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liniere Jeit.
®cutfd^e Dflebue ber ©egetwart.
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Kit (er e Jeit.
&
Mtntfät Ketme irer (ßegenroart.
^etauögegeben
8#Wf doh Mtfrfjnll.
Sa^rgang 188 2 .
drfter SBanb.
ftiprä:
2 t. 53 r o ä fj a u 8 .
1882 .
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B är bt it
SooeHe
OOlt
ffi. *)eltj.
i.
8IIT ftcl)u &ei ifjrcm Sdfafc,
SBer ftilnb’ bei mir?
Gin Staiabenb mit ©onntogdruhc — bie ©timbcu jwifdjeu ber Stadjmittagöfirdje
unb bem ©cgelfd)ieben nnb ©choppentrinfen in einem fdimäbifdjcn ®orfc, bad
unweit bet alten greien 9 ?eichdftabt Seutlingcn, am gujje ber ftotjen 5 (d)alm, liegt.
Gd ift befannt im ©djwabenlaitbe bet malerifchen Fracht feiner GinWohncr wegen,
an ber fie fefttjalten ber 3eit, bie aQcd ju ituiformiren fudjt, junt 2roh — ober
bed Sortheitd falber. 2 )ie Staunet mit ©tift unb Stoppe üott naf) unb fern
werben nicht mfibe, bad ®orf 31t befudjen unb gruppen» unb einjelweife Surfdjcu
unb Stägbtein abjuconterfeien, unb Tübingen, Wo bie berühmten Herren Sßrofcfforcit
wohnen unb ,,©d)ut’ galten" für bie, welche auch fo „ftubirt" werben wollen,
fenbet ganje ©traten fingenber nnb trinfenber Jünglinge herüber, bie bed Dd;fen=
wirtfjed SBein jufpredjen unb bie ©djonljeit ber Stäbel bewunbern, fofern bad bie
fjeimifchen Schäle geftatten.
®ie Cbftblüte ift längft tiorüber; auf ben £>ügcln ringdum rauft fid) bad grüne
SBcinlaub empor; bie niebern Slbfjcinge ber 2lchalnt finb baoon umfränjt. SRofige
unb »iolette SBölfchen fchweben am Fimmel unb ed ift ein ®uften in bet fiuft.
®er Dd)fenwirth, fo behäbig breinfehauenb, wie'd feine umfangreiche ©eftalt,
fein gerötheted Slnttif}, feine wichtige Stellung im Drt oerlangt unb geftattet,
benn er fennt SBürbe Wie Pflicht, ftcht in ber ®h lir > fl^abe unter feinem ©chilbc,
unb btieft bie ®orfftrafje hinauf unb h'»ab; in bem ©arten hinter bem £>aufc
werten ©tubentenlieber gefungen. .Qwifchen Sluf» unb Slbfchauen ftreifen feine
ftugen bann auch jebedmal bad ©egenüber; mitten jwifchen ben ®orfhütten liegt
ein mauerumfriebigted ©eljöft, bad gewifferntajjen eine üornehmc Slbgefchloffeuhcit
barthut; aber ed ift fein Gbelhof: ber Sagbar bed OdjfenWivthcd ifjetcr ©tierlc
nennt fief) mit befonberer Betonung Sorg Stehler, Sauer.
3um britten mal h«t ber SBirtj) fein rottjglänjenbcd Slntlity ber grünen Pforte
jugewenbet, ba thut fich biefelbc auf unb Sorg Stcjjler tritt heraud unb geht
würbeboö ber ©teinbanf rechtd ju, wo er an grühlingd» unb ©ommerabenben 311
Unicre ;(ci(. 1882. I. 1
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Unfete £eit.
fijjen pflegt, um, wie eS iibtid), ben auf* unb abwanbernben Dörflern jujufdjaueit
unb babei Slaudjwolfen auS ber turnen pfeife ju blafen unb bann unb Wann
aud) ein SBort ju tebeu, Wenn iljm einet bet Sorübergeljenben biefer (Sfire wertt)
erfc^eint, benn bet SJteßter ift ein 2Bät|terifdjer.
hinter it)m ftößt eS tangfam in regelmäßigen Snteröaßen auf bie Steine beS
|>ofraumS; er fdjaut nidjt um, benn et weit, wer iljm folgt: bie Säuerin, feine
|jauSfrau, wetdje feit 3 a b ren fa^nt ift unb firf; nur müfifam an ber Stüde weiter
fdjleppt. 3fw ju Reifen, wenn fie fo ba eintjertjinft, ift iljm nodj nie in ben
Sinn gefotnmen; baS ift nidjt Sauernart, eS muß jeber für fidj ttjun unb forgen,
Wie er weiter fommt, unb fo rürft er jefct audj nidjt, um SjJIajj ju machen, at$
bie grau auS ber Pforte tritt, läßt fie beinahe über feine auSgeftredten güße
ftotpern unb fagt nur, als fie fidj teife neben iljm niebertäßt: „Dal ift ein Stbenb!"
Der 0d)fenwirtf) flieht feine breiten gäufte in bie Dafdjen; er ift gar fauber
Ijembärmetig unb fommt herüber, unb wie ein Sdjo ftingt’S non feinen Sippen:
„DaS ift ein Stbenb!"
ißtafc bieten fie einanber nicf)t, ber eine nicE)t fiüben unb jener nidjt brüben;
fie Ijaben Don jetjer iljre täglidjen Untergattungen ftefienb geführt.
Die Säuerin tjebt baS blaffe ®efidjt; eS l)at $üge, welche burcf) langes Seiben
Dietteidjt oerfeinert finb, unb ftreidjt mit ber einen tpanb über bie anbere unb teife
fagt audj fie: „(Sin redjt gefegneter Stbenb."
Die SRänner f)ören nid)t barauf, fie fefjen einanber inS Stntlijj; baS beS
SßirttjeS ftraljlt nur Outmütfjigfeit auS; ber Sauer ®eorg SJtefcler Ijat einen
Stopf, ber Wie aus Stein gemeißelt ift, regelmäßige Sinien unb bunfte Slugen
unter bufdjigen Srauen. ®r fijjt in bem langen Weißen Siod mit ben großen
fitbemen Snöpfeit ferjengerabe ba, er behauptet überall bie Stelle, auf Wetter er
ftet)t; mit jWei Dritteln ber Seoötferung beS Dorfes ift er im Streit; bie anbern
nteiben ifjn, unb nur ber ißeter Stierte |at baS Stecht ber Sertraulidifeit.
„Ueber Sladjt", fagt ber 0d)fenwirttj, „blühen bie Sieben!"
Der anbere nidt. „3a, ja — fann fein!"
Die Säuerin fdjaut naefj ben grünen §ügetfetten auS; fie fann nidjt mefjr in
ben SBeinbergen ttjätig fein, wenn fie Slrbeit erfjeifdjen, unb auf bie #erbflfreube,
baS (Sinfammetn unb tjerförnmlidje Suftigfein, Ijat fie aud) fdjon lange Derjidjten
miiffen. Slber wenn fie barüber traurig ift, fo barf fie eS nidjt jeigen: ber Sauer
Derträgt'S nidjt.
„3n ben Leitungen", meint ber SBirtlj, „machen fie wieber Diel ®erebe, fjer=
oben unb tjerunten — ’S fann feiner burdjfiuben!"
„SBer bie tieft!" ruft ®corg SDtejjter mit einer Derädjtlidjen ®eberbe. „3 nefjm’
fein fotdj ein Sügenbtatt in bie $anb. Stufftärung Reißen fie’S — ja, ja, ja!
üftit alt ber Stufftärung wirb baS Sotf nur bümmer. Stnno bajumat tjaben fie
nodj feine Rettungen getjabt, aber ba tjaben bie Seut’ auS fidj allein gewußt, Was
fie ju ttjun fjatten!"
„3a, Stnno bajumal", wieber^ott ißeter Stierte unb fdjicbt feine pfeife aus
bem redjten SOlunbwinfet in ben tinfen — er Weiß, wenn ber Sauer auf biefeS
Dfjema fommt, ift’S nidjt gerätsen, iljm ben SBiberpart ju Ratten.
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Bärbete.
Ö
„Unb bann tag’ i, bie SEBett gel)t jurfid, jurüd in bie 3)umntl)eit unb Ser»
fned^tung, öor ©teuer unb Saft fifct bet Üftenftf) nimmer rufjig auf feiner ©cfwffe,
fte brüden unb ftneiben —35er Sauer ballt bie Sauft unb ftüttett fie in
ber Suft.
3)er SBirtf) fc^aut nad) feinem ftattlidjen $aufe hinüber; eS l|at einen frönen
Slnftrit in biefem Srüfjjafjr erhalten unb fein braunroter Dtfe erglänzt wie neu
burdj eines SJtaterS auffrifc^enbe fiunft, unb innen, nun, ba fieljt’S in ©trein unb
Sabe aut nitt leer aus — er fiat fomit leinen ©runb, ben Klagen beS 9tad)
barS beijuftimmen; ganj Wiberfpreten ift aber aut gefäfjrlit unb etwas ju
wünftm gibt eS am ©nbe bot für jeben; fo entgegnet er:
„Qa, S’ift eine wunberlit« SBelt unb fjaft jeber $at fein fßädtein unb Sreu^."
Sörg 3Jle|ter ftöfjt einen Derätttiten Saut aus.
„Dtf entt, irtf|, 6r ift aut f° e * n Snnerliter, f)ier burfen unb ba, bamit @r
ja leinen ©toppen weniger auSftwlt."
„Sft mein ©eftäft, 3örg, mein ©eftäft —"
„9la ja — aber! Slber einfefjen mufj ©r’S bot mit feinen beiben gefunben
Slugen, Wie fttett berjeit in ber SBelt ftefjt. Sirtenfteuer fjaben fie auf»
geftlagen, als ob unferS Herrgotts SBort nit umfonft ift — unb bie £>errftaft
— ber |>err Saron Oon Setten, na ja, ba fotf ein SSetter breinftlagen."
©in Stutz bei bem bie blaffe Srau bie fpänbe faltet; ber Sauer fefet bem»
felben not mit turpem Säten fjinju: „SBirb fit wuubern — l)at einen ©tut;
breit feinen Sonn auf meinen ©runb unb Soben gerüdt unb fjab’ ifjn mit meinen
eigenen frnnben niebergeriffen — ba ift’S! Unb Wenn mir nur einer lommt! 3«
bie SRefibenj will i, ßtle'üöirtf), unb mir aut e ' ne frine ©titberei maten taffen,
beffer not «1* bie ©eine; Ijicr über meine ißforten folt fie, fogar mit einem ftö»
neu ©prut:
Sefet, was ift nun für ein SBefen?
SBir mögen »or Pfaffen unb 9tbel nit genefen!
Unb bie ©tilberei erft babei!"
,,©rüfj’ ©ott!" fagt ba eine ItangOoH frifcfje SDlännerftimme in bie rauben
Saute tjinein, „grff ©ott, Stau ÜBhitter! ©’ift rett, bajj ©ie ben ftönen ülbenb
geniefjt."
„S)er föonrab!" antwortet bie Srau, unb ber Serfut eines SütclnS fliegt um
if)te blaffen Sippen.
3örg SWefeler brefit fit gar nitt nat bem fttauten Surften, ber fein öcr»
jüngteS ©benbilb ift, um, fonbern Ijerrftt heraus:
„SBarft wiebcr beu Hoffen, leibigen Sag nit ju ftaueu, Wo fiaft bit Ijcrnm*
trieben?"
„Oljo! ^erumtrieben! SBenn man bie gan^e SEBote fleißig war unb ©onntagS
in ber Srü§ »orgeforgt ljat, ba mein i" — aber er lommt nitt ju ©nbc; ber
Sater leibet leinen SBiberfprut, er tjätt’S bebenten foHen.
,,@tt»eig’, Sub! ^erumtrieben! ©o Ijeifjt’S unb fo fotl’S Ijeijjen —“
„Ulun, wenn ber $err Sater will, ntag’S fein. 3 bin mit beS Selten Sörftcr
gewefen!" gibt Sfonrab trofjig jur Antwort.
l*
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Unfcrc <3eit.
4
2 )er Sllte nimmt bie pfeife anä bem SJtunbe.
„ajlit einem §etrifcgen, natürlich! Gin gegorfamer dienet — gaft nicgtS bon
mir in ben Slbern, bift fein ©ub unb fein echter SJtegler. ©cgänt’ micg beinetgalb,
menn i bcr ©Orient’ benfe, bie auS bem StemStgal famen unb fo tapfer fämpften.
©onrab fjab i bi genannt, bift and) ein «armer ©onrab», aber nit mie’S gemeint
mar. ©tadjft ©acge mit ben $errif<gen —"
Gr ftocft, bietleicgt um ©öfeS ju unterbrüden; angftöoü fiegt bie grau mit ber
©rüde auf SJtann unb ©ogn, unb ber ©ub macgt igr nocg megr Slngft atei bcr
©ater. Gr ift erft rotg im ®eficgt, bann bleidj, unb in feinen Singen tobert e3.
„©ater", fagt er gepreßt, ,,3’ift, als ob’d Guer ®efpenft mär’! ©iergunbert
!gagr finb'3 faft, bafj all baä mar mit bem ©unbfegug unb bem ©auemfricg, unb
e3 finb anbere Seiten feitbem geriiber gefommen — moUfS nur einfegen. ©’ift
ba§ gröjjte Unglüd, bajj ggr einen Stamen fjabt, ber —"
„©dfrneig’ ja, fcgmeig’!" fnirfc^t görg SJtcgler, unb feine Sauft ballt fidj unb
er fegüttelt fie hinüber nadj ber Stiftung, mo ba$ ^errengauS fte£»t; „fcgmeig’,
©ub! $oge |)errfdjaften gaben iijre 35ocumente, unb mie fie’ss geigen, igrc Stamm
bäume unb Ggronifen; ben ©auern aber ift’3 in bie $erjcn eingefcg rieben unb
fommt’ö öom ©ater auf ben ©oijit, unb ba finb biergunbert Sagt aucg nur eine
©pann — unb menn i benf’ unb fimulir’, fo ift mir’i, als fei idj fciber babci
gcmefen unb bem gägnlcin gefolgt, auf bem ber arme ©onrab mit erhobenen
.fiänben abgcmatt mar, ber fo gar «fein 9tatg» gemußt bor aller SJtotg."
®er Dcgfcnmirtg fcgaut über bie ©trage, er fucgt ttacg einem ®runb, ginüber=
pfontmcn; mit bem Stadjbar 9J?egler ift nimmer 31 t reben, menn er auf feine
„SBuubcrlicgfeit" fommt; aber in bemfclben Siugenblid mirb ifjnt ber Ueberfcgtupf
berfperrt, bem SRcbenbcn juglcidi aucg baS SBort bom SJiunbe meggefungcn. Gine
lange Steige bon SJtäbegen in igrer maierifdjcn Xradjt, Sinn in Sinn, berfperrt
beit Sßeg, unb einige ©egritte gintcr jenen eine ©ette bon ©nrfegen, nitb oiel=
ftimniig Hingt ba» fdjmermütgige Sieb bon beit frifegen Sippen:
SBenn i jum SJrünnle geg’,
©eg’ anbre SOtäbie fteg’.
Sin’ ftegn bei igrem ©cgag,
2Ber ftänb’ bei mir?
2Bie crlöft biidt bie grau auf; fie rneig, ein Sieb jur regten Seit gat bei
bem ©auern fegon manegeS Ungeil bergiitet. SJtufif gat eine muuberlicgc SJiacgt
über ign; mie fie ein gan^ junget SBcib mar unb er fo milb unb biiS fein fonntc,
fam ÜJiitbe über ign, toenn fie igren ©iitbern ein SBicgenlieb fang, ©ie gatte e§
nie 311 einem ©unftgriff gemaegt, aber ber Sufati gatte e§ oft gefügt — unb bann
muffte fie allemal au ©aul benfen.
©icl SBiegcnlicber gatte fie 31 t fingen gegabt; ficben ©inber maren Mein ins
®rab gelegt unb bei bem ©onrab, ba gatte bie Stimme niegt megr gerauSflingen
moHen, nnb feit tein friiglitg Sieb bureg ba§ grogc $auä fcgallte, mar ber ©auer
immer miSmutgiger gemorben.
Sind) jegt ift bcr ©önig ©aut plögtidj feiner trüben ©tintmuug entriffen;
feine gefurchten Süge glätten fieg, er neigt leifc baS tfpaupt. Stiegt fo ber ©onrab;
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öärbelc.
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fie lieft ihm baS herbe SSort, Welches er bent ©ater fogen Will, üott ben Sippen
unb tfjut etwas Ungeheuerliches, fie fafjt feine Ipanb unb ftüftert:
„Schweig’, 8ub — unb fchau!" Unb ihr Stic! ift babei fo fanft bitteub, bafj
er gehorchen muh.
Sie meint bietleicht, er fott in ihr 2lnlijj fehen, aber er blicft gerabeSWegS bie
SDiäbel unb ©üben ab, fie fichent uitb lachen hüben unb brüben, eh’ fie bie jweite
Strophe beginnen, bie fo im SBiberfpruch mit ihrer gröhlichfeit fteht:
9Jtei 2)1 utter mag mi net,
Unb lein <Sd) a tf Ijan i net.
Sic beiben langen betten finb im Saltfchritt üorübergejogen; Sorg Stichler
horcht mit einem Sädjeln ben berftingenben Sönen; ba fagt ber Dchfcnwirtt» mit
einer $anbbewegung:
„Schaut, glöherS ©ärbele —• auf bie pafjt'S: fein Schah h 0tt i net — unb
mei ÜJJutter mag mi net — ja, ja, ich h n &’ einmal einen ftubirteit fpernt ©rofeffor
fagen hören, aßeS fänb’ im Sebeit feine Stnwenbung, man müht’ nur bie richtige
3eit abwarten. Unb nun fommt rnir’S in ben Sinn mit bcm Sieb."
Sn furjer ©ntfernung hinter ben weifjröcfigen ©urfdjen mit ben ©ubelmühen
auf ben köpfen fchreitet eine einfame 9Käbchengefta(t, ben Sopf gefenft, bie SBaffer-
gette int 2trm; ihr @ang ift leicht unb etaftifcfj, abfichttich wot tangfam, um ben
Singenbcn nicht ju nahe ju fein.
Set ©auer Sörg h®t aß feinen Unmuth bergeffen unb muh nun gar über ben
OdjfenWirth lachen, WaS ihn feiten anfommt.
„31® fo, ja fo", fagt er, „beS glö{jerS ©ärbele, ber arme Stopf! SBo anbere
fingen unb fich berluftiren, ljängt’S ben ®opf. ’S geht halt feine bcfonbefh SBcge
— mir faßt ein, ’S macht’S wie mein ©ub — bie fönnten fich jufammenthun,
finb jtbei ©infiebterifche."
Unb nun lacht er mit ©eter Stierle jufammen; bie ©äueriit fieht, bah bein
fionrab Wieber ßtöthe ins ®efi<ht flieht; fie fteht an ihrer Sriicte auf unb fagt
einen Slbeubgrufj, ben bicßeicf)t nientanb gehört hat, Weit er nicht beantwortet Wirb,
unb hinft hinein. Ser ttonrab nimmt bie Stufte ab unb ftreicht feine wiberfpen»
ftigen $aare unter berfelben glatt, ficht ben ©ater bie ©forte jubrücfcn unb ben
Ochfenmicth unter fein Schilb treten, unb geht tangfam auf ber Sorfftrafjc Weiter,
Wohin bie Singenben jogen unb baS einfame ÜDtäbchen ihnen nac^fdjritt.
SJtit einem innerlichen 8om benft er an bcS ©aterS Sorte. So üiet Spott!
glöherS ©ärbele! Unb mit ber foß er fich jufammenthun! (Sr, Sfonrab SSJiefjler,
beS reichen ©auern Sohn, unb beS gtöfjcrS arme, OerWahrlofte, oerachtete Tochter!
So oeraehtet unb aflein, bah fie nie, nach ^eintifcher Sitte, mit ben anbern geht,
bah fie überaß Oertaffen fteht, fogar am ©runnen.
SEBarum? S® warum, baS Weih er fetber in biefem Slugeubticfc nicht ju bc^
antworten; gerab Schlechtes fann man oon bem Sitten fo wenig wie oon ber
lochtet fagen. Soch, ber Sitte ift ein Srunfenbolb, jeftt weih er’S; aber baS
SJtäbel? Ser glöher hat ein ärmliches £>auS, bas oon Sag ju Sag mehr jerfäßt,
unb ift früher einmal recht wohlhabenb gewefen; nun geht ihm baS „Schöpple"
über aßeS.
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6
Unfere <3eit.
„Äber baS Stäbel?" fragt er taut unb weiß wieber feine Äntwort.
ÄtP ftel)n bet intern
38er ftänb' bei mir?
fummt er benen nad), bie öorfjin gefungen, uub nun weiß er’S: bal Stabet t)at
feinen ©djafj, wie er aud) feinen f>at. 2)aS war ber Spott, baß fte fid) gufammen»
tljun fotlten — galt er bodj als befonberS fdjüd)tem unb linfifc^ bei ben ®irnen,
unb ift lieber in 2Batb unb Selb, als ladjenben Äugen unb fd)Wa|enben Sippen
gegenüber.
®aS ®orf l)at einen befonbem ©egenftanb beS ©tolgeS, unb gwar beS bered)»
tigten: feinen gotljifdjen Srunnen. SRater unb Ärdjiteften behaupten, baß er aus
ber 3«it beS berühmten ©ürlin’fdjen 3ifd)faften gu Ulm unb beS ätintigen gu
llracf) ftamme; et ift aud) faft eine berfleinerte Sadjbilbung beS lefjtera. ®aS
füljn aufftrebenbe SSrunnentljürmtein umgibt ein ©teinbaffin, in baS anS fed)S
Störten fidj frifdje SBafferftraljlen ergießen unb baS bequeme Sßorfprünge bietet,
um bie ©eiten auf» unb abju^eben.
SBenn’S ftitl im ®orf, l(ört fid)’S gar angenehm gu, Wie baS SBaffer fprubelt;
Sfonrab Siedler Ijat eS aHegeit gern gehabt, gu laufen, aber wenn’S tebenbig
um ben Srunnen ift unb Stabten» unb SBurfdjenftimmen burd)einanberfdjwa$en,
tritt er nie Ijeran.
SSBie er je|jt näljer fommt, fiefjt er nur eine ©eftalt am IBrunnen: Stößers
Sflötbele; fie fjätt bie fupfeme ©eite, ben ©dimud jeber orbentlidjen $auSijaltung,
unter ben tjerabrinnenben ©traljl. 3« etwas erinnern biefe SBafferbemalter, bie
auf bem ffopf getragen werben, an bie römifdjen Ämpljoren.
Särtele ift in ©onntagStradjt, unb fo gepufet wie bie anbern ftolgen SJiäbcl
aud), beren ©efeßfdjaft fie, ober welche bie iljre fließen. ®er bunfte ®udjrod mit
bem rotfjen Streif reicht bis gu ben Änödieln, üon fdjön geblümtem Kattun ift
bie @djulterl)üHe, blütenweiß finb bie baufdfigen Äerntet unb bie ©dlürge; baS
Ääppdjen mit ben Ijängenben ©änbern trägt fie nidjt; neben if|r liegt ber bunte
®udjfrang, ber baS |>aupt fd)iif}t Oor ber birecten 23erül)rung mit bem ®raggefäß.
Statt ber fdjwargen ©eibenfcf)leifen fiefjt aber ber ßottrab etwas anbereS, baS iljm
ltidjt minber gefällt: gwei fdjwete braune 3öpfe, bie tief ijinabi)ängen, faft bis
gum Sanbe beS SodeS.
®d)öne Sänber fann fid) eine jebe faufen — beuft beS 2Jte|jler*2kuern ®of)n,
aber foldje 3öpfe, foldje gibt’S im gangen ®orf nicfit gum gweiten mal.
IBärbele fteljt unbeweglid), wartenb, baß fic^ itjre ©eite füllt, unb ebenfo regungS*
toS ftelft ffoitrab, als (jätte er and) auf etwas gu warten.
Sun ift baS ©efäß bis gnm Sanbe tooH; ©ärbele gief)t eS mit einem Kräftigen Sud
fjeiait unb tritt bann eine Stufe Ijerab, um baS fpaupt unter baffetbe gu beugen.
„SBart’ bu, i Ijelf bir!"
SBlifcfcfjneß bref)t fie fid) — fieljt bem Siedler ®onrab in baS gerötete ©efidjt,
unb erft nadj einer tßaufe lommt eS ftannenb ü6er iljre Sippen:
„3a fo! ®aS Ijat itod) niemanb wollen!" Slbcr fie läßt eS gefdjeljen, baß ber
Sub iljr auff)ilft, unb als fie nun, ben einen Slrm erljebenb, bie ©eite Ijält, ben
anbern in bie ©eite geftemmt Ijat, fefjt fie tjingu:
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Särbcle.
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„3 mach’ meinen Sauf."
„3ft unnötig", fagt bet Sonrab unb ^olt tief SUffem, tote ju einer gewaltigen
Slnftrengung. „2Bir gehen miteinanber, wir haben ben gleichen 3Beg."
6t ift mehr bon einem „Seitfenben", als fein Sater weiß, unb fo fällt ihm
ba« felbftgefprochene SBort auf« #erj: „2Bir haben ben gleichen 2Beg."
Särbele macht feine ©intoenbung; fie fd^reitet tapfer au« unb bet Äonrab
betrautet fie, wie jierlidj unb bod; feft fie bie Süße fefct, unb fie fommen iljm in
ben auägefdjnittenen Schulden unb ben Weißen ©trumpfen Meinet bot at« anbere
Sliäbel ihre, unb bettounbert fich, wie fie bie fdjlattfe ©eftalt eigentlich tragen
fdnnen; unb al« et höher an ihr ^inaufblidt, ba fällt ihm bie bewegliche Saitle
auf unb bie weiche SRunbung bet Stuft; bann fiefjt et, baß fie rotlje, trofcige
Sippen hat unb braune klugen.
„#aft bu einmal einem ©täbtifchen, einem ÜJlaler, ju einem Silb berholfen?"
„9?ein", erwibett fie turj, ,,e« hat mi nit gelüftet — ba war einer, bem hab’
i gefagt, baß alle SDtäbel bie gleiche Stacht haben unb i fein’ Seit-"
Uebet be« Surften ©eficht fällt ein Schein; baß fie bie Stacht beffer fleibet
ald bie anbetn, ba« hat et herau«gefunben, ohne ein ©tubirter ju fein.
„©ehft nie auf ben Sansplafc, Särbele?"
„£aft mi etwa fchon ba gefehn?"
„SBeil i felbet nit geh?"
©ie lachen beibe recht hell auf, bötlig im ©leidhflange, unb bann bleibt Sär=
bete ftehen unb fejjt hi«i“ :
„SBift ein fonberlicher Surfdj!"
SBie an bet grünen Pforte be« äJiehlerhofe«, nimmt er bie 2Küfce ab unb
ftreicht über bie heiße ©tim.
„©potteft Wot gar?"
„3?" fagt fie bettounbert.
©r macht eine Sewegung mit bem fräftigen 3lrm in« SBeite.
„SEBenn fie bon Sübingen ba finb, bie jungen au«länbifchen Herren, hat noch
feinet fchön gethan mit bir?"
Sum erften mal jeigt Särbele bie Weißen Söffne unb fie fcßtoingt bie Keine
Sauft brohenb in bie Suft.
„SoHf mit einer fommen! — bie haff’ i alle famrnt unb fonber«!"
ftoitrab muß wieber lachen, ihr Bar« gefällt ihm fo feljr.
„©'ift wegen bem Sater", erKärt fie, „er hat’« Seit feine« Scben« nit leiben
fönnen, baß fie bott .fjeibelberg herab bi« Sübingen ben Slößer«leuten «Socfelc
fperr!» jufdjreien; et triegt allemal ein’ Born! Unb wa« foCT« auch bamit?
2Ba« gehf« bie übermütigen Surfch an, toeun ehrliche Seuf fich auf bem SBaffet
abmühen?"
„3 toeiß auch nit", gefteht ftonrab unb benft an ben Sätet, bet’« toiffen muß,
Warum’« gedieht, benn e« foK fchoit lang ©rauch fein, unb ber fennt ja uiel-=
hunbertjährige ©efchichten.
9?un gehen fte fchweigenb miteinanber weiter, aber immer im gleichen ©cßritt,
unb merfen’« beibe nicht, baß bet Sauerhof mit bet grünen Pforte unb ber
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8
Unferc <3eit.
fteiuernen Sauf bor bcrfelOcu fdjoit hinter iljiten liegt. Slucf} bon ben luftigen
Siebern im Ddjfengarten müffen fie nidjts gehört tjaben: fo finb fie gebanTcnboU
gcWcfen.
Seßt blidt ber ffionrab ttod) einmal hinauf uub ßinab an ber fräftigen ©eftalt,
Ijuftet, wirb rotfj, ßuftet nod) einmal, unb wie nun bie braunen Slugen ben feinen
begegnen, fagt er rafcf):
„Sorbete, bift fauber!"
S55ie er’S gefonnt ßat? (SS ift baS S'üfinfte, wa« ein Snb einem 9Käbclc
fageit fann: „3)u bift fauber — bift Ijübfd)", cS fommt einer woßtgefefctcn Siebet»
erflärung im ^oc^bentfc^en gletd).
Db Särbele über einen ©teilt geftolpert ift? ©ie t>at wirflid) bon bem SBaffer
bcrfdjiittet, baS fie auf bem trojjigen &öpfd)eu trägt.
„35a — baS fommt babon!" ruft fie jürnenb.
35ann wirb Wieber nidjtS gerebet; ber &onrab füßlt eS nießt allein ßeiß unter
feiner 2Jlüße; audj unter ber SBcfte brennt’S unb flopft’S, baS $crj ift’S. SBcittt’S
nidjt mitten im 2)orf War’, fo möcßt’ er Wol einen Sudjjet tßun, unb bann bcuft
er an bie SJlutter bafieim unb cubtic^ an ben ^ofbauent. SBeitn ber Wiißt’, baß
fein SRattj fdjon befolgt ift!
gaft baS lefcte £>auS ift’S, wo baS Särbele ftiüfteßt; ei ift cinftöefig, ber-
wittert, baS 35acß winbfcfjief; gut, baß ber mächtige Sinbenbaum barmßerjig feiue
Sweige barüberftredt — ©ommerS fießt’S baburd) beffer aus.
3)ie niebern ©cßtcbfenfterdien laffen fidjer wenig Sicßt ein; bor bem einen
fteßt eine ßalberblüßte 9iofe.
35aS 2Jiäb<ßen fümmert fieß gar nitßt um feinen Segleiter, fteigt bie ausgetre¬
tene ©teinftufe ßinauf unb jietjt einen roftigen ©cßlüffel unter ber ©cßürjc ßerbor;
fie ßat baS ^äitScßen fo forgfältig berfeßtoffen, als ob eS ©tßäße berberge. Slls
bie 3d)ür offen, breßt fie langfam ben Stopf mit ißrer Saft:
„S maeß’ meinen 35anf!"
3)er junge SauetSfoßn fießt fie mit einem Säbeln an.
„Unter ber Sinbe fottt' eine Sanf fein, baS wär’ ein fdjöiteS Stähle!"
„Sa!" antwortet fie; „mir benft’S, baß i’S bem Sater fdjott einmal gefagt ßnb’."
(Sr läcßelt Wieber. „Sift immer fo allein ba ßeriititen, Särbele?"
„©’ift feiten, baß ber Sater einmal ßeimfommt", entgegnet fie unbefangen.
„Seit baS SäSle ftarb, feit meinem elften lernt i’S nit attberS!"
„Unb ßaft bid) nimtner fürchtet?"
„SBobor?" fragt fie unb lächelt beinahe ftolj.
,,^>aft reißt!" murmelt ber Sub.
Särbele redt ben einen freien Sinn aus.
„SllS Sinb ßab' i leine gureßt gefannt, unb jeßt bon aißtjeßn — feßau nur,
i Ijab’ Kräfte. Unb nmt — beßüt’ bi ©ott!"
©ie ift brinnen, bie $ßiir bleibt ßalb offen; er geljt Hießt, fottbern leßut ait
ber Sinbe unb Ijört, wie fie im |>aufe fdjafft. @o eilt Icicßter Xritt, ab nnb gu —
nnb ißnt ift, als fielet er fie fogar. Siel Sergleidße mit attberu ®irnctt fatttt er
uid;t madjen, gegett bie SUägbe auf bem |>ofe ift er beinaß ftolj, fie gcßeit ißm
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Bärbclc.
9
auch auS bern SBege. ®ie SDtuttcr ift eine fronte grau, Hott Welcher ber SSoter
fagt: fie ift nur halb in ber (Bett. gum erften mal ift ihm gugenbfrifc^e unb
Slatürlichleit nabegetreten.
gaft eine f(afbe Stunbe ift Hergängen, ba öffnet fidj neben bem Siofenftod baS
genfter unb (Bärbete’S ftopf biegt fich hierauf; fie fieht iljn nicht, ba ruft er:
„3 bin noch ba!"
@S muß fpaßig geltungen haben, beitn fie lacht hell auf; aber für biefeS
Sachen b&tf er gern noch eine größere Dummheit gefagt.
„®u lieb’S #errgöttle, warum benn?"
„®ie SlofcnlnoSpe ba —", ftammett er, fo Hertegen wie ein Schulbub oor
bem ©jaminator, „mein’ (Dlutter ^at bie Stofen fo gern!"
,,'Sa!" fagt baS (Bärbete unb bridht fie ohne (Befimten ab, „fo, nimm fie unb
geh' tyiml 1 '
®aS genfierdjen fdjiebt fich p; er hat bie ®uoSpe in ber berben gauft unb
wenbet fich wirtlich bem SBege p, ben er gelomnten.
SUS er aber außer Sicht ift, ba Hemmt er bie (Blüte jWifdjen bie gähne unb
pfeift fo luftig, wie eS noch niemanb Hon ihm gehört.
II.
(Si, warum fltrb f i net,
2Ba$ tlju' i bo?
Säffig hat ben (BauerSfohn noch uie einer bei ber Slrbeit gefehett; aber heute
ijFS ben ÜDtägbcn, als fchaffe er für brei, unb bie fatf)riu erzählt ber Söabctt mit
großer SBichtigleit im S'uhftaH: „(Sr hat bie Sippen gefpifct unb meiner Seel einen
(BerS gefungen."
@S ift nach bem erften Smbiß, ba fteljt ber alte (Bauer breitfpurig itt ber
®hür; er hat feine herauöforbernbe SJtiene, fein SBeib hat ihn bereits mit S3eforg=
niß angefdhaut, als fie fo Hör ihm hin unb her in ber Stube geljintt ift, Orbnung
p fchaffen. ®aS allein Hermag fie noch unb am |»erb nach bem Siechten ju fehen.
„®a foH mir einer baherlommen!" fagt biefe SJtiene für fie.
dreimal ruft er bem Sohn etwas p, halb tabclnb, hoch ber ffonrab uimmt’S
gut auf heute; bie SJtägbe hantieren noch einmal fo fdjnell, benn bie (Bäuerin hat
ihnen pgeraunt: „£>eut ift er fafrifch."
®aS SdjHaufcerle, ber $unb, brängt fich an ihn, um ihm bie £>anb p leden;
weit ihn biefe aber nicht wieber liebfoft, fo fchleicht er pr Seite.
„®a foH mir einer bahetfommen!"
®cr 2Rej}ter»(Bauer weiß, baß baS gefcheljett wirb, unb barum fleht er fo breit»
fpurig; unb wie fich nun bie fpofpforte ihm gerabe gegenüber öffnet, fliegt ein
grimmes Sächeltt über fein ©efidjt — nun ift’S gut, er hat, Was er will; ber
görfter beS £>errn Hon (Betten lomntt auf ihn p unb legt bie ginger an bie SJlü|jc.
,,©rüß’ ®ott, Slachbat SERe^ter!"
,,@rüß’ ©ott", fagt ber (Bauer, unb baS fonbertiche Sächetn Weicht nicht —
„unb i woDt, baS anbere SBort hätt’ lein ©iiltigteit für mich, benn bie Slachbat»
fchaft macht mir juft leine greub’."
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JO Unfere <3eit.
Ser görfter Siegetin nimmt’iS gutmütig, et leimt bie Ärt beb Sitten unb ift
mit bem jungen gut greunb.
„3a", antwortet er, bab betlenbe Scptauprle abwepenb, „man !anu bie SEBelt
nit umntobetn, Racpar 3ärg, unb ©renjen, bie einmal gcftecft ftnb, mäffen plt
refpctirt Werben."
Ser ©auer ftöfst einen gtucfj aub.
„©renjen, ja, ja! Slber wenn mau mir bamit auf mein’ ©runb unb ©oben
rücft — ba fott ein SSetter breinfcpagen. 3 bulb’b nit — i pb’$ jeigt."
Ser görfter bleibt ganj gelaffen.
„Ratpar SRefcler, weit 3P im Unrecht feib, barutn fomnt’ ic£>. SBab jweie
miteinanber abntacpn fönnen, ba pnein fott man fein’ britten flauen taffen. 3P
gattet an Sutern 3opnniSgütte bie ©rcnje berrücft; bab ©ufcpoerl, Wab fo
Wucherte, ttjat’b, bab pt getäufcp. SBaret ja bann audj ganj einberftanben, bafj
bie $errfc^aft ben 3«“« fätug — unb b’ift nadj 3ott unb Sinie gefcppn —"
„Sdjwäp ein anbermat mcp", ruft ©eorg äReper, „i pb’8 gefepn — unb
i tjab’b getpn unb ben Sowi niebergeriffen."
„Sr ftep ftpn wieber", fagt ber Siegetin, „unb bajj 3P ©ud) gebt unb ipi
tajjt, barum bin idj per!"
„$immel, Herrgott", fdjreit ber ©auer, „i mi geben! Sa fennt 3P ben
5Kcper fd^tec^t. Stamme Oon benen, bie Stituo bajumat ben Sbetteuten citt3
auffpetten, pi, einen luftigen Sanj. 3 wi geben! SBeifj Wotjt, mein 3°P ni, i3*
gittte, ba3 liegt fo redjt ungefcpdt jWifepn ben Säubern ber jpcrrfdjaft, pbeit
audf) grojje Summen barauf geboten — aber i Witt nit. Unb nun wollen fie’st
mir ftppweiS nehmen. Sottcn’S berfucpit!" Unb er fiep babei auf feine
berben gäufte.
Ser Sopt ift um bie Sde gefommen, pt bem ©efpäd) jugeprt unb tritt
jej}t pran.
„Ser §err ©ater ift im Unrecht", fagt er mit feiner rupgen Stimme, „unb
i fetber pb’ bem görfter put bei Sageöanbrudj geptfen, ben 3<>un wieber auf»
rieten, bamit tä nit unter bie ficut’ fomrnt, bafj ber .fterr ©ater etwad getpn
pt, baö nit ree^t ift."
©an} btaurott) wirb ber 3örg im ©efiep, afä ber Sopt fo priemt; et fepoingt
bie Sterte burd) bie Suft unb ftöfjt Oorerft nur jwei SBorte prauö: ,,©ub, fafri»
fepr!" Sann fommt’ö wie ein pifereö ©ebrütt nadj: „Saö pft getpn, getpn
bein’ eigenen ©ater jur Scpttb’? So fott boefj —"
©ietteiep wäre bie .f>aub prniebergefatten, aber ber befonnenc junge ÜRenfd)
war jurüdgetreten.
„Streit nit, ©ater, benft briiber nad) unb werbet rupg. 3P feib ber Ätügfte
im Sorf, feib audj ber ©ereepefte."
„§immet, Herrgott, mein eigen Steifet) unb ©tut tept fid) auf —"
»Sö^g", fagt bie blaffe ©äuerin, Wetcp über bie Siete prangepnft ift,
„3örg —"
„$ier pben SBeiböteut nit einjureben — bitt’ lieber ben Herrgott um ©er»
jeipitg, baß bu beinern ©üben nit mep Sichtung oor feinem ©ater beigebraep pft."
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Särbele.
U
Sie franle grau Ijätt fid), nod) tiefer erbleidjenb, an iljrer Srüde feft; ein
Bittern geht um ihre Sippe« unb niemanb ^ört, mal fie pftert: „SBaS thu i
noch auf ber SBelt?"
2>er görfter tritt audj jurüd.
„’© mirb nicht aßeS fo heifi gegeffeit, als man’S fodjt, 9Jtej}ler=Sauer, unb
mir bleiben greunb." Dann nidt er bem S’mtrab jn unb geljt.
2>er Sauer fcfjaut eine SBeile in bie Suft, bann ^olt er tief Slthem.
„Stimm beine Äjt unb fontm!" ruft er barauf bem ©ohne ju. „3 §ab’ eine
befonbere Slrbeit für bi!"
Der fteht ferjengerabe, als mie bie ©olbateu, oon benen ber Sater ihn loS*
taufen will.
„3 tenn’ bie Strbeit", fagt er leife, „unb ©ott meifj, i mar bem £errn Sater
noch nie ungeljorfam — aber bieö tlju i nit — niemals — unb menn ber Sater
f«h Ungelegensten unb ^Broceffe an ben |>alS Rängen miß, i biet’ bie $anb
nimmer baju!"
„Unb i befehlt!" fc^rett ber Sauer, „noch bin i ber &err auf bem SDtefclerljof!"
„©emif;", entgegnet ber Äonrab, „unb maS ber Sater liier Sfcl)t, ba ift mir
feine Strbeit ju grob. Son beS Selten 3««« tafe' idj aber meine $änb’!"
Gr breljt fid^ ber fficfe ju unb als er jur Seitenthür fommt, minft iljm bie
SRutter :
„SBechfl’ bein’ Saden unb getj' if)m heut aus bem SBeg. ©eh’ ins Dorf, unb
toeifjt bu nimmer mohin, fo geh’ in bie ©chenf’ — fünnfft auch in ber äRüljl’
ein’ ©ruf; auSrid)ten!"
Gr nidt, fie h«t recht — unb tuoljin er gefielt miß, meifj er aud».
3örg SRefcler Ph* nod) eine 3eit lang uubemeglid) auf bemfelben Sied.
„©djau einer", fagt er julefct, „bas tjot bodj feinen Äopf unb einen echten
äRefcler’fdjen." Der größte 3orn fdjeint fcfjon öerraucht, ©chnauherle fommt miebcr
unb erhält fogar einen liebfofenben fflapps. „Slber ber 3««« mufj mir bod^
herunter, ben bulb’ i nimmer, unb maS ber 3örg SDtefcler einmal gefagt f)at, bas
ljat « gefagt."
„Unb menn bu in bie ©djenF mußt", h«t bie SDtutter in iljrer ängfttidjeu
Seforgnifj geftüftert, nur bamit fie Sater unb ©ohn einanber für bie nädjften
©tunben aus bem SBege räumt — unb er ift bodj eigentlich gar fein ©djenfen«
gänger. Gr h«t lächeln müffen — feit geftern Slbcnb meifj er einen SBeg, fo
ijübfch unb furjmeilig ljot ihn noch niemals einer gebünlt.
Gr fdjlüpft in eine faubere Slrbeitsjade unb holt üom $ftod hinterm 0fen
feine befte SRüfce unb er lacht mieber, mie er bie holboertrodnete Stofe baran
fteden fieht. 3« ber Stube hält er fich nicht länger auf; aber als er mieber aus
ber ©eitenthür miß, mo er uitgefeljcn burcfis ßbftgärtle tann, fällt ihm noch etmaS
ein. 3« ber bunfeln Gde auf einem uralten ©chrant oermahrt bie Sabett ihre
Keinen ^»abfeligteiten; ein Spiegel ift baruntcr, minjig Kein, iin ©onntagSftaat
hat er fie fchon babei angetroffen. Sabett ift nimmer jung unb gemifj nie fauber
gemefen, aber in ben Spiegel fchaut fie bodj!
Scrftohlen fafjt er nach ber ©laSfcherbe — unb fie mirft ihm ein frifcheS,
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12
Hnfcre ^eit.
freuubtidjeS ©efidjt, Bon blonben fjaareu umrahmt, unb gut breinf(f»aucnbe blaue
Slugen juriid in bern £>atblidjt.
$ann ift er fdfjnell burdj ben Dbftgarten auf einen Stebenmeg hinaus, unb
bort ladjt er.
„©ift ein Starr, Sonrab."
Slber mar'S benn eine ©ünbe, rnenn man auf bem SBege ift ju feinem ©d)afe,
fidj fein eigen ©efidjjt einmal aitjufdjauen, nur um ju fragen, ob’5 mol ftimmt jtt
bem bon SJtildj unb ©lut unb ben braunen fdjelntifdjen Stugen, bem frifdjett SJtunb?
„Sliij", fagt er taut, „unb bie.8öpf’! Unb mie’S nur auf ben güfjcu gc^n unb
ftet)n lamt, mein einjigS, IjerjigS ©ärbete baS!"
Unb mie er jmifdjen bem ttiaufrifdjen Stafen tjinfdjreitet, über ben golbener
©onnenfdfjein fließt, ba ift’S if)m, als rnerbe iljm bon jcbem frpftoininren X tropfen
iljr ©efidjtdjen borgefpiegett.
„®u Ijerjiger, bu einziger ©dijafe", fagt er mol §manjigr.idl.
SBie gut er bem ©ärbete ift, baS meijj er, unb mie gut eS itpn mieber fein
muß! — ei, bas ift ja fo Kar mie bie fd)öne marme SJtorgcnfonne, bie itjn utnladjt.
„©'ift grab mol baS SJtäble, baS einen Ungefcfiidten jurüdmeift, fobaft er it>m
nimmer in ben SBeg tritt — unb Ijat fie mir nit bie einzige ©lum’ gegeben,
mettn’S aud^ eine Süge mar mit bet ©äuerin —"
3®, ber Äonrab meifj fdjon, mie er baran ift; er ßält fidt) auch plüfotidj für
einen „StuSlcitnenben" einen ganzen ©urjdjen, er, ber fein Sebtag nod) nidfjt
Ijunbert SBorte mit SJtabdjcn gerebet Ifat. ©eine Siebe ntadjt iljn lüljn unb gibt
iljm ©elbftberhrauen.
(Sine berfpätete Serene fd&mingt fieß unmeit bon ifjttt in bie #ölje. „3a, fing’
unb jubitir’ nur!" ruft er itjr ju.
®aS tperrenliauS, beffen meitläufiger ©arf au bie bätertidfjcn Säitbereien floßt,
liegt liitlS borne^nt ftolj ba mit feinen brei Stürmen.
„3tdj", fagt er bor fiel) t;iit, „niemanb lann fo gliicflicß fein in einem ©cfjlofj,
als i’S bin in meinem fjteräen."
„Sitter ©urfdtj", ruft er bem SBeibenbaume ju, beffen 3toeig iljm, mie er über
ben Sadj fpringt, bie SJtüfce ßerabfcßlägt, „mittft mit mir raufen?"
Unb nun nod) um einen ©arten^aun, ber fidj ftofy unb neu glönjenb jtbifdfjeu
ben anbern breit mad)t: S’ift bes reifen SJtüüerS ©efifc, ber aucf) nur ein einzig
ffinb Ijat, ju bem feine SJtutter $att)e ift, unb baS mie fie „Statte" Ijeifjt. ©ie
ift fdjieläugig, faft glcidjalterig mit iljm; er l)at aber nie mit iljr fpielen mollen
als Heiner ©ub.
Stur ein min^iger gted bebauten SanbeS ftößt baran; im gebredjlidjen Baun
fittb Süden; tjier füllen fie aufeinanbergetfiürmte ©teine, ba Xornengefträudj aus.
„(Sin lieberlicljeS ©ejäun", nennen’S bie Stad)baru, iljn bünft'S ein löftlidjer
Staljmen für bie ©eftalt, meteße er baßinter getuafjrt. ©arbcle fniet jmifc^en
ben jungen fßflanjen, fie bom Unlraut ju fäubern — er Ijat'S gemufft, baff er fie
tjier finben muß, fo fießer, mie ©onnemSlttß unb »Untergang ift.
„©dfjau", fagt er über ben Raufen ®oracnl)eden t)in, bie fieß gerabe bor iljm
auftljürmen, „bu bift früh mit bem Xag IjerauSfommen!"
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Bärbcle.
13
Sie Wirft gar nicht überrafdjt, baß ber ©ub, mit meinem fie gestern jum
erften mal gerebet, ba bor iljr fteljt.
„SBarurn meinft baS?"
„SEBeit bu fcljon ein gut ©tüd bor bi bracht Ijofl!"
©ie lac^t. ,,|>ab’ mich nit übereilt, aber bu fidjer, menn bu Jdjon jefct beine
Slrm’ unterfdjtägft!"
©r brürft in biefem Stugenblirfe tuirflic^ feine Sirme fcft gegen feine ©ruft,
weil er gerabe benft, mie lieb es fein muff, baS BHäbet ju nmfaffen.
,,$ab’ noch mehr bor, als i bereits tfjan hob’", fagt er.
„Slber ju fputen fdjeinft bi nit", nedt fie mieber.
„SBeißt’S?" tacf)t er, unb mill fich anlehnen unb rifet firfj bie |iänbe unb ruft:
„Die fafrifdjen Dornen!"
3tjre Söpfe fliegen burdj bie Suft, mie fie firfj jefct aufrichtet.
„SBift allemeit fo empfinblid)?" fragt fie unb geigt iljm nun boH baS liebliche ©efidjt.
„0, bu EDtäbele!" ruft er mit bem SluSbrud tieffter SBärme, unb iljr mirb f)et&
bei feinem Don unb ©lid, fie atljmet beflommeu unb fagt teife: „2Rir mirb fo bang."
„©ärbele, bift bu fauber!" gerabe mie am ©orabenb ftößt er baS IjerouS. SBaS
hätte fie barauf antmorten follen? ©ie geigt mit bem guß nad) einem Raufen Uufrnut.
„§euer gibt’S tneljr auSzurupfen, als machfen mirb!"
„Saß bu nur gut fein", ermibcrt ber blonbe ©urfdj, bie treuherzigen Slugen
nicht bon ihr menbenb.
„Unb fo Hein mein ©ärtle ifi, ju frfjuffen macht’S hoch!" fe{jt fie, fief» mieber
büdenb, h»'P-
„Saß bu nur gut fein!" ©r beult ganz onberS babei, mie er bie SBorte fo
fagt: SEBelch eine ftattlicße ©äuerin fie geben muß, auf bem SNe&lerljof ben äRägben
befeßlenb. ©in ©eräußh läßt fie plöfctidj ben $opf menben.
„Da finb Seut’ bor meijtem $auS!"
Sonrab fj«t nichts gehört — noch eine ©ecunbe laufdjt baS SRäbchen, bann
breht fie fid) ber Df)ür ju, bie bont ©arten birect in ihr flcincS £>auS führt; er
meint, als er ihr nadjfdjout, fie flattert mie eine ©djmalbe. Sangfam geht er
am Sou« lang, nicht miffenb, ob er folgen foö: ba frfjridt etmaS burefj bie Suft,
ein Sßehefdjrei, — ber macht ihm baS ©lut falt, benn er fühlt es in ber ©ruft,
baß er bon ©ärbele’S Sippen lommt.
„0, bu Herrgott — bu mein |>errgott!"
Unb mie er nun herumtritt unb unter bie Sinbe fommt, ba fieljt er fie über
eine Eirage gelehnt, bie frfjönen braunen Söpfe fchleifen auf ber ©rbe hin.
©ier aJtämter unb zwei holbetmadjfene ©üben fteljen babei, unb ber eine
bon ben ältem mit rötlichem ©art unb einem einzigen Singe fagt halb grinfenb:
„3a, bu, baS macht il)n nimmer tebig!"
„0, bu Herrgott, mein armer ©ater!" mirnmert baS ©ärbele unb preßt ißr
©efidjt auf bie |>änbe beS ©erunglüdten unb achtet es nicht, baß Schlamm unb
©lut fie befubelit.
„0h he!" meint ein anberer, „’S mar feine leichte Saft!"
ifonrab Sßtefjter hot ben Stößer, ben fein Dagemerf ftets ans bem Dorfe führte,
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Unfere ^eit.
Vk
nie in ber Sähe gefehen; je^t fcf)aubert'« ihn; eine breite SBunbe ift oberhalb ber
©tim, ©ra« hängt in ben paaren unb bem oertoilberten ©art.
Xa« Särbele rietet enbli<h ba« thränenüberftrömte ©eficht empor.
„SBer t^at’ö — o, mein armer ©ater!“
Xer Sotlje ift ber gewanbtefte Sebner.
„SBer that’l? SBer anber«, al« ber luftige Sofeph ff Iber. |>att’ fein halb Siter
ju oft genoffen, fobaß er fdjwer ftehen tonnt’. Unb furj nor Xübingen, ba ärgert
ihn ba« ©efchrei mit bem «jodele fperr!» gar ju arg unb ba holte er mit ber
Stange au« — fo muß er in« ©leiten fommen unb hinabgeftürjt fein unb h°t
fich am ftloß bie SBunb’ gefdjtagen; unb al« er an unfer £>otj ftieß, ba war’«
bereit« au« unb ju ©nbe. Xroben hoben fie ihn gleich behalten wollen, in Xflbingen
mein’ i —"
„@r gehört feinem einigen SHnb!" fagt ba« Särbele unb brüeft bie erftarrten
£>änbe gegen ihre warme ©mft. „O ©aterle, ©aterle, wer ba« gebacht hätt’ —
unb baß i bir nun nimmer etwa« anber« tljun fann, al« bi in bein’ ©arg betten!"
fitonrab wifcht mit bem Mermel über feine Stiegen, aber fo, baß e« bie Stann«=
leute nicht gewahren. @r bentt an feine Stutter unb baß bie fefct wol ein Weiche«
SBort fänbe, ba« Stäbchen ju tröften.
„Sun bin i eine SBaife", fagt ©ätbele ju bem tobten ©ater, „unb Wenn fie
bi auf ben §riebt)of bringen, ba wollt i, i tönnt mi auch nieberlegen."
Xer Sothe macht einen fdjnaljenben Xon.
„Sterben mflffen wir all’ unb ob im Sett ober auf bem Stoß, ein« ift’« boeß.
Unb Wenn i mal im Saufch ftörb’, fo wie ber luftige Sofepfj ba, fo wollt i’« gar
nit beffer haben."
Xa« Stäbchen fchaubert, al« bie anbern mit einem furjen Sachen einftimmen.
Sonrab fühlt’« mit ihr, bie Sähe ber Stänner thnt ihr Weh; er fucht oerftotjten
in ben Xafchen unb finbet feinen Steurer, um ihnen ju einem Schoppen ju helfen.
Särbele ftreicht bie herabgefallcnen $aare au« ber Stint unb fagt über ben
Xobten hinweg:
„3 mach’ auch meinen Xanf, ihr Seut!’"
Sie fchiitteln bie ®öpfe, ba« ift ein Seich 611 ber Höflichkeit, unb ein Sllter fagt:
„SBir haben fetten Streit initeinanber gehabt; nur Wenn er im Saufch War,
ba war er ein Sechthaberifdjer!"
„0, mein arme« ©aterle!" fliiftert ba« Särbele, al« bitte e« um ©erjeihung,
baß fo in ber Säße be« Xobten gerebet Werbe. Sie beeft ihre Scfjürje über bie
flaffettbe SButtbe unb nun ficht’« au«, al« fei’« ein ©chlafenber, über beffen bleiche«
©eficht bie ©onnenftrahlen gleiten. Xaitn fnict fie nieber unb fpricht auf ihn herab:
„Xaß e« ba« gloßholj h°t thun müffen, auf bem bu all bein Sebtag gar fo
gern hinglitten bift, ba« ift fo graufig!"
Xie Stänner bleiben fielen, al« erwarten fie noch etwa«, wäljrenb bie SBaife
ihre Slnwefenhcit ju oergeffen fcheint. Xa finbet erft ber ffonrab fich fetber Wieber
unb faßt ein $erj.
„©inen Stoppen wollt ihr, Seut’ — i bin ber Stehler ffonrab — ber Dchfew
wirth foll’« euch geben."
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iJärbele.
]5
„So, ’S war nit leicfjt!" lagt ber eine featb entfcfentbigenb, bann gefeen fie tang-
fam, ofene nocfe einen ©tid auf ben tobten Sameraben ju werfen. 3BaS nid^t
metjr „tebig" ift, ift abgetfean.
„©ärbete, !omm ju bir!" bittet ber ffonrab, aber babei bleibt er in ber
gerne ftefeen.
„3 feab’ nun nicfetS mefer auf ber 2Bett!" fiöfent baS SERäbcfeen; ba fommt er
teife unb legt ifer bie §anb auf baS braune Köpfchen.
„©ärbete, Weifet nintmer, bafe i bir gut bin unb bafe i’S eferlidj mein’?"
„0, Äonrab!" fcfetudjjt fie, ofene emporjubtitfen.
„®djau, i Ijab’ mein Sag nit nacfe ben SERäbte geflaut, bu bift bie erft’, bu
follft bie einzig' fein!"
©ie nicft unter frönen unb erfeebt fidj tangfam, unb üor ber ©afere ftefeenb,
Ratten fie einaitber lange an ben tpänben, unb erft all fie eine freifd^enbe SEBeiber»
ftirome aus bet ©title auffdjredt, löfen fie bie ginger wieber auSeinanber.
„0 mein, mein — was für ein Ungtüd!" ruft bie triefäugige ShrauttieSt,
„©ärbete, armer Sropf! Sraufecn auf ber ©affen feab’ i Bon bcm ©tenb gehört."
Sie 2tlte ringt bie ®nocfeenfeänbe; fie ift als $eje im Sorfe öerfcferien unb
bie ßinbet ber SReidjen Weiten ifer auS. ©inb fie aber Iran!, fo feott man fie
jum ©efpreefeen unb focfet Bon iferern Äräutertfece.
„Sa feitft nij mefer", fagt SieSt, „ben feat ber Job feft! 3 a , ber Sob! SRir
benffS, bafe ber Sofcpfe nocfe ein ©übte War, baS an ber £>anb tief, atS idj fdjon
ben ©fering trug. SamatS Waren’S anbere 3eiten! ©in Wot jwanjig Safer älter
— unb feab' ben lob oft gerufen unb immer ift er öorbeigangen."
Sann btinjett fie mit ben fronten 9tugen ben jungen ©auertt an.
„©in feiner ©urfcfe, fee? — SRäbete?" fefet fie bann feätb fragenb feinju.
Äonrab Weife nicfet, Warum ifem unter bcm Soit ber alten SieSt aufs neue fo
feeife Wirb.
„3 flffe’!" fagt er bem ©ärbete — „unb i fomm’ wieber", unb in biefem ein^
facfeeu 3ufafe liegt eine ganje ©erfeeifeung. ©ietleicfet feat fie baS betrübte SDtäbcfeen
ni(fet öerftanben — ifem geigt ficfe’S wie ein ©itb: er wirb fommen unb fie feerein=
feoten auf ben SDiefelerfeof, unb er fiefet ein Säcfeetn anf ber 9Rutter bleicfeem ©efi(fet;
fie feat immer gewaltige ©efenfucfet gefeabt natfe einer Sodfeter, bie ifer um bie
fpanb ging, beffer als eine 9Jtagb.
2fn ben ©ater benft er juft nicfet, man fann aitcfe nicfet alles jugteidfe auSbenfen.
©ärbete feätt eS für ifere ©flicfet, bem ffonrab ein rnfeig ©eficfet ju jeigen, fie
öerfudjt fogar müfefam ein Säcfeetn; aber bie Sippen finb fo wiberfpenftig unb
Juden, ©ie fcfeaut ifem ttacfe, wie er nun gefet, ben ffopf feocfe, ein ftattlicfeer ©urfcfe.
Stcfe, bafe ifen ber ©ater nimmer gefanut feat, wie fcfewer ifer baS aufs £>erj faßt.
„©aterte, arm’S ©aterte!"
Stnbere SRenfcfeen brängen unb taufen feeran, 2trme freitiefe; öon ben SReicfeeu
tümmert fiefe niemanb um ben tobten gtöfeer unb fein ©ärbete. ©efefeäftige £>änbe
tragen bie ©afere ins nicbere |»auS; baS ©ärbete folgt gefenften ,'paupteS, eS
benft, bafe baS ein wunbertiefeer Sag ift — für iferen ©erfpruefe.
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16
Unfcrc «3«t.
UI.
21(3 bei Sonrab auf ben fpof juriiefgefommen ift, berlangt’g ißn, etwag 31 t
tßun, bag feine ganje Sraft braucht; ßarteg Sucßenßol 3 liegt ba, er ßolt Säge
itnb 2 ljt, um eg 311 berlleinern.
SRacß einer Seile tritt ber ©auer an ißn ßeran.
„Dag ßätf noiß Seit gehabt!"
„Saßt mir mein’ Sillen, ©ater!" antwortet er, unb ber nieft lammfromm,
fobaß ber ©oßn orbentlicß erftaunt anffeßauen muß. ©’ift gar nießt berfelbe SRann,
melier bot einigen ©tunben bor ißm ftanb.
Dag SJtittaggmaßl geßt fdßweigfam boriiber; eg ift bem Sonrab wie ein 2(fp
bon ber ©ruft gefallen, baß leine bon ben feßwaßßaften SJtägben um bie Sleuigleit
bon beg glößerg Dobe gewußt ßat. 3ßm wäre wol bie rotße Soße in bag ©efießt
gefeßoffen, wenn man bom ©ärbele gerebet ßätte.
Unb a(3 er bann wieber an bem ©loci fteßt unb bie ^oljftücfen unter feinen
Iräftigen Süjtfeßlägen naeß allen ©eiten fliegen, ba benlt er ficß’g aug, wie er 311
ben 2leltern reben will, Sort um Sort — nidßt gar biele, bag ift feine 2lrt nießt.
2 lm $immel jießt ein Setter auf, eg Wirb feßwül; ber ©eßweiß bri(ßt ißm
bei feiner fauern 2 lrbeit aug, aber er gibt’g ni(ßt bran.
„@o bin i immer gewefen", fprießt er einmal jwiftßen bie 2 ljtfeßläge ßiitcin,
„Wag t gewollt ßab', bag ßab’ i gewollt, bag ift fo eine 2 lber bom ©ater."
©g mag eine ©tunbe bergangen fein, ba finb alle bom äReßter ®ut auf bem
^ofranm; ber ©auer fprießt mit bem ©tßäfer, beffen jwei £ntnbe bag ©cßnaußerlc
feßeu aug ber gerne anfnurrt; Satßrin unb ©abett fäubern Säde; bie grau ift
ju bem §aufirer ßerauggeßinlt; benn fie leibet’g nießt, baß ein 3 ub’, einer bon
benen, bie unfern Herrgott ang firenj gefeßlagen ßabeit, über ißre ©cßwelle tritt
— frößließ feßwingt ber junge ©auer feine 2 lft, eg wirb ißm mit jebem ©eßlage
leicßter auf ber ©ruft.
Die beiben 3Rägbe feßauen ßinüber naeß ben bunten ©änbem, welcße ber
^aufirej: auglramt, fie trauen fieß aber nießt, ungerufen ßeranjufommen; bie grau
feilfcßt, ber 2Ramt feßwört, baß er ißr aUcg fcßenlt; ber ©cßäfer briiben gibt einige
Setterpropßejeiungen lunb, bie ber ©auer oßne 2 lntwort entgegennimmt.
Da flinft einer bie grüne ©forte auf, unb wie fieß ber Dcßfenwirtß jeigt, ift’g
gleicß beränbert; ber ©auer läßt ben ©cßäfer fteßen, um bem 5Racßbar entgegen^
jugeßen, bie grau fommt mit einer Sage ©anb ßeran, um ben 2 Wberftäubigcn
ju 9?atße ju gießen, ob fie nießt ju tßeuer lauft, unb fo gefcßicßt’g, baß fieß alle
am Stoß beg Soitrab treffen.
„©in fcßwüler Dag, bor 2lbenb gewittert’g", fagt ©eter ©tierle.
Sorg ÜReßlet fcßüttclt ben Sopf:
„’© lontmt nimmer 3 U ung!" Unb biegrau fragt: „Sft’g ©eibe? 3ßr berfteßt
©ueß barauf! §ebt’g einmal!"
Säßrenbbeffen ßat ber Sftbe feinen Saften 3 U Satßrin unb ©abett ßerau=
getragen, bamit fie’g leister ßaben, bie fpcrrlicßfeiten 311 befeßauen.
Der Dcßfenwirtß ßat ber ©äucrin Siebe geftanben, unb wie nnn ber Sonrab
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23ärbele.
U
ju einem neuen Stichtage aulholen will, legt et ihm bie fleißige §anb auf
bie ©pultet:
„Sift ja ein Spenbirer Worben, ffonrab, ba brüben jecfjen fie weiblich auf
bein (Sefjetfj — werben halb, wenn bu ihnen lein fpalt thuft, fo im Saufth fein
wie ber ftamerab, ben fie heimgebracht haben."
„0!" ruft ber Äonrab unb lommt nicht weiter, benn baff el fo beginnen foüte,
bat er nicht gebadjt.
Ser Sauer täfjt einen fragenben Saut über bie'Sippen unb bie Stutter wenbet
ihm bal ©eftdjt mit ben traurigen Stugen ju — unb ba benft er an ein Saar
braune, bie ihn fo treuherzig angeblidft.
®r fchtägt bie Sljrt im Stodf feft unb richtet fich auf, unb bei biefer SeWegung
fältt’l bem 3örg jurn erften mal auf, Wie Iräftig ber Sub emporgewachfen ift, unb
bafj er fo ftraff fteht wie eine ©chwarjwalbtanne.
„©’ift Wahr, Wal ber Machbar rebet, i bejaht' bie Sedf", fagt et; „ber gtöfjer
Sofeph ift berungtüdft unb fie haben ihn ben Weiten Weg her bon Tübingen her*
Abergebracht. SerWeil unb belmegen ift’l — unb auch, Sater unb Stutter, Weit
i mi bem Sorbete, bal nun fo gar UerWaift ift, öerfprochen hob’ unb üoit euch
Oertang’, bah i’$ auf ben Sicfcterhof bringen barf, all eure lochtet!"
©ine lange Saufe, in ber er auf bie btinlenbe 9tft hemieberfchaut, benn el
ift ihm boch fchWeter geworben, all er gebacht b at » aber nur barum, weit el
anberl fam, all er borhin aulfimulirt.
©ine bettommene Saufe, ba! fühlt Seter Stierte am beften; benn er ift unbc*
theitigt, unb fo ficht er, wie ba! fonft bleiche ©eficfjt ber Sane eine grünliche
garbe betommt unb wie ber Sorg firfchroth ift unb zweimal ben Stunb öffnet,
ehe er einen Ion herborbringt; bann geht’! Wie Wetterleuchten über fein ©eficht:
„Machbar, hört, Wenn eine! Storgenl ba brlibett bie Slchatm bor meiner $of*
thür lüg’, bal thät mi- nimmer fo wunbern, all — Sub, ttonrab, Sub, fag’l noch
einmal, bafj i’l glauben fann!"
©anj unfehutbig hebt ber bie Slugen.
„Dal Särbete unb i finb ein!, Sater, unb wie ein rechter «Sohn frag’ i um
©uren ©egen."
Sun bricht bie Sonncrftimme herbor au! ber breiten Sruft bei Säuern.
„@in rechter Sub? ©in rechter ©ohn? ©in ©djanbbarer bift, eine ttnehre für
bein’ Samen unb ben gteef, auf welchem bu ftehft! Stein Sub — unb bei glöfjcrl
hergelaufene Dirn’! Sa foH benn boch!"
Unb: „Sun unb nimmer", fehreit bie Säuerin, „tritt’l mir über bie Schwell’,
bie i rein gehalten hob’ mein Sebetang bon Sieben unb bertaufenem ©efinbet; nie
unb nimmer fag' i unb fperr’ mi unb ber wahr’ mi —." Ser Stthem bergeht ihr.
Sun legt auch ber ßchfenwirtj) mit nachbarlicher Serechtigung fein Wort ein:
„Sentt mir 1 ! recht, fo haben Wir atlfammt am geftrigen Stbcnb über bal Stabet
gefpottet, mit bem feiner geht unb bal immer fo allein ift — weit’l bei bertrun*
fenen gtöfjerl 3ofeph gteifch unb Stut ift."
Ueber ben Störper bei Sauerburfchen ift ein Sebcn gegangen: fo gittert auch
eine ©bettanne im Winbfturm, er ift bleich unb auch ih m fommt ber Stthcm fchwer.
Unftre Seit. 1882. I. 2
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18
Utifere <3eit.
„ßerr Sater unb grau SKutter unb 3h r , $err Satbar — Wa« ift’S, ba«
man bem SBärbete üorroirft?"
„$)em gtöger=Särbele!" rufen ber SSefcler unb fein ©eib ju gleicher 3^it,
unb ber ©irth antwortet: „3 mein’, i fjab'S beutlit gejagt, bag e« be« üertrunfenen
unb nun efenbigtic^ üerfoinmenen glöger« 3ofeph fein fiinb ift!"
„Unb", ruft nun bie Säuerin, „bag e« fein SWutter nimmer !ennt hat, bag
fie non ifjnt fort ift, efj sS rett allein laufen tonnt, mit einem Stäbtiften, fo einem
SJtaler, unb fort in bie ©eit, fo weit, bag man nimmer üon iljr Wieber gehört
hat; unb toirb natürlich üerborben unb gegorben fein ba Ijerunten in ber ©eit!"
3n be« Sonrab ©egtt ift ba« Slut jurüdgefeljrt; fo fanft wie ein ifJrebiger,
ber feine jpörer beftwört, fngt er:
„$>ag ber Sater im ©ram unb ©lenb ein Xruntenbolb worben unb bag bie
SDtutter ein eljrüergeffene« ©eib war — ba« ift ade«, wa« jhr oott bem SDläbele wigt?"
,,3ft‘« nimmer genug?" fragt Ijöfinifcf) ber Sauer, unb bie STiutter ruft geDenb
bajwiften: ,,$ein' Srautwa^l t)ab’ i et» beforgt — bie Staue nimmft, üon ber i
bie ®obe bin; I;ab'« längft mit ber StüHerin abgerebet, unb ber 3Kefcler=Sauer
unb ber SKüller haben aut nij bawiber, bag ihr ein Saar werbet; ba fommt
©eib ju ®ut unb ®hr’ J u ®h r ’-"
90?it einem traurigen Slicf ftreift ber Sohn bie gebrechliche ©eftalt ber SRutter;
er fcnnt fie faum wieber in ihrer $>ärte, bann richtet er fich empor unb fagt
gclaffen:
„Stein, Sater, e« ift ba« nimmer genug, bag i mein ©ort brechen tu’. ©a«
fann ber arme Sropf für feine Wettern? Unb barunt bleib’ i bei mein’ ©iHen!"
Sr fagt nach ber Wjt, jugteich aber greift auch bie £ianb be« Sauent banach
unb ber fchlcubert fie Weit in ben jjofraum hinau«, fobag ge fchadenb auf bie
Sgaftcrfteine nieberfchlägt.
,,Süf)r’ nij mehr an — nimm eh’ bein ©ort jurfid ober bu Ijaft nimmer eine
Slrbeit ju üerrichtcn hi« auf meinem ©runb unb Soben."
„Sater, bebenft Such!"
„3örg SJiefcler", fällt ber OtfenWirth ein, ber ein ©utmilthiger ift.
3)cr Säuerin Wntlifc ift Wuthüerjerrt.
„Oh®, °ho!" fchreit fie fcfjriU, „geben ffinber gab’ i in« ©rab gelegt unb ber
Herrgott weig, wie heige 2hränen i geweint hab’ babei; aber eh i Wollt’, bag eine
hergelaufene 2)irn’ mir ba hereinträt’, eh möcht’ i, auch ber ungeratene Sub, ber
fcganbbare, läg’ neben ben anbcrn. 3 fl , ba« Wollt’ i eh, ber Herrgott hört’«!"
„SJtutter, tag Sie ben Herrgott ba herau«", fagt ber Sohn traurig.
„$u Srut bu!" ruft ber Sauer, „bu ungeratener! ©iüft mein’ Spruch Wigen?
®h’ bie Wtatm üon ba herüben nit hierher fpajiert, eh’ ritt’ i bir bie £otaeit
mit be« glöger« Särbete nit au«. Sun weißt’«! Sun rühr’ bi auf bie £>otjeit
unb beftetl’ bie Spielleut' jeitig unb ben |>otäeit«bitter."
„Sater, Sater — o mein’ 9J?utter!" lommt e« not einmal au« ber tiefüer*
wunbeten Sruft be« Suben; bann redt er feineu Wrm Wie jum Sttaur empor.
„3 tag nimmer üon ber $>irn’ — i !ann’« nit!" ftöhnt er, „wollt ihr (ein
Sinfeljen haben? ©odt ihr, bag i üom älterliten §erb geh, euer Sinjiger!"
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53ärf>ele.
w
„Seffer", fagt bic Säuerin, „als eine Srut aufjieben, an ber fid; ein ef(rftd£»er
Gferiftenmenfcb frönten mufe."
,,©ie 9lane f)at recht“, fefct 3örg ÜJiefcler ^inp.
„So »erjeib’S euch ©ott“, ruft ber Sohn, uttb bann Wenbet er ficb ruhig an
ben Suter. „9Jie$ter Jförg, i l;ab’ eud) gebient wie ein ®necbt, Slrbeit finb’ id)
überall. SJlein’ jWei gefunben 9trmc Wirb mir ber Herrgott taffen — gehabt
euch tuof)l."
„ÜRagft meinetwegen unter bie Solbateit gefeit, »cm benen i bi bub’ befreien
wollen — ba Wirft lernen, wie man gcljorfamt", rief ifjm ber Sater na cf).
„Sfann fein!“ gibt ber Sohn juriief unb gefjt ins §auS.
©ie Säuerin bat buS Sunb faft jerfnittert.
„@r Wirb ficb fc^on geben", meint fie je^t.
fJJeter Stierle murmelt etwas UnüerftänblidjeS; ber Sauer richtet ben ®opf
bodj: „ 6 r ^at einen SDie^ler’fc^cn Sinn!"
©ie ©irnen, ber .fpcinbfcr unb ber Schäfer buben mit furebtfamem Staunen
jugebört; nur einzelne SBorte freilich turnen 31 t ibneit, aber fie faben Sater unb
Sohn im Born auScinanbergel;en. 9hm wirb’S ben »offen Jag fein gut SBetter
berauben unb berinneit.
„SBeun er nimmer wicberfommt!" fagt ber ijSeter.
©er Sauer jueft bie 9lcbfeln. ,,©cn 9Reblerf;of »erfebfeubert einer nit um
einer ©irne willen! 333irb febon furj ober fang ficb befiniten.“
„Scbuu!“ ©ie Säuerin ftöfet ibit au unb beutet nach bem £>auS; eben tritt
ber fi'onrab heraus, ein Süubel am Stod.
„Scbau!"
„9ta ja — wirb bei ben $errfcbaftlicben unterfrieeben unb »ieffeiebt ben Bonn
aufriebten, ben i in ber grub nicbergeriffen bub’. $afe er jefjt nit nuebgibt, freut
mi — S’ift mein Sinn!“
„Soll i ibn anrufen?“ fragt ber Cd;fentuirtf;.
„9iit um alles!“ antworten Sauer unb Säuerin, unb noch nie finb fie fo eines
Sinnes gewefen wäbrenb ber breifeig ©b e i a b re ufS jur Stunbc.
9luf bent 9iebenpfabc burcbS Dbftgärtle, wo er am 9Rorgen fo frobgemutf; ge^
gangen, Wanbert ber äRebter»SaucrSfol;n gefenften £aupteS jejjt babiu; nicmanb
fiebt tbnt nach a(S bie SRägbe, unb eben tritt bie grau an fie heran: „SSBaS gafft
ihr, ftatt ju febaffen?“
©er SBinb nimmt ficb uuf, ber URe^ler mufe bem SSirtb bod; redjt geben, baS
Unwetter fommt herüber.
„3 Will nur bie genfter jeitig fehlten", fagt SfSeter Stierte, frofj um ben
Sorwanb. Unb als er bie Straffe überfdjritten but unb bie glöfecr brinnen beim
SSBein eingefcblafen fiebt, nimmt er fiefe »or, bie Bcdj’ nicht »om flonrab jn for-
bern. ©r wedt bie Seute unb ohne »ief Sieben mad;en fie ficb uuf ben £>eimwcg.
„3 bub' fein SEBeib mehr unb nie ein ST'inb gehabt, unb Weife nit wie’S tfeut,
wenn eins ungefeorfamt", fagt ber Bieter »or fid) (;iu, „aber fo foCf man am 6 nb’
nit »oneinanber gehn! gnbefe — ift butt nit mein Sad;'“, unb er fteigt jitm
Steiler binub, um fid; eigenfecinbig feinen ScSpcrtrunf ju holen.
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Unfere ^it.
20
IV.
©« Ijat ju hämmern begonnen, ba fommt bec ßonrab and bem Dbor be«
Sd)toßtwfe«; erft ift fein Stritt rafcf», bann bleibt er ptöbtid) ftetjen unb fdjaut
jurficf. Die brei grauen Dtjürmc fetjen in bem £mt6fidjt ttiet großartiger au«
at« im Sonnenfcbein, ba« au«gebe^nte SDtanerwerf »iet maffiger. 6r muß benlen,
baß ba« t>or ein paar Ijunbert Sauren anftürmenben fjeinben toiberftanben f>at,
wie'« ttjm fein ffreunb, ber §örfter, erjä^lt, unb wie e« fi(b nun feine Stunb’
galten möcf)t’, wenn Welcfie oon beute anrütften. SBarunt er foteßen SßergleicE) jiebt,
Weiß er nid(jt; er ^at, feit er bom äftertießen §au« gegangen ift, fo mandjc«
benfen muffen unb boifj feine fftar^eit bincingefunben. fflüger ift er in bet Spanne
3eit ni<f)t geworben, aber entfötoffener, ba« füljlt er.
Der görfter ift aud) ein 2Bunberli<ber. 3« ber Sadj’ mit bem ©ärbete Ijat
er ben ffopf gefc^üttett unb mit ben Stugen gebfin^elt, unb eine SBeite gar nidjt«
gefprodjen unb cnblicf»: „Sttiäbete finb SJtäbete unb t geb’ um fein« einen ©aficn,
mit ber ©efdjicßt’ ^at’« nit bief auf fid|. Stber bem |artföpfigcn Sitten jeigen,
baß man autb fein’ SUlann ftebt unb fein’ SBitten bat unb feine 9Bcg’ weiß, ba«
ftctjt beffer an. Unterbrüdung muß niemanb butben. ffönnft ja Wot bei ber
riiftigen Statur be« SERe^Ier 3örg noch bi« ju Sündigen af« ge^orfamer ®nccf)t ba
auf bem $of ^erumarbeiten —“
„Die 9tane, bie fcfjietäugige, ^ab’ i nehmen fott’n", bat fiönrab eingeworfen.
„Stttäbet ift SJtäbet", ift Wieber bie Antwort gewefen, „unb Schönheit? 3öef)t
nur einmal fo’n SBinb her — au« ift’« mit ber ganzen ©’fcßidjt. 0b eine gerab
au«fdjaut ober um« ©dt, wertf) ift feine ben Schuß ©utoer, ben idj ba auf ber
©fatm’ \)<xV\“
„’S ©ärbete bodj" —, aber er Ijat’« nicht laut fagen mögen, i^m ift babei
auf ber ©ruft ganj Warm geworben.
„Sttfo bleib’ Ijier, ffonrab, gerab E»iet bei un«; ju fd^affen ift genug unb ber»
weil gebt ber äRefefer mit fict) ju Statt)."
„Der nimmt audj nimmer jurücf, wa« er einmal gefprot^eit bat — bie StdEjatm
fommt nit ju un« heran unb i Witt ba« ©ärbete."
Der görfter Ijat iljn mitteibig angefefjaut, etwa wie einen, an bem man fieljt,
baß er ferner franf ift, unb er ift ^inauSgegangen. Oft fdjon ift ffonrab im
Schloß gewefen; ^eut erft bat er’« genau betradjtet unb ftcb gebaut, wie gut’«
bie $errifcben haben.
8lm fetten Dag t;at er nicht burcij« Dorf gewollt, benn ba weiß fidler ein
jeber fdjon, baß e« einen Streit gegeben auf bem SJ?e|terf|of; fo Ijat er bi« jejjt
gewartet, ©an$ friebtiefj ftoßen ba« SdEjtoßgut unb ba« ©auertanb aneinanber:
unb bodj ift auch barum Streit, fein ©ater Witt’« ni<fjt anber«. Unb nun benft
er an bie SJiutter. 3um erften mal bat er fie heftig gefetjen, bie fonft immer
fdjweigfam ober mit Dfjränen in ben Slugen burdj« £au« gegangen — bö« auf
ben einzigen Sohn — bö« um fein tieb’S, b er jige« ©örbete, bie SBaife, bie in
tiefer ©efümnterniß batjeim fifct.
„Unb Wot fdjon wartet, baß i fomnt’", fagt er taut, unb bat ©ater unb SUiutter
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Bärbcle.
2[
oergeßen unb wirft ben ßopf jurüd unb fprid^t in bie weiche Äbcnbtuft hinein:
„3 tomnf fd)on, SRäbele bu!"
ftaftig feßreitet er ^itt; fein Sdjritt bröhnt; juweilen tläfft ein £mnb an, bie
Seute finb in ben $äufern beim Slbenbtifcfj. Sr hat’« nie gern gehabt, baß ißm
wer nachßhaut; unter bem Sefüljl iff« ihm allemal jum Sewußtfein geworben,
baß er lintifdlj fei. Äuf einmal benft er: „SBettit fo ein Sä«le e« bem 9Räbel
fc^on jugetragen fjätt’, baß ber SJlefcler unb fein’ grau nicht« mit tßr ju fdfjaßen
haben wollen, unb fie pfct nun in boppeltem Seib?"
Unb Wie Ängft legt’« fidj Aber ißn unb er fdfjreitet noch einmal fo rafdjj au«,
bi« er bei bem $au« ift mit ber Sinbe. Sin fdfjwadjet Sichtftraljl bringt au«
bem niebern genfter.
„$abei ßfcf«! 8töj, unb bu mein Herrgott, weinen tljuf« auch babei."
Sr lehnt ßch einen Slugenblid an bie Sinbe.
„3a, bie ©anl muß her! SDa muß e« fidj gar ju fdjön ftfeen mit ntein’m
Sdjafc." Ürofc all ber Sorge unb unruhigen Srwartung fjat er ba« benfen unb
fagen mfiffen.
®ann podjt er leife an bie Xljfir; fo fadjt es war, eS tommt bodj ein leister
Stritt unb fie öffnet fidj, unb eine weicfjc Stimme fragt: „®u biff«? 3 fiab’S
hoch benft!"
„Äomm Ijerauö, ©ärbele", bittet er; er Ijat fd^on wieber eine gureßt, bie, ba
innen bei bem lobten all ba« ju fagen, toa« gefprodfjeu werben muß.
„$ie 8ie«l ift ba", antwortet ba« 9Räbdjen, „fie ift hoch E»alt eine gutljer$ige
Seel' unb Wollt’ mi in ber Radjt nit allein laßen."
®er ©urfdj faßt nach ©ärbele’« $anb unb jie^t fie herüber nach ber Sinbe
mit fünfter Sewatt.
,4?aft gewußt, baß i täm’, SRäbele?"
„3 warf fdjon feit bem Se«per, Ijaft lang brauet", fagt fte in ihrer trofcigett
9lrt, bie iljm geftern fo gut gefallen. „£>aft nimmer benft, baß mi’« oerlangt
oon bem Sauer unb ber Säueritt ju ßören? ’S Sie«l iß eine Äunbige unb ijat
mir Hngft gemalt — gib 3tdjt, fagf«, reiche Seut fperren fieft leidjt gegen arme
Zimbeln unb Streit unb Seib ift berwegen fdhott in bie SBelt fommen. Unb
enblidj ßab’ i iljm wehren mäßen, fo graußge Sefchicljten ßaf« gewußt. 2)a Ijab’
i’« ©efangbucfj geholt unb gar tröftlidße Serfe gelefen, unb nun bift bu ba!"
Sin Seufoer tommt au« be« ©urfetjen breiter ©ruß.
„O ©ärbete, mein ßerjig’« ©ärbele!"
Sr will ße an ßdj jieljen unb ße weljrt ißm.
„9Rußt nit oergeßen, wer baßerinnett liegt unb p<h nimmer mit un« freuen
tarnt!"
Unb ba« ergreift ifjtt, unb er Wagt nidjt einmal meljr, ißre $anb ju galten.
Sin« iß ihm arg, baß er fo wenig oon ißt fieljt, laum ben Umriß ber fdjtanten
Seftati, bie frönen ßöpfe nidfjt, oon benett e« iljm in ber Stacht geträumt Ijat,
ba« ©ärbele hätte fein $er$ baran gebunben unb ba« tanje immer auf unb nieber,
auf unb nieber, juft wie’« ben fiopf brelj’ unb wenbe auf bem beweglichen $al«.
Unb hätte er ßch nicht oor ihr gefchämt, fo wollte er wol feinen SRod h^ab-
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22 llnfcrc ^eil.
tljun, bamit ihre güfee nicht auf bem fernsten ©oben ftänben, benn ed fj«tte arg
gewittert am Diadjmittag.
„So frieblid) liegt er", fährt bad DJiäbchen fort, „fo gar fdjön, ald wenn’d
iljnt jum erften mal fo recht uott #erjen wohl fein t|ät'. Unb man furcht’ fidj|
nit einmal oor bet ©ifedfält’. ©idljer tjatt’ i noch nie ein' Seid}’ gcfejjen — nun
benf i, bad Sterben fann fo graufig unb ferner nit fein."
„O, ©ärbele, wenn bu barübcr rebtft, bad am Anfang üom Seben ift!"
ruft er.
„Unfer Herrgott feht bie 3icle oft früh", erwibert'd ©ärbele mit alttlugem Ion.
„DBir wollen leben!" ruft bcr Surfet), wad er aber tjinpfe^en möd)t’, bleibt
iljm in ber S'eljle.
„Diun", fragt ©ärbele, „wad lommt bir für ein Schlurfen an, i mein’, bu fjaft
mehr reben wollen!"
SSSie fie iljn fcf)on lennt.
„Dein Schah ift ein Sinfifdjer", gab er jur Antwort, „mufet @ebulb Ijaben —“
„lad mufi man mit aUen DJianndteut’, bad prt man nit genug aud bem
SDlunb non erfahrenen grauen", ruft bad DJiäbcfjen wieber, bann ift’d aber, ald
reue ed ber heitere Ion, unb geprefet fe|jt ed hiuju: „Bft’d feine Siinb’ fo ju
fdjwähen ?"
„Dlrmer Iropf!" fällt’d non bcd ©urftheu Sippen, „wie follt’d eine Süitb’
fein!" Unb babei futht unb fudjt er in feinen ©ebanfen, wie er’d aufängt, bem
DJiäbele bad #arte ju fagen in einer milben SBeife. ©r fennt fich barauf nicht
aud; bie ginger brüdt er fich faft lahm, aber ed will nicht helfen.
„DJiorgen", beginnt ©ärbele wieber, „ba tragen fie ihn mir hinaud, unb bann
bin i ganj allein." 3h re Stimme jittert, aber fie will bad Schtudjjen nicht .§err
werben taffen; mit gewaltfamer Dtnftrengung fefct fie Ijiuju: „©ieöeicht briugft mi
beiner DJiutter, Sonrab, ba weife i auf einmal, Wohin!"
Diun ift’d ba — nun mufe ed heraud!
„©ärbele", fagt er geprefet, „i wollt’, anbre hätten’d bir boch audgerichtet.
Sonft lauft begleichen auf allen Bungen Weiter — aber gräm’ bi nimmer, i lafe
nit oon bir!"
„£err, bu mein Herrgott!" ruft bad ajtäbdjen mit einem Bammerlaut, unb
ed ift, ald Wollen bie ®nie unter ihr brechen; Sonrab ftüfet fie nicht, fie mufe fich
felber Wieber aufhelfen, unb bann fefet fie bumpf hinju: „£>at’d Siedl Wahr gerebt?"
„S’ift fchon öorüber!" antwortet bcr ©urfdj mit trofeigem Ion; „ber SRefeter
Borg hot nimmer einen Sohn unb bie Diane bom £>of mufe ber SRütlerdtochter
einen anbern Schah fudjen. SBenn bir'd Sachen jefet anftiinb’, ©ärbele, ba WoDt’d
mal luftig Hingen, ÜDlüHer’d Diane unb ber Sionrab!"
Sie War eine ganje Sßeite ftiß, enblich fam’d tangfam hetoud:
„Streit unb Seib, &onrab? §aft’d bebadjt?"
/»3tug’ nit, DJiäbele, i fyab’ä gefagt — auf bem DJiehlerfjof ift nimmer ein Sohn,
aber bu h<ift bein’ Schah."
„2Bad fann alled an einem lag über einen DJicnjrfjcn hctciubrechen", ruft bad
©ärbele, unb bann wirb bie frifdje Stimme fefter.
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23
Bärbelc.
„(Sie haben mi nit gewollt — unb i will wiffen, warum nit!"
®er Äonrab fudjt in feinem £>irn nach einem Sluöweg, aber er ift ungefd)icft
in ber Serftellungöfunft, unb nach einigem Stottern, ba bringt er tjeruor:
„Sie fagen, ber Stöger — bu weigt fd)on, ift nimmer ein tägiger gewefen,
unb — unb" — tS ift, alö ob ihm jemanb bie $eljle juljatte.
„ßonrab", ruft baö SJtäbchen fierrifc^, „wittft mit ber SBatjrljeit pactiren? 3
bertang’3!"
@r fnc^t nach ihrer |>anb unb finbet fie nid)t, unb ftögt fich babei berb an
ben Sinbenftamm.
„SBenn bir’ö weh ttjut, Särbele, bu Ijaft’S gewollt!" ftammelt er. „Sie fagen,
bein’ SDhitter fei auf unb baöon, als bu nod) ftein warft, unb fei nimmer wieber
tommen. Sßenn’S nit gewugt tjaft —“
„0, bu mein Herrgott!"
@r prt, bag fie nun wirflidj ju ©oben geglitten ift, t>ört ein heftiges
Sdfjludjjen, ein halb erftidteö 9teben unb fdjtägt fetber bie $änbe öor bie Slugen,
unb als er fie finfen lägt, fühlt er, bag fie feucht finb.
„Särbele, tieb’ö Särbele", bittet er, ,,ftet)’ auf! S)u weigt ja, ich tag bi
nimmer, i fyab’S bei unferm Herrgott gefdjworeit!"
Sie riiljrt fid) nicht.
„Särbele, fei gut, überwinb’ei. 3 hab’ oudj gemeint, mein $etj fotlt' brechen,
all i üou baljeim ging, unb bann Ijab’ i an bi benft — unb ba War aüeö gut."
Sie Ijat fid» ptöjjlich rafdj emporgerichtet unb er fühlt iljre £>anb auf feiner
Schulter unb ganj oeränbert ift ber 2ott, in bem fie fagt:
„®onrab, i glaub’ bir’3!"
SBie er fie borljut oon ber Scgwetle ^erabgejogen tjat, fo jie^t fie it»it jefct
empor, ©r tappt ein Wenig in bem ®unfet beö fdjmalen ©ausflured, ben er
nodh nie betreten. 9tict)t eine Sohle glimmt üom Jperb herüber, aber fegt öffnet
fic£) eine Ifpir unb lägt einen fdjmalen Sidjtflreifen fchräg ^erüberfaUcn.
„Somm baljet, Sieöt!" fagt Sorbete gebämpft, alö wolle fie einen Sdjlafeuben
nid»t ftöreu, „tritt Ijier einmal neben mi, ba fteljt ber Sonrab — unb nun gib
SReb’ unb Antwort: waö ift’3 mit mein’ SÖtutterle?"
®ag fie’ö nocfj in bem lieben Sinbertoit fagen fann, baö fdjneibet bem ftram=
men Surfdj wie mit einem SDieffer inö $erj.
„Särbete, SDiäbele!" bringt ba$ Sieöt, ba3 fonft fo fdjnabelfdjnetl ift, nur
eben tyvauS.
„$er innen hört’3 nimmer", flüftert’S öärbele, „unb i Weig nun aud) fdjoit
g’nug, weig, bag tS wahr ift unb bag eS eine Schaub’ über mi gelängt hat, fo
lang i benfen lann. Stit 2lrmuth unb nit Irunfnig allein Ijaben’3 Count! Unb
nun weig i audj, Warum ber Sater Iroft bei bem SSJcin gefugt hat: ber ift fein
Sorgenbrecher gewefen unb f)<d ifjit üergeffeu taffen, waö ba gerinnen brüeft unb
gefegmerjt
$)ie ßieöl fcf»üttelt ben Sopf.
„SReb’ft gerab als Wie ein Pfarrer, Stöbet, unb unfereinö fann nur fageti,
haft alleweil recht."
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Unfere gcit.
2^
„.frort ift'S", nidFS ©ärbele, „arg hart; fte muß mi fo gar nit gemocht haben,
bie üJtutter —." ®S ift, als ob’s nod) was jurüdbröngt, bann nidt'S noch einmal:
„Unb eigentlich lann man bem 9Jtef}ler unb fein’m SBeib nimmer jürnen, wenn fte
ein Slnßanb höben!"
,,9teb’ nimmer ein SBort ba beruon", ruft Sonrab, „bift mein unb wirft mein,
fo gewiß bie Ächalm nimmer tion ihrer Stell’ rüden tßut unb fo gewiß i bet
Sonrab Sftejjter bin unb bu bem gtößer 3 ofeph feine SBaife, unb unbeßholten
oor unferm frerrgott, Wie nur eins!"
„0", fdiluchjt baS SDtäbchen auf, „baS oergelf bir ©ott im Fimmel!"
®ann führt baS ©ärbele ben ©urfcßcn herein unb jießt oon ber Ceidj’ bas
weiße %n<5). ©ar ft^ön ßat’S ben lobten gebettet; CieSl meint, wie’S noch nim«
mer erhört Worben ift. ©in Caubfranj oerhüllt bie Sßunbe; weiß fdjaut baS
©eficht mit ben gefdjtoßenen Äugen empor unb bie ftarren fränbe ßnb fromm um
einen Strauß ©elbbeigelcin gefaltet. $em Sonrab iffs, als budt ißn etwas bar»
nieber; eS ift ihm fo feierlich ju ÜRuth als bamalS, Wo er junt erfteu mal jum
Äbenbmaljl gegangen iß.
„Sßäterle", fagfs ©ärbele, „bu h a ft fiel Summer unb Ceib gehabt in beinern
Ceben, unb nun bift broben in lauter Cuft unb frerrlidileit. Unb hi« neben mir
ftcht einer, ber iß bon ©ater unb SDtutter gangen unb boit frauS unb frof, bciiteS
©ärbcle’S halber! Unb barum follft broben hören, baß i ißn auch nimmer ber»
laßen tlju, unb ißm heintgeben will, was er mir than."
Sie bedt leis baS £uch wieber über baS ftitle ©eßdht; Sonrab hat noch immer
bie fränbe gefaltet, er will auch rebeit unb fann’S bodj nicht.
„Somm", fagt’S ©ärbele, unb er folgt ihr an ben Sifdj, wo bie SieSl fdjon
Wieber fifct unb ben SWcßt ber Campe ein wenig höher h e &t ntit ihrer franrnabel.
„SBarum er ßdj Wot hier herunten nit mit uns hat freuen bürfen?" fragt
baS aJJäbdjen. „5)a ßnb fo biele im $orf, bie nach bem lob freien unb ben
Ceuten jur Caft ßnb!"
®ie CieSl hebt bie magern ginger.
„galt bem Herrgott nit in ben 9 Beg mit beineu gragen, ©ärbele."
Slber baS fchüttelt noch einmal ben braunen Sopf.
„Unb fo biete böfe SWenfdjen, äJtörber unb ®iebe, bie leben, ben Ceuten jur
Scfjanb’ unb ißlag’, unb er h°t nie einem Weh gethan all fein Cebtag nit unb
ben lebten Steujer hat er mit einem Äermetn getheilt, CieSl, bu weißt auch baöon."
®ie nidt leife.
„®iebe unb SJtörber", wieberholt baS SDtäbchen, „fifjen in ben feften Käufern
unb liegen beßer in ber @rb’ —"
„9iun ift’S genug", fagt bie Älte h«rifch, „beitF hoch nur, baß unfer Herrgott
auch 0 ute SRenfdjen ba oben braucht — bie fröH' füllt fi<h ohnehin fdhon."
„Sie hat recht", ßüftert Sonrab unb Wirft einen fcheuen ©lid hinüber nach
ber Cagerftätte in ber ©de. gfir ihn erglänzt eine Slureole um baS fraupt beS
lobten.
$)aS ©ärbele fcßaut er nicht an, um fidj nicht in ber IjeiFgen ©tunbe an ihr
ju freuen; bie SrautlieSt hat bie magern ginget gefaltet, ihr ift’S leine Ärbeit,
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Bärbclc.
25
ju toac^en, ber ©dglaf fließt fie oguegin. Sorbete gat beit ©ttibogeit auf bie
lifcgfante geftü^t unb fiegt in bie trübe gtainme.
®a fijjen benn bie brei nebeneinanber, wortlos unb fcglaftoS, bie ganje Stacht.
2)aS ifit beS glögerS Qofepg ©grentobtenwacge.
V.
„Unb ift mit ber Seiet»’ gangen, juft Wie ein Sngegötiger, unb gat neben bent
Sorbete an ber ©rub’ geftanben unb gat’S tröften gewollt, naegger —"
„«Schweig!" ruft bie Säuerin, naegbem fte eben nodg ber $atgrin mit großer
Stufmertfamfeit jugegört gat, „fegwäg’ nit fo biel unb arbeit’ megr!" unb bann
ginft fte baOon unb flögt igre ®rüde fefter auf ats fonft.
®aS Stäbe! fdjaut igr naeg unb fd^üttett ben &'opf mit bem gladgsgaar, unb
reigt bie Wafferbtauen Stugen fo weit auf, als es oermag.
„SBenn bie nit wie auSgewecgfett ift, fo weig i’S nimmer. |>at fonft einer ein
toüfteS SBort bon ber grau gehört? Unb nun faferirfs ben botten lag! Unb
Wenn’S bie nij angegn tgut, bag ber ffonrab fidg fo gemein madjt mit einer ®irn’,
bie feiner anfdjaut, mi gegt’S fd^on lang nij an. ®emt i fpann’ nit auf -ign!
Sin freifid^ immer noeg bejfer ats beS glögerS Sorbete — beWagr*, mit bem
gelt’ t mi nit in eine Seig' unb berwegen —"
®ie Äatgrin fdjaut auf bem $of urnger unb benft fidg nur ben ©dglug; ber=
weit ift bie Säuerin ju bem Sauer getreten, ber unter bem ®irfdgbaum ftegt, auf
bem bie gruegt batb reifen Witt, unb fagt genau bie SBorte ber SKagb:
„Unb ift mit ber Seidg’ gangen, juft Wie ein Stngegöriger, unb fiat neben bem
Särbete an ber ©rub’ geftanben unb gat’S tröften gewollt, nadgger —"
,,@<gweig’!" ruft ber Sauer igr jtt, wie fie borgin ber Äatgrin, aber feit bet
©tunbe, Wo ge fo ein« im Sinn mit bem 3örg gewefen, ip igr ber Stutg ge=
• madgfen, unb ge gört barum aueg jegt nidgt auf fein ©ebot, fonbern fegt ginju:
„SBenn’S nit eine ©eganb' ift bor bem ganjen ®orf, bag bet Siegtet Sonrab fo
Was pejirt, Was ift’S benn?"
„3a, eine ©eganb' ift’S!" antwortet ber Sauer unb fpudt §ur Sefräftiguitg
bor feine güge.
„Unb Wer fann’S borget fagen, was natgger braus Wirb", ruft bie Saite,
„Weigt bu’S etwa?"
Sun fommt ein Satgen über ben SSann, baS fegüttett ign orbenttieg.
„Satürlidg weig i’S! SBaS fann benn ba fein? §ab’ ein paar SBocgen ©ebutb,
wenn bu Wittg, aueg ein paar SKonat! Unb fag’ mir borerg eins: gaft ben Sonrab
figon bermigt?"
„Sein", antwortet bie grau joritig, „nimmer! Sit um bie SBett, fo’n trogigcit
Sub!"
„@’ift Stegler’fcger ©inn", meint ber Sauer mit bemfetben SBogtgefatten wie
geftern. „Sie lang wirb’S bauern, ba fommt et geim unb bu magft'S Aufgebot
anfagen mit beS SlüDerS Sane. ®ie Wirb fein ©efegrei madgen, Wenn ber $irn’
Was auSjujagten ig; mir benft’S nodg, bag bu audg bor breigig 3 fl g ren feinä
' gemaegt gag. 3ugenb will auStoben."
.Sr
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26
Untere ^eit.
„®o, meinft, er wirb fein ©iitn beugen?" fragt bie Säuerin nach einer tßaufe.
„SBeibSleut’ Wollen alles juft jweimal hören", brauft et auf. „Schon jeht
fommen bie ©pahen ba nach ben Äirfchen!"
Tie Säuerin unterbricht ihren ©ebanfengang nicht; nach einer SBeile fragt fie,
Wie borhin beS Äontab’S Sater: „Sermißt ben Suben arg?"
„Dlit um bie SBelt", fagt er, toie fie eS juDor gethan.
Tann fommt einer auf bem $of baher, ben bet Sauer fennt, als bie rechte
$aub Dom ©<fjultheiß, fo eine 2trt Ausläufer unb ©eheimfdjreiber, benn außer
feinem eigenen Samen leiftet bie ©djreibfunft beS Ortsoberhauptes nicht biel.
„SBaS bringft, Slntonele?" Ter grauhaarige fleine Staun ift baS Timinutib
3eit feines SebettS nicht loS geworben.
„Stuf ein bertraulich SBort, Stehler 3örg — beim ©chultpeß folTS anhängig
Werben ba mit bem leibigen Bo»» —"
„Äommft ba bermit, fo fpar’ bein’ SBort", ruft ber Sauer, „i leib’S nit unb
Wenn fie ihn bon ©ifen baher machen — fiehft, mit biefen meinen eigenen Säuft’,
ba reiß i ihn um!"
„’© fann ein langer fßroceß werben!"
„3 fjab’ ©elb für bie Slboocaten!"
„Ter Sörfter hat ©ebulb üben wollen, aber weil’S heut aufs neue banieber
war —", fagt ber fleine Staun beinahe fchüchtent.
„3uft wie alle Tag’", entgegnet ber $ofbauer mit einer triumpljirenben Stiene,
„fo war’S unb fo wirb’S bleiben für alle Beit", unb faft wär’S ihm angefommen
flinjujufehen: „TaS Walt’ ©ott!"
„Ter ©djulthejj ift ©u’r Sreunb!"
„’© hat nij ju fagett — haft bein Stuftrag ausgerichtet, Slntonele, unb Weißt
mein’ SBitleu! 3 ber Stehler 3örg unb bie Seitens finb bie .^errifchen! Unb
i bin Don benen, bie einmal ein luftig $errenjagen angeftellt haben — unb folche
Beiten föttnen wieberfommen!"
„minimer!" fagt baS Stännlein unb fchiittclt ben grauen Stopf, „fo ein Säuern»
frieg fommt nimmer, unb baS ift gut, Stehler-Sauer. SBir müffen nit geinb fein
im fianb, wir haben genug ba heraußen. Stit bem fßreuß’ Wißt 3h r » Wie’S fteßt
— benft au unfre frifeßen ©räber! Unb bie SBelfcßen überm Dthein!" ©r Wirb
gattj Weßmüthig.
Ter 3örg hebt bie Sauft.
„§ätten bei uns erft aufräumen foU’n — ba lägen ftatt ber SauerSföhne bie
^errifdjen in ber ©rube. Unb baS fag’ i, jurn ©otbaten geb’ i mein ©injigen
nimmer!"
„Ter Äonrab hat fich aber jum eignen $errn aufworfen", mahnt baS Stännlein.
„3a fo! TaS bauert aber nimmer!" entgegnet ber Sauer Derädjtlich, „fo'n
Siebshanbel, Slntonele, weißt wie’S enbet, unb wirft noch bie ©chreiberci baoon haben."
Ter kleine macht bie grauen Slugen weit auf unb fieht ben ©pottenben treu»
herjig an.
„Stehler 3örg, S’ift eine unbefcholtcne Tiru’ unb ©uer ©oßn hat ©uern
jähen ©inn!"
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3ärf>cle.
27
„Den Ijat et!" ruft bet Sauet, unb bet Saterftofz bricht toieber burct).
„Serredfjnet (Such nit — ^ier nit unb bei bem ißrocefi nit!" mahnt Shttonefc.
„3 bin nit getehrt mit ©Treiberei unb Serffaufefirung", antwortet görg
SKe&fer, „i bin Seit meinet 2 ebenö fein ©tubenfjocfer gewefen; Söttet finb für
bie, fo nit ihre gefunben ©tiebmaffen haben unb in bet freien 2 uft fcfjaffen fönnen
— aber i fenn’ mi aus! 3 Inf) mir nij nehmen non mein’ ©runb unb Soben —
unb mein eigen gfeifdj unb Slut, ba3 fenn i!"
Sfntonefe nicft unb flieht feine 3Kap^e fefter unter ben Sfrm.
„SOtorgen fomm’ i ba^er, um Sud) üor ben ©chuftfjefj ju fabeu, 2RefcIer=Saucr
— ©rüfs' ©ott!"
©anj wichtig geht er baüon.
„Sfrmfefigeö ißinfdjerfe", fagt ber SJtehfer 3 örg hinter ihm Ijer.
$a3 hat baö ©<f|reiber= 2 (ntonete nun freilich nicht gehört, aber tß ^ält auch
ein ©efbftgefpräch.
„O bu, o bu, mit beinern ftarren «Sinn! ©toj? ben harten ©cf)äbef nit an —
’ß fann Weh tfjun! ©inb jttiei harte ©tein’, Sater unb ©of)n, unb bie maf)Ien halt
nit gut sufammen."
@o fommt er auf ben ©djfofjffof. $a ift in ber SJtitte ber afte Sie^brunnen,
an ber einen ©eite eine SogenfjaHe, bie früher ein „frönet Umgang" getoefcn fein
muß, tote Sfntonele nach anbern Sefcfjreibungen üon Surgf)öfeu annimmt; in ber
ehemaligen ®ir<f)e fielen jmifchen ißfeiferbiinbeln aitö $ 0(3 mit »ernid^teten |>ofz=
feutpturen bie SJüfje — „’ß nimmt afleä auf ber SEeft feine SBanbfnngen Oor", ift
beö ©cfjreiberö ftetä paffenbeö Sprichwort. (Sr hat ben alten $of gern, „Weif man
fid) t)iel ba fjineinbenfen fann" — ber 2 fnton ift zuweifen ein Iräumerifcher.
3 efct ftehen ber görfter ©iegefiu unb Kiefer fionrnb an bem Srunnenranbc
unb Oor ihnen baö Särbele in feinem ©ountagSftaat; cß hat nichts ©efjwarzeS
an fich at$ bie Sänber, welche üon feinem Sfäppfe herabflattern unb nicht fo fang
finb wie feine braunen Söpfe.
„©rfijj’ ©ott!" ruft Sfnton, unb fo antworten bie brei, unb bann flieht er an
feiner ÜJiappe unb fagt ju bem SDtäbef, afö er fich banebeit gefteHt:
„$aft ih« nun begraben, ’ß war mir feib, er War ein braücr ft’crf; wenn wir
auch nimmer miteinanber gerebet haben, Weif Wir in ber 3«9enbjeit einen ©treit
gehabt, teiben fonnt’ i ihn."
„3 banf’ Such, @djreiber* 2 (ntoucfe!" fommt'S treuherzig über bed -DtäbchenS
2 ity>en.
©inen feifen Seufzer ftöfjt ber ffeine SDlann aus, wie er feine Sficfe über bie
fchfanfe ©eftaft gfeiten läßt, ©enau fo war’S, fofcfje Söpfe, fofeh braune 2fugen,
fo frifdfe 2ippett, fo Ijerjig ber Ion — baS äHariefe, beS gfö&erS SBeib, beS Sär-
bele’S SRutter. ©ie warben zufammen umS lirnbf, ber 3offph unb ber Sltiton
— ihn IjafS auSgefacht feiner Meinen ©eftaft unb ber Söinzigfeit wegen — ©ifer»
fudjt War’S, bie beibe 2iebhaber ftreiten liefe. lern gföfeer ift'S auch nicht fange
treu gebfieben.
Sfnton richtet feine Sfugen auf ben frönen bfonbeit Surfchen! ,,3Bahr’ bi, wahr’
bi" — möchte er wof rufen, „’ß gleicht gar fo arg feiner SDiutter!"
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28
Unferc (Jcit.
„3m $)orf", fagt bet ßonrab, „brauet leinet beS ©ätbele gefunbe |>änb'
jur Arbeit; in bie Stabt, in ein’ $ienft möchf i'S nit jieljen lajfen —"
„S’ift ju faubet —Aber bet Anton benft’S nut.
„®rum bitf i, laf»t’S ba auf bem Sdilofjgut atbeiten, wie 3hr’ö nti tt)un
lagt. SBir wiffen’S ©uch $anl."
2)aS ©ätbele rietet ftumm bie btaunen Augen auf ben görfter, ein fo bitten»
bet ©lid ift’S.
„SReichthümet mögt ihr euch beib’ Ejalt nimmet erwerben", brummt bet görfter
ein wenig ungnäbig; „baS SWäbele mag mit bem SBirthfdjaftSfräule abteben —
herinnen btaudjt’3 deinen — muff braunen fdjaffen."
„SBenn i nut fegaffen barf!" antwortet baS ÜDiäbchen banfbat.
„Unb Sieichthümer?" ruft bet Äonrab ladjenb, „bie brauchen wir beib' nit,
gefunb finb Wir. 9?ut baS Siecht, einanbet einmal Ijeirathen gu bürfen, baS wollen
toit berbienen."
©ärbele fenft ben Äopf, weil fo etwas fo öffentlich bot ben ÜRannSbilbem
gefagt ift, unb geht bann hinein, bem alten gräulein, bie eine „gar Schlimme"
ift, baS SBort ju gönnen.
„So berWaift! —", meint bet Anton mit einer ©ewegung nach igr hin. „So’n
SBaifenthum macht mit immer Weich ums §erj! Unb arg nett ift’S, ’S gleicht —",
ba ftoeft et mit ©ewalt unb fefct in bet Serfdjämung h*nju: „3a, ja — Wie
hab’ i gleich gefagt? $er glöget war bodj nit fo’it Unguter unb btoS, weil ihn
was brüdt hat, fpradj et halt bem SBein ju."
Äonrab wirft ihm einen fteunblidjen ©lid hinübet, bah et fo brab beS Xobten
©ljre retten will, unb fagt bann:
„’S ©ätbele ift nimmet allein auf bet SBelt; mein’ jwei gefunben Arm’, bie
fchaffen für es, unb felbet weih es auch, was Arbeit geigt. ’S hat feine Keine
SBirthhhaft blifcfauber gehalten, unb bet £>err ißfartet IjafS bei bet Seich’ getobt,
alö eine gute lochtet unb gar fromme ^irdjgängerin."
$>er görfter mag nun einmal nichts bon grauensteuf hören; S’ift ihm leib
um ben ©urfdjen, bem ein faubet ©eficht fo allen ©erftanb raubt.
„SBaS gibt’S, Antonele", fragt er, nut um bem anbetn baS SBort abjufdjneiben.
$et beutet nach bem £of hinüber.
„Irofc ift Xrofc, et Witt nit nachgeben!"
„$ann hat meine ©ebulb ein ffinb’!" ruft bet görfter.
„3a ja, ja ja!" flüfterfs Antonele, „’S hat alles auf bet SBelt feine SBanblung."
„SBotten einen Umgang machen, ßonrab", fagt bet görfter, „’S Wirb ein Abenb,
wo man gern berauben ift."
„©in btaber ©urf<h", fpriegt ihm baS Schreiberlein nach, baS heut einmal
im 8ug ift mit bem Soben.
„$a wiberreb’ i nit!" entgegnet bet görfter. „Unb bet SRefeler 3ötg ift ein
Xtjtannifcher unb gefegiegt ihm fchon recht, wenn ber ben fi'opf auffegt — ’S müht
nut nit um ein URäbele fein! 2)a heraus ift noch nimmer ©uteS fommen."
„0 je, o je", fagt’S Antonele unb berjieht fein Keines ©eficht in oiele galten,
„benft’S ©uch benn nimmer, bah 3h r felbet eine ÜKutter gehabt habt?"
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öärbele.
29
©ne ©ecunbe ft^eint baS ben görfter etwas unfidjer ju machen, bann fcfiüttett
er ben fiopf unb tippt bem Stntoncte gegen bie ©ruft.
„©djreiberle, i bin halt fein großer Kirchengänger, wir Sffialbfeje finb’S nimmer,
unb fo ganj feft mit bem bibtifchen £ejt bin i auch nU> aber was ber 3efuS
©irach fagt, 42 im 13. ©etS, baS h a ^’ * für arg große SBeiSljeit!"
„@o!" antwortet ber fiteine unfidjer unb wirb gang rottj; benn eS fchmerjt
ihn altemal, wenn er jugeben muß, baß er etwas nicht weiß. ©in ©tücf ift’ä
aber, baß es ihm ber görfter erfpart unb fagt, inbem er fich breitfpurig ^infieCtt
unb gewaltig in bie ©ruft Wirft:
„®et fennt’S, was mit bem ©efdjtedjt ift, ber fennt’S genau, benn fonft tjätt’
er nit gefdjrieben: «®Ieich Wie auS benfiteibent tiiet SKotten fommen, atfo fommt
Don SBeibern oiet SBöfeö»; unb feljt, ©djrciberte, feübem i baS weiß, ba muß i
bei jebem faubern SBeibSbitb an bie @djaben benfen, bie’S jerfreffen unb jernagen
— bie Schönheit unb ben häuSlidjen grieben, unb baS h°t mi bis jur ©tunb’
bor jeber Dummheit bewahrt. Sta ja, unb @r benft auch wol fo, benn 3h r h a &t
ia auch «immer gefreit unb geht ganj gut mit ©urer -Etappen burdiö Sebcn, Wie
ich »tit meiner ©ücfjfe. SBaS, Stntonete?''
®er ift wie mit ©tut äbergoffen unb feine ©einchen wanfen unb er fann nichts
fagen, atS: „Steh ja — ja wot!"
®er fionrab fommt in bunfter %adc unb mit ber Stinte heraus; öon morgen
an wirb bas Spazierengehen aufhören, ba ift er atS finedjt im ®ienft unb ber
görfter Wirb nicht mehr fo ^erabfaffenb thun.
Slucfj baS ©ärbete geht wieber über ben §of; es hot ein Seudjten auf feinem
©efidjt. Stn ber ©forte Wenbet eS fich um unb ruft juriief: „SOtorgen barf i
eintreten."
„0, bu herziger @dja|}", benft ber fionrab wieber — „’S wirb fpät, eh’ i heim-
fomm’, aber beine greub’ fotlft boef) h®üen."
Unb Wie baS ©ärbete am fotgenben äJtorgcn heraustritt aus feinem £>äuScf)en,
ba fteht unter ber Sinbc eine ftatttiche ©auf, juft, wie es fie fich gewüitfdjt h«t.
fieinen |>ammerfchtag hat’S in ber Stacht gehört, nichts fwt’S ahnen fönnen.
„0, bu ©uter!" fpricht’S in bie ftare Suft hinein unb bann fejjt’S fich einen
Stugeubticf. SBie baS herrlich ift unter bem grünen ®aef), Worin bie ©öget fingen.
„0, bu ©uter!"
(gortfepung folgt.)
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jÜritte ttfk €ifenbaf)nfa()rt in QVmerika,
t»om #ubfoii bis 5utn Niagara.
®on
iFrifbridj ßobenftebt.*)
555er erfte Slugflug, ben idj ing Clmiere beg Sanbeg machte, galt bem größten
Staturfchaufpiel tu feiner Slrt, ben SBafferfäHen beg Niagara, »wobei idj bie beiben
anfchnlidjen Stäbte Stodjeftcr unb ©uffato berührte.
©in paar greunbe begleiteten mich bon Roboten nach Serfep ©ittj, ber ^weiten
^auptftabt beg (Staateg Steujerfep, bie »wir in einem rafch fafjrenben 3weifpänner
binnen einer halben ©tunbe erreichten. Jpier befinbeit fid) bie ©ahnhöfe aller nach
bem Sieben unb SBeften (aufcitben Schienenwege, welche täglich 5 —600-Büge
aug allen ^heilen beg ßontinentg herber führen, bon Wo bann ÜJicnfchcn unb
SEBaaren ju Schiffe über ben $ubfon nach Sieuporf beförbert werben, bem Slug»
gangg- unb ©nbpunftc beg Ungeheuern ©erfehrg, »oelchcjn Setfep ©itp, bie fchon
über 1000C0 Einwohner jählt, ihre ©lüte »crbanlt.
Sßiir halten ung, troß beg rafchen gahreng, etwag üerfpätet, fobafj jwifdjen
unferer Slnfunft unb bem Slbgaitgc beg Siachtsugeg nad) Stochefter fauni 5 SJtinuten
iibrigbticbcn, unb ich fab 61 »id)t mehr fortgefommen wäre, wenn meine ©egleiter
nicht bag ©efte babei getl;an hätten, ©on bem einen würbe ich 9 c 5 ° 9 e n, bon bem
anbern geflohen, währenb ber Sutfchcr, feinen SBagen ruhig ftehen laffenb, meinen
Soffer borantrug, unb fo gelangten wir in eine matt erleuchtete £aüe, an bereu
Söäitben oicle Saufenbe bon fleincn Stiemen hinge»» burc^ metallene Sötarfen ge»
fdjlungen, bereu ©ebcutung mir big bahin ein Stäthfel War, weicheg aber halb
gelöft werben fotttc; beim faum »war mein Soffer auf eine Slrt Jiabcntifd) gefegt,
welcher ung bon bem inneru ^eiligthunt ber £>aße trennte, alg ein bürgerlich
gefleibeter 2Jioitn [jer^ntvat unb nach meinem Steifejiel fragte. Sobalb er biefeg
erfahren, nahm er einen Stiemen ooit ber SBanb, befeftigte biefen im §anbumbrehen
an meinen Soffer unb gab mir eine numerirte ©ontremarle, welche er bon einem
Stiemen jog, ben er jurücfbel)iclt. S)ag ganje SJtanöocr währte laum eine SJtinutc.
*) Srudptiicf aug einem neuen SBcrle beg Serfafferg, bag unter bem Xitel „SJom Sltlan»
tiiehen big pm Stillen Dcean" im Verlage bon g. 91. ffleodbaug in Seipjig erfcheiuen
wirb. 9teb.
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ZHetne crftc (Eifenbafynfafyrt in 2tmerifa.
31
9iun ging’ö yi gröjjtcr £>aft mit bem Koffer nach bem Sahnjuge, beit mir glücflid)
nod) im lebten Augenblicf Cor ber Abfahrt erreichten. Sin Sieger, ber auf ber
ißlattform ftanb, fdjaffte ben Soffer in ben ©epädtoageit, unb toährenb ich nodj
ein Untcrfommen für mich unb mein fjanbgepäd fudjte, fefcte fich ber Sug fdjon
in Setoegung.
3<fj h°& e biefeö Sorfpiefö $u meiner erften amerifanifchen Sifenbaf)itfat)rt hier
nur ©rmäljnung getljatt, um ju jeigen, bafj ber IReifenbe bort metjr auf fid^ felbft
angemiefen ift atö bei unö, too cö auf feinem grojjen Safjnijofe an gefefjaftigen
fpänben fehlt, um ben SBagenfchlag 31 t öffnen, baö ©epäd ju beforgen unb bem
SReifenben in aflem, maö er münfdjt, betjürffich ju fein.
Sn Amerifa heifit’ö überaß „Help yoursclf“. 28er eilte größere gahrt unter»
nehmen miß, fauft fein Siflet fdjon im Dorauö in eiuer ber bieten Agenturen, bie
in jeber Stabt ju finben unb mo er jugteid) einen gebrueften gührcr umfonft
erhält, mit einer Sarte ber ganzen SReiferonte, genauer Angabe aßer Stationen,
£>altepunfte, galjrjeiten, Rotels u. f. m. $at ber ißaffagier gröfjereö ©epäcf, fo
läfst er auch biefeö meift im borauS beforgen, rnoju fich biflige unb bequeme ©e-
legenheit bietet. So bleibt ifjm bann nichts übrig, als ju rechter Seit auf bem
Safjnfjofe einjutreffen, nach feinem ßuge ju fragen unb eiitjufteigen. Sou bem
bei uns üblichen toieberholten Abrufen aus ben SBartefälen ift bort feine Siebe
unb ebenfo roenig Don ber $efce unb 3eitbertröbetung beim Abmägen unb Sefleben
jebeS einzelnen ©epädftüdeS. SRiemaitb fümtnert fich um @croicf)t unb 3ahl ber
SReifefoffer, melche baS geübte Auge beS GjpebitorS boit SBaarettbaßen unb Stiften
moljl ju unterfdjeiben meifj. So geht aßeS feinen raffen ©ang, ohne fiärm unb
Ueberftürjitng, unb toährenb ein Sieger im gnnertt beS 3ugcS mit bem Unter»
bringen beS ©epäcfS befcf)äftigt ift, trifft ber Gonbucteur feine Sorbereitungen jur
Abfahrt, melche, menn er bem Sugfiifirer fein „All right!“ jugerufen, plöjjlich
erfolgt ofjne bie oiefen lauten, fdjriß in bie Dtjreu faßenben Signale, bie bei
uns ber Abfahrt jebeS 3ugeS üorfjergefyen.
Stur bei ber in Amerifa auf es äufjerftc getriebenen Sereinfadjung beS ©efcf)äftg
ganges, ber aßeS kleinliche unb Sßeinliche auSfchtiefjt, ift bei einem unglaublich
fleinen ®icnftperfonal bie Abfertigung einer fo Ungeheuern Stenge bon Sägen
möglich, mie fie auf ben grofjen Sahnhöfen täglich ein» unb auSlaufeu.
So prachtooße, jum Serroeilen eintabenbe Sahnhofpaläfte, mie mir ihrer Diele
haben, fennt man in Amerifa nicht, mo aßeS auf baS jur SBeiterbeförberung 9!otf)»
roenbigfte befchränft ift. So faßt benn auch fielet meg, maS bei unS baS Auge
motjlthuenb berührt, mie bie forgfältig gepflegte grüne Umgebung ber felbft oft
halb unter ©riin Derftecften StationShäufer unb Sahnroärterhäuedjen, bie Slumen
in ben genftern unb aßer fonftige anheimelnbe Auspuff
dagegen bieten bie grofjen Salonmagen, aus melden aße ßüge fich jufammeu»
fefcen, manche auf unfern Sahnen fehlcnbe Annehmlichfeit. Sian faun barin mehr
hanbgcpäcf unterbringen unb fich freier bemegen, ba jebe klaffe eine ganje SReihe
Don ©agen enthält, burch mclche bie ifSaffagiere hin- unb hergehen biirfen; man
fann ferner ju jeber Seit gutes Xrinfmaffcr haben unb auch für anbere Sebürf»
niffe ift auöreichenb geforgt, foba§ man nur auöpftcigen braucht, um ju fpeifeti.
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32
Unfere ^ett.
Igeber ©Jagen wirb fo gut gezeigt, baß man mitten im ©Jinter im einfachen 9tod
fahren fann. Stausee finben befonbere Heine ßimmer für itjre Sie&ßaberei, oßne
ißren ißtaß in ben Staunten, wo nidjt geraudjt werben barf, be«tjal6 aufgeben gn
mflffen. Seibenftaftlite Staufer, wette gern fortwäfjrcnb bie ©igarre im ©tunbe
haben, geßen in bie fogenannten ©migrantenwagen, welche jebem Buge angeßängt
finb nnb wo jeber ißaffagier erfter Stoffe ftd) nat ©etieben aufßatten unb
rauben fann.
grüner gab’« feine Staffenunterftiebe auf ben ©ifenbaßnen, um ba« @leit=
ßeit«gefüßt ber Slmerifaner nitt gu berieten. Stftmäßtit ftcUte fit aber bot bie
Stotßmenbigfeit ßerau«, ben mittettofen Steifenben billigere ©läße gu berftaffen
at« ben begüterten, benn e« Ratten fonft ^unberttaufenbe bon ©inwanberern, wette
aßjäßrtit in 9teu^orf (anbeten, ißr weitere« Steifegiet nid^t erreichen föttnen.
Steue Slnfömmlinge finb not feine bottgüttigen ©ärger ber ^Bereinigten Staaten,
gu Wetter ©Jürbe fie erft nadj fünf Sauren ßeranreifen fönnen; e« berfttägt atfo
nitt«, wenn man für fte 9tu«naßm«einrittungen trifft, welche ba« |iotgefüßt ber
fdjon cingcwurgetten ©teitßeit«bürger nidjt berieten.
Stu« fotzen ©rwägungen entftanben bie fogenannten ©migranteugüge, oßne
welche bie Hugeit Eigentümer ber ©aßnen biete SKittionen Dollar« weniger ein*
nehmen Würben, at« jefet ber Satt ift; benn bie ©migrantengüge finb immer befeßt,
fetbft wenn fit fein eingiger ©migrant — ober richtiger Immigrant — barin
befinbet.
So reift man aut » n ber SReuen ©Jett in betriebenen Staffen, bie man aber
nitt fo beutfit unterfteibenb gu benennen wagt wie in ber Sitten. SBer bequem
unb in berßättnißmäßig guter ©efettftaft faxten Witt, fauft fit ein ©iUet erfter
Staffe, Wette eigentlich nitt fo genannt Werben fönnte, Wenn feine gWeite bor=
ßanben Wäre. Sic ift in ber Dßat borßanben, Wie aut eine britte; allein man
Wagt — au« republifaniftem ®(eitßeit«ftotg — nitt, fie fo gu nennen.
Die ffimigrantenwagen, in wetten man faft um bie #ätfte billiger fährt at«
in ben ©tagen erfter Staffe, entfpreten in ber Stangorbnung unfern fogenannten
©oupt« britter Staffe, ftnb jebot bequemer eingerittet, ba fie alte« enthalten,
wa« it oben in ber Stitberung ber Salonwagen at« t ara Heriftift ßerborgeßoben
hafte; bot trägt bie« alte« einen meßr berbrautten unb ftäbigen Stnftrit- Die
©änfe finb mit urfprüngtit rotem ©tüft übergogen, ber aber in atten mögtiten
unb unmögtiten garben ftimmert. SRawßer ftmugige guß ßat barauf gerußt;
tnanter gettfted bon ben mitgenommenen Steifen ift barauf gurüdgebtieben;
Dabacf» unb ©igarrenafte ift bagu gefommen, benn gerautt Wirb ßier fortwäh¬
rend unb biete ©affagiere erfter Staffe ßalten fit gu bem Stoed lieber in ben
geräumigen ©migrantenwagen auf at« in bem Keinen Staut cabinet, 190 nur toe»
nige gu gleicher Seit ©laß finben fönnen.
9tat unferer Stangorbnung würbe bie in Stmerifa fo genannte erfte Staffe bie
gWeite Staffe fjeißen; benn im guge beßnben fit not weit eteganterc unb beque»
mere ©Jagen, wette bie fogenannten ©artor« entölten: große, mit berftwenbe»
riftem Sup« eingerittete Salon«, in wetten gu beiben Seiten bertoefenb
behäbige, etaftift gepotfterte Seßnftiißte bergeftalt befeftigt finb, baß ber Darin»
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ITCeine erfte (Eifeubafynfatjrt in 2lmerifa.
53
fifcenbe fich mit bem ©tuljte nach allen ©eiten brefien tarnt, ohne mit feinen Sladj*
6arn in ©ontact ju fommen, ba bie ©effet hinlänglich rneit üoneiuanber entfernt
finb, um jebent graljeit ber ©etoegung ju gewähren.
Siefe ißartorg mit ihren {trächtig üerjierten Seden unb SBänben, ferneren
Xeppichen unb ©orhängen unb, mag bie §auptfa<he ift, mit ihren oerführerifdfj
bequemen Sretjfeffeln, finb bag ©tegantefte unb 3toe<fbienIit^fte, mag idj je anf
©ifcnbahnen gefunben höbe, um bag Reifen auf langen SBegftreden fo angenehm mie
möglich ju machen.
gebet ißaffagier erfter Klaffe hot, fomeit bie ißlä&e reifen, Zutritt jn ben
©artorg gegen eine mäßige Siachjahtung, metche nach SDlaßgabe ber galjrftrede
beredinet mirb.
Sie ©reite. Sänge unb §öfje ber ameritanifdjen SBaggong übertrifft tneit bie
ber unferigen. Sem entfpredjenb hoben fie and) ftärfere 8täber unb eine größere
©purmeite. Saß biefe in ftraßentanger Steife aneinanbergetuppetten Sliefenfaften,
mit ©turmeSeite über bie Schienen hinbonnernb, bei ben oft großen Krümmungen
bcg SBegeg nicht aug bem (Steife fpringen, erftärt fich nur aug ber ©emegtidjfeit
ihrer Siäberachfen.
Sie gemattige Socomotioe hot an ihrer ©tirnfeite eine fchneepftugartige ©or=
ridjtung, burdj metche atteg im SSBege Biegenbe befcitigt mirb. Siefer feljr finn*
reich conftruirte ©dhufcapparat heißt Cow-catcher (Äufjfänger) unb ift ftart genug,
eine Kuh, metche fid) etma toon ber SBeibe auf bie ©aljn oerirren faßte, in bie
Enft ju f(ßteubern ober jerfdhmettert beifeitejutuerfen. Saburch toerben bie
©aljmoärter erfpart unb alle $inberniffe im gtuge aug bem SBege geräumt.
Kur$ oor unferer Slbfahrt ton gerfetj Eitt) tarn ein langer Bug Ijerangebrauft,
beffen geucraugcn iljr grelleg Sid^t toeit oor fich tiertoarfen, mäljrenb jugteicß bie
®tode ber Socomotibe ihr mädjtigeg (Setäut atg SBarafignat burch bie Siacht
ertönen ließ. Unb atg unfer B«0 ficfi fdjon in ©etoegung gefegt hotte, fdjmang
jt<h über bie tjofjen Sritte nod) ein oerfpätcter ©affagier hinein, ber feine Beit
mehr gefunben, fidj an ber Kaffe ein Sittet ju taufen, mag nicht Oerfjinberte,
baß er bo«h mitfahren tonnte, ba für fotdie gälte auch beim ©onbucteur SiUetä
ju haben finb.
SKein ©tafc in bem großen ©djtafmagen, in meinem etma 30 ©erfottcn
beibertei ©efcßtcchtg ju übernachten hotten, befanb fich bicht am ©ingange, fobaß
attcö, mag ein* unb augging, an mir torbei mußte: eine für mich feittegmegg
beneibenSmerthe Sage, ba beim jebegmaligen Oeffnen ber Shü* ein eifiger Suft=
jug auf mich einbrang, ber mir batb unerträglich mürbe. Stuf bie Sauer mar
bag bei meinem ohnehin feljr angegriffenen Kopfe nicht augjuhalten, unb ich (°örc
gern big jur ©chtafengjeit in einen anbem SBagen gegangen, menn ich nicht für
mein ^anbgepäd gefürstet hätte, toeldjeg einige mir perfönlich merthootte ©adhen
enthielt. Ser freie ©ertetjr in ber langen SBagenreifje machte jebe Stufficht fetteng
beg ©eamtenperfonatg, metcheö btog aug einem ©onbucteur unb einem Sieger
beftanb, unmöglich; benn beibc hotten fortmährenb mit anbem Singen ju thun.
Sem ©onbucteur tag eg ob, Rimberte oon ©ittetg ju prüfen, unb biejenigen,
metche auf bag femfte Biet ber Sladfjtfaljrt lauteten, gleich ju fich i« nehmen unb
Unjfre ,'jnt, 1882. I. 3
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ttnfere ^eit.
gegen anbere umjutaufcßen, bie bom am $ute getragen merben mußten, um bei
ber niicßften SRcbifion gfeicß in bie Äugen ju faden. $aju mußte er über adeä
Sucß unb fRecßnung führen, toa$ bei ber greißeit beö SerfeßrS ber ißaffagiere
feine feicßte Äufgabe mar, ju beren Söfung bei unä faum brei Seamte ans*
gereicßt ßätten.
SBäßrenb nun fo ber ftattficße 3J?ann, ßocßgetragenen Hauptes fcßarf um fieß
bfiefenb, üon einem SBagen pm anbern ging, jeben, bis auf bie fogenannte „$oi=
fette", genau unterfucßenb, unb, menn biefe gefcßfoffen mar, abmartenb, bis fie
fieß mieber auftßat, begann ber SReger bie Setten aufpfcßfagen, p>ei übereinanber
an jebem genfter, äßnficß roie in unfern Scßfafmagen eingerichtet, nur mcit grö»
ßcr, bequemer unb beffer. Solange biefe Ärbeit mäßrte, mußten bie fßaffagiere
natürlich anbetömo ißfaß fließen, unb fo mar beö XßtirffappenS unb beö mir in$
©efießt feßfagenben eifigen SuftpgeS fein ©nbe. 3cß bat ben dleger, a!8 er in
meine 9täße fam, mein £>anbgepäcf in Sermaßrnng p neßmen unb eö mir am
näcßften SRorgen früß p bringen, tiefer Sorge entßoben, ging icß in einen
anbern, meniger befeßteu SBagen, um mieß ein biäcßen auSptreten unb bann ba«
SRaucßcabinet aufpfueßen, ba icß noeß feine SRiibigfeit füßfte. Sttö icß fo einige»
maf auf» unb abgegangen mar auf bem jiemlicß meiten 2)urcßgangömege unb mieß
eben mieber prücfyießeit modte, trat mir — in einer äußerlich ßöftießern SBeife,
afS eg fonft SanbeSbraucß ift — ein fperr entgegen mit ben SBorten: „©ntfeßuf*
bigen Sie giitigft, baß icß mir bie greißeit neßme, Sie anpreben; icß ßabe Sie
auf ben erften Sfief miebererfannt, adein Sie rnerben fieß meiner mol feßmerfieß
noeß erinnern. Stein dtame ift S .. .., Äarf S . . .
®er Same ßalf meinem ©ebädßtniffe fofort auf bie Sprünge unb berfeßte mieß
um einige ^aßrjeßnte prücf naeß Stiincßen, mo er mir oft genug in bie Dßrcn
geffungen mar. $o<ß mürbe icß ben jeßigeit Präger beS Samens, ben icß früßer
nur feßr ffiicßtig fennen gelernt, oßne fein Butßun ttießt miebererfannt ßaben,
ba fein Sifb oöffig meinem ©ebäcßtniß entfcßmunbeit mar. Äucß jeßt mußte er
bei meinen admäßfieß mieber auftaueßenben ©rinnerungen baS Scfte tßun, um fie
einigermaßen p ffären; benn bie Sfngefegenßeiten, mefeße ißn einft p mir gefüßrt
ßatten, maren für mieß fo gemößnficßer 3frt, baß fie feit meßr afS einem Siertef»
jaßrßunbert p meinen tägfießen ©rlebniffen geßörten, moüon bann leießt eins baS
anbere oermifeßte.
3cß bat ißn, mir in baS Saucßcabinet p folgen, um bort bei einer Gigarrc
meiter p reben. SBir traten in einen ffeinen Saum, ber auf jtoei Sofas, mefeße
fieß jmifeßen 2ßiir unb genfter ßinpgen, -fecßS Sißpfäße bot, bie aber augenbfief»
ließ bureß jrnei fogenannte ©entfernen bödig gebeeft mürben, bureß Seinberrenfungen,
mie man fie nur in Sfmerifa finbet. Stein ^Begleiter, mefeßer ooraitging, fußt
gegen bie ben ©ingang förmfieß berfperrenben Seine beg jungen pnäcßftfißenben
©entfeman in einer SBeife an, baß biefer babureß oödig auS feiner Sage fam unb
beinaße bom Sofa gefaden märe, ©r ßieft fieß nur auf feinem fßfaße, inbem er
bie güße bon ber Sücffeite beS gegeniiberfießenben SofaS, mo fie bis baßin gerußt
ßatten, rafcß jurücfpg unb einen Stüßpunft auf bem Soben bamit fueßte. liefen
Slugenbficf benußte mein Segfeiter, um ben feer gemorbenen iptaß einpneßmen,
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_ 2Ttcinc crf to (Hifciifca^nfatjrt tu 2l»tcrifa. 35
unb \<f), ber ich nun aud) freien Durchgang gewonnen hatte, fe|te mich ihm jur
©eite, um nicht mit ben Seinen bei altern ©entleman in Kontact ju tommen,
bie ficfe gegen bie IRficftehne bei ©ofal ftemmten, auf welchem ber jüngere fafe.
SBir jünbeten unfere ©garten an unb mein 9?adjbar begann mir feine ©e=
fc^id^te ju erzählen, Wobei er WiebertioU burch bie unruhigen Bewegungen bei it)m
gegenüberfijjenben jungen ©entleman unterbrodjen würbe, ben häufiger Sßcchfel
ber Seiuftefiungeu ein Sebenlbebürfnife ju fein fc^ien. Hie güfee ruhig bor fi<h
auf bem Soben ju halten, ^iett er nid)t lange aul; fie fdjnellten oft unWitlfürlid)
auf, all ob fie einen ©tüfcpunft in ber Suft finben Wollten, woburcf) fid^ mein
9iacfe&ar wieberfjolt unangenehm berührt fühlte, Wal er eine Seit lang gelaffen
ertrug, nur hi« ««b Wieber ben Seinfdjwinger burch einen geliitben ©tofe eritt-
nernb, bafe feine Seine nicht bie einzigen auf ©rbeit feien. 2lber plöhlidj erhob
fie ihr Sefijjer, um fich eine bequemere Sage ju bereiten, wieber in bebrohlidjer
SBeife fo fyod), bafe ich nicht ahnte, wohin er bamit wollte, bil er einl mit
fpijjem fi'nie bor fich auf fein ©ofa ftemmte unb el mit ber linfen £>anb järtlid)
umfaßte, währenb er bal attbere wieber ju Soben finten liefe, bie güfee meincl
btachbarl fefer unfanft berührenb, wofür biefer fofort burch einen energifefeen gufe»
tritt Sergeltung übte, ohne baburch feine Unterhaltung mit mir inl ©toden font=
men ju laffen. 9iut nahm er jejjt Seranlaffung, gteichfam in parenthesi ju
bemerlen, wie biel bequemer ber Sertehr in Slmerila mit altern all mit jüngern
Seuten fei, beren Seitehmcn gar $u oft in glegelei aitlarte, ohne bafe fie im
©runbe etwal Söfel bamit meinten; allein cl fehle ihnen aller gefeHfcfeafttichc
Haft wie aHel feinere ©hrgefühl, welhalb fie benn ebenfo leicht einen S«ff geben
wie nehmen, ber in Heutfdjlanb anbere golgen haben würbe all hier. „Hai
Ungtüd ift", fuhr er fort, „bafe el in Slmerifa wol allerlei Unterrichtlanftalten,
aber feinerlei ©rjiehung gibt, unb auch ber öffentliche Unterricht mehr auf bal
©npaufen bon allerlei für bal praftifche Seben uühlidjen Äcnntniffen, all auf
Sitbung bei $erjenl unb ©eiftel berechnet ift. 2 Scr follte auch hier bie Sinber
erziehen? 3 n ber ©chulc gefchicljt el nicht, unb ju |»aufe fann el nidht ge=
f<hehen, weil jeber gamilienbater jugleich ©efchäftlmann ift, ber ben ganjen Hag
aufeerhalb bei £aufel jubringen mufe, währenb bie grau, bei ber ©djwierigfeit,
jubertaffige Hienftboten ju finben, ihre liebe Sioth h fl t, bal .ftauiwefen in Drb*
nung ju halten. SBenn bie Hölter lernen, fiel) an ber SDiutter ein Seifpiel , 51 t
nehmen, fo ift bal bei ben ©öhnen nur aulnahmltoeife ber galt; bal ganje, bor»
Wiegenb auf fdjnetten ©rwerb gerichtete Seben bringt el mit fich, fee früh auf
eigene güfee ju ftellen. 6 in Igunge bon 14 fahren ift hier fdjon ebenfo feib*
ftänbig Wie in Heutfchlanb ein junger SKann bon 24. Hafe ber ©imt babei
auf ibeale Stele gerichtet ift, gehört 31 t ben feltenftcn 21 ulnahmen; aber Suft jur
Arbeit, (Energie unb fühner, ja wagchalfiger Untcrnchmunglgeift finbet fi<h h' cr
überall, wo ©ewinn in- ?lu!ficht fteht. Son feinen SJtauiercn unb Ijöflicfjcit Um*
ganglformen ift nidht bie Siebe, benn el wirb lein ©clb bamit oerbieut, hingegen
oft 3eit bertoren. geber fucht «Slubogcnraum», wie fee’l hier nennen, ju ge»
Winnen, unb brängt fich «or, foweit feine fträfte teidjen. fRüdfi<hten gegen
anbere fangen erft ba au, wo fie bei biefen aufhören; am wenigfteit rücffichtlboll
:t*
üif..
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ilnfere .geit.
aber ift bie 3ugenb ßierjutanbe gegen baS Sitter, bie eigenen Steilem nicßt aus*
genommen."
3n biefer SEBeife perorirte mein Stacßbar eine gute SSeite fort, um mir ftar
ju matten, baß SSefcßcibenßeit ein SBort fei, bon beffen Sinn bie männticße $>>*'
gcnb SlmerifaS bis ßeute feine Slßnung ßabe. Ob ber junge ©entleman ißm
gegenüber etwas babon oerftanb, War nicßt ju bemerfen; er bcrließ unS, als er
feine (Sigarre ju (Enbe gerankt ßatte, unb auefj ber öftere jog halb barauf feine
langen ©eine tiom Sofa jurüdf, um fie jum ffortgeßen ju benußen.
§iernacß tonnten wir uns ganj ungeftört unterhalten, unb mein Stacßbar nahm
nun mir gegenüber iJJlaß, um bie ©efeßießte feiner (Ertebniffe weiter ju führen.
3ch Witt fie ihm ßier nicht nacßerjäßlen, fonbern nur foteße Süge barauS ßerbor*
heben, bie in ben Dtaßmcn meiner Steifebilber paffen. ®aS übrige fann fieß bann
jeber Sefer felbft leießt ergangen, ber einigermaßen auch jWifcßen ben Seilen ju
lefen weiß.
Um bie ÜJUtte ber fünfziger Soßre fam in SRüncßen ein noch fehr unreifer
junger SRcjjtn ju mir, ber SRobettcn, ©ebießte unb Irauerfpiefe gefeßrieben hotte
unb bariiber mein Urtßeit ju hoben Wünfcßte. liefern SBefucße waren ein paar
©riefe boranSgegangen, Wobon ber erfte bie mir überfanbten ÜRanufcripte begleit
tete unb mit ber üblichen (Entfcßulbigung anfing, baß ber SScrfaffer eS Wage,
meine foftbare Seit bureß feine poetifeßen Serfucße in Slnfprucß ju nehmen, Wäß-
renb ber jweite meßrere SBocßen fpäter anfragte, ob icß feine SBcrfucße feßon einer
tßtüfmtg gewürbigt ßätte. Seibe ©riefe Waren in fo fcßwülftigen SfuSbriicfen ab*
gefaßt, baß fie mir fein günftigeS ©orurtßeil für bie poetifeßen Strbeiten beS 5ßer=
fafferS erweefen tonnten, bie noeß rußig unter anbern Stößen bon SDtanufcripten
tagen, beren jebc SBocße neue braeßte nnb mit welcßen böttig aufjuräumen un¬
möglich War. Stß Pflegte beim (Empfang eines IßacfetS nur einen ©tief ßincinju*
Werfen, um banaeß bie feftenen Strbeiten, welcßc mir einer näßern Prüfung würbig
feßienen, für freie SiacßmittagSftunben juruef^utegen. S« biefer engem SluSWaßl
gehörten bie Schöpfungen beS jungen SRiincßenerS nießt; boeß Wanbte icß naeß
(Empfang feines ^weiten SriefeS eine Stunbe baran, fie ju prüfen, unb ließ ißn
bitten, ju mir ju fommen, ba mir ju fcßriftlicßen ©rörterungen bie Seit fcßlte.
3dj maeßte ißn bann in freunbtießer SEBeife auf bie Schwächen uub URängel feiner
Slrbeiten aufmerffam, inbem icß ißn beranlaßte, mir einige ber Scenen unb ©c=
bießte borjulefen, bie er felbft für bie beften hielt, unb bie er nun mit bemfelben
fatfeßen ißatßoS las, in welcßem fie gefeßrieben Waren. Sn ben Giranten ßatte er
Scßitter, in ben ©ebießten ^ßlaten nacßjuaßmcn berfueßt unb jWar, Wie er glaubte,
in fo corrccten Wie feßönen ©erfen; allein in SBirflicßfcit war alles ßoßttöHenbcr
SBortfcßwatt, obgleich ein paar feiner Sieber ißm felbft beim Sefen Ißräitcn ent*
locften.
@r ßatte barauf geregnet, baß icß bie SBibmung feiner ©ebießte anneßmen,
ißm einen guten Verleger baffir berfeßaffen unb fie mit Sang unb Slang in bie
SBelt einfüßreit werbe. (Er hielt cS feßon für ein Seiten beS ©enieS, baß er in
fo jungen Soßrcn — er faß noeß in tßrima — bereits auf allen ©cbicten ber
Sicßtfunft fo bict bor fid) gebraeßt, ber ©ogeit^aßl naeß meßr als Ußtanb in fei
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ZTIeiue erftc (Eifenbaljufaljrt in 2t»tcrifa. 57
neu» Sitter, unb e« traf ihn fdjmerjlidh, fi<^ nun plöfctich au« alten §immetn
geriffen ju fefjen.
SStelc 3at)rc fpäter traf ich iljn al« ©chaufpieler Wieber. ©r war lange mit
einer fteinen SBaubertruppe burct)« Sanb gezogen, hotte bann an berfdjiebeuen
Vorftabttheateru gefpiett, füllte fidfj aber ju $ö^crm geboren unb hoffte nun,
bttrdfj meine ©mpfeplung an eine £>ofbüfjite ju fommen. ©eine Saften toarcu
mit SBinfetbtättem unb Sheoterjeitungen gefüllt, in welchen ju tefen ftanb, baß
feine Segabung entfliehen auf ba« ©haratterfach ^intoeife. Um mir bie« auch
ju @e£)ör ju bringen, fprach er mir beu erften Utonolog bon Sticfjarb IU. oor,
fprang bann ju granj SJtoor über unb gab enbtid; eine SBatjnfinnbfccne oon
S'önig Seat jum beften, äße« mit gleichem Slugenrottcn unb bemfetben fatfdjen
Votho«, mit Wettern er mir früher feine ©ebidtjte recitirt. 23a« btitb mir übrig,
at« itjrn offen meine SKeinung ju fagen, baß er fidj fo wenig jum Sfjarafter*
barftetter eigne wie jum Siebter?
9Zun fanb id) ihn, nac^bem abermal« tiiete Sa^re berftoffen waren, unberljofft
auf nächtlicher gahrt in Slmerifa wieber al« einen SRaitn oon fe£(r refpectabetm
8tn«fel)en, forgfättig rafirt unb in einer Sradjt, bie barauf fchtießen liefe, baß er
bem geifttidfjen ©tanbe angeljörte. $n ber Stint war er, Wie idj batb oon ihm
erfuhr, eine geraume Seit ißrebiger gewefen, t»atte aber audj al« folget wenig
®lücf gehabt, unb reifte jefet in Slngclegentjeiten ber Vibelgefettfcijaft burd)« gattb,
unter Serhättniffen, bie i|jm fetjr jujufagen fdjienen. Stuf meine grage, wie er
nach Slmerifa gefommen, erjätjtte er mir: furje Seit, nachbem er mich julc^t auf*
gefudjt, fei fein Vater geftorben, ber feine ©rfparniffc in amerifanifdjeu papieren
angelegt hotte, welche injwifdjen fo im SBerthe gefunfen waren, baß ber ©oljit,
bem in ber Heimat nicht« Ijottc gtüden motten, auf beit ©ebanfen fam, fein ©tü<f
in ber 9?euen SBelt ju oerfuchen, too er feine papierene ©rbfehaft üort^eit^after
anbringen tonnte al« in Seutfchlanb.
©otange ba« ©etb üorgehatten, fei e« ißm auch ganj erträglich ergangen unb
er tiobe bie Seit benufct, um ©nglifdj ju lernen, babei aber ber Verfudtjung nicht
wiberfteijen tönnen, einen Sanb feiner ©ebid^te auf eigene Soften bruefen ju taffen,
bie ftcfj hbh cr beliefen, al« er geahnt. Sa er nun feine Säufer gcfunbcit unb hoch
gern getefen fein wollte, fei ihm feine ©itelfeit äunt SSerfudE»er geworben, fein lefcte«
©etb baran ju fefeen, um ba« Such at« ©efeßenf unter bie Seute ju bringen;
fetbft nach Seutfchlanb fei ein ganjer ©toß an feine alten Vefannten ejpcbirt
worben, natürlich ohne ihm ben geringften San! ober ©ewinn einjutragen. ©o
habe er ba« Ungtücf gtcichfam fetbft hetou«geforbert unb fei batb bergeftatt in
3toth geraden, bafe er bie niebrigften Strbeiten höbe t^un müffett, um nur feilt
geben ju friften. Sann bon ©tufe ju ©tufe wieber aufwärt« ftimmenb, fei er
Seltner in einer SBirthfdjoft unb fpäter ©eljütfe bei einem beutfehen Slpothefer
geworben, ber, erftaunt über feine claffifdje Vitbung, ihm feinen ©oljn, welcher
in Seutfdjtonb ftubiren fottte, jur Vorbereitung im ©ricdjifchen unb gateinifchen
anoertraute.
Von bem alten Slpothefer fpradfj er mit großer Verehrung unb fchitberte ihn
al« einen SJlann, ber alte chriftlidjen Sugenbett übte, ohne mit grömmigfeit ju
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llnfere <3eit.
prunfeit. 3hm fyabt er e« ju berbanfen, baß er felbft eine fefte religiöfe ©runb»
tage gewonnen, na^bem er fo lange tjaltlo« unb zerfahren in ben lag hinein»
gelebt. Ter alte fperr unterhielt fich gern über religiöfe Tinge mit einem ein»
gewanberten englifdien ©eiftlichen, ber t»iel in feinem £>anfe oerfehrte unb burch
bie SDtacht feiner Sebe auf alle, bie mit ihm in Serührung famen, einen begei»
fternben ©influß übte, burch Welchen auch ber ©rjähler ber ©efcßichte fo mächtig
berührt mürbe, baß er feine taugen Irrfahrten bamit bcfdjloß, Theologie ju ftu»
biren unb fid) ganz bem Tienfte ber Kirche ju weihen.
3ch hörte bem testen Theite ber ©efcßichte, worin auch ber ©raub non ©hicago
borfam, ben ber ©rjähler mit erlebt unb bei bem er ©elegenheit gefunben, feinem
2Bof)tthäter, beffen £>au« in Stammen aufging, fich burdh Wirffame {mlfeteiftung
banfbar ju erweifen, nur mit halbem Ohre jn, ba ade« ungebührlich in bie Sänge
gezogen würbe, eine Stunbe nach ber anbern barüber oerging unb ich inzWifcßen
fehr mübe geworben War. @« fdjwirrte mir förmlich im Sopfe oon ber Sülle ber
bunten ©rlebniffe, bie an fich öicl Sntereffante« boten, ba« aber burch Öen fdjwül»
ftigen ©ortrag wieber oerwifcht würbe. Tazu fam, bafj mährenb ber ©rjähtung
alte ©rinnerungen in mir aufftiegen, bie fich unwiHfürlidj Oorbrängten unb meine
$tufmerlfam!eit freisten. Tiefe ©rinnerungeit führten auf ben ©ater be« ®rzäf)=
ler« juriid, ber mir al« ein bergröberte« Urbitb be« tefctern erfchien. Wie biefer
jefet oor meinem leiblichen unb jener oor meinem geiftigcn Sluge ftanb. 911«
Tred)«lergefe(lc war er untere SDtilitär gelommcn, mit ber bairifchen 9lrmee nach
©riechcnlanb gezogen unb al« Unteroffizier jurüdgefehrt, „um ba« Schwert mit
ber Seber ju Oertaufchen". @r madjte fortan alle SBinfetbtätter unftcher, ohne
Unterfdjieb ber confeffioitelleu unb politifdjen Sichtung, wußte fich halb in bem
üblichen Seitung«jargoH iurechtjufinben unb öerftieg fich f°fl ar öiö jn Theater»
recenfioneu. ©r Würbe mit ber Seit tu allen Sätteln gerecht unb fprach unb
fdjrieb mit bem ©ruftton ber Ue6erjeugung für unb gegen jebe Sache unb ©erfon,
wenn e« ihm ©ortheil brachte, ©fjrgei^ige Siinftler, welche fich öott ber ©reffe
bernadjtäffigt glaubten unb bem Trange nicht wiberftehen fonnten, ihre ©erbienfte
fclbft fchriftlich ju erörtern, fanben in ihm ben richtigen 9J?ann, bie fdjWungöoQcn
?lufjeidjnungen mit ©inleitung unb Schluß ju Oerfeheu unb ba« ©anje, al« feiner
eigenen Segeifterung für echte ftnnftlciftungete entfpruugcn, in bie ihm zugänglichen
©lätter zu bringen, ©ezog er oon biefen auch wir ein Heine« Honorar, fo war
baöjenige, welche« ben Quellen be« fdjäßbaren Staterial« entfprang, um fo größer,
unb bitbete in ber That einen beträchtlichen Theit feiner ©innahmc. ©inen ganz
befonbern 9?uf aber erwarb er fich gewiffen Steifen ber ©eböllerung al« ©er»
faffer bon Sefrologen. .fintte ber ©erftorbene bei Sebzeiten fich feiner Drben«»
nu«zeichnung z« erfreuen gehabt, fo Würbe er regelmäßig al« ein unabhängiger
©harafter unb freifinniger 2Jiann gepriefen, ber e«, im ©efühl feine« hohen ntenfeh»
liehen Sßerthe«, mit gerechtem Stotz berfdimähte, um Sürftcngunft zu buhlen.
Stanben hingegen in ber Sfizze z um Sefrotoge auch Crben ober ©JebaiHen
verzeichnet, fo würben bie höchften Suf)me«tönc barüber angefchlagen, nnb ber
©erftorbene War bann nicht blo« eine Sterbe be« ©olle« unb ber Stolz feiner
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2Heine erfte «Eifenbapnfahrt in 2tmerifa.
SRitbürger gewefeit: feilte SSerbienfte Ratten felbft auf Sprotten bie eprenboHfte
Slnerlennung gefunben, brei Otbett fcpmüdten feine Bruft!
®et oietfeitige Schreiber patte ein paar rotpe fpänbe, beren bicfe Singer immer
fo weit auSeinanberftanben, baß man rticfjt begriff, wie er eine Seber führen
tonnte. Äaulbadp, in beffen Sltelier i(p ilp ein paarmal traf, behauptete, er
fcpriebe mit einem Befenftiel unb ließe cS bann burdfj feine Stau, bie nebenbei
fiir ein fßußgefcpäft arbeitete, ins Steine bringen.
2)er ganje SRenfdj fap auS, als ob er felbft erft ins Steine gebracht werben müßte,
um beutlicp erfannt p werben. @r hatte ein Sßaar bnnfte, berfdjleierte Stugen,
benen eS man nicht anfehen fonnte, wohin fie blidten. ©ein ©eficpt war fo auf*
gebunfen unb berfcpwommen, baß fcpwer ju nnterfcheiben War, wo bie Stafe anfing
unb bie SBangen aufhörten, ©ein bem Slnfdjein nach urfprüngtidj buntles #aar
fpiefte »irr burcpeinanber in alten Sarben.
^aulbacp behauptete, es fei unmöglich, ihn im Bilbe feftppalten, nicht blos
Weit er leinen Slugenblid ruhig ftehen ober fipen fönne, fonbern auch weil mehr
hinter ihm ftede, als pm SluSbrud fomnte. 33er äußere SRenfcp umwehte ben
innent böttig, unb um biefen ganj wiirbigen p lernen, miiffe man bie ©ebidjte
lefen, bie et bei jeher feierlichen ©elegenpeit, bon ber SSiege bis pm ©rabe, auf
Beftellung anfertige unb wobon er ihm eine ganje Sammlung bereit habe, fchöit
gebrudt unb golben umränbert.
©o war ber SDtann befdjaffeit, beffen wefenttich berfeinerten unb burchgeiftigten
SlnSpg ich Hun ’ n feinem ©ohne bor mir fah, in priefterticher Äleibung unb
Haltung, mit glatt raftrtem ©efidjt unb forgfättig gepftegtem, fcpon ergranenbem
Haupthaar.
©eine ©efcpäfte führten if;n nach ©praluS (©pracufe), einer ©tobt bon etwa
50000 ©inwopnern unb 40 Kirchen. @r hatte gehofft, baß ich ihm ©efeCtfchaft
Ieiften werbe, bis er auSpfteigen habe, unb ich würbe baS gern getpan haben,
wenn mich bie SDtübigleit nicht überwältigt hätte, ©o nahm ich benn freunblidp
Stbfchieb bon ihm, um mein Säger aufpfucpen; aber noch nicpt baran gewöhnt,
mich f° engem Staume p entfteiben, ftieß ich pnäcpft mit bem ©cpeitel an
eine Schraube über mir, unb fcplug bann mit bem tpinterfopfe bergeftalt an bie
Stüdwanb, baß baS Einfdfjlafen mir nicht fo leicht würbe, Wie ich gebacht hatte.
Stir war, als ob bie Stöße an ben Kopf alles barin burcpeinanbergerüttelt hätten,
unb felbft als allmählich toieber einige Drbnung unb SHarpeit in meine ©ebanlen *
unb Borftettungen fam, führten biefe hoch immer wieber ju fettfamen Betrach¬
tungen, anfnüpfenb an bie oorhin empfangenen Ginbrütfe unb bie babnrch gewedten
Erinnerungen. SSäre mir ber münchener Befannte nicht entgegengetreten, fo würbe
ich nichts BeffereS p thun gehabt haben, als bie Stacht burcp p fchlafcn, um frtfcp
unb geftfirft in Stodjefter anplommen. SBetcpen ©rfap patte ich nun für bie ber-
lotene Slupe gefunben? $aß man nicpt erft nach Sltnerifa p reifen brauet, um
munberlidje SebenSläufe fennen p lernen, wußte ich längft, unb ebenfo, baß bie
feltfamften ©cpidfale unb Ertebniffe nicpt mehr Bebeutung paben, als ber SRenfcp,
ben fie betreffen, ihnen p geben weiß. 2)abon war nun bei meinem pm an*
gepenben ©reife geworbenen mümpetter Sinbl wenig p fpüren. 3cp freute micp,
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Hnferc £ei\.
baß ed ißm in feiner SBeife gut ging, unb meine ©ebanfen fdßwciften bann balb
öon ißm ab p bem Orte, woßin er ging: ©ßrafud.
23ic fommt ©ßrafud nacß Slorbamerifa? $aben ficß Slacßfommen ber alten
©iculer ßierßer berirrt unb ißrer Stnftebelung ben fo glanjbolle (Erinnerungen
wedenben Slamen gegeben? ßber wäcßft ßiet ein SBein, ber an ben feurigen
©ßrafufer erinnert? Sließtd bergleicßen! Stmerifa jäßlt bicle ben alten Gultur*
uöffern entlehnte ©täbtenamen, aber fein einziger fteßt p ber Stabt, wefeße ißn
trägt, in befonberer ©ejießung. @o jeigte bie Heine SReifefarte, weldße icß niit
bem gaßrbillet pr Drientirung erhielt, noeß eine gaitje Steife claffifdßer Stauten,
tuie Iroja (Xroß), Utica, 3tßafa, 9tom u. f. tu., bie waßtfcßeinlicß auf bie <Sd^ut*
reminifeenjen eingewanberter Strcßiteften prüdpfüßren finb, Welche bie erfieti
Sauten an bett inbianifeß benannten glüffen unb ©een leiteten, in benen jeßt
blüßenbe ©täbte fidß fpiegeht.
®ie ©dßönßeiten beb SBeged bon Sleußorf nach Slocßefter unb ©uffalo fotfte
icß tßeilweife erft bei meiner Slüdfaßrt, unb gattj erft im folgenben Sommer
fennett fernen, ald icß bom fernen SBeften, über Sattaba foninienb, biefe ©egenben
»oieber befugte unb bon ben eigenartig loifben Steifen beb walbreidßen TOegßanß»
gebirgeb fotoie bon ben majeftätifdßen Strömen £>ubfon unb 3)etaWare ganj be=
pubert würbe.
Stuf meiner £infaßrt lagen bie Jperrlicßfeiten bon Strom unb ©ebirge ber»
fdßleiert bor mir, unb icß fonnte nießt einmal baran borbeifdßlafen.
9lld icß am festen Sage beb Slobember, morgettb 10 Ußr, in Sloeßefter ein»
traf, merfte icß, baß eb Wäßrenb ber Slacßt gefroren fjatte unb nun ber $immel,
bei biinnem ©dßneefall, fidß etmab aufpHären begann.
3dß wußte, baß idß erwartet würbe, benn feßon balb nacß meiner Slnfunft in
Sleußorf war bon bem Slebacteur beb „SRocßefter ©eobaeßter", gacqucd S’odloWdfß,
eine freunblidße Anfrage an mieß ergangen, ob idß nießt bei ©elegenßeit meiiteb
©efucßed ber StiagarafäHe ben 3)eutfdßen in Sloeßefter ©elegenßeit bieten wolle,
midß auf amerifanifdßcm ©oben Wißfommen p ßeifjen. ©on bort bib p ben
Säßen fei nur ein ©prang.
SJleiner pftimmenben Antwort, welcße fein ©eßeimniß blieb, folgte albbalb
eine ©infabung bon ben SJeutfcßen ber Slacßbarftabt ©uffalo, unb in beiben ©täbten
bilbeten fieß ©omiteb pr ©erafßuttg, wie idß p empfangen unb ber Slufentßaft
mir angeneßnt p maeßen fei. Qtß ßatte nießt berfäumt, }u mefben, baß iiß mit
bem Slacßtpge am Sonntag, morgenb 10 Ußr, in Sloeßefter eiutreffen Werbe; aflein
atb ber ftraßenlange 3«8 nuf bem ©aßnßofe ßielt, begriff icß balb, Wie fdßwer ed
fein müffe, rnieß aud ber SJtenge ber ©affagiere ßeraudpfittben. ®er Sieger im
©eßlafwagen, bem icß ein guted Xrittfgelb gegeben ßatte, rnoßte nießt bulben, baß
icß mein |>anbgepäcf fefbft trage; er ging bainit boran, unb, ißm folgenb, fant
icß balb aud bem langen 3uge in« greie, aber naeß einer ganj attbern Stiftung,
ald wo bad ©mpfangdeomite mieß erwartete. 9lld ber Sieger midß gliicflief» unter
freiem $immel faß, begriff er felbft nießt, Wad icß ba macßeit foflte, wo feilt
SRenfdß p feßen war, wäßrenb icß ißm boeß bon Herren gefprodßen ßatte, bie
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JTCcine erfte (Eifcnbahnfaljrt in 2Jmcrifa. ^
mich erwarteten. Stun gingen luir ben enblofen 3ug entlang nach ber entgegen»
gefegten Stiftung, wo icf| nach einer langen ffomöbie ber grrungen einem ber
Herren in bie £>änbe fiel, welche bi« bapin ben ganjen Sahnljof nach mir bureh»
fuept Ratten unb gerabe im begriff Waren, mich auf ber anbern ©eite be« 3‘«ge«
ba ju fudjen, wo ich eben toieber toerfdjtounben mar.
Sie Stimmung mürbe nadj Aufftärung ber 3Ri«oerftänbnif[e um fo Weiterer;
ein bereit gehaltener Smeifpänner führte mich in freunblicper Segteitnng, bic feine
meitern Ortungen auffommen liefj, fd^nett nach D«burn $oufe,. einem großen,
eleganten §ote(, wo ich in mopt burchmärmten ©entädjern eine ^albe ©tunbe
3eit jum Umfteiben fanb. Sann mürbe ich pinuntergefüprt in bie grofje §aHe,
mo aujjer ben SRitgliebern be« Gomite noch eine anfepnlidje Serfammtung meiner
harrte, um mich i“ begrüben.
3n Steuporf fanb ich bei ähnlichen ©etegenheiten immer menigften« ein ntir
au« früherer 3eit befannte« ©efiept mieber; hie* mar ba« nicht ber Satt; alle
Antoefenben fapen mich, wie ich f»e, jum erften mal; boch machten fich freunbliche
Annäherungen batb oon felbft, unb ich f<hieb mit ben beften ©inbrüefen üon inei=
nen neuen ©elaimten, at« ich mich mieber jurücfjog, um, nach furjem Au«rupen,
einen ©ang burch bie ©tabt ju machen.
SBäprenb biefe« AuSrupen«, welche« nicht länger mährte, al« jum Stauchen
eine« Xfcpibul« nötpig War, ber mich ouf oHen meinen gaprten begleitete, warf
ich einen Stic! in bie auf bem Sifdje ftor bem ©ofa fiegenben 3eitungen (beren
in Stocpcfter 15 erfcheinen, barunter jmei beutfehe), unb brauchte nicht lange ju
fuchen, um bie freunblichften SBitlfommen«grüf}e in Ser« unb ißrofa barin ju
finben, ba bie betreffenben ©palten rotp angeftrichen Waren. Sa« „Sonntag«»
blatt" enthielt fogar mein nach einer pamburger Photographie gefchnittene« Silb,
nebp einem 3Bibmung«gebi<ht tion Sr. Sonner, unb ba« englifche Sticfenblatt
„Rochoster Morning Herald" brachte fehr mohtgetungene Ueberfepungen au« mci»
nen „ßiebera be« ÜRirja =©djaffp". 3 cp hotte biefe faum gclefen, al« einige
Herren öont Gomite erfchienen, um ntidj ju einem ©pajiergange abjupolen, ber
un« ju einigen ber anfehntichften Sauten ber ©tabt, wie bie Atcabe, Poroer«
Slocf, Gourt Jpoufe, Gitp Jpatl, gree Acabemp, fomie ju ber ©parbanf unb
anbern Sanfen führte, bie hier, wie überall in Amerifa, wahre Patäfte finb.
Stocpcfter, heute eine bebeutenbe $anbel«= unb gabrifftabt mit 82000 ©in*
mohnem, oerbanft feinen raffen Auffchmung (in ben breiiger gahren mar e« noch
ein Sorf) pauptfäcplich ber Ungeheuern SBafferfraft, welche ihm bie gäHe be«
©enefee Stifter bieten, bie im SBeidjbilbe ber ©tabt jufantmen eine §öh e oon
268 gufj hoben unb, fich iu brei $auptfäHe gliebernb, eine SReuge gabrifen unb
SRüplen nähren. Son ihrer grofjen 9Rehtan«fuhr pat bie ©tabt ben Seinamen
glour Gitp erhalten, ©ie bepnt fich ju beiben ©eiten be« ©cnefee Stifter au«,
über welchen mächtige Srücfen führen, unb beffen gäHe, at« ein immerhin anfepn»
liehe« Sorfpiel ju beiten be« Stiagara, näher ju betrachten mir für ben Stacpmit»
tag aufgefpart blieb.
Sa« SRittagämapt mürbe in ©efettfepaft einer Attjapl munterer ©äfte ein»
genommen, bie mit bemfelbett 3uge, ber mich pergefüprt, fton Steuporf gefommen
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H2 Unfere <5eit.
waten als Slbgefanbte beS ©ängerbunbeS „©eethoüen", bet im ©ommet bei einem
©ängerfefte in ©odjefter theilgenommen unb bort bei bem „Männerchor" fo gaft-
freunbtiche Slufnahme gefunbcn hotte, baß er fich gebrungen füllte, ihm als
bleibeitben SluSbrud beS SanleS ein wertljbolleS ©efchenf ju übetfenben, in
gorm einet filbernen ßpra unb jweier filbernen Stände mit entfßtedjenben gn*
(Stiften.
£err ©artholomat;, ber ©efifcer einer großen ©ievbrauerei, batte mir für bie
Sauet meines .Aufenthalts feine elegante Squipage jur Verfügung gefieQt, unb
nach Sifch machte ich barin, begleitet bou ein paar fetten, eine ©pajierfaljrt butch
bie fchönften Straßen ber ©tabt unb ju ben gälten beS ©enefee. ßaum waren
wir in bie SKitte ber breiten #auptftraße gelangt, als ber ßutfdEjer holt machen
mußte, weil eben ein jwei ©tocf hohes $auS oorübergeroüt lam, welches unfere
gahrt auf lutje 3 eit hemmte.
Sch h at te mol fchon uon ber amerifanifchen 3 ouberei gelefen, Käufer bon jeber
©röße ju heben unb fie nach beliebigen flöhen fpnmaljen ju taffen, aber mir
bocb leine llare ©orftellung batioit machen lönnen. Um bieS jefct ju ermöglichen,
Wollte ich ouSfteigen, ba aitS bem gefchloffencn SBagen bei bem ©chneefatl wenig
3 U fehen war. Allein meine ^Begleiter fugten mir bas auSjureben, als nicht ber
Mfihe werth- ©ie wunberten fich, baß ich mich Wunberte, unb ich wunberte mich,
baß fie fich nicht wunberten über baö üorübergeroaljte $auS, baS ihnen nicht
mehr ©inbrucf machte, als ob man ein ©ierfaß über bie Straße rollte.
Slm Stbenb mußte ich bem feierlichen Siete ber lleberreichung ber SSeihgefdjenle
beiwohnen, welche bie ©äfte auS ©euporl für ben Männercijor in 9 tocf)efter ju
beffeit fünfunbawanjigjährigem ©tiftungSfefte mitgebracht hotten. Saß ©angeS-
briiber nicht jufammenlommen ohne ju fingen, oerfteht fich non felbft. Stber auch
eine Same, grau ©tjUa, ließ ihre fchöne, wohlgefchutte Stimme hören, inbem fie
unter großem ©eifall ben Slrbita*2Baljer fang. 3<h würbe bon bem Männerchor
burch ben trefflichen ©ortrag meines Siebes „SBenn ber griihling auf bie ©erge
fteigt" (in ber Eompofition bon granj Slbt) begrüßt, unb berbrachte ben ganzen
Slbcnb in ber auch burch liebenSwürbige unb feingebilbete Samen belebten ©efeH=
fchaft auf baS angenehmfte. 3 <h machte babei auch bie ©efanntfdfaft ber llugett
unb frönen grau beS trefflichen ©abbinerS Dr. Mannheimer.
Ser folgenbe Sag bot mir ©etegenheit, einen ©lief auf baS rege unb in ©etreff
feines MafdjincnbaueS, feiner gabrilen bon SBotlmaaren, fowie feiner ©erbereien,
4?anbetSgärtnereien u. f. w. großartige ©efchöftsleben ber ©tabt ju werfen, fowie
auch bie große ©artholomat)’f<h e Brauerei 311 befidjtigen, bereu praftifche unb
elegante ©inrichtung mir bergeftalt imponirte, baß ich mich innerlich fefjämte, feine
©ergleiche anfteHen 311 lönnen, W 03 U mein langer Slufeuthalt in ©aiern mir boch
hinlänglich ©etegenheit geboten hotte. Slllein in ben Greifen, in Welchen ich mich
bamalS bewegte, War man 3 ufrieben, wenn baS ©icr gut fehmeefte; feiner Serei*
tung näher nach 3 uforfchen, lam mol nur wenigen in ben ©inn.
Sn Slnterifa fteht baS ©efdjäftsleben überall im ©orbergrunbe; bie großen
ßaufleute, gnbuftriellen unb ©anfierS fitib bie eigentlichen ©eherrfcher beS SanbeS,
unb alles, was fich ouf ihre Shätigleit be^ie^t, lommt 311 fo monumentalem SluS*
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ITTeine crfte (Eifettbafynfafyrt in 2lmerifa. ^5
brud, bafj eS immer junächft in bie Slugen fällt unb baburdi bie Neugier ober
SBißbegierbe erregt, eS näher lernten ju fernen.
Muf irgenbrneldje bemerfenswertfje Kirche Ijat mich in SRotf»efter niemanb auf=
merffam gemacht, obgleich bie «Stabt 56 säfjft; aber Wie in Meuporf, fo jtnb auch
hier bie Sirenen meift nur befdjeibene SüdenauSfütter jWifchen ben fiodjragenben
^aläftcn, welche bem £>anbel unb SBanbel bienen, ofjgbeicf» baS ^ßrebigen in 2 tme=
rifa auch ein ©efepäft ift, Welches fiel) benjenigen, bie fich recht barauf öerftefjen,
ebenfo einträglich erweift wie irgenbein anberes.
Die SDlenge ber Kirchen erlfärt fich aus ber 9ftenge ber Selten im Sanbe,
beren jebe iljr eigenes ©ethauS hoben Witt. Die einzige Kirche, welche feine
Selten bulbet, bie fatholifche, ift burdj bie maffenhafte ©inwanberung t)on 9frlän=
bern in beftänbigem SEBadjSthum begriffen, unb wirb öorauSfidjttich noch eine große
Molle in ber Meuen Sßelt fpieten; benn obwol bie beutfdje ©inwanberung ebenfalls
mit jebem Safjre junimmt, fo hot biefe hoch für baS tranSatlantifdie Kirrtjenthum
in unfern Dagen Wenig 511 bebeuten. Schon bei ben Deutfdjen in Meuporf unb
llmgegenb War eS mir erfdjienen, als ob baS Sal^wnffer beS SSeltmeereS allen
religiöfen ©fauben tton ihnen abgefpült hätte, unb biefelbe SBahrnefjmung machte
ich in* ©erlauf meiner ganzen Steife bei ber Weitaus überwiegenben äRehrjaljt
meiner in Stäbten Wohnenben SanbSfeute. 3«h bin niemals berantaßt Worben,
eine Kirche, wo beutfdj geprebigt wirb, ju befudjen, höbe auch niemals einen
beutfeßen Kansetrebner rühmen hören, lann alfo nicht einmal mit ©eftimmtljeit
fagen, ob in ben ftäbtifd^en ßfjriftengemeinben überhaupt noch beutfdj geprebigt
Wirb. Daß eS in ben Synagogen gefehlt, Weiß iclj ganj genau, benn biefe
Mab 6 in er, bie in Deutfdjlanb ftubirt hatten, famen mir auf meinen Meifen freunb*
lieh entgegen, unb wo ich *** einer Stabt einen Sabbat jubracfitc, Würbe mir
immer bequeme Gelegenheit geboten, bem ©otteSbicnfte in ber Synagoge beiju*
wohnen, wo in. regelmäßiger Slbwedjfelung beutfeh unb englifdj geprebigt wirb.
©S fam auch h*>* unb wieber bor, baß beutfdje ©aftfreunbe mich auf Ijeroor-
ragenbe englifche Kattjelrebner aufmerffam machten itnb mich, wenn ich fie hören
wollte, begleiteten; allein fofdie ©rbauungSftunben glichen mehr einem Dheater=
befuch als einer firchlidjeu MnbadjtSpflege; benn häufig Würben bie ißrebigten
wirllich im Dh e °i e r gehalten, unb freien ©intritt gibt eS and; in ber Kirche nidjt.
SBenn ein Mtann wie £>enry SSarb ©cedjer burdjS Sanb sieht, um in feiner
populären SSeife über göttliche unb menfdjlidje Dinge ju reben, fo ftrömt ihm
alles ju, wie einem bewährten Sänger ober Sdjaufpieler, unb er nimmt in ©inem
3 al)re mehr ©elb ein, als bei unS ber befte ißrebiger fein ganzes fieben lang.
Die einen wenben gern einen Dollar baran, ihren berglimntenben ©lauben einmal
wieber ein wenig anblafen ju taffen; bie anbern, um ben wunberlidjen ^eiligen
boch auch einmal reben ju hören, unb im Dheater ift ©lafc für Daufenbe.
Moch mehr 3 «louf als ©eedier hot in neuerer Seit ber als ber befte öffentliche
Mebner MmerifaS gerühmte ©olonel ^ngerfoll, ber eS fich jur SebenSaufgabe ge*
macht hot, ben lieben ©ott ganj aus ber SEelt hinauSjureben unb an feine Stelle
bie sweet Ladies ju fefcen. ©r ift ein ftatttidier ttKann mit gewaltigem ©ruft*
faften, unb ber erftaunlichc Mlutl;, ben er im Kampfe gegen einen für ihn gar
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Unfcrc ,Jcit.
nidßt »orßaubcnen ©ott cutwidett, reißt feine Sußöret immer aufs neue jur ©e-
wnnberuttg ßiit. ©eine mit großer fcßaufpielerifdjer ßunft »orgetragenen Sieben
»erfeßlen auf bie SJleitge ißre jänbenbc JBirfung nie unb ßaben »or allem bie
ßacßer immer auf ißrer ©eite, ©ie finb aucß gebrucft erfdßienen, merben einzeln
faft fo billig üerfauft wie XageSblätter unb in Millionen ©femplaren über baS
Sanb berbreitet. SDlan fann ißnen nicßt ausweicßen; man wirb förmlidß gezwungen,
Slotij babon ju neunten, beim bie fliegenben ©ucßßänbler ober S c 'tuitgSjungen in
, ben Rotels, auf ben ©traßen unb ©aßnßöfen bieten fie fertwäßrenb feil, unb unfere
aufgeflärten ©efannten fcßütteln erftaunt ben Äopf, wenn fie ßören, baß wir nocß
feine einjige Siebe bon 3ngerfoH gclcfen ßaben. ©o machte icß es mir benn jur
ißflicßt, fie mit ber Seit alle ju lefen, unb mußte meinerfeitS erftaunt ben ®opf
fcßütteln bei bem ©ebaitfen, baß biefe leidste SBaare, biefer mit munterer 3»ber=
fic^t als etwas SlagelneueS borgetragene 9(uffläricßt fo weitgeßenbe SBirfung üben
tonnte. Stber fo oft idß biefem ©ebanfen SluSbrud gab, toarb mir bie Slntwort:
„3a, beim Sefen geßt baS Söefte ber SBirfung berloren; er fpricßt nicßt alles fo,
Wie es gebrucft fteßt; er ßält feine Sieben gattj frei unb flidfjt immer fo biel
SleueS ein, baß man bicfelbe Siebe oft ßören fann unb immer wieber babon ^iu=
geriffen wirb."
Slußer feinen bielen Sirdßen ßat Slocßefter aucß eine ©aptiftenuniüerfität unb
beSgleidßen ein ©aptiftenfeminar, für weldjeS bie ©ibliotßef bcS beworbenen ber*
liuer ffircßenßiftoriferS 91. Sieanber erworben würbe, ©on ben jaßtreießen ©cßulen
ber ©tabt fanb icß nur Seit, eine Sleatfcßule ju befudjen, beren ©inrießtung mir
einen feßr guten ffiinbrucf machte, ßur Sefidjtigung ber beiben ftattlicßcn SBaifeu»
Raufer unb beS SJlufcumS ber ©tabt blieb mir gar feilte Seit übrig, benn idj ßatte
berfdjiebeitett SanbSleuten oerfprodfjen, einen Slid in ißre $äuSlicßfeit ju werfen,
unb Wo idj einmal eiufeßrte, ba würbe icß nicßt fobalb wieber fortgelaffen. 91m
längften aber ßielt mieß mit meinen Begleitern 9lbolf Slotte, ber ©igcntßümer beS
„©eobaeßter", feft, ber mit altburfdjeitfcßaftlicßet Säßigfeit barauf beftanb, baß
eine Batterie ©ßatnpagnerflafdjen, bie er im ©mpfangSjitnmer feines länblicß gc=
bauten unb gelegenen Kaufes aufgep flankt ßatte, geleert würbe, eße wir weiter
faßten burften.
2) ie Si mm « bcS $oljßaufeS waren niebrig unb ftart geßeijt, fobaß Wir unS
grünbtidß bureßwärmen fonnteit nadß langer Saßrt bei empfiublicßer ftälte. Sltlein
bie ©tubenwärme überwältigte uns halb bergeftalt, baß ber eiSumpanjerte 6ßam=
pagner eine ganj willfommene innere 9lbfüßlung bot, wäßreitb unfer SSßirtß »on
feinen Soßtten unb 9tbeuteuern im ßeißeit 9lfrifa erjäßlte, woßin ißn baS ©cßidfat
aus bem bantats freißeitsfeinblicßen ©aterlanbe junäcßft »erfeßlagen ßatte.
Sei faft aßen Deutfdßen, bie itß befueßte, fanb icß bie ©inridßtung ißrer Käufer
ber lanbeSüblidßen ettglifcßeit 9lrt äßnlicß, bie jebenfatls praftifdßer unb bequemer
ift als bie bei unS übließe.
3) cr Xag »erging im fpaubumbreßett, oßne baß idß einen 9tugenblid jur Sluße
gefonimcn wäre, benn obwol idß midß naeß 2ifcß im $otcl auf eine ©tunbe jurüd=
gejogen ßatte, fo Würbe biefe boeß aueß buriß lebßafte Untcrßaltung auSgefütlt.
Suerft tarn ein amerifanifeßer 3nter»iewer, ein feßr intelligenter junger SRattn,
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tfleinc erftc (Eifenbafjnfafyrt in Hnterifa.
45
bec mir eine SRettgc fragen [teilte, unb bann Tarn aus Suffalo Kntil ffia^te, ber
Sofiaer einer großen SRufifaticnbanblung, um ficb mir freunblich als gü^rer nad)
ben Riagarafälten unb Suffalo anjubieten, too er fdjon feit langen Sauren am
fäffig mar.
Slm Slbenb gab’S große Serfantmlung in ber 2Baff)ington»$aIIe, mo ich in
längerer Siebe einen Sergleicb jmifc^en ruffifd^en unb amerifanifeben ^uftänben
jog, an ber [panb ber ©efdjidfjte bie politifebe unb fociale Kntroicfetung beiber
gemaltigen Steife beteuchtenb, bie in manchem mefenttiehen fünfte fo große Siebte
liebfetten bieten, aber in ber £>auptfadje noch meit größere Unterfdjiebe.
®ie Stehnlicbfeiten beftehen barin, baß Rußtanb, gleich bem norbamerifanifdien
Staatencomplef, bureb feinen ungebeuern Umfang unb bie Unermeßlicbfeit feiner
natürlichen ^AlfSqueUen eine SBctt für fi<b hübet, melcbe bei nur einigermaßen
berftänbiger Sermaltung bem Sßolfe alles bietet, maS es ju feinem Unterhalt bebarf.
®ie Unterfcbiebe entfpringen bouptfäeblicb ber grunboerfcbiebeiten Slrt unb SBeife,
mie biefe non ber Ratur gebotenen Schäfte bur<b SRenfcbenbanb genommen ober
gemonnen merben.
3n Stmerifa hoben ficb, feit ber Befreiung ber Kolonien Dom englifeben 9Jiutter=
(anbe, alle benfbar günftigen Umftänbe bereinigt, um bem Sötte in erfprießlicber
Sermertbuug feiner StrbeitSfraft einen Sorfprung nicht btoS t>or ben Ruffen,
fonbern bot allen Sötfcrn ber Sitten SBelt ju gemäbren. ®enn obmot bie
Slmerifaner, fomeit fie hier in 3rrage fommen, fammt unb fonberS Sprößtinge ber
Sitten SEßett finb unb biefer ihre ganje Kultur berbanfen, fo hoben fie bodj in ber
Neuen freiem Spielraum jur Kntfattung ihrer Fräfte gefunben, unb ber SBettcifer
ber betriebenen in ber ftrembe ftaattich geeinigten Nationalitäten, eS an Xü<f)tig=
feit einanber juborjuthun, ift ihnen allen ju einem mächtigen Sporn beS gortfcbrittS
gemorben.
3n Rußtanb hingegen finb alle benfbar ungünftigen Umftänbe jufammengetroffen,
um eine gebeiljlicbe Kntfattung ber Fräfte beS — nach meiner Ueberjeugung —
roohtbegabten SolfeS 31 t berhinbem. Selbft menn mir baS Ruffenreidj, bas fchon
fängft fein taufenbjähriges Jubiläum begangen hot, erft mit feinem fogenannten
Kintritt in bie Kibilifation, b. h- mit tßeter bem ©roßen beginnen taffen, finben
mir bis jum Regierungsantritt Sltejanber’S II. nichts in allen bietgerühmten Se=
ftrebungen feiner ^errfdEjer, baS irgenbroie $ut Hebung beS SoIfSroohlS geführt
hätte, troft allem, maS officieHe ©efchichtSbücher bon meifen ©efeften, Serorbuungen
nnb Reformen berichten. Ks läßt ficb bietmehr unmiberlegbar nachmeifen, baß
bie leibeigenen Säuern nach ißeter bem ©roßen meit fdjlimmer baran maren als
oorßer. 3 n frühem 3 ahrhunberten fonnten fie nämlich an gemiffen §eiligentagen
unter borgcfchriebenen StuSgtei^ungcn ihre ©utsherren mechfeln, baS 3odE» eines
harten mit bem eines milbern bcrtaufchen ober fich als Fronbauern einfehreiben
lajfen. Später aber mürben fie ganj an bie Schotte gefeffett unb böHig ber SBitl^
für ihres $errn preisgegeben. 3h re Sohl muchS mit ihrem Klenb, bcfonberS
unter ber ^errfeßaft ber galanten Faiferinnen Slnna, Ktifabeth unb Fatharina II.,
bie ihren biclcn ©üuftlingen .fjunberttaufenbe bon Fronbauern fchenften, mobnreß
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Unfcre ^’it.
46
biefe bann ju Seibeigenen mürben. Hn ©efreiung$oerfuchen ber mtt bem äRuthe
ber ©erjmeiflung fämpfenben Ungtücflichen tjat es nicht gefehlt; eS gab fogar Huf*
ftänbe, bie baS ganje SReich in ©djrecfen festen, aber bie eiferne #anb ©umorom’4
fcfjtug fie nieber unb bem ©olfe blieb nichts übrig, als fich burd) bie ©riefter auf
ben $immet oertröften ju taffen für feine Seiben auf Srben.
Sin SSolf, baS fid) in harter grone für feinen 3mingf)errn abmütjen muß, offne
attbern Soßn ju finben, als ein etenbeS fieben fümmertich }u friften, fann roeber
fetbft redete greube an ber Hrbeit haben noch f* e auf feine ßinber »ererben, unb
fo erflärt fich’S leicht, baß bie ruffifdje ßanbbeüötferung fetbft nach ber Smancipation
bi« heute feinen rechten Huffchtoung genommen hat.
HtS nach bem ©eceffionSfriege bie Sieger in Hmerifa non ber ©ftaoerei ertöft
mürben, maren fie ganj frei Bon alten frühem ©erpftidj hingen unb ber (Ertrag
ihrer Hrbeit marb nun ihr eigener ©eminn.
®er ruffifche Sauer hingegen muß immer noch fü r feinen ehemaligen $erm
arbeiten, um biefen ju entfehäbigen für baS bem Hrbeiter ju eigener Slufcnießung
abgetretene ©tücf Sanb. Sr fönnte freilich biefe Sntfcßäbigung auch burch ©etb
teiften; aber moljer fotl er bieS nehmen? Sr ift alfo nach Wie Bor an bie ©«holte
gebnnben, ohne bie SJtögtichfeit, etrnaS Bor fich ju bringen, um feinen Äinbcrn
ein beffereS SoS ju fichern. ©ein einziger Xroft bleibt ber ©ranntmein, unb fich
biefen Xroft jn Berfchaffen, ift immer fein nädjfter ©ebanfe, über metdjen er bie
HrbeitSpflidjten gegen ben ©utsjjerrn nnb bie eigene gamitie leicht »ergibt, ©o
erftärt ficfj’S, baß bie ©ranntmeinpächter in SRnßlanb beffer gebeihen at$ bie
©auern, beiten crfjmefjlicfjeS Hrbeiten auch noch burch bie ©riefter erfchmert mirb,
metche ftreng barüber machen, baß bie ©emeinbe ben geiertag fettig hatte unb
nicht burch niebereS Xagemerf entmeihe. SS ift nämlich attcrthümticher ©rauch,
bah an Sonn* unb geiertagen bie ©auern bie flüche beS ©riefterS mit ©eftüget,
Sient unb attertei ©aefmerf »erforgen, mal nicht gedieht, menn fie jur Hrbeit
gehen. Slacß bem ruffifdjen Safenber ift nun eigentlich jeber Xag ein geiertag,
meit eS an jebem einen ^eiligen ju Berehreit gibt, allein man unterfcheibet jroifchen
großen unb Keinen Zeitigen, unb ba baS ©otf boch nicht gut ganj ohne Hrbeit
leben fann, fo läßt man cs ju Shren ber großen ^eiligen nur jmei ober brei
Sage in ber ©Joche feiern, mit HuSnaßme beS DfterfefteS, beffen geier 14 läge
itacheinattber fortbauert, moBon aber nur bie erften fieben ftreng eingehalten 3 U
toerben braunen, mähtenb man cS mit ben fotgenben nicht ganj fo genau nimmt.
HuS folgen ßuftänben erftärt fich leicht, marunt bie aeferbautreibenbe ©eBöt=
ferung SußlanbS fo meit hinter berfenigen HmeritaS jurtiefgebtieben ifl nnb noch
tauge jurücfbteiben mirb.
Schon bie attruffifche ©emeinbeorbnung, metche barauf beruht, baß jebeS ©c=
mcinbegtieb gleichen Hntheit am ©runb unb ©oben habe (ber bann mit ber
machfenben Sopfjaht nicht auch madjfen faitn, fonbern bei jeber neuen ©ertfjeitung
fich jeben einzelnen nothmenbig oerminbern muß), macht jeben gortfeßritt un¬
möglich. ®enn einmal mirb ber gemeinfdfafttiche ©efife nicht aud) gemeinfchafttich
bebaut, fonbern jeber bemirthfehaftet fein ihm bei ben periobifchen ©ertheitnngen
äugemiefenes ©tücf Hcferlanb nach eigenem ©etieben — nnb bann mirb biefer
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iTleinc erftc <£ifenf>aßnfaßrt in 2fmerifa.
4?
agrarifcße ©ommunidmuö, ber un3 in bie Uranfänge bcr Söffer juriidüerfejjt, non
ben moöfowitcr ©djriftgefeßrten fortwäfjrenb afö baö befte ^eifmittef gegen aße
Uebef ber ßteujeit gepriefen, weif er jebem Sauer ein — trenn audj oft wedjfefnbeö
— ©tücf ©ranbeigcntßum fixere.
3>n ber Dfjat wirb Wol nicßt leicht ein ruffifdjer Sauer Oor junger umfomnten,
fofange feine ßtacßbarn ttocfj etwaö fjabcrt; aber baß nacfj feßfgefcßfagenen ©raten
ganje ©emeinben an jfjungerönotß $u ©runbe gefjen, gehört nic^t ju ben feltenen
Säßen. Der Sldferbau Wirb nodj in bet primitiüften 2frt betrieben; bie Säuern
ßaben Weber bie ©littet nocf» bie ©inficßt, ju rationeßem Setriebe mit SfnWenbung
neuerfunbener ©iafcßinen, #anbgerätße unb üerbefferter ©letfjoben bem Soben feine
Sdjäße abjugewinnen. ©benfo fefjft eö nodj überaß an SerfcßröWegctt jur fdjneßen
Seförberung beS für bie Sfuöfußr beftimmten ©etreibeö. Stn ©ifenbaljnbauten im
Smtern beö ßanbeö würbe erft gebadjt, afö ber Stimfrieg bie Gruppen auf ben
fangen SJtärfcßen burd) öbe ©teppen becimirte.
Äurj, SRußfanb bifbet in aßen baö Sofföwoljf bctreffenben Gingen ben fdjroffften
©egcnfafc ju Sfmerifa, weif fjier aßeö üon unten auSgeßt mib bort afleö bon oben.
Diefer ©egcttfafj ift mir erft in ber Dienen SBeft fo recfjt in bie Dlugcn gefprnngen;
ifjn ßier in aßen fünften $u teranfdjauficßen, würbe micß ju weit führen, ©tan
braucht nur einen Sficf auf beibe Steicße ju werfen, um $u gewahren, Wo baö
Sotf am weiteften gefommen ift, ob ba, wo e§ ficß ben ffieg junt Sortfdjritt fefbft
bahnte, ober ba, wo eö üerfümmernb barauf wartet, baß er ißm bou oben gc=
jeigt werbe.
Dodj wie grunbuerfcßieben ficß aucß bie Serßöftniffe im Innern beiber ©eicßc
geftaftet ßaben mögen: in ißrer ©tadjtfteßung nacß außen fiitb fic cinanber gfcicß.
Dlur in ber Seßauptung unb ©rwciteruug biefer ©tacßtftcßung jeigen ficß wiebcr
tiefgeßenbe Unterfcßiebe.
SRußfanb brauet eine ©tißion ©ofbaten, um feine ©iad)t 511 ermatten — Stmerifa
braucht feinen ©ofbaten baju; bie wenigen taufenb, bie cö ßat, bienen lebigficf),
bie 3 nbianer $u bänbigen.
Sußfaub unterhält ein ganzes ^»eer geheimer Sfgenten, um in ben üorn Cöma»
nifeßen fHeicße foögeriffenen Sänbern, wie aucß in CefterreicßUngarn, fßropaganba
für ben fßanffaWiömuö ju machen, afte Sanbe $u befeftigen unb neue anjufnüpfeu.
Seine fßolitif ift in ©Soffen geßüßt, feine Diplomatie ©eßeimuißfrämerei. Um
bie klugen abjufenfen üon ber SerWirrung, bie in feinem Innern ßerrfeßt, fließt
eö nacß außen SerWirrung ju tragen, halb bureß SBüßfereien unb ^ntriguen, bie
große ©ummen üerfeßfingen, batb bureß Kriege, bie attbent Söfferfdjafteit eine
Sreißeit bringen foßen, weteße eö feinem eigenen Söffe üerfagt.
Son aflebem finben wir in 9fmerifa boö gerabe ©egentßeif. Dort gibt’ö feine
pofitifeßen ©eßeimtiiffe, feine ßoße Scßufe für bipfomatifdte Sntriguanten, aber üor»
trefffidje ©cßulen für baö Soff, Wie fie in ©ußfanb noeß nirgenbö ju finben finb
— unb ©efanbte unb Sfgenten Werben ju feinem attbern $wcde inö Ülnötanb ge»
feßieft, af§ um ben fjanbef ju befeben unb einen friebfitßen Serfeßr aufredjt 311
erßafteu.
Sußtanb überWadit feine ©renjen ängfttid) nad) aßen Seiten, um ficf) üor
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Unferc «geit.
unliebfamen ©inWanberern p toasten unb felbft bie hormlofeften SReifenben auf ihre
Unfchulb p prüfen; Slmerifa öffnet gaftlich feine Sinne aß ben Xaufenben oon
gremben, bie baS SBeltmeer täglich an feine Ufer Wirft, unb lägt fie iljt ©lücf
fudjen, Wo unb Wie fie woßen, offne nach ihrer Vergangenheit p fragen.
Sn SRußtanb führen fogenannte ftaatögefährlidje Sieben nach Sibirien, währenb
fie in Slmerifa p gar nichts führen, als belacht p Werben, unb boefj hetrfdjen
hier Weit beffer georbnete unb gebeihlicfjere Suftänbe als bort.
Sn biefem Sinne, aber nicht mit benfel.ben SBorten fprach ich cm jenem Slbcnb,
wie eS ber Slugenblicf mir eingab. Slm nächften SJtorgen würbe ich felbft fanm
mehr gewußt hoben, was ich gefprodjen, wenn ich eS nicht in ben 3eitungcn
gelefen hätte.
Sch fdjloß mit einer Schilberung beS eigenartigen ©harafterS unb ber geiftigeu
©egabung beS ruffifchen Volles, wie fie fief) in feinen Siebern unb Sagen offen*
hart, als SeWeiS, baß eS Weit beffer fei als fein {Ruf unb ein beffereS SoS Oerbiettc,
als eS bisher gefunben.
Sch h°be hier ben Vergleich mit ben ruffifchen Suftönben nur beStjalb ange*
jogen, Weil er bie amerifauifdjen 3«ftönbe flarer oeranfchaulicht, als bloße
Schilberungcn Oon hunbert ©injelheiten oermögen. ®ic athemlofe $aft beS ame=
rilanifchen SebenS, baS unruhöofle ©ebrängc beim raffen Süßechfel in ber gleicht
ber ©rfcheinungen läßt nur üerworrene ©inbrüefe priief, bis mau einen feften
{ßunft ber {Betrachtung gefunben, ben nur bet Vergleich mit ganj entgegengefefcten
Buftänben bietet.
SluS ber 2Bafhington=§aße mußte ich noch e i ner ©inlabung p einem ©anfet
folgen, welches in ben feftlich gefchmücften {Räumen ber $eutfchen ©efeflfdjaft im
©ettefee gaflS {ßarf ftattfnnb unb burch SRuft! unb ©efatig freunblich belebt würbe,
wobei auch bie 2)amcn SRannhcimer, SReinljarb unb $jaaß fich erfreulich IjerOor«
thaten. 3)ajroifchen fpielte ein flcineS, OiclüerheißcnbeS gräulein, Sola Schcnf,
ein Violinfolo. ©S Ijcrrfcßte burc^weg eine fo heitere Stimmung, baß ich nidjt
merlte, wie bie Stunben Oerflogen, unb erft fpät in ber Stacht in mein £>otel
prüeffam.
Slm anbern SRorgen fuhr ich mit ©mit SBaljle nach 9tiogara gaflS. $aS SSetter
hatte in ber Stacht plö&licfj umgefdjlagen, ber Schnee fich * n Schmuj oerioanbelt,
ber .pimmel fich bleiern umwölft. SRir lag eS auch Wie ©lei in ben ©liebem;
ich toor ftarf erfältet, hotte eine fcfjlaflofe Stadst gehabt unb fühlte eine entfefjliche
SRiibigfeit. 3)ap War cS eine gaf)rt Wie burch bie Süneburger §eibe bei Stcbel.
Sch Wäre am tiebften gleich bis ©uffalo gefahren, um bort abp Warten, bis
ber £>intmel unb mein ffopf fich wicber geftärt hätten, unb bann erft bie SBunbcr
beS Stiagara p feßen. Sttlein mein Segleiter machte mir flat, baß ich * n Buffalo
fdjwerlich fo halb {Ruhe finben Würbe, wie ich wiinfehte, währenb fid) in Stiagara
gatlS bie befte ©elegenljeit bap biete. ©S wohne bort nämlich eine amerifanifdje
gamilie, Welche fchr Wünfche, mich fennen p lernen, unb ihn gebeten höbe, mich
ju ücranlaffcn, in ihrer Villa abjufteigen. SReiit cinjigeS ©ebenfeit bagegen ent*
fprang ber ©cfürdjtnug, burch mein llnwohlfciit befchwerlich p faßen. Slbcr
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Uleme erfte €ifenbapnfaprt in itnicrifa. ^9
wäprenb barüber nocp pin= unb pergerebet nmrbe, war ber 3ug fc^on in Niagara
galls angefommen, wo ein §err bon fefjr einnepmenbem Steurern uns ft^neQ auf*
fanb unb in feinet bereit gehaltenen ©quipage entführte, ohne Oiel SBorte ju machen.
Gr hieß 2Jfr. ?)oung, hotte als Gonful mehrere 3apre in ÜJloSfau gelebt, wohin er
auch jurücffepren wollte, unb war mit einer aus Deutfcfjtanb ftammenben grau
öerpeiratpet. 3» feiner unfern ber SRiagarafätle gelegenen, fehr behäbig eingericp*
tcten ©iHa war alles fo anheimelnb, baß ich w»<P ft’ e 3 U 4?oufe fühlte.
ÜRacpbem ich ntich ein wenig auSgerupt unb erfrifcht hotte, würbe eine gaprt.
ju ben gälten unternommen, welche ich, obwot mir fchon manche ©cpilberung ba*
oon ju Stugen gefommen war, hoch ganj anberS fanb, als ich erwartet hotte. Der
nach ihnen benannte Drt SJiagara galls ift ein weitläufig gebauter glecfen mit
etwa 3000 Ginwopnern. $oung’S ©itla liegt fo jiemlicp in ber SWitte beS Orts,
bem inbianifcpen ©ajar gegenüber unb nur jehn SDlinuten bon ben gälten entfernt,
beren Donnergetöfe icf) wir otS Weithin patlenb gebaut hotte, währenb ich hiev
DcrgebenS bie Ohren fpipte, um etwas babon ju hören. GS War fo ftiH in bet
breiten Straße wie auf einem Kirchhofe, unb erft als wir ber tiefen Schlucht, in
welcher bie SBaffer ihr wilbeS Spiel treiben, ganj nahe waren, erfchott es wie
ferner Donner. ©iS bahin war fo wenig SlußerorbentticpeS ju hören wie ju fehen.
Die ganje ©egcnb — eine flache Hochebene mit fpärtidjem ©efträucp unb ©eftrüpp
— machte in ihrer winterlichen Sßacftheit einen öben, traurigen Ginbrucf. Die
SBunber, welche fie birgt, muß man in ber Diefe fuchen.
DaS überwältigenb großartige Sßaturfcpaufpiet, bas ber Niagara als ©renj=
ftrom jwifcheh bem Staate Steuporf unb bem britifchen ßanaba bietet, inbem
er, bie SBaffer beS gewaltigen Griefee in ben Dntariofee wäljenb, an feinem 2luS=
fluffe fich in jwei Slrme theitt, Welche bie gnfet ©ranb gSlanb umfcpließen unb
bann wieber jufammenftrömen, um bei weitem Saufe plöplicp in fcparfer 9luS=
biegung öon SBeften nach SJorben bie großartigften Sßafferfällc ber SBelt ju bilben,
oerbirgt fich bem ©lief beS Sucpenben, bis er bi<ht am fRanbe beS Stromes ftept,
in beffen felfigem ©runbe es fich entrollt. Slber auch hier wirb es öon fchimmernb
hoch auffteigenben, aus oerfprühenbem Schaum gebilbeten SBolfen berfcpleiert. SJtan
fiept juerft nur bie — felbft bei trübem SBetter, wie wir eS hotten — in wunber*
barem garbenfpiel perabtofeuben StromfcpneHen, wetepe burep ein pocp unb breit
aufragenbeS Gilanb — ©oat Sölonb, auch grisiitfel genannt — in jwei Dpeile
jerriffen werben unb fo getrennt in einem Sturje oon etwa 150 guß jwei Kata*
ralte bilben, wooon ber eine, welcher innerhalb beS UnionSgebieteS liegt, gort
Splofper*gall, ber anbere, ber palb ju Ganaba gepört, $orfefpoe=gatl ($ufeifen=
fall) genannt Wirb. Diefet ift ber größere, bei einer ©reite Oon beinape 2000 guß.
Docp ber anbere, obwot nur 1069 guß breit, ift ber fepönere, wenn pier über*
paupt öerglicpen Werben fann, wo fiep fein gleichmäßig überficptticpcS ©ilb bietet,
unb jeber in feiner 2lrt, bei näherer ©etraeptung, überwältigenb wirft, ©on oben
herab gefepen, oerlieren fie beibe an SBirfung; bemf in ganjer ©röße jeigen fie
fiep nur, Wenn man in ipr tiefgewunbeneS gelfenbett pinabfteigt, um fie mit auf«
wärtS gerichtetem ©liefe ju betrachten.
2Rir fiel, naepbem wir ben SBagen öerlaffen patten, um bie günftigften ©nnftc
Unfrrc Seit. 18S2. I. 4
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tlnferc <5cit.
bcr Betrachtung aufgufuchcn, gnnädjft bcr oben guerft genannte fchmälcrc gaü in
bic Stugcn, bcr uns uon bcr Unten ©eite entgegenfehimmerte, als wir bie Schritte
nach ber h°hcn §ängebrüde tenften, welche gunt canabifchen Ufer hinüberföhrt unb
mir als ein SBunber ber ©aufunft erfchieit.
Sch geftelje, baß biefe frei unb tüt>n burch bie Suft gekannte ©rüde, über
Welche eben ein tanger ©aljngug hinraffette, beffen Schwere fie nicht im geringften
gu bewegen fchien, währenb fie hoch fetbft fo leicht nnb fein auSfaf) wie aus $raljt
• gewonnen, mir als SBerf t>on äRenfchenhanb beim erften Slnblid einen noch größern
Sinbrud machte als ber mit $onnergetöfe in bie liefe ftürgenbe 2trm beS Sliagara.
Sene ©rüde bot meinem Sluge in ihrer gierlicfjen ©eftattung, trofc ber weiten
Spannung, ein oöllig überfid)tlichcS ©itb, währenb bie gewaltigen SBaffermaffen,
bie fich t>or mir ferneren $rangeS über bie gelSwanb hcrabwälgten, nur oben in
einer gewiffen ©leichmäjjigfcit fichtbar blieben, nach unten fich wehr unb mehr
löfenb, gerflatternb unb ©chaumfunfen fpriihenb, bic Schleier unb blifeenbe SBölfchen
bilbeten, unter welchen bie Sturmflut in Witben SEirbeln oom Strome weiter getragen
würbe. £ic SRöoen, welche bie SBaffergebilbc umflatterten, machten ben Einbrud,
als ob fie erft eben aus bem Sd)ofe beS ©prühfchaumeS ins £ebcn geflogen wären.
3c mehr ich wich *** baS wechfelüotlc ©chaufpicl uertiefte, befto größer würbe
ber Sauber, ben eS auf mich übte, unb boch mußte ich weinen Begleitern, als fie
mich weiter gogen, geftehcti, baß ich noch weit ©rößercS erwartet hotte, als ich
gefunben. Sie begriffen baS üoUftänbig; war es ihnen boch einft cbenfo ergangen;
feit fie aber bic gälte Rimberte oon malen gefehen unb täglich fehen fonnten, war
ihre Sewunberung mit ber nähern ©elanntfchaft gewachfen.
SBaS fi<h oor meinen Slugeit aufgetljan — unb noch bagu bei fchlechter ©e*
leuchtung — War eben nur ein 2h e ^ oom ©angen. Um baS übrige gu fehen,
befc^rittcn wir gunächft bie impofante J&ängebrüde (SuSpenfion Sribge) bie, burch
®rahtfeile an beiben Ufern gehalten unb fonft frei in ber fiuft fchwebenb, oon
amerifanifchem ©oben auf englifchen führt. Sie beffeht aus gwet Stodwcrfen,
welche gu gleicher 3eit 9?aum für lange ©ahngiige, guljrWerfe alter 9lrt, Leiter
unb gußgänger bieten.
©on ber ÜDlitte biefer ©rüde aus gewahrten wir guerft bie canabifchen gäüe,
boch iu einer Entfernung, Welche fie nicht größer erfreuten ließ als bie oorhin
gefdjilberten. SBir fuhren bann nach bem canabifchen Ufer hinüber, welches, ab*
gefehen üou einem unbebeutenben ^öfienguge, in giemlicfjer Entfernung oom 9lanbe
ber Jliagarafchtucht ebenfo flach ift wie baS amerifanifche unb auch ebenfo Wie
biefeS mit SRiefcnhotetS, Sanbhäufern unb inbianifchen ©agarS gefchmüdt ober Oer*
ungiert, wie mait’S nehmen WiH. £>ier befinbet fich, nahe am $ufeifenfaH, auch
ein fogenannteS SDiufeum unb in geringer Entfernung baoon ift ber befte ©tanb*
punft, um bie Sliagarafälle als ©efammtbilb gu fehen.
$ie fteil abfallcnbe Siegeuinfel (©oat SSlanb) trennt ben Oor uns bonnernben
§ufcifenfatl (fo genannt nach b er hufeifenförmigen getSwanb, über welche er ftürgt)
Oon bem amcrilanifchen, unb bcr Slnblid biefer unerfchöpflichen SBaffermaffen, bereu
SBucht fich in unferer 9lähe am inä^tigften geigt, hat bei ihrem blenbenben garben»
fpiet oon fdjneeigent SBciß bis gu fmaragbenem ©rüu unb tiefbunletm ©lau etwas
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__ JHctne crfte (Sifenbafjnfafjrt in itmcrifa. 5(
UeberwältigenbeS, woju baS feierliche Scßallen, Naufcßen, ißlätfcßern, Biftßen unb
Stürmen ber Sturjftut ßalb erßebenb, ßalb betäubenb mittoirft.
SBir fliegen na cf) bem ©efammtüberblicf bon oben fo tief ßinab, als mir fom=
men fonnten, um. bie Säße bon unten 31 t feßen, wo bie gelswänbe, über toelcße
fie fich Wäfjen, in ganzer $öße erfeßeinen, unb ffommen bann, einen langen S3?eg
maeßenb, bis jur |>öße ber Säße felbft empor, wo man einen großen Sßeit ber
ßocßfcß&umenben Stromfcßnellen, auS melden fie ßerabbonnent, überfeßen lann.
3n$wifdjen fing eS an ju regnen, too mir beS SBafferS feßon genug bor unS
hatten. SEßir fueßten unfern SBagen auf unb fuhren nach Niagara ffaßs jurücf,
too in ber SBifla Doung bie anmutßige Herrin feßon aflcS jum Siner hergerichtet
ßatte. SaS SiBetter ließ fich injtoifdjen immer feßlimmer an unb baS Barometer
gab feine Hoffnung, baß ber .fjimntcl fich halb Hären werbe. So ßielt icß eS für
baS Sefte, noch an bemfelben Slbenb nach bem nahen Suffalo abjureifen unb bet
freunblitßen (Sintabung beS fßoung'fcßen (EßepaareS, wenigftenS ein paar Sage unter
ihrem Dach ju bertoeilen, um mir bie Niagarafätle recht grünblich anjufeßen, erft
bei günftigerm ÜBetter ju folgen.
Sie Unterhaltung bei Sifcß War feßr belebt, ba fie fieß nicht nur um ben
näßen Niagara breßte, fonbern aueß um baS ferne Siußlanb, too baS junge @ßc-
paar feine gtücflicßften 3 aßre oerlebt, feinen Sinberfegen unb oiele greunbe ge=
funben unb tooßin jurüd^ufeßren ißm ein lieber ©ebanfe war, troß ber SBirren
ber 3eit, bie baS Zarenreich feßon bamalS fo uitßeilbroßenb bewegten.
3cß fonnte biefe Slnßänglicßfeit an Nujjlattb, infolge eigener guter (Erinnerungen,
boßtommen oerfteßen. Sic bort anfäffigen gebilbetern ÜluSlänber bilben gleicßfam
eine SBelt für fteß, in Welcher eine feßr angeneßmc unb bequeme ©efeßigfeit ßerrfeßt.
Sie ©aftfreunbfcßaft ift bort ebenfo groß toie in Nmerifa, aber in SRußlanb wirb
nicht fo anftrengenb gearbeitet unb bafiir Weiß man baS Seben meßr 3 U genießen.
Eine fügfamere, aufprucßslofcre unb anßänglicßcre Sienerfcßaft, als man fie ge=
toößnticß in Slmerifa finbet, erleichtert ber |>errin bie giißrung beS &auSßaltS unb
läßt ißr meßr Zeit, fieß ber ©rjießung ißrer Sfinber unb geiftiger Sluffrifcßung
ju toibmen.
Saß ein paar toeiblicße Sienftboten, roelcßc ißrer £crrin naeß Nmerifa gefolgt
Waren, jutoeilen fpeimtoeß füßtten, fanb icß feßr natürlich; baß aber aueß ein
amerifanifeßer Siener, ber 3Jir. Doitng naeß Nufjlanb begleitet ßattc, fieß baßiit
jurücffeßnte, fiel mir auf.
Sie aßerliebften unb feßr woßle^ogenen Sfinber beS Kaufes ßatten in SWoSfau,
toie baS bort üblich, neben ber ruffifeßen aueß einige anbere Sprachen gleicßfam
fpielenb erlernt, Sngtifcß öon ißrem öater, Seutfcß oon ißrer SOtutter, Sranjöfifcß
»on ißrer SBonne, unb in Nujjlanb war ißnen im ffierfeßr mit ©efpielen oerfeßie»
bener Nationalitäten oft ©elegenßeit geboten, baS ©elerntc 31 t üben; in Niagara
3aHS fanben fie feine ©efpielen ba 3 u, unb fo feßuten aueß fie fieß naeß SNoSfau 3 urücf.
SBaS meinen Slufentßalt in Suffalo betrifft, wo icß fpät abeubs am 2 . Sec. eintraf,
mögen Wenige 3eilen genügen, ba meine Serüßrungcn mit ben Seutfcßen, bie icß
bort teunen lernte, äßnlicßer 9(rt toaren wie in Nocßefter, nur mit bem Unterfcßicbe,
4*
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52 Unferc Seit. _
baß idj mtcß ißrer nidEit fo erfreuen fonnte, ba idj, nadjbem i<ß muß einmal in
einem großem Greife bemegt, feinen jmeiten 93erfut£> mögen burfte, au« gureßt,
ernftlidß ju erftanfen. ®a« fd^auertic^e SBetter festen mir förmlich in bie ©lieber
gefahren ju fein unb ber Äopf ßing mir oor ©eßmerj nieber, al« ob er Don felbft
abfaüen motlte. 9lm 3. ®ec. mecßfelten groft, ©tßneegeftöber, ©türm nnb Siegen
bcrgeftalt ab, baß e« nur fror, um ©lattei« ju bilben, nur feßneite, um ben lag
ju oerfinftern, nur ftürmte, um ba« ©eßen in ben Straßen ßal«bretßcnb, unb nur
regnete, um ben ©djmuj unergrünblitß jn machen.
bon ber ©tabt befant icß babei menig ju feßen, obgleich i<ß lange barin um»
ßergefaßren mürbe, ©enauer fottte idj fie erft fpäter fennen lernen, al« icß im
Sommer 1880 au« bem fernen SBeften naeß SJJcutjorf jurüdfeßrte.
Slm SKorgen be« 4. 2)ec„ al« icß naeß einer fdjlaflofen Slacßt ben berfueß
machte, einen brief itacß $aufe ju fdjreiben, unb babei munterer ju erfeßeinen, al«
icß bei argem Äopffcßmerj mar, fam ju mir ein lieben«mürbiger Sfmerifaner Don
feßottifeßer Jperfunft, SJtr. ©raß, ber mieß fe^on Don 2)eutfcß(anb ßcr fannte, mo
er eine 3 eit lattg ftubirt ßatte, unb rietE) mir, bei bem mieber etma« ruhiger gc-
morbene« SBetter in offenem SBagen eine gaßrt naeß bem Griefee 5 U matten, um
meinen ßopffcßnterj ju linbern unb ben befudjen ju entgegen, bie ißn nur meßren
fönnten. balb barauf erfeßien ein greunb Don ißm, SRr. Semi«, ein junger Stecßt«»
gelehrter, ber in feinem eigenen buggß felbft ben S’utfdjer maeßte unb mieß auf
einer gaßrt Don niedrem ©tunben auf ba« angeneßmfte unb beleßreubfte unter»
ßielt. Gr ßatte ein paar Igaßre in Seipjig ftubirt unb fid^ ganj mit beutfdjer
Strt unb Sitte Dertraut gemalt.
buffalo liegt am öftlicßen Gnbe be« Griefee«, ber ju ben fünf großen cana»
bifeßen ©een gehört, meteße bie bereinigten Staaten Don Ganaba bergeftalt trennen,
baß bie ganje nörblidje Ufertinie ju Ganaba, bie ganje füblicße ju ben bereinigten
Staaten gehört. ®ie fünf großen ©een fteßen bureß ben Gricfanal in berbinbung
mit bem Sltlantifdjen Dcean, unb bem babureß ßerüorgerufenen berfeßr Derbanft
buffalo feine fcßnelle bermanbtung au« einem ®orfe in eine große, blüßenbe ©tabt,
bie ßeute feßon 140000 Ginmoßuer ^äßlt, 76 ßireßen, barunter 16 beutfeße, unb
9 3eitungen, barunter 3 beutfdje.
®te ^afenanlagen, mit bem ßoßen Seucßttßurm, ben $od« unb SBogenbrecßem
machen einen großartigen Ginbrud; ber See, ben man ebenfo gut ein binnenmecr
nennen lönnte, ift, fomeit ba« Stuge reießt, Don ©cßiffen belebt unb bie gaßrt an
feinem Ufer mirfte auf midj fo erquidlicß mie anregenb. $er Griefee ift ber
bater be« Stiagara, ber feßon naße bei buffalo ju einem majeftätifdjen Strome
ßerantoäcßft unb auf feinem furjen SBege ju bem 400 guß tiefer gelegenen Ontario»
fee meßr .jperrlicßfcit entfaltet al« bie größten ©tröme ber XBelt.
SBir ßielteu naeß langer gaßrt bei einem gort, mit beffen Gommanbanten
mieß mein begleitet befannt maeßte, bev feßr ladßte, al« icß ißm fagte, baß itß
ßier unter feinen Singen bie erften amerifanifißen Kanonen unb ©olbaten gefeßen.
2 )a« gort liegt am Saume be« See« ber canabiftßeu ßüfte gerabe gegenüber unb
erinnert an Seiten, too biefe« ©egenüber nießt fo frieblidßer Statur toar mie ßcutc.
Suriidgcfeßrt nad) buffalo, ftiegen mir bei äJlr. ©raß ab, ber uit« jn 5 ifd)
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JTCcine crftc <£ifenbal)ufal)rt in itmorifa.
55
erwartete unb in beffen grau id) eins ber lieblichftcu weiblichen SBefen fenneu
lernte, bie mein Muge je entpdt haben. $atte mich fdjon bie erfrifchenbe gaf)rt
am ©ee in gute Stimmung Perfekt, fo Würbe biefe noch tocfentlidj crpfjt burd)
ba« reijenbe gamilienbitb, ba« 2Nr«. ©rat) mir bot, al« fie ihre aßerliebftcu
Keinen Sbinber in« 3immer führte.
$afj hier ba« Setephon fdjon p bem üblichen £au«geräth gehörte, benterfte
ich, al« 3Rr«. ©rat) auf ein gegebene« 3eid)eu fid) bem nebeu ber Xf)ür ange*
brachten eleganten Machen näherte, um eine Sotfhaft entgegenpnehmen.
„$ie an micfj gerichtete grage gilt 3h neu < unb bie werben ©ie am beften felbft
beantworten fdnnen", fagte fie, inbem fie fid) lächelitb p mir toeubete: „3Rr.
Nobin« fragt an, ob 3Nr. ©obenftebt fc^ott eingetroffen fei unb toirflidj p Xifdj
bleiben werbe?"
Sil« ich meine Antwort gegeben hatte, erfolgte fofort bie an mich gerichtete
grage: „2Bie finben ©ie SNr«. ©rah?" worauf ich erwiberte: „©epubernb."
Nabh einer halben ©tunbe — fo weit hatte ber gragefteßer in taffem Irabe
p fahren, um feiner grage nadjpfommett — traf er felbft ein, al« wir fcüjon in
munterer Unterhaltung bet Xifd) faßen, ©ott Äopffdjmerj war tcingft nicht« mehr
p fpüteit, aber e« fcfjiert, al« ob fich meine ©rfältung itt ben Nüden gejogett
hätte in gorm eine« ^jejenfcfiuffe«. SlHein wenn ich ben $opf frei habe, !ann
ich anbere Schmerlen leicht ertragen, unb fo blieb ich Wäljrenb ber langen Sifcung
in ber beften Stimmung, bie auch oerminbert würbe, al« Wir nadj Sifcfj im
©ibliotheljimmer pm Kaffee eine Sigarre rauchten unb ich auf bem SNarmor*
gefim« be« ®amin« meine fämmtli^en Schriften au« früherer unb fpäterer 3eit
in einer ftattlidjen Neilje non öänben beifammen fanb.
2)er $immel hatte fid) im Saufe be« Nachmittag« aufgeflärt unb ich benufcte
feinen SBinl, bem ba« ©teigen be« ©arometer« befonbern Nadjbrud gab, um noch
an bemfelben Slbenb nad) Niagara galt« prücfpfehren, Wo ich wich bann in ber
gaftlidjen ©itta g)oung nach langer ©chlaflofigfeit einer bortrefflichen Nachtruhe
erfreute.
2 lm anbem SDtorgen ließ e« fich Ntr. ?)oung nicht nehmen, mich wieber p
ben gäflen p begleiten, bie mit bie«mat, bei heiterm Fimmel unb gctinbem groft,
borlamen Wie bie glänjenbe ©rfüßung einer buufeln ©erfjeißung. 2Bir fahen fie
bon aßen Stanbpunften au«, bon unten unb bon oben, unb ich lonnte mich nid)t
fatt batan feljeu; fie fchienen mir immer neue SSJunber p offenbaren. SEBir ber*
weilten faft eine ©tunbe auf ber felfigen BUgeninfel, bie mit ihren bon Schling*
pflanzen umflatterten ©ruppen bon Seben«bäumen, gichteu unb Schierlittg«tannen
fich au«nahm Wie ein gefronte« Stiicf Urwalb. Denfelben ©inbrud machten bie
bor ihr liegenben ©chweftcrinfeln (Sifter S^lanb«). 2Sir umgingen bie gaße in
bet liefe unb |)öhc, foweit Wir lommen tonnten, unb bie«mal machte mir ber
canabifche §ufeifenfaß ben mächtigsten ©inbrucf; er erfchien im ©onnenglanje
gerabep Wie au« lauter Jopafen unb auftralifchen diamanten gebitbet, unb feine
fchimmernben SNaffen bonnerten mit folcher SSucht in bie Xiefc herab, baß ber
unten aufgewirbelte Silberftaub fich ä u bergen baflte, bie noch über bie $ölje be«
gaß« emporftiegen unb bann wie Nebelfdjleier jerflatterten. Sßat mir früher, bei
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5^ Unfcre <3eit.
ummölftem #immel, ber gatl erfreuen roie ein föötteä SBerf auf fiöfchpapier
gebrucft, fo erfdjien er mir jefct als baffelbe SBerf auf golbenem ©runbe in einer
mit allen möglichen Gbelfteiuen negierten Prachtausgabe. $och ba$ ift ein matter
Vergleich, tuie beim überhaupt gur Seranfchaulichung biefer immer neue herrlich*
feiten enttjüflenben Sichtmelt fein SJergleidj auch nur ein annät)embe$ ©ilb bieten
fann. dreimal fah ich bie (Sonne über ben Silberftaubmolfen be$ amerifanifdjen
3 faQeö einen Regenbogen bilben, mie ich borbem ttic^td Sehnliches gefeiten; benn
maS mir fonft Regenbogen nennen, ift nichts, bergigen mit ben Sic^tmunbem,
melche hier fo genannt merben.
3)ie gemnnbenen ftelsmänbe, innerhalb toeld;cr ber Riagara fein milbcS 3owber^
fpicl treibt, fjaben bei einer SBeite non etma 1000 3uß eine liefe non nahegu
300 guß unb nehmen fid) non unten (roohin man bequem in einem Giebator ge=
langen fann) meit mächtiger aus als non oben, gleidjroie auch bie t$äüe. ®iefe
in allen Gingelheitcn, mit Slnfii^rung ber begteitenben Umftänbe, gu fdjilbern, fann
fein lebenbigeS ©efammtbilb geben. Gin folchcS ift nur möglich, menn eS gelingt,
baS SBefentlichc ber empfangenen Ginbrüde in großen 3ügen gufammengufaffen.
2Kir ift, inbem ich bieS nerfuepte, ein ©ebicht aus ber fteber gefprungett, roeldjeS
hier gum Schluß feinen piafc finben möge:
Riagara.
Xrub mar ber £imntel, als ich guerft bich fab
3« beiner milben ©röße, Riagara!
3Bie fernem Bonnern fdfjlug mir bein Schall ins D^r,
SIS mein ©lief ftd^ im Suchen nad) bir nertor
3m flauen, neröbeten SBintergefilbe,
©erbüftert burch bleierne SBolfengebilbe.
35odj näher unb näher ftetS hört' ich e$ fehlen,
SBie menn SBafferberge an Reifen gerpraflen
3m uitenblichen 9Reer, bom Drfane gehoben,
SRit unfiebtbaren §änben gefchleubert nach oben.
35a plöplid) erhebt fich bor mir ein ©eflimmer
SBon berfprühenbem Schaum, ber in eigenem Schimmer
SuS ber Xiefe auffteigt, unb ein SBolfengemimmel
®r$eugt, meit glängenber als baS am $immel.
Unb ich folge bem ©lang, unb jählings tfjut
©ich eilt Sbgrunb auf bott bemantener ©lut,
3Bo bie mächtig ftürgenben SBaffer bon oben
$ief unten gerftieben mit bonnernbem Xoben.
35a mühlt eS unb bäumt fich unb wirbelt unb gärt
3n bermirrenber SButh, hoch lieblich berHärt
35urch berfchleiernb ©ernölf aus berfprühenbem Schaum,
35aS fich fchimmernb erhebt, leicht fchmebcitb mie giaunt.
Run, als trüg' er bem ©lange ber 3:iefe Reib,
3erreißt auch ber Fimmel fein SBolfenfleib
Unb bie Sonne gießt ihre gange ©lut
ftinab in bie tofenbe Söafferflut,
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Zfteine erfte <£ifcnbafynfaf?rt in Jtmerifa.
55
Um in flüchtigen Silbern noch ScfjönreS mu setgen,
&IS an einigem ©tanme ihr fetber ju eigen.
Die Sturmfluten trinfen ben fonnigen ©fanm
Unb ftrahlen ihn toieber, gefättigt ganm.
Unb toie Äünftler mit gottberliehnen (bemalten
2TuS fich felbft bie erhabenften Silber geftalten.
So fcheint nun in beS Niagara Sorben
3ebe SBeüe, jeber Dropfen jum Zünftler geworben,
Unb Schöneres fommt burd) fie an ben Dag,
211S menfchltcheS Schaffen a« bilben bermag.
Die SBogen glühen bon Schönheit trunfen,
2luS ben Schaumfronen fpringen blifcenbe gunfen,
@S leuchtet in allen fjormen unb garben;
#ier erheben ftch fchimmernbe Strahlengarben,
Dort, über bie griSinfel gemogen,
Schiebt hein burchfichtiger Regenbogen,
Unb barunter bie gelStoanb ftemmt auf ben Söegen
DeS getoaltigen Stroms fich ihm breit entgegen,
Daf* bie SBaffer getheilt baS ©ilanb umtoinben,
SiS fie unten ftch toieber mufammenfinben
Rad) tiefem Sprung bon getrenntem $ang
gn bonnembem Driuntphgefang.
Rie erfchien mir ein Strombilb an SBunbern fo reich,
So ftürmifch im SBechfel, hoch immer ftch gleich
gn bemaubernber 9Rad)t urgetoaltigen Seins
Unb f)tf)xev ©ebilbe beS Schallet unb Scheins.
Drüb toar ber |>immel, als id) suerft bic^ fah
gn beiner toilben ©röfje, Riagara!
Unb bie Sonne mar fdjon im Untergehn
STtS ich fam, btd) m^u lebten male m« fehn.
Unb bu hi^feeft mich felbft tief hinunterfteigen,
Um Md) mir in Dotier ©rö&e mu meigen
gm tiefen, getounbenen gelfenbette.
Dich umragt feine fchimmernbe SergeSfette,
Deine Ufer finb flach unb öbe 9 Qn 8/
Doch bu brauchft feines prangenben Rahmens ©lanm:
Deine eigene ©lut, beiner SöeHen ßlang
SBirb mir leuchten unb Hingen mein Sehen lang.
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Wie franjöfif^'teuffdje (Dperette.
*on
töutiolf non ©ottfdjoll.
Die Dramaturgie ber ©egenmart ^at bie ©flieht, nicht bto« bie tünftterifch
bebeutenben ©Köpfungen be« ^ö^ern «Stils, fonbern auch untergeorbnete Stern utib
3 mitterbitbungen, bie fidj auf ber Sühne jeigen, in« Stuge p faffen, fobatb fie
eilte tonaugebenbe ©ettung gefunben haben. Da« 3 nterc ff e barau mag mehr ein
cutturhiftorifdjc« at« ein äfthetifdje« fein: man barf nie öergeffen, baff e« grofjc
©pochen gibt, in benen ba« Sweater nur ba« erftere einpftäfjen Bermag; ja mir
ftnb, menn bie je&igen ©üfinenBerhättniffe fortbauem, nicht meit baBon, in eine
foldjc ©poche cinptreten, ba ba« äft^etifd^e Stioeau ber ©ütjnen in Deutfcf)tanb
offenbar im jätjeften Stbfturj begriffen ift, bant ber Unfetbftänbigfeit Bieter ho<h s
geftcllten ©ütjnenteiter, metdEje fief) nur Bon ihrer Kaffe unb bamit oom fd)techteu
©efchmaef be« grofjen ©ubtifum« abhängig machen, ftatt auf baffetbe einen bitben-
beit unb Bercbetnben ©inftujj auSjuüben.
3 u biefen neueften bramatifcf) = tnufifalifcf)cn 3witterbitbungen gehört bie Dpe=
rette, bie Bon ©ari« tjer importirt mürbe unb mie alte«, ma« Bon ©ari« fommt,
ben beutfdjen StachahmungSgeift ^erau«forberte unb in D^ätigfeit Berfe^te. Die
Operette ift ettoa« fpecififd) Steue« unb mefenttich uuterftfjicben Bon ber (omiftficn
Oper unb bem frühem Sing= unb ßieberfpiet: man Bergtciche jebe beliebige
Dffenbatfjiabe mit ben Opern Stüber’«, gtotom’S, ßorfcing'S, Stifotai’5, unb man
mirb für beibe ©enre« faum einen gemeinfchaftlichen Stammbaum anneljmeu tönnen.
Da« Dtjeatre ffaBarb in ©ari« tjat mit ben Bouffes parisiennes nicht« gemein.
2tu« bem ßieberfpiet freilich tiat fidf) bie Operette entmiefett: ihr SJieifter Offenbar
hat ja anfang« eine grofje 3aljt fotdfjer ßieberfpiete gebietet, in benen fidfj fein
©ompofitionStatent §um D^eit in tttcfjr geläuterter 3orm auSfpradf) at« in feinen
fpätem fo erfolgreichen Operetten. ©leicljmot hot ba« ©aubeoiüe eine fo mefent*
tic^e Umgeftattung erlebt, al« e« pr Operette mürbe, bajj man biefe at« eine
gänjtidh neue ©attung betrachten barf. Stoch meniger Stehntidjfeit h<tt fte mit bem
beutfehen ßieberfpiet: man bente an bie harmtofen ©tüten ber ^ottei’fchen SDtufe,
an „Die SBiener in ©ertin", man bente an bie „Sieben SDtäbchen in Uniform",
atterbingS eine piece ä femmes, in metchem ber Dperettenteufet Borfpnfte, aber in
meinem UnfchulbSgemanbe; mie ganj anber« h a * fidf) bie« jiittgfte theatratifche
ßiebtingSfinb entmiefett!
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Die franjöftfd^bcutfcfec Operette.
57
Sie Operette ber Bouffes parisiennes, bie itaefefeer gum Sfeeit ins Sfeeätre beS
Varietes überfiebette, feat im ©turmfeferitt aße europäifcfeeit SBüfeneit erobert; jo
ber StteEanberjug ober üietmefer ber Vacefeantenjug ber Offenbaefe’fcfeen SRufe ging
bis in anbere SBetttfeeite. 3n ben beutfefeen $auptftäbten tourben befonbere ®iife=
iten gegränbet, weldje bieS ©eure öorjugSweife pflegten, ober beftefeenbe Süßten
tourben bem ©uttuS beffetben geweifet: fo baS griebriefe»3Bitfeetmftäbtifefee Sweater
in Vertin, baS ßiefibenjtfeeater in SreSben, Wäferenb fiefe in SQSien baS ßart»
Sweater unb baS Sfeeater an ber SBien unb auefe nodj britte Silanen in biefe
©rfolge feilten, ©injelne Operetten erlebten niete feunbert Sluffüferungen, unb
ba bie ©ottfeeit einmal ifere befonbent Sempet featte unb ber Opferprobiant boefe
mit ber ,8eit berbrauefet tourbe, fo mufete für ßiaefetieferungen geforgt toerbett, bie
niefet bon ber Dffenbacfe’fcfeen girtna aßein beftritten werben tonnten.
©tüctliefeerweife featte fiefe in ißaris batb eine Dffenbaefe’fefee Schule gebitbet;
bie jüngern ©omponiften, befonberS Secocq, traten in bie gufeftapfen beS ßßaeftro,
unb bie beutfefeen Sfeeaterbirectoren, befonberS bie wiener, eilten naefe ber ©eine»
feauptftabt unb fugten in ebetm SBetteifer fiefe ben Slfleinbefife biefer neueften ißro»
buctionen ftreitig ju matten; eS tourben enorme Honorare angeboten unb gegart,
bon benen ftd^ baS tinbtiefee ©emütfe ber beutfefeen poetifefeen unb mufitatifefeen
Vrobucenteit nicfetS träumen tiefe, bie ifenen Wie SJiärefeen auS Üaufenbunbeincr
Siaefet erttangen; benn mit einer jugfräftigen Operette featte eine ©fifene ja einen
fettenen ©efeafe erworben. feferten bie Sirectoren bon iferer Strgonautenfafert
mit bem ©otbenen VtieS nadj fpaufe, fo War ein greuen in aßen ©patten ber
geuifletonS, unb eine OorauSgefeenbe Stnatfefe beS neuen SMfterWerfeS machte baS
Vubtifum in feofeem SDiafee auf baffetbe gefpannt. fein SBunber, bafe bie parifer
Sorbern bie beutfefeen ©erufSgenoffen niefet fdjtnfen tiefeen: gab es niefet teiefet»
befefewingte ©omponiften genug, wetefee bie teden ©eitenpaS ber teidjtfüfeigen SJiufe
Dffenbacfe’S naefeinftrumentiren tonnten? ©ab eS niefet ©üfenenfcferiftftefler genug,
toetdje ben granjofen einige funftgriffe beS SKetier abgeternt Ratten? grifefe
benn ans SEBert. . . batb fefenurrten audj bie SBebftüfete in ber beutfefeen Operetten»
fabrit; batb War baS ßtäberwert im ooßften ©ange.
©S toar na türtiefe, bafe autfe bie fpecififdjen latente für bie Sarfteflung ber
Operetten niefet lange auf fitfe warten tiefeen: Wir brauefeen btoS an ben ßtamen
einer SJtarie ©eiftinger ju erinnern. Sie tumuttuarifefeen ©rfotge, wetefee biefem
eigenartigen latent jutfeeit Würben, bieffeit nnb jenfeit beS OceanS, ftefeen in teiner
Seife feintet benen juriid, Wetefee fid) feeroorragenbe fünftter in ben feöfeem ©at»
tungen barfteßenber fünft erworben feaben: man tann fiefe bie Operette nur benten
mit bem teden aufgewippten ©tumpfnäSefeen ber grau ©eiftinger; baS gefeört ju
iferer ißfefefiognomie. Safe biefe fünftierin meferere gafere feinburefe einen Stbftecfeer
in baS ©ebiet ber Sragöbie maefete unb fiefe burefe mafeooß ebte, tünftterifefee $at»
tung, burefe eine geläuterte ©rajie ber Sarfteßung einen ©tafe unter ben beften
Vertreterinnen biefeS gacfeS erwarb, ift eine Sfeatfaefee, Wetefee für ifere ganj
abfonbertiefee pfeänomenate ©ebeutung fpriefet. Soefe on revient toujours ä ses
Premiers amours. grau ©eiftinger, obfefeon tängft über bie Safere feinauS, in
benen ber Sugenbreij, ber gerabe für Dperettenfängerinnen unertäfetiefe erfefeeint.
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58 Unfere <3eit.
mit etementarifcger ©ewalt ju wirfen oermag, machte nach toie Oot in igren
Dperettenpartien Surore, unb nur gelegentlich befcgwor ffe eine tragifcge ©eftalt
mieber herauf unb fteUte bie fcgöne Spgigenie »eben bie fdjöne Helena. SBenn
man ben Stectamen ber Directionen unb ben ©ericgten woglgefinnter fititifer
©tauben fcgenfen barf, fo ift fein Wange! an „©erügmtgeiten" auf bem ©ebiete
biefeS $unftjweigeS ... unb ba$ ©anner ber Operette wirb gocggegatten oon einem
fräftigen StacgWucgS junger latente.
Sitte biefe Dgatfaegen beweifen jur ©enüge, tag wir es nid)t mit einer gete=
genttidj auftaucgenben bramatifd^mugfatifcgen Spielart ju tgnn hoben, fonbem
mit einer tief in baS ftinftlerifcge unb ©efcgmacfSleben eingreifenben ©attung,
beren SBirfungen auch au f baS etgifcge SBefen ber Station oon Einflug finb. SJtan
brauet gerabe nicht mit £>erbart unb feiner Schute bie Etgif auf ber Sleftgetif
aufjubauen, um bie SBirfungen ber fi’unft auf baS fitttiche Seben, minbegenS auf
bie ganje geiftige Sttmofpgäre einer Station, ju beren Elementen auch bie Sittlich*
feit gehört, anjuerfennen. Stun ift es feine Stage, bag bie Operette baju bei-
getragen h Q t, baS Stioeau beS KunftgefcgntacfS im Dgeater gerabjubrücfen, ja bag
ihr ein wefentlicfjer Slntgeil baran mit jujuggreiben ift, Wenn bie gögern ®<»t=
tungen bramatifcher Dichtungen, baS Ernfte, ©oetifcge, Stitooffe, immer mehr bei
bem ©ublifum in WiScrebit gefommen finb unb ber Sinn für baS Seichte, Dri*
Oiate, Srioole iibermiegt. Sticht nur fchtägt bie Wufif ber Operetten, Wenn fi<g
auch einzelne Wetobien ber begabtem Eomponiften bem Ohre einfcgmeicgetn, attju
oft ben Don beS ©affengauerS an unb befreunbet ben ©efchmacf beS ©ublifumS
mit biefer mufifalifcgen ©fennigfammlung oon untergeorbnetem ßunftwertg: nein,
ber ftoffartige Einbrucf biefer Wufif überwiegt auch noch igr fleringeS metobiöfeS
©erbienft; ihr tänjelnbeS unb güpfenbeS SSefen gemahnt wie eine unausgegorene
DUggrambif unb übt einen pridelnben Steij aus, ruft eilte flüchtige Erregung,
eine Sterüenfpannung geroor, welche mit fcgwüter Sinnlichfeit bie ©emütger ge*
fangen nimmt. Die ©eftie im Wenfcgen Wirb noch nicht toSgetaffen; aber ge
fpifct bie Ohren unb ihre Stüftern fprügen. ES ift bie Stimmung, in ber man
geneigt ift, altem ein Schnippchen ju fcgtagen, was geh wie moratifche Sfüdficgt
geberbet. Dag bie Wugf fotege Stimmung geroorrufen fann, beweifen gerabe bie
Dffenbadjiaben. 3» igren Daitirggtgmen gerrfegt feine reine Sröglidjfeit; eS ift
barin ein fpöttigger parobiftifeger 3ug ■ Hingt Wie ein teifcS $ogngeläegter auS
biefen wimmernben Säufen ber ©eigen, aus igren pricfelnben, oon Don ju Don
fpringenben Äecfgeiten, unb bie Stecgmufif ertönt wie ber Äorgbantenlärm ber geg
felbft äergeifegenben Sinnticgfeit, minbeftenS wie ber Särm einer Orgie, bie alles
jerftampft, mit Sögen unb in Segen tritt, was igr in ben SBeg fommt. Die
Offenbacfj’fcge Wugf gat ben Eancatt in ganj Europa fpajieren gefügrt. ES gab
eine Beit, wo man in Deutfcgtanb biefen Danj faum in anftänbiger ©efeßfegaft
erWägnen burfte, unb in ©aris felbft War er ein Obferüat ber ©olijei unb forg*
fällig würbe bie 4)öge gemegen, über Welche bie fugfcgleubembett ©rajien niegt
mit igren ©aS ginausoottigiren burften. Diefe Jpögenmegungen finb unter bem
second empire niegt fo peinlich beganbelt worben Wie unter bem Sürgerfönigtgum.
3egt wirb ber Eancan auf aßen beutfegen ©ügiten getanjt; gier fpieten nur bie
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Die franzöfifdpbeutfcfjc Operette.
59
SRegijfeure bie Sltofle ber parifer ©tabtfergeanten; boch fie haben feinen fo ge»
nauen 3°ßfto<f unb oietes bleibt ber Secenz ber Sängerinnen überlaffen. 2ßir
fprechen ^ier weniger üon bem Sancan als Sanz, obgleich i|n bei Offenbar fowol
bie olpmpifdhen ©öfter als auch bie fterbtidj rebenben SRenfchen tanzen; Wir
fpredjen oon bem mufifalifchen ßancan, ber in ber SRelobif unb Suftrumentation
ber Sieben» unb SRaufchfcenen in biefen Operetten ftd) ausprägt. Ser ©ancan mit
feinen mutwilligen WuSfdjreitungen, feinen feefen ©pottgeberben, mit bem ganzen
Wahnfinnigen ©eftreben, bie gußfpifcen unb bie 3iafenfpi|en jufommenjubringen,
ift im ©runbe ein fpmbolifdjer Sanz, in welkem baS ©turmlaufen ber Sinnlich»
feit unb ber $oljn auf bie ©orfdjriften ber Sittenpolizei gleichmäßig zum 9luS=
bruef fommt: unb biefe fpmbolifchc ©ebeutung hat auch ber ©ancan ber Offen»
bach’fchen Siolinen unb Körner, baS tüfterne ©etrippel unb ©eficher feiner Sittel
unb ©echzeh n tct/ biefer ganzen in ein Siraißeurgefecht aufgelöften ©djlachtreihen
ber Sone.
Unb Wie bie SDiufif, ift auch bet Sejt biefer Operetten gefchntarfoerberbenb:
es finb meiftenS burteSfe Sllbernljeiten, gemifcht mit Ijaitbgreiffic^en grioolitäten,
©arobien unb Sraoeftien, im beften gaß fdfledjt motioirte mufifalifdje Suftfpiele
ober fcenifche ©pectafelftücfe. Soch wie in ber SRufif bie „fpunberttaufenb Seufel"
ber ©hampagnerflafchen rumoren, fo auch >>' bem Sejt: ba geht’S nicht ab ohne
ein grinfenbeS ©ouplet, welches ber lanbeSiiblichen SRoral ein ©eficht fchneibet,
ohne aßerlei feefe Sweibeutigfeiten j m Sialog, ohne faum Oerfdßeierte Stubitätcn
in ber ^anblung. Sie jüngften Operetten finb zwar weit becenter, als biejenigen
OffenbafS waren; boch in feiner berfelben fehlen ctjtiifdje Slnfpielungen, bie man
in einem Suftfpiel nicht bulben Würbe, unb aßerlei gcfchledjtlidje ©ifanterien, beren
9teiz zum Shcil ein üerfteefter, aber boch nicht minber Wirffamer ift.
Ser ßtaturforfcher, ber eine ©attung befd^reiben luiß, wirb einzelne Snbiöibuen
ber oerfchiebenen ©pecieS unter bie Supe nehmen; aße Ülrten unb Swifdjenarten
fann er faum erfchöpfen. 2Bir woßen feinem Seifpiele folgen, inbem wir bie
(jauptfächlichften ©pecieS ber Operette an einzelnen Seifpielen näher analpfircn.
©ahn gebrochen hat bem ganzen ©enre bie mtjthologifche Operette Offen»
buch’S; wir erwähnen in erfter Sinie „Orpheus in ber Unterwelt" unb „Sie fchönc
Helena". Sie erfte Sluffüljrung beS „Orpheus" in Seutfchlanb fanb unferS SßiffenS
in ©reSlau ftatt: ber ©rfolg war ein zweifelhafter; eS fehlte nicht an einer Oppo-
fition, welche baS ©enre biefer mtjthologifchen ©arobie beanftanbete. ©alb aber
Würbe in ben großen $auptftäbten ber ©rfolg beS „DrpheuS" eutfdjiebcn, unb noch
ßegreicher War „Sie fchöne $elena" bei ihrem SRunbgang über bie Sühnen: groß
War ber SBetteifer ber Äünftlerinnen, biefe heßenifdie Schönheit zu oerförpern mit
fo oieler ißlaftif, als irgenb bie Secenz geftattete; leiber War eS ja oerboten,
ganz bie förperliche Schönheit mit ber erhabenen SRaioetät eines lebenbigen 3Rar=
rnorS zur @d)au zu fteßen, wie bieS einft auf ben ftürmifchen SSuufch ber $ufd)auer
bie römifchen Sänzerinnen zu tl;un pflegten. Ob unfere ©ultur fidf noch bis zu
SWafarffchen Silbern auf ber Sühne üerfteigeu wirb, ift glücflicherWeife minbeftenS
noch fraglich: jebenfaßS bleibt bis bahin bie £auptfceue in ber „Schönen Helena"
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Uitferc <5cit.
nrnß fcßücßterner ©ßtnbolif anßeimgegeben, welche nur unboUftänbig bie Intentionen
ber Sitßter unb ©omponiften anbeutet.
©urßbtce tn „DrpßeuS in ber Unterwelt" war bas erfte grauenibcal naeß bet
©djablone ber Dffettbacßiaben; fie geßt ißrent SDJamte, bem ©iolinfpieler OrpßeuS
burd;, Don fßluto entführt; ißre SWotibe fmb einleußtenb:
Da8 »ertoünfrfjte Spiel
SBar mir längft ju Diel,
Denn Weber SRaft nodj 9tuße gönnt
®tir baS fatale Qnftrument.
DrpßcuS wirb bon ber öffentließen SKeinung genötigt, feine grau wieber jurüd*
jußotcn, obglcicß ißm feßr Wenig baran liegt. SBir werben junäcßft auf ben 0lt)mp
geführt; ba wirb unS ganj blumaueriftß ju SWutße unter ben feßlafenben unb
gäßttenbcu ©öttern unb ©öffintten, bie aber, fobalb fie munter geworben, gegen
Jupiter rcooltiren unb ißm in einer Steife oon ©oupletS feine fämmtlicßen Sieb*
feßaften unb ©ünben in ßößft pifatifer SWanier borßalten. SJtinerba beginnt bie
©pottlieber mit ber ©tropfe:
Um einft Stlfmene ju betljören,
©ift bu if)r atS xfjr SWann genagt.
©ei mnneßet grau — idj mödft’S beftßtoören,
SBär' biefeS SRittel mißt probat
$afjaßa!
9?uu fdfaue nidjt fo fromm barein!
2Bir fennen biefj, gupitertein!
Orpheus fommt uitb beflagt fieß über ©luto: 3 u b't er verlangt, baß ©urßbice
ißm jurüdgegeben Werbe, begibt fieß bann fefbft in bie Unterwelt, junäeßft als
große ©rummfliege in baS ©ouboir ^luto’S, unb baS golbbeflügelte SBefen Wirb boit
©urßbice feßt freuttblicß aufgenommen. Sann ift großer ©ommerS in ber §öfle,
ju welkem alle ©ötter fieß eingefunben ßaben: ©urßbice erfdßeint als Saccßantin
unb fingt ein ©boelieb jum Sobe beS ©actßuS; bann tanjt fie mit Jupiter unb
bie ganjen ©öttinnen unb ©ötter cancanircn. .ßuleßt fällt Jupiter baS befannte
Urtßeil: „OrpßeuS barf fieß ttießf umfeßen naeß feiner ©attin, wenn er mit ißr
bie Unterwelt bertäßt: fonft berliert er fie auf immer." OrpßeuS aber fießt fteß
um; er weiß es nießt, wie ißm gefeßießt, unb ©urßbice bleibt als ©aeißantin in
ber Unterwelt, womit fie in ßoßem SDtaße jufrieben ift.
Sie ^elbin biefcS mufifalifeßen ©ancan ift eine flotte ©ßebreeßeriit, welcße
gegen ißren ©atten tiefen Slbfeßeu ßegt, fieß bon einem ©ott entfüßren, bon bem
anbern, bem frommen Supiterlein, in ben ®reiS feiner olßmpifeßen Siebfcßaften
aufneßmen läßt unb juleßt als ©aeeßantin für bie permanente Orgie, für bie ©ro=
ftitution im Dtßmp unb in ber Unterwelt engagirt Wirb. 2llS einzige ©ertreterin
beS SRoratprincipS tritt bie offen fließe ÜReinung auf, Weteße in ßöcßft unbequemer
SSeife ben ©atten nötßigt, fiiß feine grau, bie er lieber loS fein möeßte, jurüd*
jitßolen; boeß am ©eßluffe feßlägt er ißr ein ©cßnippcßen, inbem er Supiter’S
erßaltenen UrtßeitSfpruiß fcßlau benußt. ©ewiß, ©urßbice ift ein weibließeS SBefeit,
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Die franjöfifd} * öeulfdjc Operette.
6{
roelcheS, Wenn eS nicht im mhthologifdjen ©etoanbc erfcfjten, ber 9?anna nichts öor«
aitSjugeben brauste.
SBir Ratten unfern Slumauer, ber ein efjrtidjer ©pniler war; bie grangofen
laben ihre ©recourt unb ißarnt), unb jebenfaflS hat ber „©ötterfrieg" beS lefctern
Rector ©remieuj gu feinet bratnatifchen SR^n^fobie begeiftert. @3 fehlt berfelbcn
inbefj ni<ht an eingelnen, WirMich originellen Bügen: ber ißring Don 9lrfabien,
|>an3 @t%, ift eine ergö^tic^e gigur; Jupiter als Sruntmflicge eine erheiternbe
ßrfinbung: hingu fommt, ba& Offenbar lottmufe ihre guten ©tunben hotte, als
fte ben „Orpheus" fchuf, unb eingelne Hummern biefer Cper febenfaßs gu feinen
beften ©ompofitionen gehören, ©o läfjt e$ fich erMären, baß biefe erfte größere
Offenbadjiabe mit lärmenbem ©rfotg ihre SRunbe über bie beutfchen Sühnen machte
unb aßen fpätem fotuie ben Stachahmungen, bie nicht auSbtieben, ben SSeg bahnte.
„S)ie fchöne Helena" ift bie gWeite Serförperung beS Dffenbach’fchen grauen*
ibealS, ihre ©ntführung bnrch ben fchönen IßariS ber ber Operette. Sßomit
©urpbice beginnt, bamit fchliefjt Helena: befto mehr 5Raunt ift bem dichter nnb
©omponiften gegönnt, bie Sntführung3gefd)icf)te fetbft in aßen ihren Nuancen gu
fchilbem unb fo frioot wie möglich auSgubeuten. ©)ie guten (S^emöimer mögen
in bem phitiftröfen fchlafmü^igen äJtenelaoS ihr ©benbilb fehen; bie ehebrecherifche
Siebe wirb als ein Serhängnijj angefehen, unb bieS Sevhäugnijj Derfpottet unb
parobirt. SenuS fchüfct biefe Siebe; ißaris hotte eine Meine Siaifon mit ihr, ehe
er ihr auf bem 3ba ben Stpfel gab:
Qfjr mußt’ ich ben Stpfel geben,
ffalehaS, bu treibt mol marum.
SBcnn ber gute äRenelaoS mit bem SReifefacf fich nach Sreta einfchifft, ba weif}
man fdjon, waS paffiren Wirb. £>at hoch SariS fchon Dorher eine Souboirfcenc
mit ^etena burchgemacht unb fich überzeugt, baß fein burdj bie Senn» Derwöhnter
©efdjmacf ber grau SRenelaoS gegenüber noch ouf feine Soften fommt. Son
toetchem ©djlage biefe Helena ift, bie fich über bie |>anb bcS SerljängniffeS moqnirt,
beweift befonberS baS ©pottlieb auf bie eheliche ©reue, baS fie im lebten Siet
fingt, ©in ©bemann foß, wenn er Don Steifen gurücffommt, Ijü&fch bei feiner
©attin anMopfen:
$ann finbet er
8« jeber Seit
©ein Söeibcben jum
{Empfang bereit.
Siegreich fährt Helena am ©chlufi mit ihrem Saris ab unb bie fteUencn hoben
bas ißachfehen, ein unangenehmes ©efühl, aus welchem fpäter ber trojanifche
Stieg entfprang.
Offenbach’S SRufe ift hier Don ben ©öttem gu ben Heroen herabgeftiegen, wenn*
gleich bie ©öttermafchinerie noch immer mitfpielt. ©)ie gelben ber Stiabe:
Mgamemnon, SlchifleuS, bie Sljaje, ÜJJenelaoS probneiren fich felbft in ben gibel-
Derfen, in benen fie fich charafterifiren; auch ber ißriefter SalchoS wirb Derfpottet,
mit er ben ©onncr fabricirt. !gn einigen biefer Scrfe nnb ©eenen ift bie burleSfc
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llnforo
Sarobie burchauS glüdlid), wobei wir bemecten wollen, baff in IßariS bie Operette
in weit burleSterm Jon bargeftellt wirb als in Jeutfdjtanb. JaS SiebeSbuett
jwifchcn SoriS unb Helena bilbet ihren mufifalifchen £>öhepunft; hier werben bie
Bollern Älänge ber Siebes» unb SdjönheitSorgie angefd)lagen, wäljrenb in ben
frinolen Couplets bie trippelnbe unb pricfelnbe SDtelobie Borherrfdjt, baS fpöttifche
©eficfjer unb lüfteme ©eflüfter beS Berboteneit Abenteuers.
3n Jeutfdjlanb hot bie mpt^ologift^e Operette wenig Stachahmer angereijt;
Wir tönnen nur eine einzige anfüt)ren, bie biefent ©eure angehört; freilich ift fie,
trojj ihrer S'ürje, Bielleicht bie befte Bon allen unb h«t auch mit ben Offenbachiaben
gewetteifert; Wir meinen „Jie fchöne ©alathea" Bon granj Bon Suppe. ®S
ift in biefem mufitalifchen (Sinacter ein origineller SinfatI, ba| bie jum Seben
erwccfte Statue ißhgmalion’S herumfpaaicrt, fich in &ufs* unb Staufdjfcenen ergeht
unb im tjöchften ©rabc bcmimonberifch geberbet, bis fie Wieber auf ihr Ißiebeftat
jurucffehten muff. Son bem Siecht ber Slubität, baS einer Statue julommt, !ann
bie fchöne ©alathea in heutiger 3eit natürlich nur einen mäßigen ©ebrauch machen;
Bietleicht gelangt bie Operette ber gufunft ju römifchen Sitten. 2Bir wollen inbefj
bei biejer ©elegenheit bewerten, bah bie Operettenfängerinnen für gewiffe Stollen
fich ein eigenartiges Eoftünt jurecf)tgcma<ht unb einen AuSfchnitt in ben Kleibern
jur ©eltung gebracht hoben, ber weit übet bie fchüd)ternen AuSfchnitte beS Weib»
liehen ÜJtobecoftümS jur 3eit ber fran^öfifchen Jirectoriatregierung hinauSgeht.
JaS eine Sein ber S'ünftlerinnen wirb gelegentlich fo fichtbar, bah taum irgenbein
Jheil beffetben für ein anatomifcheS Präparat fehlen würbe. 933ir erwähnen bieS
als einen Seitrag $ur ©fjcurofteriftil ber Operette; benn fie brängt nach ber Sin»
bität, wie bie AuSftattungSftücfe unb les piäces ä femmes auf ber franjöfifchen
Sühne; ein ^»auptreij beS ganzen ©enrcS heftest in ber Schauftetlung weiblicher
Siei^c; ber Sieg ber JricotS über bie fchüchterne Anbeutung Bon ÄteibungSftücfen,
bie alte im SHeiberfdjranfe ber Sübfeeinfulanerinncn Ißlafe fiitbcn, ift auf ber parifer
Sütjue ein oollftänbigcr geworben: hierüber berichtet auch SeuiKot fehr eingehenb
in feinen „Odeurs de Paris". „Jie fchöne ©alathea" hat, abgefehen Bon ihrer
wanbetnben SJlarmorgöttin, eine töftliche Gh ar 3 e in bem Sunftenthufiaften SKibaS,
ber feinem Sater ©orgiaS unb feiner SJiutter Säbele eine fo treffliche ©rjiehung
oerbanft. 3tt mancher ^inficht ift biefe einactige Operette werthBoller als
Biele Offenbachiaben, ja als Suppc’S fpäterc umfangreiche bramatifch»mufifatifche
Schöpfungen. ©S herrfcht barin eine fich bem Ohre cinfchmeidjelnbe SRetobit, nicht
bloS in ben Couplets Bon SJlibaS unb ©anpmeb, fonbern befonberS in ben ffuh»
unb Jrintliebern, unb aus Bielen neuern Operetten tarnt man biefe SJlotiBe, bir
nur wenig Bariirt finb, Wieber heraushören.
Auch baS SJiärchen befruchtete bie Ißfjontafie ber Dffenba<h»ißoeten: „Staubart"
würbe jum gelben einer Operette gemacht. £>ier beftanb bie parobiftif^e ißointe
barin, bah bie Ijingefchlachteten grauen beS graufamen StitterS alle noch am Seben
finb unb jwar ein recht flotteS Seben führen. Ja ein foldjer SJiärchenftoff fich
©runbe felbft parobirt, fobajj auch bie Sehanblung beffelben Bott Subwig Jiecf
an bie ißarobie grenjt, fo fehlt ber pifante Steij, ber bort fich gettenb macht, wo
bie erhabenen Olympier in ben gemeinen Staub gezogen werben.
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Die franjöftfdpbeutfdje Operette.
63
Sag jtBcite ©enre ber Operette Jönnte man ald bad n o ü e 11 i ft i f d) e beneid] neu:
eg ftnb bieö allerlei bunte Abenteuer, bie fid) an einem beliebigen gaben abfpinnen;
natürlich barf eg babei an Jeden Siebegüerwidelungen, £arncüalsfd)erjen, Orgien
jeber 9lrt unb oerfappten ©fjebrftdien nicf)t fehlen; fo riicffynttslog freilich toie im
feligen 5Reid|e ber ©ötter barf auf ©rben bergteidjen nidjt jur Sdjau getragen
»erben; bagegen liegt ein befonberer IReij in bem öerftedfpielen unb Slßnenlaffen
unb allerlei pifanten Stnbeutungen. Siefe SioDetliftif auf ber SBüßne muß alfo
im ©til beg Boccaccio gehalten fein, unb in ber Sfjat ift Soccaccio audj jurn
gelben einer folgen Operette gemacht worben, unb 3 »ar üon ben beutfdjen Schrift»
fteBern Ä. 8 ell unb SRic^arb ©enee, beren Sejt non granj non Suppe com»
ponirt würbe. Siefe 8uffo»0per ift in ber SI)at ein Konglomerat oon SRoüetlen,
bei beuen bie geprellten Seemänner eine bebauerlidje Hauptrolle fpielen unb wäljrenb
ber Siebedfcetien ifjrer ©attimten auf Säumen unb in Sonnen alg Bufdiauer fifjen.
Sag Knäuel non Slbenteuern ift in biefer Oper ju bunt burdßeinanbergewirrt: ber
„§auptfitou" Soccaccio ift ein üerwegener Son guan; boe^ ißocfic unb 9RufiJ
gipfeln in einem getoiffen mouffirenben Sitliprambug, mit »eitlem SBifc, Junior,
Saune, bag SRed)t, bie SS3af)rt)eit ju fagen, alg allgemeine 3Renfd)enred)te nnb be=
fonberg alg SRedjte beg Siditerg in Slnfprudj genommen werben. Sie SRorat beg
Stüdg ift freilidj alten unb Ijäßlidjen Seemännern wenig giinftig unb gipfelt in
ben 3 Beigl)eitgleljren beg Soccaccio, baß ber Sämon „ßangeweile" an allem bie
Sdjulb trage unb bafj bie grauen ben greibrief f)aben, fid; anberweitig 31 t amu»
firen, wenn bie Seemänner langweilig finb: aßetbingg eine fefjr bequeme Operetten»
moral. „Ser Garneoal oon Stom", Seit Oon gofepljörann, 3Rufit üon gran 3
üon Suppe, ift ebenfatlg ein foldjcg noüeUiftifd)eg mixtum oompositum, Ijin unb
wieber, befonberg im erften Stet, fogar mit warmen ©efiiljlgtöncn unb einer burdj
bag Stiid burdjgeljenben fentimentalen SRoHe. Ser Sdjwerpunft beruht auf bem
jweiten Slct, wo bie Süffne nebeneinanber ein luftigeg ©acdjanal unb einen Slofter»
garten 3 eigt, in Welkem ßiebedrenbegüoug fid) abfpielen uub 3 ugleid) bie Können,
äfqitid) wie iljre Slofterfdjweftern aug „Robert le Diable" üon bacdjantifdjcn
©elüften, üom Saumei beg Kancan erfaßt werben.
Sie üometjmfte biefer Sonüerfationgoperetten ift „äJtabame gaüart", üon
Offenbadj; man Jönnte fic ein in SDtufiJ gefegt cd Ijiftorifcfieg ßuftfpiel nennen.
Sie gntrigue in biefem Sejt üon £f)iüot unb Surit ift mit einer großen geinfjeit
burtfigefuljrt; ja bag gan 3 e SBerJ Jann Wol auf ben Kamen einer Jomifcßen Oper,
ben eg füfwt, mit Kedjt Slnfprud) madjen. SSie ÜRabame gaüart, bie gefeierte
Äünftlerin, ißren ©atten üon ber Saftitte errettet, bag bilbet ben Sern ber fjanb»
lung; ber Sparafter ber Operette aber wirb burd) bag belicbteftc 9Rotiü biefer
bramatifdjen ©attung üertreten, bag man am beften in bie gormel „ber gawn
unb bie Kpmpfje" faffen Jönnte, unb bag in allen möglichen Varianten wieberleßrt.
Ser gaun ift natürlidj alt unb t)äßlicß unb bie Kpmptje treibt ein lodereg Spiel
mit iljm: barin liegt eine abfonberlidie IßiJantcrie, ein $aut»goüt, ben fidj bie auf
allerlei finntidje ©elüfte fpecultrenbe Operette nid)t entgegen laffen barf; ber gaun
in „ÜRabame gaüart" ift ber SRarquig be ißontfable, ber in ©alanterie t)inter
feinen Sinnen nid)t 3 urlidftelien Will unb üon ber Sdjaufpielerin gefoppt wirb.
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6 ^ Unforc <3eit.
Sn ber Operette „Seanne, Seannette unb 3eanneton", oon ©lairöiffe unb
lelacour, SJtufif oon Saconte, fpielen brei SJtäbcben au« ber fßrooing bie
Hauptrolle; eine baoon ift bie Iu6arrt), eine Helbin, ber man wenigftcn« nid)t
ben beften Stuf natfjrnfjnten lann. Operetten im ©oftiim bet Stococogeit finben
ficb häufig genug. $ie mobernen bewegen (ic^ oft auf einem twn ber grioolität
fe£)r untcrwüblten ©oben.
911« ber glücflidjfte ffiurf unter ben mobernen Operetten muff bie „gtebermau«",
non Strauß, begegnet werben; natürlich ift aud) ^icr bie Höhlung fo frioot
wie möglich, aber bie Situationen finb gum jHjcil wahrhaft fomifcb. ®er ®e=
fangene unb ber ©efängnißbircctor, bie beibe, ohne fiel) gu fennen, ficb auf einem
©all öon Stoue« begegnen, bitben ein fetjr ergöblicbe« ©ifolium. ©or allem aber
Ijat bie SJtufif eine oft binreißenbe ©eroe; ber Ion bodjaufjauebgenber SebenSlnft
unb be« tollen Saccbanal« ift taum in einer anbern Operette fo glüdlid) getroffen.
9tuf ba« ©ebiet bc« ^iftorifcfien Suftfpiel« wie „SJtabame gaüart" gehört auch
„SJtamfcß 9lngot, bie lobtet ber Hofo", Operette oon ©lairoille, @iran=
bin unb Koning, SJtufif oon ©harte« fiecocq. SJtit biefem ©tüd ift bie ©ahn
be« militärifcfien ©diouftüd« betreten worben, auf Welchem gasreiche Stacbabmer
folgen. $ie Operette, bie einen großen ©rfotg ^atte unb iu welker neben 9lngot
bie SJtaitreffe »on ©arra«, gräulein Sange, eine große Stolle fpielt, Ijat bie
lirectorialgeit ber grangöfifeben Steoolution gum ^)intcrgrunbe unb wirft nicht
wenig bureb bie origineflen ©oftürnc jener ®podje. S« fleinftaatticfien beutfdjen
2 eben«freifen fpielt Offenbacb’« „©roßbergogin oon ©erolftein", ein ©tücf, beffeu
Helbin eine fragwüobige ffirftlicbe 9tmagone ift, welche ißre Slrrnee gum gront-
mar)d; nach ben tßrofcenium«lampen commanbirt. $a« SJianöOer wieber^olt fid)
in einer SJtenge oon ©tüden: ebenfo Wie bie Saricaturen au« bem Hoffen* ©o
befonber« in „fßring SJtetßnfalem", Oon SBiIber unb lelacour, SJtufif oon
Soßann Strauß,, in welchem ©tiid gur 9lbwecbfelung ftatt ber beutfdjen Klein*
ftaaten italienif^e, Irocabero unb Stifaraf, eine Stolle fpieten; politifdje Heiraten,
Steoolutionen, gragen ber X^ronfotge bilben hier ben Hauptinhalt; fomiftße Schau*
ftellungen ber Hofetifette unb militärife^e ßoolutionen muffen bie Koften be« 9lmufe*
ment« tragen. S n „gatiniba", oon K. 3c11 unb Sticßarb ©enee, unb „$onna
Suanita", üon benfelben Stutoren, SJtufif oon grang oon Suppe, Ijcrrfdjt eben»
faß« ba« fotbatißbe Seben oor. Sn „gatinifca", einer Operette, bie Wäßrenb bc«
lebten orienta(ifd>en Krieges fpielt, werben halb bie lürfen oon ben Stuffen, halb
bie Stuffen oon ben lürfen überfaßen. S« „lonna Suanita" feßen wir auf fpa
nifebem ©oben ben Kampf gwif^en Stepublifanern ber erften Steoolution, benen bie
©eoölferung anbängt, unb ben ©nglänbern, benen bie ©ebörben ficb anfcßließen.
©dßußtableau bitbet ein erobertet gort: Kanonen, ©ferbe, ber gange fotbatifdbe
9lpparat ift auf ber ©übne gu feben. las! genügt freilich nidjt für bie pifantc
SBürge einer Operette; bagn bebarf e« be« gefdjid>tlicben Hout=goüt, ber in beiben
©tüden bureb biefelbe gefebidte SJtanipulation ber Slntoren erreicht Wirb, ©in
9lbole«centulu« oerfleibet ficb al« SJtäbcben unb macht fo ©tiid bei aßen ©eneralen,
bie ficb in ib n oerlieben. Stun toirb aber biefer Säugling oon einem SJtäbcben,
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Die franjöftfdp&cutfdje Operette.
65
txm bet Soubrette, gefpiett: unb hieraus ergeben fiefj Situationen, bie batb nach
ber einen, batb nach ber anbern Seite hin einen ebenfo pifanten toie ungefunben
Seigefchmatf $aben.
S33ir haben eine beträchtliche Bäht ber betiebteften unb pifanteften Operetten
SSetme paffiren taffen: baS Sßublifum ber großen $auptftäbte ©erlin unb SBien
f>at Wof (Gelegenheit gehabt, fte alte gu fetjen. 2tuS ber Inhaltsangabe berfetben
ge^t gur (Genüge ^eroor, baß mit wenigen SluSnahmen alte biefe Stüde auf bie
fd>Iedjten ©etiifte ber großen SDJenge fpecutircn unb fid) im Raffinement gu über*
bieten fudjen. (Gäbe eS feine potigeitichen Schranfen, fo würbe fich in ©egug auf
$ubitaten bie Operettenbühne in eine oottftänbige ®ref|fchei6e Oerwanbetn. ®ie
Somponiften Offenbar unb Secoq, Strauß unb Suppe finb gu tatentöoH, um nicht
hier unb bort gtütftidje mufifatifche Snftrumentatiou gu geigen; aber bie (Grunb*
motioe erinnern bod) immer an ben ©affenljauer unb bie gange ftüftembe, trip*
pelnbe unb pridetnbe SRufif ift unausgegorener ßancan, wo fie nicht offen in
benfetben übergeht. SBenn baS ffunftgenre, baS fich einer fo überaus großen
Beliebtheit erfreut, auch nicht an unb für fidj ber Stefthetif unb ©thif f?of)u
fprdche, unb gwar am weiften burch feine ©arobie auf atteS ©bie unb höhere, fo
würbe baffetbe hoch beshatb atS ein unerfreuliches tßrobuct ber Seit erfreuten
müffen, weit eS baburch, baß eS ben ©efchmad an baS Seichte unb Sequeme, baS
RichtSfagenbe unb Silberne gewöhnt, ihn tion ben höh ern Seiftungen ber SOtufif
unb ©oefte abtenft unb baS ÜJtiöeau beffetben immer mehr Oerftacht. ®aS grau*
jofenthum mit feinem mouffirenbeit ©Sprit unb feiner flotten Siebertidjfeit hat noch
mehr mit ber Operette, als mit ber ©omebie bie beutfdjen ©ühnen erobert; aüeS
$eutfche auf biefem (Gebiete ift nur Imitation beS grangöfifcheit. ®aburch aber
hat bie ©igenart beS beutfehen SBefenS eine bebenftidje Schäbigung erlitten, unb
baS höhere beutfehe ®rama weiß baöon gu ergöhten, wie burch bie ©rfotge ber
Boaffcs parisiennes unb ihres burd) gang ©uropa t)inf £ 8 £ nben fometarifchen
Schweifes bie bem reinem ©uttuS ber Schönheit geweihten Sühnen öeröben.
Unlftf «rit. »*c«c. i.
5
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Jfor&afrika unb feine Gebeut uns in ber (öegennjart.
»Olt
iFrwbrtdj von fjellroalt).
I.
Storbafrifa ftef)t gegenwärtig toiebev im Sorbergrunbe bed Sntereffe«, Storb«
afrifa, jettet ganze ungeheuere ©ebiet Don ben ©eftaben bed 9Ct(antifc^en Dceand
bid an bie Ufer bed Stild; nicht blöd bie nörbtichen Äüftenftriche, fonbern auch
bie hint« ben Sergen gelagerte ^odjebene ber berüchtigten Sahara mit ihren
fanatifdjen Süftenftämmen lenlt mehr benn je bie 91 ugen ©uropad auf fich.
Ser inbefj aufmertfam bie Berichte ber lagedblätter über bie bort fich abfpielenben
©reigniffe oerfolgt, hat hiureichenb ©elegenheit, fich non ber merfwürbigen Un«
fenntnifj ju überzeugen, welche über biefed und hoch fo nahe gelegene Stücf afrifa«
nifcher ©rbe noch in ben weiteften Greifen oerbreitet ift. Soweit ber Stanb
unferd heutigen SBiffend ed zutäfjt, will ich baljer oerfuchen, $inge, SKenfchcn unb
Suftänbe in Storbafrifa ju beleuchten.
©eograpljifch läfjt fich Dtorbafrifa ziemlich beutlich in zwei beftimmte ©ebiete
bon freilich feht öerfdjiebener 91udbehnung zerlegen. Scheinbar berleiht bem auch
bie Äüftenbilbmtg 9tudbrud, welche bid zur flachen ©inbuchtung bed Shrtenmeered
eine gebirgige Seftf|älfte, oom ©olf oon ©abed an aber eine öftlidje, niebrigere
#albe crlennen läßt; bo<h nur fcheinbar, benn nicht neben«, fonbern hinter«
einanber liegen bie beiben geographiidjen Sinbioibuen Storbafrifad. ®d finb bied
bad ©rhebungdftjftem, welched ztoifchen Sap Siun im Seften unb ©ap Son im
Dften ben norbweftlidhen Itheil ganz Slfrifad einnimmt, bann aber bie Sahara,
welche fübtidj oon bemfelben fich aufbaut unb am Sprtengolf bad ÜDlittellänbifche
SReer erteilt, biefem entlang fich oftwärtd bid zum Stiltljale fortfefcenb, fobaf? fo«
Wol bie bad Sprtenmeer im Süben umrahmenben ©rhebungen ald auch bad fßlateau
oon Sarfa, wie neuere gorfchungen unb Unterfuchungen aufzeigten, ald ©lieber
ber Sahara fich barftetlen.
Senben Wir zuuädjft und bem erften unb Keinem Ignbioibuum zu, bem
norbafrifanifchen ©rhebungdfpfteme, fo bürfen wir wol mit gug unb Stecht ben
ganzen Sänberabfdjnitt oom ©ap 9tun bid zum ©ap Son, b. h- ben Staunt, welchen
bad Sultanat SJtaroffo, bie franjöfifche fßrooinz 9Ugerien unb bie „Stegentfchaft"
Hunid einnehmen, ald ©in ©anzed anfprechen, ald ©in ©anzed betrachten, info«
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Horöafrifa uttb feilte Öebeutuno, in 6er (Segenwart. 67
fern baffelbe feinem Sau naeß in feßarfem ©egenfaß ju ber benachbarten Sahara
im ©üben fteßt. Siicßt mit Unrecht in ber 2ßat ßot Sari Stifter baffelbe als
„Äleinafrifa" bezeichnet, in Slacßbilbung Don „Sleinafien", an welcßen 2ßeil beS
afiatifchen Kontinents eS bielfacß erinnert. SBie Kleinaficn, ift auch ber itorbweft*
liehe STnfafc SlfrifaS infelartig boit SBaffer* unb ©anbtnecr umfcßloffen, unb toie
fleinafien lanbwärts burch eine fortlaufcnbe ©reuzfette ttmgrenzt ift, fo erfeßeint
auch „Steinafrifa" gegen ben übrigen „feßwarzen Srbtßeil" hi« bureß eine Steiße
bon Erhebungen umranbet. $)ie fcharffinnigen arabifchen ©cograpßen beS ©littel*
alters nannten baffelbe baher ganz treffenb „Snfel beS SSeftenS", unb nicht minber
gtücflich öergleicßt eS ein mobenter beutfefjer Steifenber, Dr. SBcrnßarb ©tßwarz,
mit einem gegen Europa borgebauten Valfon am großen afrifanifeßen Äoloß. ®aS
auf biefe • SBeife abgetrennte Stiict Slfrifa ßot beiläufig Don Often nach SBeften
eine Sänge Don 2250, Don Slorbett nach ©üben eine Vreite feßwattfettb zwifcheu
260 unb 520 Kilometer, bei einem Fläcßeitraum Don nicht weniger als 1,156320
Duabratfilometer, welcher in niatinicßfacßer Vezießuug gar mtafrilanifch unb eher
noch bis z uni europäifeßen Slbenblattbe gehörig erfeßeint. 3ft boeß baS Slima
jenes Storbafrifa beinaße baffelbe wie jenes Don Spanien, Portugal, SMien, ber
ißroDcnce unb ©rieeßentanb, unb bie Vegetation ßat infolge beffen in ben gefeg*
neten Satibftricheu bie auffaHenbfte Sleßnlicßfeit mit ber bcS fiangueboc unb ber
Ißrobence. .£>ier wie bort waeßfen DIiDeit, Sorber, Drange, Eitrone, SJionbel* unb
Feigenbaum, SDtßrte unb Seutisfe, tiefer Don Ülleppo, Weiße Rappel, 2tloc, Dleanber.
So finb Wir benn ficßerlicß berechtigt, biefcS StorbWcftafrifa als ein felbftänbigeS
Fnbibibuum int Somplcj ber afrifattifeßen Vobcnplaftif aufzufaffett, unb zwar,
toie itß gleich ffittsufugeu will, als eittS ber am beutlicßften ausgeprägten. £>at
öoeß erft ganz unlättgft Earl Vogt in biefer 3eitfeßrift *) barauf ßingewiefen, baß
in früßem geologifcßen Epocßeit baS gebirgige STüftenlanb Dont altern afrifanifeßen
Feftlanbe gänzlich getrennt war unb’erft fpätcr mit ißm zufammengefeßweißt Würbe.
Äucß ber genannte berüßmte Siaturforfcßcr fornrnt z« bem Ergebniffe: „@eogrn=
pßifcß unb geologifcß finb Xunefiett bis zur fi’lciuen ©ßrte, Sllgericn unb baS nörb»
ließe SJlaroffo nur ein zufammeußäugcnbcS ©attzeS, in wclcßein nur fünfttieße
IrenttungSlinien gezogen werben fönnen."
ES fattn ttaeß meiner Ülnficßt nießt genug bebauert werben, baß Siitter’S „Mein*
afrifa" fieß int Sprachgebrauch nießt eingebürgert ßat z«r genauen einheitlichen
Vezeicßnung beS in Siebe fteßenbett SänberraumeS; beim atteß bie Erblunbe Der*
fügt über feinen paffenben SluSbrucf, unb ebenfo ergeßt eS ißt, wenn fie bie im
SBeften mit bem SltlaSgebirge beginttenben Erhebungen zufammenfaffen will. 3*Dar
fpreeßen noeß bie weiften Seßt* unb ,'pnnbbücßcr getteralifirenb Don einem „©ßftem
beS SltlaS", boeß Dermag eine folcße Sluffaffung Dor bett Siefultaten ber mobernen
Forfcßung nießt ©tieß ju ßalten. SBenn aber feßon baS SltlaSfßftem als SlDgemein
begriff für bie Sielieffornt beS fraglichen ©ebieteS gebraucht werben fotl, fo barf
eS nur als ein ©ßftem Don Vcrgfetten, fpocßptateauj unb ifolirten Vergmaffiüett,
nießt aber als eine burcßauS einßeitlicße ©ebirgSfette mit ununterbrochenem Sa nunc
*) »gl. „Unfere Seit", 1881, II, 504 fg.
5*
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Uitfere <5eit.
gebaut »erben. (Benn minbefteng brei Partien müffen »ir Ijier unterfdjeiben,
welche burd) Stufbau unb ©liebcmng ber Sormen fidfj in charafteriftifdjer Seife
boneinonber trennen.
Verfolgen »ir nämlich bag ganze ©rhebunggftjftem bom (Jab Stun big (Jap
Von, fo erfennen »ir batb, baß nur ber Wefttidje unb centrate, babci bie grö&te
abfolute $ö^e erreicßenbe 2^eit beg Sltlag bie charafteriftifche gornt einer $aupt'
tette mit meßrem, rneljr ober minber paraßet ju biefer bertaufenbcn SJcbenfcttcti
Zeigt; beren fämmtticfje Kämme in ber Stiftung bon SBeftfübweft nad) Oftnorbojt
ftreicßen, unb baß ber §ouptfnmm auf ber ganzen Sinie feiner ©rftredung bie
SBafferfdjeibe jwifc^en ber Kiiftenftufe im Storben unb ber «Samara im ©üben
bitbet. (Biefer (Eljeil beg ©ebirgeg ift auf SJtaroffo befdjränft unb führt bei ben
©ingeborenen ben Stamen „Sbrar n beren"; er allein fjat, »ie ©erwarb SRo^tfg
meineg SBiffeng juerft f)erborget)oben, Slnfpruch auf bie bom Stlterthum iiberfom
mene Senennung „Sltlag", »etdje heute freilich alten Stämmen Sltgerieng unb
Uunefieng böttig fremb ift. (Biefer Sltlag befifct im allgemeinen eine tjufeifenför-
mige ©eftatt, b. f). bie Spifce feineg einen Sdjenfetg ift bag Vorgebirge Stag el
(Beir am SJiittellänbifchen SJteere, jene beg anbern bag (Jap @£)ir am Slttantifdjen
0cean, fobnß ber Sogen beg ©ebirggjugeg fiel) nach Storboften öffnet, mit feinen
Strmen bag eigentliche SJtaroffo umfangenb, ju Welchem er burd) breite Herraffen
aßmähtich ^inabftnft. Stach Süboften hingegen fteit unb faft fenfredjt abfaHenb,
j»eigt 'fi<h in ungefähr 31° nörbt. Sr. unb 6° 40' »eftl. 2. bon ©reentviefj
eine bebeutenbe Kette nach Siibfübweft ab unb läuft mit ber ^aupttettc faft
paraßet. Sin bem 8tbj»eigunggpunfte nimmt ber SÜSabi Sug, ber jweitbebeutenbjle
Stuß beg fiibtichen SJtaroffo, feinen Urfprung, unb et»ag »citer nach ßflen 1**9*
ber eigentliche Knotenpuuft beg gatten Sltlaggebirgeg. ©g ift noch gar nicht fo
lange tyt, baß wir bon biefem wichtigen ^öhenjuge fo gut »ie gar niep
Wußten, unb fetbft zur Stunbe ift unfere Kenntniß beffetben noch lüdenljaft genug;
boch h a & ett bie Steifen bon ©erljarb Stoßlfg, S. Satanfa, Dr. $oofer, Saß unb
SJtaw, gritfdj, Stein unb Koch, onbfich jene bon Dr. 0gfar 2enj ben aßgemeinen
Sau beg maroüonifchen Sltlag ctfchloffen. Sßir »iffen, baß berfetbe im äußerften
SBeften, »o Stoljlfg ihn iiberfchritten, mit unzähligen, oft breitem, oft fchmälern
Slbßängen zum SJteeregfaume augtäuft; Weiterhin, z»if<h en ber Küfte unb bem
SJteribian ber $auptftabt SJtarrafefch liegt ber »ichtigfte, big auf Jgwofer 1871
geographifch unbefannt gebliebene 3heil ber Kette. (Ber unmittelbar aug ber
nörblidjen ©bene SJtaroffog auffteigenbe Kamm, ber burch bag große 2änggtt)fll
beg Sug bon bem früh« erwähnten, ber Sahara zwgewenbeten „Stnti=Sltlag" ge»
trennt wirb, warb im Siiben ber $auptftabt 3760 SJteter unb an einem tueft«
lieber gelegenen Vuufte 3500 Steter h»<h gefunben. (Bie hofften ©ipfel feierten
Zu etwa 3960 SJteter fich z u erheben, Währenb ber big bahin für ben h ö # en
Vunft geltenbe (Bfchebel SJtiltfin blog 3475 SJteter erreicht. (Biefer Weftlicfje Slttag
ift rauh, fdjwer zugänglich wegen feiner znh^ e >^ en Schluchten, unb noch ®nbe
SJtai finft ber Schnee big 2840, ja big 2315 SJteter in ben Surdjcu beg Slb*
hangcg ^erab; ©letfcherbilbungen fitib bagegen nicht borhanben. Stach Dr. Scnz.
welcher erft 1880 ben Sltlag zwifdien SJtarrafefch unb (Barubant iiberftieg, befte^t
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Horbafrifa unb feitte 8cbeutung itt ber ©egcittoart. 69
berfelbe auS toter ©fiebern, unb jwar toom Storben angefangeu ein ttiebriger
6—1200 SJteter h°h er 3ug bon weichen lidjten Waffen unb SJtergeln, bie wie
baS gaitje ©ebirge ungefähr toon ©übweft nach Storben firei^en; bann ein feljr
breitet, parallel bem ©ebirgSjuge fidj erftreefenbeS, 6—900 SJteter ^of)e§ fßlateau,
öon aaljltofen Keinen ifolirten Sergen rotljen ©anbfteiiteS burcfjfeht; hierauf ein
3ug fteiler Serge toon hartem rotfjen ©aitbftein; enblicf) in etwa 1220 SJteter
ißajjljöhe ein 2150—2450 SJteter ^of;er, [ef»r fteite Serge bitbenber 3**8 bon
2J}onfc§iefer unb Quarjiten. 55er Slbftieg bon ber SBafferfdjeibe burch ben feljr
peilen füblidjen Slbfatt jut ©bene beS. SBabi ©uS ift ungemein befdjwerlitfj. 3n
ben centralen 21jeil bes SItlaS ^at Sto^lfä’Steife 1864 juerft öicfjt gebracht; benn
bie Sefdjreibung feines einzigen SorgängerS, Stene ©aiHie, gibt über bie Statur
beS ©ebirgeS fo gut Wie gar feinen Stuffditufj. £>ier gilt eS junädjft nach Heber»
fdireitung ber Sfjatebene beS SBabi SJfchigu ben ©ebirgSjug 55amaraluit ju über»
loinben, ber fict) gegen ©üben jur SJtutuiaebene hinabfenR. Sie hat ihren Stamen
toom SBabi SJtuluja, bem bebeutenbften 3nf(uffe bes SSRittetmeereS in SJtaroRo
unb überhaupt bem anfeljntichften ©ewäffer, welkes bem SItlaS nach Storben ent»
quillt. 55ann tljürmt baS toier fünftel beS Safjteä mit ©cfjnee bebeÄte ©ebirge
Sjafdjin fitfj auf, Weites baS ©ranitplateau ber SJtuluja toon einem anbern trennt,
für baS ©anbfteine charaReriftifdfj finb. 5)en öfttidjen 53jeil bes SItlaS hat enblich
1879 ber englifcfje Sapitän Soloitte erfunbet. SiS jur Keinen ©tabt 2^cfa war
StoljtfS 1861 auch gefommen; üon f)ier an fing ganj itnbefamttes Terrain att,
baS aber bei aller SJterlwürbigleit ber Sefcftaffenfjeit toon einem eigentlichen ©e»
birgSjuge, obwol berfelbe in ber 55fdjebelaja unb in bem 5)fdjebel ©aret erhalten
ift, feljr wenig mehr erfennen läßt. ©I erleibet hier nämlich baS ©rljebuugS»
fqftem bei SlttaS eine wefentliche Umbilbung, inbem es in ein breites nur wenig
unbulirteS ^oÄplateau »erlauft, beffen Sängenachfe bie ©treidjungSrichtung bes
gaujen ©tjftemS beibehält unb beffen Sreite jwifdjen 80 unb 150 Silometer fdjWanR.
©S ift bieS baS fogenannte algerifdje ©teppenptateau, charaKerifirt burch eine
Steilje toon periobifd) gefüllten ©aljfümpfen, ben „©ebdja" ober „Schott", unb gegen
fein öftlidjeö ©nbe wieber in eine Slnja^l ftar! üeräftetter ©ebirgSletten übergehenb,
beren Jpauptfamm in öftlidier Stidjtung Xunefien burdijieht, um am ©oft Sott ju
enben. Stach ©üboften, jum 5)epreffionSgebiete im SBeften ber Steinen ©hrte, fällt baS
©qftem ju einer jufammenhanglofen Steihe ftufenförmiger Serg» uttb $ügeljüge ab.
Son ber nörblidjen Sante beS SItlaS bis jum Slttantifdjen Ocean unb pnt
SJtittelmeere ift in SJtaroRo alles Sanb tooUfommen culturfähig unb toon mehrern
bebeutenben SBafferabern, wie ber ©ebu (©bu), ber llntme er Stebia unb ber Senfift,
bie fi<h alle in ben Dcean ergießen, burdjftrömt. 55aS ©eftabe bes SJtittellän»
bifchen SJteereS begleiten allenthalben Süftengebirge, Welche fteHenweife toon
Strömen burchbro^en werben. 5)ie beträchtlichften unter biefen finb bie fdjon
genannte SRuluja in SJtaroRo, bann auf afgcrifdjem Soben ber SBabi Xafita, ber
Scheliff, ©ahel, SBabi Sebir, enblidh beS SJtebfdjerba, welcher Ijauptfädhlich baS
nörblidje 55nnefien bewäffert unb unterhalb ber Stuinen bes alten Utica baS SJtecr
erreicht. Snfolge biefer Slttorbnnng liegen bie plaftifcfjeit Scrhältniffe in Sltgerieu
jiemlidh einfach : tnan !ann nämlich feh r beutlich brei toon Storb nach ©üb hinter»
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llnfcrc
cinanberliegenbe 3°nen unterfcheiben, ba« fogenannte „Deß", bann bie Kegion
ber Hochebene ober ba« Steppenplateau, enbltcf) bie algerifdje Samara. Do« Deß
beginnt an ber Oon einer tiefen See befpütten, leiber ober foft tjafentofen Süfte
be« ßRittelmeere« unb erftreeft fich iljr entlang mehr ober weniger binnenwärt«,
mit einer im oßgemeinen oon SBeften gegen Often june^menben ©reite, fobaß fie
bort gegen 120, l)ier aber über ba« Doppelte, nämlich 250 Kilometer beträgt.
Diefe« Deß, ba« eigentliche Sulturlanb Sllgerien«, ber fru^tbarfte Strich, wo
Serealien, ^ülfenfrüchte, ©emüfe, Kei«, Dabacf, ©aumwoße unb SBein gebeten,
in bent auch bie wießtigften Stäbte be« Sanbe« liegen, erhebt fiel) jiemlich rafch
oom 3Reere«nibeau ju einer beträchtlichen Höh e unb umfaßt alfo auch bie alge=
rifchen Süftengebirge, welche jeboch feine zufammenfjängenbe Sette bilben, fonbern
in »ergebenen Stöcfen abgefefct finb, fobaß Sbenen wie jene Oon 2Retibf<ha bei
Algier, Oon 2Rleta bei Oran, unb ba« Weite Dfjal be« Scheliff, Sümpfe, ®e=
wäffer im Deß mit ben £>ötjenrücfen abwechfeln. Unter lefctern oerbienen ber
Dfchebel Ubfchba, ba« Deffalagebirge, ber wilb zerflüftete Dfchebel Daf)ra unb ber
Dfchurbfdjura (2317 2Reter) nebft bem großen ©abor (1993 SRetcr), in welchem
bie „@roße" unb bie „Steine Sabtjlie" gelegen ift, befonbere Srwäfjnung. Un*
mittelbar hinter biefen algerifdjen Siiftengebirgen unb meift in birecter ©erbinbung
mit benfelben ragen, immer noch tm Deß, nicht mittber hohe jerflüftete ©araßel=
fetten empor, welche man füglich al« „algerifdje SRittelgebirge" bezeichnen barf.
©üblich °on ihnen liegt bie ©reitje be« Deß mit feinen üppigen SBiefengrünbett
unb fdjönen SBalbungen, meift bon Sichen unb Sebent, boef» ift biefetbe natürlich
nicht abfolut unoerrüefbar. Die ficf) immer mehr berooflfommnenbe Slgricultur
überhaupt unb bie aßmählich wachfenbe Sefiebelung Sllgerien« im befonbern
Werben Wol noch manche« Stücf ©oben, ba« jur 3eit al« nicht bearbeitung«fähig
gilt, ber ©ebauung zugänglich machen unb alfo in Deß üerwanbeln auf Soften
ber fich anfchließenben 3°ne.
S« ift bie« bie fchon oben erwähnte weite s Jtegion nur bürftig mit ©räfern
bebeefter Hochebenen, bie bi« zu 1170 2Reter über ba« 2Reere«nioeau anfteigen
nnb noch auf maroffanifchem ©oben beginnen, bort, wo ba« 9ltla«ft)ftem feine erfte
UmOilbung erfährt. Der lanbfchaftliche Sharaftcr unb bie SRatur biefe« H°<h 5
plateau, fagt einer ber beften Senner afrifanifcher ©eographie, Dr. 3®feph Slja*
oantie, üeränbern fich in bemfelben 9Raße, al« Wir e« oon SBeften nach Offen
oerfolgen. 3m SBeften auf große Streifen hin üöflig eben, rauh unb mit fpär*
licßer ©egetation bebeeft, im centralen Dheile oon baf)lui<ü)tn ©obenweßen bebeeft
unb reichlich mit bem wertf)Ooßen H fl lfografa (Machrochloa tenacissima) beftanben,
ift ba« Ho<hhfateon in feinem öftlichen Slbfcfinitte bereit« znm größten Dheile
bergig z« nennen. Seine mittlere Seehöhe beträgt im SBeften 1100, in ber
9Ritte 900, im Often aber blo« 780 ßReter. Stbgefeljen bon feiner eigenthüm*
liehen ©egetation, erhält e« noch burdj eine fReifje oon flachen mulbenförmigen
Sinfenfungen, Schott genannt, welche zur 3 e >t ber SBinterregen unb h e füg er
Kegengüffe Meine abflußtofe Salzfeeu bilben, im Sommer hingegen bi« anf
ganz flci«e SBafferlachen troefen finb unb bann burch bie Sfflorefcenz be« reichlich
oorhanbenen Salze« au«gcbef)nten Schneeflächen täufchenb ähnlich feljen, au«=
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Horbaftifa unb feine Bedeutung in 6er (ßegemuart.
U
geprägten ©teppenfaratter. fpanS Bon S&afenpufen ffitberte einmal biefe ®e=
geitben als „weite ©treden etenben niftSnupigen ©anbeS, tanger unabfepbaret
fiteSftreden, an benen nur bie ffedige Stfter, bie Satter unb ber ©forpion fre
greube paben, garten unerbittlichen SobenS, aflenfafls unterbrochen burf bie im
©ommer auSgetrodneten «Sebfa», bie ffüffelförntigen Setten ber Sinnenfatjfeen,
mit jerfpattenen unb jerriffenen tafelförmigen ©atjfruften bebedt, Bon ber Bwerg=
patme überwuf ert unb meift unfruchtbar burf bie fatjigen Infiltrationen, weife
ben SaumWuf S faft unmögtif maf en". ©erparb Soptfs belehrt uns inbeß, baß
biefes ©emälbe wenigftenS für ben wefttif en Speit beS ©teppenptateau fübtif
oon ©ebba, ©aiba unb Siaret, ein ftarf übertriebenes ift. SSßenn nur ber feufte
Sieberfftag reiftif unb jur reften Beit faßt, fepen Wir überaß ben Soben in
Uder umgewanbelt; auf tommen auf jenen $of ftäfen, wetfen unleugbar ffou
etwas ©aparaartigeS anpaftet, fetbft einzelne wirftife Dafen mit ber unöermeib»
tif en ©attelpatme Bor. Sine fotf e ift beifpietsweife Slfila im ©üben t»ou ©etif.
Slit SuSnapme einiger Wenigen ergießen fif aber fämmtlife periobiff ftießenbc
©eroäffer beS Sfcd eau i n bie abftußtofen gtaf feen, bereu man fefS beftimmte
©ruppen unterffeibet: @fott Sigri unb Sogperet, ©fott et SlepaTa unb ©fott
et ©parbi, lepterer bereits auf atgeriffem ©ebiete, ©fott et ©fergi, Bap«i
©parbi unb Bap«ä ®f«gi; bie große ©ebfa ober baS $obitabaffin mit bem
gteif namigen ißtateau unb enbtif eine ©ruppe Bon Keinen ©atjfümpfen, ,,©baf",
auf ber gteifnamigen £>offtäfe, atS öfttiffte ©ruppe.
tDiefe $oftanbftufe wirb naf ©üben pin auf iprer ganzen SluSbepnung be¬
grenzt Bon einer neuen Seipe Bon Serggügen, ber britten Bon ber mittettänbiff en
Jtüfte an gerefnet. SBieberum ift biefer ©übranb beS atgeriff en ©teppenptateau
fein jufammenpängenbeS ©ebirge, fonbern Bietfaf jerriffen, mit nampaften, be=
fonbere Socatbejeifnungen tragenben ©rpebungen, bie bis ©nbe Siärj mit ©fnee
bebedt ju fein pflegen. Bf nenne barunter pauptfäftif baS StureSgebirge, baS
pöffte Algeriens mit feinen jWei ©pipen, bem ©fatipa (2320 Sieter) unb bem
Sipammet (2315 Sieter), wetfeS fif im UmSebben naf Sunefien pin fortfept.
©egen ©üben faßen aße biefe ^öpenjüge, weife man oießeift als „©aparifepe
Sanbgebirge" jufammeitfaffen tarnt, Bon einer burf ff nitttif en $öpe Bon 1790 Sieter
jiemlif fteit unb jäp ab, unb werben burf enge, wilbe ©flüften (ßpeneg ober
Sab genannt) burffept. Slm rapibeften ift ber Stbfturj im Often, wofetbft bie
Sioeaubifferenj jwiffen bem ©teppenptateau unb ber nur wenige ©tunben füb-
Iifet auf bem Eßtane ber Sorwüfte gelegenen Oafe SiStra 6—700 Sieter
beträgt. Ueberaß beobaf tet man pier bie ©rffeinung, baß ber Sorbabfaß biefer
©ebirgSftöde mit mepr ober minber bifter Segetation befteibet ift, wäprenb ber
ber SEBfifte jugeteprte ©übabfaß ben monotonen Slnblid eines Bon aßer Begetabi»
tiffen ©rbe entblößten ÄattfteineS bietet.
Siit großem Seft pat ©erparb SRopIfS an biefer ©tefle in feinem trefftifen
Stuffape „grantreif, Sttgerien unb SuniS"*) bie innige Bufammengepörigfeit
*) »gt. „Unfere Beit", 1881, II, 268 fg.
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Uttfere Ifcit.
Duttefien? unb Sllgerieit? in geograpbifcber, geotogifcber unb ethnologifcßer Segnung
herborgehoben. Sari Sogt wie? bann noch ftärfer auf bie teuere bin. SBie $llge*
rien ift auch Dunefien begüglicb feine? Slu?feben?, feiner ißrobucie unb Soben»
befcbaffenbeit nicht? weniger at? afrifanifdj. Die Storbfüfte bi? ^inab gur ^auptftabt
geigt ben S^arafter ©teilten?; ba? innere bi? nabe an bie Stegion ber Saigfeen
hingegen erinnert lebhaft an bie rötniftfje Sampagna. Dunefien gehört begüglicb
feiner Statur fo wenig gu Stfrifa Wie Stlgerien, fonbern gu ben Sftittelmeertänbem,
bie ja t>on Spanien bi? ißaläftina, bon ©riecheitlanb bi? SJtaroffo einanber fe^r
ähneln. 3a, in feiner Segetation ift Duni? fogar biel fpärlicber bebaut al? Si*
cilien, Spanien ober irgenbein anbere? ber SJtittelmeerlänber, ber Stibiera gar nit^f
gu gebenten, beren üppigen Sflangenwucb? man erft im fernen Orient an ben
Ufern be? Stil? wieberfinbet. So nabe nun ba? Steicb ber alten Sarthager ben
lüften granfreich? unb 3 ta Uen? liegt, fo leicht unb rafdj e? bon bort au? mit
bem Dampffcbiff erreicht werben Iann, fo häufig e? auch bon ©elebrten unb Dou--
riften befugt unb mitunter auch befdjrieben worben ift: fo große Süden befteben
botb noch beutigentag? in unferer geograpbifeben Senntniß biefe? ©ebiete?, weltbe?
man füglidb al? ein? ber am wenigften erforfdjten in Stfrifa begeießnen barf. S8a?
Wir barüber wiffen, b ft t wol am überficbtlicbften unb mit Senufgung ber aller»
neueften, bureß bie grangofen in Dunefien gewonnenen geograpbifeben ©rfabrungen
Sllbert be la Serge in feinem bübfiben, lürgticß erfeßienenen Su<be*) gufammen*
geftetlt. Danach gerfäüt Dunejten wie Algerien in brei beutlidj unterftbeibbare
Stegionen: ben Sabel, nämfitb bie fruchtbaren Stieberungen an ber 3Reerc?füfte
bi? gu ben erften Sergterraffen; ba? Jett ober ba? Serglanb, unb bie Sabata
ober ba? Dfcßerib, b. ß. bie SBüfte mit ihren Sanbbünen unb Dattelpalmen. Der
Sabel bilbet ben eigentlichen Sulturboben, ein überau? fruchtbare? niebrige? #ügel*
lanb, bem leiber größere SBafferläufe fehlen; b' er lieflen an ber Süfte bie tjolf*
rcichften unb banbet?tbätigften Päfge: Sufa, SJtababia, Sfa!?, ©abe?, im Sinnen»
lanbe aber bie ^eilige Stabt Kaiman, im Storben bon gabireichen Heinen Sebcßa
ober Saigfeen umgeben. Diefer Sabel nimmt hauptfäcßlieb ben Often Dunefien?
ein, gwifchen Sap Son unb bem ©olf bon ©abe?. Da? nörbliche Dunefiett gwifeßen
Sap Son unb ber algerifcben ©renge fteUt fich bar at? eine mächtige ©ebirg?»
anfchwellung, welche ba? lange unb reiche Dbal be? SRebfcßerba bon Süboft nach
Storboft burebfebneibet. Störblicb unb weftlich bon biefem Strome breitet ftcb ein
@ebirg?lanb au?, al? beffen ßöcbfte ©ipfel ber Dfcßebel Sibi Slbbaflaß unb etwa?
weftlicber ber Dfdßebel Sen Draa gu nennen ftnb unb in welchem einige fc^öne
Dbäler, prächtige SBälber unb giemlich reiche Woblbebaute ©benen borfommen. ®n
feinem Storbweftwinfel liegt bie 3ufel Dabarfa unb ba? bi? auf bie frangöfifeße
©jpebition bon 1881 faft böllig unbelannt gewefene Sanb ber ©humair ober Sru*
mir. 3*bt Weiß man, baß ihre fteilen, watbbebeeften ©ebirge au? gwei bem SReere
parallelen Setten befteben, welche berfdhiebene Slefte gur Süfte ßerabfenben. D«
*) Sgl. „Eu Tunisic. Recit de l’cxpedition fran^aisc. Voyage cn Tunisie. Ilistoirc"
('jjari? 1881).
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rtoröafrifa unb feine Bcöcutung in ber ©egemuart. 75
hanptfamm unter biefer lefctem, bet fief) bis jur $öße bon 1200 Meter ergebt.
Zieht an ber atgerifeßen ©renje junt ©ab SRoue unter beut 9tamen dfeßebet ®ru=
mir, Abbeta, Abeffa, Jagma, ©ßorra unb £>irug hin, unb im Dften biefeS ÄamnteS
beßnt fief) baS ißtateau ber ^rumir aus, im ©üben begrenzt burd} baS Jßal beS
SRebfcßerba unb in fanften Abhängen in ber Umgebung ber Hießt unwichtigen ©tabt
Seja fcßließettb. das ftSlateau ift bon meßrern Stuften burcßzogeit, bon benen
jtoei, ber SBibur unb bie ©rejeta, linfe SRebenflüfte beS Mebfcßerba finb, atfo
öfttieß taufen, toäßrenb bie zwei anbern, ber Äebir unb bie ©eßela, nörblicf» jietjen
unb ganj nahe beieinanber gegenüber ber Snfet Jabarfa ins 3Recr faßen. der
SRebfcßerba ift nach ber Sefcßreibung bon £>efte=28artegg, welcher feinen meßrmonat»
liehen Aufenthalt in Junefien jum ©egenftanbe einer jüngft erfchienenen ©cßitbe»
rung*) gemacht hat, ber Jiber bon Junis, ebenfo Wie fein Stromgebiet bie
„ßampagna" ift. Micßt ßalb fo groß Wie ber römifdjc ©trom, tjat er boeß bie-
fetbe trübe Sarbe, baftetbe fchtammige träge SBafter, biefetben fteiten erbigen Ufer,
ßr ift nirgenbS tief genug, um befahren $u Werben, aber gleichzeitig aueß an
Wenigen ©teßen feiert genug, um baS durchwaten ju geftatten. ©ein Slußtßal,
einftenS mit ben üppigften ©etreibefetbern bebetft, zeigt heute nur noch Wenige
©puren babon; ber größere Jßeil ift mit ©cßitf unb ©eftrüpp hießt betteibet, in
Welchem unzählige SJafterbögel unb ©cßitbtröten häufen; bie angrenjeitben höher
tiegenben ©ebiete zeigen wieber ben ßßarafter ber ©teppe. SBaftcrarnt im ©ommer,
berfumpft ber Stuß im Srühiötj* bie ganze Umgegenb unb macht in bem Wege- unb
ftraßentofen Jßale jebe ißaffage unmöglich. 9?ur in feinem untem Saufe, bon
feinem Austritt auS bem ©ebirge bei Mebfdjez et Sab bis ju ben .&ügetn, auf
Welchen Utita liegt, ift ber SRebfcßerba fegettbringenb; aber unterhalb Utica, bei
bem dorfe Su=@cßatr, bertiert er fief» wieber in fähigen ©ümpfen, bon benen man
nicht Weiß, ob fie jum Seftlanbe ober jum Meere ju rechnen finb. ©eine obenerwähn»
ten Aebenflüffe finb ebenfo trübe unb feßtammig Wie er unb ohne aße Sebeutung.
SBaS man bon ber unglaublichen Srucßtbarfeit ber Aegentfcßaft Junis ju erhöhten
beliebt, ift nach bem Sericßt bon §efte»2Bartegg’S burchauS Mßtße. das Sanb ift
berborrt unb nährt nothbürftig bie fpärtiche einßeimifcße Sebötferung. Aur bort,
Wo genügenbe Seudjtigteit borhanben, atfo in ber Umgebung ber fjauptftabt unb
bem ganzen Aorboftwinfel beS SanbeS, jWifdjen Junis unb bem $afen bon Si*
ferta, ift auf ben Setbern noch bie einftige Abunbantia ju §aufe, bewährt fi<h bie
fpricßwörtlidje Sntcßtbarfeit. die ©ebirge nörbtich beS SRebfcßerba bis an bie
Meereslüfte finb faßt, fteinig unb berwittert; bie Jßäler finb mit ftaeßetigem
©eftrüpp berioacßfen; an ben Abhängen grünen nur ber witbe ©pargetftraueß,
©teeßpatmen, Opuntien unb ber AoSmarin, ber aueß mit ben Oetbäumen, bei bem
fonftigen SEBalb» unb Saummanget, baS einzige Srennmaterial liefert, der einzige
Saum, ber hier günftigen Soben finbet unb auch ziemlich zahlreich borfommt, ift
eben bie Dtibe, eine ber $aupteinnaßmequeßen beS SanbeS. Aber aueß fie ift
meßr im ©aßet, in bem mitttern Jßeitc bon Junis ju $aufe, als in bem ber»
armten Aorben. Aur im äußerften SBeften, im ffrumirgebiete, ift bie ganze ©egenb
*) Sgl. „Junis. Sanb unb Seute" (SBtcn 1882).
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Unferc <3eit.
Watbbebecft, aber coufiirt, oott ©cßlucßten, bergig. Sie Uebergänge finb eng unb
bie ©etfeßrSWege ebenfo fetten als unpraftifabet.
Sie ©ebirgSjonc fübticß öom SKebfcßerba bietet weniger fcßwierige Statur«
ßinberniffe, obmol biefe immer nocß groß genug finb. Stber baS 2anb ift weniger
bebecft, offener, in feinem nörbticfjen Steile nocß bewatbct, nach ©üben bin jebocß,
auf beit jur ©aßara geneigten Stbßängen, jene fteinigen Serraffen aufweifenb, welche
atS „pammaba" berüchtigt finb. Stur fteflenweife trifft man SorfeicßenWatbungen
an ben öftlicfjen unb fübtichen ©eßängen biefer ©erge, oon welchen einige SBaffer«
rinnen nach ben Stieberungen beS ©ahet ßerabfommen, meift jeboch auSgetrocfnet
finb unb im ©anbe ober in ben ©atjfeen berfchwinben, ehe fie baS SDteer erreichen.
Sie tunefifdje ©ahara fcßtießt fich im ©üben an unb bitbet einen grellen Sontrafit
}u ben Sanbfcßaften am SJtebfcßerba. SicfeS fübtiche Sunefien, ju beiben ©eiten
beS großen, bis tief nach Algerien fich ßineinjießcnben ©atjfumpfeS ©ebcha ©ßa*
raon ober Schott et Sfcherib, auch Schott Sfebir genannt, ift ein Wahres ©atmen«
tanb, wie man eS !aum fcßöner an ben Ufern beS Stits finben fann. Sine Steiße
oon 30 tnapp beieinanbertiegenben, oft jufammenßängenbcn Dafen trennt baS
SEBüftentanb beS einftigen Stumibien Oon bem großen, neun SDtonate beS QßißreS
troctencn ©atjmeere, welches bie Slrcßäotogen für ben berühmten Palas Tritonis
beS SlltertßumS hotten. Siefe ©atmenregion par excellence ift in ganj Stfrifa
unter bem Stamen ©ileb ut Sfcherib, baS Sattettanb, befannt, unb in ber Sßat
ift bort bie Sattel (Phoenix dactylifera L.) baS einzige Sutturobject. Sie Dafen
beS ©ileb ut Sfcherib theiten fich ßauptfacßlich in hier große ©ruppen: jene oon
©affa, ber größten, blüßenbften unb augteicß nörblicßften Dafe, bie noch etwa
50 Kilometer oom ©chott entfernt liegt, jene Oon Stafta unb Sofer, bie beibe hart
an bie ©eftabe beS @dßott angrenjen, unb enbtich fübticß ber große ©chott, baS
auSgebeßnte Dafeitgebiet ber Sleffaua, welches ©atmenwätber oon mehr atS 300000
©tämmen umfaßt unb in feinen 40 Sörfern etwa 18—20000 SJtenfcßen beherbergt,
©üblich oon ben Steffauabörfern fängt bie SSiifte wieber an, unb bort ift in bem
unenbtidjen ©anbmeere ber ©ahara auch itgenbwo bie unbeftimmte ©übgrenje ber
Stegentfcßaft SuniS ju fucßen.
§ier fteßen Wir nun auch an ber @cßwelle beS ^Weiten ber beiben großen geo*
grapßifcßen Snbioibuen, in welche fich Storbafrifa gtiebern läßt. Sie ©aßara ober
©roße SBüfte befißt inbeß für uns, troß ißrer weit bebeutenbent räumlichen SluS*
beßnung, fein fo unmittelbares 3ntcreffe, unb Wir bürfen baßer auf eine allgemeine
geograpßifcße Gßarafteriftif berfetben ßier unbeforgt bcrjicßten. Stur fo oiet motten
wir fageit, baß bie natürlichen ©renjen ber ©aßara ju beftimmen, ßewte nocß
nießt an alten ©unften möglich ift. Stuf Weite ©treefen, ^mnberte Oon Silometer
umfaffenb, fagt ©ßaoanne, ift uns bie ©eßeibetinie jwifeßen ben Steppen beS @u-
ban unb ber fpamniaba, ben ©ferir» unb Sünenftäcßen ber ©aßara unbefannt; in
großen 3ügen bürfen Wir jeboeß ben ©übabfatt ber äußerften ©aßarifeßen 9tanb=
gebirge unb bie Stuften beS SDlitteltänbifcßen SJteercS atS SJorbgreitje ber ©aßara
bezeichnen mit bem 3«fafce, baß man bie an Dafenbitbung reieße ßone, Wetcße Oon
jenen ©ebirgeti bis jur eigentlichen Sünenregion reießt unb oom SBabi Sraa in
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Horöafrifa unb feine Beöeuturtg in 6er tSegemoart. 75
SDtaroffo 6i3 gum ©olf Don ©abeS fic^ als VorWiifte ober Wie bie gratt*
gofen biefeS ©eBiet gutreffenb nennen, le petit d6sert, barfteltt. Stach Djten hi«
Bilbet baS SKittettänbifdje 9)teer ben Storbranb ber Sahara; benn baS ißafdhatif
oon Tripolis ift nid^tS anbereS als ber litorate Sf)eit ber ©rojjen SBüfte. Siefc
tritt hier hört ^eran an bie ©eftabe ber flachen Einbuchtung, welche als Sprtcn*
meer fdljon int Sitterthum Wegen ihrer ©efäfirtid^feit berrufen War. Sie gange Säfte
beS ©olfS ber ©rofjen Sprte liefert ben traurigften unb trofilofeften Stnbticf, wetten
ntan fich benfen tann. Stuf nafjeju 900 Mtometer eines niebrigen unb fanbigen
©eftabgS fietjt man feinen Saum, finbet man feinen £afen ober UnterfunftSort,
in welkem fitfj ein bor einem Storbnorbweftfturme trciBenbeS Schiff bergen fönnte.
Sie gasreichen Stefte geftranbeter ftolwgeuge, welche man auf biefem unwirthtidfjen
©eftabe allenthalben gerjtreut finbet, finb ebenfo Diele Beugen unbefannt gebliebener
fataftropheu. Sie ©ingeborenen miiffen, um fich ben ruhigen Vefifc biefer ©tranb*
güter gu jtchem, nothwenbigerweife bie wenigen Schiffbrüchigen töbten, welche etwa
baS Sanb erreichen. Siefe Umftänbe, oerbunbeit mit ben Mippen, bie man häufig
nalje am Sanbe finbet, rechtfertigen wot ^tulänglid^ ben fdjled^ten fRuf, in wettern
bie ©rojje ©prte mit ihren bietfach fumpfigen unb bon fJiebermiaSmen fjeimgcfuchteu
Ufern Bei allen Seefahrern ftanb. Sie Meine Sprte tjinwieber ift ein überaus
feistes SDteer, hoch geigt fief) hnmerhin bie gange tunefifdje Dftfüfte an ^afenptä&eu
im Vergleich gu Stlgerien wie gu SripotiS ungemein Begünftigt. ©rötere gnfeln
mit tropifdjer Vegetation finb bem ©olf borgetagert unb fchtiejjen feinen ftitten,
tiefblauen Spiegel gegen baS offene SJieer ab, baS braunen nicht fetten tobt unb
Wogt. 3m Storbeit ift eS baS Snfetpaar bon Äarfennf), im Silben bie auSgebehnte
Snfef Sfchebabo ober Sfcherba, wetd^e bor bem Sritonfee ber Sitten SBadje fteht.
Sie gange ffüftenftrecfe gwifcfjen SfafS, ber größten unb mächtigften Stabt beS
fübtidjen Sunefien, unb Sengafi in Varia (Sprenaica) War übrigens bis bor furgetn
nur burdh eine für bie heutigen Vebürfniffe ber Schiffahrt gang ungenügenbe ©figge
befannt, welche Kapitän Smpth im $ahre 1818 entworfen hatte, ©rft bor wenigen
Satiren, 1876, hat Kapitän SJtoucheg im Stuftrage beS frangöfifdjen SDtarineminifte»
riumS in einer etfmonattichen ©ampagne ben ©otf ber beiben ©prten in einer
MiftenauSbehnung bon 1800 Mtometer mit einer für % bie ißrafiS bottfommen f)in=
reichenben ©enauigfeit aufgenommen. Sie ftunbertfabenlinie, welche im Sterben
bon Sltgerien unb Sunefien fief) fehr nahe an ber Mifte hält, entfernt fidh im Dften
beträchtlich bon berfetben, unb gieht oon ßap Von nach ber noch j« Statien ge*
hörenbeu Keinen Snfet ßampebufa, bon bort aber in mannidhfadhen Schlangen*
Winbungen fübwärtS. Sie Stühe ber ffiifte, Welcher fie auch '« ihwnt weitern
öjttichen Verlaufe treu bleibt, erreicht fie erft wieber bei SripotiS, welche Stabt
unb Vengafi bie gwei befuchteften $afenptähe biefeS SIbfchnittS bon Storbafrifa
finb. ©egen Sturm unb Unwetter finbet bie Schiffahrt gwar noch 3uftucf)t in
brei anbern fßtäfcen, welche aber alte an über, unwirtlicher ffüfte liegen. Sic
gwei wichtigem babon finb bie grofje Stljebe bon Vomba unb ber natürliche, weite
unb teicht gugängliche ^afeu oon Sobruf, beibe im öfttichen Sheite bon Varfa
gelegen. SiefeS Varta, an ber ©renge gegen Stegppten hin, aber noch gum Vn=
fchatif SripotiS gehörig, ift ein tpochlanb oon 450—630 SReter unb reich an
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llttfcre ^oit.
■Quellen unb grünen Xijätern üon iippigftcr gruegtbarfeit unb gefunbem Klima,
ein Sanb, beffen iaglreicge Suinen berebt t>ou ber alten ©uttur jeugen, bie gier
einft gcrrfcgte. @8 ift atfo fein ©agaragebiet mie XripoliS, fonbern bie ©Büfle
breitet fieg erft mieber fiiblic^ baoon aus. ©Ins SRittetmeer tritt fie nur im eigcnt*
ticken XripotiS, bem fübtiegen menig gegtieberten Sanbe beS ©grtenmecreS. 3 fl gl s
reicg finb gier bie ©tranbfeen mit ©atjmaffer, aueg Satronfeen; bagegen mangelt
es gänjtieg an gtüffen unb ©üfjmafferfeen, miernol ber ©oben in ben begünftigtcn
©teilen fcgon in geringer Xiefe ©taffer jeigt. Xeitfen mir uns bie ©agara im
SReribian non XripoliS beiläufig gatbirt, fo ergibt ficg, ba& bie öftlicge Hälfte, im
biametrateu ©egenfage ju Äarl Sitter’S XarfteHung oor 60 Satiren, ben empga*
tifcgen Samen Sahara bela ma, b. g. SBufte offne ©Baffer, meit eger oerbienen
mürbe als bie roeftlicge. Xcr ©Reribian üon XripotiS bilbet aueg jiemtieg genau
bie ©ren^e ber beiben loeitüerbreiteten formen, ber ©ferir unb ber ^tammaba,
b. g. ber naeften, garten ^»otgfläcgen im ©egenfage jur fiefetbefäeten erftern. ©ine
foldge oegetationStofe §ammaba jiegt fieg in einem grogcn Xgeile beS fübtiegen
XripotiS gin unb bitbet eine ber unangenegmften ©orftufen ber ©rofjen ©Büfte.
Sacg biefer allgemeinen geograpgifegen Ueberficgt ift es nötgig, bafj mir uns
mit ben ÜSenfcgen Oertraut matgen, melege ben ©oben SorbafrifaS bcmognen. Sn
einem Sanbe, in melcgem ©gönijier, Sömer, Kartgager, ©anbaten, ©traber unb
Xürfeti gintereinanber aufgetreten finb, ift natürlieg bie geutige ©eüötferung bunt«
fegeefig genug, ^auptfä^tidg ift bieS aber botg nur in ben Küftenftriegen ber galt;
baS Snnere beS SanbeS jeigt Oiet einfachere etgnifege 3^9«/ unb im grogcn unb
allgemeinen barf man mol begaupten, bag, mie geograpgifeg, fo aueg etgnograpgifeg
Sorbafrifa ein cingeitticgcS ©anjeS bitbet. Ueberatt, in äRaroffo, in ©ltgerien,
Xuneften mie in ber ©agara bitbeit ben ©runbftocf ber ©eoätferung bie ©erber,
rnetege mir, menigfteuS fomeit bie gef<gi<gtticgen Erinnerungen reidgen, als bie
bobenftänbigen Ureinroogner SorbafrifaS betrachten müffen. Saeg griebrieg 9Rüßer
finb freitieg aueg fie einmal, in uitbcrecgenbarer ©orjeit, ans ©tfien eingemanbert;
benn fie finb igm jufotge ^amiten, unb eilt 3h>eig jener Sötferfamitie, metige im
©Utertgum als ©leggpter eine fo geroorragenbe Solle fpiette, beren pgramibate
Siefenbauten im Siltgate Ins auf unfere Xage ben ©türmen ber Sagrtaufenbe
Xrog boten. SeuerbingS gat jrnar ©rofeffor Dr. Sobert §artmann in ©erlin
ben afiatifegen Urfprung ber ©erber unter ©ermerfung beS Samens Hamiten be=
ftritten unb beren 3ufammengcgörigfeit ju ben übrigen ©tfrifanern fegmarjer Haut¬
farbe begauptet; göcgft magrfegeiutieg fag aber fegott ber atte Hcrobot fdgärfer als
er; benn biefer uitterfcgieb bie Sibger, mie im ©lltertgum bie ©erber giegen, fegr
genau üon ben ©tetgiopen, b. g. üon ben afrifanifdgen Segcrn. (ferner fannte er
fegon jmei befoitbere ©rnppeit biefer Sibger, ttämtieg nomabifirenbe nnb anfäffige,
maS aueg noeg geutjutage jutrifft, in ber ©erfcgiebenartigleit beS ©obenS, meteger
im ©Beften ©ebirgStanb, im Dften ©benen bietet, jeboeg eine jiemlieg natürliche
©rftärung finbet.
©Beber bie pgöni^ifegen unb puttifegen ©tnfiebetungen ttoeg bie Sömer unb fetbft
bie ©anbaten finb in etgnotogifeger ^pinficht für bie ©lutodgtgonen SorbafrifaS fo
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Horöafrifa unb feine Bebeutung in ber (Segemoart.
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wichtig geworben h>ie ber ©inBrud) ber trabet, Weldje bie cutturelle ©emitifirung
beS SanbeS jitr golge hotte. Die ©erber, früher großenteils bem ©hriftentljum
ergeben, tourben auf bem befannten SSege mittels geuer unb ©d)Wert bem 3$tam
gewonnen unb arabifirten fid) auch oielfadj in ©pra^e unb ©itte. 3« biefem
©roceß finb nun mehrere ©erioben forgfältig ju unterfdjeiben. ÜJtit ben erften
©roberungSjügcn ber Straber $u ©nbe beS 7. S^r^unbertS famen nur Krieger
nnb einzelne gamilien arabiftfier Slbfunft nach üiorbafrila, Welche fiefj in ben
©täbten, ^ier unb ba auch in einem ßaftett itieberließen, aber baS ganje glacfj 5
lanb, bie ©ebirge unb bie Sahara blieben in ben Rauben ber autod)ttjonen ©erber,
©o ift eS eine gewötjnlidj überfeine T^atfa^e, baß bis jum 3oh re 1050 unferer
3eitrecfjnung Ütorbafrifa mit SluSnahme ber ©täbte nur bon Serbern bewohnt
Würbe. ©iS um bie ÜJtitte beS 11. SafjrljunbertS bitbeten jte üerhättnißmäßig
cioitifirte Staaten mit berberifdjer Seüötfcrung unb berberifdjen Dpnaftien. ©rft
in ber genannten ©podje fattb bie mächtige arabifdjc ©inwanberutig ftatt, Welche
ben ©eOölferungSOerljättniffen unb bamit zugleich ber Sutturentwidetung in 9torb=
afrifa neue ©eftaltung gab. Die nra6iftf»e ©roberung ÜJtorbafrifaS im 7. 3at>r*
fiunbert befc^ränfte fich culturhiftorifdj auf bie Sinnahme beS 3stam burd) bie
©erber; eine ©erbrängung ihres ©otfSttjumS fanb nid^t ftatt. SllS im 3a^re 710
bie Araber unter SJtufa unb Darif ttacfj Spanien brangen, Waren eS ihrer gteid)»
falls nur wenige; in ihrem ©efolge befanben fief) aber fdjon jahtreidje berberifc^e
©temente, ja, Sari! fetbft mar ©erber. Sowie im Dften baS echte ©oßbtutaraber»
tf)um nur ein Fragment ber ©efammtbeüölferung bilbete, fo aud) in Spanien:
audj tjier mußten bie natürlichen ©erf)ättniffe eine aHmafjtidje ©crringerutig beS
arabifdjen ©oHStpumS pr golge hoben, baS in folget ©ntfemung üon feiner
Seimat (einen ausgiebigen ütadjfdjub mehr erhielt. Die gefitteten ©erber hingegen
trennte nur bie fchmale ©ibraltarftraße unb fic tonnten fich bentnach leicht über
Spanien oerbreiten, ©ie gewannen bie Cberljanb in ber moSlimifdjen ©eüölferung
SlnbalufienS, wofür ber Umftanb, baß nach ben Dmajjaben faft überall berberifeße
Dpnaftien entftanben, berebteS Beugniß abtegt. Den ©Ijriften galten freitid)
©erber unb Araber beibe nur als ÜJtoljammebaner ober ÜJtaurcn, ÜJtoroS, üJtoriScoS.
©on bem Sanbe ÜJtauritania, wie bie Stömer ben norbweftticfjften Dljeit SlfrifaS
hießen, Wat bet Ütame auf bie ffiewohner übergegangen. Um ethnotogifdje Unter»
fdjiebe lümmerten fich bie ©uropaer jener Beit noch nicht. Das SBort ÜJtauren
bedte fich einfach mit SKoStim. Die ©emeinfamfeit ber Religion führte auch rofdj
bie fpanifchen ©erber pr Sinnahme ber arabifchen Sprache, ber ©pradjc beS
SoranS, Welche eS pgleidj p einer SBetttiteratur gebracht hotte. Die ©eßljaftig»
feit beiber, fowol ber numerifch hinf<h' D inbenben Straber als auch ber numerifd)
anwachfenben ©erber trug noch mehr p einer ©erfdjmctpng bei, fobaß, als
fämmttiche ÜJtotjammebaner ober ÜJtauren aus Spanien oertrieben würben, ©erber
unb Straber fich felbft nicht mehr unterfdjeiben fonnten. üJtein berühmter Sreunb
©etljarb StohlfS meint nun, baß, wenn gemeinfam Straber unb ©erber nach Spa»
nien gezogen waren, boch nur Straber oon bort prüdfamen; benn beibe ©öfter
gingen im ftemben Sanbe berart ineinanber auf, baß bie Straber üermöge ihrer
geiftigen Uebertegenheit, üermöge ber Stetigion, beren Drägcr fie befonberS Waren,
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?8
Unfere
äußerlich in jeber ©ejieliung bie ©erber abforbirt hatten. Die Söahrheit aber ift,
baß in ©Manien ein arabifcfpberberifcheS SWifdjtiol! entftanben »rar, in meinem
aderbingö bie arabifdje Sprache unb ©efittung, jugleicf) aber baS berberifcfje ©lut
bie Dbertjanb geipann, was bie junt Sdjluffe eingetretene auch äußere ®leicf)artig«
feit erftärt. Unb biefeö SRifchbolf war eS, welches bei ber ©ertreibung aus Spanien
nach SRorbafrifa jurücffehrte unb bort bem Straberthum, b. f). arabifcher Spraye
unb Sitte, nicht aber arabifchem ©tute, neuerbings jur Stfipe biente. 3um X^eit
blieben bie Stüchtlinge in ben Stabten, berheiratheten fid; mit ben fd>on anroefenben
Stäbtern, welche wieber aus ©erbern unb Arabern beftanben; ein großer I^eil
aber, bietleicht bie SJtehrjahl — benn fie würben mit ÜKiStrauen unb Seinbfelig*
feiten empfangen — jerftreute fid) über baS gange ßanb.
SluS bem ©efagten geht jur ©enttge herbor, baß baS norbafrifanifdje ©erber»
tßum, obgleich es bie berbreitetfte ©ölferfdjicht bilbet, boch fef>r oerfcf|iebene SKobi»
ficationen erlitten hat. Die um bie ÜRitte beS 11. 3ah r h u nbertS einftrömenben
Slraber waren burdjauS ungefittete Stomaben, benen ljauptfädjtidj ber Untergang
ber norbafrifanifd)en ©ibilifation jur ßaft fällt. ©Jären bie neuen ©inbringlinge
cibilifationSfähiger gewefen, fie hätten ohne 3wcifel in beti eroberten Sänbcm
neue ©eiche unb Dptiaftien gegrünbet; allein fie blieben ©cbuinen bis gur Stunbe.
©etbft unfähig, bie eroberten Sänber politifd) umgugeftalten, gerftörten fie gwar
nicht gänglidj baS ftaatlidje ©ebäube, baS fie in ihnen oorfanbcn, aber fie ließen
gleichfam nur beffen Umriß ftc^en. SluS ben Stabten unb Seehäfen machten [ich
biefe Sebuinen nichts; beShalb ließen fie bort ben alten Dpnaftien weiter bie
£>errfchaft, ja fogar bie nominelle Oberhoheit über bie ßänber. Saft baS
ganje Dell unb bie frudjtbarften Dafen ber Sahara bilbeten bie SBeibegrünbe
ber Slraber, aus beiten fie bie cinheimifdjen ©erberftämme theilS in bie SBüfte,
theilS in bie h°h en ©ebirge guriidwarfen. Dennoch fonnte eS nicht fehlen,
baß vielfache ©ermifchungen gwifd)en beiben ©ölfcrn oorfamen, unb in einzelnen
ßanbftridien, wie g. ©. im nörblichen Durtefien, war bie ©ermifdjung nicht nur
jwifchett ©erbern unb Arabern, fonbern f<hon öon früher her mit ben ins Sattb
gefommenen heterogenen ßlementen fo ftarf, baß man faum bon reinen ©erbern
ober ffabplen, reinen Strohern u. f. w. fpredjeu fantt. Stur in SKarotfo hat fi<h
baS berberifche Urbotf Oon ben Arabern fern unb unbermifcht erhalten. SltterbingS
fommen auch bort in Stabten unb großem Ortfcfjafteu §eirathen gwifchen beiben
©ölfern oor; im ganzen flehen fich aber, nach Stoffs, heute Slraber unb ©erber
fo fremb gegenüber wie gur 3eit ber erften ^ttbafion. immerhin gab eS überall
in ©orbafrifa ©ulturberührungen genug, baß bie einen bon ben anbem bieleS
annehmen fonnten. Selbft in SJiaroffo unterfdjeiben fich Araber unb ©erber
hauptfächüch nur burch bie Spraye; bie übrigen Unterfdjiebe finb äußerft gering,
unb fogar in ber Sprache haben bie ©erber biele SBörter aus bem bort gebrauch»
liehen madjrebinifchen Dialeft beS Slrabifdjen aufgenommen. Wie bie maroffanifefjen
Slraber foldjebem ©erberifchen entlehnten. Die bon ben ©erbern gefprochene
Sprache, „Damafirht" ober „©djeHalj" genannt, bilbet berwanbte ©lieber eines
eigenen felbftänbigen SpraehftammeS, beS berberifchett ober libhfcfjen, unb ift bie
uäm(i<f)e, welche bie Duareg Demaljaf im ©orben unb Demafdjef im ©üben nennen;
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Horbafrifa unb feine Bedeutung in 6er ©egenwart.
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man begegnet ihr noch in 3Iubfcf)ita unb noch ferner int äußerften Dften in ber
Oofe beS Jupiter Ämmon. SlUerbingä finb bie Unterftriebe ber üerfdfiebenen 2>ia*
lefte biefer Sprache äußerft groß, nie ja baS aud) gar nicht anberS fein fann bei
einer Sprache, welche ungefähr über ben üierten Xfjeil üon Äfrita oerbreitet ift;
bennoch finb fie nid)t fo groß, um nicht leicht eine ©erftänbigung jtüifchcn ben
üerfcf>iebenen berberifch rebenben ©ölfern ju ermöglichen. 3tt Algerien ifi ber
Sd)owiabbialeft üorherrfdjenb, unb bie bärtigen ffabplen haben nun ihre urfprüng»
lidhe ©tunbart mit nieten arabifchen ©eftanbtheilen üerquidt, fdjreiben biefetbe Wol
auch — waS alle mit alleiniger ÄuSnahme ber Üuareg trifft — mit arabifchen
Settern. 3n Xunefien nahmen bie ©erber gleichfalls biete europäifcf)e unb arabifdje
ÄuSbrütfe in ihre «Sprache auf, ja bieS gefdhah in ber testen Seit in fo hohem
©rabe, baß fie ihre Urfprache nur wenig mehr benufcen unb jefct im Serfehr mit
ben Arabern ber Ebene unb ber Stabte nur baS Xunefifdj^Ärabifche ober ,,©tad) =
rebi" fprechen. SBenn fie inbeffen üon Ärabern häufig hoch nicht üerftanben werben,
fo ift eS, Wie Ernft üon £effe=SBartegg üerfichert, weit fie bann einen ISiebSjargon
fprechen, beffen fich bie räuberifchen ©ebuinenhorben an ber Süb= unb SCBeftgrenge
XunefienS unb auch i« Älgier in ähnlicher StBeife bebieiten wie etwa bie ©erbrechet
unferer ^auptftäbte ihres Slangs. Sind) in manchen anbern Schiebungen üertoreit
bie tuncfifchen ©erber bie Eigenthümlidjteiten ihrer ©affe, nahmen anbere üon ben
Arabern auf, gaben bie ihrigen an bie Äraber ab, unb bie Unterfcßiebe, bie }Wifd>eu
ben beiben großen ©ruppen heute noch befteljen, finb bemttach nur noch wenig
auffällig, Äudj in Äfgerien finb nach Dr - ©ernharb Schwor^ biefe beiben Sie»
mente tängft nahezu in Eins üerfdjmolaen, Wenngleich e iu geübtes Äuge fie noch
beibe leicht ju unterfcheibeu üermag. $erfel6e Körperbau auf bem fylachtanbe wie
im ©ebirge, b. h- ftftlanfer, fertiger SBudjS mit ftart ausgeprägtem ©tuStetbau,
gebräuntem leint, tautafifcher ©efichtSbitbung, ftar! gebogener ©afe, feßwarjen
feurigen Äugen, fdjwaraem fchlichtem £>aar, fpifcem ®inn, etwas ftart herüortreten»
ben ©aefentnodjen, fpärlichem ©artwuchs: alles bieS haben in ©tarotfo ©erber
unb Äraber gemein. ÄUerbingS finb im allgemeinen bie ©ebirgSbewohner üon
hellerer Hautfarbe, aber baS gilt fowol für bie bcrberifchen ©ewohner beS ©if»
gebirgeS wie für bie arabifche ©eüölferung ber ©ebirge ber Änbfdjeralanbfchaft.
3n Älgerien, wo bie Stabilen in weit compactem ©taffen Wohnen unb nicht fo
häufig mit ben ©omabenftämmen ber Ebenen in ©erührung tommen wie in 2une=
fien, ift ber Körperbau bcS ©erberS üon bem beS ÄraberS mehr üerfdjieben. Sein
SBuchS ift nur üon mittferer ©röße, aber ftart angelegt. Sein Stopf ift groß, baS
Änt(i$ mehr üon üiereefiger gorm, bie Stirn breit unb gerabe geftellt; ©afe unb
Sippen finb bief, bie Äugen oft blau unb bie §aare häufig rot!;. 21 ber auch in
lunefien finbet man, währenb ©. bie ©ebuinen fämmtlich f^war^e $aare,
Äugen unb ©art befifcen, unter ben ©erbern häufig rotf)c unb blonbe #aare, blaue
Äugen, hellen, ftruppigen ©art, im allgemeinen auch eine hellere ©cfidjtSfarbc.
©tan fieht, baß ber ©erber jenes XhcileS ©orbafrifaS in feinem Äeußern mehr
an einen ©orblänber als an ein Äinb beS heißen SübeitS erinnert. ©eucrbingS
finb auch in ©tarotfo blonbe unb blauäugige ©erber entbeeft Worben, ©tan wirb
Wol nicht fehlgehen, wenn man in biefen ftörpermerfmalen Erbftücfc auS ber
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Unfcrc <3cit.
3«it ber ^errfdjaft ber germanifcben ©anbalen erblicft. 2Rit bem urfprünglicbcn
berberifcben ©olfsStppuö haben biefelben fit^er nichts p fdjaffen. 2)iefem entfpricbt
gewiß »eit mehr bie oben nach Stobtfö gegebene (Ibarafteriftif bet 3Raroffaner.
©ei ben Stauen beibet Söttet, ber ©erber unb bet Slraber, muß aflerbingö auf»
faßen, baß ba$ SBcib beö Slraberö burdjfchnittlich ftciner fein bfirfte alö ba$ beö
©erberö. 3 m übrigen finb auch fie nicht äußerlich jn unterfcheiben. SJtan tann
oon beibcn fagen, baß, feßr früh entwidelt, fie in ber 3 ugenb ^übft^e ooße Sor»
men, meift regelmäßige @efichtö 3 üge befifcen, aber ßhnefl altern, burch unjutäng-
tid)c Siaßrung äußerft mager unb im Sitter »egen ihrer überftüffigen §autfaltcn
überaus häßlich »erben. ©ins ift aber gewiß, baß bie Serber 3 ur mittettänbifcßen
Stoffe geböten »ie bie Slraber, baß fie »ebcr SBoßhaare noch f(b»atje £>aut haben,
»ie bie übrigen Ureinwohner Oon Stfrifa, bie bon jenfeit ber Sahara ab baufen,
fonbern baß fie in ihrer garbe fo jiemti^ ben Sewohnern oon ©übeuropa gleich*
fommen. „Unb fo haben wir benn", fagt Dr. Samara, „eine »eitere Slehntichteit
jwiftßen ber Partie unferS ©rbthcilS, bie am SJtittelmeere fic£> ausbreitet, unb bem
gegenübertiegenben Storbafrifa. SBie baS große Stücf ©rbe oon ber Dafe Siuah
in ber Sibpfchcn SBüfte bis jum Sttlantifchcn Dcean, baS fübtitb Oon ber Sahara
begrenjt wirb, in feiner ©obengeftaltung, beSgteichen in feiner gtora unb Sauna
ben |>albinjettt Oon ©riedjentanb, jUalien unb namentlich Spanien fo überaus
nabe fommt, fo ßheinen aueb feine Ureinwohner noch ©uropa jugeredbnet Werben
ju müffen." ©rft jenfeit ber Sahara beginnt ber eigentliche febwarje ©rbtßeit,
baS wahre Stfrifa unb mit ihm bie Wahre afrifanifebe SRenfchheit, ju Wetter bie
Serber, trofc Stöbert £>artmann, nun einmal nicht gehören. SBaljr ift inbeß, baß
in SDlaroffo, ja febon im füblichett Xunefien, auch eine nießt unbeträchtliche SDtengc
StegerbluteS Stufnabme gefunben bat. 3n SJtaroffo bat baffetbe bap beigetragen,
baS arabifebe ©tement träftig ju burchfefcen, obfebon auf bem Sanbc bie ÜRifdbung
mit ben Scb»ar 3 cn fettener ift als in ben Stäbten. 2)ie ©erber mifeßen fidj bort
nie mit ben Siegern, fie würben glauben, ßd) baburdj 3 U begrabiren; in ber weft»
lieben Sahara finb fie aber Weniger fcruputöS, unb hier sieben fotdhe balbfcblä^tigc
©erberftämme Wie bie Sirarp, ©ratna unb anbere umher.
2 >ort, Wo bie ©erber fieb mögtiebft rein erhalten haben, 3 eigen fie, trofc ber
oietfacb erfolgten Serfcbmet 3 ung in Sitten unb ©harafter, boeb mehrere Söge»
welche fie oon ben Slrabern auf baS beftimmtefte unterfebeiben. ®er Slraber ift
Oorwiegenb Stomabe, wiß fagen ©ebuine, ber ©erbet neigt 3 ur Scßbaftigleit. ©in
febwerer SErrthum freilich Ware cS, 3 U glauben, ber Slraber fei nur Stomabe, ber
©erber immer febentär. ©ins ift fo wenig richtig wie baS anbere. 3unä<hft
wiffen wir brüte, baß wir uns unter Stomabifiren nicht oorfteßen bürfen, eine
Sippe bürfe ober tönne umber 3 ieben, wie fie woße unb wohin es ißt beliebe,
©in Slomabentbum in folgern Sinne fennt bie ©ötferfunbe faft nirgenbS, nicht
einmal bei ben robeften ©ölferftämmen. Selbft bie Sluftralier haben ihre ab»
gegren 3 ten SBeibe» unb Sagbbejirfe, um wie oiel mehr erft bie fo hoch barüber
ftehenben Slraber. 3n ben meiften ftlimaten bebarf ber Stomabe für baS lieber»
Wintern beS ©ieheS einen ©eiftanb beS SlcferbaueS. @S tann uns alfo nicht
lounbem, baß auch bei ben Slrabern jeber Slomabenftamm im SBinter fäet
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Horbafrifa unb feine Bebeutung in ber ©egenmart.
8i
unb pflügt. 8toljtf« fagt au«brüdtidj, bie Äraber finb in SRorbafrifa bie ^aupt*
fddjlidjfiten Äderbauet unb nur nebenbei ©ief^üchter. SBenn fte im grühiahre
unb Sommer ba« Jett bertaffen, um iljre beerben nach beftimmtcn ©egenben
hinjutreiben, bleibt immer ein Jljeil be« Stamme« jurüd. Daß aber bie
Äraber ben ©erbern ben ©flug mitgebradjt hoben füllen, tuie IRohtf« Witt, fdjeint
nicht feljr glaubhaft, angeficht« be« Umftanbe«, baß fcfjon bie alten Äegppter, bie
bodj auch ©erber toaren, ben ©flug fannten, freilich in fcfir primitiber gorm, bie
aber nodj heute bie im Sanbe übliche ift. 9?ol)lf« tritt inbeß beobachtet hoben,
baß bie ©erber biefe« Äderwerljeug nur ba lernten, too fte mit ben Ärabern
untertnifdjt finb. Der tefjtern Siebling«aufenthalt ift bagegen ber „Duar", bie
au« Seite« errichtete fliegenbe Stieberlaffung, welche innerhalb ber ganj beftimmten
SBeibe* unb Äderbejirte teicht aufgefdjtagen unb abgebrochen werben fann. Der
©erber hingegen wohnt gern in gemauerten fpäufem; nur biirfen fie nicht in
Stabten fteljen. Äeine oon ©erbem bewohnte Drtfdjaft öberfchreitet bie ©röße
unferer Dörfer. Solche Dörfer au« gemauerten Käufern heißen .„Dfdjar". @« gibt
aber in Korbafrifa, ganj abgefehen t»on ben Duareg ber Sahara, auch große
nomabifirenbe ©erberftämme. Sene oon Dutti«, unb barunter auch bie in jfingfter
3eit fo bielfach genannten Shumair ober förumir, finb j. 8. nicht wie bie ©erbet
Ätgerien« burdjgeljenb« an fefte SBohnfifce gebunben. ©injetne wohnen atterbing«
im fetbftgebauten $äu«chen üon Sehmjiegeln ober in ben jahllofen römifdhen
SRuinenftätten, Welche bie noch Wenig erforfdjten ©ergtetten nörbtidj oom 3Jte=
bfcherba bebeden; aber oiete Stämme führen gerabe fo wie bie arabifdjen ©e=
buinen ba« ©omabenteben, wohnen in fdjwarjen au« ffameethaar geflochtenen
Selten unb treiben wie fie Äderbau unb ©iehjucht. Sn einigen Dljeilen finbet
man bie ©erber jefct üorjug«weife im ©ebirgc, weil fie fich borthin bor ben
arabifchen ©inbringlingen äurüdjogeti; in ganj Korbafrita wohnen aber entfchieben
jahlreichere ©erber in ben ©bcnen al« auf ben ©ergen.
Der Äraber, fagte ich, iß bor$ug«weife ©eb'uine unb ber ©erber, obgleich
oorwiegenb feßhaft, hoch lein Stäbter. Doch fehlt e« nicht an norbafritanifchen
Stäbten, welche freilich nteift uralte Änlagen finb unb ber ÜKehrjaht nach bie
■Korblüfte umfäumen. Sw Swtern be« Sanbe« finb in ber ©egenwart wol
weniger wirtliche Stäbte borhanben al« jur ©ömerjeit. Die ©eugrfinbungen feit
ber Äraberjeit finb wenige, unb biefe wenigen hoben laum Äraber ju Stiftern,
gej unb ÜJtarrafefch, febenfatt« bie bebeutenbften unter allen, finb Schöpfungen ber
©brifiben unb Älmorabiben, Welche atterbing« arabifdje Dpnaftien waren; allein
ße ftüßten fich burchau« auf ©erberftämme, Welche bie gürften aboptirt hotten; bie
^errfdjoft gehörte immer bem ©erbertljum, welche« noch etwa ein S a h r h un &ert
nach ber arabifchen Unterjochung, alfo bi« etwa 1150 in boller Seben«lraft ba-
ftanb. Äraberftämme aber Waren bor 1050 gar nicht ba, unb nadh SKaroffo
gelangten fie überhaupt nie al« Änfiebter. Älgiet würbe wat)rfcheintich an ber
Stelle be« altrömifchen Stofium burch bie berberifchen Siribeti gegrünbet, welche
außerbem noch ©ubfchia, §ammeb unb anbere ©läfce in ©efiß hotten. Soljlfeiche
römifcße Stäbte, wie ©eapoti«, §orrea ©oelia, fpabrumetum unb bor allen
Xg«bru« lagen an ber Sfiifte be« tunefifchen Sähet unb au« ihnen entftanben bie
Uiiietf iJeit. 1882. I. 6
■fe,.
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82
Unfcrc ^>cit.
heutigen H fl fenorte 9?ebe(, Hammamat, Sufa, SRonaftir, 9Re<hbia, oon benen
Sufa ber größte uub bemerfeuSwerthefte ift. 9tur fiairuan, ba« in lunefien be«
Stufe« ber $ei(igfeit fic^ erfreut, ift oon Sibi 0fba, bem Sreunbe unb ©offen*
geführten be« ©ropfjeten, atfo oon einem Ära ber gegrünbet worben. 2)ie Äraber
waren überhaupt feine Stäbteerbauer, unb fo gtäujenb bie (fultur, welche bie
©erühtung mit ben cioilifirten Cftrömern unb Werfern bei ihnen in« Seben rief,
fo geringfügig blieben ihre Seiftungen auf biefem ©ebiete. Unb fo ift eS bei
ihnen oon jeher gewefen. SBaren fie bod) in ihrem ^eimatlanbe Ärabien gleich*
faß« jum großen I^eile ©ebuinen, unb waren eS bod) gerabe biefe ©ebuinen,
uub nicht ber feßhafte ©rudjtheil ber Nation, welche ben Sölam gebaren unb
fiegreidj burd) bie halbe ©eit trugen. ®iefe Stomaben Ratten in ihrem eigenen
Sanbe faum mehr al« bie jwei gerichtlich berühmt geworbenen ©läfce, welche
aber ben Slawen oon ©tobten fieser nid>t Oerbienen: SReffa mit feiner fi'aaba,
einem elenben «Steinhaufen, unb ?)athrib, welches äRohammeb in al 9Rabt)ita
(äRebina) umtaufte, wa« „bie Stabt“ unb auch »ber 9ted)tSftaat“ heißt, ©irfliche
Stäbte finben fid) blo« in Sübarabieit, Wo fie auch ' n ein ungemein fyofyei
Älterthum hinaufreichen. ®ic ©cwohner be« füblichen Ärabien, oon feinen unb
Stebfdjran, bie alten Sabäer unb ^»imjariten, bei welchen eine für ihre Seit l)od)>
geftiegene ©efittung blühte, waren aber bon ben räuberifchen ©ebuinen fpracßlith
gefchieben; ihr Sbiom ift eine eigene Sprache unb fein $ialeft be« Ärabifchen,
mit bem eS haften« einen gemeinfamen Urfprung in einer fübfemitifchen Ur*
fprache hat. ®ie Seiftungen biefer Sübaraber, Welche heute noch ©täbtebewoljner
finb, barf man baher feineSweg« auch ben welterobernben ©ebuinen jugute
fdjreiben. 3« ben je^igen Stäbten Storbafrifa« Ijerrfc^t freilich aßentljalben ara*
bifche Sitte, ich fann mich über nicht mit SRohlf« ber Ueberjeugung anfchüeßen,
baß ber oorwiegenbe Iheil ber eingeborenen ©eoölferung in ben norbafrifanifchen
Stäbten arabifchen Urfprung« fei, weil ei feit unbenflidjen 3eiten bei ben Ära*
bem „Stäbter“ gegeben habe. Sefctere« ift eben, wie ich Zeigte, nicht ber gafl
gewefen. ©iSlang h crr f<^ te bie ©epflogenljeit, bie norbafrifanifchen Stäbter al«
SRauren ju bezeichnen, unb barunter üerftanb man hauptfädjlich bie SRifchlinge
Oon Ärabem unb ©erbern; in ©ahrheit aber finb fie ein ©emifcf) bon aßen
©ölferfdjaften, bie feit ber Seit ber Ärgonauten bi« jur franjöfifchen gnoafiou
an bie ©eftabe Storbafrifa« geworfen würben. Shnen felbft ift freilich ber ÜRame
SRaure abfolut unbefannt; man nennt fie arabtfeh „§abar“, b. i. Hausbewohner,
unb fie felbft nennen fich einfach Araber. StoljlfS beftreitet nun, baß bie ©er*
mifdjung, welche auch nach feiner äReinung in ben Stäbten größer war al« auf
bem platten Sanbe, bebeutenber gewefen fei al« bei un« in ben Stäbten auch;
beSgteichen feien bie äußerlichen, förperlichen Unterfdji.ebe jwifcfjen ben SRauren
unb Ärabem, j. ©. bie angeblich h e ß ere Hautfarbe unb bie Neigung zur 2)id*
leibigfeit, nicht größer al« ztoifchen einem europäifchen Stäbter unb Sanbmann,
obgleich bie meiften neuem ©cobachter ben „©ntbonpoint“ ber SRauren betonen.
5)a fie arabifdj fpredjen, fo wifl Stoffs bie Stäbtebeoölferung fRorbafrifa« ethno*
graphif«h Z u Ärabem rechnen, unb wenn man ba« einfeitige SRoment ber
Sprache als auSfcfjtaggebenb gelten laffen Wiß, fo ift bagegen nicht« einzuwenben.
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Horbafrifa unb feine Beöeutung in ber ©egemcart.
83
Slnthropologifcf) wirb man aber nicht bergeffen bürfen, bafj hamitifdheS unb femi»
tifdf>eS, griechifcheS unb röntifcheS, jübifdjeS unb djriftlidheS, Weites unb fdhWargeS,
germanifdjeS unb romanifcheS SBlut in ihren Slbent fließt, weshalb idj auch ben
biefeS MifchlingSwefen anbeutenben unb bisher üblichen SluSbrud Mauren nicht,
Wie SRohIfS, öerwerfen möchte, ©inen ©heil biefer Mauren bitben bie Stach»
tommen ber aus Spanien unb Sicilien jurüdgefehrten MoSlim. 5ßon all ben
Stationen, benen fie baS ©afetn berbanfen, ^aben bie Mauren mehr baS Schlechte
als baS @ute angenommen. 3h r 2leufjereS freilich erfcheint nach Dr. 58. Schwarj
öieloerfprechenb. Ser Maure ift im allgemeinen bon Ijoljem SBrn^fe unb nur
leidjt gebräunter jarter £>aut. ®r l)at eine fcfjöne römifche 9tafe, bollen Munb,
große, feurige f^Warje Slugen unb boHeS $aupt= unb SBartfiaar bon gleicher
Sarbe. ©er ©nglänber ©eorge ©aSteß entwirft jebocf) eine ganj anbere <St£jil=
berung ber nämlichen algerifcfjeu Mauren. 3h ra jufolge „haben fie nicht bie
ausgeprägten männlichen Büge, welche ben Äabplen unb ben Straber auSjeichiten.
©er feurige, fcf>arfe 58litf, fagt er, mangelt ihrem Sluge; bie Stafe, bei Äabplen
wie Slrabern ablerförmig unb fc^ön gef dritten, ift bei ben Mauren fo berfc^ie=
ben unb bielgeftattet wie bei ben ©uropäern. 58or allem mangeln ihnen bie
eigentümlichen auSbrucfSbolIen Sippen; bon bem perfönlidjen Stolj unb ber
ffiürbe beS ©haratterS, wie fie ben 58erber unb Slraber auSjeichnen, finbet fich
bei ihnen leine Spur. 3h te ©efichtSfarbe ift bleich, baS Ätitlij} obal unb oft
fett; mit wenigen SluSnahnten fyaben fie ein weibifcheS SluSfehen. Cljne einen
auSgefprochenen ©efichtStppuS, fönnten bie Mauren für ©uropäer gehalten Werben,
wenn fie anftatt ihrer auffaüenben ©rächt unfere fräntifchen ©ewänber trügen“,
©ie ©rächt ber Mauren ift je nach ben Dertlidjfeiten etwas, boch nicht fehr
Wefentlich berfcfjieben. Qn ©uniS j. 58. fieljt man fie „mit forgfältig gewunbenem
weiten, juweilen gelbgeblümten ©urban, furjer gefticfter Sade unb weiten falten*
reichen Änieljofen, bie um ben Seib burch eine buntfarbige Schärpe jufammen*
gehalten werben. 3»üöeilen werfen fie einen leichten, bünnfeibenen Mantel um
bie Schultern; bie bleubenbweiß beftrumpften Süße fteden in gelb» ober rothlebernen
Pantoffeln; baS ©afcfjentuch hängt, mit einem Bipfel an ben Mantel gebunben,
t>om h erQ fr; eine Stofe ftedt hinter bem regten ßh r , nnb ein Stohrftod mit
filbernem fi*nopf öeröoßftänbigt biefen Stnjug“. ©ie maurifchen 5£8eiber in Sllgier
tragen auf bem bloßen Seib ein weites feinleiueneS $emb unb barüber einen
umfangreidhen Kaftan Don golbburdhwirttem Sammt ober ©uch. ©er Stopf wirb
mit einem ober mehreren Streifen einer feibenen ober golbbrocatenen $üfle um*
Wunben. ©em ©haralter nach fittb bie Mauren im allgemeinen weichlich, treulos,
lügnerifch, ehrgeizig, rachfüdhtig, habgierig unb finnlich, bie SBeiber überaus ge»
faüfüchtig, totett unb intriguant.
3e nach ber 58öl!erfteßuitg, welche man ben übrigens eine große Minberljcit
bilbenben Mauren einräumt, mobificirt fiel) baS Urtheil über ben ©ulturgrab ber
Araber. 3bentificirt man bie Mauren mit ben Slrabern, Wie StoljlfS will, fo
fommen tefetem auch bie freilich geringen inbuftrießeu Seiftungen ber Mauren ju»
gute. ©twaS ©öpfertoaare, ©orbuanleber, feibeite ©üdjer, fdhöne ©ürtet unb
bie befannten rothen Mühen (Sc») finb nahezu baS einzige, was fie erzeugen.
6*
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8*
Unfere <3eit.
Die ntebftdjcn „arabifdjen" ©ädjelchen, metche SRetfcnbc oft als maurifdje ©Saare
auS Norbafrifa mitbringen, ftammen häufig auS Offenburg u. bgt. 3 mm erh* n
ift baS „arabifdje" £>anbmerf faft nur in ben ©täbten, b. f). bei ben NJauren ju
frnufe, mefche auch mit ©efdjicf £anbe( treiben, ©djeibet man affo bie SNauren
au8 bem tfrabertljum aus, fo haben mir eS b(oS noch mit ©ebutnen p tf)un,
beren Snbuftrieerpugniffe fich auf ©ättet, ©efdjirre unb Saumpug ober — maS
bie ©Seiber betrifft — auf ©emebe befdjränfen. keinesfalls fönnen bie Araber,
obmol fie fehr intelligent fiitb unb mit Unrecht ber gaulfjeit befchulbigt merben,
fid^ meffen mit ber ©emerbtf)ätigfeit unb bem kunftfinne ber ©erber, Don meinem
fefetern bie befannten ©ilberftligranarbeiten ber atgerifd^en kabplen IauteS Seng'
nijj oblegen. Der kabble ift ein unermübltc^er Arbeiter; im ©Sinter, mo bie
Setbarbeit ruht, mirb er Schreiner, ©c^mieb ober maS immer, unb er ift es,
meldjer bie gefehlten Datagane, ©emehre, kunftgefäfje, ©peifebreter unb anbere
©egenftänbe oerfertigt, ©ommer unb ©Sinter, bei gutem mie fdjfechtem ©Setter,
ift fein Sieben ein ©ifb raftlofen ©djaffenS. ©r ift ©Seber, gabrifarbeiter, ©erg=
mann, Döpfer, korbffedjter, Delpreffenerbauer, oornehmfich aber ©djmieb, p>ar
pnäcfjft ®rob= unb ©Saffenfdjmieb, bann aber auch ©ofb= unb ©ilberfchmieb.
Die oon ©erbern errichteten Prachtbauten p Dfemfen, gej unb ÜNaroffo jeugen
Oon ihrem ©ef^maef unb ihrer kunftfertigfeit in ber ©rdjiteftur. ©aron Sluca-
pitaine, einer ber gränblichften kenner ber ©erber, nennt bie kabplen be$ Dfchur=
bfchura intelligente, aber plumpe ©auern. Die berberifchen ©ebuinen aber, mie
fie in Dunefien bie Nteljrpht ber ©eüötferung bitben, fteljen mit ben Sfrabern
auf jiemfich gleicher ©ulturftufe. Nur menig unterfdjeiben fie fich oon biefen in
Iracht unb Sitten. Der perfönli^e SNutlj ber kabpten unb ber 2fraber beS DeU
unb ber Sahara ift eine unbeftrittene Dhatfache; üieQeicht barf man bie ©erber
a(S noch etmaS Iriegerifcher betrachten. SNit bem Straber haben fie bie ®aft=
freunbfehaft, fomie bie ftbfjärtung unb bie Nüchternheit gemein. Doch entfpringt
festere beim ©erber aus ©ei^, benn mo eS angeht, legt er fich feinen 3mang
an. ®on ber in Ntaroffo herrfchenben Uebermäfcigfeit im ©Seingenufj entmirft
NohtfS ein menig fchnteidjelhafteS ©ilb. Ueberhaupt geichnet fich baS gange ma=
roffanifche ©off burdj eine gemiffe Nof>eit, menig eble ©efüfjlc unb menig fanfte
Neigung aus. ©ei ben ©erbern, namentlich am Norbabhange beS SftlaS, ftreift
bie Noljeit fogar aus Dfjierifche. Sügen ift ben Arabern mie ben ©erbern fo eigen,
baf» eS mof faum ein gnbioibuum gibt, baS bie SSaljrheit fpricht. Unb pro=
feffionSm&fjige Süge fj fl t tuol immer ©etrug unb Diebftahf im ©efofge. Daß
ber ©aftfreunb ben SNaroffonera heilig fei, erfffirt NohffS für eine garce; in
Oielen ©egenben refpectiren bie ©emoljner nicht einmal bie ©chürfa, b. h* bie
Äbfömmlinge SRohammeb’S.
Der $auptunterf<hieb beS ©erberS oom Ärabcr, freilich ein fehr micfjtiger,
jumal er baS ©erberthum in feiner gefammten ©uSbeljnung unb auf aff feinen
oerfchiebenen ©ulturftufen charafterifirt, ift feine nahezu d)rijHiche ©ehanbfung beS
SSeibcS. greifich ijt baS Sieb ber meijten Neifenben, atS fei bie grau bei ben
Arabern meiter nichts als eine SNagb, ein auf oberflächlicher ©nfdjauung be=
ruhenbeS. kommt bie 3®it ber Ärbeit für ben SWann heran, bann ift ber Äraber
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Horbafrifa un& feine Seöeutung in 6er Cßcgenwart. 85
fowol Wie ber ©erber bei ber $anb; baS gelb wirb tion ben Kännern beftettt;
ba$ ©ittheintfen beS ©etreibeS beforgen bie Känner, ebenfo bie Abwertung bet
©arten, baS fpüten ber beerbe, baS Abfdjtachten beS Siegel, lurj alte fernerem
■Arbeiten. gntmerf)in hat bie ©erberfrau eine weit heröorragenbere Stellung unb
genießt »iel größere greiheiten als bie beS Arabers, unb bieS ftammt {ebenfalls
noch aus bormohantmebanifcher Seit- ©ei manchen ©erberftämmen ift in ber
©rbfolge nicht ber ältefte Sohn, fonberu ber Sohn ber älteften £odjter ober
Stßwefter erbberechtigt. ga, in einigen Stämmen fann fogar eine grau herrfcljen.
3n allen wichtigen Gingen h°t bie ©erberfrau mitjureben unb mehr als bei
anbern ©öttem fügen fich bie Känner bem AuSfprucfje ber grauen. SBäljrenb
bie Araberin fidj niemals mit unöerhüHtem ©efidht zeigen barf unb, felbft im
gelbe ober bei ber häuslichen Arbeit überragt, fich baffelbe mit ben ftänbett
bebecfen muß, gehen bie ©erberfrauen nicht nur unoerhüHt umher, foubern lönnen auch
im gefchöfttidjen ©erfeljr mit anbern Kännern fprechen. SSährenb bie Araberin
niemals mit ihrem Kanne gleichseitig ihre Kassetten einnehmeu barf, fonberu
ihn babei bebieuen tuuß, ißt bie ffabgleitfamtlie gleichseitig auS berfelben Schöffel,
gebe gefchicbene ober oon ihrem -Kanne berlaffene ©erberfrau erhält bamit ihre
perföutiche greiheit surüd unb niemanb öerübett ihr etwaige Siebfchafteit unb
außereheliche SiebeSfrenben. gür ben Araber ift bie grau Weber eine ©efährtiu
noch eine greunbitt, nicht einmal eine Kaitreffe. 2)em ©erber ift fie greunbin
unb ©efährtiu. Kann unb grau ergäben fich gcgenfeitig, unb felbft auf bem
Sdjlachtfelbe ift bie grau thätig, oerbiitbet ben ©erwunbeteu, forgt für Kunition,
ergreift wo! auch felbft baS ©ewehr unb Wirb bann häufig sur gurie. gm
3clte beS arabifcheit ©ebuineu ÜunefienS unb Algeriens walten gewöhnlich s'uei
ober brei graueu unb swar je mehr, befto beffer für ihn. Kit feinen wachfeitbeu
Kitteln forgt er auch für bie ©ergrößerung feines IparentS. 9?ur in KaroÜo
herrfcht nach SiohlfS bei ben Arabern ©inweiberei. 2)cr ©erber ift aber überall
faft ausnahmslos monogam.
$ö<hft merfwürbig ift auch baS ©emeinwefen ber ©erber. Sie bilben in
Algerien uttb Xunefien ooKfommene SRepublilctt mit einer an bie Schweis ober
bie ©ereinigten Staaten lebhaft erinnernben Drganifation. gn ihren Dörfern
beftehen eigene Kunicipalitäten, bie auS ber freien 2Baf)f fämmtlicher Ortsbewohner
heroorgehen. $asu berfammeltt fie ftch gewöhnlich beS greitagS auf ihrem Karft-
plafce unb erwählen eiu= ober sweimal im gahre einen „Amitt", b. h- Dberften
ober ©orfifoenben, bann einen „Util", ©erwalter ober faf fiter, mehrere ©olisei*
leute unb 9tätfje. ®ic beiben erftent bilben bie eigentliche Sgecutioe, bie übrigen
ftellen bie befcfjließenbe ©ewalt bar. 2>ie ganse Äörperfcfiaft bilbet sufammen bie
„®fchemma", wörtlich bie Kofchee. Sämmtliche Amine eines Stammes erwählen
unter fidj einen „Amin el Umena", b. h- einen Dberften ber Obern, unb biefc
bilben bann im ©ereiu mit ben religiöfen Scheichen ober Karabut eine Art
Senat, ber über ®rieg unb grieben swifchen ben einseinen Stämmen, über wich*
tige innere Angelegenheiten u. f. w. cntfdjeibet. 3)iefe bcmolratifchen Einrichtungen
unb parlamentarifchen gormett finb uralt unter ben ©erbern; in Algerien h at
granfreich fie foweit als thuitlich refpectirt; nur ntüffett bie Amine über bie ge-
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Unferc ^eil.
faßten Sefcßlüffe Sericßt erftatten. Dbfcßon es bei ben SJloSlim unb nocß Weniger
bei ben Serbent eine $ierarcßie gibt, fo lönnte man bocß bie SJiarabut als fotc^e
betrauten; benn ißr Stnfeßen unb ißr Einfluß auf bie SJtenge finb feßr bebeutenb.
SieS fcßeint aber Weniger auf religiöfer Eßrfurcßt ju berußen; benn bie Serber
finb niemals eifrige SUloßamntebaner gewefen, Wie ja aucß fcßon ber Umftanb be=
Weift, baß fte baS einzige Soll beS gSlam finb, WetcßeS nicßt ben Äoran als
©efeßbucß betrachtet, fonbern einen eigenen ßobej/ bie waßrfcßeinlicß aus Oor*
cßriftlicßer Seit ftammenben „Sanun" befißett. gm ©egenfaße jum fanatifeßen
Slraber ift bem Serber religiöfer Fanatismus in ber Siegel fremb. Eine 8 IuS=
naßme maeßen bie SJlaroffaner, meteße ebenfo fanatifcß finb wie bie Slraber. Sille
Serber befißen aber eine auSgefprocßene Steigung junt ©eftenWefen, unb in ber
Xßat ift Slorbafrifa mit religiöfen ©eiten ßintänglicß gefegnet, Welcße ßauptfäcß=
ließ auS bem Serbertßum ßeröorgegangen finb. ©o bilbet benn ber gSlam in
Junis, Sllgerien unb SRarotto feineSwegS ein cinßeitlicßeS ©anjeS. SBol finb bie
©laubigen aucß ßier, wie anberwärts, bureß baS gleicße Selennhtiß unb bureß
gleiche ßiftorifeße ©cßicffale lofe aneinanbergetettet; oon einer ©emeinfamfeit ber
gntereffen unb religiöfen Sejießungen lann aber ßier fcßon beSßalb nicßt bie Siebe
fein, weit bie etßnifcße Serfcßiebenßeit bet bortigen SJloStim eine folcße ©emein=
famleit nicßt gejiattet ober boeß wefenttieß erfeßwert. Sie eingeWanberten Slraber
unb baS berberifeße Urüolf ßaben nicßt einmal im Kampfe gegen bie Ungläubigen
gemeinfame ©aeße gemaeßt. Sem Stufgebot Slbb*el*®aber’S 3 . S. folgten immer
nur bie arabifeßen ©tämme, mäßrenb fieß bie berberifeßen &abßten Oon ißren
©taubenSgenoffen abfcßloffen unb auf eigene Fouft ßanbetten. ES feßeint nur ein
©teicßßeitspunlt jwifeßen Serber unb Slraber ju befteßen, unb baS ift ber $aß,
ben fie gegeneinanber ßaben, unb ber Slbfcßeu, ben fie beibe gegen Eßriften
unb guben empfinben.
Sem teßtgenannten SollSelement muß icß jum ©dßluffe noeß einige SBortc
Wibmen. guben gibt eS überall in Slorbafrifa, unb jWar nicßt bloS an ben
Äüftenpläßen unb in ben ©täbten, fonbern aucß im ©roßen SltlaS unb in ben
Dafen ber SBüfte ©aßara, fowie unter ben arabifeßen Sebuinen beS tunefifeßen
Silcb ul Sfcßerib. SloßlfS glaubt nicßt, baß biefe guben, wie einige wollen, Slb=
fömmtinge ber Ureinwoßner, alfo Serber ißrer fpertunft naeß finb. ©ie jeießnen
fieß bureß anbern Sörperbau, anbere ©efießtsbitbung unb ©itten aus, unb finb un=
jweifelßafte ©emiten. gm allgemeinen finb bie guben feßöner unb träftiger als
bie Slraber, aber ber entfeßließe ©(ßmuj, ben fie $ur ©cßau tragen, ißre nacß=
läf[ige unb armfelige Sleibung entfteüen fie über ©ebüßr. Sie woßlbefannte
Sßpfiognomie ber tpebräer tritt übrigens nicßt fo feßr ßerbor wie bei ißren
europäifeßen Srübern; bie Slafe ift nicßt fo marfirt unb all bie anbern 3iige fenn--
jeießnen weniger jene moralifeßen Eigenjcßaften, bie man ißnen jufeßreibt. ©ie
finb alle ßoeß unb gut gewaeßfen fowie, namentlich was bie Frauen angeßt, feßr
feßön. Slacß SJlarotfo finb fie birect aus ißatäftina eingewanbert, $um Sßeil als
Sertriebene aus Europa gefommen. gßr SoS ßaben fie freiließ babureß nicßt
Oerbeffcrt; benn überall in Slorbafrifa ßatten fie feitenS ber mit bitterm $aß auf
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Horbafrifa unb feine Beöeulung in ber (ßegemoart. 87
fie berabblitfenbeti ©ingeborenen eine wahrhaft raffinirt öerä^ttic^e ©efjaitblung
ju erbufben. Scannte man ben ©fjriften „£>unb", fo muffte fidj ber Sfraetit gar
ben Ütamen „Stag, ©obn Dom Stag" ($fcf}ifa ben Sfc^ifa) gefallen taffen. ®iefe
Serbättniffe ^aben fidb in Sttgerien feit ber franpfifcben $errf<baft fef»r geänbert,
unb bon all ben oerft^iebeneti ©tementen ber ©eüötferung Ijaben bie Suben ben
meiften ©runb, fidj über ben neuen ©tattb ber $inge p erfreuen. $efto feU=
famer ift eg, baff nach Slucapitaine wenigfteng, bie Suben nur wenige Stjmpatbien
für bie granjofen hegen unb überjeugt finb, baff fie bei ben ©ngtänbern Weit
mehr ©etb oerbient tiätten. Souig be ©eaubicour fcfjrieb 1856: „3)ie meiften
guben beg Snnern fönne man atg Stgenten ©ngtanbg betrauten. SBie alte 3«ben,
finb audj bie oon Sllgier unterneljmenb unb intelligent; fie lieben bag ©etb, be=
gnügen fidj aber oft mit Keinem ©ewinne. ©on ber Styrannei ihrer frühem
ßwingljerren befreit unb beftfjüfct, wanbetn bie Äinber 3fraelg nun froh burcfj
bag Seben ^in, ben fräntifdjen Sitten fitf) immer mef)r näfjerab unb anpaffenb,
Wie ja if|re frühere materifc^e Äteibung pm 2£jeit fdjon bem parifer ÜJtobeanjng
tßtafc gemacht tjat. Sticht fo in ÜJtaroffo unb big oor wenigen ÜJtonben in Xunig.
®g finb bieg faft bie einzigen Sänber, in wetdjen fielt bag jübifefje ©tement in
feinen aug frühem Sa^rftunberten ftammenben patriarc^atifd^en Sitten ermatten
bat unb wo eg eine burdj ben 2>egpotigmug bebingte Sfugnatjmeftetlung einnimmt."
®ie ©ebrücf ungen, Wetten bie guben bort big auf bie jüngfte Seit auggefe^t waren
unb tfjeitweife nod) finb, überftbreiten alte ©orftellungen. Kapitän Srotter bat
erft fürjticb geftanben, bajj bie mabriber ©onferenj pr ©erbefferung ber Sage
ber Suben in ÜJtaroffo gar fein SRefuttat gehabt tjat, unb wenn auch, fo f)ätte
man fidj in ÜJtaroffo bo<b nicht barum gefümmert. 2>cn tunefifdjen guben, bereu
ju unförmlicher gettteibigfeit fhftematifdj gemöftete grauen unb üJtäbcben in ihrer
fettfamen, angeblich aftbebräiftben Fracht ©aHerinen gleichen, bie ben fiörper big
ju ben .'püften in einem ©atf tragen, Oon ba an abwärtg aber ben profanen
©tiefen preiggeben, bringt Wot bie franjöfifcbe ©efejpng beg Sanbeg cnblitb bie
erfebnte ©rtöfung.
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|J aUt Curri unir fern tuueffrs $Jud).*)
Son
Äoffoele JHariotto.
$)er merfwürbigfte ßug Surci’S, biefeS in Dielen $infi$ten merfroürbigen ÜRanneS,
ift fein fteteS SEBerben. Sn Seben unb Scnlen nie pr Stube p fommen, nie einen
feften fßunlt beS ©ebarrenS p finben, fd^eint baS ©cbicffal biefeö XantaluS fein p
ntüffen. Xer faft lebenslängliche S e fnil lehrt jefot, am Snbe feiner Saufbabn, non
ben einftigen ©enoffen berworfen unb berleugnet, als einfacher fßriefter in bie
SSBett prücf unb nimmt raftloS t^eil an ben biefe pmeift bewegenben Problemen.
Unb in ben ©ebanfen unb Slttfcbauungen ift ebenfalls ein neuer ßurci an bie ©teile
beS alten getreten: ein neuer Surci, tbätig, unternebmenb, in SBünfcben unb
Streben lübn wie ber alte, unb hoch Don biefem fo berfdjieben, bafe man t/ier
tool baS Quam mutatus ab illol wieberljDlen mufe.
Xaß ficb in ben Xenbenjen ©urci’S eine tiefe SBanblung boOpgen bat, unter*
liegt feinem Steifet. £)ie ©ejiebungcn ber ^Religion unb beS ßbrtftentbumS p
ber ©ultur im allgemeinen unb fpecieü ju Italien bilben, Wie wir faum anp*
beuten brauchen, ben ^auptgegenftanb feiner eingehenben ©tubien. Unb gewiß
bat er recht, wenn er in ber religiöfen Stage baS erfte unb centralfte Problem
unferer Seil erfennt. ©elbftDerftänblicfe begreift unb bebanbelt er baffelbe Don
feinem ©tanbpunfte aus, ber im ©runbe fein anberer als berjenige ber fatbolifcb*
päpftlicfeen ßirefee ift. SBicberberfteHung ber Autorität biefer Kirche ift fein böcbfteS
Siel; jur Streichung beffelben aber fefelägt er jefct ganj anbere SJtittel unb SBege
Dor als ehemals. Unb in biefer Sejiebung bat er in ben lebten fahren, als
Xenfer unb ©djriftftetler, eine SReibe Don ©Dolutioneu burchlebt, welche als
ebenfo Diele SöfungSberfucbe beS Problems ju betrachten finb.
©efeon in ber ©orrebe ju ben 1874—76 erfdjienenen „Sjegctifcben unb mora=
lifdjen ©orträgen über bie Dier ©Dangetien" („Lezioni esegetiche e morali sopra
i quattro Evangeli") offenbart fiih, obwol mehr birtueH unb oerbüttt als entwicfelt
unb Har auSgefprodjen, bie ganje SEBanblung in Surci'S Xeitfweife. Unter bem
febweren Sinbrucf beS Don ber Derberbten SBelt gegen bie ^Religion bcraufbcfcbworcncn
©turmeS weife er ber Kirche unb ben ©laubigen nichts anbereS anpempfeblen
*) „La nuova Italia e i vecchi zelanti — Studii utili ancora all’ ordinamento dei
partiti parlamentari" (fytorenj, Sencint, 1881). („XaS neue Italien unb bie alten Sorten
— ©tubien, auch in ©epg auf bie SRcorganijation ber parlamentarifdjen tßarteien.")
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Pater £urci unb fein neueftes 23udj.
89
ats Betrachtung ber ©bangetien, ©ebet unb ©ottöertrauen. 9lur barin ift nach
ihm Xroft für bie erlittenen SRieberlagcn p finbett, nur barauS Hoffnung ju
fdjöpfen für eine beffere Sufunft.
ÜRacßbem fich ihm einmal biefer neue $oripnt erfeßtoffen hat, richtet ©urci bie
Slide noch weiter. Salb wirb er gewahr, baß mit abftracten Stßgemeinßeiten
nichts gethan ift, unb fühlt mithin baS Bebürfniß, fich m it bem ©oncreten unb ißrat-
tifchen ju befaffen. @0 entfteht fein Such „S>er gegenwärtige ßwiefpalt jwifeßen
ber föreße unb Spatien" („II moderno dissidio tra la Chiesa e l’Italia", gtorenj
1878). $fn beftimmter SBeife, ihre mannichfaltigen, ethifchen, potitifeßen unb fo=
cialen Begießungen unterfudhenb, geht ber Serfaffet hier auf bie tircßtich*retigiöfe
(frage ein. S)ie ernfte Erwägung ber X^atfac^en unb ber SBirtticßfeit pringt ihn
ju bem ©ingeftänbniß, baß ber fc^roffe Swiefpatt ohne großen Schaben für beibe
2ßeile nicht fortbeftehen !ann. @r gelangt baher p folgenben ©rgebniffen:
Son bem geraubten Xemporaten foß bie Kirche für ben Slugenblid nicht fpreeßen,
ohne jeboeß auSbrüdticß auf irgenbeinS ihrer tRecßte p berichten. Sie muß fich
ergeben, muß aus ber SRotß eine Xugenb machen, fich ben Umftänben anpaffen
unb bie boßpgene Xßatfacße ertragen. |>at fie wirtlich im Sinne, baS Sertorene
früher ober fpäter wieberpertangen, fo muß fie bor alten Gingen barauf bebaeßt
fein, ihre geifttieße üftaeßt p befeftigen unb baS arme Italien p fich nab auf ben
guten SEBeg prüefpführen. SBenn ihre geifttieße Autorität fich in ben ©ewiffen,
in ber Familie, in Schute bnb fieben oon neuem behauptet haben wirb, bann
Wirb alles attbere bon fetbft nachfotgen.
freilich ift biefer SBeg ziemlich lang unb jeitraubenb. Unleugbar aber ift er
auch ber ficherfte. Sbenfo ift nicht p beftreiten, baß unter ben gegebenen 3«'t=
berhättniffen baS bon ©urci ber Kirche empfohlene Sßftem potitifcßeS ©efeßid,
fchlaue ©infießt unb ein nicht gewöhnliches Serftänbniß ber SJtenfcßen unb ber
äBecßfetfäße beS SebcnS an ben Xag legt. Ob eö übrigens an unb für fich, fowot
für Italien als für bie Sircße, möglich, ausführbar unb wünfeßenswertß ift, muß
hier baßingefteßt bleiben.
©urci feßreitet inbeffen immer tühner borwärts. 3m Saufe eines 3aßreS
(1879—80) hat er brei biefe Sänbe herausgegeben: „$aS SReue Xeftament", inS
3tatienifcße überfeßt unb mit Stnmerfungen unb ©ommentaren berfehen. SSir über»
taffen eS anbern, bie pßitologifcße ©enauigfeit unb ben ejegetifeßen SBertß feiner
Ueberfeßung p prüfen. 0b unb inwieweit ©urci in StuStcgnng unb Sfritit baS
9tecßte getroffen, ben lautern Sinn ber ebangelifdjen Beßren anfgefaßt unb ißreit
fitttießen unb erbauenben Snßatt inS Waßre Sicßt gefteüt ßabc, barüber tönnen
nur gaeßmänner unS belehren. SBaS unfere Stufmertfamteit ßier in 2lnfprncß
neßmen foß, finb pmeift bie umfangreichen Einleitungen, weteße ber Ueberfeßer
bem erften unb teßten Sanbe borauSgefcßidt ßat.
©urci ift barin wieber ein anberer, als Wir ißn int „Dissidio" {ernten gelernt
haben. Son ben Eingebungen nnb ©inflüfterungen rein wetttießer ^ßolitif unb
fflugßeit wifl er nießts meßr wiffen. ©S ift nießt meßr feine Slbficßt, bie Slircßc nnb
baS tßapfttßum p einer XranSaction, ju einer 2lrt bon ©ompromiß mit Italien
p bewegen. ®er ©egenftanb ift berfetbe geblieben; beS SerfaffcrS Stanbpunft
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Unfcrc
90
aber ift ncränbert. ®r gebt jefct non hohem Stnforberungen, non tiefem unb uni;
tierfettem ©rünben aud, bor nieteten wanbetbare ©orfätte unb äußere jRficfftdjten
fefiroeigen muffen. 3« «infamer ®efd)auticf)feit unb auf ber Steige bed Sehend, ift
er ju ber feften Ueberjeugung gelangt, baff jur Söfung bed retigiöfen Problem«
ftörberung ber Sache S^rifti bad ©ine ift, wad notßtbut. Daß biefe Ueberjeugung
fid) in ber ftitdbe unb im ßterud nerbreite unb ju einem Sauerteig neuen Sehend
werbe, ift fein Ijöcbfter SSunfdf). Dazu nach bem SJtaße feiner fträfte bei zutragen,
bat er fi<h ber mflbetiotten Arbeit einer Ueberfefeung unb Studtegung bed Steuen
Deftamentd unterzogen.
@r ftettt fitb bie grage, wetebed bie lebte Urfadbe ber ©efunfenbeit bed djrift«
liefen ©ewußtfeind ift. Siegt fte etwa ganz unb attein in ber Stenotution unb
ben Steholutionären? — Stein, einen großen Jbeit ber Scbutb tragen biejenigen,
welche, atd Wiener bed Slltard, bie Sirene unb bie Stetigion tiertreten.
SDtan oerweile nur ein wenig bei ben ©erbältniffen bed itatienifdben Sftcrud.
SBad finb ibm (S^rifti ißerfon unb ©orbitb, Wad ©brifti Dbaten unb Sebren?
SEBenn ein ©egenftanb feiner Kenntnis unb ^Betrachtung fern liegt, fo ift ed gerabe
biefer. Seine ©oangetienerttärungen, feine ißrebigten über Scbrifttejte finb gerabeju
erbärmticb. Die großen ©ebeimniffe bed ©taubend, in welche bie Sßrebiger granl=
reicbd ficb mit Sortiebe oertiefen, bteiben in Italien unoerftanben. Dafür ift bie
Seminarbitbung ju ungenügenb. Unb bot er bad Seminar oertaffen, fo gibt ber
junge Äterud fnb mit Sernen unb Stubiren überbaufit nicht mehr ab. SBcnn bie
Sttebrzabt ber Saien, auch ber gläubigen unb unterrichteten, faum eine Slbnung
non ber ©fiftenj eined Steuen Deftamentd bat, fo finb ben meiften ©eiftticben
bation nur bie Stbfcfjnitte betannt, bie fie im Söretjier unb im SJtiffate tefen müffett.
SBie wenig bad Steue Deftament getefen unb erforfebt wirb, beweift bie tbeotogifebe
©ibliograpbie. Der traurige 3nftanb bed ©rebigtwefend, bed tebrbaften unb
apotogetifeben fowot atd bed afeetifeben, Wirb babureb ^inlängtic^ erftärt. ©an
erwäbnendwertben tbeotogifeben Arbeiten ift oottenbd gar nicht ju reben. Weit hier
gänzlicher ©erfüll berrfebt. Der italienifcbe Sterud Weiß mit einem SBorte nichts
mehr Don jenen eögngetifcben unb cbriftticben ©rincipien, bie unoerfebrt ju erhalten
unb beten ©etbätigung ju förbern feine Stufgabe fein müßte.
Slnbererfeitd finb bie eifrigften ©eiftticben baoon überzeugt, baß bie ^Behauptung
ber weltlichen Stecbte ber Kirche bad bringenbfte ©ebürfniß ber ©egenwart ift, mit
beffen ©efriebigung atted getbau wäre. Unb gewiß ift bie ©ertbeibigung biefer
Siechte an unb für ficb ein guter ©haften würbiged Streben. Mein non b' et
bid zur Siacbfotge ©brifti ift ed weit. Stuf jenem SBege würben zwar bie Diener
ber Kirche auf ©rben Wobt nerforgt, geachtet unb mächtig, bie Kirche aber leined*
wegd geheiligt Werben. Dßatfachc ift, baß ed unter ben ©eiftticben nur wenige
gibt, welche einfeben, baß bie non ihnen begehrten SBürben nicht ihrem eigenen
Stuft unb frommen, fonbern einzig unb attein bem Stächften bienen fotten. Unb
nerfebwinbenb ttein ift bie 3“bt berer, welche zu bem non SfjriftuS atd ©ebingung
feiner Siachfotge norgefchriebenen ©ntfagen auf bie SSJett unb ihre ©aben geneigt
finb. Stuch bie ©riefter batten Steichtbum, SBoblteben unb ©enuß für bie böcbfteu
Sebendgüter.
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pater Curci unö fein neucftes Budj. 9 t
©o nun bal gefehlt am grünen wa! wid am bfirren Werben? ©Bai
lägt fidj non ben Saien erwarten? Äein SBunber, baß bei biefen bal chriftlidje
©ewußtfein mehr unb mehr fdjwinbet unb oöttig ju erlösen brof)t.
©Bohl wäre el Seit, fo argen dftilftänben abjuhelfen unb ade ©ebanfen unb
©orgen auf bie SRettung ber ffirdje, bie ©Bieberherftedung ber SReligiofität unb
©ittlichfeit in ben ©emüthern ju wenben. ©ibt el jefct noch ein Heilmittel, fo ift
biel nur bie fRücffeht ju Eljrifto unb feinem Eoangetio unb bie S3ieberbelebung
aller ben eigentlichen Sn^att bei chrifttichen ©ewußtfeinl aulmacpenben fpecuta»
tioen unb praftifdjen ©egriffe. ®aju bebarf el einer umfaffenbern unb tiefern
ßenntniß bei Steuen leftamentl. ©o ift bie S33elt djriftlid) geworben, unb fo nur
(ann fte el oon neuem werben, $)enn aul bem Steuen leftament, juntal aul ben
©riefen ©auli, geht Har beroor, wie wenig bal chriftliche Seben tebiglidj in einer
Suflimmung bei ©erftanbel ju ben geoffenbarten ©Bahrljeiten befteben ober in
äußerer ©flidjterfüdung unb mechanifehen Euttulübungen aufgeben bürfe.
©Bal nun bie fdjWeren materiellen Sertufte betrifft, fo müßten fie für bie
fördje nur ber Stntaß ju größerer ©erOodfommnung Werben, welche inbirect
auch ber ©Belt jum Heil gereichen müßte, ©on ben irbifchen ©efcßicfen ber
ftirtfje muß ber wahre ßbtift einen anbern unb h®h etn ©egriff h a ^en all ben
adgemein oerbreiteten. ®ie ©erheißungen irbifdfer ©üter, welche ber Kirche
burcfj ©ottel wunberbarel Eingreifen jufaden fodten, paffen nur für jübifdHheo*
fratifdje ©orftedungen. 3m ©eifte unb in ber ©Baljrheit, welche S^riftuS in bie
©Bett gebracht hot, ift für fie fein 9taum. Äurj unb bejeidjnenb fagt ©aulul Oon
bem irbifchen ©ute: „3ch h°tte el für 2)recf." Unb im -Reuen leftament lebt ber
©erechte feinel ©laubenl unb weiß nur oon himmtifdjett ©erheißungen. ®ie
Seitlichen ©tüfcen, fo nämlich fie ihm fein mögen, barf er, wenn el ©ottel ©Bide
ift, baß fte jufammenbrechen, nicht $u fehr beweinen. $al Terrena despicere et
amare coelestia, worin ber Höhcpunft ebangelifdjer ©ittlichfcit liegt, oermögen bie
Sfeoolution unb bie ©ebolutionäre ben SDiännetn ber $?ircfje nicht ju Wehren.
Hier ift bie ßirche frei, Weit biel ©ebiet ihr unumfchränft gehört. ©Seifet ber
Meinungen, biptomatifche fünfte unb politifche ©Banblungen fönnen el nicht be=
rühren. 3 n ber feften SuOerfidjt, baß jebe SRaßregel ju ihrem ©chaben fich für
fte in ©egen oerfeljren wirb, fann bie Kirche aden Mächten ber Erbe $tofc bieten.
$ie fi’irche muß jeben ©erbacht ber ©Seit jum Schweigen bringen; fie muß biefer
beweifen, baß fie nicht im Stamen bei Eoangetiuml irbifchen 3"tereffen unb Sielen
nachtrachtet. ®ie Kirche muß mit ©aulul fpredjen fönnen: „Non quaero quae
vestra sunt, sed vos."
©Senn bie Wiener bei Slltarl aul ben oerworretten ©Beltjuftänben bal ©ewußt-
fein ju gewinnen wüßten, baß el ihre ©flicht ift, burch lauterel Seben, grünbliche!
©Stffen unb thätige Siebe bie oertrauenioode Sichtung ber ©ölfer Wieberjuerlangett,
fo wäre biel ebenfo eljrenood unb hetlfam für fie felöft all fegenlreich für ade.
25enn, übet furj ober lang, Wirb bie Slngft unb Unruhe um bie tiefften ©eheint
niffe bei ®afeinl in ben 3nbioibuen bodj Wieber erwachen müffcn unb bie @efcd=
fchaften jur Einftcpt gelangen, baß bie Icbiglidj auf ©olijiften unb ®erfermeifter
geftüfcte öffentliche ©ittlicfjfeit ju ©runbe gehen muß. Unb man bebenfe Wohl:
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92
Unfere <5°^-
folange fold^ ein tebenbigeS, tätige«, einfluß* unb mirlungSreidfjeS ©hriftenthum
nicht oorljanben ift, folange fehtt auch bec Sirene bie unerläßliche Sebingung
jur allgemeinen Ülnerlennung unb jur Sertoirtlichung ihrer Siebte.
Saß biSjefct lein berartigeS ReformationSbebürfniß unter ben ©eifttiefjen auf-
taufte, ift ein fchltmnteS 3«<h en * ®' e traben, fc^eint eS, noch nicht ertannt,
baß, loie auf bem angebeuteten SBegc all ba§ ©ute entfielen müßte, bas nach
©otteS SBiüen faft immer aus bem großen liebet tjeroorjugetjen pflegt, ebenfo baS
©eßarren im alten ©teife nicht nur baS ©ute unmöglich macht, fonbent auch jum
9tadjt£)eit ber Retigion unb ber Sirene baS liebet oergrößert.
©o oiet aus ßurci’S ©inteitungen. Sticht ohue ©runb ßaben mir uns etmaS
tanger bei biefen aufgehatten. Senn, abgefetjen baoon, baß fie eine neue SBenbung
in ßurci’S ©ebanfenrictjtung an ben lag legen, finb fie auch ber ffeint, aus metdjem
„SaS neue gtatien unb bie atten 3etotcu“ etttfproffen ift, metdjeS Sudf) mir jefct
befonberS in ©rmäguug jiehen motten.
Siefe neuefte Schrift ift in ber £f)at jum großen 2^eit eine gortentmidetung
ber in jenen ©inteitungen enthaltenen gbeen. SBenigftenS ift ber ©runbgebante,
t>on meinem alte fpecietlert ©rörterungen uub untergeorbneten Scftimmungeit aus»
gehen unb ju meteßem fie jurücfführen, genau berfetbe. Ser Serfaffer tomrnt
mieber auf ben allgemeinen Verfall beS ehrifttichen SemußtfeiitS in ©uropa 31 t
fpred)cn. Sott neuem unb ausführlicher jeigt er, mie fehr bie Kirche biefen SerfaU
burch ihr Serhatten mit berfdjutbet fyabe. ©r meift ihr bie Pflicht nach, baS
Uebet, baS fte fich fetbft unb ber SBett gethatt hot, mieber gut ju machen. Unb
jur ©rneuerung beS ehriftlidjcu SemußtfeinS uttb SebenS toeiß er fein attbercS
SRittet, atS baß bie Äircße baS Scifpiel gebe unb fich reformire.
Reforntiren muß fie fi<h in Religiofität unb ©itttichteit, meteße burch meltticljeu
Sefij}, .ftabfueßt uttb ju feftcS Rängen an irbifdjeti Gingen tief gefunfen finb. Re»
formirett muß fie fich ferner in SBiffettfdfjaft unb ©eifteSbitbung. Unb hier entrollt
ber Serfaffer noch einmal baS büftere Silb ber tiefen Unmiffcnheit beS S’teruS,
feiner inteHcctuetlen unb moralifchen Schlaffheit, feiner im Scrgteidj jutn mobernen
Saiettthutn unglaublich niebrigett ©utturftufe. Unb enblich muß fie fich au< h i»
ihrem äußern Organismus reformiren. Sie übertriebene, immer ftarrer gemorbenc
ßentralifation ber Römifchen ©urie entfpridjt nicht ber ßonftitution ber Kirche.
Uub überbieS geht aus ber Serquiduttg ber neuen ßentralifation mit beut alten,
nicht auf fie berechneten 5RechaniSmuS eine träge, ungenügenbe Schanblung ber
tirchtichen Slngetegenheiten hrroor, metche ben ©ang berfetben hemmt uttb, maS
fchtimmer ift, bem ©eifte unb ben 3i«tett beS ßhriftcnthumS miberfpricht. ffurj,
ber Serfaffer lehrt ju ber „flamänbifchcn ©infachheit" $abrian'S VI. jurüd. 3»
ben 3> l ftructtonen jum nürnberger Reichstage an ben RuntiuS ©heregato belcnnt
biefer ?ßapft, baß ber ©türm ber Reformation megen ber ©ünben ber SRettfcheit,
maxime praelatorum et sacerdotum: multa abominanda irrepsisse et outnia in
perversuni mutata; uec mirum si aegritudo a capite in membra, a sutnmis Pon-
titicibus in alios inferiores praelatos descenderit (Rapnatbi, „Annales Eccles.
Ad a. nt. 1522“) auSgcbrochett ift. ßurci unterfdjreibt jcbcS biefer SSJorte.
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Pater Curd unö fein neuestes Budj.
93
Mein einer SReform ber Äircge ftegen bie alten Setoten als ein $inbernig
entgegen. SBen Surci meint, lögt fieg leicht erraten. Setoten finb igm jene
bureg bie latgotifcge treffe, gaugtfäcglicg bureg bie „Civiltä Cattolica" vertretene,
intolerante, nur gotitifege 3toe<fe, materielle unb weltliche 3«tereffen Verfotgenbe,
fanatifc^e ©onforterie, welcge ben SJatican unb bie ®ircge in igre $anb gebraut
gat unb ber eS, naegbem fie ißiuS IX. begerrfegt gat, jefet aueg gelungen ift, Seo XIIF.
igren ränfevotten Stbficgten bienftbar ju machen. ®ie ©garafteriftif, wetege ©um
vom tegtverftorbenen unb Vom jefeigen ißagft entwirft, möge als intereffanteS Sei*
fgiet für feine SBeife, bie SKenfdjen ju beurtgeiten, gier angeführt werben. 3ft
ge nic^t frei von ©oSgeit, bient ge bodfe trefflich ba^u, beS ©etfafferS Stnfcgauungen
ins Siegt p fteQen.
S3on tßiuS IX. fagt er: „fromme ober berechnete ©djjmeicgelei war fo begigen,
bie tßorjüge biefeS ißagfteS p vergerrtiegen, bag bie ©efegiegte, um ein richtiges
Urtgeit p fällen, WetcgeS {ebenfalls anberS lauten wirb als baSjenige vieler Seit*
genogen, einen beträcgtlicgen ?l6pg wirb rnaegen mögen. £rog beS Stbpgeö aber
bleiben immergin viele unb ausgezeichnete ©igenfegaften übrig; freilieg aueg einige
fegwaege ©eiten, befonberS eine, wetege fein eigentlicger, übrigens niegt verborgener
©runbfegter war. 3 n ©iovamti SRaftai’S aufrichtigem ©emütg war ftetS ber ®ifer
für baS ©ute Iebenbig. ©ein ©eift war Weber goeg noeg umfagenb, boeg auf=
geweeft unb wifeig. ©erfegiebene unb mannigfaltige Äenntnige gatte er geg ange=
eignet; WaS aber SBigenfcgaft im ftrengen ©inne betrifft, fo befag er babon niegt
megr, als man bei einem mittetmägigen Üßrieger ju gnben pflegt, ©eine eigenttiege
©abe War eine groge Seicgtigfeit beS SBorteS, wetege bureg ein anjiegenbeS Steugere
unb eine wogtttingenbe Stimme noeg gegoben würbe. Mein feine Diebe war megr
cinfcgmeicgetnb als feierlich; unb weit er fügtte, bag er bamit gefiel unb p ge*
fallen liebte, trieb er eine fo groge SBortverfcgwenbung. ©0 gefegag es, bag, pmat
in ben legten Sagten, feine Diebe jeben SSertg verloren p gaben fegien; benn fo
fegr ein von ber göcgften Autorität ber ©rbe auSgefgrocgeneö SBort an SSertg
gewinnt, wenn eS fgarfam unb feiten ift, fo fegr verliert eS bureg allp groge
Sülle unb fjäufigfeit. S3on DlegotiSmuS blieb er gänjticg frei. Sn ber ©urie
aber wugte er um benfetben, unb bulbete er ign, wenn niegt in inteujivev, boeg in
einer um fo auSgebreitetem unb anftccfenbern fform. SSaS ign fetbft betrifft, fo würbe
igm, abgefegen babon, bag bie Seit niegt megr bap angetgan war, jeber ©erfueg
in biefer SJejiegung bureg baS ©eifgiet feiner vier legten Vorgänger erfegwert.
SBägrenb er fiel) bureg feine Siberatitöt viel Sob erwarb, würbe er anbererfeits
aueg wegen feiner ©garfamfeit gegriefen, wetege ign Wieberum in ben ©tanb fegte,
fogar gegen fotege, wetege er wenig liebte, freigebig }u fein. 3)ie ®gre ©otteS,
ber Sungfrau, ber ^eiligen war ftetS auf feinen Siggen unb gewig aueg in feinem
$erpn. 5)oeg nagm babei feine eigene ®gre leinen geringen, ja, wie eS zuweilen
fegien, ben erften tßlag ein. S)iefe mit wenig ©eifteSweite verbunbene Slntage
maegte ign unbutbfam gegen bie StuSgezeicgneten unb nachgiebig gegen bie ©ewögn=
liegen, fogar gegen bie DticgtSbebeutcnben, welcge er manegmat bureg gtöglicge ßin=
fülle feiner Saune, Wie ge bei igm niegt fetten waren, gteiegfam mit ber aus
Diicgtö fegaffenben Mmacgt wetteifernb, in bie £>öge emgorjog. llnb naegger taegte
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Unfere <3«t.
9*
er wo! betrübet mit ben oiolett getteibeten großen ffinbern, mit benen er fieß ju
umgeben liebte. 3n biefer fo au«gefprocßenen inftinctioen Abneigung gegen bie
Vortrefflichen unb ber ebenfo großen Vorliebe für bie äRebiocritäten unb 9hiüitätcn
liegt bie Oerborgene Quelle jener Anhäufung fteter unb WeitoerjWeigter 9Ri«6räucße,
welche er in bem ißm pfeßenb« au« ben $änben feßwinbenben weltlichen 3rür=
ftentßume riefengroß hatte anwaeßfen taffen. 3<ß erinnere mieß, baß er einmal,
icß glaube e« toar im 3aßre 1856, feßr offen mit mir fpraeß, feine äRiniftcr Steouc
paffiren ließ unb fi<f( in nichts toeniger al« Oortßeilßafter SBeife über fte äußerte,
wobei er mit Antoneüi ben Anfang maeßte, ben er wenig achtete nnb noeß weniger
liebte. Unb idj erlaubte mir in aüer ©ßrfureßt p bemerlen: «SBie! ©w. $eiligfeit
leimt fie fo genau unb läßt troßbem bie Seitung ber öffentlichen Angelegenheiten
in ißren $änben!» — Unb er ermiberte: t©« ift wahr, fie finb unfähig; bennoch
geht ba« Schiff.» 3>dj mußte babei an ißaganini benlen, ber ftolj barauf war,
bie ßerrlicßften Variationen auf einer ©eige mit einer einzigen Saite au«pfüßren.
Allein bie Staaten finb nicht bap ba, um Virtuofentßum barptegen. SBoßin
ba« Schiff gegangen ift — gemiß nicht ba« Schifflein Ißetri — fehen alle."
Unb über Seo XIII. äußert fleh ©urci folgenbcrmaßen: „Sooiel au« ben Oon
ihm, als einfacher ißriefter, üeröffentlichten Schriften, Wie au« feinen fpätern bifcßöf=
ließen ßunbgebungen ßerüorgeßt, unb nach bem, wa« mir eine ißm innig oertraute
hochachtbare iftetfönlicßleit Oerfidjert ßat, ift Seo XIII. in oielen Stüden, unb im
guten Sinne, ba« gerabe ©egentßeil feine« Vorgänger«, ©r entfcßließt fieß feßr
langfam, ift ber SBitlfür abgeneigt, ßanbelt nidjt, wie ber anberc fo häufig pflegte,
fpruitgweife unb naeß Saune, ©em fügt er fieß, pweilen fogar bi« pr Aufopferung
ber eigenen ^nfpirationen, ber Meinung bet SReßrpßt: eine wertßoolle Anlage
für ben, bem e« fßfließt ift, p geßoreßen, aber Weniger wcrtßooll für ben, beß
Amt ba« Vefeßlen ift. Sie mag für ißn perfönlicß nießt wenig unbequem fein.
©eWiß aber ift fie faeßließ, in Anbetracht ber Vefcßaffenßcit ber Atmofpßäre, in
loelcße er al« Sßapft eintrat, wenig günftig. Denn biefe Atmofpßäre war ißm
unüeränbert oon feinem Vorgänger überlommen, Welcßer bie Veften oerabfeßeute,
au« irgenbeiner angeborenen Scßwäcße ben Sdjmeicßeleieti ber Höflinge p feßr p=
gänglicß, gegen beren eßrgeijige Subringlicßteit aüp nachgiebig War, unb ber babureß
pm oieüeicßt unbewußten £>eraufbefcßwörer be« ganati«mu« würbe. Außerbem
ßat Seo XIII. fieß biefe Scßwierigfeiten nodj felbft oerboppelt, ja oer^eßnfaeßt,
inbem er, oon einer ebeln Abficßt gerechten SSiebergutmacßen« au«geßenb, beim
erften ©ntpfang be« ^eiligen ©oüegium« feinen Vorfaß lunbgab, bie ftireße naeß
altem Vraucß, mit gebüßrenber Verwcrtßung be« fRatße« ber ©arbinäle regieren
p wollen, ©r bebaeßte oieüeicßt nießt, baß ein bureß SBiütiir ßeroorgerufene« unb
bureß bie Seit gefeftigte« Sßftem oon 2Ri«bräucßen nießt anber« al« bureß SJiüfür
au«gerottet werben lann. SBäre ba« poor gefeßeßen, fo wäre jener Vorfaß nießt
nur überau« gereeßt, fonbern aueß zeitgemäß gewefen. So aber, mit bem gort»
befteßen ber alten ©lemente, hatte er bie golge, baß Oiele glüefließe ©ingebungen
be« Ißapfte«, welcße in anberer Umgebung frueßtbar unb ßeilfam geworben wären,
jeßt ber ebeln ütüdficßtnaßme auf bie Anficßten anberer pm Opfer fielen. Ve*
fonber« gefeßaß bie« ßinficßtlicß ber ben Vejießungen jwifeßen bem römifeßen Stuß!
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Pater Curci unb fein neueftes Budj.
unb bem neuen Italien gegebenen Stiftung, melche Seo XIII. nicht bon feinem Ber»
ftanbe unb $erjen eingegeben, fonbem bon Ueberrebungen unb ©inflüffen ber»
jenigen borgefchrieben mürbe, melden er nadjgeben ju muffen glaubte."
3n biefcn Urteilen läfjt fich bereits ©urci’S ganjer ©ebanfengang ahnen. ®en
alten 3eIoten unb ihrem finftern Treiben fchreibt er bie Slufftettung beS SpttabuS
ju, melier, inbem er bie mefentlichften ^ßrinci^ien ber mobernen ©efettfchaft: ®e=
miffenSfreiheit, greiheit beS ©ultuö unb ber fßreffe, Trennung ber politifchen bon ber
firchlichen HRac^t, berneint, bie Stirne aus ber ©ibitifation berbannt hat. ^fjnen bie
Berfünbigung ber Unfehlbarfeit, melche, ba fie ftetS in ber Kirche angenommen mürbe,
an unb für. fidf unnötig mar, unb nur baju gebient hat, bie päpft(tcf)=fatbo(ifdje
Kirche als mit bem unabhängigen unb autonomen Seben ber Staaten unberträglidj
erfcheincn ju taffen. 2)ieS gilt auch ÜOIt ber faft jum ©laubenSartifel erhobenen
Behauptung ber Stothmenbigfeit beS Dominium temporale unb beS BebürfniffeS, eS
jefct mieber aufjuriditen, mährenb bo«h feine einjige fatholifche Sehre berartigen Sin»
forberungen Borfdfub Ieiftet. „£tnfid)tlich beS temporalen", fo fagt ©urci auSbrüd»
lieh, „gibt eS auf ber ©eite ber Kirche nichts, abfolut nichts, maS ju beffen ©unft
fpreche. SltteS ift SDtachmerf ber alten Heloten jum Betrug ber ©infättigen unb jur
©chmach beS djrifttichen ©emiffenS." ®en Seloten fchreibt er auch ferner bie ebenfo
eitle als ununterbrochen fortgenährte Hoffnung auf balbige SBieberfehr ber Bergan»
genheit ju, bie man tmn itgenbeiner baS gegenmärtige Italien ju ©runbe richtenben
Kataftrophe ermartet; ihnen enblich baS Berbot, meines ben italienif^en Katho»
lifen bie theilnahme am politifchen Seben ihres BaterlanbeS bermehrt; mährenb
es boch für bie mahrhaft ©läubigen Sßflidjt ift, fich ihrer politifchen Stimme nicht
ju enthalten, Italien unb ber italienifchen Regierung ihre SKithülfe nicht ju ent»
jiehen. ®ettn nur fo fönnen fie ju einer bernünftigen Steorganifirung ber politifchen
Parteien beitragen, unb jugleich burch ihren ©intritt ins Parlament bie ©rünbe unb
bie gnterejfen ber Stetigion unb ber Kirche mie ber fatholifchen Bebölferungen
oertreten unb frühen. Kurj, alle ©chmächen unb Schöben ber Kirche, alle in
biefer borherrfdjenben falfchen Strömungen, alle ©runbfäfce, Sehre unb Beftrebungen,
melche, fie bom richtigen Biege ableitenb, ihren jenigen Berfatt unb ihre 0f)n»
macht bemirft hoben, führt ber Berfaffer auf ben ganatiSmuS ber alten Seloten
unb beten unbeftrittenen ©inftufj jurücf.
©egen biefe Seute richtet fid) feine ganje ©mpörung. 3h nen mirft er baS SBort
©hrifti inS ©eficht: „Nescis quia tu es miser et miserabilis et pauper et coecus
et nudus." ®ie ^eillofen SBirfungen ihrer fjerrfdjaft bedt er fchonungSloS auf,
um baburch bie Kirche unb bie ©läubigen jur ©inficht ju bringen unb ju einem
bem bisherigen entgegengefefcten Berhalten ju bemegen. Sitte Kraft feines Buches
gipfelt alfo in ber Stbficht, baS biente Steh bon Sntriguen, bon ehrgeijigen unb hob»
füchtigen gntereffen, momit bie Seiten bie Kirche umgarnt hoben, ju jerreifjen, ba»
mit biefe jum Berftänbnifj ber Seiten ermäße unb fich i u ihrer Steform anfehide.
Biele merben es munbertich finben, bafj gerabe ©urci es ift, melier ber Kirche
eine Steform jur Pflicht macht SBer bie Bergangenheit beS ÜDtanneS in Betracht
jieht, mer fich feiner als beS eifrigften unb unbulbfamften Scfuiten erinnert, als
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96 Untere <3cit.
bei Begrünberi bet „Civiltä Cattolica", ali bei unermübtichften SBerfjeugei unb
SRitarbeiteri jenei üaticanifdjen ©gftemi, bai er jefct fo entfehieben, fo bitter
geifeft, wirb in feiner Belehrung eine wahre Ironie bei ©djidfati fehen. Swdj
fotc^e an Ironie ftreifenbe Äenberungen unb ©anbtungen haben bie ©efdjidjte unb
bie SEBclt fdjon oft gefetjen. ftönnten wir ben 3nt)alt, bie Bhafen unb bie oerfe^ie=
benen formen ber ©jiftenj, ihre ©egenfäfce unb SQ3iberfprütf»e unterfueßen unb in
ihrem Stacheinanber bei ben einzelnen 3nbioibuen oerfolgen, würbe unfer ffirftauuen
nicht gering fein 1 Mein ei ift gut, baß ei fo ift. 3" ber Bewegung, im ©erben,
im ©ichüeränbern liegt junt großen Xheil bai 2Raß ber Bebeutung bei 9Renfefjeit
unb feinei fitt(i<hen unb geiftigen ©ertßei. ©o bewähren ©ahrfjeit unb Vernunft
ihre ©irlung unb ihre ftegenbe äRacfjt; fo bitbet fich bie gotbene Sette bei
gortfdjritti.
freilich ift wai ©urci über bie 3uftänbe bet Sircße unb befonberi bei itatie»
nifdjen Slerui fagt, nicht neu. 5)affe(be haben oor ihm fchon anbere unb $war
in energifeßerer unb tiefer burcfjbacßter ©eife gefagt. ÜRidjtSbeftoweniger finb feine
©orte oon befonberm ©ewießt, weniger burch i^ren 3nßatt ali wegen ber ißerfon,
oon Wetter fie auigeßen. ©enn wir, mehr ober weniger oom Siberatiimui an»
geträufelten, ©eltteute, benen oor aQen Gingen bie Mforberungen ber tßotitit am
|>erjen liegen, und mit ber Sieche unb bem Slerui befdjäftigen, fo werben im
allgemeinen unfere noch f° berechtigten unb begrünbeten Mitteilungen gerabe oon
beujenigen nicht beachtet, auf welche fie oorjugiweife ©inbrud machen müßten,
©o bleiben fie meift wirlungitoi unb unfruchtbar. Mberi Oerhätt ei fich ntit
ßurci’i Sritif. ©ben feine Vergangenheit, fein ©ßarafter, bie ©ecßfetfäHe feinei
Sebeni unb bie Ütotte, bie er in bet ©eit gezielt hat, finb ei, welche feinen ©orten
bie Sraft oerteißen, einen tiefen ©inbrud ßerüoraurufen. ©ie müßten unter ben
©täubigen fogar oon unwiberfteßlicßer ©irlung fein, juntal unter bem Slerui,
wenn bei biefem bai Berftänbniß für bai djriftlicße Bdncip nicht, teiber, gänzlich
abgeftumpft wäre.
Meß finb ©urci’i Bemühungen, bie ©efahren abjuwenben, benen bie moberne
©efettfehaft burch iß re ©ntfrembung oon jebem ernften retigiöfen unb cßriftlicßen
3ntereffe entgegengeht, ßöcßft berechtigt unb anerfennenimerth- 3®, Wenn er eine
©rneuerung bei cßriftlicßen ©ewiffeni erfeßnt unb bie Sirdje ermahnt, jum ©oan»
gelium jurüdjuleßren, möchten wir ihm ati Sampf» unb ©trebenigenoffen bie
$anb reichen. 3^enfaüi !ann ©urci’i ©anblung für alte oon llerifaten ober
boctrinär*liberaten Borurtßeilen freien ©emüther nur erfreulich fein, ©eine ©brache
unb feine ©ebanfen bezeugen jfefct ein Bedangen nach aufrichtiger SRetigiofität, wie
ei fich int Saufe feinei ganzen langen Sebeni nicht finbet. ®ai intenfioe ©tubium
bei ffteuen Xeftamenti hat, wie ju erwarten ftanb, oor alten bem ©tubirenben
fetbft genügt. $er tägliche oertraute Umgang mit ben Slpoftetn, inibefonbere
mit ißautui, hat feine Slnfcßauungen gehoben. $urcß Schöpfen an ber Quelle
hat er fich innerlich erneuert unb fein ©hriftenthum ju läutern bemüht. ®e=
wiß ift ei ein Borjug, bie ©atjrßeit, fooiet biei bem URenfcßen gegeben ift, oon
Anfang an in ihrer Feinheit unb Sauterfeit ju erfaffen. Mein ei ift auch hin
geringei Berbienft, bnreß ihre erleucßtenbe Sraft alte ^rrtfjiinccr unb falfchc Bor-
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Peiler Curci unb fein neueftes Buefj.
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gedungen aufougeben, wag fo Oiel t»ei§t, toie mit ber Vergangenheit unb mit fich
felbg brechen, niete lieb getoorbene Ueberjeugungen üerraerfen unb feffetnbe Banbe
jerreigen, maS nicht ohne Schmerlen, ja oft nicht ohne tragifche innere Sümpfe
gefchehen fann.
$aS alles ift gut unb fcfiöit. SIHein meig ©urci genau, toaS er eigentlich Witt?
3P er jich feines 3ieleS unb ber entfpredjenben SRittel !tar bemugt? Sagt er, mit
aitbern SBorten, bie mähren Verhättniffe beS ißroblemS richtig auf? SBir glauben
eS nicht.
Uebergehen mir bie formalen SKänget beS VudjeS, melchc mau als gehler ber
SJiethobe betrachten fann: gehler, metche übrigens nicht Kein finb unb ben Inhalt
fefög beeinträchtigen. Das Sluffaflenbe in ©urci’S Gegriffen ift, bag fie fich alle
unpeher unb fchtoanfenb jmifdjen ber Behauptung unb ber Verneinung hin» unb
herbemegen. So geht er j. V. in ber mcttlichen 2Rad)t eine Quelle groger
moratifcher Uebelftänbe für baS ißapftthum. Unb bennoch fann, nach ihm, jeber
Satholif auf bie heilige unb ruhmooHe SReilje ber, hoch mit meltticher giirftenmacht
beKeibeten, köpfte ftolj fein, ©benfo beflagt er beu äReiueib, bie Simonie, ben
StepotiSmuS als Sdfjonbgeden bet fatl)olif<hen Sirdje. Unb gleich barauf erflärt
er fie für ben greifbarften VemeiS ber Unerfchiitterlichfeit bcrfelbcn. Sur$, nie
ein fichereS, HareS, beftimmteS Urteil; jebeS erfcheint gtcichfam im .fjellbunfel,
jebeS mirb burcfj Vorbehalte unb ©infdjränfungen abgefchmächt. Diefe ÜRetljobe,
melche bem Buche bon Slnfang bis ju ©nbe baS ©eprage eines ©emebcS oon
Spifcfinbigfeiten gibt, erinnert ju fehr an baS Verfahren ber jefuitifdjen ©afuiftif.
§ier fommt unmittfurlidj ber alte Slbant junt Vorfchein, ber immer noch in ©urci
fteeft. Unb ebenfalls unmiHfürtich mug man an baS SSort benfen: „Semel Jesuita,
semper Jesuita." SBie bem audh fei, unjloeifelhaft ift, bag baS Buch fefjon baburch
oiel oon feiner erbaulichen Httb religiöfen Dragmeitc einbügt.
^infichttich beS aber rut)t im ©runbe ©urci’S ganzer Bau auf fatfehen
VorauSfefeungen. Sille Uebctftäubc ber Sirche fd^reibt er ben alten 3eIoten ju.
©r glaubt, bag bie Denbcnjcn unb Stnfdjauungen beS jefeigen päpftlichen unb Oati»
canifchen SpftemS nicht meiter juriiefgreifen als ißiuS IX. unb Seo XIII. Das
Sortbepehen biefeS SpftemS fdfeeiut ihm oon inbiüibuetler SBiHfür, oom SBoHen
biefeS ober jenes V°hgeS abguhäugen. Sllfo märe jn einer ^Reform beffelbeit alles
gethan, menn ein baS ©nte moßenber ^ßapft, als Snbioibuunt, Slnfidjt unb SRidfj 5
tung ünbem moöte. ©nblich trennt er bie Begebungen ber Scfuitcn unb ber
„Civilt4 Cattolica" üon benen ber ©urie unb beS IßapftthumS. ©S genügt, biefe
VorauSfefcungen anjubeitten, um bie Unhaltbarfeit beS auf fie errichteten Baues
ju ermeffen.
Thatfachc ift, bag bie 3cloteit unb ihre Umtriebe nicht Urfadjc, fonbern SBirfung
beS Verfalls unb ber ©ntartung ber ftirefee unb beS ^SafefttfemiüS finb. Slngerbem
ift baS päpftliche Spftem unb alles, maS bamit jufammenhangt: mcltliche Denbenjeit
unb Slnfprüche, äugerer hicrarcfjifcEicr Dogmatismus, ftarreS gormelmefen, ißriefter»
Oermittclung, finitliche, aberglaubifdje ©ultuSiibungen, heteronomer, cafuiftifcher unb
problematifcher ÜRoralcobej, ja audh Unfehlbarfeit unb SpHabuS, nicht erft mit ViuS IX.
entftanben. ©S ift biefeS Stiftern ein Ißrobuct ber Ijjahrhunbertc, eine fpontanc, faft
Unter« 1892. I. 7
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Unferc ^eit.
nothwenbige $erborbringung bei bet fatholifdjen SJ'irc^e innewohnenben ©eigel.
©uter SQBille unb reine Eäbgchten bei 3nbibibuuml bermügen t|ier nidjtl. Sill
Snbibibuum fann ein Eßapft atlel fein, Wal et will; all ißapft ober mug et fid)
bor bet Unbeugfantfeit bei bon ihm bertretenen Ißrincipl beugen. 3a, bie Eßer»
fönlidjfeit hat nur Serth, fofern fie fid) ihrer felbft entäugcrt, um in bem gefchidg*
ticken unb objectiben ©cifte bet Snftitution aufpgehen. ©ehlieglidlj gehört wenig
©cljarffinn baju, um gemalt ju werben, bag bie 3efniten bie eigentlichen Hüter
bei ©mpirilmul unb Xrabitionalilmul bei Eßapftthuml geworben finb, bcffen
Eßrincip el bon jet)er war, Religion unb ©ittlidjfeit bet Eßotitit bienftbar ju machen;
unb bag anbererfeitl Eßapftthunt unb EBatican ganj bom jefuitifc^en ©eifte burd)
brungen finb. ©eibel h°t gdj bermagen berquidt, bag bie EBebife bei Ißapftthuml
fegt feine anbere ift, all bie feinet Sefcfjüjjet:: „Simus nt sumns, aut non simus!"
