  Taf.  V.  f.  1,  2,  Römer-Desjardins  Monuments 
XXIX,  169. 

"  K.  K.-Topogr.  S.  193  f.  206. 

'«  Muchar,  G.  Stmk  I,  Taf.  V,  2,  XIV,  26,  bes.  XVI,  41,  IX,  18,  X,  3  figg., 
XVni,  2.  Schriften  d.  bist.  V.  f.  I.-Ö.  I.  fig.  24,  27,  55,  65,  74,  107.  Römer-Des- 
jardins  Taf.  I  2,  II  11,  IX  59,  Xin  87,  XX  116  b,  117,  XXHI  133,  141,  XXIV  142, 
XXV  154,  150,  XXVn  136,  XXXI  190  f;  sowohl  Weihsteine,  als  Ehren-  und 
Orabsteine. 

51^^ 


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S^  B0LB8LAW   U.  VON   POLEN. 

Ausserbalb  des  Hauptrabmens,  docb  selbst  wieder  gegen  den  Band 
eingefasst,  erscbeint  auf  dreien  Eandseiten  (alles  unrömiscbe  Landesart)^ 
eine  Inscbrift : 

REX  <iBOLESLAVS<PO 
LONIEcaOCCISOROSANCTiO 

stanisslai>1:piocracovi 

ENSIS 

Die  Scbriftweise,  in  welcber  bemerkt  werden  wolle  das  V  in  Zeile  1, 
£  in  2,  das  geminderte  A  in  3  und  aucb  die  Kürzung  für  episcopi,  scheint 
dem  XVI.  Jabrbunderte,  letzte  Jahre,  anzugehören.  Abartend,  auffallend 
wegen  des  Schwankens,  sind  die  C,  die  mittleren  S  und  die  dreierlei  Inter- 
punctions-Formen.  Sonst  würde  die  ganze  Führung  wohl  in's  XVII.  Jahr- 
hundert versetzt  werden  können.  Jedoch  Obiges  und  der  Mangel  des 
Schluss-Punktes  weisen  eine  ältere  Zeitstellung  nicht  ab  '*. 

Dieses  Denkmal  «befindet  sich  in  der  nordseitlichen  Kirchen-Haupt- 
mauer nahe  der  seitlichen  Marien-Kapelle,  so  zwar  dass  die  Hauptmauer 
an  dieser  Stelle  etwas  zurücktritt  und  eine  Nische  bildet,  darüber  ein  nie- 
derer Stichbogen  gespannt  ist.  Der  ßeUefstein  verschliesst  von  aussen  her 
die  Mauernische.  Die  Stelle  des  Grabes  ist  mit  Ziegeln  gepflastert,  unter 
diesen  liegt  ein,  die  Nische  ihrer  Länge  und  Tiefe  nach  ausfüllender, 
15*8  Centimeter  (6  Zoll)  dicker,  bei  393  Kilogramm  (7  Zentner)  schwerer, 
oberhalb  erhaben-rund,  an  der  Unterfläche  ganz  eben  zugemeisselter  Kalk- 
stein ohne  Inschrift  und  sonstige  Zeichen.  Eine  Grabplatte  im  Freien  für 
Regenwasser- Ablauf,  ursprünglich  also  im  Friedhofe,  nächst  der  östlichen 
Mauer  der  alten  Marien-Kirche,  Richtung  Ost- West.  Hohes  Steinplatten- 
Pflaster  bedeckt  die  Stelle  vor  dem  Denkmal.  Der  Grabstein  ist  der  corre- 
spondirenden  Stelle  der  Aussenseite  der  Kirche  angefügt.  Dieser  deckt  ein 
in  der  Sohle  und  an  den  Wänden  sorgfältig  ausgemauertes  Grab,  lang 
197  Cm.  (6'  3"),  breit  71  Cm.  (2'  3"),  tief  94-8  Cm.  (3  Fuss).»  «« 

Ueber  diesem  Steine  befindet  sich  in  einer  Vertiefung  der  Hauptmauer 
ein  Gemälde  auf  Holz,  hoch  2-21  M.  (7'),  breit  158  Cm.  (5'),  dick  46  Mm. 
(unter  20'"),  das  ^^  sieben  teils  ovale,  teils  runde  Felder  und  in  der  Mitte  ein 
länglichtes  eingeteilt  ist.  Wir  sehen  im  Mittelbilde  König  Boleslaw  in  ver- 
goldeter Rüstung,  in  den  anderen  Feldern  Scenen  aus  dem  Leben  des 
Königs,  endlich  die  Ermordung  des  Bischofes  am  Altare.  Das  Bild  ist 
die   Copie   eines   alten,  weit  besseren  Gemäldes,   das  vor  1680  gar  nicht 

'•  K.  Kimst-Topogr.  S.  254,  253.  H.  Hermann  Text  zn  Wagners  Ansichten 
18^  S.  135.  Mitthlgn.  d.  Centralcommiss.  1885,  S.  XXm. 

^  Im  Jahre  1839,  21.  Juni,  hat  man  das  Grab  geöfifnet.  Car.  1840,  189,  1855^ 
26.  Bergmann  Medaillen  II,  40.  Wurzbach  Biogr.  Lex.  V,  245.  Hohenauer  KG.  46. 


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I 


BOLESLAW   n*  VON  POLEN.  805 

erwähnt,  früher  unter  Abt  Christoph  renovirt,  an  dieser  Stelle  befestiget  war, 
jetzt  in  schlechtem  Zustande,  aufbewahrt  wird  in  der  öeitencapelle  (für 
Ossiaoh  interessanter,  als  für  Polen,  meint  Lelewel  334,  335).  Die  Malerei 
und  Inschrift  stammt  von  dem  Kämter  Jobst  zu  Wien.  Die  Einfassung 
ist  aus  Nussbaum-Holz  in  altertümlicher  Form  hergestellt,  alles  auf  Kosten 
(östreichischer  Altertumsfreunde)  der  Gräfin  Isabella,  geb.  Grafin  Thür- 
heim,  Gemalin  des  Grafen  Peter  von  Goes,  (*  1784  t  1855)  und  Grafen 
Budolph  von  Goes  zu  Treffen  —  durch  Tischler  Keller  in  Klagenfurt,  Bau- 
meister Kriegler,  Schlosser  Gridl,  Gelbgiesser  Hengthaler.  Das  umgebende 
Eisengitter  —  Lanzen,  ähnlich  denen  des  Herzogstuhles  —  enthält  die 
Worte  Sarmatis  peregrinantibus  salus. 

Vor  1839  stand  das  Denkmal  abseits  einige  BLlafter  von  der  gegen- 
wärtigen Stelle  im  Gemäuer  eines  Strebepfeilers.  Wir  besitzen  eine  Abbil- 
dung des  alten  Denkmales  in  Joachim,  Lelewels  «Polska  wieköw  örednich» 
(Tom.  n.  Poznan  1847  zu  S.  334,  Schluss  bei  Abteilung  XVm  S.  337), 
Kupferstich,  betitelt  BolesJava  smialego  grobovy  Pomnik  v  Ossiaku,  auf- 
genommen, wohl  nach  1816,  vor  1839,  Zeichner  nicht  genannt.  Wir  ersehen 
zunächst  die  alte  Einmauerungs-Stelle  an  der  Pfeiler-Ecke,  oberhalb  des 
Steines  in  fast  gleicher  Breite  das  Holzbild  in  etwa  doppelter  Höhe,  zu 
höchst  eine  Art  Frontispizes  mit  je  vier  Voluten,  gekrönt  von  einem  Mittel- 
türmchen.  Das  länglichte  Viereck  ist  längs  geteilt  in  drei  Hauptpartien ; 
die  erste  und  dritte  enthält  je  drei  nach  der  längeren  Axe  gestellte  Eirunde, 
die  zweite  ein  Eirund  nach  der  kürzeren  Axe  über  einer  grossen  Nische, 
über  welcher  in  einem  Eirund-Rahmen  die  Schrift  Sanctvs  Stanislavs, 
unter  welcher  in  zwei  kurzen  und  zwei  langen  Zeilen : 

Boleslaus  rex  poloniae  obiit  anno  MLXXXIX  ®^. 

Occidit  romam  pergit  placet  ossiach  illi  Ossiach  hinc  placeat  tibi 
Stanislae  tirannum  ®*. 

Ignotvs  servit  notvs  pia  Ivmina  clavdit  mitem  qvod  factvm  coelestibvs 
intvlit  astris  ®®. 

Die  Bilder  sind  :  Rechts  1.  Bischof  vor  dem  König  im  Thronzelte  (Alt  : 
vor  dem  Altare  knieend  Car.  1840.  S.  190). 

Links  1 . :  Bischof  am  Altare,  vom  Könige  überfallen. 

Rechts  2. :  Boleslaw  mit  Hut  und  Stab,  wandernd. 

Links  2. :  Holz  tragend  in  Küchenhallen  (und  Marienbild- Verehrer). 

Rechts  3. :  (verwischt,  wohl  Boleslaw  auf  dem  Sterbebette). 

Links  3 :  Leichenzug  vor  dem  Klostertore. 


•^  Altes  Bild  nur :  Boleslaus  rex,  anders  K-Topogr.  255,  Rex  boleslavs  anno  u.  s.  w. 
**  Ligierte  Buchstaben  für  tirannum. 

■*  Altes  Bild :  Verstellte  Zeilen,  Interpunction,  u  statt  v,  tyrannum,  caelestibus. 
Oarinth.  1813,  No.  42. 


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S06  BOLESUlW-n.  VON    POLEN. 

Die  Mittelpartie,  oben :  Der  Bischof  mit  abgelegter  Mitra  betet 
knieend,  Baum,  Berge ;  unten  :  In  der  gemuschelten  Nische  steht  Bolesfeiw 
im  Federbusch-Helm,  Harnisch  mitArm-undKnieeschienen  des  XVLJahr- 
hundertes,  den  grossgriffigen  Säbel  links,  die  Rechte  zum  seitlich  einge- 
stemmten Stabe.  ®^  Ausführung  um  1680. 

Nach  dieser  Zeichnungs-Skizze  stellt  sich  auch  der  Römerstein  anders- 
artig dar.  Das  Pferd  hat  zunächst  die  echte  breite  geschwungene  Mahne 
und  Hals  der  antiken  Typen,  es  hat  das  Ohrenpaar,  die  Halfter,  kein  Bmst- 
band,  der  Bauchgurt  und  der  Sattel  sind  weitaus  ersichtlicher,  es  ist  der 
Schritt  im  Grunde  der  gleiche,  aber  viel  geschwungener  dargesteUt,  des- 
gleichen der  Schweif,  das  Erdreich  ist  anders  geformt,  anders  auch  (insbe- 
sondere schmäler)  der  zweigliederige  Bogen  obenüber.  Sollte  der  ganze  Stein 
ein  anderer  sein?  Die  Schrift  ist  es.  Sie  lautet  in  dreien  (nicht  vier)  Zeilen 
des  Bandes : 

RÖX  X  BOLeSLKVS  x  POLOßie  X 
OCCISOR  X  SKKCTI  x  STKßlSLKl  x 

6PISC0PI X  cRTscoviensis  x 

Man  hat  bei  Neu-Herstellung  der  Schrift-  und  Reliefplatte  (vor  183^ 
und  wohl  auch  vor  1819,  und  1785?)  die  alte  Wortfolge  und  Schreibart  (das 
Orthographische)  copirt,  in  Betreff  des  V  für  U,  E  für  ä,  hat  aber  die 
wagerechte  Zeile  begonnen  mit  LOßI€  X  statt  OCCISOR,  geschlossen  mit 
SÄßCTI  X  statt  STKßlSLffil,  hat  in  Zeile  3  das  zweite  A  nur  eingeflickt  und 
mit  dem  eigentlich  älteren  GPI  sein  Auskommen  zu  finden  gehofft,  auch 
mit  den  Interpunctions-Formen  anstatt  des  Schrägkreuzches  mehrfach 
gewechselt.  Endlich  sind  die  alten  gotisierenden  Buchstaben  kleiner  gewe- 
sen, etwa  Vs  bis  ^A  des  Randraumes ;  jetzt  sind  sie  gross,  fast  zur  Hälfte  des 

***  Da8  wahrscheinlich  erste  Holzschnitt-Bildniss  steht  in  Miechovia  Chronic» 
Polononun  1521,  Halbleibstück  mit  Eisenhamisch  und  Ttirkensäbel.  Folgt  der  anonyme 
Stich  (Brustbild)  mit  Schrift  «Boleslaus  IL  Der  4.  König.  Bekam  die  Krön  A.  1059.  reg. 
bis  A.  1082,»  oben  p.  265,  aus  L.  Rosen thals  in  München  Kataloge  57.  Bibliotheca 
ßlavica  No.  119.  (ebda  Boleslav  IV,  Wladislaw,  vgL  Hosius,  von  Busch,  B.  Stanislaus 
von  Gaspar  Huberti).  Ein  Bildniss  des  Königs  oder  eine  Darstellung  von  de^en 
Lebens-Ende  besitzt  weder  die  reiche  Porträt-Sammlung  der  k.  k.  Familien -Fideicommiss- 
Bibliothek,  noch  die  erzherzogliche  Kunstsammlung  Albertina  in  Wien,  noch  erwähnen 
solche  die  Porträt-Kataloge  von  Drugulin,  Heitzmann. 

In  bildlicher  Beziehung  ist  die  BolesJ:aw-Legende  verwertet  durch  die  wenig 
bedeutenden  Fresken  im  Inneren  der  ossiacher  Kirche  (Hermann,  Text  S.  134,  dessen 
•Klagenfurt»  S.  231,  die  Kirchengewölb-Fresken  von  Fromiller  um  1750  [*  1681, 
I  1760)]  sind  nicht  boleslaische).  iDie  Wände  des  Schififes  und  der  Seitenaltäre  bieten 
Fresken  von  Fromiller,  in  Sepia  polnische  Geschichtssoenen»  (BabUs  Bl.  Führer 
d.  K.  1884  S.  71,  vgl.  k.  Kunst-Topogr.  S.  253.)  Eine  Copie  des  Holzbildes  al  freeco 
laut  Lelewel  11,  334,  335.  In  Zieglers  Vaterländischen  Inunortellen  Wien,  1838—39 
ein  lithographisches  Blatt  von  Peter  Job.  Nep.  Geiger,  vgl.  Blatt  99,  120,  127. 


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BOLESLAW  n.  VON   POLEE.  807 

Bandramues.  Durch  die  Vertiefung  ist  ein  Bahmen  am  Aussenrande  dazu 
gekommen. 

Die  Schrift  ist  gewesen  jene  des  ausgehenden  XIV.  bis  ausgehenden 
XV.  Jahrhunderts,  wie  sie  am  geläufigsten  bekannt  ist  aus  den  grösseren 
Münzen  des  Kaisers  Friedrich  HI.  (IV,  V)®*. 

Nur  weil  die  Vorarbeiten  für  eine  landläufige  Schrift-Vergleichung  mit 
Berücksichtigung  des  schrifttragenden  Materials  noch  nirgend  gemacht 
sind,  mussten  einige  Beweismittel  hier  in  Kürze  angedeutet  werden.®*  Wenn 

»  Kunst-Topogr.  d.  H.  K.  S.  274,  273,  94,  366,  302,  437,  226,  56,  107,  325,  432 
392.  Mitth.  CG.  1888,  S.  205  (Gurk),  125  Viktg.,  1881,  S.  93  f.,  1882,  S.  43,  104  f., 
vgl.  die  Fälschung  Cristan  ürsin -Rosenberg,  angeblich  1231. 

^  Um  die  landläufige  Buchstaben -Mode  aus  den  nichtbuchlichen,  den  Bau- 
und  Gerät- Schriften,  Kärntens  zu  beurteilen,  besitzen  wir  nicht  genug  Denkmaler, 
keines  verlässlich  vor  der  Mitte  des  12.  Jhdtes.  Diese  sind,  ausser  dem  ossiacher 
Convent- Siegel  mit  deutlichen  K  6  Ol  It,  folgende : 

1)  St.  Paul,  Casula- Seidenstickerei  aus  St.  Blasien,  um  1140,  Wortlaut  Otto 
primus  imper.  und  Josve,  ivdas.  Interpunktion  rund.  Formen  H  €  öl  T  T. 

2)  Gurk,  Portal,  12.  Jhd.  Ego  svm  hostivm  •  cvi  •  dextera  •  cor  •  pia  • 
mite  •  t  Intranti  •  rite  •  perdo  •  pascva  •  vie  •  f  intrat  •  et  •  hie  •  rite  •  Dann 
hoc  •  exvl  .  wido  •  I  psens  •  cepit  •  opvs  •  na  •  Formen  JI 6  E  3  D  H  ^.  Inter- 
punktion rund.  Nonnenchor  13.  Jhrdt    flSd    und  C  Q  Sil  LV  ßöl  M. 

3)  Viktring,  älteste  lateinische  Grabplatte,  c.  1250.  f  liic  •  germanorvm  •  re- 
qvescvnt  •  ossa  •  dvorvm  •  dimodis  •  vxor  •  sva  f  Heidenricvs  et  •  albertvs  •  de  • 
Heilec.  Formen    ÄC0E6T.  Interpunktion  rund, 

4)  St.  Georgen  am  Längsee,  Grabplatte,  c.  1275 — 1300.  Hie  iacet  corpvs  wich- 
pvrge  otwini  comitis  conivgis  venerande  fiUe  q  eins  hiltipvrge  hvivs  coenobii  primae 
abbatissae  Formen  3I66Hh$ßMVU.  Interpunktion ?  Dazu  der  Grabstein  zu 
Friesach   des   Pilgrim  Cellerarius  1276—1330  Formen.  Ä  H  ö  Q  F6  J  öl  ß  N  V. 

5)  Klagenfurt,  Stadtsiegel,  1279.  Formen  QaCIlN.  I>azn  der  Grabstein  in 
Friesach    1284—86    des    Gotfried   von  Truchsen,  Formen   CÖ6EßN6V. 

6)  Sagor,  Grabplatte,  älteste  deutschsprachige  f  hie  •  leit  •  bemhart  •  von  • 
rotnstain  •  nach  •  Christ  •  gepvrt  •  eromno  •  warn  •  drevzehn  •  hvdert  •  iar  Formen 
HAaSöRGIlJJRfiH  V  statt  U.  Interpunktion  rund.  Dazu  etwa  ein  Stein- 
schrift-Stück in    Gurk,    Formen  Q  Q  6  B. 

7)  Millstatt,  Portal,  c.  1310.  Heinricvs  abbas  rvdger(v8)  .  .  me  fecit  ego  svm 
alpha  et  w  Formen  A  E  (vorherrschend)  eOHGÖlTbU)  (»^  Omega).  Inter- 
punktion fehlt? 

8)  Friesach,  Thür-Pergamentschrift,  14.  Jhdt.  f  Bespice  •  de  •  celis  •  cvstos 
Nicolae  nte  porterva  demonis  enerva  vim  virtvtis  coacerva  Formen  'flQÖQJCßBR 
Interpunktion  rund.  Dazu  der  Grabstein  von  1333  daselbst,  des  Fridreih  von  Eber- 
stein 1336,  Formen  ö  0  II,  des  gurker  Bischofes  Gerold,  des  Zamelsbergers,  des 
Mayerhofeners,  des  Liebenbergers  um  1350,  letzterer  mit  Formen  y^  B  H  N  Q 
för   U,   W. 

9)  Viktring,  Metallschrift  des  Typars,  c.  1350.  Formen  g  M  ß, 

10)  St.  Helena,  Freske,    14.  Jhdt.    S.  Marcvs  *><*  iohannes  S.  matevs  sact.  Ivcas 
Formen     HAÄCQSßllfi    V  statt  U.  Interpunkt.  fehlt.  Zunächst  die  Grabsteine 


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808  BOLBSIiAW  n.  VON   POLEN. 

daraus  hervorgeht :  dem  schliessenden  XV.  Jahrhunderte  gehören  die  Buch- 
staben der  «alten  Steinschrift»  vorwiegend  an,  so  folgern  wir  weiter.  Es 
ist  wohl  anzunehmen,  man  habe  in  Vorbereitung  zur  Feier  des  vermeint- 
lichen sechs-  bis  achthundertjahrigen  Stift-Bestandes  die  alte  Kirche  erwei- 
tert, das  wäre  also  um  die  Jahre  1478  bis  1489.   In  dieser  Jahresreihe  läge 
auch  beiläufig  die  vierte  Jahrhunderts-Feier  für  Boleslaw's  Klosterweile,  mit 
den  äussersten  Grenzen   1074  und  1099.   Wahrscheinlich  um  die  Reiche 
Zeit,  als  die  alte  Kirche  erweitert  wurde,  so  dass,  was  zuvor  Hauptkirche 
war,  nunmehr  zur  seitlichen  Capelle  wurde,  und  die  Mauerlinie  gerade  über 
das  Grab  in  gleicher  Richtung  laufen  sollte,  entstand  mit  der  aussparenden 
Bogen-Spannung  auch  die  Schrift  der  von  aussen  her  die  Nische  abschUes- 
senden  Relief-Platte.  (Hatte  sich  diese  selbst  erst  bei  den  Grund -Grabungen 
hierorts  oder  in  nächster  Nähe  gezeigt?)   Vermutlich  gleichzeitig®^  wurde 
hergestellt  jene  Freske  oder  Tempera- Wandmalerei  an   dieser  Nischen- 
Mauer  innerseits,  welche  noch  vor  1840  hat  erkennen  lassen  einen  tuch- 
bedeckten Sarg  mit  Menschen-Beinen  darauf,  ohne  Inschrift.   Der  •  alten 
Steinschrift»  entspricht  auch  die  durch  Graf  Rudolph  Goess  1840  gegebene 
Copie®®;  abgesehen  von  den  Interpunktionen,  dem  u  für  v,  ae  für  e,  der 
i^ographisch  nicht  ausgedrückten  Zeilenteilung,  bringt  sie  genau  episcopi, 
nicht  im  Sinne  des  jetzigen  Steines.  ®*   Ohne  diese  bestimmte  Nachricht 
müsste  man  vermuten,  die  alte  Steinschrift  sei  abgemeisselt  und  nach  vor- 
zeitigem Muster,  aber  nur  des  XVL  oder  XVII.  Jahrhundertes,  die  jetzt  be- 
stehende Inschrift  zu  dem  nicht  viel   berührten  Pferd-Relief  hergestellt 
worden. 

Nunmehr  ist  wohl  ersichtlich,  man  hat  zu  irgendwelcher  Zeit  den 
alten  Römerstein  aus  der  Nähe  herbeigenommen  und  ihn  auf  gut  Glück 
für  ein  Königsgrab  zugerichtet.  Römersteine  gab's  in  der  Nähe ;  abgesehen 
von  dem  um  1 766  im  Klosterhofe  selbst  vorfindig  gewesenen,  sind  solche  zu 


zu  Friesach,  Peter  B.  von  Lavant  1363,   Jo.  Berahardin    1406,    Alb.  Silberberg  1416, 
gotische  Kleinschrift  stehend  und  Br.  Baumgartingen  1422. 

11)  Strassburg,  Grabstein,  1426.  hie  leit  vincenz  von  Strasburg.  Form  gotischer 
Kleinbuchstaben. 

12)  Nussberg,  Glockenschrift,  älteste  deutsche  in  Kärnten,  1431. 

13)  Feldkirchen,  Metallschrift  des  Typars  1449.  Wenige  gotische  Spuren  in 
A,   E,   M,   N,  höchstens  in   K  T  V. 

14)  Völkermarkt,  Grabstein,  1 — 40 — 44  des  Adam  von  Obdach.  Formen  noch 
KHKAGCHV,  »chon  H  M  N  W  statt  U.  Hienach  die  friesacher  Grab- 
steine 146J,  W.  Grasvirein  1465,  E.  Uberecker  1470,  A.  Ksettner  1501  u.  s.  w.  Endlich 
St.-Georgon  am  Weinberge  K  W   1^72.  K..Top.  zu  S.  68. 

•'  Hohenauer,  Kirchen-Vergrösserung  um  1500;  alter  Grabstein,  S.  363. 
"  Carinthia  1840,  S.  190. 

»"♦  Budik   copierte  1832,    Kämt.  Zeitschft.    S.  166:  Rex  |  Boleslaus    Poloniae  | 
Occisor  S.  Stanislai  |  Episcopi  Cracoviensis. 


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B0LE8LAW   II.  VON    POLEN.  ^>^ 

Landskron,  St.  Michael,  Treffen,  Tiffen,  Feldkirchen,  Sternberg  u.  s.  w.®^  Das 
Pferd  hat  zur  BolesJaws-Legende  eben  gar  keinen  Bezug ;  den  Pilger  denkt 
man  sich  doch  eher  zu  Fuss,  zumal  wenn  er  incognito  wandeln  soll  und 
also  ist  er  auch  auf  dem  Bilde  gemalt  worden.  Eher  hätte  es  noch,  in  Eück- 
sicht  auf  den  durch  seine  eigenen  Jagdhunde  zerrissenen  wilden  Jäger, 
etwa  mit  einem  römischen  Windhund-Relief  glücken  können.  Hoffentlich 
hat  die  Auswahl  des  Pferd-Reliefs  nichts  zu  thun  mit  dem  Capitel  der  acta 
Sanctorum  zu  Stanislaus  HE  262,  equus  mortuus  resuscitatur.®^ 

Die  Herstellung  der  Steinschrift  muss  man  ja  nicht  als  erfolgt  denken 
in  den  Jahrzehnten  der  ersten  angeblichen  Erinnerung.  Soweit  wir  ihren 
Text  kennen,  könnte  sie  gar  nicht  früher  gesetzt  worden  sein,  als  beiläufig 
172  Jahre  nach  Boleslaw's  Tode.  Diese  BeUäufigkeit  hat  ihren  Grund  am 
Anfange  und  am  Ende  der  Termin-Zählung.  Im  Anfange  ist  das  Todesjahr 
nicht  gewiss,  das  differirt  ja  um  18  Jahre  (1081 — 1099).  Am  Ende  steht  die 
Canonisation  Stanislaus.  Für  die  ersten  12  bis  17  ossiacher  Aebte  hat  es 
daher  —  wie  es  auf  der  Hand  liegt  —  keinen  Sanctus  Stanislaus  gegeben, 
als  welcher  der  Krakauer  Bischof  auf  der  Steinschrift  verzeichnet  ist. 

Seit  dem  s.  g.  13.  Abte  Berthold  II.,  wenn  wir  diese  Serie  gelten 
lassen  dürften,  ist  obige  Bezeichnung  erlaubt,  indem  in  dieses  Abtes 
Zeit,  um  1250 — 1263,  durch  Papst  Innocenz  IV.  thatsächlich  die  Heilig- 
sprechung Stanislaus'  durchgeführt  worden  ist  im  J.  1253,  17.  Sep- 
tember (Acta  Sanctorum  Mai  HS.  200;  nach  Anderen  1248).  Ein  Paar 
Jahre  zuvorhätte  die  Heilig-Nennung  allenfalls  schon  passirt  werden  können, 
da  man  schliesslich  in  eingeweihten  Kreisen  des  Erfolges  der  Procedur  im 
Lateran  hat  sicher  sein  können.  Ein  Beispiel  dafür  ist  der  Chronist  Bogu- 
phalus,  welcher,  7  Monate  vor  Stanislaw's  Heiligsprechung  verstorben, 
diesen  in  seinen  Schriften  schon  sanctus  und  beatus  martyr  nennt.  Ist  es 
ja  auch  möglich,  dass  der  Minorit  Jacob  von  Velletri,  infolge  päpstlichen 
Schreibens  vom  26.  Mai  1252,  nach  Polen  zur  Untersuchung  der  Stanislai- 
schen  Lebensführung  reisend,  über  Aquilieia  des  Weges  gen  Friesach  in 
das  Seestift  gekommen  war  (er  hatte  Ordens-Genossen  in  Villach  und  Wolfs- 
berg) oder  dass  man  hierselbst  vor  dem  seit  1251  eingeleiteten  Canoni- 
sations-Pi'ozesse  durch  den  Patriarchen  Kunde  hatte.  Nicht  ganz  40  Jahre 
zuvor  war,  annehmbar  desselben  Weges  aus  Bom  und  vielleicht  unter  Ein- 
kehr hierselbst,  der  Krakauer  Excanoniker  Hyacinth,  ein  geborener  Pole, 
nach  Kärnten  gekommen  und  zu  Friesach  Gründer  des  Dominikaner- 
Klosters  ^^^  geworden.  Ausser  Zeslaw,  seinem  Binder,  waren  A-ielleicht  auch 


•^  Kärnt.  K.-Top.  S.  253,  157,  22 J,  346,  338,  38,  321,  65. 
***»  Vgl.  Lanbich  Historia.  1595,  Blatt  96,  ein  grosseB  wunder  an  einen  todten  Iloss. 
•®b  D.    iuris    Max    Gumplowicz    in     Graz    macht     mich    aufmerksam :    Bischof 
Iwo(n)  Odrowanz  (Odrow^z),  Bischof  von  Krakau  zur  Zeit  Bolestaus  Pudicus,  führte  die 


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^10  BOLESIAW   II.  VON    POLEN. 

Heinrich  und  Hermann,  die  Zellen-Genossen,  gebürtige  Polen.  Diese  Grün- 
der-Traditionen konnten  jetzt  im  Auge  behalten  worden  sein,  als  es  sich 
gewissermassen  um  einen  Connationalen  im  Himmel  handelte,  als  welcher 
späterhin  Hyacinth  selber  bezeichnet  worden  ist.  Der  Minorit  aber  fand  zu 
Villach  jenes  Brüderhaus,  in  welchem  nachmals  Thomas  von  Aquino  nach 
Italien  reisend  mit  Sanct  Bonaventura  1273  zusanmiengekommen.®^  Alle 
diese  Erwägungen  setzen  aber  eine  historische  Thatsache  schon  voraus, 
beweisen  sie  nicht.  Eine  Steinschrift,  ausschliesslich  dieser  Zeit  des  XIDL 
Jahrhundertes  entsprechend,  hat  Niemand  nachgewiesen  oder  auch  nur 
behaupten  wollen.  Ueberhaupt  hat  weder  Gröblacher,  wie  wir  sahen,  in 
seinen  Annalen,  noch  Wallner  in  seinem  Annus  millesimus  von  irgend 
einem  Abte  gesagt,  dieser  oder  jener  habe  das  Bolesläische  Steindenkmal 
errichten  lassen.  Domherr  Hermann  nennt  die  Platte  das  Werk  etwas  spä- 
terer Zeit  **.  Das  ist  wohl  sehr  unbestimmt. 

Sollte  nun  in  Anwendung  gebracht  werden,  was  Tadeusz  Czacki  181& 
geurteilt  hat,  dem  XTTT.  oder  XIV.  Jhrh.  angehöre  nach  den  Buchstaben- 
formen die  seiner  Zeit  vorhandenen  Steinschrift,  so  kann  das  zunächst 
nicht  von  der  gegenwärtig  sichtbaren  gelten.  Also  von  der  vormaligen  und 
dies  mehr  mit  der  zeitlichen  Einschränkung  auf  des  14.  Jhdtes  Auslauf, 
noch  mehr,  wie  wir  urteilen  mussten,  auf  das  15.  Jhdt.  In  diesem  Falle 
haben  wir  die  veranlassende  Ursache  zu  suchen  in  der  Hausgeschichte  der 
Stiftsäbte  vom  s.  g.  dreizehnten  bis  zum  33-sten,  mehr  des  34-sten  bis 
41-sten.  Wir  suchen  vergebens  nach  allfälligen  polnischen  Landsleuten  im 
Mönchs-Habit;  mit  dem  Familien-Namen  erscheint  ohnehin  kein  Abt  vor  dem 
41-sten,  Daniel  Krachenberger  um  1485 — 96.  Wir  fragen  nach  hiesigen 
Clerikem  aus  polnischen  Klöstern,  denen  etwa  die  (nach  1253,  vor  1295 
geschriebene)  Vita  S.  Stanislai  geläufig  war.  Oder  genügen  unseren  Vermutun- 
gen unternehmende  Aebte  in  Allgemeinen,  wie  Ulrich  H.  1393 — 1429,  der 
sich  zuerst  die  Inful  erwirkte,  Benedikt  aus  Kremsmünster,  durch  Cardinal 
Aeneas  Sylvius  octroyiert,®^   also  aus  besonderer  Begünstigung,   gewisser 


Dominicaner  in  Polen  ein.  Sein  Bi-uder  war  der  hl.  Hyacinthus  (Sw.  Jacek),  Begrün- 
der des  Dominikaner-  Klosters  in  Ejrakau.  Seine  Schwester  war  die  hl.  (Sw.)  Bronisiava 
in  Krakau  (neben  dem  nach  ilir  benannten  Berge  befindet  sich  ein  Norbertanerinnen- 
Kloster).  Gleichzeitig  war  noch  ein  dritter  hl.  Odrowaz ;  ausserdem  wurde  die  Frau 
des  Boleslaus  Pudicus,  die  ungarische  Königstochter  Kunigunde  (Sw.  Kinga).  und 
seine  Schwester  Salome  heiliggesprochen.  (P)X.  Ludwig  L^towski,  Eatalogi  biskupöw 
Krakowskich.  Krakau  (1861  f.)  Piekosinski,  Codex  diplomaticus  capitul.  Cracowien- 
sis  B.  I. 

"*  Marian  Klerisey  a.  a.  0.  333,  243. 

««  Text  z.  W.  A.  S.  132. 

^  Marian  Klerisey  III,  5,  346  und  IV  7,  S.  125.  «Seinen  Lehrjungen  Benedikt 
gab  Jakob  Treutlkofer,  44J-ster  Abt  zu   Kremsmünster»  im  J.  1452  als  Abt  zu  OssiBob 


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BOLEßLAW   II.  VON    POLEN.  ^1  ^ 

KücKsichten  wegen,  entgegen  dem  besseren  Willen  der  Conventualen,  ein- 
gesetzt um  1454  bis  1457  (oder  1458),  oder  der  Streber  Johannes  Siebenhirter, 
Administrator  aus  Millstatt,  um  1460,  insbesondere  der  Bauherr  Daniel 
Krachenberger  um  1485 — 96?  In  dieser  Zeit  blühte  die  Pflege  der  Latini- 
tät  in  der  Abtstube  so  sehr,  dass  man  die  Stifts- Annalen  zum  Besten  der 
sechs  stimmfähigen  Mönche  (nach  1520  waren  deren  gar  nur  vier)  in 
deutscher  Sprache  fortsetzte  1438 — 73.  Hier  begegnen  wir  dann  dem 
Stifts-Jubeljahre  1489,  dem  800-Jahrfe8te !  Auch  Erasmus  Tätrer,  um 
1496 — 1510,  hatte  die  Maurer  und  Steinmetzen  lange  in  Verwendung.  Bis 
in  diese  Jahrzehnte  äusserstens  wäre  der  Ursprung  der  alten  Steinschrift 
zu  versetzen.  Die  jetzt  vorhandene,  die  neuere  (sagten  wir)  imitirt  alte 
Formen,  die  gewiss  über  des  16.  Jlidtes  spätere  Hälfte  nicht  zurückgehen. 
Wenn  es  für  die  Zeit  des  bauthätigen  Andreas  ü.  Hasenberger  1528 — 1555 
noch  Vermutungen  gäbe,  so  hören  diese  mit  den  Aebt^n  Zacharias  Gröb- 
lacher 1588—93,  Adam  Schröttl  1593—95,  Kaspar  Eainer  1595—1616 
auf,  solche  zu  bleiben.  Denn  in  dieser  umbaureichen  Aera  existirt  die 
Boleslaw-Sage  bereits  buchmässig  verschrieben.  Daraus  folgt  zwar  nicht 
zwingend  der  Schluss,  dass  auch  das  jetzige  Steinschrift-Denkmal  schon 
existirt  habe ;  aber  etwas  wie  sein  Vorbild  ist  unter  dem  angeblich  47-sten 
Abte  Peter  Gröblacher  gesehen  worden  um  die  Zeit  zwischen  1558 — 63. 
Und  dieses  konnte  vielleicht  den  Anspruch  haben,  dazumal  schon  an  die 
100  Jahre  alt  zu  sein.  Nun  wäre  die  Frage  nicht  ausgeschlossen,  ob  Abt 
Caspar  Bainer,  welcher  soviel  Verpfändetes  mit  Gold  zurückgekauft,  manche 
Erweiterung  an  dem  Stifthause  vorgenommen,  ein  elegantes  Landhaus  am 
Tauem  hergerichtet,  Gold-  und  Silbergeräte,  geistliches  und  weltUches,  bei- 
gestellt, die  Johannis-Kapelle  ausgezieret,  sich  dem  Lebenden  selber  einen 
Grabstein  angeschafft,  alsdann  des  Stifters  Grabmal  wegen  der  Kirchen- 
Enge  unterirdisch  versetzt  hat,  ob  er  nicht  das  königliche  Grabmal  in  Bezug 
auf  die  Bandleiste  und  die  Schrift  habe  etwas  abschleifen  und  verdeutli- 
chen lassen.  Die  Zeit  dieser  Benovation  wäre  unschwer  abzugrenzen ;  denn 
1616  hat  Abt  Bainer,  vermutlich  wegen  zu  kostspieliger  Unternehmungen, 
abdanken  müssen,  und  21  Jahre  zuvor  hat  er  seine  energische  Thätigkeit  zu 
entwickeln  begonnen.  Gegen  diese  Beweis-Führung  spricht  nur,  dass  die  alte 
Schriftform  noch  in  diesem  unseren  Jahrhunderte  gesehen  worden  sein  soll ; 
vielleicht  handelt  es  sich  aber  auch  hierbei  nur  um  die  Neuausgabe  einer  alten 
Copie.  Zum  Vergleiche  ortsüblicher  Steinsclirift  sind  übrigens  in  Ossiach 
noch  vorhanden  die  Grabmäler  von  Niclas  Pfietner  1497,  Michael  Hasen- 
perger  1532,  Andrea  Hasenperger  1555,  Sigismund  Frisch  1556,  Peter 
Gröblacher  1587,  Kaspar  Bainer  um.  1615  u.  s.  w.»* 

her,  den  er  bemach  als  Erzbischofen  zu  Tiberaid  (Tiberiafi  ?)  zu  wissen,  das  tröstliche 
Vergnügen  hatte.»    "  Marian  in,  5,  351  Note  **  K.  Kunst-Topogr.  8.  253. 


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812  B0LE8LAW   II.  VON   POLEN. 

Bedenke  man  nur :  Es  ist  ein  Grabstein  gesetzt  dem  Ozzins.  Dieser 
hat  also  wirklich  gelebt,  er  war  ein  Graf,  hat  das  Kloster  gegründet  und  ist 
hierselbst  begraben  in  der  Mitte  der  Pfarrkirche.^^  Für  diese  Wahrheiten 
steht  Niemand  ein,  als  der  Denkmal-Setzer  Abt  Bainer.  Ihm  war  die  Ozzius- 
Sache  mindestens  aus  Megiser  geläufig,  wenn  auch  vielleicht  nicht  aus  Gröb- 
lachers Annalen.  Tumulum  fundatoris  Ozzii  ob  angustias  templi  sub  terram 
condidit  (Ann.  mil.  S.  90).  Villeicht  ist  dieses  Schriftsteines  Vorgänger  gewe- 
sen jener,  welcher  hierorts  im  J.  1839  durch  den  Pfarrer  Franz  Karl  im 
Keller  gefunden  worden  ist,  mit  (wie  es  scheint)  dreien  Schriftzeilen, 
welche  zum  heiligen  Werke  den  Namen  Ozzius  bringen.  Kaum  viel  hinter 
des  XVn.  JhdteH  Anfang  wird  auch  das  Bild  (auf  Leinwand  oder  Holz  ?) 
zurückgereicht  haben,  welches  vor  (1689  und)  1766  sich  in  Befectorium 
befunden  hat,  die  Kloster- Gründung  darstellend  und  die  Namen  Ozzius, 
Irenburgis,  Popo  in  Versen  einschliessend  (Ann.  mil.  S.  40).  Von  der  alten 
romanischen  Kirche  aus  der  Zeit  um  1039  ist  weiter  nichts  bekannt,  als 
der  Bestand  einer  Krypta ;  diese  wird  wohl  schon  früher  verändert  worden 
sein,  als  bis  der  Brand  von  1484,  6.  November,  alles  verwüstete  und  der 
Neubau  von  1500  Anderes  an  die  Stelle  setzte,  besonders  in  der  Krypta 
mit  ihren  Altären.^*  Man  erinnere  sich,  dass  die  älteste  Stiftungs-Bestäti- 
gungH-Urkunde  von  1149  keine  Namen  Ozzius  und  Irenburgis  kennt.  Erst 
zwischen  1440  (Dombrovka)  und  1468  (ünrest)  möchten  diese  For- 
men erfunden  worden  sein,  vielleicht  anlässlich  der  Ausgrabung  eines 
Eömersteines  für  einen  Ocius.^'  Und  dennoch  ein  Grabstein  für  Graf 
Ozzius !  Da  glaube,  wer  guten  Willen  hat ! 

Die  seit  1839  erwähnten  Grab-Fundstücke  lassen  schliessen,  dass  man 
bei  der  ersten  Zurichtung  des  Königsgrabes  gekommen  sei  entweder  auf 
die  Krypta-Zugehörden  etwa  aus  den  Zeitläuften  um  1039  (in  diesem  Falle 
waren  die  Beigaben  älter,  als  die  Bolestaische  KlosterweUe)  oder  dass  man 
schon  dazumal  gestossen  sei  —  bei  Kirchgrund-Grabungen  —  auf  ein 
frühraittelalterig- slavisches  Grab  oder  ein  spätrömisches.  Die  Beschrei- 
bungen der  Sachen  (zusammengehäufelt  vorgefunden,  demnach  in  gestörter 
Lage)  sind  zu  ungenau,  als  dass  sich  daraus  auf  Zeit  und  Volk  schlies- 
sen Hesse ;  mindestens  wird  ein  Gegenbeweis  nicht  geführt  werden  können, 
als  ob  die  Beliquien  boleslaisch  seien.*®  Dies  gilt  vom  Menschenschädel 

'*  Abschrift  in  Ank.  II,  539.  Note  vgl.  K.  Kunst-Topogr.  8.  254.  Ogyius. 

*»*  Ank.  n,  989. 

"'  Vgl.  diese  Namensform  in  Archiv  d.  h.  V.  f.  Kärnten  XU,  keltische  Namen, 
Sond-Abdr.  S.  45,  OC,  OG  zu  Ottraanach,  Hohenstein. 

^  Ftlr  diejenigen,  welche  etwa  nach  Geldeswert  und  Münzen  (Byzantinern 
bis  Michael  VII,  Venetianern,  Mainzer  und  Wormser  Denaren  etc.)  fragen  sollten, 
mit  denen  Bole8l:aw  nach  Kärnten  usw.  gekommen  sei  und  die  auch  erfahren,  dass 
man  nie  einen  Piastenmttnzen-Fund  in  Kärnten  gemacht,  diene  Beilage  IL 


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BOLESLAW   n.  VON    POLEN. 


S13 


(Hinterteil),  den  Gebeinen  (männliche  Arm-  und  Schenkelknochen)  und 
Sehnen,  den  langen  Eisennägeln,  deren  einer  noch  1840  beim  Slavisten 
Pfarrer  ürban  Jamik  in  Moosburg  zu  sehen  war,  der  metallenen  Schliess- 
nadel,  beiderseits  mit  muschelartigen  Knopf-Enden,  1840  beim  Pfarrer  Franz 
Karl  zu  sehen.  Die  letztere  ist  sammt  dem  Schlüssel  des  Grabmal-Gitters 
bis  1844  in  der  Hut  des  Ortspfarrers  gewesen.  Der  Königsring  wird  als 
(seit  welcher  Zeit?)  ausserhalb  der  Gruft  vorfindig,  in  des  Küsters  Ver- 
wahrung bis  vor  1 748  angegeben.  lieber  seine  Form  vermag  Niemand  etwas 
zu  sagen,  als  Gleissenberg,  der  Poet,  welcher  den,  mit  antiker  geschnit- 
tener Gemme  ausgestattet  denkbaren,  Schmuck  schildert  als  fulgentem 
peregrino  lumine  gemmam.  *^  In  einem  polnischen  Königs-Schatze,  etwa  zu 
Krakau,  wohin  er  durch  einen  reisenden  Patrioten  gebracht  worden  sei, 
ist  er  nicht  bekannt,  nicht  in  der  Krakauer  Dom-  oder  Schlosskirche  (18. 
Kapelle  mit  dem  Silbersarge  St.  Stanislaus),  nicht  in  der  Schatzkammer 
des  polnischen  Eeichs-Schatzes  (kostbare  Messgewänder,  kunstvolle  Gefässe 
aus  Edelmetallen),  die  Ausstellung  polnischer  Altertümer  zu  Krakau 
1858  hat  ihn  nicht  enthalten.  Natürlich,  der  geheime  Besitzer  kann  ihn 
doch  nicht  preisgeben,  will  man  einwenden.  Gewiss,  insolange  ist  uns  also 
auch  kein  Gegenbeweis  geführt.  ^^^ 

Nachdem  wir  nun  an  dem  Hauptbeweis-Mittel  der  Boleslaischen 
Legende,  dem  Grabmale,  die  Keihe  der  Unwahrscheinlichkeiten  aufgezeigt 
haben,  könnten  wir  wohl  mit  Fug  und  Recht  behaupten,  dass  eigentlich  die 
ossiacher  Steinschrift  sich  gar  nicht  als  Grabmahl  gebe,  sie  sagt  nicht 
Hie  iacet  oder  sub  hoc  tumulo  conditur  od.  dgl.,  dass  sie  gar  nichts  ausdrücke, 
als  die  trockene  Wahrheit,  König  Boleslaw  von  Polen  ist  der  Tödter  des 
Heiligen  Stanislaus,  Bischofes  von  Krakau.  Aber  als  Grabmahl  ist  sie  ver- 
fochten worden  im  Anschlüsse  an  eine  vorausgegangene  Literatur,  als 
Grabmal  mit  Beigaben  zugerichtet  und  so  sind  wir  wol  bemüssiget  zu 
schlussfolgem :  Wenn  das  Epitaph  des  ersten  Boleslaw  (Chrobry)  in  der 
Kathedrale  von  Posen  in  seinen  Lettern  gelitten  und  das  Erhaltene  den 
Wert  der  Bedenklichkeit  erreicht  hat,^®^  so  kann  jenes  des  zweiten  zu 
Ossiach  als  ein  geradezu  sehr  neuzeitiges  und  unzugehöriges  angesprochen 
werden. 


••  Lib.  VI,  S.  162,  Vs.  8. 

^^  Von  Ringen  und  Spangen  des  8 — 10.  Jhdtes  giebt  Darstellung  Essenweins 
Culturhistorischer  Bilder-Atlas  Taf.  VI,  No.  10—13,  XI,  5—7.  Domschatz  in  Mitth. 
d.  Centralcommiss.  1882.  S.  XVIU,  Stanislaus'  Infel  und  Ring,  1889  S.  41,  Kasimirs 
Grabschatz  1869  S.  XCVH,  1870  S.  LV ;  Ausstellung  1858  S.  335. 

^"^  Lelewel,  Gesch.  Polens  S.  9,  Note  3.  Polska  11,  316,  338.  K.  Stronozynski, 
Dawny  grobowiec  Bolesiava  Chrobrego  w  Poznanu.  Bibl.  Warszawska  S.  165 — 177, 
407—420.  Zeitschr.  f.  Pos.  1888.  S.  421  und  437. 


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814 


BOLE8LAW  H.  VON   POLEN. 


IV. 


Die  Sage  von  dem  Ossiacher  Aufenthalte  Boleslaws,  als  welche  sich 
nunmehr  der  ganze  Bericht  ergiebt,  ist  irgendwann,  irgendwo  und  durch 
irgendwen  mit  besonderen  Absichten  aufgebracht  worden.  Auch  diese  Fragen 
drängen  zur  Beantwortung.  Vor  dem  XV.  Jahrhunderte  hat  keine  bisher 
bekannte  Schrift  das  Leben  des  Königs  über  Ungarn  hinaus  verfolgt  Nach 
1449  scheinen  die  das  Ober-Eämterland  wälschlandwäxts  durchreisenden 
Polen  irgendwelche  polnische  Sagen  im  Drau-  und  Seethale  aufigezeichnet 
zu  haben,  ausgehend  von  dem  Predigtstuhle  des  Seestiffces;  vor  1587,  wahr- 
scheinlicher schon  vor  1561  und  1558  haben  dieselben  ein  Steindenkmal 
für  den  König  zu  sehen  bekommen.  Es  war  die  Nachricht  über  das  Ver- 
schwinden des  Königs  annehmbar  zunächst  von  den  Ungarn  ausgegangen, 
den  Nord-Ungarn.  Das  diesen  nächste  grössere  Grenzland  war  Kärnten ; 
das  konnte  am  füglichsten  dazu  genannt  werden  und  zog  die  in  kirch- 
lichem Sinne  nach  Bom  Beisenden  genugsam  lang  an.  Alles  weitere  geht  — 
es  ist  erst  nachzuweisen,  ob  auf  Grund  von  in  Polen  selbst  ausgewachsenen 
Legenden  in  missverständlicher  Auslegung  —  von  geistlichen  Kreisen  aus, 
welchen  die  Martyrium-Geschichte  des  St.  Stanislaus  am  Herzen  lag. 
Fromme  Polen  überhaupt,  Klostergenossen  des  Ordens  St.  Benedicts,  speciel 
Krakauer  Ganoniker,  Bischöfe,  Bistums-Gandidaten  und  Gurial-Sendlinge 
kommen  dabei  in  Betracht,  sagen  wir  vorsichtweise ;  immerhin  schon  seit  oder 
etwas  vor  1252.  Die  slavischen  Gonnationalen  haben  seit  den  Jahren  von 
1080  herwärts  südlich  von  der  rein-baierischen  Bevölkerung,  sonderheitlich 
in  der  Gegend  um  den  Ossiacher- See,noch  fast  alle  Bauernschaft  slavisch  betref- 
fen können,  die  Grossgrund-Besitzer  deutsch,  von  den  damals  seit  500  Jahren 
bestehenden  Ortschaften  die  grösseren  mit  verdeutschten  Namen  (Fillac  979), 
genug  Aehnlich-Klingendes,  das  an  die  polnische  Heimat  erinnerte ;  wir  sagen 
dies,  um  für  die  Erfindung  der  Königsweile  ein  unterstützendes  Motiv  ent- 
decken zu  helfen.  ^^^  Vielleicht  hat  das  Begiment  Przemysl  Otakars  von 
Böhmen  1270 — 76,  vielleicht  jenes  des  Herzogs  Heinrich,  Königs  von 
Böhmen,  13?8  das  Kloster  Ossiach  eximirend,  irgend  das  slavische  Element 


^***  Die  posener  Drage  hiess  Dravus  noch  im  13.  Jhdte,  wie  hier  die  Drau  noch 
zur  Stunde  dialektisch  Drag.  Um  Stadt  Krakau  Clirobatien,  wie  hier  um  Stadt  St  Veit 
der  Chrobati-Gau.  Zu  den  polnischen  Ortsnamen  die  kärntisch-steierischen :  Breslau 
(Bresje,  Bresouz,  Brestarzen,  Friesach),  Gnesen  (Gnesau,  Gnas,  Gnaseck),  Kolberg  (Kolb- 
nitz  und  die  Menge  von  Kohl),  Krakau  (Krakaudorf,  -Mühl,  -Schatten),  Kocawa  (Kokau, 
Köking,  Kokarje,  Kokoritsche),  Lebus  (Lebmach,  Lebring  und  fast  ein  Dutzend  von 
Leb),  Plock  (Plöcken,  Plösch,  Plosohenberg),  Polen  (Polein,  Pollana,  Pollau  und  über 
ein  Dutzend  anderer  Formen),  Posen  (Posamig,  Pusamitz,  Possau,  Posseggen),  Bogosmo 
(Ragosnitz,  Rogein,  Bogaun,  Bohitsch,  Bagnitz,  Bagitsch),  San  (Sann,  Saneck,  Soune), 
Tiniec  (Teinach),  Weichsel  (W-Berg,    -Baum,    -Boden,    -Burg,  -Dorf,  -Stätten)  u.  dgL 


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B0LB8LAW   II.  VON   POLEN.  815 

gestärkt,  sc  dass  dem  Benedictiner-Orden  zu  gewissen  Zeiten  polnische 
Landsmannschaft  zufloss.  Denn  das  ist  zwischendurch  gewiss:  alles 
baierische,  speciel  salzburgiscbe  Eirchenwesen  ist  nach  den  Gründungen 
von  836  aus  Mähren  und  Ungarn  zurückgedrängt  worden,  insbesondere  seit 
im  Jahre  868  die  Cyrillisch-Methudischen  Kirchenboten  die  entschiedene 
Oberhand  gewonnen  haben.  Wir  konnten  aber  auf  diesen  Wegen  bisher 
noch  keine  Nachweise  erhalten,  als  ob  die  Boleslfaw-Legende  nach  und  nach 
an  Ort  und  Stelle  auf  kärntischem  Boden  gemacht  worden  wäre. 

Wenn  bei  einer  derartigen  Erzeugung  von  mächtiger  Einflussnahme 
auf  Umstände,  Unternehmungen,  Thatsachen  und  deren  Nachwirkungen  die 
Kede  ist,  so  wird  Niemand  zweifeln,  dass  hierin  einem  Aeneas  Sylvius  der 
erste  Bang  einzuräumen  sei.  Der  schlaue  Italiener  (Piccolomini,  geb.  1405), 
auf  dem  weiten  Wege  vom  Hochschüler,  Juristen,  Poeten,  Humanisten, 
Liebesabenteurer,  Ganonicats-  und  Gesandtschafts-Secretär,  zum  Land- 
pfarrer, Königs-Geheimschreiber  1442,  Bischöfe  von  Triest  (1447 — 51),  endlich 
zum  Cardinal  und  Papste  1458 — 64,  hat  bei  seinem  23jährigen  Aufent- 
halte in  Deutschland,  auf  seiner  Jagd  nach  dem  Bistume  Ermeland  in  Ost- 
preussen  auch  die  besondere  Gunst  des  Königs  von  Polen  erschleichen 
müssen.  Immer  ist  er  der  Freund  und  Förderer  des  polnischen  Volkes 
gewesen,  der  polnischen  Interessen  im  heiligen  Collegium,  ^"*  versichert  er ; 
freilich  bisher  hat  sich  das  Gegenteil  als  wahr  bezeigt.  Er  stand  mit  dem 
römischen  Sachwalter  Petrus  Milinus  in  Correspondenz,  mit  dem  Bischöfe 
von  Gurk  Ulrich  HI.  von  Sonnenberg.  Erbauliche  Schriften  für  das  Seelen- 
heil der  durch  den  Polenkönig  zu  erreichenden  Bistums-Ghristen  hat  er  in 
die  Welt  zu  stellen  versprochen.  Welche  diese  seien,  ist  bisher  nicht  nach- 
gewiesen worden.^®*  Zuvor  hat  er  Gelegenheit  gehabt,  die  östreichischen 
Alpenländer,  ihre  Bräuche  und  Sitten  kennen  zu  lernen,  in  Wien  ist  er 
gewesen,  in  Wiener-Neustadt,  in  Brück  a.  d.  Mur  1444,  in  Kärnten  (Stadt 
St.  Veit,  Klagenfurt),  in  Laibach  u.  s.  w.,  ohne  Zweifel  hat  er  die  ober- 
kärntischen  Grenztäler  gegen  Itaüen  öfter  durchwandert.  ^^^ 

Wohl  fühlte  Sylvius  keine  Schätzung  für  Leben  und  Gebahren,  An- 
schauungs-,  Sprech-  und  Schreibweise  der  «Barbaren»  und  hielt  sich  für 
hoch  darüber  hinaus.   Die  ältesten  Denkmäler  des  Landes,  weil  italische, 

***"  Brief  an  Kg  Casimir  1457,  31.  August  bei  Voigt  E.  Silvio  de'  Piccolomini 
3  Bde.  Berlin  1859—1863. 11  226.  Hagenbach,  Erinnerungen  an  Ae.  S.  P.  Basel  1840. 
Die  Epistulae  in  mehreren  Druckausgaben  seit  1478. 

Des  Aeneas  Sylvius  Roman  Lucretia  und  Euryalus  (Liebesgeschichte  des  Grafen 
Schlick)  verurtheüt  bei  Grässe,  Lbuch  der  Lit.-Gesch.  1842  IH  1  S.  483. 

Diplomatische  Beurteilungen  durch  Aen.  Sylvius  (z.  B.  Carvajals)  vgl.  in 
«Ungarische  Revue.  1890  X  S.  2,  3,  4,  136,  141  etc.  Archiv  f.  östr.  Gesohfechg.  XVI  382. 

^"^  Zeitschrift  f.  d.  Gesch.  u.  Althmskde.  Ermelands.  Mainz  1858  I  128  f. 

^°*  Historia  Friderioi  in  219,  230.   Voigt  H  309. 


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81^  B0LE8LAW   U.  VON    POLEN. 

fessellieD  seinen  Blick  und  forderten  sein  Urteil  heraus,  er  konnte  sich  als 
ersten  Aufmerksam-Maeher  geben  und  wusste,  keinem  vorausgegangenen 
Beurteiler  sich  fügen  zu  müssen.  Als  Antiquar  und  Historiker,  wie  von 
Natur  aus,  zur  Skepsis  geneigt  und  Anerkanntes  nicht  ohne  Behagen  bezwei- 
felnd und  zersetzend,  war  er  wieder  geneigt,  auf  ein  Schlagwort  Neues  auf- 
zubauen und  mit  seiner  Autorität  das  aufzuzwingen,  was  man  lieber  ableh- 
nen mochte.  Den  Elagenfurtern  hat  er  die  Geschichte  von  einem  zuerst 
justificirten  und  hinterher  strafrechtlich  untersuchten  Bäckerjungen  als 
allgemeine  Justizform  angehängt,  ^"^  den  Ossiachem  hat  er  einen  Abt  «auf- 
gedrungen». Dieses  geschah  vermutlich  noch  im  Jahre  1454,  nach  Abt 
Ulrich 's  m.  Resignation,  zwanzig  Jahre  nach  der  Anwesenheit  des  vorhe- 
rigen Ossiacher  Abtes  Andreas  I.  auf  dem  Goncile  zu  Basel.  Abt  Benedict 
muss  ein  nicht  harmonisches  Regiment  geführt,  und  unter  den  Mönchen 
viel  Widerspruch  erlebt  haben;  vielleicht  dass  die  seit  1452  versuchsweise 
durchgreifenden  Elöster-Beformen  zu  Gunsten  der  Observanten  gegenüber 
den  Conventualen  auch  ihm,  dem  bumanistenseits  Empfohlenen,  das  Walten 
sauer  machten.  Er  dankte  1457  ab  und  starb  bald  darauf,  bevor  sein  Gönner 
Papst  geworden.  Vielleicht  dass  der  Millstätter  St.  Georgs-Bitter  Gross- 
meister Johannes  Siebenhirter,  unter  Abt  Ulrich  IV.  die  weltliche  Güter- 
Verwaltung  führend  (bis  1462  ?),  noch  jene  Klöster-Stimmung  vorhalten  liess, 
welche  angenehme  Bistümer  durch  wohlgesetzte  Poeme  anstrebte. 

Mit  einem  Worte,  in  diesen  Jahrläuften  und  auf  diesen  Wegen  scheinen 
die  auf  ungarischem  und  polnischem  Boden  schattenhaft  wandelnden  Sagen 
von  dem  verschwundenen  Piasten-Eönige  sich  hier  in  den  Alpengauen  ver- 
körpert zu  haben  durch  Leute,  welche  zwischen  Polen  und  Ungarn  einer- 
seits, Rom  anderseits,  viel  Verkehr  und  an  der  Herstellung  wunderbarer 
Geschichten,  namentlich  um  des  Seelenheils  der  Polen  willen,  Interesse 
hatten.  Ich  glaube  nicht,  dass,  wie  Graf  Ostrowski  bei  Lelewel  andeutet 
(b.  334),  die  Benedictiner  in  erster  Linie  das  ausführten;  natürlich  konnten 
die  hiesigen  nachmals  den  Anregungen  gefolgt  sein,  wenn  ihnen  reisende 
Ordensbrüder  aus  Polen  gewisse  Vermutungen  und  Zumutungen  zubrachten. 
Und  Benedictiner  gab  es  in  Polen  allem  Anscheine  nach  früher  als  in 
Kärnten,  zu  Tininc  bei  Krakau,  gestiftet  durch  Bolesiaw  Ghrobry  und 
Gemalin  Judith  (das  Stift  stand  auf  hohem  Berge,  südlich  die  Karpathen 
in  Sicht,  nördlich  Landskron),   zu  Sieciechow  an  der  Weichsel,   Wojwod- 


*"«  H.  Hermann,  Klagenfort,  wie  es  war  und  ist.  Klgft.  1882  S.  10  und  91  vgl. 
Kärnt.  Zeitschr.  Bd.  VII  1832. 

Ueber  den  Herzogstuhl,  Zolfeld  etc.  in  seinem  geographisch-historisdien  Werke 
Europa  cap.  XX  S.  40  Multi  lacus,  Drauus,  vallis  spaciosa  (Zolfeld),  oppidum  Ciagen- 
furtinum  bis  exequias.  Damach  folgt  Stiria ;  Polonia  S.  415.  Seine  Nachfolger  vgl.  in 
Merian  Topogr.  S.  93. 


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BOLESLAW  n.  VON   POLBN. 


817 


Schaft  Sandomir,  um  1010,  zu  Lysa  Gora  (Kahlenberg)  ^^'^  um  1010.  Das 
Gistercienser-Stift  Mogyla,  Mogilno  (olara  tumba)  bei  Erakau  ist  nachmals 
benedictinisch  geworden;  19  Klöster  erscheinen  im  Verzeichnisse  von  1326 
in  der  Diöcese  des  (bis  ins  XIII.  Jahrhundert  rein  slavischen)  Vorortes 
Krakau.  Man  sieht  somit  wohl,  dass  dortselbst  mehr  strebende  Elemente 
beisammen  waren,  als  an  der  mittleren  Drau.  Es  war  dort  auch  vor  dem 
Jahre  1000  schon  ein  Bistum,  seither  folgten  Gnesen,  EB.,  Krakau,  Kolberg, 
Breslau,  Plock  (später  Leslau)  und  Lebus,  alle  vor  Gurk.  Unter  den  Leuten 
ausserhalb  des  Benedictiner- Ordens  war  nebst  den  Krakauer  Domgeistlichen 
gewiss  Aeneas  Sylvius  der  bestveranlagte.  Er  schrieb  um  die  Zeit  seines  Ossia- 
cher  Prot^g6-Abtes  an  der  historia  boiemica,  die  Chroniken  des  Pulkawa  und 
Daliwil  benutzend,  mit  starker  Zweifelsucht  das  Unwahrscheinliche  aus- 
merzend, aber  das  Romantische,  das  Interessante,  das  Unterhaltende  für 
eine  fesselnde  Schilderung  beibehaltend.^^®  Er  spann  den  Briefwechsel  fort 
mit  dem  Bischöfe  von  Wardein,  mit  dem  Kanzler  von  Ungarn,  dem  Cardinale 
Cesarini  in  Betreff  der  ungarischen  Zustände,  mit  dem  päpstlichen  Nuntius 
für  Ungarn  und  Böhmen,  er  schrieb  an  den  Mailänder  Herzog  über  Un- 
garn und  Böhmen,  er  pflegte  regelmässige  Bericht-Erstattung  an  den  Car- 
dinal von  Krakau.  Auf  das  Cardinalat  sind  alle  seine  Briefe  aus  Deutsch- 
land gerichtet.  Und  wenn  da  im  Eifer  der  schönen  Rhetorik  miteinfloss, 
wovon  er  nachderhand  in  kühler  Stunde  das  Gegenteil  für  das  Richtige 
hielt,  so  benannte  er  das  Erleuchtung  und  Fortschritt.  Ein  eclatantes  Muster 
dafür  ist  sein  Widerruf  als  Papst  gegen  seine  eigene  Haltung  auf  dem  <3on- 
cile  hinsichtlich  der  Kirchenversammlungs-Souveränetät.  Quod  Aeneas  pro- 
bavit,  Pius  damnavit.  Es  würde  also  E.  Silvio  eine  Boleslaus-Legende  für 
Ossiach  haben  schreiben  können,  ohne  an  das  Historische  derselben  zu  glau- 

>"'  RoepeU  I  161,  643,  185  Note  18. 
»"^^  Voigt  1856—1862  II  316,  317. 

Die  Hist.  boh.  cap.  53  ausgeschrieben  von  Dlugosz,  zu  wenig  glaubwürdig,  mit 
zuveriässigen  Quellen  im  Widerspruch.  Huber  Oestr.  Gesch.  1885,  Bd.  11  S.  538.  Das 
zeitgleiche  Capitel  der  Hist.  boh.  wäre  cap.  20  S.  95,  cap.  21  S.  95,  Baseler  Aus- 
gabe der  Opera  omnia,  in  deren  Index  Boleslaus,  Ossiacum,  Stanisiaus  fehlt.  Das 
Werk,  welches  Megiser  Annales  Car.  (S.  762  Z.  5  u.)  citiren  will,  enthält  nichts  von 
Boleslaw;  vielleicht  waren  die  Gooamentarii  gemeint  1477,  1614  oder  die  Cosmogra- 
phia  1477,  1509,  nicht  wohl  Hist.  rer.  Frideric.  späterer  Druckausgaben.  Vgl.  Koll&r 
Analecta  monumentorum  1762  II  62.  De  ortu,  regione  et  gestis  Bohemorum,  de  Bo- 
hemorum  origine  ac  gestis,  Historia  boiemica  (bohemica)  Rom  1475,  Cöln  1524, 
Frankfurt  und  Leipzig  1575,  Basel  (cap.  21,  22  S.  20,  21),  1686  (21,  22),  in  Frehner 
scriptores  rerum  boh.  1602  ;  aus  Hss.  vermehrt  in  Job.  Herwagens  scriptor.  rer.  germ., 
Basel  1532,  übhpt.  16  Drucke.  So  Jöcher  Gelehrten -Lex.  1781  HI  1606,  Fortsetzg.  1819, 
VI  319.  Schrceckh.  Lebsbschbgn.  her.  Gel.  H  1  S.  10—27,  KG.  XXXH  S.  233,  Olea- 
rius  n  97,  Hamberger  IV  770.  Krones  Oestr.  Gesch.  U  307.  Grösse  Tr^r  d.  livr. 
rar.  et  prec.  Dresden  18.59  I  25  f.  Hormayr  (Archiv  1815  S.  376)  weiss,  dass  Ae« 
Sylvius  fl diese  Begebenheit  umständlich  erwähnt». 

ungarische  Bevue,  XI.  1891.  X.  Heft.  5^ 


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^18  BOLEStiAW   n.  VON    POLEN. 

ben.  Nur  hätte  er  —  das  meinen  wir  wahrlich  —  als  gekrönter  Dichter  von 
Epigrammen  und  Epitaphien,  welcher  auch  dem  zu  Wien  1444  verstorbenen 
Aquileier  Patriarchen  eine  Grabschrift  geliefert,  das  nach  seiner  Ansicht  in 
östreichischen  Landen  wuchernde  Barbaren-Latein  nicht  selber  für  Tafel- 
sprüche verschuldet  Indem  wir  die  wortspielenden,  klanglosen,  ungelenken 
und  durcheinander  geworfenen  Bolestaw-Hexameter  im  Seestifte  ^^  einem 
germanischen,  slavisohen  oder  magyarischen  Humanisten-Schüler  zumuten, 
aus  den  Zeiten  des  Hieronymus  Baibus,  Bischofes  von  Gurk,  Bicardus  Bar- 
tholinus,  Lang*8  Hofcaplan  um  1515,  oder  Qeorg  Agrioolas,  Erzpriesters  zu 
Friesach,  Bischofes  zu  Lavant  und  Gurk,  +  1584,  Caspars  Brusch,  (welcher 
1554  den  nachmaligen  Ossiacher  Abt  Peter  Gröblacher,  den  Bruder  des 
Stifts-Chronisten,  legitimirt  hat),  können  wir  für  möglich  halten :  Aus  Ver- 
ehrung für  den,  um  der  Polen  Seelenheil  also  emsig  besorgt  gewesenen  und 
dem  polnischen  Könige  empfohlen  gehaltenen  Papst  Pius  ü.  hat  man  in 
Ossiach,  dessen  Abt-Ejmennung  seit  1455  eben  dem  Papste  vorbehalten 
war,  die  Boleslaw-Legende  angenommen  und  gepflegt,  zumal  ja  dieselbe 
an  sich  sehr  moralisch  und  lehrreich  war,  auch  einem  anerkannten,  wenn- 
gleich nicht  landesüblichen,  Heiligen  zur  Glorie  gereichte.  Gleichwohl  muss 
die  erste  Steinschrift,  trotz  ihrer  gotisirenden  Lettern,  als  erst  nach  1499 
nachgeholt  erachtet  werden,  laut  Jacob  Unrest  So  sehen  wir  einen  Wäl- 
schen  am  Anfange  der  Forscherzeiten  wirken  und  weben  an  der  Darstellung 
der  Lebensgeschichte  eines  polnischen  Eriegsmannes,  einen  Wälschen  am 
Ende ;  dort  den  schlichten  Mönch  im  Dienste  der  kühlen  Wahrheit,  hier 
den  Anstreber  höchster  Kirchenwürde  im  Dienste  der  klingenden  Phrase.^**** 

^^^  Ganz  anders  eines  der  scharfen  Contra-Epigramme  auf  Papst  Pius : 
Pro  numeris  nnmeros  tibi  si  fortuna  dedisset, 
Non  esset  capitis  tanta  corona  tui. 

**"*»  Im  Jahre  1595  scheint  das  Ossiacher  Grabmal  nicht  einmal  in  Inner- 
•östreich  noch  zu  allgemeiner  Kenntniss  gelangt  zu  sein  und,  setzen  wir  bei,  auch 
nicht  die  Eönigs-Legende  nach  der  Zeit  des  ungarischen  Aufenthaltes.  Derselbe  Ma- 
gister Blasius  Laubich,  welcher,  im  Jesuiten-Convicte  des  Erzh.  Karl  in  Graz  erzogen, 
als  der  Heil.  Schrift  baccalaureus  form.,  der  fürstl.  Durchl.  Erzhgin  Maria  zu  Oester- 
reich  Witwe  Hofkaplan,  Lehrer  und  Erzieher  der  Prinzen  Leopold  und  Karl,  nach- 
mals in  feierUcher  Promotion  zum  ersten  an  der  Grazer  Universität  geschulten  Doctor 
der  Theologie  gemacht  worden  (in  der  Hof-  und  Jesuitenkirche,  laut  Exones  Gesch. 
der  K.-F.-Univ.  in  Gr.  18S6  S.  12,  vgl.  8,  14,  30,  343),  hat  im  Jahre  1595  ein  bei  Georg 
Widmanstetter  zu  Graz  in  Quarto  gedrucktes  Buch  (195  BL,  4  Reg.  Bl.  7  Bl.  Vor- 
rede) veröffentlicht  unter  dem  Titel  «Historia  von  dem  Heiligen  Glorwürdigen  vnd 
fiirtrefilichen  krakowischen  Bischofife  vnd  Märtyrern  in  Polen,  Stanislao :  Auch  andern 
Heiligen,  so  wol  des  Königreichs  Polen,  als  etlicher  nechstgelegenen  vnd  anstössenden 
Königreich  vnd  Landschatften».  Er  widmet  dieses  (nach  Potthast  Wegweis.  d.  d. 
G-Wke,  I.  Anhang,  Berlin,  1852.  Vit»*  S.  894.)  bereits  selten  gewordene  Buch  der 
Füi-stin  und  Frauen  Anna  Königin  in  Polen  und  Schweden,  geb.  Erzhzgin  zu  Oestreich, 
als  der  Tochter  seiner   Gebieterin    Erzhei*zogin    Maria.  An    ebendiese    hatte  Georgins 


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BOLESLAW  n.  VON    POLEN.  ^1^ 

Verdeutlichen  wir  zum  Schlüsse^  dass,  wenn  irgend  eine  historische 
Richtigkeit  an  der  «Begebenheit»  wäre,  von  zeitgenössischen  Quellen  denn 
^och  z.  B.  die  Annales  Bertholdi  (bei  Pertz  V,  301),  die  vita  Gtebhardi 
{Pertz  XI,  um  Cap.  7,  S,  39),  oder  die  vita  Altmanni  epi.  (Pertz  Xm,  Cap. 
15,  16,  S.  231),  Adalberonis  epi.  (Pertz  I,  S.  130),  auch  Bernoldus  einiger- 
massen  Andeutung  gäben,  welcher  letztere  noch  zum  Jahre  1092  die  an  der 
ungarischen  Grenze  beabsichtigte  Zusammenkunft  König  Heinrichs  mit 
König  Ladislaus  kennt,  woselbst  ohne  Zweifel,  hätte  Bolesiaw  noch  gelebt, 
4iber  ihn  Rede  geworden  wäre.  Ist  ja  die  Flucht  des  E.-B.  Gebhard  von  Salz- 
burg vor  seinen  Feinden  nach  Schwaben  eine,  wenn  man  will,  ähnlich  strit- 
tige Angelegenheit,  dies  aber  nur  der  Zeitrechnung  nach.  Schon  1077 
hat  der  genannte  Kirchenfürst  das  Weite  gesucht,  1086  ist  er  zurückge- 
wesen, 1087  hat  er  persönlich  die  Projemer  Kirche  eingeweiht,  1088  ist 
^r  gestorben.  Sein  Nachfolger  ist  der  St.  Peterer  Abt  Thiemo,  1081  war 
auch  er  vor  den  Königs&eunden  nach  Schwaben  geflohen.  Gegenbischof  ist 
Berthold  bis  1090,  darnach  sehen  wir  die  Schismatiker  das  Oberwasser  ver- 
lieren ;  im  Lavanttal  nimmt  der  neue  Erzbischof  Weihungen  vor  1093,  aber 
1095  bis  1105  wiederholt  sich  das  Gegenspiel.   Die  Annales  Sti.  Rudberti 


Badsduill,  Cardinal  und  regierender  Bischof  in  Krakan,  den  lateinischen  Text  des 
Baches  von  fJoannes  Longinns,  krakawischen  Thumbherm,  Jahr  1465»  mit  anderen 
•glaubwürdigen  Authom  vnd  Scribenten,  in  der  Longobardischen  Histori  nit  be- 
griffen, gedruckt  durch  Joannem  Haller  zu  Krakow  1511»  geliehen;  der  grossen  Weit- 
schweifigkeit Longins  abhelfend,  hatte  Laubich  das  Werk  tibersetzt,  gektirzt,  neu 
gruppirt.  Mit  Gnaden  war  ihm,  dem  geborenen  Preussen,  als  dem  Theologie -Schüler 
n  Grätz,  die  königl.  Majestät  gewogen  gewesen;  jetzt  bringt  er  ihr  dar  den  Auszug 
aus  den  drei  Büchern  der  83  Jahre  alten  Hallerschen  Ausgabe,  deren  erstes  behan-^ 
delte  Stanislaus'  Leben  und  Tod  sammt  den  Mirakeln  bei  demselben,  das  zweite  jene 
vor,  das  dritte  jene  nach  der  Canonisation.  Li  dem  Ghrazer  Buche  nun  (darin  auf 
Blatt  6  das  Erzbistum  erwähnt  ist,  auf  11  zuerst  Bolesiaw,  13  der  Conflict,  18  Petrus 
und  Dorfkauf,  27  Kiow,  36  Tötung,  45  Königsflucht)  gibt  Capitel  29,  Blatt  46  den 
ßohluss  des  Königslebens  auf  ungarischem  Boden :  «La  dem  er  vmblauflfet  vnd  raset, 
falt  er  vermüdet  vnd  keichend  zur  Erden,  vnd  gibt  sein  vnglückselige  Seel  mit  gähem 
Todt  auff:  allda  er,  von  seinen  eignen  Hunden  zerzerret  vnd  gefressen  wurd.»  So 
fassen  es  die  Jesuiten  und  dies  ist  die  gleichzeitige  Anschauung  am  polnischen  und 
am  inneröstreichischen  Hofe.  Man  erinnert  sich,  dass  die  junge  Jesuiten -Hochschule 
nicht  wenige  Polen  ins  Land  zog,  deren  etliche  im  J.  1587  die  Murstadt  verhessen 
anläfislich  des  polnischen  Thronstreites  swischen  Maximilian  HI.  von  Habsburg  und 
Johann  Sigmund  Wasa,  hinwieder  sind  Flüchtige  aus  Polen  herbeigekommen,  so  1655 
bei  den  schwedisch-russischen  Kriegsfallen.  Nie  haben  die  Jesuiten  die  gewiss  roman- 
tisch verwendbare  Legende  von  Boleslaw  zum  Gegenstande  eines  schuldramatischen 
Festspieles  gemacht.  Uebrigens  sind  sowohl  die  höfischen  als  die  literarischen  Stre- 
bungen der  Jesuiten  und  der  Benedictiner  auseinandergegangen.  Einen  Beweis,  dass 
1594  das  Ossiacher  Grabmal  nicht  bestanden  habe,  kann  das  Laubich 'sehe  Buch  keines- 
wegs bieten ;  der  Hofkaplan  hat  nur  nicht  darum  gewusst,  nicht  tun  die  alpenländische 
Legende,  die  doch  mindestens  seit  1588  durch  Zacharias  Gröblaoher  verschrieben  war. 