Senn el fich fo berhäft, bann begnbet geh ©urci, wie uni fcheint, auf falfchem
Sege. Sir gehen nicht auf alle Siberfprüdic ein, in welche et geh betwideft
unb auf biefem Sege berwidetn mugte. ©urci erhebt fich enblicg ju einem hohe»
Söegriff bon ber fiirche CHjrifti, aber nur in bet ©heorie. 3« bet Eßra£il geht
et bie EBerWirflidjung bei Sbeall bod) nur in bet Kirche bei Saticanl. EBon
biefet fiirche bedangt et, bag ge geh burd} ben ©eift bei ©bangetiunil erneuern
unb läutern (affe. Unb nichtlbeftoweniger fott ge ihre fgerarchifdhe Orbnung unb
ben ganjen Otganilmul ihrer bogmatifdjeu Eßrincipien nicht aufgeben. Sortwährenb
betont er bie Rothwenbigfeit, bal SBiffen unb bie EBitbung bei fiterul p heben,
©r fennt bap aber fein anberel äRittet, all bal ©tubium ber fdjotaftifehen ETheo»
togie unb Eßhitofophie. Unb bie Summa bei Zhomal bon Stquitto, b. h* bie
eigentliche Rüftfammer ber römifd} s fatholifchen Hierarchie, ber päpftlicgen Stutorität
unb ihrer Weltlichen Stnfpriiche, fott bie ©runbtage für bie Reform ber fiirche
Werben, ©r prebigt Reform pgleicf} unb fpricht bon ber Reformation unb ben
proteftantifegen Reformatoren, bon ben ©runbanfehauungen jener grogen Bewegung,
Welker boch ber chrifttiche ©eift feine reidjften unb mächtigften 9leugerungeit unb
bie moberne Seit ihre Eßrincipien berbanfen, mit einer Nichtachtung, bie ihm
fetbft, feinen ©tubien unb feiner firitif grogel Unrecht tf)ut. EBie Reformatoren
gnb „tief irreligiöfe URätmer". EBie Reformation ift, inbem fie fich ber gchern
Seitung ber fiirche unb bei Eßapftel entjog, jebe Sahrheit ben wanbelbaren 2Rei»
nungen bei inbibibueHen ©eiftel preilgab unb ben ©tauben allein all pm Heil
geniigenb erftärte, bei einem entfehltdjen Rationatilmul angetangt, ber alte Reli*
giofität p bernidhten broht. ®ie einjig Wahre unb heUfame Reformation ift
biejenige, welche bie fiirdEje im EBribentiner ©oncit bottbrad}te. gur ©urci bleibt
mit einem Sorte ber päpfttiege fiatholicilmul bie allein berechtigte unb wahre
Sonn ber dinglichen Religion. „Sir Wiffen gar nicht*, Wal wir Suther unb ber
Reformation im allgemeinen atlel p banfen hoben. Sir finb frei geworben bon
ben Seffetn geiftiger EBornirtheit, wir finb infolge unferer fortwährenben ©ultur
fähig geworben, sur Onellc priidpfehren unb bal ©hriftenthum in feiner Rein»
heit $u faffen. Sir hoben wieber ben ÜRutlj, mit feften gügen auf ©ottel ©rbe
p gehen unb uul in unferer gottbegabten äRenfdjennatur p fühlen." EBiefer
tiefe 9lulfpruch aul ©oethe’l tefctem Sebetiljahre hot für ©urci feinen ©inn. Um
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Pater Curci. unb fein neucftes Budj.
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fich aus bem Sabprinth bon SBibetfprüdjen ^erau§jujie^eit, festen ihm offenbar
3 Wei fepr elementare unb hanbgreifliche Vegriffe. ©rfteuS, baß bie träge UnWiffcn*
^eit, bie fitttidfe unb geiftige ©chtaftrunfenheit, bet weltliche ©imt, furj, alle
Schwächen unb gehler, bie er bem ÄleruS gufdjreibt, wie auch bie fchwüte, briicfenbc
Ktmofphäre bon §eibent§um unb gnbifferentiSmuS, weldje baS Saienthum in St«*
•lien um jebe etf|ifdje föraft, jebe erfolgreiche SBirlfamfeit bringt, ber birectefte, ur=
fpriinglichfte HuSfluß jener Kirche finb, welche er auf ben Stttar erhebt. Zweitens,
baß HBiffenSbrang, ©elehrfamteit, freie gorfdjung unb ®ritit, S«rö#"'h run 8 bcS
djrifttichen VegriffS auf fein eigentliches SBefen, Hluffaffung beffelben als innerliches
©efüljt, als junächft in ber Verborgenheit beS ©ewiffenS unb öon bort aus im
©ebiete ber prattifdhen unb focialen ©ittlidjleit Wirfenber ©eift, bie ^eroorbrin-
gung jener Kirche pnb, Welche er mit güßen tritt.
HQlöge ©urci es fich gefagt fein taffen: fotange er im Vatican baS |>eil
fucht, berfdjwenbet er Seit unb Slrbeit. 3« ber Kirche beS VaticanS ift oft bon
Hieform bie Hiebe gewefen: mit Welchem Dtefultat Wiffen bietteidjt fchon bie Kinber.
©ettfam genug! Vor furgem hat Vrofeffor ©ugnoni (Erinnerungen aus bem Seben
unb ben ©Triften ©iufeppe Slntonio ©ala’S beröffentticht. ©ala, eine naiüe unb
fromme Seele, obfdjon er ©arbinal War, litt bei bem Hlnblid ber „alten 9RiS=
brauche", Wie er fie nannte, ©o fam er auf ben ©infall, jßiuS VII. einen gewiffen
bon ihm erbachten Hleformplan gu unterbreiten, ©r fdjtug barin unter anberm
bor, baß man mehr für baS ©eifttidje als für baS Seitliche forge, unb eins bom
anbern trenne; baß ber ^eilige Vater bie temporale ©ouberänetät für eine git*
fällige unb nebenfächliche fßrärogatibe feines apoftolifchen S^arafterS erfläre; bafj
man mit ben firchtichen SBürben nach bem ©runbfape HßiuS’ II. berfahre: „Digni-
tatibas viri dandi, non viris dignitates", unb alle auf bie Weltliche Verwaltung
bezüglichen Slemter bon ßaien betleiben taffe. ®ie Seite« Waren auch bamatS
für bie Kirche fritifcp unb ftürmifch genug, fo fehr, bafj ©ata auSrief: „Aggravata
cst inanus Dei", gerabe Wie ©urci mit ©^rtjfoftomuö auSruft: „Injusta patimur,
sed non injuste." Vi« g VII. fclbft War babon erfchüttert unb gu Hieformen ge=
neigt. Jrpfc aflebent, war baS alleinige Hlefultat bieS, bafj bie Verbreitung bcS
Hieformplanes auf Vefept ber ©urie, b. p- ber Äircfje, unterbrüeft würbe, fobafj
fich erft in unfern Jagen ein einziges (Exemplar gefunben h«t; «nb bie Hieform
bertief im ©anbe. UnS Will bünfen, baß mntatis mutandis ©urci baS ©eitcuftiicf
gu ©ata ift. Sßelcpe Slntwort bie heilige Kirche ben (Ermahnungen (Eurci’3 ertheilt,
fann man auS ben ©nepflifen unb SlHocutionen Seo'S XIII. erfehen.
®aS hier Ängebeutete wirb genügen, um bie gängtiepe SBirfungSlofigteit bcS
©urci’fdjen VudjeS in religiöfer Vegiepung bargutpun. ItnferS ©radjtenS geht
bem Verfaffer baS emfte, tiefe Verftänbniß beffen ab, was gu einer Htcform ber
Kirche führen Knute unb müfjte. Unb noch immer müffen Wir gu unferm großen
Vebauem baS Urtpeit fefthatten, baS wir an einem anbern Drte fchon auSgefprochcn
haben: ©urci ift auf retigiöfem ©ebiete weit mepr ein unruhiger, untlarer, lärmlic'
benber ©eift, ber nicht recht fagt unb Weiß, Was er eigentlich toill, als ein ge-
funber, thatträftiger unb echt rcformatorifcher.
UebtigenS hat er fclbft Diel bap beigetragen, bie Straft unb Vebeutung feines
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Unfete 5^*
©ucheS in bietet Innftdjt ju lärmen. MlS baS ©uch auf ben Index libroram
prohibitornm gefegt mürbe, laudabiliter se snbjecit et opus reprobavit ber ©er«
faffer unüerjüglidj. ®aß er bieö getljan, um bie Snbejcongregation an ©cfjlauheit
unb Sift ju übertreffen, änbert an ber Sache nic^td. ®aS maßre (Srgebniß ift,
baß ein bom ©erfaffer berleugneteS, bon ihm als mit ben Sehren unb SBahrljeiten
ber föirdje nicht für übereinftimmenb erflärtcS ©U(fj für bie gläubigen fiätholifen,
auf meldje eS borjugsmeife beregnet mar, böHig merthloS mirb.
(Sin anbereS ift eS, menn man, abgefehen bon ber retigiöfen, bie politifdje
Uragmeite beS SBerfeS ins Sluge faßt. Sluf potitifdjem (Gebiete mirb eS öieHeicht
bon nicht geringem (Sinfluffe fein. Sin bem Jage, an bem Gurci’S ©uch erfdjien,
brängte fi<h — ein noch nie bagemefeneS Phänomen — baS in 3talien teiber
fo Keine ßeferpublifum in bie ©udjläben, „mie in #ungerSnoth um ©rot an
©äcfertfjüren"! Qeber brannte bor Ungebulb, bie ©eiten ju öerfdjlingen, in melden
ber ljartnäcfigfte ©ertljeibiger beS Dominium temporale bie barauf bezüglichen
Slnfprüche als (Srfinbung ber ßeloten bezeichnet, unb Italiens entfchiebenfter 3reinb
enblich anerfennt, baß biefeS ©eich eine feftgefügte, hinreidjenb ftarle ©lacht ge*
morben ift, metdje bie 9länle unb Umtriebe beS ©aticanS nicht aus ben Singeln
Zu heben bermögen.
©olche ©eftänbniffe tönnen nicht umhin, biele Ueberzeugungen zu erfchüttern
unb biele Satholifen zu einer objecttoem unb realiftifchern Stuffaffung ber neuen
Seit* unb SBeltberljältniffe zu bemegen.
©och mehr: bie an bie ffatholifen im allgemeinen gerichtete (Srmahnnng, ihre
potitifdje ©timme geltenb zu machen, an bem Sehen beS ©taateS thätigen Slntheil
Zu nehmen, ift, potitifdj betrachtet, bie ernftefte ©eite beS ©u<heS, melche, früher
ober fpäter, unermartete unb tiefgreifenbe folgen haben fönnte. ®aß bie
nähme ber Satholifen am öffentlichen Sehen zur ©euorbnung ber Politiken Parteien,
Zur Steinigung unb ©elebung ber parlamentarischen Sltmofphäre beitragen müßte,
mirb !ein auch nur oberflächlicher Kenner ber italienifchen Suftänbe bezmeifeln.
(Sine mahre ©ertretung beS SanbeS unb all feiner gefeflfdjaftlichen fjactoreu
hat eS in Italien bisjej}t noch nicht gegeben. Unb nicht oerfdjiebene Parteien
haben am Stüber geftanben, fonbern nur eine einzige. 3n biefer Verbergen fi<h
unter ben ©amen berfdjiebener Parteien lebiglidj perföntidje (Sntztoeiungen unb Sei«
benfehaften. ®ie häufige SBechfelfoIge Politiker ©tänner am ©über mirb nicht bon
Unterfchieben in ben Ißrincipien unb 3been über bie Slrt unb SEBeife ber Staats»
leitung beftimmt. Sille mollen ungefähr baffelbe. Sille fehen fich ähnlich, unb
unterfdjeiben fich uur barin, baß jeber bie ©lacht für fich begehrt unb fie burdj
©emittnung bieter Stnhänger unb ©itbung einer zahlreichen (Slientel zu erlangen
fucht. ®aß fich heraus eine abnorme, bermorrene, falfdje parlamentarifche 2hätig*
feit ergeben muß, leuchtet ein. Sein SBunber, menn baS politifche Sehen als ein
unfruchtbarer ffatnpf, als ein fteteS ©icßbilben unb SSieberzerfallen politifdjer
fjractionen erfd)cint, melche hauptfächlich barauf bebaeßt finb, fich QCgenfeitig zu
befeßben unb aus bem Sattel zu heben, ©o ift eS bahin gefommen, baß man in
Italien bie (Srneuerung ber politifcfjen unb fittlicßen Sltmofphäre, bie Sicher»
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Pater Curci unb fein neueftes Bucfj.
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fteUung ber Drbnung unb ber Freiheit auf breiterer ©runblage bon ber ®ajtnifd)en=
funft ber Stattjolifen erhofft.
Mein fo glatt unb leicht würbe bie Sodje fidj bod) nid;t machen. SBenn im
Parlament eine fitotholifenpartei ciuerfeits wünfchenswertfj ift, fo erfcheint fie
anbererfeitS als bie größte ®rof)ung. ®enn Wer fagt, ba§ eS if)r nicE)t gelingen
würbe, SDtaiorität }u werben? Unb bann? SBirb man etwa bie Seitung beS Staates,
wie bie parlamentarifchen Regeln forbern, ihren tpänben onbertrauen? Unb wie
fann man baS ttjun, ohne bie Entwicfelung unb bie .Bulunft ber SSoIfSfreif»eit unb
ber nationalen Sbeale ernftticf» ju geführten? Unb wie fann man baS nicht tf)un,
ohne bieüeicht StaatSftreichen unb gewaltfamen Ärifen entgegenjuge^en?
Eurci’S Such ift unferer SKeinung nadj, ohne es ju wiffen unb }u wollen,
Oor allen ®ingen ein SeweiS bafür, in welche Sadgaffe, in welche auSfichtSlofe,
bezweifelte, unhaltbare Sage fid) bie Italiener burch Errichtung ber parlamenta»
rifchen ^Regierung auf ber SafiS ber aRaforität felbft begeben haben. Einfacher
ßonftitutionatiSmuS war ihnen nicht genug. Sie haben ein Spftem borgejogen,
Welches, abgefehen babon, bajj eS in ben ®rabitionen, ben Sitten unb ber Erziehung
bei ©offeS feine SlnfnüpfungSpunfte finbet, mit ben befteljenben eigenartigen poli»
tifchen unb focialen ©erhältniffen ber Station unbereinbar ift. Eine Satholifen»
Partei anS Stüber gefangen }u laffen, ift hi« jefet unmöglich unb Wirb eS bielleicht
immer fein. 3n biefer $inftcht ift in Italien bie Sage noch fchwieriger als in
®eutfcfjfanb. 9lu<h ®eutf<hlanb fönnte nicht geftatten, baf) bie EentrumSpartei bie
3ügel ber ^Regierung ergriffe. ®arin fieht Dr. Sollt), ein Stationalliberaler, in
feinem bcrbienftbollen, fehr beachtenSWerthen ©u<he: „®cr SReidjStag unb bie par»
teien" (©erlin, Steimer, 1880), eins ber fpauptargumente für feine ®h e fa bafj
für ®eutfchlanb ber Parlamentarismus Weber möglich noch WünfdjenSWertlj ift.
3n Italien bagegen gibt fich faum jemanb bie Sölühc, biefe Schwierigfeiten ju
unterfuchen unb ihre tieffte SBurjel bfojj}ulegen. ©an} ftof}, eine parfamentarifche
Regierung §u befifcen, treibt man, ohne bief }u fragen, weiter unb begnügt fich
mit h°<htönenbett Schlagworten: parfamentarifche ^nftitutionen, £>errfchaft ber
fDtaforität, SBedjfeffoIge ber Parteien in ber ^Regierung. Unb unterbeffen lebt man
in bem unberföljnfichen SBiberfprudje, bie SDtithülfe ber Sfatholifen }u wünfehen
unb an}urufeit unb fie }ugleich nicht }u wünfehen unb }u fürchten. ®er Scheibe»
weg ift üerhüngnijjboll, ja tragifch. ÜDiögen bie Italiener bor bem Politiken
Schiffbruche bewahrt bleiben, ber fie auf bem einen wie auf bent anbern SSege
}u bcbrofjen fcheint!
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Heues feben in Corftea.
©on
iter&tnanii ©rcgorootus.
©om StapoleonS*Gilanbe ift feit gafften feine befonbere Sfunbe ins AuSlanb
gelangt. Gorfica hatte bie Aufmerffamfeit bet SBelt nur öorübergetjcnb erregt,
als fie eS julie^, baß ein jWeiter ©oitapartc bcn Staiferthron SranlreicpS wicbcr
oufrichtete. Aud) Stapoleoit III. umgab fich mit Gorfen. Gorfifdje Stamcn tnurben
Wieberum gehört, felbft in ben Ifödfften Sphären beS franjöfifcpcu (Staates, ©cnc*
betti, ein Gorfe auS ©aftia, ift enblicp burd; bie Scene $u GmS fogar eine ge*
fdjidfjttidje gigur geworben. ®ie ©onaparte auf bem Sljron haben wenig für
ihre £>eimatsinfet gethan; fie erinnerten fich nicht gern an ihre eigenen Ur*
fprünge. Stapoleon III. lief; Gorfica entwaffnen, um bie furchtbare ©enbctta
leichter auSjurotten. Sie ift wirtlich geminbert Worben.
®ie wilbc, fchöne gnfel ber gelben unb Sluträd)er hat in ben 30 gaßren,
feit meinem Aufenthalt auf ihr, baS fortfdjreitenbe Seben wohnlicher unb cibili*
firter gemacht. GinftmalS, als ein corfifdjer Gbelntann Stouffeau jum ©efudj beS
GilanbeS einlub, rieth er bem ^ß^irofop^eit, fich ein ©ett mitjubringen, bemt fo
etwas fei in Gorfica fdjwcr aufjutreiben. fpeute werben Stranfe aus ben entfern*
teften Sänbern borthin gefchicft, unb fie treffen in ben ^auptftäbten ber gufet alle
nur wünfdfenSwerthe ©equemtichfeit, ©afthäufer unb ©enfionen, franjöfifche,
beutfehe, engtifche. @S wirb auch an einer Gifenbahn gebaut, welche ©aftia unb
Ajaccio miteinanber öerbinben fott.
®ie lange, fchrecflicße Gpodje ber Kriege- unb ber ©enbetta ift für Gorfica
fchon burdj Stapoleon I. gefchloffen worben. Sangfant haben fich bie Gorfen aus
it;rer Grfdjöpfung unb ©erwilberung erhoben, unb langfant fich an friebtidje 3“ 5
ftänbe gewöhnt. Siiefe felbft erfdjienen ihnen inhaltsleer unb gefcffichtloS, weit
ihre ©efchidjte nur Stieg unb Stampf gcWcfen War. geht aber gilt es für fie,
nicht tpelben beS Schwertes, beS $old)eS unb ber glintc ju fein, fonbern ber
Arbeit unb SBiffenfchaft. ®cnn nur in Jßaten beS ©cifteS lann fortau bie ©rohe
ber ©ölfer bcftchen. Stur bie Stationen fidjeru fich noc h baS gcfchichttiche Seben,
welche benfcit unb arbeiten. Skr große beutfehe Stationalfrieg bon 1870 mit bem
jum lebten mal bonapartifdpeorfifeh gewefenen granfreidj h fl t bie 3Mt über biefe
SBahrljeit für immer aufgellärt.
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Heues £ebcn in Corfica.
103
Stun, es regt fid) auch in ©orfica. erwacht aud^ auf biefer berrofteten
^elbeninfel ein neues geiftigeS fiebeit. 34 bin fjoef) erfreut, bafj icE| meinen
SanbSleuten babon Sunbe geben tann.
9lm 19. $cc. 1880 hat fich i« ©aftia eine ©efeöfc^aft ber @efd|icf)te unb
Staturwiffenfchaften ©orficaS gebitbet: Sociötö des Sciences historiques et naturelles
de la Corse. 3« tytem Programm tjat fie ficE) fotgenbe Aufgabe geftellt: Urtunben
unb SDtemoiren pr ©efd^icE)te ber 3nfet p fammeln unb p beröffentlichen, unb
baS ©tubium ber Staturwiffenfchaften p förbent. 3 h r ©rünber unb ißräfibent
ift ber 2 lbbe ßetteron; ihre ©icepräfibenten finb ber Statt) bom 2 tppetlhof be ©araffa
unb ber ©aron ©erboiti; ©ecretäre ber Slböocat ©agnani unb ber Dr. ©orgtjetti.
®ie ©jungen finben im ©aale beS ©emeinbepalafteS ftatt am erften Sonntage
jeben SOtonatS um 1 Uf)r nachmittags, unb monatlich toirb ein ©utletin auSgegeben,
welches Wiffenfchafttiche SRateriafien enthält.
©S ift nicht toenig anjieljenb, unter ben einheimifefjen 9Jtitgliebern biefer ©e=
fettfetjaft gamitiennamen wieberpfinben, bie feit ^ahtr^unberten ber corfifchen
©efchichte augehören: Strrighi, ©uttafuoco, ©afabianca, ©afaitooa, ©eccalbi, ©er*
boni unb ©ofonna, ferner ©affori, b’ 3 ftria, SERafafpina, SJtatra, Drnano, Drfini,
©aoli (hoch fchwerlich pm £>aufe ©aSquale’S gehörig), © 03 p bi ©orgo, ©aliceti,
Sabelti, ©incenteHi u. a. m. SBelche triegerifdje Stamen bon erjenem Klang!
Sludj ein ©onaparte fehlt nicht, nämlich ÖouiS Sucian, ber gegentnärtig in Sonbon
lebt. Stach folgen Stamen p urteilen, bereinigt bie burchauS patriotifc^e ©tif*
tung bereits bie angefehenften SJtänner ber Snfel, unb fie erfcheint, bon aupen
betrachtet, als ein höchft bebeutenbeS nationales Organ für bas geiftige Sebeu ber
©orfen.
®ie neugegrünbete ©efettfhaft ift nicht ber erfte ©erfuch fotcher 2 trt in ©orfica.
©4on im 3<*h re 1650 10(11 (n ©aftia ei« literarifcher ©erein, bie Accademia dei
Vagabondi, geftiftet toorben. ®iefe ©enennung ift lachenerregenb, aber !aum
biprrer als biejenige anberer italienifchen ©efetlfchaften beS 17. 3“h r h un öerts,
ober ihrer StachaljmuHgen in ©Jeutfchtanb in ber geiftig öben Seit nach bem
®rei|igfährigen Kriege. gür bie ©orfen lonnte ber afabemifche ©egriff ber ,,©aga*
bunben" (ebler unb bur<tjauS literarifch toürbe baS SBort „©aganten" getoefen fein)
nicht ganj unpaffenb genannt »erben; benn bamals war ihre fchöne 3 °fel burch
enblofe Kriege mit bem ©rbfeinbe ©enua, burch ©ürgerfchben unb bie ©lutrache
p einer culturlofen SSBüfte geworben, unb biefer Suftaub jwang biele ©orfen pr
StuSwanberung. ©ie gingen nach bem geftlanbe unb fuchten bort auch bie Schulen
beS StedjtS ober ber SÖtebicin auf, bie in ©orftca fehlten, ©o erflärt ben ©inn
jenes StamenS ©alea^ini, welker bie ißublicationen ber neuen ©cfetlfchaft mit
einer Slbhonblung über bie literarifchen ©ereine in ©aftia eröffnet hat.
®ie ©agabunben= 2 l!abemie tonnte faum wiffenfchaftliche 3 wecfe gehabt haben;
eS ift auch nichts bon ihrer ®hötigteit befannt. ©ie erlofdj unter ben Stebolu-
tionen, welche bie unglüiliche 3 «fet niemals pc 9tuf)e tommen liefen. Slber im
3ahre 1749 würbe fie mit ihrem alten Stamen wieberhergefteHt. ©Jamals hatte
baS ©orfenbolt, nach einem bezweifelten Kampf mit ©enua, bie ©ermittelung
grantreidjS angenommen, unb ber SRarfchatt ßurfah War mit franpfifefjen ©ruppen
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Unfcrc «^eit.
104
auf ber 3nfel gelanbet. Eurfap war ein humaner utib hochgebilbeter SRann, auch
Sewunberer ber itatienifchen Literatur. Er gewann bie Jperjeu ber Eorfen; noch
beute bewahren ihm bie Entel ein freunblicheS Mnbenfen.
©ieDeicht gab Eurfat; ben Hnftojj jur 2Biebcrt>erfteHung jener ©cfeUfchaft,
bereit eifriger ißrotector er würbe. Der Mbbe EermaneS bat in feiner „t&efdjidjtc
ber SteOolutionen EorfkaS" äber bie jweite ©ijjung ber Sttabemie am 23. Slug.
1750 einen ©ericht gegeben, Worauf fich eine ©orftedung non bem Sbeeufreifc
ber corfifchen Slfabemiter gewinnen lägt. 3» ihnen gehörten auch Sranjofen, bie
mit Eurfat) ins Sanb gefommen waren.
„§err oon Ehebrier laS eine Differtation über ben Urfprung unb bie Ent*
wicfelung ber Dragöbie oon ben Griechen bis auf unfere 3rit; |>err Derbhain
über ben Urfprung unb bie Sortbilbung beS ©efangeS; ^err ©arbaggio über ben
Urfprung ber Hrjneifunft; ber Slbbe Semibei über bas Seben ber Slgrippina; $err
Slftotfi ein ESebicht über bie Schiffahrt; £>err ©aoerio ißoggi ein Eebicht, betitelt
«Steife jur See». |>err oon Eurfap beantragte als ^Sreis für baS 3ah r 1752 eine
golbene SJtcbaide oon beträchtlichem SBerth für benjenigen, welcher am grünblichften
nachweife, welches bie für einen gelben notljwenbigfte Dugenb fei, nebft einer
Differtation über folche SWänner, bie gelben gewefen finb, ohne bie Eigenföaft
ju beftfcen, für welche fich ber Stutor entfliehen hat. Die Slbhanbtung lann in
italienif<her, franjöfifcher ober lateinif^er ißrofa getrieben werben. Der ißrotector
fchtug ferner einen neuen ißreis für bie corfifcfje Station allein oor. Er beftanb
in einer golbenen SOtebaide bon gleichem SBerth wie jene erfte. Sie follte bem*
jenigen Eorfen erteilt werben, welcher burch ©ernunftgrünbe unb Stutoritäten
barthun würbe, welches bie moralifche Dugenb fei, beren ber SRenfdj am noth*
weitbigften bebürfe."
Die 3«it beS 3ean Sacques Stouffeau fünbigte fich < n Öen moralifirenben
Problemen an, bie ber eble Eurfap ju atabemifchen Stufgaben für bie armen
Eorfen paffeub fanb. 3n bemfelben 3 a h« 1750 löfte Stouffeau bie bon ber Slfa»
bemie itt Dijon geftedte ©reiSaufgabe: „Ob bie fünfte unb SBiffenfdjaften mehr
jur ©erfdjledhterung ober jur ©efferung ber Sitten beigetragen haben", burch feine
Slbhanbtung „Sur les arts et les Sciences", unb biefc begrünbete feinen litera
rif^eit Stuf. Stouffeau ift Sah« barauf in ein für ihn nicht Wenig f<hmei<hel=
hafteS ©erhältnijj jur corfifchen Station getreten, ©ein berühmter SluSfpruch int
„Contrat social": „3ch habe eine gewiffe Slhnung, bafj biefe Heine 3nfet eines
DageS Europa in Erftaunen fe^eit wirb", gehört ju ben wenigen ©rophejeiungen,
welche wirtlich eingetroffen finb. SJiatteo ©uttafuoco lub beu genfer ^jß^itofoph e n
nach Eorfica ein, unb auch ©aSquate ©aoli bot ihm bort ein Slfot an. Slber er
folgte biefeit Einlabungen nicht. £>ätte er es gethan, fo würbe er, ber grofje
©agabunb beS 18. 3ah*h u nberts, ber paffenbfte ©räfibent jener corfifchen Sita*
bemie gewefen fein. Snbejj biefe ®efedf<haft fdEjeint halb nach if)«r SBieberher*
fteduug burch Eurfat) erlofchen ju fein. 8lls ©aoli in Eorte eine Unioerfität
unb Schuten im Sanbe einrichtete, lourbe ihrer nicht mehr gebacht, EJaleajjini
erflärt, bafj fie nichts gewefen fei als ein ©erein Oon Dichterlingen, beren ein*
jige Stetiquie ein 3llmana<h üon ©onetten ift. Sieben ihr beftanb noch eine jweite
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Heues Cebctt in Corftca.
105
poetifdje ©efettfdjaft unter bent Xitel Accademia de’ Bellicosi, unb beibe waren
burch ©arteifjaber ntiteinanber entgweit. 3n beit ftürmifchen Aebolutionen, welche
anf bie Abberufung bei bei feinem Hofe in Ungnabe gefallenen ©urfap im Saßre
1751 bie ungtücftiche Snfel ergriffen, um erft ben ^hrtanthropen $aoti, bann ben
SMterobcrer Sonaparte aul ißt ^ernorge^eu gu taffen, finb alte fiterarifchen Se»
ftrebungen ber ©orfen für lange 3eit begraben worben.
Xie am ©nbe 1880 gegrüubete ©efettfchaft ift baßer immer bie erfte corfifcße
Atabemie bon wiffenfcßaftticher Statur. Xer ©aron ©ateaggini hat in feiner Ab»
ßanbtung über biefetbe ficß fo aulgefprodjeu: „SBir £>egen bie Hoffnung, baß bie
neuerricßtete Societät eine tangere Xauer unb meßr ©ebeutuug haben wirb all
ißre ©orgängerinnen, unb baß i^re Arbeiten einen reellen Stufen ftiften werben.
3Ran müßte an ber corfifcßen ©atertanbltiebe bezweifeln, wenn fid> nicßt jeher
bon uitl beeilte, feinen Stein gum ©au bei ©ebäubel ßerbeigubringen, Weisel
Wir bem Anbenfen unferer Säter errieten Wollen. Xer Aufruf, ben bie Stifter
ber «©efeüfcßaft ber ©efcßicßte unb Aaturwiffenfcßaften ©orfical» an alte aufge»
Karten SJtänner unferl Sanbel gerichtet haben, Wirb fjeute nid)t oßne ©cßo bemalten.
Xal ©ultetin ber ©efettfcßaft ift gang befonberl bagu beftimmt, bie in ben
Samitienarcßiben gerftreuten Urtunben gu beröffeutlicßen; el wirb baßer ein
wahrhaft nationatel SBert fein, unb an ißm werben fidj oßne Bweifel alte bie»
jenigen beteiligen, welche unebirtc SRanufcripte befißen unb wiltenl finb, uni bei
ber Abficht gu unterftüßen, folcße ©reigniffe aufguflären, bie in unfern Annatcn
nodj bunlet geblieben ober unrichtig bargeftettt worben finb. SBir Werben fo ben
geteerten ©efeflfdjaftCH bei geftlanbel geigen, baß auch bie Snfel ©orfica ein fron»
gößfdjel Xepartement ift, wo bal in ben Stürmen bei öffentlichen Sebenl Xroft
bringenbe Stubium ber frönen fünfte unb SBijfenfdjaften gtüßenbe ©creßrer befißt."
Xie heutigen ©orfen haben taum gu fürsten, baß fie fid) in ihren Hoffnungen
tänfcßen werben. 3Jtit Xßettnahmc Wirb auch bal gebitbete Aultanb bie ©rünbung
ihrel erften Wiffenfchafttidjen ^nftitutl begrüßen, ba fitß baffetbe eine fo preil»
Würbige Aufgabe gefteHt hat. Bunäcßft Wirb Italien, bal angeftammte Sütuttertanb,
bamt granfreidj, bal politifcße AboptiOlanb ©orfical, an biefem ©reigniß freubigeit
Antßeit nehmen. Auch bie ©ngtänber haben nie aufgehört, mit Aufmerlfamfeit
bie ©egebniffe auf ber Snfet gu berfotgen, in welcher fie gur $eit ber grangöfifdjen
Aebolution ßerrfcßenb aufgetreten waren, nttb ber fie eine ©erfaffung gegeben
hatten, ©in ©nglänber ©olwett ift ber erfte Aultänber gewefeit, ber bie ©er»
ßättniffe ©orfical in einem noch heute tefenlwerthen Suche gefchitbert hat („3uftanb
©orfical nach einem Aeifejoumat unb nach ben Xenfwürbigfeiten bei ©alquale
?aoti", Soitbon 1769).
SBal uni Xeutfdje betrifft, fo haben Wir fchoit ältere ©egießungen gu jenem
hetoifchen Snfetbolfe. Unfreie Söhne unferl ©atertanbe! haben bort im 18. ^aßr*
hunbert, oom Xeutfcßen ffaifer an ©enua oerfauft, bie nach Sreißeit ringenben
©orfen betämpfen müffen — man geigt noch bie ©räber biefer Sölbiter bei ©afen»
gana. Aber Wir erinnern uni gliicfticherweife auch, baß in ber 3eit ber größten
Aotß bei ©orfenboltel ein Xeutfcßer all beffeu Aetter in wuitberbarer SBeife auf»
getreten, unb baß er ber erfte unb einzige Siönig ©orfical gewefen ift. Xann hat
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{06
ltnferc ^cit.
griebrich ber ©roße bem ebeltt fßaoli als deinen feiner ®ewunberung einen ©hren*
begen gefdjitft, unb bieS (Seffent auS folcher $anb tonnte ben SBertl) aller ge-
weiften Ziegen aufwiegen, welche oon ®äpften irgeub an gelbberren auSgetbeilt
toorben finb. ©nbtich haben bie Sonaparte bafür geforgt, baß wir Zeutfcbe ßor=
fica niemals oergeffen fönnen. ©in ©orfe bat mit fdjicffalsmätbtiger ftanb baS
taufenbjäbrige Zeutfcbe 3teich jertrümmert unb unfer SSatertanb in jahrelange
fö'ncdjtfcbaft geftfirjt. ©in jweiter ©orfe oermaß fi<h na<b ibm, mit ben ®lißen
3upiter’S ju fielen, bie ibn bann fetbft berührt haben, ©eine tböridjte heraus»
forberung bat — e8 finb nur wenige 3«b re bet — ber beutf<ben Station ben
weltgef(bi(bt(i(ben Slugenblicf geboten, ibr 8tei<h herrlicher unb mastiger wieber*
berjufteOen, als eS jemals gewefen ift.
Zer 9tubm Stapoteon’S bat auch ©orfica mit unoergängticbem ©lauj beftrablt.
Zie Snfet ift bas fßoftament, auf bem bie ©eftalt biefeS Zitanen ftebt. ©eine
©ewalttbaten haben nicht bie ©bmpatbie auSjulöfdjeu bermocht, welche ©uropa
feit fßaSquale ißaoli für baS Heine ©orfenoolf empfinbet. 3» ben Stnnalen ber
SKenfchbeit gibt eS ein tragifcheS ffiapitel, Welches ben greißcitSbelben geweiht ift,
unb in biefeS gehört bie ©efdjicbte ber Sorfen. ZieS fichert ihnen baS Stecht auf
bie Zbeifnahme ber SSJelt an ihren heimifchen ©chicffalen. Za eS ihnen nicht ge*
glücft ift, auch Öen großen ©olumbuS als ben Sbtigen, als einen ©orfen aus ber
$afenftabt ©atbi ju beglaubigen, fo haben fic, anbem 3nfetöölfera beS SKtttel*
meereS unähnlich, außer gelben beS ©chwerts unb außer bem einen weifen ©efeß*
geber fßaSquale Sßaoli, bisher feine anbem SJtänner bon fdjöpferifchem ©enic ber
SKenfchbeit ju Renten bermocht.*) Zie fiiinfte unb SBiffenfdjaften haben niemals
auf bem btutgetränften ®oben ©orficaS geblüht; ber Sßerfudj, Welchen tßaoli machte,
fie bort einjuführen, mislang. Slber gerabe beSbalb ift bie ©rünbung ber erften
wiffenfchaftlichen Slfabemie bafelbft in unfern Zagen als ein nationales ©reigniß
attjufehen.
3<h erfülle mit wahrhafter greube eine mir nabeliegenbe Pflicht, wenn ich
meinen Sanbsleuten babon Äemttniß gebe unb fie mit bem Inhalt ber SuHetinS
beS erften SabegangS biefer ©cfetlfchaft befannt mache.**)
3b re ?lrtifel finb in beibeit SanbeSfprachen gefchrieben, in ber franjöfifcben,
welche bie officielte, unb in ber italienifdjett, welche bie nationale ber ©orfen ift,
unb jWar reben biefe eine ber reinften SRunbartcn Italiens. Zie franjofifebe
Sprache bat in ©orfica genau baffelbe SSerbältniß, welches fie bei uns im ©Ifaß
bis 1870 gehabt bat, nur mit bem Unterfdjiebe, baß fie leichter unb beffer oon 3ta*
lienem gelernt wirb als bon Zeutfdjen. 2llS amtliche Sprache ber 3»fd ift fie
feit 1852, wo ich bie bortigen ©prachberbältniffe tennen lernte, fichertich noch in
weitere Greife ber corfifchen ©efeöfchaft eingebrnngen; fie ift bie Sprache ber cor*
*) @8 ift fefjr merfwürbig, baß bie ©orfen noch immer fortfahren, ©olumbuS für fidj
jtt reclamircu. 3m gaßre 1880 fdjrieb ber (Seiftlidje ©afanooa ein Suh: «La verite sur
l’origino et la patrie de Christophe Colomb" (93aftia, DHagnicr), Worin er ju BeWeifen
fudjt, baß ©olumbuS in ©alöi geboren war.
**) ®gl. „Bulletin de la societe des Sciences historiques et naturelles de la Corse",
Januar 1881 n. f. W. (93aftia, Dtlagnier).
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Heues Cebeit in Corfica.
\07
fifdjen ißubliciftil unb meift auch bev Siteratur geworben, aber fie hat baS 3tatie=
nifclje nicht im Sßotf berbrängt, noch tuirb granlreich bieS jemals ju thuit im
Stanbe fein. ®ie Gorfen finb an itjr altes SJtutterlanb butdj bie unjerftörbaren
Sanbe ber Statur gefeffelt; nur bann erft tnerben fie aufhören, Staliener 3 U fein,
luemt fie felbft mit bem 83eWufjtfein ihrer gerichtlichen SBergangenheit unb mit
ihren ftotjen Sergen in baS SJteer berfunlen finb.
®ie officieüe ©brache ber corfifd^en Sllabemie fott bie franjöfifd^e fein; ihre
Statuten finb in ihr abgefafjt, nicht rninber ber einteitenbe Sürtifet ©alcajjini’S.
®cfchi<httiche SJtemoiren bon Gorfen toerben freilich in ihrem Original wieber*
gegeben, boch mit einer franjöfifchen Ucberfefjung begleitet, ©ie ift für fffranjofen
berechnet. Slber fieht bas nicht Wie ein 2 trmuthS 3 eugnifj für biefc felber aus?
Sollten nicht ©eiehrte ober überhaupt gebilbete SJtenfchen einer Station, Welche
feit 100 Saijren eine italienif<he Snfel beherrfcht, beren SanbeSfprache ju berftehen
gelernt hoben? @o war 3 . 39. unb ift noch heutigentags jebem gebilbeten Dcfter-
reicher baS Stalienifche geläufig. 3$ fllaube, bafj bie Seigabe franjofifcher lieber*
fejjungen in ben SulletinS für baS SluSlanb überhaupt unnöthig ift, unb bafj jene
bon ber ®irection ber ©efellfchaft borweg aboptirte SDtajime fich halb genug als
ein loftfpieliger SupS erweifen wirb.
©ef^ichte unb Staturwiffenfdfjaft finb bie beiben ^auptgebiete ber 21 jätigleit
ber Sllabemie, aber es ift borauS 3 ufeljen, bafj baS erfte baS weitaus ergiebigfte
fein wirb. Slrdjäologifche Unterfuchungen finb nicht auSgefchloffen, boch ßorfica
bietet bafür lein reiches gelb bar; benn bie 2 >enlmäler ber fßljönisier, ©riechen
unb Stömer finb bort berfchwunben unb auch niemals fo gasreich gewefen als
in bem benachbarten ©arbinien. Stuf ben ßoealen ber Stömercolonien SRariana
unb Slleria gibt es heute nichts mehr als hier unb ba ben gutib einer SJtünje
ober Snfdjtifi* ®ine folche aus SJtariana, bie ©rabinfehrift eines ©olbaten ber
mifenifchen glotte, ift im erften Suttetin mitgetheilt.
©in unerfdjöpflicheS gelb, eine Wahre terra vergine, hot bie Statur GorficaS
ber SBiffenfdjaft aufgefpart; benn noch heutigentags ift biefe Snfel ein faum erfdjloffc*
nes ißarabieS ber ©eologen unb SJtineralogen 3 U nennen. ©S finb nun faft 30 Söhre,
bafj ich in Saftia unter anbem glüdjttingen StalienS auch ben ©eographen grau»
ccSco ÜDtarmocdji lennen lernte. Ser auSgescichncte SJtann lebte bort im ©fit; er
lehrte erft 1859 nach bem geftlanbe jurüd, wo er halb barauf in ©enua geftorben
ift. ©einen ®ant für baS ihm auf ber Snfel gefchenlte ©aftredfjt hot er ihr ba*
burch abgeftattet, bafj er eine „©eographie GorficaS" fchrieb unb in Saftia brutfen
ließ. Stun bin ich nicht wenig bertounbert, 3 U erfahren, bah feit bem ©rfdjeiueu
biefes SucheS im Sohre 1852 bie naturwiffenfchoftlichen Slrbeiteit über Gorfica
in nichts weiter geförbert worben finb.
3m erften ^Bulletin h fl t fi<h ein mit ben Suitialen ®u St. ge 3 eichneter SJtit*
arbeitet fo auSgefprochcn: „SBenn man in ben öffentlichen ober pribaten SSiblio»
tljelen nach SBerlen über bie ©eologie unb SJtineralogie GorficaS fudht, fo finbet
man laum ein paar bon italienifchen ^iftoriographen berfafjte 5)entfchriften; bann
baS Such ber Steifeeinbrüde eines Dentfchen, ein anbereS bon einem ©nglänber;
ferner einige fummarifche Stoti^en, bie ein löniglidjer ©enieoffi^ier bor punbert
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*08
Unfere <Jeit.
Sauren niebergcfchrieben hat; äßnlicheS üon einem franjöftfdjen Ingenieur; enblid)
bie ©toctorattljefe non Vodanbe, bent ©jprofeffor am Styceum p Baftia. Med
in allem, fo ift bis ^eute baS Heine unb befcfjeibene Buch, welches ein ebenfo
befdjeibener toie gelehrter Italiener, Btarmocchi, Oerfaßt |at, bie einjige Ouede,
woraus bet wißbegierige grembe bie üottftänbigftcn Belehrungen äbet bie ©eotogie
nnb SRineralogie ©orficaS ju fchöpfen E)at."
®er Berfaffer beS StuffafeeS beHagi bie Bernachläffigung biefer 3 n fel im Ber»
gleich p ©arbinien, übet beffen Statur ein gelehrter SDRiniftet bet öffentlichen
Arbeiten Statienä (®raf Silber» Sa SRarmora) ein großes 333er! oerfaßt hat unb
»o feit 15 fahren bie einheimifche $tobuction burch ©ifenbahtten gefteigert wirb.
@r macht ben ©orfen ben Bortourf, baß untet ihren bieten intelligenten Schrift»
ftedern fein einziger feine latente bet einheimifche» Staturwiffenfchaft gewibmet
hat; er fpricht bie Hoffnung aus, bah bie ©rünbung bet corftfdjen ©efedfcßaft ber
333iffenfdhaften ben Slnftoß pr Unterfuchung unb Hebung ber S^äße geben »erbe,
mit benen bie Statur Sorfica fo überreid) gefegnet hat. @r forbert enbtich bie
Slfabemie auf, bie ©rrichtung eines nahmoiffenfchaftlichen SJtufeumS p beranlaffen.
©eine SRahnung »irb hoffentlich nicht ohne 333irfung bleiben. 3« furjem »irb
auch ©orfica ©ifenbahnen befifcett.
333enn bie fftage über bie Bernachläffigung ber Staturlenntniß ©orficaS bc»
grttnbet ift, fo fann eine ähnliche in Bepg auf bie SanbeSgefcßichte nicht erhoben
»erben. ®ie ©efchichte ber ©orfeit ift ein ganz eigenartiges charalterbodeS gelben»
epoS in Vomerifchem ©tit; fte fonnte niemals bem Bewußtfein ber 3nfel üerloren
gehen. 3m Berhältniß p feiner räumlichen ©töße hat ©orftca fogar mehr unb
beffere ©efcßichtfchreiber herOorgebradjt als anbere 3«feln beS SRittelmeereS. 3h re
9teihc begann im 15.3ahrhunbert mit B etru 3 ©hmaeuS unb ©iooanni betta ©roffa.
3m 16. 3 a h*hunbert erreichten fie ihre $öf)e in bem ßeitgenoffen ©ampiero’S,
bem nationalen ©hroniften fjilippini, »eichet bie Slrbeiten feiner Borgänger, SRoit»
teggiani unb ©eccatbi, im 3ai}re 1594 jum Slbfcßluß gebracht hat. $ann hat
fich bie corfifdfje Viftoriographie feit bem 18. 3af»hunbert in bieten 333erfen fort»
gefefct, öon benen jene beS Simperani, ©ambiaggi, 9tenucci, Slrriglji, 3®cobi unb
Bontpei befannt genug finb. ©in »ahrhaft gelehrter ©orfe, ©regori, machte fi<h
burch bie Verausgabe ber Statuten SorficaS oerbient; er hat auch baS SBer!
Silippini’S bis 1769 fortgefefct (Bifa 1828 — 32). ©in gutes ©ompenbium ber
corfifcßen ©efchichte fchrieb ©amido 3rieS, ben ich in Sljaccio perfönlich lennen
gelernt habe. ®ic lejjte Slrbeit biefer Slrt ift bie ©efchichte ©orficaS bon ©adetti
(Baris 1863).
Stun aber »erben bie hiftorifchen ©tubien ber ©orfen burch bie Stiftung ber
©efedfchaft ber 333iffenfchaften in Baftia einen neuen SluffdjWnng nehmen unb einen
feften StnfjattSpunft ge»innen. Schon bie mir oortiegenben Bulletins enthalten
reichhaltige Beiträge. Sie bezeichnen bie erften, noch nicht ganz ftc^ern Schritte
auf ber neueröffneten Bahn, aber fie finb als Bfänber beffen zu begrüßen, »aS
im Saufe ber 3eit aus glücflich oereinten Kräften bes SanbeS entftehen »irb, fo»
halb bie Slrbeit felbft ihr fefteS Spftern unb bie Bchanblung ihre »iffenfdjafttiche
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Heues Cebeti in Corftca.
I 0 ?.
SKetfjobe wirb gefunben fabelt. geh will nun bon ben erften ^ßublicationen ber
corfifchen ©efellfchaft einen ®ericf)t geben.
Sft<8 bie älteften $ocumente bet ©efdjichte ber gnfel nach bem SUtertiium finb
einige ®riefe beS tßapfted ®regor I. ju betrauten, $err Setteron hat ben guten
Gebauten gehabt, fie jufamntenjuftellen unb ju erläutern. Sou feiner Arbeit liegt
mir nur bie erfte Stummer bor.
®ie HuSbeute an Urfunben bis jum 13. Satyrtjunbert Wirb nur eine fetjr ge»
ringe fein fömten. ©o gibt es feine fdljriftlichen SDenfmäler bon ber merfwärbigeit
corfifchen @ibgenoffenfd)aft (Terra del Comune) im SBeginn beS 11. gahrljunbertS.
Hber bie SRegeften ber ißäpfte liefern Stocumente in Sejng auf bie Anfänge ber
fterrfdjaft ber ißifaner unb ©enuefen in ©orfica. SJtit bem ®eginn beS 14. galjr»
IjunbertS Werben bann bie gefdjichtlichen SJtonumente immer jaljtreicher; fie lönnen
aus ben Slrtfjtoen beS nahen gefttanbeS gezogen werben.
SluS ber ©podje ber genuefifdien ^errfdjaft fittbe id) in ben ©ulletinS jwei
Sctenfiücfe abgebrueft: bie Urfunbe, traft weiter ©enua im gahre 1378 bie Qnfel
an bie ©efettfdjaft ÜJiafjotta abgetreten hat, unb einen greibrief beS ©rafen öon
©orfica, £ommafo ©ampofregofo, für bie ©emeinbe ©an»giorenjo bom galjre 1475.
$aS erfte Slocument ift aus einer „Sammlung beS £ernt SSincenteKi" gezogen,
über beren Statur ber Sefer nicht aufgettärt wirb. Sluch hätte gefagt werben
müffen, ob fici^ bie Urfunbe noch in ©enua oorfinbet unb fchon anberSWo abge»
brueft worben ift. S)ieS fcheint nicht ber gad ju fein; wenigftenS finbet fie fief)
nicht im „Liber juriom" ber Stepublit ©enua; unb baffelbe gilt bon ber in ben
Bulletins abgebrueften Urfunbe bon 1453, Woburd} ©enua bie gnfel an bie 83anf
Sanct»©eorg abgetreten hatte.
(Sin größeres gntereffe erregen burd) if>re (Spotte unb Steu^eit einige anbere
hiftorifche SJtittheitungen. @S ift nur ju loben, baff bie Slfabemie bas feiten ge»
toorbene Sud) beS ©hebalier S’^ermite be ©oulierS: „Les Corses fran^ais",
toieber abjubruifen begonnen Ijat. Siele Sorfen ^aben, lange bor ber Sefifc»
nannte ber gnfel burd) granfreid) unb bor bem ©rfcfjeinen Siapoleon’S, unter ben
franjöfifdjen gähnen ÄriegSbienfte genommen; bie ©efdjichte folget Kapitäne nun
j)at S'^ermite erjä^lt. @r beginnt ihre Steife mit ber alten gamitie Dntano,
b. b- mit ben Sfadjfommen beS Solf^ljelben ©amtiere, beffen ungliicflic^ed SEBetb
Sannina ju ben Drnano gehört h fl t. Sh c ©tammname ift bann auf beit ©oljn
Sampiero’S, Sllfonfo b’Drnano, übergegangen, ben berühmten SRarfchaH granf»
reichs unb greunb ^einricb'4 IV. Sttfonfo’S ©oljn gean Saptifte war ebenfall#
fraitjöfifdjet SRarfdjaH. ®ie Drnano bauern noch fieute in ©orfica unb in granf»
reidj fort. SJtan finbet im Suche ß’^ermite’S ferner bie 2eben3gef<f)idjte beS
Seonarbo ©afanoba, eines SBaffenbruberS ©ampiero’S, beS ißietro fiiberta bon
Ealbi unb beS Slnbrea ©aSpari. ?lu^ beim Sßieberabbrucf biefer literarifchen
Seltenheit ift ber SJtangel einer ©inlcitung fühlbar, welche bem Sefer eine
toünfchenSwerthe Stufflärung über ben Stutor unb feine Schriften hätte geben follen.*)
*) $ie$ Such erfdjten in IßariS 1662 unb 1667. gean ©aptifte fi'^ermite be Souüer^
(t 1670) hat noch anbere ähnliche Schriften berfafjt: „La Ligurie fran?aise, ou les
Wnois affectionnes ä 1a France"; „La Toscanc fran^aise; Naples fran^aise".
■ö-.
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Unferc ^eit.
UO
Ein fdjäfcenSwerther fjiftorifcf)er Seitrag finb bie SRemoiren SRoftini’S. Sief er
corfifcfjc ©eifttidje war feit 1737 neben ©albini, ©idfferi unb ben ©rübern ©aoti
erft in Eorfica als Patriot tpätig, bann nach Neapel geflüchtet, fpätcr aiS AI*
ntofenier in franjöfifc^e Sienfte getreten, unb enbli<h nach ber ©efreiung EorficaS
burdj ©aSquaie ©aoli beffen ©chafcmeifter geworben. Er fiel im gapre 1773
unter ben Solchen bon SReuchelmörbern. SRoftini hat manche hanbfdjriftliche Auf
Zeichnungen über feine ereignifjbotte 3^it hinteriaffen. So« biefen finb erft bie
„3Remoiren" aufgefunben, unb burdj Sorghetti in ben ©ulietinS beröffentlicht
worben; ber Abbe Setteron bot fte mit einer franjöfifdjen Ueberfefcung bcrfeljen.
Sic Senlwürbigleiten Aoftini’S beginnen mit einem Ueberbticf ber 9tebo(utionen
EorftcaS feit ©ampiero, unb gehen bann ju bem großen ©olfSaufftanbe bon 1729
über, Wo fte ausführlich werben. Sie ißublication ift noch nicht boüenbet. AuS
ber Sorrebe beS Autors felbft erfehe ich, ba& er bie Sreigniffe bis jum Sah«
1741 erzählt hat. AiS Aufzeichnungen eines gebilbeten Augenzeugen unb mit*
betheitigten Patrioten finb feine äRemoiren eine wichtige ©ereidjerung ber SRa*
tcrinlien zur ©efchidjte EorficaS in ber erftcn $älfte beS ftürmifdjen 18. 3ah»
hunbertS, Welchem ißaSquaie unb SRapoieon angehören, ©orgfjetti hat feinen
Sefern nichts über ben Aufbewahrungsort unb bie ©efdjaffenijeit bes ÜRanufcriptS
mitgetheilt, fonbem nur bemerft, bafj er bie einieitenben biographifc^cn ÜRotizcu
über JRoftini bem ©aron Eerboni bcrbanft.
Eerboni ift ein patriotifcfjer Kenner ber ®ef<f»ichte feines ©aterianbeS. 3m
fechSten #efte hat er eine Epifobe aus ben „Memorie di Guerra" eines 3^itgenoffen
SRoftini'S »eröffentticht, beS Antonio ©uttafuoco; er hat biefe ©chrift mit einer
auSreidjenben Einleitung öerfetjen. Sie gamilie ©uttafuoco ftammt aus bem in
Sfaftanienwälbem auf bem luftigen #ange ber ©erge gelegenen Ort ©eScobato,
welker bie $eimat ber brei corfifchen ©cfd)id)tfd)reiber SDionteggiani, Eeccalbi
unb giiippini gewefen ift. Antonio betheiligte fich an ber SRebolution beS gafjrcS
1729; fpäter trat er in bie Sienfte bes ÄönigS Sljeobor, welcher ihm, wie bielen
anbern Eorfen, aus föniglichen ©naben ein AbelSbiptom berlielj. 5Rad)bem baS
märchenhafte SReidj biefeS geiftootten SBeftfaten in ben Süften zerronnen unb bie
granzofen im gahre 1738 in Eorfica gelanbet Waren, Würbe Antonio ©utta*
fuoco als ©eifel nad) Souion geführt. Ein 3af>v fpätcr trat er aiS Kapitän in
baS aus Eorfen gebilbete berühmte ^Regiment 9iopai=Eorfc, unb mit ihm madjte
er unter ben gähnen gran!rei<hs bie gelbzüge in gianbern mit. Erft 1749 lehrte
er in feine £>eintat zurücf, wo er 1778 ftarb.
Antonio ©uttafuoco hatte oiele Schriften zur ©efchidjte feines ©aterianbeS
gefammelt. AuS feiner ©ibtiothe! ftammt auch baS eigenhänbige SRanufcript
feiner ÄriegSmemoiren, Weiche bie Ereigniffe ber 3aiwe 1738—48 umfaffen.
Eerboni hat baoon bie erften 45 ©eiten mitgetheilt, weiche ben intereffantcn
©eridjt bcS Autors bon feinen Erlebuiffcn aiS ©eifei in ben geftungen Souion
unb ÜRarfeille enthalten, ^öffentlich werben auch bie anbern Steile biefer Sen!*
wiirbigleiten zum Abbrud gelangen.
Ser ©ohn Antonio'S war SRatteo ©uttafuoco, berfeibe corfifche Ebelmann,
Wetter ben bagabunbirenben IRouffeau in fein £aus nach SSeSbocato cingeiaben
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Heues Ccbeit in Corfica.
m
fjat. SRatteo hotte fogar bie Sentimentalität, beit genfer ©hitofopljen aufpforbern,
für bie ©orfen eine ©erfaffung p entwerfen, Währenb bot fein großer 2anbS=
mann ©aoti fdjon baftanb, bereit, feinem ©aterlanbe eine aus ben Snftitntionen ber
Snfel tjerauSgehmdjfene ©erfaffung p geben, wette bann ganj ©uropa bewun»
bert ßat. 9teib unb ©iferfuc^t berührten ben franjöfift gefinnten ÜRatteo. @r
ließ fid) Dom $uc be ©hoifeul für bie berftedten Slbficßten ber ©eftergreifung
©orficaS burtß granfreit gewinnen, nadjbem ©enua im ©ertrage p ©ompiegne
Subwig XV. bie ©efeßung ber corfiften Mftenpfäfce übertragen ßatte. @r würbe
ber ßeftigfte ©egner ©aoli’S unb ber corftften SRationalregierung; fo matte er
Pt allen ©atrioten berßaßt. St h ü &e baS merfwürbige ©ampßlet mitgetheitt,
Weltes ber junge Napoleon ©onaparte, in ber Seit feinet corfiften Demagogen»
tljumS, wiber ben granpfenfreunb ©uttafuoco gefdjleubert ßat, als berfelbe
putirter beS SlbetS bon ©orfica War. Stuf bie ^anbfungSWeife SJlattco’S in ben
lefcten rußmboden Kämpfen ©orficaS gegen baS gewalttätige granfreit ßaben
autßentifte ©orrefponbenjen Sit* geworfen, Welctje SRiccolo Sommafeo beröffeiP
litt hat.
Sommafeo, ber ©enoffe SJtanin’S als SRitglieb ber probiforifdjen Regierung
©enebigS, ber greutib 9ioSmini’S, 9Ranjoni'S unb SRiccolini’S, ßatte in feinem
ftürmifeßen Seben aut i' n ©Eil P ©orfica einige frieblidßc 3al)re bis 1839 pgebratt.
®aS glänjenbe tDenfmal feines SlufentßattS bort unb feiner Siebe p ber gelben»
infei ift bie Verausgabe ber ©riefe bcS ©aSquale ©aoli, im elften ©anbe bcS
„Archivio Storico Italiano" bon 1846. Sie War ein ©reigniß in ber ßiftoriften
Siteratur ©orficaS. ®ie ©riefe jenes SRanneS, weiter in bem Meinen Greife
feines politiften SBirfenS bie ©röße, aber nießt baS ©lüd SBafljington’S erreitt
batte, finb bie einzigen intimen 3c«gniffe feinet Sb eeit unb Vanblungen; benn
et felbft hat feine 9Remoircn ßintertaffen, unb feine Äanjlei ift in ben Tumulten
berloren gegangen, weite nat bem gatle ©orficaS unter bie ©ewalt granfreit 3
feine leßte StuSWanberung in bie grembe begleitet hoben. £ommafeo bermottc
eine große $aht bon ©riefen ©aoli’S, bie im ©ribatbefiß unter ben ©orfen jer=
fitreut waren, aufpbringen unb p einer Sammlung p bereinigen, beten ©pote
mit bem gebruar 1756 beginnt unb mit bem Sftäri 1805 enbet. 3wei Sabre
fpäter ift ©aSquale in feinem ©jit p Sonbon geftorben unb in SSeftminfter be=
ftattet worben.
®ie Sammlung lommafeo’S fonnte feine bollftänbige fein. Sie p ergänzen
iß eine not P leiftenbe ©flußt ber ©orfen, unb bie neugegrünbete ©efeUftaft
bet ©Siffenftaften ßat biefe ©flitt fofort erfannt. Sie felbft fonnte aut bon
i^ren patriotiften Swedett fein gültigeres Seugniß abtegen als baburt, baß fic
begonnen ßat, not unebirte ©riefe ©aoti’S aufpfuten unb p beröffentlidicn.
3>iefe eßrentwUe Strbeit tjat ber Dr. ©iredi übernommen.
Sn feiner franjöfift gefttiebenen ©inleitung fagt er golgenbeS: „2Bir fefcen
bie ©ubtication ber ©riefe ©aoti’S fort, bie bon Sommafeo begonnen worben ift.
SSir befifcen nidßt bie ©rätenfion, eS ebenfo gut p maten Wie biefer berühmte
Staliener; aber Wir Wollen boöftänbiger fein. SSJir berpftitten uns, Weber einen
©rief p fürjen not ein ®ort p unterbrüden. Seber ©rief ©aoli’S ßat für
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Unfere <5ett.
U2
und SBic^tigfeit, unb foUte biefe nur im Saturn hefteten. SBenn ed ©erfonen
geben foßte, bie an ber ©eröffentlicßung non Schriftftücfen Wnftoß nehmen, welche
nicht immer für ißre ©orfaßren fchmeichethoft finb, fo »erben wir folcße ©mpfin»
bungen nid^t berücfftdjtigen. SBir erfinben nicßtd; mir überliefern nur unfern
©nfeln bad ©rbe ber ©äter. Socß wirb man und ftetd bereit finben, contronerfe
Socumente aufauneßmen, wenn und fotdje augefcßicft werben. Sie Urtunben,
welche ©aoli in feinen Käufern ju 9Worofaglia unb ©aftoreccia niebergelegt hotte,
finb für immer berloren gegangen. SRan tann biefen ©ertuft jum Xheit burch
bie jafjlreichen ©riefe ergänzen, welche er an feine fjreunbe gefchrieben hot. SBir
richten nun bie bringenbe SKufforberong an ihre 93efi^er, fie und mitautheilen.
©d wirb ber größte Stet tinblicßer ©ietät fein, ben fie teiften tonnen."
Sie teiber nicht audreichenbe (Einleitung ©irefli’d betrachte ich otd etwad
nur Stugenblicfliched, Womit aunäcßft bie tßatfächlicße S3eröffentIicE)ung ber ©riefe
in ben ©ufletind begleitet werben foß. Sie neue Sammlung wirb eröffnet mit
3 »ei ©riefen bed ©ruberd ©aoli’d, bed großartigen Patrioten ©lernend, an ben
©räfibenten ©enturini twm Slpril 1755; bann folgen ©riefe ©adquale’d an ben-
feiben ©enturini unb an Salüini aud bem gleichen 3®ßre. Ser bem Saturn
nach ättefte ift bom 12. Slpril 1755. Ser ättefte in ber Sammlung Sommafeo’d
batirt erft bom 5. Sehr. 1756. Sie Saß« 1757 unb 1758 faßen bei Xommafeo
ganj aud. Soweit mir bie ©ufletind oortiegen, finbe ich aud bem $Jaßre 1755
27 unebirte ©riefe ©aoti'd an ©enturini unb Satoini nebft einigen ©riefen Don
©lernend. Sie neue Sammlung bespricht bemnaeß feßr reichhaltig ju werben,
©d wirb fpäter bie Slufgabe ber ^craudgeber fein, einen Separatabbrud baoon
§u machen unb biefen mit einer wiffenfcßaftlicßett ©rläuterung au berfehen.
Sann wirb fich auch bie Stotßwenbigfeit geltenb machen, beibe Sammlungen, jene
im „Archivio Storico" bergrabene, unb biefe neue au einem ©anaen in chrono»
Iogifcher ßrbnung au bereinigen. 3n ben ©riefen ihred größeften ©ürgerd Wirb
©orfica ihm unb fich fd&ft ein unbergäitgliched ßtationalmonument errichten
tönnen.
Sie ©orfen hoben am ©nbe bed 18. Soßrßunbertd, in einem lebten gelben«
fampf um ihre nationale Selbftänbigteit, bon bem eifernen Zeitalter ihrer ®e»
feßießte Stbfdjieb genommen, in bemfelben SJtoment, wo ber gewaltige ©eniud
unter ihnen geboren würbe, welcher ber curopäifdßen SBelt ein neued Slntlifc geben
foßte. ©d ift baher begreiflich, baß fie mit ©orliebe gerabe jened ^aßrßunbert
behanbeln, aumal baffelbe auch bad an Urtunben reichfte ift. Stber bie Arbeiten
ber jungen corfifcßen Slfabemie hoben bereitd bewiefen, baß fie auch bie ältere
©ergangenheit nidßt aud bem ©lief berliert. Sie mittelalterliche ®ef^ic^tfeibuttg
ber ©orfen bebarf einer fritifeßen SReoifioit, unb biefe tann nur boflaogen »erben,
Wenn aud ben einßeimifcßen toic audlänbifchcn Strcßiben bad Sftaterial aufamnten»
getragen wirb. ®d Wäre baßer bie Slufgabe ber neugegrünbeten ©efeflfcßaft ber
SBiffenfcßaften, eine ©ommiffion au ernennen, welche aunächft bad Snbentarium
ber Slrcßiobeftänbe ber Qnfel aufaunehmen ßot. Siefe Slrbeit würbe bie ©inlei»
tung au einem biplomatifcßen ©obej ©orficod fein.
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Heues Ceben in Corfica.
US
3<h fönnte ^tec meine SWittheilungen mit einem ©lücfrounjch ju biefen frönen
Seimen ber SBiffenfdjaft in Sorfica fchliefjen; jebocf) id) miß nodj ein paar No =
tijen Aber bie Sehranftatten bort unb 9lefjnticf)e3 beifügen.
Saftia, $War nur Unterpräfectur, ift bodj bie getftig regfte Stabt ber 3«fet,
Sie jäljlt 20000 Sinroohner, 2000 mehr ald Sljaccio, wo ber tßräfect rcfibirt.
Sie aUeiit befifct ein Stjceum, mit 27 tßrofefforen unb mehr ald 600 Schülern;
eä ift mit einem naturwiffenfchaftlichen Sabinet unb einer .'pnnbbibliotfjef non
7000 SBänben auögeftattet. ®ie öffentliche ©ibliothef SaftiaS jählt 22000 ©änbc
unb 21 £>anbfd}riftcn. ®ic Stabt hat brei Ärucfereien: gabiani, Dßagnier unb
Dtibieri. 3« bem {üblich milben Sljaccio, welche^ jejjt ein gefugter flimatifcher
Eurort geworben ift, befinbet fich baä corfifche 5ßriefterfeminar unb ein (Kollegium
non 22 ißrofefforen unb etwa 400 Schülern, Weldas nädjftenS jum Styceunt
werben foß; ferner gibt eä bort jwei Normatfchuleu jur SluSbilbung für Selirer
unb Sehrerinnen. Sljaccio hat eine ©ibliotljef non 29500 Sänben unb 198 §anb=
fchriften, eine Wie ich glaube noch immer berwaljrlofte ©emätbefammlung, bie
nom Sarbinal gefch hecftammt, unb jwei $rucfcreien.
Sorte, ber ehemalige Sifc ber Nationalregierung tßaoti’4, mit 5400 Einwohnern,
ift nach jenen Stäbten ber anfehntichfte Ort. Sluch h> et gibt eS ein Collegio
comunale, wie in Sartene unb Satbi. Slementarfchulen finb feit furjem jol)l=
reicher in Sorfica eingerichtet, bodh mir fehlen bie genauem Slngabett über ihre
Sefchaffenheit. Stuf ber 3nfel werben 9 Seitungen gebrucft, je 4 in Saftia unb
Sljaccio, 1 in Sorte. Stur ber „Petit Bastiais" erfcheint täglich. Slße finb fran=
jöfifch gefchrieben; bie meiften finb Organe ber republifaitifchen Partei, eine bient
ben SRonarchiften. 3h r S«halt ift burd)au3 bürftig.
SNan wirb am Schluß meiner SNittheilung eine Ueberficht ber literarifchen
fßrobuction in Sorfica wäljtenb jweier ®ecennien finben. Sie ift nicht grojj, aber
fie beweift hoch, bajj man bort nicht füfle fteht. SBeber bie Sammlung ber corfifchen
SSoltelieber noch jene ber Nobeflen non SReitucci unb ©rimalbi haben bermehrte
Sluögaben erfahren. Satnator SBiate ift ber tefcte corfifche dichter unferer Seit
gewefen, beffen Stuf auch iw* Sluölanb gebrungen ift. 3<h habe feine meifterhafte
IBtuträdhernoneße „®a3 ©etübbe beö ißetruö ShraaeuS" bei unö belannt gemacht.
®ie Sichtungen tBiate’3 erfchienen boflftänbig in ber bon Ortanbini beforgten f!o=
rentiner Sluögabe bon 1861. ®er geiftreiche SNantt, ein tnuthiger Kämpfer für
bie (Erhaltung ber italienifchen Sprache unb Nationalität ber Sorfen, hat auch
einen @anb Satiren jurficfgelaffen, bie jeboch wegen ber Sßerfönlidjfeit iljre$ 3«=
halt# nicht beröffentticht werben. 3<h bewahre eine hanbfchriftliche Sammlung
corfifcher SSolfötieber, bie er mir Wenige 3ah<?e bot feinem ®obe gefchenft hat.
Neben SBiate nerbient auch SDtultebo alä national=corfif<her dichter befonber# genannt
ju fein.
Nun ift e# feine geringe Ueberrafchung für mich, in einem mir eben erft be=
fannt geworbenen Sorfen nicht nur einen Kenner ber beutfchen Slteratur, fonbern
auch ein 611 ®i(hl et i u entbeefen, welcher ©oethe jum erften mal in Sorfica ein=
geführt hat. ®ie# ift tßietro Succiana, SWitglieb be# birigirenben Nathe# ber
Unicre grit. 18*2. I. 8
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Untere <3eit.
U4
©efeßfdjaft ber XBiffenfchaften unb ©rofeffor am S^ceum in ©aftia. (Sr hat im
Sahre 1872 feine italienifche Ueberfefcung non „Hermann unb ©lorothea" beraub«
gegeben: „Arminio e Dorotea, poema di Wolfg&ngo Goethe. Traduzione di
P. Lucciana" (©aftia, gabiani, 1872).
©oethe in ©orftca! Unfer olpmpifcher Sltmeifter, ber 3citgenoffe unb ©emunberer
©aoli’S unb Mapoleon’S, mürbe behaglich getäfelt haben, menn er fein ibpflifch*
bürgerliche^ ©po« im Sanbe ber milben ©luträcher überfefct unb gebrueft gefehen
hätte, nachbem fc£>ou ber größte ber ©orfen feinen „SBerther" auf ben ©chlachtfelbern
äegppten« mit fich geführt hatte.
3«h theiie einiges au« ber ©orrebe Succiana’S ju feiner Ueberfefcung mit:
,,«3<h habe Hermann unb Dorothea 1 beenbigt. 33er ©egenftanb felbft ift äufjerft
gtücflich, ein ©ujet, roie mau eS in feinem Seben Dieüeidjt nicht jmeimal finbet.»
©o fchrieb (Stpril 1797) ©oethe an feinen greunb 2Reper, im älter bon 48 Satten,
auf ber $öhe feine« ©enie« unb Muhme«. 33er ©egenftanb, melcher bem ©lichter
fo theuer mar, ber fchon «©äh bon ©erlidjingen», «ffierther», «3ph*fl en t e ”> «Sg*
mont», «©affo», «gauft» unb «2Bilhelm SReifter» oerfafjt hatte, ift fo fe^r einfach,
bafj er ba« Säbeln ber fibpflinifchen ©eher unb ber Mtafchiniftcn ber ©chulc ber
Sufunft erregen muß. ©in ©aftmirth mit SBeib unb ©ohn, ein ©farrer unb ein
äpothefer, feine greunbe, ein arme« ÜRäbchen: ba« finb bie gelben einer £>anb*
lung, melche beutfehe unb frembe Ätitiler für epifch erflärt haben, ©inige freilich
berfagen ben Manien be« ©po« einer ©onipofition, bie fich nur unt ein mobeme«
gactum bemegt, melche« ber Seit be« äutor« felber angehört, unb morin tueber
gürften noch ©ötter unb Ilämonen auftreten; fie nennen beSfjalb bie 33ichtung ein
3bi)H. ©loch «tag jeber ihr ben Mamen geben, melden er für paffenb hält. 2Ba«
bie Miihlichteit ber gegenmärtigen Ueberfefcung betrifft, fo miß ich nur bie« fageit:
in einer Beit, roo man bie 3bee be« ©aterlanbe« auf bie SBelt unb bie Siebe ber
ganiilie auf bie SDtenfchheit auSbehnen miß unb mo biefe in« äJlafjlofe gefteigerten
©egriffe fich in MichtS auflöfen, in biefer Seit mirb e« oießeicht erfpriefjlich fein,
fich bie gbeate ber ©ugenben be« gefunben bürgerlichen £>aufe« in« ©ebächtnifj
jurücfjnrufen."
Succiana hat in ber Uebertragung Pon „Hermann unb ©orotljea" in« Stalie«
nifche nur jmei ©orgänger gehabt. 33enn ju aßererft hat Sagemann bie« ©ebicht
in« Stalienifche überfejjt (£>afle 1804), ein beutfeher ©elehrter, ber burch feine
SebenSfdjidfale nicht minber merfmürbig gemefen ift al« burch feine Äenntnifj ber
italienifchen Siteratur. ©obann fanb nach langer ©aufe „Hermann unb ©lorothea"
an einem Italiener felbft feinen Ueberfefcer; ich meine änbrea SDiaffei, ber in
feinem ©aterlanbe auf fo glänjenbe SBeife bie 33ichtungen ©chißer’« eingebürgert
hat. 3<« Sahre 1872 erfchien bie britte Ueberfejjung be« ©oethe’fchen ©po«, biefe
fiucciana’S in ©orfica; ein Sähe barauf eine oierte in glorenj oom üßtarchefe
änfelmo ©uerrieri=@onjaga, einem feinfinnigen ©lichter unb Kenner ber beutfehen
Literatur, melcher oor jmei Saht*« feinen oielen greunben burch ben ©ob ent*
riffen morben ift. S3ie Ueberfefcung in ©uerrieri’« fchmungooßen Dttaoreimen
ift feiner Uebertragung be« erften ©heile« be« „gauft" beigegeben (glorenj,
Se ßRoitnier, 1873).
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Heues £eben in Corftca.
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2>aS italienifcfie ©etoanb, meines ber corfifche Ueberfefcer ben beutfdjcn ®e-
ftalten ^ermann unb $orotl)ea umgemorfen h“t, entfteßt biefe in feiner SBeifc
burd) prunfüoße ®rapcrie unb fünftlichen jjaltenlourf. $ie Ueberfe^uttg ift treu,
bie $iction fc^Iid»t unb ebel, unb fo frembartig fich ein ©ebidjt non biefer echt
bcutfd} bürgerlichen ©infalt beS ©emütheS auch in ber Spraye Jaffo’S ausnehmen
mag, fo toirb oießeicht ber beutfehe Sefer mehr ©enuß an bem SBoljllaut einer
italienifchen Ueberfefcung beffetben haben, als ihm eine folche in anbern frentben
Sprachen gemähten fann. 3<h gebe bie erften SSerfe Sncciana’S miebet:
Non vidi mai quel mercato, e le vie
Solitarie oosi! Deserta appieno
La oittade ne appare; inanimatal
Degli abitanti io credo qui non resti
Solo un cinquanta. Ah, che non puö vaghezza
Di novitä! Corre ognuno, precipita,
Degli esuli a mirare il cuopo stuolo!
Di quinci a l’Arginal cui seguon essi
Ci vuol pure un’ oretta!
Siefelbe ©teile tautet al$ erfte Dttabe bei ©uerrieri fo:
Mai non vidi le piazze e le oontrade
Vuote cosi; forse cinquanta appena
Rimangon tuttavia nella citade.
Curiositä verso il corteo li mena
I profughi a cercar, piü che pietade;
Ma per quanto ci mettano di lena,
E nella polve e al sol vadano in fretta,
Sino all’ argin ci vuol sempre un’ oretta.
äfteine erneuerten ^Beziehungen ju ßorfica oerbanfe ich folgenbem Umftanbe.
3m testen Sommer erteilte mich «in ©rief oon Succiana, in meinem biefer @e=
lehrte mir mittheilte, baß er oon meiner „©efchichte bet ©orfen" (ber ©inteitung
beS SBucheS „©orfica") eine franjöfifche Ueberfefcung gemacht habe, metche mit
meiner ©inmißigung in ben SufletinS ber corfifchen ©efeflfehaft ber SBiffenfchaften
ihren Sßlafe finben foße. ®ie treffliche Ueberfefcung Succiana’S liegt nun in einer
ftattlichen SluSgabe ber IBuchhanbtung Dßagnier oon SBaftia oor mir. Sie ift ein
Seugniß ber Siebensmfirbigfeit ber ©orfen gegen einen gremben, metcher fich, nach
einer längern ißaufe in ber betreffenben auSlänbifchen Siteratur, juerft mieber mit
ber ©efchi<hte ih rer Snfel befchäftigt unb Oon biefer fetbft aus eigener Hnfchauung
ein SBilb zu entmerfen oerfucht hoi- $aS befcheibene Sßerbienft meiner hifiorifchen
Sfizze tonnte ein größeres fein, bei $eutfd|en unb 21uSlänbern überhaupt, als
bei ben ©orfen felbft, benen ich nichts 9teueS zu bieten hotte. 3tu<h mar in ßor*
fica fchon feit langen 3af)ten bie italienifche Ueberfefcung jener Schrift oon meinem
unoergeßtichen ffreunbe ißaolo ijSerez (Florenz, 8e SKonnier) oerbreitet, mäßrenb
im 3ohte 1880 ein parifer ßlub ber Sanb» unb Sßtarineoffiziere eine franzöfifche
Ueberfefeung berfelben „©ef^ießte ber ©orfen" in SWarfeiße herausgegeben hatte.
Su jeber Seit mürbe ich ein fo fdjöneS Seugniß beS SBohlmoßenS lebhaft
empfunben hoben, aber heute erfreut eS mich boppelt, meil baffelbe, menn auch
8 *
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Uuferc geit.
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nur jufällig, mit bent neuen ®eifte$Ieben, tpelc^ed fidj in ffiorfica regt, in Ser=
binbung gebracht tuorben ift. Snbem ich non biefern meinen SanbSleuten berichtete,
ftiegen in meiner ©rinnerung bie eutjüdeuben 2Jteergeftabe, bie Serge unb
beS munberbaren @ilanb$ toieber auf, meines ich bor 30 3<*h ren burchtnanbert
hatte. ©orfica ift baS erfte frembe £aub getoefen, an bem ich 8Infchauung unb
©rfenntnififraft geübt f)abt. ©3 h a * cnK 9 ro ^ e SBiffattfl auf mich 0eh a &* nnb
©inbrüde bon £>elbenthum unb Staturfchönheit in mir jurüdgelaffen, bie noch
heute fo lebhaft finb toie im 3<*h rc 1852.
Anhang.
34 gebe $um Schlufj eine Ueberftc^t ber bemerfenStoertheften Schriften, »eiche feit
1852 bi$ 1872 bon Torfen berfa&t »orben finb. $<b berbanfe fie, toie Diele anbere Zotigen,
$errn fiucciana; er hot fie auS einem 3ournal beS Derftorbenen Dr. SRattei, beS Ser«
fafferS Dieter ntebicinifchen Schriften, ausgewogen, ben „Annalcs de la Corse", unb biefe
reichen eben bis 1872. Succiana Derftchert mich, bafj bie Iiterarifche ©robuction ber Torfen
in ben fotgenben acht Sahren leine fehr reichhaltige getoefen ift.
1852. ©a mitte grie|, Histoire de la Corse (©aftia).
©. 9Rultebo, Alcune liriche (©ari$).
SRafica, Memoires sur Penfance et la jeunesse de Napoleon (©ariS).
1854. <5J. 3- 9Rignucci, Considerations economiques sur la Corse (©ariS).
1855. Canti popolari corBi, con note (2. $tufl., ©aftia).
©. ©. < 3 rimalbi, Novelle storiohe corse e canti popolari corsi (©aftia).
Siale ©albator, Studii critioi di oostumi corsi.
1856. 2t. Wrrighi, La veuve d’Arbellara, roman historique (©aftia).
©oti, L’armee d’orient (©ariS).
9Usages locaux d’Ajaccio (Sljaccio).
1857. ©h* ©araffa, Antiquites de la Corse (Journal PObservateur de Bastia).
3. be la ©occa, Biographie de la famille Abbatucoi.
Sapia, La Corse, notice geographique et statistique (Sgon).
Stephani, L’ antichitä dei Bonaparte (©enebig).
1858. ©iammarchi, Vita politioa di Pasquale Paoli (©aftia).
£. ©. be ©eretti, Bonaparte ou la France sauvee, poeme en 24 chants
(©ariS).
3ean be la 9iocca, Vie du ministre Abbatucci (©ariS).
©iale Salbator, Dell’ uso della lingua patria in Corsica.,
1859. ©omte be ©uttafuoco, Fragments pour servir a Phistoire de la Corse
(©aftia).
Süippo ©araffa, Sülle antichitä della Corsica (Rivista ecclesiastica).
SRarchi, La Corse et ses illustrations (2tjaccio).
Sftultebo, Alla Corsica, canto — La patria dclP Italiano — All* Italia
(©aftia).
1860. ©onaparte (©rince ©ierre), Sampiero, legende corse, traduite de
Pitalien (©ariS).
Histoire de la famille Bonaparte (©ariS).
Saure, Les bandits celebres de la Corse.
3« 2R. ©eralbi, Analisi critioa sull’ origine della dominazione temporale
dei papi (©aftia).
1861. La Corse depuis le I er empire jusqu’ä nos jours.
©täte S., Scritti in versi e in prosa (glorenw).
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Heues Ceben in Corftca.
1862. (£ar!ottt, Salvatore Viale et ses oeuvres (Sljaccio).
Worein, La Corse italienne et la France ($urin).
1863. OJalletti, Histoire illustree de la Corse ($ari$).
1864. ©onabarte (©rtnee ©terre), La bataille de Calenzana (*ßari$).
911 eff. (Sraffi, Aleria, etude historique et archeologique ($öri$).
1866. ©artoli, Histoire de Pascal Paoli.
<$raffi, fitude du caract&re de Pascal Paoli (©aftia).
1867. (£olombaiti, Les aventures d’un jeune Corse, roman historique (©art$).
1869. ÜTrrigljt, Notices historiques sur le general Cervoni (©aftiö).
©§. (Saraffa, La verit6 sur Porigine de nos Bonaparte (©aftia).
3acopo b'Ötia, Pasquale Paoli ((JJenua).
1870. (£arlotti, Poesie di alcuni moderni autori corsi (glorenj).
J$ean be la SRocca, Yie du prince Pierre Bonaparte.
1871. ©enebeiti, Ma mission en Prusse (©ari$).
©tardjal (be (£albi), La guerre de 1870 (©ari$).
1872. ©. ßttcciaita, Arminio e Dorotea, traduzione (©aftiö).
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HHe (ßUkfririfaf in fco: €tcfjnift.
®on
Jranj .Jofeph ^Otsko.
I.
Tie Tljore be« burcf) bie SBeltau«fteflung öom Soljre 1855 befannten 3nbufttie*
palafte« bet @h am P 8 '®l#e« in Ißari« hoben fid) für ba« grojje ©ublifum am
11. Slug. 1881 Wieber erfchloffen, um in gtanjooflfter SBeife bie gortfdjritte ber
©leftrotechnif, burcf) eine 3lu«fteßung eleftrifcher Snftrumente unb Slpparate, bot
ba« Sluge ju bringen. Keine ber bisherigen SluSfteßungen lam jeitgemäfjer al«
biefe; benn auf feinem ©ebiete Ratten fich furj öorljer bie ©rfinbungen in jo über»
mächtiger SEBeife gehäuft al« auf jenem ber angeroanbten @leftriciträt«lehre.
SDlan braucht nur einen ©lief in bie 3«itphriften biefeö gache« unb in bie patent»
literatur ju werfen, unb e« wirb unwiflfürlich ber SBunfdj entftehen, aße biefe
neu erbachten efeftrifchen Kraftqueflen, KraftumWanbier, ©teftricitätömeffer, ©lef»
tricitätSleiter, bie eleftrifdjen Sidjtfpenber, gernfehreiber, gernrufer, gernfprechet,
eleftrifdjen 3*itmeffer, SSitterung«anjeiger, SBafferftanbSWeifer u. f. w. gefammett
unb in Thätigfeit bor jich ju hoben, um au« bem bergleichenben ©tubium ber»
felben einesteils ju einem richtigen Urteile über ben jeßigen ©tanb ber elef»
trifchen Technologie ju gelangen, unb anberntheit« auch, um SlnfnüpfungSpunfte
ju gewinnen für bie weitere görberung ju praftifchen 3>oecfen. Tiefe« allgemein
empfunbene ©ebürfnip nach einer Ueberfdjau aßer, befonber« aber ber neueften
Seiftungen ber ©leftrotechnifer ift bur<h bie oben erwähnte internationale SluS»
fteHung für ©leftricität in ©ariS gebeeft. Unb bie« um fo mehr, al« auch bamit
ein Wiffenfchaftlicher ©ongrefj für wichtige gragen ber ©leftricität, Wie j. 33. be=
jüglich eine« einheitlichen SRafifhftem« für bie ©leftricität unb cbenfo für ba« Sicht,
ferner hinfichtlich einer einheitlichen Terminologie in ber Telegraphie, bann über
bie ©djwierigfeiten bei Anlagen ber Tclegraphemtefce u. bgl. m., öerbunben
würbe. So bie officieße Sluffaffung feßt fogar ba« internationale Sufammentreten
ber ©teftrifer tioran, unb betrachtet jene SluSfteflung nur al« ein riefige« SJlaterial»
bepot unb reich au«geftattete« Saboratorium, welche« bem ©ongrefi ju ©ebote
ftehe, fo oft er in feinen theoretifchen Ti«cuffionen unb Tebatten bie ©rfahrung
unb ba« ©jperiment ju befragen hoben foflte.
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Die (gleftricität in 6er 5£edjnif.
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Ta bie Siefultate be? ©ongreffe? nur für gachmänner bott SBidptigfeit fiitb,
fo tbenben mir um? ^ier an bie 2 tu?ftellung felbft. Stach bem amtlichen
fjauptfatalog finb — ohne Stücfftdht auf bie eingefdjobenen mit „bi?" bejeid)=
neten Stummem — 1768 Sluäftetter erft^ienen, bon melden mehr ab? bie Hälfte
(943) auf granfreich, 87 auf Teutfcfjlanb, 40 auf Defterreidj unb ber 3teft auf
bie übrigen Staaten entfallen. Tie fo hofjr Slu?ftet(erjahl granfreich? erflärt fiep
— mie bei allen öorau?gegangenen analogen gälten — leicht barau?, baß bie
Sequemtichfeit unb SBotjtfeiflieit ber $eimat ftet? bie Stu?fteller in ÜJtaffen heran»
jiejjt. SOtan mürbe ju fdpiefen unb unrichtigen Urteilen über bie Grteftrotedfjnif
in ben einzelnen Staaten gelangen, menn man nur bie Quantität unb nicht auch
bie Qualität ber 9tu?ftetler in Betracht jöge. So j. B. jeigt Storbamerifa, toeldlje?
bodh in bet eleftrifcfjen Technologie meit berufen ift, nur 72 Staaten, aber barunter
8 ett, SBefton, ©bifon unb mehrere große ©efettfctjaften für bie inbuftriette Slu?»
beutung ber ©leftricität. git ähnlicher SBeife berhätt e? fich auch mit bem elef»
trotechnifch feht rührigen Teutfchlanb, mo bie girma Siemen? u. $al?fe au?
Berlin fdjmer in? ©emidht fällt, ©in anbere? Beifpiel bietet Qefterreich mit feiner
au?gebilbeten Telegraphentechuif unb feinen bezüglichen eleftrifcheit Sampcn
(©ülcher, ißiette u. Ärijjif).
Tie ©lieberung ber ©efammtau?fleHung ift eine natürliche, gebet Staat
tritt gefonbert auf, unb bentgemäß ift auch ber ©eneralfatalog angefertigt,
granfreich eröffnet bie Steilje, bie übrigen Staaten fommen nach bem Sllphabcte.
gür alle gilt folgenbe ©ruppirung ber ©egenftänbe. Tie brei erften Slbtfjeilungen
enthalten bie Quellen, Seitcr uttb ÜDteßinftrumente ber ©leftricität, morauf bann
bie Apparate ber angemanbten ©leftricität — mie Telegraphen, Telephone, SRifro»
Phone unb ißhotophone, eleftrifdhe Sampen, eleftrifdhe SRotoren, eleftromebicinifche
unb eleftrochemifche Apparate, eleftrifche Uhren u. f. m. — folgen, gn ber bor»
lefcten $auptabtf)eilung fielen bie thermobpnamifcljen SRafdfjinen, meldjc jur Um»
toanblung ber SBärme in ©leftricität bienen. Tie lejjte ©ruppe (Sir. 6 ) ift ber
Siteratur unb ©efchidpte ber ©leftricität — einfdhließlidh ber entfpredfjenben ^ifto-
rifchen Apparate — gemibmet.
@? liegt biefen Blättern fern, einen Bericht über bie nach Taufcnben ääljlen»
ben ©egenftänbe ber parifer „ 9 lu?fteüung für ©leftricität" ju geben; fie mollcn
nur bem allgemeinen gntereffe, meldpe? bnreh jene Sdpauftellung erregt morbcu
ift, in ber SBeife entgegenfommeit, baß hier eine überfidfjttiche TarfteHuug ber
aflermichtigften Slntoenbungen ber ©leftricität nach bem heutigen Stanbpunfte ber-
fncht merben foÖ. Tabei fönnen felbftberftänblich, unter Sfu?fdhließung jeglichen
Tetail?, nur bie mefentlichften Brincipien für bie £auptjmeige ber ©leftrotedpnif
in Betracht fommen.
Ungemein jahlreicfi unb öerfdjicben finb bermalen bie Slnmenbungeit ber ©lef¬
tricität im Berfef)r?mefcn fomie iit ber Technif überhaupt, unb bem cntfprechenb
hoben fidj bereit? mächtige @lcftro»gnbuftrien cntmicfclt; man beitfe nur an bie
gabrifen für ba? Telegraphen» unb Signalmefen, für ©albanoplaftif uub elcf-
trifdhe SRetallurgie u. bgl. m. Unb bodp ftcfjen mit bei manchen Slnmenbungen
ber ©leftricität — mie 5 . B. bei ber Xelepfjonic unb bei ber eleftrifchen Beleuch
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Uttfere ^cit.
tung — erft am Änfang bet Tinge, uttb finb bei ben ältern Steigen bet ©leftro*
tec^nif (Telegraphen^ uitb Signalwefen) nicht am Gnbe. Gin hödjft rühriges Sebeit
unb Treiben fynrffy auf allen Gebieten bet Technologie für Gleftricität; ©rfin«
bung brängt ficfj an ©rfinbung, ©erbefferung an ©erbefferung. UnermAbet unb
entfjufiaftifcf) ftnb bie ©elfter t^ätig für bie ©erwerthung beS eteftrifc^en (Stromes
jur Sicherung be$ ©erfehreS auf ©ifenbafjnen, jum Schüße beS SebenS bet Är-
beitet gegen bie entjfinblichen ©afe in Kof)tenbcrgroerfen. 3eber Tag bringt neue
aRafdjinen, welche mächtige eleftrifc£»e Kräfte in oerläßlicher unb bequemer SSeife
. ju fpenben unb fogar aufjufpeidjem »ermögen. Ter eleftrifche Strom beginnt
nunmehr mit größerm ©rfolge als früher Sanb» unb SBafferfahtjeuge ju treiben;
er hebt Saften, arbeitet an ben SSebftühten unb ©äljmafchinen, entjünbet gleich 9
jeitig bie ©aSflammen ber Stabtbeleudjtung unb ber Sprengfchüffe in ben Sanb*
unb Seeminen (TorpeboS); er liefert fünftliche Sonnen für bie fRadjt, trägt Miß»
fcfjnttt bie SRufif unb Sprache in bie gerne u. f. t».
SBenn toir bie Gleftricität ober eigentlich ben eleftrifchen Strom bie mannich*
fachften tedhnifchen Arbeiten »errichten fehen, fo liegt ber SBunfdj nahe, biefe
SlrbeitSfraft, foweit es möglich ift fennen ju fernen. „Sotoeit eS möglich ift" —
bamit ift f<f)on angebeutet, baß toir, toie bei ber ©rforfdjung aller Staturfräfte,
balb ju einer ©renje gefangen, tuo bie fichere ©rfenntniß aufhört unb baS ©er¬
biet ber ©ermuthungen beginnt. Seit unenblidjen 3eiten tritt bie Gleftricität
majeftätifch als ©liß im Suftfreife ber ©rbe auf, unb bo<h ift eS erft baS »orige
gafjrhunbert, in toefchem bie toahre 9?atur biefer großartigen ©aturerfcheinung
geahnt (SBaH 1708) toorben ift! ®S War nicht leicht ju erfennen, baß biefe«
imponirenbe Phänomen in feinem SBefen gleichartig fei mit einer auS bem Älter*
thume (ThaleS, geb. 640 ». ©hr.) ouf bie Steujeit »ererbten ©rfafjrung, wonach
©ernftein (griechifch ©leftron), nadjbem er mit irgenbeinem 3eufl< gerieben
worben ift, leichte Körperchen anjieht. ®S mußte biefe« übernommene Gjperhnent
erft burch anfehfießenbe ©erfuche Weiter geführt werben (©ifbert 1600 u. a.), bis
fich eine SReihe »on jufammenhängenben Grfcfjeinungen ergab, Welche enbtidj jur
©ewißheit führten (granflin 1852), baß ber großartige Süß unb jene unfdjein=
bare ÄnjichuttgSerfcheinung beim geriebenen ©ernftein in leßter Ignftanj einerlei
Urfache hoben. 9teibt man nämlich ein großes Stücf ©ernftein, fo lommen nicht
bloS jene Änjiehungen, fonbem gleich barauf auch Äbftoßungen ber angejogenen
Körperchen jum Sorfchein, ferner Heine Inifternbe gunfen, Welche »om ©ernftein
gegen ben SRanb beS gingerS überfpringen. 3m ©liß unb Tonner finb nach 5
gewiefenermaßen jette gunfen unb baS Kniftern »on ber üftatur ins ©roßartige
gefteigert. Tie unbefannte Urfache berartiger ©rfeßeinungen nennt man, mit ©e-
jießung auf ben SReibungSoerfudj am ©ernftein (©leftron), ©leftricität.
SBorin baS eigentliche SBefen ber ©leftricität befteht, fonnte bisher nicht er»
grünbet werben. 2Jtan weiß nur, baß fie burch Steiben ber Körper, ferner bei
»ielen mechanifchen, djentifchen unb gewiffen thermifdjen Sorgängen unb überhaupt
bann auftritt, wenn baS ©leichgewicht ber fleinften Theilchen (SJtolecule) ber
Körper geftört wirb. Db fie einen eigentümlichen ©ewegungSjuftanb beS jwifdjen
ben Körpermoleculen angenommenen höchft feinen unb elaftifchen ÄetßerS auSmache
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Die €leftricität in 6er Cedjnif.
ober ob fie biefer Steuer fet6ft fei, inbem er bic Körper üerlägt, ober benfelben
zuprömt, fonnte bisher nur hhpothetigf) auSgefprocgen »erben. 3n Ermangelung
ber Senntniffe Dom »obren SBefen ber ©leftricität erfnnbt man pd) biefelbe, nach
ihren ©rfcheinungen, als eine unenblidj jarte, efaftifd^e unb fdjtoerlofe jjlüffigfeit
oorjufteßen, welche an ben eleftrifchen Körpern fo Tange haftet, bis ihr ein Ab-
ftrömen ermöglicht ift. 3Jtan läßt biefe Annahme nur ju, um ficb über bie 6r-
fdjeinungen ber ©leftricität leister, »enn auch nur biTbticb auSbriicfen ju Tönnen,
et»a »ie man oom Sonnenaufgang, oon SBärmemengen u. bgt. m. nach bent
biogen Scheine fpricbt, obwol man weig, bag ficb in SBa^r^eit bie entfprechenben
Sacgen anberS Derljalten.
SBenn man einen polirten ©taSgab mit amalgamirtem Seber reibt, fo ergibt
ficb ©Teftricitüt, »eiche ficb in ihren ©rfcbeinungen fo öugert, wie ©leltricität, bie
an einem mit ßafcenfeö geriebenen Semftein ober #arz auftritt; beibe ©teftrici»
täten fcheinen ganz gleichartig ju fein. Unb bennoch oerhalten fie ficb, bei näherer
Prüfung, gegeneinanber, »ie bie entgegengefefcten ©rügen in ber SJtathematif;
man benennt ge baber aud) mit AuSbriicfen, »eiche oon ber lefctem entlehnt finb.
3Katt bezeichnet nämlich bie ©leltricität, »ie ge an jenem ©lafe erfcbeint, als
pofitiO unb bie anbere als negatio. @8 gibt alfo }»ei Arten ber ©leltricität.
Sei jeber Reibung treten biefe zweierlei ©leftricitäten gleichzeitig auf, unb z*uar
bie pogtioe auf bem einen, bie entgegengefegte auf bem anbern ber beiben geh
reibenbeit Körper. ©S lägt gdj im allgemeinen nicht oorher fagen, ob ber ge*
riebene Körper pofitiü ober negatio eleftrifdj fein »erbe, fonbern eS entfeheibet
barüber baS ©fperiment.
Sticht nur bei ber Reibung, fonbern bei jebem beliebigen Verfahren, ©leltricität
ju erregen, zeigt ficb ftetS, bag beibe Sitten ber ©leltricität gleichzeitig unb in
gleicher SRenge zum Vorfdjein fommen, unb z»ar erhält ber eine ber babei be=
theiligten Körper bie poptioe, ber anbere bie negatioe ©leltricität. Veibe Arten
ber ©leftricitäten Oereinigen geh fehr leicht, inbem fie fidf heftig anziehen unb
neutralipren, Worauf bie beiben frühem Präger ber ©leftricität nneleftrifch er-
fcheinen. ®ieS beutet barauf hin, bag bie Körper in ihrem natürlichen .ßuftanbe
bie pogtioe unb negatioe ©leftricität oereinigt enthalten, unb jtoar jebe Art in
gleicher SRenge, inbem bie beiben oereinigten ©leftricitäten feine eleftrifdje SBirfung
ängem. ®ie ©Reibung biefer beiben ©leftricitätSarten fann burch bie mannief)-
fachften ißroceffe, unb fogar fchon burch Annäherung eines eleftrifchen Körpers
(Snguenz, Snbuction), berart erfolgen, bag bann bie Körper fich entgegengefefct
eleftrifch erweifen. hierbei bewegen geh bie getrennten ©leftricitäten, »o eS nur
immer möglich ift, bis zur Obergäche ber ffiörper, wo fie, wenn fie nicht ab-
ßiegen fönnen, zur Ruhe fommen (©leftroftatif).
®amit bie ©leftricität an einem Körper haften blei6e, mug ber lefctere eine
Umgebung befifcen, welche bie ©leftricität nicht aufnimmt. Solche Körper gibt eS
Z»ar, pteng genommen, nicht, Wohl aber berartige, welche ber Verbreitung ber
©leftricität einen fehr grogen SBiberftanb entgegenfefjen. 3Ran nennt foldje Körper
fcglechte ßeiter ber ©leftricität; zu benfelben gehören j. V. troefene Suft, ©las,
f>arze, ScheOacf, Seibe, ffautfehuf, ©uttapercha, Hartgummi unb oiele anbere.
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Unfere ^Seit.
dagegen gibt es eine noch gröbere 3aljt non Stoffen, welche ber Sortpftanpng
ber ©leftricität einen fo geringen SBiberftanb bieten, baff berfetbe, unter gewöhn*
ticken Umftänben, faum merflidj wirb, derartige SRaterien nennt man gute
Seiter ober ©onbuctoren ber ©teftricität, unb p biefen jäljlen bie (Metalle in
einer abnehmenben (Reibe, bie wir fpater bringen; bann Sorten jeber Strt, SBaffer,
feuchte Suft, alte feuchten Körper unb niete anbere. 3)er Uebergang non ben
guten p ben fdßedjten GteftricitätSteitem ift nur ein allmählich*?. (Einen guten
Seiter mit fdjtedjten Seitem uqigeben, fobajj baburdj bie ©teftricität an jenem
prücfgeljatten wirb, ^eifit ben eteftrifhcn Körper ifotiren. Die ^ierp teer*
wenbeten fdjtehten Seiter nennt man ^Ifotatoren.
0 ^ne 3fotatoren wäre eö nicht möglich, bie ©teftricitäten getrennt anpfammetn,
wie bie« j. ©. an ben ifotirten ©onbuctoren ber gewöhnlichen ©teftrifirmafhinc
ber Satt ift. SRittetS ber lefctern liefert bie ©taöfheibe bem gröhern ifotirten
©onbuctor ftetS bie pofitine ©teftricität, baS (Reibjeug bem fteinern ifotirten ©on*
buctor bie negatioe ©teftricität. (Bcrbinbet man bie beiben entgegengefefct eteftrifrfjcit
©onbuctoren mittels eine« Drahtes, fo entftetjt in bcmfefben eine entgegengerichtete
Bewegung unb (Bereinigung ber beibertei ©teftricitäten, welche eteftrifdjer Strom
beijjt. 3eber etettrifchc Strom tagt fih atS ein Doppctftrom anfcljeri, wobei bie
pofitibe ©tettricität nach ber einen unb bie negatioe ©teftricität nach ber entgegen»
gefegten (Richtung fließt, bis fie fi<h gegenfeitig neutratifiren unb baS eteftrifcßc
(Stleihgewidjt hcrftetten. Damit atfo ein eteftrifdjer Strom anbauere, muffen fort*
mätjrenb in ber ©teftricitätöquelle pofitioc unb negatibc ©teftricitäten entftehen,
loetche fid) bann im eteftrifdjen Strom bereinigen. äRan ift iibercingefommen, bon
ben beibertei Strömen in einem Stromleiter ftetS nur ben pofitiben Strom ins
2 fuge p faffen unb p befprechen.
Die ©teftrifirmafchinen geben feinen continuirtidj ftießenben eteftrifchen Strom,
fonbern IjöchftenS, bei fortgefefcter rnfeßer (Rotation ber geriebenen Scheiben, fdjneH
aufeinanberfotgenbe eteftrifche Ströme bon furpr Dauer (©nttabungSftröme). Da*
gegen fann man mittels eines Jöotta’fdjen ©tements einen anbauernben eteftrifchen
Strom erzeugen, welcher atS eine UmWanbtung ber in bem gefcfjtoffenen 3?otta=
©tement fich ereignenben djemifdjen ißrocejfe in ©teftricität erfdjeint. ©in (Botta’fheS
ober auch gatbanifcheS ©tement befteht im wefenttichen auS jWei berfdjiebenen
ttRetatten, Welche in angefäuertem SBaffer fo eingetaucht finb, bah fi* * n ber gtüffig*
feit getrennt boncinanber ftehen unb mit ihren obern ©nben aus ber gliiffigfeit
in bie Suft hinauSragen. (Rehmen Wir an, bah jene SDtetattc, wie eS in früherer
3eit feßr oft ber Satt war, 3>nf unb Kupfer feien, Wethe in ftarf gewäfferter
Schwefetfäurc in obiger SBeife ftehen, fo Wirb bur<h ben djemifdjen Singriff baS
3inf negatib unb bie Stüffigfeit ebenfo ftarf pofitib cteftrifh- Die ©teftricität
bet lefctern leitet baS Tupfer nah aufjen, fobah fih bi er an ben ©nben ber beiben
tötetatte jWei gteih ftarfe, entgegengefefcte ©teftricitäten jeigen. 3ebeS SBotta’fh*
©tement Befißt atfo aufjen jWei entgegengefefct eleftrifhe ©nben, Weih« eteftrifhe
(ßote ober ©teftroben Reißen. (Berbinbet man biefe beiben eteftrifdjen (ßole mittels
eines guten SeiterS (Drahtes), fo erhält man einen eteftrifdjen, tBolta’fdjen ober
galbanifhen Strom. SRan fagt bann, baS ©tement, wot auh ber Strom, ift ge-
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2)ie (Elcflricität in ber Cedjntf.
(23
fdjloffen. ©ntfernt man ben ©erbinbungöbraljt, fo Reifet es, man Ijat baS Element
geöffnet ober ben eleftrifchen Strom unterbrochen. @3 gibt feljr einfache Strom*
fdjließer (Schlüffe! u. f. w.), mittels welcher man bie Elemente fdjneö öffnen
ober fcfjließen, atfo ben Strom bequem unb rafch unterbrechen unb WieberfjerfteHen
fann. ©erbinbet man bie SJtetatte oon jwei ober mehrera ©otta’fdjen Elementen
in paffenber SBeife, fo erhält man eine Solta’fcfje Säule, Sette ober ©atterie mit
berftärft eteftrifdjem Strom. Die jwei erftern ©ejeichnungen rühren bon ber
ehemaligen gerat unb ber !ettenartigen ©erbinbungSWeife ber ©temente her, wäfjrenb
bie britte ©enennung ber militärifchen ßunftfprache entlehnt ift, Wo baS SBort eine
analoge ©ebeutung für baS oerftärfte 3ufaotmenwirfen ber ©efdjfitje hoi-
3e mehr ©teftricität in ber Seiteinheit burefj ben Ouerfchnitt beS SdjließungS*
braljteS eines ©olta’fchen Elementes fließt, "befto ftärfer ift ber eleftrifdje Strom.
Die Stärfe beS Stromes wädjft in bentfelben ©erhältniffe wie bie eteftromotorifche
ffraft beS ©tementS, b. i. jene ®raft, welche bie neutrale ©leftricität beS Elements
in bie gleichen ÜJtengen pojitiber unb negatiber @!e!tricitäten jertegt, bie fpäter bei
ihrer SEBieberüereinigung ben efeftrifd^en Strom geben. Die Stromftärfe fteljt ferner
in umgefehrtem ©erhältniffe mit bem SBiberflanbe, Weichen ber eleftrifdje Strom
auf feinem in fich juriieffehrenbett SBege, b. h- im Stromfreife, finbet. $e Heiner
fi<h a!fo biefer SBiberftanb jeigt, befto ftärfer ift auch ber Strom. Der SBiber*
jtanb beS StromfreifeS fefct fich jufamnten aus bem SBiberftanbe in ber ©olta’fchen
$ette fetbft unb anS jenem im SchließungSbrafjte. $e beffer ber festere ben Strom
leitet, befto Heiner ift fein Scitungöwiberftanb, befto ftärfer ift ber Strom. Bängere
unb bünnere SdjüeßungSbrähte bieten größere Seitungöwiberftänbe unb fchwädjen
baher ben Strom. Stußerbem befifien bie Drähte auch noch «neu f|>ecififdjen
SBiberftanb, welcher oon ber Statur ihrer SJtaterie abhängt: fo j. ©. fefct ein
©latinbrafjt einem e!eftrifcf>en Strom einen SBiberftanb entgegen, ber achtmal größer
ift a(S jener, ben ein Sitbcrbraht oon berfetben Sänge unb Dicfe jenem Strome
bietet. Der umgefehrte SBertfj beS fpecififchen SeitungSWiberftanbeS gibt baS fpe»
cififdje Seitoermögen ber Körper, alfo beträgt baS fpccißfclje Seitoermögen beS
©latinS ein Sichte! oon jenem beS ©übers, b. h- festeres leitet bie ©leftricität,
unter fonft gleichen Umftänben, achtmal beffer als erftereS.
Die ©leftricitätstheilchen berfetben Slrt ftoßen fich ab, jene ber entgegengefefcten
jiefjen fufj an. SBemt nun an ber Oberfläche eines SörperS ©leftricität ifofirt
angefammett ift, fo entfpringt aus jener Sfbftoßung ber gleichartigen ©leftricitätS*
theifchen ein ©eftreben berfelben, ben Seiter 511 Oerfaffen. Der aus biefem ©eftreben
herrührenbe Drucf ber ©leftricität auf bie ifolirenbe Umgebung heißt cteftrifdje
Spannung (©otentialfunction). Diefe wirb um fo größer fein, je mehr ©leftricität
auf ber gtächeneinfjcit ber Oberfläche beS ifolirten SeiterS gehäuft, b. h- je größer
bie Dichte biefer. ©leftricität ift. 3fe mächtiger bie eteftromotorifche fitaft ber
©olta’fchen ©femente ift, befto bebeutenber jeigt fich bie etcftrifche Spannung au
ben offenen ©oten ber (extern; befto ftärfer wirb, Wenn fie mit gleichen SBiberftänben
gefdjtoffen Worben, ihr Strom. Die Stromftärfe ber Sotta’fchen Setten wächft —
nach bem äußerft wichtigen, bie Stromtehre befjerrfchenben ©runbgefefce Oon Ohm
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ltnfcrc ^cit.
(1826) — in bemfetben Serbättniffe wie ihre eteftromotocifdje Straft nnb in
umgefebrtem 33erbäthtiffe Wie bie Summe ihrer SeitungSWiberftänbe.
EiefeS ®efe{j führt jn Stuffdbtüffen barfiber, unter Welchen SSebingungen bie
SSotta'fdjen ©temente nad)» ober hinter einanber, unb unter melden fle neben =
einanber ju einer ^Batterie ju »erbinben finb. 3m elften gälte oerfnüpft ein
®rafjt ftetS je ben negativen SM beS einen ©tementS mit bem pofitiöen beS onbern;
im jweiten gatte werben je ade negativen SM e unb je alle poftttoen leitenb oev»
eint, fobaß man gewiffermaßen ein einziges, großplattiges ©fement erhält. 3ene
Ijintereinanber oerbunbenen ©temente geben jwar eine offene Sette mit fjotjer
Spannung, aber wenn jene mit furjem unb bicfent ®rabt gefc^toffen wirb, fo
bietet bie Summe ber ©temente bem Strome einen fetjr tjotjcn SBiberftanb, burdj
wetten ber Strom gefdjmädjt wirb, '©erabeju umgefe^rt berptt es fi<h mit bat
neben einanber berbunbenen ©tementen, wo jwar bie Spannung ber offenen ^Bat¬
terie nidjt größer atS bie eines ©tementS, wo bagegen ber Strom ber mit bem
borigen ®ratjt gefdfjtoffenen Batterie, wegen itjrcö großen £tuerfchnitte8, atfo fetjr
berringerten SeitungSWiberftanbeS, biet Weniger atS borbin gefc^wädjt wirb. Sföatbe»
niatifdie Unterfuctjungen, fowie beten experimentelle SBeftätigung, haben geteert, baß
bie Stromftärfe ober 3>ntenfität einer ^Batterie bann am größten wirb, wenn itjre
©temente fo combinirt finb, baß ber äußere SBiberftanb in bem SdjtießungSbrafjte
gteicb bem innern ber ©temente ift. §at man atfo im äußern Stromfreife ftarte
SBiberftänbc — j. 8. lange unb biinne ®rabtwege, etcttroeßemifd^e Belegungen
u. bgt. m. — ju äberWinben, fo muß ber innere SBiberftanb ber SBatterie ebenfo
groß wie jener äußere SBiberftanb werben, b. lj. man berbinbet bie ©temente
bi nt er einanber ober auf tj°b e Spannung, gut fetjr geringe äußere SBiberftänbe
werben bagegen bie ©temente nebeneinanber ober auf geringe Spannung bereint.
©in jeber eteftrifdfje Strom, er mag auf welche SBeife immer erzeugt werben,
fann baju bienen, um ttjermifdfje, optifdje, djemifebe, pbbßotogif<be unb magnetifdjc
SBirfungen berborjurufen. gn früherer Bett bebiente man fidb Ijierju ber SReibungS-
©teftrifirmafebinen. Stilein ba biefetben btoS unterbrochene unb unftetige ©nt»
tabungen tiefem, fo würben ihre Seiftungen nur febr wenig prattifdj berwertbet,
unb jwar cbebem (Srabenftein 1744 u. b. a.) atS ^eitapparat unb jur ©nt»
jünbung bon Sprengfdjjüffen in SKineutabungen (SWofeö Sbaw 1831 unb biete
aitbere). 9iocb weniger ließ fi(b bie großartige ©teftricitätSerjeugung in ber Statur,
b. i. ber ®tifc, tecfjnifcb benüjjen, unb nur baS Seftreben, ibn unfebäbtieb ju machen,
bat jur Stntegung ber SStijjabteiter (granftin 1753) geführt, ©rft atS bie tBotta»
S3atterien erfunben waren (1800), unb atfo continuirti^e eteftrifetje Ströme ju
©ebote ftanben, gewann bie teidbte ^erborrufung unb Stnwenbung beS eteftrifdben
Stromes immer mehr S3oben, befonberS naebbem es gegtüdt war, SSotta=Satterien
ju conftruiren, welche conftantere etettrifdje Ströme lieferten. ®ie thermifchen
unb optifchen SBirtungen beS SMta’fcben Stromes legten ben ©runb jur etettrifeben
^Beleuchtung unb jur eteftrifdben SKinenjänbung, bie d^emifchen jur ©atbanoptaftit
unb jur ©teftrometatturgie, bie pbbfiotogifchen jur ©teftrotberapie unb bie magne»
tifchen jur Stnwenbung berfetben auf üetegrapbie, Signatwefen ber ©ifenbahnen,
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Die deftricität in ber Cecgnif.
125
auf Ggronograpgen unb Ugren, SDteteorograpgen unb automatifege SRegiftrirapparate,
SBafferftanbSgeiger, 2Rotoren u. f. tu.
Die SBirfungen beS 93olta’fcgen Stromes taffen fieg aueg umfegren, unb fie
erfreuten bann als Ürfadge eines eteftrifegen Stromes. Sotuie bei ben tgermifegen
SBirfungen beS Stromes berfetbe in SJBärme umgetuanbett werben tann, fo lägt
)'icg umgefegrt aueg bie SBärme in einen eteftrifc^en Strom tranSformiren. Snbirect
gefegiegt bieS, toenn mittels ©aS= ober Dantpfmafcginen ein magneto» ober btjnamo«
eteftrifeger Slpparat, wie fotege Weiterhin gut Sptacge tommen, in Dgätigfeit
gefegt wirb; ferner bei ber Dampfeteftrifirmafcgine (SIrmftrong 1840). Direct
erfolgt eine Umformung ber SBärme in Siettricität, wenn ein gefegtoffeuer Srcis
uon gwei oerfegiebenen URetaßen (g. 93. SBiSmutg unb Antimon) gergefteflt unb
eine ber 93erbinbungSfteflen erwärmt Wirb. 2Ran gat geutgutage (feit 1870 5Roe,
Glamonb u. a.) Dgermojäuten, welche fegon beträchtlich ftarfe Dgermoftrömc, g. 93.
fär bie ©aloanoptaftif geben, unb gröfjern Stnwenbungen, etwa für baS eleftrifcge
Siegt u. bgt. m., ftegt nur ber Umftanb entgegen, bag man bisjegt leine ©ombi«
nation uon ßRetaßeu tennt, rnetege ben gogen #igegraben, wie fie für fegr mäegtige
Dgermoftröme gur Slnwenbung fommen fottten, ju wiberftegen oermag.
Der eleftrifcge Strom erzeugt egemifege SBirfungen; bagegen tönnen umgefegrt
bei ben (gemifegen ißroceffen eleftrifcge Ströme auftreten, wie bicS in alten gatoa*
nifegen ober 93olta’fcgen Elementen unb 93atterien ber Satt ift, bei wetegen mit
ber Djtjbation beS 3itt& ber Setten ber eleftrifcge Strom erfegeint (egemifege
Dgeorie ber Setten). Slueg bezüglich ber pggfiotogifegen SBirfungen beS Stromes
lägt fieg, wie in aßen bisgerigen Säßen, ber Sag umfegren. Die eteftrifegen
Ströme ergeugen pggfiotogifege SBirfungen; umgefegrt treten bei ben pggfiotogifegen
SJroceffen eleftrifcge Ströme auf. Die aus bem SebenSgroceg entfpringenben eteftri«
fegen Ströme treten mit mäegtiger SBirfung bei ben 3itteraaten unb 3itterwetfen auf.
©nbtieg gat ber ©teftromagnetiSmuS ebenfaßs fein ©egentgeit in ber SRagneto«
eteftricität, wetege in gefegtoffenen Dragtfputen babureg gertorgerufen Wirb, bag
oor benfetben SRagnete rafeg uorbeibewegt werben. Die auf fotege 9Beife erregten
eteftrifegen Ströme fliegen fo mäegtig, bag bie eteftromagnetifegen unb ignen oev=
wanbten bgnamoeteftrifegen SRafcginen geutgutage bie #auptmatabore unter ben
©teftricitätSqueßen finb. ©rft feit igrer ©rfinbung batirt ber goge Stuffegwung
ber ©teftroteegnif; oor igrer SRacgt ift bie 93otta«93atterie in ber Slnwenbung, als
j u ognmäegtig unb gu foftfpietig, weit gurüefgetreien unb ftegt fegt ats Strom«
fpenber nur noeg bei ber Delegrapgie in fortgefegtem ©ebraueg. Slflein aueg gier
brogt igr bereits ber 93ann.
Da bie bgnamoeteftrifege SRafcgine bie Seete ber mobemen ©teftroteegnif ift,
fo werben wir fie batb etwas näger fennen gu lernen fuegen. Sowot bei igr ats
bei ben magnetoeteftrifegen unb eteftromagnetifegen Separaten jeher 9trt finb etef«
trifege Ströme in einem fegr fleinen SRaume bureg fegr lange 9Bege gu fügten.
Dies ift nur mittels Dragtfputen, Dragtfpiraten ober Solenoiben mögtieg, bei
wetegen mit Seibe umfpounene, mit Sautfcguf umgebene ober fonft uoneinanber
wogt ifoftrte Dragtwinbungen an« unb übereinanberliegen. SBeit gierbei bie 3wifcgen«
ifotirung ben Strom oom feittiegen Uebergegen auf bie anbern SBinbungcn abgält,
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I 26
Unfere ^cit.
fo wirb erzielt, bafj bem Strom ein recht tanger, fehr wirffamer SBeg geboten ift,
ber aber boch nicht mehr atö ben 9taum einer Spute einnimmt, ©ei ben eleftro*
magnetifchen unb bgnamoeleftrifchen ©iafchinen finb fotc^e Sputen bie eteftrifchen
Elemente mit jtoei eteftrifchen ©ölen, welche fich, nach bem früher ermähnten
C^m’i'c^en ©efc^e — je nach ber ©röfje beS äußern SBiberftanbeS — enttoeber
hinter* ober nebeneinanber ju ©atterien oerbinben taffen, je nad)bem hoch* ober
niebergefpannte Strome erforberlich ftnb.
®er eleftrifdje Strom teiftet, inbem er bei feinen fflirfungen SBiberftänbe über*
tvinbet, Arbeit. 3)iefe tommt je nachbcm bie SSirfung thermifch, chemifdj, eleftro*
magnetifd) u. f. W. ift, in je anberer gorm jum ©orfchein, unb tann, toie früher
angebeutet toorben, toieber weiter tranSformirt werben. So z* ©. tann man mittels
eines Stromes (Eleftromagnete erzeugen, Welche fich Wieber zur (Erregung bon etef»
trifdjen Strömen benüfeen taffen, derartige, burch SJteffungen beftimmte SBechfel*
wirtungen ber 9taturfräfte haben z“ bem Schluffe geführt, bafj ade Diaturfräfte
auf baS innigfte jufammenhängen unb bafj je eine biefer fträfte in bie anbere,
nach einem beftimmten Slequioalent, umgewanbett ober tranSformirt werben fönne.
Sitte ©roceffe in ber Statur erfolgen nur infolge foldjer Umformungen ber
Kräfte; nie geht hierbei bie tteinfte Straft abfotut oertoren, nie wirb babei eine
ftraft neu erfchaffen. $iefeS ©runbgefefc (Julius Stöbert SRatjer 1842) ber heu*
tigen Staturforfchung ift unter ber ©ezeichnung (Erhaltung ber Straft" ober
„(Erhaltung ber (Energie" befannt. Unter „(Energie" oerfteht man bie SBirfung
ber Äraft. ®a bie fi'räfte fetbft fich nicht finnlich Wahrnehmeu, fonbern nur auS
ihren Seiftungen beurteilen Iaffen, fo fefct man in neuerer 3«*t lieber „(Energie"
ftatt „Straft". Unb bieS um fo mehr, atS ftch bie (Energie auch numerifch aus*
brücfen täfit. 3nbeffen hat man baS SBort „Straft" auch beibehatten, um bamit
entweber furz bie Urfactje einer ©ewegung ju bezeichnen ober inbem man bamit
ftitljchmeigenb „SBirfung ber Straft", b. i. (Energie, auSbrücfen will.
®er eteftrifche Strom oerrichtet in ber (Eteftrotechnif bie mannichfachften Arbeiten.
®a jeboch, nach bem ©runögefefce oon ber (Erhaltung ber Kraft ober (Energie, bie
(Entftehung unb gortbauer beS eteftrifchen Stromes wieber ihre gteichwerthige Ur*
fache haben muff, fo brängt fich bie grage auf, welche Umformungen ber SBirfungen
bet Kräfte ober (Energien ereignen fich beim Stuftreten unb Serwenben ber (Eteftri*
cität? gaffen wir junächft bie ©otta’fchen ober hhbroeteftrif^en ©atterien ins Stuge.
®iefetben beftehen im wefenttichen aus einer Kombination oon 3 inf mit einem
anbem 9Ketatt (Stupfer, ©tatin, (Eifen) ober Stohte unb einer ober zweier ßwifchen*
ftüffigfeiten. So fehr oerfdjieben nun auch fotche ©atterien in ihren (Elementen
unb gönnen finb, fo haben hoch bie Unterfuchungen unb gorfchungen für alte
Sitten berfetben zweifellos bargethan, bafj z ur Erzeugung unb Unterhaltung ihres
eleftrifchen Stromes eine beftimmte SSärmemenge Derbraucht Werben mujj. Sejjtere
tritt auf, inbem baS $inf ber Sotta*(Etemente in ber zugehörigen glüffigfeit 05 h*
birt, b. h- tangfam oerbrennt, unb fich bann auftöft. Sie ©erbrennungSwärme
beS oftjbirenben unb bann fich auftöfenben ßinfeS ber gefchtoffenen ©atterie wirb
in eteftrifchen Strom umgewanbelt. giir jebe Strbeit, welche ber teuere teiftet,
Wirb eigentlich eine beftimmte 9Renge oon ber in ber ©atterie bei ber Stufiöfung
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Die (Eleftricitdt in ber Ccdjnif.
\27
be« 3iuf« entgehenben SBärme confumirt, ober mit anbern SBorten, e« wirb bie
9tuflöfung«»ärme in Eleftricität unb biefe in irgenbeine äquioalente Slrbeit trän«»
formirt. 3n ben thermoeleftrifchen Setten, bei welchen man gewiffe Serbinbung«»
gellen ungleichartiger Stetatle ergibt, »erben noch birecter al« bei ben Solta»Satterieu
SBärmemengen in cleftrifchen Strom, nach einem beftimmten Stage, umgefefct.
Sei ben Etefrifirmafchinen jeber Strt, alfo auch bei ben magneto-> unb bpnamo»
eteftrifdjen Slpparaten, ergibt fich ber eteftrifche Strom au« ber Umtoanblung
Don ntechanifcher in elettrifche Energie. Unb ba bei ben grögern bhuamoelefirifcljeu
Stafchinen in bester 3nftanj SDampf» ober @a«mafchinen bie Sewegung oon ftront»
erjeugenben Strahtfpulen besorgen, fo erfolgt eigentlich bei benfelben eine Umformung
oon SBärme in mechanifche unb hierauf in eteftrifche (Energie. ®a bie bhnanto»
eteftrifchen Siafdjinen bie gelben ber mobemen Eleftrotechnif borftetten, fo toirb
e« fich empfehlen, ihre nähere Sefanntfcfjaft ju machen. Seoor bie« jeboch ge»
fchehen fann, miiffen mir folgenbe mistige Stubien (1831) garabaq’« in Erinnerung
bringen. SBenn man einen eleftrifchen Strom einem gefchtoffcnen Seiter (Xrat)t-
ring) nähert, fo »irb in bem lefctern ein etcftrifcher Strom erregt ober inbucirt,
welcher jenem erregenben ^auptftrom in ber Sichtung entgegengefefct ift unb 3n»
buction«ftrom Jeigt. Seim Entfernen jene« $auptftrome« oon bem gefdjloffenen
Seiter entfielt in lefcterm ein 3nbuction«ftrom Oon berfelben Stiftung, »ie fie ber
erregenbe Strom befifct. 3)a nach Slmpere (1821) ein jeber Stagnet fich f° auf»
faffen lägt, al« ob {in eleftrifcher Strom ben Stab recfgwinfelig z« feiner Stchfe
in parallelen SSinbnngcn umfreifen möchte, fo inbucirt ein Stagnet, meiner gegen
einen gefdjloffenen Seiter gehoben mirb, in lefcterm ebenfall« einen eleltrifchen
Strom, bcffen Sichtung baoon abhängt, ob ber ©üb» ober Sorbpol be« Stagnet«
bem Seiter genähert »irb. Seim 3ürüdzieljen be« Stagnetpole« bom gesoffenen
Seiter tritt ein 3»buction«ftrom auf, Welcher eine Sichtung befiel jener entgegen»
gefegt, bie bei ber Säheruttg be« magnetifchen Sßole« an ben 3«buction«leiter oor»
hanben war. SBenn alfo eteftrifche Ströme ober Stagnete gefchloffenen Seitern
genähert ober baoon entfernt »erben, fo treten in le^tent eteftrifche Snbuction«»
ftröme auf, unb e« lägt fich ou« ber jebe«matigen Sichtung unb Stärfe ber Ströme
ber Schlug ableiten, bag hierbei bie mechanifche Energie bei jener annähemben
ober entfernenben Sewegung in 3ubuction«ftröme umgeformt »irb.
$iefe Um»anbtnng«»eife oon ntechanifcher Arbeit in 3ubuction«ftröme führte
fdjon frühzeitig (1832, ißijii) ju ben magnetoeleftrifchen Stafchinen ober Stagneto»
eleftromotoren, welche baju bienen, auf bequeme Strt eteftrifche Ströme zu erzeugen.
3 n ihrer oielfeitig oerbefferten gorm begehen folche Apparate au« fehr fräftigen,
hufeifenförmigen Stahlmagneten, öor beren Sßolen miteinanber oerbunbetie SDratjt»
fpnten fc^ned rotiren. Um ftärfere eteftrifche Ströme zu befommen, enthalten bie
2>rat)tfpulen »eiche« Eifen, welche« burch jene Siagnetpole in einen Stagnet um»
gewanbett »irb. 2>a eine folche Stagnetifirung ber Eifenferne biefetbe SBirfung
hat, al« ob ben Sraljtfpulen Stagnete genähert würben, fo entgehen £>ierburcbt
ebenfall« 3nbuction«ftröme, »eiche fich Z u ben oorhin erwähnten abbiren. 3nbem
jeboch jebe 3nbuction«fpute einmal bem Sorb», ba« attbere mal bem Sübpol be«
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\28
Unfere Seit.
$ufeifenmagnets fi<h nähert, fo wechfett ber eleftrifd^e Strom jeine Sichtung.
SJtittetS eines fetbftthätigen StromwenberS ober SommutatorS lägt fidj jebod) be¬
tonten, bag ber Strom ben SdjliegungSbraht ber Sputen ftetS in berjelben
Stiftung burdjfliejjt.
Xie magnetoetettrifchen SRafchinen tourben fogteid) bei i£)rer ©rfinbung mit
grogem Seifall aujgenommen, toeit fie reichlich fliegenbc unb leicht transportable
©leMricitätSqueßen bieten. SejjtereS leuchtet fogteidj ein, Wenn man bagegen au
bie Sotta’fdjen Batterien mit ihren Säuren, ©täfern, X^onjelleu u. f. tu. bentt.
Seht batb braute man bie Slftagnetoetettrifirmafrfjinen in eine jo compenbiöfe
gorm, bag fie bei ben bamatigen ©tettro-X^erapeutitern ©ingang janben. ©rögere
berartige Apparate jpenbeten ihren etettrifchen Strom für bie ©atbanoptaftit, für
mancherlei Xetegraphen, für SRiuenpnbungen u. bgl. nt. gut baS etettrifdje Sicht
ber Seuchtthürme tourben fie erft bor etwa 20 fahren (oon Stoßet unb Serlioj
um baS Seth 1 1861) brauchbar gemacht, inbent man biete IgnbuctionSroßen mittels
Xampffraft bor ebenfo bieten ißoten träftiger Stahtmagncte rafch rotiren lieg.
Stuf ber tonboner SBettauSfteßung im gahre 1862 jeigte bie für SluSbeutung ber
©tettricität beftimmte ©efeßfehaft Slflianee bie Sichtwirtung einer folchen grogen
SDlafchine, welche 64 gnbuctionSfputen befag. ©inen ähnlichen, mächtigen, für ©r=
jeugung beS etettrifchen Siebtes beftimmten ®ampf»3Ragnetoeteftromotor mit 96 träf=
tigen Stahtmagneten hotte p berfelben 3eit jpolmeS in ber engtifdjen Slbtheitung
pr Schau gefteßt.
Dbrnot bie in fchneßer Dotation befinblichen magnetoetettrifchen ÜJlafchinen ein
eteltrifcheS Äogtenlicht p entpnben unb p unterhatten bermochten, würben fie hoch
nur nothgebrungen für bie gernlichter ber Seuchtthürme eingeführt. Sheet aflge»
meinem Slufnahme ftanb baS Ungefchtaehte ihrer ©röge, bie Äoftfpietigfeit ihrer
Slnfdjaffung, fowie bie Xljeuerung ihrer Speifung mit $raft, im SBege. Xiefe
Uebetftänbe waten aber taum wegpfchaffen, folange man Stahtmagnete anwenben
mugte, weit biefe im Serhättnig p ihrer ©röge Wenig Kräftig finb unb burch
bie Stöge beS arbeitenben SlpparateS gefchwächt Werben. Sl&hülfe tonnte hier erft
eintreten, wenn eS gtüctte, bie Stahlmagnete burch bie biet träftigern ©teftro*
magnete p erfe&en. Solche entgehen, wenn man ffiifenftäbe bon etettrifchen
Strömen umfreifen lägt. ge ftärfer lefctere unb je phtreieger bie Xrahtwinbungen
finb, wel^e einen ©ifenftab als Stromwege umgeben, je mehr fich jene SSinbungen
einem rechten SBinfet mit ber Slchfe beS Stabes nähern, befto ftärter wirb ber
erzeugte ©lettromagnet. Stach bem Stufhören beS Stromes berfchwinbet auch ber
SRagnetiSmuS bis auf einen Meinen Seft, welcher ber prücfbteibenbe ober rema»
nente SDtagnetiSmuS heigt.
$ie SJertleinerung ber SKagnetoelettromotoren unb eine bamit bennoch oer=
bunbene Steigerung ihres etettrifchen Stromes war alfo p hoffen, fobatb tnan
es bagin brachte, jene totoffalen Stahlmagnete burch tteinere unb bennoctj Kräftige
©teftromagnete p oerbrängen. ®ieS gelang perft (1866) in ©ngtanb bem ÜRecha»
niter SBitbe, inbem er mittels einer Meinen magnetoetettrifchen StotationSmafchine
einen Strom erregte, welchen er pr Xarfteßung eines fetjr mächtigen, berljältnig«
mägig compenbiöfen ©tettromagneteS benüfcte. Xiefer biente bann ftatt jener Stagt*
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Die (Elcftridtät in 6er Cedjnif.
I 29
magnete jur $erborrufung eines (Stromes, toeldjer junt ©trugen eines fräftigen
eteftrifdjen ÄoljlenlicßteS taugtidj mar. Statt ber gemötjnfidjen SnbuctionSrotfcn
mürben tjier, fotoot bei ber Keinen anregenben als bei ber jugefjörigen eteftro=
magnetifdtjen ©trommafefjine, je einer bet bon Dr. SEBerner Siemens fdjon früher
(1857) erfunbenen, bor$figItdfjen, eßtinbrifdjen Snbuctoren angetoenbet.
©egen ©nbe bes SafjreS, in meinem Sßitbe jeinen 3nbuctionSapparat con=
ftruirt ßatte, fanb Dr. SBerner Siemens, baß bei legerer bie Keinere SRafcßinc
fammt iljren ©taßlmagneten gänjlidß entfalten fann; Wenn man jur erften Anregung
jenen fd^toadfjen SJtagnetiSmuS benäht, melier in jebem ©leftromagnet juräcfbteibt,
wenn er audj nur ein einziges mal bon einem efeftrifdjen Strom magnetifirt
worben ift. 3“ felbft ber ©rbmagnetiSmuS wedt fdjon in ben meiften Satten in
bent ©tfen bes ©teftromagnetS fo nie! SRagnetiSmuS, als jur ©rregung beS erften
eleftrifdtjen Stromes notfjwenbig ift. Siefer in jebem nidfjt gütigen ©teftromagnet
borfjanbene feßwadje SDtagnetiSmuS ruft in ben bon feinen fßofen gut Dotation
gebrauten Sfabuctoren einen fdßwadjen efeftrifdjjen Strom Ijerbor. Siefer wirb in
baS ©ewinbe beS ©teftromagneteS geleitet, Wobutdj teuerer erftarft unb baßer in
jenem rotirenben SEnbuctor einen Kräftigem Strom erzeugt, melier wieber um ben
©teftromagnet geführt wirb u. f. W., bis bureß biefe SBecßfefwirfung jWifcßen bent
©teftromagnet unb feinem rotirenben Snbuctor ein eteftrifeßer Strom bon großer .
SERäd^tigTeit gewonnen wirb, Wetter für bie ^erfteKung beS efeftrifeßen Siebtes
berwenbet werben fann. SBeit fiter bie ©tafjlmagnete festen unb affo bie mecßa=
nifeße ©nergie einigermaßen birecter als bei ben magnetoeteftrifdßen SJtafdjjinen
in eteftrifdßen Strom umgeformt Wirb, nennt man berartige Apparate, nadj
Dr. SEBerner Siemens, bßnamoetef trifeße SKafdßinen. ©ine foteße bon berßält=
nißmäßig geringen Simenfionen unb beträdßtlidßer Sßirfung braute ber engtifeße
SJtedjanifer Sabb im ftaßre 1867 jur patifer SBettauSfteKung. Sie bßnamoetef -
trifte SWafdjine ßat im ©ebiete ber SRcibungSeteftricität ißt Stnatogon in beit
eteftrifdjen ^Enftuenamofcä^incn bon £otß u. Söpter (1865), bei Wetten ebenfalls,
bureß bie gegenfeitige SRiidwirfung bon Urfacße unb SBirhmg, eine großartige
Steigerang einer urfprüngtidß faum merHicßen ©teftricität erfolgt.
Sie bpnamoeteftrifeße ERafc^inc ßatte jeßt nur noeß eine Ummanbtung burcßjw
matten, um ju jenen Sonnen ju gelangen, in welken fie, mittels tßter ergiebig
fließenben ©teftricität, bie ©teftrotedßnif unferer Sdt beßerrfeßt. Verfölgen wir
in ftfirje ißren auffteigenben SEBeg; benn auf bem ©ipfet angelangt, eröffnet fteß
uns eine Weite StuSftcßt in baS auSgebeßnte Selb ber angewanbten ©teftricität.
Sunäcßft füßrt unfer Sßfab §u ben eteftromagnetifeßen StrbeitSmafcßinen, beren Stuf
gäbe nießt in ber ©rjeugung bon eteftrifeßen Strömen, fonbera im ©egentßeite in
ber Umwanblung bon ©teftricität in Arbeit befteßt. Sie Stuftöfung biefes tßro-
btemS würbe feßr bietfeitig berfuc^t; am einfachen fo, baß im Greife fteßenbe
©teftromagnete, Wefdje fucceffibe tßätig unb untßätig werben, bie eifemen Speisen
eines fteraförmigen Stabes naeßeinanber anjießen. fßrofeffor Eßacinotti fueßte (18GO)
einen eteftromagnetifeßen SDtotor babnreß ju gewinnen, baß er jwifdßen ben fßolen
eines fräftigen StaßtmapeteS einen rotirbaren ©ifenring anbraeßte, ber in Um
bteßnng geratßen fotlte, fobatb ein ißn umfdßtießenbcS Sraßtgewinbe mit einem
Unten Seit. 1882 . I. 9
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\30
Unfere ^eit.
eleftrifcheit Strom befdjicft würbe. Einige 3*»t fpäter feierte er ba# Problem um,
inbem er bie#mat einen non ifolirtem Äupferbraht umtounbencn Eifenring gwifcfeen
ben ißoten eine# ©tafjlmagnete« rotiren liefe, um einen eleftrifdjen Strom ju er»
galten. 2)iefe# Snitcip fonb jebodj feine erfolgreiche Serförperung erft burdj
©ramme in $ari# (1870). Ob teuerer burdh ^Sacinotti’# Apparat ober ganj
felbftänbig ju feiner Srfinbung gelangte, ift nicht feftgeftettt. I^atfadie ift, bafe
erft burdj ©ramme'# Eonftruction bie eleftromagnetifdjen Ringapparate $u mäch s
tigen Eleftricität#queHen »urben. ®iefer Reichtum in ber Spenbung eie!»
trifd^er Energie toirb noch in hoh cm ©rabe gefteigert, toenn bie Apparate biefer
Slrt bpnamoeteftrifdfj eingerichtet werben, b. h- wenn man bie erregenben Stahl*
magnete burdj Eleftromagnete erfefct nnb um bie lefetern ben Strom ber äRafdjine
felbft führt, bebor er in bie äufeere ®ra^tleitung gelangt. 2ludj ^ier beginnt bie
erfte Anregung ober ba# Slnlaffen ber SRafcffine burd) ben fchwadEjen (remanenten)
3Ragneti#mu# ber noch ftromfreien Eleftromagnete.
Sei ben bpnamoeleftrifdjen HRafdEjinen bon ©ramnte Wirb ein Pon 3)raljtfputen
umgebener Eifenring, burdfj eine äufeere medfanifdfje ftraft, gwifdjen ben ißoten
eine# fräftigen Eleftromagnete# berart in fdfjnetle Dotation Perfekt, bafe bie Ebene
jene# Ringe# ftet# mit jener jufammenfäHt, auf melier bie beiben $o!e be# Elef«
. tromagnete# liegen. Sei biefer Dotation fommen jwar immer anbere Steile be#
Eifenringe# bor bie ißole be# Eleftromagnete#; aber im Raume bleiben bie mag»
netifchen ißole be# eifemen Ringe# ftet# ben erregenben Solen be# Eleftromagnete#
gegenüber. 3e im Sbftanbc eine# Siertelfreife# pom Rorb» ober Sübpol biefe#
Ringmagnete# befinbet fich je ein magnetifdj inbifferenter ©ürtel be# Ringe# unb
jtoar recht# ber eine, linf# ber zweite. ®iefe beiben, magnetifd) inbifferenten
Stellen liegen alfo einanber biametral gegenüber. E# täfet fich ^iecau# fcfetiefeen,
bafe ein jeber Ringmagnet eigentlich au# jWei ^albfrei#färmigen Siagneten befiehl,
bie mit ihren gleichnamigen Solen aneinanber ftofeen. Xheorie unb Stflfiö lehren
nun, bafe in bem ifolirten $raljt, melier um einen folgen Eifenring ftet# im
gleichen Sinne getounben ift, jwei eleftrifche 3nbuction#ftröme auftreten, Pon
benen ber in ber norbpolaren Hälfte be# Ringe# erfdjeinenbe Strom entgegen»
gefe|t gerichtet ift ju jenem, welcher in ber fübpolaren Hälfte erregt wirb. $iefe
beiben entgegengefefct gerichteten Ströme laffen fich fl n ben magnetifch inbifferenten
Sunften be# rotirenben, ringförmigen lynbuctor# mittel# fchleifenber $)rahtbürften
nach aufeen fo ableiten, bafe man einen eleftrifchen Strom Pon einerlei Richtung
erhält. ®urcf) Vermehrung ber 3nbuction#fpulen auf bem Eifenring, ferner bur<h
Vergrößerung ber Rotation#gefdhwinbigfeit be# lefctern, läfet fich bie Seiftung folcher
Apparate erhöhen. Unb weil ein Vünbet Eifenbraht fich nuögiebiger magnetifirt
al# ein Eifenftab, fo erfefjt man, um wirffamere Ströme ju erhalten, jenen
Eifenring burch ein frei#förmig gefchloffene# Sünbel Pon Eifenbraht. SBie bereit#
erwähnt, laffen fich fof<h e Slpporate bpnamoeleftrifch geftalten, inbem man bie
erfte SBirfung Pon bem fchwadhen 3Ragneti#mu# ber anfänglich ftromlofen Eleftro»
magnete au#gehen läfet. E)abei geben bie ®rahtwinbungen ber festem, be# Sn»
buction#ringe# nnb bie äufeem 8lbleitung#brähte ben jufammenhängenben SBeg für
ben in ben rotirenben Ringfpulen auftretenben unb an Stärfe ftet# wachfenben
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JMe <£leftricität in ber CedjntF.
Strom, $eut}utage finb alle größern, unb meift aud) bie {(einem ©ramme’fchen
dRafchinen in folget SBeife bpnamoeteftrifch gebaut. ®iefelben liefern einen nicht
unterbrochenen eleftrifc^en Strom oon gleichbleibenber (Richtung unb, bei conftanter
UmlaufSgefdjwinbigfeit, oon nahezu unoeränberter Stärfe. Um (entere genflgenb groß
$u erhalten, befteht ber um ben ©ifettring getounbene $raht eigentlich aus Oie(en
3nbuctionSfputen, toeTche jeboch untereinanber fo oerbunben finb, baß fie jufammen
eine einzige, ben Sifenring umgebenbe 3nbuctionSroKe ohne ©nbe barfteHen. 3«
länger ber ©efammtbraht biefer (Rode, je ftärfer bie ©leftromagnete unb je größer
bie UmbrehungSgefchWinbigfeit bei ^nbuctton^ringeä ift, befto mächtiger erfcheint
ber aaftretenbe Strom. (Sie Slnjaf)l ber Umbrehungen beS (Ringes fattn oon
ettoa 500 bis 1500 in ber dRinute, unb auch noch baruber hinaus, gefteigert
»erben.
©rft mit ber ©ramme’fchen dRafcfjine erhielt bie ©leftrotecfjnif eine ©leftricitätS*
quelle, welche beliebig mächtig fließt, inbem man mittels berfelben in bequemer
unb verhältnismäßig billiger SBeife eine entfprccfienbe dRenge mechanifcher Arbeit
ober SBärme in eleftrifcßen Strom umtoanbelt, welcher bann »ieber in eleftrißheS
Sicht, djemifebe Arbeit u. bgl. m. tranSformirt »irb. (Saffetbe gilt auch bei ber
btjnamoefeftrifcben dRafchine oon $efner=3lltenecf (1872, Siemens u. Rätsle in
Berlin), bei welcher ber ©tamme'fche Spulenring erfe^t ift burch eine f^nell
rotirbare (Blechtrommel, auf Welche ber ifolirte SnbuctionSbraht parallel gut
UmbrehungSachfe gewunben ift. 3m 3nnem jener Trommel befinbet fich ein hohler
ober maffioer ©ifencglinber, Währenb fie außen, ju faft Sweibrittel ihrer Dber^
fläche, Oon ben mantelartig erweiterten (Polen Fräftiger ©leftromagnete in großer
(Rähe umgeben ift. (Diefe umfaffenben (pole unb jener innere ©ifencplinber bilben
nun einen magnetifch mächtigen (Raum — magnetifcheS gelb genannt — in welchem
jener cplinbrifche gnbuctor fdjneU rotirt. hierbei werben, in analoger SBeife wie
bei ber ©ramme’fchen dRafcfjine, entgegengefeht eleftrifcfje Ströme erregt, welche,
wie bort, mittels jweier febember (Brahtbürften unb jugcf)öriger SeitungSbrähtc,
einen continuirlichen Strom berfelben (Richtung geben.
(Die dRafchinen Oon ©ramme unb 4?efner=8lltenetf lönnen als bie beiben §aupt-
tppen ber bpnamoeteftrifchen dRafchinen angefehen Werben. (DaS ihnen ju ©runbe
(iegenbe (princip, fowie jenes ber magnetoeleftrijcben (Rotationsapparate, reicht
hin, unfern Sefer §n leiten, wenn er nach einem SJerftänbniß berartiger dRafchinen
anberer ©rfinber ober ©onftructeure (§. (B. SRcritenS, SBaBace garnier, (Brufh,
Bürgin, Schudert, Sontin, Jroube u. 0. a.) fudjt. dReift bient ben oielerlei
Slrten bet bpnamoeleftrifchen dRafchinen bit ©ramme’fche als dRufter. ©S fommt
bei bem (Problem ber Steigerung in ber Seiftung ber bpnamoeleftrifchen ÜRa*
fdjine, im allgemeinen gefagt, vorzüglich barauf an, mögtichft bie ganje Sänge unb
alle Seiten beS rotirenben (BraljteS ju inbuciren, mithin bie Quelle beS eleftrifcben
Stromes ju erhöhen. $ieS wirb ber gaH fein, wenn bie 3nbuctionSroHen in
einem fehr fräftigeit magnetifchen gelbe rotiren. SefctereS Wirb um fo mächtiger
Oorhanben fein, je Oielfeitiger unb näher bie mögtichft verbreiterten ftarfen (pole
ber ©leftromagnete bie fchneU freifenbe gnbuctionSrolle umfaffen.
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(32
Unfere «geit.
aKittefö ber btynamoeteftrifdljcn ajtafdjinen wirb medljanifche Arbeit in eleftrifcfjen
Strom umgeWanbett — lägt fid} nid)t umgefeßrt ber eleftrifdje Strom in rnecha»
nifdje Strbeit umfefcen? Stuf biefe 3roge t)at fid^ bereits oben bei ben eteftromag»
netifdfjen SKotoren bie bejaljenbe Stntwort ergeben. Studf) würbe baS Problem,
ben wedjfetnben ©leftromagnetiömuS pr Bewegung in SlrbeitSmafchinen p ber*
Wenben, fcijon früßjeitig (3ebtif 1829, $>al SRegro 1831 u. 0. a.) in ber Oer*
fdjiebenften SBeife in Singriff genommen. Stm einfachften unb frudljtbarften in
neuerer 3eit, als ein Vertreter ber ©ramme’fd^en ©efeQfdjaft in ber Wiener
SBettauSfleltung (1873) ben eteftrifchen Strom einer ©romme'fd^en äRafcßine in
ben SnbuctionSring einer ganj gleiten äRafdjine einleitete — tefctere geriet^, nach*
bem bie ftrompteitenben $)raht|>infet paffenb gelegt worben waren, in Um*
breijung. $te Stiftung biefer Stotation War entgegengefeßt p jener ber ftrom*
tiefernben SRafdhine. $ie jweite bipamoeleftrifche 3Rafd)ine War jefct pm etettro*
magnetifdfjen SRotor geworben, unb p>ar pm aQerbeften, ber je conftruirt worben
ift. $ie btjnamoeleftrifdjen SKaf^inen finb alfo umfeßrbar, b. f). wenn ein fräf*
tiger eleftrifdfjer Strom burd) fie geführt Wirb, beginnen fie p rotiren unb ftetten
bie borpglidjften eteftromagnetifchen SlrbeitSmafchinen bor. hierbei !ann, wenn
bie erfte btjnamoeleftrifche üftafdiine fräftige eleftrifche Ströme liefert, bie jweite
gleichartige äJtafchinc mehrere Kilometer bon jener ftromerjeugenben entfernt fein.
$ie gortpflanpug ber eleftrifdjen Kraft erfolgt bann, ähnlich wie bei ben $ele=
graben, mittete paffenb gekannter SeitungSbräljte. ®a jene erfte ober ftrom*
gebenbe SRafdjine mittete medjanifdjer Slrbeit in Umbrehung berfeßt ift, fo liegt
hier eigentlich eine eteftrifdje Uebertragung bon medjjanifdjer Kraft auf größere
©ntfernung bor, welche telobhnamifche XranSmiffion heißt. SRittelS biefer
fann man bie Strbeit ungünftig gelegener Kraftquellen nach Orten bertegen, wo
fie fidh bcffer berwerthen läßt. 3n fotdjer SBeife unterjochen wir bielleicht noch
einmal bie witben SBafferfälle, SBafferftfirje unb SBaffergefäöe, inbem Wir bon
ihnen bhuamoeteftrifche SKafchinen treiben taffen, beten eleftrifdje Ströme tele*
gra^hifch bie Strbeit auf entfernte bhnamoeteftrifche SJtafchinen übertragen.
©3 ift teidjt einpfeßen, baß mit ber Gewinnung eines SRabeS, welkes burcfj
einen fräftigen eteftrifchen Strom in fdjnetle Dotation gerätl), ein ^auptmotor
gewonnen ift, bon bem ftdj — ganj fo wie bei einem Stabe, welches mittels beS
SBinbeS, SBafferS, $amhfe3 u. f. w. umgebreht Wirb — bie ^Bewegung auf bie
berfcßiebenartigften SlrbeitSmafchinen jwecfmäßig berpftanjen läßt. Stuf biefe Strt
Werben jefct bie bhnamoeleftrifcßen SJiafcßinen, inbem man fie ats eleftromagnetifche
SKotoren benäht, angewenbet, um $reßbänfe, 9tähmafdf)inen, ijßumpWerfe, taub*
Wirthfchafttidhe SDlafcßinen, Heinere SBaffer* unb ßuftfcßiffe, ©ifenbaßnWagen u. f. W.
in SBctrieb p fefeen. ®abei fann auch, Wie Wir bothin faßen, bie telobhnamifche
UranSmiffion benäht werben, um, mittels einer erften bhnamoeleftrifdben Sftafcßine,
mecjanifche Strbeit in eteftrifchen Strom, unb um bann ben festem, mittels
einer gleichen jweiten SRafcßine, wieber in mechanifcße Strbeit prücfpber*
wanbetn.
Stuf ber eteftrifchen UranSmiffion medhanifcher Strbeit berußt bie bon Dr. SBerner
Siemens jiingft (1879) erfunbene eleftrifcße ©ifenbaßn. Sei berfelben wirb eine
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Die (Eleftricität in 6er Cecfyni?.
(33
btynamoeteltrifche SRafdhine mittels einer ®ampf= ober ©aSmafcfjine in fcfjneUe
Dotation üerfe^t. ®iefe entfenbet, mit $filfe eines eigenen ifotirten SeiterS
(Drahtfeil, Schiene u. bgl.) unb ber ga^rft^ienen als 9tii<ffeiter, ihren elettriphen
Strom §u einer zmeiten btynatnoeleftrifdjen SRafchine, melche als SKotor in ber
Socomotibe fungirt, inbem bie Dotation ihres SnbuctorS auf bie SSagenräber über«
tragen toirb. Ob unb mann bie eleltrifcfje ©ifenbaljn eine Bertoertljung im 2Belt«
bericht erlangen Wirb, mer lann jefet fd)on barüber ein Urteil fällen? Stach
Berechnungen beS oben genannten ©rfinberS mürben fic£> bie BetriebSloften faum
höher als bei ber Dampftoeomotibe belaufen. Dabei fäme benfelben aber noch
Zu patten, baß man mittels ber eteftrifdfjen Soeomotibe beliebige Steigungen ber
Bahn leicht überminben lann, tnbem pcf> mittels mehrerer, auf ben SBagen ange¬
brachter Stynamomafchinen bie 3»glrap nach Bebarf bertheilen läßt. UeberbieS
arbeiten bie eleftrifcßen Socomotiben ohne £ärm, ohne ben beläftigenben Dampf
unb Stauch »• f- to. ^ierbureß empfehlen fie fid) befonberS für bie immer mehr
in Aufnahme tommenben Hochbahnen ber großen Stäbte. Denft man fich einen
tetoeteltrifch getriebenen Drain berfleinert unb bie zugehörige Spurbaljn aßfeitig
berfleibet, fo ließe fich eine fotdje eleftrifdje ©ifenbahn, nach Dr. SSemer Siemens'
Borfcßtag — analog ber pneumatißhen Stoljrpoß in ©roßpäbten — als eleltrifdje
Brief« unb ißaefetpop nach beliebigen Stichtungen unb Streifen beS SanbeS benüjjen.
3n ähnlicher SSBeife, mie bei ber eleltrifchen ©ifenbahn, hat Dr. ffierner Sie«
menS auch jwti, butch eine $in« unb Stüdteitung berbunbene, eleltrifdhe Dtjnamo«
maphinen benfifct, um einen berläßlichen Ülufjug für h°h e Stocfmerfe, 5luSfi<f>tS«
thfirme «. bgl. ra. $u conftruiren (1880). Die ftromgebenbe SJtaphine mirb
mittels Dampf«, ©aS« ober SBafferlraft in fehr fchnefle Stotation berfefet. Die
ßromempfangenbe Sftaphine, melche h' er ben Stuf« ober Stiebergang eines ffahr«
ftuhleS, b. i. einer fahrenben Slltane, betreiben fotl, ift mit jener erften 5Dtafcf)ine
burch eine lotrechte, parle, gezähnte Stahlftange — mir moßen pe bie Seiter
nennen — unb burch fichet tragenbe SDietaßfeite fo berbnnben, baß hierburclj für
bie Hin« unb fturüctleitung beS Stromes geforgt ift. SJiittelS einer Schraube
ohne ©ube au ber berlängerten StotationSachfe biefer jmeiten SRafchine rnerben
jmei Stäber in Umbrehung gebradjt, bie mit ihren Bahnen in bie paffenben Süden
jener lotrechten Stahlleiter eingreifen. SBemt nun bie jmeite SRafchine burch bie
eleltrifdje Kraftübertragung in Stotation geräth, fo fteigt pe, oermöge beS eben
genannten SRechaniSmuS, an jener lotrechten Setter hinauf. Dabei nimmt pe
bie mit ihr in paftenber SSBeife feft berbunbene Sahraltane mit. Durch einen
jmeefntäßigen Stromunterbrecher unb Stromumphatter läßt p<h bie aufmärts
lletternbe äRafdjine anhatten ober auch nach abmärts bemegen. @S berfteht fich
bon fetbft, baß auch bei ben elettrifdjen ©ifenbaljnen ähnliche Brems« unb Strom«
umlehrungSborrichtungen möglich pnb. Die Seite, melche ben Strom leiten, tragen
ein ©egengemicht jum gahrbatlon, fobaß bie Sfrbeit ber Hcbemafdiine nahezu
biefelbe bleibt, gleichviel, ob bie Stltane gehoben ober gefenlt mirb. Da in beiben
Säßen bie Bemegung eine fanfte, fiefjere unb genügenb fchneße ift (einen halben
SJteter in ber Secunbe), fo bietet ber eleftriphe Slufzug bem bisher meift gebräuch¬
lichen hhbraulißhen eine fehr beadjtenSmerthe ©oncurrenz.
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Unfero ,Jeit.
3)ie eleftrifdie Kraftübertragung !ann audfj nod) in onberet SBeife als tefo*
bpnamifd) burdjgefüfjrt toerben, inbem man öon bem eleftrifdjen Strom eine
djemifdje Slrbeit öotlbringen (äßt, unb bann festere toieber in eleftrifdjen Strom
umtoanbelt. $iefe 3w^ücferftattimg bcr nrfprünglidien Seiftung bei eteftrifcjen
Stromei läßt ficfj fogar auf fpätere 3cit ncrfdjieben, fobaß eigenttidj in einem
folgen Satte bie Arbeit bei Stromei für ben jufünftigen ©ebraud) aufgefpeicjert
erfijeint. $iefel tßrincip fjaben Sinfteben (1854) unb ißtante (1860) angetoenbet,
um fef)r toirffame Siolta’fcje ©temente ju conftruiren. Üaucjt man nümtidj jmei
ooneinanber getrennte ©teiplatten in getöäfferte Scfjtöefelfüure unb öerbinbet jene
mit je einem ber fßole einel ftromfüfjrenben $ral)tel, fo gerlegt ber eleftrifdje
Strom bal SBaffer ber Scjtoefetfäure in feine ©eftanbttjeite, b. i. in Sauerftoff
unb SBafferftoff. Sefeterer, all pofitiö eteftrifdj, übergiejt in Sorm öon @al*
btüldjen bie negatio cfcftrifcje ©leiptatte, Jöütjrenb ber negatiö eleftrifdje Sauer*
ftoff mit bem SÖIei ber pofitiö eleftrifdten ißtattc an itjrer Dberftäcje ©Ieiübero£t)b
bitbet. trennt man jefet bie Stromjuteitung öon ben ©teiplatten, fo bitben bie
Dberfläcfyeu ber beiben lc|tern ein offenel Sßolta’fcjel ©lement. 2)iefel gibt, wenn
man el jefct ober fpäter mit einem $>rafjt fcjtießt, einen jtoar fürjer bauernben,
jebodj fejr fräftigen Strom, beffen fRidjtung entgegengefefjt ju jener ift, toeldfje
ber erfte Strom befaß. hierbei toirb bal ©teitibcrojtib burdj ben SBafferftoff
toieber ju SÖIei rebucirt. 2)a! ©tement f)at nun bie in if)tn aufbetöaljrte Slrbeit
jurüdgegebeti unb fann aufl neue mit ©feftricität geloben toerben. 3ür ben
praftifdteu ©ebraud) beftetjt bal tßlante’fdjen ©tement aul 2—3 9Heter langen,
bännen, burdj ©ummiftreifen Ooneinanber ifolirten ©teiplatten, Welche com*
penbiöl jufammengerottt finb unb in öerbünnter Scjtoefelfäure tauben, ©in
fotdjel ©tement läßt fid) felbft mit einer fejr f<$toadjen Solta’fcjen ©atterie
ftunben* ober tagelang in ber oben erftärten Slrt taben, unb gibt bann fpäter
bafür bie aufbemafjrte Slrbeit all fetjr fräftigen, jebocj bafür öiet fürjer bauemben
Strom, derartig mirfenbe ©temente jeiften Slccumutatoren, meit fie bie Slrbeit
bei eleftrifdjen Stromei für ben fünftigen ©ebarf auffammefn ober anfjäufen.
S8iet Stuffefjen fjat im lebten 3at)re (1881) ber Slccumutator öon Saure erregt.
$iefel Steferüoir ber eleftrifdjen ©nergien unterfdjeibet fid) im toefentlidjen öon
bem tßlante’fdjen nur baburcj, baß bie beiben ©teiplatten mit einer biden Sdjidjt
öon SKennige bebedt finb. Seitet man ben eleftrifdjen Strom burcfj ein foldjcl
©tement, fo öerbinbet ficfj ber Sauerftoff bei jerfefjten SBafferl mit ber SKennige
ber pofitiö eleftrifdjen Söteiplatte ju SBleiübero^jb, toäfjrenb ber SSafferftoff bie
üftennige ber negatiö eleftrifdjen Söteiplatte ju ©lei rebucirt. ©erbinbet man
fpäter bie beiben ©teiplatten mittell einel ®rafjtel, fo erljält man einen fräftigen
©ntlabunglftrom mit bem entgegengefefjten djemifdjen tßroceß, tnobei jene! ©lei*
überofpb Sauerftoff oerliert, unb bal rebucirte ©lei ber jtoeiten fßlatte töieber
oipbirt.
■Jtadjbem man berartige Slccumulatoren mitteil einel eleftrifdjen Stromei ge*
laben jat, fann man biefelben öerfenben unb an ifjrem ©eftimmunglort ent*
laben. ©I taffen ficfj aud) mehrere unb größere Slccumulatoren miteinanber jtoed*
mäßig ju einer ©atterie öerbinben. 2)er eleftrifcje Strom einer fotdjen fann fo
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Die €leftricität in ber Cedjttif.
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fröftig fein, bafj er eteftrifdjeS Sidjt erzeugt, bpnamoeteftrifcfje SRäfjmafdjinen treibt
unb überhaupt jene oerfd&iebenen Arbeiten teiftet, z u Wetter fid^ bie ©teftricität
tedjnifdj öerwerttjen täjjt. 2Ran fönnte audj baran benlen, bie Stccumutatoren
mittet btjnamoeleftrifdier Stpparate, wetefje ooit SBafferfälten, 28inbmfiljten u. f. tt).
betrieben werben, eteftrifdj ju faben unb bann bie berartig aufgefpeidjerte Wrbeit
in bie gerne zu tranSportiren, um bort nad) Sebarf auSgenüfct ju werben. ©ine
fotdje Uebertragung öon Strbeit ergänzt bie tetobpnamifdie XranSmiffion infofeni,
ate fie, in Sejietiung auf bie UeberfütjrungSWeife unb auf bie ©ntfernung, bie
weiteften ®ren§en Ijat.
Die Stccumutatoren bilrften watjrfdjeintid) in ber nächten 3«t mannidifadj
öariirt werben, unb bie ©leftricitätSqueQen für bie IjäuSlidje eleftrifdje SBeteudjtung
fowie für ben Kleinbetrieb eteftromagnetifdjer ÜRafdjinen bieten. Die tefctern werben
audj ljier, Wie bie jWeite 9Kafdjine bei ber tetobpnämifdjen StrbeitSübertragung,
bpnamoeteftrifdje SDtafdjinen fein, welche nidjt bie Sftotte eines StromfpenberS, fon*
bem jene beS «Stromempfängers fpielen, um fo bie erhaltene ©teftricität in medja=
nifdje Arbeit umjuwanbetn. Die bpnamoeteftrifdjen äRafdjinen ate Slrbeitemafdji»
nen gehören, wie bereite erwähnt, ju ben beften eteftromagnetifdjen äRotoren,
Weit bei itjnen bie ptöfclidjen Ummagnetifirungen ber ättern eleftromagnetifdjen
SRafdjinen, mithin bie barauS entfpringenben Verzögerungen ber ^Bewegung,
fortfatten. 3e|t beginnt atfo aud» bie rechte Beit für bie eteftromagnetifdjen
ffletriebSmafdjinen. 3war Ijat Safobi fdjon 1839 ein 14 ijßerfonen fütjrenbes
Soot, mittete eines eleftromagnetifdjen SKotorS unb Sdjaufeträber, bie SRewa bei
©egenWinb ftromaufwärts gerubert; aber es war fjierp eine ^Batterie erforbertid),
welche wenigftenS ans 64 ©rooe’fdfjen ©tementen beftanb. SRadj einem eingefjenben
Stubium biefeS ©egenftanbeS fam gafobi ju bem Sdjtuffe, baff in beit eteltro»
magnetifdjen StRafdiinen gnbuctionsftröme auftreten, welche bem Vetriebsftrom
mächtig entgegenwirfen. infolge beffen wären fo grofje SBatterien jum Vewcgen
ber 2Rafd)ine nottjwenbig geworben, baff fie bei fafjreitben SRafdjinen, Wo fie bod)
mitgenommen werben müßten, eine Saft, unb in aßen anbern gälten, fowot
bei itjrer Slnfdiaffung ate Untergattung, eine zu foftfpietige Kraftquelle abgegeben
hätten. Unb bieS um fo meljr, ats £|ier bas in ber ^Batterie ojpbirenbe 3iuf fidj
als ein ^Brennmaterial barftettt, wetdieS etwa 15 maf treuerer ift ats bie gleiche
©ewidjtemenge ber Koljte ber Dampfmafdjinen, welche burd) bie efeftromagnetifdjen
äRafdjinen oerbrängt werben foDten.
Da jebodj anbererfeitS bie eteftromagnetifdjen äRafdjinen burdj bie ©infadjljeit
iljreS iBaueö unb ^Betriebes, bur<tj itjre beftänbige Dienftbereitfdjaft, burdj bie
fdjnelte unb foftentofe StuSgabe ber Kraft, burdj ifjr gefatjrlofeS unb tärm»
freies Arbeiten, immer wieber zur ©oncurrenz mit ber Dampfmafdjine oertotften,
fo öerfdjwanb baS V r °6tem ber eteftromagnetifdjen SDtafdjinen feit Safobi bis
tjeute nidjt mefjr Oon ber DageSorbnung. So za^treic^ and) bie ©rfinber fofcfjer
SDtafdjinen auftraten, fo führten jebodj itjre Seiftungen Weber zur StnWenbung
folget SDtafdjinen im ©ro|en nodj jur ausgiebigen Sluffjebung ber üorfjin ange=
führten Uebetftänbe. 3m Kleinen aber, wo ©enauigfeit, geinljeit unb SRegetmäjjig»
feit ber Strbeit bie #auptfadje ift, würben bie eleftromagnetifdjen SDtafdjinen auch
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J36
Unferc £c\t.
fcßon früher angetoettbet, befonberg bon beut parifer 3Re<ßani!er grontent. Der*
felbe betrieb mit beit bon ißm conftvuirten eleftromagnetifcßen SRafcßinen bie jar*
teften Dßeilmafcßinen. 2Rit £filfe ber teßtera gelang eg iß in, ben Äbftanb bon
einem ÜRillimetet in taufenb gleiche Steile fo genau ju jerfäUen, baß man mit
ben ftärfften äRifroffopen toeber eine Ungteicßßeit an Dßeilftricßen nocß an ben
3 toifdjenräumen entbecfen tonnte, ©ne fotc^e präcife Arbeit erforbert felbftoer*
ftänblidß einen bor ©rfdßütterungen gefieberten ©tanb ber ^nftrumente unb bie
möglicßfle 5Ruße in ber Umgebung. Äug biefem ©runbe arbeiten foldße Dßeil*
ntafeßinen nur, nadßbcm jeber SBagenberteßr in ber ÜRacßbarfcßaft beg betreffenben
Ätelierg aufgeßört ßat. Die ©nrießtung beg ganzen Äpparateg ift automatifdß.
„IRadßtg um bie jtoölfte ©tunbe" feßließt ein Ußrtoert felbfttßätig bie SBolta’fcßen
Batterien. Die eleftromagnetifcßen SRotoren beginnen ißre ©etoegung, unb bureß
fie, in regelmäßigen. Keinen Raufen, aueß bie tRabirfpißen fotoie bie }u tßeitenben
äRaßftäbe. ©egen Änbrucß beg Dageg öffnet ber automatifeße ÜRecßanigmug toieber
bie ©olta’fcßen Setten — alleg tommt jum ©tiQftanb, unb bie betounberngtoertßcfle
©räcifiongarbeit ift geleistet.
Qn unferer $eit, wo bureß bie bßnamoelettrifdßen SRafcßinen unb Äccumuta*
toten nießt nur reiche ©ettricitätgqueHen, fonbern burdß bie erftern aueß treffließe
elcftromagnetifdße Driebmafdjinen ju ©ebote fteßen, ift für bie leßtern ein toeiteg
gelb geöffnet aueß für größere Arbeiten, ju toelcßen j. ©. bie bereitg ertoäßnten
eleltrifdßen ©fenbaßnen geßören u. bgl. m. ga fetbft für bie elettromagnetifdßen
Detegrapßen — ju toelcßen jtoar, einzeln genommen, teine große meeßanifeße
Seiftung notßtoenbig ift, bei toelcßen aber, toenn fie in einem auggebeßnteu SReß
jufammengefaßt erfdßeinett, bie ocrlangte Ärbcit fieß beträcßtlicß fummirt — benK
man jeßt baran, bie ©olta’fcßen Setten bureß bßnantoeleKrifcße äRafcßinen ju er-
feßen. Die $auptantoenbung ber leßtem liegt jeboeß jeßt nießt in bem betrieb
ber Delegrapßett unb elettromagnetifcßen ^Rotoren, fonbern in ißrer ©penbung
mäeßtiger ©tröme für bag elettrifcße Sicßt. Diefeg tooüen toir im golgenben
befpredßen.
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ffatiaiun
Don
Albert ^loefer.
1. ütofrevt ©uiacart».
(17. Sult 1085.)
(Erlegen nun ift er ber grimmigen SJlotl),
@3 fcbwebte bie «Seele oon bannen,
2Int Stranb SfepbaloniaS fanl in ben Dob
Der berrlicbfte £>elb ber Normannen;
dreimal bedang er im SBaffentanj
Stuf SBogcn be3 2Reet3 ba3 fcbnöbe SBbjaitj;
Den Orient moflt’ er ertoerben,
Da na^t’ iljm ba3 tMifdje Sterben.
9?un bebet auf Schultern bie föftlid^e Saft
Unb tragt fie jum Skiffe bernieber!
Die gabne ber Draner erhöbet <wn SKaft
Unb büßet in Draner bie ©lieber;
Die Segel jiebt auf, na<b SBefteti genmnbt,
Unb rietet bie ffcbrt jnm aputifdjen Straub!
SEBo einft er als £errf<ber gemattet,
Dort rub’ er, nad^bem er erfaltet.
Doch toeb! Da jiebt ein SBetter herauf
SIugfcbneQ gleich flüd»tgem ©ebanfen,
Sturmtooften nabn her in eiligem Sauf,
©3 beben be3 S<biff3fiel3 planten,
@3 fradjt in ben trugen ber fcbroaulenbe Äabu,
Der Sarg gleitet b«n auf bie SBafferbabn,
@r tanjt auf bem toogeuben Schmälte
©Iei<h minjigern geberbafle.
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138
Untere <5ett.
9lun eilt eud), ©rüber, mit rüftigem Ärm,
3u bergen ben Seib, ben gemeinten;
©erfcf)täng’ iljn bie liefe, wer f(f)ilbert ben $atm?
Sdjmacl) wär’ eg für ewige feilen!
©lütfauf! Sd)on ift er gerettet aufg SBracf;
gern gebt [idj Stpnlieng Ufergegad;
9hm finb Wir, enthoben ben Sorgen,
©alb glütflidj im $afen geborgen.
@r liebte bag Sieb, er liebte ben SBein,
(Sr liebte bie blütjenben grauen;
2)rum werbe beftattet fein bleibe# ©ebein
gernab auf ©enufiag Huen!
SBo ber Dichter erwart, ber mit füfieftem Mang
®ie grau’n unb ben SBein wie nodj feiner befang*),
S)ort fei nun ber ewige grieben
£>elb ©uigcarb, bem tobten, betrieben!
2. fPociot- ^anfl in
9?un bör’ mich an, bu §öHettfof)u,
ÜDtepljifto, lag bir fagen:
®er ©eel’ ift 2Kutf) unb Ä'raft entfloljn
2)ur<b ©rbeumüb’ unb ©lagen;
$ag $>eitfen fc^afft nur SRotlj unb dual,
®ic Suft am SBcib’ erfanb idj fcfjal;
Sföidj brängt’g, im SBein, bem fühlen,
SWeitt Seib binweggufpülen.
Unb SBein, wie biel bie (Srbe trägt,
SRocfj fanb ich nirgenbg beffern,
2(lg ben ber SOiörtdje ßeöer hegt
3n Salgburgg ©iefenfäffern.
®ug SSittenberg, bem büfterti Drt,
3um ©eterftift lag attfofort,
Som 3aubermantel getragen,
©ei SRadjt bie galjrt mtg wagen.
*) $orag.
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Ballaben oon illbert ITCoefcr.
139
®u loinffi: ber SJtantel tjefct uns auf,
©chon fcßweben wir in Stiften;
gort geht’S in rafchbefchwingtem Sauf
Db gturen, ©täbten, ©rüften.
®er SBlodSberg größt jur regten ©eit’,
©Wdj ift jefcunb nic^t SKaienjeit;
Sticht £änj' unb ^ejenfpiele,
Uns loden anbre Siele.
®a taucht herauf baS S9öhm erlaub,
©chlachtfelbcr ber §uffiten,
3)ic SBälber, brinnen tuftentbrannt
©eraft bie Slbamiten.
®S grüßt in fcf)lanfer ^errlicfjleit
3u ißrag ber ®om unS oon @anct=®eit,
5BoH oon SReliquienfdjreitten
Unb ntobernben ©ebeinen.
hinweg! ©<hon fließt ber ®onauftrom
®ort tief burdj SBalb unb SBiefen,
Unb fern fteigt auf jum ^immetöbom
®ie ©cßar ber Sltpenriefen:
®er UnterSberg am ©aljachftranb,
®er ©taufen, ©ött, beS SBajmannS SBanb
©trahtt flar in SJionbeShelte:
©Itidauf! Wir finb jur ©teile.
©in raffet Schlag! Slufforingt bie XI)** 1 »
Slbt ruht unb SJtöuch im Schlummer;
Sluch ohne fie wol finben Wir
$eS SBeineS befte Stummer;
$er Leiter hi« im SfelSgetaß,
©ieh an! birgt lodenb gaß bei gaß,
Stun foH uns fonber Säumen
$er SBein in 93echerit fchäumen.
JBöSlauer SBein, fo Weiß Wie roth,
3ft mir üor oielen theuer;
©rlauer gießt nach SrübfalS Stoth
3nS SSlut uns ftißeS geuer,
©onoentwein munbet recht unb fehlest,
Stußberger auch ift gut, ich bäcf)t’,
®och ftets oor anbem groben
SJtuß ich Solaher toben.
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Unfcre <5cit.
WO
Sfflir tuirb fo moljl, tote ba id) et)’
3« erfter Siebe glühte;
3n fußen Schauern Sufi unb SBel»
Durcßtoogten mein ©emüttje;
®a$ SSetfgeljeimnij?, bas fo lang
Geäfft ber ©etjnfwtyt peißen Drang,
Durtßtoßt Don SBeineS ©eiftern
3ft mit: jefet fönnf idj’S meiftetn.
Dodj nun genug! Der lag bricht ein,
©alb tönt bet 9tuf jut SRette.
©mpor! empor! gut grtö!jtidjtf$ein
Stammt ring« bie Sltpenfette.
Der SDtantet trägt nn3 jäß nadf SRorb;
©alb merb’ idf neu am ßtbeborb
Db pergaraentnen ©änben
De3 ©eifteä Äraft t>erf$totnben.
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Cfjr0ni(t irer (fifegcrapari
£iterartfd)f fteoue.
SBenn Wir griebrid) (Spiel^agett’S Satent auf baS wärmfte anerfennen
mufften in ben großen Kulturromanen, wie „Sturmflut", fo erfährt fotche Aner*
fennung bod) eine bebeutenbe ©infchränfung gegenüber feinen pfhdjologifdjen 8to=
inanen, bie im ©runbe nur weiter ausgeführte tRooetten finb. Wie „Angela"
(2 Bbe., Seipgig, Staadmann). 2Bir üermiffen tjicr in gorm unb Snljalt ben
freien ungezwungenen @uß unb gtuß ber ©rzätjlung; es fehlt bad unmittelbar
Ueberjeugenbe in ben SRotiüen unb im ©ang ber §anbtung; ja wir ermatten
öfters, als wünfctjenSWerth ift, ben ©inbrud be$ Baroden unb Starren. Saß
bet Stomatxbidjter bie gelben feines SRomanS aus alten SBetttljeiten gteidjfam mit
ber §otelgtode zur Sabte*b’hote in einem fcßweizer |jotet jufammenläutet, möchte
nod) hingehen, wenn bieS im Setait gefc^ilberte £>otetteben nur nid^t fo feljr jebeS
ftimmungSootlen SReijeS entbehrte: man tjört gteiihfam immer bie Setter Kappern,
bie Stingeln läuten unb Wanbert oon einer ßimmernummer zur anbern. ©in
©egengewidjt gegen biefe fyödjft profaifcJje Aeußerlidfjteit bieten nur bie fdjwung*
haften tttaturfd^itberungen, in benen fich Spieltjagen’S latent wieberum aufs
fdjönfte bewährt.
2Bir fpradjen oon bem groteSfen Sitge i n bem Stoman: er ift in jWei $aupt=
harafteren oertreten, ber Sabp Satttjcaftte unb bem Brafitianer Serma. Sie erftere
mit ihrer riefenhaften ©eftalt, i()ren biden, fcfiWar^en Augenbrauen unb ihrem
fdjtoarzen gächer führt fid) oon #auS aus als eine fet)t abfonberliche ©rf^einung
ein, ber wir am tiebften einen fomifdjen ©inbrud abgewinnen müßten; baju tagt
es inbeß ber Sinter nid)t fommen; im ©egentheit, er macht fie gut $etbin einer
in ber Vergangenheit fpietenben Sragöbie, ju einer '9Rörberin; bie Summe biefer
©inbrüde ift aber bas ©röteste, inbem baS tragifdh ©roße an eine ju lomifcher
Betrachtung eintabenbe Srägerin geheftet wirb. Unb bie zweite gtgur, ber alte
Srafitianer, im ©egenfafce ju biefer tragifomifcfjen Bruntjitbe ein Statten Oon
einem ÜRenfdjen unb hoch iljr ehemaliger Siegfrieb — h at ber ©ontraft jWifdieu
biefen beiben Siebenben unb ©hebrechern oon ehebem nidjt etwas SragitomifcheS?
Sft biefer Serma nicht, um mit ©oethe ju fprecßen, „ein Wahres Bitb ber trau»
rigen Semuren, benen noch f° Oiet äRuStetn unb Sehnen übrigbteiben, baß fie
ft$ tämmertidh bewegen tönnen, bamit fie nidht ganz als burchfichtige ©erippe
«rfcheinen unb jufammenftür^en"? Siefe ©eftatten, jcbe für fictj unb bann beibe
im ©ontraft unb in ihren Beziehungen jueinanber geben tein äftßetifches ©enügen,
inbem ber ©inbrud ber unfreiwilligen ©aricatur überwiegt. SReben ihnen ftehcn eilt
paar abfonbertiche ftauje, in ber abfichtlich djargirten SBeife ber neuen englifdjen
$umoriften, gteidjfam mit ©ruifftjani’S ©riffet gezeichnet.
Sie £>etbin beS StomanS felbft, Angela, ift früher oon einem SRater, Arnotb
SRoor, geliebt Worben; bie beiben finb aus ©rünben, bie nicht über bie ©aprice
hinanSgehen, auSeinonbcrgefommcn unb finben ftch zufällig am ©enferfee wieber.
Arnotb hat geh inzwifdjen oerheirathet, tebt aber ungtüdtid) mit feiner iuugen,
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Unfere
W
nur an Seußertichfeiten ©efdjmacf finbenben grau. 3)al ftnb bie ©oraulfeftungen
ber |>auptftanblung; and iftnen geben bie pfftdiologifchen ©onflicte fteroor, bie oft
mit einer gewiffen leibenfdjaftlidjen ©jaltation gefcßilbert ftnb, oft mit ftalb oer*
fdjteierten URotioirungen, bie feine burchficfttige SBirfung gcftatten. Slngela, in
ihrer focialen Stellung nicht »iel mehr als eine Sane ©ftre, wenn auch mit ber
SReitluft einer englifdjen Sabft, wirb bal freiwillige tragifcfje Opfer ber Soffer*
fluten. Welche bie Kaimauern unterfpülen, Wobei fie noch bem fiinbe ber URalerl*
frau bal Seben rettet: eine fiataftrophe, welche eine Steife äußerlicher Unfälle
abfdjließt, oon benen bie gelben bei SRomattl betroffen werben.
Die Darftetlung h at fefjr befcftteunigte ißulfe, oft etwal Hthemlofel, womit
manche fdjleppenbe Eigenheiten bei Still, lange ©infchadjtelungen, bie ficfi in ben
Saftbau einfcftiebeit, nicht ganj harmouiren. gür einzelne Situationen paffen jene
teibenfchaftlichen ©rgiiffe wot, fie finb ©orjüge ber bichterifchen Schilberunglweife.
©ilweiten aber brechen fie auch fehr unbermittelt heroor; wir gebenten babei jener
plöfttidjen 9lnwanblung fapphifcfter Siebe unb mänabenartiger ©erjücfung in ber
einen Scene jwifdften Scannt) unb Angela, Stnwanblungen, welche fogar bie Stuf=
merffamfeit bei Staatlanwaltl erregten, ber jeftt inbeß mit 9ted)t bie Auflage wieber
jurüdgejogen hat. Die äfthetifche firitif ift nicht in gleicher Sage: bie Scene
erfdjeint uni, Wal Situation unb ©haraftere betrifft, nicht genugfam begrünbet
unb macht bafter ben ©tttbtutf einer Einlage, bie mit ihrem ^Raffinement auf un*
gewöhnliche ©ffecte fpeculirt.
SRicftt ärmer an Senfationlmotiüen, aber bei Weitem burd)fi<hHger in ben pfpcfjo*
logifchen ©ntwidelunglgängett ift ber neue Vornan oon Otto SRüller: „Statten
auf §öf)cn" (2 ©be., Stuttgart, Slbolf ©onj). Der ©erfaffer gehört nicht ju ben
eigentlichen äRobefchriftftellern; hoch er hat oor einigen berfelben bie Sicher*
heit ber URotioirung unb ben ruhigen, epifchett Ion boraul, ©orjüge, bie feinen
frühem SRomanen, Wie „©harlotte Sldermann", eigen Waren. Die |>elbin bei neuen
SRomanl, SBallft, ift eine fiaufmannltochter, bie, früher erblinbet, in ihrer ©linbljeit
für bie Stimme einel Sängerl fchwärmte, beffen wunberboller ©efang ber armen
©linben fo oft „wie flingenbel grüftlingllidit inl bunfle Seben ertönt hatte"; bodj
fehenb fanb fie, baß er fein Slbonil fei, unb ging eine oom ©ater gewünfchte
©onbenienjheirath mit einem ©rafen fit)riß, einem ©eheimen Segationlrath an
einem benachbarten fleinen $ofe, ein. Die ©he erwiel fich halb all fehr unglüd*
lieh; ber ©raf hatte fie abgefchloffen, um fich mit ben Schäften feiner jungen grau
eine glänjenbe ©fiftenj ju feftaffen; er Oemachläffigte fie, ging Siebeiabenteuern
nach aber half bem fßrinjen ©rno jur ©efrtebigung feiner Ion 3uan*8auncn.
Diel Seelenleben ber ©räßn SBaUp in ihrer unbefriebigten ©fte ift mit eingehenber
Sahrfteit unb in einer anjiehenben Seife gefchilbert, Welche unfer 9Ritgefüf)l er*
regt; boch bie eigentlichen fiataftrophen ber §anblung werben eine ©tage tiefer
im Domeftifeiyimmer unb in ben ©erwanbtfchaftlfreifen bei Dienftperfonall aul*
gebrütet. Da ift eine gamilie Shrig: ber ©ater, ein ülpothefer oon fchlecfjtem
Stuf, ber feine Stellung wegen ©erabfolgung bebenflidjer ÜRebtcamente aufgeben
mußte, bie eine Dochter SRannft, aulrangirte SRaitreffe bei ^rinjen ©rno, bie
anbere fiäthdjett, Oom ©rafen neuerworben, eine gleur*be*2Jtarie in biefem fireife
ber Korruption; ber Sohn 9Rarcul aber, ber oertraute ©ebiente bei ©rafen, ber
Untjolb bei SRomanl, ber £>erol feiner criminaliftifchen ©erwidetungen. ©rft
fpät entbedt bie ©räfin, baß er fdjon im ©nufe ihrel ©aterl einen Einbruch*
biebftaftl oerübt hat, unb halb barauf wirb fie bal Opfer feinel SRadjeburftel; er
oergiftet fie burch fioftlenbunft; bie Seit glaubt an einen Selbftmorb; baß inbeß
ber ©erbrechet unentbedt unb ungeftraft gleichfam aul bem SRoman fteraulfchlüpft,
läßt bodj immerhin einen fleinen Stachel im ©ernüth ber Sefer jurüd. Die Dar*
ftedung ift fpannenb, wedt unfern Slntljeil unb feftt oft unfern Sdjarffinn auf bie
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Citerarifije Heoue.
^3
Sßrobe; wir ftogen auf nichts SerfchwommeneS, SßhantaftifcheS, Wohl aber auf f(int=
mungSOotle ©in jetheiten, wie befonberS bie Siebe Ääthchen’S unb beS ©ängerS.
@S ig nicht gerabe funfetnber ©Sprit in bem Vornan, auch nicht höherer ©cgwung;
Wölfl aber folibe ©djilberuitg ber ©^araftere unb gebiegene ©ntwicfelung ber Seelen*
juftänbe, Wätjrenb freilich bie fitotaftrophe bur<h ftarf criminatiftifche SRotioe unb
mehr tjon äugen, als burd) innem ©ntwicfelungSgang herbeigeführt Wirb.
«uS £of= unb ©alonfreifen in bas länbtiche Seben führt uns SR ob er t
©(^wei^jel'S SRontan „X)er galfner bou ©anct^Sigil" (3 Sbe., Serlin, Dtto
Saufe), eine Sorfgefchichte mit tiiftorifc^em &intergrunbe. ©S ift baS Xirot Pon
1809, Wethes mit treuer «nt)ängticf)feit an baS £>auS JpabSburg gegen Saiern
unb granjofen fämpft; hoch erft gegen beit ©<hlug beS SRomanS hin hören wir
gleichfant baS Scfio beS SefreiungStampfeS in ben tiroler Sllpentljäfem; bortjer
fmb wir nur $eugen jahlreichet ©cbriicfungen, benen ber alte ©taube ber Xirofer
burcf) baS mit beSpotifcher Sluftläruitg wattenbe [Regiment eines StRontgctaS an?=
gefegt ift. gmmerhin fpielt in bie gäbet beS SRomanS baS gerichtliche SKomeut
nur atS poetifdjeS Sßigment mit fierein; baS bäuerliche gamitiengemälbe, baS uns
entrollt wirb, bebürfte nicht biefer oon äugen fpnjufommenben garbenfchattirungen:
breit unb felbftänbig fteht eS im ÜRittetpunfte beS SRomanS. ®er Sflofterbauer
Oon ©anct»S8igit ift einer jener fchroffen unb ftarren (£f>araftere, wie fie in 5)orf=
gefehlten beliebt finb. S)er rufticafe gamilienbeSpot Oerfagt feinem ©offne SlmbroS
bie guftimmung gu feiner ©he mit einem armen SJläbchen, mit welchem biefer fich
trogbem trauen tagt unb jwar burch feinen Sruber Cannes, einen ©eifttichen;
er oerfagt feiner Xodjter Sifei ebenfalls bie ©inwitligung jur ©ge mit bem aus
Saiern eingewanberten ©<hmieb SEßotf, ben ber fjag ber Xiroter aus @anct=Sigil
Oerjagt. SlmbroS wirb oon ber fd)önen SIRütterin Slfra geliebt, welche gleichfam
bie leibenfdjaftliche ©atonbame in biefen Greifen ift, währenb ihr ©tieffohn 3erg
baS fcgabenfrohe, böfe Sßrincip Oertritt. X)iefer liebt beS ffitofterbauem Xochtcr
Sifei, unb als SlmbroS ben Scrg mishanbeft hat in lebensgefährlicher Steife,
reicht fie bem gerg opfermuthig bie |>anb, um SlmbroS mit bem ©ater auSjufötjnen.
3u ben Sfataftropljen brängt, mit frifcherm ^audj bie ©eget ber £>anbtung f<hwet»
tenb, ber tiroler gnfurrectionSfampf fie fort: SlmbroS ift einer ber gelben beS
Kampfes, opfert {id) für feinen ©ater; Stfra fleht bie granjofen für ihn um ©nabe;
fjofer’S unb ©pecfbacher'S ©eftatten heben fich bebeutfam oon bem borfgefdjicht*
liehen ^intergrunbe ab; oieteS wirb erjähtt, ber fi'ampf am Serge Sfet, bie £>in=
ric|tung jpofer’S in SDiantua. gür bie |»auptcharaftere bringt ber Stbfdjlug beS
SRomanS wittfommene ©erföljnung: ber fchlimme gerg ift geftorben; ber aus SRug=
lanb heintfehrenbe SEBotf erhält Sifei’S §anb; StmbroS hot fein SGßeib ©tefi, feinen
©ater fich wiebererobert.
gür Sefer bon jener priefetnben Ungebutb, bie nach ©enfationSmotioen bürftet,
Werben bie Sänbe beS ©chweichet’fchen SRomanS nicht bie gewünfdjte StuSbeute
geben; baS unerfdjüttertiche epifdje ©teichmag beS ©titS, bie ©reite ber XarfteDung,
bie altes topographifdje unb borfgefchichttiche X)etait gewiffenhaft in fich aufnimmt,
haben etwas unfreunbtich ^emmenbeS für bie forteitenbe Unruhe, unb hier unb
bort mug auch bie unbefangene äfthetifege Sritil ein .Subief in ber ©chitberung
gleichgültiger äugerer Vorgänge rügen, greilich ift audh ber Unterbau ber §anb-
(ung ein burcgauS fotiber; man lebt geh ein in bie $äuSlicgfeit, in baS Seben
unb Xreiben, in baS Xentcn unb ©mpgnben aller ipauptperfonen; oor allem aber
fmb bie tanbfdjafttiihen ©djilberungen oon einer Sßärme, Xreue unb SBagrheit,
bag bie tiroler Stlpenwelt in ihrer wechfelnben ©eteuegtung, wie fchon in ©chweichet’S
legterm grögern SRoman „X)er ©itbfdjniger am Slchenfee", nicht bloS als tobteS
Panorama, fonbern in tebenSOoUem ©iitflang mit ben ©timmungen ber gelben
oor uns hintritt.
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Unfete
SSir ftnb e« gewohnt, bet 2Rufe ©rnft ffidftein’S in bet lodern ©ewanbuitg
bet SRufe Slriofto’S ober gat al« einet ptauberhaften ©cpeherenjabe ju begegnen,
ber bie ©chulhnmoreSlen Oom SRunbe ftrömen, einet in päbagogifchen Greifen
übet berufenen ©erführerin bet Sfugenb, bie im ungenirteften Jteglige be« „Slnefboten»
almanach«" erfdjeint: es mu& un« nicht wenig überrafdjen, biefe leichtgefchürjte
SJtufe auf einmal in bet römifdjen Xoga $u fefien, fogat in bet toga praetexta
mit ben breiten {ßurpurftreifen ber 2Ragiftrat«roürbe; benn etnft, gebiegen, würbe»
bott ift ber Don, ber in bem neueften {Roman ©dftein'«: „Die ©laubier" (3 ®be.,
SBien, ß. ©. $amar«ti) oorljerrfdjt, unb ba« SBerf fann al« ein {RömerepoS au«
bet Beit ber ©äfarenthum« betrautet werben. 2)er Dräger be« ©äfarenwahnfinn«
ift f)ier nicht ber ßieblingSlietb bet Dramatiler unb ©pifer, {Rero, fonbent Domi*
tian, eine imperatorifche ©eftie, welche eine {Reihe befferer Saifer in fdjtimmfter
SBeife unterbricht. Domitian hat nicht ben fdjöngeiftigen Stnftug IRero’S, welcher
bie äfthetifche ©pecialität unter ben berrüdten Imperatoren ift; er ift wottüftig,
graufam, nur bem witben Driebe gehordjenb, unb fo erfdjeint er auch in bem
{Roman, wo er fich einer ftoljen {Römerin, theil« mit Jpülfe eine« ©aufelfpiel«,
welche« ber {ßriefter be« ägpptifdjen 3fi«cuitu« infcenirt, theil« fpäter mit roher
©ewalt ju bemächtigen fudht. Die $auptberwideiungen be« {Roman« bitben bie
Ghriftenberfotgungen Domitian’«: ber junge |>elb au« ber alten Familie ber Stau«
bier wirb in biefelbe berftridt unb feine ©chidfale feffetn am meiften bie Dheil*
nähme; er ntufs mit ben wilben Dljieren in ber Stretta fämpfen, bodj unterliegt
er nicht, erhält Sluffchub bi« ju ben nächften ©pieten; injwifdjen aber ift Äaifer
Domitian ermorbert worben. {Rächft bem Ouintu« ©taubiu« ift e« fein ©ater,
ber {ßontifej: 2Rafimu«, unb feine ©etiebte, Cornelia, welche im ©orbergrunbe ber
^anblung ftehen neben ben »erfolgten ©hriften unb ©ljriftinnen. fflt« reuige
SRagbalena erfdjeint bie bemi=monberif<he ©allierin ßtjfori«. Die Saiferin Domitia,
bie am Stnfange be« Vornan« mit ihrer feurigen ßiebeSerttärung, bie fie bem
Ouintu« ©laubiu« macht, fich al« oielberfpredjenbe |>elbin ber ©rjäljtuttg einführt,
erlifcht aQju fehr gegen ba« Snbe berfeiben; auch bie weiblichen 2Kitglieber ber
Samilie ber ©laubier fowie ber ©ataber Stureliu«, ber in ber ©efdjichte fctbft
einen breiten {Raum einnimmt, werben unferer Dheilnahme nicht fonberlidj nahe
geriidt. ©ehr farbenreich unb lebenbig ift ©dftein’S DarftetlungSweife: bie« fommt
befonber« ben ©djilberungen be« rämifchen ßeben« ju ftatten, auf benen ber
©cpwerpunlt be« {Roman« ruht, Wie auf ben ©chilberungen ägpptifcher ©itten
unb Buftänbe berjenige ber Romane oon ©eorg ©6er«; ob e« ©dftein gelingen
wirb, für feine römifche ©pecialität ben gleiten äußern ffirfolg ju erringen, wie
ihn ©ber« für feine ägpptifche errungen hat, ba« ruht im ©djofe ber ©ötter ober
»ielmehr in bemjenigen ber launenhaften unb wanbelbaren äRobe; wir gönnen
einen folgen ©rfolg bem begabten Slutor, beffen ©chilberungen im ganzen ein
glüfjenbere« Kolorit haben at« bie »on ©ber«. Stllerbing« tritt bet {Rebenjwed
ber ©itten» unb ©oftümfdjilberungen auch h' et juweilen mehr h«öor, al« bem
blo« poetifdjen ©inbrucf günftig ift: ba« häusliche ßeben ber {Römer, bie SBoljnungS»
einridjtungen, bie Doilettenfcenen, bie Orgien, bie Sümpfe in ber Slrena, ©ee» unb
SRarinebilber, bajwifchen bie ägpptifdje SRomantil be« SfiScultu«, ber geheime
©otteSbienft ber ©hriften, römifche ©tragen» unb ©tabtbilber, ba« ©abeleben in
©ajä, beffen tanbfdjaftliche Schönheit am Stnfange be« {Roman« mit anjieljenber
SEBärme gefchilbert ift: ba« hübet eine Solge oon ©ilbem, Welche bie ©h anta f* c
mit einer Sülle bon Stnfchauungen befruchten, Slnfdjauungen, bie alle hiftorifch
correct ftnb, Worüber ba« ©ewiffen bet ßefer burdj {Roten am ©nbe eine« jebcn
©anbe« beruhigt Wirb.
3« feinem neueften {Roman: „Die 3rrau ©ürgermeifterin" (Stuttgart, Deutfdjc
©erlagSanftalt), hat ©eorg ©ber« ba«' alte Slegpptcn berlaffen unb fich an«
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Cttcrarifdje Henuc.
1*5
bcm Stilbelta in baS Si^einbelta begeben. ®er Sortiebe für ben SSHutialboben
unb bie Sänber bec Ueberfchmemmungen ift feine Mufe bei biefent Drtsmedjfel
treu geblieben. $er neue Stoman fpielt in ben SRieberlanben int Bohre 1514,
jur Seil ber ^Belagerung ber ©tabt Serben burep bie ©panier. 5)ie Helbin ber
©rjählung ift bie Stau beS SürgermeifterS Pan SBerf, Marie, treidle ihren Satten
noch an Unerfchrodenljeit unb hetbenntüthiger StuSbauer übertrifft. 3)ie erfte, bei
toeitent größere Hälfte beS StomnnS ift inbeg mit bunten ©enrebilbem fo über»
füllt, bag ber ©paratter ber $elbin nicht in einer ben Stntheil heifdfjenben SBeife
herPortritt: bie So IfS» unb Sinberfcenen, bie Silber auS bem häuslichen Seben
unb ben fRatfjäberfammlungen finb aflerbingS mit großer griffe gefdhilbert unb oft
in einem Jon, ber lebhaft an bie greptag’fchen „Sinnen" erinnert; eS ift bie SRaioetät
ber unbefangenften ©enrematerei. ©leich'ool halten mir es für einen ©ompofitionS»
fehler, bag irgenbeine nach einem bestimmten Biel hinbrängenbe ©pannung, gerabe
maö bie ©dgieffate ber Helbin betrifft, lange Beit hinburdh in biefem epifdjen ®e=
mülbe nidht erregt roirb, fonbern ber Slntheil fidh an bie Perfchiebenften ©oftümbilber
jerfplittert. Marie felbft erfdjeint als bie femme incomprise, nicht im ©inne ber
franjöftfchen ©hebrudjSbramatif, fonbern als eine grau, für beren $elbenmuth
bem Manne bas Serftänbnig fehlt. ®er Sürgermeifter meig feine grau nidht
genugfam ju fegäfeen; er meiht fie burchauS nicht in bie ©eheimniffe ber fßoliti!
ein, obfdhon fie eine h°<hh et Ji9e Patriotin ift. ®odj baS alles erfdheint in ber
erften Hälfte beS SRomanS nur als nebenfächlich, mir möchten fagen anelbotifdh
genrehaft, neben Pielem aitbern, baS gleiches Bntereffe beanfprucht. Mehr Ijertor
tritt bie Sebeutung ber Helbin erft, als eine öerlocfenbe 3 u 9 enbltebe mieber an
fie herantritt: ©eorg pon $ornburg. Hier nehmen mir an ben innem Sümpfen
ber beiben ein pfpdjologifches Bntereffe; Marie befiegt ihre neu auffeimenbe
Seibenfdjaft. StlS bie Stoth ber ©tabt aufs pöchfte fteigt, als ber Sürgermeifter
felbft Serfjanblungen anfnüpft: ba tritt bie grau, trofe alles BontmernS in ber
gamitie, ihm hetbenpaft entgegen unb er erlernet ihren mähren SBertp, ihren SobeS»
muth, ber bem (einigen nod) überlegen ift. Sepben mirb julefel burep bie gtotte
ber ©eufen, melcpe bie 2>ämme burchftodjen hoben, befreit.
S)ie 2)arfteHung ber 9iotp in ber belagerten ©tabt, melcpe ber junger unb
bie fßeft peimfuepen, hot einen tieftragifchen 3«9 unb bie ©cpilberung ber heran»
nahenben Sefreiung einen fo mannen Sulsfcplag, bag mir biefe ©eenen für bie
beften holten, rnetche ©berS gefeprieben hot: biefe ©cptugfapitel befriebigen in
hohem Mage, mährenb bie erfte Hälfte beS SRomanS in ihrer breiten Berfplitte»
rung trog anmuthiger ©enrebilber feinen eigentlich feffelnbeit ©inbrud macht.
Ueber ben neueften SRornan beS Herausgebers biefer 3eitfcprift, IRubolf
bon ©ottfdjatt: „®ie Grbfcpaft beS SluteS" (3 Sbe., SreSlau, Sremcnbt) ein
lobenbeS ober tabelnbeS Urtpeil ju fällen, ift pier nicht ber Ort. $er Sioman
fpielt furj Por unb nach bent Bohre 1870, theitS in $eutfcf)Ianb, tpeitS in ißoriS,
unb enthalt ©chilberungen aus ber Beit ber ©ommune, befonberS ihres Unter»
gangS, melcpe, aus ben Memoiren ber Beitgenoffen gefepöpft, mol im ©tanbe finb,
baS getreue Silb jener furchtbaren ©poche in ber Spautafie ber Sefer mach ju rufen.
3m übrigen hot baS SBevf bie Xenbenj, bie für piele aOeinfctigmachenbe fiepre
Pon ber Grbfchaft beS SluteS ju mobificiren, burch beit Stadjroeis, bag ber ©in»
jeine fiep baPon emaitcipiren fann, inbem bie Grbfdhaft beS ©eiftcS, bieS allgemeine
©tbe ber Menfchheit, über jene ben ©ieg batonträgt. ©S honbett fich inbeg um
feine boctrinäre SemeiSführung, fonbern eS ift ein bemegter gamitienroman
PoO lebenbiger Honblung, aus bem jene Sehre peroorgept; allerbingS über»
miegt bie 3 a pl &*r Opfer, bie fich öon her bumpfen SRaturgematt nicht ju befreien
Permochten.
Knfcre QtiU 1883. 1. X(j
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Unfere £eit.
H6
2Bie ber Vornan, fo fuc^t auch bie Sprit jefet mit Sorliebe bett SBeihnacpt?*
marft auf unb jwar in ber bunten unb oielgeftaltigen ©rfcheinung?weife, toelc^e
bie aüfeitige Silbung unb lo?mopolitifche Stiftung ber ©egenwart jur golge hat.
SBie mannichfaltig finb ihre {Riemen unb formen, ifjte lonweifen unb ©tim-
mung?bi(ber! laju bie Eigenart ber Siebter fetbft, bie gtücflicherweife nid}t in
ben conOentionellen {formen unferer Sprit gänzlich aufgegangen ift. 8» ben eigen*
artigften ©oeten gehört jebenfail? SBilhelmlgenfen, beffen „©türme be? Seben?"
(Ire?ben, S. ©Ijleroiann) burd) originelle unb gebanfenOoQe Stimmung?*
bilber fiep oor ber lurchfdjnittälpril au?jeichnen. SRan lönnte jwifdjen einer
centrifrugalen unb centripetalen Sprit unterf(Reiben: bie erfte ift leid^tgeflägett,
allen ©inbrüefen ber Sleufjertidjfeit offen, aber opne geiftigen SRittelpuuft; bie
teuere bittet au? bem (Zentrum ber SBeltanfchauung perau?. $ie? ift bei Stufen
ftet? ber galt; e? gebt ein tieffinniger 3ug burep feine licptungen. ©epon bie
SSibmung ber neuen ©enbung an feine grau enthält SDiftidjen ernftcr, etegifeper
EBeltbetracptung in einer überau? prägnanten gornt über ba? Ipema: „Tempora
mutantor et nos mutamur in illis„Step, toie febreitet bie Seit über bie Sebenben
weg", flagt ber Siebter:
{Reue ifefidjter umbrängen ben SBeg, e? Oerringert im SBcrtf) fidj
Älter Sejib, ber Gewinn »edjfelnber Hoffnungen trügt,
greunbfdjaft ertifd^t unb bie Heimat liegt, mit entfrembetem Äntlip
Unb in ber gölte ber SBelt fqretft un? ein einfam ©efülfl.
Die SBelt ift unferm ®icpter nicht blo? ein Silberfaal: in bem Elbfcpnitt „Äuf
ber EBanberung" fowol wie „Wuf ber grob bürg" Werben alle {Raturbitber nicht
allein ju finnbollen {Reflexionen benufct, fonbern oft bon einer tiefgebenben pan*
tpeiftifepen SSeltanfcpauung abforbirt. „grau Senu?" ift ein Siebe?roman, ber
ein flüchtige? ©lücf febilbert unb in Welchem ein fpätpcrbfllicher 3ng, bie grauen
£>aare, mit bereinfpielt. „SRünfterglocten" finb ßinpenbilber, in benen bi?weilen
ein beinifirenber Ion auffällt. la? reiche unb febr fruchtbare latent EBilpetm
Settfen’? hot freilich! auch bie gehler feiner Sorjüge; ptaftifebe ©emmen oermag e?
nicht ju geftalten, ihm fehlt bie äufjere Ehtfcpaulichfeit; über feinen Silbern ruht
eine traumhafte iömmerung; fie finb alle ü6erfponnen mit ber SRagie einer in
biefem lämmer ficb peimifcp fühlenben ©pantafie.
lurdjfidjtiger unb leichter finb bie SBelt* unb ©ebanfenbilber griebrich
Sobenftebt’?, be? „SSeifen oon lifli?", beffen ERufe bi?her oorjug?Weife auf
bem Weftöftliepen lioan ruhte, je^t aber auch ben femfteu EBefteu auffuept. lic
Steife be? lichter? nach Slnterifa hotte biefe ihre neuefte SBenbung unb SBanblung
jur golge, beren Iprifdje locumente üorliegen in ber ©ammlung: „3tu? ERorgen*
lanb unb Slbenblanb" (Seipjig, g. St. Srocfpau?). Sielfach fpiegefn fich in biefeu
©ebiepten bie ©inbrüefe, bie ber lichter auf bem Dcean unb auf bem ©oben ber
tran?attantifchett Sßelt empfing; bie ©ammlung enthält recht lebenbige SRaturbilber
unb poetifebe {Reifeftijjen au? ben ©raitien ber Snbianerlänber, Silber ber EReer*
fahrt. lamit ift inbefj ihr Inhalt nicht erfepöpft; ben contemplatiOen 8ng, ba?
©rbe ber orientalifchen 3Bei?peit, ber SRirja*©cpaffp unb $afi?, behält Sobenftebt’?
ERufe auch FtS* noch bei unb theilt in ihren comfortabetn Ser?* unb {Reimformen,
in ©inngebidjten unb Sprüchen eine giiCte Oon EBelt* unb Seben?wei?peit mit.
Slucp au mobenten ©allaben fehlt e? in ber ©ammlung nicht, Wie }. S. „SRibhat*
©afepa", bie wir in biefer 3*itf<hrift mittheilten.
lie in jweiter ftarl Oermebrter Sluflage erfchienenen „©ebichte" oon SR artin
©reif (Stuttgart, ©otta) enthalten eine grofje 3apt ftimmung?üoller Sieber im
goetpifirenben Ion unb auch einige £pmnen, welche’an ba? Weimarifcpe Sorbitb
erinnern. la? Sieb unb ba? {Raturbitb finb ba? Sereich ber SRufe oon ©reif,
in bem fie fich om meiften hetmifch fühlt; einzelne biefer klänge hoben ba? £>in=
gehauchte, prägnant Äurjatpinige unüerfälfehter ©mpfinbung. £ier unb bort aber
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£iterarif<he Kernie.
erpbeint einer ober bcr anbere Itjripbe Stopf eufger gu nicfjtgfagenb, biefe ober
jene SBenbung gu tribial. 3« ben SBatlaben ftnbet pcb ebenfalls manches bebeu*
tungSlofe Bilb, bagwipben aber auch originelle ©emälbe, toie „Se$ Zöllners lobtet".
Auch in ben „©ebenfblättern" wedjfett gtücflicber ©riff unb SBurf mit ©ebidjten,
benen baS os magna sonaturum fef|lt.
gür baS Pblichte Sieb trifft bie SJtufe bon Alfreb griebmann („©ebidjte“,
Seidig, SBil^elm griebricb) toeniger ben regten Son; fte ift gu bilberreicf) bagu.
Sagegen geigt fte pcb heimipb in ben reifem Stropbenformen beS Sonetts unb
bem SteimlupS beffetbeit. Sie bat einen ftarf fogmopolitipben Sag, toie nicht blos
bie „Suptanifdjen Sonette“, fonbern auch bie galjtreicben Aneignungen aus bem
grangöpfdben unb Stalienipben bemeifen. ©baratteriftifch für pe ift eine gemiffe
UeberfüQe, Welche noch ber Säuteruug bebarf.
Sie thripb°epipbe Sichtung geigt biefelbe Berphiebenartigfeit bichterifcher $l)t;=
pognomie Wie bie tbriphen Sammlungen. Sa ip bie Schule SSictor Sdfjeffers,
unb in bie gupftapfen eines Julius AJolff unb Stubotf Saumbach tritt ff rang
#irfch mit feinem Sieb aus alter Seit: „Aeitndjen bon Sbarau“ (Seipgig, Äarl
Steipner). Ser Sichter, als Stebacteur beS „Salon“ unb beS „Sieuen Statt“
in weitepen Greifen befannt, bat bisher feine tpripbe Sammlung berauägegeben,
fonbern nur in ber „Scutfcben Sichterballe" „Sagantenlieber“ toeröffentlicJft, welche
burch bie ftubentipbe griffe beS SonS lehr anfpradjen. Siefe §eiterfeit unb
ffriphe ip auch bem „Sieb aus alter Seit“ eigen. Aenncpen bon Sbarau ift bie
$elbin beS befannten ©ebicptS bon Simon Sach, unb biefer lönigSberger Siebter
unb Stector ber Uniberptät tritt auch ‘ tt bem ©ebidjt bon $irf<h ebarafteriftifeb auf.
An Aenncpen bon Sbarau pnbet er ein ptatonifcbeS SBoblgefatten; bap feine ftille
Steigung nicht mehr gu Sterte fommt, baS öerljinbert bie Siebe Aenndjen’S gu
einem muntern Stubenten, welker bie fferfbeit bat, infolge einer SJette baS SfarrerS=
töcbtercben bon Sbarau gu füffen, als pe auS ber $ir<he fommt mit ihrem Dnfel,
bem 9iatb£mann unb Srauberrn ftaSpar Stolgeitberg. Ser .StubiofuS IßerfaliuS,
Apollo genannt, berfäHt gwar ber afabemifeben Strafe für feinen grebet, erringt
aber bafür bie ©unft beS Stector« unb auch bie beS 2Jtüb<henS, wie uns in einer
Solge heiterer SiebeSfcenen gefdjilbert wirb. Sorgüglicp ip baS Socalcolorit ber
Sßregelftabt getroffen unb nach ber Steife bon Scheffel unb SnliuS Atelff finb in
bie eigentliche ©rgäbtung, bie in bierfüpigen teinclofen Srocbäen abgefapt ift, aller«
lei Sieber unb Siebereben in weebfetnben Stbbtbmen eingefübrt, frifct» unb fcljlicbt,
munter unb fchatfbaft.
©ine gang anbere Ahnentafel weifen $ermann Detfcbläger’« „Stobellen
in Cctaben“ (Seipgig, S. Staadmann) auf: Ariofto, Sernarbo Saffo unb bie
itatienifchen ©pifer, Spron’S „Son 3«an“ unb „Beppo“ unb berwanbte Sichtungen
bes ©rafen Scbad, fßant $et)fe’S unb ©rnp ©dftein’S; es pnb bie ptauberbaften
Ottave rime unb Spenpr*Stropbert, in benen bie Stufe ihren fubjectibften ©in«
gelrangen folgt unb um ben meift bünnen gaben ihrer ©rgäbtungen bie buntefteu
unb wiOPfürticbPen ArabeSfen ihrer Saune pbtingt. Hermann Detfdjtäger bat in
feinen brei StobeHen in Dctaben: „Sie Steife nach bem ©ngabin“, „Seonarbo“
unb „SaS ßanbbauS bor bem Shore“, ben anmutbigen fßlauberton glüdlicb ge«
troffen. ©S gehört bagu bor allem grope gormbeberrfebung: unb gwar barf bie
ftilipifcbe ©ragie bei ben fünften ©njambement« bon Seite gu Seile, bei ben
barodften Steimbitbungen nicht berloren geben; benn biefe Ottave rime müffen nicht
in tabettofer Soga erfcheinen; ihr ©ewanb mup fofett berfchoben fein, bamit man
bie parobiftifche Abpdp bon £auS auS merft. 3« biefer Art bon Sbfetterie in
Strophe unb Steint ip ein befonberer Sic erforderlich» unb biefer ip Detfcbläger
burdjauö eigen. Sap pch au« einem Sticht« bon Stoff burch biefe gefdpdte ®la«*
Mäferei ein anmutbige« ©ebicht febaffen läpt, beweip Delpbtäger’« ©rgäbtung „Seo«
narbo“. ©twa« reichhaltiger an äupern Begegnungen unb Abenteuern ip bie „Steife
10 *
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Unfete ^ett.
H8
nach bem ©ngabtn". Slßertei ßteifeanefboten finb hier mit ßiaibetät Oerwertbet;
ber ©atte faßt in bie SRefce einer ßtitjiliftin, bie ©attin macht mit einem 3ugenb*
freunbe ©letf Herfahrten; boch fommt aßeS am Schluß wieber in baS rechte ©leis.
$a3 ©ebitfjt bringt ergö^lidje Sjcurje de omnibns rebas et qnibasdem aliis,
unb baneben and) in «Strophen bon anmutiger 2lrd)iteftoml angiehenbe Statur»
fdjilberungen. ©in römifHeS Siebesabenteuer ergäbt bie lefcte SRobefle: „3)aS
SanbbauS bor bem I^ote"; baS römifdje ©otorit in berfelben ift bortrefflicf).
ST. & ©raf bon Scharf bat ä^ntid^e ptauberbafte ©ebic^te berfaßt; fein
neuefteS ©ebidjt „$ie Ißtejaben" (Stuttgart, ©otta) ift aber burdjauS ftitbofl ge*
batten, trat bicfiterifdjen Slbet unb bidjterifcben S)uft. @3 fpielt gur Seit ber
fßerferfriege unb feine Scbtußfataftropbe ift bie tebenbig gefdjitberte Schlacht bon
Salamis. 2)er £elb, ein junger ©ried^e, $aflia3, ift bei bem Stufftanbe ber 3onier
in Sleinafien beseitigt, er wirb bon einem griedjijdjen Renegaten, einem greunbe
beS SJtittiabeS, ber, bon ben Sttbenern geachtet, bei SerjeS Sufludit fanb, gafttidj
anfgenommen, unb temt beffen locbter Slreta lieben. ®urd|freugt wirb biefe Siebe
auf furge Seit burd) bie Stegungen fiitnlirfjer Seibenfdiaft, bie ßtojrana, bie Stbwefter
beS perfifdjen Satrapen, bem er baS Seben gerettet ^at, in ihm erweeft. $ier
finben wir einen flüchtigen SBiberfHein bon Slrmiba’S Saubergärten; boeb es finb
nur Streiflichter folcber Ueppigfeit, welche in biefe Säuberungen faßen. S)a»
gegen ift ber berborragenbe Drientalift unb Ueberfefcer beS jfirbufi wol bor
aßen geeignet, baS ^ßerfertbunt mit feinen Sitten, feinem ©lang, feinem ©tauben
unS näher gu bringen; eS finb bieS ebenfo ebarafteriftifdj treue Wie prunfbafte
Silber. ®er junge ©rieche ÄaßiaS (ehrt in bie §eimat guriief unb beteiligt ftcb
tapfer an ber Schlacht bei Salamis. 2)ie Seucbte feines SebenS ift baS Sterubilb
ber fßlejaben, bon welchem baS ©ebidjt ben Stamen bat. ©r fagt am Schluß gut
©eliebten:
©teb im reinen SRadjtblau
Sie Sßlejaben bort, bie bimmlifdjen ©djwejtern,
2>ie ber Sßilot als gtfiefber^eigenbe 8tid)tn
greift, ©«hon meiner ftinbljeit SiebßngSftern
SEBaren fie, unb als im fernen Sanbe
SSon ©efabr umbrobt, bebrängt Don Zweifeln,
3<b ib r milbeS Siebt gewahrte, ftebt’ tdb,
®afj anf tiefumbnnteltem $fab beS SebenS
gübrerinnen gum erfebnten Siele
©ie mir feien, ©alb benn, als SBetbörung
SMicb bon Satertanb unb ©flicht unb ®reue
SoSgureifjen brobte, werft' ibr ©trabten
ÄuS bem ©innenraufdfe. ©ieb, bureb ©trübet
Unb Drfane haben nun bie §etben
Stieb — unb bicb an meiner ©eite, ®b eurc >
QnS gerettete ©aterlanb geleitet.
3n bem unerfcbäpflicben ©ebiete ber ©efebiebte wirb aßjäbrlicb fleißiger unb
riiftiger gearbeitet unb baS lebte Halbjahr trieb manche werthboße SBIftte am
Saume ber ©rlenntniß. SBol eingig biirfte ber Umftanb genannt werben, baß ein
SZidjtfacbmann, ein ffürft ein ßiiefenwerf unternahm, welches bie ®ur<bforfdjung
ber ©efeßiebte aßet ßulturftaaten gum Untergrunbe bat; Öiirft Stifolat Serge*
jewitfdb ©ali|in, ruffiftber ©enerallieutenant im faiferticben ©eneralftabe, gibt
mit anbem feit 1874 eine „Slflgemeine ßtiegSgefcbidjte aßer SSölfer unb Seiten“,
ins ©»eutfdje überfefct bom preußifHen Oberften StrecciuS (©affet, Xbeobor S'at;)
heraus; bie beutfebe StuSgabe wirb auf StaatSfoften ins Sdjwebifcbe übertragen.
SBäbrenb baS Stltertbum in fünf Sänben fertig borlicgt, bom äJtjttelalter ein
Sanb unb bon ber ßteugeit brei Söänbe nebft einem Supplementbanb erfebienen
finb, ift baS gange SBSert auf 23 iBänbe beranfchlagt. ®ie bisherigen ttyile be*
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Citerarifcße 2üeoue.
funben einen enormen gleiß unb feßr bebeutenbeS Talent in ber ©ebilberung
friegerifeber Vorgänge, finb auch bietfacb mit harten unb planen auögeftattet; in
jebem ©anbe ift bie benußte Siteratur forgfättig bezeichnet. DaS eben ausgegebene
Supplement I jur britten Slbtfjeilung: „Ruffifcbe Kriege im 17. Sabrbunbert", be=
banbett bie in fo jufammenfaffenber SBJeife bisher nicht bargeftellten Stiege ber
Suffen, ffafafen, ©ölen, Dataren unb dürfen im befagten 3«‘traume. 3* 1
„griebricb ber ©roße als bibbert" (Serlin, 3Rittler) fcbilbert Dbeobor »on
Sernbarbi ben großen Sönig nidjt, Wie bieS übti<b geworben, als Dbeoretifer
ber ffriegSfunft, fonbern jeigt feine praftifd)e Xattif unb bie mufterbafte Se=
Währung feines tattifeben ©erftänbniffeS in feinen genügen. Der feiste ©anb ber
„©olitifeben ßorrefponbenj griebricb’S beS ©roßen" (©ertin, 21. Dunder) bringt
bie ©orrefponbenj oon 1746 unb 1747, befonberS wichtig wegen ber Schiebungen
ber Saiferin ©lifabeHj unb ibreS SanjterS ©rafen ©eftufdjew=Rjuntin ju ©reußen
unb wegen ber mit Surbaiern, Surpfatj, Surfötn, Surfacbfen unb ©raunßbweig
gepflogenen ©erbanbtungen über einen traitS d’amitib. ©leidjfam als Supplement
feines gtänjenben SEBerfS über Siaria Dberefia ließ 2ttfreb Stitter bon 2trnetb
„©riefe ber Saiferin 9Raria Dberefia an ißre Siuber unb greuitbe" (Süßten, ©rau»
ntüller) erfebeinen, bie mit bem bierten ©attbe abfdjließen unb ebenfo intereffant
für bie ©barafteriftit ber einzigartigen grau mit bem grunbebrlidjen, offenen
(Sburatter, wie für bie SebenSberbältniffe ihrer 2lbreffaten finb; befonberS enthalten
ße wesentliche ©eiträge jur ©eurtbeitnng ber Saifer gofepf) II. unb Seo=
polb II., beren ©runbfebter bie SRutter früh erfannte unb beleuchtete. DaS große
Unternehmen: „Die GEbronilen ber beutfeben ©täbte bom 14. bis ins 16. 3abr=
bunbert", ift bis jum 17. ©anbe: „äRainj, erfter ©anb" (Seipjig, ©. $irjel) borge»
gekritten, welcher wegen ber berhältnißmäßig geringen Siteratur über SRainz
borjügticb erwünfeßt fein muß.
©on ben wichtigen „©ublicationen aus ben löniglicb preußifdjen ©taatSarcbiben"
(Seipgig, ©. ^irjcl) erf(bienen in ben lebten SRonaten brei weitere ©änbe.
3m fecbSten ©anbe erfter Dbeil bon ©aul fjaffel’S „©efeßiebte ber preu»
ßifdjen ©olitif 1807—16" ift ber ©ang ber preußifdjen ©olitit in ber bo<b=
wichtigen ©poche bom Dilfiter grieben bis 1808, bie 3cit beS tiefften ©lenbs,
bebanbelt unb aus Urtunben unb Depefcben ber Diplomaten unb SRinifter ein
getreues ©ilb jener febweren Seit entworfen; mitten im BerfaUe ber alten 9Ron»
areßie brangen auS ben Drümmern neue SebenSlräfte berbor; ©taatSmänner, Wie
Stein, ©dbarnborft, fßrittj SBilbelm u. a., arbeiteten in prunllofcr ©tiUc fleißig
an ber innern Drganifation beS Staates, unb ungebeugt bureb bie feinblicbe
Cccupation trofc ihres DrudeS, fab ©reußen einer beffern Bufunft entgegen, bie
Stein’S ©erabfdjiebung, mit welcher ber erfte ©anb fcßließt, berfpäten, aber nicht
tterbinbem tonnte, ©ehr reich War bie 2tuSbeute ber SÜrdpoe in ©erlin, SBien unb
ftannooer. Die Haltung Rapoleon’S gegenüber 2llejanber'S türtifeben ©elüften feit
tilfit wirtte in ihren SBiberfprücben ungemein auf ©reußen jurücf, beffen ©taatSmän»
nern ber ©egenfaß ber ruffifeben unb franjöfifcben ©olitif immer ttarer oor 2lugen
trat, ©ehr WertbboU finb bie oon Raffel beebiffrirten ©riefe ©tein’S oon 1808 an
ben Sbjutanten beS Königs, ©rafett ©ö^en, wegen beS eoentuetlen Slnfc^luffeS
©reußenS an Defterreicb, unb bie Refcripte beS ©rafen HRünfter oon 1808, welche
beweifen, baß ©ngtanb feit SBeflington’S portugiefifdjer ©jpebition Wieber an eine
Koalition beS Kontinents gegen Rapoleon baebte, Ccfterreid) ju fofortigem Stiege
gegen ihn Überreben Wollte unb 2llej:anber anbot, es wolle bie ©forte ju Sänber»
abtretungen an Rußtanb beftimmen, Wenn ber 3ar feinem ©unbe mit Rapoleon
atfagen unb ben grieben mit ©nglanb wieberberfteUen würbe.
3m achten ©anbe erfter Dbeil öon „©reußen unb granfreicb bon 1795—1807,
$iplontatifcbe Sorrefponbenjen" gibt ©aul ©ailleu bie biplomatifcben Korrefpon»
btnjen bon 1795 bis 1800 über bie preußifcb=franjöfifcben Schiebungen, ©ein bie
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150
Unfere ,3cit
Seit beS Unterganges ber alten gtibericianifdhen Sionarchie behanbetnbeS SBerf ift
gewifferntaßen ber Vorläufer beS borigen oon Raffel. ©efonbeteS 3«tereffe er¬
regen bie Acten bei franzöfifdjen Auswärtigen Amts über bie beutfdje ©olitif
granfreichS in jener Seit; benn bot ©aiüeu waren fie feinem Xeutfdjen zugänglich;
ferner ber ©chriftwechfet Xallehranb’S mit ben franzöfifdjen ©cfanbten unb Agenten
in Xeutfchlanb, boran mit ©iepeS, feine ©erid)te an baS SDirectorium unb an
Biapoleon. ©ailleu fanb reiche Schäle in ©erlin, ©ariS, SBien unb SEBeimar;
über ©aideu’S X^ema finbet fich wahrfeheinlich noch biet UnbenufcteS im nieberlän=
bifchen SReichSardhibe.
3m erften beS neunten ©anbeS ber Schrift: „Xie ©egenreformation in
2EBeftfaten unb am Btieberrhein, Actenftüde unb (Erläuterungen" bringt Subwig
Getier, beffen ©efdjidite ber SEBiebertäufer wir früher rüljmenb erwähnten, Urfunbeu
unb Acten in ©ejug auf bie SBieberherfteOung ber tathotifdjen Sirene in SBeftfalen unb
am Biieberrhein 1555—85 unb fdjidt ben einzelnen Abfcfjnitten gebiegene hiftorifdjc
Darftetlungen unb (Erläuterungen borauS. XaS erfte ©u<h beljanbett fflebe»3Rarf
unb BtabenSberg, baS zweite baS ©isthum BRünfter, baS britte baS ©istfjuni
©aberborn; ^eüeS Sicht wirb für bie bisher noch fef»r unflare Anfdjauung ber
©reigniffe gewonnen; bie §auptauSbeute lieferten bie StaatSardjibe in ©fünfter,
Xüffelborf unb SRarburg, baS bairifc^e allgemeine BteidjSarcfjio, bie ©taatSardjibe
in SBeimar unb XreSben, bie ©tabtardjibe in SBefel unb ©oeft. Xiefe brei
©änbe ber „©ublicationen" finb in jeber ^infidjt wirtliche ©ereid>erungen ber
tjiftorifdjen Siteratur.
©on bem früher befprodjenen SBerfe ©eorg Saufmann’S: „Xeutfche ©ef<hidf)tc
bis auf Sari ben ©roßen" (Seipzig, Xuntfer u. ©umblot), liegt ber zweite ©anb
bor, ber bie bereits erwähnten ©otjüge befifct, unb ihm nahe berwanbt ift ber
Stoff, ben SBitljetm Arnolb in „SDeutfdje ©efdjichte, zweiter ©anb. grän=
fifdje Seit, erfte ©älfte" (©otlja, g. A. ©ertheS) befjanbett. ©leifterhaft jeid^net
Arnolb unfere Urgefchichte bon ber Seit an, ba bie Xeutonen unter Alejanbet
bem ©roßen als unzweifelhaft germanifcher Stamm an ber Oftfee auftraten unb
bie ©aftamen unter ©erfeuS bon ©iacebonien unb ©tithribateS bon ©ontuS ben
©riechen unb Römern als Scpthen erfchienen, bis zur SEBanberung ber ©imbern
unb Xeutonen; wir fehen, wie an ben ©ermanen unb am ©^rrftent^ume fich bie
bisher allgewaltige Sßeltherrfdjaft beS heibnifdjeu Btom brach. ®aS noch wenig
bebaute Selb ber Sunbe bon ©ilbung unb Bufammenfefcung ber germanifchen
©tämme fann nach Amolb’S Meinung nur burch eine boQftänbige ©efdhidpte ber
Ortsnamen in jebem einzelnen Stamme grünblidh befteöt werben, was er für bie
heffifchen Ortsnamen wirtlich unternommen hot. SBäßrenb er im ©egenfafee zu
bieten- gorf djem ©terwig als ©iftorifc^ anfleht, erfcheint ihm ©h^^wig als ber
©tammbatec beS germanifchen Staates, als ber Subwig XI. beS beginnenben
©iittelalterS, als ein Weit bebeutenberer ©olitifer unb Staatsmann als ber biel
tiebenSWürbigere große Xheobetich. Unter ©ipin bem kleinen wirfte bie rämifche
©ultur unb Kirche auf baS rohe ©ermanenthum außerorbentlid) ein unb bie djrift--
liche ©liffion errang ihren erhabenften Xriumph iw BBirfen beS ^eiligen ©oni»
faciuS, ber einzig im engften ©unbe mit 9tom unfer ©olf zum ©hriftenthume
belehren, bie fränfifche Sirdje reformiren, fie mit bem ©taate berbinben unb baS
©eich politifcp einigen tonnte; ohne ©onifaciuS war fein Saifertpum Sarl’S beS
©roßen unb feine Nation möglich. Sarfs Bleich beruhte firchlich auf ©onifaciuS,
politifch auf ©hlobwig. 2Bar ©ipin mehr franzöfifdjer, fo War Sari eher beutfeher
Sönig; ihm feien, meint Arnolb, hö^ftenS zur ©eite z« ftellen Alejanber ber
©roße, ©äfar unb Blapoleon, er aber fei glüdlicper als fie gewefen. SBenn er
hingegen behauptet, taum gebe es in ber ©efchichte ein zweites $errfcherhaus boQ
fo zahlreicher ©rößen wie beibe berühmten ©ipin, ßarl BRarteU unb Sari ber
©roße, fo fönnten hoch bie ©arfiben unb bie Oranier für ebenbürtig erflärt Werben.
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Ctterarifcfye 2teoue.
8trnoIb entwirft eilt allgemeines prägnantes 93ifb ber altumfaffenben Shätigfeit beS
großen SaiferS, unter bem fich ber fefte ©unb beS Staates mit ber Sirc|e botU
zog, baS 9teid) fiep jur abenbtänbifeijen ©Ijriftenheit erweiterte unb baS römifdje
Seid) beutfeher Station würbe; auf biefem ©ontact röntifdjen unb beutfdjen SebenS
beruhte baS ganze SKittetalter; chrifttid)=germamfch Wie eS war, begann eS mit
$art, ber nach Strootb’S SluSbrud in politifdjdirdjlidjer Ibätigfeit ©tjlobwig unb
©onifaciuS zugleich War, unb beffen Staat ben erften wirtlichen ©utturftaat feit
bem Untergange beS abenblänbifcheit röntifdjen ßaifertfjumS bitbete. Stmotb tritt
Wiirbig neben getij ®afjn.
®er fiirjtidj oerftorbene Slrnotb 9tuge tjintertie| eine „(Sefdjidjte unferer
3eit non ben greitjeitSfriegeu bis junt SluSbrud) beS beutfc^'franjöfif^en SricgeS"
(Sb. 1, Seipzig unb §eibetberg, ©. g. SBinter). 8ttS rabicater ©fjitofoph finbet
er bie Signatur ber Steujeit in bem boflftänbigen ©rud)e mit bem Slbergtauben
unb (Stauben, mit focialer unb Politiker Autorität unb batirt biefen SBrudj botn
3at|re 1789; in alten Kämpfen feit biefem Termin fieht er greifjeitsfämpfe, in
benen fid) bie greiheit immerfort entwidett; bei mancher ©infeitigteit ift bie eigene
ttjümUch fnoppe Stijje Oott ©ebanfen unb Urtfjeit. Sott Äarl ©iebermann'S
„dreißig 3aljre beutfd^er ©efdjicfjte. ©on ber Sfjroubefteigung griebridj SBit»
betm’S IV. bis jur Slufridjtung beS neuen beutfefjen SaifertfjumS. ^w z e h n
ßieferungen" (©reStau, Sdjotttänber) liegen erft einige Sieferungen üor. ©on
fiubwig ^aljn erfdjiett eine „©efdjidjte beS ©utturtampfeS" (©erlin, ©effer)
unb tion SEBitljetm SRüller „9teichSfanzlcr gürft SiSmard" (Stuttgart, Krabbe).
SJcit bem jWeiten ©anbe, ber bis jum griebenSfdjluffe Don ©reStau reicht,
fließt bie ausgezeichnete „©efdjidjte beS erften fc^tefifcfjen Krieges nach archioa-
tifdjen Duetten" bon S'art ©riinhagen (®otlja, g. 81. ©ertljeS) ab; wie ber
erfte ©anb, beffen wir in ber testen „Siterarifchen 9tebue" erwähnten*), zeugt
auch ber zweite bon ben gränbtichften ardjibalifchen Stubien; borzügtidjeS gntereffc
üerbient bie ©eteuchtung beS merfwörbigen ©ertragS bon Stein »Sdjnellenborf,
feines SrucheS unb bie Schitberung beS mährifdjen gctbzugeS, ber ©ntfdjeibungS*
fchtacht öon ©hotufip, bie burch Seigabe eines ©tancS ergänzt Wirb, unb beS
griebenS mit feinen reichen Segnungen für baS unter griebridj'S beS ©roßen
Scepter aufbtfltjenbe Sd^tefien; einige ardjibalifdje ©eitagen bereitem baS fcfjöne
SBert, an beffen Schluffe wir ©reußen um ein drittel bergrößert unb atS aner-
faunte beutfdje ©roßmacht finben.
©on ber zweiten Stuf tage ber „©efdjidjte beS SSutitöwigtfjumS (1830—48)"
bon Sari $ittebranb (©otha, g. 8t. ©erttjeS) erfc^ien bie zweite Sieferung,
Welche bie ©inridjtung beS ©ilrgertönigthumS in grantreich, feine Stnertennung
burch baS 8tuStanb, bie rebotutionäre ©rregung unter ben ©abineten ©roglie=@uizot,
Soffitte unb ©erier in prächtigen garben fchitbert unb borzügtidje ©haratterbitber
gibt, güt bie ©eurtheitung Sltejanber’S I. bon Sußlanb, feines ©adjfolgevS
SifotauS unb ber herborragenbften ©erfonen ihrer Umgebung, bor alten ©atiptn’S,
ber grau bon Srübener, ber Sntriguanten SJtagnipftj unb 9tunitfdj, beS berüch¬
tigten 8traftfchejew, ©Iubow’8, Sdjifdjlow’S u. f. w. ift bon hödjftem ©etange
„gürft Sltejranber ©icotajewifch ©atißin unb feine Seit. 8luS ben ©rtebniffen beS
©eheimratheS ©eter bon ©öpe" (Öeipzig, Sünder u. #umbIot); hierbei ift
berichtigeitb zu erwähnen, baß SUejanber’S natürliche Xocßter nicht mit SdjuWa»
tow, fonbern mit Scheremetew bertobt war. 9tubotf ® oefjn’S „©eiträge zur
öefchichte ber norbamerifanifchen Union, ©rfter ©anb: Sie Slbminiftration ber
©räfibenten U. S. ©rant unb 9t. ©. £>atjeS" (ßeipzig, g. SB. ©titnow) finb fefjr
berbienftlich, Wenn auch wicht immer ganz objectib gehalten; ©ranfS Regiment
bet ©orruption ift bott SBürbe berbammt, JpatjeS’ ehrenhaftes Streben gerühmt.
*) «gl „Unfete Seit", 1881, II, 151.
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Unfere
©in in 3*»eifel gefüllter hiflorifcher fReci^t^fnü, bet auf ein £>aar einem ^fuftij»
morbe gleißt, ift an ber $anb aller ©etege unb wettljboller ißapiere bom ©nfel
beS ©emorbeten, ©buarb greiherrn bon Stillfrieb*©atenic, in „23jonta$
be PRahh ©iarquiS be gabraS unb feine ©ema^lin" (SBien, ©raumüfler) erörtert
worben; bod) ift ber Stil teiber ganj incorrect.
Auch fei nodj beS rüftigen unb bon allgemeiner Anerfennung begleiteten
gortgangeS ber „©ucpflopäbie ber neuen ©ephidjte", bon SBilhelm $erbft re*
bigirt, bis jejjt elf Sieferungen, rüfjntenb gebaut.
Sine fe^r intereffante Schrift fiat gerbinanb ©regorobiuS beröff entlieht:
„Atl)enaiS, ©ephidjte einer bhjantinifchen fttoiferin" (Seipjig, g. 8. ©roefljauS).
SBenn ber Autor ber ©erfuchung toiberftanben hat, ben anjiehenben Stoff, nobettißißh
§u beljanbetn, fo tann man biefer Siographie bod) baS Seugniß auSfteüen, baß pc,
trofj ber hiftorifdj correcten, quellenmäßigen Darftellung, ftc^ lote ein fpannenber
©oman tieft unb überbieS beffer ftitifirt ift als biete neuere ©omanc. Athenais,
bie ©f)ilofot>ljentodjtet aus Sitten, welche bie Sdjule antiter ©Übung burdj*
gemalt hat, wirb bie ©emafjtin beS ^b e »bofiuö II. in ©pjanj, unb obgleich
bon ben ©reueln beS ©haantinerthumS angefränfelt, unb nicht bon jeber Sdjulb in
Siebe unb £>aß freijufprechen, bleibt pe bod) immer eine intereffante grauen*
geftalt; als Dichterin hat P e eine größere Dichtung: „©hprianuS unb guftina",
geßhaffen, bon Welcher ©regorobiuS einen ©efang mit gewohnter gormgewanbtljeit
überfefjt ^at unb in feiner Schrift mittheilt.
yoltttftye Heuuf.
15. December 1881.
Der neue ©eichstag würbe eröffnet unter ben Aufpicien einer conferbatib»
flerifalen AUianj, in Welcher bie ©egierung eine SWajorität ju pnben hbfpe.
Darauf beutete ber ©etd|S!anjler felbft in feinen ©eben auSbrndlieh unb ber*
ftänblid) h<n. 3m Saufe bon bier äBodjen h°i P<h bie politifdje ©onfteQation
bereits in einer SBeife beränbert, baß bon jener ©teljrheit nicht mehr bie ©ebe
fein fann. 3wißhen bem ©eiihsfanjlcr unb bem Zentrum ift ein SonPict aus*
gebrochen, ber bie phon an unb fiir fiep jWeifelljape Unterftähung, welche baS
©entrum ber ©egierung gewähren follte, gänjlich in grage fteHt. Daß in biefem
fritifdjen SDioment ber ©eidjSfanjler Wieberljolt um feine ©ittlaffung eingetommen
fei, ift gewiß mehr als ein unglaubWiirbigeS ©erfleht; benn in ber Dfjat h°t bie
Anwenbung ber biplomatifchen ©runbfäfce auf bie innere ©olitif einen entfehiebenen
ÜRiSerfoIg babongetragen unb bie neue unb lefcte Stühe, welche bet fi'anjler für
feine ©eformplane fuchte, bricht unter ihm jufammen. ©S war natürlich, baß bas
Gentrum bie häuften Anfprüdje machte, fobaib es bon feiner tlnentbehrlicljfeit für
bie ©olitil beS SänjlerS fich überzeugt hatte, unb baß es jebe ©elegenjjeit benu^te,
um bemfelben ju jeigen, wie Weit er fontmen werbe, wenn es groüenb beifeitefteht.
©or bem ©intritt ber lebten fritißhen SBenbung hat gflrft ©iSmarcf noch «in*
mal ©elegenheit genommen, nicht nur fein 3ufunftSprogramm ju entwidetn, fonbeni
auch ©üdblide auf bie ©eßhicfite feiner innern ©otitil ju werfen unb bie Afiomc
berfelben fcharf unb beftimmt hwjuftetten. 2Bir glauben nodj nicht, baß biefc
©eben als bas politifche Deftament eines jurildtrctenben Staatsmannes ju be*
trachten finb; jedenfalls geben fie in aphoriftifdjer gornt unb mit fdjlaghaften
AperguS ein ©ilb bon ben ftaatSredjtlichen 8nfchauungen beS ©eichSfanjlerS unb
bon feiner Sfluffaffung beS ©angeS, ben bie innern Angelegenheiten DeutfchlanbS
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Polttifcfye 2?et>ue.
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unter feiner Seitung genommen haben. Am 28. unb 29. Stotj., Bei ber gweitett
©erathung beS Etats, in Erwiberung auf bie Sieben SaSfer’S unb §änel’S, hielt
ber Mangler jene Sieben, bte jebenfaltS in oratorifcher #infi<ht gu feinen bebeut*
famfien Seiftungen gehören. $aS ®eutfdje SReidt» ift ber rocher de bronze, ben
er gu ftabiliren fudjt im Kampfe mit ben toerfchiebenften Parteien; hoch er t>er=
fcfjmitgt mit ber SteidjSibee als unzertrennlich biete feiner eigenen gbeen — unb
bieS ift ber ©unft, too aud) bie reichstreuen Parteien fid) oft bon ihm fcheibett.
Er macht atleu ohne Ausnahme ben ©orwurf, baß fie, fobatb er fich ihrer
Unterftüfeung bebient habe, bie Steigung hatten, bie faiferlidje foWol als audh bie
föniglich preußifche ©otitif in ihren ®ienft gu nehmen. So habe ihm bie confer*
batibe Partei bie SunbeSgenoffenfchaft aufgefagt, ats er bertangt habe, baß bie
©otitif im Statlje beS Königs unb nicht in ber graction gemacht »erbe. „SJtit
ber EentrumSpartei", fährt ber SteidfjSfangter fort, inbem er mit mögtichfter Sd)o=
nung bie gewfinfdfjten neuen Atliirten behanbelt, „bin ich burd) bie hiftorifd)e
Entwicklung, toeniger burch meine Sdjutb, atS bie Herren annehmen, Wefenttid)
burdh bie EotonifirungS»erfud)e in unfern potnifchen SanbeStheiten in ben ®antpf
gerathen, ber an ©itterfeit nichts? gu wünfdfjen übrigtäßt, ber aber fofort befänftigt
toorben wäre, fobatb ich wich erboten hätte, in ben Sienft ber graction gu treten,
©on feiten ber nationattiberaten graction habe ich toefenttich Unterftüfcung gehabt,
bis bie Herren fanben, beS UnterftüfcenS wäre nun genüg; fie wollten, ich faßte
fie nun unterftüfcen. So breite fich bie Sache im gahre 1878." ©ei biefem
Anlaß fritifirt giirft ©iSntarcf, wenn audh auf thatfädjticher ©runbtage, boefj mit
feiner gronie bie merfwürbige Umwanbtung, Welche fidh bei ber nationattiberaten
Partei in ©egug auf ihren Stanbpunft betreffs beS SociatiftengefcfceS in furger
3eit boßgog; er rechnet es fich gum ffierbienft an, baß er ben sperren Gelegenheit
gegeben habe, „fich burch baS ©ab einer Sieuwaljl bie SJJöglidjfeit beS SBecfjfelS
ihrer Anficht angufchaffen"; er habe barin Stiidtficht auf biefenigen Herren genommen,
welche gegen bie fpöbeßfehe Socialiftenöoclage geftimmt hätten. „®aS tonnte man
meinem StnftanbSgefüt)t nicht gumuthen, baß biefetben Sperren, ohne eine Säuterung,
ohne burch eine SfeuWal)! gegangen gu fein, um Wenige SWonate fpäter gerabe baS
Eegenttjeit bon ihrer Abftimmung bethätigen fottten, nadhbem ingwifdhen nur ber
Unterfdhieb bortag, baß bon gwei Attentätern nnb ÜRörbern ber eine Erfolg gehabt
hatte nnb ber anbere nicht, geh tonnte bodfj nicht glauben, baß rein äußerliche
Erfolge bie Uebergeugung ber Herren hätten änbern fönnen." SEBaS biefe buntelfte
©teile in ber ©efchidjte ber nationattiberaten ©artei betrifft, fo Wirb man auch
in 3ufunft taum ber Anficht fein, baß baS ©ab „einer SteuWaht" auSreichen
tonnte, bie Uebergeugungen ber Stationattiberaten fo gänglid) auf ben Äopf gu
{teilen; auch nicht bie äußerlichen Erfolge, fonberit bie SEBirfung, welche biefetben
anf bie Stimmung beS SolfeS auSübten, war baS Entfdjeibenbe für ben gängtidjen
Umfchtag ber SJteinung unb Abftimmung, weldhen giirft ©iSmarcf mit fo bietem
Wohlbehagen h«borhebt. gm übrigen macht er ben Abgeorbneten SaSfer unb bie
„Slational=8eitung" oerantworttich für ben ©rn<h gwifdßen ben Stationattiberaten
unb ihm unb für baS Scheitern ber SJHniftercombination, unb fejjt fich mit SaSfer,
ber ihm ben Statt) gegeben, „fidh lauf bas Altenteil ber auswärtigen ©otitif
gurüefgugiehen", eingehenb auSeinanber, inbem er mit fdjneibenbem SarfaSmuS
bas 3ugeftänbniß erbittet, baß auch feine gegen btejenige SaSfer S weit gurüct*
ftehenbe unb bon $auS aus gering beranfehtagte Befähigung burch bie gwangigfährige
Schulung unb ®iSciptin eine gewiffe ©ewoljnheit beS UrtheitS über bie innent
Angelegenheiten erlangt habe unb als Anwalt beS praftifefjen SebenS boef) brauch*
bar fei. gürft ©iSmarc! gab in biefer Stebe gwei bemerfenSWerthe Erflärungett.
Er bat, nicht über fein AuSfcheiben aus ber innern ©otiti! mit fo bolter Sicher*
heit einen Schluß gu giehen; er warte ab, wie fich bie Abftimmungen geftatten
Werben; benn auf bloße SSahthrogrammc unb 3Bat)Itifteu hin fönne er feine befi
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Unfere <<5ett.
nitioen (Sutfcbtüffe faffen unb bem Äaifet bie Unterlage für fotdje machen. SBeiterbitt
crflärte er: „©Raffen Sie mir einen Stbfcbieb in Gnaben bom ßaifer: bann taffe
ich Sie Sftre ganje innere {ßotitit fetbft beforgen, weit el ficb bei uni nur um
SRetiorationen banbett unb um gar leinen not|wenbigen gtoang."
ÜRan tonnte biefe Siebe eine Stuleinanberfefcung bei {Reicblfanftterl mit ben
Parteien nennen: auch am 29. Sion., bei ber Seratbung über ben iReicblboulbattletat,
ergriff Bürft ©ilmard breimat bal SBort unb oerooltftänbigte bal Silb, bal er
fid» oon ben Parteien entworfen bat. (Sr bebauerte ben ©erluft, ben bie Breiconfer»
OatiOcn, bie Deutfebe {Reicblpartei, bielmat erlitten, unb fpracb feine Sympathie
für bie SRittetparteien aul, bie atterbingl im partamentarifeben Seben in ber
Defenfioe unb jule|t immer im ©ertuft ftänben. Die ©eceffioniften taufte et atl
Breibanbellpartei, einen {Ramen, ben ber Slbgeorbnete iRidert acceptirte: mieberum
brebte ficb längere Beit bie Debatte um ben SBecbfet ber Stnfcbauungen bei ßanjterl
in ©ejug auf Breibanbet unb Scbufootl. Die gortfcbrittlpartei bezeichnet Bürft
©ilmard atl $emmf<hubpartei; fie negire, mal bie {Regierung braune, unb bringe
üjrerfeitl nicbtl, weit fie nichts miffe. Die Gefahr fielt er barin, bafj bureb atl»
mäbticbe Stulmerjung ber SRittetparteien Buftänbe wie in Branfreicb berborgerufen
würben. Geringer erfc^eint ibm bie Gefahr, bafj bal Staatlfdjiff mehr jur {Rechten
binübergtitte unb fo bie Sübrung ber extremen {Rechten anbeimfiete. Stuf einen
Singriff oon |>änet, Welcher bie {Behauptung bei {Reicblfanjterl, bie Bortfcbrittl*
Partei gebe repubtifanifeben Bieten entgegen, atl irrig beftritt unb aufjerbem ibm
ben SBorwurf machte, bafj er bal £>br bei {tRonardjen ben Siberaten Oerfcbtiefje,
erwiberte Bürft ©ilmard in einer tängent {Rebe, welche oon feinem Stanbpuntte
aul eine febarfe Sritil bei partamentarifeben ©bfteml enthielt; febr energifcb be=
tont er bal monarebifebe {ßrincip unb b e &t beroor, bafj nach preufjifcbent unb
{Reicb&Gefej} ber Äönig unb ber Äaifer ein Boctor ber Gefefcgebung fei; ber ßanjter
habe nur bie tßotiti! bei Äaiferl ju oerantworten. Der langtet muß bur<b (Sontra»
fignatur feine Buftimmung geben jur {ßotitit bei ftaiferl, boeb biefer tann einen
&anjler, ber nicht contrafigniren Witt, enttaffen. Der Sfanjter aber tann ficb ohne
Genehmigung bei ßaiferl nicht rühren, teinen Schritt tbun, teinen Stntrag ein»
bringen, ohne bie Unterfcbrift bei Saiferl. Der engtifdje Grunbfajj „The king
can do no wrong" gilt in Deutfcbtanb nicht; bie {Berbältniffe finb hier ganj anberl.
Stucb bal engtifebe conftitutioneSe ©bftem ift gang gut, fotange el nur 3B|igl unb
Doriel gibt; bann OoHjiebt ficb bie Stbtöfung ber SRinifterien ganj einfach- ®ie
aber, Wenn brei ober fünf {ßarteien Oorbanben finb? Dann finb nur (Soatitionl»
ntinifterien möglich; bei uni ift nicbtl bergteicben aulfübrbar. Dann fpracb ber
Bürft bal ©ebenten aul, bafj fetbft, Wenn eine große liberale {ßartei unb eine
große liberale SRebrbeit ficb bitben würbe unb ein ÜRinifterium aul ihr beroor»
ginge, in Deutfcbtanb bie SRinifter wieber mit benjenigen ihrer Broctionlgcnoffen
gu tämpfen hoben würben, bie nicht ÜRinifter geworben feien: minifterietle {ßartei»
Opfer bei Snteltectl, ©bgantinilmul Würbe febr batb Oon ©ruber gu ©ruber
berüberltiugcn.
SBie in biefer {Rebe ftcb Bürft ©ilmard gegen bal partamentarifebe {ßrincip erttärt
in feiner engtif^en Gcftaltung fowie in feinen repubtifanifeben (Sonfeguengen in
Brantreicb, bie er auch für Statien in Slulftebt ftetlte, fo war er in feiner erften
{Rebe am 28., bei ber {Beratung über ben ©eitrag bei {Reichel gu ben ßoften bei
Slnfcbtuffel ber Breien £anfeftabt Hamburg an bal beutfebe Bottgebiet mieberum
atl ein begeifterter Stnwatt ber beutfeben {Reicbleinbeit aufgetreten, unb auf biefem
Gebiete, auf bem er ficb ein bauetnbel ütRonument geftiftet bot» wirb man feinen
Grott über SBiberftanb unb SBiberfprucb am begreiftiebften finben, auch wenn er
hier unb bort über bal Biet binoulfd)ießen fottte. ©erftimmung unb ÜRilmutb
über ben fRüdgang ber beutfeben (Sinbeitlbewegung fpracb fi<b in biefer {Rebe aul;
ber {Rüdbtid auf bie eigenen Dboten unb Seiftungen hotte inbeß jenen B'*9 oon
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Politifdje Heouc.
f55
©efdjeibenheit, welcher echter ©röfje fo toohl ju ©efidjt fteht. $et Hamburger
Stage gegenüber betonte er fein ©eftreben, bie ReidjSberfaffung in einem ihrer
roichtigften unb früher immer erftrebten ©rincipien, im Strt. 33 auszuführen unb
ein einheitliches ßoügebiet ju fdjaffen; jebe ©rejfion in biefem Sinne, ju welker
er gefc$tich berechtigt fei, »erbe er auSüben. „Sch h°be", fagte ber gürft, „bie
erften breijehn Sahre meiner minifterietlen Jljätigfeit, toenn td) bie ßonflictSzeit
abrechne, h<>uptfächli<h ben auswärtigen Aufgaben getoibntet; ich glaube, biefe Stu=
getegenheiten ju einem fotchen Wbfdjluh geführt ju haben, toie fie ihn in einem
SRenfdjenalter überhaupt erreichen fönnen. $aS Speich ift nicht nur burch bie großen
Kriege befeftigt, fonbem es ift auch toährenb ber zehn Sahte, bie barauf folgten,
über bie fei|t gefährlichen unb fehr fchtoierigen SBege, auf benen mir burch bie
Gefahren übermächtiger (Koalitionen in Europa bebroht fein tonnten, hintoeggeteitet
morben, fobafj biefe ©efaf)r, toie Sie jefjt felbft baS ©efüljl h°&*n, oerfchtounben
ift. Sie tann toieber Auftreten; aber fie ift im Rugenblid befeitigt. @3 ift und
auch ba, too toir burch Seftftellung beS ®eutfchen Reiches ©erftimmung, ja ©er»
bitterung hinterliehen, gelungen, fchliehlid) freunbfdjaftliche ©ejiehungen herjufteüen
unb ju getoinnen, bie toeit über baS, toaS toir jur 3eit beS 5Deutfd)en ©unbeS
befajjen, hinausreichen." 3e|}t h°be ber ffanjler feine Rügen ben innern Rnge»
tegenheiten jugetoenbet; er habe junädjft nicht berfucht, beranttoorttiche SRinifter
neben ben ReidjSlanzler hinjuftellen, toeil babnrch feiner Rnfidjt nach beS Reiches
Einheit gelodert toorben toäre, fonbem er habe geftrebt nach ©erbefferutig unb ©er»
bottfomtmtung ber innem ReidjSeinrichtungen, in ber ©erbefferung ber toirt|fd)aftlichen
3uftänbe unb ber Sinanjlage, in ber ©efeftiguug beS innern griebenS unb ©er»
boütommnung berjenigen ©erfaffungSbeftimmungen, bie noch unboüenbct finb, tooju
befoitberS bie 2Bof)lthat eines einheitlichen |>anbetSgebieteS gehöre. griiher hätte
er bei biefen EinljeitSbefttebungen mehr Unterftüfcung bei bem ©arlament gefunbcn;
jefct finbe er fie mehr bei ben Regierungen. „2)aS liegt", fuhr er fort, „an ber
3erfahrenheit unferS gractionS» unb ©arteilebenS unb ber Reigung, bie heutzutage
ba ift, bie ©eftrebungen, bie id} als ReichStanjler jur ©oHenbung meiner nationalen
Aufgabe mache, als eine ©ebrüdung beS Schtoachen, als eine berfaffungSmäfjig
unberechtigte ©reffion ju bezeichnen, ffion biefer Reigung mar in ber 3eit, als
mir jnerft bie beutfche Einheit im Rorbbeutfchen ©unbe fich anbahnen unb bilben
fahen, ganz unb gar leine Spur öorhanben. SBenn bamalS ein äRitglieb folchc
Sdjtoierigfeiten gemacht hätte, toie fie jejjt in ber hamburger grage getommen finb:
unter bem allgemeinen Unwillen hätte er fdjweigen müffen. 2Bir finb toeit zurüd»
gekritten in ber ©egeifterung für bie ©inheit, unb Sie fteßen bas ©lüd bon
©benhaü, bie beutfche ©inheit, auf eine harte ©robe unb fdjeinen mir bereit zu
fein, fie auf noch härtere zu ftellen. $ie golge bon bem ©arteiljaber, ber unS
Zerr eifit, fehen Sie barin, bah bie gractionen, bie bem SDeutfdien Reiche noth=
toenbig ihrer ganzen lenbenz nach eutgegenftehen, beifpielsweife bie polnifdje, bie
bänifche, bie toelfifche, bie franzofenfreunblidje toiü ich fie nennen, in ihrer ganzen
RuSbehnung toadjfen, zunehmen unb gebeihen: bas toäre bor fünfzehn fahren nicht
möglich getoefen."
Weiterhin fpricht gürft ©iSmard bon bem ®anf beS SolfeS, auf ben er ber»
Zichte; er fagt: „SBenn Sie irgenbjemanb für bie beutfche Einheit ®anf fchulbig
finb, fo ift eS ber Saifer unb fein fpeet; ber Saifer, ber als Sönig bon ©reuten
feine ©jriftenz, feine Grotte bafür einfefcte, baS $cer, welches unter einer intcüi»
genten gühtung, aber auch mit großen Seiftnngen, toie fie feiten finb, fich f<hlug.
liefen finb Sie 5)an! fchulbig für bie beutfche Einheit nnb baS Deutfdje Reich;
mit in fehr geringem SRafje, unb auf baS geringe SRafc, baS etwa borhanben ift,
belichte ich. Rehmen Sie an, bah ber bofmifche Stieg miSlang, bah biefer zur
©ntfdjeibung ber beutfdjcn ©cvhältniffe, zur ®urchhauung beS ©orbifchen SnotenS,
in beffen ©erfdjlingung toir feit langen 3 a h r §unberten liegen, geführte Sricg für
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J56
Unfere ^ett-
fßreußen oerloren ging, fo war ja ganz Har, baß, wenn ich überhaupt nad) biefem
Vorgänge lebenbig meine Heimat wiebergefeljen hätte, id) ber allgemeine «Sfinben«
6ocf mar, ber ©erbredjer, ber ba« Baterlanb leichtfertig in« Berberben geführt
hätte. ®ie« habe ich mir beim (Sinjuge im 3afw e 1866 gefagt, unb einer meiner
Äameraben brücfte fich bamal« fo au«: «SBäre e« nicht fo gelommen, fo hätten
Sie bie alten SSeiber mit Befenftielen tobtgefchlagen.» ®a« Berbienft nehme ich
alfo nicht an; ich hatte meine ©fiftenj, meine ®h re “nb ßuhmft, mein ©etoiffen,
möchte ich fagen — eingefefet für ba« (Gelingen beffen, roa« mir gelungen ift; ich
hatte meinem Herrn ben Batf) ertheilt, ber jum ©Uten auSgefdjlagen ift; e« tonnte
aber auch fein, baß er nicht fo auSfchlug. Behüten Sie an, ber ftrieg mit granf*
reich, an bcnt ich fiel unfchulbiger mar a(« an bem Kriege mit Oefterreidj, märe
mi«lungen: wie rafdj märe bann gefagt morben, baran fei nur allein ber Kanzler
fchulb, beffen politifcfjer ©igenbünfet, beffen ©hrgetz allein ba« Baterlanb in ba«
Berberben eine« unglüctlichen Kriege« geftürjt habe; ba« märe feljr rafch gefchehen,
baju fenne ich bie öffentliche Meinung genug. Blfo mein Sßerbienft unb meine
Bemühungen mürben in beiben gälten, mochten bicfe Kriege getingen ober miS«
tingen, ganz biefelben gerocfen fein; gewiß märe ich im gälte be« SBiSlingen« bem
allgemeinen Haß unb ber Verfolgung, ja bietleicht Schlimmerm pm Opfer ge«
fallen. Bun fiitb fie aber gelungen, unb ba« ift ba« Berbienft be« Heere«. SBir
ift niemanb ®anl fchulbig, unb wer bon ihm behauptet, ich «märte ihn, ber«
leumbet mich- 3<h habe meine ^ßflic^t gethan unb weiter nicht«."
SBorte ftoljer Sefdjeibentjeit — bie fchtimmften BerHeinerer be« 9tei<h«fanjter«
hätten allerbing« nicht fdjärfer herborheben fönnen, baß bie SBürfel be« «Schlachten«
gtüdS allein, ©rfolg ober SBiSerfolg ber beiben Kriege über feine ftaat«männifche
©röße entfdjiebcn; boch ba« SBort Jputten’«: „Sch hab’« gewagt", erhält bann erft
feinen bollen SBertlj, wenn bie« äöagniß $ur rechten 3eit gefehlt; bann Wirb fich
ba« ©rfaffen be« gerichtlichen Sötoment« pgleich al« fichere Bürgfchaft be« Siege«
ermeifen; jebenfaU« beruht barauf bie ©röße be« Staat«manne«.
®a« Programm be« gürften Bi«marcf, ba« er in eine golge bebeutfamer
Beben in biefen lebten Boöembertagen entwiefett hat, mürbe unooHftönbig fein, wenn
er fich nicht auch über bie brennenbe lirchenpotitifche grage geäußert hätte. $ap
gab ihm eine Siiterpcltation be« Bbgeorbneten Birdjow am 30. Bob. Hnlaß.
gürft Bi«marc! erflärte pnächft, baß bie Beziehungen, über welche ber Snter«
petlant Slufllärung p erhalten wünfehe, biejenigen Bwußen« un p nicht be« Beiche«
feien. Buch bie fiogif ber gefdjäfttichen Sage bertange, baß gerabe bie ©injel«
ftaaten bie confeffioneden grageit unb ben Schüfe ber ©ingefeffenen unb ihre
Sntereffen mit Bom bertreten unb befürworten; ba« Beidj habe foldfje Bertretung
unter feinen Slttributen in ber Berfaffung nicht aufgezählt. ®ie frühere ©e»
fanbtfdjaft be« ®eutf<hen Beidhe« in Bom fei aufgehoben Worben Wegen ber
®onart ber Sprache, bie bon Bom au« in Bepg auf bie preußifche Begierung
geführt worben. ®ie« SBotib bet Berftimmung fei jefet fortgefallen; es fänben bie
höflicfeften unb freunblichften Beziehungen mit bem jefeigen Snljaber be« römifefeen
Stuhle« ftatt. 3«nä<hft hält ber giirft eine Bertretung ber ©injelftaaten in Bom
für inbicirt, bie fich jo p einer Bertretung be« ®eutfdjen Beiche« au«bilben
lönne, nicht al« eine Bertretung bei einer auswärtigen Biacfet, fonbent al« eine
Bertretung bei einem Raupte ber Siirche. „3<h rechne", fagte ber gürft, „bie
Betenner ber latfeolifchcn Kirche ju gleichgestellten SanbSleuten unb halte bie 3«=
ftitution ber fatljolifdhen ®ird)e mitfammt ber päpftlidjen Spifee, bie ju ihr ge=
feört, für eine organifdje Snftitution ber beutfefeen BunbeSftaaten, b. i. be«
®eutfcfeen Beides." ®iefe Sleußerung be« Beich«fanjler« Hang in hohem ÜDtaße
oerföhntich, ebenfo bie auSgefprocfeenen Hoffnungen auf ben grieben, ber in einem
annehmbaren modus vivendi beftehen foß, ba ber BeichSlanjler einen oottftänbigen
griebenSfcfeluß jWifcfeen Staat unb Sircfee für bie iQuabratur be« ßirlel« erflärt.
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Polttifcfye Herme.
*57
3n einer fpätern Entgegnung fprach gürft ©iSmarc! noch non bem ©hjantiniSmuS
ber Stajoritäten.
Sitte biefe Gjrcurfe unb jum 2^eit hschbebeutfamen ©rogrammreben flohen
fich in bie Etatberathung ein; »er bie ©djutb träge an betn fortwäljrenben
$inüberführen ber Debatte auf baS perfönliche ©ebiet, barüber faitben jwifdjen
bem SeichSlanjler unb einjeinen ©arteifä^rern gegenfeitige Secriminationen ftatt.
Slbgeorbneter non ®leift«Sefcow erflärte inbefj Stifter, |>änel unb ©irdjow für
bie allein ©chulbigen, unb jwar gab er biefer Slnflage eine hö<hft prägnante
SBenbung non origineller ©ilbtidjteit, bie itjrn einen DrbnungSruf jujog: „®iefe
Herren mfiffen tnir enblidj einmal feftnageln, wie man getuiffc X^iere an baS
©djeunenthor annagelt."
Stängel an ©achlichfeit tonnte man ber erften Etatrebe beS Slbgeorbneteit
Siebter am 24. 9ton. getoifj nic^t jurn ©orwurf machen. Er führte junäcbft aus,
ba| ber Sanier für bie ©otfehaft berantwortlid) fei; bie fitone ftepe b°<b über
ben ©arteien; eS fei franjöfifche Slrt, bie Krone in ben Kampf ber ©arteien herab«
Rieben unb ©tebifeite $u probociren. ®ann fritifirt Sichter ben Etat fptbft, ben
er tneniger erfreulich finbet als bie ©otfehaft; eS feien 9 Still. Start an Gonfurn«
fteuern weniger angefefet, unb biefe jeigten am beften bie fteigenbe SBoljtfahrt an;
bei ben Zöllen feien 1,750000 Start weniger angefefct unb bie $anbelStammern
rühmten nicht bie Sefuttate ber neuen SBirthfdjaftSpolitit; bei ber ©oft inbefj
gebe eS ein Steljr öon 1,500000 Start; baoon entfielen aber 1,400000 Start auf
SBitwentaffenbeiträge. ®er Stebrertrag ber Steuern fei auf Stilitärjwecfe ber«
wenbet worben, obfebon baS Gentrum benfelben nur unter ber ©ebingung bei«
geftimmt habe, bafj ber Ertrag nicht oom KriegSminifterium berwenbet werben,
fonbern ben Einjelftaaten jugutc tommen fotte. Stan Eiabe Erleichterung ber
Sirmen* unb ©chutlaft, bie StlterSberforgung unb bieleS anbere berfprochen; aber
woher bie Stittel nehmen? ®aS JabactSmonopot reiche baju nicht aus.
®iefe {ebenfalls einfehneibenbe Kritif beS Etats blieb wunberbarerweife ohne
jebe Erwiderung. Slbgeorbneter bon Stinnigerobe, ber junächft bas SBort hotte,
berichtete barauf Wegen ber borgefchrittenen Zeit» bie Sebner ber liberalen ©ar=
teien aber beShalb, weil ihnen bei bem SluSfatt einer Entgegnung bon confer«
batiber ©eite SnfnüpfungSpunfte für eine pariamentarifche Sluplif fehlten. Ein
©ertagungSantrag würbe abgetehnt, auch feitenS ber Sationattiberaten, bie fich
bamit ju ben Slnfichten Sichtcr’S in ber §auptfa<he betannten, unb fo blieb bem
(fortfehritt unb ber abteljnenben ffritit baS einzige unb lefcte SGBort in ber ©eneral«
bebatte: ein ©organg, ber fich i« ber partamentarifchen ©efchichte wol feiten
Wieberljoten bürfte.
®aS ©erfäumnifj rnieber gut ju machen bei ben ©pecialberatljungen, ift ben
Eonferbatiben, fo fleijjig fie baS SBorl ergriffen, nicht gelungen; ein Slnlafj ju
einer umfaffenben Ueberfidjt, ju einer burchgreifenben Sbwehr ber Sidjter’fchen
©efammttritit bot fich nicht wieber in gleicher SBeife bar; boch bießeiefjt berbanten
Wirts bem jebenfalls nicht phitofophifche« Schweigen ber Sechten am erften Sage,
bafj gürft ©iSmarcf fpäter fo häufig unb in fo glänjenber SBeife baS SBort ergriff.
®ieS gefchah, Wie wir gefeljen, auch am 28. Stob., Wo über ben ©eitrag beS
SeicheS ju ben Soften beS SlnfdjluffeS Hamburgs an baS beutfdje Zollgebiet ber«
hanbelt würbe. $änet bertrat bie frühere 2lnftf)auung feiner ©artei, bie zugleich
ber ©tanbpuntt Delbrücf’S ift, baß für ©erlegung ber Zoügrenje an ber Unter»
elbe nach tote bor ein ©efefc nöthig fei. $ie ©ortage würbe an eine Gommiffion
bon 14 Stitgtiebern berwiefen.
Sfir bie greunbfdfaft ber Segierung mit bem Gentrum War es ein hortet
©chlag, bafj bie Stehrljeit beS le^tern am 1. ®ec. bei ber Gtatberathung gegen
bie gorberung bon 85000 Start für ben 25eutffhen ©oltSwirtljfchaftSrath ftimmte.
Such bie Sationatliberaten ftimmten bagegen; bie ©orlage Würbe mit 169 gegen
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*58
Unfere £eit.
83 Stimmen berworfen, obgleich gürft SiSmard für fte eintrat unb eine beftän=
bige SBieberpolung jener Sorberung in Auöficpt fteflte.
Der Srucp jwifcpen Zentrum unb Regierung fotlte fiep balb burcp einen
3wifcpenfatt bon meßr perfönlicper Sebeuhtng erweitern. SBinbtporft patte in
ber Sipung ber ©ommiffion, bie über ben Anfcptuß Hamburgs berietp, bie ©in=
fpracpe beS AuSlanbeS erwähnt, darüber würbe er in ber „Sorbbeutfcpen WH*
gemeinen 3*itunö" heftig angegriffen, eine ffirwiberung unb Sericptigung bagegen
nic^t aufgenommen, trop ber Vermittelung beS ginanaminifterS Sitter, ber fiep
bafür berbürgt patte. Sei ber näcpften partamentarifcpen Soiree SiSmard’S
blieben fämmtticpe eingetabene SRitglieber beS ©entrumö au«. Da bie „Sorb=
bcutfdje Allgemeine 3eitung" ftatt eine Sericptigung einen neuen Angriff gegen
SEßiubtporft braute, fo liegt offenbar äJletpobe in biefer Dffenfibe. Soll biefleicpt,
wie einige Slätter annehmen, ber güpter ber Partei bei biefer ober bei bem
Satican als ein Störenfrieb biScrebitirt werben, in einer 3eit, wo jebe Störung
wichtiger Verpanbtungen berpängnißbotl werben fönnte?
3war bemühte ft<$ fpäter SBinbtporft in ber Sipung ber pamburger ©ommiffion,
bei jebem Anlaß ju jeigen, wie fepr er bereit ift, ber Regierung entgegenjulommen;
auch bat er bie SipungSprotofofle nidjt beröffentlicpt, Wie er anfangs beabficptigte;
bemtocp ift ber Srucp jwifcpen ber Regierung unb bem Zentrum, baS feinem güprer
treulicp folgt, nict>t niepr fünftlicp ju berfcpleiem, unb bie Regierung wirb i^re
Verpanbtungen mit bem Satican gewiß jept hinter bem Süden beS ©entrumö
führen, baS päpftlic^er ift als ber ißapft.
Sei ben Serbanblungen über bie Denffcpriften betreffs ber Ausführung beS
SocialiftengefepeS am 10. Dec. ergriffen bielfacp bie jüngern focialiffifepen 3Jtit=
glieber beS SeicpStageS baS SBort, um fich über bie Ausübung beS ©efepeö ju
bettagen unb berfcpicbene polizeiliche SBiüfürmaßregetn, namentlich betreffs ber
AuSWeifungen bem Seichstage ju benunciren. Die ^auptrebe hielt ber Abgeorb»
nete fpafendeber, eine fcharfe Stitif beS ©efepeö, welches ben SipiliSmuS per=
üorrufc; er fuchte nacpjuweifen, baß gerabe ertaubte Seftrebungen, wie baS
SBäplen unb Unterftüpen, berfolgt würben, unb baß burcp baS ©efep biele
©jeiftenjen bernidhtet Werben. SRinifter bon ißuttfamer unb ber fäcpfifdje SKinifter
oon Softip erwiberten; lepterer, inbem er bie bon $afencteber borgebrachten
©injrifäfle in ein anbereS Sicht fepte. Aus ben Seben ber Abgeorbneten £>änel
unb SaSter ging perbor, baß innerhalb ber liberalen Parteien bie Stimmuug für
baS AuSnahmegcfep feine günftige mepr ift unb baß biefelben fpäter für eine
Verlängerung feiner ©ettungöbauer faum ftimmen bürften.
Sei ben ©tatberatpungen würben bie berfepiebenartigften fragen geftreift: ber
Sonntagsbienft ber fßoftbeamten am 7. Dec., wobei Stöder als Anwalt ber grö=
ßern SonntagSrupe ber ißoftbeamten auftrat, Wäprenb Sichter replicirte; baS
Seicps^Sifenbapnamt unb bie Sörfenfteuer am 5. Dec., wobei ber ©egenfap
jwifdpen ©runbbefip unb beweglichem Kapital Wieber fdjarf pertwrgepoben würbe.
Sei ber Seratpung beS SRilitäretatS am 6. Dec. fpraep fiep Sicpter gegen bie
©runbfäpe aus, naep benen bie 2Jtititär=6rjiepungSanftalten für Knaben berwaltet
Werben. Abgeorbneter bon Sttpler braepte wieber feinen AbrüftungSantrag bor;
Sonnemann erttärte, bie Voltspartei Werbe gegen baS gefammte ©jrtraorbinarium
ftimmen. Am 3. Dec. interpeüirte Abgeorbneter Steppani bie Segierung wegen
beS SaueS eines neuen SeicpSgericptSgebäubeS in Seipjig; ber StaatSfecretär bon
Scpetting gab betreffs ber ©erüepte über Verlegung beS SeicpSgericpteS eine be*
rupigenbe ©rflärung. Am 13. Dec. Würbe, trop beS SBiberfprucpS bon Seicpen»
fperger, bie bon bem Abgeorbneten bon Stauffenberg warm empfohlene Vorlage
wegen beS SaueS eines neuen SeicpStagSgebäubeS mit großer üfteprpeit angenommen.
SBemt bie liberalen Parteien fiep jept enget aneinanberfcpließen, fo ift biefe
Annäherung an baS Programm ber Seceffioniften bie golge ber jepigen parla=
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Politifdje Hernie.
\59
mentarifdjett Situation. Sie Selegirten ber brei liberalen Parteien berbanbeln
bejüglid} einer Erweiterung beS $aftpflichtgefej$eS, ber Einführung ber ©erficberungS«
jroangSpfticbt. ©S fott bamit ber Sotwurf beS fReicbSfangletS entfräftet werben,
bag bie liberalen ©arteien nichts ©ofitiüeS jn bieten üermöcbten.
Sie Sage in granlrei^ ift Har unb ber Regierung im ganjen giinftig. ©am«
betta, als frattjöfifdjet SRinifterpräfibent, gebietet über eine fixere SRehrbeit im 91 b«
georbnetenbaufe unb ift beftrebt, ficb biefe iDteljrtjeit im Senat ju fdjaffen. Slin
27. Stob, haben bie Selegirtenwablen für bie im Sanuar 1882 beoorftebenbe
Erneuerung beS Senats ftattgefunbeu; in ben betreffenben Separtements, mo eine
Erfabwabl ftattfanb, finb 15000 Selegirte unb @rfaf}männer gewählt toorben.
Sie SReljrjabt ber ©etoäljtten gehört ju ben jSlnbängent beS ßonfeilpräfibenten;
bie ©ambettiftifcbe Strömung ift je|t fo mächtig in Sranlreicb, bag fie Snftitutionen,
toie bem franjöfifcben Senat, bem lebten SRütflialt ber Dppofition, gefährlich ju toerben
brobt; benn toenn bie neuen Senatoren gewählt finb, toirb ©ambetta 2Rad;t genug
befiben, um an bie ^Reform beS Senats ju geben; an eine gänjtidje öefeitigung
beffdben benlt er nicht, toie er eS felbft im Senat auSfpracb. Sür bie Staats«
(eiter bat baS 3ü>ei«S > ammer«Sbftem auch feine ©orjüge; fie fönnen gelegentlich
bie eine parlamentarifcbe S'örperfcbaft gegen bie anbere auSfpielen. Sie SReform«
frage beS Senats fott in bem Kongreß oerbanbelt merben, ben Senat unb 5lbgc«
orbnetenbauS gemeinfam bilben. Sie ©eoifion ber ©etfaffung fott fidb inbeg nicht
auf ben Senat befcbränfen; auch bie SIrt ber Ergänzung beS Senats unb ber
Sepntirtenfammer, b. b. bie Srage beS ßiftenfcrutiniumS fott toieber auf bie SageS«
orbnung gefegt toerben. Siefen SieblingSplan lägt ©ambetta fo wenig fallen wie
gürft ©iStnard feine SieblingSpcojecte: fo oft es irgenb angebt, erfreuten fie wieber
auf ber parlamentarifcben ©ilbfläcbe.
Sie ^auptgegnerfcbaft gegen ©ambetta im Senat gruppirt ficb um SuteS
Simon, welker je^t bie Oberleitung beS „Gaulois" übernommen b fl t unb in
biefer Beitung bem ßonfeilpräfibenten einen bartnädigen SSiberftanb leiftet. Seinem
Einflug war eS fchon jujufchreiben, bag bie Siftenwabl ju Satt fam, unb er lämpft
auch gegen bie Senats« nnb ©erfaffungSreoifion energifcb an, fowie er bie SRinifier
bes neuen ©abinets, befonberS ben UnterricbtSminifter ©aul Söert, einer in ge«
mägigter Sorm ficb haltenben, aber bocb ber Sache nach einfcbneibenben ßritif
unterwirft, ©aul ©ert felbft bat bei bem Empfang beS ©erfonals ber ßultuS«
bcrWattung erllärt, man t)abe ihn wit tucblofen unb lächerlichen Singriffen beim«
gefucht; er als ©ultuSminifter fei Weber religiös nod) irreligiös; er habe ficb nicht
aufSoctrinen einjntaffen; feine Stufgabe fei, bie SlnSfübrung ber ©efe|c ju über«
toacben, welche bie ©ejieljungen jWifcpen Staat nnb fiirche regeln. Sie ^Regierung
werbe auf ftricte SlnSfübrung beS ©oncorbats oon 1802 bringen, bie fpätern
Errungenfcbaften beS &teruS aber nicht anerlennen. Sln<b wies ©ert bie ©efcbul«
bignng ab, bag bie ^Regierung einen nationalen Klerus b^ranbilben wolle; er fei
überhaupt fein oetWorrener fReboIutionär, fonbern ein SRann ber SBiffenfcbaft unb
beS ©rfegeS. ©egen biefen Stanbpunft, ber einem ©ultuSminifter jiemt, fann
lein billig Senfenber ©inwenbung erbeben, ©in SRinifter, ber gleiche ©erecbtig«
feit allen ©ulten gewähren fott, mug jebenfatts oon confeffionetter ©efcbränltbeit
frei fein.
©inen Sriumpb feierte ©ambetta in ber tunefifcben Stage, inbem er für
bie berlangten fRegierungScrebite eine imponirenbe SRefjrbeit gewann (8. Sec.).
Siefer ©rfolg ift um fo gröger ju achten, als gerabe bie ©jpebition nach SuniS
ber wunbe Sied war, auf wetdjen bie rabicale ©reffe immer wieber bewies.
Sreiticb trifft bie je^ige ^Regierung nicht bie ©erantwortiiebfeit für bie ©jpebition;
bocb man wugte, bag ©ambetta als Staatsleiter hinter ben ©outiffen fie nicht
nur gebilligt, fonbern mit beranlagt b a H £ - SSebe beS ©onfeilpräfibenten
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J60
Uttfere <5eit*
bemieö jtoar, bafj et in ber Defenfioe nicht ganj fo gemanbt ift mie in bet Dffenftoe;
fie hotte inbet biptotnatifdE»e Haftung unb fronte bie Empfinblichfeit beS ®uSlanbeS.
granfreidjs fßolitif foQ feftljalten an bem Vertrage bon ©arbo; nidjt um Snnejrion
Ijanble eS fidj, aber DuniS bätfe auch nidjt oerlaffen, bie für granfreidj aus ber
Dccnpation ermadjfenben ßaften foüen möglidfjft eingefdjränft merben. 2lud) bie cibi-
lifatorifdje ÜJiiffion granfreidfjS in Slfrifa hob ©ambetta ^erbor.
SlüerbingS h°t aud) bie Partei ber nidjt ©ambettiftifdjen SRepublifaner einen
Erfolg p oerjeicljnen. 9tibot fef}te eS burdj, bafj bie geforberten Erebite nur
unter ber ©ebingung angenommen mürben, bat fünftigljin neue SWinifterien wir
burdj ein ©efefc unb nidE»t meljr burdfj ein einfaches ©efefj gefdjaffen merben bürften.
hierin tag eine Äritif ©ambetta’S, rneldjc bem Eonfeilpräfibenten teineSmegS Witt*
tommen fein tonnte.
Die ©eratfjung ber tunefift^en Erebite im Senat am 10. Dec. gab ©ambetta
Slnlat p einer EljrenerJläruug für biefe S'örperfdjaft; er erfannte bie tiolje 93e=
beutung beS Senats für bie franjöfifc^e ©erfaffung, bie iRottjroenbigfeit einer Erften
Kammer an unb behauptete, baß er nur bie ©efeftigung beS Senats anftrebe. 3n
©epg auf DuniS fteflte er, fobatb baS ßanb beruhigt fein mürbe, ©efefcentmürfe
in SluSfidjt unb möchte betreffs ber tunefifdjen ©jhutb ein Slbfommen mit ben
anbern äJtädjten treffen, mie bieS mit ©epg auf bie ägpptifd)en gragen getroffen
morben fei. Den ©efammtoerluft ber Druppen in DuniS fchlägt er nur auf
1100 SDiaun an unb erttärt: „Der ©ertrag oon ©arbo binbet unS bis p bem
Dage, an meinem man ein ehrenhaftes SMittet finben mirb, ihn bem ©ei gegenüber
p erfüllen, ohne ihn p jcrrei|en, oietmehr feine ©eftimmungen p präcifiren."
Ein bon ©uffet geftetltcr Antrag auf DageSorbnung, metdher bem fßarlament eine
mirffame Eontrole fidjetn fott, marb mit 170 gegen 95 ©timmen abgetehnt.
Dhne gtage fprach ©ambetta im Senat, in Ermiberung auf ben Hergang bon
©rogtie, mit beffetm Erfolg als in ber Deputirtentammer unb errang am 13. Dec.
ohne ÜJiühe bie ©emittigung ber Erebite für bie tunefifdje Efpebition.
Die ©orgänge in ber Dcfterreidjifdj=Ungarifdljen SJtonardjie, ber füb»
batmatinifche Stufftanb, bie ©fanbatfcencn iu ©eft, ber ©rnnb beS {Ringtheaters
in SGßien finb menig erfreulidjer SIrt. gn ber Dfjat h°t teuerer faft bie Dimenftonen
eines politifihen EreigniffeS angenommen; minbeftenS ift er nicht mehr atS ein
btoS tocater llnglüdtsfatl p betradhten. Die Slntmort beS ©rafen Daaffc mieS
bereits auf bie Dragmeite biefeS gräfjtidjcn Dh ca terungliidS hin. Dat ber ©üljnen=
branb nicht bem ißublifum angejeigt, ber eiferne ©orhang nicht h etu ntergelaffen
morben mar: baS ftnb ©orgänge, bie nur baS ^Dfjeater betreffen. Dag aber teine
Detlampen augepnbet, bie 9iothtljüren oerfcljtoffen maren, Oor allem, bat bie
fßolijei unb bie SRettungSmannfdfjaften mit einet unglaublichen ^»artnäefigfeit babei
berharrten, eS feien Feine ißerfoneu mehr im Dheater, mähreub broben biele
£>unberte ben ErftidtungStob ftarben: baS finb unbegreifliche ©orgänge, mel<he nicht
nur eine ftrafgeridjttidje, ftrenge ©erantmortung, fonbern auch eine Dteorganifation
ber fßolijei unb beS StettungSmefenS pr golge hoben merben. Schon ift ber ©hef
ber miener ißolijei beurlaubt morben, unb afieS beutet barauf hin, bafj ber Saifer
felbft mit Energie auf ©eftrafung ber ©djulbigeit bringt, um bie ©iieberljotung
fo frebelljafter Unterlaffungen unb Äopflofigleiten, mie fie benn hoch in 9iorb=
beutfchlanb nicht möglich mären, für alle Bnlunft p oerhüten.
©erantmortlidjer SRebacteur: Dr. SRnbolf oon ©ottfdjatt in ßeipjig.
Drud unb ©erlag oon g. Sl. ©rodljanS in ßeipjig.
Digitizec • i^.ooQLe
2 $ ar b t i t
SWotoeße
Don
dB. tOeltj.
(Sortfe&ung.)
VI.
0rf!eru ifl Pird>meU) fl’toefj,
Wl bat me g’roifi net g’fflj,
Xenn mir ift gar au mclj,
3 tana ja net.
(Sin halb 3aljr ifl faft getunt, feit ber SRefcler Jbnrab bon feinem älterlidjen
£>ofe gegangen ift unb ÄnedjtSbienft auf bem ©djloggute tfjut. Die Seute reben
fdjon nic^t mehr babon al« Don etwa« ©efonberm; auf bem 2Jtefjferf)ofe, ba« weife
man, gibt'« ein täglich SBort, mit bem man fid> an ben €>otjn eciitnert — aber
auch im Xtofc.
„Sermifet ben ©üben?" fragt ljeut ba« eine unb morgeu ba« anbere, unb bie
Antwort ift barauf:
„9iit um bie SBelt!"
6« ift ein gefegneter $erbft gewefen, eine reiche SBeinernte; bon aßen ©erg=
Ijähen haben Seuer geleuchtet unb ei h at Ö ar luftig jwifchen ben Sieben gefnaßt
bon Sreubenfchöffen, unb ber SDle&ler^Sauer hat einen eftra grofeen §erbft gegeben
in feinem SBeinberge unb hoch her ift’« babei gegangen, bi« ju Jpänbeln, al« bie
Äöpfe hi|ifl geworben waren.
Der $onrab hat barauf Tein Acht gehabt; er ift ber fleifeigfte allezeit §wif<hen
ben ©urfchen wie ba« ©ärbele unter ben SRäbeln.
SBenn fte äße miteinanber braufeen finb auf bem Selbe ober bem SBeinberge,
fo haben bie jwei feine anbere ©emeinfdjaft miteinanber, al« bafe fie fich wol
einmal juniefen unb rufen: „$eut mufe’« fcharf hergehen, heut gilt 1 « rühren!"
SBenn’« gar fauere Arbeit für ein SRäbele ift, bann weife e« ber ttonrab aber
anjufteßen, bafe er in ©ärbele’« 9täl}e tommt unb für fie mitfehafft.
Die jWei finb fo Oerftänbig miteinanber, bafe niemanb meinen foßte, um bei
SRäbet« Wißen fei ber ©urfch unein« mit feinen Aeltern; abenb« nach ber 3Rahf=
jeit ein Turner ©rufe hinüber unb herüber, unb bann geht ba« ©ärbele heim in
fein $äu«le.
ua|nt St», un. i. 11
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{62
Unfere £e\t.
Sonntag abenbS, menn bie anbevn jungen Seute nach ihrer ©emoljnheit fin=
genb burdj baS Sorf gieren, fifjt ber S'onrab neben feinem Schah unter ber Sinbe,
unb bann fontmt baS $rauttieSl unb gumeileu auch baS Schreiberte baher, unb
ba ergäbt fich bie abfonberlidje ©efellfchaft allerlei ©rnfteS, unb ber ftnton toirb
angeftaunt als ein Sßunber bon SBeiSljeit unb baS StauttieSl fprid)t mol bon
feiner 3ugenb, mie alles ba beffer mar als ^cutsutage, oiel beffer, unb nicft baju
mit feinem zitterigen ftopf.
®om Slnton meijj ber ftonrab, bafj cs nun mirftich gnm tßrocefj fonimt mit
betn §errn üon Setten unb feinem ©ater — ber 3aun ift nicht mieber aufgerichtet
— corpus delicti nennt ihn Slnton, unb ber -Kante macht ben Äonrab ftaunen.
©in ^tanbfchlag unb ein treuherziger ©lief, baS ift alles, momit fich baS Ißär»
lein Sonntags beim kommen unb ©eben griijjt; fie motlen eS beibe nicht anberS,
unb menn ber ®onrab manchmal, menn bie bier fo bafifcen, bon ber 3ulunft
fpricht, mo er unb baS ©ärbele einmal mitfammen fein merben, fo mirb’S SKä»
bele roth mie ein ^jecfenröStein unb mehrt ihm unb fagt: „Schmäh’ ©efcheitereS!"
Sie fierbftfeuer finb erlogen, bie Schüffe befallt, bie Stauben finb gefettert,
cS meljt fcharf einher; auf ber San! unter ber Sinbe ift’S frifdj, mie baS SieSl be=
hauptet. 9lu<h ilirchmcih ift getoefen; bie Seuf fagen, eine fo luftige mar noch nimmer.
Ser Slnton hot fchergenb behauptet, ba| fie bier bielleicht bie einzigen feien,
bie aus bem Sorf nicht braufjen mären — bem Äonrab Ijafs einen Stich ge-
geben, er hot an feine SRutter gebadet, bie an fotzen Sagen einfam auf bem §of
mar. Slm anbern SJiorgen hört er erzählen, bafj bie 2Refcler»©äuerin mit ihrer
Sfrücfe ^inau^ge^inft ift unb ein gar fröhlich ©eficht gehabt hot — „ber Seut’
megen", feht man hinzu, aber eS hui ih n bod) gefchmerzt. ...
SBieber ift’S ein Sonntag; bie Sonne hat'S noch einmal gut gemeint unb gar
marm unb golbig herabgefdpenen. SaS ©ärbele fteht in feinem ©ärtle unb pfludt
bie lebten ©turnen: Slftern, IRefeba, eine 2Jtatoe fogar, unb macht ein Sträubte
babon, um’S ans ftenfter zu fteDen; cS Ijot’S gern, menn ba etmaS ©unteS heraus»
fchaut. Seine einzige SRofe ift abgeftorben, feit eS bem Äonrab bie ÄnoSpe babon
gepfliidt. ©anz heimlich, an feinem Äammerfenfter, zieht baS ©ärbele eine
ÜRpethe, aber fie fommt fo gar langfam meiter, trohbem eS fte in jeben Sonnen»
ftrahl rüdt, ber hereinhufcht.
Ser Strauß ift fertig; eS fteht noch ba nnb fchaut nach ben ©ergen, ba fingt’S
im -Kachbargarten mit einer fdjneibigen Stimm':
©eftern ift $irdjtt>eilj g’toet;,
SWi hat me g’ttufs net g’feh,
Senn mir ift gar gu toeh,
3 tang’ ja net.
„Sie 9tanc", fagt ©ärbele bor fich hin, »bie foHt’S Singen bleiben taffen" —
unb eS mill hineingehen, ba enbet’S briiben unb eine Stimme ruft:
„Su, ©ärbele, grüfs’ ©ott fönnteft einem fchon fagen."
Sie 9tane ift an ben 3aun getreten unb lugt herüber.
„©rüfj’ ©ott!" antmortet’S ©ärbele, „i meifj aber eine lange Seit, mo-bumir
nimmer haft banfen mögen unb 'S mir leib morben ift; barum hab i’S gelaffen."
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23drf>ele.
*63
Die Kone la(ßt. „Klan £>at feine Seiten. 3«fet möd)f i fd)on mit bir
fdjtoäjjen."
„3 weiß nij", antwortet S0är6ete; ber fdjiete Slid bei Kläbcßenl biinft’l fo falfdj.
„Barum bift nit auf ber föirdjweilj gewefen?"
„3 tang’ net!“
„Da paßt ja’l Siebet auf bi!" ta<f)t bie Kane, uub ber Don fällt bem Sor¬
bete aud) aufl #erg. „$euer ift niemanb bntjeint geblieben, fetbft mein’ Dobe,
bie Kleßterin, nit."
Särbete mödjt' fort, aber el finbet bcn Klutl) bagu nid)t.
„Hd) fo!" fagt’l f(§üd)tern.
„Unb bie f>at ein' greub’ gehabt, mi red)t tangen gu fefj’n. Itnb immer Ijat’l
gejagt: «3 wein, i t^r* fd)ou bein $od)geitlmufif.»"
„3a, ja!" erwibert'l Särbete.
„Sie ift arg brat), mein Dobe", fäfjrt bie Kaue fort unb tadjt wieber fo eigen.
„@ang Oernarrt ift fie in mi unb ßat mir Sdjtupfcn au mein Zapple gefcbentt,
lang unb breit, wie fie fonft feinl fjat. «Kläbete», fagt fie, «{jab’ nur eine ®e=
bulb, unfern SBiHen Wegen bu unb i.»"
Särbete fcßaut ficf) um; fie wollte, fie Ijörte bol ffrautlielt am $aul rufen.
Die rotten §änbe ber Kaue umfaffen ben Saun; el ift, all will fie bamit
bal Särbete Ratten.
„Kleine Stettern", fäf)rt fie fort, „finb aud) gut. Sogar mein eigen ®elb
Hab' i. ©taubft bn’l nit, Särbete?"
„Barum foflf i nit?" fragt bal.
„®n bie ^unbert ®ulben t)ab’ i g’foart feiger!"
„Dal ift Oiel!"
„Ärg Oiet, gewiß, eine gange Stulfteuer für ein geroöfjnlidjel Kläbet!" ruft
bie Kane. „gür mi natürlich nit. 3 bin bei Kliilterl eingigft, unb ßeitatf)' aud)
wieber einen, ber ®ut nnb ®etb ßat."
„$aft rec^t", gibt’l Särbete gur Antwort.
„Bart' bod) uod) eine Beile", ruft bie Kaue, „i fönnt’ ein’ Raubet mit bir
Haben!"
„Kit, baß i’l müßt’."
„Slber ßören foöft mi! Scßau, um bie ßunbert ®ntben fragt mi teiner, bie
finb mein, gu tHun, Wal i will!"
„Bal geßt’l mi an!"
„Birft’l gleicß feßen. Du bift ein armer Dropf, bift’l nit?"
„3<H ßab’ mir noeß nie Keitum gewftnfcßt!" gibt bal braune Släbcljen
ftotg gurfid.
„3ft aber ein’ gute ©aeß’", latßt bie Kane, „unb fo gang @mft iffl bir aud)
wot nimmer, fteD’ft fonft bem Siebter Äonrab nit naeß — ei)?"
„^ör* auf!" ruft Sorbete, „bu unb i fommen nit miteinanber aul."
„Ber weiß! Klein Dobe ßat fd)on bei meiner Klutter um mi geworben füv
ißren eingigen, all i nod) in ber Biege gelegen. Unb jefct tröftet’l mi unb fagt:
«Bart bein’ Seit ab.» Unb wie i frag’, wal bal gu bebeuten ßab’, antwortet
ll*
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Unfere ^eit.
16$
bie $obe: «SBie t ben SJtefcfer görg genommen hob’, hot er audj fo’n Raubet
abfaufen muffen. 3>o3 geht oorüber, unb bu friegft bafilr einen um fo gefegtem
Seemann.»"
3)a3 ©ärbefe ift fo Weil getoorben teie feine Seinenärmef, unb ^ätt fid; nun
fefber an bem 3ouit feft unb nichts fommt über feine Sippen, afs jweimaf teife
„0 bu — bu —!"
D§ne ©toden fährt bie 9tane fort: „Ja hob’ i an mein’ ^unbert ©utben benft
— wenn’S bir bo<f) nur um ©efb ju tl)un ift, weil bu ein armer Iropf bift —
Unb wie i bi nun in bein’ ©ärtfe gefetjn hob’, ba hob’ i Weiter benft, i Woftt’S
g(eid) abmochen unb baS ©efb |ab’ i im ©ad unb fein SJtenfdj weil beröon.
Sa| ben Äonrab feiner SBeg’ gehen, nimm bie hunbert ©ufben; er mag fich Ijinten*
nach nodj freifaufen — ba, willft einfchfogen?"
©ie redt bie $anb über ben 3oun unb in ber anbem fjörfs ©ärbefe etwas
ftingefn. Ja fommt’S aber über eS, 2Jhttf) unb 3orn jugfeidj; eS rietet ficf) auf
unb wie gunfen ffiegt’S aus feinen braunen Sfugen heraus unb geworfen fcheinfs,
unb mit einem fräftigen 9?ud ftö|t'S bie #anb jurüd, foba| bie 9lane ein paar
Stritt weit bom 3oun fortfc^netft unb erft baS Stehen Wieber erlangen mu|.
„D bu, bu hälfidjeS ©djiefaug’", ruft ©ärbefe, „nteinft, bie Slrmuth ift für
©efb fäuffich unb gibt Sieb’ unb Jreu’ ^in? 0, bu |ä|fic|'S Jing bu! ©djau
nit nad) bem ffonrab aus, ber ift mein — unb Wirb nimmer bein; für ®efb
faufft ben auch nit. Unb fjüt’ bi — unb ruf’ mi nimmermehr an, bamit bi’S
nit reut!"
9tun brefjt eS fich unb geht, ein SButhgefdjrei berffingt hinter ihm, eS menbet
ben ffopf nicht. SBie es im $au3 ift, fommt’S ihm aber bor, afs Wollten bie
niebern ÜDtauern herabfallen.
„Ja fanu man nit Suft fdjöpfen!" — unb bie gebraucht baS ©ärbefe jefct für
feine gepreßte ©ruft. 63 fe|t fich unter bie Sinbe unb ftüfct ben Sfopf unb benft
nach über ben heutigen lag.
®ar fchön hot ber &err Reifer geprebigt Über bcu grieben, unb ihm War’3,
als fjätf es ihn, unb beinah’ hött’S bann gefungen bei feinem ÜJtittageffen, fo
frohgemuth war’S. Unb bann fchicn bie ©onne fo gofbig, unb cS freute fich über
febc ©fume — jefct weil eS nimmer, was mit bem ©trau| geworben war, ben
cS gepffüdt hot. 0, um hunbert ®ufben — bie ©chmocfj! — foIlt’S Sieb’ unb
Jreue ocrfaufen! Unb bonn fommt’S ihm in ben ©inn, woS bie SRane oorljer bon
ber Säuerin gefpro^en — ein SiebeShonbef nur wär’S mit bem fi'onrab unb über
furj ober fang, ba würbe er oon ihm faffen?...
„0 ©aterfe, ©atcrfe —", fdjfuchjt es auf, eS ift fo gar ratfi« unb hülffoS,
unb nun münfcht’ cS pföfjfich, cd fäg’ bei bem tobten gfö|er tief unter ber ®rb’.
„©ärbefe!" ruft ba eine ©timmc bicfjt neben ber Sauf, unb bie macht’S empor«
fchauen.
„SBeinft?" fragt ftonrab.
6r fijjt nun neben ihr, aber fogfeich farnt fie nicht reben, unb afs bie Xhränen
für eilte SBeifc öerfiegen, ba bcgiunt fie weitfdhweifig, wie gar fchön ber Jag war,
oon ber ^ßrebigt an bis ju bcu Sfumcn.
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3 artete.
(65
„Hub?" fragt ber 93uB, bcr mit ©ebutb jugebört bot.
„®ie hob’ i nimnter", antmortet fie, „bie mögen bort am 3aun Kegen, mo
mir bie SRane ^unbert ©ufben geben tuoüt’, bafi i non bir tiefe'!"
Sßott altem f>at fie tang unb breit erjagten fönneit; ba«, ma« fie in« £er$ traf,
muff fie !ur$ machen.
„0bo, o^o!" ruft ber ®ottrab unb fcbüttett brofeenb bie gauft.
®a« Särbete jupft an feinem 3opf6attb, a t« e« teife feinjufe^t:
„Unb bie ÜRebter-'Säuerin fjat bie ÜRane getröftet; nur ein 2iebe«baubet mär'«,
unb über lut} ober lang tröfft mi bertaffen."
„OH oho!"
©r bat feine ©cbmüre unb feine Setbcuerungen, foitbern reifet mit einem ptöjt*
lieben SRucf ba« 3Käbcfeett an ft<b.
„Särbete, gtaubft mir?"
„Unfer Herrgott mcifj e«!" ift bie teife ©rmiberung, bann läfet er fie mieber
Io«. ®ie Sache ift abgetan.
SU« ba« Stntonete unb bie ®rauttie«t fommen, ba b«t ber Äonrab bereit« feine
tnrje pfeife jur Hälfte au«geraucbt unb ba« Särbete ein gut ©nbe an feinem
©trumpf geförbert.
SU« bann ba« ©efpräcb im ootten ©ang, ftebt ber Surfd) auf.
„SSobin mittft bn?"
,,@in' 28eg tbun!"
Sein« fragt mehr; er gebt in« ®orf, birect auf« ißfarrbau« ju.
„@i febau!" fagt er, „ber $err Reifer macht feinen Stbenbgang, ba brauch’ i<b
ihn nit brinnen ju fueben"; unb mit feftem ©riff ftinft er bie fleine Pforte auf
unb ftebt, feine SKüfce in ber #anb, bemütbig bor bem jungen Pfarrer.
„$ctr Reifer, i hob’ eine 53itf unb eine grag’."
„Safj hören, mein 6ot)n — ber SRejjter S'ontab ift’«, ich fenn’ bich mobt. Unb
loa« bu auf bem 4?erjen b a ft — fott ich Me Stettern berföbtten?"
Umfonft nennen ihn bie Säuern nicht ben Serföbnticben; e« ift febon mabr,
er fann feinen Unfrieben butben.
®er S'onrab jueft ein menig mit ben Strmen; er filfett ficb mieber einmal
ungefebieft.
„£err Reifer, «’ift feine ©iinb’, einem re^tfebaffenen SRäbet gut fein — nnb
aüe brei ftnb mir harte ftöpf, bie Stettern unb i fetber!"
„3a!" fagt ber freunbticbe btonbe SRamt etma« ratbto«, „ja!"
„’S mirb mot noch eine SBeit’ bauern, bi« bie fidj geben, ©rft menn fie fehen,
bafe e« mir rechter ©rnft ift — unb baju bitf ich ©udj, £>err Reifer."
Unb ihm ift, at« trägt ber ba bor ihm nicht umfonft biefen Stauten.
„Stun, Sonrab SRefcter?"
„®ie Sitt’ ift", fagt ber Surfcb mit einer gemattfamen Stnftrenguug, „bah
3h r mich mit bem SRäbet reebtfebaffen jufammentbut, unb bie grag’ ift, mie man
ba« anjufangen bat, bon megen ber ©rtaubnife!"
Stun iff« berau«, er atbmet tief — ber Jfeetfcr mag nun forgett.
„SRein guter, junger greunbl"
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166
Unfere 5eit.
SBoju er ttur bie Umfdjweife madjt!
„SBeldie! «Iter?"
„©inunbjmanjig —"
„0, o, o! Unb gegen ben SBiflen ber keltern? ©’ift mir arg, ßonrab
UWefcler, aber bu bift ju jung jur ©rlaubniß unb bann braud/t’! obenein, baß
bie Sleltern «3a» jagen."
@r fügt nidjt! Ijinju; e! fdjeint iljm jetber leibjutfjun, er madjt jogar ein
betrübte! ©efidjt.
„§err Reifer", antwortet ber Surfte gepreßt, „ba! finb fettjame ©efep’, ba!
SRäbel ijt mir arg lieb. 3 bin bom Stetternljau! fort um feinetfjalben; e! ift
eine SBaife unb gar allein, unb beib’ finb mir auf unfere $5nb’ unb Ärm’ an»
gemiefen, unb wenn man fidj auf etjrticfje SBeif’ jufammentljun min, Wirb'!
berWeljrt."
„3a", antwortet ber fanfte URantt, „in bielen gälten ift’! red|t — unb bodj
münfdjt’ id^, id) lönnt’ eine Stu!naljme machen."
Äonrab breljt bie &tinte in ber #anb Ijerum.
„So finb Wir auf Sieb’ unb $reue Weiter angemiefen, bi! unfere Seit fornrnt.
Unb ber §errgott wirb un! nit berlaffen."
„$aju plf ©ott", fagt ber Pfarrer.
SBie er gegangen, Tommt ber ftonrab mieber unter bie Sinbe; niemanb fragt
iljn um fein ©efdjäft.
911! e! !alt Wirb, ftetjen bie hier auf. $a! ®ärbele legt bem Stautlie!! bie
$anb auf bie ©djulter.
„2Rir ift etwa! eingefallen. @oHft bei«' paar ©ulben $au!jin! fparen unb
ju mir lommen, !’ift Ißlafe ba im $öu!le; i fürdjf mi jumeiten, fo attein Ijerum»
jugeiftern. SBinft?"
,,$ab’ nij bamiber!" antwortet bie Sllte.
„®a! ift ein großntäcßtiger Sd|u&", lacfjt ber Äonrab, „laß ba! 2ie!l nur nit
fteßlen!"
„Sie unb mein’ Ijolt mir feiner", fagt Särbele Wohlgemut!), „aber bie
9tane fjat ßeut’ mein’ ©Jjr’ angetaftet."
„0 SJläbele, bu gute! unb flugeü" ruft ber &ourab, „baß i bi Ijab' finben
müffen, ba! banf i jebc <Stunb’."
„©in gut’!, ein brat)’! ÜRäbete", fagt audj ba! @<fjreiber*9tntonele im £>eim»
geßeit ju bem ®urfdjen, „pf! retßt, wie einen großen ©djafc!"
Unb er feufjt unb benft an ba! SJIariele, ba! in bie weite SSJelt gegangen ift.
VII.
Unb nun pt er fid) fcpn lang gejäpt, ber SWaitag, an Welchem bie SRejfler»
Seut' unb ber DdjfenWirtlj jufammen am grünen 2pr bem 3lößer=S3ärbete nadj»
geflaut.
„SBie bie Seit bergest", fagt mandjmal ber 3örg, unb im ftiHen benft er
babei, baß er fdjon ein 3 a P feinen ©injigen entbehrt; nur Don weitem fiep er
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üärbcic.
*6?
i$m pmeilen heimlich ju, unb eS ärgert i£jn bann, bog fo Diel Slrbeitsfraft ifjm
bertoren unb ben Jperrifchen jugemenbet mirb — unb erft recht hartnädig tuitt er
barum feinen Ißroceg betreiben.
Sie Säuerin l>at fidE» einen onbem Seitbertreib für bie trüben SBintertage
berfdjafft: ba ift bie Sane mit ihrem Spinnrab gefommen unb nun fann fie bic=
felbe auch fürs grühiatjr nicht entbehren, unb baS Stäbel rneig eS einjuric^teu,
tag eS ficE» jeben anbem Sag ein ©efchäft macht für ben Stefclcrhof.
@S ift bie erfte Dbfternte; ber Simen» unb Slepfelmoft fott auf bem Sdjtog
bereitet »erben; im Dbftgärtle fdjüttelt ber SVonrab bie Säume unb brci Stöbet
tefen unb tragen bie Srüdjte. Bumeilen bo poltert’S auf bie gebücften Süden
herab, bann jauchen bie $mci anbern; nid)t fo baS Särbele, eS hält ficE» immer
am femften, meil’S fein Schaft ift, ber ba fcfjafft.
Stühenber unb ftärfer ift baS SJläbcfjen getnorben in bem $al)re — neulich ift
ein Staler ftaunenb fielen geblieben, als er’S borbeigehen fah — unb am anbern
lag, ba fomrnt er ans £>äuSdjen, ^att’ bom Dchfenmirtl) ^erauSgefunben, wer’S
gemefen. ©ar moljtgefeftt fragt er, ob’s ihm nicht fein ©eficgt unb feine ©eftalt
leihen motte für ein Sifb.
SaS Särbete hat gefügt, bag eS roth gemorbeit ift bis jur ^atsfraufe; cS
ift iljm aud) gemefen, als fei baS ber leibhaftige Serfucher, ber ju bem $errn
3efuS in ber SBüftc getreten ift —
„Sein, nein!“ hat’S geftammelt unb ift mit einem Saft priid ins $auS nub
hat ben Siegel bor bie Xhür gefetjoben. Slber fclbft brinnen ift ihm bie ©cftalt
noch ° or klugen geftanben, ber fchlanfe Stenfd) in einem gor feinen fammtenen
Stnjug unb mit fo bunfetn, unheimlichen Sliden.
„QefuS, mein Stütterle", tjot’S rufen müffen, cS mugt’ nicht marunt, unb l;at
geh an ber SBanb gehalten, bag eS nicht umficI, unb bann hat’ö ein Saterunfer
gefprodjen unb ba ging’S borüber unb eS mar fortan oerftänbig.
SBcnn eS jeftt jutoeilen bran benft, bann meig eS, loie ber Serfucher für bie
Stöbet burch bie SBett geht: in einer fchmarjfammtenen Sadc, unb er fdjmäftt
allerhanb bon Schönheit im Serborgenen unb fogar bon ©elb unb Schmud.
„0 bu SBüfter!“ fegreit eben mieber baS Söste ben Sfonrab an, „auf mi haft’S
abgefehen — juft menn i unter bem Saum bin, fchüttelft mit Stacht/'
„Staue Steden hob’ i p h«nbert", fagt Siefele, feine berbeit Strmc anfhebenb;
„loarf nur, i geb'S bir fcf»on einmal heim, unb fottt’S an bein’ fjochjeittag fein,
loo i bi ä u Stob’ tanj’."
„SBer fo luftig fein fönnt’ »nie baS Siefele“, benft Särbele — freilich, baS
Stöbet gilt auch als bie tottfte Sirn’ im ganzen Sorf, unb menn’S fich nicht bor
bem ©chtogfräutein fürsten thät’, fo fäng’S mit ben Stubenten um bie Sßette.
Ser Äonrab gibt nach Surfchcnart eine Slnttoort, über metche bie beiben kir¬
nen gar Ijerjfieh lachen müffen, unb bermeit ift ein junger Stann in ben Dbft»
garten getreten, ber jüngftc Sohn beS Schtogljerrn, aus ber Sefibenj; feit geftcru
Slbenb ift er ba, aber bon ben Seuten hat ihn noch niemanb gefegen.
Offijier ift er unb franf gemefen baljeim im 2lelternt)auS unb hier in ber
Stufte fott er geh erholen.
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{68
Unferc ,geit.
©erabe tiat ftc§ ba« Särbele nach einem Äpfel gebüeft, unb tote’« ftdh auf*
richtet, fühlt’« einen fhtiff in bie S33ange, unb al« e* ftd^ umfteht, ftdfet’« einen
leifen ©djrei au« — ba [teljt wieber fo ein Serfucher in einet lofen ©ammtjaefe.
Set junge SDiann lae^t: „3h r Sorffchönen feib ja gewaltig fpröbe."
Sa« Särbele menbet fief) weit fort, abet et fommt ihm nach.
,,3ff« eine gute ©rate {jener?"
„3 fcf»ä^’ e« nit!" antwortet ba« Käbel.
„333ie Reifet?“
„Särbele!"
„©in frönet Kante, bift ftolg barauf?"
„©chön — bafe i nit wüfet’? Unb ©tolg ftflnb’ einem atmen Stäbel bodj wot
fdjtedjt."
Sann ift’« gomig mit fid^ felbft, bafe e« fo biet mit bem Unheimlichen gerebet
hat, nimmt feinen &orb mit einem 9tucf empor, fonft braucht’« $ülfe, unb geht
hinein.
Set junge $err bon Setten tritt gu ben anbetn unb ruft bann gum Saum
hinauf: „®i, bet Saufenb, Kepler Äonrab, ba« bift ja bu!"
Kit einem @ap ift bet unten unb bietet bem ehemaligen Spielgefährten treu»
tjergig bie $anb.
,,©rüfe’ ©ott auch, junger $err! 333a« feib 3h r grofe geworben, nur ein
Siffel bleich h at ®udfj bie Ärantljeit gemacht — i weife bereit« um alle« bom
Öörfter. Unb gat fdjön nefemt 3Ijr @ucfj au« auf bem Silb in ber Uniform, ba«
3h* ihm gefefeieft habt; i fonnf mi nit fatt bran fefeen. ’© mufe boch fdjön fein
um ba« ©olbatentljum!"
„Unb 3hr, S'onrab —"
„0 i bitt"', ruft ber, „bleibt babei, mi Su gu nennen, wie eh’, wenn 3h r in
ben Serien tarnet — bin öberbie« Unecht auf bem ©chtofehof."
Ser giertiche £>err fiefjt erftaunt au«.
,,©ing’« beun rfidwärt« mit bem Kepler?"
„0 nein! ©in gut ©tiief borwärt«, bfintt fich genug brob, ber alte -Kepler.
Slber wir haben ein’ Keinung«berfdjicbenheit triegt — ba« iff« unb fo tarn’«."
„Keinung«berfdjiebenljeit gwifchen Sater unb ©ohn — ja, ja!“ fagt ©ottlieb
bon Selten mit einem leifen ©eufger, benn er benft an feine ©chutben — „nun,
tang’ wirb’« nicht bauern unb emft auch nicht fein."
„©'ift bereit« ein 3<*h r — nnb einer Sirn’ wegen."
„3a fo!" Sa« Iäfet ftch leichter nehmen Dom ©tanbpuntt be« feerrn Sieute»
nant« au«.
„@ine gar gu fchöne Uniform hobt 3h r ouf bem Silb, $err ©otttieb", fagt
ber fionrab.
„©oUfft auch eine ongiehen", meint ber ladjenb, ,,ba« ift ba« eingige luftige
Seben."
Sa« Särbele ift mit feinem leeren ®orb guröcf unb Wieber am Sefen; Weil
aber ber &onrab ingwifchen gefeiert hot, ruff« herüber:
„Su, fchfittef aud|!"
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23ärf>ele.
169
„©in tjübfdjeß SDtäbet", fagt ber Lieutenant.
„Srum ift’ß mein S(f)afc!"
„Sdjau, tjaft guten ©efdjmad, Sonrab. Sab’ nticf) jur £odjjeit."
„Sldj, bu lieber Herrgott! Siß bat)in! SJhifi biß jur Sodjäfjrigfeit märten,
ba ^itft nij. Unb elj’ tjapert’ß audj nodj, meint bie Stilen ifiren Srofc nit auf«
geben."
„Unb bermeit?" fragt ber junge §err.
„Straff i unb fdjafffß Sirnbt — bantit uttß bie 3«it nit lang mirb."
(Er tadjt, ber ßonrab, aber eß Hingt Sitterfeit unb Srofc barauß.
„'Du!" ruft Särbete, „mit t)aben nimmer ju ttjun."
„So fömäfe’ mit unß", fagt ber Lieutenant; fie tritt tangfam fjerait.
„Saju fmb mir nit tjeraußgef$iift."
„Sie ift nicf|t juft juttjuntid), bein Sdjajj", fdjerjt ber unb mid mie üorjjin
beß öärbete'ß SBange {treiben; ba ftßfjt’ß itjn jurücf unb fagt:
„’S gibt fein’ ftäbtifdie Sitten tjierjutanb."
„Särbete", fällt ber ffonrab ein, „ß’ift ber junge $err Dom Sdjtofj — unb
et)’ ftnb mir ©pielfanteraben gemefen."
„Srum!" fagt tro|ig baß SRäbdjeu unb fd|tägt bie Strme unter; SSßßte unb
Stiefele finb audj tangfam näfjer gefommen.
„Unb ad bie ga^re biß jur #odjjeit midft beinern Schafe treu bleiben ?" fragt
©otttieb non Setten unb ftreidjt feinen bönnen Sdjnurrbart.
„Saß ift ein ®efd)mä|!" antmortet baß 3Jiäbd)en.
Ser junge 2J?ann tadjt betuftigt — eß ift einmal eine anbere Untergattung atß
im Salon.
„Sem Äonrab", fätjrt er fort, „gefällt ber Sotbatenrotf, unb maß fagft, menn
idj üjn mitneljme unb er aurf) einen anjietit?"
Sie fdjaubert — ja eß ift mieber ber Serfudjet, unb jefct mad)t er fidj an
ben ßonrab.
„3 gtaub’ß nit."
Ser flonrab bemegt ben ftopf. „Seffer mär’ß fd^on, atß tjier ad bie 3at)r’
arbeiten unb tägti$ miffen, bafj i nodj eine lange Srift Ijab’. Unb menn i ein
brauet Sotbat bin, frieg’ i mein’ ißapier mot etj’ — unb brauch’ nimmer bie
Sitten ju fragen."
„Saß ift fdjon mögtid)!"
„SJtäbet, Särbete, fdjau’ mi an — menn i ein fdjmuder Sotbat mär’, uiögft
mi no$ ärger?"
„Saß fann i nimmer — ß'ift fdjon arg genug", antmortet fie treutjerjig.
„Slber — menn mit eljer jufammen fßnnten?"
Sie fpielt mit bem Sdjiirjeubanb.
„3 fet)' bi lieber Sag für Sag auß ber gern’, atß bafj i bi im bunten 9tod
in ber Stabt meijj — unb Sonntagß unter ber Linb’..." Sie füfjtt bie Spänen
Ijerauffteigen.
„3 fäm' ade 3afj* unb bie 3«t ding bann hoppelt frfjned f)in."
„9Rir fdjeint, bu I|aft Luft, Äamernb!" Iad^t ber junge $err.
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*70
Unfere <3eit.
„So, baß i beinah einfdjtagen Jönnt’."
„Ueberleg’#!"
„$err ©ottlieb, in meinet; Sog’ ba gibt’# halt nit oiel ju äbcrlegeu, '3 brucft
mir auf# £erj. Xäglidj feh i ba# SJiäbele, ba# i nit friegett foll, unb bcn Weitem»
f)of, Don bem fte mi haben jieljn taffen oljn’ ein gute# SBort —"
®em SDtäbchen läuft auf# neue ein ©(Räuber übet — bet ©erfuhr — unb
bie#mal muß e# ftch zufammennehmen.
„SBenn ein Krieg lommt!" raft’# ptöfelidb, a(# hätte e# eine Eingebung.
„D, ba abanciren toit jum Unteroffizier, gelt Konrab, unb ba halft bann ba#
graule fofort."
®er fpcrt Sieutenant ift um Wntoort nicht bertegen.
„SBie lang’ bleibt 3h r hier, $err ©ottlieb?" fragt ber ftattli<be Knecht.
„Sin bie brei SBodjen."
„Stäbele", fagt Konrab, „nachher geh’ i auch, ö’ift f<h on befchloffen. Sein’
nit unb fei brab!"
3)a# ©ärbele nidt nur unb bädt fi«h fchtteller, at# jcßt ber Slpfelregeit toieber
herabfällt; e# mag auch gar nicht mehr hären, toa# bie jhtei noch ferner mitein»
anbet reben; aber e# faßt in feinem $crzen einen (Sntfchluß.
SU# bie ©lode jum Stachteffen auf bem Schloß ruft, — jeher im S)orfe !ennt
ihren fdjrillen Mang, — ba fteht ba# gtößer4Bärbele an ber Pforte jum SRefcter»
hof. 3h m *ft alle ©ßtuft Dergangen unb e# hat etwa# bor, ba# ihm »a# ©roße#
fcheint; ficß fetbft muß e# ja babei übertuinben unb ba# geht nicht ohne Kämpfe.
„®ent Konrab fein ©efte#", hat e# fidj immer »ieber gefagt, toenn fein Sinn
rebedifch »erben »ottte.
3»eimal ftredt e# jagenb bie £>anb au#, erft zum britten mal »agt e#, ju öffnen.
Dann fpringt Schnaufcerle an ihm empor unb ftäfft, e# fährt ihm furchtlo#
über ben Kopf, ba tedt ihm ba# Iljier bie ginger.
„3a", fliiftert ©ärbele, „bu »eißt halt auch, baß i ißm gut bin."
©ärbele hat fonft folch’ fiebern ©ang, jejjt trippelt c# furdjtfam »citer; aber
einen langen SBeg hat’# nicht.
„SBer lommt bähet?" ruft bie Stimme ber ©tefclerin ihm entgegen.
Unter bem Kirfdjenbaum fteht jefjt eine ©anf; barauf fifcen j»ei »eibliche
©eftalten, bie blaffe ©äuerin, »eiche ba# ÜJtäbchen bi#her nur au# ber gerne ge»
fehen hat — unb ein Sdjred burchfäljrt’# — be# SRfltter# Stane.
„SBer lommt baher?" ruft’# noch einmal, aber eh’ ba# ©ärbele feine jitternbe
Slnttbort geben fann, ift’# bon ber Staue erfannt; ein Sachen Hingt ihm entgegen
uitb e# hört bie Sorte: „®i, $obe, ein gar fdjöner ©efu<h iff# — haltet (Sud)
mit ber greub’ nit jn lang’ auf, ba# glößer*©ärbele ift’#!"
„3, ba mein’ i boch!" (Die grau greift zornig nach ber Krüdc, aber ba#
©ärbele fieht, »ie ihr SJtüßer# Stane etwa# juflilftert.
„Stun?" ruft ba bie ©äuerin ber gernftehenben ju, ,,»a# für ein ©efdjäft
haft? Slnbringen magft’# hier außen in ber freien Suft; benit baß bu’# nur »eißt,
über mein’ Sch»eH’ fommft all bein Sebtag nit, ba# hab’ i gelobt unb »a# i
fag’, halt i auch!" Unb fie ftößt jur ©elräftiguug mit ber Krüdc auf bie Steine.
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Bärbele.
\ 7 \
„0, 2Jtefeler=©äuerin", fagt ba« SRäbdjen unb nimmt alt feine Sraft jufammen,
„i fomm’ nimmer um meinetwiQen batjer, unb wenn i bem ffonrab gut bin, fo
ift’« nit um £>au£ unb hof unb ba an ©urer ©djweQ' t)ängt nit mein ©lüc!."
„^ör* einer'', ruft bie SRane, „wer*« nit beffer müßt’, fömtf« glauben, fo treu*
Ijerjig fagt’«."
Da« ©ärbele ftreirfit über feine raulj gearbeiteten $änbe; e« bat ein ©ebet
im 4?erjen, ber liebe Herrgott möge if)m rec^t gute SBorte auf bie Sunge legen.
„9Q?ef}lerin, i tjab’ niemanb auf ber SBelt, feit fie meinen armen ©ater ^eim*
gebraut fjaben, al« ben ®onrab, unb i wünfdj’ nij beffer, at« baß e« itjm gut
ging’. ©r ift ein eigner ©inn unb meint, er fönnf nimmer nadjgeben, unb boct)
mag’« iljn lümmern, baß er fo neben feinem Sleltemljau« ^erge^en muß —"
„ffienn bu anber« nif weißt, Dirn’, fo magft fdfjweigen", fagt bie grau Ijart.
9tber ©ärbele Ijat SRutf) gefaßt. „Die Gönner finb aQfammt ßartföpfig,
äRejjlerin, aber bie grauen fotlen Weid} gemütfjet fein. Den!’ ©ie einmal na$
unb überleg’«, ob’« nit ein’ Söeg gibt, ben ©olfn unb ben ©ater wieber eine«
©inne« ju machen. '© muß fein, ©äuerin", ruft fie bringenber, „fonft ftänb’ i
nit ^ier, ’« muß fein; bcnn ber ffonrab Will ju ben ©olbaten."
©anj leife, nun bodj übermannt, beginnt ba« SBärbcte ju weinen.
„@<bau, ei fdjau!" fontmt e« geQenb über bie Sippen ber Bäuerin, „fo weit
iff«? Unter bie ©olbaten Will mein ©ub’, ber ©injige oom äRefelerljof, ben fein
©ater jebe ©tunb’ lo«faufen fann? @o Weit Ijaft iljn bracht, elenbe Dirn’ bu!"
„0, SDtejjlerin!"
„Unb ba fommft t)er unb broßft bantit, meinft wol, nun geb’ i bir bie $aub
unb tjeiß’ bi nieberfi&en, unb ueljm’ bi al« mein' ©öljnerin, unb ^aft, wa« bu
wodt’ft, bu hergelaufene bu!"
Die 9iane ladjt geQenb.
„Die ift gar fcßlau, gar bcrfdjlagen. SOtir Ijat fie Ijunbert ©ulben abocrlangt,
um bie moQt'« ben ©utfdien freigeben —"
„0 bu!" fagt ©ärbele unb wenbet bem SOTäbdjen ben 9?ücfen unb rietet fit^
bot ber ©äuerin empor.
„SRefclerin, i wein’ nimmer — bieQeidjt wiQ’« ber herrgott, baß c« jefct halb
an 3§r ift, ju weinen, unb bann benft ©ie öießeicfjt einmal an« ©ärbelc. 3 Ijöb’«
um ben ßonrab gewollt unb 3b r ba« SBort geben — nun ift'« ju @nb’ — unb
’« muß audj fo gut fein. Unb weil 3b r feine QRutter feib unb i bie mein’ nim*
mer getannt ^ab’, ba ftelj’ icf) ©udj nit Qtcb’ auf ©ure garten SBort’ — grüß’
©ott!"
©« trögt feinen fi'opf fjoef), wie c« baljin geßt itt ber Dämmerung, bie nuu
ßereinbridjt.
„Dirn’, elenbe Dirn!" Ijört e« hinter fitf) fagen unb nodj einmal ber 9iane
greQe« Sacfjen.
©$’ bie Pforte erreicht ift, tritt ber SRefoler in biefelbe; e« füfjlt einen cifigeit
©djred burdf) bie ©lieber fahren, aber er gewahrt ba« SWäbcßen gar nid)t, fonberu
ftürjt an ißm borbei, Ijaftig atljmenb. UnWiQfflrtidj bleibt ©ärbele an ber SRauer
fte^en, bom tirf^baum ßer fann man’« ba nid|t meljr bemerfen.
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\72
Unfcre ^ett.
„SBeib, bift ttodj brau gen?" ruft ber Sauer, unb ats if|m bie Stntwort ge*
Worben, fouunt’S ltad}:
„$a beim jßeter Stierte erjät)ten fid) bie Seut\ unfer ftonrab ging unter bie
Sotbaten — ber junge $err bott Setten t)ab’n überrebet."
„ 3 a, i weifj fdjou!"
„SBeifjt’3 audj fdjon", fdjrcit ber 3°mige, „wei&t’S fdjon, ba| er fidj ju gut
Ijätt, feinem Sater ju fagen: «®auf mi tos, wenn fie tommen, bie Stetruten aus*
jutjeben» — unb fiberbieS tjat ein (Sinniger feine Sortljeite unb gegen ein £>anb*
getb fjat fic§ auch fc^on was tljun taffen.“
„Serbiet’S ifjm!" fagt bie grau gelaffen, „bift immer ber Sater, ob bu gut
bift ober böS4"
„SBeiberWeiSljeit", ruft 3örg SKeffter, „reb’ft, wie’S berfteljft. 3 8 * 8 ’ nit nacfj."
„Unb ber Sub’ tjat bein’ Äopf — fo mufjt ifjn jiefjen taffen."
„3 0 eb’ nit nadj!" wie ein ©ebriitl flingt’S uod) cinmat in Särbele’S Ofjren,
unb teife öffnet fie bie Sf° r t e unb fdjtüpft IjinauS.
„ 0 , bu mein lieber ©ott", fagt es, wie es ju bem Fimmel aufbtidt, an bem
bie Sterne tjerbortreten, „fie tjaben mein armes Saterle gefdjmätjt unb beractjtet;
aber nimmer ift’S fo wilft gewcfen, ats ber angefeljene Wefcter=Sauer, nimmer, fo
tang’ i benten tann. Unb wenn ber &onrab feinen fi'opf begatt unb bie bunte
3 a<f anjie^t, i tann nimmer Reifen.“
©rgeben unb ftitt geljt baS Stöberen Ijeim.
„ftommft fpät", fagt itjm baS SieSt, als eS ins niebere Stübdjen tritt; Särbete
legt bor ber Sitten fein SeSperbrot nieber.
„ffommft fpät", wiebertjott bie, fidj bie rottjen Stugen wifdjcnb, „fängft bodj
nimmer an mit bem Äonrab hinter fpedeit unb 3 öun’ ju fteljen?" fefet fie arg*
toöljnifd) Ijinju. ,,$ab' glaubt, bift ttöger ats anbere Wöbet", unb brummenb
bridjt fie baS Srot entjwei.
„0 SieSt!" antwortet Särbete, aber uitfjt einmal ein ?ßcoteft, nur SBeljmutlj
Hingt barauS.
®aS SieSt Ijumpett jornig in bie Sdjlaffantmer; es betrachtet ft<h jejft faft
ats Sefifcerin oom £au3 unb übt eine |>errfd)aft über baS Wäbdjen, bie jenes
gebutbig trägt.
Särbete fpürt leinen Schlaf; es fifet ftitt, bie |>änb’ im SdjoS, bei bem trüben
Sicht unb benft an bie 3utunft. SBenn es fid) einmal ein Weiteres Sitb babon
rnadjt, fliegt ein Sädjetn über feine 3i>8® — meiftenS aber muß es an ben Stb-
fchteb benfen unb Wie’S itjm getjen fotl, wenn es fo gar allein ift unb ber ®onrab
Sonntags nicht rnetjr unter bie Sinbe tommt.
VIU.
SBenn in ber nädjften 3 e ü bie Sdjtofjbirnen baS Sieb t»on bem einfamen
Wägblein fingen, in baS fonft baS Särbete fo gern eingeftimmt, berfagt iljm alte*
mal ber Slttjem bei ben SBorten: „3)enn mir ift gar ju wetj", unb es !amt erft
fjernad) Wiebcr mit fort. Unb fingen müffen bie Wöbet jefct biet, benn bie jungen
Sdjlojjfräutein, bie mit ber Wuttcr bem £errn Sieutenant nadjgefotgt ftnb, tjören
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23ärbele.
*73
•bie fdjwäbifchen Sieber fo gar gern. ®s ift eine Suftigfeit über baS ganje ©eftnbe
unb bie Sagetöhner gefommen, wot barum, weifS fo frö^ticf) in ben grauen HHauern
bergest, unb man hätt’ tool gewiinfdjt, fo möcfjt’S länger fein, als für bie furje
Spanne ton btei 2Botf)cn.
UeberaU flimmern bette ©ommerfteiber, ertönt heiteres Sachen unb bie jungen
Sräulein ftnb fo gar nicht ftol} unb haben wie bie ©djtofjfrau ein freuiibtidj SSort
für jeben.
8tm woljtgetittenften ift ber Stefeter Sonrab, unb bem mißgönnt eö feiner, benn
ein jebeS unter bem ©efinbe betrachtet ihn bodj als etwas ©effereS. So oft fich’S
fcfjirfen Witt, fteht ber junge Jgjerr in feiner Stähe unb fchwafet mit ihm, unb ben
gräutein ift feine ©efcfeichte intereffant; einen berftofjenen ©ohn, wie er in ben
Stomanen oorfommt, fieht man nicht atte Sage.
SBenn'S fidj gibt, fo wirb ber SJonrab }u atterfjanb Keinen Sienften gerufen,
wobei man mit ihm ptaubert — unb ba fommt’S benn auch, bafi er oon feinem
SiebcStjanbet berietet.
SBie baS ©ärbete einmal beim Dbftfdjäfen fifet unb fo ganj berfunfen bor
fich hin benft, ba fteht ptöfetich baS ältefte gräntein bor ihm.
,,©o fleißig, ©cirbete?"
„233er nit fchafft, barf nit effen — unb i mein’, auch bon StedjtS wegen nit
fdjtafen", erwibert’S mit einem Sächeln.
„Sie SBirttjfchafterin lobt bich gar fehr", erjähtt baS gräutein Weiter, baS
}u ©ärbete’S ©rftaunen ben langen unb ferneren Stamen ©hrengarte führt. ,,©ie
meint, fie hätt’ bich gern iw ©djtofj gan} als SRagb, bu Würbeft leicht bie fiüche
fernen."
®anj beftimmt fchfittelt ©ärbete ben Stopf.
„3n ber bomehmen Suchet tjab’ i nif gu fuchen, fo focht unfereinS nimmer
nnb mein’ ©päfete unb mein ©auerfraut mach’ i fo gut als eins. Unb mein
§äuSte hab’ i, wenn’S auch wiift ift, — unb bann ift ber ffionrab im ©chtofj
herinnen!"
Sabei fättt’S ihm aufs §er} — „wot nimmer taug", fagt’S reife barin.
„Sein Schafe!"
„3“, gräute!"
„§aft ifen fehr lieb? Unb wittft all bie 3ahrc auf ihn warten?"
„2Crg lieb — unb baS SBarten bcrbriefjt mi nit!"
SaS junge gräuteiu fcfeaut (ädjetnb auf bie Sirne nieber, unb bie hebt ptöfetich
ben Sopf.
„$abt 3h r auch ein’ ©chafe, gräute?"
Sunfte Stöthe flammt über bie jarten SBangcn.
„Stein, ©ärbete — unb wenn ich einen möcht’, fo bürff i<h nimmer hier 3at>r
}ubor baS fagen; bei unS heirathet man nach wenig 2Boefjen."
©ärbete fteht erftaunt auf unb bann nicffS:
„Sber in ©ebanfen fönnt 3h r einen eh’ fang tieb haben."
SBieber wirb gräutein ©hrengarte fehr roth unb bann weif) fie auch nichts
mefer }u fagen unb geht }um ©ruber hin, ber burcfe bie $atte fommt.
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Unfere ^eit.
m
©ärbele mag ben nicht gern fe^en — ja, wenn et leinen Sammtrod trüge —
unb ben $onrab nicht oerfucf>t hätte!
Ueber ba! Solbatenthum bat ©ärbele ihren ©üben nicht gefragt unb er hat
auch nicht! barüber gerebet; ba! #er$ jittert ihr ad bie Seit h er > n ber ©ruft,
wenn e! baran benlt, aber bann fchauf! jum Fimmel auf.
„Unfer Herrgott wirb fchon nach bem Stedten fehen." ...
9hm iff! ein 3 u ftf°nntagabenb. 3)ie öier ^aben unter ber fiinbe heiter
gezaubert; lang hat’! ©ärbelc nicht fo gelacht al! über bem Hntonele feine Spaß',
unb ba! 2ie!t betam einen wahren Grftidung!anfad; nur ber Sonrab, ber hat
nicht fo recht mitthun wollen. (Einmal hat er be! ©ärbele jpanb gejucht unb fie
feft gebrüdt, beinah hätt’! freien lönnen.
„2Benn mer traurig ift", fagt ba! Schreiberlein, „fo muß mer boch benfen,
c! geht nirgenb! luftiger ju al! auf ber ©Seit. Uitb baju ift bie (Erb’ runb unb
bretjt fich alleweil unb ade! auf ber ©Seit hat feine SBanblungen."
„2)a! mit bem ®rehen, ba! begreif’ i halt nimmer“, murmelt ba! 2ie!l, „unb
!’ift auch nur ein fchlechter SBifj »on bem Schreiberlc. ®er meint, mer müßt
ade! glauben, loa! er fchwäfct."
„£>alf Sic fich f c ft, 2ie!l, halt’ Sie fich feft, Wenn’! Sotten angeht“, fiebert
Dtntonele, „i fann’! 3h r nit genug anrathen!“
„D bu gef bu“, fagt bie Mite in ihre bürren $änbc hinein.
„3eber muß feine 3eit abwarten — bann geht’! fchon beffer“, fährt ber Heine
ÜDiann fort. „Sur muß man bann auch ben rechten Hugenblid nit oerfäumen.“
„SBoran fennt man ben?“ fragt ber Sfonrab.
„9?u — fo innen fühlt man'!, baß man juft reben fottt ober julangen —
juft, fehnefi —“
„0“, fagt fi’onrab, „Stäbele, benfft noch an! ©rünnele — gelt, ba! war fo’n
©wgcnblicf, wie’! ba! Slntonele meint. Unb Wer weiß — ich Witt nit reben, aber
i fenn’ noch fo eine Gelegenheit." (Er benlt baran, Wie er in be! jungen #erra
£>aub eingefchtagen hat. „3 geh’ ju ben Solbaten.“
®em ©ärbele fättt’! fo bumpf auf! #erj; e! lann lanm athmen, ihm iff!,
al! fei’! bläßlich Iranl geworben. Sluch in ben Gliebern fpürf! eine Schwere.
„®en guten Stuth muß man überatt behalten“, fagt be! Schultheißen Schreiber
unb erinnert fich babei, wie er ihn lange nicht h«t wieberfinben tönnen be!
SKariele wegen.
G! fchlägt gehn Uhr, ba ftehen bie oier ju gleicher Seit auf.
„®omm!“ fagt Slnton ju bem noch jaubemben ifonrab; ba! 2ie!l ift in!
ipau! gegangen.
„Gin ©i!le noch", gibt ber Äonrab jurüd unb faßt beibe #änbe feine! Schaße!.
„©ärbele, bleib’ mir gefunb unb bleib’ mir treu — i gelob’! bir auch!"
„0 mein 3ef«3!" ruft ba! Stäbchen, „fo iff! nun boch Wahr geworben?"
„Siorgen in ber jfrüh, ba geh’ i mit bem £>errn Gotttieb."
$a! ©ärbele hält fich nicht länger; fein ganjer Sförfier wirb gerüttelt, e!
lehnt fich an ben Sonrab, fein Sopf fättt auf beffen Spultet. So ftehen fie eine
©Beile, ber Hnton fchaut eifrig ben Fimmel an, er wirb gar ju leicht oon einem
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Bärbel«.
U5
rübrfanten Stuftritt bewegt. Unb Weit er »ufjte, »nS fam, b°t er feine Spähe
gemacht.
©nblicb b fl t fi<b ©ärbele ermannt.
,,©Ieib' gefunb unb treu, ftonrab!" fcbtucbjt eS.
„Unb eb’ ein Sab* b*o ift, lomnt’ i unb ft^au’ nach bir. Der §ert ©ottlieb
fann baS altes machen unb bat’S oerfprochen. Unb auf bem SOteblertjof »erben
fie ficb eb’ geben, »enn fie fe^en, »ie'S mir ©rnft um bi ift, SJtäbele!"
Der Serfucber unb bie horten 9föebler»2ent’ — o, baS Särbele grollt recht in
biefem Stugenbticf.
Dann laffen fie einanber loS, ber Sfonrab gebt brei Schritte unb tommt
»ieber jurücf.
„Schau’, Särbele, ein’ Äufj fönnteft mir febon geben — S’ift halt boeb ein
Stbfcbieb für lang."
Sie fiträubt ficb nicht, »ie an ber Sabre beS SaterS, aber fie fchlucbjt »ieber.
Unb bann hürfs, »ie feine Schritte mit betten beS Slntonete nerf fingen, unb
»ieber fintt’S unter ber Sinbc in bie Sfnic unb ftüfct ben $opf au ben harten
Stamm unb flüftert:
„0 ftonrab, i hob’ bi fo lieb — unb bu thuft mir folch fterjeleib an", ttttb
bann fdjteicht’3 im ginftern hinein unb hat lein Säort jur ©rwibernng, als baS
2ie$I brummt, es fei aus bem erften Schlaf geftört, unb nachher tomm’S nimmer
mehr baju, ein 8ug’ jtt fdjliehen.
Särbele »eih, bah eSfelber ber Schlaf fliehen »irb in biefer Stacht — unb
wenn ber URorgen graut —
„0 ffonrab", flüfterfs »ieber, „es ift fc^ön, einanber gut fein — aber baS
$erjeteib, baS müfjt’S nit foften."
IX.
„©in 3ahr geht rafch h*rttm", tröftet ficb ©ätbele, „nun tommt ber $erbft,
eh' rnan’S glaubt, fcbneit’S, bann ift ber grüljting ba unb nimmer lang bauert’S
mehr!" Unb eS arbeitet unb ernährt nun auch baS 2ieSl, baS immer herrifcher
»irb unb fich, »ie’S talt »irb, gern am »armen Ofen pflegt, unb babei tann’S
bodj h>n unb »ieber einen blanten ©ulben jurüeftegen. „Dafj i nimmer mit
gattj leeren $änben tomm’", fagt’S leuebtenben SlideS babei.
©eigentlich trifft auch ein Srief aus ber Stefibenj ein, aber gar gefebieft ift
bet ftonrab nicht mit ber geber unb man fiebt beutlieb, bafi es ihm eine Slrbeit
ift, unb ebenfo ergeht’S bem Särbele: es muh bie Kirche im Stich laffen, »enn
es mal am Sonntag bie ttier Seiten füllen foU, unb ift baS gefächen, fo meint’S,
es hab’ noch lang nicht genug gefagt non bem Sieh auf bem Scblofjgut, auch
hafs oergeffen, bah eS heuer fo niel ©runbbimen geerntet hat, bah es bamit auf
ben 9Rar!t jiehen tännf; bah eS aber leinen ißlaf} mehr fanb, feinem Schah ju
erzählen, bah SRüHerS 9?ane brei freier nacheinanber abgewiefen habe, unb nach
bem SäiHen feiner Dobe noch immer »arte, baS reufS nicht.
„SBeiht, Särbele, bu berjig’S", bat’S aus bem einen Srief gelefen, „ich tönnt’
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*76
Unfere ^ett.
fcßon halt el}’ einmal ^erü6erlommen — ab» mein Sinn teibef« nit. Sie fallen
babeint nit jagen, ec ljält’3 nit au« unb min erft mieber an feinem #of borbet«
taufen.... Unb wenn « aucfj nit atted fo ift, wie icb’« benft Ijab’ mit ben Sol*
baten, fo bin i boctj noch becfetbe unb teib’ nimmer, baß man fib» mich fein'
Spott bat."
„0 bu ®uter", jagt’« Särbete nach feiner ©ewobnbeit in bie fiuft hinein.
3m Dorfe wirb betweit gebeiratbet, fiinber tommen «ur Seit unb atte fieute
unb fange fterben, wie’« immer gemefen ift. Kenn ba« Särbete bie $ocb«eit«*
gtocfen bört, fo ift Ujm eigen ju SRuib unb e« gebt nid)t wie fonft «um Sufabauen
in bie &ircbe; e« mag nicht benten, wie lang’ e« noch ju warten bot unb baß
fein SDfartenbäumcbcn fo tQmm»ticb gebeibt.
Der $err Reifer baf« einmal an feinem ©artenjaun angefarocben unb e«
getobt, baß e« fo fleißig in ber förcbe ju feben ift, unb bann bot » auch öom
Stonrab gefprocben.
„Htle« gebt oorüber, auch (Eure ißrüfungSjeit. Unb ein $«« hoben bie SRefjler*
Seut’ auch unb unfer #err im $immet wirb ba« fdjon treffen."
Dem Särbete ift e« gemefen, at« fei bamit befonberer Droft in feine Sruft
gejogen, unb e« bat bie fcbnöben Sieben gan« öergeffen, bie neulich Stane ba nebenan
gegen ein anbere« SftäbdjeH geführt bat.
„SBeißt, SDiienete, ba beginnen in ber Stabt, ba fommt’« ben Surfcben erft
Har oor bie Slugen, wie oiet SJtäbete e« gibt. Unb wenn einer auch babeim fein'
Sinn auf eine gefegt bat, ba fiebt er, baß e« noch biet fauberere gibt. SRein Dobe
ift arg gefreit unb b Q t gar biet ju erfahren gewußt — unb i folt mein’ Seit
abwarten, fagf«. Stirgenb« beffer at« bei ben Solbaten, meint’«, lernt fo ein
ScbnabelfdjneHet, Unbergorener fcf>ä^en, wa« e« beißt, fein ficb» Srol haben unb
auch noch etwa« brüber."
©eladjt unb gefangen haben bie beiben SRäbet, aber Särbete bat’« nicht bittau«*
getrieben au« ihrem ©ärteben; e« bat fo fleißig Weiter gefebafft, at« ging’« ba«
nicht« an. Unb nun ift mit einem mal ber Sommer ba, fo gar rafcb gefommen,
faft eb’« Särbete geglaubt.
@« )>ubt 6i« äRitterna^t in feinem $äu«te, febon eine gan«e Seit lang, fobaß
c« bem 2ie«t }u oiet wirb.
„3, b u b’ ba unb bu!" brummt’« baber.
Unb fingen fauf« Särbete, fo bell unb freubig, früh mit ber Sercbe unb abenb«
mit ber Stacbtigatt — e« weiß gar fein ©nbe ju finben.
Huf bem Scßtoßbofe reben fic batton, baß halb Wieber bie $errfcbaft fommt
unb bie feböuen jungen ffräutein, unb 9tö«le unb Stiefele, bie wetten miteinanber,
ob fic wot noch bie buntblumigen tHeiber haben, fo biinn Wie Spinnweb’ unb fo
an«gefaannt über bem Steifrocf.
„Scbwäbt ihr nur", benft ba« Särbete, „wer für mi baberfommt, ba«
weiß i!"
Unb bann beißt’« ptöfyticb: „Sie jtnb ba unb bic«mat fogar noch ein frembe«
fdjöne« Sräute babei!"
Särbete ift «wifeben bem ©emüfe, at« bie anbern e« ficb «»rufen.
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23ärbele.
\77
„®er junge $err aucp?" fragt’«, fiep emporricptenb.
„D, bu! Um ben forgft?"
©ic erglüht über« ganje ©epcpt.
„3 pab’ nur 'meint!"
SBa« pe gemeint pat, ift, bap ipr Äonrab mit bcm §errn Sieutenant eintreffen
müpte, aber fagen fann pe ba« bocp nicpt.
Stm Stbenb ift niept« mepr bon ber ^errfcpaft ju fepen, ftiß gept’« nacp $au«.
„SWorgen ift audp notp ein lag."
Siefleiept pat ben ber liebe ®ott fo recpt eftra fdjöit gemalt, meil ber Sfonrab
tommen fotf — faft ift ipm ber ©ebanfe aber grebct.
Sie ©ärbete ber Sirtpfcpafterin bie ©opuen pineinträgt am früpen Sorgen,
ba fommt ba« fjräutein ©prengarte baper.
,,©(pau', ©ärbete, ba bift. $ab’ fcpou nacp bir fragen maßen! 3fcp bring’
bir Stacpricpt bon beinern ©cpap!"
„Slacpricpt?" ftammett ©ärbete. ®er S'orb ift ipm p(öplitf) ccntnerfcpmcr auf
feinem ®opfe, e« mnp ipn perabtangen.
®a« anbere frembe gräutein, ba« baneben ftefjt, fagt ein paar SBorte in
toetfeper ©praepe, moju bie ©prengartc nieft. ®aitn jiept fic einen ©rief au« ber
lafepe unb taept.
„3dj beförbere bie ©olbatenpoft, auf Sunfcp meine« ©ruber«; ber pat, meit
fein ©utfepe erfranft ift, ben ©epap be« ©ärbete mit auf bie Steife genommen."
Sie gepen meiter, ba« Säbcpett pätt ben ©rief mit ben mtgefepidten ©udj=
Paben in ben £>änben, e« ftüpt feinen miiben Stüden gegen beit Sicpentifcp, e«
fepmimmt ipm fo fonberbar bot ben Stugen. Sine gemattig grojje Oblate pat ber
Äonrab auf ben ©rief gettebt, er miß fiep gar nicpt gut öffnen taffen. (Snbtiep
iff’« gefepepen unb ba« ©ärbete tieft ipn miipfain.
Sa« ba« Sräutein in ben menig Sorten gefagt, ftept auf brei langen ©eiten.
Iie« £>crrn Sieutenant« liener ift erfranft, unb ba pat er ipn gebeten unb Stein
pat er boep nimmer fagen fönnett, unb fo fam’« —
„Senn ber #opfen geerntet mirb, ©ärbete, bann paft beinen ©epap mieber!"
Step, marum nur notp bie ©onne fo luftig braupen fepeint? ®a« ©ärbete fann
pep peut ja nimmer freuen.
„9tun, gute Stacpricpten?" fragt gräntein (Sprcngarte, bie jurüdfommt.
„Äcp ja", pammett ©ärbete, „er miß pier fein, menn man ben Hopfen pffüdt."
„Unb ba mirb bir bie Seit nicpt tang?"
®a« ©ärbete mup ja mieber gute« SKutpc« fein, e« pitft aße« niept«, fo rieptet
e« tapfer ba« ßöpfepen jur $öp’.
„Senn 3P* einem gut märet, Sräute, fönntet 3pr nit gebutbig fein?"
Sa« ba« ÜDiäbepen immer für fonberbare Stntmorten gibt! Sie im ©orjapr
errötpet ba« Sräulein unb fagt nur: „3<p benfe."
„Sttp, meine ©opnen", ruft ©ärbete erfepredt über bie berfänmte Seit unb
läuft nacp ber Äütpe.
Stm Stbenb ba poept’« an be« @cprciber=9lnton’« genfter. @r legt bie btaue
©riße ab unb gudt perau«.
Uiifett 3fit. 1882. I. 12
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*?8
Unfere <3cit-
„0 bu meine ©üte, ©ärbete! Äomm’ burch bie IJjür!"
„Stein", fagt’S, „bu bift ein 3>unggefell unb wir föntten unfer @efcf)äft h* cr
außen abmachen. ©oltft mir einen ©tief an mein' Schaft fchreiben, i lann’S ^eut’
nimmer, i Ijab’ in bie @idjel gefaßt unb mir bcn Singer jerfdjnitten."
„Slber ber ftonrab wollte —"
Sie mag’S gar nic^t bon anbern nod) einmal auSfftrechen taffen unb fagt furj
gefaßt:
„Sin’ große ©Ijr' ift ihm wiberfahren, er ift mit bem $errn fiieutenant auf
einer Steifen. Unb mir ift'S recht baß er ein ©titelte bon ber SBelt fieljt."
„0 je, o je, alles auf ber SBett —"
@3 ift fo Ijaftig, bas ©ärbete, unb läßt fetbft ben flugen Stnton nicht auSrebeu.
„Schreib’ nur arg fdjön unb tröff ihn. ’© wär’ nimmer weit bis jur $opfen»
crut’ .unb er follt’ ficft bie fchöne SBett anfdjauen unb altes genau merten. S>er
©ommer ging fc^ou h<n, wenn man fleißig ju fcfjaffen tjätt’."
„Unb fo einige SBenbungen bon Sieb’ unb Sreu’, ©ärbete, Ije?"
„ÜJteinetwegen! ©r weiß es aber ohne 3h*t ©cftreiber^Slntonete. Unb nun
behüt’ ihn ©ott" — fic tegt baS ©orto unb noch eine ©gtrafchreibgebüljr anfs
genfterbret.
„$alt, SJtäbete, wiHft’S bcnn nit tefen?"
„SBirb fc^oit redjt fein, Wie bu’S machft."
„Stber ein’ Jpanb fannft mir burcftS gcnfter geben."
„3)a ift fiel" ©r briicft baS ©etb hinein.
„Um bid^ unb bein’ fi'onrab t^u’ i ljunbert ©rief umfonft fchreiben, baß
bu’S weißt."
„SBenn’S nit wiHft" — fie ftriebt baS ©elb in bie Saften, „fo maeft’ i
mein’ 3)anf."
,,©et|üf bidj ©ott!"
©eine Stugen teuften, wie er if)t nadjfieljt.
„Sßie’S SJtariete — ganj Wie’S Sliariete! Stimmer bergeß i baS" — unb er
feftt fieft noeft nicht fofort jur Slrbcit, fonbem fdjaut burd;S ©djiebfenftereften, bis
es bunfelt.
X.
3)aS ©ärbete hat feine atte griffe unb grö^tid^feit batb rnieber; Wenn cS an
ben $of)fenfetbem borbeifoinmt unb niemanb jttft tierfie^t, nicft’S fröfjlid^ bem
©efdjting an ben langen ©tangen ju.
„Sßenn man jwifeften euch Ijerumwirtljfdjaftet, fo ift einer ba, bem i über alles
gut bin."
©taßrötfitidj werben bie Baftfen unb rott) glühen beS ÜDtägbteinS SBangen bor
greube, bie ©rnte fommt heran.
@S fiftt am ©onntagabenb unter ber Sinbe, baS Siest hat bon feinet Sugenb
erjähtt, ©ärbete aber gar nicht jugeljört. @S hat fo anbereS jeftt $u benfen, wie
es jeitig aufftehen will, um bor ber ©tunbe, um welche eS im Sagelohn fein muß,
fein $au3 itnb feinen ©arten ju fänberu. ©tiften foD alles, wenn ber ffonrab fommt
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23<ärbele.
\79
„©rüff ©ott", fagt ber ©oftbote unb häU ihm einen ©rief hin. „#ätteft ilin
fdjon am SDtorgen Iriegen gefoQt, aber i war ju einer Taufen, unb lieft aud) wot
früh genug, wad brin ftet»t."
©ärbele hat eigentlich gurdjt tior allem ©efdjriebenen, feit iljr gräulein ©tjren’
garte ben ©rief gebracht.
Ter ©oftfrifc geht unb bad äRäbdjen fieht auf bie frembe £>anb, bie feinen
Stamen gefchrieben hat.
»3a, ju meiner Seit, ba buchten nur oornehme Seut’ an ©rief’, unfereind nit.
916er auf ber SBelt ift aHeö anberd getnorben", fagt bad Siedl.
„Ta bin i aber arg neugierig", meint ©ärbele, „wer hat mir benn ju fchreiben,
wenn'd ber ftonrab nit ift. Unb fo gar fein gemalte ©uchftaben finb'd!"
#in unb h« Wirb ber ©rief erft gewenbet, bann macht il)it bad SRäbchen
(angfam auf.
„(Stwad ©efonberd muh fchon fein."
Tie Siedl fdjliejjt bie Stugen unter ber Seit, beim Sefen muß leinet ftöreit,
bad ift fchon eine fo fchwierige fi'unft, bafi fie biefelbige nie begriffen hat.
Stach einer langen Steile ftöfjt ©ärbele bie neben ihr Sifcenbe an:
„Siedl, i muh morgen pm ftonrab. (Sr fann nimmer fommen, fo muh i
p ihm."
„Stach Studiert!" fchreit bie 9tlte in ©erWunberung.
„Sm Suh hat er Wad gehabt unb hat lang gelegen unb herüber lann er noch
nit — nun fiehft ein!"
„©ärbele, ba herinnen in ber Stabt, bu bift ein einfam’d SJtäbele unb nimmer
weiter gewefen Wie in Tübingen brin! @ib ?ld)t, ba paffirt bir etwad!"
„Stir!" mffd ©ärbele Verächtlich, unb bann Wirb’d ganj feierlich. „Ta herinnen,
in ber Stub’, wo mein ©aterle fo ftill unb boch fo gar fchön gelegen ift, ba hab’
i gelobt, ben ftonrab nimmer ju berlaffcn unb nach feinem Süßen p fein aßejeit.
Unb nun, wo ed ihn bangt unb fein ©ater unb fein’ SJtutter nit p ihm lommen,
ba gehör’ i ’nüber."
Unb lein Stört lägt bad ÜHäbdjen {ich weiter einreben.
grüh am anbern 9J?orgen, ald ed am SJtefclerhofe borübergeht, trifft ed bie
Kathrin.
„Tu auch, fag’ beinen Seut’, bah ber Sottrab Iranl im Sapreth brinnen in
Stuttgart liegt —"
„Weh", ruft bie Sathrin fdjnippifcfj, „muht bein ©efchäft fchon bei einem
anbern anbringen, auf bem #of nennt man ben Stamen nimmer laut!"
Stenn fpäter bad ©ärbele baran benlt, wie ed bad atled fertig gebracht hat,
bie Steife unb ben ©ang pr Schlohh^rfchaft, bah ihm ber junge $err p bem
SBieberfehen mit bem ßonrab oerl>ülfe, unb wie ed bann enbtich in bem Sajaretl)
in einem finftern Sirnmet fag unb ber ftonrab an jWei Städen hneinhumpette —
fo meint ed, ed muh ihm bamald eine ganj befonbere $raft oon oben oerliehen fein.
©leid) iß ber ßonrab unb elenbiglich, aber bie greub’, bie über fein ©eficht
jieht, Wie er fein ©ärbele fieht, bad wifl’d nimmer oergeffen.
„O bu, o bu — bift wirüich baherlommen!"
12*
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180
Unfcrc .Jeit.
©ie flieht ihm erft einen Stuhl ^in, bannt et atleö int ©ifcen erjagten fann.
„SBirfti<h!" antwortete bann mit feinem friföen flauen, „ba fühl’ mein’ £>anb,
i bin Sein unb 3teif<h!"
(Sr läßfö nicht bei bet £>anb, et preßt fic fräftig in feine Sinne unb fügt ihr
ben frifdjen SJtunb.
„3)u auch!" ruft Särbele, als eö gu Slthem fomrnt, „was bift ungeftiim
worben!"
(St ift gang rotf) unb wifcht fich übet baö ©efic^t.
„9tun, »on Surfer bift auch nit — unb i t)ätt’ Reuten fönnen, wie ein ftein’ö
föinb, wenn i brau badht’, baß i nit gu bit fönnt’."
„$rum bin i ba!"
„SBa« gibt’ö baljeim?" fragt ®onrab.
„9tij ber 9lcb’ werth — unb i will non bit hören. SBaö ift’3 mit bem Suß?"
„(Sin’ ©cl)n' ift geriffcn, fagen bie Slergt’, weißt, bei einem fo ungefdjidften
©prang, wobei i niebergefaKen bin."
„SBaö fjaft auch gu fpringen", fagt baö SRäbchen unwirfd) unb bann faltet c 9
erßhrerft bie $änbe. „3efu3, wenn bu nun lafjm bleiben thätft!"
(St beugt fidj herüber unb fief)t ihr gang tief in bie braunen Singen.
„SBaö wär’ ba? SJiöc^teft mi bann nimmer?"
„0 bu! SBie fann einet nur fo fragen!"
„3 will bir fagen, waö wär’. $a fäm’ i früher tion ben ©olbaten loö unb
ba gäb’3 eine luftige ^ocfjgeit. Unb wenn i nit tangen fönnt’, nu, fdjimpfen
würb’ft am (Snb’ aud) nit."
„$u", fragt Särbele rafch, „mit ber ^errlidjfeit liier ^aft bir’ö aud) wol
anberö benft?"
(Sr lad)t. „SB a9 bu für ein’ ©erlaufe bift, wiHft mi auöforfchen? SOtandfjcö
ift beffer als baheim unb manches fcf»lec£)ter, aber eins lern’ i, mi gewönnen!"
„SBenn bu nit fo bfeidj wär’ft — i mein’, bu fäljeft fonft faubeter aus afs
früher", fagt baö SOtäbdjen.
„Schau, i gefall’ bir beffer?"
„Stein, bas fönn’ft nimmer! Slber weit fie gefagt haben, unter ben ©olbaten
würb’ einer gar leidet berborben! Unb einfehen t^ät’ er and), baß eS überall leib=
liehe SDtäbel gibt."
„Särbete, bift bu flug worben!"
Unb fo fdjwafcen fie weiter bie ©tunbe, unb fdjncll geht fic bin.
„D Särbete, fo arg ift’3, gu fdjeiben!"
©ie ift heut mutiger als er.
„Sefet geh’ i unb fchau’ nadj mein’ Säöle, baS h*er irgenbwo herum in ber
©tabt wohnen foH, uub wenn i’S finb’, herbcrgt’S mi — unb ba feh’ i bi morgen
no<h einmal eine gange ©tunb’."
„Sich", fagt er, „immer rnöcht' i bi fehen unb nimmer laffen." Unb wie fi(h
baS Särbete toSmacht aus feiner Umarmung, ba ruft’S:
„SlnberS bift bodj worben unter ben ©olbaten, fo Diel feefer."
®aun finbet baS Särbete fein SäSte unb Wirb auch beherbergt unb fann am
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Bärbelc.
ili
anbern läge feinen Schaf} nodj einmal fel)en, unb bergttügt fchwafcen jte nun bation,
toie et balb fommen wirb.
Sann tritt fie frö^fte^ ihre $eimreife an unb athmet erft wieber frei, als fie
bor ihrem Räuschen fte^t.
„ßieSl", fagt fie, „ba herinnen in ber Stabt hätf j f e j n ’ @tunb’ bleiben
mögen, wenn’« nit um ben ftonrab gewefen wär’." . . .
Schnee liegt unb ber Sag bor bem ©hriftfeft ift’S; ba« Särbete pufot gerab’
bie ausgetretenen Stufen an feinem $äu«(e, ba bietet ihm einer ,,®rüß’ ©ott".
Sich bie Stimm’! @S Wenbct fich Wie ber Stifc unb jaudhjt auf, at« eS feinen
Schafe in ber fdjmucfen Uniform erbticft, fo Ijübfch hat eS ihn ftch boch nicht ge»
badjt. Unb wie er nun fjeranfommt, fieht Särbete auch, baß er hergeftetlt ift.
35a« ift fein erfte«.
„9ti£ merlt man beinern ©ang an!"
„0, bu Sröpfle, wär’ e« nimmer fo gut geheilt, für unfre Sieb’ wär’« bcffer."
Solle ai^t Sage ift ber fonrab im Dorfe, ber ftörfter gibt ihm im Schloß
Cuartier wie einem ^errifcßen. Unb auch in bie tircße geht ba« Saar. guft
am ißtajj »on bem 9Jte(}ler=Sauer muß ber ftramme Sotbat borbei. Ser 9llte
fchaut nicht bon' feinem ©efangbucfj auf, unb fo biete 9tugcn fuß auf ihn richten,
lein« gewahrt eine SeWeguitg an ihm.
Sa« Särbele faltet jitternb feine $änbe unb bcnft an feinen tobten Sätet
unb meint, ber muffe jefct herabfcßauen bom Stimmet, unb e« benft auch an feine
SRutter, bie in ber weiten SBett berborben ober geftorben ift, — wer fann’S
ihm fageu!
Darum hat e« nicht in ber Stabt fein mögen, bie ßuft hat’« gebriicft.
Seim ^erauSgeßen au« ber Sfircße ift ber 9Rc|}ler=Sauer immer grabitätifcß
langfam; fo fomntt’S, baß er heute mit bem $errn Reifer jufammentrifft.
,,©rüß’ ©ott", gibt ber ©eifttidje jutüd, „freut mich, ©uch in ber ffircß’ ge»
fehen ju haben."
©eorg ÜRejjter nidt. „©taub’« wot, ju oft geh’ i nit her, nur an h°h e «
Seften. ©in« muß e« boch thun, unb mein SSJeib fann mit feiner Brüden nit
über ben Schnee."
Ser Reifer fennt bicfe ?frt bon Säuerntroh unb tächett tnitb baju.
„’S ©hriftfeft ift auch 9“* f<f)öu, greub’ in ®ataft unb $ütte, bei reich unb
arm! SEßilT« ©ott, 2Ref}ter, fo ift’« auch ein fjreubenfeft bei 6udj!"
„S3üßt nit, £>err Reifer, woran ba« fehlen ttjät’."
„@ar nicht, 9Ref}ter Sförg?"
Ser Sauer wirft ßdj in bie Sruft.
* „SBit finb bie 9tei<hften im Dorf, bie ^errifcßen rechne i nit."
Ser Reifer legt ihm bie $anb auf bie Schulter.
„®uer Sohn hat ©uch nicht gefehlt?"
„Ser geht fein’ ©eg, folang bi« er bon fefber wieberlommt", antwortet ber
Sauer mit ©leicßmuth.
„Sagt ba« nicht — er fann meinen, bie Welternherjen finb ihm auf immer
betroffen!"
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*82
Unfere ^cit.
„SBag er meint, ift gteicg. SBenn er tion ber Sirn’ lägt, ift er jebe ©tunb’
mitlfommen unb i miQ tiergeffen, bag mein (Sinniger mir’g angetan gat unb unter
bie ©olbaten gangen ift unb eg mit ben ©errifcgen galt."
„@eorg 2Regler, fennt 3gr benit nicgt unfern alten lieben ©jmug: «©ie gut
SBürtemberg atteweg»?"
Ser 3brg lacgt. „®anj ein’ anbent ©prucg toeig i; nij für ungut, ©err
Reifer, er gegt aucg mit ben ©eiftticgen nit fein um."
Slafc^ fällt jener ein: „Sin bem Särbele, bag eine braue unb fromme Sirn'
ift, fönnt 3g* nichts augfegeit als feine Strmutg —"
„©ilft Such nicgtg!" ermibert ber Sauer. „SBollen fegn, roer’g länger aug*
gätt, ber Su’ ober fein Sitter."
„Unb 3g* müßtet nicgt pnt ©griftfeft jtoei glücflicge SRenfcgen machen? SBenn
3g* ben einjigen ©ogn reclamirt atg ©ülfe für ©ncg, fo fiubet ficg’g aucg mol,
bag mir bie ©rtaubnig jur ©eiratg ermirfen. Sure grau braucgt aucg junge
©änbe neben ficg."
„Sie nit, bie 3g* meint, ©err Reifer, bie nimmer. Unb i lög ben Suben nit."
„SBeun’g nun Srieg gäbe?"
„SReinetmegen fott er gegen bie Jürfeit jiegn."
Ser ©elfer feufjt. „’© lann itäger fein — grüg’ ©ott, SRegter=Sauer!"
Ser fcgaut igm nacg unb jtoinfert mit ben Stugen.
„Pfaffen unb Slbet! Sie Sunbfcgügler gaben galt gemugt, mag ge gemollt
gaben — unb i meig aucg, mag i miß!"
Sttg er bann in bie Stube tritt, mo bie Säuerin im 3efttaggpug figt,
ruft er:
„SSiüft’g ÜReu’ft migen? Ser ®onrab unb fein golbiger ©cgag gnb miteinanb’
in ber ffircg’ gemefen, unb mie i rauggeg, ba lommt ber ©err ©elfer, allerlei
©uteg an mi ’ran ju rebeu. ffnunft fcgon benfen, mag!"
Sie Säuerin legt bie SriHe auf bag ©efangbutg.
,,©aft igm bient?"
„SEBie ficg’g gegärt."
„©’ift recgt."
gür eine $eit lang gört man nur bag Siefen ber grogen ©tanbugr, bann
fagt bie grau:
„9RAÜerg 5Rane gat ign gefegn, ein gar fegmuder ©olbat mär’g, meinfg!"
„3ft mein ©ogn!" antmortet ber Sitte.
„Srum ift’g eine ©dganb’ mit bem Särbelc."
Ser Sauer jiegt feinen SRocf aug unb ftegt nun ba, bie Slrme über ber Sruft
gefreujt.
„3 gab’ mi nimmer im Seben übereilt — i gab’ aucg jegt ©ebulb."
„Unb bag ÜRaitele märtet getroft", fegt bie grau ginju.
©inigental gegt 30*0 SRegler über bie frifeg gefügten Sielen.
„Sermigt ben Suben einftmeiten, SBeib? Sie Seut’ gätten’g gern, man grämt’
fug fo im füllen!"
„SRit um bie SBett, nit cing unb nit’g aitbere."
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Bärbele.
*83
Eiacß ac^t lagen berläßt ber fionrab fein Dorf wieber; bieSmat meint baS
Särbete leife an feinet Schütter; in bet Stabt fount’S bas nicßt.
„Dröft’ bi", fagt ffonrab, „i bin batb wieber ba!"
„3 mein’ bocß, bie Seit mär’ fcßnettcr Eingängen", ftüftert’S Särbete; „attlueit
bent' i, bie Sag' unb EBocßen längen ficß."
XI.
35rei Satire finb ßerum.
„Db i wot nocß bein’ ^ocßjeit erleben tßu’?" fragt bie fi'rauttieSt jumeiten.
Dent Särbete geßt’S bann jebeSmat wie ein Schnitt burcßs $erj, aber es ant»
mottet woßtgemutß: „EZun ift’S ja batb nur nocß eine Spanne."
Der Sonrab ift regelmäßig alte ßatbc gaßr getommen, unb ins Scßloß bringt
ber Sommer Seben; aucß bieSmat mieber.
Der EReßter»Sauer ßat feinen $opf begatten, fagen fie im Dorf, unb aus ber
fräßet ewig feufjenbcn Säuerin ift eine ©eftreuge geworben, unb um beS SRüt=
terS Eiane wirbt niemanb meßr; fie ßat fcßon einen Seinamen befommen: „Das
©etrofterte."
@3 ift über bie SRitte beS Suti; ein ßefler, ßeißer Dag; ber erfte Srnte»
wagen ift auf ben Scßtoßßof gefaßten, bie Änecßte unb ERägbe geßen ans Etbtaben.
Da tritt ber görfter ßerauS.
„Seiet’, fingt nit unb jubitirt nit, tßut eure Sa<ß’ im ftißen. Srieg gibt’S" —
feine Stimme Hingt gar ßeifer — „Stieg mit ben graiyofen, bie wollen ißn, unb
att’ geßn jufamnten, WaS bie Deutfcßen finb, Wir auiß —"
„2Bir aucß? SRit ben tßreußen?" fragt ein Sltecßt.
„3uft weit Wir Deutfcße ftitb."
„Strieg gibt’S, Srieg!" fagt einer bem anbern.
„O bn lieber Herrgott, ba muß mein Sruber ja aucß mit!" ruft’S ßier.
„0 bu mein’ S«*t, brei Settern ßab’ i brunter!" ßeißfS bort.
,,.§ert görfter", fcßwirrt’S burcßeinanber, „woßer wißt benn Sßr’S nur!"
„Der grau non Setten ßaben’S SRann unb Soßn mit bem Detcgrapßen ge»
fcßicft, unb bie fißt nun ßerinneu unb weint um ben Soßit uub bie gräute um
ben Sruber. Elber fommen tßut ber junge $err no<ß jutior."
gern üon ben anbern fteßt baS Särbete; es teßnt ficß an bie SRauer, fein
Eleven liegt ißm ju güßen, nicßt einen Stutstropfen fießt man in feinen SBangeit.
„Stieg" ßat fein bebenber ERunb nur einmal ftammetn fönneit, bann ift es
Wie betäubt.
Sonft finb bie anbern ni(ßt gar tßeitnaßmooO, nun aber ruft eine ERagb:
„S<ßaut baS Särbete, bem armen Dropf bergeßt aucß ßatt baS Sacßett."
EBie’S feinen Etamen ßört, rießtet ficß baS ERäbcßen auf unb wantt tangfam
oorwärts. Der görfter Witt ins Scßtoß jurücf, ba ßätt etwas feinen SRocf feft,
„Der junge $err fommt — tommt ber S’onrab aucß wot?"
Sr witt erft eine feßroffe Antwort geben; wer lann an SiebeSßänbet beuten
in foteßer Seit, aber baS bteieße ©efießt unb bie bittenben braunen Etugen ßabeu
bo<ß etwas EtäßrenbeS. „Eiein" mag et'aucß nicßt fagen.
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Unfere 5eit.
„SBotten’S hoffen, 2Räbet!"
„3 mach’ mein’ ®anf!" ©S fornntt ganz medhanifdh über bie blutlofeit Sippen;
bann Wettbet fich baS SJiäbdfjen, ohne me{jr nach feinem $anbwerfSjeug ju feljen,
bem SluSgang ju.
„S’ift nit bei fich, ba$ Särbete", fprcchen bie anbern iljm nach.
©S fommt auf bie ©orfftraße, bie Seute arbeiten überall fleißig wie fonft, fie
Wiffen nod) nicht, WaS baS Sorbete Ijerauäft^reien möchte unb nid;t fanu: „Krieg
gibt’S unb $er$eteib, großes $erseteib."
9?un ift’S bem Schultheiß gegenüber, batjin witt’S, ba finbet’S jefct baS ©Treiber»
Stntonete, «nb richtig, ber Heine ÜJtann fte^t neben ber breiten ©eftalt beö 0rtS=
IjaupteS. Seibe reben heftig, bie wiffen’S fchoit.
„Stntonete, 3h c fottt mir ein’ Srief fcfjreiben", fagt baS SDtäbchen; erft ^ört
er nicht, bann bticft ber Schultheiß zur ©eite.
,,®irn’, geh beiiter SBeg’ unb bring’ bein Stnliegen ein anbermat bor — weiter,
Stntonete, wie ^eißt’S weiter?"
„Unb wie ber König, unfer $err, ba jurücffommen ift aus bem Schweizer»
tanb, am 17. ift’S gewefen, ba ift er auch gleich babei gewefen, baß man mit»
einanbergelfen fottt’ gegen bie SBelfdjen."
„63 preffirt", fagt baS aJtäbdjen unb zupft baS ©c^reibcrtein an feinem St erntet;
baS fühtt’S aber nicht einmal.
„Unb nun fottcn nnfere guten Schwaben tapfer breinhaueit", ruft Stntonete
bott Segeifterung; „o i wollt’, i fönnt’ mit auf bie fafrifdjen Sraitjofen. 3«
©tuttgart hoben fie fdjon gefagt, baß fie gewiß tjerüberfommen träten wie früher.
®aS Staubgefinbet! ©ett, ©djuttljeß, Wir taffen fie nit ins ®orf!"
„Stntonete, wollt 3h r ober wollt 3h r uic^t?" fragt Sorbete.
„0 bu bift’S!" ruft ber bott ©rftannen.
„Saß bie graucujiinmergef^id^ten, reb’ Weiter, WaS bu in Tübingen gehört
haft", mahnt ber ©djutttjeiß.
„©ottft iljm ftßrcibcn, Stntonete, baß er'S mir ju Sieb’ t^ut unb tommt —
i bring’S nit ttberS |>erz, ihn oljn' Stbfchieb aießn ju taffen — bietteiefjt auf
SUmmerwieberfcljn!" bittet baS SRäbchen.
„®en Konrab meinft, bein’ Schaf}?" fragt ber Schreiber, unb iljttt ift’S, als
feljen itjn bie Stugen feines unbergeßtidjen Startete au. „3a, Schultheß, baS War
alles! Unb nun fag’S mir noch einmal, Särbete!"
6r nimmt bie bebenbe $anb unb fo gehen fie Wie zwei Kinber baljin.
„0 bu fennft’S ja fchon, WaS i mein’", fdjtudfjjt Särbete, „nur feljen Witt i
iljn noch"
©er Slntoit weiß cS genau, baß ber Srief gar nicht meljr rechtzeitig tommen
tann; aber er will bem Stäbchen baS $erz nicht noch fdjwerer machen.
SKS Särbete am Stütterljaufe borbeifommt, beugt fid) bie tttane aus bem
Seitfter unb ruft einer jungen 9iad)6aritt ju.
„SBcißt, WaS ini gefreut? ©aß i fein ©otbatenbraut bin."
„Krieg ift? 3«, warum benn?" fragt baS SieSt, „ja, um was Ijoben'S benn
einanber gejanlt?"
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Särbclc.
f85
©ärbete weife baS felbet nicfet; eg fe|t ftc^ an ben hotjtifcG unb ftüfct feinen
$opf in bie $ünbe unb fpricfet ben ganzen Sag nicfet unb ifet amG nicfet ton ben
©päfete, bie baS SieSt mit aßet ffunft jubereitet Gaben Witt; eg bcnft nidjt an
bie ©rate auf bem @<Glofefjofe, unb itie^t, bafe eg eigentlich bem lieben Herrgott
feinen Sag ftiefett.
Unb bie lange, fdjlaffofe SftacGt! SaS SieSt in ber Stammet ftöljut, eg Gat
Sllpbrücfen. ©örbele feotefet in feinem ©ett barauf, unb bann fctjtägt cS ptö{jli(G
feine beiben Jpänbe übet bem Sopf gufammen unb f<Gtu<Gzt auf:
„0, nimmet, nimmer wetb’ i wiebet fefetafen fömten, Wenn i ben St'ottrab ba
Geraufeen weife in bet ©Jett in bem mörberifrfjen Strieg."
Set $aGn ftäGt, bie ©öget fangen an ju fingen.'
„©ietteidjt f(Gißen fie ifen Geut f^on Weg; bet ttJieufcG ift botfe Wie eine SBaat’",
fpricGt bas äRäbcfeen öor fi<G Gttt. ®a fliegt etwas gegen fein genftcr, ein ©teilt!
no(fe einet. @S fpringt t>ont Saget unb eitt ans genftcr — o bu meine ©üte!
unter bet Sinbe ftefet ber ffonrab.
©S jaudGjt fo laut, bafe SieSt mit eiuem ©eferei auffährt; bann tuufe cS fitG
erft beftnnen, wie’S baftefet.
©o fcGnett tam’S nie in feine SRörfe, bie Böpfe Gängen wirr Ger ab, aber es
fann iG» boefe niefet warten taffen.
Sie ©onne btenbet es, wie’S GcrauStritt, aber beit Äourab nicht.
„O mein Geiget ©cGaj}!"
„Safe fo fifenett bie ©tief’ gefeit!"
©t lacht es aus auf feine ©rgöGIung fein. »®iit mein’ jungen Jpetvn bin i
ba unb noch einem — S'Gat fiefe wieber fo gemocht, bafe er an mi benfen tonnt’."
Unter bet Sinbe fifeen fie, |janb iit fpanb; eS ift ein fo feerrtiefeer 3J?orgcit.
©töfetitG täfet ©ätbete ben Stopf finten.
„O mein! i Gab ®rieg unb altes herjeteib oergeffen."
„SaS Gat auefe uoefe Seit, jwei Sage bleiben Wir ba; bet alte £>err tonimt
heut, wit Gaben bie Stacfet mit ju §ülf’ genommen. Set anbte Sieutenant,
weifet, bet ift ber ©tfeafe Dom jungen graute! 3 Gab’S GerauS — fo ein Geint’
lieber bisfeer."
„Stum iffs immer rotG worben", fagt ©ärbete.
Ser ftontab ift fonbetbat luftig; batb fingt, batb pfeift er ein ©türftein, unb
©eherne maefet er, als Gabe er’S ejtra nont ©cfereiberle gelernt.
„SBeifet, in fo einem Strieg", fagt er einmal, „ba ift Gatt alles möglich; gunt
minbeften tomrn’ i ats Unteroffizier Wieber, bas tann nimmer feGten, was meiuft
ba bergu?"
„©effer war’, bu gingft nimmer!"
„0 tafe nit ben Äopf Gängen — nnt fo eGer wirb’S hotfegeit."
©ie legt iGm beibe $änbe auf bie ©cGulter.
„$ttft gar fein fflang’?"
„0 Mäbele! Sa ift unfer SBacfetmeifter, ein ©teufe’, ber fingt ein Sieb, barin
GeifefS: «©ine jebe Äuget bie trifft ja niefet.» SaS rnufet’ auch benfen."
SaS SieSt Gat einen Kaffee gebraut, wie für eine geftlicfefeit, unb ©Srbete
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\86
Unfere «gcit.
thut fo ftolz, ihren ©dja|} ju bewirtben. Xann fagt fic: „Stuf beit 3Re|lerbof
ge^ft ober — finb beine Weitem."
Sr nicft unb lächelt; gut unb ohne galfcb ift ba* Etäbel unb fann nicht nadjtrageit.
©onft Koren bem Särbele leptbin zuweilen bie Xage lang erfcbienen, bie*mal
ift’* wie ein Setrug, al* habe man ein ©tüd baöon abgefcbnitten. Sine 9teuig=
feit fliegt auch burcb ben Ort. 3 n ber Site gibt’* morgen noch eine $ocbzeit
auf bem Schloff, ba* Fräulein unb ber junge Sieutenant —
„<S* t)eirat$en niete gerinnen in ©tucffert, ber Sönig hat ba* ben Offizieren
frei gegeben."
3m anbern Xage um bie 2Rorgenöc*perftunbe geht Sonrab auf ben Eteplerbof.
©djitaufeerte tjeult nor greube, bie SRägbe ^ufc^eu ihm au* bem SBege, er
trifft ben Sätet im Obftgarten.
„®«ten HRorgen auch, Sater!"
„Sieb, ba bift!"
Xie pfeife bteibt im Etunbe, bie freie £>aub in ber Xafcbe.
„Jpabett un* lang’ nimmer gefehlt, Sater, bift nit älter geworben in beu brci
Sauren."
„SBoju audj? Xer Etefcter ^brg hat feine Sorgen."
„3 fäh’ auch bie Etutter gern", fagt Sonrab, ber fo ftattlicb bafteht in feiner
Uniform.
„Eane, geh’ einmal baljerau*!" ruft ©eorg Etefcler.
Sie tontmt, unb obmot fie toeife, warum fie gerufen Wirb, bentt bie Hatljriu
bat e* fdion Überfracht, thut fie erftaunt.
„3d|, fdjau einer!"
Xer ©ob» reicht ibr bie $anb.
„3utb bie Elutter fiebt gut au*!" fagt er.
„28a* foßt’ i nit — mir h«t ««£ gefehlt", antwortet 9?ane.
(S* gibt ibm bo<b einen ©tidj; früher war'* nicht fo gewefett, aber er ift in
ber tfrembe feinfühliger geworben.
„Etorgen müffen wir marfebfertig fein — i wollt’ euch noch fehtt juttor. 3
hab’ fein Surcht, aber ber Etenfcb weifj hoch nit, wa* ihm paffiren fann!" fagt
er halblaut.
Xer Sauer ftöfjt ein Sachen au*.
„3(fo bie Sauerei wiHft richtig mitmachen?"
„Xu willft in’ Stieg?" fragt bie Eiutter.
,,©o gewifj i fytr fleh’! SBär’ ein flechtet ©olbat all bie 3afw’ lang ge»
wefett, wenn i nun nit beu Etuth bätt’."
„Xe* E?ej}ler=©auent (Einziger!" ruft ba* (Ehepaar au* einem Xon.
„Sater unb Etutter, ihr habt’* fo gewollt, hättet ihr ba* SBärbele al* ©ölj»
nerin willfommen beißen" — halblaut, aber feft fagt ba* ber Surf che.
„9tun unb nimmer!" rufen bie beiben zugleich — „h<«t nit unb nie nit!"
fügt bie Säuerin h*nz u -
„Unb wenn bu um bie alte Sitanei fommeu bift" — fagt ber Sauer unb
macht feitwärt* mit ber §anb eine Semegung. Sottrab fchwiUt bie 3°ntabcr.
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öärbele.
187
„3 fann f(pn gepn! Sept' eudj ©ott, Sätet unb SRutter — bom Särbct
lag i nit — unb in ben Srieg mug i. Sepit’ eudj ©ott!"
„©egen fo ein’ Droj} pt man feine $ütf’!" fagt bet Sauet, unb bie SWep
lerin fügt bei: „SEBirft bid) fcpn geben lernen, i erteb’g bo<f|!" •
Der Sonrab fenft bie blauen äugen unb gep, fein Stritt ift feft »nie beim
Sommen.
„0 bu mein einziges Särbete, i pb’ nur bi nocfi auf bet SBett", benft et babei.
„Soldj ein Sopf!" ruft ber SRejjter.
„Deiner!" fagt bie Säuerin.
„Drum!"
Die pfeife ift iljm aber bod) auögegatigen.
„Staue", meint et bann, „i glaub’ nit an ben Stieg, g’ift ein’ gajerei, ppte
Stenern wollen fie bamit."
,,©ar fdjmud fiput ber Sub’ auä, ba pben bie Seut’ redjt!" fpriep bie
Säuetin, „unb brum wär’g boppelt fcpb’, wenn et nit bie Staue befäni’."
„Sta, wag ber ipe Sauberfeit antangt", tadjt bet SDteper.
„äber reidj ift'g unb georbnet unb i bin fein Dobe."
„Da ’tan pt feiner wag au^ufepn."
Stift pnb beibe pute bodj, ntep atg fonft, aber fie geftepu eg einanber uicp.
XII.
„So’n äbeitb benf’ i mit nimmer", meint äntonete unter ber Siube, „ba
foHt’ man nit fdjlafen gept. SEBcnn i ein Stacpigall wät’, i fang’ immer fort."
SHemanb tatp pute über feinen SBifc, unb er pit ipt bod) für fo gut. ©3
ift fo ptfer SKonbfcpin, bag Sonrab unb Särbete einanber fepn fönneu, wie
Pim Dagc«ti<p, unb ge bliefen fic£> aud» ftitt in bie äugen unb ptten ftdj feft
bei ben #änbeu, eS ift ja bie bittere äbfcpebgftunbe.
„3 fomm’ nit brüber, Särbete, bag bu bie Drau’ nit gefep pft", fagt Siegt,
„eg war gar ju rüpfam. Dag gräute, ber Sräutigam, bie ^errfdjaft, alte pbett
jum ^erjbrecpn gefdjludjjt, unb wenn einer bie Dpänen ptt’ fammetn wollen,
ba fönnt’ man gdj brin oerfäufen."
„9tu", ruft äntonele, „jefct fipn’ö alT bei einem guten ©gen unb Werbeu
für ’ne SBeit’ ipe Draurigfeit bergegen pben."
„äPr eine Drau’ Pi 2i<p, bag pt nodj fein’ Seef erlebt. Unb weig mer’g
Pnn, ob bag jung graute fein SDtann tebig wiebet gep — mug ip ba gteicfj
in ben grauggen Stieg tagen — i fönnt' nodj puten!" ©g ift wirftiep atg wollte
bie ätte bon neuem beginnen.
,,©i, bor aep Dagen braucht ber Lieutenant nimmer fort — unb er ift ein
Jfteüpr, unb Wenn er nit wieberfommt, fo gibt’3 eine reitp SBitroe mep", ruft
ber Sepeiber unb benft babei au bag arme fßärcpn bor gef).
„Sägert nit", fagt Särbete teife.
Sonrab prep auf. „Dag ig ber SBagen, ber fäpt bag neue ©ppaar nadj
Dfibingen."
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*88
Unferc <3ett.
„$)rum fjaben wir fdjönen SJtonbfcfjein", ruft baS ©djreiberte; ober wieber
tadjt niemanb. $>em SieSt fallen bie äugen ju; es fdjteidjt hinein, um fidj burdj
einen Iran! SBaffer aufjufrifdjen, überlegt ftc^ aber, baß ei bann um feinen
ganzen ©djtaf fommt, unb fuc^t fein ©ett. Son aß bem ©efdjwäf) fjört’S, feiner
Taubheit wegen, bod) nur bie $ätfte, unb baß ber Äonrab in ber Stuf) geljt, ift
it)m ganj entfaßen über ber $o<$jeidjtS)>radjt.
®aS äntonete wirb nad) ber ©paßmadjerei fentimentat.
„SBenn einer jätjtt Ijätt’, Wie oft wir fdjott unter ber £inb’ gefeffen Ijabeii,
unb Wenn einer wfißf, wann wir wieber fo beifammen ftnb ..."
„O, bridj mir’S #erj nit", fdjludyt baS SWäbet.
»3« fo", er tjat eben aud| nic^t an ben äbfdjieb gebaut, ©r mödjte felber,
baß er überftanben wär’, unb ergebt fidj tangfam.
„©’ift fpät — tommft mit, fionrab?"
„O bu mein guter Herrgott, i fann’S nimtuer unb bi taffen", ruft ©ärbete,
unb »faßt, was fie nodj uie gett>an, freiwißig bem ©utfdjen um ben #ats.
„SRcin einjig’S, mein gutes ©ärbete!"
®er ©Treiber !ann nidjt weinen feljen, unb jubem muß er an baS t>erfd)oßcne
SDtariete benten. SBenn er einen SBinfet auf ber ©rbe wüßt’, Wo cS ju finben
wär’, waljrljaftig, er machte fid) jur ©tunb’ auf unb fud)t’S unb ßotfS. @r muß
fidj bie äugen trodnen — ba baS fdjfudjjenbc 3Räbdjen — nein, er fann ei
nimmer anfeljen.
ßtad) einer SBeile gewahrt baS ©ärbete, baß fie aflein fmb.
„Sie ftnb aß’ gangen, fein« bringt’« über« #erj, bir Sebewoßl ju fagen —
unb i — i muß eS!"
„©djidft mi jefct aud) fort?" fragt ber tonrab, unb fein Xott foß tuftig fein,
Wa« ißm aber nidjt getingen Wiß.
„ädj nein, i woßt’, es müßt’ nit fein!" Unb ©ärbete btidt jum $immet, ats
foßte ber ein SButtber tt)un.
„SKäbete, o ßJtäbete!" ruft ftonrab uitb jießt fie an fein #er$ unb ftößt fie
bann faft grimmig wieber tion fit^.
Igtjre Ifjräneit finb auf feinem ©efidjt, er ttrifdit fie Ijaftig ab.
„fjüt unS arme Seut’ fdjitft es fid} nit, ju Weinen unb ju fdjrcien" — fagt
er böfe.
„3 berftet)’ bi nit."
„SBie i borfjin ben SEBagen roßen Ijört, ba tjat nti’S patft! ®ie ©orneßmett!
®rüg’ i fold) eine SieutenautSuniform unb bu ein fiteib, baS über ben fteifigcit
9tod Ijinfdjteppen tträt’, fo wär’S ein anber ©ad)’! ®ie tjat man jufammengeben
— unb Wir ßaben berweit hier Saßr lang uns nadjeinanber bangt. 2Bo ift ba
bie ©eredjtigfeit, frag’ i!" @r baßt bie Sauft gegen ben rutjig tädjetnben 3Konb.
„D, Äonrab, fie rnüffen juft fo fdjeiben, wie Wir aud)", fagt baS ©täbdjen.
„3uft fo? ©ie finb nit miteinanber bafjin gefahren? Unb fein ÜDtenfdj tjat
iljnen meljr was $u fagen! D bu ftein’S, bumnteS kröpfte bu!"
„ffonrab, ber Herrgott Wirb ein ©infeljn ßaben unb bi gefunb jurüdfdjiden!"
ftüftert ©ärbete, fromm feine $änbe fattenb.
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Bärbctc.
<Si ßat beinah ein langen bor ißni, fo tritt) ßat'S feine Stugen nimmer btißen
feßen wie jcßt im SRonbfcßein.
„Unb wenn nit? ©enn i fterb’?" fragt er mit ßciferm Ion.
„0 bu mein ©ott, baS toär’ aucß mein lob!" ©ie fcßtägt bie £>änbc bor baS
©eßißt, aber er jießt fie ßerab unb ßätt fie mit feftem Irud unb fcßaut ißr tvieber
fo fonberbar in bie klugen.
„©enn i ba lieg’ mit ber ©unb’ in ber Sruft unb an beiri rottjc Sippen
benf, 3Jtäbele, bie i nimmer genug füßt ßab’ — unb wie bu fo fanber bift, o fo
fauber —"
,,§ör’ auf!" ftammelt Sorbete; feine Singer fdjmerjen — aber cS toagt mißt,
fte ißm ju entließen.
„Unb nocß nteßr fann i mir auSmalen", fäßrt ber Stonrab fort, „baß bu
toeinft, arg tocinft, Wann mein’ lobeSnaißriißt fommt —"
„Stoß mir’S SJteffer nit in bie Sruft ’nein, bn fcßtimmer Sub, bn!"
Stber er ßnbet fein (Snbe, ei iß ißm eine graufame Suft, ficß nnb bent ÜJtäbcßcn
toeße ju tßnn.
„?tber ©eibcrtßränen trorfnen aucß fcßnetl, unb wenn bie fcßicfliiße 3cit ßernm
iß, ba nitnmft ein’ anbent ©ißaß —"
„Du ©cßlimnter, nij als Sügen bringft bor!" ruft baS gequätte 3J?äbcßeu.
„Unb wenn i baS benf!" fommt’S Reifer ßerauS, unb er ftößt ße wieber bon
fuß, um ße gteiiß barauf aufs neue fo fcßmerjenb feft ju faßen, „wenn i benf,
baß ein anberer einmal ßier faß’ unter biefer fetbigen Sinb’ unb auf ber Sanf,
bie i macßen tßat — weißt, SERäbete — unb tßät’ fcßön mit bir unb füßt’ bi —"
(Sr fann mißt weiter, eine grimme ©utß macßt ißm bie ©timme brecßen.
$a8 Särbete befreit mit einem SRucf feine $änbc unb faßt beS SubenSopf
unb ftreiißett feine ©angen; es weiß in feiner lobeSangft gar nicßt, was ei alles
beginnen fott.
„©räiri bi nit, Äonrab, i bteib’ bir treu!"
„0 bu, bu!"
„Unb wenn’S ©ott wollt’ unb fämeft nimmer ßeim, i bteib’ bir treu! 2)aS
mußt wißen in beinern #erjen."
Unb bann bliift baS 2J?äb(ßen fromm jum |>immel.
„’© wirb nit fein, wir finb brat) unb gut gewefen att bie lange 3cit, bafiir
fommt aucß ein Soßn. Unb fotlft feßen, ffonrab, wir ßaben’S aucß nocß gut auf
ber ©eit —"
©8 ift ganj ßoffnungSfreubig geworben, baS mutßtofe, feßwaeße $ing, btoS
bamit es ben Siebften 31t tröffen oermag. Sang’ ßätt ber ÜRutß freiließ mißt an;
wie ße Wieber ftilt fißen, ba wirb’S erft reißt bcflommen um Särbete’S $erj unb
es frent ßiß, als enbtieß ber föonrab wieber fprießt.
©0 rußig ift’S ringsum, fo tießtüberßoßen finb bie fteinen Käufer, bie Säume
unb ißtäße. (SS ift ißm aueß ptößlicß, als faß’ ei in Weite Seme, jWifcßen bü¬
geln einen $taß, ba war'S taut unb ift'S ftilt geworben unb ba liegen biete
©enfeßen am Soben, ein ©tößnen ift in ber Suft. Unb einer ßebt fieß ßatb
empor unb ftammett ein ©ort, ein 9tainc ift’S — nnb finft wieber juriid —
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Unfere 5 e ^*
©ärbele tjiefe ba« SBort — unb bet e« gefagt ^at ift fein Sdjafe, fein einziger
Äontab unb fjat eine bfutenbe SBunbe in bet Stuft.
S« fdjaubert.
„#aft falt, ©ärbele?"
„Stein, abet reb’ etwa#, i Ijbt’ bein Stimm’ fobalb nit Wiebet."
St jupft an if)te btaunen Öftesten, Wie et’« in guten Tagen fo gern get$an
unb fte’« nie tjat leiben wollen, benn bie #aare Würben jerjauft. 3*fet We§rt fte
itjm nicfjt, audj nidjt einmal, a(« e« Wejje tljut, benn gart ift bet Äonrab nie
gewefen.
„©eit, nun bentft bodj wo(, bafe bu mit ben ©ornetjmen täufdjen möcfet’ft?"
fragt er.
„3 ben!’ nif, i weife nij. ’S tfjut wo! bet 9Jtonbf$ein, bafe mir fo eigen ift.
3 tjab’ it)n nimmer red)t (eiben tönnen, non Äinb an."
„Ter Sftonbfdjein! 0 Xröpfle! Ta« perj ift’«, Wo« bi brurft; feör’ wie
mein’« Hopft! Unb SebWot)( foO idj bit fagen, bu f)eijiger Sdjap!"
Sin bumpfe« Sdjtudjjen bricht aud) au« feiner ©ruft.
Ta« ©ärbele prefet bie fpänbe jufammen, e« benft an ben tobten ©ater, unb
wie c« ba getobt, ben Äontab nie ju »erlaffen — unb nun foden fie fdjeiben
unb fefjcn einanber wo( nie wiebet. SBenn’« watjr wär’, bafe et mit bet SBunbe
in bet ©ruft batiegen tljät’ unb fie tüffen möcf)t’ unb’« nimmer tönnt’!
„0 Äontab!" ftammeft e«.
„.£>eifet mi getjen?"
„Stein, nein! S’ift ja bie (cfjtc Stunb’!"
„3a, wenn bie fpäijne fräsen, ba fc^tägt fie."
S« überfommt fie bocfj wie eine Teife ffurdjt, fie mödjte fließen.
SBofier et’« nur weife?
„Reifet mi geljcn?" fragt er Wiebet.
„Stein, nein!"
Sie tfat »orfjin an ben Serfudjer benfen muffen, bet Ijier auf bem gleichen
ißtafe fo fd)öne SBorte ju ifjr getebet feat — jefet (ödjett fie, bet Äonrab ift leinet,
ber ift itjr Sdjafe unb trägt feine Sammtjacfe.
(®<btufe folgt.)
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Qlföfyamffatt nnir hex atöüfd^afßfjamfcfje ftrieß.*)
©on
William fialrk.
I.
3)ie ©ebeutung EngtanbS als erfte Eolonialmadjt ber SBett beruht auf bent
ungeftörten ©efifce 3ubicn^. Dfjne eine Duelle beftftnbiger Stuägaben unb unab*
fe^barer Sümpfe wie Algier für bie granjofen ju fein, ift 3nbicn uielmetjr ba$
Elborabo EuglanbS. Dljne bieS 9teidj würben Bonbon, ®nnbee unb bie meiften
englifdjen Stübte biel bon il)rer ©ebeutung berlieren. S)er ©erluft 3nbienS
würbe ben 3ufammenbrud) wenigftenä ber #älfte aller inbuftrieKeu EtabliffementS
mit fidj bringen. Somit liegt nidjt in Europa, fonbem Ijier EnglanbS berwunb*
barfter Sßunft. Sein SBunber, wenn englifdje $iplomaten äße 9Rittel in ©ewe*
gung fefcen, biefe$ Sanb noc§ mögtidjft lange ber Srone ju erhalten. liegt
auf ber $anb, baß bie 3wi^ffen EnglanbS fid^ oft mit benen aitberer SJiädjte
freujen müffen: mit granfreic^ in Stegppten, mit SRufctanb im türfifdjen SReidje
*) ©gl. Sluffäpe herüber im 2Rilitär*2Bodjen&latt, ©treffleur’3 Defterreid). militär.
3eitf<$rift, Spectateur, Revue militaire, Bulletin de la Reunion des Officiers, Pioneer,
Daily News, Times, Standard, Army and Navy Magazine; ferner: bon Böbett, ©eridjte
über gortfdjritte unb ©erünberungen im §eerwefen; ©winnerton, Gough’s action at
Futtehabad; <Solqul;oun, With the Kuram Yalley Field Force; Be SReffurier, Can-
dahar 1878; SRilforb, With the Cavalry Brigade 1879/80; bom Parlament beröffentlidjte
©laubüc^er.
gur @eograp$ie be$ BanbeS: ©oulger, England and Russia in Central Asia (Bonbon,
28. 91ßen anb (So., 1879); ©. £oton£l)enb, Afghanistan and its historical and political
history (Bonbon, ©outlebge, 1879); $amlety, The strategical conditions of our Indian
North-West-Frontier (Bonbon, 9Ritd)eff, 1878); Dr. (S^abönne, Slfgljaniftan (SBten, ©oft
unb Beip^ig, $artleben, 1879); Journal of tho Royal United Service Institution, XXII,
98; Journal des Sciences militaires, 1879, SRr. 1, 2, 3.
gur <&efd;id)te be8 Banbe£: ©ir 3.SB. Kape, History of the War in Afghanistan 1839/42
(Bonbon, Sitten anb (So., 1879); Eleig, Sale’s Brigade in Afghanistan (Bonbon, äRurraty,
1879); ©ir ©incent (Spre, The Kabul Insurrection 1841 and the Retreat of the Army
(Bonbon, Sitten anb (So., 1879).
Karten: ©mit!). War Map of Afghanistan (Bonbon, SRurrap, 1878); §. Kiepert,
Karte bon 3ran, Slfgljaniftan u. f. tu. 1: 300000 (©erlin 1878); Governmental Survey,
Kaibar, Kabul^ Kandahar (1880).
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Unferc <3cit.
unb in ©entralafien. Der SBefife non 3nbien bebingte 1878 bie ©ntfenbung einer
Stottc nacty bet SBefifobai unb bie Stobiliprung eine« Dtyeit« ber Slrmee. 3P
3nbien Oertoren, bann fctyroinbet ba« Sntereffe ©ngtanb« an ber Stufrectyttyattnng
be« ©arifer ©ertrage«.
SU« nocty fjoflünber, ©ortugiefen unb Sranjofen im ruhigen ©eptye Dpinbien«
waren, ertannten bereit« ©uptanb unb ©ngtanb bie ©cbeutung, bie ber ©epp
biefe« Steife« für pe tyaben mürbe, ©eibe ftrebten non jmei oerfctyiebenen Seiten
biefem ju- Die Eroberung non Slforo unb bie ©rtoeiterung ber apatifctyen
©rwerbungen 3man’«, bie ©eppnatyme non ©ibrattar unb bie Kämpfe um ba«
©aptanb bilbeten bie erftcn ©ctyritte ber beiben Städte in biefct Stiftung. 9tup=
taub, beffen Sntereffen pcty nach aßen nier £>immel«gegenben jerfptitterteu unb
ba« in ©entrataficn unb im eigenen Sanbc auf bebcutenbe ©ctyroierigfeiten piep,
blieb bei biefem SBetttaufe juriief. ©ngtanb fntj fiep bann im Sfcljte 1784 nacty
©iebertoerfung £>tyber=3tti’« am 3>«l feiner SBünfctyc. Stanfreicty oerfuctyte aOer*
bing« juerp non Stegtypten au«, unb bann burcty rufpfetye Xruppeu unb rufpfetye«
©ctb, aber unter franjöfifctycn Slufpicien, nom &a«pifctyen ©teere au« 3nbien
mieberjuerobern, gab biefen ©ebanfen jeboety batb auf, ba bie 3ntereflen granf»
reicty« eine anbere Stiftung ertyietten.
Der atte ©ioate ©ngtanb« mar in ber 3wifctyen,$eit aber aucty nietyt jurücf»
geblieben, ©ein SBatyrfpructy mar: „Dividc ct impera", unb nacty unb nacty pet
ein afiatifetye« ©eiety nacty bem anbern in feine $änbe. 3m 3<>ty« 1835 folgte
ber ©ctyaty non ©erfien burctyau« ben ©attyfetytägen ©uptanb«. ©in rufpfetye«
©ataißon unterftütyte fogar im Satyrc 1837 bie ©erfet in ber ©etagerung non
£>erat.
SBaren bi« batyin bie Tarnungen ©ottinger’« unb ©um«’ in ©ngtanb at«
unbegriinbet nertactyt unb nerfpottet morben, fo bemäetytigte ficty jetyt übertriebene
gurctyt aßet ©emüttyer. Die öffentliche ©teinung forberte taut, bap etwa« 6ner=
gifetye« jur ©ettung be« bebrotyten Seppe« in 3«bien gefctyetye. ©ine Stötten»
bemonftration im ©erpfctycn ©tcerbufen nerantapte bie ©erfer, bie ©etagerung non
fjerat aufjugeben, unb jeigte itynen, bap norläupg nictyt ©uptanb, fonbem ©ngtanb
in ©übafien aßein bie ©iactyt tyabc, untiebfame ©oatitionen ju jerfprengen unb
feine ©erbünbeten ju fctyiipen. Sin ©teße ber Settyargie unb 3nbotenj traten jetyt
©nergie unb Dtyätigfeit. ©ifrigft ftubirte man bie ftrategifctyen ©ertyättniffe ber
norbmefttiityen ©renje 3nbien«. Stt« man aber bann nacty ber &ataftroptye non
1842 bie britifetye SBaffenetyrc in Stfgtyaniftan miebertyergefteßt unb ©uptanb burcty
ben Ärimfrieg weit genug jurücfgefctyteubert glaubte, nerfanl man non neuem in
bie atte ©orgtofigfeit, bi« Sofafen not ben Dtyoren non fötyofanb unb $tyima
erfetyienen.
Die ©ertyättniffe an ber ©orbweftgrenje tyatten pety im Saufe ber 3atyve bebeu»
tenb geänbert; ba« mäitytige SReicty ber ©ifty« mar nernictytct morben unb tangfam
tyatten bie ©ngtänber im ©orben unb im SBeften bie ©renjen be« Sanbe« weiter
tyinauägefctyoben. ©ifenbatynen unb Detegraptyen burctyfctynitten ba« Sanb, bei beren
Stntagen metyr ben mercantiten at« mititärifityen Stnforberungen ©ectynung getragen
warb, ©ebeutenbe mititcirifctyc Stutoritäteu mürben nun ju ©attye gejogen, ityr
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Kfgßantftan unb ber citglifcß »afgßanifeftc Krieg. J9S
Urtßeil lautete aber menig giinftig: „Sttbien liegt im Sftorbtueftett einer jeben
öafionSarmee offen unb uitgefcßüßt ba." Um allen Uebelftänben abzußetfen, märe
eS am oortßeilßafteften gemefen, mit ben afgßanifcßen Sergftämmen ein ©cßuß=
unb Urußbünbniß einjugcljen, nnb fie, mie eiuft bie Körner bic ©aUier gegen bie
©ermancit, als ©cßußmauer gegen eine ruffifeße 3nbafion ju betrachten. SDorfj
bie euglifeße ©olitif hatte tierftauben, fie auS tfreunben, toetc^c bie Unterftüßung
©nglanbs fucßteit, ju unöerföhulicßen geinben unb SunbeSgenoffen SRußlanbS um»
jutoanbetn. Sluf anberm SBege mußte man baßer fueßen, bei» StuSbrueß eines
SriegeS mit SRußtanb fieß bon bornßerein eine gönftige ftrategifeße ©ofitioit ju
jeßaffen; euglifeße SBaffen unb englifeßeS ©elb mußten baßer ber ©olitif ju £»ülfe
fommett.
©ße tuir ben Selbjug ber ©itgläuber in feinem ©erlauf ber folgen, ift eS
uötßig, bie ftrategifeßen ©erßältniffe ber inbifeßeu SRorbmeftgrenzc zu betraeßten
unb inwiefern fte eine ©rmerbung bon ©tiißpunltcn in ben Raffen forberten,
fobann eine furze ©fizze ber geograpßifcßen ©erßältniffe beS SanbeS unb beS
©ßarafterS feiner Setooßner ju geben.
®ie Sänge ber Siorbmeftgrenje SubienS beträgt ungefaßt 800 Kilometer; feßon
allein in ber großen SluSbeßnung liegt ein ©runb ißrer ©eßmäeße. $)er SnbuS
mit feinen bielen Stieben» unb ßuflüffen begleitet in feinem SJlittel» unb Unterlaufe
bie ©renze; ißm ift bann noeß eine gemaltige ©ebirgSbarriere, baS ©olimatt* ober
inbifiße ©renjgebirge, borgelagert, fobaß eS ben Slnfcßeitt geminnt, als menn bic
©renze fo allen Slnforberungcn au eine gänftige Sefenfibe genüge. 3>ocß gerabc
ßierin finben mir einen neuen ©runb ber ©eßmäeße.
SBie bie SriegSgefcßicßte leßrt, läßt fieß ein ©ebirge nur bann mit ©rfolg ber»
tßeibigen, menn ber ©ertßeibiger Heine befeftigte ©unfte, ©perrforts, an beit
^auptftraßen befeßt ßat nnb er bieffeit bcs ©ebirgeS in bortßeilßafter Sage bem
Angreifer entgegentreten fann.
©in ©ebirge fann nie ©eßlaeßtenterrain feiu; bie ©ntfeßeibuttg toirb nur in
ber ©bene auSgefocßten. ©ei ben Sümpfen jmifißcn ®eutfcßlanb unb Italien
maren nießt bie Sllpen, fottbertt bie ©efilbe ber Sombarbei ber Sampfptaß bei»
ber §eere.
Uber gerabe biefe ©lemente feßlett in bem ©ertßeibigungSfhftem beS ©renj»
gebirgeS. Dßnc Heinere ©ofteit in ben ©äffen ju befißen, muß ber ßinter bem
©ebirge ben Angreifer ermartenbe ©ertßeibiger ftets im UnHaren über beffett
©emegungen bleiben. SBäßrcub ber Angreifer tton feiner überßößettben Stellung
aus alle SRaßnaßmen beS ©ertßeibigerS frühzeitig erfennen unb ißnen begegnen
fann, fießt gteießfam ber ©ertßeibiger mie ßinter einem ©orßange unb muß fieß
auf alles gefaßt macßeit. 3>m Sribjuge bon 1866 miirbe bem preußifeßen 5. ©orps
bas $>eboucßiren bei SRacßob mol nießt fo leießt gemefen fein, menn bie Defter--
reießer im ©ejtß folcßer ©unfte gemefen mären. ©S finb biefes bie ©eobaeß»
tungSfiationen beS ©ertßeibigerS, bei beten SBegnaßme ber Singreifer feine Sräfte
{eigen muß.
Uo|«f ßfit. 188t. L 13
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Unfcrc
W
Die Bertßeibigung eines ©ebirgSjugeS finbet am beften in ber Seife ftatt,
baß ber 93ertf»eibiger mit ber ^auptmaffe feiner Streitfräfte fidj hinter ben Ißäffcn
aufftetlt, bort ben ßerauStretenben Angreifer mit überlegenen Kräften ongreift unb
fo eigene Stärfe gegen feinblidje Scßmädje jur Slnmenbung bringt. ©S ift biefeS
um fo leidjter, toenn mir bebenlen, baß ein SlrmeecorpS im Slac^ionbc mit feinen
Kolonnen eine 3Jiarfcf)tiefe t>on 45 Kilometer einnimmt, alfo bie SluSbeßnung
jloeier Dagemärfdje, bie fiel) im ©ebirge leidet auf 60 unb 80 Kilometer »er»
größert. $inbernb fällt für ben Bertßeibiger bie Siälje beS 3nbuS ins ©emidjt,
ber nur circa 70 Kilometer non ber ©renje entfernt ift unb fo »erbietet, ber
Stellung eine genügenbe Diefe ju geben unb außerbem bie Bemegung ber Steferoen
auf beftimmte Sinien öertoeift. Der Bertßeibiger lann fiel) nießt bamit begnügen,
feine Streitfrage nur ben SluSgangen ber $äffe gegenüber $u concentriren; er
muß bielmeßr bie gan^e Sinie fiebern, ba ißm ber Singreifer nidjt immer ben
©efaHen tßun toirb, auf gebahnten Segen oorjubringen. ©crabe im ©ebirge
wirb ber Singreifer fieß oft erft Sege fuc^en unb bahnen müffen. Dort, too bie
Dürfen es am toenigften »ermutßeten, überfeßritt im 3uli 1878 ©urfo mit Qn»
fanterie, ßabalcrie unb SlrtiHerie ben Balfan. 3m 3anuar 1879 bahnten fi<ß
feine Druppen, bieSmat 43 Bataillone unb 8 ffelbbatterien ftarf, in aeßt Dagen
itjren Seg über bie mit ©iS unb Schnee bebeeften £>änge, unb toenn audj eine
Kolonne bureß Derrainfcßmierigfeit unb Unbill ber Sitterung jur Umfeßr ge«
jtoungen mürbe, baS große SRcfuttat mar erreicht, bet Baifan paffirt. Unb fotlte
es eine angreifenbe Slrmee nießt aittß fo oerfuc^en, baS inbifeße ©renjgebirge jn
überfc^reiten ? Sir ßaben gefeßen, baß bie ©ebirgSbarriere nitßt allen Slnforbe*
rangen entfprießt; ber Bertßeibiger muß fiel) alfo entmeber ßinter bem 3«buS auf«
fteHen ober füßtt bem Singreifer in Slfgßaniftan entgegentreten, toobei er aber
baS lange ©ebirgSbefilc mit feinen räuberifdjen Stämmen im SRüden behält.
Der 3*'buS ift aber aueß uießt fo leicht ju öertßeibigen, mie eitglifcße Blätter
oft ißren Sefern einjureben fueßen. Scftmierigfeit beS UeberfcßreitenS, Uebergänge,
beren Befiß burtß Brürfenföpfe gefiebert ift, gute Berbinbnng ber einzelnen Slb«
Teilungen untereinanber unb Ucberßößung beS feinblicßcit burd) baS ju uert^ei«
bigenbe Ufer finb bie ^auptanforberungen, bie mir an eine ftlußlinie ftetten müffen,
menn fie mit StuSfidjt auf ©rfolg öertßeibigt merbett fott. Bei näherer Betrag«
tuitg merben mir jeboeß finben, baß faß alle biefe fünfte bei bem 3»»buS nidjt
öorßanben finb. 3m SJlittellaufe beS gluffeS erfdßmert eine ftarfe Strömung, im
Unterlaufe Sümpfe bie Ucberfdjrcitung, ßiubcrn aber aud) gleicßjeitig bie Slntage
permanenter Brüden feitenS beS BcrtßeibigerS. @S finben fieß gute Stüßpunftc
am reeßten Ufer, aber eS feßlt eine auSreiißenbe Berbinbung mit bem tinfen.
©ine Berbinbung ift jmifeßen ben einzelnen Slbtßeitungen atlerbingS »orßanben,
aber bureß bie oielen SRebenflüffe erfdjmert, unb an mannen fünften burd) Sanb«
müften fogar öödig unmöglich gemadjt. Die Ueberßößung ber eigenen Stellung,
bie bem Bertßeibiger fo mattere Bortßeilc gemährt, feßlt gän^tieß; baS tinfe Ufer
ift bureßgängig niebriger als baS reeßte. Droß aller föriegSmittel ber SKeujeit,
troß ber gtußfanoneuboote unb DorpeboS mirb cS ben ©nglänbern fefjr ferner fallen,
eine fo ungiinftige Sinie gegen einen cuergifcßeu Singreifer jn »ertßeibigen. ferner
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Kfgfyiniftan unb ber encjlifdj »afgfyimfcfye Krieg.
195
muffen wir bebenten, baß, wenn bie VertljeibiguugSlinie eines SluffeS erft au
einem fünfte burdjbrodjen ift, eine Vertlfeibigung beS SluffeS nur nocf> wenige
©bauceu f)at. 91ad) gorcirung beS UebergangeS über bie 35onau bei ©iftowa
gaben bie Xiivfen ben SBiberftanb auf ber gaumen Sinie auf, wäljrenb bie lieber
fdfreituug beS ©allanS burdj ©urfo fowol im guli als im Januar eine Vertl»ei=
bigung ber Sinie nidjt unmöglich machte.
©orool ber 3nbu$ wie baS ©renjgebirge waren öor bem getbjuge ber Vcr=
tfjeibigung Wenig günftig. 2ßie fi<^ bie Verf)altniffe bei einem Stiege mit 9?uß=
(aitb geftatten Werben, Werben Wir ant ©djluß fefjen.
©ine an8 bem SnbuSfljale in Slfgßaniftan einbringenbe Strmee ljat juerft baS
biirdjfdjnittlid) 3000 Bieter tjotje ©reujgebirge, baS alfo ebenfo l)od) ift tvie bie
Pyrenäen, ju überfteigen. ®ie l)öd)ftcu ©Hebungen finben fid) im Borbcn, wo
fi d) ba$ ©ebirge an ben ©afib= uub ,'pinbu^Sufcf) axifcf(tiefjt; im ©üben faßt baS
©ebirge aflmäljlidfj ju bem Verglanb non ©elutfdjiftan ab. Steine ©otonnen, bie
für ben ©ebirgötrieg anSgerüftet finb, fönneit baö ©ebirge faft überaß überfdfjreiten,
mäljrcnb Strmpen nur auf bie tßüffe angewiefen finb unb audj bort auf nid)t un--
erljebtidje ©djwierigfeiten in ber Verpflegung unb Unterbringung ber Xrttppeu
ftoßen.
Von ben 20 grünem unb fteinern Raffen, bie für uns l)ier in Vetrad)t tont*
men, nennen wir nur ben Stjpbcr*, Surum*, ©omat» unb Sujjopaß. ®cr Stjpber
wirb burcfi baS befeftigte Säger non ißef^atuer, ber ©ornat burd) ®cra 3$mail
Sf)an unb ber Suf)o burdj $era ©Ija^i Sf)an abgefdfjloffen. Stflc biefe fünfte
fmb burdj Keine ©tationen miteinanber nerbunben, beren ©efafcungcn bie Ve-
looljner ber Umgegeub gegen bie SRaubjüge ber ©ebirgöbewoljner fdiüjjen foßen.
®er befanntefte biefer ißäffe ift ber Sfipber» ober Sabutpaß, baS eiferne K)or
SubienS; faft jebe in 3nbieit einmarfdjirenbe 9trmee non Sllejanber bem ©roßen
unb ©aber an fjat if)n benufet, Weit er einem Jpcere nidjt aflju große ©djwierig*
leiten barbietet. Slßgemeiner bclannt würbe ber IfSaß erft in bem Slfgßanenfriegc
non 1842; bis baljin Ijatte lein ©ngtänber ben ißaß betreten löttnen, wenn er
ftdj nidfjt an ber ©pifce eines £>eercS befunben ober bie ©tammcSljäHptcr be=
ftodjen tjatte.
günfunbjWanjig Silometer non Ißefdjawcr entfernt öffnet fief) ber i)Saß in
jtoei Igoren. $ie lefote ©tation auf britifc^em ©ebict ift Xjumrub, ein Keiner
befeftigter SBeiler, in bem 1872 ber engtifdje Blajor Blacbonalb ermorbet würbe.
$ie beiben ©ingänge beS ißaffeö finb ungefähr 150 Bieter breit, ncrengen fid)
aber bann bis auf 10 Bieter. ®cr nörblidjere ©ingang fiiljrt in geraber Sinie
nadj bem afgtjanifcfjen gort 3lli=BluSjib, wäljrenb ber füblidjcre biefen Ißuntt erft
nadj mancher SBinbung erreicht. 5)a$ gort liegt auf einem fjoljen, fid) fäutenartig
erljebenben Seifen unb beljerrfdjt weithin bie beiben ©traßen. 3« beiben ©eiten
beS SortS (nur 45 Bieter lang nnb 20 Bieter breit) waren bei ©eginn beS lefrten
SelbjugeS ©djjüfceitgräben in meutern Beiden iibereinanber angelegt, fobaß man
bie ißofition eine gewaltige nennen tonnte. Kber mit SBegnafjme beS 3ort Ijnt
bet Angreifer nod^ uid|t aßc ©(^wierigteiteu iiberwunben; erft jenfeit beffelbcn
trifft er auf ferner ju bewältigenbe Slarf^ljinberuiffe. ®cr ißaß wirb halb fo
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196
Unferc <5eit.
eng, baß fidj faum zwei betabene ftamctc au#meicf)en föunen. Die Steigung wirb
fo bebeutenb, baß bie ©fannfctjaften £ianb antegen müffeit, um bie @cfd>ü^c fort»
Zufchaffen. Die ©ebeutung, toeld^e biefe Stelle be# ©affe# für bie £anbe£t>ert$eU
biguug hat, liegt auf ber §anb. ©rft bei Daffa, 60 Nitometer, alfo immerhin
fünf Dagemarfche Dom ©iugange entfernt, erreicht man ba# ffinbc be# Defilc.
Jg>ier breitet fi<h eine reiche unb Wohtangebaute ©bene bor bem SBanberer au#,
in beren ÜJtitte bie einft btütjenbe Stabt ^tflatabab liegt. $ier bei ^eQalabab
werben bie einzelnen Staffeln einer 3nbafion#armee auffdjließeit unb ficfi auärufjeu
muffen.
©erlaffen mir biefe erfte ©tappe, fo führt un# ber SBeg zunächft am Süße
be# Safib=$ufch entlang; bie Schwierigfeiten finb nur unbebeutenb, wenn mir
non ben nieten ©ebirgäbädjen abfehen, bie nicht überbriidt unb Wegen ihre# ftei'
nigen Sette# f^roierig ju burehwaten finb. 9?ach einem ©Jarfdje non brei lagen
betritt man ba£ Defite 3ugbatut; bie ©egeitb ^at f»ier benfetben ©tjarafter wie
bei 9lti--3Ku#iib. $ier in biefem ©affe Würben 1842 bie Ueberrefte ber Ärrnee
©tphinftonc’# bcrnichtet. Der SBeg nad) Stabut ift nicht ju festen; noch immer
bezeichnen gebleichte Knochen bon SWenßh unb Ihier bie Spuren jene# tRücfzuge#,
unb nicht# ift gcfchehen, um biefe rebenben 3eugen ber Unentfchtoffenheit unb
Sorgtofigfeit ©tpljinftonc’# ju entfernen.
Die größten Schtnierigteiten trifft man im fturb4tabutpaffe, ober Wie ihn ber
Jtfghane nennt: „ben buntetn ©aß bc# Dobc#"; nnb wotjt ^at ber Dob bei jenem
bcrhängnißbotlcn 9?iicfzuge hier eine reiche ©rntc gehalten, hinter jebetu Set#*
norfprung, in jeber Schlucht lauerten afghanifefje Schüßen, unb ihre kugeln fonnten
in ben bichtgcbrängten ©otonnen ber ©ngtänber ihr 3'ft nicht nerfehfen. Der
©aß ift an manchen Stetten nur 4 SWetcr breit, itnb oben fcheinen bie h°h cu
Seifen jufammenjuftoßen, fobaß nur fetten ein Sonnenftraßt ben fchauertichen
©fab erhettt. £at man biefen ©aß bnrehfehritten, bautt erreicht man halb bie
btühenbe ©bene non fiabut. Die Sange be# SBcgc# betrügt nngefähr 150 fi'ito^
meter, fobaß atfo eine ©otonne inet, ber dtußetagc 15—18 Dage gebraucht, um
bon ©efdjawer nach Änbut ju gefangen.
Stehntich, aber nicht fo lang, finb bie übrigen ©äffe; ber bequemfte ift ber
Sotanpaß, ber bon ©etutßhiftan nach Sfanbahar führt nnb bie niebrigen ©orbevge
be# ©renjgebirge# burchfchneibet. Die einzige erhebliche Schwierigfeit ift hier bic
Sefchaffung ber Serpftegung unb be# ©robiant# bei ber Durchfchrcitnng ber
großen Sanbwttften; bo<h Wirb biefe Schwierigfeit burch bie im Saufe be# testen
Setbzuge# angelegte ©ifenbatjn erheblich berminbert. 3m 3«h re 1839 bertor
bie ©otonne be# Sir 3bh K Äeane, 20000 äJiann ftarf, auf bem SKarfcße attein
9000 SJlann unb 20000 Gamete.
Sehr arm ift Slfgjjaniftan an ©cwäffern; bie centrate Sage be# Sanbc#, ba# um-
fchtoffen bon ©anbgebirgen ift, geftattet nicht bie ©ntwiefetung großer gtußfhfteme.