52* 


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^20  BOLESLAW  n.  VON   POLEN. 

Salisbargensis  beschränken  sich  auch  seit  1058  auf  die  Stellen  über  E.-B.  Greb- 
hard  1060,  Heinrich's  Krieg  gegen  Ungarn  1063,  die  Gnrker  Gründung  1072, 
Berthold  von  Kämthen  1073,  Admonts  Gründung  1074,  die  Salzburger  Wech- 
sel seit  1075  u.  s.w.  In  allen  diesen,  in  den  italienischen  Greschichtscbreibem 
(hinsichtlich  der  bewirkten  Bomfahrt)  ^^®  keine  Erwähnung  von  Boleslaw. 
Kam  der  Piast  aus  Ungarn  durch  Kärnten  mit  dem  Ziele  Bom,  so  kam  er 
allerdings  als  Papst-Freund  oder  wenigstens  als  ein  solcher,  welcher  die  päpst- 
liche Gnade  anzustreben  schien.  Vermöge  seiner  ganzen  jüngsten  Vergan- 
genheit kam  er  aber  auch  gewiss  als  des  deutschen  Kaisers  Gegner.  Und  da 
sollte  er  haben  hoffen  können,  durchwegs  und  bleibend  bei  der  kämti- 
schen Geistlichkeit  als  Gebannter  gute  Aufnahme  zu  finden  ?  Wenn  irgend 
sein  Abgang  aus  Ungarn  gerüchtweise  verlautbart  worden  wäre,  gewiss  hätte 
der  Papst  ein  Mahnungs-Schreiben  erlassen,  wie  wir  solche  an  E.-B.  Greboar- 
dus  von  Salzburg  1073  kennen,  mehrere  an  Wratislaw  von  Böhmen,  an  die 
böhmische  Nation,  an  Geisa,  an  Salomo,  Judith,  Ladislaus  von  Ungarn,  an 
Heinrich  und  Sichard  von  Aquileia,  ein  einschärfendes  Schreiben  also  an 
den  Patriarchen  oder  an  den  Abt  von  Ossiach,  in  dem  Tone  jenes  an  die 
Veneter :  dass  sie  sich  ja  hüten  mögen,  mit  einem  Excommunicirten  zu 
verkehren,  solchem  eine  Gunstbezeugung  zu  erweisen  (1081,  sexto  idus 
April.,  ähnlich  an  einen  Grafen,  alles  bei  Mansi,  vgl.  XX,  S.  347).  Es  ist 
glaubhaft,  dass  derlei  Schreiben  dazumal  von  Nachwirkung  waren;  ein 
eigentumliches  Bild  würde  es  geboten  haben,  wäre  z.  B.  1303  ganz  Käm- 
then mit  dem  Interdict  belegt  gewesen,  vonwegen  des  Herzogs  Meinhard, 
Grafen  von  Tirol,  wie  man  sagte  (Hansiz,  Metzger,  vgl.  Interdicte  bei  Muchar^ 
Gesch.  V.  Stmk,  Index,  S.  251,  Bd.  HI,  300  f.). 

Oder  von  weltlicher  Seite  sollte  Boleslaw  haben  hoffen  können,  keine 
Behinderung  seiner  Komfahrt  zu  erfahren  ?  Ueberall  andershin  als  durch 
Kärnten  hätte  er  seinen  Weg  nehmen  müssen,  das  zeigten  uns  die  politi- 
schen Zustände.  War  doch  auch  des  ersten  Boleslaw  Bote  nach  Italien, 
der  die  Krone  vom  Papste  holen  ging,^^^  abgefangen  worden ;  alle  Wege 
nach  Italien  waren  durch  die  Kaiserlichen  verlegt.  Aber  es  wird  ja  gesagt,, 
ganz  heimlich  und  nur  von  einem  einzigen  Diener  begleitet  sei  er  durch 
Kärnten  gezogen.  Wenn  languor  und  amentia  der  Chronisten  durch  alle 
diese  Verhältnisse  mitgilt  (man  stelle  sich  dabei  die  Kürze  und  Unauf- 
fallendheit  der  Heise  vor),  so  hört  freilich  der  logische  Verfolg  des  Streites 
bald  auf.  Dann  kann  gleich  leicht  zugegeben  werden,  der  Flüchtige  habe 
im  Angesichte  der  Wälschland  begrenzenden  Berge  die  Bomfahrt  aufge- 
geben. Anderseits  könnte  gewiss  gesagt  werden,  die  Kriegs-Gefahren  seitens 
der  Normannen,  seitens  Heinrichs  selber  (1081 — 83,  1090,  1092  u.  dgl.) 

"«  Muratori.  Gesch.  v.  Italien.  Schlosser  WG.  11  2  8.  758. 

"^  Vor  1025.  Vita  S.  Romualdi  in  Acta  SS.  7  Febr.  8.  114  f.  RoepeU  162. 


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BOLESLAW  n.  yOlil   POLEN.  821 

hätten  das  nicht  erlaubt,  obwohl  das  zwischendurch  öfters  möglich  ge- 
wesen wäre  (so  November  1083  etc.)  Man  könnte  nach  einer  angedeuteten 
Wendung  geradezu  behaupten,  auf  dem  Bückwege  aus  Italien  sei  der 
König  in  Ossiach  eingetreten  oder,  dass  alle  mögliche  Auslegung  zu- 
gegeben werde,  nahe  bei  Ossiach  auf  der  Hinreise  habe  er  den  betreffen- 
den päpstlichen  Befehl  erhalten.  Heimlich  und  unerkannt,  das  soll  immer 
mitverstanden  sein,  ein  Unzurechnungsfähiger,  ein  Marsch-Unfähiger  bei 
Anhalt  an  die  ältere  Meldung.  Und  nun  komme  man  ab  mit  den  8,  9  u.  s.  w. 
Jahren  Büsserdienstes !  Ist  der  Mann  geistig  und  körperlich  gesund,  der 
weiland  derbe  und  unerschrockene  Eriegsmann  ?  Das  behauptet  eigentlich 
die  Legende  nicht.  Aber  dass  es  in  ihm  und  um  ihn  anders  wurde,  klar 
und  licht  und  hell  und  dass  er  schliesslich  von  der  Vergangenheit  zu 
sprechen  anfängt,  wie  aus  einem  offnen  Buche  lesend,  wie  solche  Erschei- 
nungen —  abgesehen  von  jenen  der  mittelalterigen  Mystik  *^*  —  den  Ster- 
benden gewiss  eigen  sind,  dass  er  sich  demnach  zu  erkennen  gibt  und  die 
Beweismittel  dazu  liefert,  das  behauptet  die  Legende  bestimmt.  Nun 
denn,  über  den  grossmütigenj  Ungamkönig,  der  ihn  aufgenommen  wie 
einen  glänzenden  Volks-Herrscher,  über  den  hat  er  kein  Wort  ?  Und  von 
seinem  eigenen  Sohne  Mjesko^^^  hat  er  gar  nichts  Liebes  zu  sagen?  Hier 
leidet  die  Erfindung  an  einer  Lücke ;  ein  beäserer  Historiker,  hätte  er  das 
Vorausgeschickte  gewagt,  hätte  hier  besseren  Schluss  erfunden. 

Wie  wenig  Sinn  liegt  auch  darin,  Bole^aw  aus  Ungern  mit  irgendwel- 
<5hen  gesunden  Gedanken  weggehen  zu  lassen.  War  er  jetzt  entgegen  allen 
seinen  früheren  Gemütszügen,  unterwürfig  worden,  nachgiebig,  demütig, 
kirchlich,  bussebedürftig,  kurz  das  Gegenstück  von  Kriegsmann,  oder  wie 
auch  grosse  kriegerische  Männer  aus  Berechnung,  zur  Zweckdienlichkeit 
Ähnliche  Eigenschaften  zum  Ausdruck  gebracht  haben  (von  Heinrich  IV.  bis 
Napoleon),  so  fehlte  es  ihm  doch  gerade  in  Ungern  zum  wenigsten  an  Mitteln 
zum  Zwecke.  Es  gab  dort  genug  hohe  Geistlichkeit,  beim  päpstlichen  Hofe 
wohl  angeschriebene  und  einflussreiche,  welche  vielleicht  nicht  in  gar  allen 
Punkten  im  Binnsale  der  Nationalität  schwamm,  es  gab  genug  Kirchen, 
Klöster,  Reliquien.  Allerdings  grollten  ihm  zunächst  auf  Befehl  Gre- 
gors VII.  die  Bischöfe,  sperrten  ihm  vorab  die  Gotteshäuser  und  wehr- 
ten den  Geistlichen  dem  Umgang.  Aber  die  Geistlichkeit  respectirte  in 
grossem  Masse  das  Vorgehen  des  Landesköniges  und  dieser  kannte  nichts 
als  das  Gefühl  unerschütterlicher  Dankbarkeit  für  Boleslaw  in  Rücksicht 


^**  Krause,  Vorleeiingen  über  psychische  Anthropologie  S.  443.  Du  Frei  in. 
«Psychische  Studien»   1889  S.  557. 

^^^  Die  ältesten  Nachrichten  setzen  ihm  am  wenigsten  ein  kurzes  Lehensziel ; 
nach  späteren  fällt  Mjesko's  Heimkehr  in  die  Zeit  10S4— 86,  Tod  in  1089  oder  HO.) 
Roepell  I  209  Note  7. 


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822 


BOhEBLAW  n.  VON    POLEN. 


auf  sich  selbst,  seinen  Vater,  seine  Brüder.  Da  war  alles  kirchliche  Gegen- 
streben umsonst,  da  waltete  höher  als  die  Tiara  die  Humanität.  Und  ihm, 
dem  frommen  heiligmässigenAfagyaren-Könige,  neigte  sich  vielleicht  schliess- 
lich die  trotz  der  Decrete  nicht  unerbittliche  Greistlichkeit  zu.  Nirgend  war 
Boleslaw  des  offenen  Schutzes  so  sicher,  als  in  Ungarn,  nirgend  hatte  er 
auch,  falls  es  durÄh  Kirchenbusse  oder  soldatische  Mittel  noch  eine  Restau- 
ration gab,  so  rasche  Bückkehr  in  sein  Beich,  dessen  südliche  Berghänge 
nicht  allzu  ferne  hereinblauten.  Ein  Mann  von  46  Jahren,  wenn  wir  recht 
rechnen  (Stanislaus  starb  als  49-jähriger),  konnte  mit  solchen  Plänen  sich 
noch  befassen ;  viel  weniger  mit  Gedanken  an  ein  Kloster,  er,  der  sich  mit 
Klöstern  nie  zu  schaffen  gegeben,  von  dem  nicht  Eine  kirchliche  Stiftung 
bekannt  ist.  Geleugnet  soll  indess  nicht  werden,  es  könne  Boleslaw,  st^ts 
gewöhnt,  den  Dingen  auf  den  Grund  zu  schauen,  und  nie,  soweit  wir 
wissen,  an  Höflinge  verwöhnt,  etwa  vorausgesehen  haben,  mit  Ladislaus" 
Macht  werde  es  nicht  allzuweite  Wege  haben,  indem  der  Papst  fortwährend 
für  Salomo  eintrat,  die  Bischöfe  diesem  keineswegs  abgünstig  waren,  mit 
Versöhnungs-Versuchen  eifrig  vorgingen,  diesen  sogar  nach  Entdeckung  der 
gegen  Ladislaus  geplanten  Verschwörung  befreie ten.  Thatsächlich  hatte 
Ladislaus  den  päpstlichen  Parteigängern  Asyl  gewährt,  Beistand  dem  deut- 
sehen Gegenkönige  zugesprochen.^^*  Weiter  ist  hier  mit  Vermutungen 
nicht  vorzugehen.  Aber  das  ist  gewiss,  in  Kärnten  war  weder  Kirchlichkeit 
noch  Weltlichkeit  für  den  Polenkönig,  hier  verpflichtete  nichts  zu  dank- 
barer Gastfreundschaft,  am  wenigsten  für  Schützlinge  der  Ungarn,  die  seit 
fast  200  Jahren  als  Landes-Peinde  so  sicher  im  bösen  Gedenken  der  Kämter 
waren,  wie  es  jetzt  noch  die  Franzosen  wegen  ihrer  Fusiladen  und  GiJ- 
gen  sind. 

Während  allen  Lebens-Beschreibungen  des  Königs  in  den  verschie- 
denen Werken  übereinstimmend  der  Faden  ausgeht  mit  dem  ungarischen 
Aufenthalte  und  dem  Jahre  1080  und  beiläufig  den  nächsten  Monaten  dar- 
nach, schwirren  die  Jahrzahlen  für  das  kämtisch-tirolische  Nachspiel  in  so 
buntem  Wechsel  auseinander  und  greifen  mutwilliger  Weise  bis  in  das  Jahr 
1069  zurück,  wo  Boleslaw  doch  erweislich  an  der  Spitze  eines  Heeres  frisch- 
gemut  vor  und  in  Kiew  stand,  dass  schliesslich  auch  das  Vertrauen  auf  jede 
einzelne  andere  Date  erschüttert  werden  muss.  Das  hängt  eben  mit  dem 
Zuge  der,  von  Strebern  ausgenützten  geistlichen  Annalistik  zusammen,  die 
Klöster  möglichst  uralt  zu  machen  und  mit  auffallenden,  sonderbaren 
Ereignissen  auszustatten.  Wie  St.  Lambrechts  Gründung  auf  983  (richtig 
1104)  versetzt  und  eine  unzugehörige  Urkunde  aufgezeigt  worden  ist,  so 


"*  Bertholdus  S.  302,  306,  311,  JafiF^  Monnmenta  Gregoriana  S.  365.  Büdinger,. 
Ein  Buch  Ungar.  Gesch.  S.  77.  A.  Huber  I  229. 


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BOLESLAW   n.  VON    POLEN.  ^23 

hat  man  auch  des  ungarischen  Königes  Salomo  Nachleben  nach  Admont 
versetzt,  in  des  obersteierischen  Klosters  Diensten  habe  er  24  Jahre  dahin- 
gebracht, als  Hirt,  und  sterbend  dem  Abte  sich  entdeckt.  In  Wirklichkeit 
ist  er  nach  der  Schlacht  der  Ungarn  gegen  die  Byzanter  bei  Kuln  ver- 
schwunden im  Jahre  1087,  lebend  seit  1051,  indess  Admont  erst  1134 
gegründet  worden.  (Salomo  würde  demnach  als  83-jähriger  Greis  Hirt 
geworden  sein,  wozu  doch  im  gemeinen  Leben  etwas  jungendlichere  Kräfte 
gehören,  er  würde  als  107-jähriger  im  Jahre  1158  gestorben  sein.)  Es  hat 
aber  nachweisHch  Salomo's  Gemahlin  Sophie  1088  mit  kirchlicher  Gewähr 
den  Herzog  Wladislaw  von  Polen  geheiratet.  Anderseits  leitet  den  Salomo  die 
Sage  über  die  Donau,  lässt  ihn  als  Pilger  zu  Stuhlweissenburg  erscheinen, 
als  Wald-Einsiedler  bei  Pola  in  Istrien  und  dort  wird  auch  sein  Grab  ge- 
zeigt. ^^*^  Admont  und  Pola,  die  Wahl  geht  hinreichend  ins  Weite !  Es  ist 
überhaupt  ein  merkwürdiger  Zug  jener  Zeiten,  dass  sie  so  viele  landflüch- 
tige Fürsten  aufweisen.  Ausser  den  schon  vordem  Angeführten  flüchteten  : 
die  Söhne  des  ersten  Boleslaw  mit  ihrer  Stiefmutter,  Herzog  Boleslaw 
Rotbart  von  Böhmen  zu  Heinrich  von  Schweinfurt  1002,  dann  zu  Boleslaw 
nach  Polen,  seine  Brüder  Ulrich  und  Jaromir  nach  Deutschland,  Markgraf 
Heinrich  von  Schweinfurt  selber  nach  Böhmen,  Swatopolk  von  Kiew  zu 
Boleslaw  I.  vor  1017,  Otto,  der  Bruder  Mieczislaws  H.  von  Polen,  nach 
Ungarn  zu  König  Stephan  1031,  die  ungarischen  Fürstensöhne  B^la, 
Andreas,  Levantha  nach  den  Höfen  von  Prag  und  Krakau  um  1032, 
Stephans  von  Ungarn  Neffe  zum  östreichischen  Markgrafen,  Stephans 
Witwe  Gisela  ins  Kloster  nach  Regensburg,  Aba  zu  den  Cumanen,  Prinz 
Andreas  nach  Russland,  Bela  nach  Polen  (1041 — 46),  Herzog  Konrad  von 
Baiem  zu  König  Andreas  nach  Ungarn,  König  Salomo  zum  Cumanen- 
Fürsten  Kutesk,  Geiza  H.  nach  Polen,  Salomo  zu  König  Heinrich  (1053 — 74) 
Genug!  Zur  Erfindung  weiter  Fluchtfahrten  konnte  also  die  Geschichte 
der  Thatsachen  wohl  einladen ;  letztere  bezeugen  aber  einstimmig  das 
Fehlen  einer  Hausmacht  und  des  geringsten  Ansatzes  zu  einem  stehen- 
den Heere. 

Endlich  möchten  wir  auch  betreffs  der  eigenartigen  Frage,  ob  denn 
ein  Königs-Enkel  und  König  jener  Zeiten  wirklich  so  spurlos  verschwinden 
konnte,  das  Rätsel  seines  Todes  ungelöst  hinterlassend,  diese  Möglichkeit 
bejahen  durch  die  Vorfallenheiten  weit  jüngerer  Zeiten,  welche  die  Schleier 
je  höher  hinauf  desto  dichter  weben.  Würde  indess  in  unserem  Falle  bis 
in  die  Vagh-Gegenden,  wo  ja  König  Boleslaw  zuletzt  geweilt  haben  mochte, 
der  Name  seines  letzten  Asyls  geklungen  haben,  halb  gehört,  unverlässlich 


"*  Engel  I  185  Fessler  I  79  Note  1.  L.  Istria  1848  No.  11.  A  Huber  I  318.  Ka- 
tona  n  505.  Klein-Fessler  I  178.  Majlath  I  80.  Krones  II  74. 


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824  BOLESIiAW   n.  VON   POLEN. 

aufgeschrieben,  so  konnte  das  ein  ungarischer  oder  polnischer  Ort  sein 
des  Klanges  wie  Osand  (Biliärer  Gespannschaft),  Osar  (Szathmäj),  Osera 
(Tolna),  Osgyan  (Hont),  Osiek,  Oszikov  (Säros),  Oszikow  (Galizien,  Sandec), 
Osoj  (Szolnok),  Ossiek  (Pfarre  und  Edelhof  bei  Jaklo),  Osyk  (Essek),  um 
mit  der  heimatlichen  Ossa,  dem  Nebenflusse  der  Weichsel  im  Nordteile 
des  Eeiches  zu  schliessen.^^®  Hier  möchten  wohl  die  ungarischen  Historiker 
das  letzte  Wort  zu  reden  haben,  denn  in  ihrem  Lande  hat  doch  allem 
Anscheine  nach  das  Leben  des  polnischen  Kriegsmannes  ohne  kirchlichen 
Abschluss  geendet.  Und  das  ist  auch,  seinem  historischen  Charakter  ge- 
mässer.^^'. 

Die  gegenwärtige  Untersuchung  schien  notwendig  um  der  historischen 
Wahrheit  im  Allgemeinen  willen,  dann  aber  auch  um  die  Gründe  für  und 
gegen  die  Legende  (welche  selbst,  sowie  sie  ist,  nicht  annehmbar  «cheint),^^* 
der  Gewinnung  der  Wahrheit  halber  soviel  als  möglich  zu  verdöptlichen, 
die  Widersprüche  in  der  Sage  selbst  gegenüber  den  ausdrücklich  anders- 
artig bezeugten  geschichtUchen  Thatsachen  aufzuzeigen,  femer  uiä  der 
gedankenlosen  Nachbetung  seit  drei  bis  vier  Jahrhunderten  einerseits,  ien 
in  der  Verneinung  zu  weit  gehenden  Gelüsten  anderseits  ein  2iiel  zu  setzt?i. 
die  farblosen  Halbheiten  der  Unsicherheit  zu  vermindern  und  endlich  dii! 
zugehörigen,  noch  bestehenden  Denkmäler  von  Kunst  und  Handwerk  ins 
rechte  Licht  zu  setzen. 


'*•  Raflfelßberger  Geogr.  Lex.  IV  2. 

*^'  So  tritt  uns  auch  der  Ktlline  im  Schlüsse  des  Kloster-Gedichtes    entgegen: 

Audacem  si  oalce  premes,  tunoiulo  ille  resurget 
Teque  petet  ferro,  quo  pridem  ad  Tartara  misit 
Agmina  mille  virüm,  Beges  domuitque  superbos. 
Unica  victorem  prostravit  femina  tandem, 
Femina  Diva  tarnen :  nee  enim  mortalibus  armis 
Mars  tantuß  superandus  erat.  Vis  nomina  Divse? 
Fortuna  est. 

^"  Nach  Fr.  Görres  «Die  histor.  Kritik  und  die  Legende •  (Sybels  Hist.-Zeitsch. 
18S7,  57,  21.  S.  2J2)  ist  nicht  jede  Legende  für  die  Historie  wertlos,  muss  man  nicht 
achtungslos  an  Legende  und  Sagenstoff  vorbeigehen,  widrigenfedls  würde  man  der 
Scylla  der  Gegenkritik  zum  Opfer  fallen. 


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DIE  BRNTE   ÜNOARN's  IM   JAHRE    1891.  ^25 


DIE  ERNTE  UNGARNS  IM  JAHRE  1891. 


In  der  zweiten  Hälfte  dieses  Jahrhunderts  kam  in  der  Gestaltung  der 
wirtschaftlichen  Verhältnisse  kein  wichtigeres  Ereigniss  vor,  als  die  rapide 
Abnahme  der  Gretreide- Preise,  welche  im  Jahre  1882  begann  und  fast 
während  eines  Jahrzehnts  mit  einer  dem  schleichenden  Fieber  gleichen- 
den Krise  an  der  Landwirtschaft  zehrte.  Die  Alchimisten  und  Wahrsager  der 
Nationalökonomie  befragten  das  Horoskop  und  obzwar  hinsichtlich  der 
Feststellung  der  Grundursachen  die  Meinungen  abweichend  waren,  herrschte 
bezüglich  der  Endfolgerungen  doch  eine  ziemlich  gleiche  Ansicht  und  es 
wurde  allmählich  zum  unumstösslichen  Axiom,  dass  die  niederen  Getreide- 
Preise  durch  einige  geringe  Schwankungen  zwar  auf  eine  kurze  Zeitdauer 
einigermassen  erhöht  werden  können,  jedoch  wäre  es  ünklugheit,  auf  die 
früheren  hohen  Getreide-Preise  zu  rechnen.  Die  Ereignisse  schienen  die 
Prophezeiungen  zu  rechtfertigen.  Lange  Zeit  hindurch  güch  jede  Hausse- 
Bewegung,  z.  B.  jene  im  Sommer  des  Jahres  1888  in  Folge  der  misslichen 
Weizen-Ernte  Frankreichs,  einem  Sommerregen  und  verschwand  ohne 
Spuren  zu  hinterlassen ;  trotzdem  erhöhte  eine  unerwartete  Wendung  die 
Getreide-Preise  von  der  niedersten  Stufe  mit  einemmale  bis  auf  jenen  Punkt, 
wo  dieselben  am  Anfang  der  1880er  Jahre  standen;  einige  Monate  ersetzten 
den  Verfall  von  nahezu  zehn  Jahren. 

Diese  Umgestaltung  der  Preise  wird  im  allgemeinen  mit  der  ungün- 
stigen Ernte  des  laufenden  Jahres  begründet.  Wäre  dies  wahr,  so  würde  die. 
Zunahme  nur  eine  kurze  Zeit  hindurch,  ein  Jahr  oder,  wenn  auch  die  Ab- 
nahme der  Vorräte  in  Anbetracht  gezogen  wird,  höchstens  einige  Jahre  hin- 
durch andauern.  Wenn  man  jedoch  die  durch  das  Ackerbau-Ministerium 
veröffentlichten  Daten  über  die  Ernte  der  Welt  im  Vergleiche  mit  dem  Vor- 
jahre einer  genauen  Prüfung  unterzieht,  so  findet  man,  trotzdem  dass  die 
Ernte  Eusslands  und  Frankreichs  ohne  Zweifel  viel  zu  wünschen  übrig  lässt. 
dass  die  .Ernte  der  ganzen  Welt  noch  immerhin  nicht  so  ungünstig  war,  dass 
dieser  Umstand  eine  hinlängliche  Erklärung  geben  würde  für  die  immense 
Zunahme  der  Preise.  Man  kann  sich  vielmehr  jener  Ansicht  anschliessen, 
dass  die  Gestaltung  der  niederen  Getreide-Preise  keine  natürliche  war;  es  war 
dies  keine  Folge  der  Ueberproduction,  sondern  jener  ungewissen  und  zer- 
rütteten Lage,  welche  durch  die  schutzzöUnerischen  Massnahmen  der  mäch- 
tigen Nationen  verursacht  wurde ;  hieraus  kann  es  erklärt  werden,  dass  der 
erste  heftige  Stoss  schon  im  Stande  war  die  durch  künstliche  Mittel  geschaf- 


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82«  DIE   ERNTE   UNBARN's  IM   JAHRE   1891. 

fene  nnnatürb'che  Lage  umzustürzen.  Besteht  diese  Voraussetzung,  so  ist  ^üie 
neuerliche  Abnahme  der  Getreide-Preise  nicht  zu  befürchten  und  es  wird 
nicht  mehr  jene  mit  den  Gesetzen  der  wirtschaftlichen  Production  contro- 
verse  Erscheinung  auftreten,  dass  nämlich  die  Preise  der  wirtschaftlichen 
Producte  beständig  und  consequent  um  viel  mehr  sanken,  als  jene  der 
industriellen  Producte.  Eine  weitere  Garantie  bilden  für  die  Zukunft  die  mit 
den  mitteleuropäischen  Staaten  begonnenen  Zollverhandlungen.  Grelangen 
diese  zu  einem  günstigen  Abschluss,  so  wird  dieser  umstand  auf  die  Bestän- 
digkeit der  Preise  zweifellos  von  günstiger  Wirkung  sein.  Für  die  Landwirt- 
schaft Ungarns  kann  daher  der  Anbruch  besserer  Tage  erwartet  werden ;  es 
hängt  allein  von  uns,  von  unserer  Lebensklugheit  ab,  ob  wir  diese  günstige 
Lage  gehörig  auszunützen  im  Stande  sein  werden. 

Die  Landwirtschaft  Ungarns  machte  während  des  letzten  Jahrzehntes 
unbestreitbar  grosse  Fortschritte,  dieselbe  befindet  sich  aber  noch  immer 
nur  am  Anfange  jenes  We^es,  welcher  zur  internen  Bewirtschaftung  führt ; 
jedoch  nicht  nur  ausschliesslich  landwirtschaftliche,  sondern  auch  staatliche 
und  socielle  Gesichtspunkte  empfehlen  es  dringend,  dass  dieser  begonnene 
Weg  in  je  kürzerer  Zeit  zurückgelegt  werde.  Die  landwirtschaftliche  Production 
Ungarns  kann  bei  einer  rationellen  und  internen  Bewirtschaftung  minde- 
stens um  50^0  erhöht  werden;  diese  Zunahme, im  Geldwerte  100  Millionen 
Gulden,  würde  nicht  nur  für  die  begüterte  Classe  voi^  Nutzen  sein,  sondern 
es  würde  davon  auch  auf  die  Arbeiterclasse  ein  Teil  entfallen,  auch  würde  hie- 
durch  der  Agrar-Socialismus,  dessen  Hydrahaupt  sich  schon  an  einigen  Orten 
erhob,  bekämpft  und  auch  die  Auswanderung  gehemmt  werden,  welche  von 
Tag  zu  Tag  gefährlichere  Dimensionen  annimmt. 

Eine  Hauptbedingung  des  Fortschrittes  ist  aber  die  genaue  Kenntniss 
der  wirtschaftlichen  Zustände  und  der  Agrar-Verhältnisse.  Niemals  war  es 
von  grösserer  Wichtigkeit  als  eben  jetzt,  dass  die  bisher  vernachlässigte 
Agrar- Statistik  nach  allen  Richtungen  hin  ins  Leben  trete  und  mit  mög- 
lichster Gründlichkeit  und  Eile  durchgeführt  werde.  Die  Frage  der  Belastung 
des  Grundbesitzes  ist  schon  seit  einem  Jahrzehnte  in  Schwebe];  früher  war 
dieselbe  mit  unüberwindlichen  Schwierigkeiten  verbunden,  gegenwärtig  aber, 
gleichzeitig  mit  der  Redigirung  der  Grundbücher,  bietet  sich  die  beste  Gele- 
genheit, dieselbe  mit  Erfolg  zu  lösen.  Wäre  es  nicht  zweckmässiger,  auf  diese 
Art  die  Einhebung  der  Daten  über  die  Verteilung  des  Grundbesitzes  zu  ver- 
suchen, welche  Daten  zwar  vielleicht  auch  der  Datenmenge  der  Katastral- 
Arbeiten  entnommen  werden  könnten  :  es  tritt  aber  die  Frage  auf,  ob  es  der 
Mühe  wert  ist,  auf  schon  halbwegs  verjährte  Daten  eine  so  immense  Arbeit 
zu  verwenden?  Uebrigens  kann  aus  den  Daten  des  Steuer- Katasters  die 
Verteilung  des  Grundbesitzes  nicht  genau  festgestellt  werden,  und  wenn  es 
auch  möglich  wäre,  so  wäre  dies  unzulänglich.  Aus  dem  Gesichtspunkte  der 
wirtschaftlichen  Production  ist  die  Kenntniss  der  Ausdehnung  der  Land- 


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DIE   ERNTE   TJNOARN's  IM   JAHRE    1891.  827 

wirtschaften  viel  wichtiger^  als  die  der  Grundbesitze ;  dies  könnte  jedoch 
nur  durch  eine  neue  Datensammlung  erreicht  werden,  durch  welche  nicht 
nur  die  Anzahl  und  Dimension  der  einzelnen  wirtschaftlichen  Zweige  fest- 
zustellen wäre,  sondern  es  müsste  auch  ein  Unterschied  gemacht  werden 
zwischen  der  häuslichen,  pachtmässigen  oder  auf  Halbteil  ausgegebenen 
Bewirtschaftung.  Dies  ist  auch  darum  wichtig,  weil  bei  Berechnung  der  Ernte- 
Ergebnisse  (wollen  wir  möglichst  verlässliche  Daten  erzielen)  auch  diese 
Unterschiede  in  Betracht  zu  nehmen  sind. 

Dass  die  gegenwärtige  Ernte-Statistik  nicht  in  jeder  Hinsicht  vollkom- 
men entspricht,  dies  wurde  schon  an  einem  anderen  Orte  betont ;  es  befassten 
sich  auch  die  Zeitungen  öfters  mit  dieser  Frage,  manchmal  auch  mit  grosser 
Uebertreibung.  Unserer  Ueberzeugung  nach  ist  die  Bedingung  der  Vervoll- 
kommnung bei  den  Landwirten  Ungarns  zu  suchen,  denn  ohne  eifrige  Mit- 
wirkung und  ohne  warmes  Interesse  dieses  Factors  wären  alle  Beformver- 
suche  unnütz ;  die  Art  und  Weise  sowie  die  Bichtung  dieser  Mitwirkung  an- 
zugeben, bildet  natürlich  die  Aufgabe  des  Centrums.  Bei  Feststellung  der 
Ernte  können  nach  zwei  Bichtungen  hin  Fehler  vorkommen,  nämlich  bei 
der  Nachweisung  des  Gebietes  der  einzelnen  Getreide- Gattungen  oder  bei 
der  Angabe  der  durchschnittlichen  Production  per  Joch.  Als  Ergänzung 
unserer  an  einem  anderen  Orte  dargelegten  Ansicht  sei  hier  erwähnt,  dass 
wir  zwar  bezüglich  der  bebauten  Bodenfläche  die  jährliche  Datensammlung 
für  sehr  wichtig  und  notwendig  halten,  um  aber  für  diese  eine  sichere 
Grundlage  und  ein  entsprechendes  Maass  für  den  Vergleich  und  für  die 
Controle  zu  gewinnen,  wäre  es  notwendig,  dass  der  Flächen-Inhalt  des  mit 
verschiedenen  Getreide-Gattungen  bebauten  Gebietes  alle  5  oder  10  Jahre 
mit  grösserer  Genauigkeit  und  mit  einem  grösseren  Apparate  festgestellt 
werde.  Gleichfalls  müsste  man  auch  für  eine  Controle  der  durchschnittlichen 
Production  bedacht  sein;  diesbezüglich  wäre  es  am  zweckmässigsten,  in 
einzelnen  Gegenden  einzelne  Landwirtschaften  als  typische  zu  bezeichnen 
und  in  diesen  das  Ergebniss  der  Ernte  mit  der  grössten  Pünktlichkeit  fest- 
zustellen, was  dann  für  die  Verlässlichkeit  und  Bichtigkeit  der  regelmässigen 
Datensammlung  den  Probierstein  bieten  würde.  Im  Falle  die  durch  die  lei- 
tenden Persönlichkeiten  der  Creditgenossenschaft  des  Pester  Comitates  an- 
gestrebten genossenschaftUchen  Fruchthäuser  sich  verwirklichen  sollten, 
würde  durch  diese  Institution  zur  Sammlung  der  Productionsdaten  (wenn 
auch  nur  das  leitende  Comitat  des  Landes  betreffend)  ein  sehr  beachtens- 
wertes Mittel  geboten  werden. 