Der Sfabut, ber $itmenb unb ber $erirub finb bie einzigen Stüffe bon ©eben»
tung; bie beiben (extern finb Steppenftiiffe unb in feigen Sommern nicht biet
mehr at# ©äche. ©in Stetjntiche# gift bon ben beiben größern Seebecfen .£>amun
unb 3fWfif*
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Zlfgfyaniftan uni ber cittjlifdj * afgfyamfcfye Krieg.
19?
Der ©ebirgScfjarafter beö SianbeS linb ber äRangel au SBaffer berbietet fdjon
Don felbft bie Slnlage größerer Stäbte. Die £iauptftabt bei SanbeS ift Sabut,
ber Drabition uadj fcf)on bor 6000 Satiren Dom Satan fetbft gegriinbet. Sie
jeigt bie ©igentpmlidjfeit aller afgljanifdien Stäbte, runbe Dtjürme, ftanfirte
Sefjmmaueru, 2tadjwerfgebäube, üiele Keine ßaftclle im Ämtern ber Stabt, in
ber SRitte berfetben ein ©ajar, bon bem rabienförmig alle Straßen auSgefjen,
unb auf bem ^öcfjften fünfte ber Stabt eine Sitabefle, Don ben 2lfgljanen ©ata“
|>iffar, b. f). |>od)burg, genannt. 9let)nlidj finb Sanbaljar, „bie ebelfte ber Stäbte",
nad) afgljanifdjcr Drabition Don 2llejauber bem ©roßen gegriinbet, bie SRofenftabt
,§erat, ba$ Stria ber ©riedjen, ©ßujni, „baS jweite URebina" unb bie 2öintcr=
refibenj afgl)anifd)er fterrfdjer, Setlalabab.
DaS Slima beS SanbeS jeigt bie größten ©egenfä^c: tropifdje |)if}c in bcu
Slieberungen, fibirifdje Saite in ben ©ebirgen. 2lnt angene^mften unb für ben
(Europäer am juträglidjften ift baS Slinta jwifdjen beibeit 3onen, in Sabul,
@bujni unb Sanbafiar. Der Sommer ift Ijier nicf)t übermäßig tjeiß, unb ber
Sinter, ioenn audj Diel Sdjnee fällt, nidjt attjit fatt. Dem Slima entfpredjenb
iß bie 2fauna unb glora bcS fianbeS, neben ben Stützten SRitteteuropaS finbeit
Wir bie ©ewädjfe beS SRorbranbeS Don Slfrifa; neben £öwcn, 9lffeit unb Seoparbeu
ftnben wir ©ären unb SEBölfe. Der fReidftljum ber ©cwofjner beS SanbeS beruht
auf iljrcn Sarnel- unb ©ferbefjeerben. Das afgfjanifdje ©ferb ift feiner Sd;netlig=
feit unb 2lu$bauer Wegen in gau^ 9lfien gefugt. Der ?lfgljane ber ©bene, weß
KlterS unb Staubes er aud) fei, ift ein gefdjidtcr Leiter.
Der eigene ©Ijarafter beS SanbeS madjt bem Slfgljatten im Offen unb Sorben
jum SRäuber, im Söeften jum Somabeit unb im Süben unb Sübweften jum 9lder*
bauet ober Sielföüdjter, oljne baß er aber babei feine SRaubfudjt unb fpridjwört--
lidie Dreutofigfeit aufgibt. 2lfgßaniftau wirb nid)t bon einem einjigen Solle
unter einem gemeinfamen $errfdjer, fotibern bon etwa 400 größern unb Keinem
Stämmen bewohnt, bie tljeilS Sepublifeit, tfjeilS Keine SRonardjien bitben unb
in einem me|r ober minber lodern 9lbl>ängigfeit3berl)ättniß ju bem ©mir bon
Sabut fte^en.
Die ©ebirgSbewotfner, bie Slfribis, Sdiimbari uitb SBurufjai, bic im gait=
jen etwa 150000 Söpfe jäfjlen, fiub lagere, muSfulöfe Seute, mit ßoljen ÜRafeit
unb ©adenfnodjen, unb bon jiemlidj bunKer, röttitidjer ©efidjtsfarbe. Sie geßen
immer bewaffnet, unb baS lange afgljanifcfie SReffer feljlt nie in ifirem ©ürtet.
Senn fie nad) ©efdiawer Ijineinfommeit, Werben ifjnen am erften britifdjen ©renj»
poffen bie SBaffen abgenommen, bic fie, wenn fie jurüdfeljren, wieber ermatten.
Die Slpjberftämme Ijaben fid| nadj unb itad) in ein friebtidjed Serfjältniß ju ben
inbo»britifdjen ©efförben in ©efdjawer gefegt unb berbienen fid| bureß ©eifdjaffung
Don ^ola, Soßten, unb im grütjting bon Sdjnec (beit fie per ©felSlaft um 2 SRu=
pien berfaufen), foWie burd> Serfertigung unb Serfauf bon URatten mancb fd)ötteS
Stüd ©elb. Sic gehören jebenfalls ju ben uncuttibirteften ber afgfjattif^en
Stämme unb finb berüdftigte SSegelagerer, woju i^nen ber Sfjpberpaß bie befte ©eie»
gen^eit gibt. fRomineU unterfte^en fie ber ^Regierung ju Sabut, bereit IRa^t aber
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198
Unferc <5eit.
nur fo weit gcl|t, als fie biefclbeu entwcbcr jwingen ober mit ©elb gewinnen fattn.
Sftte afg|anifdjett Regierungen Ijaben ben Hfjtyberftämmen Subfibieu gejault, mit
bent Ruftrage, ben ipafj offen ju erhalten nnb jit bcfdjüfjen, uttb aud) bie inbo*
britifdje Regierung |at es für fing gefunben, ftcfj biefelbcn burd) jäfjrlidje ®e=
fd^enfe an bie SJlalifö jtt berpflidjten. Gine eigentliche Regierung gibt e$ bei
ihnen itidfjt, fonbern ihre SRalifS fdjlid)ten ihre .ftänbel, foweit bie Parteien ftch
i|rem Ruöfprudj unterwerfen; aiibernfattd greift jeber jur Sel6ftl|ülfe, waö oft ju
innern blutigen Serben führt.
3m ©üben unb Sübweften beö Sauber wo|itt ber Stamm ber Suraniö, ber
ben grölten unb frudjtbarften Stjeil bon Rfgtjaniftau, circa 270000 Ouabratfilo;"
meter, innetjat. Sie Surani finb ber georbnetfte uttb cioilifirtefte Stamm ber
Rfg|auen; fie |aben einen alten angeftammten Rbet, ber ein patriardjalifdjcö
Regiment führt unb im Ramcn ber Regierung bie Drbnung aufrecht hält. Sie
Suraniebelleute, bie in iljren Sitten unb ©cbräudjett fdjon me|r ben berfeinerten
Werfern gleichen, finb meift mefjr gebilbet unb bent Sujud ergeben, unb ba8 gerabe
©egentljcit bon ben mc|r räubern öftlidjeu Stämmen, bereit turbulenten Semo=
fratien gegenüber fie mit iljreu Stämmen bie feftc Stfifcc ber Regierung bilben.
Ser Ginflul unb bie äJiadjt biefer Suraniariftofratie ift jeboch auf baö Sanb
befdtränft, wo fie ihre Si|e Ijat; bie Stabte uttb ihre Umgebungen finb gattj
in ber $anb ber Regierung, bie fie burdj ihre ^Beamten berWalten lä|t.
Ser nädjftbebeutcnbe Stamm finb bie ©liljljaiö, bie in ber ©egenb bon Habul,
©ljujtti unb Helat Wo|ncn. Sic bilben Heine Semofratien, ftttb ein unruhige#
Soll unb |abett bei ben Rfg|anen einen böfen Ramen um i|rcr Raubfudjt
Willen. 3« jebem Kriege bilben fie ben Hern beö afgljanifdjeti |>cercö, ba fie
ungefähr 40000 SJlann Streiter in8 Selb führen fönnen.
Schließlich müffen Wir noch ben intereffanten Stamm ber $owinbat)3 erwähnen,
bie gleichseitig Haufleute uttb Hrieger finb unb fidj im ©ebict ber ©|ilj|aiö
tticbergelaffen Ijaben. 3« ber gaiijen Riten SBelt finben Wir fein ähnliches Sei=
fpiel bon ber SJereinignng bon Haufmanit uttb Solbat wieber. Seit biet 3o|r-
|unbertett erfämpfett fie fiel) jährlich jweimal mit i|ren Harabanen ben SBeg burdi
bie ißäffe, um bie ißrobucte Gentralafienö mit ben ©rjeugniffen inbifdjet unb
europäifdher Snbuftrie cin,$utaufd|cn. 31« 3»ge be|nen fi<h einerfeits bis jum
HaSpifdjen SRccrc unb H|iwa, aitbererfeitö biö nadj Gctjlon unb SSirma au$. Ruf
biefem SBege |aben bie Gntire bon H|ofanb unb Htjiwa moberne $röci{ton£Waffen
bezogen. 3nt 3°l re 1866 führten bie S8of|aren gezogene Rrmftrong|interlaber
uttb gezogene 9Kinie=©cwe|re unb nur bie beffere Saftif ber Ruffen trug enblich
ben Sieg über beffere ^Bewaffnung unb Ueberja|l babon. Ser §anbel ber ißo*
Winbafjä wirb im 3o|« auf 60 SRitt. SRarf gefd)ä|t. Rn Sötten unb an äJlietfje
für SBeibcn entrichten fie ben ©tjiljljaiS allein 15000 SDiarf. „Sie S|atfac|e,
ba| biefer Stamm 3«|t für 3<>|t biefen .fjanbet, allen £>inberniffctt junt Srofj,
fortbetreibt, ftmdjt für beffen 2ebenöfä|igfeit unb Sebeutung unb läßt auf bie
mächtige Ru3be|nung fdjließcn, Wetter berfetbe, wenn unbeljinbert feinem natür-
lichen Sauf iiberlaffen, fähig wäre. Sicfe S|atfadjen berweifen auf bie Rrt ber
bon ber inbifdjen Regierung einjufdjlagenben ©renjpolitif. SBenn ähnlich befejügte
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Kfghaniftan unb 6er englifdpafghatiifchc Krieg.
199
Sinien, wie am guße bcr ©cbirge, auch an beu innern Stbljängen ber 5ßlateattj
unb jtnar mit ftarf befeftigten Sßofitionen bet ©fjujni, Äetat=i=@I)Ujtiai Kanba£)ar
unb ©tjirifdjf errietet Würben, fo befänben fich bie SRaubljorben jwifcfjen jwei
geuern. Sie würben bann baS ißlünbern unb SRorben nicht nur jeitfeitS, fonbern
auch in ben ©cbirgeu felbft aufgeben müffen unb gezwungen fein, fid) als frieb=
fertige ^jirtenbötfer unb Strferbauer nieberjulaffen; ber IßoWinbaljhanbel würbe ficf)
offne £)inbernifje entwicfeln unb bie ©IjiljfiaiS unb anbere ®ewohner beS £)ilmenb=
becfenS würben in ben gefieberten Söefife ihrer Sterte treten."
SBätjrenb in affen anbern afiatifc^en Staaten bie unumfdjränftefte SRonarcfjie
herrfcht, finben wir hier SRepublifeu, beten SBerljättniß jum Oberhaupt in Kabul
oiel Sfeljnlichfeit mit bem ehemaligen Serhältnifj bcr fchottifchcn SlanS jum Kö=
nige in ©binburgh tjat. SSic ber Sette, fo ift auch ber Slfghane ißarticutarift;
bie Sntereffen beS Stammes überwiegen um ein SBebeutenbeS biejenigen beS ge=
meinfamcit SSaterlanbeS. Sei jebent Kriege mit einer auswärtigen 2Racht finben
wir immer mehrere Stämme auf feiten bcS geinbeS.
35er Slfghane ift treulos, raubfiiehtig, gelbgierig, !ühn, prablerifch unb befi|t
ein auSgcfprodfjetteS UnabhängigfeitSgefüljl, fobaß er fi<h bem Suropäer für ööffig
ebenbürtig Ijätt. Sor aßen anbern Slfiaten jeichnet er fich burch große SBiß»
begierbe aus unb fticht fomit bortheilhaft gegen ben ihm benachbarten gnber ab.
2>ie Srgiefjung ber gugenb ift nicht im geringften öernac^täffigt; faft jebeS 2)orf
beftfjt feinen Schulmeiftcr, ber bie Knaben fcfjreiben, tefen unb bie borgef<hriebenen
©ebete lehrt. SBie in affen mohammebanifchen Säubern ift ber Koran £>aupt«
unterrichtSgegenftanb; ber Afghane liebt eS fehr, feine Siebe mit SBettbungen
unb Sprüchen aus bemfelben auS^ufdjntücfen. Sto^bem ber Afghane ein eifriger
Sftohammebaner ift, nimmt bie grau boch eine anbere Stellung als in ben meiften
anbern orientalifdjen Säubern ein. 3>er Serlehr jwifchen beiben ©efchledfjtern ift
freier, unb wenn bie grau auch gekauft werben muh, fo werben bennoch manche
^eiratljen aus Steigung gefdjtoffen. Sluffaffenb ift es, baff im Slfghanifdjen bas
SBort Siebe „minnah" heißt/ ohne baß aber babei an eine SJcrWanbtfchaft mit
bem SSorte „SRinne" ju benlen wäre ; ißottjgamie ift erlaubt, fommt jebodj fetten
öor. SRerfwürbig ift bie Srfheinung, baß, wenn ein ffRann oor feiner grau
ftirbt, ber nädjfte Sßerwanbte berpflichtet ift, fie ju heiraten. Um biefer SebiratS*
ehe willen hoben feffon manche annehmen wollen, baff bie Slfgljanen jiibifher Slb«
lunft feien. Sie felbft haben afferbingS bie Irabition, baß fie bie 9tacf)fommen
jener 10 berlorenen Stämme Sfraets feien, bie nach ber 3crftörung bon Samaria
burch ©almanaffar nach bem Snnern SlfienS berpflanjt würben. Sie nennen fich
„®eni=3fraet", b. h- Kinber 3frael. gn ihren hiftorifdjen ©üchern finbet fich
auch bie Ueberlieferung bon ber Knechtfdjaft in Stegtjpten, fowie ber Befreiung
aus berfetben unb fornmen ebenfalls bie Slawen ißhff'fter, Slnam unb Snal hier
bor. 3« bem Bericht über feine SRiffion nach Kanbahar im galjre 1857 weift
Dr. ©effew noch anbere intereffante Sinologien jwifchen ber jübifchen unb afgha«
nifchen Xrabition nach, beren Slufjählung aber hi«e 8« weit führen würbe. @s
fei nur erwähnt, baß ber König Saul bort „3Ralif=i«£walut", b. h- ber gürft ber
höhen ©eftalt, genannt wirb, was alfo gan8 mit ber biblifchen Erabition überein«
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200
Unfere £eit;
ftimmt; ber Slame feines Vaters KiS f»at fitfj in Kais ober Kefeh bermanbelt.
^ebenfalls ift bie intereffante Srage ber Stbftammung ber Afghanen, trojj ber
grüitbfidjen Vorarbeiten Don ©tphinftone, Siamlinfon, SoneS unb ©etlrm, nodj
immer eine ungelöfte. ber afghanifdjen Spraye, bem ©ufdjtu, finben fich
manche Slnflänge an baS £>ebräifd)c, bie wir aber auch in allen anbcrn weftafi«'
tifdjen ©praßen antreffen; fo fanb ©tphinftone unter 210 SBorten, bie er attalp»
firte, nic^t ein einziges, baS fid) lebiglidj unb allein auf .fiebräifd) jurüdfä^ren
liege. 3ur Beit beS ©ultanS ©aber mürben elf berfdjiebene ©praßen gefprodjen,
»on beneit bie midjtigften arabifd), perfifdj, türfifdj, mongolifd) unb nfgbjanift^ maren.
Sie SollSfpradie ber Afghanen, baS ©ufchtu, ift eine ©ermifdjung aller biefer
Sprachen. Sie Siteratur ift perfifcfjen UrfprungS unb finb audj bie heiligen
©üdjer ber Slfgljanen unb bie Siationatgebidjte in biefer ©pradje getrieben.
©eit beit lagen beS ©ultanS ©aber, ber alle iramfdjen Steife tiereinte, h«t
Slfgljaniftan nie bie größte beS SriebenS tennen gelernt, Seftänbige ©ürgerfriege,
bie mit ©infällen perfifdjer $eere unb turfmcnifdjcr Stäuber abmechfeften, füllen bie
Slnnalen beS SanbeS. ©on nun an mürbe Kampf unb ©treit ber Stormaljuftanb
SlfghaniftanS. Um biefem Uumefen 311 fteuern unb um burdj ^erfteUung ber 0rb»
nung bie Siorbmeftgrenje ^nbienS beffer ju fdjüfcen, fjielt es im Sfoljee 1839 ber
bamalige ©icelönig bon Snbien, fiorb Studlanb, für geboten, mit ben SBaffen ein»
jufdjreiten. SSic bann im gluge baS Sanb erobert mürbe, ift betannt, unb mie
bann Stfbar-Khan bie galjne beS SlufftanbeS entfaltete, baS |»eer ©tphinftone’S
bernichtete unb ber tefcte Selbjug ber ©nglänber 1842 mit SBiebereinfefcung beS
bon ihnen entthronten Soft=3J?ohammeb enbete, bebarf nicht mehr ber ©rmähnung.
SaS Siefultat mar ein fotdjcS, bag es bie peffimiftifcheit Slufdjauungen noch um
bieleS übertraf unb baju beitrug, bag man Slfgljaniftan für bie ftolge fich fetbft
überlieg. Sie grogett Slnftrenguitgen GnglanbS in ben fünfziger Sehren > ber
Krimfrieg, ber groge ©olbatenaufftanb in 3itbicn riefen in bem nächften 3 ah r 3 ehnt
eine Slcaction Ijerbor, fobag eS ben Stnfdjein gemann, als ob ©nglanb fidh frei»
miHig feiner Stellung als ©rogmaebt ju begeben beabfichtigte. ©nglanb fchlog
Verträge unb übernahm Verpflichtungen, bie es bei feinen geringen ©treitfräften
nicht jn erfüllen im ©tanbe mar. 2 lm beuttidjften trat bie 0 ljnmacht ©nglanbö
im ®eutfdh»3ranjöfifchen Kriege ju läge, mo es fich ber Sorberung SluglanbS
fügen unb fich bereit erllären mugte, auf böHige 2tufrcd>tl)altung beS ©arifer
Vertrages Verzicht 31 t leiften. Ser erfte ©rfotg fpornte Siuglanb 3 U meitern
Schritten an. ©in günftigcS Selb bot fich bem Sürfteu ©ortfchafohi in Slfglja»
niftan, mo ©treitigfeiten in ber Thronfolge 3 mifchen ben Söhnen beS ©mirS bon
Kabul, ©<hir»9lli, Ijerrf egten. Siir 3 afub=Khan erllärte fich ©nglanb, unb unauf»
geforbert nahm Siuglanb für ben SieblingSfogn @cgir»2lli’S, 2tbbutla=3an, ©artei.
Stber bemtoch traute ber ©mir ben ruffifdjen Verfprechungen nicht unb fudjte
Slnfcgtug an ©nglanb. Unbegreiflicherweife lehnte ©nglanb alle Einträge um
©unbeSgenoffenfchaft ab unb oermies @chir=Slli an Siuglanb, mit bem ©nglanb
foeben (1875) eine neutrale 3one in ©entralafien bereinbart hotte. 3n ben Singen
ber Slfiaten mar biefeS ein offenes ©eftäubnig ber eigenen Sdjmäche feiteuS ber
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Kfgßaniftan un 6 ber citglifcß=afghamfcße Krieg. 20 (
©ngläuber, unb biente nur baju, ifjre Stellung in Gcntrataficn 311 untergraben.
9?ußlnnb benußte hingegen bie Seit/ ba Gnglanb fid) berpfließtet hatte, fid) mißt
in bie Angelegenheiten ber Slacßbarftaaten StußlanbS ju mifeßen, um burdj 9teu=
enoerb günftig getegener ©ebiete feine ftrategifeße BafiS ju oerbeffern unb Afgßa*
niftan noch enger an fid) ju fetten. Unbcgreifticßermeife bezog Sd)ir=Ali troß
feiner unoerfennbaren Abneigung gegen ©ngtanb noch immer ein Qafjrge^att unb
erhielt öfter ©efc^enfe an SBaffen. @S fehlte nicht biet, baß im 3ußre 1878
9htß(anb ben SSiberftanb ©ngtanbS bei ben Berßanbluitgeit mit ber Dürfei burd)
©inmarfcß in Afghaniftan unb Bebroßung ber inbifchcit ©renje gebrochen hätte.
Die Borßut eines gröfjern $eere3 toar fdjou in Afieit jufammengejogen, ber Ober*
befeßtSßabcr ernannt, als citblicß Anfang 2J?at tttufjlanb fid) bereit crflärte, fief)
ben Befdjtüffen einer internationalen Konferenz fügen ju motten. Seine afiatifchc
Potitif fottte aber feinen Abfcßlnfi erfahren; eS galt nur, fcßlau bie Situation
abzupaffen, itt ber Swifdjeuzeit aber ben SSeg zur Groberung 3nbienS borzubereiten.
An bemfelben Sage, mo in Berlin bie Konferenz eröffnet mürbe (13. Snni),
Oerließ eine ruffifche ©efanbtfd)aft, mit bem ©enerat Stotelem an ber Spiße,
Samarfanb, um mit bem ©mir bon Kabul freunbfcßaftlicße Beziehungen auju=
fnüpfen. Samarfanb fteht aber über Dafcßfeitb mit Petersburg in telegraphier
Berbinbung. Die nähern Details über biefe ©efanbtfcßaft erfuhr bie engtifdjc
Regierung erft bur<h Auffinbuug ber „Kabul Correspondence" im Sahre 1879,
baS große publifnm aber erft Anfang Februar 1881. ©S mar ein gefeßidter S«9
StußlanbS, um burch Unruhen an ber Aorbmeftgrenje 3nbienS ben SSiberftanb
©ttglanbs 31 t überminben. Am 22 . Suli 1878 traf ber ©enerat Stotetem mit
einem zahlreichen Stabe in Kabul ein, mo er Empfehlungsbriefe beS ©oubcrueitrS
üon Durfeftan, beS ©eneratabjutanten Kaufmann, unb ben ©ntmurf 3 U einem
Beitrage zmifchen Afghaniftan unb Stußtaub überreichte.
Die michtigften fünfte beS Vertrages maren:
„Die rnfftfehe Regierung betpflichtet fid), im Kriegsfälle auf ©tfucßeit beS
©mirS Sdjir=Ati ober feines StacßfolgerS ißn mit Siatß unb Dßat P unterftüßeu
unb einen in baS Saitb eingebrungenen geittb zu oertreiben.
„Dßne borßerige SDtittßeilung unb ©rtaubniß bon Stußtaub berpfließtet fieß ber
©mir Scßir=Ati, feinen Krieg mit irgeubtoeldjer SJtacßt zu füßren."
Stacßricßten bon bem gtänzenben Empfange ber rufftfeßen ©efaubtfcßaft trafen
batb gerüeßtmeife in Simta ein unb mürben bureß bie in Petersburg eingezogenen
©tfunbigungen im bottften äJtaße beftätigt. GntfcßeibenbeS .Raubein mar notß=
toenbig, unb bie gefammtc inbifdje Preffe fpraeß fieß feßr energifcß für Senbung
einer SJiiffion naeß Kabul auS, um fo meßr, ba feit beut Saßre 1876 Gnglanb
bafetbft feinen Pertreter befeffen ßatte. 9fomab»©ßofam^uffein, ein Snber bon
ßoßer ©eburt, ber fieß als Solbat unb Diplomat feßon bielfacß auSgezeicßnet
ßatte unb in näßen Beziehungen 311 Scßir=Ati ftanb, mürbe bazu auSerfeßen, ißm
bie Anfunft einet englifeßen ©efanbtfißaft unter Sir Stebiße ©ßantberlain 011311 =
fünbigen. 3« Pefcßatoer erfußr er ben Dob beS SieblingSfoßncS Scßir=9(li’s,
Abbutta=3an’S, roobureß bie Steife um einen ganzen SOtonat berzögert mürbe. 3«
Kabul augefommen, fanb er ben ©mir faft maßnfinuig bor Scßmerz unb foitnte
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Unfere <5cit.
ißn nic^t bewegen, einen befinitioen Vefcßeib ju erteilen, ob er bie ©efaubtfcßnft
empfangen wolle ober nicht
©cßir*8lli wußte feßr gut, baß er im SBintcr feine pfiffe oou Vußtanb er¬
warten fönue, unb befeßtoß baßer, bi« junt grüßting bie Untcrßanbtungen auSju*
beßnen, um in alter 9tnße feine Vorbereitungen beenben ju fönnen. Sreu feinem
Vertrage, berichtete er bem ©eneral Kaufmann, baß eS bie Slbficßt ©ngtanb« fei,
eine ©efanbtfcßaft nach Kabul ju fenben. Ser Ueberbringer biefer tRacßricßt war
ßöcßft Waßrfcßcintich ber ©eneral ©totelew felbft, ber um biefe 3«it Kabul Oertief?,
um fich perföntieß ^nftructionen ju holen; boeß ift bie genaue 3«t feiner Stbreifc
au« ber „Kabul Correspondence" nicht ju erfehen.
3ln ber Storbgrenje Äfgßaniftan« machte er holt unb richtete oon hier onS
fotgenben Vricf an ben afghanifeßen SJJinifter be« ÄuSWärtigen:
„Sch eile» um bem Kaifer perföntieß ben ©tanb ber Singe ftar ju legen, ©o
©ott will, foll alte« beftätigt Werben unb atte« ©rforberlicße gefächen. $offent»
tich fiuben biejenigen (b. ß. bie ©ngtänber), bie Kabul Oon Dften betreten Wollen,
bie Sßore ber ©tabt oerfchloffen, unb werben, fo ©ott will, jittern."
Veirn ©eneral Kaufmann augefommen, fanb er bie ganje Situation Oeränbert;
bie ©onfcrenj in Vertin war beenbet nnb fomit eine Äction in ©eittralaficn nicht
mehr nothwenbig. ©eneral ©totetew hotte auf feine Snftructionen hin ©cßir»$lli
Oerleitet, ©ngtanb ju trogen; jefet muhte biefer allein bie gotgen tragen. SRußtanb
that nichts, um ju ©unften Slfgßaniftan« in Sonbon ju wirfen. Sem ©eneral
©totclew btieb nun bie nicht fehr angenehme Aufgabe, ©chir»Äti bie Äugen über
feine Sage ju öffnen; in einem Vriefe üom 8. Dct. fchreibt er wie folgt:
„Sch arbeite lag unb 9tadjt, unb meine Änftrengungen finb auch nicht erfolg*
tos geblieben. Ser große 3or ift ein greunb be« ©mir« unb feine« Sanbe«, unb
wirb für Süß entfehieben ade« thun, Wa« er für nöthig befinben wirb. Su wirft
nicht oergeffen hotten, wie ich ®ir erjäljlte, baß bie Ängelegenßeitcn eine« Staate«
mit einem Sanbe ju oergteichen finb, ba« bott oon Vergen unb X^älettt, ootl oon
glüffcit ujib ©een ift. 3?ur berjenige, ber fich auf einem hohe« Verge befinbet,
wirb aHe« ju itberfeßen im ©tanbe fein. 9lach ber Kraft unb bem Vatßfcßtuffe
©otte« ift feine §errfcßaft gleich ber unfer« mächtigen 3oren, bem ©ott ein lange«
Seben berieten möge. Seihe baher Sein Dßr allen Statßfcßlüffen, bie Sir ooit
unferer Regierung jutßeit werben. S<h foge Sir bie SBaßrßeit: unfere Regierung
ift fo fchtau wie eine Schlange, aber fo fanft unb friebfertig wie eine Saube. (!!)
@« gibt auf ©eben biete Singe, bie Su juerft nicht berftehen fannft; aber glaube
mir, unfere ^Regierung oerfteht fie fießertieß. ©ehr oft ereignet c« fich, boß e >uc
Sache, bie juerft un« unangenehm erfcheint, fich bennoch at« unfer Veftc« heraus»
ftettt. üRein guter greunb, ich theite Sir nun mit, baß ber geinb Seiner 3teli»
gioit burch ben Sultan in Konftantinopet" (er Wirb hier fätfcßlicß „Kaifar" ge*
nanut, in ganj ©entralafien heißt er aber „Kßatifei Slum") „mit Sir Stiebe ju
machen gebenft. SBenbe Sich baßer ju Seinen Vrübern, bie an ber anbern ©eite
be« Stuffe« (SnbuS) wohnen. Sßerbeti fie aber oon ©ott jum Kampfe angereijt,
unb briieft er ißnen ba« @cßWert in bie $anb, bann geh unb fechte mit ©ott.
©onft fei aber fchtau wie eine ©eßtange, reieße bie $anb jum grieben, bereite
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203
Kfghaniftan unb ber cnglifdpafghamfdje Krieg.
Did) ober heimtid) junt Kriege öor uub erftäre Dicf), foöatb Dir ©ott bie Seit
funb Werben lägt, ©etritt ber geinb ben SBobctt Deines 2anbcS, bann feube in
fein 2 anb einen SJlanu, ber bie S»« 0 e ber ©d)tange f»at unb Holt §cudjetei ift,
baß er bie ©athfdjtäge Deiner geinbe DcrWirren möge."
SRidjtS !ann Wot beffer bie ruffifdje ©otitif iöuftriren at$ biefer ©rief; burd)
©erfprechuugcn mürbe Stfgljauiftau 311111 Kriege öerteitet unb bann böttig fid) felbft
überlaßen. Die in biefem ©riefe enthaltenen ©attjfchtäge famen aber teiber 31 t fpät.
Die eugtißhe ÜJliffion, beftetjenb au$ bent 11 . bengatißhen ©abalerieregiment
unter @ir 9IebiHe ©hambertain, hatte ©efdjawer bertaffen; bodj mürbe it)r am
21 . ©ept. 1878 burd) ben ©ouberneur bon 2CIi-3J2u§jib auf tjötjern Sefet)t ber
SEeitermarfch berwehrt. ©chir-Ati Reifte biefen ©orfatt ungefäumt bem ©eueral-
abjutanten Kaufmann mit unb bat um Uuterftüfcungen, bie biefer aber ber bor-
gerücfteit Safjre^eit megeit nicht abfenben 3 U fönneu glaubte. 2 ;er ruffifdfjcn
©efanbtfchaft ging ber Sefeljt 31 t, ft'abut 3 U bertaffen, fobatb fich bie ©ltgtänbcr
biefer ©tabt nähern mürben.
3n 3nbien waren bie SReinuugen geteilt. Die eine ©artei, Anhänger jener
©olitif „ber meifter^aften Unttjätigfeit", bereu gütjrer ber ehemalige ©icefönig
2orb 2amrence mar, erftärte, baß ©<hir-Ati böflig im Stetste geljanbett tjabe, baß
bie Surüdmeifung einer ©efanbtfchaft, ba eine folche bislang in Äabut nicht ge-
mefen märe, nicht mit ©ruch aller biptoniatifchen ©c^ietjungen gteidjbebeutenb 311
erachten wäre, unb baff fomit ^ier fein ©runb 3 um Kriege bortiege. ©in ®rieg
müßte unfehlbar Afghaniftan 311 m engen Anßhtuß an Stußtanb swingen. Die
anbere Partei, bie fitiegSpartei, bie bei bem großen £>eere bon engtifdjen Dfß-
3 ieren, ©eamten unb S'aufteuten, bie bureß einen frrieg nur gewinnen fönnen,
immer 3 aßtreiiße Anhänger 3 ät)tt, erftärte, baß ©nglanb nur burch feinen tnora-
(ifeßen ©inßuß in ©entrataßen ßerrfeße, baß ein ®ampf swißhen ©ußtanb unb
©ngtanb nur nod) eine grage ber Seit fei, unb baß man alles t^un müffe, fich
auf biefen ftampf borsubereiten; tjier^u gehöre in erfter 2 inie Stegutirung ber
Slorbweftgrense unb ©erbrängung jcbeS fremben ©inßußes aus Afghaniftan. 3«
einem SRemoire bom Saljre 1874 äußert fich ber fpätere ©ouberneur beS ßap-
lanbeS ©ir ©artte grere wie folgt über biefen ©egenftanb:
„Ueber fürs ober lang werben bie ©re^en tRußtanbS unb SngfanbS in ©entrat«
afien 3 ufammenftoßen. Die noch in Unabhängigfeit beßnbtidjen S'^anate werben
bem einen ober bem anbern in bie #änbe falten, unb werben bie $orbeu ber
©äuber unb ©tenfdjenbiebe beftänbigen ©runb 3 U ©erwidetungen 3 Wifdjen beiben
Staaten abgeben, ltnfere Aufgabe muß eS in ber nädjften Seit fein, ben ©mit
toon Afghaniftan berart 3 U unterftüfcen, baß er felbftänbig in feinem 2anbe regie¬
ren fann unb ©ußtaub feinen ©runb 3 um ©infeßreiten finbet. Dann tnüffeit wir
©eßbenten in ben großem afghanifdjen ©reu 3 ftäbten, in Jperat, in ftabnt unb
£attbaf)ar Ratten, bie alle ©ewegungen ©ußtanbs auf baS genauefte 3 U beobachten
ßaben. SBir bürfen unter feinen llmßönben leiben, baß Afghaniftan ruffianifirt
wirb, baß rufßßhe Dedjnifer bem ©mir ©efdjüfce gießen, baß ruffifdje Abenteurer
fein ©etb prägen. Der Dag, wo eine rufßfdje ©efanbtfdjaft in STabul erfcheineu
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llnfcre ^cit.
204
Wirb unb rujfifcge SRcifcube unbeginbert ba« Sanb burcgwaubern bürfen, ift nitgt
megr aflju weit entfernt."
Setcgrapgifcg würbe bie 3**rüdroeifung ber cngtifcgen ©efanbtfigaft und) Sonboit
gcinelbct uub um ©ergattung«befegte gebeten. SWiüterweitc würben bie Urlauber
in gtibien i« igren Sruppentgeiten jurüdberufen; in ben Strfenalen unb Patronen»
fabrifen würbe aße« ju neuer Sgätigfeit angefaigt; in ben getreibereidjen Gbenen
Hinboftan« würben bebeutenbe Sorrätge aufgetauft, bie SSerfe non tßefcgawer unb
ber aubern örenjfeftungeu Würben armirt. ÜJtittet« Sampfcr unb Gifenbagit
würben ^Regimenter au« aßen Igeiten gnbien« nacg ber Storbweftgrenje gefanbt,
wo fie ben bcrfcgiebencn Gotonnen jugewiefen Würben. ÜRacg einigen Sagen traf
bie Antwort be« Gabinet« ein: ege man bie Gntfcgeibung ben SSaffcn überliege,
foflc nocg ein ©erfucg jur Beilegung ber Streitfrage gemacht werben. 9tm 8 . 9toü.
würbe bem ©onöerneur non 9lti=2Ru«jib jur Uebermitteluug an S<gir=2tti ein
lUtimatuni jugefteßt, in bem Gnglanb Guttaffung ber ruffifigeit unb Ütufnaguic
einer engtifdjen ©efanbtfdjaft forbertc. Soßte am Stbcnb be« 20 . feine Antwort
eingetroffen fein, bann würbe fieg Gnglanb genötigt fegen, bie ©rennen ju über*
fegreiten. S(gir*?lti tgeitte ba« Ultimatum abfegrifttieg ©enerat Kaufmann mit
unb erwähnte, bajj er einen göftidjen unb freunbfegafttiegen ©rief an ben ©kc*
Fönig gefanbt gäbe. griebe mit Gnglanb ju f (glichen, fei nur unter ben bcmütgigftcu
©ebingungett mögtieg, ba er nacg bem ©ergatten ber Gngtänber unb nacg igrer
tßotitif anuegmen muffe, bag fie noß ber feinbfeligften Gefügte gegen Slfgganiftan
wären. „Sic woßen meinen Sorfteflungen jur ©erfögnung, um biefe« SJtiSberftänb*
nig aufjuftären, fein ©egör geben, unb wenn aueg bislang noeg feine Scgüffe ge*
Weegfett fittb, fo fantt botg jegt nur ba« Scgwert entfegeiben." Ginc Antwort
war am 20 . abenb« im engtifegen Hauptquartier niegt eingetroffen, unb ergietten
iämmtticge Sruppen ©efegt, am uäcgfteu SWorgen borjurüden.
Ser ©ebirg«(garafter be« 2anbe« unb ber borauSfidjtlicgc getbjug«ptan ber
tlfgganen swang jur Scgaffuug Heiner fetbftänbiger DperatiouSeingeiten. 3m
ganzen Würben 47050 SRann mobitifirt unb in brei Gotonnen unb eine SRefem*
cotonne formirt. 3um Dbercommanbirenben war ber ©enerat greberid Haine«
ernannt, ber fieg bei bem ©icctönige in Sagore befanb. Sie 9?otbarmee beftanb
au« jWei Gotonnen, ber ftärfern ißefcgawercotonne (I 8 V 2 ®ataiflonc, 5 G«cabron«
unb 8 ©atterien in einer Stärfe boit 16000 9Jtann unb 48 ©efegügen) unter bem
©cnerattieutenant Samuet Srown; bann ber fegwaegen Surumcotonne ( 8 V 3 ©a=
taißonc, 7 GScabron«, 4 ©atterien = 5500 SDtann unb 24 ©efegüge) unter bem
Gommanbo be« ©eneratmajor« greberid SRobert«. SBic fegon oben crWägnt, War
ber ©ereinigungSpunft beiber Gotonnen fiabul, bie ißefcgawercotonne gatte bem
Saufe be« ®abutftuffe« fotgenb, bie S'urumcotonne im ffurumtgatc oorjugegeti.
?tiu 20 . ftanb bie ißcfcgaWercotonne wie folgt. Sie 1. Sioifion (3 Infanterie*
brigaben unb 1 Gaoatericbrigabe ftarf) unter bem birecten ©efegt Samuet
Srown’« gart an ber ©reitje Weftticg ißefegawer; bie 2 . Sibifion (©eneratmajor
SOiaube) ftanb öfttieg biefe« Orte«, ©enerat Stöbert« ftanb mit feiner Gotonne an
bem ©renjpoften Sgufl. Sie Siibarmee, ober Wie fie officiett bejeiegnet Würbe,
„Cucttacotoune", ftanb unter bem ©efegt be« ©cnevatticuteuant« Sonatb Stewart
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Jlfgfyaniftan unb ber cngltfcfj =afgfjantfd}c Krieg.
205
mit ber 1. Siöifioit (©eneralinajor 93ibbutpl>, 7 '/ 2 Bataillone, 9 ©ScabronS unb
3 Batterien) bei Ouetta. 55ie 2. Sibifion (7 s / 8 Bataillone, 9 ©ScabronS, 7 Satte*
rien unb ber BclagerungSpart bon 24 ©efchüfjen) fammcltc fidj am SluSgange beS
Solan bei HRnttan. SlngriffSobject biefer ©olonnc war ffaubatjar. Sie 5ruppen=
ftärte berfetben betrug 19550 SRann unb 90 ©cfchüfce. Sie SReferbebibifion unter
bem ©eneralmajor Printrofe war noch bei Sulfur im 5nbuStf)ale in ber gormatiou
begriffen; fie fotlte 6 3 / 8 ©ataiüone, 9 ©ScabronS unb 2 Batterien (6000 Staun
nnb 12 ©efetjü^e) jäf|len. Vorläufig war itjre Stufgabe, ©infätte ber Afghanen
bnr<h ben ©omalpaß in gnbien ju berfjinbern.
Sämmtlichc gührer Ratten bisher noch fein felbftänbigeS ©ommanbo bor bem
geinbe geführt unb ben größten Sljeil ihrer Sienftjeit in Snbien jugebraeßt; jntn
Sljeil hatten fie feßon unter ©ir S33i(liant ffeane Erfahrungen in Stfgßaniftau
gefammett.
Ser Befehl jum Beginn ber friegerifeßen Operationen traf in ben erffen SRorgen»
ftnnben beS 21. Stob. 1878 bei ber Ouettacotonne ein. Stuf telcgraphifdjem SBegc
gingen ben einjelnen Sruppentljeilen bie Stnorbnungen beS ©enerallieutenants Stewart
ju. Sie ©eneralftabSoffijierc Ratten in ber Seit bis jum 20. Stob. aHeS borbe»
reitet, fobaß bie bott ißnen bearbeiteten SiSpofitionen nur noch ber Unterfdjrift
beS Dbercommanbirenben beburften. 3uerft galt es, bie noch im SnbuStßate be»
fmbtidje 2. Sibifion auf bie feßon bei Ouetta ftefienbe 1. Sibifion aufftßtießeu ju
taffen, ©eraume Seit mußte atfo bcrgeljen, eße man Iper an ein Beginnen ber
Operationen benfeit tonnte, im Stoß« 1839 hatte baS Snrchfchrciten beS Bolau-
paffes 50 Sage in Stnfprud) genommen. SBenn auch infolge ber günftigern SBitterung
nnb beS berringerten SroffeS bie ©rWartung berechtigt War, baß bie 2. Sibifion
in titrjerer Seit eintreffen werbe, fo wagte man bennodj nicht, mit ben augenblict*
lieh bei Ouetta fteljenben Sruppen bie Offenfibe ju ergreifen. Uebcr bie Starte
unb Stellungen ber geinbe war inan nicht orientirt, im Hauptquartier würbe bie
&anbaljarbibifton quantitqtib unb qualitatib überfdjäf}t. Sicfe aufgejWuugene Seit
ber Untljätigteit ließ man nicht unbenuftt berftreichen. SEBäljrenb bie Snfantcric
ben Sicherßeitsbienft an ber ©renje übernahm unb SlrbeitScommanboS ftettte, würbe
bie bei ber Sibifion eingekeilte ©abateriebrigabe weit über bie ©renje hinauf
gefeßoben. Schon in ber Orbre be Bataille war jeber ber beiben ©abateriebrigabeit
ein Ignfanteriebataillon jugetheitt; baS Bataillon ber 1. Brigabe war in ber Prä*
ßbentfehaft Bengalen errichtet unb böttig als Pionniere auSgerüftet. Sie friegerifche
Süchtigteit ber Sruppen würbe burch bie gül)lung mit bem geinbe gehoben. Snt
SBeften ftreiften bie Patrouillen bis über ben Sobjafpaß hinaus, im Storben brangen
bie Steiler bis in baS Shal bon pifchin ein. Sem politifdjen Stgenten ber Ouetta:
colonne, SJtajor Sanbemann, gelang es, mit ben bortigen Stämmen in fveunb=
fchafttiche Bejahungen ju treten, gegen Bejahung oerpflichteten fie fich, ben englifcheu
Sruppen Prooiant ju liefern. SicfeS Spftem fnnctionirte währenb beS gaujeit
gelbjugeS gut unb tarnen in bem Siftrict teilte Störungen irgenbwetcher Strt oor.
3n ben erften Sagen beS Secember langten bie Scten ber 2. Sibifion bei Onetta
an. Ser ÜRarfch burch ben paß holte immerhin nicht unbebeutenbe Opfer ge«
forbert, wenn auch nicht in bem SJtaße wie 1839; burchfehnitttich jätjlte jebes
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206
Unfere <Jcit.
©ataitlon 80—100 fitanfe. £er 3Jtanget aller SBinterfleibung hatte fid) feljr fühl¬
bar gemacht unb beburften bie inbift^en Xruppen in Ouetta bringenb einige Sage
ber Erholung.
91m 20. 2)ec. begann bahcr erft ber ©ormarßh auf Äanbahar. 2)er 2. «Diüifion
würbe bie nörblid; gelegene burch ben Äobjafpaß füljrenbe Anmarfchftraße, ber
1. $iüifion bie [üblichere über ben ®wabfd)apaß führenbe ©araHelftraße jugewicfcn,
SBol war man fid} aller Schwierigfeiten bewußt, bie man auf biefem SRarfc^e ju
iiberwinbcn haben würbe; bie Iruppen fodten baljer erft am 6. 3“n. ben ©er«
einigungSpunft beiber Straßen, Xaft»i=ißul, 50 Kilometer üon S'anba^ar entfernt,
erreichen. 3a adelt bebeutenbern Orten würben fleiue Ableitungen jurüdgetaffcn,
bie bort Rtagajine anjulegen fjatten, auf beiben Anmarfdjtinien Würbe ein reget«
regtet Etappenbicnft eingerichtet. SBenn auch nur ab unb ju bie Saüateriefpifcen
auf SBiberftanb fließen, fo war bennoch ber Ktarfdj langfam unb anftrengcnb.
33ie 2Bege waren fehlest, fteflenweife für Fahrjeugc unbrauchbar. 3m Sobjafpaß
herrfd^te SBafferinanget unb hotte man auSgebehnten Gebrauch üon abeffinifchen
Röhrenbrunnen ju machen. 3« ben erften lagen beS Januar erfuhr baS ®eneral«
commanbo burch Spione, baß bie bei Äanbafjar ücreinten Xruppen im Segriff
feien, bie Dffenfiüe ju ergreifen, um ben Engtänbcrn baS |>eranStreten aus bem
©aß ju berwehren ober fie auf ihrem Klarflhe im ®ebirge anjufaüen. S)ic Sage
War fritifdj unb würben auf biefc Rachricht hin üon beiben $iüiftoncn flarfe Aüant«
garben oorgefanbt, um fiel) im ©efifc beS ftrategifch Wichtigen $aft«i«©uH ju fefcen
ttnb unt bie Entwidelung beiber SDiüifionen an ber ffleftfeite beS ©ebirgcS ju
fichern. Am 5. fam eS ju einem ©efccht, in bem bie Englänber Sieger blieben,
©or aßen Gingen jeichnete fidj hie* bie Eaüalerie burch Sührung unb Schneibig«
!cit auS. Ohne Rüdßdjt auf ÜagcSjeit uub lerrain Würbe 'fie üerwanbt; üer*
geffeu Wir aber nicht, um bie Seiflungeit ber ruffifchen unb engtifchen Eaüalerie
in baS rechte Sicht ju ftetteit, baß ber 3nber ben Schnee nur üon fjöreitfagen lehnt
unb baß ber Europäer burch ben Aufenthalt in ben Xropeit bei feiner Rüdfehr in
ein gemäßigteres ßlima bie ffälte boppelt empfinbet. SBol üerlohnt eS fich ber
Ktüljc, bet englifdjen Eaüalerie ju folgen, begleiten wir fie auch nicht auf üer«
luftreichem, tobteSmuthigem Ritt, fonbern nur auf einer Keinen Attale, bei ber
aber aus jeber ©ewegung Kühnheit unb UntcrnehmungSgeift h«üorleuchtet. An
ber £cte ber Aüantgarbe ber rechten Eolomte befinben fi<h jWei ©ScabronS beS
15. $ufarenreginicntS, auf feiner Stanbarte führt eS baS anfpornenbe Kiotto:
„Merebimur."
©eint $erau3treten aus bem ®efile erhält bie Spifce Feuer üon feinblicher
3nfanterie, bie fich hinter einem Erbwerfe befinbet. ®er Eommanbeur recognofdrt
bie feinbliche Stellung; cüt Frontalangriff ju Fuß ober ju Roß fefct feine Reiter
nur unnüfcen ©ertuften aus. Schnell ift fein ©lan gefaßt; gebedt burch baS
Xcrraiu, gelingt eS ihm, bie linle Flanfe ber Afghanen ju gewinnen unb bort
jnm ©efecht ju Fuß abjufi^en. Untcrbeffen haben unter bem Scflufce breier ES«
cabronS bcS ©cnbfdjabreiterregiments üier ©cfdjühe einer reitenben ©atterie, benen
fich bann auch noch eine Felbbatterie anfchließt, heftiges Shrapnelfcuer auf bie
Afghanen eröffnet. 2>ic englifche 3nfanterie formirtc fich laugfam jum Angriff,
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Kfghaniftan unb bet cngltfdpafghanifche Krieg.
207
um ber Strtiöerie genügenbe $eit jur Vorbereitung ju taffen. Slber ehe noch bie
Infanterie in ba3 ©efecht eintritt, erf^afft oon rechts heftiges (Schnellfeuer, bann
Wohtbefannte Signale unb wie eine SBinbSbraut fegen bie ^ufaren entlang ber
afghanifdjen Stellung. Diefer glantenangriff entfcfjieb: üerfotgt oon ben inbifdheit
Weitern wenben ftch bie Slfgljanen jur flucht. Von linfö ^crüberfc^atlenber ©e=
fdjüijbonner mahnt jur Vorficht; fchnett finb bie $ufaren raltiirt unb ohne ben
Vf erben 3^it jum Verfchnaufen ju laffen, traben fie bem ®efed)t$felbe ju. ©in
feinbtidjer Weiterfehwarnt üerfudjt ben beiben ©ScabronS ben 233eg ju Oertegen,
bodj er wirb niebergeritten. Slber auch h' ec tft fchon ber Sieg erfochten unb
fönnen fte bie frohe ÜMbuug jurüdbringen, baß bie Webencotonne fich ebenfalls
im ÜRarfch auf Äanbahat befinbet. ©egen Slbetib gelingt cä ber ©aoaterie noch,
als bie Stfgßanen non neuem 233iberftanb teiften, burch Vebroljung ihrer WüdjugS*
tinie fie jum Wäunten ihrer Stellung ju oeranlaffen.
©roß War ber burch biefeS Heine ©efecht erjiette ©rfotg; bie ®anbaharbioifion
hatte alten $alt oertoren; an eine Vertheibigung ber geftung buchte fte nicht,
fonbern ging auf fperat unb Sfabut jurüd. Sw Saufe bcS 7. fchtoffen bie Kolonnen
auf ihre Stöantgarben auf unb würben für ben nädjften lag Vorbereitungen für
einen umfaffenben Singriff auf Sfanbaljar getroffen. Slm Slbenb überreichte jebodj
eine Deputation bem ©enerattieutenant Stewart bie S^tüffet ber Stabt. Slm
8. marfchirten bie ©ngtänber burch S’anbahar, bezogen wefttich ein befeftigteS Säger
unb ließen bie Vatahiffar nur oon üier Kompagnien beferen. Die Veoötfcrung
oerhielt fich ruhig unb tljeilnahmtoS, würbe aber batb burch bie prompte Vejahtung
unb bie ftrenge DiSciptin ber ©nglänbet freunblidj geftimmt, unb !ann man bie
üereinjetten 2Jlorböcrfu<he nicht atö einen äJtaßftab für bie ©efinnung ber Vcwoljncr,
fonbern mehr atS einen SluSbrud ber ftirngefpinfte einzelner ganatifer anfehen.
Die Druppen fchtoffen allmählich auf unb beftrebte man fich burch Vefefcung oon
©irifchf unb ßetat, ben Verpflegungörapon ju erweitern. Slm 1. SJtärj begann
ber Würfmarfch ber 1. Dioifion. Sw Saufe beS Slprit Würbe mit ber Regelung
beS ©tappenbienfteS unb mit ber Stntage größerer SKagajine begonnen. Sw Votan
würbe Derrain jur Slntage einer Vahnlinie oermeffen unb ber Vau in Singriff
genommen. Stnfang ÜJlai ftanben in Saitbahar unb Utngegenb 5 Vataitlone,
3 ©ScabronS, 1 getbbatterie unb ber VetagerungSpart, im ganjen 2642 ©ngtänber,
6860 ©ingeborene, 9500 Kamp=gotloWerS unb 12000 Dragtf)icre. Den Oberbefehl
führte ber ©enerattieutenant Stewart. Der 9icft ber Dioifion fieberte bie ©tappen*
tinie jwifchen Ouetta unb Sfanbaßar, währenb ber Weferoebioifion Vh a h re bie
Sicherung ber Strede Ouctta*Sutfur jufiet.
Die afghanifdje Strmee befchtoß, auf bem nörbtichen Ä'riegätEjcater bie Vorteile
ihrer centraten Stellung auäjtmufcen, inbem fie auf einem ber beiben nörblichen
Väffe mit überlegenen ÜRaffeit auf^utreten, bie Vertheibigung best anbern V a ffc£
aber ben VolfSaufgebotcn ju übertaffen beabfichtigte. gür bie SBaljl beS ®urum=
paffeS als Schtachtentcrrain fprach feine geringere Sänge (250 gegen 310 Sfito=
metcr beS Ähpber), feine größere Vtobuctionöfähigfeit unb SBegfamfcit, unb fcßließ*
(ich wochte wot ba$ Vorhanbcnfein mehrerer breiter Ouerrüdcn, bie fchon oou
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208 ltnfcrc ^cit.
ber Satur ju SperrfteQungcn bcftimmt fchicnen, au«fchlaggebenb gewefen fein.
9tber nad) Sluffaffung be« englifdjen Dbcrcommanbirenben hotte ber General
Sobert« nur Aufgaben nebenfädjticher Satur ju erfüllen unb war non biefem
Gefidjt«punfte au« bie Stärfe feiner ©olonne nid)t ju gering bemeffen (5776 Gom»
battanten, tncl. 1876 ©uropäer mit 24 Getüften. SBie aber bie ©reigniffe
jeigen »erben, fnnb ^ier ba« einzige gröjjere Drcffen auf bem nörblit^en Stieg«»
fdjauplahe ftatt.
Slm Sachmittag be« 21. Soö. fe|tc fid) bie GaOalerie burch UeberfaQ in ben
Scfifc bc« Keinen Sperrfort Surum. Slm näcfjften läge ftanb bie ©olonne ^ier
oerfammelt unb glaubte Sobert« biefe Gelegenheit benufeen ju mfiffen, um fidj
ber Gegebenheit ber Sergftämme ju oerfithern. Den oerfammelten Häuptlingen
erflärte er, bofj bie englifche Regierung nicht mit bem afghanifchen Solle, fonbent
nur mit feinem ©mir Srieg führe. Sluf feine Slufforberuug oerpflichteten fich bie
Häuptlinge, felbft für Sicherung feiner rücfmärtigcu Serbinbungen ju forgen. 0h ne
erheblichen Sßiberftanb p fiuben, bewegte ftch bie ©olonne oorwärt«.
Slm SDJorgen be« 30. erhielten ©aoaleriepatrouitlen geuer au« einer ju beiben
Seiten be« IßeiWarpaffe« befinblichen SteHnng. Der ^ßeiwar ift einer jener oben
erwähnten breiten Süden, ber ba« Surumthal fperrt unb auf bem fich mehrere
größere gidjtenmalbutigcn befiuben. Stuf bem Oftabhange waren in mehrern
Seihen iibereinanber Schitfcengräben angelegt, bie SBalöränber waren burch Ser»
haue »erftärft unb hotte man bie Gefdjüfce in ©mplacement« läng« ber Stellung
oertheilt. Die rccognofcirenbe ßaöalerie fd)ätytc bie Stärfe be« geinbe« auf
45000 3Ramt unb 24 Gefdjüpc. ber gront oerwehrten fteile Stiftungen ben
Singriff; bie wenigen hcranffüfjreuben SBcge würben unter ft'reujfcuer gehalten unb
lagen mächtige gcl^blöcfe bereit, bie im Stugenbtide be« Sturme« hinobgewäljt
Werben fotlteu, um bie Stürmenbeit ju jerfchmettern. Sluf beiben gtügeln führten
Saüin« in bie glanfen unb forberten fomit jur Umgehung eine« gtügel« auf, Wa«
aber bei ber geringen Druppenftärfe eine mi«liche Sache War. Durch ©aOaleric»
patrouiHen bie SSegfamfeit biefer SaOin« feftfteHen ju laffen, hotte immerhin feine
Scbenfcn, unb fo erhielt ber ©ommanbeut ber Sloantgarbe Sefehl, unter geftljaltung
ber Starfchftrofee jwei SataiQone gegen bie rechte glanfe be« geinbe« ju entfenben.
Unter bem Schule eine« SataiQon« entwicfeltcn fich bie 24 Gcfchüfce ju beiben
Seiten ber Straffe unb begannen bie feinbliche Stellung mit Granaten ju be»
werfen, ©in ruhige« wirffame« geuer ber Slfghonen jeugte oon ber gefdjidten
Sebienung. SBäljrenb fo bie Slufmcrffamfeit bc« geinbe« in ber gront gefeffett
Würbe, arbeiteten• fiel) bie beiben SataiHone miihfam oorloärt«, fahen fich ober
plöfclidj einer woljlbcfcftigten Stellung gegenüber. Da aber nicht SBegnahme ber
Stellung, fonbern lebiglich Secognofcirung ber 3»ed biefer Sewegung war, fo
wnrbc ber Südjug angetreten. Die Sloantgarbe brach ba« Gefecht ab; man
bejog auf ben bem fßeiwar gegenübertiegenbeu Höh eu ein Saget. Sille gemalt»
famen Secogitofcirungcn, wenn fie nicht einen beftimmten Swed, wie }. S. Seft|»
nähme einer Sriide, eine« SBalbe« ober eine« anbern taftifdjen Stfijjpunfte« haben,
euben mit bene Südjuge ber recognofcirenben fßartei unb oerfehlen fomit nicht
einen ungünftigen ©inbrud auf bie eigenen Druppen h erö oejubringen. gn ber
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Jlfgfyamftan unb öcr eitglifd} ^afghaitifchc Krieg.
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Ghat glaubten bie 2lfgljanen eine» Sieg babongetragen ju Mafien, unb berichtete
Schir=9tli bie Rieberlage ber Gnglänber an beit ©enerat Kaufmann. GaS 9?c=
fultat biefer Recognofcirung loar, bah eine Umgehung linfS menig Gljaucen haben
mürbe; nach RuSfage bon Spionen hätten aber bie Afghanen berfäumt, ihren
lin!en glüget gegen Umgehungen 31 t fiebern, ba fie glaubten, bafj ihnen bort ba -3
©ebirge genügenben Schuh getoähre. GaS trodfeue Sett eines ©ebirgSbadjcS bot
einen günftigen RnnäherungStoeg uitb fonnten bie Gruppen gebedt bis auf eine
halbe beutfehe ©teile fich bem littfen gtiigcl ber Afghanen nähern. Gic Sänge
beS ©tarfdjeS betrug bis ju biefem fünfte jmei ©teilen. 3« ber gront hatten
2 inbifche Regimenter unb 20 ©efchiijjc beit geinb fefouhalteit unb bie RiidjugS^
linie 31 t fichcrn. Ger ©eneralmajor Gobbc hatte mit 1 engtifchen (72. £)od)*
fchotten), 2 ausgesuchten eingeborenen Bataillonen unb 4 ©ebirgSgefchüfcen in bem
Bett beS ©ebirgSbadjeS borjugehen unb fich gegen bie linfe glanfc ber Afghanen
ju eutmicfeln. Gie gnfantericreferbe, 3 Bataillone ftarf, hatte nad) Gntmidelung
beS glanfeitangriffS ber UntgehungScolonnc 311 folgen. Gie Gabateric blieb au
ber ©tarfchftrafje, hatte bie linfe glanfe 31 t' fidjern unb crforbcrtichenfallS bie Ber*
folgung 31 t übernehmen. GaS ganse Getachcmcnt mar fomit auf einer langen
Sinie auSeinanbergeriffen unb fonntc jebe Dffenfibe ber Afghanen 311 t Rieberlage unb
SBernichtung ber Gnglänber führen, ©encral Roberts fannte aber feinen ©cgner;
fchmerlich mürbe er eilte gleiche Gaftif gegen Guropäer befolgt haben.
3fm Slbenb beS 1 . Gcc. um 10 Uhr trat ber ©eneralmajor Gobbe feinen
SRarfdj an; bie Bibuaffeuer brannten unb hatten bie Gruppen, um am nädhften
UJtorgen ihren Slbmarfch iiicfjt 311 berrathen, bie Belte flehen laffcn. Rad) acf)t=
ftünbigem ©tarfche hatte mau ben ©nbpunft ber S^lucht erreidjt unb formirte
fich S um ©efedjt. Gie afghanifchen gelbmadjcn mürben überfallen; bie Gnglän*
ber brangen mit ben meichenben Gruppen in bie Stellung ein. Gie Afghanen
führten fofort ihre Referben bor unb 3 toangen bie Gnglänber 311 m galten. Gin
Berfudj beS in ber gront 3 urüdgelaffencn 29. IjJenbfchabregimentS, fich ben Befifc
eines ©albftüdeS 3 U fejjen unb fo bie Slufmerffamfeit bon bem rechten glüget
abjutenfen, mnrbe abgemiefen. Gic Dffenfibe fam erft mieber in glüh, als bic
Berggefchü$e eintrafen, nach smeiftünbigem Kampfe mar ber linfe afghanifchc glüget
gefchtagen. Gin bon 4 Bataillonen ausgeführter umfaffenber Eingriff auf bic
SBalbparceQe glüefte. Gie Siftcre mürbe genommen, aber im gnnern bauerte ber
Santpf noch ungefähr eine Stunbc fort. Um 1 Uhr mittags befahl ©enerat
Roberts ben Gruppen, in ihren Stellungen ab 3 ufodjcn. Gine fur^c Raft mar
bringenb nothmenbig: feit 15 Stunben mareu bic Gruppen untermegS gemcfeit nnb
böHig erfchöpft. Um 3 Uhr foltte ber Slitgriff bon neuem beginnen. Ger ©enerat*
major Gobbe hatte noch rnciter rechts auSsuholen, mährenb bie Referbe fich bircct
gegen ben ißafj menben foUtc. Um 5 Ut)r mar bic Schlacht entfdjieben; fämmt-
liche fünfte ber Stellung mären im Befifce ber Gnglänber. Unter Buritdlaffung
bon 18 ©efchühen, ber gefammten Bagage unb ©tunitionSborräthe flohen bic
Afghanen. Gie inbifche Reiterei berfotgte ben geinb nodh eine 3 icintiche Strcdc
unb es gelang ihr, eine nicht unbeträchtliche Bahl ©efangene cin 3 ubringen. 2 Bcg =
gemorfene ©affen unb SluSrüftiingSgcgenftänbe be 3 eicf>netcn ben ©eg, ben bie
Qnfrre Seit. 1882. I. 14
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2(0
Unfcre ^cit.
Druppeu genommen. 3 n Anbetracht ber geinbeSjaljl unb bev Stärfe ber Stellung
mar ber ©erluft ein fehr geringer, er betrug an lobten nur 2 Offiziere unb
25 9Rann, an Sermunbetcn 2 Dffijiere unb 70 SRann. Höefjft toahrfdjeinlich be*
jieljen fich biefe Sailen aber nur auf bie europäifdjen Druppeu unb finb jum
minbeften rec^t tief gegriffen. 3" einer Hälfe oon 3500 SReter brauten bei gtint=
miger ffältc bie Druppen bie Stacht ju. 21 m Häuften ©Jorgen mürben fitanfe
unb Sermunbete nach bem Jhirumfort jurürfgefdiieft unb mit ber ©erfchanjung beS
PaffeS unb bem ©au oon ©arratfen begonnen.
21m 9. Dec. erreichten bie Patrouillen ben Sd)utargarbanpoß. Sclbft hier
fanb man noch Seichen eines übereilten {RüefyugS; als Trophäen brachte bie ©aba*
lerie mehrere Saffeten unb SRunitionSmagen jurücf. Die Patrouillen brachten
5Racfjri(ht, baß fich unter 9Rohammeb*©3ati eine 21rmee üoit 11 {Regimentern 3«*
fanterie unb 4 {Regimentern ßabalerie im ß'abulthale gebilbet h«be. {ERohammcb
trat aber halb in Unterhaltungen mit Roberts unb berpflidjtete fich, nichts geinb*
feligeS gegen ihn ju unternehmen. (Sr fam biefem ©erfprecf)en getreulich nach,
unb fo hotten bie (Snglänber bodauf B«t, ihre Stellung ju befeftigen unb einige
räubetifche Stämme jum ©ehorfant ju bringen. Die Darfteflung aller biefer
fleinen Unternehmungen mürbe aber hier ju meit führen. 9Ritte 3onuar trat heftiger
Schnecfaü ein, bie ©alte ftieg bis auf 15° {R., fobaß eine große Boßt Snglänber
unb mehr als brei ©iertel ber 3«iber gefcdjtSunfähig mar. Unter ben ©urfßaS
brach bw ©forbut aus. 9ltle übrigen Druden litten an ftarfen ©lutungen ans
{Rafe unb Dhren. ©ei einem ©ataiöon mareti in einer {Rächt fteben äRann er*
froren. Da unter bicfeit ©erhältniffen fein Eingriff ju erloarten ftanb, ließ {Roberts
feine Druppen ©Jinterquartiere bejiehen, nur 1 ©otaidon Infanterie, 2 ©ScabronS
unb 2 ©efdfüße ftanben am Peiroar. 3m grüffling begann eine erneute Dhätig*
feit, bie Grtappentruppcn mürben burch Druppen ber unabhängigen dürften 3nbicnS
abgetöft. Der ©olonnc murbett jtoci curopäifdjc {Regimenter (67. unb 92.) jnge*
theilt. 2Ritte SDtai mar alles ju neuem ©orgeßen bereit; Gomntunicationen für
guljrtüerfe mären bis jum Schutargarbanpaß angelegt. Der gricbenSfchlnß bc=
enbete auf menige ©Jochen bie friegcrifdje Dljätigfeit ber Druppen.
AfS erfteS SlngriffSobject bot fich ber {JJefcharoercolonnc (15000 9Rann, incl.
7500 ©uropäer unb 30 ©efcfiüfce) baS Keine Sperrfort Ati=9RuSjib, melchcS eine
©efajjung bon 3000 2Rann hotte nnb mit 24 Armftrong’fchen ©efdfühcn, ©efeßenfe
ber englifchen {Regierung, armirt mar. Die Starte ber Stellung lag nicht in
bem gort felbft, fonbertt in ben $u beiben Seiten beS fitobulfluffeS befinblichen
Höhen, bie unter Seitung ruffifcher Offiziere befeftigt maren. ©ine ©atterie bc*
herrfchte ben Dhalfpalt beS JTf)pt>er, auf bem rechten glügel mar ein böfligeS
9teboutenfhftem mit oorgefchobenen Schiifjengräben angelegt. Der politifdje Agent
ber ©olonne, 2Rajor ©abagnari, hotte fich burch ©eftedjung ber ÜRitmirfung ber
©ergftänime, ber AfribiS unb ÜDlohmunbS, gefiebert; auf ihre ÜRittheilungen h*n
mürbe ber getbjugSplan ausgearbeitet. 2Bie alle ©ebirgSpoften bon Dhermopplä
bis jum Schipla burch Umgehung gefallen finb, fo follte auch bei 9(li=9RuSjib bie
Hauptaufgabe ben UmgchungScolonnen jitfaflen. Sehr bortheilhaft mar es für bie
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Jlfgfjantftan unb ber cnglifdpafghanifche Krieg. 2H
©nglänber, baß fie, gefctjüfct burch bie ©rcnjfortb, ungeftört bon fßefchamer ihre
SJtaßregeln treffen fonnten. 2lli=2Rubiib foCfte bon jtoei ©rigaben unter ben ©ene»
raten Setter unb SDtacpherfon rechtb umgangen metben; fdjou bor einiger 3?it
batten biefe ©nippen norblueftlid) ißefefjamer, am Slubgange beb ©atarapaffeb,
Stellung genommen. ©iefer fßaß üterfc^reitet bab 2300 äJieter ^ofje ©ebirge
gleichen 9?amenb unb miinbet 5 Kilometer jenfeit 2lli»aJtubiib in ben ßt)t)P er Poß.
©er fReft ber ©olonne hotte unter beu birecteu ©efeljten beb Sir Samuel Srotou
bie Afghanen in fjront unb in ber linfen 3rlan!e anjugreifen. 3unt Sotmarfch
bebienten fich biefe ©rupfen ber beiben fich bei 2tti»2Rubjib bereinigenben ©äffe.
9tm SKorgcn beb 21. begann ber ©ormarfd). $ätte man ben ©atarapaß beffev
gefannt unb bie Slnorbnungen nach eigener Slufchauung getroffen, nicht aber fich
auf unjuberläffige harten unb auf toenig glaubtoürbige Slubfagen ber Sanbeb»
cintoohuer oertaffen, man mürbe gemiß bie Slbmarfchjeit ber 3. unb 4. ©rigabe
um einige Stunben oerfchoben hoben, ©er ©rfolg tjing bon bent richtigen 3u=
fammengreifen beiber Sciuegungeii ab; aber mie bei fo manchen coinpticirten
©emegungen biefer Slrt ereignet eb fich, Poß bab ßRanöoer, burch bab ©intreten
irgenbeineb unborhergefehenen 3ufaflb, ben mau nicht in Rechnung gebracht hot,
toie man ju fagen pflegt, nicht Happt, ©er hi« bab ganje ©alcut ummerfenbe
Sactor toar bie Unmegfarnfeit beb ©ebirgeb, bie ben ©rfolg unferb borbereiteten
Hngriffb auf fßreßburg 1866 fchr in grage ftetlte unb ben erften Sturm ©urfo’b
auf bem Schipfa fogat oereitette. Sängcre 3eit ftanben baher bie beiben bon
ißefchamer birect borgegangenen ©rigaben ben Slfgljaneu allein gegenüber. @b
toar gegen 11 Uhr, alb nach Ueberrumpetung ber afghanifcheu gclbmachen bie
Hoantgarbe ber rechten ©olonne bom Schagaiberge ber gefte 9lti»SRnbjib anfichtig
tourbe. ©ie Infanterie befej}te in einer langen Sinie ben Hamm, mährenb bie
Batterie hielt, um bie Slubbefferung beb SBegeb burch Pie fßiounierc abjumarten.
©ab jEnfanteriefeuer hotte bie ©arnifou atarmirt; halb berfünben auffteigenbe
toeißc SRauchmolfen unb mit trefflicher ©räcifiou einfehtagenbe ©ranaten, baß bie
Afghanen nicht ohne meitereb gemißt finb, 9lli=3Rubiib aufjugeben. ©nblich fommt
auch Pie ?lbantgarbenbatteric in ifSofitiou, fie mirft einige ©ranaten gegen bab
5ort. ©ie ©iftanj ift jn groß; man muß fi<h begnügen, bie noch
terrain befinbtichen Abteilungen ber Afghanen ju beließen. Speicher Saie hätte
bei unfern griebenbübungen nicht bie ©efchminbigteit berounbert, mit ber bie Satte»
rien beb ©rob bie fchoit im ©efecht ftehenbe Aoantgarbcnbatterie berftürlen. &h ne
SRüdficht auf bie fchimpfeube Infanterie, bie in bidjten Staubmollen eingeljfißt,
tangfamen Sdjritteb fich Pfm ©efechtbfelbe nähert, eilen fie im fchlanfen ©rabe
an ber SRarfcfjcolonnc entlang, ©ann crfchaßen einige Signale, im ©alop braufeu
bie ©atterien in bie Steflung unb nach menig Sccunben fteigen btäulichmeiße
Sauchmolfeit auf. ©och hi« ift eS anberb: ift bei unb ber erfte Schuß bab Signal
in befdjleunigterm ©orgeljen, fo bort jum galten, mährenb bie Infanterie bormärtb
eilt, ©ie ber ©olonne jugetljcilte ©atterie ift eine fdjmere gelbbatterie, bie mit
©lefanten befpannt ift. ©eim erften Schuß jeigen fie nicht ju berfennenbe 3 e idjen
bet Unruhe; eb mirb gehalten unb ihr ©Iah rnirb bon 300 „ferner hinmanbelnben
SRinbem" eingenommen, bie laum mit ber Infanterie Schritt holten fönnen. 9ta<h
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2\2
Unfere <5cit.
jmeiftünbigem SBarten treffen enbtic^ bie ©cfcßüße einzeln auf bem Scßagaiberge
ein. Um 3 Ußr erfcßeint aucß bie 4. ©rigabe anf bem ©efeeßtSfelbe; obrool fie
einen bebeutenb weitem SBeg als bie 3. ©rigabe ßatte unb fein ©runb für ein
fucceffioeS (Eintreffen ber '-Beigaben bortag, war fie bennoeß mit biefer ju gleießer
Seit abmarfeßirt. Sie ©atterie ber ©rigabe naßm (Stellung lints neben ber
ferneren ©atterie. Sie reitenbe ©atterie probte auf unb naßm hinter ber Seßüßen*
tinie boit neuem ißofition; bureß ißr Sßrapnetfeuer berantaßte fte bie Slfgßancn,
eine auf einem Keinen ©erge gelegene ©orpofition ju räumen, bie nun bon ber
Infanterie ber 4. ©rigabe befeßt Würbe. SltS man nun heftiges ffeuent in ber
Stiftung ber UmgeßungScolonne ju berneßmen glaubte, orbnete ber ©cneral ©rown
ben Angriff an. Sie neue Stellung ber 4. ©rigabe war ßalbfreiSförmig bon ber
afgßanifcßcn Stellung umgeben unb fonnte hier ber Angriff feinen (Erfolg haben.
Sic Infanterie mußte fich bamit begnügen, möglicßft biele Kräfte beS geinbcS
feftjuhatten. $ierbureß würbe bie Stufmerffamfeit ber Slfgßanen bon bem linfen
gtügel abgeteuft unb fonnten fich bie Sruppen faft unbemerft gegen bie Stebouten
entmiefetn. 3US nun bie euglifeßen ©efeßüße ihr ffeuer auf ben mutmaßlichen
SlngriffSpunft couceutrirten, trafen bie Afghanen SRaßnaßmen, um bem Singriff ju
begegnen. Sille auf anbern ©unften irgenb entbehrlichen ©efeßüße würben hier
ins geucr gebracht, bie SWeferben eilten herbei unb eifrigft würben neue Schüßen*
graben auSgeßoben. Schon bamalS bermuthetc mau, fpäter fanb man eS in ber
„Kabul Correspondencc" beftätigt, baß ruffifeße Offiziere bie ©ertßeibigung geleitet
hatten.
3fn einer langen Sinie abancirte bie 3. ©rigabe, in ber 9Ritte baS englifeße
Sataillon, auf ben beiben klügeln eingeborene ©ataillone. JHecßtS fam bie Offen*
fibe auf einige Seit inS Stocfcn, bie ©engalen erhielten unerwartet Leiter auS
einem ©rb werte, boeß gelang cS ber Infanterie, baffetbc ju neßmen. Socß ba
jeßt baS geuern im ©affe aufgeßßrt hotte unb man nicht hoffen burfte, mittels
gewaltfamen SlngriffeS in ber Siacßt baS ffort §u nehmen, erhielten bie Sruppen
Sefeßt ju halten unb fieß ju berfeßanjen. Sie 4. ©rigabe würbe auS bent
©efeeßt jurüefgejogen unb bie ©atterie nnb ein englifcßcS ©ataitlon ber 3. jur
©erftärfung gefeßieft. Slm 22. follte bann ein neuer Singriff ftattfinben unb ßoffte
man bann fießer auf bie SRitWirfung ber UmgeßungScolonnen reeßnen ju bürfen.
Sie beiben UmgeßungScolonnen waren auf ungeahnte Scßwierigfeiten geftoßen,
fobaß bie Sruppen ganj erfeßöpft erft um 3 Ußr uacßmittagS im Äßßberpaffe an*
famen, naeßbem fie fieß feßon 18 Stunben im SDtarfcß befunben hatten. Ser
SBeg War fo feßteeßt, baß man fogar bie Sragtßiere, Welcße bie ©efeßüße tmgen,
jurücflaffen mußte. Sie Slbantgarbc ftieß beim ©intreten in ben fißpberpaß auf
eine afganifeße ßaoalerieabtßeilung, bie naeß fttrjem ffeuergefeeßt uaeß Slti*
SRuSjib jurüefging. Sin ein SRacßrücfen War nicht ju benfen; man mußte fieß
bamit begnügen, jur Sperrung beS ißaffeS eine Stellung einjuneßmen. Sie
©eiter hatten bem ©ommanbanten Reibung bon ber botljogenen Untgeßung ge*
rnaeßt, unb ba er eingefcßloffen ju Werben fürchtete, fo befeßloß er in ber SWacßt
baS ffort ju räumen. Stuf feinem SRüefjuge ftieß er auf bie beiben ©rigaben,
benen fieß jeßt noeß ein Scßwarm Slfribis angefcßloffen ßatte. Sic ©efaßung
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Kfghaniftan unb 6er cn« 5 lifdj»afgf?anifd>e Krieg.
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trntrbe in bie Serge gebrängt; mau überließ auf itjren SBunfdj beit SlfribiS bic
Verfolgung. Sitte Slfgfjanen, bie in ifjre £änbe fielen, würben ber SBaffen unb ber
JfleibungSftüdc beraubt unb bann als ©efangene an bie ©nglänber abgetiefert,
waren aber feljr entläufst, als ihnen lein ®opfgelb gejault würbe. Durch bie
SftibiS befant auch ber SJtajor ßabagnari Stadjridjt bou ber Räumung beS gort
unb eilte fetbft an ber Spijje ber bengatifc^en Stciter ben Slfghanen iiacf), mußte
aber halb bon feiner Verfolgung abfte^en, ba er im ißaffe auf Iräftigen SBiber»
ftanb ftieß.
3m gort fanb man 24 ©efdjüfce, bebeutenbe SBaffen» unb SRunitionSOorräthe
unb ungefähr 50 Verwunbete. Die ©efcfjüjje Waren jum großen I^eile englifdjer
Sonftruction ober WenigftenS feljr gcfcfjicfte Stachahniungen bcrfelben, bei benen
man nicht einmal ben StameuSjug ber Königin bergeffeu hatte. Die SJtunition
war in SBoolwidj gefertigt unb trug auf bent Stempel bie 3af|re3ja(jl 1871.
Der Verluft ber ©ngtänber war ein fo unbebeutcnber, baß er unwifllürlich an
ben berühmten „einen Äofaten" beS DrienttriegeS erinnerte. Sin lobten jäßlte
man 2 Dffijicre unb 40 SJlann, an VerWunbeten 1 Offizier unb 40 SJtann.
Doch fdjeint auch t»ier nur ber Verluft ber europäifdjett Gruppen angegeben ju fein.
Slm 22. ftanb bie ganje Diöifion bei SllUSJiuSjib bereinigt unb blieb bort
jwci läge ftchen. SDtajor ßabagnari benuhte biefe $eit, um burth bie ©abalcrie
baS Dcrrain recognofciten unb bie Stämme jur Unterwerfung anfforbern ju laffeit.
Die SlfribiS erllärten fid} ju attent bereit unb fd^loffcn fich fogar ber recognofci*
renben Gabalerie an; boreiligerweife ftf)cint man ihnen. aber bie ißlünberung bon
Datta betfprot^en ju haben, was fpäter, ba ber DiöifionScontmanbeur fich nicht
bamit einbcrftanben erflärte, ber ©runb ber feinbfeligen Haltung beS Stammes
gegen bie (Snglänber würbe. Slm Slbenb beS 22. berfägtc man über eine große
3al>t ^Reibungen, bie junt Dheil ber wiberfprechenbften Statur Waren; aus ihnen
combinirte man, baß eine größere afglianifdje fpeereöabtfjeilung am SluSgaug beS
fihpbet bei Datta bereit ftefje, um bie ©ngtänbcr beim ^erauStreten anjugreifeu.
Die 3eit war loftbar, unb je eher mau ficfj ben SluStritt erlämpft hatte, bcfto
günftiger war bie Sage für ©itglanb. 3» r Sicherung ber Verbinbung mit Snbien
blieb in SllisSRuSjib bie 4. Srigabe, 1 Eabaleriercgiment unb 2 Satterien jurüd.
Das Derrain ftettte bem DraitSport üoit ftelbgefchüfcen bebeutenbe Schwierigleiten
entgegen, fobaß man nur auf bie ©cbirgSgefdjüfcc regnen tonnte. Slm 23. abenbs
hatten ftdj tleiue Detachements in ben Sefifc ber Dcfileränber gefegt, bic fßionnierc
arbeiteten bie ganje Stacht hindurch an ber SluSbeffcruitg beS SBegeS. Sei Duntet-
Werben ging bie ©atmlerie üor unb fcfcte fich in ben Sefifc öon Datta, baS ooit
ben Slfghanen geräumt würbe. Sehr anguerfennen ift, baß bie (Sabalerie auch
hier ohne Stüdficht auf DageSjeit unb Derrain berWanbt Wirb. Slm 1. Dec. be=
gann ber Vormarfdj auf Settatabab, wo man Stuhe ju finben I^offte, ba bie
Druppen fchon ftarl gelitten hatten. Die (Jaoaleriepatrouitlen fühlten bis weit
über 3ettala6ab hinaus oor; man glaubte, fchon in wenigen SEBodjen in ftabul
ju fein, als plöfclich auf Sefehl beS DbercontmanboS ber Vorntarfch eingeftettt
würbe. 3m Stüden ber Slrmee war es überall tebenbig geworben. Die Slfribis,
benen man jum großen Dheil i* en @<h u fe ber ©tappenlinie anoertraut hatte,
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Unfcrc
2^
Ratten fid) erhoben, mehrere Iransporte gepliinbert unb einzelne Kuriere 6e»
raubt unb niebergemacht. 5©ir=Afbar, ein unternehmungslustiger Afghane, hatte
feine StammeSgenoffen jum Kampfe aufgerufen unb ftch an bie ©pifce bet Auf¬
gebote gefteüt. ©(hon bamalS »ermuthete ber ©cnerallieutcnant Crown nicht mit
Unreiht, bah h' ct ©ujjlanb feine $anb im Spiele habe; feine {Behauptung mürbe
burd) bie Auffinbuttg ber „Kabul Correspondcnce" beftötigt. Sn einem ©riefe
üom 4. ©ob. warnt ©<hir»Ati jwei ruffifc^c Effiliere, bei ihren Steifen nicht baS
©ebiet bon Kafiriftan unb ©abaffchan ju betreten, ba bie beiben liftricte bon
wilben ©ölferftämmen bewohnt wären, welche ©ertrage für fich nicht binbenb eradj»
teten. ©ei ber feinblichen Haltung ber ©uffen gegen ©nglanb ift es nicht unwahr*
fcheinlich, bah fit «adh Eftafghaniftan Effiliere fdjidten. Am 18. melbete ber
lelegraph, bah umfaffenbe SOtahnahmen pr ©icherfteßung ber ©tappenlinie noth=
wenbig geworben wären; am nädjften Sage berbreitete ftch in Saljore baS ©erücht,
bah bie englifche Armee böflig eittgefdjloffen unb aufgerieben fei. lie Sage war
eine äufierft fritifche; am 20. jeigten ftch h* cr unb ba einzelne bewaffnete ©anben,
am 29. fonnte eine SJtunitionScolonne nicht mehr uach laffa gelangen unb muhte
umlehren. Die ©erbittbungen waren böflig unterbrochen; felbft nicht einmal
jWifchen ©efchawer unb Ali*9©uSjib waren bie Iransporte bor Ueberfäflen ftdjer.
loch englifche ©uineen unb englifche ©ajonnete thaten im gleichen ©Iahe ihre
©chulbigfeit. Am 5. Icc. traf in Sahorc bie ©Reibung ein, bah bie ben @ng=
länbern freunblich gefilmten ©tätnme ben Schuh beS ©affcS übernommen, Wäl|*
renb bie übrigen bon Angriffen auf Iransporte abgetaffen hätten. SEBie anberS,
wenn bamalS bei Kabul eine vuffifche Armee geftanben hätte! lie Annalen ber
englifchen Armee würben wahrfcheinlich eine gleiche Kataftroplje Wie 1842 p
bezeichnen gehabt haben.
An eine gortfefjung beS ©RarfdjeS war aber nicht p benfen, clje nicht fämmt»
liehe Stämme bie SEBaffen niebcrgelegt hatten; bap war bie ©otonne in eine ©ienge
Heiner letachementS jerriffen, beren Bufammenjiehung biel Beit in Anfpruch
nahm. lie ©iottniere waren in beftänbiger Arbeit; ber ©tappenbienft würbe neu
geregelt unb bie einzelnen Stationen burch eleltrifche unb optifdje lelegraphcn
miteinanber berbuttben.
©nbe ©obember Würbe ein angeblich bont 19. bativteS Schreiben beS ©mirö in
lalfa übergeben. @r erllärte fich bereit, um baS gute ©inberaehmen jWifchen
©nglanb unb Afghaniftan aufrecht p halten, eine Heine ©efanbtfdjaft in Kabul
empfangen p wollen. ©iit ©echt würbe biefeS Schreiben unberüdficfitigt gelaffen,
itnb wenn bamalS ©uhlanb ©nglanb ber ©roberuitgSfucht berichtigte unb bor=
warf, ben Streit bom Bann gebroden p haben, fo würbe boch bie ganje £>anb*
lungSweife ©nglanbS burch bie „Kabul Correspondence" gerechtfertigt.
Am 3. ®ec. melbete bie borwärts lalfa bei Safawal ftehenbe ©abalerie, bah
Seflalabab geräumt fei; aber erft am 20. würbe bie Stabt befefet. lie hi«
ftehenbe Abantgarbe ber 1. libifion beftanb aus 5 Sataiflonen, 4 ©ScabronS itnb
2 ©atterien; ber ©eft berfalj ben ©tappenbienft pnfdjen Seflalabab unb AU*
©RuSjib. lie 2. libifiou ftanb pnfehen ©efchawer unb AU»9RuSjib echelonirt.
Icr bierwöchentlichc gelbpg hatte bie Iruppen ftarf mitgenommen; ein englifcheS
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2lfgt?atiiftan uttö ber cttgltfcfj ^ af ghctnifche Krieg.
2*5
unb ein inbifcheS Zegiment mußten wegen p großer Zerlufte burd) Kranff)eiten
prücfgefchicft werben, äßemt inan bebenft, baff ein $eran$iehen ber 2. Sibifion
au$ SkrpflegungSriidftchten nicht möglich War, fobalb über bie £älfte ber Sruppen
pm ©tappenbienft berweitbet würbe, fo mag bas geutigfam bie ©djwierigfeiten
ber bortigen Kriegführung erflären.
3» Bellatabab erfuhr man, bafj am 13. Sec. ©djir^Slli Kabul berlaffen unb
p feinem Zachfolger Fafub*Khan eingefefct höbe. ©djir^Slli wollte fich perft nach
Safdjfenb pm ©eneral Kaufmann, bann nach Petersburg begeben, um bie Untere
ftüfeung beS Böten ju erwirfen. @h e er öbreifte, fchrieb er einen langem ©rief
an ©eneral Kaufmann, in welchem er um bie ihm bertragSmäfjig berfprocfienen
32000 ÜKann |)ülfStruppen bat. Sie Slntwort Kaufntann’S ift bejeichnenb für
bie ruffifche ißolitif. Sdjir^Slli möge nur feheit, mögtichft batb burch Zermittelung
beS türfif<hen ©ultanS mit ben ©nglönbern griebeit p fchliejjen. 3ef}t fei infolge
ber rauhen SöhreSjeit eine ©ntfenbung bott Sruppen burd>atiS unmöglich; im
Frühling werbe Zufjlattb aber einen Gongrefj pfammenberufen, um bie afghanifchc
Frage ju erlebigen; oorläufig möge er fich öber mit ber ffierficherung begnügen,
baff ßnglanb nicht im entfernteren baran bädjte, bie ©elbftänbigfeit beS Reiches
p fchmälern. Slnt 21. gebt, ftarb ©chir-Stli, mit ihm würben auch alle feine
fühlten ißrojecte p ©rabe getragen. ©nglanb hoffte je^t, um fo leichter griebcit
machen )u fönnett, hoch alle Unterhanblungen blieben erfolglos.
Sie ZorwärtSbeweguugen begannen bon neuem; aber nicht im rafefjen Sluge
wollte man Kabul gewinnen, fonbent gewiegt burch bie Erfahrungen beS lebten
FelbpgS ging man langfam ©chritt bor Schritt bor. Sie gattp 1. Sibifion ftanb
nun bei Settolabab in einer ftarf befeftigten Stellung bereinigt, währenb ber
2. Sibifion ber ©tappetibienft pfiel. @S fant fortwährenb p flehten Bufammen»
ftöfjen, fobafj bie Sruppen beftäubig in Slthent erhalten würben, ©alb muffte hie?
ein Seiler jerftört, bort bie Surg eines Freibeuters in bie Suft gefprengt werben;
hier würben für begangene Zaubereien Ziehheerbeit fortgetrieben ober Eoittribu»
tionen erhoben. ©S war ein fchwerer, wenig lohnenber Sicnft, ber bie gattje
(Energie bon Führer unb Ziattn erforberte. Sollten wir hi?? biefe Keinen Streif*
jüge auch nur in grofjen Umriffen barftetlen; ber Zahmen biefeS Sluffa^eS würbe
weit Übertritten. 3>oecf biefer Beilen fann nur fein, ein aflgemeineS ©itb p
liefern, nicht aber ©toff p eingehenben Setailftubien p geben. ©nbe Ztärj war
alles bcenbet unb würbe am 1. Slpril bon ber 1. Sibifion ber ÜZarfch angetreten.
9m erften SKarfdjtage ftieff bie Slbantgarbe unter bent ©eueratmajor ©ough
(1000 3Rann Infanterie, 200 Sftann ßabalerie unb 8 ©cfdjüfce) bei bem Sorfe
Futtehabab (p beutfeh: ©iegeSftabt) auf eine ftärfere afghanifche Slbtheitung, bie
ben ZuSgang beS Sefite bon ©unbamuf fieberte. Unter bem ©chufce ber ZrtiHerie
entwicfelte fich bie Infanterie pm Singriff, währenb bie ßabalerie fich i« bie rechte
Flanfe ber Afghanen bewegte unb burch eine Slttafc ben Sag entfehieb. Sie Ga*
balerie unb jwei ©efchüfce einer reitenben ©atterie berfolgten bie Afghanen bis
in ben Sßajj bon ©unbamuf, Wo erft baS fchwierige Serrain, in bem fich bie fcinb=
liehe Snfanterie wiebet fammelte, ben Zeitern hölt gebot.
3u berfetben Beit erlitt bie englifche Sabalcric einen herben SJertuft, nicht
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2\6
Uufcrc <5 0 ‘1-
bunfj bie SBaffen be3 geinbcö, fonbern burdt) baffelbe Element, meldje3 unferer
SReitcrei bei ©rag beinahe einen Sepbtifc gefoftet ßätte nnb ba3 an betfelben ©teile
eine Sdpoabron bet SReiter Sllefanbct’ö be3 ©roßen bernidjtcte — oon 75 HKanit
crttanfcn beim 2)urd)furten be3 Äabut 1 Dffijier unb 46 £ufaren. 91m 31. abenbö
9 Ufjr fjatte ein SRecognofcirungöbctacIjement, befteijeub au3 einer falben ©öcabron
bengatifdjer Snbalerie unb einet gleich ftarfen Slbtfjeitung be3 englifdjeit 10. £>ufaren=
regimentö geflalabab ju berlaffcn, ben ftabul mittels einer gurt bei fta(ef*i:©utl)
ju überfd)rciten. 3» t>« SRittc bc3 gluffcö befanb ficß eine ungefähr 200 SReter
breite gnfel; bie fo gebilbeten 2lrme ßatten eine ©reite bon 10 unb 50 SReter ;
bie SBaffertiefe betrug in bcr gurt laum 1 SReter. 3)ie gurt führte in einem
feE»c fpifoeu SSinfel jum Stromftridj über ben breitem Slrm. Unterhalb ber gurt
befanben fid) Untiefen unb mehrere Stromfdjneflen; bie mittlere ®efd)miubigfeit
be3 gluffeö beträgt ungefähr 5 SReter in ber Sccunbe. 63 muß bemerft toer*
ben, baß e3 eine monbfdjeinßeflc Stadjt unb baß bie gurt befannt mar, man
nur berfäumt ßatte, fie am Sage burdj gatonö ju bezeichnen. Die an ber lete
befinbfidjen ©engalen paffirteu ben gluß of)ne jeglichen Unfafl, mäßrenb bie mit
einigem Slbftanbe folgcttben $ufaren bie gurt bcrfcljltcn unb bon ber Strömung
fortgeriffen mürben. SJur ungefähr 30 SRann, fie befanben fidfj in bofler SRarfdj-
auörüftung, gelang e3, bureß Sdpvintmcn ba3 Ufer ju erreichen, gm milben
©atop lamen bie ©ferbc im Saget an; obmol fofort 6ouimanbo3 auögcfdjüft
mürben, gelang c3 boefj liiert, jemanb in ber 9tadf)t ju retten. Slin nädfjften SRorgen
mürben bie einzelnen Seiten aufgefunben unb im ©cifein fämmtlidjer bienftfreier
Gruppen in einem einzigen großen ©rabe itt gcßalabab beigefefjt.
Stm 8. befefcten bie ©nglänber ©unbamuf; tjier traf am 11. gafub*$ljan
ein, fämmtlidfje englifdije Gruppen maren in ©arabc aufgefteflt, er felbft mit
Salutfdjüffen empfangen. $a3 ©orbringen ber ßuetta» unb Sürumcolonnc fomie
Unrußen im eigenen Snnbe hatten if>n ju biefem Stritte gelungen, gn |>erat
hatte fich 9lt)ub»fi'tj° n erhoben, in bie ©robinjen ©alffj unb ©Ijulm maren Xurf*
menen eingefaflen. Stießt unintereffant ift c3, baß Siußlanb gerabe in biefem
Slugenblidc feine unglitdlidje ©Epebition gegen SRerm unternahm. Slm 26. SRai
mürbe in ©unbautul bcr griebe gefcfßoffen. 33ie ©eleibigung mar gefüßnt. ©ine
englifdje ©efanbtfd)aft mürbe in ft'abul aufgenommen, bie unter betn birecten
Schüße be3 6mir3 ftanb. gn ben größern Stabten be3 Sanbeö foßten fich eng=
liftfie SRefibenten aufhalten, bie fid; aber aßc3 6inmif<hen3 in bie innern Singelegen*
feiten be3 Sanbcö entgolten, tooljl aber ben ©mir in feiner auömärtigen ©olitif
uitterftüßen foßten. ©egen äatjlung eine3 gahreögeljalteö bon 1,200000 SRarf
fixierte er eitglifdjen Äauflcuten Schuß unb $anbcl3freiheit im Sanbe ju. ©ei
ben Uuterfjanblungcn hotte man gefliffentlich ba3 SBort „3tnne|ion" bermieben, man
fpraeß nur bon „Schuß unb abminiftratiber ©ontrole". gn biefem Sinne mürben
bie Mißriete S)affa, Äurum, Sibi unb ©ifdfjin bem englifdjen Steidfje einberleibt.
®a3 gbeal ©eacon3fielb’3, eine ftrategifdj günftige Storbmeftgrenje gnbicnö, bie
fogenannte „miffenf^afttic^e ©renje" ju befißen, mar nun erreicht, ©egett Saßtung
größerer Summen hoffte man, bie ©ergftömme gut SRuße anju^alten, ma3 um fo
fernerer tuav, ba fie bon ©liinberung unb bott fclbfter^obenen 2)ur<^gang3jößen
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217
2tfgfyaniftan unb ber cnglifd}=afgljanif«^c Krieg.
leben. Kant in bem Sejirle eiltet ©tammeS ein ©ergeben ober ein Verbrechen
tmr, fo erlitt ber (Stamm ©elbabjügc, für Vefcfiäbigung ober 3«ftörung ber
2efegrapb«nünie j. V. einen Slbjug bon 1000 2Ratf, für einen SKorb einen Slbjug
Ooit 600 9J?arf, eine ftörperoerie^ung mürbe mit einer ©ufje oon 1—200 SJtarl
geatjnbet. 3« ber furzen 3cit iljrer ?lnroenbung matte biefe ißolitif fogar ©rfolge
aufcumeifen unb man ging fogar mit bem ©ebaulen um, ba$ inbifcf)e Sa^nne^
Aber Vefdjamcr tjinauS bis $atfa fortjufefcen.
Slm testen Sage ber Stumefen^eit 3a!ub’3 faitb eine grojjc ißarabe ftatt; ber
äbfdjieb mar ^erjlit^ unb fc^iencn mittlich intime SSe^iefjungen mit bem neuen
©mir angefnfipft ju fein. Vom SDlajor Saoagnari unb feiner ©Scorte begleitet
betrat 3afub=fim° n Äabut; gcftlicfileiten, militärifc^e ©djaufpiele mecfjfelten in
raffet golge mit Veratmungen ab. SBämrenb man fiel) nun in ©nglanb ber au§=
gelaffenfiten greube Ijingab, ben ©eiteralen Ütobertä unb ©temart ben ©irtitcl
oerliem unb reiche S5ecorationeu fpenbete, berfanntc ßaoagnari bic ©emmierigfeiten
feiner ©tcQung unb bie ©efalircu, bic ilfn umgaben, nid^t. Üiie matte er fit^t über
ben mirflicben @m ara ^ er ber 2lfgl)auen getäufd^t, fid^ nie ber eiteln Hoffnung f)iu=
gegeben, ©ngtänber unb Slfgljanen bereint gegen bie Stuffeu festen ju fe^cn.
©<mon im 3om« 1875 matte er baS mutmrnafjlicme ©djidfal einer englifd^en ©efaubt»
fc^aft in ßabul borauägefagt. ©eine ^Prophezeiung foQtc fit^ erfaßen.
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Hcformen im DerKcfjrsmcfcn
Stuf feinem ©ebiete be« öffentlichen Sebent b ot bic ncuefte 3eit fo gewaltige
Umwälzungen gefetjen wie auf bemjeuigen be« SerfebtSwefcnS. 63 finb faum
50 Saljre her, feit bie ©djnetlpoftett mit ihrer bamal« b 0£ bgeptiefenen SdjneHigfeit
an bic ©teile bei - meilanb JajiS’fdjen 8tci<b3‘Poftfcbnecfe traten; beute ift uns bie
rauntübcrwinbenbe Socomotibe eine« flüchtig babinbraufenben KuricrjugcS nic^t
meljr fernen genug, Unb bie bange 6rmartnng unfercr Sorfabrcn, welken bie
Stadjricbt bon bem fiegrcicfjeit ©injuge ber berbünbeteu SOtonarcben PreufjenS,
Oefterreicb« unb StujjlanbS in Pari« am 31. SDlärj 1814 erft 12 Jage fester
in ©crlin, 16 Jage fpäter in Königsberg, unb faft 20 Jage fpäter in Petersburg
juging, erfebeint uns ©pigonen, beuen ber eleftrifdje Jclegtapl) bie Jimcnfionen
bcS Staunte« zunichte gemacht bat, faum glaublich; benn mir haben jur ©eför*
berung ber befannten PobbielSfi’ft^en ©iegcSnadjricbten 1870/71 bom franjöfif^cn
KriegSfcbauplabe nach ber Heimat nur ebenfo biete Minuten gebraucht, al« im
gabre 1814 Jage nöt^ig tuaren. SlUein felbft bon ben Jelegrapbcn abgefeljcn, ift
and) bic Poftbeförberung in ®cjug auf ©cbnetligfeit gegenwärtig bcrjenigeit in aßen
frühemZeitaltern überlegen; ein ©rief bon ©erlin gelaugt beute in 23 ©tunben
nach Pari«, in 41 ©tunben uad) Petersburg, in 120 ©tunben nach 91tben, iu 8—
10 Jagen nach Steuporf. J)ie ganze ©reite be« uorbamcrifanifdjen ©ontiuent«
(5343 Kilometer) wirb in 5—6 Jagen burebmeffen, jur gabrt bon ©an=gran=
ciSco nach Sofubanta in Sapait bebürfen bie Jantpfer ber Pacific SBtail ©ompanp
böcbften« 15 Jage, unb in 5 Soeben fann man mit größter ©equemlicbfeit eine
Steife um bie Seit erlebigen.
@3 ftnb bie« aber nur einige ber grobem Büge in bem mächtigen unb ergreu
fenben Silbe be« SirfenS ber ©erfebrSmittcl. Jie ©ebilberung ber feinem,
be« Interieur biefer Sirffamfeit, bie Jetailmalerei ihrer jabtlo« Wecbfetnben
ProteuSgeftalten würbe bic gebet eine« JicfenS, ben pinfel eine« äJteiffonier er*
forbern. ©benfo batet nodj bie Sürbigung jener faft unmerflidb, aber befto tief-
greifenber ficb OoH^icbenben Umgeftaltungen, Welche bie Ocrbefferten SerfebrSmittel,
neuerbing« j. ©. ber gernfpreeber, in ber Pbbfioguomie be« mobemett JafeinS
beroorbringen, ber JarftettungSfunft eine« ©ulturbiftorifer« wie Stanfe. Sir
unfererfeit« müßten öerfutben, bureb ©etraebtung ber gortf^ritte im Poftwefen
unb in ber Jelegrapbie, jenen beiben bet ©ermitteluug be« 91acbri<btent>erfebr3
bicncuben ©cbwefteranftaltcn, ©anfteine für bie Sertbfcbäbmig ber ©erfebrSmittcl
als ©ulturelement ju liefern.
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Reformen im Derfehrsmefen.
2\9
ltnfcre fchneHlebenbe 3«it muh immer wieber baran erinnert »erben, bah nodj
Dor 20 Saljren ein ®rief Don ©erlitt nach 9?eut)or! 13 3 / 4 Sgr., Dor 15 Soweit
ein ©rief nach Sonbon 7 Sgr. foftete, ttmfjrenb üielftufige, Dom ©eifte ber gilca*
lität bictirte Tagen im Snnern Teutfchlanbl in Straft waren, unb bie Tarife nad)
Slfiett, Sluftralicn u. f. w. eine wahrhaft lächerlidje $öf)e Ratten. 9Ran erwäge,
non Welkem Eiitfluffe auf ben ©ebanlen* unb ©üteraultaufch el ift, wenn bie
35 ©roc. ©rieffenbungen, luetdje Raubet unb Snbuftrie betreffen, bie 45 ©roc.
gantilien* unb ©rioatbriefc, cublid) bie 5 ©roc., Welche beut ©ereile ber SBiffcn*
fchaft unb Jtunft angehören*), uuerfdjroinglichen ©ovtotajeu unterliegen. 3ahll°fe
©erbinbunglfäben, weldje tjeute bie cioilifirte SBelt mit einem 3?eße gemcinfamcr
Eulturbeftrebungen umfpannen, würben nid)t Dorljanben fein; £>nnbel unb Snbuftrie
würben bei bem äJtangel regelmäßiger ©oftocrbinbuiigeu unb billiger ©ortofäße,
namentlich und) ben überfeeifdjen £>anbcllplähen, in ihrer Entwidelung nach caufjen
fich gehemmt feljen; am meiften aber würbe bie ibeate ©eite bei ©ebaufenaul*
taufchel, bie Slulbreitung unb SBedjfelwirluug ber Wiffenfchaftlicheu unb fiiuftle*
rifdjett ©eftrebungen gefchäbigt fein. ^ebenfalls würbe mancher teudjtenbc ©e*
banfeitblifc bei ©eitiul hoppelt unb breifach fo Diel 3eit bebürfen all jeßt, um
jn fern Wohnenben SKittebenben ju bringen, Selbft jene zahlreichen, auch poli=
tifch Wichtigen gamilienDerbinbuttgen mit bem SJtutterlanbe unb ben Kolonien
ober ben Slulgcwanberten — man benfe an bie zahlreichen Teutfdjen in Stmerifa,
Slfien, Sluftralien u. f. w. — würben ohne gute ©ofteinrichtungen einel wefent=
liehen #ülflmittell zur görberung unb Erhaltung bei geiftigen 3ufammenhangel
mit bem #eimatlanbe entbehren. Ter ganze ©ullfchlag unferl öffentlichen Sebenl
enblich würbe ohne ben eleftrifchen Telegraphen zu einer wahrhaft troftlofen ©er*
tangfamung unb Seitbergeubung berurtheilt fein.
©on biefem Stanbpunfte aul muh el all ein betrübenbel Tenfntal !urzfi<htiger
©erlehrlpotitif angefehen werben, bah bil in bie neuere 3eit hinein jene wichtigen
SBohlfahrtleinrichtungen zum Tljeil audj oernachläffigt waren. Ter ©eift ihrer
©erwaltung war ein im allgemeinen nur auf ben finanziellen Ertrag gerichteter;
er entbehrte in Dielen ©ezieljungen ber 9?ütfficf)tnahme auf bie Slnforberungen ber ino*
bemen Eultur. Sn Teutfchtanb war el auher ber Politiken 3erllüftung unb ber
Ohnmacht in Wirtljfchöftticher unb comnterziclter ©eziehung namentlich bie Erhal*
tung ber Thum unb Tajil’fthen ©oftbomäne, welche zur ©erfumpfung ber pofta»
lifchen Einrichtungen in f)°h cm äJtajje beitrug. Sllleiu aud) bie übrigen Sänbcr
Waren in ber Slulbilbung ihrer ©erfehrleinrichtungen nicht fortgefdjritten. Silier*
bingl hatte Englanb in ben Dicrzigcr fahren unferer Epoche mit einer poftalifchen
Reform, ber Einfühmng bei SRowlanb ^ill'fchen ©cnnhportol, begonnen. Tiefe
Steuerung aber War aulfchliehlich auf bie innem ©erhältnijfc ©rohbritannienl
berechnet; ihre ©ebcutung beftanb hauptfachlich barin, bah bie rabicale Ermähi*
gnng bei ©riefportol auf einen ©ennp ben ©efdjäftlbetrieb einer grofjen Slnzahl
Don ©riDatbotenanftalten, Welche ben ©rieffchmuggel zu üppigfter ©lüte gebracht
hatten, mit Einem Schlage Dcrnidjtete unb bie fonft anf Schleichwegen beförberte
*) $ie übrigen 16 $roc. betreffen Staatsangelegenheiten.
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220
Unfere <3cit.
Eorrefponbenj ber britifdjen StaatSpoft pführtc, welche babei übrigens große Eitt=
büßen erlitt. 2)er Jpauptwerth ber Siowlanb $itt’fchen Sieform, beren ©rnnbprincip
übrigens ft^ou oor ^ittßorb Sowther 1835 in ben englifdjen lßarlamentsberid)ten *)
uorgcfdjlageu hat, liegt bentnach mehr auf polijeilidjem als auf OolfSWirthfdjafttichem
©ebiete. SJlit ber SBeltpoftreform hat fie abfolut nichts p tljun. S)ie Siegelung ber
weit wichtigem internationalen Ißoftbejieljungen blieb oietmehr oon ber Siowlanb
§iü’fd)en $ortoermäßigung OöHig unberührt; ©ngtanb fclbft unb bie übrigen Staaten
hielten au ben jutn X^eil längft öeralteten Seftimmungcn unb hohen ißortofäfcen
ber banials in S'raft befinblidjen internationalen ißoftoerträge, beren 3aljl ßegion
war, mit jener ßö^igfeit feft, welche bie gurdjt oor Steuerungen p erzeugen pflegt,
unb bie grage ber internationalen ißoftreform taufte höchftenS in fcfjüchterneH
Anbeutungcn auf, wie j. 93. bei ben beutfdjen ißoftconferenpn in SartSru^e unb
SBien. Aud) ber 93ertragSabfdjluß pr Siegelung ber HBoftbejieljungen jtoifchen bem
Storbbeutfcben 93unbe unb DcfterrcidpUngarn (1868) fann als eine eigentliche ©tappe
auf bem SBcge ber SBeltpoftreform nicht angefeljen Werben, toeil er feine Weiter
rcichcitbc internationale 93ebeutung ^atte, fonbern in ber ^jauptfadje bie Aufredjt=
erhaltuug beS StatuSquo oon 1866 in Ißoftfachen für biefc Sänber bejWedte,
wobei aKerbingS phtreicfjc werthoolle 93erbefferungett für ben Sßoftoerfeljr ber eben?
genannten beiben Sleidje oereinbart unb burchgeführt Würben.
$ie erfte Anregung pr praftifdjen Inangriffnahme ber internationalen ißoft*
rcform, bie $bee ber Errichtung beS SBeltpoftoereinS, rührt oon Heinrich Stephan
her. Welcher bei bem Antritt beS Amtes als ©eneralpoftbirector beS Siorb*
beutfehen 93unbeS im SJtai 1870 eine 2)enffdjrift, „betreffenb ben allgemeinen
Ißoftcongreß", üeröffentlichte **), in welcher pm erfteit mal bie ©runblinicn jur
Errichtung einer großen $oft=93erfehrSgemeinf<haft aller EulturOölfcr fcftgefteöt
waren, unb weldje ben 93orfchlag enthielt, bie übrigen Staaten pm Abfchluß
eines SBeltpoftbcrtrageS aufpforbern. ®iefer baljubrechenbe ©ebanfe fomtte bamalS
nod) nidjt pr Ausführung gelangen, weil ber ftrieg in Sicht War. Qti ber
®cuffchrift waren bie ©runbpge ber Errichtung beS SBeltpoftoereinS wie folgt
fcftgcfteüt: 1) eS foHten bem einheitlichen 93ereinSgebiete angehören: Europa mit
SiuffifdpAfiett unb ber SEürfei, Aegppten, Algerien, baS fpanifchc Slorbafrifa, bie
Eanarifchcn Snfeln unb SRabcira, ferner Amerifa (bereinigte Staaten, Eanaba,
©rönlanb) u. f. w.; 2) baS ißorto folltc im ganzen 93ereinSgebietc 20 E. für
ben franfirten SSrief, 40 E. für ben unfranfirten Sörief im ©ewidjte bis p
15 ©ramm betragen; 3) jebe Ißoftberwaltung foUte ungeteilt baS ißorto unb bie
©ebühren p beziehen haben, Welche in ihrem ©ebiete erhoben Werben; 4) baS
2ranfitporto jeber Art foUte abgefchafft fein: gunbamentalbeftimmungen, auf
Welchen auch ber fpäter abgefchloffcnc unb jef}t p Siecht beftchenbc SBeltpoftüertrag
im wefentlichen beruht.
®ie Stjatfache, baß Dr. Stephan Urheber ber SBeltpoftreform ift, oerbient
*) Sgl. Aatricf Ctjalmcis!, „The Penny rostage Scheine of1837: was it an inveution
or a copy?" (Sonbon 1881).
**) Sgl- „Amtsblatt ber $eutfdjen Aei<bS=Sßoftoertoaltung" für 1871, Ar. 15.
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Reformen int Perfe^rstncfcn.
22 \
gegenüber ben jatjlreidjen fchiefen Urteilen, welche bie Snitiatiüe zu biefer glän*
jenben ©rrungenfcbaft für bie (Kultur anbern Nationen binbiciren müßten, ober
jenen $iftorifern gegenüber, bie in farblofer Dbjectibität bie 3bcc einem unper»
fönlidjen unb unbetannten Stremen zuweifen Wollen, mit nationalem Stolze her»
borgehoben gu »erben. ®ie SBeltpoftreform ift ein beutfcbeS SBcrf. Unb »ic
Zeitgemäß unb wirffam ber ©ebanfe »ar, babon zeugt bie Zhatfache, baß aus
ben Veratmungen ber berner ißoftconferenz ber 9lbfd)luß beS „Allgemeinen Ißoft*
bereinSbertrageS" bom 9. Dct. 1874 Ijerborging, bem fogleicb 22 Staaten mit
einer Vebölfcrung bon 350 9KiH. Uftenfehen unb einem Umfange bon 37 9KiH.
Quabratfilometer (etwa 716000 ßuabratmeiten) beitraten.
$iefeS ©rgebniß ift um fo f)öf)tx anzufdjlagen, als granfreidj aus finanziellen
SKiidfichteu feinen Veitritt junädjft berfagte unb ©nglanb erft uaef) (angem
Schwanfen feine Surütfhaltung aufgab, »ä£|tenb im übrigen ja^treid^e @ottber=
intereffen, namentlich bie ©HtfcbäbigungSanfprüche ber tranfitleiftenben Staaten,
baS 3uftanbefotmnen beS Vertraget in fyofym ÜJtaße erfebwerten. 3Kit bem 9(b-
fcbluß beS (extern War an bie Stelle ber jaf)treic^en autiquirten ißoftberträgc eine
bölferrec^Kic^e Snftitntion auf fefter ©runblage unb bon bauernbem ffiertbe gc=
treten, beren ©influß fitfi fein ßnlturftaat auf bie $auer entziehen tonnte. 2)aS
3af)rljunbcrt fann mit 3{ctf|t auf citt SBerf beS gricbcnS bfirfen, auf welches jenes
SSJort beS großen römifdjen ®etcferS Slnwcnbung finbet: „Non quiequam magnum
est nisi quod simul placidum."*)
Stach bem berner Vertrage werben bie ©cbietc ber ttjeilnel)menben Staaten
als ein einziges ©ebiet betrautet, innerhalb beffen bie bottfte greißeit beS inter¬
nationalen $oftau$taufd)e$ gewä^rteiftet ift. SlllerbingS Würbe bie Uncntgelttidjfeit
beS IranfitS aus finanziellen ©rünben nicht jum ©runbfajj erhoben; inbeffen
berührt bieS baS Ißubtifum unb ben allgemeinen ißortofafc in feiner SBeife, ba
bie Xranfitfoften, foweit fie oorfommen, bon ben Verwaltungen getragen werben.
3)aS ©inljeitSporto würbe im ißrincip auf 25 S. feftgefe^t, mit ber SRaßgabc,
baß für bie UebergangSjeit ein Safe bis ju 32 S. jugclaffen werben foHte. gür
Voftfarten würbe bie Hälfte beS VriefportoS feftgefefct. SBaarenprobcn unb $)rucf-
facben würben für eine ©ebüljr bon 7 (£. (facultatib ljöcf)[tenS ll ©.) für je
50 ©ramm ©ewiebt jugclaffen. Vei Seebcförberungen füllten für ©ntfernnngen
bon mehr als 300 Seemeilen müßige 3uf(fjtagStajen geftattet fein, gn Vctrcff
beS IßortobejugeS trat ber ©runbfab in Äraft, baß jeber Staat bemalten foHtc,
was er ermob: eine SOtcthobe ber ßompenfation, welche bas frümere femr läftigc
unb foftfpietige AbrecbitungSberfahren ber einzelnen Verwaltungen untereinanber
boOftünbig befeitigte. ®iefe gunbamentalbeftimmungen Waren fo freifinnig unb,
bis auf wenige Ausnahmen, fo burchgreifenb, baß fie bie ©Ieidjmäßigfeit beS
IßoftberfehrS unb baS @inf)eitSporto für ben größten Xbeil ber cibilifirten Sielt
berftellten. Ueber 3000 Still. Vriefe würben alljährlich nach biefen ißrincipieit
im SBeltoerfehr behanbelt. Schon Einfang ganuar 1876 erflärte granfreich fei=
nen Veitritt jutn ^ßoftberein. Vritifd) = gnbien mit feinem riefigen ©ebictc bon
*) Geneca, „Dialog.", III, 21.
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222
Untere .Jett.
240 2JtiH. öetoofjnent unb bie franjöfifchen Kolonien folgten. Stad) unb nach
würben bie britifeßen Straits scttlements in Aßen, ferner $ongtong, ©ritifch»©uiana,
bie ©ermubaSittfeln unb 3Enmatca bent ©ereine cingefügt.
3nt SDtai 1877 traten bie nieberlänbifdjett unb fpanifeßen Kolonien bei, ferner
Sapan, ba« ficE) in ber Drganifation feine« ißoftwefen« bureßau« europäifeße @in=
rießtungen jum Stufter genommen hat; fobann folgten (3uti 1877) ißerfien unb
©rafiliett mit feinem foloffalert Säubergebiete, eublicß bie portugiefijeßen Kolonien
unb ©röntanb. 35iefe fc^nelle Ausbreitung ber großen cioilifatorifcßen Sbee,
welche ber benter ißoftoertrag jum AuSbrud bringt, beweift am beften, wie feßt
ißre ©erwirflicßuug einem borljanbenen ©ebürfniffe entfprad^ unb in Welchem
SJtaße bie neue Qnftitution, in fid) meßr unb meßr erftarfenb, einem großen
Kentrallörper gleicß aQe anbern ©lieber an fic^ jog. 2Belcßen AuffcßWung ber
ißoftberfeßr in bett bem herein angeßörigen ©ebieten oermäge ber Krricßtung
regelmäßiger Ißoftberbinbnngen bi« ju ben fernften Bonen ßin naßm, läßt fieß
au« ber Xßatfadje entnehmen, baß allein für iSeutfcßlanb ber ©riefberfeßr nad)
unb oont ©ereinSgebietc in ben brei Betreu bon 1875 bi« 1878 fid) non 130 SOtill.
©riefen auf etwa 180 Still., alfo um faft 50 3KiH. ©riefe, fteigerte. 8ür bie
übrigen ©ercinSlänber, namentlich Knglanb, Sranfreicß, Stieberlanbc unb ©elgien,
wud)S ber AuSlanbSberfeßr in ätjntidjen Ißrocentfäßen.
Um welche Sriefmaffen e« fid) int SBeltberfeßr überhaupt Ijanbelt, ergibt fich
au« ber amtlichen ©ereinSftatiftif für 1879*), nach Welcher in biefetn Sfaßre >m
Allgemeinen ißoftberein über 4900 SJiitX. Seitbuugen, b. i. täglich etwa 13 Still.
Stüd, beförbert worben finb: eine gewaltige gtutweHc menfcßlicßer X^ätigfeit, alle
ißhafeit bont ßöcßften ©lüd bi« jtt tiefftem Seib wibcrfpiegelnb.
Auch nach ben erfreulichen Krgebniffen ber berner Konferenz blieb inbeffen
bie Kinßeitlicßfcit be« Sßeltporto« in gewiffett ©ejießungen noch cirt ungelüftc«
Problem. Sit ber fßraji« ^atte man fogar Weitere Abweichungen Dom ©inßeit«=
porto geftatten muffen, inbem fich ®nglanb bei bem ©eitritt bc« britifdHnbifdjeu
9teid;e« jum ©creitt mit ©üdfießt auf bie großett Soften be« Seetransport« nach
Bitbien (Ueberlanbpoft) ben Sah öon 50 K. für ©riefe unb 12 K. für Sirudfadjen
auSbcbang. liefet Bnftanb war aber nur eilt oorübergehenber; ba« ©rincip bc«
Kinßeitsporto« erwic« fich f<ßott nach furjer Beit al« ein fo mächtige«, baß e« ber
parifer ißoftconferenj Don 1878 gelang, bie bisherigen abweidjenben fjacultatio»
portofäße jtt befeitigen. 3)urcß beit parifer SBcltpoftbertrag bont l. Btmi 1878,
iit welchem ber ©ereilt officieU ben ©amen Union postalc universelle attnahnt,
würbe, unter ©efeitiguitg aller 9Jtiitinial= unb SDZajiinalfähe, ba« ©ereinSporto auf
bie feften Säße bon 25 6. (20 ©f.) für beit einfachen franfirten ©rief unb bon
5 6. für fc 50 ©ramm $vudfadjen normirt. ©leicßjeitig würbe bie Sectranfit*
gebiißr bon 25 auf 15 Sr«, für 1 Silogramm ©riefe (b. i. etwa 15 K. für ben
einfadfett ©rief) Ijerabgefefjt, fobaß bie frühem fjinberttiffe, ba« einheitliche 3Belt=
porto and; beim Seetransport in ffraft treten ju laffen, enbgültig Weggeräumt
würben. Stur bei Seebcförberungen über 300 Steilen würbe noch ein mäßiger
*) ®flt. „Union postalc", 1880.
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Reformen int ücrfehrstvefen.
223
Sufdjtag jugclaffen: eine ©ebiiht, welche inbeffen feitenS bet beutfehen 9teichS=
©oftverwaltung nicht mehr erhoben wirb. $>iefelbc ift alfo eine ber erften $oft=
Verwaltungen, welche baS ein^eitlidje SBeltporto jur SBnhthcit gemacht fjat. 3)a
für ißoftfarten nur bie £>älfte beS ©riefportoS erhoben Wirb, fo ift eS t^atfäcfjfic^
möglich, and $eutfdj(anb nach Dftinbien, Efpua, ©rafilien, ßf)ili u. f. w. für
10 Pfennige ju correfponbiren: ein tttefuttat, von betn man vor jeljn Sagten
noch fef)t weit entfernt war unb welkes bie erreichten Stele vom ©tanbpunfte
ber Kultur unb Humanität in hettftem Sichte erlernten tagt.
Sluch für bie ©rucffacljenbeförberung würben in ber parifer Eonferenj infofern
erhebliche Erleichterungen eingeführt, als baS SEJteiftgcwidjt für Drudfachenfenbungen
von 1 auf 2 Kilogramm erhöht würbe, wa$ für ben titerarifchen Serfehr von
befonberm SBerth ift. Ebenfo gelangte bie wichtige grage ber Garantie für ©er-
lüfte an ©enbungen gegen Einfchreibegebnhr jit befriebigenber Söfung; für Sin*
fchreibebriefe (recommanbirtc ©enbungen) wirb im ©ertuftfatte vertragsmäßig jefct
eine Entfchäbigung von 50 grS. geleiftet. Sluch mancherlei gärten in ben ©e=
ftintmungen über bie granfirung finb ausgeglichen, giir ungenügenb fraufirtc
©enbungen j. ©. lommt nicht mehr bas Stoppelte beS gatten ißortoS, fonbern nur
beS fehtenben ©etragS jnr Erhebung. Enbtich ift ber ©eitritt jum ©erein von
ben frühem läftigen gorntalitäten, Weiche bie berncr Eonferenj noch für nöthig
erachtet hatte, gänzlich befreit worben.
Sitte biefe namhaften Erleichterungen hiitbern freilich nicht, baß einzelne Unju*
friebene*) fich bitter über angebliche SRiSftänbe im SBeitpoftVercin, }. ©. über beit
Sufchiag für unfranfirte ©riefe, beflogen nnb ber ©oftöcrroaltung vortoerfen: „fic
fuche in plumper SBeife (sic!) ihren ©ortheil unb fefce fich über alle 2Sünf<hc ber
©ittigleit hinweg". Ein fo unmotivirteS, ber 2Bahrf)eit inS ©eficht fchtagenbeS
Urtheil ift freilich nur in Stoutfchlanb möglich. 25er ©erfaffer biefer Sercmiabe
über bie ©chäbignng ber „©erWanbtfchaft, greunbfdjaft, SBiffenfchaft, Siteratur"
(sic!) burch ben SBeitpoftVercin hat augenf<heiitli<h aus ber ©oftgefcf)ichtc ber eben
verfloffenen 3ahrjef)nte Weber etwas gelernt noch etwas vergeffen. Ebenfo wenig
fcheint er ju ahnen, baß ©tipnlationen völferrechtlicher ©ertrage nicht einfeitig von
einer einzelnen ißoftvermaltung aufgehoben Werben fönnen. Subem ift ber Um=
ftanb, baß einjelttc ©eiehrte bie granfirung von ©enbungen „aus ©ergeßlidjleit"
unterlaffen, offenbar fein genügenber ©runb, baS für bie ©ewältigung ber großen
©riefmaffen im SBeltverfehr unbebingt erforberliche granfiruttgSfhffem aufouheben.
ES Würbe bieS eine ©ertaugfamung beS ©erfehrS jur golge haben, alfo bie ©c=
fainmtheit ber Eorrefponbenten fchäbigen. 2)o<h genug Von biefer Slrt unpatrio=
tifcher ©cfchichtfchreibung über einen ßnlturfortfchritt, welcher, wie bie SBeltpoft,
fo vielen SRittionen jum ©egen gereicht.
Stach tiem Slbfchtuß beS parifer ©ertragS war in bem Ungeheuern ©cbietc
von 1,316763 Quabratmeiten mit mehr als 750 SRitt. ©etoohnern, baS Von ben
ciSumpanjerten lüften ©röntanbs bis $u ben Slanos ©übamcrifaS, vom Sltnnr bis
$u ben ©unbainfeln fich «ftreeft, ein einziger ©ortofah für ben SBeltverfehr her*
*) 8gl. „3m neuen SHeitf/', 1881, II, ben Strtifel „2er SBeltpoftoerein".
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Unfere ^5eit.
22 \
geftetCt; faft 5000 ©tili. ©enbungen bewegen pd) in biefem Staunte nach einem
©efefc; bie ©rennen ber einzelnen Sänber finb für ben ©oflberfehr nic^t borhanben,
unb ber ©tenfchenfreunb peßt mit fceubigem ©ewußtfein bie ©ötfer be« Grbbatt«
in einem fo wichtigen Gutturjweige $u frieblidjem ©ereine banentb berbunben.
Gegenwärtig finb nur noch Äuftralicn, Gaptanb unb einige wenige füb* unb mittel»
amcrifanifche Stcpubtifen außerhalb be« SBeltpoftberein«; auch il)t ©eitritt aber ift
nur eine Stage ber 3eit.
Stach Streichung biefer Grfolge fann ber rafttofe ©eift Stephan’« barauf, neue
3weigc be« ntenfc^fit^cn ©erfehr« in jenem großen Serein«gebiete jur ©eltung jn
bringen, unb jwar Ginrichtungen für bie ©elbübcunittelung unb ben ©äeferei»
tran«port. IJcbcrmanu Weiß, wie ©ortrcfflichc« bie beutfeße ©aefetpoft (eiftet unb
welche bebeutfamen Dienfte fte für ©ermittelung ber ntanni<hfa<hftcn Sejiehungen
be« Staate«, ber gamilic, ber Literatur unb Äunft, be« $anbel« unb ber ©ewerb»
tfjätigfeit leiftet. gm galjre 1880 finb oon ber beutfehen ©oft nach amtlichen
3äljlungcn*) 60,634380 ©aefete ohne Skrttyangabc unb 2,566550 ©artete mit
2Berth«beclaration beförbert worben. ®a« ©efammtgewießt biefer ©äefereien belief
fich auf 265,784020 Kilogramm.
Sieht man ferner ben ©clbuntfaj) in ©etracht, fo finb im 3ah« 1880 bon
ber beutfehen 9teid)«poft 6,975920 ©riefe mit beclarirtcm SBerthinljatt unb
42,502973 ©oftanWeifungen beförbert worben; ber ©cfammtwerthbetrag biefer
©enbungen belief fich ou f nahezu 14 ©tilliarbcn SJtarf. ®iefc erftauntithen
Seiftnugen fprechen fo einbringtiefj für fich felbft, baß e« Guten nach ®then tragen
hieße, wollte man bie großartigen äBoljfthaten berartiger Ginrichtungen für bie
Station noch befonber« erörtern. ®er ©ebante Stephan’«, biefe Ginrichtungen in
ben SBeltpoßbcrcin ju berpflanjen unb fo auf einem ungleich größern Staunte äßn»
liehe Segnungen ber Guttut ju oerbreiten, War üon um fo größerm ibealem SBertßc,
al« eine Staat«=gahrpoft, wie Xcutfdjlanb pc bepfct, bisher nur in wenigen euro»
päifdjcn Staaten beftanb; namentlich aber war pe bi« bahin in bem tjochcuttioirten
Gngtaub, in granf reich, Statten, Spanien, ©ortugat, ben Stieberlanben u. f. W.
unbefannt. 3n biefen Sänbcrn pnben p<h hierfür nur bürftige Stotljbehetfe in
©eftatt oon ©ribatunternehmungen (©teffagerien u. f. w.) üor, beren Drganifation
Weber in ©ejug auf ben Umfang noch auf bie ©otibität ber Seiftungen pch mit
berjenigen ber @taat«=gaf)rpoft bergteichen fann. ®iefer ©tauget beruht auf bem
gefdjirtjttichen Gntwicfetung«gange be« ©oftwefen« in jenen Säubern, Welche«, au«
ben bem Sitterthum nachgeahmten Kurier» unb Stcgierung«poften entftanben, fid)
tcbigtich auf ben ©riefberfetjr befchränfte; währenb ba« preußifdfje unb beutfehe
©oftinftitut im Sanbe«cutturintereffe pch auch einer ©ermittelung be« ®etb= unb
©adetberfehr« nach fotchen Orten unterzog, bie fonft bon ©ribatunternehmungen
nicht berührt fein würben. ®ic Ginführung be« ©oftanweifung«» unb ©elbfenbungS*
berfahren« in ben 2Bcttberfef)t ftieß bei ben ©erein«mitgtiebem auf feine erheblichen
*) ®flt. „©tatiftif ber ©eutfdjen 9tei<h« ©oft» unb Xelegrapljfnbermattnng für ba« 3afjr
1880" (Serien, 9tcicf;öbrucferei, 1881).
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Heformen im Derfehrsroefen.
225
Schmierigfeiten; fdjon im Sahre 1878 fdjlojfen 15 ©ereingftaaten fiel) bem 916-
fommen roegett gegenseitigen 9lugtaufcheg non ©oftantoeifungen big §um betrage
Don 500 grg. (Sebüfjr 25 E. für je 25 grg.) an; 7 Staaten führten ben 9lug=
taufch Don beclarirten ÜBerttjbriefen big ju 5000 grg. SBertljinljalt ein (©orto
Wie für ©infcfjreibebriefe, aufjerbem 25 E. Serfidjerungggebühr für je 200 grg.
ber beclarirten SBerthfummen); bagegen traten bielfache ©ebenfen gegen Einrichtung
einer Sßettpadetpoft Ijerbor, toeil in mehrern Staaten bie ©orbebingungen bafiir
aQerbingg fehlten. Eennod) mar ber Erfolg, ben Seutfctjlanb mit ber Einführung
beg ©inheitgportog Don 50 ©f. für ©adete ohne SBertljnngabe — big jum ©eroicht
Don 5 Kilogramm unb auf alle Entfernungen — im Snlanbgberteljr feit 1873
erhielt hatte, Don folgern Eemidjt, bafj auf ber parifer ©oftconferenj Don 1878
bereits 15 Staaten für bie 3fnbetradjtnaf)me ber ©adetbeförberung im SBettpoft-
Dercin fich augfprachen. SJemjufotge mürbe bag internationale ©oftbureau ju ©ern
a(g ftänbigeg Organ beg ©ereing mit bem Stnbium ber gragc unb mit 9lugarbeitung
eineg ©ertraggentmurfg beauftragt.
Jfngmtfchen ^attc bie beutfdje Neicfjg=©oftbermaltung ihrerfeitg mit grofjem
@efef|icf bag lerrain fo Dorbereitet, baß in einer Specialübereinfunft mit Deftcr-
reich'ltngarn, ber Sdjmeij, ®änemart unb ©elgien bag ©inheitgporto (oon 80 ©f.)
für fßaefetfenbungen big jum ©eroicht Don 5 Kilogramm groifchen biefen Sänbern
unb SDeutfdjlonb thatfächlid) gur Annahme gelangt mar. 9tlg bähet bie ©erhanb*
lungen über ben ©egenftanb im Dctober 1880 gu ©arig mieber aufgenommen
mürben, mar bie SJtehrgahl ber betretenen Sänbcr bereitg für bie beutfdjen ©or»
fcbläge gemonnen, fo namentlich ©elgien unb bie Nieberlanbe, melche ledern bie
Einführung einer internen ©adetpoft bereitg im Sommer 1878 Dorbereitet hatten.
$ennoch fanben bie fühnen uub burdjgreifenbcu ©ropofitionen Stephan’g; Ein»
führung eineg einheitlichen Xarifg Don 50 E. big gu 5 Kilogramm ©croidjt für
jebeg Sanb ber ©eförberunggftrede, geftfefcuug gleichmäßiger formen für ©ehanb»
lung ber ©ädereien im ganzen ©ereinggebiete, gortfaü aller 3ufdjlaggtajen, fchnellc
©eförberung unb gehörige ©eroährleiftung — auf ber Eonfereitg noch gahlteidje
SBiberfadjer. Namentlich begegnete Engtanb ben Sah Don 50 E. für 5 Kilo¬
gramm alg ungenügenb gegenüber ben erheblichen Soften ber ©adetbeförberung,
bie eg gunächft burch ©ribatgefeUfchaften beforgen Iaffen muffte. Nufjlanb roicu
auf bie grofje 9tugbehnung feineg ©ebietg hin; Italien unb Schmeben beanfpruchten
bie Sulaffung einer 3uf<htaggebühr für ben Seetrangport. ©g mar ungemein
fdjmierig, atte biefe fid) gum Iheil freugenben Sntereffen gu bereinigen. ®ie ge»
fchidte Seitung ber ®ef<f)äfte unb ber |>inmcig $cutfd)lanbg auf bie erhielten
Nefuttate brachten enblich bennoch bie Angelegenheit gu einem günftigen 91bfchtufj.
9lm 3. Nod. 1880 mürbe in ©arig bie Eonbention betreffenb ben 9lugtaufch Don
©oftpadeten ohne SBerthungabe (colis postaux) untergeichnet.*) ©g traten ber»
felben fofort bei: ©eutfdjlanb, DefterreidpUngarn, ©elgien, ©ulgarien, Dänemarf,
9tegppten, Spanien, granfreich, ©rojjbritannien unb 3rlnnb, Sritifch’3nbieu, 3ta=
lien, Sujemburg, SDtontenegro, Nieberlanbc, ©erfien, ©ortugal, Rumänien, Serbien,
*) «gl. „L’Union posUle", 1881, ©. 25.
Unlne Seit. 1*82. I. 15
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226
Unferc ^ett.
@t»eben unb Sor»egen, bie ©t»eij unb bie Xütfei. 3« bet Gonbention Würben
fotgenbe geftfeßungcn bereinbart: 1) $a« Stajimalgewitt für iJSadetfenbungen wirb
auf 3 Kilogramm — 6 ißfb. feftgefeßt. 2) $ie S3cr»attung be« UrfprungSlanbe«
muß jebet am Sanbtranfit beteiligten Sßcrwaftung 60 C. für jebe« tßadet jaulen.
Sei ©eebeförberungen treten für jebe« fßadet ßinp: 25 G. für Streden bi«
500 (geenterten, 50 G. übet 500—1000 Seemeilen, 1 ftr. über 1 bi« 3000 Steilen,
2 3r«. bi« 6000 Steilen, 3 3r«. über GOOO Steilen. 3) 3ebe« ^ßadct mnß fratt
firt »erben. 4) 2)ie laje für baffetbe feßt fit an« ebenfo biete mat 50 G. pfammeu,
at« fiänber am Iranfit tßeitncßmen, unb nötßigenfafl« au« ber Xajc für @ee=
tranSport. 5) Sit« Uebergangömaßreget »irb jebem Staate bie SSefuguiß erteilt,
für bie eingetieferten ober anlommenben tßadete eine 3ufd)tag«ta|:e bon 25 G. p
crßeben. ©roßbritannien erßößt biefen 3uft^ ö 8 au f 50 G., 8ritift'3”bien unb
ißerfien auf 75 G., ©djweben auf 1 3t. Gnbtid) »erben Sranfreit unb Station
für ©enbungen nat ben 3i*fetn (Gorfica, ©arbinien, ©icitien u. f. ».) 25 G.
3ufd)Iag cteben. 6) ©trifttite Stitteitungen bürfen in ben tßadeten nitt ber*
fanbt »erben. 7) 3m ®ertuft* ober ©eftabigungSfaße — vis major au«genommen
— »irb bem Slbfenber ber wirttite @cßabc bi« p 15 3r«. bergütet.
©o anfettbar mehrere biefer geftfeßungen aut fein mögen: ba« 3uftanbe=
tommen be« SS ertrag«, wettet bom 15. Oct. 1881 ab bereit« in K'raft getreten
ift, »ar at« ein Sieg be« germaniften ©eifte« p betratten; unb man barf e« im
$inbtid auf bie mit bem SBcftporto für ©riefe gematten Grfaßrungeu at« fiter
anfeßen, baß bie 3uftt°8^°E en nid)t lange in ®raft bleiben, baß ber GinßeitS*
gebanfe bietmeßr fit batb fo mättig erweifen »irb, baß ba« GinßeitSporto aut
für Sßädereien in SBirffamfeit treten muß. ©iefleitt »irb bereit« bie für 1883
beborfteßenbe ©oftconferenj in Siffabon biefe Stage ber enbgüttigen Söfung ent*
gcgenfiißren. Ginftweitcn finb bie erreitten Sefuttate erfreutit; benn bie
internationalen ©crfeßrSbeiießungen ßaben burt Ginrittung be« ißadetbienfte«
eine neue Grteitterung, ©etebung unb SBerbietfäftigung erfahren. Unb e« muß
in ßoßent ©rabc anerfannt »erben, baß bie ißoftberwaltungen bet ©egenwart, in
rittiger Grfeuntniß ber ©ebiirfniffe ber Guttur, ißren ©eiftanb ber ©erwirftitung
jener erteutteten 3bee eine« beutften ©taat«manne« geliehen ßaben.
3)ie Söfung be« interejfanten ©robtem« ber Sßettpoftveform ßätte bem Staat«*
fecretör Dr. ©tepßan fitertit nitt mit fottem Grfotgc getingen fönnen, »enn nitt
gleitjeitig bon ißm bie ©oft* unb lelegrapßeneinrittungen be« leutften Seite« auf
bie $öße muftergüttiger Gntwidetung gebratt »orben waren. ler Saum Der*
bietet un«, jebe einzelne ©erteßrSerteit terung, wette ©tepßan pm Urßeber ßat,
ßier uäßer p erörtern; wir beftränten un« baßer auf ba« SBittigfte.
3m 3aßre 1870 füfjrte er bie ©oftfartc in ben beutften ©oftbieuft ein, jene
einfatere ©riefform, wette für fo biete weniger »ittige Stittßeitungen au«reitt,
ben SBortft»aß in ben ©riefen gtüdtit befeitigt unb ben SSorpg ßat, baß fic
nur bie §älfte be« ©riefporto« foftet. ©tepßan ift ber erfte Grfinber ber ©oft*
tarte; er ßat fie fton 1865 anf ber beutften ©oftconferenj in KartSruße, bamat«
aßerbing« bergebtit, in Anregung gebratt.
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Reformen im Perfdjrstpefen. 22?
3m $eutfch=3rangöfifchen Kriege bon 1870/71 erhielten bie ©ofttarten bie geuer»
' taufe, ©egen 10 SJliH. gelbpoftfarten, oft auf bem Stücten ber fiameraben tm
Schlachtgewühl getrieben, brachten biclfadj bie erften nähern SRadjridjteit bon
ben gewaltigen Sümpfen jener Beit unb ^aben burd) bie Erhaltung bei geiftigeu
3ufammcnhange! gwifchen Strmce unb ^»cimat nie! gut Stärfung ber 3uoerfirf)t
unferer Struppen beigetragen. ®er berner Vertrag führte bie ©ofttarte 1875 in ben
SBettoerfetjr ein; bie a ^ er im ©oftberein beförberten ©ofttarten beläuft fidj
für bal 3af)r 1880 auf mehr all 500 9JtitI.
Stach ber ©egrünbung bei $eutfcf)en Steimel im 3 fl h re 1871 würbe ber ©r*
taf} eine! neuen ©oftgefefje!, bie einheitliche Siegelung bei beutfdjen tßoftred^teS,
ermöglicht. St lieh für ©aicrn unb SBürtemberg, benen im ©erfaittcr ©ertrage ein
fctbftänbige! Jcrritorialpoftwefen gewährleist ift, mar bodj burch bie 3teicf)loer»
faffung bon 1871 bem Sieichc bie ©efefcgebung über bie Sorred/te ber ©oft, bie
©ertretnng bem Stulfanbe gegenüber, fowie bie Siegelung ber ©erhältniffc gum
©ublifutn für ben gangen Umfang bei Sleicfjel gugetoiefen. Stuf biefer ftaatl
rechtlichen ©runblage beruht auch ber ©Ijaratter ber SJeidjlpoft all einer einljeit*
liehen Staatlbertehrlanftatt bei Sieichcl. ®ie auf ©runb bon Sieferbatrechten
noch beftehenben Sanbelpoftinftitnte bon ©aiern unb SBürtemberg finb Slnadjro»
nilmen, Welche jebcnfattl, ob früher ober fpäter, werben befeitigt Werben, fobalb
ber particulariftifdje ©eift in ©eutfehlanb aufhören Wirb, feine fßh an tafiege6ilbc
gu berwirflichen. ®al Sleiehlpoftgefcfc bom 28. Dct. 1881 h®t borerft wenigftenl
ein einheitliche! ©oftrecht bon SJtemel bi! ifonftang eingeführt; auch ®aiern unb
SBürtemberg finb ihm unterworfen, ©benfo ift ba! ©erhältnifj gum ©ttblifum
burch bie ©oftorbnung gleichmäßig geregelt. ®abei traten Wichtige ©rlcidjterungen,
namentlich bie Slbfdjaffung bei ©oftregall in ©cgug auf ben ©erfonettberlehr unb
bie ©efreiung politifcher Leitungen, welche nicht öfter all einmal Wöchentlich cr=
fcheinen, bom ©oftgwange in! Seben. Stuch ber Segriff ber ©oftübertretnngen
würbe milber gefaßt unb bal Strafberfahren für biefe gälte bereinfacht. Begleich
trat für ben Sanbpoftbertehr bie wichtige ©rleichterung ein, baß bal Sanbbrief*
befteügelb gänglich aufgehoben unb in biefer £>infidjt bal platte 2anb ben Stabten
gleichgeftcttt würbe. $cr neuerftanbenen unb fo gefeftigten Steicfjlpoft tonnte bie
©oftberwaltung für bie neuerworbeneu Steicfjltanbe @lfaß=2othringen mit boHem
©ertrauen gugewiefen werben; e! bebeutete biel für bie Steichllanbe ben ©eginit
einer neuen Stera bon ©ertehrlerleichterungen, unter benen namentlich bie ©in»
ffihntng ber ©aefetbeförberung, Welche unter frangöfifcher ©erwaltung nnbefannt
War, befonberer ^erborljebung werth ift. 3)er ©aefetbieuft im gangen Steife er»
hielt (3onnar 1874) einen ungeahnten StuffchWung burch bie (Einführung bei
©inheitltarifl bon 50 ©f. für 5 Kilogramm, beffen Wir bereit! bei ©efpredjung ber
SBeltpacfetpoft gebaut hoben. SBährenb bie Slngaht ber burch bie Steicfjlpoft im
3afjte 1873 beförberten ©adete auf 35 ,2 SDliH. fich belief, ftieg biefe Bohl 1874
auf 39,8 ©litt., 1875 auf 42,« SJiiH.; 1879 betrug fie bereit! 57 9Ritt., 1880
62,s 2JHH.: eine rapibe Bunahmc, Welche bie ©rfolge bei ©inljeitlpadettarifl in!
heüfte Sicht ftellt. ®ie ©rmöglichung billigen birecten Segugel bon SBaaren, ohne
Abtretung bei ©ewinne! an ben Unterhänbler unb Slgenten, ift geeignet, ben
15*
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Unferc ^cit.
Standard of life ganjcr BollSftaffen namhaft ju erhöhen unb ju üerbcffern; ber
^ßacfetbienft tjat baljer hoffen focialpolitifchen SBertt».
©rmägen mir nun bie ©ntmidclung ber Telegraphie, fo oerbient tot allem heroor«
gehoben ju merben, bah am 1. San. 1876 bie oon Stephan geplante Bereinigung beS
3leichS=TelegraphenmefenS mit ber ißoftoermaltung in ©irffamleit trat. Tiefe orga«
nifdfc Bereinigung beiber Berfchre^meigc ift nid)t nur bcin Sntereffe beS <ßublifumS
in hohem Blaffe jufagenb, mcil biefetbe bem tefctero oielfadje ©ängc unb Blühen,
alfo Seit unb Slrbcitsfraft erfpart, fonbern fie hat fief» auch ftaatSmirthfdjflftlich als
fehr oortheilhaft ermiefen, inbenc fie burch Berntinberung ber Betriebsausgaben unb
burch ©rljöhung ber Seiftungen ber Telegraphie baS dfronifdK Teficit ber Tete«
graphenoermaltung, toeldfeS 1875 über 3' /2 BtiH. Blarf betrug, oollftänbig befeitigt
hat. Bon heroortretenber Bebeutung hierfür mar bie Biafjregel ber ©inführung beS
©orttarifeS, b. h- ber Tajirung nach ber ©ortjahl ber Telegramme. Tie ©ebühren
betragen befanntlich 5 Bf- für jebeS ©ort; bem beSfatlfigen Betrage tritt eine
©runbtaje oon 20 Ißf. , eine burchgreifetibe Reform, melche, inbem fie bie
bisherigen beralteten 3oitentajfä|}c unb ben 3toanäig=©orte=Tarif befeitigte, einer«
feitS bem tßubtifum bie Seftftetluug ber Sänge eines Telegramms, mithin bie
Beftimmung beS ®oftenaufroanbeS für eine Tcpcfche, allein überlieh, anberer*
feitS burch Befchränfung ber ©ortjaht (oon 18 auf 12 ©orte im Turdjfdjnttt)
bie SlrbcitSlaft ber Telegraphie ertjeblid) oerminberte, moburch jugleicf) eine befferc
Bermcrthung ber borlfanbenen Telcgraphenanlagen ermöglicht mürbe. Ter ©rfolg
beS ©orttarifS jeigt fich in ber Sunahmc ber Telegrammgebühren, melche oon
10,504538 Biarf in 1875 auf 13 BliH. Blarf im 3«hre 1878/79 unb auf faft
16 Bliü. Blarf im Sahre 1879/80 ftiegen. Troty biefer erheblichen Bermchrung ber
©innahmen finb im Sat/re 1878 gegen 1875 mehr als 40 BtiH. ©orte, alfo 2 BtiH.
Telegramme ju 20 ©orten, meniger abtetegraphirt unb beförbert morben, maS tedj«
nifdj in einer fehr bebeutenben ©rfparnih an Beamtenfräften jutn SluSbrucf fommt.
fjür bie allgemein anerfannte Smedmähigfeit beS ©orttarifS fpricht auch bie
Thatfadje, bah berfelbe auf ber lonboner internationalen Telegraphenconferenj
oon 1879 jur ©runblage für Siegelung ber internationalen Telegraphentarife an«
genommen mürbe.
©inen ©egenftanb fortgefefcter fjürforge Stephan’S bilbete bie Bermehrung ber
Telegraphenanftalten im Sieidjc nnb bie Berbichtung beS TelegraphennefceS burch
Slitlage neuer Sinieit. Slnfang Januar 1876 betrug bie 3^ ber SleidjS«
Telegraphenanftalten 1688. ©itbe Tccember 1878, alfo in brei Saf/ren, toor
ihre 3ahl bereits auf 4143 geftiegen, maS einer Bermehrung um 245 tßroc.
entfpricf)t. ©nbe 1879 toaren 5015 Telegraphenämter, ©nbe 1880: 5555 oor«
hanben; cS finb alfo innerhalb fünf fahren 4000 Drte mit ihrer Umgebung in
baS Telegraphennejj h' ne iogejogen unb ber ©ohlthd beS fdjneUften BcrfehrS«
mittels ber Bereit theilhaft gemorben. Siechnet man etroa 3000 ©ifenbahn«
Telegraphenanftalten h' n i lt « fo h at Teutfchlanb oon allen Sänberu ©uropaS
gegenmärtig bie gröhte 3afd Tctcgraphenämter. §anb in $anb mit biefer Sieform
ging bie ©Weiterung unb Bermehrung ber Telegraphenlinicn. ©nbe 1875 maren
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Reformen im Pcrfebrstcefen.
229
35708 Kilometer oberirbifdjer Sinien üori;anbcn; ©nbe 1880 betrug bereu Sänge
59960 Kilometer. $iefe erhebliche Söerbicfjtung beö Xelegraphennefceö l)at fid) auf
affe Steile beö Keidtegebieteä erftreeft; namentlich aber finb folt^e ©egenben be»
rntfftrf>tigt worben, Welche einen bisher Weniger entwicfelten Serlehr hotten, alfo bie
©ebirgöbiftricte, inöbefonberc ba3 Kiefengebirge, ©rjgebirge, bie SR^ön, ber $arj,
SBefterWalb, |mnb3rüd, bie ©ifcf, ber Dbenwalb unb bie Sogefen. gum Sau
biefer Sinien finb 200000 Selcgraphenftangen, 500000 Stütf 3fotatoren, ebenfo
btel Sfo^otorftiihen unb 3 */ 4 Kid. Kilogramm ©ifenbraljt erforberlid) gewefen,
Welche Katerialien iiberwiegenb auä bent 3nlanbe bezogen Würben. Sie Ijeimifdjc
Srobuctiou hat barau^ erheblichen ©ewinn erhielt; jahlreiche Slrbeitefräftc aber
haben für fange 8cit lohnenben SSerbienft gehabt. Kod) Wichtiger war bie 2lud»
fithrung ber unterirbifchen Üelegraphenlinien (Kabel); ihre grofjc Sebeutung liegt
barin, bafj bie telcgraphifd)en Serbinbungen mittete Kabel-bon allen Sefchäbigungen,
9?achtheilen unb Störungen, benen bie oberirbifchen Seitungcn befanntlich unter»
liegen, bollftänbig befreit finb. Kan erwäge. Wie empfinblich e$ für ben tno»
bemen Serfehr ift, Wenn Stäbte, wie Sorte unb SBien, bei ben Stürmen ber
3af)re 1876 unb 1879 infolge Störung ber Seitungen bollftänbig bon ber tele»
graph'f^en Serbinbung mit ber übrigen SBelt abgef^nitten waren. ®ic wichtig»
ften öffentlichen unb pribaten gntereffen leiben babei in ^öc^flem Kafje. Stephan
ging in 3)eutfchlanb mit bem Sau ber Kabel allen übrigen Sänbern boran. Stuf
fein energifdjeö drängen würben bie 9Jlittel junt Sau unterirbifdjer Sinien bon
Serfin nach allen politifch, ftrategifdj ober commerjietl Wichtigen ißläfcen be3
Reiches bom Sunbeörathe unb Keidjötage bewilligt, unb eö Würbe barauf ber
Sau mit äujjerfter ©nergie betrieben. Sn ben Sahnen 1876 bte 1878 finb fertig
gefteQt worben bie Sinien: Serlin »|>atle=Gaffel=Sranffurt a. K.; $alle»Seipjig;
Serlin»#amburg»©uEhaben»Kiet; Serlin=Kagbeburg»$annober; Künfter»2)üffelborf=
Köln; Sranffurt, ®armftabt, Kanheim, Karlsruhe, Kehl, Kaftatt; fobann im
Sommer 1879 eine birecte fubmarine Sinie bon Splt bte Slrenbal in Norwegen.
1879—81 würben gebaut bie Sinien: $amburg»Sremen»SEBilhelntehaben; Köln»
Äoblcnj; Koblcnj»2xier»Kefc»Strafjburg; ferner Serlin=$reöben; Serlin-granlfurt»
Sreölau; Setlin=Kündjeberg»2horn» Königsberg i. S r l Serien» Stettin u. f. w.
®aö ganje unterirbifche Kejj wirb 1883 botfenbet fein; bie jur Slrmatur ber
Kabel berwenbete ©ifenmaffc beläuft fich bisher allein auf 10 Kill. Kilogramm;
baö ber Kupferbrähte auf 823000 Kilogramm. Schon jefjt befijjt Seutfdjfanb,
juerft oon allen Sänbern ber SBelt, ein faft 6000 Kilometer langes Kef} unter»
irbifcher Sinien mit faft 38000 Kilometer $rahttcitungen, welche allen atmo»
fphätifchen ©inflüffen entzogen finb unb eine gefieberte Serbinbung aller wichtigen
$unfte beS SReidjeS untereinanber herfteUcn. Sic anbern Kationen werben fich
nunmehr beeilen, biefem Sorgangc Seutfhlanbs ,;u folgen, i'lud) für Sicher»
fteHung be§ beutfdjen Selegraphenberfehrö mit bem Slitelaube forgte Stephan
burch ©infügung ber IJktoatfabeltinien ©mben»Sorfum»Soweftoft (©nglaub) unb
Shlt»3lrenbal (KorWegen) in baö 9teichö»Sclegraphenneh. 3a furjem fod eine
birecte beutfehe Serbinbung mittete Kabel bon ©nglanb (Salentia) nach Slmerifa
(Keupor!) ^ergefteQt werben, Welche ben beutfehen Sclegraphenbcrfehr borthin
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250
Unfere ,3cit.
bon anbern fiänbern unabhängig machen wirb. gür ben ©erlehr größerer Stabte
fpeciell finb bie Stohrpoft — Sriefbeförberung in eifernen Siöfjren burch fiuftbrud
— unb bie gemfpredjeinrichtungen — ©erbinbungen ber ©örfe unb ber EomptoirS
mit einer Eentralftefle unb $erfteHuug eines münblidjen ©erlehrS burd) Xefe=
plionc — berechnet: ©erfehrSmittel, beren Sebeutung für bie Erleichterung ber
©erbinbungen in großen Stabten mehr unb mehr herbortreten Wirb. 3n ©erlin
unb anbern IwupthanbelSptähen mürben bie Telegraphenleitungen allein außer
Staube fein, ben riefigen 9tadjric£)tcnfchnettoerleljr (jährlich 500000 Telegramme)
Zu bermitteln; bie Stoljrpoft, gegenmärtig 38 Kilometer ßänge, ermöglicht bie
gleichzeitige ©eförberung zahlreicher Tepefdjen üon Stabttheil zw Stabttljeil, unb
ift alfo in biefer £>infid)t bem eigentlichen Telegraphen Wegen ber Erfpamiß an
Träten, Apparaten unb ©eamtenfräfteit oorzuziehen. Ter ffiertlj ber gerafpred)-
einrichtungen aber befteßt in ber äJtöglid)feit perfönlicher, b. h- münblicher ©et-
ftänbiguug ztüifchen Abfenber unb Abrcffat, fobaß eiiterfeitS bie Unbequemtichleit
ber Entfernung ausgeglichen, anbererfeits ber Stadjtheil boit äJtiSberftänbniffen u. f. m.
bei ber Uebermittelung burch ©oten uerfjütet mirb. Außer in Sertin finb bie
gernfprecheinrichtungen noch * n anbern großem Stabten, Hamburg, ßeipzig, S'öln,
SfRülhaufen u. f. m., enttoeber bereits auSgeführt ober in ber Ausführung be-
griffen.
Tic neuefte Reform ber 9teichS-©oftberWaltung befteht in ber Erweiterung
unb Serbefferung beS fianbpoftbieufteS. Auch fie ift auSfchließtid) ber Snitiatibe
Stephan’S zu berbaufen. Offenbar ^at bie Theilitahme beS platten ßanbeS an
bem Auffchwunge beS ©oftberleljrS im Tcutfchen Stcidje, ber Wachfenben ©il=
bung ber fianbbeöölferung entfprechenb, fich mefentlich erhöht, fobaß bie bis¬
herigen Einrichtungen für ben Serlefjr ber täublichen Scbölfcrung nicht mehr
genügen. Aus ber Erfenntniß biefer Sachlage ergab fich ber ©tan Stephan’S,
ben ©ebilrfitiffen beS platten ßanbeS burd) eine burchgreifcnbc Serbefferung ber
©oft- unb TctegraphcneinrichtuHgcu gerecht z« metben: eine Eutturaufgabe erften
Stange». SDtit gewohnter Energie mürbe, nadjbem bie gefcjjgebenben gactorcn
bereitwillig bie erforberlichen großen SJtittel bewilligt hatten, an bie Ausführung
gegangen. Schon im Qjahrc 1881 würben 2000 ßanbbriefträger mehr in ben
Tienft eingeftellt, fobaß beren 3afd auf 15000 erhöht ift. Tie 3af)l ber ©oft-
anftaltcn fteigerte fid) burch Errichtung oon 450 neuen ©oftagenturen fomie üon
1000 ©ofthüIffteKen auf bent platten ßanbe bis auf 9016 ©oftfteüen. ÜRit biefen
Einrichtungen Würbe erreicht, baß über 60 SJtitl. ©oftfenbungen bei weitem früher
in bie £änbc ber auf bem platten ßanbe mohnenbeit Empfänger gelangten als
fonft. ©eitere ffltaßuahmeit finb für baS galjr 1882 borgefeheu, fobaß in fujzem
eine üollftänbige, ben SBünfchcn unb ©ebürfniffen ber ßanbbeüöllerung in jeber
Jfjinfidjt entfprechenbe Umgeftaltung beS ßanbpoftbienfteS inS SSerf gefefct fein wirb.
ES fei eublich ber großartigen ©authätigfeit ber SteidjSpoft erwähnt, beren
Ergebuiffc an bie herrlichen Schöpfungen eines ©atlabio, Sramante u. f. w. er¬
innern. Stoch üor einem Sahrzeljnt war baS ©ublifutn in Tcutfchtanb genöthigt,
in üöHig unzureichenben ©ofttocalen z u berfehren; bie ©oftbeamten aber waren
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Reformen im Perfeßrsmefen.
23 {
am übetftcn bacan, benn fic mußten ißre ber Nation getoibinete Arbeit in oft
bumpfigen unb trofttofen Säumen ertebigen. ®ie großen bauten ©tepßait’ä in
©erlin, ©reuten, Raffet, 3)anjig, Stiinfter, föannober unb anbem Dvten ßabcn
aDen jenen fcßreienben SRiSftänben ein ©nbe gemacht; ©earnte unb ißubtifum ber=
feßren jeßt in menfcßenmürbigen, ßetten unb frönen Säumen; biefc ©ebäubc aber
repräfentiren iu toiirbiger Seife ben ©eift unb Sßaratter ber mobernen 3eit,
welche ben ©tßönßcitsbegriff in ©inttang mit bem ©ebürfniß ju fe$en berfteßt.
©o fcßtießen mir ben rcicßen Saßmen ber im ©erfeßrStoefen $ur SluSfüßruttg
gefommencn Seformen, bie bon bem ftßöpferifeßctt ©eifte ißreS UrßeberS ein glatt»
$enbe$ 3«ugniß abtegen; ißre Sirtungcn erftreefen fidß auf alle SebenSgebiete, fie
»oerben in ben ißatäften ber Scicßen mie in ben Jütten ber Stritten entßfunben;
ttäßer bringen fie ben Slenftßen bem Sienftßen; tS finb Sßaten be§ ßödßfteu
SußmeS mertß.
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lie öEUkfrinfat in irtr €tdjntk.
»on
üxanj fofeplj ffliBko.
II.
©djoit feit geraumer 3eit tannte man baS fcfjönc, weiße unb fräftige, eleftrifche
ffohlenlicht unb benähte eS bei befonbern ©cfjauftetlungen fowie auch als Sern«
unb ©ignal(eucf)te. Sittein an beffen allgemeinere SluSbeutung ging man erft in
jängfter 3«t/ nacf|bem, burth bie ©rfinbung unb ©erbefferuitg ber bpnamoelef*
triften ÜDtafdjinen, beliebig mächtige ©leftricitätSquellen in ausgiebiger unb billiger
SBeife floffen. ®er erfte, welker biefeS herrliche Siebt aufblifjen ließ, war @ir
/pumphrp $abp. 6r tierbanb (1813) je baS eine Xraljtenbe feiner auS 2000 ©le=
menten jufammengefepten Sßolta'fcfjen ©atterie mit je einer pgefpifcten $oljlohle,
unb näherte hierauf bie beiben Sohlenfpifcen einanber, bis fie fiefj berührten.
Saum war bieS gefdfjeljen, fo gerieften bie Soljtenfpijjen in SBeißglut. Unb als
er bie beiben Soljleuftüde langfam boneinanber entfernte, bitbete fid) ein außer«
orbentlid) fräftig unb Weiß leud)tenber Sogen bon fleinften Sohlentheildjen, weither
ber „©olta’fdje" ober bcjeichnenber ber „SaDp’fchc ßichtbogen" heißt. EDiefer
Slammenbogen erlofch jeboch, fobalb bie ftohlenfpifcett p Weit auSeinanber {amen.
Um ihn wieber p erhalten, mußten jene ©pifcen nochmals bis pr ©erüljrung
gebracht, unb überhaupt ber gan^e ©erfudj bom Slnfang Wieberholt werben, ©o
glänjenb, im eigentlichen ©inne beS SEBorteS, bicfeS (Sjperiment auch toar, fo er*
fchien es in jener 3eit Weber feinem Srfinbcr noch fonft jemanb bon großer
SEBicßtigfcit; ja eS erregte nicht einmal biel Slufmerffamfeit. ßrft fieben bis acht
3af)re fpäter (1820/21), nachbem EBabt) baS ©erhalten feines SidjtbogenS gegen
ttttagnete ftubirt unb befannt gemacht hotte, weubete fich baS Sntcreffc ber ©hh-
fifet biefem ©egenftanbe p. Qfeboch feineSwegS in praftifdjer Sichtung, um biefeS
{ünftliche „©otartidjt", Wie eS übertrieben genannt würbe, als ©eleuchtungSmittel
p berwerthen, fonbern in ber löblichen Stbficht, eS nach möglichft bielen ©eiten
p unterfuchen unb p ergrünben. Sw ber E£t)at war bieS baS Sächfte, was p
berrichten War;, benn an eine eleftrifdje ©eleudjtung {onnte in jenen lagen — fo
prächtig auch bas eleftrifche Sicht ftrahlte — niemanb emftlich benfen, weil bie
©atteric noch p ungefchla^t unb p theuer, ber Sichtbogcu aber p wenig beftäu«
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Die €Ieftrieität in 6er JTedjntf.
233
big war. ES lief ein weiteret Vierteljaßrßuubert ab, bis um bie !3aßrc 1844
—46 ein meßrfeitigeS Efpcrimentircn mit bem eteftrifeßen ®oßtenticßt nacß prat»
tifeßer Stiftung ßin begann unb üon ba an, wie fieß Weiterhin jeigen Wirb, ftetS
fortfeßritt.
2>a3 eteftrifeße Soßtenlicßt entfielt nießt, wie bie gewößnticße: Verbrennung,
aus einer eßemifeßen Verbinbung beS SauerftoffcS mit bem ^Brennmaterial unter
SSärrne» unb Sießtentwiefetung, fonbertt eS beruht auf ber Umwattblung ber pßßfi»
fatifeßen Kräfte ober Energien. ®aßer fommt eS , baß baS eteftrifeße ffoßtentießt
— unb überhaupt baS eteftrifeße Sicßt — aueß im luftleeren Vaunt unb in ben
öerfeßiebenen ©afen unb SRittetn, fetbft unter SSaffer, fic^ fo lange anbauernb
erzeugen läßt, atS ber eteftrifeße Strom wäßrt. $aS eteftrifeße Sicßt ift eigeuttieß
eine ©tiißerfcßeinung, ßeröorgerufen bureß ben eteftrifeßen Strom. $iefer erwärmt
ben ®raßt, in welchem er geleitet Wirb. Vei ben Votta’fcßen Elementen ift, wie
^etmßotß gezeigt ßat (1847), bie gefammte im Stromtreife erzeugte SBärntemenge
gteidß berjenigen, wellte bureß bie eßemifeßen Vorgänge in jenen Elementen ent»
Wicfelt wirb. 2)er eleftrifcße Strom füßrt atfo bie in ben Elementen auftretenben
SBärmemengen weiter unb gibt baoon an ben SeitungSbraßt um fo meßr ab, je
meßr SBiberftanb ber teßtere ber Stromteitnng entgegenfeßt. 3« äßntießer SBeife
wirb bei ben magneto» unb bßnamoeteftrifeßen äRafdßinen ftatt ber eßemifeßen
Arbeit ober Energie bie meeßanifeße Energie (lebenbige Sraft), welcße bie Dotation
bewirft, in einen eteftrifeßen Strom umgewanbelt. $urcß ben SEBiberftanb in ber
Seitung erfolgt wieber eine llmfeßung beS eteftrifeßen Stromes in SSärme. SBer»
ben jene ftromerjeugenben SIRafcßinen bitrd^ $ampf» ober ©aSmafcßinen in Vota»
tion öerfeßt, fo ift in teßter ftnftanj eigentlich bie SEßärme beS oerbrennenben
^eymateriatS bie Energie, welche, mittels 3wifdßenproceffe unb beS eteftrifeßen
Stromes, am Enbe wieber in SBärme unb Sicht tranSformirt erfeßeint.
3e größer ber SeitungSWiberftanb beS SraßteS ober je Heiner baS Seitoer»
mögen beS teßtern ift, befto ßößer fteigt bie Erwärmung beS 3)raßteS. Seßterc
fann fich, wenn feßr biinne Platin» unb Eifenbräßte in bie Stromteitung ein»
gefchaltet Werben, fo erhöhen, baß jene Größte in Votß» ober SBeißglut unb bann
ins äbfeßmetjen gerathen. $>ieS fonemt baßer. Weit Eifcn unb ißtatin feßon bureß
ißre materielle Vefdßaffenßeit bem eteftrifeßen Strom einen großem SeitungSWiberftanb
bieten als 3 . V. Silber, Supfer, ©olb, ÜReffing, 3inf unb 3inn. Sn biefer 9?eiße
fteßt immer jenes üRetatt, WetdßeS bie SSärme unb Eteftricität beffer leitet, ooran.
Stuf baS 3'W« folgen baS uoeß feßteeßter teitenbe Eifen, bann Vtci, ißlatiu, Veufitbcr
unb^SBiSmutß. 3e biiitner eilt tDraßt ift, befto meßr SeitungSWiberftanb bietet er
bem eleftrifcßen Strom. 2)a nun Eifcti unb ^platin feßon bureß bie SRatur ißrer
SRaterie ju ben feßteeßter teitenbe« ÜKetaQcn jäßteu, fo erßißen fie fidß, wenn man
fie in jjorm Oou bünnen Größten in bie ®upfertcitung ciufcßattet, berart, baß fic
fräftig teueßtenb werben. Ebenfo Oerßätt eS fieß mit fünfttießen, bünnen ftab» ober
fabenförmigen Roßten ober fieß berüßrenben augefpißten Sfoßtenftäbcßen, weteße in
bie Seitung eingefcßaltet Werben; fie bitben bie ©runbfagc ber eteftrifeßen ©tiiß»
ober SncanbeSeenatampen, weteße erft in ber jiingften 3 cit ( 1880 — 81 ) fieß ©et»
tung oerfeßafft ßaben. SSenn bagegeu fieß beritßrenbe, jugefpißte Sfoßtenftabc,
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23*
Unfcre ^cit.
tue(cf)e burch einen etettrifchen Strom erglühen, auSeinanbcrgejogen »oerbeit; fo
geben fie beit teucßtenben Siammenbogen, unb man erhält baS wefenttichfte ©te=
ment ju bcnt bereits oben ermähnten etettrifchen .Mo^lenficfjtc nach Daoi).
Der (eudjtenbe Aortenbogen beS eteftrifc^en Siebtes, roie eS auf ber ©runbtage
beS Daoq’fchen BerfudheS angetoenbet toirb, ift eigentlich eine etettrifche ©tüh=
erfdjeinung ber beiben Aohtenbote unb beS jwifchett beiben fi<h entwiefetnben
AohtenbogenS. Senn man nämticT bie beiben Drahtbote einer (StettricitätSquette
bis ju irrer Berührung einanber närert unb fie hierauf trennt, fo berühren fie
ficT int testen Stugenbticf nur in einigen fünften. Diefe bieten bann als bünne
Sciter bent etettrifchen Strome einen fo mächtigen SBiberftanb, baß fie in heftiges
©tütjen unb 93erbantpfen gerathen. Stießt anberS entfteht baS etettrifche Sicht beim
Daoq'fchen Sichtbogen. Die Mohtenfpi^eti toerben anfangs miteinanber in Serüh'
rung gebracht, moburch bie Batterie gefchtoffen erfchcint, unb jene in lürjefter Seit
ins Sßeißglühen gerathen. Sobatb man fie bann tangfam üoneinanber entfernt,
entfteht ber (räftig unb weißleuchtenbc Sogen Don tteinften Aohtentheitchen, Welche
Dorherrfchenb Dom bofitioen gegen ben negatiDen ißot garbenförmig übergehen.
Die Sogenftrahtcn finb hierbei an beiben S°teu Dercinigt unb bitergiren in ber
SDlitte beS ißotabftanbeS am ftärfften; ihre DiDergenj rührt Don ihrer gegenfeitigen
etettrifchen Slbftoßung, ihre Bereinigung am negatiDen tßot Don ber übermächtigen
Stnjiehung her, welche teßterer auf alle pofitio etettrifchen Aohlentheitcßen auSübt.
Sn ähnlicher SBeife Derhätt eS fich auch mit ben Aohtentheitchen, welche Dom ne=
gatioen gegen ben bofitioen ißot überftrömen.
hierbei erteibet ber pofitiöe Aohtenbot eine bobbett fo ftarte Serftäubung unb
Bcrflüchtigung atS ber negatioe, Weit feine ^iße Diel höhet als jene beS lej)tern ift.
Snfotge jenes ftärfern StoffüertufteS ber bofitioen Aoljte höhlt fich biefe gegenüber
ber negatiDen Aohtenfbifce aus unb bilbet einen intenfiD weißtcuctjtenben Arater.
Unt beffen Scuchtfraft auSjunühen, bringt man ben bofitioen Aohtenbot oberhalb
ber negatiDen Aotjlenfbifce an, bamit baS btenbenbWeiße Sicht jenes AraterS auf
bie ju bcteuchtenbe Bobenftäche falte. Sott jeboch baS Sicht ber bofitioen Aohleit»
höhtung nach anbern ^Richtungen atS gegen ben Boben geworfen werben, fo muß
ben beiben Äohlen bie hierzu baffenbe Sage ertheitt toerben. SBitt man baS un=
gleich ftarte ülbbrennen ber beiben Aohten hintanhatten, fo gibt man entweber ber
bofitioen Aohte bie bobbette Stätte an Aohtenmaffe, ober man DerWenbet 333e<hfet=
ftröme: baS finb etettrifche Ströme, welche in fehr furjen Raufen ihre Stiftung
regelmäßig änberu. Sn jebem Satte fteht bie Scudjtfraft ber feften glühenben
Aohtenbote in erfter Sinie, worauf erft bie Sichtftärfe beS StammenbogenS fqjfgt.
Subeffen ift auch baS Sicht beS tejjtern fo bebeuteitb, baß baS ganje ©lühbh“no=
mcit ber feften Aohtenbote unb beS zugehörigen AohtcnbogenS für bie etettrifche
Beleuchtung in Betracht fommt.
Da bie ©otjtohlen für baS Bogenticht Daotj’S fehr rafch abbranuten, fo fudjte
er biefem Uebetftanbe baburch entgegenjuwirfen, baß er bie beiben Aohtenbote in
einem luftleeren ©taSbatton erglühen ließ. Sn her Dh°t trat jejjt ein tangfamerer
Berbrauch berfetben ein; aber noch immer nicht in bem erwünfeßten ©rabe. Ueber*
bieS trübte fich halb baS UmfangSgtaS bur<h bie Stieberfchläge ber oerfbrühten
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Die (EleFtricität in bet CcdjniF.
235
$ohten. goucault erfefete (1844) bafjer mit größernt ©rfolgc jene fmljfofjlen burch
bie beffer miberftehenben SofStohlen, mie fitf) biefelben an ben Sßänben ber SRe=
torten für bie ©aSbeleudjtung anfegen. Salb barauf (1846) formten Staitc unb
©bmarbS aus einem Iflnftlichen S'ofilcnteige, ber bann gebacfen mürbe, tauglichere
Stäbchen für baS elettrifdje Bogenlid)t. Seitbem ift biefeS Verfahren in ber Der»
fchiebcnartigften SBetfe auSgebilbet morben. Die $ohlenftäbe für baS cteftrifche
Bogenlicht faßen eine baucrnbe Öcftigfeit befijjen unb mährenb ihres eleftrifchcn
©rglühenS fich meber fpalten noch jcrfaßen; fie foßen ein ruhiges, regelmäßiges,
ftammenfreieS unb meißeS Sicht enttoicfeln. Diefe Sovberuugeit erfüßcn bie SOhlen-
ftäbc, je nach ihrer Besoffenheit, in uerfcfjicbencm ©rabe; eS ift baljcr nicht
gleichgültig, melche 2lrt öon Sohle für baS cteftrifche Sicht gemäht mirb.
Durch bie ©otS» unb fiunfttohlen mar cS gcglücft, felbft in freier Suft eine
fpärlichere Verbrennung ber Äohlenpole ju crjielen. Durch langfameS 2IuS= ober
©egeneinanberfchieben ber beibcit ledern fuchte man ihren beften, gegenfeitigeit
2Ibftanb ju erhalten, b. i. einen fotzen, bei meinem bie Sichtcutmictetung am
ftärfften auftritt. 3n folcher Seife hatte man bereits ein länger anbauentbeS
eleftrifcheS Äohlenlicht bor fich, baS burch feine SBeißc unb fitaft einigermaßen an
baS Sonnenlicht mahnte unb meines man, freilich mit Uebertreibung, als „elct=
trifche Sonne" bejeichnctc. ©in irbifcheS Sicht, melcheS, mie baS elettrifche, eS
magen burfte, menn auch nur in fehr entferntem ©rabe, mit bem Sonnenlicht ju
concurriren, mußte ju Verfugen reizen, eS jur Beleuchtung anjumenben. Sn ber
Dhat tauchten (1844) fotche ©ebaitten in ißariS anf, nachbem Delcuil, goucault
unb Strdjereau BeleudjtungSbcrfuche mittels beS elcftrifchen $ohlenlidf)tcS auf bem
üuai Gonti unb auf ber ißlacc be la ©oncorbe gemacht hatten (1842—44). Von
bielen, jeboch unberufenen Seiten tarnen Vorfdjläge für bie elettrifche Beleuchtung
ber Stabt. Der Slug ber ißhaittafie trug biefe ißroiectmachcr fehr hoch/ unb aus
großen flöhen moßten fie mittels mehrerer clettrifdjer Sonnen, toelchc über ben
Dcrfchiebencn Stabtoierteln in ber 9?acf)t ihr glönjenbcS Sicht auSftrahlen foßten,
bie lefctern erheflen. Slßeiit bie obenermähnten unb anbere Sachmänner blieben
berartigen Oerfriihten ©ntmürfen fern, benn fie tannten nur ju gut bie SRängel
ber bamaligeu elettrifchen Sonne. 3unncf)ft hatte biefe baS Unangenehme, fiel)
öfter als bie himmlifche Sonne unoerfehcnS ju oerfinftern, unb jmar nicht, mie
ihr Vorbilb, burch Ooriibergehenbe Vcrbecfuitg, fonbern burch — plöftlicßeS ©rlöfchen.
©S mußte bann ihre ©ntjünbung jebcSmal aufs neue eingeleitct merben, b. 1). man
mußte bie ®ohlenftäbe bis ju ihrer gegenfeitigen Berührung gegeneinanber, unb
fobalb fie gtühenb gemorben maren, auSeinanber fchieben, bamit mieber ber leuchtenbe
ftohlenbogen entfielen tönne. 3cncS ©rlöfchcit beS elettrifchen Siebtes tarn baher,
meil bie beiben Sohlen nach unb nach abbrannten. infolge beffen üergrößertc
fich ber SIbftanb jmifchen beiben ißolen. Der elettrifche Strom, melcher noch burdj
ben Sichtbogen theilmeifc meiter geführt mürbe, fanb einen immer madjfenben SSBiber»
ftanb, maS eine Schmäcfjung beS SichteS ober gar ein oöfligeS ©rlöfchen beffclben
nach fich jog, 'oenn nicht rechtzeitig bie beiben Sßole gegeneinanber betoegt mürben.
Sußerbem übertrugen fich auch uoch bie Schmantungen ber ©IcttricitätSqueße
felbft auf bie elettrifche Sidjtquefle, melche fich infolge beffen in ihrer Störte fehr Oer»
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236
Unferc <3eit.
änbcrtid) geigte. gür furg bauernbe 93erfutf)c war man baljer bemüht, mittet einfacher
Serfdjiebung ober ©t^raubung, beibe ißote in bie gwedentfprechenbfte Entfernung
gu bringen; man nennt fofcfje mit ber |>anb gu regierenbe eleftrifche Samten
§anbrcgutatoren (goucault, 1840—44). konnte jeboef) folch ein unooHfommencr
unb unüerlählidjet Apparat auch f<h° n als öffentliche Seuchte bienen? $ier tag
atfo baS Problem öor: eine eleftrifche Sampe gu finben, bei Welcher bnreh Selbft*
regutirung bie beiben Sohlen ftets in ber beften Entfernung, b. i. bei ber ftärfften
Sichtentwidetung, auSeinanbergehalten werben fotlten. 2)er erfte Serfuch gur Söfung
biefer fchwierigen Aufgabe ging öon XtwmaS SBright (1845) aus, welker bie
beiben Sohlenftäbc burch freiSförntige, öon einem Uhrwerfe in Rotation gebrachte
Scheiben erfefcte. StHein fchon einige gahre fpäter brachten Staite (1847—49),
goucault (1848) unb niete anbere Regulatoren ober eleftrifche Sampen, bei welchen
ber Sohlenabftanb mittels eines öon bem Strom beherrfchten Eleftromagnets ge*
regelt würbe. ES gefchah bieS bamals freilich noch nicht in öertäfjticher unb
befriebigenber SBeife; aber baS gu ©runbe tiegenbe tßrincip war ein fo gefunbeS,
baß es noch heute in ©eltung fteljt. hierbei läfjt fich ber Eleftromagnet erfefceit
burch ein für ben Strom beftimmteS Sotenoi'b, b. i. eine $ral>tfpule, in welche
ein eiferner Sohtenträger burch bie magnetifirenbe Sraft beS Stromes mehr ober
»oeniger hineingegogen wirb. Seit jenem erften Auftreten ber eteftromagnetifchen
Regulatoren finb Segionen berartiger, mannidjfach oerbefferter Campen erfdjiencn
öon ber oerfchiebenften gorm unb ©üte.
Sei einigen Regnlatoren (befonberS aus älterer 3«t, bis gegen 1849) ift ber
eine Soljlenpol fij unb nur ber anbere beweglich, was gur golge h“t, bah ber
Sichtherb fich longfam öerfchiebt. gür bie gewöhnliche ^Beleuchtung ift bieS nur
ein leister Uebelftanb, bagegen aber ein nicht gu butbenber für alle gäHe, wo bie
Sichtquelle im Srennpunfte eines ^ohlfpiegelS ober einer Sammctlinfe bleiben
foH, was namentlich auf Seuchtthürmen gu beachten ift. $amit alfo ber eleftrifche
Sichtherb feinen Drt in ber Sampe behalte, werben an ben meiften Regulatoren
(beiläufig feit 1849) beibe Sohlen gegencinanbcr fclbftthätig bewegt, unb gwar
bie pofitiöe Sohle mit boppelter ©efdjwinbigfeit, was beSljatb fein muh, weit
biefc gweimal fchneKer abbrennt als bie negatiöc.
So fehr öerfchieben bie eleftrifchen Sampen ober felbftthätigen eleftrifchen Sicht*
regulatoren conftruirt finb, fo hoben fie boef) alle, wenn fie brauchbar fein follen,
fotgenbe gorberungen gu erfüllen: ihre Sofjlenfpihen ntüffen fich berühren, fotange
bie Sampe ftromfrei ift. Sobalb jene Spieen öermäge eines burchgeleiteten clef*
trifchen Stromes Weifjglühenb geworben finb, muh ein öon biefem Strom beherrfdjter
Eleftromagnet bie Sohlenfpifjen fo Weit auSeinanbertreiben, bah ber SJaöp’fchc
Sichtbogeu mit bem fräftigften Sicht fich entwicfeln fanit. liefen mit ber Stärfe
beS Stromes wachfenben Slbftanb ber beiben Soljlenfpifcen hot ber Regulator auf
baS hefte, b. i. bei ber ftärfften Sichtentwidetung, herguftctlen unb, trofc beS 2lb*
bremtenS ber Sohlenftüde fowie trofc ber gwifchen gewiffen ©rengen auftretenben
Stromöeränberlichfeit, gteichmähig Währenb mehrerer Stunben gu erhalten. Sei
Seuchtthürmen muh iiberbieS noch ber SKittctpunft beS SohtenbogeuS im Srennpunfte
ber SelcuchtungSfpicgct unb SeleuchtungSlinfen unöeränbert feine Sage behalten.
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Die (Eleftricität in 6er Cccfjnif.
237
$)iefe Stufgaben haben bie berfcfjiebencn (Sleftrotec^itifer in betriebener SBeife gelöft.
Sfm weiften befannt unb betbreitet waren bis jur jüngsten 3eit bie automatifch
eingerichteten Regulatoren ober eteftrifchen Samten bon goucault*$uboScq, ©errin
unb ©iemenS*$atSfe. Scfct finb audj anbere Erfinber unb Sonftructcure eleftrifdjer
Samten mit Erfolg aufgetreten; mir (ommen hierauf weiterhin jurücf.
$a eS außerhalb beS Rahmens biefer ^ectfdhrift liegt, eine ©efcfireibung ber
jahlreidjen Slrten bon Regulatoren ju geben, fo bürfte eS genügen, hier baS SBefent*
lidjfte berfelben im allgemeinen anjubeuten. ©ei ben meiften Regulatoren finb
bie beiben Soßlenftäbe lothredjt gegeneinanber gerichtet, Wobei in bet Regel bet
obere ©tab für ben pofitiben ißol beftimmt ift. Xie beiben Sohlenträger greifen
in ein einfaches Räberwerf berart, baß wenn ber obere ©tab, bermöge einer
geber ober meift infolge feines großem ©ewidfjtS, ^erabfinft, ihm ber untere
entgegenfommt, bis fich beibe Sohlen berühren. SBenn ber Strom in bie Sampe
geleitet Wirb, fo umfließt er einen Eleftromagnet, beffen Stnler in einer Seinen
Entfernung bon einer gebet gehalten Wirb. $iefer Sinter geräth bei einer
gewiffen ©tärfe beS EleftromagnetS automatifch in eine fjin= unb hergeljeube
©ewegung. Sefctere Wirb auf jenes Räberwert fo übertragen, baß bie beiben
Sohlen fich boneiitanber entfernen. $a aber hierburdj ber SeitungSWiberftanb
immer größer, mithin ber ©trom unb Eleftromagnet immer fchwächer werben,
fo tommt eS bei einem gewiffen Slbftanb beiber Sohlen enbtich bnju, baß bie geber
ben Sinter in feine urfprünglichc Sage jurücfjieht. 3>aburch h® rt bie t>on bem
Sinter auf baS Räberwert öerpflanjte ©ewegung auf unb bie beiben Sohlen finfeit
toieber gegeneinanber. SBeil aber jeßt ber SeitungSWiberftanb ab* unb bie ©trom=
ftärte ^unimmt, fo beginnt ber Sinter an bem nunmehr ftärfer geworbenen Eleftro*
magnet abermals fein ©piel, welches wieber mittels beS RäberWerteS bie Sohlen
auSeinanbertreibt u. f. w. (©tjftem ©iemenS). gn foldjer SBeife halten fich bi* abwärts
treibenbe geber* ober ©chwertraft am obern Sohlenträger unb ber entgegenarbeitenbe
Eleltromagnetiömuö, bei einem entfprec^enben Slbftanbe beiber Sohlen, alfo bei einer
gewiffen ffiogenlängc, nahezu baS ©leichgewicht. 3)ieS foH fo ber galt fein, baß
bie Sidjtfchwanfungen taum merflich h**aortreten. 3)aS Saufmerf ber Regulatoren
ijt mit 3)ämpfungS* ober ©erjögerungSOorrichtungen (SBinbfängett, mit ©ewegung
hemmenben Suftpolftern ober gliiffigteitSfäulen, magnetifchen ©remfen u. bgl.) öer*
fehen, bamit bie Sohlenträger fich nur tangfam gegeneinanber bewegen tönnen. 2)a
ber Rtittetpunft beS teudjtenben ©ogenS im Slpparat ftetS biefetbe Sage behalten foH,
fo läßt man ben pofitioen Sohlenträger an bem Umfange eines RabeS fich bewegen,
mäßrenb ber negatibe an ber tleinern SBetle beffelben fich berfchiebt. hierbei ift
baS ©erhältniß berart, baß bie pofitibe Sohle immer einen hoppelt fo großen SBcg
als bie negatibe jnrücflegt, WaS, Wie bereits erwähnt, beSljatb fein muß, weit jene
jweimat fchnetler abbrennt als lefctcre. Stuf biefem fßrincip beruhen bie oben*
genannten Sampen fowie auch öiele aus ber neueften 3dt (meift feit 1878), wie
j. ©. jene bon ©ürgiit, Erompton unb ©ülcher. 3)ie eteftrifche Sampe beS tej>tem
(1880) zeichnet fich bur<h bie höchfte Einfachheit aus, inbem ein in Schwingungen
gerathenber Etettromagnet feine regutirenbe ©ewegung birect, alfo ohne Räber*
ober $ebclwerf, auf ben ciferncn Xragftab ber obern Sohle berart überträgt, baß
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238
Unfete <3eit.
ein ruhigel £id)t entfielt, Weisel bie größte Sutenfität befifct, bie bei ber bor*
Ijanbenen Stromftärfc möglich ift. Die SBcrlangfamnng ber ©ewegung erfolgt
mitteil einer magitetifdjen Sremfc.
Sie fcf)on angeführt toorben ift, fann bie Stolle bei regulirenben (Elcftromagnctl
auch tiDn einem Solcnoib, b. i. bon einer Draljtfpulc, übernommen toerben, weldje
auf einen in ihrer Höhlung fpiclenben (Eifenftab, je nach ber Stromftärfe, mehr
ober Weniger anjieljenb Wirft. Die £>in= unb $erbewegung biefel (Eifenftabel
erfefct alfo hier jene bei Stnfcrl bei ben (Elcftromagncten. Der erfte, Welcher bal
Solcnoib in biefer Seife an elcftrifchen Sampen einfach, b. i. ohne 3Wifd)en--
mechanilmul, anwenbete, war Strdjereau (1850). ©ei feiner Sampc war jeboch
bie Stegutirnng noch unficher unb ber SJtittelpunft bei ®ohlenbogenl nicht fif. Sn
neuerer 3eit (etwa feit 1878) würben biefe llcbclftänbe baburch aufgehoben, bah
bal Solcnoib mittell Stöber- ober £>cbclwerf bie Stcgutirung bornimmt; hierher
gehören bie eleftrifdjcn Samten bon ©aiffc, Sarve, ©tuffj, Safpnr, Domfelb,
Stapieff u. 0. a.
Sn bem SDtahe, all bie eleftrifchcn Campen unb ihre fi'raftfpcnber oerbeffert
würben, nahm auch ihre ©erwenbung ju. Slnfangl fcfjredten bie großen tln=
fdjaffung!» unb Unterhaltnnglfoften einer mächtigen ©atterie Don ber häufigen
(Erzeugung bei eleftrifchen Sichtei jurüd. Slflein, ba fich fpäter jeigte, bah »nun
fchon mit 20 grofjplattigen Elementen einen jwar nicht langen, jeboch prächtig
leudjtenben Sfohlentheildjenbogen erhalten fonntc, ber fich oulgiebig Dergröhem lieh,
wenn man bie Slnjahl ber (Elemente bil auf 50 berntehrte, fo ging faft in jebent
phhfifalifchen ober chemifchen Saboratorium eine eleftrifdje Sonne auf. ©I begann
mm ein bielfcitigcl, erfreuliche! Stubiunt biefel am phhfifalifchen £>immcl neu
crfchicuettcn ©eftirnl, wclchcl jn ©erfuchen über bie hohe Dcmperatur, ju ÜReffungen
über bie Sichtftärfe bei Sohlcnbogctil (gijeau unb Soucault 1844, Gaffelmann
1844) unb cnblich auch 5 U bem praftifchen Stefultat führte, bah Soucault bei aßen
©erfudjen in ber Optif unb namentlich bei bem pjjotoeleftrifdjen ÜDtifroffop, b. i.
bei ben Projectionen bei ©ilbntifroffopl, bal eleftrifchc Sicht ftatt bei Sonnen»
lichte! gebrauchte (1844). Sefanntlid) Würben bei ber lejjten Selagerung bon
Pari! burch berartige Projectionen' bie mifrographifchcn Depefcheit ber Daubenpoft,
in fchr bergröherter Schrift, auf eine Weihe Sanb, einer ganzen ©erfammlung
lelbar, geworfen. Durch bie Slufnahme bei elcftrifchen Sichte! in bie ©fperimental-
optif fanten Sorfdjer unb Sehrer in bie giinftige Sage, ihre Demonftrationcn
jeberieit bornehmen ju fönneit, ohne auf bie in unfern SBrciten launifdie Sonne
warten ju ntüffen. Sludj einige Photographen in Pari! machen, feit etwa jWei
Suhrjehntcn, bon bem chemifd) fehv Wirffamcn eleftrifdien Sicht für nächtliche
Aufnahmen ©ebranch-
Sn weitern Greifen würbe bal eleftrifdje Sicht burd) bie Stoße befannt, bie
c! im „Propheten" all aufgehenbe Sonne fpielte (1846). SDtit biefer war ben
Dhcaterbirectoren eine ©litdlfonne erfchienen, bie fie, nach bem ©orbitb Sofual,
nicht mehr untergehen liehen. ©I würben für bal eleftrifdje Sicht eigene Stüde
gcfdjriebcn („Dal Patf)cnfinb ber Seen", „Der Sorfar", „Die (Elfen" u. f. W.),
unb el würbe auch tu ältere Opern („ÜJtofe!" u. bgl. nt.) mit grohent ©rfotg
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Die (Eleftridtät in ber Cedjntf.
259
eingeführt. $ie „©eiftererfcheinungen" mittels fc^icf gefaßter, großer, fpiegelnber
©laStafelit (angeblich üon SRobin 1847 erfunben, aber erft feit 1860 allgemein
bargefaßt), bie in herrlichen garben fpriitgenben „SBunberbrunnen", melden baS
eleftrifdje Sicht ben ^auptcffect oerteifit, finb befamtt genug. ©rnfarc Berwenbung
im ©roßen finbet baS eleftrifdje Sidjt feit 1863 auf ben Seudjttjürmen als fräftigcS
gemlicht, nadjbem bitrdj bie früher erwähnte 2UIianccmafd)ine eine reiche ©leftri*
citätSqueßc gefcjaffen loorbeit War (1862). Unb als gar bie bt)namoeleftrifcf)en
Singapparate ifae ftarfen unb berhältnißmäßig billigen eleftrifdjen Ströme gu
fpenben nnfingen (1870), ba begann gunächft bie eigentliche ©poche für bie
Änwenbung ber eleltrifchen ©ingellichter gur nächtlichen Beleuchtung 001 t gabrifen,
Sau», SCrbeitS= nnb SergnügungSpläfcen, ferner für bie ©rljeflung beS SBegeS ber
Schiffe unb Socomotiben, inbem man fie öorn mit eleltrifchen Senaten üerfah,
für bie Sicßtfignale unb gernbeleuchtung ber SERarine unb beS SRilitärS, für fub=
marine Arbeiten, unb überhaupt in aßen gälten, too ein fel)t IräftigeS nächtliches
Sicjt wüufchenSWertb toar.
5m le|ten 5 a h r 3 e h llt h°tten bie eleltrifchen ©in^ellicjter, infolge ber oerbcfferten
©feltricitätSquetten unb ^Regulatoren, aüinäjlich bie oerfdjiebenfan SlnwenbungS*
gebiete erobert, fo, baß nun bie grage zeitgemäß auftauchte, ob nicht baS cteltrifche
Sicht aßgemein gur Beleuchtung oon Bläuen, Straßen, $aßen, ©ifenbahnhöfen
u. bgl. m. benäht »oerben lönnte. hierbei erfchien es wünfchenSwertlj, eine größere
9fngal)l eleftriftjcr Sampen in einem unb bemfelben Stromlrcife, mit gleichmäßigem
Sichte, brennen gu laffeit. Diefe Aufgabe tourbc gwar fchon oor 30 fahren
(1852—58) Oon ©hangt) in Brüffel unter ber Bezeichnung „Steilung beS eleltrifchen
Siebtes" in Angriff genommen, aber bie Seit ifaer Söfung lam erft in unfern
Zagen. Qene Benennung für baS Problem tonrbc jcboch beibehalten unb ift feit
1877 auch in Weitern Greifen belannt geworben; fie ftammt urfprüngliefi bajer,
baß ©jangp baS Sicht eines längern, eteltrifcl) erglüljenben ZralfaS in mehrere
Heinere Z)rahtglüfjlichter einer unb berfelben Seitung zerlegte. SRachbent man nun
in unferer 3eit mittels ber Zpnamomafchinen mächtige unb große Zabtj’fche Sohlen»
bogen erzeugen lonnte, toelche eine Sidjtftärte gleich jener oon 400—40000 glommen
einer ÜRormalferge befaßen; fo lag eS nahe, ben für bie allgemeine Beleuchtung
überflüffig großen unb gu mächtig leuchtenben glammenbogen in mehrere Heinere
leuchtenbe Bogen gu zerlegen, toelche, mittels einer unb berfelben 2)ral|tleitung
unb einer unb berfelben ©leftricitätSquefle, gleichzeitig unterhalten, unb welche, in
paffenben ©ntfernungen ooneinanber, nufcbar aufgefaßt werben foßten. 2Ran hatte
babei als Analogon bie ©aSbeleuchtung im Sluge, bei welcher aus einem @aS=
referooir, mittels eines bagu gehörigen JRöljrenneheS, an beliebigen Orten beliebig
oiele unb beliebig große ober Heine glommen angegünbet, unb beliebige baöon
auch auSgelößht werben fönnen, ohne bie anbern glommen baburcf) wefentlich gu
alteriren.
Bunächft geigt biefeS Stnatogon, baß bie „Zfjeilung beS eleftrifcjen SichteS"
eigentlich eine gweefmäßige Bertjeilung beffelben im 2(uge hot, unb baß bie 3er*
fäßung eines ftarfen eleltrifchen SichteS in mehrere fchwäcfjere nur ber Specialfaß
ift, oon bem baS Problem ber Zfa'fanfl unb Neffen Benennung ausgingen. 91 ß*
b '
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2<*0
Untere <$cit.
gemeiner unb richtiger gefaxt heftest bic Aufgabe nicht lebiglich in einer 3rractio»
nirung bei eleftrifchen Siebtes, fonbern in einer jielbewußten Sertheilung bejfelben
mittels Slufnahmc mehrerer Sampen in einen unb benfelben Stromfreil, gleichüiel,
ob bie Sichter ftarf ober fdjtuad) fein tollen.
2111 üor nafjcjit einem Suftrum bal tßrobtem ber X^eilung bei eleftrifchen
Sietes crnftlidjcr all je bie Söfuug forberte, waren bie bamall gebräuchlichen
Sidjtregulatoren nicht im Stanbe, ber geteilten Aufgabe ju genügen. SBenn man
jwei ober mehrere folcher Sampen in ben Stromfreil cinfchaltete, erlitten alle bie
ftörenbften SidjtfchWanfungen. 3)iel fam baljer, weil jene Sampen fo eingerichtet
waren, baß fie Eiauptfäcfjfid^ bie Seränbcrungen ber ©tromftärfe burch bie Oariabeln
SBiberftänbe ber Sicfftbügen aufouhebeit, mithin ftctS biefelbe ©tromftärfe herjufteßen
hatten. Stur wenn bie ©tromqueQc unb alle SBiberftänbe gleich ftarf blieben, er
hielt man einen Sogen non beftänbiger Sänge unb Sidjtftärfc. Lahm man jeboch
jwei ober mehrere berartige Sampelt in einen Stromfreil ober in ein Stromnejj
(tßarallelfchaltung) auf, fo fonnten ihre SBiberftänbe in Summe bie ©tärfe bei
©tromcl conftant erhalten unb babei bennoch einzeln üerfdjiebene unb oariable
Sichtbögen befi^en. 3n ber gemeinfchaftlichen Seitung beeinflußte bann jebe Ser»
änberung in bem SBiberftänbe ber einen Sampe auch bie Sogenlänge unb $etligteit
aller anberu. @1 entfprang hieraul bie Aufgabe, für bie Teilung bei eleftrifchen
Sichtei bie Sampen fo anjulegen, baß ihre SBiberftänbe, mithin auch 'hre Sogen»
längen unb Sichtftärfen, fidf auf eine beftimmte ©röße reguliren ließen, welche aber
möglichft unabhängig üon ben Schwanfungen ber ©tromftärfe in ber gemeinfehaft»
liehen Seitung bliebe. Sei ber Söfung biefel ißroblentl burfte nicht üergeffen
werben, baß, Wenn eine ber eleftrifchen Sampen burd) Stbbrennen ober 3«rbre^en
ber ffohlenftäbdjen erlöfchen würbe, fogleich auch bie anbern ^lammenbogen ab»
fterben müßten, Weil bann fein eleftrifdjer Strom üorhanben wäre. ©I War baher
bafiir ju forgen, baß in bem Slugenbtid, wo eine ber Sampen erlifdjt, eine felbft«
thätige ©tromfchließung an Stelle ber aulfcheibenben Sampe tritt.
SBährenb einige ©leftrotechnifer ihre Semühungen auf bie ©rpnbung üon
^Regulatoren richteten, welche für bie Iheilung bei eleftrifdjen Sichtei tauglich
fein foKten, lüfte ^ablochfoff (1876) bal Problem in einfadjfter SBeife baburch,
baß er eleftrifte Äerjen h er ftetlte, an welchen gleich 9 toß bleibenbe Sichtbogen
auftreten unb fo lange bauern, all jene mit einem genügenb ftarfen eleftrifchen
Strom befeßidt werben. ®iefe Äcrjen beftehen aul jwei getrennten parallelen
S'ohlenftifteu, jwifchen Wellen fich ein fchwer fchmeljbarer Lichtleiter, meift ©ipl,
befinbet. Sfebe eleftrifchc Kerje wirb in eine febernbe LtetaHflcmme geftedt, burch
beren einen 2lrm ber eleftrifche Strom ein» unb burch beren anbern er aultritt.
$amit eine foldfje Äerje fich eleftrifch entjünbe, finb ihre beiben Sohlenftäbchen
oben jugefchärft unb bafelbft burch einen fehr bünnen Sühlenftreifen oerbunben.
Sobalb ber eleftrifchc Strom burch bic beiben ^ohlenftifte, mittell obiger SJietaU»
jwingc, geführt wirb, erglüht unb üerflüchtigt fich bie S’ohlenbriide, unb el bitbet
fich ein ftarf leuchtenber unb mit bem Strom fortwährenber Sogen, in welchem
nicht nur bie obern Äohlenenben ber ®crje, fonbern auch jener 3*üifdhenifolator Weiß»
gliihenb üerflüchtigt werben. SBeil bie eleftrifche ®erjc nicht ju lang fein barf,
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Die (Hlcftricität in ber Ccc^nif.
2*1
[o währt tt)te Verbrennung nur 1 ‘/ 2 — 2 ©hutben. @S müffen baljer für eine
längere VeteuchtungSseit mehrere fotcher Vrenner nacöeinanber ongejünbet werben,
©etüöljnfich ergänzen fich baljer üier jufamnten gruppirte eteftrifche Kerjen berart,
baß, fobalb bie eine berfetben naljesu begehrt ift, burd) einen SBädjter ober burcf)
eine automatifche Vorrichtung bie nädjfte ffer^c in ben etetfrifchen ©tront einge*
[(hattet Wirb. 3« fotd^er SBeife erhält man gtcichfam eine einjige lange fferje
mit einer Vrennbauer Oon 6—8 ©tunben.
SBeit bei ben eleftrifchen Serjen bie teuchtenben Vogen eine conftante Sänge
unb ^eQigfeit beftfcen, fo taffen fich mehrere fotcher ©rappen Ijintereinanber in
einen StromfreiS fo einfchalten, baß in jeber ©rappe je eine St'crje gleichzeitig
brennt. $urch bie eleftrifchen fferjen würbe atfo bie Xheilbarfeit beS eteftrifdjen
VogentidjteS juerft getöft, wenn auch nur ' u befdjränftem ©rabe, inbem man nur
wenige (4—6) Äerjen in einen StromfreiS mit Sicherheit aufnehmen fann. 3)ieS
rührt baljer, Weit bei ben eleftrifchen fferjen Weber bie ©tromftärfe noch bie
Vogenlängen regutirt werben, mithin jebe etwa« ftärferc ©tromfdjwächung, Wie
fie bei ben ©troinfdjwanfungen furj bauerttb fich ereignen, ein SluSlöfcfjen ber
ßerjen teicht jur golge haben fönnte, wenn jn toiete berfetben in einen ©trom=
freie geftetlt Wären. Um jeboch eine ftärfere ®hnamomafd)ine gehörig auSniiheit
ju fönnen, leitet man oon berfetben mehrere ©tröme ab, in welche man je
4—6 gleichseitig brettnenbe Äcrjen einflicht, fo, baß eine ausgiebige Stromquelle
16—20 fterjen ju unterhalten termag.
$a ber pofitioe ©ot fdjncHer abbrennt als ber negatioe, fo möchten bie elef*
trifdjen ffersen fdjief abbrennen, wenn man nicht entweber jenen oerhättnißmäßig
bidet machen wollte als ben festem, ober bie fierjen mit SBechfelftrömen fpeifen
Würbe, b. i. mit Strömen, beren Dichtung in ber Seituitg jeben Stugenbticf
wechfett, fobaß aud» bie Äohtenftifte fortwährenb ihre ©olarität auStaufchen. 3n
ber VrajiS h at fi<h nur baS tefcterc Verfahren bewährt, weshalb 28ed)felftrom=
mafchinen für bie Beugung beS eleftrifchen Sid>teS mittels ber eleftrifchen ffersen
conftruirt Worben finb. $aS SBefentlidje fotcher Apparate beruht barin, baß
©leftromagnete, beren 9iorb= unb ©iibpote abwechfetnb in einem Greife georbnet
finb, an SnbuctionSfputen fchnelt oorbei rotiren, welche oor jenem Greife unbe-
wegtich bleiben (Sontin, ©ramme, ©chudert, gablodjfoff u. a. m.). Ober auch
umgefehrt, baß bie in einem Streife tiegenben gnbuctionSrollen oor ben unbewegten,
atternirenben 9?orb= unb ©übpoten ber ©leftromagnete mit großer ©efchwinbigfeit
Oorübergeführt werben (Siemens u. #atSfe). ®ie ©teftromagnete berfieht man
entweber auS einer befonbern Keinen bpnamoeteftrifchen URafdjine mit Strom, ober
bpnamoeteftrifch aus ber SDtafchine felbft. Qm (extern gälte muß ber hie^u bie*
nenbe ‘Xfyeil beS Stromes, mittels eines fetbftthätigen ©tromumfchatterS, ftets
gleich gerichtet werben. äftandje Sßedjfetftromntafchinen (Siemens) taffen fich, nach
geeigneten Umfchattungen, auch für gleichgerichtete ©tröme gebrauchen.
$ie eleftrifchen Äerseit 3 a Wo<hfoff’S würben oon ber parifer ©efeKfchaft für
Ausbeutung ber ©leftricität im SBinter beS 3«h reä 1877 im ©roßen üerfucht,
unb Währenb ber SBeltauSftetlung beS 3ahreS 1878 in ber Stbenne be t’Opera
mit 54 Vrennem, ferner in meßrem großen 2Baarenf)äufern u. bgt. m., bent
Unfm Beit. 1882. I.
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Unfere <3eit.
©ublitum borgefüljrt. ©eitbem ift biefe SeleuchtungSroeife an ben genannten
Orten beibehalten worben, unb Ijat überbieS eine beträchtliche Serbreitung ge
Wonnen. 3)er £ichtl)erb ber elettrifchen ®erjeu, nnb auch ber ^Regulatoren, ift
bon URilchglaSfugcln, watt gefc£»tiffenen Simpeln n. bg(. umfdjtoffen, um fo bic
grellleuchtenben Sohlenfpiften fammt ©ogen bem äuge ntöglidjft p entziehen,
beren £idjt p bäntpfen unb nach allen ©eiten p jerftreuen.
©o enthufiaftifcf), mit 9ied)t, aud) bie elettrifchen Äerjen begrübt worben fmb,
unb fo rafdj ihre ©erbreitung pnaljm, fo trat boch eine fet»r bebeutenbe Steactiou
p ©unften ber ^Regulatoren ein, als lejjtcre, halb nad) bem ©rfheinen jener
Sferjen, berart gebaut Würben, baß fie eine Diel Weiter geljenbe Xtjeilbarteit ge=
ftatteteu als bie Äerjen. UeberbieS Waren bie lefctem berhältnißmäßig treuer.
Sluch wegen geringem ftraftberbraudjS erwies fiel) baS eleftrifcfje Sampenlicht billiger
als baS elettrifdje ®crjenlic^t, 35ap fommt noc^, baß bie ^Regulatoren für ge=
theilteS £id)t felbftthätige ©orrichtungen befifcen, um einem ©erlösen aller
Sampelt oorpbeugen, wenn einem ihrer ©renner burcf) Slbbrechen ber S'o^tenftifte
ober burdj anbere 3ufäHe baS Sidjt auSge^t, wäljrenb bei ben eleftrifdjen Serben für
biefen galt noch baS fiebere SDiittel fehlt. ^ablochtoff ßat pmr mit (Erfolg ber-
fuct)t, eine SBieberentpnbung ber elettrifchen Sterben baburch Jjerbeipfütjren, baß
bem Bwifdjenifolator SRetallpulöer beigemifcf)t würbe; aber in bie ©rajiS ift biefeS
©erfahren nodj uicfjt übergegangen.
Um eine SBiebcrentpnbung auch bei ben elettrifchen Serben einfach unb ber*
läßlich p ermöglichen unb pgleict) ben 3n>ifchenifolator, Wetten manche für nac£)=
theilig galten, weil er beim ©djnteljen SBärme, b. i. Sraft berbrau^e, fortp*
fchaffen, haben (1879—81) einige ©rfinber (9?apieff, Siemens, SEBilbe, gatnin u. a. m.)
bie beiben ffolilenftifte ber S'erjen nur burch eine Suftfdjidjt getrennt unb bie
ßoljlen um ©elenfe beweglich gemalt. SBenn eine folche Ä'erp ertifcht, fo neigen
fiel) ihre ©ole, bermöge ber ffraft einer gebet ober ber ©djwere, gegetteinanber
bis pr ©erüljrung. infolge beffen wirb ber ©trom wiebcrhergeftellt unb mit
iljm ©leltromagnetc, welche bie ^oljlenftifte wieber parallel rieten. 9Ran fie^t,
baß berartige ^erjen eigentlich feljr einfache elettrifche Sampen mit conftantem
Sichtbogen finb. Samin fteHt bie beweglichen ®ohleuftäb<hen feiner elettrifchen
fi'erjen parallel peinanber mit ^ütfe eleftrifcfjer ©tröme, Welche auf jene anjieljenb
wirten, ©benfo jieht ein elettrifcher ©trom ben Sichtbogen an, unb hält ihn
jwifchen ben ©ölen ber Sfohlenftifte feft.
3fn höchfter ©ettung ftanben bie eleftrifdjen Serben 3ablod)foffS pr 3*it ber
testen parifer SBeltauSftetlung (1878). SWein fowol bie gachmänner für @aS*
beleuchtung als jene für bie elettrifchen Sichtregulatoren fanben halb bie oben*
erwähnten ©chattenfeiten (geringe Xheilbarfeit unb berhältnißmäßig höhere ©e=
triebstoften) heraus, unb in turjer 3eit tarnen bie ^Regulatoren Wieber p ®l|ten,
bie injwifchen für eine biel weiter geljenbe Xfjeilbarfeit beS elettrifchen ©ogen*
lichtes, als fie bei ben elettrifchen ®erpn p erzielen ift, umgeftaltet worben
Waren. $aS ©emeinfame ber weiften Sampen biefer Slut befteht barin, baß ihr
©trom fich in jwei 3n»eige theilt. 35er eine baoon geht burch ben gewunbenen,
langen unb bünnen 35ral)t eines ©lettromagnets ober eines ©olenoibs unb be-
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Die (Eleftricität in ber Cecgnif.
2<k 5
gerrfcgt baS Bufammenfcgieben ber beiben Äoglenftäbe; er übernimmt alfo jene
Ugütigfeit, welcge bei ben filtern ©injeflampen ber geber* ober S<gwerfraft am
obern tjßote guget^eitt toar. SBir wollen bie in folcger SBeife eleftromagnetifig
arbeitenbe Stoße beS bünnen ®ragteS bie SRcbenfpule nennen. ®er anbere Bweig»
ftrom fließt burrg ben bergältnigmägig furjcn unb bicfeit ®ragt eines ^weiten
©teftromagnets ober Soleno'ibs unb bewirft, wie egebem bei ben ©injellampen,
baS SluSeinanbergegeu ber bctben Stogtcnftiftc. ®ie gier eteftromagnetifd) tgätige
Stoße bttfen ®ragteS foß |>auptfpulc Reißen, ^gf Strom ($auptftrom) gegt aud)
burcg bie bciben Sorten, wägrenb ber Strom ber Slebenfpute (Stebenftrom) burd)
bicfctbe ni<gt fliegt unb ftetS einen Xgcil bcS gangen Stromes gefrgloffen gält,
wobnrdj ein Stcbenfcgtug an ber Sampe gebilbet Wirb. Sie Stärfe ber beiben
Bweigftrfime oergält jid), nad} bein ©efege ber StromberjWeigung, nmgefegrt
wie bie SBiberftänbe, Wcltgc itjre Bwcige bcm ®urcggange bcS Stromes ent=
gegenfegen.
SBcnn nun bie Stowten bur<g bie SBirfung bcS ^auptftromeS auScinanber=
gegen, fo wä<gft ber Siigtbogen, alfo aucg ber SeitungSwiberftanb im £>nuptftrom,
meid) teuerer in bcmfelbcn Scrgättnig ftgwäcger wirb, dagegen nimmt fegt bie
Stromftärfe in bem Stebenbragt, proportional jener Stromfcgwficgung, ju. ®ieS
gat jur golge, bag bie Stebenfpulc eine Slnttägcrung ber beiben ftoglett bewirft.
Sei einem gegebenen SBiberftanbc, ntitgin bei einer beftimmten Sänge beS Siegt'
bogenS, galten fieg bie entgegengefegten SBirfungen jener beiben Btoeigftröme baS
©leieggewitgt. 3n bem SDtagc nun, wie bie Wogten abbrettnen, forgt bie Stegu
tirung, je natg ben oerftgicbenen Slrtcn biefer Slpparate in attbercr SBeife, aber
immer mittels ber ©egentgätigfeit jener Btocigftröme, bafür, bag bie SBiberftänbe
ber Sampen, mitgin bie Sogentänge beS SidgtcS, conftant ergalten Werbe. ®a
gtg nämlitg an einer guten berartigen Sompc jebc Seränberung in ber Stärfe
beS ganzen Stromes auf bie Bweigftröme fo bertgeitt, bag baS Sergältnig igrer
©egenwirfung ungeftört bleibt; fo finb berartige Sampen unabgängig öoit ben
Scgwanfungen ber Stärfe bcS ganjen Stromes. SBenn alfo megrere folcge Sampen
in einen gemeinftgaftlicgen StromfreiS gelegt werben, fo fteflen fie beftimmtc
Sogenlängen ger, welcge bon ben Stromfcgwanfungen augergalb ber Sampen
nitgt beeinflugt werben.
®ie erfte Sampe mit Stromoerjweigung ftammt ton Sacaffagne unb Igier»
(1855). ®a ju jener Beil nur ©gongt) an eine ®geilung beS SicgteS gtügenber
üßlatinbrägte geborgt gat, fo würbe felbftoerftänblitg jener Stegutator nur als
©injettampe gebrauegt. ®er jWeite, welcger ©injellampen mittels Stebenfcgliegung
regelte unb jur Wiener SBettauSfteflung (1873) braute, War Dr. SBerner Siemens,
gfir bie Sicgttgeilung würbe biefeS ißrincip juerft (1878) bon Sontin, SKerfanne
unb gontaine benügt in ber Slrt, bag bie Sputen igrer Sampen bie regulirenben
SRecganiSmen begerrfegten. Slflein eine weitgegenbe ®geitung beS eleftrifrgeu
SogenfirgteS mit $ülfe jweier Stromäfte gelang erft (1879) mittels ber borjüg=
liegen ®ifferentiallampe bon $efner »Slttenetf (SonftructionScgef bei Siemens u.
£alsfe). Sei biefer Sampe ftegt ein Stebenfolenoib totgreegt über einem £>aupt=
folenotb. ©in ©ifenftab fdgwebt innergalb ber $ögtung beiber Solenoibe auf unb
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Unferc ,3eit.
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ab unb regelt mittete eines genauen dJfechaniSmuS ben Sichtbogen auf eine be=
ftimmte Sänge. Räubern für bie beweglichen ’Zfytik biefec Sampe ©leichgewid)t
hergeftedt worben ift, (ommt bei ber Regelung beS SohlenbogenS bloS bie 2)iffe»
rentialwirfung ber beiben Solenoibe auf ben in benfelben fpielenben Sifenftab in,
betracht, worauf fich auch bie Benennung ber Sampe bezieht.
$iefe mit »oder Slnerfennung aufgenommenen Sampen geftatten eine weit»
gehenbc Bcrtheilung beS etcftrifcheu 33ogentid)teä. (Sine ©rcnze ber lefctern tritt
äunächft baburch auf, bafj man nicht leicht über 25—30 Sampen in einem Strom»
treife hinausgehen möchte, weil wegen ber fyotyn Spannung beS h^rzu crforber»
liehen Stromes bas Sicht an ffieißc »erlieren, unb mit biolettcn bis blauen
garbentönen auftreten fönnte. 9lu<h Wäre, bei Rnwenbung bon SBechfelftrom»
mafchincn, zu fdrehten, baß bie gfolirung beS SWafchinenbrahteS bon bem hoch 3
gefpannten Strome burchboljrt, atfo bie Bfafchinc unbrauchbar Werbe. ®a jeboch
eine ^^citBarfeit bis jn 25 Sampen jene ber gablochfof^Sferzeit, bei größerer
Sicherheit unb Bidigfeit beS Betriebes, fehon weit übertrifft, fo wirb begreiflich,
baß bie Sifferentialfampen für bie öffentliche Beleuchtung ben 3ablocf)foff=$erzcn
borgejogen Werben. 2)ie Sicherheit beS Betriebes fommt baljer, baß beim ©r-
töfchen einer ber Sampen ans irgenbwelcher Urfache ju berfelben eine furje
Schließung (ßontact) beS Stromes felbftthätig eintritt, fo, baß bie anbern Sampen
nngeftört weiter brennen fönnen. SefctereS wäre jwar auch f<h° n burch ben ftets
fortbauernben Strom beS RebenfolenoibS ermöglicht, aber in folcher SBBeife ginge,
wegen beS großen ScitungSWiberftanbeS in bem Rebenfolenoib, ein Ih e ^ ber
Stromftärfe unbenüfct berloren, unb bie Sampen würben fcßwächer leuchten. SRan
hat auch bcrfucht, ber Rebenrodc jeber Sampe benfelben SBibcrftanb ju crtfjeilen.
Welchen ber Sichtbogen befifct, bamit, wenn eine ber Sampen auStöfdjen fodfe,
jebeS Rebenfolenoib ben Strom mit bemfelben SBiberftnnb weiter führen fönnte
Wie früher ber Sichtbogen. $aburch würbe bie ©leichmäßigfeit ber Sichtftärfe ber
übrigen Sampen erhalten. Sldein, ba auch au f biefe SSeife ein Iheil beS Stromes
noch unauSgebeutet bliebe, fo }ief)t man einen furzen Stromfchtuß bor, unb er»
tticilt lieber ben übrigen Sampen eine entfprcchenbc Sichtoerftärfung.
Rieht ade mit Rebcnfchluß berfehenen Sampen zählen zu ben $ifferentiallampcn,
fonbern nur jene, bei welchen feine anbern Kräfte als blos bie beiben 3*oeig=
ftröme auf einen regulirenben eifetnen Slnfer ober Solenoi'bftab gleichzeitig unb
nach entgegengefefcter Richtung, alfo mit ber Differenz ihrer Kräfte, Wirfen. 2Bemt
bagegen an Sampen, welche Rebenfchlußrodcn befifcen, bie Strom» unb auch
anbere ffräfte in ber 3eit nacheinanber auf baS regulirenbe Sßerf zur 2hätigfeit
fommen, fo bezeichnet man folche Regulatoren im adgemeinen als 3ü ) eig»Rebcu»
feßtuß» ober 3)eribationSlampen (Sontin, SRerfanne, gontaine u. a. m.). Slußer
bon Stltenecf (Siemens), ber, wie oben gefagt, bie erfte »Differentiallampe con»
ftruirte, brachten in neuefter 3eit auch onbere ©rfinber — z- ©ruffj, ©rompton,
Biette unb Ärijif (1880) — S)iffercntialregulatoren. ®ie Sampe ber beiben
tehtern gehört zu ben adereinfachften unb beften Regulatoren für bie Steilung beS
clettrifchen BogenlichteS. Bei biefer Sampe taucht innerhalb zweier lothrecht über»
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Die deftricität in ber Cedjnif.
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einanberftefjenber Soleno'tbfpuleit, non welchen jene mit bünnem $raf)te bie untere
ijt, ein bureb ©egengewicbt äquitibrirter, hoppelt fonijdjcr ©ifenftab als Srägec
her obem Sohle. $ie 93erbättniffe in ber SJerjüngung beS ©ifenferneS finb, nad)
beiben ©eiten fjin, fo genommen, haß biefer (Sifenftab, in bemfelben -Kaße als bie
ßoljlen langsam öerbrenneu, burdj bie ©egenwirfung ber beiben ©pulen, ohne
jeglichen ÜRecbaniSmuS, gleichmäßig nncf) unten geführt werben. §ierburd) erfolgt
bie SJegulirung beS Sid^tbogenS auf einen gegebenen SBiberftanb, mithin auf eine
beftimmtc Sänge. SOtittetS einer felbfttbätig werbenben Slebenfdjaltung ift bas
SBeiterbrennen aller Sampen auch für ben gaü jidjergeftellt, wenn eine berfelben
bnrcb Slbbranb ober 33efdjäbigung auSlöfcben foHtc.
Obwol bie früher erwähnten, oorjiiglicben Sampen ©ülcber’S feine Stebeufcbluß»
fpulen befi^en, fo ift es ilpn bennocb gelungen, biefelben in trefflidjfter SBeife für
geteiltes eleftrifc^eS Siebt ju berWenbett. ©üldjjer galtet feine Sampen nicht
hinter, fonbern parallel nebeneinanber, Wobei je eine Sampe in je einem Steigs
ftromc beS #auptftromeS liegt. ®ie ©ntjünbung ber Sampen Wirb fucceffibe, burdj
Schließung beS entfpredjenben .BweigcS, eingeteitet, wobei ficb bie Sampen nach
unb nach gegenfeitig fo lange reguliren, bis fie gleiche Sidjjtftärfen befipen. 3u
biefem ÜBefjufe muß ber SeitungSWibcrftanb in allen gweigteitungen ber Sampen
ber nämliche fein, Was ©ülcber burdj eine finnreidjc, iljm eigentfjümlidjc Sßcr=
tbeilungSWeife beS SeitnngSwiberftanbeS erreicht. 93ei ber Stehen» ober parallel»
jdjattung ber in Siebe ftebenben Sampen fommt ein Strom bon geringer ©pamtung
nnb großer ©tärfe jur Slnwenbung, welken ©ülcber butd) eine für biefen 3 wcd
bon iljm eigens erbaute bpnamoeteftrifebe ÜJlafdjine beroorruft. Seziere mit beit
jngtbörigen Sampen unb obigem SinfcbaltungSberfabren bilben jufammen ein treff»
li<beS ©elendjtnngSfpftem. SKit bemfelben erhält man ein rein Weißes, boKeS unb
rubigeS Sidjjt, Wäbrenb bei Ijodjgefpannten Strömen, wie fdjon gejagt Würbe, biolctt»
blaue Öarbentöne ju fürsten finb. SSon berufener Seite Werben an biefer 93e=
IembtuitgSWcife Sicherheit nnb Dcfonoinie im Setriebe, eine beredjenbare Jljeilbarfeit
für größere unb Heinere Sampen unb itocb anberc gute Gigenfdjaftcu gerühmt.
©0 ift benn baS febwierige Problem ber 1b c ^ un 9 beS eleftrifeben SogenlicbteS
glüdlicb gelöft. 3« ber ißrajiS tritt jebod) eine Scfcbräitfuitg be^üglidj ber ein»
jufdjaltenben Sampenjabl junäebft babureb auf, baß bie Steigerung ber ©röße beS
baju erforberlitben ®pnamoapparatS, prafttfd) genommen, eine ©renje hoben muß;
ferner babureb, baß bei ©inßbattung ju Pieter Sampen bintereinanber, infolge ber
bierju erforberticben hob«« Spannung beS Stromes, baS Siebt an Steiße nerlicrt
unb mit Piotetten unb blauen Stuancen auftritt. Segt man bagegen, bei einem
minber gefpannten Strome, bie Sampen parallel ober nebeneinanber in 3weig=
ftröme, fo fommt man. Wegen beS erböbeten SlufWanbcS an SeitungSbräbten, eben»
falls £u einer S^ranfc, bie freilich bei ber Portbeilbaften SebaltungSweife Pou
©ülcber Weiter hinaus als bei gewöhnlichen SßaraHclfebaltungeit liegen bürftc.
Sittein bei jeber beliebigen Slrt ber Sicbtöertbeilung gebietet enbticb bie waebfenbe
Sänge beS SejtungSbrabteS einen .£>alt, weit ja mit ber ©rftreefung beS 2)rabteS
ber SeitungSwiberftanb 511 » unb bie Stromftärfe abnimmt, mithin fieb flieht eine
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2^6
Unfere <3eit.
fo grofje Srat)ttänge ergeben ntufj, non Welcher an eS tohnenber wirb, mittete
einer jweiten ©teftricitätSquelle eine neue Sampenreihe mit Sicht ju berfehen.
SBährenb niete ©leftrotechnifer fi<h mit ber Xfjeitung beS eleftrifcheu ©ogen«
lichtes beschäftigten, gingen anbere non leftterm gänzlich ab unb fugten bie Rettung
beS eleftrifchen Siebtes burd) bebeutenbe ©erbefferung ber ättern ©tüh* ober
SncanbeScenjtampen (ÜJiolepnS 1841, &ing 1845, ©etrie 1849 u. a. m.) ju
bewerfftelligen. ©ei festem ift bie betannte ©lüfjwirfung beS eleftrifchen ©tromes
berwertljet, nermöge welcher biinne unb furje ©tatin«, 3 ribium* ober ©tatiniribium«
braute ober fehr bünne unb für je $ohtenftäb<hen, ftohtenftreifen, ßohtenfafem
u. bgl. m., wenn biefetben an betriebenen ©teilen bei ©djtie&ungSbraljteS ein«
gefchaltet Werben, bermöge iljreS großen SeitungöwiberftanbeS, bei genügenb ftarfem
©trom, gteiefjjeitig bte jum Sßetffleuchten erglühen. 3 ” folget 8 trt wäre freilich
bie Rettung beS eleftrifchen Sid)teS in ber einfachsten SBeife burchiuführen ge«
wefen, wenn nicht jene Sräljte, obwot fte ju ben fchtnierigft fchmeljbaren jäljten,
in biefer hohen £>ifce bennoch gefchmotjen unb nerbrannt, bie ftohtenfäben aber
burch ©erflüchtigung unb Debatten berührt worben wären. Um biefem Uebet«
ftanbe entgegenjufteuern, h°& en Schon bie erften ©rfinber bie ©tüljförper in
naheju tuftteere ©laSbaüonS eingef^toffen, welches ©erfahren feitbem, mit immer
beffer werbenbeni ©rfolge, beibeljatteu würbe. Sa aber fetbft hier noch bie 3er«
Störung an ben gtühenben krähten ober fiPhtenftäbctjeH, wenn auch Sehr oerlang«
famt, fortarbeitete, fo muffte behütet Werben, baff beim gerretfjcn e i nc § berfetben
alte anbern ©tüf|li<f)ter, wegen beS auSblcibenben Stromes, ebenfalls ertäfchen.
Sem Suchte Schon ©hangt) (1852—58) nor^ubauen burch eine einfache eleftromagne»
tifche Diegutirung, Welche baS Slbfefjmeljcn ber ©tatiubrähte berhöten Sollte, ©pater
hat man mittels felbfttljätiger Sfurjfcfjlüffc ober jweefmähiger 3 'oeigteitungen für
baS SBeiterftiefjen beS Stromes geforgt, wenn auch in einer ober mehrem Sampen
ber ©lüljförper fchmiljt ober jerftäubt.
Sie bereits in Sergeffenheit gerathenen, möglichst luftleeren ©lühlichttatnpen
ber ältern 3eit würben in unfern Sagen wieber jum beffertt Seben erweeft, unb
jwar anfangs (fiobtjguiite 1873, ®onu 1875 unb etwas Später ©outiguine unb
fjfontaine) mit nicht aüfeitig befriebigenbem, jutefct (feit etwa 1879: ©wan, ©bifon,
ÜDtagim unb gof) aber mit gutem ©rfolge. Siefer trat jeboch erft ein, uachbem
eS ben ©rfinbern gegtiieft toar, ©aumtoollfäbcu (©wan), ©ambuSfafern (©bifon),
Startenftreifen (ÜKajim), SReiSwurjeln (ffoj) u. bgl. m. burch ein eigentümliches
©erfahren berart 31 t berfohlett, bah bie barauS gebogenen hufeifenförmigen ©figet
eine grofje Sauerhaftigfeit, gegenüber ben jerftörenben ©inflüffen, erhielten, ©in
Solcher harter unb elaftifdjer ÄPhtcnbüget bermag bann burch ben eleftrifchen ©trom
in einem luftleeren ©taSballon längere 3eit (im Surdjfchnitt etwa 800—1600 ©tun«
ben) naheju mit weitem Sicht ju erglühen, unb berleiht ber Sampe eine für
mehrere Söfonate auSreichenbe ©rauchbarfeit, ba ja täglich nur einige ©tunben
©rennbauer in Slnfpruch genommen werben bttrften. Sie Sichtftärfe einer Solchen
Sampe erftreeft fich auf etwa 10—15 Sergen* ober 1 —l*/ a ©aSflammen, wobei ber
©eleuchtungSeffect ähnlich jenem beS ©aSlichteS ift. Ser ffraftnerbrauch für bie*
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Pie (Elcftricität in bet Cccßnif.
24(7
jtlbe Cicßtftärle ifi jebocß ßier oiel ßößer oll bet ber ©rgeugung bei 3)atß’fcßen
©ogenlicßtel, toelfjaft) biefel ©lüßliißt aucß in bemfelben ©erßättniffe treuerer all
bal tefctere tuirb. ©ei genügenb ftarfer ©teftricitätlquede fann inan eine feßr
große Slttgaßl fotc^er Sncanbelcenglampen mittetl ißaradelfcßaltung in Xßätigfeit
erhalten. 8 u flfeitß if* burcß Stegulirungen bafür geborgt, baß bie Sidjtftärfe ber
Campen ungeanbert bleibt, gteidjöiel ob man mehrere Campen neu einfcßattet ober
einige aullöftßt. 9fm gangen unb großen ßat t)ier bie ©ertßeilung bei Siebtel
große Sleßnlitßfeit mit jener für bal ©allidjt, unb el liegt aucß im ©laue ber
©rfinber, bie ©albeleudjtung aul ben Salon! unb ißrioatßäufern ju oerbrängen
unb burcß bal ßicßt cteltrifcßer ©tüßlampen gu erfeßen. hierfür fpricßt befonberl
bal SSegfaHen ber ©fptofionlgefaßren, ber gefürchteten ©alaulftrömuttgen u. bgt. m.
Sine allgemeinere ©infüßrung ber eleftrifcßen ©lüßlampen in $aul unb £of bürftc
jebodj erft bann gelingen, wenn ber h°h e ißrei! für biefel Sicht bil gu jenem für
bal ©allicßt einigermaßen ßerabgebracßt fein wirb, ©iedeicßt werben bie 9lccu=
mulatoren bei ber allgemeinem Slufnaßme biefer ©eleucßtungiweife infofern eine
Stolle fpielen, all erftere leidet inl |>aul geftellt unb, wenn aulgenüßt, gegen
öodfrüftige umgetaufeßt werben fönnten.
Slußer biefen ©tüßlampen gibt el noeß eine gweite Slrt (feit 1878: Steßnier,
SBerbermann, SRarfuI, Stapoli, Soel), welcße fich wefentlicß oon jenen babureß
unterftreibet, baß bei berfelben bie Soßlc im freien erglüßt, alfo, wegen ißrer
Verbrennung mit bem ©auerftoff ber Suft, [jeder leuchtet. $er ©lüßförper befteßt
hier aul einem bünnen Soßlenftabdjcn, meldjel mit feiner ©piße all pofitioem
Vol gegen ben anbetn ißol burcß bie Sraft einel ©ewießte! ober einer Seber ftetig
gebrüdt Wirb. Sft hierbei ber negatioe ißol eine feßr breite Soßletifdjeibe ober ein
bitter Soßtencßlinber, fo bleibt er buntel, unb e! erglüßt nur bie pofüioe Soßlenfpiße
mit fräftigem, weißem Cidjtc. 3» bem 3Jiaßc nun, wie fte langfam abbrennt. Wirb
fte oon jener ©ewicßtl» ober geberfraft berart naeßgefeßoben, baß bie ©eriißtung
bet beiben ißole, mithin aucß bal ©lüßticßt, fortbauert, wobei bie Sufpißuitg bei
toeißgtüßenbeu, pofitioen ißoll nicht öerloren geht. SBeil ßier bal ©lüßen nur
burtß bie bleibenbe ©erüßrung bet beiben ißole untcrßalten Wirb, fo nennt man
biefe Sampenfippe „©tüßlampen mit ßontact". 2)iefelben bilben ben Uebergang
Don ben [Regulatoren gu ben reinen ©lüßlampen; fie geben, im adgemeineu ge=
nommen, ein ftärterel Sicßt all bie teßtern unb ein fcßwädjere! all bie erftern,
unb werben wie bie contactlofen ©tüßlampen parallel gefcßaltet.
$)ie Sitßtfpenber mittetl ©teftricität fowie bie fte fpeifenben Kraftquellen finb
in unferer Seit fo weit gebratßt, baß fowol bie öffentlicße wie aueß priüate ©c*
teueßtung mittel! ©leftricitat — auf ©runb ton üielfeitigen ©erfutßett im ©roßen
— in ernfte ©rwügung gezogen wirb. ®a! eteftrifeße Sicßt ift ein gefüreßteter
©oncurrent bei ©allitßte! geworben unb fein ßeUer ©eßein ftört ben Scßlaf ber
Aktionäre für ©albeleucßtung. Stocß tior einigen Saßren ftanb biefe Slngelegenßeit
auberl. ®amatl Waren gwar ftßon bie mätßtigen ©leftricitätlquedcn, aber e!
Waren Weber eteftrifeße Sergen notß eleftriftße Stegutatoren oorßanben, Oon welcßeit
fttß gleicßgeitig meßrere in ben Strom mit ©rfolg einfcßalteti ließen, b. ß. bie
fogenannte Xßeiluttg bei eleftrifcßen Sogeulicßtel war noeß nicht gefunben. ®ie
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Unfere ^eit.
2^8
etettrifchen Samten tonnten batjer nur ats träft ig teudjtenbe (ginjetlichter auf
Seudfjtthürmen, bei näcfjttidjen Arbeiten auf ©auptäfcen, in Sabriten u. f. tu., wie
wir bieS fd)on angebeutet haben, mit ©ortheil angewenbet werben. Hßein ba bie
©eteuchtungSftärfe mit bem Ouabrat ber Entfernung beS ju erheßenben 0rteS non
ber fiidjtqueße abnimmt, fo wirb iu nieten Säßen, j. 93. bei ber ©eteucjtung tanger
Strajjen, tanger $aßen u. bgl. m., bic paffenb oerttjeilte Sluffteßung mehrerer tlei*
nerer fiichter ftatt eines großen GentratiichteS non ©ortheil fein, obmot burch
äRcffungen bargetjan ift, baff tteinere fiichtbogen, wenn fie in Summa biefetbe
fiidfjtftärfe tnie ein mächtiges Eentratticht tiefem foßeu, met)r Stoft nerbraudjen
als baS teuere. SBettn nun tro$bem für bie Seteucfjtung tanger Staunte unb
Strecten baS nerttjeitte etettrifche fiidjt einer einzigen etettrifdjen Eentratfonne not«
gezogen Wirb, fo erttärt fich bie§, wenn man bebentt, bafj ber Äraftnertuft anher*
feits burch bie beffere ©erttjeitung ber ©eteudjjtung überholt werben fann. Sinb
aber, nach ben gegebenen ©erhättniffen, mehrere fcjwächere Sichter ftatt eines
einzigen ftarten £id}teS ju wägten, bann fpeift man, weit größere 2)pnamomafd)inen
bortljeithafter arbeiten als mehrere Reine, bie nertfjeitten fiampen, foweit als mäg*
tidj, aus einer einzigen mächtigen Stromquefle, mittels hinter* ober Stebeneinanber*
fdjaltung. 3n nieten Süßen, befonberS bei ber ©eteucjtung non tßribatwoljnungen,
würben fetbft bie fdjwächften Sichtbogen ein noch ju ftarteS Sicht tiefem; Ijier
tonnen bann bie weifjgtühenben Eontacttampen unb für noch fchwädjereS Sicht bie
reinen ©tü^lampen, welche beiläufig in ber Stärte unb 2lrt beS fiid)teS ben üblichen
©aSftammen fid) nähern, jur Slnwenbung tommen — oorauSgefefet, baff ber jefcige,
berhättnifjmäfjig twh e IßreiS bes eteftrifdjen ©tüjticjteö niejt banon abjätt. 2)ie
SRüjrigfeit unb Sinbigteit ber Eleftrotedjniter bürfte auch jier mit ber deit
2 lbjütfe bringen.
So bitben benn aße Slrteit beS elettrifcjen Siebtes jufammen ein fidj ergänjenbeS
©eleuchtungSfhftem, welches mit mächtigen ©ogenlidjtem beginnt, bie je einzeln
eine Störte non 40000 Stammen einer Stormatterjc befreit, unb baS ftcj abftuft
bis jinab jur eteftrifejen ©tüjlantpe mit ber £idjtftärfe non 15 — 10 Serjen*
flammen. Unb babei ift eine bem EaSticht analoge ©ertjeitung ber etettrifchen
©rennet möglich- 3a, wenn man noch baS fijwach teucjtenbe ©limmticht in ben
nahezu luftleeren Stäumen ber ©eifjtcr’fcfjeu ©taSröhren an biefeS grofje ©anje
beS eteftrifdjen ©eteud)tungSmefenS, freitidj mehr aus £uft jur Spftematif als
mit prattifdjem Stufen, anfcjliefien woßte, fo erhielte man eine 3nfantmenfaffuug
aßer etettrifchen Sicjter, Wetcje ^eßigfeiteu non unerträglich btenbenbem ©lattjc
bis jum ®ämmer)(f)ein iu fid) birgt. 2Bie nietfeitig ift berjeit ber SBunfd) unferS
©rojjmeifterS ©oettje:
SBüjjtc nicht, was ftc SSefferS crfiiiben tonnten,
911$ wenn bic Sichter ohne tßufcen brennten
erfüßt! Set) oh bie Stearin* unb ©araffinferjen brachten Slbjütfe gegen biefe 8tn*
ftage ber alten Sidjter, benn baS tßufcen berfetben entfiel bur<h bie Setbftnerjehrung
ber Mochte. 35ann tarnen bie nerbefferten fiampen, bei welchen baS nur einmalige
9lbfdjneibcu beS ®ocjteS, nor bem 9(ujünben, ber 3>ienerfdjaft jufiet. ^»iwifchen
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Die (Eleftricität in bet tTcdjmf.
2*9
erfeßien baS ©aStießt im cigentlicßften Sinne beS SBorteS „oßne ißu$en". Unb
barauf baS eteftrifeße Sicht, wo wieber „bie ißu^en" fo Wenig geniren, baß man
baS gleichmäßig anbauernbe, aHju fräftige eteltrifcßc Sogeitlidßt mittels ÜRitcßglaS*
gloden abbäntpfen muß.
Sollen mit noch baS herrliche eleltrifche Sicht mit ben übrigen fünfttidjen Sicht«
quellen Dergleichen? Steht eS boch in (einer Stärfc unb SBirfung ber ßimmlifcßeu
Sonne näher als ben irbifchen Sichtern! 2 Bo finb bie anbern Samten, bie eS beit
eleltrifchen an $efligleit, Schönheit unb SBeiße .beS Siebtes gleich thun? $abei
beläßigen bie eleltrifchen Sogenlicßter nicht burch $iße, unb auch baS Serberben
ber Suft burch BerbrennungSgafe entfällt, (freilich lomnten biefe beiben fünfte
nur für gefeßloßeite (Räume zur ©eltung, unb bie geringe 4?ei$lraft beS eleltrifchen
BogentidjteS ift nur bebingungSWeife bortßeitßaft; benn für falte Socale zäßlt ja
bie ertüärmenbe ©igenfeßaft beS ©aSlidjteS ju beffen ©or^tigen. Sei feiner 9lrt
beS eleltrifchen Siebtes ift irgenbeine ©efaßr — tvie j. S. beim ©aSlidjt bie ©as*
auSftrömung — ju befürdhten; beim felbft bei Ijochgcfpaunten Strömen ift mau
burch flute 3 folirungen gegen Stromfcßlägc gcfdjüfct. ®ie Seitungen taffen (ich
für baS eleltrifche Sicht biel leichter anbringen unb berbergeit als beim ©aSlidjt;
auch iß hier ein gleichzeitiges Slnjüuben aller in einem Stromtreife liegettben
Brenner möglich- Seim ©aSlidjt muß bagegen bie ßleltricität ju §ülfe gerufen
Werben, wenn biete ©aSßammeu burch gleichzeitig eleftrifch erglühenbe (ßlatinbräßte
auf einmal hcrgefteHt »erben fofleit. $cr ©inwurf, baß bie eletrifdjen Sampelt,
berglicßeu mit bem ©aSlidjt, ein ju ßetteS Sicht geben, ift »ol faum ernft 31 t
nehmen. ®agegcn »irb man fich aHerbiitgS erft mit bem eigentümlich »eißen
Sicht beS eleltrifchen SogeitlidjtcS befreunben müffen, »eil wir an baS gelbe Slbenb«
licht ber ©aS«, Del« ober fierjenßammc gewöhnt finb. S)aß aber baS eleltrifche
Sicht baS borgügtichere fei, geht barauS h er °or, baß fiel) in feinen Strahlen im
allgemeinen bie betriebenen garben beffer als bei ben föohtcnwaßerftoßßammeu,
b. i. bei ben glommen beS SeudjtgafcS, ber Kerzen u. f. »., erfennen laßen. ©S
iß z»ar »aßt, baß baS eleltrifche Sogenlidjt, »egen feiueS berhältnißmäßig zu
großen SReicßtljumS an blauen unb bioletten Strahlen, biefe garben bei ber Sc«
leudjtung einer garbenfeala lebhafter herbortreten läßt als bie bunfetrothen; aber
es ift boch nicht fo parteiifcß für bie blaue Seite ber garbenleiter, wie baS gelbe
Sicht ber S'ohlenwaßerftoßßammen es für bie rotße Seite beS garbenfpectruntS ift.
Sei ben gelb leuchtenben glommen fornent bies baßer, weil in ißrem Spectrum
bie blauen Strahlen berhältnißmäßig gegen bie gelben unb rotfjen zu feßr zuriid*
treten. Seim eleltrifchen Sogenlidjt berhält cs fich, &iS Z u einem gewiffen ©rabc,
umgelehrt, jeboeß fo, baß noch garben crlcnntlich finb, Wäßrcnb in ber gelben
Beleuchtung ber Sfohlenwaßerftoßßammen baS SBeiß gelblich unb manche Sitten
bes Stau grün erfdjeinen. UebrigeuS wäre cS biedert möglich, wenn auch fcßwicrig,
bie ftoßtenftäbe bureß geeignete Seimifcßungen ober gmprägttirungen fo zu ftimmen,
baß ißr Sicßtbogen baßelbe Spectrum wie baS Sonnen* ober XagcSlicßt, mitßiit
bie nämlicße SBirlung bezüglich ber garbenwahmeßmung wie biefeS gebe. SBodte
man aber burcßauS baS gelbe Sicßt unferer gewößnlicßen lünftlicßcn SRadjtbcleudj«
tnng mittels beS eleltrifchen SicßteS erzielen, fo würbe eine paßenbe Smprägnirung
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250
Unfere ^eit.
mit Socßfafz baju führen, weil bal Natrium, ein ©eftaubtheif bei Sochfafzel, mit
gefbem ©lüßficht in fmh et #i$e oerffüchtigt wirb. Stdein hoffentlich mitb man
ba! meiße etcftrifc^c ©ogentic^t nicht in fotdjer SEBeife oerberben unb el üorziefjen,
fich in bal ©effere einjuteben. gft boctj bal ©effere bei (Stuten geinb unb nic^t
bal Umgelehrte. dagegen märe bie obenermähnte Stimmung ber Sohle für ben
Ion bei Xagelfichtel eine ermünfchte Iß®*- lal ©efrembenbe, äRonbfcßeinartige
bei jeßigen ©ogentichtel rührt baoon her, baß in bemfetben bie blauen unb oio«
fetten Strahlen oerhäftnißmäßig reichlicher all im Sonnen» unb lagellicßte
oertreten finb; el müßte affo, an ber $anb ber Spectrafanaft)fe, ein Sfulgteicß
am rotheu Snbe bei Spectrum! eintreten. gnbeß ift jebenfatfl bal efettrifche
Sicht auch jefct feßon öiet oorzügfießer all bie flammen ber Soßfentoafferftoffe;
benn el oermitteft bie garbenerfennung oiel richtiger all biefe. 2Bo el aber —
mie im Theater, auf ©äffen, bei nächtlichen geften — auf ben trügerifeßen Schein
anfommt, ba mirb man mot bei ben gfammen ber Serben unb bei Seucßtgafel
bleiben, unb nur ju befonbern Effecten bal efettrifche Sicht, mie el fchon feit
geraumer Seit gefeßießt, anrufen. SBottte man auch in biefen gäHen bal efettrifche
Sicht allgemein anmenben, bann müßten baju paffenbe Stubien Bezüglich ber
Ih«*fermaferei, ber EUecorationen, ber Eoftüm» unb loifettefarben, ber Scßmint*
meife u. f. m. oorangeheu, unb, nach günftigeu Srgebniffen, bie entfprechenben
^Reformen bnrehgeführt merben.
So groß auch bie ©orjüge bei efcttrifchen Sittel gegenüber jenem mittefl
Seuchtgal finb, fo märe el boch unbantbar, ju oergeffen, mefche großartige unb
mohfthätige SReform im ©efeuchtungimefen bie gefonberte larfteffung, SBeiterfeitung
unb ©ertheitung bei Seuchtgafel brachte (SRurbocß 1798 unb Sßinfor, richtiger
SBinjfer 1808), unb toefche SEBiberftänbe bal ©alficßt bei feiner allgemeinen Sin»
führung ju überminben ^atte. SBäßrenb bie efettrifche ©efeueßtung überall mit
offenen Sfrmen empfangen mirb, mußte fich bie ©albeteucßtung, megen ihrer ®e=
fährficßleit, getoaftig burchtämpfen. Sllfein bie mit ihr oerbunbene große Sequem»
fichteit, SReinlicßfeit, unbegrenzte ©ertheifbarfeit, fRegufirbarteit mit befiebigen
gfammengrößen unb Siffigfeit oerßaffen ihr junt Siege, ©il auf eine befcfjränftere,
jeboch aulreicßenbe ffiertheifbarfeit unb geringere SRegufirbarfeit einel unb beffefben
©rcnnerl fommen, bei größerer güUe unb Schönheit bei Sichtei, aUe biefe Eigen»
fdjaften auch bem efeftrifchen ©ogenfichte zu. ©etreffl ber Soften bei efettrifeßen
Sichte! gehen zmar bie Ergebniffe ber oerfeßiebenen ©erechnungen fehv meit aul»
cinanber; aber e! ergibt fich boch im fDurcßfcßnitt, baß ba! elettrifcße ©ogentießt
ber ^Regulatoren auch bezüglich bei ©reife! bereit! mit bem ©alficßt ben SBettfampf
anfzunehmen oermag. ga, mo SBafferfraft zu ©ebote fteßt, ift bal efettrifche Sicht
fogar billiger afl bal ©alficßt. Unb Oon biefer Seite genommen, mürben Sanb»
ftäbteßen, Einzelßotell u. bgf., mefeße über arbeitsfähige ©emäffer üerfügett, bal
efettrifche Sicht feidjt einführen fönnen, roeif fie ßauptfäcßlich nur bie Slnfagefoften
Zu beftreiten hätten, bie ©etrieblfoften aber unbebeutenb mären.
Unfer Sefer mirb fragen, mie el möglich fei, baß bie efettrifche ©efeueßtung
mit ber ©albcleucßtung bie Eoncurrenz aufnehme, ba boeß für ba! ©alficßt bie
©erbrennung bei Seuchtgafel birect erfofge, mäßrenb el für bie Erzeugung bei
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Die £leftricität in 6er (Tetfjnif.
25 \
elettriftfeen Siebtes in einer ©aStraftntaftfeine berbrenne, unb foltjol biefe als auefe
ben elettriftfeen Xfenamoapparat in Bewegung ju fefeen feabe. hierbei müffen bodj
große ftraftbertufte eintreten. 3n ber Xfeat ift eS fo. Xennotfe ift feier bie Um»
toanbtung in etettrifdjeS fiitfet ausgiebiger «nb bortfeeitfeafter als bei ber Erzeugung
beS ©aStitfeteS, tt>eil im erften gatl nnr wenige materielle Xfeeittfeen — in ber
jefeigen ißrapS ßofetentfeeittfeen — jur feötfeften SBeißgtut, atfo jur fräftigften Sitfet»
fpenbe getrieben werben, wäferenb im ^Weiten gatte ftfewätfeere Sinter, bafür aber
unbergleitfetitfe mefer SBärmemengen, feerbortreten. So man atfo mit bem flicht
autfe bie $eijung beS SocatS berbinben Witt, ift bie ©aSbeteutfetung borjujiefeen.
©ebenten wir, baß bei ber elettriftfeen ©eteuifetung in tefeter gnftanj bie Um»
wanblung ber Särme in Sitfet bie Jfjmuptrotte fpielt; erinnern Wir uns, weltfee
IranSformationen ber Kräfte feinem Stuftreten borangefeen; ferner wettfeeS Sirrfat
bon fitfe freujenben unb roiberfpretfeenbeit ©rfefeeinungen ju Hären, unb wettfee ber»
borgenen ©rftfeeinungen aufjubetfen waren, bebor uns bie irbifefeen ©onnen ifer
freunblicfeeS Sitfet juftrafeten tonnten, bann fönncit wir mit ben Sorten ©ritt»
parjer’3 fdjtiefjen:
SBaS bertoorren toar, wirb feeltc,
3Ba3 gefeeim, ift’S fürber niefet;
®ic ©rleudjtung wirb jur SBärmc,
Unb bie SBärme, fie ift Sitfet.
SBeridjtigung. 3 n bem erften Strtifel tieS ©. 135, 3 . 8 b. u.: „ftfeneHe unb toftentofe
SuSfifeattung ber Äraft" ftatt „WuSgabe ber Äraft".
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JDie von JfordunbM.
©eutfdje gamilien;, Staate unb Seichsgefchichten
Don
fiart ßcaun-#Diesbaben.
I.
ß« ift eine fd)Wierige Slufgabe, bie id; mir gefaßt habe — ein Serfudj, für
ben ich, Weit er in 3)eutfd)tanb neu ift, bie 5Rad>ftd)t ber Sritif glaube in Slnfprudj
nehmen p bürfen.
3 d> Wiß bie ©efdjidjte ber int öffentlichen fieben hei'öorragenben 9Ritgtieber
einer beutfehen 3ami(ic erjagten. 2)ie ©efehictjte foß ©rofjüater, Soljn unb ßttfel
fdjitbern unb bie 3«t bon mehr at« einem halben Safahunbert untfaffen. Sie
foß emporfaigett bon betn Untergang toerfontntener geiftlich»weltlicher Kleinftaaten
p ber prcujjifchen SWonarchie, unb bon biefer pm Sorbbeutfchcn Sunbe unb bi«
pnt neuen ®cutfchen Seiche. Sic foß un« führen bott ben Icfctcn lagen be«
alten Zeitigen Söntifdheit Seiche« beutfeher Station bi« p ben erften fahren bc«
toicber aufgerichteten ntobernen 5)eutfchen Seiche«; bon bem Stugeitbtid, wo ffaifet
gran$ bott Defarreict), pr 3eit be« tiefften Serfafl«, bebrängt bott bem fagreid)cn
Snpotcon I., bie Kaiferfrotie nieberlegte, bi« p bem gtorreichen läge, ba König
SBithctm bott ©reufjen, pr 3eit ber SBicberherfteflung ber beutfehen Einheit unb
ßRadjtfaßuitg, nachbent er Sapoleon III. befiegt Ijatte, bem bercinten SBunfdje ber
beutfehen Segierungen unb bc« beutfehen Solle« cntfprechenb, bie Kaiferfrone für
ftch uttb fein |>au« wieber aufnahm; bott ber burch bie centrifugaten Scftrcbungen
äßet untergrabenen, ber wichtigfan 2lttributc unb ber nothwenbigfan SDtachtmittet
beraubten beutfehen SBahtmonardjie bi« p ber, burch bie ©nabe ©otte«, ben
SBißcn be« Solle« unb bie Üapferfeit be« |>eere« ftarlen unb in ihrer centralen
SKadjtfaflung Wadjfeitben beutfehen ©rbmonarchie, in beren |»änbe für aße 3“=
tuuft bie ©efthide ®cutfchlanb« gelegt ftnb.
3<h fchreibe feinen Soman, fonbern ©efehichte. 3war in ctfar Sinie nur
eine Sontiliengefchichte in btei biographifehen Sfijjen. 2Iber biefc gamiliengefchichte
weitet fieh au« p einer beutfehen Staat«» unb Seichögefdjidfa, ober hoch 3 U Sei»
trägen ju einer folgen. ß« ift bie potitifdje ©efehichte einer Familie ber ©egett»
wart, bie ich üerfudje p fchreiben in eiuer 9lrt, wie folche bi«jefct meine« SBiffett«
nur bie engtifdje fliteratur aufweift.
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Die oon ,forcfcnbecf.
255
©ie beginnt in bet ©chreibftube einer fßrooinjialftabt, in netzet ber ©roß»
»ater ft<f) im 3)ienfte eine« fatt)o!ifc§en Söifc^ofS oergeblicb abarbeitet, ©ie enbet
mit bem ©nlet, ber bie tiödjften Sürben, welche ba« Sßolf in ©reußen unb in
3)eutf<hlanb burcb Saht bergeben (ann, betteibet t|at unb jur 3^it an ber ©pifcc
ber beutfchen 9teidj«bauptftabt {lebt; unb bamit ift bie ©efdjicbtc noch nicht jn
©nbe, aber icb fann [ie nur bi« jut ©egenwart fdjreiben.
3<b batte große ©cbtnierigfeiten beim Sammeln be« SJtaterioI« ju überwinbeit,
namentlich fßt bie toeit jurüdliegenben Seiten.
3 cb glaubte aber gerabe bejüglicb biefer ettoa« ausführlicher fein jn miiffen:
erften« toeit ba« 9Haterial fcbtoer ju befcbaffetc unb für bie fWebrjabl ber b*u»
tigen 3)eutfcben fo unbetannt, ja fo neu ift, baß e« ihnen oietteicbt fcbtoer toirb,
einjetne wobt oerbürgte 35aten ju glaubet»; jweitcn« toeit c« tut« einen jitoer»
Iäffigcn fDtaßftab an bie $anb gibt, ben gortfcbritt ju würbigen, Welchen $eutf<b»
tanb in bem testen Sabi'bunbert gemacht bat.
beginnen Wir atfo ohne äße weitern Sorrebeit mit ber ©efebiebte be« ©roß»
Oater« be« je^igen Dberbiirgermeifter« oon ©erlin, mit bem fürftbifcßäfticb münftcr-
feßen Krieg«» unb 3)omänenratbe ©taj gordenbed. Serfen wir junäcbft einen ©tid
auf bie ©tabt ßJtünfter, bie beute bie (Japitole ber preußifeben ©rooinj Seftfalen
ift unb bamat« bie „SRefibenj" be« Sürftbifcbof« oon SOtünfter war, ber fi<b jeboch
nur fetten bort «ufbiett, au« ©riinben, bie ich batb mittbeiten Werbe.
1) 25ie Seit be« Kiebergange«.
3n bem heutigen SUtfinfter, Wo an bie ©teile ber bifdjöfticbcn Staingburg ein
freunbtiche« Schloß unb an bie ©teile ber SeftungSWertc reijenbe ©tomenaben
getreten finb, welche nach aßen ©eiten fdjöne Ausblide in ba« ftifche grüne Seft»
fatentanb geftatteu, erbtidft bu auch beute noch bictfach ba« oormat« filrftbifcböf»
ließe Sappen, nicht nur an bem genannten ©ebtoß, fonbern auch an manchen
anbem ©ebättben.
SRan ift in ©reußen, oon einem berechtigten ©etbftgcfübte richtig geleitet,
gegen fotebe Antiquitäten toleranter gewefen at« in ben Dtbeinbunbsftaaten, wo
man in ber ftranjofenjeit jum ©eifpiel überafl ben alten SReicbSablet mit Sorg»
falt au«gemeißett ober überpinfelt bat. 3>a« bifdböfticbe Sappen ift ein febr com»
plicirte«. @« ift oon oben nach unten in brei gleich Breite ©chilbe geteilt,
©on biefen brei ©chilbeu ift ba« oorbere unb ba« hintere in jwei unb ba« mit»
telfte in brei Quartiere geteilt. 3)a« mittlere ©chilb bat oben unb unten ba«
Sappen oon SRünfter, einen golbenen Querballen im blauen Selbe. 3>a« erfte
unb fecb«te Quartier, lin!« oben unb recht« unten, bat ein rotbe« unb ein filber»
ne« Selb, in leiteten fi^eu brei SRaben nebeneinanber. 3)a« ift bie ©urggraffchaft
©temberg. 35a« britte unb fünfte Quartier, linf« unten unb recht« oben, bat
brei golbene SJtfinjen im rotben Selbe. 3>a« ift bie ^errfchaft ©erlelobe. 35a«
mittelfte Quartier be« mittlern ©chilbe«, ba« fogenannte $erjf<hilb, jeigt ba«
SamilienWappen be« jebe«maligen ©ifchof«. 3)arau« gebt betoor, baß man ba»
mal«, um ©ifchof ju werben, ein Sappen haben, ba« beißt ein oornebmer |>crr
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Unferc
25$
fein muffte, womöglich $rinj au« einem ber regierenben Raufer, wenigften« aber
(Seigneur aus einem ber weftfätifdjen StbelSgefchledjter, als ba finb SBatbecf,
Äetteler, Stäöfctb, ©alen, Sürftcnberg, Sanb«berg, Stettenberg u. f. to.
(Ss gibt eine im 3a^rc 1763 in 3nnöbrucf in ©rojfguart erfchienene Steife»
befdjreibung, in melier ber ßapujinergenerat non ©rijen feine ©ifitationöreifen
in SBejtfalen fchilbert. „Siefe« flache 2anb", fdjreibt ber gute Äapujiner, „hat
gtcidjtoot brei fyoty ©erge, nämlich ftürftenberg, ßanbsberg unb Stettenberg."
SDiefe hohen Raufer, über rodele ber tiroter ftapujiner feine fchledjten SBifce macht,
blühen aud) tfeute noch in SBeftfaten, aber fie pflegen tjeute nicht mehr bie ©ifchof«*
ftiiljle ju beferen. Sic heutige ©eifttidjfeit refrutirt fid) mehr au« ben untern
Stäuben: ein mistiger Umftanb, ber es erftärt, wie ba« ßirchenregiment auf ber
einen Seite bemofratifdjer, auf ber anbern aber jugteidj aud) weit ^ierarc^ifc^er
werben muffte. Sluch im Sentfchen Sleidjötage h<*t ber bürgerliche SBeftfate SBinbt*
t)orft beni weftfätifchen greiherrn non ftetteler, obwot ber teuere ©ifchof öon SRainj
war, ben Slang abgelaufen. Sotdje Heine unb hoch lehrreiche Symptome werben
non benen, welche bie ©efchichtc fchreiben, nicht jur ©enüge beachtet. Sodj
fprechen Wir non ben testen Sagen ber fürftbifdjöflidjen 4?crrticf)feit SKünfter«.
Ser am 9. 3ebr. 1801 gefchtoffene griebe non Sunenitte gab ba« tintc
Stheinufer an Sranfreid) unb nerfprach ben beutfehen S^tentaten, welche bort Sanb
unb Seute nertoren, ©ntfehäbigung auf bem rechten Ufer $u« bem ©ebiete ber ju
fäcutarifirenben geifttichen Staaten. Sattepranb nahm ba« StuögleichungS* unb
©ntfchäbigungSgefchäft in bie |>ättbe. Unb in Wa« für £>änbe! ®S finb SRittionen
©cftechung«gctber, Welche ba« arme Seutfdjlanb aufbringen muhte, an biefen $än=
ben be« normatigen ©ifchof« non Slutun Rängen geblieben. „Sa« Stjao« non
Seutfdjlanb Würbe nereinfacht", fchreibt ber franjöfifche £>iftorifer ©. Suntt). 3a
wohl, aber bie Slrbeit War fchtecht, ber SRadjerlohn theuer unb ber größte Sappen
fiel in bie „$ötte" be« Sehneiber«.
Sa« Kapitel jn SKünfter hoffte gleid)Wol, bie Staatshoheit be« $ochftifte«
retten jn fönnen. ©« befolgte ben Statt) Soflo'ä: „Shuc©etb in beinen ©eutet."
SRan regnete aufjerbem auf bie wiener Hofburg. Stber ba ftarb am 27. 3«U
1801 ber ©rjbifchof unb ©rjherjog SRajr granj in $e$enborf in noch jiemtich
jungen 3<*h ten > SKan beeilte fid) jwar atöbatb, am 9. Sept., einen anbern ®rj=
herjog, Stnton ©ictor, jum ©ifchof non SKünfter ju wählen unb auch i um
fürften unb Srjbifdjof non fföln wählen $u taffen. 3*oöt war e« mit Äurfötn
eigentlich fchon ju @nbe. ffi« waren banon nur noch einige traurige Stefte auf
bem rechten Stheinufer nortjanben, unter anberm ba« ©ergneft Slrnöberg, wo einige
flüchtige Somljerren weilten unb auch jene SBaht toottjogen. Sie beiben Som*
tapitet alfo brängten ben jungen ©rjhetjog, er möge fommen unb Sefifc ergreifen.
Sittein er fam nicht, fonbem lehnte nachträglich bie SBaht ab unb jog eö nor,
Seutfchmeifter in SRergentljeim $u werben. Ser SBiener griebe nom 14. Oct.
1809 machte jeboch auch biefem Drben ein Snbe, unb Srinj Slnton ©ictor muhte
fich tröften mit bem ©eWufftfein, fowot auf bem Seutfchmeifterph at« auch au f
bem fürftbifdjöftidjen Stuhle ber lefcte gewefen ju fein.
Slm 3. Sing. 1802 rücften bie oerhahten Soffen in bie ©ifdjofäftabt SKünfter
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Die r>on ^orefenbeef.
255
ein, an ihrer Spifce ber General Blücher, ber fpätere SJiarfchatt BorwärtS. ©er
große greiherr Oom Stein übernahm im September bie Berwaltung. Beibe zogen
in baS bifchöflidje SßalaiS; bie linfe Seite bewohnte Stein, bie rechte Blücher.
So ift eä bis heute geblieben. ©ie ^erfonen ^aben öielfach getoeefifett. Stber
auch heule «och wof)nt ber Oberpräfibent auf ber einen unb ber Dbercommanbant
auf ber anbern Seite, an biefer Stelle, wo ehemals ber Bifcpof Bernharb
Don ®alen eine geftung angelegt f)ntte, um feine eigene BifchofSftabt 51 t bom=
barbireit.
©aS war baS ©ube beS gürftenthumS SJiünfter.
9Jiit feinem Anfänge »erhielt eS fidj fo.
SBaS bie ©ntftehung ber Stabt SJiünfter antangt, fo oerweife id) auf baS öor=
treffliche SBert bon Dr. 9t. ©rljarb: „©efehiepte SJlünfterS" (SJiünfter 1837).
©er Btofc hieß urfprünglich „Mimi-Garde-Vord". lieber baS SBort „Mimi"
Ijerrfdjt Streit. „Garde-Yord" aber bebeutet unzweifelhaft bie gurt über ben
Sadj ( 2 la), an Wetter bie 3 ufammen(ünfte abgehalten ju werben pflegen, atfo
bie BerfamntlungS», ©erichtS» unb Opferftätte ber alten heibnifchen SBcftfaleu ober
SRieberfadjfen. Solche Stätten benupte bie Kirche mit Borltebe jur ©rridjtung
djriftlicher §eitigthümer, bamit ber neue ©taube bon ben Uebertieferungen unb
©epftogenheiten beS atten profitire. So auch hier. Karl ber ©roße lieg an
biefer Stelle eine Kirche unb ein Klofter anlegen, unb baoon (monasterium)
erhielt bie Stabt, welche [ich botbenförmig barumtegte, ben Flamen SJiünfter.
©er erfte Bifcßof, wetten ber mächtige granfenfatfer, nachbem er bie Slieber-
fachfen nicht ohne einige ©ewaltthat ju ©haften gemacht hotte, hier einfefcte, war
ber berühmte Stpoftel ber Sachfen unb griefen, ber heilige Subger ober SubgeruS.
SRan batirt feine ©infepung auf baS gapr 802; unb banach hätte benn ber geift*
liehe Staat, eine ftattlidje Sieilje öon 64 Bifdjöfen umfaffenb, gerabe 1000 gapre
gebauert, Don 802 bis 1802. ©aS Stift SJiünfter Wußte ben Sturz #einrich’S beS
fiöwen gefepieft zu benupen, um baS Siecht ber freien BifcpofSwapl unb SieicpS»
unmittetbarteit zu erlangen, grüher faßen Zeitige auf bem BifcpofStpron. 3 e|t
(amen bie SRitter an bie Sieche. . ©ie ©pnoften beS nieberfäcpfifdjen SanbeS, bie
©rafen oon ber SJlarf, SJloerS, #opo, Siietberg, würben zu Bifcpöfen erwählt unb
benupten ihre SJlacpt baju, bie ©renzen ihres ©erritorialftaateS zu erweitern.
9tudj im Snnern fuchten biefe Bifcpöfe ihre SJlacpt auSzubehnen. Sie (amen
hier Wie an ben meiften anbern Orten in ©onflict mit ber Stabt, bie fich mit
©ntfeptoffenheit zur SScpr fepte, fo oft ihr bie Bifcpöfe ihre Siechte rauben wollten,
©inmat waren fogar bie Bifcpöfe genötigt, ihre Siefibenz nach ©oeSfelb zu ber=
legen, ©ann (am bie Sieformation, unb nach ihr baS groteSte unb graufamc
Siegiment ber Sßiebertäufer, genannt baS „Königreich Sion", mit bem fociatiftifcfj*
pierarepifepen Schneiber San SBocfelfon an ber Spifce. ©S bauerte etwa ztoei
Sapre. 9lm 24. 3uni 1535 nahm ber Bifcpof nach (onger Belagerung bie Stabt
Wieber ein. ©r fuepte bie Söiebertäufer an ©raufamleit zu überbieten. Slacpbem
ber SEBeftfälifcpe griebe, ber hier abgefchloffen würbe, bem armen Sanbe (aum
einige Siuhe unb ©rholung gewährt hotte, (am ©hriftoph Beraparb oon ©alen
auf ben bifchöflichen Stuhl. ®t fuepte ebenfalls feine SJlacpt im Tunern unb nach
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256
Wnferc ^cit.
außen ju erweitern. 3ebe3 Mittet, weites h* ec i u bienen lönnte, War it|m ohne
ÄuSwaht wißfommen. Sr war mehr ftriegS* unb getbherr atS fßriefter. 3n
ber Sieget War er im ©unbe mit granfreit unb führte Stieg wiber bie Senerat-
ftaaten non $oßanb. Dann {prang er, non Snbroig XIV. fid^ geträntt gtaubenb,
Don biefem ab unb fämpfte für Saifer unb Steit gegen granjofen unb Schweben.
Sei alten biefen Stampfen hatte er jebot nichts all feine eigene ©erfon unb bie
Srweiterung feiner Derritoriatmadjt im Äuge, ©eine getreue ©tabt SJtfinfter
bombarbirte er unb er tegte eine Sitabette unb fouftige geftuitgswerfe Dor biefetbe,
um fie bei bem erften SBerfudje eines SBiberftanbeS ober einer SBafjrung ftäbtiftcr
Siebte fofort nieberwerfen ju fönnen.
Die ffirftbiftöftiten $iftoriographen haben bie 3«it biefeS matiaoeßiftiften
unb gewalttätigen £>errfterS als bie f)ötfte ©tüte beS SteinftaatcS gepriefen.
Äßein biefe ©orte Don ©tüte pflegt erfahrungsmäßig ftctS ben ©erfaß mit fit
ju führen.
©o ging’S aut mit SJtfinfter.
SBährenb beS 18. IgahrtjunbcrtS ging cö mit ihm aßmähtit auf bie Steige.
©S war währenb biefer Beit immer mit Stötn Derbunben unb fpiette taum
not eine fetbftänbige Stoße, ©o intereffant biefe ©eftitte beS ©intens unb
gafleS eines geifttietjen SteinftaateS aut fein mag unb fo wenig fie heutzutage
getonnt ift, fo fönnen wir tr ^ier bot nitt in ihren Sinjetfjeiten folgen. SBir
beftränfen uns barauf, bie 3uftätibe unter ben brei testen gürftbiftöfen, wette
jugteit out ^urfürften unb Srjbiftöfe Don Sötit waren, furj ju ffijjiren.
SBer fit im 18. Soljrtjunbert unter bem Stummftab wotjt füllte, baS Waren
bie Stitter unb ber SferuS. ©eibe Staffen Ratten baS nämtite Sntereffe unb
griffen itteinanber. Äut in bem Wefttiten Deutfttanb war ber 9teitS= unb
Sanbabcl burt ben Dreißigjährigen Srieg unb nat bemfetben oietfat in ©et=
mögenSDerfaß geraten. Deshalb wählten nun Diele Sbetteute, unb namentlit
bie uatgeborenen ©öhne, bie geifttite Saufbahn, ©ie bratten eS in berfetben
ju fefjr cinträgtiten Äemtem ober ©inecurcn unb hinterließen bann oft ein an=
fchnliteS ©ermögen, weites ber gamitic jufiet unb ihren betrübten ginanjen
jnr Äufbefferung gcreitte. Dies ift aut ber ©runb, warum in Deutfttanb
burtftnitttit ber tathotifte Äbet mohlhabenber ift als bie proteftantiften ÄbetS*
famitien.
Die £>aupttaft ruhte auf bent ©auernftanbe. Äut baS ©rutibeigenthum beffetben
ftwanb Don Dag ju Dage mehr jufammen. SS War bie 3eit beS „©efifceS ber
Dobten $anb". Die £älfte beS nufcbaren ©runbeigenthumS war im ©eftfce beS
giScuS, beS SapitetS, beS hohen unb niebern ÄbetS, ber ©eifttitfeit, ber Stifter
unb Sttöfter. SBenn ber ©auer im Sterben tag, tegte er mehr SBerth auf bie Än*
Wartftaft jur ewigen ©tiitffeligfeit atS auf feinen irbiften ©eftfj. Äuf Änrathen
feines ScittDaterS war er teitt ju bewegen, baß er, um jene Änmartftaft ju
erwerben, JpauS unb $of ganj ober theitweife ber Sirte ober bem Sttofter, ober
irgenbeiner Dom SteruS geteiteten frommen Stiftung juwanbte, unbefümmert barum,
ob feine Ängeßörigen in Ärmuth unb ©tenb jurfidbtieben ober ju ©ättern ber
©iitcr herabfanfen, wette fit ctjebem im freien Sigenthum ber gamitie befanben.
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Die t>on ^orcfcnbccf.
25?
Soweit «non in ben gciftlicg=Weltticgen Sroerg» unb Sroitterfiaatcn übergaupt
non filier geregelten Staatsoerwattung fpretgcn tonnte, gerrfcgte als Siegel ein
geillofer £d)tcnbrinn. $ic ©efetlfdjaft fefcic ficg jiifamnten aus einem fcfilpclgenben
Stbel, einem oerbummelten Seamteutgunt, oerlotterten unb arbeitsfigeuen Sttrgeru
unb auSgefogenen Säuern.
2>ie Seoölferung gelangte fc^lie^lif^ auf ben Stanbpunft einer teicgtfinttigcu
SRefignation. Sie üerjidjtete auf Arbeiten unb Sparen, belehrte ficg ju ben ©runb=
fügen ber Sornegmen unb tröftete ficg mit bem ©atgengumor:
Stuftig gelebt unb felig geftorben,
Reifst bem teufet bic 9ied)ming oerborbett.
3)er Slcferbau, ber £anbel unb bie Subuftrie fönten immer tiefer. 3)ie ißrieftcr,
bie SKöncge, bie Settier gebieten. Sie unb ber Slbet tonnten allerbingS fagen:
„Unter bem Sfrumtnftab ift gut Wogncn."
3m übrigen Waren biefe geiftlicg‘Weltlidjen giirftentgümer fo befcgaffen, bag
fie beit Slufprücgcn bcS Staates ebenfo wenig genügten als bencn ber Slircgc.
®er ®ontgerr greigerr oon gürftenberg war e§, Welker in biefeS ©gaoS
Drbnung bringen, bie SRiSftänbe befeitigen, Saub unb Seute politifeg, Wirtgfcgaft=
lieg, moratifeg wieber geben foüte. ©ine beinahe bezweifelte Stufgabe!
(Sr war ber SRinifter unb gatte aiemiieg freie $aub. 2)enn ber gürftbifdjof,
Welcger fegon jiemtieg goeg bei gagreit unb jugteid) aueg ©rjbifcgof unb ffuc»
fürft Oon ßöln War, überlieg igm alles. ©r refibirte in Äölit unb tarn Wenig
naeg ÜRfinfter. ®ie Weltliche SRegierung beS SanbeS lag, unter gürftenberg’S 2ei=
tung, in ber §anb ber fürftbifegöfliegen Kriegs = unb Sotnänenfammer. ©in
URitgtieb biefe© oberften SanbeScollegiumS War ber ©rogüater beS jegigen Ober»
bürgermeifterS oon Serliu, ber ©et). Kriegs» unb 3)omänenratg üRaj gonfenbeef.
©S ift wagrgaft rügrenb, ju lefen, welcge Stnftrengungen oon gürftenberg unb
gorcfenbect gemalt würben, um igrer fdjwierigen Stufgabe $u genügen. SlUeiit
aller geuereifer, aller Slufwaitb oon ®eiftcS= unb SBillcnStraft, alle {Reformen unb
Steformüerfudge waren oetgeblicg. 3)er tränte Körper tonnte bie träftigen Strjneien
niegt megr oertragen. Sie befc^leunigten nur baS unoeruteiblicge ffinbe. ®S
war 5 U fpät. 2)ie {Reformen büntten ben in ben alten Slnfegauungen ßuriidgebtic-
benen oiel }u Weit ju gefeit. ®en Sorwärtsbrängenben waren fie oiet ju wenig.
2>ie oermorfdgten gunbamentc tonnten einen {Reubau niegt megr tragen. Sic
wiegen auSeinanber. SBeil man mit ber {Reform fo lange gezögert gatte, bis cs
ju fpät War, trat nun bie {Reoolution an beten Stelle. Dies tann uns jebod)
niegt ber fßflidgt übergeben, ber Xgätigfeit, welcge SRänner wie gürftenberg unb
gordenbeef bem untergegenben ©emeinwefen juwanbteu, in ©greit ju gebenten.
©ine $auptunterftiigung ergielt bereu fcgoit oorger begonnene reformatorifige
Xgätigteit babureg, bag {ßapft ©lemenS XIV. am 21. 3»ti 1770 bureg bie SuÜc
„Dominus ac redemptor" ben Scfuitenorbcn aufgob.
Sluig in SRünftcr gatte bis bagin ein fegt reieg botirteS gcfaiicocollegium bt-
flanben. 3)cffen äRittel würben nun einer Sommiffion jugewiefen, um fie ju
Gingen« unb Sdguljweden ju oerwenben. ®er früger fegon gegegte Ißlaii, in
ÜRünfter eine UniOerfität ju erritgteu, gelangte nunmegr jur SluSffigrung, naegbem
Unfere 3 <it. 1882. I. 17
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Unfere <3eit.
man ^terju bie Slutorifation beg Äaiferg (am 8 . Dct. 1773) unb bie päpfttidje
Seftätigung erhalten hotte. Siefe ^pot^fcfjufc mit ihren jtoet Sacultätcn beftetjt
heute noch unb.mirb non ißreuffeit mit befonberer Sorgfalt gepflegt. Sag früher
in ben Rauben ber Sefuitcn befinblichc ©tjinnafiuni mürbe neu organifirt. Sig
baffin hotte man ficfj auf ben jefuitifchcn Unterridjtgplon, ber fiberall ber näin*
lidje mar — mit feinen Staffen: ©rammatif, Sogif, SR^etorif, ißfjilofophie u. f. m.
— befchränft. Shtn mürbe alg eine ber am meiften cultioirten Unterrichtgbigciptinen
bie ÜDiatljematif hinjugefügt, meldfe big baljiit oom ©hmnafiunt oerbannt mar. Stuf
bem flachen Sanbe mürben Solfgfchuleit, melche big baljin bort fo gut mic gar
nicht efiftirt Ratten, errietet.
Sag SJiilitärmefcn erhielt eine Steorganifation nad) preuffifdjem SRufter. 3n
ben Stachbargarnifonen in §amm unb Soeft Ijatte mau prenfjifcfjc Offiziere fennen
unb, trofc anfänglicher ftarfer Abneigung, achten gelernt.
3» SRiinfter mürbe in bem ©arbeljotel eine Dffijierfdhule errichtet. Soit nun
au follten bie Offiziere etrnag lernen.
Sie SRechtgpflege mürbe oerbeffert. (Sine SReihc Serorbnungen üerfolgte ben
8 med, bag ©erfahren ju befchteunigen unb bie Unparteilidjfeit unb Unabhängigfeit
ber 9üdjter ficher ju fteUen. Slu<h eine neue 2 Rebicinalorbnung mürbe erlaffen.
Sen gänzlich üermahrloften ginanjen mar für ben äugenblicf nicht anberg ju
helfen, alg bu«h Einführung einer Sopffteuer. Sagegen mürben ben Säuern,
roelche am ftärfften belaftet, einige Erleichterungen jutheil; auch oerfudjte man
§anbel unb ®emerbe, bie gänzlich banieberlagen, mieber ju heben. Eiue Sranb-
affecuranjanftalt, an ber eg bigher gänzlich gefehlt hotte» mürbe errichtet.
Sor allem aber oerbanft bie Stabt SOiünfter felbft bicfer Regierung eine groffc
SBohlthot. Sie foloffalen ffeftunggmerfe, mit melchen Sernb oon ®alen bie Stabt
umgeben hotte, mürben gefdjleift. ©g fehlten bie SRittel ju ihrer Unterhaltung.
2lufferbem- maren fie üoKfommen nufclog. Sie maren nicht gegen einen äufjern
5einb, fonbem gegen bie Stabt felber gerichtet. Sie gute Stabt aber bachte gar
nicht mehr baran, jn rebeßiren, unb mar fchon froh «nb jufriebeit, menn man
fie nur in 9tuhe tiefe.
Sludj bag „gmingmünfter", melcheg ®alen angelegt hotte, bie riefige EitabeHc
muffte meichen. Sie mürbe rafirt unb an ihrer Stelle jeneg Schloff errichtet,
beffeu ich f^on gebacht höbe. Surfürft SJlaj griebrich, fonft ein feltener @aft in
aWünfter, fam fogar felbft oon Söln herüber, um ben ©runbftein 3 U biefem Saue
ju legen.
Slflein jfürftenberg hotte feinen Sanf für alle biefe Seiftungen; alg eg fich
barum honbelte, bem Jürftbifdjof unb Surfürften HJlajimilian griebridj einen Sei=
fifcer mit bem Siechte ber Nachfolge (coadjntor cum spe succedendi) 3 U mahlen,
überging man Sürftenberg unb mahlte, ben alten fdjtechten Irabitionen folgenb,
mieber einen ißrinjen, ben öfterreichifchen ©rjfjerjog SKafimilian Sranj, ber benn
auch, nodjbem ber alte Surfürft am 15. Slpril 1784 geftorben, fuccebirte, fotool in
bem eqbifcfjöflichen Surfürftenthum Söln alg auch > n ^ em fürftbifchöflichen 3Rünfter,
bag jenem gegenüber alg Sepenbenj galt.
Slue^ 2Jlajr granj ^ulbigtc bem 9tbfentigmug. Er ging nicht einmal nach Säht,
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Die t>on ^orefenbeef.
259
gefc^tocige bemt nat SRünfter. Der biefe $err blieb in ^efcenborf bet SBien fifjen
unb lieg fit bort bie ©tnißet ttnb bie ©adhähnbl, wette man in Slünfter nidjt
fo gnt berftnnb ju bereiten, bortrefftit ftntecfen, troj} aller am tueftfidjen |>intmet
immer broljenber anffteigenben bnnfetn SBolfen. Da er nitt# tf)at, fann man
i£|m audj nitt# ©tfimme# natfageu. 3m ©egentljeit, er War burdjau# ntcf)t
barauf au#, feine münfterften Untertanen fhianjiefl jn bebrüden; er tat aut
mand)c§ jum ©eften ber ©ibliotßef, ber Uniberfität unb be# ©pmnafium# u. f. w.
Drofc feiner geifttidjen SEBürben lebt er wettfit; troff feiner „Sänber" unb „Sronen"
unb ,,©iftof#müj}en" in Sheintanb uub SBeftfalen, «erharrt er in bem fügten
©tatten ber Wiener $ofburg, in bem er aufgewatfen war. ©eine £>auptregenten=
tätigteit befteljt barin, weit entfernt bon feineu Staaten, SBürben unb Stemtern feine
Staat#* unb $lmt#ein!ünfte ju berjeßren, Eintünfte, bie eine fotoffafe Summe er*
reiten infolge jener Eumutation geifttiter Slemter, wette ba# Sanonifte Sett
auf ba# ftrengfte berbietet.
Da# finb bie 3uftänbe, in wetten ber ©et). Stieg#* unb Domänenrat ÜRaj
gordenbed ju SRünfter amtirt. ®# ift ein fit aßmähtit bottjie^enbe# Siebergef)en
einer ©taat#form, bie fit überlebt hat; eine Euthanafie bofl gemüttiter SRefig*
nation unb befteibener SBehmuth.
Stilein gordenbed war berufen, ant not an bem ©egräbnifj eine# jweiten
geifitfiten Steinftaatc# t§ci(jiine^men, ber bamat# not jum Deutften Seite ge*
hörte, feitbem aber bemfetben gänjtit entfrembet ift, nitt ohne Serftutben ber
bamatigen Ijab#burgiften fßotitif. Diefer Sleinftaat f»ei§t ßüttit-
Dabon Will it nun hanbetn, um bann wieber jurüdjufehren nat SRünfter,
unb jwar nat bem preußift geworbenen ÜRiitificr, in wettern ber ©et). Stieg#*
unb Domänenrat 9Raj gordenbed unter bem greiherrn bont Stein eine ehren*
bofle Soße gefpiett bat.
3nr 3eit be# nntergehenben heiligen Sömiften Seite# beutfter Sation gehörte
ba# ©i#tum fiüttit (tateinift Seobiunt, franjöfift Siege genannt), reitöretttit
jitm weftfätiften Steife, obgteit e# topographift int frühem burgunbiften Seit#*
fteife gelegen. Da# fianb jählte eine ©iertetmiflion Einwohner unb hatte ein
©ebiet bon 105 önabratmeilen. Slut bie ßJtarfgrafftaft grantimont, Worin bie
berühmten ©äber bon ©paa tagen, gehörte ju bemfetben. Seben biefent großen
Derritorium wetttiter £errftaft hatte ber Siftof aut not Diöccfanrettc in bem
größten Dheife bon £>ennegan unb ©rabant. Sit# ©eiftlitcr ftanb er unter bem
Erjbiftof bon Sötn.
Der nieberrheinift=toeftfätifte Srei# hatte 54 teit# wefttite unb teit# geift*
tite ©tänbe, barunter aut bie greien ©täbte Sötn, Staten unb Dortmunb. Sin
ber ©pifce be# Steife# ftanben ber gürftbiftof bon SJtünfter unb bie §erjoge bon
Siebe (b. i. ber Sönig bon ißreußen) unb bon 3ütit (b. i. Surpfatj).
Süttit jäljtt bi# jum ©erluft feine# Weitsten ©atrimonium# eine Seihe bon
72 Siftöfen, bon bem ©iftof §ubertu# (gamitiennamen gab e# bamat# not
nitt) 709—729, bi# ju granj Slnton, ©raf bon Sican unb ©eaubieuf (1792 —
1802). Stut in biefer langen nnb ftatttiten Seiße fommen juerft bie ^eiligen
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Utifcrc ^oit.
bann bie Dpnaften unb Sitter unb cnbtic^ bic nat Kumulation oon möglitft öiel
einträglitw Ißfrünbcn unb Siticcuren allezeit gierigen ißrinzcn nuS regiercnbeit
Raufern. 9lut f)ier, tote in SRünfter, üorzugsweifc ©aiem.
Die Siftöfe oon Siittit waren feineSwegS „Rois faineanU", wie bie festen
Oon ÜJtünfter, fonbern feljr ftreitbare, ja fogar ftreitfüttige Herren.
Oft Ratten fte Reiben mit if)ren Satbarn, namentlich auch mit ßefterreit
(Surgunb) unb ©reufeeu, illcoe, .fterftall u. f. tu.; immer mit ihren Untertanen,
halb mit ber Sitterftaft, halb mit ben Säuern, 6atb mit ben ©ürgern ber ©tabt,
batb auch mit aßen breien gleichzeitig. ©cwöhnlit ftüfcten fie fich auf ben ©ei=
ftanb ber franjöftfdjen Könige, fo lange bis fic enbtich Oon bem franjöfifchen Solle
fortgejagt würben.
3t Will hier nur ein ©eifpiet anfiiljreH für ihre Sehben mit benachbarten Surften.
®aum War griebrit II. auf ben preufeiften Dhron gelangt, fo Oergriff ftd;
ber ©iftof oon Siittit att ben prcufjifdjen ©erettfamen über bie ©aronie ^erftatt.
griebrit II. fchrieb an einen gteunb, es Werbe nun „une petite esclandrc fi
Monseigneur de Liege" („einen Keinen ©fanbat mit bem geifttidjen £>erru in
Süttich") geben. 3tn ben geifttichen Slonfeigneur fetbft aber fchrieb er, ob er bic
Aufrührer in $erftatl in ihrem „abfteutichen Ungehorfam" fernerhin beftärfen
wolle; barüber erwarte man innerhalb zweier läge eine „aufrichtige unb fatego»
rifche ©rflärung", wibrigcnfatlS ber £>err Setter bie Steigen fich fetbft zujufchreiben
habe. Der ©iftof fehwieg. Da riieften am britten Doge 1200 preufeiftc ®re=
nabiere unb 400 beSgleiten Dragoner in fein ©ebiet ein; unb ba granfreit
gegenüber ben £>ülferufen beS ©iftofS unb griebrit II. gegenüber ben ©infprüten
beS SaiferS unb beS regenSburger SeitStageS taub blieb, fo gab ber ©ifdjof bem
König gute SBorte unb oerftanb fit z u einer CSntftäbigung Oon 300000 31. Slj.
griebrit H. parbonnirte ihn. ©r batte bamalS nur an ©tlefien unb hatte ©elb
nöthig für ben ftlefiften gelbzug. Siftof war bamalS ©eorg Subtoig oon ©ergheu
ober, wie er fit franzöfift ft r *eb, „des Berghes".
Der biftöflite Krieg mit ben Unterthanen war weit filtern Datums. Die
Siittiter, meift SBaffenftmicbe, üerftanben bie SBaffen cbenfo gut zu führen als
ZU ftmieben. Der neulateinifte Ditter KanonifuS Sange befingt fie als bic
Martia gens, semper duris exercita bellis,
Pro patriis mortem docta subire focis,
b. h- als ein martialifteS ©olf, baS, geftult in ben hötteften Kriegen, gelernt
hat, im Kampfe für ben Ijeimiften $erb ben Dob nid^t zu fteuen.
©ie beharrten auf ihrer alten Autonomie unb auf bem ftäbtiften Segimcnt
ber 32 Bünfte.
9llS ber ©iftof SJJajimilian ^einrit, Herzog zu ©aiern (1650—88), biefc
©tabtoerfaffnng anfhob, baS ©etreibc unb baS ©rot bunt) eine unfinnige fiScaliftc
SRafercgcl oertheuerte unb frembe ©ölblinge Ijrrbcirief, griff baS ©olf zu ben
SBaffen, nahm bem Dombetanten bie ©tabtftlüffel Wieber ab unb ftetltc baS
Segiment ber 32 gnn ungen wieber her.
Der ©iftof, ber auswärts z u thnn hatte, liefe fit baS anfangs gefallen.
lßlö|}lit aber, 1684, überfiel ber ©iftof bon ©trafeburg, requirirt oon feinem
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Die poh ^orcfcnbecf.
26]
bifc^öffic^eu WmtSbruber, bie (Stabt mit furföluiften ©ölblingen, ftlug bie SBürger*
ftaft nieber, tiefe bic beiben ©ürgernteifter föpfcn unb matte beu Wohlerworbenen
ftäbtifdjen ©erettfamen ein (Silbe. $iefer fjintcrtiftige Ueberfatt blieb unbcrgeffen.
3ubem Wut$ baS (Slettb unb bie Steuerung. 3t»ci drittel afleS nu^bnren
©igenthumS Waren in ben £>äitbeit ber ©eifttidjfeit, bie feinerlei Abgaben bezahlte,
fonbern bon ben ©teuern lebte, weite bie Untertunnelt bon ihrem einen drittel
bejofeten mufeten. 3>öif(t)en ber ©tobt unb bem SBiftof entfpaitn fit ein ärger*
lidjer ißrocefe aus Slnlafe einiger Spielhöllen, weite ber geiftticfee £>crr junt SBortheil
feineä ißribatfecfetS in ©päa conceffionirt unb pribilegirt hatte. $er Sßrocefe
ftwebte biete Sfahre fcfeon bor bem SRei^Sfammcrgeri^t in SEBefclar, unb luor ein
Befteib nidjt ju erlangen.
3wifd)en Süttit unb IßariS beftonb ein lebhafter Serfetjv. SBar bot bic
berühmte ober berüchtigte Xfjeroigne be SKcricourt, bie fpäter in ißariS eine fo
eigentümliche rebotutionäre Stoße fpielte, ein tütticher ®inb.
3tm 14. 3uti 1789 Würbe in ißariS bie SBaftilte geftürmt. Sro^bem bcfearrte
ber eigenfinnige Sifcfeof Sfonftantin grätig ©rof bon 4?oenSbrucf, barauf, bie ©tobt
unb baS fionb feien „CSigenthum ber Slirte" unb beibe hätten tcinertei Stecht,
oufeer bem, was bon ihm tjerftamme. 3n ben bon ber Stitterfdjaft, ber SBürger*
fchaft unb ben ^Bauern gegen ben Siftof erhobenen Sßroceffeit war bon bem
SteichStammergericht, obgleich fiefe bei ihm eine ganje Stcgiftratur „Süttit contra
Süttit" ongehöuft hotte» fein SSefteib ju erholten.
®o griff bie S3ürgerftaft, bie „Martia gens", abermals $u ben SBoffeu, am
17. unb 18. Slug. 1789, bier bis fünf 2Bocf)en nach (Srftürmung ber parifer
Saftifle, über welches ©reignife man in Süttit, trofc geiftticher ©enfur unb fonftiger
'-Beüorntunbuttg, wohl unterrichtet war.
$er Sifchof gab nach; er geftottete, bofe nton einen neuen SRagiftrot Wählte
noch ber alten SBerfaffung unb nach bem alten SBahlgefefce. 3a, er erftien per*
föntich auf bem Statfehaufe, um feine rücfhaltlofe 3uftimmung ju erftären unb
aßeS, waS geftefeen War, burct) feine eigenhänbige StamenSunterfchrift ju betätigen.*)
®aS SSolf, gutmätfeig wie eS War, glaubte an einen grieben ohne Stücfhatt. 5)ie
SBürgerftaft hatte ein ftreng lohaleS Verfahren eingehalten, ©ie hatte nur ben
alten berbrieften StettSjuftanb wieberhergefteflt unb war, obgleit im S3efi|e ber
©ewalt, feinen ©tritt barüber hinausgegangen. SlnberS ber SBiftaf.
tim aitbern SDtorgen war SKonfeigneur berftwunbeit. ©r War „in baS 9luS*
lanb", b. i. nat ®rier, entflohen unb rief bon ba aus aße SBelt gegen feilte
eigenen Untertanen unb gegen ben bon ihm felbft in folennfter SEBeife mit ihnen
geftloffenen Trieben ju fpiilfc.
Unb fiehe ba, baS Steitsfammergeruht, bou weitem bis bahin, folange cs
fit um bas Slnrufen gegen ben Siftof unb beffen Stettsbriite hanbelte, iu langen
fahren feine Slntwort jn befomnten War, entfaltete plö^lit für ben SBiftof eine
„affenartige ©eftwinbigfeit". ©ton am 27. Slug, orbnete cS, ohne bie ©tabt
*) SSgl. SB. 91. 3- ®aiij, „Staatsrechtliche Betrachtungen über bie liittidjjchen Unruhen
Dom 3ahre 1789" (Stuttgart 1790), 6. 9.
£;
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262
Unfere ^eit.
ju ßören, SReicßS*®reiSejecutioit ju ©unften beS 93ifdßofS gegen bie ©tabt an unb
beauftragte mit berfetben ben Äurfürften üon ®ötn, ben gürftbifcßof bon SJtünfter,
ben Äurfürften bon ber fßfalj unb ben Sönig bon ißreußen (ats $eqog bon Siebe).
Sie foßten mit bewaffneter f>anb ben SBifdjof mieber einfeßen, wäßrenb ißn bocß
fein SJtenßß bepoffebirt, er oielmefjr auS freien ©tücfen ficß bei Statut unb Siebet
ßeimticß wegbegeben ßatte. ©ie fottten ben neuen ÜJtagiftrat abfeßen, obgleich er
auf ©runb ber alten ju Stellt befteßenben Serfaffuitg gewäßtt unb bon SItonfeigneur
fetber beftätigt Worben war. ©ie fottten alte bifdjöftitßen SJtiSbräucße unb 93er=
faffungSberleßungen wieberßcrfteflen. „®enn", fügten bie weifen Herren, bie bamats
„93unbeStag" fpietten, ßinju, „bie Iütti<ßer Steuerung" (b. ß. bie SBieberßerfteßung
beS alten berfaffungSmäßigen 3wftaitbeS) „fei ein berabfcßeuungSWürbigeS Unter*
neßrnen." 2BaS nun folgt, wollen wir mit ben SBorten einc§ gteidjjeitigen
©cßriftfteßerS erjäßten.
©ottfrieb Sraugott ©aßuS, ein gräflich lippe>fdßaumburgifcßer fßrebiger, fdßreibt
in feiner „©efcßidßte ber SDtarf Sranbenbmg für greunbe ßiftorifeßer Sunbe"
(3üßi<ßau unb greßftabt, 1792—1805, 93b. VI, 9lbtß. 2, ©. 140 fg.):
„8u einem fo gewattfamen Serfaßren woflte aber fßreußen nießt fo gerabeju
bie $äitbe bieten. ®aS gerecht unb initb benfenbe berliner ©abinet faß ein, baß
bie 2ütti<ßer wirftieß Urfacße ju bieten 93efcßtuerben ßatteu unb baß eine tßrannifeße
93eßanbtung $war bie Unjufricbenen auf eine 3«it fang nieberbrütfen, aber bie
Stuße auf immer nießt befeftigen Würbe. ©S feßfug baßer einen SJlittetWeg ein;
eS Wüßte baS fammergericßtließe ßarte Urtßeit nießt gauj boßjießen, fonbern einen
bißigen fßergleidj jwifeßen bent dürften unb ben ©tänben errieten, hierüber
bergingeit meßrere SJtonate oßne ©rfotg. ®ie ©jcecution fetber fomtte ben SteießS*
gefeßen gemäß nießt bößig abgewanbt werben. ®S bradßen baßer am 25. Stob.
4000 fßreußen unter Stnfüßrung beS ©enerattieutenantS bon ©eßlieffen nebft
1000 ißfätjern unb 1000 Kötnern ins liitticßer ©ebiet unb befeßten oßne SEBiber-
ftanb am 30. Stob, bie ©itabefle unb bie 93arrieren bon Sättig. ®er ebte unb
einfießtSboße preußifeße ©eßeintratß bon ®oßm erßiett 93efcßt, in 93crbinbuug mit
bem fölnifeßen unb pfätjifdßen ®cputirten eine Waßre, b. ß. eine auf 2lbfteßung
ber 93efeßwerben bafirte SBerfößitung ju ftiften. Stber bie teßtern Wüßten in tiefe
bißige ÜJtaßreget burdßauS nießt einftimmeit. ©ie, unb noeß nteßr ber ergrimmte
93ifcßof, beftanben auf ®ureßfeßuitg ber ftrengfteu beSpotifeßen SJerorbnungen unb
Wiberfeßten fitß ben initbern preußifeßen Slbfießten. ®ie Uneinigfeit Würbe fo groß,
baß fßreußen feine gemäßigten 93erglcicßSborfcßIäge uießt auSfüßren fonnte; weit
eS jeboeß au(ß fein SBerfyeug ber ©ättigung eines ißriefterjorneS fein Wüßte, fo
jog eS feine Gruppen am 16. 2(prit 1790 auS Sütticß jurücf unb überließ ben
beiben anbern ®irectoren aßeiit bie ©ßre, ein murreubeS 93otf bureß fcßonungStofc
§ärte jur SJerjweiftung ju bringen, griebrieß SBitßetin II. War großmütßig genug,
ben 2üttießern aße SJtarfeßfoften, ®ouceurgetber unb ©jecutionSgebüßreit gu fdßenfen.
®er ©rfotg redßtfertigte bie preußifeße SBorfießt. $enn faft baS gange 2anb, jteben
Sleßttßeite ber ©inwoßuer ftaubeu nun auf unb nötßigteu bie übrigen ©£ecutioitS*
truppen, fieß gu entfernen. 2tfle ©enteugen bes SammergerießtS, bie in nidßtS
gemitbert waren, blieben tauge frueßttoS; eS tarn fetbft gu ©efecßteit, in beneu bie
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Die Don ,forcfenbecf.
263
S&ttic^er bie Dberljanb bedielten, ©rft nahbent bie öfterreicf)ifhen Dlieberlanbe,
Wo ebenfaßs heftige Unruhen gel)errfht Ratten, bejwungen waren, Ijatte ber Söifdjof
baS Vergnügen, feinen unbeugfanien ©tarrfinn burhjufefeen. $aS fitammergeriht
willfahrte feinem ©efuhe, bie in ber ßiälje liegenben Defterreidjer aus Srabant
ins 2üttihfh e gu beorbem. ©S rüdten 6000 berfelben am 12. ^an. 1791 ins
hohftift ein nnb pellten alles auf bem alten gup Ijer. Slber ber SBift^of erfuhr
halb, bap eine |>errfhaft, auf gurdjt nnb Despotie gegrünbet, nicht bauerhaft fei.
®r genop wenig ruljige Slugenblitfe unb würbe nah einigen Saljren bei Belegen*
heit beS frangöfifhen Krieges bon neuem aus feinem Sanbe »erjagt, woljin er
nun nie wieberteljren Wirb, Weit Süttidj nicht allein fraitgöfifhe Ißrobing geworben,
fonbern audj baS 3tüittergef^öpf, bie weltliche 9Rad|t ber ©eifttidjen in $>eutfh-
taub, auf immer bernidjtet ift."
®iefe fßropljegeiung beS alten ehrlichen ©aßuS ift budjpäblih eingetroffeit.
Süttidj war $eutfdjtanb bepnitib entfrembet. ®S ift gwar nicht bei grantreih
berblieben, welkem eS burd) ben Stieben hon Sunebifle (1801) gugetfjeitt würbe;
1815 aber fdjenfte cS ber SBiener ßongrep bem finnig bon hoüattb. $iefcm
Würbe eS burdj bie SReboIution bon 1830 Wieber entriffen. ©citbem ift eS betgifd).
ißreupen alfo hatte gleich &ei Seginn bet (üttidjer ffrifiS bie Stbfidjt lunbgegeben,
auf bem SBege ber Sermittclung einen Sevgteid) gwifhen bem Sifcfjof auf ber
einen unb ber (Stabt unb ben übrigen Sanbftänben auf ber anbern ©eite über
aßc ftreitigen fünfte tjerbeignfüljreu. Defterreid) tonnte fid) bem formefl nicht
entjiehen; es berief baper bie Vertreter ber beteiligten ^Regierungen nah Stachen.
3)aS gürftentpuin SRünfter fdiidte feinen ®ep. firiegS= unb Domäuenratti
3Waj gordenbed. ®erfelbe mähte fofort bem öfterreid)ifh en Seboßmädjtigten,
weihet auf ber ©onfereng ben SSorfife führte, feine Stufroartung. 3« beffen SBop»
nuug fagte man iprn, bie ©jeeßeug fei im ©arten unb pflege auep Wol ba Sefudj
gu empfangen.
gordenbed ftieg alfo wieber hinunter, ging in ben ©arten unb fanb ba bie
©g-eeßeng befhäftigt, ©pargelbeete anlegen gu taffen.
„Slber, ©jeeßeng", fagte gordenbed berwuitbert, „Sie werben boh bie grüepte
biefer Stnlagen fhWerlih felber geniepett?"
„3a, WaS benlen’S beim ?" antwortete bie wiener ©jeeßeng, „glaubeu’S beim,
wir tonnten ober woßten biefe ©aheit überS firne brecpeit? ®aS finb ©ahen, bie
Woßen reiflich erwogen Werben; unb baS geht fo fhneß nicht. 3h gebeut’ bie
Spargel nodj breimal untfepeit gu Iaffen, bebor Wir nah $auS gepeu. SRitn, Wie
g’faßfS 3^i>en benit hier? Sltit wapr, a gang nett’S ©tnbt’f, baS Sladjen, beropalbeu
pab’ icp’3 auh auSgefuht gum ©onferetigfip."
Unb bie ©jjeeßeng befielt redjt. $ie Scrpanbtungen gogeit fih enbloS in
bie Sange. fjöhftenS aßc paar Sßocpen lub bie gemütplicpe Wiener ©jreeßeng
einmal ein gu einer ©ipung; unb in ber ©ipung Wahte fie forgfültig barüber,
bap nur nihtS git ©tanbe tarn. ®efto mept freilih würbe gefeprieben. ®ic
Sieten wuhfett an gu förmlihen Sergen; unb bie $rudfhriftcu in golio, berfapt
bon ben Sntereffenten unb bereu StedjtSbeiftänben, bon ben tpeologifcpen ^uriften
unb ben juriftifhen Geologen, bon ben $of= unb ©erihtsferibenten, ben ©epeimen
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Untere Seit.
26^
Sätzen, üon ben geifttidjen Sätzen unb beit Domherren, tion beit ©ubliciften unb
Ißrofefforen, öott ben J)octoren, Slböocateu, ©rocuratoren unb fonftigen üe^opften
„ICts" jäljlten nach 33u^enbeit unb muchfen fo an, bah fein SHenfd) mehr im
Stanbe war, fte ju lefen. SJtan muffte aber bod) tfjun, als ob man jie läfe; unb
wenn ntan ba« alle« hätte lefen wollen, bann wäre allerbingS fehr Diel 3 «* nötfjig
gewefen. Deshalb mußte man fich fehr lange griffen auöbitten „junt forgfältigen
unb grünblidjen ©tubium fotf)aner mieten unb £rutffd)nften unb jur umfangreichen
Vorbereitung ju benett gemeinfamen DeliberationibuS". ®er $err Vorftyenbe aber
gewährte noch längere griffen, als bie SJtitglieber erbeten Ratten, SBarurn, baS
loerbe id| atsbalb oerratfjen.
SBä^rettb nun fo bie Gfonferenjen iljren gortgang nahmen ober richtiger gefagt:
in intern ©titlftanbe Derfjarrten, fdjlug mau fid) uuabläffig herum in bem Gebiete
beS bifdjöflichen gürftent^umS Süttic^. ©S floß Diel Xinte, aber leibet noch mehr
«tut. Stad)bem bie ©reuffen abmarfdjirt toaren, füllten fich bie übrigen ®ontin=
gente ju fdjttmdj, etwas auSjuri^ten.
3)a« SteidjSfammergericht in SEe^lar, baS bieSmal üon einem gattj unerhörten
Xljatenbrange befeelt mar, bot nun aufier ben bereit« obengenannten noch ba«
mainjer, ba« mflrjburger unb ba« mürtemberger Kontingent, unb al« ba« auch
nicht« half, ba« ganje nieberfächfifche 9tci<h« s fi 1 reiScontingent auf. Allein alle biefe
Sölbnerfcharen waren ben für ihr Stecht begeifterten unb bie SBieberfehr unb Stach*
fudjt ihre« SRonfeigneur fflrchtenbcn, babei im (Gebrauch ber SBaffen geübten
SBaffenfdjmieben, ©robfehntieben, gleifchern unb fonftigen ©ärgern ber guten Stabt
Süttidj nicht geworfen. Xie S?eich«annee war noch fo, wie fotche ein äRenfdjen*
alter früher ber dichter ©leim in feinen „©renabierliebern" befungen hott«:
Unb wenn ber grobe griebridj fommt
Unb Hopft nur auf bie $ofen,
$ann läuft bie ganje SieidjSarmcc,
©anburen unb granjofen.
3n ber ganzen 3«»t üorn Stpril bi« jum Xeceinber 1790 hatte biefe 9tei<h«=
armee feinen ©rfolg gegen bie Sütticher aufjuweifen. Sie erlitt üielmehr 30 hl*
reiche fchwere Stieberlagen unb würbe fogar jweimal bi« übet bie ©reujeit be«
gürftenthunt« hinaus 3 urücfgeWorfeu.
3 n 3 Wifdjen bereitete fich aber ba« «erljängnih. ®er tömifche Sfaifer war
ebenfalls in feinen belgifcheu ©efifcungeit in ©ebrängnifs gerathen. Slngeftecft bon
granfrcich, wollte mau auch ba SJtiöbräuche, für welche nicht« fpradj al« ihr
Sllter, fich nicht länger gefallen laffen. Xcr Saifer fah fich eublich Oeranlafjt,
aQe feine belgifchen ©efifcungeu militärifch 311 occupiren, um fic niebc^uhalteu.
®er fchlaue ©ifchof muffte biefen Umftanb 3 U benutzen. @r fpiegelte bem
ftaifer eine ©otibarität ber gnterejfen »or, unb muffte ihn, unter ©eiftanb be«
©rafen (fpätern gürften) SDictternich, bejfen gamilie fo recht eigentlich biefem
rheinifch=weftfätifchen ©faffett= unb ©tiftSabel angehörte, gan 3 für fich 3 U 9 e ’
Winnen. Stun machte mau bie ©ntbecfuug, bah nicht nur bie faifcrlichen ©e-
fifcungen in ©elgien früher ben SleidjSfrei« ©urgunb gebilbet, fonbern bah, Wie
ich bereit« oben erwähnt habe, auch Süttidj geographifeh „eigentlich" in biefem
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Die Don ,forcfenbecf.
Steife lag. SDlan Wufete biefe berl)äugnifetiotlc ©ntbedung bem Sleichlfammcr*
geriet an bie £mub ju geben. Daffelbe beantragte barauf ben römifcheu föaifer,
«l! ben alleinigen tiocf) jutn Deutfdjen Sleiche gehörigen dürften be! oormatigen
„burgunbifdjen Steidjlfreifel", gen Sättig jn marfcjjiren. Der faiferlichc gelb»
marfdjaQ ©enber rüdte ©nbe Decembcr 1790 an ber ©pijje jahlrcidjer Druppcit,
u>etdjen fidf bann noch bie Drummer ber lahmen SJeid)lcjccutionlnrmec nnfehtoffen,
öot Sättig unb befefcte int Januar 1791 ^' e ©tobt, Welche einer folgen lieber-
macht nicht getoadjfeu War. 9tnt 11. Sehr. 1791 Oerurtljeitte ba! Stcid)3fammer=
geriet, nicht juftieben, bie burch SEBaffengcwatt Unterbri'tdtcn alter ihrer Politiken
unb bürgerlichen Siechte beraubt ju haben, biefetben auch *w<h, ih tcm Unterbrüder,
bem ©ifdjof, eine ©träfe non 1 ©litt. St- i« bejahten. 9tm 13. Sehr. 1791 jog
ber geiftlichc $err triumphirenb in bie niebergeioorfeue ©tobt ein. ©r erliefe
eine tanbelherrlidje ©roclamation, bie uni h eutc » wenn wir einen ©tief auf bie
SBeftlage non 1791 Werfen, all ein beinahe unbegreifticher Stet bei Uebermutljel
(ich barftettt. 6r nerfünbet barin fein alte! Dogma: Sattb unb Seute feien „6igen=
thum" feiner ffirefee, all fotche nehme er fie wieber in ©efij}. 2Jlit einem fpöt--
tifchen ©eitenbtiefe auf Sranfreidj nerfichert SJtonfeigneur bc $oenlbrucf, bal fei
„beutfchel" Siecht unb all fotche! non bem beutfdjen S?eicfj!fammergericht aner=
fannt Worben, ©eine #anbtungen entfprachen feinen SBorten. Unter bem ©efeufje
ber faiferlidjen Druppen, welche er im Sanbe behalten mufete, fefcte er weltlich*
geifttiche Äefcergeridjte ein, welche Wegen beffen, wa! währenb feiner Slbwefenhcit
gefchehen, bie unbarmhcrjigften ©trafen nerhängtett. Sludj berfdjmähten cl @e.
bifchöfti^en ©naben nicht, fid), neben ber oben bereit! erwähnten SDtidion ©utben,
burch öa^treiefje ©onfilcationen ju bereichern. Siete unb nicht bie Schlechteren
feiner Untertanen flüchteten nach ©aril, unb all ©nbe 1791 ber ®rieg jwifdjcn
Sranfreich unb bem Stömifehen ffiaifer auljubrechcn brohte, boten fie bem frait*
jöfifdjen Ärieglminifter an, fie wollten ihm für ben beborftehenben gelbjug „eine
fiegion Sütticfeer" Jur Serfügung fteltcn.
©I bauerte nicht lange, ba marfchirten fie Wirftich triumphirenb mit ben fran=
jöfifdjen Druppen in ihre Satcrftabt ein, au! Welcher ber tefcte Sürftbifchof granj
Slnton ©raf Bon SWeau unb Seaubieuj, welcher 1792 bent SJtonfeigneur be £>ocn!=
bruef gefolgt war, botforglicfjer* unb borfiefftigerweife bereit! bie Studjt ergriffen hatte.
Damit ober fchon früher hatten benn natürlich auch bie aadfencr ©onfercnjcit
ein Snbe.
Sortfenbed fcljrtc nach SJiünftcr jurüd. Son Stadjcn nach SJtiiufter war ba=
mal! noch ci nc mehrtägige unb aufeerorbeuttid) fchwicrigc Steife.
©r trug fdjwere ©orgen in feinem |>erjcn. 6r War faft Wiber SBitteu gc=
nöthigt, bie ©jiftenjfähigfeit bet geifttidjen ©rjftifter unb Sürfteutf)ümer ernftlid)
in Sweifet ju jiehen. Sluch fein ©taube an bie Skidjljuftij war erfchüttert. ®r
gebaute bei Äulfprucfjel bon ®ant in feiner „Slechtlphitofophie", wo e! Ijcifet,
„ohne ©eredjtigfeit habe el feinen SBcrth, bafe SJlenfcheit lebten auf ©rben".
gnbeffen hatte er, atl fparfamer SJtann, oon ben Diäten, Welche er ba braufeen
fo lange genoffen, ein hü&ft^ Kapital aufgcfpeichert. ©r baute fich baüon ein
$auS in SJtünfter, Weisel fdjerjweife ber „Slachcner tpof" genannt würbe.
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Unfere 3 C **>
2) Tie 3cit beä Uebergatigei*.
Slm 9. Sept. 1802 traf ber 9teich$freiherr ffarf öom Stein, meiner frfjon feit
1772 al$ Oberpräfibent ber preußifchen Kammern in SBeftfalcn fungirt Ijatte, in
äRünfter ein, um ba$ ihm burch fönigtidje Sabinetäorbre bom 6. 3uni 1802
übertragene Slntt ber Ueberna^me unb Einrichtung ber meftfälifchen ©iäthümer
anjutreten. Er mar in biefer Stellung bem Erafen Schutenburg untergeorbnet.
Tiefer refibirtc in £>ilbe$heim unb führte eine 9trt ©roconfulat über bie Terri»
torien, melche infolge be$ SuneöiHer griebenä nnb ber ©arifer ©ertrage bom
23. HJtai 1802 al$ Entfdfäbigung für ©ertufte auf bem linlen 9ibeiuufer Preußen
jugetheitt mären.
Sä mären:
Sn Stieberfachfen bie Stifter |>i(beäheim unb Oucbtiuburg, fobann bie freien
©eicljäfiäbte SWorbljaufeH, SDiö^l^aufen unb Eoälar.
Sn SBeftfaten baS Dberftift SJtünfter, baä ©iäthum ©aberborn, Elten, Effcit
unb ©erben u. f. m.
©on meilanb fturmainj: Erfurt unb baä Eichäfctb (£>eitigenftabt, Tuber=
ftabt u. f. m.).
Tiefe Territorien atfo fjattc ber Eraf Sehulenburg ju übernehmen unb unter
fehonenben Uebergangäfortnen mögtichft auf preußifcf)cm ftuß einjurichten.
©on bem fürfttichen ©iätljum Süttich erhielt jcboch ©reuten nur ben öfttichen
Tfjeil, beftetjenb auä ber Stabt SDtünftcr unb ben Slcmtem Saffenberg, Stromberg,
SBeme, £>orftntar, ©ebergeren unb Stücfe bon SBolbecf unb Tülmen. Tieä mar
ber größere unb bet beffere Tljeil unb für ©reußen fehr munbgerecht, meit er bie
bisher getrennt tiegeitben preußifchen Territorien in bem norbmcftlichen Teutfdj^
tanb — alä ba maren: bie Sraffdjaft Sftarf, ©abenäberg, Tecflenburg-, Singen —
miteinanber in 3ufnmmenhang brachte. 9tur Dftfricälanb blieb außer ©erbinbung.
©on ben übrigen Theilen beä ©iäthumä foltte baä Stint 9Jieppen an ben ^»erjog
bon 9lrembcrg, Tülmen an beit £>erjog bon Stop, 9t^eina=9Botbecf an ben .fjerjog
bon Sooj unb Eorämaren, Sodjolb unb St^auS an ben Sürften Salm, ^orftmar
an bie SBilb* unb SRhcingrafen jugetljcitt merbeit. 3u biefem 3'uecfe beburfte cä
noch einer Slnäeinanberfefjung jmifchen ©reußen unb biefen fleinen Tpnaften.
©ortäufig blieb aQeä unter ©reußenä probiforifc^er Obhut.
Stein mußte, als er fein 3tmt antrat, fehr rnoßl, auf melche Sdjmierigfeiten
er ftoßen mürbe, ©or allem mar eS bie beabfichtigte 3erftücfeluug be$ dürften»
tljumä fünfter, feine ©ertheilung unter fünf fleitte Thnaftcti unb einen großen,
melche auf lebhaften SBibermiHen ber Sebölferntig fließ. Taä Sanb SWünfter hotte
immerhin an 80 Quabratmcilcn; eä mar toohl arronbirt unb gab feinen ©cmolp
nern ein Eefühl ber ßufammengchörigleit unb eine Sfrt »on Territoriatpatriotiä=
muä, melden man bamalä irrthümlicher* ober rniäbräuehfichermeife „9?ational=
geffihl" ju nennen pflegte. Taju famen bann bie Reformen beä ffreiherrn
»on ffürftenberg, bie ich fetjon meiter oben ermähnt fyabc. Sie gaben beit
ÜRünftertänberu baä ©emußtjein, ctmaS ©effeteä ju fein als bie aufs äußerfte
»ertualjrloften Unterthanen anberer geiftlicher Äleinftaaten, melchen fie fich nament-
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Die »ott ,forcfettbecf.
lieg burdj ihr bcffercö Schutwefen unb bie SutettigenJ, welche fic biefem ber*
banften, überlegen finiten. SBenn biefe ©efühte fo ziemlich uott ber ganzen
Sebölf erring, welche preugifch werben follte, gereift würben, fo Ijerrfdjte bagegen
eine gattj befonbere Slntipathie gegen ißreugen bei ben bettorjugten Älaffeu, welche
Abneigung aus üerfdjiebenen ©rünben Ijerborging. Buuädjft fab ber Slbet mit
ber preugifchen Slnnejioit fo manche füge ©ewoljnheit eines opulenten TafeinS unb
SBenigtoirfeitS in Sßegfatt tommen. 3u bem ViSthum unb bem Sürftent^um fjattc
ber Slbel unb ein gewiffet ®reis weiterer beoorjugter gamilien ftetS reiche ißfrün*
ben unb Sinecuren ober wenigftenS gut befolbete unb wenig ntühebotte Slemter
gefunben. SBie in alten Territorien, beren Staatsoberhaupt ftänbig auger San«
beS, in einem anbern großem Seiche refibirt unb [ich h' er burch einen 93icefö»tig=
Statthalter ober 3JJinifter Oertreten tagt, fo hatte fich auch in bettt Staate ÜÖlünfter
infolge beS bartnäefig fortgefefcten SlbfentiSmuS feiner ^errfdjer eine 2lrt oou
ariftofratifch=patriarchalifchem Regiment auSgebilbet, baS einen biametraten ©egen«
fafc ju bem ftrammen unb ftreng utonarchifchcn Spftent bitbete, wie es fich in
Vreugen unter fffriebrich bem ©rogen cnttoidelt hatte, ffür bic Unterthauen hatte
jenes VerwaltungSprincip, im ©egenfafce ju biefem, etwas SeftechenbeS. Tenn
es ftörte bie äRenfdjen wenig in ihrer tRutje unb forberte feinen attju ftrengen
©eljorfam. Sluch ftettte eS nicht fo groge Slnfprüdje an bie Veamten. 3a Sin«
betracht beffen hatten bann auch bie meiften attmünfterfchen Veamten hurchauS
feine Suft, ihr bequemes Tafeiu mit bem auftrengenben preugifchen Tienft ju
bertaufdjen, zumal ihnen auch bhncbicS ber SReidjSbeputationShauptfchlug ihr
botteS ©infommen garantirte.
Stein erftattete am 27. Scpt. 1802 Verist an ben 2Jtinifter, in Welchem er
fotgenbe ©harafteriftif gibt:
„SDtan bemerft hier mehr Stiebcrgefdjlagcnheit, triibeS Vorfichhinbliden, ÜRiS=
trauen in bic Bufunft, atS Unwitten unb SBiberfehtichfeit. Ter Slbel fürchtet ben
Verluft feines Politiken TafeinS, feines SlnfeheitS, feiner Stetten; bie ©eiftlid)«
feit fieht ihrer gänzlichen Sluflöfutig entgegen; ber groge Raufen ift beunruhigt
über Abgaben, Slccife, ßonfeription unb fürchtet auch mitunter für feine Seligion.
©s ift unbegreiflich, bag in einem Sanbe, welches jwifchen preugifchen ^robinjen
liegt unb in biefen überall SBeweife einer energicbotten, mitben, gcfejjlichen, fennt«
nigrcicheu Verwaltung finbet, fotdfe rohe Vegriffe über biefe Verwaltung ljerrf<hen,
bie fich jrboch gewig bei biefem ernfthaften nachbetifenbcn unb reblidjcu Volfe
mit ber B c it berliereti Werben, Wenn man ihm Buncigung unb Sichtung zeigt, ba
ber SKünfterlänber biel SJatioualftotz hat, wie fdjon baS ber VoltSmeiuung ent
fprechenbe gemeine weftfälifche Sprichwort beweift: Ter miinfterfche ®topS tragt
ben Sfopf hoch-"
©S ift immer bie nämtidje alte ©efchidjte. Troj} einer fo reifen VtajiS,
berfteht man fich * n beugen nicht gut anf bie anfängliche Veljanblung ncuerWor^
bener Sänber. Sowol 1802 unb 1815, als 1866 unb 1871 fonnte man fcljr
laute SchmerzenSfchreie ber Slnnectirten bernchmen; unb felbft ber patriotifdjc
©rnft 9Ror© Slrnbt, als er aus einem fchwebifchen Unterthan ein preugifcher ge
Worben, pflegte zu fagen, bie preugifege Bade jude unb briide im Slnfangc ganz
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Unferc «Jeit.
unerträglich, allein mit ber Seit gewönne mau \id) an biefelbe nnb wolle nicht
Don iljr taffen, meil fie fchufce unb Wärme.
3)amalS aber, 1802, beftanb in ißreufien noch jeueä brütfenbe, untoirtfjfdjaft-
liclj=fiScalif<he SWercantil*, Slccife» unb dtegiefpftem, baS unter Sriebridj II. anf bie
©pifce getrieben, oon griebrich 3Bilhelm II. nur unznrcidjenb unb eigentlich nur
oorübergehenb gemilbert worben war unb baS erft oon Sriebrich SBilljelut III.,
bem Stifter beS 3oHbereinS, gänzlich abgefchafft Würbe.
3n bem gebauten Sericpte oom 27. ©ept. 1802 verbreitete fich ber greitjerr
oom ©teilt auch über bie ihm beigegebeue preußifche CrganifationScommiffion, fritU
firte bereu einzelne SKitglicber unb brang barauf, baß beren ©efchäftSgang öer=
beffert unb baß ihr ausgezeichnete münftcrfche Beamte beigegeben Würben, in
Wellen baS Sanb eine ©ürgfdjaft bet guten Slbficpten ber neuen Regierung er¬
halten foQe.
„©etin man", fagt ber SReichSfreiljerr oom ©tein, „einige HRitgtieber ber
inünfterfchen SanbeScollegien in bie Sommiffion fefct, bann oermeibet man un-
nü^e SRücffragen; man erleichtert bie mechfelfeitige SKittheilung ber 3becn foWol
über bie preußifche Verfaffung unb bie preußißhen Hinrichtungen, als auch über
bie hieftgen 2ocal= unb ^robinjialoerhättniffe; man gewinnt an 3utrauen in
ber öffentlichen Meinung, inbem man ©efchäftSmännern aus biefer tjkoüinj felbft
einen 2lntljeil an unferer Verwaltung anWcift; unb man befriebigt ben gefränften
Stolz ber Hingefeffenen, bie baS Vittcre ihrer Unterorbnung unb ihrer Abhängig-
feit oon ber (preußifdjen) Hommiffion fühlen.
„3Jtan fönnte aus bem münfterfchen ©etjeiinrath bie ©eheimrätlje gorefen-
beef unb $ruffel nehmen, z'rei fe^r grünblich unterrichtete, erfahrene unb einfidf)tS-
OoUe URänner, beren Veipülfe unb SDtitwirfung bie zufünftigen SaubeScoQegicn gar
nicht Werben entbehren fönnen. ©ie rangirten nach bem tßatent, Würben zu SKit=
arbeitern bei ber Hommiffion ernannt, ohne baß fich übrigens ihre fonfiigeu
Üiicnftoerhältniffe änberten."
©chulcnburg genehmigte bie Vorfdjläge ©tein’S unb ftellte nur anheim, aud)
noch ein abeligeS SWitglieb beS münfterfchen ©eheimrathScollegiuntS zuzuzichcn,
um ben fronbirenben unb misoergnügten münfterfdjeu 3lbet zu gewinnen. $iefeS
üDJitglieb fanb fich in ber ißerfon beS ©rafen Oon SReerfctb; allein ber flerifalc
Slbet fuhr fort zu fdjmoHen.
2lm 19. Dct. 1802 fchrieb ber SRcicljSfreiherr Oom ©tein an ben SRinifter
©rafeif zu ©djufenburg:
„®en Oon Hw. ßjceöenz unter bem 6. biefeS SWonatS gegebenen Vorfdfjriftcn
Zufolge finb bie beiben miiufterfchcu ©eheimräthe gorefenbeef unb 5)ruffet zu ben
Arbeiten ber OrganifationScommiffion auge^ogen; unb id| h a & e »lieh ooHfommcn
überzeugt, baß bie oon Hw. Hfcetlcnz bei biefer ©elegenpeit beabfidjtigtcn 3>oecfe
— ber erleichterten SJiittheilung ber Senntniffc fowol oon Verfaffung als auch
üoit örtlichen unb perfönlichen Verljältniffcn — uoHfommeu erreicht finb unb baß
oiele SRücffragen unb manche Srrthüuier auf biefc 2lrt üermieben werben."
©tein War weit entfernt, baS ©utc, welches bie frühere ober bisherige mfin*
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Die pon ^orctenbccf.
269
fterfche Sertonltung gcteiftet, unb bie 9Mi!griffe, bie fidj ißreußen anfänglich hatte
jn Schulben fommen taffen, jn üerfcnncn.
3n einem bertraulicheti ißriöatbricfe nom 6. Oet. 1802, ber fid» bei
(I, 241 fg.) abgebrucft finbet, fagt er:
„ . . . 3<h bin feit acht lagen hier befihäftigt, bie nötigen ©rfunbigungcn über
bie Sage biefe! Sanbe! einjujiehen, too noch fo niete ©puren ber loeifen menfchen=
freunbticheu Sermaltung be! refpectabetn aJtinifter! non gürftenberg fich finben.
Surdj feine ©raiel)ung!anftalt h at er einen großen Sorrath non ffenntniffen,
orbenttichem togifchem Renten unb SDtoralität unter bie SDtenfchen gebracht, unb
mcnn man biefen ©eift nicht jertritt, fonbent mirfen läßt, fo !anu fctbft unter
ben Xrüntmerit biefer Schaffung fehr oiel ©utc! entftehen."
©e<h! SBodjcn fpäter fchreibt er:
„£err non gürftenberg hot eine große ÜRaffe griinbticher gemeittnü^iger Jfennt«
niffe unter bie ^iefigen 9Kenfchen nerbreitet. ®r hot ben ©r,$ichung!anftalten
beträchtliche ©innahmequeüen ju nerfchaffen gemußt, bie einer noch größer« ©rgiebig
feit fähig finb unb jur SerooKfommnung be! .ßmede!, für ben fie beftimmt finb,
ocrmattbt merben müffen.
„2Ran hotte (preußifdjerfeit!) anfangs burch Ungefcßidlichleit mehr at! burch
böfe Slbficht bie 3J?etifdhen genecft unb Seforgniffe erregt. 3ch bemühte mich bei
meiner Stntunft, ältere freunbfchafttiihe SBerbinbungen mieber anjufnüpfcn, mögtichft
fdfonenb unb mitbe jn honbetn unb in bie (preußifche) Drganifation!commiffion
intänbifche ®efchäft!leute aufaunehnten, bie münfterfchen ©eheimrättje ©raf
non SReerfelb, 2)ruffei unb gordenbed. ®iefer Semei! non 3«trouen unb Unbe=
fangenheit hatte eine gute SBirhtng. SJlan fieht biefe Sftänncr al! Sürgen ber
Feinheit unb Siberatität ber ©runbfäfce ber neuen Sanbeönermattung an, unb bie
uneigennüfeige Stbftimmung über ba! ©djidfal ber ©eifttidjteit hot einen fehr bor*
theithoften ©inftuß ouf bie ©efinnungen ber aRenfdjen. geh jmeifle, baß bie je&ige
©eneration bie nachteiligen gotgen be! limfturje! ihrer Serfaffung nergeffen ober
eine nolüommene ©teichmerthigfeit ber ©efinnung mit benen, bie biefen Umfturj
nerantaßten, erlangen merbe; aber ich glaube unb hoffe, baß man Sitterleit unb
geßöffige ©efinnungen burch eine milbe unb meife Sermaltung erftiden unb bie
©emüther für ba! ©ute ber neuen Serfaffung empfänglich machen merbe."
$ie 2lu!einanberfefcung mit ben übrigen 3)pnaften, metche mit ber ©ntfdjäbigung
für tintörheinifche Sefifeungen auf beu mefttichen Iheii be! gürftenthnm! üföiinfter
angemiefen mären, mar eine außerorbcnttich fchmicrige unb jeitraubenbe Slrbeit.
ißreußifcherfeit! mar fie beu bereit! öfter genannten beiben normal! münfterfchen
©eheimräthen gordenbed unb ®ruffel übertragen. 9lm 4. guli 1804 mürbe ber
$auptreceß ju ©tanbe gebracht. ®ann folgte bie 9ln!einanberfehung über bie
mechfelfeitigen ©elbanfprüchc, unb nachbem auch biefe Gnbe September ju beiber*
feitiger Sufriebenheit abgemidett loaren, erhielt am 25. 9Job. 1804 ber £>aupt=
au!einanberfe|}ung!receß bie ©enehmiguug bc! finnig!.
iRach Seenbigung be! |>auptgefchäfte! boten bie lleineit 2tynaften ben preußifchen
Unterhänbteru gordenbed unb $ruffel al! 9lnerfennung ihrer Scmühungen ein
©eßhenf bon 1000 ©arolin (1 ©arolin = 11 gl. SRI).). @ic meigerten bie 9ln-
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270
Unfere ^eit.
nannte ohne (Genehmigung ihrer ©orgefefcten. So gelangte bie Sache an ben
greiljerrn bom Stein. Diefer berichtete an baS (Generalbirectorium in ©erlin:
„3ch halte es unter ber SBürbe ber Staatsbicncr ber preußifchen ©fonarchie,
(Gefreute non Keinen, in biefem ftugenblicfe felbft noch jum X^eit ber (Gelbunter*
ftüfcung benötigten Stäuben anjunehmen. ©erbieucn bie Staatsbeamten biefer
©fonardjic eine ©elohnung, fo bürfen fie foldje nur non Sr. Königlichen ©fajeftät
ertoarten."
9tuf (Grunb beffen fehlug Stein bor, gorefettbecf nnb Druffel in ben preußifchen
ütbelftanb ju erheben. (Graf |»augtoih in ©ertin toar anberer ©feittung.
„Solche (Gelbbetohnungen", meinte er, „finb, menn fie erft am @nbe beS (Ge*
fdjäftS erfolgen unb nnfererfeitS burch ein gleiches <Gefd)enf an bie jenfeitigen
©eboHmäcljtigteu ermibert merben, leineStoegS ungemöljntich, vielmehr nü$licfj, ba
anch bie auf ber anbern Seite baburch millfährigcr in ber unangenehmen unb
bermiefetten Kttgelegcittjeit merben.
„Der Sönig", fügte er ^tnju, „fei fefjr fchmicrig in Grtljeilung beS ÄbelS;
anbere, bie gleichen unb höher« Stnfpruch barauf erheben Könnten, hätten ihn auch
nicht erhalten; bie Herren gorefenbeef unb Druffel möchten alfo immerhin baS
(Gelb nehmen."
91Hein beibc bertocigerten bie Einnahme auf (Grunb beS ermähnten Stein’fehen
9(uSfpruchS.
Stein erflärte bie Ablehnung feines SlntragS auf ©erleiljung beS 91belS für
ungerechtfertigt, gorefenbeef nnb Druffel hätten fich bei ber 9fuSeinanberfehung feht
große ©erbienfte ermorben unb anbere, bei melefjen bieS nicht ber gaß, hätten in
28ien ben 9(bel nachgefudjt unb auch erhalten.
©üblich erhielt gorefenbeef hoch noch nachträglich ben Slbel, unb jtoar juerft
bon bem Könige bon ©reußen; bann aber auch noch einmal, ohne baß er barnm
itachgefudjt hatte, bon bem römifchen ®aifer in SBien.
Dies ift ber Urfprung beS ülbelS berer bon gorefenbeef, melehe alfo nicht nur
ben preußißhen SanbcS*, fonbern auch ben beutfdjen ©eicljöabel befi^eit.
3m ©obember 1804 berließ ber Freiherr bom Stein ©fünfter, um in ©erlitt
StaatSminifter ju merben (an Stelle beS bamalS berftorbenen ©finifterS bon
Struenfee). 2lls feinen ©adjfolger für ben ©often in ©fünfter empfahl er ben
greiherrn bon ©inefe, einen richtigen unb echten SBeftfalen, ber julefct Sanbrath
in DftfrieSlanb gemefen unb nunmehr ©räfibent ber föniglidhen Kriegs* unb Do*
mänenfammer in ©fünfter mürbe, fpäter aber am berühmteren gemorben ift burch
feine langjährige unb fegeitSreiche Xhätigfeit als Dberpräfect ber preußifchett ©robinj
SBeftfalcn.
©inefe mar mit einer borjüglidjen miffenfchaftlichen unb gerichtlichen ©itbung
auSgeftattet, fchott fehr jung in ben StaatSbienft getreten unb Sanbrath gemorben.
Unt biefe Beit fam Völlig griebridj SBilhelm II. nach Sßeftfalen. 911S Stein ihm
feinen jungen greunb ©inefe borftellte, fragte ber ffönig bermunbert unb fpöttifefj:
„©facht man Ijitr benn Sinber ju Sanbräthen?"
„9llIerbingS, ©fajeftät", antmortete Stein, „eS ift ein 3üng(itcg an 3ahren,
aber ein (GrejS an SBeiSfjeit."
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ZKe t)on ^forcfenbecf.
Unb Stein befielt recht. SBintfe mar nicht nur in feiner 3ugenb ein ©reis
an SBeiSßeit, fonbem and), maS nod) feltener ift, in feinem Sitter ein Jüngling
an Iljatfraft.
Stndjbem Stein SJtünfter bertaffen, bereinigten fid) ber junge preußifche ^ßräfi-
bent - unb bie alten mflnfterfdfjen 9tätf|e bon gordcubcd unb bon Xruffet baju,
Stein’S ©ilbniß in ihrem Seffionäjimmer aufjuffeilen, „in Slnerfennung feiner
feltenen Serbienfte".
SBcißrenb biefe SRäuncr mit ©ifer baran luaren, SDtünfter mit feinem ©efdjitf
bcfinitib ju berfüljnen unb ihm burch bic 3 uget)örigfcit ju einem ©roßftaat, ber
anbere Sortierte ju bieten bermag atS baS einem uubermeibtichen Untergänge
entgegeneilenbe fleinftaattiche ©isthum, ©ntfdjäbiguug für beu ©ertuft feiner alten
©erfaffung ju fdjaffen, jogen fd»on mieber neue ©eroittermotfen am {joryont auf.
Xer griebe bon SImienS Ijatte nur eine fetjr furje Xauer gehabt; ber ffirieg
3 mifdjeti gtatifreid) unb ©nglaitb mar mieber jitm StuSbruch gefommen. Napoleon
mürbe ffaifer unb ftrebte nad) ber SBeltfjerrfc^aft. ®r untermarf Italien unb fprengte
baS morfefje Xeutfche 9teich burch ©rrichtung beS 9t^einbunbe3, an beffen Spifce
er fich fteßte. Sranj II. befcf)rän!te ftch auf ben Uttel eine« ßaiferS bon Defter»
reich, inbem er bie römifdic ffaiferfrone nieberlegte. ©reußen, bon Napoleon fo
oft betrogen unb mishanbett, griff enblidj ju ben SBaffen, um einen tefcten cnt=
jdjeibenben fi'ampf für feine Unabtjängigteit unb Selbftänbigteit 31 t toagen.
9udj in SDtünfter fdjlugen manche patriotifd)e leeren, meldje auf beu Sieg
ber preußifdjen SBaffen hofften, ja mit ©emißheit auf einen fotdjen regnen 311
tonnen meinten. Xie preußifche ©arnifon unter ©eneral Secoq marfdjirte ab.
XaS mar affo ber ffrieg. 2Kan muß fid) an bie bamalige Sangfamfeit unb lln=
fießerheit beS 9?ad(ridjtenberfeljr$ erinnern, nm begreiflich 5 U finben, baß mehrere
Xage nach bent bertjängnißboßen 14. Dct. 1806 — alfo 3 U einer 3«t, ba bie
preußifche Sltmee bei 3ena unb Sluerftäbt unterlegen mar unb Napoleon fd)oit auf
©erlin I 08 marfchirte — fich in SDtünfter bie fRadjricht bon einem Siege ©reußenS
über ©apoteon berbreitete; unb fie mußte aus feiner fdjtechten öueße tommen —
ober mar auch h' ec ber SBunfch ber ©ater beS ©taubenS? Xer ©räfibent bon ©inde
hielt bie ßtachricht für autheutifch. Gr mar außer fich ö or greube; unb ba ber
©eheimrath bon gordenbed fein bertrautefter greunb mar, fo rannte er 3 U biefem,
um fein $et 3 au 33 ufchütten. @r traf ihn nicht 3 U $aufe, eilte auS einem 3 intmer
in baS anbere, enblich auch in bie ®ii<he, mofetbft er, in ©rmangetung eines
beffem Slbreffaten, bie greubenbotfdjaft ber Äöchin mittheiltc. Xann ging er in
bie Xruderei, ließ bie 9tad)richt bruden unb bie ©tafate an ben ©den ber Straßen
anfchlagen.
Seiber mar afleS nicht maßr. Slm anbem Xage tarn fchoit ber hinfeitbe ©ote;
unb jeber neue Xag brachte neue unb fdjtimmere ©otfehaft.
StCle« bertoren!
Äur 3 banadj rüdte ber ©ruber unb ©erbünbete ©apoleon’S, Submig fönig
bon $oßanb, an ber Spifce feiner Xruppen in SJlünfter ein; unb ber £>aß gegen
Preußen mar bei ben ©ingeborenen fo groß (unb burch SJiiSgriffe bon ©erlin aus,
namentlich burch e > ,ien Wahrhaft unbegreiflichen Stet bon ©abinetsjufti 3 fo gefteigert
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272
Unfcre <3eit.
»worben), baß man beit Rcinb mit Subet empfing, ©räfibent Won $inde twurbe
genötigt, bie Stabt uub ba! Saitb ju werlaffen. ÜRapoteon jei^ncte itjn unb
Stein burd) feinen £mß au«. Ter Völlig Won £>oflanb hoffte, bal SRünftertanb
feinem tfönigreidjc $oßaitb einwerteiben ju fönitcn; aßein er tjatte bie Segnung
otjne beit gematttf)ätigen trüber gemalt, twctdjcr mit Sänbcrn nnb fronen förmlich
fpiclte, auch mit benjenigen, bie er felber geraffen. Ter ©ruber Souil mußte
toieber abjie^en. Napoleon werfuchte fi<h in anbern ©pperimenten, bei melden
auch fünfter aßcrfei politifcßen ÜRetamorphofen untenworfen iwurbe.
Preußen werlor burch ben ffricbeit won Titfit aflc feine tueftlid) ber ©(De gc=
Iegcnen Territorien, atfo aud) SRünftcr. Tal (entere nebft aflertei ßubeßdr lwnrbc
bem neugefdjaffenen ©roßtjerzogthum ®crg juget^eilt, an beffcit Spifce 9?apoteon
feine Schtweftcr Sfarotine unb bereu ©emaht, ©enerat SRurat, fteßte, Welker (entere
ftd) Won nun an „3oad)im I." nennen mußte.
Sittein fdjon am 13. Tee. 1810 befdjtoß 9iapo(cou, gebrängt burch bie tRott) 5
luenbigfcit, iwelcße ißtn bie Turchfiihrung ber ©ontinentatfperre, biefer Werhängniß
woßen Slulgeburt Won ©rößenlwahit unb £>aubellfcinbfetigfeit, anfertegte, bie
SKiinbungcn ber in bie Storbfcc fitß ergießenben brei beutfdjen J5fiiffe ©ml, SBefcr
unb ©tbc nebft aßen bazugehörigen Sänbcrn bent „Empire" einjUWcrteiben.
Tarnnter toar benit and) lwieber äRünftcr nebft 3ubchör, melchel ben IRamen
„Sippebepartement" erhielt.
3m Dctober mürbe bie Sdjladjt bei Seipjig gcfdjtagen unb bie franzöfifeßen
Spiegelfechtereien mußten won ber beutßhen ©rbe lwieber werftßminben.
So wie! 9?ieberträd)tigfcit, mie in ber 3 f U won 1806—13, toätjrenb ber fran»
jöfifeben grentbf|ervfd)aft, ju SDiünfter ju Tage getreten, lwirb gtüdtichermcife fetten
angetroffen.
SBic bie fonft fo hodjfahveubc unb ftolje münfterftße SRitterfc^aft wor jebem abcn=
teuerlichen franzöfifdjen ©enerat fibarioenjette, mie bie hocßabeligen münfterfc^en Ta=
men ber ütRaitreffc beffetben ben £>of machten, toie fich ber ©enerat unb bie 9Kaitreffc
— beibe oßue 3 tweifcl nid)t aflju worneßmer $erfunft — barttber moquirten u. f. m.,
ba! miß idj ßier nicht erjäßten. Tenn e! werbient mirftid) wergeffen ju merben.
Ter aber, ber fidj bennoch aul irgenbeinem ©runbe für biel ©emätbe Woflenbetfter
SRiebertradjt intereffirett foßte, finbet e! in claffifdjer Soßfommenßeit in bem
achten ft'apitel bei wierten ©anbei won ©uftaw greptag’l „Silbern aul ber beutfeßen
Sßergangenßeit". Tie ©runbtage biefe! Stapitetl bitbet ein ©rudjftüd aud ber
Slntobiographie won ©fjriftian SBittjetm $einrid) Setßc (geb. 1767, geft. 1855),
einem hi><hß werbienftwoßen preußifeßen ©eamten, ber at! ißräßbent bei rt)einifdjen
SRewiftonlhofel in Scrtiit (fpäter mit bem Dbertribunat bafetbft wereinigt) geftorben
ift, bamat! aber gcincinfcßaftticß unb gleichzeitig mit gordenbed SDtitgtieb ber
münfterfdjcH Stcgicrung iwar, fomot won 1803 ab ber preußifdjen atl auch öon
1806 ab ber bergifchett unb ber fraujöfifchcu, won meid) leßtercr er beim jum
©eneratprocurator bei Stppettgcrichtl in Tiiffetborf ernannt marb.
SRur einen ffeiiten, aber djarafteriftifchen 3«g au! Sethe’! Stufzeichnungen miß
id) hier mitttjeiten.
„Tie ©räfibenten, Tirectoren, 9tätf)e, Stffefforeit nnb SReferenbarien ber SRegie»
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Die t»on ,forcfettbecf.
273
nntfl unb her Äriegg» unb $ontänenfamnter", fchreibt ©etlje, „fuhren auch unter
bergijcHranjöfifdjetn Regiment fort, ihre ^reufeifc^en $ienftuniformen zu trogen.
Such bie§ Srinnerungäjeidjen an bic preußifdjc Snitbeä^o^eit war ben Slugen
biefeg münfterfchen Slbelg ein ©reuet, ©g würbe non ihm bei bem (franzöfifdjen)
©eneral fioifon batiin gearbeitet, baß er bie Stblcgung ber preußifcfjen Uniformen
oerorbnen foHe. Stttein bie gntrigue gelang nur halb. 2)er ©eneral geftattetc
üielmehr augbrüdlich bag gorttrngen ber Uniform unb befaßt nur, bie preußifchen
SBappenfnöpfe abzunehmen, tocldje wir mit glatten ffnöpfen nertaufefjen mußten.
@0 würbe benn bie preußifdje Uniform nicht abgelegt uitb ber ©efjcimrath
non gorefenbed unb ich (@ethe) haben fie noch im galjre 1808, als wir nach
®üffetborf berufen würben, bort im ©taatgratlje (beg ©roßherjogthumg 99erg)
getragen."
Sin Unbüben wiber biefe pflichteifrigen unb treuen SBeamten, beten ^erjen
auch währenb ber grembherrfdjaft für ißreußen unb $)eutfd)lanb fdjlugen, hat eg
feiteng ber granzofen unb feiteng ber beutf^en grangquiHong natürlich nicht gefehlt,
©ie ertrugen bag aHeg gelaffeneit SKutheg; fowol baß bie franjöfifdhen Offiziere,
wenn fie fpat in ber Stacht aug ber ifJräfectur ober non bem commanbirenbcn
©eneral — fie befanben fich beibe wieber in bemfelben ©c^loß. Wo bie lebten
gürftbifdjöfe jeitweife refibirt unb bann Slüdjer unb ©tein ihren 2 Bol)nfi{j auf»
gefchlagen hatten — non ber geier irgenbeincg ber zahlreichen ©iege Stapoleon’g
fich nach ber ©tabt in ihre SBohnungen begaben, not bem £>aufe beg ©eheimratljg
non gorefenbed nerwcilten, 93efd;impfungen unb Drohungen Wiber ben „Prussien"
augftießen nnb ihre ©äbel auf bem fßflafter Werten, alg auch baß bet münfterfche
Übel, ber Weit franjöfifdjer war alg bie granzofen, ihn non feiner ©efeHfdjaft
augfehtoß unb bei zufälligen unb unoermcibltchen ^Begegnungen in ber nicht aUju
großen ©tabt fich barauf capricirte, ihn nicht jn feljen, ober Wie man bamalg
fagte, „ihn alg Suft ju behanbeln" — aHeg bag oermochte ihn nicht ju beirren.
$)azmifchcn tarnen bann aber zuweilen afierlci befferc SBotfdjaften, bie nun jwar
bie granzofen z» unterbrüefen Oerfudjten, bic aber boch burdjbrangen unb auf
biefem SBege noch wuchfen, SBotfdjaften non Oereinzelten Stufftänben, Wie bie Oon
Schifl unb non Bömberg in $eutfchlanb, bann non Stieberlagen in Spanien,
enblich non fchweren ©ebrängniffen in Stußlanb: furz, SBotfdjaften, welche geeignet
waren, ben uie ganz erlofdjenen SJiutfj ber Patrioten wieber frifch anzufachen unb
ihnen ben Sroft zuzurufen:
O harret ruhig unb bebenfet:
$cr greiheit Sag fteigt bodj herauf.
Qftn ©ott ift’g, ber bie Sonne lenfet,
Unb unaufhaltfant ift ihr Sauf.
S)er greiheitgtag fam. gür SBeftbeutfcfjlanb würbe er burch einige ffofafen*
fdjwärme angefagt. Schon im 2lnfang Dctober hatte Stapoleon’g SBruber, gerome,
welcher unter bem Stamen #ierontjmug I. auf ber 9BiIhelmgh(ih e »®önig non
SBeftfalen" fpiette, reißaug genommen nor bem ruffifchen ©eneral Zfdjernitfchew,
welcher an ber ©pifce feiner ®ofafen nor Gaffel angerüeft war. 3)a fich aber
Untere Beit. 1882. I. 18
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Unfere <5cit.
27 \
herauSftellte, bafe bie Sache nodj nicht fo fchlimm war, beim bie Äofafen waren
halb loieber oerfcfirounben, fam $ieronhmuS wieber unb liefe in Raffet einige
Seute wegen „$och* unb SanbcSüerratljS" erfdjiefeen. 'ÄIS aber bie SRadpidjt oon
ber Sc^lacfjt bei Seipjig fant, nafjm er toieber reifeauS, unb bieSmal lief er gleich
bid 3J?ü^If|eim a. b. 3?. $ier falj man if)n mit feinen tion ©olb ftrofcenben
®arbeS=bu=©orpS, feinen ©ünftlingen unb $ofbeamten in pljantaftifchen bunten
Uniformen unb mit feinen Gourtifaneit in fdjantlofen Toiletten, oon melden, in ©r»
ntougelung oon Borjimmern, oietc auf ben Treppen unb Hausfluren berumlungerten.
Sie glicfeen einer Schaufpietergcfellfchaft, welche irgenbwo burcfegegangen war, ohne
bie Seche ju bejahten, unb in ihrem Bühuenflitter auftrat, weil an ihren bürget'
liehen Kleibern Oon ben ©laubigem baS Bfanbrecht geübt Warb. Seiber befanben
fich auch $eutfche barunter, auch beutfehe ©bclleutc!
Unb nun riieften bie „Stttiirten" oor nach bem 9thein, über ben SFi^ein, nach
granfreich, nach ißaris. Tie Territorien, welche unter franjöfifdjer unb qnafi*
franjüfifcher, b. i. bergifdjer, Weftfätifchcr u. f. W. £errfchaft geftanben, fielen an
ihre redjtmäfeigen Staatsoberhäupter wieber juriief. 9luch ^ßreufeen erhielt fein
fünfter. XBaS gleicfefam herrenlos getoorben, baS fam unter bie gemcinfamc
proöiforifche ©eutraloerwaltung ber Stüiirten. 9ln ber Spifce berfelben ftanb bet
9Jcicf)Sfreihcrr üom Stein; unter ihm wirfte fehr fegeuSreich 3ufiuS ©mner.
TaS preufeifche SBtünftertanb üergröfeerte fich anfeljnlich, ba bie ©ebiete ber
SDiebiatifirten bajugefchlagen tourben. So geftattete fich ber jepige SRegierungS»
bejirf SKünftcr, welcher heute jufammen mit ben Bejirfen oon ÜDiinben unb 9lrnSbcrg
bie ißroOin} SBeftfalen bilbet. üRiinfter würbe bie Hauptftabt. ÜJiaj oon Worden»
beef würbe Wieber SKitgtieb ber preufeifefeen ^Regierung in SDiünfter.
Sein früherer münfterfcher Sh c f, Freiherr oon gürftenberg, war währenb ber
granjofenjeit, am 16. Sept. 1810, geftorben. Tic Behauptung, bafe auch er
gegen Breufeen confpirirt höbe, ift oon Dr. ©rljarb (in Scbcbur’S „9lrchiü", XV, 102)
wiberlegt worben. 3m ©cgentljeil, bie grembljerrjchaft ber granjofen erfüllte
fein ebleS $erj mit einem fotchen Kummer, bafe er fich alten irbifdjen Tingen
abwanbte unb nur noch in religiöfen Betrachtungen unb Uebungen Troft ju finben
üermochte.
Tie banfbaren SDifinftertänber nannten ihn auf feinem ©rabftein ben „Batcr
beS BatertanbeS". Bei bem SBort „Batertanb" bachte man an baS üJiünftcrtanb.
SDtan oerwechfelte bamalS noch baS Batertanb unb bie Heimat.
3n bem wieber aufgeridjtcten B reiI fecn geigte fich überall ein reger {Reform*
trieb, fowot in Ootfswirthfchaftlichen als in politifchen Tingen. 9tuch bie {Regie*
rung in SRiinfter legte tljatfräftig fpanb an unb baS Sanb hob fi<h SDtan
baute Strafeen, theilte unb cuttiüirte bie Reiben, hob baS Sanb burch ©manci*
pation ber Bauern unb ihres SigenthumS, namentlich burch ©rteidjterung ber
Slblöfung ber rufticaten, Tienft* unb HörigfeitSOerhältniffe, unb bie Stäbtc Wur*
ben burch Einführung ber Stäbteorbnung, mit einem neuen ©eifte beS Thaten*
brangeS unb pflichteifrigen ©emeinfinneS belebt unb gehoben. Bei allebem hat
auch ber ©eheimrath Oon gorefenbeef fräftig mitgernirft. 5Rnr bie lefeten Tage
feines langen uub gefegneten SebcnS würben getrübt burch bie SRcaction, Welche
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Die Don ,forcfenbecf.
275
feit 1820 audj über ©reußen ßereinbraeß. SBenigftenS auf politifeßem ®ebiete.
$enn auf notfSWirtßfdßaftlicßem ßielt Äönig ffmbrieß SBilßelm III. unentwegt feft
an bem freißänblerifcßen ®eift, in welkem bie SRegierungSinftruction non 1808
abgefaßt unb non welcßem bet neue Zolltarif non 1818 bictirt war. 2ln jenem
©eifte, meinem nießt nut bie SBiebergeburt ©reußenS ju nerbanlen, fonbetn audß
bie ©tänbung beS goOfctein^, beS ©ortäuferS bet beutfdjcn Einßeit.
Sluf politifdßem ©ebiete bagegen mar bet fi'önig miStrauifcß unb ängftlidß,
miStrauifcß not allem gegen fieß felbft, unb infolge beffen gelang es ben 3Retter=
nicßS unb SEittgenfteinS, mit ißten unßcifooflcn SRatßfdjlägen ©eßör unb Einfluß
ju gewinnen.
äRetternicß — bariibet geben feine nunmeßr neröffcutlicßten ^ufeeießnungeu
Stuffcßtuß — bcriißmte fieß biefeS feines Einflußes auf bie preußifeße ©olitil mit
einet waßrßaft eßnifeßen Unnerfcßämtßeit.
®em ©eßeimratß 2Raj non Sordenbecf, bet per tot discrimina rerum fo gc=
treuließ ju ©reußen gehalten, würben feilte leßten SebcnSjaßre bureß biefe ©olitif,
weteße et für netßängnißootf anfaß, »erbittert.
Er ftarb 1821.
Sn bemfetben Saßre, in welcßem et in SRünfter ftarb, würbe bafetbft fein
Enfet geboten. 3)iefer Enlel ßeißt ebenfalls 2Jlaj non fjotefenbed, eS ift bet
jeßige Dberbürgermeiftcr non ©erlitt unb bet langjäßvige ©räfibent unferS 9tei<ßs=
tageS.
©ein ©ater, gtanj non gortfenbed, Wat bamals DbergeridßtSratß in SOiünfter.
Eße wir $u bem öffentlichen Seben beS ©oßneS übetgeßen, wollen wir übet ben
©ater in ®ür$e berußten.
18*
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Dur JJIjikrfupljtf Irrt (Ü>*fd)id)fr.
8 on
iMorilj ßrafrij.
I.
2 Ber biblifcf)c ÜJttjtljen in mobcrnem ©eifte 311 interpretiren liebt, bcr !anit bic
belanntc altteftamentlichc Krjählung Dom babhtonifdjen Jtjucmbau in einem großen
Iljeile uitferS je^igen ©eifteS» unb Kulturlebens in fiberrafdjenber SBeife beftätigt
fehen. Seite SJtänner im Sanbe ©inear Ijatten nichts ©eringereS geplant, als
einen Xfjutm ju bauen, „beffen ©pifce in ben Fimmel reiche". Unb wogu? SBar
eine 2lrt Don ©igantomachie bcabfidjtigt? ©Sollten fte etwa ben £>immcl ftür*
men unb 3 *h 0öa h entthronen? ©o oerwegen war bcr ©inn biefer frieblidjen
3JJenfc^cn leineSwegS. Sie wollten nur, Wie bie ©ibcl ^iitjufögt, „ftch einen
tarnen machen". SBir lönnten hierin baS erfte betriibenbe Seifpiel einer filbn
auSgcbachten SReclame erblicfen, wenn nicht noch ber Stachfafc folgte: „bamit wir
nidht jerftreut Werben über bie ganje Krbe". Diefer nnS Dielleicht ptaufibel er*
fcheinenbe ©runb fchien jeboch Sehotah bnrchauS nicht einjuleuchten. Kr witterte
ein ganj anbereS unb gefährlicheres SftotiD hinter jenem ©eginnen unb erfann
jenes SKittet, welkes mancher moberne ©taatstenler mit $ülfe ber offieiöfen
©rePurcauj nachjumachen fich ücrge 6 tich bemüht h«t, er becretirte: „SBohlan
benn, wir wollen herabfommen nnb ihre Sprache Derwirren, baß leinet bie Siebe
beS anbern berftehe." Sie folgen biefer ©prachDcrwirrung waren fdjrecftich genng:
reichen fie ja hoch, wie baS an ben erbitterten ftefjben bcr mobernen ©hil°f° 8 i c
unb ber Dergleichenben Singuifti! beutlich genng ju Sage tritt, bis in bie jüngftc
©egenwart hinein!
2BaS nun aber bie SBirlungen jenes altbiblifchen 3lu<heS für unfere Seit be=
fouberS Derhängnißüoß macht, baS ift ber Umftanb, baß wir eigentlich für bie
entgegengefeßten ©ünben jn leiben hnben. Ratten jene erften ©efchledjter für
ihre attju liihnen ©eftrebungen im „Hochbau" ju büßen, fo laborirett wir an bcr
ju großen ©reite unfeter geiftigen Santen. Sliefe ftreben nicht mehr in ben
„Rummel", unb wer bie ©auftätten unferer lefcten Kulturperiobe überblidt, bem
brängt fich Dielmehr überall bie $enbenj nach ber ©reite auf: auf allen ©ebieten beS
Sehens unb beS SBiffenS ift bic |>errfehaft ber ©pecialität an ber 'JageSorbnung.
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<3ur p^tlofop^tc ber (ßefdjidjte.
277
5)aS SJtifroffop ift nid)t btoS in bet organifcfjen Siaturforfcfjung in Permanenz
erflärt; benn mag ift bie herrfdjaft beS StaturatiSmuS in bet Sunft, bet Statiftif
in bet Politif, bet ^Monographie in Siteratur unb ©efdjidjte anberS als bie Hebet»
tragung bet mifroffopifcfjen SWetljobe auf biefe ©ebiete, too bie 8fu$fdjlief}Iidjfeit
bet mifrologifchen Sorfchung gteidjbebeutenb mit bem fcfjlicßttchen 2obe bet 3bec
ift? 28er moßte freilich leugnen, baß bas in bet Maturforfcfjung wie in bet
Snbuftrie fo fruchtbare ©efefc bet Arbeitsteilung auch auf bem Selbe geiftiger
Arbeit fegenSrei<h gemefen ift? Aber täufchen mir uns nicht. SeneS moljlthätige
^Btiitcip ift nur big ju einer gemiffen ©tenje öermenbbar, barüber hinaus liegt
ber geiftige Xob. Stuf bie großen culturgefchichtlichen Sßerljättniffe angemenbet,
heißt biefeö nichts ©eringereS, als Mücflauf auf ber Sinie ber geiftigen ©ntmicfe»
lung beS SMcnfdjengefchtechtS. Am fchtimmften geht es auf bem meiten ©ebietc
hiftorifdjer 25iSciplinen tyt. Smmet unfaßbarer mirb bie Sülle beS Sfjatfäch'
ließen, baS auS bem ©cfjofe ber SSergangenheit herausgeholt mirb; immer zahlreicher
unb unüberfehbarer merbett bie gerichtlichen ©inzelmiffenfchaften, bie öon bem
mastigen Saume ber ©efchichte fich abjmeigen. Aber je größer ber Sreis biefer
hiftorifchen ©pecialfächer mirb, befto mehr feßeint fidj jeber biefer Schößlinge in
ßch fetbft jurücfjuziehen, anftatt Sufantmenhang mit ben näehften unb öermanbtcn
Smeigeit zu fucheu, gefdjmeige gar nach Süßung mit bem gemeinfamen SMuttcr»
hoben ju ftreben. ©chon öerftehen bie politifd^en hiftorifer, öon benen niete nur
noch Ardjiöphitologen finb, ihre funfthiftorifdjen ©oflegen gar nicht mehr, unb biefe
ftehen micber ben Siterarhiftorifern frember benn je gegenüber. SEBeit ab öon
biefen ljätt ß<h ber Kultur» unb ©ittenhiftorifer mit ber großen Sippe feiner
Zahlreichen ©efdjtechtSöermanbten, öon benen fidj auch f<h°n mieber einige jüngere
©proffen, z- bie UrgefchichtSforßher, ftolj abfonbern, um lieber ben miffen*
fchaftlich öornehmen, aber fremben ©ebieten angehörenben Paläontologen unb
Anthropologen fuh z« flefeßen. 2Bie bißig fchreibt jebe 2Biffenfdjaft ihre eigene
©efchichte uitb niemanb mirb es erfprießlich finben, menn bet Solfsmirth etma
bie ©efchichte beS aßinähtichen 2Baif)Stl)uniS ber Aftronomie ober ein ©otanifer
Sircheugefdjichte fchreiben moßte. 2Belje auch bem ©inbringting, ber cS magen
moßte, fotche ©renzftörungen zu begehen! Aber ift bie ljiftorifche ©ntmicfelung einer
einzelnen beftimmten SEBiffenfchaft nicht ein integrirenber ®heit in ber ©efammt»
entmicfelung beS ©eifteS ber 2Jtenfchheit unb mirb ettua bie ©rfenntniß beS lefctem
baburch geförbert, baß ein folcheS Segment öon bem Steife abgetrennt unb be=
ßanbelt mirb? ©in einzelnes Seifpiet aus neuefter Seit mag hier genügen, ©o
Z- 99. bie öon Manfe geleitete unb öon ber hiftorifchen Gommiffiou ber föniglich
bairifchen Afabcmie z u München hetauSgegebene „©efchichte ber SBiffenfchaftett
in ®eutfchlunb". Seber biefer umfaffenben Sänbc, öon ausgezeichneten Sach»
männern öerfaßt, ift eine öortrefftiche ^Monographie. Aber geben fie zufammen
ein abäquateS 23itb öon ber miffenfchaftlichen ©ntmicfelung $eutfchtanbs? SBie
»erhält fich biefe zu feinem politifchen, fociaten, titerarifchen unb fünftlerifchen
Sortgang unb enblich, mie taufen aße biefe einzelnen Mabien in bas geiftige
Kentrum ber Station ein? Sa fo öerloren ift ber heutige Sünger irgenbeiner
hiftorifchen $)isciplin in feinen Stoff, bei bem ihm oft nur bie „Sritif ber Gueflen"
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278
Unfere Seit.
am £erjen liegt unb bie ÄuSfidjt, jur „reinen ^iftorif^en I^atfa^e" ju gelangen,
f<$on Xriumph i{l, baß il)m felbfl bad ©ebürfniß nach bem „geistigen ©anbe", bad
iljn mit feinen ©rfibern in Slio jufammen^dlt, ganj ermangelt. SBir fehen eine
große Stujahl non Steifen, bie ftdj jueinanber cjcentrifcf) »erhalten, hier unb bort
mit ihren Peripherien fidj berühren unb nur hö<hft feiten ein gemeinfamed Seg¬
ment sieben; unb boch ftehen in SBaljrheit alle biefe Greife im concentrifchen
©erhältniß jueinanber; benn ihr gemeinfamer SRittelpunft ift ber ©eift ber SJienfch»
heit, wenn anberd bie ©efchichte in allen ihren ©erjWeigungen ein burch bie
SKangethaftigfeit unferer Queßen auch nur gebrochene^ Äbbilb bed nergangenen
Sehend bed SJienfcbengefchlechtd fein folt. fiier brängt fidj aber fofort eine ganje
SReihe non fragen auf. 3ft bie gefammte SJieufchcngefchichte ald ein ©anjed etwa
im Sinne eined Organidmud aufjufaffen? SBeld^cd finb bann feine Zweite unb
Organe, meldjed bie ©efefce feiner bidherigeit ©ntwicfelung? Sinb biefe ©efefce,
benen bad gefchichtliche SBcrben bed SRenfchengefchtechtd unterworfen ift, feft unb
unabönberlich, unb wie ift hiermit bie Stctiondfreiheit ber einzelnen ^iftorife^eu
Perfönlicßfeiten oereinbar? Ober finb biefe felbfl nur Sltome, beten fcheinbar wifl-
fürliche ©ewegungen hoch nur eben fcheinbar finb unb in bem großen entwicfelungd-
gefchichtlichen proceffe ihre notljwenbig beftimmte Stoße haben? ®iefe unb niele anbere
fragen noch, non benen jebe ein bebeutfamed ethifeßed unb tjiftorifched Problem
in ßch fdjließt, fönnen offenbar non ber empirifchen heutigen ©efchicßtdforfchung nicht
gelöft Werben. SSol nermag biefe ed ju einer Änjatjl theoretifcher Siegeln über
bie SRettjobif ihrer Slrbeit unb bie literarifche 2)arfteßmtg ihrer Stefultate ju bringen,
unb ber Inbegriff biefer Siegeln bilbet auch bie SBiffenfchaft ber fogenannten
£iftorif. Slßein jene fragen Weifen ihrer tiefem unb unioerfefletn ©ebeutung
nach Weit über ben fporijont ber letztgenannten $idciplin hinaud unb fönnen ihre
©eantWortung nur in bet Pbilofoptjie erhalten. Ihatfächli^ finb ed auch mehr
ald hunbert 3af|re her, baß ftch bie Philofopljie ber ©efeßießte mit ber Söfung
biefer wichtigen Probleme befdjaftigt h“t- freilich haben biefe auf ben oerfdjie»
benften SBegen unb non ben entgegengefefeten philofophifcßen Stanbpunften aud
unternommenen Söfungdnerfuche noch J u feinem enbgültigen Siefultat geführt. Slber
bie nerhältnißmäßig noch junge SBiffenfdjaft hat fdjon manche S^icffale erlebt
unb bilbet in ber wecfjfelnoßen Obpffee bed menfchlichen $enfend unb gorfdjend
eine jwar furje, aber intereffante ©pifobe.
2Bo ift ber Urfprung ber Philofophie ber ©efchi^te ju fuchen? SSSie bie An¬
fänge aßer SBiffenfcfjaften nerliert fich auch ber ber genannten 2)idciptin in ein
femed $unfet unb ift junächft non ber ©efchichtdforfdjung nur fdjwer ju fcheiben.
2Bie juerft Corner unb Sophofled bichteten, beoor Slriftoteled eine Ih eot * e ber
Poetif auffteßte, Wie norher bad praftifche ©ebürfniß jWang, bie Stoffe ju mifchen
unb ju jerlegen, beoor ©hemie unb Phhßf bie metljobifche ©rfotfdjung ber Statur
unb bie wiffenfcßafttiche gormulirung ihrer ©efefee unternahmen, fo ift auch h*er
bic Prajid ber Ih e °rie Ooraudgceilt. Sahrljunberte hiuburch hüben bie ©ölfer
bem ©ebürfniß ber ©rinnerung ihrer bunfeln ©ergangenheit in Sagen unb SRpthen,
in benen fic jugleich ihrem religiöfen unb poetifdjen ©ebürfniß oblagen, Sludbrud
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<3ur P^ilofopljtc ber <Sefdjidjtc.
2?9
gegeben, benot fie an eine ©idjtung unb Sammlung biefer ißrobucte ihrer Kinb»
heit gingen, benot fie einen chronotogifchen ^Regulator in biefen Urwatb ihrer
Uebertieferungen brauten. Die 3dt bet Stnnatiftif geht bet bet methobifdjen
©efchidjtöorjähtuug öorauS. Unb erft als man fich bet Stufgaben biefer tefctern,
bie in ihren erften Slnfängen überall mit ber naioen Gf)tonif üerfchmotjen erfdjeint,
bewußt mirb, !ann man non einer toirflidjen Diftoriographie fpredjen. ©eltfam!
Der größte D^eil unferer fogenannten ®eifteSwiffenfd|aften (bei ben granjofen
Sciences morales") hot feinen Ursprung bei ben ©rieten, aber neben ben Slnfängen
ber ©tljif, ber tßolitif, ber Delononti! fuchen Wir oergebtidf) bie ©puren einer ©efchicljts»
theorie, ber ^iftorif. Unb boch hat cS SlriftoteteS an Sorbilbent unb praftifchen ©toffen
für eine ©eßhichtSWiffenfcfjaft nicht gefehlt. SBir wiffeit, baß er auf ben genialen
Srjähler ber IßeriHeifchen zugleich ben größten ©efchichtfchreibcr beS Sitter»
thumS, mit Sewunberuitg jurüdfat). Unb fctbft angenommen, wir befaßen noch
baS nerloren gegangene große SerfaffungSWcrf beS SlriftoteteS, fo Würben Wir wot
fchwertich gefchichtStheoretifcfje ^Reflexionen barin finben. Sin ©riinben für biefe
merlwürbige ©rfdheinung fehlt eS nicht. Der nädjftliegenbe ift wol ber, baß trojj
ber eminent bebeutenben ©ef<hi<htfchreibung beS DhuctjbibeS biefe Kunft bann unb
jroar bnrd) ben ©influß beS gfofrateS jenen wefentlich rhetorifchen ©haraftcr an»
genommen hat, öon bent fid) fctbft tßolpbiuS, ber pf)itofopf)ifd) unb politifch
hochgebilbete greunb ©cipio’S, nicht gaiij frei erhielt. Studj bie römifchen $ifto*
rifer, bei beiten inhaltlich meift baS potitifeße gntcreffe fiberwog, bie aber formell,
mit SluSnaljme beS ernften DacituS, fich an bie rfjetorifdjen ÜDiufter ber ©riedheu
anfchließctt, hotten feine Serantaffung, über theoretifche Seftimmungen unb Siegeln,
noch oiel weniger aber über bie pßilofophifchen ©lemente ber ©efdhicljtfchrcibung
nochjubcnfen. Sei ben Stlejanbriuern fchwanfte biefe leßtere jWifcßcn panegprifdher
3Rhctorif unb gelehrter ^Philologie, währenb bie .^iftorifer beS finfenben Sitter»
thutnS gor ju tenbenjiöS halb bie ißartei bcS ^ufammenbredjenben IRömerreicheS,
halb bie ber urWüchftgcn Sorbarcn ergreifen, um fich ju einer philofophifcheu
Grfaffung ihres ©toffeS ju erheben, $ier unb bort Hingt auS bem rhetorifdjeu
SSortgeprängc ein ©eufjer, eilt Klagclaut h crl) °r. Slber bie ernftern ©eifter fudheit
entweber eine fittlicfje ©rhebung in ber ©toa ober bei ißtato ober Droft uttb ®r-
gebuitg in ber neuen Religion bcS gefreujigten StajaraerS. DoS SOlittetolter, baS
itirgcnbS frifche Driebe bcS Wiffenfchafttidjcn ©ciftcS geigt, im übrigen aber feinen
Sßeborf on SBiffenfcßaft, foweit eS bie Kirche erlaubt, üoit ben Slraberit bezieht,
läßt hier unb bort in feinen ©hroniften jWar eine tljeologifd] hiftorifeße SBclt»
conftruction burchbliden. Slber bet firchliche Siebei umlagert ju ftarf ben ^orijont,
als baß ein ©traht einer tt)eoretifih»gefchichtlichen Slnfchauung hätte bureßbredheu
fönnen. ÜRancße #iftorifer ber Karolinger» unb Ottonenjcit lehnen fich ftiliftifcf;
ait bie SRufter ber Sitten an, aber Weber im Drioium noch im Gnabrinium ift
tßlaj} für eine theoretifche ^»iftorif. Sluch als biefer officictle Kanon aller SBiffen»
fdhoften unb Künfte bereits Oielfadj burdhtßchert war unb baS SBiffen aus ben
Höftertidhen ©tätten itt freiere, uniöerfeffere gnftitute mit künftigem ©harafter
floh, tonnte nur gattj allmähtich eine allgemeine ©efdhidhtSanffaffung fidf) gettenb
machen.
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280
Unfere ^it.
SEBie nach £egefs geiflbotfem ©Sorte bie erfte Entstehung ber ©rofa mit bem
©eginn beS ©taatSbewugtfeinS jufammenfällt, fo möchten wir bie erften Urfadjen, bie
©efchichte bom philofophtfdjen ©efiditspunfte aus ju behanbetn, in bem Erwachen beS
©egriffs ber 3Renf^eit fudjen. Sie bur<h bie Entbecfung HmerifaS unb ben enblichen
Sieg ber heliocentrifdjen SBeltanfidjt gewonnene (Erweiterung beS äugera SBettbitbeS
nicht minber als bie Erfdjliegung ber antiten Eultur im Seitalter ber IRenaiffance
führten eine Erweiterung unb Vertiefung beS ©egriffs ber äJtenfdjheit mit fidfj. 2BaS
wunber baljer, bag bie ®efd)i<hte, welche ja nur ein mehr ober minber gelungenes
ErinnerungSbilb ber ÜRenfdjheit barftetlt, fid(j auch in wiffenfcljaftlicher 4?infidjt biefem
©egriffe ju nähern fud)t? Einer Seit» in ber ein ftaatSphilofophifdjeS ©hantafie=
Wert, wie baS beS ebetn unb unglücflichen ÄaujIerS oon Engtanb, Stiomad ÜJtoruS:
„De optimo reipnblicae statu deque nova insula Utopia", reifte, mugte audj halb
ber ©inn für eine pljitofophifcf)e ©etradjtung ber ©efchichte fid) erfdjliegen. Unb
fo fe{jen wir fdjon in ben ©Triften beS gean ©obin*), jenes franjöfifdjeit ©ubli»
ciften unb StedjtSphilofopben beS 16. 3af)rhuiibertS, ben man als Sorläufer
SKonteSqnieu’S anfeljen tann, in bem fid) aber ©cletjrfamteit unb Slbergtaube
fettfam mifdjen, gefdhichtsphitofophifdfje Stnfäfce, bie freilich lange offne gortfefcung
blieben. gn Seutfdjlanb haben für biefe 9tid)tung ber 9iaturrecE)tSlef)rer ©ufen=
borf unb ber nach allen ©eiten hin ©ahn bredjcnbe Scibnij 'Anregungen gegeben.
Sann hoben auch bie Engtänber bie 2h cor ' e ber ©efdjidjtStoiffenfdiaft, wenn auch
nicht nach Phifofot>h*fd) en ©rincipien, fo bodj nadh gewiffen allgemeinen ©efid|tS=
punften oielfadh geförbert. $iftorifer, wie £>umc, SRobertfon unb ©ibbon hoben für
bie SRettjobotogie unb ©qftematif biel gethan, inbent fie ben unüberfefjbarcn ©toff ber
©efchichte nach ihren Stufgaben unb ©ebieten fpftematifdj glieberten, Wie man auch
feitbem bon SBeltgefdjichte, ©efchichte ber SRenfchheit, Uniberfatgefchidhte, ©taaten»
unb Völfergefdjidjte u. f. w. fpricht. Unfere beutfdjc ©öttinger ©chutc h fl t bann
im 18. gahrljunbert burdh ^iuiujiehung ber bielfach neugefetjaffenen ^ütfSWijfen*
fdjaften ber ©efchichte biefe ©pftematif weiter auSgebitbet unb entwiefett. Soch
War es nicht Seutfchtanb, fonbern grantreich < non bem bamatS ber erftc groge
©erfudh einer p>hitofop>^ifc£jen ©ehanbtnng ber ©efchichte auSging.
StlS Voltaire bem Srängen feiner mehr geiftreidjen als fdjöiten greunbin,
ber SRarquife Sudfjätelet, nachgab unb an bie SluSarbeitung feines „Essai sur les
moeurs ct l’esprit des nations" ging, bezweifelte er faft, ob eS ihm getingen
würbe,- aus ber unerfdhöpflidjen SRenge ber hiftorifchen Shotfochen bas für feinen
3wedE Sauglidje, ben bauernben ffern ber Kienfdjengefchichte: bie Entwicfetnng beS
rein äRenfdjlichen, aufjuweifen. SRan weig, wie feljr ihn fein potemifcher Eifer
gegen bie firchlichen Vertreter ber gbee ber göttlichen öeitung in ber ©efchichte
bon feinem eigentlichen Vorhaben abbrachte. Sodj ift bie geiftreidje Schrift für
bie gotgejeit fehr wichtig geworben, infofern fie ju ähnlichen Verfudfjen anregte.
VoItaire’S fdfjarfe ©oternif galt wefenttich bem alten ©offuet, beffen für ben Souphin
gefchriebener „Discours sur l’histoire universelle" auch barin bie glatte ©efdjicflich»
feit beS geiftlidfjen Höflings nicht berteugnete, bag er hier mit allen rhetorifdjen
*) 8$ gl. „Six livres de la republique" (©ariS 1577).
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^ur P^ilofoptjic ber (ßcfdjidjle.
28 \
fünften, beten bet erfte ®an$elrebner granfreidjS fähig war, bem „L’ötat c’cst
moi" feinet irbifdhen ©ouberänS, baS „L’univers c’est dien" feines tjimtnlifdien
#ernt als Urbilb abfoluter unb glanjbotler Sltteinfierrfchaft jut ©eite ftettte. SEßaS
ber genfer Sublicift SKallet bu Ißain, beffen ranker unb oft incotrecter ©tit meift
einen hröftigen unb ernften ©ebanfen umfchliegt, in feinen Politiken unb ^iftori=
f<hen „Märaoires" jur Söfung gef(^id)tSpf|itofop§if(^er Probleme beitrug, ift ebenfo
toie bie moralifitenbeit „Entretiens de Phocion" Sonnet be 3Jt ab tl)’S auf Sol=
taire’S Ginflug jurütfjufüljren. Xaffelbe gilt üon Sßelfl) unb XucloS, ber lefcterc
SoItaire’S 9tacf)foIger in ber Stellung eines löniglidfjen §iftoriographen, beffen
hiftorifdje ©Triften*) mehr ben gewanbten unb geiftreidjen Gharafterjeichner ber
einzelnen Seiten unb Söffer als ben gorfdjer nach bem ^iftorifd^en ©efefce jeig'en.
$odj ift in allen biefen Slutoren ein gewiffeS p^ilofop^ifc^eS Gtement ausgeprägt.
Son biefem ©efichtspunlte aus finb and) SOtonteSquieu’S „Esprit des lois" fotoie
feine „Considörations snr les causes de la grandeur des Romains et de leur
decadence" unb So In et)’S cinft in Xeutfdjlanb oief gelefenc „Raines ou sur les
reTolutions des empires" in biefe Sei he gefdjidjtSpf)ifofopI)ifd)er Serfucpe ju fteKen,
obgleich bie SeriUjmtljeit ber erfteu ©egrift mehr intern politifchen unb ftaatSrecht--
litten Ginflug jujufdjreiben ift, unb Solnetj’S E|iftorifc^=etegift^e Seflefioncn mefjr
einen poetifdjen als pfjtlofop^ifc^en ©eift attjmeu. X)od| geigte fd)oit ©raf Solltet)
baS Seflrebcit, bie Sranjöfifdje Sebolution als Serfuch einer Serwirflicf)uttg beS
SbeatS ber Scrnunftherrfdhaft ju glorificiren unb biefe blutige Gpifobe in bem
gef(£idjtti<$en Xrama ber $Renf<hf)eit als notfjmenbig ju beweifen. ©o conftruirt
fidj ber SDtatljcmatiler ÜRarqniSbeGonborcet in einen „Esquisse d’un tableau
historique des progres de l’esprit humain", einem SBerle, baS tro^ ber Sülle
öölferpfpdjologifdjer unb focialcthifcher ^Beobachtungen unb Seflejtoneit jefet ganj
bergeffen ju fein fdjeint, mitten in ben ©djreden bet Sebolution, beten Opfer er
felbft würbe, auf giftorifdfen unb pfpdljologifchen 2 ^atfad|en eine gefdjidjtspljilo*
fophifdfje 2^eorie, burdE) bie er ber SRenfcfjljeit baS ibtjüifc^e ©Ittd unb bie gegierte
Sreiheit in ber 3«lunft belieben glaubte. $och bringt es auch Gonborcet nicht,
trofc ber Umficht in ber SluSWaf)! ber X^atfa^en unb ber matfjematifcf} nüchternen
©trenge feiner Seweisführungett, ju einer toiffeufefjafttid^en Sonnulirung fjiftorifdjer
GntwicfeluttgSgefefce.
GS ift nicht unintcreffant, ju beobadjteit, auf wie betriebenen Süßegen ein unb
baffelbe wiffenfchaftlidfje Problem bon ben berfchicbeiten Söllern feiner Söfttng ju=
geführt Wirb. Slber überall bleibt etwas bon bem fpecififd) nationalen Grbgeruch
haften. 3tt Sranfreidf) behalten bie gefdjichtsphilofophifchen ©tubien immer einen
borWiegenb politifchen Gharalter, int 18. ^a^r^unbert ben beS Politiken unb
religiöfen StabicaliSmuS unb ber Sluflläruttg, im 19. Sahrljunbert, entfprechenb bett
Suftänben beS Staates unb ber ©efettfehaft, halb ben beS magboDen politifchen
SortfdhrittS, Wie in ©uijot’S „Histoire de la civilisation en France", halb ben
*) gnsbefonbere feine „Considerations sur les moeurs de ee siede" (1749) unb
„Memoires pour servir ä l’histoire du 18° siede" (1751),
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282
Unfere <3eit.
ber politifchen SReaction, tote in ben ^iftorift^*theofratifchen ©Reiften 3 °f®bh
be SDtaiftre’S*), halb auch ben ber rabicalen llenbengen, wie bei bem angiebenben
Stöbert be SamennaiS, Wetter bie nttjftifc^»rebolutionären 3been, oon benen
feine biftorifdppolitifchen**) ©Triften erfüllt finb, in einem ©til üortrug, ber eine
intereffante aWifdjung toott biblifdjer Srtiaben^eit unb ftangöfifchem ©Sprit mar.
©in anbeteS ©epräge bagegen tragen biefe Unterfudjungeit in Deutfdjlanb, ein
anbereS wieber in ©nglanb. SBie feit Scibnig unb Kant bie beutfehe ^ilofopt)ie
überhaupt einen fpeculatib=conftructioen ©barafter b«tte, fo üerhält eS fi<h auch
hier mit benjenigen ©erfueben, Welche ben Seift ber ©efchidjte pbilofopbifdj gu
begreifen ausgingen, inbem fie gumeilen fogar einen tbeofopbifchen ©runbton an*
fragen, wäbrenb ber ©mpiriSmuS, ber in ©nglanb feit ©acon bis auf bie @e=
genmart ben Iferrfdjenben Ion in ber ©ffilofoplfie angibt, aud) in beu gefdjidfts*
pfjitofopbifchen ©tubien ber ©nglänber, Wie mir biefeS an ben jüngften, aber
bebeutenbften Vertreter biefer SBiffenfdfaft, I^ontas ©ucfle, feben Werben, Oon
überwiegenbem ©influfj ift.
SIS Seffing 1780 anonpm feine „©rgieljung beS SKcnfdjengefdflecbtS" ^ u pij s
cirte, ahnte felbft ein fo intimer greunb beffelben nicht, wie SDtofeS SJtenbelSfobn,
ber freilich an pbilofopbifcbe« ©onftructionen ber Sefdjidjte gar feinen ©efaDen
fanb ***), baß in ber Keinen Schrift eine Strt religiöS«pbilofopljifcben DeftamentS
borliegt, baS in furgen Bügen bie ©ntWicfelungSgefchicbte beS fittiidjen ©ewufjtfeins
ber SOtenfchh^il — freilich au f religiöfer ©runblage — enthält. Die ©rgieljung,
welche ©ott bem äJienfcbengefdjlecht gutheil werben lägt, gefehlt hier int Saufe ber
©ef^ichte burch Offenbarung, bie aüerbingS nichts bemfelben gibt, worauf cS nicht
aud) burch bie ftdj felbft überlaffene ©erounft fommen würbe. DaS Steue Defta*
ment ift gegenüber bem Sitten baS gweite ober beffere ©lementarbuch für bas
!D?enfchengef<htecht. 216er Seffing hofft auf baS Kommen „einer 3eit eines neuen
ewigen ©oangeliumS", baher läge eS im ©rgieljungSplan ber SOtenfchheit, baff
auch ber neue ©unb fidj nunmehr als antiquirt herausfteße. ©eoffenbarte SBabr*
heiteu ftehen gu ©erounftwatjrheiten in einem beftimmten ©erbältnifj. ©rftere
müffen ben lefctern Oorangehen; biefe finb baS langfame ©erWanbtungSprobuct
aus jener. Die SOtetljobe ber göttlichen ©äbagogi! erfcheint unferm blöben Sluge
oft unftar, aber fte h«t ihre beftimmten 3iele unb bie ©ntmiefetung beS ©ingelneu
oon frühefter Qugenb bis gum Sllter gibt uns ein ungefähres öilb oon bem SBege,
ben auch baS 3Renfchengef<hle<ht gu Wanbein hot. Das 3iel ber ©efammtheit wie
beS ©ingelnen: baS Sicht ber ©rlenntnifj unb bie Steinbeit beS |>ergenS, bie fo
oft im Saufe ber SDtcnfcbengefcbicbte miteinanber im Streite liegen, bilben oereinigt
ben Inhalt beS neuen ©unbeS. Sticht unfere ©eligfeit fei bie Slbficht beS ©briften*
*) Sgl. „Essay sur le principe generatcur des institutions humaiues" (1810), unb
öor allem in „Du pape" (2 S3be., 1820).
**) SBgt. „Paroles d’un croyant", unb befonberS eine SKcifje oon Sfrtifeln im „Avenir",
bem bamaligen Organ beS reoolutionären KatljoliciSmuS.
***) Sgl. feine Schrift „gerufalem" in „SDtenbelSfobn’S Schriften jur $h*fof°t>bic,
Äefthetil unb tlpologetif", herausgegeben oon SRorip SBrafdj (II. 425).
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<3ur Pfyüojbpfyte ber <J5efdjid}te.
283
thums, fonbecit unfere (Seligfeit ternrittcls unferer ©rleudjtung. 2tber biefe fei
nicht allein als Sebingung, fonbern als Sngrebienj jur ©eligfeit nottjwenbig, unb
in ihr befiele am ©nbe unfere gan^e ©cligleit. 2lHerbtngS btifct hier wieberum,
wie überall, wo Sefftng für äRomente ben ©dreier Don feinen innerften Ueberjeugungen
lüftet, Diet mehr ber SnteUectuatiSmuS ber ©pinoja’fdjen ©ttjil burch (IV. Prop. 28:
„Sammum mentis bonam cst Dei cognitio, et summa mentis virtus est deum cognos-
cere"), als etwa bie Sergprebigt Sefu mit ihren ©eligpreifmtgen berer, bie un*
Wiffenb unb fhulbloS ftnb. ®oc£) ift ber ©runbgebaufe ber ©t^rift nicht pantheiftifdj,
Dielmehr t^eiftifcE»: unb jwar fpric^t fie bie erljabenfte S 8 erbinbtic£)feit aus, bie bem
abfterbenben SheiSmuS beS 18. Sctfjrljunberte gefagt werben fonnte. Ob aber bie
geifioolle unb fromme fpppott)efe Don ber göttlichen ©tjicljung beS üRenfdjengefchlechtS
bie ^P^itofop^ie ber (Sefdjidjte als Sßiffenfcfjaft geförbert hat? ©ie ift ber lefcte
Strahl aus bem ebeln ©eiftc ßeffing unb ift uns beShalb treuer; ihr Wiffenfdjaft*
lieber SBerth fteljt (ebenfalls nicht Diel fyöfycx als alle ähnlichen, wenn auch mit
mehr ©etehrfamfeit unternommenen Serfuche, baS SRäthfel unb bie Sßiberfprüche
ber äßenfdjengefchichte auS rein religiöfem ©efidjtspunltc aufjutöfen. ®enn Worauf
Waren griebridj ©hlegel’S „Sorlefungeit über bie Sbil°f 0 Ph' e ber ©efchichte"
(1829) fonft bafirt, als auf ben itaioen ©lauben, biefeS fjöc^fte, weil alle übrigen
Probleme beS S)enfenS in fich fdjließenbe Problem fönne aus orthoboptljeologifchem
©efidjtSpunfte feine ßöfung fittben? ®och War ber phantafieDolle 9iomantifer noch
ju Diel dichter unb ju wenig SKgftifer, als baß er nicht hätte herausfühlen follen,
Wie fehr fein ißrincip ber unenblich formen = unb farbenreichen SBelt ber gerichtlichen
©rfdjeinmtgen, anftatt jte Don innen heraus ju beuten, Dielmehr burch bie SJtono-
tonie unb Unfruchtbarleit beS tljeologifchen ©runbgebanfenS ©intrag tljat. ,,©r
habe fich", heißt es in ber ©inlcihutg, „bie Slufgabe gcftellt, nachjuWeifen, welchen
©aitg bie SBicberherfteHung beS göttlichen ©benbilbeS im üftenfheit, nadjbem es
Derloreit gegangen war, in ben Derfchiebeueit SBeltaltern Don bet anfangenben
Offenbarung bis jum Sföittelpunfte ber Rettung unb ber Siebe unb Don biefem
bis jur testen SoHenbung genommen hat."
Älingt biefeS wenig philofophifh unb fehr theologifdj, fo ift eS gewiß merl*
würbig, baß etwa fdjon 40 3 a h TC uor bem ©rftheineit ber ©chlegel’fchen Schrift
eS gerabe ein 2h e °t°9 e mar, ber in $)eutfdjlanb bie erfte ©runblage 31 t einem
wahrhaft wiffenfdjaftlichen Slufbau ber ißhilofophie ber ©efchichte bereitet hat.
Johann ©ottfrieb Berber hat in feinen „Sbeen jur Iß^ifofop^te ber ©efchichte
ber SRenfchheit" (4 ®be., 9iiga 1784—91; neue SluSgabc Don Julian ©chmibt,
ßeipjig 1868) eine fo breite unb tiefe SafiS ber neuen SBiffenfdjaft bereitet, unb
baS Saumaterial felbft auS fo feftem unb folibem ©eftein genommen, baß, fo
mannigfaltig auch hie ©djitffale biefer jungen SBiffenfdjaft waren, jeber SluSbau
berfelben auf bie Don Berber herrüljrenbe ©runblage jurüdgehett muß. Som
Fimmel, meint er, müßte feine ®hüofopl)ie ber ©efchichte beS menf<hlich«n ©e=
fhlechtS beginnen. S)ie erften neun Sucher geben auch nur einleitungsweife, aber
in umfaffenber SBeife bie SRefultate ber ißhhfit' ©eologie, ©thnologie unb Siologie
nach ihrem bamaligen ©tanbpunfte. 2)aS jehnte Such wirb burch hie Setradjtung
ber ©rbe als SilbungSftätte ber Sötenfchheit eingeleitet: ein freilich noch f e h r bürf=
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28$
Unfere ^eit.
tiger Sorbau, ber erft fpäter burcf) bie epodhentachenben Arbeiten Äarl Nitter’S:
„$ie Erblunbe im Serljältnih gur Natur unb ©efdtichte beS äRenfdjen" (©erlitt
1817—18) gu einem nothwcnbigen unb integrirenben ©eftanbttjeile, ja gu bem
eigentlichen ©ubftrat für jcbe philofophifdje ©etradjtung ber SNenfdjengefd)idjtc
geworben ift. 35ic Stage nadj bem Urfprunge beS ÜNenfdjen wirb burd) eine retro=
fpectibe ©etradjtung ber Kultur bis gu bem Urfifce in Afien gu löfen öerfudjt. ©rör»
tcrungen über bie ältefte ©cijrifttrabition leiten nun bie folgenben (11—14) ©üdfjer
ein, in benen bie eingelnen Söller unb ihre Kulturen unb gwar Pott ben Urzeiten
bis gum Serfatt beS Nömifdjen Neides behanbelt werben, ©djliejit inbefi fdjon jebeS
biefcr Äapitel mit gefdjidhtsphilofopljifchcn ©etradfjtungen, fo ift baS 13. ©udj gang
biefen allgemeinen Erörterungen geWibmet, wobei teleotogifdj baS gacit aus ber bis¬
herigen ®arfteHung gezogen wirb. $iefeS ergibt bie Humanität als ben l)ö<hften 3>»ed
ber ÜNenfdjennatur unb biefe lefctere als bie SNanifeftation unb Emanation aus ber
©efchichte ber SNenfdjjhcit. ©o gipfelt gerbet feinen @efd>i<f|täaufbau, ben er
burd) baS fefte SKaterial ber Naturwiffenfcljaften unb ber Anthropologie funba-
mentirt hat, in bet Etljif, welche bie Nealifirung ihrer Sorberungen ber ^ßolitif
anheimgibt. 2)icfe aus ber gefc£>id^tlid^cn ©etradjtung gewonnene etljifdfjc 2Belt=
anfchauung Herbcr’S fteöt jebodE» für bie politifdje SrafiS bie beftimmten Sßoftulate
auf: bie Herrfdfjaft ber Sernunft unb ber ©eredfjtigleit als bie ©runblagen unb
©ebinguugen einer Entwideluug ber Staaten unb Söller gu befeftigen. Solche
Sorberungen unb Anfdjauungen lagen im ©eiftc beS 3ah r h u nbert§ unb man
braucht nicht erft, wie man uerfudjt hat, als Quelle für Herber’S ©efthidjtSpljilo-
fophie auf ben Neapolitaner ©ioPanni ©attifta Sico*), ben lühneu italienifdhen
®enler beS 17. Saljrbunberts, gurüdgugehcn.
©ewiffermafjen als Erläuterung unb Weitere S°rtfül|rung beS Sorhcrgehenbcn
loerbctt bann am Schluffe beS berühmten SBerleS (Such 16—20) ber Urfprung
beS KljriftenthumS, bie gerntanifdhett Söller beim Untergange beSNömifcfjen NeidjeS,
baS Seutfdje Neiclj gu Anfang beS SWittelalterS, bie Entwidelmtg ber tatl)olifd)eu
Hierarchie unb beS SSlam, bie arabifdhen Neiche, bie Steuggüge, baS gcitalter
ber Eutbedungen, bie Nenatffancc u. f. w. einer gcfdjidjtsphilofophifdjeit Analpfc
untcrgogen.
SBic ftetlte fich gu Hcrber'S SBerl Emmanuel Saut, baS bamalS aufftcigeube
©cftirn beS SahrljunbertS, baS mit feinem feharfen intenfiöcn Sichte in alles fo
cnergifch h* lie > n t eut ^tetc, bah man guerft fdfjeu unb geblenbet gurüdwich? SJant
war, wie wir aus feinem Auffafce „gbeett gu einer allgemeinen ©efchichte in weit«
bürgerlicher Abficht" (1784) erfeljen, einer phtlofophifchen ©ehanblung hiftorifdfjer
©robleme nicht abgeneigt; nur lagen gcfdjidjtliche ©tubien biefent wcfentlich logifefj*
mathcniatifch gefchulten &'opfe gu fern, als bah er einem foldjcit SBcrle, Wie bent
*) Sgl. „Principi di una scienza nuova d’intorno alla commune natura delle 11 a-
zioni" (Neapel 1725; beutfdj öon SBeber, Seipgig 1822). Sico Will ©ott nicht nur in Se=
giepung gut Natur, fonbetn auch gum menfchlichen ©eift in bem Seben ber Söller be¬
trachten, bei benen er eingetne ©ntroicfelungöperioben untcrfcheibet, ohne ber gbee eines
fucceffioen SortfchrittS beS attcnfthengeftbledjtS gn hulbigen. ©in auSgcfprodjener ©egner
beS ©artefiuS fußt er mefentlidj auf Slatonifdjen igbecn.
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<3ur Pfyilofopfyie ber cßefchicfjte.
285
^jerber’«, bet fich mit gart anempfinbenbem Sinn in ben ©eift bet entlegensten
©ulturen nettiefte, hätte gang geregt werben föitnen. SBa« et freilich gegen beffen
innige Serfdjmctgung ber Statur unb bet 9Kenf<^engefd^ic^te fagt (ffant’« Stecenfion
crfdjien in bet „Slßgemeinen Siteratnrgeitung" 1785), h®t ja nom Stanbpunfte
be« ,,®ritici«mu«", ber not altem Statur itnb Sbee, Saufalität unb fjrreiheit fcfiarf
noneinanbet trennte, feine Berechtigung. Slber eine unbefangene, mehr non ber
tjiftorifdjen ©rfaljrung au«gehenbe Befjanblung bet gefchichtöphilofophifchen Stagen
hat Später in biefem fünfte bet natürlichem Slnfchauung ^ctber’ä bodj recht ge»
geben. Sie #umanität«ibeen acceptirte ct nott unb gang (er müfjte nicht ein
Sohn be« 18. Sahrhunbert« gcwcfcit fein!), nur gegen bie pf)itofopt)ifcf)e Begrün»
bung jebodj Ijntte Ännt Bebcitfcn. @r fclbft gibt in feinet eigenen obengenannten
Strbeit bet Betrachtung eine mehr ftaat§pIjiIofopf)ifcfje SBenbung, inbcm et (freilich
nietfach in Anlehnung an ben ©runbgebanfen in Sfelin’« „©efdjichte bet SWenfdj*
heit", 1764) in ber ©efdjichte ber SJtenfdjengattung bie Sluöfüijrung eine« fßlane«
bet Statut fieht, um eine fotd^e gefetlfchaftliche Drganifation gu Stanbe gu bringen,
tnelche bie gefammten phhf'fthcn, intetlectuetten unb moralifdjen Stntagen be« SJtcn»
fdjen gut höchft möglichen Stulbilbung gu bringen nermag. Sen Starren ©egenfafc
tton Statut unb ©eift, bem Steife bet Stotljwenbigfeit, in Welchem ba« unabänber*
liehe ©efefc ber ßaufatität herrfcht, unb bem ber Freiheit, in bem ber SJtenfdj
autonom unb #err ber SBelt ift, biefe Siffereng hnt 8nnt in feiner tcteotogifdhen
SBettbetrachtung, innerhalb beren öor aflem bem Schönen unb ber ftunft eine
beoorgugte Steße gebührt, gu überbrüden gefud)t. Sant’« „Sriti! ber Urteil«»
traft" mürbe fo ber 2tu«gang«punft für eine Betrachtung ber ©efdjidjte, Welche
burd) Sriebridh ©Ritter gu einer Slrt äfthetifdj'hift° r ifch er SBeltanfdjauung
emporgebilbet würbe.
Unter ben öerfdjiebenen Sluffäfcen Schißer'«, bie biefem ©egenftanbc gewibmet
ftnb, foßen bie „Briefe über bie äjthetifdje ©rgiehung be« SJtenfchengcfdjlecht«" unb
bie Stbhanblung „lieber naioe unb fentimentalifdje Sichtung" eine ?trt äftljetifcher
unb gef^i^tlich-phitofophiföher Eutturanfdjauung begrünben, in welcher et über
ben ftatten etlichen Stanbpunft be« tritifchen ißhilofophcn hinau«geht, inbem er
an ber £>anb bet hiftorifchen ©ntmidetung ber Gultur im aßgemeinen unb ber
Sßoefie unb Sänfte im befonbern geigt, wie aße Wahre Schönheit gur Sittlichfeit
führt, jebe echte Sittlichfeit jeboch gur Schönheit fidi öoflenben muß. Siefe«
poettf(h 5 PhiS°f 0 Phif ( h e ©laubenSbefenntnifj, in ben reifem fahren be« Sichter«
bip tljeoretifehe Sormel für aße feine poetifchen Arbeiten, hnt in«befonbcre in
feinen gebanfenreichen bibaftifdjen ©ebichten („Spagiergang", „Simftlcr", „Sbeal
unb Seben") ooßenbeten bidjterifchen Slu«brucf gefunben. Schißer’« eigentliche
gefchichttiche Strbeiten jeboch bewegen fi<h nicht auf biefer Sinie, gehören öiel*
mehr ihrer pragmatifchen Behanblung Wie Sarfteßuug nach ber ©öttinger hifto-
rifdjen Schule an.
SEBo non Schißer’« hiftorifd)=philofophif(h e n ©efd;i<ht«principien bie Siebe ift,
barf auch «in SJtann nicht unerwähnt bleiben, ber ihm in Begug auf bie Sbcalität
ber Seben«anfchauung auf« innigfte oerwanbt war: SBilfjeltn oon $umbotbt.
SEBie biefer märfifche Sanbebclmanit, ber al« Sleftljetifcr, Spradjforfcher unb praf»
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286
Unfere ,geit.
tiff er «Staatsmann gleif bebeutenb mar, admühtif in ben claffiff en ©eift SBeimarS
hineintoufS unb fpäter, in einer iljm ganj fremben SSBelt üon SJtenffen unb gbeen,
immer treu baS ^eilige geuer ber ©rimterung an SBeimarS große 3cit pflegte, ift
allgemein befannt. ©ine feiner Jätern literariffen Arbeiten, eine Slbhanblung,
bie er 1821 in ber berliner Slfabemie ber SBiffenffaften Ia3: „Ueber bie Aufgabe
beS ©eff if tffreiberS" („SBinjelm öon §umboibt’S SBerfe", Sb. 1) gehört tro| freS
geringen Umfangs in bie Steife ber emften Gerfufe, baS geffiftsphitofotfiffe
Problem ju löfen. Ber geiftüotte ©ffatj, ber gemiffermaßen ben Uebergang aus
4?umbolbfS öffentlichem SBirien in feine rein wiffenff afttif c Xhätigfeit »ermittelt
unb in feinem ganjen politifc^=pl)itofop^tfcE(cu ©epräge noch bie Gerbinbung beS
Staatsmannes unb beS BcnterS faratterifirt, gibt junäfft eine ffijjenhaftc Se=
traftung über bie üerff iebenen ©attungcn unb ©eiten ber ©eff if tsforff ung als
SBiffenffaft unb ber ©cffiftffrcibung ats Shtnft, ferner über baS 3Befcn ber
©hronif, ber SJtcmoiren, über pfpcEiologifc^e unb pragmatiff e ©eff if tsbeljanbtung,
nnb formulirt bann bie Aufgabe einer fünftigen ©efc^ic^töp^ilofop^ie baljin, baß fic bie
in ber SJtenff enWelt ljcrrff enben ticfern ©efefcc ju erforff en habe, ©roßc h'ftoriffe
Urnmäljungcn, bie Bragöbien ber ©effifte, fönncn burf ihre bisherige Gchanb=
lung ebenfo Wenig als baS gerichtliche Sleinteben ber Stationen in ihren mähren
Sufammenhängen WirHif begriffen werben. Sott bcm ©afce auSgeßenb, baß baS
©efchehene nur jum Xf)eil in ber ©inttenmeU fichtbar fei, baS übrige aber h»nju=
cmpfunbcn, gefchtoffen, errathen werben müffe, unb baß bie »öde SBaljrheit bcS
©cfchehencn auf bem ^injufommett jener unfichtbaren Bljcile ju ber SBirffiffeit
ber Xhatfachcn beruhe, möchte er üon biefcr erfenntnißtheoretifchen ?ßrämiffc auS
in bie geheimften liefen beS menfflifen SßrobuctionSüermögcnS cinbringen, bic
innere SBcrtftätte beS Bif terS unb SiinftterS betaufcheit, bie ©renjlinic ihrer ®e*
biete jicljen unb ben StafmeiS führen, Wie felbft bic ff tif tcftc Staturbeffreibung
erft noch eines aus ber Totalität beS StaturförperS entnommenen $aufs bebarf,
um beffcn innern ©harafter unb fopfagen bic Seele beffetben ju üeranffautifen,
bic fich Weber meffen noch befchreiben läßt. Gon hier aus ftedt er bie höfße
Sorberung an ben ©cfchichtfchreiber: „Sitte gäben irbifchen SBirfenS unb jugleif
ade ©epräge irbifcher 3bcen ju umfaffcn", um barauS baS ©efchehene jWar in
„reiner Dbjectiüität, aber in feinem innern nothwenbigen Bufammenhangc mit ber
Summe beS BafeinS aus aden Stiftungen beS menfflifen BafeinS barjufteden".
Baljer müffe ber ©effiftffreiber oor aden Gingen bem ©intreten jener neuen,
bie SJtenffheit lange ©pof en h'nburf bewegeuben Sbcen nafjugehen unb feinen
Stoff baburf, baß er bem Stampfe für biefe Sbecn unb ihrer GerwirKifung
folge, ju bewältigen wiffen. Slber er fode fif hüten, ber SBirflichfeit eigenmächtig
geff offene Sbcctt naf jubilben ober auf nur über bem Sufen naf bem Sufammen»
hange beS ©anjen etwas üon bem lebenbigen Steifthum beS Sttbiüibuettctt beS
©injelnen aufjuopfern. „Biefe Freiheit ttnb Sattheit ber Stnfif t", fagt er, „muß
feiner Statur fo eigen geworben fein, baß er fie jur Getraf i tung jeber Gegebenheit
mitbringt, gehlt bem ©effiftffreiber jette Freiheit ber Sinfift, fo erlennt er
bie Gegebenheiten nift in ihrem Umfange unb ihrer Biefe; mangelt fm jene
Sarfcit, fo üerlefct er ihre einfafe unb icbenbige SBahrheit." 3n Gejug a»f
i
t
i
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«5ur ptjilofoptjie ber (Sefcfjidjte.
28?
ben etf)ifdjen Untergrunb feiner @efdji<fjt$betrac§tung war §umbotbt Steift. „Die
SBeltgefdjidjte", fagt er, „ift nicfjt ofjne SBettregierung üerftänbtidj; benn nur non
einem fünfte aus ift bie ©efammrfjeit ber Cfrfcfjeinungcn ju begreifen." Äber
gegenüber bem SBalten biefer Sßorfefjung wiQ er bodj jugteidj „bie SJtacfjt unb
Sebeutung ber inbioibueHen SDtenfdjenfraft unb iljret <5elbfttt|ätigfeit" betonen.
SBie nun freilich biefe entgegengefefcten ißrincipien audjugleidjen unb ifjrc etwaige
Harmonie oljne Staben für bie 3bee ber menfdjti<§en SBißenSfreiljeit in ber
Sleitfdjengefdjidjte nadijutoeifen wäre, E)at ^umbolbt nidjt weiter auggefütjrt. Dodj
ift mandjeS biefen ijßunft Setreffenbe in feinen jatjlreidjcn ®riefen, inäbefonbere benen
an ®oetf|e, tiorübcrgeljenb berührt.
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Jubrikatum, fjausinbuftrie unb §ausar beit
8on
<ifnt|l tjeifj.
Sitte bet merfmiirbigften »irthfdjaftlichen ®rfrf)eiuungen bet ©egenWart ift bic
augerorbcntlid)e SDtannichfattigteit bet Arbeitsformen. 3)iefelbc toirb, »enn auch
bie eigentliche reichgegtiebcrte ©erufSthätigfeit äuget Adjt bleibt, burd) bie SB orte
uttferS I^cmaS „gabrifation, HauSinbuftrie unb Hausarbeit" gut üeranfchaulidjt.
Unb jebern ©ebilbeten ift ja befannt, bag bie ©egrüttbung bet ^>auS= unb gabrif-
inbuftrie »cfentlich bet Dteujeit angefjört, fotoic bog üietfadEt bie 3><d c unb SEBege
ber ^auSarbeit öeränbert toorben fittb. Um fo mefjr freilich brängt fid> bie groge
auf: ob ouS biefett ©cröietfättigungen unb Seränberungen bem fittlidjen unb geiftigen
ficbcn beS SotfeS ©ortheile er»adjfen feien? ®iefc grage erfdjeint fclbft bann noch
als jufäffig, toernt biinbig nachgcwiefen märe, bog jene SBanblung öfonomifd) unb
tedjnifdj noth»enbig mar, foferti überbauet »eitern Greifen bie SBofjlthat einer
mannid)facl)ern nnb tterfdjöncrten ©ebürfnigbefriebiguug gewährt »erben foflte.
®enn fo biel ftefjt ja »ol feft, bag bie Arbeit nur SKittcl fein barf, SRittet nicht
nur für baS öfonotnifdje 2Bof)tbcfinben, fonbent immer auch für bic innere geiftig*
fittlidie Sntmidetung beS ÜJtenfdjen. SBenn alfo, »ic man foum erft beweifen
mug, biejenige gnftitution, »oran afle ©öfter beit Stanb ber Sulfur gemeffen hohen,
»enn bie gamilie unferer läge gefdjäbigt ift, »enn fie gering geachtet unb gemieben
wirb üon ©erheiratheten unb Sebigcn, in ben Stabten unb auf bem ßanbe, unb
»enn biefer Umfdjtag ber Sitte mit jenen Umbifbungen in nahem unb urfädj 5
lichem Sufammenhange fteht, fo ift in ber C££»at bie grage ertaubt, ob nicht bie
Sinbuge gröger gewefen atS ber ©ewinn, ob nicht ber materieße gortfehritt bnreh
ben ßtücfgang ber aßgemeinen Sntroidetung ausgeglichen »orben fei?
SS tagt fich aber auch fragen, ob bie SBirfung jener ©eränberung nicht noch
weiter greife unb ob, »enn fittlidje Schaben entftanben finb, biefetben nicht auf
»irthf<haft(i<hen Siadjtljeiten beruhen, wie ge bie mobernc Arbeit begleiten, ßtührt
jene Soderung ber gamitienbanbe nicht babon her, bag eben burch jene Steuerungen
bie gamilie jatjtreicher »irthfdjafttichcr Serbflid)tungen entbunben »orben ift, bag
nicht mehr im Haufe, foubern auf bem öffentlichen äJtarft ber Sdjwerpunft unferS
tSafeinS ruht, »eit jeher für fich, jeber an einem anbern Drte Arbeit unb Serbienft
fuchen mug, »eit für jeben einzelnen bie öfonomifchen ©ebingungen befonbere
geworben finb?
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^abrifation, ^ausinbuftric unb Hausarbeit. 289
Unb trenn boßenbS wahrfdjeinlich gemacht Werben fönnte, baß auch bet btefer
gfolirung baS eingeln arbeitenbe gnbiöibuum «SS gewonnen, baß jebenfaßs bie
ee^te SBirthfcljaftlichfeit feine gortfchritte gemalt höbe, }o fdjeint mir, wäre es wol
ber 3Jiüfje wertf», einmal ben SÖCicf auf bie neuen Arbeitsformen gu werfen unb
fie einer furgen ©etrachtung gu unterfteßen. Tenn baß auf biefe aße Momente
binWeifcn, geht fdjon barauS ^eroor, baß in ber bebeutungSöoßften SBeife bie wirth»
fdjaftliche, fociate unb etljifche Aufgabe beS weiblichen ©efdjlechtS getroffen worben
ift. 3n ber Tfjot befpredjen wir gugleich ein Stücf aus ber berühmten grauen»
frage, unb erhält aus biefem ©runbe bas Thema ein erhöhtes gntereffe.
Aber eS honbelt fich nicht um eine ©h'KppUo gegen bie beftefjenbe ArbeitS»
organifation ober bereit ©runbformen. 3<h acceptire fie oielmehr üoßftänbig, unb
nur barauf ift mein äftüfjen gerichtet, ber Tinge wahres wirthfchaftlicheS SBefen
gu ermitteln, aus bem geitlich Unooßfommencn unb AJerbenben ben bleibenben
©ebanfeninhalt herauSgulcfcn. ©rft banach bürfen wir unfer Urttjeil abfchlicßen
unb einen ©lief auf bie gu erWartenbe weitere Sufunft gu werfen fuchen.
©eüor wir in bas Tetail eingehen, gilt es, ben öegriff feftgufteßen, welchen
wir jenen brei Sßorten unterlegen. SBir üerftehen unter gabrifation refp. gabrif»
arbeit biejenigen gewerblichen ©erricf)tungen, Welche, unterftilfct burdf Staftmotoren
ober burch größere ArbeitSmafchinen, in gesoffenen ©äurnen unb gegen Sohn
bon einer 2Reljrgahl ©erfoneit auSgcführt Werben. Unter HauSinbuftrie finb gu
berjteljen biejenigen Arbeiten, Welche ebenfaflS auf Rechnung britter, aber im $aufe
beS Arbeiters felbft borgenommen werben, unb Wobei bie äRhljülfe Heiner bon
eigener £anb getriebener ArbeitSmafchinen bloS gelegentlich borfommt. ©eiben
gegenüber djarafterifirt fich bie Hausarbeit burch eine biel größere SKannichfattig»
feit ber Aufgaben unb ©errichtungen, bor aßem aber baburdj, baß fie fich nach bem
©ebürfniß beS £aufeS unb nach ber Maffenfteßung ber eingelnen gamilien abftuft.
Taß ich bei ber ©etracfjtung ber gabrifation beren ©achtheile guerft ins
Äuge faffe, erflärt fich barauS, baß bie frühere optimiftifdje Anfdjauung faft gang
anfgegeben ift. So wirb man heute nicht mehr beftreiten, baß ber tägliche Aufent»
halt in ber gabtif, mit feinen einförmigen ©errichtungen, mitten unter bem @e=
töfe ber Hämmer unb Amboße, bem Stöhnen ber ©aber unb Kolben, bem ©efreifefj
ber Sägen unb geilen ober unter bem ©eHapper ber Spinn» unb SBebftüljle, bem
lauten SBirbdttang ber Spinbein neroenermübenb unb geifttöbtenb wirft, baß er aber
auch birect gefunbljeitSgefährlidj Wirb burch eine fdjlecht oeutilirte, mit Staub unb
fdjäbticfjen ©afen erfüßte Atmofphäre, unb ooflenbS burch bie furchtbare ©achbar»
fchaft mit ben in ihrem unaufhaltfamen ©ange aße ihnen nahenben ©egenftänbe
fortreißenben gewaltigen ©tafchinen.
AIS theilweife wirffame unb neuerbingS immer mehr angewanbte ©egenmittel
gelten f )ier bie ©elehrung ber Arbeiter über ben ©au unb bie gunctionen aßer
SRafchinen beS ©tabliffements, ©ewöhnung an ©orficht unb Schufcborricfjtungett,
überhaupt eine gweefmäßige gabrifgefefcgebung unb gute faefwerftänbige ftaatlichc
Snfpection, Wie benn wol ber Staat bie ©flicht hot» aße 3RitteI anguWenbcn,
Welche fieben unb ©efunbheit ber Arbeiter fidjent.
UnCere tfrit. 1883. I. 19
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290
Unfere’^jeit.
2t6er offen geftanben, in all jenen 25ingen fteßt bie gabrifation nitt allein.
SBie mandje SBerfftätte unb manteS $au3 gäbe nidjt ber ©anitätsbehörbe
ein gleit e$ «ergerniß, nnb wie oiele Verlegungen ereignen fit nitt fogar beim
lanbmirtifdjafttidjen Setriebe! SRat einer anbern ©eite hin bagegen erweift fit
bie gabrilarbeit als fpecifift bebenllit- ®ie gabrilarbeit ift ber ^auptfadje nat
ungelernte Arbeit, unb wie fie an feine irgenbwie nennenswerten Sorfenntniffe
gelniipft ift, fo ermangelt fie jeben lehrhaften (Effects. 2)er gabritarbeiter lernt
nichts; feine allgemeine föenntniß, fein fac^lic^eö SBiffen erfährt nitt bie minbeftc
(Erweiterung; faum baß bie rein manuelle @e|tf)tc!licf)feit etwas gehoben Wirb.
®ie notljwettbige golge biefer Verljältniffe ift bie Böttige Unbrautborfeit beS
SRenften über ben befonbem gabriljweig hinaus: fein Serufswetfel, fein Ueber«
tritt in anbere tetnift BerWanbtc (ErwerbSjWeige, unb nur in ben feftenften gälten
ein Sorrücfen in bie p^ern gabriltargen, weil biefe meift beftimmte fatwiffen*
ftaftlite Sorfenntniffe er^eifd^en.
SBenn man biefem fpecifif(f»ert SRatteile gegenüber auf ben leichtem, im ganzen
mühelofern unb ben grauen jugänglidien Serbienft hingewiefen hat, fo Bergißt
man, baß aut biefer Vorteil reitlit auSgegliten Wirb burt bie Unfiterljeit
beS (EinlommenS. Slarum erblicfe it aut in biefem Umftanbe baS jWeite, faum
irgeubwie ju befeitigenbe ©ebrcten ber gabrifarbeit. ©o feßr it fonft für beit
©runbfafc beS IRormalarbeitStageS eingenommen bin, fo bezweifle it beffen fo oft
behauptete SBirffamfeit nat biefer ©eite l)in, wogegen oießeicht — neben einem
energiften $)rudc ber öffentliten SReinung gegen gar ju witttürlite (Entlaffungen
— burt bie Vorftrift längerer SlrbcitS«, refp. ÄünbigungSfriften eingegriffen
Werben fönnte.
Seite Unfiterljeit ift um fo bebenfliter, als fie, wegen ber ftarfen örtliten
ßoncentration gleitartiger Unternehmungen, jeweilen grofje ÜRaffen jugteit trifft
unb bie Seljauptung eines georbneten $auSwefenS ungemein erftwert. 28aS
wunber, wenn fit bie meiften gabrifarbeiter ein für allemal biefer Uljutfat* fügen
unb bie lange Seil beS $arbenS unb $ungern3 burt 9RaffenBertilgnng unb Ver=
ftwenbung in ber furjen Seit beS Bollen VerbienfteS natjuljolen lernen!
Unb wenn es bamit nur fein Sewenben hätte! Seiber frißt baS Uebel
jener Verbienftunfiterheit not weiter. (Es ift wol unbeftreitbare 2hatfate, baß
gerabe in biefen VolfSflaffen ein übermäßiges SRatwatfen Bon Äinbern ftattfinbet.
St toitt bie Urfaten unb bie golgen biefer hotwittigen (Erfteinung hier nitt
Berfolgen, muß aber bot auf einen Umftanb aufmerffam maten. Unter biefer
Ueberlaftung ber einzelnen gamilie leiben nothWcnbig §auS= unb Sebettäljaltung;
auf fie Wirb bie jebem Seobattcr frappante SBahrnehmttng jurüdjuführen fein,
baß gerabe hier bie eigenste SebenSenergie unb ber 2Ruth, fit auS unhaltbar
geworbenen Verhättniffen herauSjuarbeiten, faft ganj erftorben ift.
©o fteint eS benn, als hätte bie gabrifation bem Slrbeiter nur ©tlimmeS
gebratt ober als Wäre bot burt ft luere fittlite unb ölonomifte Opfer ber
materielle gortftritt erlauft Worben, ©eien Wir aber nitt Borftnett unb Ber«
geffen wir namentlit nitt» baß wir es mit einem not jungen, not unfertigen
©cbilbe ju tljun haben. SltlerbingS hoffe it, not einen großen (Erfolg regiftriren
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,-fabrifation, fjausinbuftrie unb Hausarbeit. 29 \
ju fönnen, ber heute fdjon gu ben Sieten ber ©olfsmirthfehaft gebraut ift. Stber
babon abgefeljen, fo müffen mir uns boch bergegentoärtigen: bie perfönliche grei=
heit, bie freie Setoegung bon Ort gu Ort, bie freie ben gäljigfeiten unb Neigungen
entfpredjenbe Serufsmatjl, bie StuSfi^t, trenn auch langfam, erft in ber gtoeiten unb
britten Generation, ju ben Ijötjern GefeflfchaftSHaffen aufjufteigen — alle biefe
Grrungenfchaften oerbanft unfere Seit genau benfelben Greigniffen, rneldje bie
gabrifation ermöglicht haben. SBot betoegt itnä ber Slnblicf ber bielen Daufenbe,
ioetdje in ben gabrifen nur ein fümnterlicheS ©rot finben, unb boch feinen auch
biefe ©tisftänbe Heiner, wenn mir uns bie ©ertjältniffe bergegentoärtigen, tnie jie
nodj bor 50 unb 100 3ah rf n bei uns beftanben haben. Stoch GinS: Etat bie
gabrifinbuftrie nicht gerabe ber meiblidjen Slrbeit ©orfchub geleiftet? 34 meine nicht
fo, baß ber GeficßtSfreiS toefentlich ermeitert toorben fei, toenn es auch fein Gutes
haben mag, grauen unb ©täbcfien außerhalb beS eigenen 4?aufeS ju befeftäftigen.
Da aber an bieten Orten bie $ahl ber häuslichen Dienftboten unb ber tänblidjen
HülfSarbeiter ftarf berminbert mürbe, mar man gemiß froh, als fidj ben mit
StrbeitSlofigfeit ©ebro^ten bie Dh° re ber gabrif öffneten.
Gttoa bon ©litte beS testen 3 a ^l^unbertS an bis in bie erften Dccemtien
biefeS ©äculumS hinein mar bie $auSinbuftrie berhältnißmäßig ftarf berbreitet,
unb maS ihr bamats gute. Dienftc geleiftet Etat, fteljt ifjr nodj heute Ijülfreich gur
©eite: bon tooljlbenfenben unb gemeinnü^igen ©tännern mirb gerabe biefe 9lrbeits=
form als eine freiere, mcnfdjenmürbigere, gur Hebung bet untern ©olfsflaffen
geeignete befürmortet. Unb bo<h liegt in ber Statur ber Dinge, baß bie $auS»
inbuftrie in ben meiften gälten nur ©tittelform gmifchen ^»anbarbeit begiehungStoeife
fileingetoerbe unb Großinbuftrie fein mirb. Die SJtanufactnr Hört auf concurreng*
fähig gu fein, fobalb eS gelingt, auf bie ©tafchine ©erritßtungen gu übertragen,
rneldje bisher nur burdj beS ©teuften $anb auSgefüljrt merben tonnten, ober
fobalb bie oon ißr gebrauste ©tafchine berboflfommnet, burdj bie ©erbinbung
namentlich mit SBaffer unb Dampf gu größerer unb befferer fleiftung gebracht
mirb. SBenn Oon biefen ©eränberungen inSbefonbere ©pinnen unb SBebett, ©triefen,
©tiefen unb klöppeln ftarf afficirt morben finb, fo beobachten mir auch fonft, gum
Dßeil aus anbern Grünbeit, ähnliche Gnttoidelungen. Daher benit auch 9 ar tooht
gefagt merben fann, baß nur unter auSnahmSmeife günftigen llmftänben bie HauS»
inbuftrie eine bteibenbe ©tätte gefunben unb nachhaltige ©ortheile gebracht hat.