All  dies  sei  nur  nebensächlich  erwähnt,  denn  obzwar  es  mit  dem  Ge- 
genstand dieser  Abhandlung  im  Zusammenhange  steht,  gehört  es  streng 
genommen  doch  nicht  hieher.  Zur  Mitteilung  der  diesjährigen  Ernte-Ergeb- 
nisse schreitend  folge  hier  zunächst  die  Ausdehnung  der  im  Herbste  des 
Jahres  1890  und  im  Frühjahre  des  Jahres  1891  bebauten  Bodenfläche  im 


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828 


DIE   EBNT£   UNGABN  S   IM   JAHRE    1891. 


Vergleiche  mit  der  bebauten  und  factiseb  abgeernteten  Bodenfläche  des 
Vorjahres : 

Die  im  Jahre  18891/90  Dm  +  oder  —  4er 
Abgeerntete  bebaute  Bodenfläche  im  Jahre  1890/91  be- 


Bebaute    Bo- 
denflfiche   Im 
Jahre  1689  90 

Bodenfläche 
im  Jahre 

1889/90 

denflärhe   im  abKMrntete    Boden-  der  im  JahielSSS/W 
Jiüue  1890/91              fläche               behüten  «.«näber 

in  Hectaren 

1 .  WinterweizeD 

2,878.095 

2.839.388 

2,941.386 

4-38.707 

+6.3.291 

2.  Sommerweizen 

139.827 
3.017.922 

139.311 

143.231 

+      516 

+  3.404 

Weizen  zusam. 

2,978.699 

3,084.617 

+39.223 

+6<j.695 

3.  WinteiToggen 

1.070.i52 

1,054.467 

1,0U.304 

+  15.985 

—26.148 

4.  Sommerroggen 

31.096 

31.096 

33.869 

— 

+  2.773 

Roggen  zusam. 

1,101.548 

1,085.563 

1,078.173 

+ 1. "1.985 

—23.375 

5.  Wintergerste 

89.714 

89.383 

85.733 

+      331 

—  3.981 

6.  Sommergerste 

933.787 

917.786 

979.280 

+  16.001 

+  45.493 

Gerste  zusam. 

1,023.501 

1,007.169 

1,065.013 

+  16.332 

+41.512 

7.  Winterreps 

84.345 

82.238 

47.828 

+  2.107 

—36.517 

8.  Sommerreps 

3.846 
881.91 

3.805 

2.837 

+        41 

—  1.009 

Beps  zusam. 

86.043 

50.665 

+  2.148 

—37.526 

9.  Hafer 

1,013.188 

993.054 

1,026.910 

+  20.134 

+  13.722 

10.  Spek      ... 

3.339 

3.318 

3.138 

+       21 

-      191 

11.  Halbfrucht 

155.553 

153.814 

153.581 

+  1.739 

—  1.972 

Der  Unterschied  zwischen  der  bebauten  und  abgeernteten  Bodenfläche 
zeigt  die  Grösse  des  durch  Elementarschäden  vernichteten  Anbaues.  Im 
Jahre  1890  richteten  Elementarereignisse  nicht  viel  Schaden  an,  ja  sogar 
beim  Beps,  einer  sehr  heiklen  Pflanze,  war  die  abgeerntete  Bodenfläche  nur 
um  weniges  geringer  als  die  bebaute.  Für  das  Jahr  1890 — 91  ist  nur  die  be- 
baute Bodenfläche  bekannt,  auf  Grund  dessen  wurden  die  Productionsvor- 
ergebnisse  berechnet,  welche  demnach  noch  eine  bedeutende  Aenderung 
erleiden  werden.  Die  der  diesjährigen  Ernte  als  Grundlage  dienende 
Bodenfläche  zeigt  im  Vergleiche  mit  dem  Vorjahre  beim  Weizen,  Sommer- 
roggen, bei  der  Sommergerste  und  beim  Hafer  einige  Zunahme ;  beim  Bog- 
gen, bei  der  Wintergerste,  beim  Beps,  bei  der  Halbfrucht  und  beim  Spelz 
hingegen  eine  geringere  oder  grössere  Abnahme.  Besonders  namhaft  ist  die 
Abnahme  bei  dem  Winterreps,  als  Folge  der  vorjährigen  abnormen  Wit- 
terungsverhältnisse ;  wegen  der  grösseren  Dürre  konnte  in  vielen  Gegenden 
kein  Beps  angebaut  werden  und  als  Ende  Oktober  die  regnerische  Zeit  ein- 
trat, war  es  für  den  Anbau  von  Beps  schon  zu  spät.  Die  Abnahme  bei  der 
Bodenfläche  der  übrigen  Winterproducte  kann  ebenfalls  den  verspäteten 
Herbstarbeiten  zugeschrieben  werden ;  desto  auffallender  ist  es  aber,  dass  die 
Bodenfläche  für  Winterweizen,  welche  von  Jahr  zu  Jahr  zunimmt,  auch  im 
vorigen  Herbst  eine  Zunahme  aufweist.  Ob  dies  der  Wirklichkeit  entspricht, 


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DIE   ERNTE   UNGABN*S   IM   JAHRE    1891.  829 

wagen  wir  nicht  zu  behaupten ;  der  Wahrscheinlichkeit  nach  hätten  die  für 
die  Wintersaaten  beispiellos  ungünstigen  Witterungsverhältnisse  auch  bei 
dem  Weizengebiet  eine  Beaction  verursachen  müssen ;  nach  den  amtlichen 
Daten  trat  jedoch  keine  Beaction  ein.  Die  Zunahme  der  Sommersaaten  steht 
nicht  allein  mit  der  Abnahme  der  Wintersaaten  im  Zusammenhange,  son- 
dern ist  teilweise  auch  damit  begründet,  dass  der  Anbau,  welcher  während 
des  Winters  zu  Grunde  ging,  im  Frühjahr  mit  Gerste  oder  Hafer  ersetzt 
wurde.  Laut  Bericht  des  Ackerbau-Ministeriums  gingen  20  bis  25^/o  des 
Winterroggens  zu  Grunde,  was  beiläufig  208  bis  260  Tausend  Hectaren  ent- 
spricht. Diese  Summe  gelangt  in  der  Zunahme  der  Sommersaaten  nicht  zum 
Ausdrucke,  ausser  dass  hiedurch  bei  den  übrigen  Sommerproducten  (als 
Mais,  Erdäpfel  etc.)  eine  grössere  Zunahme  verursacht  wurde.  Man  hätte 
meinen  können,  dass  die  Landwirte  die  zu  Folge  des  verspäteten  Anbaues 
und  der  Fäulniss  während  des  Winters  verursachte  Abnahme  bei  dem  Win- 
terroggen mit  Sommerroggen  ersetzen  werden ;  dies  traf  jedoch  auch  nicht 
ein,  denn  obzwar  die  Bodenfläche  für  Sommerroggen  in  diesem  Jahr  etwas 
grösser  war  als  im  Vorjahre,  so  ist  dieselbe  noch  immerhin  viel  kleiner  als 
in  den  Jahren  1888  und  1889.  In  Ungarn  ist  es  im  Allgemeinen  nicht  zweck- 
mässig, die  zwei  hauptsächlichen  Brodfrüchte  im  Frühjahre  anzubauen ;  der 
Sommer- Anbau  wirft  gewöhnlich  eine  viel  geringere  Ernte  ab,  als  der  Winter- 
Anbau  ;  gerade  das  laufende  Jahr  kann  als  eklatantes  Beispiel  dienen,  denn 
obzwar  sich  die  Witterungsverhältnisse  für  den  Winter- Anbau  ungünstig,  für 
den  Sommer- Anbau  hingegen  sehr  günstig  gestalteten,  so  gab  trotzdem  der 
Sommerweizen  und  Boggen,  abgesehen  von  einigen  Ausnahmen,  keine  so 
gute  Ernte  als  die  W^intersaat. 

Die  vorliegenden  Daten  über  die  Ernte  des  Jahres  1891  sind  noch 
nicht  als  endgiltig  zu  betrachten,  es  muss  von  diesen  nicht  nur  der  durch 
Elementarschäden  vernichtete  Anbau  in  Abrechnung  gebracht  werden,  son- 
dern es  können  dieselben  auch  dadurch  eine  Aenderung  erleiden,  dass  einige 
wirtschaftUche  Berichterstatter  ihre  Berichte  bisher  noch  nicht  einsandten 
und  durch  die  später  einlangenden  Berichte  das  Ergebniss  in  einzelnen 
Bezirken  einigermassen  beeinflusst  werden  kann.  Eine  Uebersicht  der  Ernte 
des  Jahres  1891  von  den  wichtigeren  Getreidegattungen  gibt  comitatsweise 
nachstehende  Tabelle : 


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S30 


DIE   ERNTE    UNGARN  S   IM   JAHRE    1891. 


Winter-Weizen 

Sommer-Weizen 

Win 

ter-Roggen          1 

1        M 

Boden-      Gesanunte    *  « | 

Sil' 

Landesteil, 

Boden- 

Gesammte       »  P 
Produetion  S  c  4* 

Boden- 

»^1 

Gesammte     G^r\ 
Produetion    e  §  • 

Comitat 

fläche        Produetion    S'^^V 
in  Hek-                          SMS 

flicbe 
in  Hek- 

fliehe 
in  Hek- 

uren 

taren 

Hektoliter 

Hektoliter 

Hektoliter 

X.  LinkM  DonMofbr. 

[                   1 
1                   1 

1 

, 

1.  Arva        .     .  . 

365           3.170'  8-68 

14 

118    843 

1.252 

11.093    8-85 

i.  Bare 

26.952       371.669  13  80 

656 

11.219  20*18 

9.785 

114.392  11^ 

3.  EBztergom   ,.. 

13.998       274.151  'l9-59 

22 

487  19*86 

6.121 

79.521  12*99' 

4  Hont 

25.220 '      529.451  2(H)9 

341 

5.038  14*77 

12.007 

173.032  14*41 

5.  Lipt6     ..     . 

189           2.921  15-46 

63 

1.043116*56 

2.527 

36.5:«  14*46  1 

6.  N6grkl 

35.706       519.599  14*55 

699 

11.693  16-73 

29.154 

292.584  lOKH, 

7.  Nyitra  ... 

34.559       621.032  17-97 

3.278 

55.536  16-94 

44.067 

577.667  1311  ! 

8.  Pozsony. 

41.207       571.259  1386 

729 

8.385  11-50 

33.209 

397.175  11-96 

9.  Trenos^n      . 

6.747        105.719 ,15-67 

2.136 

25.442:11*91 

10.904 

105.897    9*71 

10.  Tur6cz    ... 

766           7.404    9-95 

51 

326    6*39 

5.595 

40.406 !  7-22  . 

11.  Zolyom 

Zusammen 

5.553         72.856  13- 12 

594 

7.356  12-38 

6.448 

56.030    S-69 

191.262  1  3,079.231   1610 

8.483 

126.593  15*00 

161.069 

1,884.330  11-70  ' 

n.EeohtesDonftiiTifer. 

i 

i 

1.  Baranya  .. 

55.%1     1,05:1679  18-83 

1.886 

41.771  22- 15 

15.158 

141.409    9.33 

2.  Fej6r 

67.949       951.176  14-00 

385 

4.750  12-.34 

16.959 

209.734 112-.37 

3.  Oyör 

23.583,      342.621  1453 

459 

5.121  U-16 

ia470 

137.540110*21 

4.  Eomi^rom 

41.936       500.894  11-9* 

555 

8.410  1515 

18.835 

128.655  ;  9-30  1 

5.  Moson 

24.598       451.659  1836 

123 

2.oa5  16-:« 

10.624 

161-202  1517 

6.  Somogy 

79.412    1,217.598  ;i5-33 

365 

5.928  16-24 

43*833 

56a705  12-86 

7.  Sopron  ... 

43-734       990.684  22*65 

711 

15.695  22-07 

22.751 

462.551  20^^ 

8.  Tolna 

52  875       702.240.13-28 

454 

5.263  il  1-59 

15.252 

178.766  11-72 

9.  Vas 

63.944     1,108.307  1733 

480 

8.476  17  66 

57.001 

730.408  12-81 

10.  Veszpr6m     . 

42.666  1      593.168  13*90 

155 

2.401  15-49 

3a971 

416.319  12-^ 

11.  Zala        ... 
Zusammen 

46.729       708.:»3  1516 

1.174 

14.513  12-36 

51.782 

617.905  11*93 

543.387,  8,620.419115  86 

6.747 

114.333  16-95 

294.636 

3,748.194  12-72 

m.  IXonau-Theiii- 

Beoken. 

1                    1 

1.  B4c8    

259.840    4,381.571,16-86 

1.095 

19.306  il  7  63 

6.301 

76.402  1212 

2.  CsongrÄd. 

83,5aS    1,358.965;  16*27 

1.727 

16.144!  9*35 

18.335 

i6aoi9 ,  8-69 ; 

3.  Heves 

65.%9       948.316  14*38 

667 

9.397  14*09 

12.667 

143.751  11-35 

4.  JÄsz-N.-K.-Sz. 

147.7731  2,308.056  15-62 

4.287 

65.798  15*85 

10.648 

184.964  17-37 

5.  Pe8t.P..S..K..K. 
Zusammen 

107.141     1,476.174  13*78 

2*280 

24.885  11  16 

136-648 

1.297,677  ,  9-50 

664.256110,473.082  15*77 

10.006 

135.5^0  J13-54 

184-599 

1,862.803  |IOi39 

IV.  Rechte!  Theimfer 

' 

' 

1.  Abauj-Torna 

31.228       428.7291 13*73 

546 

6.135  11*24 

22.312 

250.381  11-22! 

2.  Bereg      ... 

18.162       222.701  12*26 

285 

3.255  11*42 

7.844 

103.802  1:^-23; 

3.  Bowod  ..     .. 

43.120       625.357 'l4-50 

1.345 

17.894  13*30 

16.220 

227.969  14-<»5 

4.  Gömör 

22.088       315.971  14*31 

1.295 

18.993  14*67 

13.759 

112.665    8-19 

5.  SÄros    ... 

7.405         92.233  1£*  46 

839 

10.580  12*61 

14.815 

130.857    8-83 

6.  Szepes 

331           4.608  13-92 

49 

688  14*04 

10.996 

1.31.198  11-93 

7.  Ung      ..       ... 

16.451       250.310  1521 

188 

2.836  15-08 

10.966 

171.088  15-60  \ 

8.  -^empl^n... 

50.818       612.808  12*06 

4.978 

54.162  10-88 

32.248 

404.910  12-56  : 

Zusammen 

189.603    2,552.717  |l3-46 

9.525 

114.54311203 

129.160 

1,532.870  11-87  t 

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DIE   EBNTE    UNGARN  8   IM    JAHRE    1891. 


831 


Somi 

Boden- 
fläche 
in  Hek- 
taren 

ner-Boggen 

W 

Boden- 
flache 

in  Hek- 
taren 

inter-Geruiü 

Soi 

Boden- 
fläche 
in  Hek- 
Uren 

oMner-Gerste 

Hafer                 | 

Oe- 
aaminte 
Produc- 
tion 

iil 
Sil 

il 

Auf  einen  Hektar 
entfallende  Dureh- 
8ehnitt8-Production 

Oesammte       i  e 
Production  '  s  a  ■ 

'!al 

Hektoliter 

Boden- 
fläohe 
in  Hek- 
taren 

Gesammte 
Production 

Iil 

II 

"Hektoliter 

HektoUter 

HektoUter     | 

124 

1 
1.138    9-18 

5-338 

56.791 

10-65 

25.051 

220.398 

8-80 

568 

7.946  ■13-99 

77 

2-394  31-09 

26.799 

365.053 

13-62 

7.364 

187.822 

25-54 

— 

_         — 

127 

2.310  18  19 

11.087 

237.822  21-45 

5.052      144.751  28-65 1 

142 

2.291  16- 13 

235 

4.734  ^14 

11.201 

227.259  20-29 

9.619 

219.225  22-79 

527 

8.076  15-32 

253 

3.924.15-51 

7.976 

135.336  16-97 

8.713 

165.883  1904 

327 

2.721    8  32 

205 

3.114115-19 

18.338 

301.329  16-43 

10.334 

207.780  20-11 

1.895 

26.053113-22 

3.084 

56.059  1818 

77.174 

1,617.794  20-96 

20.204      458.838  22*71 1 

1.351 

11.774'  8-72 

1.265 

18.812  'l4-87 

59.804 

1,093.756  19-13 

11.144 

249.139  22-36 

1.360 

14.005  10-30 

544 

9.322  17-14 

33.499 

573.351  |17-12 

24.937 

404.059  16-20 

189 

1.860    9-84 

187 

3.575  19-12 

3.611 

53.513  14-82 

5.121 

104.804  20-46 

550 

4.775 !  8-68 

402 

5.462  13-59 

4.309 

55.181  12-81 

9.271 

169.868   18-27 

7.033 

79.639  11-32 

6.379 

109.706  17-20 

259.131 

4,717.185 

18-20 

136.800  2,532.067  18-50 

1.109 

13.257  j  11-95 

5.406 

91-312  16-89 

6.457 

130.523 

20-21 

19.781  i    526-932  2664 

105 

750    714 

1..H68 

26.389  19-29 

29.304 

481.758  !l6-44 

25.422      804.986  I3I-66 

57 

495    8-68 

52 

1.260  2423 

14.948 

807.302  ;20-56 

6.588 1     142.317  21  60 

20 

198!  9-90 

1.314 

29.310  22-31 

24  693 

426.478  |l7-23 

17.6381    381.396  21-62 

9 

120!  13-33 

188 

3.695  19-65 

25.700 

593.595  23- 10 

4.479      130.450  2912 

1.222 

19.797  ,16-20 

2.323 

45.370  19-53 

29.653 

508.475  17- 15 

22.1661    617.988  2788 

573 

8.500  14-83 

1.555 

43.297  |27-84 

28.864 

739.386  25-62 

11.328 1    404.002  35-68 

183 

6.449  13-35 

1.096 

25.321  |23-10 

20.904 

363. 18(>  17-37 

15.166      436.606  '28-79 

141 

1.518  10-73 

1.263 

15.756  |l2-48 

24.417 

531.471  21-77 

27.699      772.131  127-87 

339 

5.237  115-45 

196 

2.956  15-08 

28.778 

462  862  '16O8 

13.033  i     336.689  2583 

1.536 

18.957  12-34 

1.916 

26.809  13-99 

21.497 

414.795  19-80 

13.955 

380.014  23-65 1 

5.294 

75.273 

1422 

16-677 

311.475^19-28 

255.215 

4,959.8:^1  19-43 

1 

177.250 

4,883.413 

27-55 

280 

2.817 

1006 

13.285 

327.374  24-64 

17.719 

314.6:^1  17-76 

116.723 

3,315.866 

28-41 

— 

-     1    _ 

2.324 

46.143  19-85 

14.745 

330.131  22-39 

6.775  i     165.507  24-43 1 

173 

1.806  10-44 

599 

11.481  ;i9-17 

21.302 

358.307  16-82 

8.370 

191.408  122-87 

81 

1.269 

15-67 

4.584 

65.9^2  14  39 

33.569 

621.151  18-50 

14.7.S3 

408.813  27-75 

379 

3.548 

9-36 

4.467 

100.860  22-58 

60.308 

1.018.341  16-89 

40.952      890.028  121-73 

913 

9.440 

10.34 

25.259 

551.800  21-85 

147.64:^ 

2,642  561  17-90 

187.553  4,971622  126  51 

1                   1 

136 

1.339 

9-85 

148 

2.432  16-43 

22.386 

:i93.226  17-57 

13.613      281.886  20-71 

547 

6.002 

10-97 

212 

2.269  10-70 

2.487 

23.463    9-43 

15.067      238.292  15  48 

147 

2.107 

1433 

774 

10.915  1410 

19.154 

313.841  16-39 

9.068      206.384  2276 

890 

7.170 

8-06 

311 

4.989  10-04 

6.968 

92.045  13-21 

17.836      :i06.145   1716 

7:-« 

6.392    8-65 

712 

7.594  10  67 

20.625 

213.674  10-36 

34.589      345.015     997 

866 

7.431    8-58 

261 

4.077,15-62 

2:17:« 

287.078  1209 

30.719      753.8(>8  2454 

548 

8.740  15-95 

180 

2.688  14  93 

8.761 

69.379  18-45 

9.736       187.285   19-24 

1.482 

13.804    9-31 

836 

13.190  15-78 

31.929 

468.940  14-69 

25.599      445.379   1740 

5.355 

52.985 

9-89 

3.4.^ 

48.154  1402 

131.048 

1,861.646 

li-21 

156.227 

2,759.254 

17-<ml 

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8:^2 


DIE   ERNTE    UNGARN  8   IM   JAHRE    1891. 


Winter-Weizen 

Sommer-Weizen 

Winter-Roggen 

•f.  s  § 

'      lH 

NU 

Landesteil, 

Boden- 

Gesammte   '  a  •§  J 

Boden- 

:       Ge- 
1    sararote 

*»l 

Boden- 

Geeunmte     c^^ 

Comitat 

DÄche 
in  Hek- 

Produclion 1 1  g  ^ 

llÄohe 
in  Hek- 

!  Produc- 
j       tion 

11% 

fliche 
in  Hek- 

1-2=; 3 

taren 

Hektoliter 

taren 

m 

taren 

i5l| 

1     Hektoliter 

HektoUter       i 

V.  LinkM  Theino«». 

1.  B6k68      .     ... 

106.385 

1,677.238  15-76 

1.562 

20.590  13-14 

2.376 

29.896 

12-58 

2.  Bihar 

116.573 

1,788.831  15-35 

3.585 

43.025  12-00 

31.074 

532.166 

1713 

3.  Hajdu  __.    ... 

48.684 

574.304  11*79 

2.551 

28.917    9-38 

17.799 

179.800 

10-10 

4.  Mirmaros 

555 

7.304  13-16 

3.082 

29.718    9-64 

1.603 

20.530 

12-81 

5.  Szabolcs.     .  . 

3a241 

471.452  12-33 

1.720 

21.844  12-70 

72.378 

1.002.601 

1:^-85 

6.  Szatm&r   ... 

57.987 

867.462  H -96 

3.234 

:i8.236  11-82 

21.280 

286.112 

13-46 

7.  SzilÄgy    .     ... 

25.185 

.S04.762  12-10 

1.847 

14.5081  7-85 

7.322 

86.528  11-82  \ 

8.  Ugocsa     .  . 
Zu8ammen 

8.833 

%.408  110-91 

121 

1.0501  8-68 

3.«75 

40.377  12.33' 

402.443 

5,787.761  14.38 

17.702 

192.828  |10.90 

157.107 

2.178.000  ,1.3.86 

VI.  Maioa-TheiBi- 

i 

Beokeo. 

1 

1.  Arad 

99.160 

1,841.878  18-57 

2.952 

48.819  16-54 

3.907 

62.073  15-89  ; 

±  Csan&d     .  „ 

58.840 

1,101.918  18-73 

184 

2.557 

13-90 

1.704 

26.658  !I5-64  i 

3.  Kra986-Ször6ny 

52.960 

947.985  17-90 

1.621 

20.742 

12-79 

3.692 

57.510  il5-o7J 

4.  Temas 

188.719 

3,165.428  116-77 

3.842 

55.(Ä9 

14-82 

8.095 

101.988  12-60 

5.  Toront4l  ... 
ZuBammen 

;iJ0.815 

4,726  402  14-73 

4.229 

52.013  !l2-.30 

5.142 

82.734  16-09 

720.494 

11,783.611   16-35 

12.828 

179.160113-97 

1 

22.540 

830.963 

1468 

1 
1 

1.  Also  Feh6r  ... 

25.972 

287.099  11-05 

12.264 

123.962 

10-11 

3.408 

37.214 

1092 

2.  Beszteroze- 

Naazöd     ... 

\0AOi 

86.223 

8-54 

2.851 

24.909 

8-74 

221 

a072 

13-90 

a  Brassö 

6.506 

141.765  21-79 

90 

1.865  20-72 

4.125 

95.490 

2:Mo 

4.  Csik 

2.899 

31.651  13-19 

886 

17.836120-13 

13.727 

246.662 

17-97 

5.  Fogaraa 

3.772 

58.521  15-51 

1.254 

19.924,15-89 

8.541 

143.753 

16-83 

6.  HArom8z6k 

10.616 

213.129 

20  08 

6 

116  19-33 

13.716 

297.9aS 

21-72 

7.  Hunyad 

22.940 

340.046 

14-82 

14.913 

196.064113-15 

8.834 

142.362  1611 

8.  Kis-Küküllö 

16.296 

176  428  10-83 

116 

1.215  10-47 

3.216 

40.959  12-74 

9.  Kolos   -._ 

23.174- 

357.584  15-43 

17.344 

238.383  13-7t 

12.027 

168.107  13-98 

10.  Maros-Torda 

19.666 

247.378  12-58 

3.619 

41.650  11-51 

4.646 

58.207  12-53 

11.  Nagy-Küküllß 

24.16i 

337.816  13-98 

91 

1.505  16-54 

4589 

88.888  19-37 

12.  Szeben  .. 

19.4458 

282.aS3  14-53 

1.794 

23.242  112-96 

2.733 

51.573  il8-87 

13.  Szolnok- 

Doboka 

14,688 

122.358    8-38 

8.483 

99.152  11-69 

5.279 

78.192 

14-81 

14.  Torda-Aranyos 

16,272 

132.3.n    813 

14.143 

160.283  ll-a3 

5.158 

54.901 

10-64 

15.  Udvarhely     . 
Zusammen 

13  908 

130.328    9-37 

86 

1.043  12-13 

4.973 

74.286 

14-04 

229.941 

2,945.596  |12-81 

77.940 

951.149  12-20 

95.198 

1,581.599, 

16-62 

Hauptsumme 

2,941.386 

4^,242.417  15-38 

143.231 

1,814.136 

12-66 

1,044.804 

13,118.759 

12-56 

Im  Jahre  1890 

2,839.388 

50,565.997  17-81 

139.311 

l,598.9a3 

11-48 

1,054.467 

17,274.612 

16-:i8 

«       1889 

2,762.963 

31,689.148  11 -47 

147.869 

1,269.629 

8-59 

1,035.449 

12,.^2a786 

1210 

•        «       1888 

2,615.076 

45,848.311  17-53 

154.964 

2,031.790  13-11 

1,059.797 

14,350.545 

13-54 

•       1887 

2,625.117 

49,550.971  18-88 

151.464j 

1,869.827  12-35 

1,088.483 

17,592.544 

1616 

•         n       1886 

2,607-292 

1 

:^.681.619 

13-80 

156.738] 

1,56.3.815 

9-98 

1,090.913 

12,835.664 

11-77 

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Google 


DIE  KRHTE  UNOARN  8  IM   JAHBB    1691. 


833 


Sommer-Roggen 

Winter-Gerste 

Sommer-Gers1 

Hafer                 | 

Boden- 
fliiche  1 

in  H«k-' 
taren 

Oe- 
Banunte 
Prodnc- 

iion 

■iii 

Boden - 
fläche 

in  Hek- 
taren 

Qesanunte 
Produciion 

l|| 
5ll 

Boden- 
flache 
in  Hek- 
taren 

Gesammte 
Prodaotion 

Bodeu- 
flaohe 
in  Hek- 
taren 

Oesammte 
Production 

Ji 

Hektoliter 

Hektoliter 

HektoUter 

Hektoliter    "| 

13H 

1.865 

13-71 

2.479 

51.564  ;20-80 

29.120 

613.813 

21-08 

16.406 

381.599 

23-26 

1.312 

20.228 

15-42 

2.721 

56.387  p36 

22.727 

421.939 

18-57 

26.097 

568.772 

21-79 

632 

6.275;  9-93 1 

4.692 

60.090  •l2'81 

17.861 

366.387 

2051 

7.316 

179.428 

24-53 

734 '     7.970 

10-86 

13 

*    198  15-23 

1.591 

17.579  11-05 

17.482 

231.055 

13-22 

2.170!  21.456| 

9-89 

891 

15.990 

17-96 

14.972 

308.084  20-58 

12,4«8 

350.773 

28-10 

343      4.985,1 4-63 1 

1.418 

2a671 

16*62 

4.314 

70.519  'l6-35 

21.512 

407.916 

18-96 

378       2.451 

6-48 

581 

9.215 

15-86 

1.493 

19.628  13-15 

11.194 

238.760 

21-33 

19         23012-11 1 

81 

987  12-191 

390 

5.602  ,14-36 

5.595 

74.744 

13-36 

5.724 

65.460 

11-44 

12.876 

217.102 

16-90 

92.468 

1,823.551 

19-72 

118.090 

2,433.047 

20-60 

482 

7.466 

15-49 

2.215 

59.687 

26-95 

10.947 

254.209 

23-22 

18.780 

550.628 

29-32 

40 

630 

15-75 

1.299 

27.975 

21-54 

13.620 

277.620 

20-38 

5.641 

172.203 

30-53 

i      880 

12.131 

13'78 

681 

12.770 

18-75 

1.172 

22.590 

19-27 

21.827 

500.048 

22-90 

1      478 

7.056 

14-76 

4.566 

88.985 

18-40 

7.933 

157.136 

19-81 

32.516 

846.098 

25-9V> 

I      494 ;     7.940 

16-08 

9.071 

194.011 

21-39 

27.642 

591.567 

21-40 

48.313 

1,137.149 

26-25 

1  2.3741  35.222 

1 

14.84 

17.831 

378.428 

21-22 

61.314 

1,303.122 

21-25 

122.077 

3,205.126 

26-25 

! 

661  1     7.727 

11-69 

384 

4.388 

11-43 

299 

3.869 

12-94 

4.431 

83.442 

18-83 

96       1.328 

13-83 

27 

441 

16-33 

1.184 

19.476 

16-46 

11.472 

319.008 

27-81 

90      2.040 

22-67 

— 

— 

— 

6.693 

147.421 

22-03 

2.621 

69.805 

26-63 

291       4.837 

16-62 

13 

222 

17-08 

4.641 

96.028 

20-69 

10.528 

228.236 

21-68 

1      367       5.149 

14-03 

390 

8.211 

21-05 

1.374 

28.593 

20-81 

7.014 

181.375 '25-861 

31          79 

26-33 

176 

2.910 

16-53 

6.134 

98.300 

16-03 

10.382 

212.533 

20-47 

1.7a5|   28.06« 

16-18 

345 

7.126 

20-65 

1.018 

21.340 

20-96 

11.396 

252.390 

22-15 

78 

1.105 

14-17 

79 

1.238 

15-61 

273 

4.367 

16-00 

2.438 

44>.98y 

19-27 

789 

10.895 

13-81 

1.113 

23.792 

21-38 

3.327 

70.624 

21-23 

10.628 

206.708 

19-46 

285 1     3.87213-59 

114 

1.435 

12-59 

2.143 

32.796 

1530 

10.074 

200.022 

19-86 

21          33H16-00 

59 

8:^  14-17 

103 

1.228 

11-92 

7.559 

198.870 

26-31 

1      -^ 

6.299119-09 

45 

553  Ü2-29 

646 

7.854 

12-16 

6.312 

147.712 

27-81 

564 

8.53dl5-12 

327 

5.042 

15  42 

1.067 

14.546 

13-68 

19.661 

395.879 

2014 

1.2591    10.966i  8-70 

195 

3.043  15-61 

3.034 

49.634 

16-36 

5.828 

120.175  20-62 
196.390120-48 

30 1        5121707 

10 

170  il700 

525 

9.120 

17-37 

9.563 

!  6.599 

91.73l|l3-90 

1 

3.277 

59.402  jl813 

82.461 

666.196  ,18-64 

128.907 

2,858.534 

22-18 

a3.869 

409.750 

1210 

85-733 

1 
1,676.067  19o5 

979.280 

17,9i:i092  18-29 

1,026.910 

23,643.063 

23.02 

'31.096 
46.644 
45.953 
34.027 
33.571 

409.92U 
441.746 
520.079 
485.270 
353.993 

1318 
9-47 
11-32 
14-26 
10-54 

89.383 
B7.222 
89.735 
72.754 
74.469 

1,827,751 
1,182.047 
1,678.838 
1,627.146 
1,104.074 

20-45 
18-55 
18-71 
i2-37 
14-83 

917.786 
919.279 
891.640 
931.345 
969.750 

16,8ia994 
10,981.456 
14,219.866 
18,008.571 
12,239.808 

18-33 
11-95 
15-95 
19-34 
12-62 

993.054 
1,017.823 
1,045.122 
1,046.593 
1,063.431 

18,776.578 
15,378.523 
19,916.964 
21,672.427 
19,379.447 

18-90 
15-11 
19-06 
20-73 
18-40 

Ungarische  Rerne,  XI.  1891.  X.  Heft. 


53 


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Bebauto 
Bodenflache 

Gesanirate 
Produktion 

Durchschnittliche 

Production    per 

Hektar 

Hektar 

Hektoliter 

HektoUiar 

3.138 

40.597 

12-94 

153.581 

2,180.613 

14-20 

47.8^28 

545.563 

11-41 

3.84(» 

53.303 

13-86 

^^  DIB   BBNTE   UNGARN's   IM   JAHRE    1891. 

AuRser  den  in  dieser  Tabelle  ausgewiesenen  Producten  ist  in  den  amt- 
lichen Ausweisen  auch  der  Spelz,  die  Halbfrueht  sowie  der  Sommer-  und 
Winterreps  enthalten.  Wegen  Mangels  an  Raum  wurden  diese  Producte  in 
obige  Tabelle  nicht  aufgenommen ;  die  Endresultate  sind  : 


Spelz  ,  

Halbfriicht  _ 

Winterreps         .     ._. 
Sommerraps        „.     .  . 

Die  Production  von  Spelz  und  Sommerreps  ist  ganz  unbedeutend,  die 
Halbfrucht  ist  auch  nur  in  einigen  CJomitaten  von  Belang.  Der  Winterreps 
ist  eine  ziemlich  wichtige  Handelspäanze  und  gedeiht  dieselbe,  so  ergibt  sich 
daraus  ein  schönes  Erträgniss.  Die  durchschnittliche  Repsemte  per  Hectar 
des  Jahres  1891  kann  nicht  als  ungünstig  betrachtet  werden,  obzwar  dieselbe 
um  vieles  geringer  ist  als  jene  des  Jahres  1890 ;  jedoch  wurde,  wie  dies  schon 
angeführt  war,  im  Herbste  des  Jahres  1 890  eine  viel  geringere  Bodenfläche 
mit  Reps  bebaut  als  im  Vorjahre,  der  strenge  Winter  verursachte  auch  viel 
Schaden,  so  dass  die  Repsernte  des  Jahres  1891  kaum  eine  halbe  MiUion 
Hectoliter  erreichen  dürfte.  In  dem  Zeiträume  vom  Jahre  1880  bis  1889 
betrug  die  Ernte  von  Winterreps  402,763  bis  1.612,231  Hectoliter. 

Die  übrigen  Producte  in  Augenschein  genommen,  kann  bei  dem  Win- 
terweizen eine  gute  Mittel-,  beim  Roggen  eine  schwache  Mittel-,  bei  der 
Gerste  eine  gute,  beim  Hafer  hingegen  eine  ausgezeichnete  Ernte  constatirt 
werden.  Es  darf  jedoch  nicht  ausser  Acht  gelassen  werden,  dass  die  mitge- 
teilten Ergebnisse  nicht  als  endgiltige  zu  betrachten  sind ;  nach  Abrechnung 
der  durch  Elementarschäden  vernichteten  bebauten  Bodenfläche,  wird  sich 
bei  den  ausgewiesenen  Ergebnissen  eine  namhafte  Abnahme  kundgeben. 
Das  Ackerbau-Ministerium  schätzt  die  vernichtete  Bodenfläche  bei  dem  Wei- 
zen auf  3  bis  5"/o,  bei  dem  Roggen  auf  20  bis  25%,  wahrscheinhch  kommt 
in  beiden  Fällen  eher  das  Maximum  als  das  Minimum  der  Wirklichkeit  am 
nächsten,  denn  es  richteten  ausserdem,  was  der  strenge  Winter  vernichtete, 
auch  die  häufigen  Hagelschläge  und  orkanartigen  Stürme  sehr  viele  Saaten 
zu  Grunde,  so  dass  die  gesammte  Weizen-Production  (Winter-  und  Sommer- 
weizen zusammen)  auf  nicht  mehr  als  45  Millionen  Hectoliter  veranschlagt 
werden  kann,  die  Roggen -Production  aber  auf  nicht  mehr  als  10  Millionen ; 
demnach  würde  die  Weizen-Production  des  Jahres  1891  die  durchschnitt- 
liche Production  der  vorangegangenen  o  Jahre  um  5  bis  600,000  Hectohter 
übertreffen ;  die  Roggen-Production  hingegen  ist  um  5.2  Millionen  Hectoliter 
gerniger  als  jene  der  früheren  5  Jahre,  was  einen  sehr  fühlbaren  Abgang 
bedeutet. 


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DIE   BRNTE   UKGARN's   IM   JAHBE    1891. 


835 


Landesteil, 
Comitat 


(^esammte  Weizen-Production  im  Jahre 


1887 


1888 


1889 


1890 


1891 


Dorchschxiittliohe  Weizen- 
Prodoction  per  Hektar  im  Jalure 


1887  1888 I 1889 I 189 


I 
18901 1891 


Hektoliter 


a)  Linkes  Donamifdr. 

1.  Arva 

2.  Bars 

3.  Esztergom  _._ 

4.  Hont.      .._ 

5.  Lipt6 

6.  N6gr4d 

7.  Nyitra  .  .     .  . 

8.  Pozdony   .  . 

9.  Trencsdn 

10.  Turöcz 

11.  Z61yom.        .. 

Zusammen 

b)  BeohtotDonaimfer. 

1.  Baranya  ._. 

2.  Fej6r       .     .  . 

3.  Györ   _     — 

4.  Kom&rom    .  . 

5.  Mo8on 

6.  Somogy 

7.  Sopron 

8.  Tolna      .     ... 

9.  Vas  .  .     _.. 

10.  Veszpr^m    .  . 

11.  Zala   .,     _  . 

Znsammen 

0)  DonaaTheiss- 
Beoken. 

1.  B&C8-Bodrog  . 

2.  Csongr&d 

3.  Heves     .  _      . . 

4.  J&sz-N.-K.- 
Szolnok .     ... 

5.  Pegt-Piüs-Solt- 
Eifl-Kun     , . 

Zusammen 

d)  BeohtesTheisBofer. 

1.  Abauj-Toma  . 

2.  Bereg 

3.  Borsod    . 

4.  Gömör 

5.  Saroa 

6.  Szepes 

7.  üng         .        . 

8.  ZempI6n  __. 

Zusammen 


974 
469.699 
288.019- 
414.386 
2.599 
581.908 
799.482 
686.499 
109.864 
17.293 
101.5881 


2.968' 

350.359 

311.409 

543.469 

2.854 

438.533 

669.580 

726.157 

87.881 

11.782 

a3.401 


2.210 

388.647 

218.332 

314.294 

1.566 

511.181 

493.686 

428.076 

85.055 

10.002 

89.110 


3,472.311  3,208.3931  2,542.159 


I 


2..S34 


2. 

301.648! 

252.377 

387.720 

1.576 

649.312 

567.311 

595.246! 

106.295| 

11.179 

60.5991 


;-27 
19-27 


8.170 
371.669 18- 
274.151 
529.451 

2.921 
519.599  16-28 


I 


819.347 

1,416.891 

452.143 

713.821, 

465.112 

1,624.397 

922.2551 

1,212.8581 

1,019.666 

727.724 

670.881 


10,045.095, 


4,932.824 
1,437.218 
1,110.425 

2,420.158 


9.38.167 

1.308.797 

352.057 

726.186 

422.595 

1,55.M44 

840.269' 

1,149.604 

934.709 

705.1241 

716.237 


9,648.889 


874.554, 
909.249^ 
304.086 
503.911 
291.273 
1,285.419 
645.076' 
828.921! 
872.056 
547.964j 
603.569 


2,935.597) 


1,033.183 

1,457.850 

414.540 

750.296 

466.510 

1,617.228 

944.450 

1,115.414 

1,241.482 

835.019 

876.483 


16-1321-62 

17101309 

12-26 

62l.032b2-75|l9-83 

16-04,18-27 

14-2911-35 

404  15-09 10-731 

85611 9-47|lO-12| 


571.259 
105.719 

7.. 

72. 


3,079.231 


679 17 


7,696.078|10,742.455 


1,063.1 

951 

342.621 

500. 

451 
1,217. 

990. 

702. 
1,108.307 

593, 

708.; 


176  21-92 


,894  17-06 
.659 18- 
598  22 
684  21- 

.240  22- 


8,620.41919 


5,054.9081  2,918.6801  4,785.160|  4,381.571 
l,134.750i     622.467:  1,512.431'  1,358.96518 
763.885      604.606  1,178.97^     948.316121 


1,325.444   1,387.9661  2,898.568|  2,308.05618 


11,943.63010,008.239;  6,714.502 12,166.986 10,473.08i  19-8rvl7-68|ll-06!l902 1577 


2.048.005   1,729.252  1,180.783  1,791.8481  1,476.174 18-92!16-961212;16-7^1S  78 


549.147 
190.547 
682.271| 
355.356) 
72.5371 

203.838' 
752.298 


407.6541 
263.521 
588.223' 
267.283 
89.280; 
4.031 ! 
123.170 
584.290 


192.511| 
149.800 
372.347 
276.457 
78.037 
.5.685| 
162.133 
381.2321 


581.408 
170.678 
833.621 
3:^6.087 
91.486^ 
4.013 
245..30^ 
751.969 


222.701 
625.357 
315.971 
^92.23311 
4.608  13 
250.310  13' 
612.808  16 


9-55il3-93 


13-25 
22-36 


6-52 
13-87 
16-55 


! 


9-971  8-<>8 
11 
17 


12-5914-53  20-99 


7-49|  9 
13-6417 


14-64 
10-21 
10-98 
10-43 
15-16 


17-92' 16-86 13-07 14-9216- 10 


019 


IS-SO 
19  59 


15'46| 
14 


1610I17-97 

13 

14-90|l5-67 

10- 

11 


9-95 
13-12 


16818-00 
,393 16 


4ito.729|l8-54il4-27  677 18-65|l3-7fi 
-1516-28  9-46  92712-2^ 
-2916-14  9-62204414  50 
»•16141114-6018-22U-il 
-86jl2-13|ll-ll.;J-55jl-2  4<) 
J-44 18-3221-37  14-75'i:.I»2 
J-31J  8-69Jll-86t4-3o!ir.21 
-51|13-72|  8-0l|l5-80ilJ-(m 


2,810.294  2,327.462  1,618.202|  3,014.57l|  2,552.7 17|l(V69 14-1 5  9-49116-69 Li  161 

53'= 


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Google 


836 


DIE  BBNTB  UNGABN  8   IM  JAHBE    1S»1. 


Landesteil, 
Gomitat 


e)  Linkei  TheiMofer. 

1.  B^68      _ 
i.  Bihar  . 

3.  Hajdn  .  .     -  - 

4.  MikTinaroB  .. 

5.  Szabolos      .  . 

6.  Szatmiur    . 

7.  SzilÄgy. 

8.  Ugoosa 

Zusammen 

/;  Theiia-Xtfoi- 
B«ok«]i. 

1.  Arad 

2.  CsanÄd 

3.  Krassö- 
SzörÄny       .  . 

4.  Temes      .  - 

5.  Torontü 

Zusammen 

g)  SiebenbfirgeB. 

1.  Als6-Feh6r  . 
i.  Beszteroze- 
Na8z6d    .     . 

3.  Brassö 

4.  Csik 

5.  Fogaras 

6.  H&romsz^k 

7.  Hunyad    ... 

8.  Kis-KüküUÖ 

9.  Kolozs 

10.  Maros-Torda. 

11.  Nagy-Küküll6 
ii.  Szeben     .   . 

13.  Szolnok- 
Doboka  .     .. 

14.  Torda-Aranyos 

15.  Udvarhely.. 

Zusammen 
Hauptsumme 


DorchflchniUliche  Weisen 
Prodaction  per  Hektsr  im  Jahre 

1887  1888  1889 '1890  1891 


Hektoliter 


2,4^.281 

1,885.851 

699.966 

6.785 

631.334 

899.885 

29'.>.479 

57.547 


1,774.020 

1,537.896 

622.421 

6.761 

434.008 

787.448 

419.9141 

61.260| 


I 


806.809^ 

1.136.8361 

331.807' 

6.796 

272.426 

572.783^ 

210.595 

99.329 


1,889.696 
1,759.879 
84a478l 
10.055| 
658.788 
837.288 
312.283! 
141.480 


r.238  23 


40119 
18-5715 


18-27 


1,677.: 
1,788.831 
574.304 
7.304 
471.452  18-71 
867.4452  1705 
304.762  14-61 
96.408 


6.911.128  5,643.718  3,437.381  6,452.947  5.787.761 


1,662.545  1,680.334  1,297.394  1,423.815 


867.374)  1,007.582 

I 
606.7221     662.4141 

2,880.5031  8.247.552| 

5J60.185  5,025 


;i84; 


492.2271  934.496 

458.833.  601.663 

l,964.76l|  2,944.163 

3,576.191|  6,139.317 


1,841 
1,101. 


.878  21 -7319  41 13-50.17-27  18o7 
91818-71il917l  8-7617-08I18-73 


947.985115 
3,165.4^  18 
4,726.40Jgl 


11,977.32^11,623.016;  7,789.406 


164.855   439.095 


101.244 
125.090| 
26.893| 
28.96oi 
115.833 
142.4541 
134.990| 
264.509 
192.3311 
371.939| 
229.768 


43.46411 


I 


192.797      348.254'     287.099 


I 


146.272 
123.360 
40.088 
46.135 
217.229 
228.287 
252.129 
307.733 
217.641| 
399.679! 
327.186' 


32.892 
98.283 
38.304 
32.5741 
124.484 


136.9481 
118.389; 
23.342 
48.374 
165.885| 
26a422 
203.290J 
386.985 
225.6631 
325.925i 
337.117! 


229.942  177.704 
102.501  236.9651 
159.875   229. 101 1 


108.570 
85.003 
109.857 


122.358  15 


212.393| 

233.195|   132.337 

180.805|   130.:^ 


2,391.184]  3.388.604  1,891.420  3,209.987'  2,945.596  12*55 16- 181  9K)6!  14-56 12-81 


49,550.971 45,84«.31 1)31,689.148  50,565.99745,242.4171 


70  8-1&18-841.V76 
1510-26;i5-6«15-35 


1 1-23 12- 
15- 
15- 

18- 
8-4010- 


16 


11-79 
13-16 

12-:« 


•43  7  6S17-63 
52|ll-99ll3-02 
57|  7-8117-25 
75|111115-82!l4-96 
45i  8-6712-25!l210 
4313-501  l-65|l0-91 


19-2916-771  9-2616-53I14-38 


39|14-50  9-5^12-94 17-9C 
48ll9-1611-36|16-83|l6-77 
42il7-9311-72|l9-79il4rd 


12,043.464111,783.611  20*07 18-31  1 1 -48|  18-01 1 16*37 


I 


8-8218-811  8-5214-13:1 1-06 

86.228|  9-90 13-901  d-48ll2-98|  8  54 
141.765 19-52^^20*85]15-55|21-32!21*79 
31.651  11-6913-95 12-95il  98 1319 
58.521113-21 14-41 14-7314-67115  51 
l'20-19il  2^16-81120-08 
9-38j  12-37 10-67'12-7914-8i 
.448|lO-44 17*64  7-68jl3-0l!l0-8a 
.584|l4-02]1611   9-28|l6*o4il5-43 
l-41|12*6a  6-25|l  1-82 12-58 
816|16*60 16-78  9*63i  13*651 13-98 
ll*83ll8*06ll4-53 


213.129  12*28 

340.046 

176.^ 

367.1 

247.378|1 

337 

282.939112*9617*41 


4711*08  7*48^l3-30  8*33 

9-36|l9-20J  6-72;l6*79  8-19 

328|l3-88i  18-09!  8-57il3-5oi  9-37 


18-88il7-53!ll-47 17-81,15-381 


Die  Ernte  des  Winterweizens  (das  Hauptproduct  Ungarns)  wahrend 
der  letzten  5  Jahre  nach  einzehien  Comitaten  ist  in  vorstehender  Tabelle 
ausgewiesen. 


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DIE   ERNTE   UKGAIU^'s  IH  JAHRE   1891. 


837 


Obzwar  im  Allgemeinen  die  Ernte  von  Winterweizen  nur  eine  mittel- 
mässige  war,  gestaltete  sich  dieselbe  in  einigen  C!omitaten  doch  zu  einer  ausge- 
zeichneten, z.  B.  im  Comitate  Oedenburg ;  in  diesem  Gomitate  ist  zwar  die 
Ernte  von  Jahr  zu  Jahr  günstig,  doch  war  dieselbe  noch  nie  so  gut  als 
eben  in  diesem  Jahr.  Dieses  Jahr  kann  aber  getrost  als  das  Jahr  der  Extreme 
betrachtet  werden.  In  einzelnen  Comitaten  war  die  Weizen-Ernte  eine  sehr 
missliche,  z.  B.  unweit  vom  Comitate  Oedenburg  im  Comitate  Komom  war 
die  diesjährige  Weizen-Ernte  noch  ungünstiger  als  jene  des  Jahres  1889. 
Die  Ernte  war  jedoch  nicht  nur  in  einzelnen  Gegenden  eine  sehr  verschie- 
dene, sondern  ea  war  auch  in  einzelnen  Gemeinden  unter  gleichen  Verhält- 
nissen die  Ernte  eines  Besitzers  günstig,  die  eines  anderen  Besitzers  hin- 
gegen misslich ;  hieraus  folgt  naturgemäss,  dass  dieses  Jahr  trotz  der  an- 
nehmbaren Ernte  und  hohen  Preise  auf  das  Aufblühen  der  Landwirtschaft 
keine  so  günstige  Wirkung  ausübte,  als  wenn  dieselbe  Ernte  im  ganzen 
Lande  gleichmässig  verteilt  gewesen  wäre. 

Wie  sich  die  Weizen-Ernte  nach  einzelnen  Landesteilen  im  Durch- 
schnitte der  letzten  5  Jahre  gestaltet  ist,  aus  nachstehendem  Ausweise  er- 

sichtUch : 

Im  Durchschnitte  der  Jahre  1887—91. 


Landesteil 

1.  Linkes  Donauufer 

2.  Rechtes  Donaunfer  _. 

3.  Donau-Theiss-Becken 

4.  Rechtes  Theissufer   ._. 

5.  Linkes  Theissufer 

6.  Theiss-Mavos-Beoken 
7.  Siebenbürgen     ._ 

Zusammen 


Abgeerntete 
Bodenflache 
in  Hectaren 

Fnaueirte 
Menge 

Dnrohselmittliohe 

Produotion  per 

Heotar 

Hectoliter 

I93.4U 

3,047.538 

15-76 

539.500 

9.350.587 

17-60 

615.724 

10,261.288 

16-67 

174.705 

2,464.647 

1411 

371.742 

5,646.587 

15-19 

659.882 

11,043.363 

16-74 

211.829 

2,765.358 

13-05 

2,756.796 


44,579.368 


1618 


Die  grösste  Durchschnittsproduction  weisen  die  Gomitate  am  rechten 
Donauufer  auf;  grosse  Unterschiede  kommen  zwar  nicht  vor  unter  den  ein- 
zelnen Landesteilen,  nur  das  rechte  Theissufer  und  Siebenbürgen  bleiben 
stark  zurück.  Aus  landwirtschaftlichem  Gesichtspunkte  ist  übrigens  die  obige 
-Gliederung  des  Landes  nicht  ganz  richtig,  denn  es  gelangt  hiedurch  der 
Unterschied  zwischen  Tiefebene  und  Hochebene  nicht  zum  Ausdrucke. 

Wenn  auch  die  diesjährige  Ernte  (mit  Ausnahme  der  Boggen- Ernte) 
der  Menge  nach  eine  genügende  war,  so  lässt  deren  Qualität  viel  zu  wün- 
schen übrig;  schwerer  Weizen  kam  nur  hie  und  da  zum  Vorschein,  hingegen 
häufig  ganz  leichter  Weizen  schlechter  QuaUtät.  Dies  gelangt  auch  zum 
Ausdrucke  bei  dem  durchschnittlichen  Gewicht  der  Production  des  ganzen 
Landes: 


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J 


S38  DIE   ERNTE   UNGABN's   IM   JAHBE    1891. 


Durchschnittliches      Gewicht 

eines 

Hectoliten 

1  in  Kilogrammen 

im  Jahre 

im  Juble 

im  Jahre 

im  Jahn 

im  Jahre 

1887 

1888 

1889 

1880 

1891 

Winterweken    .     ...     _ 

79-7 

791 

76-7 

78-8 

77-5 

Sommerweizen   .  _     ... 

74-7 

76-2 

730 

74-8 

75-9 

Halbfrucht      

740 

73-4 

72-2 

74-9 

730 

Winterroggen     ...     ..- 

721 

71-4 

71-3 

72-3 

706 

Sommerroggen        ...     ,  . 

69-2 

69-7 

68-6 

70-7 

70-0 

Wintergerste 

64-4 

64-4 

62-9 

64-5 

62-7 

Sommergerste         

64-8 

64-3 

63-3 

64-6 

62-8 

Hafer           

44-3 

43-8 

43-4 

44-4 

43-7 

Winterreps      

68-6 

69-9 

67-8 

68-5 

G6-0 

Sommerrepe        .  _     ... 

66-6 

68-0 

65-8 

67-6 

66-2 

Da  die  Producta  Ungarns  dem  Gewichte  nach  in  den  Handelsverkehr 
gelangen,  teilen  wir  im  Nachstehenden  die  Hauptergebnisse  der  Ernte  des 
Jahres  1891  auch  nach  dem  Gewichte  mit,  im  Vergleiche  mit  den  Daten  der 
vorangegangenen  4  Jahre : 

Es  wurde  producirt  in  Meter-Centnem 

im  Jahre  1887   im  Jahie  1888   im  Jahre  1889  im  Jahre  1800  im  Jahr«  1801 

Weizen     ...     ..  40,882.834  37,831.203  25.235.886  41,119.389  36,448.199 

Roggen         ...  13,020.914  10,610.426  9,237.837  12.783.495  9,632.167 

Halbfrucht         .  2,358.192  2,036.393  1.454.866  1,886.247  1,59.1018 

Gerste 12,712.116  10,219.938  7,695.855  12,069.020  12,30.5449 

Hafer       ...     ..  9,592.269  8,719.835  6,671.616  8,219.533  10,352.945 

Reps       ._     ...  311.195  531.414  293.761  823.900  380.594 

Die  diesjährige  Weizen-Ernte  nähert  sich  der  Ernte  des  Jahres  1888, 
die  Boggen-Emte  übertrifft  nur  um  weniges  die  schwache  Ernte  des  Jahres 
1889  und  wenn  die  durch  Elementar-Ereignisse  verursachten  Schäden  in 
Abrechnung  gebracht  werden,  so  bleibt  dieselbe  noch  unter  jener  des  Jahres 
1889,  die  Gersten-Ernte  war  um  nicht  vieles  geringer  als  die  glänzende 
Ernte  des  Jahres  1887,  die  Hafer-Ernte  hingegen  so  ausgiebig,  dass  bisher 
nur  in  einem  einzigen  Jahre  (1882)  eine  ähnliche  vorkam. 

All  dies  s.usammengefasst,  gab  das  Jahr  1891  eine  leidlich  mittel- 
mässige  Ernte  ab.  Einzelne,  ja  sogar  ganze  Gegenden  täuschen  sich  in  ihren 
Hoffnungen  auch  in  anderen  Jahren  und  obzwar  in  diesem  Jahre  sich 
mehrere  täuschten,  aln  gewöhnlich,  kann  trotzdem  für  das  ganze  Land  das 
Ergebniss  der  diesjährigen  Ernte  nicht  als  ein  ungünstiges  betrachtet  werden, 
hauptsächlich  nicht  aus  dem  Grunde,  weil  der  Landwirt  diesmal  seine  Ernte 
um  einen  solchen  Preis  verwerten  kann,  von  dessen  Höhe  er  schon  seit 
langer  Zeit  nicht  einmal  zu  träumen  wagte.  Einen  grossen  Vorzug  bildet  es- 
für  Ungarn,  dass  wir  zufolge  der  misslichen  Ernte  Eusslands  an  den  deut* 


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DIE  ERNTE   UNGABN's   IM   JAHRE    1891.  839 

sehen  Märkten  neuerdings  jene  wichtige  Stellung  erobern  können,  welche 
Ungarn  am  Anfange  der  Sechziger  Jahre  inne  hatte  und  von  welcher  wir 
während  der  Siebziger  Jahre  traurigen  Angedenkens  verdrängt  zu  werden 
anfingen.  Die  Frage  ist  nur,  wie  viel  Ueberfluss  für  den  Export  zur  Ver- 
fügung steht  ?  Diese  wichtige  Frage  kann  leider  nur  mit  einer  willkürlichen 
Mutmassung  beantwortet  werden,  weil  für  die  Feststellung  des  innern  Con- 
sums  bisher  noch  keine  verlässlichen  Daten  zur  Verfügung  stehen.  Der 
innere  Consum  beschränkt  sich  zwar  nicht  auf  eine  bestimmte,  keiner  Aen- 
derung  unterworfene  Menge,  denn  bei  einer  günstigeren  Ernte  ist  sowohl 
die  menschliche  als  auch  die  tierische  Ernährung  eine  bessere  und  es  nimmt 
der  innere  Consum  zu ;  ebenso  fällt  auch  in  Betracht  die  günstigere  oder 
misslichere  Ernte  der  getreideersetzenden  Producte.  Es  wäre  jedoch  sehr 
wünschenswert,  wenn  behufs  Feststellung  der  Grösse  des  inneren  Bedarfes 
eindringende  Nachforschungen  angestellt  würden.  Vor  allen  wäre  der  Bedarf 
an  Saaten-Korn  festzustellen,  denn  die  allgemeine  Schätzung  bietet  keine 
genügenden  Stützpunkte.  Es  ist  unbekannt,  wie  viel  Percente  von  der  Boden- 
fläche der  einzelnen  Getreidegattungen  mittelst  Drill-Säemaschinen,  mittelst 
Breit- Säemaschinen  oder  mit  der  Hand  bebaut  werden;  die  Kenntniss  hie- 
von  ist  aber  auf  die  erforderUche  Menge  von  Saatenkom  von  grossem  Ein- 
flüsse. Es  kommen  aber  auch  im  Kreise  der  einzelnen  Säe-Arten  in  ver- 
schiedenen Gegenden  grosse  Unterschiede  vor ;  es  gibt  Gegenden,  wo  der 
Kleingrundbesitzer  in  ein  ungarisches  Joch  (1200  Quadratklafter)  nicht  mehr 
als  100  Liter,  in  anderen  Gegenden  hingegen  auch  140  bis  150  Liter  anbaut; 
bei  dem  Anbau  mittelst  Drillmaschinen  schwankt  sogar  der  Bedarf  für  ein 
ungarisches  Joch  zwischen  80  und  104  Liter,  je  nachdem  der  Landwirt  bei 
Berücksichtigung  der  Qualität  des  Bodens  eine  dichte  oder  schüttere  Saat 
wünscht.  Auch  die  für  menschliche  Nahrung  und  zur  Fütterung  der  Tiere 
erforderliche  Getreidemenge  ist  nicht  genau  bekannt.  Die  mit  so  grosser 
Sorgfalt  und  Fachkenntniss  verfasste  Mühlen-Industrie-Statistik  vom  Jahre 
1885  gibt  trotz  aller  Vortrefflichkeit  die  gemahlene  Getreidemenge  nicht 
genau  an ;  es  zeigt  sich  eine  unüberbrückbare  Differenz  zwischen  diesen 
Daten  und  jenen  der  Ernte- Statistik,  wodurch  klar  gestellt  wird,  dass  die 
Mühlen-Industrie-Statistik  der  Wirklichkeit  nicht  nahe  kommt.  Auch  die 
Daten  der  auf  ganz  neuen  Spuren  schreitenden  Ernährungsstatistik  können 
gegenwärtig  nicht  mehr  ohne  Bedenken  acceptirt  werden,  obzwar  diese  Sta- 
tistik, was  die  menschliche  Nahrung  betrifft,  ein  getreues  Bild  des  Getreide- 
Consumes  gibt,  da  jene  Daten,  welche  bei  Berechnung  des  Nahrungsbedarfes 
der  Bevölkerung  als  Grundlage  dienten,  noch  den  mit  Ende  der  Siebziger 
Jahre  verfassten  Katastral-Berichten  entnommen  wurden.  Es  ist  jedoch 
bekannt,  dass  die  Siebziger  Jahre,  als  eine  missliche  Ernte  der  anderen 
folgte,  für  Ungarn  Jahre  schwerer  Prüfungen  waren  und  dass  in  demselben 
Maasse,  in  welchem  sämmtliche   Zweige    der  Volkswirtschaft   in  Verfall 


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^^  BEITRÄGE   ZÜB   OBSOHICHTE   DER   SLOYAKISOHBK    SPRACHE. 

kamen,  auch  der  Wohlstand  xmd  in  Folge  dessen  die  Gonsomfähi^eit  des 
Volkes  abnahm ;  die  Achtziger  Jahre  hingegen  waren  zu  Folge  der  gänsti- 
geren  Ernten  mit  einem  wirtschaftlichen  Aufschwung  verbunden ;  es  kann 
daher  mit  Bestimmtheit  behauptet  werden»  dass  während  des  letzten  Jahr- 
zehnts die  in  den  Eatastral-Berichten  beschriebenen  Emährungsverhältnisse 
eine  gründliche  Aenderung  erlitten,  und  dass  gegenwärtig  schon  viel  mehr 
Getreide  consumirt  wird  als  damals ;  die  Menge  jedoch  kann  in  Zahlen  aus- 
gewiesen nicht  angegeben  werden,  weil  nur  die  Daten  der  Getreide- Ausfuhr 
vollkommen  verlässlich  sind,  während  über  die  Richtigkeit  der  Ernte-Ergeb- 
nisse mehrfache  Zweifel  gehegt  werden  können,  die  Menge  des  jährlichen 
Saatenkomes  aber  gänzlich  unbekannt  ist.  Es  wäre  sehr  erwünscht,  wenn 
die  competenten  Kreise  sämmtliche  Zweige  der  Agrar-Statistik  einem  gründ- 
lichen Studium  unterziehen  würden  und  weder  Mühe  noch  Opfer  scheuend 
diese  Statistik  als  ein  zusammenhängendes  Gunze  durchzuführen  bestrebt 
wären.  Dr.  Julius  v.  Vargha. 


BEITRÄGE  ZUR  GESCHICHTE  DER  SLOVAKISCHEN  SPRACHE.* 

Die  Beiträge  sind  von  zweierlei  Art :  ein  Teil  derselben  steht  mit  der  äos- 
seren,  der  andere  mit  der  inneren  Spraohengeschichte  in  Beziehung.  Die  letzteren 
sind  mehr  für  den  Philologen  von  Bedeutung,  die  ersteren  können  jedoch  das  In- 
teresse des  Geschichtschreibers  um  so  mehr  in  Anspruch  nehmen,  da  sie  berufen 
sind,  auch  auf  bisher  kaum  erörterte  Fragen  einige  Streiflichter  zu  werfen.  Teilweise 
berühren  sie  eine  ethnographisch  höchst  wichtige  Frage :  das  Yerhältniss  der  sla- 
viscben  Bevölkerung  Ungarns  zu  den  Böhmen.  Bekannterweise  gelangte  Paul 
Hunfalvy  in  seiner  Ethnographie  Ungarns  zu  der  Ansicht,  der  genannte  Volks- 
stamm, die  slavische  Bevölkerung  unseres  Vaterlandes,  sei  erst  später  nach  Ungarn 
eingewandert,  als  nämlich  die  ungarische  Herrschaft  schon  in  ihrer  vollen  Kraft 
erblüht  war.  Czambel  nimmt  dieser  Anschauung  gegenüber  nicht  direct  Partei  und 
kann  es  auch  nicht  thun,  da  er,  sich  mit  Sprachengeschichte  befassend,  seine  For- 
schtmgen  nur  da  begii*nen  kann,  wo  ihm  positive  Daten  zur  Verfügung  stehen. 
Auch  diejenigen  dieser  Daten,  die  am  weitesten  zurückgreifen,  haben  nicht  einen 
spracbUchen,  sondern  politisch-geschichtHchen  Charakter.  Ungeachtet  dessen 
spricht  aus  mehreren  Stellen  seiner  Abhandlung  die  Ueberzeugung,  er  betrachte 
die  Einwanderung  der  slavischen  Bevölkerung  in  Ungarn  nicht  als  ein  Resultat  der 
wechselseitigen  ungarisch-böhmischen  Berührungen,  da  der  Kern  derselben  viel 
früher  schon  die  nördUch  gelegenen  Comitate  bewohnt  habe. 


*  Dr.  S.  Czambel,  Prispevhf  k  dejindm  jazyka  shv&nskeho,  I.  Budapest,  1887. 


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BEITRÄGE   ZUR   GESCHIOHTE   PER   BLO VAEISCHEN   SPRACHE.  ^^ 

Wir  können  dies  aus  mehreren  Stellen  entnehmen,  insbesondere  wo  von 
Matthäus  Osäk  die  Bede  ist.  So  erwähnt  er  nach  Fessler,  Matthäus  Csäk  habe  aus 
Böhmen  und  Mähren  neue  Söldnerscharen  in's  Land  gebracht  und  bemerkt  dazu, 
dies  sei  nach  fünf  Jahrhunderten  der  erste  Fall  gewesen,  wo  Böhmen  und  Slaven 
auf  längere  Dauer  (nahezu  8 — 10  Jahre)  wieder  zusammen  sein  konnten.  (7.  S.) 
Der  Yerfiasser  betrachtete  jedoch  direct  die  Untersuchung  dieser  Umstände  nicht 
als  seine  Aufgabe  imd  macht  ihrer  in  seinem  Werke  auch  keinerlei  Erwähnung. 
Er  will  im  Laufe  seiner  Erörterungen  vielmehr  eine  andere,  vielleicht  noch  wich- 
tigere Frage  historisch  festeteUen :  wie  nämlich  die^böhmische  Sprache  jene  Bedeu- 
timg erlangt  habe,  deren  sie  sich  beim  slovakischen  Volke  überhaupt  und  in  der  Li- 
teratur desselben  bis  zur  jüngsten  Zeit  erfreut  ?  Die  Daten  aus  dem  Zeitalter  der 
Ärpäden-Eönige  übernimmt  er  grösstenteils  aus  Fessler  und  Palacky,  ohne  im 
Stande  zu  sein,  etwas  Neues  beizufügen,  und  legt  ihnen  auch  hinsichtUch  seines 
Gegenstandes  kein  besonderes  Grewieht  bei. 

Die  Bedeutung  der  böhmischen  Sprache  fängt  seiner  Ansicht  nach  zu  der 
Zeit  an,  als  zufolge  der  Begründung  der  Prager  Universität  das  westliche  Ungarn 
in  seiner  wissenschaftlichen  Ausbildung  aus  mehreren  Ursachen  auf  Prag  gewiesen 
ward.  Den  Namen  nach  zu  urteilen,  waren  unter  den  128  Hörern  der  Bechts- 
wissenschaften  und  der  Philosophie  an  der  Prager  Universität  bis  1420  die  Ungarn 
in  überwiegender  Anzahl,  nach  ihnen  folgten  die  Slovaken,  die  Siebenbürger 
Deutschen  imd  zuletzt  die  Rumänen  (8.  S.).  So  geschah  es  denn  auch,  dass  einer- 
seits böhmische  Manuskripte  nach  Ungarn  gebracht  wurden  und  andererseits  wieder 
Einzelne  in  böhmischer  Sprache  zu  schreiben  anfiengen.  Ein  Beispiel  dazu  Uefert 
uns  eine  Handschrift  aus  dem  Jahre  1355  (im  Besitze  des  Prager  Capitels),  eine 
Sammlung  von  Glossen  im  Dialekte  der  Holicser  Gegend  (westliches  Neutraer 
Comitat),  die  einen  Ungarn  zum  Verfasser  hat.  Ja  in  dem  Texte  einer  böhmischen 
cEvangeUa»  aus  dem  Jahre  1350  finden  wir  sogar  slovakische  Worte,  die  uns  zum 
min  desten  ahnen  lassen,  auch  dieser  Verfasser  möge  ein  Ungar  gewesen  sein. 
Unter  der  Herrschaft  des  Königs  Sigismund  kam  die  böhmische  Sprache  sehr  in 
Schwung.  Aus  seiner  Zeit  nennt  der  Vei-fesser  wenigstens  20  in  böhmischer  Sprache 
verfasste,  in  Ungarn  ausgegebene  Schriftwerke,  deren  rein  böhmische  Sprache  ihn 
zu  der  Annahme  berechtigt,  die  Verfasser  seien  Böhmen  gewesen.  Li  noch  grös- 
serem Maasse  wurde  die  böhmische  Sprache  durch  die  Hussitenkriege  Sigismimd's 
gehoben.  Die  Hussiten  brachen  aus  Bache  oft  in  Oberungam  ein,  aller  Wahrschein- 
lichkeit nach  blieb  dann  eine  grosse  Anzahl  derselben  in  unserem  Vaterlande  und 
bereitete  die  Gemüter  auf  das  Zeitalter  Giskra's  vor.  Es  ist  auch  anzunehmen, 
dass  sie  hussitische  Schriften  mit  sich  gebracht  hatten  und  auf  diese  Weise  eben- 
falls der  böhmischen  Literatursprache  den  Weg  ebneten,  denn  thatsächlich  tritt 
die  böhmische  Sprache  literarisch  von  1440  an  in  Ungarn  auf.  Der  Verfasser  be- 
rührt auch  drei  andere  Manuskripte,  die  nach  der  Ansicht  mehrerer  vorher  ent- 
standen seien,  doch  tliatsäcbUch,  wie  er  dies  nachweist  (S.  14.  und  15.),  später, 
also  nach  1440  erschienen  sind. 

Die  Muttersprache  der  Hussiten  eroberte  sich  nun  überall,  wo  sie  sich  nie- 
derlieseen,  auch  im  gesellschaftliclien  Leben  das  Terrain  und  wurde  zufolge  der 
gegenseitigen  Berühnmgen  von  den  Behörden  imd  Gemeinden,  ja  sogar  von  der 


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^^2  BEITRÄGE   ZUR   GESCHICHTE    DER   8LOVAKI8CHEN    SPRACHE. 

Kirche  übernommen.  Slovaken,  denen  die  Sprache  zufolge  der  strategischen  Ver- 
hältnisse und  Handelsbeziehungen  so  wie  aus  ihren  Universitätsstudien  bekannt 
war,  unterwarfen  sich  dieser  Neuerung  sehr  bald  und  übernahmen  die  böhmische 
Sprache  selbst  in  ihre  Literatur.  Welcher  Beliebtheit  sich  diese  Sprache  bei  Be- 
hörden und  Gemeinden  erfreute,  ersehen  wir  aus  mehreren,  von  Czambel  ange- 
führten Beispielen ;  so  wurden  die  Jahrbücher  der  Stadt  Kajec  seit  1485  in  höh- 
misch-slovakischer  Sprache  geführt.  Ja  auf  religiösem  Gebiete  drang  sie  sogar  in 
die  katholischen  Kirchen  ein,  ganz  abgesehen  von  den  Proselyten,  die  von  den 
Hussiten  hier  gewonnen  wurden.  Die  Tronbesteigung  Wladislaus  11.  und  das 
Ansehen,  dessen  sich  die  böhmische  Sprache  auch  im  Auslande  erfreute  (sie  bil- 
dete die  diplomatische  Sprache  mehrerer  polnischer  Herzogtümer),  konnten  auf 
ihr  Erblühen  in  Ungarn  nur  vom  günstigsten  Einflüsse  sein. 

Am  wirksamsten  wurde  sie  jedoch  durch  die  Reformation  gefördert.  In  den 
vorreformatorischen  Zeiten  sind  die  böhmischen  Schriften  äusserst  selten.  Von 
1500—1520  kann  der  Verfasser  nur  3  nennen,  von  1520 — 1530  schon  4,  von 
1530 — 1 540  bereits  12,  was  uns  in  der  Annahme  nur  bestärken  kann,  dass  mit  dem 
stetigen  Vorschreiten  der  Reformation  sich  auch  das  Gebiet  der  böhmischen 
Sprache  allmälig  erweitert  habe  und  zwar  nicht  nur  innerhalb  der  kirchlichen 
Grenzen,  sondern  überall  in  Gemeinden  und  Städten,  Comitaten  und  Kanzleien, 
auf  Edelsitzen  und  Königsschlössem.  All  diese  Behauptungen  werden  vom  Ver- 
fasser mit  Documenten  erhärtet,  die  aus  der  ersten  Hälfte  des  XVI.  Jahrhunderts 
stammen  (S.  31  und  32).  Wie  sehr  die  böhmische  Sprache  verbreitet  war,  bezeugt 
er  uns  weiter  mit  Daten,  die  er  aus  Istvänfy's  Geschichtswerke  genommen,  und 
die  z.  B.  beweisen,  dass  der  1534-er  Friedensschluss  mit  den  Türken  auch  in  böh- 
mischer Sprache  vorgelesen  wurde. 