Slber bie gortfehritte ber Dechuif finb nicht ber einzige Grunb. Gbenfo Diel
möchte bie befonbere Statur ber SlrbeitSform felbft beigetragen haben. GS liegt
nämlich auf ber Hanb, baß fie nur UntmUfommencS teiftet, ebenfomol ba, mo
eS fidj um feine, forgfältige, als ba, mo eS fi<h um gleichmäßige, gute SBaare
hanbelt; bie Gebiete ber befonbern inbioibueHen Gefchicflidjfeit unb biejenigen,
rneldje^ nicht bie geringften ©djmanfungen oertragen, bleiben ihr oerfchloffeit.
3n beiben gällen mürbe ja auch ih c midjtigfter ©ortheil, baß mehrere ga=
milienmitgtieber bei ber Slrbeit ficE> ablöfen fönnen, preisgegeben merben ntüffen.
Gbenfo fällt aus, maS ftete Sluffidjt unb maS fpecieHe Anleitung erforbert, maS bie
rafeße Slufeinanberfolgc mehrerer tedjnifdjer ©roceburen erheifcht. ©ielmehr ift bie
1 !)*
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292
Unfere £ät.
$auSinbuftrie gefnüpft an einen relatiti einfachen, ftationären, in fi<h gesoffenen
SlrbeitSmechaniSmuS, an einen einfachen, billigen unb leicht ju beWättigenben Stoß«
ftoff unb an bie wenigen SBaarengattungen, bei welken auch bie geringere Qualität
auf Wbfafe regnen fann. 3<h meine, bie Erfahrungen in ber ©ereitung oon £>olj»
gerätsen, bei ber #olj» unb ©einfe^nifeerei, ber Uhrenfabrifation, ber <Stro^ftec^terei
unb anbern beftätigen biefe ©äße ^inlängüc^.
Slun gilt aber hier baS bei ber gabrifation bezüglich beS SSerbienfteS ©efagte
in faft noch ^ö^erm ©reibe. $)ie Söhne finb mcift fetjr gering unb ber ©erbienft
jubem überaus unfreier, WaS ich ber Ueberjahl oon Serbienftfudfjenben unb ber
geringen 91rbeitSftufe jufeßreibe.
Denn auch bie $au£inbuftrie oerlangt nur geringe Kenntniffe, unb fo beeilt
fieß fcßon bei einer mäßigen Sohnerhöhung jebeS $auS, an Arbeitern abgegeben,
was es irgenb entbehren fann. So finbet benn auch eine Sohnfteigerung nie in
bem Umfange ftatt, wie er bei ber gabrifation oorlommen lann, unb nur in um«
gelehrter Stiftung ift hier bie ©ewegung eine energifeßehe. 2)aS erflärt fieß barauS,
baß bie §auSinbuftrie feine gamilie ernährt unb ernähren fann. geßlt ja boch bie
SRöglicßfeit, baß ber SKann in biefer, bie grau in jener ©rauche thätig fein fann,
toaS bei ber gabrifation bie große Siegel bilbet. SBo beffenungeachtet auf bie
$auSinbuftrie baS $auS geftüßt werben foüte, ba ^at jene llnficherheit, ba hat
baS fo oft erfolgte gänjlicfje Slufßören beS ©erbicnftcS regelmäßig Unglücf über
baS Sanb gebracht. SBaS gewährt Werben fann, ift ein ber einzelnen gamilie öer=
fchaffter 3ufcßuß j« anberm Einfommen, ein 3uf<h u ß/ welchen neben ihr Xaufcnbe
münfdßcn, ben biefe mit gleichem Siecht anfpreeßen unb — leiber entbehren mfiffen.
®iefen Xßatfacßen gegenüber gewährt größere ©efdhirflichfeit unb ber Eigen«
befiß ber flehten SDtafcßinen nur einen mäßigen ©orfprung. SlüerbingS wirb ben
gcfchicftern Arbeiter ber ©erleger ju holten fließen, fchon beShalb, weil er ihm
ohne ©cßaben mehrerlei Arbeiten übertragen fann, wie ihm bie rafeßere görberung
burch bie SRafcßinen, Welche außerbem ben Arbeiter felbft unabhängiger fteHt, oon
SBertß fein Wirb. 916er eS ift fchon bie 3S berer, bie hier in grage fommen,
oerhältnißmäßig flein, benn bie Erwerbung jener ©efeßitflicßfeit wie ber Slnfauf
ber nöthigen Meinen SJiafdßinen ift mit einem Slufwanb Oerbunben, ben nur Wenige
leiften fönnen. gnbeffen amh biefe, wenn ich fo fagen barf, oor ber mittellofen
ÜReßraaßl prioilegirte Klaffe fommt nicht weit. $aS ©efchäft als folcheS bringt
es mit fidh, &oß bie oerfdhiebenen Seiftungcn gegeneinanber ausgeglichen werben.
SBäßrenb alfo bie geringem Strbeiter fnapp fo oicl erhalten, baß fie nicht abfatlen,
bürfen bie beffern nie auf ootle Slbloßnung rechnen: fie helfen bem ©erleger bie
Ehancen beim ©erfauf ber Sechtern Slrbeit tragen.
91tle aber trifft ber Stacßtßeil eines fdhwerfälligen ©erfehrS jwifdßen Unter«
neßmera unb Slrbeitern. gener muß oon oornherein mit längern SiefemngSterminen
rechnen; bie 3uricßtung unb Uebergabe, refp. 3ufteHung ber SRatcrialien, bie Prü¬
fung ber ÜDtaffe unb ©üte ber fertigen Slrbcit, bie ©efießtigung ber auf bem Sanbe
fteßenben SRafcßinen oemrfachcn unberhättnißmäßigen 9lufwanb. Kurj, es entfteßen
hier mit SRotßwenbigfeit falfche Koften, benen jeher Kaufmann ben Krieg machen
wirb unb machen muß.
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$ abrifation, flausttiöuftrie unb Hausarbeit.
293
3Bir feljen baraus, baß bie HouSinbuftrie {ebenfalls außer ©taube ißt, bie eine
hochwichtige Sorberung nach einem triftigen Serf)ültniffe gwifdjen Sffrbeitöteiftung
unb Arbeitslohn gu vermirflichen. SBenn t(ierburcH fcE>on bie Wirthfchaftltdfje SBertlj*
fdjäfeung auf ein befdjeibeneS SJtaß gurüdgefüljrt ift, fo fteigt ber (Einfluß jener
SBafjrnehmung noch burclj bie ©rmägung, baß, bantit eng gufammenhängenb, bie
ethifdje Sebeutung biefer Arbeitsform als eine ftarl bebroljte fidj barftettt. Soft
fcfjeint es paraboj:, hierin ber Sobrifation eine anbere Stellung gu vinbtciren, unb
bodh fann icf) mich einer folgen Anwanbtung nicht ertoe^ren. SEBoI toeiß ich, baß
bie Sobrifation ber großen SRaffe ber Arbeiter nur ein fümnterlidjeS $afein ge*
mährt, baß alfo in ber Söfjnung nur ein geringer Sporn gu Pherer, befferer
unb ausgiebigerer 2ptigfeit gegeben ift. 3)aS änbert aber nichts an einer Werth*
vollen ©igenfchaft ber Sobrifarbeit: fie briUt, fie fdjult iljre Seute, fie bringt bie
trägen, inbolenten SJtaffen in Sluß- fließt burdh bie Aufgabe, bie fie bem einzelnen
ftellt, nicht burdh bie Senntniffe, mit benen fie ißn bereichert; aber fie erfaßt
jebeu mit unwiberftehlidfjer Oewalt; fie gwingt ihn gut Drbnung, Aufmerffamfeit,
gut ißräcifion auch bei ber unbebeutenbften Verrichtung.
3<h toüßte nichts, toaS fo gut ben innem Sufammenljang alles menfd)lichen
ühon^ oeranfchaulid^te, als bie Sobrif. SRur ein Keines ißartifelcfjen ift ber ein*
gelne in bem großen ausgeflügelten (betriebe, aber beffen regelmäßiger ©ang ift
geftört, fobatb jener nicht richtig functionirt. 0b ber eiugelne Arbeiter gum Se*
mußtfein feinet Aufgabe unb ihrer Sebeutung gelange, ob er, toaS er in ber Sobrif
gelernt, bie Ureue unb ißräcifion ber Arbeit, auch ouf anbere Verrichtungen über*
trage, baS thut nichts gur Sache. Selten im eingelnen, immer aber im gangen
unb im Saufe ber Beit toirb bie große Sepmeifterin Sobrif fidlere (Erfolge ergielen.
Ober warum fchäfct alle SBelt ben englifdhen, ben belgifchen, ben elfäffifchcit
Arbeiter? 3ft cS nicht bie feit Sapgehnteit bort pimifche Sobrifation, ift eS nicht
bie lange ©ewöhnung an beren ©rforberniffe, welche ihnen Stetigfeit unb 8tüljrig*
feit gu eigen gemacht hoben?
SBeldfje üriumphe hotte aber auf biefem Soben bie HouSinbuftrie aufguweifen,
wie fäme fie auch nur bagu, folche gu erringen? Ueberall, wo ber Arbeiter mit
feiner Sefdjäftigung ifolirt, wo ihm bie Anregung ber Umgebung unb beS Sei*
fpiels genommen wirb, wo ihm ber Sporn eines fommenben reichlichen Ser*
bienfteS fehlt, begibt fidfj bie Arbeit ihrer werthvollften UnterftüfcungSmittel.
SBot fenne idh bie unheimliche Haft, in Welche bie unermübliche ÜRafdhine ben
Arbeiter öerfefet, aber ßug unb ®rud, Schritt unb Stanb lehrt fie ihn bodj.
3n ber 2pt — hotte bie SJlafchine nur baS ©ine fertig gebracht, baß fie ben
gemeinen, ungebilbeten SDienfchen gur Arbeit gebracht, ihm baS Arbeiten gelehrt
hätte, wir müßten ihre ©inführung als eine ÄJohltljot begrüßen.
3<h weife nun aüerbingS ben Schluß gurüd, als ob bie HouSiubuftrie auf*
gegeben werben müßte. 2>aS wäre mit pofitiveu Xhatfodjen unvereinbar. SReitte
Abficht ift auch nur, einer fühlern SetrachtungSWeife baS SBort gu reben unb vor
Serfpredjungen gu warnen, welche biefe Arbeitsform nicht erfüllen fann. Seiber finb
bie ÜRenfdjen fep vergeßlich, unb fo feßen Wir, baß man mit Hülfe berHouS*
inbuftrie Stothftänbe befeitigen will, in bemfetben Spießen, baS fchon einmal neben
-sc.
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29 *
Unfere 5«*-
ihrer ©lüte auch ihr fchmerjoofleS ©erwelfen burchgefoftet hat. Äataftrophen, wie fie
bie fdjlefifche unb fäc^fxfcE>e SBeberei erfahren, finb jum Glücf feiten; «bet eS ift
ju beamten, baß nachweislich bie HauSinbuftrie nur burch ben Uebergang jur
gabrifation fiel» hat galten lönnen, fobalb bie übliche $robuction$weife einet ent«
fpredjenben Umgeftaltung entgegengeführt war. HJtan fann aber and; biefeS jugeben
unb wirb bocf) anetfennen rnüffen, baß gerabe in biefer ÄuSficht auf eine beffere
3ufunft bie greunbe bet HauSinbuftrie ein leftteö Argument finben; nur fönnen fie
bei biefem 3ugeftänbniß ihre etßif^e Ißrämiffe oon bet ßößetn SBürbe u. f. W.
nicht länger feftßalten.
2Bie man aber auch über bie SebenSfätjigleit ber HauSinbuftrie benfen möge,
baS (Sine wirb man unbebingt jugeben rnüffen, baß fte fidj, auch in biefem fünfte
ber gabrifation nahe oerwanbt, eine fcßlimme Gefeßfcbaft wählt, bie äRiöadjtung
unb ©emachtäffigung ber Hausarbeit. 3<h weiß eS wol, biefer fernere ®or«
Wurf gilt gleichmäßig für äße fitaffen beS ©olfeS. SBefen unb SBertß ber ^»auö«
arbeit finb aus unferm ©orfteßungSfreife fo ooflftänbig ßerauögebrängt worben,
baß eS nicßt einmal mehr bem mobemen dichter gelingen Wifl, bie gbeale ber
Hausarbeit — man benfe an Sabine in greptag’S „Sofl unb Haben" — mit
echter poetifdjer Sinmuth i u umfleiben. Unb nun oergleiche man gar grehtag mit
Sdjifler ober Goetfje, bie nicht mehr als um jwei Generationen OorauSgegangen finb!
SBofjer biefe rafche SBanblung ber $inge? 3<h möchte hi« junächft auf bie
in afle Schiften beS ©olfeS gebrungene Sehre bet Sftationatöfonomie hinweifen,
©erbieneit unb Sparen finb bie eigentlichen Säulen beS 3 n buftrieft)ftemS, finb
Slbam Smith’S ^»auptfä^e, ju benen fich Wol bie ganje ©Seit befennt. „©erbieuc
möglichft Oiel unb möglichft rafch", mußte baS nicht erft ben unbemittelten, burch
SIrmuth in ihrer Gjiftenj bebroßten filaffeu jugerufen werben, lag barin nicht bie
überafl jutreffcnbe Grmaljnung, feine Kräfte aufs äußerfte anjufpannen? $ie
©ebeutung biefeS SaßeS würbe burch eine befonbere gormulirung noch gehoben.
$er claffifchen Stationalöfonomie jufolge ift j. ©. bie £hätigfeit beS ®ienftboteu
für baS H°uS angenehm, ja nü|li<h, aber fie fchafft nichts SReueS. Sie ift alfo
nicht probuctio, ift nicht ÜIrbeit im Wirthfchaftlidjen Sinne beS SBorteS.
Unb jene fRufe oerhaßten nicht im SSinbe. ©s ift wo! ju aßen feiten fo
gewefen, baß man berjenigen Sßrbeit jugelächelt hat, Welche mit golbenen grüchtcn
lohnt. Unb nun OoßenbS bei folgern bewußtem Gegenfafc jur Hausarbeit, bie ficß
ber Schälung burch britte ganj entjießt unb wol nur burch bie öffentliche Meinung
in Slnfeßen erhalten werben fann!
Sßäfjrenb nun aßeS bem ©erbienft nachfefctc, hatte eS mit ber ©rfüßung beS
jweiteit Gebotes feine guten SBege. S)aS mit ©ielem auSfommen, b. h- fertig
werben, beftätigte fich auch jefct wieber in aßen fireifen, auf aßen ©erbieitflftufen,
namentlich aber ba, wo bie Slrbeit leicht, ber ©erbienft nicht an ooraufgehcnbe
Auslagen gefnüpft war unb wo nicht erft, jener weitem HütfSmittel wegen, gefpart
werben mußte, ob man nun woflte ober nicht. 5)er äReßrüerbienft führte in ber
SRegel jum gefteigerten aRehrüerbraudj. 3m birecten Gegenfafc hi«ju toiQ bie
Hausarbeit erhalten, 2)auer unb gntenfität beS Gebrauchs Oermehren; fie macht
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^abrifation, Jjaustn&uftrie unb Hausarbeit.
295
es fieß jur ißflicßt, baS Sterben ber wirtßfeßaftlicßen ©fiter ßinauSjufeßieben,
wäßrenb baS Verbienen nur beren SBerbeproceß befeßleunigt unb gerabe hierin
bie Hauptaufgabe ber SBirtßfeßaft feßt. $ie ^»au^arbeit ßat feine äußern, feine
gtänjenben Sffefuttote unb nur fetten eine bteibenbe Schöpfung aufjuweifen; fie
bietet aber aucfj nießts, was bie SDtänner ins SBirtßSßauS tragen, was bie grauen
in umtüßem ®anb bergeuben fönnen. Unb wäßrenb im Stu berje^rt unb berbraucßt
ift, was ftunben* unb tagetange Slrbeit borjubereiten Hatte, fo ift baS waßre unb
teßte ©eßeimniß ißreS ftilten SBirlenS: bauernbe ©rßattung unb görberung ber
©efunbßeit, bie Sicherung beS HaufeS unb jene immenfe SBoßttßat, roetcße in ber
©ewößnung an Steinticßfeit unb Orbnung, an ein genaues Slbwägen bon ©innaßme
unb SluSgabe bem naeßwaeßfenben ©efeßteeßt auf ben SebenSWeg gegeben Wirb.
SBot ßat aueß biefe Slrbeit ißre ©renjen. Sie barf baS geiftige unb gemütß»
ließe Seben, bie Stuße unb ben grieben beS Kaufes nießt ftören. ®aS rießtige
2ßaß ju finben, mag oft feßwer fein, aumat mantße bie SluSfießt auf ein befrie»
bigenbeS SRefuttat berteitet, einzelne fogar bie Seßwierigfeit ber Stufgabe reijt.
StnbererfeitS fann icß mir freiließ etßten gamitienfinn unb wirftießes SBoßtbeßagen
nur auf bent Stoben guter pßßfifcßer pflege unb materiell gefunber Defonomif
entwiefett benfen.
38ie ift aber bodß ber raftße Stüdfgang ber Hausarbeit ju erftären, ba bie
SSirfung jener Sßeorien unmögtieß fo weit gereießt ßat? 3 <ß meine, man müffe ßier
an ein Bufammenwirfen mantßer äußerer unb innerer ©riinbe benfen.
Unter jenen erinnere icß bor allem an bie bureß SDtanufactur, gabrifation unb
Verfeßr ßerbeigefüßrte Vermeßrung, Verbietfättigung unb Verbilligung faft alter
ißrobucte, atfo bie außerorbenttieße ©rweiterung beS ÄreifeS ber VefriebigungS»
mittet beS VebürfniffeS, in weteßen aueß bie untern Staffen ßoffen burften einju»
treten. Unb baju gefeilte fieß atsbatb bie bermeßrte Bugängticßfcit, fobaß oßne
ben minbeften befdßWerticßen Stufwanb ein jeber fij unb fertig beließen fonntc,
wonaeß fein H «3 begeßrte. $ju beibeit Sticßtungen war ber gortfeßritt gegen friißer
gewaltig. SBäre es ba nießt tßöri(ßt gewefen, eine finntofe, ja berantworttieße
Sraftberfcßwenbung, an ben alten ©runbfäßen unb VerfaßrungSweifen, an ber
bisßerigeit ©infaeßßeit unb Seßwerfäfligfeit feftjußatten? SBar eS nießt einfältig,
beßarrtidß ben SOtunb 31 t berfeßtießen, ba bodß bie gebratenen tauben umßerftogen?
©ewiß, baS einzig Vernünftige war, fidß mit Herj unb Hanb ber neuen 3eit ßin=
jugeben unb in ißrobuction wie in ©onfumtion ißren gorberungen nacßjueifern.
Slber eS fam noeß ein inneres ÜDtoment ßiitju. Diefelben ©reigniffe, weteße
bem ©ewerbe einen neuen Voben unb bem Verfeßr feine fotoffate ©rweiterung
berfeßafft ßaben, feßufen aueß ber Hausarbeit neue, borbem nidßt geaßnte Stuf»
gaben. Stur tag eS bann wieber in ber Statur ber Verßältniffe, baß fieß ßier
bie SBanbtung tangfamer unb feßwieriger bottjog. ®ort — bei ber Bnbuftrie —
genügte eS, baß einzelne intelligente Söpfe bie neue Situation benußten; bureß
ißr ©eifpiet, bureß eine gefeßiefte Sntereffenberfnüpfung jogen fie biete naeß fieß,
Wäßrenb bie neuen Sbeen nur müßfetig bie Unjaßt ber einjetnen Häufer ju erobern
ßoffen burften. Unb feßwieriger boHjog fieß ber SSecßfet aus anbern ©rünben.
©etbft, wenn fie fönnte, ßat bie Ignbuftrie ein gntereffe baran, nur tangfam bor»
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296
Unfere 3«'**
gugeßen, otfo nicht auf einmal mit einet totalen Umgeftaltung aller SBaaren baS
©ubtifum gu überragen; baS HauS bagegen ift ein fo ftreng gefcßloffeneS, oon
einheitlichen ©ebanfen getragenes ©angeS, baß oon einet nut theitweifen ©eränberung
gat nichts gu hoffen ift. XBie es nie gum ©erfuchäfelb füt tecbnifche ober wiffen»
f<haftti<he ©pecutation gemalt werben lann, fo ift itjm nut biejenige Anregung
oon SBertb, welche gleicbfam oon felbft bie üetfdjiebenften ©ebiete ber häuslichen
Xbätigfeit erfaßt. Unb fo finben wir benn and) nie, baß ein #au3 in biefet
ober jener ©peciatität ejeeßirt, ohne fonft WcnigftenS XüchtigeS gu teiften. 9hut
fanb es aber bie SBiffenfdjaft lange Seit tyinbutd) tobnenber, bie SBünfche bet 3 n ‘
buftrie gu erfüllen unb fiel) nicht um bie Application ihrer ©äfce auf bie $au$=
tnirthfehaft gu forgen. 2Ber geneigt wäre, barauS bet Staturforfchung unb Xedjnif
einen ©orwurf gu machen, bet bebente nut bie notljwenbige golge bet eben aus»
gefprodjenen ©rwägitng: mit eingetnen ©oben unb bloS gelegentlichen ^inweifungen
war bem Haufe gat nicht gebient; baffelbe mußte warten, bis jene fidjere unb
innettich gefcßloffene ©tgebniffe geliefert batte. Xiefet ©ntwicfelungSftanb ift erft
in ben gwei lebten Sabrgebnten erreicht worben; erft bie testen Seiten ßaben bem
Haufe wertf)üotIe tecbnifche ©erbefferungeti unb jene ©rWeiterung bet Aufgaben
gebracht, Welche außerbem in ben Sorberungen einer gefunben Stiebe, einer gwed»
mäßigen Sörper» unb SinbeSpflege gegeben fhtb; erft jefct gewinnt eine anfprechenbe,
oon einfeitigen Xbeoremen unb oon Scharlatanerie befreite poputär4nftructiöe Xar*
Rettung auch ein allgemeineres 3ntereffe. Aber es finb bamit auch ©bbf*f/
SKechanif, Cfbemie, ©bbfwlogie «ab eingelne ©raneben ber SWebicin allgemein
wiffenSWürbige Objecte geworben.
9?un wäre es freilich fo ungalant als unrichtig, anguitebmen, baß bie grauen
— auch aus ben gebitbeten ©tänben — abficbtlich ben ©rrungenfehaften ber
SBiffenfchafteit fieß ücrfchloffen hätten. Aber ich fann bie ©ennutbung nicht unter»
brüefen, baß noch nicht alle Steife oon ber großen ©ebeutung biefer grage ergriffen
fiub, unb weiterhin, baß einer energifcheit SorwärtSbewegung bie Xrabüion als
ein oft unüberWinbticbeS Hinberniß entgegenftebt.
®S bängt bieS Wo! bamit gufammen, baß beinahe für ben gangen ©ereich ber
Haushaltung ber Unterricht ausfcßließlicb im Haufe unb auf bem SBege ber ©rajis
erfolgt. 2BaS bie Xochter Weiß, bat fie regelmäßig oon ber SKutter, unb biefe
hält eS außerbem für ißre ©flicht, gu geigen, wie man cs anfängt, um baS bischen
Sännen bei ben ÜRännern gu Anfeßen gu bringen. Unb wo fi<h etwa ber Xrieb
nach Weiterer AuSbitbung geigt, fomrnt baS Slaffenbewußtfein, fomrnt bie ©rmabnung
ber greunbinnen: baS unb baS brauche man nicht gu oerfteßen, bafür feien
Stäberinnen, ©dbneiberinnen u. f. w. ba, wie ein grüblingSfroft unb töbtet bas
boffnungSOoUe 3teiS.
3«h fchwärme wahrlich nicht für ein HauS, wo bie grau alles macht, Wo alles
unb jebeS bur<h ihre Haube gebt. SBol ertuarte ich baS oon ihr, wenn es bas
©infommen ber gamitie üerlangt; aber bamit ift baS ©eltungSgebiet ber Haus»
arbeit gewiß nicht abgefchloffen, fobaß für fie in ben woblbabenben Sreifen fein
©lab wäre. ©S faßen oielmebr nur bie Wenigen Häufcr aus, wo baS Serftänbniß
unb bie ©orge um baS häusliche Xetait gu ©efießt, Steibung unb Hänben ber
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,-fabrifatiou, i)ausin6uffrie unb Hausarbeit.
297
®ame fehlest paffen würbe. 3 n allen anberit gatten, bei ber großen SRittetFIaffe,
wirb bie bon ben weiblichen gamiliengtiebem auSgehenbe Seitung unb bie Durch»
füßrung einer gefunben DeFonomiF bon nicht geringeren SBerttje fein.
©teichbiet aber, ob es fuß um ein tljätigeS Eingreifen ober um bie Seitung
hanble, immer muß bie grau §u einer ebenfo eigenartigen als umfaffenben 2 luf=
gäbe befähigt Werbeu. SBie ift eS aber jefct bamit beftettt? SEBie bieten finb bie
attererften Siegeln ber Körperpflege, einer gefunben Küche unb ihrer öfonomifchen
Verwaltung befannt? SBie biete im Stanbe, baS einfachfte SDtufter ju jeichnen,
bie gtiefarbeit ben betriebenen Stoffen unb Stichen anjupaffen ober ©efchaffen»
heit unb ©üte ber gebräuchtichften ©egenftänbe 311 beftimmen? Unb boch teben Wir
feit fahren fchon im offenen Kampfe mit einer 3 um Dbeit gewiffentofen Snbuftrie
unb einer, getinbe auSgebrücFt, unfähigen Kaufmannfchaft!
Es ift wahr, baS Sßroblem ift f^wierig, aber nicht nur, weit ber grau, ihrer
Sntettigenj unb SlrbeitSFraft biel 3 ugemutf|et Wirb, fonbern — ich Wieberljote eS —
weit bie wenigften baS Dilemma empfinben, worin wir fteefen. Denn obgleich alle
28elt äugibt, baß ber allgemeine etßifdhe gortfdhritt an ben befonbern wirtljfchaft»
liehen gebunben ift, baß aber hier nur burch ein gutes HauSwefen geholfen werben
Fann, atfo baß in bem ©rabe, baß bie SEBeiSheit unb baS ©efdjicF einer wahrhaft
öfonomifcheu Eoufumtion im umgeFehrten Verhättniß fteßen fottten r jur Einnahme
bon StecßtS Wegen um fo beffer gewirthfch«ftet werben müßte, als ber Verbienft
Flein ift — ftoßen wir bei ben Unbemittelten nicht nur auf UnfähigFeit, fonbern
auch auf Snboten 3 unb Unberftanb. SBir werben an ben Knecht in ber ©ibel
erinnert, ber fein ©etb nicht auf SBudjer auSleitjen Wollte, weit er nur ein ein»
3 igeS Sßfunb erhalten.
Unb wenn boch nur bie anbern, welchen größere Sftittet 3 « Verfügung geftettt
finb, mit gutem ©eifpiete oorangittgeu, wenn boch bei biefett bie ©runbfäfce, Welche
bie Sßeuseit ju berwirFlicheit ftrebt, 3 um Durchbruch getaugt Wären! Slber baS ift
eS eben, baß auch h' er Fein anberer ©eift Weht, ja baß in öieten Kreifen bie glatte
Hanb unb jene bornehme Unwiffenheit für erftrebbarer gelten als bie tüchtige ©e»
fähigung, baß man gerabe 3 u bie Slrbeit atS einen geinb beS Stefthetifdjen unb
echt ©leiblichen hinfteUt!
Unb bodh hat üon hier aus bie Steform 3 U beginnen unb nur, wenn bas neue
SBerl hier feine fefte ©egrünbung erhatten, ift eine Uebertragung auf baS gange
Voll 3 U erwarten.
Stber atterbingS — bie Herrfdjaft jener alten teibigen Drabition, wie jener,
wenn auch berfchiebenartigen gefetlfchafttichen Vorurtheile hatte früher immer noch
einen objectiben ©runb. SBaS unter allen Umftänben nöthig war unb 311 Hülfe
genommen werben mußte, war bie SRethobe eines förmlichen, tfjeoretifch»praltifcheu
Unterrichts. Staturforfchung unb Dedjnit waren unfähig, bas fefte ©ottwer! beS
•fmufeS 3 U erobern, wenn bie Sßäbagogif nicht bie Srefcfje fchoß.
Unb fo begrüßen bie berftänbigen Seute bie nach biefer Seite hin fich neuer»
bingS richtenbe ©ewegung ber ©eifter. Stlfo ebenfowot bie grauenarbeits» unb
HauShattungSfchuten mehrerer Sänber unb bie Reform beS höffem weiblichen Unter»
richtS, ber bisher ba 3 U beftimmt fehlen, bie bitbungSfäßige Sugenb au ben wichtigften
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298
Unfere £e\t.
UBiffenSgebieten oorbeijufüljren, als bie Grweiterung beS weiblichen ©oltsff ulwefenS
unb bie Ginfütjrung beS leibet nur ju oft misoerftanbenen gröbet'ffen Gr*
jiehungS» unb Unterric^t^f^ftcmS. GS finb erfte, aber wichtige Hnfäfce, oon benen
wir nur hoffen wollen, baß fie bölb ju noch fefterer, methobifcher ffiurjelung
gelangen unb bann auch auf bem ©oben beS $aufeS ju Drieb unb gruft heran»
gebeihen.
3f Witt h*er nicht feftftellen, toaS bisjefct nach allen biefen Stiftungen hin
wirtlif geleiftet worben ift, unb Witt nur nof jutn ©ftuß einen nahetiegenben
Ginwurf befeitigen. ©tan fönnte nämlich bie ©ortheile einer gefteigerten unb
oerbefferten Hausarbeit jugeben unb ihre Durchführung bof nicht befürworten
wollen, aus Surft bor einer rücfläufigen ©ewegung, refp. oor einer @f äbigung
beS Gewerbes in ©robuction unb Slbfafc. Slber felbft Wenn — was if burfauS
nift jugebe — jenes Siel, bem £mu3 wahrem innern ©fluß ju geben, nift
anberS ju erreifen wäre, als burf Ginriftungen, benjenigen ähntif, Wie fie
frühere gahrljunberte gehabt haben, fo wäre baS gewiß tein Grunb, fonbera nur
bie ©eftätigung beS fo oft auögefprof cnen ©afceS, baß bie gamilie ber Wahre
Sern beS ©taatSlebenS ift. Ganj hinfällig ift aber bie jweite Slufftettung. 2Säh-
renb jejjt bas Gewerbe aller Sweige bie größte ©tühe hat, feine ßeute ju ff ulen
unb baS rohe ©taterial notßbürftig fo Weit herjuriften, baß eS Ocrwenbbar Wirb,
toiirbe man Oon Stnfang an auf ein HareS Sluge, auf fefte fifere #anb unb
auf bie Gewöhnung, mit bem Sopfe ju arbeiten, refiten föitnen. ©töglif, baß
juuäfft ber Slbfafc etwas abnimmt, ba baS £au 8 für Arbeiten auftäme, Welfe
bis bahin burf baS Gewerbe beforgt Würben; bafür erreift baffelbe, WaS fm
immer nof gefehlt hat, ©tetigfeit unb ©olibität. Ginfttoeilcn haben wir eS nift
weiter gebraft, als baß jeber gnbuftriejweig auf Ueberprobuction fif einriften
muß. Seine Sranfe, ber eS inöglif gewefeit wäre, auf nur annäherungsweife
Quantitäten, Qualitäten unb greife ber itäf ften golge^eit ju berefneu, aber auf
feine, bie Oor bem Gebauten juriiefff reifte, im Drüben 51 t fiffen, in Seiten ber
ßohnfteigerung unb beS ©fwinbets, Wo jeber meint, jebeS in ben ©ereif feines
©erbraufS jiefjen ju fönneit, unb wo niemanb fif bie ©liitje nimmt, nafju*
fehen, was inan ihm in bie $änbe fteeft. ©olf e Serhältuiffe finb unbenfbar bei
einem ©olfe, baS bie Hausarbeit liebt unb ehrt. Denn mit ihr halten Drbnung
unb ©iaß ihren Ginjug, mit ihr bürgert fif ber Gebanfe ein, baß ber ©erbienft
bem Slugenblicfe angehört, Währenb bie Slrbeit unb baS HauS ein GwigeS finb.
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Cf)ttrnift im: (Sfcjjntttmtt
Heime ber bilbenbeu Hiiitße.
$ie ßunftaulftettungen bet berliner Sllabemie haben bon jeher beit beutlichften
Ginbtid in bie betriebenen ©eiten bei beutfchen ©unftfdjaffenl gewährt; bie!
unb ber Umftanb, baß fie bon allen beutfchen Slulftetlungen am meiften einen intern
nationalen Gharafter gu haben pflegen, rechtfertigt eine etwa! ausführlichere ©e*
trachtung ber lebten, im Sluguft 1881 eröffneten grofeen afabcmifdjen ©unft*
aulftettung in ©erlin. 3war, mal bie Vertretung bei Slullanbel betrifft,
fo ift fie natürlich immerhin nur geringfügig, uitb gwar nicht blol in numerifcher
©egielping. 3m gangen mag bal äultanb mit etwa breifeig tarnen bertreten fein;
es finben fich aber nur wenige bon europäifchem ©lange barunter, wie Stirn a*
Xabema, Sawel Strcfjer, ©urnier, ©cfjampheleer, be ©rienbt, be ©root.
Sntereffant ift bie ^Beobachtung, wie in neuerer 3eit bie 2J?aIer ftawifcher 9tatio»
nalität mit mehr ober weniger bebeutenben SBerfeit in ben ©orbergrunb treten;
fortmährenb tauchen neue Stamen auf, Wie äJtargaretlje bon ©acgfo, Stifo*
Iaul ©ogbanow, 2R. ©ubinong, 3Jt. bon ©utowtt, 3Jt. bon ©rajewifi,
SHfotaul SRafic, SBelonlli u. a. m., wogegen fich bie altern namhaften
SReifter bon ben grofeen Slulftetlungen mehr unb mehr guriidgiehen; bcifpiellweifc
ift bielmal Weber SRafart unb SRuncacft; noch SRatejfo unb ©rogin ber*
treten; freilich bermifet man auch unter ben inlänbifdjen SDteiftern biele bebeutenbe
SRamen, Wie Slbolf SRengel, ©naul, ©autier, Defregger u. a.
SBenn man nach bem ©runbe biefer ebenfo auffälligen wie bebauerlichen Gr*
fdjeinung fragt — bebauerlich, weil bie $hatfache bamit im 3ufammenhange fteht,
bafe bon 3ahr gu Sah 1 tu ben berliner Slulftetlungen bal SRittelgut mehr über*
wiegt unb ber Ginbrud h e e eor gerufen wirb, bafe ftatt einer aul bem innerit
Sebürfnife lünftlerifdjen ©chaffenl heraorgehenben ©robuction eine nur auf tedj*
nifche ©irtuofität abgielenbe, mit reftectirenbem Sewufetfein arbeitenbe gabrilatiou
fleh geltenb macht — fo bürfte man nicht fehlgreifen, wenn man jenen ©runb
gum !£t)eil in ber UmWanblung ber frühem gweijährigen Slulftettunglperiobe in
einen einjährigen Üumu! finben gu müffen glaubt. ÜReifterwerle, namentlich folche
bon bebeutenberm Umfange, laffen fich nicht beliebig aul bem Slermel fchütteln,
unb ©ünftler, bie fich fetbft unb ihren ©eruf refpectiren, müffen eben ben SRomcnt
abwarten, wenn fie, bon einer inhaltlboüen 3bee begeiftert, jenen innern ©djöpfungl*
brang fühlen, ber eine unumgängliche ©orbebingung für bie $erborbringung jebel
Wahrhaften ©unftwerle! ift. SRan hat feiten! ber ©eranftalter unb ©ertheibiger
ber jährlichen Slulftetlungen auf bie bebeutenben pecuniären Grfolge berfelben hin*
gemiefen unb baraul einen Sftüdfchlufe auf bal im ©ublifum borhaitbcne ©ebürfnife
giehen gu bürfen geglaubt. Slber felbft aitgenommen, biefer ©chlufe wäre gerecht*
fertigt — obwol fich niemanb barüber täufdjt, bafe bal populäre Sntercffe an ben
StulfteOungen gum aHergeringften Uheil ben Flamen eine! wirRidjen ©unftintercffel
berbient, fonbem einen überwiegenben ©rocentfafc bon SJeugierbe unb gewöhnlichfter,
bielfach fogar aul fehr wenig äfthetifchen SRotiben entfpringenber ©djauluft ent*
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300
Hnfcre ,gcit.
hält — fo wäre jener (Schluß bof burf aus trügeriff, »nenn man bieS angebliche
©ebürfniß beS ÜßublifumS mit bem IßrobuctionSbebürfniß ber ß'ünftler ibentifteiren
wollte. 2>er ©eweiS für folfen Stefurn liegt in ber einfachen Sfatfafe, auf
bie Wir fchon in unferm nötigen Serif t (über bie SluSftellung ton 1880) ^ingu>
weifen ffieranlaffung hatten, baß mit bem allerbingS bebeutenben technifchen können,
welches fi<h burfffnittlif in ben auögcfteüten SBerfen Junbgibt, fif faft burf*
gängig eine große ^beenarmuth oerbunben geigt; unb bieS ÜJliSocrhältniß gwiffen
äußerlif er ©irtuofität unb ibeetter SnljaltSlofigfeit trat bei ber lebten SluSftellung
in noch biel Ijöherm ©rabe als in ber oon 1880 in bie Erff einung. ES ift gang
natürlich, baß, Wenn, Wie eS trofc aller ÜJiatjnungen ber äftpetiffen tfritif in
fteigenbem ©rabe geffieljt, baS naturgemäße ©erpältniß beS ibeellen Inhalts
jur auSfüßrenben ledjnif, nämlich baß Untere nur als ÜJiittel gum 3toecf gu be¬
trachten ift, umgelehrt unb baS oirtuofe ÜJlafwert Oielmehr als bie eigentliche
fpauptfaf e, bie barin etwa enthaltene 3bee bagegen nur als ein bem gufäHigen
©elieben anheimgegebenes ÜJiittel gur Entfaltung einer glängenben Xefnif ange*
feßen wirb, bieS unfünftterifche Streben notßwenbig nicht nur gur ©ehaltslofigfeit
überhaupt, fonbern — Was noch fc^limmcr ift — gur SBaljl oon ÜJlotiten führen
muß, bie mit ben SJarfteHungSmitteln gerabegu in SBiberfpruf fteßen. 2)ie 3been*
armuth macht fich befonberS in benjenigen Säferu bemerfbar, Welche, Wie bie
religiöfe üJlalerei, bie große fpiftorienmalerei unb baS fociale ©enre, tornehmlif
einen ticfern fubftangieüen Sbeenhfalt erforbertt, ber SBiberfpruf gwiffen Inhalt
unb IDarftetlungSform in ber realiftifchen ©cpanblung entweber gang abftract=alle*
goriffer ÜJlotite ober folget, bie, wie bie antile £>eroenfage, ihrer Statur nach
auf bie plaftiff e Slnff auungSfornt angewiefen finb unb bemgufolge einer coloriftiff *
malerifchen $arftetlungSWeife wiberftreben. SBenn wir immer wieber auf biefe
©erirrungen hinguweifen uns oeranlaßt finben, fo 'geffiept bieS weniger in ber
Erwartung, bamit auf bie Uebergeugung ber Zünftler einwirfen gu fönneu, bie
ton jeher Wenig SBerttj auf äfthetifche Steflejioneu gelegt hoben unb nur burf ben
Erfolg gu belehren finb, als in ber Hoffnung, baß ber gefunbe Sinn beSjenigen
SfeilS beS ©ubliluntS, welcher in ber Sünft mehr als ein angenehmes ÜJiittel beS
3eittertreibeS fieht, fif ber Erfenntniß ber tiefen SJlothwenbigleit ton ber Einheit
beS fünftterifchen SifaltS mit ben ÜJlitteln feiner $arfteHung, worin aHeiu bie
innere SBaprheit jebeS SunftwerfeS beruht, auf bie Sänge nicht terff ließen unb
bur<h ©erwerfung jener falffen Stiftungen bie Zünftler, praftiff ton ihrer ©er*
irrung übergeugen werbe. ®ie nähere Setraf tung einiger in biefe als mangelhaft
unb WiberfprufStoll begeifnete Kategorie faßenben SBerfe, bie gum Xheil ton
nift gu unterffäfcenber tefniffer ©ebeutung finb, wirb bie ©elege gu unferer
obigen SluSlaffung gu erbringen nicht terfehlen.
SBerfen Wir gunäfft, wie üblich, einen ©lief auf ben Katalog ber StuSftcßung.
®erfelbe führt 1118 SBerfe auf, ton benett 854 auf bie öefmalerei, 81 auf
Slquarefliftif unb Stiftung, 20 auf grappiffe Steprobuction (ft'upferftif, Sitpo*
graphie, fpolgffnitt), 135 auf Ißlaftif, 30 auf arfiteftoniffe Entwürfe entfallen.
$aS numeriff e Serhältniß in ber ©ertretung ber eingelnen föunftgweige ift atfo
im gangen giemlif baffetbe wie auf ber torpergepenben SluSfteflung, mit StuSnapme
ber bamals gum erften mal in bie Stusfteßung aufgenommenen Slrf iteftur, Welfe
mit 172 Entwürfen, alfo faft mit ber fefsfafett 3<fl tote bieSmal tertreten war.
Eine anbere im 1880 ebenfalls gum erften mal bei ber SluSfteßung inS
Seben getretene Einrif tung, näinlif bie SluSgabe eines ißuftrirten ÄatatogS neben
ber gewöhnlifen SluSgabe, gab uns in unferm torjährigen ©crift gu einigen
unliebfamen ©emerfungen Slnlaß, bie nift nur bie töflig unfpftematiffe SluS*
wapl ber Slbbilbungen, Welfe gum größten 2feile gerabe bie terpältnißmäßig
unbebeutenbften ©egenftänbe barfteßten, fonbern auf bie tef niff e §erftetlungSart
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Hepue 6er bilöenben l\ünfte.
30 \
betreiben betrofen. SEir finb auch fieute nodj ber Stnficht, baff ein unter ber Stegibe
ber Sffabemie fetbft herauSgegebener iHuftrirter StuSfteflungSfatalog nur bann feiner
Veftimmung entfpred)en fann, Wenn bafür geforgt wirb, bah nid)t nur auSfchliehtich
bie bebeutenbern SBerte unb namentlich bie, welche burch ihre gormenfdiönheit,
bei ber SOtalerei alfo burch ben fRei^ ihrer Eompofition (ba fich bie SBirfung beS
Kolorits nicht wiebergeben läjjt) bon gntereffe finb, barin aufgenommen werben,
fonbern baff auch bie graphifd)e Sarfteflung eine echt fiinftlerifdje, einer afabemU
fdjen StuSfteflung Würbige fei. öei bem erften Verfuch ber Verausgabe eines
ißuftrirten SatalogS mochte man einen ©htfchulbignngSgrunb für bie fläglidje 21 uS
ftattung beffelben aflenfaßs barin finben, bah eS eben ein erfter Verfuch war.
Sicherlich aber burfte man — namentlich ba bie unabhängige ®ritif einftimmig
fich liegen folche „Subeleien" «uSgefprocfien — erwarten, bah man bei einer
8Bieberl)olung bie gerügten gehler öermeiben ober aber, wenn bieS nidjt möglich
war, bie ganje gbee als oerfehlt wieber fallen taffen würbe. 2Bir bebauern ba=
her, conftatiren ju müffen, bah, mit StuSnahmc einiger fich auf einfache linearifdjc
SBiebergabe ber Eompofition befchräitfeitben Sarfteflungcn plaftifcher SBerle, bie
übrigen fogenannten ph°tott}pifchen SReprobuctionen, namentlich 6er Delgemälbe,
jum größten Xheil nod) fchicchter finb als bie beS S'atalogS bon 1880. 9Ran
betrachte j. 93. baS Vlumenftüd (9?r. 71), bie Sanbfchaft am Sobten SDieer (SRr. 93),
baS Viehftüd (9?r. 118), bie Sanbfchaft 5Rr. 132, bie Ißcnelope (5Rr. 135) unb
jahlreiche anbere Stbbilbungen, unb frage fich, °b bie fcfjtecfjtefte ißuftrirte $eit=
fdjrift mit folchen SWa^Wcrfen bor baS Vublifum jit treten Wagen Würbe. 3?ur
Eins wunbert uns, bah Zünftler Wie ©ube, 93odelmann, um nur biefe ju
nennen, fich baju hergeben fonnten, ihre Segnungen auf folche SBeifc berhunjen
ju laffen, ba fie hoch burch ben lläglichen SluSfaß beS borjährigen VcrfudjS bon ber
SBertijlofigfeit folcher 3infähungen — benn auf biefe fchlcdjtefte aller furrogatiben
graphifchen IReprobuctionSmanieren läuft nämlich bie fogenannte „ ißhototppie"
hinaus — ftdh hätten überjeugen fönnen.
Sie Vertretung ber betriebenen Schulen fowie auch bie ber einjclnen ßunft«
gattungen ift ebenfalls jienttid) biefelbe geblieben wie in ber borlefcten SlnSftetlung.
3n erfterer Vejiehung ift ju benterfen, bah granfrcich unb ©nglanb fo gut Wie
gar nicht, 93elgiett, bie Schweij unb fetbft Defterreid) fehr fchwach bertreten finb.
Von beutfehen Schulen hat fetbftberftänbtich bie berliner am jahlreichften bie 9luS*
fteflung bcfchidt; an fie fchtiefjen fich * n abnehmenbem ©rabe Süffelborf, SDtfinchcn,
Karlsruhe, SBeimar unb einige anbere Stäbte an. Unter ben ßunftgattungen
nimmt, wie gewöhnlich, bie Delmalcret beit erften 9tang ein; unter ben berfd)ic=
benen gädjern berfelben fteh en 6ie berhältnihmähig leichtern Sitten obenan, namentlich
bie Sanbfdjaft unb baS Porträt, welche jufammen reid)ti<h 80 Vroc. ber gefammten
Delgemälbe umfaffen; in ben SReft feilen fid) bie ©enremalerei, baS Stillleben,
Iljitr» unb gruchtftüd unb enblich bie religiöfe unb hiftorifche äRalcrei, in welchem
tejjtem gache bie Sarftcßungcn mit atlegorifchen, antififirenben unb fagenhaften
äRotiben, wenn man fie baju rechnen Wifi, ben Vorrang behaupten. Schon biefe
ftatiftifdjen Verljältniffe geftatten, wenn fie auch junädjft nur bon numerifefjer
Vebentung finb, einen bebenflichen SRüdfchlufj auf bie ©ntwidclung unferer
lünftlerifthen tßrobuction; eS liegt — ganj abgefeljen bon bem ftetig junef)"
menben 3 ur üdtreten bet groben unb ernften SJJalerei gegen bie gefälligem unb
Keinen Sttrten — beifpietSWeife in bem UeberWuchern ber £>iftorienmalerei mit
aßegoriprenben unb antififirenben ÜRotiben baS Spmptom einer ungefunben Sen=
benj, welche nur aus bem juuehmenben ÜRangel an echt hiftorifdjen, einfach flohen
Sbeen erflärt Werben fann: eine ©rflärnng, bie burch bie nähere Vetrachtung ber
SBerfe felbft, bon benen wir fetbftberftänbtich nur bie bebeutenbern in Vetracht
jiel)en, auch in qualitatiber Vcjiebung nur ju beutlich beftätigt Wirb.
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502
Unfere ^ett.
äSerfen wir zunächft einen ©lief auf bie SBerfe ber religiöfen Sftaterei.
Hier neunten oor allen zwei ©emälbe uufere Slufmerffamfeit in Slnfpruch: ©raf
Harrach’S ©erfuchung ßhrifti unb 6. üon ©ebharbt’S $intmelfaf)tt ßhrifti,
toetdje, technifch betrautet, ju ben bebeutenbften SBerfen bet SluSftetlung gehörten;
unb bennocf) lieferten gerabe fie, eiefleicf)t mehr als anbete unbebeutenbete Sir*
beiten neue ©elege füt bie oft wieberljolte Klage über ben waehfenben ©erfaß
bet religiöfen SDtalerei, wenn aucf) aus ganz entgegengefefcten ©tünben. 6. oon @eb=
Ijarbt ift zwar Oon je^et ein tenbenjiöfer Anhänger bet altbeutfdjen @djule gewefen;
aber et hat — einen ©eweis bafür liefert fein bet Nationalgalerie angehöriges
Slbenbrnapl — eS früher bo<h üerftanben, bie naiüe SHealiftil bet alten SNeifter
mit einem bet mobetnen ßmpfinbung ftjmpathifchen ©eprage innerlicher ©titifirung
ju oerbinben unb babutcf) feiner Sluffaffung ben entliehenen ßljaraftet fünftlerU
feher Originalität ju üerleiijen. ©on foidjer Originalität ift nun in biefem feinen
neueften SBerfe feiuerlei Slnflang mehr ju finben. 3« ber Himmelfahrt ß^rifti
müffen Wir unS ben 2Beltf»eilanb als ben ©efieger beS XobeS, alfo als eine ®e*
ftalt Oon göttlicher ßnergie unb machtüollet Hoheit üorfteHen; ß. oon ©ebljarbfö
ßpriftuS erfcheint bagegen als ein frommer SNethobiftenprebiger, ohne eine ©pur
oon göttlicher ffraft unb Hoheit, unb auch bie SJienge beS ©olfeS, welches 3euge
biefeS SBunberS aller SBunber ift, jeigt jwar freubigeS ßrftaunen, im ganzen aber
eine merfwürbig ruhige Hutung: furz, baS ©anje macht einen ziemlich fdjwäch’
liehen unb baburch in fid| unwahren ßinbruef. 5)aS fflaoifche Nachtreten in bie
gufjftapfen ber alten SJleifter, bie ju ihrer 3eit einer ganz anbern, nämlich naioen
SlnfcfjauungSWelt gegenüberftanben, fann bem mobernen ©ewufjtfein feinen ßrfafe
für ben ÜRanget an originaler Kraft in ber Sluffaffung beS biblifchen ©organgS
gewähren.
©raf Harrach'S ©erfuchung ßhrifti ift nun im ©egentljeit fehr mobem, fo
fehr, bafe in biefer mobernen Sluffaffung baS tppifch*religiöfe ßlement beS biblifchen
©organgS üöHig oerflüchtigt erfcheint. ©ein ©otjug ober richtiger fein wefentlieheS
SBirfungSelement liegt nicht in ber 3Huftration beS ©ibelworteS: „Hebe bi<h weg
oon mir, ©atan", fonbem in ber meifterhaften ©ehanblung beS phantaftifdjen Sicht-
effects, Welcher bie ©eene umfpielt. Slufjerbent ift es als eine grofje ©erirrung
beS KünftlerS ju bezeichnen, bafj er ftatt beS ©erfucfjerS, ber 3®fnS „alle ©chäfce
ber SBelt" oerfpricht, wenn er nieberfaHen unb ihn anbeten will, eine ©erfucherin,
— nämlich c *ne fdjöne leufelin mit oerführerifchen 3ü0 en , barfteHt — eine Slb*
weichung oom ©ibeltejt, bie ber ganzen (Situation eine fchiefe SBenbung gibt, Weil
bem burcf) bie ©ibel mit Stecht in ben ©orbergrunb geftetlten SDtotiü einer Slnregung
ehrgeiziger Hercfchfueht unb weltlicher SDtachtftetlung in ganz ungerechtfertigter SBeife
baS trioiale ÜRotio gefchlechtlichen ©innenreizeS fubftituirt Wirb. Unb nicht einmal
bämonifdj h at ber Zünftler biefe ©atanella auf gefaxt, fonbern Wie man fich etwa
bie ©erfucherin beS hurtigen SlntoniuS üorftetlt, als eine liftig breinfdjauenbe, etwas
hejenartig gcftaltete SBeibSperfon. H e '6i baS bie ©ibel mobernifiren, wenn man
ihren innern tiefem ©inn oerflacht, inbem man ftatt eines großen SDiotiüS —
3efuS als ©eherrfher ber irbifchen Sßelt — eine trioiale ©erfüIjrungSgefehichte
unterfchiebt? 2)afj bie leufelin 3efuö zugleich bie fchöne SBelt braunen zeigt, macht
bie Sache nicht beffer, fonbern erfcheint biefer Sluffaffung gegenüber nur als eine
Snconfequenz-
35ie übrigen religiöfen ©emälbe — es war etwa noch ein hufbeS 2)u|jenb baüon
oorhanben — fommen ben genannten beiben H au ptmerfen gegenüber wenig in
Setradjt; fie finb entweber, Wie bie Mater gloriosa üon ^reper, ganz ffizz cn ‘
Haft bepanbelt ober cS überwiegt, wie in ben ©eiben SJtarien am ©rabe ßhrifti
trauernb, fo fepr bie Sanbfchaft, bafj bie giguren barin nur als gleichgültige
©taffage erfcheinen, ober fie finb, Wie @. oon Hapne'S Heintfehr üon ber ©rab=
legung, fo conüentionell aitfgefafjt unb cotoriftifcfj fo unbebeutenb, bafj fie ohne
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303
2?er>ue bet bilbenben Künfte.
SBirfuitg bleiben. Oöfar SegaS’ ©ba, an fich ein trefflich burchgeführteS Sitb,
baS biefleicht nur etwas p fehr nach bem SRobefl fchmecft, ift mol faum p ben
Silbern religiöfen p regnen, fonbern rangirt in biefelbe Kategorie tote
bie in ber borljergeljenben SluSfteUung borhanbene SenuS beffetben Zünftlers unb
bie phireichen anbern, tljeils ftef)enben, theilS liegenben nacften weiblichen ©eftatten,
bie meift als Sacdjantinnen ober mit ähnlichen Titeln auftreten.
Unter ben ber weltlichen £iftorienmalerei angehörenben SBerfen befanben
fich einige bon bebeutenbem Umfange unb reicher gigurencompofition, aber faum
ein einziges, meines ben ©efcijauer burcfj feinen bramatifc^en ®et)alt, gefchWeige
benn burdj bie 3ftee beS gewählten SRotibS tiefer p intereffiren oermochte. 9lls
bieS eine ift D. Änille’S Segrüßung ber Reformatoren burdj bie §umaniften p
nennen, welches jwar nidjt im ftrengern Sinne ein ©efcfjichtsbitb ift, ba eS feinen
ber 2BirflidE(feit angeljörigen Sorgang fdjilbert, fonbern mehr jener bon SB. bon ffiaul=
bach eingeführten Richtung ber fogenannten ftjmbolifch* hiftorifchen Sompofition
angeljört, im übrigen aber ftcf» bod) bon ben SJtängeln biefer Richtung möglidjft
frei erhält, namentlich barin, baß es nicht, toie bieS beifpielsmeife auf bem ffaut*
badj’fdjen ReformationSbilbe im Reuen SJtufeum p Scrlin gefdjieht, hiftorifdje
Serfönlid)leiten miteinattber in actueße Schiebung bringt, bie burd) ^ahrljunberte
boneinanber getrennt finb. Tie Situation, Welche ®niße barfteßt, fonnte WenigftenS
in biefer Sorm hiftorifcfj möglich fein, unb bieS muß — namentlich Wenn man
erwägt, bafj baS Silb als SBanbgemätbe für baS Treppenhaus ber berliner Uni*
berfität beftimmt ift — genügen, um eS bom ©eficßtSpunft ibeeßer ©ompofition
p rechtfertigen; ohnehin ift eS, technifdj betrachtet, jtoar wie nothwenbig, becoratib
ftilifirt, aber pgleid) bon feiner coloriftifcher SBirfung unb tebenbiger gnbibibua*
lifirung ber porträtartig behanbelten giguren. $um nähern ©crftänbniß beS
gewählten SRotibS ift p bemerfen, baß eS p einem EpfluS bon hier SBanbgemälben
gehört, welche bie hier hauptfädjlichften ^pijafen ber geiftigen Sultur beranf^au*
liehen foßen, ber antifen (9ttf»en), ber mittelalterlichen (Saris), bet fmmaniftifchen
(SBittenberg) unb ber mobernen (Serlin). Son biefen behanbelt baS genannte
©emälbe baS britte SJlotib.
©in jWeiteS monumentales, gleidhfaßS auf ftaatlicße ©efteflung auSgeführteS ©e=
mälbe, St. bon £et)beu’S ©rtheilung beS SJtagbeburger StabtrechteS feitenS ber
$erpge StiuteSlauS unb ©oleSlauS an bie beutfdjen ©rünber ber Stabt ©ofen (1253),
fann trofc feines gigurenrcichthumS unfer Sntereffe weniger anregen, ba ber ©or*
gang, an fidh p nnbebeutenb unb fern liegenb, in ^iftorifcfjer ©ejicljung feine rechte
bramatifdje Sehanblung pläßt. TaS S3ilb ift für ben SchWurgerichtSfaal beS neuen
SanbgericfotSgebäubeS in Safe« beftimmt unb mag hier feinen Swecf, an bie urfprüng*
lieh beutfepe ©rünbung S°fenS p erinnern, entfprcchen, obfehon man nicht recht ein*
fteht, WaS bieS mit bem Schwurgerichtshof p thun tjat. ftm beften gaße ift eS ein
aßerbingS mit grofjem ®efcf>icf componirteS ©eremonienbilb, baS bem ©efdjauer nur
hinfidjtlich ber Seittppen unb beS äufjern hiftorifchen Apparats aßenfaßS ein anti»
quarifcßeS 3>ntcreffe gewähren fann. 211S Sorpg ber Tarfteßung ift aber bie große
Einfachheit ber technifdjen Sehanblung p rühmen, welche in ihrer freScoartigen
|)albfarbentönung bon jeber entliehenen Soloritwirfung Slbftanb nimmt unb ba|er
bem ©harafter eines SBanbgemälbeS in harmonifcher SBeife p entfprcchen fuefjt.
Taß ber Zünftler fich biefe 3urü<fhaltung auferlegt hat, ift als SemeiS für fein
echt fünftlerifdjeS Taftgefüht ihnt hoch anpredjnen.
SBaS bie übrigen als ^iftoriengemälbe auftretenben SBerfe betrifft, fo haben
Wir barüber wenig mehr p fagen, als baß fie nichts Weniger als hiftorifchen
©eift athmen. 33a ift j. S. 3Jt. Don Sutowtt’S Sönig SBlabiSlauS üon Solen
auf ber glu<ht (um 1300), ein Srieger, ber erfeßöpft im SBalbe hingefunfen ift;
ferner ^eltquift'S Tob beS ßhwebifchen ReidiSberweferS Sten Sture auf bem
©ife beS SJtälarfeeS, eine weite Eisfläche unter grauem Fimmel, barauf ein mit
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30$
Unfere St¬
einern Stimmet bekannter ©glitten, worin ein bleicher SJtann auSgeftrecft liegt;
ft. ©eljrt’S ©aftmahl beS ©ero — wer ift ©ero? Antwort beS ftatalogS:
„SJtarfgraf ®ero, fterjog ber Dftmarf, läßt bie Häuptlinge bet heibnifcfjen Slawen,
welche fid) nicht jum ©hriftenthum belehren inoUtcn, beim ©aftmajjt erworben
(ügl. Sitnmermann'S ,,©cf<hid)te beS beutfdjen S3olfeS")"; ©toete’S ftönig ©eotg II.
non ©nglanb begrübt auf bem Sdjlachtfelbe üon Dettingen bie ©enerale bet net»
bünbeten fiegreicjjen Druppen; oon Schubert’S Segräbniß ber SJiatie intonierte
unb SJtaurifche grauen »erben auf 8efef|l fßhilipb’ö II. an ben HJteiftbietenben üer*
tauft; ftuppelmaher’S SluSjug $erjog ?ttbre<^t’ö VI.üontBaiern; beSrienbt’S
IßhUipP bet Schöne fcßlägt feinen <So£|n ftarl bon fiujemburg jum Stifter beS
©olbenen 33IieS; 81. Strup’S ©hriftian II. oon Dänemarf im fterter; 8. Siech’S
Sittoria Äccoramboni Oon äJtörbem überfallen u. f. f. S53aS, fragt man fid> un=
wiHfürlicf), muffen mol biefe ftünftler für eine SorfteHung oon ber Sebeutung
eineä HiftoriengemälbeS hoben, baß fie foldje Sorwürfe Wählen, bie bem Sefchauer
nicht baS geringfte gntereffe einjuflößen bermßgcn, ja jum Dheil ganjlid) unbetannt
finb unb am aüermenigften Stoff für eine bramatifcße Seljanbtung barbieten?
Sinb eS benn nur bie ©emänber unb Lüftungen, bie ißradjt.ber ÄuSftattung,
bie übrigens oft fragliche t)iftorif(ße Dreue in ben 8teußertt<ßfeiten ber DarfteHung,
»aS ben Ijiftorifdjen Inhalt eines ©emälbeS auSmacßt, ober finb es bie jjiftorifdjen
gbeen, toeIcf)e allein, »eil fte baS ©emiitf) erregen, burch ihre malerifcfje ©eftal*
tung bie ^^antafie ju befriebigen unb bie ©ec(e ju ergeben Oermögen ? gür biefe
„Hiftoricnmaler" feßeint ftarl griebrich Seffing umfonft gelebt ju haben. Stuf bie
etwaigen teeßnifdjen SJorjüge einiger biefer Silber einjugeljen, müffen Wir uttS
fdjon auS bent ©runbe üerfagen. Weil wir barauf wenig SSkrtf) legen, wenn bie
Hauptfadje, ber eigentliche hiftorifd)e gnljalt, fo bebeutungSloS unb teer an ibeettem
©ehalt erfcheint. Sie machen fämmttich ben ©inbruef, atS ob bie ftünftler ber
Slnfidjt finb, eS genüge hinfid)tlich bcS ibeeHen ©eJjoltS üoßfommen, wenn fie ein
beliebiges populäres Hanbbud) ber ®efc^icf»te auffcßlagen, um barin eine beliebige
Scene aufjufudjen, bie mit Hülfe einer Softümgefdjichte in materifche SBirtung
gefefjt werben tann. Daß fie, atS ftünftler, felber üoet ber Sbee beS gewählten
üDtotiüS im tiefften Ignnerften ergriffen fein müffen, um etwas ju fdfiaffen, was
auch ben Sefchauer ju ergreifen int Stanbe ift: Oon biefer gorberung an ben
Hiftorienmaler feßeinen fie feine SUjnung ju hoben. 3ft eS ba ju üerwunbern,
wenn eS mit ber Hiftorienmalerei mehr unb mehr bergab geht?
©horafteriftifch für bie SluSftettung ift bie Xhotfadje, baß bie neuern rußm*
üoHen ©teigniffe ber beutfdhen ©efefjithte feinen malerif^en Sßuftrator gefunben
haben, wenn man üon ben wenigen, übrigens nicht bebeutenben Schlacfjtenbilbem
abfießt; nur ein ©emätbe, baS jwar feßon in bie ftategorie beS hiftorifdjen ©enreS
gehört, aber burch feine Schönheit unb ergreifenbe Einfachheit beS SorgangS oon
eeßt fünftterifcher SBirfung ift, barf als eine rühmliche SluSnaljme betrachtet Werben:
Sl. Oon SBerner’S Der 19. 1870. 35ie troefene 9tücf)teraheit, Welche bie
frühem jum Dßeil fehr figurenreichen Hiftorienbilber beS ftünftlerS charafterifirte,
ift hier in biefer nur üon einer gigur belebten Darftellung aufs gliidlichfte über*
wunben: eS ift ber ftaifer SBilhelm im SJtaufoleum beS cfiarlottenburger Schloß*
gartenS, Wo ber greife SDionarch an bem ©rabe feiner Sleltcm in einfamem ©ebet
Stärfung fudjte für baS große Unternehmen, ju bem er fich entfdjloffen hotte.
353er baS innere beS SDtaufoleumS fennt, in beffett phantaftifdHnagifcher {Beleuchtung
bie beiben herrlichen üJtarmorbilber Oon Stauch: griebrich 353ilhelm III. unb bie
ftönigin Suife, mit einem gleichfam überirbifchen ©lanj angehaucht erfcheinen, fann
fich eine SöorfteHung üon ber ergreifenben SBirfung machen, welche bie ©eftalt beS
ftaiferS, ber fiunenb auf baS gbealbilb feiner üerewigten SJtutter nieberbtieft, in
biefem jauberijaften SRaume unb in biefem großen unüergeßli^en Slugenblicf ge*
Währen muß: unb 81. üon SBerner ift biefer feiner Slufgabe in echt fünftlcrifdjer
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Heoue ber Mlbenben llünfte. 505
SSBeife gerecht geworben, inbem er ben magifdjeit Effect ber Socatität jwar mit
großer -Jtaturmabrbeit, aber pgleicß mit bidcreter fjein^eit in ber Sonftimmung
bemäntelt, bagegen mit SRecßt ben |>auptaccent ber SEBirfung auf bie fßerfon bed
Äaiferd unb bad geiftige Element ber ganzen Situation gelegt ^at. SJlan fanit
fagen, baß bied fc^öne ÜBerf nicht nur p ben erfreulichen Arbeiten bed Sünftlerd
felbft gehört, fonbern auch f)infid)tlic^ ber poetifdjen Empftobung, bie fid^ barin
audfprid)t, ben ©tanpunft ber Slu^fteHung bilbet.
gur ben Sludfatl an wahrhaft bebeutenben §iftoriengenifiIben fönnen bie
oon Sludftellung p Studftetlung fid) oermefjrenben Siarftellungen, beren SRotibe
entWeber ber antifen ^»eroenfage entnommen ober rein attegorifdjer Jtatur ftnb,
nur benjenigen entfdjäbigen, ber noc£) nicht pr Einficht ber ^ncongruenj berartiger
■äWotiöe mit ber malerifdien Sfnfdiauungdweife überhaupt, alfo auch mit ben tcdjni*
fdjen SiarfteHungdmitteln ber Oelmalerei gelangt ift. S>er ©runb biefer ^ncongruenj
liegt für bie ©ilber erfter ©attung barin, baß bie Slntife überhaupt wefenttidj
plaftifdier fßatur ift unb fid) beä^alb ber malerifdjeu ©e[)attbluug entließt; für
bad ber ^Weiten ©attung barin, baf? bad, wad bei einer atlegorifchen ©orftellung
gemeint ift, nämlich ber abftracte ©ebanfcninhatt nictjt pr Storftetlung tomrnt
unb bad, Wad allein pr Starftellung fomnten fanu, nämlid) bad erft in ben
©ebanfeit p trandponirenbe ftjntbolifc^e Efterieur, gar nicht gemeint ift. S)iefe
Sifferenj, welche fdjon in ber blöd linearifd) gesottenen aßegorifdjen Eompofition
oorljanben ift, aber fjier wegen ber ebenfatld a&ftractern Siarftellungdmeife Weniger
auff&Qt, tritt nun bei ber realiftifdpcoloriftifdjen ©efjanbfung im ßelgemälbe tiotf)=
wenbig mit öerboppelter Stärfe ald üöüiger SBiberfprucfj iud SeWußtfein. S)abci
ift nun noch ald befonbercr ©runb pr Verwerfung biefer ganjen ungefunbeit
Stiftung Ijinppffigen, baß ed ben betreffenben Siinftlern meift feljr wenig um
bie Slntile felbft ober um ben poetifdjen ©ebanfeu ber Allegorie p tfjun ift,
fonbem baß fie beibed getuöSnticS nur ald ©eljifel pr Entfaltung äußerer Effect*
wirfung ober finnlidter SReipngdmittel benufcen, wie bei ben obligaten ©ennd*
unb ©aedjantingeftatten, welche jebe ütudfteüung unfidjer p machen pflegen, aber
natürlich immer ihre Sie&haber finben. SBenn mir bal)er einige ber in biefe
Kategorie gehörettben ©ilber, beren ©efammtpfjt (um bied beiläufig p erwähnen)
mehr ald bad $oppelte ber SBerfe religiöfer SRaferei beträgt, erwählten, fo gefchieljt
bied nur, weil boef) auch ben technifdjen Seiftungen ißt Stecht wiberfahren
muß; unb bie tedjnifdie Seite ift eben bei allen biefen SBerfen mefcntlicf) bie
4 ?auptfadfje.
3n erfter Sinie I)aben wir ben SJialcr ber Slntifc par excellence, Sllma«
Sabema, p nennen, ber p>ei ©emälbc andgefteKt l)at, oon benen bad eine,
Sappho, ber Settenif^en, bad §Weite, S)er Slbfdjiebdiuß betitelt, ber römifdjen Slntife
angebärt. Sie finb beibe genrehaft, bad erftere außerbem in ber Eompofition
ziemlich unberftänblidj belianbelt unb in jener glatten, porjeüanartig l)eden Sö*
nung audgefüljrt, Welche jebe SBirfung ber Suftperfpectioe audfdjließt, bie Sone,
Wenn auch fein nuancirt, finb Iprt nebeneinanbergefebt, unb jWar nicht nur bei
ben Stoffen, j. S. bei ben meifterhaft, aber etwad fleiulidj behanbelten SWarmor*
flächen, fonbern auch in ben ©efidjtern ber giguren, bie baburd) ftatuenfjaft, wie
feelenlod erfdbeinen. Ed bünft und, ald ob bie friilicrn Arbeiten Sabema’d boeb
eine größere Siefe ber Empfinbung geigten unb ald ob feine unpeifelljaft große
tec^nifd^e aReifterfd^aft mehr unb ntebr in Dinnierirtljeit fid) oerförperte.
®n Sabema fließt fi^ ( 5 . SSeifer mit feinem ©cmälbe: ©ompejid tefete
Sage, an, Wenigftend ßinfiditlicf) bed autiquarifdjen Eliarafterd, in bem bie Eom=
pofition geßalten ift. 3 m übrigen fehlt ißm freitidf) bad ftrenge 9Raß, bad Sabema’d
Eompofttionen eigentbümlidl ift; cd berrfdli e ü ,e oerwirrenbe güile barin, welche
ber Einheit bed ©anjen hinbertich ift. Soloriftifd) trägt ed bem mobernen ©efdjmacf
mehr SRechnung ald Sabema’d etwad füf)ltönige ©einälbe.
Unftre Seit. 1882. X. 20
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306
Unfcre (geit.
XefZenborf’S Sintigone unb Igömene ift ein nicE)t ganj miSglüdter Sßerfuc^,
bie falte Strenge ber antifen gormenfZönhcit in« SJtalerifdje ju überfein, aber
bennodj nic^t ohne einen ber 9lntife fremben 5lnflug romautifZer Sentimentalität,
ber in OonSeutfZ’S tßenelope, einer gigur, bie übrigens mehr an eine Iphigenie
erinnert, burZauS öbertoiegt, toährenb Saul Sc^obelt'S SRaub ber ißroferpina,
ein jiemlitb grofieS, opernhaft=bccoratio componirteS Silb, jebeS tiefem ©eljaltS
unb toor allem ber antifen ©infadjljeit ermangelt 0. SBoite'S 3mölfte Slrbeit
beS Hercules: Sänbigung beS SerberuS, macht ben ©inbrud einer afabemifdjen
tßreiSaufgabelöfung; Stomafo’S Simajonenfd)la<f)t, ein tolles fidntpfgemühl Oon
äJJännent, grauen nnb ißferben, mürbe ficf) allenfalls $u einer SBanbbecoration in
einem ÜRufeum eignen, nimmt fiel) aber hier — als Staffeleiölgemälbe — fel)t
munberlich auS; enbliZ ermähnen mir nod) 3irf’£ Sharon, ber bie ißfpche über
ben StpE führt, ©oethe’S Kentaur mit ©aedjantin, ^acobibe'S ßreufa, bar»
ftetlenb ben lob berfelben, meiner burch baS ihr bon ber SDlebea als ^odjieitS»
gef<henf überreizte bergiftete ©emanb oerurfaZt mürbe. (Sine in XobeSjutfen am
©oben tiegenbe granengeftalt erblicft man mol; baß eS aber bie ftreufa unb bah
ein bergifteteS ©etoanb bie Urfadje ihres XobeS fein fotl, barüber muh man ficf)
burd) ben Katalog belehren laffen. SS gab noZ einige anbere h* er h er gehörige
Silber, fie finb aber auZ te^nifd; ju unbebeutenb — auZ baS letztgenannte ift
ljöchftenS als eine jientliZ gelungene Schülerarbeit jit bejeiZnen — als bah fie
ber Srmäljnung merth mären.
Unter ben atlegorifZen ©emälben nimmt teZnifZ betraZtet mol SZobett’S
Sie bier fiebenSalter ben erften 9tang ein; eS ift gefZieft componirt, tüchtig ge»
geiZnet unb coloriftifZ mit geinheit unb energifZcr SReafiftif behanbelt. Slber
gerabe biefer lefcte tedjnifZe Sorjug läht ben SöiberfpruZ gegen ben abftracteu
Inhalt nur um fo craffer erfZeitten. Sin ÜJtanu in SRitterfteibung, ber auf einer
Steinbanf unter einem Saume fifct, hat ein jiemliZ Inder gemanbeteS SBeib auf
feinen SZoS gezogen; born fpielt ein nadteS .ftinb am Soben, mährenb aus bem
£intergrunbe ein ©reis heranmanft. So meit gehört bie Sompofition, menn auZ
bie giguren nur Spmbole fein follen, ber mirftiZen SBelt an. Somit begnügt
fiZ aber ber Zünftler niZt: auf bem hinter bem Siebespaare ftehenben gefattelten
Sferbe beS Stifters fifjt ein geflügelter Slmor mit Sogen nnb Sfeilen, ebenfo rca»
liftifZ mie alles übrige gemalt — unb nun fann ja fein Smcifet mehr fein, bah
eS fiZ um eine StHegorie hanbelt unb niZt etma um eine beliebige ©enrefeene.
Unter ben übrigen hierher gehörigen Silbern ermähnen mir nur noZ — benn
eS ift in ber Xf)at peinliZ, fiZ mit folZem gemalten SionfenS ju befaffen —
gitger’S ^jejrenfahrt. Stuf bunfelm SBolfengrunbe entmidett fiZ ein bunter 3ug
oon alten unb jungen fpejen, Keinen Xeufelfrafcen, phantaftifZen Ungeheuern in
Xhiergeftalt, Slmoretten unb bämonifZen SZattenbilbern oerfdjiebenfter Strt: alles
in mirrem SurZeinanber unb lebhafter Semegung unb bennoZ/ maS anjuerfennen
ift, ju einem fünftlerifZen ©efammtbilbe georbnet. Ser Sünftler hat, maS eben»
falls oon riZtigem Salt jeugt, ein gormat gemählt, baS burd) feine langgeftredte
©eftalt ber Sompofition einen frieSartigen ©harafter oerleiht; hätte er aufjerbem
baS Kolorit bem entfpreZenb, nämliZ in biScretem ^albfarbenton, etma als üRonb»
fZeinbilb, ftatt mie hier in fräftiger Staturatiftif behanbelt, fo mürbe baS ©anje
entfZieben gemonnen haben, meit bamit ber SßiberfpruZ jmifcfjen ber phantaftifZen
SerroirfliZung beS SJlotiüS mit ber realiftifZen SarftettungSform ni<f|t fo fZarf
heroorgetreten märe.
Sie ©enremaleret mar bieStnal auf ber SluSfteHung ebenfo jahlreiZ mie
manniZfaltig in ben SJtotiOen oertreteu; jeboZ ift ju fagen, bah auZ rn letzter
Sejiehung bie leichte Situationsmalerei, fei eS in ntoberner, fei eS in rococoartiger
unb anbermeitiger gaffung, über bie inhattSüoHere SZilberung oon Scenen, bie
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Hepue 6er bilöenben fünfte.
307
bem geiftigen fociaten 9SoXfötc6en entnommen Waren, bebeutenb überwog. Son
einer foitft mol üblichen Trennung in ernfteS unb Weiteres ©enre, in Xarftellungen
aus bem nationalen ©ultur» unb Familienleben nehmen Wir Abftanb, weil in ber
Xljat bicfe Unterfdjiebe fid) mehr unb mehr abftumpfen. SEBir erwähnen beShalb
aud ber großen SJietige ber ©enregemälbe nur einige, welche fid) t§eilS burdj glüd»
lief) gewählte SRotibe, t^eilö burch tüchtige unb gefällige $urd)füf)ning auSzeid)neten.
§n erfter ßinie ift Sodelmantt’S „Serljaftung" zu nennen, ein ziemlich figuren»
reiches ®»0) bon faft unheimlich tragifcher 2Birfung, Welche tfjeilS burd) bie braftifche
Snbibibualifirung ber betriebenen ©harafterttypen, theilS burch bie trübe ©efammt»
betonung bei aller Feinheit unb ©eftimmtljeit ber Socattöne herborgebradjt Wirb.
Xafj ber ftünftler über eine fräftige unb lebhafte Soloriftif gebietet, wo er ihre
Anwenbung burch bie geiftige Färbung beS SftotibS für geforbert hält, hat er an
frühem SBerten, namentlich in feinem ©entälbc Sw Seihhaufe unb in bet Xefta»
mentSeröffuung bewiefen. 3« ber Färbung überhaupt liegt Sicherlich eine gewiffe
Spmbotif, nämlich in ihrer Sejieljung jum Suhalt beS SRotibS; aber biefe Se»
Ziehung lann entweber burch birecten Anfdfluh an biefen Suhalt ober burch ben
©ontraft baju junt AuSbrucf lommen. ®aS lentere Serhältnifj ift unter Umftänben
fogar wirlfamer (ein SBeifpiel fperbon ift baS befannte Silb Seffing’S: Sin SJtöitdj
am ©arge ^einrich’S IV., beffen lanbfchaftlicher bon burdiauS feilerer
SBirfung ift); im borliegenben SEBerle hat fich ber Mnftler — unb Wie Wir
glauben mit Stecht — für bie erftere Alteroatibe, nämlich für analoge ©efammt»
ftimmung cntfchieben. Xicfe feine Abwägung ber coloriftifchen ©cala, welche
(ebiglich burch bie Statur beS gewählten SUiotiüS bebingt ift, fteüt Sodelmamt felbft
gegen unfere erften ©enrentaler, SnauS unb 58autier, in entliehenen Sortljcii.
Seiber war, wie fcfjon bemerft, feiner bon beiben bieSmal bertreten; eine Ser»
gleichung berfelben mit ihm, in ber angebcuteten Stiftung, Wäre fonft bon hohem
Sntereffe gewefen. ©oWol SnauS Wie Sautier behanbeln nämlich bie Farbe in
ihren Silbern als etwas wefentlidj ©elbftänbigcS, bom SJtotibinhalt Unabhängiges.
Ob fie eine Seichenfeier auf bem SOorfe ober ©e. Roheit auf Steifen malen, ihr
©olorit behält ziemlich benfelbcn ©harafter, bei $nauS eine flare unb faftige
Frifche, bei Sautier eine milbe, etwas ins ©raue fpielenbe feine Xönung. AnberS
bei Socfelmann; bei ihm wirb baS ©olorit in entfdjiebener SBeife burch ben be=
fonbern Suhalt beS SJtotibS beftimnit, währenb er h'nfichtlich ber Feinheit unb
Schärfe bet ©harafteriftif feiner F'guten feinen berühmten Stibalen in feiner SBeife
nadjfteht. ©ein obenerwähntes ©emälbe, beffen nähere Sefdjreibung uns zu Weit
führen würbe, gehörte ju ben erfreulichften ©rfcheinungen ber AuSfteüung. Aber
eS war audh baS einzige, welches in S n halt unb Ausführung gleicherweife be»
friebigte; benn bie übrigen zeigten entweber wol hier unb ba ein gefälliges SJtotib,
beffen Ausführung aber bem Suhalt nicht gerecht Würbe, ober fie erfchienen
jwar technifch bon grober SEBirtung, im S«halt aber bürftig unb leer; ganz ju
gefdjweigen ber zahlreichen Silber, welche webet nach ber einen noch ua<h ber
anbem ©eite Sutereffe zu erregen berntochten. Son ber lebten ©attung fann
hier nicht bie SRebe fein; aber auch bie erfte übergehen Wir füglich. Weil benn
bodj ein geWiffeS SRafj tedjnifchen Könnens bie erfte Sorbebingung für fünftteri-
fcheS Ißrobuciren ift; WaS bie zweite ©attung betrifft, fo führen Wir als technifch
tüchtige Seiftungen an: SJtaj SRichael’S Sefudj eines ©arbinalö im Älofter,
A. ipollänber’S Messa cantata im, 33om zu Florenz, 31. ÄowalSfi’S Spazier»
ritt im SBalbe unb S*gueurS SubWig’S XIV. im SBalbe bon Fontainebleau,
Subwig bon $agn’S ©ine Aubienz bei Seo XIII., Siäuber’S Stücffelfr bon
ber Sagb, Äonrab Frepberg’S £>ofjagb in Sehlingen, SBilljelm ©enfc’ ®e»
bäehtnijjfeier beS Stabbi Sfaaf Sarchifhat in Algier, A. ©eel’S Sdjeiifh, 0. ^cpben’S
ffamelmarft ber Sebuinen in fiairo unb Samaran’S ©in SRorgen in XuniS.
SRau erfennt fchon aus ben Xiieln, bah es biefen fiünftlem weniger auf S<hilbe»
20 *
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308
Unfere <5eit.
rung eines geiftig bebeutenben 3ufjaltS als auf bie SEirfung eines ^auptfäd|Iicb
burdj feine grembartigfeit feffelnben ©jrterieur an!am. 3" biefelbe Kategorie
geböten auch biejenigen ©emälbe, beten ©totioe mit tococo* ober renaiffanceartiger
|>ülle umfleibet jinb unb bie ohne biefe ßoftiimirung burchaitS inljaltS* unb intereffe*
loS mären, wie Karl Sohn’S ©eint Stacf)tif<h, Sinbenfdhmit’S Stuerbadj’S Keller,
Seiften’S glitterwochen, Sade'S Stenaiffancefaal, £fchautfch’S Stomeo unbSulia,
©pbel’S ©algenOögel, ©Ijrentraut’S Stuljeftünbchen, ©olz’ Xröftung, @rb*
mann’S Zünftler bei §ofe, SBeifer’S Unterbrochenes XabacfScoflegium u. f. W.
©inen gewiffen Slntauf ju tieferer ©harafteriftif hat SB. Oon ©djulfcenborff
genommen in feinem ©ilbe: ©in ©obiciQ wirb währenb ber ©rbfchaftstljeitung auf*
gefunben, welches ficfj aufjcrbem burdj gewanbte ©ruppirung unb harmonifcheS
©olorit auSjei^nete. 3. ©ranbt war burcf) einen Ueberfatl eines türfifdjen ©or*
poftenS burdj polnifdje Leiter im Slnfange beS 17. 3aljrh u nbertS oertreten, ein
SEBerf, baS burdj feine energifdje ©ewegtljeit in ber ©ompofition unb öirtuofe Farben*
tedjnif oerbiente Slufmerffamfeit erregte. Sllö oerwanbte ©JarfteHungcn finb ju
bezeichnen Stil etoWSf i’S ©ebet oor ber Schlacht auS ber polnifchen 3ufurrection,
SEBagner’S SRajeppa, ^ornemann’S Stach ber Schlacht, ©tafic’S StoOenifdje
©änfeljirten, ©ehrt’S Storbgermanifche Küftenwächter nacf) bem Sturme, ©nblich
wollen mir noch ©rncftine griebridjfen’S zwei recht anfpredjenbe ©ilber er*
wähnen: 3 m SBalbe, borfteUenb einen Sliffafen, ber einer Oor ihm im ©rafe fifcenben
jungen ®irne auf ber ©ioline oorfpielt, unb Slmfterbanter Xeppidjfliderinnen, in
benen beiben eine etwas melandjolifdje, aber empfinbungSöotle Stimmung h ertr fc^t.
©ei ber ißorträtmalerei foHte bie afabemifcfje 3urtj mit befonberer Strenge
Oerfahren, b. h- nur biejenigen SEerfe zutaffen, bie, abgefehen Oon ihrem 2>ar=
fteBungSobject, fjinfic^tlic^ ber pfpdjologifchen Sluffaffung beS ©harafterS unb ber
feinen cotoriftifdjen ©ehattblung bon fünftlerifchem SBerth an fich finb. SBäre bieS
gefchehen, fo bürften wol gute brei ©iertheile ber auSgeftellten ©itbniffe weg*
geblieben fein, ©ilbniffe laffen fich ohnehin ebenfo wenig Wie Sanbfdjaften be*
fdjreiben, ba baS fünftlerifche ©iement, allerbingS bebingt burih bie Statur ber
Sorlage, Wefentlich in ber fubjectibdünftlerifdjen Sluffaffung berfelben beruht. SBir
miiffen uns batjer begnügen, einige Zünftler namhaft zu machen, beren auSgefteöte
SBerfe ber Oorhin auSgebrücften Sorberung fünftlerifchen SBertheS entfprachen. ®a
begegnet uns bann z«wäc^ft ©uffow mit brei Porträts üon ganz Oerfdjieben*
artiger ©eljanblung, aber fämmtiieh oon aujjerorbentlidjer SBirlung. SBährenb
baS männliche Silbnifj in ber frühem naturaliftifch berben SBeife beS KünftlerS
behanbett ift, zeigte baS eine ber beiben weiblichen ißorträtS eine faft porzeHan*
artige ©lätte unb eine an Banner erinnernbe ®etailtiftif; baS anbere ftanb zwifchen
biefen beiben ©streuten in ber ©litte unb fagte beSfjalb unferm ©efdjmad am
meiften zu, ba es in feiner ntafjooHen ©ehanblung nicht bie ©mpfinbung auffommen
läjjt, als ob ein befonberer technifcher ©ffect erzielt werben foH. StlS recht tüchtige
Seiftungen finb zu bezeichnen bie ©ilbniffe oon Seonlßohle: Königin Don ©achfen,
ein SBer! üoll Slbet unb natürlicher SBürbe, ©iermann, ®. Stid)ter, Sdjtaber,
S- Kaulbadj. hinter frühem Seiftungen fdjeinen unS etwas zurücfgeblieben zu
fein ©. ©raef unb ©Jielih.
SEBie in ber ©enremalcrei bie oerfdjiebenen, burch bie Statur beS ©totiöinljaltS
bebingteu Stichtungen allmählich fich abfdjleifen unb ineinanber übergehen, fo herrfdjt
auch in ber neuem SanbfchaftSmalerei eine für bie fünftlerifche SBirlung ber
©emälbe leineSmegS giinftige StioellirungStenbenz. ®ie betriebenen Stichtungen
ber ftplifirten Sanbfchaft unb ber StimmungSlanbfchaft, welche lefctere Wir als
bie im eminenten Sinne Wahrhafte Sanbfchaft betrachten, ba in ihr baS Iprifdje
©Iement, b. t). baS ©lemettt ber fubjectiodiinftlerifchen ©mpfinbung für bie Seele
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Hcduc 6 er fnlbenöen Künfte.
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ber Statur, am prägnanteren in bie ©rfdjeinung tritt, finb faum noch ju
unterfcßeiben. Sm beuttiißften prägt ficß nocß ber Gßarafter ber untergeorb*
neten Srten, nämlicß ber ©ffecttanbfcßaft unb ber fogenannten ©cßiin*®egenb=
materei aus. ®aß bie tefctgenannte Stiftung am jahlreichften üertreten fein
Würbe, mar üon ooraßeretn fcßon aus bem ©efammtgepräge ber ganzen SuSfteltung
ju fcßtießen. ©ie ift bie bequcmfte unb auch infofern banfbarfte 3trt ber Sanb=
fcßaftSmaterei, meit fie ficß mit ber äußerlichen SRaturft^ön^eit begnügt unb baßer
am menigften Berftänbniß erforbert, folglich auch bie meiften Siebhaber finbet.
Seu mit feinen btaugrauen bairifchen OebirgSfeen, ©raf Saldreutß mit feinen
ftereotßpen Stpengtüßen, Osmaib Sdßenbadj, g tarn nt unb Strnj mit ihren
neapotitanifchen Säften, ©djerreS mit feinen regnerifchen ®orfftraßen auS Oft*
Preußen, Berninger mit feinen ©tranbanficßten auS Stgier nnb Karthago,
oon Samefe mit feinen Stpengtetfcßern, fßape unb ©ngelßarbt mit ihren
etrnaS bunten ©dfjmeijerbergen, ® oujette mit feinen grünen SJtonbfcßeineffecten,
Bennemifc mit feinen fcßtefifißen, ©hampheteer mit feinen betgifcßen SBaffer*
tanbfchaften, ©ube mit feinen normegifcßen ®üften unb SBafferfätten, ©erlitt
mit feinen trocfenen römifchen Behüten — unb fo fönnten mir noch manche
©peciatitöten nennen — merben immer ihre Bemunberer unb Abnehmer finben;
SanbfdjaftSpoefie im fubjectiodunftterifcßen ©inne beS SBortS barf man aber bei
ihnen fetten fuchen; fdjon beSßatb nicht, meit eS ganz munberbar ift, baß bei
ftetiger Befcßränfung auf einen unb benfetben SÖtotiüfreiS, ben man jahraus jahrein
bearbeitet, bie ©emößnung an bie gleichen gormen unb ®öne unb bie burdj foldje
©emöhnung gemonnene ©emanbtheit in ihrer Beßanbtung nicht allmählich Z u ü
äußerlichen Stoutine, b. ß. jnr SDtanier führen foEtte: bie Spanier aber fcßtießt
ben fünftterifdjen (SntßufiaSmuS auS unb ertöbtet bie poetifdje ©rfinbung; eS mirb
gearbeitet, aber nicht mehr — im fünftterifchen ©inne beS SBortS — gefdjaffen.
©eben mir uns bähet nach ben menigen, mirfticß bichterifch empfunbenen unb
baher ftimmungSootten SanbfcßaftSgemätben um, fo finb üor altem bie brei fßa*
täftinabitber üon 6. ©racfjt ju nennen, metche fämmttiiß, bei alter Berfcßieben*
heit ber SBirfung, als SDteiftermerfe ber SanbfcßaftSpoefie ju bezeichnen finb. ©ie
finb betitelt: SJtonbnacßt in ber SBüfte, Sbenbbämmerung am Xobten SOteer unb
©inai. Sie befifcen, jebe für fich, einen faft fcßauertidjen 8teij. SBaS rnitt gegen
biefe nur aus faßten Reifen unb üben ©anbfläcßen unter ßeißflimnternber Suft
befteßenbe trifte ©egenb, bie als ©inai bezeichnet ift, bie fcßönfte in bunten Farben
prangenbe ©cßmeizertanbfcßaft bebeuten! SSenn man ficß in bie Betrachtung jener
einfamen SBüftenftäcße, über beren tobteS ©rau ficß ber büftere Sternenhimmel
mötbt, üerfenft, fo füßtt man ficß im tiefften Innern üon ber SOtacßt biefer me*
tancßotifcßen Staturpoeße erfcßüttert, unb man ßat baS ©efiißt, baß ber fötaler fetbft,
mäßrenb er biefen ©inbrud mieberzugeben fucfjte, in feinem eigenen Innern erfcßüttert
gemefen, benn bergteicßen täßt ficß auS ber Statur nicht btoS mecßanifcß abfdjreiben.
Süßer biefen mahrhaft poetifcßen ®arftettungen märe nur etroa nocß Sier’S Sanbfcßaft
aus bem greifinger SÖtoor als ein feingeftimmteS, empßnbungSüoKeS Bilb zu ermäß*
nen, baS mtßerbem auch burdj feine meifterßaft beßanbette Sicßtmirfung anzießt.
lieber bie Vertretung ber anberroeitigen Srten ber fötaterei: ber 2ßiermaterei,
beS ©titttebenS, beS grucßt* unb BtumenftüdS, haben mir nur menig zu fagen; es
finb recht ßübfcße unb forgfättig auSgefüijrtc ©a<ßen barunter, namentlich in ben
leßtern ©ebietcn, bie burdj ßöcßft üirtuofe SSJerfe üon Termine üon fßreufdjen,
Snna eter^, ©amilta griebtänber unb einigen anbern Sünftterinnen —
baS meiblidje latent ift naturgemäß hierfür befonberS präbeftinirt — üertreten
finb. Sn ®ßiergemätben mar bie SuSftettung feßr arm; intereffant burcß feine
Staturaliftif mar B-SJteherßeim’S Gonbor, ein ziemtid) trifteS, foznfagen ruppiges
Gjemptar feiner ©attung auS bem ^ootogifcßen ©arten. Sußerbem mären nod)
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3 JO
Unfere .geit.
ju ermähnen ber Schneepflug öon AljtenbtS, ein energifdj gejeidjneteS Ad^
gefpann non ©ferben, Arnolb’S $unbe, bie hinter bem ©itter traurig ben aus*
reitenben Sägern nachheulen, fflurnier’S ft'ühe, tfriefe’S Bömen, einen Äraal
überfallenb, unb bie glamingoS unb ©elifane öon ©enj}.
Auch unter ben 3 eidjnungen unb Aquarellen ift, ausgenommen etma ber
©tubienfopf einer italienifchen ©äuerin öon A. öon Hepben unb bie Stranb»
prebigt auf SRügen öon Stiefftahl, nichts öon fflebeutung ju ermähnen, unter
ben #upferftit(ien 9t. Stang’s Stafael's fjornarina unb gorberg’S effectöolle
Stabirung nach A. Adienbach’S Amfterbamer Subenöiertel. Unter ben architel-
tonifdjen ©ntmürfen mar ber fchon ältere, aber öeränberte ©tan jum Umbau
ber ©c|loßfreiheit öon ©be unb ©enba öon Sutereffe. Xie übrigen ©ntmürfe
betrafen meift bereits ausgeführte öffentliche ©ebäube, bei benen bie praftifchen
©eftimmungen öon maßge 6 enbet ©ebeutung für bie Ausführung fein mußten.
Snbem mir bie SBerfe ber SDialerei unb jeichnenben Äunft öerlaffen, um jur
©etrachtung ber plaftifchen Arbeiten überjugeljen, fönnen mir nicht umhin,
unfere ©enugthuung barüber auSjubrüden, baß eine bei anberer ©elegenheit öon
unS gemalte ©enterfung über bie humoriftifdje ©ehanblung antifer SKotioe auf
fruchtbaren ©oben gefallen 511 fein fdheint, ba nach bem g(üdli$cn ©organg öon
IReinhoIb ©egaS in feinen beiben reijenben SBerfen: ©an, bie ©fpdje tröftenb, unb
©enuS mit Amor, bie bisher jiemlich üereinjelt baftanben, biefe für ben mobemen
©itbhauer banfbarfte Auffaffung ber Antife auf ber testen AuSfteHung jiemlich
jahlreich öertreten mar. Sn ber ©h fl t bürfen mir uns barüber nicht täußhen,
baß, menn auch bie antite ©laftif als unerreichbares SJtufter ber fchönen 3 orm=
geftaltung für alle Seit ©eltung behalten toirb — ein SWufter, an bem bie peu=
tigen unb jufünftigen ©ilbpauer ihr plaftifcheS SchönljeitSgefühl ju bilben nicht
aufhören merben — es boch nur als ein für bie Öortbilbung ber mobemen ©laftif
bebenflidjeS ©iiSöerftänbniß ju betrachten ift, menn fie ber Anficht mären, baß fic
bamit auch lebigtidj ober auch uur houptfächlich auf ©eftaltung ober richtiger 9lach=
geftaltung ber antifen Sbeen aitgemiefen feien. SJtit ber antitifirenben ©laftif
öerhält eS fiep ähnlich mie mit ber religiöfen SDialerei; fomeit unS ber ©taube an
ben Snhalt biefer Sbeen abhanben gefommen ift, fann bie ttjpifcfje Aufgalöani»
firung ber trabitionetfen formen höchftenS ju einer mehr ober meniger gelungenen
9teprobuction führen, ber es nothmenbig an ber fünftlerifchen Originalität mangelt,
©anj anberS, menn ber mobeme fi'itnftler eine felbftänbige Stellung jur Antife
einnimmt, unb bieS ift nur möglich burch bie humoriftißhe Auffaffung unb ©e=
hanblung ihres SbeeninljattS. AIS ein meifterhafteS SBerf biefer Art ift bie reij»
öotle ©ruppe Kentaur mit Dtpmphe ju bejeichnen, momit Steinljotb ©egaS in
glücflichftem SBurf abermals biefe Dichtung öertritt. ®ie Art, mie ber ungeßhtadjte
Kentaur, ber bie hübfdje 9?pmphe ju einem ©pajierritt auf feinem SRüden §u be=
reben öerftanben, fich, um 'h r baS Auffteigen ju erleichtern, auf bie Hinterfüße
nieberläßt unb ihr bie $anb als Steigbügel barbietet, ift ebenfo liebcnSmürbig
mie ber AuSbrucf öon ßhüdjterner ©eforgniß unb etroaS beforgter Haltung, momit
bie SJpmphe einen Augenblid jögert, fiep bem bemüthigen Ungethüm anjuöertrauen.
Auch lincarifdj betrachtet ift bie ©nippe öon öoHcnbeter ©rajie. ©liefern SBerfe
fließen fich üt ähnlicher SRichtung an: Sommer mit feiner ©ruppe H erme mit
©accpantin unb S- Sfopf’$ Sebenbiggemorbene Sathrherme, bie beibe faft benfeiben
©ebanfen auSbrüden, iitbem in ber erften ein junges SDtäbdjen bem feierlich be=
fränjten unb mit einem rohen ©chäferpclj behängten Ijöljernen Alten eine ©rinf-
fcßale crebenjt, monach biefer mit halber ®opfmenbung öerlangenb ^infc±tielt,
mährenb in ber jmeiten bie ©atprherme, in ber feurigen Umarmung ber Stpmphe
ju mirflichem Beben ermaßt, fich berfelben unbe^ülflicEi ju entjiehen fucht: in beiben
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He»ue 6er bilbenbcn Könfte.
3 U
ein föftlidjer $umor, ber fetbft in Meinen Details mit großer Reinheit auSgebrüdt
ift. ©ben ba^in gehört ber gefäljrbete Stmor bon Sdjtueinitj, mie eS feheint eine
©eminifceng beS ähnlichen ©egaS’fchen SEBerteS.
Unter ben ernftgemeinten antififirenbeit SBerfert, bie ober unferm ©efüfjt nach
äße etmaS ©ebantifcfjeS au fid) tjaben ober, rnaS nod) fd)timmer ift, einen feuti=
mentalen Slnflug geigen, ermähnen mir bie burch itjre ©töße giemlich anfpruchS»
boße ©ruppe bon ©fut| t: ©erfeuS unb Stnbromeba, bie in ihrem Stufbau etmaS
an bie ©ruppe beS gantefifdjeit Stiers erinnert, ©robmotf’S 2ld)iß unb Sinti»
tochuS, eine ©ruppe, meldje bie Stage beS SldhißS über ben Dob beS ©atroftoS
barfteßt, aber bieS SDiotib in einer ber Stntife gang ftemben Sentimentalität be»
banbett, Jperter’S ©terbenber Sldfiiß, ber in ber Gattung beS SopfeS unb bem
©uSbrud beS ©efidjtS ebenfaflS etmaS SBeinertidjeS enthält, baS burchauS nid)t antit
ift. ©emegter unb bodj in antifem Sinne fjattungSboßer ift 2R. Srufe’S Sterben»
ber at^enienfifc^er Stieger aus ber ©d)lad)t bei ©larattjon. ©inen befonbem 2tn»
fprud) auf Slufmerffamfeit erregte bie braunen bor bem ©ingang beS StuSfteßungS»
gebäubeS aufgefteflte ©rongegruppe bonSRaf Stein: ©ermane im römifchen ©ircuS.
©S ift ein Sampf bon ßRenfcij unb Sömen, beibe in töbtidjer ©erfdEflingung, fo
jebodb, baß ber Söme, offenbar überrafc^t bon feinem maffentofen ©egner, boit
biefem ermürgt, atfo befiegt mirb. ©tmaS Stumpenartiges £>at bie ©ruppe, unbe»
f(habet bem StuSbrud großer ©nergie in ber Rottung beiber giguren, fobaß bie
SBirtung im gangen feine erfreuliche ift.
Unter ben SBerfett retigiöfer ©itbhauerei fanb fi(h nichts, maS gu tieferer
©mpfinbung anregte, obmot manche — bermuttjtich, um ben nafietiegenben gehler
fentimentater ©chmächtichfeit gu bermeiben — ins ©egentheit, nämlich in eine ber
religiöfen Gattung frembe ©ffecttjafc^erei bcrfieten. ©or altem gehört gu biefer
Slrt SBerfen ©gefiet’S 3ubittj, bie fogar atS fünftlidjer 2orfo (mit abgebrochenen
©ftremitäten) behanbett ift, im übrigen aber bon tüchtigem gormengefüht geugt.
SttS tedfjnifch tüchtige Arbeiten fiub gu begeichnen ©ömer’S Sain unb Stbet,
bon Ue<htrifc*@teinfirch’S Opferung Sfaaf’S, eine recht tebenbige ©ronge»
gruppe, ^erter'S SRofeS unb DüShauS’ ©anct»@ebaftian.
Stuctj baS ©eure, im mobernen Sinne beS SBorteS, ift in mehrern gum 2h e ^
anfptedfjenben Slrbeiten bertreten, obgleich baffetbe, im Unterfcfjieb bon ber SRaterei,
in ber plaftifcßen ©earbeitung — fdtion meit es fi<h meift auf ©ingetßguren be»
fchränfeit muß — immer ettoaS SteinticheS, ©ippfachenartigeS an fi<h h a ^ en mirb.
SRotibe, mie Die babenben Snabeit bon Sopf, ßanbsfnedjt mit $unben bon ©ber»
tein, ^irtenfnabe mit #unb bon Donaitlon, ber ©ogenfchiifce bonSotdfmann
unb ähnliche erinnern immer an becoratioe ©ermeitbung, fei eS als ©aton», fei
eS atS ©artenfigur. ©tilboßer erfchien bie ©riechifche gtötenfpieterin bon ©ber»
tein, auch ^tnfld&tlic^ ber anmuthigen ©emegung, metche bie ßinien beS SörperS
in rhhthmifchm Sdhmung berfefct. SltS becoratibe gigur ift audh bie eigentlich aße*
gorifche gigur ber Slrbeit bon be ©ro.ot gebaut, barfteßenb einen jungen fräftigen
SRanit in fifcenber ©teßung, ber fich auf «eine #ade ftüfct unb in ber ©echten eine
Stoße hält. Sie ift für bie ©ahnljofshaße bon Dournat) beftimmt. ©ang genre»
haft ift eine anbere aßegorifdje gigur, Padicitia genannt, bon geuerftein behanbett.
3m ©ebiete ber Denfmalptaftif nehmen bie beiben SRobeße ©chaper’S
gut £effing»Statue unb gur 2Rottfe»@tatue ben erften ©ang ein. Sie finb namentlich
baburcfj boit h**borragenbent ^ntereffe, meit fie einen eigenthümticheu ©egenfafc
in ber pfhdjologifdhen ©harafterifti! bitben, metcher bon bem Sünftler mit außer»
orbenttidher geinheit gur SBirtung gebracht ift: ber friegerifdje ßRoltfe in finnenber,
ßeffing ber Denfer in faft friegerifcher |»attung. $arher’S ©tobefl gum Spoljr»
Denfmat in Saffet geigte einen geiftreidj behanbetten Sopf, mährenb bie Sigur
etroaS burch baS oießeidjt mit aßgu großer ©emiffenhaftigfeit burchgeführte unfchöne
Seitcoftüm in ihrer SBirtung beeinträchtigt mirb.
*
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—__
3\2
ttnfere
2Bal mir oon ben gemalten Silbniffen bemerften, gitt auch — unb jtoar in
üerftärftem ©rabe — bon ben fßorträtbüften: fie intereffiren atl Sunftmerfe
mtr burcf) bie mehr ober minber geiftreiche Stuffaffung unb technifdjc Söirtuofität
ber ftofftichen Seljanbtung. 3« ben beften Arbeiten bieder Slrt gehörten Srütl'l
Stifte Seopolb SRau'l, ©atanbretli’l Stifte bei oerftorbenen ©trad foroie bie
SBerfe oon 3* So<h (©eorg ©berl), ©chaper, ßberlein, 3Rori| SüBotff unb
£>offmeifter, obgleich ber testete feine Säften bei Eßrinjen SBithetm unb feiner
©ematjlitt für unfer ©efii^t attju fef)r in ber SRaniet bei altfranjöftfdjen Sarod*
ftill behanbett tjat.
Henne.
v 20. Qanuar 1882.
Die bielmaligc ©effioit bei Deutfdfen 9iei diltagel braute feine ber bolfl*
mirthfchaftlidjen Sortagen, fonbern auf biefem ©ebiete nur bie Stnfünbigung, bah
ber SRcidjlfanjler bie UrtfallDerfic^erung ber Arbeiter auf eine anbere ©runbtage
ftelten motte. 3« feiner ©rtoiberung auf bie Interpellation bei Stbgeorbneten
bon $ertting am 9. 3an., am Sage ber SBiebereröffttung bei SReichltagel nach
ben Serien, erftärte gürft Silmard, er tjabe jefct bie Ueberjeugung gemonnen,
bah otjne corporatioe ©runbtagen bie ©ac^e factifcfj nicht ittl Sebett ju führen
fein merbe. Uebertjaupt erftärte fid^ ber gürft bielmat ju ©unften einer atabemi*
fdf»en Debatte, ba biefe Stufgabe ju benen gehöre, bie um fo mehr geminnen unb
Hoffnung auf Söfung ertoeefen, je mehr fie bon ben ©d)taden unb Sorurttjeiten
unb 3rrttjümern, bie mehr ober mettiger barüber berbreitet, befreit merben; er
berjidjtet barauf, fdjon je|t beftimmte 3ietc ju bezeichnen, nur bie allgemeinen,
metdje ber faifertidjen ißolitif borfcfimebett; el hanbte fitf) um bie 2Baf)t ber SBege,
unb barüber fei er felbft nicht fidjer genug, um fdjon ^eute Stnbeutungen über
bal machen ju fönnen, mal er |offe, bent SReidjltage auf biefem ©ebiete im
SRonat Slpril bortegen ju fönnen. ,,3d) glaube nicht, itt ber Sage ju fein, biefe
Dinge, bie fid) ber menf^tichen Seherrfdjung in bemfetben SJiafje entziehen, mie ber
Drganilmul bei menfdjtidien Sörperl ber ärztlichen, fofort fo burdjfdjaucn zu fön»
nen, bah meine Meinung nicht ber Setehrung unb Sleuberung utttermorfen fein foHte."
3 n bett Bettungen tauchte neuerbingl mehrfach bie äRtttheihtng auf, baff je&t
auch ber frühere öfterceichifdje StRinifter, ißrofeffor ©cEjäffte, ju ben fRathgebem
bei gürften Silmard gehöre, ©inen Semeil hierfür gibt bet eben angeführte ©ah
in ber SRebe bei fReichlfanjtcrl. Die ©runbtage bei umfangreichen fociatpotitifchen
SBerfel oon ©dfäffte ift eine tßaratlete zmifdjeit bem fociaten Sörper unb bem orga=
nifchen, fobafj Schaffte fogar oon einer fociaten ©emebejette, Oon fociaten Sinbe*
gemeben u. f. m. fpridjt. Die SBenbung bei fReichlfanjterl zeigt, bah er jtch
neuerbingl mit ähnlichen Stnfchauungen üertraut gemacht t)<tt-
Die ^Interpellation bei Stbgeorbneten oon $ertting fottte oor altem ben Semeil
tiefem, bah ganz unabhängig oon ben fßlanen ber ^Regierung bal ©entrum fich
ber Slrbeiterfrage annehme, bah ih m bal SBohl bei Sotfel am $er$en liege, unb
für ben ©ah: in ber Sefdfväntung geigt fich erft ber äReifter, glaubte biefe fßartei,
gegenüber ben meitaulfehenben Stauen ber ^Regierung, baburch einzu treten, bah
fie ihre SReforntbeftrebungen nur auf brei engbegrenzte gragen richtete: ©iche=
rung ber ©onntaglruhe, Sermiuberung ber grauenarbeit unb Serminberung bei
Iteberarbeitenl. Diefe bctreffeitben X^citc ber gabrifgefehgebung fönnten fchon
jeht, oor Sermirftichung ber allgemeinen Oon ber ^Regierung angebahnten ^Reformen,
oerbeffert merben. tpertting erfannte bie gürforge ber ^Regierung für bie arbei=
tenben Staffen an, fpradh aber hoch aul, bah bal ©entrum gegen bie ftaattiche
SeOormunbnng nicht geringe Sebenfen h c g c - gürft Silmard erftärte bie 3»tcr=
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Politifcfye He»ue.
313
peßation für »erfrüßt, mieS auf bie für Söfung ber focialen Probleme bcftimmte
grüßiaßrSfeffion ßiit unb fritifirte bann bie ißoftulate beS ©entrumS. @r g : ng
bon bent jebenfaflS nötigen Ißrincip auS: cS ßanbte fid^ um bie grage nat ber
©renjtinie, bis ju welker man an bie Snbuftrie Stnforberungen fteßen fann jitr
©rfüßung ftaatlic^er fljmede. @r machte auf bie ©efaßr aufmerffam, baß burdj
Velaftung ber Snbuftrie, mie fie mit aßen Verbefferungen »erbunben fei, bie für
bie Arbeiter erftrebt merben, fit bie Sößne minbern, ja bei bem auSfaflenben
S'apitalgeminit manche Snbuftrie gang eingeßen unb fo bie Strbeiter brotlos
merben fönnten, ober man muffe ber Qubuftrie burdj ftattlid^e Suf^üffe ju $ütfe
fern men. Die Veftränfung ber UrbeitSjeit fönne in bett einzelnen ©efdjäfteit nid)t
fo bictatorifdj burdjgefüßrt merben; benn febeS ©efd^äft habe feine.©bbe unb glut.
gürft ViSmard betonte in feiner Siebe mieber ben c^riftti^en Stanbpunft, aßer»
bingS nüßt mie feinerjeit ber Slpoftel beS c^rifttidien «Staates, Staßt, ber ja beit
ganjen Staat aus bogmatiftem «Sparrtoerf jufammenjimmerte, aber bot in Vejug
auf praftifteS ©ßriftentßum, Vetßätigung ber djrifttidjen Sittenteßre auf bem ©e=
biete ber -ftädjftentiebe. Dennocß f)ob er and; mieber ben Unterfdjieb im ©rabe
bcS ©taubenS ober üRidjtgtaubenS ßer»or unb erinnerte baran, baß aße Vegriffe
boit SOloral, ©ßre unb fßflittgefüßl, nat benen biejenigen, bie an bie Offenbarungen
beS ©ßriftentßumS nidjt meßr glauben, ißre anbern $anblungen in biefer SBelt
einritten, bot nur foffite Ueberrefte beS ©ßriftentßumS ißrer Vater finb. 2lm
Schluffe feiner Siebe mieS er bon neuem auf bie in 2tuSfidjt gefteßte Socialgefeß»
gebung ßin, mefd^e banat ftrebe, bie Sdjufctofen im Staate ju fdjüfcen unb ju
ftfißen, bamit fie mit ißren fcßmatcn Kräften auf ber großen Sanbftraßc beS SebenS
nidjt übergerannt unb niebergetreten merben.
Sei ber Debatte am 9. unb 10. San. beteiligten fit Slidjter, ber gegen ben
SteidjSfanjler pro»ocirenb auftrat, ber beutftconferoatioe Slbgeorbnete ©bert, ber
fit für SBeftränfung ber SlrbeitSjeit auSfpricßt. Der Socialbemotrat ©rißenberger
erflärt fit ebenfaßS bafür, außerbent aber für Slrbeiterfammern, ©emerbegeritte
unb für internationale «Stußmaßregeln ju ©unften ber Arbeiter bei einer «Stäbi»
gung ber 3nbuftrie. Dafür tritt aut Slbgeorbneter Stöder ein, ebenfo für möglitfte
©infcßränfung ber grauenarbeit, proteftirt aber gegen ben SlormalarbeitSloßn, con
bem ©rißenberger »erlangt, baß er mit bem SlormalarbeitStage jugleit eingefitrt
* merbe. SaSfer fpritt im Sinne ber liberalen Partei für eine Verbefferung beS
^aftpflittgefeßeS unb gegen bie meitgetjenben Vertretungen in ben SReform*
»orfcßiägen ber SRegierung. Steine Umformung ber ©efefifdjaft fönne eintreten,
o^ne feßr erßebtuße ©rftiitterung beS ©an^eit. „Sie flogen jeßt über ©ntmertßung
Sßrer ©üter, über ben Slüdgang ber ©rträgniffe beS ©runbbefißeS, unb bot ifl
baS nur ein Äinberfpiet gegen baS, maS eintreten muß, menn Sie baS ©infommen
ber Station »erteilen moßeit, um ben ©efammtgerninu ben Arbeitern jujumenb.n."
Storlemer=2llft »tänfelt gegen bie fiiberalen, beraubtet, ber SleitSfanjler ßabe in
feiner Siebe junt Dßeil »om mantcfterliten Stanbpunfte aus gefproten, unb erflärt
fit gegen ben StaatSfocialiSmuS, ber mie bie Socialbemofratie eine falfte 3le=
action fei gegen bie liberale Snbioibualifiruiig unb Sttomifirung; baS Slittige feien
aßein bie corporatiüen Vereinigungen.
Sluf bie Debatte folgte feine Slbftimmung, mie bieS ja bei Sjnterpeflationen bie
©eftüftSorbnung auSftließt. SSäßrenb baS ©entrum unb aut bic Socialbemofratie
mit beftimmt formulirten Vorftlägen ßeroortraten, hielten fit bie Siberalen auf bem
Stanbpunfte ber SRegation, offenbar um ben Verätzungen über baS »on il)ren brei
Parteien »ereinbarte ^aftpßittgefeZ nit* »orjugreifen, burt mclteS fie bie aut
in biefer Debatte »orgebratten Slnflagen, baß fie nur jerftörenb unb nieberreißenb
»orgingen, ju mibertegen futen. 2lm Slbenb beS 9. San- fam baS £>aftpflittgefefc
ber liberalen Parteien in enbgültiger gorm ju Stanbe, oßtic baß inbeß jebe einzelne
Vepimmuug als binbenb für jebeS einzelne SRitglicb ber Partei angefeßen mürbe.
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Unfcre <5eit.
3W
3m ganzen fommt baffelbe ber nad) beit Sübfiim mutigen bet Siberaten reöibirten
Sorlage beS UnfallüerficherungSgefeyeS nahe. Xer ©ntwurf ber Siberaten ift feljr im
Xetail ausgearbeitet: er geht aus non ber unbebingten Haftpflicht ber Unternehmer,
abgefehen üon bem galt böswilliger ©elbftüerteyung, unb ton einem SerficherungS*
gWang für biefetben. Xie Serfidjerung fott bei einer im $eutfdjen Steife gugelajfe*
uen SerfidjerungSanftatt ftattfinben. Son ber EentrattanbeSbetjörbe finb Unfattcom*
miffionen für räumlich befchränfte Segirfe gu ernennen, Welche 2lntaß unb $lrt
bes Unfalls fowie fonftige einfdilägtge Ser|ättniffe gu unterfudjen h Q bett. ®er
ffreis ber Unternehmungen, auf welche fich baS £mftyflidjtgefefc erftreden fott,
wirb weiter auSgebehnt, auch ou f gewerbsmäßige Seförberung öon ißerfonen unb
©ütern gu SBaffer unb gu Sanbe, auf gewerbliche, forftwirthfchafttidje ober tanb*
wirthfchafttiche Unternehmungen. ®ie Serathungen über baS Haftpflichtgefey fanben
am 18. unb 19. 3an. ftatt unb enbeten mit Serweifung beffetben an eine Eom*
miffion üon 21 SKitgtiebern.
SBenn bie oolfswirthfcfjaftliche «frage mit ber $ertting’fd}en 3«ter))eUation
(unb bem Sorfdjlag bes HaftpftidjtgefeyeS) in biefer Seffion erfchöpft war, fo hat
auch bie tirchenpotitifche nur ben SBinbthorft’fchen Stntrag gu oergeichnen: nur
ein 3ungeS, aber einen Söwen. Xiefer Stntrag fchob fich wie ein Seit in bie
Parteien beS Reichstages ein unb fpattete fowot bie beutfchconferüatiüe wie bie
gortfchrittSpartei. ©efdjloffen bafür trat baS Sentrum ein, gefchtoffen bagegen bie
Rationatliberalen. XaS Sentrum wollte im Reichstage bie ^nitiatioe ergreifen,
um mit ben ©potien ber hier errungenen Triumphe alsbatb im preußifchen Sanb*
tage auftreten gu fönnen, wo bie gange galffche ßirchengefeygebung in «frage
geftellt werben fott. ÜBaS bie Parteien fpattete, baS war ber 3anuStopf ber tirchen*
Politiken «frage. ®er «frrtfcfjritt hat nicht bie geringsten Sympathien für bie römifdje
jfirche, aber er üerwirft bie 2tuSnahmegefe|e; bie ©onferüatiüen finb für bie
lejjtern, aber ihre Sympathien gehören ber römifchen Kirche an. 3« nachbent ber
eine ober ber anbere ©efichtSpuntt bei ben einzelnen SWitgtiebern ber Partei mehr
herüortritt, ftimmten fie für ober gegen ben Stntrag ÜBinbthorft’S unb tarnen ftd) fo
öon entgegengefefcten ©eiten entgegen. 3n wirthfchafttiche« (fragen waren früher
bie Rationatliberalen gefpatten, bie einftimmig an ber tirchenpotitifchen, an ber
gatf’fchen ©efeßgebung fefthietten: in alten biefen Vorgängen muß man bodj einen
3erfefcungSproceß ber partamentarifchen Parteien ertennen, welchem bie 3lnfä|c
gu einer Reubitbung batb folgen werben.
8 lm 11. 3an. brachte SEBinbthorft feinen Stntrag ein auf Aufhebung beS foge=
nannten 3«temirungS* unb ©jpatriirungSgefefceS, welches ben officieHen Xitel
trägt: ©efej} über bie Serhinberung ber unbefugten StuSübung öon Sirchenämtern
(üom 4. 9Jtai 1874). ©inen großen Slufwanb fampfgerüfteter Serebfamleit gu
machen, hielt ber Stbgeorbnete für ÜJteppen nicht für nötyig; er hob nur herüor,
baß er nicht RöidjSfeinb fei, unb unterfchrieb bie Slnfidjt feiner SBähter, baß baS
Xeutfche Reich nid^t eher gebeihen tönne, als bis ber heittofe Srubergwift enbtich
getöft fei. Dann wanbte er fich an bie SRänner Wahrer Freiheit, gunächft an bie
Gonferüatiüen, bie er auch als Vertreter berfetben betrachtete, bann an bie Siberaten,
welche ia alte Xage prebigten, baß öor bem ©efey alle gleich fein müßten. 3ebem,
ber baS ©efeß aufrecht erhalten wolle, fpredje er baS Recht ab, ftch einen Siberalen
gu nennen. Xurdj baS ©efey fönnten ©eiftliche internirt unb beS SanbeS üer=
Wiefen Werben, nicht etwa burch Richterfpruch, fonbera burd) baS Selieben ber
SanbeSpoligeibehörbe. @S gebe gWar noch ben ©eridjtsljof für fachliche Ungelegen*
heiten, aber ben tönne fein ffattjolif anerfennen; bie ©eifttidhen ber tathotifchen
Sfirdje feien fammt unb fonberS unter ben Keinen SelagerungSguftanb geftellt
Worben unb gWar mit großer Serfdjärfung. ©benfo erttärte er fich gegen bie bis*
cretionären Sollmachten beS SuügefeyeS. Sßenn einer ber triegSluftigen ^ßtofefforen
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Politifcfje Keime.
3\5
©ultuSminifter Würbe, fo würbe baS ©efefe ganj anberS gehanbljabt werben als
oon $errn non $utt!amer. ®ie ganje Siebe tion SBinbthorft jeigte, baff er ber
SJtajorität für feinen Antrag fieser War unb ficf) größere rhetorifdje Slnftrengungen
erfparen burfte. greilich, $ert non Kleift=9lehom, ber im Slawen eines X^eiTe« ber
$eutfdjconferüattoen fprach, fonb ben Antrag ber „treuem greunbe" bod) nicht
opportun, unb was er fonft SiebenSwürbigeS fagte, machte auf baS (Zentrum weiter
feinen ©inbrucf, ba er nur ablelfnenbe Stimmen hinter fich hatte:
®u fpridjft berge&enS Biel um ju oerfagen,
®et anbre hört üon allem nur baS Slein.
S)em Unmuth barüber gab öon ScIjorlemer*Sllft berebten SluSbrucf: namentlich
fehrte er fich gegen bie SSenbung Oon Met ft, man fönne allenfalls bie 3Jiaigefe^=
gebung als eine würbige Stitine fielen laffen. gür bie Slationalliberalen ergriff
|>obrecht baS SBort, ber auch h er borhob, bafj SBinbtljorft früher bei ber Seratljung
biefeS ®efejjeS bajfelbe für untrennbar bon ber ganjen äRaigefejjgebung erflärt
habe. $aS ©ebiet beS ©ultuS gehöre bem ©injelftaate an unb nur im preufjifchen
ßanbtage fönne über biefe ©efefcgebung oerhaitbelt werben. SirchoW fprach mit
Ausfällen auf bie SBanbelbarfeit beS Steid&SfanjlerS in feiner ißolitif ju ©unften
beS SlntragS: eS müffe eine ehrliche regelrechte ©efefcgebung gemacht unb alle
3)inge umgeworfen Werben, bie bloS Kampfmittel gewefen finb. heftig griff er
baS Schweigen beS SunbeSratljeS in biefer grage an. StaatSfecretär bon Söt*
ticher bertheibigte bie Sieferbe beffelben als eine jWingenbe. ©rft nach einem
juftimmenben Sefdhlufj beS £aufeS Würben bie berbünbeten ^Regierungen in bie
Sage fommen, über bie Aufhebung beS ©efejjeS ju beratljen. Slbgeorbneter bon Kar*
borff erflärte fich ebenfalls gegen ben Slntrag bon SBinbthorft, fprach eS aber aus,
baff bie SteidfSpartei bem ©entrum gegenüber einen burdjauS Perföhnlicljen Stanb*
punft einnehme, ber burch bie jefcige Haltung ber Stömifdjen ©urie unb burdj bie
iÖerbienfte motibirt fei, welche fich baffelbe um bie wirtschaftliche Sleformpolitif
erworben höbe; cS fei bieS eine „nationale Stjut" beS SentrumS gewefen. gür
bie SottSpartei fprach 2Rah er i u ©unften beS SBinbthorft’fchett SlntragS, inbein
feine fßartei gleiches Siecht für alle Wolle.
Slm 12. gan. würbe, nach fortgefefcter Debatte, in Welcher §änel im Slawen
eines Zfyeikä ber gortfehrittspartei gegen ben Slntrag SBinbthorft fprach, berfelbe mit
233 Stimmen angenommen. 33ie motibirten Slnträge bon Kleift*fRefcow unb anbertt
waren borher abgelehnt worben, bie gortfehrittspartei unb bie 2)eutfchconferbatiben
ftimmten, Wie erwähnt, getrennt, theitS für, tlfeilS Wiber ben Slntrag. So hat ber
SleichStag bie Slera beS SlücfgangeS ber firchenpolitifchen ©efefcgebung eingeleitet
unb biefelbe bem Sanbtage bereits in bnrdjlöcherter ©eftalt überliefert.
3)ie jweite Sefuttg beS ©tats fanb am 13. unb 14. gan. ftatt. Sei bem
Slrtifel „8ölle" fam ber 3oflanfchlu6 ber Unterelbe wieber jur grage. ©in Sin*
trag beS Slbgeorbneten SRöHer, nach welchem ber SleichStag befchliefjen fofle, bajj
burch bie SewiHigung ber ©tatspofition Weber bie Rechtsfrage beS SlnfchluffeS
ber Unterelbe präjubijirt noch baS Subgetrecht beS SleichStageS beeinträdjtigt werbe,
fanb bie ÜRehrheit, unb auch SBinbthorft unb baS ©entrum erflärten fiel) für ben*
felben; bagegen ftimmten nur bie $)eutf<hconferOatioen.
©rofje Senfation erregte ber üor SBieberaufnahme ber Sifjungen beS SleichS*
tageS am 4. gan. ergangene unb beröffentlidjte ©rlafj beS KaiferS an baS Staats*
minifterium, ber Dom SteichSlanjler gegengejcichnet würbe. ®cr ©rlafj verfällt in
jwei Xheile; in bem erften wahrt ber König feine monarchifchen Siechte. 33aS
Siecht beS Königs, Slcgierung unb SßreufjenS nach eigenem ©rmeffen ju
leiten, ift burch bie Serfaffung eingefchränft, aber nicht aufgehoben. $ie Slegie*
rungSacte beS Königs bebürfen ber ©egenjeichnung eines SÜlinifterS. Sie finb,
wie baS auch bor ©rlafj ber Serfaffung gefchalj, bon ben SJliniftern beS Königs
ju Pertreten, aber fie bleiben SlegierungSacte beS Königs, aus beffen ©ntfdjliefjung
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3\6
Itnferc ^eit.
fie ßerOorgeßen unb ber feine SBiltenSmeinung burcf) fie berfaffungSmößig auöbrücft.
©S ift beSßatb nic^t ptäffig unb füßrt jur Verbunfelung ber oerfaffungSmäßigen
Steckte beS Königs, Wenn beren StuSiibuug fo bargefteüt wirb, als ob fie öon ben
bafür oerantwortlicßen SRiniftern, nicßt oom Könige felbft auSginge. ®ie 58er*
faffung ißreu§enS ift ber StuSbrucf ber monar<ßif<ßen Xrabition biefeö SanbeS,
beffen ©ntwicfetung auf ben tebenbigen Vejießungen feiner Könige jum SSoIle be=
rußt. ®iefe Schiebungen taffen ficß auf oom Könige ernannte SRinifter nicßt
übertragen, benn fte tnüpfeit ficß an bie if?erfon beS Königs, ißre ©rßattung ift
eine ftaatlicße ÜRotßwenbigfeit für Vreußen. ,,©S ift beSßatb mein SBille, baß fowot
itt fßreußen wie in ben gefefjgebenben Körpern beS SReicßeS über mein
unb meiner SRacßfolger berfaffungSmäßigeS SRecßt jur perfönlicßen ßeitung ber
’ißotitif meiner Regierung fein Stoeifel getaffen unb ber Meinung ftetS Wiber»
fproeben werbe, atS ob bie in Vreußen jeberjeit beftanbene, burtb 8lrt. 43 ber
Verfaffung auSgefprocßene Unberteßticßfeit ber ißerfon beS Königs ober bie 9Jotß=
wenbigfeit ber oerantwortlicßen ©egenjeießnung meinen StegierungSacten bie Statur
felbftänbiger föniglie^er ©ntfeßießungen benommen hätte. ®S ift bie Stufgabe
meiner ÜRinifter, meine oerfaffungSmäßigen Stecfjte bureb Verwäßrungen gegen
^Weifet unb Verbunfetungen ju oertreten."
SBäßrenb eine große Sab* ber Vtätter in biefetn Xtjeite beS fönigtießen ©rtaffeS
nur eine Veftätigung beS befteßenben preußifeßen StaatSrecßteS fab, erftärten anbere,
jum Xßeit offieiöfe Vtätter, baß man „bureb einen Sonflict ßinbureß" müffe, unb
beuteten an, baß biefer bureb ben fönigtieben ©rtaß cingeteitet werbe. Dbne Srage
wenbet biefer fieb gegen bie Xßeorie ber edjt conftitutionetten Staaten: „Le roi rfegne,
mais il ne gouveme pas", unb boeb ift biefe giction ju ©unften ber Krone er»
fonnen, bie, ohne Verfümmerung ihrer £>en:fcßerrecßte unb ihres bie Stete ber
ÜJtinifter enbgültig beftiinmenben ©inftuffeS, boeb einer Kritif entnommen fein foll,
weteße ben einzelnen Steten ber Regierung gilt unb befonberS ben bureb ©inftüffe
Wetbfetnber Beit ^eröorge^obenen SBiberfprücßen in ber Solitif beS ©taateS, für
Wetebe eben bie Weebfetnben SRinifterien fetbft bie Verantwortung ju übernehmen
haben, ober aueb ein einziger SRinifter, wenn fein Regiment iaßrjebntelang ßin=
burdß bauert. @o ift Surft ViSmarcf oft genug Vorwürfen wegen ber SBanbetbarfeit
feiner Stnfebauungen auSgefeßt gewefen. 3n ihrem wenig refpectOoCten Xon buben
einige Stbgeorbnete ber goetfeßrittspartei barauf ßingewiefen, baß ber ©rtaß für
bie Strt unb SBeife ber parlamentarifcßeu Verßanbtungen üon golgen fein fantt,
inbem fie bie V^rfon ©r. SRaj. beS KaiferS unb Königs mit in bie Debatte jogen.
Von einigen ©eiten würbe aufmertfam gemaeßt, baß jwifeßen ber preußifeßen
Verfaffung unb ber SReicßSOerfaffung in Vejug auf bie Stellung ber Krone boeb
noeb ein Unterfcßieb beftebe, baß in ber tejjtern bie gefeßgebenbe ©ewatt bei bem
VunbeSratbe unb fReicßStage fei unb bei bem Kaifer bie StuSfertigung unb Ver»
fünbigung ber fReicßSgefeße unb bie Iteberwacbung ber StuSfübrung berfetben; boeb
ber faiferti<be ©rtaß fprießt überhaupt nur oon ben ber Krone jufommenben Stecßten
ber ©jecutioe, weteße bureß bie Verantwortticßfeit ber SRinifter gebeeft Werben
fott, unb infofern ift bie ©teießftettung ber preußifeßen unb beutfeßen Verfaffung
berechtigt.
©roßeS Stuffeßen erregte ber zweite Xßeit beS ©rtaffeS, in Weteßem eS ßeißt:
„SRir liegt eS fern, bie greißeit ber Sßaßlen ju beeinträchtigen, aber für biejenigen
Vcamten, weteße mit ber StuSfüßrung meiner fRegierungSebicte betraut finb unb
beSßalb aueß ißreS XienfteS natß bem XiSciptinargefeß entßoben Werben fönnen,
erftreeft ficß bie bureb ben Xienfteib befeßworene Vfließt auf Vertretung ber ^ßotitif
meiner Regierung aueß bei bett SEBaßlen. Xreue ©rfüttung biefer ^Sftirf>t Werbe icß
mit ®ant anertennen, oon aüen Veamten aber werbe ieß erwarten, baß fie fieß
im ^jinbtief auf ißreti @ib ber Xreue bon jeber Stgitation gegen meine ^Regierung
auch bei ben SBaßten fern ßatten."
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Politifdje Keuue. 3\?
3n beit ©ifcungen beS VeidjStageS am 15. ®ec., einet Sag» unb einer Slbenb»
fifcung, hatte bie Debatte über Unregetmäfjigfeiten bei ben SEBaljten ftattgefunben,
unb eS fam ein Stntrag oon £>änel, ®iricf)let, Vicfert unb ©enoffen gur Verhanbtung,
bem gufolge bie SöahlprüfungScommiffion beauftragt werben fotlte, über bie bei ben
tefcten SBahlen tjerborgetretenen 9Rängel beS SßahtberfahrenS Verist gu erftatten.
®ie ®ebatte War, befonberS in ber Slbenbfijjung, eine auSnehmenb erregte. Slntafj
bagu gaben bie Steuerungen beS SRinifterS beS gnnern, ber groar jebe unerlaubte
SSa^tbeeinftuffung, jebe, welche baS unmittelbare ©ewicht beS StmteS mit in ben
SBaJjlfampf ^inetnfü^rt, auSgefcfjloffeu fegen will, im übrigen aber erflärte, „bie
^Regierung wünfdjt, baß innerhalb ber ©djranfen beS ©efefceS i^r £ ^Beamten fie
bei ber SBaljt nacgbrücflich unterftüfcen, unb icf) fann hinguf eigen, baß biejenigen
Veamten, wetdje baS in treuer Eingebung bei ben testen SSahlen getrau gaben,
beS ®anfeS unb ber Stnerfennung ber Regierung fieser, unb was mehr Werth ift,
auch beS ®anfeS igreS faiferlicgen £>errn fieser finb".
®iefe SBorte beS $errn oon ißutttamer malten einen tiefen ©inbruef. Vennigfen
erftärte in ber Slbenbfigung: tief beftage er, ba§ E(eute ein preitgifcger URinifter
baS SBort in ben 2Runb genommen gäbe, bajj bie Veamten, welche ign bei
ber SBagt unterftüfct gatten, 'liegt bfoö feinen ®anf, fonbem auch ben ®anf
beS SaiferS oerbient hätten. ®agegen, bie ißerfon beS SaiferS als ©cgilb im
SBagtfampfe gu bewegen, lege er Verwahrung ein. ©ine ähnliche Vermahnung
ging oon bem Slbgeorbneten dichter aus. Sein SBunber, bafj bei ben oerfchiebenen
©erücgten über bie nächfien ttrfachcn beS königlichen ©rlaffeS biefe Verhanbtung
beS SReidjStageS in erfter öinie genannt Würbe. 3n ber ®gat gebraucht ber ©rlafj
ähnliche SBorte, wie fie ber SRinifter in feiner ©rfläntng angewanbt hatte. Vier
unterfdgeibet er gwei Staffen oon Veamten. ®iejenigen, bie unter bem ®is»
ciptinargefeg ftehen, fotten auch 6 £ i ben SBaglen bie tjjolitif ber Regierung oertreteu,
bie anbern fidh wenigftenS oon jeher Stgitation gegen bie Regierung freihatten.
SEBaS bie erftere Stoffe betrifft, fo hatte auch Vcnnigfen erftärt, er gebe bem 3Ri»
nifter bis gu einem gewiffen ©rabe recht, Wenn berfelbe bie Veamten, bie ihm
untergeben feien unb beren 8lmt anerfannt einen politifcgen ©harafter habe, giubere,
ber SRegierungSpolitif tenbengiöS entgegengutreten.
®ie Stellung ber Veamten gu ben 28aglen ift eine ber fchwierigften fragen
beS ©taatSrecgtS. 2llS Staatsbürger hat jeber Veamte baS Stecht einer politifcgen
Ueberjeugung. ®ie StegierungSfgfteme wechfetn: fotl jeber einzelne mit ihnen
feine Uebergeuguug Wechfetn? £>err oon Ißuttfamer hat erftärt, bafj eS in V«« 3
gen feine ißarteiregierung gebe: bamit ift cbenfo auSgefprodjen, bafs eS feine
^Regierungspartei gibt. 2tHe Parteien haben gelegentlich fjront gegen bie Stegie»
rung gemacht. 3" granfreieg ift eS etwas anbereS: ba geht man auch rabicater
gu SBerfe, unb bie liberalen Vlätter haben grofjeS Unrecht, fid) in biefer ©ache
auf granfreieg gu berufen. ®ort oerlangt man gwar feinen äBedjfel ber Ueber»
geugung ; aber man „reinigt" bie Veamtenförper oon ben Slngängern abweidjenber
Uebergeugungen. freilich hanbelt eS fief) bort nicht bloS um wechfelnbe ©hfteme,
fonbern um bie ©runblagen beS ©taateS felbft, um SRonarcfjie ober 9tej>ublif.
3n ®eutfdjtanb wirb man unterfcheiben müffen gmifchen SBahlagitation unb
fioem SBahfrecht einerfeitS, burch welches bie Veamten genötigt werben, ab»
weichenben Uebergeugungen gelegentlicher Cppofition öffentlichen SluSbrucf gu geben
unb ber StuSübung beS actioen 2Bat)Irecf)tS anbererfeitS, bie ja fefjon, weil fie
nicht controtirbar ift, jebem geftattet, feiner Uebergeugung gu folgen. Sollte aber
baS pafftoe Wahlrecht ber Veamten aufgehoben werben, WaS ben liberalen ißar»
teien gewifj nicht unwitlfommen wäre, fo würbe fich bie Regierung eines mach»
tigen StnhangS in ben gefe^gebenben Verfammtungen beraubt fehen.
3n ber 9teichStagSfi|ung bom 18. San. würbe bei ben Veristen ber SBaht»
prnfungScommiffion ber fönigfiefje ©rlag gunächft bon bem Stbgeorbneten ©chott
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3*8
Unfere £t\t.
geftreift. Hönel «Karte, ba| bie gortfchrittSpartei bei ber erften paffenben ©e*
tegenEjeit ben OTerhöchften ®rta| ^ier zur ©)iScuffion bringen Werbe; bie gegen»
Wärtige ©erljanblung würbe ibnt unb feinen politifdjen greunben p enge gejjeln
auferlegen. 3« ben ©erfjanblungen am 19. 3an. fanb ein heftiges ®inzetgefe<ht
ZWifdjen ben Äbgeorbneten Stifter unb Söroe auf ber einen unb Stöder auf ber
anbem ©eite ftatt, welker lefctere offenbar alle ©eifteSgegenwart Oertoren hotte unb
fidj in einer jo ungeftfjidften SBeife oertheibigte, baß bie tinfe ©eite beS H°ufeS
jaft alle feine ©emerfungen mit fpöttifchem ©elädhter begleitete.
8lm 14. 3an. würbe ber preußifhe Sanbtag eröffnet mit einer Dom ®ice=
präfibenten bon ©uttfamer oertefcnen Xhronrebe. ©ie weift auf bie öerbefferte ginanj»
tage beS Staates hin, auf einen oorpgSweife aus ber ©erwaltung ber berftaattidjten
Sifenbahnen henührenben üerfügbaren lieberfdjuß bon 20 SJiiH. SRarf, jtettt einen
Steuererlaß, gleichzeitig aber baS in ©reußen übliche ©orrelat beffelben, eine 9ln=
leihe, fowie bie fierabminberung ber birecten Steuern unb ber ©ommunalabgaben in
9luSfidjt, ©erbefferung ber ©enfionen für ©eamte, bie nach longer Sticttftjeit in
ben SRulieftanb p berfefjen finb, unb für bie ^interlaffenen unmittelbarer ffleamten:
bagegen muß bie ©taatSregierung barauf bereichten, bie als bringenb erfannte
allgemeine Slufbefferung ber ©eamtenbcfolbungen fchon im nächften StatSjahre p
berwirKidjen. 5)ie ©infügung weiterer ©ribatbaljnen in baS ©taatSeifenbahnnefj
wirb motibirt mit ben bisherigen günftigen ©rfotgen beS ©taatSeifenbahnfhftemS
unb ben ©ortheilen einer einheitlichen ©erwaltung. ®abei wirb auch erfreu»
lieh Wadjfcnbc ©erfehr h er borgefjot)en, welcher bie ^erftellung neuer lange erfefjnter
Schienenwege unb mehrere größere Sefchaffungen unb bauliche Anlagen nöthig
machen. $ie nicht erlebigten ©efejjentwürfe, bie eine erhöhte ©ürgfdjaft für ben
wirtljfchafttichen unb finanziellen ©rfolg beS ©taatSeifenbahnfhftemS bejwedfcn,
follen Wieber borgelegt Werben; ebenfo eine ©orlage über glußregulirungen unb
Sfanalbauten.
©ehr gekannt War man allgemein auf bie Stnfünbigung ber firdjenpotitifchen
©orlage; es heilt in ber Stironrebe: „Radlern eS zur lebhaften ©efriebigung ber
Regierung ©r. SRafeftät möglich geworben ift, in mehrem fatholifchen ©istßü»
mern eine georbnete ©erwaltung wieberherzujtellen, fowie bringettben Rothftänbeu
auf bent ©ebiete ber ©eelforge Slbhülfe zu gewähren, auch ber Xhätigfeit ber
franlenpflegenben ©enoffenfdjaften ©rweiterung unb @rleicf)terung z« beschaffen.
Wirb 3huen im Weitern ©erfolg ber im 3utereffe ber fatf)otifd)en ©ebölferuug
angebahnten frieblicfjen ©eftaltung ber !irdjenpolitif<hen ©erhältnijfe eine ©orlage
unterbreitet werben, welche baS ©efefc bom 14. 3uli 1880, foweit eS mit beui
©eginn biefeS 3 a h reä außer SBirlfamfeit getreten ift, Wieber in ffraft zu fepcu
unb zugleich fu wichtigen ©unften zu erweitern beftimmt ift." 2lu<h erfolgt bie
längfterwartete Stnlünbigung ber SBieberanfnüpfuttg beS biplomatifchen ©erfeljrS
mit ber ©urie. Dbfdjon eS fidf zunächft um bie biScretionären ©ottmadjten beS
3uligefefceS hanbelt, gegen welche fid} SSJinbtfjorft erft neuerbingS im Reichstage
erflärte, fo wirb hoch für biejenigen, welche bie 2ljt an ben ganzen ©aum ber
fUlaigefehgebung legen Wollen, nah bem erften Sljthieb, ben ber Reichstag auS-
geführt hat, im fianbtage ein legiStatiber Summelplafc eröffnet Werben. Sluch
fdjien baS ©entrum feineSwegS miSbergnügt über bie SluSfidjten, bie fich ihut
eröffneten. 3)aß bie ©erwaltungSreform fortgeführt Werben joH, bafür bürgen bie
©ntwürfe ber fiteiS» unb ©rooinziaiorbnung für bie ©robinj Hannober. greilich
ift baS Sentpo, in bem fich biefe Reform bewegt, feineSwegS ein befdjleunigteS.
3um ©räfibenten beS 2H>georbnetenf)aufeS würbe am 16. 3an. bon Söller, zunt
erften Sicepräfibenten bon ^eereman gewählt. 2)aS Herrenhaus wählte ben
Herzog bon Ratibor zum ©räfibenten, ben ©rafen bon 9lrnint*©oijjenburg zum
erften unb ©efeler zum ztoeiten ©icepräfibcntcn. lieber bie Stellung ber ©ar»
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Politifdje Xeuue.
519
teicn im Sanbtage »erben bie nächften Slbftimmungen Slufflärung geben: befon*
berS barüber, ob fich am!) ^ter eine fterifat = conferoatib=bemofratif<he SReljrheit
bilben wirb, eine ÜReljrheit ad hoc; benn um mehr als eine ber jufäfligen gluc=
tuationen beS parlamentarifchen KateiboffopS fann eS fid) babei nicht hanbeln.
Ueberrafdjt Würben biete, bah in ber iljronrebe beS „SonflictS", ben bie offi=
ciöfen ©lätter in SluSftdht [teilten, in feiner SBeife gebaut war, obfcfjon ber
fönigtiche Srtab boch für ben ßanbtag fcfiWerer in bie 2BagfdE|ale fiel als für ben
^Reichstag.
Sn granfreicfj läuft baS SRinifterium ©ambetta bie für feinen ifkäfibentcn
bebrotjüdjfte ©efaljr, biejenige fid(j abjunufcen, obfdjon eS wichtige Srfoige ju ber=
jeidfjnen ^at; wie im hörigen Sa^re bei ben ©emeinberatfjSWahlen, bat er bieS=
mal bei ben ©enatorenwahten einen boflftänbigen Sieg baoongetragen: eS Würben
64 IRepublifaner unb 15 Sonferbatibe gewählt. $ie SRepubtifaner haben 22 ©ifce
gewonnen, unb ber Senat wirb bon je|}t ab 207 IRepublifaner unb 93 Sonfer=
batibe gäblcn: gteidjwol ftebt ©ambetta nicht babon ab, auch ben ©enat mit ein=
jufdh(ie|en in feinen utnfaffenben ißlan einer ©erfaffungSrebifion, bie er am
14. Son. ber eben jufammengetretenen Seputirtenfammer borlegte. ®iefem ©tan
jufolge fotlen bie «nabfehbaren Senatoren fünftig nicht mehr bom Senat allein
gewählt werben, fonbern augteicfj bom ©enat unb bon ber Xeputirtenfammer, bie
unabhängig ooneinanber botircn. S)er 2Bal)tförper, welcher gegenwärtig Senatoren
Wählt, foH mobificirt werben, unb jwar fo, bah auf bie ©emeinbe ein SJelegirter
fommt. üluch bie finanjiellen ©cfugniffe beS Senats foßen eingefdhränft werben;
er foß jWar baS Siecht ber Sontrotc haben, aber nicht ferner gcftrichene StatS=
poften toieber eintragen fönnen. SRit unerfchütterlicher Sähigfeit hält aber ©am¬
betta an bem ©rincip ber Siftenwahlen für bie $eputirtenfammer feft: er fieht
barin baS Soroßar beS aßgemeinen Stimmrechts, Welches bie 2lufridf)tigfeit ber
SBaljl unb bie Unabhängigfeit ber ©emähften fiebert. $ie Kammer fofle bie
grage beS ©rincipS rafch löfen; bie grage beS tßetailS unb ber SlnWenbung bleibe
bis jum Slblaufe beS SRanbatS ber gegenwärtigen Kammer borbehalten.
®er Songreh wirb bie SRebifionSfrage enbgüttig löfen; ©ambetta macht eine
SabinetSfrage barauS. Sinige Stimmen ber treffe behaupten, er Wofle jurücf?
treten, um fi<b nicht bor ber Seit abjunufcen; benn bie rabiealen ©lätter laffen
feine ©elegenheit borübergehen, fich an i|m ju reiben, ja ihn aufs ^eftigfte ju
befehben; ein fo gleichfam abgegriffener SRinifterpräfibent fya.be aber nicht mehr
baS 3®u8 sum ©räfibenten ber SRepubtif. dagegen bezeichnen anbere ©lätter bie
©olitif ©ambetta’S als eine gerabeju imperialiftifche; et »erbe feine jefeige £err>
fchaft behaupten, um nach öi^ Sohren ben Sijj beS ©räfibenten einjunehnten,
unb bafür forgen, bah biefe ©räfibentfehaft fich in eine 3)ictatur berWanble. Seht
fei bie entfdheibenbe SBenbung: wie Napoleon III. burch baS ©lebifeit einen tibc=
raten SäfariSmuS, fo Woße ©ambetta burch bie SRebifion eine cäfarifdje SRepubtif
febaffen, unb Wie jener nur Smperialiften unb ©egner, fo erfenne auch ©ambetta
nur ©ambettiften unb ÜRicht*©ambettiften an.
Sn ber Zfyat fpredfjen manche 2l)at fachen bafür, bah ©ambetta fich bereits
fidjer fühlt im ©efijje feiner 2Ra<ht. ®ie Ülnfteßung oon ÜRännern, bie anbern
©arteien angehören, ganz abgefchen bon ben biplomatifchen ©often, bei benen auf
bie Steigungen unb Abneigungen frember Sabincte SRücfficht ju nehmen ift, fj°f
biel böfeS ©Int gemacht; fo befonberS bie ©eoorjugung beS ©aronS Sourcel, beS
©eneratS ÜRiribel, beS Dr. 2Bei{j. Seine Partei, bie Dpportuniften, barf fich
nicht wunbern, Wenn fie bon ihm, bem Dpportuniften xar ^oxijv, etwas ber*
nadjläffigt wirb: er treibt perföntidje ©olitif im groben Stil. Stouftan, ber burch
baS Urtfjeil ber ©efchworenen, welches Stodjefort freifprach, fchwer angeflagt
Würbe, ift nach StoniS in feine frühere ©teßung jurüefgefehrt; baS rücffic|tStofe
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320
Unfere
Einfehreiten bec ©olizei gegen ben Itouetjug bet ßommunatbS, welche ben @e*
benftag ©lanqui’S (8. gan.) auf bem ©ere*2a<haife feftlidj begehen wollten, führte
ju einem Hanbgemenge, jn Verwunbungen, Verhaftungen, Verurteilungen u. f. to.;
man befinnt ji<h babei feljr wohl barauf, baß ©ambetta feinen Politiken Stuf
einer VertheibigungSrebe öerbanft, bie er bei einer ähnlichen lobtenfeier, ber
geier ©aubin’S, für ben angeflagten 2)ele8cluze gehalten hat..
©S ift ber SEBeg nach ber $ictatur, ben ber mititärifdje Dictator Oon 1870
maubett. 3)aß biefer 2Beg für bie Stühe SuropaS günftige Slufpicien eröffne,
läßt fich nicht behaupten: in granfreich gibt eS feine ®ictatur ohne la gloire.
@S jeigen fich qeuug Sßolfen am politifchen Horizont. gn Stegtypten ber H oc h =
bruef einer toeftmächtlichen SlUianz, eine ©otlectionote, in melier ©nglanb unb
granfreich erflären, ben Ä^ebiüe auf bem Xtyron erhalten ju wollen, unb gegen
welche bie ©forte alö gegen einen ©ingriff in ihre ©ouOeränetätSreehte proteftirt;
ein tftufftanb in ©übbalmatien unb ber Herzegowina, weither SWinifterberathungen
in SBien, friegerifd^e Stufgebote DefterreichS jur gotge hat — man erinnert fich
ja noch recht wohl baran, baß bie Herzegowina ber ©rutherb ber orientalifchen
Sfriege ift; in Stußlanb bie VertrauenSfteQung beS ©anflamiften ftatfom, beffen
ftarreS SBoSfomiterthum in ggnatjero einen gefchmeibigen biplomatifc^en Vertreter
finbet, Lüftungen, über welche genau berichtet, bie fpäter wieber in Stbrebe ge*
ftcflt Werben, bod) bie man öon mancher ©eite zuriiefbatirt bis auf bie gufammen»
funft oon SteufahrWaffer, ein unausrottbarer StihiliSmuS, ber oieQeicht nur zu
heilen ift burch eine Slblenfung nach außen: baS finb genug Hanbfjaben für eine
abenteuerluftige franzöfifche ©otitif.
®ie große grage für bie ©otitif im Orient ift, ob fich ©ttfllanb unb granf*
reich z u e >ticm gemeinfamen Vorgehen in Siegtypten entfdjließen fönneu. ©benfo
energisch Wie ber ©ultan erflären fidh bie ägtyptifchen Stotabeln gegen jebe aus*
toärtige gnterbention. gn ber oon 2lffim=©afctya an bie ©efanbten in ©ariS unb
Sonbon gerichteten Sfote heißt eS: „ÜHan wirb, wie wir glauben, nicht im ©tanbe
fein, baS geringfte materielle ober moratifche Sinzeichen, ben geringften Umftanb
iu ben Verhältniffen SlegtyptenS nachz«toeifen, welche folgen fremben gufictyerungen,
toie fie gegeben würben, als ©eweggrunb hätten bienen fönnen. StichtS recht*
fertigt fomit ben SoHectiofchritt, welcher bei ©r. H»h- 2ewfif-©afcha gethan worben
ift, unb berfclbe feheint um fo Weniger gerechtfertigt, als Siegtypten einen integri»
renben beS SänberbefijjeS ©r. faifertichen Sftaj. beS ©ultanS bilbet, unb als
bie SRacfjt, welche bem Styebioe übertragen worben, um für ben ©ebarfSfall bie
öffentliche Sicherheit aufrecht zu halten, für eine gute Verwaltung z« forgen fowie
auch zu folgen 3wecfen feine Slutorität zu befeftigen, bem SBefen nach jum ©ebiete
ber Rechte unb Vorrechte ber H°h en ©forte gehört." 2)er Erlaß behauptet baher,
granfreicty unb ©nglanb hätten nur burch Vermittelung ber ©forte einfehreiten
fönnen. ®en übrigen europäifdtyen SJiächten ift bie ©roteftnote gleichfalls mit*
getheilt worben. Schwerlich ift bie meftmäctyttiche SlUianz jetyt fo gefertigt, baß
©nglanb unb granfreich e ' ne gemeinfame militärifche Slction unternehmen würben:
bie gntcreffen ber beiben Stationen gehen fo weit nicht zufammen.
©ebenfiieher als bie ägtyptifche ©ollifion ift ber Slufftanb in ©übbalmatien;
benn wo ber ©anftawiSmuS bie H°ub im Spiele hat, ba broht ©efaljr für ben
europäifchen grieben.
Verantwortlicher Stebacteur: Dr. Stubolf non ©ottfctyall in Seipzig.
$ru<f unb Verlag bon g. 91. VrocftyauS in Seipzig.
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U ä tbt it
Lobelie
Bon
ffi. »ehj.
(<Stf|(uf}.)
XIII.
„®ran !enn’ i ntein ffteifch unb ©lut!" fagt ber 9Kefe(er*©auer unb (tretet
übet feine SBefte, „juft babran!"
$er DdjfenWirtf) hat ein furjeS Satten.
„333er 3h n jefct tjört, UKefcler 30*8! 3 nteiu, .’S ift nodj fein ÜCRonat her,
ba fdjitnpfirte @r auf bcn Srieg unb bie ©otbaten unb ©einen ©üben —"
„®rum! 3e|t pafet’S mir erft. ©inb ja SeufelSferle, biefe gvaitjofen; ^aben
mir nij bir nif über ben ©djmarjtoalb herübergewollt in unfer gut'S ©atertanb,
unfer S33iirtemberg nur fo hinein! £>h°> fottt uns fommen!"
„3a, ja, bie Seit änbert bie Seut’! S33ie hat bie ©äuerin bom SRefclerhof
gewütet unb nnn fifct fie ben hellen Xag unb bis in bie fintcnbe 9iacf|t über bem
alten Seinen — tljut allein bie halbe 9lrmee berforgen", fäfjrt ißeter ©tierlc noch
immer tacfjenb fort.
„9lu ja; fommt’S fjalt nit an ben föonrab, bem fein’ SBunb’ ja tängft heit
fein fott, fo ttjut'S einer anbetn ÜJIutter ©ohn gut", meint bie grau, unb recf)t
fiat fie bamit.
„$abt 3h r benn 9Iachricf)t boni ffonrab auf bem $of?" fragt ber äBirtf) bor*
fidjtig.
®er 3Ke^ler*Saner fpifet ben SRunb jum pfeifen; es fommt ifjm eine leiste
©erlegen^eit, bann räuspert er ficf) unb antwortet fo gleichgültig als möglich:
„S33ir juft nit — fyab’8 burd) britte £anb, bom Reifer!"
„@o, fo!" tßeter Stierte gucft bie ©träfe’ lang. „®a fommt einer, ber’S
auch genau Weife, baS ©djreiber=9tntonele. £>e, 9lntonete!"
„©(hau ba, ber 9JiefeIer=@auer!" fagt baS SJiänntein unb beutet auf feine
SRappe. „933iH juft ju ©pch — ©uer tßrocefe —"
Unftre Srtt. 1882. I. 21
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322
Untere 3^-
„Meß fo — na, Warte einmal, Mntouclc, unb hilf mir auf loa«. SBie beißt
bocß ber 9Jam’ oon bem Ort, wo mein ©ub im ©efecßt gewefen ift — eine 86 =
Teilung au« berer geftung höben fte jurüdgefdjlagen, na, ba wo’« ben Sapotium
gefangen ^aben."
Mntonete ift jefct eine hoppelt mistige ©erfönlicßfeit, bie lebenbigc Reitling
über bie ©reigniffe auf bem SttegSfcbauplabe.
„®er llonrab äRefcter fiat fi<b mit im ®efc<f)t bei IBlejicre«, nnmeit ©eban,
bcfunben", antmortet er, al« läfe er« oon einem ©latt ab, „unb Eint eine Heine
©djultermunbe baoongetragen, bie er nicht geartet unb tueiter gefämpft pat. §at
felber fein groß SBefen baöon bergefcßrieben, aber ber £>evt fiieutenant oon Selten
bat’« nach $au« berietet. 3 b°ö’ö fftra fdbnetl oom görfter, ber berunten in
©tucffert loar. ’© freut einen bocb, loeun bie Seut’ au« unferm $>orf fitb brao
batten, ’« freut einen e^tra!"
„Unb erft", fällt ber 2Re|jter ein, „wenn fo einer ber eigene ©obn ift."
Mitten gudft mit ben fcbmalen ©cbultent.
,,©i fdbau ber! ©uef ber! 3 e f}t fennt 3b r ib n plö^ich- Solltet nur —"
ba bricht er ab, er belommt einen ju großen 8 °rn, loentt er in geuer gerätb,
unb faßt in feine SKappe.
„Sebmt nur gleich ©ure ©acb' bin, SRebter=©auer!"
2 )er ftreeft abmebrenb bie £>anb au«.
„Meß, benl’ einet je^t auch notb an fo’n bummen ©roceß; \)ob' anbre ©acben
im ffopf unb loollt’, i ^ätt’S nimmer jum 8mt braebt."
Ueberrafcbt fteben bie beiben anbern; ©eter Stierte braucht lang, ftd) ju er*
boten; Hntonele tac^t enbticb.
„Su, fo jiebt ibn jurücf."
,,2Bär’ mir erft ba« SiebjV — ber junge £>err bon Setten b fl t alfo ber«
gefebrieben — i mein’ ba« ba über mein’ Su’? —"
„3a, unb ber ftonrab b at felber gefebrieben, unb toenn 3h r ’ö lefen Wollt,
■Keßler ©eorg, i fenn’ ein’ bleidje junge 35irn’, ba« bie ©rief’ au«wenbig lernt,
bie au« granfreicb berau«fommen — gebt ju ibm, ba« fogt’« Such oor."
„5)amit fomm’ mir feiner", ruft ber Keßler, „i §ab’ ein’ ©cbwur brauf tban
— baoon will i ni? hören", unb ohne ©ruß gebt er über bie Straße unb febtägt
feine Pforte ju.
„®a boft’S"» lacht ber Ocßfenwirtb.
„ 0 , ber ba!" fagt Sntonele unb macht eine gauft. „3 gönnt’« ihm nimmer,
baß fein ©ub beit wieber beim fäm’, wenn’« nit um ba« arme Käbet mär’. ©«
jammert arg unb jittert unb bangt. SBenn nur bie Keßlerteut’ ein ^erj haben
wollten, ©o’n . 3 ufpru<h tbät’ ibm gut, unb noch beffer, wenn fte’« jeßt auf ben
|>of nehmen träten — e« arbeitet fich rein 31 t ©ebanb’ auf bem ®ut, nnb wenn
bie anbern fingen, ba weint’«."
„SSirb audb febon wieber tad^cn", meint ber 0<bfenwirtb nnb feßaut auf«
neue bie Straße lang unb featf^t erleichtert auf, at« er brei ©tnbenten baber*
fommen fiebt.
Slntoncte überlegt fich eine Kinute, ob er fein ©apier bem Keßler boeß hinein*
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Särbete.
323
retten fott, ober oh’S beffer ift, bie gute (Stimmung gleich ju benußen. $en
Störfier Witt er brum fragen, ber fann ben 9tu$fd)lag geben.
Stuf bem ©chtoßhofe ift’ä rege, Wieber eine Dbfternte; ja, fo im ftitten, frieb»
famen ®orf batjeim, ba »ergibt fi ä)’S teilet, baß fo graufiger Stieg in ber SBett
ift; bie ®imen tacken burcheinanber, toie fie bie gefüllten Sörbe herbeifdfjaffen,
um auf großen ©rntetüdjern eine Stu^tefe ju fjatten. ©troal abfeitS fd^afft baä
Särbete, fte hat ein ju fermeres $erj, benlt Slnton.
„tttun, Särbete, lang’ fein Stadjricht bom ©d)a|?" fragt er.
„8tdj nein", fagt eS jammeröott.
„So wirb fie fommen — Sonrab ift ein ganger Serl, ben fid;t nij an, ttju’
bi nit fo arg grämen, SKäbet, ’S nimmt bie rotljen SBangen mit."
Särbete bticft nieber, fetten fcfjtagt eS jefct bie braunen Slugen auf, unb mit
teifer Stimme fagt tS: „3 h n & T benft, uor’m SSinter ift ber Srieg au§, nun
fdjeint’3 immer nodj nit."
„@'ift erft nod) lang, biä eS fchneit."
2tu8 bem ©arten herein fommt eine jicrtiche ©eftatt.
„@i, men ^abt 3h c benn ba?"
„2)ie jung’ grau, Weißt fdjon, bie bor bem Stieg ge^eiratfjet f)at —"
Särbete bricht ab; eine SRöttje überließt fein ©efid)t, eS mödjt’ jefct lieber gar
nicht toeiter mit bem alten greunb reben. Stber ber muß nun einmal altes wiffen.
„ga, WaS ttjut’8 benn ba E)ier? — ’S ift bodj jefet nimmer unterljatttidj bei uns."
,,©'rab ba brum", flüftert Särbete. „$ier mitt fie in alter Siulje teben, 'S
ift ijjr ju biet ©ewühl batieim in ber ©tabt."
„@o, fo!"
Unb ba ftetjt plöfctich bie grau ©ßrengarte neben ben beiben.
„9lun, Särbete, wie geßt’ä bem ©df)afc?"
„®anF ber SRadjfrag’ — aber i weiß t»att tang nij bon ihm!" ftammelt ba§
Stäbchen.
„©ieljft b(eidj auä! ©otbatenfrauen unb Sräute ntüffen tapfer fein, Särbete!"
mahnt bie junge grau.
„D gräute, gräute", fchtuctjjt ba$ Stäbchen ba ptöfclich auf, gang bie neue
SBürbe ber bor iljr ©te^enbeu bergeffenb, „’S brucft mir’3 $erg nodj ab, bie ©org’,
ob audj ber Sonrab Wieber tieimfommt. 3tj* habt’3 freilich beffer —"
„Seffer", antwortet bie junge grau mit einem traurigen Stid, „adj, Särbete —"
SBaä fie fagen Witt, unterbricht ptöfctidj eine tjette Stimme. 2>a8 Sftöstc fann
nun einmal nicht fdjaffen ohne jit fingen, unb Wenn’S am tuftigften ift, wählt eS
gerabe bie traurigften Sieber.
SSenn i nun g’ftorbe bin,
Iragt nti gum Rircfjte hin,
Segt nti in? ©rab hinein:
SBer »eint um mi?
grau ©fjrcngarte mag jefct auch feine traurigen Sieber hören, fie hebt ba$
Zndj an bie Stugen unb geht. Stuch Stntonete fchteicht teife fort — er fann ja
3tyränen n ^ t ^ en
21 *
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7>2\ Unfere «Jcit.
211« ©ärbele atu 2lbenb geimfommt, gat £ie«l fegon ein geuer int 0fen unb
figt beim Siegt.
3)a« dJiäbegen ftetpt eine 3eit lang fegweigenb, al« fei e« unfieger, ob c« bie
9(lte um etwa« fragen follc ober niegt.
„S’ift fegon fo froftig, bergalben t>ab’ i gefeuert", fagt 2ie«l, fidj cntfegutbigenb.
„Unb ba berbei unb wenn’« (älter wirb, ift ber flonrab gerauften im f^clb unb
immer, too bic mörbrifegen ffugeln finb. 0 ©alle, 8ä«te, wenn er nimmer geim
(äm'."
2)ie 2Ute fegüttelt ben fiopf. „9Jocg ift er ja lebig — unb wenn er fterben
tbut — SCRäbelc, e« trägt fieg oicle« in ber SSelt, man fotlt’ fagen, ade«!"
„9leiu, i trüg'« nit — i trüg'« nit!" ruft ba« ©ärbele mit einem Sammet'
(aut unb fin!t ptö^lie^ neben bem Ofen auf bie ffnie nieber.
®a« Sie«! fdjaut erft fegweigenb herüber, bann ftegt’« (angfant auf unb fommt
geran.
,,©ei nit fo ungeberbig!" fagt fie troden, „i gab’ noeg härteres tragen muffen."
„härtere« — o!"
„SBentt i« fag’! $eut’ reb' nientanb megr babon, aber in mein’ fterjen, ba
benft mir'« noeg zuweilen. 9(1« i in beinern SUter war, ba berlief; mi mein
©egag unb ging in bie weite SBelt! Unb ba fag i mit bem SBärmle, ba« war
nadt unb i aueg — uttb bie Sdjanb’ unb ben ©pott, bie gatf i no<g obenein
gar woglfeil ba$u."
„©eganb’ unb ©pott", wiebergolt ba« ©ärbele unb feine Sägn« feglagen ju^
famnten.
„Unb (ebig bin i nod) fjeut", fägrt bic 9l(te fort; „gab’ fogar noeg ein’ 3J?ann
(riegt; ’« war aber ein wiifter, unb wie er geftorben ift, ba gab’ i mein' £>err=
gott banft unb bin allein blieben mit bem Äinb, unb'« rnueg« unb war ein ftatt-
lieger ©ul). Unb bafj i ben gab’ in bie ßrb’ (egen muffen, fieg, ba« ging über
ad bie ©eganb’ unb ad bett ©pott — ba« war’« 9(ergft'!" Unb 2ie«l ftreiegt Aber
bie rotgen Slugen unb fegleiegt ju igrem !ßlag jurüd.
Särbele ergebt fieg (angfam unb gegt jtt igr unb legt bett ®opf gegen bie
©(gulter ber 9l(ten unb weint.
„0 2ie«l, 2ie«(, wa« gibt’« fiir Unglüd in ber SBelt; i wodt’, fie gätten mi
berjumaten p meinem armen ©aterle gelegt."
5Rein, bag ba« 2J?äbeI gar fo arg tgut, ba« begreift bie ffrautlie«! ni(gt; fie
gat gemeint, igr ©prutg üou borgin mügte e« tröften.
,,8eg’ bi nieber unb feglaf — im ©(glaf gibt unfer Herrgott 2roft", fagt fie,
unb gumpelt felber igrem ©ett p.
9lber bem Särbele niigt and; biefc Ißropgcjeiung ni(gt«; ©(glaf fommt niegt
in bie traurigen braunen 9Iugen. ß« fiegt immer ba« blaffe Sefiegt ber jungen
Srau bor fid; — tapfer fod eine ©olbatenfrau fein unb eine ©raut aueg.
3a, fie ift eine Sornegmc, fie gat gut reben p fo einem armen $ing! ©ic
fann in ßgren goffen unb in ßgren Weinen, toentt igr Satte niegt wiebertommt.
SBa« bleibt bem Särbele, wenn ber Slonrab niegt Wieberfegrt? ©dganb’ unb
©pott — unb eubtieg ein unbeweinte« ©rab, aeg, ba« böfe, böfe Sieb:
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Särbcle.
325
Sßenn i nun g’ftorbc bin,
Jragt mi jum St ircfjfe bin,
Segt mi ins ©rab hinein!
2Ber meint um mi?
XIV.
®ag ift ein parier, langer SSinter; bag Sörfdjen ftarrt Don «Schnee unb @ig;
fein ©fenfdj in beinfetben erinnert fid) einer gleiten Seit- Suftig ift’g auclj nidjt
getoefen, troff bem Eljriftfeft unb bent Sptbeftcrabenö, wo fonft ©üben unb ©fäbdjen
aöerfjanb Sdfjerge ntadjen. 33ie $ergen finb fo bebriieft, »iefe fjabeit ©atjefteljenbe
im Kriege unb anbere jammerte, bafj fo gatjttofc Seute unter ©ntbefjrung unb
©füljfat in ^einbeätanb fein miiffen.
.fjodj ift um ©ärbete’g $äugdjen ber Sdjuee gehäuft; abenbö unb morgend
fegt eg eine ©affe, aber immer oerfdjneit fie Wieber. $eut tjat eg bett Sefen
uod) nidjt gut §anb genommen, eg ftefjt am gen ft er; feine braunen Söffe finb
getöjt unb bie |>aate umwallen eg toie ein ©föntet; aber eg fcfjeint feine Suft gu
fjaben, fie toieber gu flehten. @g ftarrt auf bie oerfdjneite enge ©affe, feine
JSippett gudfeit.
„5 Wollt’, eg tljät’ fid) alles gufperrett unb gubeefen unb feiner fönnt' einen
nte^r finbeit unter bem ©djuee! 3a, bag wollt’ i!"
Siegt tritt aug ber Sammet unb fdjaut erft gtoeimal gu, ob feine btöben Sfugen
eä nie^t tauften.
„©fabele, bift Ijeut nimmer fijr! Sotlft fefjon unterwegg fein naefj bem Scfjlof}."
Sangfam bretjt fidj Särbeie um unb fagt mit tonlofer Stimme: „3 gef)’ nim=
mer toieber nadj bem Sdjtofj!"
„3Baö?" fcfjreit Siegt, „fjaft Streit gehabt? ©fit toern? ©fit ben ©fägb’?
$ie finb bir freilich lang fdioit gutoiber gefinnt getoefen!"
„©ein, Siegt, weit i mi fd)änt’!"
„Seit Wag?" ruft bie Sitte, „toenu bu nur beutlidD fein tootlft; bie Sparen
braunen fjören’g beffer atg i!"
3)ag Siegt ift ftreitig getoorben mit feiner gunetjntenbcn Xaubt|cit.
„0, bafj bu’g mir fo ferner machen tfjuft!" fagt Sorbete mit einem 3<immer«
taut; bann fommt eg näfjer gu ber anbern Ijeran. „3 gef)’ nimmer — bu weijjt,
ber Scfjanb' unb bem ©efpött wegen." Unb bann fd)tägt cg bie £>änbe Dor bag
@efi<$t.
„0 bu mein lieber #eilanb! 0 bu arm'g, arm’g ©fäbetc bu!" fd^reit Siegt
unb f<pttett ben Sopf unb fud)t fid) bann einen Stuljt; benn if)re gitternben 3üßc
wollen fie nidfjt mef»r tragen. . ..
Särbete tritt wieber ang genfter unb blidt in ben Sdjnee — ja, fo eine
weiße, faubere ®etfe, bie fönnte alles ^ergeteib Derbergen! ©g f(at geftern Stbenb
gar nidfjt nad) §aug gemocht; uictir atg einmal tjat’g gebadet, nun wollt’ eg fid)
nieberfefjen; ber Slntonctc fjat ergäbt, baff im Schnee erfrieren ein gar fo füfter
Xob wäre.
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326
Unfcre «Jett.
SDaß eS baS h fl t erleben müffen, es meint nodj immer, ei !ann nur touft unb
Wilb geträumt haben! Unb nun fte^t eS alles wieber, bie große ©efinbeftube,
Wo bie DJiägbe mit ber trodenen 2Bäfd)e hantieren unb baS SBirthfchaftSfräulein
hin* unb heegeljt.'
3hm ift eS fdjon lange itid)t mehr behaglich unter ben ewig fdjwahenben hinten.
®aS graule in gibt ihm einen Auftrag, ber jungen grau fod’S etwas bringen.
Sangfam fchleicfjt baS ©ärbele bie ©teintreppe hinauf unb burch ben Gorribor,
wo bie alten wunberli^en Silber Rängen, ÜRänner mit eifernen Blöden unb
Schwertern unb grimmen ©extern. Hber in bem gimmer bet jungen grau,
ba ift’s gar behaglich, ba brennt bie Campe unter einem rottjen Ueberljang, baß
alles rofig wie Dlbenbwolfen auSfdjaut, unb warm ift'S unb ein G)uft oon ©tu»
men, unb bie alte grau oon Selten ift auch ba, nadj ber £o<hter $u feljen.
„Schau, baS ©ärbele! Unb wie geht’S bem Sonrab?"
Sich, fo eine weiche Stimm’ tjat bie junge grau, bie tl)ut if»m ftetS wohl ju
hören.
,,G)anf’ ber Dtadjfrag’ — er ift ba in ber SBinterfält’ oor bem halSftarrigen
Ort, ben fie ©clfort ^ei§en!"
„So mein SWanu unb mein ©ruber aud) finb!" fagt bie junge grau, „ga,
©ärbele, fie haben einen harten Stanb, aber muthig finb fie."
„Sich, mit bem SRuth", muß eS fagen. ,,©ei ber ftält’."
3)ie alte grau oon ©eiten framt in einem ©erg oon ©inben unb ©öden.
„G)aS lomnit alles hin, unb wir wollen für beinen Schaß ejtra welche be=
ftimmen, ©ärbele."
„G)aS ift brao. Slber ju SBeiljnacht hob’ i bem Äonrab felber Welche gefchidt"
Qi hat ein ftotjeS ©efühl barüber, baß eS baS fagen !ann — unb benft babei
an bie Dtädjte, wo eS mit fteifen gingern geftridt unb ben @<hlaf, ber eS über*
fallen Wollte, gemaltfam oerfcheucht hat; fein Grfpartes hat’S jur $älfte geräumt,
bamit ber Schaß warm hat.
„Dtun, er wirb immer noch brauchen löitnen", meint bie alte grau, unb bie
Gßrengarte hat bie Weiten feinen fmnbe gufammengelegt unb fleht baS ©ärbele an.
„Neulich nieinteft bu, ich wäre beffer baran, ©ärbele, eS fei härter um ben
Schafe als um ben 3Rann flogen. Sieh, ich fchlafe feine DJacht, Wenn ich benfe,
mein ftinblein müßte jur SBelt fommen unb fein ©ater eS nicht mit bem erften
©lide fegnen!"
„O, o!" hat baS ©ärbele ftöhnen müffen.
„5)aS finb ©ebanten, bie 3lr$t unb ©ernunft üerbieten", fagt bie alte ®ame
mahnenb.
„SSenn nur SBilibalb Urlaub befommen wirb — wenn nur!" flagt grau
Ghrengarte.
2)aS ©ärbele wirft bie ©olbatenfoden unb ©inben, bie eS orbnen helfen foff,
weil eS bo<h nun einmal ba oben War, oor fich auf ben ©oben unb ftammelt:
„^inauS muß i, an bie Suft, fonft fterb’ i ba auf ber ©teil’!" unb bann
ftürjt es baoon, als trieb’S eine ©ewalt. gn ber rofig überftraljlten Stube ift’S
fo gar beängftigenb, unb was braucht bie oornehme grau Glinge ju fdjwaßen, bie
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Särbele.
327
e$ juft ins #erj treffen! ©3 h at einen 3orii, if)nt ift fw<fi unb !att unb ju eng,
adj fo eng!
Äber wie es in ben ©ang fommt, wo fo trüb’ baS Sidjt teuftet über ntt bie
SRännergeficfjter hin, ba fa&t eS erft rechte Slngft; ihm ift’S, als erhöbe fidj ein
fdjaffehbeS §ohngelä<hter — eS rennt atljemloS jur kreppe, eS fdjwnnft unb
ftürjt.
8113 eS ju fidj fommt, ba tiegt’S in ber ©efiubeftub' auf Siffeit, bie grau
üon Selten unb bie SBirthfcfjafterin ftehen neben ifjm.
@3 fragt, was ifjm gefcfjefjen ift, Ieife, wie ein furdjtfames $inb.
„Stur eine Ohnmacht", fagt bie ©djfofjfrau, „gef/ fjeint — unb fchon’ bidj
beffer."
®ic SSorte finb ja milb, aber ber S3Iid! Unb nun fdjaut auch baS SBirtf»*
fefjaftSfräufein fie fo ernft an. ©3 fchlägt bie $änbc oor baS ©efidjt unb beginnt
ju weinen unb bie beiben gefeit hinaus.
Sangfam ergebt eS fiel»; eS ift, afS ob ber Sobeit nicht feft unter ifjm fei.
3u3 ber eutfernteften ©de betrachten es bie ÜJtägbe — eS ift baS arme beracfjtete
gfö|er»Särbefe mit großem ©totj gewefen — was ift es nun?
@3 tappt ficfj nach ber $fjür; ba fommt bie Äatfjrin.
„5)aS graule hat gefagt, eS foßt’ eins boit uttS mitgehen —"
„3 banfe, i braudj’ fein’!"
9tun ift eS braunen; o, bajj if»m nur feiner oon ben Shted»ten in ben SBeg
fommt.
Sin ber ©cfjfofjpforte fd»aut eS noch einmal jurüd; grau liegt baS alte ©e=
bäube ba, unten ift Sicht in ben SBirthfdjaftSräumen unb oben aus bem engen
Xhurmgemach fdjimmerfs rofig fj«ab.
Särbele beigt bie 8äljne aitfeinanber — ba in bem mofjügen SBinfet fifct bie
botnefjme junge grau unb eS waubert ^ier einfam mit bebenben güfjen burch ben
tiefen ©djnee — unb ift nun wirflidj eine SfuSgeftofjeue. Dben an ber Rimmels*
bede flimmern bie Sterne.
„0, mein Herrgott, was fjab’ i benn für eine ©d»ulb?" fragt’S mit jitternben
Sippen hinauf; „i hab' mein' ©djaf} lieb gehabt, wie bie aud»! 3ft bemt ba ein
Unterföieb?"
SJtefjr afS einmal faßt es mit ben brennenben $änben in ben ©djnee —
„0, wer fiel» auSfüfjlen fönnte! Unb i fjab’ auf mein’ Strafe üier 3afw fang
gewartet in 3udjt unb Gfjren, unb bie fjat if»ren fjeimfich lieb gefjabt unb ba
finb’S gleich öffentlich jufammengebett — wer'S nur oerftehen fönnt’, warum eS
bei ben einen fo ^erge^t unb bei ben aitbern Wieber anberS?"
@o ift baS Särbele fjeimgefommen, unter folgen grageit hat eS bie Stacht
Oerwacht unb nun Weiß auch baS SieSf brum!.. .
„0 mein, o mein", flogt bie eben wieber, „arnt’S Xröpfle, baS wirb eine
fchwere $dt werben! 3Jlir ift, afS erbfid’ i mi felber wieber, Wie üor langen
fahren."
©fabele hätte gemocht, bah Siest wüft mit ihr gefchimpft hätte.
„SBarum bift fo gut mit mir?" fragt’S faft trofjig.
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328
Untere ^eit-
„0, meine @üt’, fenn’ i’l bocfj, Wal el Reifet, mit Schanb’ uub (Spott ba=
ftetjen!"
SJtit bumpfem Saut fd)tägt Sorbete bie Arme in bie Suft, unb bann wanft’l
jur Ofenban! unb bleibt ba fifcen. Sielt fagt nicht! mehr, fonbern geht in häul*
lidjen ©efctjiüften auf unb ab.
@1 ift um bie SJtittagljeit; gerabe all bie Sonne einmal in ba! ©tübdjen
lugt, ba geht bie 2^ür auf unb Staue ftetit in berfetben. 2)al ift noch nie paffirt,
baß einer aul bem SJtütlerhaufe über bie Seemeile Oon be! Stößer! fcütte gefönt=
men ift. Särbele fpürt ba! Unerhörte, aber e! ift bod) toie in falber Setäubung
unb tfjeitna^mtol.
„(Si, bie Stane! ®ie Qfjx’l" ruft Sielt mit Aufbietung aQ feiner $öftid|lett.
„$>a ift audh ein Stut)t!"
„Sfun, Wenn Sie Witt, Sielt, fo fefc’ i mi auf ein Augenblicke; fchon bie
paar Schritt ba herüber wirb ! einem fatt." Sie bat eine riefengroße Srejet aul
i^rem Sorbe geholt. „$a! fc^icft mein’ SJtutter; Sie foH’l fich fchmeden taffen.
SBir bringen alten Stachbarlleuten welche, unb ba foßt’ i’l Sielt auch nit öergeffen."
„$ie @h r ’"/ murmelte bie Alte, „fo eine gute Srejet hob’ i lang’ nitgeffen!
Aber wie !omm’ i ba^u?"
„Sta, Wißt’! beim nit, baß mein Sater taufenb ©utben in ber Sotterie ge^
Wonnen hot? Dabrunt!"
,,‘Iaufenb @utben!"
„3a — unb i hob’ noch ein’ befonbere ftreub’ gehabt an bem Saden, wegen
einer Nachricht" — ihr fcfjietenber ©tid ftreift bal jufammengefauerte Stäbchen
auf ber Dfenban!.
„Sreub’ fann man brauchen in biefer trüben Seit", antwortete bie Atte argto!.
„©ärbete, ba fdjau mat bie ©rejet!"
Aber bal Stäbchen rührt fich nicht unb fagt nicht!.
„Saß nur", fätlt Stane ein, „el muß fidh erft faffen; ’l fann ihm botf» nit
gleichgültig fein, baß e! bal ©efchwäp Oom ganzen ®orf ift?"
„Ach bu, ach bu mein £>eitanb, freilich nit", jammert Sielt, „unb nun ber
©ub heraußen im Stieg."
„Sta, ba! ift nit bal Schtimmft’. SBeitit er heimfommt, ttjut cr’l abfaufen —
lumpig finb bie nit."
diesmal ift’l, all Witt ©ärbete ein SBort auf bie Sunge, all möchte el fidh
erheben, aber bodh finff! wieber jurüd.
„3 hob'l nie anberl erwartet", fagt Staue boihaft Iächetnb, „nun ift’! auch fo."
„Aber Wenn er ftirbt!" ruft Sielt ftagenb.
„’S fommen mehr heim, all aulbleiben!"
„$a haft recht, Stanetc, bift ein ©’fcfjeitte, unb bie Hauptfach’ ift auch wfl»
baß ba! SEBürmte leben thut, ba miiffen’l bie 2J?e|jterteuf abfaufen." Sielt tröffet
fich mit bem ©ebanfen.
„Sumpet finb bie nit!" erwibert Staue unb fteht auf.
,,©räm’ bi nit, bift nit bie erft’ unb nit bie tejjt’", ruft fie bem Stäbchen $u
unb geht mit bem Sielt hinaul, unb bal froftige atte SBeibtein achtet nicht bei
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Sdrbclc.
329
eifigen SSBinbeS, es hält braunen nod) einen ©djwa^ mit SflüHerS SRaite, bie b«ut
bie jfjerabtaffung felbet ift.
Särbele Ijat ficb nic^t gerührt; SieSl bat ben guten ft'affec enbticb allein gc=
trunlen. Um bie Dämmerjeit tritt Stntonete in« £>au3.
„0, baS ift recht", fagt SieSl; et achtet aber gar nicht barauf, bafj fic eine
lange ©rjäbtung beginnen Witt, fonbern gebt ju Särbcte.
„@<ban auf, lag bie Senf fcbwäfcen, SWäbele, braucbft fie nit. 3 fenn’ ben
ftonrab, ber ift treu unb redtitfcbaffen."
3um erfteu mal feit bem SDtorgen fpridjt Särbcle.
„DaS weijj i, Stntonete; fag’ ffir mir lieber, bafj i ibn fieser mieberlrieg’ aus
bem mörberifdjen ©eme^ct heraus."
„DaS ftebt in ©otteS £>aub, Dirnbt!"
„3e&t fann i nit beten", flüftert ©ärbete, „i finb’ fein Sott in mein’ S’opf!"
„Serben febon Wieberfontmen."
Stntonete fefct fidf gebulbig neben fie auf bie Dfenbanf; er bat beute feine
®<betje unb feine langen Sieben. SieSl bringt baS Siebt unb ifjt heimlich üon
Slane’s SBrejet ©tüd um ©tüd. (53 ift ftürmifeb geworben braufjen, SBinbftöfjc
beulen um baS $au3.
tßtöfelicb fpringt ©ärbele empor unb fajjt na<b beS Keinen SJianneS |»aub.
„3 weif} etwas!"
„Sagt* i’S nit?" entgegnet ber.
„Reifen foüft, Stntonete!"
„©ewig, Särbele, fo gewif} i’S fann."
DaS SDtäbeben wirft ben Äopf mit ber febweren ^aarmaffe jurüd.
„Droben im ©djtof} haben fie baüon gerebt, bafj ber $err Sientenaut junt
Urlaub fommen müfjt’, baber, ju feiner grau — i witt’S aitberS! ©ebreib’ bem
$onrab" — ba ftodt fie.
„SBeifi er’S nit?"
„Sie follt’ er’S!" fagt bas erglübeitbe ©ärbete, „aber nun muff er’S wiffen.
Unb weit er brat) gewefen ift, ba bei bem SJiejiereS, fo follen fte ibn beintlaffeit,
für ein paar Dag’ nur — unb ibnt bie Grlautmif} geben, fein ebelidj SSeib aus
mir ju maiben. (£r foü’S feinem SBorgefejjteu fagen; am 10. gebruar, ba
Wirb er audb boUjäbrig. Stntonete", febreit cS ptöfjtid) auf, „i mein’, es fann
nimmer fehlen! ©o einem brauen ©otbaten geben fic febon einmat fein’ Sitten
— unb ber #err Sicutenant, ber weiß, wie wir gewartet haben, ber fann audb
für ihn fpreeben."
Stntonete ift aufgefprungen unb fährt mit feinen Keinen Sinnen in ber Snft
herum.
„SWäbete, SDiäbete, was baft bir ba in beinern Stopf auSbenft! ®ar nit uw
recht iffS; i mein’ auch, ’S fann nit febten, unb i will gteidj beinern ©d)nb
fchreiben, unb ber $err Reifer, ber fott mir ein ©efud) machen."
„0 bu mein $err 3«fuS, wirb er baS jefcttbun?" fagt bas 27?äb<ben f^ii^tcru.
„@rab erft, ber ift ein Reifer, wie er fein fott!" ruft Stntonete unb ift febou
an ber Db*W» Slber er fommt noch einmat jurüd.
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330
Unfere 5«tt.
„Stutb, ©ärbele, nur Stutl)!" Uiib er brüdt ißm bie £wnb.
Unb Stutb fommt mieber über ba« Stäbchen; e« flicht feine 3öpfe auf unb
bertäßt feine Ofenban!; auch ba« ©ffen weift e« nicht mehr jurüd.
„Za« ift bie Hauptfach’ jefft", fagt fließt, „nur benfen, baß bir nij Ungute«
antt)uft, — bie Stefclerleut’ müffen auf alle 3511’ einen guten ©affen jaljlen."
XV.
3a, ba« ©ärbele braucht Stutb, fdjon bie nä$ften Zage jeigen e« Mieber,
unb bureß ben ganzen 3anuarmonb geht außer ben Sorgen, bie ei um ficb unb
feine gufunft bat, noch eine anbere fernere fyet: bai fitautlie«l bat ficb an ber
Sungenentjünbung aufZob unb fieben gelegt. Zer ärjt muß oft naebfeben; benn
£ie«r« Zßee hilft f)tec nicht, bie Stebicinflafcben fteben aneinanbergereibt, ©ärbele
lommt ju feinem Slu«ruben. Stiemanb fümmert ftcb um e«, al« ba« Sntonele
unb ber Reifer. Zer ift nun jtoar an ba« ftranfenbett ber £ie«l getreten, aber
nebenher bat er auch ba« gebeugte ©ärbele aufauriebten getourt mit fdjflnem Zroft=
fprueb — unb bom Schreiberle weiß ba« Stäbchen, baß ein warme« ©efueß au«
feiner $anb ßerborgegangen ift.
Za« Schloßgut bat ©ärbele nicht mieber betreten; e« lebt non ben Manien
©ufben, mit benen in ber Zafche e« einmal $u bem ftonrab bat fommen Wollen;
eine Sflde in biefelben haben fdjon bie Ausgaben gemacht für all ba«, ma« e«
bem Schab ^initbergefanbt bat, unb ba« er nicht einmal fämmtlich befommen.
Sun fdjwinben bie ©elbftüde rafch, unb ber lebte Jänner ift’«, ba Midt ©ärbele
auch auf ben lebten ©nlben — jufäöig ftebt e« am §interfenfter bor bem bürten
Styrtenftödchen.'
„Sich bu — bu bift auch berborrt", fagt e« unb faßt nach ben ©lättero, bie
Wie ©utoer unter ber ©erübrung jerflieben. „3a, woju bätt’ i bi auch noch be=
gießen fotten!"
„©ärbele!"
Za« ift bem Stntonele feine milbe Stimme, e« brebt fich um unb reicht ihm
bie #anb.
„SBeißt, juweilen ben!’ i, bu bift juft Wie ein ©ater gegen nti!"
©in tiefer Seufjer lommt au« be« Stämmen« ©ruft, bann beutet er nach bem
äBobnraum.
„S8ie ift’« ba herinnen?"
„©effer, fagt ber Zoctor. Stur ©orficht braucht’« noch."
Stntonele nidt; ©orficht will er auch jefft üben, barum fragt er, mit ben
Slugen jwinlernb:
„SBenn i nun auch wa« Angenehme« ju fagen müßt’?"
„O quäl’ mi nit!" ruft ba« Stäbchen flebenb, „i brauch'« fo!"
„So magft gleich wiffen, «’ift Stachricht oom Jfonrab, nur ein paar SBort’,
aber —"
„Sag’ fie, fag’ fie bod^I"
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öärbele.
33 \
Sin f^mujiger gefeen Rapier ift e«, batauf fteJ>t: „Xröff mein üRäbele, guten
SWutf) fotl’« fjaben! ’S tarnt 1jalt nit rneljr lang' bauern mit bem fafrifd^en ©ct-
fort, unb ba wirb’« mit bem Urlaub nit f elften. Ser $err Sieutenant meinte.
Sei bem etenbigen Sotf ißerroufe am 22. 3>änner, ba fiaben Wir’« fyart gehabt
unb i bin befonber« belobt. Sröft’ mir ba« Sirnbl, e« foH nit üerjageit."
Sin jaudjjenbcr Saut lommt au« ber gequälten ©ruft Särbele’«.
„“Kd), wenn i’« glauben bürft’!"
„91a freilief)!"
Sann jiefjt e« ba« Slntoitele jur Xfjür hinein.
„Sie«l, er lommt, er fjofff« — e« lanit nodj alle« gut werben."
Sie Sitte faltet bie Ijagera $änbe.
„Sa« tf)ut beffer, wie bem Soctor feine üliebicin, baß i fo wa« f)ör’. SBeißt,
wonach i mi fernen tljät? 9tadj ein’ guten Sdjöpple 2Bein —"
„8ie«t, ba« barfft nimmer —"
„Si Wa«, i Weiß, Wa« mir gut tfjun müßt’ — aber’« Selb langt Wo! nit."
’S Selb! Särbele fenft ben Sopf, weit langt’« nid)t rneljr. S« wenbet fid)
ab; wie teidjtfinnig e« gewefen ift, barüber niefit naefjjubenfen, wa« werben foll,
wenn fein 9tottjpfennig jufammengefdjmoljen ift.
„SoUft bein’ SBein f)aben, £ie«l!"
Sraußen fieljt e« mit feuerten Stugen ben Schreibet an.
„3 möd)t’ etwa« fragen — weißt mir lein Käufer ba für mein §äuöle?
S’ift ju Weitläufig für ba« Sie«! unb midj, Wir lönnen’« enger brauchen." S«
fjat bodj nadj einem fe^itflie^en Srunb fud^ett müffen.
„Särbele, ift'« um Selb, baß ba« fagft?" Sörmlidj jornig brauft e« auf.
„3 mein’, i f)ab’ ben Srunb fdjon »orbradjt. Sa« Stühle an ber anbern
Seif, ba« ift mir grab’ unnüfc. SBir fdjlüpfen fefjon wo im Sorf unter, ba«
Sie«! unb icf), wenn i’« berlauf’. 9M)tnen wirb un« fefjon einer — unb etwa«
ift ba« £>äu«le immer wert!)."
Slnton nieft.
„Sinen Säufer weiß i!"
„So lauf!" brängt Särbele.
Ser Sdjreiber lacljt über if)re Sile.
„Soll ifjn unb bie deugen Wo! gleich bringen?"
„3e efjer, je beffer" — unb fic fefilägt bie Slugen nieber, „i möefjt' nit über
bie Straßen bafür gefjn."
„SoUft auefj nit."
Sann trabt er burefj ben Schnee, hinter ben Sluffjäufuugen ragt nur noefj
feine ißeljmüfce fjerbor.
„9lein", fagt ba« Sie«! unb rieftet fict) in feinem Sette in bie $öfj’, „nun
füljl’ i’« beutlicfj, baß i nodj einmal baüonlommen bin. Drbentliefj träftig bin i."
„SoUft auefj bein’ SBein fiaben; i wart' nur auf« Stmmierl, ba« lauft feijon
bie ganje 8«*t Ijer für mi unb i fjab’m ein fßaar Strümpf bafür berfproeßen."
Saum jwei Stunben finb um, ba poefjt ber 9tnton braußen; bie Stinte will
feinen $&nben, bie er nidjt frei Ijat, nit£»t naefjgeben.
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332
Unfcre ^cit.
2118 ©ärbele geöffnet bat, fdjüttelt er bcu Sdjnee non ben Sputtern.
„9lun, 3RäbeIe, mal fagft, menn i bir bie lafc^eu bolt ©elb bring' unb ein
©ontract, ben bu nur fo gu unterf(^reiben braudjft — toeifjt, ein’ (Schrift ift’l,
bie’l feft macht mit fo einem ©erlauf!"
„®i", autmortet ©ärbele, „menit’l einem fo ©il’ ift, ba fann man hoch gehn
mit bem, mal i forber’!"
„©ernifj", nicft ber 2luton unb geigt auf eine auf bem ©cbriftftücf, „ift’8
bodj genug?"
„Su meine ®üt’, biel fyöfytt, all el ber ©ater felig gefdjäbt Ijat, all el uotf)
nimmer baufällig mar."
„Unterfdjreib’!" fagt ber 2tnton unb tjolt fein Xintenfafj ^eraul, bal er bor=
forglicb aul bent ©apicr roicfelt; beim bort, mobin er gu fommen pflegt, ift’8 ftetl
mit ben ©djreibutenftlien fd^tec^t befteUt. ©ärbele malt feinen -Kanten bebäebtig
bin unb biieft fi<b nach bem ©oben unb fireut ©anb barauf unb febtägt bann bal
©apier um.
„SBer b«*’ 0 benn itu au<b, bal liebe alte #äulle? 2lnton ©cböttle" lieft’!
unb (äfft bal ©apier fallen unb febtägt bie $änbe gufammen unb ringt nach fttbem.
„Su, 2lntonclc? unb bal fagft je^t erft? Unb gabtt’l fo übermäßig — unb mogu
brauebft bu auch ein £aul?"
„3e, o je!" ruft Siell.
,,$ab’ immer ein! gemollt", antmortet ber Heine ÜJlann berlegett, „unb biel
hier ift mir gerab reibt.
„Unb miHft gleich eingiebn?"
„3uft im SBinter?" (acht er. „0 Sröpfle, ba oerlab t mein marm’l Unter-
ftblupfle nit."
Kun erft ift’8 bem SJiäb^en Har oor Äugen.
„0 bu, bu, bal b a ft für mi tban, blol bamit i nit Kotb leib — o bu
©utcr bu!"
©r bulbet el nicht einmal, baff fie feine £anb fajjt, fonberit giebt ben ©elb»
beutet unb gäbtt emfig bie ©ulben auf ben Sif<b. SDtübfam genug bat er fie ber=
bient, aber et bängt nicht baran.
©ärbele fließen bie Spanen über bie SBangen.
„SBer bir’l gut ntadben fönnt’ ba, auf ber ©teil’! Unb nimmer miß i’l ber*
geffen — unb menn ber ®onrab erft fommt ..."
„Ser fann’l meinetbalb riiefgängig machen", fagt 2lnton, „aber nur ber."
„0 bu!" ruft bal SDtäbcben noch einmal beß auff^lucbgenb, „i bab’, mie i in
©tudfert mar, ein fo lieb’l, ^ergig’S ©ilb bon unferm $erm ©briftul gefeben,
unb mie bu jefjt fo baftebft unb mi freunblicb anfebauft — i mein’, ba gteicbft
ibm gang."
„®inl meifj i no<b gu fagen", ruft ber Slnton, all er fi<b febnefl ihrem San!
unb ben fjreubenlamentationen bei Sielt entgegen bat; „ba unten auf bem 2Refcler=
bof fangen fie jefct auch an, 2Wenfcben gu merben. Ser Sorg bat feine ©oefigfeit
gur Hälfte oerlorcn unb miß nij mehr bon einem ©rocefj miffen. @r ift gang
gut auf bie Iperrfcbaft gu fprecbeit, meil ber Lieutenant fo arg biel Kübmenl bon
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Bärbcle.
335
bem Äonrab madjt. «$ag Slctternljerz ift nun bocC> getroffen», fogt ber £>err
Reifer, unb trau’ bu nur weiter, ©ärbele, audj bein’ 3«*t fommt. 3 crtcb’g!"
2>eg SDtäbcfjeng Slugcn finb nocf» immer itafj, nadjbem bag Stntonele tauge ge
gangen; cg meint fic^ gut, wenn man’g aug greubigfeit tfjut.
XVI.
„©ottfieb beim ©turnt am 8. gebruar eine Äuget in bie ©djutter ermatten,
ui(t)t febenggefäfjrticfj, in befter pflege. Unteroffizier SDteßfer ferner bermunbet."
©o iffg nadj ber ©tabt gefommen bon bent ©djmiegerfofjn beg Sarong Setten
unb audj ing ®orf, unb ber görfter f)at eg abgefdjrieben, wag ber Xetegrapfj
fierübergetragen f)at, unb fteljt in ber 2Bof)nftube int Sföejjlerfiaug, wo ber Sauer
eben feine Slugcn auf bag ©apier gerietet fjätt.
?fber er Wifdjt jeßt über biefetben, eg ift ein hiebet ba, ber nicf)t fort Witt.
„Seft Sffjr mir’g mal bor, görfter, genau mie’g baftefit,' baß mein Önb’ Unter*
Offizier worben ift — Weit —"
„ga, teft’g nur, juft wie’g Waßr ift", fefct bie ©äuerin fiinzu unb fteljt an
ifjrer Äriicfe auf, wie wenn in ber Äirdje bag ©battgeliunt beriefen Wirb.
©twag tontog fommt cg bon beg SKantteg Sippen, unb atg ber fnappe gnljatt
berftungen ift, fügt er fjinztt:
„©orgt ©udj nit, er fjat eine gute Statur, ber Äonrab."
„35ie meine", antwortet ber ©auer, atg müffe bag befonbcrg träft eit; bann
ift’g ftill big auf bie ftetg ifjr einförmig ©eräufd) madjettbc Uf|r; feiner bewegt
ftdj bont gtecf, Weber ber ©oft nocf) bie §augteute.
©twag Unfjeimtidjeg ift für ben görfter in biefer 9?uf)e ber Stettern, bercn
einzigeg Äinb tobwunb im frentbett Sanbe liegt.
®ie Säuerin ift bann bie erfte, weldje fpridjt:
,fS8tg, fc^Wer berWunbet fjeißt’g ja! 2Bag tfjut aUc @f)r’ babei? Unb i frag’
mi nur, womit fja&en wir bag berbient? ®ie anbern Äinber fjab’ i ber Steif)’ nadj
in ben ©arg legen müffen — unb ber ba, ben fdjießen fie mir zunid)t’ in bent
etenbigen granfreidj!"
2)er ©auer beißt bie Sippen unb wirft feine pfeife auf ben Sifdj; ber Äopf,
Worauf ein rott)bäcfigeg SJläbdjengefidjt geprangt fjat, zerbricht mit einem Äradj.
„SBitl tnat nadjbcnfen, Stane", antwortet er. „Stiemanb fjat ben Strmen mefir
tf)an, atg wir auf bem SRejjtcrljof, unb Wittert f>ab’ i nit mit mei’m ©etb unb
efjrtidj fjab’ i mi plagt bon friifi big fpät, bamit fidj mein ©inziger mal tüchtig
Warm in bie SBotT fefccn fönnt’, wärmer nocf), atg mir mein ©ater fetig bag
Steft zubereitet fiat. Unb nun fottft fefjen, nun wirbg et)’ nicfitg. Stuii liegt er
ba — uttb ..."
©in untcrbrücfter gtncfj. $)ic grau wanft an ifirer Ärüdc bem bunfelfteu
©ta& in bem $immer zu unb fefct fid) bort zufammengefauert f)in unb bticft auf
bie Weißen liefen. 2lfg @djnau|erte fommt, bcrfdjeud)t fie iljtt mit einem ©djtagc.
„3ft’g fd)on int 0rt ^erum? ©twa beim Dcßfcnmirtt) uttb bem Reifer?" fragt
3örg SJtcfcter.
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Unfere ^it.
33<*
„3$ hob’ es (Sud) juerft fagen woBen, ben Heitern", antwortet ber görfter
unwiBig. „Huf bem #of mögen’S einige »iffen uub ber Bote auch wol. Unb
nun — grfifj’ Sott!"
68 brängt iljn, au8 ber eifigen Suft ju tommen.
„SBartet einmal, i geh’ mit", fagt ber Bauer unb faßt ttadj feinem »armen
SRocf. „SBifl’S ba Verüben ju w iffen tf;un unb auch bem Reifer, S’ift ©djulbigteit
unb jteht \d)Ud)t au8, toenn’8 anbcre im ®orf herumgetragen."
J)em görfter, ber fo gering bon ben grauenzimmern benft, hat plöfclich etwas
wie eine ffirfcheinung, ein $aat brauner Hugen feljen ihn an — juft wie bie Sichter
bon einem Schmalthier — ad), wer mag’S bem armen SRäbel, bem Bärbele, wol
ju Wiffen tljun? SBenn er ein gutherziges grauenzimmer wüßte, baS es ihr auf
orbenttidje Spanier, nicht gleich fo mit einem Sdjrccfen beibrächtc — aber fetber —
nein, fie fing’ am ®nb’ an ju lamentiren, unb baS mag er erft recht nicht.
„3ttit bem Sohn bom Schloff zugleich niebergelegt", fpridjt ber Bauer bor
fidf hin» als fie braußen finb, „fieht juft fo aus, als wären fie gute Sameraben!"
„3)aS finb aße im ffrieg!" antwortet ber görfter.
$>er görg legt ihm bie #anb auf bie Schulter.
„Hm achten ift’S gewefen, heut ftcht ber zwölfte im Salenber, wie i borhin
noch flefehn hob’. ’S hot lang braucht mit Suter 9ta<hricht."
„$afür ift Krieg!"
„3 mein’ ja auch nur! Unb benft 3h r / bah ber Bub' noch om Seben ift?"
3)er görfter hot mehr als einmal fich in fchwerer Sefaljr befunben unb nicht
gezittert; er ift ftolz, ein Unerfcfjütterlicher zu fein — aber bor biefem Boter
graut’S ihn beinah-
„3 hob’ nit länger 8eit" — bomit läßt er ben Hlten flehen.
„So einer", fogt ber Bauer unb fdjout ihm berblüfft nach* „Sömtf auch
freunblicher fein, wenn man ein’ ganzen Ißroceß unb fein gutes Blecht bran gibt."
®ann geht er zu ißeter Stierle.
®er fifct juft beim Sd^öppte, wie immer, wenn er feine (Säfte hot.
„SBeißfS fchon, bie Bteuigfeit?"
„3 Weiß nif. Hber ba ift noch ein fßlafc unb auch ein SläSle."
3)er Bauer wehrt ab unb bleibt auch fteljen.
„Unteroffizier ift meiner!"
„$>a fchou’! Samtft ftolz fein!"
„3ft auch wein gleifch unb Blut! SBaS meinft, Wenn i in mein’ jungen 3afj*'
fo’n Stieg burchgemadjt hötf! £>e?"
„D ja!" fchmunzelt ißeter Stierle Aber fein SlaS hin.
„$aS foHf i benfen!" ruft ber Bauer. „Hber baS Bleft hoben’S noch nit, wie
ber görfter fagt, unb liegen nun fchon aB’ bie SUtonat baroor."
„Bla, wirb fchon fommen, foBf i fagen!"
„Sewiß!" 3örg Hehler ift fchon an ber Hpir, „Ihu’S nur beitten Säften
erzählen, was fftr’n brabcu Buben i hob’! Unb SinS noch, gefchoffen ift er auch
fchon wieber, wo, baS weil i noch nit. SCBirb man auch fchon erfahren."
®aS bringt fßeter Stierle hoch bom Stuhl empor.
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Bärbete.
335
„Strg betroffen?"
„?trg fcfeon!"
„9ta — ’S Wirb fdjon werben, mein’ i!" tröftet er. „@o mein’ i audj!" nnt=
wortet 3örg unb gefet weiter.
Der ©djultfeeiß wintt fdjon über bie Strafe.
„Stabe Seut’ aus unferm Ort, gelt? @o waS freut einen! Unb ©uerit fi'onrab
wirb’S nit anS SReffer gefen, feat eine gute Statur!"
„Die mein’!" ruft ber Sauer, ärgerlich, bafe eS ber ©djuftfeeife fefeon Weife,
unb er befdjteuiiigt feine ©eferitte, bafe er redjtjeitig jutn Reifer fommt.
Sor SRauefe fiefet er ben erft gar nidjt in feinem ©tubitjimmer bot bem ©efereib*
tifefe, bann macfet er einen Stafefufe, wie’S bie $errifdjen untereinanber tfeun.
,,®riife’ ®ott audj, §err Reifer!"
„8lfe, ber ®eorg 3Rejder! ©rüfe’ ®ott unb nefemt ben ©tuEjt ba. ©iefet man
©uefe einmal im ißfarrfeaus, baS ift ja fdjön!"
»3®/ £>err Reifer, eine neue ©efetaefet feaben fie gefangen bei bcnt Setfort,
Wa8 eine garftige geftung ift. Unb meiner ift fo brab geWefen, bafe er nun fdjon
Unteroffizier ift. ©inb ganj frifdje -Racfertdjten, eben im ©efetofe angetommen."
„@i, fiefe ba, fiefe ba! ®ratutir’", unb ber Reifer feäft bem Sauer bie £>anb
fein. „’© gefet ifem bodj gut, bem Äonrab?"
„®ut nun juft nit! Der £>err bon Setten ift (eiefet berwunbet unb ber $onrab
f efemer, baS ftefet in ber Depefdje."
„@o — o fo! SRun, ba hoffen Wir baS Sefte unb bertrauen auf bie feöcfeffe
§fitfe!" fagt ber Reifer bewegt.
„Stil’ bieweit! Äönnt’ mir ja aud) nimmer benfen, bafe bem Suben baS
Stergft’ pafferen follf."
©r füfeft bie fdjtanfe $anb beS ißfarrfeerrn auf feiner ©^utter.
„®ottbertrauen, ®eorg ältester — nidjt ©igenmädjtigfeit."
„3tun ja audj! Unb nun wirb er audj wot genug mitgefpielt feaben, unb Wenn
er feeif ift, feeintfontmen."
„hoffen wir, bafe er baS batb fanit. Da ift noefe eine bange ©eete im Dorf,
bie auf fein #eimfommen wartet."
„2fdj — grauenjimmergefefeiefeten", brummt ber Sauer.
„Die wartet, bafe er fommt unb feine ißfeidjt tljut als efertiefeer äRann! Unb
bie Heitern, ®eorg URefeler, bon benen erWarf iefe, bafe fee 3a unb Hmen bajn
fagen." ©treng fommt baS feerauS.
„Dfeo, fterr Reifet", ruft 38*9, ,,fo toeit ife’S benn bodj nodj nit. äRit bem
ißrocefe feab’ i mi geben, hiermit — ba will i mi bebenfen." ©r ftefet auf.
„8um ®uten bebenfen, mit ber grau jufantmen, @eorg SRefeler."
„Hefe, bie ift ärger als iefe!"
„Sergefet nidjt, bafe ©liefe jefet ber ©ofen ganj genommen Werben fanit — wie
wär’S, Wenn 3fer ©liefe gelobtet, bafe feine Sffiieberfeerfteflung ©uefe berföfent mit
ber $eiratfe?"
„3 feab’ juft früfeer baS ®egentfeeil gelobt."
Der Reifer fefeüttett ben Äopf, eS prallt alles ab. ©o gefet ber Satter. Stoefe
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336 Unfere <3ett.
einmal fo gerabe t»ätt er fich aber, fein gteifch unb ©lut hat fi<h ^erborget^an
unter ben anbern — bal ift i!jm red)t.
Stt§ er ^eimlommt, fifct bie Stüller’l 9tanc neben feiner grau, mitten im Gr=
jäljlen brin. Sie hören gar nid)t, baff er cintritt, fo eifrig finb bie beiben.
®ie feifige Stimme bei Stäbchenl fällt iljm pm erften mal auf — ’l fönnt’
auch ein wenig fünfter tf)un, bal Stanelc.
„3a, i Ijatt’ alfo juft ein ©efcfjqft auf bem Schlojjljofe. SBeijjt 2)obe, bie
Ä&recfjnung, mein ©ater fagt, feiner berftünb’ fid) beffer auf 3<>f)len ab* i —
unb fo fenbet er mi halt immer. Unb ba Ijab’ i’l gehört. Unb wie i nun Ijeim»
fomm’, eh' i mein ©efdjäft aulgeriditct fjab’, feh’ i juft nach bem ©ärbele fein
genfter, unb fc^aut aud) gerab heraul unb wirft ben Sräfien unb nichtlnufeigen
Sparen Wal in ben Schnee. So eine ©cttelbirn’! Unfereinl fällt fo Wal nit
ein — unb i frieg’u 3orn unb fomm’ ran unb fag’: «9?a, fprcij’ bi nit fo! Sotlft
auch lieber heuten, all bie Sparen füttern. 3 fäfi nimmer fo ba, Wenn mein
Sdjajj auf ben lob tag’!»
„2)a fdjaut’l mi an, fo recht boffärtig, als ljab’1 feine Silb’ berftanben, nun,
ba wucf)8 mir bie ©all’.
,,«3n beiner 2ag’ fotlft audj nit fo pm Staat ba^er fifcen!» ruf i, «unb Wer
wei|, wal jefct pr Stunb’ fd)on mit bem Sonrab ift, ber burd) beine Schulb
hinaulgetrieben worben ift in ben Stieg unb auf ben lob bcrfdjoffen ba liegt.
3m Sdjlojj ift bie Seuigfeit p hören, geb’ nur bin, wenn bu mir nit glauben willft.»
„9tun, ba tljut’l einen Schrei unb faßt prild unb i geb’ meiner SBeg’ unb
ma<b’ mein’ 9ted|nung mit mcin’nt ©ater. Unb nach einer SBeil’ fommt bal 2iell
unb fdjreit, i hätt’l ©ärbele umbracht, el tag’ noch immer ftarr unb fteif unb bie
SBeiber ringlumher laufen pfammeu, unb bal Scf|reiber=9lntonele hat wi Ijer*
gefcbimpft. Unb i bin nun b' cr — bal ift bie ©efchidjt’ bon bem 3»en, ben i
gehabt hob’."
„0 bu!" ruft ber ©auer, „bätt’ft auch nit järter anbringen fönnen — bie
arme 2irn’!"
„28a§?" antwortet bie grau unb ficht erftaunt auf. ,,©l jammert bi Wol
noch? Mab ift boch au allem Glcnb fchulb!"
„3a, ’l jammert mi!" antwortet ber ©auer.
„2>obe, ®obe!" fd^reit 9fane unb fdjlägt bie fpänbc bor ©erwunberung pfammen.
$ie grau richtet ft<h auf unb fagt f)ö^rtifc^ ; „9ta, tbuft bi am @nb’ noch pm
©uten bcbcnfen!"
„S’ift möglich", crwibert ber Sauer unb fdjlägt bie 2fm r f all er hinaul geht.
XVII.
„3tn Schloß ift ber jungen grau ihr Staun angefommen, ganj heil aul bem
Sricge! 2)ie fafrifchc gcftung f)at ihr 21)or aufgemacht, capitulirt, nennt man’l,
unb nun finb fie mit Suft ciitgcpgcu unb fönnen fich gut thun — unb wer bon
unfern 2eut’ Wal hören will, ber fott nur inl Schloß fommen, ba fteht ber §err
bon Dtittinghaul jebwebcm 9teb’ unb Slntwort."
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33ärbele.
33?
@o läuft'S um bie 3Jtitte beS gebtuar burdjS Dorf unb fommt au<tj burdfj
ber Satljrin nie trägen URunb an ben 3Jlefcler=©auer.
„SJleinft, i foH aucf) gefeit?" fragt er bie grau.
„©ift feiber bein |>err!" antwortet fie mürrifcfj; fie t»at feit beS SotjneS ©er»
wunbung feine gute Stimmung met)t.
„®S gräbt iljr bodj im 4?erjen, wenn fie’S aud) nit jetgt", fagen fi<fj bie ÜJlägbe.
Der ©auer bebenft fid) nodj ein SBeilcfjen unb geljt bann wirHicfj.
@r in§ Sdjlofj — es ift nie bagcwefen! „Slber", fagt er fidj immer unter»
tttegS, „fie tljun bodj fo gemein mit mein'm Äonrab, als Ijört’ et baju."
Der görfter füfirt iljn feiber hinauf, ja, er wirb wie ein |>errifdjer mit allen
Qtfjren empfangen. ®anj öerwunbert gudt er fidj auf bem Sorribor bie tägigen
SOtänner an unb ein leifeS Sachen judt um feine HRunbwinfel.
„Da broben finb weldfje", fagt er fidj, „bie finb bon ben ©ünbifdjen arg jer«
Hopft worben. Unb juft ben ba, ber mi fo fdjeu anfieljt, ben mag mein Urur»
©ljni geprügelt fiabcn."
Dann fommt er ins ßimmer, ba fifet bie Sdjlojjfrau; ein bisdjen oergrämt
ift fie geworben — aus Sorge Wol um ben Soljn, unb neben iljr fteljt ber Reifer
unb bort fifct baS junge ©aar beieinanber unb fjiilt fit^ an ben $änben unb blidt
juft wie ein ©rautpaar. Die jierlidje (Sfjrengarte — ja, fo feine ginger, fottf»’
ein feines ©efidjt — fie gefällt bem görg ganj auSneljmenb.
Der $err ©aron fteEjt auf unb reidjt iljm bie $anb.
„gljr wollt nadj Surem Sof)n fragen, bem braten Sonrab SKefcler!"
„Drum fomm’ i", antwortet ber £>ofbauer, „i f)ab’ ein’ greub’ gehabt, baS
barf i wo! fagen."
„Sa", nicft ber junge fperr, „Ijat fidfj braü gezeigt — unb nocf) meljr greube
werbet 3f) r jefct Ijaben, Ijört nur: baS ©iferne äreuj t/at er, fo gut wie mein
Sdjwager ©ottlieb!"
„DaS Ijat er!" antwortet Sörg, unb ein Säbeln jietjt über fein ©efidjt.
„Sfjr Wifjt, WaS baS bebeutet?"
„Db i’S weip!" antwortet gürg mit ©aterftotj. „O, WaS für ein ©u' ift er
bodj geworben — ja, baS ift ein’ greub’!"
Die Sdjlojjftau feufjt aus intern Seljnftulil herüber. „Slber baneben fteljt aud)
bie Sorge — wenn fie nur erft wieber genefen finb."
„SSBirb fd)on fommen!" ruft görg SDtefcler boll Suberfidjt, un p bann fpridfjt
et nodj mal oor fidj f)in: „DaS ©tferne Sireuj Ijat er audj friegt."
,,3df) fann nic^t berieten, bajj fein 3uftanb bebenHidj ift, weit bebenflidjer
als ber ©ottlieb’S!" fagt ber Offizier in beforgtem Don.
„2Bo Ijaben iljn benn bie fafrifdjeit granjofen berfdfjoffen?" ruft görg jornig.
„®r Ijat jwei kugeln, eine burd) bie Sunge, eine im Sc&enfel."
@S ift, als fönne ber ©auer baS nidjt gut Ijören.
„SBirb fidj fdjon machen", fagt er, „unb Ijat er nij aufgetragen — i mein’
für bie Jpeimat?" fefet er etwas berlegen Ijinju.
„gür feine ©raut — bajj fie hoffen fotl! gd) mödjt’S iljr feiber fagen, bittet er."
Die junge grau leljnt il)r ftöpfdien an bie Schulter beS ©alten.
Untere 3 eit. 1883. i. 22
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338
Unfere
„2Bifibafb, idj Will aud) }u iljr — mit bir unb fie tröften. 5)a8 arme, orme
9Jtäbd)en! 28ie gtüdlid) bin idj" — fie ftocft, bem Sauer ift ba8 ein eigentfiümfid)
riifirfamer Sfnbfid, er fiefjt nur fdjeu herüber.
„3 mein’", fäfjrt er bann faft jagfjaft fort, „f)at er für feinen ffiater nij
auftragen?"
2)er Reifer wedifelt einen raffen ©tief mit bem Saron unb fagt bann be=
jief)ung8botf: ,,©r fjofft, ba§ ba8 Sfefternfjerj jejjt berföfjnfidj ift. @r benft ba8
jebe ©tunbe auf feinem ©fynerjenSfager!"
„3a, ba8 Ijofft unb wünfdjt er", fällt ber junge Krieglmann jefct ein, bem
ein Serftänbnifs fommt, af8 if)tn ©fjrengarte nod) rafdj etwa« jugeftüftert.
2)er Sauer fiefjt auf feine rotten §anbe, wie grob bie finb — unb ba legt
fidj pfö^Itc^ eine Heine weifje §anb mit leifem $>ru<f barauf — bie junge Stau
ftef|t bor iljm. ?fdj unb fie fiat fo fanfte Sfugen toie be8 3<*rg fiiebfingStaube.
„Bafjt midj audj bitten, Sater SRefcfer; nefjrnt jefct jurücf, Wa8 3f)r gejagt
fjabt, unb ba8 Särbele af8 ©ure lodjter an!"
£>atb wohlgefällig, halb bertegen fdjaut ber Sauer in ba8 fieblidje ©efid)t;
er räubert fic^, efj’ er fpridjt.
„2lf8 maf, als (Sie flein waren, ba tarnen Sie aud) auf ben 9Refoferfjof",
fagt er, fo gut er’8 £>oc£)beutfcf| fann, „Wiffet ©ie’8 nodj, jung’ Sraufe?"
„Unb idj will wieber fommen unb aucf) bie Stau bitten, fo fang’, bi8 fie fidj
erweidjen fäfjt!" fd)meid)ett ba8 jarte SBefen.
2)em 3<*tg ift’« ganj fdjwinbefig.
„0f)o", ruft er, „wenn i will — nadjfier gibt’8 fein’ ©iitfprud)."
„So fagt Sa!" ruft ©fjrcngartc.
„3 fja&’u ©djtour tfjan —"
„0", fällt ber Pfarrer ein, „ber War täfterfidj unb ben fönnt 3§r gut matten",
unb bann jiefjt er ein ©apier au8 ber Xafd)e. „2J?adjt nur gute SDtiene, ©eorg
9Rejjfct — f)ier ift aud) bie ©rlaubnifj jur #eiratf|!"
„0 je, o je!" fagt ber Sauer.
Unb bann geljt Was 2Bmtber(idje8 mit ifjrn bor. 2lu8 bem Slebenjimmer tönt
pföfjfidj ein Ieifer ©efang, ba8 jüngfte ©djfojjfräutein ift e8; Sugenb bergifjt gar
feilet ben Kummer unb bie Sebljaftigfeit äufjert fief), wenn audj nur in einem
traurigen Siebe, enbfidj boefj.
SDtei SJtutter mag' mi net,
Unb fein ©dja| b on i net;
2ldj, warum fttrb i net,
2Ba$ tlju i bo?
fingt SJlafwine ben SOlägben nadj.
Sßenn bie SDtefeferin bagewefen wäre, fo hätte fie wieber an ben König ©auf
benfen müffen.
©8 gefjt wie ein SBetter über ba8 ^arte ©efid^t be8 Säuern, er Wifdjt mit
bem 2frm über bie ©tint.
„S)u mein Herrgott, man ift audj nimmer bon Stein", fagt er, „unb i benf’,
ö’ift mein ©injiger — ja, ba8 benf' i juft erft mit einem eigenen ©efitljf!"
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23ärbelc.
339
9locfj einmal liegen bie weifcen Singer auf feinen rotljen.
„SBir gehen alle jufammen jurn Särbele, gett?" Unb bont (hatten leibet auch
bie junge Stau feinen SBiberfpruch, fie fcfdüpft hinaus, um fich Warm ehtjuhütten.
©anj betroffen fifct ber Sauer auf feinem ©tut)!, auch ihm ift hier bie Suft ge=
prejjt, wie neulich bem Särbele.
„Sdf> hätte mich fcf)on früher um baS arme, oerjagenbe Ding flimmern fotten",
fagt ©Ijrengarte, ficf) felber leife anHagenb.
Unb bann fieljt fich ber Meiler Sörg oerwunbert nach ben Seuten um, bie
ifjn in ihre SERitte genommen hoben, Srau ©hrengarte am 2Irm beS ©atten, neben
il}m ber Reifer. @r ift wie im Draum unb trägt bodj ben Äopf hoch unb fagt
unterwegs jum Pfarrer:
„Das ©ferne S'reuj! ©ine gewaltige @h r ’! Sa, wir Schwaben haben uns
brab gehalten in ber ©chtadfjt, baS miiffen alle bezeugen. 0 mein Su’ —"
SBer juft im Dorf ben Buß fleht, ber Hilft ihm mit SerWunberung naifj.
„Sa, fdhaut nur", benft ber Sörg, „fo’n Suben, befj fann i mi wo! rühmen!"
Unb wie er an baS ©djtofj benft, ift’S ihm, als §aht er au<h einmal eine fo
fihwere Stüftung getragen wie bie gemalten Männer — aber nun ift fie abge¬
fallen — ihm ift gar leicht.
Die MütteoMane ftrecft ben ®of»f fo weit heraus, wie fie nur fann, unb fdhaut
mit ben Schielaugen gar Oerwunbert, wie bie oier bor bem ^äuSdfjen beS Sorbete
halt machen.
9tocfj einmal ttjut ber Sorg eine ©eitenwenbung.
„|>etr Reifer, hätt’ i nit erft mit mein’m SBeib reben fotten? SBir finb att’
bie Beit her fo eines ©inneS gewefen Wie nimmer im Seben."
äber ber Reifer täfelt fein, inbem er ben $of>f fcffüttett.
„Bu guten Gingen braucht’S nicht lang’ Sebentjeit! Kommt nur ba herein,
Shr feib bodh £err im f>auS, unb was Sh r beflhlieflt, muh ber grau recht fein?"
„5Ru, baS fottt’ i glauben!" ruft ber Sauer, fich in bie Sruft Werfenb.
„Unb ’S Wirb ihr lieb fein, Wer fagt auch, ob fie ficfj nicht lang’ im ftitten
gegrämt h at -"
grau ®hrengarte geht üorait, bie brei Männer fdjieben fich einer nach bem
anbern in bie fdhmate ^auSftur — erft ift es beängftigenb ftitt, bann geht bie
braune auf unb baS SieSt fomnit heraus. SBie eS bie Sornehmen fieht,
fdhridtt’S jufammen.
„Sa, bu mein ©ott! SBaS foll man mit alt’ ben Seut’ ba?" fragt’S unb läfjt
h&tftoS feine $äitbe finfen.
„SBo ift baS Särbete?" forfcht bie junge grau, „um baS fommen Wir!"
„Sa, bu meine ©üte, wo fott’S fein, baS arme Ding, ba herinnen in fein’m
Sett liegt’S unb teb’ nij uub gucft nur immer bie Heine Seich’ an. ©’ift auch
jum ©rbarmen! Der ©chred mit bem Stanele, feitbem h at ’S fich nit erholt unb
hat immer jammert unb biefe Stacht, wie’S in ben SWthen gewefen ift, tjofs pro»
ptjejeit, fein Konrab fei auch tobt. S hot’’ 5 gleich benft, bah baS SBürmte ju
früh unb nit tebig in bie SBett fommen tljät — nun brauchen auch bie Me|Ier=
teut’ nit ju jahlen."
22*
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3<$0 Unfere <5eit.
®ie brei fetien fic^ ratlos an; fjetgt e« b>er gefeit? ®er 3Wefcter*Souer faßt
an feinen Sopf — e« ift, feit er ba« Schloß betreten bat, fo bunt in bemfetben
bergegangen, baß er gar nicht toeiß, ob er if)n noch bat.
„®ie 2Rej}lerteut’", fagt er, „bie haben noch immer nach bem Wed>t tban,
ba foH feiner fommen unb e« anber« fagen."
StuS ber liefe, wo ber $erb ftebt, f(hiebt fich eine Weine ©eftalt bertoor, ber
©Treiber Stnton.
„ßie«t", fagt er, „bie ^errfdjaften bringen bem ©fabele gewiß nur ©ute«;
fotlteft fie eintaffen, e« mag fid) barüber etwa« getröften. 3 b Q b’« notb nit feben
wollen“, fefct er biniu, „i bin nur ba, wenn’« ju taufen unb fpringen gibt, benn
ba« ßie«t bat feine flüchtigen ©eine mehr."
„3 bab’ ba« iReinfommen auch noch nit wehrt“, antwortet ßie«t in feiner
Unbebotfenbeit unb öffnet bie %f)üv.
grau ©brengarte gebt boran unb bem ©ett $u, bie anbern bleiben etwa« in
ber gerne, fo Wie’« ba« enge Simmerlcin juläßt.
„©fabele!" fagt bie fanfte Stimme nach einer SBeite. 2>a« SRäbcben b fl t
regung«to« bagetegen, oon ben braunen ßöpfen hängt ber eine bi« auf ben ©oben
herab, ba« ©eficht ift bleich unb einem Winjigeti anbern jugewenbet, ba« auf bem
linfen 9trme ruht.
ßangfam be&t ©ärbetc bie Slugen.
„Sich, 3br!"
„®u arme« ©ärbete", bie junge grau fämpft gewattfam mit ben Xfjeänen,
„bejWing’ beine Üraurigfeit, fchau’ midh an unb bie anbern, wir bringen bir alte
gute 9tachri<hten."
©ärbete ftreicbt mit ber {Rechten über ba« ©eficht ber fteinen ßeidje.
„9tit einmat bie Slugcit hat’« 9Räbete aufmad)t, baß i wiffen fonnt’, ob’« bem
Sonrab feine ober meine gehabt h fl t — unb fein’ Schrei h°t’« au«ftoßen! Unb
in all’ bem Jammer, ben i erbutbet hab’, i batt’ mi bodj barauf freut.“
„®a ift mein SRann", flüftert @h ren 9 a rte, „ber fommt au« bem Stieg unb
bringt bir ©rüße bon beinern Schah!“
$a« SWäbchen rietet fich ein wenig empor unb fießt ben fd)tanfen SRann an.
„©efunb unb heit» ja, ja — bafür feib 3b r ein ffiornebmer, benen gtücff«
eher. Unb ©uer Sinbte, ba« Wirb auch glücfticfj auf bie SBett fommen — unb
i neib’ e« nit, wahrhaftig nit", Wenbet fie fich an ©hrengarte, „3hr feib gut ju
mir gewefen."
„Sein Sourab“, fagt ber ©aron, „grüßt bi<b fchön, ©fabele, unb fottft SRutb
haben, feine SBunben beiten unb bann fommt er beim —"
„Unb“, fällt ber Reifer ein, „bann geb’ ich ®uch jufammen, fjiev ift bie
Schrift baju."
SRun läßt e« auch *>en ©auer nicht mehr fchloeigen.
„Unb eine luftige £>o<bseit fott’« fein, ba« fag’i, ber SKe^ler Sörg! Unb Wenn
mir einer brein reben wollt', bem will i’« fchoit flar machen, baß ein’ brabere
®irn ’« noch nit geben hat. Unb ba« SSürmle laß’ bi nit betrüben, Wirft anbere
haben, btifcfaubere" — er lächelt, er fießt Wahrhaftig ©nfet an feinen Spien
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Bärbele.
3«
emporfangen nadfj ben fitbernen knöpfen an feinem Sftotf nnb bet pfeife in
feinem SDiunb.
„Sie SEBett gefjt ju @runb’!" ruft SieSl, „baß einet baS erleben muß! S’ift
braö öon unfetm Herrgott, baß er mi nit fjat fterben taffen, baß i bieS erleben
tonnt’. Unb fjeut morgen, wie Ijab’ i ba erft gefjeutt!"
©ärbete fjat offne jebe ©ewegung bagetegen unb fie alte fpreitjen taffen; jeßt
jietjt ein fo trauriges ßädjetn um feinen SOiunb unb mit feiner fanften Stimme
fagt eS:
„3 mad)’ mein’ Sant für jebeä öon @ucfj, meinte gut! Sie §errfdfjaft unb
ber #err Reifer — unb erft ber 9fteßler=©auer. 3 tjütt’ fdjon gern ©ater $u ifjrn
gefagt, wemt’S Ijätf fein bürfen! Unfer lieber Herrgott toiU’ö anbers!"
9tun tommt aud) Stntouete fjeröor.
„0, bu liebes, gutes ©ärbete, öer^ag’ nit, bu ftirbft nit, gar gefunb unb frof)
foUft wieber werben!"
„3 fterb’ autlj nodfj nit, i bin gar nit fdjtoacfj", antwortet bas 9Jtäbdjen. Sie
junge grau tann bas fjerjjerreißenbe Sätteln nidjt feljen, fte ftüßt baS §aupt an
bie Schütter beS hatten.
©ärbete fjebt fidfj auf bem redjten 2trm empor, fobaß fie mit einem Slid alte
feljen tann.
„Stber mit bem Äonrab, ba tommt 3f)t i« fpät! Ser ift tobt — baS weiß i!"
„0, ©ärbete, reb’ fo nit!" rufen bie anbern.
„3u fpät — i Weiß!" nidft eS, „er ift bei unferm Herrgott im $immet, bei
mein’m guten ©aterle, unb ’S Äinble ift berweit auch fdfjon bort — i weiß es
genau. Siefe 9tadjt, ba fjab' i’S gefehlt, ’S war ÜKonbfcßein unb bie bürren Steff
öon ber Sinb’, bie fcfjauten burdiS genfter herein. Unb bann war auf einmal fo’n
gebirgig Sanb, unb barüber floß audfj baS 2Jtonblid|t, unb ba tag ber Äonrab unb
aus feinem $erjen floß ©tut unb auf feiner ©ruft btißt’S, fo’n btanteS Streuj.
@r tjat fic^ aufgeridjtet unb nod(j einmal mein’ tarnen gerufen unb bann ift’S
anberS tommen, ba tjat er mit bem ©aterle aus bem §immet gefdfjaut unb ge*
wartet, baß baS Äinbte aucfj tommt. Unb fo ift’S —"
Ser ©aron tritt ein wenig näfjer fjeran.
„©ärbete, wie idj bein’ Scfjafc öertaffen fjabe, tag er auf einem guten ©ett
unb ljatte feine forgtidje pflege."
„Stein", fagt baS ÜJtäbcfjen, „jur Stadfjt ift er tobt gewefen, rebet ttij brein."
3n ber ®de ftampft ber ©auer mit bem guß auf.
„3 teib’S nit — tobt folt er nit fein!"
Sie anbern müßten alte baS SDtäbdjen tröften unb wiffen bodj fein SBort feiner
geftigteit gegenüber; fie geljen tangfam fjinauS.
SBie fie braußen bie Sljür geöffnet tjaben, tommt ber görfter Ijeran, atljemtoS,
ein ißapier in ber $anb.
„9tun?" ftüftert ber Sieutenant, rafdj ju ifjm tretenb.
„Steljt fdfjtimm mit bem jungen §errn, ber Slrjt tetegrapfjirt’S — unb ber
fiourab Süteßfer ift tobt."
Sliemanb fagt einen Saut; ber ©auer ridjtet fic§ auf mit einer Äraftanftrengung
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3^2
Unfcre <Jeit.
uub bricht bann wieber wie in fi<h fetbft jufammen, unb ber Reifet fieht feine
<Sd^ttȊcfje unb fafjt iljn am Seme.
Sie«! unb Stnton geben pm Särbele hinein.
@« fdfjaut fte mit feinen gröfjer geworbenen Slugen an.
„Stun iff§ mir auch tieb, wenn 3h r bem Äinbte fein Stecht tljut unb e« auf
ben Sriebljof tragt — i fjab’ bie ©räber immer fo befonber« gern gehabt mit
ber meinen $ccf’, unb e« fc^neit ja heuer in einem fort.“
SieSt bat in ihrer laubbeit nur ba« SBort Friebljof gehört.
„Stein, mein Särbele, fdbau’, ber Herrgott bat mi nit gewollt, bu bift ihm
erft noch üiel p jung, bu ftirbft noch nit!"
„Stein, noch nit!“ antwortet ba« Stäbchen, „i füf)l’«, i leb’ noch- ©’ift al«
gäb’8 noch etwa« für mi p tbun ba heroben auf ber SBett — Wa«, weih i nimmer,
aber unfer Herrgott Wirb’« fdhort wiffen."
Unb bann faltet e« bie #änbe unb legt [ich pm Schlafen hin — unb wie
e« fdjtäft, trägt £ie«I leife ba« ßinbcfjen Ijinau« unb macht ihm mit bem Slntonete
au« einem ©djächtelein einen ©arg.
,,©o’n armer Xropf“, murmelt £ie«t babei, ,,ba« ift ba« Sfergft', bah bie
Stehlerleut’ nun nit pljlen miiffen, aber Sorg’ bab’ i genug brum gehabt.“
XVIII.
ffi« ift wieber Stai — bie Sieben blühen wieber, bie SBögel fingen, um bie
Slchatm grünt ein ©ürtel oon SSein unb Obftbäumen, unb grieben«flänge finb
bur^h bie beutfehen Sanbe gejogen, im Storben unb im ©üben.
„Salb fontmeu Unfre heim!“ 2>n« fagt mau in ©tabt unb Sanb mit frölj»
lieben ©eficl)tera.
Stu« bem ®orf, too ba« alte Scfjloh ber Freiherren bon Sielten unb ber Stehler*
bof ftehen, fommen nur jwei nicht wieber: ber junge Freiherr unb be« reichen
Sauer« ©oljn. Suft bie hat’« getroffen. Sw <Scf»lo§ trägt man ben Serlnft mit
wiirbiger Xranrigfeit; bie ©cfjloftfrau ift burclj ba« $rieg«gewiihl noch rechtzeitig
gefommen, um bem ©ot)n bie Slugen ppbrfiefen; an feiner Sabre ift fie pr
©reifin geworben. Frau C£f;reugnvte wiegt ein Sfnäblein auf ihren Sinnen; in«
|>au« be« Särbelc hat fie baffelbe einmal tragen taffen unb au« ben ungefdjicften
£>änben be« ftinbe« hat ba« bleiche SJtäbdjen eine ©abe empfangen: ein ber*
weifte« ©träufln bont ©rabe be« Äoitrab, gewöhnliche Felbblumen, Wie fie bie
gütige Statur auf ungepflegten ©rabftätten emporwuchern läht — ba« ift Särbete’«
Jpeitigthum.
Stuf bem Stefcterbof gibt e« feine gute ©tunbe mehr, fagen bie Stägbe. Sie
haben troh be« reichen Sohne« aufgefünbigt; bie Frau feift p fehr — unb auch
über beu Sauer ift fie jefct $err geworben, ben treibt fie mit ihrem Bora unb
©efdjwäh hi« unb her, fobafj er nirgenb« Sfeiben« hat.
Steuerlich ift bon Jrauer an be« Sonrab’« Sleltern nicht« p entbeefen; fie
arbeiten wie fonft, fie finb fo ftolj wie früher — nur ber Sauer fcfjeint manch»
mal nachbenflich werben p Wollen, bann ruft bie Säuerin: ,,2Ba« grübelft? |>a,
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23ärbele.
3tf3
'S benft bir Wot, Wie fo bu ein Sdhwadjtopf gewefen btft unb bein’nt ©ub aßen
SBiflen gelaffen haft. S<fjau, bafür lachen einmal beine ©rben."
9tane, ihr fßathfinb, iff biet mehr nod) um fie; macht bann ber SKefcler ein
<&effdEjt, fo jagt bie grau Ijötjnifdj: „fpaft auch bein’ Siebhaberei’n; mödfjt’3 nur
gefefin haben, Wie bu ju beS glöfferS $auS ’jogen bift mit ben £>etrifdjett! ©or
ber Sirn haft fcherwenjt."
„S’ift nit Wahr!"
„ßtit wahr ift'S? Sßachgeben h a ft, bift nur ju fpät bamit lommen. D bu
groffer, ftarler 9He{}ter=©auer!"
„9iit Wahr iff S, i tjab’ nit nadhgeben", ruft bann ber görg, als f^äme er
pdj; „fchau bodfj, bie Stcfiatm ftetjt nod) nit bor unferm |>of — unb bu Weifft bodfj,
was ber 2Jtej}Ier»8auer getobt hat"; aber er bringt baS fo unficfier bor, ats lerne
er baS Stottern in feinem flöten Sttter.
Sie 9tane fpric^t bann bon ihrem @etb, baS fidfj häuft, wie ©ruitbbimen im
Setter, unb baff fie jeben Sag freien tönnf, jeber woße fie gern jur Söhnerin.
„Stber i fann mi bon meiner Sobe nit trennen", fefct fie bann fjinp.
Sathrin fdhteidjt in ber testen Seit fdfjeu um bie grau herum; eS ift einmal
bämnterig geWefen unb bie SKefcterin muff gemeint fabelt, eg fei niemanb im
$auS; ba hat bie Sathrin etwas StrgeS gefeljen unb gehört
Sie ©äuerin hat bor einem alten Sramfaften auf iljren tränten Snien gelegen;
fie Ijat nie etwas umfommen Iaffen unb aßeS aufgehoben. Unb in biefem Saften
ba ffnb bie Spietgeräth bom Sonrab bringewefen unb feine Sinberanjüge.
©ins nach t*em anbem hat bie SDie^Iertn borgehott unb neben ficff auf ber
Siete auSgebreitet, unb geweint unb gefdfjtudjät hat fie baju unb bie tebtofen, jer»
brodhenen Singe geftreidfjelt, unb gerujen: „D mein ©u’, mein ©u’, mein einziges
Sonräbte, warum haft mir baS than unb bift beinern SDiütterte babon unb fommft
nimmer wieber!"
Sie Sathrin hat fidh gefürchtet unb ift hiwauSgetaufen. Später war bie
©äuerin juft wieber wie fonft auch unb hart, als fechte fie nichts an. Seitbem
aber §weifett baS Satljrinte, ob eS noch recht richtig im Sopf ber 2Jte|}Ierin ift,
unb hat boppette gurdfjt bor ihr unb jähtt bie Sage, bis es ben fpof bertäfft.
©inen Sag iffs jo ftürmifch gewefen, ats bredhe im grühting ber #erbft
herein; man hat brauffen nicht ftehen fönneit; ©tüten unb junge grüdjte finb
niebergefdhtagen unb bie $ofteute haben ihren innern Sani barüber gehabt.
9iane hat fo eine 2lrt bon greube, ben ju fchürcit; fie Ragt über jebe unreife
Sirfdje, bie herabfäßt.
„$atfs SKaut", ^errfc^t fie ber ©auer enbtich an, „bu bentft auch an weiter
«ij, ats wie man’S mehren fann, was man hat."
„Sft bodh Wot Pflicht", ruft bie Sirne fchnippifd). „§ab’S bon ben Steinigen
— unb Wenn i ©ure Söhnerin geworben war’, hätf i’S auch fo gehalten, grei»
ti<h, 3h r hattet ja bodh Wat nachgeben unb baS ©ärbele bon ber Straffen rein»
flefjott, wenn’S nit ju fpät gewefen war'."
„Schweig, fag’ i!"
„Sie Stane hat recht!" faßt bie üßtefcterin ein, „arg haft bi jum Spott ge»
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Unferc ^eit.
3W
macht. 9to<h heut’ reb’ man im Sorf babon, gebeult foOft haben, wie’n
finble !"
„3(1 nit wahr!"
„So Iügf« bie Särbet. 0, ba« SRäbele", (agt SRane, ,,ba« ^offättige Sing.
8« meint je|t, e« i(t (o gut mie bie Sdjlofjleut’ — unb tljut, at« ^att’S nur fo
in allen @^ren auf ben ßJtefclerhof fpajieren fönnen!"
„3ft bie Schuft» born Sauer!" tjöhnt bie Stau.
9tane tad^t fd^ritt. „3 erleb’« nodj, bafj ei hier an ber Pforten Dom HWefcCcr-
Ijof bettelt — ja, ba« erleb’ i —"
„Unb ba Wirb’« weggewiefen", fagt bie Säurin, „über meine Sdjweß’ tritt’«
nimmer!"
„0 ihr nidjtönufcigen 8Beib«teut’!" ruft 3örg unb fc^lägt erft mit ber Sauft
auf ben Sifch unb geljt bann hinau«. 8« wirb ihm ju arg — unb barum be=
fchtiefjt er in feinem trofcigen Sinn, bafj er morgen am Sag tjinau« miß unb
nach bem SWäbet feljen, ob ihm nichts abgeht. 3 a < ba« miß er, fo getoijl er ber
SD?e|ter=Sauer tjeijjt.
Sr geht auf ber Stur auf unb ab, wo recht« unb lint« ba« $eu hinter Ser-
ferlägen ift, unb raucht grimmig babei — ba mag ein Sunfen an einen Unrechten
Ort geflogen fein, ba« hat er hinterher felber gemeint.
Sie Stane ift nach #au«, bie Seute auf bem §ofe legen (ich früh; e« riecht
wo! rauchig, aber ba« fommt bon ber Sffe, benn ben boßen Sag über ift ber
Stauch ^erabgefplagen unb hat aße« erfüßt, S*ur unb Stuben.
Stoch nicht jeljn Uhr aber ift’«, ba get)t ein Schreien burch ba« Sorf: ber
SDtelferljof brennt an aßen @cfen, ba« SBohnhau« bon bom bi« hinten, unb ba«
Seuer ift fefjon Ijerübergefprungen nach ben Steuern unb Stäßen.
Sie SDtenfchen jammern, bie alte Sprifce raffelt, bie Spiere in ben Stäßen
brüßen, bie rottje £of)e ferlägt jum $immel unb ber Sßinb bläft fo luftig brein.
Sa« ganje Sorf läuft jufamnten, aße« ftagt unb aße loben e«, bafj ber SDtejjIer*
Ijof aßein -fleht, fonft Wäre ber Ort berloren.
Ser 2)tefcIer=Sauer gehört ja überbie« ju ben Sorfidjtigen unb bot gfle« hoch
berfidjert; bem tljut’« feinen Staben; wenn ei fdjon einen treffen foßte, fo ift’«
fo noch am bejten.
Unangefochten ftcljt ber Sauer im $of unb commanbirt: „Srft bie ißferb’!
Unb gebt auf bie Schafe Sicht, ba« Sieh läuft immer gern wieber jurücf in feinen
Stafl! Stdh, ba finb bie ^üh e fi<her herau«! Sreibt fie in ben Schlofihof! Ser
§err Sörfter nimmt ficb um bie ißferbe an — er fönnt’ nit mehr tbun, Wenn’«
feine eigenen wären! Sonner! Sa fliegt’« nach bem bürren $o!j — na, brenn',
Wenn’« nit anber« ift."
ftatljrin unb Sabette heulen um ihre $abe.
„Unb morgen moßten wir abjiehen!"
„SBo ift benn bie SDtefjIerin untergefchlupft —? Sa« lahme SBeib, ba« mag
arg berfdirocfen fein!" fagt eine Stau mitIeib«ooß.
„Sie aJtehlerin?"
„SBer hat bie 3Ke|Ierin gefehen?"
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Särbele.
3^5
„gefug, mein SBeib!" ruft ber Sauer, „bag ift mol gar noch gerinnen inbem
$aug!"
„Sie 2Re|terin — bie Säurin!"
„9Ja, memt’g nod) gerinnen ift, fo ift’g oertoren — ba hinein fann feiner!"
„SOiein SBeib! SBer ^olt’S?" ruft ber Sauer mie rafenb.
„3!" antmortet ba eine Stimme, unb mie ein SBinb fliegt eg ba^in, eine
meiblidje ©eftalt, unb ftürgt in bag §aug. Son bort ftingt eg jefct auch herüber
mie Sommerrufe burdjj bag ©erraffet unb ©ebraug.
„#ört il)r, bie Säurin b«t mol all bie 3eit laug fcfjott gefdjtieu, bafj einer
fommen möcbf!"
„Sie fommen beibe nit Ijerauä!"
„Still — ftitl!"
©ine fürchterliche Stille; gtoei galten ben Sauer, ber mit ben Sirmen um ficb
Wlägt.
„Sin mein Siel) Ijab’ i bacfjt unb nit an bag arme, .lahme SBeib."
©in paar grauen beten laut — ba fommt ein ©rtöfunggfdjrei aug bunbert
Kehlen. Smifc^en ben glommen, bie fdjott bie Sfoften ber Sbiir erfajjt hoben,
erfd^eint eine ©eftatt, bie eine anbere fdjleppenb mit fiel) führt. 9tun ftürjen bie
fieute Ijerbei unb nehmen bie Stane entgegen —
„3efu8, bu Särbele, ljaft bag get^an!" Sag ift nun ber Sdjrei ber Ser*
munberung.
„SBag ift ba berbei?" ftammelt bag äRäbdjett, unb als eg noch einige Stritte
meiter gegangen ift, finft eg ohnmächtig tjin.
„SBie brau, juft bag Särbele — bie SRane bot’g nit einmal jur Söbneriu
gemoflt."
Slber lang galten ficb bie Sorfleute nicht bei rüf)tfamen Scenen auf; fie Ijaben
nun mieber Sntereffe an bem Sranb unb bem geretteten Sieb-
Sie Säuerin mirb jum Dcbfenmirtb binübergetragen unb bag Sdfjreiberle müf)t
ficb um Särbele. ©g ferlägt auch halb bie Singen mieber auf.
„Sie mar noch ganj bei ficb in ber gtur", fagt eg, „nur ju tragen mar'g ein
biffel febmer."
„Unb beine Söpf finb t;atb abgebrannt — gut, bafj bu fie fo feft geflochten
baft, fonft mär’g ärger getoorben", meint ber Slnton.
„Sieb, mer bat ba bran noch greub’", ermibert bag SJtäbcben; bann gebt eg
beim; ber Slnton fott eg nicht geleiten, bag geuer leuchtet meit genug bin auf
feinen SBeg.
XIX.
Särbele fifct mit bem Siegl unb Slntonele unter ber Sinbe; acht Sage finb'g,
feitbem ber SOtefclerbof big auf ben ©runb betabgebrannt ift.
Slntonele erzählt feine Scherje, mie früher; eg mirb ibm fo fonberbar fdjrner,
aber Särbele lacljt, mie lang’ nicht.
„3 meifj nit, mir ift fo leicht!" Sag bat eg fdjon breimal beute gefagt.
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Unfere £eit.
3*6
SBemt bet rinton ganj in feine 9?ät|e lommt, bann f)ört ec bag Klopfen non
©ärbete’g #erjen, — bag !ann bodj nidjt gut tfjun, meint et im ftitten, unb fielet
befotgt auf beg ttttäbdjeng (Sefic^t.
„SBamt jief)ft benn in bein Säugte?" fragt bag je|t.
„©eorgii ift ootbei", fagt et Oeriegen, „aber halb."
„O mein!" ruft Siegt, „mag fommt benn baljer? Sag ift munbertidj!"
„@<fiau, ja!" meint audj rinton, unb mie fie alte näljer jufetjen, ba ift’g bie
SKejjterin, bie auf einem niebetn ©tuljl fi|t, ber auf einer Srage oon Oiet SRän*
netn gehalten mitb. Unb nebenher getjt bet ÜJtefcter 3örg, unb nun biegen fie
nad) ber Sinbe ein.
„©ierijer?" fragt bag Siegt bermunbert unb rneig fid) gar nidjt ju faffen.
„So, nun miß i abfteigen", commanbirt bie ©duerin unb lägt fic^ iljre
Brüden geben, unb bann tjumpett fie ju bem SJläbdjen Ijeran unb ftredt iljre bürte
tttedjte aug.
„Sirn, i, bie SWefcterin, tont nt’ ju bir, mein’ Sant ju matten!" fagt fie mit
bem gehörigen <Stotj.
Sag ©drbete mirb ganj rotlj.
„0, bag Ijätt’ nimmer notfjtf)an", antmortet eg unb menbet fidj jum Siegt.
„Sof audj beg SSaterg rirmftuljt für bie ©durin, barauf fifcfg gut."
„Sott), i tnug banten unb tjab’ audj ju bitten", fagt bie SJtane, „trag’g nit
nadj, Sirnl 3 fytttf ein’ ©dfmur tljan, bu fottft nimmer über bie @$mett’ bon
meinem #aug —"
Ser alte ©tuljt ift ba unb nun fefet fidj bie ©duerin oom SWefeterfjof auf beg
betasteten Slögetg Siebtinggfifc — bag ©drbete muff bag benten unb ein Sddjetn
ber ©enugtljuung fliegt über fein abgejeljrteg Seibenggefidjt.
„Unb", fäljrt bie ©duerin fort, „ba gibt’g ber Herrgott, bag i etenbigtidj ber»
tommen mär’ in ben Stammen, toäreft bu braoeg SJtäbete nit ljerübertreten über
bie fetbige SdjttriT! ®elj’, trag’g mir nimmer nad)!"
„®emig nit", ftüftert bag ©ärbele, „3fjr feib ja beg ffonrab’g SKutter!"
„Unb meljr motten mir fein", ruft 3örg SJtejjter, „bein ©ater unb SDtutter
audj — fS au / bag fiaben mir ung Ijeut nadj bem Äirdjgang getobt. Unferm
©üben jum rinbenten unb meit’g ifjrn im Stimmet brin audj mot nodj gefallen
lönnf. ©dj««, tu bie Äirdj’ fiat fid) bie 9tane taffen tragen unb baljer, ber
©djred ftedt itjr nodj in ben lahmen Sögen!"
„Unb brum", nimmt bie ©duerin mieber bag SBort, „fottft ju ung auf ben
$of tommen unb unfer ®inb fein — turj unb gut — fag' 3a unb fdjlag’ ein!"
@ie Ijätt it)re $anb Ijin, aber bag ©drbete legt bie feine nodj nidjt gteidj
gineiit; eg fieljt bie beiben ftotjeften Seute aug bem Ort mit jagenben ©tiden an,
unb bag traurige Sddjetn, metdjeg neutidj Sw« Gljreugarte fo feljr gerührt, fpielt
mieber um feine Sippen.'
„9?i| fott bi tränten, beiner rirmutt) fott teiner benten!" ruft ber ©auer.
„Unb ein’ guten Sag fottft tjaben", fällt bie Siedlerin mieber ein. „Sag
flanje Regiment — mir mirb’g ju fdjmer ofjnebieg!"
„Senn mir bauen ben SDtefcterfiof nun erft fdjöner auf!" beftätigt 3örg.
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Särbete.
3^7
„$tdj, Sötebterteuf", fagt baS SOtäbcben unb fiebt ficfi nach feinem Keinen £>aufe
um, „nebmfS nit für ungut — i miß nti bebenten."
Solch eine atme 3)im’ unb fief) bebenten! — Es ftebt bet Säuerin nicht recht
an; aber ©eorg SJtefeter ift nach bem lebten Erlebnif? mieber #err getoorben unb
batum nidft er mit bem Sopfe, eS mufj nach feinem SBißen geben.
„3)aS Särbete bat recht — es foU fid) bebenten. ’S mirb fdjon morgen tom=
men; ber Dcbfenmirtb bat und fein halbes £auS eingeräumt; jej}t trinten bie
©äff obnebied im ©arten, unb bis jum $erbft, ba ftebt ein neues £>auS auf
bem £of."
„D, bu ©tiidESmäbete bu", fagt SieSl mit feiner jitterigen Stimme.
33aS Kntonete nieft mit frobem Säbeln ju bem SEBort; Särbete aber faftt nach
ber Scbutter beS ÄrautlieSl.
„SBaS foflf benn ba heraus toerben, menn i ging’!"
,,3Wein’ 2Birtbf<bafterin, i jieb’ ins £>äuSte", ruft ber Schreiber, ber immer
für alles flftatb meifj.
Särbete ift ftiß. 9Run fdfjmaben fie noch b'n unb ber, über ben ffrieben unb
bie beurige Ernte unb bie SluSfidjten für ben £>erbft; bann miß bie Säuerin beim
unb fommt mieber auf bie Xrage. Siebter unb SRejjIerin reichen aßen unter ber
Stube bie £>änbe — fotcb eine Ehre ift bem SieSl fein lag' noch nidbt loiber=
fahren.
Särbete blieft bem fonberbaren 8ug nach; Slntonele fiebt, mie es immer ab*
tuecbfelnb rotb unb bteicb mirb — ja, hier mie auf bem Sett, mo’S bie 9ta<bri<bt
non ber Ertaubnijj jum ^eiratben befam, hätte mau fagen tönnen: früher mär’
beffer gemefen. Stber ben Schreiber freut es botb, bafj es noch fo tarn; bas Sär»
bete ift auf einmat aus feiner Strmutb b er auS.
Pöfetidb fängt baS $Dtäb<hen an ju fdbmanten.
„2Rir mirb fo eigen, bu, Stntonele, hilf mir einmat herein."
SBie’S ba ift, in feinem SonntagSftaat, legt eS fidb auf fein Sett.
„3 merb’ fei^tafen, bann gebt ber Schminbel boriiber", fagt’S unb tädbett baju.
®ie beiben Sitten fifcen fo recht behaglich unter ber Sittbe, ber Slbenb ift jn
fdbön, unb es läfjt fidb f° gut febmäbeu, mie es für baS Särbete bodb nun ein
©lücf noch getoorben ift.
„Unb menn’S bie Erbtochter ift Dom ÜReblerbof, ba friegfs immer noch ein’
SJlann, barauf oermett’ i mein’ Seet", fagt baS SieSt.
Eine ÜKacbtigaß feblägt in ber (ferne; bie Sitte hört baS nicht, aber baS
©dbreibertein freut es. ES benft au feine 3ugenb, unb baff es einmat ein @e*
bi<ht gemußt bat, morin es boit ßladfjtigaßen unb Siebe borfam, er bringt es aber
nicht mehr jufammen.
„3)u", fagt enbticb SieSt, „meiuft nit, i foß einmal nach bem SDiäbete fchauen."
„3 miß’S", fagt er, benn er benft, bie Sllte ftört es mit ihrem ©epotter;
enbticb geben fie beibe.
Stiß iffs im ßtaum, balbbunlel, unb ber Stnton meint, er hört nicht einmal
einen Sttbemjug.
„'S fdjtäft lang", flüftert bie Sitte.
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3^8
Unfere £t\\.
Sie warten; enbtidj jänbet ber Schreiber ein 2Bach#(ichttein an, ba# er in
ber lafche hat.
Stäket unb näher leuchtet ec bem Stäbchen in# ©eficßt, er faßt bie Keinen
$änbe an, ba# ©eficht —
„Sie#!", (ommt e# enblid) tief au# feiner Stuft tjerau#, „e# wacht nimmer
wieber auf — e# ijt im #imme(."
(Sr f<fjleicf)t fidj tierau#, er lann ben Sdjmera ber Sitten nidjt fehen; er geht
unter bie Sinbe unb (egt feinen grauen J?oj>f an ben garten Stamm — unb
föluchat (eife; bann büdt er fic^ nach ben SRefeba unb ©elboeigelein, bie bort
hinter ber Sinbe Mühen, er finbet fie in bem Iiämmerfidjt unb macht ein
Sträußchen; a(# er mieber hereintritt in ba# 3immer, fpricht Sie#! mit ber lobten.
„0 bu mein einaig’#, gut'# ©iäbele bu, nun brauchft nimmer auf ben 9Refeter°
hof, nun bift im Fimmel, gelt, ba ift’# arg gut — noch beffer! Sich, aber mi
haft allein (affen! Stich arm’#, alt'# SBeibele hot ber lob nit gewollt — unb
bi holt er."
Unb nun beugt fidj auch Slnton herüber unb fchiebt ben Strauß a^if^en bie
ftarren Singer, unb holt bie mellen ©lumen bon be# ftonrab’# ©rab au# ber
Xifchlabe unb legt fie baräber.
„©ift im Fimmel, ©Arbele!" flüftert er, bie taube Sie#l hört ba# ja nicht,
„bift broben! Sich, Wüßt’ i nur ein#: ob ba# Startete auch broben ift — unb
nit mehr in biefer fdjlechten, munberlichen SBelt! SBüßt’ i ba# nur."
XX.
®ie (Brüten finb heimgelommen; üiele hoben gejubett, biete getrauert.
3m $orf eraähten fidj bie Seute, baß nun bie Seiche be# jungen £>errn
bon ©eiten au# grantreich hertibergebradjt Werben foH. Sieben ber ®irdje ift ein
uralte# ©egräbniß ber gamilie, er aber foH feinen (Benfftein auf bem griebljof
haben.
(Ba# hört ber Stefcler oom DdjfenWirth, o(# er fteljt unb feinen Seubau
befichtigt.
„Oho"» fagt er, „wa# bie #errifchen lönnen, ba# lann ber Stefcler audj noch
für feinen (Sinaigen, ber fo brob getämpft hot."
Unb bann geht er aut 9tane.
„©lütter, i fahr 1 auch nein in grantreich unb hot’ mir ben ©üben, nub juft
fo’n (Benlmal foll er hoben, wie ber junge £err!"
„(Etju’ ba#", fagt bie ©äuerin, „e# ift bie lefcte ©fjrt für ihn — unb bie
lejjt’ ©flicht. Sille anbem hoben wir richtig gethan."
„®ewiß", antwortet ber 3örg, „fogar fein Stäbete hoben wir auf ben #of
nehmen wollen, alle SBelt weiß brum. SBa# lann man ba bafür, wenn e# fich
hinlegt unb ftirbt."
„(Brum", fagt bie ©äuerin.
Unb ©eorg ©legier reift noch ©etfort unb hott feine# Sohne# 9tefte, unb eine
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Bärbele.
349
feierliche Seiche machen fie im 3)orf, juft Wie Bei Bern £>emt Don Setten. Unb
genau fo foH ber ©raBftein werben; man Baut an Beiben SRuheftätten jugteich.
Siele ©räber fcfjieben fich jwifchen ben Slah, wo baS Särbele liegt, unb ben,
wohin man ben Sonrab gebettet. 9?ut Stntonele fieht etwas barin — eS ift Wie
bie #inberniffe, welche bie beiben im Seben nicht höben jufammenlommen taffen.
Sorbete hot ein winjigeS #reujchen ohne tarnen: baS hat ber Schreiber ge*
fd)ni|}t; au|er bem $tntonete befugt feiner fein ©rab; baS SieSt fommt nicht
mehr fo weit.
SBenn baS Heine graue SWännchen baS ißtäh<hen pflegt, mehr wie es ®orffitte
ift, unb giefjt unb pflanzt, fo benft es an baS Sieb bom bertaffenen SRägbtein,
welches baS Särbete immer fo gern gehabt h at — unb wie fonberbar ber tefcte
Sers palt:
Sab bie brei SRßSIt ftehn,
3Me an bem Jtreujte bfühn;
§ennt ihr baS SJläble femtt,
2)aS brünier liegt?
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unii EnfaUücrfidjmmg.
©ine ©fijje ber ncueften focialpoUtifchen ©orfchläge.
«on
- fiarl ©aret«.
@o Diel ift in ben jüngften lagen über Mtbeiteröerficherung, Haftpflicht, 3* 1 ’
baliben* unb 2llterSberforgung u. bgt. gefprochen unb gefcfjrieben worben, bah eS
bebenflich erfdjeint, auch in ben Staum, »eichen biefe Seitfdjrift bem SJteinungS»
auStaufch gewähren !ann, jenen Äampf ju übertragen, ber fich in ber lageSliteratur
bereits bielfeitig genug abfpiett. 2)abon aber hält fich meine Seher fern; nicht
eine ©treitfcljrift fott hier geliefert »erben, fonbem — »ie es einer „Sleutf^en
SRebue ber ©egenwart" jiemt unb auch mol obliegt — eine Ueberficht, wenn e$
gelingt, ein OrientirungSplan; möge fich bann jeher bie ©ofition felbet Wählen,
bie ihm bie haltbarfte, bie noth»enbig feftjuhattenbe erfcheint. $en Sufammcn«
hang, in welchem bie bieten unb wohlgemeinten ©orfdjläge unb Stnftatten unter»
einanber unb mit ber ©efdjichte, bor allen berjenigen ber ©efefegebung in ®eutf<h*
lanb, ftehen, thunlichft heejuftetlen, ein in ©runbjiigen entworfenes ©itb bes
statns controversiae, wie bie alten Quriften »ol fagten, aufjuftellen, bieS ift, lurj
gefagt, ber Sttecf, ben biefe Seilen berfolgen.
SBenn butch bie Seitungen bie ©djrecfenSfuttbe geht, bah ein fdjlagenbeS 28etter
hunbert brate ©ergleute gelobtet, eine ®ampf!effelejptofion ein $ujjenb fräftige
Sabrilarbeitcr jerfchmettert hat, bann erfaßt wol fdjaubernbeS SJtitleib jeben, ju
bem bie Stachricfjt gebrungen: ob fich aber auch jeher alle Solgen beS Unfalls
torftellen fann, ben ganzen Jammer, ber nun über bie Hütte hereinbricht, in bie
man ben berftümmelten Äörper beS SamilientaterS jurüdbringt, ber fie tor wenig
©tunben, ein fräftiger ©rnährer ber ©einen, froh terlaffen hat? Sticht baS Silit*
leib allein erheifdit hier einen ©ingriff ber ©efammtheit jur Hebung ber Stoth,
nicht minbet energifdj terlangt baS StedjtSgefühl unb bie Sicherheit beS Staates,
bah „etwas gefdjehe" jur Hebung ober Sinberung bes ©lenbS; unb jwar foH
biefeS ©twaS nicht ein ©orübergehenbeS fein, fonbent eine bauernbe ©inrichtung,
ein StechtSinftitut, baS gefdjaffen werbe, fei es, um ben Unternehmer, in beffen
$ienft ber Unfall fich ereignete, ju gänjlichem ober theilweifem „©chabenerfafc"
äu-jwingen („Haftpflicht“), fei es, um burdj ©ertljeilung beS finanjieUen ©dhabenS
auf tiele Söpfe, burcf) Slffecuranj („UnfaDterficherung"), bie Solflen beS Unfalls
erträglicher ju machen. 9luf bie ©jiftenj berartiger StechtSinftUute hat ber ben inbii*
ftrießen ©efahren auSgefefcte Arbeiter fowie bie ©efammtheit ein moralifcheS Stecht.
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Haftpflicht unb Unfallnerftcherung. 35 f
Stach fotd^en ©inridjtungen in ben SRedjtS» unb Gutturoerhältniffen beS After»
tljumS unb ©littetatterS ju formen, wirb mancher fär üergebtidjeS 23jun halten;
fehlte ja hoch biefen vergangenen Seiten bie ®ampfmafchine mit ihrer förbemben,
aber auch gefäljrbenben Kraft; fehlte ihnen ja bodj ber ©rofjbetrieb, bie ©taffen»
arbeit, baS tiefenhafte ©iafdjinenwefen, altes $inge, bie, toie fie bie fßrobuction
mächtig auSbeljnen, fo auch bie ©efährtidfjteit beS SetriebeS bis faft hart an bie
©renje jwifchen ©tenfchtidjteit unb Unmenfchtichfeit oergröfjerol
$ennocfj hatte fctjon baS ©tittelatter StechtSanftalten, welche ben Stoecf ber
Unfallberficherung verfolgten; baS Sunftwefen bot (Einrichtungen unb ©littet hierju;
ja, in ber ©litte beS 14. gahrhunberts »erben bie erften ©puren fetbftänbiger
Arbeiteraffociationen bemerfbar, bie fogenannten Sruberfcfjaften, benen neben
anberm auch bie ©orge für ertrantte ©efeflen beS HanbtoerfS am Herren tag.
Unb ©ine tßrobuctionSart gibt ei, in »etcher ber ©rofjbetrieb alt, uratt ift;
gerabe in biefer ift auch bie Unfallberficherung uratt, »ie fie fetbft: im Sergbau
»irb »ot am frütjeften — neben bem Kriege — ©laffenarbcit geteiftet, ©taffen»
gefahr herauSgeforbert unb am früheften auch bie ©orge, le^terer ju begegnen, rege
geworben fein. SBenigftenS täfjt bie mertwürbige Sronjetafet, bie man im Bahre
1876 im Kupferbergwert bei Aljuftret (Portugal) fanb, einen Schluff auf ben
Umfang ju, in Welchem eine faifertich römifche SergWertSVerWaltung in ber jweiten
Hälfte bei 1. BahrhunbertS n. ©h r - für baS förperliche SEBohl ber Arbeiter forgte:
benn fetbft bie Söafferhötje in ben für bie Sergtnappen beftimmten Säbern war
feftgefefct unb für bai Stafiren unb Kleiberreinigen ©orge getragen burch biefeS
Fragment ättefter Sergorbnung, ber lex metalli Vipascensis im Settentanbe jWifdjen
bem ©uabiaita unb bem Dcean. Unb burdh baS ganje ©tittetatter hin bis auf
unfere Jage herab ift ber Sergbau ber Präger ber Bbee ber SebenS» unb Unfall»
vetfidjerung, ber ArbeiterVerfidjerung unb ber Haftpflicht beS Unternehmers, beS
affecuranjmäfjigen SufammenWirtenS oon Arbeitgebern unb Arbeitnehmern: wie
bie HanbwertSmeifter unb HanbWertSgefellen ju ben Seiten beS ftrengften S«nft»
jWangeS geeint waren in ihren Sänften unb Sruberfchaften, fo waren eS bie Serg»
arbeitet in ben Knappfdjaften, unb biefen tarn bie Unterftiifcung ber Krauten,
BnOatiben, Sßitwen unb SGSaifen ju; in alten Sergrevieren beftanben biefe fociat
ungemein wichtigen Sereine, örtlich begrenjt, in ßartettoerbänben bereinigt unb
mit UnterftüfcungSfaffen (Knappfchaftslaffen) auögerüftct, in welche ber Sergfnappe
Soljnantheite, ©trafpfennige u. f. w. ju tegen hotte; aber auch bie SergWertS»
eigenthümer ober bie ©ewerten mufften §ur „Srubertabe" ber Knappfdfjaft Seiträge
teiften, in gorm boit greifujen ober fonftwie; bafür theitten fich ober auch in bie
Sermattung ber Kaffe bie Arbeiter unb bie SergwerfStjerren. ©lit biefen (Eigen»
thümtichteiten erhielten fich &ie Knappfchaften unb bie KnappfchaftSfaffen in alten
bergbautreibenben ©egenben S)eutfchtanbS bis auf bie neuefte Seit herab, in welcher
fie eine genaue gefefclidfe Siegelung fanben, inSbefonbere burch *>“3 preuffifche Serg»
gefefc Dom 3<*h te 1865 unb burch bie bemfetben nachgebitbeten ©efefce anberer
beutfdfen Staaten.
liefen ©efefeen entfprechenb h«t jebet Knappfdfaftsverein feinen vollberechtigten
©litgtiebern beftimmte Seiftungen ju gewähren: in KrantheitSfätten freie Sur unb
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352
Unfcte .Jett.
Strjnei, bei einer offne eigene« grobe« ©erfdfjulben be« Snappen entftanbenen Sranf*
beit auch einen entfprechenben Sranfenlolin; bei einer offne grobe« ©erfdffutben
eingetretenen Strbeifc&unfäffiflfrit eine feben«töngtid^e Snoalibenunterftüjfung; bei
Xobe«fäHen einen Beitrag ju ben ©egräbnifffoften ber SRitgtieber unb Önoaliben,
ferner eine Unterftüfeung ber Sßitwe auf 2eben«jeit, bejielfung«weife bi« jur etwaigen
SBieberoerffeirathung unb eine Unterftüfcung jur ©rjiefjung ber Sinber berftorbener
SRitglieber unb Snoaliben bi« nach jurütfgelegtem 14. £eben«jahre.
SBie man fiel)t, fe^It e« ben Snappfdfaft«faffen nicht an Aufgaben: fie oer*
einigen in fidf alte«, »a« auf bem ©ebiete ber Slr6eiteroerficf|erung überhaupt
getriftet werben fann; benn fie finb gleich jeitig Sranten*, Snoaliben*, Sterbe*,
SBitwen* unb SBaifenfaffen.
Silier auch in ihrer innern ©inriclftung finb fie umfangreich: fie finb jugteicff
©erfidfferungen auf ©egenfeitigfeit, infofern bie Knappen fetbft einen gewiffen
Sßrocentfaj} ihre« 2trbeit«loffne« ober ein entfprecffenbe« gijum jur Saffe einju*
bejahten haben, unb fie finb Stnftatten ber Haftung ber SBerfbefiher (Haftpflicht*
anftalten), infofern bie ©ergwerf«eigentl)ümer beitrag«pftichtig — ihre Beiträge fotlen
minbeftcn« bie Hälfte be« ©eitrag« ber Slrbeiter au«machen —, ja noch weiterhin
haftbar finb, infofern fie bei ©ermribung be« gegen fie fetbft gerichteten Swang«*
oerfahren« Oerpflicfftct finb, für bie ©injielfung unb Abführung ber Seiträge ihrer
Slrbeiter aufjutommen. Daju befteht nach beiben ©eiten SaffenjWang, b. ff. foWoI
bie Slrbeiter wie bie SBerfbefifcer müffen ju ben Snappfcffaft«faffen ©eiträge Ieiften,
unb jWar finb biefe Soffen 8*oang«faffen, b. ff- bie Slrbeiter müffen gerabe bem*
jenigen SnappfcffaftSOereine beitreten, welcher für ben Sejirf, in Wettern fie
arbeiten, befteht. Die ©erWaltung biefer Soffen ift jWar eine prioate unb burch
3ufammenWir!en ber Slrbeiter unb SBerfbefifcer gemifd^te, aber baburcff befonber«
qualificirt, baff lefctern bie auSfcfflaggebenbe ©jecutibe, bem Staate aber, Oertreten
burch bie ©ergbefförben, eine gewiffe Dberaufficfft unb Ueberwadjfung julommt.
Ueber ba« eigentliche ©ergbauwefen hinau« behnt fich ba« fonadff ganj eigen*
artig geftattete ^nftitut ber Snappfchaft«faffen au« auf bie Slrbeiter ber Stuf*
berritung«anftatten, ferner ber Salinen unb thritweife auch ber Höttenwerfe unb
ber ©teinbrüdhe.
gär bie Slrbeiter ber übrigen ©robuctionen, bie gabrifarbeiter unb bie Hanb*
Werfer in«befonbere, fehlte e« bi« in bie neuefte Seit an befonbern ©inrichtungen,
aber auch an befonbern gefehlten Schuh* unb Haftoorfdffriften. Die Durchführung
be« 3?ecfft«ftaate« muffte bem in üieten ©ejiehungen hewmenben unb bie ©ntwide*
tung ber Snbuftrie wie be« Snbioibuum« h'nbernben gunftjWange unb bem „ftrengen
©onceffion«wefen" ba« wohlberbiente ©nbe bereiten; aber bamit war jugteich eine
Stnjaht Oon ©änbern burcffriffen, welche ben Strbeitgeber an bie Slrbeiter unb lejjtere
unter fich in ^ en einjelnen Steigen unb ©ejirfen bet Snbuftrie toohliffätig oer*
einigt hatten, ©erhältniffmäffig tangfam unb ben greunben ber alten unb beralteten
Drbnung nicht immer wiHfommen, entfaltete fich bie ©elbftffülfe unb bie freie
Slffociation jum 3toede ber llnfallüerficherung. SBurbe ein Slrbeiter burch ein
ttnglüd in ber gabrif befdfiäbigt, fo tarnen fchledhthin bie tanbrechtlicfjen unb ge*
meinrechtlichen ©eftimmungen jur SlnWenbung; banadh hatte ber ben Schaben §u
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fjaftpfüdjt unb UnfaUperfidjerung.
353
erfefcen, ben bie ©chulb traf; lonnten ber Befcfjäbigte ober beffen $interlaffenen
„nadjjmeifen, bag bem Sabtifljerrn bie ©djutb bei Unfaßl pr Saft fällt, fo tjatte
biefer aBerbingl mit ©rfolg bie Haftung p tragen. 28ie aber, toenn biel nicht
möglich mar? SSenn bie Urfadje bei UnfaHl gar nid)t ju ermitteln ober in ben
Slnorbtiungen einel toenig bemittelten Beamten bet Sabril ober in bem ©ebaren
einel bermögcnllofen Slrbeiterl p finben mar? ®ann toar ber Berungtiicfte ober
beffen BJitme nnb SBaife auf ficf) felbft, eine etroaige, »ool geringe ©rfparnig,
bie ®utmütf)ig!eit bei gabril^errn unb ber anbern Slrbeiter, mol gar nur auf bal
frembe SRitleiben angemiefen! Stur bal franjöfifc^e (in ben SRfjeinlanben geltenbe)
Stecht ging meiter: biefel erllärt ben Sabril^errn all haftbar für bie ^anblungen
feiner Untergebenen, bemnad) für erfafcpflicfjtig in allen benjenigen Säßen, mo in ber
llnborfidjjtigfeit einel Arbeiter! ober Beamten bie ©d)ulb bei UnfaHl 5 U fet)en ift.
Sbenfo ^atte fdjon bal Sttefte beutfcfje Siedet ben $ienftherrn für bie £>anblungen
feiner ©ienftboten berantmorttidfj gemalt.
$iefent unpreidfjenben SRedfjtlpftanbe gegenüber befc^äftigt fi<h feit etma jeljn
Sauren bie SReichlgefcjjgebung mit Slenberungen, bie ißribattljätigleit in Xfjeorie
unb Ißrajil mit Stenberunglborfcljlägen.
2>ie einfdfjneibenbften Stcformbeftimmungen finb im $aftpflicljtgefefc bom 7. 3uni
1871 enthalten. SOtan lann nic^t fagen, bag biefel ®efefc irgenbjemanb bofl be=
friebige: bem einen geljt el biel p roeit, bem anbern biel p menig meit. 3 >ie
6 ifenbaf)nbermaltungen pflegen bie fie treffenbe, aBerbingl fe^r ftrenge Haftung
all unerträglich p bezeichnen: bal ©efefc beftimmt, bag, menn ein SQtenfdj beim
Betriebe einer ©ifenbaljn getöbtet ober lörperlidfj berieft mitb, ber Betrieblunter»
nehmet ftetl für ben baburttj entftanbenen ©traben p fjaften hat, fofern et nicht
bemeift, bag ber UnfaB burclj „höhere ®emalt" (vis major, force majeure, ein
juriftifdfj ungemein beftrittener Begriff!) ober burdj eigenel Berfdjjulben bei ®e=
töbteten ober Berieten berurfacfjt ift. Biet meniger ftreng nnb biel meniger
meitgeljenb ift nach bemfelben ©efejj bie Haftung ber Sabrifunternefjnter; fie fejjt
ooraul, baß ein Berfdjulben nadfjgemiefen merbe, unb unterfdfjeibet fiel) einerfeitl
bon ber frühem gemeinrechtlichen Haftung baburclj, bag nicht blol ein Berfdfjulben
bei Sabrifljerrn felbft, fonbern auch ein Berfdfjulben einel Betriebleiterl, SReprä*
fentanten ober SBerfmeifterl ben SoB ber Haftung bei Sabrilfjerrn begrünbet;
anbererfeitl bon ber franpfifd)*redjtlichen (unb tfjeilmeife altbeutfdjen) Haftung
baburcf), bag bal Berfdfjulben einel einfachen Slrbeiterl ben Sabriffierrn nidjt
berpfttdfjtet. 3 n biefer SBeife begrenzt mirft bal §aftpflidfjtgefeh übrigenl nicht
meit: benn el trifft bamit überhaupt nur bie Säße, meldfje in Bergmerfen, ©tein=
brüten, ©räbereien (®ruben) ober Sobrifen borlommen; el fpridjt nicht bom
Jfpnbmert unb lägt bentnadj 3 . B. in Bepg auf bie gefährlichen Bauljaubmerfc
bal alte, bem berungliidten Arbeiter ungünftigere Stecht hefteten. ©I ift tytx
nicht ber Ort, eine ffritif biefel ®efefcel anpfügen: reichlich enthielten bie 8 ei=
tungen feit bem Beginn ber SBirlfamfeit biefel ©efefjel SDteinungläugerungen über
bie Iragmeite beffetben; ebenfo förberten auch bie parlamentarifdhen Berhanbtungen,
metche ber ©ntftehnng bcffelben borangingen, ungemein reichel ÜRaterial, mie
Untere #eit. 1882. I. 23
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354*
Unfere ^eit.
ja im ©runbe fdjon alle biejenigen Sbeen, weldje in ben jüngften lagen 6ten«
nenb auftraten, fchon bamats mehr ober weniger beutlid) auSgefprodjen würben.
$ie fdjärffte Rritil hat jüngftljin biefeS ©efefc (zunädjft oom Stanbpuntte beS
Sabriltjerrn au«) erfaßten in bem befannten ißromemoria, Weites ber ©enerat»
birector beS ©ochumer SereinS für ©ergbau unb ©ufefta^tfabrifation, ©ommerzien»
ratfi ©aare, im Satire 1880 bem bamatigen preujjifdjen HJtinifter $ofmann einreid)te.
Sn birecten 3ufammenhang mit bem ©erfidjerungSwefen ift bie Haftpflicht beS
gabritherm burd) baS Haftpflichtgefef} fetbft geftellt, infofern bie ©erftdjerungS»
fumme, welche bet ©etöbtete ober ©erlebte oon einer iljn gegen ben Unfatt ber»
p^etnben Stffecuranjanftatt, ÄnappfctjaftS», UnterftüfcungS», S'ranten» ober ähnlichen
ftaffe Wegen beS nun wirtlich eingetretenen Unfalls auSbezafilt erhält, oon ber
bem gabrittjerrn obtiegenben Unfaflentfdjäbigung abzurechnen ift, wenn ber gabrif»
herr minbeftenS ein $rittet oon bem ©etrage ber ©erfidjerungSprämie ober beS
ÄaffenbeitragS contribuirte. ®amit ift gefefctidj bie gcmeinfchafttiche ©erficherung
für bas gabrifunfaflwefen angebahnt. ©in Ueberwätjen ber gefammten Unfall»
gefahr auf bie ©erfidjerung ift jeboct) auSgefdjtoffen: jeber ©ewerbeunternefimet
ift nach ber ©ewerbeorbnung berpflichtet, alle biejenigen ©inridjtungen tjerzufteHen
unb ju unterbatten, welche mit Stüdficht auf bie befonbere ©efc^affen^eit beS ©e»
Werbebetriebes ober ber ©etriebsftätte ju thuntidjfter Sicherheit gegen ©efaljr für
Seben unb ©ejunbljeit nothwenbig finb. ®er SunbeSrath unb ebentuell bie Sanbes»
regierungen fönnen hierüber befonbere Sorfchriften ertaffen unb über bie ®utchführung
aller biefer ÜKafjregetn haben bie gabrifinfpectoren unb bie Strafgerichte zu Wachen.
©ine SEBeiterentwicfetung fanb baS UnfallberficherungSWefen auf bem SBege ber
©efefegebung beS Reiches in bem SReidjSgefefc bom 7. Stprit 1876 betreffenb bie
eingefchriebenen Hütfsfaffen unb in ber Slobelle jur ©ewerbeorbnung bom 8. Stprit
1876. 9Ja<h bem erftem biefer ©efefee ift ber rechtliche ©eftanb bon ffrantentaffen
auf ber ©afis ber ©egenfeitigteit georbnet; nach bem (extern tönnen fotche ffaffen
für ©efeüen, ©ewerbSgehülfen unb gabrifarbeiter burdj OrtSftatut obtigatorifch
gemacht werben, ©ine eigentliche UnfaHberfidjerung, SltterS» ober Snbaliben»
berforgung, Sterbe», SBitwen» unb SBaifenfaffe ift in biefem ©efefj nicht borgefehen.
So weit reicht jur Seit bie gefehgeberifdjc Xhätigfeit auf unferm ©ebiete.
SBaS bie tßribatthätigteit auf bemfetben teiftete, ift ungemein berfdjiebenartig.
©iete SBertbefiher haben Stnftatten für tränte unb inbatibe Arbeiter gegrünbet,
Äranfenljäufer in ihren ©tabtiffements gebaut, 8lr beiterbereine herborgerufen unb
mit ihren ©etbmittetn unterftüfct — bie amtlichen ©eridjte ber gabrifinfpectoren
geben Seugnifc öon liefen humanen, immerhin aber nicht boll genügenben ©eftre»
bungen. ®aneben beftehen bie grofjen ©erficherungSgefetlfchaften, Wetche nach bem
Ißrincip ber ©egenfeitigteit ihre SDiitglieber gegen Unfälle berfidjern, ©efeHfdjaften
bon grofjer finanzieller StuSbehnung, aber geringer focialpolitifdjer ©ebeutung,
teueres fchon beShatb, weit fie bom gabrifarbeiter nicht benujjt ju werben pflegen
ober nicht benujjt werben fönnen.
®rei Slnftatten befonberer 9trt finb hier herborzutjeben: bie HülfSfaffen ber
®eutfdjen ©ewertbereine, bie fi'aifer»S33ithetm»Stiftung unb baS ©erfidjerungSinftitut
ber ©oncorbia (©erein zur görberung beS 2Bof)teS ber Arbeiter).
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fjaftpfttcfjt unb UnfaUoerftcIjerung.
355
Sen beutfcßen ©ewerfbereinen (Hirfih=Sunc!er’fchen ©ewerboereinen) Bleibt {eben¬
falls baS Serbienft, bie Stage beS HülfölaffenwefenS SeutfcßlanbS in gluß gebraut
}u haben, unb }War in einet nationalen unb freien Stiftung. Surje Seit nach
bet ©rünbung bet Seutfcßen ©eWerfbereine (Herbft 1868) ging man innerhalb
berfetben an bie ©rricßtung freier nationaler Uranien», Snbaliben» unb ©egräbniß»
taffen, unb fdjon nach fünf Satiren efiftirten banl ben ©entrungen beS uncr»
mübticßen SlnwaltS ber ©etoerfoereine, Dr. ÜJfaj Hirfcß» meßr als 800 folget Waffen.
©S würbe baS ©ilb, welkes liier entrollt werben fott, att}u weit auSgebeßnt Werben,
wollte i<h auf eine genaue ©efcßreibung ober gar auf eine Äritif biefer Slnftalten
hier eingeßen; ebenfo berbietet eS fuß, bie beutfcßen ©ribatberficßerungSanftalten,
toelcße gegen Unfälle ober gegen bie Haftung aus bent UnfattberftcßerungSgefeh
oom 7. Suni 1871 ©erficßerungen übernehmen, §u fd^itbem; bie erfte beutfcße
UnfaflberficherungSgefettfcßaft — Allgemeine UnfattberficherungSbanf in Seidig —
eröffnete ihren ©efdjäftSbctrieb bereits mit bem erften Sage ber SBirtfamfeit beS
HaftpflicßtgefefceS.
3n}Wifcßen nahmen bie ©räliminarien gefeßgeberifcßer ©ingriffe unb Steuerungen
ihren Anfang; fie finb zahlreich, bon berfchiebenfeitigen, Wahlberechtigten Sntereffen
nach berfcßiebenen ©eiten betrieben, unb cS ift fcßwer, fich in benfelben ju orten»
tiren; lefctereS }u ermöglichen, fmb Serlegungen ber berfcßiebenen ©orfchläge in ihre
©temente abfolut nötßig, unb als folcße ©lemente, ©runbibeen, mögen junäcßft gut
Drientirung aufgefteüt werben: bie Sbee ber Haftpflicht unb bie Sbee ber ©er»
ficherung. @S finb bieS — fo nahe baS Sebürfniß unb bie ©rajiS fie auch
aneinanbertüden, ja aneinanberfetten mag — boch ißrem SBefen nach jwei ganj
berfchiebene Singe.
3ebe Haftung, auch b* c Haftpflicht nach bcm ©efeße bom 7. 3uni 1871, ift
bie rechtlich anerfannte golge einer ©chulb, nicht gerabe einer ©chulb im ©inne
beS SelictS» ober ©trafredjteS: wer etwas berfcßulbet hot, ber muß haften; ein
©efeß, baS ben Arbeiter ober baS ©ublilum auf ©runb ber HoftungSibee fdjüfcen
Witt, geht naturgemäß babon aus, baß ben Unternehmer einer Sabril u. bgl. birect
ober inbirect eine ©chulb trifft: birect bann, wenn er felbft eine fcßäbigenbe
Hanblung ober Unterlaffung angeorbnet hat, inbirect bann, wenn er ©eamte ober
Arbeiter angeftellt ober befchäftigt hat, bon benen bie fcßäbigenbe Hanblung ober
Unterlaffung auSgeßt; im weiteften ©inne genommen, fann auch barin noch «ine
©chulb gefeßen werben, baß ber Unternehmer eine befonberS risfante, ©erfonen
unb ©ermögen in befonberS ßoßem ©rabe (bietteicßt förbernbe, {ebenfalls aber auch)
bebrohenbe Unternehmung, Wie bieS j. ®. ber ©etrieb einer ©ifenbaßn ift, ins
SBerl fefct. Sie Aufbürbung einer Haftung auf einen Unternehmer wirb, wie man
fußt, bon einem etßifchen ÜRoment beßerrfcht unb nur ba, wo biefeS mit Stotß»
wenbigfeit wegfättt, ift aucß jene Haftung mcßt mehr aufaubürben: ift ber Schaben
eingetreten burch bie ©chulb beS ©efdßäbigten ober burch ein außer menfcßlicßer
©erecßnung ober Abwenbung liegenbeS ©reigniß, fo ift für eine ©chulb beS Unter»
neßmerS unb folgeweife für eine Haftung berfelben lein Staunt.
©an} anbere ©eficßtspunlte beßerrfcßen bie ©inricßtung ber ©erfidjerung (Äffe»
curan}); nicßt ein etßifcßcS, fonbcrn ein gefchäftlicßeS ÜDtoment ift bie treibenbe
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356
Unfere
Äroft im SBerfidjerungSwefen; bie Slffecuranj ift eine rein fapitatiftifdje Unter*
nehmung; man öerfidjert fic^, um wirthfchoftliche 9?adjtf}eile ju meiben ober ju
minbern, fie mögen burch menf^Ii^e ©djulb, ober Wie baS alte engtifd)e Siecht
fagt, burd) act of God — fSeoü ß(a nennt auch ber ^eHenif^e 3urift ben unab»
menbbaren Sufatt — brotjcn ober fich berwirftid)en; unb fein anbercS SDiotio ift
ju fiteren, wenn jemanb ju ©unften eines britteu eine Slffecuranj nimmt. 3u
attererft berfid)erte man fich auf ©egenfeitigfeit, b. h- bicjenigen, Welche bie ©efahr
ju ©enoffen macht, machen fich ju ©enoffen beS ©chabenS: fie öerpfticfiten fid)/
einanber ju entffähigen, für ben Satt, baß ein Staben unter ifyiten eingetreten
ift. @o berficherten fid) fchon im 14. Sa^r^unbert fRljeber gegen ©eegefatjr, fo
ftnb bie fitoappfchaftSfaffen gegen gewiffe ©efahren beS ^Bergbaues 93erfidjerungen.
Äein anbereS SDtotib als bie bermögenSrcchtliche 5|$aratt)firung eines ©chabenS liegt
auch ber Serfidjerung gegen Prämie, ber jüngern ©cf)Wcfter ber ©egenfeitigfeitSaffe»
curanj, ju ©runbe: ein fapitaliftifcher Slufwanb Wirb gemalt, um fapitafiftifdjeu
©traben abjuwenben ober ju berminbern.
9lun ift freitief) ftar, baß bie Serfichcrung fich an bie Haftung fniipfcn fann;
unb jwar ift in biefer £>inficf)t breiertei möglich: 1) bie Üfiatfac^e, baß ein Unter»
nefpner gefefctich haften muß, fann ats fcf)äbigcnbcS ©rcigniß aufgefaßt werben unb
ats fotcheS bie SBeranlaffung ju einer SSerficßerung bitben — bieS ift ber galt bei
benjenigen S3erficßeruitgen, Welche „Haftpftichtfätle" pnt ©egenftanbe haben („Haft"
pflidjtberfidjerung"), eine ber roidjtigftcn ^Branchen ber mobernen Unfaltberficherung;
2 ) ober: bie Serfidjerung wirb als ©arantie für bie SReatifirbarfeit unb SReatifi»
rung ber Haftpflicht gebadjt — bieS ift, wie ich borgreifenb bemerfen will, ber
galt in bem bon ben liberalen Parteien ausgearbeiteten neueften Entwürfe üom
Januar 1882; 3) ober: bie X^atfae^e, baß ber HaftungSpflichtige eine 58er»
fidjerung beS $aftung^6erecf)tigten ganj ober ttjeitweife bewirft t)at unb bephtt,
fdjtießt ben ©intritt ber Haftpflicht ganj ober tljeilwcife auS: SJcrficherung tritt
an ©teile bet Haftung; bieS ift ber galt im fßrincip ber ÄnappfdjaftSfaffen unb
theitweife im J£>aftpflxc^tgefe& unb im Hülföfaffengefefc oorgefeßen.
Nehmen wir nun p biefen 9Rögti<hfeitcu noch bie fragen: inwieweit fott ber
Staat baS eine ober anbere berfetben erzwingen? inwieweit fott er fetbft, als
fReich ober als ©inplftaat, pofitib fchaffenb, fßribate gan^ ober theitweife auS-
fchtießenb, eingreifen,- unb wie fott in ben SBerfidjeruugSfätleu bie 5BeitragSpflid)t
abgegrenjt unb in biefen Wie in ben fpaftpftic^tfätten bie ©ntfchäbigungSfumme
berechnet unb gewährt werben ? — fo hoben wir bamit bie wefenttichen ©efichtSpunfte
in nuce angebeutet, bon benen auS bie Unfattbcrficherung unb bie Haftpflichtige
heute beurtheitt wirb.
lehren wir prücf pr fjiftorijc^en Xarftettung ber gefejjgeberifd)en Serfuche.
3n ber $eit, in Welcher in ®eutfchfanb bie Haftpflicht tebigtich «och SRaßgabe
ber gemein» unb tanbrechttichen Seftimmungen ejiftirte unb baS IBerficherungSWefen,
abgefehen bon ben fßribatberficherungSanftatten, nur in ber gotm ber SnappfdjaftS--
foffen bie Arbeiter unb bie Unternehmer berührte, beginnen bereits bie ^Bemühungen
eines SDtanneS, ben man — man mag über feine SBorfchläge im einzelnen urteilen
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Haftpflicht unb Unfallt>erftcfjerung.
357
Wie man null — jebenfaHS bic Slnertennung ber äufjerften ©nergie unb 3äf)tgteit
ber ©erfolgung beS borgeftecften 3«le3 nicht berfagen barf, nämlich beS ©et).
©ommerjienrathS Stumm in Reuntirdjen. Stumm tjat bereite im gal)re 1869
im 9torbbeutf<hen Reichstage bei ©elegenljeit ber ©eratljung ber ©etoerbeorbttung
einen ©efefcentwurf beantragt, melier bie Errichtung obligatorifdjer gabrittaffen
bejwecfte; nach feinen ©orfdjlägen follen für alle gabritarbeiter Raffen hefteten,
toelcfje für fie zugleich als Rranten», Sterbe-, gnbaliben», Sßitwett» unb SBaifen»
taffen }u fungiren ^aben; als beitragspflichtig werben bie Arbeiter, bie untern
gabrifbeamten unb bie gabritbefifcer bezeichnet; bie SerWaltung fott ein Raffen»
borftanb führen, beffen SKitglieber jur fpälfte tioit bem gabrifanten, jur anberu
$älfte bon ben Arbeitern gewählt Wirb — man fietjt: fchon ber erfte ©tumm’fche
©orfdjlag bejtoectt in ber ^anptfactje bie Uebertragung beS 3fnftitutS ber Rnapp»
fdjaftSfaffen auf baS gefammte gabritwefen. Sticht berfchweige ich h> er » baff biefer
gbee gewichtige Sebenten entgegengefteKt würben; es würbe bie ©erfdjtebenhett
ZWifdjen gabrit unb ©ergWert, eS Würbe bie ©igenartigteit beS ©ergbaueS unb
bie ©erfchiebenheit ber gabritarbeiter unter fich, bie berfdjiebene Sebttrfnifjtage
herootgehoben, ja fetbft barauf Ijingewiefen, bafj eS fraglich fei, ob bie Rnapp»
fdjaftstaffen rechnerifch fo Wohl funbirt feien, bafi bie Uebertragung ihres ©rincipS
auf anbere SnbuftriejWeige fich empfehle. ®er ©tumm’fche Entwurf fanb leinen
©ingang in bie ©ewerbeorbnung; aber fein Urheber ermübete nicht, feinen ©or»
fdjlag ju teprobuciren, Wo eS galt, bie Arbeiterfrage ins 2luge ju faffen: fo im
©efolge ber ©erhanblung über bas fogenannte ©ocialiftengefefc (fetbft 1878) unb
insbefonbere in einem Einträge im gebruar 1879 im $eutfdjen Reichstage. ®amals
(12. gebt. 1879) beantragte Stumm: ber Reichstag wolle befdjtiefjeii, ben $ertn
ReidjSfanzler ju erfuchen, bem Reichstage in ber nächften ©effion einen ©efefc»
entWurf borzulegen, Welcher auf bie ©inführung obligatorifcher, nach & em SWnfter
ber bergntänuifchen RnappfdjaftSbercine ju bilbenben SllterSDerforgungS» unb Sttba»
tibentaffen für alle gabritarbeiter gerichtet ift. ©>er Slntrag warb Dom Reichstage
an eine hierfür befoitberS gewählte ©ommiffion oerwiefen: ein bnnteS, {ebenfalls
hochintereffanteS ©ilb ber in $eutfd)lanb beftehenben SDteinungen über bie Unfall»
berficherung unb StlterSberforgung ber Arbeiter boten bie ©erhanbtungen biefer
©ommiffion; mannichfache ©orfchläge Würben barin laut unb gebieljen bis ju para»
graphirten ©efefcentwürfen; ber Slbgeorbnete Stumm legte ein aus 25 ^Paragraphen
beftehenbeS ©efeheSproject bor, welkes gabrifpenfionSfaffen, nadh bem SDtufter ber
RnappfchaftSfaffen, obligatorifch für ade gabritarbeiter unb unter SJtitWirtung ber
gabritbefifcer errichtet, borfchlug; bie Slbgebrbnetcn ©areiS, ©üntljer (Nürnberg),
©trübe unb SBölImer brachten in ber ©ommiffion einen aus 33 ^Paragraphen
beftehenben ®efe|entwurf ein, welcher „eingefchriebene ©erforgungStaffen" auf
©runb bon Rormatibbeftimmungen als freie Raffen rechtlich organifiten wollte,
nicht unähnlich ben eingefdjriebenen ^iilfsfaffen, unter SftitbeitragSpflicht ber Arbeit*
gebet, jeboch ohne ©intrittSjwang organifirt — mithin ein ©erfuch für ©egen»
feitigfeitSberficherung unb ©erfidjerung ju ©unften britter, eine genoffenfdfaftliche
Organifation ju fchaffen; ein anbereS ©ommiffionSmitglieb, ber Slbgeorbnete SDtel»
bed, fchlug eine noch nähere Slnletjnung an baS $ülfstaffengefej} bor, insbefonbere
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358
Unfctc <5eit.
inbem er für SltterS* unb Snoalibenfaffen autfe bcn burtfe DrtSftatut auSjuübeuben
3toang julaffen ju müffen glaubte. Die ßtegierungScommiffarien fpracfeen fitfe nur
fefer jurücffeattenb auS; als bemerfensmertfe batf jefet be^eitfenet »erben, baß
biefetben erftärten, es fei getoagt, ju behaupten, ber jefeige 3uftanb ber änapp*
ftfeaftsfaffen verbürge eine auSreicfeenbe SRegetmäßigfeit ber ©innafemen unb SluS*
gaben für bie 3ufunft, unb ein Sentratinftitut, mie bie ®aifer=2BiIfeetm=Spenbe
ober eine äfentitfee Slnftalt, taffe fitfe mit einem ©erfitfeerungSaroange fcfemerticfe Oer*
htüpfen; bie ©ebenfen gegen bie gunbitung eines ©erficfeerungSjmangeS auf eine
folcfee ©entratanftalt feien öießeitfet nocfe größer ats biejenigen, meltfee ber Stmtafeme
ber reinen 3toangStaffe entgegenftefeen. Die Majorität ber ©ommiffion (12 gegen 3)
entflieh fitfe fcfetießticfe für bie ©triefe tung oon Suoatiben» unb SttterSOerforgungS*
taffen fürgabrifarbeiter mit obligatorifcfeer©eitragSpflitfet, mit 9tormatibbeftimmungen
unb Staatscontrote — unb bei biefem ©orfcfetage fottte es öorberfeanb oerbleiben,
ofene baß eine gefefegeberifcfee Stetion toeitereS erreichte. 3m barauffolgenben Safere
(1880) toieberfeotte ber Stbgeorbnete Stumm feine ©emüfeungen im SteicfeStage üer=
mittels ber interpetlirenben Stnfrage, ob bie SReicfeSregierung beabftefetige, bem
SReidjStage in biefer ober ber näcfeften Seffion einen auf bie ©egrünbung oon
SttterSOerforgungS* unb Snöalibentaffen für Sabrifarbeiter gerichteten ©efefeentmurf
oorjutegen. Der Sertreter ber SReicfeSregierung beantmortete (27. Sehr. 1880) bie
Interpellation burtfe bie ÜRittfeeitung, baß fitfe ber ©unbeSratfe mit ber ganzen
SRaterie bisjefet ttodfe niefet befaßt feabe, unb burtfe bie ©ertoeifung auf bie großen
Scfemierigfeiten ber als feoefetoiefetig anertannten Satfee.
SBäferenb fitfe oon nun an bie DageStiteratur in 3*itungen, gtugbtättern unb
©rofefefiren mit ber Stage ber Slrbeiterinoatibenoerforgung unb bem bamit 3ufammen*
feängenben unauSgefefet befifeäftigte, ergriff ber SReicfeStanjter Sürft ©iSrnard bie=
fetbe Angelegenheit; er featte baS ißromemoria bes ©ommerjienratfeS ©aare ju
Steten genommen unb ben preußifefeen ©otfsmirtfefifeaftSratfe mit ber Stage amtlich
befaßt; auf ©runb biefer unb anberer ©oroerfeanbtungen toarb ein ©efefeentmurf
ausgearbeitet, oon bem man fagte, baß er unter birecter perfönticfeer Stntfeeitnafeme
beS Sürften'ßteicfeSlanjlerS entftanb. 3<fe übergefee bie 3tt>ifcfeenftabien, fo intereffant
fie finb, um ber nötfeigen Ueberficfeiticfefeit mißen: eS genügt, ju conftatiren, baß
ber ftfetießtiefe oom ©unbeSratfee angenommene unb bem SReicfeStage Oorgetegte ©nt*
»urf eines ©efefeeS betreffenb bie Unfaßüerftcfeerung ber Arbeiter (8. SJiärj 1881),
ben ©oben bes $aftpflitfetgefefeeS auSbrücftitfe oerläßt unb bie auf biefem ©efefee
üom 7. Suni 1871 berufeenbe £aftpflitfet ber Unternefemer gegenüber iferen Strbeitern
burtfe eine öffentlitfe*redjtticfe geregelte aßgemeine Unfafloerfitfeerung erfefeen miß.
Der ©efefeentmurf faßt bie Stage tief unb energiftfe: eine SRcicfeSanftatt, ©eitfes*
©erficfeerungSanftatt, foß oom SReicfee errichtet unb für beffen Stecfenung oermattet
merben, unb bei biefer ©entratanftalt foßen fiefe aße Sabritarbeiter, aße ©ergteute,
©auarbeiter unb ^üttenmertteute oerfiefeem müffen; bie ©eitragSpfticfet ifi oerftfeieben
geregelt: für biejenigen ©erfiefeerten, beren SafereSoerbienft 750 3Rar! unb meniger
beträgt, feat ber ©etriebSunternefemer jmei Drittel unb baS SReicfe baS übrige
Drittel beijutragen; für biejenigen, beren SafereSarbeitSöcrbienft jjoifefeen 750
unb 1000 SRart ftefet, jafelt ber ©etriebSunternefemer jmei Drittel unb ber ©er*
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Haftpflicht unb UnfallDcrftcfjeruitg.
359
fieberte felbft ein drittel, unb biejeuigett, welche jwifchen 1000 unb 2000 ÜRarl
Srbeitslohn jährlich tierbienen, Mafien bie Hälfte ber ©erfidjerungSprämie ju be»
jaulen, bie anbere Hälfte bejatjft ber Unternehmer.
3« 58 Paragraphen finb bie ©runbgebanfen ber (Einrichtuug biefer Unfall»
tierficherung näher entwidelt; fo ableljnenb man fich gegen baS Project im ganzen
ober im einzelnen praftifd) tierhalten mag, baS barf nicht tierlannt werben: es ift
eine großartige (Entfaltung beS hnmanen, arbeiterfreunblichen ©runbgebanfens aller
einfehtägigen focialpolitifchen ©eftrebungen in biefem ©efefcentwurfe ju begrüßen,
unb nicht minber freubig begrüßt ber ®eutf<he barin auch 5a§ nationale Streben
feines Seid)S!anjterS, baS ©ol! in aßen feinen Schichten an baS Seid) ju feffetn,
für baS Seich ju gewinnen unb im Seiche eine heitenbe unb rettenbe Snftalt finben
ju lehren. 2tber ob baS Sbeate burchführbar ift, hängt Ieiber nicht tion bem SBunfche
unb Sßiflen beS ^bealbenfenben aßein ab; es tourbe jiemtich aßgemein gettenb
gemalt, baß baS ftatiftifd)e SSaterial unb bie prattifche Erfahrung jur ©eurthei»
tung ber in bem ©efefcentwurfe gettenb gemachten ©orfdjläge noch nicht ausreichten,
baß tiietmehr bie Snnahme beS ©efejjeutwurfs „ein Sprung ins (Dunfle" wäre,
beffeit Solgen fich nicht ermeffen ließen. Sach breitägiger ©erathung (1., 2. unb
4 . Sprit 1881) tierwies ber Seid)Stag bie ©iß an eine Speciatcommiffion tion
21 SSitgtiebern, wetche über ben (Entwurf oom 4. Sprit bis jum 21. SWai berieth*
Siet concreter als int 3ahre 1879 geftatteten fich nunmehr bie ©erhanbtungen;
hatte man ja boih pofititie ©orfchläge tior fich, ©orfchläge, bie inS (Detail gingen
unb tiom ©unbeSrathe angenommen worben waren. Slbet bie Sefultate ber CEom»
miffionSberathung entfernten fich weit tion bem ©efefcentwurfe beS ©unbeSratheS,
weit tion ber ©runbintention beS SeidjSlanjlerS. Sn bie Steße ber einen Seichs»
SerficherungSanftatt Warb bie (Errichtung tion particutaren bunbeSftaatlid)en Sanbes»
©erfidferungSanftalten tiorgefchtagen. Seichs» ober Staatsbeitrag jur ©erficherungS»
Prämie würbe geftridjen, bie ©erficherungSprämie foflte ju }Wei (Dritteln tiom
SetriebSunternehmer (Srbeitgeber), ju einem (Drittel tiom ©erficherten aufgebracht
Werben, ohne Unterfchieb ber Sohnhöhe. Pritiattierficherung fchtoß ber (Entwurf
ber (Eommiffion ebenfo wie ber SegierungSentwurf aus. (Diefer testete Punft
unb ber im SegierungSeittwurfe projectirte gufchuß aus Staats» bejiehungS»
weife SeichSmittetn erregte bie Hauptbebenfen. 2Jiit Secht Wies man auf bie
bewährte (Dhätigfeit ber beftehenben Pritiat»©erfidjerungSgefeflfchaften hin, benen bie
©efefcgebung nicht mit (Einem Schlage ein ©ethätigungSgebiet entziehen bürfe, auf
welchem fie erfprießtiche Seiftungen aufjuweifen hätten. (Die 3uwenbung tion ©ei»
trägen aus SJiittetn beS Seiches ober ber (Einjetftaaten fanb ebenfaßs tiiete ©egner
fowot itt ber (Eommiffion als im Plenum beS SeichStageS, währenb bie Segierung
gerabe baran fefthalten ju müffen glaubte, ©on jahlreidjen controtierfen (Detail»
fragen fei hier abgefehen: baS Sefuttat war, baß bie auf |>erfteüung ber Seichs»
anftalt abjietenben Sorfchtäge ber Sationattiberaten wie bie auf Sbänberang beS
$aftpftid)tgefef}eS, welche tion ber gortfehrittspartei angeftrebt würbe, gerichteten
Snträge abgelehnt würben unb baß, wie ber ©ericht ber nationaltiberalen Partei
ßch auSbrüdt, baS ganje ©efefc fchließlich in feiner niemanb befriebigenben Raffung
mit 145 Stimmen beS SentrumS unb ber (Eonfertiatitien gegen 108 Stimmen ber
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360
Unfete ^eit.
Siberalen, eines feiles bet SReidjSpartei unb einzelner ©onferbatiber angenommen
mürbe, ©leichjeitig mürbe eine SRefolution befchloffen, melche bie SRebifion bes £>ülfs=
faffengefefees forberte, unb eine anbete, meldje auf ©ntfdjäbigung ber burd) ben
abfoluten AuSfdjluß benachteiligten ©ribat»©erficherungSgefetlfchaften gerietet mat.
®et SunbeSrath ging auf bie Abänberungett, bie bet ^Reichstag in jmeiter
Sefung (am 31. 2Rai, 1., 2. unb 11. 3uni) unb in britter Sefung (15. 3uni 1881)
befchloffen hatte, nicht ein, es tarn p (einet gefefcgeberifchen Neuerung.
£iaß bamit bie Angelegenheit bet UnfaHberfidherung unb Arbeiterberforgung
nicht erlebigt ift, batf als felbftberftänblidj gelten; nicht b(oS officieHe unb officiöfe
Aeußerungen, namentlich bie ©egrünbung bes ©efefcentmurfs betreffenb bie ©e»
rufsftatiftif meifen bitect batauf hin, baß biefelbe Angelegenheit abermals bie
gefefcgebenben Sactoren unfetS Reiches befchäftigen merbe, es liegt bies auch in
ber Statur ber (Sache. Stagen biefet Art btängen bon felbft pr ©rtebigung; bet
beuttichfte ©rtueis hierfür ift bet ©efefcentmurf, melchen bie liberalen Parteien am
11 . 3“n. 1882 im SReidjStage eingebracht hoben.
®iefer ©efefcentmurf ift in feinen erften Paragraphen eine ungemeine ©rmeiterung
beS ^aftpftichtgefeheS; bon einem SdjulbbemeiS mirb böKig abgefehen: ber Unter¬
nehmer h«t ©ntfehäbigung p gemähren, menn burch Unfall ein Arbeiter ober
©eamter ber Unternehmung getöbtet ober berieft mürbe; ber ©runb beS Unfalls
ift (bon einer ©ntfdjäbignngSbifferenj abgefehen) gleichgültig. $ie ©ntfdjäbigung
mirb burch ©erficherung garantirt: jeber Unternehmer, auf ben fich baS ©efefc
bezieht — es finb bie Unternehmer beS ©ergmerls», Sabril», ©au», ®ampfmafchinen»
betriebs u. f. m. — h°t alle feine Arbeiter bei einer p biefem 3»*<f gemäß
ÜRormatibbeftimmungen im ®eutfdjen SReidje pgelaffenen ©erfidjerungSanftalt p
üerfidjern. ®ie Ipölje ber ©ntfdjäbigung ift genau normirt, bie Anjeigepflidjt für
bie einzelnen Unfälle ftreng ftatuirt; bie ©erficherungSprämie trägt lebiglich bet
Arbeitgeber; Staats» ober 5ReidjS=©erficherungSmonopoI mie Staats» ober SReicfjS»
pfdjuß finb auSgefcßloffen, bagegen bie ben Siormatibbeftimmungen ftch fägenben
Pribat»©erfid)erungSanftalten pgelaffen.
Db nicht eine 5ReidjS»©erficherungSanftalt als McfberfidjcrungSinftitut neben
ben gemäß bem SRormatibftatut pgelaffenen Pribat=©erficherungSanftalten ben ©or»
pg oerbiente? Db bie 3nbuftrie fi«h überall barein finben mirb, bie ganp ©er»
ficherungSprämie p jafjlen? ®iefe Stagen unb noch gar manche anbere laben freilich
p meitern SiScuffionen ein, allein — unfere Abficht ift nicht, polemifch aufp»
treten, fonbern nur einen DrientirungSbehelf p fchoffen.
$ur ©eurtheilung ber ©orfc^täge im einzelnen miiffen ja ©rmägungen in ©c»
tradjt fommen, melche meit über ben JRahmen einer (ur^en Abljanblung, mie mir
fie hier P geben beabfichtigen, hinausragen; bie Auffaffung bes StaatSpfchuffeS,
baS ©ertrauen pr Selbftljülfe ber einzelnen Arbeiter unb ber Arbeitgeber unb
bie redjnerifche Xedjnil beS ©erficherungSmefenS ftnb ®inge, melche mefentlich finb
jut ©eurtheilung ber ermähnten ©ntmürfe, aber nicht mit lurjen ©orten abgethon
merben lönnen.
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Hier -panislamismus im üantpfe gegen (Eurapa.
33on
IJermamt Lamberti.
I.
©o tote bie mobernen Sfriege mit |>ülfe ber berbefferten Soffen in bertjättnijj«
ntäfjig fürzerer Seit größere ©rfotge erteilen, ift aud) bie Sirlung, bie fxe zurüd«
taffen, eine öiel tiefgetjenbere, atS bieg früher ber galt mar. ©in gefc^id^tlid^er
Uebetblid über bie orientatifdjen Kriege ber lebten Safmhunberte mirb uns ^ier=
bon am beften überzeugen. 3« ben ehemaligen Kämpfen jmifthen bem kreuze
unb bem ^albmonb mareu bie folgen, metche bie Siege ©uropaS in ber moS«
Iimifchen Sett zurüdgetaffen, berhäftnifjmäftig gering; benn bie ©rfdfjfittcrung,
meiere bie abenbtänbifcfjen fjeere in ben ©renzgebieten ber Seit be$ 3$tam
heröorriefcn, matzten fid) ^öc^ftenö im ßentrum, aber faft nie an ben gegenüber«
liegeitben ©nbpunften fühlbar. So gefchah eS, ba{j bie Vorttjeite, metdhe Defter«
reichet, Ruffen, ©ngtänber, Senetianer uttb granzofen an einzelnen fünften
errangen, im tiefen Snnern ber afiatifcfjen unb afrifanifchen Sett erft bann betannt
gemorben maren, nachbem bie Kämpfe fc^on tüngft befallt unb baä Sdhmert bon
beiben Seiten fdjon in bie Scheibe geftedt morben mar. SDianget an ©ommuni«
cationSmittetn, baS noch tief fchtummembe ©efüht ber ©emeinfamteit, befonbers
aber b aS fetfenfefte Sutrauen auf bie non SlUah borzügtidfj begünftigte Religion
Rtohammeb’S hotte bie Rechtgläubigen zu fet»r in ben Schlaf ber Sicherheit ge«
lullt, aß bah fte an eine brohenbe ©efahr ober gar an bie Rothmenbigfeit einer
gegenfeitigen Unterftüfcung hätten benfen fönnen. Sa$ tümmerte e$ ben fdjmär«
merifchen SRoSlimen in Rebfdjb, ben ganatifer am Ufer be$ Srreffdjan unb ben
©erber im alten SRauritanien, metche Stellung bie berfdjiebenen Sabinete ber
chrifttichen üRächte zur fogenannten orientatifdjen grage genommen, metche Roten
bon Petersburg aus nach bem ©otbenen $orn gefenbet, unb mit ©inem Sorte,
mas ©uropa mit ber Seit ber Rechtgläubigen borhabe? 3« ber tiefen Verachtung
unb ©eringfehäfjung, mit melcher man auf baS Sßotf ber Ungläubigen herabbtidte,
hatte man es faum ber SRütje merth gefunben, fich über ihre ÜJtacht, Saht unb
©röfje genauer zu erfunbigeit; man betädhette jebe Radfjricht bon ber Stätte
unb bem immer mehr machfenben SRachttreife ber ®afirS, unb nichts charafterifirt
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362
Unfere «Jeit.
beffer biefe ©efhröntttjeit, als bie Steuerung bei ©ater« be« heutigen ©mir« oon
©odjara, bet, auf bie Bon 3nbien Eier bropenbe ©efatjr aufmertfam gemacht,
1842 fagte: „Diefe« grengibott ift bodj beifpieltod in feinet ©erwegentjeit. faum
ift e« jeljn 3<h« per, bafj bie SngiiiS betannt getoorbeit, unb fie geberben fidj
fdjon at« eine Station, weldje bie SBelt erobern uitb meinen Dljron über ben
Raufen werfen miß!" Stefintidje Steuerungen ber ©erwunberung nnb ©efrem*
bung $abe auch idj wätjrenb meiner Steifen im Innern ber 3Ro«timweIt ber*
nommen. Stur feljr wenige fhentten ben auf Gutopa bezüglichen ©erüdjten
©tauben; biete fetten bie einzelnen ©efdjreibungen für übertrieben, ober meinten,
e« fei gerabeju unmöglich, bafj bie Stnpänger eine« fallen ©tauben« über bie
Stedjtgtäubigen je triumpf)iren fönnten.
SBätjrenb ber testen Sa^rjetmte t>at fleh jeboch hierin eine bebeutenbe ©er*
änberung bemertbar gemadjt. 3“t 3eit be« frimfriege« hatte bie Stadjridjt bon
ber ©ebrängnifj be« 3$l° m bi« in bie weitefte Seme ©erbreitnng gefunben. 3nt
©djufce ber bamat« fdjon erleichterten ©ommunication«mittet, bei bem regen ©er*
let|re, wetdjer ju jener 3 e *t bie enttegenften fünfte ber 33lamwett miteinanber
berbanb, war e« fetbftoerftänblidj, bafj ber Angriff auf bie 2Jtad|t be« ftljatifen
ber Stedjtgtäubigen in ben ©ajaren bon fanton, fafdjgar, ©od)ara, fabut, fajan,
gej, Juni« unb an bem Gap ber ©uten Hoffnung in gleicher ©Seife ben ©egen*
ftanb einer lebhaften ©efpredjung bitbete unb bie ©emüt^er ber an SDtoljammeb
©taubenben auf« äufjerfte erregte. #ätte [ich nicht fd)on bamat« ba« ©onberbare
jugetragen, bafj ber bon feinem ©rjfeinbe, bem hriftlidjen Stufjtanb, angegriffene
3 «tam in ben cheifttichen SJtäctiten ©erbünbete unb $etfer gefunben, fo hätte bie
©tut be« $affe« jebenfafl« an 3ntenfibität jugenommen. Dodj ba« ebenerwäljnte
fonberbare ©erljättnifj, ba« bon bieten nicht geglaubt ober fatfdj au«getegt würbe,
mufjtc at« Kämpfer wirten, unb wätjrenb einige über biefe Unterftüpung ben
f opf fdjüttelten, Rotten anbere, iprem innern 9tetigion«brange freien 'Sauf taffenb,
au«gerufen: „Mat) ift mädjtig, er täjjt bie geinbe unfer« ©tauben« burdj itj«
eigenen ©rüber bernidjten."
©o ftanben bie Dinge wäfjrenb be« frimtriege« unb nah bemfetben. 3m
testen Stuffifch*Xürfifcheu friege jeboef) tjattc bie unbertjütlte feinbliche ©tet*
tung ©efammteuropa« gegenüber ber im Dobe«tantpfc ringenben Pforte in ben
Stedjtgtäubigen alter Sänber unb 3onen ganj öerfdjiebene ©mpfinbungen wadj
gerufen. Der alte ®taubeti«fafc: „Sitte Ungläubigen finb ein unb baffetbc ©olf,
©otte« gludj über fie in«gefamntt", trat wieber in feine botten Siebte ein. Der
alte $afj hatte fich Wieber belebt unb bie 3)lo«timwett otjne Unterfhieb ber garbe,
Stoffe unb Slbtunft tja* ungefähr jenen ©tanbpunft eingenommen, ben fie jur 3«it
ber freujaüge im SBeften unb im 3«n e nt Slfien« innegeljabt, at« bie ©har ber
bewaffneten frommen ißitger mit frieg unb SJtorb ©prien tjeimfudjte unb bie
brofjenbe ©efapr be« 33tem an ben fernen ©eftaben be« 3°£ art e« einen SBiber*
halt wedte. 3° Wir fagen e« ganj offen {jerau«: bie tepte SBaffentpat ber Stuffen
in ber europätfefjen unb ber afiatifhen Dürfei pat bie erften gunten jur SSieber*
Belebung be« fßani«lami«mu« au«geftreut.
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Der Pattislamismus im Kampfe gegen (Europa.
363
3n ©uropa, tt>o bie ©egtiffe bon IßanflawiSmuS, ^angermaniSmuS, ©anronta»
niSmuS u. f. tu. eben in ber Neujeit lanbläuftg geworben, Wollte man an bie
©jrifitenj biefer Bewegung nur fchwer glauben. Sie $ahl berjenigen ©uropäer,
bie in ben ©palten ber arabifdj, türfifdj, perftfd^ unb hinbuftanifCh getriebenen
ßeitungen fic^ ^ierbon Ratten unterrichten fönnen, ift befanntlich eine äufjerft ge=
ringe; auch tobte« bie Nachrichten, welche unfere fonft rege Ißreffe über biefen
©egenftanb betbreitete, biel $u fpärlich unb ungewiß, als bah man fleh hierbon
eine concife hätte bitben fönnen. SttteS, was wir über biefen ©egenftanb
erfuhren, waren borjüglid} ©tittheilungen ber fonftantinopolitanifchen treffe, welche
biefer ^Bewegung nicht bie gebütjrenbe 2lufmerffamfeit fchenfte, fobafj bie Unfennt»
nifj ber eigentlichen Sachlage wol leicht erflärli<h ift: unb bennodj hatte bie öe=
wegung gleich i m Anfänge ungewöhnliche Sintenftonen angenommen. Sie in baS
Seben ber ntoSlimifchen SBelt fonft eingeweihten Senner fahen mit ©erwunberung,
Wie einzelne Senblinge, mit getriebenen SractätChen berfehen, bon ©teffa, SKebina
unb $onftantinopel auS bis in bie entfernteren ©renjgebiete ber ^Stammelt ftch
ihre SBege bahnen, ihre Sefer finben unb bei ihren ©laubenSgenoffen 3«tereffe
erwetfen fonnten. Siefe Sractätcfien, jumeift arabifch gefchrieben, Waren natürlich
nur für bie ©Mdwelt, b. h- für bie geiftlidjen Spieen beS 3Slam beftimmt.
Sott biefen ging eine ähnliche Strömung in bie moSlimite ißreffe über, Welche
in ben lebten Secennien ju einem faum geahnten fjactor fich herauSgewachfen; benn
Wenige europäite Sefer mögen es wiffett, bah in 3«bien j. ©. bie Saht ber
mohantmebanifchen Slätter auf $unberte ftch beläuft, unb bah wan in ber Xürfei,
wo man früher nur Soran unb NeligionSwerfe getefen, heute bereits in ben unterften
Schichten ber ©ebölferung ben ©rgüffen ber treffe ein Williges Dhr fdjenft.
Schon ber erfte Anfang biefer geheimen Agitation hatte feine Srüdjte getragen,
©or allem waren es ©elbfpenben unb SiebeSgaben, bie man ben, unter ben
brüefenben Srinanjnöthen fämpfenben Dttomanen jufommen lieh. Hier war eS ein
reifer NeiStjänbler aus Sahore ober äJtultan, bort ein ftaffeehänbler aus 3aba,
ein Nentier aus Sajan, ja mitunter auch einjelne Häuptlinge aus bem Norb»
Weften SlfrifaS, Welche bebeutenbe Summen in flingenben ÜJtünjcn bem in Äon*
ftantinopet tagenben ©omite ber ÄriegSunterftüjjung jufommen liehen, ©hawl-
fleiber aus Snbien, ißelje aus Sabul, Halbfeibenftoffe, ffuh 3 unb Sopfbefleibungen
aller Strt langten aus ben entfernteren ©egenben ein. Sie Sciter beS ©ertheibi*
gungSfriegeS gegen baS ©hriftentljum nahmen biefe ©oben mit Stiüfchweigen ent-
gegen, ©uropa fümmerte fich toenig um bie ©reigniffe; werben bodj felbft noch
heute biele Stimmen laut, welche behaupten, bah ber ©aniSlamiSmuS nur ein
©efpenft, nur bie Ausgeburt erhifetcr ©hantafie unb faum ber ©eaChtung würbig fei.
Soch um nicht miStierftanben ju werben, müffen wir gleich bon Domherein
erflären, bah «3 uns am aüerwenigften einfällt, in ber bisher tljeils offen tjerbor*
getretenen, theilS im ©erborgeuen wirfenben SeWegung beS Sölam irgenbeinen
mächtigen ©unb ober eine heilige Hermanbab nach Slrt unb SBeife weitüerjweigter
©etfehwörungen entbeefen ju wollen. Ser SSlam ift ein grober, mächtiger unb
feineSwegS ber ©erwefung anheimgefattener Körper; aber er ift träge unb fchwer*
fällig, fd^täfrig unb energielos, unb waS bisjefct ftch an ihm bemerfen lägt, baS
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364
Unfere ^eit.
finb bie lünftüdj bnüorgerufenen dudungen, jene oerein$ett aufftadernben eteftrifdjen
Sinter, Welche bie an meutern fünften aufgefteflte Satterie bet Stgitation tjeroor*
gerufen, unb aus welchen mit bet Seit eine mächtige, biefen fcheinbar tobten
Körper betebenbe Strömung berborgeben wirb. 3a es wirb bieS eine Strömung
merben, bie aüe Uebertegenbeit bet abenbtänbifdjen Gutturmett febwertid) einju*
bämmen im Stanbe fein wirb. $er deitgeift ber mobernen ©Jettanfcbauung
greifet in ©uropa mit riefigen Schritten fort; in Stfien bewegt er fidj (angfam
im Sdjnedengange; aber er bewegt fitfj bo<b — unb bieS foflten unfere Regie¬
rungen teineSfaflS überfein.
©Bit hoben oon einzelnen, an oerfdjiebeiten ©unften aufgefteflten elettrifcben
©atterien ber Agitation gefprocheit: wir miiffen batjer auch beS teitenben unb
betebenben ©eifteS biefer ©ewegung ©rwäbnung tfjun. 3m ©egenfajje $u ber bis*
jefct aßgemein oerbreiteten Slnfid)t, baß biefe ©ewegung aus Sonftantinopel, oon
bem Sifce beS ^atifatö, batjer aus bem oermeinten ©eutrum ber ©Jett beS 3ölom
ausgegangen, glauben wir oietmefjr, baß ber rührige unb geiftig tebenbige Suttan
©bb'U(»$amib nicht fo feßr biefe ©ewegung mach gerufen b«t, fonbern fic^ ißrer bloS
bebienen Wiß, unb bafj fie nicht jefct erft entftanben ift, fonbern fd)on oor 3 a br*
jebnten ejiftirt bot. 3$ erinnere mich ganj genau in ber ©litte ber fünfziger
3afjre jener wunberbaren Stimmung, bie fotdje ©ffapS unb ©ücber, welche bas
eine ober anbere X^ema aus ber ©tanjperiobe beS 3^ am betjanbetten, in tör=
tifeben Greifen ^erOorgerufen haben. XiefeS war befonberS ber Saß, als ein wotjt°
babenber Xiirte ©ruebftüde aus ben ©Berten beS ©ef«^i«^t^p^itofop^eu 3bn=©balbun
brudfen ließ. Xie ©ultur blühte unter ben Dmajjaben uub Slbbaffiben; bie arm*
felige Steßung, Welche baS bamals ttodj oerwitberte ©uropa bem übermüd)*
tigen 3$tam gegenüber einnafjm, unb ber große Xienft, wetten arabifdje
©elebrfamtei't burdj ©rbottung griedjifd) = p^ttofopfjifc^er ©Berte bem Slbenblanbe
gefeiftet, ging oon dünge ju dünge, unb Xürteu, Surbcn, ©erfer, Xataren, Reger
unb ©oSniaten fonnten fidj trofc ber ©erfebiebentjeit ber Sprache, Hautfarbe unb
Slbftammung mit gleichem freubigem ©efübte an bem Strablenglanje ber oergan*
genen moStimifdjen ©ultur. XantalS ^atte ich 0011 bent abfoluten ©lange! ber
nationalen Unterfdjiebe im 3 dt am mich juerft überjeugt, unb bamals fab ich ben
©aniSlamiSmuS, oon bem heute fcljon aße ©Bett fpriebt, in ben erften fcfjwacben
Umriffen üor mir fteben.
Seit jener deit tritt bie panislamitifcbe ©ewegung immer weniger febüebtern
auf; bie bünnen, bis bamals noch unfidhtbaren gäben beginnen ju erftarten unb
in ber gorm eines RefceS fi<b über baS weite ©ebiet ber mobammebanifchen ©Bett
auöjubeljnen. Urfprünglidj eine Religionsbewegung, bie, Wie in Stfien unb im
3 stam insbefonbere, erft fpäter für weltliche dwede fi<h wirb bcnuj}en taffen,
ruht baS ©Bert bis beute faft auSfd(jließti<b itt ben tpänben ber ©loflaS, b. b> ber
©riefterflaffe, Wenn ich wich f° ouSbrüden barf, unb gebt baher Oon fotchen
aus, bie reine Segeifterung für bie Sache mitbringen, unb fich babureb oott
ben weltlichen Slgitatoren im SRorgentanbe unb oon ihren ©erufSgenoffen in
©uropa wefenttich unterfebeiben. Unb in ber Xtjot, biefe Seute hoben eine große
~ Wtüberwinbung unb Setbftüerteugnung betunbet, inbem fie ben altberfömm*
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Der Panislamismus im Kampfe gegen (Europa.
365
lidjen Anfdjauungen untreu geworben, in bie Arena be§ Kampfes eingetreten finb.
SBenn idf fo auf bie nur furje 3ätfpanne oon 30 Sauren jurütfbenfe unb bie
arabifd)en unb tärlifc^en SDtoKaS mir oergegenwärtige, Welche, unbefümm'ert um
bie großen Seränber ungen, bie um fie f)erum üorgef)en, wenn bet europäifdje
3eitgeift noch fo oft in einer betäubenben Steife feine gittidjc regt, immer nur
oon ber Stett üor 1000 Satjren, immer unb immer nur üon tjaarfpalterifdjen 2>i8=
cuffionen über moäfimifcfje SuriSprubenj, Soraitejegefe u. f. w. fpradjen — unb
wenn id) nun fe^e, wie biefe SJtoHaS, bas h°h e ißult ihrer tffeotogifdjen ©pecula*
tionen oertaffenb, ihre geber ju rein Weltlichen 3weden gebrauchen, wie fte über
$ampfmafchineu, europäifdje Ignftitutionen, politifdje Defonomie u. f. w. {preßen,
wie fie, bie oerftodten Sonferüatioen, ihre ®lauben3genoffen jum ©inlenfen in bie
neue Sahn, sunt wiffenfdjaftlichen Stettfampfe mit ©uropa anfpornen — wenn ich
biefed alles fehe, bann !ann ich mich nicht üor Serwnnberung über biefe große
Umwanblung faffen.
Sorberljanb jeigt fich biefe Bewegung nur in einem geberfampfe, an welchem
fich einerfeits int Stufe lwh ec ©eleljrfamfcit ftehenbe IS^eoIogen, anbererfeits wieber
politifdje ©djriftfteller arabifcfier, tiirfifdjer unb tjinbuftanifcher Nationalität bt
theiligen. 3)ie ©cfjrift „En-nasiha el’-amme li-mulük el-islüm wa’l ämme", b. lj.
„Allgemeiner Statt) für bie Könige unb SBölfer beS Saturn", hot einen ißtofeffor
an ber $odjfdjule oon SJteffa, Atjmeb eMBerjinbf^i el=£mfaim, jum SSerfaffer, ber
feinen ©laubenSgenoffen es ganj uuumWunben herauSfagt, bah ber unermübliche
gortfeßritt ber djrifttidjen Stelt für bie ©efammtf)eit bei 3^lam eine broljenbe
©efaljr biete, unb baß biefe nur abjulenfcn fei, wenn bie ^Rechtgläubigen eben ber*
felben Stoffen fich bebieneu, b. h- wenn auch f' e ouf ber Sahn ber Steuerungen
rüftig fortfehreiten unb ber tßflege ber Sänfte nnb Steffenfchaften obliegen, um fo
mehr, als bieS nach ben ©afcungen beS SoranS febem ÜDtohammebauer ftrengftenS
befohlen ift. ®er SJtoHa geht nun weiter unb finbet bas wirffamfte SERittet jur
©egenwehr in ber Silbung einer ©efellfchaft, ber moStimifehen Union, beren
ßentralfifc ©tambul fein fott unb in welche bie Rechtgläubigen ber ganzen Stelt
einjutreten hoben, ba hirrju einigermaßen fchon ber Anfang gemacht Worben fei
burch bie ©penben unb Siebesgaben, welche währenb beS lebten 2ürfifd)=9tuffifchen
SriegeS aus allen ber islamitifdjcn 2Selt angetangt finb, waS auf bie
gntereffengemeinfdjaft hoch flar genug hinbeute. ®ie Schrift behanbelt ferner bie
fchreienben Ungeredjtigfeiten, welche bie chriftliche Stelt in ihrem ffiampfe mit ben
SRoSlimen fich bisjefet ju ©djulben tommen ließ, unb führt unter anbem bie ©rau*
famfeiten ber Sulgaren gegenüber ben dürfen StumelienS an, fowie bie ©djänb*
lidjteiten ber ruffifchen ©olbaten gegenüber ben ©reifen, Sinbern unb grauen in
Gentralafien, wobei ber Autor herüorljebt, baß fein 2)fdjengi8fhan, fein £elagu,
ja fein einziger wegen feiner ©raufamfeit berühmter ©roherer folche Unmenfd)-
(ichfeiten oerübt höbe, ©r h Q t nicht ganj unrecht, benn wenn Wir auS ben
türtifchen ©hronifen bie Serichte üon ben ©iegen ber CSmanen in ber euro*
päifchen Uürfei unb in Ungarn lefen, fo werben Wir Wof finben, baß Sitten ju
SJtofcfjeen oerwanbelt unb gewaltfame Sefehrungen üereinjelt oorgefommen finb, aber
•wir werben nicht finben, baß geheiligte ©räber ber bamaligen ©Ijriften jerftört
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366
Unfere ^eit.
unb mit Unflat überfdjfittet worben, baß man Xaufenbe non Sanbbeftyern getoalt=
fam bepoffebirte, toie bicS bas fogenannte freiheitliche Bulgarien unter bet Hegibe
beS mit feiner ©ibilifation unb Humanität ftch fo fe^r bräftenben ©uropaS getHan.
©benfo Wenig Iefen Wir in biefen ©Hronifen, baß bie Sparen eines SRurab II.
ober Rtoßammeb II. weHrlofe grauen unb ßinber ju Xaufenben Hingemepett Haben,
wie es 3. 99. bie bluffen im testen Kriege gegen bie Xeffeturfomanen getßan, in
wetcßem napeju 16000 SRenfcßen auf biefe SBeife umgefomnten finb.
3n äßntidjer SBeife Hot fi<H i« ber Reujeit ©(Heid) ©b*ul>#uba, ein ßeroor*
ragenber SRotta aus ©prien, in einer ©cßrift, auf bie wir nod) jurücffommen
werben, geäußert, ©in ähnlicher (Seift fpri<Ht aus jaHllofen Ärtifeln ber ägpp*
tifchen unb türtifchen treffe, namentti<H aus ben ©palten beS in ßonftantinopel
rebigirten arabifcHen ©tatteS „El-Dschewaib", unb befonberS intereffant Hobe i(H in
biefer ©ejieHung eine bor fünf 3aHren im „Wakit" (einem in fiOnftantinopel er*
fcHeinenbem türfifcßen 3ournal) »eröffentfichte Reüje bon Hrtifeln gefunben. $er
Serfaffer, ber ganj offen befennt, baß biefeS XHema f^on feit 3 a Hrett ben
©egenftanb feiner eingeHenben ©tubien bilbet, entwirft oor allem ein trauriges
©ilb ber Heutigen S^omwelt, inbem er ftatiftifcH nacßweift, baß bie große RleHr*
jaßl ber RedHtgtäubigen oon nicht moHammebanif^en Regierungen beHerrfcHt unb
unterjocßt wirb. @r ftcUt ein nodj traurigeres ©rognoftifon für bie Sutunft unb
meint, baß bie $auptfdjulb pieroon in ber Setfaßeenßeit, ©orgtofigfeit unb un*
glaublitHen Sgnoranj ber Recptgläubigen liege, benen er nun nadj ber ReiHe ihre
SeHIer unb Setfäumniffe oorwirft. S)te ©oSnialen unb bie ^erjogewiner tabelt
er, baß fte, auftatt in ihr graufameS unb unüerbienteS Unglüd fich ju fügen unb
im Sanbe ju oerbleiben, lieber fjauS unb #of oerlaffen unb ber öfterreitHifdfen
Regierung fo am beften in bie $änbe arbeiten, ©in gleicher Sorwurf trifft bie
moHammebanifcßen 3 n foffeu ^Bulgariens, benn er meint, burtH ©jpatriirung Oer*
minbere ficH bie SoHl ber RecHtgläubigen, wäHrenb burdp ein beHarrlicHeS Ser*
bleiben im Sanbe ber ©pielraum ber ©roherer beengt unb ben ÜRoSlimen no<H
immer Recßnung getragen werben müßte. $en SKoHammebanern ber ffrim unb
fitojanS wirft er bor, baß fie jebe Serbinbung mit bem großen Äörper ber SBelt
beS 3$lam gewaltfam abbre^en, baß fie ihre ReligionSbücHer in rufftfcHen 3)ru<fereien
bruden taffen, unb baß fte oon ben Sorgüngen in ben Sänbern ihrer übrigen
©laubenSgenoffen ganj unb gar nicHt unterricHtet finb. $affetbc wirb autH ben
ÜDloSlimen im ÄaufafuS oorgeHalten. Stuf bie SRittetafiaten ift ber Rutor be*
fonberS fdjtedjt ju fprecßen; er tabelt bei iHnen unb nicht mit llnrecßt ben 'abfo*
luten SRangel beS ©efüpleS ber 3ufamntengef)örigfett, ber gegenfeitigen Unterftüpung,
unb Weift unter anberm auf bie Monate H*u, wo Rußtanb mit SonniOenj ber
nomabifdHen Seüölferung bie ©eßHoften unterworfen Hot, um fich fpöter ber teptern
gegen bie erftern bebienen ju lönnen. ®en cpineftfcHen RloHammebanern wirb
jugeftanben, baß fie ju ben einflußrei<Hften unb bemittettften ©inwoHnern beS
ßimmliftßen SlumenreitHeS ber SERitte geHören, baß fte aber baS gemeinfame moS*
limifche Sntereffe arg oernacßläffigen, ftch bot allem für ©pinefen Hotten unb ju
ben ©laubenSgenoffen anberer Sänber unb SBelttpeile in gar feiner SejieHung
fteHen. Rm meiften werben bie RioSlimen ©inbuftanS angepriefen. ®er Rutor
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Der Panislamismus tm Kampfe gegen (Europa.
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finbet, baß fie gu ben meiftgebilbeten ihrer ©laubenSgenoffetc gehören, baß fie
ftrenge an ben Soßungen beS SoranS galten unb bemtocfj burdf) ein beftänbigeS
gortfchreiten auf bem SBege ber ©ioilifation bei ben ©nglanbern gu ben höcfjften
SBürben fich emporgefdjwungeu, bafj fie infolge biefer Stellung bie Königin oon
©nglanb gur Snnahme beS Sitels „S’aiferin oon Snbien" fogufagen gegwungen,
leiber aber troß adebem auf ben übrigen gSlamiSmuS bisjeßt noch feinen er»
muntemben ©influß auSguüben öermocht hoben. Schließlich geht ber Serfaffer
auf SRorbafrifa über, wo er in Segßpten g. 93. ben adgu ftarf übertoucfjemben
europäifchen ©influß tabelt, inbem er hrroorßebt, baff 95 jßroc. ber moSlimifchen
93ebölferung Oon 5 ißroc. Stiften fich leiten (affen, ©o fdjeint ißm and), baß
in Slgier bie Stnfäffigen überall baS greiheitSgefüfit ber $alb» unb ©angnomaben
gewaltfam unterbrficfen unb ben grangofeu in bie £änbe fpielen. (Bon SJtaroffo,
too ißm bie (Berfiältniffe am aderflägtichften oorfontmen, will er gar nicht reben.
Unb nadjbem er fo feine flüchtige dteoue beenbet, gef)t er gu jenen SDtitteln über,
in benen er eine möglichft batbige Leitung beS UebelS entbecfen gu fönnen glaubt.
2>iefe finb — was wir gu feinent Sobe fagen müffen — aderbingS weniger
pljantaftifdj als anbere, bie bisher in ähnlichen ©tgäffen angepriefen würben,
unb gipfeln in fo(genbem ©aße: „®ie islamitifche Union ift ein äußerft widj=
tigeS, ja unauffcfjiebbareS (Bebürfniß; hoch beoor Wir biefelbe ins Beben rufen,
müffen ade SQloSlimen fi<h gegenfeitig genau fennen, fie müffen auf bet (Baßn ber
mobemen (Bilbung mehr fortfcßreiten, unb nur nacf)bem fie jener (EBaffett [id)
bemächtigt, mit Wellen bie SDiofjammebaner l»eute oom Sbenblanbe gefcßlagen
werben, nur bann fann bie islamitifche Union erfprießlich unb ihrem geinbe ge»
Wachfen fein."
@S würbe aderbingS gu weit führen, wodten wir bie fdjon gu einer Reinen
Siteratur aufgebaufcfjte $iScuffion über Swecf unb SBittel ber paniSlamitifchen
Bewegung, wie foldje in ber arabifdjen, türlifchen, perfifchen unb malaiifchen
treffe bi« h eute S u Soge tritt, bem Sefer ausführlicher mittheilen. ©8 genüge üor
adem gu wiffen, baß biefe 2)iScujfion jeßt auf ber EageSorbnung fteljt, baß fie als
eine ber intereffanteften ©rfdjeinungen^ im gefedfchaftlichen Seben beS mobemen
SfienS unferer ungeteilten Sufmerffamfeit würbig ift unb baß es baher Weber
eine Seit» noch SBortüerfcfjtoenbung ift, wenn wir uns nach t>en Urfachen unb
etwaigen golgen biefer (Bewegung umfehen. SBir bebürfen beshalb feiner befonbern
©ntfdjulbigung, ba bie enge (Berbinbung ber Vorgänge in ber uns benachbarten
afiatifcßen SBelt mit unferm eigenen politifcßen unb gefedfchaftlichen Seben heute
fchon jeberntann erfichtlich ift, unb ba wir es als eine heilige Pflicht beS Schrift»
ftederS betrachten, feine SDleinung felbft bort unb bann unumwunben herauSgufagen,
Wo biefe mit ben leitenben Steifen unferer eigenen ©efedfdjoft unb mit ben Sb»
fidjten ber (Regierungen im (Biberfpruche fteht. Db eine folche Darlegung
unferer Meinung ihre belehrenbe SBirfung auSübt ober nicht, baS muß uns gleich»
gültig bleiben; es wirb nicht baS erfte, nicht baS leßte warnenbe SBort fein,
Welses nußloS oerhadt, hoch ber ©chriftfteder fann fi<h tröften, feine Pflicht ge»
tan gu hoben, inbem er fagt: „Dixi et salvavi animam."
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Unfere g>ät.
Sor allem bie Stage: „38er §at benn eigentlich bie panislamitifche ©etoe*
gung herborgerufen?" $ie Slntmort barauf ift einfach unb tautet: „2>a8 immer
mächtiger auftretenbe ißanchriftenthum." — 333a«? ©ancfjriftenthum? toirb man
fagen, ift bie« nicht ein Anachronismus, bort, mo eine chriftlidje SRacht in
SiiOatität mit ber anbem eben bem 3$Iam 6eifteht; währenb mir ja noch tmr
30 fahren gefeljen, mie laufenbe bon ©hriftenfeelen unb SRillionen djriftlicher
Selber eben gum SBohte beS Sslam geopfert mürben? SBir hotten bennoch
unfere ©ehauptung oom Kampfe beS tßandjrijtentbumS gegenüber bem ißaniöta*
miSmuS aufrecht. SEBaS bie einzelnen aus biplomatifdjen Sdjadjgügen auSfliefjen-
ben Sncibengen unb ffipifoben anbelangt, fo oermögen fie nur menig bie SBaljrheit
ber Sohrhunberte alten, nur in oerfdjiebener Sorm, aber immer im gleichen ©eifte
heroortretenben Sbee ber Seinbfeligfeit gu erfchüttern, benn maS baS fiedjenbc ©hganj
gegen bie auffeimenbe SRadjt beS SStam begonnen, maS bie Kreuggüge fortgefefct
unb maS ber Xfirlenbunb feinergeit in Europa angeftrebt, baS hot fi<h bei ber
mobemen chrifttichen SBelt im Äufroerfen ber fogenannten „Drientalifdjen Srage"
fortgefefct. Stur baS Kleib, nur bie SBaffen ber Seiube hoben fich beränbert, bie
Xenbeng ber ©egner ift biefetbe geblieben; benn trofc all unfern ißochenS auf baS
Seitatter ber freien Sorfdjung unb ber SBijfenfdjaft, trofc ©traufj unb Karmin
unb trofc unferS äufjerft lagen djrifttichen StetigionScuttuS, ftellt fich unfere Seinb=
fdjaft gegen ben Sitarn nur als ein Kampf ber einen Stetigion gegen bie anbere
bar. Db mir mit ber ©ibet gegen ben Koran fechten ober nicht, mir finb bennoch
nichts anbereS als moberne Kreugfahrer, bie nicht oon ben munbermirfenben
paaren beS grauen ©fets eines ißeter oon SfmienS, fonbern burch bie ©laubüdjer,
Stothbüdjer, ©etbbüdjer u. f. m. unferer ©abinete gunt Kampfe angefpornt merben;
mir lämpfen bietleicht nicht mit bem ©ifer unb ber llebergeugung eines ©ottfrieb
oon ©ouiüon, hoch mir fämpfen mit ben ©orgügen unferer mobernen Kriegführung
mit üiel mächtigem ©rfolgen, unb namentlich finb es bie SJtoStimen felbft, melche
mit §inblid auf bie Statur ber ©emeggrünbe bie Xhotfadje ber geinbfeligfeit
in folchem Sichte auffaffen. Unfere ©djönrebnerei Oon ber erhabenen ©ultur»
miffion beS AbenbtanbeS bei ben orientalifchen ©ötfern, Oon unferm fogenannten
innern 2>range ber 2Jtenf<henliebe, metdje uns anfpornt, unfere Stebenmenfcfjcn,
ohne Unterfchieb ber Sorbe unb ber Abftammung, oom Xrude ber Xprannei gu
befreien unb einer beffem Sntunft entgegenguführen, unb fdjtiefslid) unfere ©e=
geifterung für baS Sicht ber mobernen ©itbung hot felbftöerftänblidj in ben Ohren
ber SJtoStimen ftetS als ein eitler ©ortoanb gellungen unb nie unb nirgenbs
©tauben gefunben. Sie nehmen fich nicht einmal bie SJtülje, bem fo menf<hen=
freunbtich gefinnten ©uropa baS ©eifpiet ber ruffifdjen ©arbarei oorguhalten, mo
bas humanitärifche SJtentorthum eine gang erfpriejjliche Ühätigleit entfalten fönnte,
mo bie ©efeUfdjaft oiet ärgere SBunben aufmeift als im Sötam, unb mo eS
niemanb einfällt, gur gemattfamen Teilung ber SBunben fich onfchicfen gu
motten. 308ie gefügt, baS moSlimifdje Slfien finbet eS nicht einmal ber SJtühe
merth, biefe Ausflüchte ber chrifttichen StngriffSfteltung gu befpöttetn: fo feft ift
man bort oon ben rein materiellen Steeden unb oon ber nadten ©robcrungStuft
beS SBeftens übergeugt.
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Der Panislamismus im Kampfe gegen (Europa.
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9hm, mir motten biefe Sprache ber europäißpen tßreffe unb ber europäißpen
Diplomatie nicpt weiter unterfucpen. SBir paben oot Saljren in nnferm SBerfe
„Der Sslam im 19. Sa^unbert" bie grage oon ben etwaigen folgen ber
europäifdjen Silbung auf bie 58511er beS SRorgenlanbeS fdpon eingepenb befprodpen
unb betrauten baper bie Stellung, welche (Europa peute bem dpriftticpen SCpen
gegenüber einnimmt, in jenem Sidjte, in Weitem nacp bem Weepfelnben ©dpitffale
ber Staaten unb ©efettßpaften bie mädptigen Steife ju ben im SBerfatte, ja im
Stabium beS Unterganges ejriftirenben Sänbern feit Saprpunberten per ßcp be=
funben paben. ©s ift ber unoeränberlicp bleibenbe ©ang ber SBettgefcpicpte,
ben mit in ben ©efdpüpten beS alten ©prienS, SegpptenS, ©rieepentanbS unb
9tomS gefepen unb nun audp bepiglidp ber tnoSlimifcpen SJtacpt fdjon feit 2fapr=
punberten oor Slugen paben. SBoju bie ©cpönfärberei, tooju baS (Bemänteln bet
Ipatfaepen? SBir paben bie Uebermadpt, ber 3stam liegt ju unfern ffüßen; mir
fmb bie ©ieger unb ber 3Slam ift ber Sefiegte; mir bürfen unS aber nidpt
tounbern, menn leptcrer bie SebenSpoffnung nocp nidpt gänjlidp aufgegeben pat, Wenn
er ben entf<peibenben DobeSftoß abjumepren fucpt unb im Stampfe um baS Da»
fein feilte lepten Sräfte jufammenrafft. Daju braudpt er natürli(p einen fjüprer
unb pat benfelben audp in jener 9Jtadpt gefunben, bie als Natio militans fdpon
feit mepr als einem Saprpunbert an ber ©pipe beS 3Slam geftanben, bie feit napeju
bierpunbert Sapren als geiftigeS Dberpaupt ipn nadp außen repräfentirt unb bie
infolge iprer Siadpbarßpaft unb ipreS engern SßerfeprS mit bem Slbenblanbe ber
Süprerrottc öietteidjt audp am beften gemadpfen ift. Unter biefer SKacpt oerftepen
mir felbftoerftänblicp ben ottomanifdpen Saiferftaat unb namentli<p ben Sultan
ber Dürfei, bem als Spalifen, b. p. redptmäßigen ©tettoertreter äJtopammeb’S, bie
SJertpeibigung beS SSlam als 5ßfli(pt obliegt. Diefer ißflicpt finb bie ©ultane
ber Dürfei in ber langen 9teipe ber Sümpfe, bie ße gegen baS ffipriftentpum ge»
fotpten, jiemlicp geroiffenpaft nadpgefommeit unb eS barf unS baper nidpt im minbeften
befremben, wenn ße nun in ber Steujeit an bie ©pipe ber paniSlamitißpen 83e=
wegung ßcp geftettt unb foltpe jum SBople ber moSlimitifcpen SBelt nadp Dpun»
li(p!eit auSjubeuten beftrebt finb. 3n ©uropa ift man in neuerer Seit ber Stnßcpt,
baß biefe SeWegung nur Dom Sultan 9lb*bul=SßS peroorgerufen fei, befonberS aber
in ber Ißerfon Slbb=ul-£>amib’S, beS peutigen £>errfcperS ber Dürfei, ipren eifrigften
SJerfetpter gefunben pabe. Diefe Slnnapme berupt, wie oiele anbere unferer Ur»
tpeile über Slßeit, nur auf Unlenntniß ber eigeittlicpen ©adplage. Die 3bee beS
^aniSlamiSmuS pat ßdp, Wie mir betoiefen paben, am (Bosporus f(pon jur Seit
3n>b»ul»SDtebf<pib’S gegeigt, ja fie fanb bafelbft bereits öiet früper ipre Slnpänger;
benn bie auffattenbe SuOorfommenpeit, mit roeltper man bie (Säfte auS SRaroffo,
©ocpara, Spolanb, Dftturleftan unb 3<>öa feitbem bepanbelte, bie frommen Stif¬
tungen, bie jur 93e»oirtpung biefer Seute bienten, unb bie SluSjeidpnung, mit meldper
ottomanifdpe ©äfte in jenen fremben Legionen fcpon oor S^prpunberten bepanbelt
Würben, beuten ganj Har auf baS enge (Banb ber (Brüberlidpfeit, auf baS nur
bem (Europäer oerborgen gebliebene ©efiipl ber SWtereßengemeinßpaft pin. 3e
ßärfer bie ©efapr war, befto offener trat biefeS ©efüpl peroor, unb ba bie Regierung
Hbb-ut»§arnib’S eben biejenige ift, unter Weltper ber moSlimifdpe ^orijont ß(p am
Unltrr 'Seit. 1982. I. 24
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Unfere <5eit.
meisten tjerbunfeft unb bie un^etlfc^tuangent SBolfen fic^ am tiefften herabgefenft
haben, fo muß e« al« natürliche golge betrachtet werben, baß er, aö ßämpe be«
SSlam, am meiften in ben Vorbergrunb tritt unb al« eigentlicher ffirfinber be«
5ßani«lami8mu8 tjingeftellt wirb. SRerfmütbigerWeife ift ®6b*ul=$amib, biefer
in ©uropa fo oiel befprochene nerrfdjer bet Xürfei, bet geiftigen gührerroöe im
3$lam weit beffer gewachfen, als wir nach bem feierten Urtheit unferer fßreffe an»
guneljmen pflegen. 2lbb»ul=namib, ein Sprößling be« Serail«, ift gleich feinen
übrigen Vorgängern unter ber fehr berfängtichen Seitung Bon fßalaftbamen, bummen
Xanten, blöben Eunuchen, feroilen ©rgiehern unb ungebilbeten Valtabfdji« aufge«
wachfen unb würbe baher gu feinen anbern Hoffnungen berechtigen al« fo mancher
feiner Vorgänger auf bem Xhrone ber 0«maniben. ©r fcheint aber au« einem
gang anbern Stoffe geformt gu fein al« festere; benn er ift butch unb burch be»
gabt, er hat einen fcharfen ©lief, er ift öon unermüblicher X^dtigfeit unb geigt
folche ©erechtigfeit in Veurtheilung unb üluffaffung ber Singe, baß er, Wenn er
nicht am Steuerruber eine« finfenben Staatsfdjiffe« fich befänbe, gu ben außer»
orbentlidjen Hetrf ehern geregnet Werben fönnte. 9tbb=ul»Hamib befiel tro|} feiner
bemadjläffigten unb mangelhaften ©rgieljung eine gang grünbliche orientalifdje
Vilbung; er fennt bie Sprachen unb bie ©efchichten be« ntoölintifchen Offen«, er
ift ÜReifter ber fchweren türfifdjen Stiliftif, hat namentlich eine eingehenbe Äenntniß
ber moSlimifchen Religionsfachen unb ift öor allem in Dollem Vewußtfein ber
SEBithtigfeit ber Volle, bie ihm al« bem geiftigen Seiter be« 3$lami«mu8 gebührt.
Sn ber europäifdhen Vilbung hat er e« natürlich nicht Weit gebracht; et fennt nur
oberflächlich frangöfifch, weiß aber um fo mehr in ben Politiken Verhättniffen
be« Slbenblanbe« Vcfcheib, berfteht e« mehr al« alle feine SRinifter, bie Reinlichen
Ribatitäten unferer ©abinete gu feinen .ßtoeden gu bernt^eit, unb ift am aller»
wenigften ber 2Rann, ben bie Voten unferer Siplomatie unb bie Reben ber ©e=
fanbten am ©olbenen £om eingufchüchtern bermögen.
6« barf baher gar nicht wunbernehmen, Wenn ein gürft bon folgen ©eifteö*
anlagen unb gäljigfeiten Wie 2lbb»ul»Hamib, ber noch bagu in allen SBinfelgügen
ber orientalifchen Sntriguen aufgewachfen ift, an bem bon Vatnr au« eine ftarfe
Xofi« bon ÜRiStrauen haftet, biefe geheimen gäben ber paniSlamitifchen Vewegung
in feine $anb genommen hat unb biefelben gleich einem Refce über bie gange
3«lamwelt au«breiten unb im Sntereffe feine« arg gefährbeten Xhrone« berwertljen
Will. Sa Slbb»ul»Hamib thut bie« franf unb frei; fein fßalaft Silbig'Söfdjf ift
währenb ber lebten fünf Sah« ber Sammelpunft all jener au« ber weiteften
gerne angelangten mohammebanifchen Ißilger unb Serwifdje geworben; er berfehrt
mit biefen ohne Vermittelung feiner URinifter, er läßt fich über bie innere Sage
ber Rechtgläubigen in allen brei SBelttheilen unterrichten, er holt Rathfdjläge über
bie bunfte Vebeutung eingelner Xrabitionen unb Äoranfäfce ein, er liegt mit
ferupulöfer ©ewiffenhaftigfeit ben Vorfchriften feiner Religion ob, er ift mit
©inem SBorte nicht nur ein ftrenger ©täubiger, fonbern trachtet auch, ein Wahrer
S'hatife ber Rechtgläubigen gu fein, ein „®otte«fcf|atten auf ©rben", ein „gürft
ber Rechtgläubigen" nach bem SRufterbilbe ber erften ^halifen ober Sntame.
Unter folchen Umftänben unb bei einer folgen Xenbeng barf e« faum überrafdjen,
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_Der Panislamismus im Kampfe gegen Europa. o7[
bafj St6b ul ^>amib Deute fdjon im Sterben SlfriFaS, im Innern EcutralafienS, in
Snbien, in (£f)ina, in Qaöa unb am Gap ber ©Uten Hoffnung fidj beS SJtufeS
eines unberfälfchteu ^^atifen evfreut, unb bnfj bie Srcitaggebete, ruelc^e in legaler
Seife feinen Staaten einfctjalten, ganj echt auS ber Sruft ber ^Rechtgläubigen
Fommett, fowie baf? alles fich um fein 2Bof)l beFümntert. So natürlich, wie biefe
Sachlage unS erfdjeiitt, fo berechtigt muffen Wir fie auch ftnbctt. ®er Singriff auf
ben türlifchen Saiferftaat ift ein Eingriff auf ben ©efammtislam, ein Slngriff auf
baS f|ierarcf)ifd^e unb jugleid) weltliche Oberhaupt beS lefctern, unb nur bie bon
GgoiSmuS berblcnbete furjfichtigfeit Fann baran Slnffojj nehmen, bajj biefeS Ober»
haupt gegen bie ©efahr fich wehrt unb biefe SntereffengemeinfamFeit fojufagen als
bie „ultima ratio Chalifarum" betrachtet.
24*
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Wit Dütt Iot(ktnbt(k
Seutfche gamilien:, Staats* unb fReichSgef<hi<hten
oon
fiarl ßrann-ttDicsbab«t.
II.
2) ®ie 8«it &e$ UebergangeS. ((Schluß.)
5luch in gorcfenbecf’S Skter finben wir eine entfliehen freifinnige politifche
?Iber, in Uebereinftimmung mit ben Srabitionen beS ©roßoaterS. 9Jur beobachtete
er ftetS biejenige .Burüdtjaltung, tuelcfie er burch feine richterliche Stellung fich
aufertegt glaubte. SSenn S'art gmmcrmattn in feinem „Dberhof" ben richtigen
SBeftfaleit batjin charafterifirt, baß er eine compacte TOfcfjung oon Klugheit unb
SEBürbe, oon Vernunft unb Sigenfinn fei, fo fonnte man baS auch auf ben Ober*
gericfjtSrath Oon gorcfenbecf attwenben. ^ebenfalls War er ein 2Rann oon ßh° 5
ratter unb Würbe als folcher angefefjen unb geachtet.
Er betheitigte fich unt baS 3ah r 1832 ober fchoti früher an einer Petition,
welche bie Stotabeln beS SJtünfterlanbeS an ben weftfätifchen Prooinziallanbtag
richteten unb in ber fie ihn baten, fjöcfjften DrtS bie Oerfprochcnc Errichtung boit
SReichSftänben bringenb ju befürworten. Siefe Petition würbe Oon Ferrit oon ©o*
belfdjwingh unter anbem auch bem Prinzen Sßilhelm üon Preußen, bamalS ÜDlilitür»
gouOerneut Oon 9tfjetnlanb unb SBeftfalen, mitgetheilt, unb in SBeftfalen glaubte
man allgemein, baß biefer Prinz, ber je^ige Seutfche ffaifer, fich lebhaft für
biefen ©egenftanb intereffire.
@3 War bem bamaligen ©chwarm oon Stjfophanten, {Reptilien unb Senun*
cianten — benn auch bamalS fcfjon gab eS bergleichen — oorbehalten, in biefen
Petitionen einen SJtangel an „SJönigStreue" ober wenigftenS ein ittotjaleS ober
unziemliches Swängen ju finben. ©ie beforgten bamit bie ©efchäfte beS dürften
•JJtetternich, aber nicht biejenigen Preußens. heutzutage ift !aum noch jemanb in
ßwcifel barüber, baß, wenn man nicht auf jenen fremben SSathgeber (Welcher für
Defterreicfj, wo er alles üerfäumte, ebenfo üerhängnißbotl geworben ift als für
Preußen, wo er jebeS nationale Streben z u berbächtigcn unb zu unterbrücfcn
Oerfudjte), gehört hätte, fonberu auf bie wahren ^ntereffen Preußens unb bie
bamit ibentifchen ScutfdjlanbS, wenn man fcfjon zwifcfjen 1820 unb 1840 {Reichs^
ftänbc eingeführt hätte, man bamit Seutfdjlanb einen SRittefpunlt für ben poli=
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Die pon Jorcfenbeef.
373
tifdjen ©ebattlen unb für bie potitifche Slrbeit gegeben hätte, währettb nun bie
tefetere in minbeftenS uufclofer, oft aber auch gerabeju fchäbtidjer, ja öerberb*
tiefer centrifugaler SBeife in ben „conftihitionetten" beutfehen SRittel* unb Mein*
ftaaten oerpuffte. Slidjt nur einen ÜJlittetpunlt für Xeutfdjlanb, fonbern junädjft
auch einen folgen für Preufjen, baS bamit ben SSeg einer ruhigen, gleichmäßigen
unb ununterbrochenen ©ntwicfelung betreten hätte, toefd^er eS fixerer, früher unb
leichter an baS Siet geführt, welcher ihm alle jene Sprüngen unb SBirrungen,
©töjje unb ©egenftöfje einanber paralpfirenber Slctionen unb Üteactionen erfpart
haben würbe, bie währenb ber SRegierungSjeit griebrief) SBithelm’S IV. bem ffönig
unb bent Sanbe fo oiel SeibWefen bereitet haben.
XantalS würbe, wer fol<he Petitionen unterfchrieb, in baS ©chWarje Such ein*
getragen, unb feine ©<hulb wuchs, je mehr es bem dürften SRetternich gelang,
allerlei an unb für fid) wenig erhebliche Xhorljeiten, welche er felber h^borrief
burch fein ©Aftern ber Sledjtung aller liberalen unb nationalen ©ebanfen in Xcutfd)*
lanb, als blutige SRebolutionen, ober wenigftenS als Vorläufer berfelben, bar*
juftellen.
Su jenen „Xljorheiten" rechne ich bor allen baS „ftambadjer geft" oom
27. SRai 1832 unb baS „granlfurter Sittentat" bom 3. Slprit 1833.
3n £>ambadj hatten fich einige 2eute aus SRheinbaiera, SRljeinheffen unb Sabeit
berfammelt, um fich 3 U beraufcheit au jungem füfjem SBein unb altmobifch ho<h s
tönenben SBorten, Welchen man heute nicht bie geringfte Sebeutung beilegen Würbe.
3m Sßergleich ju ben ungeftünten Singriffen, welche heutjutage auch fogenannte
„Sonferbatibe" gegen bie wirtljfchaftlichen ©ruitblagen ber beftehenben ©efeflfdjaftS*
orbnung unb gegen bie beftehenben Reichs* unb ©taatSgefe^e richten, Waren bie
fogenannten „rebolutionüren" Sieben bon $amba<h bie reine äRilchfpeife ber poli*
tifdjen Äinbljeit.
Unb nun gar baS granlfurter Sittentat! ©in unbiSciplinirter Raufen bon ©tu*
benteit unb anbern, Ieiber mit ©djufjwaffen berfehetten jungen äJlenfdjen hatten
fid) — WaS nur bei ber bort Ijerrfchenben 5BuramelWirthf<haft begreiflich — ber
franlfurter #auptwache bemächtigt, in ber thörichten SReinung, bamit feien fie im
33efifc ber Politiken unb militärifchen ©ewalt über Xeutfcfjlanb. X)ie preußifchc
unb öfterreichifche ©amifon ber benachbarten mainjcr geftung machte ohne Serjug
unb ohne Stnftrengung biefem 3rrthum unb biefem ©chWinbel ein ©nbe. ©r war
ohne Sweifel bie bummfte bon allen ben bamals lanbläufigeit bummen Sugenb*
efeleien.
SIKein gürft SRetternich wußte fo was auSjubeuten — namentlich auch in Söerlin.
Obgleich felbft ber hö<hft« ©rab ntenfchlidjen ©d^arffinnS nicht ausreicht, um
ben entfernteren Sufammenhang jwifchen ber lopalen Petition an bie weftfälifchen
©tänbe unb ben Xhorheiten bon Hambach unb granlfurt a. 2R. ju entbeefen, fo
würbe boch ber ObergeridjtSrath bon gordenbeef plö|lich bon URünfter nach SeeSlau,
bon bem SRorbweften nach ©üboften, bon SBeftfalen nach ©d)lefien berfe^t, ohne
©ehaltsaufbefferung unb fonftige ©chmer^enSgelber, welche begleichen SSölferwan*
bernngen ju berfüßen beftimmt finb, bon welchen baS tanbtäufige SBort geht:
Zweimal bezogen ift fo gut wie einmal abgebrannt."
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Unfcre ,3eit.
37*
Sordenbed eiUe nat Verlin, um gegen biefe ungerechtfertigte SRaftregelung ju
proteftiren. Sr fanb fein ©efjör. ©elbft greunbe rieten ihm, eiligft unb ohne
SBiberfprut nach VreSlau ju gehen. „Die feiten feien ftlimme; es mehr ein
fefjarfer reactionärer SBinb. @8 fei am beften, benfelben oorüberbraufen ju (affen;
in einem fo aufftrebenben ©taatswefen wie ©teuften fönne ja boch berfelbe un«
möglich fange währen."
gordenbed ging nach VreSlau. SEßic wenig er an eine längere Dauer biefer
„Verbannung" glaubte — wenn man bieS SSort anwenben barf auf eine fo iHuftre
©tabt Wie VreSlau — beweift ber Umftanb, bafj et grau unb ftinber anfangs
in SJtünfter jurüdlieft, offenbar in ber Hoffnung, halb felbft Wieber baljin jurüd»
fehten ju fönnen. Diefe Hoffnung hat fich niemals oerwirflicht. Der Steft feiner
Dage theilte fich jmifchen Verlin unb ©djlefien. Aut barin fieht man ben gort»
gang ber beuifchen SntWidelung. Der ©roftbater War ein fpecififter 2Rünfter=
länber unb ift eS geblieben bis an fein Snbe. Abgefeljen oon ben refultatlofen
VermittelungSconferenjen in lättidher Angelegenheiten, ift er, glaube ich, hächftenS
noch nach Diiffelborf, fonft aber nicht über bie ©renjeit beS ÜRünfterlanbeS hin»
auSgefommen. Der Vater aber war als preufjifter Veamter f<hon barauf angc»
wiefen, fich ben SBedjfel ber ©robinjett unb Sänber unb ©täbte gefallen ju laffen;
ber preufjifte ©taatsbieuer hot nicht jenes ©pecififdje, welches allen fleinftaat»
liehen Veamten fo eigentümlich ift, im guten ©inne unb im fchlimmen. AIS
1868 ein naffauifdjer Veamter nach einer frönen pommerfchen ^afenftabt berfefct
würbe, fchrieb er einen rührenben Vrief an ben preuftiften Sütinifter, er möge
ihn boch bamit berftoneit. Sr fügte hinju, er fönne in einem folgen „SRefte"
nicht ejiftiren; „benn", fo hieß eS wörtlich, »it bin gewohnt, in gröftem ©täbten
ju leben, nämlich in H, unb 8"- $a nannte er brei naffauifche Aeferftäbtdjen
boit 1—2000 Sinwohnern.
gordenbed ber ©ohn aber ift auch über ©teuften h'nauSgeWachfen. Sr ift
Deutfdjer.
©o fehen wir alfo aut in biefer gamilie bie fflimaj unferer cultureHeit unb
Politiken Sntwidelung: ©robinj, Staat, (Reich — SRünfterlanb, ©reuftenlanb,
Deutfchlanb.
gm Sah« 1834 würbe ber breSlauer OberfanbeSgetittSratlj gran$ bon gorden»
bed auf einige Seit nach ©erlin berufen, um als ^ülfSridjter bei bem Ober»
tribunal ju wirfen. Dann fehrte er nach VreSlau wieber jurüd unb lieft aut
feine gamilie baljin fommen. Sütan fteint fit in Verlin bot feljr halb überzeugt
ju haben, wie unrett man ihm gethan, als man in ihm eine Art bon „gafobiner"
erblidte.
3m 3ohre 1840 würbe er Vicepräfibent beS DberlanbeSgerittS in ©Iogau.
Aut biefe Srnennung ift ein SRerfjeiten, ober gleitfom ein HReilenftein in
ber Sulturentwidelung ©reuftenS.
SS ift baS erfte mal, bafj in ©reujjen ein Äatljolif Vicepräfibent eines Solle»
giums würbe. Dies war bas SBerf griebrit SBilhelm’S IV. Vis bahin waren bie
ffatljolifen bon ben f)öh ern ©often im ©taatsbienft auSgeftloffen, nitt burt baS
©efefc, fonbern burt eine feftfteljenbe ©rajiS ber Verwaltung, de facto, non de jure.
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Die t>on ^orefenbed.
375
Sei ben SEBaplen Don Slnfang 1849 würbe ber Vicepräfibent ooit gordenbed
Dort SreSlau, wo man bem mtparteiiftfjen unb geroiffenpaften Stifter, ber jugleidj
ein liberaler unb oollStpümlicpet SRann war, ein gutes Slnbenlen bewahrte, in bie
©rfte Kammer gewählt, wo er jut „Sinlen" gehörte.
®iefe „beiben Äammern" ooit 1849 beruhten auf ber VerfaffungSoctropirung
Dom 5. ®ec. 1848. ©ie Waren gewählt natp bem gleitpjeitig (am 6. Sec.)
octropirten SBaplgefepe, baS noep geheime SIbftimmungen patte. Sie octropirte
Verfaffung enthielt bie Vorfcprift, bajj fie fofort naep bem erften Sufammentritt
ber Kammern einer „{Reoifion auf bem SBege ber ©efepgebung" unterworfen wer»
ben fotte.
Sie Kammern traten am 26. gebt. 1849 in Serlin jufammen. Sie erlannten
bie octropirte Verfaffung als „baS nunmepr ju {Recpt beftepenbe ©taatSgrunb»
gefep" an. gordenbed unb feine greunbe fugten Don bem SBerfe ber „National»
berfammlung" foDiet wie möglich ju retten.
SRitten in ber parlamentarifcpen Slrbeit, unb fogar in ber ©ipung ber ©rften
Kammer, würbe gordenbed Don einem ©(plaganfall getroffen, welcper am 19. Slpril
1849 feinen lob jur golge patte. 6r ift gleicpfam auf bem potitifepen ®<pladpt=
felbe, bie SBaffen in ben |)änben, geftorben.
Salb banatp, am 27. Slpril 1849, Würbe bie Grfte Kammer Dertagt unb bie
Zweite aufgelöft. Slm 30. SRai 1849 Würbe abermals ein neues SBapIgefep für
bie S^eite Sommer octropirt, toelcpeS bie SreiflaffenwapI unb bie „Deffentlidpleit
unb SRünblicpfeit ber ©timmgebung" (Wie baS barnalS officiett benannt Warb)
einffiprte. SiefeS SBaptfpftem Würbe 1867 Don SiSmard im SteidpStage für baS
benlbar fcplecptefte erHärt, unter ©infüprung beS gepeimen allgemeinen Stimm*
retpts für bie SBaplen jum Steicpstage.
3) ®ie geit beS ÄufgangeS.
3<ij pabe bie Seit beS SiiebergangeS beS peiligen {Römifdpen SReitpeS beutfiper
Station mit feinen geiftlicpen unb weltlicpen {ReidpSftänben auSfüprlidp gefdpitbert.
3<p pabe bann bie Seit beS UebergaitgeS aus ber 9tei<pS= in bie granjofenjeit
unb aus ber granjofen* in bie Vreufjenjeit ju ffijjiren berfuept unb ißreufien
mitten in ben gelungen unb SBirrungen, in ber SIction unb IReaction, in ben
Vereinbarungen, Octropirungen unb SReoctropirungen berlaffen.
S33ir fommen nun ju ber Seit beS SlufgangeS; icp fann bei ber SarfteHung
biefer ißeriobe mi(p pinficptlitp ber piftorifcp*po!itif(pen ©reigniffe fiir^er faffen,
Weil mir biefelben ja mit erlebt paben. Stur ffolgenbeS mufj icp DorauSfcpiden.
Ser Anfang ber Seit beS SlufgangeS faßt für uns jufammen mit ber „neuen
Slera" Ißreu^enS; fie beginnt mit bem Dctober 1858, ba bet S r > n i 3 9tegent, jept
btt Seutfcpe Saifer SBilpetm, aufpörte, blofjer ©teHoertreter ju fein, unb bie felb»
ftänbige {Regierung übernapm, inbem er ein gemäßigt liberales SRinifterium berief,
jufammengefept aus SRännem, welcpe baS Vertrauen beS SönigS unb audp baS
bes Volles genoffen.
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376
Unfere <5eit.
3fn bet SWocution, tätigt bet fßrinj» Stegent am 8. Stob. an feine neuen
SRinifter viertele, hob et i>ert>ot: „3n bet §anbhabung unfetet innetn Verhältniffe
finb mit feit Slchtunbbierjig Don einem ©jtrem in baS anbete geworfen Worben.
Von einet ©ommunatorbnung, bie ganj unöorbereitet Selfgooernment einführte,
finb wit Wiebet p ben alten Verfjältniffen prüdgebrängt worben, ofjne ben gor»
betungen bet 3<it SRedjnung p tragen, was fonft ein richtiges SRittehalten bewirft
haben würbe." ©r ertannte bann ofjne Untfdjweife an, bah es notfjwenbig fei,
„bie forgliche unb beffernbe $anb anplegen, wo fid) SBiltfürticheS ober gegen bie
Vebürfniffe bet 3«it SaufenbeS jeigt".
®n unumwunbeften fprac^ ftd} bet fßrin^SRegent über bie Äirchenfrage aus.
„3n beiben Kirchen", fagte et, „muff mit allem ©rnft ben Veftrebungen ent»
gegengetteten werben, bie baljin abjielen, bie SReligioti pm ©edmantel politifdjer
Begebungen p machen. 3« bet ebangelifdjen Äirdje ift, Wit fönnen es nicht
leugnen, eine Drt^obojie eingefeljrt, bie mit ihrer ©runbanfehauung nicht Derträg»
lieh ift unb bie fofort in intern ©efolge #eudjelei hat. Sille ^eudjelei, Schein»
heiligfeit, furpm alles SirdjenWefen als SRittel p egoiftifchen Sweden ift p
entlatDen."
©iefe Änfprache beS fßtini»9tegenten, welche erft einige SSodjen fpäter an bie
Deffentlidjfeit gelangte, würbe im Sanbe mit ©ntfjufiaSmuS aufgenommen. SDtan
atmete auf, Wie Seute in einem 3>wmet, in welchem feit 3ah* u «b lag fein
genfter geöffnet worben unb in welches, nacfjbem bieS enblidj gefrfjehen, wiebet
frifdje ßuft einftrömt unb bie SRenfdjen erquidt unb ermuntert. ©ie fßolitif bet
borauSgegangenen SteactionSjeit war fdjlimmer als ber alte offene ehrliche Slbfo»
lutiSmuS im naiben ©efü^le feinet Starte. ©S war bet SdjeinconftitutionaliSmuS,
ber, auf baS äufjerfte beunruhigt unb erbittert, jebeS SOtittel für ertaubt hielt,
aud) folche, welche bie abfolute Stegierung berfd^mä^t hotte. Slm 8. 3Rai 1858
hatte ber fßrince=©onfort bon ©nglanb an ben fßrinsen bon ißreu^en gefdjrieben:
„©ie Slrt ber SBahlumtriebe beS ÜRinifteriumS SRanteuffel hoi bei allen pa»
triotifch unb rechtlich ©enfenben einen fo tiefen unb geregten Slbfcheu erregt, bah
Su foWot bie Berechtigung als auch bie Verpflichtung hoft, eine SSieberhofuttg
biefer Schmach unter ©einem Stauten p berhinbern. ©ah man aus ber V®P« 5
larität ©eines StamenS auch & e i bw ©elegenheit politifcheS Kapital wirb fdjtagen
Wollen, muh erwartet Werben, ©ie Stellung beffelben (beS populären StamenS)
unb bie Stüdgabe ber unbehinberten Slusübung beS SBahfreehtS an baS Voll,
welchem bet ßönig biefeS Stecht in ber Verfaffung feierlich berliehen, wirb ein
S<ha| reichen Segens werben für ©ich u «b für fßreufjen."
©ie SBahlen bon 1858 gaben bem Volle fein unbekümmertes SBahlrecht
Wieber, unb baS Voll fam ber neuen Stegierung entgegen.
©aS neugewählte StbgeorbnetenhauS, welches am 12. 3on. 1859 pfammentrat,
geigte eine pgleidj goubernementate unb liberale SRajorität unb eine erbitterte
SRinorität bon „Keinen Herren", einen Steft jener Keinen, aber angeblich „mach»
tigen" fßartei, beren üRacf)t pfammengefchntolgen war, fobalb baS Wahlrecht eine
SBahrheit würbe unb bie gefe|wibrigen Veeinfluffungen aufhörten.
3n biefer Verfatnmlung ift benn auch pm erften mal 3Ra£ bon gordenbed
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Die Dort ^orcfenbecf.
377
ald Äbgeorbneter eruierten. (Sr War bamald 37 3ab re alt. SBerfen loir einen
tafdjen SBIicf auf feine Saufbabn.
gordenbed Etat juerft auf einer fübbeutfcben Untoerfität ftubirt, nämlich in
©icßen, unb bann in ©ertin. Slmtirt bat er juerft in ©djtefien. 3n Dft»
unb SBeftpreußen bat er ber JlnWaltdprafid obgelegen unb Sommunalämter be»
Reibet. ®ann ift er bad £>aupt ber jweitgrößten preußifdjen ©tabtgemeinbc
(©re^lau) unb enblicb bad ber größten (©erlin) getuorben, Wo er eine fo geartete
©teHung einnimmt wie ber 2orb»3Jtat)or in fionbon. ©or bem lefctern aber
jeicbnet et fi<b wieber baburcb aud, baß er „Sprecher" bed preußifcben unb
bed beutfdben ©arlamentd War, wad meined SBiffend niemald ein 2orb»2Jtat)or non
Sonbon gewefen. ©eibe parlamentarifcbe ©räfibentenfifce bot er in ©bren befliegen,
mit Siubm innegebabt unb mit ©bten neriaffen. Sn (Snglanb pflegt ber Sprecher,
Wenn er feinen ©ifc »erläßt, mit allen nur erbenflidjen @b ren nom ©taat über»
bäuft ju werben. Sn Seutfdjlanb ift bied weniger ber gaH: ein neuer ©eweid
bafür, baß wir in ber 2bat noch febt weit entfernt finb non jener „©arlamentd-
herrfcbaft", nor welcher ber Slbgeorbnete greiberr non 2Kinnigerobe, wenn man
feinen ©erficberungen ©lauben fdjenlen barf, ficb fo außerorbentticb fürchtet' —
ohne jureichenbe ©rünbe.
Snbeffen ift gordenbed’d öffentliche Saufbab« nodb nicht abgefchloffen. SBir
wollen baber ber 3nfunft nicht norgreifen.
©o feben wir alfo, Wie gordenbed in feinem (Sntwidelungd» unb Sebendwege
non ber SRotben (Srbe nach ber Sahn unb nach einer Unioerfitätdftabt non ffib»
beutfchem ©barafter, bann nach ben ßänbem bed ©altifcbcn SDteered, hierauf nach
ber fdjlefifchen Kapitale unb enblich nach ber SReicbdbauptftabt geführt Wirb.
@r hat alfo ben Storbweften unb bett ©üboften, ben ©übweften unb ben
9torboften bur^wanbert, nicht nur burchwanbert, nein ftubirt, gepflegt unb lieb»
gewonnen.
gür niete gilt ber ©pruch:
83 ift bu wo gut aufgenommen,
®arfft bu nur nid)t wiebertommen.
gür ihn gilt er nicht. UeberaH, wo er war, wirb er wieber mit offenen Firmen
empfangen; bad frobwütbige unb banlbare ©cblefien bat ihn am 27. Dct. 1881
fogar burch eine ®oppelwabl geehrt, obgleich ed wußte, baß er feinem prcußifcb»
fächfifcßen SSablfreife, bem er feit 16 3 a b ren angebört, treu bleiben werbe.
SEBie bie meiften $eutf<ben auch bann, wenn fie guted @<hriftbeutfcb fprechen,
burch leichte $iale!tan!tänge ihre #erfunft nerratben, fo ift ed auch &ei gordenbed.
®er SEBeftfale ift in feiner Sludfprache unnerfennbar. SEBer aber ein feined Ohr
bat, ber lann auch einige weftpreußifche ober elbinger 2öne baneben ganj (eicht
bemorflingen büren.
(Sr hat alle SBeltgegenben EDeutfcblanbd, alle ©olfdftämme unb alle SDtunbarten
(ennen gelernt, um baburcb immer mehr unb immer fcfter ein guter $eutfcber ju
werben unb ju bleiben.
Sn bet fReactiondjeit War ber preußifchen Sugenb »erboten worben, nicht«
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378
Unfcre <3eit.
preufjifche beutfd^e Uniöerfitöten gu befugen. Srft (Snbc 1838 war baS Verbot
wieber aufgehoben worben. 3Jiaj bon gorcfenbecf war einet bet erften, bie »on
bet wieber gugeftanbenen afabemifchen Freiheit (gebrauch malten, um auf einet
tticf)tpreufjifchen ^odjfchule gu ftubiren, auf »eichet bamats baS fpäter fo glängenbe
©eftirn SuftuS Siebig’S feine etften ©traf|Ien betfanbte unb bet alte Seht ein
bortreffliches Ißanbeftencolleg las.
gorcfenbecf’S Sätet hatte für bie etfte ©tubentengeit einet fteinern Uniberfität
ben Sorgug gegeben. Unb gwar einet fübbeutfehen; benn bie (Stenge gwifdjen
bem ©üben unb bem Sorben liegt auf biefem (gebiete gtoifchen SUarburg unb
(giefjen; in bet erftgenannten Uniberfität hetrfdjt mehr norbbeutfdj=chattifcheS, in
bet letztgenannten mehr fübbeutfdpfränfifcheS Seben unb SSefen. 2)et alte gorefen«
beef toat bet Meinung, ei fei am beften, toenn bie Sorbbeutfdjen auf fübbeutfehen
$ochf<hulen ftubirten unb bie ©übbeutfdjen auf norbbeutfehen. Ohne Stoeifel
toürbe eine folche ©ewöhnung bagu beittagen, bie feltfamen Sorurtljeile unb ®nti*
pathien, »eiche noch öielfach „beutfehe Stüber" gegeneinanbet, ohne jeben bet-
nünftigen (gruttb, h e 9 eu » abgufchleifen. Seibet gehen aber auch ^cute noch bie
©übbeutfehen biel weniger nach bem Sorben, als umgefehrt. ®och fei bem toie
ihm wolle, ber junge gorcfenbecf ging gern nach ©iepen unb hat bort anbetthalb
3af)re mit feinen ^efftfe^en EorpSbrübern ein bergnfigteS ©tubentenleben geführt.
(St »at einer ber Stifter ber „Xeutonia", bie heute noch bort flotirt; er hat mit
ihr baS ,,©inb »ir nid^t gut $errtichfeit geboren?" gefungen unb auch ben
Schläger gezwungen; unb man fann bon ihm, wie bon bem SeichSfangler, mit
SifolauS Senau fagen:
@fjren«9tö3Iein purpurfarben
SBIüp’n ihm im ©efiebt bie Farben!
Sei biefer ©elegenheit fann ich übrigens bie Setnerfuttg nid^t unterbrüefen,
bafj bie EorpSftubenten, »eiche ftch bamalS, gu (Snbe ber breifjiger unb gu Stnfang
ber biergiget 3ahte, um fßolitif wenig fümmerten, fpäter eifrige praftifche fßoti*
tifer geworben, bie Surfchenfchafter aber, »eiche bamalS als ©tubenten bet fßolitif
feht eifrig oblagen, meiftenS conferbatibe Somantifer ober „©tille im Sanbe" ge=
worben. Sßoher mag bas fommen? ®ie rheinifdjen Säuern haben ein Sprich»
wort: „®ie Sögel, bie gu früh pfeifen, werben bon ber $aj}e gefreffen."
Son (giefjen ging 2Saj bon gorcfenbecf nach ber $ocfjphule Serlin, wo er
fi<h wenig um baS fpecififche ©tubentenleben fümmerte, fonbern eifrig ben juri*
ftifdjen ©tubien obtag.
hierauf folgt bie gewöhnliche praftifche ©<hule unb bie (Sjramina beS jungen
gurifteit, im Sobember 1842 bas StuScultatorejamen in ©logan unb im guni
1847 baS Staatsexamen in Serlin.
$ann würbe er ©tabtrichter in (glogau. Unb nun folgte jenes Sah*/ baö
jebem Deutphen, ber es mit erlebt hat, unbergefjlich bleibt unb baS, was
nur gu begreiflich, biSjefct noch feinen gerechten (gephichtphreiber gefunben. geh
meine natürlich baS 3ah r 1848, baS üon bent einen „baS toHe Saht" unb bon
bem anbern „baS Saht beS SBiebererwadienS" (fo nannte es ber gute alte fßro«
feffor SSütermaier Oon ^»eibelberg, als er in ber franffurter fßaulSfirdje baS Sor=
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Die oon ,for<fertbecf.
379
Parlament eröffnete), ober bab bet „SSBiebergeburt 2)eutfchlanbb" genannt wirb;
uub im ©runbe ift eb ebenfowol bab eine (nie bab anbete gewefen.
Seine oier grofjen ©rgebniffe finb: 1) baf) bet beutfdje ©inheitbgebanfe hörbar
unb fichtbar föt ade gteichfam förperlich in bie Seit trat; 2) bafj ijkeufjett ein
wirftidheb Parlament erhielt, bem oon ba an bie pflege beb Politiken beutfdjen
©ebanfenb oblag; 3) baß bab 3o<h beb ißolijeiftaateb, bab äKetternictj $eutfchlanb
auferlegt hatte, abgetootfen; nnb 4) bafj unfer ©erliättnifj ju bet Defterreichifch®
Itngarifdjen Sülottarchie in einer S33etfe in grage gefteUt warb, welche pr Sluf=
töfung beb ©unbebtageb führen ntufjte.
Sieben biefen großen ®ingen fpielte benn auch noch eine SKenge Reinlicher
unb Keiner.
ißatriotibmub nnb Sfrä^Winletei; wirthfchaftlidjer gortfchritt unb eine Wiber*
wattige SKifdjung oon jünfiigen unb communiftifchcn gbeen, welche [ich fettfamer»
weife „5>emofratie" nannte; ©ernunft uub Unbernunft wirbelten burcfjeinanber.
(Sb war nur p natürlich, bafj, nadjbem bet ißoli^eibrurf, bet aUeb nieberhielt,
gewichen, fich nun ade ©ebanfen, ade Stiftungen unb ade Stimmungen regten,
auf folf e, welche wenig ©fiftenjbereftigung Ratten.
©or aden Gingen wodten nun, naf bem fo lange ade munbtobt gemacht worben
waren, ade reben, öffentlich reben unb bibcutiren über ade öffentlichen unb ge»
meinfamen Singelegenheiten. So entftanben bie phtlofen Glubb unb Serfamm»
lungen. . (Sinjelne berfelben begingen Stubffreitungen; aber im großen unb ganjcit
haben fie Oiel pr Slufllärung, ©erftänbigung unb pr ©eff toif tigung ber Seiben»
fchaften beigetragen. Solf e ©erfammtungen, Wie bie Oon 1881 in ©erlin, welche
bie Erregung oon ftlaffenhafj p ihrer adeinigen Slufgabe machten, hat eb im
„toden 3ahr" meineb SBiffenb nirgenbb gegeben. Selbft bie Seibenff aften hatten
batnalb einen eblem S^arafter.
Kudh in ©logau bitbeten fich potitiffe Gtubb, unb prnr ben Oorhanbencn
Parteien entfprechenb 1) ein bemofratiffer, 2) ein conferüatiber unb 3) ein
„oolfbthümtich'Conftitutioneder", etwa in bem Serhältnijj oon Sinfe, Siechte uub
linfeb Gentrum peinanber ftehenb.
$ab Stabtgericht beftanb aub einem Eodegium oon fünf Stiftern. ®rei biefer
Stifter fehen wir an ber Spifce oon je einem biefer politifdhen ©ereine, unb jwar
gorefenbeef an ber Spifce beb ootfbthümlif=conftitutioneden.
Sltb nun bie neue guftiprganifation fam unb bie octrotjirte ©erorbnung üorn
2. 1849 „über bie Aufhebung ber ißrioatgerif tbbarfeit unb beb efimirten
©erichtbftanbeb fowie über bie anberweitige Organifation ber ©eridhte" (fpäter,
nach ©efanntmafung 00 m 22. Slpril 1851, oon ben Kammern genehmigt) bem
guftijminifter über bab guftiperfonat grofje ©ewatt gab, benufjte ber SJtinifter
biefe ©etegenheit unter anberm auch bap, $errn oon gorefenbeef p eröffnen, bafj
feineb ©leibenb in ©togau, unb überhaupt in Schlefien, nicht mehr länger fei,
unb baß er für ihn überhaupt feine anbere ©erWenbung habe alb bie alb Steftb»
anwatt — unb auch bab nur in einer ber Meinen Stabte jenfeit ber 253eif fei, in
welchen bamatb neue $reibgerif te errichtet würben, ©b waren bie oftpreufjiff en
Orte: Kdenftein, ©artenftein unb SJloljrungen. Swiffeu biefen brei SWerftäbtdEjen
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380
Unfere ^eit.
hatte er alfo bie $lu«»ahl/ wie fie ißari« hotte unter ben brei Göttinnen, al« er
über ben 2lpfel betfügte. 2)ie ©ahl bie Qual!
E« war um biefelbe Seit, ba ber nämliche guftijminifter — er hieß ©imou^ —
@djul}e»S)elihfch nach bem pohttfchen ©täbtlein ©reffen berfefcte, Wo er auf bem
©ege ber Urlaub«berweigerung gleichfam intemirt »erben foOte. ©djutje jog es
bor, gänjlich au« bem ®taat«bienfte au«juf<heiben; er btieb in 2)etif>fdj, wo er
ben erften Sorfdjuß« unb Erebitberein eingerichtet bjatte. Son ba au« förberte
er ba« ©er! jener Erebitaffociationen, welche ben „Meinen äJtann" auf bem ©ege
ber ©otibarität crebitfähig unb crebitwiirbig gemacht hoben. 3e|ft ift au« bem
Meinen ißftänjchen, ba« er bamal« pflanzte, ein mächtiger Saum geworben, ber
feine befruchtenben 3weige über ganj 2)eutfehtanb au«breitet unb ben ba« 9lu«tanb
bewunbert.
©ährenb ©chufye ben @taat«bienft berließ, blieb Sorcfenbecf in bem guftij»
bienfte, getreu bem ©ranbfafc, baß man bem Uebet bie ©tim bieten unb nur um
fo tapferer barauf Io« marfdjiren rnüffe.
„Tu ne cede malis, sed contra audentior ito!" fagte er fidj mit Sergiliu«.
Sr gab jwifdien ben brei ©täbtchen jenfeit ber ©eichfei, welche man ihm
oorgefchlagen hotte, SJtohmngen ben Sorjug, weil bort bie Sebölterung beutfch
ift. 3ch wiberftehe nur fchwer ber Serfuchung, ju fchilbem, Wie bie guriften,
dichter unb Anwälte, welche üon ©eften herlamen, um an bem neuerrichteten
©eticht ju thun, wa« Siechten«, bamal« e« bort fanben. Statt beffen befchränfe
ich mich auf bie SBemerfung, baß SJtohmngen bamal« ein Steferftäbtdjen bon ein
paar taufenb Einwohnern war, in feinem gmtera nicht eine einzige Straßenlaterne
hatte unb mit ber Außenwelt nicht einmal burch eine Sanbftraße in Serbittbung
ftanb. gefjt ift e« auch bort wegfam unb heH geworben, unb gordenbed hot ba«
©einige baju beigetragen. $er tlmftanb, baß er gleichfam al« „gefährlicher SKenfch"
au« ©chlefien entfernt Worben war, ljot übrigen« Öorcfenbecf in Dftpreußen gar
nicht gefdjabet. Sielmehr wußte er in fürjefter grift bort ba« allgemeine Ser»
trauen ju gewinnen. Er hotte halb eine feljr au«gebehnte unb lohnenbe Stecht«»
anroaltöpraji«; fdjon 1850 Würbe er in bie ©tabttierorbnetenoerfammlung gewählt,
in welcher er fofort ben Stntrag auf Straßenbeleuchtung ftettte unb burchfefcte;
bann würbe er 1854 bon bem SJtagiftrat in ben Kreistag abgeorbnet.
Er hot nodj in feiner neueften politifchen Stebe feiner ©irlfamfeit in SJtohmngen
mit großer Sorliebe gebacht. g<h werbe biefe ©teile weiter unten mittheilen.
geh höbe f<hon erwähnt, wie ber Äreis SJtohmngen, ißreußifdh»^oIIanb, junt
weit großem Xljeile au« länblicher Sebölferang beftehenb, ihn bei ben ©ahten
bom Stobember 1858 in ba« preußifche Slbgeorbnetenhau« fdjicMe, fobalb bem
Solle bie entzogene Freiheit ber ©ahl bon bem $rin}=Stegenten unb feinem libe»
raten SJtinifterium Wiebergegeben worben war. 2)a« Sertrauen be« Greife« blieb
ihm auch erhalten, al« er 1859 3techt«anwalt unb Stotar in bem weftpreußifdjen
Elbing würbe, wo er ebenfall« jum ©tabtberorbneten gewählt Warb.
Stuf bem Sahnhofe in Elbing trafen am 11. gan. 1859 bie neugewählten
liberalen Slbgeorbneten au« Oft» unb ©eftpreußen ein. geh will nur jwei bon
benfeiben nennen. 2>er eine, Heinrich Sehrenb bon ®anjig, war längere Seit
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Dte von ^orcfenbecf.
38 \
©icepräfibent be« Stbgeorbnetenhaufe«, unb Riefte al« folget eine glänzenbe Rode,
toerfict aber halb banach einem unheilbaren Siedjthnm. Der anbere War Seopotb
Freiherr von £>oVerbed, ©utsbefifeer au« Dftpreufjen, am 25. 3uni 1822 gebaren
unb alfo etwa« jünger al« ffordenbed. 2Ran tt>at lange gewöhnt, bie Ramen
jjfordenbed unb ftovetbed miteinanber unb nebeneinanber ju nennen. ©rft im
3fah re 1866 trennten fi<h ihre Politiken SBege; aber fie blieben einanber in
2rreunbf<haft unb Sichtung pcrfönlich verbunben, auch in bem Reichstage, bi« |>over=
bed am 12. Slug. 1875 in ©erfau, wo er in ber Sontmerfrifche Verweilte, turn
einem verfrühten unb plöfelicfeen lobe ereilt warb.
3m 3al}re 1859 ftellte ber StuSbrudj be« franjöfifch’italienifdjen Stiege« fofort
bie SRehrfeeit be« Slbgeorbnetenhaufe« auf eine patriotifche ©tobe. Sie War bereit,
ber Regierung bie SWittel jur SRobitmachung ju verteidigen, in ©elräftigung ber
SBorte be« ©rinz*Regenten, welcher in feiner Schtufjrebe fagte:
ift ißreufjenS Recht unb Pflicht, für bie Sicherheit, ben Schüfe unb bie
nationalen Sntereffen Deutfchlanb« einjuftefeen. Die Obhut biefer ©üter wirb e«
nicht an« feiner §anb geben. ©reufjen erwartet, bah alle beutfchen ©unbeögenoffen
ihm bei Söfung biefer Stufgabe feft §ur Seite flehen unb feine ©ereitwidigfeit, für
ba« gemeinfame beutfche ©atertanb einzutreten, mit Vertrauen erwibern."
Diefe (Erwartung würbe getäufdjt. Da« ©ertrauen blieb au«. Der ©unbe«=
tag weigerte ©reufjen bie militärifche Rührung; es fottte nur in feinem Stuftrage
unb nach feinem Sontmanbo auftreten. Oefterreich verlangte von ©reufjen einfach
bie |jeereSfolge be« ©afaden; e« opferte lieber bie Sombarbei unb feine itatienifche
Stellung, al« bah e« ©reufjen auch nur ben Schatten einer militärifchen Rührung
ber beutfchen StreitMfte einräumte.
Diefe Sehre blieb in ©reufjen unvergeffen. Sieben Sah« fpäter, 1866, hotten
ficfe it)« jjrüdjte gezeitigt.
Die fofortigen SBirfungen be« Satire« 1859 offenbarten ftch nach Zwiefacher
Richtung. Slu« bem S<hofe ber populären ©ewegung ging ber Rationalverein
hervor, an beffen Spifee ©ennigfen trat. Der ©rinz=Regent Von ©reufjen entwarf
bie Reorganifation ber Slrmee, beten Durchführung er in bie $änbe be« ©enerat«
bon Roon legte, welken er an Stelle be« $errn von Sonin jum fitiegSminifter
ernannte.
Da« Saht 1859 ift gleichzeitig ©eburt«jahr ber potitifcfeen Dhätigleit be«
§erra Von ©ennigfen fowot al« auch be« £>erm von Roon, ber Inangriffnahme
ber beutfchen Srage fowol burch ba« beutfche ©oll al« auch burdj ba« beutfche
§eer. Der Rationalverein unb bie Strmeereorganifation ftrebten auf ba« nämliche
Siet to«; aber e« waren biametrat entgegengefefete fünfte ber ^Peripherie, von
Wetten fie ausgingen, um ba« gemeinfame Sentrum ju erreichen. 333er ba« bamat«
Verfünbet hätte, Wäre auSgetacht worben. §eute, wenn wir jurüdbtiden, fehen
Wir bie Sichter ber Sahre 1870, 1866, 1859, 1848 unb 1813/1815 in einer
fdjnurgeraben Sinie; unb wir überzeugen un«, bah e« fich ba nicht um ba«
©er! eine« ©inzetnen honbelt.
SU« Sordenbed in ba« preujjifche Parlament trat, gehörten er unb feine nähern
Sreunbe zu ber zahlreichen ©artei ©inde. Diefe Partei herrfchte im §aufe unb
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382
Uttferc ^cit.
Würbe beljerrfcht bon bem ebenfo patriotifchen alö begabten Abgeordneten au«
Seftfalen, beffen Kamen fie trug; e« war auch ein gelter biefe« guweilen etwa«
unberechenbaren Rührer«, welcher ben ®erfaß ber {Partei herbeiführte.
Am 9. Sehr. 1860 würbe ber „Gefefcentwurf betreffenb bie Verpflichtung gum
ÄriegSbienfte" bei bem preugifdjen Sanbtage eingebracht, unb e« nahm barauf
bie Sache alsbalb jene berhängnigboße Senbung, bag man probiforifdj Ginrich*
tungen berwißigte, welche ihrer Matur nach nicht« anbete« fein lonnten at«
befinitibe. Die VertrauenSbewifligung ber neun {Mißionen fchlog thatfächlich bie
Genehmigung ber Meorganifation in fich, fo feljr man fich auch mit Sorten ba*
gegen berwahrte.* Durch biefen falfcheit Schritt bon bem geraben Sege, auf
welchem man nur „3a" ober „Kein" fagen fonnte, würbe ber SMilitärconflict
heraufbefdjworen, ber fich i unt SerfaffungSconflict erweitern mugte. Die $aupt>
fchulb trifft Vincfe; man barf aber babei nicht bergeffen, bag auch bie {Regierung,
al« fie am 5. 3Rai 1860 einen neuen ®efe|entwurf, gerichtet auf ein einmalige«
©ftraorbinarium bon 9 5Mifl. Dh*«*/ eingebracht hotte, bie feierliche Grtlärung
abgab, „fie gehe babon au«, bag (burch beren Verwifligung) in feinet Seife ben
fünftig gu faffenben Sefdjlüffeu präjubigirt werben wirb". Drop aßebem War bie
{Majorität nur eine fdjwache. Sie fefcte fich Mammen au« ben Anhängern Vincfe'S
unb einem 3nwach« bon ber {Rechten. Die {Mitglieber ber liberalen Partei, Welche
Sincfe nicht mehr folgten, würben fdjcrgweife mit bem Kamen „3unglitauer" be*
geidjnet, weif fie meift ber iprobing Vrcugen angehörten. 3« i^nen gehörte auch
gorcfenbecf. G« toaren beren anfang« nur 13, worunter auch ber Abgeorbnete
bon Unruh- ®l«i<h nach bem Schlug ber Scffion jebo<h, unb noch c h e bie Ab«
georbneten in ihre Heimat gurücffehrten, erweiterte fich „3 u «0titouen" gut „Deutfdjen
gortfdjrittspartei", toeldje in ihrem Kamen anSbriicfte, bag fie einen entfcfjiebenen
gortfchritt im 3nnern unb gugleid) auch in ber beutfchen grage berlange unb
baburch, bag fie fich „beutfdj" nannte, bent Kationalberein bie .f>aitb reichte, Welcher
fich f<h on 1859 conftituirt hotte. Auch Salbecf trat ber Partei bei, obgleich in
manchem, namentlich in ber beutfchen grage, nicht gang mit ihr einberftanben.
Da« ißrogramm ber neuen {Partei batirte bom 9. 3uni 1860. Die nächften Sahlen
brachten ihr erhebliche Verftärfung, barunter auch $arl Dweften. 3“ biefem
Seftanb l)ot fich bie {Partei erhalten bi« 1866.
gotefenbeef war auch tbäfirenb ber GonflictSgeit bemüht, eine Serftänbigung
herbeiguführen. Ginmal war er nahe baran, fie gu Stanbe gu bringen. G« war
im 34« 1863. Gr hotte feine SermitteIung«borf<hIäge in ber Gommiffion burch 5
gefegt gegen eine {Minorität bon nur brei Stimmen, Worunter auch SBolbecf. 3«*
{Plenum glaubte er auf eilte {Mehrheit bon gwei Dritteln rechnen gu fönnen. Giner
folgen {Majorität gegenüber burfte ntau Wol auch auf einige MadEjgiebigfeit feiten«
ber Kegierung rechnen, obgleich nian nicht bergeffen barf, bag e« auch Scute gab,
Welche principiefl eine Serftänbigung nicht Woßten, foitbern e« borgogen, „fich ben
Gonfüct hübfeh gu Käthe gu holten". 3<h höbe aßen ©ruttb, gu glauben, bag
in nicht aßgu langer griff bie Aufgeichnungen bon 3eitgenoffen hinüber ungweifel*
haften Auffchlug gewähren. 3<h tbiß baher mich f|i« ber weitern Ausführungen
hierüber enthalten.
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Sic Dort ,-forcfettbecf.
383
Sag folgere ©reignig, welkes bag ©Reitern ber bon gorcfenbecf eingeleiteten
©erftünbigunggberfutge marfirte, war bie befannte ©eene im Slbgeorbnetengaufe.
Ser ©räfibent bon 8odum»Solffg unb ber Ärieggminifter bon SRoon famen in
Sonflict miteinonber, unb ber erftere machte ber ©aege babureg ein ©nbe, bag er
feinen £ut auffegte unb bamit ben ©egtug ber ©igung gerbeifügrte.
2Bie wenig inbeffen ber fegwebenbe ©onftict £>errn bon gordenbed unb feine
greunbe abgielt, fieg in ftreng fadjlicger unb objectiber SBeife ben ©efegäften beg
Sanbeg ju wibmen, unb wie wenig biefe rebtiege, aufopferunggbolle unb patrio*
tifdge Arbeit bertoren ging, fonbern noeg biete Sagre tang reitgtidge griidjte trug,
bag betoeift ber ©ubgetberidgt bon 1865.
Sag |>aug gatte fünf SDlitgtieber beauftragt, bag ©ubget ju prüfen. ©g Waren
bieg auger gordenbed nodg Otto SRidgaetig, Seopotb bon ^oberbed, S"art Xweften
unb Seonor Steicgengeim. Sie brei tegtgenannten finb fegon tobt.
Sie fünf SRänner repräfentirten bamalg bie ©tite ber noeg ungetgeitten grogen
Partei unb lieferten ben ©eweig, Wag tegtere ju Ieiften bermodgte. ©ie befdgrfotften
fug nidgt barauf, bag ©ubget in feinen ©injetgeiten in gergebraegter SBeife p
prüfen, fonbern unterzogen baffetbe in feiner ©efammtgeit einer ftreng faegtidgen
bolfgwirtgfdgafttiigen, finanziellen, politifegen unb legiglatiben fititit naeg wiffen»
fegafttidgen ©runbfägen. 9ln biefe Sritif fnüpften fie eine Steige pofitiber Steform»
borftgtäge, welcge bag ganze ©taatg» unb ©otfgteben umfagten. Siefe ©orfdgläge
finb feinegwegg in igrer ©efammtgeit bon ber ^Regierung acceptirt, wogt aber finb
ge nadg unb naeg in igren ßinjetgeiteu bon igr auggefügrt Worben, in bem ©inne
unb in bem ©eifte, Wie fie in jenem ©eriegte begrünbet worben. 2Bo man re»
formiren wollte, fag man fieg genötgigt, zu jenem ©eriegt jurüdzugreifen; unb
bieg erftredt fi(g big auf bie neuefte Seit; benn fetbft nodg bag £>obredgt’fcge ©er»
Wenbungggefeg bon 1879 enttegnte jenem ©eriegt ben igm zu ©runbe tiegenben
©ebanten. Sturz, man fann bie ginanz», SBirtgfdgaftg» unb Stegierungggefdgicgte
©reugeng unb Sentfcgtanbg feit 1865 nidgt fdgreiben, ogne bon jenem ©eridgt atg
©runbtage augzngegen. Sttlerbingg bie Umlegt bon 1879, welcge mit bemSarif»
gefege beginnt, liegt gänzlicg angergatb beg Qbeenfreifeg jeneg Seridgteg; fie
bewegt fidg bietmegr in biantetral entgegengefegter ©iegtung.
3tm 29. 3°«* 1866 erfolgte in ber Unterfucgung gegen bie Slbgeorbneten
grenzet unb Sweften bie ©ntfegeibung ber ©ereinigten ©traffenate beg Dbertribu»
natg, burtg wetdge, unter ber ÜJtitwirfung bon §ülfgricgtern, bie biggerige ©rafig
beg göegften ©eridgtggofeg umgeftofjen unb im SBiberfprucg mit ©inn unb SBort»
taut beg 2trt. 84 ber ©erfaffung entfliehen würbe, bag bie Stbgeorbneten Wegen
igrer Steuerungen in ber Kammer bon bem ©trafriegter zur ©eegenfegaft gezogen
Werben fönnen, fofern eg fieg um ©erteumbungen ganbett.
#eute ift einet fotdgen Stuffaffung tängft ber ftärffte ©efeggebunggriegel bor»
gefegoben; unb bag Obertribunat ejiftirt ni(gt megr. glätte baffetbe ni(gt jenen
unfeligen ©efegtuf? gefügt (für ben man übergaupt nur biejenigen moralifdg ber»
antwortlidg ntaegen fann, welcge bafür geftimmt gaben, nidgt aber ben ©eridgtggof,
gefegweige benn fämmtticge Utitgtieber beffetben), fo würbe bag Steidgggeridgt
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_
38^ Unferc <3eit.
mahrfcheinticb nicht in Seidig, fonbern in ber 5Reicf)3bauptftabt feinen ©ifc
ermatten tjaben.
3ene ©ntfctjeibung beS ObertribunatS fanb natürlich im preufjifchen Äbgeorb»
netentjaufe bie nadjbrücftichfte Anfechtung. Forcfenbecf erftattete einen ausführlichen
©eric^t barübet, weiter mit fdjlagenben rechtlichen ©rünben bie Unhaltbarfeit jenes
SefdjtuffeS nachwies unb ben Antrag ftettte, baS hohe £>auS wolle mit Siachbrncf
gegen biefen unbefugten (Singriff in feine ©eredjtfame unb Freiheiten proteftiren.
Der Antrag würbe angenommen. Die Steaction fpöttette bamalS über bie 0h n '
macht beS AbgeorbnetenljaufeS. §eute hat baffetbe gefiegt. @8 erfreut fich feiner
öoüen oerfaffungSmäfjigen Siebefreiheit — baS Obertribunat bagegen hat aufgehört
ju ejiftiren. Sbuarb ©imfon, ber bamats baS ©rfenntnifj beS Dbertribunals am
fcharffinnigften unb einfchneibenbften befämpfte, ift jefet ber oberfte beutfche {Richter,
ber ißräfibent beS Deutfdjen {ReicfjSgericht8 in Seipjig.
Am 9. SRai 1866 würbe baS AbgeorbnetenhauS aufgetöft, am 25. 3funi fanben
bie Urmahten ftatt, am 3. 3«ti bie Abgeorbnetenwahten. Die lefctero öottjogen
fich un ter bem Donner ber Kanonen üon Königgräfc. Die ßonferüatiüen gewannen
über 100 ©ifce, bie FortfdjrittSpartei fdjmotj auf 80 SRitgtieber jufammen. ©elbft
SBalbccf Oertor bieSmat feinen alten SBahtfifc unb Würbe ftatt beffen in äRünfter
gewütet, in Forcfenbecf’S $cimat. SBiebergewöhtt würbe aber ber alte immer
jugenbfrifdje Demofrat Siegtet, ber im 3funi 1866 in feiner breStauer SBatjtrebe
gefügt hatte: „Das $erj ber Demofratie ift ba, wo {ßreufjenS Fahnen Wehen."
Auch Dweften hatte in ähnlichem Sinne gefprodjen unb bem ©echSunbbteifeiger»
AuSfchujj bie Freunbfdjaft gefünbigt, als berfetbe eine anfdjeinenb antipreufjifche
{Richtung einfchtug.
Forcfenbecf würbe in Königsberg in {ßrenfjen gewählt.
Am 5. Aug. 1866 würbe ber Sanbtag eröffnet. Die Dhronrebe fünbigte baS
SRachfuchcn um Snbemnität an fowie auch eine ©efefceSüortage „behufs ©inberufung
einer SßotfSüertretung aus ben 93unbeSftaaten" ({Reichstag). Forcfenbecf war Oer»
hinbert, an ber (Eröffnung theiljunehmen. @r weilte noch in ©tbing. Da erhielt
er ein Detegramm üon $oüerbecf: „Komme fofort, bu fotlft {ßräfibent werben."
©r teiftete bem {Rufe Folge. Die 3Bal)t beS neuen Snreau beS fpaufeS fiel auf
Forcfenbecf, ©taüenhagen, Oon SJonin; ber frühere {ßräfibent ©rabow war jurücf-
getrcten, um einen neuen ©onflict ju oermeiben.
©rabow war bisher nach jeber Auftöfung üon feinen SBähtem wiebergewätjtt
unb bann im Abgeorbnetenljaufe auch wieber auf ben {ßräfibentenftuht erhoben
Worben. Das {ßräfibentcnamt pflegte er anjutreten mit einer fcharfen ißh'tippifa
gegen bie {Regierung, ju welcher er fich berechtigt glaubte namens ber {Majorität,
bie ihn gewählt hatte.
3m ©egenfajj hiermit beftieg Forcfenbecf ben {jSräfibentenplafc mit einem furjen
©orte beS DanfeS unb mit bem SBerfprectjen, bie ©efdjäfte beS Kaufes unpart eüfdt)
fowie nach beftem Sßiffen unb ©ewiffen ju führen. Dies Scrfprecfjen hat er ge»
hatten, fotange er {ßräfibent War, fowot im Abgeorbnetenljaufe atS auch fpäter im
{Reichstage. Sr liebte niemals baS rljetorifdje {ßathoS. Auch atS {Rebner hat er
immer ruhig unb ftreng fachlich gefprochen. Als {ßräfibent war er noch gefdjäfts»
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Die t>on gorefenbeef.
385
mäßiger unb fdjlid)ter unb fo geregt, baß fogar feine greunbe fid) öfter befeuerten,
fie würben jurüefgefefet $u ©nnften ber ©egner. Er genoß baS rüdhalttofefte unb
unbebingtefte Vertrauen aller gractionen beS $aufeS; nur „grictionen" mit bem
ffi^ef ber {Regierung, b. h- mit Ferrit öon SiSmnrd, tarnen zuweilen bei itjm öor,
fo gut Wie bei anbern {ßräfibenten.
Unter feiner tfjätigen Seiljülfe !am bie Snbemnität ju ©taube, bie SBalbecf
mit allen ffiräfteu befämpfte. TieS gab Serantaffung p ber Spaltung ber gort»
fdirittSpartei in zwei üerfchiebene gractionen, Oon Wetten bie eine bie Trabitionen
ber ßonftictäjeit aufrecht erhielt unb aud) ben bisherigen {Rainen, bie anbere ba=
gegen, bie liberalen ©runbfäfje feftfjaftenb, mit ber Regierung eine SSerftänbigung
im Sntereffc ber politifdieii Einheit unb ber wirthf<hafttichen greiheit TeutfdilanbS
futhte unb fanb — wenigftenS für eine {Reihe oon fahren.
2tn ber ©pifce jener ftanben SBalbed unb Oon £ooerbecf; an ber ©pifce biefer
Oon gordenbed, üon ttnrnh, Tweften unb SaSfer. Terfelben traten im {Reichstage
oielc SCbgeorbitetc auS ben neupreußifchen unb aus ben nichtpreußifchen Territorien
bei. ©ie nannten fidj bie „{Rationalliberalen".
Bum erften mal feit ber SonftictSjeit fam 1866 mieber ein Staatshaushalts*
gefefc ju ©tanbe.
3um erften mal, feit {ßreußen eine conftitutionefle SSerfaffung hat, fam 1866
ber Etat auch rechtzeitig ju ©tanbe, nämlich öor bem 1. San. 1867. TaS ganze
$auö »oar barüber einig, baß man bieS gorcfenbecfS geriefter unb thatfräftiger
©efchäftsführung Oerbanfe.
{Run fameit bie SBahlen zu bem üerfaffunggebeuben {Reichstage beS {Rorbbeutfhen
SBunbeS. Ter SBahlfreiS Slberfelb=Sarmen bat gorefenbeef, bort zu canbibiren,
Weil fich auf ihn aße DrbnungSparteien einigen mürben; nur bieS fei baS {Mittel,
bie bort fehr ^ahlreit^en ©ocialbemofraten z« befiegen, Welche ben ©ocialiftcn*
häuptling Sohann SBaptift Oon Schweizer (auS granffurt a. SR.) aufgefteßt hatten,
Welcher lefctere bamalS in {Berlin ben ,,©ocial=Temofrat" IffwauSgab unb zugleich
ber intime Vertraute üon ^ermann SBagener War, bem bamaligen SBefifcer beS
{Rittergutes Tummermih (baS ihm feine {ßarteifreunbe gefchenft hatten), Slbgeorbneten
für {Reuftettin, ©eh- {RegierungSrath unb frühem {Rebacteur ber „fiteuzzeitung".
gordenbed nahm bie Eanbibatnr an in bem Vertrauen,. er fei ber Eanbibat
aßet nichtfocialiftifcheu {Parteien. TieS Vertrauen Würbe getäufcht. Tie Eoitfer*
Oatioen fteßten ben ©rafen SBiSmard noch nachträglich als Eanbibaten auf. 3*®if*h en
gorefenbeef unb SiSmard fam es zur Stichwahl. Ter festere fiegte, nahm aber
nicht an. Ter ÜBaljlfreiS ift infolge beffen fpäter an obbemelbeten ©hWeijjer, ben
focialiftifdjen greunb beS „S?reuzzeitungö"*SBagener, gefaßen.
gordenbed War inzwifeheu in {ReuhalbcnSlebcn=2Bolmirftebt gewählt worben unb
biefer SEBahlfreiS ift ihm treu geblieben oon 1867 bis 1881.
Tie hoh e SBürbe eines {ßräfibenten beS preußifdjen 2lbgeorbnetenhanfeS hat er
fieben S»hee befleibet, immer Oon neuem unb mit immer wachfenbcn {Majoritäten
bazu berufen. Er legte fie nieber, icm zu einer noch h^ern SSürJie emporzufteigen.
3m 3aljte 1873 legte Sbuarb ©imfon, ber bisher {ßräfibent aßer beutfeheu
Parlamente, ®or^ unb 3wif<heuparlamente miteinbegriffen — in granffurt, in
Untat grit. 1884. I. 25
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Unfcre <3ett.
Grfurt unb in Serlin — gewefcn, feilt Slmt nieber. Sille Scrfud)e, ihn zur 2Bieber=
Übernahme ju bewegen, mißlangen. £a würbe bcnn ot)nc irgenbeincn erheblichen
SBiberfpruch Sforrfenbecf auf ben Scfjüb gehoben. Gr war Seid)StagSpräfibeut bis
1879. SllS fich eine fferifat conferüatiüc Majorität gebitbet unb ©iSmarcf in ber
iitnern ißolitif eine aubere Sichtung eingefdjlagen hotte, welche gordenbeef in eine
entfehiebene Oppofitioit hinciubräitgeu muhte, fegte er bas ißräfibium freiwillig
nieber. 35affelbe wirb feitbem oou beit Grwählteu beS GentmntS unb ber Gonfcr»
oatiocu beffeibet.
lieber bie bamafigen Hergänge, Wegen beren man in neuerer Seit am weiften
£>crrn Don gorefenbetf mit ©orwürfeit überhäuft hot, unb $war oft unter gänzlicher
Gutfteüung ber Shatfadjen, hot er fefbft, itad) langem Schweigen, fich auSgefprocheu
in einer Söeifc, welche bie gegnerifdjen Singriffe oerftummen gemacht hot. GS ge«
fchah in ber SBafjlrebc, welche er am 10. 0ct. 1881 in SeuhalbenSleben gehalten.
Sachbem er feilten bortigen 28äl)lcru bie ©rüube auSeinanbergefefct, warum
er gegen bie ©ertljeuerungSzölIe 1879 geftimmt hot, fährt er fort:
„Steine Herren! geh h al &c alfo gegen ben $arif geftimmt; aber bie ©erhanb»
luttgeu über ben Xarif hoben noch anbere golgen für mich gehabt. 3# h°be, ehe
bie Sarifocrhanblungen jn Gnbe waren, nod) währenb beS Verlaufs berfelbeit mein
Slmt als SeichStagSpräfibent niebergelegt. Sie werben oon mir nicht »erlangen,
meine Herren, bah ich biefen Schritt ghnen gegenüber rechtfertige, id) wäre bazit
nicht oerpflichtet; baS Slmt beS ißräfibenten höbe id) empfangen burch bie 2Bal)l
ber SeidjStagSmitglicbev; unb ich glaube, bah ich «ber biefe grage mir meinem
eigenen ©eWiffeu Sechenfchaft fchnlbig bin. Slber ich nehme feinen Slnftanb, jefct,
ltachbent ich zwei galjre lang gefdjwiegett höbe, bie 5Diotit»e, welche mich ju ber
Sieberlegung beS SeichStagSpräfibiumS geführt hoben, offen auSjufprechen, wie ich
fie auch theitweifc in bent Schreiben auSeitianbergefe^t höbe, welches ich bamalS
jur SSotioirung ber Siebcrtegung an ben SeidjStag richtete. Steine Herren! SllS
eine greunblid)feit habe ich eS fchon nicht empfunbett, als bie Segierung baS ©efefc
über bie Sebefreiheit ber Slbgeorbnetett bem SeichStage oortegte, baS ©efef), Welches
im SWunbe beS SSoIfes ben Samen «Stäulforbgefef)') gefunben h fl t. SllS eine
greunblichfeit gegen baS bisherige ißräfibium fonnte ich bie Vorlegung nicht auf*
faffen, tro| ber entgegenftehenben ©erfidferung ber Vertreter ber Staatsregierung,
welche bei ber ©erhaitblung über baS ©efefi abgegeben würbe, ©ei ber Seichs»
tagSfeffiou im galjre 1879 fiel eS mir auf, bah etwas fortfiel, Was fonft immer
üblich gewefen War: ber §err ScichSfauzler. hatte ©elegenheit genommen, bei allen
frühem Gröffnuugen mir gegenüber feinen eigenen SSunfd) unb ben ber Oerbünbeten
Segierungen auSzufprecheu, bah, Wenn ich Wieber zum fßräfibenten gewählt Werben
fotlte, ich baS Slmt auch annefjmen möge. Sille biefe Umftänbe fonnten mid) ja
nicht beftimmen, mich ber SSBaljl zum ißräfibenten zu entziehen; eS hätte baS ge»
heißen, baS Sedft beS SeichStageS auf bie felbftänbige SBahl feines ißräfibenten
beeinfltiffeu laffen. geh muhte mich mit meinem greunbe Stauffenberg ber SBahl
unterwerfen; fie erfolgte mit grober Stajorität unb Wir nahmen an. 33amalS,
als wir bie 2Baf)l annahmen, iiberfah id) noch nicht, bah bie ÜSajorität beS Seichs»
tages fich zur Sinnahme beS neuen SBirthfchaftSftjftemS l)inneigcn würbe; baS trat
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Die t>oti ,forcfenbccf.
587
erft allmählich ^eröor. Jiefe mirthfchaftlichen SSerhanbtungen maren ber ganze
Inhalt bet bamaligen Steidjötaglfihungen, unb idj nutzte mir batb fagen, bap
meine eigenen ernft unb mieberljolt geprüften Slnfdjauungen in biefer mistigen
Frage mit ber Majorität bei Seichltage! uicf)t mehr übereinftimmten. Meine
Herren! ©obalb mir bie! feftftaub, mußte ich allmählich bie Ueber^eugung ge*
mimten, bap bie Fortführung ber ©eftfjäfte burch mich nicht mehr zuläffig fei.
Unb ich fage ferner: Wenn man mit feinem imterften §erjen einer Sichtung, bie
ich vorher bezeichnet habe, eutgegenfteht, fo ift e! unfäglich ferner unb faft eine
unmenfchtiche Stufgabe, mit aller Straft — unb bie Straft mar bantall burdj bal
langjährige fßräfibium fehr angeftrengt unb bie Herren maren fehr augegriffen —
bahin ju mitten, bap format bal geftattet merbe, mal mit ben eigenften Ueber*
Zeugungen fo in oottftänbigem SBiberfprwh ftanb. @1 liegt ja auch immer fo,
bafj, mal einmal in ben SBerhanbtungcn fdjief geht, nicht auf bie zufälligen Um*
ftänbe, fonbern irgenbmie auf bie politifche Meinung bei fßräfibenten gehoben
mirb. Mir mürbe el immer flarer, bap ich unter biefen SSerhättniffen bal Stntt
nicht fortfiihten fönnte. Se^t tarn in einer Sifjung, zufällig an bemfetben Sage,
an metchem bal ©täbtetagbiner ftattfanb, eine ©eene oor, bie mich überzeugte,
bafj auch z ur 9lufrechterhattung ber Orbnung nach meinen Gegriffen bie Majorität
im Steidjötage erfchüttert fei. Silier ber ^errett ©ociatbemotraten mich bon ber
Sache ab; ich rief ih n uach meiner Ueberzeugung zur Sache; er fuchte bal zu
umgehen — ift bal zweimal gesehen,, fo fann man ben Slntrag auf SBortentziehung
ftetlen; aber bie unmittfürtichen Sleuperungen bei Seicfjltagel, bie fich auch barin
Zeigten, bap man ben Sßräfibenten nicht burch 3urufe unterftüfjte, mie er zur
Sache rief, fonbern burch bie ©efichter mehr bem ©ociatbemotraten, metcher re*
monftrirte, all mir reiht z u geben fehien, überzeugten mich, bap <<h auch bie
nötige Macht nicht mehr im Stcidjltage hübe, um bie Orbnung aufrecht zu hatten;
unb baraul fotgte bann ber fefte Sntfdjlup, ber fefjon lange in mir tebte, bal
Steichltaglprafibium nieberzutegen. 3ufättig mar an bem Jage bal Fefteffen bei
Stäbtetagel. Ueber biefen ©täbtetag ift ja oiet gefprodjen morben, über bie Siebe,
melche ich bei biefern Jiner gehalten habe, noch mehr. ©I ift behauptet morben,
bafj mit bem Stäbtetage eine Trennung jtDtfe^cn Stabt unb Saitb beabpehtigt
gemefen. Meine Herren! Ja! ift pofitib unmahr; bie Sefotutionen bei ©täbte*
tagel bemeifeit, bap er gegen biefe Trennung in jeber ^Beziehung proteftirt hat,
bap er biefetbc befürchtet hat, unb bie Sefolutionen bei Stäbtetagel, melche fich
gegen bal neue Sodfhftem richteten, fiitb zum Zfyeit motioirt auch burch bal 93e*
bürfnip bei flauen Sanbel. llnb mal meine bamalige Siebe anlangt, fo meip
ich ganz beftimmt, bap ich bamatl oon ber gtopen liberalen fßartei in Stabt unb
fianb gefprochen habe, bap ich aufgeforbert habe zur Ginigung ber breiten Mittel*
ftänbe in Stabt unb Sanb. Unb mie follte bal auch anberl möglich friu bei mir,
ba ich Z u *rft in bie politifche fiaufbaljn getreten bin burch bie mieberljotte fflahl
einel länblidjen 38al|lfreifel, bei inohrunger Greife! ? SBie follte el anberl möglich
fein bei mir, ber ich jahrelang auf ©runb ber SBaljl bei Magiftratl einer fleinett
Stabt ftreiltaglbeputirter in einem rein länblichen Greife gemefen bin unb mich
immer bemüht habe, bie (Erinnerungen, melche ich au! biefen SSerhältniffen habe,
25*
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388
Unfere ^cit.
mit ben großen Erfahrungen, roelc^e ich «13 Oberbürgermeifter ber NeidjShaupt»
ftabt SBertin gefammett habe, ju oerbinben unb ju ergrünbcn, Wie Stabt unb 2anb
einig im liberalen Streben erhalten Werben fönnen? 3<h Wieberhole alfo, ich be»
geichnc eS birect als eine Unwahrheit, baß ich bei jenem Tiner gefprocßen habe
Bon einer Trennung Bon Stabt unb 2anb." So fpradj fforcfenbecf.
SBährenb feiner politifcßen 2aufbahn war er Oberbürgermeifter in ©reStan
geworben, wofelbft er in ber ftanalifation unb SJaffcröcrforgung ber Stabt, in
ber Neorgaitifation ber Schul» unb ©auberwaltung, in ben ißferbebafjnen u. f. W.
bie ©eweifc einer uitermüblichen Sorgfalt hinterlaffeu hat. 3m NoBember 1878
würbe er bann burd) einftimmige SESahl jum Oberbürgermeifter Bon ©erlin be=
rufen. Er befleibet bieS Slmt in ber NeidjShauptftabt, bie, ohne Sncorporation,
aus fich heraus bis weit über eine SNiflion Einwohner emporgewachfen, noch
jur Stunbe. Unter ihm ift ©erlin eine würbige Nebenbuhlerin ber übrigen
ÜRidionenftäbte geworben; unb es wirb jefct noch leben lag fdjöiter unb comfortabler.
Tie Eifenbahn, welche mitten burch bie Stabt führt, bebeutet eine ©erineh»
rung, ©erbefferung unb ©efchleuntgung beS ©erfehrS jWifcßen bent $erjen ©erlinS
unb ber Außenwelt. Sie ift im Jcbruar 1882 eröffnet worben. Tic ganje Trag*
weite ißreS Setriebs läßt fid) jur 3eit noch nicht überfehen. Nur fo Biel läßt fich
jejjt fdjon fagen: fobatb alle ihre ©ahnljöfe bie richtigen ©erbinbungen haben, Wirb
fie bie ©efdjäfte im Innern centralifiren, bie gamilienwohnungen aber Bon bem
Innern ber Stabt unabhängig machen, b. i. becentratifiren unb baburdj ber ©eri»
pherie ein neues 2eben einhauchen.
Tie ©ertrage mit ber ©ferbebahngcfetlfchaft unb ber englifdjen ©aSgefeUfdjaft
Würben unter gorcfenbecf’S ^Amtsführung neu unb beffer geregelt. Tie ©ferbebaljn
würbe mitten burd) bie Stabt geführt, anctj burch bie 2eipjiger unb ©otSbamer
Straße, wogegen fich f° lange ein BerjopfteS ©orurtheil gefträubt hatte. Tie Straßen
würben oerbeffert, bie Stabt nach allen Nichtungen wegfam. Tie Schwierigfeiten
ber Entfernungen unb ber Transportmittel, b. i. Naum unb Seit/ foweit bieS mög»
lieh, würben iiberwunben. TaS Schlachthaus würbe Boöenbet, bie $anbmerfer»
fchule (in ©emeinfchaft mit bem Staate) errichtet, bie SllterSBerforgungSanftalt,
bie Igrrenanftalt (j n ®atlbovf), baS 'Arbeitshaus (in NummelSburg) begrünbet; bie
©ewerbebeputation würbe neu organifirt. Tie ginanjen würben erheblich auf»
gebeffert burch Eonoertirung unb burch oortheithafte ©ertrüge mit ben ©ferbebahnen,
welche jährlich 600000 SNarf liefern. 3n ber That hat ©erlin Bon allen SWißionen»
ftäbten Europas am wenigften Stenern, obgleich am rafcheften Borfchreitet.
Tie Singriffe, welche llnlenntniß ober 2eibenfd)aft gegen bie ftäbtifcße ©er=
waltung erhoben, würben fiegreich juriicfgeWiefen, im Parlament fowol als auch
Bor ben ©erichten.
So fteljt benn gorcfenbecf ba als ber befonnenc, fluge unb beharrliche ©ertreter
beS beutfdjen EinheitSgebanfenS, ber politifdjen unb wirthfchafttichen Freiheit, ober
wie er felbft fagt, „beS liberalen beutfdjen ©ürgerthumS in Stabt unb 2anb, in
welchem bie überwiegenbe ®raft beS ©otfeS liegt, unb baS ben ©eruf erfannt hat,
welcher ihm obliegt, nämlich bie feftefte Stü|e beS nationalen ©ebanfenS ju fein
unb ju bleiben".
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Die Aufgaben ber trprrimmfcUat |Jfgjfyatogu.
Son
Willjelm fflfmtM.
Sie peutigeu Slufgaben pfpdjologiftper gorftpung pat Sttbert Sange in feiner
„©efepiepte beS 9KaterialiSmuS" furj unb bünbig in bem bauten einer „Bfpdjo»
logie optte Seele" jufammengefafjt. SaS überlieferte 2Bort für ein beftimmteS
©ebiet untereinanber öerbunbener ©rf<peinungeu beibepaltenb, betraepte man, fo
meinte er, als ben ©egenftanb ber Unterfwpung lebiglidj jene ©rfepeinungen felbft,
fein hinter ipnen oerborgeneS niptpotogifcpeS SBcfen unb feine ber ©rfaprung nit^u»
gänglicpe metapppfifdpe ©nbftaitj. SSJie fo manches atibcre geflügelte SSort, fo
muffte au<p biefeS es fiep gefallen taffen, baff feine ©pipe gegen biejenige Stiftung
gefeprt mürbe, in beren gntereffe eS erfuubcn mar. Bon einer „^Bfyrfjotogie optic
Seele" reben peutjutage mit SSorliebe ißpilofoppen, bie burep biefen miberfprucpS»
ooflen 9tuSbru<f bie gnpatttofigfeit gemiffer Beftrebungen pinlänglicp gerietet
meinen. SDtandpntal ift man audj liebeitSmürbig genug, nebenbei anjubenten, bafj
root etmaS öon bem, maS iprer SBiffenfdjaft fepte, ben betreffenben ißfpepologeit
fetber abpanbett gefommen fei.
©leiepmol put biefer ©egenfap ber Slnfdpanungen meniger feinen ©runb in
bem S'clf metdjem man juftrebt, als in ber SRetpobc, bie man bap geeignet
glaubt. Sie metapppfifdje ißft^otogie ftettt eine beftimmte BorauSfepung, melepe
bie 9Jtannicpfattigfeit ber geiftigen ©rfepeinungen oerbinbeit fofl, an bie ©pipe
iljtcr llnterfucpungen. Sie fogenannte ißfptpologie opne ©eete miß feineSmegS
auf bie $ülfe einer aßgemeinen £>ppotpefe berjidjten, metepe pr Berfnüpfung beS
©anjen unb pr ©rleucplung beS ©injelnen bienen mag. Slber fie ift ber 9J?ei»
nung, bafj biefe £ppotpefe bem ©ebiet ber pfpdjologifcpett gorfdjmtg fetbft p ent=
nehmen fei, unb bafj fie baper niept bet Unterfwpung borauSgepen, fonberit ipr
uacpfolgen muffe. Siefer eine Unterfcpieb fiiprt aße anbern mit fiep. Sie metn-
pppfifepe Bftjepologie legt einen berpältitifjmäfjig geringen SBerttj auf bie Bermel)»
rung ber metpobifepen ^ülfSmittel. gitbem ipr gntereffe üormiegenb burep tranS»
feenbente großen in Slnfprucp genommen mirb, auf bie fie übrigens fepon bie
äntmort bereit pat, bieten ipr bie empirifepen ©rfepeinungen bloS eine mißfommene
©clegenpeit, um ipre Ueber^eugung auep im cinjelnen p befräftigen. Sie ent»
gegengefepte SRieptung rnufj, gerabe meil fie ber BafiS einer im toorauS gebilbeten
Slnfupt entbeprt, um fo mepr barauf bebaept fein, bie Spatfaepen fieperpfteßen,
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390
Unfere <5eit.
bie auf fr ffliefjlif }u ein» ma§get>enbeu ©runbanffauung Behelfen foQen.
Sluf welfem anbern SBege fönnte fie ober biefe ©iferheit bet Xtjatfaf en finben
als auf bemjenigen, weltweit lange juoor bie Staturwiffenffaft gegangen ift: auf
bent SBege bet ©rgäitjung unb Scriftigung bet fubjectiBen SBa^rne^mung burf
eine objectiBe experimentelle Beobachtung? Sin ©teile jener Riefen Seieifnung
bcr „Ißftjfotogie ohne Seele", welche IffftenS für einen Botübetge^enben ©nt=
wicfetungSjuftanb eine getuiffe SBahifcit befiel, tritt fo ber iifattBotlere 9?ame ber
experimentellen tßfhf ologie.
3ebe wiffenffaftlife Stiftung hat fre Quellen in ber Vergangenheit. Stuf
bie ©egenfäfce, Bon benen toir ^ier reben, finb nift erft Bon beute. Obgleich bie
Vetonung ber experimentellen Vcobaf tung auf pfpf iffern ©ebiete unb b« 9taf=
weis ihrer 9J?öglif!eit neuern 35atumS finb, fo hat bo<h längft bie engtifche @r-
fabrungdpbilofopbie im ganzen ähnliche ©ebanfeit jur ©ettung gebracht, tiefer
Umftanb bietet getoiffen äRetaphhfilern einen miUfommenen Stnlafj, jene Stiftung
als einen ©mpiriSmuS §u branbmarteu, bem man, um ihm fein unphilofopljiffeS
SBefen möglichft fühlbar ju machen, mit Vorliebe ben Veifafc beS „rohen“ ju
geben pflegt. Unb auch h>» hat man nichts bagegen, tnenn ein teifer ©chatten
Bon biefer angeblichen Stoheit ber Slnfchauungen gelegentlich auf biejenigett juriicf=
fällt, bie fie Bertretcn. ®ajj BottenbS ber ©mpiriSmuS, als phitofophiffe Sehre
toenigftenS, im SluSlanbe feine £>eimat hat, gibt eine gute ©etegenheit jtir 8leu&e=
rung patriotifcher ©efühle. 3» einer geit, in meiner man feine inbuftrieUen
©rjeugniffe gegen frembe ©oncurrenj ju fichern fuft, ift eS billig, bafj auch ber
3mport Bon Sßhil°f°Ph’ e einem moratiffen ©ittgangSjoll untertoorfen »oerbe, unb
man lünbigt baher bas betreffenbe Sßrobuct möglichft laut als eine auswärtige
SBaare an.
greitif, mit ber grage nach bem Urfprung ber philofophiffen Stiftungen ift
cS beinahe eine ebenfo heifle ©afe, toie mit ber grage naf ber Feinheit ber
Stationatität. Unfere SRetaphhfifer Bon heute, bie im Wefenttifen bemüht finb,
bie im Umlauf befinbtifen populären Verkeilungen über ©ott, Seele unb SBelt
in eine Wiffenffaftlife gorrn umjuprägeit, haben es Böllig Bergeffen, bah fein anberer
als ber granjofe ®eScarteS burf eine eigenfümlif c Sßerffme^ung ffotaftiffer
3been mit ber mobernen mathematifch = phhfifalifcheu ©ebanfenriftung jene Vor»
ftellungen hetBorgebraft hat. 3>oar finb biefelbeti fpäterhin mannichfachen SBanb=
tungen unterworfen getnefen, unb gelegentlich hängen bie ©utwiefetungen beS neuem
StationatiSmuS faft nur noch burf getoiffe ©rutibmotibe ber SDtethobe mit ihrem
Urfprung jufammen. ®of mit ben philofophiffen Sbeen geht es wie mit ben
ÜDtpthenbilbungeu. ®ie ©hfteme bcr Vergangenheit bringen langfam in baö popit=
läre ®en!en ein, unb währeub auf beit ^öhen ber SBiffenffaft längft anbere
Slnffauungen mafjgebenb geworben finb, beginnen jene erft recht in ben Vorftel=
tungen ber großen SJtenge ju h»rff en. ®ic philofophiffen ©pigonen aber werben
bann ffliefjtif fetbft Bon bem Strom beS populären ®cnfeuS mitgeriffen, unb je
mehr eine 3eit über ber pflege ber längftcrworbeneit ©f äfce bie eigene ©ebanfen*
arbeit ruhen läßt, um fo leichter geff ieht es, bah bie gbecn bcr ißh'tofophfn mit
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Die Aufgaben ber experimentellen Pfyc^ologie. 39 [
benjenigen ber Ungeheuern SRajorität ihrer SRitmenfdjen auf bag gfiicfticfjfte über»
einftimmen. ©0 ift eg benu, meine ich, e ' lie bon unfern $iftorifem ber ißh^ 0 '
fophie biet ju wenig beachtete Shatfadje, bafe bie ptjitofophifche ©taubengreget
utiferet fogenannten ©ebitbeten unb beinahe auch fdjon ber Ungebifbeten nichts
anbereg ift alg ©artefianigmug. Saß bie ©ubftanjen biefer SBett in ©eifter unb
®örper jerfatten, baß bie ©eifter unräumtidj finb unb bie Körper auggebehnt,
baß bie ©eifter ben ©efejjen beg Senfeng folgen unb bie Äörper beit ©efefcen ber
2Re<hanif, baß bie ©eifter frei finb unb bie fiörper einer blinben Saufatität ge«
horchen, unb baß gteidjtuol biefe oerfepiebenen SBefen fich gelegentlich miteinanber
öerbinben unb aufeinanber wirfen tonnen — men gibt eg unter ben Sticptphito«
fophen, ber nicht biefe an unb für fich merfmürbigen, aber burch lange ©emohn«
heit ung bottfommen begreiflich getoorbeuen ©äpe bereitwillig unterfchriebe? 3a,
wenn mir ganz uereinjette Anhänger abweiefjenber ©eften augnehmen, tommt nicht
bie jfjerjengmeinung einer großen Slnjaht unferer ga<hPhitofoph en , bie fich gegen«
feitig Stationaliften unb ©mpirifer fchetten, feptießtich, mit etwag fpeculatibem ober
tritifchem Ornament berfepen, ziemlich genau auf jene SBeigpeit hinaug, welche
bie @pa|en bon ben Fächern pfeifen? Stber eben biefe tßhitofophie, bie jefct fo
gemein gemorbeu ift, baß mir fie faum mehr für tßhitofopljie gelten taffen, ift ber
unberfätfepte ©artefiatiigmug, unb zu ©artefiug’ Seiten maren jene Singe feineg«
megg mie heutzutage fetbftberftänbticpe SBaprheiten, fonbern bag Sogma bon ber
unauggebehnten, aber in irgenbeinem ißunft an ben Körper gehefteten ©eete erfuhr
ebenfo lebhaften SEBiberfprucp mie bie mechatcifche 9luffaffung ber Statur. Sag ift
ja bag ©chictfat foldjer Sehren, bie eine folgenreiche piftorifepe Vebeutung ju er«
ringen bermögeit: juerft gelten fie atg peteroboj: unb gefährlich, unb jutefct werben
fie ju ©taubengfäfcen, an betten ebenfo wenig ju zweifeln ertaubt ift wie an ben
©ruttbtagen ber ©itttichfeit unb ber Stetigion. Ser ©artefianigmug hat in biefer
Sejiefjung für bie SJeujeit bie itämtiche Vebeutung gewonnen wie bie Striftotelifcpe
tßhilofoppie für bag SRittelalter. 2lucp biefe war befannttich noch im Anfang beg
13. 3 a h r hiutbcrtg berpönt unb berfotgt, unb am ©nbc beffetben hatte fich ber
heibnifche ißhitafaph bereitg gtücf(icf) ju bem Stange eitteg „praecursor Christi in
rebus naturalibus" emporgefchwungen. ©0 Weit hat eg nun freilich ber mobertte
grattjofe nicht gebracht. Sticht einmal zum ftircpenpeiligen ift er beförbert worben.
Socp bie ftißern SBirfungen finb nicht immer bie fchwächcm. Sag greipeitg«
bewußtjeitt ber Steuzeit erträgt nicht mehr jene äußere Unterorbnung unter eine
einzige Slutorität, Welche bag fdjotaftifdje SRittelalter bertangte. innerlich ift
barunt bag Slutoritätgbebürfniß ber SRenfcpen bietteiept nicht geringer geworben.
®itte 5futorität Wirb aber bon ung üRoberncn teiltet gebutbet, Wenn fie ihren
Staaten bertoren hat unb man gtücflicp bahin getaugt ift, SReinuttgen bott einer
berhättnißmäßig furzen Vergangenheit für fo eiuteuchtettb unb ttothwenbig anzu«
fehett, baß man anfängt, fie für angeborene Sbeen eineg jeben benfenben SRenfchett
Zu hatten.
@g ift nicht ohne Vebeutung, fich bie piftorifepeu Vebingungett zu bergegett«
Wärtigen, unter benen bie ©artefianifepe ißpitofoppie entftanb. ©ie fällt in bie
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392
Unfere <5eit.
grofje beS StufbtübenS bet Staturwiffenfchaften. K)aS ffiopemicatttfc^e SBett*
Aftern war jum Siege burdjgebrungen; bie ftepter’fcben ©efefce batten bie bimm»
lifeben Vewegungen feften formen unterworfen; burcf) SteöinuS unb ©atitei waren
bie ©efefce ber Statif unb Melanit, burrf) ©itbert bie ©efefje ber magttetifeben
ffraft, bur<b |>aroeb bie ntedjanifdjen Krfcheinungen beS VtuttaufS entbecFt worben.
2tßeS ft^ien einer burebgängtg mecf)anifcf)en Krftärung ber Statur jujuftreben.
KartefiuS felbft unternahm es als ber erfte, ein bis ins ßinjelnfte burdjgefübrtcS
Softem bet mecbanifchen Staturpbilofopbie ju entwerfen. 3n biefem Ijatte baS
geiftige Seben beS Menfdjen feinen ißtab, aber feiner ©ebunbenbeit an bie Materie
febiett bie Vorfteßung einer äußerlichen Verbinbung jwifeben Seele unb Körper
ju entfpredjen. gnbern fich KartefiuS bie SBecbfetwirfungen jwifeben beiben bureb*
au« tnecbanifcb backte, überwog in feinem SmatiSmuS ber Materialismus. 3)ie
ißräponberanj ber mecbanifchen Sp^tjfif feiner 3^it fam barin beittticb jum IWrcfj-
btudj. ®S febeint um fo nötiger, auf biefen materiatiftif^en Kbarafter beS Kar*
tefianiSmuS ^itt^utueifen, als bei mobernen Slnbängera beffelben bie Steigung nicht
aßju fetten ift, Vertreter ganj entgegengefe^ter SBettanfcbauungen beS Materia*
liSmuS ju jeiben. Kitten togijeben ©runb bat biefes Verfahren eigentlich nic^t,
aber wenn man bie Sebeutung p^itofopfiifc^er Schtagwörter fennt, fo wirb es
pfh<hotogifch einigermaßen erftärtich. ®er Materialismus b°t einen Übeln ©erueb.
2Bitt man atfo mögtiebft energifcb anbeuten, baß man irgenbeine Meinung nicht
theitt, fo nennt man fte Materialismus. 3“ ben wenigen ficherftehenben Krgeb*
niffen, ju welchen bie tßbüofopbie bis bat)in gelangt ift, gehört biefe«, baff ber
Kartefianifcbe fo gut Wie jeber anbere Materialismus eine unbattbare Stnfdjauung
ift, weit er in oöttig naioer SEßeife unfere Vorfießungett für bie wirtlichen K)inge
anfiebt. 2Benn tro|bem ber KartefianiSmuS noch beute bei ben Stichtphitofophen
unb, nach einigen pftichtfchutbigen Verbeugungen gegen bie fritifche Vbit°f°bbie,
auch & e ' ben Vfjitofopben be^^t, fo beweift bicS eben nur, baß gewiffe 2lnficf|ten
nicht bureb SBibertegung, fonbern aßeitt burch eine aßmäblictje Steform ber $enf«
gewobnbeiten aus ber SBett gefebafft werben fönnen.
$ocb taffen wir hier biefe fragen babingefteßt! ®urch jenen biftorifchen #in*
weis foßte nur baS Stecht in Slnfprucb genommen werben, htypotbefen als baS ju
behanbetn, was fie finb, als biScutirbare Annahmen, beren 3utäffigfcit febtießtieb
twn ber ^Beantwortung ber grage abbängt, ob fie fich ben pfbchotogifchen ßrfatj*
rungen gegenüber brauchbar jeigen. ®ieS ift jugteicb ber einzige ©efichtspunft,
unter welchem fich bie ißfpdbotogie überhaupt mit jetten Vorfteßungen befaffen fann.
SnSbefonbere atfo muß fie ben üöflig ungebührlichen Slttfprucb jurüefweifen, welchen
manche ^ß^ilofop^en batb auSbriicflicb, batb in berftoblenen Slnbeutungen jur ©et*
tung bringen, als wenn ber poputäre ober ein itgenbwie pbilofopbifcfj jugeftußter
KartefianiSmuS bie einjige Slnfibauung wäre, bei welcher Sitttichfeit uttb Stetigion
noch befteben fönnen. KS müßte in ber 2b a t traurig um biefe befteßt fein, Wenn
fie ber gebrechlichen Stäben pfpebotogifeber |>bpotbefen benötbigt Wären. Stber
bie fdjotaftifcbc Xbeotogie fteeft fo manchem mobertten Vfjüofopbett noch immer in
ben Änocben. SBenn ihm bie Slrgumente auSgeben, fo erftärt er, baß bie Steti*
gion in ©efatjr fei.
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Die Aufgaben 6er experimentellen Pfycf^ologie.
593
Der Streit ber Prologen brefjt fid) jebodh nid)t btos um bie maßgebeitben
©orauSfejjungen bet Unterfudjung; er bezieht fid) in nidjt geringerm ©rabe auf
bie HJtettjoben ber tefetern. Unb hier ereignet fid) nun eine merftoürbige ©onfufioit
ber ©egriffe. 2 Bir fahen, ber experimentelle ppdjotog ift für ben SDtetaphhfifer
ein „rofjet ©mpirifer". ftnbem er burch biefen Xitel in bie fetjr ehrenwertfje
©efeflfdjaft ber Staturforfdjer, Singuiften, |>iftorifer, furz aßer berer berwiefen
wirb, bie fidj mit irgenbwetchen Specialgebieten ber SBiffenfdjaft befcf)äftigen, miß
mau zugleich anbeuten, baß fidj für ben Pjilofopfjen eine ganz aparte ©etianb»
lung ber (Erfahrung jieme, rooburdj biefe fofort aus ber niebem Sphäre ber
gemeinen T^atfadieu in ben 2letljer beS reinen ©ebanfens erhoben werbe. tWidjt
atfo bie (Erfahrung felbft Witt mau antaften — Wer fönnte auch of)tie fie aus»
fommen? — fotibern bie ÜJtetfjobeu, nad) benen biefetbe in ber Speciatforfdjung
jut ©ewinnung beftimmter ©rfenntniffe öerwerthet wirb. Ober man läßt wol
auch mit lieget biefe 2 lrt ber ©efdjäftigung als eine niebrigere ©rfenntnißform
gelten, bie aber an SBertt) in feiner SBeife mit ber pfjitofoptjifdjeu ©rfenutniß fid)
meffen bürfe. ©S gibt gegenwärtig bießeidjt wenige mehr, bie mit jener frötj»
liefen .ßnüerfidjt, welche nur bie auSfdEjtiefelicfje SSefdjäftigung mit ber Specutation
berteitjt, berartige Dinge ju äußern wagen. 2lber bie fjerzcnSmeinung nuferer
pfjitofophen fommt ziemlich beuttid) in ber ©ntrüftung jum ©orfdfjein, mit ber fie
gelegentlich bon ber „©rniebrigung" ber ©ft)d)ologie ju einem Zweige ber ©iotogie
fpredjen, ober in bem ®ifer, mit bern fie bie experimentelle 9Ketf)obc hödjftenS bei
gewiffen untergeorbneten, f»atb unb tjatb ber fßhhfiotogie juge^örigen ©ebieten,
wie ber SinuedWafitne^mung, als jutäffig anerfentien, wobei übrigens nudj hier
offne bie höhere Sßei^e irgcnbWetdjcr metaptjijfifcfjer Seitmotibe nichts tttedjteS ju
Stanbe fornnte. Die übrigen Sßiffenfdjaften ftcEjcrt 311 feft in ihrem Stnfcljen, als
baß eS räthlidj wäre, fie anzugreifen — bie gcfdfjciterteu ©erfnefje jn fotdjen Unter»
ne^mungen fitib nod) in aßju frifrfjer (Erinnerung. |»icr aber wagt eS eine ganz
neue SBiffenfdjaft, baS |>aupt zu ergeben. Sie wirb auch außerhalb ber pljito»
fophifdjeu Greife mit zweifelhaften Slugcn betrachtet, unb bis bahin ftanb fie in
ber ziemlich unbeftrittenen Dienftbarfeit ber ißhilofophie — warum foßte eS nicht
ertaubt fein fie tobtjufdfjtagen, ehe ihr bie glügel gewadjfeit finb?
Doch ich *ef)re ju bem „rohen ©mpiriSmuS" jurücf, ber nach bem Urttjeit
einiger unferer 3ra<hPhtIofoph en baS SDterfmat ber Specialforfdfjung fein foß. 2J?an
fteße ftch einen 3J?enfd)en bon zureidfjenber UrtheitSfraft bor, ber bisher Weber mit
ber Pjilofopljie noch mit ben ©inzetwiffenfdjnften genauere ©efanntjdjaft gemalt
hat. Diefer 2Jtenf<h begebe fich an baS Stubium ber SSiffenfdhaften mit bent
geuereifer eines ©eifteS, ber baS Slfl beS SBiffenS umfaffen möchte, ©r wirb
finben, baß ber |>iftorifer, ber ^ß^ttotoge, ber Spradhforfcher eifrig bemüht finb,
bie Objecte ihrer Unterfudhung fritifd) zu prüfen, bie $eugniffc für unb wiber zu
flehten unb abzuwägen, ehe fie fich entfdjließcn, eine Pjatfadjc als feftftehcnb an»
Zuerfennen. ©r wirb faft mit ©rftaunen bemerfen, wie ber Sßaturforfdjer eigentlich
immer an bie üßaturerfdjeinungen mit ber ©orauSfefcung herantritt, baß bie un»
mittelbare ©rfahrung trügerifdj fei, unb baß baher burdh taufenbertei SJiittet unb
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thiferc 3ctt.
59i
2Bege, burcg ©cgärfung ber Seobaegtungeit, burcg experimentelle SKetgoben unb
burcg ein Softem bermicfelter ©cglugfolgerungen, melcgeS niegt feiten, bic fegmie=
rigften $ülfSmittel bet matgematifegen Stnalpfe erforbert, bie unmittelbare ©rfag*
rung fo lange jergtiebert, ergänzt unb berichtigt loirb, bis bem ©ebürfnig nacg
logifcger ©erbinbung ber dgatfacgen boitauf ©enüge geleiftet ift. StBaS für ein
©egaufpiel mürbe igm bagegen bie tßgilofopgie barbieten? ©r mürbe nicht feiten
burcg bie SBagrnegmuug überrafegt merben, bag ber ©gilofopg, anftatt bon ben
fritifeg geprüften Siefultaten ber SBigenfcgaft auSjugegen, ben freilich bequemem
2Beg einfcgtägt, an bie ©orftettungcn beS gemeinen ©emugtfeinS feine ©pecuta--
tionen anjufnüpfen. demjenigen, ber #egel’S Siaturpgilofopgie berflegen mill,
fanit man bekanntlich leinen beffern Slatg geben, als bag er bor allen dingen
alles bergeffe, maS er etma aus ber ißgggf gelernt gat, unb einfaeg bei ben Se=
griffen Sdgmere, SBärme, Sicht u. f. m. gef) an baS jurüdferinnere, maS man gef)
im gewöhnlichen Seben unter biefen SuSbrüefen ju benfen pgegt. Unb hegel'S
92aturphiIofophie ift jtoar ein ftarfeS ©eifpiel, aber eS ift toeber baS einzige noch
baS neuefte. ©olcge dinge mug man fieg gegenmärtig galten, um baS SBort
„rogcr ©mpiriSmuS" richtig ju überfegen. ©S ift baS abermals ein ©eieg für
ben SBertg pgilofopgifcger ©cglagmörter. 2Jian foHte ignen gegenüber ftets ber
Siegel gebenfen, bie ein toeifer SRatggeßer feinem gögling für bie Interpretation
fegmieriger ©egriftftetter cinfegärfte: in jmcifelgaften gälten mug man immer
aunegmen, bag baS ©egentgeit bon bem gemeint ift, maS ber Sinn ber SBorte
ju fagen jdgeint.
3n ber fgfgdgologie beftegt nnn jene gögere Empirie, bie geh ber SRetapggfiler
im ©egenfage ju bem rogen ©mpiriSmuS ber ©peciatforfcger gefallen lägt, in ber
auSfeglieglicgen fßgege ber fogenannten SRetgobc ber ©elbftbeobacgtung. 2BaS
ift ©etbftbeobacgtung? ÜJlan gnbet leiber in feinem ber SBerfe, melege bon biefer
bortregtiegen Efietgobe ©ebraueg maegeit, eine Einleitung, mie man biefetbe an$u-
menben gäbe, ober aueg nur eine 2luSeinanberfegung, morin ge beftege. äfian
fegeint bic ©elbftbeobacgtung für eine ebenfo natürliche, aller migenfegaftliegen 2ln=
menbuitg borauSgegenbe gägigfeit ju gatten toie baS ©gen unb drinfen. Unb
beitnocg, mie ungegeuer berfegieben negmen fieg bie pfpcgologifegen darfteltungen
aus, bie bon biefer SJietgobe ©ebraueg maegen! SBenn geute ber ©emogner einer
anbern SEBett ju uns gernieberftiege unb, böltig unbefannt mit ben ©igenfegaften
ber menfegtiegen Seele, fieg aus ben Segrbücgern ber ffjfpegologie eine ©orftellung
bon berfelben berfegagen motlte, er mürbe magrfegeintieg ju bem ©egtuge fommcu,
bag geg biefe berfegiebeiten ©egitberungen fetbft mieber auf SEBefen ganj berfegie=
bener SBelten bezögen. $[n 0 er Igat, bie ©oetge’fegc Sieget: „Segt igr niegt aus,
fo legt maS unter", fegeint aueg gier Slutuenbung ju gnben. SEBaS fann man niegt
altes aus bent eigenen 3cg gerauS- unb in baffelbe gineinbeobaegten! Siegeln ber
©eobaegtung aufauftetten in einem ©ebiet, mo eine ejacte Seobaegtung möglich ift,
fällt niegt fegmer, unb in SBirftiegfeit gibt es faum einen 3t»eig ber migenfegaft«
liegen gorfegung, für melegen niegt folege Siegeln bon fpecigfcger 2trt fidg entmiefetn
liegen, ba ber ©garaftcr ber ©eobaegtung, abgefegen bon genügen attgemeingültigeu
©runbfägcn, fidg änbert mit ben Objecten ber Unterfliegung. ÜBarum meig bie
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Die Aufgaben 6er experimentellen Pfyc^ologie.
395
ißfpchologie berartige Siegeln nic^t ju geben? der ©runb ift ein feljr einfacher:
Weil eine Selbstbeobachtung, Wenn Wir baS Wort Beobachtung int wiffenfchaftlichen
Sinne berftehen, unmöglich ift. GS gibt eine Wahrnehmung innerer 3*tftänbe
unb Borgänge, fo gut wie es eine Wahrnehmung äußerer 9?atnrerfchcinungcn gibt.
Slber logifdj unterfdjeiben Wir mit Borbebacht bie Wahrnehmung einer Statur»
erfcheinung bon ihrer Beobachtung. die Wahrnehmung ift bem 3ufaH preis*
gegeben, fie ift barum ftetS tücfenhaft unb befat meiftcnS nur infofern einen Werih,
als fie ju künftigen Beobachtungen anregt. Bei ber Beobachtung richten wir uw
fere Slufmerffamfeit auf erwartete Grfcheinungen, noch ehe fie eintreten; wir ber»
folgen planmäßig bie einjelnen Beftanbtheile berfelben, fairen, Wenn möglich, bie
Objecte, bamit fie unferer Slufmerffamfeit ftaubhalten, unb greifen ju fünffachen
$ülfSmitteln, welche bie Organe unferer finnigen Wahrnehmung unterftüfccn fallen.
Wo Wäre etwas derartiges bei ber innern Wahrnehmung möglich? 3e mehr Wir
uns anftrengen, unS felbft ju beobachten, um fo fidlerer föntien Wir fein, baß Wir
überhaupt gar nichts beobachten, der ißfpcholog, ber fein Bewußtfein fairen will,
wirb fchließtich nur bie eine merfwürbige dhatfadjc wahrnehmett, baß er beobachten
will, baß aber biefeS Wollen gänjlich erfolglos bleibt. GS ift nichts BefonbereS
babei, fich einen SJlenfchen ju benfeu, ber irgenbeitt äußeres Object aufmerffam
beobachtet. 916er bie Borftellung eines Solchen, ber in bie Selbstbeobachtung t>er=
tieft iß, wirft faft mit unwiberftehlicher Äomif. Seine Situation gleicht genau
ber eines 2Rünchh«ufen, ber fich an bem eigenen 3°pf aus bem Sumpf jieljen will,
das Object ber Selbstbeobachtung ift ja eben ber Beobachter felber. das 3Jferf»
mal, wobutdj fi<h bie Beobachtung nnterfcheibet tton ber jufäHigen Wahrnehmung,
befteht aber gerabe barin, baß Wir bie Objecte fooiel als möglich unabhängig
machen bon bem Beobachter. Unb hier ift es bie Beobachtung, welche biefe 9lb*
hängigfeit um fo mehr Steigert, je aufmerffamer unb plattboller fie ju Werfe geht,
das Ginjige, was man einem fubjectiocu HBftjchologen anrathen fann, ift barum —
bie Selbstbeobachtung ganj beifeitejulaffen unb fich *n ©otteS SRameit mit bett
Ihntfachen jufrieben ju geben, bie fich ih m gelegentlich» burch jufäHige innere
Wahrnehmungen ücrratljett. diefe loerbcu ganj getoiß öcrhältnißmäßig um fo
juoerläffiger fein, je weniger er babei au eine Selbstbeobachtung gebacht f»nt.
daß bie jufätlige innere Wahrnehmung an fich Wcrtljöotler fei als bie änßerc,
Will ich bamit gewiß nicht behaupten. Sie leibet att ben nämlichen Mängeln wie
biefe, womöglich in noch h^herm ©rabc. denn nichts üergeffen wir leichter als
bie 3uftänbe unfcrS eigenen ©eniütljs, unb über nichts täufchen wir uns leichter
als über uns felber. Wetttt bie angebliche Selbstbeobachtung hier ber jufäHigett
Wahrnehmung ben lßla|} räumen muß, fo heißt bieS alfo uur, baß auf biefetn
fubjectiöen Wege eine Wiffenfdjaftliche ißfpchotogie überhaupt nicht ju gewinnen ift.
Slber Was will bie experimentelle ^fpchologic an bie Stelle fefcen? 3ft über»
haupt auf biefem fdjWanfenbett Boben innerer 3uftänbe unb Borgänge, auf welchem
bie Beobachtung ihre Ohnmacht eiitgeftehcit muß, eilt Gjperiment möglich? Sej}t
nicht baS Gsperiment bie Beobachtung borauS? können barunt experimentelle
SMetljoben jemals weiter reichen, als bis in jene Slußenwerfe ber Seele, bie Sinne
unb Bewegungsorgane, bie mit gutem 9?ecßt bie ißhhf* 0 ^** für fiel) in Slnfpruch
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396
ttnfere ,5eit.
nimmt? ©ewiß werben biete, audj wenn fie nicht unbebingte Anhänger ber meta=
pt)Qfifd)en ©ftjcbologie ftnb, geneigt fein, bieg ju berneinen. Aber jeber Unbefan¬
gene wirb boeb jugefteben, baß eS fic^ babei fcbließticb um eine $batfrage banbett,
unb baß baber ben Argumenten für unb Wibcr bie einfache ©ntfdjeibung borju*
Sieben ift, ob cd Wirtlich etwas Wie eine experimentelle Ißfpcbologie gibt. @inft=
weilen fei mir nur geftattet, auf jwei tßunfte binjuweifen, bie bon bomberein
geeignet fein bürften, baS ©efrentben, ba$ ein ungewohnter Siame erwecft, in
biefem Satt etwas ju ermäßigen. ©rftenS braucht eine experimentelle Unterfudjung
nicht notbwenbig birect in Seränberungen beS Objectes ju befteben, um beffen
©rforfchung eS ficb banbett, fonbern infolge ber überall beftebenbcn urfäcbticben
©ertettung ber ©rfcbeinungcit fönnen inbtrecte ©inwirfungen unter Umftänben eine
bottfommen gleichwertige ©ebeutung gewinnen. 3ü>eitenS feiert Wir uns faft
immer genötigt, unfere wiffenfcbaftticben ©egriffe ju erweitern, wenn fie auf neue
©ebiete AnWenbung finben fotten. Auch mit ben metbobifcben ©egriffen ift bieS
ber Satt. Solange nur biejenigen ©igenfchaften erhalten bteiben, benen eine
beftiminte 2Rctljobe ihren SSertb berbanft, wirb eS geftattet fein, ben Stamen bei*
jubebatten, auch wenn ficb bie ©cbingungen ihrer AnWenbung crbcbtidb beränbcru.
Sn beiben ©ejiebungen führt in ber Spat bie experimentelle Ißfpcbologie ju einer
Erweiterung beS gewöhnlichen ©egriffS ber experimentellen ÜRettjobe.
Nehmen Wir junächft baS ©xperimeut in bentjeuigen Sinne, in welchem uns
beffen Anwenbuitg aus ber StaturWiffenfchaft geläufig ift, fo beftebt hier ber Wefent=
liehe Unterfchieb beffetben bon ber ©eobaebtung barin, baß ber ©eobaebter ficb
nicht barauf befdjränft, bie ©rfcheinungen, welche ficb t m in ber finnlicben 2Bab ri
nehmung barbieten, genau ju berfotgen unb fobiet atS mögticb ju jergliebem,
fonbern baß er gleichseitig bureb feinen SSßiUen irgenbwie bie ©ebingungen ber*
fetbeu beränbert. @S ift ftar, baß ein berartigcS Eingreifen in ben ©erlauf ber
tDittgc uns Weit fcbneHec pr Senntniß ber ©efepe beS ©efchehenS bcrhelfen muß.
Schwerlich hätte ©atitei bie ©efefce beS Solls ber Körper ju entbeden bermocht,
wenn er fich btos auf bie Sammlung bon ©cobadjtungcn berlaffen hätte. Aber
inbem er wiHfürtich eine Sieget genau abgemeffenc Streifen auf einer fchiefeit
©beite herabrollen ließ, ergab ficb t m leicht jene Schiebung jwifeben SaHraum
unb SaUjeit, Welche jur ©runblagc ber ganzen ©teebanif geworben ift. SBenu
wir nun nach ähnlichen ©runbfäfceu uns felbft ober einen aubern SDJcnfcheu experi»
menteHen ©inwirfungen unterwerfen Wollen, fo ift eS felbftberftänblich, baß
biefclben birect nur feinen Körper treffen fönnen. Aber wir werben ficberlicb nicht
bon boraberein behaupten wollen, baß eben beShalb folcbc ©inwirfungen uns über
beffen pfpcbifcbeS Seben feinen Auffcßluß ju geben bermögen. Sinb boeb alle
unfere ©orfteßungen urfprünglicb abhängig bon förperli^en ©inwirfungen, unb ift
boeb in biefem Sinne jeber Sicbtftrahl, ber in unfer Auge, jeber Schall, ber in
unfer 0ljr bringt, ein Experiment, baS bie Statur mit uns anftellt. Schon biefe
natürlichen, freilich nur gteiebnißweife fo ju nctinenben ©xperimentc unterfcbeibeit
ficb aber bon ber Sclbftbeobacbtung bureb ben bemerfenSwertben Umftanb, baß
ihnen unfer ©ewußtfcin ftanbhäit unb baß ficb an ihnen nicht beuteln läßt. S)ie
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X)ie Aufgaben bet experimentellen Pfycßologie. 397
Empfinbungen, toetc^e Sicßtftraßt unb Schall in uni erregen, finb Sßatfacßen, «n
benen wir nidf»tS änbern tönnen, unb benen wir beäßntb weit objectiber gegen*
iiberfteßen, all folgen Sßorgängeu in uni, bie nießt aul äußern Einwirfungen
ßerborgegangen ftnb. Senn Wir nun ©initeleinbriicfe wißfiirticß erzeugen, naeß
Qualität nnb ©tärfc fie angemeffen öeräubern unb bie ißtten entfpreeßenben SBer*
änberungen ber Empfinbung berfotgen, fo liegt in ber Slulfüßrung foteßer ©eobaeß*
tuitgen offenbar feßott ein Experiment »or, Wetcßel freilid; nur erft tßeitweife ein
pftjcßotogifcßel ju nennen ift, ba auf bie 2tbßängigfeit unferer Empfinbungen atl
pfpcßifcßer Buftänbe bon ben äußern ©inneleinbrücfen bie pßpfiotogifeßen Eigen*
feßaften ber ©innelorgane nnb bei Sßerbenfßfteml gleichzeitig ton Einfluß finb.
Experimente biefer Strt würben bat]er feljr paffenb all pft)tßo*pßpJifcße be*
geießnet. Siebern biefer ÜJiame barauf ßinWeift, baß bie SRefuItate fotc^er SBerfucßc
an unb für fieß gemifeßter Statur finb, ift jeboeß nidjt aulgefcßloffen, baß bureß
geeignete Sßeränberungcn ber SBeobacßtungen bie pfptßifeßcn unb bie pßßfifcßen gin*
ftttffe aul jener gemifeßten Stbßängigteitlbegießung gefonbert werben, ober baß fidj
cinanber paraßet geßenbe ©efeße ergeben, bie fieß auf einen unb benfetben Sßor-
gang beließen, weteßer eine innere unb eine äußere, eine pfßcßotogifcße unb eine
pßpfiotogifeße 9tuffaffung gntäßt.
SBon ber Empfinbung crßeben wir ttnl gut ©innelWaßrneßmung. Sir be*
traeßten fie atl benjenigen pfpcßotogifcßen Vorgang, burtß weteßen gewiffc 93er=
bänbe bon Empfinbungen auf äußere Objecte begogen werben. 3<ß empfinbe bal
Sicßt, bal in wein Stuge fäßt, aber icß neßme bie Sonne waßr, weteße bic Sießt*
ftraßten aulfenbet. Sal unterfeßeibet ßier bie Saßriteßmung bon ber Empfinbung?
Offenbar mißt ber unmittelbare Snßatt meinel ©ewnßtfcinl. ÜDie Saßrneßntung
ber Sonne befteßt tebigtieß aul einer Summe bon Sicßtempfinbungen. Sal gu
biefen ßingufommeu muß, um ben Saßrneßmunglact gu berwirftießen, ift jene
beftimmte Drbnung berfelben, bureß weteße bie SBorfteflungen ber ©eftatt, ber Ent*
fernung unb babureß f(ßtießti(ß eine SBegießung auf einen ©egenftanb außerßatb
meinel SBewußtfeinl mögtieß wirb, ©ewiß Wirb eine foteße Drbnung ber Empfin*
bungen bureß pßpfiotogifeße Eiurießtungen unb Vorgänge bermittett. ®ie optifeße
Entwerfung bei ©itbel auf unferer Steßßant, bie Stnorbnung ber tießtempfinbenbeu
Etemente in berfetben, enbtieß bie ^Bewegungen bei 2tugel finb unerläßliche $ütfl*
mittet jeber ©efießtiwaßnteßmung. Slber infofern biefc uni SSorfteßungen ber*
feßafft über bie ©efeßaffenßeit ber äußern ©egenftänbe unb ißr SBerßältniß gu uni,
ift fie gugteieß ein pfßeßifcßer Sßorgang, ber bei ber Entfteßung aul feinen Ete*
menten, ben Empfinbungen, pfpcßotogifcßen ©efeßen unterworfen fein muß. Unb
ba fi(ß nun bie Einwirfungen auf unfere ©innelorgane, weteße bie Saßrneß*
mungen erzeugen, in ber wißfürtießften Seife bon uni bariiren taffen, fo wirb
man nießt anfteßen bürfen, berartigen Sßerfucßen ben Sßarafter bon Experimenten
gugugefteßen, weteße gteießgeitig eine pßßfiotogifcße unb eine pfßcßotogifcße ©eite
ßaben. Sie ftßr in ber Xßat autß bei biefen Sßerfucßen unfer ©ewußtfein, gang
anberl all bei ber gewößnticßen ©etbftbeobacßtung, bem Sißen bei Ejperimen*
tatorl fieß fügen muß, bal teßren am fcßtagenbften jene ©inneltäufcßungen, bie
bureß beftimmte Eombinationen äußerer Einbrilde entfteßen, unb benen Wir un*
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598
Unfere ^cit.
rettbar aud) bann noch unterliegen, Wenn wir und Don ifjrer ifluforifdjen üßatur
überzeugt ftaben. Daß und bie Sonne größer erfdjeint, wenn fie am $orijont
auf» ober untergebt, ald wenn fie über und im 3enitft fteftt, ift eine befannte
©rfdjeinung. ?lber bet ^ß^tjftfer unb ber ißftftfiotoge, we(dje genau wiffen, baß
bic objectiöe ©röße unb Gntfemung bed ©eftirnd biefelben geblieben finb unb
baß fogar bad 93ilb in unferm Mugc fidj nirfjt oeränbert bat, finb biefet Däufcfjung
ebenfo unterworfen wie jeber anbere.
Bon allen biefen SBerfut^cu über Snipfiubimg unb SSaftrneftmung bleiben jebodj
bie centralem Seelcnüorgängc, wie cd febeint, immer nodj unberührt. 2Bie fi(b
aud bem Schafte unferd ©ebäcbtniffed Borfteflungen üon felbft erneuern, wie fieft
folcfte Borftcüungen miteinanber oerbiitbcn unb baraud halb lodere Slffociationen,
halb fefter gefcbloffene logifebe Denfactc entfteben, wie fidj mit aßen biefen Bor*
gängen unfere ©efäftlc unb ©cmütbdbewegungen oerweben, wie cnblicb ber SBiße
fteröortritt uttb halb auf beit innern Verlauf unferd Denfcnd, halb auf unfere
förderlichen Organe fterüberwirft unb fie ju äußern .§anblnngcn beftinimt: über
afled bied föntten wir aud jenen Untcrfudjungeu, welche bie unmittelbaren pftj*
ebifeben (Effecte äußerer Sinnedeinbrüde Dcrfolgen, fcblecbterbingd nidjtd erfahren.
?(ber ber (Experimentator barf nicht $u früh oerjagen. §aben bie Borfteßuugen,
bie unfer ©ebäcfttniß ju fünf tigern ©ebrauefte bewahrt, aud Sinncdcinbrüden
ihren Urfprung genommen: warum foßte man nieftt h°ff cn <- baß bie nämliche
efdtrimenteße SJfetftobe, welche jnr Unterfucbung ber erften (Eutfteftung ber Bor*
fteßungen gebient hat, bei gehöriger Umbilbung auch jur (Erforfdjung ihrer Wei*
tern Sdjidfale unb Umwanbtungcn ein braueftbared SBerfjeug fein Werbe?
3Jfan hat juWcileit behaudtet, bei ber Unjuöcrläffigfcit ber Sclbftbeobadjtnng
bleibe ber einzige SludWeg jur ©ewinnuttg einer fiebern Slntwort auf biejenigen
fragen, Welche bic USfddjoIogie anregt, bie audfcftließlicbe (Erforfdjung ber pfthfifeften
Vorgänge, welche mit ben pfpcft'f4 en oerbnnben finb. Sei bie ©ntftefjung einer
(ErinnerungdDorfteßung, eitted SBißendacted unferer llnterfncbung unjugänglidj,
fo bleibe bodj 2 ludfidjt, baß wir bie Broceffe in unferm ©ebim fennen lernen,
welche jene (Erfdjeinungen begleiten. §abe man auf biefe SBcife erft eine ooßftän*
bige (Einfidjt in bie SRedjanil uitferd ßterDenfpftemd gewonnen, fo müffe fidj bie
jugeftörige HJtedjanif unferd ©eifted öon felbft ergeben; man würbe bann nur
jeben ©eftirnoorgang in ben ihm entfdreebenben dfft<ftif 4 en Vorgang übertragen
müffen. 34 taffe bie metadhftfifcfte Boraudfeftung, bie biefer Betrachtung ju
©runbe liegt, üößig baftingefteflt; ich Wiß annehmen, fie fei juläffig. SBo aber
in aßer SSßelt foßen wir, naeftbem jene ibeale S0?ccf)anif bed ©ehirnd ju Staube
gefommen ift, bie ©ewißljeit hernehmen, baß irgenbein fdecießer ©ehirnöorgang
einem beftimmten pft)cf)ifcf»eu 21 ct entfdreebe? Diefe ©ewißheit fann bodj nur bie
dfbdjotogifdje Unterfucbung geben, bie fich Scftritt für Schritt mit ber dbftfM 0 *
gifeben öerbinben muß. SBenn Wir Don jener ganj abfehen woßten, fo würben
wir möglidjerweife Don ber ißhbfwtogie bed ©eftirnd eine fo üoßftänbige Senntniß
wie Don bem ©ledjanidmud einer Dafdjenuftr befiften unb bodft nebenbei unfere
Borfteflungen unb ©efüftle itt bie Seber Derlegen fönneit. Droft aßer IRebendarten
öon ©eftirnmedjanif, bie merfwürbigerweife in bem nämlicften Sartefiud iftren
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Die Aufgaben 6er ejperimentcllen Pfycpologie.
399
©tammoater paben, Welcher bet Stopfer ber fpiritualiftifcpen Pfpcpologie ift, be*
finbet fid) übrigens bie ©epirnphpfiologie nod) in fo befepeibenen Anfängen, bafj
ftc^ bie ejperimentefle Pfpcpologie lange Feiertage bereiten tonnte, toenn fie warten
woflte, biö jene fertig ift. 2)amit foQ roaljrlid) niept geringgeaeptet werben, tuaß
bie neuere 3dt/ was namentlich bie patpologifcpe Beobachtung an ber $anb ber
anatomifepen Unterfucpung pier fcf; 0 n geteiftet pal. $ie Beobachtungen über bie
Störungen ber Sprache bei gewiffen ©epirnuerlepungen, bie rationelle Bepanb=
tung ber ©epirnpathologie burd) bie ntoberne Pfpcpiatrie finb auch pfptpofogifcp
Don unfepäpbarer Bcbeutung. 2lbcr man möge bocp niemals Derfennen, bah felbft
für ben ^ß^^fiofogeit unb Pathologen üiclfacp erft mit $ütfe ber pfpcpologifcpeit
Interpretation bie fRefultate ihren Sßcrtp gewinnen, unb bah wan mit manchen Sie-
fnttaten oiefleiept nnr bespott nidjtö anzufangen weih, 'weit bie zureiepenbe p[p-
chologifdhe Senutnih mangelt.
S)ie experimentelle Pfpcpologie muh alfo auf eigenen giihen ftehen, wenn fie
eine fetbftänbige wiffenfdjaftlicpe Bebeutung fofl beanfpruchen fönneit. 5» ber
2pat gibt eS ein ©ebiet Don 2patfacpen, toelcpeö gleich ber ©mpfinbung unb
SinneSroahmepmung ber SlnWenbung be$ ©jpcrimcntS jugöngtich ift, zugleich aber
aus bem Umfreife pfpepo^phpfifeper Beziehungen mitten hinein in bie centralem
Borgänge beö Bewufjtfeinö führt: e§ finb bieö bie zeitlichen Berpältniffe ber
©ntftepung unb bcS SBccpfetS unferer Borfteßungen unb afle bie ©rfcpeinungeit,
bie, wie z- S3. bie qualitatioe Slffociation ber Borfteßungen, mit biefem zeitlichen
SBedjfel in unmittelbarem 3ufammeupange ftehen. freilich finb toir auch hier barauf
angewiefen, aßmöhtich öon anfjen nach innen zu bringen. 9licpt unmittelbar läht
fich bie 3eitbauer pfpepifeper Siete meffen. Slber inbem wir bie Bcrfuche fo cin-
richten, bah gewiffe pppfiotogifepe Borgänge, bie znr objectiücn 3eitbeftimmung
unerläfjtich finb, in einer gröhern 3«P* öon Beobachtungen unöeränbert bleiben,
Wäptenb zu ihnen in wechfelnber SBeife bie $pätig!eiten ber Slufmerffamfeit, bev
Unterfcheibuitg, beö SBiflenS, ber Borfteßungöaffociation, ber llrtpcilöbilbung h*« 3
Zutreten, werben Wir in ben <Stanb gefefct, tpeilö auf bem SQSege ber Sluöfcpliehung
bie abfotute $auer jener pfpdjifcpen Siete zu beftimmen, tpeilö aber zu ermitteln,
ob mehrere berfelben gleichzeitig ober in einer mejjbaren Slufeinanberfolge bou
ftatten gehen, Wie groh bie 3npl 6er Borfteßungen fei, bie unfer Bewujjtfein unter
gewiffen Bebinguitgen beherbergen fann, Wie fich beftimmte Sieipen Don Borfteßungen
infolge ihrer SlufbeWaptung im ©ebäcptniffe oeränbern, u. f. W. $ie efperimenteße
Pfpcpologie wirb im ©ebiete aßer biefer, Don pfpepo^pppfifepen SJletpoben auögepenben
Unterfucpungen ihre Stufgabe getöft paben, wenn ipr eine üoflftänbige 3cvlegutig
ber BewuhtfeinSerfcpeinungen in ihre Slemente unb eine genaue Äenntnifj ihrer
ßoejiftenz unb Slufeinanberfolge gelungen ift. SliemalS natürlich fann fie hoffen,
bieS für jeben einzelnen gaß zu erreichen, fo Wenig Wie ber pppfifer im ©taube
ift, immer üorauözufagen, was irgenbwo im näcpften Slugenbticf fiep ereignen muh.
SBopl aber wirb e8 ipr möglich fein, gewiffe aflgemeine Siegeln unb Slormen z«
ermitteln, bie fiep in ber unenbtiepen Bietgeftaltigfeit ber einzelnen ©rfepeinungen
immer wieber bewäprt finbeit.
3)ocp, wirb ber SJletapppfifer fragen, wenn ein fotcpeS 3<d auep wirflicp
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$00
ilnfere ^cit.
erreicht wäre, wenn Wir bie Soejiftenj unb Slufeinanberfolge ber pfpchifcfjen
Siete nnb ihre 3ufammenfcf}ung aus einfachem, nicht weiter zerlegbaren Vor
gängen ebenfo genau ju betreiben bennödjtcn wie irgenbein woljtbefanntcS
äußeres Staturereigniß — wüßten wir nun tioit beut SBefeu unferer Seele
mef)t, als wir jefct wiffen? 3unächft gewiß nicht! 2)ic genauere Sefdjreibung
eines ©ebieteS bon Erlernungen läßt beit Sufammenfjang berfelben bunfel, fo=
lange fie nicht ju einer erflärenben §ppotl]efe geführt hat, aus Welker bie einzelnen
Ißatfaeßen Wieberum abgeleitet Werben fönneu. So wichtig bie brei ©efefce, in
benen Segler feine ©eobadjtungen über bie ©ewegung ber Planeten nieberlegte,
für bie Slftronomic finb, über ben 3ufammenf)ang unferS SonnenfpftemS geben fic
feine SRecßenfdjaft; bieS leiftete erft Siewton’S ©rabitationStljeorie. Slber wo Wäre
bie ©rabitationStljeorie ohne bie Sepler’fcfjen ©efeße? SSaS ein ©enic auf ©runb
nnzureidjeuber ßenntniffc zu teiften bermag, Ijat SlriftoteleS in feiner ©£|^}if ge=
leiftet, unb hätte er nicht gelebt, fo würbe irgenbeine anbere, öietleicht böüig boit
ber feinigen oerfdjicbcne fpeculatitoe Staturpljitofophie baS SRittelalter beljerrfcht
haben. 5)ocß Wenn ben Entbccfungen ©alilei’S unb $eplcr’S fein Sfewton gefolgt
wäre, fo Würbe bie SäJelt möglicherweife etwas fpäter, aber fie Würbe mit ber
nämlidjen Sicherheit in ben ©efifc ber ©rnoitntionStljeoric gefommen fein, mit
welcher bie ©eftirne felbft ihre ©aalten wanbeln. $ie Vftjchologie Ijat oermntfjlicß
noch lange z« Warten, bis biefe Vergleiche für fic einigermaßen zutreffeub Werben,
unb eS mag fogar fragwürbig fein, ob eine Vereinfachung ber ©ebingungen. Wie fie
Zur ©ewinnung funbamentaler Staturgefefje ftetS erforbert Wirb, J)ier jemals erreich'
bar ift. Slber foUte jemanb im Ernfte baran zweifeln, baß $t)pothefen, bie fich
auf eine ejactc Äenntniß ber $h°tfa<hen grünben, beffer finb als foldje, bei beren
SluffteHung eine berartige Senntniß mangelt?
©leichwol müffen Wir zugeben, baß bie experimentelle ©fpdjologie, wenn man
ihr bie in ben obigen Erörterungen feftgeljaltenen ©renzen feßt, an einem ©fanget
leibet, gegen Welchen in ber Siüftfammer pfpcho=pljt)fifcher ©tetljoben feine $ülfe zu
finben ift. Unfere pfjpfiologifchen Experimente wenben fich a « baS ©ewußtfein
beS entwicfelten ©lenfcheti; fie oerfagen felbftuerftänblicf» überall ba, Wo ein ber»
ftänbnißoofleS Eingehen auf bie Slbfidjten beS ©fpchologen nicht borauSgefefct
werben fann. Heber bie pfpcfjifche Entwicfelung erfahren Wir burefj fie Wenig.
Stuf bie pjpdjif<hen Störungen wirb ihre SlnWenbung borauSfidjtlich eine befchränfte
fein; bie Statur tieferer Störungen Wirb fie weniger burdj birecte Unterfuchung
als bnreh bie Sfachweifung ber Seränberuitgen anfheüen, welche bie Slnlage nnb
Entftehung berfelben begleiten, Vor allem aber ift baS pfpdjo'phpfifdje Experiment
auf bie 3«glieberung berhältnißmäßig elementarer Vorgänge angewiefen, einzelner
VorftellungS', SBitlenS', ErinnerungSacte; nur in geringem Umfange bermag eS
noch bie Verbinbungen biefer einfachem Vorgänge zu üerfolgen. dagegen bleibt
ißm bie Entwicfelung ber eigentlichen ©enfproceffe, fowie ber höher« ©efüßlS' unb
Sriebformen berfchloffen; im haften gölte loffert fich über bie äußere zeitliche
Slufeinonberfolge auch biefer ©roceffe einige unzureichenbe ©eobachtungen auS*
führen.
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Die Aufgaben ber experimentellen Pfycßologic.
SWan hat zuweiten, um nach bet ©eite bet geiftigen ©ntmicfelung biefen
SKängeln abzußelfen, auf bie Beobachtung beS ffinbeS einen großen SBertß gelegt.
Sch lann meinerfeitS biefe ^odjfcßäßung bet Sinbcrpfhcßologie nicht böttig tßeilen.
6« ift ja fidjerlicß bon einigem Sntereffe, feftjufteßcn, ju welcher SebenSzeit ge*
miffe pfßdjifcße Aeußerungen jum erften mal etfeheinen, ob fie unabhängig bon
äußern ©inwirfungen auftreten ober nicht, u. bgl. Aber gerabe in leßterer Be*
Ziehung ift man oief mehr ber Säufcßung auSgefefct, als gewöhnlich angenommen
Wirb. 2Bie oft fteflt fich ein anfeheinenb felbftänbig entftanbener ©cbanle ober
ein crfunbeneS SBort bei näherer Nacßforfcßung als eine Nachahmung heraus, bie
infolge ber Beränberung, welche fie im ÜUtunbe beS SinheS erfahren hat/ für ben
erften ©inbruef untennttich geworben ift! 3ft boeß bie ganze fogenannte Sinber*
fpraeße, in ber fo mancher Beobachter eine Quelle fortbauember Spracherzeugung
hat finben wollen, nichts anbereS als eben biejenige Sprache, welche bie flltütter
unb Ammen reben, wenn fie ber BemußtfcinSftufe beS SinbeS _fi<ß anzupaffen
fuchen. ©ine beffere Ausbeute fcheitit auf ben erften Btidf baS große ©ebiet ber
pfßcßifcßen Anthropologie jn gewähren. $ie SebenSanfcßauungen, Sitten unb
SMigionSborfteflungen ber Naturbötfer toerben in ber Xßat bon bielen als wich*
tige gunbgrubeit objectibcr pfßcßologifcßet, gorfeßung betrachtet. ©leichwol läßt
fich »'cht jWeifefn, baß bie Ausbeute auf biefem ©ebiete bisher eine äußerft bürf*
tige gewefen ift, unb zwnächft fdjeint faunt AuSficht borhanben, baß hierin eine
wefenttiche Aenberung eintreten werbe. Xcr geiftige 3uftanb eines fogenannten
NaturbolfeS ift baS Nefultat einer unabfehbaren Sette bon Bebingitngcn, bie fich
bor bem Auge beS Beobachters nm fo berwicfelter geftatten, je mehr bei unferer
Nacßforfcßung bie zwerft gebildete äReinung z u fchwinben pflegt, atS wenn in
unfern heutigen Naturbötfern primitibe 3uftänbe beS SDienfcßengefcßlccßtS berwirf*
ließt feien. Xßatfäcßlicß gefeßießt eS baher ftetS, baß ber ©thnolog, ber fich bie
SEBelt* unb SebenSanfcßauungen folcßer Böller zu enträthfeln fueßt, umgelchrt bon
feftftehenben pfhcßologifcßen Borfteflungen auSgeßt, zu benen bann bie etßnologifcße
©rfaßrung mannießfaeße Auwcnbungen unb Bcifpiele liefert. Aber icß Wüßte nießt,
baß irgenbeine maßgebenbe Sßajfacße ber reinen ^Sftjcfjotogie bisjeßt auf biefem
SBege wäre gefunben Worben. Nur eins unter ben genannten ©ebieten möchte
wol eine folcßc Bebeutuitg gewinnen lönnen: baS ©ebiet ber mptßologifeßen
Borfteflungen. Sft boeß feßott bie ©jiftenz biefer Borfteflungen bom ßöcßften
pfhcßologifcßen Swtereffe. Auch lann man mol fagen, baß baS mptßotogifcße
Denlen eine neue ©rfeßeinung ift, welcße ber fßfßcßotogie auf ißren gewößnlicßen
gorfcßungSWegeit gar ni<ßt ober höcßfteuS in feßwaeßen Nacßöitbern begegnet,
welcßen fich erft bureß bie Senntniß ißrer tebenSfrifcßern Urbilber ein gewiffeS
Berftänbniß abgewinnen läßt. Xocß abgefeßen bon ber einen Xßatfacße bet ©fiftenz
beS mßthologifcßen XenfenS, wo finb bie pfhcßologifcßen Auffcßlüffe, bie Wir ber
ÜRhtßologie zu berbanfen ßaben? SBie im äRorgengrauen bie nebetumfloffenen
©ipfcl entfernter ©ebirge, fo bämmert uns Wol aus bem SBecßfel ber mßthologifcßen
Borfteflungen bie Ahnung bon Beränberungen entgegen, benen baS menfcßlicße Be*
mußtfein naeß beftimmten ©efeßen im Saufe ber 3eiten unterworfen ift. Aber
Wer wagt eS, heute feßon biefe ©efeße auSzufprecßen? 2Ber unternimmt eS, ßier
Untere Seit. 1882. I. 26
'
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402
Unfcre ^cit.
baS Attgemeingültige ju trennen non bem, was ein Grzcugnifj zufälliger äußerer
SBebiitgungen ift? Sicherlich nicfjt berjenige, ber bcn SSerfuch gemalt tjat, tiefer
in bie Senntnifj ber Grfcheinungen einzubringen. Rur GinS möchte mit ziemlicher
Sicherheit borauSzufagen fein. SBenn bereinft einmal bie SRtytljologie ber pft)djo=
logifchen gorfc^ung fruchtbare $ienfte leiftet, fo werben biefe nicht ben wüften
SoSmogonien ber SWaturtoöIfer z u berbanfen fein, bietteicht nod) untermifdjt mit
ben tühnen Grfinbungen, mit benen ber gefchwäfcige Gingeborene baS 0f)r beS
reifenben Srembtingö z u erfreuen hofft, fotibern gerabe ben unS jeitlicf) ferner
gerüeften, aber burd) unbergänglidje Xenfmale fiir bie Sorfdjung aufbewahrten
SRpthologien ber Gutturbölfer. £od) zunächft ift bie miffenfdjaftliche Sorfdjung
felbft einem GntwitfelungSgefepe unterworfen, öon bem fie fidj noch niemals unge=
ftraft emancipirt hat. Seine XiSciptin fann einer anbern als fpülfSmittel bienen,
ehe fie felbft hinrcichenb gefieberte Refultate befifct. SSJie bie ttHptljologie auf bie
Archäologie ber Kunft unb auf bie Grftfjlicfjung ber älteften Siteraturwerfe lange
$eit gewartet bot unb zum Xl)dl immer noch wartet, fo wirb auch bie ^fijcbologie
fidj befdjeiben müffen, in ben mptbologifeben gorfebungen einen Schaft anzuer*
fennen, beffen öebung wnbrfcbeiulicb erft einer fernem ßufunft oorbebalten ift.
3)emto«b gibt eS eine oerwanbte SBiffenfchaft, für welche ber Seitpunft einer
pfhdjologifdien 33erWertl)ung febon jeftt näher geriiett fein bürfte. GS ift bieS bie
Sprachwiffenfdjaft. Auch fie fällt in ben UmfrciS bet pfpdjifdien Anthropologie,
obgleich fie Don ben ®arfteßungen ber lefttern in ber Siegel auSgefchtoffen bleibt.
@o finbet man in ber fonft bortrefflichen „Anthropologie ber Raturbölfer" bon
Sheoior SBaift, welche houptfächlich pfbchologifcbe Qntereffen berfolgt, gerabe bie
Sprachen ber Raturbötfer nicht berüdfidjtigt. GS mag bieS in bem Umfang,
welchen bie Sprachwiffenfchaft gewonnen hot, feine Rechtfertigung finben; an fi<b
würbe jebenfattS baS pftjchologifchc Stitereffe geforbert hoben, ba§ ber Sprache
hier bie erfte Stelle angewiefen werbe. 3n oielen ^Beziehungen ift fie, berglichen
mit anbern Grzeugniffen beS SBölferbewufjtfeinS, bon herborragenbem SBerthe. An
feinem anbern erhalten fich wol fo unauSlöfchlich bie Spuren einer längftber»
gangenen Urzeit; fein anbereS berbinbet bamit in gleichem 2JIafje bie Säftigfeit,
bon ben SJeränberungen, bie in ber SorfteHungSwelt beS SWenfchen bor fich fleh** 1 '
bteibenbe Rachwirfungen zu bewahren. 9?un ift freilich auch t>ic Sprachwiffen«
fchoft nichts weniger als abgefchloffen. Ueber bie wichtigften ©runbfragen gehen
in ihr bie SDleinungcn weit auSeinanber. Aber nicht barum honbelt eS fich, &afj
eine SBiffenfchaft, um für bie anbere uuftbringenb zu werben, böttig bottenbet
fei — wann wäre bieS überhaupt jemals möglich? — fonbera bafj fie über eine
hinreichenbe Anzahl feftftehcnber Iljatfachcn berfügt; über bie Deutung biefer Sttjat-
fachen mögen bann immerhin bie Anfichten fchwanfen. GS gibt, wie ich flloubc,
ein niemals täufchenbeS äußeres Kennzeichen, welkes ben 3«tpunft anbeutet, wo
eine berartige GinWirfung einer SBiffenfchaft auf eine anbere beborfteht: biefeS
Kennzeichen befteht in ber wechfclfeitigen Annäherung, Welche ftattfinbet. 3n
bielen Sötten finb ja folcfje Ginwirfungen SBcchfelwirfungen, unb mit bem SSer=
Ijältnif} gttjift^en Sprachwiffenfchaft unb ipfftcfjologie ift eS in ber Xh°t fo- SB'«
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Die Aufgaben ber experimentellen Pfycßologie. ^03
hiicßtig bie $ienfte aueß fein mögen, metcße bie ©pracße ber tßfßcßotogie teiften
!ann, hier jmeifelt anbererfeits baron, baß bie Sprache felbft pfpcßologifcß ju
erKören fei?
Siefer leitete Umftanb ift es nun ober, melier gerabe bie ©pracßforftßer
nicßt feiten $u einer, mie icß glaube, einfeitigen 2Infcßauung über baS ©erßättniß
beiber ©cbiete füßrt. $er ©pracßforfcßer empfinbet bor allem baS ©ebürfniß,
fieß über getbiffe ©runbprobleme bei ber ißfpcßologie SRatßS ju erholen, unb er
toirb baf|er geneigt, ber leßtem ein größeres fRec^t cinjuräumen, als fie, bisjeßt
menigftenS, berbient, $er ißfßcßotog, trenn er über bie ©cßmacßen feiner £>ülfS=
mittel fid^ nicßt felbft taufet, wirb bieüeidjt eßer im ©taube fein, ju ermeffen,
maS er bem ©pracßforftßer bieten, unb maS er anbererfeits bon ißm ermatten
!ann. SSentt mir eine jureicßenbe ißfßcßologie befaßen, fo mürben fieß ja maßt»
ftßeinlicß bie S)inge fo geftalten, baß bie ©pracßhiiffenfcßaft beftimmte ©rfcßeinungen
unmittelbar auS pfpcßologiftßen ©efeßen erKären tonnte. Stber biefe ©fpcßologie be=
fißen mir nicßt, unb icß meine, bie ©pracßmiffenfcßaft muß unS mitß elfen fie ju
geminnen.
©in um bie ißrincipien feiner SBiffenfcßaft ßocßöerbienter ©pracßforfcßer, ber
ben feltenen ©örtßeil genießt, biefe ©igenfeßaft mit ber beS ißfpcßologen ju ber»
einigen, ©teintßal, ßat, mie icß füreßte, bureß feine „©inteitung in bie Sßfßcßologie
unb ©praeßmiffenfeßaft", melcße ben erften ©anb eines umfaffenbern fpraeßmiffen»
fcßaftlicßen SBerfeS ju bilben beftimmt ift, biefeS ©orurtßeil einigermaßen begünftigt.
$er ißfpcßolog, ber bieS ©ueß jur ^anb naßm, fonnte mol ermarten, ßier aus ber
pHe linguiftifeßer ©rfaßrungett einen Sleicßtßum neuer pfpcßologiftßer ©eficßtS»
punfte ju geminnen. ©tatt beffen ftüßt fieß ©teintßal tßeils auf ©eobaeßtungen
am fi'inbe, tßeils aueß auf fubjectibe SBaßrneßmungen, bie er in einem, im ganjen
ben £>erbart’feßen ülnfcßauungen bertoanbten Sinne, boeß mit ber ©elbftänbigfeit
beS unabßängigen S)en!erS bermertßet. Saß ber ©erfaffer biefer ißfßcßologie ju=
gleitß ©pracßforfcßer ift, erfeßeint faft als ein jufäDiger Umftanb. 3<ß muß eS
ben Sacßleuten aus ber fiinguiftif überlaffen, ju entfeßeiben, meteße Stuffcßtüffc
fie für ißr ©ebiet bem SBerfe $u entneßmen im ©tanbe finb; meinerfeits befentte
icß freimütßig, baß i<ß aus ©teintßafs Keinem ©ücßlein über bie 2Jianbe=9leger»
fpraeße meßr ©fpcßotogie gelernt ßabe als aus ber umfangreießen „Sinleitung
in bie ißfßcßologie unb ©pracßmiffenfcßaft") ©teießmof ift eS, glaube icß, gerabe
baS ©orurtßeil beS ©pracßforfcßerS, melcßeS an biefem SfiiSberftänbniß bie ©cßulb
trögt. Stucß ©teintßal ift ber Meinung, eS gebe eine, oon objectioen Sßatfacßen
unabßängige ißfpeßologie, ober fie lönne gefdjaffen merbett, unb nacßträglicß fteße
eS bann frei, biefelbe auf alle möglicßen Objecte pfßcßologifcßer ©eobaeßtung an»
jumenben, mäßrenb in SBaßrßeit einzig unb allein aus biefen Objecten eine rniffen»
fcßaftlicße ißfpcßologic jn geminnen ift. ©olcßen Srrtßümern entgegenjutreten
feßeint mir um fo meßr geboten, je Icicßter fie bei ben ber ©ftjcßologic ferner
fteßenben ©praeßforfeßern SluKang finben, unb es bann gefeßeßen fann, baß irgenb»
ein pfßcßologifcßeS ißßantafiefcßloß als ein fefter miffenfcßaftlicßer ©au angefeßen
mirb, in melcßem fieß aueß ber ©pracßforftßer moßnlicß einrießten müffe, um bie
ißm öetfügbarc Sßatfacßen unterjubringen, fo gut eS eben geßen miö. 3« ber Sßat,
26 *
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Unfere «geit.
W
ganj in biefern «Sinne |at noch neuerlich Hermann fßaul in feinem üortrefflichen
Suche übet bie „ißrincipien bet ©pradjgcfdjidjte" bie ißftjchologie als eine ,,©e-
fefceöwiffenfdhaft" bezeichnet, tion weiter bie ©pradjwiffenßhaft, ebenfo wie anberc
tjiftorifdje $)idciplinen, abhängig fei. Ed ift ein gtütflidjet Umftanb, baß bet
SSetfaffer tion biefer Sorauöfefcung im einzelnen nicfjt eben tiiel ©cbraudj macht,
©einen, and) pfpchologifch merilfboHen ^Betrachtungen würbe eS wahrlich nicht jurn
Sortheil gereift ^aben, wenn fie jutior irgenbcincr pfpchologifdjen ©efefceSorbnung
fich Ratten fügen tnüffen.
Sot einem UtiSbraucf) ber ©rammatif muff man fidj freilich in ber ipfpdjo»
togic ebenfo feljr fjüten wie in ber flogif. 2)ic ©rammatif fieljt fich burch bad
if|t inneWof)nenbe fpftematifdje Scbürfniß genötigt, bie lebenbige ©prache in einen
bon außen an fie herangebradjten Sormaliömuö ju zwängen, welket jWar logifdien
UrfprungS, aber, ba et fidj auf eine, fcincdwcgö allein auö logifdjen SRotitien ent*
ftanbene geiftige ©djöpfung bezieht, felbcr webet Sogif nod) Ißfpchologie ift. $od)
bie ©rammatif ift nicht bie Sprache. Die erftere fann bem Ißftjdjologen wertlj"
tiotlc 9lnf)alt§punftc gewähren; baS Cbjcct, Welkem ct allein Iljatfadfjen bon
pfhdjotogifdjem SScrtl) entnehmen barf, ift bie ©brache felber, ift namentlich bie
jum £ljeil böHig außerhalb ber grammatifchen Jiotmen fidj bewegenbe Entwertung
berfelben. Unb Wo fottte man anberö bie 2f)atfad)cn ^emc^men, aud benen bie
pfgdjologifchen ©efefce beö Denfenö unb ber Entwertung ber Segriffc §n erfdjlicßcn
finb, alö eben and ber ©prache, bie gleichzeitig baö Erzeugniß unb bad SBcrfjeug
beö Denfenä ift? Eö ift waljrlidf) ein günftigeö Ereigniß, baß gerabe ba, Wo
bie £ülf§mittel bet phpfiologifcheu Ißfpchotogie ju berfageit beginnen, bei ben
höherit ScWußtfeinötiorgängen, bie ©prad)e fid) a(3 ein Object barbietet, beffen
Unterfudjung burdf) feine Unabhängigfeit oon bem Seobacfjter unb burch bie mannid)=
fachen ©eftaltungen, bie eö unter wechfelnben SBebinguttgcn amtimmt, einen epperi
menteHen SBertf) gewinnt.
3?ur auf wenige Erfdjeinungögebicte fei hier ^ingewiefen, in benen fidj gegen»
wärtig fdjon bem ©prachgelef)rten, ber fidE) mit ben elementaren feilen ber epperi«
menteHen ißftjchologie tiertraut gemacht t)at, fruchtbare unb für bie fßfpdjologic
WcrtljtioHe @efid)t»punftc ergeben biirften. 3« biefen ©ebieten redjtie id) tiortäufig
noch nicht bie gegenwärtig mit Vorliebe oon ber Singuiftif gepflegte Sautphhfiologic.
3war ift man gewiß mit Siecht mehr unb mehr ju ber Uebcr^eugung gefommen,
baß bie ©efeße beö fiautwanbelS minbeftenö in bemfelben SOlaße aus pfgdjologi»
fchen wie ait§ phhfiologifchen SDlotiüett hertiorgehen. Slber folange, wie hier, bie
fadhen felbcr noch fo tiiclfad) umftritten finb, bürfte bie Beit ju ihrer pfpdjologifdjen
SSerwcrthung fchwerlich gefommen fein. Einigermaßen günftiger fcheint bie ©ad)e
feßon bei ber SBortbilbungslehre zu ftefjen. §ier ift wenigftenö bie große Süehr*
heit ber gadhgelehrten über gewiffc funbamentale flhatfachen einig. 3n bem 5luf»
bau bev SBorteä auä Scftanbtheilen tion urfpriinglich tierfchiebener Scbeutung, in
ber mehr ober weniger innigen SBerfdjmelgung berfelben 3 um Bwed be§ Sludbrudg
neuer jufammengefehter SBorfteHungen oerrathen fidf) aber pfpdjifdjc Kräfte, auf
beten Slatur au§ ihren Sleußerungen ein gewiffer SRüdfdjluß möglich fein muß.
2)aö S3ert)ältniß !ann boch h* er fauni anberö gebadjt werben, alö baß in ben 3$er=
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Die Aufgaben 6er experimentellen Pfycftologic.
405
binbungS» unb SerfchmeljuttgSgefehen ber Sßortelemente ihnen entfprechenbe 93er=
binbungS» unb SerfchmeljungSgefefce ber Sorfteflungen jum 9luSbrucf gelangen,
bie fretfit^ bießeidjt nur in wenigen fünften bon aUgemeingjittiger SBefc^affen^eit
finb, in ben meiften Schiebungen aber, wie bie ungeheuere Serfdjiebenheit ber
©praßen anbeutet, bon fpecieBen ©ntwicfelungSbebingungen beS SewufjtfeinS ab»
hängen. £>ier gerabe besprechen bie Sprachen ber Saturbölfer bem Sinologen
bietleicht eine reichere Ausbeute als bie feit jjfahrtaufenben ju einem feften 9lb=
fcfjlufi ihrer Organifation gelangten Gutturfprachen. 2Benigftenä möchte man bieS
aus fo manchen bebeutungSboüen Seobachtungen fliehen, wie fie j. S. in ben
„Stpmologi|chen jforfchungen" unb fonftigeit Schriften beS fpradjbewanberten fßott
jerftreut finb.
®anj anberS berhält eS fiel) mit ben Segeln beS Sa^haueS, bie borjugSWeife
in ben ©utturfprachen ju einer bcutlichern SluSbilbung gefomnten finb. Sie fpn»
taltifcheu Serfchiebenheiten ber einzelnen Sprachen, bie Seränberungen, Welche
felbft eine einzelne im Saufe ber Seiten erfahrt, bürften aber nicht Weniger als
bie Segeln ber SBortbilbung auf bie ©cfejse ber Scrbinbung ber SorfteBungen
unb, Weil fie Seränberungen leichter unterworfen finb als baS feftere SBortgefäge,
namentlich auch auf bie leifern Schwanfungen in ber Seborjugnng ber einjelncn
Seftanbtl;eile eiltet SorftcEungScomplejeS ein übcrrafchenbeS Sicht werfen. 3« noch
höheren ©rabe eitblich Wirb ein anberer, üieBeicht im gegenwärtigen Slugettblicf
fdjon am meiften jur Serwerthung geeigneter Sweig ber pfpchologifchen Sprach»
forfchung an bie ßnlturfpracheu gebuitben fein: bie Sehre öom Sebeutungswanbel,
für welche auf inbogermaniftifchem ©ebiete, aber wol auch nur hier, ein reichet
ÜSatcrial bereit liegt. 3« biefem (faEc ift cS ja augenfcheinlich, bafj bie Sefultate
ber Sprachgefdjicbtc unmittelbar einen pfpcfjotogifchen SEerth befifcen. SBer bie
öefchidhte eines einzigen SBorteS burch bie 3 fl h r taufenbc feiner ©jifteuj berfolgt
hat, ber h at eben bamit bie @ef<f)ichte einer SorfteBung erzählt. Stauche einzelne
Seifpiele biefer ?lrt finb namentlich in aBgemeinern fprachwiffenfchaftlichen Schrif¬
ten bereits erörtert worben. 9lber eS fehlt noch an Unterfudjungen, Welche für
beftimmte Sprachgebiete in umfaffenber StBeife bie Aufgabe löfett, inbem fte bie
einjelncn (formen beS SebeutungSwanbetS nach pfpchologifchen ©efid)tspunftcn
orbneit, bie relatibe £>äufigfeit ber berfdjiebenen (formen, ihr ßufammentreffen mit
anbern ©rfdjeinungen in bem Seben ber Sprache feftfteßen unb auf biefe SBeife
bie geiftigen Xriebfebern biefer Wichtigen Srfcheinung möglichft üoBftänbig ju er»
fennen fucheit. 2Jiait foßte benfen, bafj felbft eine Slrbeit aus jweiter $anb hier
fchon nufcbringeitb werben fönnte. Sie reich ift ber Stoff, ben allein ein fflerf
Wie GurtiuS’ „©rie^ifche Gtpmologie" für baS ©riechifche ober (foweit eS öoBenbet
ift) baS ©rimnt’fdje „SBörterbuch" für baS ®eutfche barbietet!
®er Sprachforfchcr wirb biefe bürftige Stufjählung ber Objecte pfpchologifcher
Unterfuchung auf feinem ©ebiete leicht noch bemühten föntten. §ier fam es nur
barauf an, Ijetborjuheben, bafj es jahlreiche Gueflen objectiöer ©rlcnntnijj gibt,
Welche beffere ©rgebniffe berfprcchen als bie unjutängliche unb trügerifche ©elbftbeob»
achtung, unb bah bie Sinologie, auch b>enn f ie |t<h auf bie Unterfuchung bon
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<*06
Unfcre <5cit.
Jbatfadben beßbranft, noch fange nicht in bie (Sefafjr gcrätb, baß ihr bet Stoff
auSgebe. 3ft fie nur erft fo weit gelangt, baß fie baS ©ebiet, baS ßcb ihr auf
biefem experimentellen 2Bege eröffnet, einigermaßen ju überfein oetntag, fo »erben
auch bie grunbfegenben Stnfd^auungen, bie fie über Urfprung unb SBefen ber
geiftigen ©ntwideluug gewinnt, auf fitßererm Soben ftefjen als jene metapbbßfcben
Steminifcenjcn ber SSergangenfieit, bie gleichzeitig baS 9te<bt wifienßbaftliriber SBabr=
beiten unb unantaftbarer ©laubenSfäfce für ficß in 9lnfpru<b nabmen. @S wäre
jwar nidjt baS erfte mal, baß eine philofophißb« Srabition jum 2)ogma wirb.
916er faum ift e8 Wabrfcbeinlidb, baß ßdj ein folcßer SSanbel mitten im £i<bt
raoberner ©eßbidjte oolljieben fotfte. 2)aS fange Uebergewidjt ber mecbanißben
Staturwißenfdjaften über bie ißfpcbofogie bat jenen ©artefianifcben Dualismus, ber
tbatfö(bfi<b nichts anbereS als ein burcb etbifcbe Sebürfniffe ermäßigter 9Jtateria=
liSmuS ift, allmählich fo weit erftarfen fajfen, baß er immer wieber aus ben
©oolutionen ber neuem ißbiMopbie afs bie berrfcbenbe ©eifteSricbtung beroorging.
3)ie $fb(bofogie muß biefeS ©egnerS $err werben, in.bem ße ber mecbanifcbcn
9taturWijfenf<baft bie SBaffeit aus ber §anb nimmt unb mit ben cjacten SQtetbobcn,
bie fie Don ibr gefernt bat bie ©efejje beS geiftigen flebenS ju crforßben trachtet.
3ft es ihr auf foftbem SBege erft gelungen, eine reinere 9fuffaffung oon ber geiftigen
Statur beS SDtenßben ju Oermitteln, fo barf ße Oiefleicbt b°ff e n, baß bie ®ienße,
bie ße ber ^ß^ilofo^ie geleiftet, bejfere ßnb als biejenigen, bie fie bis babin oon
ihr empfangen bat.
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föxrrimfrika unb feine Bebeutung in ber (iegemoarf.
$oit
«iFrieibridj oon flelliualb.
II.
Sie ©reigniffe, bereit Scßauplajj Jiorbafrifa fürjlid) gewefen unb tßeilweife
nod) ift, werben uns erft berftänblid), wenn wir fie int 3ufammenl)ange ißrer
gefd)idf|tlidien ©ntwidelung betrauten. 8« biefem Söe^ufc müffen Wir bis auf bie
©potße jurüefgreifen, in Wetter bie granjofen if»re erffen Schritte in tüfrifa untere
nahmen, in bie ©poeße ber ©roberuttg 2llgerienS, Welche in ber @ef<f|id)te jjranf»
reidfjS einen ÜRarfftein bilbet, Weit williger, als man gewößnlid) aßnt, unb bie
jugleidß ben ffeim aller feittjerigen SSerwitfelungen in jenem tiörblicßcn 9lbfd)nitte
beS fdjwarzen Erbteiles im Sdjofe barg. 8« jener ©poeße nun, 1830, War
SRorbafrifa für bie ©uropäer nod) fo gut Wie eine terra incognita. 3Jian Wußte
bamalS in Öiunfreitß, wie in ©uropa überhaupt, nic£|t anberS, als baß bie ®arba=
reSfenftaaten SRorbafrifaS arabiftß feien, arabiftß ber Spradje, ber Sitte, ben ®e=
bräunen naeß, unb auf biefe irrtfjüntlicfje SBorauSfeßung grünbeten fieß bie erften
SKaßnaßmen ber franjöfifc^en ißolitif in Slfrifa. Sic ©jiftenj beS numerifdj über-
Wiegeubcn berberifeßeu SSolfeS war unferer Senntniß tiocß üöttig entzogen, unb
ftatt an biefeS bodj einigermaßen culturfäßige ©lement fid) ju Wcnben, berfcßtoen=
beten bie ^ranjofen ißre SiebeSmiiße an baS unferer ©efittung principieü feinblid)
gegenüberfteßenbe Strabertßum. Sie Sranjofen ßabeit bon jeßer, obgleich aueß fie
in biefem fünfte nidjt böflig rein fittb, bie farbigen 9?aturfinbcr menfdjlidjer unb
djriftlidjcr beßanbclt als alle übrigen ©uropäer. Sie ßutbigteu gern bem ©runb-
faßc: ben SBiberftanb breeßen unb bem Söefiegtcn ein milber §err fein. Saß fie
aber gerabe bamit ben Arabern gegenüber bie fdjwerften SKiSgriffe begingen, Wirb
Wol feine borurtßeilSlofe fritif in Slbrebe fteHen fönnen. 2ltS ©ntfcßulbigung
mag ißnen bienen, baß bie Stimmen, Welche in 33qug auf bie 93eßanblung ber
©ingeborenen SUgericuS fieß benteßmeti ließen, bie wiberfpretßenbften Slnfitßten
bertraten, fobaß eS oon bornßerein unmüglicß war, ba man boeß nid)t alle ju-
gleicß befolgen fonitte, eS allen redjt jn machen. SBeldjeS Regime aber baS allein
richtige fei, läßt fid) ßeute Wol nod) gar nid)t mit 93eftimmtßeit beantworten.
iJiiemanb, welker mit algerifdjcn SBerßättniffcn bertraut ift, wirb bezweifeln, baß
in materieller, wirtßfcßaftlitßer §inficßt granfreid; ßier iit bem furjen 3eifr«ume
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<*08
Unferc £tit.
tiott nur einem falben 3aßrßunbert ba« Unglaublicßfte geleiftet ljat tiefer mate=
riefle Äuffdjwung beruht jebocb lebigließ auf bem ©inftrömen europäifdjer Solo«
niften unb beren ©ebenen. 9!un fönnen bie ©efeße, treldje für biefe paffen, bie
SRaßnaßmen, toelc^e auf lefctere« abjielen, unmöglich bie nämlichen fein wie jene,
mit welchen bie ©ingeborenen, b. ß- jefct unb DorauSficßtlicß noch für eine lange
Sufunft bie eminente SRajorität ber ©eoötferung, ju regieren jinb. 2Reßr als
irgenbmo Wuchert aber in granfreid) jener $j>umanität«f<ßwinbel — eine IRacßwir*
fung ber Sopßi«men au« ber granzöftfcßen IRetiolution — melier principiefl alte
SRenfcßen für gleich geeignete ©lieber unferer gefitteten ©efeflfebaft erllärt unb
bie Utopie einer gleichen ®eßanblung berfeiben forbert. $ie granjofen bemühten
ficb jtoar rebtieß, ©efefce ju erfinnen, welche beiben Ißeiten, ben ©inwanberem wie
ben ©ingeborenen, gerecht werben, hoben aber bi« ,$ur Stunbe wol laum erfannt,
baß fte bamit einfach Unmögliche« anftreben. Sa« ©nbetgebniß blieb auch, baß
fte feine ber beiben Parteien jufricbcn ftcflten. 9tacfj Stnficßt ber Berftänbigften
©enerate fann bie eingeborene ®coötferung Sllgerien« nur mit jtarfer £>anb regiert
Werben; biefe SReinung ber ©cnerale Wirb gewöhnlich geringgeachtet, fchon weit
fic ©enerate finb unb bc«hatb, nach allgemeiner Slnnaßmc, für nichtmititärifche
Singe fein Serftänbniß befifcen. SBcit flüger bünften fich bie politifdjen Sog=
matifer im SRutterlanbc, Welche, mit ber ben granzofen eigenen Vorliebe für
humanitäre Utopien, nicht« ©eringcre« at« eine fusion des races anftrebten unb
bie einßeimifcßc Seoölferung alle« ©rnfte« fich „affimitiren" wollten! SRatürlicß
lieh ftöh ein folche« 3>ft bto« auf bem Sßegc ber ÜRacßgiebigfeit, ja be« fiofetti«
ren« mit ben ©ingeborenen benfen, we«halb man ben Arabern, in ber Slbfießt,
fie ju gewinnen, fort unb fort übermäßige Privilegien gewährte. 5Racß ßerge*
ftefltcm grieben, na cf) anfeheinenb erfolgter Unterwerfung ging bie franzöfifeße
Politif ftet« barauf au«, bie frühem ©egtter für fteß ju gewinnen, fte in ©ütc
an granfreich ju feffetn, inbem fie um beren ©unft förmlich buhlte, fie mit 9lu«=
Zeichnungen bebachtc, ihren ©tauben unb ihre Sitten auf ba« forgfältigfte fronte.
Somit fdjmeidjelte man fich bie unbänbigen Söhne ber SBüfte am cheftcn in bie
Slrme ber europäifeßen ©efittung fuhren zu fönnen. Siefe politif, man barf e«
rußig au«fpredjen, berußte auf einer totalen S?crfennung bc« arabifeßen ÜRationat-
cßarafter« unb War obenbrein eine boppelt tierfehlte, weil bamit ber europäifdjen
Sotonifation ein fcßtcdjter Sienft erwiefen Würbe. So conftatirt benn auch Dr. ©ern*
ßarb Scßwarz, wie ein unzcitiger unb unbebauter 2iberali«mu« ber afrifanifeßen
HSroöinz nicht feiten am meiften gefeßabet ßat. Ser 3lraber mit feinem i«lami=
tifeßen ganati«mu« unb feinen nomabifeßen ©ewoßnßeiten ift unb bleibt, ob unter*
worfen ober nießt, ein geinb, ber Don unferer europäifeßen ©ultur abfotut nießt«
Wiffen Witt, unb jebe ißm erwiefene ©unftbezeigung einfach al« Scßwöcße be«
berßaßten „fltumi", be« ©hriftenßunbe« beutet.
Unb fo gefeßaß e« in ber Sßat. Sie Slraber üerftanben bie guten Stbficßten
ißrer neuen Herren nießt, fonbertt legten eben bie 2Rilbe al« Scßwäcße au« unb
Würben fo in ißrer Oppofttion gegen ba« ©uropäertßum nur beftärft. SRicßt baß
bie Slraber fieß nießt citiitifiren ließen; fie haben fiel)erließ biefelben Anlagen,
gäßigfeiten unb ©efüßte wie Wir, aber fie wollen unferc ©iöilifation nießt, unb
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*
Al
ttoröafrifa uni> feine Bcbcutung in 6 er (ßegenwart. ^09
ißre Religion erlaubt eS aueß nießt. SSie bor Saßrßunberten, fo finb fle ßeute
nodj fanatifeße Slnßänger ißter islamitifcßen Irabitionen unb berachten ben
©ßriften toie feine Steligion. Sie bebürfen ißret liiert; fie finb glüdlicß. 3ßr
©taube berßeißt ißnen baS ^immetreidß gerate fo toie ber d;riftlicße. Sic ge»
nießen bie greißeit im auSgebeßnteften SDtaßftabe; fie ßaben itjr SBeib, ißr 3 £ lt,
ißr ißferb, ißren SebenSunterßalt unb baju ein ©ebiet, faft fo groß toie Europa,
auf bem fie urtbefd^eänfte ^errett finb. SBaS uns ©efittung biinft, ift cS nießt
in ißren Slugcu. Sie ßaben oon ©ibitifation ganz anbere SBcgriffe unb betrachten
uns, nießt fieß als bie S3arbaren. 9Rit einer europäifeßen Drbnung ber ®inge
fönnen fie fieß niemals bertragen, fie ift einfach i^rer innerften Statut jutoiber.
3ßr burcßauS ariftofratijeßer ©eift beugt fieß einzig unb allein bor ber ©ewalt;
benn bie ©ctoatt fommt bon ©ott, unb tuet fie befißt, bem hot eben Sttlaß fie
nertiehen, in beffen SBiHen ber ERenfcß fi<h fügen muß. $anacß mag man er»
meffen, toie gruubfatfeh jener SBeg ift, toeldjett bie granjofen bisher einfeßlugen,
ben aber auch ber fonft ausgezeichnete Sllejanber ^Se^fjolbt als ben einzig rieh»
tigen zur SBegrünbuttg bauernber, feftcr 93erßöltniffe in Sllgerien bezeichnet. ®ie
EJlilitärberWaltung, fagt er, beruht auf ber Trennung zwifeßen Slrabern unb ©u»
ropäern, toäbrcub gerabe in bem gegentßeiligen Stjftem, in ber 93ercinigung betber
Staffen, bie .fmuptbebingung zum ©ebeihett beS SanbeS liege, ißeßßotbt empfiehlt
mit ©inent SBortc: „®urcß ben Strabcr muß baS Sanb auSgebeutet Werben, aber
burch ben Straber mtter franzöfifdhett ©ibilgefeßen": ein 9?atß, welcher auf ber
tiefften SBerfeuuung ber SBirftichteit beruht unb zu einem {täglichen giaSco füß»
ren müßte, ©tue SluSfößnung ber ©ingeborenen mit ber grembßerrfcßaft wäre
bietteid)t bann bettfbar, wenn bie grattzojeit baS Seifpict ber Stuffen in £ur»
teftan nachahmctt wollten, b. ß. fo wie biefc it)re Slfiateit afiatifdh regieren,
müßten bie grattzofen ißre Straber arabifch, i£>re Serber berberifeß regieren. 3)aS
wäre aber baS fießerfte SWittel, um jebc frembe cotonifatorifcßc ©iuwanberuttg
fern zu hatten unb ben Europäern ben Slufentßalt in Sltgerien unmöglich zu machen,
wäßrenb boeß gerabe biefc cS finb, Wctcße baS Sanb ber Gultnr crfdßtießen unb
ben SBefifc beffetben in nationatötonomifeßer öczicßuitg allein wertßbott maeßen.
SBomögticß bööige SBernicßtung ober boeß Serbrängnng altes arabifeßen SBIuteS ift
baßer, Wie Dr. Schwarz burch bietfaeße ©efpräcße, namenttieß mit Sanbtcnten, bic
bon bem unfteten Stomabentßum ber Straber atterbittgS am meifteu zu leiben ßaben,
ftdß überzeugte, baS, WaS oon ber SDteßrzaßt ber Europäer in Sltgerien atS bie
notßwenbigfte StegierungSmaßrcget geßatten Wirb, unb zwar nießt erft ßente, fon»
bem feit jeher. Scßon in ber erften fjätfte ber feeßziger Saßrc empfaßt ein in
SSufarit tebenber, feßr nücßtern urtßeitenber ©orrefponbent ber augSburger „Slttge-
meinen 3 £ itung" eine foteße SSotitif, unb beinaße ebenfo lange ift eS ßer, baß
mit noeß größerer Energie ©erßarb StoßlfS, btefer gewiegte Kenner StfritaS, bie
gewattfame 3umtfbrängung ber Stomabenftämmc in bie SBüfte oerlangte, hätten
bie granzofen fieß bon adern Slnfang zu einer fotdßen ißotitif befannt unb ber»
geftalt ein freies Terrain gefeßaffen für europäifeße Guttur unb ©efittung, fo
Würbe Sltgerien, ftatt jefct einige ßunberttaufenb Europäer, beten einige ERiDionen
Zäßten. Slber bie falfdßeit Beßren ber SjBßitantßropie, bic cibilifatovifcßen Sbeen
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DOglt
Unferc <5cit.
folget Seute, welche auf bie fanatifdjen ©ingeborenen biefetben Siegeln anWenben
wollten, bie man auf ©öfter anwenbet, welche Sahrtjunberte h'nburd» gereift finb,
haben bie« alte«' uert)inbert. ©rft neulich f)at ©erwarb Stotjlf« an biefer ©teile*)
wieber feine Stimme erhoben, um ben granjofen an« .fwrj ju legen, enblid) ein»
mal ftrengc SDtapregeln ju ergreifen, ftatt fortiuätjrenb gegen bie ©ingeborenen
fatfehe $umanität«rü<ffidjten Watten ju taffen, burdj bie nun Phon fo niete lau*
fenbe non granjofen, foWot ©otonifien at« tapfere ©otbaten, it|r Seben eingebüfjt
haben. Dr. Sd)Warj feinerfeit« möchte nun at« milbgefinnter ^rieftet ein unbe*
bingte« horte« 9tu«rottung«= ober ©erbrängung«fpftem nicht ptafcgreifen fehen; ju
einem unbebingten 8tfftmitation«oerfuch »erbietet ihm aber boch feine ©ewiffen*
haftigteit ju rathen. @« tieft fidj nun recht pfjön, wenn er fchreibt: „@8 ift hier
rein fachlich borjugeljen unb nur ba« ju befämpfen, wa« ber ©initifation phnur*
ftraef« entgegentäuft. Die« ift borjug«weife ba« Stomabenthum. fjefte SSohnpjje,
abgegrenjter ©epfc, ©erttjeitung be« bem ganzen Stamme in corpore noch flffjö 5
rigen ©runb unb ©oben« an bie gnbibibuen, ba« ift nöthig." Stun, rechnen wir
baju noch bie nertangte ftrenge Durchführung ber SJtonogamie, b. h- bie Slbfchaf*
fung ber ©otpgamie, nerbunben mit ber Hebung be« weiblichen ©efchtecht« unb
ber potitifch unbebingt gebotenen Aufhebung ber geifttichen Sorporatiouen ber
SJtoötim, fo wäre bie«, bächte ich, getabe genug, um eine gewattfame ©erbrängung
be« Slrabertfjum« ju h c ife en , beffen ©runbpfeiter hiermit umgeftopen Werben, ein
©rocep, bem e« fich gutwillig Wot niemat« fügen wirb. SJtir will baljer fcheinen,
bap in Algerien wie anberwärt« bie ©raji« unwillfürtich ganj anber« pch Wirb
geftatten müffen at« bie gotbenen Sehren ber ©h'i flnt hropen unb SBeifen am ©rünen
Diphe. Die ©rafi« tautet aber altemat: ©ewatt geht oor Stecht.
Algerien ift burch ba« Schwert erobert worben, unb auch nach bem gatte ber
^»auptftabt, am 5. Suli 1830, folgten noch gegen bie einjetnen Stämme gerichtete
hartnäefige Sümpfe unb Heinere ©Epebitionen, welche mit wechfetnbem ©tücf geführt
würben unb erft mit ber Unterwerfung ber berberifchen Sabplen im Sommer 1849
unb 1857 at« abgefchtoffen betrachtet werben bürfen. Diefe mehr at« jwanjig*
jährige Sampfe«periobe braute e« jiemtich naturgemäp mit fich, bap bie ©erwat*
tung be« neuerworbenen Sanbc« oorerft in mititäriphe §änbe gelegt Würbe. Der
jeweilige ©ommanbant ber öccupationöarmee übte auch bie oberfte ©ewatt in
jeher ©ejiehung au«; ihm jur Seite ftanb ein ©erathungStörper. Die ©erorb*
nung oom 22. guli 1834 fchuf ein „©eneratgouöernement ber franjöfiphen Se*
fijungen in Storbafrita". Die ©erorbuung oom 15. Slprit 1845 nannte ben
Statthalter bon Stlgerieit „Gouverneur g6n6ral de l’Algörie", theitte ba« Derrito*
riunt in brei ißrobinjen, jebe berfetben aber je nach ber oorherrfdjenb arabiphen
ober franjöfifchen ©eoötterung in ©ibit*, arabipfie unb gemifchte Derritorien unb
grünbete eine ©cneratbirection ber SiOitberWattung, einen oberften Slbminiftration«*
rnth unb ein Dribunat für Streitfachen. Da« Decret bont 9. Dec. 1848 hob bie
©ioitbirection auf unb errichtete in jeber ißrobinj ein Departement mit einem
*) »gl. „Unfere Seit", 1881, II, 273.
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Horöafrifa unb feine Bedeutung in ber (Begemmrt. q((
fßräfecten unb einem ©räfecturberathungSförper. Tie ©efammtoerwaltung Sllge»
rienS unterftanb bis 1858 bem föriegSminifterium. Sn biefem Sah** würbe für
Sllgerien ein eigenes SRiniftcrium gefdjaffen, baS ©eneralgouoeruement aber als
unnötfjig aufgegeben (24. Suui 1858). Tiefes SRinifterium für Stlgerien mürbe
fdjon 1860 Wieber aufgehoben (24. -Roü. uitb 12. Tee.). (Sin ©eneralgouOerne»
ment oereinigte feitbem baS militärifche Sontmanbo mit ber Giüilüerwaltung; ein
Untergonoemeur oerfah bie ©efdjäftc ber SD r iititär»(arabifc^cn)Xcrritoricn (Territoires
da commandement) burch Vermittelung ber „Slrabiftfien Vurcaus" (Bureaux arabes),
unb ein Tirector für ©ioilangelegenheiteit ftanb ben ©iüilterritorien oor, beren
©räfecte ihm referirten. TaS Teeret Oom 7. Suti 1864 unterteilte bie Gioil»
autoritäten ben mititärifcfien. Tie Delegation du gouvernement de la defense
nationale in TourS errichtete mittels TecretS oom 24. Oct. 1870 baS „Giöil»
©eneratgouoernement''. Turch baS Teeret Oom 10. Suni 1873 erhielt ber „Gioil»
©eneralgouberneur" noch ben Xitel „Oberbefehlshaber ber ©treitfräfte ju Sanb unb
ju SBaffer", welchen OoHen Xitel berfelbe auch h eu te K0C h unberSnbert führt.*) ViS
1879 mar freilich biefer „SiOiDSeneralgouOerneur" ein ©eneral, unb erft mittels
Teeret oom 25.URärj, bann oom 15. ©ept. 1879 mürbe einSRichtmilitär, bcrTeputirtc
Stlbert ©reop, junt ©iüil»®eneralgouüerneur unb Oberbefehlshaber ber Sanb» unb
©eetruppen ernannt, welcher am 28. Slpril 1879 feinen feierlichen ©injug in
Stlgier hielt- ©eitbem ber ©ioil»®eneralgouüerncur unb ber 2Rititärcommanbant
nicht mehr in (Siner ©erfon oereinigt finb, fungirt ber ©ommanbant beS 19. Slrmee»
corpS, Welches mit einem ©ffectioftanbe oon 55149 2Rann bie ftänbige Vefaf}uttg
Algeriens bilbet, als orbentticheS Süiitglieb beS 1871 eingefefcten VerathungSförperS
(Conseil). SRittelS Teeret oom 12. 2Rai 1879 Würbe bie Seitung ber Singelegen»
heiten ber ©ingeborenen bem ©encralftabe entzogen unb birect bem ©iüil=©eneral»
gouoemeur unterfteHt. Sebe ber brei atgerifdjen ©rooinjen: Oran, Sllgier unb
Äonftantine, bilbet ein Tepartement unter einem ©ioilpräfecten; jeber ber brei
ißrooinjen entfpricht ferner ein ©eneralrath (Conseil general) unter einem ©räfibenten.
Tiefer furje SRücfblicf auf bie Gntwicfelung ber politifchen Verwaltung Sllge»
rienS jeigt uns, bah ntan babei über ein gewiffes ©jperimentiren nicht hinaus»
gefommen ift. Ten europäifcfjen ©olonifteit gegenüber mochte bie franjöfifche
©taatsoerwaltung immerhin gehler fich ju ©djulben fommeit laffen; biefe gehler
Wären bodj feht untergeorbneter Slrt, erträglich unb leicht gut ju machen gewefen
ohne bie leibige grage ber ©ingeborenen. Tiefe muh Oor allem einer befriebi»
genben Söfuug jugefiihrt werben, ehe an einen erheblichen Sluffdjwung ber euro»
päifchen ßolonifation ju benlcn ift; benit oon bem Verfjältniffe ju ber eingeborenen
SRajorität ber Veüötferung hängt ja auch bie Sage ber europäifchen ©inWanbercr
in erfter Sinie ab. 9tun bietet aber, Wie Wir faljeu, bie grage, was mit beit
©ingeborenen anjufangen fei, bie aUevgröhten Schwierig feiten, unb es ift burdiauS
nicht ausgemacht, ob im ^inblicf auf teuere ber geitpunft fchott gefomuten, um
ju bem für bie europäifchen ©otoniften gewih fehl förbcrlichen unb auf bie Tauer
auch unentbehrlichen ffiioilregime itt Sllgerien ju fdjreiten. ©eit aRarfdjaH Dtanbon
*) Sgl. „WuSlanb", 1880, ©. 227-228.
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ttufcre «Seit.
412
im gatjre 1857 bie ©ro&e Äabtjlie erobert unb im §erjen beS ®fdjurbfdjura*
gebirgeS baS gort ®iji=Uju errietet fiatte, glaubte man atterbingS in granfreid)
Sltgerien für immer bem franjöfifdjen Steife einoerleibt. @8 tyerrfcijte überall bie
tieffte S?uf)e. Qm Rorben längs beS HJiittelmeereS finb alle ©täbte mefir ober
minber ftarf befcftigt: RemourS, Oran, SRoftaganem, Sltgier, ©Ijilippcbitte, ©uue
u. f. m.; im Zentrum Jlemfen, ©ibi ©el=SlbbcS, OrtcanSbitle, SRitianaf), SRebeal),
SSfibat», Äonftautine; im ©üben ©ebbu, ®apa, ©erlitte, Sagljouat, ©iSfra, ©atna
unb anbere. ©inb biefe ©täbte aud) nidjt gegen europäifdje Hruppen ju galten,
fo genügen iljre ©efeftigungen bod) oottfommen, um arabifcljen ober betberiföen
korben SSiberftanb ju leiften. SReiftenS tjaben bie fleinent, toie ©erbitte ober
®apa, 5—6 SReter Ijotje, maffio fteinerne 9Rauern, mcld&e menigftcnS 1 SReter
unb barüber bidf finb. Sin berfdjicbenen ©teilen befinben fiel) ©aftionen mit ®e--
fdjjüfcen, unb bcljcrrfdjenbc Slnljölien in ber Stäljc ftnb befcftigt. 3m Innern ift
ftetS für SBaffcr geforgt unb faft immer finb ÜRunitiou unb fßrobiant borljanben.
Sitte biefe ©läfce mürben alfo fetbft SRaroffanern ober lunefiern, beit einzigen
9iadE)barit SltgcrienS, metdje über einen ©^immer bon Slrmee oerfügten, toiber*
fteljett föitneit. ®er Uebclftanb ift nur, baß fiefj aufjertyatb einer folgen geftuitg
öfters grofje ©orftäbte gebilbet fjaben, bie im gatte eines SlngriffcS fdjufcloS bleiben,
ober fetbft meint bie Selooljner 3«it finbeit, fid» in baS innere beS bcfcftigteit
DrteS ju flüchten, oljnc SebenSmittet bem ©erberben preisgegeben finb. Sitte biefe
ißlä|e finb burdj gute macabamifirte ©tpafjen miteinanber oerbunben. ©omot ber
Sange nad(j, b. f). bon SBeft nad) Oft, als ber ©reite nad), b. f). bom SRittelmeer
bis pr ©orloüfte, ift Sllgerien bon fahrbaren ©trafjen burdjfdjnitten, unb man
fanit auf elf oerfdfiiebenen, miteinanber parallelen SBcgett bom SRittellänbifd^eit
SRecre bis p beit ©djott oorbriitgen. ®ap fommeit in beit lefjten Sauren bie
©ifenbafjtten, fo bie befahrene ©treefe bon Dran über URitianal} nnb Slibal) nad)
Sltgier uitb bon ba nad) ©etif, bann jene bon ©f)ilippebiflc ttadj fioitftantinc.
SBaS bie Sanatifirung betrifft, fo l)at bie franjöfifdjc ^Regierung cS gleichfalls au
nichts festen taffen, ^unberttaufenbe bon §cftaren trodenen SanbcS, mo borbem
nur SeutiSfeit unb 3'o«flpbtmcn fortfamen, finb jefct üppige ©etreibe-, Xabacf»
uub Saummollfelber. ®ie größten Sümpfe beS ®ctt, ehemals ©rutftätten beS
SBedjfetfieberS unb ber SRalaria, finb burdj rationelle ©ntmäfferung troden gelegt,
gnfolge beffen unb ber auSgebelmten, bef)arrtidjen Slnpflanpng beS auftralifc^en
gieberf)eil= ober ©lauen ©umbaumeS (Eucalyptus globulus) fann jefet im attge»
meinen baS fflima StlgerienS ein gefunbeS genannt merben, unb bie ©tabt Sltgier
fetbft säljtt nunmehr im SBinter p ben Kurorten.
Irofc attebem ift eS granfreidj nidjt gelungen, bie SRulje im Sanbe bauernb
p befeftigen, maS niemanb bermunbern mirb, melier fid) bie ©leidjgültigfeit ber
■Rontabeit gegen bie aufgejäljltett Gulturerrungenfdjaften bor Slugen Ijält. ©o
fanben benn tuieberf)olte Slufftänbe ber ©ingeborenen gegen bie franjöfifdfjc #ert=
fd£)aft ftatt; allein fie trugen faft alle mef)r ober minber ben Kljarafter localer
gtifurrcctionen, benen als SRotibe rein örtliche ober ©tammeSintereffen p ©rnnbe
lagen. ®iefen Kljaraftcr trug j. ©. ber Slufftaub ber ©eni ©ltaffen, melier
1859 ben ganzen SBcften ber Kolonie bebroljte. ®er ©ertuft ber granjofen in
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Ziotbafrifa unb feine Bedeutung in bet (ßegennxirt.
bet ©ampagne gegen biefen Slraberftamm unter ©eneral 9Wartimprei) betrug naße
an 6000 SRann. Snfotge ber, wie man fagt, beifpielloS faßrläffigen Oberleitung
beS genannten ©eneralS ftarb nämlicß innerhalb jmeier läge ein Drittel ber
Slrmee an ber Spolera, was inbeß bei ber äußerft geringen ©laubwürbigfeit ber
Sarteipreffe faum bucßftäblicß 31 t nehmen fein bürfte. 3 m 3 a ß re 1864 folgte bie
große ©rßebung ber Uleb @ibi ©eßeidj unter ©ibi ©timan ben |>amja im ©üben
ber ißrooinj Oran, warb aber nod) im nämlicßen 3«ßt £ gebämpft. „Seilt 2lraber=
ftamm“, fagt ©erßarb NoßlfS, welker wieberßolt mit ißuen in perfönlicßem ,Ser=
feßr ftanb, „ift mächtiger, reifer an Sefiß unb einflußreicher als bie Uleb ©ibi
©eßeieß. Seiner, abgefeßen Don ben ©cßürfa, bie aber feine 3 ufammcngeßörigen
Dribe bilben, ift fo üoraeßnt. Die Uleb ©ibi Scheich rühmen fich Don ©ibna
9lbu 93cfr abjuftammen, bem ©cßwiegerDater SNoßamntcb’S, welcher auch «iS erfter
ffßalif beffen Nachfolger war. SDtan theitt fie in jwei große gractionen, bie öft=
liehen unb bie toeftlichen. ©rflcre finb nach ofßcictlcn ?lngaben 17600 (im 3«ß ££
1848) Söpfc ftarf, fobaß man bie ßafji ber beiben jeßt auf 40000 Seelen fdjäßen
barf. Die Uleb ©ibi Scheid) ßabeit fieß jicmlich rein Don ber Sermifeßung mit
Stegerblut gehalten, namentlid) bie geringem gamilien. ©ic ßabett baßer burcß=
geßenbS IjeUc Hautfarbe, unb bewahrten beffer ben arabifeßen DßpuS als bie Dielen
anbern Stämme NorbafrifaS. 9ltlc leben unter bem 3 £ U £ » «ob ««r ben SBintcr
Derbringen bie Dornehmfteu gamilieu in Käufern, Welche fie in Slbiob ©ibi ©eßeieß,
©cßettala, Sercfina ober anbern SforS befißen. 3ßt ©ebiet, baS fie feit uitbenf*
ließen 3 £ it £ « inueßaben, liegt jluifcßen bem 32. unb 34.° nörbl. Sr. unb bem
1. unb 4.° weftl. 2. Don Saris, ©in Dßeil Don ißnett befinbet fid) beSßatb auf
maroffanifeßem Soben.“*) 5Dtit 5Rcdjt gcifelt eS ber berühmte Neifcnbe, baß nneß
ber ficgreidßen ©cßlacßt Don 3$fß bie gran^ofen, bie baS £>cft in fpänben
hatten unb ißren SBiUcn bictiren fonnten, gegen SNaroffo ßin jene unglüdlicße,
bureß nicßtS motibirte ©rcn^linic jogen, Welcßc bie Uleb ©ibi ©eßeid) mitten
entjmeifeßnitt. Denn wenn auch einzelne Dorjüglicße ©eßeieße ber Uleb ©ibi
©eßeieß Wäßrcnb ißreS ganjen 2ebcnS treu jur fran^öfifeßen Dricolore ftanben, fo
Waren bieS nur SluSnaßntcn: bie ©ßntpatßie ber IDleßr^aßl ber fraitjößfcßen Uleb
©ibi ©d^eieß War ftetS mit ben Niaroffanem. ©ie beneibeten ißre Settern, Don
einem „Seßerrfcßer ber ©laubigen“ regiert 31 t werben, wäßrenb fie felbft einem
„Ungläubigen“ untertßan fein mußten.**)
Son ßier aus erfolgten bann aueß bie weiften Slufftäube, Weldje im religiöfeit
£>aß immer eine ßinreießenbe Naßrung finben, juntal berfetbe Don ben Niarabut
unb ben geifttießen Korporationen ber NJoSlim ftetS Don neuem gefeßürt wirb.
Diefe moßammebanifeßen Orben überbieten noeß jene ber cßriftfatßolifcßen Sircßc.
Nicßt nur baß aueß fie ißre oberfte Seßörbe meift außerhalb 2anbcS (in SNaroffo)
ßaben: aueß ber unbebingte ©eßorfam, ben fie ißren ©liebem aufcrlegett, ift
ein foleßer, wie ißn felbft bie Statuten ber gefuiten nießt 311 forbern Wagten.
Denn ber Sorfteßer beS OrbcnS pflegt ben neu ©intretenben mit ben SBorten in
*) Sgl. „Som gelS jum ®teer", December 1881, ©. 331—332.
**) »gl- „Unfere Seit", 1881, II, 273.
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Unfere ^cit.
ben ©erbanb aufcunchmen: „Sei in ben $änben beineS Cbent, maS bet Seichnam
in ben $änben beS Xobtentoäfcfjerg ift, bet benfclben nach ©elieben hin» unb her*
menbct." GS fonnte bei foldjen Grunbfäfceu nic^t festen, baf? biefe Drben fdjon mit
bem ehemaligen Regime jufammenftiehen, obmol baffelbe hoch ein mufelmanifcheS, alfo
nach orientalifdjer Ülnficljt legitimes mar. Araber unb lürfen haben 9?oth mit ihnen
gehabt. 2BaS munber, baf? fie gegen baS franjöfifche Regiment ebenfalls, unb ba erft
recht gront machten. 3ohI«i<h e Stufftänbc hoben fie auf bem Gemiffen. ©eniefjen
fie bod) auch, namentlich in ben unterften ©olfsfehichteu, ungeheueres Snfehcn unb
erfreuen fich, theitmeife menigftcnS, eines fchr ftarfen 3ujugS. GS finb ihrer,
fomeit fie für Algerien in ©etracht tommen, fieben, nämlich ber Drben (arabifch:
Khuan, b. h- ©rüber) beS §Ibb cI>i!abcr el X'fcfji lani, beS 3Rulct) Xaleb, beS ©ibi
üKuhammeb ©en Atffa (bie fogenanntcu Sffaua ober Affaua), beS ©ibi SRitham*
meb ©en Abber Uhaman, beS ©ibi Aljmeb Jobfchani, beS ©ibi 3ufcf cl $am=
fali (bie „^mmfala") unb bie 2)arfua.*) 9lidjt meniger mistig finb bie SKarabut,
melchc gleich nach Beginn ber franjöfifchen Operationen fich beeilten, ben „heiligen
Stieg" ju prebigen. 2)er berühmtefte unter ihnen mar ber befannte Abb--et»Saber,
beffen Xhaten im Sanbe noch teineSmegS bergeffen finb. 35er Araber trägt heute
bie franjöfifdje fjerrfefjaft faft gerabe fo fchmer mie borbem bie tfirfifche. SRod)
finb bie ©iarabut alles GinfluffeS ficher, unb eines ihrer ungefchmälerten ©ribi*
legien ift nach Wie bor jenes, ben heiligen Srieg prebigen ju bürfen. 3)ie SRa»
rabut bemachen bie fieitigengräber, bon beneu mirafulöfe Strafte auSftrömen; fie
üben fromme SEBertc, fammeln SBihbegierige um fich, bemirthen Stothleibenbe, ber»
tünben Dratel, hinbern Slutocrgießen unb ftiften grieben. 3h r Anhang ift un*
geheuer, jebenfalls größer als ber ber „Jjfdjuab", beS Stiegerabels, melier erft
in jmeiter Sinie Ginfluh befiel. 35amit ift auch bie ©ofition ber grangofen gegen»
über ben arabifchen ©tohammebanern in Algerien gelennjeidjnet. Gegenüber
benberberifchen SKoSlim, ben Sabplen, beferen fie jrcar mehr Ginfluh, meift aber
immer nur borübergehenb, ben Umftänben angenteffen. 3)af? bie Sabtjlcn nur
ungern ober gar nicht mit ben Arabern gemeinfame Sache machen, hot jene gleich»
mol uicht berhinbert, ihre eigenen ©ropheten aufjufteücn, melche freilich halb um
aßen Grebit tarnen. 35ah ber religiöfe ganatiSmuS in Algerien immer mieber
neue Währung finbet, baS bemeifen bie mieberholten Aufftänbe in ben lebten 3ohr»
zehnten. 3« folchen ©orgängen trugen freilich* auch bie gehler ber franjöfifchen
©ermattung baSSh^ge bei. Glüdlichermeife hält ber ©chmäche ber franjöfifdjen
Abminiftration eine aitbere ©chmäche bieSBagc: ber Abgang beS Gefühls ber 3u=
fammengehörigteit unter beit berfchiebenen arabifchen unb berberifchen Stämmen.**)
«Schreiten mir meiter in unferm fRücfblid auf bie neuern Greigniffe in Algerien,
fo hoben mir fchon 1865 abermalige Aufftänbe in Dran mie auch tu SleinfabpUen
ju bezeichnen, bon benen ber gefährlichfte burdj ben Dberften Golomb abgemehrt
*) ©gl. ©ernljarb Gdtroara, „Algerien", <3. 390—391.
**) ©gl. Amanb oon Scljtnetgcr-Ücrcfjeufelb in ber augSburger „Allgemeinen Seitung"
bom 13. Alai 1881.
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tr* - ’-.
Icorbafrifa unö feilte Beöeututtg in 6 er tßegempart.
unb 1867 gänztieg niebergefcglagen Würbe. 3 11 gleicher 3eit warb baS 2onb Don
fegreef liegen plagen geimgefuegt. Scg° n Anfang 3Rai 1865 erfegienen zagtreiege
£>eufcgrecfen, Welche 1866 in noch größerer SRenge, am bergeerenbften aber 1867
wieberfegrten. *) Sazu gefeilten fitf» in legterm 3agre SeuerS 6 rünfte, ©rbbeben,
Sfirre, £cungerSnotg unb bie afiatifdje Ggolera, welche 89000 URenfcgen bagin»
gerafft ga 6 eu fofl. Stuf bie Surre folgte bann 1868 unter ber eingeimifdjen,
arabifegen Vebölferung eine $ungerSnotg, welche grauenerregenbe Simenfionen
annagm. 3uberläffigcit 9Rittgeilungen jufotge finb 1868 in Algerien über
80000 SRenfcgeit am junger ober an feinen folgen geftorben, anbete angeblich
mögige Necgnungen fdjlugen gar bie 3agl ber Verhungerten auf 200000 an, auch
conftatirte man amtlich 16 Säße bon SRenfcgenfrefferei, welche auS biefem Slnlafi
borfielen. Sie meiften Sgcilnegmcr an benfelben „ftarben einige Sage, nadjbcm
fie biefe fcgulbbofle ,'panblung begangen hatten", fagte ber „Moniteur"; bie übrigen
würben bot bie Kriegsgerichte gefteßt. Verfcgiebene Srattjofen finb ben hungerigen
Slrabern 3 um Opfer gefaßen, aber auch untereinanber fragen fieg bie ©ingeborenen
auf. 3wei Nachbarinnen in ber Nähe bon Siaret, erzägtt baS „Echo d’Oran",
bereu jebe ein Kinb hotte, tarnen enblid) in ihrer Verzweiflung überein, ihre
Kinber zu berühren. ©3 würbe hierüber ein Vertrag gefchloffen unb man lieg
baS 2oS entfegeiben, welche ber SNiitter ihr Kinb juerft ber Slbfcglacgtung preis»
geben foßte. Nachbem man burch baS Verzehren beS einen KinbeS einige Sage
baS Beben weiter gefriftet, foßte bie Neihe an baS Kinb ber zweiten URutter tom»
men — aflein biefe weigerte fich fegt, baffelbe z« opfern. ©nblicg tarn man über»
ein, biefe Stage bem franzöfifchen ©eriegt zur ©ntfegeibung borzulegen. Sur cg
biefe feltene Naibetät in ber Varbarei gelangte baS ©rcignig ans Siegt ber Deffent*
licgteit. fjerr Seblanc be VreboiS warf bamalS ber franzöfifchen Negierung bor,
bag fie burch igre Wnorbnungen bie ißrobucte beS SanbeS felbft entwerte unb
babnreh bie ^robuction befegränfe; unb in einzelnen SetailS mögen au cg biefe
Slnfcgulbiguttgen gegrünbet gewefett fein. Sa ber genannte VolfSbertreter inbeg
Zugleich bon einer „Negeneration" ber Slraber als einem erftrebenSwertgen 3iel
fpraeg, fo tönnen wir in feine ©inficht fein befonbereS Vertrauen fegen, ©inen
Weit tiefem Vticf in bie Urfachett ber .‘pungerSitoth, welche eben nur bie eingei»
mifege Vebölferung becimirt gatte, lägt unS ©ergarb NoglfS tgun, welker halb
barauf Algerien befugte. Sie £>ungerSnotg fpraeg uoeg ans ben Singen faft
jebeS 3'tbibibuumS. „3ertumpt, fegmuzig, ber Körper nur auS £aut unb Knocgen
beftegenb, fegteiegen fie wie Phantome umger. Slber fie gaben fegon aßeS ber»
geffen unb nichts gelernt, eine näcgfte URiSemte wirb ignen ein gleicgeS ©cgidfal
bereiten. 9tm fpafen lungern immer £mnberte biefer galbnacften Kerle gerum
unb bliefen mit ftotzer Verachtung auf bie arbeitenben ©griffen, ogne inbeg zu
ftolz z u fein, einem Srentben gleich bie bettetnbe fpanb entgegenzuftreefen,"**)
©nblicg erflärte in ber Sigung beS ©efeggebenben Körpers bom 14. Slpril 1869
*) Sine ausführliche Scgilbcrung biefer fdjrecflicgeii ^lage bgl. im „Spcctateur mili-
taire" bom 15. Sehr. 1868, <3. 249—257.
**) Vgl. „ÄuSlanb", 1869, < 3 . 9.
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Unfere <3eit.
416
®raf Seopolb fie £>on, tnefc^cr fßräfibent einer Unterfufunggcommiffion über bie
algeriffe grage gewefen unb bei ber borgenommenen (Enquete ba$ Sanb naf
allen Stiftungen bereift, 3500 Nitometer jurüefgetegt unb gegen 3000 ©erfonen
bemommen ßatte, baß unbeftreitbar bet ©ommunigmug, ber in ben (Eigentums*
berßältniffen ber Araber ßerrff t, ein jpauptgrunb ißrer traurigen Sage unb fpccieü
ber teßten $ungergnotß gewefen fei.
Sag Saßr 1869 brafte einen neuen Slufftanb, riftiger eine Snbafion, gum
Sßeit ßerborgerufen burf bie bamalg bei ben SIrabern feft eingewurzelte SJlci«
nung, granfreif fei für bie näf fte 3 e '( in (Europa burf einen Stieg mit fßreußen
fo feßr beffäftigt, baß ein Sufftaub feßr Diel Slugfift auf (Erfolg befiße. 3ßie=
herum waren bie Uleb @ibi ©feif bie Sltiffetßäter, unb gwar jener ©ruftß eil
beg Stammet, weif er 1864 infolge ffwerer Siiebcrlagen naf ber jjigigoafe au§=
gewanbert War. Siefe Cafe liegt in ÜDtaroffo, ßart an ber atgeriffen ©renge,
fiibwcftlif bon ber ©robiitg Cran, füblif bom Sff cbcl Sabta in bet Steinen
Sßüftc, auf ber Sarabaneuftraße naf Safilct. Sie 300 Silometer lange SBüften*
ftrecte gwiffen Sigig unb ©crpbillc ßat natürlif feine ©arnifonen, unb fo war
cg ben Uleb ©ibi ©feif unter ©i Sabbat ben £>amfa, bem ©oßnc ber Siegerin
unb lebten 9laf fommen beg alten Sßalifen Si .fiamfa, ein teifteg, einen Raufen
Steiterei naf Slgerien ßincinguwcrfcn, ber gwiffen ©ertjbiHe unb bem großen
©fott ©ff ©fergui „unbemerft" big 311 m Sffcbel Slmur borriitfen fonnte unb
erft burf bie 3crftörnng ber Sclegrapßculinieu unb bas uuorbentlif e £>crangießen
ber fliiftigen ^tarararaber bem ©ommimbanten in Siaret feine Slnwefenßeit ber»
rief. Sie ©ntfernung 3 Wiffcn ©crßbillc unb bem ©fott beträgt au 70 Silo=
meter, jene big naf bem näfften ©arnifonortc Siaret 150 Silometer: Siftangen,
groß genng, um ein ftüf tigeg fReitcrcovpg bem SBirfunggfreifc ber ©arnifonen ju
entgießen. Sie Umgegenb bom Sff ebel Slmur ift bag alte Sampfgebiet ber un=
ruhigen ©tämme, weife oon ben Dafcn an! in faft regelmäßigen 3 wiffenräumen
bon brei big bier Sofien ßerborbref cn; biefe ©egenb ift begßalb auf mit fraw
göfiffen SDtilitärpoften ftarf gefpieft, unb ßier fonnten fic auf nift metjr „uit-
bemerft" bleiben. Sic mobilen ©ebölfcrungen beg Sff ebel Slmur, bie Uleb ©ibi
Slaft, flößen ing ©ebiet ber benafbarten Uleb Slaßl, wäßrenb bie Sorfbebölfc«
rungen fif „naf einer ©feittgegenweßr" ben ©inbringlingen unterwarfen. Sie
Sieger sogen Weiter gegen Dften, big Sin 2Jiaßbß, bag ißnen bie Sßore öffnete.
Ser ff laue SJlarabut Sobff ini 3 eigte bem ßommanbanten in bem näßen Sagßuat
blog an, er Weife ber ©ewatt, bleibe aber jfrangofenfreunb. Slun rüdte Cberft
bon ©onig mit einer fleincn ©far ben SIrabern entgegen, weife bie Sßorßeit
begingen, fofort anzugreifen. ©g war ber 2. Jcbr. 1869. Sie ©ßaffcpotg Wirften
aber in einer SEBcifc, bon ber bie Slrabcr feine Slßnung geßabt 3 U ßaben ff einen.
Slfg bie ©efaßungen ber ©robinz Cran einmal ißre combinirten ^Bewegungen
eröffnet ßatten, blieb ben „Siegern" niftg übrig, alg naf bem ©üben gurüd«
3 ulettfen, non Wo fic nur unter ff weren Sertuften ißren Stamm wicber erreif en
fonnten, zumal ©i Sliman ©cn Sabbur, ber Häuptling beg treu gebliebenen
Sßeileg ber Uleb ©ibi ©feif, faft gleifgeitig eine SRaggia gegen feine ©tammeg«
genoffen angfiißrtc, wobei er ißnen 2800 Samelc mit ©eute belaben abnaßut.
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ttoröafrifa unb feine Bedeutung in 6er (ßegenwart.
3)aS lerrain, auf welchem biefe gnöafion fpielte, liegt noch rec^t weit öon ben
colonifirten ©egenben, unb fo lange baS Seit ru^ig bleibt, ift für bie Kolonie
felbft Wot nichts @rnftli<f)eö ju beforgen; es hat fiel) aber bei biefer Gelegenheit
bie Unsuöerläfftgleit ber Stämme am Saume ber Steinen SEBüfte wieber einmal
fcfjlagenb erwiefen, unb bidjt bor StuSbruch beS 5)eutfch'granjöfifchen SriegeS fehen
wir ©eneral SBimpffen auf bem SJtarfch nach 2afilet, um bort neue ©mpörungen
im Seime ju erfticfen, an welchen fiel) nebft ben unruhigen Uleb Sibi Scheid) auch
bie Stämme ber $one ÜJtenia, ber Uleb ®fd)erir unb ber Uleb Slmur betfieiligten.
General SBimpffen war SKitte SJlärj 1870 bon Dran auSgerücft unb fticfj am
14. Stpril an ben Ufern beS SBab ©hir auf ben etwa 5000 SDtarnt ftarfen geinb,
ben er am 15. in öoßfter SSerwirrung prüefwarf. ®ann riiefte er nach SltnSair
Weiter, ber ©orrathöfammer ber feinbtidjeu Womabenftämme beS SübweftenS, unb
bort lam eS am 25. 9(pril nochmals ju einer ßntfcf>eibunggfcljladjt, welche bie
Unterwerfung biefer Dafe jur gotge hatte. UebrigenS bewegte fich biefe ganje
Kampagne burdjauä auf auheratgerifdjem Gebiet; unfere Sorten bejeichnen eS als
ju SRaroffo gehörig, in SBafjr^eit ift bort aber bie Slutorität beS ©erberfultanS
bon ÜJtarrafefch gleich Stuß.
hatten bie bisherigen Slufftänbe, wenn man bie meift burdj KinfäHe auS
frembem Gebiete Ijeroorgerufenen ^Beunruhigungen fo nennen Will, ftctS mehr ober
minber bcutlich locale Sötotibe gehabt, fo follte bieä nunmehr anbcrS werben.
3war waren eS abermals bie Uleb Sibi Scheich, bon Welchen beträchtliche häufen
SQlaroffo berliegen, um unter ber Rührung bon Si Sabbur ben hantfa unb unter«
ftfifct bon guhgängern unb Steitcrn mehrerer fübmarollanifcher Stämme in Algerien
cinpfaßen; halb aber lieh baS SriegSunglüd ber granjofen bie Hoffnungen
bet gefammten eingeborenen ©ollSmenge wieber aufwachen, unb feit Knbe 1870
tobte an aßen ©den unb ©nben bon Sltgerien bie mohammebanifche ©rhebung.
®ie erften Sputen beS SlufftanbeS finben wir fdjon im September, wo mittels
einer ©ingabe berfchiebene SBiirger Algeriens baten, nicht bie lebten Gruppen auS
SIfrifa hetauSpjiehen. Seitbem nahm ber Slufftanb gröbere Dimenfionen an;
man hätte bon übetfaßeiten Drtfdjaftcn, bon ermorbeter ©eoötlerung, bom gort--
Jdjleppen ber grauen unb Sinber. ®ie 9?achrid)t bon ben beutfdjen Siegen h at
jebcnfaflS in ben feruften Skatern beS SltlaS ben ©tauben wach gerufen, bah enb<
lieh bie Seit gefommen fei, bas berhahte god) ber bis baljin für unüberwinb«
(ich gehaltenen granjofen abjufdjüttcln. ®S war recht eigentlich baS ißreftige
bet franjöfifchen Slrrnee, Welches bie eingeborene ©eböUerung Algeriens banieber
hielt. 911S nun nach bem griebenSfdjluffe auch bie „©um"*) heimfehrten unb ihren
ßanbSleuten bie Sämpfe an ber Soire, an ber Sarthe unb an ber Sifaine fd)il=
betten, ba muhte bei jenen Wilben ©ötlerfdjaften baS ©reftige ber franjöfifchen
Station ganj niebergewotfen werben, unb ber Slraber fagte fi<h: ber granjofe ift
nichts mehr! Uub als bann enbtich nach ©roclamirung ber Stepublif in ganj
Algerien bie SRilitäröerWattung in eine Kioiloerwaltung umgewanbett, üon ißariS
*) «btljettungen eingeborener Weiter.
Unte« Heit. 1882 - I- 27
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- 1 ..-. ~ ~ ~* - —
ttnfere 3«*.
ü®
aud für bad fianb eine neue ©onftitution becretirt würbe, wad aHcd mit ber
größten Ueberftütjung unb mit ben finnlofeften SRidgriffen gegen bie eingeborenen
gefdjafj, a(d gar bie bürgerliche ©leichftedung ber ben Arabern fo oerlja&ten 3 üben
erfolgte, ba brach ber ©türm tod. Die Haupturheber waren bie „Sarrani", b. h-
bie nicht in Algerien anföffige bewegliche Sraberbeoötferung, bie fich in ben ata=
bifchen fiaffeehäufem, gonbuf u. f. w. umhertreibt. Der Sudbruch bed ßampfed
erfolgte bei einem ©treit ber jübifchen DiraiHeurd mit Sarrani in ber Rue b’3dlp.
Der SRufelman fanb bie ^Bewaffnung ber 3uben fdjon an fich anftöfjig unb Wollte
fich Don ihnen nichtd gefallen taffen; nach ben Unruhen hoi bie ©ehörbe bad
©ataiHon ber jübifchen DiraiHeurd jwar aufgelöft, um ben Rechtgläubigen feine
weitere ®elegent)eit 5 um ganatidmud ju geben; bie Raturalifation ber 3 u ben, bie
fie erbitterte, fonnten fie aber nicht oergeffen. Den Ranten Sremieuf fannten fte
beffer atd oiele granjofen. ©ie oerwechfelten fogar bie Regierung oft mit bem
„3uben ßremieuf". ©eit bem parifer Slufftanbe fagten fie: SSer ift benn jefct
granfreidj? Die granjofen finb mabnl (toll): parifer Regierung — oerfaiHer
Regierung — Sremieuj — fein „©ranbfebir" (Oberhaupt) mehr — in granfreich
nichtd mehr! Daju fam bie ^Prophezeiung eincd Rlarabut, wonach i m 3 a h re 1871
alle „Rumi" Algerien oerlaffcu ober in bad Rleer gebrängt werben foflten. ©ibi
SRofrani, einer ber erften unb reichften Häuptlinge in ber ißrooinz Sonftantine,
oon ber Regierung mit bem fiteujc ber ©fjrentegion audgejeidjnet, erflärte granf»
reich offen ben Ätieg. Son ßonftantine audgehcnb, warf er fich an ber ©pifje
»on 40000 Srabern auf bie ©tämme in ber SRebfchana, bereu Safch Äga fich
ihm anfchlofj, belagerte bie in biefer ©bene gelegene ©tabt SBarbfdj ©u Sreribfch,
befehle ben ganzen ©üben ber SProoinj unb ftanb halb nur gegen 50 Kilometer
oon Slgier entfernt. Run fuchte er bad Dfdjurbfchuragebirge unb bie bortigen
ßabplen jur Erhebung ju bringen, währenb ber ©djeich @1 Habbeb bie größten
Snftrengungen machte, um bad ©leidje in Rtittelfabplien ju bewirfen, unb feine
©miffare bid an bie ©rennen oon Dunid audfchicfte. ©ogar bad 3winguri oon
©ro^fabplien, bad gort Diji'Uju, würbe Oon ben Sufftänbifchcn umringt, bad
gleichnamige Dorf aber üoüftänbig jerftört. ©d waren etwa 500 SRann Sefafcung
in bem gort, unb in einem gewiffeu Sugenblicfe ftanben ihnen mehr ald 15000 Sa=
bplen gegenüber. Hätten t>iefe ben SJtiith gehabt, einen ©türm ju wagen, fo
waren bie granjofen alte oerloten, gür bie ©erberftämme bed Dfdjurbfdjura
gebirged, bie plantod unb ohne Bufammenhang agiren, iiberbied feine Artillerie
haben, war glücflicherweife ber nach allen Regeln ber fiunft befeftigte, auf einem
bominirenben fünfte gelegene ißlafc uneinnehmbar, ©o lauge er aber in ben
Hänben ber granjofen, ift jeber Sufftanbdoerfnch erfolglod. Unb wad wir hi«
oon Diji^Uju fagen, gilt oon allen feften flöhen. Die gran^ofen fonnten bedhatb
ohne ©orge oom Snbeginn bed firieged gegen Deutfchlanb faft alle Druppen aud
Algerien heraudzieljen. Die H err f^aft blieb ihnen gefiebert, folange fein aud'
wärtiger geinb, ber mit Artillerie oerfehen, ald ©unbedgenoffe ber ©ingeborenen
auftrat. 3Ran gab fich baljer auch wenig Riulje, ben Sufftanb ju bäntpfen.
©egen bie großen Schläge, welche bie Ration erhielt, wad Oerfchlug ed, wenn hi«
eine garm geplünbert, bort ein ©aatfelb abgebrannt unb einige gamilien oon
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Borbafrifa unb feine Bebeutung in ber Cßegemnart. ^9
ben (Eingeborenen ermorbet Würben! ©rft als bie Sunbe tarn, baß Sigi--Ugu um=
ringt fei, begann man fich gu regen. SDiit bem Salle bon Sigi=Ugu burch junger
ober SSaffermangel — unb ba bie ©ingeborenen gleich am erften läge bie SQSaffer»
leitung abgefdjnitten hatten, fo mußten bie Sifternen halb leer werben — wäre
aßerbingS auch gang ©roßfabtjlien berloren gewefen. 3)er ißlaj} aber ergab
fidj nicht. SRittlerweile oerbreitete fid) ber Slufftanb aßmählidj über baS gange
Sanb nnb fogar über beffen ©rengen hinaus. Um gort ßtapoleon hatte man eine
©rhebung ber ummofjneuben Stämme gu befürchten, ©eneral ©auffier, welcher
bie Sruppen in ber ÜDtebfchanaebene befehligte, beftanb um ben 11. ülpril 1871
berfdjiebene ©efcchte mit ben Uleb Shelif, bie er bis nach Vogljni in Äabtjlien
berfolgte. Vei feinem Mdgugc hatte er einen StnfaH ber bereinigten aufftän*
bifcheit Stabilen abguwehren. Ser Vegirt bon ViSfra befanb fich ebenfalls in
hellem 2lufruhr. 3li^t beffer ftanb cS im SBeften, wo ber Slnfftanb in ber ipro-
bing Dran, auch int äujjerften ©üben, an ben ©rengen ber SBüfte unb bon 2 Jla»
rotfo fich geigte, unb Wo im 2lpril ein mörberifcheS Treffen, aßerbingS mit fieg=
reichem SluSgattgc für bie grangofen, ftattfanb. Sie ^nfurrection hatte gum Sh e *f
einen religiöfen ©haralter angenommen, unb aus SuniS Wie auS HRarotfo ftrömte
Hülfe herbei. Sie grangofen mußten fidj anfangs auf bie Sefenfibe befchränlen,
ba ja Algerien Wegen beS Krieges im SDiutterlanbe bietfach bon Gruppen entblößt
War. Unmittelbar nach Vereinbarung ber griebenSpräliminarien gwifchett ÜljierS
unb ViSntard würbe aßerbingS ein Sh e i‘ ber gaibljerbe’fchen ülrniee bon Sün=
firchen auS nach Algerien cingefdjifft; boch geigten fich bie Mobilen burdjauS un*
gnberläffig. ©rft als nach bem Slbfdßuffe beS griebenS bom 10. 3J?ai 1871 wei¬
tere Verhärtungen antangten, tonnte man gur Dffenfioe übergehen. Sie localen
Kämpfe bauerten noch ben gangen ©ommer Ijinburd) fort, unb erft am ©nbe beS
gahreS burfte man ben Stufftanb, ben Ijeftigften feit S(bb=el4lnbcr’S 3eit, als
gebämpft anfehcit. Sie ©reigniffe biefeS galneS waren aber jcbenfaflS ein blu¬
tiger £ohn auf bie Siebäugetei mit ben Vebuinett, Wie fie in bem Secret ber
Delegation du gouvernement de la döfense nationale bom 7. unb 24. Dct. 1870
auSgefprodjen War.
®S folgten nunmehr einige galjre ber SRuljc, welche bem Sanbe bon ben Vcr»
witftungen beS 1871er SlufftanbeS fich einigermaßen gu erholen geftatteten. Slber
fchon 1876 tarn cS gu neuen Unruhen in ber ißrobing ft'onftantine, unweit bon
ViSfta, Wo etwa taufenb 3«lte ber llteb Vtt Slgib, ber ©elmitja unb ber SRahman
fich empörten, wahrfdjeinlidj aufgeftachclt burch ben ©djeich HJluhammeb $atja,
Welcher ben frangöfifdjen Vehörben ©runb gur Ungufriebenheit gegeben unb gn
einem ßftonate ©efängniß nebft Vertuft feiner SBürben berurtljeitt worben war.
©in junger Schäfer bon Vteb el 2lmti, StamenS Slchmeb ben $lid)i, hatte fich an b* c
©pifce ber Aufrührer gefteßt, weldje aber binnen wenigen Sagen burch ©eneral
ffiarteret-Srccourt mit einem Siege über etwa 2000 tßiann gußbolt unb 100 Leiter
gu paaren getrieben Würben unb am 18. Stpril ihre Häuptlinge inS Hauptquartier
fanbten, um fßarbon gu erflehen, ©nbe Slprit war ber Slufftanb boflfommen be=
Wältigt. Ser ÜJlarabut Vu Sltjad), einer ber SKitanftifter beS StufrußrS, unb bie
27*
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420
Unfere'^eit.
©djeidje mürben gefangen genommen, bie angefefjenften ißerfonen beS ©tammeS
lUeb Bu Äjib als ©eifein ausgeliefert, bie beerben jufammengejogen unb abge»
jäljtt. Die anbem Dafen ber 3»ban blieben treu unb liefen bcm ©enerat ©artetet
jat)treicf)e Betreuerungen ifirer Ergebenheit juge^en. Dagegen mehrten fid) bie
oon ben eingeborenen beranlajjten SBalbbränbe in bebenflidjfter SBeife. 3« ber
ißrobing fitonftantine toaren bie mertljbollen $orfeid)enKm(ber mit bodftänbiger
3erftörnng bebroI)t. Die Dunefier benutzten ben ©irocco, um jeben ©traudj,
feben Bannt in Branb $u fefcen. Die franjöfifchen Araber folgten biefem ebeln
Beifpiele, unb nad) unb nad) gerietl)en alle ©taatsmatbungen in Branb. Sille
Slnftrengungen ber SJlititärbehörben, biefer ©cifel ein ©nbe ju mad)en, blieben
lange erfolglos. Studj bie Beftfeer ber ißribatmalbungen fonnten it»r ®igentf)um
nidjt f(fluten. 3m Departement £)ran brannte ber ganje Sßalbbiftrict bon ©ibi
Bel SlbbeS in einer StuSbeljnung bon 80 Kilometer Sänge unb 45 Kilometer Breite,
nnb eS ift fein 3meifcl, bafj baS geuer atlcnttjalbeu abfichtli<h bon ben Slrabcrn
angelegt mürbe.
Stodj ernfter geftaltete fid) bie Sage im 3af) re 1879. Der Suftallirung beS
erften ©ibitgouberneurS Sllbert ©rebt), an beffen reformatorifdfe Dffätigfcit man
bie auSfdjmeifenbften Hoffnungen gefnüpft Ijatte, folgte eine fel)t beträd)tlid)e @r=
Hebung im SlureSgebirge fojufagen auf bem gujje. Die ©riinbe beS SlufftanbeS
finb fdjmer anjugeben unb mol niemals böllig flar gemorben; menigftenS befteljen
barüber berfdjiebene Berjtonen. Dod) ift nicht ju berfennen, bafj er ben ßt)arafter
eines SteligionSfriegeS fmttc, bon einem flugeit unb ehrgeizigen, in ber 3“«* a bon
Dfdjeralla erlogenen 3nbibibuum bon langer Hanb borbereitet mar unb fiel) rafd)
berbreiten foHte, menn ber Erfolg beS erften 'Singriffs ben ©rmartungen ber
3«fnrgenten entfprodjen Hätte. ©in fanatifcher eingeborener, Dmar Ben Slbber»
rfiaman, feines Beizens ein ©t^mieb, ber aber einer maroffattift^en Brüberf<Haft
angeHörte unb fiel) ©cfjerif (SIbfömmting beS IßropHeten) nannte, prebigte feit einiger
3eit ben ^eiligen Strieg bei ben Uleb Daub, einem ©tamme oon fabplifdjet H ers
fnnft, melier in bem Bergplateau bon SlurcS, jmifdjen Batna im Slorben nnb
BiSfra im ©üben, of)ne engem Berfcljr mit ben ©ingeborenen ein ziemlich ein»
fameS Dafein füljrt. Solche @efd)id)tcn eines friegprebigenben SJtarabutS finb
freilich immer mit Borfidjt aufjune^men; benn im allgemeinen fommt bie SRebolte
nur bann jum Durdjbruc£>, menn bie fcHledjte Scrmaltung ber ft'aib, b. H- ber
eingeborenen, aber bon ber franjöfifcHen Regierung ernannten Beamten, melt^e für
fid) unb bie 3f)rigen bie ärgften ißtünbereien treiben, ben Boben genägenb borbe»
reitet ^aben. Der Btarabut, in ber Siegel ein ©djmärmer, ift bann nur ber
unbemufjte DolmetfcH ber allgemein ^errft^enben ©efüHle, unb fo mag es mol aud)
Hier ber gatl gemefen fein. SBenigftenS mürbe bieSmal ber ftets gtimmenbe gunfe
}ur glamme aufgeblafen burcH einen Streitfall innerhalb ber ©tämme ber Uleb
Daub unb Beni Bu ©liman. Die ©runburfadje ber ©rljebung mar aber ma^r»
fcheinlich bie Slbfefjung ber gantilie Bu ßfirub nnb ihre 3ntemirung in Situ Beiba.
Der Häuptling biefeS ©efc^tec^tS übte ©rpreffungen aller Slrt, aber er hatte ben
grofjen Borjug, bemfelben Berberftamme anjuge^ören mie feine Untergebenen,
mätjrenb bie an feiner ©tatt ernannten Häuptlinge -äHuftapHa Ben BatHtarji unb
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XTor&afrifa unb feine Beöeutung in 6er ©egemnart. ^2|
Subiaf bon tüctifdjer ober arabifcher Herlunft Waren unb fdjon barum allein töbltcE)
gehajjt Würben, ganj abgefehen babon, bafj aucf) fie eS an Sebrüdungen nicfjt fehlen
liefert, ©o trug benn urfprünglich ber Slufftanb eher ben ©harafter eines Kampfes
jWifchett einzelnen Stämmen als einer ©mpöruitg gegen granfreidj unb wenbete
fich junädjft gegen bie eigenen Häuptlinge, benen fie jum Sorwurfe machten, baff
fie fich gegen ben Koran berfünbigten, inbem fie mit ben Ungläubigen pactirten.
Subiaf, ber Kalb ber Uleb ®aub, entfanbte nun Seute, um ben Dmar Sen Slbber»
rljaman ju berljaften; fie würben aber ermorbet. $a begab fich fein ©ohn an
Ort unb ©teile, enttarn aber nur mit genauer Stoth ben Stnljängero beS Propheten,
unb als SBubiaf felbft mit feinem ©um, auf beffen Ireue er jäljlen ju tönnen
glaubte, aufbrach, fielen 300 Leiter bon ihm ab unb SBubiaf Würbe getäbtet.
©leichjeitig erntorbeten bie SBeni Su ©liman ihren Ka'tb Sadjtarji fammt einem
feiner Wiener. Wan fdjnitt ihn in ©tilcfe. ©eine garten gorberungen batten ben
©tamm aufgebracht, unb er fotl bon bem ©ohne eines WanneS getäbtet worben
fein, ber eben auf feinen SBefe^t ©tocfftreicbe empfangen ^attc, weit er einer un=
gerechten gorberung wiberftanb. Sei biefen Unruhen unter jenen abgegebenen
©ebirgSbölfern tarnen, wie es fdjeint, auch einige granjofen ums Seben, unb infolge
ber ©rmorbuitg ber genannten Ka'tb nahm bie Sache unerwartete $imenfionen an.
3)ie ©tärte ber Snfurgentcn tonnte nicht genau ermittelt werben, ©eneral ©auffier
fanbte aber fofort bon Stlgier äebeutenbe Serftärfungen nach ber Ißrobinj Kotu
ftantine ab, unb bon Satna, wo ©eneral Sogerot befehligte, riiette am 7. 3uni
1879 eine Kolonne bon 3000 Wann aus, um bie Slufrttljter, bie fich 60 Kito=
meter öftlich bon Satna befanben, fofort anjugreifen. ®ie ©efammtheit ber gegen
fie aufgebotenen Xruppen ftanb unter bem Sommanbo beS ®ibifionSgenera!s gorge*
mol in Konftantine, ber fein Hauptquartier in Webina auffchlug; er tieft bie Gruppen
in brei ©olomten, bon Sislra, Satna unb ©djenfehetta aus concentrifch gegen
©I Hammam borrüden, ©ine jebe ©olonne War mit ©abalerie unb einigen
gelbgefdjüfcen auSgerüftet. 3)aS ®orf @1 Hantmam ber Uleb $aub war bie
©eburtsftätte unb ber ^»auptort ber 3nfurrection; bort war fie auSgebrodjen unb
bort berfdjansten fich auch bie ßmpörer. 2)ie Stämme, bie in ber Stälje ber Uleb
®aub Wohnen, namentlich bie Seni Ubfdiana, blieben treu. Seim berfdjanjten
Säger bon Stebaa, 35 Kilometer bon Satna, tarn es ju einem gröfjem 3ufammen=
ftofje. ®iefeS Säger, an ber ©trajje bon Satna nach ©chenfchetla gelegen, biente
ben granjofen als ®epot für SerpflegungSborrätlje, Wunition unb Kriegsmaterial
aller 2lrt unb hatte eine Scfafcung non 1023 Wann. 3n ber Stacht auf ben
9. guni Warb es bon 8—900 Sufurgenten angegriffen. Welche aber nach h Q rt=
nädigem Kampfe jurüdgeworfen unb jur gluckt gezwungen Würben. Son ben
brei ©olonnen, bie burch ben über 60 ©tunben ohne Unterbrechung weljenben
©itocco biel ju leiben hatten, fanb jene beS 2>ioifionSgeneralS gorgemot, bie bon
Satna aus operirte, ben ©ngpafj bon Üuba am 15. 3utti morgens bon etwa
760 Snfurgenten unter bem Scheid) ©i Dmar Sen Slbberrhautan befefct. Um
11 Uhr bormittagS Würbe aber ber forcirt; bie ^nfurgenten jogen fich jurttd
unb bie ©olonne lonnte ihren Warfdj fortfefcen. $ie ©olonne bon SiSfra fanb
am 16. 3uni ben ©attet bon Xiranimin bon 150 3nfurgenten ju guf befefct,
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*22
Uitfere ^ctt.
metdje fich jebocE) bor bem Zugriffe halb $urücf$ogen. Hm 17. erreichte biefe
©otonne oIjne ©c^luertftreid) Sanef. Die ©otonne bon Sdjenfchella ftieß an jenem
Jage auf eine Keine Snfnrgcntenfdjar bont Stamme ber ©eni ©u Sliman, metdje
bie ©ebedung einer größern ©ie^eerbe bifbeten. Die Snfurgenten mürben bon
einem ©um unb jtoei 3ügen ©abaterie angegriffen unb jogen fid) nad) furjcm
Sreuergefedjt jurüd, nadjbent ihnen ein Xf)eit beS ©ietjeS abgenommen morben mar.
Slra nämlichen läge mürbe auch bom Säger bon SJtebina eine leichte ©otonne nach
©t $ammam entfenbet, meldet Crt jeboc^ furj borßer rafch geräumt morben mar.
Die flüchtigen ^nfurgenten fcfjtugen berfdjiebene Stichtungen ein; bie SRefjrjaht
manbte fcch nach £uuis, beffen ©renje feiber auch ber Scherif oon 6t §ammam,
StamettS SDtuhammeb ©en Slbbattah ©en Stbberrhaman ©en Dfdjerrata erreicht hoben
fott. ©iner großen Hnjaht ber gtüchttinge marf fich ober ber Dbercommanbant
bon Debeffa entgegen, oerftetlte ihnen ben Söcg nach 3eribct unb jrnang fie, in
bie Sahara ju eittmeichen, too ihrer bie fcßredtichfte aller DobeSarten horrte, ber
Dob burch ©erburften. SltS bie ©um oon Debeffa fie erreichten, tagen über
300 Snfurgenten entfeett im Sattbe. Die Uebertebenben mürben alte ju ©e=
fangenen gemacht. Diefer tefcte bem Stufftanbe berfefcte Streich ermangelte nicht,
im Sanbe großes Stuffetjeit ju erregen. Die mciften Stufrührer boten ihre Unter»
merfung an. Die Uteb Daub mürben entmnffnet, über bie Sänbereien ber 3nfur»
genten ber Scquefter berhängt unb ihnen eine außerorbenttiche ©ontribution bon
255000 3rS. aufertegt. Der Schnettigfeit, mit metcher bie Druden jufammen»
gezogen mürben, unb ber riihmenSmerthcn ©nergie ber Offiziere in bem erften
©efecht ift eS ju banfen, baß man biefen Stufftanb fo rafch bemättigte unb babei
geringere Sertufte benn je, im ganzen 10 Dobte unb etliche Sermunbete, ju ber»
jeichnen hotte.
Sticht oßne Stbficht höbe ich bei ber 1879er ©rfiebung im StureSgebirge etmaS
länger bermeitt, benn biefetbe ift in mannigfacher £)iit[icf)t lehrreich. SBieberum
hanbette cS fich nämtich um einen abgetegenen SBinfet SanbcS, hört an ber ©renje
ber SBfifte unb ber benachbarten Stegentfdjaft DuniS, in metehern einzelne, nicht
feßr jahtreiche Stämme ftch erhoben uttb Unruhen anftifteten. Diefe mürben aber
rafch gebämpft unb in bem ganjen mciten ©ebiete beS übrigen Sltgerien nahm
man gar teine Stotij babon, mar bon biefer Snfurrection nicht bie teifefte Stach»
mirfung ju berfpüren. Sieft man inbeß bie Seitungen jener Doge, auS metchen
ich kie borftehenbe Darftettung geköpft, fo fottte man glauben, baß eS fich nm
nichts ©eringercS atS um Sein ober Stichtfein für bie granjofen in Storbafrifa
geßonbett höbe, ©egen bie Uebertreibungcn, metche in ben DageSbtättern SJtobe
finb, fann ber ber thatfächlidjen ©erhättniffe unfunbige Sefer nicht bringenb genug
gemarnt merben. Die SBatjrheit ift, baß, menn fogar mirftich einmal bie franko»
fifchett Druppen eine Sdjlappe erteiben möchten, ja menn cS ihnen miStänge, einen
folchcn aufrührerifchen Stamm an ben ©renjen ihres afrifanifchen SteichcS ju
©aaren ju treiben unb berfetbe bon ihnen befinitib abfietc, bieS jroar eine Schmä»
terung ihres ©ebieteS belrirfeit, teineSfattS aber ben ©eftanb ihres $errfdjaft in
Stage fteüen mürbe. Db Sltgerien nun einige hunbert Kilometer mehr ober meniger
tief nach Süben reicht, ift am ©nbe ziemlich gleich, fobolb nur baS ©utturtanb,
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Horöafrifa unb feine Bedeutung in 6er (Segemnart.
^23
ber SeH, ben granjofen erhalten bleibt, unb baß biefer irrten nicht mehr fo leicht
entriffen Werben !ann, bafür lieferte ber biel gefährlichere unb unter für fie Weit
ungünftigern ©erhältniffen auögebrodjene Stufftanb bon 1871 ben fdjtagenbften
©eweiö. 3 « einem entfd)toffenen ©ergeben wiber bie granjofen gebricht eö ben
©ingeborenen an SJtitteln, an fitaft unb fogar an SKutl). 3« eigentlichen Schlachten
tommt eö faft nie, faum ju ernftlichen ©efedjten. ©or ber Ucberlegenljeit ber
europäifdjen SBaffen halten bie ©ingeborenen feiten ftanb unb fudjen ihr $eit in
ber gludjt. Stur Wo fie überrafrfjen löttnen, erringen fie ©rfolge, unb faft alle
(Schlappen ber granjofen rcbuciren fi<h auf fotdE»e Ueberfätte Keiner EJJoften burd)
eine überlegene @djar, Ueberfätte, welche bie Statur beb Sanbeb ungemein begttnftigt.
SBürbe man le^tere bei unb beffer ftubiren, fo ließe man jtdj nicht fo manche
Sleußerung ju ©djutben fontmen, welche, Wie j. ©. bab ©rftannen über bab Un=
bermögen ber europäifchen Stiegbfunft, ben ©egner im SEBüftenfanbe einjufangen
ober ju bernichten, nur bab mitleibige Säbeln beb Senn erb erregen fönnen.
©enau in bem ncimtidjen Sichte müffett nun auef) bie ©reigniffe beb ga^reb
1881 betrachtet Werben, Wcldje bie gournaliftif in granfretdj unb anberWärtb ju
ben gewohnten Uebertreibungen beranlaßten. Slub einer im grüf)ial)r 1881 an
ben öftlichen ©rettjen SKgeriettb begonnenen SIction, Welche Wir in unferm nädiften
Sluffafce ausführlich fcf)ilbern werben unb bie mit einer ©inberleibung ber Stegent»
fdhaft Suniö in bie politifdpmilitärifdje 2tacf|tfp^äre Sllgerienb enbete, entwidelte
fich feinebWegb, wie man oft lieft, eine bie gefammten norbafrifanifdjert Sefißungen
gtanfreidjö ergreifenbe aufftänbifdje ©ewegung, fonbem bie gnfurrectionb^erbe im
SBeften haben mit ben burd) bie Dccupation bon Suniö herborgerufenen ©reigniffen
im Dftcn urfprüngtich caufal nichts ju fdjaffen. ®b ift gut, fich 5 U erinnern, baß
jWifdjen ©erßbitle im 2Beften unb SiSfra im Dften bie ©ntfernung boüe 450 Kilometer
beträgt. Sßir oermögen bie ©efjauptuttg nicht ju wiberlegen, baß bie frattjöfif^e
Regierung fdjon beim ©eginn bei tunefifchen gelbjugö in ben ©efifc Rarer ©eweife
gefommen War, bie gäben einer ©erfdjwörung ber Straber liefen öon Sonftantinopel
auS über Tripolis unb Suniö biö in bie franjöfifdje ißrobinj. ^ebenfalls ift
es bei bem auögefproc^euen SKangel an 3 ufammengel)örigfeitögefü^l unter ben
norbafrifanifdjen Stämmen fowie bei ihrer feljr ungleichen Jtjeilnaljme am gölam,
enblich bei ihrem $aß gegen baö Sürfenthunt fdjwer glaublich, baft bie ftambuler
©inflüffe biö in baö fübliche Dran reichten, wenn man fie auch für Sunefien unb
bie benachbarte Eßrobinj $onftantine gelten taffen will. 2 tud) fam ber Slufftanb
im SEBeften früher jum Sluöbruche, atö bie Singe in Suniö eine entfdjeibenbe
SEBenbung nahmen, ©ehr wahrfdjeinlidj blieb ber traurige Sluögang ber ©jpebition
beö Dberften glatterS, welcher bcfanntlid) am 16. gebr. 1881 bier Sagereifen bon
9fir fammt feinem ©tabe überfallen unb niebergemadjt Würbe, nicht ohne SRücK
wirfung auf bie ftetS erljebungöluftigen Stomaben ber Eßrobinj Oran. Sie ©e-
Wegung würbe Wieberum burch bie Hieb ©ibi Scheid) angeregt, bie fich i« ber
SBüfte großen ©influffeS erfreuen unb beren Sejieljungen ju ben Suareg befannt
finb, welche gtatterö unb feine ©enoffen erntorbet haben, gn ©orauöficht etwaiger
Unruhen waren in ber tßrobinj Dran mobile Kolonnen gebilbet Worben unb nörb«
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Unferc ^cit.
$2^
ließ Dom ©cßott @fcE> ©Vergüt auf ben ©often Don ©ebbu, Daßa, ©aiba unb
Diaret concentrirt, toelcße Don SBeften naeß Dften jmifcßen bet ntaroRanifcßen
©renjc unb bem Dfcßebel Slmur ecßelonnirt ftnb. 3» bet Ißat mürbe ©nbe Slpril
baS iDoEjtocrpfTegte ©erpDide jtoar nic^t angegriffen, tote eS anfangs ßieß, fonbern
nut Don aufftänbifeßen Stämmen umzingelt, beren ©um fieß in fiänbra, 1000 —
1200 ÜDtann, befanben unb ben Slgßa bet $arrar, 6t $abfcß fiabbur ©en ©aßra
Ui, bebroßten unb am 27. aueß mirflicß anpgreifen Derfucßten; boeß tamtben fte
mit ftatfen Serluften bis unter bie ÜDtauern ißrer ©eßanjen jurüefgetrieben. Die
Agitation unter ben ©ingebotenen feßien aueß halb abjuneßmen unb meutere
Stämme lünbigten ißre Untertoetfung an. Danf bet Umfießt unb ©netgie beS
©eneratS ©erej, meldet in ©itmärfeßen bie ganje unruhige ©egenb bureßjog, ßatte
fieß bie 3<*ßt bet noeß unter ben SBaffen befinblicßen Stämme binnen furjent
bebeutenb Derminbert. Doeß Derßarrte immer noeß ein ©rucßtßeit in Slufrußr; an
ber ©piße ftanb bet Sftarabut ©u Slmema, beffen ©erfönlicßfeit Don mannigfachen
Stoeifeln umgeben ift. ©ein 9Jame tauchte plößließ auf, man mußte gar nicht mie.
Stach einigen Angaben foü ©u Slmema ein dJiann Don 61 3 a h ren / gebrungener
©eftatt unb aufjerorbentlicßer SDiuSfelfraft, ein fpanifeßer Stenegat fein, ber einft
aus bem ©agno Don Xarragotta auSbracß. ©eit 40 Saßren feßon lebt er nach
biefer aderbingS unDerbätgtcn SeSart in Slfrila, too eS iß nt gelungen ift, fieß für
einen ^eiligen auSjugeben. Die Slraber ßaben üor ißm eine eßrfurchtSDolle ©eßeu
unb geßoreßen ißm btinblingS.
Sor adern galt es alfo, bie treu gebliebenen Stämme gegen bie Stadien biefer
geinbe fießerpfteden. Die DperationSpne geßört ju ber ©egenb ber fpoeßplateaujr,
toelcße ben Ded Don ber ©aßara feßeibett; eS ift ein Sanb, mo bie ©erfeßrsmege
fetten finb unb bie dtießtung berfeiben ben fpätlicßen Oueden unb ©runnen folgen
muß. ©obalb man nun bie ©reigniffe erfußr, bereit ©cßauplaß bie Umgebung
oott ©erßDide gemefen, feßlugen bie brei ©otonnen bon ©ebbu, Daßa unb ©aiba
bie ©ießtung naeß bem ©üben ein. Die ©olonne Don ©ebbu unter Dberftlieute*
nant Sanitt manbte fieß naeß ®t Slrifcßa jur Uebermacßung ber maroffanifeßen
©renje. Die ©olonne Don Daßa unter Oberft äJiadaret marfeßirte naeß ©u ©ere
im äußerften SBeften bes ©cßott efeß ©eßergui unb im Storben beS ©ebietes ber
DrafiS, ber ©erbünbeten ber Uleb ©ibi ©eßeieß. Die ©olonne Don ©aiba mürbe
Dom Dberften Qnnocenti naeß ©erßoide gefiißrt. Slm 14. 2Rai braeßen bie gratis
jofen, 3 ©ataidone unb 4 ©ScabrottS ftarf, oon ©erßDide jur ©erfolgung ©u
Slmema’S auf, meteßer mit etma 5000 9Jiann Don Derfcßiebenen Stämmen in ber
Umgebung ©cßedalaS lagerte. Slm 19. -Kai trafen bie feinbtießen Kräfte jufammen.
Die Slraber fämpften mit großer ffattbtütigfeit unb ißre ©abalerie rnarf fogar bie
©um ber franjöfifcßen ©olonne naeß einem blutigen ftanbgemenge in bie eigene
©roDiantcotonne priief. Stacß tängerm Kampfe erft gelang eS ben granpfen, ißre
©egner, beren ©ertuft auf 300 9Jtann angegeben mirb, pnt Stücfpge naeß SBeften
p jmingen. granjöfifcßerfeits ßatte man 37 lobte unb 46 ©ermunbete.
Dann pg Sinnocenti gegen Storben bureß bas ©ebiet ber DrafiS naeß ©ir et
Slmra, einem Orte auf bem füblicßen Ufer beS ©cßott efeß ©eßergui. Dort ftieß
in ben leßten Dagett beS ÜJtai ber ©enerat Detrie p ißm, meteßer bie Oberleitung
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Horbafrifa unb feine Seöeutung in ber (ßegenroort.
^25
bei Operationen in bet oranifteu Samara unb ber beiben ©otonnen 3nnocenti unb
SJtaOaret übernahm, ©eine rechte gtanfe Würbe burdj 3anin gebeeft; auf ber
tinfen plante ftanben jwei anbere Abteilungen, jene bed Dberften ©runetiere auf
bet Strafe Don ©erpüitle nat grenbah unb bie bon SJiajor ©etin in ©I SWapa
mit ber befonbern Aufgabe, ben Sftfjebet Amur ju überwaten. Am 30. SRai
warb Su Amema mit feiner ©tat 3—4 Nitometer füblit bon ©erpoitte gefe^en,
angegriffen unb tierfprengt. ©in ©um fefcte ihnen nat, aber nicht rafdj genug,
um fte jü erreichen, ehe fie bad ©ebirge, bad fe^r fteit ift, erftommen hotten,
©u Amema fcheint mit ben ©einigen bie ©trage nach ©tüten eingefdjtagen ju
haben; bon bort aber wanbte er gt nach ber wüften #o<hebene bed ©totf ©ft
©chergui unb richtete Anfang 3utti in ben ^atfapganjungen ber ©panier guented
unb ©antpillo ein fjaarfträubenbed Slutbab an. ®ie SJtämter würben nieber»
gemepett, bie ffinber in ben Armen ihrer SKütter erbroffelt, bie SRäbten gefchänbet
nnb bann ebenfalls ermorbet; auf lobtfttag unb ©lüttberung folgte noch ber
©ranb. $ad waren bie $elbentijaten bed SJtarabut ©u Amema unb feiner witben
©laubendgenoffen. $ie Ortftaften ©ibi <£^ratfatta unb @1 SWufp in ber Um-
gebung non ©aiba boten ein ©itb graufiger 3erftörung. ®ie Saht ber Opfer
betrug mehr atd 420. Natürlich war ed wieber eine Ueberrumpelung gewefen,
wie fie in jenen uncontrolirbaren SBüftengebieten fo leicht möglich finb. ©ine
namenlofe ©anique erfagte begreiftiterweife bie europäifchen ©ewohner bed heim»
gefuchten Sanbftrichd; bid gegen ©ttbe 3uni hatten 8000 ©erfonen bie ©robinj
Oran toeriaffen. ®et borgerüeften ^ahredjeit wegen, welche bei bet bort Ijerrfchen»
ben $ifce ben Gruppen groge ©trapajen aufertegte, waren bie Dperationdcotonnen
jum tytil aufgetöft unb unfähig, bie Offenfibe gegen bie Aufftänbifdjen wieber
aufjunehmen, ehe ge berftörft unb berprobiantirt würben. Aut ‘ft auf ben
atgeriften £>otplateauj ber ©egner ftwer ju faffen unb einjufttiegen; enblit
berfagten wieberholt bie eingeborenen ©um, Wette atd $ütfdtruppen bienen fottten.
Stat feiner grogen 9ia$jia um ©aiba jog fit ©u Amema ganj ruhig mit
feiner ©anbe nat Xidmulin jurücf; er paffirte bie ©tott in ber Stacht bom
15. jum 16. guni, unb fein JRücfjug gtit nittd weniger atd einer gtutt. ©in
Offijier, Wetter mit ber ©otonne SRattaret bei Treiber unb 2pa=U$ah ftanb, gibt
babon fotgenbeit mertwürbigen ©eritt: „2>ie Xruppen ftanben fämmttit auf ber
Sauer; benn man hoffte jeben Augenbticf, ©u Amema abjufangen, ber bon ben
©otonnen ©runetiere unb Ouarante in bie ©nge gebratt fein mugte. ®er Dberft
©tattaret war fogat feiner ©ate ftou ganj fiter unb hatte alte ©ortehrungen
getroffen, um ben arabiften Häuptling feftjunehmen. 33ie erften ©tunben ber
Statt bertiefen ohne Swiftenfalt, unb ft<m glaubten wir, bag ©u Amema wieber
einen anbern 2Beg eingefttagen habe, atd wir gegen SRitternatt ben eigenthüm»
fiten bumpfen ©atop ber arabiften ©ferbe hörten. ®er Obcrft jweifette feinen
Augenbticf, bag ed ber Agitator war; eitigft trat er aud feinem Sett unb ftttrjte
nat Öen ©orpoften, um beit oerbünbeten ©um bie ©ewegung anjubefehten, wette
Su Amema auf bie Artillerie unb bie gnfanteriereferben jurflefwerfen fotlte, bie
fton bie entfpretenbe Stellung genommen hatten. Statt bag aber bie ©um
bereit gewefen Wären, gegen ben geinb ju marftiten, fanb bef Oberg ge fämmt*
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Tk - »TA,
^26 Unfere <3eit.
tid> auf bem ©oben liegenb, baö Jpaupt in ben Staub gebeugt: fie fnieten bor
bem neuen ©roppeten unb tiefen tüiebertjolt: «äflap, ©flop!» $n bemfctbcn äugen»
blicfe erf^ien uns auch fcf)on ©u Slmetna in feinet ganzen $errlid)teit. ©einet
Ungeheuern ätrnee botan fehritten über 500 befangene, ©Jänner unb ©Seiber, bie
Hänbe über ben Stücfcu gebunbeu; einet t)on ihnen hielt ba§ ©ferb ©u ©mema’3
am 3®um unb biefem folgten bie berbünbeten Häuptlinge, fämmtlich bie grüne
Sahne mit bem mohammebanifchen ^nlbmonb fcpwingenb. ©Sir ftanben nur
3 Silometer baoon unb blieben in Grftaunen berfunfen bor biefem prächtigen
Sührer einer glängenben ärmee, ben man uns als einen ohne Anhänger, ohne
©Jannfcfiaften in ben afrifanifdjen Gbeuen umherirrenben Stäuber gefchilbcrt hotte.
SSa3 fonnten Wir thun? ®ewifi hotten Wir bie befte 2nft, bem Agitator, welcher
bon ber Höhe feiner ©Jacht herab bie Seinbc, bie ihm gegeniiberftanben, gu ber»
achten fchien, eine ßection gu geben; aber ber ©bfaß ber ®um hotte ben Angriff
unmöglich gemacht: unfere ärmee War auf 1000 ©Jann rebucirt, 1000 ©Jatin
gegen bie 20000, welche Su ämema befafi! Die gefdploffenen ©ataißone ber 3«=
furgenten hätten unS ohne nße Zweifel mit fiep in bie Schott gurüefgebrängt, wo
wir in ben ©ioräften ben lob gefunben hätten. blieb uns nur noch ©ins
übrig: mit bem ©efepüp ben 3nfurgenten uaepgufeuern. Iler Oberft ©Jaßaret Wei=
gerte fi<h lauge aus ©Jenfcplidjfeit baS gu thun. ©u ©merna hotte nämlich feine
©rmec auf beiben Seiten mit einem langen unb bitten Streif bon Sinbem unb
©Seibern umgeben, bie er bon ben Holfapflangungen als ©cfangene abgeführt
hatte. Sei eS nun ©raufamfeit ober ©Soßuft beS Häuptlings, bie ©Seiber fchritten
gang naeft, Währenb bie ©Jänner unb Sinber ihre Kleiber anbehalten hotten. Die
Qnfurgenten fanoniren, pieh atfo auf wehrlofe ©efaitgette, auf ©Seiber unb Sinber
pineinfepiehen. So finb benn auch nur einige S'attonenfcpüffe gclöft Worben, um
womöglich Serwirrung in bie Sfciljen ber ©raber gu bringen. Dies gelang aber
nicht unb bie lepten ©ataißone ber Sfrntee beS ©u Slmema berfcpWanben bor
unfern ©liefen hinter ben Holfagebüfcheit, ohne auch nur einen eiitgigen ©aepgügter
gurüefgutaffen." ©Senn wir nun auch ben fcharfen äugen beS 93erichterftaftcrö, ber
gu mitternächtlicher Stunbe unb auf 3 Silometer ©ntfernung ©u Slntema, bie
fahnenfehwingenben Häuptlinge unb bie naeften ©Seiber gn erfennen oermochte,
unfere ©ewunberung nicht berfagen woßen, bafür aber bie 20000 ©Jann unb bie
„gefchloffeneit ©ataißone" nicht wörtlich nehmen gu miiffen meinen, fo ift es boch
ficher, bah ber äbfafl ber eingeborenen Hülfätruppcit aßein baS ©ntfommen beS
berwegenen Häuptlings ermöglichte, utib ebenfo ficher, bah ©u ©ntema’S ©nfepen
bnreh feinen Sieg unb feine ©eute noch gewadjfen War. Da bie meiften ber
©oloniften, bie bei Su ©mema’S Streifgügen mnS Seben ober minbeftenS um H°b
unb ®ut famen, Spanier waren, fo riefen bie algerifcpen ©orgänge jenfeit ber
©prenäen eine grohe ©ufregung perbor unb bie mabriber ©egierung berlangte bei
bem parifer ©abinet eine ©ntfcpäbigung für ihre ßanbeSangepörigen, Welche bann
fpäter auch * m rcicf>ften ©Jähe gewährt Würbe.
©Jittlerweile fteßte Su ©mema feine Kontingente in ßlaoma wieber her. Die
SertpeibigungSlinie beS Deß Warb oon fünf Kolonnen gebilbet, beten jebe 11—
1200 ©Jann gähltt. Die erfte ftanb in 9taS»et=©Ja, fübweftlich bon Dopa, bie
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Horöafrifa unb feine Beöeutun^ in ber (Segennxirt.
\27
jweite in ©fib, bie britie in ©erhoille, bie bierte in ffrenbah, bie fünfte öftlidfj
tott biefem piafce. ®ie erbrüefenbe H'fee machte eS ben Xruppen faft unmöglich,
bas flanb ju burchftreifen; bie Sittie aber, bie fie ju überwachen Ratten, ift fet)t
auSgebefint; es ftanb baljer ju befürchten, ba| ©u Slmema, trofc ber getroffenen
©orfeljrungen, mit 2— 300 ©eitern bur<h biefen weitmafchigen 2ruppencorbou
burdjfdjlüpfen unb auf eine neue ©erprooiantirung ausgehen fönnte, beren auch
er bringenb bebürftig war. Unb in ber $h°t, 8u Slmema unternahm es, auf ben
©djauplafj feinet frühem fjetbeuleiftungen jnrücfjufehren. ©enerat SouiS jog ihm
mit brei Kolonnen entgegen unb ©u Slmema oerfudjte fogar am 9. Suli bei Äteiber
eine Stellung, Welche oon brei XiraiHeurcompagnien beS Oberften ©winet; bemacht
mürbe, im ©türm ju nehmen. ©r mar an ber ©pifce Oon 7—800 ©eitern unb
200 SDtann ju gufj. ©in jweintaliget Singriff mürbe inbefj erfolgreich abgefchlagen,
worauf fich bie aufftänbifdje 2ruppe nach ©üboften, bem ©ebiete ber Harrar, ent»
fernte. SBenige Jage fpäter, am 13. Suli, ftiefj Dberft ©runetiere bei SJtebriffa
auf ©u Slmema’s ©char, unb es lam abermals jum Sampfe, nach welchem ber
SDtarabut fchlcunigft nach ßglob SlSfura floh, ohne bafj er eine ©ajjia hätte ooll»
führen lönnen. $ie granjofen festen ihm nach, Waren aber ju erfchöpft, um ihn
ju erreichen; ben ©orfprung oon 3 Kilometer oermochten jie nicht einjuljolen, gaben
aber bie ©erfotgung nicht auf. Slm 17. raftete er Weftfich oon Samiat. ®ort
brach jwifdjen ©u Slmema unb feinen Slnhängern heftiger Streit aus. ®ie einen
Wollten fogteidj nach bem ©üben jiehen, währenb anbere eine ©ajjia oorfchlugen,
welche jwifdjen ©a'tba unb 2agremaret oottjogen werben foHte. 2)er SRarabut
willigte in baS Unternehmen, jog fich “bet jurüd, als er hörte, bafj bie Kolonne
beS Oberften ©wineh bei ben ©runnen Oon 2ircine ihr Säger aufgefchlagen hotte,
©r Wanbte fich nun nach ©üben unb bejog bie alten Sagerpläfce, bie er oor bem
Singriff ber Kolonne Snnocenti auf ihrem SJtarfdje nach ©cheUala einnahm. 2)iefeS
©ebiet, beffen SRittelpunfte ajtefdjeria unb Xuabfcher finb, befifct webet ©erfte noch
©etreibe, bagegen aber reiche SEBeibeplä&e. Stach biefem feinem ©üdjuge Oor ber
Kolonne beS Oberften ©runetiere fühlte fich ® u Slntema befinitio aufjer ©tanbe,
feine neuefte ©jpebition fortjufefcen, unb befdjlojj baher, bie grattjofen währenb
ber ®auer beS ©amajan (24. Suli bis 23. Slug.) in ©ulje ju laffen, um erft
nachher, unterftüfct Oon ben Kontingenten @i ©liman’S, ben Selbjug wieber auf»
juneljmen. ©atürlidj blieb er unterbeffen nicht unthätig. Sunädjfi bemühte er
fich, eine ©erföhnung anjubaljnen jmifchen ben 2rafis, bem Houptbeftanbtheile
feiner Üruppe, unb ben ©ejatna, beren 3elte in SJtefcheria an bie feinigen grenjten.
®iefe ©ejai'na, ein ben granjofen bisher treuer Stamm, Waren nun gleichfalls
abgefallen unb hotten fich na <h bem ©üben geflüchtet, um fich ®n Stmema anju»
fdjliefjen. Sogleich führte biefer Unterhanbtungen mit @i ©firnan ©en Sabbur,
bem befannten Häuptlinge ber Uleb ©ibi Scheich, um ihn ju beftimmeit, gegen bie
gronjofen ju jiehen. $iefer, welcher in frühem Seiten ein Parteigänger ber ftran»
jofen gewefen, befanb fich beim SluSbruch beS SlnfftanbeS in SWaroKo, nach einigen
Slngaben in SJtequinej als ©ebell internirt. ©d)on im SRärj fchrieb ©u Slmema baher
an ben ©nltan oon SJiarolfo, um ihn ju bitten, bafj er @i ©liman, für beffen
gute Haltung er bürge, auf freien gufj fefce. Studj foH er biefem Häuptlinge
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428
llnfere <^eit.
p>ei werthtotte ©eweljre als ©efe^enf übcrfdjidt haben. 3?ad) einer SJerfion hätte
nun @i Sliman geantwortet, er fei Untertan beS Sultans oon SJJatoffo, welcher
mit ber franjöfifchen Dtegierung iit Trieben lebe, unb fönne feine ©efdjenfe pm
Seiten eines SünbniffeS anne^meit; nach anberer SeSart wäre er im Slpril aus
Sftequinej entwichen, ©ei bem, wie ifjnt wolle, im 3 uli weifte ©i ©timan in
bem bisher treu gebliebenen X^eile ber ©timan unb fucptc bort Slnpänger bei ben
Uteb <ScE»eic^ ©arbi oon 2 Jtaroffo. Slucp ber Scheid) biefer (extern, ©i Slllal,
erhielt oon S8u Slmerna bringenbe Anträge, p ihm überptreten. Siefe beibeit
großen Häuptlinge waren aber auf SBu Slmerna eiferfüdjtig, unb fahen ihn fär
einen niebrigen Agitator an.
Sen granjofen mußte nun oor allem barait liegen, p oerhinbern, baß bie
feinblichen Kontingente währenb beS StamajanS unter ber ©unft bes refigiöfen
Fanatismus fidf etwa noch oermehrten, ©ie burften fi<h baßer feine Stoße gönnen,
fo gebieterifch bie SaßreSweit eine fotche auch i u oerlangen fcßien. Slm 15. 3u(i
traf ber neue Oberbefehlshaber ber franjöfifcfjen Gruppen in SJorbafrifa, ©enerat
©auffier, in Algerien ein unb oeranfaßte fofort ein planmäßiges iBorgeßen gegen
ben fo rafch berühmt geworbenen SJtarabut. SBieberum würben brei Kolonnen
gcbilbet: biejenige beS KentrumS, 2500 äJtann, bie oon ©ai'ba abgehen foHte, bann
bie beS SBeftenS unb ©üboftenS: 1200 SJiann Oon ©ebbu unb ebenfo oiel oon
©erpOiUe. 3« ber ©egenb Oon SWogßar unb Xput hatten fie pfammenptreffen
unb bann bis nach ber FtOHJoafe borprüden. Sie ©erprooiantirung war mit
foloffalen ©cßwierigfeiten oerbunben. Für ein fo befchwertiches Unternehmen burfte
man nicht mehr auf bie fdjon jWei bis brei SJionate benutzen Kamele unb ©aum=
thiere rechnen; biefe waren fchon p fehr erfcßöpft. 2 Jian mußte neue haben unb
brauchte nicht weniger als 2000 Kamele. SSon ben p>ei Stämmen, welche biefe
Stojaßl liefern fonnten, bie Harrar unb bie 9tepi'na, waten bie leßtem fürjlicß
abgefallen, unb auch bei ben Hatrar wäre es unborficßtig getoefen, p oiel oon
ihrer bisher bewährten Xreue p oertangen. Sie 2000 StequifitionSfamele würben
enbtich oon Xiaret geliefert. Sann fepte fich bie Kolonne ton ©erpbitle unter Dberft
fiafont in Bewegung unb rücfte nach Site el Draf, jene beS ©enerals Kolonieu, eines
gewiegten SlfrifafennerS, nach SJtefcßeria, 100 Kilometer füblich oon Kreiber, unb
bort würbe ein terfcßanwtes Säger auf einem fünfte errichtet, ber mit SEBaffer oerfeßeit
ift unb pr DperationSbafiS ber Kjpebition gegen äRogßar unb Figig auSerfeßen
war. Surch biefe Operation gelang eS Su Slmerna, ber weit in ben ©üben
prüdgeworfen, mit nicht fehr bebeutenber ^Begleitung in Spat ober in Figig ß<h
aufhielt, toit bem Safellanbe fern p halten unb bie Half ap flau jungen oon ihm
ooQftänbig p befreien. Unter bem ©rippe ber Iruppen, bie in ©ai'ba, in Kreiber
unb SRefdjeria lagerten, fteüte fich auch bie Orbnung bei ben einßeimifcheu ©täm=
men wieber her «nb bie Herftetlung ber neuen Schienenwege, burcß welche ©eneral
©auffier bie Widjtigften fünfte untereinanber p oerbinben befahl, toarb mit Kifer
betrieben. Schon im Sluguft burfte man ben ton Su Slmerna ins Sebeit gerufenen
Slufftanb als beenbet betrachten. Ser 3wed ber weitern Kjpebitionen war nur
noch bie Slufrüßrer p jücßtigen unb bie {Hupe im ©üben enbgüttig p fichern.
S9ei einer biefer Operationen ließ Dberft SJegrier, ber oon ©erpoitte ausgewogen
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Horöafrifa unb feine Bedeutung in 6er (ßegemnart. ^29
war unb am SRüctmarfche ben SSJeg über Slbiob ©ibi ©cheich nahm, am (extern
(ßlafce bie bort befinblidje „®ubba", baS in großer Serehrung ftehenbe ©rab beS
SHarabut ©ibi ©djetdj, non bem bie mächtige gamilie ber Uteb ©ibi ©cheich ab»
ftammt, jerftören unb einen ört bem Soben gleichmachen, auf meinem ejaltirte
SKo^ammebaner unter bem SorWanbe non SBaHfahrten ben einheimifdjen ganatiS»
muS unterhielten. $o<h wollte er ben (Eingeborenen jeigen, bafe er fid), inbem
er einen Herb beftänbiger Slufregung jerftörte, nicht burdj ©laubenShafe ober Ser»
achtung für irgenbeine gorm beS moSlimfchen (EultuS leiten liefe. 3« biefem
Sehufe liefe er, efee er jur Xemolirung beS ©rabeS fchritt, bie ©ebeine beS 2Ka=
rabut auSgraben unb mit grofeem ©erränge nach ©er^niQe überführen, um fie in
ber bortigen 9Kofd)ee beijufefcen. 3 n grantreich hot man fich über biefe angebliche
ißrofanation entfejjt unb auch bie meiften beutfchen Beitungen ermangelten nicht,
Sßegrier’S Ihat als einen Slct franjöfifcher (Barbarei $u branbmarfen. 2>er unbe»
fangene Seurtheiler wirb bagegen fagen müffen, bafe bie« ber oernünftigfte ©treich
war, ber oon granjofen jemals in Algerien begangen würbe, unb hätten fie ftets
non gleichen ©eficfetspuntten fich leiten (affen, es ftünbe wahrlich beffer um fie unb
um baS Sanb. ©erharb SRohlfS h Q t noüfommen recht, wenn er ben franjöfifchen
— ich f«ö e bei, auch 6 en beutfchen — HumanitätSapofteln, welche bem tapfer«
Dberften Sorwürfe machen, juruft, fte möchten fich beruhigen. 3« ber Xfeot ift
auf biefen Slct beS „SanbaliSmuS" nichts, gar nichts non bem erfolgt, was man
als bie unausbleibliche gotge beffelben h'nfteßte. S)er Slufftanb ift nicht Wieber
aufgeflammt, Su Stmema, eine furje Beit lang ein ^weiter 81bb»el=ffaber, fanf
rafch wieber in bie SerfdjoHenljeit jurüct, aus ber er wie ein SWeteor aufgeblifet
War, unb felbft bie Häuptlinge ber Hieb ©ibi ©cheich hoben ihre politifehen
ißarteifteffungen nicht geänbert.
©0 tann man benn aus ben (Ereigniffen ber testen ®ecennien bie grofee Sehre
jiehen, bafe bie Slufftänbe in Storbafrita ben granjofen wol unter Umftänben
fchwere Serlegenfeeiten bereiten tönnen, ben Seftanb ber franjöfifchen H err f c h a ft ju
erfchüttern finb fie burdjauS unoerntögenb. SBenn bie granjofen fich nur ernft»
lieh entfchüefeen, bie ©ewalt in ihrem ooden Umfange gegenüber ben Siomaben
walten 3 U laffen, biirfen fie über ben StuSgang jeber (Erhebung unbeforgt fein.
$en Slbjug ber granjofen bom afrifanifchen Soben werben bie Sebuinen fo
wenig erleben als bie Surfeftaner jenen ber Stuffen aus Dtittelafien.
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las fctuffdje JJaftnfoefm
$aS beutle ißatentgefefc oom 25. 2Jtai 1877 hat im Augenblicf, roo mir
bieS nieberfchreiben, baS in unferer raschlebigen 3eit immerhin refpectable Alter öon
4 V 2 Saljrcn n«h e 3 u erreicht. @S bürfte baher bietteicht nicht unangemeffen fein,
auf bie ©ntftehung beS ©efefeeS fomol mie auf bie burdj baffelbe ermöglichte unb
fjertoorgerufene ©etoegung auf inbuftriettem ©ebiete einen Stüdblicf ju merfen.
SBir halten bie« für um fo angejeigter, als bie unflarften Sorfteüungen über baS
Sßefen beS (SrfinbungSfchuheS beim großen ißubtifum noch bielfach borherrfchen
unb bie menigften über bie ©ebeutung ber SEBorte „$eutfcheS SReich«=lßatent" unb
bie SBirfung ber auf neue ©rfinbungen ertheilten ©ribilegien eine Kare ©orfte(=
lung haben.
$>ie 3bee beS ben ©rfinbem ju gemährenben Sdju|eS bor unbefugter Stach*
ahmung ift eine berhältnifjmäfiig alte, jebenfaH« meit älter als ber bermanbte
Schuh beS geiftigen ©igenthuntS mie beS 3Rar!en= unb SJtufterfchubeS, unb fie ift
bieDeicht in lefcter 3nftan$ auf bie Freibriefe unb ©riuilegien ber .ßünfte jurüd=
juführen. ©8 fteht jum menigften feft, baff bie SteichSftabt Nürnberg, mo bie
Sänfte fich fo träftig enhtndelt hatten, bereit« im 16. Sahrljunbert freilich fehr
unbodlommene unb nur für baS Stabtgebiet gültige latente crtheilte. ®ie eigent=
liehe ©ntmidelung beS ©atentmefenS batirt aber erft bom Soffrc 1623, mo baS
englifche Parlament jur „Hebung beS ©emerbfleifjeS unb Erzielung eines gemiffen
Uebergemichts über anbere Nationen" ein Eßatentgefefc annahm, meldjcS juerft in
Amerifa Nachahmung fanb, inbem bie ©olouie SJtaffadjufettS im Saljre 1641
bereits ihr eigenes Eßatentgefeh befafi. ©rft jur SteoolutionSjeit folgte Franlreicfj
bem ©eifpiele, mährenb ber ©rfinbungSfdjuj) in $eutfd)tanb bis jur ©ublicirung
beS SReidjSpatentgefeheS im argen lag. SEBürtemberg, ©aiern, 2)armftabt, Saufen
unb ißreufsen befafjen jmar ©atentgefefce, jeboch nur fehr mangelhafte, unb maS
fbecieü ©reufjen betrifft, fo mar bie SBirfung ber betreffenben ©efefcgcbung fchon
beSljalb gleich 9tutl ju erachten, meil bie ©ribitegien nur auf brei Saljre ertheilt
mürben, ©egenmärtig fchüfcen alle ©ulturftaaten ber SBelt, mit Ausnahme ber
Schmeij, ber Stieberlanbe unb ©riechenlanbs, bie ©rfinbungeit, menn auch, wie
mir fefjen merben, auf fehr betriebene SBeife.
Stach biefem lurjen gerichtlichen Stüdblid moüen mir unterfuchen, mie bie
beutfdjen gefefjgebenben Factoren bie fehr fdjmierige Aufgabe ber Ausarbeitung
eines bie Sntereffcn beS ©rfinberS mie beS ©ubtifumS unb beS Staates mäh*
renben ©efejjeS über ben ©rfinbungSfctjul gelöft haben.
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Das beutfcfje Patentwefen.
©he bie SReidjöbehörben an bie SRebaction beS ©efefcentWurfeS herantraten,
mußten jwei Hauptfragen jur ©ntfcheibung gelangen:
SBeldje ©rfinbungen follen ben Schuh beS ©efe^eS genießen unb nach meinem
Ißrincip ift bei ©ewäljrung biefeä SdjufceS }n oerfahren?
5ßon einer Deßnirung beS SegriffeS „©rfinbung" würbe hingegen, nad) bem
Vorgänge ©nglanbs unb ber ^Bereinigten Staaten, abgefehen.
Die grage nacf) ben ©igenfchqften, bie eine ©rfinbung befifcen muß, um patent*
fähig ju fein, nmrbe in ben oerfdjiebenen Sänbern ©uropaS unb 9lmerifaS feljr
terfdjiebett gelöft. SBäijrcnb mauere Staaten mit üluSnat)me bon allgemeinen
wiffenfehaftlidjcn D^eorien, bon ginanaplanen unb bon ©rfinbungen, bie ben guten
Sitten juwiberlaufen, alles unterfdjiebSloS patentiren, fließen anbere Sänber bie
SRohftoffe, bie -JtahrungS», ©enuß* unb Slrjneimittel fomie bie Stoffe, bie auf
djemifdjem SEBege IjergefteHt »oerben, aus, unb baS Deutfdje 8teidj folgte aus wohl*
ertbogenen ©rünben biefem le^tern Seifpiel. @S ift alfo bei utiS bie 2Röglid)feit
burcßauS auSgefdjloffen, baß jemanb fid) auf ben auSfdjließlichen Sertrieb eines
in 9tmerifa entbedteu neuen SialjrungSmittelS ein ^ßritoUeg erteilen läßt, Welche#
bie ©efammtheit nur fdjäbigen fönnte. SBoßl aber gemährt baS 9teicfj einem Ser*
fahren jur Sercitung beS betreffeuben UJahrungSmittelS feinen Schuß. Durd) biefe
Seftimmung Werben ferner alle fogenannten ©e^eimmittet wie and) bie (£f)emifa=
lien unb pharmaceutifdien Präparate bon ber ißatentirung auSgefcßloffen. So
bilbet j. S. nidjt bie rafdj belannt geworbene Salicptfäure an fid), fonbern nur
baS bon ftolbe in Seipjig entbedte Serfahren jur Darftcßung bicfeS fäutniß*
Wibrigen Stoffes ben ©egenftanb eines beutfefjen Patents.
gemer wirb in Deutfcfjtanb, im Slnfdjluß an bie in granfreich geltenbe, bie
wiffenfdjaftlidjcn D^eorien bon ber Ejßatentirung auSfdjließenbe Seftimmung bon
einer ©rfinbung geforbert, baß fie „eine gewerbliche Serwertljung geftatte". Sonft
genießt fie feinen Schuß. 3« ben burdj biefe Seftimmung au#gefcf)toffenen ©egen*
ftänben gehören bie theoretifdjen ©efeße unb bie meiften ©ntbedungen ber ©hemie.
Danach würbe Rietet in ©enf auf feine gtüffigmadjung beS SauerftoffS fein
Ißatent erhalten, weil biefe glüffigntadjung bisher praftifch nicht berwertljet werben
fann. Son ber fraglichen Seftimmung betroffen werben aber auch HJlafchinen unb
Apparate, Welche möglicherweife im SluSlanbe, nicht aber bei uns eine gewerbliche
Serwerthung geftatten. ©ine äJiafdjine jum Slbmäljen beS 3udcrrof)rS Wäre in
Slmerifa gewerblich berwerthbar, währenb fic bei uns höchftenS ben SBertlj eines
5ßerpetuum=mobite ober eines tenfbaren SuftfchiffeS befißt.
Das Ißrincip bei ber ©rtheilung beS Satentfdjußcö anlangenb, ftehen fid)
jWei Dheorien fdjroff unb unbermittelt gegenüber. 3n ©nglanb, bem ©eburtS*
lanbe beS IßatentwefenS, in granfreich unb ben übrigen romanifchen Staaten,
fowie in Defterreid)*Ungarn Wirb jebem ein patent ertheilt, ber fich melbet unb
bie ©ebüßren befahlt. Db baS ertheilte patent in bie SRedjte anberer eingreift,
ob eS rechtmäßig erworben, ob ber Slnmelbenbe ber Wahre ©rfinber ift, befümmert
bie Regierung nicht. Darüber haben nur bie ©eridjte auf Eintrag ju entfeheiben.
2Jtan löft mit anbern SBorten in granfreich unb ©nglanb ein Ißatent, etwa wie
man ein Dfj efl terbiflet lauft, unb ber einzige Unterfcßieb jwifchen ben beiben 2än*
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Unfere ^cit.
*32
bem befielt barin, baß bie patente in ©ngtanb erft fet^S SDionate nach bet (Sin-
reichung beS @efucf)S erteilt unb bie ©efuche oeröffentlidjt werben. SBer alfo
bie übermäßigen Soften $u erzwingen in ber Sage iß, fann gegen bie @rtßei=
(ung beS Patents innerhalb ber genannten grift ©infpruch ergeben, währenb baS
franjößftße ©efefc nid>t einmal biefe SJtöglichfeit gewährt.
®aS franzöfifcße Slnntelbungsoerfahren gibt ju zahllofen Proeeffen Stnlaß —
fo mußte fuß ber befannte Sltfenibefabrifant Sfiriftoße ben unbeftrittenen be|iß
feines Patents burcf> 64 Sßroceffe erfämpfen — nnb brücft bie patente auf baS
Stioeau bloßer Schufcmarfen ßerab. $aS berfahren h“t jur ffolge, baß ber
berfauf eines Patents ju ben Seltenheiten gehört unb bie meiften ©rfinber baher
feht halb ihre Rechte aufgeben müffen, weit es ihnen an ben SWitteln §ur ber«
Werthung ihrer ©rfinbung gebricht. @S fehlt beShalb nicht an ftranzofen, Welche
baS StnmetbnngSoerfahren für ganz nerfehtt erachten unb eine grünbtiche Steform
ber tßatentgefeßgebung erftreben.
©anj anberS in ben bereinigten Staaten, Wo gegenwärtig 12—16000 patente
— fooiet wie in ffranfreich unb ©nglanb jufammen — jährlich jut ©rtljeitung
gelangen. $ort herrfcht baS borprüfungSberfahren, Welches auch in (Beutfchlanb
gilt. 3n SBafhington wie in bertin wirb jebeS ©efudj in bezug auf bie Steu»
heit ber barin befdjriebenen ©rfinbung einer genauen Prüfung burdj Sacfjberftän=
bige unterzogen, ©rweift fid) infolge beffen bie ©rfinbung atS bereits betannt,
b. h- entweber in $rucff<hriften befchrieben ober offenfunbig benufct, fo wirb baS
©efuch abgewiefen unb ber ©efuchftetter hat jebeS Siecht auf Patentfdjufc öerwirft.
®ie ©inWänbe gegen baS berfahren finb zahlreich unb zum %ty\i nicht un<
motinirt. bei ©rfinbungen, bie nicht weit zurücfreichen, Wie bie ©ifenbahnen, bie
Telegraphie, ift eS oerhältnißmäßig leicht, ftdE» non ber Sleuheit ber Sache zu über¬
zeugen, unb es finben ftch Sadjoerftänbige genug, welche mit oöQiger Sicherheit
barüber entfcheiben lönnen. SlnberS geftaltet fidh aber bie Sache bei uralten @e-
Werben, wie SRüHerei, bergbau ober bei fpauSgeräthen, wie SJieffer, ®abel,
Pfropfenzieher u. bgt. $ier ift bie ©ntfdjeibung eine äußerft fcf)Wierige, unb eS
mag troß aller borficht manches patentirt werben, was im Sinne beS ©efefceS
nicht neu ift. $aS Uebel ift aber nicht fo groß, als baß baS borprüfungSoer»
fahren beShalb nerWorfen werben müßte, welkes bem Patent fofort feinen SBerth
nerleiht unb bem faufenben Publifum zur Stidjtfchnur bienen lann.
©ine ©rfinbung gilt bem patentgefefc gegenüber nicht als neu, wenn fie in
„öffentlichen $rudfchriften" bereits befchrieben ift. Tiefe beftimmung hat ben
gewiß löblichen 3wecf, bie Aneignung oon ©rfinbungen feitenS Unbefugter zu oer=
fünben. Tarnit ift bem SRiSbrauch ein Stiegel öorgefdjoben, baß jemanb bie be*
fchreibung eines betfahrenS aus einer Leitung herauSfcßreibt unb als feine eigene
©rfinbung zur Patentirung anmelbet. 2>aS ®efefc geht hierin aber entfchieben zu
weit ober Wirb zu engherzig auSgelegt. SSir oermögen nicht einzufehen, weshalb
biefe beftimmung auch für ben wahren ©rfinber gelten foH, weshalb eS beifpiets-
weife Krupp in ©ffen nicht geftattet ift, ben Patentfdiufc für eine ©rfinbung nach*
zufuchen, bie et felber früher Oeröffentlidjt h°t, weshalb biefe beröffentlichung
fein gewerbliches ©igentljum oernichten foU. Tie erwähnte beftimmung erweift fich
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Das öeutfcfje patentoefen.
Cf33
außerbent in ber Pra|iS als für unbemittelte (Srfinber, b. h- für bie SDtehrjahl,
im hödjften ©rabe nachteilig, inbem fie biefelben jwingt, in allen Staaten gleich*
jeitig ein Patent nacf^ufudhen, atfo bie jum 2^eil beträchtlichen ©ebüljren mit
einem mal aufeuWenben. ©älte bie ©eftimmung nic^t, fo fönnte ber ©rfinber eS
beifpietSWeife junächft mit 2)eutfcf|tanb üerfudjen unb, Wenn bie Sache ^ier ein*
fdijlägt, etwas fpäter im AuStanbe ein Patent nachfucijen. ®ieS fefct freilich eine
internationale Sereinbarung borauS, nach weiter bie Anmelbung einer ©rfinbung
in einem Sanbe für afle ©ereinSftaaten gilt. $atjin fommt eS auch fidjerticfj einft.
©in ©eifpiel Wirb bie ganje Stigorofität ber ©eftimmung im §. 2 beS patent*
gefefces ftar machen. 9J?r. Smith wirb in ben ©ereinigten Staaten ein patent
auf eine neue eleftrifdje Sampe erteilt, unb er melbet zugleich feine Srfinbung
bei ben europäifdjen Patentämtern an. Grifft es fidj nun burd) .ßufaß, baß er
bie Abgangsorten ber Poftfdjiffe nicht genau beregnet hat unb bie amerifanifdje
©efdjreibung feines Patents Dießeicht um eine Stunbe früher an baS beutfdjc
Patentamt gelangt als feine Anmelbung, fo Oerliert SJtr. Smith jeben An*
fprudj auf Patentfdfjuj)! 3feber Unbefangene Wirb jugeben, baß hierin eine große
$ärte liegt unb baS ©efcfc nach biefer Seite h' n einer bie Siebte beS Wahren
©rfinberS beffer Watjrne^menben Amenbirung bebarf.
S)iefe Anß<ht fcheint auch an maßgebenbet Steße an ©oben ju gewinnen.
3)ieS ergibt fid) auS Art. 20 beS unter bem 16. $ec. 1878 ^wifd^en S)eutfcßlanb
unb 0efterreidj=Ungarn abgefcfjloffenen ^anbelSDertrageS. ®anadj foßen bie An*
gehörigen beS einen ber SertragSftaaten in bem ©ebiete beS anbern benfetben
Patentfdjufc wie bie eigenen Angehörigen genießen. $ie ©eröffentlidjung ber @r=
finbung in Xeutfdßanb foß außerbem teinen 9Gicf)tigfeitSgrunb gegen baS öfter*
reidfjifche Patent bilben, wenn ber ©rfinber baS ©efudj innerhalb breier SRonate
Dom Xage ber Seröffentticßung ber ©efdjreibung ab einreicht. Sefctere ©eftim*
mung gilt aber nur für Deutfcßlanb, weil bie patentgefudfje in £)efterreidfj=Ungarn
in Sejug auf ßieußeit nicht geprüft werben unb eine Seröffentlidjung ber ©e*
fct)teibungen bafelbft erft nach Ablauf ber Patentbauer ftattfinbet. 3Mit Art. 20
ift alfo ein wichtiger Stritt auf bem ©ebiete ber internationalen Siegelung beS
PatentwefenS gefdfjefjen, unb wir woßen hoffen, baß bie ^nitiatioe 2)eutfd)lanbS
halb ihre grüßte trägt.
Stadj geftfteßung biefer ©runbpriitcipien ging baS 9tei<$Sfanjleramt an bie
Ausarbeitung beS patentgefefceS, welkes mit einigen nicht fe|r wefentlicfien Aen*
berungen Dom SteidjStage unb ©unbeSratlje angenommen würbe unb am 1. 3uli
1877 in SBirffamfeit trat.
SBir woßen nun bie baS Publilum am meiften intereffirenben ©eftimmungen
beS ©efefceS barlegen unb geeignetenfaßs burd) Seifpiele Har ju fteßen fitzen.
Ueber bie beiben erften Paragraphen, welche bie oben erörterten ©runbgebanfen
jur ©eltung bringen, lönnen wir nach bem ©efagten binweggehett.
Sladfj §. 3 hat auf ben Patentfdjuh berjenige Anfprudh, welcher bie ©rfinbung
beim Patentamt juerft anmelbet. S)amit ift auSgefprodhen, baß baS Patentamt
fi<h mit ber grage ber Serechtigung beS Aumelbenben, wenigftcnS in biefem Sta*
Unlere grit. 1882 . I. 28
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Unfete ^eit.
bium ber Sache, nicht ju befaffen hat. 0b ber Anmefbenbe bet toaste ©rfinber
ift ober ft cf) bie ©rfinbung unbefugterweife aneignete, fümmert bie ©eßörbe ju=
nach ft gat nicht. ®ie Stage fomntt etft jur amtlichen Äenntniß, toenn bie Aus*
tegung ber Anmetbung angeorbnet toirb, b. h- wenn baS Patentamt beftimmt, baß
bie ©efcfjreibung ber ©rfinbung jebertnann jugänglich gemalt werben fott. 3 tt
ftefjt es jjebem frei, gegen bie (Erteilung beS Patents an ben patentfudjer Sin«
fprudj ju ergeben. ©ntfcheibet nun baS Patentamt ju ©unften beS ©infpredjenben,
fo wirb baS Patent oerfagt, unb barnit ift bie Sache ertebigt. ®iefe ©inrichtung
ift 'Deutfdjfanb eigentümlich. 3n Amerifa muß bafür jeber Patentfudjer befcfiwö«
ren, baß er ber wahre (Erfinber ift. Ueber ben SBerth biefeS ©ibeS finb aber bie
Anfichten fe^r geteilt.
2)aS erteilte patent fiat bie SEBirfung, baß nientanb berechtigt ift, ben paten«
tirten ©egenftanb hcrjuftetten ober feifjubieten. 2 >ie ©ontrofe bar&ber ift aber
fetbftberftftnblidj nicht Sache beS Patentamts, fonbern ber SSettjeitigten, bie im
Satte einer ©erfefcung ihrer 9tecfite ficfj an bie orbentfichen ©erichte 311 wenben
haben, ©ine ©eftränfung biefeS Eigentumsrechts beS Patentinhabers finbet nur
in einem Sötte ftatt. ©eftimmt nämlich ber SleichSfanjler, baß bie ©rfinbung für
baS §eer, bie Slotte ober fonft im Sntereffe ber öffentlichen SBofjlfahrt benußt
werben fott, fo tritt bie SBirfung beS Patents nicht ein, ber ©rfinber hot aber
Anfprucf) auf eine ©ntfchäbigung. 5)iefe ©eftimmung bejieljt jtch offenbar haupt«
fachlich ouf ©rfinbungen non Schußwaffen u. bgf., beten ©enufcung burch baS
Pubfifum ju nerhinbern ber Staat ein 3ntereffe hoben mag. Sie oerfefjtt aber
infofern ihren als fte ben ©rfinber nicht hebert, feine ©rfinbung im AuS«
fanbe ju nerfaufen unb bort patentiren ju taffen. UnferS SBiffenS ift bie Seftim»
mung bisher nicht jur Anwenbung gelangt.
$aS beutfcfje Patent währt, wie in ben meiften Staaten, 15 ftahre.
SSieffache Anfechtung erfuhr, wie ju erwarten, §. 8 , welcher bie Patentgebühren
feftftcttt. ®anach h°t ber ©rfinber im erften 3af)re, außer 20 SKorf bei ber An«
mefbung, 30 ÜJlarf, im jweiten Saljre 50 SJlarf, im britten 100, im bierten 150
u. f. f., jebeSmat 50 ÜJtarf mehr, im ganjen affo 5280 SRarf ju entrichten.
$ieS erfcheint im erften Augenblicf hart, ift eS aber in ber Xfjat burdjauS nicht.
SEBie bie ©rfahrung fehrt, überleben wof brei ©iertef ber Patente baS jweite 3afjr
nicht unb faum 5 Proc. baS 14. ©ntWeber finb fie überhaupt wertlos ober nur
auf ben Augenbfic! berechnet, unb werben burch onbere überhott unb berbrängt.
Auf ben meiften ©rfinbungen (aftet bentnacf) factifch, ba ber Schober burch Sticht«
jafjlung ber ©ebühren es jeberjeit in ber §anb hot, fein potent jum ©rföfchen
ju bringen, nur eine Abgabe bon im 3)ur<hfchnitt 100 SDtarf, Welche bie ßoften
beS Patentamts taum becft. ©ernährt fich aber eine ©rfinbung, ift fie überhaupt
bon weftgefdjichtticher ©ebeutung, wie ber ©e|femer«Proceß ber Stahffabrifation,
ober baS £f|omaS*®if(hrifffche ©erfahren jur ©ntphoSphorung beS ©ifenS, fo ift
ber ©ewinit ein fo ungeheuerer, baß bie 5280 ttJlarf feine nennenswerte Slotte
fpieten. ©iffarb, ber befannte ©rfinber ber nach ihnt benannten Sorrichtung jur
Speifung ber 2>ampffeffef, berechnet auf 3—4 SJiitt. SrS. ben ©ertuft, ber ihm
barauS erwuchs, baß er in Preußen fein Patent erholten fonnte. 3Bie gern würbe
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Das öeutfcfjc patcntwefcn.
^35
et bie fteigenben @cbü£)rcu entrichtet h a ^ e »! 3» Srautreich ift in ben beibcn
erften fahren für ben ^entlief) merthlofen Patentfdju| beinahe foüiel, in ©nglanb
aber »eit mehr ju entrichten, unb biefer Umftanb hat bic ©ntwidelung beS bor=
tigen PatentWefenS (eineSmegS beeinträchtigt.
§.11 beS PatentgefefceS (am am 1. 3»ti 1881 jum erften mal jur ©ettung.
Xer Patentfdjuf) toirb bafelbft nämlidj an bie Pebingung getnüpft, baff ber Patent»
inhaber feine ©rfinbung nicht für fich bemalte unb bamit baS Sanb öon ben mög«
liehen SBohlthaten berfelben auSfchliefje. Unterläßt er es bemnach, bie ©rfinbung
in Xeutfchlanb binnen brei fahren entmeber felbft ober burd) anbere jur Aus«
ffihmng ju bringen unb bem Publilum jugänglich jn machen, fo (ann baS patent»
amt auf Antrag ber Petheiligteu baS nicht auSgefiihrte patent für erlogen er=
Mären. Xa nun bie erften patente aus bem 1877 batiren, fo trat bie
ermähnte Pcftimntutig am 1. 3uli 1881 in ffraft. SBiS^er hat aber baS Publi*
(um non bem ihm gemährten Rechte fo gut mie (einen ©ebrandj gemacht.
2)er jweite Abfdjnitt beS ©efe^eS ift bem Patentamt gemibmet.
Xiefe gattj eigenartige SReichSbeljörbc ift im großen unb ganjen bem Patent
Office in SBafhingtoit nachgebitbet, was fd)on burcf) bic Annahme beS PorprüfungS«
oerfahrenS geboten mar. Sie ftanb bisher unter ber Seitung beS um baS preufjifche
©emerbemefen hodjberbieitteit Dr. gacobi, UnterffaatSfecretär im preujiifchen |>anbelS=
minifterium, Welcher als fotdjer ben Xitel „Porfijjcnber beS (aiferlichen Amts",
führt. 9?adj beffen SRiidtritt mürbe ©ehcimratl) Dr. Stube mit bem nächtigen Amte
betraut. Xettt Sßorfi^cnbeu finb fünf jnriftifch gebifbete SRätlje beigegeben, welche
bie Sunctionen jeboch als Siebenamt auSiiben nnb in ben Sij)ungen ber fieben
Abteilungen beS Patentamtes ben Porfifc führen. 3nr Prüfung ber Patentgefuche
in Pejug auf Steuljeit ernannte anherbem ber 5ReidjS(attjler eine Peilje bon Sach»
berftänbigen, welche ben Xitel „9iicf)tftänbige SRitglicber" führen unb tu ihrer
©efammtheit eine Art techitifcheit Senats bilbett. Unter ben nidjtftänbigen 2Rit=
gliebern finben wir hodjberiihmte Slawen, wie ben heruorvngeubcit ßhemi(er pro«
feffor §ofmann, ©eheimratt) SRonleattf, ©cheiiuratf) Dr. Siemens, ©h e f ber girma
Siemens u. $als(e, Profeffor ®crl nnb ©ehcimratl) SRebbing, toelche ju ben
erften Autoritäten int Perg< unb .£>üttcitfad| gehören, ben SRegierungSratl) fjtartig,
Profeffor am Polt)ted)ni(um ju XreSbcn, beffen Pcrbieitfte um bie Xejtilinbuftrie
nicht hrrborgel)oben ju werben branchen, u. a. nt. Xiefeu technifdhett Xecernenten
ift, ba fic bie äujierft jeitraubenbe Arbeit ber Porprüfung ber Patentgefuche nicht
allein bornchmett (öttitten, eine Anzahl bon jungen Ingenieuren ttttb Xedjnilem
beigegeben, welchen bic Pefchäftigung mit ben Patcittgefuchen bie befte Gelegenheit
jur (Erweiterung ihrer Seuntitiffe berfdjafft.
©üblich (onnte aus beit bewilligten bebeutenben SRittctn fowie batt( ber Pereit«
willigleit, mit welcher bie auSläubifdjen patcntbel)örben botlftänbige Sammlungen
ihrer mituuter äugerft umfangreichen publicationen*) bem Patentamt jur Per«
fügung ftetlen, eine gtofje Pibtiothel, Welche bie Arbeit ber Prüfung erft ermöglicht,
errichtet werben, bie bem publilttm jugänglich gemacht werben fott, fobalb baS Patent«
*) ®ie englifhe* 1 Patentfdjriften füllen mef|r als 2000 Pänbe.
28*
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436
Unfere ^eit.
amt in ben ©efifc eines paffenben ©runbftücfs gelangt, ©benfo foß bie umfaffenbe
unb tyodjintereffante SRobeßfammfung beS Patentamts beteinft fpftematifdj aufgefteflt
nnb ju einem ©ewerbemufeutn fich geftatten.
SBie erlangt man nun ein Patent? SBefdje Porfdjriften finb babei ju beobadj*
ten? SBie berfährt baS Patentamt ben ©efudjen gegenüber? 3)ie Söfung biefer
fragen bringt ber britte Sfbfchnitt beS PatentgefefceS.
®er Patentfudjer hat banad) junächft für eine mögtidjft genaue ©efchreibung
feiner ©rfinbung «Sorge ju tragen unb fidf 311 bergcgenWärtigen, bafj auf aflge»
meine EonftructionSprincipien u. bgl. fein Patent erteilt tbirb. SDtefbet 3 . 8 .
jemanb eine ®ampfntaf<hine ober eine ©udjbrucferprefTe fehlest weg an, fo toirb
fein ©efudj ficherfich abgetbiefen, inbem $ampfmafchinen tote ©chneßpreffen fängft
borffanben unb nicht neu finb. SS ift baffer erforbertic^, baff ber ©rfinber mög»
fidfft genau bejeichnet, Worin feine $>ampfmafchine ober feine ©udjbrucferprejfe
fidf) bon anbem unterfcfjeibet. ®icfe genaue Sormufirung beS ©efudjS Reifet in
ber ©efchäftSfpradje beS Patentamts: Patentanfpruch. $ie ©efchreibung muff ferner
bon Segnungen unb in mannen Satten bon einem ÜJiobefl begleitet fein.
5)aS ©efudj wanbert nun, fattS eS ben äu&erlidjen Sfnforberungeit entfpridft,
ju bem betreffenben ©ac^öerftänbigen, Wetter bie Prüfung auf fReuheit ber ©r=
finbung bornimmt, Saßt bie Prüfung günftig auS, fo betfügt baS Patentamt bie
Seröffentfidjung ber Stnmelbung nnb ber ©dfuj} tritt bon biefem Sfugenbficf ein.
Sie ©efchreibung nebft geieffnungeu wirb nun in einem baju eingerichteten ©aate
beS Patentamts öffentfidf) auSgelegt. 3 eher barf in biefelbe ©inficht nehmen; baS
Sfbfdfreiben, reff). Surdfpaufen ber Segnungen, ift aber unterfagt. 3 « biefem
Punfte unterfdjeibet ficj baS beutfdje Patentgcfefj bon ben auSfänbifdjen, bie baS
SfuSfegen nicht fenneit. Seiber hot biefe Einrichtung, welche etwaige ©infprüd)e
©etheifigter gegen bie ©rtheitung beS Patents erleichtern foß, ju argen SWiS*
brauchen Sfnfafj gegeben. @S entftanb bafb ein ©efdjtedjt bon „Patentmarbern",
beffen ©efdfäft eS ift, bie ©efdfreibungen burcfjjufehen, unb fobalb [ich etwas
©rauchbares finbet, bie ©rfinbung rafdj im eigenen [Ramen im SfuSfanbe anju»
nietben. 3« ben Wenigften Säßen erfährt ber ©rfinber biefe SRaniputation, unb
Wenn er auch ^enntnift babon erhält, fo fehlen ihm meift bie SJiittet, um im
SBege beS ProceffeS ben „Patcntmarber" ju entfärben, ©egen bie [Räuberei fann
ficj ber ©rfinber nur burdj gleichzeitige Sfnmefbung in aßen Sänbern, b. h- burch
einen in ber [Regel über feine SRittef gehenben Sfufwanb fdfüfcen.
©rhebt niemanb binnen acht SBocffen gegen baS Patent ©infprudj, fo finbet
eine nachmafige Prüfung beS ©efucfjs ftatt, Worauf bann bie Patenturfunbe auS=
gefteßt unb bem ©rfinber übermittelt Wirb.
3m Säße eines ©infprudjs berfährt bagegen baS Patentamt nach ben ©runb»
fäfcen ber ©ibifprocefjorbnung. ©S werben bie Parteien unb ebentueß Sengen,
©adjberftänbige borgefaben, unb nach Anhörung berfefben wirb ber ©infpruch
entweber für begrünbet gejaften, in weichem Säße bie Sfnmefbung afs nicht ge»
fejejen ju betrachten ift, ober jurüefgewiefen.
3Rit ber ©rtheitung beS Patents enben übrigens bie fSnffrlidjfeiten beS ©r=
finberS Ibisweifen noch nicht. @S ift nämfich jeberntann befugt, bie Einfettung
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Das beutfdje Patentoefen.
^3?
beS ©erfahrenS auf SRichtigfeit ju beantragen unb fogar oon bet ©ntfcheibung beS
Patentamt« an baS ^Reichsgericht ju appeßiren. ©rwerber oon patenten tljun
ba^er gut, wenn fte bei Äbfdjlufj beS SfaufoertrageS baS XamolteSfchWert ber
Sftichtigteit in ©erechnung jietjen.
BBetche Sterte erwadjfen nun bem ©rfinber aus feinem patent? @r befifct auf
©tunb ber oom Patentamte auSgefteßtcn Urfunbe baS auSfdjtiefjtidje 9tecf)t, ben
barin angegebenen ©egenftanb gewerbntäfjig Ijetjufteßen, ju berfaufeu ober burdfj
anbere feitbieten ju taffen, unb barf bie bon if»m hergefteflten SEBaaren mit ber
SBejeidfjnung „XeutfcheS 9teichS=Patent" ober abgefür^t „D. R. P." terfehen. SBer
wijfenttich patcntirte ©egenftänbe nachmacht unb feitbietet, berfäßt auf Antrag bes
©efdjäbigten in eine ©etbftrafe bis $u 5000 BJZarf ober in eine ©efängnifjftrafe
bis ju einem Sah«- ®iefe ©etbftrafe erfcheint in mannen gäßen, wo äufjerft
mistige ffirfinbungen, Wie baS 2^omaS»©itd^rifffc^e ©ifen=@ntphoSphorungSter=
fahren, in ©etractjt fommen, }u niebrig. greitich !ann bem ©rfinber auf bem
©ioitwege eine ©ntfchäbigung jugefprochen werben. ©S biirfte aber, nach bem
©taube unferer ©efefcgebung, bem Patentinhaber ferner werben, bie 4?öt>e bes
ihm erwadhfeneu ©dtjabenS juriftifch feftgufteßen, nnb bie StuSfictjt auf eine cioit*
restliche ©ntfdhäbigung erfcheint baher ats ein Xrugbitb.
©eftraft wirb gteichfaßs, wer nicht patentirte ©egenftänbe mit bet ©ejeicljnung
„D. R. P." ober „Patent" terfieljt ober biefe ©ejeichnungen in öffentlichen 2tn=
5 eigen jur Stitpreifung feiner SBaare anWenbet.
2 Bir berührten oben bie oon ben Patentinhabern ju jahtenben ©ebühten unb
wiefen nach, ba| biefetben, weit erft mit ben fahren fteigenb, feineSwegS ats ju
hoch anjufehen finb. ©inen ©runb jur ©efdjwerbe über bie §öhe biefer ©ebühren
hätte baS theitnahmSwürbige ©öttdhen ber ©rfinbet aßerbingS, fafls es fi<h h erau ^ s
fteßte, baß baS Patentamt nach «in fiScatifchen ©efid&tspunften oerfährt unb ats
eine ©teuerqueße betrachtet wirb. X)ieS ift aber im ©egenfafce jn ©ngtanb unb
grantreich nicht ber gaß. Slbgefehen ton bem ©teigen ber Soften für ©efotbnngen
unb BRiethe, terwenbet baS Patentamt einen fehr bebeutenben E£t}eit feiner @iit=
nähme auf bie Xrudtegung unb Verausgabe ber fogenannten „patentfehriften",
b. h- ber toßftänbigen ©efctjreibungen ber patentirten Srfinbungen nebft ben baju=
gehörigen 3eichnungen. 2BaS Photographie, ©ah unb ®rucf oon jährlich etwa
4000 ©ogen, refp. 8—10000 Xafetn, toften, oermag auch ber Saie leicht ju be=
rechnen. Swar werben bie Patentfehriften oertauft, ber Stbfah bt-eft aber bie
VerfteßungSfoften lange nicht, unb eS finb als Sufchujj auf biefen Xitel für baS
Saht 1881/82 180000 ÜDZart in SluSgabe gefteßt, Wobei bie beträchtlichen Stuf-
wenbungen für bie SRebaction ber patentfehriften unter einem anbern Xitel figuriren.
Xtiefer Stufwanb rührt jum gröjjern Xheit baoon her, bah bie meiften ©efdhreibungen
nidht im bruetfähigen guftanbe eintaufen. ©S muh nie! baran hernmeurirt werben,
ehe fie präfentabet finb, unb bieS gilt oon ben aus Xeutfdjtanb fontmenben
©efchreibungen fowot wie ton ben aus fremben ©praßen überfefcten.
©inen beträchtlichen rebactioneßen Stufwanb bebingt ferner baS oom Patentamt
herausgegebene „Patentbtätt". Xaffetbe bringt fämmttidhe ©erfügungen unb @nt=
fcheibungen beS Patentamts fowie beS SJteichSgerichtS in Patentfachen, bie bemerfenS*
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438
Unfere <3eit.
Wertteil ©ntfcheibungen bet auSlänbifcheit Senate, audf&^rlic^e 9?ac^ric^ten über
baS patenttoefen in ber ganzen SEBelt, enbtich, allein in ©uropa, Auszüge au« ben Se»
fcfjreibungen ber patente fowie au« ben 3fi<hnungen. SJtit £>ülfe beS „Patentblatt"
fann fich jebermann leicht über bie gortf dritte in feinem gache unterrichten unb eben»
tueö banacfj bie ißatentf<hrift felbft, b. £j. bie ausführliche ©efchreibung, beftelleu.
Die bi«h« ausgegebenen ettva 17UOO Patentschriften bilben eine ftattliche
©ibliothef, unb eS macht beren AuSftattung, befonberS nenn fie mit berienigen ber
englifchen unb amerifanifchen Patentfdjriften in parallele gefieOt wirb, ber SteidjS*
brucferei alle ©hre. SWuftergültig ift gleichfalls ber bon ber Sittenfelb’fchen Drurferei
in ©erlin beforgte DrucI beS „patentblatt".
gür eine auSgebeljnte Publicität ber Patente unb mittelbar für bie ©rfinber
forgt bas Patentamt überbieS baburch, bafj bie technifchen Schulen, mehrere ©c=
werbebereine unb £>anbelslammern fowie bie ©ejirtSbereine beutfdhcr Ingenieure
je ein ©jemplar ber Patentfdjriften unter ber ©ebingung öffentlicher Auslegung
unentgeltlich erhalten. Auch erhalten bie auswärtigen Patentämter je ein bis brei
©jremplare ber ©ublicationen beS Patentamts.
Die 8«h^ ber auf biefe SBeife bertheilten Sfemplare beträgt 64, welche einen
©erfaufswertlj bon jährlich etwa 150000 üölarf repräfentiren! Noblesse obligc.
®S erübrigt noch au f baS beutfche PatentWefen, Wie eS fich auf ©runbtage
ber neuen ©efefcgebung geftaltet hot, einen ©lief ju werfen.
©ei Ausarbeitung beS patentgefefceS machte fich ’ n SRegierungSfreifen bie An»
ficht geltenb, ba& bie ©ntwicfelung beS PatentmefenS fich > n mäßigen ©rennen
halten würbe. 3Man rechnete auf höchftenS 2000 Patente jährlich, unb eS würben
bie ©inridjtungeit beS Patentamts nach biefem 3Rafjftabe bemejfen. ©alb geigte
eS fich aber, baß bie burd) baS Patentgefefc h eröor fl eru f enc ©ewegung gewaltig
unterfdjäfet Worben war. ©S Würben nämlich fingereicht: im ^weiten Halbjahre
1877 3212 ©efuthe, im 3aljrc l 878 5882 ©efuche, im Sahre 1879 6659 ®c=
fuche, in ben fahren 1880 unb 1881 be^iehungSWeife 7052 unb 7177 @e=
fuche, alfo weit mehr als baS Doppelte ber üeranfdjlagten 3«hl- ©on biefen
30082 ©efnehen würben infolge ber fehr ftrengen ©orprüfung beS Patentamts,
wegen mangelnber Steilheit ober aus fouftigen ©rünben, noch oor ber öffentlichen
Auslegung nicht weniger als 9081 abgewiejen, währenb bie Auslegung unb fol*
genbe erneuerte Prüfung noch weitere 1208 Patcutanmelbungen ju gälte brachte.
®S oerblieben foniit 19793 erfolgreiche ©efuche, alfo nur etwa jwei Drittel, ein
©erljältnifi, wie eS fich aU( h * n ben ©ereinigten Staaten meift herauSftellt.
Diefe 3 0 hl e » gewinnen aber erft ©ebeutung, Wenn wir fie ber Statiftif beS
älteften PatentlanbeS, beS getocrbfleifjigen ©rofjbritaunien, gegeuüberftellen, wo
eine ©orprüfung nicht ftattfinbet unb meift einzig unb allein bie 3ahlwng ber
©ebühren über baS Sdjicffat einer Anmelbung entfeheibet. ©rtljeilt würben in
©nglanb im 3ah rc l 879 5338 Patente, Währenb baS beutfche Patentamt in bem»
felben 3fitiaume 6G59 ©efuche empfing. Danach h fl t Deutfchlanb in ©ejug auf
bie 3<*hl ber ©rfinbungen ©nglanb bereits überholt. SJlit ben ©ereinigten Staaten
aber fönnen Wir uns nicht meffen. ©ei atlerbingS nach beutfdjen Segriffen ju
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Das beutfcfje patentmefen.
medjanifcher Prüfung erteilte baS wafhingtoner Patentamt im 3ah t£ 1879, nach
216 jug ber btojjen ©rneuerungen, nicht weniger als 11201 patente! Unb babei
war baS 3 a h r fein befonberS gefegneteS: es hot fdfjon 3a^re mit mehr als
15000 patenten gegeben! 3n Sranfreich fchwanft bie jährliche Safjt jWifchen 7000
unb 8000. ©eil aber bort, tote oben bemerlt, alles patentirt wirb, Was jur 2tn*
melbung gelangt, wobei bie ©ebühren fehr niebrig finb, fo geben biefe Sol)!*« leinen
2tnljalt für bie wirtliche erfhtberifdje Xhätigleit bei unfern Weftlichen JRadjbarn.
2 Bie »erteilen fid^ nun bie bisher erteilten etwa 10000 beutfcfjen patente
nach ben ö ergebenen SnbuftriejWeigen einerfeits, nach bem SBohttfij} ber ©rfinber
anbererfeits? darüber gibt ein an ben SReicljSlanjler erftatteter, öon fimtreidjen
graphifdhen S)arfteHungen begleiteter Seriell beS Patentamts bie genauefte 2tuSfunft.
Sei Weitem bie meiften Patente entfallen auf bie umfangreidEjen klaffen ber
$auSgeräthe (SDtöbel, S üchengeräthe u. f. w.) unb ber matliematifcfjen unb optifchen
Snftrumente, SRefjwerljeuge u. bgl. ®ann folgt bie Klaffe beS ©ifenbahnwefenS,
Weldje houptfädhlicfj SetriebSeinriOrtungen aufweift, unb bie nicf)t minber reiche
faltigen Staffen ber HJiafc^inent^eile, ber Verfahren jur Verarbeitung ber SRetaHe,
ber Verbefferungen ber 2)antpfmafchine, unb ber lanbrnirthfctjaftlichen ©erät^e: ein
PeweiS, baf} auch ber SldEerbau immer mehr bas Pebürfnifs empfinbet, bie ber»
alteten fianbculturarten burdj mafdjinelle ju erfefcen.
Verhältnifimäfjig jaljtreidj oertreten finb ferner bie ©ruppen: SurjWaaren,
Sdjlofferei, SSerljeuge, #eijung unb Seteudjtung, VIeicherei, Spinnerei unb
SBeberei, enblicf) Siet unb Sdjanlgeräthe. 2Randfje ^nbuftrie^loeige fcheinen ^in*
gegen entweber bie ^öt^ft mögliche Stufe erreicht ju hoben ober ber Verfumpfung
anheimgefatlen ju fein. So bie ©erberei, bie Seilerei unb Korbflechterei, wäfjrenb
bie fehr geringe 3ohl öon Patenten auf pf)otograpf)ifcf)eS Verfahren fidfj aus bem
2IuSfd^lu| ber dfjemifchen ©ntbedungen aus ber SReipe ber patentfähigen ©egenftänbe
genügenb erllären bürfte.
Sehrreicher noch ift bie graphifche SJarfteKuug ber Verleitung ber patente
nach ben UrfprungSgebieten. S)er Söwenantheil an ber 3«h* bet beutfehen Patente
gebührt ber ^auptftabt, Wo im Sahre 1878 auf je 100000 ©inWohner 63 Patente
famen, unb wie faft überall im 2)eutfd)en Reiche bie auf ÜDtafchinen, Sßertjeuge
unb 2tpparate bezüglichen Patente bei weitem überwogen. @S folgen bann #am*
bürg unb Premen, baS Königreich Sachfen, Stljeinlanb unb SBeftfalen, Praun»
fchweig, 2lnholt, SReufj, Sübed unb $effen»5Raffau mit mehr als 10 Patenten auf
je 100000 ©inWohner. $n ben übrigen beutfehen Staaten unb preufjifchen Pro»
oinjen wirb biefer Safe nicht erreicht. 2>ie wenigften ©rfinber weifen bie Prooinj
Pommern, Saiero unb Dlbenburg mit je 3,i Patente auf je 100000 ©inWohner
auf, wobei ju bemerlen ift, bafs bie meiften bairifchen Patente auf bie gcWerbreidhe
Pfalj entfallen.
®aS 21uSlanb ift an ber 3“hl bet Patente mit etwa einem Viertel ber
©efammtfumme betheiligt, ©ine größere abfolute unb relatibe 3«hl öon patent»
anmelbungen lieferten nur ©nglanb, jjranlreich, bie Vereinigten Staaten, Defter»
reidj-Ungarn unb bie Schweif. $>ie Setheiligungen ber übrigen Staaten ift eine
äufjerft fdhwache. Sujemburg, ^Rumänien, Portugal unb bie liirfei figuriren gar
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Hrtfcrc 3 e ü-
W
in ben Siften mit nur je einem ißatent. Stuffatlenb ift bie berhättnißmäßig geringe
3ahl bon ©efuchen au« ben bereinigten (Staaten. 2>ie meiften rühren non Äctien*
gefeHfdhaften unb oon bem unoermeiblidhen Ebifon ^er.
3um Schluß biefe« Seridfjt« Aber bie Entwidelung be« ißatentwefen« in
Xeutfdfjlanb fei e« um» geftattet, auf jtoei Sßuntte ^injumeifen, bie oon ben Seich«»
beerben bildet nicht genügenb berüdfidjtigt werben tonnten.
5>er erfte ißuntt betrifft bie Sefdjaffung eine« entfpredjenben SßatentamtSgebäube«
mit auSgebeljnten unb toürbigen bäumen jur Stufftettung ber bem Sßublitum bi«»
her unzugänglichen, ja^treid^en SSobelte neuer Erfinbungen. $n SBafhington ift
ein beträchtlicher X^eit be« totoffaten Sßatent Office biefem 3»ede gemibmet, unb e«
tann fid) jeber mit #ütfe biefer Sammlung »eit teiltet at« burch ba« Stubinm
ber 3eid(inungen über bie gortfchritte ber gnbuftrie orientiren. E« leuchtet ein,
baß ein in S3ertin, bem äRittelpuntte be« beutfdhen ©ewerbfleiße«, errichtete«
Sßatentmufeum bem ©ewerbtreibenben noch größere Xienfte teiften tönnte at« bie
Sammlung in ber ©eamtenftabt SBafhington, befonber« wenn eine 2(rt Prüfung«»
ftation bamit oerbunben »erben tönnte. 2)a« Sebürfniß nach befferer 93eranfchau»
tichung ber Erfinbungen ift ein fo allgemein gefühlte«, baß in Ermangelung ber
Segierung«initiatibe Sßribatträfte fidh in biefer Sichtung p regen beginnen, unb
bie ißatentauöfteDung in grantfurt a. SW. fidh be« regftcn 3ufpruch« erfreute.
SSöge bie Segierung biefen gingerjeig beherzigen!
®er jrneite Sßuntt ift bie SSerfchmeljung be« 5ßatent»efen« mit bem eugoer»
»aubten SWufter = unb SSartenfchufc. gn Eitglanb unb ben bereinigten Staaten
ift e« läitgft anertannt, baß biefe S3er»attung«z»eige untrennbar oerbunben finb
unb baß bie 3erfplitterung auf biefem ©ebiete nur fchäbtich »irtt. 3« bemfetben
Sinne f^rach ftch ber Sßarifer Kongreß für ba« gemerbtiihe Eigentum unter be»
fonbcrer ^erbortjebung ber 9Wi«ftänbe au«, bie fich barau« ergeben, baß ein
gabrifant, »etdher fich über bie beponirten Stufter unb Starten orientiren »iß,
in grantreich »ie im Xeutfdjen Seiche nicht Weiß, »ohin er fidh 3 U »enben h“t,
unb Oon tßontiu« ju Sßitatu« läuft, meift ohne fein 3»t p erreichen, $ier
namentlich, »o jebes! ©eridht Slnmelbungen üon SSuftern unb Starten entgegen»
nimmt, überleitet bie Berfptitterung alte ©renjeu. SBir hoben nicht« bagegen,
baß jur Erleichterung be« Sßubtifum« zahlreiche Stnmetbeftelten errichtet »erben,
unb mödhten fogar biefe Stnmelbeftetten mit ber Empfangnahme oon Sßatentgefnchen
betrauen.*) ®ie eingereichten SDtarfen unb Stufter müffen aber centratifirt unb
Zu jebetmann« Einficht au«getegt »erben, unb fotange e« nicht gefdjehen, wirb
bie betreffenbe ©efefcgebung ein Stüd»erf bteiben. SDtit anbern SBorten: SBir
ttiinfehen bie Errichtung eine« Scict)«amt« für gewerbliche« Eigenthum, entweber
at« felbftänbigen 3w>eig ber Seidh«oer»attung ober at« eine Stbtheitung be« mehr*
fach iw Stu«ß<ht geftettten Seidh«»§anbet«amt«.
*) Sn grantreich nimmt jebe ißräfectur ißatcntanmelbungen entgegen.
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Cfjarles UraMaußf).
©ine biogtapfiifde ©!ijjc
ßon
Cwpolb fiatfdjer.
Sergebtid fuc^t man bisher ben -Kamen Srablaugfi’S in ben ©onberfationS=ßejiciS
granfreid^ ober $eutfdfanbS, matjrfdeintid weit er eine außerengtifde 93erüljmt=
tjeit erft feit furjer ^eit ertoorben tjat. Unb bodj ift er bebeutettb, nidt fo fef)r
alä Stutor ober ®enfer, wie bietmeljr atS ÜJtenfcf); er t)«t burd bie SBiffenSftärle,
bie b«S ^auptmerfmat feines EtjaratterS ift, SBunber gemirft, nic^t nur für feine
eigene ßaufbajjn, fonbern aud für fein ßanb unb fein SSotf im offgemeinen unb
für feine Ülnfidjten im befonbent. SBürbe eS fid ft^on bermöge ber großen 9tofle,
bie er in ber geiftigen SBemegung ©ngtanbS feit einem SBierteljaljrljunbert fpiett,
tonnen, 9täf)ereS über itjn ju erfahren, fo tritt baju nod ber für feine Siograptien
feljt günftige Umftonb, baß Srablauglj’S ßebenStauf ein ungemein intereffonter,
abenteuerli^er, wedfetboffer unb letjrreider ift. ®em auswärtigen ßefer bürfte
eine ©rjätjtung biefeS ßebenStaufeS gerabe gegenwärtig um fo toifffommener fein,
atS ©rablauglj feit anberdatb Satiren infolge feiner Sümpfe jur Erlangung feine«
^ßarlamentSfifceS unb jur äBatjrung ber berfaffungSmäßigen fftedte ber SBätjter*
fdoft ©ngtanbS aüentt)alben großes Sluffetjen erregt.
Srabtaugf) erbtiefte ben SKebel ßonbonS juerft am 26. ©ept. 1833 in ber
Sorftabt $ojton, t)at atfo fein 48. ßebenSjaljr hinter fid- ©«in in ärmtiden 5Ser=
Ijältniffen tebenber SJater — er mar mätjrenb beS größten IfjeitS feines ßebetts
mit feljr geringer Söejaljtung bei einem SftedtSanWatt in ber Sitp atS ©dreiber
angeftefft — lonnte dn nidt ftubiren taffen; Startes befudte nur Sotfsfduten, unb
mußte in feinem 11. Satire, atS feine „StuSbitbung" ein ©nbe natjm, nidt biet
metjr als ßefen, ©dteiben unb fftednen. SBaS er feittjer gelernt, t)at er fid aus*
fdtießtid atS Ütutobibatt angeeignet, unb er f)at erftauntid biet gelernt! SttS
Sinb liebte er eS feljr, ju fpieten. ©eine erfte Sefdäftigung mit ber ißotiti!
beftanb barin, baß er als jetjnfäfiriger Snabe ein SBerf ©obbetfs taS, unb feine
erfte potitifde „£fjat" mar, baß er nad langem 3ögem unb 3ag«n hier Pfennige
feines SeSperbrotgetbeS auf ben Slntauf eines ©jemptarS ber „Charta" beS in
ben bierjiger S<d*«n beftanbenen ©IjartiftenbunbeS bermanbte. 5)ie ßeltüre biefeS
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Unfere ^eit.
^2
gerichtlich berühmt geworbenen Document« machte jebod) auf ben jungen ©rab*
faugl) fo wenig (Stnbrucf, bafj er ohne weitere« jn feinen Spielen jurüdtehrte.
Am liebften fpielte er mit $itffe oon fßapierpuppen Xheater, ober er oeranftaltete
SDtilitärgefechte. Da äinufolbaten für ihn ju foftfpielig waren, fammette er alle
alten Stahtfebern, beren er habhaft werben fonnte, unb ftecfte fie aufrecht in einen
£oljtif<h; bie größern fteöten bie ©abalerie, bie fleinern bie Infanterie, ©apier*
fnäulchen bie ftänoneuhtgeln oor.
Doch burfte er fich biefen linblichen ©efchäftigungeit nicht attju lange Ijingeben;
benn fc^ou in feinem 12. Saljre trat au il)n bie Aufgabe ^eran, fich fein ©rot
ju oerbienen, Bunächft würbe er ßaufburfcfje bei bem Principal feine« ©ater«.
3wei Sahre fpäter rüdte er jum Schreiber unb Saffirer eine« ftoßlengefchäft« oor.
Die Sieben, bie et auf ben ©Ijartiftenmeeting«, benen er beiwohnte, bürte, riefen
in ißm bie ©rfenutniß feiner eigenen Unwiffen^cit mach, unb biefe ©rfenntniß
oeranlaßte ihn, in feinen freien Stunben emftg ju lefen unb ju lernen. 3n reli=
giöfer $infi<ht war er ein fleißiger fiirchenbefncher unb fo fromm, baß man ihn
jum Sonntagsfcljullehrer machte. @r hätte fi<b wahrfcheintich ul« eifriger ©hrift
weiter entwicfelt, würbe nicht ber ganati«mu« eine« ©eifttichen feinem Seben eine
ganj anberc SBenbung gegeben haben. Der ©ifchof oon Sonbon foQte in bem
betreffenben Stabttljeil eine Konfirmation üornehmen, unb be« jungen ©rablaugh
Seelenhirt, ein gewiffer 2Kr. ©oder, beauftragte ihn, fich jur ©rtheilung Oon
Antworten auf bie mutmaßlichen gragen be« ©ifchof« üorjubereiten. So oer*
legte er fich auf ba« Stubium ber 39 anglilanifchen @lauben«artilel unb ber
©oangeliett. Da ihm SBiberfprüdje auffielen, bat er ©ader fchriftlich um $ülfe
in ber Ueberwiitbung biefer Schwierigsten. Statt bie gewünfd^te Aufflärung $u
geben, enthob ber Pfarrer ben Sriefftelter feine« Sehramte« unb melbete beffen
Steltern, ihr Sohn fei atheiftifd) beanlagt. Der junge Diger hatte ©lut gefoftet;
währenb ber brei äJlonate, auf bie er urfprünglich oon ber Sonntagöfdjjule fu«=
penbirt war, weigerte er fich, * n bie Äirche ju gehen, unb er begann, feine Sonn»
tage faft au«fchtießlich auf ©oll«berfammlungen ju oerbringen, wo er fich mit
jugenblichem geuereifer an ben 9teligion«bebatten betheiligte. Anfänglich bertrat
er ben orthoboj schriftlichen Stanbpunft, fpäter fpractj er in beiftifdhem Sinne.
Allmählich jwangen ihn feine Denlübungen, einen ©laubenSpunlt nach bem anbern
aufjugeben; nach einer öffentlichen Di«cuffion mit bem greibenler Saoage be»
fannte er fich al« gefchlagen unb trat bcfinitio in« Säger bet greibenler über.
Schließlich Würbe er auch noch ein fogenannter Deetotatter.*)
^ierburch würbe er bem 2Jtr. ©ader ootlenb« ein Dorn im Auge, unb biefer
chrwürbige £>err ftiftete im ©inbernehmen mit ©rablaugh sen - üen ©Ijef ®harte«’ an,
biefem ju fagen, er müffe, wenn er nicht feine Stelle oerlieren wolle, binnen brei
*) @o nennt man jemanb, ber fich mit äSort unb $anbfd)Iag berpflichtet, abfolut lei»
nerlei geiftige« ©eträctf jn fich i u nehmen. Die jahlreidje Anhänger befipenbe DeetotaHer»
Bewegung ift ein (ärgebiiijj be« Müdfchlage« gegen bie in Snglanb belanntlich in hohem
©rabe betrfdjenbe Drunffucht. Da« SBort „Teetotaller" fönnte man etwa mit ,,@nt»
hattfamfeitter" überfcpen.
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Charles SraMaugf?.
lagen feine Slnfdjauungen mibetrufen. 3« tefctereg p tljun, pg ber arme
ftnabe eg Oor, feinen ©rothcrrn unb fein Sletternhaug freimütig p bertaffen unb
fich in ben ©trübet ber tjarttjerjigen SEßett p ftfirjen. ©ein gaitjeg ©ermögen
beftanb au3 beit Kleibern, bie er auf bem Seite hotte. SBag beginnen? ©tfid*
tidjermeife ^atte er fi<fj ate ©otfgrebner in ©hartiftenfreifeit bereite einigermaßen
betannt gemalt, unb er manbte fid> jefct an einen Herrn goneg, bon bem er
mußte, baß er feine Stnfidjten tticite. Obgleich fetber arm, gemährte goneg ihm
auf eine SBodje ©aftfreunbfchaft. ©obann roottte er Sohtenagent merbett. ®a er
jebodj ganj unbemittelt mar unb bie Soßte baher nicht taufen tonnte, mußte er
bott feinen Äunbett bag ©etb im oorhinein bertangen, mag natürlich nicht jeber*
mann paßte. ®eniiod) hätte er Heine ©efdjäfte inanen föunen, märett ißm nicht
intolerante $)enuncianten fü«berlich in ben SBeg getreten, ©eine ^anpttnnbe,
eine gutmütige ©aderin, att bereu Stufträgen er mödietttlidj 10 ©f). berbiente,
mottte nickte mehr bon ifjm miffen, ate fie burdi einen anonymen ©rief erfuhr,
er fei Sttheift, unb er, pr Siebe geftettt, ehrlich genug mar, ei nicht p leugnen.
Stach bem Slbfalt ber ©äderin mußte er ben Sohletthattbel aufgeben, unb er Oer*
fuchte nun, Slgetit für bodteberue ^ofenträger p merben. 3)et mohtmottenbe
gabrüaitt gab ihm jebett SJtorgen beim Slbholen ber SRufter ein grütjftüd, jebeit
Slbenb beim 3«*üdbringen berfetben ein ©egperbrot; ba er fortmäbrenb fah, baß
©rabtaugb faft ttichte bertanfeit tonnte, biente bie SBaare ihm offenbar nur at£
ein ©ormanb, unter bem er ein Opfer retigiöfer Unbulbfamfeit auf prte SBeife
unterftüfcte.
SBäljrenb biefer gefchäftticheu ©iperimetite mohnte ber junge Sita tut bei ber
SBitme beg befattnten greibenterg SRid^arb ©arlite. gf) ter große« Slrmuth h°lber
bitbete Steig bie Hauptnahrung biefer gamitie; nur an ben Xagen, ba ber fron»
jöfifdje Sprachlehrer, ein bemittelter ©tjitanthrop, tarn, um unentgeltlich p unter*
richten, gab eg gteifd), bag biefer, unter bem ©ortoanbe, baß er fief» ungebeten
pm ©peifen eintub, aug ©igenent bephtte. 2t« ben Stbenben unb ©ountagg
betheitigte ©harteg fich an öffentlichen ©erfammtungen unb Sletigiongbebatten; alg
Siebner erfreute er fich fo großer Slnerfennnng, baß er batb bie ©etanntfdjaft her*
Dorragenber greibenter machte, bie ihn in ihren ©reßorgaiten tobten unb ihm pr
©eröffentlidjung feiner erften ©rofdjiire: „©inige SBorte über ben chriftticheit
©tauben" (1850), Oerhalfen, bie oon Herifaten ©tätteru heftig getabett mürbe.
Stuch ftubirte er grattpfifch, ^»ebräifc^ unb ©riethifth/ «nb bei attebem fanb er
noch 3«*/ fich i« eine ber löcßter ber grau ßartite p oertiebeu; ba er jeboch
blutjung, fdjüchtcrn unb tintifch mar, feufjte er begreiftichermeife Ocrgeblid).
©ine Sieihe Oon greibettfern, betten feine ©egabung auffiet unb bie ihn megen
feiner Sloth bemitteibeten, oeranftaltete unter fich eine ©ubfeription für iß«. S)ag
bemirfte, baß er fich feiner Strmuth fdjämte unb befdjloß, feiner abhängigen Sage
um jeben ©reig ein ©nbe 31t machen. Stm meiften briidte ihtt ber tlmftanb, baß
er einigen greunben inggefammt 4 3 / 4 ©fb. ©t. feßutbig mar, eine Summe, bie
ißn riefig bünfte unb bie er gern abgepßtt hätte. ©0 entfernte er fich benn
eineg SKorgeng, ohne oon irgenbmern Slbfihieb p nehmen, unb ließ fid) für ein
nach Oftinbien birigirteg Stegiment anmerben. infolge eineg Serfeljeng mürbe er
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Unfere ^eit.
W
{ebodj in ba! für Srtanb beftimmte 7. Sragonerregimettt eingereiht. äRit bcm
|)anbgelbe, ba! er all Beirut erhielt, enttebigte er fic^ alter ©djutben. ©eine
©otbatentaufbahn tonnte er mit bent ©emußtfein antreten, fich um [einer ehrlichen
Ueberjeugungen mitten große (Entbehrungen aufertegt ju hoben. Sie gurcht not
einem harten ©chicffat hatte ihn, unb hat ihn auch [eitler nicht bemogen, feine
Stnfichten ju miberrufen ober $u oerteugnen. Er mar f<hon bamat! ein geinb
ber Heuchelei; er lehnte e! ab, ben ERantel nach bem SBinbe ju brehen. Dh ne
Kücfficht auf feine bebrohte materielle Ejiftenj hatte er fi<h bem greibenfertljum
in bie Strme gemorfen, unb bie! traten ju jener 3eit nur SDtenfchen, bie ihr
Pflichtgefühl unmiberftehtidj baju brängte; mit biefem unbeliebten ©trom ju
fchmimmen, beburfte el einer gerabeju heroifdjen ©elbfttofigfeit, namentlich für
einen armen gungen, ber um fein tägliche! ©rot beforgt ift.
Stil ©otbat erregte er burch feine Äenntniffe, feinen 2Ruth, feine ©runbfäfce
unb fein ©etragen Erftaunen, unb ermarb fidf bie Zuneigung feiner Äameraben
fomot all auch feiner ©orgefefcten, Dom Keitmeifter bi! jum Dberften. Er tarn
mieberhott in bie Sage, feinem Regiment bernerfensmertlje Sienfte ju teiften.
Er führte ben ©pifcnamen „©tätter", erften! meil er oiet tal, jtoeiten! toeil er
nie ein anbere! anrcgenbel ©etränf nahm all ben Slbguß oon X^eebtättem.
©otange er ber ftrengen mititärifdjen Silciptin untermorfen, b. h- jum Ejercireit,
Seiten unb gelten gejmungen mar, miberftrebten ihm biefe Uebungen unb gingen
ihm nicht recht tmn ftatten; at! er aber jum Drbonnanjbeamten üorrücfte, mürbe
er ein trefflicher gelter, SReiter unb ©chüfce; bie Unabljängigfeitötiebe mar eben
immer eine feiner herüorftcchenbften Eigenfcfjaften. ©on feinem ÜDfutlj jeugen jaht=
reiche 3üge. Stt! ihn im SInfange feiner mititärifdjen Saufbahn feine Äameraben
megen feiner, burch Entbehrungen hetoorgebrachten ©djmädjtidjfeit Oerfpotteten,
tooflte er ihnen bemeifen, baff er trofcbem ba! Kaufen nicht fürchte, unb ließ fich
batjer in eineu Kampf mit einem ber beften ©ojer ein; obgleich ih m öon ben
erhaltenen ©flögen ber ganje Körper fdjrecftich fchmerjte, ergab er fich nicht,
fonbern hielt el fo lange au!, bi! fich ju feinem Erftaunen ber ©egner für befiegt
erftärte. Sit! ein ©eifttidjer einmal Oon ber Kanjet herab behauptete, bie bem
©otte!bienft beimohnenben ©otbaten mürben feine ©rebigt getoiß nicht Oerfteßen,
fchrieb ©rabtaugh ihnt einen ©rief, morin er nicht nur jeigte, baß er bie ©rebigt
Ooßfommen berftanben, fonbern in berfetben auch eine Steiße oon thatfächticheu
Unrichtigfeiten unb untogifcfjen ©ehauptungen nadjmie!, moburch er fich freilich
beinahe große Unannehmtichfeiten jugejogen hätte. Stt! ein reifer ©runbbefifcer
eigen! ein Sh or erbauen ließ, um einen ihm gehörigen gußpfab ber ©enufcung
burch ©auern unb ©otbaten ju entziehen, erftärte ber gefefcelfunbige ©rabtaugh
biefen ©organg für ungefefetidj, riß im Serein mit einer ©ruppe oon ©otbaten
unb ©auern ba! Ihor nieber unb fchrieb, um bem SRanne ©etegenheit ju bieten,
ihn ju oerflagen, auf einen ©teilt: „Kiebergeriffen üon ©harte! ©rabtaugh, Kr. 52,
7. Sragonerregiment." Sa ber ©runbbefifcer mußte, ber ©emeine habe ba! ©efefc
auf feiner ©eite, magte er e! nicht, gegen ihn aufjutreten. Sßenn, toa! hier unb
ba oorfam, ber §auptmaun ihm bie Ertaubniß, einem £eetotafler»2Reeting beiju=
mohnen, oermeigerte, befugte er baffetbe bennoch unb metbete fich bann jur ©träfe;
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Charles Braölaugfy.
W5
liebet erbulbete er biefe, als baß et eine ©etegenlfeit borbeigel)en ließ, in öffent*
ticljen Serfammlungen gegen bie Unmäßigfeit ju fpredfen. Studj innerhalb bet
fiaferne Ijielt er oft Sorträge in biefem Sinne.
Saft btei 3a^te biente et in 3tlanb, unb et berfetylte nidjt, fidj eine grünb=
ließe Senntniß bet irifcßen Suftänbe anjueignen, woraus ein tiefes SERitgefüßl für
bie teibenben Sinber ©rinS entfprang. Sw Saß« 1853 ftarb fein Sater unb im
Sommer beffetben Sa^teS erbte et oon einer Xante einen Keinen Setrag, mit bent
et fid) bom 9Wititär loSfaufte, Worauf er, mit einem glänjenben Xienftjeugniß
berfefien, fofort nach Sonbon jurüdfeßrte, um feinet SRutter bie UtaßrungSforgen
ju erteiltem. 2lnfängticß Wollte es ißm tro| ber angeftrengteften Semüßungen
ni<ßt gelingen, Slrbeit ju finben. 31 uf feiner Sucße nacß Sefcßäftigung fpradß et
enblicß bei bem SReeßtSanWalt JRogetS bot; aucß biefet ßatte feine ScßreiberfteHe
ju bergebeit, unb Srablaugß wanbte fiel) bereits jum ©eßen, als SRogerS bie Se=
metfung t(inwarf: „S<ß braune einen Sauf6urfcßen; bietleidßt fönnen Sie mir
einen empfehlen." 2luf Srabtaugß’S Stage nacß ber £>öße beS ©eßatteS antwor»
tete SRogerS: „SBöcßentlicß 10 Sß.", Worauf ber meljr als jwanjigjäßrige, baum=
lange Süngling feßlagfertig fagte: „Xann möchte tcß bie Stelle felber anneßmen."
X)ieS gefeßaß, unb um fein ©infommen ju bergrößem, führte er an einigen 3lben=
ben ber Sföoc^e bie Silber eines SaubereinS.
Sei SlogerS foHte er nießt lange Saufburfcße bleiben. @r erweiterte feine
juribifeßen Äenntniffe in fo ßoßern ©rabe, baß fein ßßef ißm feßon nacß neun
Monaten bie Seitung ber ganzen 2t6tßeilung für gemeines 9tedjt übertragen fonnte
unb ißm eigens ein Sureau erbauen ließ, ©in befannter lonboner Slbbocat unb
Sdßriftfteller ßat bemerft, Srablaugß’S ©efeßeSfemttniß fei fo bebeutenb, baß felbft
„bie auSgejeicßnetften SJtitglieber beS englifdßen Sarreau barauf ftolj fein fönnten".
Sn Sonbon ßielt er Wödßentlicß jWei bis brei freibenferifeße Sorträge, unb halb
fteßten fidj wieber anonyme Xcnunciationen gegen ißn ein. 9iogerS War jeboeß
gefdßäftSflug unb liberal genug, fieß nießt baran ju feeren, unb befcßränltc fieß
barauf, Srablaugß ju erfudßen, baß er bafür forge, baß feine Ißropaganba bem
©efcßäft leinen Scßaben jufttge. Xiefer Sitte entfpraeß unfer greunb, inbem er
baS Sfeubonpnt „Slonoflaft" amtaßm, unter bem er 15 Saß« ßinbureß, bis 1868,
alle feine Politiken unb antitßeologifcßen Schriften beröffentließte. SEBaS er bon
feinem ©infommen erfparen fonnte, oerwanbte er auf bie Sßropaganba feinet
©runbfäße; er bereifte auf eigene Soften bie EJSrobinj beßufS Stbßaltung bon Sor»
lefungen; er ließ ißlafate jur Stnfünbigung ber leßtern bruden unb affießiren; er
beröffentließte Srofcßüren, für bie fid) ißrer Xenbenjen falber lein Serleger fanb,
unb bem einzigen, ber fieß feßließließ fanb, mußte er ben X)rud unb aßeS übrige
bejahen; ba er überbieS nießt in ber Sage war, ben 3lbfa| ju förbem, berlor
er gewößnlicß faft baS ganje ©elb.
SBä^renb Srablaugß ein 3KarSjünger war, ^atte eine Slnjaßl armer Arbeiter
in einer lonboner Sorftabt eine Summe jufammengefeßoffen, um einen Saal jur
Slbßaltung bon SföeetingS, Sorträgen u. f. w. ju erbauen. Dßne einen 8lecßtSfun=
bigen ju SRatße gezogen ju ßaben, Ratten fie fid) berleiten laffen, baS ©ebäube auf
einem fogenannten greeßolbgrunb ju errieten, obgleich fie biefen bom Sefißer nießt
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ttnfere ^ett
eigen« gemietet batten. Sach Sotlenbung be« Saue« war bet 2Rann gemein genug,
ba« i§m gefefclicb juftebenbe SedE)t auf bettfelben geltenb §u matten. Sie ©efoppten
wanbten fi<b an Srablaugb, bet ihnen fagte, ba« ©efefc lönne ihnen nicht Reifen;
fie müpten ba« $au« entweber entfernen ober bem ©runbeigentbümer übetfaffen,
fall« berfelbe batauf befiele; bocb rietf) er ihnen, e« mit einem gütigen 3lu«=
gleich ju üerfuc^en. 311« nun ein 3tngebot bon 20 ißfb. Sa^reSmiet^e für ben
©ruitb jurücfgewiefen mürbe, fteHte Srablaugb ficb an bie ©pifce oon 100 ftarfen
3trbeitern unb Ufat, wa« Sarloff in 3roan Surgeniew’« „Äönig ßear ber ©tep^c"
ttjat, al« feine S'inber ihn au« feinem §aufe berjagten: fie trugen ba« ©ebäube
©tein um Stein ab unb bertljeilten bie ÜDtaterialien unter pd). ©o braute
Srablaugb ben tütfifc^en Sobenbefiffer um bie erhoffte Seute. Sa« ©fünfte ift,
bap bet 9Rann, um bie 3lrbeiter jur ©ubfcription ju ermuntern, felber einen
Seitrag geleipet Ijatte, ben er nun natürlich ebenfall« berlor.
3m 3®brr 1854 berbeiratbetc Srablaugb pdjj mit einer Sodjter be« ©tuccatur«
arbeitet« £>ooper, ber ifjn fdjon jur 3eit feiner erften fdbüd}ternen Serfudje at«
Solf«rebner berounbert batte. 3«* 3 a b re 1855 fiatte er bie erfte Seibung mit
ben Se^örben »liegen bc« Serfammtung«re<bte«. ©ine einfeitige @onntag«gef<bäft«=
biß*), bie bamal« bem Parlament borlag, toollte ben tooblbobenben ßlaffen mittel»
bar Sortbeile über bie armem gewähren. gür ben 1. 3uli War ein 9Reeting in
ben ^tjbeparf einberufen, um hiergegen ju proteftircn. 311« ber Solijeibirector
bie Senufcung be« |>bbep«rf« für ba« SReeting unterfagte, leugnete Srablaugb,
ber ba« ©efefc fannte, bePen Secbt jurn Serbot, munterte troff be« le^tero jur
Slbbaltung ber Serfammlung auf unb legte toöbrenb berfctben ein ganj befonber«
mutbige« unb mannhafte« Sluftrcten gegenüber ber tßolijei an ben Sag. ©cbliep*
litb fefete er bie ofpcietle Sliterfennung be« Sedf|te« be« Solle«, in ben Sari«
öffentliche SReeting« abjubatten, burdb, roomit er ben Slrmen einen gropen Sienft
erwie«, benn biefe lönneit fid) leine tbeuern ©öle mietbcti unb finb baber für bie
Sefpredjung ihrer Stnfidjten über ©egenftänbe bon öffentlichem 3ntereffe jumeift
auf bie Sari« angetoiefen. Sie mit ber Uuterfudjung biefer Slngelegenbeit betraute
lönigli^e ©ommiffion banlte bem Urheber ber gragc für feine Wertbboüen 3lu«*
fagcn. Surj barauf begann er bie Scröffentlicbung feine« ©ommentar« jum
„Sentateudfj" unter bem Sitel: ,,3Bn« ift bie Sibel?" unb einer Seihe bon 3tbbanb«
lungen unter bem Sitel: „ffurje Unterhaltungen mit greibenlern." 3m 3ob tt
1857 berliep er ba« Sureau Soger«’ unb trat in ba«jenige be« 3(bbocaten färbet).
Siefe Serbinbung nahm ein balbige« ©nbe unb berwidelte ihn in beträchtliche
pecuniäre Serppidbtungen.
©ine mistige Solle in feinem Scben fpielte ba« 3 fl h r 1858. ©t tourbe ba«
mal« jurn ißräpbenten ber lonboner ©äculariftengefellfcbaft gewählt. @r übernahm
bie Sebaction be« ©ooper’fcben greibenlerblatte« „Investigator", ba« aber 1859
einging. ®r begann mit ©eiftlicben öffentlich über Setigion«fragen ju bebattiren
♦) Sögt, in fieopolb Katfcber’« „Silber au« bem englifdjen Seben" (fieipjig, ©i(f|. griebrid),
1881) ba« Kapitel ,,©onntag«feier".
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Charles Braölaugfj.
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unb fettete fo eine enblofe Steife oon 2)iScuffionen ein, bie fich auf niete Safere
erftrecften unb bie ec faft alle brucfen tiefe. (Sr nafjm einen feerborragenben Stn=
tfeeit an jtnei potitifcfeen ißrocejfen; juerft oertfeeibigte er im Serein mit ßeberfoit
ben wegen Verausgabe ber Srofcfeüre „Sft Iptannenmorb ju rechtfertigen?" Der*
hafteten Serleger Iruetoöe, einen befannten Freibenfer; fobann wirfte er an ber
Sertfeeibigung beS ber 3Jiitfc^uIb an bem Drftni’fdjen Attentat auf 9iapoteon III.
angeltagten Dr. Simon Sernarb mit — biefer würbe, wie man weife, freigefprodjen.
Sefct fing feine ©efunbfeeit ju leiben an. SSacfebem er ein rfeeumatifcheS lieber
überftanben, oertiefe er ßonbon gänzlich unb f)iclt fich 1859—61 jumeift in ber ißro»
oinj auf. @r reifte Oon Stabt ju Stabt, feielt iiberatt Sorträge unb grünbete,
wenn tfeunticfe, Freibenferöereine. SBie erfcfjroert ifem biefe Stufgabe tfeeils burdj
©elbmanget, tfeeils burcfe bie Sntoteranz ber Sefeörben, tfeeils burcfe ben Fanatismus
beS SpiefebürgertfeumS unb ber ©eiftlicfefeit Würbe, möge bie ©rzäfetung einiger
weniger oon feinen fefer zahlreichen, rticf»t fetten lebensgefährlichen Stbenteuern
beweifen, bie er muthig unb energifch beftanb.
Um mit feinen f<hwachen ©elbmittetn feauSzufealten, war er gezwungen, auf
feinen Fahrten bie britte Stoffe ju benufeen unb fi<h tangfamer 3üge ju bebienen.
©inmal hielt er inmitten eines ftrengen SBinterS in ©bhtburgfe einen Sortrag, ber
ihm fehr Wenig einbrachte, fobafe ihm nach ©rtebigung feiner mäfeigen Votetrecfenung
nur ein ganz fteineS Sümmchen blieb, baS gerabe jur Seftreitung eines SittetS
für einen billigen Bug nach Cotton hingereicht hätte, in welch teuerer Stabt er
am näcfeften Stbenb tefen foltte. Um in ©artiste ben Slnfchtufe an ben billigen
Bug ju haben, mufete er ©binburgh um 5 Uhr morgens bertaffen unb bafeer
aufs Früfeftücf berjichten. ©S war eifig fatt, aber er wärmte fich, inbem er ju
Fufee ging unb fein ©epäcf felber trug, woburch er gleichzeitig einige ißence er*
fparte. Serfcfetafen unb hungerig, War er froh, in fein ©oupe britter klaffe ju
gelangen; nun trat baS erfte Vinbernife in ©eftalt einer Scfeneeoerwefeung ein, bie
jur Folge hotte, bafe ber Bng eine ftarte Serfpätung hatte unb ben Slnfchtufe
berfäumte. SBoÖte Srablaugfe Solton rechtzeitig erreichen, fo mufete er ben Schnell»
Zug nach ißrefton nehmen; nachbem er baS Sißet baju getöft, blieben ihm btoS
4‘/i iß. übrig; ba er für biefen Setrag am Sahnhofe fein Früfeftücf befommen
fonnte, faufte er fich in einem ßaben eine $affe $feee unb ein Fteifchbrötcfeen —
baS War altes, was er an jenem Sage zu effen befam. Sn ißrefton angefommen,
hatte er lein ©etb mehr für bie Senufeung beS StnfcfetufezugeS, aber er wäre auf
irgenbeine SEBeife mitgefahren, wenn eS fich nicht feerauSgefteltt hätte, bafe ber 3«fl
fcfeon abgegangen war. 2>a er fein Siüet nach Cotton hatte, fonnte er nicht hoffen,
ben StationScfeef zur Slblaffung eines ©jtrazugeS zu bewegen, ©tücflicfeerroeife
hatte er auf ber 3ieife einen atten Vertu fennen gelernt, ber eine Sorte nach
Sotton befafe. @r tieh fich biefe auS, ging zum Sorftanb unb fejjte ihm juriftifcfe
auSeinanber, welche fehleren Fotgen eS für bie SahngefeUfchaft haben iönne, wenn
fie berfehte, ihren Fahrplan einzuhatten. 2Kit oiefer SDlüfee brachte er eS bahin, bafe
bie betreffenben ißaffagiere Wirtlich fofort beförbert Würben; ba er jeboefe bem alten
Verrn baS Sißet znrüdgeben mufete, war er aufeer Stanbe, ben reoibirenben
Schaffner zu beliebigen, unb biefer fanb, bafe ber ßärmmaefeer gar nicht baS 9tecfet
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Unfere ^ctt.
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hatte, mitjufahren, weit ec meber (Selb nodj galjrfarte befaß. Der fcfitaue ißaffagier
beteuerte, bto3 für ben alten $erm eingetreten ju fein, unb bot als ißfanb für
fein Saßrgetb einen 2^eit feines ©epücfs an, toomit ber ©onbucteur benn auch
einOerftanben war. Da ber Sortrag auf 8 Uf)t abenbs angcfünbigt toar, ber
3ug aber erft um 3 / 4 8 Uhr anfam, mußte ©rablaugh fich mit bem SBafcfjen unb
Anfteiben fe|r beeilen unb burcf)froren unb mit leerem SJtagen im ©ortragSlocat,
einer alten, büftern, jämmerlich beleuchteten, unfreunbtidjen Unitarierfapeße, er»
fdjeinen. Der Abenb enbete amufant. Als nämlich bie ©orlefung ju @nbe mar,
erhob fich ein ©egner, fpradj bon bezahlten Agitatoren unb griff ihn ob beS
„leichten, einträglichen SebenS", bas er führe, an; ber fo unfcfjutbig Angefallene
erjäljtte hierauf fofort bie ©rtebniffe bei DageS unb bemieS fo, mie feßr ihm
unrecht gefdjal}.
3m Dctober 1860 öerfudjte ©rablaugh junt erften mal, feinen 3been in SEBigan
©ingang ju oerfchaffen. Die bortige ©eiftlicf)feit mar außer fich, als fie hörte,
er habe einen ©aal gemietet unb rnerbe an jmei Abenben über bie ©ibet lefen.
©ie miethete fofort ben größten ©aal in ber ©tabt unb fünbigte für biefetbe
3eit unentgeltliche ©orträge über benfelben ©egenftanb an. SBiber ©rabtaugß’S
©rmarten fanb fich bei feiner erften ©orlefung ein jahlreidjeS ©ubtifum ein, bas
freilich meit mehr ©egner als Anhänger aufmieS; bennoch »erlief ber Abenb ohne
erhebliche Störung. AnberS ber jmeite. Der ©aal mar überfüllt unb oor ber
Dljür ftanben $unberte, bie nicht hinein tonnten unb fürchterlich auf ©rablaugh
fdjimpften. Als biefer erf^ien, erhob fich ein Reuten unb pfeifen, rnoburd) er
fich jeboch nicht abhatten ließ, feinen ©ortrag ju beginnen, mährenb bie ffenfter»
fcheiben eingef<hlagen unb bie Dhüren mit Sänften unb Süßen bearbeitet mürben.
Als ißm ber 2ärm ju bunt mar, ging er jum fpaupteingang unb fanb, baß ber
StäbelSfüljrer ein anglifanifcher ©eiftlidjer fei, ber, trofc ber UeberfüKtheit beS
©aateS, barauf beftanb, eingelaffen ju merben. Um ben Stieben herjufteßen, miß»
führte er ihm, erhielt aber beim Schließen ber Dt)ür einen gemattigen SRippenftoß,
ber ihm bie Sortfefcung beS ©ortragS feßr erfdjmerte. Stun fliegen Seute ju ben
Senftern hinein, anbere fdjleuberten Salf in ben ©aal ober tlctterten aufs Dach
unb fcßütteten SBaffer hinunter. Als eine einen fchmujigen Sumpen fdjtoingenbe
tpanb in ber SRitte beS ©lafonbs fichtbar mürbe, fprang ein 3uhörer auf unb
fchrie in höchfter Aufregung, ber Deufel fei gefommen, um ©rablaugh ju h°ien.
Stach Schluß ber ©orlefung cntftanb eine große ©ermirrung, in ber er oon mehrern
©erfoneit gefchlagen mürbe, ©eim ©erlaffen beS ©aaleS ftürjte ein anftänbig
gefleibeter tperr brohenb auf ihn loS unb rief ihm ju: „©rmarten ©ie nicht, baß
©ott ©ie tobt umfaßen taffe? Unb oerbienen ©ie nicht, baß bas ©ol! ©ie für
3h« ©otteStäfterung jfichtige?" Stach biefen ©Sorten fpien jrnei ißerfonen bent
Atheiften ins ©eficht. ©S läßt fich benfen, baß eS ihn SDiülje foftete, burch ben
fo böfe geftimmten, jum Dheil aus SWitgtiebern ber beffern Staffen beftehenbcn
©öbel hinbnrch jum ©ahnhofe ju gelangen; ins §otet moßte er, um nicht ju neuen
Aufläufen ©etegenljeit ju bieten, nicht juriicflehren. Am ©ahnhofe entbecfte er
aber, baß er fein ganjeS ©etb im ©afthof getaffen; fo mußte er benn aßertei
hatsbrecherifdje SJtanöoer machen, um ber SRenge ju entgehen. Die #otelbefifcerin
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(Egarles 23raMaugg.
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jebod^ forberte ign auf, ficg fofort gu entfernen, unb blieb feiner Verufung auf
igren gaftfreunblicgett Sinn gegenüber unerbittlich ®a änberte er feinen Ion,
ftieg, auf feinem gefeglicgen Stecgte befte^enb, bie Irenen ginan, bro^te jebem
©törenfrieb ©träfe an, berfcglog bie Igüt unb begab ficg unbedingt gu Vett.
3n ber näcgften Stummer feines VlatteS beröffentlicgte er einen fräftigen, aus*
fügrlicgen poteft, worin es unter anberat geigt: „Steine Sttnfcgauungen ftnb
vielleicht irrig, aber icg gäbe feine Suft, ein Stärtgrer gu loerben, unb ein recgt*
gläubiger ißöbel wirb micg nie burcg Reuten unb Vrüllen unter ber fffigrerfcgaft
eines wütgenben Pfarrers tton meinen Srrtgümern überzeugen. 3ro 19. 3®^
gunbert füllte es nicht gebulbet werben, bag ein bigoter fßriefter einen Hotelier
anftiftet, nadj galb 11 Ugr «biefen leufel auf bie ©trage gu werfen». liefe
Vorfommniffe würben, wenn fie ficf) wiebergolten, micg nicht betginbern, bort
Vorträge gu galten."
las wirfte; bie näcgften male lief atfeS weit rugiger ab, unb allmägticg würbe
Vrablaugg ein WiKfommener Vefucger SBiganS, Wo ficg eine ftarfe greibenferpartei
gebilbet gat. S)aS gweite mal brogte ber Vürgermeifter, bie Sfbgaftung ber Vor*
träge gu berginbern; allein er befann ficg eines beffern. Stadg ©cglug ber erften
Vorlcfung beuagm ficg ber Sßöbel gegen Vrablaugg fo rog, bag biefer ficg um*
bregte unb ign aufforberte, igm bie gwei ftärfften Stänner gur Verfügung gu
ftetfen, bamit er bie ©atge mit ignen auSfecgte. lief er Stutg braute bie Seute
gur Stuge. 2tm gweiten Slbettb würbe er mit Steinen beworfen unb mit gügen ge*
ftogen; er bregte ficg abermals um, unb bie Stenge wieg bor feinen Irogungen guriief.
Stit groger SebenSgefagr waren namcntlicg aueg feine erften Vorträge in
fpubberSfielb, lumfrieS unb Vurnleg berbunben. Er lieg ficg buteg nicgtS abfegteefen.
Ia man fag, bag igm mit Siegeln unb fßrügefn nicht beigufotnmen War, berfuegte
man es, ign bureg poceffe unb Vergaftungen firre gu maegen; bas gelang aber
cbenfo wenig. 3n ©uernfeg würbe fein Slngänger Venball gu einer ©elbftrafe
bon 20 fßfb. @t. berurtgcilt, weil er Vrablaugg’fcge Vrofcgüren bertgeilt gatte.
Unfer §elb, ber biefeS Urtgeil als burcgauS ungereegtfertigt betrachtete, befdglog,
baS Vergegen Venbatl’S felber gu wiebergolen, unb fegelte furg barauf naeg ber
Snfel, Wo er tags borget Eirculare berbreiten lieg, bie „an ben pocurator, bie
©eiftlicgfeit unb baS piblifum" geriegtet waren unb fowol bie Slnfünbigung gweier
Vorträge über bie SBibel entgielten, als aueg bie tlufforberung an bie Vegörben,
ficg „ftatt ber Stiftet einer unwiffenben Vergangengeit" — Verfolgung — gur
Vertgeibigung ber Steligion „befferer unb mäegtigerer SBaffen" — DiScuffion,
©ebanfen, Argumente — gu bebienen. Stan wollte Vrablaugg bei feiner 91nfunft
mit einem Stegen bon faulen Eiern — gu beren Slnfauf eine fromme Dame einen
grögera Vetrag geopfert gatte — empfangen; aber es glüefte igm, ber igm gnge*
baegten Egrenbegeigung gu entgegen. ®er Vefiger beS für feine Vorlefungen
gemietgeten ©aaleS Weigerte ficg, benfelben gergugeben, unb ein anberer mugte
gefuegt werben, ©obann wollte fein Drucfer ^ßlafate braefen unb fein öffent*
lieger SluSrufer bie Slnfünbigung ber Vorträge auSrufen. 3ur Vorficgt gatte
Vrablaugg bie Pafate bereits fertig aus Sonbon mitgebracht; nun fanb fug jeboeg
fein 3ettelanfleber, ber biefelben gätte affiegiren wollen. Stegr amufirt als ge*
Untere gfit. 1882 . I. 29
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450
Unfere ^cit-
ärgert, üerfah fich ber Unbeugfame mit ©infet, Steiftertopf unb Setter unb fcptug
bie 3ettet bei 99tonbti<ht unter 2Jiitf)ü(fe ©enbaß’S fetter an bie ©traßenecfen an.
©ein näc^fter Schritt war, äße an ber ffierfotgung feines gteunbeS beseitigt ge»
Wefenen ©erfonen fdjrifttich aufpforbent, entweber auch ihn wegen ber Oon ihm
p begefjenben SBieber^otung beS ©erbrechenS Senbafl’S p »erfolgen ober biefent
Slbbitte p teiften. Sie Stabt befanb fich in ungeheuerer Aufregung. gentanb
fSrieb mit ßreibe an bie ©traßenecfen: „lieber mit ben Ungläubigen! ©tan be=
feitige bie Ungläubigen!" Sie SlnfünbigungStafetn oor ber 21>ür be8 ©ortragSfaaleS
Würben weggeriffen unb man plante, ben ©ottfeibeiunS in$ ©teer p Werfen. Sa
fein portier unb fein Saffiret p befc^affen waren, fonnte oon einem $artenüerfauf
nicht bie Siebe fein unb freier ©intritt mußte gewährt Werben. SBiber ©rwarten
benahmen fich bie 3«hbrer im ©aale ganj anftänbig, aber auf ber ©affe tobte
ein fotcher Särm, baß ©rablaugh, trofc ber 3?iefengewalt feiner ©timme, fich nicht
hörbar machen fonnte. 2U3 er enbtich Waghalfig genug war, aflein ljinauSpgehen,
um ben ©öbel p beruhigen, genügte baS ©rfcheinen feiner impofanten ©eftatt,
um bem Aufruhr ein ©nbe p machen. Stach ©Stuß be$ berhättnißmäßig nicht un»
günftig aufgenommenen ffiortragS hielt er fein ©erfprechen, inbem er 100 ©jemptare
feiner Slbhanbtung „ffiaö lehrt bie Söibet?" oertheitte. Seim Stadjhoufegehen
fchrie bie oon einigen anftänbig gefteibeten ©erfonen auf gehegte ©tenge: „lobtet
ben Ungläubigen", hoch rührte fi<h feine frnnb gegen ißn. XagS barauf ftieg bie Stuf»
regung unb man hinterbrachte ihm, bie Saftträger feien betrunfen gemacht Worben
unb hätten bie SBeifung erhalten, ihn p überfaßen. Sw Saufe be$ Stachmittag»
fammette fich oor bem ©ortragSfaate ein £>aufe, ber währenb ber ©ortefung brüßenb
einbrang. ©rablaugh ftieg oon ber Tribüne hinab unb warf bie betrunfenften
eigenhänbig hinaus; biefer ©tuth genügte pr SBieberherfteflung ber Stühe. Später
woßten einige bie ©aöftammen auStöfchen, währenb anbere ©effel jerbracfjen;
©rablaugh jebocfj beenbigte feinen ©ortrag trofc aßer ^inbemiffe. Stuf bem §eim=
Wege fcßrie man Wieber: „SBerft ihn inS SDteer! ©ringt ihn um!" — aber feine
ftattlidje ©erföntichfeit flößte aßen fo großen Stefpect ein, baß fie ißw fern blieben.
Sa jeboch bie ©eljörben einer großen Slnjahl Oon Sotbaten Urlaub unb Schnaps
gegeben hotten, bamit fie fich an ben Stufläufen beseitigten, hätte eS iljm über
furj ober lang bennoch fehlest gehen fönnen, wäre er nicht halb burdj bie ©Stau»
heit feiner ©afthofwirthin jeber ©efahr entrüeft worben. SltS er fich om nächften
läge einfeßiffte, würbe er pm Slbfdjieb oom ©öbel auSgejifcht. @r erreichte feinen
3wecf, benn bie ©eljörben wagten es nicht, gegen ihn eine ©erfotgung einpteiten.
freilich mußte er biefe ©enugtßuung mit theuerm Selbe erfaufen; benn er hotte,
abgefehen oon ber Steife unb aßem anbern, auch ben im ©ortragSfaate angerichteten
Schoben p Oergüten. SlnbererfeitS führte biefer ©efud) pr ©egritnbung einer
feither recht anfehntich geworbenen Sreibenferpartei auf ber Snfet.
2118 ©rabtaugfj 1861 in ©tpmouth eine ©ortefung anfünbigte, traf ber bortige
Srifttiche SünglingSOerein 9(nftatten ju feiner gerichtlichen ©erfotgung. SStan über»
eilte fich jeboch, benn man berhaftete ihn, als er noch nichts anbereS gefprocheit
hatte atS: „greunbe, iS wifl euch einen Sortrag über bie ©ibet hotten." ©tan
oerweigerte bie Stnnahwe einer SürgfSoft unb hielt ihn über Stacht in ©ewahrfam.
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<£f?artes JSraMaugt}. 43 (
ÜRatürtich fteüte cS fiel; ^cvau^, bafe bie ©erjjaftung ein Segler war; um ihm
aber auf irgenbeine SBeife beijutommen, befchutbigte man ihn, bie ©otijei ange*
griffen ju fiaben, unb betitelt ihn im ©efängnife. Einige fanatifdje ©elaftungSjengen
befdjworen bie SRicfitigfeit ber Slnttage, aber baS jweitägige ßrenjüerhör, bem er
fie unterwarf, erwies beten galfdjtjeit. Er tierttjeibigte fid) fetbft gegenüber fteben
iljm feinblich gefinnten griebenSrichtern unb jwei gegnetifchen Stböocaten; als bie
üon ihm angeführten EnttaftungSjeugen jurüefgewiefen würben, weit fie a(S grei*
benfer nicht fchwören tonnten, traten einige über ben Fanatismus unb bie SDtein-
eibigfeit ber ©etaftungSjeugen empörte $iffenter für bie 933aE)rheit ein. ©rabtaugh
würbe freigefprodjen unb brohte, bie ©ortefung ben ©ehörben jum £rofe abjuhatten
unb ben ©olijeibirector wegen ber unberechtigten ©erhaftung ju oerftagen. Er
tonnte leinen ©aal betommen, unb ba alte geeigneten öffentlichen ©täfee ber SKititär*
gerichtsbarfeit unterftanben, war auch e ' n Meeting unter freiem £immel auSge=
fchtoffen. Stber er wußte fich ju helfen, ©tpmouth, 2)etoonport unb ©tonetjoufe
finb ©«hwefterftäbte, bie burch ben Fluß lamar ooneinanber getrennt werben; ber
teuere fteht aber unter ber ©eridjtsbarfeit beS einige SOteiten entfernten Ortes
©attafh- ©rabtaugh mietete ein großes ©oot, baS er 9 Suff üom Ufer anlem
unb auf bem er eine prooiforifdje Jribüne errichten tiefe, ©obann tünbigte et
burch ©tafate an, er würbe, nadjbem er baS ©efefc ju 3tathe gejogen, am nädjften
Sonntag feinen ©ortrag „in ber SRäfee ber bebonporter ©arfthore" abhatten. ®ie
©ehörben trafen umfaffenbe ©orbereitungen, unb ba fie fich einmal übereilt, be*
fctjloffen fie, ben Serhafeten in feiner 2lnfpradje ein ©tüc! borWärtS tommen ju
taffen, ehe fie ihn berhaften wollten. 3« ihrem Entfefeen ging er an ben ©arf=
thoren, wo bie ÜRenge wartete, borbei, begab fich <m»S gtnfeufer, beftieg einen
stachen unb tiefe fich i u feiner Iribüne rubern, bon Wo aus er feinen ©ortrag
hielt. Er ftanb atfo außerhalb ber SJiacht feiner tauernben ©egner, bie fich
auf ihrem eigenen ©ebiete befanben unb ihn hören tonnten, ohne ihn berhaften
ober }ur SRechenfdjaft jieljen ju fönnen. @o übertiftete er ben jum Sefen beS
StufruhrgefejjeS bereiten ©ürgermeifter unb ben mit 28 Schulmännern unb einer
9tbtheitung SJtititär erfchieneneu ©otijeibirector. ®a bie ©ehörben fich Weigerten,
ihm ob ber wittlitrtichen Einfperrung 3(b6itte ju teiften, teitete er gegen ben
©olijeibirector, wie angebroht, einen ©rocefe ein, ben er auch gewann; hoch fpradj
ihm bie befangene 3urt; nur bie nominelle Entfdjäbigung bon 1 gartljing (2 ©fg.)
ju, obgleich er — abgefefeen babon, bafe er feiner Freiheit beraubt worben War —
einen unmittelbaren ©aarbertuft bon 7 3 / 4 ©fb. @t. nacfewieS. ®iefeS ungerechte
Urtheit erregte bie Entrüftung eines großen 2f) e ^ eä ber ©reffe, weit es jeigte,
bafe bie ©efchworenen fich bei Entfdjeibung einer cibitrechtti^en Sache bon reti«
giöfem ©arteigeift beeinftuffen ließen. 3Da ihm auch feine Soften nicht erfefct
würben, berurfadjte ifjm biefeS 2lbenteucr ungeheuere ütuStagen (18000 SDtart).
SBir haben abfidjttich länger bei ben Erfahrungen ©rablaugh’S atS ©ortefer
berweitt, Weit fie für feinen Eharatter unb bie ©chwierigteiten feiner Saufbahn
ungemein bejeichnenb finb. Zehnten wir nun wieber ben F«ben unferer biogra«
Pfeifchen 2)arftettung auf. 3w Safere 1860 begrünbete ©rabtaugh baS greibenterblatt
21 )*
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$52 Unfere Seit._
„The National Reformer", moju befreunbete Sreibenler baS (Selb hergaben. 3ofeph
SBarler, ber ihm gefagt hatte, er fei Atheift unb IRepublilaner, mürbe fein ÜJtit»
rebacteur, griff aber halb in ber hon tfjm rebigirten Hälfte beS Stattet ben 3n>
halt unb bie SDiitarbeiter ber hon ©rablaugh geleiteten jmeiten Hälfte an, fobafe
er hon ber Siebaction auSgefdjloffen mürbe, bie SBrablaugh bann allein führte.
Selbftoerftänblich erleichterte biefeS Organ bie fäculariftifche ißropaganba feljr er=
heblich- 58erf<hiebene ißroceffe hotten ©rablaugh mit bem fRedftSanmalt Seherfon,
bem SSertheibiger SBernarb’S, in intime Serbinbung gebracht unb er trat auf beffen
SBunfch in fein SBureau ein, mo er jtuei 3ahre herblieb, mährenb meldjer 3eit et
bie Slebaction beS „Reformer" fortführte, aber in ber ißrobinj aus 3eitmangel
nur Sonntag^ Sßorträge hielt.
ÜRit SDtajjini mar er hon 1859 bis 1869 befreunbet unb er überbrachte bem be¬
rühmten Italiener jebeSmal, menn er aus Italien jurüdlam, ©triefe, gür (Saribalbi’S
SDtarfalaejpebition hielt er eine Sieilje hon Sorlefungen, als beren Erlös er bem
alten Haubegen 2100 2Jlarl überfanbte. Siadjbem er fich hon Seherfon getrennt
(1863), begrünbete er eine italienifdie Stahl* unb Ehemitalienfabril auf Actien,
bie mährenb ber nächften brei ober hier Sah« einen grofeen Zfytil feiner Seit in
Anfpruch nahm — er eröffnete ein Eomptoir in ber lonboner Eitp — unb ihn
mieberholt nach Italien führte, aber 1869 aufgelöft mürbe, ba fie nicht rentirte.
3)a er ju befdjäftigt mar, überliefe er bie Seitung beS „Reformer" mährenb
breier 3 fl h re feinem Sreunbe 3»h n SBattS unb übernahm fie erft mieber, als biefer
ftarb (SJtUte 1866); bann aber brachte er baS anfangs lucratih getoefene, mittler*
meile jeboch ins ®eficit gerathenc Unternehmen halb mieber in bie Höhe-
Schon hör feiner SJerbinbung mit ber ermähnten Sabril mar er im Sfntereffe
feiner politifdjen 9?id)tung mieberholt in Italien getoefen. Einmal (1860) märe
es ihm rnegen ber geheimen Srieffcfjaften, bie er hon bort nach Englanb mitjn»
nehmen pflegte, beinahe übel ergangen. Einige läge nach bem Sturze beS 93omben=
lönigS befanb er ftch ganz allein in feinem Hotelzimmer ju SReapel, als ein Sreunb
eintrat unb ihm mortloS ein ißadet mit ©riefen übergab. $a alfo nichts gebürt
merben lonnte, müffen bie SBänbe äugen gehabt haben, fonft hätten bie 8e«
hörben nichts erfahren fönnen. S)aS Schiff, auf bem ©rablaugh bie Heimreifc
machte, h* e ^t in Eiüita=SBe«hia an; eine Anzahl päpfttidier (SenSbarmen lam an
S8orb unb ber SBortfüIjrer theilte bem Englänber mit, ber britifche Eonful moHe
ihn am Ufer fpreßen. E)aS lam ihm berbächtig hör, unb ba er mit bem Eonful
nichts ju thun hatte, lehnte er es ab, ans Sanb ju gehen, mo ihn bie (SenSbarmen,
rneil auf röntifchem Soben, hätten herhaften lönnen, mährenb baS Schiff bie Slagge
ber beiben Sicilien aufmies. ®ie ißolijiften münfchten nun offen bie Auslieferung
feines (SepädS unb liefeen fomol feinen ij?nfe als aud) feine ©ernfung auf bie 9leu*
tralität ber fremben SchiffSffagge unberüdfichtigt. Als fie fich beS ©epädS mit
©emalt bemächtigen moUten, fcjjte er fich mit feinem SRebolber jur SBehr; hoch
hätte man ihn hon rüdmärtS übermältigt, märe er nicht hon einem Amerilaner
mit foldjcr Energie gefdjüfct morben, bafe bie Hafner, für ihr Seben fürchtenb,
fich entfernten, um neue AJeifungen einzufjolen. SDiit bieler SKülje unb unter
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Charles 23raMaugl).
^53
allerlei juriftifdjen Störungen berebete ber Verfolgte nun ben Äapitän, bie Anfer
ju Iidjten, ehe bie ©birren 3eit hotten, prüdjufeljren.
Der irifchen @adje hot Srablaugh jebeqeit große ©hmpothien entgegengebracht,
unb für eine feiner Srofdjüren über bie fo wichtige — in ©nglanb gerabe gegen»
wärtig bas öffentliche gntereffe abforbirenbe — irifdje grage erhielt er bon ©labftoue
einen Warnt anerfennenbett Srief (1866). 3« focialer £>iufidht forberte er ,,©e=
rechtigfeit für 3rlanb"; in politifdier ift er für eine irifdje 9tepublif, unb er hot
auch an ber Aufarbeitung ber „ißroctamation ber irifchen 9tepublif" üott $eÜt)
unb ©luferet mitgewirft. Aber er hot fich bamats nnb immer wieber gegen jebe
©ewalttljätigleit feitenS ber irifchen Patrioten auSgefprodjen unb proteftirte bem»
gemäß in feinem Statte energifch gegen bie bon ben geniern bewerffteüigte 3nbie=
tuftfprengung beS clerfentueller ©efängniffcS ju Sonbon. Dennoch würbe er ber
Dfjeitnaljme an ber fenifdjen Bewegung berbächtigt unb auf längere 3eit unter
ftrenge polizeiliche Sewad)ung geftettt. Der 1867er Steformtiga teiftete er nicht
nur unentgeltlich große Dienfte, fonbern trug auch nach Kräften baareS ©etb für
ihre 3wede bei.
3wei feiner bebeutenbften Dhaten f a g en { n jjj e g a ^re 1868 unb 1869. ©einem
unerfchüttertidjen SDtutlje unb feiner wunberbaren Ausbauer hot bie ettglifdje ißreffe
bie Abfdjüttetung ihrer lebten Seffel ju banfen. 3ebeS Statt hätte einem ©efeße
jufolge als Sürgfchaft bafür, baß es feine atheiftifchcn ober gotteSläfterlidjen Artifel
bringen werbe, 800 ißfb. @t. beponiren fotten. Docfj hotten bie ettglifchen 9te»
gierungen feit tanger 3^it nicht ftreng auf bie Durchführung biefer Seftimmung
gefehen, fobaft biete rabicate Slätter bie ©aution niemals erlegt hotten. Auch
ben „Reformer" hotte man acht 3al)re lang in 9tulje gelaffen, als man Srabfaugh
enblich aufforberte, bem ©efe|e ©enüge ju leiften. ©r nahm fid) bor, bie Sefei»
tigung beS illiberalen ©efefceS burdjäufeßen, unb weigerte fich baher, einen Setrag
ju erlegen, ber in Anbetracht ber Denbenjeu beS „National Reformer" gar halb
für berfatlen erflärt worben wäre unb bann hätte erneuert werben müffen. ©obann
ftetlte bie Regierung ihm baS Anfinnen, bas Statt eingehen ju taffen, worauf er
an bie ©pi|e beffelben fchrieb: „Der Regierung junt Droh gebrudt." Der giScuS
berflagte ihn nun auf bie gefehlidjen ©trafgetber, bie fich, wenn wir nicht irren,
auf 30—40 üJtitl. ÜDiarf beliefen; aber ber gefejjeSfunbige 3Jtann bereitete ber
(Gegenpartei fo biete Stieberlagen, baß bie SHage fallen getaffen Würbe. Stach bem
galt beS ÜJtiniftcriumS D’3Sraeti nahm baS ©obinet ©labftone bie Sache wieber
auf; allein ber ©rfotg War ein fo ungünftiger, baß bie Regierung burd) eine
ißartamentSacte bie oerattete ißreßgefehctaufet aufheben ließ, ©in ebenfo gutes
principieHeS ©tgebniß erzielte Srabtaugh im 3ntereffe ber ©ibfrage. grüljer
fonnten greibcnfer nicht als bollgültige ©eridjtSjeugen fungiren unb Srabtaugh
berlor einen ©ibitproceß, in welchem er als Kläger fungirte, weil er nicht fdjwöreu
burfte. Alle frühem Serfudje, eine Aenberutcg ber betreffenben ©efcße herbei»
juführen, Waren gefcheitert; Srabtaugh aber war nicht leicht abjuweifen, — er
focht feinen ißroceß burd) alle 3 n ftonjen burch unb ruhte nicht, bis baS ißarla»
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Unfere 3 e *t
ment baS Hinberniß auS bem SBege räumte, inbem eS ©efefce fcbuf, wonach
atbeiftifcbe ©ericbtSzeugen eine ©rtlärung an ©ibeSftatt abgeben bütfen.
®iefe unb anbere ähnliche Iriumpfje oerbalfen Srablaugb ju großem 3tut)m,
belüfteten ihn aber mit einer riefigen Scbulbeulaft. Um ben größten Ibeil feinet
©infommenS auf bie Xilgung ber aus feinen Dielen ißroceffen b«r»orge^enben
©djntben berwenben zu lönnen, führte er ein feljr billiges fleben. Seine grau
jog ihrer ©efunbbeit halber aufs 2anb zu ihren Leitern; feine jwci löstet fcf)icfte
er in ein ißenfionat, feine SBobnung gab er auf unb er felbft überfiebelte ins
©aftenb, wo er zwei armfeligc möblirte 3<mmercben bezog, für bie er monatlich
15 SJiarf SRietbe bellte. ®ie SDiöbliruug war, wie fidj benfen läßt, böcbft ein»
fadj, bafür aber nahm feine Südjerei faft ben ganjen Dorbanbeiten SRaum ein;
mußte et auf bie ©efeflfcßaft feiner gamilie Derjicßten, fo entfdjäbigte er fi<b bur<b
biejenige ber Sucher. @r ftubirte unb fdjrteb aufs emfigfte, Dertbeibigte babci
Wieberljolt baS öffenttidje SerfammlungSrecbt praftifdj gegenüber ben öeßörben
unb tjielt eine Unzahl Don Sorträgen in aßen SanbeStlfeileu. Obgleich er jährlich
1000 ißfb. St. ciiina^m, lebte er fo bauSbätterifcb, als wäre er ein ganz armer
@d)lucfer. ©r batte nur brei 3ktc Dor Slugen: arbeiten, für feine 3bcen ißro»
pagauba matben unb feine im Sutereffc biefer Sbeen eingegangenen pecuniären
Serbinblicbteiten erfüllen; alles anbere War ibm Siebenfache. Sn feiner ©aftenb»
wobnung Derblieb er fünf ober fecbS Sabre; er Derließ fie erft, als fpenrp gobn
Staefmore=>XurbcroiHe — ein Sruber beS b^üorragenbcn 9?omanfcbreiberS 9t. $.
Slacfmore — ibm teftamentarifdb faft fein ganzes beträchtliches Vermögen binterließ:
„9ltS geringes 3eith en meiner ungebeuern Sewunberung für jenen wahrhaft ebeln
Sohn beS 3Kenfcbengef(blecbtS, ber großherzig genug ift, fieß um ber SBahrßeit
Willen mit ber Slrmutb jn begnügen unb ber zum SBoble anbercr eine fo bewun-
bernSWertl)c Selbftacbtung an ben lag legt, obgleich er, falls er heilig werben
wollte, fofort reich werben unb zu ben böchften fogcnaitnteu ©bren gelangen fönntc."
XiefeS Xeftament rief eine Dteibe Don ©rbfcbaftSproceffen berDor; boeb würbe fcßließ»
lieh eine {Einigung erzielt, ber zufolge Srablaugb fi<h mit 50000 3Rar! begnügte.
Xiefer Setrag ermöglichte ihm bie Slbzabluttg ber bringettben Schuften unb ein
bequemes Slrrangemcnt biuficbtlicb ber ii6rigen. @r Würbe zum ißräfibenten ber
Stationalen SäculariftengefeKfchaft gewählt unb feblug fein Hauptquartier im 9torb=
Weften SonbonS auf, wo er mit feinen heiben Xöcbtern — wiffeufdjaftlicb gebilbeten
Xamen, welche uaturwiffenfchaftlicbe fßrofeffuren befleiben unb eifrige ÜKitarbeiter
beS „National Reformer" finb — lebt; feine grau ift Dor etwa fe<bS Sohren
geftorben.
SBäljrenb ber ©onflicte zwifdben ber parifer Kommune unb ber DerfaiHer 9tc=
gierung wollte Srablaugb ztoifeßen beiben bermitteln; faum War er jeboch in
Soulogne angefommen, mußte er auf Sefehl beS SabinetS baS Sanb fofort Wieber
Detlaffen. 9llS er einige SDtonate nach Unterbrüctuug ber (Kommune ißariS befuchen
wollte, Würbe er in SalaiS Derhaftet unb erft nach zwei lagen freigelaffen; bie
Stegierung butte nämlich Dergeffen, bie Drbre SuleS gabre’S Dom Slpril: „Srab¬
laugb f°tle um jeben fßreiS Derbinbert werben, nach fßariS zu fommen", aufzubeben.
Seither ift er ftctS unbeljinbert babin gegangen. 3mei S a b re fpäter würbe er
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Charles StaMaugf}.
4:55
bon ber großen birminghamer Verfammtung englifcher Sepuölifanet nad) SWabrib
gefdjidt, um ber fpanifdjen Sepublif ein @lüdumnfd)fd)rei6eu ju überbringen.
Saty einer fe^r abenteuerlichen Seife über ben Sdjauplafc bei Slarliftenlriegel —
er mürbe unter anbernt bon Sarliften aulgeraubt unb beugte größeren Un^eü nur
baburch bor, baß er bie ben piünberern berbätytig borfommenbe birminghamer
©ratulationlabreffe für feinen Paß aulgab — fanb er in ber $auptftabt eine
ehrenboüe, begeifterte Aufnahme, nach ber er fief) nicht mehr unter bie Äarliften
magte; er mußte baher bie Südreife über Portugal unb auf einem Saftfdjiff be=
roerffteßigen. Storrifon Sabibfon fagt: „@t mar biefleidjt ber erfte ©nglänber,
ber bie SSieberfeljr ber Sllfonfiften jur SZadit boraulfah."
Um bie Tilgung feiner Sdjulben ju befdjteunigen, nahm er einen ber ihm
bon betriebenen Vortraglbureauj gefteßten Anträge, in ben bereinigten Staaten
bon Sorbamerifa Vorlefungen ju galten, an unb begab fidj ju biefem Vehufe
1873—75 breimal über ben Sltlantiftyen Ocean. Sogar bie neuporfer Soßbeamten
bejeigten ihm ihre Sichtung, inbem fie cl, trofc ber Strenge ber bortigen Sebifion,
ablehnten, fein ©epad ju untcrfuchen. Ueberafl mürbe er aulgejeitynet unb mit
ben hcroorragcnbften ©eiftern befreunbet. 3n Vofton präfibirten bei feiner erften
Vortefung ©parlel Sumner, £lopb ©arrtfott unb äBenbeß Phißipl. Seine ©in»
nahmen beliefen fuß ziemlich h oc h- hoch fließen tyrn auch Uttfäße berfchiebener Slrt
ju. Dal erfte mal machte er eine 3ugentgteifung mit; fpäter fiel er fo unglüdlity,
baß er eine Seit taug anl Simmer gefeffett mar; bann ermuchfen ihm aul bem
plöfclidjen Dobe feincl gntprefario berlufte; iiberbiel mußte er manchel hohe
Pönale bejahleu, meil er infolge ber unermarteten Sluflöfung bei englifdjen Par»
lamentl feine bortragltour abbrach, unt nach fpaufe jurüdjufehren; trofc aßebem
tonnte er bon feinen Styulben noch immer meitere 20000 2Jiarf abjahlen. Dal
jtoeite mal hotte er aßerlei unangenehme Slbenteuer in ©eftalt bon brei ©ifen»
bahnunfäßen unb jmei gemattigen Schneeftürmen, bafür aber auch gtänjenbe ©in»
nahmen. Seine britte Sour mußte er unter bejatflung großer ©ntfdjäbigungen
borjeitig aufgeben, meil er an einer pieuritil gefährlich erfranfte.
Surj barauf ftürjte er fity im gittereffe ber Preßfreiheit in einen ber heftigften
unb langmierigften Kämpfe, bie er je burdjjufechten gehabt, ©harlel SBattl, ber
Verleger bei „National Reformer", mar burch Snfaß in ben Vefi| ber Stereotyp»
platten einer 40 3ah« borher in Slmerifa erfchienenen malthufianifdjen Vroftyüre —
„©rgebuiffe ber Philofophie", bon Dr. ©harlel ffnomlton — gelangt unb beröffent»
lichte, ohne fie ju tefen, einen Seubrud babon. ©in meiterer Sufafl führte jur
gerichtlichen Verfolgung ber fo lange unbeheßigt gemefenen Schrift. Sun beur»
tyeilte Vrabtaugh biefe megen tyre! Still nicht fepr günftig; all er aber erfuhr,
fie fei berboten morben, empörte fity fein ©efühl gegen biefe Verlegung ber Denf»
unb Drudfretyeit; benn bie Vroftyüre behanbelte einen jmar Reiteln, aber mirth»
ftyaftlity unb mebicinifty Nichtigen ©egenftanb in ber ernfteften SBeife. Der
Verleger befannte fity, um ber Veftrafung ju entgehen, ftyulbig unb hielt mit bet
$eraulgabe bei incriminirten Dbjectl inne. Diel berbroß Vrablaugh unb bie
befannte greibettferin SSrl. Vefant — bie geftyiebene grau cinel ©eiftlityen, bie
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^56
Unfere ^eit.
jefct SOtitrebacteurin bei „Reformer" ift —, weil SBattl baburcb inbirect gugab,
baß er, ber Verleger bei „Reformer" unb ber SBerfe ©rablaugb’l uttb ber 2Rrl.
©efant, auch obfcöne Singe üerlege. Sobann war auch gu bebenfen, baß, wenn
man fich bie Unterbrüdung ber fötowlton’föen ©rofehüre ruhig batte gefallen taffen,
einer gangen 9teif|e anberer, weit befferer SBerfe baffelbe Scbidfal gutheil geworben
wäre. Sie beiben Genannten befdjloffen baber, fich ber Sache nach Kräften an»
gunebmen. 3« biefent ©ebufe errichteten fte eigen! ein Verlaglgefcbäft nebft
Srucferei unter ber girma „greibenferüerlaglbanblung", unb ibr erfter ©ebritt
War bann, eine neue Stulgabe bei in Siebe ftebenben ©üchlein! gu üeranftatten.
Um gu geigen, um Wal el ihnen eigentlich gu tbun war, üerftänbigten fie bie com»
petente SBebörbe im oorbinein üon ihrer Slbficbt unb oon ber ©tunbe ber Sfulgabe.
Sie ißotigei war benn auch bie erfte Sfbnebmerin, inbem fie einen großen Sbcif
ber Sluflage mit ©efebtag belegte. Sie neuen Verleger würben üerbaftet unb
nach längerer Verbanbtung gu feebl SJtonaten fi’erfer unb 4000 2Rarf ©elbftrafe
üerurtbeilt, nicht wegen bei Snbattl bei SBerfcbenl — benn bie ©efebworenen
fpracben fie üon jeber böfen Slbficbt frei unb anerfannten ben Inhalt unb bie
Sprache all üoHfommen guläffig —, fonbern wegen ber ©ebarrlicbfeit, mit ber fie
bie Sbat wieberbolteit, wegen beren SBattl üerurtbeitt worben war. ©rabtaugb
ruhte aber nicht; er wiel allen ©ericbtlböfen, alten Stechtlanwälten, allen an feiner
Verfolgung betbeiligten gactoren gehler unb ^rrtbiimer »“<b unb braute el
banf feiner 3äbi0feit unb feiner unerreichten iuriftifeben Stidjtigleit f<btießli<b babin,
baß er unb feine ©enoffin freigefproeben würben unb bie confilcirten ©jemplare
gurttcferbielten. Um gu beweifen, baß el ihnen nicht um ein ©efebäft gu tbun
war, unterließen fte el nunmehr, ben Slbfajg ber „©rgebniffe ber fßbilofopbie" gu
förbern; fie geigten biefe feitber nicht einmal mehr an.
©ei allen feinen ©efebäftigungen fanb ©rablaugb wieberbolt Beit, in Stortbamp»
ton all Ganbibat für einen ©arlamentlfif} aufgutreten. 3u ben fahren 1868,
1874 unb 1875 fiel er bureb, wal freilich nicht wunbernebmen fann, benn faft
bie gefammte treffe fpradj fich gegen ihn aul unb ©erleumbungen ber nieber»
träcbtigften Wie fomifebften Slrt würben in bie SBelt gefegt, um ihm gu febaben.
Gr batte el bureb fei« SBirfen im gntereffe bei Stepublifanilmul, bei Sltbeilmul,
ber SDtäßigfeit unb ber Verbefferung bei ßofel ber Slrmen mit allen wichtigen
gactoren — bem Äönigtbum, ber Slriftolratie, ber ©eiftlichfeit unb ber eiitfluß»
reichen Glique ber SBirtblbaulbefijjer — üerborben. Sennodb erhielt er bal erfte
mal faß 1100 Stimmen, bal gweite mal — obgleich er gar nicht $ u &aufe war,
fonbern in Slmerifa — fchon 1653 (nur um 657 weniger all ber gewählte Gan»
bibat), bal brüte mal bereitl 1766 Stimmen, b. b- blol um 405 weniger all
fein erfolgreicher ©egner. Stach ber Sluftöfung bei Parlament! bureb S’SSraeti im
grübling 1880 bewarb er fich abermall um bie ©unft ber SBäbler üon Stortbamp»
ton unb brang, trof} ber angeftrengteften ©egenbemübungen feiner geinbe, bureb.
Stach biefem lange erjebnten Siege begannen feine Slnfdjauungen ihm mehr
Scbwierigfeiten gu bereiten all je guüor. Gr foöte fich feine! Sriumpifel nicht
lange gu erfreuen haben. Serfelbe üerwicfclte ihn in einen noch beute nicht aul»
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Charles örablaugl?.
^57
gefochtenen Sampf, bei beut e3 fic^ titelt nur um SieligionS* unb SDteinungSfreiheit,
fonbern auch um ein ^öc^ft midjtige3 SSerfaffuttgSprincip hanbelt; um erftere p
unterbrüden, hat bie URajorität ber SOlitglieber beS ertglifdEten Kaufes ber ©emeinen
teueres — ba3 fßrincif) — berieft, unb ©rablaugh mar unb ift nicht ber SDtann
bap, fic^ ba3 gefallen p laffen.
#ätte alles ben gemöljnliehen Sauf genommen, fo märe ©rablaugh nach ©r*
Öffnung ber Seffion am lifc^e beS #aufe3 erfdjieneit, um ben tmrgefchriebenen
©ib p leiften. 2>ann hatte man ifjn aber einen gemiffenlofen feuchter genannt,
ber als greibenler fcßmörc. @r glaubte jebod), auf ©runb beS ©ibgefefceS bom
Sah« 1868 berechtigt p fein, eine ©rflärung an ©ibeSftatt abjugeben, unb manbte
fi<h ba^er an ben betreffenben $auSbeamten mit bem ©rfudhen, baß ihm bieS ge*
ftattet merbe. ©r mottte ben ©ib am liebften bermeiben unb fchrieb mit ©ejug hierauf
an bie „Times": „SBöljrenb ber ©ib auch SBorte enthält, bie für mich leer unb
bebeutungSloS finb, mürben unb merben biefe bon einer großen Slnpßl meiner
Sanbsleute als Slppetl an bie ©ottljeit, bon ihrem Scljmur fienutniß p nehmen,
betrachtet. @3 märe bon mir eine Heuchelei gemefen, freimiHig bie ©ibeSform
p mähleu, fotange ich glaube, baß mir eine anbere p ©ebote fteht, ober ben
©ib ohne Proteft abplegen, fobaß e3 ben Slnfchein hätte haben lönnen, al3 hätte
ber ©ib in meinem SRuitbe bie ©ebeutung eitte3 folchcn Slppetls." $ap bemerfte
ba3 hochtor^iftifcf»e 3ohn*©ull*0rgan „Saturday Review": „... ©3 ift mohlbefannt,
baß biete ÜRitgtieber be3 jefcigen unb früherer Parlamente benfelben Slnfidjten
hutbigen mie ©rablaugh; auch ihnen gilt jene fformel ( a ®° helfe mir ©ott!») at3
leer. Stber fic hatten ben ©erftanb. ober ben guten ©efdjmad, ihre Ungläubigfeit
nicht an bie große ©locfe p hängen." 2BaS fott man p biefer offenen ©ertljei*
bigung ber Heuchelei ober ©equemlidjfeitSliebe unb berftedten SJtiSbitligung ber
©hrlichfeit unb be3 UeberjeugungSmutheS fagen?!
$)aS 4?au3 mähtte jur ©ntfeheibung über, ©rabtaugh’3 ©efuch einen SiuSfcßuß,
ber fich mit einer ÜRehrheit bon ©iner Stimme gegen baffetbe auSfprach. 9113 er nun
fah, bah ihm bie SUternatibe, ben ©ib p bermeiben, nicht mehr offen ftanb, mar
er bereit, ben Schmur nach ©orfdjrift p leiften. SJtan fann ihm nicht bormerfen,
er fei inconfequent gemefen, benn er hatte fich niemals birect gemeigert, p fchmören;
er hätte ben ©ib nur, mie gefagt, gern bermieben. @r hat nie behauptet, ber
©ib habe überhaupt gar feinen Sinn für ihn; er meinte blo3, berfelbe fei für
ihn nicht binbenber al3 eine ©hretterflärung; er betrachtete nur bie jform als leer,
mährenb er ben ffern für binbenb hielt, ©r fagte in biefer ©ejießung im |mufe:
„®er ©ib mirb für meine ©hre unb mein ©emiffen boHfommen binbenb fein.
Obgleich ich i>a3 Siecht, hier p fifeert, fehr hoch fchäfee, mürbe ich feinerlei ©ib
ober ©hrenerflärung ausfprechen, menn ber Sern für mich nicht ooDftänbig binbenb
märe." Sir $. 2)rummonb SBolff beantragte, ihn ben ©ib nicht ablegen p laffen;
bo<h mürbe bie Sache auf ©labftone’3 ©orfchlag einem jmeiten SluSfdjuß pgemiefen,
ber fich ba^in äußerte, baß feiner Ülnficßt nach eine ©rflärung an ©ibeSftatt im
üorliegenben gälte eigentlich unpläffig fei, baß e3 fich aber aus OpportunitätSrüd*
fichten empfehle, ©rabtaugh ftch auf feine eigene ©erantmortung erftären p laffen;
e3 ftänbe aber jebermann frei, bie ©efefcmäßigfeit ber ©hrenerflärung gerichtlich
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$58
Unferc
auf bie Probe gu ftetten. Statt biefen Borfdjlag gu aboptiren, nahm baS Plenum
beS $aufeS ben Stntrag eines Srgtort)iften an, Brablaugh »eher bie ©ibeSleiflung
noc^ bie Abgabe einer feierlichen ©rflärung gu geftatten. ®ie Aufregung im
|>aufe mar getoaltig, ftieg aber noch bebeutenb, als ber Bielgeplagte, tro| biefeS
ParlamentSbefchluffeS, tags barauf erfchien, um ben Gib abgulegeu unb feinen
Sifc einjunehmen. ®aS §auS forberte ihn burch ben SDiunb beS Sprechers auf,
fich gu entfernen. @r „meigerte ftch beffen achtungSbotl", meit „ber Befehl beS
§aufeS ungefefctich" fei, morauf er bon ber £>auSpoligei ins parlamentSgefängnifj
abgeführt mürbe. SllS er am nächften läge entlaffen mürbe, brohte er, mieber«
gufommen. Xiefe Xrohung fomie bie zahlreichen Petitionen unb bie telegraphifch
einlangenben Siefotutionen ber in allen ©egenben beS SieicheS abgehaltenen ©nt=
rüftungSmeetingS bemogen ben Premierminifter, etmaS in ber Sache ju thun. @r
beantragte bemgemäfj im $aufe, ben Borfchlag beS gmeiten HuSfchuffeS anguneljmen.
Stad) einer mehrtägigen Debatte fafjte baS |>auö am 2. 3>uli 1880 folgenben
Befchlufj: „3eber gum SWitglieb biefeS Kaufes gemähten Perfon, bie im Sinne
beS ©efejjeS gur Abgabe einer feierlichen ©rflärung an ©ibeSftatt berechtigt gu
fein glaubt, foll eS in .ßulunft geftattet fein in ber burch bie ... Siete borgefchrie»
benen gerat eine feierliche ©rflärung abgugeben unb gu unterfchreiben."
®arauf hin gab Brablaugh feine ©rflärung ab unb nahm feinen Si| ein; lefctereS
that er auch bei ©röffnung ber nächften Seffton (1881). Slber ein reactionäreS Paria»
inentSmitglieb beraulafjte einen obfeuren Krämer, baS ©efefc auf bie Probe gu ftellen,
unb bie ©erichte entfehiebeu gegen bie Berechtigung Brablaugh’S, eine ©rflärung an
©ibeSftatt abgugeben. XarauS folgte nothmenbig, baff er im Parlament nicht
fi|en bürfe, ohne gu fchmören. 3« ber ©ibeSacte oon 1866 Reifet es nämlich:
„SBer im §aufe fifct unb ftimmt, ohne ben borgcfdjrtebenen ©ib geleiftet unb
unterfchrieben gu haben, ift mit 5<)0 Pfb. St. gu beftrafen", unb ferner, bafj bie
gerichtliche Slichtanerfennung jener Berechtigung bie ©rlebigung beS betreffenben
SJianbatS nach fich giefje- Selbftöerftänblidj muffte für Siorthampton eine Sleumaljt
auSgefchrieben merben. ®ie über bie miQfürliche Berlefcung ihrer Politiken Siechte,
über bie mittelbare Bebormuttbung ihres Seelenheils burch eine borurtheilSbotle
UuterhauSmajorität erbitterten SQ3äE)ler bon Siorthampton liefen eS fich natürlich
nicht nehmen, Brabtaugh miebergumählen. Bigotc gatiatifer machten bie mitbeften
Slnftrengungen, bieS gu berhinbent. ©in gemiffer Barlep beröffentlichte eine Bro=
fchüre unter bem Xitel: „BetoeiS, baff Brablaugh burchauS unfähig ift, im Parlament
gu fifcen", morin er bieS freilich nicht „betoeift". SBir entnehmen biefer glug»
unb gtudjfchiift folgenbe Beilen: „Unfer ®ricg Ijat ben ßmeef, bie ©hre unb bie
Siechte beS BolleS gu fdjüfcen, unb ich ftoffe in bie grofje Xrompete gegen Brab»
laugh, ben herborragenbften Bertheibiger ber Sünbe unb ©efefclofigfeit.... SBie
lönnen bie SBähler bon Siorthampton es mögen, bon einer Berlefcung ihrer ber»
faffungSmäjjigen Freiheit gu fpredjen? SBie bürfen fie eS magen, bie engltfche
Station burch bie SBahl eines SRanneS gu beleibigen, beffen öffentliche Sehren unb
Schriften feit fahren elelhaft, fchmugig, fünbig unb lügnerifch finb?... Siorthampton
magt eS, ben ©otteStäfterer S^arleS Brablaugh fürs Unterhaus gu mählen, roo
er an ©efefeen mitarbeiten foll, bie bie nationale Storni betreffen!... @r ift ein
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Charles BraMaugfy.
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freier geinb bet 9ted|tfd|affenf)eit unb bet SBahrheit, bet gamilie unb bet Nation.
SBenn ttteformiren mit (Srntebrigen, SSert^teren unb (Sntfittliten gleitbebeutenb ift,
fo fann Vrablaugh atlerbingS ein Reformer genannt werben. SBenn fit Storthampton
fein ©ewiffen barauS matt, einen foldjen SDtann p wüßten, fo madjen fit $at=
lament, ©efeß unb 8anb ein ©ewiffen barauS unb werben einer entfittlidjten
SBühlerftaft nidjt geftatten, oon erlittener Unbitt p reben, fonbem Vrablaugh
nötigenfalls itftmer unb immer wieber als pm VolfSöertreter gänjlit ungeeignet
auSpftließen.... SBenn baS Verfetten gotieStäftertidier, gefefcwibriger, gemeiner,
unmoralifter, ber SBahrheit unb ttteblitfeit ins ©efidjt ftlagenber Sehren einen
Stttenften groß machen fann, fo ift er ein großer SJtann, ja, ber größte — ober
öielmeljr berüttigtfte — beS ^a^r^mtberts. ... 2>ieS ift SßarleS Vrablaugh, ben
man einen ©eifteSriefen, einen ißhilofophen nennt unb als ©ewinn für bie 2>ebattir»
fünft beS Kaufes ber ©emeinen auSpofaunt!... $ie Unterftüfcung Vrablaugh’S
feitenS ber liberalen fßartei wäfirenb ber SBahlen war ganj einfacf) eine Slbfteu*
Ii(f)feit, bie jenen, weite ben SiberaliSmuS bisher mit bem ^rieben, bem tttett,
ber SBahrheit unb ber ©otteSfurtt ibentificirten, nur Slergerniß geben fann.“
SlnbererfeitS haben anlaßlief) ber SluSftreibuug ber Neuwahl biete herborragenbe
tßerfonen unb Vtätter, bie früher burtauS gegen ihn waren unb aut jefet not
abfotute ©egner feiner Slnftauungen finb, nitt umhin fönnen, bie ©erettigfeit
feiner Säte in bem üortiegenben gatte unb fowot feine guten ©igenftaften als
aut bie maßbotte, ruhige SBürbe unb fiopalität feiner Gattung im §aufc, in ben
jwei SluSftüffen unb bor ben SBählent anperfennen unb bie ihm burt baS „Stuf»
bieprobebeftetten beS ©efefceS" wiberfahrene Unbitt p rügen. $atte er fit bot
währenb feiner furjen actiben 2t e 'ütabmc an ber f£^ätigfcit ber VolfSbertretung
feineSwegS als ber „wilbe, felbftfiittige ®emagog“ erwiefen, p bem $eßer i la
Varlep unb ©toforten ihn gern geftempelt hätten! @r würbe, wie gefagt, wieber=
gewühlt unb berfprat, thunlitft halb einen ©efefcentwurf einjubringen, wonat
es jebem äJtitgtiebe nat belieben erlaubt fein fotte, eine ©rflärung an ©ibcSftatt
abptegen. 2lm 26. Slpril (1881) erftien er am Uifte beS ipaufeS, übergab bem
competenten Veamten fein SBahlprotofott unb nahm oon il)m bie SBibel entgegen,
um als neues SKitglieb ben borgeftriebenen Stwur p leiften, als fit ptöjjluh
©ir ©tafforb tttortheote — ber unter fiorb S3eaconSfielb ginaitjminifter war —
erhob, um gegen bie Veeibigung beS Vertreters oon Dtorthampton p proteftiren.
©tatt nun baS ©efeß p wahren unb biefe orbnungSwibrige Unterbretung prücf*
pweifen, bemerfte ber Vorfißenbc: „SBemt it nitt irre, fo gebenft baS SDSitgtieb
für Sforthbeoon bem £>aufe einen eine gormfate betreffenben Stntrag p fteffen.
Vebor ber fehr ehrenwerthe Varoit bieS thut, holte it eS für aitgemeffen, p cott»
ftatiren, baß baS SKitglieb für Storthampton eingeführt worben unb jeßt an ben
Uift beS $aufeS getreten ift, um ben öom ©efejj öorgeftriebenen ©ib in ber
hcrfömmliten gorrn p leiften. (Sr ift, um feilten ©iß einnehmen p fönnen,
bereit, fit jeher Vorftrift beS ©efefceS p fügen. Unter gewöhnliten Verhältniffen
follte ein fo regelretter Vorgang jweifelloS nitt unterbroten werben; allein in
Slnbetratt einer frühem tttefolution beS Kaufes unb mit SRücffitt auf bie SluS=
ftußberitte in biefer Slngclegenßeit fann it bem |>aufe bie SKöglitfeit nitt
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<*60
Unfere §cit.
entjie^en, übet bie neuen Umftäitbe, unter benen ber Gib jcfct abgelegt »erben
fotf, ein Urzeit ju fällen." Der Unterbrecher fchlug nun üor: „3n Slnbetracht
einer frühem Stefolution be$ |>aufe3 üom 23. guni 1880 möge e$ Vrablaugh nicht
geftattet »erben, ben Gib abjulegen." liefet Slntrag »urbe mit einer geringen 3Jta=
jorität jum Vefchluffe erhoben, fobafj Vrablaugh nunmehr »eber eine Grftärung
abgeben noch fdjwören tonnte, mithin aufjer ©tanb gefegt »ar, feinen politifchen
Siebten unb ißjTidjten Genüge ju Iciften. SJtit ooHem Steckte nannte er biefen Vc=
fcfjtuf} ebenfo ungefefclich wie bie benfelben hetüorrufenbe Unterbrechung unb oertangte,
jum Schwur jugelaffen ju werben, worauf baS #au3 befdjtofj, er müffe fiel) ent»
fernen. S113 er bieö ablehnte, würbe bie ©ifcung aufgehoben. DagS barauf
crfchien er abermals unb beftanb auf ber GrfüHung ber Vorfdjriften, 30 g fich aber
fofort jurüd, alö baS £>au 3 üerfprach, balbigft einen oon ber Regierung einju»
bringenben Gefefcentwurf in ber Gibfragc in Vehanblung jie^en ju wollen.
Der tßräfibent be$ Kaufes ber Gemeinen lub eine fdjwere Verantwortlidjfeit
auf fich, als er bie Unterbrechung ber Veeibigung Vrablaugh’S burch @ir ©tafforb
Stortljcote geftattete. SluS biefem gehler finb alle fpötern Verlegenheiten bes
^aufeS, oon benen Wir alsbalb fpredjen werben, hcroorgegangen. Da baS Ver¬
fahren, wie er felbft anerfannte, bern Gefefce entfprach, Vrablaugh fidf alfo feinet
ungefefclidhen ^anblung fchulbig machte, hotte ber ^ßräfibent fein Stecht, bie Unter»
brechung ju geftatten. Obgleich er jugab, baß Vrablaugh eibberedjtigt fei, machte
er fich, * n Verfennung feiner Vefugniffe, jum SBerfjeug einer thrannifchen
SJtajorität, wäljtenb ei feine Sßflic^t gewefen wäre, unentwegt baS neutrale Organ
bes ganjen $aufe$ ju bleiben.
Sin baS Unrecht beS ©peafer reiht fiel) baSjenige beS # fl ufeS. DiefeS War
burdjauS nicht berechtigt, }u befdjliefjen, Vrablaugh bttrfe nicht fchwören. GS hot
überhaupt feinerlei gefejjlich geWäljrteifteteS Stecht, in einer foldjen ©ache abju=
ftimmen. hierüber finb heröorragenbe kennet ber Verfaffung felbft auf gegnerifdjer
©eite mit Vrablaugh einig. Das £>auS ift üor bem Gefefce gar nicht competent,
bie eibliche Gompetenj feiner eigenen orbnungSgentäfj gewählten SJtitglieber ju
beurteilen; ei ift eigentlich 9 fl r feine richterliche, 3 ur Gntgegennahme bon Giben
berechtigte Veljörbe. SDtit üoHer Stichtigfcit erflärte Glabftone in ber ©ifcung üom
22 . guni 1880: „Vor bem Gefefce unb im ©innc ber Verfaffung hot ba$ |>auö
überhaupt feine gurisbiction." GS erfreut fich h* n P^®^ ber Veeibigung feiner
SJtitglieber blo$ einer untergeorbneten, mittelbaren Stellung, grüher ift ber Vor»
lamentSeib auch gar nicht in bie £>änbe eines Veamten beS $aufe$, fonbern in
bie eineö oon ber fitonejecutioe ernannten SBürbenträgerS — „High Steward"
genannt — abgelegt worben; oft war baS fpauS währenb ber Veeibigung nicht
einmal in formeller ©ifcung oerfammelt unb fein in ben lebten galjrfiunberten
geraffenes Gefefc h°t bem #aufe bie VeeibigungSbefugnifj übertragen.
SÖtan brehe bie Sache wie man wolle, man fann ftch ber Ueberjeugung nicht
oerfchüefjen, bafj burch eine jufäüige Vereinigung oon hauptfächlidj burch religiöfe
ober perfönliche Slntipatljien beftintmten SJtännern ein arger Verftofj gegen bie
Verfaffung begangen worben ift. Vrablaugh ift alfo burch einen btofjen gufaH,
beffen weittragenbe golgen niemanb oorherfehen fonnte, in einer 2lrt VerfaffungS»
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Charles Brablaugfy.
W
fdjjfinge gefangen worben. £iefe Sage, an ber et gängfidj unfdfjufbig ift, hat er
feiner Offenheit unb ©hrlidjfeit, feiner gettiffenfjaften unb tiernünftigen Anfdjauung
über bie SRatur beS ©ibeS, fomie bem Umftanbe gugufchreiben, baß bie Abgabe
einer ©rffärung an ©ibeSftatt jutäffig gu fein festen; für biefe Sulnffigfeit fprachen
fich unter anberm auch ber DberftaatSanwaft unb ber ©enerafprocurator aus,
unb burch bie 9tefofution tiom 2. Quli 1880 gab ja baS §auS felbft bie SDiög»
fidfjfeit biefer 3ufäffigfeit gu. ©efcen h>ir aber ben gafl, baS §auS wäre Wirffidj
berechtigt, über bie Seeibigung feiner ÜJlitgfieber gu tierfügen, fo entftetjt noch
immer bie grage, ob bie ©rünbe, aus benen Brabfaugh’S Beeibigung fiftirt mürbe,
gefefclich ftidhhaftig finb. Auch bieS muß berneint werben; benn fein ©efefe fagt,
baß Atfjeiften, wenn fte orbnungSmäßig gewählt Werben, feinen @ib ablegen bürfen.
$aß Brabfaugh früher affirmirte, fommt logifd» unb juriftifch nicht in Betracht.
Aber, wenben bie ©egner ein, morafifdj wäre es ein Unrecht, Wenn er fcfjtoören
Würbe, darauf ift gu antworten, baß biefer ©tanbpunft ein gang faffcher ift,
benn bie Behauptung, baß jemanb nicht fcfjwören barf, weif er erffärt hat, ein
@ib binbe ihn nicht mehr afS eine Affirmation, fünnte, wenn baran feftgehaften
würbe, nur gur gofge hoben, baß atheiftifefje fjßarfamentömitgfieber in ßufunft
ihre ©efüfjfe berbergen unb ben @ib abfegen würben, ohne fich ber offenen ©fjr»
fichfeit Brabfaugh’S gu befleißigen; unb wäre baS nicht eine weit größere ißrofani=
rung beS ©dfjwureS afS bie bon ben ganatifern beS BarfamentS Brabfaugh’S
Aufrichtigfeit gegenüber behauptete? Unb wenn biefe ganatifer ihm fdfjon nicht
bie Beeibigung geftatten woßten, bamit ber Schwur nicht profanirt werbe, warum
haben fie bie ©inbringung beS bie Affirmation erfaubenben neuen ©efejjentwurfeS,
ber ber ^ßrofanirung beS @ibeS burch Atheiften auf immer ein Gnbe gemacht
hätte, nicht lieber befchfeunigt, ftatt fie mit aßen möglichen SRittefn gu tierf)inbern?
Unb wogu haben fie ihn, afS er, ftatt ben ©ib gu „profaniren", affirmirte, oor
©ericht gebracht? $aburch gwangen fie ihn ja eben, fich i u ber gefürchteten
„fßrofanirung" gu mefben! ®ie SBahrheit ift, baß feine AuSfchfießung - auf ben
Borurtheifen feiner bigoten geinbe beruht.
AfS Brabfaugh fah, es fei feine AuSficht tiorfjanben, baß baS $anS eine Gib»
biß in Beratung giehe, erfchien er am 10. 2Jtai abermals am SifdEje, um gu
fchwören. geht befdjfoß baS $auS: „SDie £>auSpofigei hafte Brabfaugh bem $aufe
fo fange fern, afS er fich nicht tierpflichtet, bie Berhanbfungen beffefben nicht mehr
gu ftören." hierauf würbe er gewaftfam auS bem $aufe entfernt. f£agS barauf
richtete er an ben .©peafer ein Schreiben, in wefdhem er baS Berfahren beS Kaufes
afS ungefefefich unb beifpieffoS hinfteflte unb bagegen proteftirte, unb am 14. gufi,
afS bie Regierung bereits officieß erffärt hatte, bie ©ibbifl fönne in biefer ©effion
nicht mehr beratljen werben, fünbigte er bem Borfifcenben unb aßen Beamten beS
$aufeS ber ©emeinen fchriftfich feine Abficht an, fich am 3. Ang. abermafs ein»
gufinben, um feinen ©ifc eingunehmen. „©oßte mir . . . ©ewaft entgegengefefct
Werben", fügte er fjingu, „fo wäre baS eine ungefefcfiche ^»anbfung, eine 9tufje»
ftörung, eine Berfefcung ber Stechtc ber SBähfer unb ber fßarfamentSgebräuche....
©oßte icf) burch Phhfif<h e ©ewaft tierhinbert werben, ben Borfdjriften beS ©efefceS
nachgufommen, fo würbe ich, in Bertheibigung meines gefehtidfjen 9techtes, ber
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ttnfere ^cit.
ungcfejjlidjctt ©elualt äBiberftaitb leiften unb biefelbe gu überluinbcu Dcrfucf)en."
SRittlerWeile ^ielt et eine grofje Sfagaljl Oon SDteetingS in allen Iljeilen beS San»
beS ab, erläuterte feine Situation unb würbe überall mit ©egeifternitg aufgenommen.
Stofjerbem fanben tne^r als 500 ©olfSüerfammtungen ftatt, bei benen er nicht
anwefenb toar — an einem einzigen Slbenb nicht toeniger als 140 — unb Diele
Waren Don religiöfen Äörperfchaften einberufen, bie efjrticfj genug waren, baS
Princip Don ber Perfmt gu trennen. £>atte ©rablaugh nach feiner erften ©rwäf)*
tung babutcf), baff er ben @ib gu Dermeiben fuc^tc, ber Sache ber SleligionSfrei»
heit — auf bie ©efaljr hin, bie ©egriffe ber „Saturday Review" Don „©erftanb
unb gutem ©efdjmacf" gu Detlefen — einen grofjen unb banlenSwertljen ®ienft
geleiftet, fo erfannte bie öffentliche SJteinung jefct an, bafj er fiel) burcf) baS ©e»
fielen auf feinem üerfaffungSmäfcigen Steckte, gu fchwören unb feinen Sifc eingit*
nehmen, als Sertljeibiger ber Politiken ffreifieiten ber Säljler gegen ben füljnen
unb unbefonnenen ©erfudj beS Parlaments, über ben Sitten einer Säljlerfchaft
gu @erid)t gu fifcen, geigte, ©r fagte, bafj er nicht ruhen Werbe, elfe bie ifjn aus»
fchliefjenbe Stefolution beS Kaufes aus beffen Protofotten geftrichen wirb, wie bies
im Dorigen ^ahrljunbert mit einet Sohn SitfeS auSfdjliefjenben Stefolution gefchat),
bie nach 13 Saljren mit bem Bufafc gelöfd^t würbe: „Seil fie ben Stedjten ber
gefammten Sä^lerfc^aft beS SteicfjeS guwibertief."
©rablaugh hielt Sort. Slm 3. Slug, erfcf)ien er neuerbingS im Seftminfter»
palaft. Sein ©enoffe in ber ©ertretung StorthamptonS, Sabouchere, ftettte einen
Slntrag auf Siberrufung ber böfen Stefolution, unb man hoffte öielfacf), berfelbe
werbe angenommen werben; allein bieö gefdjah nicht, unb gwiföen ©rablaugh unb
anbertlialb ®u^enb fmuSpoligiften tarn es gu einem argen fjanbgemenge, beffen
©rgebnij? war, bafj er auS bem Seicfibilbe beS gangen PartamentSgebäubeS ge»
fcfjleppt würbe unb infolge einer eintretenben Slrmlähmung mehrere Socken hin»
burdj baS 3intmer hüten mufjte.
Saturn begnügt ficfj ©rablaugh nicht bamit, bie Sache in Sort unb Schrift
gu oerfechten? Sarum will er fiel) feinen Sifc mit ©ewalt erringen? Saljr»
fdfjeinlich weit Sort unb Schrift nid^t fo mächtig finb wie baS Sluffeljen, baS im
©efolge ber ©ewalt einljergeljt. Salirfdjeinlidj Witt er burcfj fein $>fjt)fifcl)eö ©in»
greifen bie ©rlebigung ber fragen, um bie es fidj f»anbelt, befchleunigen. Unb
bieS ift it)m auch gelungen. Stach ben wiberwärtigen unb abfolut unerhörten
Auftritten Dom 3. Slug, ftieg bie Stufregung ber öffentlichen SDteinung fo hoch» bofj
ber ©abinetSchef, ber übrigens Don jeher für bie Sulaffung ©tablaugh’S war,
fdjon fünf Sage fpäter eine Interpellation bahin beantwortete, baß, falls ber ©iel»
angefochtene „in ber nädjften Seffion abermals erftf»cint, um ben @ib gu leiften,
bie Stegierung eS für ihre Pflicht holten wirb, bie jjrage in ©etradjt ju giehen,
wie ber Streit gu fchlidjten fei".
®ie Sr ab laugt) auSfcfiliefjenben beiben Stefolutionen Waren nur „sessional",
b. h- fie hotten nur für bie abgetaufene Seffion ©üttigfeit, beftanben alfo bei Antritt
ber neuen 1882 nicht mehr gu Stecht. Sngwifdjen jß p a S Parlament Wieber
eröffnet worben. ®a bie Shronrebe bie Attfünbigung ber ©inbringung einer @ib=
bill nicht enthielt, präfentirte ©rablaugh fief) fofort nach ©ertefung berfelben am
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Clarks Braöfaugtj.
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beS HaufeS, um ben @ib $u teiftcn. Sit Stafforb Nortljcote mieberholte
feinen »orjäfjtigen Antrag; ©rabtaugf) erffärte, fein SWanbat niebertegen ju motten,
falls Northcote ben Antrag jurüdjiehe unb baS HauS eine neue ©ibbitt in SBera*
thung jiehen mode; er mürbe gar nicht »erlangen, ba| biefe SSttt auf feine »or=
jährige 3Baf|I rüdmirfenb fein fotte. Allein trofcbem auch bie Negierung energifch
gegen ben 9?orttjcote’fcfjen Antrag auftrat unb bem Haufe jebe gefefcliche ©eredj*
tigung ju einem inquifitorifchen ©erfahren abfpradj, mürbe ber Slntrag jum ©e*
fchlub für bie taufenbe Seffion erhoben. Sobann befchlob baS H Q uS, ©rablaugh
müffe fich jurüdjiefien, unb er tljat bieS mit ber $rot)ung, immer mieberju-
lommen, bis bie Angelegenheit erlebigt fein merbe. Am Jage nach ber (Eröffnung
mürben Petitionen mit etma 200000 Unterfchriften ju feinen ©unften eingereicht.
®te befinitiöe ©ntfdjeibung ber grage ift, mie mir foeben gefehen, auf unDorljer*
gefehene SBeife oerf«hoben morben, unb baran ift theilS bie gurüdhaltung, tf(eils
bie f^a^nenfCä^tigfeit ber „Siberalen“ fchulb. ßabouchere hat bereits eine neue
©ibbitt eingebracht; jefct bleibt nichts übrig, als abjumarten, melcheS Schidfal
biefe haben, mie fich bie Regierung fernerhin »erhalten unb ju melden meiteru
Schritten ©rablaugh fclbft fich entfdjfießen mirb. SBir finb überzeugt, bah eine
friebliche Söfung nicht lange auf fich harten taffen merbe.
Unferm gelben ift in biefem Kampfe für ©ebanlen* unb SBahlfreiheit eilt
Dotier ©rfolg ju münfehen, um fo mehr, als er, mie SDlorrifon JaDibfon, ber feine
theotogifchen Anfchauungen feineSmegS theitt, ebenfo unparteiifd) mie richtig benterft,
„getabe jefct für baS Unterhaus beS Parlaments ein bringenbeS Sebfirfnifj ift,
benn biefe ®örperfd)aft leibet an einer Sranfheit, metche fchtimmer ift als eine
Sähmung. Sann irgenbmer ben ßeichnam micberbeteben, fo ift er eS, benn hcf=
tige Stanfheiten erforbem braftifche Heilmittel. UeberbieS hotte ich eö für meine
Pflicht, ju befennen, bah ev nteineS SBiffenS in politifrfjen fragen noch nie einen
fatfehen SBeg eingefchtagen hot“.
©rablaugh ift ein gemattiger SRebner. Seine mohlfliitgenbe Niefenftimme, bie
er mit grober Jeutlidhfect unb fchöner SKobulirung anjumenbeit meih, fomie fein
fnapper, ferniger Stil unb feine lurje, fräftige, ben Nagel ftetS auf ben ®opf
treffenbe Jialeftif machen eiuen mächtigen ©inbrud, ber uns begreifen labt, bah
biefer Autobibaft auf bie SNaffen einen fo groben ©influb auSübt, bab Jaöibfon
behaupten !ann, nächft ©labftone höbe lein Potitifer in ©nglanb einen fo unge=
heuern Anhang mie ©rablaugh- 35er genannte ©emährSmann fügt hinju: „Seine
groben ©rfolge Derbanlt er hauptfädjlich feiner Kühnheit, feinem fcharfen ©eift,
feiner titanenhaften SBitlenSftärle unb feiner ©harafterfeftigleit. SBenit er nicht
ein echter $etb jp, f 0 m ub er eilte überrafchenb gefchidte Nachahmung eines foldjeu
fein. Sn feiner SBeife unb burch fein Seifpiel hot er Diele Jaufcnbe Don Ange*
hörigen ber niebrigften Stoffen mit neugeftörften ©efühten beS SelbftDertrauenS
unb ber Hoffnung erfüllt unb fic gelehrt, Selbfthülfe ju üben unb jebe Unter*
brüdung ju Derobfcheuen." SBie bie meiften Atheiften, hat auch er ben, freilich
ganj hormlofen gehler, ein ju ftarleS Selbftbemujjtfein 51 t befifcen; bie ©efcheibeu-
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Unfere ^cit.
heit gehört nicht ju feinen Üugenben. 'Eetn (Stiftet beS ©hriftenthutfiS regnet et
bie ©ebulb, bie 2 )emuth unb bie Stachftchtigleit als ©harafterfcf)toächen an.
3n einem Sluffafc übet Henrt) JtjomaS Sudle in biefet 3citf^rift*) tjaben mit
bemerft, baff biefer fidj in feinen äJlufjeftunben mit bem Schachfpiel erholte unb
nicht nur ein bebeutenber ©ulturhiftorifer, fonbern auch einer bet IjerDorragenbften
Sdjachfpieter mar. ffienn Srablaugh überarbeitet ift unb ben ®opf Doßer Sorgen
hat, mirft er aßeS beifeite unb fudjt im Singeln Erholung. ©r gehört ju ben
auSgejeichnetften Singlern ©nglanbs unb fiat eine SReifie ton SJteifterjügen gethan,
bie bislang Don feinem anbetn Anhänger biefeS Sports erreicht morben finb.
®iefe Sorliebe für bie Singelruthe Ijat er tion feinem Sater ererbt.
Seit einigen Sauren ift er ©räfibent ber englifchen greibenfergefeßfc^aft, bie
aus bem ehemaligen lonboner Serein hertiorgegangen ift unb in englifchen Stabten
über 60 Smeigüereine befifct, beren Segrünbung in ben meiften Süßen birect auf
bie Semütjungen Srablaugh’S jurüdjuführen ift. SllS Seiter biefer grofjen Ser=
einigung mar er ©nbe September 1881 in ber Sage, ben jmeiten ^internationalen
Sreibenfercongrefi, ber f)ier unter bem ©hrenpräfibium Submig Süchnefs tagte,
ju empfangen unb ju betoirtljen. Stoch immer pflegt er Don 3«t ju 3eit mit
Üheoloßew öffentlich ju bebattiren. Sei Dielen StfScuffionen gemann er {ich bie
Hochachtung feiner ©egner. SllS einmal baS ©erüdjt ging, fein Seben fdjmebe in
©efahr, mar ber erfte, ber an feine yrait ein herzliches Seileibfchreiben richtete,
ein ©eiftlicher, mit bem er einmal bebattirt h fl t^- ©in anberer ©riefter, ber
befannte ©ater SgnatiuS, fagte in einer ©rebigt: „Sch Derbamme bie Ungläubigen
nicht, fonbem bemunbere fie, meil fie ihre Slnfidjten mit mehr SJiuth unb ©nergic
Derbreiten als mir armfclige ©hriften bie uuferigen. SKöchten hoch bie ©hriften
ctmaS Don Srablaugh lernen! SBäret ihr für baS ©h r iP en ^ u m fo eifrig bemüht
mie Srablaugh für ben Atheismus, fo mürbe es mit unferm ©lauben in biefem
Sanbe anberS befteßt fein!"
SßaS Srablaugh’S SBerfe, 311 m großem 2h e ^ Srofdjüren, betrifft, fo ift ihre
3ahl Segion. Sie ^erfaßen in fociale, potitifche, hiftorifepe unb antitheologifdjie.
Sn ben erftem befchäftigte er fiep meiftenS mit bem Serhältnifj ber Armutf) jur
ScDölferungSfrage in malthufianifchem Sinne, ferner mit bem SoS ber irifchen
Säuern unb mit ber AuSmanberungSfrage. Seine „Sßinfe für Emigranten nach
Sßorbamerila" finb aßgemein als baS merthDoflfte, unbefangenfte unb grünblidjftc
afler Dorhanbenen Sücher über biefen michtigen ©egenftanb anerlannt. Seine
©rornmefl* unb SBafhington=Siographien jeugen üon ftaatSmännifcher ©inficf)t; im
aßgemeinen jeboef) leiftet er auf bem Selbe ber SebenSbefcpreibung nichts Sefon«
bereS. Am Derbreitetften finb feine Politiken Schriften, namentlidh fein Derbienft*
Doßer Sreujjug gegen „bie emigen StaatSpenfionen", bie ebeitfo fchmachDoß mie
ungerecht finb unb ben britifdjen StantSfchafj ganj ungebührlich belaften; ferner bie
„Anfechtung ber braunfehmeigifefjen ®pnaftie in ©ngtanb". 5 )ie ungemein furje
Setbftbiographie, bie er 1873 Deröffentlichte, ift natürlich recht intereffant, befrie»
bigt aber im ganzen nicht fehr. ©ine ftattliche fRei^e Don Sänbcn ift mit genauen
*) »gl. „Unfere Seit", 1881, I, 23G fg.
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Charles Sraölaugf?.
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Scripten über feine 5)iScuffionen unb ^roceffe gefüllt. Siete Srofdjttren tjat er
ber ©omntentirung ber Sibel gewibmet. ©eine ©titberungen beS Sebent SDabib’S,
Satob’S unb Sonatj’S finb rec^t amufant. SB on feinen Vereiterungen ber rein
attjeiftiften Siteratur finb Ijerborjutjeben: ,,©ibt es einen (Sott?", „©taubenS*
betenntniß eine« Sttfjeiften", „Eine fionje für ben StttfeiSmuS".
Siete äRitgtieber ber „beffern" Greife bet englifdjen Oefettfc^aft tjegen biefetben ober
citjntidje Knftauungett tote Srabtaugtj; wenn er bennot gerabe bon biefen Greifen
bietfnt angegriffen unb fdjetnbar berattet wirb, fo gefdjiefit es, weit er feine
9tnftauungen, um mit laine 31 t reben, „au« bem ©aton auf bie Straße getragen",
weit er Setjren, beren ßenntniß bie „fjöljern" ©titten auf eine Keine Stnjatjt
WuSerWätjtter befträntt wiffen ntötten, boItstf)ümtit ju maten beftrebt ift, weit
er ben mobernen eteufiniften SDtpfterien aus ber ©tute ptaubert. Sragt man,
ob er als tßropaganbift in gutem ©tauben tianbett unb ob er feinen Ueberjeu*
gungen treu ift, fo müffen Wir antworten, baß er fit jWar nitt bei jeher ber
jaljtreiten Saufereien, beren SJtittetpunft, §etb ober 3teitnef)mer er War, ber
botlfommenen Sittertitteit eines SomancabatierS befleißigt, baß er aber für bie
SBafirtjeit, jwie er fie auffaßte, ftetS tapfer unb mannhaft geftritten t)at, unb eS
unterliegt faum einem Bweifel, baß er bon ber Satwett mit Sett atS eine ber
bemertenSWerttjeften ©eftatten feiner Beit unb feines SanbeS betrachtet werben Wirb.
Unten Bett. 1883. I.
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(Hf)r0mft 'iitx (föegemtwtt
Kenne der (Erb- nnb Kölkerknnbe.
SBieberum ift eS ein ©reignifj aus ber froftigen 2Belt beS arltifcben StorbenS,
welches faft auSfdjliefjlicb unfere 2lufmerlfamteit gefangen nimmt: bie SBieberauf»
finbung bet amerilanifchen SrforfcbungSeEpebition ber Seannette, welche, mie
unfere Sefer miffen, ber Herausgeber beS „New-York Harald" 1879 auSgerüftet,
bon ber man aber feit langer 3eit nichts mcljr bentommen batte. 2)ie 3eannettc
batte fi<h bie 31 ufgäbe geftedt, eine $urcf)fafyrt pjifdjen ber ©cringS» unb ber
TabiSftraie p erzwingen. Sie berliefj @att=granciSco am 8. 3Suli 1879; Anfang
31uguft befanb fie fid> an ber 3«fel llnalafdjfa; feit jener 3eit blieb jebe SRadjricbt
au«. Xie Oberleitung beS ©Riffes batte ber amertfanifdje ©eeoffijier Xe Song,
welcher bereits 1873 an einer Storbpolfabrt beteiligt war, als cS ficb barum
banbeite, bie ©Epebition ber polaris p fucben. Sieben Xe Song waren 3. 3-
©ollinS unb SR. S. Stewcomb als miffenfcbaftlicbe gacbmänner an ber Seitung ber
©Epebition betbeiligt. 311S bie 3eannette auSgerüftet würbe, warnten erfahrene
SBalfifdjfänger oor ber fcbwatben 3Raftbinc beS Kämpfers, bie nicht ^inreic^e,
rafdj genug ben ©isbergen auSpweichen. Xie SBarnung fcbeint berechtigt gewefen
p fein. 2llS nach 3abreöfrift leine Stacfjricbt einlangte, begann man in SJmerila
um bie ©Epebition p fürchten; ber ©ongrcfj rüftete baljer jwei ©uebfehiffe aus,
ben SRobgerS unb ben Xont ©orwin, welche am 16. 3«'” 1881 ausliefen, um bie
3 eannette p fucben. 2lnfang Xccentber 1881 lam ber erfte 93ericE»t biefer Schiffe
nach Haufe; fie batten auf ber burcblaufenen ©trede leine ©pur, auch nicht bie
geringste, ber 3eannette gefunben, wiewol Xe Song nach getroffener ©erabrebung
in 3(bftänben öon etwa 40 Kilometer Steinhaufen p errichten batte. Söäbrettb
fie noch auf ber Suche begriffen waren, traf aber gan^ unerwartet Sunbe öon
ber 3eannette ein, prnr eine traurige, babei aber boeb frohe Sunbe; benn bie
SWebrbeit ber SRannfcbaft ift gerettet. Stad) ben öorliegenben Xepefchen warb bie
3eannette am 23. 3uni 1881 unter 77° 15' nörbl. ©r. nnb 157° öftl. S. öon ©reen*
wich öon ©iSmaffen ööüig eingefcbloffen unb oder SBabrfcbeinlichleit nach jerquetfdjt;
bie SRannfcbaft fuebte ihr Heit in ben brei ^Rettungsbooten, lieber bie frühem
©djidfale beS XampferS febreibt einer ber Storbpolfabrer: „21m 15. ©ept. 1880
erreichten Wir ben ©olf öon ©umberlanb; bie mittlere Temperatur war 40°
(Welche?) unter Stud. Tie SRannfcbaft baute ein ©iSbauS, in bem einige gäffer,
pei Defen unb fecbS ©onferöentiften untergebracht würben. 3« biefem Haufe
froren Wir 40 bange lange SBocbcn, baS ©cfidjt gegen bie Defen gebrüdt, mit
eiSftarrem ©arte, öon ©torbut befaden, aber ftetS ftanbbaft unb cntfcbloffen. @o
öerbrachten wir ben Sßinter öon 1880 auf 1881. XaS Xbermometer fanl bis
auf 52°. Unfere ©ebaufung öerfcbwanb unter 14 gujj tiefem ©cbnec; heftige
SBinbe in ©egleitung bon febneibenbem Hagel äWangen uns, bei XobeSgefabr, Xag
unb Stacht baS Reiter mit Söhlen unb ©cebunbstbran in ben Defen p unter*
halten unb fo unferm eigenen ©lute einige SBärme p üermittetn. ©egen SRitte
beS 3anuar bat uns eine Sarabane öon ©SlimoS um einige getrodnete gifebe unb
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Herme ber <£rb= unb Dölferfunbe.
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um ©ranntmein. SBir gaben ifjnen noch etmaS Tabacf unb fte bantten uns
baför mit greubenthränen. TaS Oberhaupt beS Stammes, ein gebrec^Iit^er ©reis,
erzählte uns, baß er im notigen SBinter feine grau unb feine $mei Söhne ge=
geffen höbe, Weit jebe anbere Nahrung fehlte (?). ©üblich brach bie Sonne burch
bie SRebel biefeS entfestigen SBinterS. 2tm 20. 2Rai ftrichen grühlingSlüfte,
aber auch Süchte um unfern IRothbau; bie armen Spiere juchten fich an unfern
Defen p märmen. SBir ertegten baoon brei Stücf. TaS Thermometer ftieg nun
auf 10°, unb bie ©eiehrten ber ©jpebition tonnten ihre Arbeiten Wieber auf*
nehmen." Stach bem Schiffbruche ber geannette fuchten fich bie ißolarfahrer in
brei Sooten nach ber etwa 80 Kilometer entfernten Senamünbung p retten, mürben
aber burch heftige Stürme unb StiebeI »oneinanber getrennt. TaS SSSatfifcf)boot
unter gührung beS erften Ingenieurs, ©eorge SMbitle, erreichte bie öfttiche SDtün*
bung beS SenaftromeS am 17. Sept. 1881; hier hinberte pcar baS glußeiS, aber
bie SiSfdjoHen hielten baS gahzeug bei bem bon ^cibnifcfjen ©ingeborenen be=
mohnten SBeiler Solonenga feft, mit beffen ©ommanbanten SDietoiHe fich fofort in
©erbinbung fefcte. Slm 29. Dct. hörte er, bafj baS erfte ©oot, beffen Semannung
Sieutenant Te Song, ©otlinS, Dr. Slmbler unb 11 anbere bitbeten, an ber nörb=
tichen Senamiinbung angefommeit fei, bie ÜRannfchoft in einem furchtbaren ßu-
ftanbe, Ijotb »erhungert unb theitmeife mit erfrorenen ©liebmaßen. ©om jmeiten
©oote, metcheS ben Sieutenant Tunbar nebft fe<hS SDiann trug, fehlen aber atte
Stachridjten.
Ueber bie miffenfchaftticheu ©rgebniffe biefer ©jpebition ift noch gar nichts
oertantbart. Tagegen haben bie beiben Suchbampfer Tom ©ormin unb SRobgerS im
$ahre 1881 bie ©rforfdjung beS bisher bötlig unbefannten SBrangetlanbeS atS
geographifch bebeutenbcn ©rfolg gu bezeichnen, gunächft fanb ber ©ormin eine
günftige Gelegenheit, um an ber $eratbinfet p tanbcn, mo ein 365 SOteter hohe»
©erggipfel aufgefunben mürbe. Tann gtücfte eS ben Slmerifanern unter Sieutenant
fRctjnolbS, am 12. Slug, auch bie Süboftfüfte beS SBrangettanbeS p erreichen,
an ber SWünbung eines gtuffeS, metchem fie ben 9lamcn ©tarf fRiber gaben. Sie
tonnten beftätigen, baß ein fchon früher beobachteter £>öhenpg, bie ©lebin SJtountainS,
meit gegen Slorben ftreicht. S3ebeutcnber finb aber bie Unterfudjungen beS SRobgerS,
eines großem unb beffer auSgeriifteten Schiffes, melcßeS 13 Tage fpäter bei
SBrangettanb antam unb fich fofort an bie Turchjorfdjung biefer terra incognita
machte. Stm SRachmittage beS 27. Slug, berließcn nicht meniger benn brei gorfdjungS»
ejpebitionen baS «Schiff. Tie erfte berfetben, meldje bon Sieutenant ©errp, bem
©ommanbanten beS SRobgerS, fetbft geführt mürbe unb außer ihm noch aus bem
SchiffSarjt Dr. 3oneS unb bier SRantt bcftaitb, ging perft in faft nörblicßer
Stiftung gegen 32 ffitometer meit in bie gnfet hinein. 3>»ei fpügelfetteu folgen
bem Saufe ber nörbtichen unb fübtichen Stuften, mährenb eine ©entratfette, bie
aber niebriger als bie ftüftenberge ift, in oftmefttidjer Dichtung bie gnfet burch*
jieht. ©errt) beftieg einen, faft im ©entrum ber gnfet gelegenen, etma 760 ÜDteter
hohen ©erg, bon mo er offenes äReer rings um bie gnfet fchen tonnte, mit SluS»
nähme beS SBeftenS unb SüboftenS, mo eine holte Sergfette bie SluSfidjt hinberte.
3ebenfattS mürbe aber ber bisher unbefannte infulare ©tjarafter beS SBrangellanbeS
außer 3b> e itel geftetlt. ©ine anbere ©jpebition, unter Sieutenant SBaring, mit
Dr. ©aftitto unb fünf SDSann, trat eine ©ootfahrt gegen Dften an unb erreichte
noch om Slbenb ©ap §amaii, mo gelanbet unb gelagert mürbe, gn ben nächft*
folgenben Tagen marb bie gahrt längs ber ®üfte, nicht ohne mancherlei ©e*
jchmerlidjfeiten, bis p einem ©ruch ©oint benannten fßunfte fortgefeßt, mo SBaring
befcfjloß, baS ©oot prücfplaffen unb p guß über Sanb pm Schiffe prücfp=
teuren, bei bem bie ©jpebition nach großen Slnftrengungen unb in feßr erfchöpftem
3uftanbe anlangte, ©ine britte ©jpebition enblich, unter Sieutenant Jpunt, mit
bem Ingenieur 3ane unb fünf SRann, hotte bie SBeifung, bie gahrt um bie 3nfel
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Unfere ^eit.
in weftlidjer Stiftung au§jufü^ren. Drojj conträren SBinbel gelang biel jum
gröfjten Dljeif- Siadjbem aber |>unt einen ©unft erreicht t(atte, Wo iljn nur noch
eine ganz furze Strecfe ton SBaring’l (extern Säger trennte, fap er fiep, tote jener,
bon bemfelben unburcpbringlichen ©acfeil gezwungen umjufetjren. Obgleich cl
fomit feinem ber ©oote gelang, bie llmfc^iffung bon SSrangellanb aulzuführen, fo
ift biefelbe bennod) infofern boQftänbig, all bie beiben Umfefjrpunfte in beut»
lieber Sicht ooneinanber waren. Dal ^auptfdjiff, ber Stobgerl, blieb Wäfjrenb
biefer ©jrpebition mit 19 SJtann unter ©efeljl bei Sieutenantl ©utnam juröcf,
Weidner mittlerweile ©ermeffungen bei fRobgerlljafen genannten 9lnferplahel nnb
Oer benachbarten Süfteutinien aulführte. 2tm 23. Sept., nach neunzehntägigem
Slufcntfialte, »erlief ber fRobgerl feinen $afen, um nod) jwei ©orftöfje gegen
Storben ju machen, bei welchen er 73° 44' nörbl. ©r. unb 171° 48' tueftl. 2.
erreichte; el ift biel überhaupt ber hödjfte, je im Sforben ber ©eringiftrafje er»
reifte ©unft. ©on hier fonnte, bom SWaftforbe aul, nicht blol nach korben fein
Sanb gefehen werben, fonbern el ergaben auth bie Sotljungen,* bafj bie SDicercl»
tiefe, je Weiter bal Schiff gegen Sforben fam, junnhm. 91m 26. Sept. befanb
fidj ber Sfobgerl wieber bei ber £eralbinfel unb traf am 15. ßct. in ber ©aint»
Sorenjbai ein, um bort ju überwintern.
Stoch fein Sterblicher fdjien borljer feinen gufj auf bal Witbe jaefige ©ebirgl»
lanb ber SBrangelinfel gefegt ju haben; bie 9lmerifaner glaubten bie erften ju fein,
welche mit einem Schiffe el erreichten, unb nahmen el für bie ©ereinigten Staaten
in ©efifc; auch gaben bie ©ntbeder bem Sanbe fehr unnötljigerWeife einen neuen
Slamen: Steu»Kolumbien. Saum aber war biefe ©otfehaft in SBafljington ange»
langt unb befannt gemacht, ba fam bie Stachridjt aul ßanaba, baff biefel Sanb
auf bie 3nfcl SfnfprudE) erhebe, auf Welcher feine Seeleute fchon bor fahren ge»
lanbet feien unb bie fie auth fdjon für Sanaba in ©efip genommen hätten, ©liief»
lidjerweife ift nicht z u befürchten, baff biefer Streit einen Srieglfall zwifdjen
beiben Staaten abgeben werbe.
Sticht minber bebeutfam ift ein anberel polarcl Unternehmen ber Slmerifaner.
9(m 4. 1881 berliefj nämlich ber ©rotcul, ber ftärffte Dampfer ber atlan»
tifdfjen SBalfifchfängerflotte, ben $afen Don Saint=Sohnl in Stcufunblanb, um bie
SJtitglieber unb bal SJtaterial ber an ber Sabp 3ranflin=©ai im Smithfnnbe ju
erridhtenben meteorologifdjen Station an ihren ©eftimmunglort ju bringen.
91m 12. ©ept. traf ber ©roteul nach einer äufjerft erfolgreichen ffahrt wieber in
©aint-Sohnl ein. ©omit hätten bie 9lmcrifaner bereitl bie erfte Station jener
großen Sette bon ©olarcolonien gegriinbet, welche nach bem ©efdjluffe ber inter»
nationalen ©olarconferenz im Igapre 1882 bon ben berfcfjiebenen ^Regierungen
ringl um ben Sforbpol angelegt werben füllten. Die bon Sieutenant ©reelp be»
fertigte Kolonie an ber Sabp 3rranfliu»©ai befteht im ganzen aul 24 ©erfonen,
bie fich freiwillig in eine zweijährige ©efangenfehaft begeben haben, nämlich: bem
©efehllhaber, zwei anbern Offizieren, Dr. ©abp, bem Korrefponbenten bei „New-York
Ilerald", 5 Sergeanten unb 14 SRann bom ©ignalcorpl, allel aulgcfuchte Seute.
9luch bie zweite amerifanifche Station ift bereitl in 9Ingriff genommen; am
18. S«ti 1881 berliefj Sieutenant SRap bom ©ignalcorpl mit 9 ©egleitern auf
bem Schoner ©olben gleece ben #afen bon San=grancilco, um, burd) bie ©eringl»
ftrafje fahrenb, am Kap»©arrow, bem nörblidjften ©unfte 9lljalfal, in 71° nörbl. ©r.
eine meteorologifdje Station zu grünben.
SBir wollen bal ©olargebiet nicht berlaffen, ohne noch zweier junger beutfeher
©eiehrten zu gebenfen, ber Herren Dr. 91rthur unb 91urel Sraufe, Sehrer an
einer berliner ©ürgerfdjute, weldje im 91uftrage unb auf Soften ber ©eographifdjen
©cfeHfchaft in ©remen über Storbamerifa nach bem Dfdjuftfcpenlanbe fief» begaben,
um bort ethnographifdje unb naturwiffenfchaftlichc Sammlungen zu machen. Dffi»
cicUe unb pribate Empfehlungen an bie norbamerifanifdjen ©epörben unb herbor»
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Heime ber <£rb= uitb Pölferfunbe.
ragenbe fDlämter, »nie Ißtofeffor Spencer Sairb unb £>. SB. SaH, haben ihnen
babei nicht gefegt. 9?acf) einem zweimonatlichen Sanbaufentljalt in ber 9iäf|e ber
Sorenjboi finb biefetben am 5. 9ioo. 1881 auf bem früher genannten Schoner
©olben gleece mit iljten Sammlungen gtücflicf) unb wohlbehalten wieber in San»
granciSco eingetroffen. (Sin Sljeit ber auf ber Sfchuftfchenhatbinfel gemachten
Sammlungen ift bereite in Sremen angetangt; ferner haben bie Herren einen aus»
füljrtichen Sfteifebericht eingefanbt. 3" €>an»granciSco hielten fie fid) bis (Snbe 9?o=
bember auf unb fdjifften firf) bann auf bem Kämpfer Kolumbia nach bem Sterben
ein, in ber Slbfidjt, ben SBinter in einer gactorei ber •Jtorth s 2Bcft»Srabing»Kompanh
zuzubringen, toefd^e am Spnnfanal, im ©ebiete bet Khilcatinbianer, etwa unter
59° ttörbl. 93r. gelegen ift. Sie Waren ^ierju tjoit bem ißräfibenten ber Kom»
pagnie, einem Seutfdjen, ißaul Scfiutjje, eingelaben. 9tm 29. Stob, trafen bie
©ebrüber ©raufe in ^Begleitung beS befannten SchriftftellerS Sheobor ©irdjlwff aus
San=granciSco in ijSortlanb ein, wo fie auf baS liebenSWürbigfte bon fßaul Schutte
empfangen würben. Sie genannte Kompagnie ift noch eine feljr junge ©rünbung.
Sie batirt erft bont grüJjja^r 1880 unb bejwedt bie Sluffchliefjung ber natürlichen
$ülf3que0en beS fübWeftlichen SlljaSfa bis jum (SoofS gnlet, unb Seförberung bon
^anbelsunternehmungen in Kalifornien, Dregon, 3Bafhington»Serritorium unb 811=
jaSfa. Sie ^at bisjept fünf ^anbelspoften an berfdjiebenen Sanften ber ©iifte
errichtet. Kiner berfelben ift in Sitfa unb ber nörblidjfte am Kf)ilcatftuffe. Stuf
einem anbern Kämpfer fd»ifftcn fich bie SReifenben bon fßortlanb jur Sa^rt nach
Sitfa ein. Slm 4. Sec. erreichten fie bie äRünbung beS KotumbiaftuffeS unb am
5. früh $°rt SoWnSenb, einen neuen ißtah, ber wegen feines ausgezeichneten |>a=
fenS wahrfcheintich eine bebeutenbe Sufunft ^ot. Son ^Sorttanb nach SoWnSenb
führt eine Kifenbaljn. Sie ißrobucte ber SBälber wie bie Steinfohtenminen, unb
in ben testen fahren auch bie Krjeugniffe beS SlcferbaueS, tiefem jährlich fteigenbe
StuSfuhren. Slm Slbenb beS 5. Sec. famen bie Steifenben in Sictoria an, Welche
$afenftabt bnreh ihre Sage an Seifen unb SBätbern unb burch bie fauberti ^otj»
häufet biet Stehntictjfeit mit norbfchwebifchen ©üftenorten hat. Sie Snbianer woh¬
nen in einer befonbent ©rappe bon Käufern jufammen unb fcheinen in guten
Serljättniffen ju fein. Sitfa Würbe am äRorgen beS 12. Sec. erreicht. Sie um»
gebenben Serge fteigen bis jur ipöhe bon 1000 -Steter auf, in ber gerne zeigt
fich bie abgeftnmpfte Shramibe beS SDtount Kbgecomb, eines erlofdjenen SulfanS.
Ser Drt hat, feitbem er bon fRufjtanb in amerifanifchen Sefifc überging, an Ser»
feljr bertoren. KS befteht hier eine ÜJtiffion ber ruffifch=griedjif<hen ©ircfic. 8lud)
hier bitben bie gnbianer einen arbeitfamen Sljeil ber Sebölferung. Sie berforgen
bie Stabt mit $otz, gifdjen unb SBilbpret, Ieiften Sienfte auf ber SBerft unb in
ben SBaarentagern unb befchäftigen fich aufjerbem mit Sehnig» unb gtecfjtarbeiten.
Slm 14. Sec. ging bie galjrt weiter bon Sitfa burch betriebene enge SDteereS»
ftrafjen nach JfjarriSburg, Wobei bie Ufer mitunter prächtige Scenerien barboten.
^artiSburg würbe am 15. Sec. erreicht. KS ift eine ©olbgräberftabt, bie erft
bor Wenigen Sagen burch Sefctjtuf} ihrer Sürger ben ftotjen SRamen „guno Kitp"
erhiett. Sie liegt norbweftlictj ber SlbmiralitätSinfel auf bem gefttanbe. Sou
biefem fßlafc aus hatten bie fReifenben nur noch 4—5 Kanoetagereifen nach ber
obenerwähnten gactorei ber 9torth»3Beft»Srabing»Kompanh jurücfjulegen.
Sluclj aus Slfrifa finb wieber betriebene SRadjrichtett ju regiftriren. Ser
engtifche Staturforfcfier Shomfon ift im Sluftrage ber lonboner ©cographifchcu @c-
feflfchaft in ßanjibar angefommen, nm baS ©ebiet jwifchen bem SRobnma im
9torben, bem Stpaffafee im Dften unb bem ^antbefi im Süben ju erfordern Ser
belgifche ©apitän Kpef einer ber bon ber gnternationaten 9lffociation
errichteten Stationen, ift ju Ughua einer Seberfranfheit erlegen, unb brei algerifche
SRiffionare ber Station Urunbi, bie fßatreS fdi^arb, SJiorat unb fßonfrebat, finb
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Unfere ^eit.
j»et Sagereifen üon Stpabame# entfernt ermorbet tnorben. 3 m äquatorialen
SBeften toirft ©aoorgnan be ©rajja mit ftaunenswertpem Erfolge für bie Ent*
Wtdelung be# £anbel# unb erfreut fiep ber entpufiaftifcpen Zuneigung ber Sieger,
wäprenb öon ©tanlep nicht# Bemer(en#merthc# oerlautet. S)ie Einrichtung eine#
neuen SBege# in# 3«nere, oon SKbona nach &'abinba foftete fo oieten freien Siegern
ba# ßeben, bajj ©tanlep fich juin Slntaufe oon ©(laüeu eutfcpliefcen muhte. 3«
feiner Umgebung befinbet fich ber Seutfdje Dtto ßinbner, welcher fchon an ber
beutfcpen ßoattgo*Ejpebition betheiligt gemcfen unb nunmehr im Sienftc ber 3nter*
nationalen Slfritanifdjen ©efeflfcpaft fleht. Eitbe 1880 reifte er mit Sllejanber
$ertwig, ber gleichfalls oon Briiffel au# gewonnen War, über Suez nach 3<»n*
" jibar, warb bort ßeute an, fuhr mit biefen Slnfang gebruar 1881 nach ber Eapftabt,
wo er Anfang SJtärz eintraf, unb weiter in einem gecharterten (Schiffe nach bem
Eongo. Dort langte er Enbe SJtärz an, fuhr im Slpril mit feinen ßeuten ftrom*
aufmärt#, gefeilte fich zu ©tanlep unb brach Slnfang SJiai ju einem Borftof? nach
bem Innern Slfrita# auf. Dr. Bapol, einer ber Begleiter ffopitän ©allieni’#,
ift in Begleitung ber Slbgefanbten be# Sllmanp oon Sintbo au# ©enegambien
Zurüdgeteprt.
Eine ber intercffanteften unb zugleich Wiffenfcpaftticp Wicptigften Steifen war
inbejj jene be# Dr. SB. Ü?ob eit, bercn Biet bie un# am nächften gelegenen
Speile Slfrita# waren. Ser Bmed ber mit Unterftüpung ber franffurter Stüppefl*
Stiftung unternommenen Steife war bie llnterfuchung ber 3Jtoßu#(enfauna ju beiben
©eiten be# Wefttichften SJtittelmcere#, um ©ewijjpeit z u gewinnen über bie Slu#*
behnung ber ehemaligen SanbOerbinbung jwifchen Spanien unb Slfrita. Sie Steife
Würbe am 7. SJtärz angetreten unb ging burcp ©übfrantreicp unb ©panien bi#
Eartagena, wo bie lleberfaprt nach Dran ftattfanb. Ser SDlonat Slpril war ber
Unterfudjung ber gauna Oon Dran gewibmet. Sann reifte Dr. Sfobelt nach
!ara unb ©aiba. ©ein ißlan, bi# ©trpüiße Oorjubringen, würbe burch einen
Weinen Unfaß üereitelt unb ber Steifenbe baburch oor BerWidelung in bie gleich¬
zeitig au#brecpenben Uitrupen behütet. Er (ehrte über SJioftaganent nach Dran
jurücf, bi# bie Berpältniffe fich flrflärt hotten unb er zur llnterfuchung Oon Slemfen
unb Umgebung fdjreiten (onnte. Bon Dran ging er nach ©ibraltar, auf beffen
Erforfepung bi# Sllgefira# hin er einige SBocpen oerweubete. Einen Weitern Eentral*
pun(t feiner gorfepungen nahm Dr. ffobelt in langer, oon wo er nach Setuan
ritt, beffen umliegenbe Berge mit ihrer intereffanten gauna ipn achtzehn Sage lang
feffelten. Er fanb hier eine Slnzapl oon 3Jtoflu#tenarten, welche au#nahm#weife
ficilifepen gormen ungemein nahe fiepen. Bon Setuan feprte Dr. hobelt über
Eeuta unb Sllgefira# nach ©ibraltar zuriiet unb üon ba über Stonba unb ©ranaba
naep bem Ba#fenlanbe. 9lm 10. Slug, traf er wieber in ber Heimat ein. SU#
aßgemein intereffaute# Siefultat biefer £rforfcpung#reife barf mit ziemlicher Sicher*
heit angenommen Werben, bah ber alte ßanbzufantmenpang z^ifepen ©panien unb
SJtarotto fich nicht auf bie ©äulen be# ipercule# befepräntt, fonbem minbeften#
bi# zum SDleribian oon Dran unb Eartagena zurüefgereiept put.
3« Slfien oerbient bie merfwürbige Steife Erwähnung, Welche bie beiben
sperren Bonüalot unb Eapu# mit ber zurüeffeptenben @efanbtfcpaft#faraüane,
bie ber Emir oon Slfgpaniftan an ©eneral Saufmann gefepieft patte, üon ©amar*
(anb naep $erme# am 9tmu*Sarja machten. lieber Sfdjame unb Sarfcpi (amen
fie naep ®ilif» festen pier über ben Slmu unb zogen naep ©epirabab burep bie
ßanbfcpaft Sfdjufcpta, brangen in ba# Spat ©urepan unb burepwanberten bie gut
bewäfferte, anbaufähige, aber wenig bewopnte Stuinengegenb (gul gnla), welcpe üom
Sorfe SK Surgan bi# Sernie# fiep erftredt. SBaprfcpeiulicp finb Bonüalot unb
Eapu# bie erften Europäer, welcpe bie mufelmanifcpeu Stuinen oon Scrme# be*
fuepten, bie fiep wie in Bald) oermutplicp auf ben Sriimmcrn irgenbeiner alt*
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Polttifdje Herme.
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griedfjifcfjen Stabt ergeben. Slm 10. 9Rai 1881, gwei SRonate nach ihrer Slbreife,
waren bie beiben grangofen wieber wohlbehalten in Santarfanb. korben
beS afiatifchen gefttanbeS f»at bie im grüfjjahre 1881 nach bem Dbbufen auSge*
fanbte @£pebition ber Herren StRoiffejew unb guß eine Meine SBeridjtigung ber
fianbfarte gebraut. $ie beiben ©eteljrten f>a6en elf neue aftronomifdje DrtS»
beftimmungen gemalt, wonach bie Dftfüfte beS DbbufenS 20—25 Kilometer Weiter
nach Sßeften gu rüden ift. ©nbtid) ^at auch bie Petersburger ©eographifche ®e»
feDfctjaft bie Errichtung einer meteorotogifdjen unb magnetifdten töeobad^tungSftation
an ber Senamfinbung befcfjloffen unb mit beren Seitung Jürgens betraut.
®er unfern Sefem wof)Ibefannte Slmerifareifenbe SuteS ©reüauj ift am
20. 5Rob. 1881 mit bem Slftronomen Siüet, bem Sädjner IRangal, einem ©eijülfen
unb einem Seemanne nach SBrafitien abgereift, ©rebauj will Sittet unb ben See»
mattn an bie Duetten beS JocantinS bringen, wetten glnß fie bis gum SlmagonaS
abwärts gehen fotten. ©rebauj fetbft Wifi fid) bann an bie Duetten beS Paraguay
begeben unb bon tjier in baS gtußgebiet beS Sapajog unb beS StmagonaS über»
treten, ©in anberer SReifenber, 2Itpf»ortfe iß inart, welcher fich gleichfalls ber
©rforfdjung StmeritaS gewibmet, ift im berftoffenen 3?obember gur ardjciotogifchen
Unterfucftung bet ©roßen Slntitten auSgegogen. Stach einem erfolgreichen Stufent»
hatte in Portorico, San»$omingo unb fpabana, ift er nunmehr nach ben alten
äRiffionen in ben ntejicanifcpen Staaten San» Suis ißotofi, Samaulipaö unb
Peracrug aufgebrochen.
Holitifdje Henne.
18. gebruar 1882.
$>ie Seffion beS preußifchen SanbtagS hot bieSmat ein Sntereffe, welches
teineSWegS geringer ift atS baSjenige ber 3?ei(hStagSfeffion; ja in Segug auf bie
firdhenpotitifche grage ift bie SBebeutung ber SanbtagSfeffion eine größere. 3)er
SReidjStag hat guerft eine ®refd)e gefegt in bie ©efeßgebung, Welche für ben Streit
gwifdjen ffirche unb Staat gegen bie ©ingriffe ber erftem eine fefte Sctjufcwehr
aufwarf; eS ift jeßt bie grage, ob ber Sanbtag biefe ®re}d)e erweitern Wirb.
®er neue firchenpotitifdje ©efeßentwurf enthält mehrere Paragraphen, Welche
ein weiteres ©ntgegenfommen ber Regierung gur Sßieberfjerftellung beS griebenS
mit ber Strcße befunbeit. .Querft würben bie am 1. ^on. außer ffraft getretenen
§§. 2, 3 unb 4 beS SwMgefeßeS tton 1880, bann aus bem 3uligefeße oon 1881
ber bamatS berworfette ®ifdjofSparagraph wieberhergeftettt, auch ein anberer Para»
graph jenes ©ntwurfs, wonach bas ÜRinifterium ©runbfäße gu 2)iSpenfationen oon
einigen ©rforbemiffeit ber ÜRaigefeße aufftetten barf. ©JurdjauS neu ift in bem
öorliegenben ©efeßentwurf (§§. 5 unb 6) eine neue ^Regelung ber Sfngeigepflidjt,
wetche ben ©infptud) auf bürgerliche unb ftaatSbürgertiche Siechte befdjränft. ®ie
äppetlation gegen ben ©infprudj fott nicht an ben tirdjtichen ©erichtshof, fonbern
an ben ©uttuSmiuifter gehen.
S)ie SiegieruugSborlage hätt im gangen an bem Spftem ber biscretionären Polt»
machten feft, burch welches alte Sugeftänbniffe im eiugetnen galt als freiwillige tj*n=
geftettt Werben, bie für anatoge gälte nidht binbenb finb. $aS Spftem ift natürlich
für biplomatifche Sertjanbtungen bie Wittfommenfte Stöße; fowot in bem, was es ge»
währt, als and) in bem, maS eS Oerfagt. ©ine größere Siberalität ber ^Regierung
Wirb baS ©ntgegenfommen ber Kirche belohnen unb ift überhaupt für baffetbe in
HuSficht geftettt. ©S ift begreiflich, baß baS ©entrum gerabe gegen bie biScretio»
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472
Unfere
nären ©oflmachten proteftirt, toel<he ein Schaufelfpftem in bet Prajil legatifiren.
Die Regierung ftüfct fich babet tuefentlicf) auf ihre ©erljanbtungen mit ber Kurie;
bod) nut bie Ultramontanen im engem Sinne bei SEBortel erlennen unbebingt
biefe Bnftanj an. Die Kurie ift nicht blol eine firc^Ii<f»e, fie ift auch eine poli»
tifdje S&iacfjt unb muß auf bie greunbfchaft ber großen Staaten, auch auf biejenige
Deutfcfjlanbl in ihrer gegenwärtigen Sage ein befonberel ©ewicfjt legen. Doch
gibt el auch eine ftarfe Strömung unter ben beutfdjen Katholifen, welche bie
iDpportunitätlrüdfichten ber Kurie nicht teerten ju mfljfen glauben, welche fich um
bie btplomatifdien ©erhaubtungen nicht liimmern, fonbern firdjlidjer all bie Sirene
unb päpftlicher all ber Papft bie organifdje Steüijion ber SJiatgcfehgebung anftre*
ben. Sie finb ja Parlamentarier, nidjt Diplomaten; fie woücn ben Kampf auf
bem ©oben aultragen, auf bem fie einmal fteljen, unb im übrigen toiffen fie ja
auch, baß felbft eine etmal oppofitioneße Stellung gegen bal Oberhaupt ber Kirche,
Wenn fie nur in majorem ecclesiae gloriam eingenommen Wirb, ftiflfchweigenber
©erjeifjuitg für bie ©egenwart unb einer nadfjträglidjen aulgefprodjenen für bie
Bufunft gewiß ift. Die ecclesia pressa muß jugleid) eine ecclesia militans fein,
Wenn fie fidj nicht in Permanenj erfiären fofl, unb bie jejjige ecclesia militans
in Preußen ift bie Kentrumlpartei, bie mit parlamentarifdjen SBaffen färnpft, beren
Sdjueibe fie fich burdh bie Diplomatie nicht abftumpfen (offen Will. 9ludj gibt
el Slnljänger ber nationaflirdpdfjen Denbenjen, bie ja in ber ©efdjidjte bei Katljo-
licilmul eine fo große Slotte fpielten bil in bie neuefte Beit fjinein, furj ein bei
ber Kurie erftrittener Krfolg ber ^Regierung läßt fid£j nicht fogteidj in einen legil=
latioen umfejjen.
SBir erflärten fdfjon in ber nötigen Steüue, baß trofc aßebem bie ^Regierungen
oorlage bem Kentrum nicht unwiflfommen fein Werbe, Weil burcfj biefelbe toenigftenl
bie Slrena für ben erneuerten Kampf erfcljtoffen werbe. Slm 8. gebt, fanb nun bal
parlamentarifdfje Duraier ftatt, Weisel mit ber ©erweifung ber Stegierunglborlage
an eine Kommiffion enbete. ©ei biefer Kommiffion laufen jejjt bie weiter geljenbeu
Einträge bei Kentruml ein, unb bie conferüatiö-flerifale Slflianj fiebert irrten hier
meiftenl bie URajorität. Die Debatte im Stbgeorbnetenhaufe ließ über bie Un*
jufriebenheit ber Partei mit ber ©orlage feinen Bmeifel übrig; bodj fie jeigte nidjt
minber, baß ber ©oben ifjr hinlänglich gelodert erfdjeine, um ihm bie neuen Sin»
träge mit Krfolg anüertrauen ju fönnen. So Wechfeln Siegelgewißheit unb 3Ril»
toergnügen — unb bal war bie Signatur biefel parlamentarifdhen Kampftagei.
Die Siegelgewißheit fam befonberl in ber 3tebe bei Slbgeorbneten SBinbtljorft jum
Durchbruch, welker proclamirte, baß ber Kulturfampf tobt fei unb el fich nur
nodj um fein ©egräbniß h a * l ble, unb außerbem h^rtoorhofe, baß felbft ber ©ater
ber SRaigefeße, ber Stbgeorbnete ©neift, fein milrathenel Kinb oerleugne; hoch
erflärte ber lefctere aulbrüdtich, baß er unb feine Partei bie SJtaigefefce all organifdhe
Snftitution bewahren WoBten, obgleich fie jur URilberung ber gärten berfelben bereit
feien; er finbet el unerflärlich, baß man in Preußen bie Aufhebung einer ©e=
fefcgebung oerlange, bie in anbern Staaten, auch in bem außerpreußifeßen Deutfeh*
ianb geltenbel Stecht fei. Doch war im ganzen bie ©ertheibigung ber SRaigefeß=
gebung gegenüber ben maßlol h e fÜ9 en Singriffen bei Kentruml eine ziemlich
fühle unb hielt fi<h in Slßgemeinheiten; man woßte offenbar nicht bie ©eneral»
bebatte bereitl bureh ©erfjanblung über Specialbeftimmungen bem Kentrum all
Duntntelplafc für bie bereit gehaltenen Slnträge eröffnen, fonbern bie praftifchen
©erhanblungen ber Kommiffion überlaffen. Sludh burchfreujen fich bei ber Sort»
fcfjrittlpartei firchenfeinbliche ©eftrebungen mit ben Denbenjen aulgiebigfter reli=
giöfer Doleranj. So erflärte fich dichter für eine freie Kirche in einem freien
Staate (befanntlich bal Sofunglwort Kaöour’l): er Woße eine gleiche ©efefegebung
für afle ©efenntniffe, Welche bie ©renje jwifchen Staat unb Kirche jietje unb bie
bogmatifdfje Seite ber ©efenntniffe unberührt laffe. Qn ben bilcretionären ©e=
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Politifdje Hernie.
<$73
matten bet Sorlage fah et bloS ein biplomatifcheS Kampfmittel beS gürften SiSmard
unb erttärte fict) ganj im Sinne beS ©entrumS fiit DJetiifion bet SOJaigefefce.
Sirchoro bagegen mar mit ©neift eintierftanben betreffs bet SDJilberungen jener
©efefce, motlte aber biejenigen fünfte, welche bie DJechte beS Staates feftfejjen,
nicht wefentlidj tierrüden taffen. Sottfommene ©inheit beS StanbpunfteS ^errfd^te
auch bei ben ©onfertiatitien nicht: Stroffer fprad) ganz im Sinne beS ©entrumS,
mährenb üon Siebermann ihm hierin energifcfy entgegentrat, ©in neues Sicht über
bie firdjenpolitifche grage ift in ber ®ebatte biefer jrnei Kampftage (7. unb 8. gebt.)
meber feitenS ber DJegierung nod) ber fämpfenben Parteien üerbreitet morben.
®aS Stttereffe beS Kampfes befteht barin, bah mit ber Sirchenpolitit zugleich bie
SBirthfdjaftSpotitif beS gürften SiSmarl in grage fteljt; benn eine ©nttäufdjung
beS ©entrumS, eine Slbleljnung feiner Slnträge mürbe bie confertiatiti=flerifale Stttianj
jerfprengen unb bamit bas Suftanbefommen jener wichtigen Sßortagen ber DJegie*
rung unmöglich machen.
©ine ©pifobe in biefem partamentarifchen Kampfe mar ber SdjmerjenSfchrei
ber preu§ifchett Polen, meinem ber Slbgeorbnete Kantaf einen berebten StuSbrud
lieh. Sei Uebertreibungen im einzelnen !ann man biefen Stagen burchauS nicht
alte ^Berechtigung abfprechen, unb bie Slnttoort beS SBJinifterS tion ©ojjter War nicht
bap angcthan, fie ju mibertegen.
®ic ©tatsberathungen im preufjifdjen Sanbtage fanbeit am 30. unb 31. San.
ftatt. ©röffnet mürben fie mit einer ©rttärung beS ginanjminifterS Sitter, bah
fich, nach ben Sefchtüffen beS DJcidjStageS unb beS SunbeSratt)eS ber preu|ifche
DJlatricularbeitrag um 5,839433 9Rarf ermäfjige unb bah bie Slnteitjetiorlage
beShatb mieber jurüdgejogen morben. ®en Stngriff gegen ben ©tat eröffnete bicS=
mal nicht ber Stbgeorbncte DJichter, beffcn geberbnfdj bei ginanjtämpfen fonft flctS
in ber tiorberften DJeihe fidjtbar ift, fonbern ber Slbgeorbnete beS ©entrumS
tion fpuene, ber zunädjft behauptete, bah im ©tat jebe SluSfunft über ben Staub
ber ginanjtierhättniffe beS taufenben gahreS fehle, mährenb burdj fotche StuStunft
erft eine Prüfung beS SteuererlaffeS ermöglicht werbe. ®en ©tat beS ©ifeitbahiu
miniftcriumS unb beS SuftizminifteriumS fritifirte ber DJebner mit befonberer
Schärfe. ®er Ueberfdjuh ber ©ifenbahntiertoaltung in $ötje tion 28 SÖJilt. DJJarf
rühre baher, bah man an ber ©rneuerung beS SetriebSntaterialS fpare. ®ie
Petitionen ber ©ifenbahnbeamten tierbienten junt Xfyeil Serüdfidjtigung. SRit ber
DJeorganifation ber Suftiz feien mir in eine Sadgaffe geratijen; ber ^uftijetat
Zeige traurige finanzielle DJefuttate, trofc ber Sermeljrung ber ©innahmen aus ben
©erichtstoften um 3 SDJitt. SDJarf; benn biefe feien für bie Setiölferung recht
eigentlich eine SluSgabe. Sn Segug auf ben Suftizctat ftimmte fogar ber folgenbe
DJebner, ber gührer ber Sonfertiatiti^n, tion DJauchhcmpt, ben SluSlaffungen beS
greiherrn tion fjuene bei, fanb aber, im SSiberfpruch mit bemfetben, bie ginanjlage
fehr günftig, bebauerte, bah bie Sorfcpläge betreffs einer @rhöf)ung ber Sörfen-
fteuer tion ber linfen Seite beS $aufeS nicht angenommen morben feien, ba fie
ben ©tat itodb günftiger geftaltet hätten, erflärte [ich ju ©unften ber Serftaat=
lichung bet ©ifenbaljnen unb ber SBirthfchaftSpolitif beS gürften SiSmard; nttr
oermijjte er einen Sorfchtag jur DJeform ber birecten Steuern. Slbgeorbneter
DJichter griff ben ganzen ©tat, befonberS ben ©ifenbahnetat heftig an; er behauptete,
bie Ueberfchüffe ber ©ifenbahntierroattung feien auf ein DRinimum ju rebuciren,
bet ©ifenbahnminifter befolbe feine Seamten fehlest unb oerfümmere ihnen baS
Petitionsrecht, ©egen DJichter gaben ber ginanjminifter unb ber SDJinifter ber
©ifenbahnen fogleich energifche ©rflärungen ab. 2lm 31. San. trat greiherr tion
3ebli|j4Reufirch auf als Sertljeibiger beS Etats gegen bie DJidjter’fchen Angriffe;
er fudjt nachzuweifen, bah ber laufenbe ©tat fich nicht fdjtechter geftalte als ber
tiorige; er fpricfjt fich 5 U ©unften beS SteuererlaffeS aus. DJidert fritifirte ben
©tat ähnlich wie DJichter, »erlangt aber bringenb tiom ginanjminifter eine fofortige
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$7^ Unfere <3ett.
GrHärung übet bie Reform ber bireeten Steuern, liefet teilte mit, baß bie Gut»
würfe im ginanzminifterium zwar ausgearbeitet feien, baß aber Grgänjungen Der»
fdjiebener Slrt ben Fortgang ber Strbeit aufhielten. Der SRinifter bet öffentlichen
Arbeiten, SRapbacp, oertpeibigte fiep gegen bie Slnflage, baß er ben Seamten
baS fßetitionSrecpt befcpränfe, unb fucpte jiffermäßig nachzuweifen, baß fid) ber
Serfepr in ben öftlicpen ißrooinjen, in benen bie Staatsbahnen öorherrfcpenb
feien, gehoben pabe unb noch mehr Ueberfcpüffe in ber Gifenbapnoerwaltung ju
erwarten feien. 3war müßten fie finanziell öorficptig fein unb ben ginanzminifter
bei guter Saune erhalten; aber wichtiger fei für ihn, als SerfeprSminifter, baß
ber Serfepr gut behanbelt unb baS wirtpfdjafttiche Gebeten beS SanbeS nach
allen Sticptungen gewahrt Werbe. Die ^Debatte fcploß, nach einer perfönlicpen
fßolentif zwifcpen einzelnen §auptrebnern unb bem UnterftaatSfecretär im guftiz*
minifterium bamit, baß eine große 3apl oon Titeln beS GtatS an bie Subget»
commiffion oerwiefen würbe.
Slm 3. gebt, fanb bie Generalbebatte über bie Serftaatlicpung Don fechS
Sriüateifenbapnen ftatt. Der SRinifter 3Rat)bacp bertpeibigte baS Softem fowot
Wie bie bisherigen Stefultate ber Staatseifenbahnen, befoitberS gegen bie Singriffe
bon Süchtemann, welcher nach eingcpenber ^otemif gegen bie Schwächen beS
StaatSeifenbahnfhftemS behauptete, baß man baffelbe nic^t fortfepen bürfe. Die
Sertßcibigung SRapbacp’S ftüfcte fich auf Dpatfacpen; feine gegen Sticpter’S frühere
Sepauptungen gerichteten Singriffe hotten lauftifdje Schärfe. Das Gentrum er»
Härte bur<| Scporlemer»Sllft, baß es bie jepige Sage nicht mit gefcpaffen höbe,
aber acceptireit müffe unb nur bei jeber einzelnen Sorlage bie Siotpwenbigfeit
berfelbett prüfen werbe. Die greiconferöatioeu erHären fich burch ben Slbgeorbneten
Diebemann bereit, für bie Serftaatlicpung ju ftimmen, im gntereffe beS nationalen
GebanfenS. Daß bicfe Serftaattichung in burdjgreifenber SBeife fo rafch als mög»
lieh berWirfiicpt Werbe, ift ber SBunfcp beS Slbgeorbneten Immntacper, welcher er»
Hört, baß ber jepige 3“ftanb nicht fortbauern lönne; boep berlangt er finanzielle
unb Wirtpfcpaftlidje Garantien. Stäcpft Süchtemann bertheibigt Slbgeorbneter
SRepcr baS Spftem ber fßrtoatbapnen, welche noch immer im Stanbe feien, bie
Goncurrenz mit ben Staatsbahnen aufzunehmen, unb lahm gelegt feien, nicht burch
bie bisherigen Serftaatticpungen, fonbem nur burch bie SluSficpten auf anberc
Sorfcpläge ber Serftaatlicpung; er proteftirt gegen ben Gifenbahnftaat unb baS
Srincip ber StaatSomnipotenz, baS fich ouch ben Seamten ber Sahnen gegenüber
geltenb mache. Die Sorlage wirb fc^tießtidE» einer Gommiffion bon 21 SRitgliebern
überWiefen. Die Generalbebatte ließ eine ber Sorlage günftige Stimmung erfennen;
auch btele berjenigen, welche principietl gegen bie Serftaatlicpung ber Gifenbapnen
finb, berfcßloffen fich ber Ueberzeugung nicht, baß bie Gonfequenz ber SerWir!»
licßung eines einheitlichen SpftemS zu weitern Schritten bränge. Das Stab ift hier
einmal ins Stollen gefommen, unb nur bei Prüfung ber einzelnen Sorlagen wirb
eine ßppofition mit SluSficht auf Grfolg zu SSorte fommen föntten.
Der Dcutfdje SteicpStag, ber am 30. San. gefchloffen würbe, hotte noch einen
großen Dag, ben 24. San., einen SiSmard«Dag, an welchem ber SteichSfanzler in
einer längem Siebe ben föniglichen Grlaß bom 4. San. bertheibigte. Slud) bie
heftigften Gegner beS gürften SiSmard müffen ihm zugeftehen, baß er ber Debatte
ftetS weite GefichtSpunlte, einen piftorifepen ^intergrunb zu geben Weiß, unb auch
Wer mit ihm nicht auf bem Soben gleicher Slnfdjauungen fleht, ber muß hoch
biefen piftorifchen Geift anerfennen, welcher feine Sieben burcpWept. Scheint eS
bisweilen, als ob bie Siebe am Stäcpften, am fßerföntiepen haften bleibe, fo
nimmt fie auf einmal wieber einen unerwarteten Sluffcpwung: ein Slid über
lange 3«tepocpen berfefct uns mitten in ben Bufammenpang ber großen Greigniffe,
Welcpe baS Sterben unb Stapfen ber beutfepen Ginpeit bezeichnen.
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Politifcfje Herme.
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5)ie Interpellation ber Siberaten in ©ejug auf ben föniglicßen ©rtaß würbe
tiom Stbgeorbneten |>änet in gewohnter energifcßer SBeife eingeleitet; er berWaßrte
ficß gegen bie Stnnaßme eine! ©onflictS, ben officiöfe Vtätter in StuSftdjt geftettt
Rotten; bocß bie Siebte beS Parlaments faßten befcf»ränft »erben. SleSßatb jieße
man ben König in bie Debatte, als ob bie Verantwortung beS hoßen Staats»
beamten baburcß gebecft toerben foße. 3» ©ejug auf ben jweiten Xßeit beS @r=
taffeS erftärte |>änel: fein Veamter bat baS SRecßt, irgenbwetcßen amtlichen Sin»
ftuß bei ben SBaßten auSjuüben; fein Verfahren bei ben SBaßteu muß im ©inftang
flehen mit ben auch ben Veamteit gewährten ftaatSbürgerlidjen 3tedjten; biefer
©rtaß wirb überaß aufgefaßt atS eine Stufforberung an afle ftrebfamen Veamten
jur Agitation für bie SlegierungSpartei unb als ein StbfcßredungSmittet für aße
Veamten, bie ihre ftaatSbürgerti<ben Siechte hocßhalteit.
3u bemerfen ift übrigens, baß auch spanet erftärte, bie am meiften im ©rtaß
herborgehobenen Punfte feien ooflfoinmen richtig, fie feien berfaffungSmäßigeS
3led)t, baS habe noch niemanb beftritten; atfo auch bie gortfdjrittspartei hat nicht
einmal in ©eftatt frommer SBünfcße auf eine jufünftige Sieotfion ber Verfaffung,
auf eine Umgeftattung nnferS Parlamentarismus im Sinne ber eigentlich con»
ftitutioneßem Staatenljingewiefen. gürft ViSmarcf fonnte fidj baher in feiner
großen Siebe nur gegeu ben unauSgefprocßenen fcintergebanfen eines, im Sinne
ber conftitutioneßen Schobtonen übergreifenben partainentariSmuS wenbeu. „$er
©rtaß", fagte er, nachbem er gegen jeben Sonflict bie ©arantie übernommen, „Wiß
nicht neues Siecht fdjaffen, fonbern bie Verbunfetung beS befteßenben Siebtes ber»
hüten, bie conftitutioneßen Segenben befämpfen, welche ficß wie wucherifche Schting»
pftanjen um ben ganj ftaren SBortlaut ber preußifcßen VcrfaffuttgSurfunbe legen."
gürft ViSmarcf ift unermübtich, iu genialen Vergleichen baS conftitutionefle
Scheinfönigthum $u befänden, „gn 3ßrer Verehrung", ruft er ben fiiberalen
ju, „fleht ber König fo hoch, bis in bie SBotfen hinan, Wo ihn fein Plenfdj mehr
merft unb fein Plenfcß mehr fpürt. Vor lauter Verehrung, nidht aus $errfc|»
fucht, fteßen fie ihn fo hoch, Wie früher ber geiftliche Kaifer in Sapan gefteßt
War, ber aße 3aßre einmal, an einem hohen gefttage, gezeigt würbe, bon unten,
auf einem ©itter fteßenb, fobaß man nur feine Sohlen feßen fonnte. Stuf biefe
SBeife Wirb jebenfaflS eine conftitutionefle |»auSmeierei auSgebitbet, noch wehr, als
fie bei ben Karolingern unb ihren Schattenfönigen beftanb." SBeiterßin fagt er:
„SBenn Sie uns biefen ftarfen, in unferer hundertjährigen ruhmboflen ®efRichte
tief wurjetnben König jerfeßen, berberben unb in ein äSotfenfufufSßeim berftücß»
tigen Woßen, fo hoch, baß wir es gar nicht mehr erblicfen, fo bringen Sie uns
bamit baS ©ßaoS unb Sie haben, glaube ich, in ihrem ganzen Vermögen nichts,
waS Sie an bie Stefle feßen fönnten, wenn Sie ben Preußen bie auSreichenbe,
hauSbacfene, birecte perföntidje Vejießung jum Königthum nehwen."
gürft ViSmarcf geht, wie wir feßen, bon ber Slnficßt aus, baß bie „conftitutionefle
tpauSmeierei" bie Plinifter mit einer Piacßt über ben König beileibe, wätjrenb
fie fetbft wieber bon ben partamentarifeßen Pleßrheiten abhängig feien. $odj eS
haben auch Pßitofopßen, wetdhe ben conftitutioneßen Theorien im höchften Plaße
abßotb find, Wie lieget in feiner „StecßtSphilofophie", erftärt: ,,©S ift bei einer bofl»
enbeten Drganifation beS Staates nur um bie Spiße formeflen ©ntfcßeibenS ju
tßun unb man brauche ju einem Plonarcheu nur einen Plenfdjen, ber «3a» fagt
unb ben Punft auf baS i feßt." lieget wehrt ficß bamit gegen bie Angreifer
ber Plonardjie, wet<fje behaupteten, es hinge bon ber 3ufäfligfeit ab. Wie eS im
Staate gugeije, ba ber Ptonarcß übet gebitbet fein fönne, ba er biefleießt nießt
wertß fei, an ber Spiße beS Staates ju fteßen. Preußen ßat auSgejeicßnete
Siegenten gehabt unb jeßt einen großgefiunten mufterßaften lierrfcßer; barum fann
gürft ViSmarcf baS preußifeße StaatSrecßt unb bie perföntidje |errfcßaft ber Könige
mit gtänjenbem ©rfolge bertßeibigen: eS ßat aber boeß auch Staaten gegeben, in
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476
Unfere <3cit-
benen es feljr tuünfc^enStoert^ gewefen Wäre, bie Siegenten in ein SBolfenfufufS-
heirn ju ü er flüchtigen.
gfirft SiSntarcf wenbet fttf) gegen bie ^errfdjaft bet Parlamente unb fudjt
bu«h einen ©jcurS bet neueften ©efchichte PreufjenS nacfjjuweifen, ba{j bet ft'önig
gegen ben SBitlen bet SolfSüertretung alles ©rofje burcl^gefü^rt ^ai, was bie
beutfche ©inheit begrünbete. „Siebmen Sie einmal an, bah Don 1861 ab ©e.
©tajeftät, unfer conftitutioneHer Sättig, bie ©onftitution nach ben £ättel’fchcn
©runbfähen aufgelegt, beifpielsweifc bie auswärtige politif meiner anbern Sor»
ganger jur auSfüljrung gebracht, ftd) ihr gefügt hätte unb bah ©e. ©tajeftät bie
©linifter fo gewählt hätte, Wie bie ©Iajorität beS preufjifchen abgeorbnetenhaufeS
eS bantalS aitgejeigt erfcheinen lieh • • • bann hätten wir junächft feine organifirte
2lrmce gehabt; benn bie Herren im Parlament ücrftanben bie politifchen ©täglich»
feiten in ©uropa fo wenig, bah fie fi<h barüber nicht flar waren, bah, wenn man
bie beutfche ©inljeit wollte, baS erfte, was man bagu brauchte, eine ftarfe preu»
hifche Slrmee fei, fowie bie Unterfchrift beS S’önigS üon Preufjen." SBeiterhiit weift
gürft SiSntarcf barauf hi«» bah 1863 baS abgeorbnetenhauS für bie polnifche
Snfurrection gegen ©ujjlattb Partei ergriffen habe, wahrenb bie fönigliche Politif
war, ©ufjtanb ju fchoncn für fünftige Stiege unb grofje feiten. !gn Sejug auf
bie ©Ibhergogthümer hätte Preufjen, Wenn cS bantalS ndch bet ©tchrheit beS
Parlaments gegangen wäre, ftdj in ben $ienft ber franffurtcr ©Iajorität gefteHt
unb wahrfdjeinlich auf ©runb ber SunbcSprotofolle eine SunbeSejccution OoH»
jogen. ®ie Politif beS gürften war bamalS, Defterreich für eine gemeinfame
Operation ju gewinnen. „SBir würben ohne Defterreich Diel Wahrfcheinlidjer oon
bem europäifehen ©eniorenconOent gcmahregelt worben fein unb uns bunbeS»
protofotlarifch gefügt unb ein jweiteS Dlmüfc erlebt hoben." ©eroifj, biefc Xljat»
fachen finb alle begrünbet; aber ein Parlament fann nur entfeheiben, wenn cS
eingeweiht Wirb in bie plane ber Regierung; einen genialen ^nftinct für alle
fünftigen ©lögtichfeiten, welche für einen oerborgenen, tiefburdhbachten plan ber
©egicrung mit in Slnfdjtag fomnten, fann man nicht Oon ihm Oertangen. 3)afj
biefer plan aber aus biplomatifdjen ©rünben üerftedt gehalten werben muhte,
ja bah cd Oon Kombinationen abhing, benen nur eine glcichfam ruefweife Snitiatiüe
näher treten fonnte: baS war ber ©runb ber ©liSüerftönbniffe jwifdjen ©egierung
unb Parlament. ©S gefdjah ju oft baS ©egentheil oon bem, Was in ben lebten
Xenbenjen beS leitenben Staatsmannes lag. 2Ber hätte g. 33. aus bem gemein»
famen Sorgehen üon Defterreich unb Preufjen gegen Schleswig»|>olftein, beffen
fich ber SteichSfanjter noch heute als einer in jeber ^infidjt erfolgreichen ©om»
bination rühmt, erfehen fönnen, bah eS in feiner abficht lag, Defterreich aus
SJcutfchlanb ju Oerbrängen!
©ehr jutreffenb ift bie Stitif, welche gürft SiSmarcf oon bem beutfehen
Parlamentarismus entwirft, bet unferer anficht nach burcf) bie anomale Stellung
beS ©entrumS in eine folcfje .ßerfptitterung gerathen ift: ,,©S macht einen gewal»
tigen Unterfchieb, was für ein Parlament @ie hoben. SBenn ©ie j. S. ein Par»
lament hoben, baS eine feft gefieberte ©iajorität hätte, h omo 0en organifirt unter
einer gührung, wie fie in ©ngtanb bie beiben Pitt ober ©anning ober felbft auch
Patmerfton unb Peel geteiftet hoben, fo ift baS ein Schwergewicht, eilte ©taffe,
bem gegenüber fchon ein feljr ftarfer Sättig, wie SCßit^etm üon Dranien, ein fehr
gefehlter Sönig, wie Seopotb I. üon Setgien, nur mit ©tühe feinen SBiHen jur
©eltung bringen fann. immerhin wirb ein fotcheS Parlament eine gewaltige
©lacht fein, welche unter Umftänben baS DberhauS unb bie Srone auf einen fe|t
fteinen Sftaum unb geringe Setoegung befchränft. SBenn wir baS hoben, bann
fomnten ©ie wieber, bann Wollen Wir einmal über bie Sache fpredjen. aber ein
Parlament, Welches aus einer erheblichen aitgat)t oon gractionen, acht bis gehn,
befteht, welches feine conftante ©Iajorität, feine wefentlieh anerfannte gührung
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Politifdfe Hernie.
^77
hat: baS fottte froh fein, wenn neben itjm ber SBaHaft einet föniglid)en Regierung,
eines föniglidjen SBillenS int Staatsfd)iff befielt. SBenn baS ni^t ber gntt wäre,
fo würbe eben alles ju ©runbe gehen, baS EljaoS eintreten."
SBenn bie ftaatSrccfjttidjen SluSeinanberfefcungen beS dürften !oum auf SBiber*
fprudj fließen, fo waren feine Erörterungen über baS SBaljlredjt ber Seamten in
jebet $infi<fjt abmilbernb, fobaß beit SRebnern ber Dppofition, bie nach if)m
fpredjen wollten, offenbar ber Eontejt ifjrer Sieben oerrüdt würbe. SBie wir be¬
reits in ber lebten Steüue bie betreffenbe Stelle auffafjten, baß baS actioc
SBahlrecht ber Seamten in feiner SBeife öerfütnmert werben fotle, fo lautete au cf)
bie authentifche Interpretation beS dürften SiSutard. SRiemalS foHe wegen 9luS-
Übung beS SßahtrecfjteS gegen einen Seamten eingefchritten werben; ber Erlaß
beziehe fich auSbriidtid) auf bie 2lrt unb SBeife ber Seamten, außerhalb ber eigent¬
lichen SBal)l t^ätig ju fein, unb ba unterfd)eibe man politifdje unb nicht potitifdje
Searnte: oon ben erftern oerlange er, baß fie ber SBaljrljeit bie Ef)te geben,
gegen bie Regierung gerichtete Sügen unb Serleumbungen wiberlegen, fnrj bie
„politifche Srunnenbergiftung" nitf)t jugeben foHten. Sott ben unpolitischen Seamten
erwartet ber Erlaß nur, baß fie fich ber feinblichen Agitation gegen bie ^Regierung
beS SfönigS enthalten folten. Daß Slmtshanblungen, welche baburch beeinflußt
werben, wenn ein britter feine Stimme abgegeben hat, ober bie irgenbeinen Swang
jur Sßaßl enthalten, ftrafbar finb, gibt gürft SiSmard auSbrüdlich ju.
Slbgeorbneter oon Dreitfcßfe fprach noch mit gewohntem fßatljoS unb fchroffet
als ber SJeidjSfanjler über ben Erlaß. SJtit ber ßogif feiner Ergüffe War eS
inbeß nicht gerabe ftarf befteltt. „Sch bin felbft föniglicher Seamter", fagte er,
„unb ba ich ben SBanbel ber menfchlichen Dinge fenne, fo muß idj auch bie
SRöglidjfeit inS Stuge faffen, baß unfer fchwet geprüftes Saterlanb einmal mit
einem SRinifterium Slidjter-^änel behaftet werben fönne. Sange Würbe bie fperr-
lichfeit freilich nicht bauern; aber jwei S“h re einer folchen Regierung würben
für SRänner meiner ©efinnung allerbingS fehr ungemütlich fein. S<h würbe in
einem folchen gatte mir bas gute Siecht nicht nehmen laffen, mit meiner geber
wie auch hier iw Sieichötage einjuftehen für meine Slnfidjt." Sinn, wenn #err
Oon Dreitfdjfe mit ber geber, alfo auch bei ben SBahlen, weldje biefe fjreber bc-
fonberS hetauSforbern, für feine Slnfidjt einftehen will, fo macht er fich jebenfaHS
ber Agitation fchulbig, oon Welcher in bem Erlaß als einer unerlaubten bie Siebe
ift. Sennigfen fagte, in Sejug auf bie Haltung ber Seamten bei ben SBahlen
ftimrne er im Wefentlichen mit ber Snterpretation beS dürften SiSmard überein: ber
Denor feiner Siebe War jebenfaHS anfangs ein anberer geWefeit; baS rnerfte man an
ben ftehen gebliebenen ißointen, bie nicht ganj ju ben SBorten ber Serftänbigung
paßten. Sennigfen fanb, baß feine bringenbe Seranlaffung oorgelegen höbe, in
fo feierlicher gorm bie Stellung beS Königs oon Sreußen gegen llebergriffe ober
auch gegen SRiSbeutungen ju wahren; er rügte bie ungewöhnliche ßeibenfdjaft,
mit Welker ber Sandler ben Parteien gegenübergetreten fei, bie er geglaubt hot
befömpfen ju müffen; er empfehle, baß ber Erlaß nach ben Erflärungen beS SleidjS-
fanjlerS aud) Wirflid) gchanbhabt toerbe. Sioch fpracheit bie Slbgeorbneten üon
Sarborff, Freiherr Oon Stauffenberg-, Siichter, ßiebfnedjt. SDian hot bie Snter-
pedation ber Siberaleu für eine müßige erflärt: jebenfaHS hot fie hoch eine Suter-
pretation beS ErlaffeS feitenS beS SteidjSfanjlerS herbeigeführt, welche ben eigent¬
lichen Stanbpunft ber Stegierung feftftellt unb ÜRiSbeutungen eines 31 t weit gehen-
ben DienfteiferS feitenS ber Seamten auSfchtießt.