Der  Verfasser  beschliesst  damit  seine  Untersuchungen  über  die  ältere  Spra- 
chen<?eschichte  und  wendet  sich  nun  einem  Schriftsteller  unserer  Zeit,  Paulinyi 
zu,  der  wohl  in  slovakischer  Sprache  schrieb,  doch  zu  einer  Zeit,  da  noch  nicht 
alle  Fragen  der  Literatursprache  gelöst  und  festgestellt  waren.  Wir  werden  ihn  in 
seinen  Forschungen  nicht  begleiten,  da  sie  mehr  nur  für  den  Philologen  von  In- 
teresse sind.  Im  Zusammenhange  mit  dem  vorher  Gesagten  wollen  wir  nur  bemer- 
ken, dass  die  böhmische  Sprache  dann  noch  mehr  denn  zwei  Jahrhunderte  hin- 
durch in  Ungarn  allgemein  verbreitet  war,  bis  sie  durch  die  Neuerungen  Bemoläk's 
(der  den  Pressburger  Dialect  zur  Literatursprache  erheben  wollte)  insbesondere 
aus  der  katholischen  Literatur  verdrängt  wurde. 

Das  Vorherrschen  der  böhmischen  Sprache  tilgt«  jedoch  in  den  Bewohnern 
das  Bewusstsein  ihrer  ethnographischen  Individualität  und  ihrer  politischen  Zu- 
ständigkeit keineswegs.  Es  sei  uns  gestattet,  am  Ende  dieser  kurzen  Uebersioht  dies- 
bezüglich eine  Thatsache  anzuführen.  Die  Brewer'sche  Buchdruckerei  in  Leutschau 
gab  schon  im  Jahre  1632  eine  Uebersetzung  der  «Praxis  Pietatisi  des  Comenios 
heraus.  Das  Vorwort  jedoch,  von  Comenius  an  die  böhmischen  Gläubigen  gerich- 
tet, wird  den  Verhältnissen  der  slovakischen  Leser  angepasst  imd  wo  von  den 
Leiden  und  Schicksalen  der  böhmischen  Nation  die  Rede  ist,  da  setzt  der  Leiit- 
schauer  Buchdrucker  einfach  das  Wort  «uhon  (ungarisch)  an  Stelle  des  «böhmi- 
schen. »  Wenn  wir  daher  die  Erörterungen  Czambers  teilweise  ergänzen  wollten» 


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PEt6fI*S   GATTIN,   JULIE   SZENDRBY.  843 

Ixönnten  wir  hinzufügen,  dass  diese  Verbreittmg  der  böhmischen  Sprache  wirklich 
Thatsache  sei,  jedoch  nur  in  sprachgeschichtlicher  Hinsicht.  Wir  müssen  dem 
Verfasser  für  seine  mühevolle  und  fleissige  Arbeit  volles  Lob  spenden,  doch  ist  nur 
zu  bedauern,  dass  er  sich  mit  der  erwähnten  Ansicht  Himfalvy's  nicht  in  dem 
Maasse  befasst,  als  dies  sein  Stoff  erheischt  hätte  und  als  er  seiner  philologischen 
Vielseitigkeit  und  geschichthchen  Kenntnisse  zufolge  benifen  gewesen  wäre. 

Johann  Evagsala. 


PETÖFI'S  GATTIN.  JULIE  SZENDßEY. 

Es  ist  der  Name  einer  Frau,  die  im  Leben  tief  unglückhch  gewesen  und  der 
man  nach  ihrem  Tode  selbst  mitleidiges  Gedenken  versagte.  Und  doch  liess  sich 
ihr  Leben  so  wunderbar  schön  wie  ein  Traum  an.  Mit  grossen  Ghiben  des  Geistes 
ausgestattet,  anmutig,  selbstbewusst,  einer  angesehenen  Familie  angehöiend, 
beherrscht  sie  ihren  Kreis,  über  den  sie  hoch  hinausragt.  Nur  eine  Gefahr  scheint 
ihr  zu  drohen^  unverstanden  und  unerkannt  durch's  Leben  zu  gehen,  ohne  die 
Fassung,  die  diesem  Edelsteine  gebührt.  Aber  da  gerät  in  ihren  Bannkreis  der 
grösste  Dichter  Ungarns,  Alexander  Petofi ;  das  leidenschaftliche  Mädchen  und 
der  feurige  Dichter  lieben  einander,  sie  wird  seine  Frau  und  des  Dichters  Liebe 
und  Buhm  breiten  eine  blendende  Strahlenhülle  um  ihre  im  ganzen  Lande  ge- 
feierte Gestalt.  Wurde  je,  denkt  man,  einer  Frau  grösseres  Glück  zu  Teil  ?  Fast 
scheint  es  zu  gross  für  ein  menschliches  Dasein  ;  selbst  ein  Bruchteil  müsste  für 
ein  langes  Menschenleben  auslangen.  Aber  die  Glückhchen  und  Auserwählten 
haben  viele  Feinde :  die  Götter,  die  ihnen  ihr  Glück  neiden,  und  die  Dämonen, 
die  ihnen  in  der  eigenen  Brust  wohnen  und  sie  von  innen  zu  zerstören  suchen. 
Sie  arbeiten  auch  hier  mit  Erfolg.  Der  grosse  Dichter  wird  seiner  Frau  nach  kaum 
zweijähriger  Ehe  entrissen  ;  der  Orkan  der  Bevolution  weht  ihn  spurlos  fort,  wie 
ein  Blatt  vom  Baume,  das  man,  wenn  der  Aufruhr  der  Natur  sich  gelegt,  verge- 
bens in  dem  Wust  der  Zerstörung  aufzufinden  bemüht  wäre ;  zugleich  ist  auch  das 
Gleichgewicht  ihres  Wesens  vernichtet ;  noch  ist  das  Jahr  nicht  um  seit  dem 
Tage,  an  dem  er  vermutlich  den  Tod  gefunden,  und  sie  wirft  den  Witwenschleier, 
mit  ihm  den  gros^^en  Namen  Pet6fi's  weg,  heiratet  einen  bescheidenen,  einfachen 
Mann,  anscheinend  mit  kühler,  kluger  Ueberlegung,  die  sie  früher  nie  besessen 
und  die  sich  jetzt  in  einem  Moment  einstellt,  da  die  vernünftigste  Frau  den  Ver- 
stand verloren  hätte.  Die  Geschichte  der  Witwe  von  Ephesus  wirkt  nicht  so 
befremdend.  Nun  verschwindet  sie  aus  dem  Gesichtskreise  der  Oeffentlichkeit, 
nachdem  sie  das  Recht  dazu  sich  so  teuer  erkauff.  Achtzehn  Jahre  später  stirbt 
sie,  auslöschend  wie  ein  trübe  flackerndes  Licht,  das  einmal  so  hell  gestrahlt, 
nach  langem  Siechtum,  kaum  vierzig  Jahre  alt,  ein  Andenken  hinterlassend, 
dessen  Weihe  sie  selbst  zerstört  hat.  Es  ist  oft  der  Versuch  unternommen  worden, 
den  Dämon  im  Busen  dieser  gewiss  nicht  gewöhnhchen  Frau  zu  ergründen,  es  ist 
nie  ganz  gelimgen.  Mehr  als  höhnische  oder  zornige  Phrasen  über  Julie  Szendrey 
und  die  Frauen  im  Allgemeinen  hat  man  dabei  nie  zu  Stande  gebracht.  Nun  hat 


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844  PBTÖFl's  GATTIN,   JULIB  SZENDBEY. 

Thomas  Szana  über  diese  seltsame  Franengestalt  ein  Werk  *  ▼eröflfentlicht,  das 
eine  Sehenswürdigheit  an  Oesohmack  und  erfinderischer  Schönheit  ist.  Unsere 
besten  Künstler  haben  den  Band  mit  Illustrationen  geziert  und  als  Anhang  sind 
demselben  die  Gedichte  der  unglücklichen  Frau  beigegeben.  Aber  welch  seltsamer 
Contrast,  diese  herrliche,  harmonische  buchhändlerische  Ausstattung,  und  im 
Inhalt  die  Ldneamente  eines  verzerrten  Lebens,  die  eine  so  schreiende  Dishar- 
monie bilden !  Oder  ist  es  dem  Essayisten  gelungen,  das  Bätsei  dieser  Selbst- 
zerstörung zu  lösen  und  wenigstens  die  Harmonie  der  Verständhchkeit  dem  An- 
denken der  armen  Frau  zu  retten  ?  Verstünden  wir  sie,  wir  könnten  imsere  Teil- 
nahme schwerhch  einer  Frau  vereagen,  die  für  ihre  Schwächen  schwer  genug 
gebüsst  haben  muss. 

Julie  Szendrey  wurde  im  Jahre  1828  in  Keszthely  geboren  und  war  zwölf 
Jahre  alt,  als  sie  in  ein  feines  Erziehungsinstitut  nach  Pest  gebracht  wurde,  wo  nie 
vier  Jahre  verlebte  Dann  kehrte  sie  zu  ihren  Eltern  nach  Erd6d  zurück,  einer 
alten  Burg,  mit  grossem  Park,  in  der  die  Wohnung  des  rngesehenen  Outsverwal- 
ters  sich  befand.  Das  phantastisch  veranlagte  Mädchen,  dessen  Lieblingslectüre 
die  Romane  der  Sand  und  die  Verse  Heine's  waren,  zog  die  Einsamkeit  der  Gesell- 
schaft, die  sich  ihr  bot,  vor  und  behandelte  die  zahlreichen  Bewerber  um  ihre 
Hand  mit  nicht  gewöhnlicher  Grausamkeit.  Man  gewöhnte  sich  bald  daran,  sie 
als  ein  rätselhaftes  Wesen  zu  betrachten,  das  seinen  eigenen  Willen  hatte  und 
auch  durchzusetzen  wusste.  So  viel  ungefähr  erzählt  man  uns  über  ihre  Geistes- 
verfassung zu  der  Zeit,  als  sie  mit  Pet^fi  am  8.  September  1 846  in  Nagy-Eirolv 
im  Hause  einer  Freundin  bekannt  wurde.  Pet6fi  war  damals  schon  der  gefeierte 
Dichter  der  Nation  und  machte  auf  das  hochstrebende  Mädchen  im  ersten  Mo- 
mente einen  tiefen  Eindruck.  Noch  leidenschaftlicher  erregt  wurde  Petöti,  welcher 
den  Beginn  seines  Lebens  von  jenem  8.  September  an  rechnet.  Die  Briefe,  die  sie 
nach  jener  Zeit  insgeheim  mit  einander  wecliselten,  sind  nicht  erhalten,  nur 
Juliens  Tagebuch  und  ihre  vertrauten  Briefe  an  die  Freundin  sind  uns  verblieben; 
das  Tagebuch  wurde  noch  im  Jahre  1847  von  Jökai  in  seiner  Zeitschrift  »Eletke- 
pek»  (Lebensbilder)  veröffentUclit.  Es  ist  schwer,  aus  Tagebüchern  überhaupt  und 
besonders  aus  dem  Tagebuche  eines  jungen  Mädchens,  das  eine  eifrige  Leserin 
George  Sand's  ist,  klug  zu  werden.  Man  lese  ihre  folgenden  Zeilen  an  Pet^fi :  «Ich 
gestehe,  ich  liebe  Sie.  mehr  als  irgend  wen :  abei'  ich  wage  mir  nicht  zuzutrauen, 
dass  ich  das  auch  später  fühlen  werde,  wenn  öftere  Zusammenkünfte  und  gegen- 
seitige Bekanntschaft  uns  vielleicht  gegenseitig  in  solchem  Lichte  zeigen  werden, 
welches  nicht  geeignet  wäre,  unsere  Liebe  zu  stärken.  Und  wenn  es  wahr  ist,  was 
ein  Schriftsteller  sagt,  dass  es  keinen  mächtigeren  Mörder  der  Liebe  gibt,  sh  die 
Gewohnheit.  .  . »  Dass  solche  Altklugheit  und  ähnliches  Spintisiren  nicht  aus  dem 
Herzen  des  achtzehnjährigen  Mädchens  kommt,  beweist  das  naive  Citat  aus  «einem 
Schriftsteller»  I  Aber  es  beweist  nicht,  dass  Julie  Pet6fi  nicht  liebt !  Das  Tagebuch 
enthält  eine  Menge  literarischer  Reminiscenzen  an  «die  unverstwidene  Frau», 

*  Petdfini  Szendrey  Julia,  irta  Szana  Tamäs,  (Julie  Szendrey,  Petöfi's  Gattin 
von  Thomas  Szana).  Budapest,  1891,  Verlag  von  C.  Grill,  238  S.  Mit  Zeichnungen 
von  Otto  Baditz,   Anton  NeogrÄdy,   Ignaz  Roskovits,  Julins  Stetka  und  B^la  SpÄnyi 


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PBTÖPl's  GATTIN.   JULIE  SQÜNDBSY.  846 

dann  die  natürliohe  Zuräokhaltunf^  des  jungen  Mädchens,  zuletzt  aber  doch  auch 
die  Spuren  echten  Gefühls,  das  «ich  durch  das  Gestrüpp  ihrer  Bomanbildnng  Bahn 
bricht.  Mittlerweile  hatte  Pet^fi  brieflich  um  ihre  Hand  angehalten,  war  niclit 
direkt  abgewiesen,  aber  vertröstet  worden,  ein  Jahr  zu  warten,  dann  wolle  man 
weiter  über  die  Sache  sprechen.  Im  Eltemhause  war  man  der  Verbindung  mit  dem 
armen  und  excentnsohen  Dichter  durchaus  nicht  geneigt.  Als  er  hierauf  persön- 
lich erschien,  um  ihre  Hand  zu  fordern,  kam  es  zu  einer  erregten  Scene,  nach 
welcher  der  Dichter  im  höchsten  Zorn  das  Haus  verliess.  Auch  das  Mädchen  bat 
den  Dichter,  die  Last  des  Probejahres  auf  sich  zu  nehmen.  In  welcher  Verfassung 
der  Dichter  sich  befand,  zeigt  das  nun  folgende  Intermezzo  in  Debrezin,  wo  er. 
nachdem  er  die  Schauspielerin  Prielle  einmal  auf  der  Bühne  gesehen,  ihr  schon 
am  anderen  Tage  einen  Heiratsantrag  machte.  An  dem  Umstand,  dass  der  Dichter 
keinen  Priester  fand,  der  von  den  gesetzlichen  Normen  Abstand  nehmen  und  das 
Paar  sofort  trauen  wollte,  scheiterte  der  Plan,  und  sogleich  für  immer  l  Szana 
bemüht  sich,  ans  dem  Tagebuche  herauszulesen,  dass  Julie  nur  in  Pet^fi's  Ruhm 
verhebt  war,  dass  es  ihr  nur  auf  Befriedigung  ihrer  Eitelkeit  ankam.  Weiss  er  so 
genau  zu  sagen,  welche  unserer  Qualitäten  die  Frau  zur  Liebe  bewegen,  und  soll, 
wenn  wir  Genie  besitzen,  dieses  für  die  GeUebte  nichts  bedeuten  ?  Als  ob  Julie  im 
Stande  gewesen  wäre,  in  Pet6fi  den  Dichter  vom  Menschen  zu  sondern !  Sie  sehreibt 
in  ihr  Tagebuch,  nachdem  sie  von  den  Qualen  ihrer  Lage  gesprochen  :  «Wenn  Du 
mich  jetzt  nicht  liebst,  Mensch,  dann  wird  Deine  Verantwortung  einst  schwer, 
fürchterhch  sein.  Und  doch  würde  ich  für  Dich  den  Himmel  herunterbeten,  der 
Da  mit  nie  geahnter  Macht  der  Leidenschaft  so  viel  Kämpfe  und  Qualen  mir 
bereitet  hast ...»  Das  kHngt  doch  wie  ein  natürlicher  Aufschrei  des  Herzens,  der 
sehnende  Buf  der  Geliebten  nach  dem  Gegenstand  ihrer  Leidenschaft.  Am  27. 
Mai  willigt  der  Vater,  wenn  auch  widerslarebend,  in  die  Verbindung  ein.  Julie 
schreibt  in  ihr  Tagebuch :  tAm  27.  Mai  begann  das  Glück,  das  die  Bitterkeit  eines 
Lebens  gut  macht.  An  dem  Tage  waren  wir  beisammen ;  seit  jenem  Tag  bin  ich 
Petdfi's  Verlobte.»  Sollte  man  glauben,  dass  Szana  Anstoss  daran  nimmt,  dass  JuHe 
schreibt  cPet^'s»  Verlobte  und  nicht  Sdndors  Verlobte!  Hätte  Juhe  nach 
Petdfi's  Tod  ihr  Leben  würdig  vertrauert,  dann  gälten  die  Tagebuchblätter  heute 
für  den  Ausdruck  reinster  Liebe.  Jetzt  liest  man  sie  mit  dem  grössten  Misstrauen, 
das  aber  der  Inhalt  durchaus  nicht  rechtfertigt.  Am  8.  September  fand  die  Trau- 
ung statt,  genau  ein  Jahr  nach  dem  Tage,  an  dem  sie  sich  zum  ersten  Male 
gesehen. 

Wir  übergehen  nun  die  Zeit,  die  das  glückliche  Paar  zusammen  verlebte. 
Diesen  zwei  Jahren  verdankt  die  ungarische  Literatur  die  schönsten  Lieder,  in 
denen  je  ein  Dichter  seine  Liebe  besang.  Es  war  gewiss  keine  normale,  spieesbüv- 
gerliche  Ehe.  Auch  hier  werden  einzelne  trübe  Stimmungen  der  jungen  Frau  in 
übertriebener  Weise  gedeutet,  als  ob  die  glückhchste  Frau,  zumal  mit  der  Feder 
in  der  Hand,  sich  ewig  in  dem  Aether  reiner  Glücksempfindung  halten  könnte. 
Auch  den  Dichter  wimdehi  manchmal  solche  Stimmungen  an,  und  ergreifend  ist, 
wie  er  in  einem  Gedichte  mit  prophetischer  Ahnung  fragt,  ob  sie  ihm  nach  dem 
Tode  Treue  bewahren  werde,  und  dann  ausruft : 


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^^  PETOFl's   GATTIN   JULIE   SZENDREY. 

Doch  wirfst  Du  von  Dir  der  Verwitweten  Scbleier, 
Dann  pflanz'  auf  mein  Grab  ihn  als  Trauerpanier, 
loh  steig  dann  empor  aus  dem  Orabesgemäuer 
Um  Mitternacht,  nehme  hinab  ihn  zu  mir ; 
Die  Thränen  um  Dich,  die  GeUebte,  zu  stillen, 
Die  leichtlich  vergessen  Du  hast  deinen  Mann, 
Die  Wunden  des  Herzens  damit  zu  verhüllen, 
Das  ewig  Dich  liebt,  selbst  dort  noch,  selbst  dann  ! 

Nach  dem  Vei-sch winden  Petöfi's  ofifenbart  sich  der  Schmerz  der  Witwe  in 
der  wildesten  excentrischesten  Weise.  Sie  irrt  in  Verzweiflung  auf  dem  Schlacht- 
felde umher,  um  den  Leichnam  ihres  Mannes  aufzufinden.  Als  alles  vergebens  ist, 
reist  sie  mit  ihrem  Sohne  und  dessen  Amme  nach  Klausenburg,  wo  sie  auf  eine 
Spur  wartet,  die  sie  zurechtweisen  soll,  tienn  die  widersprechendsten  Gerüchte 
erfüllen  die  Luft.  Ueber  ihr  Leben  in  Elausenburg  bringt  Szana  merkwürdige 
Einzelheiten.  Anfangs  hofift  sie,  dass  ihr  Gatte  noch  am  Leben  ist.  Als  diese  Hoff- 
nung immer  mehr  schwindet,  sucht  sie  Vergessen  in  der  Betäubung.  Sie  verlangt 
schwere  Weine  von  ihrer  Quartiergeberin,  um  sich  zu  berauschen.  Als  ihr  dies 
misslingt,  sucht  sie  Verkehr  mit  Menschen,  die  ihren  Schmerz  begreifen  und  tei- 
len. Junge  Leute  versammeln  sich  bei  ihr,  es  wird  deklamirt,  vorgelesen,  viel- 
leicht auch  gesungen.  Julie  kann  den  stillen  Schmerz  nicht  ertragen,  sie  ist  eine 
leidenschaftliche,  energische  Natur,  die  des  Schmerzes  Herr  werden  will.  Sie 
sucht  ihren  Schmerz  auszutoben.  Wer  vermag  aber,  der  JuUe  nicht  persönlich 
kannte,  ihren  damaligen  Zustand  ganz  zu  begreifen  7  Sie  will  nach  der  Türkei,  um 
dort  ihren  Mann  zu  suchen,  und  compromittirt  sich  bei  dieser  Gelegenheit  durch 
ihren  Verkehr  mit  einem  Offizier,  der  ihr  angeblich  einen  Pass  verschaffen  will. 
Als  der  Offizier  zuletzt  allzu  zudringhch  wird,  gewahrt  sie  ihre  schiefe  Stellung, 
die  durch  bösartige  Gerüchte  schier  unhaltbar  geworden  ist.  Sie  fasst  einen  ener- 
gischen Eutschluss,  der  ihrem  Leben  eine  neue  Wendung  giebt.  Sie  bittet  einen 
jungen  Manu,  den  Universitätsprofeesor  Arpdd  Hor\ät,  dessen  stille  Huldigungen 
ihr  nicht  verborgen  gebheben  waren,  sie  zu  besuchen.  Er  erscheint.  Sie  übergibt 
ihm  ein  Packet,  mit  der  Bitte,  wenn,  sie  in  zwei  Wochen  nicht  zurückkehren, 
sollto,  es  uneröffnet  zu  verbrennen.  Horvät  sucht  sie  zum  Bleiben  zu  bewegen. 
Als  alles  vergebens  ist,  bittet  er  sie  um  eine  Haarlocke  zum  ewigen  Andenken. 
JuUe  sieht  ihn  scharf  an  imd  sagt:  Das  thue  ich  nicht,  solche  Andenken  aus- 
zuteilen war  nie  meine  Gewohnheit.  Aber  wenn  Sie  wollen  —  und  nun  f&hrt  ade 
mit  ihren  Fingern  in  ihr  kurz  geschnittenes  Haar  —  dann  gehört  das  Ganze 
Ihnen.  Horvät,  überrascht,  fragt :  Und  könnten  Sie  mich  lieben  ?  Unsere  Bekannt- 
schaft, antwortet  Julie,  ist  so  neu  und  kurz,  dass  von  einer  tiefen  Leidenschaft 
Tiicht  die  Eede  sein  kann.  Aber  ich  glaube,  keiner  von  ims  wird  den  Schritt  zu 
bereuen  hüben.  —  Und  was  meinen  Sie,  sagt  Horvdt,  wann  soll  die  Hochzeit 
sein,  nach  einigen  Wochen  oder  Monaten  ?  —  Wenn  Sie  mich  Ueben,  erwidert 
Julie,  dann  morgen.  Das  geschah  an  einem  Samstag.  Und  am  Sonntag,  den 
21.  Juli,  10  Tage  vor  der  Jahreswende  der  Segesvärer  Schlacht,  in  welcher  Ale- 
xander Pet6fi  den  Heldentod  starb,  fand  die  Trauung  statt.  Nach  der  Trauung 


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PETÖFI*8   GATTIN,   JULIE   8ZBNDREY.  ^4f7 

begleitete  sie  Horvät  nach  Hause.  In  der  Einfahrt  nahmen  sie  von  einander 
Abschied.  Julie  reiste  den  nächsten  Tag  nach  Hause  zu  ihrem  Vater,  einen  Tag 
später  folgte  Horvät,  nach  10  Tagen  kehrten  beide  in  die  Hauptstadt  zurück.  Das 
sind  die  nackten  Thatsachen.  Wer,  wie  Szana,  Eitelkeit  zum  Grundzug  ihres 
Wesens  macht,  möge  doch  zusammenreimen,  welche  Befriedigung  sie  für  diese 
Eitelkeit  als  Witwe  des  grossen  Dichters  gefunden  hätte,  und  welche  Schmähun- 
gen, die  sie  wohl  erwarten  konnte,  sie  nun  von  allen  Seiten  trafen.  Auch  jene  Ver- 
mutung trifft  nicht  zu,  dass  sie  nun  wieder  eine  Bolle  in  der  Welt  spielen  wollte. 
Die  Frau  des  bescheidenen  Horvät,  die  treulose  Witwe  des  vergötterten  Dicht ei-s 
musste  wohl  jedem  Ehrgeiz  entsagen  und  ein  weltscheues,  zurückgezogenes  Leben 
führen. 

Sie  lebte  als  treue  Frau  ihres  Gatten,  als  sorgsame  Mutter  ihres  Zoltän  (des 
einzigen  Sohnes  Petofi's,  der  auch  bald  starb)  und  der  Kinder  aus  ihrer  zweiten 
Ehe.  Dass  ihr  Leben,  an  dem  auch  eine  schwere  Krankheit  nagte,  tief  zerrüttet 
war,  gellt  aus  dem  resignirten,  fast  leblosen  Tone  ihrer  Briefe  und  aus  jenem  Ent- 
schluss  hervor,  den  sie  ein  Jahr  vor  ihrem  Tode  fasste :  das  Haus  ihres  Mannes  zu 
verlassen  und  getrennt  von  ihm  und  ihren  Kindeiii  zu  wohnen,  ein  EntsclJuss, 
den  sie  trotz  der  Bitten  der  Ihrigen  ausführte.  In  ihrem  letzten  Briefe  bittet  sie 
ihre  Kinder,  sich  nicht  der  Lebensmüdigkeit  zu  überlassen.  tWenn  sie  Euch 
überfallt,  so  kämpft  männlich  gegen  sie  an,  denkt  an  Eure  arme,  kranke,  elende 
Mutter,  die,  wenn  Euch  eine  grosse  Krankheit  überfiele,  nicht  im  Stande  wäre, 
sich  in  ihren  schrecklichen  Aengsten  aufrecht  zu  erbalten,  welche  die  Besorgnis» 
und  Furcht  um  Euch  ins  Grab  stossen  würde.  Ich  kann  nicht  weiter  schreiben. 
Gott  mich  Euch. »  Wie  kommt  die  Warnung  vor  der  Lebensmüdigkeit  in  diesen 
Brief  an  die  Kinder  und  wie  reimt  sich  diese  Warnung  mit  der  Angst  vor  Krank- 
heiten, welche  die  Kinder  befallen  könnten  ?  Das  sind  Anzeichen  eines  völlig 
zerrütteten  Gemüths,  das  ist  der  Aufschrei  einer  todtmüden,  sterbenden  Seele. 
Nicht  normal  war  dieses  Gemüt  von  Anfang  an.  Dann  wurde  die  Frau  in  aufge- 
regten Zeiten  die  Gattin  eines  leidenschaftlich  bewegten  Dichters,  und  führte  mit 
ihm  zusammen  ein  Leben,  das  sie  weit  aus  dem  Geleise  des  bürgerlichen  Daseins 
warf.  Alles  war  ausserordentlich  um  sie  herum,  ihr  Leben,  die  Zeit,  beider  Den- 
ktmgsart.  Nun  folgte  der  furchtbare  Schlag,  das  grässhch  geheimnissvolle  Ver- 
schwinden des  Dichters,  der  Wirbelwind  ihres  tobenden  Schmerzes,  der  sie  nicht 
zur  Buhe  und  Besinnung  kommen  hess.  Kann  man  da  die  Motive  ihrer  Thaten 
mit  der  Krämerwage  abwägen,  überhaupt  nach  den  Satzungen  der  reinen  Vernunft 
beurteilen?  Wie,  wenn  inmitten  ihres  haltlosen  Lebens  es  ihr  als  eine  Art  von 
Paradies  erschien,  an  der  Seite  eines  einfachen,  bürgerUchen  Menschen  die  Euhe 
und  Stille  der  bürgerlichen  Existenz  zu  gemessen  ?  Nie  hatte  sie  dieses  Gefühl 
gekannt ;  ihre  UeberschwängHchkeiten  hatten  ihr  nur  Qualen  bereitet,  vor  ihrer 
Heirat  mit  dem  Dichter,  manchmal  während  ihrer  Ehe  mit  demselben,  und  \vie 
erst  nach  seinem  Tode !  Welche  Seligkeit  muss  es  sein,  ruhen  zu  können,  still, 
bescheiden  zu  leben !  Sie  meinte  sich  mit  einem  Schlage  ändern  zu  können.  Sie 
kämpfte  wacker,  um  dieses  Ziel  zu  eiTeichen.  Aber  die  zurückgedrängte  Leiden- 
schaftlichkeit nagte  an  ihrem  Leben  und  bereitete  ihr  einen  frühen  Tod  am  6.  Sep- 
tember 1868.  Was  uns  von  ihrem  Leben  bekannt  wurde,  was  Szana  zusammen- 


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S^  DIB  QUALEN    DES   EBBTEN   ERFOLGES. 

getragen  und  veröfifentlieht  hat,  rechtfertigt  wenig  das  verdammende  Urteil,  das 
auch  Szana,  wie  mitleidig  er  auch  sonst  für  die  Frau  gesinnt  iet,  über  sie  aosprieht. 
Sie  war  unglücklich,  sie  verdient  unsere  Teilnahme  und  fordert  Verstandniss  f&r 
die  ausserordentlichen  Verhältnisse  ihres  Lebens,  an  denen  sie  zugrunde  ging. 

Bkrnh.  Albxakdbb. 


DIE  QUALEN  DES  EBSTEN  ERFOLGES. 

Was  mag  das  sein  ?  fragt  wohl  Derjenige,  der's  nicht  weiss ;  der  erste  Erfolg 
kann  doch  nur  Wonnen  haben  !  Wollen  Sie  also  meine  Geschichte  anhören !  Es 
möge  jedoch  nicht  als  Unbescheidenheit  erscheinen,  wenn  ich  von  meinen  Erfolgen 
spreche,  denn  dieses  Geständniss  dient  nur  dazu,  um  einen  Blick  in  die  Seele  eines 
Rtrebenden  jungen  Künstlers  zu  gestatten  in  dem  Momente,  da  Jedermann  glaubt, 
er  schwelge  im  Taumel  des  Triumphes. 

Es  war  im  Jahre  1870,  als  ich  mein  Bild  tln  der  Armensünderzelle i  im 
Pariser  Jahres- •  Salon ■  ausstellte.  Ich  darf,  ohne  unbescheiden  zu  sein,  sagen,  dass 
der  Erfolg  unerwartet  gross  war.  Ich  war  glücklich  im  ersten  Augenblick,  wäre  es 
doch  ein  Verbrechen  gewesen,  nicht  glücklich  zu  sein,  da  ich  mit  26  Jahren,  am 
Horizont  meiner  beginnenden  Laufbahn,  eines  schönen  Morgens  die  Strahlen  der 
belebenden  und  verheissenden  Sonne  des  Erfolges  hervorbrechen  sah . . .  Mein  erster 
Entschluss  war,  jetzt,  einem  alten  Wunsche  folgend,  in  Paris  mich  niederzulassen, 
wohin  ich  mich  stets  weit  mehr  gesehnt  als  nach  Rom,  wohin  ich  aber  so  lange 
nicht  gehen  wollte,  als  ich  nicht  sicher  war,  mir  dort  eine  feste  Position  erobern 
zu  können ;  die  Gefahren  der  Pariser  Verhältnisse  ahnend,  wollte  ich  mich  nicht 
in  die  Strömimg  stürzen,  in  welcher  zu  schwimmen  so  schwer  ist ... .  Jetzt  aber 
schien  mir  der  Augenblick  gekommen,  zumal  nach  der  Eröffiiung  des  Salon 
Goupil,  der  erste  Kunsthändler  in  Paris,  an  die  Thüre  meines  bescheidenen  Dussel- 
dorfer  Ateliers  pochte  und  alles  Verkäufliche  ankaufte  und  bestellte  .  .  . 

Um  diese  Freuden  des  Erfolges  zu  gemessen,  kehrte  ich  heim ...  0,  war  das 
gut !  .  .  .  Meine  Verwandten,  die  guten  Freunde  freuten  sich  mit  mir,  auf  den 
Kaiserbad-Bällen  tanzten  die  jungen  Damen  mit  mir  um  die  Wette,  ich  wurde 
von  links  und  rechts  beglückwünscht :  vielleicht  hatte  ich  nicht  einmal  Neider.  Es 
war  herrlich,  Alles  herrhch.  Nur  in  meinem  Innern  gab  es  eine  Stimme,  ein 
scheues  Gefühl,  dessen  Schwingungen  im  Dunkel  der  ruhigen  Nacht  meine  Seele 
erschrecken  machten  und  mich  selbst  die  schönsten  Andenken  der  Kaiserbad- 
Kränzchen  vergessen  liessen,  wenn  ich  vor  meinen  geistigen  Augen  das  grosse 
Fragezeichen  erbUckte :  Was  nun  ?  .  .  .  Wie  werde  ich  den  Anforderungen  ent- 
sprechen, welche  ein  solcher  eclatanter  Erfolg  nach  sich  zieht . . .  Furcht  und  sozu- 
sagen eine  Art  des  Misstrauens  mischte  sich  in  meine  Freuden  und  störte  diesel- 
ben . . .  Ich  bereitete  mich  eben  vor,  nach  Düsseldorf  zurückzukehren,  um  nach 
Paris  zu  übersiedeln,  da  brach  der  deutsch- französische  Krieg  aus,  dessen  Ablauf 
ich  in  Düsseldorf  erwartete.  Als  aber  die  letzten  Kanonen  der  Commune  ver- 
stummten, da  eilte  ich  nach  Paris,  wo  ich  seither  weile. 

Ich  war  in  der  That  überrascht,  um  nicht  zu  sagen  erschreckt  von  dem  In- 


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DIB   QUALEN   DBS  ERSTBN   BRF0L0B8.  ^ö 

teresse,  welches  die  Fi*anzo89n,  Künstler  und  Kimstkenner,  mir  entgegentnigen, 
und  während  ich  glaubte,  das  kaum  verrauschte  weltersohättemde  Drama  habe 
die  Franzosen  alles  Andere  vergessen  lassen,  nahm  ich  die  lebhafteste  Teilnahme 
für  Alles  wahr,  was  Kunst  oder  irgend  eine  Art  des  geistigen  Lebens  war.  Was 
aber  meine  eigene  bescheidene  Person  betraf  —  so  erinnerten  sich  zwar  nur 
Wenige  an  meinen  Namen,  zumindest  konnten  ihn  die  Wenigsten  aussprechen  — , 
allein  den  Autor  des  cLetzten  Tages  eines  Verurteiltem  kannte  Jedermann  und  je 
nach  seinem  Temperament  sprach  Jedermann  mit  Begeisterung  davon,  neugierig 
fiagend :  was  ich  wohl  jetzt  male  ...  Da  erschrak  ich  aber  schon  ganz  entschieden 
und  angstvoll  dachte  ich  daran,  was  ich  denn  mm  in  der  That  anfangen  solle,  um 
auf  der  Stufe  bleiben  zu  können,  auf  welche  die  öflfentliohe  Meinung  mich  gestellt » 
wusste  ich  doch,  dass  ich  jetzt  noch  viel  mehr  geben  müsse,  um  genug  zu  geben  — 
und  dazu  schien  ich  mir  nicht  fähig  zu  sein.  Nichtsdestoweniger  ging  ich,  als  mein 
Atelier  eingerichtet  war,  vertrauensvoll  und  begeistert  an  die  Arbeit.  Ich  war  über- 
rascht davon,  wie  Viele  mich  besuchten.  In  erster  Reihe  öoupil,  der  mich  schon 
in  Düsseldorf  ersucht  hatte,  ich  möge  ihm  bei  dem  Verkaufe  meiner  Bilder  die 
Priorität  überlassen.  Dies  sagte  ich  zu,  und  meinem  Versprechen  gemäss  zeigte  ich 
ihm  die  Skizzen,  die  ich  ausführen  wollte.  Es  waren  dies  die  beiden  Genrebilder : 
«Nachtschwärmer!  und  eine  «FamiHenscene.»  Goupil  bestellte  diese  letztere.  Von 
den  «Nachtschwärmern!,  als  einer  grösseren  Composition,  sprach  er  nicht,  allein 
trotzdem  begann  ich  die  Arbeit  an  beiden  Bildern  gleichzeitig. 

Ich  machte  mich  mit  grosser  Lust  und  fieberhaftem  Arbeitseifer  an  die 
Sache.  Alles  zeigte  sich  günstig  und  verheissend.  Goupil  gab  Vorschüsse  auf  das 
bestellte  Bild  und  er  hätte  mir  alle  Taschen  mit  Geld  gefällt,  -  wenn  ich  Vor- 
schuss  nicht  nur  in  dem  Maasse  acceptirt  hätte,  als  das  Bild  fortschritt.  Und  es 
ging  rasch.  .  .  Da  mit  einem  Male  erhob  in  mir  die  Hydra  des  Zweifels  ihr  Haupt. 
Mir  schien  es,  als  sei  ich  auf  einem  Irrwege.  .  .  .  Die  Besucher  folgten  zwar  mit 
lebhaftem  Interesse  dem  Vorschreiten  meiner  Arbeit,  allein  sie  sprachen  stet^;  mit 
solcher  Begeisterung  über  die  «Armensünder-Zelle»,  dass  ich  nur  noch  miss- 
trauischer  wurde  gegenüber  meinem  neuen  Werke,  und  gar  oft  Abends  unmutig 
Dasjenige  vernichtete,  was  ich  tagsüber  gearbeitet.  Goupil  zahlte  weiter  und  als 
das  Bild  schhessUch  beendet  war,  hatte  ich  dessen  Kaufpreis  in  Monatsraten 
bereits  behoben.  Von  Zweifeln  gemartert,  meldete  ich  Goupil,  das  Bild  sei  fertig  — 
er  könne  es  holen  lassen.  Er  kam  auch  Tags  darauf,  um  es  zu  besichtigen.  Er 
machte  eine  kleine  Bemerkung  in  Bezug  auf  die  Farbe :  ob  sie  nicht  vielleicht 
etwas  zu  dunkel  sei  ?  —  allein  er  that  es  keineswegF,  damit  ich  das  Bild  um- 
arbeite, denn  am  anderen  Tage  erschienen  seine  Leute,  um  es  zu  holen. 