Sn granfreich ift baS widjtigfte Ereigniß — ©ambettd’S Slücftritt ober, wenn
man will, ©ambetta’S Sturj: ein Ereigniß, baS momentan in Europa eine gewiffe
Seruhigung üerbreitet hot, Wenn auch baburch bie nnöermeiblidje SBiebcrfehr beS
DictatorS um fo bebro^lic^cr wirb.
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478
Unfere geit.
©ambetta h°t fi<h biefe SEBieberfehr gefiebert burd) baS jähe gehalten au
einem ißrincip, baS immer mieber in ben Sorbergrunb treten Wirb; er ift nidjt
gef arten infolge einer f)in= unb Ijertaoirenbcn ißolitif, eines Opportunismus, mit
bem er fonft ju fofettiren pflegte; ein foldjer Sturj würbe nid)t bie Hoffnung ber
3Bieberauferftef)ung in fiep tragen; er ift audj nicht gefarten infolge Pon Angriffen,
bie feine ißerfon an ber Spijje ber Regierung unmöglich gemalt hätten; er trat
jurüdt, Weit er baS Siftenfcrutinium ni«±»t burdjfepen tonnte. Weit ihm bamit eine
Sebingitng für bie ®auer feiner SJtadjt fehlte. Such ©ambetta hat feinen Stern,
Wie Stapoleon III.; er glaubt baran, bah er bie Sncarnation ber franjöfifchen
$emofratie, unb bah er berufen fei, granfreidj wieber aufjuridjten. SSerfagen
ihm bie äRittel, feine Kiffion $u erfüllen, fo Wirt er feine Kräfte nicht oerbrauchen,
fo wartet er einen günftigern Seitpunft ab. Gr hat gezeigt, bah er ju Warten
weih, unb fo tritt er jefct nicht jurücf atS ein oerbrauchter Kinifter, fonbern er
Wirt burd} feinen Stücftritt oertiinbern, bah er üor ber Seit üerbraudjt werbe.
2tm 26. San. würbe bie GntfdjeibungSfchlacht in ber franjöfifchen Kammer
gefdjlagen. ©ambetta hielt eine oratorifd) glänjenbe Siebe: er oertljeibigte fich,
übrigens im Jone SDiafimitian StobeSpierre'S, gegen bie Slntlage, bah er nach
einer Itictatur ftrebe. Swötf Sahre habe er für bie Stepublif gewirtt ... Wie fann
man üon ihm jefct oermuthen, bah er fie ftürjen Worte? ®ie ßiftenabftimmung
müffe in bie Steoifion ber Serfaffung eingefchrieben werben; baS ffammerootum
oom testen gapre habe fie bewilligt: ohne Siftenfcrutinium feine Steoifion ber
Serfaffung. ®er heftigfte ©egner ©ambetta’S war Slnbrieuf: et griff baS Streben
beffelbett nach perfönlidjer Kacptfüüe an: mau Worte bie SiftenWalji einführen,
um bie Slbgeorbneten oon ihren 2Sät)tern ju trennen, unb fie bemjenigen in bie
Sinne ju treiben, welcher bie Kadjtmittel in tpänben hat. ®er Slntrag beS 3luS=
fchuffeS, ben bie ^Regierung jurfiefgewiefen: „bie Kammer erflärt, bah Serantaffung
ju einer Steoifion ber SerfaffungSgefepe oorliege", Würbe mit 282 gegen 227 Stirn»
men angenommen. ®arauf fagte ©ambetta, bah er fich nicht ferner an ber
Debatte beseitigen werbe; beim inbem bem Gongreh bie ^Bewilligung ju einer
folcpen Steoifion gegeben worbe, war auch bem furj oorher burch Slbftimmung
jnrücfgewiefenen Antrag ber äitfserften Sinfen auf ooßftänbigc Steoifion ber Ser»
fnffung 2h“ r unb Spor geöffnet. 211S ©ambetta bie SBaffen geftreeft hatte, tarn
eS nodj jur Slbftimmung über feinen ßieblingSplan: baS Siftenfcrutinium, Welches
mit 305 gegen 110 Stimmen abgelehnt würbe.
©ambetta ift alfo Wieber in ber ßage, als Kinifter ohne patent unb fßorte»
feuirtc eine in bieler £>inficpt leitenbe fßolitif treiben ju müffen. ®ah er bieS
oerfteht, pat er fS on unter bem frühem Gabinet bewiefen: er ift ebenfo Igntri»
guant Wie Stpetorifer, unb auch in ber auswärtigen ißolitif treten je|t mancherlei
Settelungen ju läge, bei benen er bie £>anb im Spiele hatte.
®aS neue Gabinet grepcinet=Sap h°t bie SteoifionSfrage, Welche ©ambetta mit
aufbringlicher Kühnheit in ben SJorbergrunb rücfte, wieber oertagt unb fich ben
nächftliegenben praftifchen Problemen, Wie ber Steform beS SticpterftanbeS, juge»
wenbet. Stach auhen finb an arte Gabinete bie Skrficperuttgen ber frieblichen ®e=
fiitnung ber neuen ^Regierung ergangen. Unb in ber Spät barf man bem je^igen
Kinifterium, baS frei ift Oon perföntiepem Gprgeij unb imperiatiftifchen ©elüften,
nicht bie Steigung jutrauen, Iriegerifche Sßerwitfeluugen in Guropa perüorjurufen.
3fn bem Programm ber neuen Regierung, welches grepcinet am 31. San. in ber
$>eputirtenfammer OertaS, peifft eS: „Sei ber Grfüflung ber Pflichten, welche unfer
Slmt uns auferlegt, beperrfept unS pauptfäcplich ber eine ©ebanfe, ben grieben
walten ju laffen: grieben im ßanbe, grieben in ben ©emüthera, Wie in ber matc»
rießen Drbnung, grieben nach innen wie nach auhen. 2Bir werben nichts Oer»
fäumen, um bapin ju gelangen; unfere Slction wirb fich tuürbig, feft unb ocrföpn»
licp jeigen. Sn einem ßanbe wie granfreich *®«r ftetS bie greipeit auch ber
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Polittfdfe Heime.
gortfhritt. Sie werben und unterftüfcen, bie eine ju reatifiren unb ben anbecn
ju fiesem. SBir werben in liberaler SQBeife bie neuen ©efe|e über bie Sßreffe unb
ba? 93erfammlung?recht anwenben; wir werben 3h nen ein ©efefc oorlegen, welche?
ba? 9lffociation?recht fiebert, inbem e? gleichzeitig ba? Stecht bei Staate? aufrecht
erhält." Slußerbetn fttnbigte gret)cinet eine Reform bei ©eridjt ? 3 unb üRilitär»
wefen? an unb ftettte Belebung ber Arbeiten ber Station unb ber materiellen
Sntereffen in 9lu?ficfjt.
$ie ©ambettiften nehmen inbeß ben Äampf mit ber Stegierung auf; ja noch
mehr febeint ei ihre Slbficfjt, bie Kammer im Sanbe ju be?crebitiren. @? wirb
Wieber „Steformbanfete" geben, bei benen ber Jiictator gefeiert Wirb; oietteidjt
fogar wirb er fi<b oor feinen Söäljtern in SSeHeoilte rechtfertigen, obfebon biefe
ftürmifdje SBähieroerfatnmlung für ihn auch feine bebrohlidje ©eite hat. ®ie
SBerfebiebung ber Steoifion?frage tritt in ber gambettiftifchen fßreffe fefjon al?
$auptanftagepunft gegen ba? neue SRinifterium heroor. 2)ie ©ambetta’fche Partei,
bie Union repubticaine, hot fich am 9. gebr. neu conftituirt; fie will mit £>int»
anfefcung aller fßerfonenfragen bie $eputirten oereinigen, welche entfebtoffen finb,
fortfdhrittlich'bemofratifcbe ©efefce im Parlament einzubringen unb p unterftü|en.
Sei ber SBaht jweier Sicepräfibenten am 11 . gebr. erhielten inbeß bie ©ambet»
tiften eine neue Schlappe. Sopffet unb gaöiere?, bie ©anbibaten ber gemäßigten
unb ber äußerften Sinfen, würben gewählt, währenb ^eriffon, ber ©anbibat ber
©ambettiften, unterlag. $aß inbeß biefetben barauf au?gingen, ba? SRinifterium
ju ftürjen, leugnet 9lrtljur Sianc, ein greunb ©ambetta'?, im „Voltaire". „SBir
Wünfcbett aufrichtig", ruft er au», „baß ba? SRinifterium unb bie SRajoritäten in
gutem ©inüernebmen feien unb jufammen ohne p oiele Stöße, ©rfhütterungen
unb SReibuugen ba? ©nbe ber 8 egi?latur erreichen. @? ift bai SRinifterium ber
Staft, be? großen #alte? jWifcben zwei ©pochen." Steljnlich lauten bie ©rflärungen,
welche ©ambetta felbft Oon ben Stationen feiner italienifchen Steife nach ®ari?
gefebieft hot. SBäre biefe arglofe ©efinnuitg feine 2 Ra?fe, welche ©ambetta unb
feine greunbe oornehmen, fo würbe barin ein neuer Sewei? liegen für bie gäljig»
feit gebulbigen 2 Iu?l)arren?, bereit fich ber ©jminifterpräfibent rühmen barf; er
Wartet ab, bi i ©lemente, bie für ihn unbrauchbar finb, fich terbrauebt hoben, wenn
nicht irgenbeine europäifdje ®rifi? ben SRann, ber fich für bie großen Seifen auf-
fpart, wieber an? Stüber ruft.
Sur politifchen^intertaffenfehaft ©ambetta’;? gehört auch bie ägpptifhe grage:
feine imperialiftifche Sßolitif, welche an biejenige üon Stapoleon III. unb Sorb
Seacon?fielb erinnert unb auf Erweiterung ber SRachtfphäre granfreich? au?geljt,
fuebte überall nach £>anbljaben p ihrer Sett)ätigung, ba ber europäifebe Ärieg?»
branb, ber franjöfif^e SteOandjefrieg im Sunbe mit bem fßanflawi?mu? noch ouf
fich warten ließ. 911? ©riechenlanb oerfagte, in welchem ©ambetta eine? ftbönen
Xage? fein „Schle?wig=£>olftein" erblicfen Wollte, fo richtete er feine Slicfe auf
ba? Stillanb, in welchem bie OerWicfelten Scrhältniffe 9lnfnüpfung?punfte 51 t 6 ot=
lifionen oon einer nicht p unterfchnfcenben Tragweite boten, ©ngtanb unb granf»
reich Waren hier §anb in §aitb gegangen, unb hatten ihre Stioalität pnädjft burch
eine SlUianz pm Schweigen gebracht; fie hotten bie finanzielle ©ontrolc Slegpp»
ten? an fiel) geriffen unb bem Sanbe, ba? bereit? unter ber ©ouoeränetät be?
Sultan? ftanb, noch eine weftmächttidje ©ouoeränetät de facto octrotjirt. 9legppten
mehr al? ©tiecheulaitb hotte eine gewiffe 9lehnlicf)feit mit ©chle?wig=$olftein, bie
minbeften? barin beftanb, baß jWei Sertrag?m ächte gleichzeitig einfehritten, Oon
benen jebe bie anbere je früher befto lieber abgefhüttett hätte. Son einem ägpp»
tifchen Staat fonnte unter biefen Umftänben faum bie Siebe fein; boeh al? ber
®ani?lami?mu? fich überall regte, al? in Juni? unb Sllgerien bie ©läubigen
gegen ba? oorbringenbe granfrbich z u ben SBaffen griffen, ba regte fich auch in
llegppten ber religiö?»nationale ©eift, ba? Streben nah ©elbftänbigfeit. „Slegppten
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^80
Unfere <3eit.
für bie Etegppter", Reifet bie neue Sofung. Scpon bie SWilitärreoolution bom
9. ©ept., welche bie Etbfefcung aller ÜJlinifter, bie ©inberufung einer Kotabeln«
berfammlung, ©rpöpung beS SKilitäretatS berlangte unb erreichte, fämpfte unter
biefer gapne. Eint 26. ®ec. Würbe bie Kotabelnberfammlung eröffnet, ©ine
ibentifc^c Kote bon granfreicp unb ©nglanb gab bie gute Elbfidj>t ber SBeftmäcpte
funb, ben ßpebiöe gegen jebeS Einbringen bon innen unb äugen zu fdpüfcen, war
aber im toefenttidjen gegen i£>n felbft gerietet, ba man in it)m bocp bie Seele
ber Keformbewegung fap. ©ine türfifcfje ißroteftnote wahrte injtmfdjen bie ©uze*
ränetätSredptc beS ©ultanS in Etegppten. $odp auch baS SDtinifterium ©dperif*
fßafdpa pat feine ©nbfdpaft erreicht. ®ie entfcpiebene SJlilitärpariei, b. p. bie Ka*
tionalen, mit Etrabi*Vei an ber ©pipe, finb ans Kuber gelangt unb ber Äpebioe
pat ein organifcpcS ©efep unterzeichnet, welches ber Kotabelnöerfammlung, bie bon
fegt ab ben Kamen „$elegirtenöerfammlung" führt, weitreicpenbe Kecpte einräumt.
Keue ©teuern unb Kontributionen biirfen nur auf ©runb eines bon ber $elc*
girtenberfammlung genehmigten ©efepeS erhoben werben, dagegen foHen ber
Tribut, bie ©taatsfcputb unb alle aus internationalen ©onbentionen entfpringenben
Verpflichtungen ber DiScuffion ber Süelegirten entzogen fein.
©ambetta machte aus feiner Keigung feinen Hepl, bie neuerwacpten nationalen
©ctiifte in Stegppten burdf eine bewaffnete franzöfifcp*englifcpe Intervention im
Saume ju holten; auch wäre granfreidp, ohne ©nglanb zu binben, allein borge«
gangen. ®aS Sabinet grepcinet theilt nicht ©ambetta’S aggreffibe ^ßolitif; eS
bringt bie grage bor baS europäifepe gorum unb nimmt ihr bamit jeben Stachel,
ber berieten fönnte. ©ine ©oflectionote ©nglanbS unb granfreicpS an bie euro*
päifchen SKäcpte bom 14. gebr. bebeutet ben Verzicht auf jebe Igutcroention, wenn«
gleich f* e bie Elufreeptpattung beS ©tatuSquo unb ber internationalen ©onbentionen
bedangt, ©ine Verftänbigung mit ber iiirfei liegt in nädpfter EluSficpt.
Vebroplicper als bie ägpptifcpe grage ift bie mit bem Slufftanbe in ber $erjc=
gowina zufammenpängenbe panflawiftifdje Bewegung, welche trop aller offi*
cietlen Verficperungen ber ©abinete unb aller Vefcpwicptigungen infpirirtcr unb felb*
ftänbiger Scitungen bie ©emiither in Unruhe berfept. SKag ffarolpi noch fo fehr
bie frieblicpen ©efinnungen ber ruffifepen Kegierung gegen Oefterreidp betpeuem,
mag $crr bon ©ierS ben ooreiligen ©haubiniSmnS unb baS ©äbelgeraffet beS
VefiegerS ber Surfomenen nocp fo fehr beSabouiren: bie SBortc ©fobeleW’S bleiben
gefprodpen unb hoben einen SBiberljaH in bem heiligen Kuglanb gefunben. $er
ruffifche fßremierminifter peigt SgnatieW unb ber am meiften fanatifepe Ißanflawift
S'atfoW gewinnt immer grögem ©influg am H°fe unb in ber Kegierung beS ©taateS;
ber ruffifepe Kübel, ruffifche Offiziere unb ruffifche SBaffen zeigen fiep in ber
Herzegowina. ©epon im Igapre 1875 Würbe ein friebliebenber Ktonarcp burch bie
gewaltige Unterftrömung beS ißanflawiSmuS ju einem grogen Kriege pingeriffen,
unb biefe Unterftrömung ift feitbem immer mächtiger geworben. 2>ie Ver*
fchwörungen unter ben Kutpenen, bie zu zahlreichen Verhaftungen in ©alizien
füprten, bie Sammlungen in Serbien zu ©unften beS SlnfftanbeS, bie zweifelhafte
Haltung ber ÜKontenegriner, bann wieber bie Unrupen in ©ftlanb unb Siolanb
mit iprer gegen bie ®eutfcpen fidp rieptenben Erbitterung: alles beweift zur ®e=
nüge, bag eine VeWegung im ©ange ift, Welche mit ber Seit bie Staatsgewalten
mit fiep fortzureigen oermag. Unb baoon abgefepen, bleibt bie Verkeilung ber
ruffifdpen Elrmee im EBeften beS KeicpS, ipre ben ©renzen näper rücfetiben VataiHonc
unb ©efepiipe eine trop aller biplomatifcpen Verleugnung feftftepenbe ©patfacpc.
Verantwortlicher Kcbacteur: Dr. Kubolf von ©ottfdjaü in Seipjig.
$ruct unb Verlag bon g. V. VrocfpauS in Selpjig.
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3D*r Ehnntfurug*
6 i n ©<hattenfpiel
bon
Wilhelm Senfen.
I.
SBir (eben in ben lagen bet £>errfdjaft beS SarrenS. 5>ie Königin Seit baut,
nnb bie ftärrner haben §u t^un. ©ie larren Serge ab unb larren ©nfenlungen
beS VobenS ju. $ie (Erbobergädje tnirb hübfch gteid^mäfeig gemacht, bamit fdjnur«
gerabe ©tragen batauf angelegt tverben lönnen, mit Läuferreihen, bie in tabettofer
gront bor ber Königin parabiren. 3Jtan benennt ba8 gortfdjritt, Verfdjönerung
unb Weife Veranlagung eines ©tabtptaneS; bie Viirgetmeiger unb ©tabträthe
begeigigen geh biefer nufcreichen XhStigleit allerorten mit gleichem ©fet', unb eS
gibt Diele unter ihnen, bie fich mit ruhiger Vefriebigung inS ®rab legen, toenn
ge getoahren, bag eS ihnen gelungen, noch baju beijutragen, bag einige SDtittionen
Subilmeter @rbe hier abgetragen unb bort aufgetragen worben. Sie lagen geh
mit bem tröglichen Vewugtfein felbft in bie (Erbe hineintragen, bag bie Ueber«
lebenben in bem grogen ruhmooHen ftarnpf gegen bie Ungleichförmigleit, Unjwed«
mägigleit unb ©genart nicht erlahmen Werben. 3Jtan fogt biefe brei Untugenben
unter bem Vegrig beS Veralteten jufammen, unb nach Vefolgung bet Stichtfdjnur,
bie SBelt mit geraben Sinien ju burchjieljen, begeht baö Wefenttichge Verbienft
in ber ©fefeung beS Sitten burch SReueS. 2Ran reigt alte Xhürme unb Läufer
nieber, um auf ihren gunbamenten einträgliche SRiethSWoljttungen ju errichten;
man bricht alte (Ringmauern ab, V r °ntenaben an ihre ©teile ju fefcen. Sitte,
weitfehattenbe Väume werben umgefällt, bamit ftatt ihrer ßierfträucher baS Sluge
erfreuen ober Ißgaumen» unb ®irf<hbäum<hen ber ©tabtlage einen Veitrag jur
(Erweiterung beS ©emeinbewohtS liefern. Vorbauten au$ mittelaltertidjer Ueber«
tieferung werben befeitigt, mit SBeinlaub ober nidenben Vlumen überfponneneS
®emäuer burch ©fengitterwerf erfe|t. ®aS gelrümmte glugbett, ber gewunbene
Vaumgang wirb in ben Äanat, in bie Stllee oerwanbelt, bie ber Vlid bon einem ©tbe
jnm anbem ohne Lfabmüfj iiberfieht. (Bie fanitättichen, nationalölonomifchen,
äghetifdjen gortfehritte ber Seit erheben ba$, ber Verlebt, baS @ef<häft, baS
Vebürfnig nach ßicht unb Suft. ©o begnben geh alle hebt in ©täbten ßebenben
unter ber ißadaSägibe unabtägig weiter fchreitenber, ftabtbätertidjer 9ififcti<hleit3*
Untere Seit. 1882. I. 31
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482
Unfere <3eit.
unb ©cgöngeitefürforge, unb jeglicher oennog geg mit bec Hoffnung ju ©ett ju
(egen, bag, toenn er am näcgften SDtorgen aufwaegt, bet legte Stteft ber ©rinne»
rungen an feine ßinberjeit igm bor ben genftern berfegwunben unb mit ber Sin»
(age einer neuen befriebigenben ©trage bafür begonnen fein wirb. gatte ba«
fi'arren unb Änarren ign niegt in ju früher SRorgenftunbe fdgon au« bem Sraum
toeeft, mirb er obenbrein ben ©enug gaben, einige ©tabträtge mit freubig erglän»
jenben ©eficgtem bei ber ©egegtigung ber angefangenen Arbeit ju gewahren unb
bem begutacgtenben 5lu«taufeg igrer faegberftänbigen Urteile ju laufegen. Ueber
allen ben Särmern aber tgront auf igrent SBotfengg bie unfidjtbare Königin 3«it,
gält ftatt be« ©cepter« ein SBinfelmag in ber Stecgten unb tgeilt an febem 3Ror«
gen igren $anbtangern auf« neue bie Sage«parote: „Sotgreegt unb Wagerecgt!" au«.
Sa liegt eine alte ©tgeune, urfprüngtieg bon SDtenfegenganb aueg »ol naeg biefem
©aumeifterwagtfprucg erriegtet, aber man fiegt e« igr ni(gt megr an. ©ie bittet eger
einen ©egenfag ju adern fiotg» unb SBagereegten, unb munber mug e« negmen,
bag ge überhaupt noeg ftegt. ©ie gängt über unb buegtet fug au«; an igrem
gaegwerf, bem ©im«gebätf, bem SBanbmörtel, gaben ©onne, SBinb unb Siegen
feit nieten SRenfegengefeglecgtern gebörrt, gerüttelt nnb gemafegen. gwifegen ben
©runbfteinen gaben länggberfegodene SKäufegenerationen igre runben ©toden ginein»
gegraben, bie ge fpäteften Urentetn jum SBeiterbau überliefert, unb ba« SRoo«
auf bem Siiebbacg gat geg ju ©ergrüefen angeftagelt, beren Urgebirge unter ben
Stuftagerungen naegrüefenber geotogifeger ißerioben bödig berfegwunben. Slu« ber
obergen @<gi(gt fpriegen getbbtügenber ©inger, lange ©räfer unb Srombeetranfen
unb niefen um ben grauen, »etterjerfreffenen §oljpferbefopf, ber bom ©orbergiebel
nieberblieft, um ben böfen ©eiftern, ben „SBiegtern", ben 3utritt in« #au« ju
toegren. ©o fegaut er, ein magnenber Ueberreft au« ben grauen Sagen, in benen
ber Sominu« ©tibgente auf feiner $ferbelopf«geige auffpiette, fetbgbemugt um
geg, at« ob feine gegeimnigoode SSraft bie atte ©egeune bi« geute bot bem Unter»
gang begütet gäbe.
Unb e« ig in ber Sgat ttmnberfam, bag ge, gteiegfam geg fetbft jum Siätgfet,
noeg immer bagegt. Stde«, toa« egemal« um ge ger toar, tornmogenbe Steefer,
einfame, grüne gelbgecfen, ftid fonnige« ©artentanb, Sogetgefang unb (angtöfgig
aufgoregenbe £>afen, ig berfegwunben. Ser atte germanifege igferbetopf gat nur
fein Saig fetbft befegügt, boeg über bie Umgebung begetben feine SJtaegt befeffen.
Sie Segeune liegt geut mitten in einem belebten ©tabttgeil; ein ©tragenbiereef
galt ge umfegtogen; bon aden ©eiten fegen bie Stüefwänbe goger 9Kietg«gäufer
biegt auf ge gerunter. ©in 3um>terbauptag ig gegen ge gerangerüeft unb gat
igr aufgetgürmte ©reter bi« an« Sacgmoo« gefegoben unb figtoere ©alten in bie
SBeicgen geftogen; um ge freifegt ben Sag ginbureg unabtäfgg bie ©äge, brögnt
bie Stjt unb pfeift ba« Sampfoentit. Stber ge ftegt unb gört bem neuen ©oncert
ju »ie bem einftigen ber ©ogetfegten. ©ie bient noeg irgenbeinem Stüfcliegfeite*
j»cef, ber ge bi«je|t bor bem Stbbrueg betoagrt. 2Bie eine uralte ©reign goeft
ge unter bem igr über ben ffopf gefegogenen neuen ©efegteegt; Wenn ber SBinb
bureg bie ©räfer unb Slanfen igre« ©egeitet« ftreiegt, ift e« manegmat, at« mur¬
mele ge mit $agntofen liefern. 3u»eiten fliegt im geigen 9Rittag«fonnenfegein
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Der Ulmenfrug.
^83
ober noch mehr in ber gellen üRonbno^t ptö&tid) einmal ein geifterßafter 8lu#=
brucf über ihr berrunjelte# @efi<ht; aber bie rüftigen SBerfarbeiter um fie herum
^aben 8imntermann#nerben in ben Slugen unb jminlem nicht mit ben Sibern, n>ie
gefpenftifch bie Sitte aud) breinfeßen mag.
SBor etwa einem tBiertetjaßrßunbert hörte fie jum erften mal ba# knarren ber
Darren in ihrer 9iäße. Sann jajj fie, einige Sage barauf, jum erften mal aud)
ein paar Stabträtlje auf einem ©pajiergange innehalten unb fie fopffcßüttetnb
betrauten.
„Sin alter, baufälliger, unnüfcer unb unfdjöner Saften", fagte ber eine; „er
mul fort, ehe bie neuen Straßen hier nioettirt »erben, fonft berbirbt fein Stnbtid
runbherum bie Sauluft."
„Sa# ©trohbacß ift obenbrein feuergefährlich, fobatb anbere ©ebäube in bie
9täße fommen", berfeßte ber jmeite.
Ser britte äußerte: „Sa# Sing muß uralt fein, ich erinnere mid) al# Sinb,
baß mein ©roßbater erjäjjtte, e# fei einmal eine länblidje SEBirthfchaft bariit ge»
mefen, in ber er al# Heiner Sunge noch «bide SJMld)» gegeffen. ®# toäre ein
Serbienft, bafür ju forgen, baß bie llmgegenb unferer ©tabt möglichft halb bon
biefer Unjierbe befreit mürbe."
Sie brei ©tabträtlje traten im ©ifer ihrer praftifchen unb äfthetifchen Pflicht»
Obliegenheiten bidßter an ba# alte ©ebäube hinan unb nahmen bie ©injetheiten
an ben Slußenfeiten in Slugenfcßein.
„Sie Sßßrfich» unb Sirnenbäume an ber ©fibtoanb fönnte man an ein anbere#
Spalier berfeßen", meinte ber eine.
„Sie ftnb ficherlich über hnnbert Sah re alt unb »erben nicht# mehr tragen",
gab ber anbere jur Stntmort.
„©benfo lange ftnb mutmaßlich bie SBänbe auch nicht getüncht", fagte ber
britte; „man foHte wenigften# barauf bringen, baß ber Sefißer, fall# er ba# Sing
noch einige Saßre ftehen läßt, ein paar Schillinge baran »enbet, bie SBetter»
feßrunben unb ©ubeleien ba überftreichen ju taffen." ©r beutete auf eine Snjaßl
beruafchen ineinattber gelaufener Striche an einer bon bem alten Saumgeflecßt
nicht bebeeften ©teile ber Salfmanb unb fügte Ijinju: „©# fieht au#, al# ob
jemanb bor Dtim#jeiten einmal graben branfgemalt hotte."
„SSermuthtich", ermiberte ber neben ihm ©teßenbe, „hat bamal# ba# Sprich»
»ort fchon ebenfo gegolten: aSJtarrenßänbe befchmieren $au# unb SEBänbe.»"
„SBem gehört ber alte Saften eigentlich?" fragte ber erfte, fich i u m SBeiter»
gehen »enbenb.
Stiemanb mußte e# im Slugenblid, ber jioeite entgegnete nur: „Sch glaube,
bernontmen ju haben, baß ber leßte ©igentßümer, ber noch brin gemohnt, bor
einer Steiße bon Sahnen geftorben unb ba# $au# bureß weitläufige ©rbfehaft an
irgenbjemanb gefommen ift, ber fich taum »eiter barum befümmert."
„@o muß man ben ©efißer erfunben unb auf ihn »irfen, baß er ba# Sing
möglichft halb »egreißt", berfeßte ber britte.
H&bent quoque sua fata horrea. Sie brei ©tabträthe festen ihren nüßlicßen
©pajiergang fort, aber bie alte Scheune blieb ftehen. SEBarum, »eiß niemanb
31 *
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Unfere §eit.
m
ju fageit; muthmaglich (egten jene pd) früher in bie (Erbe, als eS ihnen gelang,
ben ©egenffanb ihres Unwillens ber (Erbe gleid)3uma<hen. Unb anbere Stabträtf>e
tarnen unb Rüttelten in praftifcher unb äfthetifcher äftiSbiDigung bie fiöpfe bor
iljr, bodj pe fte^t immer noch- SMP brängen bie Käufer pd} runb um fte f)et,
haben pe bem ©lief bet auf ben S tragen ©orübergel}enben entrücft, bap pe fein
ftabträÜjlidjeS Äuge mehr ju beleibigen bermag, unb ihre (Eyipenj als öffentliches
communaleS Äergeraip ip jur Stuhe gelangt.
SBenn man jeboch fchon nicht mehr weip, weshalb bor einem ©ierteljal)rhunbert
etwas gefchehen ober nicht gefihehen ip, fo lann es nicht befonberS wunbemehmen,
bap nichts mehr eine ßunbe babon gibt, wann bie Scheune eigentlich gebaut
worben. Sie felbp offenbart trofc ihres gelegentlichen ©emurmelS (einerlei Än=
haltspunfte barüber, fonbern ip in biefer Stiftung nicht minber fchWeigfam als
bie SKenphen, welche bei ihrer (Entpehung jugegen gewefen. (SS hat etwas
fRadjbenfticheS, Wie fchneU baS Ängebenfen beS SebenS pch mit biefem felbp inS
©rab (egt unb nur $o(j unb Stein noch eine unberpänbtiche Sprache babon fort'
rebet, beren (eifeS ©efumme an ben Dh ren bet immer neuen ©egenwart gleich»
gü(tig borüberttingt.
3 m übrigen war ber „alte Äapen" nicht lebiglich eine Scheune jur Änf=
bewahrung bon £>eu, fiorn unb grüd}ten. SBenn man burch baS grope, berwitterte
^»otjthor unter bem fßferbefopf hineintritt, gewahrt man, bap pe auch <*(£ SBohn»
hauS gebient hat. BfechtS unb (infS bon ber breiten, lehmgepamppen Diele be=
fanben pch jWei Stuben, fehr niebrig, hoch bon jiemttcher ©eränmigleit; baran
ftiepen offenbar noch einige Sch(affamntero. Dann folgten an beiben Seiten ber
Drefdjbiele Stippen für baS Sief), barüber waren bie §euböben unb nach bem
§interenbe beS langgeftrecften ©ebäubeS jogen pch bie Drocfenfamment für ßorn
unb grüd}te. 3 h r Umfang weip barauf hi«, bap pe für einen reichlichen (Ertrag
borbebadjt gewefen unb bap ein beträchtliches Äcferfelb umher }u bem ©ewefe
gehört h a &«n ntup. ©in groper, aus 3i«9eln aufgemauerter Süchenljerb, bon
einem mafpben, rupfchwarjen Steinbach überbrücft, fleht noch im 3nnern unb
bient ben 3 iwmergefeHen jur ÄufbeWahrung bon aKerhanb feltener benuptem
SBerfgeräth, wie baS ©anje als Speicherfchuppen für fertig geftedte Ärbeit.
©orn, unter ben jumeip 3erbrochenen Reinen genfterfcf)eiben ber (infSfeitigen
Sohnpube, ftecpen 3Wei bicfe, abgetrümmerte Steinquabem auS ber SRaner, bie
erpchtlich im ©erein mit einem berloren gegangenen SRittetpücf einen Äbenbwanb*
Ph neben ber Dhür gebübet. (Etwas weiter bor biefer piep ber heutige ©epper
bei ber Änlage feines 3 iwmerpIa|eS auf ein paar mächtige Stumpfen unter ber
(Srboberpäche, welche pch als SRepe umgefällter, mehrhunbertjähriger Ulmenbäume
ergaben, ©r beabsichtigte anfänglich biefelben auSgraben 3U laffen, aber eS jeigte
pch halb, bap bie SKühe 3U bem ©ewinn in feinem ©erljältnig pehe, unb er
begnügte pch bamit, bie hurtlnorrigen Stamnrrefte noch etwas Weiter Wegjuebnen
unb mit Sanb 5U überfchütten, fobap pe ihm (einerlei Störung für feinen Setrieb
mehr beruriadjten unb eS burchauS gleichgültig war, ob pe noch unpeptbar brauten
im ©oben ffeeften ober nicht.
SBcr bie hoben SSipfel über ihnen abgefd)lagen, warum unb wann eS ge»
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Der Ulmenfrug.
<$85
fdgegen, toeife aucg niemanb megr. SßieEteic^t gat eS fidj jugetragen, als einige
fieute, bie geut nocg mit fegt meinen §aaten befrunbernb burcg bie frönen, ge*
rabtinigen ©tragen beS neuen ©tabttgeilS unfern an beu alten, unficgtbaren
Stumpfen langfam borbeifranbent, — als fie nocg über ben jegigen 4?auSfetlern auf
freiten ©toppelfetbera unb jtoifcgen brombeeroertoudgerten SBaötjecfen Stäuber unb
©olbat fpietten, aber eS erinnert fidg feiner megr baran, bag ber alte tßferbefopf
in grüne Saubfronen bor ficg gineingenidft. Unb ba er gleicgfatls nichts megr
barüber fagt, ift eS frol ju begreifen, frenn bie ÜJtenfcgenjungen es nicgt anberS
madgen.
Sodg nacg ber Side ber ©tammrefte ju fliegen, mug er etfra jfrei Sagt*
gunberte fang ben Slnblicf beS bnnfelgrünen Ulmenlaubes bor ftcg gehabt gaben.
Stnfängticg mancgeS Sagrjegnt ginburdg unter ficg, bann gob eg fidg igm atlmäglidg
ebenbürtig entgegen. (Sr fag eg in ber ÜJtittagSfonne flimmern unb fpiclen, gürte
eS in ber £erbftnadgt braufen unb rafcgetn, fag es braun jufammenfcg rümpfen,
brunten im SBinb umgertoirbeln unb frieber grünftgimmernb gerauffteigen. 3u
biefem SBedgfel blieb eS ficg immer gleitg, nur ragte e§ mit jebem kommen näger
an ign empor, Stiegt frudgs eg igm, bom Stbenbrotg begtänjt, fäufelnb unb
raufcgenb über ben Sopf, bag er ben Sirdgtgurm ber Stabt, bem er bon feinem
erften Sage an ginübergenicft, nicgt megr ober nur im Sßinter no<g burcg bie
tagten Slftfpigen ju gefragten bermodgte. Sann gatten bie Ulmen mutgmaglicg
baS Siel igreS SluffrärtSftrebenS erreicht, gielten berugigt in igrem ÜBacgStgum
nacg oben inne, baS fte gemadg in bie (Breite auSjubegneit begannen, unb btidten
jufrieben über bie ^ügetfretten ber Sornfetber, über SBufcg unb £>ag bis an bie
©ee ginauS unb auf bie braunen Säcger ber ©tabt ginunter. 8lls fie fo freit
getangt fraren, mag baS borige Igagrgunbert am 2luSgang beS neunten Sfagrjegnts
geftanben gaben.
Sie ©tabt aber bot ju ber Seit ebenfalls nocg ein fegt berfdgiebenes SluSfegeu
bon bem gegenfrärtigen. Ser eigentliche alte Sem berfelben liegt natürlicg in
topograpgifcger §ingcgt faum beränbert nocg geut, frie in jenen Sagen, an einer
tief ins Sanb gereingejogenen fjafenbucgt ber Oftfee; bodg ber äugere Slnbtid gat
jum grögten Sgeil eine boHftänbige ÜJtetamorpgofe burcggemacgt. (Biete Seute,
befonberS bie bortigen ©tabträtge, werben fagen, bag aus ber Staupe ein ©cgmetter»
ting geworben, unb in Slnbetracgt, bag eS eigenartige, intereffant gefärbte unb
geftaltete Staupen gibt, bie ficg ju grogen ©cgmetterlingen ogne irgenbeine ger»
borftecgenbe garbe unb Seicgnung umfranbeln, lägt ficg gegen jene SlnfcgauungS»
toeife nidgts einfrenben. Soweit baS SBaffer lein $tnbernig bietet, umgibt bie
©tabt jegt ein fogenannter Sranj bon SSorftäbten, bejfen (Sinjelbtüten aus Käufern
jiemtidg jeber bon ÜJtenfcgen erfunbenen Sauftilart beftegen unb baS Stuge frie
ben ©efcgmad gleicgmägig überrafcgen. Sie ÜJtegrjagt biefer neuen ©ebäube in»
beg jeigt ficg aus bem gumanen ©eftreben erricgtet, mügticgft bielen ÜJtenfcgen in
mögticgft bielen ÜBognungen mit mügticgft bielen genftem Dbbacg ju gefrägren,
unb ba baS ©ute gern auf (Srben beS ©cgünen geinb ift, lägt ficg nicgt begaupten,
bag ber Sotateinbrudf, bom ©tanbpunft ber Slrcgiteftonif als Sunft betradgtet, ein
botfriegenb ©etounberung erwedfenber ift. (Sr entfpridgt megr ober weniger bem»
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<$86
Unfere <5ett.
jenigen oder {(einen Sanbnefter, We(cge bie Steujeit in bie Staffe bet mittlem ©tübte
aufrüden lägt. Xag bie ©tragen bet neuen ©tabttgei(e fämmtticg ftgnurgetabe
finb, fitg nur in regten SBinfeftt ft^neiben unb betn ©liefe {eines ©tabtratgeö ein
Stergemig bereiten, bebarf als fetbftberftänbliig nidjt bet ©rwögnung. Stur an
bet SKtftabt, Wenn man fie nictit mit bem 9tabica(mitte( beS römiftgen ffaiferS
Stero beganbeftt tooflte, mat nidjt bie( ju berftgönero, unb fie nimmt fitg autg
je|t notg ungefähr Wie eine torfbraun getleibete, mitte(a(ter(itge 3Rama aus, bie
igre megr ober minbet elegant, jebenfads aber mobern toifettirten löstet in bie
2 Be(t einfügrt, um fie igr ®(üd barin berfutgen $u (affen.
SBieberum artgitettoniftg betrautet, war biefe SKutter bor etwas megr a(S
einem Sagrgunbert, Wie fie notg (eine löstet um fitg befaß, wo( (aum bon ger«
borragenberer ©cfjönfieit als tieute. Xrogbem fie feitger um ein ©äcu(um gealtert
ift, erftgien fie bama(S biedeitgt fogar notg weniger jugenbtttg; benn nadg bet
Xradgt ber Seit trug fie noeg bie enganfdgtiegenbe ©dgnürbruft einer Ringmauer
um fitg gerum. Slber beffenungeaegtet mug fte bie gägigteit befeffen gaben, auf
baS ©emütg eines jungen 9Jta(erS einen tiefen ©inbrud ju matgen; benn berfelbc
gat ein ©itbnig auS jenen Xagen bon igr gintertaffen, Weites uubertennbar jeigt,
bag igm baS 9(uge ber Siebe ben ©infe( führte. SDian fie£)t es, fein £>erj ging
an igr, jugteidg wie an einer SDtutter, einer ©dgwefter unb einet ©efiebten, bie
ge igm ade brei mutgmag(i<g unter igrem ©cguge barg, ©o ftattlid^, inbibibuett,
mit jebem feinen 3u8» ben nur ber S(id ber innigften Stngängtiigteit in fitg auf«
nimmt, gat er igr 5lngebenfen ber Statgweft bewagrt.
3Jtan erblicft ge bon ber ^afenfeite auS, bie fitg ganj an igr entlang jiegt,
ein ©emenge brauner Xäcger unb getreppter ©iebel, oon einem gegen $ircgenbatg
mit beträtgttttgem fpigem Xgurm überragt. X)ie ©tabt bilbet ein ftaigeS $a(b=
runb, bon ber SDtauer eingefegfoffen, bie gier inbeg (aum a(S foldge, fonbern nur
a(S ein 9(ugengürte( bon Käufern erftgeint, ber burdg fünf Xgore Sugänge eröffnet
unb (ange, ftgmate ©tragen giitan bis jurn göger telegenen 3Rarftp(ag empor«
fegauen läßt. 3I(tcrtgiim(icge Ausbauten, ©rter, Xgürmtgen, Stafen, SBafferfpeier
berfcgnörfe(n bie ©ebäube jwifdgen beit Xgoren; bon einem ber legtem gegt baS
©tabtwappen gerunter; ein anbereS, ant weiteften naeg (in(S, ift erfidgtlicg baS
bornegmfte, ein Xoppettgor, über einen SBafferarm gebaut, ber bom #afen abjwei«
genb in Serbinbung mit einem rüdfeitigen breitem ©ewäffer ftegt, beffen Hnfang
man notg aufbfinfen fiegt. ©on retgts ger erftgeint baffetbe wieber, abernta(S
mit ©rüde unb Xgor: fo läßt fitg ffliegen, bag bie ©tabt ringsum mit SBaffer
umgeben ift. Swiftgen bem §afentanb unb bem $äuferrunb, baS fitg bem ©e*
ftgauer junätgft entgdgenwenbet, gerrftgt manniegfatger SBedgfef ber ©cenerie.
2 ((tbäterif<g gebaute ©egetfegiffe berftgiebener ©röge unb ©attungen liegen an ber
göljernen Uferntole, unb geftgäftige Seute tragen auf ginüberge(egten ©retem
Saften ab unb ju. ©or einem ber Xgore ift ber ©tranb mit Äägnen unb
Stangen bebedt, an benen groge Stege jum Xrodnen auSgefpannt finb; bie ©Jeden
ftgtagen bajwiftgen ginein, botg eine ?(njag( bon Siftgera mit (angen, bis an bie
J&üften reitgenben @tiefe(n unb breitfrämpigen, tief ins ©efitgt gebrüdten ©üb«
weftern auf ben Äöpfen betümmert fieg nitgt im geriugften um bie an ignen gin«
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2)er Ulmenfrug.
^87
auffpülenbe naffe ©egrüBung. ©eiter nacB recBtS jietien ficB tom ©tabtranb B»B e
Stffeen einem hügeligen ©eBölj entgegen; einzelne ftroBbebacBte Käufer eines 3)orfeS
bliden jurüdgelegen Bi« unb ba aus bem ©rün; B art am SBaffer entlang füf)tt
unter bic^tfc^attenbem Saubwerf ein fo fcBmalet, terjcBroiegen=gebantentotIer ©eg
ba^in, baß man feinen Stamen: ber „^ß^tlofop^ift^e ©ang", faft ton feiner @rf<Bei«
nung ablieft. $aS Sitb jeigt i^n augenblidlicB tößig einfarn, bagegen bewegt
ficB lebenbigeS Ireiben auf bem §afen tor i^m. 33tet)rere SRuberboote burcBfurdjen
bas ©affer; offeubar befinben ficB Stubenten bar in, einige Baben iBre SDtüBen auf
©toBrappiere geftecft uub winfen bamit; man glaubt, fie rufen, anberelaut fingen
ju Böwn. @S ift ©ommerabenb, auf bent $ir<f)tBum unb ben BöcBften ®acBfirfien
liegt ein rötBlicBeS SicBt. SUtmobifcB, friebticf», ernftBaft=tiebenSwürbig fteBt bie
©tabt unb alles um fie Berum ba, überall tro& ber Bewegung beS SebenS eine
Keine, in ficB begrenzte, befdjauIicB ftitte ©eit. ©in paar würbige ältere Herren
wanbeln auS bem 23)or §ur SRee^ten ber SlHee ju; bieHeic^t finb eS ©tabträtBe,
bocB eS liegt ni<BtS HJtiSbiHigenbeS unb UnjufriebeneS mit iBrer Umgebung im
WuSbrud iBreS ©efenS. Um alles Berum aber als baS ©efte Bot ber junge Sfialer
einen leifen, BeimlicBeit ©cBimmer gelegt, aus bem ein flüfternber $au<B p tom=
men fcBeint, baB nidfjt fein Sluge nur, fonbem aucB fein fperj es fo gefeBen.
®ie ©efi<Bter ber beiben ältern Herren finb nid^t woBI p unterfcBeiben, nur
iBre Reibung Bebt ficB beutlicB ertennbar ton bem grünen £intergrunbe ab. ©ie
ftammen erficBtlicB nocB auS ber „alten Seit", bie bamalS ben Stnfang beS
18. QaBrBunbertS bebeutete; benn iBre SracBt weift nocB faft in baS erfte Drittel
beffelben prüd. ©ine lange, tielgeträufelte, bis an ben ©Inbogen nieberfaDenbe
Mongenperrüfe nötBigt fie, ben „Dreifpifc", B Q lb um ber ©ommerwärme, fyalb
um ber tabellofen ©rBaltung iBrer grifur willen, in ber §anb p tragen; bie
güBe finb mit ©cBnaßenfcBuBen bebecft, ton benen ficB fcBwarje ©trümpfe pm
$nie, bann ton bort turje, enganliegenbe ©eintleiber entporjieBen. 2Inf ben
übrigen XBeil beS ©oftümS bagegen B ot ber ©orfcBritt ber Seit feine nntermertt
umntobelnbe unb mobernifirenbe ffiinwirfung geübt, ©ine lange ©djoSWefte, aus
bereu breiter ÄlapptafcBe eine UBrfettte mit jaBtrei^en ©reloqueS BerabBängt,
umfdBIieBt ben ftörper, wie ein tielfacB umgewunbeneS, breites, weiBeS Dudj ben
£alS, baB ficB faft nocB baS föinn barin begräbt; ber weitärmetige 9tod lä&t tom
bie ©eftalt beinaBe tößig frei, wäBrenb er nocB B'uten, WeitauSbaufdjenb, nocB
Banbbreit unter bie ÄnieteBlen nieberfäUt unb bei jeber ©ewegmtg beS DrägerS
Bin= unb B«fcBautelt. ®ie beiben Herren finb eBrfame ©ürger einer frieblit^en,
für bie perfönlicBe ©icBerBeit iBrer SlngeBörigen toße ©ewäBr bietenben ©fabt,
benn fie tragen teinertei ©<Bu|j* nocB Sietwaffe an ber ©eite. Untertennbar
wenben fie ficB ° otn XB or bem $BilofopBifcB en ©ange p.
Stammt baS ©ilb etwa auS bem Sommer beS SaB^eS 1788, unb finb bie
beiben tiefleicBt bocB teine ©tabträtBe, fonbern bie jwei BocBangefeBenen unb ge=
leBrten ©rofefforen ber pBilofopBifdien gacuttät, welcBe p jener Seit bortBin fpät=
na<BmittäglicB felbanber eine ©rBolungSWanblung einpf (Blagen pflegten? 3« ber
$Bat, je näBer unb acBtfamer man baS alte ©tabtconterfei in Kugenfdjein nimmt,
gewinnt es an ©aBrfcBeinlicBteit, baB ber fötaler ficB pr lebenbigen Staffage
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*88
Unfere 5«t.
beffeiben $errn S^ri^ian (Eajng Clearing, orbentlidjen fSrofeffor bet Sernunft*
unb Sitteulehre, nnb £errn Soadjim SRatthiag Äortljolt, orbeutlichen ^rofeffor
bet Serebfamleit, bet SBeltweigljeit unb bet fftäbagogif, augeriefen, wie er fte
jahrelang täglich jttfammen int $$i!ofottyfcfjen ©äuge luftwanbeln gef elfen. (Eg
ift ein töftlicher Snliabenb, an betn bie norbifdje #odjfommerheHe faft bie ganje
Statut hinburch nicht fdpoinben, fonbern ftc^ nur für wenige Stunben in ein mik
beg gwieli^t oeränbem wirb. Unfraglich finb eg bie beiben Genannten, nnb
nadf einigen SDtinuten werben fie unter bag grün überljängenbe ©ejtoeig am
SBafferranb eintönigen.
Der fßinfel hat ihren SBeiterfchritt nnb ihre ©efuhtgjüge nic^t wieberjngeben
öermocht, bodj, wenn ein Sergteich in biefer Stiftung ftatthaben lann, noch weniger
ben Slang ihrer Stimmen, obwol man an bet Haltung bet Jföpfe genugfam cp
fennt, bag fie über bebentfame Dinge änmfp™^« führen. Denn wie fte an
biefem Äbenb um jene turje Srrift big an ben (Eingang beg bidjtumbufchteu SBegeg
fürbet getommen, erwibert 4>err S^riftian (Sajug DIeariug fopfnidenb auf eine
SÄiitheitung feineg Segleiterg:
„(Eg ftanb mol ju erwarten, liebgefdjäfcter $err (EoHega, bag berfelbige in
Salbe bag 3 citli$e mit bem (Ewigen oerwechfeln würbe, bo<h batte idf noch nicht
non feinem löblichen Eintritte oernommeit. (Sr oermehrete, nisi fallor, bie 3®hl
ber Sebenbigen im fettigen Sabre mit mir, unb eg I&ffet fidj nadf ber gefegten
Orbnung wol nicht einwenben, bag er ber mübfeligen SBelt ju frühe gute Stacht
gegeben.“
„©ewiglich mitnichten, liebgefchäfcter |>err (Sottega“, entgegnete #err Soachim
SRatthiag ftortholt, „benn eg mug ein jeglicher bie Sdjulb ber Statur bejahten,
wenn, nach bem göttlichen StaÜrfchtug, fein Stfinblein gefchlagen, unb eg mag ber
Selige, wie Sie beffen wol aufg genauere (Erwähnung getljan, bie SBelt an ein
Du|enb Suftra befehen hoben. $at auch. Wie ber ißfatmift rebet, a(g obforglicher
Spttbicug unferer Stabt im fieben eitel SDtühfal, Ärbeit unb textlich langwierige
Sranlheit beftanben, bag eg ihm geh erlich tton jeglichem SBohlmeinenben ju »er*
gönnen, bermagen jur Stühe im Xobe »orgefchritten ju fein, ^inwieberum, wie
aüeg ftetg nach i®eien Seiten ponberiret, wäre eg für fein Söhnlein, ben Solrabum,
non befferm ©ewinne gewefen, wenn fein Sater ben Sdjauplafc biefer SBelt noch
nicht fo halbe neriaffen gehabt Denn eg fdjlog alfogleich bei ber ©eburt
beffelben bereitg bie SRutter bie Äugen ju, bag er nun gänjlich alg ein SBaifen*
finb übrig nerblieben, unb objwar er fo auggefchlagen, bag fein SBater niel Xrofl
unb Vergnügen an ihm befthen getonnt, hat ber Spnbicug SBeftebt, wie mäitnig*
lieh wohlbetannt, feinerlei erhebliche (Erfparnig an irbifchem ©nt ju hinterlaffen
nermocht, banon etwaig bie ferneren studia für ben SBolrab auf bem Gymn&sio
beftritten werben möchten."
„Dag ift freilich «« flar groger Uebelftanb ju benennen“, gab ber fßrofeffor
ber Sernunft* unb Sittenlehre topffdjüttelnb gut Äntwort, „unb ju beforgen, bag
ber ßnabe bermagen leidjtlidj in betrübfamer SBeife fowol in litteris alg in moribns
Äbbruch «leibe. SOtan mag babei wol an bag SBort beg ^oratii gebenfen, bag
er bem Sicinio fpriegt:
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Der Utmenfrug.
¥*9
Sperat infestig, metuit seonndis
Alteram sortem bene praeparatum
Pectus —
unb obgwar ber Ratljfehlug ber Sßorfe^ung nicht gewillt gewefen, mich mit einem
ehelichen SSünbnig unb Radjlommenfchaft ju begaben, fo fühle ich mich bodj wol
in ben ©tanb gefegt, bie Sefümmernig eines SSaters in meinem ©emüthe gu er*
faffen, ber, ba er ben SBeg altes gleifcfjeS gehen ju ntüffen empgnbet, ein rnttnün*
bigeS ßinb, gleidEjfam einem ftenertofen ©dhifflein ähnlich, seitlicher unb ewiger
©efähtbung anheimgegeben fielet."
„es Wäre ber SBunfdfj ba^in gu rieten", toerfefete ber ißrofeffor ber SBclt=>
Weisheit unb Serebfamfeit, §err jfoadhim Äortholt, „bag ein begüterter 2J?ann
als ein Oäterlidhet ©urator ben Knaben in fein $auS aufnehmen unb bie SBacf)*
famfeit eines Mentor über iljn ausüben möge. Sod) es fteljt nicht füglich gu
erhoffen, baß bieS gefdfjiehet; benn es hat wol jeglicher in biefen mühfeligen unb
bag oeränberten Sagen ber eigenen ©orgnig, Unfidfernig unb 33orbebenflichfeit
genug, wie man fie in ber guten alten Seit, barauS unfere Äinbheit aufgeworfen,
noch nid)* gefannt gehabt."
„SBol WeiSlidf) unb wahr gerebet, liebgefchäfcter #ert ©ollega, wie eS Syrern
weithin ausgebreiteten Ruhme als einer Sierbe beS SehrftuljteS ber Serebfamfeit,
SBeltweiSljeit unb ißäbagogü gufteht", erwiberte $err ©hriftian DleariuS unb
blicfte, ein lurgeS SEßeildhen imtehaltenb, burcij eine ©egweiglücfe beS fßhilofophifdheit
©angeS nad&benflidfj auf bie, oon ber Slbenbfonne röthlich überftraglte @ee hinaus.
Sann fagte er: „@S ift bie rcopcpupea aX{ beS $omeruS, bie ftch nicht oerwanbelt
hat, ob bie äRenfdjen an ihr bie 3«* «1$ eine gute ober böfe beheigen, fonbern
fie breitet ihr purpurnes ©ewanb über bie Siefe, gleidhwie als fie ben avSpa
TcoXutponov in bie gerne gen gtion getragen unb wie fie ihn nach gwangig fahren
Wieberum an baS Ufer oon Sthola heimgebracht. @S gleichet wol Unterseiten in
mancherlei ©etradht bie SebenSWeife eines SRenfdhen ber Um» unb grrefahrt beS
ObpffeuS, unb es hätte ein guter SJtentor, ber nichts anbereS ift als fßallaS Wthene,
bie weife Klugheit felber, feinen Sögling, wie ben SelemadEjum, bahin ju behüten,
bag er benfelbigen Oor ber ©cpHa wie oor ber ©harpbbiS, oor ben Säftrpgonen
unb ©pflopen Wie oor ben Sirenen unb ber ©irce wohl ju bewahren trachten
mügte; bergeftaltig, bag er bie Vernunft unb bas ©emüth beS Jünglings an bie
heimatliche ßüfte genugfam angufeffeln Oerftänbe, um bie Seimfaat beS ©hrgeigeS
unb fälfchlidfjet Ruhmbegier, bie ihn mit in ben Sölferftreit um 3tion oon bannen
treiben möchten, gleich einem berberblich Wuchemben Unfraute e pectore et animo
in ihm auSguroben."
#err Joachim Äortholt nicfte einigemal bebächtig Oor fich hin unb entgegnete:
„®S ift mir bieS gewigtidj alfo ans Dhr geflungen, liebgefchäfcter $err ©ollega,
als ob nicht etwa ber oergänglidhe 2Runb eines StRenfcljen, üielmehr bie unfterb*
liehe Sippe ber göttlichen SSemunft» unb ©ittenlehre felber mit foldhem ©jcurS
auf meine SSSorte erwibert hätte. SlUein, um in 3h tem Wohlangegogenen ©leid)»
niffe Weiterhin gu beharren, oermochte bie Weisheit beS ©heiron benebft ber mütter»
liehen ©orgnig ber ShetiS ben jungen StdjilleuS unter ben Södhtem beS Königs
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Untere £eit.
490
fipfomebeS nicht Oor ber Ärgtift beS DbtjffeuS ju bewahren, unb eS ift biefetbige
auch wol atö nidjts anbereS ju oerftehen, benn baß eS bie ©erfuchung fei, bie an
ben eingeborenen Xrieb eines jugenblidfjen ©emütheS ^eranfonune, baß alle
S8orfitf)t unb Sehre ber ©ebachtfamfeit nichts batoiber ju frusten Kraft beftyt
Sllfo rebet auch mit gleitet ©eftätigung ber ©erS: «Naturam expellas fnrca,
tarnen nsqne recnrret.» — Siehe, ba jiehet ein ftattlidjeS mit toller $ierbe
ber ©eget in unfern fjafen herein."
Xer ©rofeffor 3oochim Kortljott beutete auf einen hoch über bem SBaffer heran»
naljenben Xreimafter, ber, eine lange ©ilberfurche hinter fi<h laffenb, mit querem
Kreujfchlag langfam baS innere ©nbe ber Sucht ju erreichen fuchte. Xie Äbenb»
fonne oergolbete bie nur leitet gebaufcßtcn ©egel, Oon ben 9taaen tönte ein fremb»
jungiger ©efang herüber. £err ©hriftian DleariuS warf, auS fdjweigfamer Stach»
benflicfjfeit emporfchauenb, einen ©lief oor fid) hinouS unb oerfefcte:
„(Sin wohlgebautes gahrjeug, bäucht mir, objwar eS ftch nicht mehr beS
ehrwürbigen lateinifchen, fonbern beS neuartigen ©egetwerfeS befleißigt; nach ber
flagge am $intermafte fcheinet eS mir aus bem Königreiche ber Schweben hierher
ju fommen. ©0 gehet faft allerorten, wohin man flauet, baS Site an uns oor»
über, unb eS bränget ftch SReucS herauf, oon bem man nicht weiß, wonach eS
jielet unb was es jum frommen fünftiger Xage auSricßten mag. SRid) will eS
Unterseiten bebünfen, liebgefchäfcter §err ßoQega, als fprieße ba unb bort ein
Ungejücht oon aufblähenben ©iljen unb ©chierlingSfräutem in ben Köpfen ber
SRenfchen, wiber beren ©chäbtichfeit fich bie ^eilfraft fowol ber SBettweiSheit
unb ©äbagogif als ber ©ernunft» unb ©ittenlehre nicht mehr auSreichenb er»
weifen möchte."
Xie beiben Suftwanbelnben waren bis an baS (Snbe beS ©hü°f 0 Phtf^en
©anges gelangt, boch fie nahmen bieS in ber gortfefcung ihres ©efprächeS nicht
wahr, fonbem bogen, ftatt nach gewohntem ©rauche umjufehren, hurt Oom SBaffer
ab in einen noch fchmälem gußweg ein, ber linlshin anfänglich burch ©ufchwetf,
bann jwifchen hügeligen Selbem mit h oc hftehenbem SRoggen in einem weitem
§albtreife gegen bie Stabt jurüefführte. Xer ©rofeffor ber ©erebfamfeit, $err
Joachim Kortholt, antwortete auf bie Seußerang feines ©egleiterS:
„@S ftimmet leibet beffen 3hre ©eforglichfeit, liebgefdjäßtet #err Sotlega,
nur aQju Wohl mit ben abfonbem ©otfdjaften überein, welche am heutigen 3Rittage
ber «Sttonaifche äRercuriuS» neueftenS in unfere ©tobt überbracht hot. Xeitn eS
haben nach feiner SRelbung wieberum bie SRebeUen wiber beS Königs oon ©roß«
britannien ÜRajeftät unter ihrem freoentlich fo beheißenen ©enerale SBafhington
betrübfam erhebliche gortßhritte gemacht, unb ingleichem ift bie ©tabt Siffabon
abermalen oon einem (Srbbeben heimgefudjt worben, Oon beffen ©chabenanftiftung
man noch feine auSreichenbe Kunbe erhalten. Slber eS macht fich ein übler ©eift
in unb über ber (Srbe bemerfbar, ber auch bie rühmliche ©tabt Xorpat bis auf
etliche wenige Käufer oollftänbig burch eine geuerSbrunft eingeäfchert hot, baß bei
folchem'traurigen Slntaß oiele ber ©ewohner XobeS betblichen finb. ©0 ift auch
ber ©tifcfchlag in ben ©djloßthurm ju ©erfaiHeS hemntergefahren unb h°t ab»
fonberticheS Unheil üerurfacht, baß man biefen SRiSfall als ein übles Omen für
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Der Ulmenfrug.
Vtt
bie löntgtic^e gamitie gebeutet. ©on Stmfterbam trifft bie Sotfdjaft eine« ©ant*
rotts beS anfehnlidjen franjöfifchen §anbetSf)aufeS ©abut unb tßumaret ju eineut
Setrage bon mehr atS jwei SRiltionen ©utben ein, unb eS foflen biete ber
ffirebitoreS in Hamburg anfäffig fein, fobaß bie bortigen ©ommerjgefchäfte »nie
auch ber ßrebit mannichfacfjer ImnbetScomptoire betrübfame Einbuße erleiben
tuerben. $er franjöfifche £of bagegen befleißigt fid^ unter folgern vielfältigen
SJtiSgefchicf alterorten ber ©rfinbung neuer SJtobefteibungen unb hot einen Sttglige*
anjug aufgebracht, bem ber Stame «Se tDeSfjabitler ä ta §enrt; IV.» jugetegt
toorben. @S ift berfelbe, tbie ber «SJtercuriuö» befcßreibt, eine 8trt SRobe ober
«Simare lurque» ohne galten unb mit toeiten Stermetn, ringsumher mit einer
(Garnitur bon ©aje unb toirb am $atfe mit einem ©anbe jugebunben; eö fotten
bie Königin unb alte $amen fotoie bie gefammte franjöfifche Station höchft gtücf*
tich über biefe ©rfinbung fein. £>inwieber ift bie bon Stocfhotm abgefertigte auS=
tänbifche fßoft in einem ©ehöfje bon Stäubern überfallen unb auSgeplünbert toorben,
fobaß bet Dberftatthalter eine ©etoljnung bon 3000 töjatern Kupfermünze auf
bie SBiebererfteKung beS geraubten getteifenS öffentlich auSgefefct hot, unb ber
©roßfuttan hot ben Kh an ber Notaren, ju beffen ©mpfange bereits in Konftan*
tinopel große ©eranftattungen hergerichtet getoefen, unterwegs feinet SBürbe ptöfc»
lieh entfefcen unb in ©erfaß nehmen taffen. 8tu<h ift ber hiöponifdje Snfant,
®oit granciScuS SaberiuS, bon ben Kinberbtattern befatten, unb eS macht, nach
einer ©ermelbung aus bem ©ranbenburgifchen, eine merfroürbige (Schrift, bie mit
bem litel «Diatribe ä l’auteur des ephömörides» bei bem ^ofbudjljänbler ®erfer
in ©ertin auf zwei ©ogen in Octab erfchienen ift, berwunbertidjeS Stuffeljen. ©S
erjäljtet ber anonpme ©erfaffer barin etwas bon ber ©efchichte beS SlcferbaueS in
granfreich, btoS um auf bie bisherigen Unruhen ju tommen, welche ber SJianget
an ©etreibe bort berurfacht h“t, unb berfteiget fich ju ber grechhett beS StuS-
fprucheS: «ffiS ift nicht genug, baß ein SJtinifter ötonomifch fei, eS muß eS auch
ber König fein."
„Proh! Proh dolor! ©S befagt biefeS baSjenige, WaS ich bermeint, tiebge=
fdjäpter $err ©ottega", entgegnete tperr ©hriftian DIeariuS, „baß ber ©eift beS
©atitina Wieber unter ben ÜJtenfchen aufzuwadjen beginnt, bon bem ©iceto in
feiner unübertroffenen Stnttagerebe als übelfte ©igenfehaft betont, baß berfelbe
bereits atS juvenis fich oUjeitig novarum rerum studiosus erwiefen höbe, liefen
animum, seu rectius hanc cupiditatem, erfdjauen Wir teiber an jegticher Stätte
in unfern fdjtimm beränberten Xagen, Wohin immer nur wir bie Schärfe unferS
SehbermögenS richten" — unb ber Sprecher wenbete fich bei ben tejjten SBorten
mit einem StuSbrucf um, atS fei er überzeugt, auch i« biefem SJioment hinter fich
einem, ihm auf ben gerfen naefffotgenben ©eifte ber Steuerung ju begegnen. ®och
rings um bie beibett Spaziergänger her tag nur baS ewig Sitte unb immer ©teiche
hodjfommerticher Stbenbwett. ®aS gelbe Korn bewegte fich teife unter einem
barüberftreichenben $ouch mit ben fcfjlanlcn Spifcen gegeneinanber, jwifchen ben
$atmen triefte btaue ©pane unb oiotette Stcferrabe heroor. ®aS begtänjte Saub
einer äSaDtjede ftüfterte, unb eine SBachtet toefte oom getbranb herüber; ein
grieben, ben fein unruhooller Stthemjug unterbrach, tächette mit füßer XageS»
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492
Unfere <5eit.
mübigteit bie ©rbe in Stummer ein. §ert 3oa<him Sortholt ober fpradj int
SBeiterfdjreiten:
„@! berühret belhalb bal SJtenfchengemüth all einzige h oc h erfreuliche ®er=
ntelbung bei «ÜJtercuriule, baß man im ruffifdjen Sarenlanbe ben Steichlberräther
ȧugatfchew bor feiner Snftificirung weiblich auf ber Softer befragt, unb ihm alfo
bie Slntwort abgeneigt, baff er fid> habe eintommen taffen, fich für ben in ©oft
ruhenben ftaifet tßeter III. aulzugeben, um bergeftaft bie fouberäne ©eWalt ju
entmenben unb fiih bei Vaterlanbel, jum Vorteil ber leibeigenen Säuern unb
Sürger bejfelben, ju bemeiftern. Sttlbann hot man über biefen rudjlofen Söfe*
»oicht bie Sentenz gefällt, baß er bom Seben jum lobe ju bringen fei, unb zwar
gebiertheilt, ber $opf auf ben Sfafjt geftedt, bie bier Xheile bei förpetl aber
an ben bier ©egenben ber Stabt auf bal Stab geflochten, unb hernach ebenbafelbft
berbraitnt jn »erben. Ungleichem ift über feine SJtitgenoffen, infonberl ben
jaidifchen Äofafen 3»an Xfcf»i«f, ber fich für ben ©rafen Jfchemifche» aulgegeben,
bal »ohtberbiente Urtheil ergangen, gelüpft, ber Sopf zur Schau für bal fßublifum
auf einen Sfaljl geftedt, ber Seib aber nebft bem Slutgerüfte berbrannt ju werben.
SRan hot biefen Verbrecher auch jubor bie ©jecution bei fßugatfdiew mit anfehen
taffen jur berbienfttidjen SBarnung; an ben ©algen gehängt finb bon ben übrigen
tDtiffethätem bie meiften worben, biete jebodj auch bahin begnabigt, bafi fte bie
&nute belommen, barauf gebranbmarlet unb nachbem ihnen bie Stafen aulgeriffen
waren, nach Sibirien berfchidt worben. Solchergeftatt hot bie ©erechtigfeit jum
©lüde wenigften! im Stuffifchen Steife einen ungeftörten gortgang genommen."
„@l Wäre fehr ju erwünfchen, baff jegliche Stegierung fich ein heilfamel Sei*
fpiet baraul abnähme, bal Ungeziefer, wetchel fich olterorten mehret, rechtzeitig
zu zertreten", erwiberte #err ©hriftian Dteariul, inbem et anbeutenb feinen eigenen
gufj emporhob. ®a er jeboch noch rechtzeitig wahmahm, bafj er beim Stieberfefcen
eine fchwarzhoarige Spinne, bie über ben Sieg trodj, zertreten haben Würbe, be*
wegte er ben Sufi achtfam zwr Seite; iperr Joachim Äortljoft aber fagte jefct,
überrafcht bor fich aufblidenb:
„Ehen, ba finb wir unter ebenfo angenehmem all lehrreichem ©efprädj uttbet*
nterlticherWeife bil an ben Utmentrug gelangt, liebgefchäfcter $err ©oQega."
II.
Seit Wie langer Seit bal in länblidjer ©infamteit gelegene $aul biefen Stauten
trug unb wann el mit föruggerechtfamen begabt worben, lauste niemanb mehr zu
fagen. ©I hief? fo feit SJtenfcijengebenten unb teilt SUtunb in ber Stabt benannte
el attberl. Vermutlich hotten bie beibett hohen Ulmen bor ber Ifjür ihm biefe
Sezeichnung eingetragen, bie fich bann allmählich Z u einem wirtlichen, in bie
©ommunalregifter aufgenommenen Stamen umgeftaltet. $a! mochte bor tjunbert
fahren bereitl gefdjehen fein, bentt fo lange muffte ber grauberwitterte Vferbetopf
über bem Vorbergiebel bei ©ebäubel wenigften! fdjon auf bal bunteigraue Stuftet*
laub unter unb bor ftch hiuoulgefehen hoben. Unb feit SJtenfchengebenten auch
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Der Ulmenfrug.
*93
befaß bet Ulmenlrug bet ben mohthobenbem ©täbtem ben {Ruf, baß matt fich an
feigen ©ommertagen bort an ber beften „biden SDlilch" ju erluftigen oermöge.
Btunbumljer tag ftitteö gelb, nur ein Ijalb fanbiget, t)alb frautbertoachfener
4?ohlmeg ging in einiger ©ntfernung oorüber. Um bie ©üb» unb Oftfeite beS
Kaufes 30 g fidfj ein beträchtlicher, oon lebenbigem Soun umfaßter ©emüfegarten;
bodf) auch geuerlilien unb breitblüljenbe Slofternellen in oerfdfjiebenartigften garben
ftanben jwifchen ben Südhenfräutern. (Sine alte Ürauerefche breitete in ber BRitte
ihr nieberljängenbeS ©ejtoeig ju einer bitten Saube bis an ben ©oben herunter;
baOor fah oon einem holb mannshoch abgefögten Saumftanctne eine große fdjmarje
©laSfuget unb fpiegelte alle ®inge um fich h er in fonberbarem, ber SBirflicfjleit
entrüdtenbem Sichte jurüd. Stuf ber anbern ©eite beS ©etoefeS war ber $ofraum,
mo ^»ü^ner fi<h gadernb jagten, baS ©runjen eines ©djmeineS üom Soben
herfam unb bie Sühe abenblidfj jut Stänle an ben Srumtentrog toanberten.
©ie mürben nicht getrieben, fonbem dritten, eine nach ber anbern, oon felbft
aus ber geöffneten ©tatttljüre heraus, töfdjten am SBaffer it»rcn ®urft, fatjen, noch
ein SBeilchen ftehen bleibenb, gegen bie purpurne Sbenbröthe auf unb lehrten be»
bärtigen ©angeS in iljre ©chlafftatt hinein. Sorn aber, linlS oon ber ^auStljür
auf ber breiten ©teinban!, unter ben fdjmalfdjeibigen genftern ber SBoljnftube, faß
ber jeitige Sefifeer beS UlmenfrugS, §inridh Safrenjj, unb hielt bie gilße mit
höljenten Pantoffeln meit oor fich ^inauögeftredt. (Sr faß ebenfo abenbru^tg ba,
tote baS £>auS hinter ihm unb bie beiben Säume Oor ihm ftanben, faft mie ein
in BRenfdhengeftalt hetauSgemadhfener S^eil ber BRauer, an bie er ben Btüden
lehnte. ©ein langes, gelblicßtoeißeS |>aar unb ber Sartfranj unter bem freige»
paltenen Sinn ftacpen faum oon ber getünchten SEBanb ab, nur baS hafelnußbraune
Süppchen auf bem @djeitel hob fid) oon bem grünen genfterfreui* BRan brauchte
es nicht ju erfahren, fonbem es lag in bem ©anjen ettoaS, baS auf ben erften
SBtid befagte, er höbe ben ©ifc oon Sinbheit auf innegehabt unb oon ihm aus
bie Ulmen oor fidh um ein gutes ©tüd in ben $immet hiueinmadjfen gefeiert; fo
gemahnte er unmiHlürlich an ben alten Pferbelopf, ber auf ihn herunterfdjaute.
@r oergönnte fich heute, am frönen Btbenb, ben noch raren ©enuß einer magerecht
Oor ftdh htnauSgehattenen Sallpfeife; baS BluSblafen beS bläulichen BtaucheS ber»
feiben hotte feit geraumer SBeile bie einzige Semegung gebilbet, bie ihn als ein
tebenbiges SEBefen getennjeidhnet. BJun jeboch hob er bebachtfam bie fiinfe an ben
Sopf, lüftete baS Süppchen holb 00 m $aar unb fagte, ohne meitere Biegung:
„®un Slbenb."
„®uten Stbenb, mein Sieber", ertoiberte $err Joachim Sortholt; „es hot uns
bie SufüDigfeit ju 3h m hierher oerfchlagen."
„3a, bat iS Oel XofaH inne SBelt", entgegnete ber Sauer.
„©in freunblicheS piäjjchen ber SRatur, jur ©rholung für bie äSohlfaljrt beS
SeibeS unb beS ©emütheS mohl geeignet", fagte ber Profeffor ber Serebfamleit
unb SBeltmeiSheit, befriebigt umherblidenb. ,,©S miH mich bebünfen, baß ich
tängem Seitraum ^inburch meinen guß nicht hierher gelenlt hoben mag, ba bie
Säume mir noch f^attenergiebiger emporgetoachfen ju fein erfdheinen."
„3a, bat fummt un geit", nidte §inrich Safrenß, ben Stauch Oon fich btafenb.
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49$ ttnfere ^eit.
„Bie »«meint 6t bied leitete, mein Sieb«?"
„2)at ^ett ftn Xib ad Slllend, wafft ut be Bortein up »n brOgt nt be
Bortetn af."
„2Ran fönnte faft baffir galten, 6t fifce bort auf einem £att)eberftuljte b«
Beltweidljeit, mein Sieber", täfelte $exv 3oachim Äorttjott, „unb wenn ©eine
©erebfamfeit auch nicht bet Sloquenj eined ©lato tcergleichbar ift, erfüllet fie
micf) bodj mit einem trefflichen ©ebanfen. ®enn ed erleibet in lebten Bodden
bie ©efunbljeit meinet Xocfjter, bet §u frühe öerwittibten Stau Eonrectorin ©rabow,
einigen Abbruch burch bie in ben ftäbtifchen ©affen unb Käufern angefammelte
grofce ©ommerhifce, fobafj ich mich bereitd bet Erwägung überlaffen, ob ed nicht
förberfam für fie unb ihr Xöchtertein fein bürfte, ihr etliche Seit hindurch bie
juträglich«e Suft eined länblichen $aufed ju oergönnen. 6d lommt mir ab«
bei b« Erfenntnifj ber annehmlichen Sage ©eined Haudgewefed, Welche fich oben*
brein mit bem ©orpge b« 9lähe unfer« ©tabt oereinigt, baff fich faum eine
Dertlichfeit geeigneter für folch«lei 3*®** erweifen möchte. Wenn ©eine Bohnung
bie benöthigte Släumtichfeit für bie Unterfunft ber benannten beiben grauen*
jintmer barböte."
„3a, bat lunn Wut angaljn, §err ©rofeffer", öerfefcte ber ftrugbefih«.
„Hält @r bied in ber %t)at ohne erhebliche ©chwierigfeit ju oeranftalten?"
fragte $tv r Joachim Äortljolt mit erfidjttid) freubiger Eifrigteit.
„Dppe anner ©it id ©lajj nog, ba heböt all mal ©tabtlüb Wahnt."
„Eximie, carissime — ich wollte audbrücfen, bah mir burch ©eine Er*
Wiberung eine befonbere Stnneljmlichfeit bereitet hat, ba biefetbige mich S um ©or*
theile mein« studia weitläufigerer Erfunbigung überhebt. 3<h barf mid), wie
ich erhoffe, wot ber Ueberjeugung oerfichert holten, bah bem Quartier auch ber*
artige Eigenfchaften innewohnen, wie fie für meine Xodjter unb Enlelin fich bei
einem oorübergehenben Aufenthalte atd wünfchendwerth hetaudfteüen würben."
„3a, äRinfchen fünb bat ja wul ol", oerfe|te $inrich Safrenfc, bie ©feife
aud ber rechten Hanb in bie linle Wedjfelnb.
„Inopia sermonis rusticalis", Wanbte ber ©rofcffor ber ©erebfamfeit fi<h
lächelnb an feinen Begbegleiter; „hoch fie entfpricht ber jierbelofen Einfältigfeit
ber Statur, in beren SDtittc fie gleich ben ^almett bed gelbed emporgewachfen.
Bie gebächten ©ie, liebgef^ä|ter §crr EoHega, toenn wir und nach bem SSor«
bilbe bed Obpffeud, Ooit bem wir meljrfättig heut Siebe gepflogen, ein Beildjen
oon unferer UmWanberung an biefem pafjlidien $erbe jur Staft nteberliejfen unb
etwan ein ©chüffetchen oon ber erquicflichen bicfen SRitch genöffen, Welche ben Stuf
bed Utmenfruged in wohlberechtigter Beife auch ^ er &' e Honoratioren unfer«
©tabt audgebreitet hot?"
„3a, be Xicfmetf id gob, ben narrten ©enget fmecft fe of, benf il", fagte
ber Sauer, feinen holb abgefatlenen Holzpantoffel an fich jieljenb. Xanadj ftanb
er tangfam auf, trat in bie offene Houdtljür unb rief: „SRober, twemat Xicfmetl!"
He« Ehriftian Dleariud hotte ju bem ©orfchloge feined Eollegen pftimmenb,
boch ohne Bortäufjerung genidt; er bot noch immer, wie bereitd juoor auf bem
©ange, ben Studbrud innerlichen ÜRadjfinnend über ein, ihn mehr unb mehr in
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Der Ulmenfrug.
495
Wnfprudj nehmenbeS Problem bermuthtich ouS bem ©ebiete ber Vernunft» unb
©ittenmiffenfdjoft. fpinrid) Safrenfc teerte gleichmütig auf feinen ©teinfifc gurüd,
imb £>err Soac^im SJortljolt fagte, an bie lefcte Hieplif beffelben anfnüpfenb :
„©8 fiat alfo bie ©unft beS Rimmels in hergerfreulicher Vethätigung ©einen
(Sljebunb mit 9la<hfömmlingen gefegnet, mein Sieber?"
„9lee, bat Eiett he nid)."
„®r rebete bodj aber, fo mein ©eljör mich nicht fälfdjlidj belehrt, non einem
Knaben, beffen jugenblicher 2lppetit bie 2refflid)feit ©eines länblidjen ©rgeugniffeS
bewähre?"
„9tee, bat iS nid) min ©öljn."
„SEBeldjem gamilienberbanbe ift er aisbann angehörig?"
„3)at toeet i! nid)."
„@S nimmt midj tounber unb geugt nicf)t non einer forglidjen ißäbagogif, baß
ein Änabe bergeftalt oßne bie Veauffidjtigung feiner Stettern fidj folgertet ®eniiffe
in einer Ärugmirthfdjoft berftattet, unb fielet mol gu befürchten, er E)a&e fich bie
hierfür benötigten ©elbmittel auf »erbotenen SBegen gu eigen gemacht."
„JRee, bat gtöo if nich", berfefcte #inridj Safrenfc, bie geberfpute feinet ftatf»
pfeife langfam gtoifchen ben noch botlen meinen äahnreiljen herborjiehenb.
4?etr Joachim Äortholt aber ertoiberte eifrig unb nicht ohne einige bertoeifetibe
©trenge im Xon:
,,©S fommt 3h m - olS einem bejahrten äRanne, in berlei gälten mot eher gu,
mein Sieber, fich einet für bie gebeihti^e ©ntmicfelung ber Sugenb minber fdjöb*
lieh einmirfenben ©laubenSftörle gu befleißigen unb bei ber Verabfolgung ©einer
SSJirt^fc^aftSpvobucte löblichere Vorficht auSgufiben."
„S)icfmell beit 2Rinf<h un Veh gob."
„3$ h fl be biefeS auch mitnichten angegtoeifelt, mein Sieber", entgegnete ber
Vrofeffor föortljolt in unberfennbarem SBeiterfchritte feiner hörigen ®etaffenheit gu
einer aufgeregten ©ntrüftung, „fobalb baS in Hiebe ftehenbe HtaljrungSmittel in
rechtlich ermorbener SBeife gur görberung leiblicher Sßoljlfahrt bient, mich jeboefj
in OorauS begrünbeter SRutljmaßung ber SBeforgttiß hingegeben, bah bie unber=
gängliche ©eete beS Snaben bereits burch ^Nichtbeachtung beS fiebenten ®eboteS
eine erheblichere ©inbuße erlitten hoben mirb, als bie natürliche (Ernährung beS
SötperS fie auögugleidjen oermag."
„§e betalt nij", fagte £>inrich Safrenfc.
„@o — fo — baS ift aßerbingS ein beränberter Umftanb", oerfefcte $err
goachim Äortholt etroaS gebehnt. „®r hätte mir biefe Vemerfung bereits um ein
SBenigeS gubor äußern Jönnen, mein Sieber."
„@e hebbt nich fragt."
„ülber ich fptodj 3h OT ouS, baß ich nttch bem ®lauben an baS ©dilimmfte
hingeben gu müffen befürchtete."
„3! gtöo oun SKinfdjen jümmer bat Vefte."
„@o — fo —", mieberholte $err 3°odjim ®ortf)olt, „nun, baS ift fo ©eine
unpäbagogifdje SReinung. Sllfo hot ber Shtabe bei 3h 111 um bie Stbenbfoft gebettelt?"
„SRee, baran hett he «ich bacht."
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496
Unfete <3eit.
„SWein Warum Ijat ffir fidh benn einem ffremben gegenüber ju biefer unöfono*
mifdhen $anbtungSWeife üerleiten taffen?"
„$e feeg Wat Ieeg ut"
„$o<h ju Weigertet gwecfen Wat et benn hierher in ben Utmenfrug gelanget?"
„$e weet nid) ^ier."
„@r fdfjeint ein (Befallen baran ju finben, fidh in Sibhttinifdjen Sluöfprfidhen
ju bewegen, mein Siebet. SBenn ber ftnabe ftc^ nicht f)iet bei 3h m eingefunben,
auf welcherlei 2Jlanier gelangte et aisbann hierher?"
„3! funn em bar altern Sun."
„Sin welkem Orte?"
„3)ar buten in’t gelb."
„SBaS betrieb er benn borten alleine?"
„#e teeg un ween’."
„So — fo — muthmafjtich einet gerechtfertigten Züchtigung halber, bet es
feineSWegS förberfam gewefen, ihm biefetbe burdj ben ©enufj einet fchmacfljaftcn
Slbenbmahljeit in S3ergeffen^eit ju bringen", entgegnete £err Joachim Äortljolt,
fopffdhüttelnb unb mit fübagogifcfj angefpanntem ©liefe umherfdjauenb. „fflo be*
finbet fid) benn bet jugenblidfe ajtiffetljäter?"
„$e fitt bat ünner be ©fdj", beutete §inrich Safrenj} mit ber ©feifenfpifee auf
baS bidjt herabljängenbe ©ejweig bet ©artentaube.
9tun wenbete ber ©rofeffor ber SEBeltweiStjeit fiel) abermals gegen feinen nach*
benflidjen SBeggenoffen, ber etwas jut Seite fteljenb auf baS ©efpräd) faum Sicht
gegeben hatte, unb fragte:
„©ermeinen Sie nicht nadh bem ©ernommenen, tiebgefdhafcter #err Sotlega,
bajj wir es unter foltherlei Umftänben als unfere ©flicht erachten müßten, biefeS
gleidherWeife natürlich unb figütlidh Dom richtigen SBege abgeirrete junge ©emüth
einet Ijeilfamen Ermahnung ju unterjieljett unb unter unferer Obacht ber trätet*
liehen Autorität ju weiterer ©efdjtufjnahme jurüdjugeteiten?" Unb ba $err ©Ijri*
ftian OteariuS juftimmenb niefte, fdhritt ber erftere würbig auf bie Saube ju unb
bog baS bunfle Saubwerf berfelben auSeinanbet.
Um ben Stamm ber Srauerefdhe jog fich ein runber Steintifdfj; üor biefem
ftanb eine niebrige ^otjbanf unb barauf fajj ein Snabe oon etwa jwölf ober brei*
jehn fahren, ©r war für fein Sitter hoch aufgefefjoffen, fdhmädhtig unb Oon blaffet
©eftdhtSfarbe; in feinen Slugen fchimmerte ein ungewöhnlicher ©ücfgtanj beS herein*
fattenben SlbenbtichteS, ber oon einer, ben Swifchenraum ber Siber auSfüllenben
Seucfjtigfeit herrühten muffte. Siefelbe trat nicht fjeroor, hoch fte glich ben
Stoffen, bie nach einem ©ewitter btinfenb am ©ejweig haften unb nur einen
Slnhaudh erwarten, um herabjufallen. 3m SluSbrucf beS feinen ©efidhteö unb in
ber ganjen Haltung beS ÄörperS befafj ber &nabe etwas Oon einem gro|en,
freuen, jungen ©ogel, bet jum erften mal aus bem Uteft fortgeflattert, irr in bie
Srernbe gerathen unb, unter einem Saubbadh jufammengebueft, ungewiß umherbtidft,
was aus ihm werben foH. S)odj ber leere Seiler Oor ihm befagte, baß er barum
ni^t weniger redhtfdhaffenen junger gehabt unb bie ihm gebotene Stbenbloft bis
auf ben lebten 9teft forglich üerjehrt hatte.
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Der Ulmenfrug.
49?
9tun Wanbte et, opne fid) felbft ju rfiljren, bie Äugen unruhig in bie 9tidj=
tung, wo ficE) bas ©lattwer! bet Saube plöjjlict bewegte, unb eS bauerte einige
©ecunben, bis bet ©lid $erra 3oadjim jJorttott'S ftct an baS tief abgebämpfte
Sidjt unter bem $ängebaum gewöhnt t<*tte unb berfelbe, baS peroorf^imnternbe
bleiche Äntlif} übermufternb, erftaunt auSrief:
„Herde — bet SoIrabuS Seftebt — turnet ipse — bet finabe, Don bent Wir
jubor gerebet, Iiebgeftüfcter $ett ©ottega!"
§ert ©triftian DIeariuS war bem Soraufgefctrittenen gebanfenbotf nactgefolgt,
fupt jefct mit einem beinahe heftigen 3tud beS ÄopfeS aus feinem Stadjfinnen
empor unb berfefcte, gleitpfaHS auf bie unerwartete ©rfteinung unter bem ©ejweig
ftauenb:
„©rfennen Sie in SSirflidjfeit biefen Knaben als baS ^intertaffene ©ö^nlein
beS SpnbicuS Seftebt, liebgefctätter $err ©oKega? Sann bermödjte man wot,
wie es einem ©emüttje juftept, bem fict bie pö^ere gügung bet SJienfc^enfcpicffale
offenbart, ein ostentum barin gewahren; benn eS bebarf ber ©rläuterung, baß
auf unferer Sanblung bis tjierljer 3t« borige ÜRittteilung gteictfam wie eine
ÄuSfaat in meine ©rwägung gefallen, ob fie gflnftigen Äderboben barin finbe,
baß fie fidj in mir ju ber ffrudjt beS ©ntfcttuffeS zeitige, mict mit ber bäterlidjen
Dbforge für bie fernem studia in litteris et moribus biefeS berwaiften ffinbeS ju
belaften. Mirabile! rectius loquemur divinite! Saffen Sie eS uns nidjt ber Än=
jweifetung unterbieten, bat Wir deo juvante unfere Setritte an biefen Ort gelenft
toben unb unter feinet ©eitülfe ein Serf ber ÜHäctftentiebe, ©armterjigteit unb
©abagogi! in ben Stanb ju fefcen berufen finb."
Ser Sprecter war in bie Saube tineingetreten unb tatte bei ben Iefcten Sorten
ben Ärm beS Ujn fpractloS anbtidenben finaben gefaxt. £>err Soatim Äorttolt
aber erwiberte mit bernetmtict freubiger ©rtebung ber Stimme unb artiger Än=
fpietung auf ben 9iamen feines ©egleiterS:
,,©S finb 3t« Äeuterungen mir erflungen, als fei bie Saube ber ffierffinbi*
gung mit einem DeljWeiglein aus 3t« m SJiunbe t«borgegangen, liebgefetäfcter
$err ©offega, unb ict reetne eS ben tßdjfttfi ju beretrenben ©rfolgen ber Äunft
ber ©erebfandeit bei, bat meinen geringfügigen Sorten unboratnticter Seife baS
©erbienft entwarfen, in 3t« m ©emiitte ben Seim fottaner Dpferwittigfeit ge=
regt ju t al &en. So barf i<t unter biefer wunberfamlidten gügung auct wo!
meiner ©ereitfetaft ÄuSbrud oerieiten, na<t ben mir geworbenen Stäften einen
Äntteil an ber ©etaftung ju netmen, beten bie überrafetenbe S^nettigfeit 3t« r
©ntfdjtietung fi<t fürbertin bon biefem SDloment unterzogen, unb biefen Änaben
als einen toffnungSreicten ©egenftanb unferer gemeinfam über itm waitenben
gürforge ju betradtten. S?omm, ©olrabe, unb entrichte bem ©efdjüfcer beiner tülf 5
lofen Unmünbigfeit ben Soll ber SanfeSfctulb, weite bie unbertoffte Umwanb=
lung beS SebenSftidfaleS bir aus bem Snnerften emporftrömen läffet."
Ser julept mit biefer ©rmatnung Ängefproctene fyeU ben ginger feiner Iinfen
4?anb um einen Seitenaft ber $ängeefcte jufammengefctloffen, fat fdj«u ju ben
beiben bor itm Stetenben in bie §i>te unb entgegnete ungewit ftotternb:
„SaS foU ict — wotin —?"
Unfere 8eit. 188S. I. 32
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Unf«re ^eit.
498
„$e 25idmel! tönt op be $errn ünner be Ulm", fagte braußen bor ber Saube
eilte weibliche (Stimme, unb £»err Joachim Äortholt berfeßte, fich ju ber loeiß*
paarigen (Sprecherin umbreljenb:
„SBir banlen ber Benachrichtigung, grau Safrenß; ed bietet bie Befonberßeit
biefer Slbenbfoft ben Bortheil, nicht ju erfüllen. 2)och werben mir aldbalb und
bed ©enuffeS berfelben t^eil^aftig ju machen bemüßigt fein."
„Beter marrb fe oun’t ©taßn of nich", ermiberte bie Sitte unb ging jurücf.
2>ann tauchte nach einigen Slugenblicfen bie fchmächtige ©eftatt bed fötaben neben
#erm Ghriftian Dleariud and ben Bweigen heroor. 2)ad Slbenblicht ließ jefct
mcidjcd, laftanienbrauned $aar an feiner meißen, btaugeäberten ©cßläfe aufgtänjen;
fein güßrer hielt ihn an ber £>anb gefaßt, unb er folgte mit einem mittenlofen
unb gebanfenlofen Studbrucf. @o fefete er fich auch ftumm an ben äußerften 9tanb
ber Banl, auf ber bie beiben Herren unter einer ber Ulmen an einem 2ifcfje ißtaß
nahmen unb mit erfidjttichem SBohlgefaüen bie bereit geftettte SJtaljljeit berührten.
SBäßrenb berfelben erläuterte ber ißrofeffor fi’ortholt in Raufen bem Srugbefißer
an feinen SSanbfiß hinüber bie Slbftammung, oermaifte $ülfdlofigfeit unb plöfelich
bom $immel herabgefommene ©lücfedbegünftigung bed Snabeit burch ben ©ntfcßluß
feined hier gefunbenen SBohlthäterd, ihn gleichfam an ©ohned ©tatt in fein $aud=
mefen unb feine ©eiftcdjucht aufpnehmen. ^inricß Safrenß jog bie Sßfeifenfpule
jmifchen ben Bühnen heroor unb oerfeßte:
,,©e fchuHn em man lemer hier laten."
„SBelchertei Bemeggrünbe beranlaffen 3h n ju biefer Slnfchauungdmeife, mein
Sieber?" antroortete §err ©hriftiau ftortholt mit offenbarem ©rftaunen.
„£ier hett he mehr oun’n fpeben ald inne ©tabt."
„Bft ©r etman gleichfalls ber SWeinung, mein Sieber, baß ber Änabe ftch hier
eines Borjugd im Betreff ber ©ebeihlicfjfeit feiner ©eiftedpcßt erfreuen bürfte?"
fragte ber ^ßrofeffor ber SBeltmeidheit unb Ißäbagogif nicht ohne einige lächetnbe
Sronie feined Slnttißed mie bed fflanged feiner SBorte.
„25at rneet if nich, amer be 2)icfmelf id em bcter."
„28ir jollen biefem trefflichen SRahrungdmittel fomie ©einer Bubereitung ber*
felben berbientermaßen Slnerlennung, boch ed mürbe mein Sntereffe ertoecfen, bon
Bhnt in ©rfaßrung p bringen, inmiefern ©r fich berechtigt achtet, ben heilfamen
©influß ©eined länblichen ©rjeugniffed ber görberung geiftigen ©eminnd boran*
pftetten?"
„SBil he fnnft Iran! marrb, benn ßet he nij baoun."
£>err Boacßim ©ortholt entgegnete, jum erften mal ben ©aßbau feiner Steplif
nicht befdjließenb:
,,©r berfeßt mich in feinedmegd geringfügiged ©rftaunen — aud meltherlei
ajterfjeichen bermeint @r benn, mein Sieber —?"
„2)at !ann en ft'at fehn."
2)ie beiben Sßrofefforen manbten ihre Slugen auf Bolrab SBeftebt, unb plößlich
nahmen fie jeßt ebenfalld p ihrer Ucberrafcßung Wahr, baß ber fötabe in ber
2ßat ein äußerft blutlod blaffed, matted unb übermacßted Sludfehcn bot, mie cd
nach £>errtt Soachim ©ortholt'd aldbalb barauf erfolgenber, mohlermogener Sin*
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Der Ulmenfrug.
499
Betrachtung für bie förderliche $üt(e eines jugenbtic^en ©eifteS nicht als bie
WünfchenSwertlje Besoffenheit jur fruchtbringenden ©ntwicfetung beffelBen erfcheine.
Unb er fügte hinzu:
„SEBie gebächten Sie, lie6gefchä|ter £>err ßottega, wenn wir nach bem Statt)*
fdjtage biefeS einfachen SJtanneS, wie bem Bewährten SluSfprudje alter SBeltWeiS*
heit unb ißäbagogif de mente sana in corpore sano unfern Zögling einfttoeilig
Bis jur Slufbefferung feiner teiBtichen Äräfte ettoan unter ber DBacf)t meiner hi«
Quartier Beziehenden grau lochtet gleichfalls auf biefem §ofe Belieben, alfo bah
berfelbige während biefeS BeittaufeS bon etlichen SSochen nur beS Bor* unb Stach*
mittageS jur Sßeiterförberung feiner studia baS ©hmnafium auffudjte, Bis wir
ihn in ben Buftanb borgefchritten fähen, bah wir fetber in ber Stabt unfete ge*
meinfame Sljätigteit an ber humaniftifdjen ißrägung feines ©eifteS ju Beginnen
bermödften? Ober glauben Sie fid) ber Befürchtung anheimgeben ju müffen,
tiebgefchäfcter §err ©ottega, bah <tuS fotdj« D6forge für baS äuherliche SBohl*
Befinben beS Knaben ihm eine Schäbigung beS ©emüthes erwachfen fönne, bie
befähigt Wäre, uns fpäterhin mit ber Saft ber Berantwortlichfeit ju Bebrücfen?"
„2>at tümmt aflertS fo oft, aS bat bar inftidt", fagte §inricfj Safrenfc; „ut’n
Stoggen warrb teen SBeten, man fann em feien aS man Witt.“
#err ©h r ifti° n OleariuS nicfte zu ber erften Stnfrage feines Sottegen unb
fchüttette zu ber le^tem ablehnenb bie ißerrüfe. ®er ®nabe fah Wortlos Bei ber
SBeiterffifjrung beS ©efprädjS unb ber Bebächtigen gorterwägung feiner nächften
unb fpätern 3ufunft; er fchien feinen Stntheit baran zu nehmen; nur hin unb
wieber einmal tag noch mehr als zuDor im furzen Stuffdjtag feiner Shtgen etwas
unbeftimmt SlengftticheS, fdjeu StuftjordjenbeS. ®ann warb grau ©hriftine Safrenfc
mit in bie Berathfdjfoflung hineingezogen unb fchliefjlich als ©rgebnifj ber te^tern
baS zeitweilige unb fchon heutnächttiche Berbteiben Bolrab’S in einer Kammer
beS UtmenfrugS attfeitig als baS Sientidjfte erfunben. @S War fpät abenbtich
geworben; bom $hurm ber Stabtfirche herüber fam ein eintöniges ©etäut unb
berfummte in bie gemach leife dämmernben, ftitten gelber hinein. §err ©Ijriftian
DleariuS fagte, ben ®opf tjebenb:
„Heus! Sooiet ich nernehme, allBereitS bie ©ebetgtocfe, welche baS Singebenfett
beS hn<hfelig betriebenen SlmtmanneS #anS Blohm unter ben SeBenben forterhätt;
ihre Umfchrift Befagt: «Dum trahor, audite — Voco vos ad sacra, venite!» fo
ift es wol an ber Stunbe, liebgefdjäfcter §err ©oHega, bah öudj Wir ihrer Be*
rufung golge teiften."
®ie beiben Herren ftanben auf, wieberhotten Bolrab SBeftebt noch einmal bie
ihm fchon zubor genau erteilten Borfchriften über feinen Sdjutbefuch fowie bie
jfebeSmat nach bemfelben anberaumte SMbung unb Prüfung im Stubirgemadje
beS ißrofefforS DleariuS, unb oerabfchiebeten fich non ben SBirtljSleuten. „Slapen
Se gob", erwiberte ber Bauer, unb jene wanbeiten, im Bewufjtfein, ein treffliches
Xagewerf z«r gruchtemte ber ßufunft oerrichtet zu hüben, re optime gesta, unter
lehrreichem unb annehmlichem ©efpräch durch ben bunfetnben Hohlweg ben Brau*
nen Stabtbächem entgegen.
®er ÄnaBe war ftumm unb reglos auf ber Banf fifcen geblieben unb fah
32 *
Je:-
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500
Unfere ^eit.
gegen ben ^orijont in bie lefcte Slbenbhette |inau5. Um ihn lag alles ftiU; nur
ein großer Nachtfalter fdjoh manchmal fchattenhaft an feinem ©eftcht, ihm faft
ba8 $aar ftreifenb, borbet. $ann fuhr er leicht jufammen unb ein ttmnberlicfier
Schauer lief ihm äber ben Nüden. ©in Naufdjen ging broben burch bie bitten
Ulmenfronen, unb mie er mechanifch ben Süd hob, gewahrte er ben grauen
ißferbefopf über ftch gegen ben $immet unb barunter im Bwielicht ebenfo unbe«
Weglich #inri<h Safrenfc auf feinem SEBanbfi)}. ©8 lag faft etwa8 ©efpenftifcheö
in feiner Negtofigfeit, nur befanb er fufj nicht mehr allein, fonbem bie meifshaas
rige Sitte hotte ftch/ gleicherweife einem hetou8geWadjfenen SRauerftüd ähnlich,
neben ihn gefefct. $odj nun fragte bie Stimme be8 Souer8 non ber SEBanb her:
„38 bin Sabber ftorben?"
„3a", antwortete ber Knabe halb berftänblicfj.
„®enn het h e bat gob."
2)er SNunb Sotrab 333eftebf8 judte fonberbar auf. „3h c feib am Seben unb
Wifjt nicht, wa8 lob heifct."
„Nee, wi fitt hier un töbt oh em."
„21ber ich Witt nicht fterben!" flieh ber Knabe beinahe mit leibenfdjaftlicher
4i>eftigfeit herbor. „3<h will groh werben, frei — ich tritt leine ißerrüfe tragen,
fonbern glügel hoben, bor ihnen wegjufliegen —." Unb er brach tn ein frampf=
hafteS SBeinen au8.
„SEBenn’t Slbenb warrb, lamt be Sageln ol Webber un frupt ünner", fagte
£>inrich Saften^.
®er SBinbhauch hotte jefct bo8 feuthtglänjenbe ©ejweig gerüttelt, bah bie
Xropfen fchwer bon ben SBimpern Solrab SBeftebt’8 herunterfielen. @r ftarrte
noch einige Slugenblide burch bie fronen au f bie beiben alten, ruhigen ©eftalten
an ber SEBanb, bann legte er ben Kopf auf ben Sinn unb fchluchjte mit matt
gebrochener Stimme:
„3<h möchte bodh fterben!"
„®at hett bör bi noch Xib, bu ftttft hier noch nid) oppe San!. ®enn gah
man börft to Seb, be ®eern in’t £>u8 warrb bi bin Stapfteb wifen."
(gortfe|ung folgt.)
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Berff)xrlir QUtrBarft»
©in l i t e r a r i f dj e 3 Porträt
Bon
©ngett Babel.
Dbwot ba« ©efinben ©erthotb Sluerbach’« in bet tefcten 3eü feiner feit bem
#erbft be« notigen gahre« anbauetnben ernfttidjen Shranlljeit nur geringe §off=
nungen auf SEßieber^erfteöung ptieß, h fl t bodj bie SNelbung feine« am 8. gebt.
1882 in Sanne« erfolgten Dobe« nicht üerfef)lt, überall, wo ber Sinn für bie ®nt=
wicfetung ber beutfdjen Nationalliteratur rege ift, aufrichtige Uheilnahme hetöor=
prüfen. 3)er ©rfolg feiner burd) mehr at« oier gahrjehnte fortgefefeten litera^
rifchen Ihätigfeit toar in jeber ©ejiehung ein ungewöhnlicher, wie e« fchon bie
Ueberfefcmtgen feiner fmuptfdriften in faft fämmtliche lebenbe ©utturfprachen unb
ihre jahllofen Nachahmungen beweifen, unb ein nicht geringer X^eil ber tion ihm
gefchaffenen ©eftalten lebt in ber 5ßh°ntafie be« beutfchen Solle« at« unber»
äußerlicher geiftiger ©efifc non h oc h unb niebrig. ©egenüber bem Nivellement,
ba« fich in unfern Dichtungen immer mehr bemerlbar macht, erlennt man in
Stuerbad)’« 5ßh^f* o 0nomie fofort ba« 8lu«bru<f«twlle unb ©elbftanbige, ba« feinen
beften Seiftungen auch für bie Sulunft eine nicht ju unterfdjäfcenbe ©ebeutung
ftd^ert. ©o Wenig e« ihm bei bem ©erfud), feiner Sänge eine ©He pjulegen
unb bie §anb nadh Sorbetn awöjuftrecfen, bie feinem Dalent nicht belieben
Waren, an mi«glüdten SBürfen gefehlt hat, fo weift ihm boch bie nachhaltige unb
gelungene ißflege eine« beftimmten ©ebiet« unferer Siteratur einen ©h ren ptafc in
ber beutfchen Nuhme«hatle an. 2ßol war bei bem Sitter be« ©erftorbenen eine
Steigerung feine« Nuljme« nid^t mehr ju erwarten; boch dürfen wir immerhin
annehmen, baß er biefen unb jenen gtüdlidjen ©lan mit in« ©rab genommen habe.
Namentlich ift e« bebauerlich, baß Stuerbadj bie ©oQenbung feine« Sftemoiren*
Werl«, wet^e« bei feinen zahlreichen perföntichen ©ejiehungen überau« intereffant
ju werben berfprach, nicht mehr belieben war. ©r befaß ohne Stoeifel ein
feltene« Dalent, mit SRenfchen umjugehen, unb foWot bem greunbe wie bem bloßen
©elannten fein SBefen nicht nur brodenweife, fonbern ungetheitt unb mit feiner
Nütffiditnahme auf bie ©igenthümlidjleiten be« anbern hinjugeben. Die Saßl ber=
jenigen, bie bon ihm Anregung, ©etehrung unb SBohlwoßen empfangen haben,
ift eine fehr große; namentlich in ©erlin, wo er feit 1859 feinen Sßohnfifc auf»
gefchtagen hatte, War er eine burdjau« populäre ©rfcheinung. 3h n machte e«
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502
Unfere £ett.
gtücfticß, ton ber SJienge getonnt unb gelobt gu werben; ein ßerglicßer ^mnbebruct,
ein SBort ber Slnertennung, aucß wenn es nießt oon bet maßgebenbften ©eite aus*
gefprocßen würbe, tonnten feine Stirn, in welche bie ©orge tiefe gatten einge*
graben ßatte, wieber entrungetn; er bermoeßte im greunbeSfreife ©onnenfcßein gu
feßen, wo ißm in ber ©infamleit afleS trübe Stacht gu fein festen. Siefe ®abe,
©ebanten unb ©infäße für anbere gu fäen unb bafür ©ewunberung für fieß gu
ernten, mußte ißm einen großen frreiS oon Stnßängern gewinnen, unb er war in
ber berliner ©efeüfcßaft gerabe beSßatb fo beliebt, weit feiner beßaglicßen, finnen-
ben Statur fo Wenig baS Steroöfe ber ©roßftabt angeflogen War. SaS ergab eine
erfreuließe ©rgängung auf beiben ©eiten: Stuerbacß würbe iünger, frifeßer unb
mobemer in ber Unterhaltung, wäßrenb fieß feine ©efpräcßSgenoffen beim Stbfcßieb
bureß 3been unb Slnfcßauungen bereichert füllten. @8 tonnte baßer nießt wunber*
neßmen, baß man ben 70. ©eburtstag beS Verbticßenen gum Slntaß mannießfaeßer
Dtationen maeßen woßte; man faßte Vefcßlüffe unb traf Vorbereitungen aßet 2trt,
unb Stuerbacß empfanb eine faft finbtieße greube bei bem ®ebanten, auf biefer
SttterSftufe bie ®tü(fwünfcße feiner Station entgegenneßmen gu bürfen. Sn feiner
©itetleit, bie burdßauS nießt berteßte, weit fie fieß eßrlicß unb naio gab, über»
feßüßte er fitß offenbar, wenn er fieß für ben beborgugten Stepräfentanten ber mo»
bemen beutfeßen Siteratur ßiett, was er gwar niemals birect auSfpracß, aber
bo<ß bureß SBinte unb |>tnweife gu berfteßen gab. ©r glaubte, baß bie 70 Saßre
baS leßte Vtatt feinem StußmeSfrange ßingufügen unb ißn gum ißatriarcßen ber
Siteratur maeßen Würben. Stun ift ber ©cßnitt ber fßarge ber ©rfüflung biefeS
SiebtingSWunfeßeS um brei SBocßen guborgetommen, unb ber Sicßter mußte, bon
maneßem Summer aßgemeiner unb prioater Statur bebrüeft, fern bon ber $eimat
unb fern bon ben Sannen beS ScßwargWalbeS, beren Staufcßen er fo feßr geliebt
ßat, feinen leßten Sltßem auSßaucßen.
Vertßotb Stuerbacß ift am 28. gebt. 1812 in bem würtembergifeßen, an ber
®renge bon §oßengoflern gelegenen Sorfe Storbftetten als ©oßn eines jübifeßen
SeßrerS geboren, ber ißn gum ©tubium beS SatmubS unb ber Sßeotogie beftimmen
Woßte. Slßein bie ßumaniftifdßen ©tubien gogen ben Snaben ungteieß meßr an;
wir feßeit ißn auf bem ®ßmnajium in Stuttgart fein Slbiturientenejamen maeßen
unb naeßeinanber bie Uniberfitäten Tübingen, ^eibetberg unb SDtüncßen begießen.
SluS bem Sßeotogen würbe ein Snrift unb ^ßßitotog, aus teßterm enbtieß unter
bem ©influß bon Sabib ©trauß ein ^ßitofopß. Snt freien Senten bie Singe
berfteßen gu lernen, erfeßien bem Jüngling als SebenSaufgabe, unb ©cßeßing’S
imponirenbe tßerföntießfeit trug nießt Wenig bagu bei, ißn ber SBeltWeiSßeit gang
gu gewinnen. Stber bie politifeße ^Bewegung jener Beit mußte einen rußigen
©tubiengang unterbrechen: Stuerbacß, ber mit jngenbticßer Vegeifterung bem feßwarg»
rotß=gotbenen SBanner geßutbigt ßatte, würbe berßaftet, in Tübingen unb in feinem
$eimatSborfe Storbftetten internirt, unb enbtieß auf brei SJtonate gut geftung
§oßenaSperg berurtßeitt, bie aueß ©cßubart, bem ©änger ber „gürftengruft", ein
unwiflfommeneS Stfpt geboten ßatte. Sn biefe Beit faßt ein titerarifcßeS ©reigniß,
wetcßeS Stuerbacß’s gangen Böen unb gange Vegeifterung entflammen unb ißn bei
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23ertfjol6 2tuerbacfy.
503
bet Sertheibigung feiner perfönlidjen ®h re unb berjenigen feiner @tamme«genoffen
jum ©djriftfitetter machen mußte. SBotfgang SJtenjet, ber bi« jur Sutireootution
in ber ißotiti! efjer liberale at« reactionäre Stnfdjauungen bertrat, menbete fid)
nadf) bem Raffte 1830 oon ben freiheitlichen Seftrebungen ber immer ent»
fdliebener ab unb »erfolgte ihren titerarifcfjen 9tu«brucf in feinem „Siteraturbtatt"
auf ba« unnachfichttichfte. Namentlich h a ^ e er e« auf ba« „!gunge Deutfchtanb",
jene ©ruppe üon ©djriftftettera, abgefehen, .hie trofc ber offenbaren Unreife ihrer
Seiftungen hoch ber Siteratur nach ber ©eite be« SJtobernen unb ßeitgemäßen
gan§ neue SBege eröffneten, unb e« gelang feinen Denunciationen, ben S3unbe«-
befdjtuß oon 1835 herbeijuführen, burch ben alle Schriften $eine’«, Saube’«,
©ujjfom'«, 9Kunbf« unb SBienbarg’« geächtet mürben. SJtenjel betrachtete ba«
„3unge Deutfchtanb" al« eine Stuägeburt be« granjofenthum« unb machte oon
biefem bie unglaubliche SBenbung auf ba« Subenttjum, obrnot mit 2tu«nahme Oon
§eine unb Sörne, bie auch fchon tangft getauft maren, bei teinem ber in SBetradjt
fommenben ©chriftftetter eine SBejiehung §um ©emitenthum nachmei«bar mar. Da«
„Siteraturbtatt" behauptete inbeffen, „baß ba« fogcuannte Sunge Deutfdjtanb
eigentlich ein junge« ißatäftina fei, unb baß Oon ber öffentlichen ÜReinung alle«
SBiberlidje, ma« in ber grenjentofen 3ubringtid)feit, in ber granjofenfucht, in bem
tücfifch ohnmächtigen Deutfcf)en= unb ©hriftenhaß ber neuen frantfurter ißropaganba
liege, bereit« allgemein bem 3fubai«mu« jur Saft gelegt toerbe". Stuerbach, bem
bie in $tdjt unb Sann gethane Siteraturrichtung menig fpmpathifch mar, glaubte
bod) ein Stecht ju einem SB orte ber Slbmeljr gegen fo thörichte Sefcfjutbigungen
ju haben, unb gab biefen ©mpfinbungen in feiner ®rftting«fcfjrift: „Da« gubeit»
thum unb bie neuefte Siteratur" (1836), 2tu«brucf. 2)er jugenbtiche Stutor ging
mit SEBürbe unb ©ruft auf bie Streitfrage ein, inbem er einerfeit« ba« £>alttofe
be« Sormurf« nachmie«, bem jufotge bie ^uben bie geinbe ber christlichen Stetigion
unb be« Nationalität«princip« feien, anbererfeit« aber auch feine ®tauben«genoffen
aufforberte, ben pofitioen Inhalt be« igubetttfiutn« mit ber ©ulturftrömung ber
gpgenmärtigen Seit ju Oermifctjen unb bie bi« bahin noch oft beobachtete ©onber*
Stellung aufjugeben. Dem Inhalte biefer ©chrift mirb man ohne meitere« ju=
ftimmen fönnen, aber ihre gorm oerrieth noch m oieter Sejiehung bie ungeübte
$anb. Der ©tit mar burchau« affectirt unb forcirt, unb bie häufige Slnmenbung
bon grernbmörtern fottte ben 2lu«führungen einen Slnftridfj be« ©eiftreich’SIenbenben
geben, ma« ber Statur biefe« ©djriftftetter« gar nicht entfprad).
Daß Sluerbadj aber im ©tanbe mar, einen ©egenftanb nicht nur im Sinne ber
Dage«bebatte ju ftreifen, fonbern ihn auch biateftifdj ju burchbringen unb fich in
ber Darfteltung bon altem äußerlich Stngenommenen fchnett ju befreien, fottte feine
nächfte titerarifche Slrbeit jeigen. ©ie mar auch £>inbtid auf bie ©reigniffe
jener Sahre gefchrieben, erhob fich ober über ba« bto« Denbenjiöfe jur p>f(itofo=
phifdjen unb fünftterifchen greiheit. Zubern ber Stutor über ba« ©djidfat ber
$uben nachbachte, mußte bor feinen Stugen mie oon fclbft ba« Sitb be« ebetit
jübifdjen Denfer« auftauchen, ber für bie ^Befreiung ber Sfraetiten au« tatmu»
bifcher ©pifcfinbigfeit unb nationaler ©ngherjigteit eine glänjenbe oorbitbtiche S3e=
beutung hotte unb atä reiner, borurtf)eit«tofer, mahrheit«tiebenber SRenfdj auf ben
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Unfere <3eit.
5(H
$aft ber SJiitwelt in leinet anbero gorm antwortete all baburdj, baß et ber
Sachwelt unfterbliche SBerle £)interliejj. Äarl ©ufctow hatte im Saljre 1832 ben
„ ©abbucäer non Slmfterbam", jene Sobelle gefdjrieben, aus welcher fidj fpäter
jein reiffteS unb erfolgteit^fte« Xrama: „Uriel Slcofta", herauSfryftatlifirte. 3n
biefer ©rjä^tung mar baS ©<f)idfal UriefS mit ©pinoza, bet als ft'nabe ben
©elbftmorb feines DljeimS erlebte, in einen geiftrei(f»en Sufammenhang gebracht.
Sluerbach fährt genau ba fort, Wo ©ufclow enbet, unb erzählt in bem jWei=
bänbigen Vornan „Spinoza, ein Xenlerleben" (1837) baS ffiirfen beS ißhito»
foppen in aßen feinen £auptmomenten: feine fabbaliftifdjen ©tubien, feine ©er»
werfung ber Geologie unb Segeifterung für bie Sßeltweisheit, ben ©ann, in
Welchen er gethan Wirb, feine ungtüdlidje Siebe zu einem SJiäbchen, baS nic^t
fein SBeib fein Will, Weil er oerweigert, 3 um (Hiriftentljum überzutreten, enblidj
feinen frühen lob, ben er als ©djwinbfüchtiger jahrelang oor Singen haben
muffte. 3» ber SluSmalung beS jübifdjen SebenS berräth ber OierunbjWan^ig=
jährige Serfaffer eine fehr beacfitenSWerthe Begabung, unb einzelne Silber gebären
Zu bem Seften unb Sh ara lteriftifchften, was wir bem Sluerbadj’fdjen Xalent z u
berbanfen hoben. Slber ber Slutor fjat in bie Erzählung beS SebenS ©pinoja'S
auch eine Xarftettung feiner tp^ilofop^ie berwoben, unb fich bafür meiftenS auf
bie „@thil" unb ben „Xheologifdppolitifdjen Xractat" geftü|t. StQerbingS ift ber
Serfuth, bie Sntwidelung ber ©egriffe, wie fie in biefen SBerlen gegeben ift,
bialogifd) ju Wieberholen, nicht immer ganz glüdlich unb natürlich abgelaufen,
aber für bie fßopularifirung beS großen XenlerS ift babei unzweifelhaft biel ge»
Wonnen Worben, inbem biefer in feinem ©erhältnifj ju XeScarteS, Sode unb
Seibnij, bie ben franzöfifctjen, englifchen unb beutfchen ©eift barfteHen, als Ser»
treter beS SubentfjuinS aufgefaßt unb Rar charalterifirt wirb. 3u ©pinoza lehrte
Stuerbach in fpätern fahren äußerlich Wie innerlich oft zurüd. Er überfefcte im
3ahre 1840 feine SEBerle aus bem Sateinifdjen unb begleitete biefe Slrbeit mit
einet geljaltbollen Sorrebe; er befuchte wieber^ott bie ©tätten, wo ber Serfaffer
ber „@thif" gelebt hot, unb burfte im 3 aljre 1880 ßeuge ber Enthüllung bon
©pinoza’S Xenfmal im tpaag fein. SBie bielfach maßgebenb für bie ©eftaltung
ber „$orfgefchi<hten" bie Selfre beS ^^ilofop^ett gewefen ift, Werben wir fpäter,
Wenn bon beS XidjterS jpauptoerbienft um bie Siteratur bie SRebe ift, nach 5
Zuweifen hoben.
Sorberhaitb faßte Sluerbach, angeregt bon SSalter ©cott’S entzüdenber Er»
Zählerlunft, ben IJJlan, in ähnlicher SBeife, Wie ber Schotte einzelne <ßerioben
auS ber ©efdfjichte feines SaterlanbeS ju Somanen auSgeftaltet hotte, baS jübif«h e
Seben in feinen tnaßgebenben Erlernungen zu fchilbern unb biefer ganzen Seihe
ben gemeinfamen Xitel „XaS ©hetto" zu geben. Slßein biefe ©ammlung, welche
eine intereffante ©efdjteibung betriebener 3 a heh u uberte uub Sänber im Sichte
beS ifraelitifdjen ©laubenS zu Werben bcrfprach, ift über ihre erften beiben Xheile
nicht hiuauSgelommen. Sroei 3c*h re nach bem erwähnten Soman erfchien „Xichter
unb Kaufmann, ein SebenSgemälbe aus ber Seit ÜDiofeS 2JtenbelSfohn’S", in biefer
Beziehung ein ©egenftücl zum „©pinoza", inbem hierin bie Entwidelung eines
herborragenben ©eifteS zur ©ebanlenfreiheit unb »Harmonie, bort baS allmählich 11
m
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Bertfjolö Jtuerbad).
505
3erbrödeln eineg SStanneg jut Stnfdauung !ommt, bet an ben Borurttjeilen feiner
3eit unb Heinlidjer Unentfdtoffenheit ju ©rnube geht. ©in !utj gefaltet Sebent
abrifj beg fdtefifden ©pigrammenbidterg ©phraim $uh war bott Sluerbad fdon
1836 gegeben worben; nun erweiterte er benfelben ju einem breiten ©ultur»
gemätbe, aug bem einzelne ißerfonen, wie ber Batet beg gelben, ber Stabbi
©hamamet, unb ber jttbifdje Spafjmader ^epman Siffe, mit traftboQer Originalität
heraugtreten, wä^renb bie Figuren Seffing’g unb SJtenbelgfoljn’g etwag Slbgebtafjteg
haben. SBag bie ©^arafterifirung beg gelben anbetrifft, fo ift eg nid)t ohne Steiz,
bie 3 rr flänge einet gebrodenen unb ^altlofen ©eele, bie nach bem 9techten ftrebt
unb eg boch nicht erreichen lann, ju »erfolgen; nur leibet bie ©rzähtung barunter,
baf} bie ©renzlinie jWifdjen bem ißfhdologifchen unb bem ^ß^^ftologifdhcn nicht
immer fcharf genug gezogen ift. Bon ben 3udungen beg ©eifteg wirb auch ber
fförper beg unglüdtiden SJtanneg angeftecft: wir fehen feine tß^antafte öom Ber*
ftanbe fich immer weiter entfernen, unb erleben bie ©elbftjerftörung einer ^alt=
lofen Statur mit einer Umftänblidleit, bie etwag Sterüöfeg unb ©tmübenbeg tjot.
^ebcnfatlg füllen biefe beiben Stomane wegen i^reg glücftidj aufgetragenen ©otoritg
ihren SSlafc aug unb brauchen einen Vergleich mit ben fpätern ©dilberungen beg
^ubenthumg, wie Wir fie bei Schiff/ Bernftein, Sompert, Sranjog finben, in feiner
SBeife p fdeuen.
SBemt Sluerbad auch auf biefe erften Slrbeiten alg auf ernfthafte, mit gleifj
unb unzweifelhaftem Talent burdgeführte Seiftungen jurücfblicfen burfte, fo waren
fie boch nicht ^erborragenb genug, um ihm eine beftimmte ©teile in unferer
Siteratur anzuweifen. SBeber war ber SMnftter in ihm ganz auggewadjfen, noch
hatte er ein Stoffgebiet gefunben, auf weicheg fich bie Slugen ber Station hätten
richten fönnen. 3n ben beiben Stomanen oerfagte bag erzäljtenbe latent nicht
fetten; eg fprang oft aug einer ÖJefül)lgric£)tung in bie anbere über, wo eg fich
allmählich auggleidjenb unb oermittetnb hätte zeigen foHen; eg wagte fich Zweiten
an Stoffe, bie nicht burch bie $h a ntafie gegangen Waren unb fich alg graueg
©efpinft Jber Steflejion gaben, wo man ©eftalt unb ftarbe erwartete. Slber ber
junge Stutor mufjte für fich einnehmen burch eine nicht z u unterfdäfcenbe Selb»
ftänbigfeit im ©rfaffen unb ©eftatten beg Stoffeg; wenn anbere nadahmten, fonnte
er aufjer ihm Siegenbeg erft bann brauden, wenn er eg fid Z u feinem perfön»
lidften ©igenthum gemadt ^atte. $fn ber ©ompofition fdwad, zeigte er bod in
ber Slnatpfe ber ©haraftere eine über bag SDtafj beg ©ewöhntiden hinauggehenbe
Befähigung; man burfte annehmen; baf} er fid and zufünftig üom ©inzetnen ing
Stilgemeine, nidt umgelehrt, hineinarbeiten unb eine weniger umfaffenbe alg zähe,
am SnbioibueHen tjaftenbe Statur fein werbe. Stur fdien bei ihm eine unmittet*
bar populäre SBirlung auggefdloffen zu fein; benn fowot ber ißhilofoph Wie ber
3ube in ihm burften auf leine gröfjern Streife literarifder Iheilnahme rednen.
3ubem ftal in ihm bie Steigung znm Slbftracten unb Sritifdeit, bie eg fraglid
erfdeinen ließ, ob fte bie ©roberung neuer Stoffe, mit benen man bag $erz beg
Bolleg gewinnen lonnte, geftatten würbe. Stuerbad fudte ben fßunlt augfinbig
Zu maden, wo fid fein gntereffe mit bemjenigen beg beutfden Botfeg begegnete;
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506
Unfete ^cit.
et meinte ihn noch immer auf bem ©oben bet fßhilofopljie unb beS ^ubentljumg
ju entbeden unb öerbrad)te ein paar Satire bamit, baS Stet batb an biefer, batb
an jener ©teile anjubotjren. Diefe Seftrebungen »erliefen ihm nid^t baS ©efühl,
er habe baS {Richtige getroffen, benn er glaubte fidj fd^on am Gnbe beS Schaffens
unb backte ernftlidj baran, als ißrioatbocent eine alabemifdie Sehrtljätigfeit ju
beginnen.
2luS biefer Seit beS XaftenS unb @ud)enS ^erauS ftnb einige Silrbeiten 8Iuerbad)’S
entftanben, bie fidj mit feinen bebeutenben ©Köpfungen in feiner SBeife Dergleichen
taffen unb tfjeilioeife auf baS Stioeau buchhänbterifcher Soljnarbeiten Ijerabfinfen. ©o
lief! er im Satire 1834 bei S- ©djeibte in ©tuttgart ein Sud): „griebtich ber ©rojje,
ßönig oon ©reuten", unter bem ißfeubonpm X^eobalb Glaubet erfcheinen, eine trodene
Kompilation, bie aud) nicht mit einer einigen SBenbung irgenbweldje ®igenthümtid)=
feit beS Sluerbach’fchen SBefenS üerrätl). dagegen biirfen bie beiben Stooetten, bie er
1841 am Hinein fd^rieb unb bie fich jefct im erften Sanbe ber „$eutfchen SIbenbe"
finben, fiö^ern Slnfprud) ergeben, ©ie füllten ben SInfang einer fpäter aHerbingS nicht
fortgefefcten Steife philofophifdjer Stoüetlen bilben, in benen ber Slutor auf fpinoji*
ftifdjer ©runbtage einzelne gragen ber fpeculatioen Gtfjit beljanbeln Wollte. Snbem er
ein Sterna beS wirtlichen SebenS, toenn auch nur teife anfdjtug, hoffte er bie Sehre
beS iß^ilofop^en für baS politifdje unb religiöfe Seben feiner Seit fruchtbar machen
ju fönnen. Gr gab Setrachtungen «nb SlpljoriSmen aller 8trt, mit benen er baS
Urtfjeit feiner Seitgenoffen $u beeinfluffen hoffte, unb jeigte baburch eine gacette
feines literarifchen SBefenS, bie auch in fpäterer Seit ihren ©lanj erhalten fottte:
bie Steigung, ju belehren unb bamit förbernb auf bie Sitbung feines SoIfeS ein*
juwirten. 3)urd) Wuerbadj’S Gigenart geht ein ftarfeS unb unmittelbares @efül)l
Don SJtoral; er empfinbet fich mit ber geber in ber fpanb ftetS als fßrebiger beS
©Uten unb fürchtet jWar nidht ben SSJife, Wölfl aber ben fpumor, meil ihm bie auf*
löfenbe Sraft beffelben bie ©runbpfeiter feiner fittlichen SBeltanfchauung inS
©djtoanfen ju bringen fcheint. SBie er im Seben feinen greunben gern ein
„gutes SBort" fctjenfte, $u bem fich feine reiche ©rfahrung ausgeprägt hatte, fo
burdjficfert bie ©pruchtoeisheit auch alle feine Schriften, foWot bie ®orfgefd)ichten
h»ie bie Seitromane, auf jenem ©ebiete am ftärfften im „Sautenbadjer", auf biefem
in „Stuf ber $ölje", um fich in einer fpätern fßeriobe in ben „Xaufenb ©ebanfen
beS Kollaborators" ein felbftänbigeS geft ju geben. Sergleicht man aber bie Stuer*
bach’fdhen ©entenjen j. S. mit ben ©oethe’fchen „Sprüchen in Steimen unb fßrofa",
fo fpringt ihr Unterfdjieb flar in bie Slugen. ©oethe’S SBeiSlfeit fommt un=
gerufen als ftitte Stotlfwenbigteit; Sluerbadj’S Setrachtungen finb menigftenS jum
großen Xheil aus ber Slbficfft ju lehren heroorgegangen; jener fammett baS geiftige
gluibum, meil es ihm aUju reich juftrömt, junächft ju feinem Sergnügen in
herrlich blinfenben Ärpftattgtäfern; biefer fdjlägt bie SJtünjen für anbere, weil er
fid) reicher weifi als fie, unb weil er ein menf<henfreunbIi<heS ©emüth befifet;
jener brücft basjenige, was feinen ©eift befdjäftigt, ein für allemal aus, biefer
wenbet unb breht fein Object, jeigt eS abwechfelnb bei 2ageS= unb SIbenbbeleudhtung,
unb fucht nach neuen Seflejen; jener Wirb Oon Sbeen gejagt, biefer jagt nach
ihnen. 2)ie Steigung, bie gehler ber SBett ju tilgen, bie 2Jtenfd)en glüdlicher unb
:
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J
Sertfyolö iluerbacf}.
507
beffer ju machen, hat Sfuerbach auch baS Vucf) „®er gebilbete Vfirger" (1843)
eingegeben, mit meinem er ftd) an ben „benfenben äJtittelftanb" wanbte. ©r er»
mahnte in bemfelben bie arbeitenben Mafien jur ©etbftbilbung, unb fudjte im
einzelnen Votfdfjläge ju machen, mie biefeS 3'el *u erreichen fei. 3n biefer
Schrift liegen ber ®eleljrte unb ber VolfSfchriftftelter in einem merfmürbigen 3toift
miteinanber; es fommen in iljr SBenbungen bor, beten fiep #ebel nicht ju fdjämen
hätte, unb bann rnieber ^beenbitbungen, bie burdfjauS nach ©dijlafrocf unb ©tubir»
lampe fdfjmecfen. ®ie Slrbeit, bie Sluerbadp in feine „®efammelten SBerfe" nicht
aufgenommen hat, bleibt aber infofern rnerfmürbig, als fie ben erften birecten
Sippen an4 Votf bilbet. ®er dichter, ber bisher halb hierin, halb bortljin ge»
blidft hotte» fah jum erften mal ben richtigen SBeg, menn er ihn auch tt0 ^ nicht
betreten tonnte. ©r fchlug biefe Stiftung pnächft als nüchterner Sheoretüer unb
^Beobachter ein; aber gleich barauf bermodfjte er fie auch fünftlerifch mit jenen
giguren auSjufüUen, für beren lebensoolle ©eftaltung ihm bie Station ben Manj
ju reichen berpfticljtet ift. ©S liegt hierin ein fchlagenber VemeiS für Stuerbadj’S
aus ber Äritif unb ber 3ieflejion herborgegangene ©dfjaffenSart, bie burdfjauS nicht
ficher ift, baß ihr ein SBurf gelingt, menn fie fi<h naib einem ©inbrucf hingibt, fon»
bern bie beS feften UntergrunbeS theoretifcher Ueberjeugungen bringenb benötljigt ift.
Stuerbadj- mußte Jich bei ehrlicher ©elbftbetradfjtung fagen, baß er bie ©on=
currenj mit ben literarifdjen ©rjeugniffen, bie ju Slnfang ber Oierjiger Qahre in
®eutfd(jlanb Sluffehen erregten, nicht aufpneljmen im ©tanbe mar. ®ie jungbeutfdjen
©djriftfteHer brachten in unfer geiftigeS Seben mol eine lühne Ignitiatiüe, eine
!ecfe SBerbetuft, aber aud) bieleS hinein, maS ben Stempel beS Unfertigen unb
Unreifen nicht berleugnen tonnte. Ungerecht gegen bie Vergangenheit, mie es jebe
Steformpartei ift, riffen fie gern ein, maS fie für überlebt hielten, inbem fie bon
ben ©inflüfterungen beS 3eitgeifteS unb bet Slnalpfe beS ©egenmärtigen einen
reichlichen ©rfajj für baS Verlorene ermatteten. @S lag etmaS ©pringenbeS unb
©laftifcfjeS in biefer literarifchen Stichtung, unb gerabe hieran mußte Sluerbadj’S
bebädfjtige Slrt, bie gar nicht baju angethan mar, mit ben ®ingen fchneß fertig ju
merben, Slnftoß nehmen. @r fah nur baS {flüchtige unb Vergängliche in ben
Verfudfjen biefer Sungbeutfcfjen, nicht baS Vahnbrechenbe unb görberttbe in ihren
Slnläufen. Äart ©ufcfom arbeitete fich aus bem 3erftreuten unb Vergänglichen
fchnell pr gefchloffencn ißrobuction Ijinburch «ob ließ fein frifcheS latent ber
Vühne pgute fommen, morin ihm feine 2Jiitftreiter, fomeit fie es Oermochten,
nachfolgten. Sluerbach h°tte aber baS ©efühl, baß bie meltbebeutenben Vreter
mit bem fdfjnellen ißulsfchlag ihrer gelben ihm berfdhloffen bleiben mürben. @r
fah ferner bie Vertreter ber politifchen Sprit, |»ermegh, ben „Sebenbigen",
®ingelftebt, ben „$oSmopolitif<hen Stachtmächter", iPruh, ben Sänger beS ,,9?hein»
liebes", $offmann oon gaHerSteben, ben Slbgott aller Siebertafetn, greiligratf),
ben dichter beS „SömenrittS", unb bie übrigen als gefchloffene ©char lorber»
befränjt an fich Oorüberjiehen. Slber unferm dichter mar auch ber Sauber
Igrifdfjen SBohllautS nicht gegeben, unb fo blieb ihm biefeS ©ebiet nicht meniger
oerfchtoffen. ©r backte mit Sönig Vh^ipp: „nachpahmen erniebrigt einen SDtann
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508
Untere Seit.
tion Äopf", unb fünfte ftc^ überhaupt Don bent ntobernen ®eift, ber in ber Site*
rotut eingebrungen war, wenig fgmpatlitfdj berührt. ®ie ®mancif>ation«ibeen.
Wie jte öon grantreidfj nadfj ®eutfdjtanb ßinüberftrömten, erfd&ienen iljm unfittlidj,
bie Stntoeifungen auf bie 3ufunft nid^t annehmbar, bie Empfinbungen bielfadfj
überreizt. Sluerbactj erbtidte biefe 3uftänbe nidjt objectib, fonbern falj fte mit
ben Slugen feine« einfeitig gemütvollen SBefen« an, ba« fidj nad& Sollnaturen unb
einfachen Sntpfinbungen feljnte. Sr oon biefen Gingen leinen jiarfen Sin*
brud, unb toa« ift ein Dieter, ber nidjt mit jtoingenber StotljWenbigteit fdjafft?
Sab e« benn überhaupt etwa«, hm« iljm neben feinen Vilofop^if^en unb päba*
gogifd&en ©tubieit fo redjt am #erjen tag ? Sttlerbing«, unb er mußte e« finben,
wenn er an feine Snttoidelung au« bem fdiwarjmälbet Sauerfinbe jum ißljilo*
fopVn unb ©eleljrten backte, ©erabe bort, öon wo er fidj geiftig am meiteften
entfernt mußte bie Heimat feine« ©efüljtsleben« liegen; er faß, mie bie
So«trennung öon ber bäterlidjen Spotte ißm erft ba« Semußtfein über SBertß
unb SBefen be« Staturmenfctjen geftärt ^atte, unb nun erlannte er, baß iljm bie
SBiefen nnb SBälber be« ©dfjwarjwalbe« alte« bieten mürben, rna« er feiner bidj=
terifdjen Statur gemäß allein öerarbeiten tonnte: bolle SJtenfdjen, ftarle, nidfjt übet*
reijte Sntpfinbungen, unb eine entjüdenbe Staturfcenerie. SBol mar er lein
$ramatiter, aber gab e« in bem $orfteben nic^t genug bramatifdje Sonfticte, bie
er erjäljlenb bem Sefer borfüljren tonnte? SBol mar er tein Stjrifer, aber er
burfte auf tßrifdje ©djäfce redfjnen, Wenn er fidfj in ba« SolMieb öerfentte unb
an feine Öuette, ba« SBeben unb SBalten be« ©efüljt« in ber Sruft be« $orf=
bemoßner«, ging!
3reilid(j, ein Sauer tonnte berjenige nidfjt mieber werben, ber bie Erfenntniß
einer unenblidjj berfeinerten Euttur in fidj aufgenommen ^atte. ®ie Srgebniffe
feiner Silbung bermanbetten fidj in fpebet be« tünftlerifcßen ©Raffen«, unb audfj
ber Ißljilofopß unb Ißäbagog berfdjwanben in Sluerbadjj nid^t, fonbern beränberten
nur ißre Stellungen, inbem fie ba« Satljeber berließen unb fidfj unter ba« Sott
mifdjjten. S)er Stutor blieb mit einem SB orte and) at« Serfaffer ber „$orf*
gefdfjidjten" ein ©pino^ift unb Seljrmeifter, unb mürbe ein entfliehen abfidjt«botl
fdfjaffenber Zünftler, ein ©täbter, ber ju einem beftimmten 3wed in ba« Sanb*
leben ßineinfdfjaut. tiefer 3t°ed ift aber tein anberer al§ berienige, ber ben
©täbter an Sonntagen ju einer Sanbpartie, unb ben Sauer ju einem Sefudje
ber ©tabt beranlaßt: ber Eulturmenfd) foß im Slnfdfjluß an bie Statur mieber
frifd) unb natürlich werben, ber Staturmenfdj fo biet geiftige Stauung in fidfj auf*
nehmen, al« ifjnt jur Erfüllung feiner 2eben«pflidjten notßwenbig ift. ®er ©pi*
noji«mu« mußte Sluerbacß baöor bewaßren, feinen „$orfgefdßi(ßten" einen l^bea*
li«mu« anjuträntetn, bon meinem bie ©cßäferpoefie früherer 3eit erfüllt mar, ber
aber ber SBirfticßteit burißau« wiberfpradß. $ie Sanbbewoßner erfreuen fidß
teine«Weg« eine« artabifdßen ©lüd«; in ißrer Sruft fcßlummern biefelben Seiben*
fcßaften, Weldfje bie Müßtet be« Sölfergcfcßid« erfüllen, unb warten nur auf ben
Slntaß, um fegen* ober flucßbringenb ju ermaßen. ®er erlogenen ©djönfetigfeit
ber „Segnißfdjäfer" gegenüber ßaben Sluerbacß’« Erjäßlungen jebenfaH« ben Sorjug
be« SJtannßaften, kernigen unb SßarafterboHen. Son feinem pßitofopßifcßen Seßwt
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23ertf}ol& ituerbacfy.
509
Eiatte bet dichter ftd^ baS SBefen bet teilten unbefangenen Betrachtung angeeignet
unb gelernt, bap man bie ^anblnngen bet SRenfctjen Weber bettagen, noch & e =
ladhen, nodj tierabfcheuen, fonbent begreifen mäffe, unb bap man bie Begierben
genau fo untetfuchen tönne, als ob eS fiel) um geometrifdje Sinien unb glühen
fjanble. SBie fich biefe SBeftanphauung auch in ben „$orfgef<hi«hten" finbet,
bie bodj fcheinbar mit ihr Wenig ju thun fydben, ift öon einem pharfen Be=
urtheiter Sluerbach’S, Shtbolf oon ©ottphaß, in bet „EBeutphen Stationattiteratur
beS 19. SahrljunbertS" (oierter Banb) in fotgenber treffenben SBeife nadjgewiefen
worben: „®et ©pinojiSmuS wirb fich tüertig erpmeplich jeigen für bie Stuffaffung
beS gefdjidjtlichen Seiftet; aber wo eg gitt, beftehenbe 3uftänbe in ihrem Der»
pänbigen 3ufammenhange ju fchilbern, bie Berhättniffe burch eine eherne Äette
toon Urfachen unb SBirtungen aneinanberjufchtnieben, bie SDtenphemtatur mit
ben angeborenen EEriebfebem ihrer fpanblungSWeife, gteichfam mit ihren innem
Stübern unb (Gewichten Wie eine ©chwarjtoälber Uhr auSeinanberjulegen, unb
nachjuweifen, warum pe fo gehen unb fdjtagen map, unb nicht anberS fotogen
tann, jugleich aber eine pantheiftiphe Sßoefie ber Statur unb ihres gefefemäpigen
SEBaltenS um baS Seben unb Treiben ber 2Jtenf<hen ^tn$u^au<^en: ba ift jene
Sehre ber ©ubftanj, bie ihr eigener ©runb ift, an ihrem Ißtafce, ba tann pe bie
bidjteriphe Befeetung förbem unb ihr ben Steij jener gropen einteuchtenben SBahr»
heit geben, ber ihren eigenen unerbittlichen ©onfequenjen beiwohnt. $aS Seben beS
BotteS auf bem Sanbe, baS nodj unberührt alte Xrabitionen Wahrt, beren ©enefiS
pch mit Slarffeit nachweifen täpt, baS nicht burch Ijöljere, forttreibenbe gbeen ber
©ultur, beren geifterfaffenbe Äraft für einen Anhänger ber btopen Statumoth«
wenbigteit etwas Unheimliches hoben mup, aus feinen gewohnten ©teifen gerifien
würbe, bietet ber ftnnojiftifchen Stuffaffung bie wittlommenften ^anbhaben, unb
mit Stnbadjt berfenft pch ein ©pinojift in biefe ftitt wattenbe Stothwenbigleit beS
BottStebenS, in biefe feenhaften, ttaren, abgefdjloPenen ©eftatten, bie auf bem
ewigen ©runbe ber ©ubftan§ fich an fo ficfjtbaren gäben beS jwingenben ©efefceS
bewegen! Star jeichnet bie Beobachtung baS ©enrebitb hin; es wirb beliebigen,
Wenn es tjormoniph ift; aber jeber ®iPonanj fehlt bie Stuftöfung unb Berföljnung.
®enn eine ©eftalt, welche bie ®ette ihrer ©ntwictetung in gorrn beS Brauchs,
ber ©itte, beS angeborenen unb geworbenen ©harafterS unlösbar nachPhleppt,
tann in einem $ampf nur brechen, aber nicht biegen unb mup wanbtungSloS
untergehen. $arum biefe Sragöbien beS BauernftotjeS, ber ©ontraft jwiphen
Bitbung unb Unbitbung in Sluerbach’S Xorfgephichten! @S pnb altes ftarre
©haraftere, Ipngejeichnet auf bie ewige Stacht ber pnnojiftiphen ©ubftanj, un=
fähig bet rettenben ©etbftbeftimmung ber moratifchen greiheit, üerfaüen bem alten
jürnenben ©ott beS IgubenthumS, ber bie ©ünben ber Bätet ^cimfucht bis ins
taufenbfte ©lieb, unb wetten ©pinoja nur feiner perföntichen Sftajeftät enttteibet
hat, nicht feines unerbittlichen, ©ephlecfiter morbenben ©roüeS." — 2Bir werben
gleich felfen, wie biefe Starrheit namentlich in ben erften $orfgef<hi(hten auf»
fällig ift, mährenb in ben fgätern bie Stbficht beS EEichterS, fetbp baS Untoerföhn*
liehe §u berföhnen unb burch einen tierftärtten ©efühlSergup ben ©onpict nach
äRögtidjleit ju glätten, untiertennbar ip.
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5*0
Untere Seit-
Sßenn ©ottfdjatl baS SaufatitätSgefefc Spinoga’S in ber bidjterifdjen Än*
menbung burch Sluetbach mit bem gümenben (Sott beS gubenttjumS üergteic^t, fo
fann uns. baS als Slnlafj bienen, auch baS femitifdje ©tut in ben Sorfgefdjichten
nachgutoeifen, bie mir für ben atffeitigften unb unmittetbarften ÄuSbrud feines
SBefenS galten. Sluerbadj, ber befonberS in reifem Sauren oon ber mitben SEBeiS»
heit ©athan'S erfüllt gu fein fd^iett, empfanb fid) als 3ube, offne inbeffen biefe
©mpfinbung jemals in renommiftifdjer ober öerlefcenber SSeife aufgubaufchen. Äber
er fah feine (SlaubenSgenoffen in einer ununterbrochenen SKärtprergefchichte be=
griffen unb ben ©affenhafj halb IjeH auflobem, halb unter ber Slfdje brennen,
aber niemals gängtich erlöfdjen. 3h m erf^ien baS ©erfjältnifj gu ben 3uben als
ein ©tafifiab für bie ©total beS mobemen ßebenS, unb mie er felbft bem beutfchen
©olle fein SefteS hingegeben hatte, »erlangte er bie Slnerlennung nicht nur für
feine ©erfon, fonbem auih für alle biejenigen, bie in bemfelben humanen Sinne
gemirlt hatten. Sluerbacfj mar aÜerbingS 3ube, aber nur im ©ahmen beS Seutfcfj*
thumS, fein Semitentljum erfchütterte feine ©aterlanbsliebe nicht, fonbem gab ihr
nur eine eigenartige ©uance, einen nicht unintereffanten Seigefchmad. SBie ftarl
ber dichter in feinem ©olle murgelte, ergibt fich fchon barauS, bafj er DoWomraen
aufjer Stanbe mar, aufjerbeutfdjcS Seben gu fchilbem. SBie er meber Snglanb,
noch Sranfreich unb 3talien gefeiert hat, öon fernerer gu erreichenben ©eifegieten
gar nicht gu reben, fo haben auch alle feine Stnfcfjauungen über frembe Sänber,
g. S. über Slmerila, etmaS ©hantaftifdheS unb Unmögliches. 3« biefer Segieljung
hat bie ©iifdjung öon Seutfdjthum unb Semitentljum unb ihre ©erföhnung in
Stuerbadj einen claffifchen Sharalter. SJtur bem 3“ben mar es möglich, mit fo
fcharfem, fpi|igem ©erftanbe fich in eine gigur einguboljren unb fie öon innen
aus gu betrachten, unb nur burdj bie ftärlfte aßfeitigfte Sluffaugung beutfcher Km»
pfinbungen ift es gu erllären, bafj ber Sichter baS innerfte ©emüthsleben unferS
©olls in öieler Segiehung fo rein miebergegeben hat. Suchen mir nun ben aller»
biitgS jur reinen 9Renfchti<hleit burchgebrungenen, aber hoch noch immer einzelne
©terlmale feines Stammes an fich tragenben 3“ben in Sluerbadj’S Schriften, fo
erlennen mir ihn nicht nur in ber öerftanbeSfdjarfen Slnalpfe ber Kljarattere,
fonbem auch iw Neigung gur parabolifchen ©ebetoeife, bie öon bem Sichter
auf manchen feiner gelben mol gu einfeitig übergegangen ift. ©tanchmal fcheinen
gemiffe (Sleidjniffe beS Salmub, beffen 3«halt Sluerbadj mit merlmürbiger <Se=
bädjtnifjlraft feftgehalten hatte, in bie ©auernjacfe gefahren gu fein, unb bort ein
munberlicheS ßeben gu führen. Ser Slutor, ber fich üor bet übertriebenen ©er»
feinerung ber (Smpfinbung bei feinen Säuern in 5lct>t genommen hat, ift öon bem
©orrnurf, ben fetbftbemujjten (Seift in ihnen lünfttich gelräufelt gu haben, burdf»
aus nidjt freigufpredjen.
©on ber lehrhaften Senbeng ber Sluerbadj’fcfien SorfnoöeEen, bie ben Sanb»
mann bem Stäbter, unb ben Stäbter bem Sanbmann näher bringen motlen,
fpradhen mir fchon. Sie ift fo ftarl, baff, je nadjbem für ben Kultur» ober
ben ©aturmenfdjen gefprochen mirb, bie Krgäljlungen baburch in gmei beutlidj
erlennbare Hälften gerfaßen. Sie SilbungSmclt lann gerftörenb ober belebenb
auf baS fianbleben einmirlen. Scrftörenb crfcheint fie, menji fie bie urfprünglidje
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Bertffolb ituerbaf.
5U
Sraft uttb griffe bes Säuern, feinen gefuttben SJtenffenberftanb, feine naibe
©enügfamfeit untergräbt unb feine ©ntwiefetung in fünfttif erfonnene Sahnen
bineinjwängt, in benen fie fif organiff gar nift ermatten !ann. Sann fRüttelt
ber Staturmenff bie Setten ber foXfd^en Sitbung entweber ab, ober gebt unter
intern Srucf ju ©runbe. Slber auf baS Umgefebrte !ann eintreten: ber ein»
feitige, ftöncifd^e, an öerfeljrten Srabitionen feffattenbe ßanbmann berfftiefjt fif
ber ©ibitifation, auf wenn fie fm ©egen bringt. Ser erfte im 3<f w 1843
erffienene Sanb ber „SfWarjWätber Sorfgeffiften" gebt fofort naf beiben
Stiftungen aus unb entfräftet ben Sorwurf ber (Sinfeitigfeit, inbem er halb ber
einen, halb ber anbern Partei reft gibt, halb beu Sauer, batb ben ©täbter an»
ftagt ober in ©f ufc nimmt. Siefe erften ©rjäbtungen fpieten in beS SlutorS
$eimatSborf Storbfteiten, beffen Sewobner er gteiffam bon bem erften bis jum
testen #aufe ju ffitbern gebafte, fobaf? biefetben fßerfonen, ber Sufmaier, ber
©ogeS, ber ÜDtattfjeS, in berff iebenen Stobellen auftreten. SSBenn man biefe ©rft*
linge Stuerbaf’S auf bem neu angewandten Seite: ben „Sotpatff ", „Sie SriegS»
pfeife", „Sonete mit ber gebiffenen SSatige", „SeS ©ftofjbauem Sefete", „Sie
feinbtifen Stüber", beute tieft, ntufi man bie wobtfuenbe Sontrafttoirhmg nift
aufjer äfft taffen, in wetf er fie ju gewiffen StuSWüffen ber ©atonüteratur ftanben.
©f öpfungen wie bie ©atonromane ber ©räfin 3ba Jpaf)n»£at)n unb bes grei»
tierrn Sttejanber bon Ungem=@temberg b°tten bie ßuft }o febr mit fünfttifem
SBobtgeruf erfüllt, bafj man fif naf bem Suft bes SBatbeS unb gelbes febnen
muffte. @4 galt bie natürtife ©inneSWeife einjufefcen gegen bie fatffe ©eift»
reif igfeit, bie einem fetbft bie Summbeit unb ißtumpbeit erträgtif rnaf te. Stuer»
baf War atlerbingS nift ber ©rfinber ber „Sorfgeffifte", aber bof berjenige,
burf weifen unfer Soft jurn erften mal ein breit auSgefübrteS Sitb bet Stammes»
unb ©tanbeSeigentbümtif feiten beS ßanbmannS befam. SBenn ibm auf ißefta»
lojji, Smmermamt unb 3eremiaS ©ottbelf mit mehr ober Weniger großem latent
borgearbeitet butten, fo fat unfer Sifter bof ben entffeibenben ©fritt, bom
Sorfteben bie SJlaSfe beS Stflttffen abjureifjen unb ben Sauer titeraturfäbig ju
mafen. @S tag etwas ©igeneS, SübneS, SemofratiffeS in tiefem 2 fmt; 2(uer=
baf’S erfte ©Tötungen wirften wie baS Deffnen ber genfter in einem ffwüten
Staunt, unb Wir lönnen es naffühlen, wenn gerbinanb greiligratb ben Steuerer
in einem ffwungbollen ©ebift bereif begrüßte:
8tuS betneS ©ftoarjtoalbs tannenbunfeln Söiefen
SJtit feinen Sinbern fommft bu frof geffritten,
Unb fejeft ein baS SudjttmmS unb bie gtedjte
3fn i^re alten bidjterifdjen SRefte.
Stuerbaf’S Sorfgeffiften nehmen ben 1. bis 8., ben 21. unb 22. Sanb
ber ©efammtauSgabe feiner @f riften ein; ferner gehören ju f neu bie in einzelnen
Ausgaben öortiegenben SBerfe: „Slaf breijjig fahren" (1876), „ßanbotin bon
SteuterSböfen (1878), „Ser gorftmeifter" (1878) unb „Srigitta" (1879). Sie
Setiebfeit beS SifterS bei ber ßeferwett erreifte ihren £öbepunlt butf bas @r=
ff einen ber ©rjäbtung „Sie grau fßrofefforin" (1846) unb burf bie Sramatifirung
berfetben burf bie Sirf»fßfeiffer, Weife mit „Sorf unb ©tabt" bei alten Sbeater=
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5{2
Unfere ^eit.
birectoren unb mit bet Stolle bei Sorte Bet alten Staiüen ebenfo oiet greube Wie
Bet bent ®idjter nachhaltigen Herger unb Serbruß erregte. Huetbacß faß ficß
burcß bie tßeatralifcße ©infcßtacßtung ber Stoöette nic^t nur in feinem titerarifcßen
©igenthumlredjt, fonbern auch lünftterifiß gefcßäbigt, inbem bie büßnenhtnbige
Sir<ß*5ßfeißer alte pfhcßotogifißen SRomente Bunt burcßeinanbergeworfen uttb nur
an ben äußern ©rfotg Bei ber SJtenge gebaut hatte, bie für itjr treuem Hulßarren
Bei ber SieBelgefdjicßte bei Sünftlerl unb, bei Staturfinbel burcß einen üerföß*
nenben Schluß Betoßnt tuirb, wäßrenb in ber ©rjäßtung bal nidjt S»fai*tmen=
paßenbe Wieber auleinanbergeßt. 3)iit einer Stage gegen bie Serfaßerin biefer
2)raraatiftrung würbe Huerbacß Sott ben ©ericßten aBgefoiefen unb ein infofetn
Bebentticßer Sßräcebenjfatt gefdEjaffett, all ßierburcß bie Oolflthümttcßen ©rjäßter
unfeter Siteratur genötigt waren, ben ©tauben, all fei el möglich, bie gtut ber
über fie tjereinbredjenben unberechtigten $ramatifirungen burcß irgertbwettßel SPtittel
auch nur einigermaßen einjubäntmen, für alle Seiten aufjugeben, ganj im ©egen«
faß ju ben gefeßgeberifcßen ©ewohnheiten grattfreicßl, wo eine fotcße Aneignung
für bie 8üßne, Wenn fte ohne ©rtaubniß bei Hutorl gefdjeßen iß, bie ftrengße
Hßnbutig erfahren würbe. Sehen Wir uni bie Sache atterbingl Ocm Stanbpunft
bei ©rfotgel an, fo läßt fidj nicht leugnen, baß Huerbacß’l Hnfeßen burch ben
Erfolg Oon „®orf unb Stabt" einen mächtigen Huffcßwmtg erhielt, unb bie gi*
guten bei Steinßarb, bei Sorte, bei SoßteBraterl auch bort Belannt würben, wo«
hin bal Such fcßwertidj gebrungen wäre. „$ie grau ißrofeßorin" tjat gteichfam
eine tßpifcße Sebeutung für biejenige ©ruppe oon ÜRoüeHen, in benen ber unbe*
rechtigte unb fdhäbtiche Eingriff ber Eioitifation in bie Einfachheit bei Staturtebenl
gefdjitbert wirb. ®al fcßlicßte Sanbtinb fann bie gormen bei Oornehmen SeBenl
nicht ju ben ihrigen machen unb muß baßer Oon bem SRanne, ben fte ganj ju
Befijjen hoffte, laßen. $ier ßanbelt el fi<h um eine allgemein geißige Seüormun*
bung, beren gotgen einfach unb ergreifenb gefcßitbert werben. @1 gibt aber auch
eine Bureautratifche unb geißlicße Sebormunbung, bie aul ber Stabt herrührt unb
ebenfo fcßlimnt ift. SBenn ein SSeamter, ber oßne SBerftänbniß für bal SotflteBen
feinen täglichen $)ienß abfcßnurrt, bie Setbftänbigleit ber ©emeinbe Bebroßt unb
bie atten unfdßäbticßen Sitten bei SDtaiBaumfeßenl unb Hjttragenl aBfcßaßen Witt,
Wie el in „Sefeßtertel" gefcßitbert wirb, fo haben bie Säuern ein Stecht, wie ein
SDtamt aufaufteßen unb bal Semünftige oentünftig ju begehren. Qn „Sucifer"
(1847) prallen in ähnlicher SBeife ber eßrgeijige Pfarrer mit feinen jetotifcßen
Steigungen unb ber geiftelfreie Sägemütter Sucian aufeinanber. Qnbem bet eine
ftarr an feiner UeBerjeugung feftßätt, Beftärtt er ben ©egner in ber feinigen, Bil ber
Eonßict weit aufttaßt unb oon einem SBortgefecßt ju üßätticßfeiten füßrt. Enb*
ließ wanbert Sucian mit feiner Uocßter naeß Hnterita aul, Woßin in ben Huer*
Bach’fcßen StobeHen alte üom Scßidfat Sebroßten wie naeß einem ©tborabo ßin*
üBerfcßieten. Siete treten bie Steife über bal ÜJteer auch toirlticß an, fo außer
Sucian ber Sotpatfcß Hloßl, i’aoeri, ber Sieredig, ber Sater Oon Erbmutße, ber
SOtann Oon Bilge unb manche anbere, Wäßrenb ben meiften bie Sbee ber Hui«
Wanberung bal eine ober anbere mal meßr ober Weniger entfeßieben bureß ben
Sopf fäßrt. Sefonberl bie Sertiebten finb bei Huerbacß immer feßnett entfeßtoffen,
'-dt
Bertfjolö Jtuerbadj.
5(3
wenn bie ©intoitligung ber Wettern auSbteibt, fid^ in Stmerila eine neue |»eimat
ju fcbaffen. ®aS Stbweifen ber Uebercuttur, bie nicht ins Sanbleben paßt, bitbet
auch ben ©runbton für bie fd^öne ©rjäbtung „3oo ber £>ajrte", in Wetter 9tuer=
ba<h mit feiner Sertbeilung ber pfpcbotogifcben garbentöne es auSfü^rt, wie ein
oom Sauber ber tattiotifcfien Sirene erfüllter Snabe ©eiftticber werben möchte,
bann aber, als güngting jum Sewußtfein über baS SBefen beS IßrebigeramteS
gelangt, biefem Serufe wiberftrebt, inbem er p ber (Sinfidjt fommt: „bie Geologie
oerbtrbt bie SRetigion. SBaS braucbt'S ba oiet ? Siebe ©ott, liebe beinen SRüdjften,
©unftum!" unb enbticb befdjtiejjt, in tätiger Slrbeit baS Seben eines fdbwarjwätber
Säuern p führen. 2>ie ®unft, mit ber bie SBanbtung in ber Seele 3öo’S oom
brünftigen Serebren ber Äirdje bis pm SBiberwillen üor ifjrem gormencultuS ge»
fdbitbert wirb, ift beS t»öd^ftert SobeS wertb-
2Rit faft noch größerer ÜJleifterfcbaft bat Wuerbadj bie S^aralterge^eimniffe
jener Staturen p erforfdjen gewußt, bie ficb üor ber Suttur eigenfinnig unb trofcig
abfperren ober fotdber, bie infolge maßtofer Seibenfcbaften unb fitttidjer £atttofig*
leit p ©runbe geben. 9tuS ber SReüje büflerer, ftarrer ©baraftere, bie nicht
biegen, fonbern nur breeben, berbienen befonberS ber Sebnbotb, ®ietbelm
Don Suebenberg unb Sanbotin bon flleuterSböfen genannt p werben. @S finb
eefige, gefniffene ©rßbeinungen, benen ber 2)orffcbutje Smntertnann’S über bie
Schütter p feben fdbeint unb bie eine bäntonifebe Suft empfinben, fidb bon ben
Stößen unb Schlägen beS ScbidfatS bearbeiten p taffen. 3m „Sebnbotb" ift
bie ffrage ber Untbeilbarleit ber bäuerlichen ©üter mit einer ©nergie bebanbett,
bie ben ©onflict jwifdjen Sater unb Sohn, jtoifeben Sruber unb Sruber pm
Ijodbtragifcben fteigert. ®ie gamilte beS gurcpenbauerS umfließt einen ÄreiS
gewatttbätiger ÜRenfcben, ob fie nun an bem uralten atemannifchen Siechte ber
Ungetbeittbeit beS SefifceS, baS bis p ben Seiten ©ticbo’S jurüdweift, fehlten
ober ftdb p ben neuen 3been belehren, bie eine Xb e ü un 9 beS ©uteS tiertangen.
3ene Stnficbt oertritt ber gurebenbauer, biefe fein Sohn 9Uban, unb eS ift erfebüt*
ternb, p feben, Wie in ber gteidbfam mit eifernen klammern jufammengefügten
Slooette ber gamilienprift baS ganje $auS Oom ©runbftein bis pm ®acb erfchüt»
tert unb jerftört. Son biefem Stacbtgemätbe beS ScbredenS unb ©rauenS bebt
ficb einzig bie Sichtgeftatt Stmreite’S barmonifcb ab, inbem ihr Sriltern unb Sachen
ben Sefer wenigftenS einigermaßen mit ber Srutalität beS ©runbmotios oerföbnt.
®iefetbe unerbittliche Seeftörung ber SRenfcbennatur, bie baS Sernünftige unb
^Richtige abweift unb barttber bottftänbig jerbrödett, finben wir auch in „®ietbetm
üon Suebenberg" (1852) unb „Sanbotin oon SleuterSböfen" (1878). $ie beiben
Slooetten bebanbetn baffetbe Xf)ma, bie innerliche Serftörung eines äRamteS,
ber ein in maßlofer Seibeitfcbaft begangenes Serbrecben nicht eingeftebt, Oon
bem irbifdben Slidbter jwar Oerfcbont, bafür aber Oon feinem ©ewiffen befto furcht»
barer gepeinigt wirb, fobaß er enbticb bem 2ob ats leichte Seute jufätlt. ®iet»
botm bat ficb tu tei^tfinnige Specutationen eingetaffen unb weiß fidb nicht anberS
ju helfen, als babureb, baß er fein bodjüerficberteS Sefifctbum in Sranb ftedt;
Sanbotin bat einen wiberfpenftigen Unecht bureb einen Steinwurf getöbtet. Seibe
teugnen bie Scbutb, als fie oerbaftet Werben, unb baS ©eriebt fpriebt fie frei;
Unfete Seit. 1883. I. 33
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Unfere £eit.
5H
aber bie äußerlich bom ©erbacht befreiten Scanner finben eine entfefclidje StemeftS
in ber mafjnenben ©ewiffenSftimme, bie it>nen baS ©erbrechen täglich unb ftünbtid)
juruft, ihr ©emütl) baburch berbüftert unb fie batjin bringt, bafc ber eine öffent*
lief), ber anbere wenigftenS oor feiner Softer bie Schulb eingefteljt. 3n beiben
StobeHen hat Auerbach eine HJteifterfchaft ber Gomjiofition erreicht, bie iljtn fonft
nicht gegeben ift, unb bie einzelnen ©lieber ber #anblung fo unauflöslich mit»
einanber berfnüpft, baff fie toie bie 3?aber eines U^rioerls ineinanber eingreifen.
Diefc Grzäljlungen höben {ebenfalls einen Anfpruch barauf, ju ben bemerfenS*
wertheften ©dfitberungen bäuerlichen SebeuS gerechnet ju werben.
Grfdjeint uns in biefen Dichtungen ber 3ufammenftofj ber S^arafteve faft ju
gewaltfam, fobafj wir nur fdjwer ju einer ruhigen menfdjlichen Dheituahme tom=
men, fo Will uns in bem Drifolium „Sarfüfjele" (1856), „3ofeph int Schnee"
(1860) unb „Gbelweifj" (1861) bie ©erföhnung ber ©egenfäfce oft gezwungen unb
ber Aufwanb bon Sentimentalität allju reichlich erfcheinen. Auerbach gab hierin
entweber bem Verlangen beS ©ublifumS nach harutonifchen AuSgängen ober
einer in reifem fahren oft beinerlten Schnfudjt nach Stieben unb gemüth»
OoHen Ausgleichen nach. SEÖir finben atlerbingS, bafj unter biefer Steigung bie
2Bahrtjeit ber Schilberungeu nicht wenig gelitten hat, wenn Wir auch Z l, geben,
bah fi<h gerabe in biefen StobeHen Gfjarafterc oon fo reijenber Aumuth unb Sieb»
lichfeit fowie Staturbilber bon fo unmittelbarer Dreue finben, Wie Wir fie in ben
frühem ©abeit beS Dichters faum bemerft höben. Die gigur ber ©arfüfiele, bie
als armes Dorfmäbchen juerft ©äufemagb, banu ^auSmäbdjen bei einem ©auer
ift unb fdjtiejilich einen reichen ©auerSfoljn heirathet, ber eigentlich bie Dotter
ihrer #errfcf)aft freien wollte, ift nicht allein burch bie SUuftrationen ©autier’S fo
OollSthümlidh geworben, fonbern Oerbanlt biefen ©orjug Wefentlich auch bem fügen
fern, ber in ber Gharalterifirung beS Dichters fteeft. Stainentlidj ift baS erfte
Grmachen ber Siebe in bent SJtäbchen in burchauS buftiger unb zarter SBeife aus*
gemalt worben. „3ofeph int Schnee" wirft wefentlich burch ben 9teij beS Sanb»
fchoftlichen bei ber Sdjitberung beS im SBalbe umherirrenben fnaben, ber burch
zahlreiche Sacfeln aufgefucht Wirb, währenb zugleich eine Umftintmung in ber Seele
eines bicflöpfigen Säuern, ber eine |>eirath ätuifd^eit betriebenen Stänben nicht
Zugeben wollte, z« aQfeitiger ©efriebigung ftattfinbet. „GbelWcifj" enblich beginnt
mit einer Schilberung ber fdjwarzwätber Uhrmacher, bei ber Auerbach eine nicht
gewöhnliche Sacfjlenntmfi oerräth, lenft bann aber in einen feelifchen Gonflict ein,
infofem es fich um bie fteigenbe Gntfrcntbung unb enbltche, unter bem Ginbrud
eines furchtbaren StaturereigniffeS erfolgenbe ©erföhitung zweier Gheleute hanbclt.
Der Sabitienfturz fpielt hierbei bie Stolle beS zur fittlidjen Ginlehr unb zu ein*
trächtigem 3ufammenleben mahnenben Schidfals.
SJtit ber Stobetle „Gbelweifj" fchüegt bie erfte unb wichtigfte ©criobe ber
Dorfgefchichtfchreibung Auerbach’S, bie erft 15 Söhre fpäter eine Art 9tachfpiel
erleben fottte. Der Dichter hatte baS ©ebiet nach allen Stichtungen mit feften,
unbeirrten Schritten burdjmeffen unb eine Anzahl Siguren gefefjaffen, welche bie
Dljeilnahme ber Station bauemb feffelten. Gr burfte fi<h fagen, eine ©ermittelung
ZWifdjcn ber literarifcljen unb ber naiben ScferWelt hergefteHt zu haben, wie fie
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_I
Bertfjolb 2luerbacfy.
5(5
nur Wenigen ©djriftftellern befchieben ift. SKitten in feinem bichterifchen Stoffen
hatte er außerbem 3^ü unb Suft gefunben, über bie ©efefce beS VolfSfchriftftefler*
thumS f«h unb onbern in bem Vucße: „Schrift unb Sott, ©runbjfige ber botfs*
thümlidjen Siteratur, angefdjtoffen an eine ©harafteriftif 3- V- $ebet’S" (1846),
Startjeit ju toerfdjaffen. EiefeS 333er! ift infofern intereffant, als man es als
eine ©eneratbeidjte 2tuerbad)’S betrauten fann, bei ber er nicht anftefit, in liebenS*
Würbiger SBeife bie Wichtigkeit ©efjeimniffe feiner Sunft au3,$Urlaubern. 3Kan
fief»t gteichfam in baö Eidjteratetier bei geller EageSbeteucßtung hinein, aber nicht
fowot iu £>ebet’S als in 2luerbadj’S ©tubirftube; benn biefer nimmt jenen eigent*
lieh nur jum 93ortoanbe, um bas 353efen ber Sßolfspoefie, wie fie in feinen „Eorf=
gefehlten" berförpert ift, ju analgfiren. SDtan lönnte fagen, Sluerbach ^abe fein
©elbftywrträt in ein Vitbniß |>ebet'S f)ineinge 3 eidjnet. 3ebenfaHä enthält baS
Vudj eine gütle werthboller Veiträge jur praftifcheit Ülefthetif, weit es fid) nicht
aus einer Steife abftracter unb auf tattern SBege entftanbener Sehrfä|je, fonbern
aus jenen burch SlnfdiauungSgabe unb fßljuntafie belebten 3been jufammenfejft,
in Welchen baS Seucr beS fc^affenben SünftterS noch nachjugtühen fdjeint. Sluer*
baeh h at bie Übermittelung jWifchen ber Wiffenf^afttic^en unb ber VotfSbitbung
auch in einem „VotfSfatenber" angeftrebt, ber als eine SRadjbitbung j^on #ebel’S
„5R^eintänbif^em #auSfreunb" unter bem Eitet „Eer ©eüatterSmann" in ben
ga^ren 1845—48 erfchien unb fpäter jum „Schajjfäfttein beS ©ebatterSmannS"
(1856) erweitert würbe. 2llS eine 9lrt gortfefcung ^ierju gab ber Eichtet feit
1858 alljährlich unter SDtitWirfung ^erborragenber ©chriftftetter einen „Eeutfdjen
VotfSfatenber" ^erauä, ber ftd) nicht lebiglid) an bie minber ©ebitbeten, fonbern
an alle Staffen unb ©tänbe wenbete. ©eine eigenen Veiträge ju biefem Satenber,
bie fidj auS jafjlreichen ©timmungSbilbern, ©rtebniffen, ©rjäljtungen unb Vetrad)*
tungen alter 2lrt jufammenfefcen, fammette er in bem SSerte „Sur guten ©tunbe"
(2 Vbe., 1872), bem tjerborragenbe Sünftter, wie SDienjet, Saulbach, S. Stichler,
iß. SJietyerheim u. a., einen gefdjmadboflen 3ttuftrationSf<hmud tiefen unb baS im
ga^re 1880 in einer neuen breibänbigen SluSgabe unter bem Eitet „Eeutfdje
gHuftrirte VottSbücher" erfchien.
Eer Verfudj beS EichterS, bie natürlichen ©renjen feines EatentS IfinauSju*
fliehen unb bie ©oncurrenj mit ben großen unb erfolgreichen Vertretern beS
SeitromanS: ©ujjfow, gretytag, ©Wiethagen, aufjuneljmett, tonnte bei ber ©igen*
tt)ümli<hteit feiner Vegabung nicht ftets ju abgefchtoffenen unb auSgereiften Sei*
ftungen führen. Sluerbadj ift burchauS fein uniberfetler Sopf, ber fteh mit ©tüd
auf betriebene ©ebiete beS Schaffens werfen tann, fonbent ein entfchieben ein*
feitiger Eichtet, ber für bie ÜJtannichfaltigfeit beS ntobernen SebenS fein unmittet*
bares Sfttereffe befifct. ©inen enggejogenen Sreis mit fubtitem Verftanb ju burch*
forfchen unb feinen ©eift an jeber ©injelheit priifenb ju bewähren, ift feine ©tärfe,
nicht aber eine Vielheit ber ©rfcfieinung jur fünftterifchen ©inheit jufammen*
jnfaffen. @r hatte na^ feinen erften ©rfolgen abwechfelnb in S33eimar, fieipjig,
EreSben unb Vertin gelebt unb fich in VreStau berheirathet, wohin er auch uȊh*
renb ber VeoolutionSjeit jurüdfehrte. $ier trat er ben Slnfprüchen beS ißan*
33*
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5*6
Unfete ,3eit.
flawiStnuS, bet ben ganzen Oberlauf als polnifcfjen ©oben betrachten wollte, mit
SBärme unb (Erfolg in ben ©otfSüereinen entgegen. So<h tarnen ©erftimmungen
aller 9lrt fotüie bie Sranfheit unb bet Sob feinet Stau hinzu, um i£)n balb batauf
abfeits öon ber ©olfsbewegung in bet ©tubirftube, fotüie auf Steifen 3erfh:euung
unb (Erhebung fudjen ju laffen. Sn SBien erlebte et bann bie Sataftrophe, bet
er aus bem fflege gehen Wollte, unb eS blieb if|m nichts anbereS übrig, als {ich
burch baS „Xagebudj üon fiatout bis auf SBinbifchgräh" bie SdjrecfnifTe jener
läge oon bet Seele zu fdjreiben. Senet Stimmung, in meldet bet SreüjeitS*
raufd) ber Stebolution bem fi'afcenjammer ber Steaction $la| machte, gab Sluerbatf)
in feinem Stoman „SteueS Seben" (1862) StuSbrudf. (Es ift bet etfte ©erfudj,
bie Sorfgefdjichte nicht etwa aufzuheben, fonbern fie nur ju einem gleichberechtigten
©toment einer tpanblung z« machen, in bem bie an ©erheifjungen ebenfo reich*
Wie an {Erfüllungen arme 3e*tbewegung attfeitig nachzittern fotlte. SBir hoben in
unferer fiiteratur intereffante Socumente, bie uns bie STuffaffung ber SteactionS»
periobe burch herborragenbe Sichter fennen lehren. SaS werthbottfte unb getoife
bleibenbe Senfmal h°t *hr ®arl ©ufcloW in feinem grofjen (Eulturbilbe „Sie
Stitter oom ©eifte" errichtet, in bem bie ©chilberung fich neuartig über baS ganze
moberne fieben auSbreitet. Slucf) Sßilhelm Sorban’S „SemiurgoS" ift als ©*•
fenittnih eifer nach philofopfjifcher Sluffaffung beS SBeltentaufeS ringenben Seele
feljr beachtenswert!) unb burch glänjcnbe ©artien ausgezeichnet. 2Bäf)renb bie
Steaction ©ufctow fein reiffteS unb Sorban wenigftenS fein perfönlichfteS unb origi-
neüftes SBerf eingab, muh „SteueS fieben" ju ben unzweifelhaften gehlfchlögen
Stuerbach’S geregnet werben. Stur Wenn Wir ben tenbenjiöfen Snljalt beS ÜtomanS
betrachten, ber für bie bemofratifche Sbeevber Steujeit eintreten unb ihr burch
eine cnergifdje ©otfSerjiehung ben ©oben ebnen Witt, Werben Wir bem guten
^Bitten beS Sid>terS beifällig juftimmen fönnen. S*n übrigen ift baS ©ud) ganz*
lieh unplaftifch unb pfpchologifch berworren gehalten. Schon ber Stötten» unb
StamenStaufch jWifchen bem ©rafen (Eugen galfenberg unb bem fchwäbifchen
©chulmeifter erfdjeint Wie eine unglüdliclje Stachahmung ber Stomantif. Sah ober
ber ©raf, ber am babifdjen Slufftanbe betheiligt war unb jum Sobe oerurtheitt
würbe, nun thatfädjlich bauernb jnm ©ölte h*rabfteigt, um als Sorffcfjulmeifter
an ber ©itbung beS SolfeS ju arbeiten, holt** 1 wir für eine burdfauS fchietenbe
pfh^ologifche (Entwicfelung. Ser Unterfchieb ber ©tänbe unb SebenSanfchauungen
muh nothwenbig ju ©onflicten führen, an bie Sluerbad) ju benlen ganz oergeffen
hat, ba er ununterbrochen oon bem ©lücf feines gelben an ber ©eite eines
SorftinbeS fchwürntt. „SteueS fieben" ift eine lebiglid) gewollte, aber nicht bott*
brachte Sichtung.
Sagegen fann es ber breibänbige Stoman „Stuf ber £>öhe" (1865) in ben
meiften Partien mit bem ©eften aufnehmen, was Sluerbad) in feinen Sorfgefdpcht** 1
gefdjaffen hot. (Er zeigt eine fefte §anb, einen ruhigen ©lief unb läfjt ben 2**0
nicht jWifchen ben Singern h*rborquetten, fonbern weih ihn trefflich ju bilben.
Ser Stoman trägt feinen Staaten nicht umfonft; er bezeichnet nidht nur bie
wo bie fdjöne ©räfin Senta zur Sühne ihrer ehebredjerifchen Siebe jum ftünig i«
tieffter 3urü<fgezogen1)eit lebt unb ihr an (Einfällen unb (Empfinbungen reicht
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Sertfjolb 2Iuerf>adj*
5{7
Dagebud) fchreibt, fottbem gleichgeitig auch beit ^öljepuntt in bet ©ntwidelung
be« Dichter«, bet t>on hi« ab eine Steigerung feiner Beliebtheit bei ber beutfdjen
SeferWelt nicht mehr gu erreichen öermochte. Sßar hoch ba« SRotib biefer Dicf|=
tung, ba« Sanbteben in ben Äugen be« Stäbter« unb bie Stabt in ben Äugen
be« Dorfbewohner« gu geigen, gugleidj ba« SDtotib bon Äuerbach’« gangem bidj«
terifchen Schaffen, über Welche« er fich eigentlich niemals hinau«gufchwingen öer»
modht h«t. Diefe« Äuf= unb Äbfdjweben bon ©ultur* unb Baturbilbem offenbart
utt« ba« innerfte SBefen feiner Sunft, bie recht eigentlich mit gWei Äugen, mit
einem für ba« Sbpll unb einem für ba« SEBeltgewühl, ba« Seben betrachtete. Bie*
manb Wirb fich bem Sauber entgiehen, ber fowot auf ben Säuberungen be«
Dorfleben« wie auf benen be« fpofe« liegt, obwot e« fich nicht leugnen lägt, bah
Äuerbach ba« Dreiben auf ben gartet« unb gwifchen ben Seibeportieren mehr
mit fentimentalen al« realiftifdj gefd^ärften Äugen anfieht. ®« hanbett fidh hi er
um lauter Steinigleiten, aber biefe Sleinigteiten bitben eben wieber ein ©ange«
unb biefe« ©ange ift für ben Don be« #ofteben«, bem Äuerbach wieberljott nahe
geftanben hot, ohne e« in feinem ißragmatismu« gang fennen gelernt gu haben,
unerlählich. 2Bir hoben fogar einen guöertäffigen Sengen für unfere Änfchaunng,
unb gwar leinen ©eringern al« Sari ©ufclow, ber in feinen „Büdbliden auf
mein Seben" ergäbt, Wie Äuerbach fich einmal barüber aufgehalten habe, bah
JfjerWegh bei feiner ihm öon Schönlein bermittetten Äubieng bei griebridj 3Bil=
heim IY. bem Sönige bie beabfichtigten ÜJtarqui« B°fO'3Borte nicht gefügt habe,
©ufctow toertheibigte fjerwegh unb behauptete, man lönne in einer folgen Äubieng
nicht gu SBorte lommen, unb am wenigften mit foldhen Dingen. Da man hierüber
leine ©inigung ergielen lonnte, öerfudjten fich ber Berfaffer bon „Uriet Äcofta"
unb ber Äutor ber „SdjwargWätber Dorfgefdjidjten" mit einer originellen Dljeater*
fcene, bei Welcher jener bie Botte be« Sönig«, biefer bie Bolle #erWegh’« fpielte.
„ÄuS frühem Begegnungen", ergäljlt ©ufctow bon Äuerbadh, „Wnhte id), bah
feine SEBeife gwar ba, wo ihm leine Bürffidjten auferlegt finb, eine bominircnbe
war, bah aber überall, wo fich ob unb gu gu fdjweigen unb gu hören gegiemt,
ba« bon ihm Bernommene fofort feine eigenen ©ebanlen Ireugt, worüber belannt»
lieh bie SDtenfchen nachbenllich werben unb gulefct berftummen. So empfing ich
ihn alfo als Sönig fjfriebridj SBilhelnt IV. mit Sobe«erhebungen unb Änerten*
nungen, bie ihn fdjon allein in Berwirrung brachten. Dann folgte auf ben btohen
Berfuch einer ©rWiberung eine folche Ängahl h etero 9 encr / nach Bläcenatenlaune
plöfelich abfpringenber unb bodj organifch in fich gufammenhängenber fragen,
fragen aber be« ftntereffe« ^n n ft un b Siteratur, be« ^ntereffe« für ben Be*
fucher, bah bie ©ebanlenberbinbung B»fa’« eher auf 'alle«, al« auf bie Berfaffung
Breuhen« unb bie Deutfchlanb noch fehlenbe Preßfreiheit lommen lonnte, ja über»
haupt gar nicht einmal gu einem gufammenhöngenben Sa{je. Der Bionarch hotte
ihm bolle gehn SBinuten gefchenlt, bie Scene war bie belebtefte, alle Difdjgenoffen
glaubten fich noch San«fouci berfefct. Äber bie Änfä|e: «Borbftetten in Schwaben»,
«$ebel in SarlSratje», «Spinoga fagt einmal» u. f. w., tarnen gu teiner weitem
ÄuSführung. Da« SBort be« hulbbolten ÜJtonardjen: «fpabe mich gefreut», war
gefallen, unb bet bienftthuenbe Sammerherr blie« gum Büdguge." SBir gebenlen
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5*8
ltnfere ,5eit.
biefer Slnelbote, toett fie uns bie beiben beinahe gleicbotterigen 'Dieter unmittelbar
nabe bringt ju einer 3eit, wo fie noch in DreSben im freunbfdjaftlidjen Serle^r
miteinanber jtanben unb im SSerein mit bem Siterarbiftorifer Hermann Lettner
unb bem SRaler 3uliu$ $iibner bie aitregenbften ©tunben berlebten, wäbrenb fidj
in Jätern Sorten ©egenfäfce ber ©baraftere unb Meinungen entwidelten, an
beren SSerföbnung nicht mehr ju benfen war.
Die beiben 3eitromone „Das SanbfjauS am SR^ein" (4 33be., 1869) unb
„SBalbfrieb" (3 33be., 1873) fügen, wie gejagt, ber ^tjfiognomie beS Dichters
neue 3üge nicht binju. 3fn beiben ©rjäblungen ift e8 ihm !aum gelungen, ben
9teid)t()um bon giguren unb Problemen geiftig fo ju be^errfctjen, baß Sbec unb
©eftalt ohne 9teft ineinanber aufgeben, gür bie @cf)ilberung atnerifanifeber Sitten
unb be$ bon brutalem ©goiümuü erfüllten ©HaöenbänblerS ©onnenlamp in bem
erftern SRontan fehlt eS Sluerbacb an ber richtigen Slnfdjauung; er berfättt in Senti*
mentalitöt, Wäbrenb er boefe eine bätnonifdje, energifcb fortfe^reitenbe unb ju Stoß
unb Schlag gerüftete -Natur f<bitbem will. Sntereffanter ift ba« ©rjiebungSprobtem
an bem ©ohne ©onnenlamp’S, SRolaub, auügefttbrt, ber mit fdjwärmerifcber Siebe
an feinem Sebrer ©rieb ®ournat) bängt unb feinen ©inn bureb baS $inaufblicfen
ju ben -Nationafljelben SlmerifaS bem Sbealen entgegenreifen läfet. ©onnettlamp’S
©brgeij, ber fidj fogar ber ©unft bei gürften ju berfit^ern Weife unb im Segriff
ftebt, ba$ Slbelsbiplom ju erbalten, Wirb fdiliefelicf» burdb bie Stimme ber Deffent*
lidbteit ein £>alt entgegengerufen unb er felbft als ©llabenbänbler unb ©Haben*
mürber fo unjweibeutig entlarbt, bafe er nach Slmerifa flieht unb bort im Stampfe
ber ©übfiaaten gegen bie üftorbftaaten feinen Dob finbet. 3m Säger ber tefetern
begegnen Wir auch SRolanb unb ©ri<b, ber Siolanb’l poetifebe ©cbWefter SKanna
beiratbet unb bamit ben ©runb beü ißofitiben unb Strbeitstücbtigen im ©egenfafee
ju ber auf tbönernen gitfeen rubenben ©röfee ©onnenfamp’ü legt. Seiber jer*
flattert ber Stoman in feinem testen Dbeite in lauter flüchtige 18 rief Blätter, bie
ber Sefer nur mübetioll jufammenbalten !ann.
„SBalbfrieb“ enblich ift bieHeidit bie lofefte ©ompofition Sluerbacb’S, ber in
biefem Stoman gar leine objcctio oor unfern Stugen ficb fortfpinnenbe §anbtung
entrollt, fonbern bon ben ©reigniffen nur fo biel berrätb, <*1$ f«<b in Bern ©ebäcbt*
nife eines bon SBatertanbStiebe unb männlicher Srabbeit erfüllten alten S3urfcben*
febafterü borfinbet. SBalbfrieb läfet bie ©efe^icfjte unferS SSaterlanbeS ficb in aller*
banb gamitienreminifeenjen fpiegeln, bom SBartburger geft unb ber ohnmächtigen
3erflüftung Deutfcblanbs bis jum granjofenfriege unb bem ©injug ber fiegreiefeen
Gruppen in S3erlin. SBir feben eine ©ruppe bon Töchtern, ©öbnen, ©nleln unb
Urenleln bor uns, bie aber Wie bom Dämmerlicht ber ©rinnerung umfloffen finb;
man erlennt bie ^Serfonen nicht beutlich, fie fielen gleichfom hinter einem gtor,
aber was fie ahnen, benlen, empfinben, mufe unfer $erj bewegen, wenn wir auch
bie ÜJtabnungen beS fritifd^en ©ewiffenS, welches eine folche DarfteHung in ihrem
fortwäbrenben 3erfliefeen, SBieberauftauchen unb neuem SSerweben nur als £alb*
poefie anerfennen will, beftänbig jum Schweigen bringen müffen. SSor bem ißa*
trioten Sluerbacb bürfen Wir auch angeficbtS biefeS SBerfeS nur mit abgejogenem
£ute fteben bleiben; über ben fünftlerifcfeen SBertb beffelben b<*t über felbft
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Bertfyolö Jtuerbadj.
5j9
burdj ben Kunb feines SoßaboratorS in ben „Jaufenb ©ebanfen" fotgenbeS
bünbige Urt^eif gefällt: „®S gibt auch Sctjteichmege jum Parnafj unb eS finb
fonft tooht ju betretenbe. @S finb bie SSege ber Korat, beS Patriotismus u. f. m.,
aber bie ftcfj auf folgen SBegen auf bie f?öh e ber Sunft gefchtidjen fiaben, fönnett
fid^ atS ungebetene ©äfte nic^t broben Ratten. ®er Patriotismus als Äernpunft
einer ®idfjtung muff berart inS aßgemein Kenfhticp gehoben fein, bafj er auch
non anbern SßöCfern nadjempfunben merben !ann."
©in boßeS äRenfdjenatter toar berftoffen, feitbem Stuerbadj begonnen hotte, baS
Seben feines $eimattanbeS bichterifch ju befjanbeln, als er mit „SBatbfrieb" 9tb»
fdjieb nahm bon ber Scljilberung beS jeitgefdjictjtlidjen SebenS, um nochmals ben
Gueßen, Säumen unb SBiefen beS SchmarjmatbeS feine ^joetifc^en ©rüfte ju fenben.
(Sr tooßte bie Probe machen, ob er im $erbft beS SebenS im Staube fei, feine
Station in bemfetben -Kaffe ju erfreuen, wie er eS im Seng unb Sommer ber»
modjt tjatte, unb hoffte, bafj bie $unft beS gabutirenS, hielte ben giingling unb
Kann in fo Ijoljem ©rabe belieben mar, bem ©reife nicht abljanben gefommen
fein toerbe. „Stach breiig Sopen" (1876) nannte er bie neuen ®orfgefdf|idjten,
in benen er brei ber beliebteren ©rjätjlungen aus früherer Seit fortjufejjen ber»
fuc^te. „®eS Sorfe’S 9teinf)arb" tnüpft an bie „grau Ptofefforin" an unb fdf)it=
bert baS ©nbe beS Katers, ber bei ber Stacljridfjt Oom Jobe Sorte’S Stom toerläfet
unb in bem ®orfe, mo bie ©etiebte gemirft hot, feine Jage befdfjtiefjt. „®er
JolpatfdEj auS Stmerifa" erjäfjlt, mie ber junge 9ttot)S Sdjorer auS Stmerifa jurücf*
fept, um fidj auS bem ^»eimattanbe eine SebenSgefä^rtin ju holen. ®ie britte
©efe^id^te: „®aS Steft an ber Sahn", fcf)ilbert baS Seben eines frühem Ser»
brecherS, ben mir aus ben „Sträflingen" lernten, unb ben bie StBett fomot mie
fein ©emiffen nach üerbüßter Strafe freifpredfjen, ba er in einem pflichttreuen
SBirfen ats Sahntoärter fortan feine Sdjutbigfeit ttiut. @S rutjt auf biefen neuen
Stobeßen ein mitber menfchlicher Sinn, ber jebe ignbtoibuatität in ihren reinen
.Bügen auffajjt unb ju ben Sbealen beS SebenS mie ju ernigen Sternen empor»
btidft. 9BaS nun ben (Spitog ber ®orfgefchi(htf(hreibung Sluerbadh’S unb feiner
literarifchen ^JT^ätigfeit überhaupt betrifft, fo liegt er in ben brei Stobeßen: „San»
botin bon SteuterSpfen" (1878), „®er gorftmeifter" (1879) unb „Srigitta"
(1879), bor, mit benen baS bem Untergang fidf) juneigenbe Jalent beS SlutorS
uns feine testen Strahlen jufenbet. ®eS „Sanbotin" hoben mir bereits bei @r»
mähnung beS „®iethetm" gebadet, meit er baS Kotib beffelben in aßem SBefent»
ti(hen mieberhott. „®er gorftmeifter" ift ein Stornan, ber ganj unb gar jmifdhen
Jägern unb Säumen fi<h abfpiett unb in feinen Staturfcijilberungen noch manchertei
$erborragenbeS enthält, aber in feiner $anblung jegliche Spannung ausfdfjliefjt
unb auch in ber Gtjofofterifti! einjetner Perfonen, mie beS bämonifdh fein foßett»
ben Sdjjaßer, bon aßerhanb Serjeichnungen nicht freijufprectjen ift. „Srigitta"
ift bagegen bie bidjterifche Umfehreibung beS bibtif^en SafceS: „Siebet euere
geinbe", in ber Slnmenbung auf eine bom Sdjicffat fchmer geprüfte grau, bie fich
an bem Urheber ihres UnglüefS mit eigener fpanb ju rächen berpnbert mirb, aber
bie gemoßte Sünbe in einem Seben boß SBohlmoßen unb Kenfcijenfreunblichteit
abbüfjt.
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520
Unfere ^eit.
Suchen tuir uns ju einer öotlen Slnff auung ber bifteriff en Statur Äuerbadj’S,
feiner Stellung in unferer Stationalliteratur unb feiner ©erfönliffeit ju ergeben,
fo ift es nift fermer ben ©unft auSfinbig ju matten, in bent fif feine Straft
concentrirt unb aus bent fle ißre Strafften nadf oerff iebenen Stiftungen halb rneßr
ober meniger leuftenb unb ertoärmenb auSfanbte. $iefer ©unlt liegt ganj unb
gar int ©oben feines ßeimatlifen Sf marjmalbeS, auf bent fein ©lief mit einer
maßrßaft anbädftigen Siebe jeitlebenS rußte, wenn ißm auf bie miffenffaftlicßen
Stubien geiftig unb manniffaf e Steifen räumlif bon bort entfernten. ®ber eS
ging fein Sommer ins Sanb, in bem er fif nif t bon ßeimatlif er Sufi unb ©rbe
begrüben ließ. 3>ßm toar biefe aßjaßrlife ©erüßrung mit bem Sfmarjftmtbe
ein ©ab, baS ißm bie ©lieber ftäßlte, feine SfaffenSluft neu anfafte, feine
SBangen friff rötete, ©anj maßr unb ef t ift Sluerbaf nur als ©rjäßler feiner
Stobellen aus ber Heimat; aHeS übrige ift intereffant unb anregenb, aber fünftleriff
nif t rneßr bon bem ungetrübten ©uffe, ber feinen Dorfgeff if ten eigen ift. SBoI
mar er nift ber erfte, ber bem ©auer bie Pforten ber Siteratur eröffnete; bon
Smmermann abgefeßen, mar ißm Sllejanber SBeill mit feinen elfüffiffen unb
Jeremias ©ottßelf mit feinen ff meijeriff en $orfgeff iften borangegangen. 31ber
Stnerbaf traf naflfaltig unb mieberßolt ins Sfmarje, bortßin, moßin ber Unge»
bilbete mie ber ©ebilbete gern ffaute, meil er einen Quell friff er unb junger
©mpfinbung fprubeln faß. ©efanntlif ßaben bie Sf marjmälbet einmal Sluerbaf
baS üble (Eompliment gemaft, baß in feinen ©rjaßlungen alles „berftunfen unb
berlogen" fei. SBir bürfen biefe ©ntrüftung bem einfafen SJtamte, bet bei bem
bif teriff en Arbeiten naf lebenben SJtobeHen nur an eine pßotograpßiff e SBieber»
gäbe benft, mol jugute ßalten unb uns auf bie tiefem ©efeße ber ©oefie berufen,
benen jufolge ber ffünftler bie SBirftiffeit in feiner ©ßantafie einffmeljen muß,
bebor er fie in ber Staf bilbung bor bie Slugen ber ÜDtitmelt fteHen lann. Sluerbaf
ßat in ben gelungern feiner Stobellen eine Slnffauliffeit ber Sfilbetung unb
©lafti! ber Spraf e erreif t, melf e fie 3 U SJteiftermerfen ftempeln. darüber ßinauS
mürbe fein Xalent aUcrbingS fofort itnfifer; bem mobernen bielgeftaltigen Seben
gegenüber mar er ein felbftänbiger Genfer, aber lein tonangebenber ®if ter. „Stuf
ber Höße", „®aS SanbßauS am Stßein", „SBalbfrieb" finb in ben ©artien am
gelungenften, in benen baS Treiben in ben Stübten bon bem SbplI abgetöft mirb.
SBir braufen nift an untere claffiffen ©orbilber p benlen, bie mit gleif
ff arfen Stugen baS Stäf fte mie baS gernfte erfaßten unb in mefjrern ®if tungS»
arten jugleif einen erften ©reis getoannen; auf bet ©ergleif mit anbern jeit»
genöffiffen ®iftern, mie ©ußlom, greßtag, leßrt eS unjmeifelßaft, baß Sluerbaf
alle ©röße, aber auf alle Sfmäfen eines einfeitigen SDtenff en in fif ffloß.
3ßm mar baS ©eßeimniß ber gorm nur in ber ®orfer$aßlung böllig Har ge»
morben. Sfon in ben größern Stomanen lonnte er bie Bügel nift meßr fo
ftraff in ber ,£>anb ßaltcn, mie es bie lünftleriff e Slbfift erforberte, unb bie ge»
ringen Serfuf c auf bem ©ebiete ber Sßril unb beS ®ramaS geigen, mie ißm bie
©abe, eine ©mpfinbung melobiff auSllingen ju laffen, ober bie giguren im Sif te
ber Campen büßitenoptiff tterfürgt ju feßen, burfauS oerfagt mar. Slls er fif
mäßrenb beS granjofenfriegeS im Hauptquartier beS ©roßßerjogS t>on ©aben
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Bertfyjlb JfuerBacfj.
52 (
befanb unb feinet patriotifd^en ©egeifterung in einet Slngabl Steminifcengen, Sage*
bufaufgeidjnungen unb Souraalartifeln StuSbrud berfieb, bie fpäter in bent ©ufe
„SBieber unfer" (1871) gefammelt mürben, berfaßte er ein Solbatenlieb, ba« ffon
feine« abpcbtlifen Änfang« falber ben 8t»ed berfebten mußte:
3n ©tfaß überm SRIjeine
SDa moljnt ein ©ruber mein,
<E« tfjut ba8 £erg mit preffen,
@r bat e« fdjier bergeflen,
S8aS mit einanbet fein.
Sie ©erfudjung, bramatifcb gu fdjaffen, ift toieberbolt an unfern Sinter heran*
getreten, ohne fm jebof jemals ben Sohn eine« ©rfolge« gu betfd^affen. So
fdjrieb er im Sabre 1850 unter bem ©inbrud ber tniener ©orgänge fein Stauer*
fpiel „Slnbree Wofer", inbem er ben fdjon oon 3 ttt nt ermann begangenen gebier,
ben tiroler Slufftanb in feiner gangen realiftiffen ©reite barpeflen gu moßen,
Wieberbolte. Später folgte (1859) ba« Sfaufpiel „Ser SBabrfpruf", ba« in
bieler ©egiebung an „Sietbelm oon Suebenberg" erinnert, aber bie einleudjtenbe
SOtotibirung unb bramatiffe Spannung bermiffen läßt. ©nblif pnben pf auf
nof in bem ©üfelfen „Untermeg«" (1879) brei fleine Suftfpiele: „Stiegel bor",
„@ine feltene grau", „Sa« erlöfenbe SBort", bie Pf jebof nirgenb« auf ben
©retem haben behaupten fönnen.
SBie Sluerbaf in feinen Siftungen mit ber ©erfeinerung be« Seben« na<b
ber Seite be« ©leganten unb Stafpnirten nichts angufangen mußte, fo ging er ihm
auch in feinem perfönlitben Stuftreten gern au« bem SBege. Sein geinb be«
Salon«, meil er in ihm bie für fein SBoblbepnben unentbebrlitbe Hnerlennung
fanb, fufte er bie gormen beffelben bo<b nadb SJtöglifleit abguftreifen unb pf
al« ba« gu geben, toofür er ftcb hielt, al« einen SOtenffen, ber unbefebabet ber
©Übungsarbeit ben Sufammenbang mit ber Statur unb ©infafbeit ttic^t aufgeben
iooßte. Sie furge Sade, bie er ben grad« entgegengubalten liebte, batte beSbalb
biefelbe fpmboliffe ©ebeutung mie ba« friffe Stof feiner ©Sangen, moburf er
pf fo unmittelbar bon ben nerböfen blaffen ©eftftem ber Slbenbgefeßffaften
unterffieb. ©r mar glüdlif, menn man ihm naffagte, baß er ben ©inbrud
eine« Sanbrnamte« matbe, unb liebte e«, gemiffe ©bfonberliffeiten feine« SBefen«
babureb gu entff ulbigen, baß er ermähnte, ber Sauer fue biefe« unb taffe jene«.
3n allen Singen, bie pf auf ba« ©effiblsteben ober bie pbilofopbifcbe ©etraf tung
begogen, mar Sluerbaf ber guberläfpgpe unb feinfinnigfte ©eratber; in allen
praftiff en Stngetegenbeiten bagegen, bei benen e« barauf anfam, felbft Wanb an*
gutegen unb bie Singe in biefem ober jenem Sinne umguftalten, oft befangen mie
ein $inb. Seine ißerfänlifleit b«t in ihrer milben Weiterleit in ber berliner
©efeßff aft ber lebten 20 3 a b re eine nift gu unterffäjjenbe Stoße gefpielt. @r
mar gugänglif, empfängliib unb anregenb -mie menige unb ein toirllif er ©irtuo«
in ber Sunp, bie geiftige SBelt frember SJtenffen bon innen heraus gu berftehen
unb in fr ben gifrer gu fpielen. @r empfanb e« al« ein unabmeisbare« ©e*
bürfniß, Jüngern Salenten ben anfelfenben 2trm entgegenguftreden, unb ftrömte
nach aßen Stiftungen SBoblmoßen unb Anregung au«.
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Ä22
Untere 5**t.
Irr #anptPor$ug be# lichter# nnb be# Kennen in Äuerbach toar bic fett*
ftanbige Hrt, mit ber beibe bie Seit an$ufehen liebten. Seibe mochten fich
nicht in an#getretenen Steifen bemegen nnb lieber einmal tüchtig au#gleiten,
al# in frember ©angart non einem 3^1 $um anbern manbera. Solange bie
Äräfte noch P*ng tonten, brachte ba# eine oft förnige Jrifche nnb 2eben#tt>ührheit
mit fleh, fomol in ber charafterifHichen Hu#geftaltung ber gigurra, ttrie in ber
Sprache, bie Äuerbad) in feiner guten 3eit $toar ohne Sritlan$ nnb Sd)ttning,
aber mit einer treffenben Sicherheit bebanbelte. Kochte man an ben hrrgen
fchmncfio# nebeneinanbergeftellten Säfcen bie Sibpthmif oermiffen, fo mnfjte man
hoch ihre gebrnngene firaft bemunbern, bie lebhaft an bie unterteile Heine gigur
ihre# Grjettger# erinnerte.
Xie testen Jahre Hnerbach’# maren leiber nicht turn bem fonnigen grieben
erfüllt, auf ben ber greife Xidjter nnpoeifelhaft ben lebbafteften Hnfproch fm*t f -
Sor allem fühlte er ftch tmn ber antifemitifcben Semegung unb ber mafelofen
Agitation, bie ficfi baran fnüpfte unb namentlich ©erlin jum Schauplai fyattc,
tief nnb ühmerjlich getroffen. Senn auch tmn ben ©feilen, toelche eine non
blinber fieibenfcbaft erfüllte ©artei gegen bie jübiiche Scoölferung firaflo# fchtenbem
bnrfte, feiner gegen ibn periönlich gerichtet mar, fo glaubte er hoch bnrch bie
feinen Stamme#genoffen miberfabrenen Aränfungen periönlicb beleibigt $u fein.
Gr fab bie unbeilooHe glamme lobern unb oermocbte $u ihrer llnterbrücfung
nicht# beantragen. £>ier$u famen trübe gamtlienöerbaftnifTe unb ba# allmähliche
Serfagen feine# probuctioen Xalent#, ba# ihm emüliche unb nicht lebiglich litera*
rifche Sorgen machte, um eine ©erftimmung chronifcber Hrt in ihm hertmr$itrnten,
bie manche# bittere Sort über feine Sippen fomrnen ließ. S?acbbem er im iSerbft
oorigen Jahre# in Ganftatt bebenftich an ber Sunge erfranft mar, fteHte fich ein
Unterleib#leiben bei ihm ein, benen letale Siatur fich nicht aöjU lange uerfeugnen
liefe. Srofcbem h p n te man ton her Sonne be# 2üben# unb ber herrlichen
Statur in (Tanne# einen Äuffcbub, ber ftch leiber al# frommer SBunfch ertoiefen
hat. Sar e# Auerbach auch nicht oergönnt, auf beutüher Grbe $u fterben, fo
fchlofe er hoch bie Hugen im Slnblicf be# etoigen SReere#, ber febneebebeeften Hlpen,
ber auf Suüh unb Saum oertheilten Slütenpracbt. Giner tenamentarifchen Se*
fhmmung jufolge tourbe bie Seicbe nach feinem ©eburt#orte Storbfktten tran#portirt
unb bort unter großer Setheiligung tmn fern unb nab ber Grbe übergeben. G#
gehört $u ben rührenben Senbungen im Sehen Sluerbach’#, baß fein fterfeli«h* r
Sheil nicht auf einem HHtag#friebhofe, fonbern bort ruht, rno bic bannen SRorb-
fhtten# ihm 2rauerme(obien ^uflüftem fönnen. Sie er at# dichter am liebften
unter Siaturmenichen unb im Salbe gelebt hat unb noch im ©reifenalter $ur
Xorfgefdjicbte al# ber eigentlichen Xomäne feine# Talent# $urücfgefehrt ift, f°
fonnte er auch nur in ber Stabe be# fmcbmalbe# bie etoige SJuhe finben. Jn ber
meifterbaften ©rabrebe be# Hefthetifer# Stüber fonnte mit Stecht baran erinnert
toerben, bafe ber Gntfcblafene fein Gnbe an feinen Slufang gcfnüoft habe, toeil er
toohl mußte, bafe au# biefem ©oben länblicben Stillleben# ber reinfte, Prüfte Cuefl
gefloifen fei für feine Sichtung. Seit hinau#gemacbfen fei er über biefe Still*
unb Gnge, aber freunblicb, mohlmoilenb, liebenb, laufebenb ben ©eheimniffen ber
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Bertfyolö 2tucrbacfj.
523
Seele fei er eingefetjrt in biefe trauliche ©title beS SebenS, habe fidf ljineinberfefct,
fid^ barin eingeniftet, innig angefdjmiegt, fei nachgegangen ben fernen SSegen beS
Seelenlebens, bie aber auch niemals unwerth feien berfolgt ju merben. 3fn
erhöhtem Silbe Ijabe er biefe Buftänbe miebergegeben, aber nicht erhöht mit
gteiSnerifdjen Farben, fonbern in fatten färben, in gebiegenen unb faftigen Farben
unb mit enetgifchem ©chatten.
Sebenlen mir, baß bie Sftadjmelt in ihrer SBert^ft^äfeung ber latente baS
SJtiStungene einfach ignorirt unb ficQ nur an bie gtiicflidfjen SCßürfe hält, fo biirfen
mir feinen Stugenbticf jmeifetn, baß ber ©eftanb einer ütnja^I bon Stuerbach’S
©djriften für lange geit gefiltert ift. @r f»at fiinftterifch oft gefehlt unb taftenb
nach bem Unrechten gegriffen, aber bocfj mit einer ganzen Steife bon (Stählungen
baS innere Seben unferer Station getroffen, baffelbe mo£)(tt)uenb ertoeitcrt unb mit
ben Sorftetlungen beS ©uten unb SBafjren menfcfitich fc^ött burdjteuchtet. (Sr ßat
fein latent nie niebem Bwecfen geliehen, ift ftets ein ehrlicher Zünftler unb
treuer SatertanbSfreunb gebtieben. SBenn er auch nur eine ©pecialität in unferer
Siteratur mit nachhaltigem (Srfotge gepflegt h°t / fo ift biefe ©pecialität boch ein
Moment ber Stationaltiteratur unb baher ein mohtberedhtigter SlnfprudE) auf Un=
fterbtichfeit. Die banfbare Sefermett, bie fa in alten Schichten unferer Station
bertheitt ift, toirb ft<h gerniß aus ber Drauer um ben Sertuft Stuerbadj’S jur
fjreube über ben bteibenben Sefi| feiner Dichtungen auffdhmingen unb bie SBorte
nadhemppnbcn, mit benen fjreitigrath baS SegriißungSgebi^t an ben Serfaffer
ber „Dorfgefdfjidfjten" fc^tießt:
SBär’ ich ber ©chtnarjtoalb, meine SBipfel ballt’ ich
Unb fdjüttelte ber tiefte SBucfjt, unb brächte
©in ©tänbcfjen bir, toilbraufdjenb unb gewaltig!
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€ttt Ausfluß narfj Daffjtttßfmt.
JBoit
iPriebridj ßobettftebt.*)
SJtein nädifter ®u«fiug führte mich nach SBafhington. 3dh reifte in ©efeüfdhaft
meine« ^oBotener ©aftfreunbe« Stiaftnp, ber @efd)äfte in ißfjifabelptjia unb ©al*
timore ju orbnen hatte, ober midi) junädjft nach SBafljington begleiten wollte, um
bent beutfchen ©efanbten, $urt Bon Schlöjer, ber in Roboten wieberholt fein ©oft
gewefen toor, einen ©egenbefudf) ju machen, ©r natjm auch feine beiben Söhne
mit, um ihnen bie StWerfwürbigfeiten ber ©unbe«hauptftabt ju geigen.
®ie ©egenben, burdfj meiere unfet 2Beg führte, gehören ju ben beftbefiebetten
unb reid^ften ber SBeit. SBor für mich auch im Sßinter Bon ber Schönheit ber
Sanbfdjaft wenig ju fehen, ba bie Sonne fid) hinter grauem ©ewölf Berbarg unb
bie ©äume ihren Saubfdjmud längft abgefchütteit Rotten, fo jeigten fich bodj überall,
fotoeit ba« Stuge reichte, ©über be« SBohiftanbe« unb erfprießlicher Xbötigteit.
^unberte Bon bampfenben Schloten ftiegen ou« großartigen gabrifaniagen unb
SBerfftätten in ber Stäbe unb gerne empor, unb bie mit Ungeheuern ©eibopfent
hergefteKten SSafferftrafjen wetteiferten in regem ©efchäft«Ber!ehr mit ben Schienen«
Wegen. Stoch I«8 fein Schnee auf ben geibern, weiche jum Xfjeü fchon wieber
Bon ber SBinterfaat grünten, unb alle SBeibegrünbe waren abwedhfelnb mit Schaf«
beerben unb grafenben frühen unb ißferben bebedt, bie au«fahen wie wanbelnbe
3eugniffe guten ©ebenen«. 3dhH°fe, freiftehenbe jettartig (eicht aufgefdjlagene
$äu«dhen, bie anfdheinenb nur Borübergehenb hier befchäftigten Arbeitern jum
Dbbadh bienen, wedhfein ab mit etwa« weiter Born SBege au« wohigepfiegten ®är«
ten auftaudhenben Raufern mit heüem, meift weißem Slnftridfj. $odj biefe baib
fporabifdj, baib gruppenweife in« Sluge faüenben SZieberiaffungen finb nur Keine
©erbinbung«jei<ben jwifdhen ben blühenben, in ftetem 2Badj«thum begriffenen
Stabten, bie fid) in rafcher Reihenfolge Bor un« aufthun. ©ei einer ber anfehn«
iichften berfetben, Irenton am SJelaWare, fommen wir au« bem Staate Steujerfep
in ba« ©ebiet Bon fßennfpiBanien, wo wir, bei immer wachfenbem 3nnber ber
*) ©in weitere« Srudfjftüc! au« bem SBerle be« SBerfaffer«, ba« unter bem Xitel „®om
2ttlantifdjen bi« jum Stillen Dcean" binnen turjem im Sertage Bon g. 2t. 33rocf£)au« in
fieipjig erfdjeinen wirb unb au« bem wir bereit« einen Stbfdjnüt: „SReine erfte Sifenbabn«
fahrt in Stmerifa", mittheilten. S>. 8teb.
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(Ein Ausflug nadj IDctfpington.
525
Sanbfcpaft, nach furger Saprt, bie Stiefenftabt ^Eiilobelp^ia erreichen. 3<P werbe
oufmerffam gemalt auf ben am frönen Scpuplfitl*9tiber fiep pingiepenben, präcp*
tigen Sairmount*©arf, ber uns, wie wir üorüberbrauften, gut Stofen einen Ipeit
feiner Anlagen unb Monumente erfdjliegt. — SllleS, wopin Wir bliden, geigt
grogartige ©erpältniffe. Krft oor wenigen Stunben haben wir eine SBeltftabt aus
ben Slugen oerloren, unb fc^on tput ft<p eine neue oor uns auf. ©on Steuporf
bis ©pilabelppia gäplt man !aum 90 englifcpe ©teilen, bie in brei Stunben gurüd*
gelegt werben, unb welche gölte Oon wopltpuenb überrafcpenben Sinbrüden um*
fcpliegt biefe Keine Spanne Seit! SBir hotten uns bieSmal in ©pilabetppia nicht
auf, aber fchon ein ©lid auf baS unüberfehbare ^äufermeer, aus welchem bie
Stoppeln unb Stürme Oon fünfhuubert Sircgen emporragen, unb ein weiterer ©lief
auf ben fcpwimmenben ©taftenWalb beS 2)elaware genügt, eine Slpnung oon ber
©rüge unb ©ebeutung biefer, 10000 gabrifen in fich fchtiegenben ©tetropole
amerifanifcher gnbuftrie gu geben, welche, obwot ihre KinWopnergapl eine
ooHe ©tiüion noch nicht erreicht hot, bo<h an Umfang ©euporf übertrifft, ©or
200 Saften gegrünbet, gäfjlte fie nach bem erften Saprpunbert faum 40000 ®in=
wohner unb heute gäplt fie über 800000.
$ie nächfte groge Stabt, wo wir einen furzen £alt machen, ift baS ein halbes
Saprpunbert jüngere ©altimore, bie am Sleftuar beS ©atapfco=9tiüer, unfern
ber ©ereinigung beffelben mit bem SuSquehanna, gelegene ^»auptftabt beS Staates
©tarplanb. SIucp biefe an ©tonumenten unb Sircpen reiche ^anbelsftabt maept
mit ipren ftattlicpen ©auten unb bem regen Seben im $afen fepon auf ben erften
©lid einen impofanten (Sinbrud. Sie gäplt heute 300000 Kinwopner.
©on ©altimore — ber erften mir gu Slugen gefommenen amerifanifepen Stabt,
welche nidjt gang auf flachem ©oben erbaut ift, fonbem burep oerfeptebene $ebun=
gen eine gewiffe Slbwecpfelung ber ©runblage geigt — bis SBafpington ift nur
noch ein Sprung, unb überhaupt fam mir bie gange Steife, welche Wir in ben
bequemen ©arlor*KarS machten, erftaunlicp turg bor im ©erpältnig gu ber güHe
oon Silbern eines reicpentfalteten Kulturlebens, bie fie uns in faft ununter*
broepener Steipenfolge geboten.
Um - 4 Upr nachmittags trafen wir in ber ©unbeShouptftabt ein, wo unS ber
liebenSWürbige ©efanbte beS Deutfdpen SteicpeS fepon auf bem ©apnpofe in freunb*
licpfter SBeife begrügte. Stp lernte erft bei biefer ©elegenpeit $erm oon Scplöger
perfönlicp fennen, beffen erfte Scpriften: „Les premiers habitants de la Russie",
„Epoifeul unb feine Seit" u. f. w. icp fepon feit einem ©tenfcpenalter fannte. Kr
brüefte fein ©ebauern aus, uns am 2lbenb niept bei fiep fepen gu fünnen, ba er
gu einem officiellen Seftmaple beim ©räfibenten gebeten fei, unb lub uns auf ben
fotgenben lag gum Witter ein. Slucp Sari Scpurg, bamals ©iinifter beS
Ämtern, war gu bem geftmapl geloben, welches gu Kpren eines fepeibenben
©efanbten im Sßeigen §aufe ftattfanb, uub fo fuepten wir, als grembtinge am
©otomac, ben freien Slbenb gu benupen, ein Stüd ©olfsleben fennen gu lernen,
Wobei ber Sitfaß unfer alleiniger Süprer fein füllte.
Stacpbem wir nnS in 2Bormtep*$oufe, unferm §otel, an woplbefepter Jafel
geftärft patten, unternahmen wir eine SSanberung burep bie Stragen oon SBafping»
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526
Unfere <3eit.
ton, ober ohne anbete ©efriebigung habet ju finben als bie bet Bewegung in
frifdjet Suft nad) langem ©ifcen in gefdjloffenen Säumen. ®ie ©tragen waten
auffallenb menfdjenteer, unb biejenigen, welche Wir junächft burchwanberten, Der»
bienten gar nicht ©tragen genannt $u werben, infofem man barunter in einer
©tabt einen gang» unb fahrbaren SB eg jwifdjen jwei f>araQet laufenben Käufer»
reifen Derfteht. SBir fanben bie Anfänge ju feieren Läuferreihen in weit Don»
einanber abfteljenben ©ebäuben, unterbrochen burch wäfte ©treden SanbeS, hinter
welchen aus ber gerne Sichter herfchimmerten, wie um anjubeuten, bag bort hinten
auch noch SSenfcljen wohnten. Sur in ben Wenigen ©efchäftsftragen ber ©tabt
war einiges Seben, wenn auch nicht abfonberlicher 2lrt, fo bo<h bei hinlänglicher
Beleuchtung, um uns ju befähigen, unter Dielen anbem Siefenplafaten auch eins
ju entbeden, welches jum Befudj eines näher bejeichneten BolfStheaterS einlub,
in welchem an bem Slbenb, greitag, 12. ®ec. 1879, eine berühmte Segerfomöbie
aufgeführt werben foHte. #
®a hotten wir, was wir fuchten, lamen aber, bei ber ©dfwierigfeit, unfern
SBeg jum ©olfstheater ju finben, erft an, als ber erfte Stet fchon ju ffinbe war,
fobag uns bie ganje ©jpofition Dcrtoren ging. Slud) wollten mir bie unS ange»
wiefenen ©tä|e gar nicht gefallen, ba fie budjftäbtich unfichtbar waren unb als
©ifjpläfce erft hätten erobert werben müffen Don Seuten, mit welchen ben Äampf
aufpnehmen feiner Don unS Suft berfpürte. ®aS Xh eater war bei ben billigen
©intrittSpreifen fo ®opf an ®opf gefüllt, bag nur bie untere ©rofceniumSloge jur
Secfjten noch als LiotuS erfchien. SBährenb beS erften ßwifchenacteS gelang es
ben UeberrebungSfünften meines Begleiters, unS ©intritt in bie Soge ju Derfchaffen,
hoch nicht ohne befonbere ©chwierigfeiten; benn es hieß an ber Stoffe, bie Soge
fei Don einer ®ame in BefdEjlag genommen worben, welche bafür befahlt habe;
allein bie unfichtbare ®ame lieg mit geh hanbeln unb bie Soge würbe beim S3e=
ginn beS jweiten Stetes um ben hoppelten ©reis frei. Sun fonnten wir baS
©chaufpiel ganj ungeftört aus nächfter Sähe betrachten, unb ich erinnere mich
nicht, je in Slmerifa fo Diel gelacht ju haben wie an jenem Slbenb.
®aS ©tüd beftanb aus einer Seihe loder pfammenhängenber ©eenen, Welche
hauptfächlich burch braftifche ©ituationSfomif wirften, aber auch Diel Leiterfeit
erregten burch bie unüberfefcbare Strt unb SBeife, in welcher bie auftretenben Seger
bie englifche ©prache munbhabten.
©in alter reicher ©nglänber fommt auf feiner Seife um bie SBelt auch burch
bie Bereinigten Staaten, Wo eS ihm anfangs beffer gefällt, als er erwartet hatte,
©r hat einen lange bewährten ®iener, ber ihm baS Seifen leicht macht, ihn rafirt,
frifirt, pflegt, feine ©achen in peinlichfter Orbnung hält unb alle Saunen beS
alten L ecnt ntit unerfchütterlichein ©teichmuth erträgt, bafür aber feine eigenen
Saunen gern gegen untergeorbnete SBefen, als welche ihm bie meiften Slmerifaner
unb befonberS bie Seger erfcheinen, auslägt. SnjWifchen Derläuft alles glüdlich,
bis bie Seifenben in einen Staat fommen, Wo erft eben Wieber ein ®emperanj»
gefep erlaffen ift, welches ben ©erlauf unb ©enug aller geiftigen ©etränfe, fogar
beS ©ierS, bei hohen ©trafen Derbietet. Sun ift aber bem alten @ir Lenrt; ein
menfchenwürbigeS Seben ohne geiftige ©etränfe gerabep unbenfbar; er mug fchon
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<£in Ausflug nadj JPafßington.
527
junt fjrü^ftüd feine glafcße Portwein haben unb zu ben übrigen SRaßlzeiten nocß
anbere SBeine; wenn er auch ni<ßt gerobe jebe Stafcfje felbft auStrinft, fo lobt fi<fj
bocß toenigftenS baS Auge baran, unb 3»ßu, ber treue Wiener, beforgt baS übrige.
Aßein in bent großen $otel, in welchem Sir $enrß SBoßnung genommen hatte,
toerben leine anbem ©etränfe oerabreidjt als ©iswaffer, SJiitcß unb ßimonabe.
Solche gewaltfame ©efcßränfungen ber angeborenen SDlenfchenrecßte !ann Sir
$enrß Hießt ungerügt taffen; er erflart bie Regierung, welche fo bumme ©efeße
ausbrüten tonnte, für ßirnberbrannt, unb bie SJlenfcßen, welche fidj fo bummen
©efeßen unterwerfen, für feige Sttoben, bie mit greißeit unb ©teicßheit praßten
unb nur borin gleich feien, baß fie nidfjt einmal fo frei fein bürfen, an einem
®lafe SBein ju nippen, oßne bafür beftraft ju werben wie fleine Kinber.
Stach eüter gefährlichen Scene, aus welcher Sir £enrß nur beSßalb mit heiler
$aut enttommt, weil man ihn wegen feiner offenen Auflehnung gegen göttliches
unb menfeßlicßeS ©efeß für unzurechnungsfähig hält unb bieS burch bie berühmten
Sicljterworte bekräftigt: „Sn ©ngtanb hat ieber feinen Sparren", öerläßt er baS
$otel unb bezieht eine tßribatwoßnung, wo ein oagabunbirenber Sieger StamenS
©iß ihm burch Sohn feine Sienfte als Stiefetpußer anbietet, ©iß ried(jt ftarf
nach SBh^h unb 3°h« fc^tie^t barauS, baß biefeS ©etränf, bem er felbft nicht
abgeneigt ift, boch irgenbwo in ber Stabt zu haben fein müffe, WaS ©iß nach
einigem ärgern geheimnißooß beftätigt unb babei »errätß, eS fei auch 2Bei« bort
ZU hüben, aber nicht ohne große ©efahr für Säufer unb ©ertäufer. 3®h» fürchtet
bie ®efahr nicht, wo eS gilt, feinem £>errn eine freubige Ueberrafdhung zu berei»
ten, unb macht fidf), Währenb Sir §enrß Siefta hält, in einem gefcßloffenen SRieth*
Wagen mit ©iß auf ben SBeg nach ber geheimnißooßen ©ergeftätte »erbotener @e»
tränfe. ©iß erbietet fich, ben ©infauf aßein zu beforgen, aber ber »orfießtige
Sohn wiß bem Sieger fo »iel ®elb meßt anoertrauen, unb begleitet ihn. Sie @£»
pebition »erläuft fo glücflicß, baß 3 »hu, mit ©inftimmung feines $erm, ber ben
SBein üortrefflich finbet, befcßließt, fie feßon am näcßften Sage zu Wieberßolen, um
gleich einen orbentlidhen ©orrath inS #auS zu feßaffen. ©r glaubt bieSmal aßein
fertig werben zu fönnen, wirb aber erWifcßt, als er feßon eine Kifte SBein im
SBagen untergebracht hat unb eben noch einen Korb SBßiSfp folgen taffen Wiß.
©in Ißolizift Wiß ihn feftnehmen; er aber fueßt fich, au f feine Kraft bauenb, frei»
Zumachen unb fäßt ringenb mit bem Sßoliziften zu ©oben, wobei er eine fchwere
©erleßung erhält, währenb ber Kutfcßer im Sunfel unerlannt baöonfährt, um
feinen SBein bei Sir $enrß in Sicherheit zu bringen unb biefen »on bem ©or*
gang in Kenntniß zu feßen, toorauS fich bann bie wunberfamften ©erwicfelungen
ergeben. Sir 3»h n gerätß außer fich über baS SJtiSgefcßicf feines treuen SienerS
unb bietet afleS auf, beffen ©efreiung zu erwirfen, bie ihm aber borläufig wenig
nttßt, ba er burch bie erlittenen ©erteßungen auf längere Seit bienftunfäßig ge»
Worben ift. Ser fcßlaue ©iß bemüht fich inzwifdjen naeß Kräften ißn zu erfeßen,
was jeboeß große Schmierigfeiten bietet, ba Sir Jpenrß unWißfürlicß feßon burch
bie bloße Släße beS Siegers unangeneßm berührt Wirb, bie feine Slafe nießt minber
beleibigt als feine Augen. Aßein eS bleibt ißm nichts übrig, als fich baran zu
gewößnen, ba fieß ©iß fo nüßlicß burch 0 ute Statßfcßläge erWeift, baß Sir $enrß
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528
Unfere £eit.
ade Utfod^e hat, ihm bafür baulbar ju fein unb ihn im Sienft ju bemalten, folange
es gehen wid. Unaufgeforbert bringt ©id feinem #erm einen fchwarjen Doctor me-
dicinae inS £auS, ber iljn ernftfjaft unterfuc^t, um gloubmürbig bereinigen ju fönnen,
bag ©ir $enrt) bei feinem gefchwädjten ßörperjuftanbe beS SBeinS als einer Ärjnei
bebürfe, bie Ufot jeber oernünftige Ärjt oerfchreiben rnüffe, um itm am Seben ju
erhalten. — Sie ©eene mit biefem fchwarjen Soctor, ber mehr einem Äffen als
einem äJienfdjen glich unb beffen bloßes ©rfcheinen mit einer Ungeheuern ©rille
auf ber breiten, platten Stafe baS ganje §auS oor Sachen erbeben machte, geftal*
tete fich überaus lomifd).
Stach unb nach tommt ©ir $enrg mit einer ganzen SJtufterfammlung bunfler
©harattertöpfe in ©erüljrung, non benen einer ben anbem in unmenfchlich fomifchem
ÄuSbrud eigenartig übertrifft. Äße ©pielarten beS StegertppuS finb babei oertreten,
oom ©eficht mit toeit jurüdtretenber ©tiru unb toeit torfpringenbem tiefer bis
ju ©efidjtem, bie fich ber faufafifchen Sopfbitbung nähern, aber burch bie toulftigen
Sippen unb unfteten Äugen boch einen tljierähnlichen ÄuSbrud behalten.
©ir £>enrh entfett fich bei bem ©ebanlen, bag biefetben fchwarjen $änbe,
toelche feine ©tiefetn puffen, ihm, auch mit bem Stafirmeffer über baS ©eficht
fahren foHen. ©iß finbet fcE>netl einen ÄuStoeg unb baburch jugteich eine Slang»
erhöhung, inbem er mit ©rlaubnig feines $ernt einen anbern Sieger als ©tiefet*
pu|er anfteßt, im ©abe eine grünbliche Steinigung mit feinem fchwarjen Körper
oomimmt, feine SBäfche unb neue ffleibung anlegt unb banach fo oeränbert er»
fcheint, bag fein §err ihn taum toieberertennt unb fogar bie #aut merflich h e ^ et
finbet, als fie torher getoefen.
Ser hübfdje ©iH ift natürlich/ int ©egenfa| ju ben übrigen mitfpielenben
©chtoarjen, nur ein Sieger für bie ©ühne, ber fich bie fjaut färben fann wie er
will; allein er ift in Siebe, Gattung unb ©eberbenfpiel ein fo oodenbeter Äunft»
neger, baff bie in ber SBode gefärbten ®<hwarjen, welche ju ^»unberten unter ben
Bufchauern figen, weit mehr greube an feinem Spiel hoben als an bem ihrer
echten Slaffefchweftern unb »©rüber auf ber ©ühne.
©iß oerfdjafft feinem $errn audh eine fchwarje SOSäfcherin unb eine fdjwarje
Äödjin; benn ba ©ir #enrtj in öffentlichen Socalen leinen 2Bein trinten barf, fo
mag er auch bort nicht effen, unb es bleibt ihm ferner nichts übrig, als beibeS ju
$aufe ju thun.
Sod) genug oon biefer ßomöbie, welche ihren befriebigenben ÄuSgang in
Sprüngen nahm, bie über alle SBahrfdjeinlichfeit hinauöfprangen, aber ©türme
beS ©eifaHS entfeffelten. ©S lam nämlich am Schlug ju Sage, bag ber eigentliche
©efifcer ber heimlichen SBeinhanblung ein berühmter SJlägigfeitSprebiger war, ber
nicht jufrieben mit feinem grogen ©intommen als folcher, noch grögere ©ortheile aus
ber heimlichen görberung eines ©enuffeS jog, ben er öffentlich als Softer oerbammte.
Äm folgenben SJlorgen lodte unS bie ©onne fchon früh iuS greie, um SBafhington
bei ber günftigften ©eteuchtung ju fehen. SBäljrenb ber Stacht hatte jiemlich ftarter
groft eingefefct, ber auch ben Sag über anhielt unb baS Umherwanbern auf ben
troefenen, luftigen ©tragen unter woltcntofem Fimmel jur greube machte.
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<£ttt Ausflug nach IDafhington.
529
$aS oöUig Eigenartige ber Stabt, Woburch fie fid) bon allen übrigen namhaften
Stabten ber Union wefentlich unterfdjeibet, fpringt gleich beim erften Ueberbtid
in bie 2lugen, unb befielt barin, baß fie ihren ftäbtifchen S^arafter nur burch
bie monumentalen SRegierungSbauten erhält, welche ben einzigen ®runb ihres
DafeinS bitben. ®ie ©obengeftattung jeigt oerfdjiebcne mäßige Erhebungen unb
auf ber I}öd)ften berfetben ragt bal impofante Eapitot herbor, meithinfchimmerob,
aus herrlichen fßarfantagen auffteigenb. Etwa eine ©iertetftunbe norbmeftlidj
babon entfernt, ergebt ft<h auf einer geringem Erhöhung baS SBeiße £auS, bie
fRefibenj beS ißräfibenten. ES liegt ebenfalte in parfartiger Umgebung, in ber
SRitte eines großen tßtapeS, beffen bier Eden bie ißatäfte ber SRinifterien beS
StuSWärtigen, beS ÄriegeS, ber SRarine unb beS Scpa^eS bitben. 2llS überrafdjenb
ftatttiche ©aläfte finb noch p ermähnen baS ganj auS Weißem 2Rarmor gebaute
®eneratpoftamt, bem ber Xempel beS XßefeuS ate SSorbilb gebient hot, unb baS
fotoffate Patentamt, nach bem SDtufter beS Parthenon aufgeführt.
3n Stmerila finb Nachahmungen beS antilen Stite bei öffentlichen Eebäuben
an ber XageSorbnung, unb SBafhiugton jeichnet fidj barin bor alten anbera Stäbten
in fo perborragenber SBeife aus, baß es eben baburch fein eigentümliches ®e=
präge erhalten h at - ©tänben biefe prächtigen Staatsbauten jerftreut in SBett»
ftäbten wie SReuporf ober , ober auch i« ®h' ca 8° ober SainbSouiS,
fo würben fie bort neben ben SRonumentatbauten beS $anbets unb ber Qnbuftrie
Wot bewunbernbe ©lide auf fich fiepen, aber ben Eparafter ber Stabt nicht ättbern,
ber mefenttich burch bie Näf>rquetten ber ©ebötferung beftimmt wirb unb StuSbrud
gewinnt SSafpington hingegen würbe ohne fein Eapitot unb was bamit p*
fammenhängt batb wieber in baS Nichts oerfinlen, aus bem es turj oor bem
fflegimt biefeS SaprpunbertS erftanben ift burch fein Eapitot.
SBarutn man gerabe biefen ungefunben gted SanbeS, an ben fumpfigen Ufern
beS tßotomac, pm Sip ber Unionsregierung ertoren hot, würbe unbegreiflich er¬
flehten, Wenn man nicht wüßte, baß pr 3dt, als ®enerat SBafpington bie 21 m
tage ber nach t m genannten Stabt plante, bie burch Jtnei 2trme beS ©otomac
gebitbete Sanbpnge wirtlich ber ungefähre SRittetpunft ber UnionSftaaten war,
beren Sapl fi<h bamalS nur auf 13 belief, mährenb fie heute 38 beträgt unb bem
UnionSgebiete eine 2tuSbepnung gewonnen pat, beren ÜRittetpunft 400 beutfche
SReiten weiter im SBeften p fucpen ift.
ÜRit einem fo wunberbar rafdjen SBacfjSthum ber bereinigten Staaten tonnte
bie ©unbeSpauptftabt nicht Stritt hatten, pmat feine einzige ber ©orauSfepungen
fich erfüllen fottte, welche ihr ®rünber an fte getnüpft hatte. 3unä<hft hielt er
fie für einen ftrategifch wichtigen ißunft, gefiebert burch ihre Sage, unb im
Stuguft 1814 würbe fie oon einigen taufenb Engtänbern, bie tpeils p ßanbe,
theits p Scpiffe auf bem tßotomac, tangfam gegen fie anrüdten, ohne erheblichen
SBiberftanb p finben, burch ®enerat fRoß Ieicfjt genommen unb fchnetl oerwüftet,
wobei baS Eapitot, baS SBeiße $auS unb alte SRinifterien in flammen aufgingen.
®ann hielt e« ben ißotomac für eine bortrefftidje SBafferftraße, geeignet, bie Stabt
p commerjieltem 2luffchwung p bringen. 2tuch barauS ift nichts geworben, benn
ber ßrtuß hat ber Stabt nichts gebracht ate fiebererjeugenbe ÄuSbünftnngen. Enb=
Unfrre Beit. 1883. I. 34
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530
ttnfere ,Jeit.
lieh hat SBafhington tängft aufget)ört SJlittetpunft beS ©taatenbunbeS p fein, unb
bamit auch feine ehemalige politifcöe ©ebeutung oerloten.
®o erftärt ffch'S, bag bie ©tobt, feit ©eginn biefeS gahrtjunberts, ©ifc ber
©unbeSregierung unb beS (Songreffes, über aUe (Erwartung in ihrer ffintwidetung
prüdgebtieben ift unb, oergtidjen mit bem fßlane, nad) welkem fie ausgebaut
»erben foßte, nod) überall einen unfertigen ©inbrud mad)t unb gleichfam nur als
ein jerriffeneS 2tnf)ängfet beS fie fdjimmentb überragenben (EapitolS erfc^eint 3?ur
bie Lälfte bei urfprünglidien flaues ift pr WuSführung getommen unb bie anbere
Hälfte liegt im {Rüden bei bie ©tabt in jtoci 2t>eile fdjeibenben ©apitols, beffen
prächtige gcgabe in« Seere hinauSfchaut. Sie allen ameritanifchen ©täbten eigene
fchadjbretartige {Regelmägigfeit ber ©tragen mit ihren ©tods ober Läuferquabraten
wirb in SBafhington unterbrochen burch breite Sioenuen, »eiche oom Sapitol
ftraljtenförmig nach allen ©eiten auSlaufen. Sap fommen eine SJienge pm Xbeil
noch toüft liegenber ißläfce unb ein groger, »oljlgepflegtet {ßarf, ©tragen mit
mehr ober minber geflogenen Läuferreihen gehören p ben Ausnahmen.
{Natürlich fehlt ei in ber ©unbeShauptftabt, »o auger ben Lerren bon ber
{Regierung auch aße ©efanbtfchaften ihren ftänbigen ©ifc h a &en, Oiele ©enatoren
in ihren eigenen Läufern wohnen unb noch mehr ©ongregmitglieber eine geraume
Seit beS SahreS hindurch ihren Aufenthalt nehmen müffen, an eleganten Guartieren
unb ßupSbauten nicht, allein ber weitaus grögere Xheil ber ©tabt mqcht einen
nichts weniger als grogftäbtifchen ffiinbrud. Um fo impofanter heben fichNbie ein*
jelnen {ßrachtbauten bon ben »eitum gerftreuten Läufergruppen, ©traudjoplagen
unb {Rafenpläfcen ab, jwifchen »eldhen es auch an Wüften Steden nicht fehlt, unb
biefe überall ins Auge fpringenben ©egenftänbe finb eS, »eiche ber ©tabt ihr
eigenartiges ©epräge geben, ©ie ift grog genug, um L“nberttaufenbe bon 43in*
»ohnern ju umfaffen, unb fie jählt beren !aum 80000, worunter 30000 Sieget^
SBir bemerkten halb, bag wir bei ben grogen ©ntfernungen mit unferer gug*
»anberung, bie uns pnädjft burch ben frönen {ßarf führte, nicht »eit fommen
würben, unb nahmen einen SBagen p Lülfe, um eine »eitere Umfchau p gewinnen.
Sann fügten wir Hart ©churj in feinem ÜDiinifterium auf, »o »ir ihn in einer
SBeife in Anfprudj genommen fanben, bag ich nicht begriff, »ie er es anfteflen
»erbe, f«h, wenn auch nur “ u f furje Seit, für uns freipmachen, »aS hoch
entfdjieben feine Abfid)t war, als er uns bat, in feinem ©efchäftSjimmer fo lange
{ßlafc p nehmen, bis er einige aus bem fernen SBeften angefommene Seputationen
abgefertigt unb bie bringenbften Sepefcfjen unb SBrtefe erlebigt habe, bon benen
ganje ©töge auf feinem Sifche lagen, »op immer noch neue tarnen. 9Rit fliegenber
geber beantwortete er felbft einige ©riefe, gab bajwifchen münbliche SBeifungen
pr {Beantwortung anberer, hatte bann halb in biefer, batb in jener genfternifche
Unterrebungen mit ben Seputirten, nahm mit ihnen 'ßläne unb harten burch, bie
theils an ber SBanb hingen, theilS auf bem grogen Sifche lagen, unb entwirrte
bas Änäuel feiner ©efchäfte für ben Augenblid mit erftaunlicher {Ruhe unb ©e*
fchwinbigfeit. Sarauf fagte er p einem {Beamten: „gn einer halben ©tunbe bin
ich tbieber hier", gab noch einige SBeifungen für bie Seit unb führte unS enblidj
jum ginanjminifter ©herman, einem hochgewachfenen, ftattlichen Lernt, ber uns
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<£tn Ausflug nacfj tDaffjingtort.
53j
fe^r freunblidj empfing, aber aud) feine liebe SRott) hatte, ein paar freie äJtinuten
für und ju finben, bie nach furjer Unterhaltung baju benufct mürben, einige feiten
auf ein Statt Rapier ju fri^etn, bad und alle Sehendmfirbigf eiten bed Schaft
unb Patentamts erfdjliejjen foUte. Ed mürbe und jubem ein hmbiger güprer
mitgegeben, unb ©djurj begleitete und ebenfalls, folange feine 3eit ed erlaubte.
®ad ©djahamt (the Treasury) ober, mie mir fagen mürben, ber Steicpdfinanj»
palaft, ift ein ungeheueres, in altgriechifcfjem ©tile nach bem SRufter bed ÜempelS
ber 2Rinerüa audgeffthrted ©ebäube mit enblofen fRethen Sonifcher ©äuten. 3Ran
bebarf eined Sührerd, um fi<h barin jure^tjufinben. Um einen Keinen Segriff
üon ber ©röfje biefed Patafted ju geben, bemerfe ich nur, mad mir am tebhafteften
in ber Erinnerung geblieben, bafj in ben obern Räumen neunhunbert aWenfdfjen
beibertei ©efchtechtd non früh 6id fpät mit ber Anfertigung non Sanfttoten
(©reenöacfs nach ihrer grünen SRücffeite genannt) befd^äftigt finb, beren hier täglich
ich weifj nicht mehr mie biete ÜRiHionen aud ber Preffe tommen, um halb barauf
burch aQe Sanbe ju manbent. Eine ©chitberung ber SDtanipulation in ber £er=
fteüung biefer ©reenbacfd, mobei alled ineinanbergreift mit ber fRegelmäfügfeit
einer 3Rafd)ine, mürbe mich hi er Z u meit führen. Obgleich ed in ben SRäumen
fo heiß mar mie in römif<h 3 irif<hen Sabeftuben, oermeilte ich boch lange baritt,
um mir alle Einzelheiten in ber X^ätigtcit bed mit fabelhafter ©efdjminbigleit
einanber in bie §änbe arbeitenben 2Jlenfchengemimmeld genau anjufehen, bie
Armuth bei ber gabrifation bed SReicfjthumd.
®iefe obern SRäume mit ben baranftofjenben @peife= ober Erfrifdhungdhatten
bitben eine Heine ©tabt für ft<h, mo für alle Sebürfniffe geforgt ift; benn üon
ben Arbeitern barf niemanb hinaus, folange bie Arbeitszeit mährt.
ÜRachbem mir auch noch bad patentmufeum befidjtigt hatten, mo bie Original
mobeile aller Erfinbungen ber Ameritaner aufgeftellt finb, beren Saht einige
50000 betragen foH, fuhren mir nach ber Priüatmohnung üon Schurz, mo feine
liebendmürbigen Pächter, bie ich fäon üon SBieSbaben her gut tannte, und znm
grühftüd ermarteten. ®er üielbefchäftigte #audüater tarn etmad fpäter, aber boch
früh genug, um noch ein halbes ©tünbdjen gemüthlich mit und üerplaubern z«
lönnen. Er hatte mieber alle Saften üoHgepfropft mit SJepefdjen unb Sriefen,
beftimmt, auf ber £>er= unb SRücffahrt burchgefehen zu merben; allein als er bie
Rapiere beifeitegelegt hatte, merfte man ihm nichts mehr an üon ber Arbeitd*
fülle, bie auf ihm laftete.
Ed mar mir aufgefallen, in bem feljr elegant eingerichteten £>aufe unter einer
SRenge üon Silbern, fomol auf bem Silur mie in ben SBohngemädjern, auch eine
Steilje grofjer Delgemälbe aus ber Beit unb zur Serherrli^ung bed erften SRapoleon
ZU finben. ©djurz erHärte mir lächelnb, bafj biefe ©emälbcgalerie meber feine
SBaijl fei, nodh ihm gehöre, ba er bad £>aud mit üottftänbiger Einridhtung unb
Aüdfchmücfung nur auf eine SReihe üon fahren gemiethet habe. ®er Eigenthümer
fei ein 2Rr. peabobp, ein Sermanbter bed burdj feine großen Stiftungen be¬
rühmten SQtiHionärd. ©leid) nach bem Srühftücf eilte er mieber in fein SRinifterium,
mährenb mir mit ben jungen $amen nach bem Eapitol fuhren, mo mir fo lange
blieben, ald ed bad §immetdli<f|t bed munberbar h^en SBintertaged geftatten
34*
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532
Unfere <5 eit.
wollte. Sei bicfet Seleucgtung fcgienen mir alle in antifem Stil erbauten Saläfte
in SBafgington ganj an igrer Stelle p (ein, toenn ge gier auch ganj anbern
Streifen bienen müffen, all bei igren Sorbitbem im alten #etta# ber galt mar.
Sefonberl bal hochgelegene ©apitol gewinnt bei näherer Setrachtung bon
innen wie non äugen. SBal auch feine Senner ber Saufunft an ©injelgeiten p
tabein finben mögen: bal ©an$e macht einen fiberaui grogartigen Sinbrucf all ein
garmonifdg geglieberter Prachtbau, ber in allen ©geilen jeigt, Wal er (ein Will,
nämlidh ber monumentale Hulbrucf einel jugenbriiftig aufftrebenben Sotflßaatel,
ber baburih grog geworben, bag er fcgnell attel Sefte geh angeeignet, Wal ältere
©ulturftaaten ber Fachwelt hinterlaffen haben.
©er non einer Suppe! gefrönte SDtittelbau, bal ^anptgebäube bei ©apitoll,
i(t aul behauenen Sanbfteinen aufgeführt unb ältern Urfprungl all bie beiben
anl fchimmernbweigem 2Jtarmor angefügten glügel, in beten fallen ber Senat
unb bie Solflbertreter tagen. ©ie Suppet, bie bal non ©rawforb geformte ©rj»
bilb ber Freiheit trägt, ragt etwa 300 gug über bem Soben empor uub bem
entfpredgenb finb bie ©rögenoergältniffe bei ©anjen, bie idh mich fegeue in Sagten
wieberpgeben, ohne meine Duette p nennen, ba ich felbft feine SJtegungen nor*
genommen habe unb mich belgalb an ben mir perföntich all pbertäffig befannten
®mft non £ege=2Bartegg halte, ber bie Sänge bei ©anjen angibt all 751, unb
bie Sreite ber glügel, an ihren Dg» unb SBeftfronten, all 354 gug betragenb.
Sm fepönften Sergältnig p biefer ©röge gehen bie brei gewaltigen greitreppen,
welche über breite Stufen p ben mächtigen Pforten bei SRittelbauel unb ber
beiben glügel emporführen. ©ie gront bei SDtittelbauel fegmüeft ein tßorticul
non ein paar ©ufcenb Sorintgifcgen Säulen, unb weiterer Sdgmucf non Säulen
unb ißilaftern jiegt geh um bal ganje ©ebäube hi«, begen Snnerel freilich «»<gt
ganj in ©inflang (legt mit ber ftilnotten $ütte, weil el, befonberl in bem Senatl»
gügel, non einem Supl garrt, in welchem fi<h megr blenbenber ißrunf all guter
©efigmacf ogenbart. ©oeg wir bürfen nicht nergegen, bag wir im neuen tfmerifa
gnb unb niegt im alten ©riecgenlanb. ©I ift fegon ein ©rogel, wenn ein Soll,
bal feinen SBogtftanb fügnem Untemegmunglgeift unb gartet Arbeit nerbanft, im
Streben naeg $ögerm ben begen SRuftern naegeifert. Sille tttaegagmung gält fieg
pnäcgft nur an bie gorm, an bie Slugenfeite ber ©inge, beten Sem ju erfagen,
aul welcgem fie geh entfaltet gaben, igr niegt gegeben ift. Sil nun bie Ämeri»
faner fo weit lommen, aul fiep felbft geraul eine Sunft p entfalten, Welcge igre
©igenart ganj ogenbart, fönnen fie biefe nur in frember £>ütte geigen, unb fo
gnben Wir in allen ©rfegeinungen bei amerifanifegen Sebenl ägnlicge ©ontrafte,
wie jwifegen bem Sleugera unb gnnem bei ©apitoll p SBafgington. ©er Sau»
meifter gat reblidg bal Seinige getgan, bal innere bei ißalaftel bem tteugero
entfprecgenb p gegolten bureg marmorne ©reppengäufer, Wie man ge fcgwerlicg
fonft fdgöner gnbet, fowie bureg woglproportionirte fallen unb ©emädger, pm
©geil mit Sötarmorwänben boit ganj befonberer ißraegt. Slber farbenbunte 2)ta*
lerei, gefcgmacflofe Sergolberei unb überlabener Sieratg alter Strt btängen geg
ftörenb Bor. gür bie Senatoren gat ber ©ecorateur bei ©uten entfegieben p
Biel getgan. SBeit einfacher ift bie ffiinridgtung bei glügell, Wo bie SolflBertreter
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<£in 2tusflug nadj XDafhington.
533
tagen, obwol eg auch t»ier an ÜBequemlidjteiten nicht fefjft. Stiles in allem ge*
nommen wirb tool in {einem anbem ^arlantentggebäube bec Sßelt ben Tätern
unb 83ertretern beg SSoIfeS mehr Spielraum unb Gomfort geboten alg im Gapitol
p SBafhington, unb riirgenbg wirb auf bie SBeridjterftatter fo t>iel SRücffidfjt ge*
nommen wie hier, um ihnen ihre fchwierige Slufgabe p erteiltem. Sie hoben
bie beften $lä|e auf ber ©alerie unb gleich bahntet einen fo behaglich wie ped*
mäfjig eingerichteten Saal p ihrer Verfügung, um in 3iuhe ihre Dtotijen aug*
arbeiten ober fidj bon ihren Stnftrengungen erholen p lännen.
Dag Gapitol ift auch ber Sif} beg »berften ©eric^tS^ofeS, ber einzigen hohen
Sförpetfcljaft in ber Union, beren SDtitglieber auf £eb engbauer ernannt werben.
Die Solfgöertreter werben nur auf }Wei Sahre, bie Senatoren auf fedjg Sahre
gewählt.
Die grofje SRotunbe im SCRittelgebäube beg Gapitolg ift mit fieben SBanbbilbern
auggefchmüclt, welche benlwiirbige SKomente aug ber ©efchidjte beg Sanbeg ber*
anfchaulidjen, Wie bie Stnfunft Golumbug’ in Stmerila, bie Gntbedung beg SDiif*
fiffippi, bie Unabhängigleitgerllärung ber ^Bereinigten Staaten u. f. w. Darüber
fpannt fich ein riefigeg, aßegorifcheg Dectengemälbe aug, Weicheg ben ganjen h ö <h s
ften SRaum ber Üiotunbe einnimmt. S3on gröfjerm S'unftwerth alg biefe ©emälbe
ift bie bon SRanbolph ßtogerg gefchaffene mächtige SBronjethür, welche ben §aupt*
eingang pr ßtotunbe fdjliefjt unb in neun fpauptfelbern herborragenbe Greigniffe
ber ameri{anifchen ©efchichte barfteCtt. Diefe Dhür ift in Italien entftanben, nach
bem SBorbitbe ber Dhüren beg florentiner Sattifterio bon ©hiberti, unb ber
Zünftler hat ftd) ei« Würbigeg Denftnal baburch gefept.
Söefttich non ber SRotunbe, im hintern Dfjeile beg SDtittelflügelg, befinben fich
bie großen Säle ber Gongrefjbibliothel, Welche über 300000 SBänbe jählt.
StuffaUenb für ben gremben, wenn auch {einegwegg unangenehm, ift bie boß*
lommene greiheit ber ^Bewegung, mit welcher jebermann bag Gapitol betreten unb
burchwanbern (ann. S3or ben Dhüren ftehen leine Soften unb auch in» Snnent
macht fich {einerlei UeberWadjung bemerlbar. Natürlich fehlt eg nid^t an Sin*
gefteflten, welche eine gewiffe Sluffidjt p führen hoben, allein man bemertt fie
nur, wenn mau fie fucfjt, um fich Slugtunft über biefeg ober jeneg p erbitten,
bie bann immer fteunblicfj gegeben wirb. SSon Drinigelbern ift leine 9tebe unb
ebenfo wenig bom Stbtegen ber lleberjieher, Stüde unb Schirme. Sluch wirb man
nicht aug einem Birnmer ing anbere getrieben, fonbern lann wanbem, raften unb
fogar fchlofen Wo man wiß. Sch fah im SBorübergeljen ein paar ältere SDtämter,
bie auf ihren Sijjen fanft entfchlummert waren, ber eine mit bor*, ber anbere
mit prüdgebeugtem Äopfe, unb ich lonnte nicht bemerlen, ba| bieg irgenbwem
fonberlich auffiel. — 333er beim Gintritt burdj bie Pforte leine Suft hot, bie hohen
Dteppen p überfteigen, fefct fich in ben Slufpg, welcher nach oben führt, unb in
bemfelben Slufpge lann man auch wieber nadh unten lommen. ffiurj, eg lann
ben SBefuchem beg gewaltigen Staatgpalafteg nicht bequemer gemacht werben, alg
eg ihnen geboten Wirb.
Sllg ber Dag fid) p neigen begann, fuhren wir nach 28ormleh*#oufe prüd,
Weicheg ganj nahe bei bem beutfehen ©efanbtfchaftghotel liegt, wo Wir bann
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53$
Unfere ^ett.
mit Schurz Bei Befter Unterhaltung binirten. 35er 33jee Würbe fpäter im $aufe
öon Schurz getrunlen, ber mich mit einigen $auSfreunben Belamtt machte, unter
welchen mich BefonberS Dr. SeffelS, ber Berühmte SGorbpotreifenbe, lebhaft intereffirte.
35a mein Sefudj in SBafhington nur auf wenige 35age Berechnet war, in benen
ich alles nur im gluge feiert fonnte, fo mußte ich öerfprechen, im gebruar, wo
baS SeBen ftcfj bort am glänzenbften entfaltet, auf ein paar SBochen wieberzu*
fommen unb Bei Schurz ju wohnen. Seiber tonnte ich es nicht möglich machen,
mein Serfpredjen ju hotten, unb fo ift meine Äenntniß ber nieten 2Rerfroürbig=
feiten, welche SBafhington in feinen zahlreichen wiffenfdjatlidjen Snftituten bietet,
eine fehr tücfenhafte geblieben. Sch thue hi« nur eines biefer Snftitute Et*
wäljnung, welches als bie ^öchfte wiffenfchafttiche STnftatt in Slmerifa gilt unb
burch einen iJJribatmann gegrünbet würbe, ber feinen tarnen baburch oerewigt
hat. ES ift bieS bas Berühmte @mithfonian=Snftitute, welches, ben Eentralpuntt
beS ganzen wiffenfchafttichen SebenS in Slmerifa Bilbenb, ben Serfehr mit ben
gelehrten Vereinen in Europa oermittett unb zugleich burch feine antiquarifchen,
naturhiftorifchen unb titerarifchen Sammlungen ber gelehrten gotfchung ein reiches
SRaterial bietet. SameS Smithfon hot ber Erünbung biefeS 3nftitutS über eine
holbe SJliHion SloHarS geopfert; gewiß eine Würbige Slrt, fich bie UnfterBIichteit
ZU erlaufen.
SJlein fester Sefuch in SBafhington galt bem ijßräfibenten $apeS. SllS Schurz
niidj obhotte im $otet, fragte er meinen Steifegefdhrten, ob er nicht auch mit
fahren wolle. „Sehr gern", ermiberte biefer; „aber meine Beiben Söhne..."
„SBoHen wir auch mitnehmen!" fiel ihm Schurz ins SBort, unb fo fuhren wir
alte hier nach bem SBeißen fjaufe, welches auf mäßiger Erhebung an einem Enbe
ber prächtigen iJJennfhlöania=2töenue liegt, beren anbereS Enbe bas Eapitot Bitbet.
3)ie Stefibenz beS Sßräfibenten ber bereinigten Staaten ift ein fehr BefdjeibeneS
Eebäube im Sergleich mit ben fdjon früher gefchitberten Ijßaläften ber äJtinifterien,
welche es zu Beiben Seiten einfchtießen. Sein einziger äußerer Sdjmucf Befteht
in bem oon Sonifchen Säulen getragenen ißorticus, Por welchem wir auSfteigen.
SchilbWacheit flehen nicht babor unb im Snnem geht’S ebenfo ungezwungen her
wie im Eapitot.
Ein fauber gelteibeter S5iener empfing unS beim Eintritt unb führte uns Bis
Zum geräumigen, mit fotiber Eleganz eingerichteten, aber nicht fehr hohen Ern*
pfangSfaat hinauf, beffen 33)ür er öffnete unb uns bann oertieß, um uns anzu*
metben. Ein anberer 35iener war nicht zu entbecfen, als ich mich umfah, unt
meinen Ueberzieher abzutegen. „behalten Sie 3h ten Ueberzieher ruhig an", fagte
Schurz, „ich mach’S auch fo. 9luf bergleichen wirb hier nicht gefehen."
So fdjritten wir benn über bie Schwelle, Schurz wieber alle £afcf)eu voll*
gepfropft mit barauS emporragenben Schriftftüden, unb ich hotte laum 3cit ge-
funben, einen Slicf auf bie lebensgroßen Silber ber frühem ißräfibenten zu werfen,
welche bie SBänbe beS EmpfangSfaateS fchmücfen, als ißräfibent #apeS eintrat
uttb nach freunblidfjer Segrüßung mit £änbebrucf uns einlub 5jßlap zu nehmen.
Er fejjte fiep mir gegenüber, unb bie Unterhaltung begann auf baS ungezwungenfte
mit gragen über bie Einbrücfe, welche baS ameritonifche Seben mir geboten.
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£in Ausflug nadf IDaffjington.
535
3«h antwortete unbefangen in bemfelben Sinne, tote ich meine erften ©in»
brüde gefüttert höbe, nnb Sdjurj ergänzte meine SBorte burcß Einführung non
Semerf ungen, bie ich ißm tag« jubor gemalt unb felbft fcßon toiebet bet»
geffen tjatte. Hufgefchtieben hotte ich bon bet Unterhaltung nicht«, an welcher
auch ©tiaftnh theilnahm, unb fo !ann ich bemerten, baß fie feht beftiebigenb
betlief unb ich bom ißräftbenten ben beften ©inbrnd mit nach $aufe nahm. (Sine
ju mäßiger 8eibe«füße neigenbe ©eftalt bon mittlerer ©röße; eilt offene«, inteßi»
gente« ©efidjt mit freier Stirn unb eine ungejtoungen maßboße Haltung bitten
bie äußern Büge f*itteu toohtthuenben ©rfcheinung.
Unfere SRüdfahrt bon SBafhington toar nicht fo erfreulich toie bie Hinfahrt,
ba ba« plöfclich umfchlagenbe SBetter toiebet feine fdjlimmften Saunen jeigte.
Sei Sturm unb Siegen tarnen toir abenb« nach elf Uhr in tßtjilabelphia an,
too toir, trojj borhergegangener telegrapljif<h et Sln^eige, in bem großen $otet Sh e
kontinental nur mit SRüße noch ein Unterfommen fanben, ba bon au«toärt« eine
ungeheuere SDienfdjenmenge in bie Stabt geftrömt toar, um ben ermatteten ©injug
be« ©eneral« Ulßffe« ©rant mit anjufeßen.
Sie §otetorbnung brachte e« mit fich, baß man nach 9 Uhr abenb« nicht«
meh< ju effen belommen tonnte, unb fo mußten toir h«b8«ig ju Sett gehen.
Stiaftnp reifte fchon mit bem gröhjuge toiebet ab, toäljrenb ich noch ein paar
läge bleiben tooßte, um mir bie große ßuäferftabt etwa« näher anjufehen. Saju
hätte idh nun ftciüdh teinen unglüdlichern Beitpunft mählen tönnen. Bunächft
fühlte idh ntidfj feht unwohl unb fanb halb, baß mein Bimmer äße« ju toünfchen
übrigließ, toa« hätte baju bienen tönnen, um e« mir ein bi«dhen behaglich ju
machen. SJiir berging faft ber Süßem beim ©intritt in ba« öbe ©emach, in
welchem eine übel riechenbe, feuchttalte Suft herrfchte, bie ju berbeffern unmöglich
war, ba ber Siegen gegen ba« einzige fünfter tlatfdhte, welche« fich öorfanb, aber
nicht geöffnet werben tonnte ohne 3Baffer«gefaßr. Sch bat ben Sieger, welcher ba«
©a« anjünbete, geuer im Äamin anjumacßen; aber er mußte erft Sohlen baju
herbeifchaffen unb ließ fi<h nicht toiebet fehen. 3<h betbrachte in bem unheim*
liehen ßimmer eine fchrectlidhe Slacht, bie gar lein ©nbe nehmen tooßte; benn ber
Sag ließ fich bei bem trüben $immel faft ebenfo buntel an, toie bie Slacht ge»
wefen toar, unb ber Siegen fuhr munter fort, gegen ba« Öenfter ju tlatfchen,
welche« fo Hein toar, baß e« felbft bei Harem £>immel taum au«gereidht hätte,
ba« große, tahle Bimmer ganj ju erheßen. ©in brennenbet Surft, ben ich nur
mit übel feßmeefenbem SBaffer löfcßen tonnte, trieb mich ein paarmal au« bem Sett,
wobei e« feltfame Scßwierigfeiten ju übertoinben gab, benn um ba« SBaffer ju
finben, brauchte ich 2i<ßt. Sragbare Sichter, bie man neben ba« Sett fteßen tann,
finb in feinem amerifanifchen $otel ju finben; e« wirb nur ©a« gebrannt; ijt
bie« au«gethan, fo tann man fich nur burefj Bäbbßöljchen helfen. Siefe waren
aber fo feßteeßt, baß ich meine liebe Sloth hatte, ein« in ©ranb ju bringen. Sa«
leßte, bei welchem mir bie« gelang, jeigte, baß e« fieben Uhr morgen« fei. Slun
toar aber meine ©ebulb ju ©nbe unb ich fdfjeßte fo lange, bi« wieber ein Sieger
erfeßien, ben ich bot, fdßnefl 3euer anjujünben unb Xßee i u beforgen, ba ich ftart
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536
Wnfere <5*it.
rrfältet fei. SaS geuer laut bieSmal richtig in ©ranb, allein bet ^ei^erfe^nte
£Ijee erfdfjien erft eine ©tunbe fpäter, bo not ©eginn bet officietten gfrühgüdfSjeit
feinet ju haben war. Sugleidfj erfchien bann eine ganje ©Rüffel öoH gebratener
unb ge&acfener ©peifen, bie mir am ©benb borget tjöc^fl miCfommen getvefen fein
würben, Don benen idf| aber jefct, nad£)bem bie f<hlecf)te 2uft mit ben ©tagen bet*
botben hatte, nichts t)ätte genießen fönnen.
9tachbem ich mich ein wenig erwärmt hatte, Heftete ich mich an, um frifdfje
Suft im freien jn atfjmen; man fommt aber bei f^mujigem SBetter in einet
Stiefenftabt wie ©fjilabelp^ia nicht weit ju gug. Sie EarS ober ©tragenwagen
auf Schienen ftnb eine bortrefflicfje Einrichtung für ben äJlaffenberfefjr; allein ba
fie meift überfüllt ftnb, fo ift es wenigftenS für einen Neuling im Sanbe gerabe
feine ©nnefjmlichfeit, barin ju fahren, unb er bermigt oft fchmetjlich bie bei uns
ben Einjetberfetjr fo bequem unb berhälhtigmägig auch biüig bermittelnben
Srofchfen. Siefe ftnb in Stmerifa noch nicht eingeführt. SRan finbet jwat fjiet
unb ba bor ben groften jpotelS elegante jweifpännige ©Jagen, geräumig genug, um
eine ganje gantilie ju umfaffen, allein biefe finb nur ju ©taatSbifiten geeignet,
unb für ben gewöhnlichen ©erfehr Diel $u fogfpielig, ba bie ßutfcher ihte greife
felbft machen.
Sch ging unb fuhr in ißfjilabetphia einige ©tunben umher, um $u fehen, bag
in biefer regelmägigften aller ©täbte eine ©trage fo jiemtich auSgeht wie bie
anbere. Sie meiften Käufer finb aus rothem ©acfftein erbaut unb machen einen
fehr faubetn Einbruch Sn ben elegantem Quartieren fah ich lange Leihen Don
Käufern ganj aus weigern SRarmor aufgeführt, ober wenigftenS in ber gronte
bamit befleibet. ©HeS, was mir in bie Slugen fiel, trug baS ©epräge beS Gleich*
thumS ober ber 933o^If)a&en^eit. Sag ber Sieget nach jcbe gamilie ein befonbereS
§auS bewohnt unb IjierDon nur wenige Ausnahmen ftattfinben fönnen, ergibt geh
fdjon aus bem Sahlenöerhältnig, wonach 817000 ©ewohner auf 151000 Käufer
fommen. ©o erflärt fich auch bie, ißatis an Umfang übertreffenbe, gewaltige StuS*
beljnung ber ©tobt.
Sie lange ©ewegung in frifcher Suft hatte mir infofera wohlgethan, als ich
nach üierunbjWanjigftünbigem gaften wieber Suft jum Effen berfpürte. 3«h f“^te
mir in bem grogen, mit feierlicher Eleganj eingerichteten ©peifefaale beS Eon*
tinental einen noch unbefejjten 2if<h aus, an welchem geh jeboeh, wähtenb idh bie
©uppe ag, noch ein halb Sufcenb anberer ©äfte nieberliegen. 811s ber fdhwarje
ÄeHner bann bie Derfchiebenartiggen ©ericfite zugleich Dor mir auf ben Sifch ftellte,
wie baS in Slmerifa üblich ift, fühlte ich bie Unmöglichfeit, auch nur einen Sljeil
baDon ju bewältigen, ohne burdf} ein gutes ©las ©Sein nacfijuhelfen. 3<h bat
alfo um bie SBeinfarte. Ser Steger fah mich mit einem ©uSbrucf grinfenber ©er*
legenheit an, als ob er mich nicht recht berftanben hätte. Unb als ich mein Se*
gehren mit langfamer Seutlichfeit wieberholte, wechfelte er fopffchüttelnb bebeutungS*
Dolle ©liefe mit ben anbern ©äften, bereu Erftaunen nicht minber grog ju fein
fchien als baS feine. Er fchien ein Neuling ju fein, ba er nicht eher über bie
©a<he inS Steine fam, als bis er fich an ben DberfeUner (Head-waiter) gewanbt
hatte, ber ihm eine golbberänberte Äarte mitgab, welche bie Sluffdjrift „Wine Li*t"
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(Ein Ausflug nach IDafhington.
537
trug unb befonberS eine reiche StuSWaljl bon Ehampagner enthielt, toä^renb bie
übrigen SBeine nur ftiefmüttertich barauf bebaut waren. SBenn nämlich ein
Stmerilaner überhaupt ben SJiuth !jat, in einem £otet SBein ju beftetlen, fo Der»
fteht er barunter gewöhnlich Ehampagner. 3<b aber wollte {Rotwein trinfen unb
befteQte mir eine halbe gtaf^e ißonte&Eanet unb, ba biefe nicht ju haben War,
eine ganje. Es war bie einjige 2ftaf<^e SBein, bie idj im ganjen ©aale bemerlte.
SKeine lifchgenoffen, mit StuSnahme eines einzigen, ber ein ®taS SDlitch tranl ju
einer Stuftemfuppe, beren $auptbeftanbtheit ebenfalls SETiitc^ bitbete, tranlen blos
SiSWaffer, mit einer ©eberbe, als ob fte bftdjten: „Seht, Wir SBitben ftnb bodj
beffere aJtenfdjen!"
ES würbe lein SBort jwifchen uns gewedelt, fonft Würbe ich ihnen erltärt
haben, baß unb warum es bei uns ebenfo auffiele, wenn ein $otelgaft bei Xifdj
leinen SBein befteQte, als es in Stmerila auffäHt, wenn er SBein beftellt.
®er SBein, ben ich beftellt batte, wollte mit nicht recht munben; ich tranl nur
wenig batwn unb überließ ben Steft bem Sieger, was mich f e b r in feiner Sichtung hob.
®ie StuSfidjt, eine anbere ähnliche Stadst im Eontinentat jujubringen, Wie bie
erfte gewefen, hatte für mich wenig SSertodenbeS. 3<h betrat beShatb mein gimmer
nur wieber, um meinen Koffer ju pacfen unb mit bem nächften guge abjureifen.
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!Drr |IanisIamtsmu3 im ßampft gegen (Europa.
®on
KJerntattit ©aotberg.
n.
SBir ^abett bisher bie Urfadjen ber paniSlamitifchen Bewegung erörtert. SBa$
bie etwaigen folgen biefer Srfdjeinung betrifft, fo ift bie Srage, ob es ber oer«
einten istamitifdjen ©rüberfdiaft getingen Wirb, bem Slnftürmen bes StbenblanbeS
erfolgreich SBiberftanb ju teiften, unb ob bie ©d)idfate ber moSlimifchen SBelt
Ijierburd} einer ©efferung entgegengeben, nic^t fo leicht ju beantworten unb er<
heifdjt {ebenfalls eine eingeljenbe ©rüfung ber Sachlage unb ein genaues Krwägen
ber potitifdjen fowot als ber focialen guftänbe. 3« biefent gwed ntüffen wir
toor attem bie noch immer hödjf* oerworrenen unb wiberfprudjSöoHen ftatiftifchen
Eingaben beS ©efammtislam prüfen, um bie quantitatiben ©ertjüttniffe ber in
Stage ftehenben Korporation genau ju tennen. ©tohammebaner fetbft fprec^en in
ber SWeugeit mit ©ortiebe bon 300 ©tiU. ©edjtgtäubigen, bon Welchen beinahe bie
$ätfte auf Slfien unb Kuropa, bie anbere fjälfte hingegen auf Slfrifa falten foIL
@S ift bieS eine aÜerbingS hödjft unfichere unb unrichtige ©erechnung, Wetter
gegenüber bie europäifdje Annahme bon 200 ©tili. ©tostimen biet begrünbeter
ift, ba ein bebeutenber Ktjeit biefer Bahlen, als auf fotche Sänber fattenb, wo
unter bem ©djufce einer gewiffen ftaattidhen Orbnung ftatiflifche Eingaben an 3 Us
bertäfjtgfeit gewinnen, fich leichter nachweifen lögt. SSenn wir nämlich bei Gf|ina
ben Slnfang machen, fo werben Wir finben, bafj biefeS grofje ©eich, ber bi8h er *fl en
Annahme entgegen, nicht 10 ober 15, fonbem 20 ©tili. ©tohammebaner jäljlt.
@o wenigftenö berichtet $abrt) be Ujierfant in feinem „Le Mahometisme
en Chine", unb biefe Stngabe hot bieteS für fidj; benn ber gelehrte Stutor tennt
Sanb unb Seute in Khina aus langjähriger perfönticher SInfchauung. 3m nächften
großen ©eiche, nämlich in ©ufitanb, jähtt man 12 ©litt, ©tohammebaner. 3 m
inbifchen Äaiferreidie gibt es beren 40 ©tili.; mataiifche ©tohammebaner foH e$
auch 30 ©litt, geben. $ierju fomrnt ©tittelafien, b. h- Slfghaniftan mit ben noch
halb unabhängigen Senaten mit tjöchftenS 7 ©tili., ©erfien mit 5 ©tili., bie
Slrabifche $al6infet, nämlich Semen, Dman, ©ebfchb unb ^ebfcfjaS, mit 12 ©tifl-
unb fdjtiefjtich baS Ottomanifche ffaiferreidj mit 22 ©tili., was bemnadj bie @e<
fammtfumme bon 148—150 ©litt, auf Slfien fattenben ©tohammebanem ergeben
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Der Panislamismus im Kampfe gegen (Europa.
539
tuürbe. DiefeS »äre eine jiemlich juberfäfftge 3ahlenangabe, ju Welcher man
noch ebentueß bie ERoSlimen bon Aegppten, DuniS, Algier unb ERarotfo in bet
©tärte non 50 ERifl.' hinjurecfjnen lönnte, toonadj bie bon Europäern angenommene
Ba^I auch fcfjon beShalb ber SSaljrljeit näher fäme, »eil unfere {Rachrichten bon
ber aßerbingS ftar! juneljmenben ^Slamifirung beS äquatorialen unb fitblichen
Afrita nicht fehr jubertäffig finb. 8 ejüglidj beS @etten»efen$ feiten ficfj bie
SRohanttnebanet betanntlich in Sunniten, ©dfüten, EBafjabiten unb Abbabiten;
bocij fällt ber übertniegenb größere 2ljeit, naheju btei SBiertel beS ©efammttörperS,
auf bie ©unniten, bie ficfj tool in Anhänger berfcfjiebener ©djulen feilen, als
^»anefiten, ©dfjafiiten, ERaletiten unb |>ambeliten, o!jne jebod^ boneinanber burch
feinbliche ©efüfjle getrennt ju fein, »aS bon bem gegenfettigen fBerfjältnijj ber
einzelnen ©eften jebod) nicht gefagt »erben tarnt, ba bie ßluft, »eiche j. 8 .
Schiiten bon ©unniten trennt, toeit tiefer unb breiter ift als bie, burch welche
3 . 8 . ffatfjolifen bon {ßroteftanten gerieben finb. AngefidjtS berartiger Setten»
berljältniffe ift es immerhin bie beträchtliche Saht bon naljeju 180 2Riß. ERoharn*
mebanem, »eiche als ein gefcfjloffeneS ©anjeS angefehen »erben müffen unb bei
Erörterung unferet grage in 8 etra<ht tommen. SSBir »ollen nnn biefem ©ros
beS SRoSlimentljumS unfern 8 lid jn»enben unb unterfuchen, »ie »eit eS in ber
Seit bon mehr als taufenb gafjren gelungen ift, traft beS alten nibeHitenben
EinfluffeS beS gslam, biefe berfdfjiebenen Elemente in einen Körper ju bereinen,
unb ob bei einer et»aigen genteinfamen 8 e»egung bie golgett biefer 8 ermengung
jur ©eltung tommen »ürben. 8 ei einer fo auSneljmenb grofjen geographifdjen Aus»
behnung, bon ERarotto bis jur Dftgren^e EhinaS, bom Eap ber ©Uten Hoffnung
bis ju ben nörblidfjen Ausläufern beS ©aianifchen ©ebirgeS in ©übfibirien, ift eS
aHerbingS teine leichte ©ache, bie einzelnen SRomente ber Annäherung, gefdh»eige
benn ber ÄrpftaBifation herauSjufinben. ©eWaltige 8 erfchiebenheit beS SftimaS
unb beS 8 obenS, grofje Abftänbe in p>E)gfifc£)en Eigenfchaften unb focialen
ftänben ftehen einem fotdjen 8 erfudhe im EBege, unb »aS »ir auch immer h«*
borheben tönnen, baS »irb fich ^öc^ftcn^ auf einige fch»ache 3 üge ber ©emein»
famteit erftrecten, 308^, bie ber $oranfafc: „Afle {Rechtgläubigen finb 8 rüber",
ju fchaffen bermocht hot, bie aber noch lange nicht baS 8 ilb einer engoerbunbeneit
8 rüberfchaft barfteßen. SBenn »ir uns 3 . 8 . nach ben chineflfdfjen SRoljammeba»
nern umfehen, fo »erben »ir finben, bafj biefeS ©emifdj bon chinefifchem, tür*
tifdfjem unb arabifchem 8 lut »ol in bieler Sejiehung bon ben bubbljiftifchen
Äinbern beS $immtifchen {Reiches fich unterfdjeibet. Der {Rechtgläubige in Eljina
thut fich <*lö Kaufmann ober $anb»erter burch {Rebtidjteit unb gleijj befonberS
herbor, ift gutmüthig unb mitbtljätig, befolgt ftreng bie ©afcungen feines ©laubenS,
ftrebt aber immer in äufjem 3 e idjen, wie in Äleibung, Sitten unb ©ebräudhen,
feinen anberSgläubigen SanbSleuten fich anjufchmiegen unb »iß mit einem ES orte
bie burch SReligionSberfchiebenljeit h^borgerufenen ERomente beS Separatismus
möglichft berringern. Diefe Anhänger beS gslam finb baher bei ben {Racfjfolgern
Eonfutfe’S ziemlich gut angefdfjrieben, »erben aber anbererfeits nur burch fei»
lodere 8 anbe an bie übrige 3Slam»elt getettet. ERetta unb ERebina ftehen in
hohem Anfehen bei ihnen, bocE) baS ©ebot ber Pilgerfahrt »irb fehr laj genom»
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5*0
Unfere <5eit.
men; menigften« gehören bie djinefifchen ^abfdji« in ben Zeitigen ©täbten ju ben
großen Seltenheiten. ©on ©tambut, bon ber ©erfon unb äRacht bei Rfjatifen
haben fie nuv bermorrene ©«griffe; fte ftnb unb bleiben bor allem bejöpfte ©firger
be« ftimmlifchen Seines unb mürben, bei einem etmaigen Stufrufe jur ©efcf)üfcung
be« gemeinsamen ©tauben«, ihren pani«tamitifchen Geifer hüthftenS burc(j unbe*
beutenbe ©etbfpenben bejeigen unb am Sfchifjob ({ReIigion«tampf) ft<h nur bann
beseitigen, menn fie bon ber chinefifchen Stutorität baju gejmungen mürben, mie
mir bie« in ben Rümpfen bon Ranfu unb gunnan bor 20 fahren fahen.
Sa« nädffte ©tieb ber mo«timifchen ©efettfdfjaft, nämlich bie SRalaten, fteht
ber gemeinfamen gntereffenfpfjäre be« g«tam fchon etroa« näher; biefe im 13.
unb 14. gatjrhunbert bon Snbien au« belehrten ©emohner ber inbifchen gnfeln,
af« fanfteS, tenlfame« unb friebtidjeä ©otl belannt, hoben fi(h ftet« burch SRangel
an ftttticher unb inteHectueHer Energie herborgetfjan; fie maren immer ergebene
Unterthanen ber jeitmeitigen $errfdher unb ihr eigentlicher {Retigion«eifer batirt
nur bon ber ÜReujeit her, in metcher fie mit Europa in nähere ©erührung
gefommen maren unb burch bie brohenbe Uebermadht unferer abenbtänbifihen
©itbung in ihrem ©tauben fich gefährbet fahen. Se« ganati«mu« lönnen fte
mot fchmertich gesehen merben, benn bie SRalaien ftnb ein leichtlebige« ©oll;
bodfj ihr @tauben«intereffe mächft bon lag ju Sag, bie gafft ihrer ©ilget nach
SRella mirb gemöhnlidfj auf 16—20000 beranfcfflagt; fte hoben burch reiche So*
tationen in ben heiligen ©täbten fich hetborgethan, hoben jeboch bon ihrer Sichtung
für bie Stutorität be« am ©otbenen $ora mohnenben Rhalifen leine befonbern
groben gegeben, inbem ihre Stnffängticffleit fi<h borberhanb nur gegenüber ber
$eitigleit ber ©clferif« in ÜRella unb be« Slrabertfjum« im allgemeinen belunbete.
SRit bem SRetigionSgcifte ber 40 3Rifl. ^inbuftan« ift es fchon mefenttich anber«
beftettt. Sie 2Ro«timen be« großen inbifchen Raiferreich« hoben fich öon i e h er
burdff eine brennenbe Siebe für ben ©tauben be« arabifdfen ©ropffeten herborgethan.
Sie Seibenfchaft ift hier burch bie überzähligen ©egner ber ©i«nuanbeter genährt
morben unb hot ba« Sitb einer ^eiligen §ermanbab angenommen. 3m mefent«
liehen am* abenteuerluftigen Rriegern beftehenb unb im Saufe ber $eit burch bie
aus ben {Reihen ber unterften Raften gemonnenen Elemente bermehrt, hoben
bie {Rechtgtäubigen §inbuftan3 immer in Stoffen gegen bie Stnber«gtäubigen ge*
ftanben; fie mußten immer bie fpanb am ©chmerte hoben, unb bie gtänjenben
Erfolge, bie fie gegen bie unlriegerifchen Slnhänger be« alten inbifchen ©tauben«
errungen, hoben ihre Rüffnffeit ftets nur angefacf)t. Srofc chriftticher |>errfchaft,
trofc angtilanifcher {fRiffionäberfudffe breiten fie fich fetbft heute noch in ©engaten
unb anberSmo au«. Ser g«tam ift fich baher bort feiner ihm innemohnenben
Rraft bottauf bemufjt; er lennt fich ote gactor im potitifchen Seben ber großen
gnbifdfen #atbinfel, er hot noch ©tane auf bie gulunft unb ift ab? fotcher fchon
tängft mit bem rechtmäßigen ©tettbertreter SRohammeb’«, b. h- mit bem ©uttan
ber Sürlei, in ©erbinbung getreten. Sa« $inbiler Sellieft (Rtofter ber gnbier)
ift eine alte ©tiftuug in Ronftantinopet; bie ffotbnadten, nur mit Sigerfett be*
Heibeten mitb au«fehenben hinbuftanifeffen Sermifche burdfjielfen fchon feit gafft*
hunberten alte ©egenben be« Dttomanifcffen Raiferreich«; fie merben bon ben
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_ Per Panislamismus im Kampfe gegen (Europa. _ 5 %{
DSntauen aller Nationalität geehrt unb befdjenft, unb bie Sanbe, toeld^e bie Ufer*
gegenben beS ©angeS unb beS SabuS an ben Gentralpunft ber moSlimifdjen
SHa^t fniipfen, finb Weber neuern Datums noch fo bebeutungSloS, wie in ©uropa
bisher angenommen wirb. ©röfjer nodj als bie Sal)l ber Derwifdje ift bie gabt
ber inbißhen Pilger in ben heiligen Stabten beS SSlam, unb weil fo öiele ber
ehemaligen inbifc^en dürften mit bem Ditel beS Selb, b. h- Slbfömmling SRoharn*
meb’S, ßch ju fdjwüden liebten, fo ift eS leidfjt erffärlic^, baß ein großer Dljeit
beS ©infommenS ber frommen Saulenjer in ben ^eiligen Stäbten aus bem ©edel
ber inbifcßen ©roßen unb Neiden bon jeher gefloffen war unb no<h h eute fließt.
«IS man oor einigen fahren, behufs Anlegung eines Kanals in SKebina, an bie
©laubenSbrfiber um Spenben ß<h wenbete, ba war eS ein inbif«her Saufman allein,
ber bie bebeutenbe Summe ^tersu hergab. Slbfömmlinge inbif(her ^errßherhäufet
lieben es noch heute, als SRubßhaoir (Stnwohner) ihre testen Dage in SReHa ober
in SRebina ju oerleben; ja man fönnte beinahe fagen, baß bie Rechtgläubigen
^inbuftanS für bie gemeinfame Sache beS 3Slam ben meiften ©ifer mitbringen
unb baß fie bemjufolge in ben Sufunftsplanen biefer Srüberßhaft eine große
Rotte ju fpielen berufen finb, wie wir noch weiter unten auSftthren werben. @S
ift baher, mit $inblid auf biefe Sympathien, für ben S^Iarn unb für bie Perfon
beS Äljatifen nicht £U berwunbern, baß Sultan 9lbb=ul*£>antib biefeS Sert)ältniß
ju fräftigen beftrebt ift, baß bie Pforte ju biefem Swede ein in Urbufpradjc in
Äonftantinopet erfcßeinenbeS Statt RamenS „Peiki Islam" („SRoStimißher Sote")
fuboentionirt unb baß, wie wir hören, biefeS Slatt fchon ^eute in mehrern
taufenb ©jemptaren ju ben Rechtgläubigen am ©angeS unb am SnbuS gelangt.
Die SHufelmanen ©entralaßenS flehen bezüglich beS Religionsfanatismus ben
§inbuftanen nicht nur nicht nach, fonbern übertreffen biefelben noch hierin; boch
bie 3bee ber Sntereffengemeinfchaft hat bei ihnen noch nicht tiefe SBurjet gefaßt:
erftenS haben fie bis in bie Reujeit Oon ber brohenben ©efahr feine Slljnung ge*
habt; zweitens waren ße burch geographifche Serljättniße, unb burch gefettfchafttiche
©igenthümtidjfeiten oon ben übrigen Srfibern oiel $u fehr getrennt, als baß fie
berartige ©ebanlen hätten befdjäftigen fönnen. SiS oor einigen Sahrjehnten noch
hatte man in Sodjara, Sh°*anb unb im fernen Dftturleftan bie politifcße unb
moralifche ©reiße beS 3^am fich in jenem Silbe oorgeftettt, welches biefe ©taubenS*
weit jur Seit ber Sljalifen jeigte. Den einjelnen £>errf ehern war an bem oom
Sultan*i*Rum oerabfotgten Snoeftiturferman gerabe fo oiel gelegen als jur Seit
ber ©lanjperiobe ber ®h a t*fen in Sagbab; ein weiter SBeg hatte ße oon erftern
getrennt, unb bie einjelnen Senblinge, bie oon ben ©eftaben beS OpS unb QaprteS
nach bem SoSporuS wanberten, waren in weltlichen Dingen Oiel ju unerfahren,
als baß ße bie arge gäulniß hätten entbeden fönnen, welche infolge abenblänbifdjer
Suprematie unter bet trügerißh glanjbotten #ülle beS ottomanißhen Staaten*
förperS entftanben war. ©ine Pilgerfahrt aus jenen fernen Regionen hat oon
jeher ju ben fühnften Unternehmungen gehört, unb in ber Dtjat ßnb beinahe jwei
Drittel ber frommen SGBanberer bem Älima unb ben Strapazen ber langen Reife
erlegen. Der Sultan felbß ftanb unb fteht noch heute iw häuften Rnfehen; ein
mit ©olbftreufanb überfchütteter german ber Rolfen Pforte, noch wehr aber ein
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5*2
Unfere £tit.
gefpenbetel $oar all bem benneinten Satte HRohammeb’l, würbe ftetl in frommen
ißroceffionen in ben Stäbten Gentratafienl umhergetragen, unb Ij&tte jemanb bie
^Behauptung gewagt, bafj bie SDiacht beS Kalifen bunt) bie Ungläubigen gefätjrbet
fei, er märe nicht feinet Sebenl fieser gemefen. $eute, nachbent bie Sepen*
bengen bei Ottomanifchen Kaiferftaatel Stüd für Stüd abbrödetn unb nadjbem
Gentratafien fetbft unter bie $errfchaft ber Suffen gerätsen, benfeit biefe Seute
mol anberl; bal ©efüf)t ber gemeinfamen ©efahr regt ftdj in ihrem öufen, bodj
an einen Aulbruch, b. fj. an eine tljättiche ©egenmehr ift borbertjanb auch
fdjon belhatb nicht gu benfen, meit bie centratafiatifdfjen SRoltimen burd) jaljr*
fjunbertelange Kriege unb burdfj bie Sprannei ber eintjeimif$en dürften arg ger=
Hüftet ftnb unb meit fie, mie mir biel in ber Seugcit gef elfen, bem Gröberer
gu ihrer Unterjochung gegenfeitig hütfreidje $anb bieten.
3Jiit ben bem Suffixen Seiche fdjon einoerteibten SSoltimen ift el einiger*
mafjen beffer beftellt. Sie emfigen, redjtfdiaffenen unb geiftig begabten Ginwoljner
Saganl, ber Krim unb anberer Orte ^aben rnerfmürbigermeife trofe einer mehr
benn breitjunbertjährigen rufftfdjen $errfd^aft bie ftetl geheimgeljattene Spot»
patljie für bie übrigen ©laubenlgenoffen, namentlich für bie türfift^en Srfiber
im Ottomanifchen Kaiferreicije nicht im minbeften eingebüfjt Srofcbem biete ben
beffern Stänben Angehörige ruffifch [preßen unb fchreiben, trophein fie in meiten
©efdjäftlreifen jahrelang unter grie<hifcfj=orthobo£en Sujfen fi<h aufhatten unb
tropbem bie rufftfeije Regierung ihr SKögtichftel thut, um eine Affimitirung biefer
fremben Gtemente Ijerfieiguffihren, Hämmern biefe Seute fich in Sitten unb ©e=
bräuchen, im §aulWefen unb in ber Schute mit munberbarer Sätjigfeit unb gro*
fjem Stoicilmul an ihre attherfömmtiche SBettanfdjauung unb an ben aul bem
Sitarn ftiefjenben Sitbunglgeift. Sie gerfatten bem eigentlichen SBefen nach in
Anfäfftge unb in Sontaben; teptern fann bie ®taubenlinnigfeit unb nament*
lieh bal Semufjtfein bon einer Sufammengehörigfeit bei gangen Sötamilmul mot
weniger gugemuthet werben, Kirgifen, ®afd)firen, Sogajer u. f. w. befinben fich
auf ber niebrigften Sitbunglftufe unter ben Sechtgtäubigen Aftenl; hoch ift geiftiger
ftortfdjritt bei ihnen nur unter ber Aegibe einel geträftigten Sitarn mögtidj, unb
in bem SBettfantpfe, welcher gmifchen ber Kirche bei herrfchenben Sufjlanb unb
gmifchen ben SSottal ber unterjochten Sataren um biefe Somaben fich entfponnen
hat, ift ber Sieg gumeift ben 2Jtoßal gugefatten. So tief gehen bie SBogen ber
moltimifchen Seligionlbegeifterung bei ben moltimifchen Unterthanen bei Sufftfchen
Seidjel, bafj biete Xaufenbe, bie atte $eimat, $?nul unb £>eerb bertaffenb', trop
alter Unficherheit ber politifcpen Suftänbe im Ottomanifchen Seiche, bennoch bahin
aulgemanbert ftnb, unb bie Krim, welche gegen Gnbe bei bergangenen S a ^v^unbertS
180000 mohammebanifche ©inwoljner gä^tte, heute nur beren 80000 aufmeift.
Siefe Auimanberungltuft nimmt natürlich ab im Sertjättnifj gu bem immer mehr
fidjtbaren öerfalt ber ^errfchaft bei Suttanl. Ser mohamntebanifdje Unterthan
bei .garen ergibt fich feinem Sdjidfat mit jenem btinben gatatilmul, ber feinen
Stammelgenoffen eigen ift; boch feine Segeifterung für bie Sehre äKotjammeb’l
geigt nicht bie geringfte Grfchtaffung, fie nimmt bietmehr an innerer Kräftigung gu,
unb meit ein ttjätig rafttofel Streben biefe Seute, bie feine 130 Feiertage im 3 a h w /
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Der Panislamismus im Kampfe gegen «Europa.
5^3
feine Schnapgftafche dor ben Augen unb leine ©open ju güljrern haben, auch
in materieller ©ejiehung günftig geftetlt h®t, fann unb batf iljre ©ebeutung bei
ben julünftigen ®efd)ic!en ber Stammelt leinegfallg ignorirt tu erben.
SBenn mir nun unfere Stunbfchau auf bie tnoljaimnebanifdje ©ebötlerung ber
Xürfet, folglich auf bie Unterthanen ber Kalifen felbft augbehnen, fo mirb eg
aßerbingg fiberfläffig fein, tytt befonberg ^erborju^eben, bag bie eigentlichen
lürlen unb fo auch Würben, Safen u. f. tu., bie feit Satjrhunberten fdjon jur (Sr*
hattung beg mit ®ut unb ©lut beifteuern, noch immer eine bebeutenbe
Äraft repräfentiren unb mie in ben uergangenen Sahrhunberten, fo auch noch in
ber 3utunft in bent etmaigen Kampfe bie leitenbe Stolle nicht aug ben ^tänben
geben merben. ®en dürfen aller gonen fennjeicfjnet ein tiefeg Steligionggefttljt,
eine unerfdjütterliche Anljängtichleit an fein $errfcherhaug unb namentlich jene
friegerifdje Xugenb, bie er aug bent Ämtern Stfieng mitgebracht h®t unb bereu
Steprüfentant er ju allen Seiten gemefen ift. ©on ben Arabern lägt fich mol nicht
baffelbe behaupten; fte finb bem Sultan meber alg meltlichem $errfcher noch alg
geiftigem Oberhaupte jugethan, fie haben öielmehr ihre Antipathie gegen bag
Sftrfenthum nie berljeimlicht; hoch mürbe man fehr irregehen, mollte man ihre
Seceffionggelfifte unb ihre nationale (Eigenliebe mit fotdjen ©eftrebungen in ßu=
fammenhang bringen, beren folgen für bag ©emeintuohl ber mohammebanifchen
SBett uon Stachtheil f e * n Bunten. ©on biefem ©erljältniffe mirb noch meiter
unten augführlidjer bie Siebe fein; t)ie* moüen mir nur ermähnen, bag bie un=
gefähr 12 SOtitl. Araber trofc ber Seftenberfcf)iebenheit unb ber SBaljabiten, Abba*
biten unb Sunniten jur Stunbe ber ©efaljr tueniger auf ihre 3miftig!eiten alg
auf bie ©ertljeibigung gegen ben gemeinfamen geinb bebacht fein merben.
®ie Stammelt im Storben Afritag, melche eben in ber neueften 3«t bag
3ntereffe (Suropag ermecft hat, berbient um fo mehr unfere bolle ©eachtung, meil
biefe meift gegen SEBeften borgerücften Xfytxlt ber mohammebanifchen SBelt bigher
bon ung menig gelaunt, baher auch jumeift uerfannt morben finb. Unb bennoch
bilbet ber 3gtam in Afrila eine SSJett für fid} allein, eine ©laubengmelt, bie bon
ber Afieng in bieten fünften abmeicht, bon ber eg aber äuget allem groeifet fteht,
bag im bunfetn SBelttheite ihrer eine groge 3nfunft harrt, eine 3ufunft, an ber
fo manche ©lane europäifchen (Ehrgeizes fch e 'tern merben. @g ift eine merftoürbtge
(Srfdjeinung, mie ber fchmäruterifche ©eift, metcher ben erften arabifchen (Eroberern
hier jum Siege berhalf, nach bieten Sahrhunberten noch i» ftiDer, aber unge*
fchmächter ®lut fortlebt; benn arabifdje fireujraffen ftnb eg, bie unter ben Sammet»
namen bon ©ebebt, Stauten, ©erbem u. f. m. auf bie grogen Staffen ben alten,
belebenben (Einflug augüben unb ing innere biefeg SBetttheilg, big rneit über ben
Aequator hinaug, fortpftanjen. ©on ben Arabern ift biefer ©eift auf bag ®rog
beg ©erberthumg übergegangen, bon biefem mieber auf bie fdjmarje ©ebötlerung
bet fübtich gelegenen Staaten, unb roenngleich bie ftreng puritanifche Üenbenj ber
Schule bet Statefiten nicht überall benterflich ift, unb big heute nur am Storb*
raube Afrifag ftd» in ihrer Urfrifdje erhalten hat, fo bürfen boch einjetne $erbe
beg Oanatigmug, beren fengenbe ©tut bie granjofen bor allem empfunben haben,
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Unfere
5^
nidjt überfein »erben. Die DrbeitSjünger beS ©cheichS ©nuffi unb bie Stoß»
fahret gum ^eiligen ©rabe non Äairuan lönnen, WaS blinben ganatiSmuS anbe*
langt, ben ©erehrern ©alja*©b<Din’S ober bet ©rüberfchaft bet ©ettafdjis unb
ben ftnflern ©enoffen oon Ißatna füljn gur ©eite gefteßt »erben. Äfrila ift Don
ben ©trauten ber abenblänbifdjen ©Übung, non bem ©influffe ber djriftlidjen
Eilacht unb Ueberlegenljeit »eniger berührt Worben als bie entfernteren Zweite
beS aftatifc^en Kontinents; boefj bie Stee^tgtäubigew biefeS SBeltttjeilS »erben bem
©hrgeige ber Gijriftenmelt »o( nodfj Diel gu fdljaffen machen.
gaffen »ir bie flüchtig entworfene ©figgt oon bem heutigen $uftanbe ber
gefammten 3Stam»elt näher ins Äuge, fo »irb fidj auS berfelben ergeben, baj»
ber einzige gug ber ©emeinfamfeit fi<h ^öc^ftenS auf jenes, früher fdjon ange»
beutete ©efüljt ber 3ufammengeljürigteit erfhredt, welches bem ©a|e: „Äße 8tedjt=
gläubigen finb ©rüber 4 ', entfprungen ift, ein ©efüljt, baS tljeoretifdj »ol tief ins
Seben beS 3*1®» gebrungen, aber in prattifcher ©egiehung bis ^eute fidj noch
nicht bewährt h«t, audj stiebt bewähren lonnte. SBenn »ir eine fßitgerfchar aus
ben oerfdfjiebenften Sünbern ber ffirbe, es fei bieS in Dfrfjebba ober in 3®»&u,
in ERetfa ober in DamaScuS, am ©rabe EJtoljammeb’S ober mit bem »ilben Stufe
„Lebeik!" am Arafat oor uns feljen, fo »irb baS äufjerlidje ©ilb ber 3nnigleit,
Weites biefe SDlenfchen oerfdjjiebener garbe, Äbfunft unb ©pradje geigen, »ol
©inbrud auf uuS machen; aber fo »ie bie ©erfchiebenljeit ber ©pradjotgane beim
SRecitiren ber oorljerrfchenb gutturalen Saute ber arabifdjen ©ebete auffällt, ebenfo
müffen gewiffe, oon etljnifchen ©igenthümlidjleiten fierrfiljtenbe SKomeute uns bie
Uebergeugung aufbrängen, bafj biefe oerfdjiebenartigen ffilemente burdfj baS mäßige
SBort beS ©laubenS noch nit^t geeinigt finb, nodj lange nicht jene gorm ber ßrp=
ftaflifation angenommen ^aben, welche unter ben obwaltenben ©erhättniffen, b. tj.
bei ber ©ertljeibigung gegen bie Äggteffion beS dfjriftlichen ÄbenbtanbeS, mafjgebenb
fein fönnte. 3®» bie SRedjtgläubigen finb ©rüber, bod(j nur in Äßah unb in ben
Propheten, nicht in focialer, noch »eniger in Politiker ©egiehung. ©orberhanb fann
nur bie ©jifteng einer geheimen ©intratet regiftrirt »erben, aber noch lein Stilen
eines tljatfräftigen Auftretens in ber etwaigen ©hntbe ber ©efahr. Bur #et*
fteßung einer feften unb foliben Union fehlt es bem 3*1®» bor allem an jener
©oljäfionSlraft, wetten nur ein gewiffer ©rab oon ©ilbung gu oerfchaffen oermag,
an einem gütjrer, an beffen gebeihlidje* SSirfen bei ber heutigen ©teßung beS
ÄbenbtanbeS gar nicht gu benfen ift, unb namentlich fehlt es ihm an jenem ©e>
ttujjtfein ber großen brohenben ®efaljr, »eldheS alle ©tänbe unb ©(hinten, äße
Sänber unb 3®nen in gleichem ÜDlajje burchbringen müjjte, um bie trägen Raufen
gnr energifdjtn ©egenwehr aufguweden unb 'gu ben SSaffen gu rufen. DiefeS
©ewufjtfein, man möge fagen »aS man »iß, h®t ben großen Körper beS 3*1®»
bis heute noch nicht gänglich erfaßt, ©in ©otgefühl, eine finftere Ahnung burdj*
gudt »ol feine entfernteren ©lieber; man lispelt unb raunt fidh gar »nnbetbare
Dinge oon ber immer größere Dimenfionen annehmenben ERadjt ber Ungläubigen
im Abenblanbe in bie £>hren; man fpridß oon Draumbeutungen, Oon ber ÄuS»
legung labbaliftifdjer ©äfce unb oon ben ^topljegeiungen berühmter ^eiliger, bie
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_ Der pattislaniismus im Kampfe geg en <£uropd. 5^5
artf t»o^ Btoorftehertbt ©rfcßeinett bes gfnattt ÜDteßbi Anbeuten. SBir gehen fogar
weiter unb möchten in ben Sieben unb ©cßttften einzelner StöHaSi in ben
SDlbfcßeen rtflb Sintert SubienS; SJleftaS unb (SenfralaflertS unfeßlbore Symptome
btt ftßttfi begönnertet Stgitafiort entbetfett, einer Hgitation, oon ber baS eigentliche
©ttöpä nur ffßr wenig foeifj, bie ittbeß gunäcßfl all feßt fcßwacßer ©erfucß beS
artgejtreBteh ©nöetffärtbrtifleS gelten fann. Ob baffelbe nun angeflcßts bei
rafllofen, jo fibereifrigen ©iärtgeUS (SuropaS immer in biefem ©tabtum bleiben,
b. ß. Ob biefe oerbotgentn gäben ber ©intradft im Saufe ber Seit ittcßt bie gorm
eirteg fiftetn ©anbeS annehmen mögen, wäre feßr fcßwer oorauSgufagen. @inS
jebbcß ift ficket unb auSgtfttacßt, baß biefe gegenwärtig nur geheime unb feßwaeße
©twegung ffit bie betreffenben Staaten bes chrifltichen SlbertblanbeS unßeilfcßwangere
SBölleü geigt, nartcintlicß ben ©olitifern granlreicßS, ©nglartbS, SlnßlanbS unb
^ollartbS, bie gnfammen übet 80 3RiH. SSloßammebttner beflßen, genug Stoff gnm
Siacßbenfen geben föitnte. @S ifl ßier nicht bet Ort, bon bet Statur unb Se=
fcßdffenßeit ber ©efaßt für bie betreffenben Sfinber ausführlich gu reben, unb nur
in ber gönn einet fluchtigen ©emerfung fei gefagt, baß ©ngtanb g. S. fürwahr
eifte ftlbflmötberifcße ©olitit befolgt, wenn es, biefe Gefahr ignorirenb, in bie
bötbetfle Steiße bet Singreifer bes QSlam fleß brfingt. örtglanbS $errfcßaft in
^irtbuftan ift ber Ausfluß teiner Humanität unb ein wahrer ©egen für bie bortige
Stenfcßheit; biefeS wollen aber bie 40 Still. Stoßammebaner nicht anerfennen,
biefe 40 Still., bie an Snergie, ÄriegStücßtigfeit unb ganatiSmuS ben übrigen
STnberSgläubigen weit überlegen flnb unb bie, fchon ftar! in gfißlung mit bem
©enttum bet weltlichen Stacht beS SiStam, in fritifeßer ©tunbe SllbionS Sntereffen
feßr beeinträchtigen löttnen. Stoch meßr aber foDte ben granjofen bie geheime
(Störung int Sparte eine SBarnung fein. SSfißrenb ißrer fünfzigjährigen §errfcßaft
in Stotbafrifa ifl eS ißnen nicht im minbeften gelungen, bie ©ßmpatßien ber
37a Still, moßammebaitifcßer Untertßanen gu gewinnen unb noch weniger bei ben
benachbarten möSlirttifcßen Staaten fteß beliebt gu maeßen. ©on ber erwähnten
3aßl ber moßammebartifeßert Untertßanen firtb eS ßöcßftens 200000 Slraber, bie
bciS ©töS ber betbetifeßen ©ebölteturtg gegen bie fremben (Sinbringlinge reigen unb
anfläeßetn, oon Seit gu Seit aueß gur Steoolte bringen, unb falls bie bereingelten
gürtteh ber (Empörung Oön außen angefaeßt gu einer glamme auffcßlagen follten,
färth eS ben grangofen, bie bisher auf SllgierS ©oben leine (Erfolge ber Soloni«
fation aufguweifert ßaben, fcßlimm genug ergeßen. Slls ©flangfcßule beS Kriegs*
wefertS würbe {ebenfalls Sllgier oiel gu ßoeß gu fteßen tommen. ®ucß $oKanb
bfitfte ihit feinen (Erfahrungen Wäßrenb beS lebten Krieges gegen bie Sltfdjinefen
biefe ©atßlage nießt außer ben Slugen laffen. ®enn wer fleß jener Stimmung
erinnert, bie 1873 in ber tütfifeßen, arabifeßen unb ßinbuftanifeßen ©reffe mit
©egug auf bie geinbfeligfeiten gWifcßen bem ©ultan oon Sttfcßin unb ber ßoHän*
bifeßen Sfegierung ißren Slusbrucf gefunben, wer es weiß, baß fcßon bamals bie
SOtöSliuten ber erttfernteflert ©egenben für bie ©aeße Sumatras ein reges Sntereffe
geigten, bet witb fleß barfiber leine SHufiotten maeßen, baß troß aH ber eifernen
ftüaft, bie ßeute unter ben SOtoßarnmebanern auf ben malaiifcßen Snfeln bie Orb»
ttnffrt 8 fit. 1882. I. 35
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Uttfere
5^6
itung aufrecht erhält, bie Ruhe Weber grünblich Ijergeftellt nodj bet $ag gegen
bie grembljerrfdjaft au«gerottet fei.
SBa« Ruglanb anbelangt, fo hat e« aderbing« weniger ju fürsten aö bie
eben erwähnten Staaten; benn erften« ift ba« mo«timifche ©lement, mit Slu«nahtne
©cntralafien«, jtoifchen bie djrifttidjen dJtaffen gleidjfant eingefeilt; ei Ijat bie läge
feiner Selbftänbigfeit fdjon längft bergeffen unb belunbet feinen tiefen SBiberttriden
gegen bie djriftliche £errfchaft ^öc^ftenö nur babutdj, bag ti bem Steife be«
garen ben Rüden wenbet unb im Sanbe ber Rechtgläubigen fich nieberlägt.
©entralafien unb ba« benachbarte Steppengebiet, ba« jum minbeften 6 SRid.
SKotjammebaner jäljlt, fann mol in ber gnfunft för Ruglanb gefährlich merben;
bo<h in ber ©egenwart ift biefeS nicht ber gatt; benn eine ©rhebung gegen bie
fremben ©roherer ift nur benfbar, menn ben Dejbegen, Xabfdjifen u. f. m. bon
äugen her, b. tj- bon Rfgljaniftan, hierju eine hütfreidje |>anb gereicht merbe.
Stiles in adern genommen ift ei mit ber StuSficht auf bie gufunft unferer
europäifdjcn Staaten in ben bon ihnen unterjochten mo«timifchen Säubern nicht
fehr glänjenb beftedt. $ie bortigen ßuftänbc müffen geringere« Vertrauen, al«
am Anfänge biefe« galjrhunbert« ober fetbft noch bot jwei ober brei ®ecennien
crmecfen; benn menn bie erleichterte ©ominunication unb ber fid) ftet« betmehrenbe
©influg ber treffe fich al« mächtiger ^ebet unb nüfcliche SBaffe in ben £>änben
bei Slbenblanbe« bemährte, fo finb biefe SHittet unftreitig auch bem Dbject ber
enropäifchen Stggreffion jugute gefommen. Xiefe Sachlage fonnte nicht lange un»
bemerft bleiben unb ruft eben jefct auf bem gelbe be« gegenfeitigen ©erfeljr«
©rfcpeinungen herbor, bie ber ©eadjtung jjebeS benfenben äJtenfdjen bodauf miirbig
finb. SRan beginnt nämlich allmählich jur ©infidjt $u gelangen, bag ber fiir
tobt gehaltene Körper ber nto«limifchen SBelt, bem man früher nach ©elieben ein
©lieb nach bem anbcrn amputirte, hoch nicht fo ganj tobt fei, mie man geglaubt.
Sötan hat bei ihm bebeutung«bode geicfjen ber inttent Regungen entbecft, unb man
berlegt fich nun baranf, bor adern jene« Ouedengebiet ju entbecfen, bon welchem
biefe eleftrifdje Strömung ihren Urfprung nimmt. ®a im ©efammti«lam ba«
Dttomanifche Stoiferreidj noch immer ben grögten gactor politifcher ©röge unb
SRacljt barftcdt unb ba ber Sultan in ber ®ljat ba« geiftige Oberhaupt ber Recht*
gläubigen ift, fo mid man in Äonftantinopel bie Urfprung«quede entbecft haben
unb jieht mit ungemohnter ^eftigfeit gegen bie Pforte, namentlich gegen ben Sultan
9tbb=ul=$amib, al« gegen ba« eigentliche fons et origo mali lo«. ®ie Singriffe
unferer europäifcfjen dRächte gegen bie lürfei finb aderbing« nicht neu; boch bie
Slnftage, bag ber Sultan ba« $aupt ber geheimen ©erfdjwörung be« 3«lam unb ber
Räbel«führer eine« oerborgenen ©omplot« geworben, wirb erft in ber jüngften geit er*
hoben, hierin namentlich th«t fich ba« repubtifanifche granfreich fjerbor, ba« jur ©e*
fämpfung btefer geheimen Slgitation in ©ari« ein arabifdje« ©latt, ben „Basir"
(„®er ©infichtöbode"), unb auch eine türfifche geitung gegrünbet hat, um bamit bie
geiftige dRacfit be« Äfjatifen ju brechen unb ben Sultan in ben Stugen ber Redjtgtäu*
bigen ju bi«crebitiren. Stuf biefem SBege gehen bie granjofen mit einer Raibetät bor,
bie in jcbcr ©ejiehung ihresgleichen fucht. ®ie Regierung an ber Seine lägt nämlich
burch ihren Stedbertreter am ©o«porn« bem Sultan barüber ©orftedmtgen machen.
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Der Panislamismus im Kampfe gegen (Europa.
5^7
Wie er eS geftatten !ann, bafj bie arabifdje 3«tung „El-Dschewaib" ben 3Kohamn|e=
bauern non Junis unb Sllgier über baS gemeinfame ©laubenSinterejfe Sluffchlufi
gebe unb ihnen ©efühle ber brüberlichen ©bmpatljie bejeige; ja ohne e$ auSju*
fpredfjen, Wünfcht man in ißaris, bafj bie moSlimifche ißreffe ©tambulS bie Häupter
ber norbafrifanifchen ©ewegung, als SIli<=©en»ffalifa, 2tbu*?Tmmama unb @i»@U’
leiman, roeit fie gegen bie ©roberungSpolitil ber Triften fich wehren, gerabeju
öerbantmen unb efcommuniciten möge. SBir glauben, bafj bieS aßerbingS ju Diel
Perlangt wäre öon ber Pforte unb 00 m ©uttan, gegen wetten bie granjofen feit
gahrjetinten in ©prien unter ber maronitifcljen ©eoötferung ganj fran! unb frei in«
triguiren, ber als Ufurpator fjingefteHt wirb unb gegen beffen ^errfd^aft man nicht
nur (S^riften, fonbetn Äurben, Jrufen unb SOtaroniten aufftachelt.
8tn biefer atterneueften Äampfweife unferer moberuen Äreujjügler haben fich
nebft ben granjofen, benen ber afrüanifdfje ©anb etwas ju ljei& unter ben güfjen
brennt, auch (Englänber beteiligt, namentlich (Englänber aus ber liberalen Schule
©tabftone'S, welche bie fogenannte ,,©acf= unb ^jßacfpolitif" beS efaltirten bri»
tifcljen ©taatSmanneS bamit fortfefcen wollen, bafj fie ben Jürlen nicht nur aus
(Europa ^erauSWerfen, fonbern öon ber Oberfläche ber (Erbe gänjlich Pertilgen
wollen, felbftPerftänblich nur ju bem 3werfe, um bann bei eingetretener $opf=
lofigleit in ben Sänbern ber ÜJtoSlimen befto beffer aufräumen unb sub titulo
SRuljeftiftung in majorem Dei gloriam fich bie Jafctjen beffer füllen ju fönnen.
SBir wieberljolen, es ift bieS nur bie liberale ©djule ffinglanbs, bie ein folch ebleS
unb humanes Slnfinnen im ©chitbe führt unb neueftenS ihre Slpoftel auch i« ben
©palten ber Perfdfjiebenen ^eitfe^riften Wirten lägt. (Eine folche Jirabe gegen baS
Jürfentljum brachte tefethin bie „Fortnightly Review" in ber gorm eines ziemlich
langathmigen (EffapS, bet burch fünf Stummem ging, aus ber geber eines erft Por
jwei gahren bon einer Steife nach Stebfchb heimgefehrten $erm, StamenS SBilfrib
©. ©lunt, ber in ©egleitung feiner grau, einer (Enfelin Sorb ©pron’S, bie ©e*
buinenftämme beS gmtero SlrabienS befucht hat. ®ie Steifeeinbrücfe biefeS jWei*
maligen ©efudfjS h°t jene Jame gefchilbert, währenb ber £>err ©emahl feine
politifch=religiöfen (Erfahrungen, fojufagen bie spolia opima feiner SBanberung in
ber par excellence liberalen Seitfchrift nieberlegt. Slnbere Jiraben ähnlicher Statur
finb in oerfdjiebenen periobifchen 3eitfc^riften unb JageSblättem granfreidfjS er=
fdhienen. ®ie ©erfaffer finb jumeift folche Seute, welche bie moSlimifchen Sänber
nur aus flüchtiger Stnfchauung fennen, in bie eigentliche Jiefe ber ©erhättniffe
nie eingebrungen waren unb bielleicht auch einjubringen fich nicht bemüht halten.
@S Wäre baher gerabeju ein ^citöertuft, baS in prophetifdhen SluSlaffungen unb
in wichtig fein woQenben ©emerfungen fich funbgebenbe Urtheil biefer Herren einer
Iritifchen Prüfung untergeben, gefchweige benn fie wiberlegen ju wollen. (ES
ift baher nur ber leitenbe Jon ihrer Slrgumente unb baS eigentliche (Enbjiel ihrer
literarifchen ©eftrebungen, baS oon uns nicht unbeachtet bleiben barf, weil ange=
fichtS ber fonft fpärlichen JiScuffion über biefen ©egenftanb bie öffentliche SDtei-
nung leicht irregeführt Werben lönnte. gm gelehrten (Europa gibt es wo! SDtänner
genug, Welche irrige Sluffaffungen mit 3uhülfenahme eines reichen Wiffenfchaftlichen
ÜJtaterialS als grunbfehterhaft b)infteHen fönnten; boch biefe haben nun einmal bie
35*
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5*8
Unfere <3eit.
©trooEnfcit angenommen, oon brr ftangel ber fpeculaitoe* Siffenföaft auf bei
©ebiet ber praftifcEen SltttagSfragen nicEt ^erabjufteigw. Ob fie bies mit Stetst
ober Unredjt tEun, motten mir |ier nidjt erörtern; bocE ei ift Itjatfa<$e, b«| bk
©taatSlenfer, jene meifen StatEfcEläge entbeErenb, in btr $otitit oft bie grdjjttn
«fehler begehen unb in fcctionen ficE ftürgen, beten Biet eben nur betfjalb oer*
feElt ift, meil man beim Stuigangibunft bie ftefuttate ber eingeljenbtn gorf^uug
auf bem betreffenben ©ebiete entbehrt Eat.
Sinen foldjen SrrtEum mitt man eben in gemiffen Ivetten ©uropaS ficE gu
©cEulben fommen taffen, inbem man, eljne bie fömermiegenbe* folgen gu bcbcnfen,
bem ©efammtiSlam ben Ärieg erftärt unb oorberEanb auf bie totate B^örung
ber mettlicEen unb geiftigen SRacEt ber ottomanif<Een $errfdj«ft als bei jefigen
Seiten bei SSlam finnt unb trautet, ttta^bem ber ©mltau nämltdE feine ©e«
ftfcungen in ©uropa ft^on beinahe gänglicE eingebüEt unb feine potitifcEe ©tethtng
auch in 8fien erföflttert, ba^er feine toeltlicEe SKacEt f^on beinahe ganglid} gu
©runbe gerietet ift, miß man in ben früher ermähnten Steifen borouf Einarbeiten,
baE er aud) feiner ©teßung ali ÄEalif, b. E- ffürft ber SRecEtgläubigen, Oerluftig
roerbe. Um biefes gu erteilen, merben t>or allem bie nationalen ©dEattenfeiteu
bei Zürfenttjumi als fotche ins Ireffen geführt, bie oon jeEer bem bitbnngSfäEigett
Sslam nur gnnt 9?adjtf)eite gereifte», bie iE* fteti in ben Xugcn ber VuEenvett
biScrebitirt Eätten, ja melcEe bie eigentlichen UrfacEen bei geiftigen 9tkbergangi
ber fpeciett arabif<E=moSltmif<Een ©ilbungimett gemefen feien. SJlan motioirt biefe
Stnftage mit ber befannten StebenSart, baE unter ben $ufen türfifdhe* ißferbe bie
©ilbung nie auffommen Wune, baE bie OSmanen fkh fteti ali 6roberer, ©tün*
berer, ©tutoergieEer unb nie als ©töbtegrünber E^norgetEan; man beutet auf
ihre Siteratur Ein/ bie nur aui SRadjaEiuHngen befiele unb leine Originalität
befunbe, ja man geht meiter unb mitt ben £>«E/ ber gmifdjen Süden unb Arabern
Eeute befteEt unb f<Eon oor SaErEunberte» beftanben, eben biefen ©^aäenfeiten
bcS SürlentEumS gufcEreiben. SRun fällt eS uni am attermenigften ein, ben
ttRoEren meiE maf<Een gu motten; benn bie Slnllagen, toelcEe gegen bai Süden*
tEum erEoben merben, finb tEeitmeife gerecht; nur gegen bie SKotioirung berfetben
muffen mir ©intoenbung madjen, inbem jene 9ladjtf)eüe unb ©d)äbeu nid»t fe
feEr oon ber nationalen 6igentEümlicE*eit bei SüdentEumS, ali oietmeE« oon
jener ©tettung ^erriif>rcn, melcEe biefei centralajtatifdje friegevifcEe Steiteroolf
feit feinem ©tfcEeinen auf bet ©ühne ber ©egebettEeiien in bem SBeften Slfieni
eingenommen E ot unb gemiffermaEen noch E® ut * einnimmt SaE bie Süden
nicEt abft<Etli(Ee äerftörer ber ©ilbung, nk^t gtunbfäElicEe ©egner ber get*
fügen ©emegung feien, bai Eot bie Sgnaftie ber @etbf<Eufiben in ©erfitn, ber
SEarejmiben ira innem Stiften nnb ber ©efeoiben im mobernen Scan bemkfen;
baE fie aber ali eminente ©fleger bei rauEen SriegiEanbmerli im attgenteinen
ben friebticEen ©efcEäftigungen, ber Sunft unb ber SBiffenfcEaft meniger oblagen
ali Slraber unb Werfer, bai mirb aus bem einfachen ©runbe erllästicE, baE fie
immer bie eigenttidEe SBeEr* unb @<EuEma<Et ber tefctern bitbeten unb fogufagen
im Sntereffe berfetben bai ©cEmert füErten. ©omeit ei uni oergßnnt ift, in bie
©ef<Ei<Ete ber SEoüf^ gurüdgubliden, merben mir überall feEen, baE bk miti*
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Der Panislamismus im Kampfe gegen (Europa. 5^9
tärifdfje ©efäljigung beS arabifchen (Siemens nur im Kaufte ber erften ©egeifterung
fiir bie Sehre beS ©topfiten ^öc^ftenö in ben erften zwei Jgafirhunbetten beS
3llam jur ©eltung {am unb baß eS Uon ba abwärts jnmeift nur türfifdje ftulfs»
truppen waren, welche im Solbe ber Kalifen öon ©agbab in ben nerfdjiebenen
©egenben SfienS ben ftoran oerbreiteten unb ben $errft^ern am DigriS Sichtung
oerfdhafften. Dürfen waren e$, bie beim Bufammenbrechen ber SRadjt ber Dmajja»
ben unter Seitung 6bn»HtulIim’ö ber Dpnaftie bet Sbbaffiben jum S^alifat ber»
Ralfen; tßrüfdfje Ärieger waren es ferner, bie, nachbem $elagu 1268 ©agbab ge»
plünbert unb jerftbrt Ratten, an ben Ufern beS Stil baS Kalifat wieber aufrichteten;
benn was wir Sötamelufen nennen, waren im ©runbe genommen nur tiirfifdje
Sllaoen, welche bie oerweichlichten gatimiben in Slegppten bon ben Ufern ber
SBolga unb aus ben Steppen öftlidj bom Slfowßhen SJteere unb im Storben ber
DpSlänber burdh ©ermittelung öenetianifdjer SflaOenfjänbler erhielten, ba eS heute
gerichtlich erwiefen iß, baß bie guten ©Triften ber alten ©enetia unb ©enuaS
als bie eigentlichen Sieferanten in ©epg auf Streitfräfte beS gstam eine große
ÄoÜe gefpielt unb bebeutenbe ©efcßäfte gemacht hoben. Der Staute SJtameluf,
richtiger SDtemluf, bebeutet auf arabifch Wörtlich ©Habe; anfangs Waren fte auch
eigentliche ftriegSfnechte, aus benen fpäter bie Schar ber Prätorianer unb bie
eigentlichen ©eherrfcher SlegtjptenS t»erauägert>ac^fen ift. Schließlich waren es
Dürfen unb jwar DSmanen, bie unter ber Seitung Sultan Selim’s II. eben bem
SKamelufenhäuptling Duman=©ei 1616 baS Stecht beS S'halifatS abgerungen, Don
weldßer 3eit an es bis heutigen Zag auch bem immer bei ber Dpnaftie ber DSma»
niben, b. h- in ben $änben ber Dürfen »erblieb.
ffiS Wäre beShalb fehr fdhwer in Strebe p ftellen, baß angefichtS ber unbe»
ftrittenen Dljatfache, nach welcher bie geiftige Suprematie beS gslam bon ber
weltlichen SJtacht faft immer unzertrennlich gewefen, ber eigentliche Schuß beS
gSlam fidh nicht immer in $änben ber Dürfen befunben hübe. Der ben Srabem
innemohnenbe femitifche ©eift hat aüerbingS in wunberbarer SBeife zur ©er»
breitung ber monotheiftifchen Sehren beS Sslam [ich angefchieft; ber arabißhe ©eift
war es, ber bem QSlam feine welthiftorifcße ©ebeutung berfdjjaffte, ber ihm bie
©loriote bet ©erbienfte um Sunft unb ©Jiffenfcfjaften oerlieh; hoch eben beShalb
founte er ßch nicht fpäter im rauhen ftanbwerfe beS Krieges Ijevoorthun, er be»
burfte hiev jene Reifer, bie er in ben urwüchfigen Söhnen ber türfifchen Steppen»
Welt fanb, bie fchon im ©eginn als Sölblinge, als wilbe ©efellen oon ben Srabern
»erachtet worben unb bie, nachbem ber ehemalige Sflaue zum £>errn fich auf»
geworfen, aüerbingS noch mehr Uerachtet würben. Äefafeti»Durfi, b. fj- türfif^e
©robheit, iß baS ßereotppe Schimpfwort ber Slraber, unb baS Sprichwort: „$üte
bieß nor ben Dürfen, benn liebt er bich, ißt er bich auS Siebe auf", lebt noch
heute im SOtunbe aller Staber. Diefen Saljrhunberte alten Jpaß hat felbftuer»
ftänblidh bie neue Verlotterte SBirthfdfjaft ber ottomanifdhen ^errfeßer, noch mehr
aber ihre erften Schritte auf bem gelbe ber Steuerungen nur gefteigert. Der
Sraber, im ftoljen Selbftbewußtfein, baß ber ©rophet aus ber SJtitte feines ©olfs
entfprungen, baß ber foran in feiner Sprache gefdfjrieben unb baß bie moSlimifche
©elehrfamleit im ©ewanbe ber arabifche» Sprache aufgetreten ift, fielet aüerbingS
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Unfere <3eit.
auf ben groben dürfen, er mag ©fenbi, Sei ober ißafdja fein, mit tieffter Ser»
ad^tung herab. @r macht aus biefem SBibertoitten unb $afj auch fein $ehl; boch
offenbart biefe Seibenfdjaft fich bei if»m noch fange nic^t in jener gorm nnb mit
jener £eftigfeit, in melier getoiffe potitifche Greife Europas ben zukünftigen ©amen
einer auSbrüdlicfjen Trennung, ben ©amen beS SruberhaffeS im 3ölom entbeden
motten, hierin irren franjöftfc^e unb englifdje ©ubliciften gemaftig; namentlich
ftnb getoiffe Diplomaten in einem eitlen SBaljne befangen, menn fie oom SluS»
ftreuen berartiger Drachenzähne eine ergiebige ©rnte ermatten. „Sftte Stecht»
gläubigen finb ©rüber", fagt ber Äoran. 2)er Sfrabet mag ben Dürfen noch fo
fehr hoffen: feine geinbfchaft gleicht boch nur berjenigen, bie im gamilienfreife
obmalten fattn, unb in bemfelben Sfagenbtide, ba biefer gantilienfreis oon äugen
her angegriffen unb burch bie Uebermadjt ber Ungläubigen bebroht ift, mirb jener
©roll plöhlid) fchminben unb bie bereinte SRoSlimenmadht gegen ben gemein»
famen geinb fich toenben. Diefer ©erfnch einer Sntjmeiung im Sslam, b. h-
einer ©etriegung beS DürfenthumS burch bie Slraber, ift nidht nur Rapoteon I.,
ber fich öffentlich jum SSlant befannte, um mit bem „La illahi il* Allah" erfolg»
reicher mitten ju fönnen, gänzlich mißlungen, fonbern felbft ber moSlemifche Riehe»
nteb»311i hätte einen foldhen ©cf)ritt nicht zu unternehmen gemagt; benn trog feines
©hrgeizes unb tro| feiner ©egabtheit hot biefer ehemalige Räuberljäuptting bon
Äabala bei meitem nidht jene Ijochtrabenben ©lane berfofgt, bie unfere europöifche
Diplomatie unb bie mobernen ©efdjichtfthreiber ihm jufchreiben. SBir hoben bor
22 fahren bei ber Orbnung ber hinterlaffenen Rapiere Ref<hib»5ßaf<ho’S in Sieten»
ftüde ©inficht befommen, bie unS bon bem ©egentheil bottftänbig überzeugten,
Slctenftüde, bie, bon 3Jtehemeb»2lli felbft gezeichnet, ben SfaSbrud ber tiefften
Sichtung bor bem Ähotifett belunbeten, unb bie europäifcherfeitS ihm jugemutheten
hocfjtrabenben ©lane Iächerlidh machten.
3ch mieberhole bähet: es ift ein eitles ©ernühen, menn unfere islamfeinblichen
Staatsmänner ben Rationalitätenhag im Sölom fchüren, unb aus bem etrna
barauS entftehenben ©ranbe Ru|en ziehen motten. Die 3bee ber Nationalität
ift ben ©ölfem beS 3slam noch flonz unbefannt; fie mirb eS noch lange bleiben,
folange menigftenS, bis ber nibettirenbe Äoran nicht feinen ©influg berloren, unb
folange jahraus jahrein gelegentlich beS ©urbanfefteS am ©erge Slrafat baS
lufterfcfjütternbe „Lebeik!" aus ber Äehle ber ben berfdjiebenften 3snen angehörigen
Rechtgläubigen ertönen mirb. ©inzelne europäifdhe Reifenbe, bie, meil fie ©uro»
päer unb meil fie Reifenbe finb, alles nur oberflächlich fehen, motten uns mol
bon einer nationalen ©ärung unter ben Slrabern unb bon einer tiefgehenben
antitürfifdhen ©emegitng berichten; boch biefe Herren fcheinen baS gehört unb ge»
fehen zu hoben, maS fie eben hören unb fehen motten. Stuch ich h°be mit 3RoS=
limen nicht tage» unb monate», fonbern jahrelang berührt; idh mürbe für einen
ber 3h r ifl en geholten unb fann auf ©runb meiner autoptifchen SBahmehntungen
bie SReinung auSfprechen, bag ber Slraber nie zum antitürfifdhen Sßerfzeuge in
ben $änben europäifcher ©olitifer fich umgeftalten laffen unb am attermenigften
gegen ben fihatifen geh empören mirb, meil beffen $Rutterfpra<he türfifch unb nicht
arabifch ift. Der fchon früher ermähnte @df}eich ©bul $uba fagt in feiner jüngften
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Dct Panislamtsm us int Kampfe gegen (Europa. 55 f
hierauf bezüglichen glugftrift golgenbeS: „Seit einiger 3eit bemühen fiel) bie
türfiften unb arabiften Sölätter fonftantinopels, jene ftäbliten ißublicationeu
ju befämpfen, bie barauf ^in^ieten, bie Slraber zum Verlaffen ber geheiligten
ißfabe ihrer Slfjnen zu bewegen. da ich uun felbft bem arabiften Stamme atu
gehöre, fo hübe it eS als eine patriotifte Pflicht erachtet, im Sntereffe ber SBahr-
heit ein SBort zu fprechen unb biefe denfftrift zu oeröffentlichen." SRatbem ©bul
£>uba anerfannte Slutoritäten auf bem ©ebiete ber moSlimiften Xheologte, als
@chehub*eb*bin ibn el Stebi, 2RuhliS»eb=bin ibn Slrabi unb anbere zur Vefräftigung
feiner ^Behauptungen angeführt, unb nacf)bem er bemiefen, bafi baS ^^alifat als
bas Symbol ber ©inigfeit fämmttiter SRoSlimen bie ungeteilte Sitzung unb bett
©eljorfam oerbient, fagt er weiter: „die Slraber fämmttiter ßänber werben nicht
nur ohne jeben ftintergebanfen ben ^Befehlen beS ®h a ^fen gehorchen, fonbern fie
werben aut im dienfte beS tefctem immer bereit fein, ihr ©ut unb Vtut zu
opfern, diejenigen, welche bie Slraber oon biefem rechten SBege ableiten Wollen,
bemühen fi<h umfonft in ihren böswilligen Slbfitten. die Slraber Werben nie
ben glorreichen Xitel, ben fie als Verfettet beS XhroneS beS Sfhalifatö fich er»
worben, üon fit Weifen, unb fie Werben fit nie zum SBerfzeug einiger Verräter
maten. diefe perfiben Slnftläge werben oielmehr nur bewirfen, baß baS ara»
bifte Votf, eingeben! feines ebeln UrfprungS, fit oereint um ben faiferliten
Xhron ftoren wirb, die Vereinigung beS Sslatn oerfolgt feine anbere Slbfitt,
als ihre eigenen SRette zu wahren, unb Wirb nie jenen ©hurnfter annehmen, ben
bie geinbe ber SBahteit ihr zumuthen. !gene Slufrührcr, bie fit für Slraber
auSgeben, um biefeS Vol! irrzuleiten, finb eigentlich nur Verleumber ber Slraber,
unb fo Wie baS Sit* fit t»t* gewaltfam hinter ben Vorhang ber VoSheit Oer»
fteefen läßt, fo hüben mit bie Sympathien zu meiner SRaffe bewogen, hi« frei
ZU fpreten unb bie Säge unb bie Verleumbung zurüifzuweifen." ©rftärungeu,
in ähnlitem Stile gehalten, finb unS aut in anbern Striften begegnet unb fie
beuten inSgefammt barauf hin, baß man europäifterfeitS in Syrien, in fernen,
in Oman, in Stebftb, ja an allen fünften ber arabiften SBelt rett eifrig zu
SBerfe geht, um butt diScrebitirung ber türfiften §errftaft unb ber Verfönlit-
feit beS türfiften Äholifen im arabiften Volfe eine folte Strömung zu erzeugen,
bie angefittS beS heute unauSbleiblit fteinenben totalen SRiebergangS ber ottoma»
niften ^errftaft in ©uropa bie ©emüther barauf Oorbereiten follte, baß bie Seitung
beS SStam eigentlich bem arabiften Volfe zufomme, unb baß biefeS zur Ueber»
nähme berfetben Slnftatten treffen möge.
da wir troj} unferer nie oerhüHten Sympathien für baS oon aßen Seiten
unb oft in feljr ungeretter SSSeife angegriffene Xürfenthum, einen Volfsftamm, ber
an fo rnanten oorzügliten Xugenben reit ift, ft° n oor Jahrzehnten zu jenen
gehörten, Welte bie türfifte üJliSWirthftoft rügten unb oerbantmten, fönnen Wir
bot nitt umhin, hi« auf jenen Xrugftluß hinzubeuten, in ben antitürfifte
Eßubticiften unb Staatsmänner fo häufig üerfaßen, inbem fie 2RiSWirtf)ftoft,
Slnartie unb Slbneigung gegen ^Reformen als ein nur bem Xürfenthume eigen»
thümtiteS ßafter unb ©ebreten hinfteßen, unb wenn an Steße biefeS Volts»
ftammeS bie Slraber träten, auf eine $ebuttg ber Uebelftänbe, auf eine ptöfctite
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Unfere <5«t.
Verjüngung beb moblimifcßen Dftenb ßoffen. Qi ift bifi ein« arge Xäuftßung,
ein auf Sgnoranj bafirenber 3rrtßum. äRibwirtßfcßaft, »nawßie, ftrammw Qt»
feröatioibmub unb fflibermiden gegen Neuerungen bürfen feinebfadb üam nationalen
©tanbpunfte aufgefaßt werben; benn mir ftnb biefen ©ebrecßen üou jeßer im
moblimifcßen 3nbien, in ißerfien unb im Dttomanifcßen Saiferftaate in gleitet
Seife begegnet; fte finb baßer oor allem moblimif<ß»afiatifeß unb nicßt fpecied tür»
fifcßer £erfunft unb merben baßer, fad* bie oberfte ßeitung autß arabifcß merken
fodte, ficß aucß nicßt um ein fpaar oerringern ober oerbeffem. 3a icß mädjte int
©egentßeil fogar bie ©eßauptung wagen, baß bie Obmanen, bem Urfprunge nacß
ein Konglomerat griecßifcßer, flawtftßer, armenif(ßer, tfcßerfeffifcßer unb htrbiftßer
Ktemente, wenn eb ficß um ein Kinlenlen in ben tßfab her mabernen ©ilbungb*
weit ßanbelt, oiedeicßt minber conferoatiü ficß jeigen unb fitß gezeigt ßaben, alb
bieb oom eigentlichen arabifcßen ©tararne $u erwarten märe. Ißearetffcße Senner
beb 3blam wollen traft beb Serteb arabifcßer (Sjegeten unb Veligianbgeleßrten
unb mit § inweif ung auf ben tüßnen ©eiftebftug biefeb Volfeb eben bab ©egintßtil
beßauptcn, inbem ffanatibmub unb blinbe ©laubenbfeftigleit nur alb ein Attribut
beb geiftebträgen lürfentßumb ßingefteüt merben. S)ieb nimmt ficß aQeb feßr gut
in ber Ißeorie aub, bocß bie unerbittliche Seweibfraft her ©rapib füßrt eine ganj
anbere ©pracße. Sir geben eb gern ju, baß ber ©ebuiue um Soranfaßungen
ficß wenig lümmert uub alb tajer befolget ber Beßre SNoßammeb’b bcfannt ift.
Slucß oon ben ©teppenbewoßnem anberer ©egeuben läßt ficß baffelbe beßaupte»,
ba troß beb argen gelotentßumb in ben ©übten Keutralafienb ber tüpfifcße
©teppenbewoßner felbft nacß oielßunbertjäßriger Bearbeitung feitenb ber SSadab
ein ebenfo fcßmacßer SWeblime iß alb ber Bebuine. Senn baßer unfere Beifenben
Oon ber Neligionblaußeit ber teßtem auf eine fpecied arabißße Soleranj unb
©eiftebfreißeit fcßließen wollen, fo befinben fie ficß, wie gefagt, im Qrrtßuw; benn
ber arabifcße ©täbtebewoßner, namentlicß aber ber arahifcße 9ftada, iß immer bie
eigentliche ©erfonification ber moblimifcßen ©laubenbbegeifterung geipefen. ®ie
©cßeicße unb frommen ©ßrienb unb Ärabienb mit ben hftnngeplätteteu breiten
Turbanen auf ben Äöpfen, mit ber Äteibung nacß ftreng mobliraifcßer ©orßßrift
Oerratßen in ißren wilbftieren ©liefen eine ©lut religiöfer Seibenfcßaft unb neßmen
neben ben SJtottab türlifeßer unb perfifeßer Wuuft eine ©tedung ein, bie leinet
fadb für einen geringem ©rab oon ganatibwub fprießt. Unb ferner, wo ßat ber
©laubenbfanatibmub, ber £>aß gegen bab Kßrifteutßum ficß meßr geoffenbapt alb
unter ben Arabern? Sir ßaben in ben leßteu 3aßrjeß»teu oon Sßrißenweßeleien
in 2)fcßebba unb in ®a«iabcub, aber nicßt in Sßarput ober ©rjerurn, ober in
anbem oon dürfen bewoßnten Orten geßürt. 2)eut curopäifcßeu Seifenben fteßt
bie gan$e Seite unb ©reite ber türlifeßen SNoblimenweft offen, Wäßrenb eine
Steife nacß ©anaa, nacß ©abramant unb nacß Nebfcßh uoeß immer $u ben füßnftcn
Unterneßmungen geßört. ©au bem ©efueße ber ßeiligeu Orte SNeHa unb Stebiua
Wid icß gar nicßt rebeu. 3# frage nun, fann man bei adebem auf ©runb tßeo
retifeßer Slubtegung gewiffer ©cßriften arabifcßer ©eteßrteu bie Beßauptung Wagen,
baß bab 2lrabertßum minber fanatifdj alb bab Uürlentßum fei?
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Der Panislamismus im Kampfe gegen (Europa.
553
Rbgefepen ton biefem ©erfucpe, bie ©öfter beS gslam burcp RationalitätSpaß
p entjmeien unb namentlich baS ^errfc^ertbe Slement ber Xiirfen burcp bie Araber
etfepen p motten, haben bie mobernen Sreujfaprer ber liberalen Schute ficf»
nach auf ein anbereS Kittel oertegt, nämlich auf bie Rechtsfrage beS ÄpalifatS,
inbem man fchen feit fahren fich bemüht, bie Sultane ber lürfei als eigentliche
Ufurpatoren ber Äpalifenmütbe in btn Rügen ber Rechtgläubigen ^in^ufteQe«
unb biefe SBürbe als eine arabifche fpeciett ber Familie beS Propheten, nämlich
ber fforeifcpiten gebührenb hingeftetlt. 6s nimmt fich otterbingS höchft fonberbar
aus, rnenn latholifche unb angtifanifcpe ©priften fich 3 U RecptSanmälten ber KoS=
limen aufmerfen unb in bie $)iScuffion einer folcheit grage fich einlaffen, bie in
ben eigentlichen, theelogifch juribifchen Steifen ber mohammebanifchen SBelt in einer
gang oerfchiebenen SBeife aufgefaßt unb feit Oaprpunberten fchon als beigelegt be=
trachtet mirb. Stroh unferS feften ©orfapeS, ben öefer nicht in baS Sabprintp biefer
im @runbe genommen moStimifepstheologifcpeH ®iScuffioit ju führen', lönnen mir
nicht umhin, behufs feiner örientirung bie ^auptmomente biefer ftreitigen grage p
ermähnen. Sie ift belanntermaßen gleich na <h bem lobe SWohammeb’S aufgetaucht,
hat aber bie gorm ber eigentliche* ©arteilämpfe nur in bem 2Raße angenommen,
in meinem bie eigentlich pierarcpifcpe ©erfaffung burch bie immer mehr unb mehr
pnepmenbe meltliche SRacpt beeinflußt, b. h- in metcpem baS eigentliche Sfmantat
pm Äpalifat unb fpäter pm Sultanat fiep umgeftaltete. „Solange ber Sip beS
ÄpalifatS in Rtebina mar unb alle tonangebenben gamilien bort fiep aufhielten,
gingen bie SBaplacte ber ^Ijaltfeu ohne größere ©rfepütterung bor fiep, bis Rli’S
JBapl einen blutigen Ärieg peroorrief. RnberS geftaltete fich bie Sache, als baS
Äpalifat juerft nach StamaScuS, bann nach Sufa Rnbar unb ©agbab oerlegt
mürbe." *) ®S toar hier auch niept anberS möglich, benn in ber Ruffaffung ber
KoSlimen finb Religion unb Äönigtpum p>ei ©egriffe bie fiep gegenfeitig ergänzen,
unb fepon 3bn ©palbun hebt es als unterfcpeibenbeS SRerfmal beS islamifcpen
Staates peroor, baß in biefem bie geiftlicpe unb meltlicpe SWacpt unzertrennlich
fmb, mähtenb bei ben anbem ©öltern ber Äönig nur meltlicper Rtacptpaber fei.
Segen biefe Ruffaffung, melcpe ber ©rajiS ber Xpatfacpen entfprungen ift, paben
bie RecptSgetehrten trop all ber Spipfinbigfeit tpeologifcper Rrgumente nie etmaS
auSjuricpten oermoept; benn mir finben fepon in ben erften Qaprpunberten beS
ÄpalifatS, baß glücfiicpe Rbenteurer, meit entfernt mit ben Rtributen ber mett=
fiepen SRacpt fkp allein p begnügen, auep in ReligionSfacpen fiep oom gefeptiepen
fipafifen unabhängig zeigten. Bremer fagt baper mit Recpt (a. a. 0., S. 417):
„Rtan fam alfo notpmenbigermeife jur Rnfiept, baß bie ©oejiftenj jmeier (mol
auep mehrerer) 3mame recptlicp juläffig fei, menn fte nur niept beibe in bemfetben
Sanbe, fonbern in entfernten Segenben perrfepen." @S märe im allgemeinen
fepr fepmer, in ben SouberänetätSrecpten beS Äpalifen eine Rerm aufpftetten, ba
bie Rnerfenttnng ber oberften geiftlicpen Rtacpt ber jeitmeiligen Stettoertreter
Rto^xmmeb’S nur oon ben Saunen ber einzelnen gürften abping. SBäprenb bie
SWoSlimen Spaniens um ben Spalifen üon ©agbab fiep menig ober gar niept
*) Sgl. R. oon Äremer, „@efepicpte ber perrfepenben Qbeen beS gälatn", @. 412.
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554
Hnfere <5eit.
fümmerten, gnbeit mir }. 33. bie ©amaniben, {EtjareSmiben unb anbete moStimighe
2)t)nagien im Offen StfienS um baS aus ©agbab jn ertangenbc 3nbeftiturre<ht
fetjr beforgt. ©S fcpeint ^ier, wie in nieten anbern Gingen, nut bie materielle
Sage, bie potitifdje Sftadjt unb ©röge bet eigentlichen ß^atifen ben StuSfeplag ge»
geben ju haben; benn nur fo ift bie augergemöhnliehe ©rfcpeinung erftärtich, bag
bie ottomanifchen ^errfeper als ©palifen ftch eines ungetheiltetn SlnfepenS erfreu»
ten als fo mancher Dntajjabe ober Slbbaffibe in ©agbab. ©8 lägt fich nämlich
aus ber ©efcpichte beS ottomanifchen ©aiferreicpS nachtoeifen, bag mährenb ber
Vergangenen brei 3ahrhunberte fämmttiche Siirftcn beS 3Stam in SRaroffo fomot
>oie in ©ocpara unb in $h°^anb, in Delhi fomot als in ©agbghe=®erai, inbem
fie baS 3Rünjreept fär fich behielten, baS Stecht beS greitagSgebetS boch bon ©on=
ftantinopet aus einhotten unb in bie ©hutpe ben SRamen beS hettfcpenben ©h a =
tifen aus bem $aufe OSman einfchatteten.
Diefer ift noch h eu * e ßäng unb gebe; benn fomie ber ©oSnier, bet Stegppter,
'Algierer im greitagSgebete nach ber ©rmäpnung ber fftamen ber üier erften ©pa-
tifen um baS SBoht unb um bie ©lüeffeligfeit ©ultan 3tbb«ut»^amib’S betet, ebenfo
thut bieS auch Snbier, üRalaie unb ©hinefe, unb eS ift leictjt begreiflich, bag
biefeS innige ©anb ber 3 u fammenhörigfeit ben frembgtäubigen $errghern nicht
befonberS jufagt unb bag bie geinbe beS 3$tam auf bie Unterbrechung biefeS
innem 3ufammenhang8 bebacht gab. Der ©emeggrunb bünft uns baher ganz
einteuchtenb, boch ats zmecf* unb jiettoS miiffen mir bie URittet bezeichnen. Die
unberufenen Stnmälte ber SRoSlimen irren natürlich am meiften, menn ge baS
ft'hatifatrecht ber ottomanifchen ©errghet beShalb für ungültig erltären, meit biefeS
eigentlich nur ber gamitie ber ßoreifc^iten zugehe, ba biefe Iheorie fchon bon
ber früher ermähnten Unzertrennlichleit ber geiftlicpen unb metttichen aRadjt
ihre SBirffamleit bertoren. ©remer bemerft richtig, bag im SStam folcpe bem
urfprünglicpen ©eige begetben frembe Sehrfähe entftanben, infolge beffen eS für
ben 3mam leineStoegS erforbertich ift, bag er aus ber gamitie ©oreifdj abftamme,
fonbern jeber füpne ©mpörer fei als legitimes Oberhaupt ju betrachten, fobatb
ihm nur ber ©rfolg günftig fei, mie mir bieS übrigens aus bem fchon mehr als
breipunbertjährigen ©palifat ber ottomanifchen ©ultane am beften erfehen. Die
Stebotution, metche geh mit bem ©mporfommen ber dürfen, ber fogenannten natio
militans beS Sitarn boUjogen hatte, mar fo fehr im bolten ©inttange mit ben
bamaligen politifcpen unb focialen ©erhättniffen ber mohammebanifchen SBelt, bag
an eine Slufreepterhattung ber ©runbgefepe bei ber SBapl beS ©patifen ebenfo
menig ju benten mar, mie bieS unter ben gütigen noch meit mehr beränberten
3uftänben im 3«nern biefer fReligionSgenogenghaft möglich märe. §ierju lommt
noch bie mefenttiefj umgeftattete potitifdje Stellung, metche ber gstam bem ffipriften*
thum gegenüber einnimmt; eS mug gerabeju als eine fdjmärmerighe Ausgeburt
erpi|ter 3nlunft8politifer bezeichnet merben, »nenn man in genügen ©reifen geh
mit ber Hoffnung fcfjmeichelt, bag entmeber bie ©ultane ber Dürfei, falls ge in
ber ©patifenmürbe geh erhalten motten, ihren ©ip nach 3Re©a ober SRebina, ober
mie anbere meinen, nach DamaScuS ober ©agbab bertegen mügen — ober auch,
bag nach gänzlichem Sufammenbrudje ber oSmanifcpen $errfcpaft in ©uropa bie
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Der Panislamismus im Kampfe gegen (Europa.
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jufünftigen DSmaniben an ber Spifce irgenbeineS SRiniaturftaateS, etwa in 93ruffa
ober in Soma tefibiren werben — wä^reitb baS in ber ißerfon eine« birecten Sßacfj»
fontmen beS ißropheten reftaurirte orthoboje Stjatifat fo wie im erften Anfänge Wieber
in 3Re!fa ober in SRebina fic^ befinben werbe. Seine biefer 2ttternatiben, bie nur
ben fanatifdjen Gegnern beS 3Sfam, nur ben eroberungStuftigen 5ßotiti!em p*
fagt, ift ausführbar in nädjfter ober fpäterer Sutunft. ®rftenS h°t ber tefcte
Dürfe noch nicht ben SoSporuS Übertritten, um eine fotdje ©öentuatität borber»
hanb ins Sluge ju faffen, unb wenn bieS auch gesehen fein würbe, fo würbe
ber Suttan unb bie Pforte ebenfo wenig Suft ju einer Ueberfiebetung nach SRefla
ober SRebina berfpüren, ats bie hast bebrüngten guben, ben Stntifcmiten §u ©e=
faßen, ftch fo urplö$tich mit Sinb unb Segel nach getufatem begeben werben.
Der ottomanifche Staat ift trofj aß feiner in bie Slugen ber Europäer faßenben
gehler, ©ebrecfjen unb SRängel noch immer ber einzige par excellence europäifirte
Staat ber moStimifchen SBett. Der Sultan oerfügt über eine beträchtliche 3ctfß
fotdjer türfifdjer ©eamten, bie, ob SRititär ober ©ibit, bon ben europäifdjen S33iffen=
fchaften ftch f«h°n oieteS angeeignet hoben, unb weit ber ottomanifche Staat infolge
biefer theitweifen Slffimitirung mit bem Slbenbtanbe unb traft fo mancher SSortheite
unferer eigenen SitbungSwett nicht nur unter fämmtlichen SSötfera beS gslarn,
fonbem mit StuSnahme ber gapanefen unter fämmttichen Sttfiaten mit Siecht bas
am meiften europäifirte Staatswefen repräfentirt, unb weit namentlich ber fefcigc
$errfdjer boß ©tjrgeij unb feine aufgettärten SBürbenträger boß beS nationalen
SeWufjtfeinS finb, fo ift es taum bentbar, ba| bas Sultanat ftch in ein rein geift=
licheS gmamat ober Shalifat umgeftatte, unb bah 2lbb»ut*|>amib, ber heute noch
über 12 SRifl. Gürten baS weltliche Scepter bon fich werfenb, nach bem
#irtenftabe beS Shalifen greifen werbe. SSBaS nun bie X^eilung ber 3Racht an»
belangt, fo ift biefetbe, Wie Wir fdjon erwähnt, eine reine Utopie. Die SBer*
gteichung jWifdjen biefem jufünftigen ißapft ber SRoSlinten unb bem bet weltlichen
ßftacht beraubten Zapfte in Stom ift nicht minber hintenb ats biete anbere SSer-
gleichungen. Die moSlimifche ©efeßfehaft tönnte bor aßem, wie wir fchon mamtich*
faltig barauf tjiugebeutet, ben Sh a ^f en ohne weltliche SRacht fich 8 at nicht bor»
fteßen. DiefeS würbe auch ben ©runbprincipien beS gstam wiberfprechen, ba baS
oberfte $aupt ber Stetigion pgteidh bie gunction ber SBerwaltung beS 93eit=ut=
3Rat, b. h- beS StaatSbermögenS übernimmt, ba ihm bie Sorge für bie materieße
Sage ber Stechtgtäubigen obliegt, ba er ben Dfdjihab, b. h- ben Sampf gegen bie
Ungläubigen teiten, mit einem 2Bort, ba er nicht nur firdjticher gürft, fonbem auch
weltlicher ^errfdjer fein muh. Dann auch noch fpricf)t ein anberer wichtiger Um»
ftanb gegen bie Uebemahme ber leitenben Stoße im gstam burch einen pfünftigen
Shatifen aus ber gamitie ber Soreifdjiten unb hiermit auch bagegen, bah bie Straber
in ben SJorbergrunb treten fönnten. Diefen Umftanb mähten wir bor aßem fowol in
ber phhfifchen ©efdjaffenheit Arabiens, noch ntehr aber in ber fociaten Sage beS
arabifchen SSoIfS entbeden. Die grofje Strabifche $atbinfet mit StuSnahme einiger
cutturfähigen fünfte, pmeift aus SBüften unb Steppenregionen beftehenb, war
wot bie SBiege ber mohammebanif^en 2Rad|t, aber nicht baS Sanb, in welchem
biefe Wacht unb ©röfje if)te Weitere ©ntfattung unb ihre eigentliche öegrünbung
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556
Unfere
finben lonntc; bcnn erft nacpbem bie fiegteicpen gähnen be« 3#Icm nach anbem
bon Statur au« mehr gefegneten ^Regionen getragen würben, erft nacpbeni Syrier,
Werfer, SRittetaftaten, Snbier unb Spanier für biefe ©laubettflepre gewonnen
tourben, erft bann fiat bie 3«lamwelt fiep confolibttt unb ben 3*nitp ihrer ©röße
erreicht. Stuf einem ©oben, ber neun ©lonate im Satire burd) bie glüpenben
Straften ber Sonne berfengt toirb, ben ba« Wopttpuenbe 9?aß eine« fflußfpftem«
nur wenig erquidt, unb auf bem bie ©egetation immer eine ärmliche war: auf
einem fotcpen ©oben tonn Suttur unb eigentliche materielle ©röße nur fcptotr
gebeten, hiermit im ffiinliange fiept auch ber noch pöcpft ptimitibe 3uftanb be«
arabifdjen ©ott«, oon bem mehr al« brei ©iertheite, tpeil« ©an}*, theit« $alb=»
nomaben finb, folglich auf ber primitioften Stufe ber fociaten 3uftänbe fi<h befinben,
ba« feinerjeit wot Stoff für bie triegerifcpen Unternehmungen fanatifcher Stbenteurer
liefern tonnte, heute aber !eine«fall« ba« jur Staatengrünbung nötpige ©tement
tiefem tann. Sn biefer ©ejiepung ift e« um ba« Slrabertpum Diel fchtimmer befteOt
at« um ba« Xürlentpum; benn währenb bie ©efammtsapl bon 25 ©tili. lürfen
nur 25 ©roc. Stomaben umfaßt, lönnen bon ben circa 12 SDtitt. Strabern Stficn«
nur pöcpften« 4 ©tiH. auf ben eigentlich anfäffigen culturbefUffenen Xpeil gerechnet
werben, währenb 8 SDtitt. noch ein halb« ober ganjnomabifcpe« Beben führen. SBir
geben e« gern ju, baß ber feßhafte Sprier, S*“fer, Sentener, $ebfcpafer unb
Omamer in geiftiger ©egabung bie £>«manen, Dejbegen unb tafaner Xataren poch
überragt, bodh barf bie berfcpwinbenb Heine ©tinorität nicht außer Rechnung ge«
taffen werben; auch barf nicht unbeachtet bleiben, baß eben biefe borherrfchenb
primitiben gefetlfcpaftlichen 3uftänbe ben Slraber jur Staatenbilbung unb jur Ke«
gierung unfähig machen. ©« Wirb leichter ein großer Stuß jum Stehen gebracht,
al« ein arabifeper ©ebuine jur Stiebertaffung bewogen. Xa« unbänbige ©efühl
ber greipeit pat ba« arabifche ©lement ftet« jum wiberfpenftigften unb fpröbeften
gemacht: bähet bie wilbe ©lut ber ewigen ©arteilämpfe, Paper biejenigeu Familien«
jwiftigfeiten unb gepben, unb auch bie Unmögticpleit, biefe« ©olt unter einen
$ut ju bringen, wenn nicht etwa bur<p ben großen ©ebanten einer außerorbeni*
ließen ©ewegung nach außen hin, bie aber angefiept« be« potitifepen ©tacpteinfluffe«
in Slfien heute unmöglich ift. §aben boih biefe ©arteitämpfe felbft im fehr be«
grenjten Greife ber Scperif«fantilie in SDteffa, biefen eigentlichen Slbtömmlingen
©topammeb’«, ihren 21u«brucf gefunben. £>eute finb e« bie ftd> einanber gegenüber«
ftehenben 3n>eige ber gamilien Slun unb 3eib, früher waren e« anbere unb noch
zahlreichere, unb fall« ein etwaige« Äpalifat in SKetta bon einer anbem mo««
limifchen ©lacht nicht gebüßt unb unterftüpt würbe, fo tönnte ber jutünftige ftpalif
fich taum erhalten.
©tan fiept, baß fowol bie ©Meinung bon ffirfeßung be« türlifcpen ©tement« burch
ba« arabifche, at« auch bi* Trennung ber weltlichen bon ber geifttichen HRadjt im
S«Iam auf gewaltfamer ©ntfteßung ber Xpatfacpen bemht unb in ba« ©ereich
bet $irngefpinfte ju berweifen ift. SBir fragen bemnaep: ift bie Slnfeinbung be«
S«Iam opne 2tu«ficpt auf ©rfolg, woju bann ber Sturmfcpriit, woju bie Sin«
fcpläge bon gewiffen Seiten per, mit welchen man bie fepon an fiep genug traurigen
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Ser Panislamismus im Kampfe gegen (Europa.
55?
3u|lSnbe im nachbarlichen Ofien nur üerfchlimmem, bie Verwirrung nur Per*
mehren, aber feine Leitung erjielen fann? Sagen wir e$ bähet offen h«tauS:
bie Sßlane, welche gewiffe europäifc|e SPolitifet heute bejuglich ber moSlimifchen
SBelt im Schilbe führen, werben nicht nut ©oflwerfe gegen bie Gulturmiffion
bei Slbenbfanbei im nahen Often aufwerfen, fonbern fle miiffen felbft auf bie
im ftillen gehegten ©roberungSabfichten oon entfliehen fiörenber SBirfung fein.
(Burch biefe nur ^eute fcfjwadj oerhüKten feinblichen Äbfk^ten werben bie ©e*
mftt^er im moSlimifchen Open um fo mehr erbittert; ber Slrgmolpt gegen unfer
Vorhaben wirb um fo größer, unb bie SBaffe ber panislamitifchen 3bee Wirb
fojufagen bon un$ felbft m bie $änbe ber SJtoSliroen gcbrüdtt.
Sn biefem Sinne faffe ich bie ©efal|t ber panislamitifchen Bewegung für
Europa auf. Sin eine ©efafjr, bie feilend beS bermaßen gejitärlten SSlambuttbeS
Europa broljen würbe, ift unter feinen Umftänben ja benfen, ba ber Safc: „(Einig*
feit ift ffraft", nur für eine ©efeUfdjaft im fortgefdjrittenen Stabium ber Vilbung
anwenbbar ifS, unb ba bie ©anbe, welche bie Völler beS 3slam ju einem Oereinten
Singriff auf baS Slbenblanb, fojufagen ju einem (Reoandjelriege für bie bisher erlit*
tene Unbill oereinigen lötmien, noch oiel ju loefet finb, um auf bem ©ebiete ber
Saaten ftcf) fühlbar ju machen. Vorberhanb werben IjöchftenS jene SKäcfjte, bie eben
baS Uebel heroorgerufen, bie nachteiligen folgen beS IßaniSlamiSmuS empfinben.
granfreich, baS Währenb ber,50 Satire feiner $errfd)aft in Sllgier Oon ber bor*
tigen ©efifcung oerhältnißmäßig wenig ober gar leinen ÜRufjen gezogen, wirb burd)
baS Oon ber panislamitifchen ©etoegung angefachte jfeuer jeitweiliger SRebolten
unb (Empörungen noch biel mef)r beunruhigt werben, unb in ber 3ufunft noch
oerhältnißmäßig Weniger SfJufcen oon feinem ©eftfce jiefjen. (Bie Stellung ber
©nglänber in Snbien wirb burch ben immer junehmenben ©eift ber Unjufrieben*
heit feiner moSlimifchen Unterthanen noch ftärfer erfchüttert werben, unb fchtießlich
wirb auch SRußlanb wol nicht im europäifchen Xheil fetttcr ©efijjungen, fonbern
in ©entralafien, wo baö mohammebanifche Element gebrängter jufammenlebt unb
bom SKutterlanbe burch ben ©teppengürtet getrennt ift, gewiß unangenehme @r=
fahrungen ju machen haben. £>eute flehen Dejbegen, (Babfchifen, ßiptfchalen u. f. w.
noch ju fehr unter bem ©anne beS erften SchrecfenS ber Eroberung, bo<h werben
ihre ©ejiehungen ju ber übrigen SBelt beS 3slam im Saufe ber Seit juneljmen,
unb bacS arge (Beficit ber (ßroüinj (Burfeftan Wirb nothgebrungen fortfehreiten.
Slm größten ift aber ber Schaben, Welcher ber SBelt ber europäifdjen ©ilbung im
allgemeinen baburdj erwach ft, baß infolge beS üon uns felbft wach gerufenen gana»
tiSmuS bie fdjon glücflich angebahnte Einführung ber mobernen ©ioilifation in ber
moSlimifcfj=afiatifchen SBelt nicht gortfdjritte, fonbern nur große Stücff^ritte machen
Wirb, ©on ber SJiacfjt, bie als Slpoftel ber Slufflärung unb Humanität fich einführt
unb fpäter als ©roherer, als gewaltfamer Vertilger ber Unabhängigfeit fich ent*
puppt, nimmt man fehr ungern Sehren an. (BaS ÜJtiStrauen gegen baS Vorhaben
bei SlbenblanbeS ift heute fchon an allen ©efen unb SBinfeln ber Sölamwett wach
gerufen, unb fchon heute ift baS ©ioitifationswerf, welches wir im Schilbe führen
unb baS Wir als bie einzige berechtigte (Beoife auf unfern ©annern tragen füllten.
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558
Unfere ^cit.
burdf) baS drängen unfetet heißblütigen Kolititer leibet ju fe^r üerbäc^tigt mor*
beit, um bie gemünzten Stückte tragen ju fönnen.
©on biefem Stanbpunlte aus beurteilt, ift bie in bet SKeujeit Dom beutfdfjen
Sfleicfjsfanjter bertretene Jenbenj einet conferbatiben ißolitif im natjen Offen audj
in bet Xfjat baS gefünbefie Sliittel jur Hebung bet Uebelftänbe. 3nbem bet große
beutfdfje Staatsmann im Sinne beS türfifdjen SpridjroorteS: „3dj Ijabe bir
«fdjjlage», aber nidjt etöbte» gejagt", ^anbelt, ^at et bet ißforte nadj erteilter
Stüge nodj eine fernere SebeitSfrift gemährt, unb biefem einzigen jured(jnungS=
fähigen Staate bet Seit beS I^Slam bie 9Jiögticf)tett geboten, feine Kräfte ju
fammeln unb nadj bem SBerlufte bet SDtadjtftettung in ©uropa feine 3Rad(jt in Äften
ju begrünben. 5IIS lauer unb fdjläfriger, aber bennod) als tljatf&dEjlidjer ©et*
mittler unfetet ©ilbungSWelt in Mfien wirfenb, ift baS DSmanenttjum audj in bet
Sufunft jut ffortfefjung biefet Stolle gewiß ntef|t berufen als jebet anbete, bisher
nodj nid^t erprobte unb nicfjt getonnte fjactor in bet Steife bet äbtigen Slationa*
litöten beS Sslam. 2)aS braftifd^e SKittel, eine panislamitifcfje ©etoegung ^erauf-
jubefd^wöten, ift baljer in jebet ©ejieljung oerwerflidj. ©S mar teineSfaKs non
nötljen, bie feit ^a^rbunbetten fdilummemben ©eifter ju Weden.
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3Die (ftUktvicitai in trer ®ed)mk.
Sott
$xm\ SofepJj fOisko.
m.
SBäßrenb bie ©lüßwirfungen beS eleftrifcßen (Stromes, mittels ber bomit Oer»
bunbenen mastigen Sicßtftraßlung, Suft unb 3reube üerbreiten, unb bet ©lettro»
teeßnifer bemüht ift, bie fleinfte ©eßßäbigung bureß be« ©lüßtörper ßintanju-
ß alten, ift ißm anberfeits, toieber im 2)ienfte ber SJienfeßßeit, bie Stufgabe ge=
fteHt, bie eleftrifcßen ©lüßerfcßeinungen ju einer woßtbereeßneten, meift großartigen
3erftörung ißrer Umgebung ju berwenben — wir meinen bie ©enüßung ber etef=
trifcßen ©lüßwirtung jum ©ntjünben bon Sprengfcßüffen in SKinen, gleicßbiel ob
biefe angelegt finb für bie ßulturjWecfe bei Hebung ber unterirbtfcßen SKineral»
fcßäße, beim ©rfcßließen eines fteriten SobenS für ben Stcferbau, beim SBegfcßaffen
oon Reifen für ©aßnwege unb £>afenbauten, beim ©ntfernen oon wafferbebecften
Stiffen für bie Seßiffaßrt, beim Serftören alter SeftungSmanem, um ber Stabt rneßt
Siebt unb Snft ju berfeßaffen u. f. m., ober ob jene SJtinen baju beftimmt finb,
bem fffeinbe ©erberben unb lob ju Sanbe ober ju SBaffer, im ledern Satte mittels
ber 2rluß» unb Seeminen ober SorpeboS, ju bringen. ®ie (Sleftricität bat bann,
mittels ber SBärme ihrer gunfen ober ber ftrombureßfloffenen ©lübbräbte, bie in
ben SKinen angebüuften Sprengftoffe, Wie Scßießpulber, Schießbaumwolle, 2)ßnamit,
ju entjünben. SBegen ber enormen ©efeßwinbigfeit beS eleftrifeßen Stromes tritt
biefe Stnfeuerung ber efploftonSfäßigen HJtaterien fo gut wie gleichzeitig auf,
unb es erfolgt, bureß baS .ßufammenwirfen fümmtlicßer Sprengfcßüjfe, in ber
fürjeften 3^it eine großartige, outlanifcße Strbeit. 3m ©ergleicße mit ber pßro*
teeßnifeßen &ünbungSWeife jnittels beS Sauffeuers ber ißuloerfüben, ßünbfeßnüre u. bgl.
geießnet fieß bie eleftrifeße Sünbmetßobe bureß bie ©efeßüfung ber babei tßätigen
©erfonen, bureß «ine größere tttegelmäßigfeit fowie Sicßerßeit ber Operation, unb
bureß eine gefteigerte SBirfung ber frei werbenben Kräfte ber ©jploßbftoffe, alfo
aueß bureß öfonomifeße ©ortßeile aus.
SBenn wir uns junäeßft jur Sießerßeit beS ©erfaßrenS wenben, fo erinnern
Wir, baß bei bem ©ntjünben bon Sprengfcßüffen mittels geuerleitung bie Strbeiter
bureß bie unberechenbaren ©erjögerungen beim geuerfangen ber Sabung ju ge»
fäßrließen Seßritten beranlaßt werben, ©rfolgt nämlidß bie ©eploßon nießt jur
gehörigen 3«it, fo barf man fuß bem Sprengorte nießt fogleieß näßern, um naeß
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560
ttnfere ^eit.
O
ber Urfadje ber Serfpätung ju feiert. 2)a£ Sprengmaterial fönnte in biefem
Stugenblicfe geuer fangen unb ber fRacßforfcßettbe bur<ß ßerumgeworfene Spreng*
ftüde befdjäbigt werben. $ie Sprengmetßobe mittels Sfinbfdjnur leibet atfo nicht
BloS an bem regelmäßigen Seitberlufte, ber mit bem Dutdjbrennen beS SaußenerS
oerbunben ift, fonbem jumeilen auch an einer unregelmäßigen Scrtangfamung in
ber gortpßanjung beS SünbfeuerS. 2)iefe SBerjögerung führt mcßt fetten baS Un*
gtfid ungebutbiger tfrbeifer herbei. 3n ähnlicher Söeife fann gleich anfänglich
eine jn rafcße gortpßanjung beS SünbfeuerS ben Seiiien nicht bie genfigenbe Seit
jum ßdjern Stücfjuge laßen. ©djon ^ieraud läßt ftdj fließen, baß auf biefe SBeife
eine gleichzeitige ©ntjünbung mehrerer Schüße !aum möglich »ft rooburch atfo ber
Sortßeil beS SneinanbergreifenS btt SBttfttngSfphären ber textern, mithin auch
bie aRögticßfeit entfällt, baburch ihre SeiftungSfäßigfeit ja fteigem.
SluS biefen unb ähnlichen ©rünben fachte man fcfjon im hörigen Saßrßunbert
(fßrieftlet) 1769), nachbem bie jünbenbe ftraft beS eteftrifchen ftunlenS erprobt
Worben war (Subolff 1744), Stinen burch eleftrifcfje Junten in SBranb ju fefcen.
Sltlein erft feit bem britten 3 a h E J«h nt »nfttS SahrßnnbertS gerieth bie proftifcße
Söfnng biefer Stufgabe in gtuß (3R. ®ßam 1831, Sarrentrapp unb ©Sßfcßmann
1842—49 n. a.), unb gewann immer mehr an IBerläßtidjfeit in bem SWaße, wie
bie ©leftrieitätsteßre nnb bie öerbeßerung ber ©leftriditätSquellen fortfcßritten.
Sfußerbem War aber noch biefe ©prengmetßebe abhängig hott ber $erpeOung
folcher Sönber, welche burdj ben eteftrifchen ffunfen leidet in SBranb »erfaßt werben.
Unb bieS baher, weit ba$ Scßießpuloer fich nur feßr unßcßer auf bireetem Stege
burch ben elefttifchen 3unfen entjünben läßt. ®tart mußte fid) folglich nach anbent
ßjplofioffoßen unrfehen, bie fo jünbempßnbli# finb, baß ße fdjon bntch ben
flemften eteftrifchen ßfunfen Seuer fangen, welches ße fogteicß ber eigentlichen
Sprengmaße, wie Scßießpuluer, Schießbaumwolle, Spnamit u. bgl., mittheilen.
Su ben gänbempßnbtichen Materien gehören befonbers baS ünaüquedßlBet nnb
ein fßutoer, welches aus gleichen ©emidjtstßeiten hon ©chwefelantimon unb hdliunt«
chlotat beßeht. SBerben biefe ober anbere äußerft leicht entjünbticße Snnbfäße in
paßenbe ®apfetn gefüllt, in welchen ifolirte ®räßte fo befeftigt ßnb, baß mitten
in bet Sänbmaße, burch einen eteftrifchen Strom, entweber je ein eleftrifdßer gmtfe
auftreten ober je ein äußerß bünner unb furjer fßtatin», Stahl* ober (SifeKbraßt
erglühen fann, fo erhält man bie für eteftrifeße Sprengungen geeigneten Sönber.
girr ben erften galt finb bie SeitungSbräßte in ben Sünber urfprünglicß Unförmig
eingeBracßt, aber bann, mitten im Segen, bureßfeßnitten worben, bamft in biefer
fleinen Süde ein eteftriftet gunfe, infolge eines (SntlabungSßromeS, entfteßen
fönue. gilt ben zweiten gall finb bie Beiben SeitnngSbräßte im 3«nber mittels
beS bünnen, erglühenbett fßlatin*, Stahl* ober ©ifenbraßteS metattifcß berbun*
ben. SBenn bann bie in ben ©jptofiüftoß, heutzutage wegen ber ßot|en SBieffcrm*
feit meißenS in Xßnamit, eingefcnlten Sünbpatronen mit ihren aus bem Spreng*
Icnß ßerauSragenben $raßtenben hintereinanber gefdjaltet, unb juleßt burch lange
Seitbräßte mit einer entfernten, ftaefen SlettricitätSquelle metaHifcß oeebuitben
werben, fo erfolgt, fobatb ber eteftrifeße Strom ßergeßellt wirb, bie (Sgptoßön
aller Sprengfcßüße gleichzeitig, atfo feßr Wlrffam.
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Die (Hteftricitat in bet Cedjnif.
56 \
S)ie Zuleitung Oon ben (SteftricitätSquellen $u ben 3ünbpatronen ift ähnlich
wie bei ber Xelegraphenleitung angelegt, SllS EteftricitätSquetlen bienen meift
leiert transportabel eingerichtete, unb gegen 3 *»tritt t»on geucßtigfeit gefdjü|te
Eleftrifirmafchinen mit ^gehörigen ©erftärfungSgläfem (Sonbenfatoren; Ebner 1859
«nb feitbem ö. a.), ferner fräftige SnbuctionSftröme oon Stuhmforfffchen gunfen*
inbuctoren (©erbu unb Stuhmforff 1853 u. a.), ober oon magneto» ober bpnamo*
eleftrifchen Separaten, welche für biefen 3 wecf compenbiös unb eigentümlich ge*
baut werben (ÜDtarfuS, ©regnet, (Siemens u. a.). Stile biefe Stpparate liefern
tjochgefpannte ftarfe elettrifche Ströme unb eignen fidj oorjüglich jur gmtfen*
erjeugnng in ben 3 ünbern, welche in größerer Slujatjl (20 unb barüber) hinter*
einanber eingefchattet werben.
2 )ie erften eleftrifchen 3ünbmtgen würben mittels ber Eleftrifirmafchinen be*
Wirft. $a biefe jebodj in früherer Seit noch nicht genug gegen bie Störungen
bur<h feuchte Suft u. bgt. m. gefehlt waren, unb baher barnals feine oerläßlichen
©efultate gaben, fo würbe nach eleftrifcf» ergtühenben krähten im Sdjießpuloer
fetbft unb fpäter in empfinblichem 3ünbern gegriffen (ruffifdjeS ©eniecorps 1829,
£are 1834, StobertS 1837 u. a.). 2)ie EleftricitätSgueHen Waren hierbei groß*
plattige Xaudjbatterien, welche aus großem Entfernungen mechanifch fdjließbar
Waren. SEBeil aber bertei ©atterien im (Gebrauche gu umftänbtich unb für oiete
gleichseitig §u erglühenbe Srähtc weniger oerläßlich als bie guntenfpenber finb,
fo würben fpäter bie lefctem Oorgejogen. §eutjutage fönnten mächtige $t)natno=
mafchinen, wenn bie Gelegenheit hierfür günftig Wäre, auch für bie gleichseitige
SBirfung oon ©tüljjünbern mit Erfolg wirten. SlKeiit, wegen beS leichtem Urans*
porteS unb ber babei bemtoch fichem SBirfung Werben in ber Siegel bie oben er*
wähnten compenbiöfen gunfettapparate, in ber Eioilprafis am meiften bie hierfür
eigens eingerichteten SteibungSeleftrifirraafchinen, in ber Sprengtechnit benü^t.
gür umfangreiche Sprengarbeiten ift in unferer 3eit bie elettrifche 3ünbungS*
Weife Dothertfchenb, bie phrotechnifdje aber feltener geworben. Unb bieS wegen
ber fchon oben angebeuteten ffiorjüge, ju welken noch folgenbe hinjufommen: SBie
man nämlich halb einfieht, geftattet nur bie elettrifche 3 ünbung eine ooHftänbige
©erbänunung, b. i. ©erfchließung beS ©ohrlochcS ober SKinenofenS, mithin eine
bebeutenbe Erhöhung ihrer SBirfungSfähigfeit. SOtittelS gut ifolirter Seitungen ift
ferner baS elettrifche 3ünbberfahren unter SBaffer leicht anwenbbar, währenb jenes
mittels 3ünbfcfjttur in foldjen gälten große Schwierigfeiten bietet. Sie Entjün*
bung ber Patronen mittels Eleftricität fann beliebig oerf«hoben, unb in jebem
fpätem 3eitpunfte oorgenomnten werben. SieS ift befonberS in militärifcher ©e*
jiehung oon äBicßtigfeit. So bie eleftrifchen gluß* unb Seeminen ober eleftrifchen
lorpeboS laffen fich fo anfertigen, baß fie burch ben Slnftoß ber feinblichen SBaffer»
fahrjeuge felbftthätig eine Solta»©atterie fehließen, baburch ejplobiren unb jenen
gahrjeugen oerbetblich werben. Stuf biefem ©rincip bemhen auch bie Sritt*
iorpeboS ju Sanbe, welche oerborgen in Seinen liegen unb {ich burch baS ©etreten
beS geinbeS automatifcß entlaben.
Storch bie eleftrifchen 3 ünbmethoben, in ©erbinbung mit ben ®hnamiten, ben
-neuen Sohrwerfjeugen fowie ©ohmiafchinen, h«t bie Sprengtechnit ein gelb für
Un(«e 3 eit. 188». X. 3(5
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562
Unfere ^eit.
i^re Xftötigfeit erobert, Welcfte« fid§, Weit über bie militärifcften 3u>ecfe ftinau«,
auf öiete 3weige be« ©au», ÜJlontan* unb Stgri cuttu rwefen« in einer 2lu«beftnung
erftrecft, woüon man in früherer 3^it, wo ba« Sprengwefen nur ein eng be*
fcftränlte« £anbwerl bilbete, feine Stauung batte. £»eutjutage Wirb nur noch int
montanen Kleinbetrieb mit ^Jutber unb Sauffeuer gefprengt. ©ei großen Straften*
unb |>afenbauten Werben oft Stiefenminen mit erfcftredenben Sabungen (2000—
9000 Kilogramm Ejplofibftoffe unb bariiber) eteftrifcft entjünbet unb enorme ©e*
ftein«maffen $erfprengt.
3n äftnticfter SBeife wie bie elettrifcften 3ünber fann man aucft, über einer
Steifte üon geöffneten ©rennem, bie ©a«ftröme mittels eleftrifcfter Junten ober
glüftenber Ißlatinbräftte entjünben; gewöftnlicft bient ftierju ein Stuftmlorff’fcfter
3nbuctor.
SBir ftaben bi«fter ben eleftrifcften Strom beobachtet, wie er SRafcftinen belebt,
bie näcfttlicfte ©eleucfttung beforgt, bie gleichzeitige Entjünbung bon SJtinen über*
nimmt; jefct wollen wir iftn belaufcften, wie er bie Stolle eine« bitbenben Künftter«
fpielt, freilich nur eine« nacftaftmenben, aber bafür eine« treu arbeitenben, bet bie
Originale nicftt mit feinen eigenen gefttern betaftet, fonbem bie formen ber ©or*
lagen berläftticft unb unOerfätfcftt wiebergibt, wir meinen — bie ©albanoplaftif.
SBa« ber Sicfttftraftl in ber ißftotograpftie, ba« leiftet ber ©olta’fcfte ober galbanifcfte
Strom in ber ©albanoplaftif; beibe Energien copireu unb berüietfättigen möglitftft
genau nacft bem SDtufter, aber jener fteHt ben nacfgeicftnenben ÜJtaler, biefer ben
nacftgeftaltenben ©ilbftauer bor; merfwürbigerweife fallen aucft bie praftifcften Sin*
fange ber ©ftotograpftie (Xaguerre, Xalbot) unb ©albanoplaftif (3afobi, Spencer)
in biefelbe 3eit (1837—40). ®iefe parallele ber beiben, mittet« ber Staturfräfte
copirenbeit Künfte tiefte ficft nocft, bezüglich iftrer rafdjen gortfcftritte, iftre« fcftnellen
©opulärwerben« u. f. W., leidftt weiter füftren; bocft laffen wir e« ftiet an biefer
Anregung genügen, inbem wir nur nocft an bie £>auptfadje erinnern, baft bei
beiben bie cftemifcften SSirfungen ber mitfpielenben Energien ba« SSBerf boHfiiftren.
3a bie cftemifcften SBirfungcn be« galbanifcften Strome« boübringen bie be»
wunbern«wcrtften Sciftungen ber ©albanoplaftif, fobalb bie getrennten ©ole einer
Stromquelle in bie wäfferigcn Söfungen ber entfprecftenben SRetaHfalje, boneinan*
ber abfteftenb, getaucftt werben. S« fdjlagen ficft bann bie SJtetaHe au« jenen
Söfungen an bem negatiben ©ole (Katftobe) nieber unb überjieften biefen.
leftterer nur mit gutleitenben ©egenftänben, j. ©. SJtünjen, Kunftgegenftänben
jeber Strt, ©erätftfcftaften u. f. w., metallifcft berbunben, fo überjieften ficft fotcfte
mit bem burcft ben Strom au«gefäHten SDtetaH, j. ©, bei einer Söfung bon
Kupferfutpftat (Kupferbitriol) mit Kupfer. Xiefe« fcftlägt ficft fein frftftattinifcft, feft
unb bicftt jufammenftängenb an ben leitenben Objecten be« negatiben ©ole« nieber,
Wobei e« ficft an alle Erftabenfteiten unb ©ertiefungen jener ©rototftpe fo innig
anfcftlieftt, baft e« lefttere genau nacftformt. E« bitbet ftierbei einen Ueberjug,
ber, wenn er nacft einiger 3eit geniigenb bicf geworben ift, ficft bon bem Original
abtöfen täftt. Sin ber iunern Seite zeigt bann biefe abgenommene Kupferplatte
auf ba« getreueftc alle, aucft bie jarteften ©eftatten be« Original«, jebocft negatiö,
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Die N£Ieftricit<3f4n 6er Cedjntf.
563
b. tj. »ooS im SJiufter erhoben »Dar, erfdjeiut liier vertieft, dagegen fommen bie
Vertiefungen ber Vortage ergaben.
Um auf eine einfache 9trt einen pofitioen gatbanoplaftifchen 9tbbrudf beS Ur*
bitbeS ju erhalten, b. i. einen, ber ihm auch in feinen Strebungen unb Ver*
tiefungen gleißt, toirb Don bem Original mittels Stearin, Hartgummi, ©utta*
per<ha u. bgt. m. eine genaue, ptaftifdje, negatiDe Kopie gemacht. Diefe, nachbem
fie burd) ben afterfeinften ©rapjjit* ober SJletaltftaub eine gutteitenbe Oberfläche
ermatten hat, Wirb an bem negatiben V°t metatlifd) befeftigt unb gibt, »Denn fich
an berfetben baS Rupfer aus bem Vabe nieberf^tägt, bie gatbanoplaftifchen pofi=
tioen Stachbitbungcn. 3“ foldjen eignet fi<h am beften baS Rupfer, weshalb in
ber Sieget nur biefeS ju berartigen Bwecfen benüfct wirb.
SBährenb man, mittels ber gatDanifdjen StuSfatlung beS RupferS aus bem
Rupferfutphat, bie oerfdjiebenartigften Objecte in Rupfer auf baS genauefte nadj=
bitbet, bebient man ftch in ähntieher SBeife, wie borhin, beS eteftrifdjen Stromes,
um mittels geeigneter SOtetaltfatjtöfungen bie ©egenftänbe mit biinnen, nicht ab*
lösbaren 9Retaltfiberjügen ju bebecfen, unb fie namentlich in berhättnißmäßig »oofjt*
feitet SBeife ju Dergotben, berfifbern, berptatiniren, öernicfetn u. f. w. Die
gatbanifdie Vemicfetung eiferner unb meffingener ©egenftänbe, unb befonberS »er*
fdjiebener SDtafchinenbeftanbtheile, hat in neuerer Beit eine großartige Verbreitung
gefunben, um jene Objecte einerfeits gegen SRoft ju frühen, unb um ihnen anberer*
feit ein bertocfenbeS, fitberähnlieheS 9tuSfehen ju berteihen.
Die ©atbanoptafti! hat fogleidj nach ihrer ©rfinbung eine fehr bebeutenbe Ver*
breitung gefunben fowoht im Rleinbetrieb bei Dilettanten unb Vergotbem, als
and» in größem fetbftänbigen Stnftatten für Verfitberung unb Vergotbung bon
Vijouterien, Dafelfetbicen, Schreibtifchgarnituren u. bgt. nt., für bie Stachbitbung
bon hifiorifchen SRebaitten, bon feltenen Runftgegenftänben in ÜRufeen, Sdja|}=
tammern u. bgt. m., für bie ®r§eugung ber berfchiebenften Objecte in ben Runft*
getoerben; für bie Kopirung bon VaSretiefS, Statuetten u. bgt. m. in ber ptaftifdjen
Runft, für bie Schaffung bon SRonumentafbrunnen, ferner großer Statuen, j. V.
beS DenfmatS bon ©utenberg in ffrantfurt a. SDt. burch Rreß u. f. W. Slußerbent
ift bie ©atbanoptaftif in wichtige Verbinbungen mit ber Vucfjbrucferfunft unb ben
graphifchen Rünften getreten, fo j. V. bei ber erftern jur §erftettung bon fupferncn
formen für baS ©ießen ber Schrift, jur ©ewinnung bon fupfemen Stereotyp*
platten unb RupferclityeS, um bie Originale ju fronen; ferner jur gatbanoplaftifchen
(Erzeugung fupferner Drudptatten, welche für ben „Staturfelbftbrud" (9tuer 1854)
bie in Vteiptatten eingepreßten zarten {formen bon Statur* ober Runftgegenftänben,
j. V. bon Ißflaitjenblättern, flechten, potirten 9ld|aten, Spifcen u. bgt. m., getreu
wiebergeben, hierher gehören auch bie brucffähigen galbanoptaftifcheu Abnahmen
bon eigentümlich auf Sitberptatten, etwas erhaben ausgeführten Beidtyungen
(©atbanographie bon Robett 1840—46) unb bon plajtifch bargeftettten ijtyoto*
graphien (©atbanophotothpie bon Eßretfcf» 1854 unb nahezu gleichseitig bon ißoitebin,
fowie bie Heliographie bon Scamoiti 1872 u. m. a.). Das lefctere Verfahren
eignet fi<h befonberS für bic Verbietfältigung bon Sanbfarten unb anbem Sinear
Zeichnungen.
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56$
Unfete
SltS ©teftricitäiSquellen bienen in fteinern gateanoptaftifpen Slnftalten Solta*
Batterien ober, toenn aup fettener, Ipermofäulen bon 9loe ober ©tamonb; in
grbfjent mächtige magneto* unb bpnamoeteftrifpe SJlafpinen. 2)ie Intern »erben
jept bon Siemens, ©ramm u. a. für biefen Smed eigens conflruirt, unb eS fd^efnt,
als ob biefe Separate fänftig in ber ©teftrometatturgie überhaupt eine bebeutenbe
Sötte ju fpieten berufen mären. So j. B. fpeibet fpon feit bem 3°P* e 1875
bie „Sorbbeutfpe Äffinerie" in Hamburg mittels beS eteftrifc^en Stromes, b. i.
burp „©teftrotpfe", aus fttber« unb gotbpaltigem Bopfupfer napeju pemtfp reines
Tupfer (99,9s Broc. Kupfergepatt), mobei aup jene ©betmetatle opne Berluft bar*
gefteDt merben. 3« berfelben gabrif mürbe ebenfalls auf eteftrifpem ©ege bor
futjem (1877—78) bie Kupferfifbertegirung eines großen XpeitS beutfper Speibe*
münje in Silber unb Kupfer jettegt. Hauptaufgabe ber eteftrotptifpen Slbtpeilung
obiger girma ift jmar bie ©eminnung bon Seintupfer im ©rofjeit (1600 Kilo*
gramm in je 24 Stunben); aber es mirb aup feit 1878 bie eteftrotptifpe $er*
fteüung bon geingotb unb Seinfilber aus oerfpiebenen Segirungen nap einer
neuen äJfetpobe betrieben. ®er eteftrifpe Strom gept bon 6 ©ramm’fpen 3JJa=
feinen aus, melpe mit einer Xampfntafpine bon beiläufig 30 ißferbefräften in
Dotation berfept merben. gemer bebient fip baS föniglip preufjifpe unb perjog*
tip braunfpmeigifpe ©ornrnunionpüttenmerf ju Dter am H flt i ber ©teftrotpfe bei
ber Kupferfpeibung.
SBenn mir einen Südbticf auf ben bon uns bisher burpmanberten ©eg roer*
fen, fo ergibt fiep, bafj bie ©leftricität in tpret Stnmenbung auf baS praftifpe
Seben immer meitere Kreife ergreift. 2) er eteftrifdje Strom beginnt nun mit mepr
Hoffnungen ats epebem ben Betrieb bon SRafpinen unb Socomotiben; feine Sipt*
mirfintg tritt in eine ernfte Eoncurrenj mit ber ©aSbeteuptung; feine SBärme»
mirtungen beperrfipen bereits bie moberne Sprengtepnif; feine (pemifepen Sebuc*
tionen paben bie galbanoplaflifpe 3nbuftrie gef«paffen unb fangen an fi(p in ber
pergmännifpen SKetatturgie ©ettung ju berfepaffen. Stile biefe Strbeiten beS eiet*
trifepen Stromes jufammen, fo beträepttiep fie aup finb, ftepen jeboep, fomot in
Betreff ber ©iptigfeit ats Häufigfeit, meit jurücf gegen bie eine StuSbeutung beS
eteftrifpen Stromes, roetepe unter ber Bejetpnung — ber etettrifdjen Xelegrappie
befannt ift. ®ie SJtittpeitung bon SRapripten auf größere Entfernungen mittels
beS btipfpnetlen eteftrifpen Stromes pat alte Strten mepanifper, afuftifper unb
optifper Xetegrappen aus bem getbe gefptagen, unb nur, mo feine eteftrifpen
gemfpreiber ober gernfpteper ju paben finb, greift man nap ber ättem gern*
fprepfunft mittels ber ßiptjeipen u. bgt. m.
Spon berpättnijjmäfjig früpjeitig mürben Borfptäge unb Berfupe gemapt,
ben eteftrifpen gunfen (Sßroject eines Unbefannten 1763, Seffage 1774, Seuffet
1794 u. a. m.) ober bie ©teftrotpfe beS ©afferS (Sömmerring 1809) für baS le*
tegrappiren ju benilpen; aber erft bie ©ntbednng unb Beobachtung ber Slbtenfung
ber SRagnetnabet burp ben eteftrifpen Strom (Derfteb 1819), fomie ber mague*
tifirenben ©irfung beS Ieptern auf ©ifen (Slrago 1820), brapten jene ©irfintgen
bes eteftrifpen Stromes jur Kennhtijj, auf metpen bie meifien, baS finb bie elef*
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Die Cleftricität in ber Tecfjnif.
565
tromagnetifchen Telegraphen berufen. (Sine jtoeite, rnenig oerbreitete klaffe elef=
triftet Semfchreiber bafirt auf ben c^emifdjen SEBirlungen bei elettrifchen ©tromel.
©o fehr üetfdjieben unb jahlreid) nun auch bie etettrifdjen Telegraphen finb, —
unb in ber That nmrben bisher unjahtige Strten unb Variationen berfeiben er»
funben — immer liegt benfelben eine ber obengenannten SSirtungen ju ©runbe.
Hieraul lägt fidj lei^t folgern, baß ju jebem elettrifchen Telegraphen all mefent*
liehe Veftanbtheile gehören: eine ftromerjeugenbe, genägenb ftarle ©eltricitätl»
quelle (Volta»Vatterien, 3Jtagneto» unb Thnamomafdhinen) nebft genägenb langen
Träten für bie „Bettung" bei ©tromel; ferner ein „Schlöffet" ober „Eommutator"
jum ^erfteöen, Unterbrechen ober Umlehren bei eleftrifchen ©tromel für bal
Seichengeben am Slbfenbeorte, unb ein „Separat" jum Seichenbringen an bet
ffimpfanglftation.
Ter ättefte eleltromagnetifche Telegraph beruht barauf, baß eine um ihren
SDtittelpunft brehbare SDtagnetnabel nach rechtl ober tinll abgelentt mirb, je nach»
bem mit Hülfe einel ©tultiplicatorl, b. i. einel ifolirten Trahtgeminbel, ein eiet»
trifcher Strom oom ÜRorb» $um ©übpot jener ÜJtagnetnabel, ober in entgegengefe|ter
Dichtung, geführt toirb. Sill Sei<henfenber bient hier ein ©trommechller, melchet
in paffenber SBeife bie Vatterie, bie Seitung unb ben Sei^enbringer, b. i. ben
fßabettetegraphen, oerbinbet SEBegen ber enormen ©efdjminbigteit bei eleftrifchen
©tromel erfolgt bie Slblenfung ber SRagnetnabel außerorbenttieh fchneH, toenn fte
auch noch fo toeit oon ber Slbfenbeftation entfernt ift. Tie Slbmeichung ber
ÜJtagnetnabel nach tinll ober rechtl gibt jtoei ©rtutb» ober (Stementarjeichen, aul
metchen burch betriebene SufantmenfteHung bal Sllphabet bei Vabeltetegraphen
gebilbet toorben ift. Ter erfte Stabettelegraph für eine längere ©trede flammt
bon ©auß unb SBeber (1833). Tie Btabeltelegraphen finb in ber mannichfachften
SBeife bariirt toorben unb jte fpietten in ber erften Seit (1838 u. f. f.) ber eiet»
trifchen Telegraphie bie Hauptrolle; fpäter mürben fie burch «nbere Telegraphen»
fpfteme immer mehr unb mehr oerbrängt. ©egentoärtig flehen fie faft nur noch
bei englifchen ©fenbahnen im ©ebraucfj unb in ber unterfeeifchen Telegraphie.
3m le|ten Salle baher, toeit ber fubmarine telegraphifche Verleg nur mit mög»
lichft fchmachen Strömen betrieben toetben lann, metche eigentümlich nnb jart
aulgeführte SRabettetegraphen leicht jum Seichenbringen bemegen.
Ter Stabeltelegraph mürbe hauptfächlich burch ben Trud» ober ©chreibtelegraphen
oon SJtorfe Oerbrängt. Tie gor nt, in melier ber SJtorfe’fche Telegraph fo rnäch»
tig burchgriff, baß er noch heute, freilich in ben mannichfachften Variationen unb
mit ben oerfdjiebenften fotoie bebeutenbften Verbefferungen, im Tetegraphenbetrieb
Oorherrfdjt, mürbe im gahre 1840 in Slmerilä patentirt. Tal SBefentlidje biefel
Slpparatel befteht barin, bafi man oon bem Slbfenbeorte aul in ber (Smpfangl»
ftation einen ©ettromagnet, burch abmechfetnbel Deffnen unb Schließen einer
Volta »Vatterie ober einel anbern ©eftromotorl, faft augenblidlich magnetifiren
unb toieber entmagnetifiren lann. 3” fotcher SEßeife läßt fich auf toeite ©ttfer»
nungen hin, mittell einel ©djtüffel! ober Tafterl, ein ©ettromagnet fo beherrfchen,
baß biefer einen oon einer Seber nahe gehaltenen eifemen Sinter anjieht unb
toieber toltäßt, je nachbcm ber etettrifche ©trom hergefteltt ober unterbrochen mirb.
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566
Unfere ^eit*
Tritt tefctereS ein, fo führt bie gebet ben Sinter in feinen urfprünglidjen Slbftanb
juriid. Tie auS bem Slbfenbeorte in bec ©mpfangöftation blihfdjneU bemirfte ©e»
wegung beS ©ifenanterS !ann ju telegraphien Seiche« oerwenbet werben. ©3
läßt ftdj nämlich an jenem ©ifenanter ein $ebet berart befeftigen, baß, wenn ber
Sinter an ben ©lettromagnet angejogen wirb, ber eine Hebelarm mit ber ftumpfen
Spifce eines StahtftifteS gegen einen mec$anifdj öorwärts bewegten ©apierftreifen
gebrüdt Wirb. 3c nachbem man nun bie Batterie nur für einen Stugenblid ober
für etwas längere Seit mit hülfe beS Tafterö fließt, Wirb auf jenem jwifdjen
fieitwatjen burdjjiehenben ©apierftreifen mittels beS Stiftes ein ©untt ober Strich
eingepreßt. TieS teuftet ein, wenn man bebenft, baß beim jebeSmatigen Unter¬
brechen beS Stromes ber Sinter mittels einer gebet bont ©lettromagnet, mithin
auch jener Tradftift oon bem Rapier, entfernt wirb. Sefcterer brudt alfo auf
baS Rapier bie geilen nur fo lange, als ber ©lettromagnet thätig ift, mithin, je
nach ben äußerft furjen ober längern feiten biefer SBirffamleit, fünfte ober Striae.
Tiefe ftnb bähet bie ©runb* ober ©lementarjeichen für baS Sliphabet beS 2JIorfe’f<heu
Trud* ober Schreibtelegraphen.
Seht mannichfattig finb bie ©erbefferungen, Umgeftaltungen unb Stbarten
biefeS am meiften öerbreiteten gernfdjreiberS, fowie ber ju ihm gehörigen hülfs*
unb Stebenapparate. SBir müffen uns jeboch hier barauf bekrönten, nur anju»
beuten, baß für weit entfernte ©mpfangSftationen, bejügtich wetd^er bie elettrifdje
©etriebStraft ber Slbfenbeorte nicht ausreicht, äußerft leicht fpielenbe etettromag»
netifche Schlüffel in ber Seitung eingefdjaltet finb. 3e nachbem mit biefen
■Bwifdjenapparaten — behufs ©ewinnung einer entfernten, neuen elettrifdjen ©e=
triebstraft — eine Socalbatterie am ©mpfangöorte, ober eine jweite ßinienbatterie
an einer S^ifc^enftation, elettromagnetifch gefchloffen wirb, nennt man biefe ben
Trudapparaten ähnlich eingerichteten, jeboch nur als Stromfchlüffet arbeitenben
©tettromagneie für ben erften galt Sielais, für ben jweiten gaU Translatoren
(Ueberträger). Sßährenb biefe |>üIfSapparate baju beftimmt finb, bie ©atterien
ber entfernten Stationen für ben Setrieb ber Telegraphen jeglicher Slrt heranju*
jiehen, hat man anberfeits gefugt, bie SBirtungSWeite ber elettrifchen Stromfraft
ber Slufgabeftation baburch }u oergrößern, baß man bie telegraphien Seiten
nicht wehr inS ©apier als Sielief einpreffen, fonbern, unter Srafterfpamiß, auf
baS ©apier mit fchwarjer ober blauer garbe bruden läßt (3oßn 1854 unb
fpäter anbere). TieS tann in oerfdjiebener SEBeife gefdiehen; fo $. S. ift bei manchen
„garbfehreibern" ber Stahlftift beS SdjreibljebelS burch ein am Slanbe mit garbe
üerforgteS Schreibrabdjen erfefet, welkes bann, folange ber Sinter angejogen er*
fdjeint, baS oorüberjiehenbe ©apier berührt unb bie Seichen martirt. Solche
farbige Seiten lefen fi<h leister als bie gepreßte Schrift ber „Sielieffchreiber".
Tcmtoch jieht mau für fürjere ©etriebsftreden bie lefctern oor, weit bei benfelben
jebe Stdjtfamteit hinfidjttich ber Sfteinheit ber Schrift u. bgt. m. entfällt. Tagegen
gebraucht man für größere ©ntfernungen gern bie garbfehreiber, weit, wenn bie
Strede nicht gar ju lang ift, baS Sielais entbehrlich wirb.
gür ipauptftationen, bie mit telegraphiert ©orrefponbenjen überhäuft finb,
würbe bie automatifche Telegraphie eingeführt, Welche eine ©efchteunigung beS
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Die <£leftridtät in öcr Cedjnif.
567
telegraphifdhen SBerlc^rS baburch ju erzielen fuc^t, baft bie Slbfenbung ber Sett^en
mittet SOtafcljinenarbeit erfolgt, Schon äJtorfe (1833), Satn (1846) unb mehrere
anbere fabelt hieran gebaut unb SBetfuc^e barilber angeftellt; aber erft in jüngerer
Seit ift baS Sebürfnifs nach einer foldfjen ©rleicfjterung für «Stationen, welche mit
Strbeit überlaftet erfcheinen, rege geworben, unb es würben bon meutern Seiten
(Siemens»$afö!e feit 1853 bis jefct mit mehrera Spftemen, SBfjeatftone 1858,
Dignep n. a.) berartige Telegraphen conftruirt, bei welken ber ©runbfafc „Teilung
ber Strbeit" jur Durchführung !ommt. 2lls einfachstes Seifpiel mag f)ier bas
SBefentlichfte über ben automatifchen Telegraphen mittels geftanjter Schrift ange*
beutet werben. Sei bemfelben wirb bas Telegramm bot ber 2tbfenbung mit ben
SRorfe’fchen fteityn mittels 9Raf<hinen in ben Sapierftrcifen gelodet. Sefcterer
Wirb bann oon einem Uhrroer! jwifc^en ben paffenb eingerichteten ifjolen ber
Batterie mit geeigneter (äefdjwinbigteit Oorwärts gezogen. Solange bie Ißapier*
maffe bie ißole trennt, ift lein Strom oortjanben; fo oft unb fo lange bagegeit
jene ißole fidfj in ben SlnSfchnitten ber Schrift metaHifch berühren, fdjliefjen fie
bie ©atterie, unb an ber (SmpfangSftation entfielt mit äJtorfe=Schrift baS Telegramm.
Stuf biefem Srincip beruhenbe Separate fielen in ©nglanb unb granfreidj an
telegraphifdhen |>auptorten in SerWenbung; fie bebürfett eines grünem ißerfonals,
Weites fich in bie 2lrbeit — Ständen, Telegraphiren, Ueberfefcen — tljeilt, bafür
ift aber auch bie ©efammtleiftung eine beträchtlich erhöhte.
Die borfteljenb befprochetten Stabei* unb Schreibtelegraphen geben bie Stach*
richten in einer eigens oereinbarten Sprache, beren Seichen ftch jeboch leicht unb
einfach hertwe&ringen unb ebenfo ohne Sdhwierigfeit erlernen laffen. Dennoch
entftanb fdhon frühzeitig bet SBunfdjj, Apparate ju befifeen, welche ben (Sebanfen*
auStaufch in bie Seme burch baS gewöhnliche 2tlphabet oermitteln. Sn ber T£)at
ift es einer großen Steihe Oon ©rfinbern (SBIjeatftone 1839, Storbelp 1843, Sie¬
mens feit 1846 in Oielerlei Sormen, Gramer 1847 u. a.) gelungen, Telegraphen
ju conftmiren, bei benen, ähnlich Wie an einer Uhr, oor einer mit Suchftabeit
berfehenen SreiSfcheibe ein Seiger umläuft, welcher oon ber Slbfenbeftation aus
eleftromagnetifch fo beherrfdht Wirb, baf? er oor jenen ©udhftaben, welche im Tele¬
gramm öortommen, immer furje Seit mhen bleibt. Das SOblefen unb Stnffchreiben
beS Telegramms befiehl alfo hier in einem gewöhnlichen Suchftabiren, weshalb
fol<he „Seigertelegraphen" befonberS in ber fogenannten Meinen Telegraphie, bas
ift für SDttttheilungen im Setrieb ber ©ifenbafinen, für bie ^auStelegraphie,
Schabenfeueranzeigen u. bgl. m., in Deutfchlanb unb Sranfreidh beliebt Waren
unb eS jum Theil noch flnb, Weil babei baS ©rlemen beS TelegraphirenS noch
leichter als jenes mit oereinbarter Schrift ift.
Sei ben Seigertelegraphen wirb baS Telegramm in allgemein oerftänblichcr
Drudfchrift abgelefen unb, wenn nothwenbig, auch öorn Empfänger notirt. Der
Stpparat felbft gibt feinerlei 2luff<hreibung. Der SEunfch nach einer foldhen h«t halb
(SBIjeatftone 1841 unb feitbem Oerfdjiebene anbere) ju fehr üerfchiebeiten, ben Seiger*
apparten ähnlichen, jeboch complicirtern Slpparaten geführt, bei Welchen bie DepefdEje
mittels Sateinlettem gebrudlt wirb. Sei berartigen „Thpenbrucftelegraphen" fi^en
an bem SDtantel eines fchneU rotirenben Stabes mit Drucffarbe berfehene Ttjpen,
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568
Unfere ^ett.
gegen welche im Slugenblid ber Stromfenbung ein medjanifö borbeijiehenber
©apierftreifen burdj ben bewegten Stnfer eines bon ber Slufgabeftation erregten
(Eleftromagnets fchnetl gepreßt, mithin ber in SluSficht genommene ©udjflabe ab»
gebrudt wirb. Ter boHfommenfte unb in ber ©rajiS berbreitetfte Tppenbrud»
telegraph jtammt bon ftugljeS (1855—63); fein Apparat gehört ju ben finnreichften
unb präcifeften 2Rec§oni$men in ber Telegraphentedjnif.
Stur bie bisher angeführten @rten oon Telegraphen hoben in ber ©rajiS
©ettung erlangt, unb in erfter Sinie bis jum h* u Ü0« n Tage ber SDtorfe’fche
Sdjreibapparat, weither, wegen ber (Einfachheit feiner (Eonftruction unb Sicherheit
feiner ausgiebigen Seiftung, bei ben meiften Telegraphiften bor allen anbem 8ei<h<« s
bringern hoch in Sichtung fleht. Stoch «obere intereffante Telegraphen, wie j. ©.
jene, welche ihre Seiten burih 3eefeh un 8 angefeuchteter Steagentien, mit welchen
©apierftreifen getränft ftnb, bringen (Tabp 1838, ©ain 1846, ©intl 1853 u. a. nt.),
haben bisher Wenig ©erwenbung gefunben. 3« folgen eleftrochemifchen Tele»
graphen jählen auch Gopirtelegraphen, welche bie $anbfd)rift, 3ei<h n nngen,
Stoten u. bgl. m. in bie gerne jit übertragen bermögen; fte finb jWar Wenig im
©ebraud), berwirflichen aber ein fehr wichtiges ©rincip, inbem fie bie Original»
fchrift in einer Kopie wiebergeben (KafeKi 1855, b’Slrlincourt 1869 u. a. m.).
SteuerbingS h«t Sowper (1879) fogar einen eleltromagnetifchen Telegraphen
erfunben, Welcher autographifch bie Schrift bringt; er bebarf jeboch für feinen
Stpparat jweier SeitungSbrähte, was für bie ©rajiS ein großes $inbemiß ift,
inbem biefe ja fogar in neuerer 3rit jur beffern SuSnüfcung ber theuem Seitungen
ein altes Problem mit (Erfolg aufgegommen h«t» nämlich einen unb benfelben
Traljt gleichzeitig für bie ©eförberung jweier Telegramme nach berfelben ober
entgegengefefcten Stiftung ju gebrauchen (3Rultiplej»Telegraphie).
Tie möglichfte StuSnü|ung ber Telegraphenleitung Wirb, wie foeben angebeutet
würbe, beShalb angeftrebt, Weil tefctere, fowol in ber Anlage als (Erhaltung, ben
loftfpieligften Theil im TelegraphenWcfen bilbet, was leicht begreiflich wirb, wenn
man fidj erinnert, baß biefe Seitungen ober „Sinien" meilenweit fleh erftrecfen.
©lücfli^erweife fanb Steinbeil, fdjon jur 3ugenbjeit (1838) ber Telegraphie, baß
bet StüdleitungSbraljt entfallen fönne, wenn man ben, jwifchen beiben Stationen
ifolirt gefpannten $inleitungSbraht, nachbem er um bie Äpparate geführt Worben
ift, an große, lothrecßte ®upfertafeln befeftigt, welche in jebet ber beiben Stationen
tief ins feuchte (Erbreich berfenft worben finb. (Einige ©htyßfo (Steinheil, ©aum*
gartner unb SOtatteucci) nahmen früher an, baß bie, jwifchen biefen ©olplattett
liegenbe feuchte (Erbftrecfe bie entgegengefe|teu (Eleftricitäten gegeneinanber führe,
bis fie fich neutralifiren. Mein tiefer geljenbe Unterfuchungen (SSheatftone unb
(Eafelli) hoben fpäter gelehrt, baß jene (Erbfdjicht hierbei jWar fcßeinbar bie ©olle
eines ©üdleitungSbraljteS fpiele, baß aber in 2Bahrl>eit bie (Erbe als ©anjeS unb
als außerorbentlich großer Seiter jeben ber beiben ©öle entlabe. Taburih föttnett
lejjtere mittels ber Trahtleitung bon ber (EleftricitätSqueKe immer Wieber aufs
neue geloben werben, um abermals bon ber (Erbe entlaben ju werben u. f. f..
Was einen eleftrifchen Strom im $inleitungSbrahte jur golge hoben muß.
Tie Sinienleitung wirb entweber in allgemein befannter SBeife oberirbifch ober,
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Die (Eleftricität in 6er Cedjntf.
569
unt Störungen beS SöetriebeS bureß Stürme u. bgt. nt. ßintangußatten, in
tteuejler 3«t öfter als früher auch unterirbifcß angelegt. 3m lefctem Satte, fowie
aueß bei ber telegrapßifcßen S3er6inbung Don Orten, bie bureß einen breiten Stuf?»
einen See ober ein SJteer gefeßieben finb, muß ber SeitungSbraßt Dor ber ab»
teitenben Släffe bureß eine ifotirenbe $üüe bewahrt toerben. SWan bettet baßer
einen ober mehrere Supferbräßte ober Supferfeite ber gangen Sange naeß in ifo=
lirenbe ©nttapercßa ein unb fcßüfct bie legiere gegen bie betriebenen fcßäbticßen
Singriffe burch einen tßanjer aus ftarfem ©ifenbraßt. $aS ©ange erhält babureß
baS SluSfeßen eines Seiles, laues ober Sabels, Woraus fieß bie allgemein attge=
nommene ©egeießttung „Sabel" für eine berartige unterirbifeße ober fubmarine
Xelegrapßenteitung erflärt. ®te berfeßiebenen 2tnfertigungSWeifen, ißrüfungS»
metßoben nnb SegungSarten ber Sabel, befonberS jener in ben 2J?eeren, bitben
ein ßöeßft angießenbeS Sapitel ber Jelegrapßentecßnil. 3a, bie ©efeßießte ber 8e=
Raffung ber für bie |>erftetlung ber SReereSfabet erforbertießen großen Sapitale,
ber Scßicffate biefer Sabel bon ihrer ©ntfteßung bis gu ihrer glüeftießen 3nfial=
lirtntg ober gu ihrem Untergange u. bgt. m., finb bon allgemeinem, nicht feiten
fpaituenbem 3«tereffe. ®a uns jeboth foteße ©rgäßlungen bon bem fpaupttßema
gu weit abführen würben, fo mag biefe Anregung hier genügen.
SRittelS langer SDleereSlabet geftaltet fteß bie tetegrapßifcße ©orrefponbeng
biet tangfamer unb feßwieriger als bei bem gewöhnlichen letegrapßiren gu Sanbe.
Senbet man nämlich einen S3otta»Strom burch ben Supferbraßt („Seele" ober
„Sern") bes Sabels, fo pflangt er fich nicht nur in ber ®raßttänge fort, fonbern
er wirft auch burch bie Sfolirung h'bburch auf ben gutleitenben ganger unb
bas SBaffer bertheilenb, Woburch beren bereinigte Sleftricität in bie pofitibe unb
negatibe ©leftricität gerlegt wirb. Sefctere gieht bie pofitibe Sleltricität bes Supfer»
brahteS an. Saburcß entfteht eine eigentümliche Sabung beS Sabels mit ent»
gegengefefcten ©teltrici täten im Sanern unb Sleußem, weshalb bie ffortpflangung
bes für bas letegrapßiren beftimmten Stromes bebeutenb bergögert wirb. Stach
jeber Unterbrechung beS letegrapßenftromeS muß baßer baS gelabene Sabel ent»
laben werben, was bei ftarfen Strömen lange bauern unb bie rafeße Stufeinanber»
folge ber Signale hindern würbe. SluS biefem ©runbe unb um baS Sabel gu
feßonen, wirb auf unterfeeifeßen Sinien nur mit feßt feßwaeßen Strömen unb mittels
eigentümlicher, ftromwecßfetnbcr 3eic^ertfenber, fowie aueß mittels befonberer,
ßöcßft empftnblicßer ^cießenempfänger telegrapßirt. 3« leßtern geßört aueß, wie
feßtm frfißer erwähnt, ber für biefen 3wccf eigens umgeftaltete Stabettelegrapß.
2Rit £>fitfe ber unterfeeifißen Sabel ift es gelungen, bie burch ÜPteere getrennten
©rb» unb Sanbtßeite bielfeitig telegrapßifcß gu berbinben unb ein einheitliches,
großartiges letegrapßemteß für ben SBeltberleßr gu feßaffen. Stocß ift lein halbes
3aßrßnnbert feit ©infüßrung beS ©ebanfenauStaufcßeS mittels beS eleltrifcßen
Stromes abgelaufen, unb feßon umfpannt ein Xraßtnefc bie ©rbe, beffen ©efammt»
länge naßegu 44 mal ben ©rbäquator umfaffen mürbe. ®abon entfällt beiläufig
bet 11. Ißeil auf Sabel. Unb babei finb bie ©infcßaltungen neuer telegraphier
Stationen in ftetem SBacßfen. Slucß ftnb hierin nießt bie Seitungen ber leie»
gtapßen für befonbere Bwecfe — wie g. ©. ber ffeuertelegrapßen, getbtetegrapßen,
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Unfere gil¬
bet 3 e i t tclegra^cn ober elcftrifc^en Upren, bet £>au3telegrappen unb eleftromag»
netifcpen Säutewerfe jum #erbeirufen bet Sienerfcpaft u. bgt, m. — einbegriffen.
Bmpofant finb bie Balten, toetc^e bie SRenge bet Selegrappenämter, bet Sele»
grappenapparate, beS zugehörigen iperfonals unb befonberS bet jährlichen, nach
Bepnmiüionen jäptenben Selegramme angeben. @3 gibt nur noch ein SBerfeprSmittel,
welkes berlei loloffale Bohlen aufjutoeifen pat — cS ift baS ©ifenbapnwefen,
bent bie ©ifenbapntelegrappie burcp ben entfprecpenben Stacpricptenberfehr unb bie
eleftromagnetifcpen ©ignalapparate mamticpfach pelfenb unb förbentb jur ©eite
fteht. 3n welket SBeife biefe beiben, bott bet SSärme (Sampf) unb ©leftricität
belebten gigantifcpen SBerfeprSmittel bie 2Belt umgeftaltet paben, läßt ft<h toot in
riefigen Baplen faffen, aber !aum im richtigen ©rößenberpältniß berfinnlicpen unb
begreifen. SEBelcpe großartigen Simenfionen fiat bet SBeltpanbel mit $üffe biefet
beiben gactoren angenommen! SBetcpe SBefcpteunigung unb SBerläßlicpfeit pat bet
eleftrifcpe Selegrapp in ben öffentlichen unb pribaten ©efdjäftSbcrfepr, in ben
ftaatlicpen unb ftSbtifcpen ©icperpeitsbienft gebracht! Unb bennocp ftteben bie
ßleftrotecpnifer nodj »eitet! 3pr gbeal eines eteftrifcpen Selegrappen, Welcher
ein getreues SBilb bet £anbfcprift mit großer ©eftfjtoinbigfeit unb ©icherheit wieber»
jugeben hätte, ift nod) nicht berwirflicpt, inbent bie bisherigen eleftrochemifchen
©opirtetegrappen ju (angfam unb unficper arbeiten, bet eleftromagnctifcpe Sele»
grapp für bie 9lutograppie (Soioper 1879) aber noch in feiner ftinbpeit fich
befinbet.
XBäprenb mau ben für bie große ißrajiS tauglichen, tefegraphifchen $anb»
fchriftenapparat noch immer erwartet, erfcpien bor lurjer Beit ber eleftrifche gern»
fprecper ober bas Seteppon bon S3eK (1876—77). Dbloot bas Sßatertanb biefes
mit Stecht bietbewunberten BnftrumenteS Storbamerifa ift, unb baffelbe, über»
rafcpenb genug, bon bort nach Seutfcptanb fam (1877), fo liegt bocp ber Äeim
gu bemfetben in einer ©rfiitbung SeutfcplanbS — wir meinen in bem bon Philipp
SteiS in griebrichsborf bei granffurt a. 90t. auSgebacpten Seleppon (1860—61).
Siefer Apparat bermocpte jwar nicht SEBorte auf eleftrifcpem SBege in bie gerne
ju übertragen, wohl ober SKelobien. Unb an biefem, in Slmerifa unb ©nglatib
mit SSeifatt aufgenommenen efeftromagnetifchen gernfinginftrument würben bafelbft
ncehrfeitig (SSepbe, ©rap, S3ett u. a. m. in Storbamerifa; Beates, S. unb ©. SBrap
unb SBarlep in ©nglanb u. a. m.) ejperimenteüe ©tubien gemacht, Welche jur
Uebertragung ber SJtufif in bie gerne, ferner $u einer, freilich * n bie ißrajiS nicht
übergegangenen, mufifatifcpen Bcichetttelegraphie, unb enbfich auch P einer elef»
trifcpen gortpffanjung beS ©prechenS führten. Sie festere ©rfinbung fam gleich*
Zeitig (1876) bon ©rap unb 33efl. Sa jebocp baS Bnftrumeut beS erftern weniger
einfach als ienes beS letztgenannten war, überbieS einet S3otta»99atteric beburfte, fo
griff in ber erften Beit beS eleftrifdpen gernfpredjenS bo^üglicp baS pöcpft bequem
unb leicht $u paubpabenbe, maguetoeleftrifcpe Seleppon SeH’S im praftifcpen Seben
burcp, wäprenb ©rap’S Snftrument, welches ebenfalls ein Wichtiges ißrincip ber»
wirflicptc, bloS in gacpfreifen befannt würbe. @S gibt nur wenige ©rfinbungen,
toelcpe mit folcpem ©ntpufiaSmuS aufgenommen, fo rafcp berbreitet unb angewenbet
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Die <£leftricität in 6er Cedjnif.
57<
tourben toie baS ©efl’fche Xelepfmn. Saum ift ein Sa^rfänft feit feinem erften
Stuftaudfjen abgelaufen, unb fefjon gehört es ju ben populärften gnftruntenten
unferer Seit, metdjeS proteuSartig in hunbertfältiger ©eftalt erfdjeint, halb biefe,
halb jene gorm annimmt, in aßen biefen SBattblungen aber fein uefprünglictjes
SBefen für ben Senner betoafjrt. XiefeS ©runbprinäp beS XetephonS moflett mir
iu fiürje barjufteßen berfudEjeu.
2Bir fnüpfen hierbei, mie bie ©rfinber beS ©pracf)tetepbonS, an baS mufifalifche
Xelephon bon 9teiS an. ?llS biefer an bie ©ci)öpfung feines XetephonS ging, mar
bie bon fßage (1837) gefunbene, fpäter bielfeitig untcrfudjte X^atfac^e befannt, baft
©ifenftdbe, melcfje burch fdjneß unterbrochene unb miebertjergefteßte S8olta=©tröme
abmedjfelnb entmagnetifirt unb magnetifirt merben, Xöne bon fich geben, beten
#öl)e bon ben Sängenfdjmingungen ber SRolecule beS ©ifenftabeS abljängen (SRarrian
1844). Dbrnot biefeS „galbanifdEfe Xönen" feineSmegS §um ©au eines XelephonS
ermuntern lonnte, inbem, trojj ber ihre ©efdjminbigfeiten mechfelnben ©tromunter»
breefjungen, bie Xottfjöhe beS tötteitben ©ifenferneS unberättbert blieb (SBerttjeim
1848), fo fctjritt 9teiS (1860) bennoef), nach einem früher (1852) mislungenen
©erfuclje, mit SDtuth unb SluSbauer an bie Söfung biefer fdjmierigen Aufgabe.
@r hoffte hierbei, es merbe ihm burch eigenthümtiche Slnorbttung beS ©erfud)S
möglich merben, bie Xonljöhe ber eleltromagnetifdh ertönenbeit ©ifenftäbe abhängig
ju machen bon ber ©cljnefligfeit ber ©tromunterbrcchungen, menit biefe bon bett
@<hmingungen eines XoneS herborgebracht mürben, ©eine ©orauSfefcung mürbe,
mie fein Xetephon bemieS, bom ©rfolg gefrönt.
©ei bent Xelepljon bon ßteis, mie er es im 3af)re 1861 öffentlich borfiUjrte,
beftanb ber Xonfenber aus einem fubifchen ^ohlfäftdjen, melcheS oben mit einer
Zarten thierifdhen SWetnbrane gefchloffen mar. 2ln ber ©eite befanb fich eiu ©djafl*
trichter für bas Slufnehmen ber ju telegraphirenbett Xöne. Xiefer Xottfenber
mar burdh eine ©olta=Satterie, fomie burch eine zugehörige £>in= unb Surücfteitung
mit bent entfernten Xonempfänger berbunben. Xabet mar jene leitenb gemachte
SRembrane berart in ber ©tromleitung eingefdfjaltet, bafj, menn fie burch bie in
baS ^ohlfäftchen beim ©chaßtrichter eintretenben Xonmeßen in ©chmingungen
gerieth, mittels ihrer 3luf= unb Slbbemegttng, ber ©olta=@trom abmechfelnb t)er*
gefteflt unb bann mieber unterbrochen mürbe, infolge biefer bon ben Xon*
fchmingungen beherrfchten ©tromimpulfe gerieth auf ber ©mpfaitgSftation ein bott
einem .ifotirten Xrahtgeminbe umgebener, auf einem SRefonanjfäftchen ruhenber
©ifenbraht in galbanifcheS Xönen. Xie f>öhcn biefer telegrapfjifch empfangenen
Xöne ftimmten mit jenen bet abgefenbeten überein, fobajj fich in biefer Sßeife eine
SRelobie übertragen ließ. Xie Xöne Hangen etmaS h e *f er nnb näfelnb, beiläufig
mie jene eines SinbertrompetchenS.
@o mar ber Xontelegrapfj befchaffen, melier aus Xeutfdfjlanb nach 3lmerifa
auSmanberte, um bafelbft bielfeitig unb in ber berfchiebenften SBeife umgeftaltet
ju merben unb langfam bom bloS fingenben bis zum fprechenben Xelephou auf=
zufteigen. ©S läßt fich nicht leugnen, baß bon bent Xelepljon 9?eiS bis z«nt mirf=
lidfjen gernfprecher nod) gar biele ©ehritte zu thutt unb mächtige Süden auSzu»
füßen maren, unb baljer bauerte biefer UmmanblungSprocefj bon ber gnangriff*
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572
ttnfere <3eit.
nannte biefeö IßroMemS burch ®eH (1872) bis jum erften 2fernfrte<^er (1876)
bier 3aljre. Da eS hier z» weit t>on unfetrn 3<ete ablenlen würbe, wenn Wir
alle bie Metamorphofen, welche baS mufilalifche Delephon bur^juma^en hatte,
bi« es jum fprechenben abancirte, fo werben Wir uns mit ben bisherigen gefchidjt*
lidjen Snbeutungen begnügen unb baS epochentachenbe ®eH’f<he Delephon pnöchft
in ber ©eftalt befpredjen, in welker es im $erbfte beS Jahres 1877 nach
©uropa !am.
Mit ftaunenSWerther Schnelligleit oerbreitete fid) ber ®etl’fche Femfprecher
über bie ganze cioilifirte Seit, unb man lann wo! fagen, jebermann fennt min*
beftenS baS Aeufjere biefeS merfwürbigen Apparates. @S läßt fich taum eine
einfachere Ferafprecheinrichtung benlen. Stimmt man baS 3nftrumentchen bor ben
fprechenben Munb, fo bient eS als Sladjrichtenfenber; legt man eS aber ganz in
berfelben SBeife not baS Dhr, fo lann eS als SZachrichtenempfänger auftreten unb
aus ber entfernten Station gebrochene Depefdjen beutlich hörbar bringen. |>ier*
bei Wirb borauSgefefct, bafj an ber zweiten Station ebenfalls ein folcher Äbfenbe*
apparat wie hier borljanben ift, unb baff beibe 3nftrumentchen burch einen $in*
unb StücfleitungSbraht miteinanber oerbunben jinb. ©in unb berfelbe Apparat
lann alfo einmal als telephonifcheS Sprerfp unb baS anbere mal als $örorgan
bienen.
So einfach baS Aeufjere ber Sßett'fdhen Delepljone, ihre gegenfeitige Serbinbung,
©ebraudjsweife unb Seiftung erfcheint, ebenfo einfach tritt uns auch baS innere
entgegen, wenn man ben T=förmigen Slpparatchen ihre nette $olperlteibung ent*
Zieht. Man finbet bann nur einen geraben, Iräftigen Magnetftab, bon welchem
ber eine ißol mit fehr bieleit SBinbungen feinen unb ifolirten Drahtes umgeben
ift. Die beiben ©nben beS lef}tern laffen fich ntit bem £in* unb StüdleitungSbraht
ber anbern Station, Wo ebenfalls eine foldje ©infchaltung ftattfinbet, leitenb ber*
binben. ©egenüber jenem $oIe liegt eine bünne, IreiSförmige ©ifenlameHe (@ifen*
blech), welche bon SeH mit „Diaphragma", bon anbern mit „Membran" bezeichnet
wirb, weil fie tpe* bie bibrirenbe Siotte einer Schallmembrane ju fpielen hat.
Dies finb bie Wefentli<hen ©eftanbtheile beS öeß'fchen DelephonS, Welche fich in
einer paffenben ^oljlapfel befinben. Der obere, breitere Dheil ber le|tern läuft
in einen Schalltrichter aus, welcher eine treiSrunbe Deffnung befifct, burch bie
man jene ©ifentamelle feljen lann. Spricht man gegen bie lefctere, fo geräth bie*
felbe burch bie Fortpflanzung ber Schallwellen bet Suft in Schwingungen. Diefe
bewirten abwedjfelnb Annäherungen unb ©ntfernungen ber X^cilc^ert jenes bor
bem Magnetpole liegenben ©ifenplättchenS, woburch baS magnetifche ©leichgewicht
beS MagnetftabeS geftört unb ein SBedjfel in ber Stärle beS lejjtem herborgerufen
wirb, infolge beffen werben in ber Drahtfpule, welche ben einen $ol beS Mag*
nets umfcljliefjt, eleltrifche Ströme erregt. Diefe 3nbuctionSftröme eilen blifc*
fchnell burch ben SeitungSbraht z« ber Drahtfpule beS DelephonS ber anbem
Station unb beränbern bie magnetifche Stärle beS bortigen MagnetftabeS. Die
fo erzeugten ®ariationen ber magnetifchen ®raft beS MagnetftabeS ber $örftation
beeinfluffen baS bor feinem $ole liegenbe ©ifenplättdjen berart, bajj es in ®ibra*
tionen berfefct Wirb, welche fich ber Suft nnb bem horchenben Dh re mittheiten.
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Die (Sleftricität in 6er Cecßnif.
573
SaS ©eß’fcße Xelepßon ift alfo eigentlich ein ^öc^ft finnreicßer, feiner mag*
netoeleltrifcßer Slpparat*), wenn eS als ©enber, unb ein feßr empfinblicßeS
eleftromagnetifcßeS 3nftrument, trenn es als Empfänger gebraucht wirb. Sie
ftromerjeugenbe Sraft rührt bon ben ©chaßweflen her, unb baS telepßonifcße
Sprechen gibt ein fdföneS ©eifpiel zur Ummanblung ber Energien.**). Sie burch
baS ©preßen in ber Slbfenbeftation erregten magnetoelettrifchen QnbuctionS*
ftröme ftnb in ihrer ©türfe proportional ben ©ewegungen ber urfprünglichen
©chaßweflen, fobaß bie beränberlichen Sntenfitäten biefer Ströme fi<h burch SSeflen*
linien bilblich barftellen laffen. Sefl hat baher berartig ihre ©tärle bariirenbe
eleftrifche Ströme als unbulatorifche ober XBeflenftröme bezeichnet. Sie ©tärle
ber ©tröme im aßgemeinen, mithin auch biefer, toirb jtoar burch bie Sänge
ber SeitungSlinien nach bem Dhm’feßen ©efej}***) gefchtoächt, jeboch ftets in
einem beftimmten ©erßältniß jur ßerborrufenben Sraft, fobaß an ber Empfangs»
ftation bie ©Sorte tool wie aus ber gerne leifer llingenb, aber in ber Slangfarbe
nur einigermaßen geänbert anlommen. Sie ©erfchiebenheit ber Slangfarbe, mithin
auch ber Stimme, ^ängt nach neuern gorfcßungen dcelmßolß 1859—62) boit
ber Slnjahl unb relatiben ©tärle ber ben ©runbton begleitenben Dbertöne ab.
©olange alfo baS gegenfeitige ©erßältniß ber ©tärle ber Söne, welche jufammen
bie Slangfarbe geben, nicht beränbert wirb, tann auch bie gefdjwäcßt erfcßeineitbe
Stimme beS Selepßonirenben erlannt werben, borauSgefefct, baß ber $örenbe
fchon öfter bie gebämpfte ©timme beS ©precßenben bernommen hot, ober baß nicht
befonbere ©erhältniffe im Selepßon — j. S. ber Sigenton beS SJtagnetS unb ber
glatte, bie ßtefonanj ber ©erlleibungSlapfel u. bgl. — baS Songemifcß, welches
ben Slang auSmacht, hoch etwas abänbem.
Sie mufilalifchen Slänge finb harmonifcße Sonbereine, ju welchen auch bie
©ocale gehören, bie nichts anbereS als oerfchiebene muftlalifche Slangfarben ober
ßarmonifche Sonberfcßmelzungen barfteßen. Solche Slänge laffen fich leichter tele»
Phoniren als bie Eonfonanten, welche aus ben in ber äKunbhöfjle erzeugten, fchneß
unb unregelmäßig wechfelnben ©eräufcßen, regellofen ßärmlauten unb nicht mufi»
lalifchen ©cßaflerfcheinungen befteßen. Sa ©eräufcße, fcßon ihrer Statur nach,
Unbeutlicßleiten bergen, fo büßen fie, wenn fie als SDtitlauter beim Selephonireit
gefcßwäißt werben, noch meßr an Seutlicßleit ein, fobaß manche Eonfonanten beim
telepßonifcßen |»ören einige ©chtoierigleiten bieten. SJtan muß fich baßer beim
gernfprecßen einer befonberS beutlicßen unb lauten SluSfpracße befleißen.
SBir finb nun im ©tanbe, bie ©orgänge beim Selepßoniren etwas eingehenbet
als oben im ©ebanlen ju berfolgen. SBir lönnen uns borfteßen, baß in bem
fcßwingenben Eifenplättcßen beS als 8lbfenber arbeitenben gernfprecßerS bie über*
nommenen Slänge unb ©eräufcße in ißre Einzeltöne unb bie biefen entfprecßenben
penbelartigen Schwingungen ber Eifentßeilcßen zerlegt werben. Siefen berfcßie»
benen ©ibrationen entfprecßen im SDtagnetlern mannigfaltige ©ariationen ber
*) Sgl. ben elften Wrtifel ©. 127 biefeS SBanbeS.
**) «benb., ©. 126.
***) CEbtnb., ©. 123.
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ttnfcre ,3eit.
57^
magnetiftßen ©tärfe. $ie magnetiftßtn SntenfitätSöeränberungen inbuciren in
bet augeßörigen Draßtfpule bomit fibereinflimmenbe unbulatoriftße Ströme. Seßtere
gelangen bann in bet ©mpfangSftation in bie ®raßtfpule unb »eränbem ben
SRagnetiSmuS beS ßier beftnblitßen ©taßlftabeS fo, baß biefe Variationen jenen
im 9Ragnetftab bet Äbfenbeftation proportional finb. $itfe Veränberungen bet
magnetiftßen Kraft beS ©taßlftabeS bet ftörftation bemitten wieber in bet oor
ißm liegenben ©ifenlameße Vibrationen, meltße mol ftßmätßet als bie urfprfing*
ließen Saute, ißnen aber fonft in allem gleichen, betart, baß fidß enblitß barauS
miebet ©tßaflroeßen jufamntenfeßen, meltße ben in bet Äbfenbeftation aufgegebenen
jtoar nitßt congruent, aber botß feßr äßnlicß finb.
SBieS ift im ganjen unb großen bie tßeoretiftße 5lnftßauung übet bie pßßft*
faliftßen Vroceffe im tßätigen VetFfcßen Itlepßon; fte läßt fitß, mit ben erfor=
berlicßen Sbänberungen, aueß anbem Sremfpretßem anbaffen. 8 lßein eS batf nitßt
öerftßmiegen metben, baß biefe ©rllärung nitßt mit aßen ©rftßeinungen, meltße
bei Oerftßiebenen, feßt eigentßfimlitßen Verfutßstelepßonen bet jüngften 3«it, j « 5
meilen in rätßfelßafter SBeife auftreten, ftimmt. @o j. V. läßt fitß bie feßmingenbe
©ifenptatte fomol beim ©enber als ©mpfänger burtß beliebige mißt magnetiftße
Sameßen — roie oerfeßiebene SKetaß», ®laS», $ol 8 plättcßen u. f. m. — erfeßen,
ja fogat gänjlitß entbeßren, oßne baß bas gemfpretßen unmöglitß mürbe; es büßt
nut feßt merllitß an ©tärfe ein. hieraus läßt fitß ftßließen, baß bie @tßaß=
meßen autß oßne ftßmingenbe ©ifenplätttßen ©rftßütterungen bet SWotecule im
9Jtagnetftab ju bemitlen oetmögen, mobuttß eine ootübetgeßenbe Veränbetung in
bet ®ruppirung feinet magnetiftßen Kräfte, mitßin autß unbulatoriftße letepßon*
ftröme erjeugt metben. Ueberßaupt ftßeinen — natß oielfeitigen, neuefien tele-
pßoniftßen ©tubien (®u SJtoncel u. b. a.) — oerfeßiebene SKoleculatbemegungen,
außer ben oben befprotßenen magnetiftßen, beim eleltriffßen Uebertragen bet 2tene
jufarnmenjumirlen, fobaß bie bisherige Ißeotie beS ÜelepßonS notß bebeutenbe
©tgänjungen unb Veroofllommnungen ju ermatten ßat. @S bleibt jebotß bie
ftüßet bem ©ifenplätttßen am Veß'ftßen $elepßon jugetßeilte fRoße notß immer
aufretßt, unb bie neuem Verfutße matßeit nur maßtftßeinlitß, baß außer jenen
magnetiftßen autß notß anbete 9J?otecularmir!ungen beim telepßoniftßen ©pretßcn
rnitmirlen.
®aß bie Ißeorie beS Veß’ftßen ÜelepßonS in bet $auptfatße ritßtig ift, jeigt
fitß, inbem nut beim Vorßanbenfein bet ftßmingenben ©ifenplätttßen bie tele»
pßoniftßen ©rftßeinungen feßt leitßt, genügenb fräftig unb beutlitß auftreten; autß
mürben oiete Steigerungen, meltße bejüglitß bet ju oerftärlenben Seiftung foltßet
Xelepßone ans biefet Xßeorie gezogen mürben, oon bet ©rfaßrung beftätigt. @o
3 . V. ließ fitß oorauöfeßen, baß bie Verlängerung beS SDtagnetftabeS mit einem
eifemen Slnfaß (fßolftßuß), meltßer in ber ®raßtfpule ftatt beS ©taßlpoleS liegt,
bie SEirluttg beS ÜelepßonS fteigem müffe, meit baS ©ifen toiel ftßneßev unb
ftärler feinen magnetiftßen 3 «ftanb änbert als ©taßl. 8 n ber Xßat tragen, megen
beS guten ©rfolgeS, bie fßole ber ©taßlmagnete aßet neuern letepßone oer=
ftßiebenfter ©onftruction berartige magnetifdße ©ifenoerlängerungen (fßolftßuße).
Se Iräftiger ber SÖtagnct, je leitßter inbucirbar fein ciferner fßolftßuß unb je
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Die €leftricität in 6er Cedjnif.
575
gröfjer bie 3«$ ber SBinbungen (2000 — 3000) be« bönnen, feibenumfponnenen
Trahte« ber 3nbuction«fpule ift, befto ftärler toirft im allgemeinen ba« Telephon,
«uf foldje unb ähnliche fünfte h flt fi<h baher bie Thätigteit ber magren unb
mirdichen SSerbefferer au« ber langen SRei^e ber Umformer be« magnetoeleftrifchen
gernfpredjer« erftretft.
Ta e« hier ju weit führen mürbe, allen SBanblungen, bie ba« ©eH’fdje Tele*
Phon fdjon in ber furjen 3eit feit feinem Srfdjeinen erlitten bat, ju folgen, fo
mfiffen Wir uit« barauf bekrönten, nur einige feiner oerbreitetften Tppen ju
ffijjiren; e« finb bie« bie gernfprecher non Sternen«, ©ower unb 3lber. 6«
foH jebotb bamit feine«weg« gefagt fein, at« ob aufjer biefen nicht noch anbere
oorjüglidje magnetoefeftrifche Telephone gefcfjaffen worben wären (SBeinholb, Sein,
IRagto, Schiebet unb fßtenfe, Sinber, Söttger, feiler u. a. m.). Tie meiften
oerbefferten Telephone haben ba« ©emeinfamc, bafj bei benfelben nicht nur ber
eine, fonbem beibe Ißole eine« SDtagnetftabe« jur oereinten SBirtung gelangen.
3u biefem Sehufe ift ber SRagnetftab nicht mehr wie früher gerabtinig, fonbern
gebogen, berart, bah feine beiben mit eifemen Schuhen unb 3nbuction«rollen
bewaffneten Ißole einanber fehr nahe liegen. SSor lefctern befinbet fich ein bünne«,
eiferne« S3ibration«plättchcn. Tie SBinbungen ber 3nbuction«toDen finb fo an*
georbnet, bah bie SBeränberungen ber beiben ÜRagnetpole währenb ber Thätigteit
be« Stpparat« im gleichen Sinne, mithin oerftärft, ftd? äufsem tann.
S3ei bem Siemen«’fchen gernfprechinftrument hat ber SKagnetftab bie gorm
eine« tanggeftreeften U, Woburch im Sleufjern bie urfprüngliche gorm be« S3etl’=
fchen Telephon« bewahrt worben ift. Ter dbftanb be« SJiagneteö oon ber
Schwingung«platte läht fich mittel« feiner Schraube bi« jur beften Seiftung
oariiren; berartige 9tegulirungööorricf)tungen finbet man jefct auch an Telephonen
anbeter ©lettrotechnifer. Tie $otjOerdeibung hat, hanptfächlich wegen ber günftigern
Slu«behnung«oerhältniffe bei ben Temperaturfehwanfungen, einer metallenen ißlafc
gemacht. Ta bie Telephone im allgemeinen, fetbft wenn fie wie ba« ©ower’fehe
u. a. tn., ju ben lauter fprechenben gehören, bodj noch immer eine« Slnrufftgnal«
bebürfen, fo finb, Wie gleich anfänglich, entweber elettromagnetifdjj beherrfchte
Slingelwerfe (SBeder, Sllarm) in Uebung, Welche entweber oon einer flehten SSolta*
Batterie, ober bequemer oon einer einfachen magnetoelettrifchen Trehmafchine, mit
elettrifchem Strom oerfehen Werben. Siemen« führte bei feinen gemfprechcrn
eine deine Bungenpfeife ein, welche oor ber SSibrationSplatte be« Stbfenber« an-
geblafen, in ber ©mpfangSftation einen fchmetternben, für ben Aufruf mehr al«
genügenb Kräftigen Slang gibt. Tiefer läht fich noc h burch einen oor ber 9ii*
bration«platte be« ©mpfangSapparat« leicht an* unb abfe$baren SRefonanjtrichter
Oerftärten. Such bei Telephonen anberer Spfteme (©ower) trifft man nunmehr
ähnliche SRuföorrichtungen mittel« ©lafeinftrumentchen; ja manche gernfprechcr
geben ba« @inlabungSjei<heit mittel« Trompetenton«.
Ta« ©ower’fehe Telephon befifct einen flauen halbfrei«förmigen SRagnet, beffen
jwei Ißole, nahe bem SreiSmittelpunfte, nach aufwärt« gegen ba« eiferne 3}i*
bration«plätt<hen gewenbet finb. Ta« ©anje hat bie gorm einer aufhängbaren
Tofe, gegen beten ©ifenlameHe burch einen etaftifchen Schlauch gefprochen Werben
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576
Unfere ^eit.
fattn. Stuh bet ffernfprehapparat Slber’8 enthält einen bem ftteife ftch nd^etnben
äRagnet, jebocfj fo, bafj bet leitete mit feinem bernicfetten Söttet eine elegante
ringförmige $anb$abe abgibt, wäljrenb feine beiben ißole gegen bie eifetnc
©hwingungötametle gelehrt finb. lieber ber tefctem befinbet fidj ein pjer ©ifen*
ring, welcher bie gegenfiberliegenben SRagnetpole, bermöge ber magnetifhen 3»'
buction, ftärfer p erregen hat.
Sei ben bisher befprodjenen lelepfjonen toirft ber Senber (XranSmitter) als
©r^euger ber eteftrifcfjen SBeHenftröme; tS gibt bagegen aud) gemfprehapparate,
bei melden ber eleftrifhe Strom non einem ober mefjrern 5Bolta«©lementcn aus*
ge^t, unb bei melden ber Senber nur ben oorhanbenen eteftrifhen Strom in
feiner ©tärfe, entforedfjenb ben Schallwellen, p beränbent bat. ßefctereS !ann
erjiett merben, toenn ber SeitungSWiberftanb in bem ©tromfreife fo leicht ber*
änberlih eingerichtet wirb, bafj fdjon bie ©djattfdjtbingungen im ©tanbe finb, im
©djtiefjunggbogen SBiberftanböberänberungen, mithin Variationen in ber Strom*
ftärfe p bewirfen, »eiche ben Schallwellen entbrechen. Solche Sernfpredjer mit
Satter», bei benen bie periobifhen SBiberftanbSänberungen baburch erfolgten, baß
beim ©chtoingen ber Sprechplatte etwas fürpre ober längere giüffigfeitöfäulchen in
ben StromfreiS eingefchaltet »urben, haben ©rap unb SeK fchon im Sah« 1876,
noch bor bem magnetoeleftrifhen ©elephon conftruirt; aber biefe Xelephonart trat
gegen Sett’S gemfpredjer für furje 3eit in ©chatten. 2)a jeboch ber ©ebraucfj
einer Satter» beim ©elephon Serftärlungcn ber ftlangtranSmiffion hoffe® ließ,
fo fonnte biefeS ißrincip nicht berlaffen bleiben. 3« ber Xljat würbe es bon
©bifon, ber ebenfalls bom Xelepfjon fReiS ausgegangen war, felbftänbig berfolgt
(1876), unb er grünbete barauf feinen telephonifchen ©eher, bei welchem bie
SBiberftanbSänberungen nicht, wie borljin, burch berönberliche gtüffigleitöfchichten,
fonbern burch ben berfchiebenen ®rucf bewirft Wirb, Welchen eine in ben elef*
triften Strom eingefchaltete Äoplenfheibe bon einem elaftifchen SerüIjrungSförper
ber fdjwingcnben Sprechplatte p erleiben hat.
Stilein auch ber @bifon’fh e ÄohlentranSmitter bermochte noch nicht bie aüge*
meine Slufmerffamfeit auf bie Xeleppone mit Satterie p lenfen, fonbern b»S
gelang erft bem SRifropljon bon ftugljeS (Slpril 1878). So höchft berfchieben«
förmig auch bie SRifrophone eingerichtet finb, fo haben fie hoch alle ba$ ©emein*
fame, baß in bem ©tromfreife eines ober mehrerer Solta<©temente nur lofe fich
berührenbe ßeiter — in ben weiften fällen fohlenftäbchen — aufgenommen finb.
®ie ©ontactftellen biefer lofe eingefchalteten Seiter (föohlenftäbe) erleiben burch
bie ©dhattweHen ©rfhütterungen, woburch ftch bie Serührungen in mehr ober >
weniger fünften h cr f*ellen unb, je nah ben Schwingungen, inniger ober minber
innig geftalten, jeboch n ' e ganjlih aufhören. 3)ur<h biefe wechfelnben ©ontact*
gröfjen treten Slenberungen beS SeitungSwiberftanbeS, mithin auch ber Strom*
ftärfe ein, weihe bon ben ©haSfhwingungen abljängen. 3)urh festere geftaltet
fth alfo bie Stromfhwanfung wellenförmig. Sringt man bie nur lofe pfammen*
hängenben ©ontaetförper (®ohlenftäbe) ber Stromleitung in Serbinbung mit
einem {Refonanjbrethen, SRefonanjfäfthen u. bgl. m., fo hat man einen mifropljo*
nifhen ©enber (9Rifrophon=©ranSmitter). 3® ber ©mpfangSftation ift ein magne*
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Die (£leftricität itt 6er Cedjtttf.
577
tifdjeS Selepljon eingefcljaltet, auf welches bie an!ommenbett eleftrifcfien SBetten*
ftröme Wie beim 99eö'fd§en Selephon wirten.
Sa3 HJtifrophon Ijat non $ugt}e£ feinen tarnen nad) ber analogen Bezeichnung
„SDtifroffop" erhalten, Sowie te^tereö bie wegen ihrer Steinzeit nur unbeutlidj
ober gar nicht mehr fichtbaren Sörperchen, burch Vergrößerung ihrer Bitber, bem
Singe beutlich wahrnehmbar macht, fo Werben — freilich nur äußerlich unb bloS
einigermaßen analog — mittete beS ÜRifrophottS unb zugehörigen Xete^fjonS
bie allerleifeften, für baS Dh r gewöhnlich üerfchwinbenben ©eräufdje unb Söne
berart bergrößert, baß fte bann in ber gerne hörbar finb. ÜJtan fieht hieraus,
baß eigentlich bie mit bem Selephon Oereint zu gebrauchenben ÜJtifrophone nicht
allein jum SRifroffop, fonbern auch jum gernrohr eine analoge ©eite bieten.
SaS Siefen einer Xafdjenuhr, ber jartefte ^aarpinfelftridj, ber Schritt einer gliege
ober eines anbent SnfefteS u. bgl. m., wenn biefe Bewegungen an ber SRefonanj»
platte beS SDtifrophonS erfolgen, werben mittete beS weit entfernten £>örtelephonS
bcutlich Oernommen. Sa ntan Will fogar bie ©angart ber oerfdfjiebenen Snfeften
nnterfcheiben. SaS Sprichwort „er hört baS ©raS Waffen" bürfte halb feine
fpottenbe Bebeutung oerlieren unb Ernft werben. ©3 muß jeboch bemerft werben,
baß berartige üerftärfte ©challübertragungen nur auf treten, wenn fie (im engern
©inne) me<hanif<hen UrfprungS finb, wie in obigen Beifpielen bie fdjwachen Uhr*
fchläge, Reibungen u. f. W. SBenn bagegen fdjjalleitbe SnftWeHen bie 3tefonanj=
blatte beS SDtifrophottS treffen, fo tann, bei guten Slnorbnungen, ber ©dhaH ftärfer
ate mittete eines magnetifchen SelephonfettberS nach ber gerne übermittelt werben;
bie ©chaHmahrnehmung an ber EmpfangSftation tritt aber bann (ebenfalls fdhwächer
als am Slbfettberorte auf.
SaS SRifrophon ift ber aßerempfinbtidifte telephonifdje, mit Batterieftrom
arbeitenbe ©enber (SranSmitter). Sa bas Äniftern unb Gnaden ber Sohlen in
ben BerüfjrungSpunften, ferner bie bem BerfudfjSobjecte fremben SRebettgeräufche
ebenfalls nach ber gerne in ftörenber SEBeife übertragen würben, fo mußte biefen
Uebelftänben burch geeignete SKittel (SRegulirung ber Eontacte u. bgl. m.) ent*
gegengearbeitet werben. Slußerorbentlich groß ift jejjt bie Slnjahl ber oerfchie*
betten mifrophonartigen SranSmitter, unb täglich fommen noch neue gornten hinzu.
Sille haben baS ©emeinfante, baß mittels einer burch ben ©djaH fchwingenbett
glatte baS gließen eines Bolta=©tromeS unbulatorifch geftaltet Wirb. 3113 Ern*
pfänger in ber £>örftation bient gewöhnlich ein magnetifcheS Selephon; aber es
laffen ficb auch 3Kifropf)one als #örinftrument üerwenben. gür fehr weite ©treefen
arbeitet ber $auptftrom nur local in ber 3lnfgabeftation. Ser SranSmitter ertheilt
bann bem #auptftrom feine ben ©dhallwellen entfprechenben SntenfitätSfchmanfungen.
Sie hierburch in einer SnbuctionSfpule erregten unbulatorifd^en SnbuctionSftröme
beforgen mittelbar bie Uebertragung ber ©cfjallwellett nach ber gerne. Sn ben
meiften gäHen finb bie Eontactförper Sohlenftäbchcn, feltener SKetaHe. Um bie
SohlentranSmitter empfinblicher zu erhalten, laffen manche Eonftructeure (Eroßlep,
Slber u. a. m.) bie Schwingungen ber Schallplatte auf mehrere in ben eleftrißhett
Strom eingefcjjaltete Sohtenftäbe mittels fhnimetrifch gelegener Eontactpunfte wirfen.
Serartige, mit hölzerner Schallplatte oerfehene Slber’fdfje Sohlentransmitter waren
Unfnc 8rit. 188*. I. 37
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578
Unfere 4$eit.
eS, rnelche bei ber borjähtigen parifer Ausfüllung eleftrifdjer Apparate ÜRuftf,
©efang unb Sprache bon ben ©ühnen ber ©roßen Ober unb bent X^e&tre fran^aiS
nach bem AuSftellungSpalaft fibertrugen. 3eber £örer befant jtoei ber früher
befproefjenen Aber'fdjen ©mpfangStelephone jur ©emaffnüng feiner Ohren. ©on
biefen £örinftrumenten ftanb baS eine mit einem rechts, baS anbere mit einem
lin!S bom Souffleurfaften angebrachten XranSmitter in leitenber ©erbinbung, fobaß
ber Saufcfjer babutch afuflifch mahrnehmen tonnte, ob ber Acteur ftehen geblieben
ober ob er nach rechts ober linfS gefd^ritten mar.
Unzählig finb heutzutage bie betfehtebenen, mittels ©olta*©lementen betriebenen
IranSmitterformen, unb eS ift oft fdhmierig ju beurtheilen, ob fie im ©rincip
bem uriprfinglidjen ©bifon’fchen ßohlentranSmitter ober bem |»ugheS’fd)en äJtifro*
Phon näher ftehen. #atte fiefj boch fchon jmif^en ©bifon unb $ugl}eö ein uner*
quicflicher ©rioritätsftreit entfponnen (September 1878), als boch bie mefentlichen
Unterfd^iebe ihrer 3nftrumente noch leicht feftjuftellen maren; unb ba bot bem ®r*
fcheinen beS ÜJtifrophonS bon 4?ugljeS, mie nachträgliche SReclamationen zeigen, auf
bemfelben ©rincip beruhenbe XranSmitter patentirt mürben (ffi. ©erliner, April
1877; Dr. SR. Sübtge, 3onuar 1878), fo finb bie steten bezüglich ber Priorität
ber ©rfinbung beS SRürophottS noch nicht gefchloffen.
X)ie hohe ©mpfiitblichleit unb atuftifche Spürtraft ber SDlifro* unb Xelepljone
haben bie mannichfadhften ©orfchläge ihrer ©enufcung auf ben berfdjiebenartigften
©ebieten beS SebettS unb SBiffenS mach gerufen, unb auch wirtlich Z u meßrem
roiffenfchaftlichen Anmenbungen geführt. SBir mfiffen uns jeboch hier nur auf bie
©efprechung ihrer £>auptauSbeutung befchränten, b. i. auf ben mänblidhen ©ebanlen*
auStaufch für nicht allzu große ©ntfemungen. Unb ba ift oor allem zu confta*
tiren, baß fdfjon bie magnetifchen Xelephone allein megen ber ©iQigfeit unb ©e*
quemlichleit ihrer 3nftatlirung, bei SReuanlagen in auSgebeljnten gabrifgebäuben,
großen ©erfaufshäufern, in bietberzmeigten AmtSgebäuben u. bgl. nt., bie ältem
atuftifdhen ©ommunicationSrohre gänzlich aus bem gelbe gefdhlagen hoben, Sefctere
bleiben nur noch im ©ebrauche, mo fie oon früher her borhanben ftnb. Außerbem
beginnt baS gernfprechmefen — nach &em ©orbilbe SRorbamerifaS — eine be*
beutenbe SRotte im ©ertehr ber ©roß* unb Snbuftrieftäbte zu fpielen, unb es ift
in ftetS machfenber ©nttoicfelung. @s finb nämlich oon großen ActiengefeDfchaften
ober feltener bon feiten beS Staates (Xeutfdjlanb nnb nachträglich auch ©nglanb)
telephonifche Anlagen im ©roßen, ähnlich mie beim Xelegraphenmefen, eingerichtet
motben, bie es SahreSabonnenten möglich machen, miteinanber, fo oft fie mollen,
mittels gemfprecher zu berfehren. 3« biefem ©eljufe ftnb bie SJohnungen ber
äJtitgtieber mit einem ©entratamte mittels Seitungsbräljte unb zugehöriger tele*
phonifcher Apparate berbunben. 3eber Xheilnehmer famt nun mit allen übrigen
Abonnenten, über melche er ein ©erzeidhniß erhält, ©efpredhungen aus ber gerne
führen, ©r hot bann nur bem ©entralamt baS Signal zu geben nnb bie SRummer
feines SßartnerS zu nennen, rnorauf biefer mit #ülfe eines UmfchalterS feinen
£>raf)t mit jenem beS ©erufenen leitenb berbinbet, rnorauf bie mfinbliche Unter*
haltung beginnen fann. £>ie AuSfchaltung ber Seitungen erfolgt nach ©efanntgabe,
baß bie Unterrebung zu ©nbe fei, mieber mie borlfin, im ßentralöureau.
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Die <£leftridt5t in 6er Cecfynif.
579
Vorläufig finb bie gernfprecher nur auf bie mäßigen Entfernungen ber Zweite
einer Eroßftabt ober auf nahe benachbarte ©täbte befdjränft; aber bie neueften Ar»
beiten auf bem Eebiete ber mit ^Batterie* unb SnbuctionSftrömen betriebenen fjern*
fpredjer (affen hoffen, baß bie Seit nicht mehr fern fei, Wo auch auf große
Ziftanjen hin münblich oertehrt werben bürfte (Zelephonfhftem be$ Dr. £etj mit
gelungenen Serfuchen für eine Ziftanj non 145 Meilen); auch h at laiche fchon
öor einiger Seit mittels beS ßabelS öon Zober nach EalaiS telephonifd) gebrochen
unb gehört. ®ef)t ber ffortfchritt fo fort, fo werben bie (ocalen Xelephonnefee,
ähnlich Wie jene ber Zelegraphen, ju SBeltnefjen fich auSbehnen. {freilich wirb
ber f<hrift(i^e ®er!el}r beS Xelegtaphen, Wo tä auf rfidbleibenbe SBerfehrSjeichen
anfommt, immer baS Selb behaupten. 3 a bei bem ohne Enbe wachfenben SSer»
(ehrSbebürfniß wirb eigentlich baS mit ^Batterie* unb QnbuctionSftrom arbeitenbe
Zelephon mehr ein erwflnfchter Aushelfet unb Mitarbeiter als ein gefürchteter
Eoncurrent beS Xelegraphen fein. Mit biefer freunblidjen ißerfpectiöe in bie S« s
(unft Wollen Wir nufere Mittheilungen über bie Ausbeutung ber Eleltricität fürs
prattifche Seben fd^Iießen.
37*
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«
wtt (Einfluß
ir es Dato** auf jßUitna unir DafflerRrmiauf*
8om
Dberforfitmeifter ©rofeffor Dr. ßorggreoe.
1) Allgemeine (StSrterung über ben jefcigen ©tanb bet grage.
SBenn bie Sefer biefer äeitf^rift einen Stuffafc unter borftehenber Ueberfttift,
oerfaßt non bent ©orfteljer einer ber StuSbitbung bon gorftleuten getoibmeten
[jö^ern garfifdjute, finben, fo werben bie meiften berfetben erwarten, bielteitt
fürsten, ben tjunbertmal getefenen ©ehauptungen bon ber überaus großen, jWeifettoS
erwiefenen fogenannten „inbirecten Sebeutung beS SBatbeS" jum ^unbertunbeinten
mal in einer neuen Variation ju begegnen.
©ie mögen fft nicht abfc^recfen taffen! $er ©erfaffer ift nat langen, fdjweren
Kämpfen bu«h bie SRatt ber fit ihm wiber SSitten aufbrängenben SBahrljeit —
wenigftenS feften Ueberjeugung bon ber SBahteit — Stritt für Stritt bon feiner
urfprüngtidjen ©Option jurücfgebrängt, bie naturgemäß eine in ben Sehr» unb erften
©Janberjahren fritifloS aufgenommene unb enttjufiaftifdj berfottene, fojufagen
ä tont prix watbfetige War. ©or jeljn, ja bor fünf 3<*h ten hätte er, Wenn auch
bereits feljr ffeptift geworben, es immerhin nic^t gewagt, ben tanbtäufigen SRei»
nungen über biefen ©egenftanb öffentlich entgegenjutreten. #eute erfteint tm
biefeS im gntereffe ber SBahrheit unb SIRenftheit geboten, Weit gegenüber ber in
ben testen 3aljren fo foloffat gefteigerten Strbeitstofigfeit, StuSWanberung, ©ief)=
ftanbSabnahme, 9?atjrungSmittet=(3(eifdj=, SJletyU unb ©etreibe=)@infu^r, unb gegen»
über ben großenteils biet bebenftidjem ©orfttägen, ber fogenannten Ueberbötfe»
rung burt Kotonienbitbung im 9luStanbe, burt allgemeine ©etehrungen über
ffinfttite äRittet jur ©eftränfung ber gruttbarteit ber ©tjen u. f. w. entgegen»
jutreten, alte ©erantaffung borliegt, einmal ernfttid) Umftau ju Ratten, ob nicht
einfache, näher tiegenbe äRittet gegeben pnb, bie angebeuteten Unjuträgtichfeiten
wenigftenS in etwas unb auf 3eit h'ntanäuhatten.
©in fotcheS äRittet fcheint ihm in ber reichlichem Ueberfüfirung bon offenbar
culturfähigen Xheilen beS jefcigen, großenteils in lobtet £>anb befinbtiten unb
wefenttit nur beShatb in feiner bisherigen ©egrenjung erhaltenen SBatbeS in
getb unb SBiefe ju liegen, unb baS ^auptinberniß, ber ^aupteinwanb hiergegen,
grünbet fi<h Wefenttit auf bie jur Seit hetrftenbe unrittige, Weit ftar! über»
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Der ©nfluf bes IDalöes auf Klima unb tDafferfreislauf. 581
triebene öffentliche Sfteinuug betreffs bet fogenannten inbirecten ©ebeutung bes
SBatbeS.
©etbftrebenb fann in einem furjen populären Stuffafc bie grage nicht jum
StuStrage gebracht metben. DaS ift aber junächft auch nicht nöthig. ©S genügt,
ba| baS grofje gebilbete ©ublifum bon einet — bet ©erfaffer nimmt biefeS für
fich in Slnfpradj — an fich als competent ju erachtenben ©eite einmal batauf
hingemiefen wirb, wie bie Stage überhaupt ejiftirt, wie es fich nicht bon felbft
berfteljt, bat auch heute noch bet SBalb in Deutfdjlanb, noch fein bisheriger Um=
fang in bet |>auptfache, im ©rincip als folget feftjuhalten ober gat ju bergrö*
tern fei, wefentlich wegen feinet ©inwirfung auf bie Umgebung, auf Sftima,
©efunbljeit, SBafferfreiSlauf u. f. w. Denn biele, bie meiften, ja felbft tjochgefteßte,
jut ©ntfcheibung berufene gactoren fennen thatfädjlich bie bezüglichen wiffenfchaft=
liehen ©ublicationen bet SReujeit faum bem üßamen nach unb taffen fidh in ihren
Meinungen unb DiSpofitionen noch heute lebiglich bon übetfommenen ©rincipien
leiten, bie ju Anfang unferS gahrhunberts theils böflig richtig waten, theüs we=
nigftenS fchienen, bie aber in bet {Weiten Hälfte beffetben unb befonbetS im testen
Decemtium mehr unb mehr an £mtt betloten hoben.
Stuffaßenb ift biefeS befonberS infofern, als bereits bot etwa brei fahren eine
hochoerbienfttiche, immerhin bom walbfteunblichen ©tanbpunft auSgehenbe ©chrift
erfchienen ift, bie in einer jebem ©ebitbeten berftänblidjen SBeife einen groten Dljrit
bet bislang aßgemein behaupteten unb angenommenen inbirecten ©inwirfungen beS
SBalbeS auf bie Umgebung auf ihren wahren SBerth jurüefführt. @S ift biefeS
bet 29. Sanb bet im ©erläge bon Dlbenbourg in München erfcheinenben natur-
wiffenfchaftlichen ©olfSbibliothe! „Die SRaturfräfte", welcher ben ©pecialtitel „SBalb,
Stirna unb SBaffer" führt, unb §um ©erfaffer ben als Slutorität auf meteorolo»
gifchem ©ebiet befannten !. f. SUZinifterialrath im öfterreidjifchen 2lcferbautninifte-=
rium Dr. gofeph ©. Sorenj SRitter bon Siburnau hoi- Diefe circa 777 ©eiten
ftarfe ©chrift ift freilich baS erfte titerarifche ©rjeugnifj über bie grage, welches,
geftfifct auf bie borliegenben neuen, in ber gorftliteratur berftreuten wiffeufchaft*
liehen ©rgebniffe wie auf Driginatunterfuchung ben ©egenftanb borurtheitsfrei,
objectib unb umfaffenb in einer für baS größere ©ublitum burchauS berftänb»
liehen SBeife behanbelt. Stuf fie bie Stufmertfamfeit hinjutenten unb fie in ©inem
©un!t wenigftenS — ©inwirfung beS SBalbeS auf ©erhütung bon Ueberfchwem*
mungen — erheblich ju ergänzen, ift bie Stufgabe, bie fich ber ©erfaffer biefer
Beiten für jefct gefteßt hot.
©itter bon Siburnau behanbelt in ber genannten ©chrift bie SBedjfelbejiehungen
jwifetjen bem SBalbe, bem Stima unb bem SBafferfreiStauf in einer SSBeife, Welche
fich überaus bortheitljaft bon ber üblichen, bon bem ©erfaffer feljr treffenb als
„chroniftifch" refp. „touriftifch" be{eidjneten unterfcheibet.
Die (entere hat nämlich bem Durchbringen ftarerer Sluffaffungen, ja felbft ber
Stnfteßung grünblich er Unterfuchungen über bie fraglichen ©erljältniffe aufjerorbent»
lieh gefchabet. Unbewiefene ©ehauptungen unb Meinungen, bictirt bon unttaren
©efühten unb herftammenb aus Briten, in wetten man noch nicht ahnte, wie
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582
Unfere geit.
eine grunblidje naturwiffenfd&aftlidje Unterfudjung anjuftellen ift, befonberS aus
©egenben, über beten f>fjt)fifalifdje Sßer^SItniffe mir nur bie aOeroberflädß«
tieften fenntniffe Ijaben, Würben nadj unb nadj fo oft wieberljolt, baß ße
nidjt allein für bie betreffenben ©egenben unb Seiten als erwiefeu galten, fonbern
fogar oljne weiteres als aQgemeingüttig, b. Ij. auf jebe beliebige anbere ©egenb
übertragbar angefeljcn würben. X>aß ber SBalb ftets nnb überall einen überaus
„öortlieilljaften" ffiinfluß auf baS „ßlima" f»abe, „bie Regenmenge bermeljre",
gteidjwol Ueberf<f)Wemmungen beri)inbere, baß bie atten Sulturlänber lebiglidj unb
wefentlidj burcj) bie ©ntwalbung ißrer frühem grudjtbarfeit beraubt feien, baß
beSljalb iljre SBieberbewatbung notljmenbig unb allen ober faft allen ©djaben nadj
unb nach ju feiten geeignet fei, baff bei nnS in Seutfdjlanb, Wo nodj etwa ein
SBiertel ber ©efammtoberfläcfje SBalb in irgenbeiner gorm trügt, ein weiterer
Rüdgang ber SBalbflättje bollftänbig ober möglidjft berljinbert werben müffe, galt
als felbftberftänblidfj. ©ntgegenfteljenbe Meinungen würben bislang felbft in ber
gadjliteratur faum auSgefprocljen, ebentueH aber überfeinen unb berlefcert.
3^ fage auSbrüdtidj: in ber Siteratur. 3n ber IJkafiS, im Beben pellte
fie bie ©adje, Wo nid)t jWingenbe $inberungSgrünbe bortagen, fdfjon lange ganj
anberS. Xroj} allem, Was bagegen gefd^rteben unb gefagt würbe, tro$ aller alter
unb neuer ©efefceSbeftimmungen, bie ber l)errfdE)enben Meinung gemäß einen 3®ang
auf ben ©runbeigentljümer jur ©Haltung ober gar SBieberljerfteDung bon SBalb
auSüben fotlten, trofe aller auf SBettauSfteüungen u. f. w. mit bietem ißontj) jur
©dfjau gefteHten fartograf>f)tfdjen XarfteHungen ber gortfdjjritte ber SBteberbetoal«
bung u. f. w. ging bie ©adfje im Beben überall benfelben, entgegengefefeten ©ang,
b. I). alle ©ulturlänber jeigten unb jeigen bis fjeute eine langfamer ober fdjneKer,
nteljr ftetig ober meljr rudweife fortfitjreitenbe Stbnaljme iljrer gefammten SBalb«
flüdje. 3Rel)rfadj unb fcljon bor längerer 3eit Ijat unter anbern griebridj bon ^etl=
walb im „SluSlanb" mit Harem S31id biefen Sorgang als einen ganj allgemeinen,
in allen ©egenben ber ©rboberflädje ftcf) wieberljotenben erlannt unb gerabeju als
ein „Raturgefefc" bejei<tjnet.
©S fragt ftd) nun junädjft: wie erflärt fit^ biefer auffaKenbe ©egenfaj} jWif<tjen
ben tljatfädfjlidfjen ©rfcijeinungett unb ber Ijerrfdfjenben ©trömung in ber neuern
Siteratur unb ©efeßgebung ber ©ulturlänbcr?
3ur Beantwortung biefer grage muß id| etwas weit auSljolen unb an ©d&itler’S
©ebidpt bon ber „Teilung ber ©rbe", bei ber nur ber Ißoet bergeffen, erinnern.
3m allgemeinen wirb auf ber ganzen ©rboberflädje, fieser aber in allen ©ultur«
länbern jebe Ouabratmeile, jeber $eftar, ja jeber ßuabratmeter fefter reff), jur
Bflanjettprobuction fähiger ©rboberflädje bon irgenbjeraanb, fei es nun ein
einzelner 3Renf<tj, eine gamilie, ein ©tamm ober ein Staat als meljr ober minber
auSfdjließlidjeS ©igentljum in $tnfrrudj genommen unb genügt. 3^ber biefer
©igentljümer fudfjt baS bon Ujm befeffene ober beanfprudfjte Xerrain in ber feinen
©ewoljnljeiten unb gäljigfeiten am meiften entfpredljenben SBeife für ß<tj nnb bie
©einigen beftmöglidfj auSjunufcen, um felbft unb mit biefen bon ben ©rträg«
niffen beffelben ein nadj feiner Sluffaffung mögtidfjft „menfdEjenwürbigeS Xafein"
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Der (Einfluf öes EDalbes auf "Klima unb IDafferfreisIauf.
583
ju führen, ©rreicht wirb bicfcS burch Entnahme bev auf bem Terrain erzeugten
©ebrauchSWertlje, mag bereit Erzeugung nun ganj fpontan ober burch mefjr ober
minber fräftigen ©ingriff in bie natürliche Entwicfelung ber Tinge erfolgt fein
ober erfolgen. Ter ©ebrauchswerth eines jeben ©obenerjeugniffeS ejiftirt aber
nur fo lange, roie baS ©ebürfnifj nach bemfelben. Sleifdj, Milch, ©etreibe, SBoße,
4?olj haben nur fo lange refp. bis ju fotdjer Menge ©ebraudjswerth, toie Mengen
ba finb, welche ©ebarf nach Staljmng, Äleibung, SBärme, SBohnung haben. SBirb
auf irgenbeinem gegebenen Territorium mehr bon einem biefer Stoffe erjeugl, als
Menfdfjen ba finb eS ju berwenben, fo ift baS ©luS abfotut merthloS für bie
©eWoIjner biefeS Territoriums, toenn es nicht etma öertaufdjt merben fann gegen
©rjeugniffe, welche baS angenommene Territorium nicht, ober nicht in hinläng*
lieber Menge für bie barauf mobnenben Mengen bietet, ©ei bem in unb jioifdjen
aßen ©ebieten ber Erboberfläche fchon feit Sahrtaufenben mehr ober meniger aus*
gebilbeten unb erleichterten, burch bas ©elb »ermittelten Taufdfjberfehr bilbet
befanntlich bie $öhe beS bafür ertangbaren reinen ©elberlöfeS längft ben, wenn
auch nicht bebingungSloS unb abfotut richtigen, fo bodj praftifch in ber Statur
einjig anwenbbaren unb angewanbten Mafjftab, ben einheitlichen Stenner für bie
auf einer beftimmten ©runbfläche erzeugten SBertlje, unb man fann fomit aßge»
mein auSfpredjen, bah biejenige ©enufcung eines ©runbftücfeS, welche bem Eigen*
thümer bauernb am einträglichften ift, nicht bloS ihm, fonbern auch ber Menfdjhfit
im aßgemeinen ober, faffen wir es etwas anberS, ber Mögtidfjfeit, bah eine mög»
lichft grohe 8ahl bon Menfdjen auf ber gegebenen, nicht bergröherungsfähigen
Stäche eines SanbeS — ober auch her ganzen ©rbe — ein möglichft menfehen*
würbigeS Tafein führen fönnen, am bortljeilhafteften fei.
©o einfach nun ber borftehenb aufgefteßte oberfte ©runbfaf} für bie ©oben*
mirthhhaft, inSbefonbere für bie ftaatliche ©inwirfung auf biefelbe fdjeint, fo
fchwierig fann er in feiner concreten Slnwenbung werben: einmal, wenn man baS
SSörtdjen „bauernb" ins Sluge faht; bann, wenn man bie borjugSweife beim
SBalbe, aber auch fonft ju beadjtenbe ffrage in ©rwägung jieht, ob nicht burch
eine pecuniär möglichft bortheilhafte ©enupung beS einen ©runbftücfeS biejenige
anberer benachbarter in erheblichem, fogar überwiegenbem *) Mähe gefäljrbet werben
fann. SBir ftehen h' e * o« ber ©chweße ber fchwierigften ©rörterungen über
©igenthumSrecht, Wirthfchafttiche Stufgabe beS Staates u. f. w., bie Wir jeboch lji er
nur nach gewiffen Stichtungen h< n 5 U berfolgen brauchen. SBaS junädjft baS
2Bört<hen „bauernb" betrifft, fo foß alfo burch baffelbe im ©rincip bie fogenannte
Staubwirthfchaft auSgefdjtoffen fein.
Tie weitüberwiegenbe Mehrheit afler ©runbbefiper hält biejenige ©enufcung
eines ©runbftücfeS, auch eines nur i uc $otjprobuction geeigneten, für bie bor»
tljeilhaftefte, bei welcher bie für einen beftimmten $eitpunft, j. ©. bie ©egen*
Wart, biScontirten, refp. fapitalifirten muthmahti^en fünftigen ©innahmen nach
*) Tarauf fommt eS ant 3ft bie ©djäbignng feine übertoiegenbe, fo fann fie boflS»
wirthfdjaftKcb ftattfinben, fobalb nur eine pribatrecfjtliche WuSeinanberfepung ftatuirt ift, am
beften burch (EjpropriationSmöglicbleit.
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58<*
Unfere ,3ett.
Sbpg bcr ebenfo bidcontirten, refp. fapitaliftrten fünftigen Sudgaben bie grögte
£öhe repräfentiren; pnäcfjft unb im ißrincip alfo ohne dtüdficht batauf, ob bid
betreffenbe ©runbftücf ald folched nach bet fomit finanjiett am bortheithaftejten
fdjeittenben Seljanblungdart überhaupt noch probuctiondfähig bleibt ober nicht. 3n
einem leister berftänblidjen ©eifpiel bargeftellt, fagen alfo 99 ißrocent aller ©runb*
befifcer: toenn ich burch SRieberfdjlagen eined Salbed 1000 dRarf löfen fann, burch
nachhaltige fflewirthfchaftung aber nach fadjberftänbigem ©rmeffen nur eine ewige
reine diente non 20 dRarf jährlich errieten famt, fo haue ich ben Salb nieber,
Wenn auch bad Territorium, auf bem er ftocft, nachher für eine ewige ober bo<h
fehr lange 3eit abfolnt probuctiondlod wirb. Tenn 1000 dRarf geben mir bei
abfolut ficherer Snlage in Staatdpapieren, #ppothefen erfter ©üte n. f. W. allein
fchon eine fidlere ewige diente oon 40 dRarf, ober, anberd audgebrücft, bie 20 dRarf
ewige diente repräfentiren je nachbem ich einen Bindfug ton 3, 4, 5 u. f. w. HBroc.
atd ben ber Sicherheit unb ben fonftigen ben Bindfug beftimmenben ffiigenfdjaften
bed bepglidjen in Salb angelegten fi'apitald entfprechenb erachte, nur einen 3efct=
Werth ton 666, 500, 400 u. f. W. dRarf.
diun fann, um bei biefem Seifpiele p bleiben, pnädjft ber ©igenthümer bed
fo behanbelten Salbed mit feinen 1000 dRarf in ber Tafche morgen in Hamburg
aufd Schiff gehen unb nach Smerifa fchwimmen, unb breiigen ober Snhalt*Teffau, Wo
er ben Salb niebergefchlagen hat, welcher bei nachhaltiger SBetjanblung nach unferer
SSoraudfefcung bid in bie ©wigfeit jährlich ©ebraudjdwerthe, bie pr 3eit etwa
einem ©elbbetrage ton 20 ÜRarf entfprechen, geliefert hätte, ^aben bad dlachfehen.
3a, fönnte man fagen, bad geflogene £>olj ift ja aber pr Sefriebigung ton
©ebürfniffen terwanbt worben — ed ift in anbern Sälbern fo tiel Weniger ge*
fdjlagen, biefe fönnen fpäter fo tiel mehr liefern, furj, ed ift £>olj im Sertlje ton
1000 dRarf ber menfchlichen ©efeUfdjaft nufcbar gemacht — bei ber anbern nach*
haltigen ©ehanblmtg bed Salbed wirb jeboch nur $otj im Serthe ton 666,500,400
u. f. w. 2J?arf probucirt. 3<h frage: a) Selcher menfchlichen ©efeHfchaft? 3ft bad
fragliche $oIj nicht tielleicht ebenfaüd bie @lbe Ijinabgefchwommen unb ton §am=
bürg, Wenn auch nicht nach Smerifa, fo boch nach ©nglanb ober $oHanb ge*
Wanbert? b) 3ft cd Wahr, bag bie ewig gebachte ©rjeugung ton #o!j im
Serthe ton jährlich 20 dRarf gleich ber $apitalfumme ift, welche ewig 20 dRarf
3infen bringt?
Tie erfte 3rage bebarf feiner erläuternben Sntwort an biefer Stelle. Ser
fich auf ben nationalen Stanbpunft fteOt, mug anerfennen, bag unter anberm in
ber angebeuteten Seife bad ÜRationaltermögen, mit anbern Sorten, bad bauentbe
Sohl ber Staatdbürger burch bie Sbnujjung ton Sätbern im 3ntereffe ber 83e*
reicherung bed einjelnen erheblich gefchäbigt werben fann. Such betreffs ber
jweiteit Srage brauche ich nur baran p erinnern, bag ©elb an fich lein @e*
braucgdwerth ift, bielmehr nur einen dRagftab für ©ebrauchdwertlje barfteHt,
ber etwa wie bad ißrobuct aud ihrer S8raucf)barfeit in ihre Seltenheit fteigt unb
fällt. dRit 1000 dRarf in ber Tafche fann jemanb bebinguitgdweife berhungern
ober erfrieren.
$ieraud erflärt fich nun, wedhalb pntal in nörblichem ©egenben mit grögerm
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Der ©ttfluf bes JDalöes auf Klima unb IDafferfreislauf.
585
Breratftoffbebarf unb refp. in frühem Seiten (tor SluSbelptung ber Rtineralfohlen»
feuerung unb beS GifenbaljmteheS ju ihrer Verbreitung) fdjon lebiglidj mit 9tüd=
fid>t auf bie Sicherung ber baueroben Grljattung nnb Grjeugung beS in gewiffer
SDienge unentbehrlich erfcheinenben $auptprobuctS ber SEBätber, beS #oIjeS, bie
tfürforge faft aller StaatSterwaltungen mit tollem Stecht bahin ging, in irgenb»
einer geeignet fdjeinenben SBeife ber ju toeit gehenben Verminberung ber SBälber
bnrch eigennützige Bereicherung bes einzelnen entgegenjutreten.
$>er Erfolg biefeS ©trebettS ift, wie fdjon angebeutet, im allgemeinen, wenig»
ftenS foweit toirflicheS ißritatgrunbeigenthum in ffrage fommt, ein minimaler
gemefen. 2)er Gigennufj, baS Streben jebeS einzelnen, fein unb ber Seinigen SoS
bnrch balbige Bereicherung möglidjft ju terbeffem, ift fo t erbt eitet, fo mächtig
unb Wenn auch mit einigen Ginfdjränfungen im allgemeinen auch fo berechtigt,
bafs faft überall in ber einen ober anbern SSeife, birect ober inbirect, per fas
ober nefas, früher ober fpäter eine günftige Gelegenheit ober Seit gefugt, ge»
funben unb benufct worben ift, bie ton ber öffentlichen SDtadjt gezogenen ©chranfen
nnb Betormunbnngen in concreto ju burchbrechen ober ju umgehen. Sie aus
alter Seit überlommenen, wie bie unter neueftem $>atum erlaffenen gorft» ober
SSalbfchuhgefe|e — fie ftehen in Rufslanb, Italien, ©panien, granfreich, Oefter»
reich, ©oiern, ißreufjen auf bem V^iet/ unb braufjen geht bie SBalbtermin»
berung ju Gunften anberweiter Benutzung beS BobenS (als Steter, SBeibe u. f. w.)
fdjneller ober langfamer ihren Gang weiter. Schwerlich wirb fich irgenbwo nach»
weifen taffen, baff (nach Ueberwinbung ber Radjweljen beS SWeifjigjäljrigen Krieges)
bie bewatbete, $olj probucirenbe fläche in ihrem procentuaten Verhältnis jur
Gefammtfläche wieber jugenommen hätte.
BefonberS in ber {Weiten $ätfte unferS SahrhunbertS, wo bie Bebeutung beS
SEBalbeS — b. h- in feinem bisherigen Umfange: circa 20 bis 25 ©roc. ber Ober»
fläche ton Deutfdjlanb finb jur Seit noch bewalbet! — rüdfidjtlidj ber Roth»
wenbigfeit feiner $auptprobucte, Brenn» unb Baumaterial, unb bamit zugleich
feine relatite Rentabilität felbft für bie abgelegenem Gegenben mehr unb mehr
jurüdgetreten ift, h a &en biejenigen, welche burch Bemf, Vorliebe, Ueberjeu»
gung für bie Erhaltung bes SBalbeS eintreten ju foQen glaubten, mehr unb
mehr feine fogenannten inbirecten Rüfjlicfjleiten, inSbefonbere feine tortheil»
hafte Ginwirfung auf Stbftumpfung nachtheiliger Gjtreme betreffs beS ÄlimaS
unb beS SBafferfreiStaufeS betont. SDtan machte alfo für bie Berechtigung
einer ftaatlidjen Ginfdjränfung beS VritatwalbbeftfceS, für bie intacte Grhat»
tung ber ©taatswälber als foldjer beren tortheilhaften Ginflujj auf bie grudjt»
barleit u. f. W. anberer Grunbftücfe geltenb. Gine ganje umfängliche Site»
ratur ejiftirt über biefen Gegenftanb, ber, wie fdjon angebeutet, in ber lages»
literatur häufig genug unb in ber Regel bebingungStoS unb allgemein im walb»
confertirenben ©inne befjanbelt ift. QnSbefonbere feit ©chleiben unb Rojjmäfjler
in populären blumenreichen EBarftettungen bafür eingetreten finb, bafj ber SEBalb
nicht bloS betreffs feines eigenen Smtern, nicht bloS in h e *6 ern Grbftridjen,
wo bie ffradjtbarleit ttelfach lebiglidj ton fünftlicher Bewäfferung unb biefe ton
ber Radjljflltigleit im Gebirge gelegener ClueEen bebingt ift, fonbern auch „im läl»
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586
Unfere Gü¬
tern Deutfdjtanb" felbftüerftänblich baS Sfima „üerbeffere", bie SHeberfchlagS»
menge fteigere, bie ©tromüberfchwemmungen üertjüte, gilt afleS biefeS allgemein
als erwiefene Zfyatfaifye, als Dogma, unb bis not futjem bat es laum jemanb
gewagt, bie bezüglichen, taufenbfadj in ber XageSliteratur wieberljolten unb
fcheinbat unwiberlegtich erhärteten ©äfce auch uur i u bezweifeln. Derjenige, ber
es meines SBiffenS juerft öffentlich wagte, fßrofeffor Dr. ®. non tßurfpne in
SBeijjwaffer, hat Wahrlich einen fdjwcren ©tanb gehabt — er ift in ber heftigsten
SBeife üon ben gorftteuten, bie glaubten pro domo fechten zu müffen, angegriffen
unb üerfepert worben. 3h m tu erfter SReihe unb weiterhin bem fßrofejfor
Dr. ©berataper, früher in Slfchaffenburg, jefct in SRündjen, gebührt bas Serbienft,
bie Erörterung biefer wichtigen grage enbtid) aus bem ©ebiete ber billigen SBieber»
holung oerbrauchter ißhrafen, ber oberflächlichften Douriftencombination auf bie
Sahn ber nüchternen Erörterung unb forgfältigen Untcrfudjungen übergeführt zu
haben.
Die ©djrift: „Die phpfifalifdjen Einwirfungcn beS SBatbeS auf ßuft unb
Soben", welche bie 3ufammenfteßung unb baS gacit ber mühfamen Unterfudjun»
gen Ebermaper’S enthält, ift im gahre 1873 in Slfchaffenburg bei ÄrebS erfdjienen
unb behanbelt tebiglidj bie SRücfwirlungen beS SBalbeS auf feinen eigenen ©tanbort.
©ie ift mithin Weit baoon entfernt, baS Dtjema zum Slbfchlufj bringen zu tönnen.
Shre tpatfäcljtichen ßtefuttate finb aber, foweit Deutfdjlanb unb ein irgenbwie
cuttureß belangreicher ©influfj auf ßuft, SBärme, ßuftfeudjtigleit unb ßtieberfchtagS»
menge in ber befonberS Weitem Umgebung beS SBalbeS in grage fommt, burdj*
Weg negatiü. ©leides gilt öon ben Surfpne’fdjen Arbeiten, bie in ber fpecialfadj*
liehen ßiteratur zerftreut*), alfo einem großem ßeferfreife faum zugänglich finb.
Deshalb, bann aber auch, tweit fie faft baS gefammte über bie grage üor»
liegenbe SJtaterial enblich einmal fritifdj würbigt unb mit ^injufügung wefentlich
neuer ©efidjtspunfte nüchtern, !lar unb bünbig bem großen gebilbeten fßublifum
üerftänblicl) erörtert, ift bie obengenannte @djrift beS $errn ßorenz öon Siburnau
für fernere Erörterung beS ©egenftanbeS gerabezu grunblegenb. 2Ber weiter über
benfelben arbeiten unb publiciren wiü, fann unb barf bie ßorenz’fche ©chrift nicht
mehr übergehen, Wie biefeS leiber üon feiten mancher geographifepen ©chriftfteßer,
Z. S. auch wieber in ben neuern Auflagen üon tßefchel’S „ßteue Probleme ber üer»
gleichenben Erbfunbe" (3. Stuft., ßeipzig, Dunder u. ftumbtot, 1878), unb in ber
eben erfdjienenen Schrift üon tßrofeffor Dr. g. üon ©zemp: „Die Seränberlidjleit
beS tlimaS unb ihre Urfadjen" (SBien, ißeft unb ßeipzig, St. ftartleben, 1880) ge»
fchieht. 3n lepterer @djrift ift z- S. ein Drittel beS gefammten ßtaumS ber „flitna»
tologifdjen Sebeutung ber SBälber unb flimatifdjen SBirfung ber SluSrobung berfelben"
gewibmet, ohne bah ber üon ßiburaau gebüprenb ge» refp. entwürbigte „touriftifdje
©tanbpunft" in ber #auptfadje üerlaffen Wäre. SluS gewiffen UnterfuchungSreful»
*) Die tepte bezügliche Slrbeit üon SJurtpne’S, in welcher bie meiften frühem citirt finb,
finbet ftch in „gor ft liehe ©lütter", 1880, ©. 105 fg. Die älteften batiren auS bem Cnbe
ber fechziger unb Anfang ber fiebziger Qafjre unb finb ineift pubticirt in ber „geitfcljrift
beS böhmifchen gorftüereinS".
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Q ^
Der (Einflut öes IDalbes auf Klima unb JDafferfreislauf.
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taten (Ebermaher’i, welche ficfj blo« auf einen {Bergleich ber llimatifchen (Effecte
„in bem SBalbe" unb „außer bem SBalbe" beziehen unb burdhau« ungezwungen
unb felbftberftänblicfj auf bie atterirenben {Rücfwirfungen be« ©aumwuchfe« betreff«
feine« eigenen ©tanborte« jurüdführen taffen, -Werben Wieberum bie toeitge^enbften
Schlüffe auf bie SBirffamleit be« SBalbe« für feine »eitere Umgebung, für bie
Fruchtbarfeit be« (Eulturgetänbe« ganjer Gebiete gejogen, furj bie Sache wirb
jum hunbertunbeinten mal behanbelt, at« e^iftirte ba« Sotenj’fche ton einem grunb=
fäfetich unb bebingung«tueife Watbfreunblichen, nicht aber ä tont prix watbfcljwär*
meriftßen ©tanbpunfte gefdfjriebene {Budj gar nicht.
$ie ffrrage nach bem (Einfluß be« SBalbe« auf ba« ßtima, jur Seit, nacffbem
bie Sebeutung ber birecten (Erjeugniffe be« SBalbe«, in«befonbete be« $olje«, für
ba« SBoljl ber menfdjlidjen ®efetlf<haft in SRitteteuropa mehr unb mehr jurüdge*
treten ift unb an fi<h faft nirgenb« mehr bie Fortfefcung ber ^oljerjeugung auf
©tanborten forbert, bie jweifetto« mit namhaften {Reinerträgen ber ©tärfemehl*
unb grleifcßprobuction bauernb bienftbar ju matten ftnb, eine ber wichtigen IBor*
fragen für Forftwirthfchaft unb Forftgefefcgebung, ift für eine rationette ftaatlidje
Seitung ber {Bobenwirthfdfjaft alfo burdjj bie Arbeiten ton {ßurfpne, (E6ermaper
unb Siburnau bem ©tabium entrüdft, in meinem fie ftdj noch für eine jufammen*
hängenbe (Erörterung in Fournalartifetn unb beiläufigen Kapiteln geographifch«
Schriften eignete. SBer au« bem großen gebitbeten Sßublifum fitß über ihren
{ewigen ©tanb unterrichten will, fann bafür bi« auf SBeitere« wenigften« ber
Sorenj’fdfjen Schrift nicht entratljen!
Unb wa« nun weiter bie neuern, in ber Fachliteratur pubticirten Unterfudfjungen
unb refp. Folgerungen über bie {Regenmenge in unb außer bem SBalbe ton
tan SJebber, Fautrat, Shreitentotjner, Fli<h e “tb Oranbeau betrifft, bie jum Xßeil
auf ein Heine« {piu«*) ton iRegenfatt über bem Saubbadj hitbeuten, fo finb bie-
fetben einerfeit« noch ni<hl lange genug fortgefefct, um 3ufättigfeiten hinlänglich au«*
gefdjloffen erfcßeinen ju taffen, anbererfeit« jum X^eit offenbar burdh bie größere (Eie*
tation ber SBatbregenmeffer (ja fogar ber SBatbftationen fetbft) gegenüber ben auf
bem Fwilanbe befmblidfen bebingt, erflären Jtdfj übrigen«, foWeit fie richtig finb, jient*
lieh ungejwungen au« ber lurbirung, refp. Beruhigung SBafferbunft, Siebet unb
refp. {Regen ober Schnee füljtenber bewegter Suft unb beweifen enblich feine«fatt« auch
nur ba« ©eringfte für ba« in größerer ober geringerer (Entfernung tom SBalbe
befinbtidhe ßulturtanb, welche« bobenwirthfchafttich allein in {Betracht lommt. S)enit
ein $tu« ton SBafferbampf ober {Rebel, Welche« bie S3aumfronen junädhft conben*
firen unb bann boch wieber abbünften (an bie (Erbe lommt natürlich im SBalbe
tiel weniger!), wa« Witt unb tann man benn bamit beweifen? (ES wirb jefct ber
Suft entjogen unb nach ein, brei ober fediö ©tunben ber Suft jurüefgegeben.
SRan barf boch bei ben feinen S^erfudEjen bie ©chutphhfit nicht ganj außer Sicht
taffen!
*) 33et circa brei giertet ber beobachteten Slieberfchläge foü etwa ein dehntet Siegen
mehr über ben gaumfronen be« bewatbeten Xerrain«, a(« über benachbartem fahlem auf>
gefangen fein.
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588
Unfere <5eit.
ßurg, nicht bcr SB alb macht Siegen, fonbem im allgemeinen ber SBefttoinb unb
bie ©etoitter. SBenn mit im SDlai ober September brei ober fechS SBodjen 0ft»
toinb hoben, fo regnet es in ber Siegel brei ober fedf)S SBodjen nicht, unb hoben
mir SBefttoinb, fo regnet es faft alle Sage, mag man ihn nun in SJlünben mitten
in fecljs Ouabratmeilen gufammenhongenben SBolbeS beobachten ober in ber
Sftagbeburger Vörbe. 3)aS betoeift in ectatantefter SBeife bie Slegenftatifti! ber
oerfchiebenen ©egenben 3)eutfchtanbS. Stur mit ber Höhenlage fteigt bie Siegen»
menge ziemlich flleic^md§tg in allen ©egenben. Unb toaS hat benn übrigens eine
Vermehrung ber Siegenmenge mit ber Vobentoirthfchoft gemein?
3ft benn bie Ernte beS Jahres 1880 in ben preugifdjen Oftprobingen g. 85.
toegen Mangels ober UeberfluffeS an {Jeudjtigfett öerunglücft? $aben mir nidht
fchtieglich, $eutfcf)lanb im gangen genommen, ebenfo biete 3 a h r ®» bie als „gu
nag“, mie fotche bie als „gu trocfen" bezeichnet werben; rnügte nicht, wenn „ber
SBatb“ toirftich bie SlieberfchtagSmenge ober bie ffeuchtigleit feiner Umgebung
namhaft gu fteigern im ©tanbe märe, ber Vefi^er beS fogenannten fchtoeren VobenS,
ber burchfchnitttich in trocfenen fahren bie beffere Ernte hot, mit ebenfotchem
Siechte auf feine Vefeitigung bringen, wie ber beS leichten auf feine Erhaltung?
®rainirt man etwa um bie geudjtigfeit beS VobenS gu erhöhen? Man erlaffe
mir je|t unb hi« baS SBeitere über biefett Sßunft, ber freilich bon faft allen fritifch
oerantagten Beuten nach unb nach als einer ber precärften ber gangen SBalbftima*
frage ertannt wirb.
2) $er Einflug be$ SBalbeS auf bte Ueberfchtoemmungen inSbejonbere.
Sur Ergängung ber Soreng'fchen Schrift bringe ich h* er noch einiges über ben
Oorhin angebeuteten anbern fßunft, ber toenigftenS gtoeifettoS einen burch bie einfache
83eoba<htung in ber ^ouptfadje ftar gcfteltten gefunben fern hot, aber ebenfalls ftarf
übertrieben wirb: ich meine ben Einflug beS ©ebirgStoatbeS auf ben SBafferabflug
toenigftenS in 33egug auf Verhütung bon @tromüberfcf)toemmungen. Slach tängern
©tubien über biefen Sßuntt, ber, wie gefagt, neben ber ©turmfchtoächung — benn
in S3egug auf SBärme unb Mite ift für bie Umgebung beS SBatbeS nichts nach»
gutoeifen — noch als ber biScuffionSfähigfte übrigbteibt, tomme ich teiber ebenfalls
mehr unb mehr gu bem Slefultat, bag auch in biefer 83egiehung bie 83etoalbung
wenig leiftet unb bag jebenfatls bie möglichertoeife gur Slufforftung gu bringenbe
Quote ber ©efammtoberfläche eines Stromgebiets, ober aber bie, welche einer in»
fiüem Euttur guguführen ift, in biefer 83egiehung faft nichts leiften fann.
Man führe nur ben üblichen unb an fidj trefflichen Vergleich beS SBalbeS,
b. h- im wefentlichett feiner ©treubecfe mit einem ©chtoamm einmal toirftich burch!
2>er ©chtoamm leiftet in Vegug auf SBafferaufnahme unb Surücfhaltung genau fo
lange etwas, bis er üoUgefogen ift — bann nichts mehr! SBann, wie unb too
entftehen aber Ueberfchtoemmungen? 2>och nur burch zeitliche unb örtliche Eon»
centrirung groger SlieberfchtagSmcngen!
3m Slugenblicf, in Welchem ich biefeS fchreibe, geigen SBerra unb gulba
oor meiner 2hür, ohne bag ©chneefdjmelge ober Eisgang in Vetracht fämen,
annähernb ben höchften UeberfdjtoemmungStoafferftanb. ®ie relatio fehr reich*
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_ Der (Einfluß bes H)aI 6 es auf Klima unb tPaffe rfreisIauf. 589
lid^e ©ewalbung i^reS glnßgebietS wirb niemanb im ©rnft in grage ftetten,
eine Steigerung berfetben nad) nennenSWertt)en ißrocenten ber ©efammtftädje fein
üerftänbiger ©obentoirtlf oertangen wollen. ®S tjat atfo eben etwa brei SSodjeit
lang ungefähr alte läge ettergifdj geregnet! SBenn es einen, jwei, brei Sage
regnet, fließt atterbingS unter einem gut bewatbeten £>ange wenig ober fein SBaffer
ab, wäljrenb unter einer gteidjgelegenen gelb» ober SBeibeflädje oiet met)r bem
Strom gueitt. Saburd) entfielen aber bodj feine Ueberfd^wemmungen. Siegnet
eS oier, fünf, fed)S Sage, fo gibt üom britten ober tierten Sage ab ber bewat»
bete £>ang giemtid) ober böltig fo oiel ab — auf eine £>anb bolt fann eS babei
ni<f|t anfommen — wie ber nnbewatbete, unb territorial auSgebeljnte wodjenlange
Siegen finb, abgefeljen oon ber Sdfjneefdjmetge, gur ©rgeugung oon Stromüberfäwem*
mungen erforberlidj.
Unb nun bie Sdjneefdjmetje!? Sludj biefem ©egenftanbe tjabe idj jahrelang
forgfältige ©eobadjtung gewibmet unb bin gu bem Slefuttat gefommen, baß bie
gewötintid), gang allgemein ats fetbftberftänblid) angenommene ©ertängfamung
berfetben burdfj ben 2Batb wenigftenS ebenfo oft birect ben Sljatfadjen wiberfpridjt,
als fie gutrifft. ©erabe bie 2trt Oon Sdjneefdfjmelge, wetdje ptöjjtidj große SBaffer*
mengen unb bamit namtjafte Stromanfdjweltungen ergeugt, bie Sdfjneefdimetge mit
lauem, nebeligem ober regnerifdjem Sübweft unb naturgemäß bebedtem $imme(
erfolgt oiel fdjnelter in ben meiftbertretenen ©eftanbsformen unferer ©ergwät*
ber ats „auf bem greien"! ®er ©runb liegt einesteils barin, baß wegen beet
gurn Stieit anljängenben St^neeS eine biet größere Dbcrflädje für bie 2Bärme=
binbung, bie nur an ber Dberflädje ftattfinbet, geboten ift; bann barin, baß ber
Sdfjnee, nadfj tängerm Sägern, „im SBatbe" wegen fdjwädjerer ober auSgefdjloffener
Sonneneinwirfung ber Sieget nadt) nie bie fefte firnartige, fdjlteßlidj fetbft compacte
eiSäljnlidje ©efdiaffenfjeit erlangt — idj brande, um mid) nodj) oerftänbtidjer aus*
gubrüden, nur gu fagen, nie „fo gut überträgt" — wie auf bem freien! S>enn
biefe ©erfirnung ift eben im wefenttidfjen ein Slefuttat beS tjäufig wieberljotten
SBedjfelS Oon fdjwadjem 2Intt)auen burdj bie Sonne unb SBiebergefrieren wäljrenb
ber Sladjt bei wotfentofem $immet!
- ©inige anbere nodj in ©etradfjt fommenbe untergeorbnete SKomente mögen Ijier
für jeßt übergangen werben, bamit ber gaben nidjt üertoren get)t. ©S fommt gu*
nädfjft meljr auf bie Sljatfadfje ats auf bie ©rünbe an. SDiefe Ütjatfadje aber gu
conftatiren, bebarf es feiner „meteorotogifdfjen #auptftationen" unb feiner giliaten,
feiner ©änbe ootter Sagten, bie niemanb erfreuen unb nur ben quälen, ber
fie nieberfcfjreiben unb corrigiren muß, feines meteorologifdjen SnftrumentS ats
eine« am genfter fjängenben StjermometerS für 1 SOlarf; eS bebarf baju eben
nur — eines tßaarS guter SBafferftiefeln.
Slber, Ijöre td) einwenben, bie Sdjueefdjjmelge otjne Siegen, atfo bei ftarem,
tjeiterm SBetter!? Sie erfolgt freitidj ceteris paribus in ber giften* unb Sannen*
bidung am tangfamften, im laubtofen Sudjenwalb immerhin nidjt oiet, wenn audjj
etwas tangfamer ats im greien, aber — bringt fie benn Stromiiberfdjwemmungen ?
Sfeber gefäljrbete gtußttjatbewoljner fagt, wenn fie beginnt: ,,©ott fei $anf! bieS=
mat geljt'S gut, ber Sdjnee geljt mit ber Sonne ab."
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Unfcce £eit.
Ühatfädjlich erfolgt nun freilich in bev obern ©albregion nnferer Gebirge
unb weiterhin in bet ©tetfcherregion ber Uber Monate fidj auSbepnenbe Schnee*
abgang, felbftrebenb Weber aßein burch göhn, noch aßein burd) bie Sonne, fon*
bern wedjfelweife burd) beibeS unb auch noch burch bie fftr Selb unb SBatb jiem*
lieb gleichmäßig — bebingungSWeife fogar im SBatbe wegen ber fehlest teitenben
©treubede weniger in ©etracht fontmenbe (Srbwärme. 3e nach ben unenbtich bie*
len in biefer ©ejiehung möglichen SBitterungScombinationen hält fich in biefem 3ahre
unb biefer Socalität ber Schnee im SBatbe, in jenem unb reff), jener auf bem
greien länger, im aßgemeinen nach meinen ^Beobachtungen im $&geßanbe ober,
fagen wir lieber im fommergrfinen Saubwatbe, Weniger lange als auf übrigens
gleich betegenem gelbe u. f. W.; in ber obern natürlichen gichtenregion aber bet
Siegel nach länger, tiefer in ben Sommer hinein, als auf gleich gelegenen
SBeibe* u. f. w. glächen. SefctereS aber nur, weil bie ©chneefchmelje auch bei
göhn Wie aß' ®ing 3eit gebraucht, alfo in ben wenigen lagen, währenb welcher
fte ftattljat, bie währenb beS SBinterS angefammelten biel erheblichem Schnee*
mengen ber höhem Sagen nicht bößig bewältigen lann, fobaß für ben SRcft bie
Sonnenfchmetje ntaßgebenb ift, bie, je weiter in ben Sommer hinein, befto mehr
in ben ©orbergrunb tritt, unb auf bem ©roden, Snfelöberg u. f. w. ben tefeten
groben in gidjtenjungwfichfen erft im guni beifommen lann. gnfolge beffen, frei*
lieh auch au $ manchen anbern ©rünben, tropft unb riefelt eS benn in biefen
Sagen im SBatbe noch ben ganjen Sommer hinburch, währenb unten uub im
greien oft aßeS tedjjt.
®aS ift gewiß fehr fchön! Uber, frage ich, waö h at ** mit ben Ueberfdjwem*
mungen p thun? Man muttiplieire bo<h einmal für irgenbein beliebiges öfter
übcrfchwemmteS beutßheS Stromgebiet bie ®runbfläd)e ihres ber gichtenregion an*
gehörenben ober über berfelben belegenen SlreatS mit beffen burdjfchnittlicher ©egen*
höpe, bie immerhin*) als bie hoppelte beS ^üget* unb glachtanbeS angenom*
men werben mag, unb fteße mittels einfachen Siegelbetri*®EemptlS baS ©erhältniß
feft, welche! biefe Äubifmenge SBajferS p berjenigen hat* bie fi<h aus ber Mnt*
tiptication ber ©runbfläche beS $ügeltanbtheils mit beffen Siegenhöhe berechnet,
©in ©id auf eine beliebige ßarte lehrt fdjon, baß bie wegen etwa boppelter Siegen*
höhe einfach bublirte Hochfläche gegenüber ber Hügellanbfläche laum in ©etracht
tommt. $ie ©ewatbung beS ©ergtanbeS forgt mit bafür, baß unfere ©äche unb Hei*
nern glttffe im Sommer nicht fo leicht ganj auStrodnen, Wie biefeS j. ©. im Apennin
bie Sieget ift. 3<h fage aber auSbrüdlich nur, es forgt „mit" bafür; benn ber Haupt*
grunb liegt bodj in bem medjfetnben fetten mehr als jWei bis öier 8Bochen regen*
tofen Sommer $eutfchlanbs, gegenüber einem in ber Sieget jwei bis brei Monate lang
regentofen Sommer Italiens; woju benn noch ber wichtige Umftanb lommt, baß
biefe Stpenninflüffe burdjweg nur eine fehr geringe Sänge haben, fobaß atfo bie über*
bies in Italien u. f. w. oiel geringem etwaigen JEBitterungSöerfdjiebenheitett ein*
*) Xbatfädjtid) haben wir aber oeteris paribus bie boppelte Siegenhöhe gegenüber bem
Stadjlanbe erft in ben Höhen, bie über ber 28 aIbregion ber SQpen liegen. Cgi. barübet
bie bejügiidjen SRittheitangen ber öfterreichifchen „Seitfrfjrift für Meteorologie".
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Der (Einfluß öes tDalöes auf Klima unö tbafferfreislauf. 59 f
jeinet Steile beS gtußgebieteS nicht cotnpenfirenb auf beit SBafferftanb beS untern
gtußbetteS einwirfen fönnen.
35iefe Seo6acf)tungen unb Erwägungen, bergtidjen mit bem ewigen ©efcfjret
über Sßerme^rung, Erzeugung ber Ueberfdjwemmungen burch Entwalbung in
Sleutfdjtanb in ber potitifdjen unb befletriftifdjen SageStiteratur oerantaßten mich
bor circa zwei faßten, einer unferer erften Stutoritöten auf geotogifdjem ©ebiet, £>errn
Dberberghanptmann bon Sieben ju Sonn, bie grage borjutegen, ob benn }. S.
im SSheinthal irgenbweldje Snbicien baffir [prägen, baß in frühem Seiten*) ©trom*
fdjweflungen, Wie fie je|t afle paar gaffre borfommen, nicht ober weniger ftattge*
funben hätten, ©eine Slntwort war burdjauS negirenb: nid^tä auch nur halb*
Wegs SeweiSäljnticheS taffe fidff hierfür beibringen, biet eher noch taffe bie
Sefdjaffenheit beS StßeintßatS auf frühere erheblichere Ueberftutungen fließen.
Sebor idf bie betreffenbe münbtidje Sleußerung jenes ßerborragenben ©eteljrten
nach bem ©ebächtniß an biefer ©tefle mir ertauben burfte mitjutßeiten, habe ich
natürlich erft birect angefragt unb bom £>errn bon Decken bie fotgenbe Slntwort
ermatten:
„Sw. u. f. W. feßr gefdjäfjteS ©Treiben bon geftern habe idf erhalten unb be=
elfte idj mich ergebenft ju erwibem, baß ich gegen bie Seröffentlidjung meiner
bezüglichen frühem Sleußemng nichts einjuwenben habe.
„$ie Slnfidht Wirb baburdj unterftüfct, baß ber betannte höcßfte SBafferftanb beS
ßtheinS am 27. gebt. 1784 ftattgefunben hat; feit 97 fahren ift feine f)öh £re
gtut gewefen; t)i er i n ®onn war ber Schein 38 ^ßarifer guß über ?(5cget Stuß*
punft. 3n ®ötn würbe ber Segel weggeriffen, baher zwei berfdjiebene Stngaben
bon 39,5 unb bon 37 guß, SKittet 38,25 Satifer guß.
„®ie hödhß 6 Stut in biefem Sahrhunbert War Slnfang ÜJtärj 1845. ®ötn
28,7 Sarifer guß über S c 9 e t Stußpunft, atfo minbeftenS 8,s Sarifer guß Weniger
atS 1784.
„$)iefe Satjten flehen in ber «Drographifdjen unb ^Qbrograp^ifd^en Ueberfidht
ber Stheinprobinj unb ber S ro &inj SBeftfaten» (Sonn, St. $enrtj, 1870), ©.529
unb 530. ^weiter Xitel: «Erläuterungen jur geotogifdjen Äarte», Sb. I.
„3ch habe auch einen Sluffafc über bie fötner Segelftänbe in ben «Sertjanblun*
gen beS Siaturhiftorifdjen SereinS ber preußifdfen SRheintanbe unb SSeftfalen»
bmefen taffen, fann benfetben aber in ber Eite nicht finben.
„SBenn bie Herren nur mehr beobachten unb weniger fdjreien möchten! u. f. w.
3)edhen."
$u biefer erften geologifchen Stutorität fommt unfere erfte hhbrotechnifche, Sfeßenj
$agen in Sertin, Serfaffer beS ctaffifchen „^anbbudj beS SBafferbaueS". Xerfetbe
hat unter anberm noch im öorigen ©ommer in ber Stfabemie ber SBiffenfchaften
*) Stlfo bor fjunberten unb Sanfenben Don Satjren. 3)ie ©tatiftif liefert für biefe Seit*
räume noch feine ober nur ifolirte (dfroniftifebe) ®aten. gür bie neuere Seit aber betoeift
bie ©tatiftil in ber SBalb* unb SBafferfrage faft nichts, zumal ba ebentueß bie ©tromregu*
lirungen biel näher liegenbe Urfadfen finb als bie in biefem gahrhunbert nur unbebeutenbe
SJermtnberung ber SBalbquote beS hörigen l
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592
Unfere
Zu Serlin einen Sortrag übet baS ©erhalten bet beutfdjen #auj>tftröme gehalten,
in welchem et nachweift, bajj feit circa 80 reff). 50 Sagten bie hödjften, mittlern
unb niebrigften SBafferftänbe ftch nicht ntetfbat beränbert haben, bafj inSbefonbere
ein SDie^rabftu^ nicht ju conftatiren ift. Studj et berwirft, n>enn auch in botfidj*
tiger Raffung, inSbefonbere bie Seforgnifj bot erheblichem Schwellungen bet Ströme
bei fteigenber Sanbculhtt!
®aS SEBarum glaube xd) borfteljenb ziemlich Hat gefteüt zu haben.
Sinn aber frage idj nocfj: wenn alles, was xd) in biefet Sejiefjung leibet
berneinen mujj, ba mit bie SBahrheit noch h ö h er fiep als bet SBalb, wenn
alles richtig wäre — was fönnte bann alles Stufen nach Stufforftung Reifen? Soll
etwa bet Staat, b. f). alfo auch bet Steuerzahler, bet meinethalben in $itbe£heim
ober SRünfter wohnt, fein ®elb baju heegeben, bajj im Siiefengebitge ober gar
in bet Schweiz bürftige, aber feljt nötige ffartoffel» unb ^aferertröge gebenbe
Selber, Sfühe unb 3i«0Ctx emähtenbe SBeiben angefauft unb aufgeforftet Werben,
bamit bem moPhabenben auf SBeizenboben witthfdhaftenben Sauer beS DbcrbrudjS
ober StheintljalS, bet ober beffen Sorfaljren bodj mit biefer ©efaljr gerechnet haben,
wenn fie fief» anfauften ober nicht oerlauften, nach zt® c */ bret ober oier Decenniett*)
feine @rnte ftatt breimal nur zweimal im EDecennium erfäuft; ober foHen biefe
Selb» unb SBeibebefifcer beS ®ebirgeS bieUeidjt f>ar Drbre be SOiufti zur Slufforftung
auf eigene Soften gezwungen werben, bamit fie fammt ihrem Sieh berhungem?
ElaS ^olz ift bodj nun einmal gar zu unberbautidj für SJtenfdj unb Elper.
3<h höre noch einwenben: ja, aber etwa« lönnte hoch gefdjehen, per unb ba
finb bodj unfruchtbare falben u. f. W. 3<h antworte: „etwas" lönnte gegen bie
Stromüberfdjwemmungen nichts nüptt! Steigerung einer 30 ißroc. betragenben
SBalbflciche um 3 ober 5 Ißroc. würbe bie fchneÜ abfliefjenbe SBaffermenge bei an»
haltenbem Stegen unb geitlidh concentrirter Schneefchmelze noch nicht einmal um
3 ober 5 Eßroc. berminbern lönnen, mithin ziemlich gleichgültig fein.
Sreilich will ich hiermit nicht in Slbrebe ftetlen, bafj bewalbete $änge für
ihr eigenes unb birect unterliegenbeS Eierrain bie Silbung bon SBafferriffeh,
lleberfdjotterungen berhinbern — aber baS ift etwas ganz SocaleS unb gehört
nicht hierher. SBaS ber SBalb in biefer ©eziehung leiftet liegt auf ber $anb unb
läjjt fich in Wenigen SBorten, in bem einen Sah auSbtficfen: EEie Sewalbung ber»
langfamt bie geologifche Seränberung.
Sie leiftet biefeS aber zunächft unb bebeutfam nur im Serglanbe, befonberS am
fteilem fpange für ihr eigenes unb baS birect unterliegenbe Eterrain, hier mehr, bort
weniger, hier in erwünfdper, bort in unerwünfdjter SBeife! SejjtereS freilich feltener,
aber immerhin nicht fo feiten, wie bietfach angenommen Wirb. SBiefen unb SBeiben
finb ceteris paribus zuweilen, z* S. auf fräftigerm plutonifchem ober bulfanifdjem
SerwitterungSboben an einem oberwörts bewalbeten #ange biel weniger fruchtbar
als unter einem oberwärts lahlen. SJtan befrage nur bie Säuern im Sdjwarzwatbe
ober ben Sllpen über biefen Eßunft, wie ich es feinerzeit, burch Sergleichung ber
*) $enn «her »erbient bie etwaige Kultur boch nidjt ben 9?amen SBalb in bem hier in
SJetradjt fomntenben Sinne.
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Der (Einflufj bes D?albes auf Klima unb JDafferfreislauf. 593
bejiebenttihen ©räferoegetation aufmerffam geworben, getban habe. (Sing bodj erft
Oor furjem bie jiemlih fpa^ofte ©efd^td^te burd) bie Seitungen, bajj ein gorft*
mann, ber irgenbtoo in ber ©d^toeij einen öffentlichen ©ortrag über bie SRotb*
wenbigfeit Don 9tufforftungen hielt, non ben biebera ©erg&eWobnem auSgejifht
unb, glaube ih, fhtiefjlih an bie 2uft gefegt mürbe. 2)iefe8 Stubitorium war
offenbar unhöflich — ob eS aber gerabe fo bumm war, ift mir ntefjr als jWeifet*
tjnft. 3h fja&e bislang bei meinem häufigen ©erlebe mit bem Sanbmann in ben
öerfdjiebenften ©egenben als Sieget überall baS beftötigt gefunben, bajj ber Sauer
in ©ejug auf bie grage, wie ber ^Reinertrag feines ©runbftüdeS ju beben, bureb»
aus nicht fo befhränlt ift, wie bie SBeltoerbefferer glauben, welche hm ihre
©tubenweis^eit aufbrängen wollen. ©S fiat baS natürlich feine SluSnatjmen —
aber eS bleiben eben folget
3) gotgerungen.
©erfuhe ich weine Stuffaffung über bie SSatbfrage für Seutfhtanb in einigen
allgemeinen ©äfjen ju refnmiren, fo glaube ich biefetben fotgenbermajjen faffen
ju bürfen. $>ie ftänbige, wenn auch burcfiauS nicht gleichmäßig fortfhreitenbe
SRebuction ber oorjugsweife ber ^otjprobuction bienenben glühen ju ©unften
ber wefenttih SRabrungSmittcl (in ber gorm oon ßulturVftanjen unb refpectioe
haussieren) probucirenben ift eine in alten ©ulturlänbera fih Wieberbolenbe
©rfheinung, bie fih nah ber unbefdjränften ©ermebrungStenbenj beS SRenfhen*,
gefhtehtä*) auf gteihbteibenber ©runbflühe unb ber gröjjem Sntbetjrtihfeit ber
halberjeugniffe, atfo oor altem beS ^oljeS regelt. 3n fübtidjen Sünbern
mit geringem ©rennftoffbebarf hat biefetbe nirgenbs ein mirlfameS ßorrectio ge*
fnnben, wäfirenb in nörblihern, inSbefonbere in 33eutfhtanb, wo jugteidj baS
©aumaterial (Sieget) bis oor lurjem in oieten ©egenben nur bur<b ben Oom
©Salbe gelieferten ©rennftoff hergeftellt werben fonnte, einerfeits bie retatio nam*
haften ^Reinerträge aus ber auf geringerm ©oben fortgefefeten 2Balbwirthfh Q ft,
anbererfeits bie gürforge ber ©taatsoerwaltungen wä^renb ber testen 3Phunberte
bis in bie neuefte Seit ber weitem ©erminberung beS allmählich bis auf baS
quatitatio geringfte ©iertbeil ber ©efammtftühe rebucirten SBatbeS in oerfhiebener
SBeife unb früher mit oottem Sieht ©hranfen ju fefcen ftrebten.
®ie neuere Seit bat aber niht allein baS quantitatibe fmuptprobuct beS
SBatbeS, baS ©rennbolj**), fonbern auh bas SRufcboIS nah ben oerfhiebenften
SRidjtungen bin mehr unb mehr entbehrlich gemäht.
3n teuerer ©ejiebung fei hier nur berwiefen auf bie immer reichlichere 2ln=
Wenbung oon ©teilt unb ©ifen jum $au8», ©rüden*, ©ahn*, ©h'P au n. f. w.
*) 3n ©eutfdjlanb j. 83. jährlich burdjfdjnittlicb etwa 600000 mehr Geburten als SobeSfäHe.
**) 3 ur Seit ift in ben enttegenften SBinfeln oon ©eutfdjlanb bie $eijung mit minera*
lifchen ©rennftoffen billiger als bie holjheijung; lefctere wirb nur nod) angewanbt auS
Sujns, auS ©emobnbeit (Dfeneinridjtungen!), wegen beftehenber ©eroituten ober wegen ber
¥riöileginmg beS hotjbiebftahtS. ®(eid|Wo( fßntien burdjfdinittiid) 60—70 ^roc. beS in
^eutfehtanb erzeugten holjeS jur Seit nur a(S ©rennbolj oerwerthet werben.
Untere Seit. 1981. I. 38
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594
Unfere geit.
SBenn nun auch ©au* nnb Stufcholj butchan« noch nic^t entbehrlich ift, fo tarnt
bodj mit bem ©ebarf an fotdjem gur Bfi* feine«faH« mehr bie intade (Erhaltung
bet {ewigen SBatbquote ober bie ©etgtößerung berfetben für ©eutfchlanb rationell
begrünbtt werben, Jhtrj, bie ©rjeugniffe be« ©albe« unb in«6efonbere bie au«
ihnen ju töfenben (Erträge berechtigen fcfjon feit $3ecennien in $eutfd)(anb faft
nirgenb« mehr, feine (Erhaltung auf öffentlichem ober gar priöatem ttreat ju öer*
langen, wenn unb wo baffefbe für anbere, unerfefctidjere formen ber BobenWirth«
fchaft offenbar bauernb geeignet ift.
$>iefe« ift ber $auptgrunb, we«hatb feiten« ber ©ertreter unb grreunbe bei
©albe«, befonber« in ber {Weiten $älfte biefeö 3al|rhunbert« mehr unb mehr bie
inbirecte (bortheithafte) „(Einwirfung be« ©albe« auf feine Umgebung", htöbefon*
bete auf ©affetfreiälauf, Älima, ©efunbljeit betont, ja felbft bie pftphifche ®öt 5
Wirlung, bie fogenannte „ethifdje ©ebeutung" be« ©albe«, für bie Bntaderhattung
ober gar ©ergtößerung ber jefcigen ©albquote in« gelb geführt unb faft ohne
©iberfprudj bon ber öffentlichen Sfteinung rccipirt worben ift.
®ie neuefte Beit h fl t aber ergeben, baß nur feljr wenig bon bem, wa«
in biefer Beziehung auf ©tunb erflärlidjer (Sympathien bager ©eobachtnngen
ober fritiflofer Uebertragungen au« ©egenben, welche in flimatifcher ©ejiehung
mit 2>eutfcf|tanb nicht« gemein haben, behauptet worben ift, bor bem SRichterftahl
ber nüchternen toiffenfSaftlidjen Unterfnchung unb ftatiftifchen (Erhebung €>thh
gehalten hat, unb baß biefe« ©enige für bie gförberung einer intacten Erhaltung
ober gar ©ergrößerung ber jefcigen ©albquote JJeutfdjfanb« (circa 26 ©roc. ber
©efammtflöche) ben berönberten ©ebürfniffen ber SReujeit gegenüber nicht mehr
eraftlidj geltenb gemacht werben fann. Um bon ber fogenannten „etßifchen 8e*
beutung", bie hoch nur au«natjnt«weife in Betracht fommen, alfo feine«fatl« im
allgemeinen gegen eine übrigen« al« nüplidj erlannte Umwanbluttg bon ©alb*
flächen in ©eijenacfer unb tragbare ffiiefe ober gar für eine gegenseitige Änficht
in« Treffen geführt werben fann, ju f$weigen, haben
1) betreff« ber bi« bahin faft allgemein gelehrten ÜRothwenbigteit einer „ge*
Wiffen SBatbflöche" für ben ftrei«tauf be« Äoljtenftoff« jWifchen 2hier* unb ©ßan*
jenwelt unb bamit bie (Epftenjfähigfeit refp. ©efunbheit ber SKenfchen bie grünb*
liehen Unterf udjungen bon Stägeli unb ©ettenfofer*) in bi«her nid^t wibertegter
unb fchtoerlich ju Wibertegenber SEßeife ba« beftütigt, wa« ftd) jebet Unbefangene
längft fagen mußte, wenn er an walbtofe ©ebiete ober an Saubwalbgegenben im
SEBinter Pachte.
2) Betreff« einer bi« heute noch bielfach behaupteten unb angenommenen wefent*
lieh moberirenben ©irfung auf ©ärme refp. ftälte haben insbefonbere bie bur<h bie
©bermayer’fScn Unterfuchungen gewonnenen Xfiatfachen**) ebenfalls tebiglich ba« be*
*) ©gl. SRögeli, „$>ie ntebern ©ilge u. f. ». in ihren Bejahungen auf GfefunbheitJ*
pflege" (»tünchen 1877).
**) ®i« Folgerungen Äbemtayet'« finb theiltoeife nicht anguerfennen, geigen toenigften«
mehrfach, ertlärlicherweife, eine au« ben Xhatfachen nicht gweifelto« refuttirenbe b. v. v.
toatbfreunbliche Faffung.
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Der (Einflug öes IDalbes auf Klima unb IDafferfreislauf. 595
ftätigt, was ficg ber ruhige unb benfenbe ©eobacgter längft gefogt, bag nämlicg in
biefet ©ejiegung nur für baS SBalbeSinnere bie ©intoitfungen ju conftatiren finb,
bie ficg nacg allgemein befannten pggfifalifcgen ©efegen au£ ber SUierinutg ber
Snfolation unb Suftbetoegung burdj bie Saumfronen für biefeS innere be$ SBalbeS
non fetbft ergeben, toägrenb felbft auf bie näcgfte Umgebung gar fein bortgeif«
Raffer — wogt aber für SBalbenclaben ein nacgtgeiliger (Spätfröfte!) — (Einflug
nacgtoeisbar ift.
3) ©bettfo negatib finb bie ©tgebniffe betreffs ber SJienge unb ©ertgeilung
ber Siieberfcgtäge, jebenfalls fotoeit bie nähere Umgebung beä SEBalbeS als fotcgc
gegenüber einer fernem in Stage fommt. ©3 fei biefergatb bertoiefen auf bie
Arbeiten bon ©ber mager, bon ©urfgne, Sorenj bon Sibumau, bon ©arenborff,
bau ©ebber, fflit^e unb ©ranbeau. SSBenn bie ledern glaubten, ein fleineS IßlnS
(bon etwa Vco) auf igren im SBalbe belegenen Stationen gegenüber igren grei»
lanbftationen conftatirt ju gaben, fo besiegt ficg biefeö, fotoeit ei nicgt burcg
grdgere ©lebation über bem ©leere ober gufatl bebingt mar, immer nur auf bie
SBalbfläcge felbft, nicgt auf nägete ober fernere Umgebung beffelben, bie lanb*
toirtgfcgafiticg bocg allein in Stage fonimeu fann. Äbgefegen gierbon aber ift eS
megr als fraglicg, ob ber beutfcgen Sanbwirtgfcgaft burcgfcgnittlicg eine ©ermegrung
ber Siegenmenge juträglicg märe — bie legtjägrigen SJtiSernten finb getoig ebenfo
toenig btrag Siegenmangel erzeugt toie bie fo biel beflagten Uebcrfcgwemmungen
ber Sleujeit. ®ag bie ,,ju naffen" Sagte weniger gäufig unb fcgäbticg finb als
bie „ju trocfenen", ift für getbiffe Sagen, Sanbbflben u. f. tu. ridgtig — allgemein,
burcgfignittlicg aber bürfte eS fcgtoerlicg ju ertoeifen fein!
4) 2)a$ britte unb legte flimatifcge ©loment, beffen „©ejferung" man bem SBalbe
jufcgreibt, ift bie Suftbemegung in igrem ©jtrem, ber Sturm. |>iet leiftet ber
SBalb tgatfä(gli(g ettoaS, toie i<g felbft gegenüber benjenigen bertrete*), bie bem
©aumtoucgS aucg biefen Slugen gänjlicg abftreiten. ©3 ganbelt fi(g babei aber
um eine megr local an Säften u. f. tu. in ffietracgt fommcnbe SBirfung, bie über«
bieS lanbtoirtgfcgaflicg faft**) gänjlicg bebeutungSloS ift, toie unter anberm bie
gogen (Erträge ber Selber §oHanb£ nnb ScgleSwigS betoeifen.
5) Sind) in ©ejug auf ben SEBafferabflng, inSbefonbere längerer ©rgaltung
fogenannter ^ungerqueUen unb bamit aucg ber ©rfcgtoerung bäQiger SluStrocfnung
ber ©ebirgSbäcge unb reff), fegt niebriger Slugtoafferftänbe, im Sommer foll unb
fann ein bortgeilgafter Einflug beS ©ebitgStoalbeS nicgt ganj in Stage geftettt
toerben. $ag unb inSbefonbere warum man biefem ©inftug aber in ©ejug auf
Vergütung bon Ueberftgmemmungen feine irgenb in ©etracgt fommenbe ©eben*
tung einräumen fann, glaube icg oben gezeigt ju gaben. SBürbe mir aber aucg
in biefer ©ejiegnng ein Strtgum nadggewiefen, fo bliebe bie für etwaige Ueber*
fügrung in 2lcfer ober SBiefe borjugStoeife geeignete, mitgin junäcgft in ©etracgt
*) SBflI. meine Sdjrift „$eibe unb SBalb" (Berlin, $au( Bare?, 1875).
**) 3lur bie ab unb gu burtg ©türm gefcgäbigte Obftemte fSnnte gier geltenb gemacgt
werben.
38*
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596
Uttfere ,Jett.
fommenbe minimale unb ber Siegel nach auf ebenem ober fap ebenem ©oben
ftotfenbe SBatbquote *) in biefec Segiehung (ebenfalls ohne jebe ©ebeutnng.
25afj aber biefe minimale Cuote ber jetzigen (Befammtoalbfläche 2)eutfchlanbS
(OieQeicbt etwa 2 ißroc. = etma '/» $n>c. ber (Befammtoberfläche) immer nodj
ein abfolut feljr grofjeS lerrain, circa 40—60 Cnabratmeilen, repräfentirt, anf
welchem eine Steife non Sohren (.5—10) tjinburdj ber gange ber (anbrnirt^fi^aftlic^en
Setwfterung angefjärige Xheil ber jebigen AuSmanberung non 50—100000 ßöpfen
reichliche, tohnenbe unb probuctine Oefdjäftigung fänbe, bafj ber (Setoinn biefer Stäche
für bie Sobencutturjweige, welche Nahrungsmittel erzeugen, auch einen entfprechen«
ben bauernben @ewittn an lebensfähiger probucirenber ©etwßerung repräfentirt,
bafj pdj baburd) bie (Srgeugung ber (BebrauchStocrthe One bie (Belberträge be$ jefcigen
SBalbarealS um 20—30 SRitt. Starf jährlich peigern mürben, ba| mithin olle
Seranlaffnng oorticgt, biefe eminent mistige »oItSWirthf<haftli<h ( Stage frei bon
trabitioneDen, aber feines (Erachtens nicht mehr berechtigten SSorurtljeilen unb ©efühlen
in ernpe fachliche (Erwägung ju nehmen, hofft ber Serfaffer bei einer anbern (Belegen«
heit eingehenb ju ermeifen, nachbem bie Ablehnung eines non ihm (im preufjifchen
SanbeSöfonomiecoßegium) gepellten bezüglichen Antrags**) ergeben hot» lote »er*
breitet nnb mächtig bie entgegengefehten Anfdjauungen auch h*»te noch Pnb.
*) Xtnn minbeßenS circa 95 Ißroc. beS jepigen beutfdjen Kalbes pnb jnr Unuoanbtnng
in Ader ober ffiitfe »enigßenS jnr 3nt nicht geeignet.
**) $er fragliche Antrag ging bahin, ben $trrn TOinißer für Sanbwirthfchaft zu bitten:
„in anSgebehnterm fRafie als bisher bie Abholung, Aobnng unb Aerzeitpadjtnng non
nach Sage unb ©e(d)afffnbeit" (atfo in ber Segel nur tleefäbiger ober natürlicher Siefen«
boben!) „zweifellos jur bauernben lanbmirthfchaftlichen Stäupung geeigneten Zheilen beS
preufjifchen StaatSforftarealS in (Erwägung zu nehmen."
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'Bnt to (£>efd)xd)U.
®on
iSLortij ßrafdj.
n.
Sag bie ©türme ber granjöfifchen Stebotution aud} eine ®efcf)teunigung bes
SempoS in gewigen SBiffenfchaften, jumat benen beS «Staates unb ber ©efdjichte,
herbeiführten, liegt nahe. 3Jtan gat oft bie potitifchen Ummätjungen bon 1789
mit benen bergigen, Welche bie $fjüofopl)ie am WuSgang beS borigen unb ben
Anfang beS gegenwärtigen 3aljrf)unbert3 in ber geiftigen Stmofphäre Seutfchlanbs
hemorgebracht; ja man ging fo weit, einjetne Heroen bes ©ebanfens mit gewiffen
gelben ber Stebotution in parallele §u fejjen. Stuf beiben Seiten fottte rabical
mit ber Vergangenheit aufgeräumt werben: f)itt mit bem alten Iröbet einer
berrotteten ©efellfchaft, bort mit ben blaffen ©ebanfenfdjemen, welche bie geiftige
©efdjichte ber SKenfchheit angehäuft ^atte. Sludfj in ber leibenfdhaftlidhen DtapU
bität, mit ber biefer SRäumungSproceg bor fich ging, liegt bie Slehntichleit beibet.
Set EßulS beS SBeltgeifteS nahm eine fieberhafte Sdjnetligleit an, um nadhjuholett,
Was ber träge SebenSgang ber frühem 3 a h r ^ un ^ er t e berabfäumt hat- 28ie bie
Serroriften in granfreich bie blutigen ©tabien ber Vebolution, fo abfolbirten auch
bie beutfdhen ©ebanlenmachthaber eine „SBeltanfchauung" fdhneH nach ber anbem.
SEBie in einer erhabenen ©eißerfchladjt brängten fidfj 3 been unb ©hfteme, um halb
als „überwunbene" unb „aufgehobene äRomente" anbem Vlafc i« wachen.
3 oljann ©ottlieb gidjte, einer ber unerbittlichften biefer 3 beenterroriften,
hielt im Sßinter 1804—5 im Sllabemiegebäube ju Verlin gefc!)ichtSphilofophifch e
Vorlefungen, bie er im folgenben 3®h te unter bem Xitel „Ueber bie ©ruitbjügc
beS gegenwärtigen Seitalters" publicirte. SaS SHerfwürbigfte babei ift, bag ber
Vhtiofoph' um feine Seit ju dfjarafterifiren, nicht nur eine Ueberfidfjt über ben
bisherigen 2 Beg gibt, welchen bie SRenfchheit burchwanbert, fonbem auch noch *>ie
nächften ©tabien twrfdjreibt, bie ge bis ju ihrer Ijächften fittlichen Voüenbung 31 t
burchlaufen h fl t. günf ißerioben unterfcheibet gicgte: 1 ) biejenige, ba bie menfch*
liehen Verhältniffe ohne Swang unb ÜDtüfie burdh ben biogen Vemunftinginct
georbnet würben; 2 ) biejenige, ba biefer 3 nftinct fdjwädher geworben unb nur
noch in wenigen WuSerwählten geh auSfpredfjenb burch biefe Wenigen in 3 Wingenbe
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598
Unfere £eii.
äußere Autorität für alle oerwanbelt wirb; 3) bie ©eriobe, bie er als bie ber
©egenwart begeicjnet unb als biejenige cjarafterifirt, wo jene Autorität unb mit
ijr bie ©ernunft in ber einzigen ©eftalt, in ber fte bisjefet oorjanben, abgeworfen
Wirb. £ie beiben folgenben Bbfdjnitte in bem gefdjicjtlicjeu Seben ber 2Renfdj=
beit gehören noch ber 3ulunft an, unb jwar 4) biejenige, wo bie ©ernunft in
ber ©eftalt ber SBiffenfdjaft in bie ©attung eintritt; unb enbtidj 5) biejenige, in
ber ju biefer SBiffenfdjaft fidj bie &unjt gefeilt, um baS Seben mit fixerer unb
fefter $anb nadj ber SBiffenfdjaft jn geftalten, biefe ftunft bie oemunftgemä§e
©iuridjtung ber menfcjtidjen ©erjättniffe frei tiollenbet, ber 3fte(f beS gefammten
©rbentebenS erreicht wirb unb unfere ©efittung bie jöjere Spjäre einer anberit
SEBelt betritt. 2ln biefem jöcjften 3iele angelangt, tritt eine Stütffejr ber ©lenfdj*
jeit ju ijrem Urfprunge ein, jebocj fo, „baß fte ficj mit ©emufitfein mieber ju
bem madjt, was fie ojne ijr 3utjuit gewefen ift". $ie fpätern gefdjidjtspjilo»
fopjifcjen Sleußerungen gidjte'S, bie jerftreut in ben jerrlidjen „Sieben an bie
beutfcje Station" (1808) unb ben „©orlefungen über bie Staatslehre" (1813)
ficj finben, fdjlagen, butdj bie Stotj beS BaterlanbeS eingegeben, einen weniger loS=
mopotitifcj=rabicalett ton an unb jeigen baS jiftorifcje ©ilb ber IDtenfejjeit rnejr
an« bem ©eficjtspunfte ber ©ntwitfelung beS SlationatgeifteS ber ©ölfer.
©on fticjte jum Xjcil angeregt, aber als ein energiftjer ffortfefjer feiner jojen
etjifcjen ©rincipien ift ber ©jilofopj Äraufe aucj beSjalb anjufejen, weit er
ijnen einen auSgefprocjenen gefcjidjtspjilofopjifcjen ©jaralter oerliej. fttaufe’S
SJtetapjjfil unb SteligionSpjilofopjie, Wetdje barauf auSgejen, in einer Slrt mjfti*
fdjen 3bea(rea(iSmuS eine ©erfcjmeljung beS XjeiSmuS unb beS ©antjeismus ju
öolljiejeit unb bie er in einer Steije bon fcjmerfälligen unb in abftrufer Spradje
berfaßten SBerfen nieberlegtc, ift biSjejt wenig populär geworben, dagegen bürften
feine etjifcjen unb recjtSpjilofopjifdjen Sdjriften wegen einer 9teije bon fräftigen
Sfbeen um fo rnejr ffleadjtung berbienen, als ficj in ijnen ber Staat unb alles
gefellige Seben auf bie breite ©afiS ber fidj bon unten jerauf bilbenben menfcj*
tidjen Organismen („ffamilienberein", „SBiffenfdjaftSbunb", „ftunftbunb", „Stecjt»
bunb", „Sugenbbunb", „SdjönjeitSbunb", „SteligionS* ober ©ottinnigfeitsbunb")
aufbaut, unb jwar ni(jt wie in bem pjantaftifcjen „Sonnenftaate" beS italienifcjen
Siaturpjitofopjen ©ampaneQa mit einer abfotutiftifdj<tjeofratif(jen Regierung, fon=
bern nadj burcjauS bemofratifdjen ©rincipien. So ergibt ftcj bölferredjtticj unb
jumanitär ein großartiger SoSmopolitiSmuS, welcjer jebocj baS nationale ©(erneut
ieineSWegS auSfcjließt; anbererfeits eine 8trt bon SocialiSmuS, ber in bem Kffo=
ciationSprincip baS aKmädjtige SRittel erbtitft, burcj weldjeS ber Staat als
Organismus beS SlecjtSfebenS jebem gnbibibuum bie SDtöglicjfeit gewäjrt, fi(j
eine fefbftänbige fitttidje Spjäre ju grünben unb barum feine SlrbeitSlraft ju ber»
wertjen. gicjte’S ibeatem SocialiSmuS fudjt Traufe eine pfjcjotogifcje Sttije ju
geben, ©r mödjte baS „ organifirenbe Xjun ber aus Ueberjeugung janbelnben
Siebe auf allen mögticjen ©unften ber SRenfcjjeit, alfo in allen Qnbibibucn
anregen unb entjünben", bamit fie alle fetber ju „StaatSbilbnern" ober ju
©ftnbniffe bilbenben Drganifatoren werben, wobur<j ficj bann bie 3»>ftänbe ben
bon ijm erjofften gbeatcn immer mejr annäjern ntüffen. ®iefe feine Social-
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<3ur ppilofoppie ber ©cfdjtdjte.
599
refotm, bie Staufe in bet „©runbfage beS SRaturrecpteS", in bem „Aftern bet
Sittentepre“, itiSbefottbere aber im „Urbüb ber SRenfcppeü" fept meitläufig nnb
in einet oft mpftifch»e{ftatifcben ®)ira^e eniroidett, bafitt auf einet gefcpichtspbifo*
foppifcpen änfcpauung, melcpe et in ben „©runbmabrpeiten bet <9ef$idjte" ($pl, 2
bet „©orlefungen öbet bie ©runbmaprpeiten bet SBiffenfcpaft") barfteßt. #iet
miß et ben „©liebbau bet Qbeen in bet Seit" ober Wie fiep bas Seben bet SRenfcp»
beit in bet ©efepiebte entmidett bat, naeptoeifen. 3pm entfaltet fiep bie ©efepiepte
be$ SRenfebengefcblecptS in btei „ftauptlebealtem", in Äinbpeit, in 3ugenb unb
bem älter bet Steife: ein ©efefe, baS anep für jebeS untergeorbnete „Selbftmefen"
in bet SRenfcppeit mieberleprt. äße ©öfter, Stämme, „OrtSbereine", „greunb»
oeteine", „Spebeteine" fomie iebet ©ingetmenfep müfjte biefe btei fjauptalter burep»
leben. 3)ann folgen jrnei Stufen bes abfteigenben SebenS, melcpe bet Sugenb
unb ftinbpeit beS auffteigenben Sehens enifpreepen. 3eneS ift baS $o<batter bet
Steife, biefeS baS ©reifenatter. 2>ie gegentoättige meltgefcpicptlicpe ©eriobe bet
SRenfcpbeit, fotoeit fie fub in ben gebilbeten ©öllern, ben eigentlichen ©ulturträgera
barfteßt, ift bet äuSgang bet 3ugenb. Traufe berfäßt bei aßet ©efunbpeit feinet
eebt menfdblicben Sbeen unb bet SSeite feinet piftorifeben ©erfpectiben oft in einen
Heinlicb»Pbantaftif(ben Schematismus, non bem fich jeboep manche feinet Schüfet,
mie bie SteehtSppitofobpen äbtenS unb Stöbet, fern p batten mujjten.
©ei bem geniatften unb ppantafieboflften unter ben neuem beutfehen ©pifofoPhen,
bei Schetting, fucht man betgeblicb eine pfammenpängenbe JJarfteßung feinet
gefebichtöppifofoppifeben änfepauungen. äpporiftifcp finbeu fie fich faft in iebet
feinet Schriften jerftreut, aber nirgenbö fbftematifch entmidelt. Schon in feinet
naturppifofoppifepen Sturm» unb EDrangperiobe, mie in ben im Sommerfemefter
1802—3 p Sena gehaltenen ©orlefungen „Ueber bie SRetpobe bes atabemifepen
StubiumS", in benen et als acptunbpmnjigiäpriget ©tofeffor ben ©rocefj enblicper
SRanifeftation unb SRenfcptoerbung ©otteS nach atabemifepen £)iSciplinen bebanbett
uub ab unb p biefeS auch bei bet Stau feines greunbeS ä. SS. bon Schlegel, ber
geiftboßen Carotine, berfuepte; fepon hier ift eine gefcpieptsphilofoppifcpe ©onftruction
in einzelnen granbiofen Bügen angebeutet. 2)ie ©efepiepte bet SRenfcppeit ift ihm
nur eine Heine ©pifobe in bet groben ©popöe bet ©ntmidetungSgefcpicpte beS Uni»
berfumS; ber £>etb biefeS ©poS, ber SSettgeift, gelangt uns burch jene ©pifobe p
befonberm ©erftänbnif?. 3a recht epifeber ©reite ergebt fich hier ber Sänger biefer
SRenfcppeitSobpffee: SRptpologie, Stetigion, SEBiffenfcpaft, Siteratur, Sunft unb Staats»
leben finb nur bie äupero Sormen für bie ©mnbmetobie, beren tbeoretifebe Deutung
äufgabe ber ^ß^ilofopbie fei. freilich finb auch in biefer Stiftung Steßen bon
halb fanft rübrenbet Sprit, halb tief erfepütternber Xragit p finben. So ift
j. ©. ber ftüpe 2ab ber fepönen grieepifepen SSBeft eept elegifcpen ©parafterS; ber
gaß ber großen orientalifcpen SEBettperrfcpaften unb noep mept ber Untergang beS
grojjen Stömifcpen SteicpeS als ein äuSbrud tragifeper Scpulb unb Süpne anp»
fepen. SBir mürben oon unferm Stanbpunlte auep bie ©efepiepte ber Stapoleoniben
bom 19. ©tumaire 1799 ab, mo ber bon Siegen beraufepte ©rfte ©onfut bie legi»
time gornt ber republifanifcpen ©»irectorialregierung'ftürgt, bis pm 1. 3uni 1879,
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600
Unfete £ei t.
wo bet jüngfte ©rätenbent bet ©onaparte in ©übafritaS ©onnenglut unter ben
Slffagaiftichen bet 3»»l«8 enbete, als eine foldje ^iftorifc^e Xragöbie mobernften
©tils anfeljen. Butoeüen erfcheint und inbei ©cheHing’S ©hmbolil auf bie ©pi|e
getrieben, wenn et g. 33. bie Kirche unb ihre geföidjttidje Entwicfelung als tebenbiged
Kunffwerl befinirt, in welkem bie Offenbarung beS SBeltgeifteS in Sonn feiner
SDtenfdjtoerbung in £t)rifto, bie gange öordjriftlidje SBelt als Einleitung hiergu unb
bie nadjfolgenbe als Sonfequeng betfelben Ijinftellt. ES ift begreiflich, baff bie mich 3
terne empitifche EefdjidjtSforfdjung, welche freilich in ben Kem beS ©cheUing'fchen
SbentitätSfhftemS nicht eingebrungen War, gegen biefeMrt, bie gange Sülle inbioi»
bueßen SebenS in ber ©efchichte in religionöp^itofop^ift^e unb äffhetifche Sfbeen
aufguldfen, heftig proteftirte. #atte fchon ber rigorofe Sugenbterrorift Siebte, welcher
bie Erbe unb ihre menfchlidjen ©ewohner wie eine groffe moralifche ErgieljungS»
anftalt mit ihren Pfaffen betrachtet, baS ächfelgucfen non ©iftorilera, wie beS
nielfeitig unb claffifeh gebilbeten Suben ober beS mehr ftaatSmännifchen Schläger,
beS gelehrten ©ölifc u. a. neranlafft, fo fträubten fi<h bie „Ejacten" gegen jene poetifdj»
fpeculatioe ©efchi^tSanfchauung mit um fo greifferm ©echte, als bie praltifch=poli*
tifchen golgen betfelben nur gu balb fichtbar Würben.
SBährenb bie begabtem unb heroorragenben Anhänger ©chelling’S, wie ©teffenS,
©eeS oonEfenbecf,Dlen, Schubert, Derfteb, EaruS, ©urbach u. a. fich bem
©uSbau ber naturpfjilofophifcfjen unb anthtopologifdjen ©eite beS SbentitätSfhftemS
guwanbten, hotte bie gefdjidjtSphilofophifche ©ichtung beS ©teifterS nur für Wenige
©ngiehungStraft genug. Sie übrigen cultinirten mehr bie religionSphilofophifchen
unb öffhetifchen gächet ber Schule (©olger). ©ur Sohann ©tufjmann nerfueffte
eine fhftematifch angelegte philofophffche ©etrachtung ber ©efchichte im Sinne
©chelling'S: ,,©htfof°bh* e ber ©efchichte ber 9Beitf<hheit" (1808), gu geben. Soch
neigt ber S3erfaffer noch nielfach ber fpätern ©h fl fe ber gichte’fdEien ^p^ilofo^ic gu.
SBir haben griebrich ©ehlegel'S romantifch-religiöfe Sbeen bereits oben er»
Wähnt; aber währenb bei lejjtern baS Stefthetifdje unb Kirchliche fi<h noch bie Stßage
hielten, tritt bei ben fpätern ©uSläufern biefer ©ichtung baS Kirchliche unb mit ihm
baS potitifch*conferoatioe Element entfliehen in ben ©orbergrunb. Es war gang
ergäfclich angufehen, Wie gefehlte pulitifche gaifeure aus biefem nü)ftifch=poctifchen
Untergrunbe allerlei bunte ©eactiondfächetchen unb ^eilfame 3aubertränte mit
farbigen Stiletten herausholten, auf benen allerlei romantifcher ©hu! gu fehen
War unb bnreh welche, wie jene |>eillünftler unb ihre noch niel fchlanern jourita»
liftifcffen ©ffiftenten hofften, bem büfen „Morbus democr&ticus et atheisticus" bei»
gulommen Wäre, ©ei ber engen ©erwanbtfchaft fjfftorifcher, ftaatSrechtlicher unb
juriftifchet ©egriffe lonnte eS nicht fehlen, baff bie ©ichtung auch balb in ber
theoretifchen ©uffaffung 00 m SBefen unb 3ioecf beS Staats» unb ©efeQfchaftSlebenS
wie in ber prattifchen ©olitif fich seltenb machte. Sie „hiftorifche" ©echtsfchule Sa»
bignh’S unb Eichhorn’S wie bie nach „Drganifchent" anSfdhauenbe SllterthumS»
forfchung ©iebuhr’S, in weiterer Sinie bie ftarre ©ibelorthobojie £>engftenberg’S
unb Xfwfacf’S, wie gewiffe Xenbengen in ber neuerweeften germaniftifchen gorfchung
finb als ©eitenfehöfflinge aus bem Stamme ©djeUing’fcher unb ©chlegel’fcher ©e»
fchichtspljilofophie angufehen. Unb ba bet SBeltgeift unter allen Sonarten, bie ihm
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<?jur pfjtlofopfyie 6er (ßefdjidjtc. 60 \
jut Verfügung fielen, jumeilen, um gemiffe hiftorifdje fßrämiffen ad absurdum ju
führen, auch bie iroitifcfje wählt, tuet fonnte barin eine ^tonie berfennen, baß er
auf ©runb ebenberfelben ©efdjidjtSanfchauung ben StaatSredjtSprofejfor Julius
Stahl*), ben gemanbten Dialeftifer unb gührer beS preußifchen $errenf(aufe$,
jeben ber 9iau6anfäße, ben bie öerbünbeten #ochtorie8 unb ^odjfirdjlichett an bem
ntobernen liberalen StechtSftaate begingen, fofort in eine plaufible redjtlpljilofofjljifdje
gormel oerwanbeln läßt? ©eltfam! 3118 einft Schiller bie 8lefthetif jum Kanon ber
©ulturgefchicfjte machte unb bie SRenfdjen butcf) baS „ÜDiorgenttjor beS ©gölten
in ber ©rfenntniß ßanb" führen wollte, ahnte man in SEßeimar nicht, baß nach
50 fahren biefer p^üofop>^ifc^e Xraum beS ®ichter8 [ich in jene unheimliche
bertoanbeln mürbe, welche eine fßanacee aller finftern URädjte ber 3eit gegen ben
mobenten ©eift beS fjortfc^ritts unb ber greiljeit geworben! 2>iefe lefcte 3Retamor=
f>hofe theofophifcher ©efdjichtsbetrachtung tritt bann als „ißhilofohhie ber ÜJi^t^o^
logie" auf, über Welche einft ©cheüing in SKünchen unb fpäter in Berlin öffent»
liehe Vorträge für einen laufdjenben Kreis anbächtiger Slbepten hielt. $o<h fonnte
biefeS erft mit ©rfolg gefchehen, nachbem ber £ob feinen gewaltigften ©egner
©eorg SBilhelm griebrich |>egel (1831) aus bem SSege geräumt hatte.
$ie beiben faft gleichalterigen fchwäbifchen ßanbSleute, beibe 3öglinge beS
tübinger ©tiftS, waren bon 1801 an in 3ena, wo fich £egel ^abititirt hatte,
innig oerbunben. 8118 ÜDiitherauSgeber be8 „Kritifdjen Journals ber ißhilofophie"
gingen fie biefelben SBege ber Sbentitätsphilofophie- 8fÖ aber ©cheüing 1803
Sena »erließ, bilbete fich jtoifdfjen ben beiben greunben eine immer größere ®iffe=
rcty heraus. 2Jlit ^egel’8 „Phänomenologie beS ©eifteS", an ber er an bem läge
ber Schlacht bei $ena (14. Dct. 1806) ben lebten geberjug machte, ift ber Sruch
Ootlenbet. S8on nun an waren ihre Bahnen tterfd^ieben, wie e8 burdj bie gang
entgegengefejjte Statut ihrer geiftigen gnbiöibualität geboten War. 3!n ßhilofophifchem
lieffinn einanber gleich, fonnte hoch ber pfjantafieüoHere, mehr fünftlerifch angelegte
©djcKing, ber ©rfinber jener merfwürbigen p^ilofop^ifc^en ÜRetljobe, bie al8 „in»
tellectuelle Slnfdjauung" befonberS genialen p^ilofop^ifd^cn ©onntagSfinbern bie
höchfte SBahrheit im ©chlafe bewert, niemals mit bem wo! fehwerfäßigern, aber
logifch fchärfem, wiffenfdjaftlich gewiffenhaftern unb untoerfeflent $egel für bie
$auer gemeinfame Sache machen. 31u<h bei $eget ift bie SEBelt unb bemnaef) auch
bie ©efchicfjte ber UKenfdjheit eine uns üerftänblidje äJianifeftation bes abfoluten
©eifteS. 31ber biefer ift, wie ber Urheber ber $heorie felbft, ein gewaltiger ßogifer;
benn fein eigener SBerbeproceß in räumli<h s jeitlicher gorm fowie feine Umfefeung
aus bem bloS ibealen ©inn in bie SBirflicfjfeit geht in beftimmten Stationen bor
fich, öir freilich nur unferer Stuffaffung als folche erfcheinen. ®emt an fich iß
bie ©manation ber SBelt aus ©ott ein ununterbrochener biateftifdjer Ptoceß, eine
praftifche Sogif beS ©eins, baS in bem benfenben Qntettect in einem fubjectioen,
*) „$ie $f)ilofopt)ic beS Rechtes nach ge[rf)icf|t(i<f)er Snftdü" (39b. 1: „©efdjühte ber
9techtSphil°f 0 Phi e " [5- Sufi., Tübingen 1879] enthält bie toefentttdjen giige ber theologifU
renben ©efdjidjtSanfchauung).
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602
Unfere <5«t,
a6er boQgültigen Äbbilb fttb projicirt: bie Sogt! bei IDenfeni ift ibentif<b mit bet
Sogi! ber Seit, unb bie einzelnen ©eftimmungen ber erften, wie Sein, Serben,
Quantität, Qualität, Staunt, Seit u. f. tu., ftnb ebenfo öiele Stabten in bem Serbe«
procefj bei abfotuten ©eiftei. Spinop’i ©antbeiimui ift bei $egel p einem
uniberfellen ©antogiimui geworben, ber einfad) erhabene efljifdje Stanbpunft bei
amfterbamer Seifen Ijier p einem ©ott, Seit, Statur unb ©efdjidjte in gleicher
Seife umfaffenben wiffenfcbaftlicben Spftem umgewanbett. Spinop’i ©oftulat,
baff nur biejenige ©rfenntnifj eine wahrhaft pbilofopbifcbe genannt Werben !ann,
bie bai einzelne „sub specie aeterni" begreift, glaubte £>egel in feiner bai ganje
menftblitbe Siffenigebiet in ficb ftbliefjenben unb alle Stätbfel unb Probleme läfen«
ben ^^ilofop^ie erfüllt p tjaben. 5)afj auch hierbei bie 3rrage nach ber innern
gefdjicbtlitben ffintwidelung ber ©tenfcbbeit eine Stelle finbet, liegt nabe. 3a er
bat (wol weil er auf biefen Gebieten umfaffenberei Siffen befafj) bie fogenamtten
biftoriftben Siffenftbaften, p benen im Sinne £egel’i autb bie Politiken, jurifti»
fcben, wie bie bai Gebiet ber Literatur unb Jhinft umfaffenben 3*oeige gebären,
oiel ua<bb<tltiger mit feinem eigentbümlicben ©eifte imprägnirt, ali etwa bie rnatbe«
matifcben unb naturwiffenf<baftli(ben ®iiciplinen. Zfyatfäfyüä) b«t ft<b autb fein
anbauernber ©influfs in jenen, bie gefdjidjtlitbe Sluffoffung julaffenben ©ebieten
bii auf bie ©egenwart erbalten. $egel’i gefcbicbtipbilofopbif<b e ®nfi<bten machten
fitb ja na<b bem befonbern 3«fawmenbange faft in allen feinen Serien geltenb.
3n ber „ißbänomenologie" Wie in ber „Bogil", in ber „©ncpflopäbie" wie in ben
„©runblinien ber ißbilofopbie bei 9te<btei" blifcen ftbon bie eigentbümlitben 3been
über bie ©ef«bid)te ber ©tenftbbeü burtb. Stur ift ei bi et Diel fdjjwerer, fie aui
ben ©erjweigungen ber ®ialeftil berauijuftbälen. ©reifbarer fdjon erftbeinen fie
in ben „©orlefuttgen über Sleftbetit" (berauigegeben bon $otbo), ben „©ortefungen
über bie ^ß^üofopt^ie ber Steligion" (berauigegeben bon ©tarbeinefe) unb befonberi
ben „©orlefungen über ©efdjicbte ber ©bil°fopbi e " (berouägegeben bon ©liebelet).
2)enn in ben Ungenannten 3weigen ift fein eigener Stanbpunft überall bai häufte
©lieb einer borbergegangeneu ^iftorifc^en ©ntwidelungigefcbicbte ber ©ienfebbeit,
fobaf» man bi« ftbon inbirect, wenn autb innerhalb einei umf^loffenen fhreifei
ben gerichtlichen ©rocefj berfolgen lann. 3m 3«fontmenbange jebotb finben Wir
feine bi«b er seböngen Slnf^auungen erft in ben bon ©buarb ©ani unb in ^Weiter
Sluflage bon feinem Sobne ffarl |»egel b«auigege&enen „©orlefungen über bie
Ißbilofopbie ber ©eftbiebte" borgetragen. |>egel macht ©rnft mit bem ©ebanlen,
bie ©efdbi^te ber ©tenfdjbeit ali ein ©anjei, ali einen Qrganiimui p bebanbeln,
einen Qrganiimui freilich, ber bon innen b««uä/ bon ber ihn belebenben Seele
geftbaffen unb entmidett wirb, aber botb autb ber pbbfifcben ©ebingungen bebarf:
Suft, Siebt unb ber unorganifeben Stoffe p feinem eigenen Slufbau. So auch bie
©tenfebbeit. ®ie organiftbe Seele betreiben ift ©ott („ber abfotute ©eift"): et
ftbafft im ©tenfebengefebteebt ficb feinen Seib, beffen Sadjitbum, ©ilbung unb
©eftaltung bie ©eftbitbte beffelben auimaebt. ®iefe leitete aber wirb bi«burd)
p einer wahrhaften Jeopbanie bei gättlidben ©eiftei auf ©rbeu.
®a wir aber Weber ben SInfang notb auch bai ©nbe bei geftbitbtlicben Sebeni bei
SKenftben unb biefei »ermöge ber natürlichen UnooQlommenbeit unferer Quellen auch
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,5ur P^tlofopljie 6er (ßefdjidjte.
603
ttur brudhftfidfmeife lenneit, b. h- ba uitfer ©ebaitfenbilb non ber ©ntmicfetung ber
SRenfdfjheit fic^ teineStoegS in allen feilen mit bem toirflidjen Urbitb bes gefehlt*
licken ©efammttebens berfelben becft, fo faitn jebe philofopljifche ©rlenntniß ber
©efchichte, auch bie |>eget’ö, nur eine mangelhafte fein: ber $intergrunb beS
grofjen ©emätbeö: matt unb nerfd^toommen, bie SJtittelpartien fdpon bur<hfidf)tiger
unb Rarer, ber Sorbergrunb in ©ejug auf garbe fe^r grell unb noch ju toenig ab«
geRärt, in ben Figuren jeboch mangelnbe Perfpecttoe; baS ©aitje aber ift ein ernfteS,
ftimmungStiolleS 28er!, bei bem ber lunftoerftänbige Sefdjauet jtoar EieraitSfü^lt,
bah nicht alles correct unb fcf)ön fei, beffen granbioS gebachte ©ompofition jeboch
immer einen übermächtigen unb feffelnben ffiinbrucf hinterlögt. ®ie „PhilofoPhi*
ber ©efchichte" foH, toie ©buarb ©ans in feiner Anleitung fagt, „bie Serintoen«
bigung bes äußerlich hiftorifch ©rfcfjeinenben" enthalten. Sie leiht baher bie ©in«
tfjeitung beS äußerlichen Stoffs, ben fie auf baS Steröengeflecht ber 3fbeen hin unter«
fudfjt, bon ber getoöhnlichen ©ef<hidjte. 2Bie biefe unterfcheibet auch lieget oier 2Bett*
alter: bie orientatifche 2Belt, bie griechifdhe, bie römifche unb bie germanifche, unb
bie lefctere fährt er bis auf bie große Stebolution bon 1789 herab. 2ltleS, toaS
bieffeit ber SÄebotution liegt, beren ©entenarium halb beborfteljt, betrachtet lieget
mit Stecht noch als „©egentoart", infofem bie bon ihr ausgegangenen 28etten«
betoegungen noch jefet nicht jum StiUftanb gebracht finb, b. h< noch nicht hiftorifdfj
getoorben ftnb. 5)aß lieget bie ganje fogenannte Urgefchichte ber ÜJtenfchheit
auSfchließt, ein jmar nodh fehr hhpbthefenrei^eS, aber burch bie ©rgebniffe ber
nergleichenben Singuiftif unb Paläontologie boch fdhon ftattlich angetoachfeneS ©e=
biet, liegt an bem herrfchenben ©runbprincip feiner ©efchidjtsbetrachtung. 3n biefen
erften ©äuglingSjahren ift ihm ber ©eift ber SRenfdhheit noch ftumpf. ©r nimmt
baher bie ©efchichte erft ba auf, too „baS SRenfdhenbetoußtfein in niedliche ©jiiienj
ju treten beginnt", ©rft bie ©taatenbilbung bringe ben eigentlichen gerichtlichen
Qnhalt herbei, erft burch fie beginnen bie Stationen Sebeutung unb $ntereffe für
bie „concrete Vernunft". „®enn bie 2Beltgefcf|ichte", fagt lieget, „fteHt bie ©nt«
toicfelung beS SetoußtfeinS bes ©eiftcS tion feiner Freiheit unb ber non folgern
herborgebradhten SSermirRichung bar."
3)aS ift bas SJtänntiche unb ethifch SBerthboHe in ber Degel'fchen ©efchidjtS«
betradhtung, baß er baS ©etoußtfein ber Freiheit jum ©ntmicfelungSprincip ber
SJtenfdhheit erhebt. Rber biefeS Setoußtfein h«t feine Stufen, bie bann toöder«
pfpchologifch unb tjiftorifdh zugleich jebeSmal baS SebenSprincip einer Station bitben.
hieraus iß bann ihr ganjes ®en!en, SBotten unb ©mpfinben abjuleiten; hier
allein ßnben alle nationalen Sorjüge unb ©cßtoächen ber Söder ihre ©rRärung.
„tDiefe Seftimmtheit beS ©eifteS eines SotfeS", heißt eS in ber ©inleitung,
„brfieft feine ganje SBirHichfeit auS; fie ift baS gemeinfchaftlidhe ©epräge feiner
Steligon, feiner potitifdhen Serfaffung, feiner ©itttidjfeit, feines StechtSfgftemS, feiner
©Uten, ja feiner SBißenfcßaft, ®unft unb technifchen ©efdfjicflichfeit. ®iefe fpecieQen
©igenthümlidhfeiten finb aus jener allgemeinen ©igenthümtidjfeit, bem befonbern
Princip eines SodeS ju oerftehen, foioie umgefehrt aus bem in ber ©efchichte
Oortiegenben factifdjen ®etail jenes RUgemeinen bie Sefonberljeit IjerauSjußnben
ift. ®aß eine beftimmte Sefonberheit in ber $h°t baS cigenth»imtid)e Princip
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60<*
Unfere ^cit.
eines SoffeS auSmacbt: biefeS ift bie Seite, welch« empirifdj aufgenommen unb
auf gefdjidjttidje SBeife etwiefen Werben muß.... „®ie Stiftung auf bie Kategorien
ber greibeit ift bie Stiftung auf baS wahrhaft SEBefentficb«." Son biefem ©epcbtS»
punfte aus gruppirt fid^ ihm bie ©efdjicbte nadb Söffern toie ein großes Heerlager.
®er Orient, toefentfidj beSpotißb regiert, wußte unb weiß nur, baß einer frei iß,
bie griedjifdje unb römif^e SBeft, bie noch üon bet Snftitution ber Sftaberei be»
engt wirb, baß einige frei feien, bie germanifdje SBeft weiß, baß affe frei ßnb.
3m Offen beginnt }War bie SEBettgef Richte, im SEBeften aber gebt bas Siebt beS
Selbßbewußtfeins auf. Sn ben fubftantieOen ©eßaftungen ber orientatißben Seiche
finb alle oernflnftigen Seftimmungen oorbanben, aber fo, baß bie Subjecte nur
Sfccibentien bfeiben. 5)ie ©epbicbte beS Orients ift bas KinbeSafter ber SDtotfcß*
beit. $>er griecbißbe ©eift ift baS SünglingSalter: baS Seich ber fubjectioen
greibeit, aber „in bie fubftantieße greibeit eingebitbet". SluS biefer innigen Ser»
fcbmefjung ber Sittlicbfeit unb beS fubjectioen SEBiQenS erwätbft „baS Seich ber
frönen greibeit", ba hier, wie in einem frönen Kunftroerfe, baS Sinnlich« baS
©epräge unb ben StuSbruef beS ©eiftigen trägt, bie Sbee mit einer pfaßifdjen
©eftaft bereinigt erfcbeint. ®iefeS ift baS 3citafter ber fcbönften, aber f<f>netl
oorübergebenben SfAte beS SSenfcbengefcblecbtS. Sn biefer natürticben ©inbeit beS
SubjectS mit bem allgemeinen 3weef fiegt bie unbefangene, fubftantietfe Sittlich*
feit, mefeber freilich fcbon SofrateS bie SKoralität, bie auf Seßejion berubenbe
Selbftbeftimmung beS SubjectS entgegenfteUte; bie fubftantietfe Sittlicbfeit beburfte
beS Kampfes mit ber fubjectioen greibeit, um fitb jur freien Sittlicbfeit ju geftalten.
hierin tag baS wettbiftorif^e Seebt unb baS weltbiftorifcbe Unrecht beS SofrateS,
feine etbifcbe Scbulb unb Sühne: baS Iragif^e feines XobeS. ®aS römifcbe
Seitalter wirb bon $egef afs baS SSanneSafter bepnirt: baS Seich ber abftracten
Stilgemeinbeit. ®aS Snbioibuum bot hier feinen SelbßjWeef, fonbern wirb bem
allgemeinen StaatSjWeefe aufgeopfert; aber jum ©rfafc erhält es bie Allgemein*
beit feiner felbft, b. b- bie ^ßerföitlic^feit; bi et fiegt ber ©runb, baß baS S*ioat<
recßt eine fo b&b e Slusbilbung erhält, baß es noch bie SecbtSbegriffe ber ganzen
ntobernen SEBelt beberrfdjt. Sapelbe Scbicffal trifft bie Sölfer: ber Schmerj über
ben Serfuft ber nationalen Selbftänbigfeit, bie oon ber SSajeftät beS römifcben
SßettftaateS aufgefogcn Wirb, treibt ben ©eift in feine innerften liefen jurücf.
©r oerfäßt bie götterlofe SBelt unb beginnt baS Seben feiner Snnerlidjleit. §ier
fiegt ber Urfprung beS SbriftentbumS unb baS ©ebeimniß feiner SSacbt über baS
©emütb ber aften 358eit. Soeb einmal jwar reagirt in einer 8lrt Sadjblüte ber
Sb'fofopbi® Siteratur ber antife ©eift. Slber ihm ift bie innere Kraft ent»
fdjwunben. Slnbere unb beredbtigtere SSäcbte finb auf ben Scbauplafc ber ©efcßicbtc
getreten. S« ber germanifcben SEBett fotl nach $egel baS Sewußtfein ber Set»
föbnung ^etrrfcben. $er anfänglich noch abftract in feiner Snnerlicbfeit einge»
fcbloffene ©eift fühlt ficb in biefem ®ämmerteben befriebigt, baS SEBettticbe iß ber
Sobeit unb SBiflfür übertaffen; enbticb aber formirt pcb baS Srincip fefbft ju
concreter 333irflicbfeit, in welcher baS Subject fi<b mit ber Subftanj beS ©eißeS
üereinigt. So ift bie Sealiprung beS SegriffeS ber greibeit baS Siel ber SEBett»
gefehlte unb ihre ©ntwicfetung bie Wahrhafte X^eobicee.
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<5ur Pgilofopgie 6er Cßefcgicgte.
605
2Ran gat in biefem granbiofen Slufbau ber ©efr^i^te fo mancgeS getabelt.
befonbere Waren es bie ©rüge biefer ißerfpectioen, bie $ügngeit biefer SBölbungen,
wel^e bie giftorifdgen Äleinmeifter ben «orwurf gegen $egel ergeben liegen, et
gäbe eine apriorifcge ©onftruction non ber SSeltgefcgicgte gegeben, hiergegen
oertgeibigt er fidg in ber brüten SluSgabe feiner „©ncgflopäbie ber pgilofopgifcgen
Sßiffenfcgaften" (Berlin 1830), wobei er ben ©pieg umbregt unb gerabe ber
fogenannten pgitologifcgen ©efcgicgtfdgreibung apriorifcgeS «erfagren borgält,
inbem er allerbingS ber #iftoriogcapgie ber ©nglänber unb granjofen aucg in
®epg auf bie ftaatSmännifcge Haltung unb bie lünftlerifcge gorm ber £)arfteQung
Oor ber beutfdgen ben «orgug gibt, hierbei ma<gt er eine Semerfung, bie gerabe
für bie gerrfcgenbe minutiöfe ©gronilenforfcgung ber ©egenwart, bie fidg üielfacg
als ®efcgicgtfcgrei6ung ausgibt, im ©runbe genommen aber bocg nur eine $ülfs*
tgätigfeit berfelben ijit, oon «ebeutung ift: „SBenn in bem ©garalter ber aus*
gejeicgneten Qnbioibuen einet ißeriobe ficg ber allgemeine ©eift einer Seit über*
gaupt abbrüdt unb aucg igre «articularitäten bie entferntem unb trübem 3Jlebien
finb, in Wellen er nocg in gefigwäcgten Farben fpiett, fogar oft ©injetgeiten eines
Keinen ©reigniffeS, eines SBorteS, niegt eine fubjectioe Sefonbergeit, fonbern eine
Seit, «off, «itbung, in fcglagenber Slnfdgaulicgleit unb Sürjt auSfprecgen, ber*
gleichen auSjuwägten nur bie ©acge eines geiftreicgen ©efcgiegtfcgreiberS ift, fo
ift bagegen bie üötenge ber fonftigen ©injelgeiten eine iiberftüffige Sötaffe, burcg
beten getreue Slnfamntlung bie ber ©efcgicgte würbigen ©egenftänbe gebrücft unb
öerbunlelt werben; bie wefentlicge ©garalteriftil beS ©eifteS unb feiner 8*ü ift
immer in ben grogen «egebengeiten entgalten. ©S gat ein ricgtiger Sinn barauf
gefügrt, bergleicgen ©dgilberungen beS ^articulären unb baS Stuflefen ber Süge
beffelben in ben Vornan (wie in ben SBatter ©cott'fcgen u. f. w.) ju oerweifen.
®S ift für guten ©efcgmacf ju galten, bie ©emälbe ber unwefentlicgen, Partien*
lären Sebenbigleit mit einem unwefentlicgen Stoffe gu oerbinben, wie ign ber
Vornan aus ben ißrioatereigniffen unb fubjfectioen Seibenfcgaften nimmt." SSie
$eget gier baS «ergältnig bon ©efcgicgtfdgreibung unb giftorifegem IRoman, fo
möcgte er aucg bie gtut ber äKemoirenliteratur unb ber ©iograpgie in igre be*
reegtigten ©rengen weifen.
3)ie Singriffe, bie ^egel’S ©efdgicgtSanffaffung oon pgilofopgifcger ©eite er*
fagren, riegten ficg gum Sgeit gegen ben mangelnben SRadgweiS jener begaup*
teten ©efegmägigfeit in bem ©ange ber SSeltgefcgicgte, aber aucg gegen feine
Sluflöfung alles gnbiOibueQen unb ^erfönlidgen gu ©unften ber $errfcgaft ber
3been. §ier war es befonberS bie oon ber Stomanti! anSgegenbe ©efegiegts*
betraegtung, bie mit igrem ©ultuS ber grogen Ißerfönfidgleiten eine Steige oon
«orgügen barbot, welcge ben bramatifegen unb epifegen 2)icgtern für igre poe*
tifegen Swede gugute (amen. $er ftarre «egriff ber 2)ialefti( ber ©efcgicgte
gat ungweifetgaft ben %oi alles inbioibueüen SebenS, baS trogig für ficg eine
ureigene «eredgtigung in Slnfpmcg nimmt, jur golge; unb Oon biefem ®e*
jtegtspunfte aus Wirb es immer fegwer fein, ficg bebingungStoS bem ^egel’fcgen
SbeoiogiSmuS ber ©efcgicgte gu ergeben. S)ag er bie fegönen ©ötter* unb $eroen*
bilber in bem Xentpel ber ©efcgicgte geftürgt, war freilieg niegt logifeger «anba*
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606
Uttfere &it.
tilmul; bentt er hot bem mantenben Heiligthume aul ihren Zrfimnum fttt|enbe
Sfiuten geraffen, toeld^e biefen ragenben Sau tragen, ber nun freilich jettet
becoratioen ©ötterwelt entbehrt:
Zu ^aft [it jerftört,
Zie fdjöne Welt,
9Rit mächtiger gauft.
Sie ftflr}t. He verfällt!
(Ein Halbgott $at fte jerfdjtagen!
Wir tragen bte Zrümmer in! Kidjtl hinüber,
Unb Ragen Aber bal tcerlorene Schöne!
Wichtiger ber Crbenfäljne,
Prächtiger,
Saue fte trieb er,
3n beinen Sufen baue fie auf!
Unb Wie baute er fie auf! $emt unter allen Umftänben muff uni bei bem Bor*
Wiegen unferer potitifchen ^ntereffen eine SefchiAjtlauffaffung, welche bal Bewufit*
fein ber Freiheit all bte betebenbe Seele aller gef$id)ttidjen ©ntwicfelung nach*
weift, wifftommener fein all etwa bal nebelhafte, traumumfangene Bitb ber BRajä,
bal Schopenhauer in bem erbticfte, wal wir bie ©efchichte bei SDtenfchengefchtechtl
nennen. Zenn nach ihm ift „bie ©efdjichte in ber Zhat nur ber tange, fernere
unb oerworrene Zraunt ber SDlenfchhrit" ©eit all Sitte unb Sorftettung",
n, 506). @1 liegt im Sefen biefel Schopenhauer’fdjen Peffimilmul, bafj er au&rt
Stanbe ift, aul fi<h hecaul eine ber (Sefchicfjte ju conftruiren. ®rft
baburch, bafj ©buarb bon $artmann bal immanente GEntwidelunglprincip Don
Riegel aboptirte, War el ihm möglich, 3 U einer philofophifchen 8nfid)t Aber beit
(Sntwidetunglgang ber ©efchichte ja gelangen, freilich h»t er Weber in feiner
„Phänomenologie bei fittlichen Bewufjtfeinl", noch in feinem lebten religionl*
gefchichtlichen Serie: „Z)al religiöfe Bern unfein ber ÜKenfdjheit. 3m Stufengang
feiner ßntwidelung", eine jufaramenhängenbe Zheorie Aber bie hiftorifdje ©üolution
ber SDtenfchheit gegeben. 2>och ift eine folche gewiffermaßen in latenter gorrn
bort unter bem ®efichtlpunlt ber (Sntwicfelung ber etlichen, hier unter bem ber
religiöfen 3bee in beiben genannten Serien enthalten.
Sal bie $eget’fche Schule in gefchichtlphttofophifchem Pulbau innerhalb ber
bom SReifter gezogenen ©runblinien teiftete, ift nur gering, obgleich bie eigentlichen
Hiftoriler ber Schule auf ihren fpecietten Gebieten Aberatt ben urfprAugtichen
©runbrijj burdhfcheinen taffen. Stil eine wirtliche tiürgänjuug, refp. gortfefcung
Hegel’l ift nur 3RicheIet’l „Sefdjichte ber 3ftenfchheit in ihrem föttwidebiugl*
gange feit bem 3<th te 1775 Btl auf bie neueften Stilen" (2 Bbe., Berlin 1659
—60) anjufefjen. Hier wirb ber gaben ber Betrachtung ba aufgenommen, wo
Heget ihn fallen tiefj. 3 m übrigen wanbte fuh bie Sinte ber Hegelianer ber
Phüofophie ber (Sefchi^te ab. Zheill waren fie baran, Htgel’l principien praltifch
anjuwenben unb felbft ©efchidjte ju machen (wie fflrnolb Buge u. a.), theill festen
fie ihn auf retigionlphitofophifchen unb anbem Oebieten fort, iubern fie bie rabi*
caten (Eonfequenjen aul feinen Prämiffen jogen (wie Straufj, geuerbach u. a.).
3ebenfalll aber war bie fpätere 3eit einer fpeculatioen Behanblung ber ®ef<hichtl :
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<5ur P^ilofopfjtc 6er (ßefcfjidjtc.
607
philofopljie nicht fet)r günftig. $ie Slaturwijfenfchaften in ihrem ungeahnten Stuf*
fötonnge, fowie bie praftifdhen 3ntereffen beS Sebent unb ber ißolitif haben in
ber zweiten $ äffte b eS 19. Sn^r^unbert« faft ganz baS Sntereffe abforbirt, baS
früh« te f® auSgebehntem SRajje ber fpeculatiben Stiftung in ben ÜBiffenfdjaften
jutheif Würbe. gn allen SBiffenSgebieten ber Statut unb ©efdjichte ift ein mehr
ober minber principietter ©mpiriSmuS baran, jebe „Ih^orie" abjumeifen unb bie
Sülle ber ©rfahrungSthatfachen noch ju bermehren. 3)aS bebuctioe Verfahren ift
berpänt, bie gnbuction ift abfofute $errfcherin im Steife ber SBiffenfchafteiu
@o ift es nicht mehr bie „©onftruction", burdj Welche ber finnenbe ©ebanle bie
SBeft and fich heranS projicirt, fonbern baS „ejacte ®efe|" gilt als baS erftrebenS*
werthe $iel aller gorfchung, als ber fdjönfte Sohn aller wiffenfchaftlichen Arbeit.
ffiaS aber für bie iRaturwiffenfchaften fich bon felbft berfteht, gilt nicht auch fo>
gleich für bie gerichtlichen $isciplinen, beren ganzes SüBefen ftdj nach ber ge*
wdhnlichen ®nftcht ber „ejacten", „inbuctiben" äRet§obe ju entziehen fcheint. Unb
boch macht fich auch hl« fch®n eine bebeutfame, bielberfprechenbe Bewegung im «Sinne
einer mehr naturwijfenfchaftlichen ©ehanbluttg bemerfbar. ©ine neue ©poche h®t
auch in biefem hiftorifdjen Bweige begonnen, beren SBirlungen nicht nur bis in
bie ©egenwart hineinreichen, fonbern auch noch lange in bie Bufunft fich hi nau #
er f trecfe n werben.
©tiefer SBenbung in bet gefchichtsphilofophifdjen ttRethobe gehen einige wiffen=
fdjaftliihe ©ublicationen borauS, bie bon großer ©ebeutung finb unb biefelbe ge=
Wiffermafjen einleiten. ©uijot’S fchon erwähntes geiftbotfeS SBerf: „Histoire de
la civilisation en Enrope" (1845), baS ein in großen Bügen gehaltenes ©ultur=
bilb bon bem gatte IRomS bis jur granzöfifchen tttebolution gibt, berbient zwar
nicht ben Sternen einer ©hil°f°Ph' e ber ©efchichte, wie biefe ©ezeidjnung überhaupt
niemals bei ben grattjofen üblich geWefen ift, aber baS SBerl ©uijOt’S ift nicht
nur bon weitreichenbem ©influjj auf baS ^iftorifc^e Urtheil feiner Sanbsleute
gewefen, fonbern hat auch an einem glänjenben ©eifpiele gezeigt, baf? auch bie ge=
wdhnliche ©efchichtsbehanblung in ber ©ergangenheit ber SRenfchheit mit etwas
mehr als blofien pofitifchen Stetionen fich j u befaffen hat. „®ie Sibilifation",
fagt er, „befteht in zwei ^auptthatfadjen: in ber ©ntwidelung ber ntenfchlichen
©efettfehaft unb in ber ©ntwicfelung beS SRenfchen felbft." $afj in biefer, Wie
in ben zahlreichen anbem hiftorifchen Arbeiten fich ber ©rofeffor bon ber Sorbonne
mit bem ftaatSmännifchen unb parlamentarifchen ©orfechter ber $octrin bom con=
ftitutionetten „gufte=3Rilieu" freilidh nicht immer beeft, ift nur ju natürlich unb
tritt bei ihm (ebenfalls nicht fo grell herbor wie bei feinem phitofoplfifchen ©ottegen
©ictor ©ouftn, bet zwar nicht eigene ©erbienfte in ©ejug auf bie ©hit°f®Phi e
ber @ef<hi<hte hat, ber es aber boch berftanb, bie ©efcljichtSphiiofophie föegel’S
burch einen eigentümlichen ©lanj ber ©erebfamleit ben granjofen munbrecht ju
machen.
©inen wefentlich bötferrechtlichen ©harafter mit einer beftimmten politifdfen
lenbenj trägt baS umfaffenbe rechtsphilofophifche SEßerf beS gelehrten belgifchen
©nbliciften gran^ois Saurent, ber eine ©eihe monographifcher Stnbien
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608
Unfere Seit«
(„L’Orient“, „La Grfece“, „Rome“, „Le cliristianisme", „Les barbares et le
catholici8me", „La papautd et 1’empire“, „La feodalitd et räglise", „La rSforme“,
„Les nationales", „Les gaerres de religions“ u. f. W.) unter bem ßoflecttotitel:
„Etndes snr l’histoire de l’hamanitd“ publicirte. $)er 33erfaffer, ber früher Slboocat
war unb gegenwärtig ben SeJjrftuljt beS ßi»ilre<hts on ber Unioerfität @ent Be*
fleibet, hat fich in biefem achtjehnbänbigen 333erte- ein ganj pofitioeS flaatSredjt*
IicheS 3<tl gefefct. ©r will aus ber ©efdhidjte ber 2Jienf(^^eit bartfjun, wie noth*
toenbig bie »oUftönbige Trennung beS Staates unb ber &ir$e fei, bamit ber
33egriff be§ mobernen Staates, auf ben bie ganje ^iftorif^e ©ntwidelung Ijinbrängt,
jur bottfommenen 9tealifirung gelange. 333ie baS 333er! beS tiberalifirenben bei*
gifdjen ^uriften borliegt, ift eS baS Stefultat einer ftaunenSwerthen ®eleljrfam!eit,
welkes bie politifche ©efchichte fotoie baS Sirenen», Staats* unb 93öl!erredjt mit
gleicher ®rünblicf)!cit umfaßt; aber man würbe irren, wenn man glaubte, bafs
baS 33uch irgenbwie eine jener fragen, bie fid) auf bie wiffenfchaftlidje SJtetljobe
unb bie fiöfung ber Probleme ber ©efchichtsphilofopljie beziehen, in Singriff
netjme.
! L gragen wie bie: inwiefern im 33erei<he beS gerichtlich (beworbenen bie unbe*
bingte unb auSnatjntlofc $errfdjaft beS ©aufatitätSgefefeeS ganj wie in bem Statur*
leben attjuerfennen fei, Welche Durchbrechungen biefelbe erleibe but<h bie Sinnahme
einer über bem ©aufalitätSgefefc fteljenben greiheit ber SDtenfdjen, bie fich in intern
gefdjichtli<h £ n 3^un offenbart. Ober haben Wir in ber HJtenfdjengefdjichte nach
Bwecfen ju fragen unb wie »erhält fich biefe teleologifdje jur caufalen ®efcl|i<htS=
Betrachtung? 3Bie ift überhaupt baS conftante ©erhältnifj ber beiben jufammen*
Wirlenben gactoren in ber ©efdjidjte, Statur unb SJtenfdjengeift, natürliche ®efefc*
mäfjigleit unb 3J?enfd)cnWitIe näher ju beftimnten? Die Stefultante aus biefen beiben
gactoren, bie fogenannten gerichtlichen fitäfte, Wie unterfcheiben fie fich »on ben
Staturfräften unb Wie ift bie gefefcmnfjige S33irffam!eit ber erftern in ber ©efdjichte
nadyuWeifen? — biefe unb ähnliche ©lementarfragen, beren wiffenfchaftliche 83e*
antwortung erft bie ®runblage einer wirtlichen ©efdjichtSWiffenfchaft legen würbe,
finb Weber »on ben ©efdhichtSphilof»Ph en mit politifch« nodj fpeeulatiöer Denbenj
genügenb in Singriff genommen worben. Denn was Seffing, 3felin unb gerbet
im Slawen ber Stufflörung unb Humanität, was bie beutfehen !ßhilofoph en
Sinne ihrer SJtetaphhfi! unb bie franjöfifchen $iftori!er im Politiken Qntercffe
gethan, trug boch nur wenig baju bei, bie 83afiS ber jungen 3Biffenfchaft fefter
ju begrünben.
©rnfter unb mit »oHfomtnener 33eherrfchung ber ftreng wiffenfchaftlidhen SJtc*
thobe ift biefeS erft in neuefter Seit gefdjehen, unb jwar in ber alten §eimat
beS ©mpiriSmnS unb ber ^nbuction, burdj ben ©nglänber £>enrt) DljontaS
©ucfle. Diefer ift burch feinen, auf ein begrenjtereS ©ebiet eingefdjränftcn
Ißerfuch, ben er in feiner „History of civilization in England“ (1858) unternimmt,
bie H3h*W°Phi £ ber ©efchichte jum Stange einer ftreng ejacten DiSciplin ju er*
heben, gewiffermafjen ber 33acon biefer 333iffenfdjaft geworben. 3Bir nennen baS
33uch einen S3erfuch; benn wie wir aus ben SDtittheilungen feines neueften ©io*
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<5ur P^ÜQfop^te 6er cßefdjicfjte.
6 O 9
graphen*) erfehen, betrachtete Surfte biefe beiben erften Sänbe nur al« metljo*
bologifdje (Einleitung p einem auf etwa 20 Sänbe berechneten SBerle, in bem er
bie ©efchichte ber ganjen SDtenfchheit beljanbeln wollte. Joch ^inberte ber Job
ben taum toierjigiährigen gorfcljer an ber Ausführung feine« bebeutenben ißtane«.
3m übrigen fieljt man auch ou« bem breit angelegten ©runbrijj unb ben ein=
gehenben Quellenfhtbien, wie emftlich ber Serfaffer feine Aufgabe genommen ^at.
Jenn e« bürfte wol lein bebeutfame« SBert au« ber gefammten wiffenfchafttichen
Siteratur aller Seiten unb Söller ejiftiren, ba« nicht im Jejte ober in ben Koten,
tljeil« in pftimmenbem, theit« in potemifdhem Sinne Serüdfidjtigung gefunben hätte,
wie ba« am Schluffe be« jWeiten Sänbe« beigegebene Serpidjnif} t>on über 800 Au»
toren beweift. Suweiten haben wir bei Surfte, ber auf einer fotchen foliben Saft«
feine neue hiftorifche SBettanfchauung aufbaut, ba« ©efühl, al« ob e« bei ber burch»
fichtigen Klarheit feiner Anfichten unb ber natürlichen UeberjeugungStraft feinet Sfteen
gar nicht fo toieter Autoritäten bebürfte. Aber naher angefehen, wollte er burch
biefe UeberfüHe ber ©itate weniger feine eigenen Hkincipien ftüfeen, al« nadhweifen,
baff biefetben fchon bietfach bei anbem gorfdjertt fi<h borfinben. Unb bon biefem
©efichtSpunlte au« hat ba« fonft täftige Seftreben, Autoritäten p citiren, hier
ein gewiffe« wiffenfchaftliche« Kefultat p Jage geförbert, ba Sudle hierburdh eine
Art Sorgefdjichte ju feiner eigenen gefdhithtäp^itofop^ifc^en Anfdjauung geliefert
hat. @§ ift aber auch ferner feine Wiffenfchaftliche ©ewiffenhaftigteit, bie biefe«
Serfahren erllärt. Sehen Wir un« bie citirten Autoren näher an, fo finben Wir
alle Arten bon JiSciplinen in ihnen bertreten: bie mathematifchen unb naturwiffen»
fchaftlidhen nicht minber al« bie p^ilofop^ifcfien, ebenfo bie hiftorifchen, juriftifdhen,
ftaatswirthfchaftlidfjen u. f. W. @« führt un« ba« in bie eigentliche innere 2Berl=
ftatt ber Sutfle’fdjen ©efchicljtSbetrachtung ein. (Er hält ba« Wiffenfdhafttiche tßro*
btem, ba« er löfen will, für ba« häufte unb fdhwierigfte, ba« je bem menfchlichen
Jenler geftellt worben ift. Jenn wenn ber Segriff ber SKenfchheit, weit hier
alle gäben be« natürlichen unb geiftigen Seben« pfammenlaufen unb fich burch«
bringen, für unfer wiffenfchaftliche« Segreifen ber complicirtefte ift, fo muß ber
Serfuch, bie ©efejjmäfjigleit in bem ©efammtteben ber SJtenfchheit al« bie fdhliefj*
liehe Sefuttante au« fo bieten unb berfchiebenen gactoren p ertennen, al« ein
fotdjer p betrauten fein, ber nur bei ber boMommenften Seherrfdjjung aller hier
in Setradfjt lommenben Seiten unb 333iffen«jWeige eine gtürflidhe Söfung berfpricht.
§ier tritt nun eine ©ruppe al« charalteriftifdhe« äKerlmat ber gorf<hung«methobe
Surfle'« überhaupt fofort in ben Sorbergrunb: ba« finb bie biotogifehen unb
fociotogifchen Sßiffenfdjaften, burdh beren Serfchmelpng für bie (Ertenntnifj ber
Katurgefejje ber ©efetlfchaft ber Setgier Abolphe gacque« öuetelet unb bet
•granjofe Augufte Somte Aujjerorbentliche« geleiftet haben- Jenn biefe finb al«
bie wirtlichen Sorgänger Sudle’« anpfehen.
Al« ber betgifetje SDtathematiter fein burch ©charffinn unb ©ombiuationötalent au«*
gezeichnete« fociatftatiftifche« Such ,»Sur l’homme et le developpement de ses facultds,
*) Sgl. Stlfreb fmth, „.£>enrt) Jtjoma« Sudle’« Seben unb SBirfen" (im Au«pge unb
beutfeher Ueberfepung Don 2 - Siatfdjer, Seipjig 1881).
Unlcre Seit. 1882. I. 39
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6*0
Utifere £eit.
ok essai de physique sociale" (2 Gbe., Ißarid 1886) puHicirte, apate Man noep nidpt
bot Äern beffelben: man ed für ein gtißrtidje* jktiftifcpea SBetf, wie fo manche
anbtrc borartige Gerfucbe gematzt werben. Urft fetter ertaimte man bad (fptdjt*
madjenbe bed Gucped, infofem pier auf bet breiten (Srunbtage hergleicpenbet unb
combinirenber «StatifHf bet focialen Xpatfacpen biejenigen (Sefepe aufgefteOt mb be-
grünbet werben, welche fewel bie pppfifepeu atd bie woralifdjen Gpftnomene bef
inbthibueden unb focialen Sehend beperrfepen, alfo eine ©ocialpppfif nnb ©orial
pppflotogie gugleicp barbieten. Äber anep fepon bebeutfame Änfäpe gu einer
©ociatpfpcpologie unb ©ocialetpif finben wir in bem SBerfe bed fein cembinirenben
SRatpematiferd, jerfhreute (Elemente, bie freitüp erft burep ben non gang anbem
Grämiffen andgepenben nnb anf Diel weitere 3tel« todfteuernben dornte gu einem
(Sangen herbunben würben. X>ad berüpmte SBetf bed teptern: „Coars de Philo¬
sophie positive" (6 Gbe., ^arid 1830—42) ift gwar gang nnabbftngig hon ben
Oueteleffcpen Unterfucpungen entftanben. Stber <®eift nnb SRetpobe beffelben fmb
äpnlicp. 3nbe§ begnügt fitb ni<bt bet Gegrünber bed Gofitihidmud mit ber matpe=
matiftben Sormulirung hon beftimmten ©ociatgefepen. dt matpt au<b focial»
politifepe, etpifepe, ja retigionüppilofoppifcpe Änwenbungen. Unb wenn er bemüht
ift, eine wirfli<pe (Kontinuität in ber dntmidetung ber SRenfcppeit naepgaweifen,
inbem er jeben ber confecutihen focialen 3uftänbe ald bad Gefultat bed hotbet»
gebenben unb ben unentbebrliibften SRotor bed folgenben gu begreifen fu<bt: Wenn er
mit anbern SBorten, ben Xtaum ber alten Pragmatiken f>iftorifer, ben wirflidjen
daufalnepd in allen piftorifepen Xingen gu erfaffen, nunmehr für alle menfcplicpen
Gerpältniffe überhaupt realiftren will; fo bot er gugleicp bad pra!tif<be diel im
Äuge, hon ber (Betrachtung ber menfcplicpen Gegebenheiten jebe Ännapme itgenb»
weichet continuirlicben 3nterhention, möge fie unter bem Garnen Gotfepung, 3u
fall, ©cpicffal, SBeltregierung u. bgl. auftreten, audgufcpliefjen. *)
£>iet tnüpfte Gucfle an, inbem er gunäcbft ben Gegriff bed 3ufaQd and ber
(Sefcpicptöbetracptung entfernte. Äbet bie |>errf<paft bed daufalgefeped ifl ^tcr
eine fform ber SBecpfelwirfung hon Gatnr unb (Seift, infofem er nun burdp eine
Geipe febr febarffinniget unb geiftooller Xarlegungen naepweift, wie alle gefehlt 5
lieben Geränberungen unb SBecpfelfäfle bed SRenfcpengefcpIecptd bad Gefultat biefer
hoppelten SBirffamfeit, ber (Einwirfung äufjerer drfepeinungen auf unfern (Seift
unb ber (StgenWirfung unferd (Seifted auf bie äuffera drfepeinungen fei. #iet
finb ed bann wieber Cuetelefd ftatiftifebe ©tubien, bie er hielfacb brrangiebt: ein
Gerfapren, bad ipn trofc feinet fepeinbaren Giicptempeit befähigt, bie überrafepettb»
ften unb poeftehodften Xiefblicfe in bad fo wunberbar nnb gart ineinanberher»
fcpmolgene Gatur» unb (Seiftedleben gu tpun. dornte patte bie GerhottfommnnngS»
fäpigfeit bed SGenfcpengefcpletptd hielfacp betont unb gWar lägt er baffelbe in feinem *
dntwicfelungdgange bret aufeinanberfolgenbe «Stufen fortfepreitenber Gilbung burep»
*) Sine bie ^auptpuntte erfepöpfenbe XarfteKung ber gefdjicptdppilofoppifcpen Sin»
fdjanungen Comte’d gibt Sewed in feiner „(Sefcpidjte ber Gpilofoppie »on Xpaled Bid
dornte" (II, 621 fg.), unb Äarl Iroeften im ©eptemBetpeft ber ,,^ten|ij<pen 3aprBfi<per"
(1869, S9b. 4).
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_5 ur Pfjilofopfyie 6er (Befeuchte. 6((
machen. X)ie friegerifch erobentbe S^fitigfeit, bie gewüttfam abWehrenbe Dtjätig»
ftit, Unb enblidh Jenes ibeate gutunftöbitb aßet ^ilofo^if^ett ©taatsibealigen
»tm fßlato bis auf bie Segen Wart: bie friebfame X^Stigfeit ber SRenfdjtjeit, bie
jlrfj äuSfchtiegtirf) not!) ben gortfcgtiften bet wigenfchafttichen «nb phHBfophifthttt
Sifbang richten ttoirb. Auch Surfte fucfit ben gefchichttidjen gortfchritt ber 3Reufrf) s
f|tft jn begrflnben unb jtoar nach ber natürlichen, irtteflectueßen unb gttlidjen
©eite hin. Aber bei ihm $ängt ber ©ulturfortfdjritt föft äuSfchtiegtirf) Bott rein
ihtettectuefleit Momenten ob. Denn afle Scrflnberungen in bem ©djirffale ber
Stationen faßen abtj&ngen Bon bem Umfange be$ WiffenS feiner anSgejeichneten
ÜRänner, ferner Bon ber eigentümlichen Stiftung, ben biefeS Wigen nimmt, unb
enblidj Bon ber AuSbeljnung, in toetdjer boffelbe unter ben Berfchiebenen SefeßfchaftS»
flogen Berbreitet ift. Wot ift auch Bon Surfte baS SRoment ber potitifchen grei»
heit als ein üanptagenS ber ©utturfortf dritte angeführt unb mit bem genannten in«
teßechießen ÜRoment in eine innere Sejiehung gebracht, unb ihm ats echtem Anhänger
Abam ©mith’S flttb ©taat unb Sefefc nur bas Sefäg für bie ©ntwirfetungen,
»eiche bie fouoerane unb Bon ftaattichen Seuormunbungen möglirfig ju befteienbe
Sefeßfchaft burdjjuntachen hat. Aber baS inteflectuefle ÜRoment, b. h- bie ©nt«
Wirfetung ber menfchticheit SerganbeSfräfte, ats Duette unb Urfache auch beS
ethifdjen gortfchrittS, übertoiegt boch gar ju fehr in feiner Werthfdjäpung in 8e«
jüg auf ben gorffdjritt ber ©ultur.*) Surfte hat feilte baljin gehenben Unter»
fudjungen in Bier beftimmte gormetn gefteibet, bie er „the basis of the histöry
of civillzatton" nennt unb benen er folgenben AuSbrud gibt: 1) Dag ber gortfchritt
ber SRenfchheit Bon bem ©rfolge abhängt, mit metchem bie Sefefce ber Phänomene
erforfcht »erben, unb Bon ber fluSbegnung, in »et<her bie Äenntnig biefer Sefepe
Berbreitet ift. 2) Dag, ege fotcge gorfdjung beginnen fann, ein Seift beS fßubti»
ciSmuS geh regen mug, ber dnfangS biefe gorfdjung untergüfct, fpflter Bon ihr
utttergügt wirb. 3) Dag bie fo gemachten ©ntberfungen ben ©ingug ber inteßec»
tuetien SJagtheiten Bermehren unb retatiB, nicht abfotut ben ©ingug ber mora»
tif^en Wahrheiten Beränbern, inbem bie Iefctern cortftanter finb als bie ergern
unb weniger neue Sufä&e erhalten. 4) Dag ber groge geinb biefer Sewegung
unb beSgatb ber groge geinb ber ©ibitifation ber Seift ber Ueberwacgung ift,
Womit ich bie Angdjt meine, bag bie Sefeßfchaft nicht gebeihen (ann, wenn bie
Angelegenheiten beS SebenS nicht faft bei jebem Stritt Bom Staate ober Bon ber
ßirdje bewacht unb befehligt »erben, inbem ber ©taat bie SRenfdjen lehre, was
ge thun müffen, unb bie ©irdje ge lehre, WaS ge glauben f ollen" (Sb. 2, ffap. 15).
5Rur in Sejug auf bie weiter gehenben gtHidjen Aufgaben beS ©taateS gnb wir
# in neueger Seit aflerbingS anbercr SReinung geworben. Aber Wenn Surfte bie
SeBormuubung ber Sirdje ats ein £inberntg beS ffiutturfortghritteS bejeichnet, fo
wirb bem wot fein Serftänbiger heutjutage wibetfpredjen.
Surfte'S Wert hot feinen fßrincipien unb JRefuttaten Wie feiner SRetf)obe nach
*) $ier möchten wir auf Sange’S furje, aber gebattootte Sinmürfe gegen biefe Bon
Surfte behauptete Abhängigfeit beS moratifcheu Bon bem inteUectuellen gortfchritt in feiner
„(üefchiebte beS StateriatiömnS" (TI, 464 fg.) hinweifen.
39 *
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Unfere ^cit-
6\2
öiete Singriffe nift nur bon ben ^offirflifen ©ngtanbg unb ben anbern giong*
wäftern, fonbem auf bon ben eigentlif en £>iftori!ern erfahren. greilif waren
eg gerabe bie (extern, beren „Bunft" er nid^t fe^r ffmeifelljafte Dinge fagte,
nenn er itjnen 3. iS. „©ebanfenlofigfeit", unb ifjrer bigßerigen gorff unggmetljobe
„ißrincipienlofigfeit" u. f. w. borwirft. @r finbet, baß „für alle ßöfjern Stiftungen
beg menff tif cn Denfeng bie ©eff if te nof in beflagengwerf er Unbollfomntenljeit
liegt unb eine fo berworrene unb anarfiffe ©rffeinung barbietet, wie eg fif
nur bei einem ©egenftanb erwarten läßt, beffen ©efejje unbefannt finb, ja beffen
©runb nof nift gelegt ift." |>atte er bie ffirftif en Wegen feiner ffiliminirung
oder f eotogiff en begriffe aug ber ©effif te (wie göttlif e SBeltregierung u. bgl.)
in Born gebraft, fo tjat er bie künftigen „historians" in frem fffften
wiffenff aftlif en Stoty getroffen. „SBie?" ruft ein beutff er ©eff if tff reiber ent*
rüftet aug, „Ijat irgenbjemanb gemeint, baß eine Sammlung bon getrodneten
'■Pflanzen Sotanif, bon auggeftopften Dljietbälgen Boologie fei? $at irgenbjemanb
gemeint, DIjatfafen fammeln unb auffjäufen ju fönnen, I^atfafen, alg ba finb:
@f laften, Stebotutionen, £ianbetgfrifen, Stäbtegrünbungen u. f. w. unb biefe für
«©effifte» augjugeben?" Siäfft biefer Slbweljr ift eg bie SJtefobe ©utfle’g, bie
bon bemfelben ßiftoriffen gaftnann (Sodann ©uftab Drohen) einer Uritif
unterzogen wirb. Bebe SBiffenffaft, meint er, unb fo auf bie SBiffenffaft ber
©effifte, ßabe fre befonbcre, ber ©igenfümfif feit unb Statur freg ©toffg
entfpref etibc ©rfenntnißweife. SBenn anberweitig fjier bie gnbuction unb bort
bie Debuction bortrefflif e Stefuttate ergeben tiätten, fo folge baraug nif t, baß bie
©eff if tgwiffcnff aft fif ber einen ober ber anbern SJtetfjobe bebietten müffe. ©g
gebe jwiffeu |>itnmel unb ©rbc Dinge, bie fif jur Debuction ebenfo irrational
bertjalten wie jur Bnbuction. ©erabe bie ©effifte erforbere eine ©ombination
beibcr ©rfenntttißmefoben. Stift auf ein ejacteg, Wiffenff aftlif eg Stegreifen, fon=
bern nur auf ein „SSerfteljen" ber ßiftoriff en Dinge fönne ber ^iftorifer auggeßen.
„So gewiß eg ift, baß auf wir SJtenffen in bem allgemeinen Stoffweffel mit
leben unb Weben, unb fo riftig eg fein mag, baß jeber einjelne nur eben bie
nnb bie Sltome aug ber «ewigen SRaterie» borübergeßenb jufammenfaßt unb ju
feiner Dafeingform f»nt, ebenfo gewiß ober bietmetir unenblif gewiffer ift, baß
ocrmittelg biefer «fließenben Stiftungen» unb ifjrer trojj aliebem üitaten Kräfte
etwag gar Stefonbereg unb Unbergleiflifeg geworben ift unb wirb, eine jweite
Sf öpfung nift oon neuen Stoffen, aber oon gormen, bon ©ebanfen, bon ©e*
meinfamfeiten unb f ren Dugenben unb ijJflif ten: bie fittlif e SBelt. gm Stereif e
ber fittlif en SBelt ift aKeg, bon ber fteinften Siebeggeffifte big ju ben großen
Staatgactionen, bon ber einfanten ©eiftegarbeit beg Difterg ober Denferg big 311
ben uncrmcßlifen ©ombinotionen beg SBelfanbelg, ober bem prüfunggreifen
•Ringen beg ißauperigmug unferm Sterftäubniß jugänglif; unb Wag ba ift, ber*
ftcljcn wir, iitbem wir eg alg ein ©eworbeneg faffen."*) |jier ff eint aber ber
beutffe ffritifer gerabe ben fpringenben ißunft in ©ucfle’g Dljeorie überfeljen 311
ßabcn. Slfg Stifängcr ©omte’g unb Stuart SJtiH’g leugnet tejjterer überhaupt bie
*) »flt. SH-Obfcu über SBudle’g SBerf in Stjbefg „Jpiftoriffer geitff rift", 1862.
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<5ur P^ilofopfjtc ber (ßcfcfjicfjte.
6(3
Sftögtichfeit, baß es ein menfchlidfjeS SßiffenSgebiet geben tonne, in welkem eine
(Kombination bon analhtifdjer unb fhuthetifeher ©rfenntniß gurn 3icte führe. (Cer
©ngtänber hält biefeö eben für feine reformatorifdje für bie ©efdfjidfjte bie
9Jtöglich!eit ber naturwiffenfchaftlidEjen äJtetljobe nachgewiefeit gu haben. ®s fonnte
biefeS freilich nur unter Sutücfweifung aller unermiefenen ©orauSfeßungen unb
mhftifchen Sinnahmen in ber ©efdjidjte gesehen. (Cie Strenge ber 3Ret£)obe
freilich in ihrer ^öc^ften SluSbilbung erforbert, baß ber Einfluß ber großen ®e=
banfenfhfteme unb ber wiffenßhafttidhen (Eßeorien nie^t minber auf bie inteßectuefle
unb moralifdfje ©ntwicfelung ber SDtenfchheit ftatiftifdf) bargulegen wäre, Wie ber
befrudhtenbe Strom aus bem ettjifdjen unb äftljetifdjen ©mpfinbungSgchalt ber fßoefie
unb ber fünfte, unb biefeS mit berfel&en Schärfe unb giffermäßigen ©jactfieit,
mit ber einft bei entfprechenber SBeröoßfomntnung ber SBiffenßhaft bie pty-
fifdfjen ©inwirlungen oon Stirna, Ernährung, ©oben, SRationaldfjaratter auf bie
©efdfjichte eines ©olfS gu erWeifen fein werben. ®S ift unferer Uebergeugung
nach auch baS ein großes ©erbienft ©ucfle’S, ber tünftigen gorfdjung gerabe in
©egug auf ben innigen Bufammenhang fc er ©tf^einuugen unb (Chatfachen, welche
©egenftanb ber fogenannten „ ©ötferpfhchologie" finb, mit ben umfaffenben 2luf«
gaben ber fßhitofohhi« ber ©efcfiidjte ein Weites unb bieloerfprechenbeS gelb an»
gewiefen gu ^aben, wie überhaupt eine große SReilje oon SBiffenfdfjaften, bie bis
baf|in gufammenhattgloS umherirrten, erft baburd) fruchtbar gemacht würben, baß
er fie organifdj unb mehr ober minber als „bienenbeS ©lieb" bem großen ßwecf
eines ^itofo^ife^en unb wiffenfdhaftticfjen ©egreifenS ber ©eßhichte unter»
Worfelt hat. i
(Caß bisfej}t noch wenig im ©ucf(c’fcf)en ©eift fortgearbeitet Worben, ift unt
fo bebauerlidjjer, als Ijier gum erften mal in bem ©ebiet ber ©eifteswiffenf^aftcu
bie äftögticljteit geboten ift, ähnlich wie in ben matljematifcljeu unb naturwiffcn»
fdfjaftlichen (CiSciptinen ein internationales ßufammenwirlen aßer gorfcher gum
Slufbau ber neuen SBiffenßhaft tjerbeiguführen. SEBaS Sßilliam CecfQ*), SBittiam
©agehot**), ©bwarb (Chlor***), SSilliam (Craperf) u. a. in iteuefter 3ett
geteiftet, betrifft mehr bie eigentliche (Kultur» unb Sittengefdjichte; auch faßt (worauf
eS hier gunädjft anfommt) bie bon ihnen gegeigte Schärfe unb ©jactheit in Slnwenbung
ber neuen ßftethobe biel gu Wünfchen übrig, ©ine feltfame ©ombination theiftifcher
unb pofitibiftifdfjer Elemente geigt ber mtjftifdfje unb ibeenreiche ©mite ÜRerba in
feinem umfangreichen gefdhichtSbhrtefobhifdfien 2Berfe: „Dieu dans les cieux, daus
Ia nature et l’humanitä ou la Philosophie positive de l'histoire" (ißariS 1880).
(Cer ©erfaffer, früher Herausgeber ber „Revue du XIX siäcle", bertritt gwar
bie ©rincipien 91. ©omte’S, hoch finb bie polemißhen ©artien feiner Schrift, bei
*) S3gl. „History of the origine and influenoe of the civilization in Europe"
(beutfch bon jfolowicg, fieipgig 1864).
**) Sgl. „Physics and politics" (beutfch : „$er Urfprung ber Stationen", Seipgig 1874).
***) Sgl. „The origines of the civilization" (beutfch bon ©pengel unb ©o$la, Seipgig
1866).
t) SgL „History of the intellectual development of Europe"; „History of the
conflicts between religion and science".
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Unfere ^Jeit.
allem potitifcgen fRabicaliömu«, ben ge vertritt, gegen bie religiösen Senftguengen
be« fürg(id| verftorbenen Sittre unb fflprouboff’«, ^cranögebevö bet „Revue
positive", gerietet. fRerva’S (SkfcgicgUanfcgauttng leibet an einen iugerft cmh*
plicirten unb miffeufcgaftlicg beeg wenig faltbaren ®egemati«mu«. 9er ®nmb*
gcbanfe be« SBer!« ift eine 8rt ©araOeti«mu« gmifcgen ben faftmiftgnt Venoben
bei ffieltaD«, ben geotogifcgen ©erioben bcr (Erbe unb bet giftorif$en ber
SRenfeggeit.
9h 9eutf<glanb finb in neuefter 3*it bie gefcgiegt«pgilofopgifegen ©tubien
tgeil« unter bem (Einflug eine« matten pgitofopgifcgen (EflctticiftuttS, tgttl« unter
ber #errfcgaft be« ©efgmiömu«, ber, mit mir oben an Schopenhauer geigten, ein
©egner biefer gangen gißorifcgen Dichtung ift, gurficf gegangen. Stichelet, ®raf
von (Sie«g(om«fi, ©runo ©auer unb Senrab ermann gaben bie $hilo»
fopgie ber ©efcgicgte im |>egerfcgen Sinne tgeil« bearbeitet, theili meiter an««
gebaut. Sbolf ©aßian („9er 9Renfcg in ber ©efcgidgte", 3 ©be., Seipgig 1880)
geht von naturmitfenfcgaftlicgen, verglcicgenb etgnotogifcgen unb Völferpfgcgelogifcgen
©eftcgtspunften au«, lägt aber bie 9urcggcgtigleit unb iftargeit ber 9arßeHttng Per»
mijfen; ba« ältere SBer! ©unfen’« („öott in ber ©efdjicgte", 3 ©be., Seipgig
1857 — 58) gat (einen fcgarf ausgeprägten philefophifchen Sgarafter. 9er ge
lehrte 9iplomat gibt vom gemägigt gläubigen ©tanbpunft mehr eine ©efcgicgte ber
Seligiendcnttvidelung ber SRenfcggtit. Stocg fcgärfer tritt biefer geßgtcgt&tgeo»
logifche ©tanbpunft in feinen englifch gcfcgriebenen Unterfuchnngen „OutUmes
of the philosophy of universal history as applied the languagc and retigiaa"
hervor, tseldhe einen Xgeil be« umfaffcnben SBer!« „Christiunity and manldnd"
(7 ©be., Sonbon 1855) bilben. Singeine monograpgifcge Arbeiten an« ber neueften
3eit befcgränfen geh enttoeber auf einen beftimmten Xgeil ber ©efcgicgläpgilofophie,
mie Sa «pari’« „Urgefcgicgte ber SRenfcggeit" (2 ©be., Seipgig 1877), ober auf
metgobologifcge Unterfuchnngen, bie auf eine neue Orunblegung biefer 9i«ciplin
au«gehen, mie 9oergen’« „Slrißotele« ober über ba« ®efep ber ©efegiegte"
(Seipgig 1872), unb Särgen ©ona SReper’«: „fßeue ©erfuege einer ©gilofapg^e
ber ©efegiegte" (in ©pbtl’S „§iftorifcger 3eitfcgrift", 8b. 25). 9ie{em legt»
genannten SReulantianer „offenbart" bie ©efegtegie, bag e« niegt möglich fei, bie
(Entmicfetung ber SRenfcggeit au« ben ©runbgefegen urfäcglicger StotgWenbiglrit,
mie ge bie fRatur begerrfegen, gu erflären unb biefe igre „Offenbarung" Haine
un« mogl bienen gum 3eugnifj für bie Xgatfacge unferer greigeit, unb gnr ©er»
ftärfung unfer« ©tauben« an eine lebenbig in bie SBeltgefcgkle eingreifenbe gött«
liege SBeltleitung. Slber mie unberechenbar ancg biefe SRomente ber ftreigeit bie
©ntmidelung ber SRenfcggeit vergögernb ober förbernb beeinguffen mögen: bie notg»
menbige ©efegmäfjigfeit unb bie beftimmten 3iete berfetben geben ge trögt auf.
5Rur innerhalb biefer ©efegmäfjigleit merben fitg bie gebaegten SRomente geltenb
matgen; e« fönne bager aueg niegt unmöglich fein, im ©ergangenen bie @nt-
mic!elung«gefe|e ber gttlicgen SBeltorbnung gu erlennen, unb au« biefer (Srfenntnig
einen ©orbtie! unb eine Hoffnung für bie 3ufunft gu geminnen, bie al« mirfenbe
SRäcgte ba« begonnene SEBcrf ber menfcggeitlidgen ©ilbung unb ©eßttung feiner
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£ut pfttlofopftie 4« (Sefcbicftte.
6^5
weitern BoKenbung jufttftren Reifen. Slu<b Union Stee möchte in feinen geift»
tollen „Säuberungen eittei Beitgenoffen auf feem geriete bet dtbif" (Bb. 2, Http. 6)
feit grage über ben gefcfticbtltcb*« ^ortfe^ritt bet SJtenfchbeit einer Söfung Hübet
fübte». dt bejaftt biefetbe in Bejug auf bie gortentwidelung bet SnteHigenj unb
bet ftttiicfteH Snltut. dt conftatirt auch baffel&e in betreff bei ^er^eni unb bei
menfcftticbeH dmpfinbungllebeni überhaupt. Sticftt fo unbebingt jeboch möchte et ben
gortfcbritt in bem burcbfcftnittlicben ÜDtafj bei ©lüdSgefübti finben. X)er toeIt=
gerichtliche dntwidetungiproceft ift aber nach Stee niemals ein getabliniger; meift
bringt bet 3*»fommenfto|j feer borwärti unb bet tüdwärti iteibenben Prüfte eine
©eitwärtiausmeichung feon bet getaben Sinie betbot. Sitte bitfe Sltbeiten werben
aber übertroffen burcft Hermann Softe’S Berfucb, uo<b einmal aQe gefcftiihtS’
philofopftifcften Probleme bon bet fpeculatiben £>öbe aui jufammenjufaffen unb
einet beftiebigenben Söfung j«jufüftren. 3)ie SBeltanfcbauung biefci unjWeifelftaft
bcbentenben Stenfeti ift ein fpeculatiber SbeüntuS, bet eine eigentümliche Ißifcftung
bet Seifenij’fcben SRonabologie, bet #erbatt’fcften 9Sealen unb bet ©pinoaiftifcften
®ubftanglebre barfteüt. dine Berfcftmeljung biefet f(beinbar unbeteinbarften aller
metapbbfifcben ©egenfdfte boBjieftt et baburch, feaft et bie SJtöglicbleit bei 3“=
fammenfeini unb bet etfcbeinenben Secftfetwittung bet bieten SEBefen auf bie notft*
wenbige dinfteit einei fubftantietten SEBeltgrunbei, auf bie Xbütigteit einet urfprfing=
lieben XBefeniembeit oHei SBitHicben jurücffüftrt. 2>ai Unenbticbe ift ibm „bie
dine SRacftt, Welche ficb in bet ©efammtbeit bet ©eifterwelt unzählige ^ufammen»
ftimmenbe Seifen ihrer ®|iftenj gegeben b«t". Sie bei ©pinoga aQei ©injelne
nur Stobificationen bet einen ©ubftanj ift, fo fmb bei Softe bie SRonaben nur
SRabificationen bei Slbfolnten, b. b- ©ottei. ftiefei metapfthfifebe ©runbptiucip
ift übnlicb Wie bei #egcl bureb bie §tranjiebung aller bisherigen dtgebniffe bet
gorfebung in ©efeftiebte unb Statut geftäftt Stur baff b»er bie $errfcbaft bet
daufalität ati berechtigte ©runblage bet pftilofopftif<ben Betrachtung bet Seit
anertannt wirb. Stenn „bet SJtecftaniSmuS ift eben bie gorm bei enbticben 3)a*
feini", welcfte bai „SEBefen" fieft gibt. ®iefe SBeltanfcbauung bot Softe in einet
Steifte bon Schriften entwiefett, am flatften in bem geijhwllen unb antegenben SBerfe:
„SRilroloimui. 3been jur Staturgefcfticbte unb ©efeftieftte bet SJlenfcftfteit" (3. Slufl.,
3 Bbe., Seipgig 1376). di weftt ein watmer, faft poetifcb-ibealer $aucft bureft
bai Bucft, beffen Bnftalt barauf ftinjielt, Trieben ju giften jwifeften ben Bebürf*
niffen bei ©emfttfti unb ben Stefultaten wenfdjticber SSiffenfcftaft. 2roft bet aui=
nahmilofen ©eltung bei caufalen SJtecftaniSmuS nicht nut in bet unotganifchen,
fonbern aueft organifeften Statut, möchte Softe bemfelben in bet Slrcbiteftonif bei
ttniberfumö boeft nut eine fogufagen fubaltcme Stolle jufeftteiben. $ai alle ftinge
leftettfchenbe daufalitütigefeft ift nut bet taffere meebanifefte Sluibrucf für bie
innere SBefenögemeinfcbaft, unb nut in biefet ift bet ©runb gu fneften, baff j. B. bie
Bnftänbe bei einen wirtfamc ©riinbe bet Betünberungen bei anbetn finb. Slber
alle SBefen finb nut in betriebenen Slbftufungen geiftiger Slrt Stenn nur bureft
ben dftaratter bet ©ciftigteit, bei gürfieftfeini, ift bai SEBecbfelwirlen unb 3SBecbfet=
leiben jugleicft möglich. Slui biefet teinen ©eiftigfeit bet SEBefen geftt jene ewige
meiftatitfehe Bewegung, ja tcnenblicfte SEBecftfelwirlung ber dlemente, anf bie wir
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6\6
Unfcre <3eit.
bei bet ©rtlärung bet Statur butchauS angewiefen finb, notljwenbtg Verbot, liefet
fünften Umfehrung beS SWaterialiSmuS, bie alle feine wiffenfcljaftlichen ©runb*
lagen jugibt, nut fie als untergeorbneteS SJtament einet ^ö^etn geiftigeu ©eit
begtabitt, entfpredjen nun auch feine naturphilofophifch*u, pftTologifchen, et^if^en
unb religionöp£>itofop^ift^en 3been. Die lefetetn, bie fid^ mit bet Statut ©otteS
befchäftigen, tecuttiten freilich in lejjter gnftanj nicht auf bie betannten „©eweife"
ber alten SRetaphhfit, fonbern auf bie „©ewifjljeit innerer ©rlebniffe". Diefe
haben aber mehr mpftifdjen als p^ifofop^ifc^en SEBert^. Aefjnlich wie Spinoza in
feinet „ Ethica" ben „amor intellectualis" als ben mpftifchen ©chlufiftein feines
pantfjeiftifdjen ©ebäubeS h'nftellt, ift auch in biefem „teleologifd^en SbealiSmuS",
wie Sojje fein Spftem nennt, bie „einige Siebe" als bet probuctine Urgtunb bet
©eit erflärt.
©eichet Art finb nun innerhalb biefet ©eltanfchauung Sojje’S gefdljichtsphilo*
fophifch« Ißrincipien? @r ^at benfelben im britten ©anbe feines „äRifrofoSmuS"
eine 9teilje non (1.—6.) Kapiteln getnibmet, weldje baS Problem nach allen
•Seiten hin beleuchten unb bann eine gebrängte Ueberfidjt über ben gerichtlichen
©ntwicfelungSgang ber 3Jlenfchheit geben fotlen. ©ibt es eine innere geiftige @e*
richte beS menfchlichen ©efchledjtS? ©elcfjeS finb bie ©efefje ihres ©etlaufs?
©elcljeS ift ber Ißlan, ber bie bunte 3üHe ihrer ©rfcheinungen ju bemünftiger
©inheit nerfnüpft? ©eloegt fich ber ftortfchritt ber ÜRenfdjheit in geraber Sinie?
ober toie anbere wollen in Spirallinien? ober nach her Anficht mancher ©efchi^tS-
philofophen in ©picptlien? Sofce fieht in ber lejjtern Stnfchauung mehr bie tief*
finnige Umhüllung beS ©eftänbniffeS, bah her ©efammteinbrucf ber ©erichte teilt
ethebenber fein. 3a bie ©etradjjtung, toie nie! ©ttter ber Silbung unb eigenem*
lieber SebenSfchönheit mit jeber berfaüenben Kultur nerloren gehen, ohne je
loieberjutehren, mühte in uns jene elegifchen ©mpfinbungen hemorrufen, bie meber
burch bie ©rwägung, bah hie fpätem ©ulturjuftänbe bie frühem an ©erth über*
treffen, noch burch hen ©ergleich beS gerichtlichen ©erlaufs ber SDtanfchheit mit
ben SebenSaltem beS SnbioibuumS oerWifcht werben, ©eichet tönnen bei fo
jloecflofen ©ernichtungen bie Stnecte ber ©orfeljung in ber SKenfchengefchi^te fein?
Sojje »erwirft bie 3bee einer „©rjieljung beS ÜJienfchengefchlechtS" burch hie ©e*
richte, ba eine fotdje fittlich=religiöfe ©cibagogil wie Seffing, ober eine fittlidj*
äfthetifche Wie Schiller Wollte, in feiner ©eife bem wirtlichen ©ange ber ©e*
richte entfpricht. Auch #egcf’S Anfidfjt, bie ©efehidfjte fei bie allmähliche ©nt*
faltung ber $bee ber SRenfchheit als ©anjeS, fönne mit ihrer ©eringfdljähung beS
tnbibtbueßen SebenS gegenüber ber ©ntwicfelung ber abfoluten 3bee nicht be*
friebigen. „SRühten wir glauben, bah alles perfönlidje gerichtliche Seben nur
als DurchgangSpunlt für bie ©ntwicfelung eines unperfönlichen Abfoluten benufet
würbe, fo würben Wir entweber jene ©eftrebungen aufgeben, ba wir feine ©er*
pflidjtung entbecfen, jur Unterftüjjung eines für uns überaus gleichgültigen ©or*
gangs mitjuwirfen, ober Wir würben, falls wir ben Schah bon Siebe, Pflicht*
gefügt unb Aufopferung fefthielten, ben wir in uns finben, zugleich uns jugefteljen,
bah ein menfchlicheS $erj in aller feiner ©nblichfeit unb ©ergänglidjfeit ein un*
gleich eblereS, reidhereS unb erhabeneres ©efen ift als jenes Abfolute fammt all
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^ur pfyilofopfyic ber <ßcfcfjicfjtc.
617
feinet bentnothwenbigen ©ntwidelung." Stießt miitber fcßarf toeift Soße bie 2ln*
fdhauung ©buarb bon Jpartmanu’S ptücf, bet als ben lebten Sinn nnb Sweet
bet gefdhichtlidjen ©ntwicfelung bie $erabfefcung bet gaumen SBirflichfeit p einem
bloßen Symbol jener oerborgenen Selbftentfattung beS Unbewußten erflärt. „Sitt
nie aufpflärenbeS ©eßeimniß barf im SBeltlauf ßöcßfteuS bie bittet bebecten,
bie er p feinen 3tt>e<t«n benußt, ober bie ©efefce, na<fj benen biefe SKittel
wirten; ober bie wiberfinnigfte gorm beS SDthfiiciSmuS würbe bie S3erblenbung
fein, e8 fönne 3ü>ecfe im SBettbon geben, bon beren ©eftalt unb (Erfüllung nie*
manb wüßte, unb bie bocß p fein fortfüßren ober ©üter, bie fo berßeßlt
würben, baß niemanb fie bemerfte, jo um fo größere unb heiligere öieHeidjt, je
weniger jemals bon ißnen biefer unbegreifliche Schleier gehoben würbe." Ober
haben biejenigen recht, Welche bie ©efdhichte p einem ©ebießt ©otteS machten, aus
feiner feßöpferifeßen ißßantafie mit ber Freiheit unb SEBärme eines echten $unft*
werfs entfprungen?*) SßenigftenS wirb biefe Sluffaffung ber äRannießfaltigfeit unb
bem Steichttjum ber ©efdfjicßte geregt unb erlöft unS oon bem eifernen Sann „bent*
nottjwenbiger SegriffSentwidfelungen". Slbet welcher f unftgattung gehört baS ©ebicht
an? Den einen fdfjien es ben gleichförmigen fjtuß beS ©poS P haben, ben attberit
tataftropßenreich Wie bie Dragöbie p fein. Die Saune fpöttifeßer SBettbetracßtung fanb
oft auch ein Suftfpiel in ihr. Slber wäre biefer Sßergleidß mehr als ein anmuthigeS ©e*
banfenfpiel, fo möchte ber pßilofopßifcße Dßeift felbft gern hinter ben Schleier, wo ber
göttliche ®ünftler fein ©ebicht fchafft, Mieten; hoch fetbft Wenn er bie StuSfage ber
dichter über baS, was in ihnen bei ihrem Dßun borgeht, wirtlich ernft nehmen
wollte, fo tönnte er für feinen 3»^ aus biefer parallele jWifeßen meitfchtichen
-ßoeten unb bem göttlichen SBeltbicßter nur wenig Stufcen jießen. So werben
manche anbere gefchidhtSphitofophifche Sluffaffungen oon Soße analßfirt, oiele uns
lieb geworbene, in unferer gewöhnlichen ©efdhidhtsbetracßtung ber Siteraturen,
ber fünfte unb beS geiftigen SebenS überhaupt übergegangene Sorftetlungen
feingeiftig jergliebert, oft in ihrer Unhattbarteit nachgewiefen, oft wirb aber auch
ein berechtigter ®ern an ihnen auf gezeigt; bort Wieberum eine fdfjeinbar int-
ponirenbe ©efcßießtSanfcßauung an ben Wirtlichen ©rgebniffen ber ^iftorifcheu
gorfeßung geprüft ober ihre innere gefdjicßtspftjchologifche SJtöglicßfeit unterfucht.
©egenüber biefer ffiritit früherer Slnficßten aber finb Sojje’S eigene StuffteUungen
wenig apobiftifch unb mit einer gewiffen jagßaften Stepfis oorgetragen. So hält
er wohl im ganjen an ber Slnnaßme eines göttlichen fßlaneS in ber ©efeßießte feft
($ap. III: „Sinn ber ©efdhichte"); aber in ben einzelnen Problemen, j. S. bem
beS Determinismus ober ber Freiheit in ben ßiftorifdßen Stetionen, ber Kontinuität
ober ber BufammenßangStofigteit ber ©ulturentwidfctung ober ber ffrage nadh ber
Sebeutung ber fogenannten gefdßtchtliehen |>eroen unb bem äJtaße ihrer ©in*
*) ftarl ©ußfoto fagt: „Die ©efdhichte ift baS größte ©ebicht. Die ©reigniffe in ihren
Urquellen erfaßt, bie Dßaten in ihren SBeroeggrünben erfannt, fpotten alles SRenfdjentoißeS,
ber fie erttären unb auf feine 2Beife beuten Witt. Die Stiefenßarfe, bie ber äBeltgeift fpielt,
hallt in fo mächtigen Dönen miber, baß bie Seiern aller Dichter wie fteintdjentöne baßin*
fcßriHen im roflenben Donner." (Sßgl. „Qn bunter Steiße. SS tiefe, ©fijjen, StobeHen".)
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6(8
Unfere S«**-
tmrfungen auf ilpre 3eit unb ber Sficftotrfting biefet auf jene geigt P«h ein ge*
miffeS ©djmanfen bet Hnfrijanung.
Siel pd^etet tritt ein in ben mefentlicpen fpecuIatttMtpeiftifcber nnb
et^ifipet SBeltanfdjauung öermanbter, obmol an pfptofop^iföer ftraft iljm nicht
gleichpetjcnber ®en!et auf: S?orig Karriere, beffen roefenttich äphctiph*hiP**if<h e
Stiftung*) gerabe in bet fdjmierigen gtage bet grojjen gefc^ie^tlit^en^erftalte^feiten
eine fap unbebingte Parteinahme füt bie Sluffaffung beS KltjKep uerftorbenen
I^oma« Karlhle geigt.**) $o<h »itb man bie geipreichen Parabopen beS
^begabten englif^en §iftoriler$, inSbefonbere in „On Hero worship" unb in
„Post and Present", taum für ©ef^i^td^ilefo^ie galten Wmcen. $emt baS
Unberechenbare unb Elementare bet piporifchen ©enieS macht eben eine ttofßeOnng
eines unabänberlichen hiftorifchen <3efe|eS unmöglich. 2)er fchulbige J)anl, ben
mit Karlt)Ie baffit gellen, bafj et mit Siebe unb Serpänbnijj fi<h in bentfdjeS
SBefen unb beutfehen ©eip bertieft hot unb beibe feinen SanbSleuten in einet
Stripe bon SBerlett nähet geführt hot, batf uns nicht, mie biefeS neuerlich
mehrfach, g. S. bon feinem Stograhpen £>arb***), gef^epen, beranlaPen, ipn gnm
Stange eines ©efchidjtsppilofohhen gu erheben. Steht Hnfprucp anf gephieptS*
Philofoppiphe Geltung machen bie Schriften eines namhaften pfhcpologen ans
bet Schule #erbart’S, Storifc SajarnSf), bet in einet Steipe bon Stenographien
(übet ben Urfprung bet Sitten ff], übet bie 3been in ber ©eppichte u. f. m.) ähnliche
Stählerne ohne gtojje Perfpectiöe gmat, aber in Pnnig*geiftboQer, ruhiger unb Kam
SSeife behanbelt. $>ocp gehören biefe ©tubien biel mehr bem bermanbten ©e&iete
bet Söttetpfhcpologie als bet eigentlichen ©efchicptsphilofophie on. 2)er gorppmtg
bet 3ut»»ft erft ip bie Aufgabe gepellt, beibe SBiffenPpaften in hmigewt Könnt?
gu bringen.
3P biefeS ein Populat an bie lünpige Sotppung, fo geigen fiep PP«* in bet
©egenmart, inSbefoubete bei ben ftiftorilem bebeutfame Knfängc einet mehr
Pfhcpologippen Knatpfe ihrer Stoffe. 3nSbefonbere pnb es bie mebernen Kultur*,
Siteratur* unb Shinppiftorüer, melche fiep jener fepmierigen, aber fruchtbaren
*) Sin nmfaffenbeS ©emätbe bon ber hiftorifchen (Sntwidetung ber SRenfcbbeit eutohft
aus äphetifepem ©epdjtSpunfte Karriere in feinem Werte: „®ie tunp im 3ufammetth<>*0
ber Kulturenttoidelung unb bie ^beale ber SWenfchbeit" (5 S8be., 3. Stuff., Seipgig 1877—80).
**) ®gt. Karriere, „2>ie ftttlic^e SBeltorbtmng" (fieipgig 1877), @. 308 fg.
***) gjgl. „Thomas Carlyle, a philosophio tliinker" (Sonbon 1875).
t) ©aS bon SagaruS berauSgegeBene Werl Imeften’S: „$ie religidfen, politiphen
unb focialen Obren ber «ftatifdjen Kultur»JITer unb be; 9tegppter" (2 83be., ötrlin 1872),
mufc, obgleich mehr culturhiftorifchen als gephidjtSphilofophiphen 0 n haK8, boch gu ben*
jenigen neuern öerfudjen gegäplt »erben, innerhalb eines Begrengten MBfdjnitteS brr
Wettgefcpichte bie Prengere tniflenphaftliche ®et|obe Komte’S unb ©ucHe’S gur Wmeenbung
gu bringen. Kine ähnliche ©enbeng »erfolgt baS etwas ältere fhup WuntfcplPS: „Wtoffa*
tippe ©otteS* unb Weltibeen in ihrer Wirhcng auf baS ©cmeinteBen ber Stenfcphrit"
(Wieblingen 1866).
tt) ®gl. ,,©aS Seben bet Seele" (2. «uff., Seipgig 1882, II, 351—420).
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«Jur Pgtlofopgte her ©efdjtdjtc.
619
SKetgobe gu bebienen anfangen. 3n ber EefdgicgtSliteratur faft aller neuen Eultur=
bölfer finben wir bereite wertgboöe ©efcgidjtStoerle, in benen bie pfgcgologifcge
SRetgobe bie borgerrfcgenbe ift. Ser fßreis gebührt jebocE» ben grangofen, bei
benen neuerbingS bie früher wefentlicg politifcge Eefcgidgtfcgreibung ber pfgdgo»
togifdgen fJStaj} gemalt gat. Ernft 9tenan’S nunmehr beenbigteS SBetl: „Histoire
des origines du christianisme" (7 ©be., ©ariS 1863—82), berbanft feinen auger°
orbenttidgen (Erfolg ber geingeit unb Umflogt feines anatgtifegen ©erfagrenS, burtg
welches eS igm gelingt, bie gäben beS ©emebeS ber allgemeinen Eultur in igrer
©erfcgtingung mit bem Entgegen unb SBacgfeu ber dgriftlicgen ©orftellungen
wägrenb ber erften gwei Igagrgunberte unferer 3eitredgnung blofjgulegen. Sag
ber (Slang unb bie ffunft feiner Sarftellung auf gleicher $öge ftegt mit ber
Stgärfe feiner pfgcgotogifcgen Stetgobe, gat gu jenem Erfolge jenes SHJerleS nidgt
wenig beigetragen. 8ln roiffenfcgaftlicger Strenge unb Sßeite beS culturgiftorifcgen
©tiefes ftegt igm ber pgantafiebolle unb Warm empfinbenbe gutes ÜIRicgetet
entfliehen nacg. Ein erbitterter geinb jeber geiftticgen unb weltlicgen SeSpotie,
galt er es für bie erfte Aufgabe beS ©efcgidgtfcgreiberS, baS allmäglicge SBacgS*
tgum ber bemohatifcgen unb Humanitären gbeen in ber ©efcgidjte nadggutoeifen;
eine Aufgabe, beren er fidj in feinen gagtreicgen giftorifdgen SSerten („Histoire
romaine"; „Histoire de France", 16 ©be.; „Histoire du XIX sifecle", 3 ©be.)
mit nur etwas gu biel SntgufiaSmuS als ©erebfamteit ertebigt. So(g entfdgäbigt
er burcg einen bewnnberungSWürbigen poetifcgen Xiefblid in baS gnnerfte ber Seele
eines $eitabfdgnitteS ober einer Eulturepocge, bie er fcgilbert.
8lS ber bebeutenbfte biefer frangSfifcgen $iftoriter jebodg, in beren arbeiten
gef(gitgtSpgilofopgifdge Elemente borgerrfcgen, ift ber geiftboQe unb bielfeitige
#enri Saine gH begeicgnen. ®ein ©efcgicgtfcgreiber ber Gegenwart ift jtig fo
fegr ber ÜRotgwenbigfeit einer pgitofopgifcgen ©ertiefung feines Stoffes betoufjt,
feiner gat es nadg ber bölferpfgdgologifdgen Seite gin mit biefer Aufgabe fo emft
genommen wie Xaine. Sgatfäcglicg gegen aucg feine giftorifdgen SarfteUungen nadg
gngalt unb gorm Weit über ben bisgerigen Egaralter ber fogenannten Eultur* unb
fiiteraturgefcgicgte ginauS, wie aucg fein ©utg: „Les origines de ia France contem-
poraine", nur bie innere Socialgefcgidgte feines ©aterlanbeS gibt unb Sainte=©eube
fftr Saine’S gWeiteS $auptwert: „Histoire de la littSrature anglaise", in allem Ernft
ben Sitel borfdglägt: „Histoire de la race et de la civilisation anglaise par la
littärature". ES ift im (Srunbe bie ©fgogotogie ber Eultur unb ber Siteratur,
welcge er freilieg mit wefentlicg conferbatiber Senbeng fegreibt. Sie Siteratur
eines ©olles ift igm, wie ber beutfege ©earbeiter biefeS SBerfeS*) treffenb bemerlt,
„ein feiner, empfinbliiger apparat, mittels beffen fieg alle abftufungen unb SBanb»
lungen einer Eibitifation rneffen, alle äfterfmate, Eigenfcgaften unb ÜRuancen ber
Seele einer Station erfaffen taffen".
Ser Einflug ber beutfdgen unb engtifegen ©gilofopgie auf Saine ift unber*
lennbar, was audg aus feinen anbern, megr tgeoretifdgen arbeiten („De l’intelli-
*) Sfll- „©efegügte ber englifcgen Siteratur" (beutfeg bon Seopotb Ratfeger; Sb. 1,
Seipgig 1878).
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620
Unferc
gence") heröorgeht; aber mehr als biefeS ift bie Itjatfadje ju betonen, baß in biefer
ganzen Stiftung bei neufronjöjtf^en Hiftorif ficb eine EinWirfung gefchichtspljilofo*
phifcher ©rincipten auf bie empirifche ©efc^id^tfc^reibung in einem SMaße tunbgibt,
wie biefeS nur itodj in Englanb ber gatl ift, wo bie Stachwirhingen X^omaS
©ucfle’S auf ade ernftern Eulturhiftorifer fid) geltenb machen. 9tur Xeutfdjlanb
beweift, baß auch im ©ebiete ber praftifdjen Hiftorit feine ruhmreiche philofophifche
Vergangenheit faft fpurtoö an if)m oorübergegangen.
2lm @djluffe biefer ©fizze über bie bisherigen gefchi<htSphilofophif<hen ®er=
fu<he f«heint bie grage angezeigt: „SBelcheS finb bie unzweifelhaften Ergebniffe,
bie bisher biefe junge SBiffenßhaft zu läge geförbert?" @o berechtigt eine berartige
ffrage aber auch fein mag, fo wenig ift es möglich, fie je^t fdjon pracife unb bc=
ftimmt ju beantworten. Hat unfere XiSciplin ja hoch in ber allgemeinen Slner*
fennung noch nie^t einmal bas oolle wiffenfchaftliche ^Bürgerrecht erlangt. Xetin
hat man Don ber einen ©eite oon ber gortbilbung ber ^ß^ttofop^te ber ©efdjichte
höchft fanguinifdje Hoffnungen in ©ezug auf ihren tlärenben Einfluß auf anbere wiffen*
fchaftlichc, inSbefonbere hiftorifchc ©ebiete, gemacht, fo will man öon anberer ©eite
fogar ihr jebe innere ^Berechtigung ftreitig machen. SIlS fpäteS ißrobuct ber Umar¬
mungen zweier, wenn auch oltehrwürbigen, fo hoch heterogenen SBiffcnfchaften, will
man mit ber Segitimität zugleich ihr bie bauernbe SebenSfähigfeit abfpredjen. SBenn
nun eine britte Partei bem gegenüber einwirft, bie Efiftenz biefer XiSciplin feit
150 fahren beweife an fich fchon ihre wiffenfchaftliche ^Berechtigung, fo finb wir
weit entfernt zu leugnen, baß aus ber ©efdjichte ber SBiffenfdjaften biefem Entwurf
nicht immer eine genügenbe ©tiifce zutheil Werbe, greilid;, wenn wir bie bisherigen
Serfudje auf ihre unzweifelhaften SRefultate hin prüfen, fo möchten ber ungelöften
Probleme weit mehr als ber wirtlich gclöften fid; IjerauSftellen. 9Ber wollte hier
baher eine Entfdjeibung Wagen? gft bie ©efdjichte bie ©elbfterinnerung ber
ÜDtenfchheit, fo geht ihre pfjilofophifdje ©eljanbtung barauf auS, biefe Erinnerung
ZU oertiefen unb fie im .ßufammenhang mit ben SBurzeln alles menfdjlichen
SBiffenS zu bringen, föann biefcS aber nur burch bie ^3^itofop^ie gefchehen, fo
ift fie htoburch ein 3toeig ber le^tern geworben. SBenn ihr bemgemäß in bem
garbenpriSma, Welches baS Sicht ber ewigen SBaßtheit bricht, auch nur ein
ber Strahlen zufaHeit, fo finb bie Slufgabeit, bie biefe ber gorfchung bet Sufunft
fteHen, immer noch 0*oß unb bebeutungSöoQ.
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ID tx ^irramofor.
SSon
töeht|foU> Wenter,
Sontreabmiral a. $.
3)a3 SDtafchinenWefen in ber mobernen $ampffchiffahrt l)at gegenwärtig einen
£öhepuntt erteilt, baß man ihm feine ©ewnnberung nicht berfagen lonn. Seine
©erwenbung befdjränft fid> nicht aflein auf bie SeWegung ber Skiffe, fonbevn
behüt fich auf eine Stenge bon Arbeiten au3, welche früher an Sorb burd)
Stenfdjenhänbe berrichtet würben, ju benen biefe jeboefj bei ben fo ungemein ge=
Wadjfenen 2)imenfionen ber gahrzeuge nicht mehr auäreichen ober bie ju biel Seit
erforbem Würben.
Söffen unb Saben, 2tttferlisten, Steuern, fflebienung ber generfprihen unb
biete« anbere muß jefet $ampf ober ^tjbrautif^e Äraft beforgen, unb auf ben
großen ^ßanjerfdjiffen multipticirt fid) biefe mafdjinette I^ütigfeit nocfj bebeutenb.
$aö 2)ref)en ber ©efchühthiirme, ba§ Saben unb 2tuöwifdjen ber ffauonen, ber
Xranstyort ihrer gigantifdjen ©efd»offe bon nahezu 1000 fiWogramm ©ewidjt unb
bet zugehörigen ^utbertabungen, baö SRicfjten, baö Sandten ber $orpebo$: alle«
gefdjietjt burd) $ampf ober ^pbrautif.
©efudjt man ein fotd^e« moberncS ißanaerfcfjiff, wie j. S. ben engtifdjen
gnflesibte, fo glaubt man fid) auf einer 2(u3fteßung bon aßen möglichen
2Raf<hinerien ju befinben. 2ln einzelnen Steßen erbfiit man oft 20, 30 neben
unb burdjeinattberfaufenbe Stohre unb begreift nicht, wie bie Seute an Sorb fich
ZWifdjen biefen ja^ttofen tedjnifchen ©inrichtungen burchfinben fönnen. SBenn auch
berfchiebene garbenanftriche biefe Stoljre, ©entite, £>ähne n. f. w. in ©ruppen z«
fonbern fuchen, je nachbem fie ber SchiffSmafchine, bem geuerlöfchbiettft, ber
2trtißerie ober bem lorpebowefen angehören, fo gewinnt man bennoch ben
©inbrud, baß e§, namentlich in ber Schlacht, für ben ©ommanbirenben nicht
möglich fein Wirb, biefen compticirten 2Jtechani$mu3 z u überfehen, ihn im ent=
fcheibenben Stoment ridhtig z« gebrauchen unb 3Jti«griffe au3zufd)tießen, bie feiert
ju berhängnißboßen Äataftrophen für Schiff unb Stannfchaft führen tönnen.
Stan foßte annehmen, baß jeher Denfenbe be«hat6 fein 2lugenmert barauf
richten müßte, biefe ©ompficationen mögtichft zu bereinfachen, aßein ba3 iß nicht
ber gaü. gm ©egentheit zeigt fich foWot in ben fi'riegö= wie £>anbet3marinen
ber berfchiebenen Stationen nur eine fieberhafte £>aft, fich * n bet 2(nhüufung bon
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Unfere ^eit.
neuen ©iaphinen an ©orb ju überbieten, um (Erfolge gu erringen, bie, wenn pe
roirflidh erreicht werben, auf ber anbern ©eite wieber bie Sicherheit be« ©Riffes
gefä^rben.
SBären biefe Sbeen nid^t oorherrfdhenb, fo Wörbe man pdj nicht in maritimen
Greifen inbifferent, ja auch abtefjnenb gegen eine ©rpnbung vergalten, bie bagu
angetan ift, bie ©tafdfjinerie gur Bewegung ber Skiffe gang außerorbentlich gn
bereinfachen unb bamit bem ©eewefen unberechenbare 2)ienße gu leiften.
$iefe Srpnbung ift ber {tpbromotor. Sir berbanfen pe bem Dr. Cmil
Steiftet, einem 3>eutfdjen, unb oietleicht mag biefer Umftanb gerabe bagu beitragen,
baß man iljr bisher eine fo geringe ©eadjtung gefchenft, unb noch niemanb pdfj
in $eutfchlanb gefunben hat, nm pe för bie ©raji« gn oerwerthen.
Unb bennoch tarnt e« nur eine F*«ge ber Seit fein, bi« pe pth allgemeine
©ahn bricht. 3h r SBertlj ift ei» fo großer, baß, wenn man ihn etp einmal er*
fannt, pe eine bottpänbige Umwätgung in ben gefammten @<hiffahrtdberhältniffen
herbeiführen unb bie gegenwärtigen @chiff«bampfmaf<hinen berbrängen muß. 3h r
gehört bie Sufunft unb pe ip namentlich baburch werthboO, baß pe mit ben ein*
fachften ©tittein bie größten ©efuttate ergielt.
3<h glaube nur eine patrietifdje spießt gu erfüllen, wenn ich auf ®runb ein*
gehenber praftipher ©erfudje mit bem £>pbromotor im ©adjftehenben bie außer*
orbentliche Tragweite biefer ©rpnbung, ihre ©ortheile unb ben bnreh ihre a8ge*
meine 8tnwenbung für bie gefammte ©otl«wirthfchaft erwachfenben Stufen gnr
aUgctneinent Äenntniß gu bringen fudje.
$aS ©rincip be« $pbromotor ip bie Fortbewegung be« Schiffe« oermittel«
hhbraulif^er ©eaction burdf) 8lu«ftoßen oon Safferptahlen. ®ie« ©rincip ip nicht
neu; man fannte e« fdhon im nötigen Saljrhunbert unb nahm e« oor einigen
3fahrgehltten in oerfchiebenen Sänbern Wieber auf. ©leine« SBiffen« Würben in
Selgien oon ber großen inbuftrieflen ©efeUfchaft SocferiH gwei, in Stettin bnreh
bdn Ingenieur 8t. ©ehbell ein«, ber 8llbert, oon ber norbbeutfdhen ©larine ein«, ber
fflloat, in Snglanb gwei, ber ©affagierbampfer ©autitu« burdh ©uthoen unb ba«
©anjerfaljrgettg SBatertoitdj auf ©efürwortung be« 8tbmirat« Clliot gebaut. 8ttte
biefe Faljrgeuge geigten große nautifdhe ©orgflge gegen bie ©dhrauben* unb ©ab*
mafdEjinen, aber einen, wenn auch ni<ht gerabe Wefenttidhen ©ad(jtheit, b. h- pe
entwidetten unter gleichen ©erljättniffen nicht biefelbe ©ephtoinbigleit wie jene,
rep), pe hatten einen etwa« größem tohtenoerbraudj. ©tit ber äBaterwitdj würben
gwei ©dhtaubenbampfer, ©iper unb ®i|en, oon benfetben Dimenponen unb gleicher
©lafchinenfraft al« ©ergleidjöfehiffe gebaut. (Srftere« tief 9,3 knoten (Seemeilen
in ber ©tunbe), bie le^tern beiben 9,5; aber fo gering biefer UnterfdEpeb war, trug
er bennoch bie ©chulb, baß man ber hhbrauliphen ©eaction oortäupg leine weitere
8lufmerffamfeit fchenlte.
©iit bem ©autitu« pellte idh im Sahre 1867 auf ber X^ernfe prattifdfje
©toben an. Sie ergaben nach meiner 8lnfidht fo anßergewöhntidje natttifche ©er*
theite, baß ber etwa« größere ßohlenoerbrauch nicht in ba« @ewicht fallen
lonnte unb e« im allgemeinen Sntereffe nur gu bebauern war, baß bie Xech*
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Der fj^bromotor.
623
ntfcr ti nicht ber SWühe Werth hielten, bet Sache näher gu treten nnb ft« gu
berbeffern. (Einem bentfdjen ©hbfike war e@ botbehalten, fie gu boBen @|ten gu
bringen. Sie SäjWäche ber früher gebräuchlichen hpbraulifchen SReaction lag in
bem Äräfteberluft burch eine unrichtige (Eonftruction. Ser ©oben beS Schiffes
tvar burchtöäjert, um bem SSBaffer freien dxtritt gu gewähren. Um bie burch»
löcherte Stelle war eine eiferne (Eifterne gebaut, in ber baS gufliefjenbe SSBaffer
bis gur $öhe beS ftibeau aujjenbotbö flieg. Sine burdj Sampffraft getriebene
(Eentrifugalpnmpe nahm biefes SBajfer auf nnb fdjleubette e$ burch tRöljren,
»eiche mittfdtjiffS bie ©orbwänbe burthfönitten, aufjenÖotbS. Sie SReactiott biefer
SBofferftrahlen erzeugte bann bie Fortbewegung beS Schiffes. Sie ©umpe bet»
brauste natürlich üiel ftraft nnb bei ber SBaterwitch g. 83. abforbirte fte 65 ©roc.
ber urfptfinglichen Sampffraft, welche ber Äeffel ergeugte, fobafc nur 35 ©roc.
bem SBafferftraht gugute famen.
@S ift baS grofte ©erbienft beS Dr. Fleifcher, biefen SKangel unb überhaupt
jebe Swtfcheninftong befeitigt gu h°ben nnb ben Sampfbrucf birect auf ba$ SSBaffer
»irfen gu taffen, welchem Umftanbe bie (Eonftruction beS $pbromotorS ihre be=
wunberungSWerthe (Einfachheit berbanft, währenb fie anbererfeitS burch ben ber»
mehrten 9tu$effect im Stanbe ift, mit jebet anbem SRafdjine an Schnetligfeit,
refp. Äohlenberbrauch bol! gu concurriren.
Sie Sinrichtung beS Apparats ift in furgen SSBorten folgenbe.
Ser nothwenbige Sampf wirb Wie bei allen übrigen SDtafchinen in einem
Reffet ergeugt. KuS ihm tritt er burch ein BuleitungStehr in ein cplinberähnlicheS
(Sefäfj, ba$ auS fteffelbtech gefertigt ift, aufrecht fteht unb mit einem etwas ber»
engtem Fuji mit boppetter Oeffnung burch bie Schiffsmanb tritt. Siefe Ceffnungen
geigen in ber [Richtung beS ®ielS bie eine nach hmleu, bie anbere nach bom.
Senft man {ich nun biefen (Eplinber mit feinem Fufje burch SSBaffer gefüllt unb
auf beffen Oberfläche einen Ijatblttgelähntichen hbhten Schwimmer aus Sehmiebe*
eifen ruhenb, an bem oben eine eiferne Stange befeftigt ift, bie mittels einer
Stopfbüdjfe fich burch ben Äopf beS (EplinbetS luft* unb bampfbi^t auf» unb
nieberbewegen famt, fo h«t man bie wefenttichen Sheite beS Apparates. 3n
obiger Stellung öffnet bie Schwimmerftange bermittelS eines finnreichen, aber
ebenfalls feljr einfachen äRecijnniSmnS baS Sentit beS SampfguleitungSrohreS.
Ser Sampf ftrömt in ben (Eptinber, brficft auf baS barin befinblicpe SBaffer, ba
ber Schwimmer jenen nicht gang ausfüllt, unb prefjt es mit einer Sefdjwinbigfeit
bon 20 Sieter per Secunbe burch ben Fufj beS (EplinberS als Säule aufjenöorbs.
Ser Schwimmer finit mit hinunter. #at er eine beftimmte Siefe erreicht, fo
fcpliefjt feine Stange baS Sampfoentit; ber mit großer Spannung eingeftrömte
Sampf ejpanbirt unb treibt ben SReft beS SSBaffetS auS bem (Eplinber. 3ft ber
Schwimmer auf feinem tiefften Stanbe angelommen, fo öffnet bie Stange baS Sampf«
auslafjoentit, welkes in einem SerbinbungSrehr gwifchen bem obem €^tiitberbedfei
unb bem (Eonbenfator angebracht ift. Ser berbrauchte Sampf ftrömt nun in
bie bom falten SSBaffer umgebenen Söhren beS (EonbenfatorS unb es entftept im
(Eplinber eine Suftleere. infolge beffen bringt fowol bon unten burch ben guf},
nls burch ben (Eonbenfator baS SSBaffer in ben (Eplinber unb füBt ihn, bis ber
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62$
Unfere fielt.
Schwimmer feinen Ijödjften Stanb errettet unb ba$ Spiet bon neuem beginnt.
XieS ift ber Vorgang, bet an ©infadbbeit nichts ju wünfdjen übrigtäfet unb auch
jebem Saien fofort berftänblidj fein wirb. Um eine gteichmäfeige Sewegung ju
erjieten, ^at man bei Schiffen bis ju 100 ißferbehaft jtoei ©ptinber, bie ab-
wedjfetnb functioniren, bei gröfeerer Xampffraft jtuei, btei unb bier ^ßaare. ®ie
$öt>e ber ©tjlinber betrögt 2—3 SDleter.
SBemt baS Schiff borwärtS geben fotl, fo lögt man baS SBaffer burcb bie
nach hinten mönbenbe Deffnung auSftrömen; will man in entgegengefefeter fRidj*
tung fahren, fo fchliefet man biefe Deffnung burcb ein Sentit unb öffnet bie
borbere. XieS geliebt mittels eines Debets, ber fidj auf ber Sommanbobrfide
befinbet unb mit einem ©eftänge in Serbinbung ftef)t. Xurcb ben $ebetbru(f
Wirb ein fteiner Xampfcptinber am gufee beS Apparats in X^ätigfeit gefegt
unb baS $eben ober Senfen feines KofbenS berurfacht bie erforbertidje Seme-
gung ber Sentile.
©in ©inmurf, ber bietfad^ erhoben unb toenn auch ohne ©runb bem Stpparat
gemalt mirb, ift, bafe bei birectem Xtude beS XampfeS auf baS SBaffer erfterer
fe^r ftarf conbenfiren müffe unb baburdj bict Sertuft berbeigefübrt ft erbe. Xtjeo--
retifd^ ift bieS, Wie fdjon Xeprefe nacbgewiefen, unbegrfinbet; in SBir!tid)feit finbet
eS auch nicht ftatt, WenigftenS burd^auS nic^t in merfliitjem ©rabe, unb tiefem bafür
bie ^nbicatorbiagramme ben unmibertegtid^en SeWeiS. ®ie ©ptinber finb innen
mit $otj gefüttert; ber einftrömenbe betfee Xampf erwärmt 3 war eine bünne obere
Schicht beS SBafferS; aber wäljrenb teueres finft, bängt fid) biefe beifee Schicht an
bie ^otjwänbe unb fo finbet ber nadbftrömenbe Xampf überall nur SBärme. ®ie
ÜRiinbung ber StuSfluferobre lann an einet beliebigen Stelle beS S<biffSrumpfeS
unter SBaffer, ebenfo gut aber in ober unmittetbar über ber SBaffertinie liegen,
ba in alten brei gälten bie SBitfung beS SBafferftrabteS biefetbe bteibt. Sei See=
bampfern ift eS jebocfe rätbtidb, fie nicht über bie SBaffertinie 3 U legen, ba bei
ihren feitticben Sdbwanfungen bas SBaffer fonft 311 hoch in bie Suft gefpri^t wer»
ben fönnte unb bann atterbingS ein Kraftbertuft eintritt.
9tuS ber Eonftmction beS ^pbromotorS ergeben ficb gegen anbere ScbiffSbampf-
mafcbinen eine SReibe wichtiger Sortbeite fowot öfonomifcber als nautifdber ÜRatur,
bie ich im SRacbfotgeitben näher bartegen werbe.
3unä<bft fommt baS Slntagefapitat in Setracbt. ©S liegt auf ber fjanb, bafe
ein Apparat bon fo einfacher Sauart, ber feiner fpauptfacfee nach nur aus Keffef»
btedb unb ©ufeeifen beftebt, ber nur ein SJiinimum bon bewegenben Xbeilen befifct
unb webet SBetten, noch Säger, noch Krummsapfen, Kolben u. f. w. tennt, gan 3
bebeutenb billiger bergefteHt werben tann als eine ScbiffSbampfmafcbine. 3n ber
Xbat ift ber S2reiSunterfcf)ieb aucfe fo grofe, bafe bie Sautoften eines |)pbromotorS
nur bie $ätfte bon benen einer mobernen Scbraubenmaf^ine betragen. SBäbrenb
man lefetere 3 U 200 SRarf für bie ißferbefraft beranfchtagen faitn, täfet ficb erftere
in boHfommenfter SBeife für 100 SRarf pro ißferb berftetlen.
Xampffdljiffe bon 3000 tßferben finb in ber ^anbetSmarine für tranSatlan*
tifdbe gaferten feine Seltenheit, unb bei ben neuen tßan 3 evfdjiffcn erreid^t bie
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Sec J}Y&rdmotor.
625
aRafdjinenfraft baS doppelte unb mehr. Sei erftecn mürben alfo allein an 2tn=
tagetapitat 300000 SRarf gebart Werben, was 15000 SDtarf Sinfengewinn jähr»
lidj entfpridjt, wäljrenb baju noch bie erfparte Slffecuran^prämie für jene
300000 9Jtarf tritt. Slber audj bie Prämie für bie Verficherung beS ganjen
©djiffeS Wirb borauSfichttidj eine Srntäßigung erfahren, ba ber ©pbromotor eine
biel größere Sicherheit gegen Unfälle auf See bietet als jebe anbere äRafchine.
(Sä fönnen Weber @djtauben nodj SEettenbrüdje, bie in ihren tljeilmeife fdjrecf»
litten folgen für baS @djiff unb feine ijBaffagiere erft fürjtidj Wieberljott bie all«
genteine Slufmerffamfeit auf fidj gezogen haben, borfommen, noch ähnliche Ser»
le$ungen beS Apparates. Sefcterer befifct fo wenig bewegenbe Steile unb wirb
fo wenig angeftrengt, baß bei guter foliber Sonftruction unb nur einigermaßen
berftänbiger SBehanblung ihm nichts SmftlicjjeS paffiren fann.
©eine Sinfachheit gibt ju ^Reparaturen überhaupt wenig Slnlaß unb fobann
erforbern fie, wenn fie bennodj einmal nöt^ig werben follten, im Vergleich ju
anbern ÜRafdjinen nur feljr geringe Soften. SBenn einem ©djrauben* ober 9tab=
bampfer bie SSeHe bricht ober begleichen, fo ift er entweber hülfloS bem ©piele
ber Elemente preisgegeben unb entgeht nur einem traurigen ©djicffale, wenn es
glücft, iljn zeitig genug mit außerorbentlichem SJoftenaufwanbe burdj anbere Kämpfer
aufjußnben, ober er ift, wenn fidj bei geringem Verlegungen ber Staben an
Vorb notdürftig repariren läßt, auf längere Seit unb bisweilen tagelang jum
©tillliegen berurtheilt. Vei bem hhbromotor bagegen ift fo etwas auSgefdjloffen.
©eine, einem Vrudje ober ä^ntic^en Vefdjäbigungen auSgefefcten beWegenben Steile
finb fo gering an 3<>d un *> nehmen fo wenig Vlafc ein, baß man o§ne großen
ftoftenaufwanb unb SRaumberfdjwenbung einen ^weiten ©afe berfelben an Vorb
haben fann. ©inb biefe aber borljer jugepaßt, fo werben burch fie bie befähigten
in fütjefter jfrift erfefct unb ber Slpparat arbeitet weiter. SiefeS Erfefcen er»
forbert feinerlei befonbere Sunftfertigfeit, fonbern fann ftetS mit bem an Vorb
befinblidjen SRafdjinenperfonal auSgefüljrt werben, ©eiten bebarf eine fofe 9te-
paratur bei einigermaßen geübtem ißerfonal länger als eine ©tunbe unb Würbe
fidj in nodj biel fürjerer Seit beWertftelligen laffen, wenn man nidjt ben Slpparat
abfühlen taffen müßte, um an ihm arbeiten ju fönnen. 316er felbft wenn es oiet
länger bauern foHte, gebt injwifdjen baS Schiff ruljig oorwärts, ba es ftetS
meiere 2lpparate bot, unb jeber einzelne bom anbern unabhängig ift. 3<b höbe
biefen Sali bei meinen Verfugen mit bem $bbromotorfibiffe gehabt. Surdj ein
Verfeljen beS bei fchtechtem SBetter in hoh em ©tobe feefranf geworbenen 2Rafdji=
niften berfagte ber eine Apparat unb es würbe mit bem anbern allein weiter ge»
bampft. Ser fjahrtunterfdhieb war nicht bebeutenb; wäljrenb baS ©djiff mit
beiben 9 knoten lief, machte es mit einem nahe 7, unb wenn bei größera
Schiffen jwei ober mehr ißaare Apparate borhanben finb, Wirb bei SfuSfall eines
einjelnen bie Sifferenj natürlich noch Heiner, jebenfaHS aber bie Sicherheit beS
©djiffeS bei einem folgen Unfall in feiner SBeife gefährbet fein, wie bieS unter
ähnlichen Verljättniffen bei anbern äRafdjinen ftetS gefürchtet werben muß.
Sine weitete, fehr in baS ©ewidjt faöenbe ©rfparniß finbet beim Schmier»
material ftatt, unb fie beläuft fidj auf 60 — 70 ißroc. SDlir finb aus meiner
Untere Belt. 1882 . I. 40
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626
Unfete £«it.
ißrajis gälte befannt, wo ein ©chiff ooit 5000 ißferbefraft iw 24 ©tunben 500
Sitogramm ©chmiermaterial gebraust ^at 3$ gebe ju, ba| feljt reichlich ge«
furniert würbe, unb man auch allenfalls mit 400 Kilogramm auSgefommen wäre.
Stimmt man aber bei bem oben angeführten Schiffe oon 3000 Sterben auch nur
einen Sebarf oon täglich 150 Kilogramm ©chmiermaterial ju 1 äJtarl baß Silo»
gramm an, um am alletgünftigften ju rechnen, fo würbe ein $hbromotor oon
gleicher Sraft f)öd)\ttnä 50 Kilogramm gebrauchen. KaS gibt eine tägige ©r=
fparnil oon 100 ÜJtar!, was bei 180 Kampftagen im Sah«, welche ein in regel*
mä|iger galjrt befinblicheS @djiff minbeftenS unterwegs ift, runb 18000 SJtarf
jährlichen (Gewinn allein an ©chmiermaterial erhielt.
Kurch Umfehrung beS SEBafferftrahlS mit ^ülfe beS $ebelwerfs lann man
jwat baS ®djiff jum ©tidftehen unb StücfwärtSgehen bringen, aber bie Sewegung
beS SlpparatS bleibt ftetS biefelbe gleichmäßige. Sille SRanöüer beS UmfteuernS
ber SJiafchtne, woburch biefe oft fo fehr angeftrengt wirb, fallen beim ^pbromotor
fort; er arbeitet ftetS in berfelben Südjtung unb mit berfelben ©efchroinbigfeit.
©ine natürliche golge baoon ift, ba| ber Slpparat haltbarer fein Wirb als
SKafchinen.
Sei feiner ©infachheit, Ueberficfjttichfeit unb leichten $anbhabung bebarf er
ju feiner Sebienung auch weniger Kräfte. Stuf grö|ern ^pbromotoren Oon über
1000 ißferbefräften wirb bie $älfte ber SRafdjiniften erfpart; bei bem erwähnten
©chiffe oon 3000 ißferben Würbe man beSljatb 3 SRafchiniften weniger hoben
lönnen, was wieberum einen jährlichen ©ewinn oon minbeftenS 10000 2Rarf
vepräfentirt.
3 ch führe biefe Bahlen, bie ftets für ben ^pbromotor ungünftig gerechnet finb,
an, Weil Bahlen am beften beweifen unb in biefem gade für jeben Saien barthun,
wie rentabel fchon bie neue ffirfinbung gegenüber anbern äRafcf)inen fein mü|te, auch
wenn fie feine anbern als bie genannten Sorjüge befä|e. Stur bie ©rfparung
Oon Binfen, ©chmiermaterial unb ÜDtafchiniften ergibt in bem genannten Seifpiel
40000 SJtarf jährlich. Kaju tritt noch bie geringere Slffecuranjprämie unb ber
StuSfad oon ^Reparaturen, fowie ferner SRaum» unb ®ewi<htSerfpami|, bie bei
grö|ern Separaten 30 ißroc. gegen anbere SRaf^inen betragen, unb mithin bem
©c|iffe fooiel mehr Sabefähigfeit geben.
3BaS nun bie ©chneöigfeit, refp. ben Sohlenoerbrauch betrifft, fo bietet bet
£>hbromotor in biefer Sejieljung eine eigenthümliche ©rfcheinung bar. KaS ©chiff,
mit bem ich bie groben anfteflte, bisjefct baS erfte unb einjige feiner Strt, oon
110 gu| Sänge, 18 gu| ©reite unb 7 gu| Kiefgang, befaß 100 inbicirte ©ferbe»
fräfte, war für eine ©efdjwinbigfeit oon 9 Snoten (2 l / 4 beutfche SReilen in ber
©tunbe) gebaut, unb erreichte biefelbe, wäljrenb fein Sohtenüerbrauch 1 , 2 « Silo«
gramm pro ©tunbe unb fßferbefraft betrug, was bei ben übrigen beften Schiffs«
mafchinen gleichfalls ftattfinbet. Sei einer ©djnedigfeit oon 9 —10 Snoten
concurrirt mithin ber ^pbromotor im Sohlenconfum mit ben öfonomifchften ©om«
pounbmafchinen. KaS änbert fich jeboeh, je nachbem baS ©chiff bebeutenb lang«
famer ober bebeutenb fchneller fährt, unb jwar wirb im erftern gade ber Sohlen«
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Der f^yöromotor.
627
oerbrauch größer, in Iefcterm geringer alg bei anbern SDtafchmen. @g ift bieg
bie gotge eineg ^braulifi^en ©efefceS. @g mürbe toeiter oben bemerft, baß ber
SBafferftraht mit einer ©efchminbigleit oon 40 Shtoten ober 20 SJteter per Secunbe
auggeftogen toirb. (Sin folget ©trat)! übt nadj jenem ©efefc feine grüßte SEBir*
tung aug, menn bie ©efchminbigleit beg ©cgiffeg ^alb fo groß ift toie bie beg
©tratjteg. Stach beiben ©eiten biefer (Stenge nimmt fie allmählich ab. Da
nun bei 9—10 knoten galjrt ber ^pbromotor mit anbern äRafdjinen concurrirt,
fo empfiehlt eg fid) ntc^t, ©d(jiffe mit geringerer ©efchminbigleit gu bauen, menn
lebiglidj Sorten gefpart merben foflen, mof)t aber mit meljr, unb gmar tritt bann ein
anberer günftiger Umftanb fjbtgu, ber beit ffo^Ienconfum anbern SDtafchinen gegen¬
über noch bebeutenb oerringert. 2Biö man g. 83. einem ©djraubenbampfer, ber
10 knoten macht, eine ©djneQigteit oon 20 geben, fo ift bagu theoretifch bag
Sichtfache feiner utfprünglichen Dampflraft erforbertich, rneil er einmal ben in
quabratifdjem Säerljältnig toachfenben SSBaffermiberftanb gu überminben ^at, unb
augerbem bie Schraube ben hobelten SEßeg gegen früher gurücflcgen mug. Die
SBiberftanbgüerhältniffe bleiben nun gmar bei bem £>hbromotot biefelben, aber bie
©efchminbigleit beg SBaffcrftratjlg mirb nicht üermehrt. @ie beträgt bei 20 knoten
gerabe fo Diel tute bei 10, b. h- 20 ÜJieter pro ©ecunbe, unb mithin mirb bie
Dampffraft für bie bort nöttjige hoppelte ©chnetligleit ber ©Traube, refp. bie
bafür etforberliche geuerung f)ier gefpart. Dag macht, in bas ißraftifdje unter
83erüdfid^tigung ber Reibung u. f. m. überfefct, bei 20 knoten ©efchminbigleit
30—35 Sßroc. ßohlenerfparaig gegen anbere Dampfer, unb mag bag fagen mitt,
mirb jebermann leicht ermeffen lönnen, menn er erfährt, bag ein trangatlantifdjer
Dampfer oon 3000 ißferbelraft bei ooller gahrt (15 —16 Änoten) täglich min*
befteng 1800 ©tr. Sohlen oerbrennt. Steinet man bei einem fptjbromotor oon
gleicher ®raft, unb mieberum gang ungünftig für ihn, nur 400 ©tr. tägliche @r*
fparaig, fo ftettt bag burchfchnittlich eine Summe oon 300 3Jtarl bei billigten
föotjlenpreifen bar.
©in anbermeitiger S3orgug beg #pbromotorg, unb gmar einer feiner rnefent*
lichften, befteljt barin, bag man ifjn auf ©egelfchiffen alg 8lu£iliarfraft anmenben
lann, meil er leinerlei Slenbetung in beten gorm bebingt. 3Wan !ann ihn ljin*
fe|en im ©<hiffe, mo eg am beften pagt, benn eg ift gang gleichgültig, ob bie
Slugflugrohre oben ober unten, mittfchiffg ober hinten im Stumpf beg ©chiffeg
münben, bie SBirlung beg SßafferftrahlS bleibt fich ftetg gleich. ®in folcheg Schiff
lann beghalb mit feiner ©egellraft ben SBinb üoll augnujjen, mit einem fppbro*
motor aber SBinbftillen, ©egenftrömungen, unb je nach beffen ßraft fchmächere
ober ftärlere ©egenminbe überminben.
Den ölonomifchen S3ortheilen, melche ich int 83orftehenben im allgemeinen an*
gebeutet, unb betten lein eingiger Stachtljeil im S3ergleich gu anbern ©chiffg*
bampfmafchitten gegenüberfteht, reihen ft<h aber noch ebenfo mistige nautifche
SBorgüge an.
SBie oiel Unglüd entfteht in ber Schiffahrt burdh ©oHifionen u. f. m., meil bie
nach ber SDtafchine gegebenen ©ontmanbog migoerftanben merben, unb auch meil
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628
ttnfere ^eit.
bie oerftanbenen ftch nicht fcftnetl genug ausführen taffen. Solche 2RiS»erftänb=
ntffe finb bei bent £hbromotor gänjtid) auSgefchtoffen, »eit gar feine GommanboS
gegeben »erben, unb bie äRanöoer lönnen auf anbern Dampffchiffen auch nicht
amtähentb fo fdjnell auSgeführt »erben »ie auf jenem.
Dritt j. ©. plöj}li<h eine ©efaljr auf, unb baS @djiff fott jum Stitlftanb ober
SflücfroärtSgehen gebraut »erben, fo »irb am bisherigen ©ang beS Apparats nicht
baS ©eringfte üeränbert; er arbeitet in berfelben SBeife ruhig weiter unb ber
commanbirenbe Offizier Wirft nur bie auf ber SBräcfe unb ihm jur £anb befinb*
iichen SWanööerhebei rücfwürtS. Der nachfte £ub beS SlpparatS fd^Ieubert als*
bann ben SBafferftrahl mit berfelben Kraft in ber entgegengefefcten Sichtung nach
oont, »ie bisher nach hinten. |>at baS Schiff beSljafb auch nur j»ei Apparate,
fo erfolgt bie Umfehrung ber Kraft fchon 3—4 ©ecunben nach bent Uebertegen
ber $ebel, ba jeber Apparat altemirenb etwa 9 $ube in ber SKinute macht, unb
cS herrfcht babei nicht ber geringfte Unterfchieb, ob bas Schiff langfam ober fo
fchnett »ie möglich fährt. Stuf großen ©chraubenbampfern mit uofler gahrt bauert
bas Umfteuern ber SDtafchine allein minbeftenS eine 3Jlinute, unb erft bann fängt bie
Schraube an, räcfwärts ju fotogen. Die natürliche gotge ift, bafj ein Schrauben*
bampfer aus boHer ©efdjwinbigfeit unb auch bei gefaultem üRafdjinenperfonal
minbeftenS bas SBier=, meiftenS aber baS günffache feiner eigenen Sänge gebraucht,
um junt ©tittftanbe gebraut ju »erben, »öhrenb ber £>tjbromotor baju nur V/ a ,
hödjfienS 2 mal feine Sänge beanfprudjt, wobei ich uur fthwere unb tiefgeljenbe
Schiffe im Sluge hübe, beren Sötoment auch ein bebeutenbeS ift. 9ltS ich mit bem
oben erwähnten SRautiluS auf ber Dhemfe manöbrirte, ber gan$ flach gebaut
war unb nur 2 1 / i guft tief ging, tiefen wir mit 9 Knoten gahrt unb ber Gbbe
ben Strom hinunter. 2ltS bann eine jur ©ejeichnung beS gahrwafferS gelegte
Dornte fich quer born Sorberenbe beS gahrjeugS befanb, warf ich bie äRanöoer*
hebet jurüd unb braute baS Schiff innerhalb brei ©iertel feiner Sänge jum
StiUftanb, »aS an ber ©ofition ber Donne fich genau meffen tieft. Güte fotdje
Gigenfchaft ift aber bon ganj unberechenbarer SBi^tigfeit, nicht nur für bie Schiff*
fahrt im allgemeinen, fonbern fpecieH auch für KriegSfdjiffe im Kampf.
Gbenfo ift Weber ein Gommanbo nach bem Slpparat ober eine ©angberänberung
beffelben nöthig, Wenn baS ©c^iff langfam gehen foH. 2Ran legt einfach einen
ober beibe £>ebel über unb ermüftigt auf biefe SBeife nach ©etieben bie gahrt. @o*
bann lüftt fich aber mit bem ^pbromotor bie SRanöbrirfähigfeit ber Schiffe burdj
eine einfache ©orrichtung noch * n anberer SBeife bebeutenb erhöhen, »aS nament*
lieh für KriegSfdjiffe bon grofter SBidjtigfeit ift.
3>n bem bon mir erprobten @djiff münbeten bie SluSfluftrohre unter bem ©oben
beS Schiffes mittfehiffs, unb jiemtich nahe aneinanber gelegen. 3dj glaube, baft,
wenn man fie am £>interenbe beS Schiffes auStreten löftt, bie SBirfung beS Strahls
noch günftiger fein »irb, »eil bann bie SRcibung beffelben am ©djiffSboben fort*
föHt. SDlacht baS aber ju grofte Schwierigfeiten, etwa »eit bann bie ©orrichtung
jum Umfehren beS Strahls fich weniger gut anbringen tüftt, fo »irb bie SDfanöbrir*
fahigfeit beS Schiffes noch bebeutenb gewinnen, wenn man bie 9?of)re mittfchiffS
fo »eit oben »ie möglich ntünben täftt, »eit baburch ber Hebelarm jum SBenben
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Der f^yöromotor.
629
beS ©c^iffeö fo biel größer wirb. 3 e ttadjbem matt bann ben einen ober anbern
Strahl umfehrt, läßt fid> baS @cfjiff auch ohne £ülfe beS ©teuerruberS auf bem
glecf umbref)en unb auch fteuem, was bei einem etwaigen Seeluft beS SuberS,
wie es nicht aflju feiten twrfommt, Oon größter SBidjtigfeit ift. ©in ©chiff ohne
Suber ift bei fehlerem SBetter ben größten ©efahren auSgefefct, unb fann babei
leicht ju ©runbe gehen; bie Anfertigung unb Anbringung eines SotfjruberS foftet
aber immer Diel 8*it.
gür bie @djiffahrt im allgemeinen reicht baS möglicfjft weite AuSeinanberlegen
ber Ausflußrohre auS, um ben erwähnten Sothwenbigfeiten ju begegnen; für
ßriegSfd)iffe inbeffen ift ein fcfjnellereS Stehen, als es jejjt möglich ift, befonberS
wichtig. Stan fann annehmen, baß bie mobernen großen ©aitjetfchiffe oon un=
gefähr 100 Steter Sänge burchfchnittlich 7—8 Stinuten gebrauchen/ um einen ®reiS
ju befchreiben. Saßt fiefj biefe Drehung aber bei einem ©cßiff in ber halben
Seit machen, fo liegt eS auf ber £>anb, baß baffelbe einem geinbe gegenüber, ber
wie bisher 8 SOtinuten baju gebraucht, im $auipf eine ganj gewaltige Ueberlegen*
heit erhalten wirb. ®S fann fowol feine Artillerie Wie feinen ©portt weit beffer
jur ©eltung bringen unb muß unter fonft gleichen Serljältniffen unbebingt ben
©ieg erringen.
$ierju liefert ber ^pbromotor bie SDtittel, inbem man baS @cf)iff mit foge»
nannten ©teuerrohren toerfieht. Stan fann je nach ©efiitbeit ju bem 3wecf ent»
Weber hinten nnb öorn im ©chiff einen befonbern Apparat inftaßireit, WaS
bei ber ungemeinen Sebeutung ber Sache Wohl gerechtfertigt wäre, ober auch bie
©teuerrohre mit bem ^»auptapparat toerbinben. ©ie werben bann, eins nach jeher
©eite fowol born wie hinten im ©chiff quer burcf) bie ©orbwanb geleitet unb
3 ur Drehung berwerthet. Süöitt man nach linfS Wcnben, fo läßt man ben ©trahl
born an ber rechten unb hinten an ber linfen ©eite auSftrömen unb umgcfchrt
im anbern gaß. Sann Wirfen jWei Kräfte in entgegeugefefcter Sichtung an einem
Hebelarm bon naheju 100 Sieter Sänge unb muffen natürlich bie Srehung beS
Schiffes ganj erheblich befchtcunigen.
3m gälte eines SecfS müßte baffelbe feßon bon fehr beträchtlicher ©röße fein,
Wenn bem ©pbromotorfchiff baburch ©efahr brohen foHte. Ser Apparat gebraucht
200 Siter pro Sßferbefraft unb Stinute; fcfjließt man beShalb bie ©obenbentile
unb öffnet anbere jum Schiffsraum füljrenbe, welche ju biefem 8toecf borhanben
finb, fo entnimmt er jenes große Quantum aus bem ©chiff unb treibt lefctereS
bamit in gewohnter SBeife borwärts. Auf bem ©robefchiff würben biefe ©erfuche
angeftellt, inbem man in bie mittlere wafferbichte Abtheilung einige guß SBaffer
einlaufen ließ, unb bie SRefultate waren überrafefjenb. Sollte baS ©<hiff einmal
ben ©runb berühren, fo ift für ben Apparat wenig ober gar feine ©efahr bor*
hanben. 3cf) bin mit bem ©erfuchsfcfjiff abfichtlich auf eine ©chlantmbanf gelaufen,
unb habe mit boHer Sampffraft baS gaßrjeug barüber fortarbeiten laffen, ohne
baß ©chiff ober Apparat ben geringften Schaben erlitten hätten, ©benfo bampften
wir jwifchen ben bänifchen 3nfeln mit boHer gahrt eine halbe beutßhe Steile Weit
über eine flache ©teile, auf bet nur 1 guß mehr SBaffer ftanb, als baS ©chiff
felbft tief ging. Ser Apparat fog bei biefer Gelegenheit beftänbig bicfeS Schlamm»
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630
Unfere «Jett.
»paffer auf unb fpie cS toieber auS; feine SBirffamfeit »purbe jebocf) baburch in
feiner SBeife beeinträchtigt. @in anberer Uebelftanb Pon Sdjraubenfchiffen, ber
biefen leicht berhängnißpofl werben tann unb oft geworben ift, fällt bei bem .jjpbro-
motor ebenfaßS fort: baS UnftarWerben ber Schraube burdj $ineingerathen Pon
Xauwert ober treibenben ©egenftänben in biefclbe. (Sin weitläufiges ©itterwerf
Por bem Saugbentit ^inbert ben ©intritt größerer ©egenftänbe in baffetbe, unb
Heinere fdjaben nicht.
©nblidfj gewinnt ber £>pbromotor einen twh en bolfswirthfcfjafttichen SBertlj noch
baburch, baß mit feiner $ätfe ber Schiffahrt auf ben S3innengewäffern, glüffen
unb Kanälen eine ganz bebeutenb größere StuSbeljnung gegeben werben fann. (£s
ift portjin bemerft, baß ber SBafferftraljl biefetbe SBirfung übt, ob er unter ober
über ber SBaffertinie auSgeftoßen wirb. Säßt man festeres bei Stußfchiffen ge»
fdjehen unb fefct ben Apparat auf $ecf, fo fann man mit $Qbromotorfdjiffen
beliebiger ©röße auf aßen ©ewäffern fahren, bie nur 2 — 3 3uß liefe haben.
f?ür ©djraubenbampfer Perbietet fich baS; Wenn bie Schraube Wirfen foß, muß
fte bei gröfiem gafjrjengen minbeftenS 5—6 ftuß liefgang befifcen. »Rabbampfer
gebrauten jwar nicht fo Piel SBaffer, aber für Kanäle ift wieber oft ihre »Breite
hinberlidj, währenb bie Pon beiben ®ampffchiffarten erzeugte SBeflenbewegung bie
Uferbauten unterminirt unb fchäbigt. Dies fällt beim ^pbromotor ganz fort;
fetbft wenn ber Strahl unter SBaffer auSgeftoßen Wirb, gefchietjt bieS in (form
einer Säule Pon geringem $)urchmeffer in ber SängSridjtung beS Schiffs unb
©eWäfferS, bie feine merfbare SBeflenbewegung Perurfacht, unb über SBaffer fann
eine foI<he natürlich noch Weniger erregt Werben.
SBenbet man beSljatb ben .'ppbromotor auf gtuß* unb Sanalfchiffahrt an, fo Wer»
ben feine Seiftungen ber ^nbuftrie unb bem £>anbet außerorbenttidj zugute fommen.
Schmale Kanäle Pon IjöchftenS 4 guß liefe genügen, um auf ihnen bie fchwerften
Saften mit $ampf unb beliebiger Schnefligfeit ju tranSportiren, unb ebenfo taffen
fich bafür unfere gtüffe in einer SBeife auSnufcen, wie fie unter ben gegenwärtigen
SBerljättniffen nicht gebacht werben fann.
Saßt man bas ©efagte, baS nicht auf £ppothefen, fonbern auf Xpatfachen
beruht, äufammen, fo barf man einerfeits bie ©rfinbung als eine großartige unb
epochemachenbe bezeichnen, anbererfeits aber auch mit »Recht barüber erftaunt fein,
baß 2)eutf(fjlanb bisher ihr fo geringe Slufmerffamfeit gefdjenft hat.
SoPiet mir befannt, h°t Dr. gteifctjer feinen ^pbromotor, bePor er praftifch
ausgeführt Würbe, ber beutfchen Stbmiratität gratis jur ®iSpofition gefteflt, jeboch
würbe biefeS Verbieten abgeteljnt. SltS bann prattifdje groben angefteflt Waren
unb einen boßftänbigen ©rfolg zeigten, erbot ber ©rfinber fich nochmals, ben oben
angeführten SReactionSbampfer SRiPal ber faiferlidjen SRarine auf feine Äoften mit
einem ^pbromotor zu oerfehen, beffen Seiftungen Porzuführen, unb wenn biefetben
ber Stbmiratität nicht genügen foßten, bie frühere 2Raf<hine wieber einzufefcen unb
baS Schiff im alten 3uftanbe Wieber abzuliefern; jeboch btie6 er auf biefeS ©efuch
ohne Stntwort.
3>ie ©rünbe für biefeS S3erfat)ren finb nicht erfennbar; jebenfaßS hat ber
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Der £)y6romotor.
631
©rftnber ober bomit bett BetoeiS geliefert, baß eS il}m nicht an ^Patriotismus im
toeiteffen Sinne gefehlt ^ot. ®aff er bann fpäter ftch burdj (Entnahme bon lßa=
tenten für (Europa unb Amerifa gegen Ausbeutung feiner genialen ^been burch
Unberechtigte gefiebert hat, fann ihm natürlich niemanb berbenfen.
3)er £>t)bromotor vermehrt in hohem ©rabe bie bisherige Sicherheit ber Schiff*
fahrt gegen Unfälle unb leiftet bamit auch ber Humanität einen groffen $ienft.
®ie groffe (Erfparniff an Anlage* unb Betri ebsf offen im Bergleich mit anbern
SdjiffSmotoren, benen er an Seiftungsfähigleit minbeftenS gleichfommt, bie er aber
in bieten Beziehungen übertrifft, lomnit ^»anbel unb SBanbet zugute. gür bie
Kriegsmarine fchafft er bebeutenbe Bortheile unb ben mit ihm berfehenen Schiffen
militärifcheS Uebergetbicht ben Schraubenfchiffen gegenüber. $urdj feine Antoen*
bung auf Segetfchiffe als Aujiliarfraft, unb auf bie gluff* unb Kanalfdjiffahrt
berffmeht er ber Bollswirthffhaft bon unberechenbarem Stuffen ju fein.
@S ift beShalb nicht ju biel gefagt, tnenn man behauptet, baff bem $t)bro*
motor bie Sufunft gehört, baff feine allgemeine (Einführung nur eine ffrage ber
Seit fein !ann, unb baff biejenige Station, toeMje ihn juerft praltifch bermerthet,
bamit allen anbern einen bebeutenben Borfprung obgetoinnen loirb.
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(üfjnmik irer (öegemtmrt
floütifdjt Heime.
16. März 1882.
SBä^rcnb in ber äußern ^JJolitif zwar nicht bie politiffe Sage, woljl aber bie
politifdje Stimmung burdh ben Srud getrübt Wirb, ben bie panflawiftifchen Sen*
benjen, tterfiinbet burcf) bie warmen £erjen3ergüffe eines enfant terrible ber
ruffifdfjen Sßotitif, auSübeit, befinben fich bie innem 3uftänbe fßreußenS unb Seutfdj’
lanbS wieber in einem SorbereitungSftabium; benn ber Sfwerpunft ber parla«
mentarifdjen SSer^anbtungen liegt nicfjt auf ben ©tatsbebatten beS preußifdjen
SanbtageS, fonbern auf ben Serathungen ber ©ommifjtonen unb beS Solfswirth 5
fchaftSratheS, ben ber SReifSfanzIet jufammenberufen, um über feine micfjtigften
wirthfchuftlif en ^rojecte ein maßgebenbeS Urttjeil ju fällen. SiefeS große Sach=
öerftänbigencollegium, welkes fiel) jWifdften bie Staatsgewalten einfdjiebt, fott einen
entfcheibenben ©influß auf bie öffentliche Meinung auSüben, bie wiberftrebenben
Parteien gefügiger machen, einzelne jur Sefertion bon ber tßarteifaljne beftimmen
unb im borauS burdjgreifenbe Maßregeln ber Regierung rechtfertigen, Wenn fie,
geftüfet auf eine fold»e Slutorität, bon einem DteidjStage mit feinbtid|er Majorität,
bon einem fdjle<ht informirten 9teidE)Stage an einen beffer ju informirenben appel=
tiren fotlte.
SaS ©d) 0 Sfinb ber 2ßirthfcf)aftSpolitif beS 9teid^Stan}ferS, baS XabatfSmono=
pol, ift im SluSfcßuffe beS am 28. gebt, eröffneten SolfSWirtljfdjaftSratheS
nach zweitägiger Seratljung mit 16 gegen 9 Stimmen angenommen worben.
Sie Serljanbtungen im fßtenum faben am 3. unb 4. März ftattgefunben.
©S Würben jaljtreidfic Sebenfen borgebracht, betreffs ber fünftigen greife, ber ©nt*
fdjäbigungen, ber außerhalb beS 3ottbereinS liegenben Sezirfe; bodj erhoben fidf
auch biele Stimmen ju ©uttften beS Monopols; es würbe befonberS gettenb
gemacht, baß eine weitere ©rßößung ber Sabadsfteuer nicht mehr möglich fei. Ser
Söwenantljeil ber Sertheibigung fiel bem UnterftaatSfecretär bon Mayr zu,. ber
in maßboller Steife bie wichtigen Sebenfen ju wiberlegen füllte, für 9tenbe=
rungen im ©inzelnen unb überhaupt für bie SRat|fdjläge beS SolfSwirthff aftSratljeS
eine entgegenfommenbe 9fadjgiebigfeit zeigte.
@S finb inbeß einzelne Streifungen unb aucß 3ufäfje angenommen Worben,
wie z> S., baß bie ©ommunen berechtigt fein fotlen, auch beit Monopolbetrieb beS
Sabacfs zu befteuem. ©egen baS Sabacfsmonopol rüden nicht nur bie Siberalen
ins gelb, bie befonberS in Serlin eine großartige Agitation gegen baffetbe in allen
9?cidjStagSWal|lfreifen am 11. März *>'3 SBerf gefegt ßaben, fonbern auch baS
fiauptblatt beS ©entrumS, bie „©ermania", hegt in Setreff beffelben fittlictje, recht’
liehe unb focialpolitifcße Sebenfen, unb auf ber „SReifsbote", baS Organ ber
äußerften ^Rechten, Ijegt feine Sympathien bafür. ©S zeigt fief) auch fo Wieberum,
baß eS fich um feine grage bon eigentlich politifcher SragWeite hanbeit, inbem bie
berfdjiebenften Parteien gegen baS Monopol unb Wo! auch Anhänger betriebener
Parteien für baffetbe eintreteu. ©ine bemofratifche SRepublif Wie granfreid) hält
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Politifdje Heoue. r
633
baS DabadSmonopol feft, obgleich es eine Ueberlieferung aus ben Seiten beS Slb=
folutiSmuS ift; was bie übrigen europäifdjen Staaten betrifft, fo befteljt baffetbe
in Defterreitj), Italien, Spanien, Stumänien. Der mit $ülfe beS SJtonopolS an»
geftrebte Stoed, bie $erabfe$ung ber birecten Steuern, finbet gewiß allgemeine
Billigung; fo richten fid) bie Vebenfen oorgugsweife gegen bie Vernichtung ber
beftefjenben DabadSinbuftrie unb gegen eine fpätere Verteuerung beS Dabads»
confumS, mä^renb bie Stärfung ber ftaatlidjen Omnipoteng, bie Vermehrung beS
VeamtentljumS unb aHeS, was bamit im Sufammenhange fteijt, ben Anhängern beS
freihänblerifdjen ©rincipS ein ©reuel ift; ja feitenS ber gortfdjrittspartei wirb
befonberS beroorgeljoben, baß $auSfucf|ungen, gerichtliche Vifitationen, ©ontrole ber
Dabadsoerfenbungen, Strafparagraphen jeber Strt in ber SJtonopolgefehgebung
nid>t fehlen.
Vei ber Durchführung einer fo großen wirthfdjaftlichen Steuerung ift offenbar
ber |>auptna<hbru(f auf bie UebergangSbeftimmungeit gu legen. ©S ift ber Shiin
mannet privater ©jiftengen gu befürchten ober minbeftenS wirb ein gewattfamer
Swang auSgeübt, ber fie aus gewohnten Greifen JjerauStreibt. Soll nun bie
4?inüberfül}rung eines alten IfuftanbeS in einen neuen beSßalb als ein unerlaubter
©ingtiff in ©rioatrecßte gebranbmarft Werben? Die fcharffinnigfte Slntwort hierauf
gibt gerbinanb Saffaüe in feinem &auptWerfe: „Das Stjftem ber erworbenen
Sted)te". @r erflärt fich gegen bie Hohlheit Wie tiefe StedjtSwibrigfeit beS finnber»
wirrenben intereffirten ©efcßreieS, welkes bie Verechtigten jebergeit erheben, wenn
ber öffentliche Seift in feiner gortentwidelung bagu gelangt ift, ben gortbeftanb
eines frühem StedjteS t>on jeßt ab auSgufdjließen; ja er fteöt felbft in Slbrebe, baß
bie Verechtigten ein 3tedjt auf ©ntfcfjäbiguitg haben, wenn baS öffentliche Vewußt»
fein ein befteljenbeS Stecht proljibirt, b. h- für ungültig erflärt; bemt hier ©nt»
jdfäbigung oerfangen, baS hieß« termöge ber Staff ber Sogif gar nichts ©eringereS,
als staffelt ober Sfnbibibuen baS Stecht gufprecfjen, bcm öffentlichen ©eifte einen
Dribut für feine gortentwidelung aufgulegen. SJtait wirb eS bem neuen SJtonopol*
entwurf nicht nadjfagen fönnen, baß er beit StabicaliSmuS ber SaffaHe’fcßen Dljeorie
auf bem wirthfdjaftlichen ©ebiete fdjonungSloS gur ©eltung bringen will; im
©egentheil, bie ©ntfdjäbigungen finb berechnet in einet #öl)e, Welche felbft bem
©rtrag beS SJtonopolS, befonberS wenn ber ©onfunt nadjlaffen foHte, Staben
tljun fönnte. ©S finb 213 SJtiH. SJtarf als Veträge für ©ntfdjäbigungen in SluS»
ficßt genommen, barunter 40 SJtiH. SJtarl für gabrif» unb SJtagagingebäube,
59 V« SJtiH. als ©erfonalentfchäbigungen an Dabadfabrifanten, 6,400000 an Stoß»
tabadljänbler, 27 3 / 4 SJtiH. SJtarf für gnbrifbircctoren, Slgenten, SJtäfler, SBerfmeifter,
21 SJtiH. SJtarf für tedjnifdj gebilbete Dabadarbeiter, von benen hüdiftenS 8000
SJtann nicht Verwenbung in ben gabrifen ber SJtonopoloerwaltung finben werben,
an §änbter mit Dabadfabrifaten 33 SJtiH. SJtarf.*)
fluch bie UebergangSbeftimmungen geigen burdjweg eine Stnfniipfung an baS
Vefteßenbe nnb baS Veftreben nach aHmählicher ^inüberfüfjrung aus bem alten
Suftanb in ben neuen; baS ©ebiet beS DabadSbaueS foH mit wenigen StuSnaljmen,
ber Veftanb ber bisher beftehenben gabrifen unb Slrbeiterftämme gang erhalten
bleiben, ja felbft bet |>auSinbuftrie toirb ein gewiffeS Stecßt eingeräumt; bie
©reife f ollen möglichft beim alten bleiben, auch bie frühem Sorten werben gum
Verlauf fommen. ©ine eingeljenbe Sritif über aHe Veftimmungen beS SJtonopol»
gefeßeS wirb erft bei bem Veridjt über bie parlamentarifdjen Verhanblungeit
barübet am ©tape fein.
*) SIBgefehcn von biefen bebeutenben (Sntfchäbigungcn, bon benen inbeß einige, befou*
berS ber Iepte ©offen, in ber ©reffe aß biel gu gertng beanftanbet toorben, rechnet ber
©oranfchlag einen bon 175,445665 SJtarf aus bem DabacfSmonopol heraus, wobei
bie Sinnahme auf 347,730447 SJtarf, bie regelmäßigen SluSgaben auf 172,324775 SJtarf
angegeben werben.
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ltnfere <^eit. •
*
SB« ftd^ inbefj oudj im ©rincip p ©unften bei Xabacflmonopoll «Hört,
Weil bcr iabatf, ein im ©runbe überflüffigel ©enuf mittet, all bol geeignetfte
Object erfcheint, bie ginanjfraft einel ©taatel p erbten, ber muff ftch bod)
jagen, baff bie jefcigc Einführung bei Wonopoll eine aulfidjtllofe ift. Schon
im ©unbelratlje Werben fid) nicht Wenige biffentirenbe Stimmen finben, borunter
biejenigen öon ©aiem, ©achfen, bet ©tobt ©remen, in weiten bie ©egner*
fcfjaft gegen bal Wonopol p einer fanatifc^en Agitation Slnlafj gibt; im iReidjl*
tage fetbft Wirb bal Wonopot nur eine melandjolifdje Winorität »on Stimmen
für fid) hoben, unb foüte ber {Reidjltag aufgelöft w«ben unb Neuwahlen ftatt*
finben, fo würbe fid) ebenfo wenig unter ber Sahne bei Wonopoll eine Wehrljeit
»on ffiählern pfammenfinben. ©ott burch bie fortroährenbe Debatte in aüeit
Sförperf(haften, bem öolfimirtfjfchaftlrathe unb bem {Reidjltage, ber Entwurf bem
©otflbewufjtfein nur näher gebracht werben, bil man ihn all etwal Unoermeib*
lidiel anfiefjt, mit beffen guten ©eiten man fid) aümählidj P befreunben fucht?
$odj foüte biefer ©orpg ben {Radjtt)eil einer parlamentarifcfjen SRieberlagc auf*
Wiegen, bie ©djäbigung burch «ine {Rieberftimmung bei Wonopoll mit grojjer
Wajorität?
SBie wir fehen, hat bal Wonopol für bie politifdjen Parteien all foldje, bie
bodj mit ben wirthfchaftlichen nicht, ober nur jeitweife, wie biel bie neue eng*
lifche ©efdjidjte beweift, pfammenfaflen, feine eutfcheibenbe ©ebeutung; el trägt
nicht ben ©arteiftempel. ®ennodj fällt el nach einer ©eite hi» politifdj inl ©ewidjt,
nach ber ©eite ber nationalen Einheit; el würbe bie centrale Wacht bei SReidjel
»erftärfen. hierin liegt aber auch ber Schlüffe! für eine nicht aul wirthfdjaft*
liehen Greifen herborgefjenbe Opposition. ®ie Elemente, Welche biefer ©tärfung
feinblich finb, werben auch gegen bal Xabacflmonopol gront machen, mögen ihnen
im übrigen bie 3ntereffen ber Sabacflfabrifation unb bie ©reife bei labacfl noch
fo Wenig am §erjen liegen.
®er gute ©laube ber {Regierung an ben ©ieg bei Wonopotl liegt fdjon in
bem Termin aulgefprochen, welchen ber Entwurf feftfejjt. ®ie STnbaubejirfe fotten
fchon im Saufe biefel $alenberjaf)rcl befannt gemacht, bal {Reidjl*®abacfamt mög*
lichftfbalb inl Seben gerufen Werben. Slm 1. San. 1883 foüen aüe ©eftim*
mutigen über ben Xabacflbau, am 1. Suli 1883 bie übrigen in Äraft treten,
©il jum 1. San. 1884 bleibt ber $anbct mit Xabadlfabrifaten geftattet ®iel
attel fdjeint auf eine grühialjrlfeffion bei {Reichltagel hinpbeuten, bodj Wirb,
wie man erfährt, bet Sunbelratlj felbft erft im STpril fid) über bal Wonopol
fchlüffig machen.
®ie ©«athung über bal Unfattoerfidjerunglgefefj unb |>ütflfaffengefeh im
©olflwirthfchaftlrath begann am 6. Würg: eine Stulbehnung bei lefctern auch
auf bie lanbwirthfdjaftlidjen Slrbeiter fowie eine ©erfchmelgung beiber ©erfidje*
rungen werben gunächft in Anregung gebraut.
{Reben bem ©olflwirthfchaftlrath nimmt bie Eommiffion bei Stbgeorbneten»
haufel gur ©«athung ber firdjenpolitifchen ©orlage bal $auptintereffe in
Slnfprudj. ®ie erfte Sefung, bie am 17. gebt, gum 2tbfd)luj} gefommen war, hatte
ein burdjaul negatioel SRefuItat ergeben: bie SRegierungl»orlage Würbe in faft aüen
ihren ©unften berworfen unb nur ein Heiner $heit ber Anträge bei Eentruml an*
genommen. {Rodj in ber lebten ©ifcung fünbigte ber Slbgeorbnete SBinbthorft an,
bie Eentrumlanträge fernerhin all felbftänbige ©efefjelentwürfe im ©Ienum bor*
bringen gu wotten. 3tt)ifcf(en ber erften unb gweiten Sefung trat eine längere
©aufe in ben Eommiffionlfifcungen ein: man muffte fürchten, baff eine halb
beginnenbe gweite Sefung ebenfo refultatlol »erlaufen würbe, unb hoffte burch
©erhanbtungen fich »on »ornljerein wenigftenl irgenbein SRefuItat gu fidjern. ®ie
Eonferoatioen treten bielmat all bie ©artei auf, welche bie ©efchäfte ber {Regie*
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Politik 2?emie.
635
rung ma<ßt; Bei bem Zentrum aber fHegett jte auf prutctpicttett SBiberftanb »egen
bet biScretionären ©oltmacßten, Bei bett SRationattiberaten unb aucß bei bert Srei*
Conferbatiben bitbete bet SifcßofSpatagrapß bett Stein beS ÄnftoßeS. 8tm 6. SJtärj
begann bie pjeite ßefung, unb biefe eröffnete fid^ infofern mit giinftigern 2luS*
fisten, als bureß Bereinigung bet ©onferbatiben unb bet Sttationattiberalen bet
8 trt. 4 bet SRegierungSbortage über bie ©infprucßSgrüube mit 12 Stimmen ange*
nommen tourbc. ©ei bem ©ifdßofsparagrapßen mußte aber biefe ©inßeit »ieber
in bie ©rüdje geßen; ja bei einer 2tnnaßme beffetben ba§ ganje ®efeß für bie
Utationatliberaten unannehmbar toerben. So ergab bie Scßtußabftimmung am
8 . SWärj eine Slbteßnung beffetben gegen bie Stimmen bet ©onferbatiben; auch
bas ©entrurn ftimmte bagegett. ©ine ©efolution bet SortfeßrittSpartei tooHte
bezüglich bet Sfnjeigepfticßt unb beS ©infprueßSreeßteS bie bisherigen ©eftint*
mungen unberänbert erhalten toiffen, aber mit bet SWaßgabe, baß bie rechtliche
©ebeutung ber Stnpige auf bie befonbem ftaattichen ©ejiehungen ber (Seift*
ließen befeßränft »erbe. Stuf ©runb biefer ©efolution hat ber Stbgeorbnete ©tuet
einen Eintrag formutirt, »eteßer ben lenbenjen beS SortfcßrittS unb beS ©entruntS
p »ermitteln fueßt.
3eßt »ar bie 3«t gefommen, »o ber ?tbgeorbnete SBinbtßorft einen neuen
Sturmlauf bureß bie angefünbigten, im ©Ienum eingebraeßten ©efeßeSborfcßtäge
beginnen tonnte: pei finb in StuSficßt geftettt, ber eine über bie Straftofigfeit
beS SüReffetefenS unb SaframentefpenbenS, bet anbere übet bie Slufßebung beS
SperrgefeßeS. Sei ber ©eratßung über ben ©tat beS ©uttuSminifteriumS bet*
fueßte Slbgeorbneter SBinbtßorft ben geifttießen ©ericßtSßof gteießfam bureß 2lbfeßung
bom ©tat p befeitigen: ein gegen bie ©runbbeftintmungen ber ©erfaffung ber*
ftoßenbeS ©orgeßen, ba es fieß um eine gefeßtieß eingefüßrte ©etjörbe ßanbett.
•Matfirticß btieb es ein Scßtag ins SBaffer.
Ueber bie ©erßanblnngcn pnfeßen bem §errn bon Scßtoepr unb bem ©ar*
binal Sacobini in 9tom tauten bie ©erießte burdjauS nießt günftig. ®ie Seftre*
Bungen beS SlteießSfanjterS, über ben Häuptern beS ©entrumS ßintoeg mit ber
©urie Rieben p feßtießen, feßeinen nießt baS gemünfeßte 3iet p erreichen: baS
größere ©ntgegenfommen tag »ot nur an ber Sorm, inbem bie ©urie bie ©e*
feßmeibigfeit ber ®iplomatie an ben lag legte, toüßrenb baS ©entrum bon ben
©orreeßten partamentarifeßer Dffenßerjigfeit unb StüefficßtStofigteit einen ausgiebigen
©ebraueß maeßt. ®aS SBort: „Divide et impera", läßt fieß ßier, »o bie intimfte
©emeinfamfeit alter Sfntereffen ßerrfeßt, nießt mit ©rfotg in 5tn»enbnng bringen.
®ie häufigen Sißungen ber betriebenen ©ommiffionen maeßten eine ©efdßränfung
unb ?lb!ürpng ber ©Ienarfißungen beS SlbgeorbnetenßaufeS nötßig. Diefe
befcßäftigten fieß alte mit ber ©tatberatßung, »eteße befannttieß mit ben berfeßie*
benften, mit ben einzelnen ©often oft nur im toeferften 3ufammenßang fteßenben
©jeurfen ber Slbgeorbneten, mit frommen SSiinfcßen, Etagen unb ©efeßmerben unb
erbitterter ©otemif gtoffirt p »erben pftegt. j)iefe ©toffen füßren oft p heftigen
Debatten unb taffen bie principietten ©egenfäße ßeftig aufeinanberplaßen. ffion
ben flores unb amoenitates, mit benen bie ©tatSberatßung auSgefeßmüdt »irb,
ermähnen »it bie ©erßanbtungen über bie Domänen am 14. Sehr., in benen
ßerborgeßoben »urbe, baß biefetben ober toenigftenS ein $ßeit bon ißnen nießt im
ermünfißten SJtaße profpertren, »obei aueß bie Scßäbticßfeit ber neuen 3ott* unb
SBirtßfcßaftSpotitif bon ben freißänbterifdßen ©arteien ßerborgeßoben »urbe. SDer
SSinifter SuciuS antwortete maßbolt unb fachgemäß. $er UngtüdSfaff in ©ab
©orberneß gab ßier ebenfo »ie in fpätem Sißungen ber ©organg an ber berliner
Sfnbaltbenfäule, ber Satt Senntngfen*Sörber unb anbere p Snterpettationen Stntaß;
ber ©au beS neuen StbgeörbnetenßaufeS »urbe am 2. SDtärj in ©orfdßtag gebracht;
ber ©otßftanb in einigen 5)iftricten beS oppetner Greifes erörtert. 3n ber Sißung
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Unfere £ext.
bont 22. gebt. machte bie ortfdE»ritt«partei einen born Eentrum unterftüfcten
Angriff auf ben Eifenbabnminifter 2Rat)bach. Xie Slbgeorbneten dichter »Vüdjte*
mann Batten eine SRefolution beantragt: bie Ermattung auSjufpredjen, baß bie
Eifenbahnbehörben bei 3uwenbung bon Snferaten für 3eitungen nur bie 3>oed»
mäßigleit ber Verbreitung, unb nicht bie politifche Varteirichtung ber 3citungen
in Vetracht jiehen, auch nicht ben ValjnbofSreftaurationen baS Stuflegen beftimmter
3 eitungen unterfagen unb bann, baß bie Eifenbahnbehörben ihren untergebenen
Veamten nicht baS VetitionSrecfjt berffinttnem. Xie Debatte barüber War eine
lebhafte. Xie SRationalliberalen, in beren Stauten Seonharb fprad), lehnten an»
fang« ben Slntrag ab. 2©S inbeß auch ©adjem unb SRajunfe im ÜRamen beS
(Zentrums auf bie Xhatfadje hintbiefen, bafj bie Stilllegung bon SentrumSblättem
in ben rheinifchen ValjnhofSreftaurationen berboten fei, unb ben SBiberfpruch h er '
borhoben, ber jwifchen ber abiehnenben Siebe beS #errn Seonharb unb ber frühem
Stbftimmung ber fRationalliberalen, toelche ben bon $erm bon Vemtigfen befür»
morteten SRidert’fdjeu SIntrag, ber faft gteidjtautenb fei mit bem erften Xheil beS
jefjigen, einftimmig angenommen hätten, als auch SBinbthorft für biefen erften
X§eil 5« ftimmen erltärte: ba hielt eS SRidjter für prattifclj, ben Slntrag $u feilen,
unb in ber Xljat tourbe ber erfte Xheil mit 185 gegen 135 Stimmen angenom»
men, ber jweite aber abgelchnt. SRinifter 9Rat)bach hatte inbeß ©rflärungen ab»
gegeben, welche ben erften Xheil überhaupt fdjon im günftigen Sinne beantworteten;
in Vejug auf ben jweitett aber betonte er bie unerläßliche XiSciptin beS XienfteS,
bie er im Eifenbahnwefen aufrecht erhalten Werbe.
Sluch bie Subenfrage tauchte, unb §War als ber ©tat beS SRinifteriumS
beS Snnera berathen Würbe, am 25. gebr., wieber im Slbgeorbnetenhaufe auf,
in einer längern Xebatte, ju welcher ber Stbgeorbnete Stöder, in Entgegnung
auf frühere Singriffe SRidjter’S, baS Signal gab. Stöcfer fanb biesmal in einer
Wohl öorbereiteten Siebe beffer baS bejeidjnenbe SEBort für feine Slnfthauungen, als
bieS in jenen improüifirten Debatten ber galt war, in benen er burdj bie Sin»
griffe ber ®egner in boUftänbige haltlofe Verwirrung gerathen war. Er berief
fidj mehrfach barauf, baß in Vertin burch bie befonnene gührung ber StuSbruch
einer tumultuarifchen Subenhehe oerhütet worben fei. „SBaS an ®ewattthätig»
leiten oorgetommen ift, hat biel mehr auf feiten beS SubenthumS begonnen als auf
uuferer Seite. UnS ift bie Vewegung lein leichtes Spiel gewefen, fonbern ein
ernfter Stampf, bei bem eS fidj um bie beften unb häuften ®üter unferS Volles
hanbelte. Sch glaube nicht, baß ber SRontent eintreten lann, wo biefer Stampf
aufhört; eS fei benn, baß ber Xheil beS mobernen SubentljumS, ben wir be»
lämpfen, feine ©ofition aufgegeben unb feine Stnmaßungen bertoren hat. SllS wir
bor jWei Saht*** biefe Vewegung begannen, ba War eS bieten SRänttent fo ju
3Rut|e: «Sn biefer SSBeife lann es nicht weiter gehen, entweber fie ober wir.»
Unb wenn bie SReichöhauptftabt, bie feit 1870 eine fo große, bomehme unb ftolje
Stellung in ber SBett gewonnen hat, nicht berjuben fott, fo War eS notljwenbig,
biefem jübifdjen Einflnffe ein $alt jujurufen." SBieberum bellagte fich Stöder
über baS gefährliche Ueberwuchern beS SnbenthumS in unferm beutfchen Sehen,
über fein Einbringen in unfere hohem VilbungSberhältniffe, fobaß eS fdjwer fein
werbe, nnfet Schulteben auf ber £öfje chriftlich=nationaler Eultur ju erhalten;
über baS ^itteinbrängen beS SnbenthumS in bie Snftij, unb ber gortfdjrittSpartei
rief er ju: „Sie wollen alles unter SB* ©ecirmeffer nehmen, WaS im Fimmel
unb auf Erben ift, nur bie lieben Suben follen unangefochten bleiben." Xann
fpraih Stöder wieber bon bem jübifchen SBudjer; in ben SÜuf: „Sauft bei leinem
Suben!" wollte er nicht einftimmen. Snt ganzen fagte Stöder Wenig ÜReueS, unb
wenn Vircfjow ihm ®ebanlenarmuth jum Vorwurf machte, fo glänjten aud) bie
®egner gerabe nic^t burch einen Steidjthum an neuen Sbeen. 3* 1 berber ffieifc
führte Stroffer bie Votewil Stöder’S gegen baS Subenthum fort, unb Sremer
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Politifdje Heoue.
63?
beseitigte fich taufet am Kampfe gegen bie „gortfehrittsburg". Stifter erftärte fiS
gegen bie antifemitifdjen ©ranbrebeti unb gegen bie getrennten ©deuten, welche
©tröffet oerlangt hatte.
®er üRinifter bon ißuttfamer berief fich auf bie frühere ©rflärung bes SSice-
präfibenten beS ©taatSminifteriumS, ©rafen bon ©totberg, bafe bie befteljenbe
©efefcgebung bie @teidjbere<t)tigung ber religiöfen ©efenntniffe in ftaatsbürgerticher
©ejiehung auSfpricht, unb bafe baS ©taatSminifterium nicht beabfidjtigt, eine 8len=
berung barin eintreten ju taffen; auch erftärte er in ©ejug auf bie Xumutte, bafe
bie fRegierung ftets ben Sanbfrieben aufrecht ermatten werbe, ©egenüber biefer
©rttärung hat bie antifemitifche Sewegung ferneren ©tanb: benn wie fotten bie
©chuten, bie Suftij bon bem einbringenben 3ubentljum gefonbert werben, wenn
ber ©taat nicht bie $anb baju bietet? 3» antijiibifchen ©efefcoorfchtägen hat
aber bie Partei ©töcfer’d noch nicht bie Snitiatioe ergriffen; baS SBucfjergefej} unb
bie ©örfengefejje, auch biejenigen, Welche, um bie SluSfchreitungen ber 93örfe ju
hinbern, in StuSficht genommen ftnb, unb welche Stbgeorbneter ©töcfer bereits freu»
big begrüßte, finb hoch nicht auSfcfjtiefetich gegen baS gubenthum gerichtet. $ie
gan^e Debatte Wat wieber ein SRebeturnier mit fchartigen SBaffen, bie in ähnlichen
Kämpfen abgenufct waren.
©ine Slrt t>on ffiompetenjconftict jwifchen ben beiben Käufern beS SanbtageS
fam in ben SSerhanbtungen beS StbgeorbnetenhaufeS bom 22. gebr. jum StuStrag.
@S würbe über bie grage bebattirt, ob bie ©efefcentwürfe betreffenb bie gürforge
für bie SSitwen unb SBaifen ber unmittelbaren (Staatsbeamten unb bie Slenbetung
beS ißenfionSgefefceS „ginanjgefefce", unb beSfjalb juerft bem Slbgeorbnetentjaufe
nach ber ©erfaffung oorjutegen feien. ®ie ^Regierung hatte fie juerft bem Herren»
häufe üorgetegt, weit, Wie ginanjminifter SSitter erftärte, ber §auptjwecf ber ©e»
fefee fei, bie ©eamten oon materiellen Sorgen ju enttaften: eine ©rftärung, welche
Suftijminifter griebberg bahin ergänzte, bah bie ^Regierung bie fRed^te biefeS
Kaufes nicht fränfen, fonbern nur bem anbem |>aufe, welches monatelang
befdjäftigungStoS ift, -äRateriat jur ©erathung habe geben Wollen. Sluifj ©irefeow,
welcher für baS ißribitegium bes SlbgeorbnetentjaufeS eintrat, erfannte bie Sopalität
ber ^Regierung an. ©ein Eintrag unb bie beiben ©efefcoorlagen würben einet
©ommiffion oon 21 SRitgtiebem iiberwiefen. ®ie Debatte oertief in mafeooHem,
burch feine parlamentarifchen $eifefporn8 geftörten Xempo.
©ine ebenfalls fe^r fachliche Debatte fanb am 1. SRärj über ben Eintrag beS
Stbgeorbneten Suebel ftatt, eine Unterfudjung über ben 3uftanb beS Steinbauern»
ftanbeS in ber SRheinprooinj anjuftelten. 35ie Slbgeorbneten #uene unb ©enoffen
(teilten ben altgemeinern Stntrag, bie Sage ber ©runbbep&er in ben einzelnen
^ßrooinjen beS preufeifefeen Staates befonberS in Sejug auf ©erfchutbung, ©teuer»
betaftung, 3ulängtichfeit ber ©rebiteinrichtungen unb wirthfctjaftliche ©efahren ber
Xheitung ju unterfu^en. Der -äRinifter SuciuS bewies fich feljr entgegenfommenb
gegen beibe Anträge; boeh erftärte er fich ebenfo wie einige Stbgeorbnete, Sanfen,
oon SRinnigerobe, für SluSbehnung ber Unterfuchung auf möglichft Weite Steife;
bie Anträge Würben an eine ©ommiffion üerwiefen.
2Ritten in bie griebenSära, beren fid) gegenwärtig ©uropa erfreut, abgefehen
oon ben Unruhen in ber #erjegowina, flatterten einige ©turmoöget: bie orato»
torifchen ©rgüffe beS ©enerats ©f obelew, welche baS ganje ©attjoS beS iß an»
ftawiSmnS athmeten. ®er öefieger ber Xefe»Xurfmenen, ber biefeS ©olf grau»
fam jufammenfartätfehen tiefe, hat mit einem anbem tapfern Xegen, ber ftets für
bie ©ache ber Humanität unb einer oft falfch üerftanbenen greiheit fodjt, mit ©ari»
batbi, bodfj eine Steljnlichfeit: bie ©ortiebe für oratorifche ©rgüffe. SReben ben grofeen
fchweigfamen getbherren, ben ©tücher, SBeltington unb SRottfe, hat es ftets auch
©enerate gegeben, welche ihrem $erjen mit rebnerifcher Ueberfchwengtichfeit Suft
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638
Unfere Seit.
ju matten liebten unb baS SBort nic^t in bie biplomatifdje Scheibe ftecften, fon«
betn mit feinet btanten Älinge t)in= unb herfudjtelten. SltS ©fobelew feine erfte
Siebe am 12. San. in ©eterSburg bei einem ©lafe SBaffer hielt, was er au$=
brücflich ^erüort)o6, bamit man ben begeiflerten ©chwung betfelben nicht auf
©echnung einet anbetn alsJ feinet propt>etifc^en Drunfenheit fefcen fotlte, ba wunberte
man ficfj bereite barilbet, baß ein ©eneralabjutant beS ÄaiferS fo auf eigene Sauft
bie ftriegSerflärungen bet Sufunft anticipirte. Diefe ©erwunberung flieg, als ©fo*
betete in ©ariS ben ferbifdjen Stubenten, bie $n begrüßten, in improoifirten Herzens*
ergfiffen feine Slnfdjauungen bet politiftpen Sage ©uropaS mittpeilte, unb als et fpäter
in SBarfchau, auf ber befohlenen Heimreife, Slnlafj nahm, feinen polenfreunbtichen unb
beutfdpfeinbticpen ©efinnungcn abermals in öffentlichen Socalen Sluabrucf ju geben.
Die einen behaupten, ©fobelero fei gar nicht emft p nehmen; et fei baS enfant
terrible beS ©anflawiSmuS, unb mit teelcher Dffenhetjigleit et auch bie .gufunftS*
plane beffetben auSplaubete; für bie ©egenteatt hätten fie feine ©ebeutung. Die
anbetn, teelche bie Erregtheit bet ©emttther in Deutfdjlanb unb Defterreich ju
beruhigen fuchen, weifen batauf hin, baff bet ©enetal bereits oom S'aifet jurücf»
berufen Worben ift, unb bah auch ber beutfcfjfreunbtiche SRinifter non ©ietS bie
©ranbteben beS ©eneratS oerleugnet, freilich ift berfelbe nicht pr DiSpofition
gefteHt ober gar nach «Sibirien tranSportirt Worben, wohin ihn bereits einige beutfche
Leitungen tjerfcpicften, fonbern ber Äaifet pat ihm nur in einem ©tibatgefpräclj
feine Unjufriebenheit mit ben rebnerifdjen ©jtraoaganjen auSgefprodjen.
©ientanb würbe fiep in Unruhe oerfefcen taffen bur<h ©eben, welche üietteiept
fpurloS oerhallt wären ohne baS Ecpo ber ganzen europaifepen ©reffe, wenn nicht
bie Ueberjeugung allgemein oerbreitet wäre: ber ©anflawiSmuS ift eine europäifche
©efahr. Der 3taffenpap, ben ©fobelew prebigt, ift ein mächtiger gactor für bie
©efdhichte ber Bufunft. Unb felbft biefer ©enetal, eine ber populärften ©erfön*
lichfeiten ©ufjlanbS, ber in ber nächften ©älje beS ÄaiferS ficfj bewegt, unb ben
man Wot nicht mit Unrecht als einen gefeierten ©ationalhelben bezeichnen fann.
Wirft immerhin auch burcf) feine uncontrolirteften ^erjenSergüffe ein bebeutenbeS
©ewidjt in bie 2Bagfcf)ale ber ruffifchen ShriegSpolitif, beten Herb ja nicht immer
bei ber fouüeränen «Staatsgewalt ober im ©djoS ber ©egierung ju fuchen War.
Hierzu fommt, bah ©fobelew für einen ©ünftling beS allmächtigen SRinifterS
Sgnatiew gilt, unb ein unüerbürgteS ©erficht fogar behauptet, bah ihm biefer baS
Soncept feiner ©eben burchcorrigirt habe. Die Befürchtung, bah fogleidj ber
be«tfcp=ruffif<he Stieg in «Sicht ftehe, ift trofcbem eine ganz unbegrünbete; hoch mit
einer Deutlichfeit unb ©eftimmtheit, bie nichts p wünfehen übrigläfjt, hat ©fobelew
ben Deutfchen als ben geinb ©uhlanbs bezeichnet unb bamit erflärt, bah bie
orientalifche grage nicht bloS an ber Donau unb im Salfangebitge, fonbern auch
am ©ienten, an ber S55eicpfel unb in ben Karpaten gelöft werben müffe; er hat
bamit offenbar baS lefjte SBort ber ruffifchen ©olitif auSgefprochen, z u bem fich
bie Diplomatie freilich! erft im entfeheibenben Slugenblicf oerftehen wirb. Da|
©fobelew biefe ©ebe an bie ferbifepen ©tammeSbrüber im ©ariS grepcinet’S unb
niept im ©ariS ©ambetta’S gehalten hat, war jebenfalls ein SlnachtoniSmuS. Die
franjöftfch^ruffifcpe SWianz ift im Slugenblicf in ©ariS nicht populär, unb felbft bie
gambettiftifdjen ©lätter beeifern fich, ih ren H crrn unb SReifter nicht mit in ben
©ünbenfaß beS ruffifchen SlgitatorS z u oerftriefen. Xljatfache bleibt immerhin, bah
ber Deutfchenhah unb bie (pauoiniftifepe «Stimmung, bie bisher meiftenS nur in
ber ruffifchen ©reffe ihren SluSbrucf fanb, jefct, unb noch bazu in ber heraus»
forbernbften gorrn, bur<h einen ruffifchen commanbirenben ©enetal unb ©enerat*
abjutanten beS ®aiferS ber SBelt funbgegeben würbe.
Der erfte Petersburger ©djmerzenSfchrei ©fobetew’S galt ben flawifchen ©rübem
in ber Herzegowina, welche gegen bie öfterreieptfehe ©egierung im Slufftanb fich
befanben; neuerbingS ift biefe Snfurrection wenigstens in ber ictriteofeptfepje jept
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Politifdje Heoue.
639
baniebergeworfen. «Sie Begann mit ber Weigerung non 23 aufgehobenen {Refruten,
ber SBehrpflicht gu gehorchen: ein Vorgang, ber in Sübbalmatien fi<h bereits öfter
toieberhott hatte, baran fdjloß fid) ber Aufftanb in ber ifjergegowina. Sa ber
ruffifche {Rubel fuhtbar würbe, bie ferbifd^e Dmtabina fi<h regte, greifchärter unb
©ropaganbiften fich bei ben meift flamifdjen gnfurgenten einfanben, fo war gn
befürchten, baß bie ©ewegung eine größere Ausbreitung gewinnen fönne, um fo
mehr, ats bie anfänglichen mUitärifdjen ÜRaßnahnten nicht gu ben erwünfdjten @r=
folgen führten, So befdjloß Oefterreich mit großer SJtachtentfaltung, mit ntili*
tärifdhem ^ochbrucf gegen bie Aufftänbifdjeu oorgugehen, unb machte 40 ©ataißone
mobil. Sie Ignfurgenten mürben in mehrern ©efechten in bie gludjt gefchlagen.
Am längften hielten fie fich bei gobfcha unb machten nach ©acgco Dffenfioftöße;
auch im Srinathat unb in ber Stäbe beS SugapaffeS mürbe gelämpft. Sie ge*
fchlagenen Snfurgenten gogen fich in baS montenegrinifche ©ebiet gurücf. ©egen
bie Sopalität beS gürfteu oon SJtontenegro bürfen beSljalb leine Auflagen erhoben
werben; aber es ift unmöglich, einen SRilitärcorbon in biefen gerflüfteten ©ebirgen
fo aufguftellen, baß er aße ©inbringtinge gurücfroeift; bie gefammte öfterreichifche
SRacht mürbe bagu nicht auSreichen. SBährenb in ber öftlidjen $ergegomina ber
Aufftanb burch Dffenfioftöße aus ben montenegrinifchen ©renggebirgen noch immer
mach gehalten Wirb, ift er in ber Krimofdhtfchie burch baS energifche ©orgehen beS
gelbmarfchatlieutenants 3omanowitf<h jcfet als befiegt gu betrachten. Sie prooi*
forifche {Regierung, welche unter bem montenegrinifchen SBojrooben Safar Sotfdjifca
fleht unb ben gnfurgentenabtheilungen montenegrinifche ©ataißonSfahnen mit ber
alten SufchenSfrone auStheilt, wirb hin taum noch weitern SBiberftanb leiften
fönnen. Sie große Dffenfiobemegung bet 47. Sioifion begann am 9. SRärg; es
mürbe tro{j ber Serrainfchmierigfeiten, ber befdjneiten faft unmegfamen ©äffe ein
©often ber 3nfurgenten nach bem anbent genommen. Am 10. SJtärg fiel baS
friegSberühmte gort Sragelh in bie $änbe ber Oefterreicher unb mürbe in bie
Suft gefprengt. ©rnftlicher SBiberftanb fcheint hier von ben 3nfurgenten nicht
mehr geleiftet gu werben.
Sie Unterftüfcung, bie fie oon Serbien erhofften, blieb aus; bie ferbifche iRe*
gierung geigte fich bürdjauS freunblich gefinnt gegen Oefterreich. gürft SJtilan
foßte halb auch bie ©elohnung bafür empfangen. Sie S!uptf<hina erwählte ihn
om 7. SJtärg gum König unb bie {Regierungen in SEBien unb ©erlitt beeilten fid£),
mit ber Anerfennung ber neuen Königswürbe ber ruffifchen guoorgufommen. Stach*
bem {Rumänien ein Königreich geworben, woßte Serbien nicht gurücfbleiben. Defter*
reich unb Seutfcßlanb haben ein feljr lebhaftes Igntereffe, bie Sonauftaaten mehr
in ihre weftliche SRachtfphäre hittübergugiehen unb ein ruffifcßeS ©afaßentljum, baS
an Steßc beS türtifchen treten fönnte, unmöglich gu machen. Ser eingige ruffifche
©afaflenftaat an ber Sonau ift jefct noch ©ulgarien, welches ben 38eg nach &on*
ftantinopel offen halten foß. gürft SJtilan, ber bie Stimmung ber Kaifethöfe in
Sien unb ©erlin üor feiner {Rangerhöhung fennen gu lernen fucßte, unb mit ihm
baS ofpciefle Serbien graoitiren jefct gunächft nach ben weftli^en {RegierungSfifcen.
Soch iß in Serbien auch eine Oefterreich feinbliche ©artei unb eine mächtige
panftamiftifdje Unterftrömung, welche, wenn ber oon Sfobelew angefünbigte {Raffen*
frieg einmal entbrennen foßte, ©ewalt genug befäße, felbft einen wiberftrebenben
Sfwon mit fortgufpülen. Sodj bie Siplomatie hat ein Stecht, nur bie äugen*
blicflidje Sage gu berücffidjtigen, nur mit ben jefct maßgebenben gactoren gu rechnen
— unb ba ift Serbien gunächft in eine in Segug auf {Rußlanb centrifugale {Richtung
geraten; boch Wirb baS je^ige ÜDtinifterium wol auch bie clades cannensis feiner
ginangpolitil überleben, ben immenfen ©erluft, ben Serbien bei bem 3«fammen*
btnch ber Union generale erlitten hat.
Sie ©orgänge in ©aligien, ber $od)OerrathSproceß gegen bie Oerhafteten
{Ruthenen, beneit man ruffifche Igntriguen fchulb gibt, würben für bie Uebergriffe
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6^0
Unfere &tW.
be« ruffifcpen Stawentpum« fprecpen, wenn pdp bie Slnltage beweifen ließe. Die
SRutpenen galten bisher für einen topalen SßoIf«ftamm, für totaler at« bie oft
gegen bie Regierung in SBien pcp auflepnenben ©ölen: pier tritt nun eine nicpt
unwichtige Nuance in ber panflatoiftifc^en (frage peroor, bie religiöfe. Die SRutpenen
finb jum Dpeil grie<^tfc^=fat^«tifd& unb graoitiren baper nach fRuptanb; Defterreieh
ift bet römifdp=Iatpolifche Slawenftaat. Diefe Strömungen, bie pier ober bort au«*
einanbergeben, oermifcpen fiep aber auch wieber, mie bie moölowitiphen Denbenjen
ber fanatifcben römifcp*latpolifcben Slawen ©öprnen« beweifen.
Die oon ben öperreidpif<ben Delegationen bewilligten 8 SRitl. gl. [feinen
erfc^öpft ju fein: pe Waren auch nur für bie SRieberWerfung be« Slufftanbe« im
Saufe Oon brei SRonaten beftimmt. (Sine SBiebereinberufung ber Delegationen
ftebt in Stu«pd}t, ba eine neue Erebitoorlage nötbig geworben. 3n ber $erje*
gowina felbft ift ber Slufftanb noch nicht bepegt; oor allem aber gilt e«, tiele
ber eroberten ©Optionen ju befeftigen.
Die ©ubgetbebatte im öfterreichifdpen Stbgeorbnetenpaufe ^at am 13. gebt, be¬
gonnen unb ift mit groper #eftigfeit wochenlang fortgefüprt worben. Dajfetbe gilt
oon ben Debatten im ungarifcpen Slbgeorbnetenpaufe. Da« ©ubget, ba« im ©runbe
nur ben Slnfnüpfungöpunlt für bie Slnflagen ber ©arteten gegen bie Regierung
unb ben Staat gibt, ift inbep in beiben Käufern bewilligt worben. Die erbittertften
©orwürfe trafen in ©eft bie Slnbräffp'fdpe 0ccupation«politil unb ihre für bie
ghtanjen be« Staate« fepr emppnblicben gotgen, wäprenb pe pcb in SBien gegen
bie antibeutfcbe ©olitil be« Eabinet« Daafte richteten. Eine ©lumenlefe am«
biefen parlamentarifcben Debatten Würbe ergeben. Wie grop ber gegenwärtig burcp
Defterreicp gepenbe 3tt»iefpalt ber politifcpen Ueberjeugungen ift. Die ©arteien
gönnen pdp gegenfeitig nicpt einmal ©epör: bie SRecpte oerläßt oft ben Saal,
Wenn bie SJebner ber Sinfen fprecpen. Sluper bem ©ubget ift ber Regierung
auch im öfterreidpifdpen Herren» unb Slbgeorbnetenbaufe ein wichtige« Soögefep,
ba« Spcrrgefep, jugeftanben worben, welche« burch pope Sollfäpe interimiftifch bie
Sinfupr fern hält, bi« jur Einführung be« 3olltarif«: bie Dppofition griff biefe
Vorlage tebpaft an; bennocp würbe pe angenommen.
3« granfreicp ift eine Slrt oon StiHftanb in ber äupem unb innem ©otitif
eingetreten; bie Ereigniffe in Sfegppten WiH man abwarten, befonber« ob e« bem
fpanptöertretcr ber Stationalpartei Slrabi=©ei gelingen wirb, bie ©räpbentfcpaft im
(labinet ju erlangen. SBa« Duni« betrifft, fo conferirten bie SRinifter mit bem
©eneralconfut Stouftan über eine Drganifation be« occupirten Sanbe«, bie aucp
Ettglanb unb gtalien einen gewipen Einflup pcpern fotl, um bie Eiferfucpt biefer
SRäcpte ju entwaffnen.
3n ber Deputirtenfammer fanben Debatten über bie Slufpebung be« Eoncor*
bat« ftatt. gm übrigen ift mit bem ÜRinifterium ©ambetta ber Eifer für 3te=
formen eingefcptafen. SRacpbem bie „SRcoifion" junädpft befeitigt, pat aucp ba«
ben Eommiffionen überwiefene 3uftijreformgefep wenig 2tu«fidpt auf Slnnapme
unb aucp bie SRnnicipalreform ift in« Stocfen geratpen; ja gegen ben ©efepent»
wurf ber ^Regierung, bemjufotge bie ÜRaire« ber ftauptftäbte ber Departement«,
©ejirfe unb Eantone burcp bie ©emeinberätpe erwäpit werben fallen, wenben
fiep jept bie ©ambettiften nnb bie rabicate Sinle, weit fie bie Selbftänbigleit
biefer üRaire« fürdpten, wäpreitb bie oon ber ^Regierung eingefepten mepr ober
weniger ©arteiorgane waren.
SSerantwortticper fflebacteur: Dr. SRnbolf oon ©ottfcpaH in Seipjig.
3)cud unb SBerlag bon g. Ä. sörotfpau« in fieipjig.
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3Dnr Jütnotfiruß*
@ in ©dfattenfpiel
oon
M0iUjelm Sen fett.
(3ortfe&mtg.)
III.
9hm lag bet Utmenfrug im 2JtorgenfonnenItcf)t, unb bet ©Ratten beS grauen
ißferbetopfeS fiel toeftroärtS weit aufs gelb t)inau§. Sie bertoittoete grau ©ou«
rectorin ©rabom war am Slbenb jubot eingetroffen, ein Seiteraagen, mit Saften,
Saben unb ©djachtetn bepacft, hinter ihr. @ie ftanb nicht in erfter Igugenb metjr;
bocf) bie fteifen, meiggepuberten, mit armeSbider 2Soße unterlegten Sodenrotten,
bie ficft bis auf bie Schultern niebertroUten, liegen fie älter als in SBirKidjfeit
auSfefjen. Stuf bem Scheitet batancirte ein tetlcrflauer $ut bon augerorbent*
ticgem Umfang unb trug ein ganjeS ©artenbeet fünftlidjer, bunter 33tumen in
feiner ©inmulbung, bon fotc^er 4 ?ötje, bag it)r ©efirfjt faft auS ber ÜJiitte ihrer
förpetlidjen ©rfdjeinung tjeroorbtidte. 3 ftr Softüm bot bie möglicgfte 9Ie{jnlicf)feit
mit einem gch runbum weit auffträubeuben ißuterhaljn; bon ber Saitle bei SRüdenS
hob fid) ber gefteifte, mit Saunenligen auSgepotfterte SReifrod, einem auSgefprei=
teten SRabfdjroeif gleich, gocgaufgemötbt um boppette ©djuhtänge bom Sövper ab.
©ie mar eine elegante Same nach ber neueften Iradjt unb lam mit bem
gädjer in bet Sinfen unb bem bequafteten, gtattpotirten ©pajierftod in ber 9ted)ten
jum Utmenfrug geroanbett. Ser fatbetumgürtete SRodfaum lieg eine ©panne über
ben gugfnöcfjetn bie burchbrodjenen Strümpfe fieflrofenfarbig auffdjimmern, unb
fcgmate, buntbefdjleifte ©dgu^e mit Ijoljen ©tödetn fotogen ficg baran.
3e|t aber fcgtief fie noch,. benn eS mar nicht ftanbeSgemäg, fid) bon bem ©e-
fang ber 23öget jum Slufftegen beroegen ju tagen; ganj befonberS auf bem Sanbe
unb feinen Seroofjncrn gegenüber gemeinte eS, bie feinem SBräudje ftabtifdjer
SBitbung unb f)öf)erer gefettfdjaftticher Sßiirbe genau 31 t beobachten. Sßor altem
gehörte ber StadjroeiS ba 3 u, bag man nicht bon ber Statur abhänge, fonbern mit
geiftiger ^errfegaft unb ©etbftbeftimmung hoch über berfetben ftehe. 23er fich
niebriger törperticher Stnftrengung 3 um ©rroerb feines SebenSunterhatteS fgngcben
mugte, mochte bafür als jmedbientich bie SDtorgenftunben benujjen. Soch er ftetlte
Untere Seit. 1882. I. 41
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6\2
Urtiere <5eit.
fich eben bamit ein 3eugniß feiner 3u0ehötigfeit $ur untern Stufe beS „©olfeS"
auS; ber gute Ion ber ©eifteSbifbung erheifdjte, jebe Uebereinftimmung mit ber
SebenSführung beffelben nach Kräften ju Bermciben. GS entfprad) ber Ueberlegcn-
heit unb Schidlichfcit einer t)öfjer gearteten Pfaffe beS 9KenfehenthumS, auch toenn
man nicht mehr ju ftfrlafen Bermochte, fange im ©ett liegen ju bfeiben, unb bie
grau Gonrectorin ©rabow f)ätte eS als eine ©ftichtoerfäumniß unb ©erlefcung
ihrer StanbeSobliegenheiten erachtet, nicht auch hierin feinerer Sitte ber bäuerifdjen
im Ufmenfrug gegenüber Boße ©enüge ju Ieiften.
So lag baS $ofgetoefe ftiß, mie leblos in ber SJiorgenfonne; benn §inrid)
Safren& mar fcf)on oor Stunben mit feinen beiben ßnedjten jur gelbarbeit ffinauS»
gezogen unb grau Safrenf} f(haftete unfiditbar brunten im ÜRitchfeßer. 92ur bie
kühner gatferten bot Solrab SBeftebt’S guß, ber aus bem großen fjauSthor fam
unb rechts in bie ©artenpforte einbog. Gr fief jmifchen ben ©emüfebeeten fort
bis an ben Sigufterjaun unb fchfüpfte burch eine Sude beffelben ins anftoßenbe
gelb. SaS hatte er, bebor er jur Schule in bie Stabt roanberte, an jebem grüh»
morgen gettjan, feitbem er fich im Ufmenfrug befanb. freute that er’S jum britten
maf, unb afleS um ihn h er war genau wie am erften läge. SaS hoh e flefbe
lorti ftanb mit unbewegten Wehren bor ihm gegen bie blaue Suft; bicht baneben
fief bie SBaflhetfe entlang, beren ©raben mit ©rombeergeranf, Sdlberfraut unb
breiten ^uffattidjbfättem Berbetft mar. Wm ^mfelnußgejweig brüber bfinfte noch
ber Ifjau in ber Sonne; bom Stabtthurm herüber fchfug bie Uhr bie fedjste Stunbe.
9J2an fah an ben ©tiefen, bie ber finabe nrnhermarf, baß er ftharfe Wugcn
befaß. Sie faßten aßcS auf unb fpiegelten eS, in ein eigenartiges ©fanjlicht
getaucht, jurücf. SBenn er fo um fich bfiefte, lag ein fonnigeS Wbbilb ber fßlorgen*
frühe jwifdjen feinen Sßimpern, eine thaufchimmernbe griffe ber Grroartung beS
borfchrcitcnben lagcS. Sie Sanbfuft fchien fein ©eficht bereits etwas lebhafter
gefärbt ju haben; es war noch blaß, bodj nicht mehr bon franfhafter Sßeiße.
Sattgfam fchlenbcrte er, mit ber |>anb über bie Weßrengrannen ftreifenb, am
Slcferranbe hin- ©ine ©olbamnter wippte über ihm auf fchwanfem 92ußjweig unb
flog babon; er fah ihr nach, bis fie uerfeßwanb, bann auf baS flimmernbe Saub
ber 3weigfpi|e, bie fich noch ein SScildjen fortbewegte, ©roß bliefte er brauf
hin, als fei eS etwas SeltfamcS, ©cheimnißooßeS; erft wie bie ©lütter Wicber
unbewegt in ber Suft ftanben, ging er weiter.
3eßt faßte fein Wuge etwas grembeS auf. GS leuchtete blau jwifeßen ben
SRoggenßalmen, wie eine Kornblume, hoch ganj brunten am ©oben. Sie anbern
ftanben afle aufrecht in ber £>öf)e feiner Schulter; Warum lag fte aßein abge¬
brochen auf ber Grbe? Gr mußte ben ©runb ausfinbig machen, eS trieb ißn
innerlich etwas ebenfo ba$u an, wie juoor nach bem feßwanfenben 3wcige ju fdjaucn.
Socß nun fpielte ein leichtes Säbeln um feinen SRunb, als fpotte biefer laut¬
los über fich felbft. Gr hatte fich gebüeft, um bie Bcreinjelt ßerabgefnidte Gtjnnc
näher ju betrachten, unb eS war feine ©fume, fonbern ein halb jufammengcroflteS
©änbthen Bon lichtblauerer garbc. Seine £>anb nahm baffelbc auf unb er lachte
nochmals. 9lbcr glcid; banach würben feine Slugen Wunbcrlich ernfthaft.
Gr brauchte bie grage, bie fidj ihm Borher aufgebrängt, nicht mehr ju löfen;
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Der Ulmenfrug. 6^3
hoch eine anbere, noch fc^mierigere, war bafür an bie ©teile getreten. Sie !ant
baS blaue ©änbeßen hierher? ©I hatte geftern SJtorgen nicht bagetegen; er wußte
beftimmt, baß er eS fonft gefetiett hätte.
$ie ©hantafie beS Änaben mußte feiner großen Anregung bebärfen, um fich
gleich ber ©olbammer in bie fonnige Seite hinauSjufdjwingen. Unfraglich war'S
ein ljöhfl toertfj* unb bebeutungSlofer ©egenftanb, ben feine klugen unb feine
Singer prüften, unb ein anberer hätte faum einen flüchtigen ©lief barauf geworfen.
Slber SSolrab SeftebfS ÜJtiene befagte, baß eS für ihn im SJtoment nichts Sich¬
tigeres auf ©rben gab. Unoerfennbar erfüllte auch ber unfdjeinbare Sunb feine
©inbilbung mit einem unruhoollen Strange. ©S War ein ©tücfdjen eines großen
©eheimniffeS, baS ihn überall umgab, wohin er falj unb hörte, unb trieb feine
©ebanfen flatternb umher. Semanb War hier gegangen unb hatte baS ©änbhen
berloren. Ser War eS geWefen unb wann War er hier gegangen? Unb wohin
unb warum?
©r mußte Antwort barauf haben, bie Stagen mußten ihm 9febe ftehen. 3«
ben hellen Singen beS Knaben leuchtete nicht beflügelte Ißhantafie allein, Sille unb
©nergie prägten ihren fräftigen SluSbrucf baneben, ©ine SDtinute lang ftanb er,
umherfpähenb, bann lief er eilig Weiter, an bem Selbwaü entlang. $odh an
biefem gab ihm nichts Sluffhluß; ringShin tag alles morgenfonnenheO, ohne Saut
unb SRegung. 3» rechtem Sinfel fief) fortfeßeub, fdfloß ber 3aun jefet baS fRoggew
felb ab; allein ber Saufenbe hielt faum oor bemfelben an, fonbem fdjwang fich
fofort in baS ©efträuh hinein nnb hinburd)- $aS ©tattWerf fcßlug ihm ins
©eficht, fobaß er im nächften Slugenbtid nur halb beutlich auf ber anbern ©eite
einen breitöerranften ©raben unter fich gewahrte, benit er fonnte in feinem haftigen
©orfturj nicht anhalten, nur noch bie mögtichfte ©ehenbigfeit jufammenraffen,
hinüberjufpringen. ®aS gelang ihm jiemlih, nicht ganj; fein Saß blieb in einer
Ißflanjenfchliuge bangen, unb er flog, mit ben Jpänbcn oorauS, brüben ju ©oben.
Slber eS war weicher Siefengtunb unb feine ©lieber gewanbt, fobaß er gleich
nachher unbefdjäbigt wieber auffprang. 3w0leih inbeß fuhr auch fein ®opf blife=
fchnelt herum, benn bicht hinter feinem Süden fd^olX ein üermunberteS hetlftim*
migeS Sluflachen.
©in UeineS Stäbchen hatte bieS auSgeftoßen, oon bem er junädjft nichts als
etwas fehr SlbfonberlicheS gewahrte. @ie faß am SRanbe beS ©rabenS unb hielt
ihre ©hierje halb auSgefpannt, in ber eS mit einem wunberfamen ©eleucht burdj-
einanberrann. 3hre feinen gingerdheu mußten fich bon ben ^uflatticßblättern
umher minbeftenS ein paar hunbert gleichartiger, Heiner, golbgrün fhimmernber
Ääfer jufammengefucht haben unb gaben fich Stühe, biefelben in ber gebaufhten
©djürje feftjuhalten. Slber bie Jhierdjen waren in ©ewegung gerathen unb
fronen in lebenbigem ©ewimmel überall auS ben Süden heroor unb über bie
Sirene unb ©ruft ihrer Hüterin herauf. 3u Dußcnben Hetterten fie fogar an ben
bis auf bie ©hultem faHenben heö= faft röthlihblonben Ipaarfäben, bie fie für
befonnte 4?älm<hen halten mochten, unb blifcten barin wie Heine glühenbe Juwelen.
Stnbere aber oerfuhten ihre Slugfraft unb fhwirrten gleich beflügelten ©bclfteinhen
an bem jierlichen ©efiht oorüber in bie Seite.
41*
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Untere <5eit.
SßorttoS erftaunt falj Solrab SEBeftebt auf baS feltfante, märdjenartige Silb,
Don beffen Sippen jefct ein SRuf fam:
„£>ilf mir boct), fie fliegen fonft alle fort!“
9tun antwortete er rafdj: „So lag fie; wa# Sfftgel hat, fott man nicht ab*
galten, fie ju gebrauchen."
Sichtlich über feine Steigerung »erbroffen, fagte baä äJtäbchen:
„®u haft jebenfallS leine."
„SBarum? SBa§ meifet bu’S?"
„®u fäUft ja auf bie 9?afe."
®ap lachte fee wieber unb fügte hinterbrein:
„®u hätteft mir auch grab’ auf ben ft'opf fallen fönnen, bafe bu mich tobt-
gefchlagen tjötteft. SDtan mufe immer erft öor fech fehen, wenn man irgenbwofein
fpringt."
®ie SS orte befafeen einen ®on altfluger, fchulmeifterlicher SBeleferung, ber t)on
ben Sippen be$ höthftenS achtjährigen 9ftäbchen$ wunberlich Hang unb einen SEBiber»
fpruch ju ihrer emfigen S3ejchäftigung mit ben Käfern wie ju ihrer ganzen Ger*
fchcinung bilbete. ®er ®nabe gewahrte jefet erft, bafe fie ein fornfarbigeä Äleib, ba
unb bort mit fleinen hellblauen Schleifen befejjt, trug, unb antwortete geringfdjäfeig:
„So warft bu eä nur, bie baä S3anb oerloren hat", unb zugleich fprang er wieber
auf ben Stall jurüd, bahnte fech einen SSeg burch ba3 fnadenbe ©efträudj unb
berfchwanb nach ber nämlichen Stiftung, au3 ber er gefommen. $ie allein ©e=
laffene fah if)m furj nach; bann fuhr fie in ihrem flüchtig unterbrochenen Treiben
fort, wäfjrenb et an ben 'Jtoggenährcn entlang wieber bent ©artenjaun be3 Ulmen»
frugs jufdjlenberte. ®ic SDlorgenfrülje hatte ih ten frifdjen ®baugtan ,5 für ihn
berloren, fie gehörte ihm nicht mehr allein; mit einem SluSbrud beS 2Jli8muth$
Warf er baö blaue SBänbdjen, baö er noch in ber $anb gehalten, an ber Stelle,
wo er tä entbedt, jroifhen bie 4?alme juriid. SRichtö ©cheimnifeoolleä haftete
mehr baran; nach lurjem Stufflattern hatte bie Sßhantafee ihr ßiet gefafet unb liefe
eä adjtloä fallen. 9iur einmal murmelte er halblaut unb miöächtlich: „Huch ein
Schutmeifterfinb"; aber er frug fech nicht mehr, wie baffelbe bortffen fomme.
War ihm ju gleichgültig, barübet ju benfen.
Statt beffen wedte ein SBogelneft im fpafetbufd), baö er heut juerft wahr»
nahm, feine Slufmerlfamleit. ©3 mufete fdjon bie jweite SBrut eines Keinen gelb»
fängerS beherbergen; bie jungen ftedten jwitfchernb ihre gelben Schnäbel über
ben 9tanb, ab unb ju fam einer ber alten SSögel unb brachte ihnen Slahrung.
®er Betrachter ftanb in einiger ©ntfernung, um fie nicht fcheu ju machen; nach
einer Steile fagte eine Stimme hinter ifem:
„Reifet bu Sßolrab?"
©r brehte fed) überrafdjt unb unwillig, benn er erfannte bie Stimme beS
SJiäbchenS wieber. Slber mechanifch hatte er mit ber Stirn genidt.
„Stenn bu ber ßnabe bift, bet mit uns im Ulmenfrug wohnt, bann fag' mei»
ner SDlutter nicht, bafe bu mich auf ber SSiefe fehen gefefeen."
„SBarum nicht?"
„Sie janlt fonft mit mir, bafe id) mein Sleib oerberbe."
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Der Ulmenfrug.
6^5
„Vift bu ntir beghalb «angegangen?"
©ie fd^n>teg eine ©ecunbe lang. „Sn moltte bod) nad^ $aug."
3« ben 3ügen beg Knaben iiatte fin jefct ein ©rftaunen funbgegeben, bag
feinen Vlicf mit einem nngewiffen Stugbrucf auf bem Käbnen tiaften tiefe, unb
er frug:
„gürnteft bu bitfe benn bor beiner Kutter?"
©ie fnüttette ben Äopf; aber eg tag eher Vejafjung atg Verneinung in ber
begteitenben Kiene.
„3n mufe t^un, mag fie miß", fügte fie feinjn.
Sn Votrab SBeftebt’g Stugen leuchtete einen -Kontent ein fnmärmerifner ©Ianj
auf. „SBenn in eine Kutter hätte, Wäre in gtücffetig, atteg ju t^un, mag fie
münfnte."
®on jefct fnüttette bie Äteine mit beftimmterer ©ntfniebentjeit ben fiopf.
„SBenn ba einen Vater £)aft, fo t)aft bu’g beffer. ®en mürbe in feljr lieb haben."
„Kein Vater ift in ber hörigen SBone geftorben", ermiberte er tangfam.
„0", fagte fie mitteibig, „barum fielet bu fo btafe unb traurig aug."
@g mar mit feiner Stntmort mie ein fnmermüniger ©natten über fein ©efüht
gefallen. @r entgegnete nintg, fonbern fnüttette jefct aun nur ben ®opf, fobafe
fie jögernb fragte:
„#at er aun immer — t)at er aun oft mit bir gefnotten?"
„Stein, nie."
„SBarum bift bu benn nint traurig, bafe er tobt ift?"
„Sn mar niematg froh." Stugen beg Knaben gingen an benen beg
Käbn^ng oorbei unb hefteten fin miebet auf bag Sieft. „®ie haben Vater unb
Kutter", fagte et tangfam hinterbrein.
®ie Steine fah h* nau f- „3®/ fonft müfeten fie oerhungern." Stun tief eg
halb mit Steugier, h n ^ mit ©n«cf über ihre Kiene. „Slber bu h a ft i® beibeg
nint, berhungerft bu benn?"
„Stein, eg finb anbere gefommen unb füttern min —"
©ie fiel ihm ing SBort: „®ag ift aber fehr gut bon ihnen."
„Sa gemife, fehr gut. Seine Kutter ift ja aun feh r gut unb täfet bin nint
hungern, nint mahr?"
„Stein, in betomme immer ju effen", antmortete bag Käbn«n ungemife, unb
fie ftanben beibe unb fahen berftummt ju ben fnnäbelfperrenben Sungen im Steft
hinauf, ©ine jiemtuhe SBeite barauf fagte Votrab:
„Sn ein paar SBonen hoben fie gtüget unb fönnen fort, mohin fie motten."
©ie berfefete: „SBir motten Stnt geben, menn fie fo grofe finb."
„Könteft bu bann eing bon ihnen fein?" fragte er nanbenflin.
„Sa — aber nint allein", unb fie fafete untoiflfürlin nan feiner fpanb unb
behielt biefetbe, mie fie jufammen am ffornranbe meiter gingen, faft ohne bafe fie
beibe babon mußten, in ber ihrigen, ©ie fnmiegen abermatg; nur mannmal fah
bag Käbnett berftohten bon ber ©eite nan bem ©efent ihreg Vegteiterg; fie ging
offenbar bamit um, etmag ju fragen, brante eS jebon nint hcraug. ©nbtin fagte
fie mit halb abgebrehter ©tirn: „SBarum bift bu bei beinern Vater nie froh gemefen?"
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646
Unfere ^eit.
,,©r war Iran! unb batte immer ju arbeiten, fobaß ich itjn nur feiten fab
unb faum je ein Sßort öon i^m hörte."
$ocb fie oemeinte mit bem Stopf. „Sarunt tjätteft bu bo<b frob fein tonnen.
Stber er ^alte bitb nitt lieb."
£mlb erftaunt unb t)atb fdbeu brebte er ibr baS ©efitt jn unb ftotterte leidet:
„SBoher weißt bu baS?"
„SDtan fieljt’S einem an, ob er tjon jemanb lieb gehabt toirb unb iljn toieber
lieb bot", oerfefcte fie, unb bie beiben faben ficb einen SJtoment grob in bie Singen;
bann fragte fie weiter: „SSer finb benn bie, welche bicb nicht hungern taffen?"
@r nannte bie Stamen ber beiben tßrofefforen, bie ficb feiner angenommen.
IaS SJiäbdjen fiel bei bem zweiten Starnen iiberrafebt ein:
„$aS ift ja mein ©roßöater."
9tnn tarn ihm junt erften mal eine Erinnerung an bie SBorte, welche ihm ans
ber Unterrebung fperra Joachim S’ortholt’s mit ,'pinricf) Safrenf} unbeachtet am
Dbr öorübergeftungen, unb er antwortete: „<So bift bu bie lodjter ber grau Eon*
rectorin ©rabow?" $o<b er fügte, wäbrenb fie niette, gleich binju: „SSerjeib’ mir,
bann hotte ich recht, aber t^at bir bodfj unrecht."
„SDtir? SBomit?" frug fie üerwunbert.
„Iu hoft cS nicht gehört; aber als ich öorhin oon bir forttief, fagte ich ju
mir, bu wäreft ein ©djulmeiftcrtinb."
„Sft benn baS fchtimm?"
„SDJir ift’S immer, als tönnt’ ich nicht Sttljem boten. Wo fie finb. Stber bu
bift feinS."
€>ie waren an ben ©artenjaun jurüefgetangt, unb baS SDtäbten Hetterte ju
ber Sücfe beffetben hinan. Stun Wanbte fie ficb, über ihm ftebenb, um unb fagte,
mit weitoffenem Stic! auf ihn nieberfdjauenb:
„®u, eigentlich gehören wir beibe jueinanber."
(Sie h°b fi<h/ oott üon ber (Sonne überglänzt, als ein litthetleS Sitb aus bem
bunfetn Siguftertaub ab. 3b r lorngetbeS fi'teib nnb ihr tpaargetoef ftoffen bei*
nabe gleichfarbig ineinanber, bajWifchen ftanben bie blauen (Schleiften unb bie
Slugen Wie aus einem ^atmgewog aufbtiefenbe ®ornbfumen. ©S war Solrab
SBeftebt, atS ob er fie in biefem Stugenbticf eigentlich jum erften mal fäbe, unb
er fragte h a ftig:
„SBie heißt bu benn?"
„SJtargaretbe, aber zu |>anS rufen fie mit SKeta."
(Der ®nabe btiefte ftc »ott an unb oerfejjte ptöjjlit mit faft heftigem Ion:
„Stein — it will büß nitt fo beißen, wie bie anbern eS aut thun."
„SBie benn fonft?"
©r fann not- ,,3t toitt bit Seate nennen, Wie meine SDtutter hieß."
„Ibu’ö, baS Hingt ät)ntit Wie SDieta, aber bübfter", niefte fie mit bem ffopf
unb fprang auf bet anbern ©eite in ben ©arten hinunter. SaS begtänzte ©itb
in bem Siguftertaub war in einem 9tu t>or feinen Stugcn auSgetöftt; beinahe er*
ftredt haftete fein Stic! not einen SOtoment auf ber Seere, bie Oor ihm geblieben;
bann fttuang er fit ebenfalls hurtig burt bie gaunlücfe nat- ler ©arten lag
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Der Ulmenfrug.
6^7
nocß unbelebt tote juöor; Don bet getögetüncßten SSottb beS #aufeS !ameu bie
©onitenftraßtcn ßeiß unb btenbenb jurüd; bie große, fcßtoarje ©laslugct bagegen
naßtn biefetben in fit^ auf, als faffe fie jeben einzelnen unb jieße ißn auStöfcßenb
in eine fdjmeigfam regtofe liefe hinunter. 2>aS 9Jiäbd)en toat bei bem frühen
Fortgang, oßne ftc^ umjubtiden, bem gelbe jugeeilt unb gewahrte bie ©laSfitgel
jeßt jum erften mal. „SaS ift baS?" frug fie, unb bie beiben traten näßer ßinju;
boc^ gteicß barauf faßte fie erfdjrecft bie $anb Sotrab’S, um ißn jurüdjujießen,
unb rief: „Stein, laß uns fort baüon — eS fießt barin aus, als toäreft bn am
Gnbe bet Seit."
„3(ß fenne fie fcßon", tacßte ber ftnabe, „man muß bicßter ßinangeßen, bann
ift eS anberS", unb er jog bie ßatb Siberftrebenbe mit ficß. Stun toudjfen ißre
beiben ©piegetbitber auf bem fcßtoar$en ©runbe empor, bocß fie blieben immer
in einem tounberticßen Sicßt, beutticß unb unbeftimmt jugteicß, unb fo naße bie
©eficßter aucß jufammenrüdten, eS toar, als liege ftetS eine unauSfüflbare Seite
jtoifcßen ißnen gebreitet, ©onft ftanb altes um fie ßer Mar toiebergegeben ba,
aber gteicßfaüS unenbticß fern unb nicßt toie am gotbumteucßteten ©ommermorgen,
fonbent toie an fpätem, fonnentofem Slbenb. ©ie fcßauten eine Seite barauf ßin,
bann fagte Sfteta ©raboto:
„®u, baS finb toir gar nicßt."
„Ser benn fonft?"
©ie faß ficß um. „Stß weiß nicßt, toie fte ßeißen; fie faßen geftern Stbenb,
atS toir ßierßer tarnen, auf ber ©teinbanf borm §aufe; meine SJlutter fagte, eS
toären nur SauerSteute. 2lber grab' fo fießt’S auS — ob bie ißre Silber ba brin
ßaben?"
Stun tacßte Sotrab Seftebt lauter. „SaS für närrifcße ©infätte bn ßaft!
Sir feßen nur fo fonberbar brin aus, toeit baS ©taS rutib ift; baS macßt, baß
bu’S für $inricß Safrenß unb feine grau geßatten. ©ib 9lcßt, ob toir’S finb!"
Gr bucfte ficß unb jog fte mit ficß nieber, baß bie Silber über ißnen Kein in
bie Grbe mit jufammenrannen, im näcßften Stugenbtid jebocß flog er toieber auf.
Son ber Xßurmußr ber ©tabt toat ein ©cßtag ßerüberöerßattt unb er rief:
„3<ß muß in bie ©cßule — fonft taffen fie micß im Steft allein unb füttern
micß nicßt meßr. Seb' tooßt, Seate, um SDtittag fomm’ icß §urüd; bift bu bann
ßier?"
©ie nidte. „3cß toitt bir auf bem Sege entgegenfeßen. Sarum mußt bu in
bie ©cßule? ©eßft bu gern?"
„Seil icß feine gtüget ßabe." ©r fcßüttette ben ffopf, breßte ficß nocß einmal
unb feßte ßatbtaut ßinju: „©ag’S beiner SDtutter nicßt; aber mir fommfS bor,
bie SauerSteute finb flüget als alt bie anbem, unb man fönnte bon ißnen meßr
lernen als bon aßen ©cßutmeiftern. Unb ißnen lann man’S anfeßen."
„SaS anfeßen?"
„2)u fagteft eS borßin, ob jemanb bon einem tieb gcßabt toirb unb ißn toieber
lieb ßat. 3cß muß fort!"
Gr tief inS £muS, feine Sücßer ju ßoten. 2)ocß troß feiner Gite feßlug er,
atS er auS ber Ißür juriidfam, nicßt ben geraben Seg jur ©tabt ein, foubern
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6<*8
Unfere <5eit.
bog Ijaftig nad) ber anbem ©eite beS ©ebäubeS rec^tö um bie (5de, bis er an
ben ©infaffungSiaun beS ©eljöfteS gelangte, lieber biefen fdjwang er fich fort,
bann am ©nbe einer rafd) burchmeffenen Moppet über einen jweiten unb fprang
an ben ©anb beS 9toggenfelbeS nieber, wo er oor^in in ber 3Korgenfrülje entlang
gemanbert. Stdjtfam um fich blidenb, eilte er jwifdjen bem ßotn unb bem ber*
ranften ©raben weiter, griff plöfclid) fiel) büdenb an ben ©oben in' bie $alme
jur Siedeten hinein nnb h»& baS Heine blaue ©anb »on ber ©rbe, baS er auf bem
©üdwege an bie ©teile, wo er es juerft gefunben, jurüdgeworfen. ©ine ©ecunbe
lang hielt er eS betradjtenb in ber £>anb; bann bewahrte er’S in feiner ©ruft*
tafele, flog feitWärtS ben SBatt wieber hinan unb hurtig gerabeauS über gelber,
$eden unb ©toben ben braunen ©tabtbädjern ju.
IV.
2Bie einige ©ommertage Weiter gegangen, Waren ©olrab SBeftebt unb SJleta
©rabow mehr als gute greunbe. Stuf bem Ulmenlrug »erging oorn äRorgen bis
jum Stbenb faurn eine ©tunbe, bie fie nicht pfammen »erbrachten. Ungebutbig
erwartete fie ilfn mittags unb nachmittags, wenn er bon ber ©tabt aus ber ©chule
jurüdfam, begleitete ihn auf bem Eingang bis an bie erften Käufer unb fletterte
an ber ©öfchung beS Hohlweges auf £edthorpfoften unb Saumftumpfen, um ihm
Weiter entgegenjufeljen. ®ann lam et, unb fie tiefen #anb in $anb ins gelb. Sie
gehörten peinanber, wie SDleta ©rabow es gefagt, unb hatten fich gefunben. S)ie
SBelt tag fremb um fie beibe her, baS fteine ©tüdchen, baS fie ba»on fannten.
£>ochangefel)ene Seute mit ernfthaft bebächtigen ©efichtern wanbeiten barauf umher,
fieute in bornehmen Kleibern unb fdjidlidj Wflrbiger Rottung, Herren unb $a=
men; aber es Waren anberSartige 2Jlenf<hen für bie beiben, anberS als fie felbft,
lauerten fid) nicht in baS warme ©raS eines 3aunWinfetS piammen, um bie
weißen SBolfen über fich am Fimmel hinjiehen p fehen, auf ben SBadjtelruf im
®orn p hören, banon als über baS SBidjtigfte p reben, nun miteinanber ju lachen
unb wieber aufJjordjenb ftumm p fifcen. 2>ie ©onne fdjien nur unb bie ©öget
fangen nur, Wo fte fo beifammen gingen unb faßen, nur bort war es fcfjön unb
warm; bie übrigen SDtenfdjen wußten nichts ba»on. SDtanchmal fagte ©olrab:
„2>u, braußen liegt noch eine ganje große SBelt, ba ift’S noch »iel herrlicher."
„SBo benn?" fragte baS ÜRäbchen, fich umbtidenb.
„Ueberaü, wo bu ben Fimmel heruntergehen fiehft."
„®a ift bie SBelt p ©nbe."
®r lächelte. „®aS Weißt bu noch nicht, ©eate; es ift nur ein blauer ©orhang.
dahinter liegt runbum erft Wirtlich bie SBelt mit ganj anbem 9Jtenf<hen. ÜDiöch*
teft bu nicht auch bahin?"
„SBoher Weißt bu’S?"
„3<h hab’S oft in ©üchern getefen, bie mein ©ater hatte."
©ie fiel ihm ins SBort: „$u, ich glaube nicht, baß eS ba fdjöner ift, aber
mit bk möd)t’ idj’S Wot fehen."
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Der Ulmenfrug.
6*9
„3a, wenn’ß angeht; man !ann grofj unb reich unb frei ba »»erben, fobafj
man atteß tt)un barf, Waß man h)iH."
2)ie grau Eonrectorin ©rabow befajj auch eine SIrt »on 3ufriebenljeit über
ben ©ufenthatt ©otrab SBeftebt’ß im Utmenfrug. Sltterbingß i^re 8trt »on 3«=
friebenljeit, bie fich alß ftetige Unjufrieben^eit mit it|m äußerte. Sie mißbilligte
unb corrigirte atteß an ihm, befonberß währenb ber SUtittagß» unb 3lbenbma^tjeit,
jeben ©ebanfen, jeben ©ußbrud, jebe ©ewegung. ©r ttjat nidjtß fd^icffic^, unb fie
Warnte in feiner ©egenwart 3Jieta unaußgefefjt »or feinen ungebitbeten Stftanieren.
$odj erlannte fie einerfeitß in feiner Unfeinheit für ihre lochtet ben gewiffen
SBerth eineß abfdjtecfenben ©eifpietß, unb anbererfeitß erwarb fie fidj fetbft ein
aujjerorbenttidjeß phitanthropifcheß ©erbienft, inbem fte fi<h an ber ©äbagogif ihreß
©aterß beteiligte unb mithalf, einem erjietjungßtoß — fie muffte gerabeauß fagen,
»erwahrioft — aufgeworfenen ffnaben Wenigftenß Ijatbmegß eine ®reffur feineß
äufjern SBefenß unb Senehmenß ju »etleihen. Sie tonnte fidj inbefj mit biefer
innem ©efriebigung faum anberß atß bei lifcfje erfüllen, benn bie übrige 3rit
beß lageß nahm ber SDtorgenfchtaf, bie loilette, ber Empfang »on ©efudjen unb
ErWiberung berfelben in ber Stabt für fie »oD in Stnfprudj. S)afür öermodjte
©olrab fich nicht an ben lifdj ju fejjen ober aufjuftehen, bie ©abet ober baß
©laß an ben 3Jtunb ju führen, ohne eine neue ©ereidjerung ber Erfennhtijj feineß
„orbinören" ©ehabenß ju empfangen, fobafj ihm trofc feineß $ungerß juweiten
ber ©iffen in ber Äehle fteden blieb, unb er faft, ohne gegcffen ju haben, »om
Üifch forttief. 2lb unb ju fagte bann $inrid) Safrenjj: „§ett fe Webber ©übel
mit bi fpeett, min 3u»8? Sat man feen 9lpen ut bi mafen, mit ehr egen gteefdj
warrb fe bat Wut farbig friegen. SlWer bu bücfjft mi nich bun ben Stag."
$effenungeadjtet nahm ber törpertiche ©efunbheitß^uftanb Sotrab’ß einen über»
rafchenb hurtigen gortgang. Offenbar ftedte eine äufjerft Kräftige Natur in ihm,
bie auß ber Sanbtuft unb tänbtichen ®oft, auch wenn biefe ihm »ergättt Warb,
»olle Nahrung $og, benn er fah jefet frifch unb rothbtühenb auß. SSie er eineß
■Uiittagß wieber einmal nur halb fatt baöontief — ein fdjutfreier Nachmittag folgte
barauf — fagte bie grau Eonrectorin ©rabow, ba Nteta ebenfattß »om tEifch auf»
ftehen Wollte: „Restez encore, ma ch£rc; bu fottft bein neueß Eoftüm antegen,
SJtarguerite, unb mich h eut 8» einer ffiifite in bie Stabt begleiten. @ß ift 3rit,
bafj bu bich fchidtith in einem fremben $aufe ju introbuciren terneft; bu fiehft
täglich bett affront eineß betetjrenben Ejempetß on ©otrab »or bir, ber eß
niemalß ju einer anftanbigen Eonbuite unter feinen Seuten bringen wirb." Ein
»erweifenber ©tief ber Sprecherin begleitete bie ©forte unb hielt baß SNäbdjen
auf bem Stuhl jurücf. ®er fötabe begab fich »ach gewohntem ©rauch inß gelb
hinauß; hoch eß war ihm intereffetoß unb langweilig, fo allein umherjuftreidjen.
Er tief ohne 3t»ed »on Moppet ju Moppet, fprang über 3auntnicfe auf unb ab;
alteß bot ohne SDieta ©rabow fein ©ergnügen unb feinen Schott. Sttß er untuftig
wieber umfehren wollte, rannte et an einer ©ufdjecfe faft mit bem fiopf gegen
einen SNamt, ber gebüdt ftanb unb mit einem ©aar fehr breitwuchtiger unb
fchwäräticher gaufte getbbtumen pftücfte.
„#öh, Wat feitt ba mit be ftiöe ©ö!" lachte er.
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650
Unfcre <5eit.
©olrab ^Qtte Dort früh auf ät)nlicf)c ©eftalten oft gefetjen unb Wußte an ber
Reibung, bem ©efidjtSauSbrud unb ganzen Se^aben fogteic^, baß eS ein Seemann
fei. @r blieb eigentlich »öttig gebanlentoS ftefien unb faß bemfelben ju; eS mar
immerhin eine Sefdjäftigung, bie iiberflüfftge unb müßige 3«it ju »erbringen.
9iad) einer SBeile breite ber junge Schiffer ben Stopf nnb fagte:
„9ta, lietft bu to?"
„3a", antwortete ber Sttnbe mechanifch.
„9ta fo, bu tielft to." Unb bie maffioen gäufte rafften Ülcfcrrabc, Slatfcßrofen
unb Untraut weiter jufammen.
Solrab war wirKid; üerwunbert unb fragte nun:
„SBoju pflüden Sie benn bie ©turnen?"
„Sat wafft op’t 2Sater nid)", antwortete ber Seemann, ben Strauß mit un=
ocrfennbarem Stolj betrachtenb. „33 fein, nid) wahr? 2Bat if mit cm will?
Sat »erftcihft bu noch niih, min 3“ng."
SDiit breitmäuligem ©rinfen ließ er ein fdjaumweißeS ©ebiß aufblinfcn. ©ot=
rab fiel felbftbewußt ein:
„3«h Weiß über, wie bie ©turnen heißen."
„So? 3a, ba büft wat Hot. Sat !unn mi paffen. 3Bat iS bat?"
Scr Gefragte nannte ben 9knten ber ©flanke.
„3, Wat bu feggft! 3°, bu büft flof. Un bat Süg ba?"
„SaS heißt Vergißmeinnicht."
„3, Wat bu feggft! Sat tunn mi paffen. Se fdjatt mi jo o! nich öergeeten."
„SBer?" fragte ber Snabe.
„Se lütt Secrn. Sat’S bi noch fpan’fdj, min 3“ng, bato büft bu noch nid)
flof nog."
„©in Keines SDkbchen?" fagte Sotrab unwittfürtid).
„3a, fo wat — mi bet amte 9iäS. Sat iS en lütt feine ©ut, Witt id bi
feggn."
„Slber bie ©lumen üertrodnen bis morgen."
„3a, brög Warrb fe. 2lwer, Weeßt bu, fe wahrt fe op unb benlt babi an mi,
bet il Webber farn."
„SBarum fott fie baS benn?"
„Mußt bu attenS weeten? Senn will i! fe heiratßen un inne Äajüt' tnitneh 3
men, hört man bato, bat il erft ©elb nog in’n ©übet h e ff-"
„Sinb Sie benn ein SchiffSlapitän?"
„9tee, holt ©uft! ©affelmatroS! Slwer in’t 3 a h r lam il an’t Stücr, un benn
geit't loS! 3 u ppfa!"
@r fcßwenlte feinen Strauß, baß bie $älfte ber ©turnen barauS herausflogen;
©otrab half ihm, fie aufeufammeln, unb fragte:
„SBoßin fahren Sie benn?"
„2tnner SBuch, na ©rafilieu. Sa fitt be 2lpen aS be hatten bi unS oppe
Sälcr."
„Sann man ba reich Werben?"
„fparr’ft £uft to? SBenn man Hol ift. Su biift bat ja."
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Det Ulmenfnkj.
65 \
©ie waren ein ©tüd auf bem getbwege nebeneinanber auf bie Stabt jugc»
gangen. „$ier mutt if bal", fagte ber SDiatrofe. ©in Sluöblid hatte fich auf
ben nahe betegenen ,£mfcn geöffnet unb jeigte unfern bom Ufer bor Sinter liegenb
baö ^oc^mafitge Schiff, beffen ©infahrt bor einigen SBochen |jerrn ©hriftian ©ajul
Clearing unb £>errn ^oadjim 3Jiattf)iag fforttjolt im ^Ijtlofopljifdjcn ©ange er=
Wünfchten Slnlaß jut Serfniipfung lehrreicher weltweifer unb päbagogifcher Se=
trachtungen geboten.
„3ft baö 3h r @<h*ff» uiit ber rotlj unb Weißen glagge?" fragte ber Snabe.
„®at h e ft bu Webber brapen. ©egenlich iö’t en ©web’, awer unf’ Saptein
i$ en ®angfeman, babun fümmt bat. Süft bu ot fo flof, bat bu weeßt, wat bat
©hipp bör’n ÜRamen hett?"
„5Rein, wie heißt’ö?"
„gorhaabningen."
„SBaö bebeutet ba$?"
„®e «Hoffnung». ®at bebiib', bat bat ©tüd bringt, barup to feiten, min
Sung’, un bat man bomit Webber to be lütt ®eern retour tümrnt Un be $od)tib
log geit. Suppla!"
„2Ruß man, um mit folgern Schiff fahren ju tönnen, fdjon fo groß Wie Sie fein?"
„Uppe Sängbe tümrnt bat ni<h an, Wenn man’t inne IJSuft unne fnafen hett.
3t bün min Oien weglopen, ba weer if nich fo lang a§ bu. 31 fc^uH bat
©chriwen lehren, bat wull mi ni<fj inne Suft, bat if ben ©cholmeifter fin Sätet
tweibrot un ®ectjung wurr."
„SBaö ift ein $ecfjung?"
„@o’n lütte ®rabb, be mifn ©thüeremmer op’t $ed fwimmt un tonaS to’n
SJiatrofen utwafft, wenn be ^aibüwefö em niih tooör upfreeten hebbt."
„Sann benn, Wer will, ein ®edjung werben?"
„$e fünb iümmer to brüten. SBenig twifihen be ®äh n un öe el mit’t Xauenb!
3ümmer fibet! 5Ra, abüö, min 3ung! Sllfo be blaue Slorn heet: ®u ßhaflft mi
nich bergeeten. ®at \ä ricf)ti fein oör be lütt ®eern."
®er ©eemann bog linfg nach bem #afen hinunter, Solrab SZBeftebt’ö Slugen
folgten ihm, bann rief ber ®nabe ihm nach:
„kommen ©ie noch öfter Wieber bahiit inS gelb?"
®er SRatrofe wenbete fich noch einmal um. „®at funn fit Wut brapen. Up't
SBater wafft bat nich, un Wenn be lütt ®eern bat en tßläfeer matt, benn hat if
ehr mehr babun. Set tofünftig SBuch iö io noch 2ib, benn geit bat £uppela!
Slö he be Saden butt nimmt."
SHS Solrab junt Ulmenfrug heimfam, erwartete ihn SReta ©rabow fchon unb
rief ihm entgegen: „SBo bift bu gewefen? 33) h fl be bidj überaß gefucht!"
@r antwortete: „3m gelb", unb fie fragte:
„SBar eä hübfd)?"
„Stein, ohne bich ift eä nirgenbS
©ie gingen, $anb in $anb, in ben ©arten, aber baö ßRäbchen Wieberhotte
mehrmals: „SEBarum fprichft bu heute benn gar nicht? Sift bu auf mich böfe,
weil ich utit ^u ben langweiligen 2euten in bie ©tabt mußte?"
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652
Unfere 5 e '*-
Gr faf) ifjr in bie 9lugen. „Stein, baS !ann icfj niemals fein. 916er wenn idj
ganj jum §errn DfeariuS in bie ©tabt fofl, ba rnujj id) ja bodj oon bir fort,
©eate —"
Stadjbenfficf) {fielt er an; fie griff in bie Jafcfje unb fagte fdjneß: „3$ fjatfS
ganj Oergeffen, !otnm in bie Saube, idj fjab’ in ber ©efeöfcfjaft ein ©tüd Suchen
für btcf) eingeftedt. Jie Sßama fjat fjcut SJiittag mieber fo toiet mit bir gejanft,
bafj bu beinahe gar nidjtS gegeffen
Sie gingen unter baS überf>ängenbe Jrauerefdjengejmeig unb feilten, neben=
einanberfifceub, bie Jorte; aber ©ofrab SBeftebt falj beim Kauen nodj immer
fdjmeigfam=na<fjbenffidj oor fid) Ijin.
y.
9tm Jage nadfjtyer, af$ ©ofrab am Stadjmittag oon ber ©cfjufe jurüdfeljrte,
ftanb SJteta ©rabom mie gemöfjnficfj auf il)n toartenb im ^oljtmege. Jod) er rief
ifjr nichts entgegen, fonbern tarn fangfam ftumtn tjeran; erft wie er bid)t Oor ifjr
toar, f(Rüttelte er ben Kopf unb fagte baju: ,,3cf) tf)u’S nidjt!"
„2Ba3 tfjuft bu nicf)t?" fragte fie.
„Sie fagen, icf) mär’ nun gefunb genug, unb fotf näcfjfte SBodje ju 3^m inS
£>auS. 9lber idj tf)u’S nid)t."
JaS SDtäbdfjen fjatte iljn erfcfjredt an ber £>anb gefajjt. „Jann tonnen mir
nidf)t mef)r jufamnten fein."
„Stein, eS ift bann ganj einerfei."
„9ßa3 ift einerlei?"
„3Bo id) bin."
Sie falj iljn oermunbert an. „SBo motlt’ft bu benn fjiit? Ju fjaft ja feinen
©ater unb feine SJtutter unb fein Stcft."
Gr fcf)üttefte nur mieber ben Kopf; mie fie ein paar Stritte gegangen maren,
jog er ein Sfatt ©apier f)erau3 unb fagte: ,,3<f) fann'S nicf)t, milfft bu’S mir
abfjören?"
„3Ba3?"
„3dj foff’S auömenbig miffen bis SDtittmodfj, aber icf) fann’S nidjt lernen. Ja!"
Sie nafjm baS befdfjriebene ©fatt unb bfidte barauf. „SBaS ift’S benn?"
„@S ftef|t im Statfjfjaufe auf einer Jafef, mir fjaben’S nacfjfdirci&en müffcn unb
foßen’S lernen."
Sie gingen in bie ©artenfaube. SJteta f)ieft ernftfjaft, mie eine Sefjrerin, baS
©apier borö ©efidfjt unb fagte: „Sange an!" Jocf) er fonnte fidfj gfeicfj auf ben
9fnfang nid)t befinnen unb fie faö:
„Jem alfmädjtigften —"
Siun fiel er ein: „allein meifeften, at(erburdf)faudfjtigften dürften unb £>Grrn,
$Grm Sefu Gfjrifto, magrer ©ott oon Gmigfeit, gefrönter Kaifer ber f)immfifdjen
§eerfdjaren, ermäljfter König ju 3ion unb beS ganjen GrbobenS — unb beS
ganjen GrbbobenS —"
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Der Ulmenfrug.
653
©r ftocfte; ©teta laS noch jiemtich langfam unb fdjWerfättig:
„3u aßen Seiten ©tehrern ber ^eiligen —"
„chriftlichen Sirenen, einigen £>ol)enpriefter unb ©rjbifdjof ber Seelen, Kur*
fürft ber SBaljrfjeit —"
„ßr^er^ogen ber ©hren —"
„$erjogen beS fiebenS, ©targgrafen ju —"
©teta ©rabow buchftabirte: „$i—e—ru—fa—lern—"
„Sanbgrafen in Subäa, ©urggrafen in ©aliläa, gürften beS griebenS, ©ra*
fen ju —"
„Se—tlj—le—h em —"
„greiherrn tjon ©ajaretl), Dberften KriegShelb feiner ftreitenben Kirche, 9tit*
tern —“
Dodj roeiter bermochte ©olrab SBeftebt nicht ju fommen, fonbern fprach nur
bann unb mann eins ber SBorte nach, bie baS ©tabuen nicht ohne Schwierigfeit
unb oftmals mit ber Sunge anftoßenb, §u ©nbe laS:
„SRittern ber hößifäen Pforten — tri—um—pf)i—renben Siegesherrn unb
Ueberminber beS DobcS, ber Sünben unb ber $ööen — $@rrn ber heilig»
feit unb ©erechtigfeit, ©fie—gern ber SBitwen unb SBaifen — Droit ber Slrmen
unb ffietrübten — dichter ber £e—ben—bigen unb ber lobten — beS himm*
lifdjen ©aterS geheimfter unb oer—trau—te—fter 9tat£), unferm aller—gna—big*
ften Schüler — h er ä—aller—liebften unb ge—treu—e—ften $6rrn unb ©Ott."
Die miihfam an ben Schluff ©efommene fah auf, ihrem ©efährten in bie
Slugen unb fagte, fich mit ihrem Seigefinger über bie Stirn reibenb:
„Du —?"
„3a, £>err DleariuS hot gefagt, eS toäre fehr funftreidj, eloquenter unb nuj}*
erfprießlich", antwortete ©olrab. Slber gleich barauf griff er plöfjlich nach bem
©latt unb jerfnitterte eS jwifchen ben Ringern. „Sch fann’S nicht lernen, ich
Wiß’S nicht. 3«h thu’S nicht!"
„Dann werben fie bich fchlogen —"
„Sieber mit bem Dauenbe!"
„2BaS ift baS? Schlagen fie bamit auch?"
©r faßte mit einer rafdjen ©ewegung ihre beiben |>änbe. „SBiKft bu auch
an mich benfen, bis ich wieberfomme, ©eate?"
„SSJohin wittft bu benn?"
„Sch Witt frei unb reich werben."
„SBarum?" fragte fie.
„Um bann wicberjufommen unb bich ju h c i r °t^en."
„Schuft bu’S auch gewiß?"
„®anj gewiß! Komm, ich witt’S auffchreiben!"
„Silber wie wittft bu’S benn machen?"
®r hotte fie aus ber Saube gezogen unb fie ftanben im ootten ©olbticht ber
©adjmittagSfonne, bie ben zierlichen Schotten beS ©täbchenS auf bie getünchte
SRttcfwanb beS UlmenfrugS warf. Dem Knaben fchoß bei bem Slnblicf ein ©e*
banfe burch ben Kopf, er büefte fich fchnett nach einem an ber ©lauer liegenben
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65<t
Unfere ^cit.
Studien fcßwarjer #otjfoßte unb ftieß au«: „Steib’ einmal fo fteßen — aber
ganj rußig — bis ich fage: 9tun!"
Sie wußte mcßt, woju, bocß fie geßorcßte, bis er nacß einigen SKinuten „9hm!"
rief. $a flog ißr ®opf neugierig ßerum, unb im näcßften Stugenbticf fcßtug fte
oergnügt=überrafd)t bie £>änbe jufammen: „$)aS bin icß ja!" Sr f)atte mit bcr
Ä'otjfe ben Umriß ißreS Schattens an ber SBanb gef trieft unb fräftig naeßgejogen,
fobaß ißr anmutiges ffinberprofil bis jur ©ruft ßerab beutlid^ erfennbar baftanb.
„£>aft bu baS gemaeßt?" fragte fie öerlounbert.
„9tein, bie Sonne — unb nun feßreib’ icß ßierßer: ©an$ gewiß —"
Sr jeießnete bie ©ueßftaben in eine Sücfe jmifdjen bem SlprifofengejWeig unb
breite fieß um: „35u mußt’S aueß barunter feßreiben."
®aS SJiäbcßen naßm bie Äoßte. SS ging feßr ferner unb toarb feßr untefer*
ließ, bocß ©otrab fagte, baS ©efrißet jufrieben betraeßtenb: „Scß tt>ei§, was eS
ßeißt, unb anbere braucßen’S nid^t lefen ju fönnen." ÜJieta’S $änbe faffenb,
feßwenfte er fie glüeftieß im Greife: „Scß !omme wieber unb ßeiratße bieß!"
„55aS wirb hübfcß", fagte fie, „bann brauche icß feine ©ifiten meßr bei ben
tangmeitigen Seuten ju machen!" Unb fie waren beibe glüeftieß, obwot SDteta
©rabow nach einigen üJtinuten faum meßr wußte, was fie jufammen in fo Ver¬
gnügte Stimmung unb Spieltuft gebraut batte, ©otrab wollte irgenbetwaS tßun,
um baS lange närrifeße ©efeßreibfet auf bem ©tatt nicht auSWenbig lernen ju
muffen unb reich ju werben unb fie ju ßeiratßen. 2lber WaS unb Wie unb Wann,
barauf fam nicht mehr bie -Siebe.
$ann fagte er einige Sage fpäter etwas oor ber gewohnten SDlorgenjeit:
„SBittft bu mich begleiten?"
„@ebft bu fchon in bie Schute?" fragte fie.
„9ieiit, es ift noch früh, ich 9«h e burchS gelb ßin."
Sie fprangen über ein paar doppeln; wie er oor ihr tief, baß ihr ©tief oott
auf ihn fiel, fragte fie: „SBo baft bu benn beine ©ücber?"
Sr antwortete rafcß: „®ic habe ich gefterrt in ber Scßute gelaffen", unb er
büefte fieß itieber unb pflüefte ©turnen am Sornranbe. Slltmäßlicß fammetten bie«
fetben fieß ju einem großen Strauß; SQieta fagte:
„®u, Wir geßen ju Weit, baß bu ju fpät fommft; ba ift feßon baS SBaffer."
„2)a finb welche!" rief ©otrab SDBeftebt jugteieß freubig unb fprang feitwärts
gegen einen Raufen großblüßenber ©ergißmeinnießt. Sr ßatte nießt beamtet, baß
fie in einer funtpfigen ©ertiefung ftanben, unb baS SBaffer ptatfeßte ißm bis an
bie ®nie herauf; aber feine £>aitb hielt ein ©üfeßet ber blauen ©turnen, unb er
fam mit gtänjenben Slugett juriief. $ocß baS Süäbcßen fagte f)atb beflommcn:
„SBenn baS bie SRama fießt — bu ßaft ganj naffe güße befommen."
„5)ie werben Wol troefen, bis fie mieß wieber fießt! Sieß, ba ift’S!"
„2BaS fott icß feßen?"
„55er Scßwebe!"
$ic!ßt oor ißnen unterm SBatbranbc fpiegette jeßt ber Slußenßafen; bureß bie
rußige ©ueßt jog unter ©eifeßung alter Segel bie feßwebifeße ©rigg mit Sreuj*
feßtägen langfam ftatttieß ber offenen See ju. 2tm Stranbe tag eine fteine Solle,
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Der UlmenFrug.
655
ein SRatrofe faß barin unb rief nun burdj bie Uferftiße: „9Jta! to, 3ung! 3d
baeß aß, bat §art weer bi in be Söjen bat fußen, ©au! ©au! ®a’g jümmer
fo’n beten ©muggelfram bi, man Weet nieß, ob be Dt ober be ©cßotmeifter ober
be Sagt iticf) achter giint fummt! SSat’g bat benn öör’n tött ©wutf, be mit
bi ftüggt?"
3Jteta faß ben ©Ziffer feßr erftaunt an; nun reidßte Sotrab ißr ben SBIumen*
ftrauß unb fagte:
„SeWaßr’ fie — toenn fie aueß troefen Werben — unb benfe an mieß babei!"
®ie Stimme feßfug ißm etwag über.
„3a, Wag Wittft bu benn?" frug fie erfeßredt.
„$u Weißt ja — fort — frei unb reid) — unb bann Wieberfommen —"
©r ßatte ißre beiben $änbe gefaxt, „Suntm! Summ!" maßnte ber SKatrofe,
unb er fprang in ben Staren.
®em 9Räbdßen !am jeßt erft auf einmal ein Serftünbniß, wag gef(ßeßen foßte.
Sie griff nach bem ©ootranb unb ftieß aug: „3cß wiß mit — icß Wiß mit!"
„9lee, tütt $eent, bat geit nidj; fo’n Srebbentöeß fönt Wie op’t ©<ßip nid)
brufen."
®ie Soße ßog, fräftig abgeftoßen, auf bie blanfe 3täcße ßinaug. SKeta ©rabow
rang üngftlicß bie £mnbe; fie wußte nitßt, wag fie badete unb fagen woßte, unb
rief fcßtutßgenb: ,,©r fann ja gar nidjt fo weg, er ßat ja gang naffe ©tiefet unb
muß erft nadj £>aug, um trodene angugießen, fonft betommt er^uften unb ©cßnupfen —
bitte — bitte —"
„3a, up’t ©ater ig bat natt, tütt ©Wulf, borum fparr bu bin gtünfen man
Webber retour", taeßte ber -Dtatrofe.
Sotrab SBeftebt rief: „Seb’ woßt, SBeate! ©ang gewiß!"
Sie ftanb ßütftog auf bem Weißen ©anbe unb faß, in ßeße Sßranen augbreeßenb,
ftumm bem fteinen jjaßrgeuge nadj, bag, eine gtimmernbe gureße ßinter fidß taffenb,
raf<ß auf bie fegetblißenbe, freujenbe Srigg juftog; eine Sadjmöüe feßoß mit
fpöttif<ßem ©djrei an ißt oorüber, bann ftetterte Sotrab wie eine Winjige Slmeife
brüben an bem feßwarjen ©tßiffgrumßfe in bie tpöße.
(©eßtuß folgt.)
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Wit JJarftutt im IDniffdjnt lUubsfagr.
J8on
loljamtes ßerg.
I.
1) 2)ie conferbatibe Partei im Weiche unb in Preußen, ihre ©eneftS unb ihr
ftrtyftaßifationSfern.
A tont seigneur tont honneur. beginnen toir mit bcn ©onferdatiben. 2)enn
feitbcm bie fogenannte „Steuer* unb SBirthfchaftSreform" einen Umfdhttmng in
unferer Politil unb in unferm Parlament $u SBege gebraut h<*t, feitbem bie bor*
malS fo jahtreiche nationaltiberale Partei nicht mehr bie &älfte ihrer ehemaligen
Stärfe hat, in fid} gefpalten unb ^um Xfyxl, trofcbem baß ihr bon £au$ aus eine
9trt goudemementalen Temperaments gleichfam jur anbern 9Zatur geworben, jur
Seit fich in einer entfliehen oppofitioneßen Stellung befinbet, ftetlen bie ©onfer*
batioen ben erften Präfibenten $um SReid^^tage* Sie fjabtn bie ©h rc un b bie Ser*
antroortlichleit ber oberften Seitung.
früher hatten tnir Simfon unb fjorrfeitbecf ju Präfibenten; jefet ftnb eS bie
Setjberoifc, ©oßter unb Sebefcoro. 3<h behatte mir bor, im Saufe ber 2luSein*
anberfefcungen unb Schilberungen, bie ich hi e ™tit beginne, eine ©haratteriftif beS
confernatinen unb eine folche beS liberalen PräfibiumS $u geben; benn eS ift in
ber Xhat fo, wie ber Sateiner fagt: „SBenn $toei baffelbe thun. bann ift eS nicht
mehr baffelbe/' Sch toerbe bann auch bie fünf genannten Präfibenten in ih* cr
©igenthümlichleit unb ihrer Serfchiebenheit barfteHen, unb baran einige lehrreiche
Semerfungen über bie ©efdjäftSorbnung beS Teutfchcn Parlaments, über ih re
hiftorifche ©nttoidelung unb über ihr SJerhältniß $u ber parlainentarifchen Tedjnif
unb Taftil anfttüpfen.
£ier miß ich mich barauf befdjränfen, nur brei Unterf^iebe jtüifchen ben
liberalen Präfibenten, Simfon unb gorefenbed, unb ben conferbatiben Präfibenten,
Sepbetoi^ unb ©oßler, heroor^uheben.
Tie beiben (extern, ebenfo toie ber jefcige Präfibent Sebefcoto, finb gewählt
auf ©runb eines ©ompromiffeS mit bem fathotifchen ©entrunt. Simfon unb
Sordenbed beburften eines folgen nicht. Sie erfreuten fich beS SlnerfenntniffeS
unb ber $lnerlennung aßer Parteien ohne 5tuSnahmc unb ftüpten fich au f
eine breite centrale ©runblage, nämlich auf ihren Stüdfjalt an aßen 9 Kittelparteien.
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Die Parteien im Deutfcpen Keidjstage.
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Die conferbatiben Präfibenten bagegen paben ben erhabenen ©effel nur ge*
ftfifct auf bie Älerifalen ju befteigen toermocpt, unb fie werben bon bem Dpton
Wieber perunterfteigen müffen, fobatb biefe Prätorianer ju murren beginnen.
3ur 3«tt freilich ift eine fotcpe ©efapr nicpt borpanben. ©S ift ja ein förm*
tiefer Pact gefeptoffen: Facio nt facias, id) wäple beinen §um Präfibenten, wenn
bu wäplft ben meinen jum Picepräfibenten. Docp
SKit beS fflefd)tcfe$ SUäcpten
3ft fein ero’ger 83unb ju flechten,
Unb baS Zentrum fcptDenft fidj fdjnell.
Wenn es baS SEBopt ber Kirche erforbert, §. 33. wenn eine Differenj mit PiSmard
entftept unb fiep bann bie ©onferbatioen, wie fie müffen, wenn fie ihre SKanbate
nicht preisgeben Wollen, auf bie ©eite beS lefctern fchlagen; ober Wenn Wegen
beS DabadSmonopotS, bon Welchem bie Paiern, auch bie bairifchen Ultramontanen,
nichts Wiffen Wollen, ein ©onflict entftehen foUte u. bgl. Ueberpaupt liebt ber
fathotifche ÄleruS aus bem ©üben, ber etwas bemofratifepe 3lnwanblungen unb
ein wenig fatope Sanieren hat, bie ftrammen unb fchneibigen proteftantifchen
©belleute aus bem ÜJtorben wenig, unb bie cpriftlicp;focial=conferbatioen proteftan*
tifchen prebiger, wie 2lbotf Spriftian ©tötfer, noch etwas Weniger. 2Ran mufe
nur bie Weinen fübbeutfehen Plätter lefen, in welchen biefe Herren ihren ber*
ehrten SBäplern Pericpte über ben SteicpStag, übet Perlin unb über preufjen
erftatten. Die fchönften barunter, unb jugleicp auch am giftigften gegen bie
norbbeutfepen ©belleute, waten bie beS bairifchen gelbfaplanS SucaS, ben man im
Parlament ben „Pruber ©traubinger" nannte. 3<P pa& £ mir f* £ aufgehoben;
wer aber einen fotepen ©epafc nicht fein eigen nennt, ber fann fich auch burch
fleißiges ©tubium beS „Paperifcpen Paterlanb" bon Dr. ©igt eilten Pegriff babon
berfchaffen. Da ift wenig ©egenliebe ju fpüren.
DaS ift alfo ber erfte Unterfcpieb.
Der jWeite befteht barin, bafj fowol baS Präfibium ©imfon als auch baS
Präfibium fjorefenbeef biete 3apre lang gebauert hat. Die Präfibentfcpaft bon
©epbewifc unb bon ©ofjler aber ging fo fchnell borüber, bafj fie fc^roerlid» eben*
folcpe ©puren wie jene jurücflaffen wirb im ©ebäcptnifj ber SJtenfcpen.
Der britte Unterfchieb ift eigentlich ber beieicpnenbfte. 8llS ©imfon bon bem
Präfibium jurüeftrat, ging er Wiebet nach fjranlfurt a. D. ©r war bon ber sella
curulis beS SticpterS hinaufgeftiegen auf ben pöcpften piafc, ben bie beutfepe Station
ju bergeben hat, unb ftieg bon bemfelben auch wiebet perunter auf ben nämlicpen
SRicpterftupl in Sranffurt a. D., ben er erft oiel fpäter mit bem beS SteicpSgericptS»
präfibenten bertaufepte.
5113 Sorden&ecf freiwillig abbanfte, feprte er jurüd in baS berliner StatppauS,
baS fiep auep neben bem JReicpStagSgebäube ber 3 u ^ un ft immer noep wirb fepen
laffen fönnen.
DaS erinnerte an SincinnatuS, welcper, naepbem er bie Stequer unb Polster
geworfen unb baS Paterlanb wieber aufgeridjtet patte, ju feinem Pflug jutüd*
feprte, ober wie einer unferer berüpmtcften conferbatioen ParlamentSrebner in
miSoerftänblicper StuSlegung unb s 2lnwenbung beS Jporajifcpen PerfeS: „Paternn
Unfece Beit. 1882. I. 42
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Unfere <geit.
rura bobus exercet suis", in ettu öS gu feufolifdjer SBeife [ich auSbrüctte: „ju fei«
nen österlichen Ddjfen".
SaS erinnerte an ben Äaifer SioctetianuS, ber, nadjbem er bie gange bamats
Befannte SBelt regiert hatte, feine ftrone niebertegte unb nach ©alona ging, um
feine Sieben gu fdjneiben unb feinen ®oht gu bauen.
Sie $arlament£präfibenten öon ©ehbetoif} unb öon ©ojjter hobelten anbetS.
©ie öerliefjen ben ißräfibentenfeffel, um h*>h e preujjifche ©taatSämter eingunehmen.
©et)bemifc, ber nodj furg öorher Sanbrath beS görtifcer Greifes gemefen, mürbe
Dberprüfibent ber ißroöing @cf)lefien, unb ©offler, ber noch furg guöor einfacher
dichter am berliner OberöermattungSgericht gemefen, mürbe ©uttuSminifter.
3<h mitt e8 bei biefen brei Unterfchieben öorerft bemenben taffen, ©ie er«
fdjöpfen nicht bie ©ache, aber fie genägen hmr, um eine ©chitberung ber ©onfer«
öatiöen im SeidjStage einguteiten. ©tatt mcittSufige Setrachtungen über bie
Statur unb baS SBefen ber potitifdjen Parteien & la Öriebrich Sohmer unb SfaSpat
Stuntfchti anguftetten, menbe ich ntith fofort auf bas ©oncrete, inbem ich f Q 0 e:
Sie ©onferöatiöen fßreufjenS bifben ben flern ber conferöatioen ißartei im
Seutfchen SeidjStage. 0h ne i ene8 Element mürbe biefe gar nicht ejiftiren. Sen
Sern ber preufjifdjen ©onferöatiöen aber bitben bie proteftantifchen ©betleute unb
©rojjgrunbbefijjer, b. fj* bie „Sitter" auS Sranbenburg unb aus Sommern: bie
SBebell, bie Strnim, bie SBalbom, bie Seöefcom, bie Ouifcom, bie Socljom, bie
fßuttij}, bie Süberij), bie Sfcenptifc, bie ©chöning!, bie ÜDtaltgahn, bie Shabben,
bie steift, bie Sehr, bie öon ber fDiarmifc, bie üReHenttjien, bie di^toih u. f. m.
Ser Slbel auS ber fßroöing S°f en ift meift potnifch unb ber auS ©djlefien in bet
Segel tathotifch unb, mie ber fetige ^oöerbecf fagte, ein menig „angeöfterreidjert",
ein StuSbrucf, ber ohne Zweifel öon bem liberalen beutfdjen Sürgerthum in
Defterreich fehr angefochten merben mürbe.
Seöor ich ' n ber (Sharafteriftit ber ©onferöatiöen im Seichstage fortfahre,
muff ich eine lurge Semerfung über bie Politiken unb partamentarifchen Sppen in
Sreufjen öorauSfchicfen.
Siefer 2t)pen finb brei: 1) ber Sitter, 2) ber Sanbrath, 3) ber Sichter.
Ser lefctgenannte htefi früher, bcöor bie beutfdje Sei<hS=3uftiggefc&ge6ung in baS
Sebeit getreten, ber „fiteiSricfjter", unb bie ©onferöatiöen nannten ihn, anfnüpfenb
an bie naturroiffenfchafttiche Scrminotogie, ben „judex circularis". SaS SBort
hat getoechfelt, bie ©a<he ift biefetbe geblieben.
Ser Sitter ift conferöatiö, ber Sichter liberal. ©S ift baS Stilgemeine Sanb«
recht, meines fie fcheibet. SaS Sanbrecht ift bur<h unb burch liberal, atterbingS
nur im ©inne beS aufgeflärten unb mohlmeinenben SlbfolutiSmuS, unb fogar mit
einem gang leifen Seigefdjmacf öon ©taatSfocialiSmuS. Sem echten märfifchen
3un!er öom alten ©chrot unb ffom aber mar baS Sanbrecht ein ©reuet. Ser
alte ©enerat öon ber äRartoifj, ber gegen bie ©tein-^arbenberg’fche Seformgefefc«
gebung fronbirte unb in bem, maS mir anbern bie „SBiebergeburt ißreujienS"
nennen, ben „tiefften Serfall beS Staates" erbticfte, fchreibt noch am 28. SJlärg
1823 in einer Senlfchrift, melche er bem bamaligen fihconpringen, fpütern fiönig
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Die Parteien im Deutfdjen Heidjstage.
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griebriZ 32}ilf)elm IV. überreizte (benn griebriZ SBiZelm III., ber Urheber jener
^Reformen, Wollte Bott ben SOtarroZ’fZen Sfcreniiaben nichts (jäten), nadjbem er bie
befannte „gute alte 3«t" gefe^tlbert:
„... SRun fam ba« Stilgemeine SanbreZt. ©on ben SRiZtern Würbe nun niZt
meljr Senntnijj be« Sanbe« erforbert. @ie fonnte burZ blofce gertigfeit im 9?aZ s
fZlngen erfejjt werben. ®ie ©runbbefi^er" (b. i. bie SRitter) „fielen mit allen tljren
gantilien* unb ©ermögen«angelegenljeiten unter bie Slu«fprüZe be« neuen ©efefce«,
unb ba halb barauf auZ ben ©ürgertiZen allgemein erlaubt Würbe, abelige
©üter" (^Rittergüter) „ju acquiriren" (ba« gefZaf) übrigen« auf Slnfteljen BerfZul»
beter 3?itter, WelZe fiZ niZt meljr galten fonnten), „fo ging ein ©erfaufen,
Saufen, ©ertaufZen ber ©üter nor ftZ, ° on bem man bi« baljin feinen ©egriff
gehabt Ijatte."
$af? uon nun an ber Staat, ftatt naZ SBiHfür, naZ ©efefcen regiert werben,
bajj ber SRiZter (fogar auZ ber SßatrimonialriZter), ftatt naZ SRüdfiZten unb
©epflogenfjeiten, naZ Slllgemeinem SanbreZt riZten, bafj biefe« SanbreZt niZt
nur für bie misera contribuens plebs, fonbern auZ für ben IjerrfZenben ©runb»
fierrn, für ben SRitter, gelten foHte, ba« war üjnt natürliZ ein Stein be« Sin*
ftofje«. ®r fonnte fiZ baljer mit bem SanbreZt trojj manZer IjoZconferoatioet
SlnfZouungen, WelZe gelegentliZ in beffen ©injeZeiten Ijernortreten, burZau«
niZt befreunben.
®efto leiZter fiel bie« bem SRiZter. SRationaliftifZ gebilbet, gewann er bem
neuen SReZt fZneQ ©efZntad ab; unb Wenn itjn ba« ©efejjbuZ auZ in manZen
Stütfen fetjr befZränfte, fo erEiö^te e« boZ WefentliZ ba« Slnfeijen be« riZter»
liZen Stanbe«.
sieben unb jWifZen bem conferBatiBen SRitter unb bem liberalen SRiZter,
WelZe einanber abtöfen, feljen Wir einen britten politifZen ®ppu« in unfern
Parlamenten. SEBir Ijaben SRitter»Sammern gehabt. • 28ir Ijaben SRiZter»Sammem
(ober Srei«riZter»Sanbtage) gehabt. Slber Wir Ratten in ©reufjen auZ eine
SanbraZ«=Sammer.
Seiner ber conftitutionetten Staaten Europa« l)at je fo etwa« befeffen. StuZ
möZte iZ niZt behaupten, bajj wir barum ju beneiben wären.
6« ift aber eine „bereZtigte @igentl)ümliZfeit": ber politifZe Sanbratlj. ®er
alte preufcifZe Sanbratf) fretliZ, ber primus inter pares, ber angefefienfte, ein»
flufjreiZfte unb gefZeitefte SRann in bem Steife, ben bie Srei«eingefeffenen felbft
auf ba« SZilb gehoben l|aben unb in beffen $änbe auZ ber Staat feine localen
gunctionen legt, ift eine BortreffliZe ©inriZtung. ®iefer SanbraZ ift ber ©ater
feine« Sreife«, er ift untrennbar mit benifelben BerwaZfen. 6r füfjlt fiZ glüd»
liZ, toeil er ring«um bie grüZte feiner Xfjätigfeit reifen fieljt. ©r will nie
etwa« anbere« Werben. StuZ bann niZt, wenn er conferBatiB ift unb pm Stb»
georbneten gewählt Wirb, ©eifpiele erläutern bie SaZe. ©in folZer SIbgcorb»
neter, ein foIZev SanbraZ ift £>err Bon 3Reper=Slrn«Walbe. 3m Slbgeorbneten»
ljaufe maZt er bem Zm oorgefejjten SKinifter be« Innern bie fZärffte Dppofition
in ©etreff ber fogenannten „SeIbftBerwaltung«"*Segi«Iation. Irojjbem werben bie
betreffenben Entwürfe ju ©efejjen erhoben. £>err Bon SRetjer feljrt prüd naZ
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Unfere <3eit.
StrnSroatbe. Da ift er triebet Sanbratt) unb nicht mehr tßolüifer. (Sr boQjie^t
bie ©efefee unb forgt für baS SBohl feines ÄreifeS. ©r miß niemals feinen Sanb*
rathsfife mit einem SWinifterpoften oertaufdjen. DaS ift ber tanbräthlicije Sanbratfj,
ber alte preufjifche fianbratf).
©twaS anbereS ift ber mobeme, ber potitifdje fianbratlj. ©eine ©pecialität
ift, baf}, fobatb er bie parlamentarifche Strena betreten, er fidj ju #öherm be*
rufen füljtt,
ÄIS ein atmfelig ©rattf»ier ju erjagen.
3bm gilt eS einen föftttc^ern tßreiS.
Die SBaljl f<hon ^at ihm große Schmerlen bereitet, unb er nahm ftch bor,
ftch bafür fchabtoS ju galten:
... toaS er fid) getobt
3n jenes StugenblirfeS .fjöttenquaten,
3ft eine beil’ge ®d)utb. (St roitt fte jagten.
SBenn ber ÄreiS einen folgen Sanbrath wähtt, bann muß er barauf gefaßt
fein, „it)n über ein Meines nicht mehr ju feljen". ®r ift fo „brauchbar", biefer
Sanbrath, baß bie Sefibenj bie '.ßrooinj um eine folche ©apacität beneibet unb
fie nicht wieber toStäßt. Der Sanbrath wirb §ütfSarbeiter irgenbeineS SKinifte*
riumS ober einer ber ©entralftetten bcS Seiches. Dann toirb er oortragenber
Sath, unb an bem obern ©nbe ber 3afo6S(eitcr toinft ber SJtinifter. 0b er baS
toirb, fann man freilich nicht toiffen; benn eS finb Siele berufen, aber nur
SBenige auSerroählt.
DaS alfo finb bie brei partamentarifdjen Dppen. Der Sitter ift conferoatio,
ber Sichter liberal, ber Sanbrath gouoeritcmentat. 3<h weine babei immer
nur jene ©attung, toetche man atS ben „politifchen" ober ben „ftrebfamen" Sanb*
rath bezeichnet. ©iS 1876 toar er ber reine SKancheftermann. Dann gehörte er
ju ben „200 Spartanern", an beren ©pifce ©arnbüter unb Söwe«®albe atS
iacebämonifch e ®oppelfönige ftanben. Das mar baS UebergangSftabium. ©eit
1879 ift baffelbe übertounben. ©eit 1879 fchroärmt ber ©ouoernementate für
ben „©chuft ber nationalen Strbeit", für baS DabatfSmonopot unb für einen tem=
perirten ©taatSfocialiSmuS, ja fogar für bie ©amoainfeln unb für ©olonifationen,
obgleich bisher bie preußifdjen Sanbräthe unb Sjfefforen noch feine ©etegenheit
hatten, ihre Datente für bie Slntagen überfeeifcher ©otonien ju betoöhren. Der
©rofje Mirfürft atterbingS hot einmal einen fotdjen Serfuch gemacht, aber er ift
übet geraden.
Die ©igenthümtichteit biefeS DppuS ift, baß er Weber conferoatio noch liberal
ift, Weber fdjufcjöltnerifch noch freifjänbterifch, fonbern tebigtich hoffnungSooßer
unb oieloerfptedjenber ©taatSmann „in abstracto", ober Wenn man eS lieber auf
franjöfifch auSbrücfen Witt atS auf tateinifch: „en tont cas".
Stuf bie ©onferoatioen „auS bem Seiche", b. h- ouS bem nicht ju fßreußen
unb nicht $u Defterreich gehörigen Deutfchtanb — atfo aus bem Sanbe ber ©adjfen
unb Schwaben, ber granfett unb ©aiern, ber hatten, Dhüringer unb SBeftfaten —
macht ber märtifche Sitter einen eigenthümtichen unb Wenig fpmpathifchen ©in:
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Die Parteien im Deutfdjen Heidjstagc.
66 \
bruef. ®er ^oE»e SteidjSabet ift etwas ganj anbereS als ber prenßifche Sanbabet.
®er ledere hat im Pergteich mit jenen ©ranbfeigneurS etwas entfdjieben „$)emo=
IratifdjeS". ©r ift Sanbmirtlj unb ©otbat. ®er SteichSabet liebt ben ÜJtilitär*
bienft nicht; unb Wenn er bemtodj bienen geht, fo §iet)t er Defterreidj bor, wo
geringere Stnforberungen geftettt werben. @r ift jum großen fattjolifc^ unb
berbanft biefem Umftanbe fein Vermögen. Xie nachgeborenen ©öfjne nämlich tour*
ben Priefter, erhielten einträgliche Pfrünben unb Sine euren, welche fidj bermöge
ber Stemtercumutation, bie jtoar baS Kanonifcfje SRec^t ftrengftenS berbot, aber bie
geifttich’toetttiche PtajiS erlaubte, in großer 3ahl auf einem Raupte bereinigten,
fammetten ©djäfce unb hinterließen fie ben ihrigen jur SBiebertjerftetlung beS
„splendor familiae". 3nt übrigen wirtschaftete ber beutfehe .fat£)oIifdje 9teich$*
abet burdiauS nicht beffer atS ber proteftantifche preußifche Sanbabet, aber auf
bem bejeidjneten SBege wußte er baS SKanco wieber ju erfefcen, Währenb bei bem
preußifchen Slbet in ©rmangelung einer ©inrichtung, wie bie Primogenitur beS
engtifchen StbelS, fich ber Pefifc burch Xh £ üung jerfptittern mußte.
Xer Heine Stbet in bem übrigen Xeutfdjfanb finbet fich auch nicht biel in ber
?trmee, fonbern bient mehr jur Xecoration ber jahlreichen Heinen Jpöfe. Stuch
gibt eS bort einen 2tbet, ber nicht auf feinet Schotte fifct, fonbern Wanbert, bon
einem £ofe jum anbem nach bem ©runbfafce: „Ubi bene, ibi patria."
Xie preußifchen Stitter hängen an ihrem Sanbe, aber fie wollen herrfdjen in
ihrem Sanbe. Sie h £ rrf<hten, „ehe bie fpohenjoflern tjereinfamen". ©ie haben
fich liefen nur fehr wiberftrebenb unterworfen. Stachbem fie eS aber einmal ge*
than haben, wollen fie mit ben 4?ohenjoHera «ab burch biefetben herrfdjen.
granj Siegtet, ber nidjt nur ein großer Potititer, fonbern auch «in wirtlicher
Xidjter unb genfer war unb burch feine unter bem Xitel „Stonbum" erfchienenen
Slobeflen ben PetoeiS geführt hat, Wie genau er bie SRart unb bie fföärter tennt,
pflegte ju fagen, ber märtifche Runter bezeichne ftch fetbft atS „gotteSfürcßtig unb
breifte". ©r habe bor nichts SRefpect unb glaube fich ju altem berufen, ©crupet
tenne er nicht, unb wenn ihn eines XageS ber König jum Xirector ber ©tero»
warte mache, fo werbe er, auch Wenn er fi<h bis baljin nur um Orbensfterne unb
nicht um bie ©terne am fjimmel betümmert habe, bennoch fofort erftaren: „3$
nehme baS 2lmt an; fo gut Wie ein anberer werbe ich «3 auch machen, unb
jebenfatts berftehe ich am beften ju commanbiren."
Sieben 8i«fll«t werbe ich nodj eine anbere Autorität anrufen. ®S ift Xtj«obor
gontane, ber ©efdjichtfchreiber ber preußifchen unb beutfehen Kriege, ber Xichter
unferer Siege, ber Perfaffer ber oortrefflichen „SBanberungen burch bie SERarf
Pranbenburg", in welchen er fich namentlich auch mit ben märtißhen Stifter»
gefchtechtem in tiebebotlfter unb eingehenber SBeife befchöftigt.
„Xiefer Sanbabet", fagt gontane (IV, 453 fg.), „ift im Saufe bon 400 fahren
jientlich unberänbert geblieben. SBirftich, eS lebt in biefem Stbet bor wie nach
ein naibeS Ueberjeugtfein bon feiner #errfcherfähigteit unb #errfcherberechtigung
fort, ein Uebetjeugtfein, baS jum ©chaben beS ©anjen ebenfowot wie ber ein»
jetnen %fyiU noch auf lange hin baS Suftanbelommen einer auf Principien unb
nicht btoS auf Porurtheit unb Sntereffe bafirten Xortjpartei berhinbern muß. ©ine
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662
Unfere 3 c ü*
fotche bebarf eben burdjauS beS britten ©tanbeS. @S wirb aber nur wenige
bürgerliche «HonoratioreS» geben, bie nicht — and) bei conferbatibfter ©chutung
unb Staturantage — burdj ben ©feuboconferbatiSmuS unfern StbetS, ber f«hliefe*
lieh nichts Witt atS fich fetbft unb baS man ihm bient, in peinlichste Ver¬
legenheit nnb Ijeßfte Sergweiflung gebraut Worben wären. Qmmer wieber bricht
eS burch, erweift eben noch gehegte Hoffnungen atS ebenfo biete Säufctjungen unb
macht ein hergtidjeS Sufammengetjen auf bie $auer unmöglich.
„3nbeffen es gilt, potitifcheS unb gefettfchaftticheS Stuftreten gu Scheiben, unb
was feinergeit bom ©ngtänber galt unb eigentlich immer noch gilt: «in ber grembe
bebrüdenb, aber gu H fl “3 entgücfenb», eben baffetbe geflügelte SBort ift auch Det ”
wenbbar auf unfern Slbet. Unb weshalb? ©infach beöhatb, weit er fich baljcim,
an feinem eigenen H er b, in fein botleS ©egentheit gu berühren unb aus ber Starr»
heit feines non possumas in ein alte SEBett fbmpathifch berüfjrenbcS laisser passer
übergutenfen Weife, ©r ift eben über Stacht ein anberer geworben. Sticht mehr
in bie $efenfioe geftettt, nicht mehr ein freiS= ober reich^täglich ©etagerter, ber
fich, ftricter ©efolgung alter laftif, am beften burch Stuöfätte gu fehlen glaubt,
entäufeert er fich einer ihm fcfetiefelich fetbft unbequem werbenben ©tachetrüftung
unb Reibet fich in baS ©etbftgefpinft feiner borborbertichen Xugenben. Unb biefe
lugenben heifeen: ein gut ©utmüthigteit, etn noch gröfeereS bon gefunbem
SDtenfchenberftanb unb ein atlergröfeteS bon Kritil. Unb biefe Kritil ift baS ©efte.
SDtit einem feiner Buhörerfdjaft fidh atsbatb mittheitenben ffiehagen beginnt er
ptöhtich alles unter bie Supe feiner ihm angeborenen ©fepfiS gu nehmen unb
babei StabicaliSmen taut werben gu taffen, Urtljeile bon einer gortgefchrittenheit,
alö flöffe nicht bie Stiptih ober bie Stotte, fonbern minbeftenS ber Hubfon ober
©otomac an feinem alten gelbfteinthurm norüber. Stil baS freilich nur als jeu
d’esprit, ohne bie geringfte Steigung, fich unbern 'lagS in atlernüchternfter SRorgen*
frühe baran erinnern ober wot gar beim SBorte nehmen gu taffen, aber auch
blofeeS ©piet fchon erweift eS fich atS bemerlenSwertl) unb berräth nuS gur ©e*
nüge, bafe etwas HoH e ^ nnb ©ewi^teS, etwas Esprit-fort=Hcifte8 in ihm fteeft, unb
bafe bie SBurget jener ©etbftfudjt, bie fo borgugöweife an ihm misfättt, in allein
■möglichen, nur nicht in ber ©nge feines ©cifteS gu fu<hen ift. ©r ift bietmehr
umgelehrt bon einem fcharfen unb einbringenben, ja, foweit tebigtich praftifhe
2)inge mUfprectjcn, bon einem umfaffenben ©tid, unb führt feinen ©jiftengfampf
nicht best) alb fo hört unb erbittert, weit er beS ©egnerS Siecht berlennte, fonbern
gerabe beShatb, Weit er eS erlennt. @r bermag nur nicht ben einen testen ©chritt
gu thun, ben bom ©rlennen bis gum Stnerfennen."
3Rit biefen SBorten gontane'S finb bie Sicht» unb bie ©chattenfeiten ber alt»
tänbifchen Stitterfdjaft, ihre gefettfdjaftlichen unb ihre parlamentarifchen Muren unb
Stfpirationen bortrefftich charalterifirt. SJtan fietjt barauS, wie wenig fie gu ©töcfer
unb ©enoffen pafet unb wie fefjr man ihnen unrecht thut, wenn man fie fchledjt*
weg für SJtucfer unb Kopfhänger hielt- ©ie finb ebenfo wenig „geubate" ober
„©chnapphähnc" unb „©tegreifritter", Wie ihnen ihre geinbe itachfagen.
Merbingö im S n h re 1848 warfen fich bie Stitter ben ©rieftern unb gromnten
in bie Sirme. Mer eS war ein 2lct ber ©ergweiftung. ©ie wollten (beim fie
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Die Parteien im Seutfdjen Scidjstage.
663
badjten, baS gebt ja bodj üorüber) lieber Don ben frommen bemuttert, als Don
ben $emofraten aufgefreffen toerben. ®ie AbtöfungS* unb Steuergefeftgebung
ftnitt ihnen tief in baS Steifet). (Sie fürchteten, eS »erbe noch Schlimmeres
tommen. Sie hotten Aboocaten unb Sdjriftgetehrle nöttjig, um ihre Sachen mit
ber Seber ju führen. So tarnen fie an bie Stahl, Seo unb ©ertach. Stahl War,
fo fetjr man ihn auf bem ©ebiete ber SBiffenfdjaft fc^äfeen mufj, auf bem ©cbietc
ber fßotitif ein SopE»ift. ®er „Sunbfchauer", ©ertach, unb ber „gelähmte hattifcf)c
Söwentroft", Heinrich Seo, Waren ber Sieberfcftlag jener romantifchen Schute,
Welcher anfangs tjimmelftürmenb War, bann fatonfäftig Warb, um fich Währenb
ber SeactionSzeit ber fünfziger Qahre atS h oc h officiett ju geberben, ©ertach unb
Seo fchwärmten für ein SRittelatter, Wie eS niemals gewefen, am atterwenigften
in ber Streufanbbüchfc beS ^eiligen Sömifchen Seichs. ®iefe ^ierop^antifd^e
Somantit, welche bamatS höchften Orts mit hulbooHen Stielen angefehen würbe,
hafjte baS germanifche SotfStönigthum unb gab bem bftzantinifchen tegitimiftifchen
fßriefterfönigthum ben Sorjug. Sie fchwärmte für bie reactionären ©uriofitäten
unb Antiquitäten beS ttein- unb mittelftaattichen ißarticutariSmuS unb gab bem
föberatiftifchen SunbeStagSWirrwarr ben Sor^ng Dor einem geeinigten SJeutfdjlanb.
Sor altem aber hielt fie um Schuft unb ©unft an bei bem 2Retternich’f<hen Oefter»
reich, fobajj ber atte tapfere Arnotb Suge im 3orne behauptete, bieS ißreufjen
fomme ihm Dor Wie ein Unteroffizier, ber bei Defterreich auf ©ioitoerforgung
biene.
$och baS war eine bnreft bie Stürme ber Seit herDorgerufene eigentümliche
unb Dorübergehenbe Sichtung. Stahl, ©ertach unb Seo haben bamatS Wol für
bie preu^ifc^en Sitter baS SBort geführt, aber fie Waren feine Runter unb haben
niemals einen wefenttichen ©inftufj geübt auf bie wirtlichen Runter, bie fich nut
ihrer atS Schriftgelehrter bebienten. $iefe Seiten finb Dorüber. 3eftt benft ber
Sitter mehr an ben ©etreibejott als an alle Somantit, unb mehr an bie in
ißerfpectioe geftettte Abfcftaffung ober Abminbetung ber ©runbfteuer atS an „baS
himmtifche Serufatem" beS £>errn Don ©ertach. ®er tefttere ift nach einet fetjr
langen Siebenfehtäferei, in ber ÜRitte ber fiebjiger Satire, Wieber einmal als Ab»
georbneter im preufjifchen fßartament erfchienen. Aber ba intereffirte fich niemanb
mehr für ihn atS bie Uttramontanen. 2)ie alttänbifdhen ©onferoatioen jueften
bie Sputtern unb fügten: „3ft boch recht att geworben, ber gute SRann!" ®aS
War ein Srrtljum. ©r hatte fit iw ©egentheit, troft feiner 70—80 3 a h re , eine
bewunbernSwerthe ©eifteSfrifche erhalten. Aber er pafjte nicht mehr in bie ©egen*
Wart unb Würbe namentlich Don feinem Dormatigen tßarteigenoffen unb Äreuj»
}eitungS=©oIIaborator, bem dürften SiSmarcf, atS ifotirt ftehenber wunberticher
„Säutenheitiger" ganz unbarmherzig oerfpottet.
@S ging ihm ganz ähnlich wie bem guten fßrofeffor Sictor Aime £>u6er, ber
belannttich auf bem ©ebiete ber romanifchen Sprachen unb auf bem ber focialen
Setbfthütfe feht AdjtungSwertheS geteiftet. @r War auf firchtichem ©ebiete auf»
richtig fromm, auf Politikern hod)conferöatiü, burch unb burch Somantifer. 3m
3ahre 1844 pubticirte er in SJiarburg, wo er bamatS UniterfitätSprofeffor war,
eine potitifchc Srofchüre „Heber bie ©temente, bie 2Rögtict)feit ober Sothwenbig»
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66$
Unfere ^eit.
feit einet conferbatiben ©artei in 2)eutfd)lanb". ®ieS lenfte bie Slufmerffamfeit
beS SönigS griebridfj SBitljetm IV. auf iljn. 6r Würbe an bie Uniberfität
©erlitt berufen, weniger um ©ortefungen ju galten — et braute fein CoQeg
ju Stanbe, Weit man ifjn, mit Unrecht, als einen „Studer" auSgefdjrien hatte —
als um für bie conferbatibe @adje nach jeher Stiftung, namentlich pubticiftifdj
tfjätig ju fein. Siit bem Satjre 1848 organifirte fidj bie ©artei bet Sitter in
bet oben gefdjitberten SBeife. 3h r journaliftifdjeS Stunbftüd Wat Hermann
SBagener, genannt bet fiteujjeitungSsSBagener. 2)er gute $uber fonnte aber mit
iljr nicht auStontnten. 6t fam mit einer entfdfjiebenen Stbneigung gegen ben
SiberatiSmuS, wetten et „Sebolution" nannte; et ging mit einer nidjt geringem
Stbneigung gegen bie Seaction, als beren Präger et bie „Sitterfdjaft" bejeidfjnete.
SIm 21. $uni 1851 fam et um feine 6ntlaffung ein. 6t erhielt fte unb naljm
Stbfdjieb mit einet ©rofdjüre, welche er „als eine Slrt oon Xeftament unb
Stnbenfen" beim Abgang oon ©ertin publicirte unter bem Xitel: „©rndj mit
Sebolution unb Sitterfdjaft." 6r wirft barin bet „Sitterfdjaft", b. t). bet
bamatigen conferOatiben, politifdj »partamentarifdjen Partei Oor, fie habe fidj bei
©efümpfung ber Sebolution fetbft auf rebotutionäre ober contrerebotutionäre SBege
betloden taffen unb ftdj namentlich bei bet grage bet ©ilbung ber 6rften Kammer
gar leidjt in bie @djwüdjung bet fönigtidjen Stacht gefunben unb nut bahin ge»
ftrebt, bie bem Könige entjogene ©emalt auf bie ©runbariftofratie ju übertragen.
„6ine fitttiche ©erpflichtung", fagt $uber, „hiergegen aufjutreten, fanb ich erft, als
bie Seihte entfliehen mit bem Streben h«bortrat, ih r boctrinäreS ©rogramm
einer fogenannten „ftänbifdjen" Stonardfjie über bie ©tenjen einet Seftauration
beS bormürjtichen ©tatuSquo hinaus ju berwirflidjen." 6t erneuerte feine ®n*
griffe in noch weit fdjneibigerer SBeife in ber 1862 publicirten ©rofchüre: „$ie
SladjtfüHe beS altpreußifdjen SönigthuntS unb bie conferbatibe ©artei."
§uber wieberljott hi« mit noch größerer §erbe ben alten ©orWurf, baß baS
tefcte Streben ber 6onferbatiben nur bahin gehe, ber Slriftolratie bie $errfdjaft
neben ober über bem Könige ju fichem, wie man ja fdfjon baS SBort habe hüten
mflffen: wenn bie preußifche gähne in ben §änben ber Segiemng wanfe, fo werbe
fte im ^errenfjaufe hoch emfwrgeljalten werben. 6r beftritt eS, baß baS &Snig»
thum biefer ©artei bie Settung aus ber Sebolution bon 1848 berbanfe; baS
Sönigtljum habe jich fetbft gerettet, als eS bie in ber Stoffe beS ©olfeS ruljenben
tohalen ©efinnungen aufgerufen habe, unb bie große Stehtjahl bon benen, welche
in ber $eit ber Ärife für baS Sönigttjum eingetreten Wären, habe nicht baran
gebadßt, baß bie conferbatibe ©artei fortan regieren folle, fonbern fie habe baS
alte tünigliche Segiment wieber aufrichten wollen. 2)ie ©artei habe eS aber
berftanben, bur<h gefchidte Stanöber ber fönigStreuen ©efinnung baS ©erlangen
nach $errfchaft ber 6onferbatioen unterjufchieben. 6r fteigerte biefen Singriff
bis ju bem SluSfprud): „®iefe ©artei ift nicht nur feine ©tüfce, fonbera fte ift
ein Stein am #alfe jeber Stacht, ber fie fi<h anhängt, bom Königtum bis jur
Sunft."
diesmal foHte £>uber'S Singriff nicht ohne SlntWort bleiben. Sie war bem
£reujjeitungS*SBagener borbehalten, welcher in feinem „Staats» unb ©efettfchaftS»
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Die Parteien im Deutfdjen Hcicfystage.
665
ßejiton" einer Wo anberS tjerrütjrenben Siograptjie £uber’S folgenben Sufafc bon
eigener $anb beifügte:
„£uber'S wahre ^erjenSmeinung ift, baß ber Staat erft eine richtige gorm
gewinne, wenn er in eine große Suppenanftalt berwanbelt ift; unb wir würben
feinem fernem ßieblingSgebanlen, baß er jum oberften Dirigenten biefer Sin [tat t
beftimmt fei, gern bie Erfüllung wünften, Wenn eS möglidj wäre, baß feine ©er»
fudje unb ©emütjungen in Keinen Greifen jemals einen großen hiftoriften Staat,
unb jwar allein ausfüllen tönnten."
3« ber Dljot, eine eigenttjttmtidfje Strt ( ein EonberfationS*£ejifon ju fdjreiben
unb einen conferoatioen ißarteigenoffen ju tractiren in einem StaatS=2Börterbut,
baS borjugSWeife ober fogar auSfd)tießtic^ für Eonferbatibe beftimmt ift!
SRot merfwfirbiger aber ift eS, baß t)ier ber ^reu^eitungS»SEBagener bom
efclufib» politif^en Stanbpunft gegen bie bietfeic^t etwas unpraftifdjen unb un»
Karen, aber {ebenfalls fetjr menftenfreunbliten unb Wohlgemeinten focialpolitiften
3teformplane bon ©ictor Slime £>uber einen fo ^ö^itifcfien Don anfdjlägt, wätjrenb
bot er, SEBagener, fo recht ber ©ater ber jefct graffirenben ftaatsfocialiftiften
Sette ift.
greilit War eS bent ©rofeffor §ubet nur um Leitung ober Sinberung ber
focialen unb wirtschaftlichen 9toth= unb SKiSftänbe ju thun. Unfere Socialbemo»
traten fowot als auch unfere Socialariftofraten, ober wie fie lieber genannt fein
Wollen, „Socialconferbatiben" (unter biefer girma würben fie feinerjeit in bem
„Daheim" befntigen), ftnb bagegen in biefent fünfte anberS beranlagt. ©eWußter»
ober unbewußtermaßen honbelt eS fich bei ihrem SocialiSmuS in erfter fiinie nicht
um Reform, fonbern um ^errftaftSjwede unb ÜRattfrogen. Doch ich breche hi«
ab, mit bem Sorbehalte, bei Erörterung beS ßapitelS bon ben Socialconferbatiben
barauf jurücfyufommen.
34 h<rte bie Epifobe £>uber nur h«onge$ogen, um barjuthun, baß bie
preußifchen Eonferbatiben ein eigentümliches ©eftlett finb unb baß eS nicht
ausreicht, baß man politift $ocf)torb unb firchlich Drthoboger ift, um fie ju ber*
ftehen unb ju lieben. Stut auf ben greiherro Sari bom Stein fann man fi<f>
in biefer ©ejiehung berufen. Er hotte gewiß bie größten ©erbienfte um ©reußen
unb hotte — baS läßt fich nid^t leugnen — bei all feinem SReformbrang eine ftarte
conferbatibe Slber, welche noch entfdjiebener in bem ljöh«n Älter fj«borirat. ÄKein
er liebte bie märüften Stitter nicht unb bie märfifchen SRitter liebten ihn nicht.
SRiemanb hot mefjr gegen Stein gefdjimpft unb geWüthet als ber bereits oben
erwähnte märüfdje 3unler bon ber SDlarWife. $ier tritt fo recht ber ©egenfafc
ju Dage jWiften bem SReitö* unb bem ßanbabel, jwifchen ber märKfchen 3unfer»
ftaft unb ber alten mittelrheinifdjen SteichSritterfchaft, Welt« ©tein angehörte.
Umgefehrt aber hot aut ©tein bem märliften ßanbabel gegenüber aQgu fefw baS
reitSritterlite ©ewußtfein he«>orgefehtt.
„3t"/ fogte « ihnen, „it unb meine ©orfahren hoben niemals jemanb
über uns gehabt als Saifer unb SReit-" @in anbermal meinte er, biefe ßeute
feien nur ju Unteroffijieren unb Ealculatoren ju gebrauten. Sittein folte bor»
übergehenbe leibenftafttite ÄufwaHungen tonnten bot au f bie Dauer baS Urtheil
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666
Unfere £eiL
beS Staatsmannes über ben Serth bei fpecigidjen SrruBfnihnms, an welchem
and; boS preugifche ^nnfert^nm feinen rühmlichen Sntheil hat, nicht beirren.
SRan fann bafür eine Steife Stiege ans feinen oertraulichen brieflichen Senge«
rangen anführen.
So fagte er $. S. (,»®riefe", S. 118«: ,,©al baS ^reu§entf)um betrifft, fo finbe
ich f)iet 10 SRtüionen äRentchen, bie eine militärn’dje, politifche unb inteOectneüe
©efdjichte nnb Setbftänbigfeit haben, benen bie Soriehung im 17. unb 18. 3 a hr*
hnnbert brei große Regenten gab, burd) bie eine große ©egenwart nnb ber ©raub
ju einer tjiedeicfit noch großem 3“fnnft gelegt tourbe. £>ierbnrch bilbete nnb
unterhielt fi<h in bem Solle, felbft währenb ber Rapoteoniichen $errfchaft, eine
itraft nnb ein innerer Unwille, toährenb bie fleinern unb mittlera SRächte in
Xentfchlanb, nnb befonberS ihr SJiilitär nnb ihr Sbel, {ich in bicfer Richtswürbig»
feit gefielen nnb für beren äufredjterhaltung beharrlich fochten.“
$iefe Semerfnng ift ebcnfo beachtenSwerth als wichtig. £er ReichSabel im
übrigen Ueutfchlanb, namentlich im Süben unb ©eften Pon $eutfchlanb, formte
fich mit bem „Rnere in servitium“ gar nicht genng eilen. 6r fcharte fich fogar
nm ben „©rogherjog goachim I. Pon Serg“ (SRurat) nnb um ben gajchingSfönig
Pon Seftfalen Qeröme). 2)er preugifcfje Sanbabel bagegen hol geh (mit wenig
SuSnahmen) folcher Riebertracht ftrengftenS enthalten, Pielmehr wiber bie 3remb=
herrfcgaft rebeüirt unb tapfer gefochten.
2) Sie ©anblungen ber conferoatiben Partei bon 1867 bis 1882.
Sn bem erften Kapitel habe ich Perfucht, ben preugifdfen Sern ber Partei,
welche geh jefct im Reichstage bie „beutfdjconferoatioe“ nennt, ju djarafterigren;
benn biefer preugifche Sern ift immer noch, toenngteich nicht auSfchlieglich, boch
porwiegenb maggebenb. 5)er Raine beutfchconfernatiP barf nnS nicht tauften.
3m ©egentljeil, er beweift für meine Ruffaffung. Rn unb für geh ig eS boch
auffaQenb, bag in bem Seutfdfen Reichstage eine fßartei es für nothwenbig hält,
mit auSbrücflichen, folennen unb ofgciellen ©orten ju Pergehern, bag ge „beutfeh"
fei. £ier aber erfegien eS auSnahmSWeife angejeigt, weil bie fßartei Pon $auS
aus fpecigfch preugifcf) ift. Sie Wollte — bieSnehme idh an, obwol eine authen*
tifdje 3nterpretation nicht Porliegt — bie Sergdjerung geben, bag ge nicht mehr
particulariftifch fei, unb bie Sonferoatioen, Welche fich aud) in anbern beutfdfen
lerritorien Porgnben, jum Seitritt einlaben. ®iefe ©inlabung ift benn auch nicht
ganj ohne ©rfotg geblieben; unb bie fßartei hot bie Richtpreugen fogar auSge»
jeichnet. ®en Sachfen SIcfermann j. S. hot ge jurn fßrägbenten gemalt, aller»
bingS nur jum Sicepräfibenten; benn ber Stuhl beS erften fßräfibenten mugte
„natürlich" ftetS einem preugifchen ©beimanne oorbefjalten bleiben, mochte er nun
ein Srauchitfdj, ein SIrnim, ein ©ogler ober ein Seoefcow fein. $ie Sübbeutfdjen
aber, Welche fich ben „$eutfchconferoatioen" angefchlogcn, hatten barunter in ihrer
■fpcimat einigermagen ju leiben. So ift j. S. ber babifche SanbgerichtSrath {frei»
herr Ülbolf pon SRarfchaD, ein SJiann Pon Senntniffen unb Serebfamfeit, im
£ierbft 1881 bei ber Reichstagswahl in SartSruhe»Sruchfal unterlegen. S)ie
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Die Parteien im Deutfdjen Heidjstagc.
667
biebern babifdjen SBäljter lonnten, trofj feiner hinreifjenben SBaf)treben, ben ®e*
bauten nicht unterbieten, er fei „in ©erlin bodj ä SBiffet ju Diel mit bene preijjifdje
3unter unb fonftige ^reujjeitungä=3Kcnfd^e fjerumgetoffe". Sie gaben bem national»
liberalen ^anbelslammerprafibenten unb ©antier Sari Sluguft ©djneiber ben ©or*
jug bor bem „2)eutfcf)conferbatiben".
gm gahre 1867, in bem Sonftituirenben SReidjStage beS Slorbbeutfchen ©unbcS,
unb auch noch jahrelang im ®eutfcf)en ^Reichstage, mürbe fte fdjledjtmeg bie
„conferbatibe graction" genannt; anbere nannten fie bie „Slltconferbatiben" im
©egenfajje ju ber „freien conferbatiben Bereinigung", ju meldjer bamatS fd)on
ber ©raf ©ettjuftj=$uc, ber gürft Sid)nomSft}, ber gürft ©lefj, ber $erjog bon
SRatibor, ber §erjog bon Ujeft unb ber ©raf ©enarb, fomie eine Steife gemäßigter
Sat^olilen gehörten, melche feitbem t^cils jn bem Sentrum äbergegangen finb, mie
ber ©raf ^ontpefd), tfjeilä bon bem Sentrum bei ben SBaljlen aus bem Sattel
gehoben rnorben finb, mie ber ®ompropft §oljer bon Srier unb ber Domherr
Äflujer non ©reSlau. S)ie Slltconferbatiben johlten bamalS 60, bie greiconferba»
tiben nur 39 SRitglieber.
©ei ben Slltconferbatiben fpielten bamalS brei SUtänncr eine h^orragenbe
SRoHe. 2)ieS maren erftenS Hermann SBagener, bamalS ©eh- ©egierungSratf)
unb bortragenber 5Rath in bem ©efammtftaatSminifterium ©iSmarcl’S; turj banach
bon bem lefjtern jum SabinetSrath für Sibilfachen bei bem Könige borgefdjlagcit,
metdje ©rnennung aber burch anbermeitige Sinflüffc tjintertriebeu mürbe; im
3at|re 1848 ©rünber ber „Sreujjeitung" unb bon ba bis 1854 ber £auptleiter
biefeS ©latteS, meldjem er feine in gemiffen Greifen bominirenbe Stellung errungen;
feit 1867 SReicfjStagSabgeorbneter für ÜReuftettin in ©ommern.
3»eitenS ÜRorifc Henning non ©lanlenburg auf 3immerhaufen bei ©lathe
in ©ommem, ©enerattanbfehaftSrath. Slachbem er fd)on auS ber parlamentarifchen
Saufbahn auSgefchieben, trug ihm ©iSmarcf nach ©elchom’S Abgang baS preußifdje
ÜJtinifterium für Sanbmirthfchaft an. Sr fthlug baffelbe aber aus, meil ihm bie
übrigen preujjifdjen SJtinifter „jn liberal" maren, namentlich ber ftreng conftitu*
tionelle ginanjminifter ßamphaufen.
SBie SBagener ber bortragenbe SRatlj unb intime SRathgeber ©iSmard’S, fo mar
©lanlenburg fein SllterSgenoffe unb 3ugenbfreunb. ®iefe greunbfehaft erlitt eine
Unterbrechung auS Slnlafj ber conferbatiben SBühlereien gegen ©iSmard, nament*
lieh ober ber bon bem SIbgeorbneten bon.$ieft»2)aber aufgefteUten ©ehauptung,
für melche fich ber letztgenannte auf ©lanlenburg als 3engen berufen hotte, ©eit*
bem ift bie alte greunbfehaft mieberhergefteUt unb fefter als jemals, ©lanlenburg
mar gemählt für 9tegenmatbe=9taugarb in |)interpommern.
©omol SBagener als ©lanlenburg finb unb maren in lirdjticher unb politifcher
©ejiehung ^ochtorieS; ber le^tere Slltlutheraner, ber erftere ÜJtitglieb einer <hrift*
liehen ©laubenSgefeflfchaft, melche fich felbft bie „apoftolifche" nennt, bon ben
anbern aber „Srbingianer" genannt roirb; er belleibete bei berfelben ein h°h cg
lirchlicheS Slmt, meines man mit bem litel eines „SngetS" ober menigftenS eines
„BiceengelS" bejeichnet.
©eibe maren bamalS bie £>auptloortfül)rcr ber Slltconferbatiben. ©ie unter*
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Unfere geit.
ftü|ten bamals, 1867 unb in ben folgenben Sauren, bie liberale unb nationale
©otitif beS ©unbeS* unb Leit$fanjler3, jebodj nidjt offne gewiffe ffiorbeljalte,
Welte ber ritterliche §err toon ©lanfenburg in baS ^ippologifdbe ©leitniß ein»
fleibete: „SBenn baS ©ferb eine Seit lang linfS galopirt ljat, bann Wirb unb muß
bie Seit lommeit, wo Wir eS aut wieber rettS galopiren laffen."
©elanntlit hatte Dorier ber ©unbeSfanjler baS ©leitniß gebraust: „Reifen
Wir nur 2)eutf(fjlanb in ben ©attel, reiten wirb eS fton fönnen."
92idE)t blöd in firc^Iic^er, fonbern aut in focialer ©egieffung hatten SBagener
unb ©lanfenburg ihre eigentümliche Stellung. Sie Würben feinerjeit in bem
in Seipjig erfteinenben „Scheint" als „triftlite ©ocialconferbatibe" bezeichnet
unb befungen, lange ehe man an ben $of» unb Somprcbigcr ©töcfer unb beffen anti«
fortfhrittliche ,,(£h r iftri<h'Socialen" gebaut h at * SBagener war eS, Welcher ben
©unbeSlanjler beranlaßte, fton 1866 baS allgemeine gleiche unb geheime SBahl*
recht, b. i. baS franjöfifte suffrage universel, borjuftlagen.
SBagener matte aus feiner Urheberfchaft burtauS fein $el)l. Er Warf mit
Lebensarten um fi<h, welche er bem SntperialiSmuS, jweite berftletterte Sluflage,
bem „Bas-empire", entlehnt hatte. 3« ber Leit$tag3fifcung bont 9. SKärj 1867
citirte fperr SBagener junätft bie franjöfifte ©heafe: „Sitte brennenben Partei»
unterfcfjiebe werben erlöften in bem enblofen SDteere beS allgemeinen Stimmrechts."
Slber bamit hatte er nicht genug. Er glaubte, biefen hochtönenben franjö»
fiftcn Lebensarten aus feinen eigenen ÜKitteln eine beutfte, praftift=realiftif<h e
Sttuftration beifügen ju mfiffen, Welche für feine conferoatiöe Suhörerftaft be»
rechnet War. Er fügte nämtit h^i«: baS ©olf Werbe fich in Sufunft überhäuft
nicht mehr für ©otitif intereffiren, fonbern nur not für retigiöfe unb fociale
fragen, ober wie er eS in feiner halb ftwärmerift »prophetiften, halb cpnift 5
braftiften SBeife auSbrüdte, nur not »für bie fragen beS $erjen3 unb beS
SLagenS".
3t fann inbejfen an biefer ©teile bie ©eftitte beS pfeuboconferbatiben unb
angeblit „teiftliten" ©taatöfocialiSmuS im ©arlament unb außerhalb beffelben
nitt Weiter tierfolgen. ®a3 Oerbient ein befonbereS Kapitel, in Weitem it
futen Werbe, barjuthun, baß berfelbe bon Weit älterrn ®atum ift als 1880, unb
baß Slbolf Eljriftian ©töcfer unb Slbolf SBagner (ber berliner ©rofeffor ber ffiolÖ*
Wirthftaft, nitt ju oerwetfeln mit Hermann SBagener!), Welte feit 1882 ofßciefl
an ber ©pifce biefer ffiereinigung finb, nitt als Originale, fonbern nur als Lach’
ahmer unb gortfefcer gelten fönnen, ober baß fie wenigftenS unter allen Umftänben
leinen Slnfprut auf ein Erfinbungöpatent haben.
3t habe not ben britten in bem altconferbatiöen ©unbe bon 1867 jn nennen.
®3 war ber alte 5)en$in, ber injwiften burt ben lob aus ber pariamen*
tariften Saufbahn abgerufen worben. Ebenfalls ein $interpommer. Er war oon
$auS aus ein bermögenSlofer SRüHerburfte (geb. 1800), würbe aber bon einem
menftenfreunbliten ©rebiger, ber fein latent entbecft hatte, unterrittet, ft® an 0
fit jum SKüljlenbefifcer, bann jum Littergutöbefifcer unb enbtit jum SLUgl*^
ber ©robinjiallanbtage für bie hinterpommerften ©reife ©tolpe unb Sauenburg
empor, bon wo er in ben ©ereinigten Sanbtag bon 1847 gelangte, ©eitbcw
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Die Parteien im Deutfcfjen Heicfjstage.
669
hat er in feinem Parlament gefehlt. ®r mar fogar SRitglieb beS längftoergeffe«
nen „©taatenhaufeS" in (Srfurt, 1848—53 SDiitglieb ber Stationaloerfammlung
unb ber ©rften Kammer in Breußen, feit 1854 SRitglieb beS preußifdjen 21b=
georbnetenfjaufeS, feit 1867 SJtitglieb beS Slorbbeutfcßen unb Seutfchen SReidjStagS,
bis ju feinem lobe. Unb was für ein SWitglieb! 6r hat, abgefehen non bem
gälte fermerer Sranf§eit, niemals bie parlamentarifdje ©ifcung oerfäumt, nicht
einen Sag, nicht eine ©tunbe. gmmer faß er auf bemfetben ißta^e mit bem oöllig
unbeweglichen gelben ©efidjt unb bem faltenreichen, aber fchweigfamen SJtunbe.