Allein  jene  Bemerkung  und  meine  eigenen  inneren  Zweifel  machten  mich 
völlig  irre.  Ich  schauderte  vor  dem  Gedanken,  dass  das  Bild  jetzt  bei  Goupil,  wo 
alle  Künstler  und  Kunstkenner  von  Paris  einkehrten,  ausgestellt  sein  solle !  Denn 
ich  wusste,  mit  welcher  Neugier  ein  neues  Werk  des  Autors  der  «Armensünder- 
Zelle»  erwartet  werde  und  ich  vermeinte  bereits  die  Ausbrüche  der  Enttäuschung 
zu  vernehmen ;  wie  Zentnerlast  legte  die  moi'alische  Verantwortlichkeit  des  ei-st^n 
Erfolges  sich  auf  meine  Seele. 

Niedergeschlagen  sass  ich  meinem  Bilde  gegenüber  und  gleichsam  instinktiv 

Uogarisohe  Bern«,  XI.  1891.  X.  Haft.  54 


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DIE   QUALEH   DBS  EBBTEN   ERFOLOBS. 


griff  ich  naoh  meinen  Pinseln  —  binnen  fünf  Minaten  war  nichts  vor  mir  als  ein 
Stück  übertünchter  Leinwand. .  .  .  Erleichtert,  als  hätte  ich  einen  Todfeind  besei- 
tigt, athmote  ich  auf.  . . .  Aber  schon  im  nächsten  Augenblick  fiel  mir  ein,  dass 
ich  ja  den  Preis  dieses  Bildes  schon  in  EmpCang  genommen,  ja  zmn  grossen  Teile 
auch  schon  verausgäbt  hatte ....  Und  morgen  Früh  wird  das  Bild  geholt . . . 
Was  gebe  ich  den  Leuten  ?  Ich  hatte  eine  schlimme  Nacht,  zumal  es  mir  damals 
noch  keineswegs  so  gut  ging,  dass  ich  GapitaUen  hätte  ersparen  können  —  and 
nun  hatte  ich  statt  20,000  Francs  Verdienst,  ebensoviel  Schulden. 

Nur  der  Gedanke,  dass  meine  Niederlage  vertagt  sei  und  die  Hoffaung  aiif 
den  Erfolg  der  •  Nachtschwärmer»  beruhigte  mich  und  als  am  Morgen  die  Leute 
Ooupils  knmen,  um  das  Bild  zu  holen  und  ich  ihnen  nichts  geben  konnte,  da 
ging  ich  dann  selbst  zu  Goupil,  um  ihm  zu  sagen,  was  geschehen  sei. 

Er  hieltl  meine  Skrupel  für  übertrieben,  allein  deren  Motive  würdigend, 
fügte  er  sich  darein,  dass  ich  von  neuem  beginne. 

Vorläufig  ging  ich  aber  an  die  Ausführung  der  « Nachtschwärmer  ■  und  als 
dann  eine  und  die  andere  Figur  von  dem  dunkeln  Grunde  sich  abzuheben  begann, 
da  fasste  mich  eine  Art  Begeisterung  und  ich  dachte  freudig  an  die  Genugthuung, 
die  mir  dieses  Werk  schaffen  sollte.  Die  Arbeit  schritt  auch  tüchtig  vor  und  ich 
verbrachte  in  meinem  prächtigen  und  bequemen  AteUer,  über  Vergangenheit  und 
Zukunft  reflektirend,  selige  Stunden.  . .  . 

Von  Paris  hatte  ich  noch  sehr  wenig  gesehen,  denn  bei  meiner  Ankuuft 
überstieg  der  Arbeitsdrang  die  Neugierde,  und  einmal  in  Arbeit  versunken,  stillte 
ich  den  mitunter  erwachenden  Selbstvorwurf  über  meine  Gleichgütigkeit  damit, 
dass  ich  ja  doch  noch  lange  Zeit  hätte,  und  so  kommt  es,  dass  ich  selbst  heute, 
nach  zwanzig  Jahren,  ein  herzlich  schlechter  Cicerone  in  Paris  wäre. 

Ich  arbeitete  mit  ausserordentlicher  Passion  und  folgte  eine  Zeit  lang  ohne 
Selbstkritik,  mit  wahrem  Feuereifer  und  vollem  Vertrauen  meinen  Gefühlen,  und 
als  das  Bild  Fortschritte  machte,  war  ich  erstaunt  darüber,  dass  Goupil  noch  kei- 
nerlei Anträge  stellte  ....  Ich  hatte  jedoch  einen  andern  Käufer,  dem  ich  es,  da 
Goupil  nicht  darauf  zu  reflectiren  schien,  auch  verkaufte.  Dies  beruhigte  mich  aus 
dem  pekuniären  Gesichtspunkte  über  das  Schicksal  des  Bildes,  aber  die  Frage  des 
moralischen  Erfolges  —  die  Hauptsache  I  —  blieb  I  .  . . . 

Nach  etwa  sechswöchentlicher  Arbeit  war  das  Bild  in  jenes  Stadium  gelangt, 
wo  die  Glut  der  ersten  Begeisterung  sich  zu  legen  und  die  ruhigere  Kritik  —  die 
Thätigkeit  der  Inspiration  controlirend  —  au£sutreten  beginnt . .  . 

Ich  begann  mich  selbst  zu  kritisiren  und  Misstrauen  fasste  mich  an ;  ich  fing 
au,  den  Glauben  an  mich  zu  verlieren  und  einzelne  Valeurs,  Figuren  zu  ändern. 
In  diesem  Stadium  hätte  ich  die  Arbeit  im  Stiche  lassen  und  mich  ein  paar  Tage 
zerstreuen  sollen  .  .  .  Die  Notwendigkeit  dessen  empfindend,  stürzte  ich  mich  auf 
Paris  und  dessen  Merkwürdigkeiten  —  Zerstreuung  und  Inspiration  von  diesen 
erhoffend.  Allein  die  endlosen  Galerien  des  Louvre  betäubten  mich  unl  meine 
•Nachtschwärmer!  stellten  sich  zwischen  meine  Seele  und  die  unsterblichen  Werke 
der  Rubens  und  Rembrandt .  .  .  Gar  bald  zog  mich  eine  unwiderstehliche  Gewalt 
an,  eine  fieberhafte  Aufregung  erfasste  mich  und  ich  flüchtete  —  zur  Arbeit.  Ich 
wollte  mich  nicht  controliren  und,  ganz  meinen  Empfindungen  hingegeben,  arbeitete 


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DIE   QUALEN    DES  ERSTEN   EBF0LGE8.  ^51 

ich  mit  wahrer  Begeisterung  —  bis  zum  Abend.  Als  mit  dem  Anbruche  der  Däm- 
merung abermals  die  Kritik  gebieterisch  hervortrat,  schien  mir's,  als  lalle  die  Fi- 
gur, an  der  ich  arbeitete,  förmlich  aus  dem  Bilde  heraus.  Ich  löschte  sie  aus  und 
stand  in  Brüten  versunken,  bis  die  Schatten  des  Abends  die  Leinwand  meinem 
Blicke  entzogen  . . . 

Es  ist  ein  unbeschreibliches  Geföhl,  wenn  in  solchem  Falle  die  Nacht  die 
Hand  zur  Unthätigkeit  zwingt,  während  sie  den  Geist  zu  umso  lebhafterer  Thätig- 
keit  drängt ;  man  kann  der  qualvollen  Frage,  die  Einem  vorschwebt,  nicht  ent- 
fliehen und  sie  verfolgt  uns  durch  die  ganze  schlaflose  Nacht .  .  .  Gar  viele  solcher 
Nächte  habe  ich  zugebracht,  ganze  Wochen  der  peinvollsten  Unzufriedenheit  und 
zumeist  zerstörte  ich  am  Abend,  was  ich  den  Tag  über  geschaffen.  In  qualvoller 
Ungewissheit  glaubte  ich  weder  Anderen,  noch  mir  selbst,  und  doch  hatte  ich  eine 
fixe  Idee.  Ich  sah  das  Bild  in  tadelloser  Vollendung  vor  mir,  aber  ich  konnte  mich 
diesem  Ideal  nicht  nähern ;  ich  durchfühlte  das  geheimnissvolle  Morgengrauen,  die 
Atmosphäre,  in  welcher  meine  Figuren  sich  bewegen  mussten,  die  einzelnen  Cha- 
rakfcere  und  Typen  —  all  das  lebte  in  meiner  Seele  —  allein  sobald  mein  Pinsel  sie 
auf  di#  Leinwand  warf,  erkannte  ich  sie  nicht  mehr.  Ein  furchtbarer  Kampf  des 
Geistes  und  der  Materie!  Unter  geänderten  Umständen  freilich  hätte  ich  mich  mit 
dem  Resultat  sofrieden  geben  können,  allein  die  hochgeschraubte  Ambition  zwang 
mich  zu  solchen  Ansprüchen  mir  selbst  gegenüber,  dass  ich  nicht  im  Stande  war, 
de  zu  erfüllen  • . . 

Der  Eigentümer  des  Bildes,  meine  Kämpfe  sehend,  hegte  auch  nicht  die 
geringsten  Besorgnisse ;  ihm  gefiel  dasselbe  und  er  that  Alles,  um  mich  zu  veran- 
lassen, dass  ich  die  Arbeit  für  einige  Zeit  einstelle ;  er  bot  mir  allerlei  Zerstreuung, 
ich  aber  konnte  ihrer  nicht  froh  werden.  Einmal  gelang  es  ihm,  mich  zu  einem 
Ausflüge  nach  Versailles  zu  bewegen,  und  das  in  sehr  angenehmer  Gesellschaft. 
Es  wäre  herrlich  gewesen,  würden  nur  jene  •  Nachtschwärmer»  zuhause  geblieben 
sein  —  allern  sie  kamen  Alle  mit  und  quäHen  mich  derart,  dass  ich  mit  dem  näch- 
sten Zuge  heimeilte.  Ich  glaubte,  es  sei  Inspiration  . . .  Täuschung  I . . .  Meine  Auf- 
regung hatte  einen  Grad  erreicht,  dass  ich  unfähig  war,  ein  Detail  ruhig  zu  been- 
digen und  so  zu  urteilen  .  .  .  Ich  fühlte,  dass  mein  Nervensystem  in  völliger  Auf- 
lösung begriffen  sei ;  fiebernd  erwartete  ich  den  Morgen,  und  so  hoffte  ich  jeden 
Morgen  und  war  jeden  Abend  wie  vernichtet.  Ich  war  dem  Wahnsinn  nahe.  (Man 
begann  auch  bereits  zu  flüstern,  Munkäcsy  sei  übergeschnappt.)  Alles  ward  mir  zur 
Last.  Mir  fiel  ein,  dass  ich  bereits  mehr  als  20,000  Francs  Voorschuss  auf  das  Bild^ 
hatte,  eine  Schuld,  die  mit  dem  Preise  von  GU>upU'8  Bild  mehr  als  40,000  Francs 
betrug  —  imd  ich  war  unfähig  zur  Arbeit  .  .  .  Das  kostspielige  AteUer,  meine 
Lebensweise,  all  das  legte  sich  mir  wie  eine  furchtbare  Last  auf  die  Seele ;  ich 
sehnte  mich  nach  meinem  bescheidenen  Düsseldorfer  AteUer  zurück.  Aber  wo  gab 
es  einen  Ausgang  aus  dieser  Sackgasse  ? !  Ich  glaubte,  der  feste  Wille  könne  Alles 
überwinden,  auch  mich  selbst ;  mit  verzweifelter  Kraft  ging  ich  abermals  an  die 
Arbeit,  da  aber  gelangte  ich  bis  zu  einem  Grade,  dass,  als  ich  die  Palette  zur  Hand 
nahm  und  an  die  Arbeit  wollte,  ein  fieberhaftes  Schluchzen  mich  befiel  und  mich 
unfähig  machte,  auch  nur  zu  denken.  Nachts  verfolgten  mich  die  Schreckbilder  der 
überreizten  Phantasie ;  ich  sah  Alles  verloren  und  fühlte  einen  solchen  Abscheu 

54* 


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^^2  DIB   QUALEN   DES  ERBTEN   ERFOLGES. 

vor  dem  Malen,  dass  ich  allen  Ernstes  damn  dachte,  meine  Kunst  ganz  auf- 
zugeben .  . . 

Es  war  gerade  der  Erßte  des  Monats.  Mein  Kunsthändler  brachte  die  fallige 
Eate  für  das  Bild  :  dreitausend  Francs.  Ich  nahm  sie  nicht  und  erklarte,  dass  ich 
das  Bild  nicht  beendigen  könne,  da  ich  nicht  mehr  malen  werde.  .  . .  Der  Mann 
erschrak,  allein  er  wollte  dann  das  Bild  sehen  und  als  er  es  voll  Interesse  betrach- 
tete, sagte  er  ruhig,  es  sei  kein  Fehl  daran.  Concepiion  und  Stimmung  seien  sehr 
schön  —  ich  solle  nur  irgendwohin  gehen,  mich  ausruhen  und  alsdann  hübsch 
langsam  weiterarbeiten. 

Ich  glaubte,  der  Mann  spotle  meiner  und  mein  ganzep,  vernichtetes  Sein 
war  ausgedrückt  in  dem  liefen  schmerzlichen  Seufzer,  der  meiner  Brust  sich 
entrang.  Eine  unbeschreibliche  Melancholie  umfing  mich.  Buhen !  Mit  was  für 
begeistertem  Thatendrang  war  ich  nach  dem  schönen  Paris  gekommen  und  jetzt, 
nach  kaum  sechs  Monaten,  stand  ich  da,  vemichtetl.  .  .  Nicht  einmel  denken 
mochte  ich  ans  Malen  I 

In  solcher  Situation  acceptirte  ich  die  Einladung  des  nun  verblichenen 
Barons  de  Marchö,  des  ersten  Gatten  meiner  Frau,  nach  Colpach  zu  kommen.  Ich 
ging,  jedoch  ohne  Malerhändwerkzeug. 

Als  ich  eintraf,  avancirte  gerade  die  Küche  des  Hauses  zum  Salon  und  die 
weissen  Wände  harrten  irgend  eines  Schmuckes.  Eine  unwiderstehhche  Sehnsucht 
ergriff  mich,  ich  mutete  diese  nackten  Wände  voUpinseln  und  meine  kranke  Seele 
an  ihnen  austoben  und  noch  am  selben  Tag,  ehe  ich  auch  nur  einen  Spaziergang 
gethan  hätte,  ging  ich  ans  Werk ;  in  Ermanglung  von  Material  nahm  ich  den 
Anstreichern  ihre  Farbe  weg,  bis  die  meinigen,  um  die  ich  sofort  geechrieben, 
eintrafen. 

Die  erste  Inspiration  war  freilich  keine  gar  heitere :  eine  Bestattungsscene, 
Todte,  Särge  und  dergleichen ;  da  ich  aber  merkte,  dass  die  Hausherren  besorgt 
schienen,  was  das  werden  solle,  Hess  ich  dies  Thema  fahren  und  nr.ch  einem  Spa- 
ziergang begann  ich,  inspirirt  von  der  erschauten  Landschaft,  diese  zu  malen. 

•  Laissez -aller  !■ 

Dies  Laissez- aller  an  den  weissen  Wänden  söhnte  mich  mit  der  Malerei 
vollständig  aus  und  der  sechswöchentHche  Colpacher  Aufenthalt  brachte  cnir  die 
Kühe,  stellte  in  meinem  Ich  das  Gleichgewicht  wieder  her.  Und  hier  lernte  ich  das 
Stückchen  Lebensphilosophie,  dass  man  sich  damit  begnügen  müsse,  was  man  zu 
leisten  im  Stande  sei .  .  . 

Während  meines  Colpacher  Aufenthaltes  malte  ich  auch  ein  kleines  Genre- 
bild, welches  ich  nach  meiner  Rückkehr  in  Paris  sofort  für  zehntausend  Francs 
verkaufte.  Das  genügte  vollauf,  um  die  andern  beiden  Bilder  fertig  zu  stellen  und 
solcher  Art  mit  meinen  Yerbindhchkeiten  ins  Beine  zu  kommen. 

Nach  etwa  zwei  Monaten  waren  die  Bilder  fertig.  Qt)upil  war  zufrieden,  denn 
er  hat  sein  Bild,  wie  ich  weiss,  sofort  weiter  verkauft.  Vielleicht  war  gerade  dies 
der  Grund,  dass  er,  als  er  die  •  Nachtschwärmer»  beinahe  vollendet  sah,  sofort  ein 
Anbot  machte  und  er  war  nicht  wenig  überrascht,  als  ich  sagte,  das  Bild  sei  bereit« 
verkauft. 

—  Ja,  warum  sagten  Sie  denn  nichts? 


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DEB  FAHBBNDE  HOLLÄNDER.  ^^ 

—  Ich  dachte,  Sie  refleoidren  nicht  darauf,  und  anhieten  wollte  ich  es 
Ihnen  nicht. ... 

Und  als  er  hörte,  ein  anderer  Kunsthändler  sei  der  Eigentümer,  machte 
er  mich  wohlwollend  aufmerksam,  der  Mann  stehe  finanziell  auf  schwachen  Füs- 
sen. Goupil  schlug  dann  vor,  er  übernehme  das  Bild,  wenn  der  Andere  innerhalb 
vierundzwanzig  Stunden  den  Rest  der  Kaufsumma  nicht  bezahle.  Ich  überzeugte 
mich,  dass  Goupil  Recht  hatte.  Dar  Andere  war  wirklich  in  ungünstige  Verhält- 
nisse geraten,  allein  er  bezahlte  trotzdem  und  öoupil  wurde  böse.  Ich  aber  freute 
mich.  Warum  war  er  auch  so  berechnend  gleichgiltig  gewesen.  .  . 

Das  waren  die  Qualen  des  ersten  Erfolges.  Seither  aber,  wenn  ich  auch  mit 
mehr  Philosophie  arbeite,  kratze  ich  dennoch  gar  häufig  am  Abend  weg,  was  ich 
4en  ganzen  Tag  über  geschaffen. .  . .  Miohabl  MuitkJLosy.'' 


DER  FAHRENDE  HOLLÄNDER. 

Irrfahrer,  nebelhaft  und  geisterstumm. 
Auf  hoher  See  dort,  wild  vom  Sfcurm  bewegt  I 
Wer  ist  es,  der  die  Feuerseele  dir 
Mit  harter  Strafe  grausem  Bann  belegt, 
Dass  du  umherirrst  auf  der  Wogen  Gischt ; 
Und  du  mit  ihnen  ringest  stets  aufs  Neu, 
Bis  dass  nach  sieben  Jahre  langem  Kampf 
Ein  Weib  du  findest,  bis  zum  Tode  treu  ? 

Das  Schicksal,  das  vom  Flügelwagen  tront. 

Und  ew'gem  Monde  gleich  die  Welt  umfleucht. 

Das  auf  dem  Meere  der  Geschichte  Ebb' 

Und  Flut  schafft . . .  Blut  auch  tilgt  und  Tränen  scheucht : 

Das  warf  in 's  Meer  hinaus  dein  Schiff  und  dir 

In's  Herz  des  Machtberufes  schwere  Pflicht, 

Dass  du  der  Meeresperlen  seltenste, 

Die  Treuey  suchest  —  und  sie  findest  nicht. 

Freiritt^r  du  der  Nacht,  verwaist  und  arm, 
Ob  auch  dein  Schiff  führt  Schätze,  reich  an  Zahl  I 
Verzage  nicht ;  nicht  du  nur  irrst  durch' s  Meer 
Des  Seins  mit  dieses  Schmer zbewasstseins  Qaal. 


*  Aus  dem  soeben  erschienenen  Prachtwerke  •  Magyar  szellemi  öleti :  Unga- 
risches Geistesleben,  Erzählungen  und  Skizzen  aus  dem  Leben  ungarischer  Schrift  - 
«teller  und  Künstler,  herausgegeben  von  Michael  Igmandi,  Budapest,  1892,  Hor- 
ny&nszky,  4°  212  S.  mit  zahlreichen  Illustrationen. 


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S^  DER  PAHBENDB  HOLLANBEB. 

Die  onsre  Mutter  uns  zur  Lieb*  gebar, 

Wir  alle  teilen  deines  Flaches  Loos, 

Und  rastlos  suchen  jene  Perle  wir. 

Die  tief  verbirgt  des  Meeres  dunkler  Schooss. 

Um  uns  her  Nebel,  Wettersturm,  Gefahr, 
Das  Herz  mit  der  Gefühle  Schatz  erfüllt,  — 
So  ziehen  wir  nach  iareuen  Herzen  aus, 
Weil  ohne  solches  Nacht  die  Schätze  hüllt 
Umsonst,  wir  finden  keines,  dem  den  Schatz 
Wir  könnten  anvertraun  im  Treuebiind,  — 
Nur  leere  Muscheln,  Seegras,  Wasserschlamm 
Zieht  unsre  Hand  empor  vom  Meeresgrund  .  .  . 

Wie  glücklich,  der  nach  langem  Kampf,  sobald 
Die  sieben  Jahre  um,  am  Uferstrand 
In  niedrer  Hütte  findet  —  schlägt  noch  eins  — 
Ein  Herz,  das  treu  bis  an  des  Ghrabes  Band ! 
, ...  An  sicherm  Anker  feiert  dort  sein  Schiff, 
Das  sturmzerfetzte  Segel  ruht .  . .  Wer  weiss, 
Vermag's  auch  er  hiemieden,  oder  erst 
Im  Jenseits  überm  fernen  Wolkenkreis !  . .  . 

Doch  wie  erst  Jene,  die  umsonst  gekämpfb. 
Und  deren  Schiff  umhertreibt  hoffnungslos, 
Und  deren  gramzerfurchter  Stirn  gegrünt 
Kein  Rosenblatt,  nur  feuchtes  Grabesmoos  ? !  . . 
Der  Mastbaum  stürzt,  das  Segel  sinkt,  und  sinkt 
Mit  seinem  Herrn  zum  Klippengrund  hinab, 
Wo  er,  —  das  Herz  gebrochen,  ausgekühlt  — 
Von  nicht  erreichten  Perlen  träumt  im  Grab  f 

Irrfahrer,  nebelhaft  und  geisterstumm. 
Auf  hoher  See  dort,  wild  vom  Sturm  erregt, 
Dem  des  Geschickes  zomerfuUter  Gott 
Der  ew'gen  Irrfahrt  Strafe  auferlegt : 
Vertröste  dich !  Erfolglos  irrst  umher 
Du  nicht  allein :  sieh  uns,  die  grosse  Schaar  I 
Ein  Fluch  verfolgt  auf  diesem  Meere  uns, 
Die  imsre  Mutter  uns  zur  Lieb'  gebar. 

Adolf  Handmann^ 


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KUBZB   BITZUNOSBERICHTE.  855 


KURZE  SlßüNGSBERICHTE. 

—  Akademie  der  Wissenschaften.  Plenarsitzung  am  5.  Oktober.  Nach- 
dem der  Präsident  Baron  Boland  Eötvös  die  nach  den  Ferien  znm  ersten  Male 
versammelten  Akademiker  begrüsst  nnd  znr  wiederaufgenommenen  Thätigkeit 
beglückwünscht  hatte,  gedachte  er  sofort  der  Pietatspflicht  der  Akademie  anläss- 
lich der  hundertsten  Jahreswende  des  Geburtstages  ihres  grossen  Chünders.  Er  be- 
dauert, dass  die  Akademie  ihren  ursprünglichen  Beschluss,  diese  Feier  am  21. 
September  mit  der  Enthüllung  des  die  Gründung  der  Akademie  durch  den  Grafen 
Ste&n  Sz6chenyi  darstellenden,  an  der  Gassenfront  des  Akademiepalastes  einzu- 
setzenden Beliefs  zu  begehen,  wegen  Yerzögentng  der  Vollendung  des  Bildwerkes 
nicht  ausführen  konnte  und  sich 'begnügen  mnsste,  an  jenem  Tage  am  Piedestal  des 
Standbildes  ihres  grossen  Gründers  einen  Kranz  niederzulegen,  als  Pfand  der  auf 
den  April  yerscbobenen  Enthüllungsfeier.  Anderwärts  begehen  Akademien,  Schu- 
len, Anstalten  das  Andenken  ihrer  Stifter  alljährUch ;  er  findet  dies  auch  für  die 
Akademie  geziemend  und  empfiehlt  anlässlich  der  hundertsten  Jahreswende  des 
Geburtstages  ihres  grossen  Stifters  auch  ihr  die  alljährliche  Feier  seines  Andenkens 
in  der  in  folgendem  Antrage  formulirten  Weise : 

1.  Die  Akademie  spreche  es  anlässlich  der  himdertsten  Jahreswende  des 
Geburtstages  ihres  grossen  Gründers,  des  Grafen  Stefan  Sz^chenyi  als  Beschluss 
aus,  dass  sie  zum  Andenken  dieses  Tages  fortan  alljährlich  eine  feierliche  General- 
versammlung halten  wird. 

2.  Die  Aufgabe  dieser  Yersammlimgen  soll  es  sein,  der  Nation  Bechenschaft 
darüber  zu  legen,  was  die  einzelnen  Classen  der  Akademie  mit  ihrer  literarischen 
und  fachwissenschaftlichen  Thätigkeit  zur  Förderung  jener  Ziele  geleistet  haben, 
welche  der  Akademie  ihr  grosser  Gründer  vorgesteckt  hat.  Deswegen  möge  diese 
Versammlung  Sz^chenyi-Feier  heissen,  ihren  Hauptgegenstand  aber  ein  Vortrag 
bilden,  welcher  den  Fortschritt  irgend  eines  Zweiges  der  Wissenschaften  oder  ein- 
zelner wichtiger  und  gemeininteressanter  Fragen  behandeln  und  in  einer  dem 
Verständniss  des  gebildeten  Publikums  angepassten  Form  auch  über  den  Antheil 
der  Akademie  an  der  Förderung  dieses  Fortschrittes  oder  an  der  Lösung  dieser 
Fragen  Rechenschaft  geben  soll. 

3.  Diese  Feier  soll,  wie  die  auch  fernerhin  abzuhaltende  regelmässige  feier- 
liche Generalversammlimg,  eine  Feier  der  ganzen  Akademie,  in  Anbetracht  ihres 
Gegenstandes  aber  eine  feierliche  Fachsitzung,  imd  zwar  in  einer  den  Classen- 
sectionen  entsprechend  festzustellenden  sich  wiederholenden  Beihenfolge  sein. 

4.  Zur  Feststellung  des  Detailplanes  der  Sz6chenyi-Feier  entsendet  die 
Akademie  eine  Gommission. 

Dieser  Antrag  wird  einstimmig  zum  Beschluss  erhoben. 

Die  Pietät  für  den  grossen  Stifter  der  Akademie  veranlasst  den  Präsidenten 
femer  zu  einem  zweiten  Antrag :  die  Akademie  möge  anlässlich  der  hundertsten 
Jahreswende  des  Geburtstages  ihres  grossen  Stifters  aus  ihrer  gegenwärtigen 
Sitzung  die  Ausschreibung  eines  Preises  von  2000  fl.  für  eine  Biographie  desselben 


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856 


KURZE  SITZUNOSBERICHTE. 


beechliessen  mit  der  Feststellung  des  Einsendungstermins  auf  den  21.  September 
18%  und  mit  der  Bestimmung,  dass  der  Preis  nur  einem  Werke  von  absolutem 
Werte  zuerkannt  werde. 

Auch  dieser  Antrag  wurde  einstimmig  zum  Beschluss  erhoben. 

Hierauf  gedenkt  der  Präsident  eines  zweiten  Jubeltages,  der  auf  den  3.  Sep- 
tember gefallenen  fünfzigsten  Jahreswende  der  Erwählung  dreier  verdienstroller 
Mitglieder  der  Akademie  (Paul  Hunfalvy,  Franz  Pulszky  und  Baron  Nikolaus  Vay), 
welchen  der  Präsident  in  Begleitung  seines  Mitpräsidenten,  des  Generalsecretärs 
imd  zweier  Classensecretäre  die  von  der  Akademie  beschlossenen  Gratulations- 
Adressen  am  gestrigen  Tage  überreichte. 

Nach  diesen  Freadentagen  gedachte  der  Präsident  jenes  Trauertages,  an  dem 
die  Akademie  im  Cardinal-Erzbischof  Ludwig  BUiynald  eine  ihrer  grössten  Zierden 
verlor.  Der  Präsident  hat  den  Sehmerz  der  Akademie  über  seinen  Hingang  in 
einer  an  das  Erzcapitel  gerichteten  Beileidsadresse  Ausdruck  gegeben  imd  durch 
den  Secretär  der  in.  Classe  als  Vertreter  der  Akademie  bei  seinem  Leichenbegäng- 
nisse einen  Kranz  an  seiner  Bahre  niederlegen  lassen.  Haynalds  Name  als  der 
eines  grossen  Wohlthäters,  thätigen  Directionsrates  imd  hervorragenden  Gelehr- 
ten der  Akademie  steht  unvergänglich  in  unserem  Andenken  eingeschrieben  und 
der  Präsident  beantragt,  die  nächste  Generalversammlung  möge  die  Placirung 
seines  Porträts  im  Bildersaale  der  Akademie  beschliessen  und  sein  Andenken  durch 
eine  Denkrede  feiern. 

Nachdem  die  Plenarsitzung  auch  diesen  Antrag  einstimmig  genehmigt,  fand 
der  Uebergang  zur  Tagesordnung  statt,  auf  welcher  das  Referat  Josef  Szigeti's  über 
den  Hertdendy- Dramenpreis  stand.  Der  von  Julius  Hertelendy  auf  den  Namen 
Max  Hertelendy' s  gestiftete  Preis  von  500  fl.  für  ein  in  den  letzten  fünf  Jahren 
erschienenes  hervorragendes  ungarisches  Originaldrama  sollte  von  dem  aus  den 
Akademikern  Anton  Zichy,  Gustav  Heinrich  und  dem  Referenten  bestehenden 
Preisrichter-Comit^  dem  besten  in  den  letzten  beiden  Jahren  im  Druck  erschienenen 
oder  zur  AufiFührung  gelangten  Drama  zuerkannt  werden.  Die  Preisrichter  erkann- 
ten als  die  beiden  beachtenswertesten  Schauspiele  tÖrök  törv^ny»  (Das  ewige 
Gesetz)  von  Gregor  Csiky  und  «Bölos  Salamoni  (Der  weise  Salomo)  von  Karl  Ssäsz 
und  die  Majorität  entschied  sich  für  die  Preiskrönung  des  ersteren,  welches  sich 
neben  einer  !Fülle  hervorragender  Eigenschaften  als  dauernd  bühnenfahig  erwiesen 
hatte.  Die  Plenarsitzung  beschloss,  dem  Majoritätsan trage  entsprechend,  die  Preis- 
krönung des  Csiky'schen  und  Belobung  des  Karl  Szäsz'schen  Stückes. 

Hierauf  folgte  die  Anmeldung  der  laufenden  Angelegenheiten  durch  den 
Generalsecretär.  Er  begann  mit  der  Anmeldung  der  Verluste,  welche  die  Akademie 
ausser  dem  bereits  vom  Präsidenten  gemeldeten  Hinscheiden  des  Ehren-  und 
Directionsratsmitgliedes  Ludwig  Haynald  während  der  Ferien  durch  den  Tod 
erlitten  hat :  des  ordentlichen  Mitgliedes  Moriz  Ballagi,  der  correspondirenden  Mit- 
glieder Ludwig  Haan  in  B.-Csaba  und  Ludwig  Podhorszky  in  Paris,  der  auswärtigen 
Mitglieder  Josef  Petzval  in  Wien  und  Baja  Bajendralala  Mitra  in  Kalkutta,  denen 
er  kurze  Nachrufe  widmete  und  deren  Andenken  durch  Denkreden  gefeiert 
werden  soll. 

Sodann  verlas  der  Generalsecretär  das  Danksohreiben  des  Kalocsaer  Erz- 


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KUBZB   SITZUNOSBERICHTE.  857 

capitels  für  die  Teilnahme  der  Akademie  an  der  Leichenfeier  des  Gardinal-Eiz- 
bischofs  Ludwig  Haynald  ;  den  zmn  21.  September  vom  Helfingforser  Akademiker 
Anton  Jalava  aus  kaltem  Norden  gesandten  warmen  Gruss  zum  hundertsten  Ge- 
burtstag des  grössten  Ungars ;  das  Danksohreiben  Fittnz  Pulszky's  für  die  Glück- 
wunschadresse der  Akademie  zu  seinem  fiin£zigjälirigen  Ehrenmitgliedsjubiläum  ; 
eine  Zuschrift  des  Unterrichtsministers,  in  welcher  er  die  Akademie  auffordert,  ein 
oder  zwei  Fachmänner  in  jene  Gommission  zu  ernennen,  welche  über  die  Errich- 
tung einer  Landes-Stemwarte  beraten  soll ;  eine  Zuschrift  des  Handelsministers, 
welcher  zur  Deckung  der  Editionskosten  der  «Nemzetgazdasägi  Szemle»  (National- 
ökonomische Eevue)  einen  Beitrag  bewilligt,  und  einen  Bericht  über  die  am  29. 
September  gehaltene  Sitzung  der  Gommission  für  die  malerische  Ausschmückung 
des  Prunksaales  des  Akademiepalastes,  nach  welchem  Meister  Karl  Lotz  seine  Auf- 
gabe glänzend  gelöst  hat  und  mit  der  Ausführung  der  drei  vorgelegten  Gartons 
beauftragt  worden  ist  Hierauf  meldet  der  Generalsecretär,  dass  die  zweite 
20,000  fl.-Rate  der  100,000  Gulden- Stiftung  Andor  Semsey's  und  da«  4000  fl.  be- 
tragende Legat  Paul  Thanhoffer's  eingezahlt  worden  sei.  Sodann  verlas  der  Gene- 
ralsecretär die  Liste  der  Arbeiten,  welche  zu  dem  am  30.  September  abgelaufenen 
Termin  verschiedener  Preisconcurrenzen  eingelaufen  sind.  Um  den  Teleki-Preis 
(100  Ducaten)  für  Lustspiele  ooncurriren  7  Stücke,  um  den  Earätsonyi- Preis  (dies- 
falls 400  Ducaten)  für  Trauerspiele  24  Stücke,  um  den  Farkas-Baskö-Preis  für  ein 
patriotisches  Gedicht  36  Dichtungen,  um  den  Nädasdy-Preis  für  eine  erzählende 
Dichtung  1 1  Arbeiten,  um  den  Fäy-Preis  für  ein  ungarisches  Staatsrecht  3  Arbei- 
ten, um  den  Preis  der  Ersten  Ungarischen  Allgemeinen  Assecuranz-Gresellschaft 
für  «Grundprincipien  der  Genossenschaften»  2  Arbeiten,  um  den  Döra-Preis  für 
t Verfügungen  des  Handelsrechtes»  1  Arbeit,  um  den  Marczibänyi-Preis  für  eine 
iDeutsch-ungarisehe  Phraseologie»  1  Arbeit,  um  den  Czartoryski-Preis  für  ein 
«Polnisch-ungarisches  Staatsrecht»  1  Arbeit.  Um  den  L^vay-Preis  für  eine  Ge- 
schichte der  leichten  ungarischen  Reiterei  im  17.^  und  18.  Jahrhundert  langte 
keine  Concurrenzarbeit  ein. 

Die  Devisenbriefe  der  Concurrenzarbeiten  wurden  am  Schlüsse  der  Plenar- 
sitzung durch  den  Präsidenton  versiegelt. 

Nachdem  somit  die  Tagesordnung  der  Plenarsitzung  erschöpft  war,  schloss 
der  Präsident  dieselbe  und  es  folgte  die  Sitzung  der  I.  Glasse  unter  dem  Vorsitze 
des  Glassenpräsidenten  Paul  Hunfalvy,  auf  deren  Tagesordnung  der  Antrittevortrag 
des  correspondirenden  Mitgliedes  Ärpäd  Berczik  Ueber  die  tmgarischen  pditischeii 
Lustspiele  der  Vierziger  Jahre  stand.  Die  Gattung  des  politischen  Lustspieles, 
welches  dem  Publikum  die  Actnalitäten  des  politischen  öffentlichen  Lebens  in 
satirischer  und  scherzhafter  Beleuchtung  vorfühi*t,  weist  auch  bei  uns  Producte 
auf,  welche,  abgesehen  von  ihrem  Werte  als  Zeitbilder,  durch  jene  Wirkung, 
welche  sie  zu  ihrer  Zeit  ausübten  und  teilweise  noch  üben,  eine  Stelle  in  der  Ge- 
schichte unserer  Literatur  beanspruchen.  Das  ungarische  Lustspiel  hat  bereits  bei 
seiner  Geburt  einen  über  die  engen  Grenzen  des  Familienlebens  hinausgehenden 
Sinn  für  das  öffentliche  Leben  verraten  und  sein  Schöpfer  Karl  Kisfaludy  nimmt 
beim  ersten  Betreten  der  Bühne  den  Anlass  wahr,  zur  VaterlandsHebe  zu  begeistern 
und  die  Ausländerei  zu  verspotten,  zunächst  in  seinem  Lustspiel  «Die  Freier» 


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S^  KURZE   8ITZUK06BERICHTE. 

(A  k^r6k),  in  den  gegensätzlichen  Gestalten  des  Perföldy  und  Sz^lh^i.  Dasselbe 
gehört  jedoch  trotz  seiner  patriotischen  Tendenz  noch  nicht  in  den  Kreis  der  poli- 
tischen Liistspiele,  welchen  Kisfaludy  auch  in  seinen  späteren  Lustepielen  nicht 
betrat,  teils  weil  das  damalige  Publikum  für  das  Familienlustspiel  k  la  Eotzebue 
schwärmte,  teils  weil  die  Censur  politische  und  patriotische  Anspielungen  ver- 
pönte. Aber  im  frischen  Morgenhaucbe  der  anbrechenden  Vierziger  Jahre,  wo  in 
der  erwachten  Nation  die  Träume  zu  Aspirationen  werden,  wird  auch  das  unga- 
rische politische  Lustspiel  geboren.  In  jenen  schönen  Vierziger  Jahren,  welche 
durch  die  grossen  Ideen,  von  welchen  die  Nation  bewegt  wird,  durch  die  grossen 
Thaten.  mit  denen  sie  die  Aufinerksamkeit  der  Welt  erregte,  durch  die  grosse  Um- 
wandlung, welche  unsere  Oesellschaft  damals  erfuhr,  eine  der  glänzendsten  Epo- 
chen unserer  nationalen  Geschichte  sind,  aber  auch  eine  der  anziehendsten,  weil 
in  keiner  anderen  die  liebenswürdigen,  sympathischen  Eigenschafben  des  unga- 
rischen Stammes  so  sehr  hervortreten,  wie  damals.  Jene  Epoche  charakterisirt 
jugendliche  Begeistenmg  für  die  Ideen  der  Neuzeit,  grossmütiger  Verzicht  auf 
eine  bevorrechtete  Stellung,  edelmütige  Aufiiahme  der  ausgeschlossenen  Claasen  in 
die  Wälle  der  Verfassung  und  Gesellschaft,  und  überhaupt  jener  glaubenssehge 
Idealismus,  welcher  mit  der  Erkämpfung  der  Freiheit  das  höchste  Ziel  der  mensch- 
lichen Beglückung  erreicht  wähnte.  Diesen  Geist  wiederspiegelt  natürlich  auch  die 
damalige  Literatur,  welche  die  erlösenden  Worte  des  Liberalismus  in  Zeitungen, 
Bomanen,  Flugschriften  imd  selbst  auf  der  Bühne  verkündet.  Der  Gonservativismus 
hatte  seine  Vertreter  in  der  Politik,  aber  keinen  in  der  schönen  Literatur,  welche 
nur  die  Ideen  der  Führer  des  liberalen  Fortschrittes  in  immer  weitere  Kreise  der 
Nation  hineintrug  und  dem  Politiker  den  Weg  ebnete,  indem  sie  einesteils  die 
alten  Vorurteile  vor  der  öffentlichen  Meinung  lächerlich  machte,  andemteils  die 
Ideen  der  Staatsmänner  popularisirend  in  Kreise  führte,  wohin  sie  auf  anderem 
Wege  nie  gednmgen  wären.  Der  Boman  tA  falu  jegyzöje»  (Der  Dorfnotär)  von 
Baron  Josef  Eötvös  hat  in  dieser  Hinsicht  auf  die  Nation  vielleicht  mehr  gewii^ 
als  seine  sämmtlichen  Artikel  und  Beden.  Die  politische  und  sociale  Zeitströmung 
übt  denn  ihre  Wirkung  auch  auf  verschiedene  Dramatiker  der  Vierziger  Jahre. 
Karl  Obemyik  kämpft  in  tFönr  ^s  p6r»  (Magnat  und  Bauer)  gegen  das  Erstgeburts- 
recht, in  «Örökseg»  (Erbschaft)  gegen  die  Vorort  eile  des  Adels  gegenüber  dem 
Bürgertum.  Aehnliche  liberale  und  demokratische  Auffassung  finden  wir  bei  Szig- 
ligeti,  der  in  seinen  Volksstücken  «Csikös»  imd  tK^t  pisztoly»  (Die  zwei  Pistolen) 
als  Kämpe  der  Beformtendenz  auftritt.  Ignaz  Nagy,  Emerich  Vahot,  Baron  Joeef 
Eötvös,  Josef  Szigeti  und  andere  schreiben  wahrhafte  politische  Tendenz-Lust- 
spiele, welche  jedermann,  der  für  die  Entwicklung  der  Nation  Sinn  und  Interesse 
hat,  mit  Genuss  lesen  kann.  Vortragender  fand  es  demnach  der  Mühe  wert,  die  ver- 
staubten, vergilbten  Handschriften  aus  der  Bibliothek  des  Nationaltheaters  hervor- 
zustöbem  und  durchzublättern.  Eine  ganz  andere  Welt,  als  diejenige,  die  wir  heute 
um  uns  sehen,  thut  sich  hier  vor  uns  auf.  Eine  kleinere  Welt  mit  einer  kleineren 
Gesellschaft,  kleinartigeren  Verhältnissen  —  aber  mit  jugendlicherer,  frischerer, 
minder  pessimistischer  Auffassimg,  als  die  heute  herrschende.  Zwei  Welten  stehen 
einander  gegenüber :  die  alte  und  eine  neue  Welt,  welche  die  Beformatoren  der 
Nation  —  Sz^chenyi,  Koisuth,  Eötvös  und  die  anderen  —  schaffen  wollen.  Stör- 


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KURZE   SITZÜNOSBERIGHTE.  ^5*' 

riges  Festklammem  an  die  alten  Zustände  kämpft  mit  dem  Fortschrittsdrange  und 
jeder  Pfleger  der  politischen  Lustspielliteratnr  steht  in  diesem  Kampfe  auf  der 
Seite  des  Fortschrittes  und  geht,  die  Fahne  des  Liberalismus  hochschwingend, 
voran.  Ausser  der  staatsrechtlichen  Seite,  dem  Kampf  um  die  staatliche  Unab- 
hängigkeit, hatte  jene  Zeit  noch  eine  andere  Seite«  welche  nicht  minder  wichtige 
Folgen  nach  sich  zog.  Es  ist  dies  die  liberale,  demokratische  Strömung,  deren  Lo- 
sungswort, die  Gleichheit,  mit  den  Losungsworten  der  politischen  Freiheit  und 
Selbstständigkeit  vereint  erklang,  besonders  seit  die  Wirkung  der  Pariser  Bewegung 
auch  bei  uns  fühlbar  wurde  und  jeder  nolens  volens  «Bürger»  (polgärtärs)  wurde. 
Diese  socialen  Ideen  und  Losungsworte,  vornehmlich  das  der  socialen  Gleichheit, 
kommen  in  den  politischen  Lustspielen  jener  Zeit  am  häufigsten  vor.  Der  Kampf 
durch  Classenschranken  von  einander  getrennter  Herzen  und  die  Capitulation  der 
Vorurteile  vor  der  Macht  der  Liebe  sind  Quellen,  aus  denen  schon  viele  geschöpft 
haben  und  noch  viele  schöpfen  werden.  —  Vortragender  führte  sodann  die  £nt- 
wickelung  des  politischen  Tendenzlustpieles  in  den  Vierziger  Jahren  bis  zum  Frei- 
heitskampf und  dem  darauffolgenden  trostlosen  Jahrzehnt  in  lebendigen  Detail - 
Illustrationen  vor.  Er  beginnt  mit  Ignaz  Nagy's  «Egyesüljünk»  (Vereinigen  wir 
uns  I),  welches  den  Stempel  des  Sz^chenyi' sehen  Einflusses  an  sich  trägt.  Für  ein- 
ander schwärmende  Engländer  und  Ungarn  wollen  aus  unserer  asiatischen  Nation 
eine  europäische  nach  englischem  Muster  machen  und  namentlich  im  Wege  des 
Vereinswesens  für  die  Hebung  des  Volkes  arbeiten.  Doch  erlebte  das  Stück  nur 
eine  einzige  Aufführung  (1840).  Glücklicher  war  Ignaz  Nagy  mit  seiner  «Restau- 
ration» (Tisztujitäs),  welche  den  Gegensatz  der  liberalen  und  der  conservativen 
Pecsovics-Partei  des  Kleinadels  bei  einer  Comitatsbeamten-Wahl  vorführend,  die 
politische  Tendenz  mit  der  die  Handlung  bildenden  Liebesgeschichte  verbindet. 
Das  Stück  erlebte  43  Vorstellungen  xmd  verdankt  diesen  Erfolg  seiner  Zeitgemäss- 
heit.  Weniger  Erfolg  hatte  eine  Nachahmung  desselben  in  Emerich  Vahot's  «Meg 
egy  tisztujtäs»  (Noch  eine  Bestauration),  welches  die  politische  Tendenz  stärker 
aufträgt.  Dagegen  erlebten  Einerioh  Vahot's  bald  folgende  Lustspiele  «^jen  a 
honil»  (Hoch  das  Heimische !)  und  «Orszäggyül^si  szdlläs»  (Beichstagsquartier) 
je  36  Vorstellungen.  Das  erstere  tritt  für  die  heimische  Industrie  in  die  Schranken ; 
das  letztere  löst  durch  eine  Liebesgeschichte  die  Gegensätze  des  ungarischen 
Beichstagsjuratentums  und  deutschen  Pressbnrger  Spiessbürgertums  in  Harmonie 
auf.  Hoch  über  alle  politischen  Lustspiele  der  Vierziger  Jahre  und  zu  dauernder 
literarischer  Bedeutung  erhebt  sich  aber  ein  Lustspiel  des  Baron  Josef  Eötvös : 
«£ljen  az  egyenlds^gl»  (Hoch  die  Gleichheit  1),  diese  feine  Satire  auf  den  Schein- 
liberalismus, weicher  in  einer  Beihe  gelungener  Charakterfiguren  in  all  seinen 
Nuancen  unbarmherzig  blossgestellt  wird.  Das  Stück  schlug  ein,  es  erlebte  19  Vor- 
stellungen und  steht  noch  heute  auf  dem  Bepertoire.  Die  censurlose  Zeit  nach  der 
März-Erhebung  U48  förderte  drei  politische  Lustspiele:  «Ein  Täblabirö  io  den 
Märztagen»  von  Josef  Szigeti,  «Der  fünfzehnte  März»  von  Ludwig  Dobsa  und  «Ein 
ungarischer  Auswanderer  in  der  Wiener  Bevolution  •  von  Karl  Obemyik.  alle  drei 
gegen  die  Pecsovicse  und  die  Kamarilla  eifernd,  das  erste  9mal,  das  zweite  Imal. 
das  dritte  3mal  aufgeführt.  Nach  dem  Zusammenbruch  der  Freiheitsbewegung 
verstummte  die  ungarische  Lustspielmuse.  Nach  langer  Pause  schlägt  dann  wieder 


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860  KURZE   SnZUNGSBERIGHTE. 

Josef  Szigeti  in  den  «Falusiak»  (Die  Döriler)  die  Töne  des  Patriotismiis  an.  Bald 
darauf  haben  meluere,  mit  dem  meisten  Erfolg  Stefan  Toldy  in  den  tJ6  kazaüak» 
(Gate  Patrioten)  und  tUj  emberek»  (Neue  Leute),  das  Oenre  des  politischen  Lust- 
spieles bei  ims  oultivirt.  In  neuester  Zeit  ist  die  Politik  der  Bühne  fem  geblieben. 
Niich  all  dem  schliesst  Vortragender:  Unsere  politische  Theater- Literatur  weist 
genug  des  Interessanten,  Anziehenden  und  Wertvollen  auf,  wenn  wir  auch  dem 
tRabagas»  des  französischen  und  dem  t Revisor»  des  russischen  Theaters  keine 
gleichgewaltigen  Gestalten  entgegenstellen  können. 

-  -  In  der  Sitzung  der  zweiten  Classe  am  1  ±  Oktober  las  das  ordentUche 
Mitglied  Julius  Schvarcz  eine  zweite  Studie  über  die  Eenyon'sche  'Aj^i/vottuv  noXiTcla. 
Nachdem  der  Vortragende  in  seinem  ersten  Vortrag  (9.  März)  den  Inhalt  der 
Kenyon*8chen  noXi-csia  insbesondere  in  Bezug  auf  deren  verfassungsgeschicht- 
lichen Inhalt  kritisch  gewürdigt  hatte  und  zu  der  Schlussfolgerung  gelangt  war, 
dass  der  Verfasser  derselben  Aristoteles,  der  Verfasser  der  noX(T'.xa,  nicht  sein 
könne,  sondern  dieselbe  noch  viel  eher  von  Demetrios  Phalereus,  der  n.  A.  wohl 
auch  eine  Geschichte  der  athenischen  Verfassung  {\\zp\  töSv  'A;^vr,fft  roXtTEtftiv) 
geschrieben,  herrühren  dürfte,  hielt  derselbe  am  12.  Oktober  in  der  Sitzung 
der  n.  Classe  einen  zweiten  Vortrag,  in  welchem  er  die  über  diesen  Gegenstand 
entstandene  Ijiteratur  einer  eingehenden  Kritik  imterzog.  Er  fand  es  denkwürdig, 
dasH  sich  —  abgesehen  von  Barthelemy  Saint  Hilaire  —  bis  jetzt  für  die  Autor- 
schaft des  Aristoteles  vorzugsweise  nur  Philologen  erhitzen,  die  vor  dem  Erschei- 
nen der  Eenyon'schen  Veröffentlichung  es  nie  merken  liessen,  dass  sie  sich  je  mit 
politischer  Wissetisctiatt  oder  wohl  auch  nur  überhaupt  mit  Aristoteles  fachlitera- 
risch beschäftigt  hätten.  Alle  Achtung  vor  den  sonstigen  realphilologischen  und 
historischen  Arbeiten  des  Philologen  Adolf  Bauer:  doch  der  Ton,  den  er  in  seinen 
•  Literarischen  und  historisclien  Forschungen*  gegen  die  kritischen  Gegner  der 
Autorschaft  des  Aristoteles  anschlägt,  verrate  nur,  dass  ihm  sowohl  staatswissen- 
schaftliche  Fachbildung  als  auch  Sinn  für  Politik  abgehen.  Schvarcz  leugnet 
nicht  das  constructive  Geschick  seines  Werkes,  doch  sei  seine  Argumentation  zu 
gewaltthätig  und  sein  Gesichtskreis  zu  eng,  um  die  Frage  der  Autorschaft  der 
neuentdeckten  'A:»if)va((uv  TcoXits^a  ins  Beine  zu  bringen.  Bauer  ist  bereit,  die  ganz6 
Chronologie  der  athenischen  Geschichte  umzustürzen,  um  nur  in  der  bekannten 
Stelle  der  Aristotelischen  •Ihlitik*  statt  Perikles  einen  *Themistokles*  heraus- 
zubekommen. Was  Bauer  aus  der  Geistesverwandtschaft  des  Aristoteles  mit  Thu- 
hydides  zu  Gunsten  des  aristotelischen  Ursprungs  der  Kenyon'schen  noXitEia  heraus- 
klügeln will,  beleuchte  nur  unwillkürlich  seine  Unbewandertheit  in  der  politischen 
Literatur  der  Griechen.  Bauer  weiss  uns  von  einer  Identität  sowohl  der  Sprache 
als  des  Gedankenstyls  der  aristotelischen  floXiTixi  mit  der  Sprache  sowie  mit  dem 
Gedankenstyl  der  Kenyon'schen  noXtT6{a  Wunderdinge  zu  erzählen.  Ein  staats- 
wissenschaftlich geschulter  Realphilologe  würde  jedoch  nie  sich  so  weit  verirren, 
da  ein  solcher  Kritiker  weder  die  Sprache,  noch  den  Gedankenstyl  von  zwei 
Werken  je  für  identisch  halten  wird,  von  denen  das  eme  die  politischen  Kunst- 
ausdrücke in  einem  völlig  anderen  Sinne  gebraucht  als  das  andere.  Z.  B.  sowohl 
die  rToXiTtxa  des  Aristoteles,  als  auch  die  Kenyon'sche  noXtreia  bedienen  sich  ziem- 


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KURZE   8ITZUNG8BERI0HTE.  861 

lieh  häufig  der  politischen  Ausdrucksweise  'ETZizv/.ti^,  In  der  IToXiTixa  des  Aristoteles 
bedeutet  dieser  politische  terminus  technicus  die  •politiBch  Gebildeten*,  •die 
geistig  zur  Verwaltung  des  Staats  Geeigneten*,  die  politischen  Sachverständi- 
gen/' —  oi  sJoöTi;  —  und  in  der  Kenyon'sehen  TToX'.Teta  bedeutet  dieselbe  Ausdrucks- 
weise die  gemässigten  Elemente  ohne  Bezug  auf  ihre  geistige  Bildung.  —  Nun  sei 
es  verkehrt,  wenn  Bauer  zwei  Verfasser,  welche  politische  Kunstausdrücke  in  so 
verschiedenartigem  Sinne  gebrauchen,  für  identisch  halten  will.  Aristoteles  nimmt 
wärmevoll  Partei  für  den  Mittelstand  in  der  •  Politik* :  der  Verfasser  der  Kenyon- 
schen  HoAttgt«  sympathisirt  entschieden  mit  der  Sold-beziehenden  Massenherr- 
ßchaft,  welche  Aristoteles  unentwegt  verabscheut.  Aristoteles  ist  gar  arg  auf  die 
Tyrannis  des  Peidstratos  sowie  der  Pßisistratiden  zu  sprechen  und  lobt  den  Pßrikles, 
in  dem  er  das  Urbild  des  ©pöviao^  erblickt :  die  Kenyon'sche  noXiTsCa  begeistert  sich 
unwiderruflich  für  die  menschenfreundliche  und  weise  Eegierung  des  PeidstratoB 
und  hat  nicht  ein  Wort  des  Lobes  für  Pßrikles.  Ja,  der  Verfasser  der  Kenyonschen 
IloAiTsia  erwähnt  nicht  einmal  der  Prachtbauten  des  Perikles,  was  Aristoteles  sicher' 
nicht  unterlassen  hätte,  wäre  er  der  Verfasser  dieser  RoXiTsia.  (Hier  macht  Schvarcz 
einen  Wink  auf  die  Rüge,  welche  Demetrios  Phalereus  dem  Andenken  des  Pßrikles 
wegen  der  Kostspieligkeit  seiner  Bauten  erteilt.)  Endlich  sei  es  komisch,  wenn 
Bauer  auch  aus  dem  Lobe,  welches  die  Kenyon'sche  fföXiTeia  der  Selbstmässigung 
des  Demos  anlässlich  der  Amnestie  spendet,  ein  Argument  zu  Gunsten  der  Autor- 
schaft des  Aristoteles  herausschmieden  will.  Bauer  meint,  der  Verfosser  habe 
hiedurch  unter  den  Zeilen  dem  Demos  den  Rat  erteilen  wollen,  die  Flüchtlinge 
und  Verbannten  (329—325  v.  Chr.)  zurückzurufen.  Er  versteht  hierunter  die 
Anhänger  der  makedonischen  Partei.  Nun  würde  denn  eine  derartige  Zumutung 
nicht  viel  eher  auf  Demetrios  PhalereiLS  passen,  der  selber  ein  makedon-freund- 
licher  Schriftsteller  und  ein  am  athenischen  Verfassungsleben  pi'oktisch  beteiligter 
Staatsmann  'gewesen  ist  als  auf  Aristoteles,  der  den  Philosophen  riet,  mala  fern- 
zuhalten von  ^^diVfQdiev  praktischen  Politik  xmdi  sich  lediglich  nur  dem  ßW;  ^sopr^Tix^; 
zu  widmen.  Wo  hat  Bauer  je  davon  Spuren  entdeckt,  dass  der  aitöixo;  Aristoteles 
e»  je  unternommen  hätte,  den  Athenern  Ratschläge  in  Bezug  auf  praktische  Politik 
erteilen  zu  wollen  ? 

Nachdem  Schvarcz  einige  Worte  über  Bauers  Arbeit  gesprochen,  hält  er 
eingehend  Rundschau  über  die  Beweisführungen  Franz  Rühls,  der  im  t  Rheini- 
schen Museum*  dafür  plaidirt,  dass  Aristoteles  die  Kenyon'sche  rioXireia  gar  nicht 
geschrieben  haben  konnte.  Schvarcz  hält  den  Inhalt  der  Kenyon'sehen  noXit-ix 
entschieden  für  wertvoller  als  Rühl,  der  in  derselben  blos  ein  elendes  Machwerk 
irgend  eines  späteren  Griechen  sehen  will ;  auch  könnte  er  nicht  Alles  unter- 
schreiben, was  Rühl  als  Beweismittel  gegen  die  Autorschaft  des  Aristoteles  anführt ; 
im  Ganzen  jedoch  hält  er  den  Rühl'schen  Aufsatz  für  einen  sehr  wichtigen  Beitrag 

''^  Oneken  hat  gewiss  fehlgegrififen,  indem  er  ^ntsixeic  mit  •Tugendhaften*  über- 
setzt ;  Susemihl  kommt  schon  etwas  näher  an  den  wirklichen  Sinn,  indem  er  iTitEixet; 
mit  ulie  Tüchtigen*  wiedergibt.  Hierüber  s.  Susemihl  in  d.  •  Wochenbl,  für  Klass. 
Philologie*  1SS6,  Feitr,  26.  und  die  Antwort  darauf  in  der  •Krüik  der  Staatsfomten 
des  Aristoteles*  von  Jul.  Schvarcz  a.  betr.  St. 


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8<52  KURZE   SITZUNOSBERICHTE. 

zur  Lösung  des  Problems.  Bühl  legt  entsehieden  mehi*  politischen  Sinn  an  den 
Tag  als  Bauer  und  die  meisten  Pfleger  der  ArietoteUs- Legende ;  insbesondere 
schätzbar  ist  was  Bühl  in  Bezug  auf  die  Drakonische  Vev&ssungsphase  auseinan- 
dersetzt, indem  er  dai*auf  hinweist,  dass  die  Timokratie  weder  q»4  dem  Geschlech- 
terstaat, noch  mit  einem  unschriftkundigen  Culturzustande  verträgli^  hatte  sein 
können.  Auch  sei  beherzigenswert,  was  er  in  Betreff  des  Mondjahres  sagt  and 
Alles  in  Allem  habe  Bühl  nicht  nur  erfolgreich  gegen  die  Autorschaft  des  Aru- 
totdes  gekämpft,  sondern  auch  fraglich  gemacht,  ob  die  *A;^,vaiti>v  ::oXtreia,  welche 
Plutarch  (Didymos)  gesehen,  überhaupt  identisch  mit  der  Eenyon'schen  'a^tjvxicdv 
noAtTEiai  sein  könnte  ? 

Mit  einem  Mahnworte  an  die  Pfleger  der  Aristoteles- Legende  schliesst 
Schvarcz  den  kritischen  Teil  seiner  Abhandlimg :  sie  sollten  bedenken,  dass  sie 
durch  ihren  schlechtangebrachten  Flammeneifer  das  Andenken  der  wahren  Grösse 
des  geistigen  Lebens  der  Griechen  schädigen:  denn,  um  nur  den  Aristoteles- 
Cult  steigern  zu  können,  trachten  sie  die  Spuren  der  geistigen  Thätigkeit  sonstiger 
Griechen  zu  verwischen,  die  als  Zeitgenossen  des  Aristoteles  gleichfalls  die  poU- 
tische  Literatur  der  Griechen  zu  bereichern  strebten  und  zwar  mit  Erfolg. 
Schvarcz  bespricht  zuletzt  denjenigen  Abschnitt  des  zweiten  Teiles  der  Eenyon- 
schen  'A^,va»ov noXueia,  der  den  Staatsrat  —  ßcoA»;  —  zum  Gegenstande  hat  imd 
berichtigt  dabei  einige  Stellen  der  Uebersetzung  der  Philologen  Kaibel  und 
Kiessling.  —  Die  Abhandlung  von  Schvarcz,  welche  ungarisch  in  den  Veröffent- 
lichungen der  Ung.  Akademie  der  Wissenschaften  erschienen  ist,  wird  auch  in 
deutscher  Sprache  und  zwar  in  der  nächsten  Abteilung  des  IL  Blindes  des  Werkes 
über  die  •Demokratie»  von  Schvarcz  veröffentlicht  werden. 

Hierauf  legte  das  korrespondirende  Mitghed  Josef  Jekelfalussy  eine  grössere 
Abhandlung  des  Universitäts-Decenten  Dr.  Zoltän  Bäth  vor  über  das  Oredit- 
hedürfniss  der  Grundbesitzerclassen  und  dessen  Befriedigung.  Verfiwser  erinnert 
an  jene  Bewegung,  welche  im  An&og  der  achtziger  Jahre  die  Verschuldung  der 
Gnmdbesitzerclasse  zum  Gegenstande  lebhafter  Besprechung  machte.  Diese 
Bewegung  Hess  bei  uns  ohne  jedes  positive  Ergebniss  plötzlich  nach,  während 
dieselbe  im  Auslande  zahlreiche  legislative  Consequenzen  nach  sich  zog  und  die 
Frage  der  Beformen  bis  heute  auf  der  Tagesordnimg  hielt.  Es  drängt  sich  die 
Frage  auf,  ob  die  Besserung,  welche  auf  dem  Gebiete  der  Bodencreditverhältnisse 
in  einem  auch  statistisch  nachweisbaren  Maasse  factisch  eingetreten  ist,  von  der 
Art  sei,  dass  sie  bei  ims  das  thätige  Eingreifen  des  Staates  und  der  Gesellschaft 
überflüssig  mache  ?  Behufs  Lösung  dieser  Frage  untersucht  Verfasser  den  eigen- 
artigen Charakter  des  Creditbedürfhisses  der  Grundbesitzerclasse.  Eine  Bundschau 
über  die  verschiedenen  Arten  des  Credits  lässt  ihn  finden,  dass  dieser  eigenartige 
Charakter  mit  der  Eigenschaft  des  Grundes  als  Ertragsquelle  zusammenhänge. 
Hierauf  stellt  er  die  Forderungen  auf,  welche  wir  —  vom  Gesichtspunkte  der 
Grundbesitzer  Classe,  respektive  Classen  —  dem  Credit  gegenüber  erheben 
müssen.  Er  entwickelt,  dass  diese  Forderungen  dm*ch  den  Privatgläubiger  nur 
in  Ausnahmsfällen  erfüllt  werden  können  und  deshalb  die  entsprechende  Befrie- 
digung des  Creditbedürfnisses  nur  von  Anstalten  zu  erwarten  sei.  Verfeuser  macht 
eine  Digression  über  Bodbertus*  Bentenprincip,  behandelt  eine  schwierige  Fraga 


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KURZE    SITZUNGSBERICHTE.  863 

des  Erbrechte  und  betont  die  Notwendigkeit  der  Verallgemeinerung  des  Amor- 
tisationszwanges. Schliesslich  resumirt  er  die  Ergebnisse  der  Oreditstatistik  und 
erklärt  unter  imseren  Verhältnissen  die  Errichtung  einer  Anstalt  für  dringend 
notwendig,  welche  mit  ihrem  über  das  ganze  Land  ausgebreiteten  Fihalennetz 
das  Creditbedürfhiss  der  Kleingrundbesitzer  unter  vollkommen  entsprechenden 
Modalitäten  befriedige.  Die  Studie,  welche  Vortragender  nur  auszugsweise  vor- 
lesen konnte,  wird  ihrem  ganzen  Umfange  nach  in  der  «Nemzetgazdasägi  Szemlet 
(Volkswirtschaftliche  Bevue)  erscheinen. 

—  In  der  Plenarsitzung  am  26.  Oktober  las  das  correspondirende  Mitglied 
Theodor  Ortvay  seine  Denkrede  auf  das  ordentliche  Mitglied  Friedrich  Pesty 
Denkredner  bespricht  die  äusseren  Lebensverhältnisse  des  Verewigten,  seine  Thä- 
tigkeit  im  Freiheitskampfe,  sodaun  seine  ausgedehnten  archivalischen  Studien; 
femer  zählt  er  seine  literarischen  Werke  auf  und  hebt  in  warmen  Worten  den 
grossen  literarischen  Wert  derselben  hervor.  Endlich  oharakterisirt  er  mit  Wärme 
den  unermüdlichen  Gelehrten  und  liebevollen  Menschen.  (Vgl.  über  Friedrich 
Pesty  diese  Ungar.  Revue,  1890,  S.  170). 

Hierauf  teilte  der  Generalsecretär  Koloman  Szily  die  laufenden  Angelegen- 
heiten mit.  Er  las  eine  Zuschrift  des  Barons  Nikolaus  Vay,  welcher  der  Akademie 
mit  herzlichen  Worten  füi-  ihren  Glückwunsch  zu  seiner  fünfzigjährigen  Mitglied- 
schaft dankt ;  dann  die  Meldung  der  hterarhistonschen  Commission  der  I.  Classe, 
dass  sie  Josef  Dankö  und  Georg  Häth  zu  Mitgliedern  gewählt  habe ;  hierauf  die 
Meldungen  der  I.  und  11.  Classe,  dass  sie  für  die  ihnen  zugewiesenen  Concurrenz- 
werke  die  Preisrichter  bestimmt  haben ;  dann  die  Meldung  der  III.  Classe,  da^s  sie 
Stefan  Erusper  und  Eoloman  Szily  in  die  Stemwarte-Commission  gewählt  babe ; 
hierauf  den  Bericht  des  Bibhotheksoffizials  Ärpäd  Hellebiant,  welcher  zum  Zwecke 
der  Ergänzung  des  herauszugebenden  UI.  Bandes  von  Karl  Szabö's  «Alter  Unga- 
rischer BibUograpbie»  im  Auftrage  der  Akademie  während  des  Sommei-s  die  Biblio- 
theken des  Auslandes  besucht  und  von  442  Dnickwerken  Titelcopien  genommen 
hat,  wobei  er  manche  Hterarhistorisch  wertvolle,  bisher  unbekannte  Drucke  vor- 
gefunden. 

Sodann  las  Privatdocent  Dr.  Ignaz  Kunoss  seinen  •Bericht  über  die  türkische 
Handschriften- Sammlung  Daniel  Szildgyis^,  mit  deren  Bestimmung  und  Registri- 
rung  ihn  das  Präsidium  der  Akademie  betraut  hatte.  Referent  schildert  zuerst  die 
Persönlichkeit  des  in  Stambul  im  Stadtviertel  Pei-a  in  der  kleinen  Timoni-Gasse 
wohnhaft  gewesenen  Buchhändlers  und  eifrigen  Handschriften- Sammlers,  unseres 
Landsmannes  Daniel  Szilägyi,  der,  als  Debrecziner  Theolog  Emigrant  geworden, 
in  kurzer  Zeit  der  gesuchteste  Uebersetzer  der  türkischen  Hauptstadt  imd  gründ- 
lichste Eenner  der  türkischen  Sprache  wurde.  Die  Handschriftensammlung,  welche 
heute  ein  Eigentum  der  Ungarischen  Akademie  bildet,  ist  sein  geistiges  Velmächt- 
niss.  Sie  ist  der  übriggebliebene  Teil  einer  grossartigen  Sammlung,  welche  Szilägy 
selbst  für  die  Akademie  bestimmt  hatte,  von  welcher  aber  gleich  nach  seinem  plötz- 
lichen Tode  mehrere  Hundert  Stücjv  spurlos  und  für  immer  verschwanden.  Referent 
hebt  unter  anderen  wertvollen  Stücken  das  ausserordentlich  seltene  Suleiman- 


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^6^  VNOARiaCHE    BIBLIOGBAPHIE. 

Nameh  und  das  bereits  von  Vämb^ry  dem  Attsland  bekannt  gemachte  Baber-Nameb 
hervor.  Der  verstorbene  Sammler  forschte  planmässig  nach  Handschriften,  welche 
für  die  imgarische  Geschichte  und  altaische  Sprachforschung  als  Quellen  dienen 
können.  Dem  Dienste  dieser  Idee  weihte  er  mit  der  Uneigennützigkeit  des  wahren 
Gelehrten  und  der  heiligen  Begeisterung  des  Idealisten  sein  ganzes  Leben.  Mit  an- 
dächtigem Eifer  forschte  er  besonders  nach  türkischen  Sprachdenkmälern  und  die 
Ungarische  Akademie  besitzt  von  ihm  manche  Handschrift,  welche  für  die  Ge- 
schichte der  türkischen  Sprache  eine  Quelle  ersten  Banges  bildet.  Sein  Jugend- 
freund, der  hervorragende  Schriftsteller  Siniiszi  Efendi  hatte  mit  riesigem  wissen- 
schafthchen  Apparat  das  historische  Wöi-terbuch  der  türkischen  Sprache  zu  schrei- 
ben unternommen  und  bereits  das  Material  für  etwa  zwanzig  Bände  gesammelt 
wurde  jedoch  durch  den  Tod  an  der  Veröffentlichung  verhindert.  Da  er,  als  Schrift- 
steller und  Dichter,  zur  Garde  der  «jeune  Turquie»  gehört  hatte,  wurde  fest  sein 
gesammter  Handschriften-Nachlass  confiscirt.  In  imserer  Sammlung  befinden  sich 
elf  Bände  dieses  unschätzbaren  Werkes.  An  derlei  Partien  seiner  Sammlung 
schliessen  sich  die  türkischen  Chroniken,  welche  mit  ungarisch-geschichtlichen 
Beziehungen  durchwoben  sind.  Die  Sammlung  besteht  aus  436  Handschriften^ 
deren  grösserer  Teil  historisches  oder  sprach geschichtUch es  Interesse  hat. 

Hiemuf  legte  der  Generalsecretär  den  Bericht  des  Bistritzer  Professors 
Albert  Perger  über  ein  im  Bistritzer  Archiv  gefundenes  altes  lateinisch-imgarisches 
Vocabularium  vor,  und  verlas  zum  Schlüsse  eine  kurze  Zuschrift  des  ViceprSä- 
denten  Wilhelm  Fraknöi,  welcher  der  Akademie  die  Porträts  ihrer  vier  ersten  Ge- 
neralsecretäre  überlässt.  Dem  Spender  wird  der  Dank  der  Akademie  ausgesprochen. 


UNGARISCHE  BIBLIOGRAPHIE* 

(  ato  hülcfi  imnuidsai.  (Die  Sprüche  Cato's ;  kritischer  Text,  ungarische  Ueber- 
«eizung,  erklärende  Anmerkungen  von  G^za  N^methy).  Budapest  1891,  FranMin,  132  S. 

Jancsü  Benedeky  Közt^nskoldink  refonnja,  (Die  Reform  unserer  Mittelschulen» 
l'ädagogische  Studie  von  Benedikt  Jancsö).  Budapest,  1891,  Loinpel,  135  S. 

Kracsala  Jdno.%  Bisterfdd  etetrajza,  (Johann  Heinrich  Bisterfeld's  Leben  von 
Johann  Kvacsala).  Budapest,  1891,  Stampfel,  66  S. 

I^i'H  VUmoHy  A  Dana  fdyöra  vonatkozd  nemzetközi  jogdllapot  (Der  auf  den 
Donaufluss  bezügliche  internationale  Rechtszustand.  Gekrönte  Preisschrift  von  Wilhelm 
Lers).  Budapest,  1891,  PaUas,  i253  S. 

Marczali  Henrik,  Maria  lerezia,  (Maria  Tlieresia  1717 — 1780,  von  Heinrich 
Marczali).  Budapest,  1891,  Rath,  32:2  S.  mit  zahlreichen  Illustrationen  im  Text  und 
selbständigen  Kunstbeilagen. 

Bdkod  Viktor,  Eiiy  falu.si  Hamlet,  (Ein  Hamlet  auf  dem  Dorfe.  Roman  in  einem 
Bande  von  Viktor  R4kosi).  Budapest,  1891,  Deutsch,  125  S. 

•  Mit  Ausschluss  der  mathematisch-naturwissenschaftlicheD  Literatur,  der  Schulbücher,. 
Erbaunngsschriften  und  üebersetzungen  aus  fremden  Sprachen,  dagegen  mit  Berücksichti- 
gung der  in  fremden  Sprachen  erschienenen,  auf  Ungarn  bezüglichen  Schriften. 


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