@r War ber Borftfcenbe ber conferoatiüen graction unb erfreute fid} nicht nur
bei biefer, fonbern bei allen Parteien eines Wohloerbienten ®nfehenS. gnfolge
beffen War er auch ftetS ber Stjef beS fogenannten „SeniorenconoentS", Wetter
aus Selegirten aller Parteien jufammengefe^t wirb, um gefc^äftlic£)e gragen ju
regeln, grüner fanb wöchentlich an einem Slbenb eine gefeQige Bereinigung oon
SDtitgliebern oder Barteien in bem 9teid^StagSfo^er ftatt. 2ttan oerfehrte bort auf
freunbfchaftIi<h s ColIegialifchem guße. -Blanche Berftänbigung Würbe ba erjielt,
manch gutes SSort geWecfjfelt unb manche $ärte abgefd)Iiffen. 2tn ber ©pifce
biefer Bereinigung £)at ebenfalls ber „alte Sennin" geftanben. gefct, feitbem bei
ben 2Bat)len unb bei ben fonftigen tßarteifämpfen eine fjtjperatnerifanifcffe SRoheit
unb Berwilberung eingeriffen, unb fid) aud) in ben 9teidjStag jener eigentümliche
©alonton jeitweife eingefetlichen, Welcher mehr barauf aus ift, ben ©egner ju
jerfleifchen ober wenigftenS bis auf baS Blut ju ärgern, als ihn ju wiberlegen,
ift eine berartige ©efeHigfeit unmöglich geworben.
Ser „alte Senjin" War natürlich bon $auS aus bürgerlichen ©tanbeS unb
ift erft bei ber fönigSberger Krönung 1862 Oon König SBilhelnt geabelt Worben.
Sieben ben genannten brei SotjenS hotten bie Sonferoatioen im ^Reichstage
oon 1867 außer SRottfe, welcher ihnen heute noch angehört, auch oier fiegreiche
gelbherren aufaumeifen: an ber ©pifce berfelben einen föniglichen Brinjen. Sief er,
Brinj griebrich Karl, 1866 ber (Sommanbeur ber (Srften Slrmee in Böhmen unb
1864 ber (Srftürtner oon Süppel, War fehr beliebt, auch bei ben liberalen Hbge*
orbneten, bei welchen er in ber Brioatunterljaltung feine Ueberjeugung unb fein
Urtheil mit echt folbatifcher Unumwunbenheit auSfprach. Sie brei anbern waren
Gberharb §ermarlh genannt Oon Bittenfelb, ber am 29. guni 1864 bie gnfel
SUfen genommen unb 1866 bie ©Ibarmee fo erfolgreich geführt hot, ©buarb Bogel
oon galcfenftein, ber fchon 1813 an ber Kasbach als freiwilliger gäger mitge*
fochten unb als ßommanbeur beS 7. SlrmeecorpS feine beiben ©egner am ÜRain
aut ber Steiße herum über ben Raufen gerannt hotte, unb enblich Karl griebrich
Oon ©teinmeh, ber 1813 fchon als Offizier mit babei war unb 1866 an ber
©pifce beS 5. SlrmeecorpS fich bei Slachob unb ©falifc h ert, orgethan hotte. £>er*
Warth fprach gar nicht, galcfenftein unb ©teinmefc jeher nur einmal. Ser erftere
etwas romantifch; ber lefctere, man fann eS wo! nicht anberS auSbrücfen, ein
Wenig groteSf. Bei Beratung ber Slrtifel beS BunbeSoerfaffungSentWurfS,
Welche oon bem BunbeSfriegSmefen honbeln, hotte ein SRebner barüber geflagt,
baß bie Slrmee fo große Summen „in unprobuctioer SSSeife" oerfdjlinge.
„3BaS?" antwortete ©teinmefc, „bie Slrmee fotl unprobuctio fein? ©eltfam!
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670
Unferc
©etrachten ©ie ftdfj bo<h einmal bie neuen Sßrodinjen: ©cbleSmig*£oljtein, ^an*
nooer, Reffen, Staffau unb granffurt am SDtain — mer ^at benn ba$ alles pro*
bucirt als bie Slrmee? 2BaS?"
Sagegen mar benn freilich nicht aufjufommen.
Sie ©onferOatinen maren (im ©egenfap jn ben greiconferoatioen, melche beit
„$önig Stumm" unter fid) Ratten unb einige an inbuftrieHen Unternehmungen
betheiligte ©belleute) batnalS alle greihänbler, unb ftnb e$ geblieben, bis ber
9teich«fanjler in ber SBirthfchaftSpoIitif entgegengefefcte SBege einfehlug.
Ueber^eugung ging bal)tn, baß fie non ben liberalen 3nbuftriefchufeöHnem ber
meftlichen 5ßrooinjen auSgebeutet unb glei<hfam als ©oloniallanb behanbelt mürben.
3n bemfelben ©inne h ö Ue auch frh on 1847 unb 1848 Otto non öiSmatcf*
©chönhaufen, barnalS Seicbhauptmamt ju ©rieft in ber Slltmarf, auf bem ©er*
einigten fianbtage in ©erlin, morin er als SDtitglieb beS ©tanbeS ber 9titterfchaft
ber Sßroninz ©ranbenburg faß, gegen bie Herren #anfemamt, non ©eeferath, öon
ber £epbt u. f. m. polemifirt.*)
®S mar am 25. 9Jiai 1870, als bie ©onferoatinen mit ben greihänblern aus
bem liberalen Säger fieh nereinigten $u einem SJtanifeft, baS in allen angefehenen
Beitungen SeutfchlanbS neröffentlicht unb auch fonft noch oielfach oerbreitet mürbe.
Saffelbe lautete mie folgt:
Aufruf zur ©ereinigung beutfeher greihänbler.
Sie Unterzeichneten, SRitglieber ber oerfchiebenften ^olittfc^en Parteien, ftnb einig in
ber Ueberzeugung:
Saß bie rein tuirfaftltc^en gntereffen am gebeihlichften entmicfelt unb am geredj*
teften geregelt merben burdf) ben freien SluStaufd); baß bie SlrbeitStheilung zmifchen ber»
febiebenen Sänbern ben SBohlftanb ebenfo fyebt tuie bie SlrbeitStheilung ziehen SanbeS*
genoffen; baß bie fogenannten ©cbufczölle, melcbe bie internationale SlrbeitStheilung h*m*
men, befonberS fcßäblich finb für Seutfchlanb, beffen hoch*ntmidfelte gnbuftrie in allen
Btoeigen fdfjon einen bebeutenben Sheil ihres Slbfa&eS auf bem großen SBeltmarfte gefunben
hat; baß bie ©djufczölle, außer ihrer allgemeinen ©dfjäblichfeit, ben ©tempel einer offen*
baren Ungerechtigf eit an fich tragen, inbem fie auf erlegt unb abgemeffen ftnb in ber TOficljt,
nicht ©innahmen für ©taatSzmecfe, fonbern erhöhte Slbfappreife zu fchaffen zum 97u|en
ber probucenten befonberer SBaarengattungen, unb zmar aus bem ganz einfachen ©runbe,
baß man fünfilicbe 3nbuftrien für unfer Kapital erziehen müffe, mährenb eS notorifcb
überall an Kapital fehlt für unfere naturmücbfigen gnbuftrien; baß alfo ber auf uns
laftenbe SReft beS ©chupzoflfhftemS gänzlich befeitigt merben müffe.
SBiemol in ben lepten fahren erfreuliche ©dritte in ber Ermäßigung non ©chufczöüen
gesehen finb, fo laßen auf uns noch Ueberbleibfel beS ©djupfpftemS, melcbe um fo un*
erträglicher finb, als fie auf einzelne SanbeStbeile mit befonberer ©dfjmere brüefen. SaS
Sntereffe für Bolffragen ift fehr erhöht morben burch baS 3nSlebentreten beS BoHparla*
mentS, beffen Debatten gezeigt haben, baß für eine burdfjgreifenbe freihänblerifche Reform
beS BoÜOereinStarifS bie Beit günftig ift, menn man fie nur fräftig ergreift unb benupt
burdf) ein folgerichtiges Bnfamrnenmirfen aller greihänbler gegenüber ber gefdjloffenen unb
mächtigen ©oalition ber ©egenpartei.
*) ©gl. „föeben beS 51bgeorbneten non ©ismarcf *©chönhaufen in ben Parlamenten
non 1847—51. ©erauSgegeben unb mit Einleitungen unb Slnmerfungen nerfeheu non
Sheobor ©iebel, Dftebacteur beS «Reichs* unb ©taatS*2lnzeigerS»" (©erlin, #epmann, 1881)«
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Die Parteien im Deutfdjcn Heicfjstage.
67 t
$af)er ift attfeitig ber SBunfdj rege geworben, eine Bereinigung ber beuifdjen grei=
bänbler ju beranlaffen, unb bie Unterzeichneten finb jufammengetreten, um biefeS giel
berbeizufüljren.
Sieben ber gebotenen Agitation für einen reinen ginanzzotltarif entffef)t für bie grei>
bänbler bie unabweisbare Pflicht, nicht unthätig ju fein gegenüber ben Begebungen ber»
jenigen, welche, in irrtümlicher Sluffaffung ber wirtbfcbaftticben (Sulfur, bon einer will*
fürtichen Umgeftaltung berfelben fprechen unb auf (Sjperimente mit bem Kapital bringen,
beren unabweisbare folgen hoch nur in ber Serftörung eines erheblichen X$eiIeS ber
SRittel zum Unterhalt ber Sohnarbeiter beftehen fönnten unb fdjwereS Seiben jumeift ben
untern BolfSfdficbten bereiten müßten. (Sine Aufgabe ber Bereinigung ber beutfehen grei*
hänbler wirb eS fein, unermüblich biefe Berirrungen beS SocialiSmuS blohzulegen.
Unter biefem Stufruf fielen bie Unterfdjriften ber Herren öoti Behr=@chmoIbow,
greiljerrn oon $ütlefen=ßuggen, ©raf Sehnborff»©teinort, oon Sebehow=©offow,
Dr. ßuciuS auf ®tein*Balthoufen bei ©rfurt (beS jefeigen lanbwirthfchaftlichen
KinifterS), St. 3 . -Koste bon Bremen, KarfuS StnloniuS Stienborf (fpäter heraus»
gebet ber ,,9Igrari|cfeen ßanbeSzeitung"), bon ©änger=©rabowo, bon Schöning»
Klemmen, bon ÜhabbewBahnerow, bon Unruhe=Bomft nnb bon Sßebemeher=@djön»
rabe (beS befannten fpätern Häuptlings ber getreibefcfeufe^öCtnerifcfeen Agrarier),
noch in boötommenfter ©intracht neben ben ÜRamen bon 3°h n 5ßrince»©ntith,
Dr. Braun*2BieSbaben, oon gorefenbeef, bon H en nig, fiammerS*Bremen, Dr. Sllejanber
Ketjer-BreSlau, Dr. ©tephanUßeipzig, ©tephawßönigSberg, bon Unrutj^Kagbe»
bnrg, Dr. 2Bitte=9toftocf nnb Dr. 2Botff=@tettin.
®er tefctgenannte, Dr. SBotff, hat biefeS Kanifeft in feiner „Biographie oon
Brince»©mitf)"*) reprobneirt, inbem er gotgenbeS fein^ufitgt:
„ ... Sticht nur Kitgtieber ber berfchiebenften potitifchen ^Parteien ftanben in
biefem Somite einträchtig nebeneinanber, auch bie gührer ber fpätern Stgrarier,
bie feeftigften Betämpfer beS «KandjeftertfjumS», hatten fich hier in alter 3orm
unter bie gührerfefjaft beS SJtanneS begeben, welcher, wenn itgenbeiner, Stnfprudj
baranf hatte, als Stepräfentant beS aKanchefterthumS» 3 « gelten, fomeit biefer
Stame überhaupt auf beutjefee Berhättniffe unb Begebungen paßt."
Bon ben ©onferbatiben, welche Wir in biefem Somite unter bem Borfifcc
Sohn Brince»@mith’S bereinigt finben, gehören feit 1878 faft alle jn ben Slgrariern
ober }u ben „©taatsfociatiften", ober ju ben ©etreibefchufczöttnem, welche für ben
Snbuftriefchu&jott geftimmt, ber, Wie eS in jenem Aufrufe heißt/ bamatS fefeon
„auf einzelne ßanbeStheite mit befonberer Schwere brnefte" (babei war borzugSweife
an bie öftlichen fßrobinzen fßreufjenS, inSbefonbere Branbenburg, fßommern, Oft»
unb SSeftpreufjen gebacht) unb jejjt, nachbcm er eine ganz erhebliche Steigerung
erfahren, Wenn jene Behauptung richtig War unb eS erlaubt ift, ©onfequenzen auS
berfelben zu ziehen, noch biet mehr brüefen muß. ©ine SluSnafjme machen nur
bie Herren bon Behr=@<hmotboW unb bon Unruf)e=Bomft, welche heute noch grei»
hänbter finb Wie bamatS.
Heute Wunbert man fich barnber, jene Slawen unter einem entfehiebenen grei»
*) Sgl. „Brince»@mith’S ©efammelte Schriften, herauSgegeBen bon Dr. Braun«SBieS»
Baben" (Berlin 1880), III, 367-369.
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672
Unfere 5 e ü*
hanbelSmanifefl ju finben. 2)amal8 Würbe man fich gewunbert hoben, Wenn fte
nit^t barunter geftanben hätten. Sabei ift ju bemerfen, bah ber Aufruf bem
heute fo fehr öerfchrienen „©Aftern Xelbrücf" bie rücfljaltslofefte Slnerlennung jotlt
bafttr, ba|j „in ben lefcten 3°h ren (1867—70) erfreuliche Schritte in ber ©rmä*
jjigung unb Slbfdjaffung öon ©chu^öüen" gemacht worben feien; unb noch mehr
berbient e£ Beachtung, bah ber SocialiSmuS, mit Inbegriff bcS Staatsfocia*
liSrnuS, überhaupt alles Gjperimentiren mit bem Kapital unb jebe wiüfürtiche
Umgeftattung ber roirthfchaftlichen ©runblagen unferct Staats* unb ©efeHfcfjaftS*
üerfaffung auf baS nachbrücfliehfte oerbammt Wirb.
damals ging man aus non ber SorauSfefcung ber Harmonie unb ©olibarität
ber wirtljfchaftlichen gntereffen, Welche burch witlfürliche ©ingriffe ber Staats¬
gewalt, burch Senorjugung ber einen unb burch ^Benachteiligung ber anbern,
burch Velaftung ber einen zu ©unften ber anbern nur geftört unb gefchäbigt wer¬
ben lönnten.
3efct ift ein Stieg alter gegen alle hereingebrochen. $er ©rohgrunbbefifc 6 e«
finbet fich in einem fcharfen ©egenfaj} 311 ben ©auern, welche bei ben SBahfen
bagegen proteftirten, bah bie SRitter fich Vertreter ber rufticalen 3 ntereffen
geritten. ®ie ©rohinbuftrie liegt im Streit mit ber ffileininbuftrie; bie ejport*
fähige mit ber ejportunfäpigen. ®er eine will SRohftoffe unb £>albfabrifate joll»
frei beziehen, ber anbere fie möglichft nertheuert hoben. ®er Spinner ftreitet
Wiber ben SBeber, ber eine Snbuftrietle wibet ben anbern, unb alle flogen über
Verteuerung ber unentbehrlichen SebenSbebürfniffe.
®er „ibeale Sug", Welcher in ber Seit öon 1867 bis 1876 unfere politifdje
©ntwicfelung belebte, ift einer materiellen SBeltanfdjauung gewichen, öon welcher
bahingeftellt bleiben mag, ob man fie mit bem 1878 erfunbenen Sßorte „confer*
Oatioer #aut" richtig bezeichnet.
®ie |>auptthätigfeit einer ganzen Stnjahl üon SRännern, Welche fich W 1 * 5
Wärtig erft ber conferöatioen Partei zuzählen, ift auf baS ©rfinnen neuer Steuern
ober neuer ftaatsfocialiftifcher ober monopoliftifcher Probleme ober ^ßrojecte ge*
richtet, wobei benn noch obenbrein eigentlich Wenig SteueS z u ^ a 9 e fommt. ®enn
ihre Vorfttäge finb in ber Siegel Slachbilbungen non Einrichtungen, Welche wäh*
renb beS 17. unb beS 18. 3“h r hunbertS in 2)eutf<hlanb ober in granfreid)
beftanben h a & e **> erprobt, aber weil fie nicht bewährt befunben, Wieber abgc*
fchafft worben finb. 3« ber Xl) at Würbe eS bem wiebergeborenen 3)eutfcf|lanb
nicht gut anftehen, fotche abgelegte SleibungSftücfe aus fc£»lec^tern Seiten wieber
anzutegen, ohne bah eine irgenb erfennbare Slothwenbigfeit oorliegt.
SBer biefen ®ingen mit ber twlfSwirthf tätlichen, finanz* unb culturgefchicht*
liehen Sonbe tiefer auf ben ©runb geht, ber oermag fich «och hier ber Ueberzeu*
gung nicht zu terfdjliefjen, bah, Wie ich bei ©efpretung bei SufammenftofjeS
ZWifchen bem ißrofeffor SSictor Slime $uber unb bem „Sreuzzeitungs"=9iebac*
teur ^ermann SBagener fchon oben im Vorbeigehen erwähnte, eS fich hi cr oicht
bloS um ©elb*, fonbern auch 11 nt ÜJlachtfragen — unb z roar nicht zwi]cpeu
Staat unb Untertanen ober Seit unb ©inzelftaaten, fonbern zwifchen ben oer*
fchiebenen Staffen ber bürgerlichen ©efetlfchaft — Ijaubelt, unb ber ©efchicht*
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Die Parteien im Deutfdjen Heidjstage.
673
fdjretber beS 20. Sfaljrhunberts wirb oieKeicht unfere ©poche als bie beS testen
SampfeS jWifc^en ber Ritterfdjaft unb bem Sürgerftanbe (in ©tobt unb Sanb)
bezeichnen. Senn bei ber ganzen ober tijeilweifen SCbfd^affung ber ©runbpeuer
nnb beim ©rfafc berfelben burdj lauter inbirecte Abgaben unb Serbraudjfteuem,
Welche DorzugSweife auf bie breiten Schichten ber bürgerlichen ©efeUfcpaft brüden,
würbe auf Soften ber lefctem nicht ber Saueroftanb, fonbern bet ber Satifunbien*
bepfccr gewinnen. Sie fjrage beS XabacfSmonopolS wirb Don Dielen — ob mit
Stecht ober mit Unrecht, mag bahingefteQt bleiben — aufgefapt als eine btope
Alternatioe, nämlich als bie Srage, ob, wenn benn hoch einmal einer „Wüten"
ntüffe, eS ber bürgerliche Xabad fein foü ober ber ritterfchaftliche Sprit, ben man
jejjt fdjon romantifcherweife als baS eble „Sartoffelbtut" bezeichnet.
©nbtid) ,bie ftaatsfociatiftifchen ißrojecte, wie bie UnfatlDerficherung, bie Alters*
Derforgung, baS XabatfSmonopol unb anbcre SWonopole, würben, fe nadjbem pe
jur Ausführung gebracht Werben, nicht nur bie ©ewalt ber Regierungen auper=>
orbentlich fteigern, fonbern auch bie ber herrfchenben Stoffe; unb als folche Wirb
bie Ritterfdjaft noch 0011 Dielen ihrer Angehörigen betrachtet, Welche auch h eu te
noch an ihren trabitionetlen £errfchaftsberuf glauben.
Sei biefer eigenthümtichen ©onftetlation hot inbep bie Regierung an parla*
mentarifchem Seiftanb burch bie Gonferoatioen nicht aßju Diel gewonnen, nantent*
lieh wenn wir ihre Sage Don 1882 mit ber Don 1867 Dergleichen. SantalS liehen
bie ©onferoatiben in anfeheinenb ooWontmen uneigennütziger ©eife ber Regierung
ihren Seiftanb unb führten ihr ein erhebliches Quantum Don Stimmen nicht nur,
fonbern auch Don ©influp unb Intelligenz z u - ©onferbatioen üon h eu te
fuchen ©chufe unb Seiftanb bei ber Regierung — nicht btoS für bie ©aljlen.
Sie conferDatiüen Rebner Don ehemals oertraten ihre eigene ÜDteinung unb
geberbeten pdj nicht als Anhangfet ber SunbeScommiffarien, welche atterbingS ba=
malS auch noch nicht einen fotdjen Sott anfdhlugen Wie bie Herren Don Sufferow
ober Don ÜMapr; fie hotten auch leine Urfache, fo zu oerfahren; bie ganze confer*
Datibe Partei hot 1869, ohne irgenbeine Ausnahme, für bie ©ewerbeorbnung
geftimmt, welche bie heutigen Rachfolger berfelben, wenigftenS bei ben ©aljten
unb im SotlSmirthfchaftSrath, als ein „gotttofeS ©erl ber Siberalen" barzupetten
lieben, ©enn man bie heutigen Rebner ber Gonferoatioen mit ben bamaligeit
Dergleicht, fo bürfte ber Sergleidj ebenfalls zum Sortheit ber Sergangenheit aus*
fallen.
Ser befte Rebner ber Gonferoatioen Don heute ift ber alte £crr Don Sleiff*
Re|ow, ber bamalS fehlte unb jetzt in einem frommen weftfäliphen ©ahlbezirle
(nicht in feiner märfifch*pommerf<hen §eimat) gewählt ift. Gr fpricht mit bem
Srupton aufrichtiger Ueberzeugung, leicht unb frei, nur manchmal mit etwas zu
Diel Romantif. Sann hot auch ber £>of= unb Somprebiger ©töcfer eine grope
Sechnif ber Rebe, welche jebodj zuweilen an bie Sanzet unb zuweilen an bie
Solfsoerfammtung erinnert; ba er inbeffen, ftatt bie gropen „chriftlich‘fociaten Re*
formen", welche man Don ihm erwartete unb Dietteicpt auch erwarten burfte, Dor*
Zuphlagen unb zu begrünben, in ber Regel nur ben potitifchen unb confefponeQen
Sleinlram unb ©ahlflatfch ber £aupt* unb Refibenzftabt mit nicht gerechtfertigter
Unfere Beit. 1883. I. 43
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Unfere ^ett*
SSeitläufigteit tractirt, babei üiel oon fich fetbft fpridjt unb in ben ©hatfadjen
feiten genau ift, fo hat er, fetbft bei ben ©onferüatiüen, in feinem 8tnfel)en erheb»
litt) gelitten. $err üon SRiunigerobe gibt fich jWar fehr Diel SWü^e unb ift aud)
nicht oljne Xatent; allein er hat bie unglüdlidje Kaprice, ftetS mit ©ugen Stifter
)u furnieren; unb baS ift in ber Hjat lein ©efc^aft für einen Iprifchen Sinter,
was £err t»on SRinnigerobe üon Statur ift.
Sljren beften unb üerftänbigften ©ebner, ben $erm oon ^eüborff auf ©ebra
bei SRerfeburg in ber preußifdjen ©rooinj Saufen, tjaben bie ©onferüatiüen bei
ben b^ten SBaljlen eingebaut. 8tuch ber junge £>err oon ÜRirbach, ber ft<^
ftatt beS §errn oon SBebemeper als §aupt ber tlgrarier gerirte, ift in bem oft»
preußifdjen SBahüreife ©en$burg»0rtelsburg, too fein ©ittergut ©orquitten liegt,
oon bem fortfdjritttidjen „Sauer" 2>iri<hlet getoorfen toorben.
SBerfen wir nun nod) einen SBlicf auf baS ©erljältniß ber ©onferüatiüen ju
bem dürften ©iSmard.
Stod) im gaßre 1875 fpie bie „ffreujjeitung", rebigirt oon ©athufiuS»8ubom,
geuer unb glamme wiber ben gürften ©iSmard unb beffen ©ofttil. ©iSmard
batte fich im §errenf)aufe auS 81nlaß üon ®d)ul= unb Äirdjenfragen mit ben
©onferüatiüen übermorfen; er ^atte baS £if<f)tuch jtoifc^en fid> unb ihnen jer»
fchnitten. ®r butte ihnen gefagt: „gm ©eidjstage unb im 8lbgeorbnetenljaufe feib
ihr auf meinen ©amen getoäblt; toenn id) meine fjanb oon euch abjielje, fommt
ihr alle nicht toieber." 3)ie ©onferüatiüen griffen nun ju ben SBaffen. ©ie
holten ficb jur ©erftärfung 9R. 81. ©ienborf aus bem Säger ber ©abicaten unb
©errot üon Stoftod auS bem ber äRanchefterleute. ©S bilbete ficb bie Seite ber
„Agrarier", an ihrer ©pifce ber efaltirte ^err oon SBebemeper, ber einen großen
Xheit feines anfehnlichen ©ermögenS für agrarifche 8lgitationen, Seitungen unb
glugfchriften geopfert unb bann ein fo bellagenSWertheS ©nbe genommen bot; unb
ein ihm naheftehenber 8lltconfcrbatiüer äußerte auf einem pommerfdjen SBoß» unb
©ferbemarft mit ©mpljafe, er »erbe ben ©iSmard fo Hein machen, „baß er jebem
ehrlichen pommerfchen Sfrautjunler aus ber $anb freffen müffe". 3n ber £bat,
es fehlte auch nicht un ÄleinmachungSüerfuchen. Sie „treuajeitung" brachte im
©ommer 1875 bie famofen Slrtilel oon fßerrot (er fchrieb anonpm, hot aber
fpäter baS ©ifir gelüftet) über bie Slera ©iSmard=Selbrüd»©leichröber u. f. ».,
beren fich baS StuSlanb mit Hochgenuß bemächtigte, um baS bisher beneibete, toenn»
gleich gehaßte Seutfchlanb unb beffen großen Staatsmann heninterjureißen. Sie
„©ifenbahnjeitung" Würbe angeblich üon ben ©egnern SaSler’S gegrünbet. Sann
üerttmnbelte fie fich in bie „SteidjSglode", »eiche ben ©eichSfanjler mit allen
SBaffen ber ©erleumbung angriff unb innige gülßung hatte mit ben Slltconferüatiüen
fotool wie mit ben fflerifalen. ©iner ber ^auptglödner War ein ßögling beS
ffireujjeitungS»2Bagener, unb ber leitete unb SBinbthorfUiReppen machten bamals
einanber ©efuche. Sajwifchen fpielten ©rofehüren Oon fparrt) 8tmim unb üott
Sieft»Saber. Sod) wir wollen all ben alten @<hmuj nicht Wieber aufwühlen,
fonbern nur ganj leife baran erinnern. Sluch wollen wir inSbefonbere nicht ber
feltfamen Hergänge gebcnlen, welche bamals jwifchen bem gürften ©iSmard unb
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Die Parteien im Deutfdjen Seidjstage.
675
feinen conferöatiöen pommerfchen ©utlnadjbarn fpietten unb ihn berantafjten, be-
jügtidj feiner hinterpommerfdjen ©efifeung „bie S^ürtlinfe ber ©efefcgebung in
bie $anb ju nehmen". ®er gürft war auch fpäter beffen nod) eingeben!. 3)enn
in feiner berühmten Siebe oom 17. Sept. 1878, in »eldjer er bal liebeniwürbige
unb bornehme Sefen bei gerbinanb SaffaÜe priel, fügte er hinju: „2fch würbe
mich gefreut haben, einen ähnlichen SJiann non biefer ©egabung unb geiftreichen
Statur all (barjiner?) ©utlnad)barn ju haben."
3n ber ©eidjltaglfifeung Oom 9. gebr. 1876 erflärte gürft ©ilmard nicht
offne ficffttiche heftige Erregung gotgenbel:
„Senn jentanb beleibigenbe anonyme ©riefe belotnmt, fo erwartet unb forbert
man oon il)m, bafj er fie in ben ©apierlorb tttrft; unb jebermann ift barüber
einig, baff bal ein ganj etfrtofel ©ewerbe ift, anonyme 3njurien unb ©erteum*
bungen ju fd^reiben. ®ie ©ntrüftung barüber wirb noch größer, Wenn bie Siffat
fache, bafj bie ©riefe metaflographirt finb, beweift, bafj fie an mehrere gerichtet
finb. Sowie fie aber gebrucft finb, ift el etWal ganj anberel, ba ift el «bie
Stimme ber öffentlichen SReinung», bie man beantworten fott, mäljrenb el bo<h
biefetbe ehrenrührige, unbewiefene, anonpme ©erleumbung ift; benn el ift fetten
ber Siebacteur, oon bem bergteidien herrüfjrt, fonbern ein «©orrefponbent», ein
Ungenannter, dagegen fönnten wir mit einem entfcfjtoffenen fittticfjen ©efüfjt biet
tfjun, nicht gegen aQe Keinen, Woht aber hoch gegen grofje ©tätter. Senn ein
Statt Wie bie «Äreujjeitung», bie für bal Organ einer weitoerbreiteten ©artei
gitt, fi<h nicht entbtöbct, bie fdfjänbtichften unb tügenhafteften ©erteumbungen über
hochgeftellte SRänner in bie Seit ju bringen, in einer fotzen gorm, bah fie nach
bem Urtheit ber höchften juriftifdjen Autoritäten gerichtlich nicht ju fajfen ift, aber
boch berjenige, bet fie gelefen tjat, ben ©inbrütf hot: «hier Wirb ben SRiniftem
oorgeworfen, bafj fie unrebtich gehanbett hoben», Wenn ein fotcfjel Statt fo honbett
unb in monatelangem StiQfchweigen oerharrt, tro^bem bal attel Sügen finb, unb
nicht ein «peccavi» ober «erravi»" (©errot hot 1882 im ©eidjltage bal Erravi
unb bal Peccavi gefprodjen) „fpricht, fo ift bal eine ehrtofe ©erleumbung, gegen
bie wir alte gront machen fotlten, unb niemanb fottte mit einem Abonnement
fich inbirect baran betheitigen. ©on einem fotdjen ©tatte muß man fich Iolfagen,
wenn bal Unrecht nicht gefühnt Wirb; jeher, ber el hält unb bejaht, betheitigt
fich inbirect an ber fiüge unb ©erleumbung, wie bie «ßreujjeitung» he int oorigen
Sommer gegen bie höchften ©eamten bei ©eiche! enthalten hot, ohne bie teifefte
Anbeutung eine! Seweife! unb mit einer tomifchen Unwiffenheit in ben ©erfonat*
gefehlten, bie fie babei jur Schau trägt."
Anftatt ber oon bem gürften ©ilmard erwarteten Solfagung erfchien in ber
„Äreujjeitung" oom 26. gebr. 1876 fotgenbe ©rltärung:
„$er ©eicfjllanjter gürft oon Silmard h°t in ber ©ei^ltaglfi^ung oom
9. gebr. ft<h bahin geäußert, bafj jeber, ber bie «ftreujjeitung» hotte unb bejahte,
fich inbirect an fiüge unb ©erleumbung Betheilige. All treue Anhänger ber !önig=,
liehen unb conferbatioen gähne weifen wir bie Anfdjutbigungen gegen bie «Äreuj*
jeitung» unb bie gefammte burdj fie oertretene ©artei auf bal entfehiebenfte
jurüd. Sir bebauern, bafj ber erfte Wiener ber ßrone ju berortigen ÜRitteln
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Unfere £eit.
greift, um eine Partei gu befämpfen, bie er jahrelang als «gubertäffigfte ©tüfce
beS Z^ronel» anerfannt hat. ©o wenig Wie bie fdjnterjlidjen Erfahrungen ber
lebten Sa^re bermocht haben, unS in unferer SönigStreue unb in unfern ©runb*
fäfcen gu erfchiittem, fo wenig wirb auch ber lefjte unb berlefcenbfte Angriff gegen
bie Partei unb ihr Organ im ©tanbe fein, unS bon ber 3eitung gu trennen.
Welche furchtlos unb treu noch ftetS ihren SBahlfprud) «SJtit ©ott für Sönig unb
Baterlanb!» berfochten unb alle Berfuche, ihr beigufommen, erfolgreich abgefchlagen
hat. SEBenn aber ber £>err SReichSfangler, im anfdjtuß an ben oben angeführten
auSfprud), bie aufrichtigfeit unferer cfjriftlichen ©efinnung in 3weifel gieht, fo
berfdjmähen wir eS ebenfo, mit ihm barüber gu rechten, wie Wir es gurücfroeifen,
bie gegebenen Belehrungen über @h re «ab anftanb angunehmen."
3)iefe Erflärung war untergcicönet bon 46 HJtann ber berühmteften aitcon»
ferbatiben; man fann wot fagen: bon ber „Blüte ber altcaftilianifchen SRitterfdjaft".
SBir finben barunter bie Unterfchriften ber Herren bon ©ottberg unb bon Snebel*
®öberifc, berer bon ber ÜDtarwifc, berer bon SDMenthien, berer bon 3iifc»2ichtenau,
ber ©rafen bon ber ©chulenburg=Beefcenborf unb ber ©rafen bon ©chlabrenborf-
©eppau, fowie eine große angaljl bon SEßebeH, 3ebti| unb Bifcewifc.
Beiläufig war es ein 3*|eroifc, welcher baS Schloß in Bargin gebaut hat, in
welchem jefct gürft BiSmarcf feine Biüeggiatura gn halten pflegt.
$en Schluß macht folgenbe wahrhaft rüljrenbe Signatur: „3Jtit tiefem ©chmerge
untergeichnet a. bon IhabbemXrieglaff." ES ift bieS ber befannte Erfinber ber
„Preßfreiheit mit bem ©algen bidjt baneben" bon anno 46, ber hier nach länger
als einem 9ftenf<henalter Wieber auftaucht.
3)ieS war bie erfte ©erie bon Segnungen. ES folgten bereu aber noch
mehrere nach- 3m gangen waren eS etwa 100 SJiamen, Flamen bom beften Mange
unter ben aitconferbatiben ber alten Probingen.
S)aS Organ ber aitconferbatiben Partei in Preußen hatte alfo ben gürften
BiSmarcf in ber perfibeften unb unfaßbarften SBeife angegriffen. ES hatte, ohne
auch nur einen ©chatten bon ©rünben, gefdjweige benn bon Bemeifen borgubringen,
benfelben befchulbigt, fein amt als BeichSfangler unb als preußifcher SKinifter*
pröfibent für feine perfönliche Bereicherung mittels fchmugiger ©elbgefdjäfte mit
einem Banfhaufe auSgebeutet gu haben, gürft BiSmarcf ergreift bie erfte ©elegenheit,
welche fich bietet, biefen Sügen unb Berleumbungen entgegengutreten. Er, ber Ber»
leumbete, forbert bie conferbatibe Partei auf, fich bon bem Berleumber loSgufagen.
SBaS thut bie altconferbatioe Partei? Eine große 3ahl ihrer herborragenbften
©enoffen erflärt fich, anpatt ftd) bon bemfelben loSgufagen, für ben Berleumber.
SJtit offenem Bifir treten fie als ritterliche EibeShelfer für baS Organ ber Ber*
leumbung in bie ©chranfen, unter ber Berufung barauf, baß fie bie „fönigStreue
Partei", bie „guberläffigften ©tüjjcn beS S^roneS" feien unb (mit BiSmarcf ober
burch ihn) „fchmergtiche" Erfahrungen gemacht hätten, ©ie erflären fich 9 e flen
einen BiSmarcf gu ©unften eines — Perrot
$iefe Hergänge ber 3 a h re 1875 unb 1876 h*nberten feboch bie Herren
®reuggeitungS'-®eclaranten burchauS nicht, als im 3al)te 1878 auf antrag unb
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ogM I
Die Parteien im Deutfdjen Heidjstage.
677
betreiben beS dürften ©iSmard ber SteidjStag aufgelöft worben war, ft<h int grüt)=
fahr unb Sommer 1878 als bie „©etreueften ber ©etreuen" beS gürften ©iS«
mard ju geriren. 3«ne Hergänge, bie Srftärung ©iSmarcFS im Steicf>8tage, bie
©egenerftärungeu ber attconferbatiben Slitterfchaft in ber „ßreujjeitung", worin
fie fich in gewohnter Seife baS SRonopot ber „ßönigStreue", fetbft auf Soften
©iSmarcFS, mit Wettern fie in biefer ©ejietjung niefjt gut gefahren fein unb
fchmerjtiche Erfahrungen gemacht haben wollen, ju oinbiciren berfudjen — altes
baS, obwol erft geftern gefdjehen, würbe entweber tobtgefchwiegen, ober, wo baS
nicht ging, weit es bie ©egner jut ©brache brachten, mit einem fettfamen Eom=
mentar begleitet, Stach biefem tegenbären Sommentar nämtich wäre ber SleidjS*
fanjler wähtenb ber ganzen langen ©eriobe üon 1867 bis 1877 „nicht oollfommen
frei" gewefen, fonbem hätte fich — man weif} nicht recht, infolge welchen ma=
gifdjen 3 a “berS ober Welcher fonftigen räthfelhaften unb geheimnifiboQen ©erfet*
tung bon Umftänben — in ber ©ewatt beS „berhängnifjooHen ©pftemS Set6rüd"
unb ber Slationatliberalen befunben; erft ben braben unb tabfern ffreujjeitungS=
Sectaranten unb fonftigen grommen unb Stttconferbatiben fei eS gelungen, ben
armen Wetjrtofen SteidjSfanjIer aus ben Serfchtingungen beS gotttofen liberalen
Stachen ju ertöfen unb fich fetber wieberpgeben.
Siefer SRpthuS, mag man bon ihm hatten, WaS man will, hatte f<hon ein
©orfpiet. SS war nämtich im Satjre 1874, als ber Sutturtambf am heftigften
Wiithete unb baS jefct bibtomatifirenbe Sentrum gegen ben gürften ©iSmard in
ber heftigften Dppofition ftanb. Sa erfchien ber alte £err bon ©ertach, ber
währenb ber Sleactionöperiobe bon 1849 bis 1858 fomot in ber ©reffe (atS 9tunb«
flauer ber „ßreujjeitung") atS auch in ben bartamentarifchen ©erfammtungen
(1849—51 in ber Srften Kammer unb 1852—58 im Slbgeorbnetenhaufe) eine
gewtffe Slofle gefbielt hatte, als gährer ber äufierften Siechten unb ber hierardjifchen
Stich tung in ber ebangetifchen ßir<he — biefer $err bon ©ertach atfo erfchien ptö^
lieh °tS „Stebenant" wieber in bem preuftifchen Slbgeorbnetenhaufe, gewählt unter
©eiftanb beS SentrumS in bem rheintänbifchen Satjtfreife 3Rülheint*3Bipperffirth
(SlegierungSbejirf ßötn), welcher bei ber testen SteidjStagSWaht ben in feinem
Stmtsftfc unmöglich geworbenen mainjer Somtabitutar Dr. SRoufang gewählt hat.
$err bon ©ertach würbe Hospitant bei bem fathotifchen Sentrum unb unterftüfcte
baffetbe in feinem Kampfe gegen ©iSmard. SS war wahrhaft rflfjrenb, wenn er
ben tefctern bon ber Sribüne beS SbgcorbnetenhaufeS perfönlicfj apoftrophirte:
atterbingS in Sieben, welche er abtaS, nachbem er fie bei ber nächtlichen Campe
fo forgfättig ftilifirt hatte, bah fie «ine gewiffe Stehntidjteit mit jenen „Slunb«
flauen" in ber „ßreujjeitung" hatten, welche baS Sljcma bariirten:
Defterreich unb ©renfjen $anb in $anb,
©onft geht alles au8 Sianb unb ©anb.
3n biefen Stpoftrophen fang ©ertach ben SteichStanjter an nach ber SRetobie
im „Sitten getbherrn":
® ent ft bu baran, mein alter Sagienta ? u. f. ro.
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678
Unfere 5«t.
Gr rief ihm in baS ©ebächtnifj gurücf, »nie fie beibe, ©ertach unb ©iSmarcf,
gemeinfcfiaftlidj ober boch wenigftenS gleidjgeitig für bie „fibreuggeitung" gefdjrieben
unb anberweitig an bent Strange ber Steaction gejogen Jütten, unb flehte gu
©ott, baff er ihm (©iSmarcf) „feine 3ugcnb toiebergeben möge". 5)ie berliner
©offe bemächtigte fidjj biefcS ©egenftanbeS unb „überall fung unb pfiff man ba=
jumal" (fo pflegte fich bie Iimburger Ghronif non 1398 auSgubrücfen) baS fdjöne
Sieb:
©ertacfj, ®ertadj!
@ib mir meine ^ugenb mieber.
@erfadj, ®er(adj!
33er SteidjSfangler aber, welchen ©erlaß} in feiner AnWefenheit im Abgeorb»
netenhaufe fo apoftropljirt hatte, lachte ihn aus unb üerfpottete ihn fo, Wie ich
fchon ergählt habe.
So war e3 noch 1874.
^m gab« 1878 War es gang anberS. ©eljörben unb ©eamte, welche bem
preußifdjen SDtinifterpräfibenten bienfttich untergeorbnet finb, unterftüfcten jene hoch*
conferöatiöe Segenbe ober wiberfprachen wenigftenS nicht berfelben, wenn fie in ben
Amtsblättern aufgetifcht würbe, unb wenn man bie gange SteichSgefehgebung ton
1867 bis 1876, Wetdjc auf ber Snitiatiüe beS SteichSfangterS beruhte unb Welcher
auch bie Gonferöatioen gugeftimmt hatten, als einen „gotttofen Sdjwinbet" oer*
bammte. GS ift fogar oorgefommen, ba{j bie ©eljörben für einen ÄreuggeitungS*
33eclaranten auftraten unb bie Ganbibatur eines Stationalliberaten befämpften,
ber währenb jener erften ©eriobe, welche man bie „Flitterwochen beS 33eutfchen
SteicheS" nennen lönnte, gu ben eifrigften unb unerfdjroctenften Anhängern ©iS*
mard'S Don {Jreunben unb Feinben gegählt warb.
SBetterfunbige erlannten bamals fchon in folchen Angeichen unb ©orgeicfjen bie
©ewigheit, ober WenigftenS bie SBahrfdjeintichfeit eines öoßftänbigen UmfdjlageS.
Snbeffen war berfelbe bei ben SBahten oon 1878 hoch nicht fo entfcheibenb,
wie man prophegeit unb oermuthet hatte. Obgleich bie „Frekonferöatiüen" eine
Frontberänberung oornahmen unb gegen bie Stationalliberaten, mit Welchen fie in
ber 3«it oon 1867 bis 1878 £anb in £anb gegangen waren, in ber ©reffe, nament*
lieh «n ber „©oft" unb in ber „Sdjlefifchen Bettung" feinbfetig auftraten (Was
ihnen fpäter, bei ben SBahlen Oom £>erbft 1881, gum großen Siachtheil auSfchlagen
foßte), fo war ber mit fo oiel Gmphafe unb ©iegeSbewufjtfein angefünbigte
„conferöatiöe $audj" boch nicht ftarl genug, ben Gonferöatioen bie SRajorität gu
öerfchaffcn. Obgleich ihre Saht anfehntich Wuchs, fo tonnten fie boch nichts aus*
richten ohne ben ©eiftanb ber Klerifalen. 33aS Gentrum aber Wat ihnen an
3ahl unb Unabhängigfeit, fowie an partamentarifcher unb unparlamentarifcher Xaftil
weit überlegen, fobafj bei ber !(erifal=coufertmtioen Goalition, Welche — jeboch nur
auf aßgeitige Äünbbarfeit — abgcfchloffen Würbe, baS Gentrum gang unbeftrittener*
magen bie Stoße ber „^Dominante" fpielte unb noch fpielt.
Sn ber Shat ift bie Stoße ber Gonferöatioen in bem SteichStage unb in bem
Abgeorbnetenhaufe oon 1881 unb 1882 recht fchwierig unb unbehaglich, ©obalb
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'S"
Die Parteien im Deutfdjen Keidjstage.
679
ße eS mit bem ©entrum uitb ben Sßoten berberben, befinben fie fid) in einer wahr»
haft Möglichen 2Jlinorität. Stuf ber anbern ©eite aber biirfen fie fidj, auch Wenn
fie eS möchten, nicht gänzlich bem ©entrum, ben Sßolen unb ben ©tfäffern ber»
fd^reibert- ®enn baS fönnte, je nacfjbem in 9tom Seo XIII. unb ©chtöjer mit»
einanber einig ober uneinig toerben — unb toie baS enben toirb, weiß jur Seit
niemanb; „Chi lo sa?" („wer weiß baS?") fagt ber biplomatifc^e SRönter — ber
Regierung Wol fatal fein. 2tußerbem aber hoben bie ©onferbatiben hoch prote»
ftantifeße unb nidfjt fatholifdje SEBahlbejirfe, unb ber ebangetifdje ©ijrift, namenttid)
wenn er ein ftrammer ^reuße ift, ber nicht bergeffen hot, Wie Äönig griebrid)
SBüßetm I. „bie souverainetS wie einen rocher de bronze ftabitißrte", iß in
folgen gingen bodj juWeiten etwas empßnblich, Weit bei i(jm baS Staatsbewußt»
fein ftärfer als ber „conferbatibe £jaud|" ift. @o ift eS benn gefommen, baß bei
ben SBaljten bom $erbß 1881 bie ©onferbatiben ©inbußen erlitten, noch meßr
aber bie greiconferbatiben. ®ie (extern waren früher bie aßer^ifjigften ©uttur»
fämpfer: faft noch fampftuftiger als bie SRationattiberalen bon ber Stiftung ber
SBithetm SBehrenpfemtig unb Heinrich bon Spbet. $ie ©djwenlung gegen bie
SRationattiberaten unb für baS ©entrum, welche bie Herren bon Seblifc, bon Star*
borff unb ©enoffen boßjogen hoben, iß ohne .Sweifet fef)r biptomatifch, um nicht
ju fagen „ßaatSmännißh"; aber ber beutfdje SBäßter, bet gtüdtidjerweife noch bie
Sngenben einer feften Ueberjeugung hot, welche unfere jungconferbatib=ftrebfamen
ißubticiften als „phitiftröfen ©igenfinn" ju bezeichnen Heben, biefe „prisca gens
mortalium", h°t bafür fein Verftänbniß nnb ift ba^er an ben Scannern feineg
bisherigen Vertrauens irre geworben, ©etbft ber bietfeüige £err bon Äarborff
würbe in bem gegenwärtigen tReidjStage nicht wieber erfeßienen fein, wenn nicht
ber in feinem bisherigen SBaljlfreife £>etS»2Bartenberg ftatt feiner gewählte §err
bon gordenbeef aus SRüdßcht auf feinen alten fächßßhen SBahtbejirf ißeuhalbenS»
leben in OetS abgetehnt hätte — eine Slbtehnung, welche bietfachen Xabet auf ber
liberalen ©eite gefunben, unb auch bei $errn bon Sarborff nicht jene Sanfbarfeit
erregt hot, welche man bielleicht hätte borauSfefcen bürfen.
SBir hoben erlebt, baß ber gttrft SiSmard fowot mit ben Slttconferbatiben
als auch mit ben Verdaten jeitweife auf bem ftriegSfuße geftanben unb fich bann
wieber mit ihnen berföhnt hot, wenigftenS was §errn SBinbthorß unb ©enoffen
antangt, „foweit es bie Umftänbe nothwenbig machten ober ertaubten". ®er
ißapft pßegt in feinem ©uriatftit ju fagen: „Temporis ratione habita".
3)aS conferbatib»fterifate Sünbniß hot ßch, abgefehen bon bem larif bon
1879, für ben SReidjSfanzter wenig ergiebig erwiefen. grüher hotte er eS b eff er.
3ur Seit wenigftenS fteht ebenfo wenig ber modus vivendi atS baS XabadS»
monopot in ßdjerer StuSficht. SBeber $err bon ©chtöjer noch £err bon SWapr
Waren erfolgreich-
SBaS Wirb barauS Werben? Sch geftehe, baß ich, fel&ß für bie nächße 3« s
funft, ben SBeg nicht erfenne unb jum Propheten feinertei Stntage berfpüre.
Qui vivra, verra!
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(ßrmfjmlatrir int ltf}ttn %af)X}ef)nt
©inbrilde unb Sujifittbe, ®reigntffe unb Stimmungen.
»on
©uftora fltrfdjfelb.
I.
$er griechifche ©efreiungSlrieg, bet im SDtärj beS 3<»h r eS 1821 begonnen, fonb
erfl nach acht unb einem halben ga^te fein ©nbe; fein Stbfdjtuj? erfolgte noch einige
ÜDtonate fpater, im gebruar 1830, burch baS ßonboner ©rotofoK, welches bie Unab»
hängigfeit ©riechentanbS oon ber Xürfei erflärte. greilich gefchah bieS in überaus
engen ©renjen, welche toebet alle Oon ©riechen bormiegenb bewohnten ßänber,
noch, WaS faft bamit jufammenfäHt, biejenigen begriff, welche am Stufftanbe
gegen bie DSmanen theilgenommen. Stoch Währenb beS ©udjenS nach einem ge*
eigneten ^errfdEjer für baS neue SteidE) würbe ber öorläufige ißräfibent beffelben,
©raf Johannes KapobiftriaS, im Dctober 1831 ermorbet. Sw ÜJlai beS folgenben
Sabres ftanb bie Sinnahme ber Krone ©riechenlanbS burch ben fiebzehnfahrigen
bairifcben ißrinjen Otto, ßubwig’S I. zweiten ©ohn, feft; bie ©renjen waren noch
unbebeutenb erweitert worben unb betrugen 47516 öuabratlilometer. Db eS bei
biefer Sachlage weife Oon Subwig geWefen, baß er für feinen ©obn »on Dorn*
herein ben KönigStitet geforbert, barf man bezweifeln. 3<h Weiß Wol, baß bie
Königreiche ©achfen unb SBürtemberg, ©elgien unb £>oKanb noch erheblich Keiner
ßnb, als ©riechenlanb bamals war; allein biefeS war nur ein mehr ober weniger
wittlürlicher SluSfchnitt aus einem großen jufammenhängenben ßanbftücf, beffen
©ewohner ebenfalls jufammengehörten unb boch bem fremben ©roherer gelaffen
waren. So mußte ein „Königreich" ©riechenlanb mehr erregen, als befriebigen,
bejeichnete nur gteidjfam bie erwünfchte Stiftung ber ©ntwictelung, bie Sehnfudjt
nach bem enblidjen 3iele, oerförperte bauernb unb ftets lebenbig bie „große 3bee"
oon einem ©riechenlanb, baS bie Sallanhatbinfel bis ©hi an i umfaßte, bie be*
Wegenbe 3bee nicht bloS ber lefcten 50 3«h re - Vielleicht war eine fotdje SBirfung
fogar oorauSgefehen unb beabfidjtigt (Wir hüben ja erft felber StehnlicheS in 8tu*
mänien erlebt). ©S fcheint ein eigentümlicher SBiberfprudj, baß eine Station, bie
fonft ihre Slnfprüche mit SSorliebe aus bem Sllterthum ableitet, in ihrem ßanb*
anfprudf) uur bis auf bie btjjantinifche Seit jurüdgeht, eine Seit unfeligften 2ln=
benfens, bie weitaus fchlimmfte unb berhangnißöottfte, welche bie Hellenen, Oiel*
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(Briechenlcmb im lebten ^ahrjefynt.
68 \
leicht ohne äuäfdjluf ber türtifchen, gehabt ljo6en. S)odj ift ber änfpradj erflart
unb berechtigt burdj bie fthatfadje ber fo freit reidjenben §eöenifirung*), bur<h
beit neuem Xrieb grofer ©taatenbilbungen unb burdj bie Sage Konftantinopelä,
ber öfttidjen ©djlüffelburg beä SRittelmeereä.
(Sä ift noch in älter Grinnerung, in frie fdjmählicher SEßeife König Otto im
Dctober 1862 nach einer ^Regierung üon brei Sa^rje^ntcn auä bem Sanbe ge»
trieben frurbe; Wenn man eä überhaupt ^Regierung nennen !ann, auf bem gefäht*
liehen Xummelptafc ber Qntriguen breier ©rofmödjte, granfreidjä, Gngtanbä nnb
fRufjtanbä, ber fogenannten „©djulmödjte", ©cepter unb Krone ju tragen, unb
auch on beren ©ergängtidjfeit noch üon Seit ju Seit burch bie Saunen ber ©e«
herrfchten einbringlidj gemahnt ju werben.
König Otto hot baä Gnbe feineä Sftartpriumö nicht brei 3aljre überlebt; bie
©riechen aber hotten fdjon ein Saljr nach feiner ©ertreibung — eä war frieber im
Dctober — einen neuen £>errfdjer im Sanbe, ben faft achtje^njä^rigett fßrinjen
üBßithetm non @chleöWig»#otftein=@onberbnrg*®tücTöf>urg, jfreiten ©ohn beä jefcigen
Königä non $änemarcT, welcher ben Stamen ©eorg annahm alä „König ber ^eQenen“,
Wie eä nun noch brohenber auf feinen ÜRünjen heißt ftatt beä frühen» /»König
üon #ellaö".
@3 War baä Unglüd ©riedjentanbä, bafj eä üon bomherein nicht fich felbft
übertaffen, fonbem unmünbig erhalten Wnrbe unb noch baju bon brei ©ormünbem,
beren Sntereffen nicht feiten biametrat entgegengefefct waren, unb welche biefetben
in jenem entlegenen SBintel Guropaä biäweiten mit einer Ungenirtheit berfochten,
bie gegen bie im übrigen Guropa übliche bibtomatifdje SRaäfe gerabeju erfrifchenb
abftechen würbe, wenn fie nicht zugleich aüju fepr ben Gljaratter ber ©ering*
fdjähung an fich trüge. Gä Tonnte wirtlich bisweilen ben änfdjein gewinnen, alä
hätten bie ©chulmädjte in ©riechentanb fich nut «inen ©oben fdjaffen wollen,
wo fte fo recht con amore ihre Trümpfe gegeneinanber auäfpieten Tonnten. 3Ran
thut wohl, baä im ©ebädjhtifj ju behalten; auch bie Unmhcn beä Sanbeä erfcheinen
bann jum 2heil wol nur alä natürliche fReactionen gegen bie, Welche baä ©ängel*
banb hielten, unb bie, welche fich baran gängeln tiefen, dennoch ift ben ©riechen,
fdjon jn wahrnehmbarem ÜRachtheit ihrer Triegerifdjen Gigenfchaften, allmählich
jur Gewohnheit geworben, auf jebeu SBinl ber ©rofjmächte ängstlich ju achten;
eine üerbängnifüoBe ©efrohnfeit, bie, noch flonj abgefehen üon ber Statur unb
©egabung ber #errfdjer, fdjlieflich eine fßflidjt ber augenbtidlichen Klugheit
gewefen fein mag, bie aber bennodj Turjfichtig unb nnweife War. ®enn eä ift
tebigtidj baä ©elbftüertrauen, unb bamit baä ©efühl ber eigenen Scrantwortlidj*
Teit, Waä bem ©ang ber Stationen feine öeftimmte. Stiftung, ihren $anblungen
*) Sie ©eüöflerungäftatiftif beä gried)ifcb»türlifcben Drientä Hegt BefanntKd) feljr im
argen, $m 3 a b re 1877 erfdjienen ju (ßariä, refp. ju Sonbon, etbnograpbifcb* Karten ber
(Suropftifeben Sürfei mit Sejt, bie eine Dom griedjifdjen, bie anbere Dom türfifdjen ©tanb*
punft auä. Sie {eben üerfdjieben genug auä: bodj ift auch auf ber türtifdjen angegeben,
baf ©rieten Bis über ben ©reitengrab Bon ©alonidji binauä ben ©runbftoef ber ©eBölfe»
rung Bilben; auf ber grieebifeben greift er freilich nicht weniger alä jtoei ©reitengrabe
mehr na<b Storben. £ier mag bie 3Babrbeit roirflidj einmal in ber SJJitte liegen.
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682
ttnfere
ben confequenten Qfn^olt gibt. 2Bo eine Station iljr ©chicffal immer nur and ben
$önben anberer erwartet, fommt auch ber einzelne bahin, bafj er im fritifcfjen
ÜDioment hofft, fein Stachbar werbe für iljn fterben. Unb boch heifit eS auch ba,
Wenn irgenbwo unb im fleinften Solle: „§ilf bir fetbft, fo hilft bir ©ott!" unb
fo badjten bie Hellenen beS Saures 1821. Unb feltfam — ober natürlich? — genug:
bei ben @injetnen Wie bei ben Stationen ift eS gerabe bie Unfelbftänbigfeit, Welche
jur ©elbftüberhebung unb ju alt ben bortauten ©igenfdjaften führt, Welche auch
bie am beften (Begabten unleiblich ju machen geeignet finb.
3efct enblich, faft genau 50 Saljre nach ber ©rmorbung beS ©räftbenten
ÄapobiftriaS, ift ben ©rieten geworben, Wa8 fie Wie anbere als SebenSfrage iljre8
©taateS betrauten: weitere ©renjen. §ierburch ift ber gtächeninhatt beS SanbeS
auf 65229 Ouabrattitometer, bie ©ewohnerjaht auf 2,067775 gewadjfen, beibe
um etwa ein Stiertet ihres filtern ©eftanbeS. ©8 ift atfo jene ©ntfdjcibungSftunbe
eingetreten, auf welche un8 bie ©rieten feit ^afjrjetjnten gekannt gemalt hoben;
ctav ia r\ öpa ly.dvt \.. . biefe bebeutungStwUe SBenbung h°t manchem
bon un8 unjdhligemal in8 D^r gettungen. SBie biefe ©tunbe eigentlich auSfah,
wie fie ba8 Sott gefunben, barauf tommen wir fpäter ju fpredjen. Seht mögen
bie ©rieten junächft allein hinauSeilen au8 ihrer alten ©nge, Wir wünfchen ihnen
bon #erjen ©tficf auf ben 9Beg. Stber wir fetber wollen erft einmal flehen bteiben
unb rficfWürtS Mieten auf bie £auptjüge be8 frühem ©itbcS, inSbefonbere auf
ba8 le|te 3ahrjehnt, um fo mehr, at8 jejjt auch ber au8 feiner Sieferbe heraus*
treten barf, Weldjen bisher bie ©efürdjtung jurücfhielt, er möchte baburdj biet*
leicht bie SebenSintereffen be8 SotfeS, wenn auch nur on einem tteinen ©unfte,
fchäbigen.
@8 wirb ja bem Einzelnen immer fchwer gtücfen, über ben ©inn ber ©e»
Wegungen feiner Seit in8 fflare ju fommen; wer wüfjte ba8 nicht? SBeiter Wirb
man bielleicht bamit noch bei einem fremben Sötte gelangen als beim eigenen;
aber auch & 0 finb eS boch auch immer nur einige, wenn auch bur<h ihre Stttge*
meinheit berftänbtichere ©inbrüefe, bie unS beftimmen. $iefe aber nach je|t fo
beliebtem Stecept fogteich in ein ©hftem einjuorbnen, ift ein minbeftenS berfrühteS
©eginnen; fie mit ftatiftifchen Eingaben auSjufchmücfen, bie nur bie turje Steife auS
bem „©othaifdjen §offaIenber" gemacht hoben, ein billiger Strati). SBerthbotler
erfcheint bem gegenüber, bie eigenen ©inbrüefe, falls man wirtlich fotche em*
pfangen, einfach unb einjetn barjulegen; gerathener, fi<h ju begnügen mit Sin*
famtnlung einiger Weniger ©aufteine für ben fpätern ©aumeifter, atS biefetben
burch eigene phantaftifchc Serbauung gleich öon bornherein abjufchteifen unb bamit
auch fie i« entwerthen. Dies ift ber ©cfichtspunft, unter bem bie nadjfotgenben
©emerfungen über bie heutigen ©riechen unb ba8 ©riechentanb bon heute aufge*
jeichnet finb. 3m ©egenfajj ju fotzen Sieifenben, Welche aus ben zufälligen ©in»
brüefen Weniger Jage ober SBochen mit $ülfe frember garbentöpfe unb ©injet
pin farbiges Sitb herftelten, Will ich gerabe bie Erfahrungen einer langen Seit
mehr als StphoriSmen geben, unb unter abfichtticher ©ewahrung ber fubjectiben
Elemente, burch welche erlebte ©ef<hi<hte in uns gorm anjunehmen pflegt; eS
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<ßried)cnlanö im lebten 3 a ^ r 5 c ^? n *-
683
werben baher juerp ©inbrüefe nnb Sbftänbe, bann Greigniffe unb Stimmungen
hier bargelegt werben. $em ©erfaffer ift es oergönnt gewefen, jahrelang unter
©riedjen z u " leben, im Königreich wie in Sleinafien; Steigung nnb ©eruf
haben ihn mit jaljfreidjen Schicken beS SolfeS in ©erüljrung gebraut; er hat
nicht bloS betrauten, er hat auch Oergleidjen lönnen nad; Drt unb nad; Seit;
WaS ^ier bisweilen als erfter Ginbrucf erfc^eint, ift bodj nur baS gacit aßet.
Um fo mehr bießeidjt brängt fidj bem ©erfaffer baS Unzulängliche feiner SBaljr»
nefimungen auf. ©ins aber fei oor aßem betont: biefe ©emerlungen finb nieber»
getrieben in befter Slbfidjt; fie finb wofjlmeinenb, auch Wo fie UebteS fagen
müffen. ®er ©erfaffer weiß eS Wohl, fo banfbar wie ber $eflene für jebes, audj
geringes Sob beS SluStänberS ift, fo empfinblid), bis jur SJlaßlofigfeit, ift er gegen
ben teifeften labe! beS gremben; felbft berjenige ber eigenen SanbSleute ift bieten
fcfjWer erträglid). SBo^iit baS führt, Wifl id) an einer Keinen ©tütentefe aus
einem neuen Suche eines ©rieten jeigen, baS bon feljr bertrauenSwürbiger Seite
in $eutf<hlanb eingeffiljrt worben ift. ®a heißt eS bom ©oltjtechnifum in SUßen:
„®iefe Schute ift beftimmt (fo!), einft neue 3ftinuS unb neue fßljibiaS ^erborju»
bringen"; nodj bejfer ^eißt eS bom ©onferbatorium: „®S ift nic^t zu jweifetn,
baß in furzet Seit biefe ÜDtuftffcf)ute ausgezeichnete GompofiteurS unb bortrefftidje
Sänger unb Sängerinnen auSbitben Wirb." ®ann: „©rofeffor Xßierf^ ^atte
boßfontmen recht, als er fagte, baß nirgcnbS auf ber SBett ein beffereS unb ffreb=
famereS ©olf atS baS grie^ifeße ju finben fei. ®ie heutigen ©rieeßenfreunbe
haben recf)t, Wenn fie, bie Keinen SDtänget biefeS intereffanten ©otteS überfeßenb,
nur feine Jugenben unb guten Gigenfdjaften oor Singen haben." ®ie in 2Baßr=
heit borhanbene Sieeßität beim ffteinljanbel unb befonberS auf bem Sanbe gibt
Slntaß ju fotgenbem Grguß: „®iefeS grenjentofe ©ertrauen, biefe feltene $anbets=
treue jerftört ganz unb gar bie SOteinung, bie in einigen europäifd)en Sänbern
über bie Untreue ber griedjifdjen Kaufleute unb ©efdjäftSmänner ^errfc^t, unb bie,
bon böSgefinnten ober wenigftenS oberflächlichen Steifenben auSgeftreut, bon manchem
geglaubt unb bon Unlunbigen ober ungünftig ©eftimmten auSgebeutet würbe."
©ewiß ift eine foldje Setbftbergötterung nid^t eine fpeciefl griedjifdje @igen=
feßaft; aud) wir, auch bie übrigen Stationen ©uropaS leiben an ber furchtbaren
©pibemie beS ©ßaubiniSmuS auf aßen ©ebieten, unb wehe bem guten Stamen
beffen, ber feinen SanbSleuten offene, aber bittere SBafjrheiten ju fagen wagt, unb
ber bie neumobifche ®octrin für eine GonbentionSlüge hält, baß unfere gehler nur
bie Ergänzungen ober hoch Kittber unferer Xugcnben feien. Slber man hot bodj
ben Iroft, baß erfahrene unb ernfte ÜJtänner anberer SJteinung finb; auch > n
©riechentanb finb berartige ©raljfer manchem unftjmpathifch: „ei’|ieia (xtxpol"
(„Wir finb nur Hein") ift eine häufige, bießeidjt nicht immer aufrichtige SBenbung.
Slber baS SBerf beS ©riedjen, beffen fchönfärbenbe UnWiffenheit fich bis 311 ber
©eßauptung oerfteigt, baß „auch SHeinafien borwiegenb bon ©riechen bewohnt"
fei, hat boch auch SlnHang bei ausgezeichneten feiner StammeSgenoffen gefunben
unb bei ben zahlreichen, Welche einen auS claffifdjen Erinnerungen unb Saune
gemifchten ©nthufiaSntnS für ©hith e ß en '3muS halten. Unfere Stachficht pflegt ja
mit ben gehlem unferer Singehörigen z« wachfen; eine anbere Stedjtfertignng finbe
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Unfere
ich ba nicht. Eben fornmt mir auch noch ber SCuffa^ eines bebeutenben griedjifdjen
©eiehrten in bie $anb, ber mit Stecht auch im SluSlanbe gef) großer Sichtung
erfreut unb fonft gar nicht gut Ueberfdjäfcung neigt; iljm fagt ein tiefinnereS ®e*
(£v8o|iuxo<; aüa^rrjöi?), baß bie mobernen ©rieten gang befonberS gu Wigen»
fraglichen Steifenben präbeftinirt feien. @S mag ja fein, baß fie einmal auch
auf biefem ©ebiete Erfreuliches leiften; aber bie für jene Slngdjt unb gegen bie
anbem Stationen angeführten ©rünbe finb berart, baß fie gar feine emfte S)iS*
cuffion oerbienen, ©ie geigen nur, was am Enbe auch begreiflich iß» baß oor«
läufig ber £>ettene noch ber fubjectiofte, befangenfte ©curtf)eifer anberer ift. $enn
noch fcheint baS gange Seben ber Station nicht bloS äußerlich in unruhiger, Wenn
auch oielöerfpredjenber ©ärung. Erft toenn eS fich einmal gefegt hoben Wirb,
fännen bie ©riechen felber, toie auch anbere, an biefem Seben geniefjenb ftch er=
freuen; erft bann toirb auch bie SDtöglitfjfeit für fie oorhanben fein, anbern Stationen
burchaus gerecht gu werben.
Stuf baS panegprifcfje ©ebiet folge ich ben $ettenen unb ihren biogen ißartei*
gängern nicht; ich tarnt nichts oerfpredjen, als bafj ich bie Wahrheit Witt, unb
bafj ich ftrebe, unparteiifch gu fein, Einfidjtigen Xabet an rechter ©teile holte
ich babei für ben gröjjten greunbfcfjaßsbienft. SBaS hier an Eingelheiten öor=
fommen mag, ift wahr, auch Wo eS unglaublich Hingt. ®ber wer bergleichen ergäfjU,
fottte auch ftetS hingufefcen, baß ©riedjentanb erft feit 50 Sohlen burch eigene
Sooft aus mittelalterlichen oerrotteten .Qußänben geh losgerungen unb burch
einen Srieg, ber trofc feines erhabenen 3wecfeS nur attgu fehr geeignet War, gu
üerwilbern.
Ob ich ein fßfjitheHene bin? 3« bem ©inne, ber fogieich gut ©brache fommen
fott, nicht: benn ich liebe ben einfachen lürfen. Slber wenn baS heißt tytyb
hettene fein, bie ©riechen nicht bloS für eine intelligente unb betriebfame, fonbetn
für eine hochbegabte Station, bie eingige lebensfähige beS Orients gu holten, an
ihre ©rneuung unb Verjüngung gu glauben, in ihnen ben äftticljen $ort beS
DccibentS gu fehen, ein großes griechifcfjeS Steich baher oon gangen bergen, ja
mit Seibenfdjaft gu Wünfcßen, faft mit ihnen barauf gu hoffen: Wenn baS heißt
ein ißhilhettene fein, bann bin ich einer, fo warm unb glaubenSeiftig, wie nur
einer jener gremben, bie im Slufftanbe oon 1821 für bie griedjifche ©ache baS
©d)Wert gegogen hoben. ®ieS ein für allemal!
2>ie ©riechen begeichnen ihre SDtittelftetlung fdjon burch ihren Sprachgebrauch;
fie fprechen oon Europa unb Slnatolien, bem Dften, unb rechnen geh gu feinem
Oon beiben, eigentlich aber mehr gu lejjterm. SOtöglid), baß fi<h bieS änbert, wenn
einmal Sanboerbinbung mit bem Storben hergegellt fein Wirb. S33ir werben hier
©riedjenlanb noch unter bem allgemeinen Stamen beS Orients mit einbegreifen.
®er grembe, Welker gum erften mal ben Orient betritt, unb geh mit ben
gWei |>auptelementen begelben, ben dürfen unb ©rieten, berührt, ift trofc ollem.
Was er etwa oorher oernommen, boefj noch aufs äußerfte betrogen oon bem
tiefen unüerföhnlichen, burch nichts gemilberten ©egenfafc ber gwei Stationen.
®uS allem hört er nur ben einen Schlachtruf: „£>ie Xürfe, hie ©rieche!" unb:
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©riedjenlanö tm lebten 3 a ^ r 3 c ^? n ^
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„3ßer nicht für mich ift, ber muß wiber mich fein!" ©ewöljnlich unterliegt beS
gremben Urtßeil fdjon biefem erften Slnprall; er glaubt nicht hloS, er nimmt als
unbiScutirbareS 2ljiom an, waS bem Eingeborenen baS brutal furje gacit einer
jafjrtjunbertetangen SBergangenßeit ift, baß nämlich Steigung für bie ©riechen bie
für bie Üürlen einfach auSfchließe, baß eS fahileg fei, am dürfen auch nur eine
gute SIber ju finben, falls er fidj offen jum Iß^il^eüeniSmuS betenne, ober ben
©rieten gerecht §u toerben, toenn er als Xurlopßile betrautet fein »in. 3$
möchte im erften gälte itjm nic^t einmal ratzen, offen ju äußern, baß er bie
türfifdje Sprache mit ihren Pollen Sauten ttotjlflingenber finbe als baS fpifce,
bem Organ na^t^eilige Steugriecfjifcb; feine beften l)ellcnifc^ert greunbe ȟrben
ißn glimpflich beßanbelt p haben glauben, »enn fie ihn nur achfelpdenb unb
mitleibig belächelten. 35aß ber ©rieche bie Stegation beS dürfen fei unb umge*
lehrt, ift nun einmal bie fife 3&« im griechifch=turfifc^en Dften; eS ift babei
nur natürlich, baß biefelbe ungleich mehr üon ben ©rieten cultiöirt »irb, ben
fo lange unterbrüdten, als öon ihren Eroberern. Stifts lieft fich baher fo feit*
fam Wie bie fauerfüßen Sßorte über ober an bie §ohe Pforte, welche bie Per*
fchiebenen griedjifchen ^Bereinigungen in ber lürlei in ihren officietlen Stctenftüden
hoch oft nicht umgehen fönnen.*) 3«"« ftje 3bee bemächtigt fich mit bämonifcher
©ewalt beS SteulingS; fie bienbet ihn, lähmt ihn unb reißt ihn mit in bie toilbe
Strömung ber Parteien. 2)ie SlphoriSmen folget Segeifterung finb eS, Welche un*
ferer fßreffe in ben meiften gälten ihren Eharalter geben, beren Urtljeile über ben
Orient oft fo eminent taunifch unb einfidjtSloS finb**), Urtljeile, »eiche burch alle
Scalen Pon ber höchften S3cgeifterung bis pr tiefften SBeracßtung ßinburchpfpielen
pflegen. Einige befonbere Urfacßen biefer Ungleichheit werben uns auf unferm
SBege noch begegnen.
ES ift wahr, erft allmählich lichtet fich baS Urteil Por bem bunten 3)urch*
einanber beS Orients; länger als irgenbwo bebarf ber grembe bort, um pr
Einficht ber einfachften SBahrßeit, beS triPiatften S3erljältniffeS p gelangen; benn
*) $ie griechifche SageSpreffe in ber lürfei, bie ich nur eben berühren will, fcheint, wie
bie fßreffe auch ' n anbern Sänbem, bisweilen ihre eigenen etlichen ©efepe p haben,
ftur fo (affen fich SBenbungett erflären wie bie folgenbe im tonftantinopolilaner „AcoXo'yog":
„fRiemanb fann leugnen, baß bie dürfet, welche fiets Sprache, ©tauben unb Xrabitionen
aller unter ihr befinblidjen Böller in gleicher SBeife geachtet hat (^aeßvabi)!), bie befte
öürgfdjaft für bie gleichmäßige unb ungeftörte ©ntwidelung biefer Böller ift, beren @nb«
refultat bie nationale §erau8bi(bung berfelben fein wirb." 9tun, ich mag gern bon ben
Süden ©uteS hören, aber biefe Behauptung ift entweber eine fchamlofe $erfibie ober eine
bewußte Siege; bie griecßifdje Breffe in berSürfei befinbet fich ja gewiß oft in feßwieriger
Sage, aber Schweigen wäre bann bocß beffer a(S berartige SBenbungen. SBenn fanario«
tifeße gamilien aueß jept noch mit ben gntereffen ber fßforte bie ißrigen ibentificiren, fo
ift baS perfönlicßer ©efeßmaef; er rießtet fich aber bon felber.
**) Nomina sunt odiosa; aber icß fcßließe ba auch unfere größten unb beften beutfeßen
Organe ein; ber gebier liegt wo! barin, baß biefelben meift p Eorrefponbenten meßr
ober minber gemanbte junge Seute wäßlen, bie nur wenige igabre im Dften bleiben unb
baßer Weber 3'it noeß Suft haben, fieß einp leben, bie SanbeSfpracßen p erlernen unb
genau p beobachten.
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Unfero £eit.
ouf jenem ©oben ift er eben im ftrengften Sinne be« Sorte« ein „grember".
9Jtan glaubt fich auf braufenbem SReere, unb erft fpät tommt bie Kare ruhige
Stimme ber ©ernunft pr ©eltung Bor bem Berwirrenben Somali aufbringlidjer
(Einbrüde. Xa« toirb ja Wo! anber« werben; ber Orient rüdt un« näher, haben
ihm erft Biele in« Äuge gefeljen, fo tommen Wir wo! noch einmal ba^in, ihn
gleich Bon Anfang an im richtigen Sichte p betrauten unb nicht erft burch ba«
SRebium be« ©ertfleifchen Seitalter« ober Bon Xaufenbunbeine Stacht.
Stoch Bor 10 bi« 12 Sauren War e« regelmäßig nur einmal in ber SBodje mög*
lieb, Bom Storben (Europa« nach ©riechenlanb p tommen. Xa« war ein großer
gortfeßritt gegen früher, aber wie wenig noch für ben fdpefllebenben (Europäer!
SJtit weither Spannung wartete man immer auf ben Xag; wie berechnete man
im SSinter, ob unb wie lange wol Stürme ben Xiampfer aufhalten tännten, unb
welche greube war e«, wenn er Bor ber erwarteten Seit tarn, welche (Enttäufdjung,
wenn er barüber hinau« blieb. (Enblidj tarnen Stadjrichten; bann befruchteten fie
auch &ie weift fo fterilen athenifdjen ©lätter unb ©tättchen; bie ©teilen ber (Er*
eigniffe in (Europa fchlugen immer erft nach acht Xagen in ©riechenlanb an. (Ein
Ungtüd War ba« nicht, man (ernte babei ruhig benten; unb fanb man BoöenbS,
baß bie §ätfte ber auf einmal eingelaufenen Seitungen ba« meifte Bon bem fchon
wieber beftimmt in Abrebe ftedte, wo« bie anbere $ätfte ebenfo beftimmt behauptet
hatte, baß ein Sticht«, welche« brei Xage lang alle ©arteien aufgeregt, auch ftlücf»
lieh fch on wieber al« ein Sticht« entlarot war, fo würbe man mi«trauif<h gegen
ben Inhalt, läffiget im fiefen, pgleich gefchidter barin, ba« SBefentliche fchneU
pfammenpfinben. Ad), ba« Stefibuum War bisweilen betrübenb gering! Stod)
eine Erregung am Xage ber abgehenben ©oft: bie übrigen fünf Xage blieben
frei, ungefdjäbigt, man tarn p fich felber, pm wirtlichen ©enuß be« fieben«, p
äußerer Stulje unb p innerer. Xa« war ein (Ehorafteriftifum be« Aufenthaltes;
nerBö« erregten ©erfonen hätte man ihn bamal« bringenb empfehlen tönnen.
Xie« beneibenSWerthe ©lüd ift nun auch öon ©riechenlanb genommen, jWeimal,
auch breimal tann man fich europäifcher UeberfäHe gewärtigen; e« ift fogar jefct
möglich, Bon ©erlin au« in 4*/ 2 Xagen Athen p erreichen. (E« gibt jefct eine
„^ettenifdje (Eorrefponbenj" (£XXy)vc>cy) avtaJtöxpwu;), bie fo gut Wie SBolff, $aBa«,
Stefani bie größte (Eile hot, allerlei Stadjrichten in bie ©Seit p fefcen, unb bie
größern athenifchen S<itungen h a & en fich IStattipac avranoxplaeic pgelegt,
Specialcorrefponbenjen. Tont comme chez noas! SBiD man jefct SRuhe hoben,
fo muß man fchon weiter jieljen; aber ein ©löschen, wo man Stühe Bor (Europa
hätte unb hoch pgleich comfortable aufgehoben Wäre, wie ba« Athen Bor jehn
fahren, wüßte ich nicht mehr nadjpweifen.
©Jer Bor einem gahrjehnt Born Storben nach ©riechenlanb reifte, für ben war
Korfu immer ber nothwenbige XurdjgangSpunft, gleichfam ba« (EinfaUStfjor. §ier
berührte man perft griedjifdjcn ©oben, freilich nicht ba«, wa« wir eigentlich
©riechenlanb nennen.
6« ift ja betannt, baß bie Sfonifchen 3nfeln früh, f<h on üom Au«gang be«
14. ^ahrhunbert« an, allmählich in bie $änbe ber ©enetianer glitten; unb fie
lönnen benn auch nicht leugnen, baß ihre ©efchichte Bon ber anbern griechifdjen
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©riecfjenlanb im lebten 3<»f?rjehut*
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gu intern $eile früh getrennt toorben ift. AIS anmutige blüljenbe ©ilanbe
tauben fie, menigftenö bie brei großem, au$ ben blauen fluten empor; unb Korfu
märe roafjrtidj nid^t unmflrbig, bie felige Snfel ber iß^äafen gu fein, rnenn auch
bie SEBiffenfd^aft it)m biefen Anfprudg nic^t fdjeint (affen gu lönnen. „3u ihrem
$eile getrennt" fann man auch bann noch fagen, menn man bie toirflich infamen
©runbfäfce fennt, bie einmal ein öenetianifdjer (Rath für bie ©etjerrfchung gerabe
biefer X^eite auSgefprochen (|at.*) Stenn fo gemig bie lange, gunt X^ei( oier»
tjunbertjäfjrige §errfcgaft ©enebigö bemoralifirenb auf bie ftäbtifdjen ©etoofjner
ber 3nfel gemirft hat, fo h“t boch anbererfeitS ©enebig biefen ©eftfc ^tnreic^enb
gefdjflfct, um ihn materiell nicht oerfommen gu (affen ober beinahe fpftematifdj gu
enttoertgen, mie baS &ggantinifdje unb oSmanifche £>errfcger jum Xt|ei( in ©riechen»
(anb getgan gaben. 3h re Anpflanzungen, befonberS bie reichen Oliöentoälber unb
SBeinberge, menigftenö bie ffrortbauer berfelben unb nicht meniger SBälber oer»
banfen bie Snfeln oenetianifdjer Seit, ebeufo gum großen X^eil igren baulichen
©garalter. Stann ift oont 3agre 1815 an baS engüfcge ©rotectorat benfetben
augerorbentticg gugute gefommen; nicht bloö ba$ Seftegenbe marb gehegt, ©e*
feftigungen, .fjäfen unb SBafferleitungen mürben erbaut, öffentliche ©ebäube auf»
geführt, £>anbel unb Aderbau mürbe gehoben, für ©rgiegung geforgt, unb befon»
berö ber (Reichtgum ber 3nfeln burch treffliche gagrftragen erfchloffen, mol bie
erften, rnelche feit ber $errfchaft ber (Römer im Dften neu angelegt toorben finb.
Auch bachten bie Snglänber im Sag« 1850 offenbar noch gar nicht baran, bie
Sonifcgen 3nfeln einmal aufgugeben; benn bamalS genügten fie noch bi £ befannte
Affaire Stom ©acifico gu einer ©reffion, um fid) gmei Heine 3nfeln mehr gingu*
guermerben. SRicgtSbeftotoeniger gaben fie faum 14 Sabre fpäter bem immer
ftärler unb heftiger fi<h äugernben Buge ber ©eoöllerung nach unb überliegen bie
Sonifcgen Sufeln bem Königreiche: eine ertoünfcbte SDtorgengabe für ben König,
beffen Antritt baburch mejentlich erleichtert mürbe; unb boch gatten fie eben noch
bebeutenbe Summen auf bie ©efeftigung KorfuS oermenbet. Ueberbaupt gehört
biefe Abtretung boch gu ben 3üßen englifcher Uneigennügigleit, bie man über
ben entgegengefefcten nur gu leicht Oergigt. Unb biefer !ann auch baburch nicht
roefentlidj abgefcgmäcgt merben, bag bei oeränbertem SEBeltberlegr bie Sonifcgen
Snfeln nicht mehr als fo mistige ©ofitionen im SRittelmeere erfchienen mie
50 Sohee früher. Schon bie lurge feit ber Abtretung öerfloffene Beit hot genügt,
um auch ben Stäbtem einen mehr griechifchen Sgarafter gu geben; freilich mug
biefer Uebergang fchon früher angebahnt morben fein, ba bereits im 3agre 1852
bie ©nglänber geh oeranlagt fanben, baS ©riedjifdje anftatt beS Stalienifcgen gur
amtlichen ©erfegrSfpracge gu mähten. S>er B«9 ber Stammesoerrnanbten gueinanber
macht fich eben in ber ©poche, in ber mir (eben, überall unb auf bie Stauer un»
miberftehlich geltenb.
*) SS gieß ba unter anberm, man foUe fich erinnern, bag eS nichts meniger Sicheres
gebe als bie Sreue ber ©rietgen; ge feien gu beganbeln mie milbe Sgiere, beren Bäh ne
unb Sagen man abftumpft; oft gu bemütgigen, jeber friegerifdjen ©igenfegaft gu berauben:
„©rot unb ©tod ift ba nötgig; geben mir SRenfegticgfeit für eine beffere ©elegengeit auf."
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Unfere £ext.
Sie Sanbbeoötferung ift irnmer griedjifch geblieben, Wobei man in Verlegenheit
fein tann, ob man ba$ ffiet mehr ber unoerwüftlichen SebenSfraft beS ©riechen»
tljumS jufchreiben foO ober ber oerächtlichen Unterfchäfcung burth bie Venetianer.
Schon h>ct beginnt ber frappante Unterfchieb oon Stabt» nnb Sanboolf, ber in
ganj ©riechenlanb ftattfinbet unb fefjr oiel merfwürbiger unb fc^ärfer ift als
baS Verhältnis oon Neapel ju ben 3nfc(chen Capri, ißrociba, 3$chio, eben weil
eg fich ba um 3»fe(n hobelt. Sie Gigenfchaften ber Stäbter fhtb felbft nicht
big ju ben nächften Sörflern gebrungen, bie mit jäher Stanbhaftigfeit ihren
Gharaftcr feftgehatten hoben. So hot auch h’ cr ber Vauer burch bunfte 3 f il en
hinburch bag ©riechenthum gerettet, beffen eigentlicher Sräger er toar. Safj eg
nichts SBefentlicheS, fonbern nur Sleufferlichfeiten finb, welche auch einem griedjifchen
Sanbe einen rein europäifchen 21nftri<h geben, jeigen aber biefe 3nfeln, welche ben
9teifenben nicht als frembartig, fonbern burchauS wie feine weitere §eimat
anmuthen.
ms eine Unbanlbarfeit ber Hellenen muß ich bejeichnen, wenn fie ben
Sluffchwung ber 3nfeln oon beren föniglich griechifcher 3 £ it batiren. ©elbft ju»
gegeben, worüber ich iitbefj feine fiebern Säten höbe, bag gewiffe 3weige beS
§anbetg ober 21cferbaueS gewonnen hoben, fo ift mir hoch waljrfcbeinlieher, bag
wir auch ba noch bie golgen ber englifchen Vehanblung oor uns fehen, bie ohne»
hin eingetreten wären. GS wirb ja immer ferner fein, berartige Veränberungen
Wahrjunehmen, Wenn man ben frühem 3uftonb nicht gefannt hot. Sieg eine
muff ich behaupten, Weil man es fehen fann: bie gebahnten Straffen hoben burch
baS neue Regiment bisher eher oerloren als gewonnen. Sarfiber foflten bie
3onier fich leinen 3Dufionen hingeben. Unb noch in einer, wenn auch fecunbären
Vejiehung war bie Ginoerleibung in baS Königreich nicht oortheilhaft: bie 3nfeln
oerfielen bamit ber ganjen unglaublichen 3RfinjWirthfchaft, an Welcher ©riedjenlanb
bis oor wenigen Sohren loborirt hot.
3ch oerweile einen Slugenblid bei biefem fonberbaren 3**ftanbe, Weil er auf
ben Snfömmting einen ftarfen Ginbrucf ju machen pflegte unb auch fonft baS Sluf»
bewahren oerlohnt. GigeneS SBerthmetaH war fo gut Wie gar nicht im Umlauf;
baS häufigfte Stücf War, Wie im Snnem 9tfrifaS, ber 9Raria»Sherefiathaler, ber
infolge beffen in ßefterreich immer aufs neue in großen Staffen geprägt unb in
©riechenlanb importirt Würbe. Sie eigentlich griechifchc Stünje, bie Srachme
oon 100 Septa = 72 Pfennigen, bilbete natürlich babei bie äBcrtljeinheit; aber ihre
©anj» unb ^albftücfe mit bem Vilbniffe König ßtto’S fah man hö<hft feiten, unb
bann oielfach burchlöchert; fie Waren am Kopffchmucfe griechifcher Väuerinnen
Oerwenbet worben, ein 3t»ecf, ber jahlreiche Stücfe ber 2lrt aus bem Verfehr ge«
jogen hotte. Siefe SBertheinheit ging aber in ben circutirenben $auptftücfen nur
fehr unoollfommcn auf. Sie fpanifchcn Sljoler, bie „Golonnaten", fowie bie
mejricanifchen unb fübanterifanifchen enthielten freilich genau 6 Srachnten, ber
3Jtaria=Xh £rc fiotholer aber nur 5 4 / s (biSrocilcn gar 5 Srachmen 78 Septa), anbere
5%, auch 4 4 / 5 ; ben Keinen Verlehr »ermittelte ber höflich? ölte öfterreichifdje
3wanjiger, er galt 95 Septa, unb reichliches eigenes Kupfergelb, baS in günf»
unb 3 £ holeptaftücfen auSgebrad)t würbe. Sian fann fagen, noch im Anfang beS
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(ßriedjonlanö im lebten 3 a h r 5 efjnt.
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lebten SahrgefjntS galten unb circulirten mol in ©riechenlanb auch mit normirtem
äBertlj alle {[Rüngen non SSerthmetatl non ber inbifc^en Studie bis gum engtifc^en
Schilling. HuS bem üerwicfetten ©erhältnifi, in meinem trofc aQebem bie ionifc^e
SRüngredjnung bann noch gur übrigen griechifchen ftanb, bin ich uoQenbS nie flug
geworben. Sine hielt es fdjtoer, bie {Roten ber Sonijchen ©anf auf Äorfu im
fölnigreich, unb bie ber ©an! in Sltfjen auf ben 3nfeln angubringen, auf welche
ihr {Recht fi(h ni<ht erftrecfte. {Radjbem in ber ßanbtagSfifcung beS Wahres 1867
bereite eine {Reform beS SRfingmefenS unb Slnfchtuf} an bie Sateinifdhe äRüngcon*
nention befchloffen mar, nach melcher bie neue Drachme bem granc gleichgefefct
mürbe, hat ber SBirrmarr boch noch bis gum {Jahre 1876 gebauert. 38er bis
bahin größere 3abtungen in ©aar gu machen hatte, that mohl, ftch fpnoptifche
SBerthliften angutegen, wobei er freilich boch noch fidjer mar, fidj fchliefjlich gu
feinem {Rauheit geirrt gu haben. {Dafj ber enbliihe plöfcliche Uebergang gahlreiche
priüate ^ntereffen fdjäbigte, auch manche unrebliche Speculation begünftigte, liegt
in ber Statur ber «Sache unb baS fommt überall nor; aber bebenflicher mar, bafj
bie lange UebergangSgeit gu unreblichen SRanipulationen gegen grembe f)erauS=
forberte, ba eS fo nahe lag, ihnen in grancS gu berechnen, maS non {Rechts wegen
in Drachmen gu begabten gemefen märe. IDie {Rationalbant in 3lthen, ein gut
funbirteS unb auSgegeichnet geleitetes ^nftitut, hatte freilich fcfjon üorher {Roten
gu 25 unb 100 Francs ausgegeben, bie nun jahrelang entgegen ihrer ©egeichnung
als 28, refp. 112 alte Drachmen circulirten. kleinere {Roten gab es nicht 3«
biefem Slugenbticf bei ber ©erbreitung neuer, in {ßariS gut geprägter Drachmen
ahnt ber grembe gar nicht mehr baS frühere ©h a °3-
{Doch gurücf in ben Anfang beS testen ^ahrgeljntS. ©leid» beim erften Schritt
auf gtiedjifchent ©oben marb man überrafcht üon ©emeifen griechifdjer ©etriebfam-
feit. 3Barb ©riechenlanb auch üon äfterreichifchen unb frangöfifchen, feit 1873
auch italienifdjen Xampfern berührt unb umfahren, ben ©erfehr innerhalb beS
SanbeS üermittetten feit 1857 in ftetem SBadjSthum einheimifche Dampfer; fie
umfahren ben ©eloponneS üon SBeften unb üon Dften her, üerbinben ihn mit
{Rorbgriechenlanb unb burdjeilen üon Sorfu her ben SReerbufen üon Korinth.
{IRehrere biefer Xouren finb in ben testen fahren üerboppelt worben, obgleich feit
1878 auch italienifche {Dampfer (ber ©efeflfdjaft glorio) unb feit 1880, refp. 1881
ber Oefterreidjifche Slopb an bem innern griechifchen ©erfehre fich betheiligen,
beuttiche 3ei<hen eines gerabegu rapiben SluffdjmungeS.
SBer gern fogleich gang inne werben wollte, baff er wirtlich in ©riechenlanb
mar, nahm in &orfu feinen anbem als ben griechifchen {Dampfer, ber auf fürgeftem
SEBege gut SanbeShauptftabt führte unb befonberS ben ©ortheil hatte, üon üomherein
einen allgemeinen Ueberblicf gu geben. 2Ran hatte etwas Wie einen gebrängten
KuSgug beS SanbeS. 3n ©epfjatonien mie in 3ante gleidjfam ein $?orfu in anberm
SRafjftabe; im ©olf üon Korinth an ber peloponnefifchen Seite aufblühenbe Orte,
üor allem ©atraS unb ©oftifca, benen bie Äorinthenfelber {Reichthum bringen;
brüben, mehr gurücfgeblieben, eine Äüfte ohne ein folcheS aufjerorbentticheS {Ratur=
Unfrre »fit. 1882. I. 44
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Unfere ^>eit.
gefchenf; im ©olf öon ©alajibi nodj geborftene häufet unb Srümmer, bie golgen
beS großen ©rbbebenS öon 1870; in {Reuforinth enbtidj einen beginnenben Ort
am 3Reere, wohin ber größere I^eü bet ©eoölferung bet alten Stabt nach bem
©rbfioh öon 1857 befinitiö übergejiebelt toar. Sa an bet ©de fogar ein ©afthauS,
ein feltenet Slnblid; halb mar es gefc^Ioffen, b. h- bet SSBirtl) banfrott, halb
öffnete es toieber feine öerberblidjen Pforten; immet war man in bem ungemüth*
lidjen SRefte gleich fdjledjt aufgehoben. Qn Sagen warb man übet ben Sfth mu ö
gefdjafft; babei ging es bisweiten bunt ju; man warb, wenn auch gtunbloS, be=
forgt für fein ©epäd unb fidj (benn in biefer {Reihenfolge pflegt bet eifrige SReifenbe
an fidj ju benfen). 2)a8 ift nun auch öotbei, wot fchon feit acht fahren. SRan
wirb muftethaft auf bet galjrftrahe nach brüben beförbett. „Huf bet gahrftrafje";
„unterrichtete" {Reifenbe pflegten unb pflegen bei biefem Hnlafj ju bemerlen, baff
biefe eine bet wenigen griedjifdjen gahrftrafien fei, noch baju angelegt öom Oefter»
reidjifdjen Slopb u. f. f., unb bamit war einer ber beliebteren HngriffSgräben
gegen bie griedjifdje {Regierung eröffnet. 2)a glaubte man fiel) benn als {ßionnier
beS SBeltfortfdjrittS in unnahbarer {ßofition, unb es war etwa« fo Schönes um
eine fo tiefe, fo innige ©ntrüftung, bie nichts loftete, nichts, nicht einmal {Rach»
benlen. ©rftenS hot ©riechenlanb benn bodj ein paar fahrbare SEBege unb Saht*
ftrafjen mehr, als ber gemeine Sourift ju fehen belommt; immet noch öiel ju
wenige, id> gebe baS ju; aber bet öielfad) noch fühlbare SWangel ift wirflich nicht
bloßer SKiSWirthfchaft ober ©nergielofigleit jujufdjreiben. Sch Will gar nicht ein*
mal geltenb machen, bah an ber ©lüte ©riedjenlanbs im Hlterthum biefer gactor
ebenfalls nicht Hntheil hatte; benn man fönnte mir bie böHig geänberten SebenS»
bebingungen entgegenhalten. Hllein ein flanb, beffen ©röfje etwa nur {Rljeintanb
(IRorbgriechenlanb) unb Seftfalen ({ßeloponneS) entfpricht, beffen ©eftabeent*
Widelung aber babei bie ßüftenlinie öerboppelt, Wo bie {Ratur felber aüfeitig
£»äfen unb HuSgänge jum ÜReere gefdjaffen hat, fte^t benn hoch ber Segefrage
etwas anberS, gleichfam weniger bringlidj gegenüber als ein ©imtenlanb. ©eredjt*
fertigt foü bamit bie {Regierung nicht Werben, aber bie Sache erllärt unb zugleich,
wie ber gahrftrafjenmangel hier nicht alle bie {Radjtljeile haben lann, bie er bei
unS nothwenbig nach fidj sieben mühte. ,Unb auherbem Will ich boch ein für
allemal barauf hinweifen, bah nach ben hiftorifchen Vorgängen ©riechenlanb ein
{Recht barauf hat, öorläufig nur am Orient unb nicht am Occibent gemeffen ju
werben, ber bie grüchte einer mannidjfadj unterbrochenen, aber boch jahrhunberte*
langen ©ntwidelung bricht.
Huf ben griedjifdjen Stampfern fonnte bem gremben, wofern er nicht Hnfprüdjc
auf ©leganj ber HuSftattung unb SujuS im ©ffen machte, mancherlei fehr erfreuen:
baS SdjiffSperfonat erfdiien ©ertrauen erwedenb öom liebensmürbigen Kapitän bis
ju ben einfachen 2Ratrofen, bie gerabe fo wader unb öertähtief) auSfahen Wie
gute alte Seebären allerorten. ®S war ein förmlicher SBetteifer unter {ßaffagieren
unb SchiffSöol!, bem gremben ju Stienften ju fein; fchon hier gewann er ben
@inbrud, als hielte jeber feinen ©efudj in ©riedjenlattb für eine perföntidje ©unft;
biefeS aüfeitige ©ntgegenfommen war burchauS ohne ^intergebanfen, es lonnte
beffen felbft jn öiel werben; ja bem {Rculing fonnte es bisweilen als anfbringlidje
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<ßriedjenlan& tm lebten 3 < l fy r 3 e l?nt.
69t
9teugier erfcheinen. Die 9teugier ift ja ein Element babei, aber bodj fein tjoupt»
fächtidjed. Sftö Deutfdjer boflenbd war man bor einem Satjrgehnt flang befonberd
Wißfommen. Die SBirfung bed großen Krieges gitterte ftarf nach; jeber Deutfdje,
meinte man, mfiffe babei gewefen fein unb wenn möglich in aßen @chtacf>ten, unb
jebenfaßd nahe bem Äaifer. Dad ift überhaupt eine fettfame Ginbilbung, auf
bie mancher aufmerffam geworben fein muff, atd ob mir in Guropa äße nahe
beieinanber fäfeen, unb bie jebenfaßd fid) fennen müfeten, welche Griechentanb be=
fudjt bitten. Doch gehört bieä natürlich fefjon mehr gu ben Ginbrücfen, bie man
auf bem fianbe empfängt. Die Griechen haben ben gtangofen mandjed gu banfen,
unb bie SDieljrgaht h a ^ e nie anberd geglaubt, atd bafe mir unterliegen mufften;
fte Wufeten auch f° Wenig oon und. SBer fchon borher an und geglaubt hatte,
ergötzte ed ftolg. Unfer Sieg hatte — wenigftend meinte bet Deutfdje bad wahr»
gunehmen — bie meiften überrafdjt, biete erfreut, aßen imponirt. -Dtan Ragte
bietfach, baff ben grangofen im ißribatberfehr ein h°<hf a h re nbed SBefen gegen bie
Griechen eigen gemefen fei. Seber eingetne oon und nahm an ber gemeinfamen
Vewunberung theit; ed fonnte einem bad £>erg weit werben, wenn man {ich nur
einen Deutfchen gu nennen brauchte unb eined warmen Gmpfangd fieser war. geh
habe oft gebaut, baff berartige Studpge eine recht gute Vefferungdanftalt für
Ungufriebene par profession fein würben.
Der Gnthufiadmud für ben Grfotg ber SBaffen unb ber ißolitif fonnte bid»
Weiten fonberbare gönnen annehmen. 3dj ergäbe ein berartiged Grtebnife, ob»
gleich cd auch auf bem fianbe paffirt ift, bei einem Vauer ber forinthifchen SEein»
füfte. 3« ihm fam ich mit greunben, empfohlen burdf einen ©rief eined anbern
SBeinbanerd. Gd war abenbd, giemtich fpät; er trug nur ein tanged $embe, unter»
halb beffen ein tßaar weifee Unterbeinfteiber gum ©orfd^ein tarnen. Gr tiefe ed
fidf nicht nehmen, fogteich in biefem Goftüm für und aße gu forgen; aud) Damen
Waren mit und. Grft atd biefe gur SRuhe gebracht waren, nahm er unfern Gm»
pfehtungdbrief bor, fejjte fiefe fteif an ben Difd), ftemmte eine ftornbriße auf bie
9tafe, hielt ben ©rief weit bor fid) unb fing an taut gu tefen: „§ier fdjicfe ich
Dir bie Werten 9t. 9t., behanbte fie gut, ed finb greunbe; beforge ihnen bißige
ißferbe; nur bem einen mit ben Stugengtäfern" (ber war ich) „fannft Du mehr
abnehmen, benn ber ift ein ißreufee." Der Gaftfreunb im §embe fuhr empor,
trat einige ©dritte auf ben $tafe an ber Grbe gu, auf bem ich f<h on tag, nahm
ben ged ab, machte eine tiefe Verbeugung — afled ohne eine ©pur bon Slffec»
tation—unb rief taut aud: „ ? A ot Ilpuaoixoi vjpue?!" („9lh, bie preufeifchen $eroen!"),
unb er nahm mir nicht mehr ab atd ben anbern.
Stttfen fetbft, gu bem bom fenfeitigen Sfthmudufer eine furge Dampferfahrt
bon bier ©tunben führte, ftanb im Satire 1870 boflfommen unter bem Ginbrucf
bed ungtüdtichen 9täuberfaßed bon 3Jtaratt)on. Sßad ich über biefen gu fagen
weife, gehört in ein fpätered ft'apitet; hier nur fo biet, bafe man bem gremben
(eben Sludftug aud ber ©tabt wiberrietlj: bad that bie Gefanbtfchaft, bad thaten
bie Gaftwirthe, überhaupt jeber, ber mit ihm in ©erühruitg fam. Gd herrfdjte
eine förmliche tßanigue noch ein 3“hr fpäter; man ergähtte bon ängftlichen Athenern,
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T—*^^.3
rv^y
692 _ Unfete <j$eit. __
bie fd)on in ber 2)ämmerfhinbe nicht mehr um bie AfropoliS fpaziertcn. $er
Scembe wußte als Steuting nod) nicht, wie weit bie allgemeine Aengftlid)feit be»
grünbet War, ahnte nicht, baß bie Stäuber bisweilen als politifdjeS SJtittel an*
gewenbet würben, unb blieb bah« zunächft in Sitten. 2>aS fam ißm infofern ju*
gute, als er baburch einen ©inblid in bie Art unb baS Seben ber ©tabt, bie
ganze ftäbtif^e iß^fiognomic erhielt, unb falls er Suft hatte, audj Äenntniß ber
SanbeSfprache, bie für fpätere Steifen im Sanbe unfdjäfjbar war. 2)enn für biefe
war er nun nicht mehr auf baS ÜJtebium ber hinberlichen unb foftfpieligen Kuriere
angewiefen, welche ben Steifenben ganz in Accorb ju nehmen pflegten, etwa Wie
man ein ©itberbergwerf auf Abbau übernimmt.
$er ©inbrud ber ©tabt Sitten war Derfdjieben, je nachbem man öon Offen
ober äöeften fam, aber immer ein außerorbentlidj angenehmer. S3er Dom Orient
herzureifte, atfjmete hi« erleichtert auf unb meinte faft fchon in ber europäifdjen
Heimat zu fein; Wer ton berfelben fam, fanb außer wenigem Dricntalifirenben
mancherlei Abweichungen, bie aber im ©runbe ebenfo Diele Annehmlichfeiten Waren.
SDtan fann fi<h nur wunbem, baß nicht auch wohffituirtc unb europamübe AuS*
länber fich biefe reijoolle, ruhige unb gefunbe ©tabt zu längerm unb bteibenbem
Aufenthalt wählen; begüterte ©riechen aus ber Xürfei fcheint fie mehr unb mehr
anjujiehen. 2öcr lebhaftere unb zahlreiche Anregungen brauchte, that aderbingS
beffer, fchon in Statten, halt ju machen.
©S Wäre ein SRiSbranch, hi« noch 0011 ben aHbefannten Stcijcn Athens }u
fprechen, feinen h'ftorifchen ©rinnerungen unb antifen Steften, Don feiner fanb*
fdjaftlichen Sage unb Umgebung; mit ben Gingen werben Wir ja glüdficherweifc
noch erjogen. Aber baS muß man felbft unb bort gefühlt hoben, wie ber
Aufenthalt in ber reinen attifchen Suft allmählich beruljigenb unb flärenb wirfte;
es war, als ob man eine SBeilje empfing. 3)er gefteigerte Sßerfehr wirb auch baS
beeinträchtigen. Aber bamalS höbe ich immer gefunbeit, baß — bis auf ©treber*
naturen — in Athen auch bie unauSftehlichften Sanbsfeute genießbar wurbeu.
5)abei fonnte cS einem benn in Athen fchon gehen wie im Orient überhaupt,
ber für fo Diele europäifche Sntcreffen allmählich abftumpft, gleichfant narfotifch
Wirft: man Dergaß ber ipeimat unb $eimfehr. ®aher mochten mehrere athenifche
3ahre für ben, ber auch in ©uropa noch mitzuarbeiten hotte, leicht Derljängniß*
Doll werben. 3ür ben Orient überhaupt hot ja baS auch einmal ber 3rürft=SleichS*
fanzier in feiner ©phäre beobachtet unb auSgefprochen.
^ch rebe h>« nur Don ber mobernen ©tabt Athen, ber Stefibcnz, bie Don
7000 ©inwohnern im Sahre 1834 cS Dor brei Saf^n auf 75000 gebracht hotte;
fie wäre ein Kapitel für fich, unb ich würbe eS gefchrieben hoben, wenn eS mich
nicht für meinen augenblidlichen 3wed zu Weit führen fönnte. 3<h befchränfe
mich baher auf wenige, aber eigene Striche. $er ältere XI)«* ber ©tabt — nörblich
unterhalb ber fflurg auf beut 33oben ber antifen — mit feinen fleinen Käufern
unb engen Straßen ift boch nicht ohne Anziehung; er war mitten hiueingefefct in
alte Stuinen; bie hoben es fich benn gefallen laffen müffen, zu allerlei SebenS*
bienften herangezogeu zu werben, mehr früher als jejjt, wo banf ber X^ätigfcit
ber athener Archäologifchen ©efeüfchaft bie weiften berfelben ifolirt worben finb.
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®ri«genlanb im lebten 3 agrjegnt.
693
Sfutg gier finb bie Raufer oieffaeg bureg einen abgemauerten §of non bet ©trage
getrennt; btinnen gaufen bie {feinen SSürger unb (feine ©efiger. 2fber wer nur
ein $anbwert treibt, baS irgenbeinen SebenSbebarf bedt, ber fiegt gu, bajj er an
ber ©trage fefber bleibt: bei ©ädern, Krämern, ©tgenfen ift baS natürlich; boeg
aueg ber ©tgufter figt nor ber £gür ober in ben breiten Oeffnungen ber untern
Stage, bie bureg groge £ofgläben öerfegfiegöar finb; ba goden autg bie ©egneiber
unb nägen an ben golbbefegten Sarfen; aueg not ©egreiner, SreegSfer, ©cgntiebe
arbeiten fo gafb auf ber ©trage. SaS erteiegtert ben ©ertegr mit ignen, unb fie
gaben boeg aueg fefber megr nom Seben. £abaefs>- unb 2Beinläben, befonbers
Safes bifbeten, nie in affen grieegifegett Orten, aueg ba einen geroorfleegeitben 3ug;
bie tegtern toaren überaus einfadg: an ben ^ofgtiftgen fagen trinfenbe unb rau*
tgenbe ©ruggen, enbtoS fegien ber ©egegr natg Kaffee, SDiaftijfegnagS unb feurigen
Koglen für bie Sigarette; aber es war boeg ein fteteS Kommen unb ©egen, beim
ein feggaftes SBirtgSgauSteben (ennt ber mägige ©rieege faum; in ben SBeinfcgenfen
fegt er fi<g gar nitgt. 9fucg Würben ba ©efegäfte Derabrebet unb abgefcgfoffeit,
eine befegeibene 8frt Don ©örfe. © 01 t ber „Sobberei" bfieb Sftgen itocg gfüdficg
frei, feiber nur bis guni Saurionftgwinbef im Sagrc 1873, auf ben Wir no<g
(ommen werben. 3 m äftern Quartier fag man noeg am uteiften bie oft betriebene
nationafc Xracgt, bie eigentfieg albanefiftge guftanefla, ben furgen weigeit ballet»
mägigen 9tod, ober baS Weite fadartige ©eiitffeib ber Snfetn, BpaxxaSec; aber
aueg gier combinirte fitg bamit bisweifen fegon feftfam ber fränfiftge gilg* ober
©troggut ftatt beS geS. 9toeg megr geigten bie bort wanbefnben äRatronen eine
2 Rifcguug ber Xradgt: eurogäifdjen SRod, grietgiftge 3ade unb geS mit fanget
Xrobbef, wie es bie Siebeslieber greifen, tpier (onnte man bie näfefnb gefungenen
©ottslieber gören nnb bie „SfmanebeS", bei wefegett auf baS SBort „8lmän" in
furgen gnteroaffen mobufirt wirb bis gut SRaferei beim ©änger unb £>örer. ©ewig
waren unter aff ben bunten ©eftalten bebenftiege Sjriftengen; wo fänben fi(g bie
niegt, gurnal in einer $augtftabt? 916er fie waren refatio feiten, fixerer afs in
9lont unb Steagef war ber gretnbe ogne gloeifef, unb gewig fiegerer als in Sonbon;
oon näcgtliegcn UeberfäHen in ben ©tragen, ja Dom unfegutbigern Saftgenbiebftagf
gäbe i(g wägrenb Dieter Sagte niemats etwas gegört. Ser eingefebte grernbe
emgfing befonberS in bem äftern ©iertel ben beftimmten Sinbrud, eS mit einem
faft auSfcgfiegficg braDen ©off gu tgnn gu gaben. Ser Steufing fanb baS nitgt
fo; aber eS ganbett fitg ba um eine ©aegfage, bie beffer bei ben Sanbüergättuiffen
grincigieU berügrt Wirb.
Um baS alte Quartier gerum fegt fitg mit igren breiten ©tragen bie neue
Stabt; an einer ©teile, wo beibe gufammenftogen, liegt ber ©agar, angelegt unb
bebedt noeg naeg orientalifcger, wenn man will autg ftgon antifer Slrt. 9ticgt
grauen, bie übergangt gurüdgegogener leben, tauften ein, foitbern SDtänner, beneu
Knaben igre großen Sragförbe gur ©enugung anbieten. Sie ^augtaberu ber
neuen ©tabt finb ein gaar fegt febgafte ©eftgäftsftragen; ba ift faft alles eurogäiftg,
„alla franca". EafeS unb SabadSläben bilben autg ba gleitgfam ben ©runbton.
28er Don einem mobiftgen Xgeif SurogaS tarn unb baS ißubfifunt mufterte, fanb
Diele Srftgeinungen ungrogre, wenige Wirtficg elegant. Samen fag er nitgt aUgu
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Uttfere £e\t.
6W
Diele, faft mental# allein. Sunge Mäbcgen ogne Begleitung gegen ju taffen, galt
int grogen (Sanken al# unpaffenb; Singe, bie nicgt blo# an ben Orient, fonbern
aucg an ba# Stttertgum mahnen; bocg foKte e# aucg anbere actuette ©rünbe gaben,
Wenn Familien igre europäifcgen ©ouOernanten nic^t gern allein au#gegen liegen.
Sa# ©tragenleben erfdgien nidgt#beftoweniger bent, ber an norbeuropäifdge, fpeciell
beutfcge unb franzöfifdge ©tragenftegelei gewöhnt war, angenehm, weit göflieg; ben
Särnt, ben au#rufenbe §änbler ober bebattirenbe «Spaziergänger machten, gärte
man halb nicgt megr. ©ettler fag man fegt wenige; nur giett bie ganze fleine
unb tteinfte atgener Sugenb, befonber# im alten ©iertet, ben gremben für einen
guten „Ontel" (Särba), ber eigen# nacfj ©riecgentanb getommen war, um ignen
redgt niete Fünfteptaftüdfe mitzubringen; unb fie waren fo bantbar bafür! Sen
bemofratifcgen Sinn ber ©riecgen Derrietgen fcgon bie Äaffeegäufer, Wo bie ©ruppen
ogne Unterfdgieb oon ©tanb unb ißerfon buregeinanbergemifdgt erfdgienen. 2tn bet
fßeripgerie liegen aucg in Sltgen bie ruhigen, oornegmern ©tragen; ba waren bie
©odet ber zweiftöcfigen Käufer fcgon üielfacg au# «Marmor, ben man Don ben
neu erfcgloffenen ©rücken be# ißentelifon gott; niete gaben einen Sorgof unb fo
mancge aucg wogtgepflegte ©arten. Sen einzigen Mi#ton in bie fcgönc ©timmung
brachten bie zaglreicgett ißianino#, bie gern, aber im ganzen ogne wirtticg mufi*
talifegen ©inn unb Serftänbnig bearbeitet werben. 3<g gäbe ben ©crbacgt, bag
biefer Mangel ftgon au# bcm Stttertgum ftammt. Sie ftattlicgen Raufer finb ber
Ioben#Wertge 2lu#brud ber Sgatfadge, bag in Sltgen Dergättnigmägig Diele Familien
genug zum begagtidgen Seben befigett; „begagtidg" in igrem ©inne, nicgt ganz
für un#, bie wir bazu aucg einen gewiffen ©omfort ber Bimmereinricgtung segnen,
Weidgen Wir freilidg fdgon in Italien unb aucg Dietfacg in Fronfreieg nidgt finben.
Sn biefer rugigett Dornegmen ©egenb fanb man benn aucg bie grogartigen
öffentlicgen Sauten, SEBaifem unb @rziegung#gäufer für Sfnaben unb Mäbdgen, bie
UniDerfität; ba# Eßotgtedgnifum, ba# Mufeunt, bie Stfabemie waren nodg im Sau;
faft alte biefe Anlagen finb Seweife be# griedgifcgen ©atriotiöntu#, ber ficg nidgt
fetten in wagrgaft tönigtidgen ©oben gefällt. ©# ift ricgtig bemertt worben, bag
biefer fJ3atrioti#mu# unb ba# gute Familienleben ber ©riedgen bie fiegerfte Sürg=
fegaft igrer Sufunft finb. Sott ben zwei £>auptffanbatgefdgidgten, an bie idg midg
nur erinnere, fpiette bie eine in fanariotifdgem, bie anbere in fremblänbtftgem
Greife. Sa# ©efügt für bie IJantitie bringt rügrenbe unb zugteieg ergebenbe 3üge
mit ficg: ba ift fein guter ©ogn, ber nidgt aufftegt, wenn fein Sater zur Sgür
gereintritt; ber nicgt fdgweigt, Wenn biefer rebet; ber nidgt aucg Sorwürfe ogne
«Murren unb tiebeboß ginnimmt, ©ng gatten bie ©efegwifter unter ficg zufammen:
mügte ber ein figtecgter einziger Sruber fein, welker geiratget, fotange noeg eine
feiner ©cgweftern unberforgt ift. 333er im Unglüd ift, weig, Wo er Sroft finbet,
folange er einen nagen Serwanbten gat ober einen „föumparen", ber bei tgm,
ober bei bem er ^ßatge geftanben, ein Sergältnig, ba# binbet wie Slut#Derwanbt-
fegaft unb bager Don Slermern oft bei SReidgen unb Mäcgtigen erftrebt wirb.
Sie# Familiengefügt fteigert ficg bann bem Solle gegenüber zum opferwißigften
Satrioti#mu#; Wogltgätige Slnftatten in ber ©röge Don ©tabtDierteln Derbanten
igm feinen Urfprung; in jebem ftatiftifegen Sucg über ©riedgenlanb (Wie z-
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<Sried)enlan& im lebten 3 a ^ r 5^nt*
695
tß. SftoraiitiniS, „La Gröce teile qu’elle est", ißaris 1877) finbet man bie Söe*
lege bafür.
Süßer ein ©efammtbilb bes neuen Sitten haben wollte, mufite ton ber SKropoliS
herunterbliden: ba meinte man bei bem Sleidhthum an ©arten unb Säumen bei*
nahe einen großen mitteleuropäifdhen SSabeort bor fich p fehen; nur Hingt tjier
bielfadje X^äiigfeit herauf, ein fonberbareS ©ummen, beffen Sfngrebienjien zahltos
finb, jammern unb ©plagen, Stopfen unb ©djmteben, menfdhlidje ©timmen unb
©ignaltrompeten, Stoßen unb Staffeln, $uffd)tog unb ©felSgefd(jrei; baS ©inzelne ber*
fdjmanb; bae ©anje Hang Wirflid) harmonifdh burdh bie ^immlifd^e Suft, bie be*
fonberS am SJlorgen unb Slbenb ganz boß War bon einem würzigen Duft. Die
©efammtwirfung War fo eigentümlich, bafj, wo xd) etwas SlehnlidheS empfanb,
id) mich immer juerft in Sitten glaubte.
Süßer arbeiten Woflte, fanb SSibliothel unb ©ammlungen leidjt unb liberal ju*
gänglidh, wenn aud) noch nic£)t ibeal georbnet; unb man tonnte fich auch äußerlich
fo wohl füllen in ber fdjönen ©tabt unb nidjt btoS in ben ausgezeichneten ©aft*
höfen. S3erftanb ber grembe fidj mit ben ©inheimifcf)en, hatte er nicht bie Sin*
mafjutig, als ein SSBefen höherer ©attung über ihnen fdfjweben ju woßen, berleljrte
er in ihren ©peifeljäufern, fo Warb er wie ein Bugehöriger, unb bodj mit SluS*
Zeichnung behanbelt. fjier war baS ©ffen oft gut, bie Sebienung fchr einfach;
in folcheit Socalen War es in meiner erften athenifchen Beit fchwcr, ein Drinlgelb
anzubringen. „#err, bu haft zehn Septa (circa adjt Pfennige) zu öiel hingelegt",
fagte mir einmal ein Heiner Seßner unb brachte fie zurüd; ich fürchte, ich Heß
fie ihm bennoch unb begann bamit auch meinerfeits an einem Keinen fünfte zu
bemoralifiren, was ja überaß fdjtiefjlich ber gludf) beS grembeitbetlehrS ift. Dafj
in biefen ©peifeanftalten je ber SBerfudj gemalt Worben Wäre, mich z u über*
oortheilen, ift mir gar nicht erinnerlich; ©riechen, bie ich einmal in Serlin traf,
tonnten bon unferer Stefibenz baS nicht fo zuberfidjtlich behaupten; aber wir würben
bodj ftarf entrüftet fein, wenn man uns aus berartigen S3ortommniffen einen all*
gemeinen S3orwurf fchmieben woßte, wie eS hoch fo biele Steifenbe für ©riechen*
lanb gethan haben, bie ein lurzer Slufenthalt unb Unlenntnifj bon Sanb unb @pradje
natürlich borzugSweife mit „grembenfängern" (sit venia verbo!) in Beziehung
gebracht hatte.
Die ©efeßigfeit war bon ber europäifdhen nicht berfchieben; nur (am man häufig.
Wie auch in Italien, granfreidj unb ©nglanb erft nach bem fpäten Diner zufammen,
fteßte alfo an bie SSerpflegung geringe Stnfprüche, was nur als ein SSortheil für ben
Sertehr gelten (ann. Die bemolratifchen Slßuren fanben aber gefeßfdhaftlich (aunt
noch eine ©teße: bisweilen war bie ©onberung lächerlich feijarf. SBie in $oßanb,
©nglanb unb auch fonft wol, war ber S3e[ifc eines offenen SabenS babei grabirenb;
Wer im SSureau arbeitete, ftanb bon bornherein höhet; für baS Sßürbigfte gilt,
Wie im Sitterthum, bon feinem Sefifc leben zu (önnen. gm aßgemeinen bewährte
fi<h auch h* e r wieber bie ©rfaljrung', bafj man fich befto (inbifcljer an ©tanbeS*
unterfdhieben unb SluSzeidhnungen freut, eine je größere ©leichgültigleit bagegen
man äußerlich zur ©chau trägt, ©riedhenlanb hat (einen Stbel, boch für baS SluS*
lanb haben fo manche ihre befonbern SSifitenfarten: ba finb-fie gürften, Prinzen
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696
Unfere £>eit*
unb ©rafen; unb alt unb mächtig genug finb ja nicht wenige gamitien für folihe
Stellung, bie fte aurf) jum Dh e *l aus üenettanifd)er unb türlifcher Seit ableiten.
Slußerbem machen fi<h Wirtlich nid)t nur ©rieten ber S<hwäd)e fcfjulbig, mehr
fein gu wollen, als fie finb, wo fte ft cf) für uncontrolirbar galten, greilicf) wenn
man ihnen im SluSlanbe glaubt, gehören fie alle ju ben erften gamilten beS
fianbeS, haben wenigftenS Begehungen gu ihnen; auch jene atljenifc^e Dame, bie
ich üor ein paar 3“h ren in einem fübeuropäifchen Babe traf, bie gu ben erften
Greifen SUffenS gehörte, bereu (Satte ein ©rofjfaufmann war, welker ber Softer
atlerbingS gunächft nur 100000 grS. mitgeben lonnte n. f. W. Sie Warb aber
boih merftoürbig Heintaut, als ich üon ungefähr ergäf)lte, bafj id) in Äthen ge*
Wefen unb baff mir ihr Stame belannt fei, atlerbingS bisher nur üom Sd)ilbe
einer athenifchen Schnittwaarenhanbtung. ferner müßte nach meiner Erfahrung
ber Stampfer (EnoftS, ber im 3aljre 1868 bie Blofabe üon ftreta brach, winbeftettS
ein Dufcenb Steuerleute gehabt haben; alle ÜJtittämpfer im greiljeitSlriege müßten
eine $auptentf^eibung üerantaßt, ober boch minbftenS ihr gangeg Bermögen üet=
(oreu haben. Stber, £>anb aufs §erg! bürfen Wir gegen bergteichen ben Stein
aufheben? 3^h glaube 7—800 ameritanifche Schiffseigner wollten ben trefflichen
©arfietb einft als BootSfnecht gehabt haben, nachbem er einmal Sßräftbent ge*
worben war; ein paar Staliener, bie als Dffigiere in 3bral)int’S Strmee gebient,
behaupteten mir gegenüber — aber erft nach 1870 — baff fie in ber Schlacht üon
'Jtifib „beinahe" SJtoltfe gefangen hätten; bie (Erinnerung an unfern SelbmarfdjaU
fott in Äonftantinopet im 3«hre 1866 bei üielen älter» ßeuten plöfclicß mit nterl*
würbiger $eDigleit erwacht fein; unb, um nur in obern Legionen gu bleiben,
wie üiele jefct lebenbe beutfdje Staatsmänner hatten nicht fchon tängft üor BiSntarcf
feine 3been — wie fie nachher auSfagten. Sllfo — passons 14-dessus!
(Segen bie bisweiten bebenHich fd)iüernbe Buntheit ber ©efeUfdjaft in ber
Seüante ftach bie athenifcße burch ihren rein nationat«griechifchen Sharalter fehr
beftimmt unb üortheithaft ab; ben abweichenben Süß bitbeten faft nur bie fremben
Diplomaten; was an Stadjlomnteit attSlänbifcher Bh^h e ^ e,ieu ober Baiern noch
im Sanbe war, ift burch bie wunberbare SlbforptionSfäljigfeit beS ©riecßenthumS
im SBefen nicht mehr tenntlich als ein BefonbereS. Der Bertauf ber ©efeUfchafteu
toar fo geiftüoll ober fo fabe, Wie er im allgemeinen üon Dänemarl bis Siciliett
unb üon fßeterSburg bis Bortugat gu fein pflegt, nicht beffer, aber auch gewiß
nicht fchtechter. Die Kleinheit ber Stabt brachte üielen Staffel) mit fich; ba Wut*
ben benn aüerbingS manchmal befrembtiche Dinge üon ben lieben Stebenntenfdjen
ergähtt. Stuf bie fchtimme politifche Seite biefer BerbädjtigungSfucbt lomnien wir
wot noch ein anbereS mal. Die fßreffe reftectirte bie Steinftäbterei oft in fehr
amufanter SBeife; fie fcheint jefct großartiger gu werben, aber bamals „hatten gwei
hoffnungSüoüe 3&ngtinge promoüirt; einer war gu ben theuern Berwanbten ins
SluSlanb gereift, um reich an (Erfahrungen gurüefgutommen; X. hatte geftem in
feinem neuen $aufe eine ©efetlfchaft gegeben; h eute feierte unfer ausgezeichneter
HRitbürger 21. bie $ocf)geit feiner Docßter SaHiope, bie mit allen Steigen ber Statur
unb Dugenben beS ftergenS gefchmücft in bie (Ehe trat mit bent trefflichen B., ber
üor gwei Sahren mit folgern ©lang fein mebicinif^eS Doctorbiplom erhalten".
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(ßrtedjcnlanö int lebten 3 a ^7 r 5 c ^? n t*
697
Sine ftehenbe Stubrit waren bie StamenStage: „morgen feiern", hie& unb bann
eine lange Sifte bon tarnen, bei einigen ein Sternchen, baS nach unten üerwieS.
Sa ftanb benn: „8ev S^etai oute p.ouaoar)v oute ^triax^ei?" (nimmt Weber SDtufif,
ein Stänbdjen, noch Sefudje an), War alfo behinbert ober unpäßlich, ober woflte
fich bie mit ber üblichen Seiet oetbunbenen Siefen fparen. Sehr vernünftig!
Siefe fleinftäbtifdje Socatfarbe wirfte oft erfjeiternb, fie warb einem beinahe lieb;
fie t)atte etwas $armtofeS unb ©emüthtidjeS.
Ser Heine f»of trat bem tßnblifum, unb jwar einem recht weiten, nur einmal
im 3aljre mit einem großen Saßfeft itat>c; im übrigen lebte er in fdjöner unb
einfad)er 3nrflc!gejogenfjeit. 3« albernen SSeöettäten gab er auch t)ier, wie im
übrigen ©uropa, viel mehr ben Stntaß, als baß er bie Sdjutb baran trug.
Oeffentliche Vergnügungen gab es wenige; fetten oerirrten ftcfj ©irtuofen bis
nach Httjen, immer waren fie jugteid) anmaßtidi unb oon jweifelhaftem ‘latent
unb SRuf. 2tber bie fettene ©elegent)eit nahmen alte wahr, unb ber $ünftter fant
nid)t ju furj. Sw 3oh*e 1873 gefchah es, baß jura erften mat eine ber bötj*
mifdjen ©efeflfcßaften oon Sängerinnen unb SDtufifem Sttfien befudjte; im türtifdjen
Orient lannte man fie lange, unb bie jungen „Zünftlerinnen", wegen itjreS oor*
wurfsfreien SebenSwanbetS angefeßen, Ratten bisweiten oortljeitljafte Partien gemacht.
Sn Sttljen berurfadjte bie ©efeßfehaft, bie in einem ber angenehmen Heinen ©arten
am 3IiffoS fpiette unb fang, eine Slufregung, wie etwa baS ©rfdjeinen üon Stau
Succa in ©ertin ober einft oon grau Staate in Seipjig. Ser ©nthufiaSmuS er*
faßte aße Greife, fiebenSatter unb ©efdjledjtcr; f(hutpflichtige Ifnaben oerfauften
ihre Schulbücher, um bie geringen ©djerflein jufammenjubringen, bie eingefammett
würben; oerjüdte ©ewunberer ftanben währenb ber Sorfteßung in Stnfdjaueu
oerfunfen, tühncre gaben ihrer ©egeifterung einen reeßern SluSbrud unb reichten
ben Sängerinnen kühner unb Sauben mit jiertich gebunbenen ftlügeln unb ©einen
auf bie einfache ©ühne, aud) Äörbdjen mit ßiem. ®S War ein wahret Säumet,
ber Stttjen ergriffen hotte. Äutje 3«t barauf trat fdjon im benaihbarten ©arten
ein Soncurrenjuntemehmen auf, unb jwei 3«h re fpöter gehörten böljmifche Sänger*
gefeflfehaften bereits jur SanbeSphhfioflnomie, tonnten fid) für ben ganzen SBintcr
in Heinern petoponnefif^en Stäbten hotte« nnb oertoren manches braoe weibliche
ißtitgtieb an heiratt)8iuftige, wohthobenbe junge ©riechen, fowenig im aßgemeineu
auStänbifche ©attinnen beliebt finb.
SaS griechifche Sheater fpiette in ftttjen, wo eS bamats wenigftenS nicht ftänbig
war, eine mertwürbige Stoße, merfwürbig befonberS für ben Seutfchen, ber babei
an bie 3eit ber Steuberin gemahnt würbe. Ser $of begünftigte baS nationale
Stroter nid)t; fehr mittelmäßige itatienifche ©ompagnien führten jeitweife bie ab*
geftanbenften itatienifchen Opern fehr mittelmäßig auf; fie würben oon ber „©efefl*
fchaft" befucht. Später finb, meine ich, oud) Sranjofen getommen. SaS ©otf
aber hielt in gefuttbem Sinne ju feinem griedjifdjen Sheater, baS freilich unter
ber ©ernachläffigung ber f)öh ern ©tänbe in jeher Schiebung titt. Sie Sichtung,
bie man befonberS oor feinen weiblichen ÜDtitgtieberu hotte, War betrübenb gering,
unb fie oerbienten ©efferes, wie ich für eine ©efeßfdjaft bezeugen fann, bie idh
näher fannte, biejenige beS #erro Sabularis. 3'°ei £>auptgefeflfd)aften, neben
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698
Unfete <3eit.
benen admäbticb ein paar Heinere auftamen, fpielten abmechfelnb in Konftantinopel,
©mtirna unb Sitten. Gin Seutfdher burfte mit intern Repertoire gufrieben fein; ba
erfdjienen g. 8.: „ol X^axa£" („Sie Räuber"), „ßabioupyla xai epoc, ujco tou Trept-
p^jiou jconjtoü SxiXXkpoo" („Gabale unb Siebe, oont berühmten Siebter ©filier"),
„Gntilia ©alotti, oom berühmten Siebter unb Krittler Sefftng", „Glaoigo", oon
Goethe; oon ben grangofen erftbien mebrereS, einige ©tfide oon $ugo, auch SumaS;
,,’Ap.X£co;, ujco xou dÖavcrcou 2ai^7ci)'pou" („hantlet, tiom unterblieben ©batfpeare",
beffen fämtntlicbe SEBerle n?ugrie<bifcb 1874 in gtoeiter Stuflage ausgegeben finb) tjabe
id) auch einmal über bie Sreter geben feben. Sen guten armen Samen Dptjetia
unb ber Königin gelang es beinahe auch, ©boffpeare ben SobeSftojj gu geben, ben
Herren trofe leibenfcbaftlicbften ©efdjreiS nicht. Ruch einbeimifebe Sramen mürben
mit S3eifatt aufgefiibrt: bie „Sreijjig Sbrannen" Oon Rangaois unb anbere, be=
fonberS antil*patriotifdbe ©tücfe. Ser ©ebtoerpuntt beS SalentS tag aber im Suft*
fpiet, richtiger gefagt in ber ißoffe; ba fpielte Ratut mie in Italien. Sie Stuf-
fübrungen eingetner Komöbien beS SlriftopbaneS im alten Obeum gn Sltben tonnten
nur atö Guriofa gelten. Sie ©efedfebaft, metebe ich fannte, lebte in recht bürf-
tigen Serbältniffen; möglich, gerabe baS ihre börgertidben Sugenben beförberte,
für bie ich baS befte Beugnifj ansfteden tarnt. GS fdjien mir immer munberbar,
mie fie, bemegtidbe lettenen, in fotebem Kampf umS Safeiit nicht ermatteten, unb
ich gfaubte ihnen gern, bajj aufjer bem Sauber bcS freien SebcnS audh baS 8e*
roufjtfein fie in ber Sahn erhielt, an einem nicht unmefenttidhen ißunft Eßionniere
ihres Solls gu fein.
Sei bem Heinftäbtifcben Gharafter tonnten benn auch noch eingetne Sßerfönlich*
leiten heroortreten, notorifdh merben unb gur <Stabtp>htjftognomie gehören; man fab
manches Original in ber $auptftabt; fonberbare SRenfcbett febien Gepbalonien biS=
mciten betoorgubtingen, rounberOolle alte $pbriotcn tarnen oor; aber mir finb
brei Serfönlicbteiten befonberS im ©cbäct)tnifj geblieben, ade brei aus ben türtifeben
Srooingen, benen baS Königreich überhaupt bie SRebrgaljl feiner beften Glemente
oerbantt. Ser eine mar ein armer Sopfbänbler Sarbajdnis aus SBtuffa; gu
meiner Seit fang gang Sltben ein Sieb oon ihm nach einem mufitalifch bö^ft an«
fprudhSlofen ©affenbauer; ich erinnere mich bes gmeiten SetfeS:
tfjxat BpoCooot tt)V uarptSa
xal t a nueXä auaxa
xa\ xä; ’ASifva?
ik5j xepSt^ouv rä lentd.
(3fch bin ein „SBruffier" [aus Sruffa] bem Satertanb nach unb bub’ meinen richtigen
SSerftanb, unb ich fenne auch Sltljen, mie fie ba ®etb berbienen!)
Sin SSocbentagen gog er oon morgens bis abenbs burdh bie Straffen, rief
feine Söpfe aus, mit benen ber neben ihm pilgembe Gfel belaben mar, unb erfebien
ärmlich, i a gertumpt. ©onntagS aber oodgog ftch eine SRetamorpbofe; ba fah er
mirHicb aus, mie es im Siebe meiter hielt „unb mit hohem $ute, fjanbfehuhen,
Eßlaib unb Stugengläfern unb mit Sacfftiefeletten"; baS bünne tleincarrirte febmarg»
meiffe ^ßlaib hing über ber Schulter, bie Kleiber fdfjienen etmaS ungemohnt, baS
Sorgnon ans genfterglaS. geh bin ihm mol bin unb mieber begegnet, aber er
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(ßrtedjenlanö tm lebten 3a^r5c^nt.
699
War ein ftitter, ftreuer SJtenfch, unb es fam mir bot, als ob er fiefj gleichfant bot
fidb fetber febämte unb baS {(eine latent Wie ein illegitimes ffinbcfjen anfab.
©an§ anbent ©HlagS war ber jweite SDiamt, geboren am tfyeffalifcfjen DttymposS;
ber 9?ame biefeS merfwürbigen ©brenmanneS berbient aufbewaljrt ju werben; er
biefs, tioffentlidj beifit er noch Zija-r]? 2om)p£oo, gifiS ©otirtu. Sie einzige be*
wegenbe 3bee biefeS Wetterfesten ernften unb wortfargen alten SDJanneS war bie
Befreiung feiner SanbStente in ber Sürfei. geh Weifj nicht, wie er nach Sitten
fam; er mufjte fi<h aber wot in feinem engem ©atertanbe bureb feinen ^ettentfe^eu
Patriotismus compromittirt haben; genug, er lebte in Sttben unb batte — als
©brenamt, beufe ich — bie Dberaufficbt über bie StfropoliS, bie übrigens bur<b
eine Slnjabt braber alter gnbatiben bewacht Wirb. @r bewahrte bie ©cbtüffel ju
ein paar berfebtoffenen etenben ©etaffen, in benen fi<b bamats eine Steüje fteinerer
Slntifen befanben, bie jejjt in bem neuerbauten Keinen SKufeum auf bet Surg
aufgefteltt finb. SBBottte man biefe bamats feben, fo wenbete man fidb an giftS;
er fam herauf unb wartete gebulbig, bis man geenbet. ©ine ©ntfebäbigung für
fi<b nahm er niemals; nur fonnten einige beutfdjje ©et ehrte, bie ibn biet in 3ln=
fprueb genommen batten, ibn bewegen, ein Such anjunebmen, in feiner Sluffaffung
ein patriotifcbeS: beS PaufaniaS ©efdfjreibung bon ©riedjenlanb. ©r lebte un=
befebreibtieb mäjjig; WaS er befafi, fam feinen SanbSteuten jugute; baS gefebab
natb feiner Sluffaffung auch burdfj bie potitifeben Pamphlete, mit benen er in
fritifd^en SDtomenten berbortrat, jute^t, fobiet ich Weiß, im gabre 1878 mit fol-
genbem: „Sie Sterte ber Seltenen bei ber 2öfung ber orientatifeben grage", barin
ein ©orfHtag an bie ©onfcrenj, ©riefe an bie weftlicbe unb ruffifd^e Sipto*
matie u. f. W. Stiles baS fam aus einer lautern unb einfachen ©efimtung, bei
ber er gar nicht faffen fonnte, weshalb baS, WaS als flareS Stecht erfennbar fei,
nicht auch fogteich gefdfjcibe? ©in'@brenmann bureb unb burdfj, unb hoch nur
einer bon bieten ber Slrt, befottberS im türfifchen ©riecbenlanb, bie ebenfo biete
Seweife finb bon ber ertöfenben Sraft beS ©Uten; benn fie berföhnen mit Sau*
fenben ihrer SanbSteute.
Sie brüte perföntiebfeit, eine Same, ebenfalls aus ©ruffa, mag nur engem
Steifen befannt gewefen fein; ich Würbe mir gar nicht erlauben fie anjufüljren,
Wenn fie nicht boeb auch Wieber in ihrer Slrt tppifcb Wäre, ©ie lebte bamats in
Stilen als Sebrerin an einer SDtäbcbenfcbute, beten ©Hüterinnen fie wie ein
anberS geartetes SBefen berebrten. @S War ihre tteberjeugung, baß bie berrtic^ften
SBerfe ber Sitten auch ben grauen erfebtoffen Werben, auch biefe bitben müßten,
als bie ebetfte $intertaffenf<haft ber ©orfabren. Sein fatfeber ©tjrgeij leitete fie
babei, fie wollte nicht fowot öiele, als eifrige unb emfte gubörerimten, unb bie
batte fie. Sa tonnte man fo manche etegante Same SttbenS begeifterten ©orten
begeiftert folgen feben. üfiämtlicbeS Publifum war im allgemeinen ftreng auS=
gefebtoffen, boeb gab es ein paar SluSnabmen. geh bin überzeugt, baf) biefe an=
fpmchStofe Same manchen ©inn erweeft, manche ©ebanfen nachhaltig angeregt
unb bie fchöne Steigung ber Sttbenerinnen erhöbt bat, fo biet an ihnen liegt, baS
©ol! ju bitben unb ju beben unb es ber grofjen ©ergangenbeit bamit immer
Wütbiger ju machen, ©or ben „wohltätigen grauen" SttbenS habe ich Sichtung
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700
Unfere £eit.
belommen; bie ttjun Diel unb mit Srnft. SJlan werfe nur einen Vticf auf ba«
Kapitel in bem Vuche be« äRorattini«, ba« ich oben genannt tjabe.
Sie Seutfdjen gelten im ©runbe immer als eine ber ficherften ©tüfcen be«
ißlfitfjelleniämuS. 811« bor ein paar fahren in einem befannten beutfchen 2Bifc»
blatt ein aOerbing« fe^r unpaffenber ©pottber« auf bie ©riechen ftanb, ben nur
Unfemttniß ber Verfjältniffe begreiflich machte, ba hieß es in einer athenifchen
Leitung: „Von einem beutfchen Statte, fei es auch ein 8Bi|btatt, hätten wir ba«
nicht erwartet!“ Sen Seutfdjen heimelt bie ©hmpatljie an, bie ihm au« bieten
Steifen entgegengebracht wirb. Sie« fdjeint im ffliberfpruch ju ftehen mit ber
8 lbneigung gegen bie bairifche Spnaftie, mit ber Vertreibung ber beutfchen
Veamten (1843) unb manchem ©pottnamen, beffen fich ber Seutfctje in ©riechen»
lanb erfreut. 8tber jene anfäfftgcn Seutfchen hielten fie für $inberniffe auf ihrem
eigenen 2Bege, unb an anfäffigen 8tu«tänbem, bie bon ihrem ©taat ober Satibe etwa«
beanfpruchten, haben fie fi<h bon jeher geftoßen, auch an beutfchen ©eiehrten, an
ber italienifch'franjöfifchen Sauriongefeüfchaft u. f. w. Sa« ift ber unfelige alte
cpüovoc, ber Sleib, ben bie Station nicht lo« Wirb. Sie ©pmpathie mit ben
Seutfchen hat au<h in ben untern Schichten einen wefentlich wiffenfchaftlidjen
Sobcn. „3ht treibt", fo fagcn fie, „am eifrigften unfere alte Sprache, ihr wür»
bigt unfere großen ©eifter am beften, weil ihr euch am meiften mit ihnen be»
fchäftigt, ihr burchforfdjt unfer Sanb nicht nach irbifdjen, fonbern nach geiftigen
Schäden, alfo feib ihr unfere greunbe." Unb hier ift gleich einer ber bebeu»
tenbften 3üge be« heutigen griechifchen VolfSlebeit« erfenubar: wa« für ba« Sllter»
thum gefchieht, ba« gilt wie für bie Sebenben gethan! SBenn baher bie ©riechen
noch biel ftärler mit anbern Elementen berfe^t wären, al« fie finb unb al« bie»
jenigen behaupten, bie fie gewöhnlich nur an Wenigen ungünftigen, mehr centralen
fünften beobachtet, felbft bann, fage ich, würbe immer noch ihr ©riechenttjum
burd) biefe felbftoerftänbliche Qbentificirung mit bem daffifchen 8l(terthum praftifdj
gefiebert fein. So ift bie Vergangenheit nicht blo« ein lebeitbig WirfenbeS gfement
im je|igen Vol!«Ieben, fonbern zugleich politifch bebeutfam, gerabeju ein politifher
gactor. Unb Wenn in allen anbern Sänbcro ber Staatsmann jwar nicht ber
eigenen ©efcßichte, aber hoch ber baterlänbifchen fhtnft unb ißoefie !alt, felbft ab»
lehuenb gegenüberftehen lann: in ©riechenlanb würbe ba« gteidjbebeutenb fein mit
feinem politischen ©elbftmorb. Vei ber furchtbaren SKifere mittelalterlichen Safein«,
ba« fie atterbing« nicht ganj fo fchwarj anfehen Wie wir, ift ihnen ba« Älter»
thum ber eigentliche $alt, bie Vürgfdjaft ihrer ©jiftenj; ber Voben, auf bem fie
ftehen, erfdjeint ihnen baher auch berljältnißmäßig nahe unb noch bon täglicher
SBirfung. Sie enge Vejieljung wirb ftetig gepflegt, theil« unwiüfürlich burdj bie
Sprache, welche nicht eine Softer ber alten, fonbern biefe felber ift, nur mit ben
Opfern, welche eine fo lange unb bisweilen juchtlofe ©ntwicfelung natürlich ber»
langt, theil« abfidjtlich burch ÜJiittel betriebener 8lrt: bur<h öffentlichen $inwei«
auf bie Sitten auch in politifcheu Sieben unb bei wichtigen Slntäffen, burch ©in»
fefcung ber alten Ort«» unb fianbfchaftSnamen, burch bie Slamen, häufig mit localer
görbung— ich fonnte Vhil°boemen in SRegalopoli«, ©paminonba« in Sljeben,
Seoniba« in Sparta — enblidj last not least burch Erziehung unb Unterricht. 3<h
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(ßriedjenlanb tm lebten
?0j
habe Prüfungen in 2 Jiäbcßenf<huten beigewoßnt, bet teeren §omer tote ein alter
batertänbifeßer Elaffiter getefen, erftärt unb berftanben würbe; bei ©räparationen
gu Xenopßon, Diobor habe ich manche Steine betroffen; e« fiel iE»r bocß ungleich
leidster, aU bei und in gleicher ®pßäre ba« Stibelungenlieb ober SSaltßer
non ber ©ogelweibe. Unb e« ift woßt etwa« ©roße« unb Erhabene« um ben
©ebanten, bie feßönften SBerte ber Stenfcßßeit gugletcß al« engere« batertän*
bifeße« Erbtßeil betrauten unb fcßon au« ©atrioti«mu« für fie feßmärmen, fie at«
erfte« elementare« Ergießungöelement betrachten p bärfen; unb e« muff herrlich
für eine Station fein, an ißnen mieber 31 t neuer $afein«freube gu erwachen; herrlich
unb zugleich gefährlich, benn ba« Siet liegt fo weit, unb bie Ueberßebung wegen
be« bloßen Erbe« — fo naße.
$ier fielen bie antiten Stefte täglich bor Äugen unb mahnen an bie ©orältern;
bort birgt fie ber ©oben, ber 3ufaU bringt fie an ben Zag, unb fie bereichern
ben, ber fie finbet. ©0 ift auch ©ortßeil eine ber Hbem, bie bom Ältertßum
pr ©egenwart führen; unb wie biet gewinnt ba« fianb, wenigften« materiell bureß
ben grentbenbefueß. Hber am tiebften finb ihnen boch immer biejenigen gremben,
welche eine ©egießung gum Ättertßum hoben. Su meiner 3 eit metbete auch jeb*
potitifeße Seitung SUßen« bie Änfunft frember ©eleßrter, Wie« auf ihre Sßerte hi«
unb ihr etwaige« ©erbienft um ©riechentanb; bann wollte ihnen jeber gern 3 «
Zienften fein, e« War, at« wünfehte man gunäcßft für erwiefene SBoßttßaten gu
banten. Äucß hierin hatte ber Zeutfcße Wieber befonber« gut; biete feiner
gricchifcßen gaeßgenoffen hatten *n Zeutfcßlanb ftubirt, h‘ n 9 en feß* an ber
Erinnerung unb fpradjen unfere Sprache gut, oft fließenb.
@« !ann baher nicht fehlen, baß ber norübergehettb in SUßen weitenbe grembc
bie angenehmften Einbrücfe empfängt; er bergeffe nur babei nicht, bah er fetber
faft ebenfo biet thut, biefetben ßerborgutufen; wir hoben fchon borhin bemerft,
wie wohtthätig SUßen auch ouf fonft untieben«würbige Staturen wirfte. Äber wie
ba« bielfacß nicht ©tich holt, fo überfcßäfce man anbererfeit« jene Einbrücfe nicht.
Zer erften freunblicßcn Begegnung liegt ja aüerbing« burchou« SBoßlwoEen unb
©hmpathie gu ©tunbe, aber meift erwartet man boch auch allmählich eine ent*
fprechenbe SeWunberung für alle«, wa« griechifch heißt, fei e« alt ober neu, Sprache
ober Erziehung, Slnftatten unb ©auten. Unb ba« warb ja fchon herborgehoben,
baß ba atlerbing« bielerlei ju loben ift, bielerlei auf« angenehmfte überrafdjt;
anbere« ift aber natürlicherweife erft in ben Anfängen, 3 . ©. bilbenbe Sunft, Stufif.
Stilein fetbft ein gang gemäßigter, berftänbiger Zabel, ja auch nur ©orentßattung
be« 2obe«, pflegt auf grieeßifeßer ©eite oft fchon eine Enttäufcßung ßeroorgurufen,
bie feßteeßt ober gar nicht berßeßlt wirb. Zc« gremben ©ßilßeUeni«mu« wirb
fofort berbäeßtig; bamit wirb etwa« wie ein woßttßätiger ©eßteier bon ißm ge*
gogen; maneße« erfeßeint an ißm bebenllicß, mag e« auch fei». Wirb aber erft jefct
betont. Säßt er fieß noch mehrfach SJtanget an ©eifall gu ©cßutben tommen, fo
ßat er bei bieten berfpielt, nießt bei allen; e« gibt feßr rüßmtieße, au«gegeicßnetc
Stu«naßmen, unb gerabe biete ©eleßrten bitben biefe. Za« pflegt benn bie natür*
ließe Steaction gu beranlaffen, baß auch ber grembe nun biete feiner bisherigen
greunbe unau«fteßlicß finbet; bisweilen finb fie e« wirtlicß geworben. 9Zun ber*
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702
Unfete £eit.
briefjt ihn alle«, praftifch oft om meiften bie grenjenlofe Unpüntttichteit, ein fe^t
allgemeiner geiler; bet obenerwähnte gifi« War pünfttidfj, aber bon bem f)iefi es
benn auch überall rühtnenb: „bet lögt nicht Watten“; noch ein anbetet meiner
griecfjifdjen greunbe war pünfttidfj, er Ijatte aber auch fonft manche Sonbet»
barfeiten.
©ertäfjt bet grembe in biefem ©tabiurn ba« ßanb, bann Wehe bet armen
Nation! Die Jjeimifdjcn greunbe, auch bie Ijeimifche ißreffe werben mit hereingejogen
in bie erzeugte Gntrfiftung, unb ba« StuStanb ift um ein« bet fdjiefen Urteile
teilet.
Seugnen lagt eS fid; ja nicht, bie Hellenen betragen bei obigen Slntäffen bisweilen
fettfame begriffe; and) biejenigen, welche in Guropa ftubirt haben unb bort nicht fetten
Stuftet bon Sefdjeibentjeit finb im ganjen Gefügt beffen, wa« ihnen burd; ©ctjutb
ihrer Gerichte noch fe^tt, betgeffen in bet Heimat bei burdhau« beränbertem Stajj»
ftabe nicht feiten bie alten Ginbrüde, überfchäfceit nicht bto« bie eigene ©ebeutung,
fonbetn mehr noch bie ihrer Seit unb Station ber übrigen europäifdjen ©itbung gegen»
über, gern fei es bon mir, einem träftig unb beftimmt entwicfetten Slationalgefütjl
nicht etwa« nadjfehen ju wollen; unb höre ich, bjie Griechen bei jahtreichen Mnläffen
auf ihre Nationalität recurriren, fo freut mich ba« trofc ber Ueberhebung, bie bi«»
weilen barin ftedt. Da heifft e«: „Du bift ein Seltene unb tiebft nicht bein
©atertanb? bift ein Seltene unb fürchteft bid>?" ober: „Du bift ein Hellene unb
witlft tieber einer anbern Nationalität angehören?“ wie eine griedjjifche Dame
einft in lautem Unmuth ju einem jungen £ernt fich äußerte, ber ftarf gum lieber»
gang in« Gngtifche neigte. Da« tobe ich mir; aber ich tobe e« nicht, wenn ber
Seltene feine 2lnfprü<he atlju fehr nach bem jufchneibet, wa« feine ©orfahren ge»
teiftet. Gewifj ift e« fchon etwa«, um barauf ju pochen, wenn ba« ßeben ber 2tljn en
einen fo überau« mächtigen gactor in ber Grjiehmtg unb Guttur ber SBett bitbet,
unb oon bem ©tanbpunft au« barf ber Grieche taufenbmat anmajjlicher fein at«
bie Herren Stagharen, Numänen u. a. m. Slber anbeterfeit« mag er bebenfen,
bafj burdh bie ©itbung feine ©orättem ju ben unfetigen geworben finb, unb e« fragt
fich noch, Wer ftoljer auf ein Grbe fein barf, ber gernerftehenbe, ber mit bem
Sßfunbe gewuchert, ober ber ©ohn be« £>aufe«, ber e« oergraben hatte Stohthunberte
fdhon bor bet türfifchen ©efihnaljme. ©otlenb« finb mit immer jene gesiegelten
jungen athenifchen Gtegant« juwiber gewefen, bie in unreifem Urteil weit hinau«»
fchiefjen über« Siet» in ihrem jurücfgehaltenen Dünfct, ber nur ab unb gu einmal
oerrätherifch unb grell an« Sicht fommt, un« anbere am tiebften noch „Sarbaren“
nennen möchten wie üor Sahrtaufenben. ©ie meinten’« gewifj oft gar nicht fo
fdfjtimm, biefe jungen Herren; aber fie feien beffen üerfidhert, ihr aufgebtafene«
unb jugteich btafirte« SBefen, ihr franjöftfdies Geplapper, ba fie boch eine eigene
reiche unb bitbungSfähige ©prache ju oermenben hoben, nahmen fich be»
trübenb au«, unb mancher waefere ^ß^U^etlene, ber mit ben beften Stbfichten in«
Sanb tarn, aber Iciber nur Gelegenheit hotte, Sltljen p fehen, ift im Gafe ©oton
am Gintra<ht«pla|}e arg enttäufcht worben. Schon in ber ©tabt waren bie
Stettern im allgemeinen fpmpathifdjer at« bie Süttgern; ba« mag aber auch in
Griechcnlanb nur befonber« fdfjarf heroortreten.
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<Srie<f}enlan& im lebten ^atjrsetjnt.
703
Slnbererfeit« waren aber auch gerabe jüngere Sräfte öielfad) um Hebung ber
VoIf«bitbnng unb Verbreitung wiffenfchaftlichen Sinne« bemüht; bie ju folgern
Btuecf gegrünbeten Vereine SüXXoyoi. finb fo jahtreich, baß man fie gerabeju al«
eine ©pecialität ber ©riechen im Orient bezeichnen fann. Siefen wenben bie
hellenifchen ijj^it^eüenen, bie bodj immer bie größten bteiben, bie reiften ©penben
ju; barau« werben greife für bie Söfung praftifcljer, aber aud) ibeater unb
poetifdjer Stufgaben gebitbet, ©c^uten angelegt ober unterftüfct, gemeinnü^ige
©Triften tjerauägegeben, laufenbe Sßublicationen beftritten. SRehrere btefer ©pllogoi
waren gerabe erft gegen ben ©chtu| be« Dotierten gahrjehnt« gegrünbet worben
unb entfalteten fefjott eine bebeutfame I^ätigfeit. Sa« Sßrincip toon „viribus unitis"
fommt t)ier fehr fegen«reicf» jur (Rettung, ©ebrueft würbe faft ju üiel; ich glaube,
e« gibt fein Sanb, wo berhättni|mä|ig jo biete Verfefdjmiebe unb unberufene
Sinter ihre Eingebungen jum Srutf bringen, häufig mit $ütfe ihrer greunbe,
bie burdj überau« tönenbe ßircutare jur ©ubfeription eingetaben Würben. ,,@e»
brueft ju werben" warb aber überhaupt fo h oc h gefchäfct, ba| manche, bie ich
fannte, lieber barbten, at« baft fie fict) ba« Vergnügen auf eigene Soften berfagt
hätten.
Sie Serabegier ber ©rieten ift überau« gro|; bem SReuting tritt fie in ben
untem Sphären at« SReugier oft unangenehm entgegen, bi« er fie burdh freunbtidfje
Vuhe ju meiftern Weift. Ser Serabegier fommen eben bie Veftrebungen ber
©pltogoi mit entgegen; bie @d)ule fpiett eine Volte in ber ©tabt unb auf bem
Sanbe; an eifrigen t)ingebenben Seljrern ift fein SIRangel. 3dj bin nicht rigoro«
genug, um at« ©runb be« Semen« immer reinen 2Biffen«trieb 31 t bertangen; unb
wenn mir ein braber unb aufrichtiger 2 Jiann einmal fagte: „auto xot^vet jeapa-
5e<;", b. i., ,,ba« bringt (fpäter) ©etb ein!" fo fage ich, »auch gut"; benn jeber,
ber fchreiben unb tefen fann, ift at« ein ©ewinn mehr 3 U achten. Unb wenn ein
netter unb intelligenter Seltner in Süthen, ber fein SBort Seutfdfj wufjte, fich ben
Schiller faufte, um au« ihm Seutfch ju lernen — unb er lernte e« wirtlich — fo
fanb ich ba« altertiebft, wenn ich n *i r auch nicht berljehlte, baß bie Senntni| un»
feret Sprache ihm für bie feQnerif<he Saufbahn bon größtem SRu|en fein fonnte.
Sünber« fteht e« mit ber höh ern Vitbung; wenn mir baher ©riechen frohtoefenb
erjählten, baff manche junge Seute bur<h ©tiefetpufjen, Seünerbienfte unb Stehnlidfje«
fich ba« Uniberfität«ftubium ermöglichten, fo bradh ich nicht in ben üblichen
@nthufia«mu« au«, fonbern würbe junächft bebenflidj. Sa« fott ja auch *u Stnterifa
borfommen, aber ba« ift fo geräumig, ©riedjenlanb ift eng; unb ein Sanb, in
Welchem ba« ©tubium nidht ber 2tu«brucf gefieberter Seben«fteltung ift, wie biet=
fach in ßnglanb, fonbern Wo umgefehrt bie gefieberte Stellung bureh ba« ©tubium
erftrebt wirb, wie bei un« unb in §eüa«, ba fann Ueberprobuction auf biefem
gelbe ernfte Verlegenheiten bringen. @« erzeugt fich bamit fortwährenb eine
ftarfe Schicht bef<häftigung«Iofer 2lmt«afpitanten, bie nidht befriebigt werben fönnen
unb anbere im Sümte unangenehm brängen. ©riechentanb Weil baoon ein Sieb=
chen ju fingen; feine unaufhörlichen innern Srifen finb jum guten Stjeit bie
golgen biefe« ungefunben Buftanbe« gewefen, nnb im Sntereffe oielet tag e« ja
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ttnfere <5eit.
70^
auch, jene Ärifen permanent p erhalten. $)enn was fottte auS ben @efolgfhaften
ber Herren ÄumunburoS unb XrifupiS, bamatS auch noch SulgariS, 2)etigeorgi3
unb SotntiS werben, Wenn fie nicht in furzen 3wifchenräumen alle auch einmal
ihren SDteifter im Stinte gefehen hätten, unb ihm pro viribus bahin hätten folgen
fönnen? Son bem Umfange fotcher SDtinifterfrifen machte man fich in Europa
boch nur eine fehr unuotlfommene Sorftettung. 2)ah bie bem Stinifter pnächfl
unterteilten Beamten oft pgteich mit ihm abtraten, fann man natürlich finben,
obgleich es gefahrlos nur in Englanb ift, wo jeher berartige Beamte auch ohne*
bem genug pm Seben ^at; aber bah ber fleinfte Searnte, SöDner, fßoftfecretär,
Auffehet, ber SJorffthutlehrer mit bem SJtinifter, bem er ober fein fßatron an*
hängt, fiel, War fdjtimm unb berhängnifwoll. AnbererfeitS fanb bei biefem 3« ;
ftanbe auch bie Abweichung bom ©efefe, bisweiten baS SB erbrechen Schüfe.
3 $ will hi« «ine furje ©efchichte erhöhten, bie bot etwa fünf Sohlen paffirte
unb burchauS berbürgt ift; aber ich Witt baS nicht thun, ohne auSbrücftich noch
einmat an bie Sugenb ber europäifchen ßiuilifation in ©riechentanb p mahnen;
auch h°&en Wir ba pgleich noch eine gotge non feubaten Serhättniffen bor uns,
bie uns fpäter noch befdiäftigen werben.
93ei einer Erbarbeit irgenbwo auf bem Sanbe waren Äarrenfuhren 511 bergeben;
ein Sauer, ber ein Sßferb bejah, fünfte fich gefränft, bah nicht er, fonbent fein
Machbar eine fotdje gufere erhielt, Stach Wenigen lagen wirb baS gute fßferb
beS tefetern tobt gefunben, in feinem gutter Arfenil; ber muthmahtiche ^häter
warb noch bap flüchtig ober hielt fich bo<h »erborgen. Aber glaubt man, bah
es möglich War, ben Surften p faffen? Er hielt — bei ben SBahten fommt baS
in gragc — p bem nädjften Sorffchutjen, ber ©orffdjulp hielt es mit einem fßartei*
haupt ber nächften Stabt, baS fßarteihaupt ftanb pm augenbticftichen 3 J 2 inifter.
®iefe h ö h ern Stiftungen waren natürlich, baoon bin ich überzeugt, bei biefem
böfcn $anbel in feiner SBBeife in 9Jtitleibenf<haft gepgen worben; aber ber Effect
beS SerhältniffeS war unb btieb boch, bah ber Sauer nicht gefafjt würbe, bah er
nach jwei bis brei SSochen ruhig wieber auftauchte, unb bah uon ber Affaire
nicht weiter bie Siebe war. ES würbe mich unter folgen Umftänben freilich nicht
wunbern, wenn eines $agS auch baS fßferb biefeS Surften, ober gar er felbfi
einmat tobt gefunben würbe.
Auch uon bem erwähnten Storffdjutjen Witt ich ein £>iftörd)en anführen; er
ift nun tobt, ich h a &e ihn gefannt: er War ein ftattticher, etwas gewattthätiger
£>err, mit bem fich inbeffen, wenigftenS nach meiner Erfahrung, leben lieh. Aber
wie baS fo geht, er hatte fich einmat etwas fehr ©rauirenbeS p Schutben fommen
taffen, ich erinnere mich nicht mehr genau, was es war, Weih auch nicht» ob b>e
Serurtheitnug fchon erfolgt war ober nur brohte; genug, er machte fich ouS bem
Staube, lebte in ben Sergen, warb, wie ber tecfenifche AuSbrucf heißt, ein
907061 x 05 , „einer, ber baS ©eridjt flieht". Söiefe bilben in ©riedjentanb eine
ganje, nur p phteeidhe ßtaffe; auf ber Snfel Euböa allein gab cS im 3oh re 1878
nach officieüen Angaben 160! — ein böfer gactor auch ber Stäuberei. Unfern grennb
aber hotte in feinem $orfe unb auch fonft eine mächtige Partei gern, unb fiehe,
eines SageS warb ber braue 907081x05 pm Schutzen, Demarchen beS SepfS
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©riedjenlanb im lebten 3aßrjehnt.
705
gewählt, unb er fam, trat fein Stint an unb toermaltete eg, ein Heiner ©outoerän
in feinem ©ebiet. Sa gcfcßaß eg eineg anbern Xagg, baß er öerfcßmanb; man
munberte ficß, fragte herum, mag eg gegeben? Sa ^ie| eg: xo £x°& a(Je » ec ßat’g
berborben mit bem näcßften Parteiführer. Sag mar bebenfiicß für bag frühere
Sergeßen, bie faiim bentarbte SBunbe tonnte aufbrechen. (Sr ift barauf nad)
9ttßen gereift, man fagte, mit nicht menigen Puten ober ©änfen. Stach einiger
Seit tarn er mieber, ohne bag angebliche geberbieß, aber bergnügt unb erleichtert.
3 <h tehre ju ben Seamten jurücf unb jum migbräucßlichen ©tubiren, bon
bem ich auggcgangen. Sie ßanbegfinber unb ihre blinben Stadjbeter pflegten ben
ftarfen ©efucß ber Uniberfität ju 8 ltßen, ber einzigen griecf)ifc^en, für einen ber
ungetrübteren Sorzüge ju hotten. Sleußerte man Sebenlen über bie retatib ju
große grequenz, fo hieß eg, ein großer X^eit ber ©tubirenben ftamme aug bem
türtifchen ©riechenlanb unb betafte bann atlerbingg fpäter noch über ©ebüßr bag
Königreich. gür bag bergangene Sahr^ehnt traf aber biefe Entgegnung nicht ju.
Sot 10 big 12 Rohren zäßlte bie Uniberfität Sltßen 1244 ©tubirenbe; bon biefen
maren etma nur 240 aug ben türtifchen Probinjen, alfo hoch 1000 aug ©riechen»
lanb, b. ß. 1 ©tubirenber auf 1450 Semoßner. 3« Seutfcßlanb, beffen Drga»
nifation eine berßältnißmäßig große Soßl ftubirter Seamte berlangt, gab eg im
Saßre 1881 etma 21500 ©tubenten; eg fcheint aber billig, bon biefen bie Xßeo»
logen (circa 3000) in Slbjug ju bringen, ba ©tubirenbe ber Sheologie in ©rieten»
lanb bei anberer Drbnung ißreg Silbungggangeg an ber Uniberfität nur feßr
fpärtieß maren (26); fo erhalten mir für Seutfchlanb nach ber tefcten Solfgzäßlung
für bie ©tubirenben nur etma bag Serßältniß bon 1:2450. Stber bag ©chlimmfte
mar, baß bon jenen 1244 ©tubirenben (im 3aßre 1878 maren eg noch 400 mehr)
genau bie Hälfte 3uriften maren, mäßrenb biefe in Seutfchlanb gerabe etma ein
Viertel bilben. 933ag mirb aug biefen? Sor jeßn 3 a h ren Pflegte ich in Sltßen
mit einem griechifchen grewtbe nachmittagg im Safe „©cßöneg ©riechenlanb" an
ber Scfe ber $ermeg= unb Heolugftraße meinen Kaffee ju trinten. Sag große
Socal, bei gutem SBetter auch bie baranftoßenben Sheite ber ©traße maren bicht
gefüllt; an ben Heinen Xifcßen mürbe bebattirt unb gefticulirt, gelefen unb ge«
feßrieben; bie äußere Erfcßeinung beg Publitumg ließ bigmeilen ju münfeßen übrig.
„933er ift ber föerr?" fragte ich meinen greunb, menn mir ein ©efießt auffiel. „Ein
8 cxi) 7 opo?" (ein Stecßtganmalt), fagte er. „Unb ber?" „Ein auvxaxx-qc" (ein Stebao
tcur). „gener anbere?" „Sin bex-q-yopop". „Ser neben ißm?" „Slucß einer" u. f. m.
3 <ß bat ißn enblicß, mir nur biejenigen ju bezeichnen, melcßc meber SRecßtganmälte
noch Siebacteure ber 50—60 in Sltßen erfeßeinenben S £ itungen mären. Sr marb
ftider, unb geroößnlich lernte ich nicht biete SDtenfcßen tennen.
Sag Hingt ja fcßerzßaft, bezeichnet aber boeß eine ber munbeften, betlageng«
mertßeften ©teilen beg öffentlichen Sebeng in ©riecßenlanb. Sie füblicße Statur
ßat auch im Slltertßum baju geneigt, fid) perföulicß geltenb ju machen; aber bie
ftarfe ©ubjectibität marb bamalg eingebämmt bureß eine fefte ©taatgibce. Siel
gefährlicher alg bamalg ift eg jeßt, eine SJtaffe factifch befcßäftigungglofer SJtänner
auflommen ju taffen, benen bag ^eroortreten Seruf unb Pflicht ber ©elbft»
Unfett fielt 1882. I. 45
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706
Unfcre ^eit.
erßattung feßeint. Sie greifen ju aßen üRitteln; »er bon Deutfcfjtanb fam unb
befonberS aus bem ftrammen fßreußen, war aunäcßft betroffen unb empört Aber
ben maßtofen SRiSbraucß ber Sreßfreißeit; eS toor, als wäre in einem Steile ber
atßenifcßen fötätter eine feßamtofe äReute — ja icß finbe feinen mitbern SluSbrud —
toSgelaffen auf ben Staat; man war faft aufrieben, Wenn man nur auf unreifes,
ftfirmifcßeS, jufaljrenbeS Urtßeit ftieß; reife Sefonnenßeit unb SRuße war fetten.
3 fd> färbte, baß ben ©rieten aus bem Slttertßum bie Suft jum Seraflgemeinem
gebtieben ift, oßnc baß bisher auch ber Sinn für ejacte SBeobaeßtung erwart
wäre, Welche für eine fruchtbare ©ntwidetung beS Staates unerläßlich ift. ©in
Seifpiel für bie fßreßbenußung Wähle ich abficßtlicß aus früherer Seit. 9Rit bem
jeßigen König fam ats SRatßgeber ber bänifche ©raf Sponned ins Sanb, ber ein
energifcher SRann geWefen fein foß. Den ©riechen miSfiet er. 3dj fannte eine
atßenifcße Seitung, Welche lag für lag an ber Spiße mit großen SBucßjtaben
brudte: „7tp ixei va <puyy) o Srowex!" („Der ©ponned muß fort!") SRir iß ein
Stugbtatt — eS regnete batjon in SUßen — in bie $änbe gef aßen, mit einem ®ebießt,
in Welchem ber abtretenbe Sremierminifter eingeführt ift, wie er ben König anrebet:
„Da ber Sponned, §err, fertig gebracht hat, ein Sfanbal ber ©efeflfehaft ju fein...
fo wirb baS Solf ihm bie Schuhe in bie £>anb geben... ihn mit ©itronen
werfen u. f. w.", fteter SRefrain: „unb ich glaube, baS wirb 3ßnen nicht bon Stußen
fein". Dabei mußte es freilich bisweiten wie £oßn erfcheinen, Wenn bie Statt»
djen ba noeß öon ber „£epa xecpaX-i] toü ßaaiXew?", „bem heiligen Raupte beS
Königs", fpradjen. SBenn baßer ber engtifeße ©efchäftSträgcr bor ein paar 3ah rm
aus 3ttßen nach fionbon feßr erbaut bariiber berichtete, wie troß aßer Stufregung
bie föniglicße Samilie refpectirt werbe', fo foß es mich freuen, wenn baS meßr
ats jene conöentioneße, etwas täppifche Sonn war, unb Wenn fieß atfo Slnfäße bon
Soßalität jeigen foßten. 3<ß habe leiber gerabe biefc bermißt unb bietfaeß ge»
funben, baß bie ©riechen fieß naeß Otto unb Slmalie jurüdfeßnten, wäßrenb
früßere Beobachter unter biefem £>errfcßerpaar mir berjtcßerten, maneße hätten fteß
wieber bie Dürfen ßerbeigewünfeßt, „immer naeß Steuern begierig", fpoffeit unb
wünfeßen läßt fieß nur, baß aßmäßtieß, befonberS bureß birecte Stacßfotge, bie
Dßnaftie feft einwuraele unb mit bem Sotfe berwaeßfe. Das wirb bann ßoffent»
ließ aueß baju beitragen, bem potitifeßen Seben einen tiefent Snßatt ju geben,
einen anbern, als er naeß ben ©cfpräcßen ber Slbgeorbneten ju ßaben feßien, mit
benen icß monatelang jufammen fpeifte. (Sä waren ja freilich nur Satteigenoffen,
bie über ißre fßtincipien einig fein moeßten unb baßer nie babon fpraeßen; aber
aufgefaßen ift mir boeß, Wie eS häufiges ©efpräcßstßema war, ob biefer ober jener
SRinifter bei ben SBaßlen meßr Seftecßung auSgeübt habe. @S ift eine eigene
Sacße um biefe Slbgeorbneten; fpraeß man jeben, weteßer Sartei auch immer, ein»
Sein, fo entwidelte er bie beften, berftänbigften Sbeen, wußte genau, Wo eS bem
Satertanbe feßtte, aueß Wot, wie au helfen war. Die „fßartei" aber fing fte
untöSticß ein. Wie baS Spinnengewebe bie Stiege; bie „Sartei" feßien feine Ißrin*
cipien ber ©ntwidetung au fenuen, Weber conferbatibe noeß liberale; wenigftenS war
bon fotzen nie bie SRebe; bie „fßartei" fannte nur feinbfetige Serfonen, bie boeß
für ben Staat baS ©leicße woßten wie fie felber. Unb biefer unfruchtbare Streit,
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©riedjetilanö im lebten 3a^rje^nt.
707
ohne ber @adje näher ju treten, gleidifam bor ben Igoren beS eigentlichen Äatnpf»
planes, füllt einen großen X^eil auch bn füngften Politiken ©efchichte ©riechen»
lanbö aus. $odj bieä greift fchon in bie politifdje ©efchichte über, aber es gehörte
auch baS ju ben perfönlicfien ©inbrüden, bie man in ber ©tabt empfing; non ben
mannigfachen, bie ber grembe allmählich in ft<h aufnahm, finb nur einige be>
ftimmenbe in biefen Sri*« 1 fifirt morben. ÜJtittelalte unb Steujeit fchienen bielfach
unbemittelt nebeneinanber ju liegen; hier fat) ber grembe fröhliches Slühen, bort
befcheibene, aber berfpredjenbe Anfänge; ärgerte er fich auf ber einen ©eite über
borbringlidjeö 2Rauthelbenthum, fo erfreute ihn auf ber anbent ftiüe, ernfte unb
unabläfftge Slrbeit; war er empört über müfteS ißarteileben, fo überrafihte ihn in
fritifdjett SKomenten eine toürbige ©intracht, bie freilich letber fo fd^nett borüber»
ging toie ipr augenblicfticher ?tntaß; mißfielen ihm leere ©tufcer unb felbftfüchtige
SEBühter, fo jog ihn ber 3Jlann aus bem Solle immer mehr an unb nötigte ihm
erft 3ntereffe, bann Achtung ab. 5)aS eine aber mar fchon in Sltljen ftar:
©riedjenlanb lebt, menn auch öoH oon ©egenfäfeen; aber ftnb nicht auch biefe
gerabe Sebenöfpmptome? freilich, erllärten fie auf ber einen ©eite bie fo ab»
meidjenben Urtljeile über baS griedjifche Soll, fo erfchienen fie bodj anbererfeits
als Säthfel, melche beunruhigten, jur Söfung hewmöforberten. J)iefe burfte man
hoffen im Sanbe ju finben, um fo mehr, als baS centraliftifche Sttljen mehr nur ben
#erb beS Sanbes abjugeben, als ben ©toff ju liefern fchien.
Son ben „anbent" ©rieten, mie bie ©ötter außer ber Slthene im alten Äthen
hießen, oon biefen „anbern" ©riechen in ©riechenlanb nnb ßleinafien miß ich in
meinem nächften Sluffafce fprechen, melcher bie nothmenbige ©rgänjung beS borlie»
genben bilben mirb.
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^ ui 'fM r | ■ '"illll *
Mttf tu 8ptad)e.
®on
Sßrofeffor 3. ftofeitfljal in ©rtangen.*)
2 Ran Ijört fehr oft bie SBiffenfchaft mit einem grogen 8tei<h oergleithen unb
jebe Grweiterung unferer Grtenntnig mit ber eroberung einer neuen ?ßrooin$ }u
biefem Steife.
S8ir fönnen biefeS SBilb uns wohl gefallen taffen, unter ber £BorauSfe$ung
freilich, bag nicht Oon triegerifchen X^iaten bie Siebe fein, fonbem bag barunter
jene friebtie^e eroberung oerftanben werben foH, toie fie ber ißionnier im Urwatbe
mit Stft unb ißflug Oornimmt, mit müljfanter Srbeit langfam ber Statur ben
©oben abringenb unb bei biefer Gelegenheit jugleich uns bie ftenntnig ber SBitb-
nig oermittetnb. Die einzelnen Gebiete ber SBiffenfchaft finb alfo bie Sänber in
biefem unermeglidjen Steife, unb um fie tennen ju lernen, mflffen nicht bloS
einzelne, fonbern fefjr oiele oon oerfchiebenen ©eiten Ijet in biefe unbefannten
Gebiete einbringen.
Gin fotdjeS unbefannteS Gebiet iji in oieler Beziehung noch heute bie Sprache.
SRan foQte es faum glauben, benn ein jeber oon uns gebraucht unb äbt ge Oon
ben erften SebenSjahren an; aber cS geht nnS mit ber Sprache etwa wie mit
unferer Dafchenuhr: ein jeber oon uns !ennt bie feine unb getraut fich wol, falls
fie ihm geflöhten werben follte, fie unter #unberten auf bem ißotijeibureau h« s
auSjufinben. Slber eS gibt boch noch eine anbere ®enntnig ber Dafchenuhr als
nur bie oom Sleugern auSgehenbe: nämlich ju wiffen, was bie Uhr in Bewegung
fefct, WaS biefe ^Bewegung regelt u. f. W. DaS ift erft bie eigentliche Sennhtig,
unb fo lönnen wir wol auch über bie Sprache eine SJlenge fragen aufwerfen,
Welche alle heute ju beantworten mir foWol bie Seit als auch im allgemeinen
bie genügenbe ®enntnig fehlen burfte.
Um aber wieber auf unfern geographifchen Vergleich ju tommen, fo wiffen
Wir ja, bag bie unbetannten Gegenben im Innern SlfritaS uns nicht bloS oon
GntbedungSreifeitben oon ißrofeffion aufgefchloffen Werben, fonbern bag baju auch
ber ÜJliffionar beiträgt, fowie ber Kaufmann, ber bort hingeht, um ju fehen, ob
feine $anbe!soerbinbungen fich nicht auSbehnen laffen.
*) Bortrag, gehalten im 23 i|'feiifdjaftlid}cii Sentralöercin ju Berlin.
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Unfere Sprache.
709
®o mag es benn audj mir, obgleich idj fein ©pradljöerftänbiger unb fein
©pradjforfdjer bin, geftattet fein, Sie in biefeS unbefannte ©ebiet öon einer ©eite
fjer einjufüfjren, bie mir mein ©eruf nafje fegt. SBenn mir fpredjen, fo öerridjten
mir eine §anbfung, unb baSjenige ju unterfudljen, maS ein febenbeS SBefen, fpe*
ciett ber SJtenfcfj, tfjut unb öerridjjtet, ift bie Aufgabe berjenigen SBiffenfdjaft, mit
ber icfj midj abgebe: ber fßfjpfiotogie. ©0 fjat atfo audfj bie ©pradfje eine pfjtjfio*
fogifdje ©eite, öon ber mir nun junädfjft Raubein motten. Stber mit müffen uns
borget öerftänbigen, maS mir unter ©pradfje ju öerftefjen fjaben. ©pradje ift für
un3 junädfjft nichts afs ein SJtittef, ein SBerf^eug, mit bem mir unfere ©ebanfen
in eine gorat bringen, iljnen einen folgen SfuSbrucf geben, baß anbere fie ber*
ftefjcn. 3)iefe anbem fönnen entmeber SQtenfcfjen ober and) anbere ©efdjöpfe fein,
benn mir fpredfjen ja audj mit unfern $unben, mit unfern ©ferben u. f. m., unb
mir fpredjen unter Umftänben fogar p Seuten, mefdfje unfere beutfdje ©pradfje
nidjt öerftefjen unb beten ©pradje mir nictjt öerftefjen, unb fönnen uns bodj, frei*
fidj in geringem 3Jtaße, öerftänbtidj machen.
SBenn mir bie ©tittet betrauten, burdj mefdje mir uns öerftünbfidj ju machen
fui^en, fo finb bieS geicfjen für gemiffe ©egriffe, ©ebanfen, ©orftettungen, mefdje
in unferm innem Seben üorfjanben finb, unb mit biefen Seichen machen mir be*
greiffidj, maS mir meinen. 3)iefe Beiden fönnen entmeber fidfjtbar ober fjörbar
fein, unb fo unterfdjeiben mir eine ©eberbenfpradje unb eine Sautfpracße. 3dj
mitt nun auf bie ©eberbenfpradje fjier nidjt näfjer eingefjen; fie ift einer außer*
orbenttidfjen ©ntroidefung fäßig, mie mir an ber geidjenfpradje ber Jaubftummen
feljen. Siber bie Sautfpradje fjat fo biete ©orjüge bor ber ©eberbenfpradje, baß
ifjte ©ntmidelung berjenigen ber ©eberbenfpradje tjinberfidj gemorben ift unb
baß biefe auf einer berfjäftnißmäßig fefjr niebrigen Stufe jurüdgebfieben ift.
SBenn unfereiner einmal ©efegenfjeit tjat, ein ©affet ju fefjen, unb bie fßrima
©atterina jeigt erft mit ifjren Slrmcn nadfj rechts, bann naefj finfS, brefjt fidj brei*
mal auf ben gußfpifccn unb neigt bann baS Söpfdjen auf eine ©eite, fo meiß idjj
menigftenS gemöfjnfidj nidjt, maS fie bamit auSbrüden mitt. Stuf ber anbem
©eite gibt es aber eine ©eberbenfpradje, mefdje fefjr beftimmt unb beutfidj ift;
mandEie geilen berfefben finb fo allgemein eingefüfjrt, baß fie faft burdj fämmt*
fitfje Stationen geljen, mie j. ©. bie geilen ber ©erneinung unb ber ©ejafjung
butefj ©emegen beS ÄopfeS.
Sie Sautfpradfje bebient ficfj nun gemiffer ©cßatteinbrüde, gemiffer ©djatt*
fjeröorbringungen, bie mir mit einem uns öon ber Statur gegebenen mufifafifdjen
Sfpparat fjetöorbringen. liefet Slpparat ift bet fidjtfopf; er fifet am £>alfe, ein
jeber fennt ifjn, befonberS bie grauen merben feine ©efanntfefjaft bei ©änfen unb
bergfeidjen gemadfjt fjaben, unb als ®inber fjaben mir mol alte gefegentfid) burdj
Slnblafen biefeS ^nftruments mufifafifdje, menn audj nidjt gerabe fefjr mofjffau*
tenbe Äfänge fjeröorgebradjt. SaS genügt tottfommen, benn ber Äefjffopf beS
ÜDtenfdjen ift im mefentfidjen nadj berfefben 2lrt gebaut mie ber ber ©ans.
liefet Äefjffopf ift ein eigentfjümfidjeS Sing; man nennt es, um ben SfuSbrud
ber Snftrumentenmadjer ju braunen, ein gungenmerf. @S finb ba jmei gefpannte
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7\0
Unfere ^ctt.
2Rembranen, $äute, Welche in Schwingungen oerfe|t »erben, wenn Suft non unten
bet gegen biefelben geblafen Wirb. ®aju braunen Wir einen Btafebalg, unb
biefer Btafebalg ift unS gleichfalls üon ber Statur gegeben: eS ift unfer Bruft»
faften mit ben in iljm eingefdjloffencn Sungen. 2Bir faugen erft in biefen Btafe-
bafg Suft ein, unb bann brücfen Wir biefelbe in fanften, gleichmäßigen Strömen
wieber ßerauö. ®iefc Suft flößt nun gegen bie $äute, üon benen id) oortjin
fprach; biefetben geraUfen in Schwingungen, unb babei entfteht ein mufttalifcher
Slang, ber OoHftänbig auf biefetbe SBeife entfteht unb baher auch einige Stehnlidj 5
feit hat mit ben Stangen, bie auf ben fogenannten Bungenpfeifen ber Drget er»
$eugt werben.
S)ie Bungenpfeifen ber Drget haben freilich Bungen anberer Slrt, oon SKetatt.
SJtan nennt fie beShalb ftarre 3ungen, Währenb biejenigen beS SehlfopfcS
membranöfe Bungen finb. Saburdj wirb nicht nur bie Statur beS StangeS
(bie Stangfarbe ober baS Simbre) eine etwas anbere, fonbern bie membranöfen
Bungen haben noch baS Befonbere, baß fie innerhalb gewiffer ©renjen Stänge
oon fehr üerfcfiiebener £>öhe je nach ber Spannung ber ÜJtembranen geben fönnen.
3)ie Stange, welche Wir fo hrrüorbtingen, nennen wir unfere Stimme, wir
taffen unfere Stimme tönen.
SBir fönnen ben Stimmton hoch ober niebrig machen innerhalb ber ©renjen,
welche unfer Sehlfopf geftattet. $cr gewöhnliche Umfang einer menfehtidhen
Stimme beträgt etwa 2 bis hö^ftenS 2*4 Dctaoen. StuSgebitbete Sänger unb
Sängerinnen haben einen größern Umfang; oon ber ©atalani ift befannt, baß
fie 3 ‘/ 2 Dctaoen umfpannen fonnte. $a ich “ber hier nicht üon ber Stimme als
fotcher fprechen will, fonbern nur oon ber Sprache, fo intereffirt uns eigentlich
biefer Umfang ber Stimme fehr Wenig; benn bei ber Sprache gebrauchen Wir nur
einen fehr Keinen Xljeit beS Umfanges, beffen wir fähig finb. Ster Stimmton,
foweit er bei ber Sprache gebraucht Wirb, bewegt fi<h gewöhnlich innerhalb fehr
enger ©renjen.
SJtufifatifche Stänge fönnen fich bur«h ihren ©tjarafter fehr Ooneinanber unter»
fdheiben, unb wenn man fie oft gehört hat, fo fornmen fte einem fo befannt oor,
baß man nicht btoS nnterfcheibet, wie hoch fie finb, fonbern auch, oon welchem
Bnftrument fie fornmen. SKan erfennt atfo j. 39. auch ohne htnjufehen, ob ein
gewiffer Slang, ben man hört, üon einer ©eige, einer ©tarinette, einer gtöte ober
einem Slaüier herrührt. So h“t auch bie menfehtiche Stimme im allgemeinen
unb bie Stimme jebeS einzelnen üRenfdjen inSbefonbere ihre ganj beftimmte Slang»
färbe; aber eS fommt noch etwas SfteueS hinju.
SEBenn ber Slang in bem Stimmorgan, in bem Sehtfopf, erzeugt ift, fo geht
bie Suft, bie bort fchwingt, nicht unmittelbar inS Srcie hinaus, fonbern fie muß
erft bie SJtunb» unb 9tacf)enhöhle paffiren, unb an biefer hängt noch feitwärts bie
tßafenhöhlc. StaS finb große $öhlen, beren gornt burch bie Bewegungen ber
BungenmuSfeln, ber Baden u. f. W. Oeränbcrt werben fann. S>a geht nun mit
bem Stimmftange, ber im Sehtfopf erzeugt wirb, etwas ganj BefonbereS Oor:
fein ©harafter wirb noch üerönbert. ®aS ift nicht etwa bloS bei SDtenfchen fo,
fonbern baS fommt bei allen möglichen mufifatifefjen Bnftrumenten in ähnlicher
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Unfere Sprache.
TU
SBeife oor. SBenn Sie g. 8. eine Klarinette in bie fpanb nehmen, fo fefjen Sie
oben ben fogenannten Schnabel ober baS SJtunbftücf, unb an biefem ein ganj
Heiner, fehr büntteS fßlättdjen bon Spantfchtohrholj ober ©tfenbein. $aS ift bie
3 unge, bie ben Ion angibt; baS übrige, baS lange 9tofjr mit ben Sötern unb
baS ©erbinbungSftücf jwifchen biefem unb bem SJlunbftücf (bie fogenannte ©irne),
hüben baS Slnfaßroht unb bienen baju, bie Klangfarbe unb »ermittelS ber Södjer
auch bie lonhötje ju beränbern. 9to<h anberS ift es bei ben ©tafeinftrumenten
auS ©lech: Irompete, $orn, ©ofaune u. bgl. ®a ift baS, was wir Snftrument
nennen, eigentlich gar nicht baS ^nftrument, fonbern baS ^nftrument finb bie
Sippen beS ©läferS. SRit ben Sippen erzeugt er bie Schwingungen, welche bann
erft in bem, was er an bie Sippen fefct, bem Slnfafcroljr, bie Suft in ©ewegung
fefcen, woburch ber Klang feine §ölje unb feinen beftimmten Sharafter erhält.
So befommt nun auch unfer Stimmton einen beftimmten Kharafter baburch,
baß bie Suft in ber SOtunb* unb Stafenljöhle in Schwingungen »erfefct wirb.
Sinige »on biefen fo erzeugten Klängen finb fo außerorbentlidj charafteriftifch,
baß Wir fie immer gleich wiebererfennen, unb baS benußen wir, um uns öcrftänb»
lieh ju machen. SaS finb bie ©ocalc.
®ie ©oeale entftehen alfo nicht im Keßlfopfe, fonbern erft in ber SJlunbhöhle.
$e nach ber gornt, welche wir biefer $öhle unb ihrer Deffnung burch bie $al=
tung ber 3 u «9 e unb bie Stellung ber Sippen geben, erhält ber Klang feinen
Kljarafter. gaft in allen Sprachen lehren gewiffe, fo erzeugte Klänge wieber,
bie Wir beShatb als ©runbüoeale anfehen fönnen. ®S finb bieS (wenn Wir
fie nach ber |>öhe ihrer djarafteriftifchen löne orbnen) bie ©oeale u, o, a, e, i.
Iur<h fchnetle Slufeinanberfolge jweier öerfdjiebener SRunbftellungen entftehen bie
loppelöocale ober Siphthongen (ei, eu, an, än), burch ÜRifchftetlungen bie SJlifch»
»oeale (&, ö, ü). 3ft bie ©erbinbung jwifchen SDtunb» unb Stafenhöhle burch baS
©aumenfegel abgefchloffen, fo erHingen bie ©oeale rein; anbernfaHS geräth bie
Suft ber Dtafenhöhle au( h in Schwingungen unb erteilt ben ©oealen einen
befonbern Kljatafter, ben SRafenton, welcher befonberS im granjöfifchen öfter
»orfommt.
Sieben ben ©oealen benufct bie Sprache noch anbere Saute, bie aber, mit
Ausnahme ber Slafenlaute (m, n, ng), auf eine ganj anbere SBeife ju Staube
fommen. liefe Saute, bie ßonfonanten, finb nämlich ©eräufche, welche ohne
©ermittetung ber Stimme in ber SJlunbhöhle ju Stanbe lommen. ©in ©eräufch
unterfdjeibet fich »on einem Klange wefentlich baburch, baß bet ledere eine bc=
ftimmte mufifalifche §öhe hat, baS ©eräufch aber nicht, obgleich eS auch ©eräufche
gibt, bie einigermaßen »on Klängen begleitet werben, j. ©. beim $eulen beS
SBinbeS fann man Wo! einzelne mufifalifche Klänge mithören, aber bei bem eigent»
liehen ©eräufch ift baS meiftenS gar nicht ber 3aH.*) $ic ©eräufche finb auch
*) ®enau genommen »erhält ft cf) bte ©ac^e fo: $er Ätang beruht auf einer »on ber
9 Irt feiner Sntftehung bebingten regelmäßigen ober periobifeßen Schwingung, b. h-
einer folgen, bei ber ftch bie fd)toingenben %f)eild)tn in regelmäßigen fjterioben immer
toieber in gleicher SBeife bewegen. Sr fann in eine {Reihe einzelner einfacher ©cf)toin«
gungen jerlegt werben, welche unter Umfiänben auch einzeln gehört werben fönnen. 5)ie$
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7f2
Unfere 5«it*
»erfchieben je nach ber Strt, tote fie entftehen. SBenn i<fj ein ©tüdf fßapier in
ber §anb jerfnittere, fo befomme ich ein beftimmte« ©eräufdh, welkes ganj »er*
f(f»ieben ift t>on bent ©eräufch, weites ein feibene« ©ewanb erjeugt. SBenn
eine Sterne mit langer feibener ©chleppe burd) ben ©aal raufet, fo gibt ba$ ein
fo dEjarafteriftifdjeS ©eraufch, baff bie fjrranjofen ein eigene« SBort, „fronfrou", bafür
haben. (Sbenfo charafteriftifch ftnb bie ©eräufcf)e, welche burch „Schnippen" mit
ben Ringern ober burch „©chnafjen" mit ber Sunge erjeugt »erben. Seibe wer*
ben unter Umftänben al« Suöbrücfe gewiffer SBorfteQungen gebraust, fönnen atfo
al« ©pradjlaute gelten; bie ©djnaljlaute ftttben auch in manchen ©praßen gerabeju
al« ©pradjelemente wie unfere Sonfonanten S3ermenbung. (Sine Slnjaljt folget
dharafteriftifcijet ©eräufdje, Welche wir in ber Sftunbhöhte erjeugen, bient aber
t>orjug«»eife al« ©onfonanten. ©ie entfielen auf folgenbe SBeife. ®ie Suft,
welche au« bem Sruftfaften herauöftrömt, finbet bie Jpäute be« ßehlfopfe«, bie
©timmbänber nicht auf ihrem SBege; fie werben beifeitegelegt, fobafj bie Suft frei
auöfirömen famt*); aber irgenbwo in ber SKunbhöfjle finbet fte einen SBiberftanb.
Diefer SBiberftanb ift nun entweber fo groß, ba| bie Suft nicht Ijerau« fann;
aber wenn plöfclich &«* 3M«ttb geöffnet Wirb, fo entfteht ein ©eräufch, ähnlich Wie
e« eine ffnallbüchfe eine« &inbe« macht Ste« nennen wir ein @jp(ofion«geräufdh,
unb bie Saute, bie baburch erjeugt werben, nennen wir baher ©jptofion«* ober
Sßerf chlufjlaute. Ober jweiten«: Wir fchtieften ben SDtunb nicht ganj, fonbem
machen ihn nur feljr eng, fobafi bie Suft, Wenn fte burch biefen engen ffanat
burdfjftreicht, fich an beffen SBänben reibt unb ein ©eräufch gibt. S)a« nennen
Wir 9teibung«geräufdh, unb bie Saute, bie wir baburch befommen, nennen Wir
9teibung«laute. dritten« enbliih fteHen wir ber Suft ein £>inbetntjj in ben
SBeg, aber biefe« £>tnberaifi ift nicht fehr fteif; bie Suft oerfe|t e« in jitternbe
^Bewegung, fobafj fie in einjelnen, fdjneB aufeinanberfolgenben ©töfjen herau«*
fommt 6« entfteht alfo ein 3ittergeräufdh ober Sittertaut.
SB« fönnen affo breierlei Saute untetfdjeiben: SSerfchluhlaute, 9teibung«taute,
Sitterfaute. 2)iefe fönnen wieber mit oerfchiebenen ©teilen be« SJtunbe« er*
jeugt werben, entweber mit ben Sippen ober mit ber Sungenfpifce ober hinten
mit bem (Saunten. SBenn bie Sippen aneinanbergelegt werben unb nun bie Suft
baburch, bah bie Sippen ptöfctich geöffnet werben, herau«geftofjen wirb, fo entfteht
ber SippeneEplofion«laut, p; wenn bie Sungenfpifce an bie obern ©chneibe*
jähne gelegt unb bann ptöfclich biefer SBerfdjtuf} unterbrochen wirb, fo entfteht ber
Sungenejplofion«laut, t; wenn biefer S3erf<hlufj am ©autnen fiattfinbet unb
bann plöfclich unterbrochen wirb, fo entfteht bet @aumeneEplofion«laut, k.
©o hüben wir auch brei 9teibung«laute unb brei Sittertaute. S)er 9ieibung«tant
fmb bie S^eittöne be« Klange«, unb ihre ©cfjroingutig«äah!cn ftnb immer einfache Siel*
fache ber ©cfjh>ingung«aabl be« Klange«; fie ftnb be«halb untereinanber harmonifch. ©e*
räufche aber Beruhen auf unregelmäßigen ©cßttHngungen, unb ihre Sheittöne, mo foldje
hörbar finb, ftnb nicht harmonifch untereinanber.
*) ®in burch plöplicheS Deffnen bet »erfchloffenen ©timmripe entfteljenbe« eonfonan*
tifche« ©eräufch lommt jeboch im Slrabifcfjen Bor.
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Unfere Sprache.
713
ber Sippen ift f, bet Leibungslaut bet 8unge ift s, bet Leibungslaut beS
©aurnenS ch. $er gittetlaut bet Sippen gilt uns nicht als Eonfonant; et wirb
in unferer Sprache wenig gebraust, Wir benußen ihn nut, wenn Wir uns mit
Sßfetben unterhalten ober einen großen Abfcheu auSbrüden Wollen: brr; bagegen
ift bet 3itterlaut bet 3unge ein guter, fehr häufig gebrauchter Sudjftabe, närn*
lieh r, unb ben Bitteclaut beS ©aumenS hört man im 2)eutfcf|en häufig auch ftott
beS eigentlichen ober 3ungett=r auSfprecfjen.
So lönnte ich alle Saute butchgehen; eS Iommt mir aber nur barauf an, ju
Zeigen, wie jeher Saut einen ganz beftimmten Eharalter hot, unb wie wir heraus*
bringen lönnen, in welker SBeife er Don uns erzeugt wirb. $)ie üerfchiebenen
©prachen finb babei ganz gleichgültig, benn ber SJtenfch h°t überall fo ziemlich
biefelben Organe. 3«h fage „fo ziemlich", weit bie Abweichungen wirtlich außer*
orbenttich Hein finb; ich lönnte t>ieUei<ht fagen, er hot biefelben Organe, eS lom*
men nur infofem Unterfliege bor, als manche Sprachen gewiffe Saute gebrauchen,
bie in anbent gar nicht ober nur mit Keinen Abweichungen benufet werben. $)er
©nglänber j. 33. erzeugt baS s theilweife nicht baburch, baß er bie 3««8enfpi|e
gegen bie obem Schneibezäßne legt Wie wir, fonbern baburch, baß er bie 3wtgen*
fpifce jwifeßen bie 3ohnreihen legt, woburch baS eigentümliche th entfteht, welches
ben ®eutfcf)en, bie englifdh lernen, im Anfang fo große ©cßwierigleiten macht.
©S gibt auch «och anbere Saute, bie in unferer Sprache Wenig ober gar nicht
gebraucht werben, bie aber in manchen Sprachen oorlommen, nämlich bie fdjon
erwähnten Schnalzlaute. SBir gebrauchen fie nur im ©efpräch mit Stabern ober
als AuSbrud ber SSerwunberung; aber eS gibt Stämme im ffiblidjen Afrifa,
welche fie in ihrer Sprache fo gebrauchen, Wie Wir bie anbern Saute unferer
Sprache.
Auf einen Umftanb will ich noch aufmerlfam machen. SBir lönnen, wie ich
öorhin gefagt höbe, biefe ©eräufdje ganj unabhängig bon bem&ehHopf erzeugen;
wir lönnen aber auch iebe§ biefer ©eräufeße mit bem Xone beS SehllopfeS, wenn
auch nut teife, begleiten, unb baburch entfteht eine Heine ükränberung, baS ®e*
räufch höbt fich etwas anberS an. Auf biefe SBeife lönnen wir überall bie ton*
lofen bon ben tönenben Eonfonanten unterfcheiben: p bon b, f bon w u. f. w.
SBenn Wir nun fo herausgebracht hoben, wie ber 3Jtenf<h bie einzelnen Saute
erzeugt, fo Wirb eS natürlich unter Umftänben auch möglich fein, biefe Saute
lünftlid) burch SRafchinen nachmachen z« taffen, ^elmholß, bem Wir bie houpt*
fächtichften Unterfudjungen über bie mufilatifche Latur ber SßocalHünge berbanlen,
hat burch einen eigenen Apparat mit Stimmgabeln unb Lefonanzröljten bie IBocale
nachgemacht. ÜJtan lann mit fehr einfachen Uftittetn auch manche Eonfonanten
nachmachen, unb man hot auch f e h r complicirte ©prechmafchinen gebaut, welche
fogar ganze SBörter unb Lebensarten fprechen lönnen.
\
Aus SSocalen unb Eonfonanten befteht nun unfere Sprache; fie lommt baburch
Zu ©tanbe, baß wir bie Saute einzeln aneinanberreihen. Ein SSocat allein lann
feßon ein SBort fein, z- 33. o, a; fettener ein Eonfonant allein. Aber in ber
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Unfere <3 e ü-
7W
[Regel finb eS Socate unb Gonfonanten in gewijfer Slufeinanberfotge, bie pnäcbft
ju Silben, bann ju SBörtern, bann ju Säften jufammentreten.
2Rit biefer Untersuchung beS GntftebenS ber Saute ift bie pbbftologifdbe Gr»
forfdbung ber Sprache aber nic^t erfcböpft; tote fönnen noch etwas weiter geben
unb junäcbft bie 3citt>erbättniffe untersuchen. SBieoiel 3eit brauchen wir, um eine
gewiffe Silbe, ein bestimmtes SBort berboraubringen? SBir finben, bah Wir in
unferer beutfeben Sprache — ich miß “»ich junäc^ft auf biefe befdjränfcn — erft»
lieh um f° mehr 3cit ju einer Silbe gebrauchen, aus je mehr {Elementen fie
befteht; wir fönnen in fitrjerer 3«t als }. 83. „Sßfropf" Sprechen, benn ba
müffen wir mehrmals bie Stellung bes SRunbeS beränbern, um bie berfcfjiebenen
Saute berborjubringen. SBir fönnen ferner benfelben Sßocal entweber gebebnt ober
gefchärft Sprechen. DaS finb Untersuchungen, welche bon einigem Sntercffe finb.
ferner fönnen Wir [Rücfficbt nehmen auf bie Schaflftärfe ober Scbaßintenfität,
mit ber Wir ben Saut b er00 *bringen. 3« einer [Rebe, in einem Safte Spricht
man nicht aßeS gleich laut; Wo bieS gefchiebt, ba wirb bie [Rebe eintönig unb
bamit unfebön. SSBir legen ben [Rachbrucf auf einzelne Silben, inbem wir fie mit
ftärferm Suftbrucf berborbringen, fobaf? ber Schaß ober $lang lauter Wirb. SBir
fönnen fie aber auch noch baburch beroorbeben, bah wir ihnen eine längere Dauer
geben. 3ft ber SSocal nicht lang, unb foß bie Silbe boch lang Werben, fo muh
biefe Sänge baburch ju Stanbe fommen, bah man auf bem Gonfonanten, welcher
ber Silbe folgt, etwas länger berweilt. SBenn ich 3- ®. baS SBort „Don" aus*
fpreche, fo liegt bie Sänge im SSocat; wenn ich “ber „bon" fage, fo muh i<b “uf
bem n berweilen, wenn ich beiben SBörtern biefelbe Sänge geben wiß. Die ber»
fdjiebene Sänge unb ber Don, ber auf bie Silben gelegt wirb, fpielt in unferer
Sprache eine grofje SRoße. Daneben fönnen wir auch n0< $ bie ^öfte beS Stimm»
tonS wechfeln taffen. Das alfo finb bie -Mittel, bureb welche wir bie wesentlichen
Silben bon ben unwesentlichen unterfcheiben. 3« unferer Sprache befteht jebeS
SBort aus einer Stammfilbe, bie mit einer wechfelnben Slnjabl bon 83or= ober Mach»
filben berbunben fein fann. 3» bem SBorte „Ungebunbenbeit" ift bie Silbe
„bunb" ber ®era beS SBorteS, in bem ber ©runbbegriff gteichfam berförpert ift,
Wäbrenb bie anbem Silben biefen [Begriff nur mobificiren. Diefe Silbe b“t
baber ben gröhten SBertft im logifchen Sinne; fie wirb auch “m weiften betont
unb fie ift in ber [Regel auch bie längfte, WenigftenS gibt eS nur febr Wenige
Slnbangfilben, bie nahezu ebenfo lang finb, wie }. 85. bie Silbe „beit" in bem
genannten SBorte „Ungebunbenbeit"; bann muh »<b “6er um fo mehr bie Stamm*
filbe „bunb" bureb bie ftärfere 83etonung, bureb ben ftärfern Drucf, ben ich ber
Suft gebe, beroorbeben. SBir nennen baS ben Slccent beS SBorteS. Dabon ift
noch ber Saftaccent ju unterfcheiben; benn gerabe fo, Wie Wir in einem SBorte
bie £auptfilbe bureb ben Slccent unterfcheiben, fo heben Wir im Safte baS mefent*
liebe SBort bor ben anbem SBörtem betbor. DiefeS wefentliche SBort braucht
nicht immer baS Subject ju fein; Wir fönnen in unferer Sprache jebem beliebigen
SBorte eines Saftes bureb ben Slccent ben [Rachbrucf geben. Um ein tribiateS
Seifpiel ju brauchen, fo fage ich: „Sreunb, bu bift ber [Retter meines SebenS"
ich fönnte auch fagen: „Sreunb, bu bift ber [Retter meines SebenS", ober auch:
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Unfere Sprache.
715
„greunb, bu 6 t ft ber Stetter meines SebenS", unb fo !ann man jebeS SBort biefer
Strafe burd) ben Slccent ganj befonberS IjerOorljeben. $aS ift nidjt in aßen
©praßen fo; benn wenn idj im granjöfifd)en auf ein SBort ben üttadjbrucf legen
miß, fo muß id) j. 8. fagen: „C’est toi, mon ami, qui m’a sauve la vie", ober
id) muß fagen: „C’est ma vie, mon ami, que tu as sauv6" u. f. lu. Surj, idj
toenbe baS SRittet ber Slccentuirung im granjöfifdjen nid)t in ber SBeife an ioie
im ®eutf<f)en; ba ift ber SBort* mie ber ©ajjaccent niefit nadj benfetben togifdjen
Siegeln georbnet mie bei nnS, fonbern rietet fidj nadj gemiffett conbentioneßen
Siegeln, toeldje man befonberS erlernen muß.
$a bei uns bie ©tammfitbe immer ben ^auptaccent Ijat, unb eS bert)ättniß=
mäßig feiten öorfommt, baß fie bie lejjte ©ilbe beS SBorteS ift (j. 8. in „©eburt",
„®ebet" unb anbern), fo finb im $eutfdjen bie ©nbfitben faft immer tonlos.
SBenn mir juerft franjöfifdj Ijörett, fo fällt eS unS auf, baß meiftenS bie tejjte
©ilbe ben Xon f)nt; eS gibt aflerbingS SluSnaljmen, aber fie finb fcfyr fetten,
greilidj ift biefe 8etonung ber ©nbfilben im granjöfifdjen außerorbentlidj gering;
bie lefcte ©ilbe barf nur ein ganj Kein menig Ijerborgeljoben roerben; aber gerabe
meit eS bie tefcte ©ilbe ift, faßt eS uns feßr auf; meSljatb aud) ber ®eutfdjc,
menn er anfängt, franjöfifdj ju lernen, in ber Sieget beS ©uten p Diel tljut, unb
inbem er bie ©nbfitben mit bem ferneren Slccent belaftet, fid) bem Senner gleidj
als Sleutfdjer oerrätl). ©erabe fo ift eS mit bem ©afcaccent. $ört man einen
franjöfifdjen Siebner, fei eS ein fßrebigcr in ber Sirene, fei eS ein SIbüocat oor
©eridjt ober ein SßarlamentSrebner, fo geljt bie Stimme fomot in 8ejug auf bie
©tärle ber 8etonung, als auch ganj befonberS, maS uns feljr auffäßig ift, in
8epg auf bie §ö^e beS ©timmtonS immer auf unb nieber in einer gemiffen
funftgemäßen SBeife, bie ein grember niemals ganj erlernen fann. 2)aS fäßt uns
fo auf, meit eS ganj anberS ift als bei uns. ®a nun in unferer ©pradje ber
Slccent fomot im SBorte mie im ©afce fidj mefentlidj nach bem 8egriff rietet, fo
miß id) iljn ben togifdjen Slccent nennen, im ©egenfafo ju bem conbentio*
net len Slccent im granpfifdjen.
®iefe ®inge fommen nodj meljr in 8etradjt, menn mir bie ©pradje nidjt btoS
in ber fßrofa gebrauten, fonbern in ber fßoeße; benn ba foß ein SMjptljmuS, ein
SRetrum ßerauSlommen, mobei ber Slccent eine große Stoße fpiett. Unfere beutfdje
SRetrif ift bis oor furjer 3«»t nad) gemiffen Stegetn beljanbett morben, toeldje aus
ben alten ©praßen abgeleitet maren. ®iefe paffen aber auf unfere ©pradje gar
nidjt. @S mar ein feljr Ijeröorragenber ißljpfiologe, ©mft 8rüde, bem mir bie
ptjpfiotogifdje 8et)anbtung ber beutfd^eit 8erSfunft oerbanfen. ®aS mag 3ßnen
fonberbar Oorlommen, aber mer anberS lönnte foldje llnterfudjungen anfteßen als ein
ißtjgfiologe? 3^m finb berartige Unterfudjungen, mie fie Ijier Oortiegen, ganj
geläufig, unb er befinbet fid) and) im 8efi| oon Apparaten, mie fie ju folgen
SReffungen notßmenbig finb. 8rude Ijat nun brei ^jauptregeln für unfere beutfdje
8erSfunft aufgefteßt, aus benen fid) aßeS anbere ableitet; nämtidj erftenS baS
©efefc ber ©ongruenj beS SlccentS, b. Ij. ber Slccent, melier burdj baS SRetrum
oertangt mirb, barf nid^t in SBiberfprudj flehen mit bem Stccent, melden ber ©inn,
b. Ij. alfo bie audj in ber ißrofa üblidje Slrt ber 3tuSfprad)e, oerlangt. SBenn
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7*6
Unfere £eit.
ein foldjer SSiberfpruch borfommt — Sie lönnen pch folget 93eifpiele auS 3h ren
Sinberjahren gewip erinnern — bann fällt eS uns unangenehm auf unb wir fin*
ben ben $erS fdjlecht. ®aS jmeite ©efef} ift baS ber Kongruenz ber 2!auer; wir
bärfen nic^t eine furje Silbe lang ober eine lange ©übe furj fprechen. Sänge
unb ßürje finb aber nicht in bem Sinne ju brauchen, wie man gewöhnlich rechnet,
bap eine lange Silbe gerabe fo lang bauere wie $wei turje Silben, nietmehr
gibt eö alte möglichen Uebergänge Don ganj turnen Silben, j. 93. „o", bis ju
ganj langen Silben, 5 . 93. „pfropf". ®ie furjen Silben oerhatten fich ju ben
längften ungefähr wie 2 ju 5, unb bajwifdjen liegen oiele gwifdjenftufen. 3»»
SWetrum muh nun infofern ©ongruenj fjerrfchen, als man nicht gezwungen fein
barf, auf einer furjen Silbe auSjuhatten unb pe gegen ben Sinn beS SBorteS
lang ju machen. SBirb bie Silbe oom Slccent getroffen, fo fönnen wir immer
auf ihr aushatten; ift eS aber eine Slebenfilbe, unb Oertangt baS SerSmap, bap
wir auf ihr auShalten, fo gibt baS einen SSiberfpruch. Sie werben fich gewip
erinnern, bap in bem lebten Vornan oon Sifcher („Slucfj ©iner") baS SBörtchen
„ 2 etem" eine Stolle fpielt. ®a wirb erjähtt, wie ein fßrebiger in einer 9lbenb*
prioatgefellfchaft fehr fatbungsooll ein Sieb oortrug, unb in bemSBorte: „mit ber*
härtetem ©emüth", auf ber Silbe „tem" fo lange auShiett, bap eS lächerlich Hang.
3nfotge beffen nannte 91. 6 . biefen SRann nicht anberS als „®etem", unb immer.
Wenn ihm einer oorfommt, bei bem mit oerhältnipmäpig wenig innerm @el)alt
fich falbungSoolle SKorat breit machte, nennt er ihn „Setem". 935enn ich biefe
©efchichte tefe, fo f)ön ich orbcntlich, Wie ber geiftliche $err, ben ich wir mit
glatt gefcheiteltem #aar, wohl rafirtem, fettem Sinn borfteüe, mit fo recht fat*
bungSüotter Stimme fein „tetem" fingt, unb ich f fl nn mir fehr gut ben ©inbrucf
oorftellen, ben baS ©anje auf 91. ©. macht. SBenn wir einen 93erS tefen. Wo
in biefer SBeife baS 9Bort „oerhärtetem" als jwei 3«wben gebraucht wirb, fo
fönnen wir ben gehler beS ®icf)tcrS oertufchen, inbem wir ohne weitern Stuf*
enthalt batiiber hinweggehen. @S geht baS im ®eutfchen nicht anberS, benn wir
haben ju oiele tonlofe Silben unb muffen manchmal eine berfelben mit einem
Siebenton als „Sänge" im Sinne ber hergebrachten 93ejeichnungSWeife gebrauchen.
9ludj pnb, wie 93rücfe mit Siecht heröorljebt, bie einzelnen 3“wben in unfern
iambifdhen SJietren nicht untereinanber gleichwertig, unb wenn jene ©nbfilbe nicht
oom $aupt*, fonbent nur oom Siebenaccent getroffen wirb, fo leibet ber 93erS
nicht weiter barunter. 9Benn aber ber ßomponift auS einer Slebenfilbe eine Sänge
ju machen jWingt, inbem er oieHeidjt eine fyalbe. Stote barauffefjt, fo ift ber fo*
mifche ©inbrucf nicht 8 « oermeiben. ®ap übrigens auch in anbern Sprachen baS
©efef} ber ©ongruens beS SlccentS ©ettung Ejat unb bap 9lbweicf)ungen Oon bem*
felben fehr auffallen, bafür Will ich nur ein 93eifpiel anführen. 3® 3<>h« 1867
war ich eines 9lbenbS im Ztyatxt ftangaiS in fßariS bei ber 93orfteHung bon
SJioliere’S „Misanthrope", unb eS pet mir auf. Wie bie $elbin beS StücfeS, bie
fofette ©elimcne, in bem SSerfe ( 8 Weiter 9lct, erfte Scene):
Dois-je prendre un bftton pour les mettre dehors?
mit ungeljeuerm SRa^brud baS lange a in bem SBorte bäton betont. SBort
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Unfere Sprache.
7\7
fiat alterbingS ein langes 4, aber ber Stccent liegt im grangöjifdfjen troßbem auf
bem turgen o, unb bie ^etbin ßot burcf) biefe SluSfpradie ni<f)t btoS bem SBorte
all folgern Swang angetan, fonbern bett gangen Sau beS SttejanbrinerS gerftört.
Stun antwortet Sltcefte:
Non, ce n’est pas, madame, un bftton qu’il taut prendre
unb bec ©c^aufpieler behüte baS a nod) mefjr. 3$ fragte midj: Wogu ßat SRo*
tiere baS fo wieberljoten taffen? @S ift bodj nidjt gerabe ßöflidj, trenn ber $err
ber $ame wie ein ißapagai nacßfpridjt. Unb bei ber feften • Srabition, Wetdje
gerabe in ber Eomebie frangaife birect bis auf SJiotierc gurüctfütjrt, ift baS gewiß
nidjt jufättig. 3<ß bente mir, ÜRotiere Wollte baS ©egierte biefer ©rgtotette audj
in itjrer ©pradje ßeroorfjeben, unb ißr ßiebfjaber, bem alles ©edierte äußerft ber»
fjaßt ift, foDC feine ©ereigtljeit audj barin geigen, baß er eS ißr womöglich nodj
meßt übertrieben nacßfpridjt. @o tann atfo ber Stifter, inbem er ficß mit bem
©pracßgebraucß ber gewößnticßen ©pracße in SEBiberfprucß feßt, guweilen eine be=
ftimmte 9t6fid)t ßa6en; in ber Sieget aber muß er ftdj an bie Siegeln ber gewöhn*
ließen StuSfpracße Ratten.
@S ßerrfdjt in ber SRetrit enbticß nocß ein britteS ©efeß. 3« jebem Serfe
tommen gewiffe ©ipfet ober $auptpuntte bot, Welche fowot burd) ißre Stauer atS
aueß burcß bie ©tärte beS ©timmtons ßeroorgeßoben werben. SRan nennt eine
foldße $ebuug StrfiS. S)aS britte metrifcße ©efeß tautet nun, baß bie geitlidjen
Slbftänbe Don einer StrfiS gur anbem immer gteidj fein müffen. ®S ift aber
faft gang gteießgüttig, Wie ber Siaum innerhalb biefer Stbftanbe auSgefüttt Wirb.
S)er $i<ßter ßat in biefer Segießung giemlicß große greißeit. Stber an bie ©teieß*
ßeit ber Stbftanbe ift er gebunben. ©teßt eine feßr fange ©itbe, beten SluSfpracße
längere Seit erforbert, in einem foteßen gnteroalt, bann muß bie fotgenbe ©itbe
fo turg fein, baß bie gange fßeriobe bodj bie richtige Seitbauer fiat. 3“ ber
Stidjter tann gar leine ©itbe, b. ß. eine reine fßaufe gebrauten, um bie Südfe
Don einer StrfiS gur anbem auSgufülten. hierfür gibt eS ein fetjr fdfjöneS Sei*
fpiet in ben „Stibetungen" Don §ebbet. S)a ift eine ©eene*), Wo bie alte 2Bär*
terin ber Srunßitb bie mertwürbige ©rfeßeinung ißrer #ertunft ergäbt, Wie ber
Serggeift aus ber getfenfpalte ßerauStritt, baS ®inb im Strm, weites bie £änbdjen
nadj ber ßrone auf bem $aupt ber tobten Königin auSftrectt unb bie ißm wunber*
barerweife paßte. S)a fragt Srunßitb:
SBie, bem Stnbe?
SBorauf bie SSärterin antwortet:
Sem Sinbe: ja! toar itjm nidjt gu weit
Unb warb itjm fpäter nie gu eng.**)
3n einer ber oerfdjiebenen SluSgaben biefeS SBerteS ßat ein ungefdßicfter ©orrector
corrigirt: „fie War ißm nidßt gu Weit"; weit itjm eine ©itbe im SRetrum feßtte,
*) 3 We ite Stbtljeitung: „©iegfrieb’S Xob"; erfter Stet, erfte ©eene.
**) ®gt. griebridj fjebbet, „Sie Sitbelungen. Sin beutfdjeS Srauerfpiel in brei Stbtljei«
tungen" (2. Stuft., Hamburg, §offmann u. Sampe), ©. 47.
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7\8
Unferc ^cit. •
gat er „ge" gineingefcgoben. Unb bocg, wie fcgön ift ed, wenn man „ge" fort«
lägt; nur bann wirb ber SßerS glatt unb fliegenb unb jugleicg fein 3ngalt bott
unb gan 3 geroorgegoben; benn biefed ja mug gebegnt gefprocgen, unb nor unb
ginter „ja" mug eine lange ©aufe gemacgt werben. ®ie ©infdgiebung bed „ge"
ift eine ©erbattgomung.
Siefe ©intgeilung jebed ©erfed in eine Slnjagl gleicgtanger 3nter0atte nägert,
wie man fiegt, bie Spradge bem ©efange. Sie SßerSfflge entfpredgen ben Saften
unb ed bebarf nur nocg ber ÜJielobie, um wirflidgen ©efang baraud ju macgen.
Slber autg ber ©omponift mug, wie wir gefegen gaben, bie metrifdgen ©efege
beacgten; ja er tgut bieS juweilen nocg in gögerm SDtage, inbem er bad, Wad im
©erd nidgt fo beutlicg geroortritt, anfcgautidger geroorgebt. ©rüde gat barauf
gingewiefen, bag in mancgen beutfcgen ©letren eine Silbe juweilen bie Stelle
einer 3rgd unb Xgejtd jufammen audfiillt. 3n bem ©erfe:
Cd war ein König in Sgiile,
mug bie Silbe „Xgu" fo lange gegolten werben, bag ge bie Seitbauer ber Ärfid
bed borlegten unb bie ber Xgefid bed legten 3ambu3 ergält. SBir recitiren gleicgfam:
@8 war ein König in £gii«ule.
Siefer ©erd ift nun in ber beutfcgen ©oege augerorbentlidg beliebt; er ift
nidgtd anbered ald ber Anfang ber SJtibelungenftropge:
Uns ist in alten inneren
unb fomrnt ald foldger nidgt nur in ben birecten SJacgbilbungen berfeiben, wie
3 . ©. bei Ugtanb:
3in fdjönen ©ommertagen,
fonbem, unter Serfeflwng jebed ©erfed in jrnei ^alboerfe, audg fong gäugg bor,
wie in bem citirten ©eifpiel Oon ©oetge ober in ©icgenborffd
Qn einem fügten ©runbe
unb in Oielen anbent.
©ergleicgen Wir nun, wie bie ©omponiften folcge ©erfe ju beganbeln pgegen,
fo gnben wir faft burdggegenbd entweber bie Spaltung biefer Silbe in jwei Söne
ober eine ber metrifcgen ©ebeutung berfelben entfprecgenbe Segnung berfelben:
Sanft unb frei. ß. 3f. Selter.
y—fi—^
—£-$=
.^bLÄ . fr- j-
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L^i-3- 4 -1
- 4 1 - 4 - 4 —
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tt>ar ein £ö - nig in
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Andante. gr. ©Iücf.
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S —ft—-t-
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3n
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ei * nem
füfj-
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len
--- W ■ — ■
©ran * be
3Ran oergleicge audg fjranj Scgubert’d
Äm Brunnen bor bem Xgore
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Uitfere Sprache.
(SBorte bon SBilljetm ÜKüflet), mo bie ©übe „Iho" eine ®iertetnote hat, mäljrenb
beim gtoeitcn ^eil bet ©tropfe:
3<h fdjnitt in feine Stinte,
bie metrifdj gteidjroerthige ©übe „SRinb" auf gmei S£öne, non gufammen bcm
gleichen S£aftmertb, bertheilt ift.
3n anbern ftäflen freilich, tuo eS fid) um einen frifchen, raffen £R!jgtfjmu£
banbeit, toitb bie betteffenbe ©übe erft recht berfürgt, fobajj bie gmei testen
©üben beS SerfeS faft in eine StrfiS berfdfjmelgen, g. 8.:
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5riW.
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«olttttfife.
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rv J7 O 9
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* - v —
9Cuf, auf gum frölj H * <b*n $a < gen
ober: 6$ warb ein • mal ge * fdj(a«gen
©o haben tnit baS Sffiefentliche, maS man tein pl|Qfifaftfd)*pt)t)fiotogif($ non bet
Sautfpracbe fagen fann, erörtert. $>ie Sprache toirb aber nicht bloö gefprocfien,
fonbern auch burdj ©chriftgeichen bem Sluge fidjtbar auSgebrücft. ©ie miffen, baff
bie Schrift urfprünglicb nichts toeiter toar als eine 3eic^cnf(^rift, unb bafj nach
unb nach bie Beiden, melcbe gemiffe ©egenftänbe unb begriffe bebeuteten, g. 8.
#auS, tarnet, aßmäblidh gur 8ebeutung non eingelnen Sauten ^erabgetommen,
ober, mie mir richtiger fagen müffen, fiinaufgeftiegen finb; benn unfere Sautfdfjrift
ift niet praftifdjer, bequemer unb beffer als bie 3ei<^enfc^rift. ®aS Beiden - §• 8.,
metdheS bie Sßtjönigier non ben Stegpptern entfernt haben unb bann bie ©riechen
lehrten, bon benen mir es fdfjtiefüicb burcb 8ermittelung ber SRömer befommen
haben, bebeutet jefct b, mährenb ei urfprünglich „§auS" bebeutete. SBenn mir
nun eine ©djrift haben, melcbe bie eingelnen Saute auSbrücft, fo tönnen mir burd)
Stneinanberreihung ber ©chriftgeichen baS SBort begegnen, mie mir ei fpredjen.
SBir finben nun gemiffe Sßiberfpriidje gmif^en ber ©c^riftfpra^e unb ber Saut*
fpradje: gemiffe Seiten taffen fidj nicht gut auSbrücfen, mährenb anbete getrieben
merben, ohnebafc fie eigentlich im gefprodhenen SBort eine 8ebeutung haben.
Solche SBiberfprüche ber Orthographie mit ber gefprodjenen Sprache gibt ei überall,-
fie finb befonberS auffällig in foldhen Sprachen, bie nicht auf eigenem SBoben er*
machfen, fonbern aus anbern abgeleitet finb, g. 8. in ben jefjigen romanifchen
Sprachen. 9tef)men mir baS ffrangöfif^e, fo faßen uns eine äJlaffe bon ftummen
Sauten auf; fotche gibt eS, mie gefagt, bei uns auch, aber bort biel mehr. SBotjer
fontmen biefetben? $)ie Schrift ift gemiffermafjeu bei ber aßmählichen ©ntmidelung
ber Sprache hinter biefer gurücfgebtieben. ©ie enthält noch 9tefte einer frühem
©ntmidelungSftufe ber ©pradhe, ben berfiimmerten SReften bon Organen bergteichbar,
toeldhe mir bei X^ieren als 3eidjen früherer B«ftönbe finben. ©o erflären fich bie
meiften ftummen 8uchftaben. SBenn ich 3- ©• toeifj, baß prävost auS bein latei*
nifchen praepositus abgeleitet ift, bann berftetje ich nicht btoS baS ftumme t am ©nbe,
fonbern auch baS borhergehenbe s, meines nach ber neueften frangöfifchen Ortho*
graphie meggelaffen unb burdj einen accent circonflexe über bem o angebeutet mirb.
®iefe ftummen Saute finb baburch in bie frangöfifche Sprache hineingefommen, baß
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720
Unfere ,geit.
bie attcn (Setten unb nachher bie granten bad Sateinifdje, bad ihnen überliefert würbe,
nicht fo audfprachen wie bie Sateiner, fonbern fich erft munbgeredjt malten. Stm
beften berfteht man bad, wenn man an bie SDtunbarten benft, bie auch bei bev
©ntwicfetung ber romanifchen ©praßen eine große Stolle gefpielt haben. 6d ift
natürlich, baß bie ©otbaten, bie ©äfar nach ©aflien führte, nicht alle bad gewählte
Satein fpradjen, Wie er ed getrieben hat, fonbern fie fpradjen wol meift bad
SBauernlaiein, weldjed Pon bem ©chriftlatein wefenttich berfdjieben war, unb aud
biefem ift bann bie franjöfifchc Sprache entfianben. Sei folgen ®iateften tarnt
man feljr häufig beobachten, baß Saute, bie ben Beuten unbequem finb, ganj ein«
fach fortgetaffen werben. SEBir brauchen nur an unfere ®armftäbter ju benten,
bie ben Ütamen ihrer SSaterftabt „®amftabt" audfpredjen. Genien wir und, baß
biete fotdje Stormftäbter bor längerer Seit audgeroanbert wären, unb baß ji<h aud
bem barmftäbter $iateft eine eigene ©pradhe entwictett ^ätte, fo würbe wahr«
fdheinlidh bie SSegtaffung eined getriebenen, aber in ber Sludfprache unhörbaren
r ein charatteriftifched SOterfmat biefer Sprache geworben fein.
$ad Sbeat, bad wir und für eine Sautfdjrift ftetten müffen, ift, baß nur bie«
fettigen Saute getrieben werben, welche wirftich gefprochen werben, biefe aber
ganj Har unb beftimmt, fobaß niematd ein 3^eifet entftehen tann, unb baß
außerbent Seich«« ba finb, Welche angeben, ob ein Socat gebehnt ober gefchärft
ju fprechen ift. ®abon ift unfere Schrift Weit entfernt. Sttlerbingd ift unfere
Orthographie glüdfticfjerweife nicht mehr ganj fo berjWidt, wie fie bor einem
gahrßunbert noch war, unb in neuefter Seit finb befannttich wieber Seftrebungen
aufgetreten, fie noch mehr ju bereinfadhen. 3<h muß betennen, baß ich ed nie«
mald habe berftehen tönnen, warum liberale Seitungen fo fehr gegen bie ©in«
führung ber „fßutttamer’fchen Orthographie" in bie Schuten geeifert haben. ®ie
Orthographie h«t mit bem Siberatidmud hoch nichts ju thun. 3« ber Sehnte
muß angefangen werben, wenn wir bie Orthographie reformiren wollen, unb wir
tönnen nicht genug bafür banten, baß wir eine einfachere Orthographie haben atd
bie granjofen unb bie ©ngtänber. gn berfetben Seit, wo ein englifdfjed ober ein
franjöfifcheS ffinb ed mütjfam fo weit bringt, baß ed bie erften SBorte jufammen«
ftoppeln tann, lernen unfere Äinber fchon ganj leiblich tefen unb haben atfo einen
bebeutenben SSorfprung bor jenen. ®er SBortljeit wäre nodh größer, wenn wir
nicht ganj unnöthtgerweife an unterer „beutfehen" Schrift fefthietten unb fo
unfere Äinber auf ber erften Stufe bed Unterrichtd jWängen, acht Sltphabete ju
lernen, währenb ed bodj biet richtiger wäre, fie junädjft fo weit ju bringen, baß
fie einen ©enuß bom Sefen unb Schreiben hätten, woju hoch Jtoei Sltphabete aud»
reichen würben, wenn wir auch auf bie ganj umtüfcen großen ©uchftaben ber«
jidjten wollten. SBarum foden wir atfo nicht banach ftreben, unfere Orthographie
noch mehr ju bereinfachen? Ue6rigend fangen auch bie ©ngtänber unb granjofen
bamit an. ®ie ©eiehrten freilich müffen noch Weiter gehen. Sie brauchen nicht
btod eine Schrift für eine Sprache, fonbern eine Schrift, welche für alle
Sprachen gilt. @d muß batjin tommen, baß man eine Schrift hat, mit ber man
jebed gefprodjene SBort nieberfchreiben tann, auch wenn man bie Sprache, ber
bad SBort angehört, gar nicht berfteht. Sßenn ich h- ®. ein chatbäifched ober
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Unfere Sprache.
72 \
chinefifdjeS SBort hörte unb nieberfchriebe, fo mühte ein anberet, bet biefe Sprachen
ebenfo wenig oerfte^t wie idj, eS bo<h richtig lefen unb ausfprechen lönnen, fobafj
ein britter, bcr baS SBort hört unb bie Sprache öerfteht, weif}, welches SBort
gemeint ijt. fßrofeffor ©rüde unb anbere Sprachforfcher haben foldje phone*
tifche Schriftfpfteme angegeben; fie ftnb aber natürlich nur für Spradjgelehrte
beftimmt.
9to<h ibealer wäre eine Schrift, welche nicht bloS bie Buchftaben fdjreibt, bie
Saute bezeichnet, fonbern auch ben Ban beS SBorteS anzeigt, Welche j. B. in bem
ttorher erwähnten SBorte „Ungebunbenheit" immer gleich zeigte, bah bie Stamm*
filbe „bunb" ift, unb bie öorhergeljenben ©ilben Borfilben unb bie nachfotgenben
©ilben SlnhangSfilben finb. ©inigermahett fommt biefern gbeal bie ©tolze’fche
Stenographie nahe; biefelbe ift augerorbentlich fein unb fd)ön gerabe in Beziehung
auf biefe ©igenthümlidjleit ber beutfchen Sprache aufgebaut, unb fte wirb »ießeicht
ben Sem abgeben, aus bem eine folche fpätere Schrift herauswadjfen lann.
3<h füge ©inigeS ^inju über ben ÜDtedjaniSmuS beS Sprechens. 9Jian
lann [ich ja leicht ftar machen, Wie man ein SBort auSfpridjt, z* ®- baS SBort
„SBort", Welche Stellungen bie SRunbtheile zu biefem 3wed ber SReihe nach an*
nehmen müffen. Stber wie lomme ich bnzu, in biefem Slugenblid gerabe bie
SBorte zu fagen, bie nöthig finb, um einen gewiffen ©ebanlen mitzutheilen ? S<h
benfe boch nicht im geringften baran, welche Bewegungen ich i u biefem $wed zu
machen habe, ebenfo wenig wie ber Bilbhauer an bie SKuSleln benlt, bie feine
ginger in Bewegung fefcen, währenb er ben %f)on zu einem Äunftwerl formt.
SBaS gefchicht in mir, wenn mir jemanb eine grage öorlegt unb ich barauf ant*
Worte? ®aS ift boch eigentlich ein hö«hft Wunberbarer Borgang. Sch höte gewiffe
©inbrüde, bie mein Ohr treffen; biefe ©inbrüde werben meinem ®ehim zugeführt;
in meinem ©eljirn werben gewiffe BorfteHungen erWedt, biefe Borfteßungen fpinneit
fich Weiter. SBie gebe ich nun liefen ©ebanlen wieber burch anbere SBorte StuS*
bmd? £>aben biefe SBorte irgenbctwaS zu thun mit bem Begriff, ben fie »or*
ftellen? ®S finb nur zwei ®inge möglich: entweber ift baS SBort ein Bilb beS
©egenftanbeS, beS Begriffs, ober eS ift ein 3eichen beS Begriffs. $er Unter*
fchieb zwifdjen Bilb unb 3ei<h en ift Har: ein Bilb hat immer einige Slehntidjleit
mit bem ©egenftanbe, ben eS barftettt, ein 3eichen braucht gar leine Stehnlichleit
mit bem ©egenftanbe zu haben, ben es bezeichnen fott. gür ben Begriff „Uhr"
ober „Xifch" lann ich ei« beliebiges 3eichen mit jemanb »erabreben, mit bem ich
mich öerftänbigen will. Offenbar finb nun bie SBorte nur 3eichen ber Begriffe;
biefe 3ei<h en haben Wir als Äinber gelernt; fie finb uns baburch eingeprägt Worben,
baß unfere Umgebung fortwährend wenn fich ih re unb unfere Slufmerlfamleit auf
einen gewiffen ©egenftanb lenlte, auch ein gewiffeS SBort gebrauchte, bah fie alfo
biefen ©egenftanb mit bem SBort bezeichnen Wollte. SBenn wir einem erwachfenen
StuSlänber unfere Sprache beibringen woßten, lönnten wir nicht anberS »erfahren.
SBir würben auf bie Uhr hiuweifen unb babei baS SBort „Uhr" auSfprechen unb
bieS fo lange wieberljolen, bis er fich ben 3ufammenhang zwifchen bem SBort unb
bem 2)ing eingeprägt hätte. Offenbar ift alfo bie Sprache zunächft Sache beS
Untere gelt. 1883. I. 46
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Unfere £e\t
©ebäcljtniffeS, fotool beim (Menten ber 2Rutterfprad)e in ben erften Kinberjaljren,
Wie beim ©rlernen einer fremben Spraye in ben fpätern Saljren.
2Ba3 Ijeifjt nun baS „©ebädljtnifj"? ®S bringen getoiffe ©inbrüde auf unfere
Sinne ein, toeldje in uns ©mpfinbungen ertoeden. ®iefe ©mpfinbungen, toenn
fiefidj Ijäufig toieberl)olen, fairen fidj; fie laffen gleid)fam einen ©inbrud in unferm
©eljirn jurüd, äljnlidj bem ©inbrud, ben ein Sidfjtftraljl auf ber entpfinbtidjen
ißtatte beS ißljotograpljen madjt. 3cfj miff baS ©leidfjnifj nidfjt weiter auSfüljren,
fonbent nur fagen, bafj gerabe fo, mie bort ber »orübergeljenbe Vorgang ber
Sidfjtbetoegung einen bauentben ©inbrud Ijintertäfjt, fo auch in unferm ©eljirn
burdj äufjere Vorgänge bauentbe ©inbrüde entfielen. ®er ©inbrud eines SGBorteS
ift in unferm ©eljirn gleidtfam niebergelegt, beponirt, unb toenn fpäter baS SBort
genannt toirb, fo toirb biefer ©inbrud auS bem (Borratljömateriat unferS ©ebäd)t*
niffeS ^eraufgebolt unb tritt toieber in unfer Setoufjtfein. QebeSmat aber, toenn
ber SluSbrud „Xifdj" an unfer 01jr tarn, tourbe unfere Slufmertfamfeit auf baS
®ing, weites wir ®ifd(j nennen, getentt unb nun tjat ficfj eine Slffociation »oll*
jogen; in unferm ©eljirn ftnb biefe beiben ®inge: baS ©ebädjtnijjbilb beS SBorteS
„®ifd|" unb baS ©ebädEjtnifjbitb bes ®ingeS „Xifcfj", fo miteinanber »erbunben
ober affociirt, bafj, toenn baS SEBort gehört toirb, jugleidj aucfj bie Sorftellung beS
(Begriffs in unS toadfj toirb. SRatürlidj tönnen toir audti umgefeljrt »erfahren; toir
lönnen uns auf irgenbeine Sßeife bie SUorftettung beS ®ingeS „®ifdj" in unferm
©ebäc^tnig tjeraufbefdjmören, fidjtbar »or unferm geiftigen Stuge ma$en, unb
bann fommt fofort wegen ber innigen (Bertniipfung, bie ber (Begriff mit bem Saut*
bilbe tjat, unwitlfürlidj audj baS fiautbilb, toir fpredfjen gleidjfant im Innern baS
SBort leife bor unS fjet, unb toenn toir etwas »on bem ®ifdj fagen wollen, fo
fällt uns gleidlj baS Söort ein.
©o ungefähr müffen toir uns bie ©adje benfen, unb nun tönnen Sie fidj audj
»orfteHen, wie Störungen in biefem (ßrocefj entfielen, ©in SJtenfcfj, welker taub
geboren ift, tarnt natürlich nidfjt fpredtien lernen, weil überhaupt bie Saute, bie an
fein 01jr fragen, feinen ©inbrud auf baffelbe matten. Später lernt er in ber
®aubftummenanftatt fpredjen, inbem er jufeljen muff, was für SRunbfteHungen
ber Setter beim SluSfpredjen »on Sauten, ©ilben unb SBörtern mad)t. ®afj ba*
burdj mandje ®aubftumme recfa gut fpredjen lernen, toiffen toir aus ©rfaljrung.
Klar ift auch, baff ein 9Jtenfdj nidfjt fpredjen !ann, toenn bie Organe geftört finb,
bie jum $er»orbringen beS SuftbrudS, beS ©timmtonS unb ber ©nge, too bie
®eräuf<f)e im SKunbe fidE) bilben, notlpuenbig finb. @o lommt es »or, bafs bie
mit biefem tfeljler behafteten Seute jebeSmal, toenn fie fpredfjen wollen, ober ju*
weilen bei getoiffen fdjjtoierigen Sauten, einen Krampf befommen unb plöfelidj
ftoden — baS nennen toir Stottern — ober bafj fie mandje ÜDtunbftetlung nicht
fcfjneU genug Ijerftellen tönnen — baS nennen wir Stammeln.
SBenn wir uns nun »orftellen, wie baS SBortbitb im ©eifte entfteljt, welkes
toir auSfpred^en wollen, fo mufj »on ber ©teile beS ©eljirnS, too §unäd(jft baS
SBortbilb ju unferm (Betoufjtfein gefommen ift, bis ju ben »ielen ÜWuSleln, toeldje
babei in Xhätigteit gerätsen, um bie Saute wirtlidh Ijeroorjubringen, eine Seitung
fein, um bie 9ter»cneinbrüde fortjuleiten. Kommt eine Störung in biefe SeitungS*
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ogle j
Unfere Sprache.
723
bahnen, fo entfielt audj eine Störung ber Spraye, wie bieS oft bei Äranfßeiten
beobachtet wirb, ©ine Störung ber Sprache fann enbtich auch baburch gu Stanbe
fommen, baß überhaupt bie ©itbung ber ©orftellung oon einem SBorte nicht mög*
lieh ift, unb baS ift eine ber merfmürbigften Sßatfadjen, auf bie hi« nähet ein*
gugeßen atterbingS bie Beit fehlt, bon ber ich Sfönen aber wenigftenS (Einiges
fagen muß.
@5 gibt SDlenfeßen, welche infolge einer ©eßirnoertejjung, bie entweber bon
außen gefommen ober aus innern Urfachen entftanben fein fann, bie Sprache ber*
tieren, unb gwar ift es eine gang beftimmte, engbegrengte Stelle beS ©eßirnS,
beten ©erteßung ben Serluft bet Spraye gut gofge hat. 3Ran fann in bieten
Sötten mit großer Sicherheit nadjweifen, baß foteße SJtenfcßen berftehen, was man
ihnen fagt; fie fönnen auf Stagen fdjriftticß antworten ober fich burch Beiden
berftänbtich machen, aber fie bringen entweber gar fein SBort ßerbor, ober ihre
Sprache ift auf fehr wenige, tßeils gut auSgefprochene, tßeits berftümmette SBorte
befdjränft, ober mitten im Sprechen fehlt ihnen auf einmat ein SBort. ®aS
tefctere fommt auch beim ©efunben bisweiten bor; eS paffirt jebem, baß er plöfc*
lieh in ber Siebe ftoefen muß, weit er baS richtige SBort nicht ßnbet. SJtan nennt
baS „gerftreut fein", man müßte eS „augenbticftiche ©ebächtnißfchwäche" nennen,
Wobei gang brottige Sachen borfommen, inbem man ein falfdjeS, unpaffenbeS
SBort ftatt beS fehtenben fagt u. f. w. (Der Unterfdhieb gwifdjen bem Fronten
unb bem ©efunben liegt natürlich in bem ©rabe. Unfer ©ehirn ift ein merf*
Würbig compticirter DrganiSmuS: ba jtnb unenbtich biet Heine 2heitdjen, bie in*
einanbergreifen mfiffen, um bie einfachen Verrichtungen gu bollbringen. (Das
©ehirn muß mit gutem fauerftoffhattigem ©tut berforgt fein; haben Wir ftarf ge*
hungert, geburftet ober nicht gefdjtafen, fo ift baS ©ehirn ermattet, unb baS ®e*
bächtniß bertäßt uns. 3cß habe neulich bon einem engtifeßen ©etehrten gelefen,
ber eine Steife in ben £arg gemacht hatte. (Er war einmat einen ganzen (Dag
unaufhörlich geftiegen, ohne gu rußen, offne etwas gu genießen, unb guleßt war
er fo mübe unb matt, baß er lein SBort beutfeh meßr fpredjen fonnte, wäßrenb
er fonft gang ftießenb beutfeh fpraeß, aber feine SJtutterfpracße, bie engtifdje, hatte
er nicht bergeffen; nachbem er ftdj aber auSgerußt unb tücßtig gegeffen ßatte,
fonnte er wieber beutfeh fpredjen. SBaS ba borübergeßenb paffirt ift, baS paffirt
auch für bie (Bauer, Wenn baS ©eßirn organtfeß erfranft ift. Stucß bafür gibt
eS ©eifpiete. (Es ift beobachtet worben, baß Seute, welche mehrere Sprachen
fpredjen fonnten, wäßrenb ber ©ranfßeit eine bergeffen hatten; in ber Stegei
bleibt bie SJtutterfpradje, aber nicht immer. 3dj weiß bon einem SaH, wo ein
©ößme in (ßaris, ber gut frangöfifdj berftanb, wäßrenb einer Sranfßeit baS Sran*
gößfeße gu fpreeßen oerlernt ßatte; er berftanb gwar, was bie Slergte ißn frangöfifdj
fragten, aber er antwortete bößmifdj, was freilich bie parifer Steckte nießt ber*
ftanben. 3n anbern Sötten geßt wieber bie Säßigfeit beS ScßreibenS berloren;
bie Uranien fönnen überhaupt nießt meßr feßreiben, ober bie SBortbitber fommen
nießt orbentlicß heraus. SJterfWürbig ift, baß guweiten bie Säßigfeit gu feßreiben
berloren geßt, wäßrenb bie Säßigfeit gu fpreeßen bleibt, aber es fommen aueß
allerlei anbere Kombinationen bor. SBenn icß 3cit ßätte, fönnte icß Sßnen feßr
46*
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llnfere ^eit.
72J
intereffante ©efchidjten baöon erjäfelen, id) tDt 0 nur eine anführen. gn Sonbon
fafj id) eine Stau, welche abfolut gar nidjt fprecfeen tonnte, fetbft nicht ihren
SRamen; Wenn man it)r biefen Oorbucfeftabirte, bann fonnte fie itjn nadj=
fpredjen, unmittelbar nachher aber nid^t mehr. ©ine anbere Stau, bie ich in
ißariä [ab — baß itb bieg ^auptfäd^tid^ bei ältem Stauen beobachtet habe, liegt
barin, baß in ben Siedjenhäufern fa[t nur arme alte Stauen Oerpflegt werben —
alfo biefe Srau tonnte ganje Siebdien aug ihrer frühesten Äinbheit mit ihrem
feinen alten ©limmd)en, nid^t gerabe fehr mufitalifch, h cr fingen; wenn fie aber
baffelbe Sieb fpredjenb recitiren follte, bann war eg ihr unmöglich-
2Bie finb biefe 2 )inge ju ertlären? Um eg furj jn fagen, fo hanbett eg fidj
babei um ©ebädjtnißfehler. gm tefetern Salle würbe 5 . SB. bag ©ebädjtniß burdj
bie Kombination ber SMelobie unterftüfet. SBir wiffen aug eigener (Erfahrung, Wie
Diel leichter wir ein Sieb behalten, Wenn wir bie SWelobie 8 ur £>ülfe nehmen,
unb wieoiel fchwieriger eg ift, fid) an bag eine ohne äJMtljülfe beg anbern 3 U
erinnern, weil bei einem Siebe, bag Wir fingenb gelernt haben, ÜJtelobie unb Seft
feft üerfnttpft fidj in bag ©ebädjtniß feftgefefet haben, unb Weil eg 3 ur Trennung
ber SBorte bon ber SDtelobie einer SBittengabftraction bebarf, bie eine größere
Seiftung beg ©ehirng oerlangt. SDie ©ebädjtnißfehler bewirten alfo, baß bie
«Sprache geftört wirb. Steilich gibt eg auch no d) ©pradjftörungen aug anbern
llrfachen, aber bie hier befproefeenen finb bie häufigem. SBir tönnen nur fprechen,
inbem wir fortwäljrenb aug unferm reichen Schafe, bem ©ebäcfetniß, bie Sautbilber
feeroorrufen, bie mit gewiffen Gegriffen 3 ufammengehören. S)iefe Sautbilber haben
wir oon unferer Umgebung gelernt, unb baburdj, baß bei anbern biefelbe gbeen-
affociation jwifchcn ben Gegriffen unb ben Sautbilbern oorßanben ift, tönnen wir
ung oerftänbigen.
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ogi^yl
Qlföfjatuftan untr ber enölifdj-aföljamfdje ürieß.
$OIt
William ßalrk.
II.
Stm 3. ©ept. 1878 brad) in Äabut ein Slufftanb au§, atS beffeit eigentlichen
Urheber wir Safub-Sljan aitjufeljen haben, wenn er audj ber engtifdjen Regierung
ein über baS anberc mal beteuerte, baß er unfdjutbig nnb baß er fetbft bon ben
Stufrü^rern in feinem eigenen ißataft belagert Worben fei. Sei näherer Unter-
fu^ung ergab fidj aber, baß er noch über bebeutenbe ©treitfräfte berfügtc, mit
benen eS ihm ein £ei<fjte3 gewefen Wäre, bie SRebetten ju jerftreuen. 9tadj 2luS=
fage mehrerer ^o^fte^enber Afghanen hätte er ßaöagnari nur einfdjüdjtern unb
junt Serlaffen bon ffabut bewegen Wotten. $er Stampf mit ber nur 75 ÜDlamt
ftarfen ©Scortc war, obfdjon jeher 3Jlamt nur nodj acht Patronen hatte, lang
unb h e ftig, unb fielen äße, bis auf einen 3nber, ber bie traurige Stadjridjt nach
bem nächften engtifdjen ©renjpoften braute. Safub fah ein, baß biefe grobe Ser-
tejjung beS ©aftredjtS zweifellos ben Sormarfd) ber ©ngtänber auf ®abut $ur
golge tjaben werbe, unb fudjte auf alte erbenfti^e Strt unb SBeife Seit ju gewin¬
nen, um Sorbereitungen jum SBiberftanbe ju treffen. Son born^erein ßhenfte
man aber feinen Serfidjerungen unb Setheuerungen wenig ©tauben. Salb erfuhr
man audj, baß er mit feinem Setter Slßub, ber in $erat bie $errfdiaft an fidj
geriffen hatte unb erttärter geinb ©nglanbs war, in engere Serbinbung getreten
fei. @r fott fogar mit bem ©ebanten umgegangen fein, bie Stämme junt ^eiligen
Kriege aufjurufen. 3n $erat, wo ein ffampf gegen bie geringes immer feljr
beliebt gewefen war, unb in Stabut Ijerrfchte bie größte Stufregung gegen ©ngtanb.
gm ßften unb ©üben ber ßänber, wo bie ©ngtänber beliebter waren, fprach fidj
hingegen atteS ju ihren ©unften aus.
®ie ®uranitjäuptlinge in Äanbatjar fagten fich birect bon 3 fl fub toS; ber
Sßan bon Setat ftettte feine Gruppen unb feine $ülfSmittet ben ©ngtänberu jur
Serfügung. ®ie ein^eimifdjett dürften SnbienS ließen iljte Kontingente ins gelb
rüden, um ben ©djufc ber ©tappentinien unb ben ©arnifonbienft in ben geftungen
ju übernehmen. 3« Sotan würbe ber Sau einer getbeifenbahn, in Surum unb
im fthtytofmfi würbe ber Sau eines Sramtoat) angeorbnet.
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726
Unfcrc |>ett.
3um Oberbefehlshaber würbe ber an Sonett unb an Stnciennetät jüngfte
©eneral beS üorigen SelbgugeS, ©ir grebericf SRobertS, ernannt, einesteils Weil
fit bie öffentliche ßReinung gang entfliehen gu feinen ©unften auSfprat, unb er
ber eingige Süljrer gewefen war, welker groben eines wirfliten Selbhermtalents
abgelegt ^atte, anberntheils weil bie S'urumcolonne, ober wie fte jefct officieH
genannt würbe, bie ffiabutcolonne nur acht Dagemärfte bon ber afghaniften
^auptftabt entfernt ftanb. Die 3ufunft geigte, baf} bie 2Baf)t auf ben geeigneten
giiljrer gefallen War, ber fit felbft in ben ftwierigften Sagen ben ©reigniffen
bößig gewatfen geigte, ©in fofortiger Vormarft War nitt möglit unb aut
um fo weniger nothwenbig, ba es in ®abut lein ßRcnftenleben mehr gu retten
gab. 3n aller SRuhe fonnte man baher bie Vorbereitungen gu einem neuen Selb*
guge treffen.
Die Druppen befanben fit in einet feljt ftlimmen Sage. Der SeiebenSftlujj
bon ©unbamuf hotte bie ftleunigc Räumung beS SanbeS geforbert; ba man aber
bei bem unruhigen ©horafter ber Stämme beftänbig mit ©iterheitSmafjregetn
ntarftiren muhte, fo tonnte man nitt, Wie eS Wol wünftenSwerth gewefen Ware,
ben hhflieinifte« VorfittSmahregeln bie nötige Slufmerffamfeit guwenben. Die
©hblera, bon ber bisjefct not feine inbifte Selbatmee berftont geblieben ift,
ftcUte fit in ben lebten SBoten ein unb forberte nitt unbebeutenbe Opfer. ©iS
gum 1. Slug. 1878 waren in Äanbaljar allein 397 ©h°leraanfäße borgefommen,
bon benen 244 mit töblitem SluSgange enbeten.
Durtftnittlit hotten feit bem SriebenSftluffe afle ^Regimenter 200 2Rann
als franf geführt. Sluffaßenb groß War ber Verluft an Slergten. Vößig felb=
bienftunfähig langten bie Druppen in ihren ©arnifoncn an; biefe Dhatfate bürfen
wir bei ber Beurteilung oer ©nglänber nitt aufjer 2ltt laffen: fo erftären fit
g. B. bie auffaßeitb geringen SRarftleiftungen in ben Dctobertagen. Semer
waren bei ben ^Regimentern Beurlaubungen im auSgebehnten 2Raf?e eingetreten,
fobafj bie ©tarfe eines ^nfanteriebataiüonS 4—500 SRamt, bie eines ©abalerie*
regimentS 300 ÜRann nitt überftieg.
SRot gröbere ©twierigfeiten fanb bie ^Regierung in ber ©ompletirung ber
DrainS. 3m lebten Selbguge Waren gegen 60000 Kamele ben ©trapagen erlegen;
baS gange nörblite 3ubien war bon Dragtljieren entblößt, fobajj man feine 3« s
flutt gu Dtfen unb SRaulthieren nehmen muhte, bie meift für ftWereS ©elb in
fßerfien unb im Deffan aufgefauft würben unb nitt unwefentlit bagu beitrugen,
bie Operationen gu üerlangfamen. Der ©tappenbienft würbe beffer als im erften
Selbguge geregelt; man hotte fit baS preufjifte @hftem gum SRufter genommen,
weites unter ben ungünftigften Verhältniffen in Slfghaniftan aßen Slnforbermtgen
entfprat. Vom ©tutargarban fonnte ein Delegramm in 24 ©tunben Sonbon
erreiten, eS brautte aber nun 8 Dage, um bon hi« über Petersburg, ©amar»
fanb nat S'abut gu gelangen. ©ewi|igt burt bie ©rfahrungen ber SRuffen im
Vatfanfelbguge, traf man ftarfe Veftimmungen in Vegug hierauf, unb lehnte bie
©efute ber BeitungScorrefponbenten ab, bie ßolonncn begleiten gu bürfen.
Die Selbarmee behielt not bie frühere Organifation in brei ©olonnen bei,
jebot waren bie Slufgabeu ber brei ^»eereSförper anbere: ber ©eneraltieutenant
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2Ifgljanijtan unb ber cngltfcfj*afgfjanifdje Krieg.
727
@ir 2>onatb ©tewart foflte Kanbahar »iebet beferen, fieh Kelat=i»®litjail bemach»
tigen unb burdj »Demonftrationen erforberlichenfaßl 2feub=Khan in $erat feffeln.
$ie Khhbercolonne unter ©eneralmajor ©right hatte langfam auf Kabul üor$u»
rütfen unb Vorbereitungen jur Slnlage einer gefieberten ©tappenftrafje ju treffen.
35a bal Kurumtljat ungeeignet für gröbere Waffen »ar unb im SBinter ©d&nee*
weben ben ©eiwar* unb ©djutargarbanpafj unpaffirbar machten, fo foBte biefe
Sinie aufgegeben »erben unb ber Klfeber bie einzige ©erbinbungllinie jwifdben
Kabul unb ©ritifd)»gnbien bilben. 2>ie frühere Kurumcolonne »ar bil auf
14 ©ataiBone, 15 ©Icabronl, 5 gelbbatterien unb 1 ©ionniercompagnie, jufatn»
men lOOOO Wann, baoon bie ^ätfte ©uropäer, gebracht. ®ie ©otomte jäbtte
brei nfattteriebrigaben (©orbon,' SDlacpberfott unb ©ater) unb eine Sabalerie*
brigabe (Waffe). 35ie ©rigabe ©orbon (7 ©ataiBone, 8 ©Icabronl, 2 gelb*
batterien) batte bie ©tappenlinien Oom ©ebutargarban biö jum britif^en ©ren$=
poften 2buB ju führen. Aufgabe ber Kolonne »ar bie ©effeergreifung bon Kabul,
©ine Seferüe bon 5000 Wann »urbe bei Sawalpinbi formirt.
3unä<bft galt el, ben ©chutargarbanpafj ju beferen unb unter bem ©chufce
einer ftärfent Slbfeeitung bie SBege für SlrtiBeriefahrjeuge brauchbar ju machen.
Slm 11. ©ept. traf h»r nach einem ©ewaltmarfche bie ©abateriebrigabe Waffe
ein; jWei läge fpätcr erhielt fie eine »iUtommene Unterftüfcung an einem gnfatt»
teriebataiBon unb einer gelbbatterie. Wit ber ©efeftigung bei ©oftenl »urbe
fofort begonnen. Wit bem ©chutargarban hatte man ben böfeften ©unft bei
©affel befefct; bann fäBt ber SBeg fteit jur ©bene ab unb ift für Slrmeefahrjeuge
faft bößig unbrauchbar. Slm gufje bei ©ebirgel, 25 Kilometer bon ber ©affeöhe
entfernt, liegt bal 35orf Kufcfji; f)iev »enbet fife ber SBeg ffearf nörblich, folgt
bem Saufe bei Sogar unb tritt bann batb in bie fruchtbare unb »olflangebnute
Kabulebene ein. Kuffei ift 55 Kilometer bon Kabul entfernt, ©ei bem 2)orfe
jEffearafiab, 12 Kilometer bon Kabul, feeilt fife bie ©trafje; ber eine SBeg führt
burdj ein 13 Kilometer langel 3)eftle, »elfeel auf ber einen ©eite bom Sogar»
flufe auf bet anbera bon fteifen ©ergen gebilbet wirb; ber zweite SBeg führt in
großem ©ogen weiter öftlife nach Kabul, gm ©ebirge finb bie Iruppen lebig»
lieh auf bie mitgenommenen ©orräthe angewiefen, im Sogarthal finben fife aber
Sebenlmittel in $üfle unb güBe. ©teidjjeitig mit ber ©erffeanjung bei ©affel
»urbe auch mit ber Slnlage einel gelbtelegraphen begonnen, ba ber Heliograph
nur bei fyeUem SBetter functionirte. ®ie ©abalerie tonnte bei biefen Strbeiten
nifet befehäftigt »erben, unb fo legte fie fieh auf einen »eitaulgreifenben ©a»
trouiBenbienft. 3)ie ©eböllerung geigte fieh im aBgemeinen entgegentommenb, bofe
foBte man halb erfahren, wie wenig man fieh auf bie ©erfidjerungen Don Slfiaten
oerlaffeti fann. ©ine bei bem Slulbau ber Xetegraphenlinie befchüftigte eingebo»
rene gnfanteriecompagnie »urbe auf bem Warfche pttfelich oon ©hiljail über»
faßen, nachbem biefe fife erft für Seute einel befreunbeten ©tammel aulgegeben
hatten; hinterrüdl fielen fie über bie nifetl ahnenben ©olbaten her. $ie ©om*
pagnie üerlor 20 lobte, alfo ungefähr bie Hälfte; fämmtliche Waulthiere, 76 an
ber 3«hl, »urben oon ben Säubern fortgetrieben. 3)ie jur Verfolgung nach*
gerieften Gruppen tonnten aber feine ©pur Oon ben ©hiljail mehr entbeden.
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llnfere ^eit.
728
Sa biefe mit SEBeg unb Steg int Eebtrge oertraut maren, gelang es ihnen leicht,
p entfommen. ©ne Sofortige Sättigung mar nic^t möglich; bie engtifdjen Gruppen
burften fich nicht burch Unternehmungen üon nebenfächticher iBebeutung fchmächcu;
bann trat auch &°tb ungünjtigeS SBetter ein, nnb fo mugte man babon abfehen,
bie Säuber p beftrafen.
Am 24. begann ber meitere SBorntarfd), bie Setenbrigabe erreichte ®nfchi, in
ben nächften Sagen fdjtoffen bie übrigen Srigaben auf, unb btieb man hi« noch
bis pm 28. Sept. fielen, um SSorräthe p Rammeln. Am 27. traf hier S°htb*
$h° n mit Eefolge ein; er mürbe mit militärifchen Eljren empfangen, aber es
mar ihm nicht möglich, böllig feine Unfchutb barpthun. Ehe er ®abul bertieg,
hatte er eigenhänbig einen treuen Anhänger ber ©tglünber, Abbul=®erim=®h on /
ermorbet, mie er es auch für nöthig gehalten p haben fcheint, bie Anhänger Eng»
tanbs mögtichft p fchäbigen unb an einigen förmlich Sache p nehmen. 33or
allem bermochte er nicht, bie ©tglünber bon ihrem 2Beitermarfd)e nach ®°bul ab»
phatten, maS ber eigentliche Smecf feiner Seife gemefen p fein fcheint. 3n
®abul hotte er ft<h gemeigert, bie fieitung beS AufftanbeS p übernehmen, unb
motlte beiben Parteien gegenüber fein Soppelfpiel meiter fortfefcen; er burfte (ich
baher nicht munbem, bag halb bie ©npörer unb bie Sngtänber Stellung gegen
ihn nahmen. Er hatte gehofft, burch Sorfteüungen Soberts pr Umfehr bringen
p fönnen: märe er bann nach ®abul prütfgefehrt, ohne gtage mürbe feine
Stellung fefter benn je gemefen fein.
Am 28. traf nun auch ber ©eneral Soberts in ®ufchi ein; gleich bei ber erften
©efprechung merfte ber Emir, bag er einem fotdjeu Staune gegenüber mit feinen Sn*
trigucn nicht burd)fommen fönne. 2Bie biefer ei in einer ißroctamation auSfpradj,
mar er feft entfchlojfen, baS treulofe ®abul p süchtigen, unb erllärte, er merbe
jeben als geinb EngtanbS unb beS Emirs behanbetn, ber mit ben SBaffen in ber
$anb betroffen mürbe, Eefchicft h°tte er Soberts p brohen gemugt, bag bei
allen Anorbnungen fein unb ber Same beS Emirs ermähnt mürbe, moburch ber
#ag ber Empörer gegen le^tern gerabe nicht gemitbert mürbe. Ueber bie in
®abul ftchenben Sruppen mar man fo gut mie gar nicht orientirt; man glaubte
aber beren Stätte auf 15 Segimenter oeranfehtagen p bürfen, p benen fich in
ber Schlacht aber noch sahtreiche ißöbethaufen gefeiten mürben. Auffallenb mar
ei, bag Sahib»® 1 !) 0 * 1 oorgab, nichts oon bem p miffen, maS in ®abul borgiitg,
obmol er bie Stabt erft oor menigen Sagen Oerlaffen unb mehrere Sotfchaften
aus berfelben empfangen h°tte. SBotlte er bie fdjmachen englifdjcn Sruppen im
Unflaren über bie mahre Stärfe ber Sebellen laffen, unb fie bann, mie er glaubte,
einer fichem Sieberlagc entgegenführen? Soch bie Ereigniffe jeigten, bag er bie
Sähigleiten bon Soberts ju gering, aber bie Sapferfeit unb Salti! ber Empörer
p hod) angefchlagen h°be.
Sie Eatmleriebrigabe SJtaffh, bie ben AufftärungS* unb SicherljeitSbienft über*
nommen h°tte, melbete am 5., bag baS Segle Don Sfdjarafiab burch eine ftärlere
Ableitung gefperrt fei unb bag noch beftänbig aftannfefjaften unb Artillerie aus
®abul einträfen. Soberts mugte, bag nur entfchtoffeneS £>anbeln ihn retten fönne
unb bag er pr Währung feiner moratifchen Uebermacht felbft überlegene Staffen
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Kfghaniftcm unb ber engltfch»afghamfd)c Krieg.
729
atigreifen müffe. 3lber er berheljtte fich auch nicht, bag ber geringfte SJtiSerfolg
einen allgemeinen Slufftanb in feinem Süden jur golge haben merbe. Er rnugte
aber alles einfefeen; fein £>eer hatte nur bie SluSficht auf Sieg ober Seruicljtung.
SBol ertannten bie Afghanen bie fdjmierige Sage, in ber fich bie Englcinber be»
fanben. ®ie Sergftämme im Süden jeigten unoerfennbare Setzet* ber Unruhe
unb Abneigung; Xelegraphenleitungen mürben burdjfdjnitten unb einzelne ißoften
angegriffen, ©roge Sparen ©hiljaiS maren bon ben Sergen ^inabgeftiegen unb
Ratten in jtoeifelhafter Haltung auf ben bas englifche Säger umfdjtiegenben $öljen
Stellung genommen.
®er bie Sagage bedenbe ©eneral SSacpherfon hatte gemelbet, baff er einen
Singriff ber ©hiljais befürchte, unb ba in bem bergigen lerrain bei einer Sdjlacf|t
bie Sabaleriebrigabe nur bon menig Sufccn fein tonnte, fo mürbe fie bis auf
menige EScabronS betadjirt, um bie Serbinbung mit bem ©eneral ÜJlacpherfon
aufrecht ju erhalten, unb burd) iljre ülnmefenljeit bie ©hiljais 0011 einem Eingriff
abjuf^reden. 2üie bie meiften orientalifdjen Sergftämme, befifcen biefe einen
großen Sefpect bor Eaüalerie, fobag biefe beSgalb um fo leidjter ihre Stufgabe
erfüllen tonnte.
Slls SlngriffSpunfte mahlte SobertS bie jjlüget beS afgljanifchen #eereS, ba bie
Slfgljauen, mie alle Orientalen, im lmh en ©rabe gegen Stanfiruugen empfinbtich
finb, unb oft fd)on burd) bas btoge Anbeuten einer folgen jum Slbjuge gelungen
morben. ©ntfpredjenb ben beiben glügeln, mürben jtoei SlngriffScolonnen formirt.
$ie rechte, unter bem Siofor SB^ite, füllte lebigtidj bemonftriren unb bann burd)
Sadjrüden ben Erfolg beS linten Flügels ooHetiben. 2Jiajor SB^ite berfügie über
700 Staun, barunter 200 Engtänber, 260 Seiter unb 3 gelbgefdjüjje. ®er ©e=
netal Safer foßte mit 1800 SSann, 2 Sergbatterien unb 2 ®atlingS=3Jtitraißeufen
(1 englifd)eS Sataidon ift fo ftarf mie 2 1 / 2 eingeborene Sataißone) ben entfd)ei=
beuben Stog gegen bie rechte Sffanfe ber Afghanen führen unb fie in bie Sogar»
fdjludjt merfen, mo ber Siofor SBlfite mit feiner Eolonne bie Sieberlage boflenben
foßte. ®a ber ©eneral Safer ifolirt auftreten foßte, fo hatte er eine befonbere
Seferbe auSjufdjeiben. 3m befeftigten Säger befanben fiel) ber ©eneral SobertS
unb 3afub»Kljan. Eine Signalabtljeilung unterhielt bie Serbinbung mit ben ein»
jelnen Detachements. 3 m Säger befanb fiel) ferner bie #auptreferbe (600 SSann),
je ein falbes Sataißon ©urfljaS unb ^»oc^länber ftarf, beibeS Elitetruppen, biefe
ber englifdjen, jene ber inbifd)en Slrmee.
Stnfcheinenb in bößige Slpatljie berfunfen, betrachtete 3afub bie Sorbereitungen
jum Kampfe; feiner langen ©efangenfdjaft fdjrieb er bie Slbnaljme feiner ©eifteS»
fräfte ju. Slber im geheimen mar er bennoef) tlfätig gemefen; nachbem ein tefcter
Serfuch, SobertS jum Südjuge ju bereben, feljlgefchtagen mar, lieg er burch
Soten ben Rührer ber Sebeflen ju fich entbieten; h^initic^ erfchien biefer in ber
Sacht unb blieb mehrere Stunben bei 3aful>; maS ober hier üerhanbett mürbe,
hat niemanb erfahren; fo biel nur fteljt feft, bag ein iplait jur glucht 3afub’S
nach Durfeftan berabrebet mürbe.
§rüh am nädjften SSorgen festen fich bie Solonnen in SSarfd); ge lüften ihre
Aufgabe jur böfligen ^ufriebenheit bon SobertS. Snbier nnb Englünber brannten
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730
Unfere <5eit.
bor Vegierbe, enbtidfj an ben geinb ju (ontmen unb ben Dob ihrer Äameraben
ju rächen. 2luf bem tinfen gtügel fanb ein förmlicher SBettlauf jwifdßen ©urfljaS
unb $od)tänbern ftatt, um ein feinbticheS Vanner ju erbeuten. Slber bie Afghanen
»arteten ben 3ufammenftoß nicht ab; burch eilige gludjt entzogen fte fid) ber
fidhern Vernichtung; fie ließen gegen 400 Dobte auf bem ißlafce jurücf. 33er an
ber «front nadhrücfenbe SRajor SSJ^ite erbeutete 20 ©efchüfce, Welche bie Afghanen
aus SRanget an Vefpannung hatten fielen taffen müffen. Die engtifctjen Vertufte
waren nicht unbebeutenb, aber im Verhältnis ju ben erlangten SRefuttaten nicht
hoch ju nennen; bie Dtuppen beS SRajorS SBhite hotten faft gar feine Vertufte,
wäßrenb auf bem Iinfeu gtügel bas engtifche VataiQon 3 Dffijiere unb 90 SRann,
alfo 20 fßroc. feiner Stärfe eingebüßt hotte. Sine Verfolgung fanb nicht ftatt;
bie Stacht brach herein, unb man befanb fidj in einem unbefannten, fchwierigen
Derrain, rings oon geinben umgeben. Slußerbem hätte erft bie ©abaterie heran»
geholt »erben müffen, unb ehe biefe güßtung mit ben gtüctjttingen genommen,
hätten biefe fich längft unter bem Schüße ber ffanonen ber Vatahiffar befunben.
SRan begnügte fich bamit, bie gewonnene fßofition ju befeftigen unb ftarfe Vor»
poften nach aßen Stiftungen auSjufeßen, ba man in ber Stacht einen Angriff Oon
ben umherf<h»ärmenben ©hitjaiS erwartete. 33er moralifche Srfotg biefeS Sieges
War groß; mehrere StammeShäupter ber ©hitjaiS erfchienen, um fich ju unter»
werfen; aus ben nächften 3)örfern würben SebenSmittet gcfchicft, unb fpurloö ter»
fchwanben bie Vergftämme wieber in ihre ©chtupfwinfet im ©ebirge.
2tm 7. Dct. hielt bie Infanterie einen Stußetag, um ber Vagage Seit ju
geben, heranjufommen. 33ie Vrigabe SRaffh übernahm ben ©iferheitsbienft unb
nietbetc, baff bie ©mpörcr, burch 4 ^Regimenter auS ®ohiftan berftärft, Stellung
auf ben ^ößen wefttich bon ßabul genommen unb bie Snceinte ber Valahiffar
mit in ben ÄreiS ber Vertheibigung hineingejogen hotten. StobertS’ ißtan ging
bahin, bie meuterifche Slrmee bei ®abut einjufctjließett unb ju bemichten. Die
Vrigabe SRaffh mußte am Stachmittage beS 7. auffißen, über bie ©antonnements
bon ©herpur bie SBege bon Vamian unb ffohiftan ju gewinnen fuchen, um fo
bem geinbe ben Slücfjug ju betlegen. Der ©enerat Vafer foHte mit 1500 SRann,
barunter l*/ a engtifetje VataiÖone mit 4 ©effüßen unb 2 @atling»3Ritraißeufen,
bie Stellung ber Afghanen recht« umgehen. Ungefähr 600 SRann, jur Hälfte
©ngtänber, blieben an ber Straffe nach Dfdjarafiab als $auptreferbe jurücf.
Strn SRorgen beS 8. begannen biefe Vewegungen bon Dfdjarafiab aus. ©e»
neral Vafer ftieß auf bebeutenbe Derrainfdfjwierigfeiten; befonberS berurfadhte ber
DranSport ber ©effüße großen 3eüberluft. Vafer ftanb am Stbenb genau in
ber gtanfe ber Slfghanen unb fonnte mit feinen ©effüßen ihre ganje Stellung
enfitiren. Das tiefe Dßat beS Sabul trennte Afghanen unb ©ngtänber; eS blieb
an biefem Doge bei einem Slrtißeriefampfe. Die Cücfe jwifchen ber Steferbe unb
bem ©eneral Vafer war übermäßig groß geworben, unb fo erhielt am Stadjmittag
ber ©enerat SRacphetfon Vefetjt, biefetbe burch l l /2 Bataillone ju fchließen.
Diefe Druppen langten am Slbenb auf bem ©efecfftsfelbe an, famen aber, ba es
fpät war, nicht mehr jur Verwetibung. Die ©abaleriebrigabe hotte bei ©herpur
nur ffwachen SBibcrftanb gefunben; eS War ihr gelungen, ben Sfrtilterieparf ber
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Kfghaniftan un2> 6er englifcfy*afgfyautfcfje Krieg.
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Slfghanen, 78 ©efffifce, ju nehmen. ©rft am 9. erreichte fie bie Strafe naf
Äohiftan.
Ja bie Slfgljanen ffunbe öon ber Umgehungsbewegung SJtaßp’S erhalten Rotten,
fo jerftreuten fie fif in ber Stacht naf allen Stiftungen; ein Jheil wanbte ßf
naf ©tju^ni, ein anberer naf bent #htbufuff. Stuf teuere fließ bie ©abaterie
unb berfolgte fie ungefähr nof 30 Nitometer »eit.
Jie Jruppen Ratten feit beginn ber Operationen ohne Sette bibuafiren mäßen
unb Sebettemittet für brei Jage $u tragen gehabt. SBenn toir bebenten, baß bie
9lrmee nof immer unter ber ©fjolera litt unb baß man in einem Jerrain ope»
rirte, weifet man nur mit äußerfter Borfift betreten burfte, fo gewinnen wir
erft ein Berftänbniß für bie bieten ßf ben ©nglänbera bietenben Sf wierigfeiten.
SBie ffon früher, fo mäßen wir Wieberum auf hier ber ©abaterie unfere ganje
tlnerfennung joQen. Jie Umgebungen waren fifer geplant unb gtüdlif burf -
geführt. BefonberS ff wierig waren bie Bewegungen Bauerte am 8. Dct. gewefen.
Jie Stfgbanen ftanben in einer ftarf berffanjten Stellung, einzelne Jheile ber=
felben waren fogar fturmfrei ju nennen, ©ine an Qafyt unb Kaliber ber eng=
liffen überlegene Slrtillerie unterftüfcte bie Infanterie in ber Berfeibigung.
©in SBaßerlauf bor ber gront bilbete ein WirlfameS $inberniß. Jen Afghanen
fonnte bie ©olonne Bafer Wenig gefä^rlif werben, ba fie toon ihnen burf einen
tiefen Jhalfpatt getrennt war unb leift burf ffWäfere Ableitungen feftge^aften
Werben fonnte. ©in Dßenfibftoß gegen Jff araßab ober gegen bie Brigabe SRafftj
berfpraf ©rfolg. 916er um einen folfen Ißlan $u faßen, fehlte ben Afghanen
ein güljrer. Stöberte fannte feine ©egner unb würbe einem europäiff en geinbe
gegenüber eine folfe Jaftif ßferlif unterlaßen l)aben.
9lm 9. Dct. fammelten ßf alle Jruppen auf ben #ifen bon Siah=<Sutigh.
Stöberte erließ bon Ijier aus eine ißroclamation an bie Bewohner Kabuls, in ber
er bie Unffulbigen warnte unb bie Sf ulbigen bebroßte. Jer ©inbrutf bet lep=
ten «Siege war nif t }u berfennen. Jrei bon ©hujni anrüefenbe Stegimenter jer=
ftreuten fif; in ®abul ^errfftc Stulje unb Drbnung; man fürftete burf ©jeeße
ben Sieger ju reijen. Ohne 9Biberftanb ju ßnben, tjatten ffon gleif naf bem
©efeftetage Jl)eile ber ©abaleriebrigabe ffiabut burfritten. ©eneral Stöberte
befufte am 11. bie Balaljißar unb hielt bann am 12. feinen ©injug in bie Stabt.
Jie engtiffen Jruppen Ratten Spalier gebilbet, unb ate auf ber Bala^ißar bie
engliffe glagge entfaltet würbe, würbe fie mit 21 Salutffüßen begrüßt. Jer
©mir war aufgeforbert worben, fif bem Stabe anjuff ließen, Ijntte es aber eines
UnWoljlfeinS wegen abgelebt, unb ließ fif burf feinen Sohn oertreten. Jer
©eneral ließ eine Slnfprafe oerlefen, wonaf er ben Bewohnern bei JobeSftrafe
befahl, ihre SBaßen abjuliefern, eine ©ontribution ju erlegen, unb Belohnungen
für Auslieferungen ber SDteuterer auSfefcte. Jie Stabt felbft fotle geffont,
nur einige, bie BerfeibigungSfcfigfeit ber ©itabetle ßinbernbe ©ebäube nieber«
gerißen werben. Ueber fiabul unb Umgegenb würbe ber BelagerungSjuftanb oer=
ßängt unb ein militäriffer ©ouberneur eingefefct. ©in ÄricgSgerift trat ju=
fammen, um bie Sfulb ober Unffulb einiger gleif am erften Jage arretirter
ißerfonen feftjufteHen. 3m Saufe ber erften Sßofe fpraf baßetbe fünf JobeS»
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liefere <$eit.
urteile Aber angefefjene Afghanen aus, bie jum Dt)eit mit bem gürftenljaufe tiet-
wanbt Waren. DaS Urzeit würbe fofort burch ben Strang bottftredt.
Anjeidjen bet Sdjutb Safub'S mehrten ftd) bon lag ju Dag; es ^te|, erlabe
ben Angriff auf bie ©efibencg felbft befohlen, um ©abagnari etnjufdjüdjtern unb
itjn fo jum ©erlaffen oon Sfabut ju berantaffen; ein ©iebermefeetn ber ©efanbt»
fc^aft fott aber nicht in feiner Abfid|t gelegen hoben. Sitte biefe fünfte jufammen=
genommen, feine Unt^ötigfeit währenb beS Angriffes, feine f}eu($lerifdjen ©riefe
an bie htbifdje Regierung, bie ©rmorbung AbbukSerim’S unb bie ©ebrüdung
ber Anhänger ©ngtanbs fowie fein ©erhalten im englifdjen Säger wiefen birect
auf feine Sdjulb. ®t mochte wot einfeljen, ba| ©obertS ihn ntc^t fronen würbe,
unb befchtofj, bem juborjufomnten, unb trofe ber ©orftettungen Stöberte’ banfte er
am 19. 0ct. ju fünften feines Sohnes ab. @r wolle lieber SBafferträger im
engtifdjen Säger fein, als nodj länger in Sabul hertfdjen, unb fei jufrieben mit
jebem Aufenthaltsorte, ben ihm bie englifd^e ©egierung anweifen würbe. Durdj
fotche unb ähnliche ©eben hoffte er Stöberte für fidj einjunehmen; fein nädjfter
Sdjodjiug War nicht weniger fdjlou berechnet, üerfehlte aber bie SBitfung; er
geigte ben ©nglänbern ben Ort, wo feine Schüfe« bergraben Waren, bie bann auch
richtig im ©etrage bon 1 Va ®tiff. 2Rarl gefuuben Würben. Die Abbanfung 3afub’S
lonnte ben ©nglänbern nur wittlommen fein, ba feine Stellung in Afgljaniftan
unhaltbar geworben war, unb man ihn wie einft Schal)-Sdjuiah nur bur<h eng
ttfdje ©ajonnete hütte auf bem Dhron erhalten föniten. Der englifdje Dbetbefctjte=
habet jeigte bie Abbanfung ber ©eböllcrung an unb oerfünbete, ba{j er bis jur
©infefeung eines neuen ©ntirS bie ©egierungSgefd)äfte felbft übernehmen werbe.
Die englifchen Druppeu Würben theilS in ber ©atahiffar, im Säger auf ben
©ergen bon Siah ! Sungh unb theilS in bem frühem Stanblager ber afghanifdjen
Armee (Kantonnements, wie fic in 3«bien bon ben ©nglänbern genannt Werben,
währenb wir unter Kantonnements mit Dramen belegte Drtfchaften berftehen) bei
Sherfjur einquartiert. 3Jtit ©üdficht auf bie halb eintretenbe rauhe Witterung
hatte man bie Unterbringung fammtticher Druppen in ben gefdjüfeten ©äumen ber
©alahiffar unb in ben ©araden bon Sfjerpur in AuSficht genommen, ©orläufig
tag in ber ©alahiffar nur ein englifdjeS unb ein inbifcheS Sataitton. ®leidj nach
ber Sefefeung hotte man bort 85 ©efdjiifee, grojje SriegSoorräthe aller Art unb
eine nicht unbebeutenbe ©etbfumme in ruffifdjer SKünje fowie bie Korrefponbenj
Schir=Ali’S mit bem ©etteral Kaufmann gefunben. Die ©ebeutung biefer Korre*.
fponbenj hoben wir fchoit oben fenttett gelernt, ©in ©inbtief in bie Arfcnalbüchcr
War nicht unintereffant unb jeigte, bah ber Stieg auch wicht einen Augenblid ju
früh unternommen Würbe, ©ad) ben Angaben berfetben berfügte Schir=Ali übet
379 ©efdjüjje aller Saliber, barunter 95 gezogene $intertaber unb 48 gezogene
©orbertaber, für einen afiatifchen Staat eilt adjtunggebietenber Artitterieparf. ©iS
jum 15. ©ob. waren 256 ©efchüfee bon ben ©nglänbern erbeutet, fobafj fich immer
noch 123 im ©efifc ber Afghanen befanben. An ^anbfeuerWaffen berfügte S<hir*
Ali banl ber greigebigfeit ber inbifdjen ©egierung unb ber Dljätigfeit ruffifcher
Dcdjnifer über 5000 SnibergeWehre (mit benen auch bie angtoinbifche Armee
bewaffnet ift), 15000 ©nfietbbüdjfen unb 14000 brauufchweigifdje ©üchfen, ferner
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2lfgfyntiftan unb ber englifd) =afgt)amfcf)c Krieg.
733
wodj über eine große Saht glatter ©ewebre unb fßiftoten. Sie Hälfte ber ©niber
unb ein drittel ber ©nfietbbücbfen waren in 2lfgbaniftan gefertigt. Bon 49875 ®e»
Wehren befanben fi<h erft 6729 in Hänben ber ©ngtänber. Solche Angaben
fpornten ju neuer Ibätigfeit. SIrbeitercommanboS unterfuebten bie Batabiffar nach
allen Stiftungen; bodb fdjeint man nicht mit ber gebüljrenben Borficht jn SEBerfe
gegangen ju fein, ba am Stacbmittag beS 16. Dct. ein fßutDermagaain in bie Suft
flog unb ein 21>etf ber ©ebäube in flammen aufging. Sw ßaufe beS XageS
folgten noch mehrere ©jptofionen, bie aber weniger ©ebaben als bie erfte anritöteten.
Db man biefen UnglücfSfatl als baS SJBert eines ganatiferS ober als ein SBerf
beS SufattS anjufe^en f>at, fann nicht mit Beftimmtbeit behauptet werben. ©leid)
bei ber erften ©jptojton Würben bie Xruppen ins greie geführt, unb bat man es
biefer BorftdjtSmaßregel jujuftbreiben, baß nur 1 Dffijier unb 20 Staun, bie in
einem Saboratorium befdjäftigt Waren, umtamen.
©be Wir bie ©reigntffe in ffabul Weiter »erfolgen, milffen wir naebboten, WaS
fidj auf ber ©tappenlinie unb bei ben beiben anbern ©otonnen jutrug.
Sm föuromthate war ber Brigabe ©orbon ber anftrengenbe, aber Wenig banf*
bare ©tappenbienft augefallen. ©ie butte eine Steibe Keiner Kämpfe ju befteben
gehabt, bie mit ber ©infebtießung ber jerftreuten Setacbements enbeten. 2tuS ben
früher erwähnten ©rünbtn würbe nun baS Surumtbat bis auf einen einzigen
ißoften geräumt, ©rft bureb ben Slnmarfcb beS Oon Kabul entfanbten ©eneral*
©ougb, inbem bie Afghanen ficb mit ihrer Hauptmacht gegen biefen meubeten,
gelang eS ben eingefcbloffenen Xruppen ficb 3« befreien unb bie Bergftämme
3 u aerfprengen.
Sa in biefem Stugenbticf ber ©eneral StobertS noch nicht über gefieberte Ber»
binbungen bureb ben Äbb&er verfügte, fo muß man feine Kühnheit bewunbern,
jej)t febon feine einzige ©tappenlinie aufjugeben. Ser Stadjtbereicb ber ©ngtänber
erftreefte ficb in SBirflic^feit nur über ®abut unb feine näcbfte Umgebung, bie
man burdb Keine ©olonnen im Saume batten tonnte. Sie ©tabt fetbft war ruhig;
aber jeber wußte, baß bei bem Heinften SJtiSerfotge ber ©ngtänber ber fßöbel ju
ben SBaffen greifen würbe, ©eneral StobertS ließ jeßt bie Berbinbung mit ber
Äbbbercotonne eröffnen; es würbe ber ©enerat Stacpberfon mit biefer Aufgabe
beauftragt. Sw ®bb^ £t War baS Vorgehen bisher ein äußerft tangfaineS gewefen.
Sie ©otonne batte ihr fämmttidbeS SranSportmateriat abgegeben, um bie Summ*
cotonne rafdj operationSfäbig 3U machen; bann batten bie ©traßenbauten oiel Seit
in Slnfprucb genommen, fobaß, obwot fein ©ebuß gefallen war, bie Xete erft am
17. Dct. in Settatabab eintraf, ©injelnen Boten war es möglich gewefen, oon
ffabut aus biefen Drt au erreichen, Weniger gtücftidb waren bie Don Settatabab
auSgefanbten. 2tm 4. 9toü. würbe Don ©unbamut ber ©enerat ©ougb, ein Grober
beS uns fdbon betannten bei StobertS befinbticben ©enerats, unb berfetbe, ber im
Dorigen 3ab*e bei guttebabab gefiegt batte, entfanbt, um bem ©enerat Stacpberfon
bie Hanb au. reichen. 2tm 7. 9 ?od. fanb bie Bereinigung bei Äatafang ftatt;
baS Dereinte Setachement blieb Dortäufig bei Butbaf fteben. Stuffallenb War es,
baß bie frühem greunbe ©ngtanbs ficb i e t}t tatt unb abtebnenb »erhielten; wie
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Unfere ^eit.
73^
mon fpäter erfußr, ßatte fte S a Iub für ißre ettglifcßen ©pmpatßien gejüdßtigt unb
fie fürsteten aucß jeßt wieber beffett 9tacße.
Sit ftanbaßar tourbe bie ©üdteßr bet ©ngtänber mit ber größten greube be=
grüßt; im Saufe be$ getbjugS jeigte fidj meßr als einmal bie tiefe Abneigung
ber ©ewoßner beS füblicßen Slfgßanißan gegen bie £>errfcßer bet ©aratjaibßnaftie.
Um nötßigenfalts fcßnelter nadß Äabuf marfdßiren ju tönnen, Keß ber ©enerat
©teWart ®etat=i=®ßit$ai befeßen. ©ine weitere ©erwenbung bet ©olomte erfdßien
öorläußg nidEjt geboten, um fo meßr, ba man übet bie Slbßcßtcn Slßub’S in §erat
nicßt unterricßtet »at. 3unäcßft glaubte man, baß er äße ßriegSgebanten auf*
gegeben ßatte. ©etoiß auf 9lnratßen tRußtanbS btieb et nocß in $erat, um bie
©ntwidetung bet ©teigniffe abwarten ju tönnen, öieHeidßt in bet Hoffnung, baß
ißnt ttacß 3tbfeßung Sofab’S bie afgßaniftße ^errfc^aft angeboten werben würbe.
Sann bebutften bie neueingeftettten Gruppen — bie alte gut auSgebitbete §eratbitn*
fion war bei ßabut jerfprengt — nodß längere Seit, nm ins Selb rüden ju tönnen.
Ob aucß bieSmat wieber ruffifdße ©miffare ficß in $erat befanben, ift ungewiß,
aber nicßt unwaßrfdßeinlicß.
Sn Sfabut ßatte man unterbeffen bie Seit nidfjt unbenußt berftreiißen taffen,
bie ©antonnements in ©ßerpur waren eingeridfjtet unb bie Gruppen in ©araden
untergebracßt, ^Brennmaterial unb SebenSmittet waren in reifem SWaße borßanben,
fobaß man rußig bem ©Unter entgegenfeßen tonnte. Sie Sage waren nodß warm,
aber bie Stäcßte fcßon empfinbtidß latt, fobaß bie ©epoßS nie! ju leiben ßatten.
2 lm 6. 9?oti. war in ffabut bon ©imta ©efeßt eingetroffen, baß ber ©mir unter
©Scorte na(ß Snbien ju fenben fei; am SDiorgen beS 7. befanb er ficß, oßne baß
bie ©eoölferung es aßnte, auf bem SBege na<ß ©efcßawer.
gür ben ©Unter würbe bie Sibifion neu formirt, bie ©abateriebrigabe SRaffp
jog ißre betacßirten ©ScabtonS ßeran unb erßiett eine nidßt unwefentticße Unter*
ftüßnng burtß bie 3utßeitung einer reitenben ©atterie. Sie Sttfantoie bitbete
brei ©rigaben; bie güßrung ber britten übemaßm für ben ft<ß im ®urumtßale
befinbenben ©enerat ©orbon Oberft QetxfiniS. SBei jeher ber brei ©rigaben befanb
fi<ß ein englifcßeS ©atailton. ©ämmtticße Sruppen waren burcß eingetroffene ©rfaß*
mannhaften öerftärtt, fobaß man bie ©tärte ber Sibifion auf lOOOO ©ombattanten
unb 26 ©efdßüße fdßäßen fann. @S muß ßier erwäßnt werben, baß bie ©er»
pßegungSftärte ftcß aber auf runb 30000 $öpfe belief. Sie neue DrganifaKon
jeigte fi(ß biegfamer als bie früßere ©intßeitung unb War ben Stnforberungen
beffer gewadßfen. ©ine ©robe fottte fie feßr batb befteßen.
Ser ©ouberneur bon ©ßujni ßatte ßdß geweigert, bie ©roclamation beS ©enerats
©oberts beriefen ju taffen, unb audß burdß ©erweigerung ber Steuern unb ®om*
tieferungen feine feinbfetigen ©efüßte gegen ©ngtanb jur ©enüge bargetßan. Dberft
Slbbutta*San, wie ißn 3«tuitgSbericßte nannten, ßatte bei ©eginn beS gelbjugS
SHi=äRuSjib bertßeibigt, bei Sfdßarafiab ein größeres ©ommanbo gcfüßrt unb nadß
bem ©ertuftc ber ©cßtadßt ßdß nadß ©ßujni gerettet, wo er eifrig bemüßt war,
bie Srümmer ber afgßanifdßen ©treitträfte ju neuen ©erbänben jufammenju*
fdßweißen. SWuSf»i=9ltam, „ber SCßoßtgerucß ber SBett", ein ©Maß unb gatir,
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2lfgganiftan uni ber englifdpafgljamfcfje Krieg.
735
gatte ott ber ©pige einer igm btinbting? ergebenen ^ßriefterfc^aft ba? Sanb bureg»
gogen unb bie ©laubigen junt Zeitigen Kriege, gurn Santpf gegen bie geringgi?
aufgerufen. Senn wir bie 3eitung?beridgte al? baare 2J?ünge neunten börfen, fo
gaben wir igm eine ägntiege ©teßnng in ber afgganifdgen ©efegiegte guguWeifen
Wie ©erngarb bon ©tairbauj in ber ©efegiegte be? SDtittetatter?. gür bie Ser*
niegtung ber ©ngtänber gatte er bie ©ebenttage ber beiben SRärtgrer puffern unb
Stli feftgefegt, an benen jeber int Santpfe gefallene 3Ro?tent bon ben #uri? ins
ißarabie? getragen wirb. Der Seit naeg ftintmt biefeä geft mit unferm Seig*
nagten überein.
Die Sparen ber Snfurgenten in ©gugni würben bureg grofje Sugüge au? ben
©ebirgen üon Sogiftan berftärft. 2tu? Durteftan waren mehrere Regimenter in
ßabul eingetroffen, bie auf bie erfte Stufforberung Robert?’ fteg gerftreuten, aber
fieg in ber Umgegenb berfteeft gelten, um ben ©egintt be? Slufftanbe? abguwarten.
2 Kan hoffte fomit bie ©ngtänber in igren ©orficgt?maf}regetn eingufegtäfern. ©ine
einheitliche Seitung war nicht gu bertennen, boch gaben wir Weber bie Urgeberfegaft
gafub’S noeg biejenige Stgub’? gu bermutgen, wie e? guerft gefchah- ©on großem
©ortgeit für bie ©ngtänber war e?, bafj galub fieg nicht megr in Sabut befanb,
ba feine Stnroefengeit bie ©djwierigfeiten nur berboppelt gaben Würbe. Robert?
beabfidjtigte mit einem ©dglage bie unruhigen ©ewegungen in Sogiftan gu unter»
brüeten unb fich in ben Söefih bon ©gugni gu fegen. Stnei ©olomten würben
gu biefem Qtoeäe unter ben ©eneralen ßJiacpgerfon (1 engtifege?, 2 eingeborene
©ataißone, 2 @?cabrott?, 10 ©efdfjüge) unb ©ater Qe 1 / a ©ataißon ©ngtänber
unb ©ingeborene, 27 2 @?cabron? unb 4 ©ebirg?gefegüge) formirt, bie am 9.
auf gwei getrennten Segen ben ©ormarfeg auf ©gugni antreten füllten.
Der türgere Seg, ben ber ©enerat ©ater einfegtug, ift un? fegon befannt; er
führt bureg ba? Defite bei Dfegarafiab, läng? be? ßogarftuffe? naeg ©gngni. ©ei
Sufegi war eine Slbtgeitung gut ©eobaegtung bon ©gugni gurüefgutaffen; ber
SRarfdg foflte bann in wefttieger Ridgtung bi? SRaiban im Sabuttgate fortgefegt
Werben. #ier gatte bie ©otonne ©teßung gu negmen, um eine ©ereinigung ber
Snfurgenten bon Sogiftan unb ©gugni gu berginbem unb bie Slnfunft ber Sri*
gäbe ßJiacpgerfon abguWarten. Diefe gatte bei Degtimagong ben Sabut gu über*
fdgreiten, läng? biefe? bluffe? über ßJiaiban auf ©gugni borgubringen. Um aber
bem ©enerat ©aler Seit gunt ©innegmen feiner ©teßung bei ßJiaiban gu geben,
foflte fte bureg anfdgeinenb gögernbe? unb furegtfame? Sefen bie Stfgganen fügner
maegen, fie gum Eingriffe berteiten, um fie bann gu berniegten ober bem ©enerat
©ater bei ßJiaiban in bie Strme gu Werfen. Sie wir fdgon oben bei ben ein*
teitenben ©ewegungen gur Segnagme bon 2lti*ßJiu?jib gefegen gaben, ift bie geft*
fegung ber Umgegung?colonnen, um ein ridgtige? SufammenWirfen gu ermögtidgen,
eine ber fegwierigften Stufgaben ber Druppenfügrung, ba? mot burdg berfdgiebene
Stbmarfeggeiten, aber niegt bureg fo compticirte ßJiittet wie bie oben erwägnten
erreidgt werben tarnt, ©inen fdgwerwiegenben Racgtgeit nagm man mit in ben
Sauf, nämlich ben, baff bureg fotdg eine Sriegfügrung ba? ©etbftgefügt ber eigenen
Dtuppen gefdgwädgt wirb, wägrenb ber geinb gur ©rtenntnifi feiner eigenen Sraft
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Mnfere 5 e ^-
fommt, unb e« fraglich ift, ob e« jeberjeit unb unter allen Umftänben möglich ift,
ba« alte ißreftige mieberjugeminnen.
Änt 10 . fanben bei beiben Kolonnen Heinere ®efedjte ftatt, bie überall mit
bcm ©rfotge ber britifdjen SBaffen enbeten. HJtacpßerfon ßatte einen größern
Sdfjmamt gnfurgenten jerfprengt unb beabsichtigte fnf) am 11 . bei Staiban mit
Safer ju »ereilten. 3tm öbenb erfdjien ©eneral Stöbert« mit feinem Stabe, um
einige nötige ®irecti»en ju erteilen, unb befanb ft<h audj am 11 . bei ber
Kolonne. 3« feiner Begleitung mar bie Kaoaleriebrigabe SDtaffß, bie für ben
meitern Fortgang ber Operationen ber Kolonne SDtacpßerfon übermiefen mürbe.
®a« ®ro« marfdjirte auf einem Bergrüden, bie Kabalerie im ®ßat auf ber
gefdßüßten linfen Seite. SBarum man ber Kaoalerie nicht bie ®edfung ber un=
gefdjiißten rechten ^laufen überließ, ift »ietleidfjt au« bem Umftanbe erftärlich, baß
ba« Üerrain ißre SBirffamfeit beßinberte unb man fie bort nicht einem SRiSerfolge
au«feßen mollte. ®a« Bormarfcßterrain SDtaffß’« mar feßr fcßroietig unb ben
Bcmegungen ber Kauaterie im ßöcßften ©rabd ungünftig; ©eröö unb ©cftein
bebedten ba« ©elänbe, SBafferriffe mit fteilen Stäubern burdßfcßnitten bie 3Dtarfcß=
ftraßc, mäßrenb SBeiler unb ®eßöl$e bie Ueberfidfjt Huberten. ®iefe $inbemiffe
hielten aber bie Katxtlerie nicht ab; al« ihre erfte Aufgabe betrachtete fie e«, rafdß
ben Bcreinigung«punft ber beiben Straßen, ber Straße, bie ba« ®ro« marfcßirtc,
unb ber im ©ruube füßrenben Straße, ju gcminnen unb bie Berbinbung mit ber
Kolonne Bafer aufjuneßmen. Da« rafdbe Borgern ift aber unbegreiflicßermeife
gerabe bem ©eneral SDtaffij jurn Bormurf gemalt morben. Seiber finb bie Beriete fo
tüdfenßaft, baß eine flare ®arftellung biefet intereffanten ©pifobe nicht möglich ift;
üor allem fehlen alle Eingaben über bie ©reigttiffe bi« flum eigentlichen Sufammen*
ftoß; e« ift nicht erficßtlicß, ob man ba« Stoßen ber gnfurgenten früßjeitig erfußr,
ober ob man plößlicß auf einen Scßtoarm »on 10000 SJtann fließ. äJtaffp’« Sion
mar rafcß gefaßt; unter ©infeßung feiner ganjcn ®raft moHte er ben Äreupunft
beiber Straßen geminnen.
Bergegenmärtigen mir un« noch einmal furj Stärfe unb Bertßeilung ber
Brigabe SJtaffp: fie jäßlte 1 englifcße«, 3 eingeborene ©aoalerieregimenter unb
1 reitenbe Batterie, in Summa 12 ©«cabron« unb 6 ©efdßüße. Bei ber Ko*
tonne Bafer befanben ficß 1 engtifdße unb 2 '/j eingeborene Scßtoabronen, bei ber
©olottne SJtacpßerfon 1 engtifdße, 2 eingeborene ©«cabron« unb 4 ©efcßüße ber
reitenben Batterie. , 8 mei eingeborene ©«cabron« maren im Säger jurüdfgebliebeit.
Somit »erfügte alfo SDtaffp nur nocß über 1 englifcße, 2 eingeborene ©«cabron«
unb 2 ©efdßüße.
3 e eine ßatbe ©«cabron befanb ficß in bet recßten unb linfen glanfe. $urdß
biefc« Borrüdfen in breiter Sront mußte bie ©aOalerie ißren Aufgaben im Sluf=
ftärung«bienfte gerecht merben fönnen, aber ben einzelnen Hßeilen ber Brigabe
fehlte bie nötßige 2 Biberftanb«= unb 9lngriff«madßt. ®ie beiben ©«cabron« au ber
Straße, mit benen mir e« ßier ßauptfäcßlidß ju tßun haben, maren feßr fcßtoadß;
bie engtifdße jäßtte nur 90 Säbel; bie eingeborene ©«cabron mirb nicht üiel
ftärfer gemefen fein.
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Kfgfjaniftan unb 6er englifd; - afgIjamf<J}c Krieg.
737
SBöfjrenb bie ©abalerie fich gut Slttafe formirte, probten bie beibert ©efd|üf}e
ob unb eröffneten auf 1500 Weter ein heftiges Shrapnelfeuer, baS aber bie
3nf urgenten im Sormarfdj ntc^t aufhielt. 3wei Slttafen ber englifdjen ©abalerie
tourben abgewiefen, unb Waffh tonnte fi«h je|t ber Uebergengung nicht berfchüefjen,
baff er ben fRüdgug antreten mfiffe. ©ine Werbung feines ©ntfdjtuffeS an baS
©roS tonnte itid^t mehr bortljin gelangen, ba fidj ftörfere SIbtheilungen beS geinbeS
in feiner regten plante geigten. @S War feine Seit gu berlieren; fdjon fcfjlugen
bie kugeln ber Stfghanen unter ben SebienungSmannfdjaften ber beiben ©efdj&fee
ein unb berwnnbeten mehrere Sßferbe. Waffp gab nun ben beiben ©ScabronS
Sefeljl, ungefäumt gu attatiren, um baS Slufprofcen ber beiben ©efdjftfee gu fid)ern.
Doch was Ijalf alles tobeSmutljige Einreiten; bie Uebergahl ber geinbe war gu
groß, baS Derrain gu fdjwierig, fobafj bie Ftennlraft ber fßferbe nicht böllig aus*
genügt werben tonnte; auch jefct wieber mflffen bie Sleiter gurüd. Slber fdjnell
finb bie Snber raHiirt unb werfen fi«h nod) einmal bem fffeinbe entgegen, ber nur
in fdjmater Sront borbringen fann; wenn ber eigentliche Eingriff auch abgewiefen
wirb, fo ift bodj ber 3wed, 3«it gewinnen, erreicht. Die ©efdjfifee finb im Warfdj
unb eilen in fdjarfer ©angart einer neuen fßofition gu, um bon hi« 0118 ben
SMdgug ber beiben ©ScabronS gn erleichtern. Seim fßaffiren eines SEBaffertiffeS
ftürgen beibe ©efdjüfee um, mehrere tßferbe werben bon ben Afghanen erf«hoffen,
nnb ehe man noch baran benten tann, einige bon ben herrenlos umljergatopirenben
fßferben eingufangen unb eingufpannen, brauft auch fdjon bie engtifdje ©abalerie,
hart bon ben Afghanen berfolgt, gurüd. Die ©efdjüfee miiffen flehen gelaffen
Werben. Die SebienungSmannfchaften bringen aber baS Sabegeug in Sicherheit,
fobafj fie für bie Afghanen borläufig nufcloS finb.
Die erften SChfiffe hatten SiobertS bon bem beginnenben Stampfe benachrichtigt;
bon einem hohen fünfte auS fah er bie heroifChen Slnftrengungen ber ©abalerie,
noch ehe bie ©eftfjüfee ihre fßofition berliefjen, ahnte er ben SluSgang unb fanbte
feinen ©eneralftabSChef Dberft Wac ©regor, um bie Sefefcung einer Slufnaljme*
fteüung am ©ingange ber DehtimagongfChtucht anguorbnen. £>ier warb ber ber*
folgenben afghanifChen ©abalerie burdj baS ruhige unb wirtfame geuer einiger
©ompagnien ein $alt gugerufen. Stoch an bemfelben Wbenb ging Dberft Wae
©regor mit ben SebienungSmannfchaften unb ben im Säger berbliebenen ©ScabronS
bor; eS gelang ihnen, beibe ®efdjtt|}e gurüdgubringen unb einige Sdjwerberwunbete
aufgulefen. Die meiften Serwunbeten, bie liegen geblieben waren, würben bon
ben Stfghanen niebergemacht nnb berffümmett. ©eneral Wacpljerfon War guerft
gegen bie plante ber Slfgljanen borgegangen unb bann auf neuen Sefeljl auf bem
fiirgeften SBege nach Dehtimagong marfChirt, wo er am Slbenb faft gu gleicher 3eit
mit ben Afghanen eintraf. 3« einem ©efedjt tarn eS nic^t mehr. 81m nädjften
Dage traf hier au<h ber ©eneral Safer ein. Die gnfurgenten hatten ftd) aber
burdj einen Stadjtmarfdj ber ungweifelhaften Stieberlage entgogen unb Stellung
auf ben $ö!jen am DathtS*i*Schah genommen, welche bie Satahiffar bcherrfdjen.
Der Singriff ber feinblichen Stellung war auf ben 12. feftgefefct, aber bie
fpäte Stnfunft ber ©olonne Sater unb eines Detachements auS SuSljat lieh einen
foldjen nicht rathfam erfCheinen nnb würbe ber Singriff bähet auf ben 13. ber*
Unftrc £dt. 1882. I. 47
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738 Unfer e geit. ____
flohen. Dberft SDtoneß fottte bie gront, ©eneral Safer mit 2000 SJtann bie
glanfe bcr feinblicßen Stellung angreifen, ©in gemifeßte« Detacßement ßatte ben
SRücfen biefer Gruppen ju ficßero, mäßrenb bie ©apaleriebrigabe bereit gehalten
würbe, unt eingreifen ju fönnen. Dßne große Serlufte tourbe bie $öße genommen,
©inen fernerem Stanb ßatte aber ba3 Detacßement, meleße« beauftragt mar, ben
Süden ju fiesem; erft ba« ©ingreifen ber Gabalerielmgabe befreite baffelbe au«
einer Übeln Sage unb ßinberte bie gnfurgenten, bie Stabt felbft ju betreten. Die
Druppen biouafirten auf bem ©efedßtsfelbe. Slm SRorgen be« 14. jeigten fi<ß auf
ben £>ößen üon ®oß4=Sl«mai, einem meit in bie ©bene Porfpringenben Stuöläufer
be« §inbufuf(ß, größere SDioffen be$ geinbe«. Die #ößen maren 1—2 Kilometer
bom Säger entfernt, unb fomit mar eine Vertreibung ber Slfgßanen bon benfelbcn
bringenb geboten. Die Stbßänge be« Serge« maren feßr fteil unb mit gelöblöden
überbedt. Der Sanb mar mit einer Sruftroeßr gefrönt; ßinter bemfetben fiel ba«
Derrain mieber ab, um fi<ß ju einem fteilen, aber nießt übermäßig ßoßen Serg=
fege! ju ergeben, ©eneral Safer fottte bie Stellung neunten, unb mürbe ißm ein
Detachement, au« Dßeilen ber beiben $ocf)Iänberregimenter unb be« fßenbfcßab*
regiment« beftetjenb, bem 10 ©efeßfiße beigegeben maren, unterteilt. Unter
bem geuer ber ©efeßüße formirten fieß bie Druppen 311 m Singriff, bie ©efeßüße
toarett feßr gut placirt, unb fonnten bis furj t)or Seginn be« eigentlichen Sturme«
ißr geuer unterßalten. Der Sanb mürbe genommen unb bie größte SDtaffe ber
gnfurgenten jerftreutc fieß unb fueßte fi'abut ju gemiitnen. gn bet ©bene martetc
ißrer bie inbifeße ©abalerie, bie oßne große SDtüße bie Scßmärme ber glfießtlinge
naeß allen Sicßtungen au«einanberfprengte. ©ine fteine Slbtßeilung ßatte fieß
aber auf bie oben ermaßnte ffitppe jurüefgejogen, bie bureß eine tiefe, fteil ein*
gefeßnittene Scßlucßt non bem eigentlichen ©ebirgöfamme getrennt mar. Sei bem
Sildjuge in biefe fßofition ßatten biele Slfgßanen ober „©ßaji", mie mir fie eigent*
ließ nennen müffen*), ißre ©emeßre fortgemorfen, fobaß bie borrüdenbe 3 itfanterie
menig geuer erßielt. Die Sertßeibiger faßen bon allen Seiten ißre Serftärfungen
im Stnmarfcß, bie bureß bie ©eftaltung be« Derrain« ben ©nglänbern ni<ßt fießt*
bar maren. Diefe« fomie ißre Stellung ließ fie bon neuem SDJutß faffen, unb in
ber Dßat beburfte e« erft be« falten Staßle«, um fie au« ißrer Stellung ju ber*
treiben. Stuf ba« ergiebigfte ßatte bie ©ebirgöbatterie bie Infanterie bureß ißr
geuer unterftüßt; gleich naeß ©innaßme ber erften fßofition mar fie ben Druppen
gefolgt unb fanbte ©ranate auf ©ranate in bie bießten Seßmärme be« geinbe«;
aueß jeßt maren bie ©efeßüße mieber rafeß jur Stelle. Sur ein folcße« für bie
Strtitterie atterbing« berluftreicße« #anb=in*£>anb*©eßen mit ben beiben Seßtoefter*
maffen fann für ben ©rfolg bürgen. Slber lange fottte bie Infanterie nicht im
*) ©inige Klottjen über ba« SSort ,,(55ßagi" »erben bon Sntereffe fein, ©ßaja tft ein
Saubjug, ein ©treifjug, mit bem aud) bie Kämpfe 9Jioßammeb’« in $ebjaS Bezeichnet
»erben; fpäter würbe and) ©(jaja für einen ©tau6en«frieg gebräueßtid). ©ßaji (@in*
gular ghnzu, Serbum ghazaevat) ift ein Kämpfer für ben ©tauben, alfo nidjt ber Sieg«
veidje, mie ber Seinamc be« Sertßeibiger« bon Stern na, D8man«i|}afd}a, oft gebeutet
»nrbc. Sertßeibiger be« ©tauben«: „©ßajn et ebbin", iß litet be« türfifeßen Sultan«.
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Kfgpaniffan unb ber englifcp - afgpanifcpe Krieg.
739
©eppe ber gewonnenen #öpe bleiben; ein bon meutern fünften au« unternommener
©orftop gwang fie gum Stücfjug, ber unter bem geuer ber Afghanen ftattpnben
mupte. Die ©ngtänber Ratten eS nur bem Umftanbe, bap bie Afghanen mit ber
©iprung be« ©nibergewept« nicpt umgugepen berftanben, gu banfen, bap ipre ©er»
tufte nicpt übermäßig grop würben, ©erfucpe ber ©pagi, mit ber blanten SBaffe
borgubringen, Würben überall burdp ba« ruhige ©atbenfeuer ber Infanterie unb
burcp bie woptgegietten ©cpüffe ber ©ebirgSgefdpüpe blutig abgewiefen, fobap man
äße ©erWunbeten auffefen unb mitnepmen tonnte. Seere SKunttionöfaften patte
man aber fdpon gurüdftaffen muffen, um fämmttidpe Xragtpiere gum Iransport
ber ©eftpüpe gu benupen. ®ie ©erlufte in ber ©atterie mehrten pdp, fobap man
gulept gwei ©efcpfipe fielen taffen mupte. S)er SReft ber ©atterie würbe fofort
nadp bem napen Säger gefanbt, ba ipr ©teiben gteidpbebeutenb mit ©ertuft war,
unb berfetbe nid^t burdp ben erlangten Stupen aufgewogen werben fonnte. An
ein 3nrüctf(^affen burdp bie Infanterie war nidpt gu beuten, ba aucp ipr Stürfgug
ftart bebropt Würbe. 33 ie Angapt ber lobten unb ©erwunbeten ift teiber in ben
©efecptSberidpten nicpt angegeben; gewip modpten bie Sertufte bie früpern um ein
©ebeutenbe« übertreffen.
©in engtipper Dfpgier, ber biefen Kampf mitgemadjt fiat, feilte bem ©er»
faffer mit, bap bie ©ompagnien feine« ©ataiflon« nadp biefem läge nur nodp
bur<pfcpnittli(p 16 Stötten gäplten, fobap man bie ©tärte biefe« ©ataiflon« auf
300 ©ombattanten normiren tann.
Stöbert« ertannte, bap eine fotcpe Kriegführung feine fcpwadpen Kräfte binnen
furgem aufreiben müffe, unb bap man bie ©pagi nidpt mit ben Aufgeboten, bie
man bei Ifdparapab befiegt patte, auf eine Stufe pellen bürfe. 3>a Ipeile ber
libifion 30 unb 40 Kilometer weit bon ©perpur entfernt ftanben unb nur Der»
einte Kräfte einen ©rfotg erringen tonnten, fo befcplop Stöbert«, bie gange ®ibi»
pon in ©perpur gu bereinen, wa« im Saufe be« 16. beWerffteßigt Würbe. Kabul
unb bie ©atapiffar würben geräumt; man patte bort nidpt geringe ©tunitionS»
borrätpe gurücftaffen müffen, bie ben ©pagi in bie $änbe peten. Kaum patte
bie tepte Abtpeitung Kabul bertaffen, al« autp fdpon bie Snfurgenten bie ©tabt
betraten, in peßen Raufen bie ©trapen burcpgogen, um Stadpe an ben Wirtficpen
ober bermeintticpen Anhängern ©ngtanb« gu nepmen unb bie ©agare gu ptünbern.
Sieben Abbufla=3an patte bie fdpon bejaprte Xodpter Atbar»Kpan’« bie Seitung
ber Aufftänbe übernommen unb ipren gangen @<pmuct ber ©ertreibung ber ge»
ringpi« geopfert. 3Pr ©rfdpeinen in boßer Stüftung, mit ber gapne be« ©ro=
ppeten in ber $anb, in ben ©trapen ber ©tabt begeifterte bie ©ewopner nnb
rief mandpen SEBanfelmütpigen gu ben gapnen. Am Abenb be« 15. war ©perpur
eingepptoffen, bie Xelegrappenberbinbung mit ©ritifcp»3nbien unterbrochen unb
Stöbert« eingig unb aßein auf feine eigenen Kräfte angewiefen.
geften Auge« fap er bem napenben ©türme entgegen; er patte ©orteprungen
getroffen, ipm wirffam begegnen gu fönnen; ©robiant unb gourrage Waren in
reicpem SJtape borpanben; nur nodp wenige läge Arbeit, unb bie SBerfe ent»
fpra(pen aßen Anforberungen; afle Au«fidpt war borpanben, bap er pdp im
ungiinftigften gaßc bi« gum grüpling bertpeibigen fonnte, wenn ni(pt fdpon
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7^0
Unfere
früher ihn bie ©rigaben ®ough unb Slrbutfjnot ber S^bercolonne entfett ^abeti
mürben. Die erftere follte unter SurüefTaffung ber Seite unb ber großen ©agage
fofort ontreten unb bie ©rigabe Slrbuthnot i§r folgen. Die übrigen (Stoppen*
truppen, beren ißlafc burcf» Druppen aus gtibien auSgefütlt werben follte, Rotten
auf ber ganjen Sinie aufjufchliefjen. 3m ganzen waren biefeS 17000 Eom*
battanten mit 54 ©efdjüfcen. Die ©rigabe Slrbuthnot erhielt aber fe^r halb
Gegenbefehl, ba man erfahren hotte, bafj Gmiffare bie fihh&erftämme aufguwiegeln
berfudjten. (Sine ©erwenbung ber in Sanbaljar ftehenben Druppen würbe bor*
läufig nicht beabfuhtigt, ba man über bie ©ewegungen Slpub’S nicht orientirt
War unb über feine ©lane bie Wiberfpredhenbften Stachridjten erhalten h°tt e *
Stach SluSfage einiger follte er fidj im bollen SDtarfdje auf Äanbahar befinben;
anbere wollten hingegen wiffen, bafs er bon feinen meuterifchen Druppen gefangen
gehalten werbe. 3u Äanbahar fetbft blieb alles ruhig.
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üDü tytxbtxi &ytnctx'%.
Son
4Frtebridj non fiaerenbadj.
SaS phitofophifdje Sntereffe bot fidj unter ben ungünftigen Stufpicien, toclc^e
bie weitgehenbe SlrbeitStheitung auf ben nteiften toiffenfc^aftlicfien gorfcbungdgebieten
unb ber burdj bie ©hftematifer bet SRetaphhfif fetbft b«»orgerufene Sßiberwide
gegen ade metap^^fifc^e ©peculation fchaffen mußten, in neuefter 3eit faft aus»
fcßtießlich ben Problemen ber phhfiotogifchen ^Pftjc^otogie, ber wiffenfchafttichen
Sogt!, ber Erfenutnißtheorie Qntimctap^tjfifc^er Sichtung jugewenbet. Studj h' er
finb bie tücbtigften Slrbeiter Sngfttich bemüht, ben Bufammenhang mit ben Statur»
wiffenfcßoften Wie überhaupt mit ber wiffenfchafttichen ©peciatforfchung unb mit
bem ejacteu Eatcut, Wetten eine gtüdtiche Seaction gegen bie intuitive unb un»
biSciptinirte Senfweife Dieter SDtetaphhfifer in einzelne Gebiete ber ißbitofopbie
eingeführt bot, nicht $u üertieren. Sie ©arote beS ©ofitioiSmuS in ben „(Seiftet
Wiffenßhoften" ift auch Don folgen kentern, welche feiner Schute ber fogenannten
Philosophie positive angehören, aboptirt worben.
SBie im Sehen altes hinter bem ©oftutat beS höchften Stufend für bie Suj}=
nießer, tritt in ber SSiffenßhaft altes h'oter bem rein tbeoretifchen Sntereffe an ber
©ereicherung ber Xbatfa$enfenntni£ jurüd. SSag bies feine cutturgefcbicbtticbe
©eredjtigung hoben: bie Stufgaben ber Eutturarbeit finb bamit fo wenig erfchöpft
Wie bie Stufgaben ber Senfarbeit. SfrtSbefonbcre ginge bie ©hitofophie eines
großen ©erufs Derluftig, wenn fie ftch ber Söfung berjenigen Stufgaben entfchtüge,
welche Don feiner anbem SiSciptin getöft werben fönnen. 3u biefen Stufgaben
gehören, last not least, bie ©robteme ber Ethif.
SaS ©erbienft ber ejacten wiffenfchafttichen Strbeit, ber empirifdjcn gorßhung,
ber auf ©erechnung unb ftricte ©eweisführung gegrünbeten Iheorie bteibt in
Ehren beftehen. Sie StuSßhtießtichfeit, baS rein theoretifche 3>ntereffe in ber
SBiffenßhoft fteht außer Srage.
Ser gortfdjritt ber wiffenfchafttichen Erfemttniß auf alten ©ebieten ber gorßhung
ift ber mächtigfte $ebet für ben gortfchritt ber Euttur. ©ein Einfluß erftrecft
ftch ouf ade menfdjtidjen Sejiehungen, mittelbar ober unmittelbar, bie fittticße
Entwidetung nicht ausgenommen. Sie ßtjeinbaren SBiberfprüche Derringem ß<h
ober Derfchwinben Dor bem mafroffopifchen ©tid, ber nicht an bem Einzelnen
haftet, fonbern ganje Seihen Don Xlfatfachen unb Urfachen im .ßufammenhang erfaßt.
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7$2
Unfete ^eü*
©teidjwot überzeugt un! leicht bie Betrachtung be! erjieljerifdjen ©inftuffe^,
toel^en bie toiffenfdEjafttidfjen ©eftrebungen auf alte Sdjidften bet moberaen ©efell=
fdjaft gewonnen ffaben, bafj nidjt äße! gettjan ift. $ie Sücfe ift fic^tbar unb
fühlbar in bet ©^itofopljie unb int ßeben. $ort, wo an bet Ausfüllung berfetben
gearbeitet werben folt, in ber praltifdjen @rjief)ung wie in bet Xljeorie bet
©äbagogil, wirb ba! Sfatereffe ber Itjätigen natjeju gänjtidj burdf) anbete 93e=
flrebungen, öorwiegenb burdj bibaltifdfje Stagen, abfotbirt.
®a! intettectueKe Sntereffe überwiegt unb oerbrängt ba! ettjifcfje, ba! tedjnifdj*
praltifdfje ba! moratifcf)=praftifd)e. Sn bet wiffenfdjafttictjen Sorf^ung, im ejracten
Ealcut, in bet reinen Xtieorie ift biefe Xenbenj geboten, untiermeiblid); in bet
Jecfjnil fetbftoerftänblidj; im ©anjen menfdjlidjen Streben!, in ben ©runbfäjjen
be! $anbetn! unb in ber ßebettSfüljrung ein 3eidjen einfeitigcr ©ntwidelung, eine
Urfadjje jaljlreidljer $iffonanjen, welche ben fitttidjen Sortfd^ritt in S*fl0 £ ftellen.
Wo nid^t gar al! Utopie erfdjeinen taffen.
$a! ©ebfirfnifj einet grofjen ©emeinbe benfenbet UKenfdjen fudfjt unb finbet
leinen ©rfa|} in ben Safeungen eine! pofitioeu ©taubenSbelenntniffeS. Sfit bte
©egrünbung praltifdljer SRormatibgefefee unb etljifdfjer ©rincipien teiftet ber gort=
fcljritt ber „SrfaljrungSWiffenfcljaften" unb ber Xed|nif nidjt alles. ®S bebatf
einer ©rüde, wetdfje ben 3ufatnmenljang mit bem gütigen ßeben Ijerfteltt, einet
9iedE)tSqueIIe, au! welcher ftdfj jene ©efefce unb ©runbfäpe ftropfen ober ableiten
taffen.
®ie ©äbagogil lonnte ftdfj biefe! 3uf a wment)ange§ nie Oöflig entfd)tagen.
$erbart weift bei jebem Anlafc auf benfetben Ijin. ®ie ©ociatwiffenfdjaften
fönnen üon iljren Anfängen an bie etljifdfje Uenbenj nicht üertcugnen. 0f)ne bie
©ewinnung ettiifdfjer ®efid)t!punfte unb ©rincipien ermangelt ihre Arbeit be!
f)ö<f)ften 3wede! unb be! widitigften praltifcfjen ©erufS. @! ift leine BufäHigleit,
bafj 3)enfer oon unioerfater ©ebeutung fich ber Searbeitung ber etljifdjcn ©ro*
Meine nicht entfdfjtagen mosten. S n ber ©Ijitofopljie ffanf! ift bie lenbenj jur
©tljil in bem SRafje unüerlennbar, baß fich orttjoboje Anhänger unb ©egner mit
gleichem Unrecht berfetben jur SJtiSbeutung feiner tljeoretifdljen ©Ijitofopljie bebienen.
2)ie antljropologifdfje ©Ijitofopljie, welche fich bie Unterfudfjung ber ©efefce ber
menfdljtidljen Drganifation, ber ©efefje be! ©rlennen! unb ber ©efefee be! ©Sotten!
jur Aufgabe macfjt, jeigt fdjon in iljrer ©runbtage bie lenbenj jur ©tljil, Wetdje
einen ftaupttljeit ifirer Aufgabe beftimmt.*)
Son mancher Seite wirb ber ftiflfdjweigenbe ©erjidjt Dieter jeitgenäffifdfjer
©Ijitofopljen auf ben ©erfudlj einer ßöfung ber etf)ifdfjen ©robteme baljin gebeutet,
bafj ebenfowot ber ©mpiriSmu! at! au<h ber ©ofitibiSmu! in ber ©ljitofopt)ie ben
©ebraudfj ber teteotogifdjen unb ber normativen ©rincipien (ber 9tormatiogefe|e
unb ber ©oftutate), bamit audfj bie ©tljit auSfdjtiefje. SRadf) anbern ftet)t unb fällt
bie ©tljil mit ber SRetapljpfil, wobei teuere oljne weitere! mit ben XranSfcenben^
teuren ber Ijifiorifdjen 2RetapIjt)fil ibentificirt wirb. 3)afj bie! nicht ber Satt ift,
*) Sgl. ftaerenbad), „©rolcgomena ju einer ant^ropologtfi^en ©^ilofopbie" (ßcipjig
1879), XXXI, 133 fg., 138.
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Die <£t!jtf fjerbert Spencer’«.
7^5
bemiefen fd)on bereinjelte moralpljilofophifche Berfudhe, welche toon Schülern be«
mobernen lßofitibi«mu« au«gingen. Xa« beweift neuerbing« Herbert Spencer
burch feine „Xpatfachen ber ©thif", toeldfje ben grunbtegenben Xljeil feiner (Stfjif
bilben foHen.
Xa« groß angelegte „Spftern ber fpnthetifdEjen iß^ilofop^ie" loäre fd^on im
Ißlane unboHeubet geblieben, wenn e« bie ©tlji! abgelebt ^ätte. Xer pljilofophifche
Stanbpunft be« 2lutor« mußte ba« 3ntereffe für feine Bearbeitung ber etlichen
Probleme gaitj befonber« erregen.
Xic Befpredjung berfelben ift auch be«haI6 zeitgemäß, ba Herbert Spencer
man^e jüngere ptjilofopljifche Slutoren ber ©egenwart, iu«befonbere bie Vertreter
be« neuem @mpiri«mu«, bielfach beeinflußt Ijat, unb ba in neuerer 3eit bie fpaupt-
werfe biefe« ^ilofop^en jum grüßten Xljeil in einer guten beutföen Bu«gabe
erfdfjienett finb.
Xer Slutor nimmt unter ben pljilofophifcheu SchriftfteHern be« Saljrhuubert«
eine fo namhafte Stellung ein, baß bie Slufforbcrnng jur Befcfjäftigung mit feinen
SBerfen bielfach ©el)ör finben bürfte.
3Bie feljr auch Herbert Spencer, in Uebereinftimmung mit ben Begrünbern
großer pljitofopjjifcljer Spfteme, bie SEBicptigfeit ber ©tpU fd^äfet, läßt fid) au« bem
Borwortc feine« neueften SBcrfe« entnehmen*): „Xiefen lebten Xljeit meiner Auf¬
gabe aber fyalte i<h gerabe für benjenigen, für welken alle borhergetjenben nur
bie ©runblage bilben foHen." @« ift bon 2lnbegimt feiner philofophifdfjen X^ätig-
feit fein ,,Ie|te« 3kl" gewefen, ba« „allen näher liegenben Beftrebungen ju ©runbe
lag: eine wiffenfchaftlicfje Bafi« für bie ©runbfäfce bon „gut" unb „böfe" im |mnbeln
überhaupt ju finben". @r Wollte barum, getrieben burch bie Beforgniß, baß er
an ber BoHenbung feine« Spftem« berfjinbert werben fönnte, biefe« „abfcijließenbe
SSBerf" wenigften« „im Umriß" au«arbeiten, ba „bie Ülufftettung bon ©efefcen be«
guten £>anbeln« auf wiffenfdjaftlicher ©runblage pm bringenden Bebürfniß ge=
Worben ift".
©ben jefct, „ba bie fitttiefjen ©ebote aHmählich immer meljr bie Autorität ber=
lieren, bie itjnett bi«ljer fraft ihre« bermeintlicfj ^eiligen Urfprung« pfarn, erfdjeint
bie Säcularifirung ber Sittlictjfeit burdfjau« geboten. Saum mag etwa« berbcrb=
lidfjere folgen liaben, al« wenn ein nicht mehr ptänglic^e« ©efefcfpftent berfätlt
unb au«ftirbt, bebor ein anbere«, paffenbere« an beffen Stelle pr 3tu«bilbung
gelangt ift, um e« p erfejjen". Xaram möchte Herbert Spencer bie „burch
ba« Berfdfjminben be« ©obe£ ber übernatürlichen ©thif gefdpaffene Stuft" burch
einen „ffiobej ber natürlichen ©thif" au«füllen.
. Xa« Bacuum ift borhanben. Xie einen galten bie 2lu«füHung für überflüffig,
bie anbern für unmöglich. Herbert Spencer ^egt ben ©lauben, baß baffelbe
an«gefttllt werben fönne unb müffe. Ueber alle anbern ^Softutate culturcHen unb
*) Bgl. „Xie Xpatfadjen ber (Stpil. Bon Herbert Spencer. Stutorifirte beutfdje 9luä«
gäbe. Bach ber jweiten englifdjen Stuägabe überfegt bon fßrofeffor Di\ S8. Setter" (StutU
gart, @. Schtoeijerbarffche BertagSpanblung [®. Roch], 1819).
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Unfere £eii.
m
»iffenfcpaftlicpen ©trebenS fteöt et bie gorberung bet ©runblegung einer toiffen^
fcpaftlicpen ©tpil.
@S liegt im begriffe bet ©tpil, bajj fxe baS ©einfoHenbe feftfteüt. ®ie
»iffenfcpaftlicpe ©tpil wirb, im ©egenfap ju anbern ©fernen bet SRoral, bas
©einfollenbe begrünben, info»eit eS jugteicp fein (ann, nicpt ißflicpten in abstracto,
fonbern erfüllbare ißflicpten. 2)enn „burcp Berbinbung mit ©efepen, bie nicpt
befolgt »erben (önnen, berlieren audj bie ©efepe, bie befolgt »erben lönnen, ipre
Slutorität".
$amit ift ber tritifcpe ©efidjtSpunlt feftgeftellt, bon »eifern bie wiffenfcpaft»
licpe ©tpil bie Seiftungen ber SRoralppitofoppen auf ipren Sßertp prüfen »irb.
®aS SBBerf über bie Ipatfacpen ber ©tpil bilbet ben erften ipeil ber „Sßrin*
cipien ber ©tpil", »elcpe baS „©pftem ber fpntpetifcpen ißpilofoppie" abfcpliefjen
fotlen. ®ie ©rgebniffe, ju »eichen ber Slutor in feinen loSmologifcpen, biologifcpen,
pfpcpotogifcpen, fociologifcpen Unterfucpungen gelangt, foüen ipre fc^Iieglic^e Sin*
wenbung in ber ©tpil finben. gn ber 2pat oerliert ber Slutor ben Sufammen*
bang berfelben mit ben ©runbtagen feiner Ißpilofoppie nicpt auS bem Sluge. 2)aS
Berftänbnifj feiner et^ifc^en ißrincipien fept bie ftenntnifj feiner fämmtlicpen
ppilofoppifcpen $aupt»etle, jum »enigften bie genaue Äenntnifj feiner biologifcpen
unb pfptpologifdpen Sepren borauS,
SBir mflffen bed^alb auf bie SEBerle jurütfweifen, beten Äenntnifj toomöglicp
ber Befcpäftigung mit feiner ©tpil borauSgepen foH, beten ©tubium aber aucp
aus bem ©runbe empfohlen »erben mnfj, »eil bie ©runbprincipien ber mobernen
©nttoidelungSlepre in benfelben jur Bearbeitung unb Söfung ber erlenntnifjtpeo*
retifcpen, biologifcpen, pfpcpotogifcpen unb fociologifcpen gragen perangejogen finb,
berart, baff biefe Iß^ilofop^ie mit Stecht als ber ausgeprägte $ppuS einer ißpilo*
foppie ber ©ntmidelung (Philosophy of evolution) bejeicpnet »erben fonnte. Sein
neuerer Berfucp einer Staturppilofoppie, lein Berfucp einer „ißpilofoppie beS ®ar*
»iniSmuS" pat mit gleicper ©onfequenj unb Bollftänbigleit bie ©rgebniffe unb
bie Hppotpefen ber mobernen Staturwiffenfcpaft jum Slufbau einer Ißpilofoppie auf
naturtoiffenfcpaftlicper ©runblage bertoertpet.
®a ift Oor allen auf bie „©runblagen ber ^Jpilofoppie" pinju»eifen, »elcpe
jur ©infüprung in biefe ißpilofoppie bienen unb ben ppilofoppifcpen ©tanbpnnlt beS
SlutorS in Hinblid auf alle Hauptgebiete ber »iffenfcpaftlicpen Unterfudpung be»
ftimmen.*) Dies SBerl unternimmt ben Berfucp einer unioerfeüen Sln»enbung
ber naturmiffenfcpaftlicpen ©runbgefepe unb Hppotpefen auf alle ©ebiete unb
Hauptprobleme beS »iffenfcpaftlicpen DenlenS, inbem es jugleicp bas ©nt»idelungS*
princip »erattgemeinert unb jum unioerfalen ppilofoppifcpen ©runbprincip macpt
©S nimmt jnnäcpft bie Slrbeit ber fritifcpen iJSpilofoppie auf, inbem es baS ©ebiet
beS „©rlennbaren" gegenüber bem „Unerlennbaren" abgrenjt. ©s berfucpt „bie
*) ®flt- „©runblagen ber Stjtfofoppie. Bon Herbert Spencer. äutorifirte beutfcpe
Ausgabe. Sftad) ber bierten englifdjen Auflage überfept non Dr. S8. Setter" (Stuttgart,
C. Sdjmeijerbart’fcpe BertagSfjanblung [®. ftocp], 1875).
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ogIe,J'
Die (gtfyif Herbert Spencer’s.
7^5
eittgig mögliche Verföljnung bon SBiffenfchaft unb Religion" burch Einführung
auf ben „gemeinfamen ©tauben an'baS Slbfolute, ba$ nic^t bloS baS menfdjiliche
SBiffen, fonbern auch baS menfdjtichc ©egreifen überfteigt". ©S fteßt weiterhin
„bie ©efefce beS ffirfennbaren" feft, baS finb jene „höcfjften Verallgemeinerungen",
Welche „fämmtlich ttic^t bloS je für eine, fonbern fär alle klaffen bon ©rfcheinungen
©eltung haben".
8tn biefe erfenntnijjtheoretifche unb naturp^itofop^ifc^e ©runblegung fc^Itefeen
fich int „©pftem ber fpnthetifchen «ß^ilofop^ie" bie „fjjrincipien ber ©iologie".
SluSgehenb bon ben allgemeinen ©rgebniffen ber unb ber ©hemie, ferner
bon ben ttridjtigften ©eneralifationen ber Slaturgefchichte, ber Anatomie, ber fßhb*
fiologie, entwiclelt btefeS Ser! bie VeweiSgrünbe für bie „©ntWidelungShbpothefe"
beljanbett bann bie morphologifche unb bie p^pfiologifd^c SluSbilbung, fdjtiefj=
lid) bie ©efefce ber Vermehrung.*)
3n ben „fßrittcipien ber Ißfpt^ologie" Werben bie allgemeinen Verbinbungen
bon ©eift unb Seben, bie empirifdj feftgefteüten ©efefce ber pfpc^tfc^en Phänomene
beljanbett. Herbert Spencer berfucht inSbefonbere gu geigen, bafj bie Slufeinanberfolge
ber VeWufjtfeinSguftänbe einem gunbamentalgefej} ber Üterbenthätigleit entfpridjt.
$)ie übrigen 'Steile beS SBerfeS enthalten pfpchologifdje Slnalpfen unb bie S16*
Ieitung ber allgemeinen ©rgebniffe, welche für bie ©ociologie unb bie ©thit bon
©ebeutung fittb.**)
3« ben „ißrincipien bet ©ociologie" ftnb auf ©runb umfaffenber antljro=
pologifdjer unb ethnographifdiet HJtaterialien bie elementaren ©ebingungen unb
©egteiterfcheinungen ber focialen ©ntwidelung, bie pfpchifthen gactoren, wie bie
natürlichen ©ebingungen beS umgebenben SDtebiumS, fowie bie aus ber Vergleichung
berfchiebener ©efeDfdjaften unb ©ntwidelungSphafen gewonnenen ©eneralifationen
bargefteHt, ferner bie elementaren Phänomene unb bie ©ebingungen ber häuslichen,
potitifchen, fachlichen, ceremonieQen, inbuftrieüen Organisation, fdjliejjlich ber
jprachtiche, ber inteüectuelle, bet äfthetifche unb ber ethifdje gortfchritt.***)
Sille biefe SBerfe enthalten grunbiegenbe Unterfuchungen, aus Welchen biejenigen
©eneralifationen gewonnen werben, auf bie in ber ©thif eine „wahre 5£heorte
übet baS redjtfchaffene Seben" gegrünbet Werben foH.
®S ift nicht unferS DrteS, auf bie ©ingelljeiten ber grunblegenben SBerfe hie*
näher eingugehen ober ein allgemeines Urtheit über bie ©ebeutung berfelben für
ben gortfchritt in ber philofophifdjen ©rfenninifj auSgufpredjen unb gu motibiren.
©S muh genügen, auf ben innern Bufammenhang ber einzelnen Eauptwerfe ^itt=
gu weifen, welche burd) baS eootutioniftifche ©runbprincip als Steile eines grofj
angelegten «SpftemS gufammengehalten werben; auf ben feltenen UnibetfaliSmuS
*) Vfll- „®ie Srinctpien ber Siologie. Von Herbert ©pencer. Äutorifirte beutfcbe
SluSgabe. Stach ber streiten engltfchen Auflage überfept bon Dr. 85. Setter" (Sb. 1 u. 2,
Stuttgart, 6. ©ebtoeigetbatt’fcbe SertagSbanbtung [@. ffiodj], 1876).
**) Sgl. „Principles of Psychology. By Herbert Spencer" (1870).
***) Sgl. „$ie Stincibien ber ©ociologie. Son Herbert ©pencer. Slutorifirte beutfcbe
SluSgabe. Son Dr. S. Setter" (Sb. 1, Stuttgart, @. ©djroeigerbarffcbe SertagShanblung
[«. Äoeh], 1877).
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Unfere 3*tt.
7^6
ber wiffenfchaftlidjen ©Übung, auf bie ftupenbe ©elehrfamleit biefeS Stutorö, bet
in biefet |>inficht mutatis mutandis mit Slriftoteleö tierglicfjen werben fönnte; auf
bie »fülle öon ©elehrmtgen, toeld^e bet 3nljalt bet umfangreichen SSettc auch bent-
jenigen gewährt, bet bas ©runbprincip biefeö ShftentS al$ uniöerfaleö ©rittet})
bet ©hilofophie nicht gelten taffen will.
Soweit e$ ftch um bie Stellung bet Aufgabe in ganj allgemeiner Sorm ^anbett,
ift ein emftlicher Streit (aum möglich. Sie @t£»if ift für jebe Schule unb non
jebem Stanbpunlt in Tester ^nftanj eine normative Siöcipliit, welche nicht ©efefce
beS Seienben, fonbent Siegeln ober ©efefce be$ Seinfotlenben, b. h- nicht ©efefce
be3 ^anbelnö überhaupt, fonbetn einet beftimmten Strt be$ $anbeln£ fefifietlt.
2Sie bie ßogif bie Stormatiögefehe unb ©oftulate für bie wiffenfehafttiche ©rfemttnifc,
begrünbet bie @tf)if normatioe ©rincipien für baö techtfchaffene (fittliche) ßeben.
Sie Xheorie öon einet beftimmten Slrt beS £anbeltt$ fefct eine allgemeine
Sljeorie beS |>anbeln3 öorauö. Saher betrachtet Herbert Spencer juerft baö
$anbeln im allgemeinen als „ein organifcheö ©anjeö, ein Slggregat" gegenfeitig
öoneinanber abljängenber |>anblungen, welche ein Drganiömuö auSfütjrt. „Sic^
jenige Slbtheilung ober biejentge Seite beö $anbetn$, mit welcher fi<h bie ©thif
befdjäftigt, bilbet einen £h e ü biefet organifthen ©anjett."
©om $anbeln finb öon öornherein „abfichtslofe 2hätigleiten“ auSgefchloffeu.
Stur „Bweden angepafjte ^anblungett" ober bie Stnpaffung öon $anbtungen an
Bwede gehören hierher.
Ser Stanbpunlt, welchen ber Stutor in feiner ©öotutionölehre einnimmt, wirb
in ber ©thif nicht öeränbert. @3 fcheint ihm öon öornherein „einleuchtend', bajj
öon „gleichgültigen $anblungen ju |>anblungen, bie gut ober böfe finb, ein ganj
allmählicher Uebergang ftattfinbet“. 2luch in ber ©thif fod baö höher ©ntwidelte
burch ba$ weniger ©ntwidelte erftärt werben. Sa3 Stubium ber ethifchen ©ro=
bteme fefct ba$ Stubium beö men[<f)tichen §anbeln3 im ganzen, unb biefeö bie
Äenntnifi beö ^mnbelnö ber belebten SBefen im allgemeinen öorauö. Sa3 Stubium
ber ©ntwidelung be$ $anbeln$ bilbet bie ©orbereitung jur ©thif.
Sa$ Stubium ergibt junädjft, bah „höhere organifdje ©ntwidelung öon höher
eutwideltem $anbetn begleitet ift". Sa8 lefctere ift „eine öeröolllommnete Sliw
paffung ber $anbtungen an Bwede, bie nicht allein bie ©erlängerung be$ ßebenö
beförbern, fonbern ganj honptfächftch Öen Snlwlt beS Sebenö oermehren". Sa$
Raubein pafjt fich mehr unb mehr ben Beeden ber Selbfterhaltung unb ber 2lrt=
erhaltung an. Sluch h* ec gilt baS allgemeine ©ntwidelungöprincip. „Sa3 art*
erhattenbe £anbeln wächft gleich bem felbfterhattenben $anbetn allmählich aus
etwas heröor, was noch gor nicht ol$ $anbetn bezeichnet werben fann: ben
angepafjten $anblungeit gehen nicht angepafjte öorauö."
2Bie bie SetectionSljtypothefe auö einer Anhäufung Heiner Stbänberungen bie
jWedmäfcigen DrganifationSformen, läßt bie etljifche ©öolutioitölehre auf bem
gleichen SBege baS fittliche Raubein fich entwickln. Sie „obere ©renje" ber
©ntwidelung wirb erreicht, Wenn bie 3lnpaffungeu bie Sebenögeftaltung aller, nicht
bloS einzelner, möglichft jwecfmäfcig, möglidjft befriebigenb gemacht hoben. Sa$
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Googli
Die €tytf f)erbcrt Speneer’s.
7*7
artertjaltenbe Spanbetn !ann baher beit |»fl^epun!t feinet Gntmidelung nur in
„bauernb frieblic^en ©efedfchaften" erteilen, bo „eine Berfaffung, hielte inter¬
nationale Singriffe begünftigt, auch Singriffe bet Snbioibuen gegeneinanber begiinftigcn
loirb". ©ne Stnnäherung an jene DoHfommene Slnpaffung non $anblungen an
3»ede, »eiche bem wahrhaft moralifchen ^anbeln gleid)lommt, ift batjer erft
möglich, ,,»enn ber Stieg immer mehr abnimmt unb ganz berfch»inbet".
9Rit biefem Proteft gegen ben mobctnen SRilitariSmuS oerbinbet ber Slutor
bie Sliterlennung beS ethifcheti SBertljeS ber inbuftrieHen ©tttoicfelung. Gr gelangt
ju bem Grgebniß, baß „baS £anbeln in bemfelben SRaße Slnerlennung oon feiten
ber Gtt)il finbet, als bie X^ätigfeiten beS einzelnen immer meniger friegerifdj unb
mehr unb mehr inbttftried »erben, unb bemgemäß nicht nur feine gegenfeitige
Befähigung ober Berhinberung nad) fich gieren, fonbern oielmeljr mit 3ufammen=
mitten unb gegenfeitiger $ülfe oereinbar ftnb, unb baburdj felbft geförbert
»erben".
3n bem Slbfdjnitt über gutes unb böfeS fpanbeln oerfudjt Herbert Spencer
junädjft bie Bebeutung ber Bezeichnungen „gut" unb „böfe" feftjuftcUen. Bor
adelt erffeinen ißm bie ben 3»eden richtig angepaßten |>anblungeu als gut, bie
nicht richtig augepaßten als fdjledjt, mobei beibe Bezeichnungen nur im relatioen
Sinne genommen finb. Das gute Raubein ift mit bem entmicfetten 4?anbeltt
ibentifdj, meines „gleichzeitig bie größte Summe beS SebenS für ben einzelnen,
für feine 9ladjfommenfcljaft unb für feine SRitmenfchen zu Stanbe bringt".
Der Slutor polemifirt mit oder Sraft feines SBijjeS gegen bie peffimiftifcheu
Urteile über ben SBertlj beS SebenS, toelc^e im greden SEBiberfprudj z u iebem
Paragraphen beS ungefchriebenen moralifchen Gobej ber iDlenfihheit ftehen. Gr neigt
Zur Sinnahme eines eingefdjränften Optimismus. SRit Stecht betont er, baß Peffi*
miften unb Dptimiften adgemein in einem Poftulat übereinftimmen. SBeibe Par=
teien „nehmen es als felbftoerftänblich an, baß baS Seben gut ober fdjlecht ift,
je nadjbem es einen Ueberfchuß oon angenehmen Gmpfinbungen mit fich bringt
ober nicht.... Beibe machen bie Slrt beS GmpfinbettS, »eiche baS Seben begleitet,
Zum Stichler barüber".
Gine ganz adgemeine Betrachtung ber ftreitenben SebenSauffaffungen führt ben
Slutor zu ber Ueberzeugung (bie er als „unleugbare Dh at f a( h e " bezeichnet), baß
„baS Gute ganz adgemein bas Grfreuenbe ift"; baß unfere Borftedungen Oon
gut unb böfe „in ber Dh at fl uS unferm Bewußtfein oon ber ©emißheit ober ber
SBahrfcheintichleit entfpringen, baß biefelben irgenbmo greuben ober Seiben heroor»
rufen »erben".
Die Betrachtung ber SReinung berfdjtebener Genfer unb Schulen, »eiche bie
Bodfommenheit, bie Dugenb, bie Stechtfchaffenheit als Kriterium beS guten $anbelnS
erfennen »odten, führt ben Slutor zu ber Ueberzeugung, baß bie Definition biefer
lefctern ftets auf ben „fnnbamentalen Begriff ©tüd" hinauSfüfjrt. „Seine Schule
alfo tann ftch bem entziehen, als höchftes moratifcheS 3»l einen begehrenswerten
©efühlSzuftanb hinzufteden, mit »aS für Stamen immer berfelbe bezeichnet »erben
mag: Befriebigung, greube, Seligleit, greube irgenbtoo, zu irgenbeiner 3eit, Oon
irgenbeinem ober Oielen SSefen erfahren, ift ein nicht zu OerbrängenbeS Glement
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Unfete &W.
7<*8
bet Borftettung. ES ift bieS ebenfo fehr eine notljwenbige Sonn bet moraliften
Intuition, wie bet Baum eine nothwenbige Sonn bet inteHectuetten Intuition ift"
2)ie Stbhanblung über tierftiebene Beurteilungen beS fjanbelnS enthält
treffenbe fritifdje Bemerlungen übet bie ©runbprincipien öerftiebener moral»
phitofophift et Shfteme, inSbefonbere übet bie Hnßdjten tion 2triftoteleS, ißlaton,
£ob6eS. Bitt mit Unrett wirb ben befanntetn Bearbeitungen bet Ethil bet
SRangel ober bie Bernadjläffigung beS „Iefcten eaufalen BufamntenhangS" bot»
geworfen. 2tut bejeitnet ber Slutot in einem an 3o^n Stuart 9Ritt gerichteten
Streiben ben b^rrftenben Utilitarismus bloS als ein StnfangSftabium bet Wiffen»
ftaftliten Ethil, als eine Borftufe für bie höhere Sorm beS Utilitarismus, Welte
in biefer Ethil jur Entfaltung fommt.
®a bie Ethil fit mit bem Raubein bet oergefeüftafteten menftlit en SBefen
beftöftigt, rnufj fie ihre ©runbmahrheiten benjenigen 2)iScihIinen entlegnen, Welte
bie ©efefce bet Dtganifation unb ber Sljätigleit jener SBefen entwitfeln, ber B^fil,
ber Biologie, ber Biologie, bet Sociologie.
2)amit ijt ein oietfater Stanbpunlt ber Betrattung gegeben: ber ji^ftfalifte,
bet biologifte, bet pfhtologift £ , bet fociologifte Stanbpunlt.
ift nitt mehr als folgerittig, bafj eine Ethil, Welte bie erfüllbaren
Pflichten oergefellftafteter menftlit er SEBefen feftftellen unb aus ben natürtiten
Bebingungen fortftreitenber focialet Entwitfetung ableiten Witt, bei benjenigen
SBiffenftaften Bath futt, weite fit wit ber Erforftung biefer natürtiten Be»
bingungen bon toerftiebenen Seiten beftäftigen.
Eine folte Ethil ftliefjt bie Antinomie jwiften Baturgefe| nnb Sittengefefc
öon jeber Unterfutung aus. 2)er Eobef ber „natürtiten Ethil" batf leinen B«ra»
graben entölten, ber irgenbeiner 2tatfate ober einem gefehmäfjigen Bufammenhang,
weite bie iß^fil, bie Biologie, bie ißttologie, bie Sociologie feftgeftettt haben,
wiberftreitet. 2)aS fittlite £>anbeln muff unb lann fit nur innerhalb ber ©rennen
entwitfeln, bie für alle menftlit e Iljätigleit butt bie allgemeinen ©efefce bet
Bewegung, bet organiften Entwitfelung, bnrt bie befonbetn ©efe|e ber menft*
liten Dtganifation, bie ©efejje ber hfht°^hfif^ en unb t>hhf l ft en Sorgänge,
ftüeBIit bnrt bie fpecieHen Bebingungen bet focialen Drganifation gezogen ftnb.
ÜRetajthfift £ BorauSfefcungen unb ^hpothefen, weite jenen ©efefcen wibet»
ftteben, finb auSgeftloffen. B°ftulate, welche mit anerlannten Ifjatfaten unb
©runbfäjjen bet Slntfjrobologie unb bet ißfhtologie beS Blenften im befonbetn
unoeteinbar finb, finb abjulehnen.
ÜRitt ber SJienft als Bnbibibuum, toSgetöft aus bem focialen dufammen»
hang, aus Samitie, Bolf, Staat, ©efeüftaft, aut nitt ber äRenft ober bie
SERenfthtü in abstracto, als ©attung ober Slrt, fonbetn ber in bie ©efeüftaft
eingeglieberte üftenft, als focialeS Bnbibibuum, als ©lieb im gefefiftaftlidjen
Bufammenljang, ift baS Subject, für beffen fittliteS, ben oberften 3weden gefeü»
ftaftliten SebenS angepafftes §anbeln bie wiffenftaftlite Ethil normatiöe Brin»
ctpien feftftellen foü. Unb baS ift ber eigentlite ®em, bet fit aus bem
Baifonnement beS SlutorS biefeS üorbereitenben SEBerleS für bie üDletfjobe unb für
bie fhftematifte ©runblegung ber Ethil gewinnen läßt.
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Die (Etfjif Jjerbert Spencer’s.
7<k9
SSJir nennen eö ein oorbereitenbeä Seif, ba e§ ficfj mef)t mit ber Vorbereitung
als mit ber Surdjführung be$ ©runbpoftutatö befchäftigt. Herbert Spencer h Q t
jebenfalLs baS Verbienft, jur gormufirung unb bauemben Begrünbung beffelben
mit ebenfo biel Sdjarffinn wie äberjeugungöbodem ©ifer beigetragen p haben.
3unädjft galt ei bie Banbe, welche bie @tf)if an beftimmte metaptjhfifche Spfteme
gefniipft hatten, p lodern, um jene bon ben unwiffenfcljafttichen Vorauöfefeungen
unb Sogmen trabitioneder StanSfcenbenjlehren p emancipiren. Sobann mufjte
ber wiffenfdjaftlidje ß^arafter burch bie §erftedung beö 3ufammenhang£ mit ben
©runblagen unferer wiffenfchaftlidjen ©rfenntnifj ertoorben unb gefiebert toerben.
3n$befonbere mufjte ber engere 3ufammenhang mit ber Sfathropologie unb p=
börberft mit ber Vfpchologie tjetgeftedt toerben.
Somit ift bal Programm für bie Reform ober für eine neue ©runbtegung ber
©thil borbereitet Seine tranöfcenbente, fonbern eine immanente, feine metaphhfifdje,
fonbern eine anthropologifdjspfhdjologifche, leine inbibibual*pfhd|otogifche, fonbern
eine fociafepfhdjologifcfje ©runblage. Seine theologifdje, auch feine metaphhfifdje,
leine fpiritualiftifdje, auch leine (ftch fetbft wiberfprechenbe) materialiftifdje, fonbern
eine antljropologifdje ©tljif, Weldje intern Begriffe nach in testet Snftanj nur Social»
ffitljtl, leine 3nbioibual»©tljit fein lann.
Sie 3tibibibuat*©tljif ift enttoeber ein SSiberfinn ober ein SBiberfprach in fidj
felfeer, ober fte bezeichnet einen ©ejtdjtöpunlt ber Betrachtung für baö ©anje ber
@tljil, bie ftetö ben in bie ©efedfdjaft eingegtieberten einzelnen äJtenfdjen ober ba£
3ufammentoirlen ber ©injelnen im ©anjen im Sluge tjat.*)
Stuf jebem Stanbpunlt ber Betrachtung gelangt Herbert Spencer p ©rgeb»
niffen, welche im roefentlichen burdj feine (SboIutionSletjre borfjerbeftimmt ober auö
berfelben bebucirt toerben tonnten unb toeldje jum Sheit eine bodftänbigere Sebuction
unb tiefere Begrünbung zugeiaffen hätten. Sa in bem Nahmen biefeS einteitenben
SBerleö eine umfaffenbe ^nbuction unmöglich toar, müffen toir unS bietfach mit
allgemeinen Bewertungen unb mit abgetönten Beweisführungen bepügen. Sodj
finb bie ©rgebniffe be$ Stutorö auch bort, too ihre Sarftettung bon feiner tiefem
Begrünbung begleitet ift, bon pofjem 3ntereffe für bie einbringtichere Bearbeitung
ber ethifchm Probleme, toelche toir bom Slutor felbft (in ber toeitem StuSfüljrung
feiner ®tljil) ertoarten bürfen.
SBenn bie fchtoierigften Probleme zuweiten borläufig nur obenhin berührt unb
nicht ade wichtigen Stagen in biefem Serie erörtert werben tonnten, fo entfdjübigt
ber Slutor für bie Berjögerung mancher wichtigen ßöfung ober Slufftärung burch
eine güde bon Stper^uS, welche ebenfo biele Beweife feines ©eifteSreichtljumS unb
beS fettenen UniberfaliSmuS feiner Senntniffe liefern, burch ben er bie meiftcn
Pitofophen unb ungezählte Specialforfcher ber neuem Seit um SopfeStänge über»
ragt, ©r entfchäbigt zumal burch bie mit Sachfemttnijj unb tritifdjem Scharfblid
au$gefüljrten pfhdjotogifcfjen Slnalpfeit, burch bie $erborljebung unb ©mppimng
berjenigen Shatfadhen, Welche für bie @tljil bon größter Bebeutung finb, für
*) ®gt //Sie ©ociaftoiffenfchaften in ber ©egentoart. Äritifdje Beiträge bon fjfriebricfe
bon Bacrenbadj" („Unfere Seit", SWeue golge, XV, 2., 909 fg.).
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750
Unfere <5eit.
manches 3ut>tcl unb 3“Wenig, baS [einem Sßerfe bon ©egnern feines StanbpunfteS
ober bon folgen ffleurtljeilern, welche in bemfelben außer bet motibirten gorberung
einer SReform bet ©tljif an Haupt unb ©fiebern, außer bet metßobotogifdjen ©or=
bereitung biefer Reform, außer ber ©egrenjung beS wiffenfchaftlidjen ArbeitSfetbeS,
ber ©eftimmung beS wiffenfchaftlicijen StanbpunfteS, außer werthboflen Analpfcn
unb ber 3 ufammenfteflung triftiger ©Materialien für bie ftyftematifcße Arbeit auch
bie präcife gormulirung unb ßöfung ber einjelnen etljifchen Hauptprobleme fuchen,
borgeworfen ioerben fönnte.
SaS hauptfächliche ©erbienft biefeS UBerfeS befielt bießeicht in ber fcfjarfen
fihritif ber unwiffenfchaftlichen ©Metljoben, beren [ich bie ©earbeiter ber ©tljif im
allgemeinen bebienten unb nodj bebienen, in bem SRadjweiS ber methobologifchen
©orauSfefeungen, bon welchen bie ©egrünbung einer miffenfchafttichen @tßi! abljängt,
in ber allgemeinen Sarfteßung berjenigen ©rünbe, welche bie wiffenfdjaftlidje
©eljanblung unmöglich machen ober fälföen, in bem ©adjmeis ber ljauptfä<$fi$en
AuSgangSpunfte, fdjüeßüch in einigen Analtjfen, mit melden ber Autor [eine ©Mit*
arbeit an bem eigentlichen Aufbau ber Sßiffenfdjaft felbft borbereitet unb beginnt.
SBir bertoeifen inSbefonbere auf bie Darlegung ber Stetatioität bon ßeiben unb
greuben, auf bie Abfdjnitte „©goiSmuS versus Altruismus" unb „Altruismus versus
©goiSmuS", in welchen ber Autor in baS ©runbproblem ber anthropotogifcßen
©tljif fteflenweife tiefer einbringt. IgebenfaßS ljat er fidj ein ©erbienft ertoorben,
inbem er bie ©riorität beS ©goiSmuS, bie Setbftaufljebung beS reinen Altruismus,
bie Abhängigfeit unb baS ©rgänjungSberljättniß beiber ©rincipien überjeugenb
barjutljun unb bie einfeitigen ©epauptungen unb gorberungen ihrer ©ertheibiger
31 t toiberlegen bemüht mar. Sie enblidje ©erföhnung beiber ©rincipien in einer
höhern ©inljeit folgert ber Autor aus feiner ©oolutionSlehre. Siefelbe entfpridjt
überbieS bem concifiatorifchen ober compromiffarifcfjen Stanbpunft, ben ber Autor
in ber ©tljif einnimmt, inbem er manche entgegengefefjte formen berfelben in
feiner ©tljif junt Ausgleich bringen miß.
Sie Abfdjnitte über abfolute unb relatioe ©thif unb über ben Umfang ber
©tljif enthalten bielfach treffenbe ©emerfungen über [fragen, welche feine ©orgänger
mit ©orliebe berna^lüffigt haben.
Sie ebolutioniftifdje ©Moral ift ihrer ganzen SMatur nach eubämoniftifch. SaS
©ute ift baS ©rfreuenbe. @S liegt nur an getoiffen moralifchen, theologifchen unb
potitifdjen ©inflüffen, baß „bie ©Menfcßen biefe SBahrheit überfehen". @S ift immer
bie ©orfteßung unb baS ©erlangen ber ©lüdfeligfeit, beS boßtommenen SBotjl»
befinbenS, welche baS gute Hanbefit nothwenbigerweife beftimmt, wenngleich nicht
immer auSfchfießlich baS Streben nach bem eigenen SBoljl. SaS fitttic^e ßeben
ift eine 9Meihe bon ©ontpromiffen jwifchen ©goiSmuS unb Altruismus, jmifchen
ben ©tücfSanfprücfjen beS 3<h unb ber übrigen. Aße anbern ©Moratprincipien
leiten ihre bebingte Scredjtigung bon biefem oberften ©rincip menfchlichen HanbefitS
her, welches ffant als bie ©egation aßer Sittlidjteit bezeichnet hot. Sie Sbec
ber ©oßfommenheit wirb auf benfelben ßtedjtstitel zurücfgefiihrt, inbem baran er¬
innert wirb, baß „Sähigfeit jnr ©eglücfung ben häuften ©eweis für bie ©ofl*
fommenhcit beS SBcfenS eines ©Menfchen bilbet". Annäherung an ©oßfommenheit
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Die (Ettjif Jjerbert Spencet's.
75'i
Gebeutet: „Stnnäherung on alle«, wa« üermetjrte« ©tüd fiebert." Slriftotele«, bet
ba« ©tüd at« ^öc^fte« Siet be« menfdEjlichen Streben« anerfennt, tfjut einen Schritt
bom Sege, inbem et ,,ba« ©tfid mit £mlfe be« Sorte« Xugenb gu befiniten fudjt,
ftatt bie itugenb mit $fltfe be« Sorte« ©tüd gu befiniten".
Stuf bem gewählten Stanbpunft ber ©etradjtung muß gugegeben merben, baß
„bet ©egtiff iugenb nicht bon bem SBegriff be« ©tfld ergeugenben ifjanbeln« ge»
trennt werben tann, unb baß, weit bie« bon alten lugenben gitt, fo berfdjieben
fie oudj untereinanbet finb, e« iljr ©ermögen, ©tüd ^etbotjubringen, ift, um
beffentwitten fie eben at« lugenben begeidjnet werben".
©ute $anblungen finb ihren Sweden bottftänbig angepalte $anbtungen. ®et
Sitte mag atfo immer burdEj ben 3*bed, burdj ben gewünfdfjten unb erwarteten
Erfolg beftimmt werben'! 2)ie $anbtung ift gut, wenn fie bem S^ed angepaßt,
böttig gwedmäßig ift. Setdje unüberbrüdbare Stuft gwifchen biefer ettjifdjen
3wedmäßigfeit«tetjre unb ber ffant’fchen SRorat, welche ben guten Sitten, bie fitt=
liehe SKafime niemat« burch ben 8w«df, fonbern nur burdj bie pflichtgemäße 3orm,
burch bie ftrenge ©efefcmäßigfeit beftimmen läßt!
@« mag non tjof)er Sichtigleit fein, bafj auf bie fitttidje Sebeutung gewiffer
notttommencr, gwedmäßiger, beftimmten 3*®e<fen angepaßter §anbtungen tjingewiefen
werbe. $odj fottte bann auch bie Statur biefer Stoede näher beftimmt werben.
®enn bie nottftänbige Stnpaffung an jeben bom ^nbibibitum in eubämoniftifetjer
Slbficfjt gefegten 3>ved bürfte an fich fdjwertidj fitttidjen Sertt) beanfprudjjen. 2)iefe
Stnpaffung ift gemeiniglich ein Sert ber Stugfjeit unb ©efchidtid|feit, an wetten
e« bem erfahrenen ©öfewicht nicht fehlt, ©efefct, bafj ber ©öfewicht ober ber
rüdftdjt«Iofefte ©goift fein ^anbetn feinem 3*»ede mit ber größten Stugheit anpaßt
unb alle übetn folgen einer für fich nerwerftichen ^anbtung mit ber größten
©efchidtidjleit unmöglich wacht; fo bürfte boch feine gweefmäßige unb feinem ©or=
theil bienenbe $anblung burdh i^tre SInpaffung unb ihr ©efultat nicht im Serthe
fteigen. ®« bebarf baher jebenfatt« ber nähern ©eftimmungen unb ber einfcfjrän»
tenben ©ebingungen, wenn überhaupt böttig gwedmäßige #anblungen unb gute frnnb
langen im ettjifdjen Sinne jemat« gleich gefegt werben fönnen.
$a« etljifdjc Kriterium wirb bietteicht auf einer ^ö^em Stufe gefudjt werben
müffen at« bie gortnel, welche Herbert Spencer oom biotogifchen Stanbpunft au«
entwidett: „2)er fitttidje SDtenfdj fenngeichnet fich atfo baburdjj, baß feine gnnc»
tionen... fämmttidfj gerabe in bem ©rabe au«gefüljrt werben, baß fie ben @jiftenj=
bebingungen gehörig angepaßt finb."
©om fociotogifcßen Stanbpunft au« wirb at« bie Stufgabe ber ©ttjil begeidhnet,
biejenigen formen be« #anbetn« barguftetten, welche „für ben gefettfcijafttichen 3»-
ftanb geeignet finb, unb gwar in ber Seife, baß ba« Seben jebe« eingetnen unb
alter übrigen feiner Sänge wie feiner liefe nach f° öottfommen at« möglich fich
geftatten fann". Sot wirb bie Sohlfahrt ber ©efettfdjaft at« eine« ©angen at«
bie nächfte unb wicfjtigfte Slufgabe betrachtet. Stttein bie „fociate Setbfterhattung"
ift nicht ber Icfcte 3wed. ®er (Snbjwed ift immer bie görberung be« inbioibuetten
Seben« unb Sohtbefinben«, welche eben am beften burch bie fförberung ber gefeit»
fdhafttichen 55ntercffcn bewirft wirb. So wirb bie fociate Setbfterhattung nur gu
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752
Unfere
einem nädjfttiegenben Btoecf. „ ®iefc Unterorbnung bet berfönUdjen unter bie
fociate SBohlfahrt ift jebodj eine jufäßige ©rfdjeinung: fie hängt ab bon bent ©or*
hanbenfein bon [ich belampfenben ©efeflfchaften."
SEBemt baS fociale Aggregat auf einet gewiffen $öhe bet ©utturentwidelung
nicht mehr gef ährbet ift, wirb audj bie „SBoljlfahrt bet ©inbeiten" bet unmittel*
bäte ©egenftanb beS ©trebenS. SaS tefete SBort hat unter allen Umftänben bie
eigene ©Ifidfeligfeit, baS inbibibueße 2Sof|I.
SaS ©ntwidelungSprincty ift baS unioerfate ©runbgefefc beS „©hftemS bet
fQntbetifdjen Iß^itofop^ie". @S erfd^eint in bemfetben als baS uniberfale SEBeltgefefc,
als baS ©efejj bet ©efefce. @S bebatf nicht bet fttengen ©ebote bet geoffenbatten
Religion unb bet tljeotogifdjen SJtorat, auch nicht ber ©ittengefefce, welche fich auf
unbegreifliche metaphhfiföe ©rincibien unb Annahmen ftö|en. Sie ©ntwidelung
bet menfchtichen Statut unb bet ©efeßfchaft bringt eS mit fich, bafi bie menfd) 5
liehen $anbtungen ben inbibibueßen unb focialen Beeden immer beffet angefmfjt
werben, bafi baS gute (arterhaltenbe, jwedmäjjige) $anbeln im Äampf umS Safein
mehr unb mehr baS fd^Ied^te (ben Beeden ber ©elbfterhaltung unb ber Ärt*
erhattung unboflftänbig angepafite) £anbeln überwiegt unb berbrängt. SaS Bwed*
mäßigere ift jugleich baS SebenSfähigere.
3ft baS SJtafj bet Slnpaffung an ben jeweiligen inbibibueßen ober focialen Bwed,
bet ©rab bet Btoedmäfjigfeit, baS Kriterium bet fittlidjen £anblung; fo hat bie ©itt*
lichfeit, bie Xugenb äße ©ortheile im föampf umS Safein auf ihrer ©eite. SSie
bet beffet angepafjte Organismus ben minbet attpaffungSfähigen übetbauett, fo
müfite baS fitttidje §anbeln im natürtichen ©erlauf bet Singe bie Oberljanb ge=
Winnen, unb baS unfitttiche ^anbeln mehr unb mehr auf ben SluSfterbeetat gefegt
Werben. Stad) fttengen Staturgefe|en müffen bieSfaßS bie hohem «formen bes
fittlichen ^anbetnS aus ben utfbrünglichen $anbtungen beS unfittlidjen SJtenfchen
fich entwicfeln, wie höhere OrganifationSformen aus niebern.
SSie bie lebensfähigen ober jWecfmäfjigen ©Übungen in aßen Reichen bet
Statut, Wie bie ©efammtheit bet ©rfcheinungen, bie SEBelt, fo ntufj auch bie
©ittlichfeit fich i* 1 medjanifcher SSeife bilben unb entwideln: farä da se!
„Stun ift es nicht bloS oernünftig, ju fchliefien, baß ©eränberungen gleich benen,
Welche im ©erlauf bet ©ibitifation ftattgefunben, auch fortan noch ftattfinben Werben,
fonbern eS Wäre gerabeju unbernünftig, baS ©egentheil ju Behaupten. Sticht bet
©taube, bafi bie Stnpaffung noch junehmen Werbe, ift abfurb, fonbern bielmehr bet
Bweifel an biefet üDtögtichteit. Ser SRangel an ©ertrauen auf eine berartige
SBeiterentwidelung beS SRenfchengefdjlechtS, bafi baburch feine Statut mit feinen
©ebingungen in ©inftang gebracht werbe, führt uns nur abermals eins ber jahl*
lofen ©eifpiele eines ungenügenb entwidelten ©eWufjtfeinS ber ©aufalität bor
Stugen. SEBet gelernt hat, fowol primitibe Sogmen als bie primitibe SlnfchauungS*
weife bet Singe jurüdjuweifen, unb inbem et wiffenfdjaftliche Folgerungen an*
nahm, fich biejenigen Senlgewohnheiten angeeignet hat, welche bie SSiffenfchaft
herborbringt,... wirb unmöglich glauben lönnen, bafi bie Vorgänge, welche bis*
her aße Sebewefen bergeftalt entfpredjenb ben Slnforberungen ihres SebenS um*
gewanbelt haben, bah fie in ber ©rfüßung berfelben ©efriebigung finben, nicht
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Die (Jftpf Herbert Spencer’s.
753
auch noch fernerhin in gleichem Sinn toirffam fein Werben. 3enen SppuS ber
menfdjlicpn Statur, welcpm baS pc^fte fociate ßeben genügenben Spielraum gewäpt,
um jjebeS Vermögen ben tljtn angemeffenen ©rab, unb nidjt mehr als biefen ©rab
ton Uebung unb ben biefetbe begleitenben ©enuß finben ju taffen, wirb et füt
ben SppuS bet Statur tjatten, welchem bet ffortfdjritt nicp epr aufhören fann
entgegen^uftreben, als bis et erteilt ift. Sa greube geraffen werben fann burcf)
bie Uebung jcbeS ©ebilbeS, baS feinem fpeciellen 3tt>edf angepaßt ift, fo Wirb et
eS als ein notljwenbigeS Ergebnis anertennen ... baß greube fdhließtich auch jebe
$anblungSWeife begleiten wirb, wetcp bie fociaten Sebingungen erforbent."
Ser etpfcp GoolutioniSmuS, bie auf baS GntwidelungSprincip gegrünbete
SOtoral, gewährt einen großartigen AuSblid auf bie 3u(unft ber SJienfchpit. Sie
SJtenfchpit fcßwanft nicp wie £era(IeS jwifcpn Sugenb unb ©lüdfeligleit. Sie
SBein ber ABaP ift ip erfpart. Sugenb unb ©lüeffetigfeit finb baS einheitliche
3iet, bem fie ficfj in ftetigem gortfcpitt näptt. Sie Statur fetbft füpt fie empor.
3n ben ©efepn feiner eigenen Statur pt ber SDtenfdj bie ®ürgfdpft beS Sieges.
Unabläffig auf fein 2Bop unb auf fein ©ebeipn, auf bie öermepung unb Gr»
ppng feinet greuben bebaut; raftloS bemüht, feine Gjriftenjbebingungen ju ter«
beffern unb nebenpt baS SBoP ber anbetn nach Sräften ju förbern, inbem et fidj
jugteicß ipe Spilnahme unb SDtitwirlung fiebert; fo fotgt et ftets gleichseitig füt fein
fittlicps ßeben. 3e bejfer er feine §anblungen ben 3weden anpaßt, befto jwed*
müßiget, b. P beffer (für ip unb für anbete, bie mit ifjm jufammenwirlen), finb
biefetben, befto ppr ift ip etpfdpr ABerth, befto ppr bie GntwidelungSftufc,
welche baS $anbetn erreicht pt.
Sa jeher bereitwillig fein SSoßl unb nebenher, wenn baS pcßfte SBopbefinben
nur im fociaten 3ufammenpng erreichbar ift, auch bie SBotjtfapt bet übrigen,
bet ©efeflfcpft anftreben wirb, fo bebatf es nur ber Senntniß ber SDtittet, ber
richtigen SBege unb SOtaßregetn, um jum 3»*l P gelangen. GS bebatf bet
SlugheitSregeln unb bet Anleitungen jur ©efchicflichleit, bie Sant als pragmatifcp
unb als tecpifcp Smperatibe bezeichnet, (einet fchtecppn gebietenben ©efep ober
©ebote. Sein Sittengefefc fteltt fich ben auf baS eigene ABoP pnjtrebenben Stieben
unb Steigungen entgegen. Seine Antinomie gwifcpn Staturgefep unb Sittengefefc
bebatf bet Äuflöfung, (ein SBiberftreit gwifcpn Staturnothwenbigleit unb Freiheit
bet Schlichtung, (ein Sampf bet jinnticpn unb ber fittlipn Stiebe bet Gnt»
fcheibung. Gins wächft aus bem anbetn empor, baS |>öpre entwidett fich ans
bem Stiebera. Suttner unb überatt ein Staaten, ein 3i e l - ABoPfahrt, görbernng
beS ßebenS, greube, @tüdfe(ig(eit. Seine Unterwerfung beS 3<h unter ein ©efefc,
baS ohne Stücfficht auf ABop unb ABep bebingungStoS gebietet, (eine Aufopferung
bet eigenen Anfprüdje, (eine Selbftaufgebung um eines abfoluten SittengefepS
willen. Sie Gntwidelung wirb nicht unterbrochen. gn ftetem Fortgang nähert
fie fi<h bem 3«!: bet größten Summe beS SBoljlS.
Sie Gtpl beS GoolutioniSmuS, wie fie jt<h hi er barfteüt, (ann füglich auf bie
imperatorifche gottn ttergicpen. SaS rigoriftifche „Su (annft, benn bu fottft!"
ift hier nicht am ißlafce. SaS Streben nach ABoPfapt, nach ©lüdfeligfeit, muß
ttnfere Seit 1882. I. 48
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754
Unfere <5cit.
nicht erft unb fonn überhaupt nicht geboten werben. ®S h°nbelt fic^ nur um bie
Eingabe ber richtigen SJtittet unb SEBege, um SEBinle unb SBeifungen, um bie $>ar*
fteßung beS rid^tigen 4?anbelnS. 2)ie Einleitung genägt, ber Rötßigung beborf
es nicht.
$iefe ©thil ift eingeftanbenermaßen utilitariftifdj, aßerbingS eine pp« gorm
beS Utilitarismus, leine roße materialiftifdje StüjjlichleitSphilofophie, welche bem
brutalen ©goiSmuS, bem Streben nach finnlidjen ©enüffen, bem Kultus ber ma*
terieflen ©iiter, bem Krauten nach Reidithum unb SDtacht auf Soften anberer baS
SEBort rebet. SBol ift 3wedmäßigfeit ber ^errft^enbe ©ebante, wie baS ©efefj ber
©ntwidelung baS funbamentale ©rincip ift. EBaS bie ©ntwidelung förbert, bem
3iel berfetben näher bringt, ift gwedmäfjig, nii^licE). Elflein biefe ©tljil umfaßt
mit ipern ©rincip auch bie ijödrften 8wede menfdjlicpn StrebenS. 2>aS 3^
ber ©ntwidelung liegt in einer fernen frönen 3ulunft, in einer lünftigen ®e*
ftaltung menfdilidjer ©erhältniffe, beren Umriffe ber ©hif°foph ju erfennen glaubt.
$er oberfte 3wed, bem aße anbern untergeorbnet erfreuten, auf ben baS Streben
ber ©eften abzielt, ift eine bem ebelften Sradjten ber Vernunft entfprecpnbe fitt»
ließe SebenSorbnung beS ^ö^ft entwidelten SJienfcpn in ber hödjftentwidelten @e=
feflfdpft. ©ine folcp ©tpf rebet jenem öerebelten unb geläuterten Utilitarismus
baS SBort, ber baS brachten nacf> ibealen ©ütern zur ©ebingung ber ßöchften
EBohlfafjrt beS SDienfc^en macht.
Sie !ann ben Rigorismus mancher SJtoralfhfteme nid^t gelten taffen. Sie
ift himmelweit entfernt Don bem Rigorismus $ant'S, welcher baS Sittengefefj in
feiner unnahbaren SBürbc über jebe ©erbinbung unb ©ermittelung mit natür*
liehen Xricben unb Steigungen erhaben erfdjeinen läßt unb baS fittlicp ßeben als
einen ununterbrochenen ferneren Kampf ber fittlichen ©efinnung mit ben auf bie
görberung beS eigenen ©BoßlS ab^ietenben Steigungen barfteßt. ®ie ©tpf beS
©oolutioniSmuS ift ein lebenbiger ©roteft gegen biefe rigoriftifchc Sluffaffung beS
fittlichen SebenS. „©roßeS Unheil ift baburch entftanben, bah baS Sittengefefj
öon feinen ©rebigern in ber Regel in ein abfcßredenbeS ©ewanb eingelleibet würbe,
unb unermeßliche iöortfjcile barf man baoon erwarten, wenn baS Sittengefeß in
jener anzießenben ©eftatt bargefteßt Wirb, bie eS wirtlich hat, folange eS nicht
burdj Elberglauben unb Slfcetil entfteßt Wirb. Sßenn ein ©ater hört auf bie
EluSführung feiner zahlreichen ©efeßte bringt, Oon benen manep nothwenbig,
gar oielc aber auch iiberflüffig finb" (trifft bieS bei bem Sittengefefj auch zu?), „unb
Zu feiner ftrengen Slufficht noch e ' n unfhmpatßifcpS ©eneßmen fügt, wenn feine
Kinbcr ihren ©ergniigungen nur oerftoßlen nachgehen bürfen: fo ift eS gar
nicht anberS möglich, als baß fie feine .fjerrfdjaft nicht gern hoben. Wenn nicht
fogar hoffen werben, unb baß eS ißr Seftreben fein wirb, fid) berfelben foüiel als
irgenb tßunlicß z u entziehen, ©in ©ater bagegen, welcher ZWor mit gleicher geftig=
feit bie Schranfcn aufrecht erhält, welche für baS SEBoßlergeßen feiner fiinber ober
anberer ©erfonen nothwenbig erfcheincn, babei aber nicht aßein unnötßige ©e*
fcßränfiingen oermeibet, fonbern zu aßen berechtigten ©enüffen feine 3uftimmung
gibt, ihnen felbft bie SKittel bazu üerfchafft unb ihren Spielen mit beifäfligem
ßäcpln zufießt: einem folgen ©ater fann eS taum fehlen, baß er einen ©influß
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IHe <£tfyif fjerbert Spencer’s.
755
über fie gewinnt, wettet, ohne für ben Augenblid weniger wirffam §u fein, ju=
gleich auf bie Stauer anf)ält. Sie $errf<haft jweier folget ©äter entfpric^t nun
genau ber ^errfdjaft ber ©thif, wie fie ift, unb ber <£tf)if, wie fie fein fottte."
Samit fdjeint aüerbingS baS Urzeit jeber rigoriftifdjen Auffaffung gefprocßen
ju fein. Allein baS ©leicßniß trifft nicht jebe gorm beS SRigoriSmuS. @8 liegt
bent SJtoralprincip fant’S in gleicher SBeife fern, Neigung Wie Abneigung ju er=
regen. SaS Sittengefe| will im IJJrincip Weber burch ^Belohnungen loden, noch
burch bie ©orftetlung ber Strafe abfdjteden. @8 ift Weber ber ©ater, ber jur
ftrengen Äufficht unfhmpathifdjeS ©eneljmen hiujufügt, noch ber ©ater, ber jur
©rgöfjung ber finber beiträgt unb ihren Spielen jufieht. @8 ift erhaben über
jeben ©erfehr mit ben Neigungen. Sie Abneigung, bie Antipathie gehört aber
auch i u ber großen flaffe ber Steigungen, lieber ben ÜtigoriSmuS fanfs ift
nichts entfchieben, wenn wir auch bem tßroteft unb bem ©leichniß ber eoolutio»
niftifcheu ©tl)if ©eweisfraft beimeffen bürften. ©8 lann bi8 ju einer Vollgültigen
©ntfdjeibung immer noch gefragt werben, ob ftant fo „fern ber SBahrheit Spur"
War, al8 er in ber gefefcmäßigen, pflichtgemäßen ©efinnung ba8 ethifche Kriterium
fucßte unb bie Unabhängigfeit biefer ©efinnung Von ben fubjectiöen Steigungen,
oon bem ©lüdfeligfeitSbebürfniß, mit einer ©egeifterung »erfocht, welche ihm feine
berühmte (auch 0011 ®harle8 SarWin angeführte) Apoftroplje an bie Pflicht eingab.
„Pflicht! bu erhabener, großer Stame, ber bu nichts SeliebteS, Wa8 ©infdjmeichelung
bei fid> führt, in bir faffeft, fonbern Unterwerfung Perlangft, bo<h auch nichts
broheft, wa8 natürliche Abneigung im ©emfith erregte unb fdjredte, um ben
SBiHen ju bewegen, fonbern blo8 ein ©efejj auffteüft, welches oon felbft im ®e=
müth ©ingang finbet, unb boch fich felbft wiber SBiUen ©erehrung (wenngleich
nicht immer Sefolgung) erwirbt, Vor bem alle Steigungen »erftummen, wenn fie
gleich im geheimen ihm entgegenwirfen, Welches ift ber beiner Würbige Urfprung
unb Wo finbet man bie SBurjel beiner ebeln Abfunft, Welche alle ©erwanbtfchaft
mit Steigungen ftolj auSfcßlägt?"
3n einer ©thif, Welche bie fitttiche ©efinnung als ein natürliches ©robuct ber
Sriebe unb Steigungen unb bie fittliche SebenSorbnung ber menfchlichen ©efeüfchaft
als baS unausbleibliche Stefultat ber fortfchreitenben ©ntwidelung barfteHt, welche
in ber Eingebung an bie Steigungen, bie baS ©lüdfeligfeitsbebürfniß ju befriebigen
oerheißen, in ber oollftänbigen Anpaffung ber $anblungen an bie jeweilig gege»
benen 3u>ede bie richtige SOtetßobe fittlicher Bucht erblidt, ift jebe rigoriftifdje
Auffaffung überflüffig unb nachteilig. $ier bebarf eS feiner unauSgefefcten SJtah-
nung jur SBadjfamfeit unb jum fatnpf gegen baS eigene Selbft, feiner 3Jtoralpre=
bigten unb feiner bie Unterwerfung ber Steigungen unb SBünfche forbemben ©ebote.
Sie Anleitung jur möglichft allgemeinen ©efriebigung beS ©lüdSbebürfniffeS ift hier
bie befte fittliche Schule. Sie Sarftellung ber natürlichen ©ntwidelung gewährt
ben AuSblid auf baS Sanb ber ©erheißung, auf eine Bufunft, in welcher Sugenb
unb ©lüdfeligfeit baffelbe bebeuten werben, in welcher fein Btuiefpalt jwißhen
fßfücfjt unb Steigung benfbar fein wirb, feine ©thif mag burch ein herrlicheres
Biel ber focialen ©ntwidelung, feine burch ein erhabeneres Scßaufpiel ju raftlofem
Streben ermuntern. @8 ift etwas Sdjöne8 um ben ©lauben an ben ©mporgang
48*
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Unfere &\i.
bet SRenfcbbeit, att eine große, fdjöne 3utunft. 2)et fyevdify Slnbticf macht leicht
bie ßämpfe unb ®efobren, bie ungezählten Opfer toergeffen, bie auf bent SBege
liegen.
@o fd^roff auch bet Slutor bet „Xbatfadjen bet ©tbit“ jeben StigoriSmuS ab»
lehnt unb betämpft, fo tiermag et bodj billigerweife bem rigoriftifcben fiant bie
Slnertennung bet funbamentaten ©ebeutung feinet Sorncel, beS tategorifeben 3m=
peratios, für jebe ©egrünbung bet ©tbit nic^t ju oetfagen. „2)aS »obre ©efefe
beS ^anbelnS muß fo befebaffen fein, baß es mit ©ortbeit tion allen beobachtet
»erben tann. Äant fagt: «§anbete nur nach bem ©runbfaj}, tion bem bu ju»
gteieb »finfdjen fannft, baß et jum allgemeinen ©efefc »erbe.» Unb »enn »it
tion einigen notßmenbigen ©infebräntungen biefeS ©runbfafceS abfeben, fo tönnen
»it ibn offenbar bis ju bem ÜJtaße gelten taffen, baß »it eintäumen, baß eine
$anbtungS»eife,'»eiche unjutäffig »itb, »enn fie ficb bet Unitierfalität amtäbert,
unmflglicb bie rechte fein tann.“
Sn bet Xbat febeinen manche 8tnjeicben bafiit ju fptedben, baß tein fpäterer
©erfudj eines et^ifc^en ßanon baS formale ©runbprincip, bie ©runbformel bet
Äant’fcben ©tbit werbe entbehrlich machen tönnen. ©ben ber rein formale ®ba*
ratter beS ©rincipS, weichet bie ©ubfumtion ber ©injetfätle unb bie 3)ebuction
fpeciefler Siegeln erfebwert, macht baffetbe geeignet jum uniberfaten ©efe| ntenfcb*
liehen $ra<btenS. S)aß bie Stufgabe bet ©tbit mit biefet gormel nid^t abge*
fchloffen ift, baß eine ganze Sieibe tion fpecieUen ©robtemen auf biefem ©ebiet bet
Söfung harrt, ftebt außer Stage.
©ehr bemerlenSmertb ift bie confequent burebgefübrte Unterfcbeibung jwifchen
abfotuter unb retatioer ©tbit unb bie ficb anfehtießenbe StrbeitStbeilung, »eiche
jeher ihren SBirtungStreiS beftimmt. SEßte eS reine unb angewanbte Sftecbanit
gibt, läßt ficb auch bi® ©tbit in reine (abftracte, allgemeine) unb in angewanbte
(befonbere) ©tbit eintbeiten. SDiefe ©arattete bat §erbert ©pencet tiorjögtich
burchgefübrt.
SBir möchten — auf bie ©efabr, einet parabojen ©ebauptung gerieben ju »erben
— baS »efenttiche ©erbienft beS befptochenen SBertS in einigen ptincipieUen ©rör«
tetungen unb in feinen ausgezeichneten ©eittägen jut „retatitien ©tbit“ fueben. ®aS
funbamentate ©tincip bet abfotuten ©tbit, baS et^ifd^e Kriterium beS $anbetnS
fcheint hier noch $u ben töfungSbebürftigen ©robtemen ju geböten. 2)aS Ief}te SBort
ift hier noch nicht gefptochen. Stber auch bie bisher mitgetbeitten Unterfuchungen
berechtigen ju ber Slnnabme, baß bie etiotutioniftifcbe ©tbit ©pencet’S bie Steform
ber ©tbit an $aupt unb ©fiebern burch tritifche unb pofttitie ©orarbeit förberu
»erbe.
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Wie h$tm Safjrr hmtfä)-oftcxxeiä)ifä)cx £%xik.
Son
Litton Stgloffar.
I.
Sor einigen Sauren erhielt ber Serfaffer biefer Seilen ein alte« SDfanufcript:
e8 waten Racglaggebicgte Sodann Ritter non ßategberg'«, eine« Sinter«, bet
noeg in ben lebten Sagrjegnten be« notigen 3>agrgunbert« eine geroorragenbe Stolle
unter ben Sintern Defierreicg« hielte nnb bafelbft gu ben beften latenten feinet
Seit gegäglt würbe. Slber bet Stame Äatcgberg’« War nach feinem im Sagre 1827
erfolgten Dobe oerflungen, nerttungen fetbft im engem Satertanbe. 3Ran gatte
einft bie bramatifegen SBerfe Äatcgberg’« mit gleidggeitigen großen SEBerfen au« bet
ctaffif<gen Seit unferer Dicgtung üergti<gen, gatte fetbft in ben aujjeröfterreidjifdjen
heutigen Siteraturbt&ttem — äuget bet „Senaer fiiteraturgeitung" unb ber „Ober«
beutfegen allgemeinen Siteraturgeitung", bie in ©atgburg erfdjien, gab e« bamat«
fein Statt für allgemeine titerarifege 3ntereffen — banon nie! Stämmen« gemalt;
fegönwiffenfcgaftlicge ©efetlfcgaften in unb Rom erhoben ben Dügter gu intern
©grenmitgtiebe; er war SRitarbeiter an ©cgiUer'« „Steuer Igatia": bennoeg gatte
man feinen Stamen batb oergeffen. Die Urfaegen gietnon gu untetfuegen ift niegt
bie Stufgabe biefer Seiten; nur be« obenerw&gnten SRanufcript« gebente icg nodg
einmal. 6« war eine nom Didgter fetbft gufammengefteltte Sammlung oon @e=
biegten unb giftorifegen Ißrofaftüden in ergägtenber gorm, bie er gefammett im
fpätern Sitter, wie et fegon agnte, ,,at« legte« SBerf" gerau«geben wollte. S«
biefem Segufe gatte bet in ©tag tebenbe Serfaffer ba« Sftanufcript bem ©übet»
nium at« ©enfurbegörbe oorgetegt unb e« war mit bem Seifage: „Imprimatur o. o.",
an ign guriiefgelangt; biefer Seifag brüdfte nämlitg au«, bag mit Stu«nagme be«
©eftriegenen ba« übrige gebrueft werben bürfe. Datirt War bie ©enfurbewilti»
gung au« bem Sagte 1825. ÜEBie fegt gatte aber bet Stift be« ©enfor« ge»
wirtgfegaftet! ©ange ©eiten waten mit Dinte unb Rotgftift biagonat buregftfiegen,
webet ißrofa nodg ißoefie war gefront worben, bie garmtofeften giftorifcgen Stuf»
füge fotlten gang auägemergt werben; eingelne ©ebiegte foltten ©tropgen »erlitten,
anbete ebenfall« gang wegbteiben; »on politifdgen SRetnungen, ja fetbft nur Sin»
beutungen war im gangen SRanufcript feine ©put gu fhtben; trogbem fottte eine
©eite um bie anbete au«getaffen werben unb »on bem gangen SOtanufcript faum
bie #ätfte bie Drutferlaubnig ergatten.
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756
Unfere &\i.
bet SRenfchheit, an eine grofje, fcfjöne Sufunft. $er herrliche fttnblii macht leidet
bie Sümpfe unb ©efahren, bie ungezählten Opfer betgeffen, bie auf bem SBege
liegen.
@o fdjroff auch bet Stutor bet „Xhatfadjen bet ©thil" jeben {Rigorismus ab=
lehnt unb betämpft, fo betmag er bodj biUigermeife bem tigotiftifchen Sant bte
Stnerlennung bet funbamentalen Bebeutung feinet gormel, beS lategorifdjen 3™ s
peratios, für jebe Begrünbung ber ©thil nicht gu berfagen. „2>aS mähte @efe|
beS $anbelttS muh fo befdjaffen fein, bah es mit Bortheil bon allen beobachtet
toerben !ann. Sani fagt: «§anbe(e nur nach bem ©runbfaj}, bon bem bu gu*
gleich mfinfchen lannft, bah er gum allgemeinen ©efefc merbe.» Unb menn mit
bon einigen notljmenbigen ©infdjränlungen biefeS ©runbfafceS abfehen, fo lönnen
mit ihn offenbar bis gu bem StRafie gelten taffen, bah mir einräumen, bah eine
$anbtungsmeife, meldje unguläffig mitb, menn fie fiel) bet Uniberfalität annähert,
unmöglich bie rechte fein lamt."
3n bet Xh«t fcheinen manche Singeichen baföt gu fptechen, bah lein fpäteter
Berfuch eineö ethifchen Sanon baS formale ©runbprincip, bie ©runbformet bet
ßanffchen @tt)il metbe entbehrlich machen fönnen. ©ben bet rein formale ®h a *
rafter beS ißtincips, meldet bie ©ubfumtion bet ©ingelfätte unb bie Xebuction
fpecieUet Siegeln erfchmert, macht baffclbe geeignet gum uttiberfalen ©efefc menfdj’
liehen XrachtenS. Xajj bie Stufgabe bet ©thil mit biefet {formet nicht abge*
fchloffen ift, bah eine gange {Reihe non fpecieden Problemen auf biefem ©ebiet ber
fiöfung harrt, fteljt auhet Stage.
©ehr bemerlenSmerth ift bie confequent burdjgefiihrte Unterfcheibung gmifdjen
abfolutet unb relatioer ©thil unb bie ftch anfchliehenbe SlrbeitStheilung, roetdje
jebet ihren SBirlungSfreiS beftimmt. SBie es reine unb angemanbte SRedjanil
gibt, läht ftch «uch bie ©tljit in reine (abftracte, allgemeine) nnb in angemanbte
(befonbete) @tljil eintheilen. SDiefe fßaratlete hat Herbert ©pencer borgüglidj
bnrehgeführt.
SSBir möchten — auf bie ©efaljr, einet parabojen Behauptung gegiehen gu merben
— baS roefentliche Berbienft beS befptochenen SBerlS in einigen ptincipieüen ©tör*
terungen unb in feinen ausgezeichneten Beiträgen gut „relativen ©tljil" fuchen. 2)aS
funbamentale fßrincip bet abfoluten ©thil, baS etljifcbe Kriterium beS $anbetnS
fcheint hier noch gu ben löfungSbebürftigen Problemen gu gehören. $aS Ie|te SBort
ift hier noch nicht gefptochen. Biber auch bie bisher mitgetheilten Unterfuchungen
berechtigen gu ber Annahme, bah bie eootutioniftifche ©thil ©pencer’S bie {Reform
bet ©thil an §aupt unb ©liebem burdj Ititifche unb pofttioe Borarbeit förbent
metbe.
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Die lebten jeljn 3 d h ro beutfcfj * öftcrrcidjifdjcr Jtyrif.
759
9tadj bem, »aS 3h r mir fpradjt bon befielt SBefen,
©in id& begierig felber eS ju Iefen.
SBie mistig mußte bem $icf)ter bie ®erfdjmeigung feines 9tamenS fein!
®aS ift nun freilich anberS geworben; Defterreicij barf ^eute ftotj fein auf feine
poetifdjen latente, beren 3at)l nicht gering ift, wie bie nadjfolgenben Seiten erweifen
Werben, wie ja weithin befannt ift; fte fte^en aber im Sufammentjange, in inniger
SSerbinbung mit bem ganzen beutfdjen ©eifteSteben; was feinerjeit unterbriieft
Würbe, Wirb tjeute geförbert, munificent geförbert, wie bie alljährlich bon feiten
ber ^Regierung Betriebenen ffünftlerftipenbicn nachweifen, welche auch ®ichtern nnb
gerabe biefen mit befonberer Seborjugung jugute fommen. Unb barum bat auch
bie beutfch=öfterreichif<he fßoefie einen Sluffchwung genommen, ber in frühem 3eiten
ganj unmöglich war, ber aber einen wichtigen SeweiS liefert bon ber Söebeutung
ber cutturetten ©ntwiefetung im öfterreid^ifc^en Staate, tßon außen hin wirft ja
ohnehin fo bieteS auf bie poetif<be ©ntwiefetung ber latente bafetbft: bie präch»
tige Statur in ben öfterreiehifetjen Sltpentänbern, bie fübtiche Sonne unb bie blaue
Slbria, wie bie Sebhaftigfeit, ja Seichttebigfeit ber SJölferfdiaften fetbft in ben ber*
fc^iebencn Säubern beS SReidheS. Unb feit bie freiheitliche ©ntwiefetung jugenom*
men hat, burchjog ein immer frifefjerer Strom putfirenben SebenS biefe fßötfer*
fünften, bie freilich — unb baS ift bie SldjilteSferfe fürs potitifche, aber woht
gemerft, nie fürs poetifche Seben — fo oiel berfcljiebenartige ©temente aufju*
Weifen haben. ®ie ©igenart, bie Setbftänbigfeit ber bidhterifdjen ©ntwiefetung
wirb burch biefen Umftanb nur geförbert.
SRanche ber Seften würben freilich in ben testen Sahrjehnten bahingerafft
unb bie Südfen finb nicht auSjufülten, welche baburch in bie Stegen ber beutfcf)=
öfterreichifchen Shrifet geriffen würben. ®er mannhafte ®eutfch 5 93öhme SRorijf
§artmann, Wetter bie fräftigen Strophen, in benen fein potitifcheS ©laubenS*
befenntnifj niebergetegt war, ebenfo gewanbt hanbhabte Wie bie jarten SBeifen
feiner gemüthstiefen Sieber, bie ju fterjen fprachen unb in bie Seele brangen, ift
nicht mehr, ©riltparjer, beffen SSerth atS ®ramatifer nach feinem lobe erft
recht anerfannt würbe, ber ben Slbet feiner ©efinnung auch in feinen Siebern unb
©pigramtnen jeigte, bie wieber erft in ber ©efammtauSgabe ber SBerfe beS ®ichterS
befannt würben; unb biefe ©efammtauSgabe: audfj fie hatte ber greife fßoet fo
Wenig erlebt wie ^artmann bie feiner Schriften, fjriebrich £>atm, nicht minber
eins ber glänjenbften tprifchen latente, wie feine ©ebicfjte, auch biejenigen aus
bem üftadjtafi jeigen, ift geftorben, unb ihm ber ritterliche SlnaftafiuS ©rün
nachgefolgt, ber „®idjter*©raf", beffen Schöpfungen auf bem ©ebiete ber fßoefie
ju ben nie oergeffenen jähten werben. Stuct) ben fchtichten, innigen Sänger ber
„©ifotien", Johann ©abriel Seibt, h°t ber ®ob bahingerafft, nacf)beni er
tängft nicht mehr gebietet unb wehmüthig bie in feinem fRadjtaffe oeröffentlicfiten
Sßerfe am 20. San. 1873 niebergefdfjrieben:
Stuf meiner fangen gaffet burdjS Seben,
Jpatt' ich fo manches aufjugeben —
®och einen SCertuft berfchmerg’ ich nie:
Slbhanben fam mir bie tßoefie!
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760
Unfere ^eit.
3n bet jüngftett $eit ift auch bet Kärntner Xfdjabufchnigg bem unetbitt»
licken Sofe betfallen, einet bet wenigen, bie als Xidjter auch int focialeu Seben
bie hö<hß cn (S^rewftetten bef[eibeten, unb Karl ©ed, bet „faljrenbe ©oet", bet
unbetgeffene Xid)ter beS „Santo".
Unb ade biefe unb biete anbete, beten Flamen auch einen guten Klang Ratten
unb bie Wie jene aus bem alten Oefterreich in baS neue herübergriffen, hat getabe
baS tefete S^tje^nt ftetben gefehen.
gnpHfdjen iß aber in 2)eutf<h*Deßerreich eine jüngfte Xichtergeneration auf»
getreten, unb iljr mögen bie nachfolgenben Seiten gewibmet fein. (SS wirb nun
freilich nictjt möglich, alte p nennen, bet ©amen finb p biete; nur biejenigen
feien herausgegriffen, welche einen c^arafteriftifd^en ©runbpg bet gegenwärtigen
beutft^en ©oefie in Oefterreich bettreten, welche bie Hauptfiguren bitben in bem
©emälbe; wenn eS geftattet ift, biefes ©emalbe, baS bodj nur bet Xlfeil eines
großen ©anjen iß, gteichfam herauöpfdhneiben auS bem größern, bem eS ange»
hört, aus bem ©itbe bet gefammten beutfdjen Xichtfunft bet ©egenwart.
Obenan fte|e ein ©ame, berjenige Stöbert Hamerling’S. ®r ift fpärtidj
mit feinen poetißhen, befonbetS fpärtich mit feinen Iprifchen ©oben. $amerting
hat feit je^n Satten feine neue Sammlung tprifdjer ©oeßen beröffenttidjt; aber
feine Siebet „Sinnen unb ©timten" haben im Saßte 1875 bie fünfte oerbejferte
Stuftage erlebt, fein prächtiges „Sdjwanenlieb ber ©omantif" iß in ben ,,®e»
fammelten fteinern Xidjtungen" (Hamburg 1871) neu unb »om Xicßter übet»
arbeitet erfdjieuen, unb bann muß, wenn ton ber ©oeße bet ©egenwart in
Oefterreich bie Siebe ift, fein ©ame genannt unb obenan genannt fein, berat
bet Stempel großartiger ©eniatität ift bem Xräger beffetben aufgebrüdt Xet
Xicfjter beS „Stljaöoer in ©om" unb bes „König oon Sion" fdjwelgt im ©ultuS
beS Schönen; bie antife fdjöne SBett iß eS Oor adern, bie ihn anjieht, unb fo hat
auch bet tgrifdhe Xidfter Hantetling fidh bem ©reife beS clafßfdj Schönen geweiht,
feine ©erfe unb Strophen ßnb oon höchfter gormoodenbung; immer ift es ein
hoher Schwung, p bem ihn feine ©egeifterung hinteißt, Oben unb Hhnmen ent»
ßtömen bann feinem Xichtermunbe unb et ruft auS:
D laßt mich «infam (innen, mir iß
©an Hhmnen fo BoH bie Seele:
$er SEBalb raufdß auf unb eS niden bie ©hinten,
Unb im $ er 3 en mir ßutet unb ebbt
$e$ ©efangeS Strom, ein gebantengolbßaltiger SJaltol.
©inmal möcht' ich, bebor ich ßetbe, boch auSfprechen
®ie ganje Bolle SBonne beS SebenS.
Sein Sbeat iß batum auch baS Qbeal beS Schönen unb et pteiß ben
©(üdfelig, wem ju güßen
$eS Häßlichen SBotle (ich roätjt,
3nbeß er mit leuchtenber Stirn
Äufragt in ber Schönheit
Heiteren Wetßer.
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Die lebten jeljn 3 a fa e beutfch^öfterreichifcher £yrif.
76 *
Saun ruft er:
SBIü^t herrlicheres auf irbifheh ftu’ft,
(Erhu&'nereS iu himuilifchen höh' n
ÄlS Schönheit! —
Ser Schönheit (Stoangelium fei (Sind
3Rit bem ber gufunft!
hamerling ift ber dichter beS ©übenS im Reiche; er, ber eine Reihe t>tm
Sahrett in Xrieft an ben Ufern ber Slbria gelebt, jeigt auch w feiner poetifchen
SluSbrucfStreife ben ffibtichen (£h ara ^ier, bie ©lut unb ba$ Feuer, bie Farbenpracht
ber ©ebanlen, möchte man fagen, bann ben reifen Slang, ben ber fßoet in ba*
germanifche SBort ju legen Derfteht unb ihm bamit faft romanifchen ffiohllaut ber*
leiht Seiner hut fo fchön mie er Reapel befungen:
D Rapoli, bn felige Stabt,
SBie blinten beine ginnen!
SBie minfft bu mit fchimmentber Serge ©rat
Sem tronnig entfetten Sinnen!
unb feiner bie SRonbnacht be* ©üben* in fo mohtflingenb bahinflutenben SSerfen:
$rachtbo0 ift im Söben bie fien&nacht
3« RteereSftäbten, too
Som felfigen Seenfer
Sillen unb ©ärten fchimmem
Ragenb über bie Stabt,
Sie tagüber, eine fchlummembe Königin,
Sie Stirne gelehnt an borrenbe gelShänge,
Sen blenbenben Fu6 jur fühleren SReertooge hinabftreeft,
Sedjjenb im Sonnenbranbe.
8fld ber Sinter ben ©üben berltef) unb in bie ©teiermarf, too er jept toeiU,
überfiebelte, rief er noch in feinem SlbfchiebSliebe au*:
Fahr’ tooht bu fonniger Süben,
Sn fchimmernbeS SReer, Rbe!
(SS locft ben Sonnemüben
Rach toalbiger ©ergeShöh 9 .
Führ’ mich bom SReer, born blauen,
Su Sampfroß, feurig unb tühn,
3n thauige ©luraenauen,
3n fdjaitigeS Sllpengrün!
hier bittet hamerling noch manches Sieb, auch f° manches fchalfljafte, ja
mol auch Sieber, über melche prübe Raturen bie Rafen rümpften unb beren
frifche ©innlidhfeit fte unanftönbig nannten; aber ber Sichter be* „Wffa&ryex“
ift ben ©runbfäpen ber ©chönheitSlehre nie untreu gemorben, unb mie bem
SJtaler bie leuchtenben Farben in ber SarfteHung ber menfehlichen Schönheit,
fo ftnb mol auch bem Sichter ju ihrem fßrei* glänjenbe SBorte geftattet SU*
hamerling in* ffitpenlanb gefommen mar, ba befang er bie fßraeßt ber Ätpennatur,
ba entftanben jene h^lidhen Sieber, mie ba* „SSor einer ©entiane" unb fo
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762
Unfere <5eit.
monier ber Siebe geteerte ©efang. Jn feinen tprifchen ©ebidjten bor allem
geigt §amerling, Wie fe^r iijtn bie Stacht beS SßorteS gu ©ebote ftef)t; eine güHe
Don SSergleic^en, bon Stetaphern unb Stntitljefen, bringt übertafchenbe SBenbungen,
glängenbe Silber in jebeS biefer Sieber; über ben Oben unb fppmiten, bie er fo
feljr liebt, liegt eine claffifdje 9tutje gebreitet; bie gereimten Stroben haben eine
Klangfülle, bie bei ben Siebern wonnebotler SiebeSfetigfeit gut Wohtlautenben
fanften Harmonie wirb. 2)ieS SBenige gur flüchtigen ©^arafteriftif beS ®icfjterS,
beffen jüngfte Itjrifche Ißoefien noch nicht gefammett bortiegen unb in betriebenen
poetifdjen Jahrbüchern, Wie inSbefonbere in bem Don Saron gälte fo trefflich rebi=
girten literarifchen Jahrbuche „®ie ®ioSfuren", baS feit neun Jahren in SBien
erfdjeint, in ©ctftein’S „®eutfcher SJichterhafle", bann in einer 3ahl bon Slntljo»
logien ber neueften 3«it berftreut finb.
®a fmmerling ber geniale Sertreter ber beutfchen iw öfterreidjifchcn
©üben ift, fo fei neben ihn gleich «in anberer Same geftellt, beffen Präger eben»
falls im ©üben Weilt, fich erft in ben lebten Jahren, in biefer 3cit aber hoh e
allgemeine ©ettung berfdfjafft h°t, unb obwol berfelbe feiner ©eburt nach e ‘n
Uhüringer ift, burch langjährigen Stufenthalt in Srieft bem öfterreichifchen dichter*
treife beigegähtt werben mufj. ©S ift bicS Subotf Saumbach, ber dichter ber
Sllpenfage „3latorog", gu welcher er ben ©toff aus bem fübflawifchen ©agentreife
genommen unb im beutfchen poetifchen ©ewanbe meifterhaft bearbeitet hat. Saum»
badj’S „Sieber eines fahrenben ©efellen" (2. Stuft., Seipgig 1880) unb „Seue Sieber
eines fahrenben ©efellen" (Seipgig 1880), enblidj „©pielmannSlieber" • (Seipgig
1882) geigen fchon im Stet ben ©egenfafc, welker gwifdjen ihm unb $amer»
ling befteht. Saumbach ift bie frifche, urroiichfige, beutfche Soetennatur, immer
heiter unb fetten fchwärmerifch; er tümmcrt fich wenig um p^itofop^ifc^c SebenS»
anfchauungen, um tiefe ©ebanfen unb ©cntengen in feinen leichten tebenbigen
Siebern. Stber biefe finb wie ein heller fprubelnber SergqueH, Saumbach’S SebenS*
anfchauung liegt in ben Serfen feines Siebes auSgebrüctt:
Sin ein fafjrenber ©efell,
Kenne feine Sorgen,
Sabt mich heut ber gelfenqueH,
©b“t eS Oiheintoein morgen.
®ieS ift bet ©runbton, Welker in allen feinen Siebern burchtlingt, mag er
uns fdjatfhafte SKären erzählen aus ben Sttpen, aus fdjattigen SBälbem, bont
SBirthShauje mit tühtem SBein ober oon luftigen aJtäbdjen unb ©efellen, ober mag
er Abenteuer anberer Slrt berichten bon feinen berfdjiebenen gahrten unb SBan*
berungen. Ohne biet ©egiertljeit fingt er „nach feiner Slrt":
©er feilt an einet Elegie,
Set fdjmiebet eine gabel;
Jdj finge in bie SSinbe, toie
©emachfen mir ber Schnabel.
Saumbach’S S° e fie hat biel Slehnlichfeit mit berjenigen ©cheffel’S, trägt aber
tro&bem einen eigenen originalen ©harafter jur ©chau; wie ber ©lichter ber
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Die lebten jefyn 3a^re öeutfdj^öfterreicfjifc^cr £yrtf. 763
„grau Sloentiure" roeife er oft inSbefonbere in feinen jüngfien ©ebichten ben Ion
be3 mittelalterlichen ©ängerS trefflich anaufdjtagen, rote etTOa:
Kun pfeif' id) noch ein atoeiteS <Stücf
Unb geb'3 ben fdjnelien SBinben,
3$ hab' fein Sieb’ int Siugenbiicf,
SBerb' aber fdjon eins finben.
SBenn Sßrimel biüfjt unb ©iolet
Unb id) im Sirm fein Siebten
$a$ fönnt' idj nic^t beleihen
lern 9ttaien.
2)ie SBalber unb Serge, welche er burchjogen, roetfj ©aumbach prächtig au
fd^ilbern; e3 mufc rool ein jammervoll grämlicher aRenfcfj fein, bern bei be$ ®idj*
ter$ frif^en ©tropfen nicht ba3 §era aufgeht, ber be$ fahrenben ©efellen leiste
SebenSanfchauung nicht feilen möchte. Sluch in btefen Siebern liegt heitere ©inn*
lirfjleit; fte tierbirgt fid) aber immer tjinter ber humoriftifchen ©djalfhaftigfeit,
bie in biefen fprubelnben ©erfen fidj funbgibt, rote etroa in bem ©ebicht „Irif*
tiger ©runb":
$)irnlein fommt üom ©taientana,
$at fidj mübe gefprungen.
gragt bie Butter: „2Bo ift bein $rana,
3)en idj in$ $aar bir gefdjiungen?"
Unb ba$ lirnlein, bem „ber SSinb ben Stana entriffen", antroortet auf ber
9Rutter 9tüge: „£aft bu a^ei &änbe nicht, feft betn ®ränael au Ratten":
aftufjte mit beiben §änben juft
SRetnen griebel umfaffen,
TO mir un$ fügten nach £eraen$Iuft —
Äonnt' ich ibn fahren laffen?
©ine frohe ©timmung, ein fytitmä ©agantengemütl) oermag ©aumbach in
roenigen SBorten mit prächtigen roohlflingenben ©erfen au jeichnen. 3Bie anberS
als #amerling befingt er ba$ 3Weer:
©in gemanbert freua unb quer
Stuf beftäubten SBegen —
©Uten Sibenb, blaues 9 Reer!
Äommft mir juft gelegen.
Sich ber berbe Kagelfdjulj
5)rficft mich a u nt ©rbarmen,
TOpbitrite, trage bu
2ßidj auf beinen Sinnen!
@o oiel über ben fahrenben ©efeilen, oon bem eine neue poetifche ©abe rool
nicht lange auSbleiben roirb; in .neuefter 3eit finbet ftch noch mancher frö^Iid^e
©ang oon ihm fym ober bort in ben bie ^ßoefie pftegenben 3^itfc^riftcn unb
©lumenlefen.
Koch mufj eines ®id^terö aus Irieft ©rroähnung gesehen: eS ift Heinrich
oon Sittroro, beffen ©ebichte unter bem Ittel „SluS ber ©ee" (Irieft 1876) in
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76<$
Unfere £t\i.
bierter Sluflage erfcfjiettett ftnb. SBie fcbon biefet Xitel erraten lägt, haben mir
e£ in ihm mit einer poetißbeu Seemannönatur ju tbun, bie freilich — „Piis mani-
bus optimae uxoris conjnx" loutet bie traurige SBibmung beö Sieberbucbeö — in
ben ©ebicbten au£ ben jüngften Sagten eine bittere Xrauer burdjbticfen lägt.
Sittrom ferlägt warme, gu $ergen bringenbe Xöne an; bann folgt aber auch tool
ein unbänbig unb übermütig Sieb, toeldjeS baS Seemannöteben auf ber Sbria
unb auf bem ERittetmeer gefdjaffen; es gebt babei, was bie gorm anbelangt, nicht
immer gang glatt ab; ber Siebter umgebt au<b nicht eine unb bie anbere pro*
faifebe SBenbung, im ganzen aber belunbet er ein Igrtfcbeö latent bon beachtend*
toerüjer Stntage. ©inen originellen 6t)f(u8 bilben bie Sieber „Xraumbücbtein",
unb ber Siebe, bem £>ergen3teben ift eine 3abt warntempfunbener Strophen ge*
toibmet.
3m fdjönen Äämtnerlanbe geboren unb gegenwärtig al$ höherer Dffigier in
einer (Stabt SRäbrenö meilenb, bertritt griebricb ERarj atö bnbomtgenbjier
jene jängern Siebter ber meftlicben öfterreiebifeben Sltpentänber, welche ihre Warme
$eimat£(iebe auch in ihren ißoefien niebergelegt haben, ©eine ©ebiebte ftnb in
britter bermehrter Stuflage unter bem Xitel „©emütb unb SBelt" (Scipgig 1877)
erfebienen. SRartig unb boU ertönen feine Strophen; er fühlt fi<b bureb unb
bureb at$ beutfeber fßoet unb begrüßt warm unb innig ba$ Sanb ber btinfenben
©tetfeber:
SBittfontmen, $eimat3auen,
Su reiche ßämtnennarf,
®ti: ntinniglichen grauen,
2Jtit SRännern treu unb ftarl!
einträchtig ihr am Slranbe
Ser Srau, ber SBöfl, ber @Ian,
3hr ©Achter beutfeher Sitte,
So aud ber SUpen SJtitte,
Ser Sarlftein beutfeher Sanbe,
Ser Cütocfner ragt hinan!
Slber beö Xicbter« fjorigont ift lein eng begrengter; biet reiche Scbenöerfabrung
liegt in feinen Siebern, bie er, weit berumgetommen, gefammett; aus ber grembe
bat er manchen (Sang mitgebraebt, in ben er bie Sßärme be$ SübenS, bie ©lut
be$ Oriente gu legen wußte; feine Sieber bon „Sobi", „fßola", „$airo" geugen
hierbon.
©ine 3abl Heiner jierlicber Sieber geigt uns, baß EJtarf auch biefe ©attung
gepflegt; er weiß ein StimmungSbilb, einen innigen ©efüblSauSbrud auf biefe
SBeife in wenigen lurgen Strophen gu jeiebnen, wie etwa im golgenben:
9tur bon ferne.
SRur bon ferne toiH ich flauen
Hfl ben grühting, ber bid) febmfidt,
83 iS bie liebtichfte ber grauen
Cinft ben beften SJiatin beglüeft.
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Die lebten jefyn 3 a ^ re &eutfd} - öfterreidjifdjer £yrtf*
765
teilte Schönheit, $ulb unb SRilbe,
©in ich nur öon ferne fehn,
©ie an bem SOtarienbilbe,
Stumm an bir borübergehn.
0b bu jemals mir gemogen?
0b bu einmal mein gebaut?
Schöner Draum — bu bift entflogen!
feiler Stern — bu fanfft in Sfcadjt!
Dodfj ein Duft ift'S fonbergteidjen,
Der in Söhren ftiH burdjmebt
Ueber ber entfagungSreichen
Ungeftanbnen Siebe fdjmebt!
Die fräftigen Däne fdjtägt SKarf häufig neben ben toeidjen, mitten an; bie
}>r&dbtigen Sieber: „Der Sergmann", „3m ©ifenhammer", unb bie emften 3urufe
„9tn eine Dichterin" (9lba ©Triften) legen l)ierbon 3eugniß ab. ©oetifdhe ©r^ab 5
lungen meiß ber Dieter mit ber märmften Qnnigleit borjutragen, unb obgleich bie
©rmäbnung berfelben nicht in ben Staunten biefer DarfteHung gehört, fo fei bodb
ber fdjönen tyrifeben ©teilen rnegen, melcße barin borfommen, auf „DaS ©oftbauS
bon ®uffee" unb „©in beutfdber ©eneral" befonberS ^ingemiefen. ©ie malerifcb
SWarj borjutragen unb mit mie menigen ©trieben er ein poetifcbeS 93ilb ju jeiebnen
Derftebt, babon nur noch bie furje ©robe aus bem ©ebiebt „DaS Doppelgeftcbt":
©ir faßen bort oben am ©albeSranb,
Umflogen bon galter unb ©iene,
Qu grüßen ben glifcernben fjluß unb baS Sanb,
Qu §äupten bie graue SRuine.
DaS filberne Sachen ber IHnber. erflang
3m Zeigen fo bell um ben grünenben $ang.
Da fu^r aus ber flaffenben guge
Der D^urmfalf mit zornigem ginge.
Utodfj eines anbem Dieters aus bem frönen ßärnten muß ßier ©rm&bnung
gefaben, ber bisher nidbt biel beachtet mürbe: eS ift ©rnft Staufeber. 3m
3uhre 1861 erfebten ju Älagenfurt bon ihm ein Sönbcßen „©ebiebte"; ihnen
folgten halb bie ftattlidhe Sammlung „©ebiebte" (©ien 1864), „©legien bom
©örtßer See" (fflagenfurt 1867), „©ebenlbtätter" (©raj} 1870) unb „3n ber
Hängematte" (Seipjig 1873). Staufcbefs fyv'it menbet ftcb noch mehr als bie*
fettige bon SRarj bem greife ber Statur feines frönen HeimatSlanbeS ju, aber
aueb bie reflectirenbe ©oefte ift in feinen Sammlungen bur<b feböne ©ebiebte ber*
treten; fo jäblt inSbefonbere ber ©onettencbftuS „©ebenlbtätter" hierher, ber frei*
lieb jcrriffeneS, fernerjburdhmühlteS ©emüth offenbart:
Unfelig ift ber Seligfte bienieben,
Unb arm ber Steicbfte. Das, maS mir befifcen,
Seicht ficher ift'S öor beS ©erberbenS ©tifcen,
Die je ben treffen — nur baS ©ann oerfdjieben.
©erfolgt bon Scijulb unb 9teu', ben ©umeniben,
©on taufenb ©lagen, fo bie §aut uns rifcen.
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766
Unfcre <3eit.
Son anbem, bie baS gnnerfte gerfdjtißen —
(Erfeßnen wir gulept nur (Eines: — jjrieben.
9ti<ßt überall aber Waltet biefe Stimmung beS Dieters bor. 3n liebenStofir»
biger 3lbwe<ßfefung bietet er in ben „©ebtcßten" Heinere unb größere, ittSbefonbere
ber Siebe gemeinte Sieber bofl Snnigtett unb §ergli<ßfeit, ni<ßt minbet SiaturBilber
bon großartiger, wilber ©cßönßeit. 2Bie gart manche ber Siebeslieber frnb,
erweife baS natßfteßenbe furge Siebten:
58on weitem.
SaS fdjimmert bort ben 2Beg entlang?
Sie ift’S, baS blonbe ßinb!
Um i§re Sangen flattert bang
$er laue UrüßlingSroinb.
$>ie Serene in ben Süften fingt
9hin fjeHer als guoor,
ÄuS allen SSIütenfeldjen fdjmingt
©idj füfjrer £audj empor.
2>aS ift ein knospen, ift ein Btüfj’n,
So fie üorüberfcfiroebt! —
0 erfte 3ugenb, erfteS ®riin,
Sie ßolb ißr euch berwebt!
Sinn fnoSpen Seben, Siebe, Suft
3n ißrem §erjen rein —
Unb all ber Seng ber jungen SSruft
3ft mein, ift einzig mein.
2ln bie färntner reißen fieß bie fteiermärtifeßen S)icßter, unb unter biefen fteßt
einer boran, beffen Stame feßon feit einer langen Steiße bon Qaßren attbetannt ift:
Sari ©ottfrieb Stüter bon Seitner. fpeute ein meßr als aeßtgigjäßriger ©reis,
lebte Seitner noeß mit SlnaftafiuS ©rün, $alm, Seibl, ©rillparget, welcße nießt
meßr unter ben Sebenben wanbeln; mit ißnen ßat er geftrebt unb gefungen, mit
ißnen War er perfönlitß befreunbet. Seitner ift ber etßte ©oßn ber Stciermarf,
iu ber er geboren würbe unb noeß weilt; er lann über bie gange ®icßtergeneration
DefterreicßS als Steftor berfelben btiden; bieleS ßat er erfaßren, wobon biefe jün»
gere ©eneration nicßtS fennen gelernt; fo inSbefonbere bie bittern ©ingriffe ber
©enfur, bon bereu ben poetifdßen ©eift ßemmenbem ©alten eingangs bie Siebe
War. Slußer ben „©ebießten" (2. Slufl., §annober 1857), beten erfte Auflage im
Saßrc 1826 gu SBien erfeßienen ift, atfo bor meßr als 50 faßten, ßat Seitner
nur noeß bie ^erbftblumen: „Steue ©ebi(ßte" (Stuttgart 1870), unb in ber aller»
jüngften Seit ein Sänbcßen „Stobetten unb ©ebießte" (SBien 1880) beröffentli<ßt,
in beffen Sßorrebe man Weßmütßig berüßrt bon ber SBeftimmung beS SücßleinS
lieft, baS bie leßte ©abe beS greifen SicßierS fein foH. ®ie Siebe gut engem
unb gur weitern beutfeßen Heimat fpiegelt fitß au«ß in ben Siebern Seitner’S,
beren SSerfe woßllautenb unb gefällig gemütßergreifenbe 2öne anfeßlagen; auf
ben meiften raßt eine ftiüe Xrauer, bie wol jene Seiten aus bem ©ebießte: „®ie
Sinbe gu StotßenfelS", tßeilweife erHären mögen:
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_
Die lebten jcljn 3af?re öeutfdj^öfterreicfjifcfjer £yrif.
767
Siebe, Xreue, Stecht unb $ugenb
Unb bie gan$e SRärchentoelt
$ab* ich nun im SBahn ber gugenb
Hufjufudjen mich gequält.
SSiefeS %ab’ ich nie gefunben,
SBo mein Söunfch hinan ftch fchtoang,
Unb auch baS ift fyingefcfjttmnben,
2Ba3 i<h thränenbotf errang.
SSiele ber ©ebichte Seitnefs finb an fein ©teirerlanb inSbefonbere gerietet;
einmal befingt er „2Beif$ unb ©rün", bie garben biefeS SanbeS, bann fenbet er
toieber eine Steife Oon ©trogen „bem tjeimifdjen ©ifen jurn ©eleite":
©lücf $ur gabrt, bu heimifch ®ifen!
2fafjen fdfjticht unb innen ftarf,
Unfrer ©erge toertfj ertoeifen
SWögft bu bid), ihr befteS SRarf!
Ober er fingt „beim fteiermärfifchen ©Seine" bie begeifterten SSerfe:
Äornmt heran pm trauten #*rbe,
greunbe, hi cr ift echter ©Sein,
©Sein oon unfrer #eimaterbe,
geuerüoH toie ber bom SR^cin.
Sagt ben macfern Stömer (eben,
SßrobuS! ®er bom libertanb
UnS gebracht bie ebeln Sieben
Sin ben SJtur* unb ®rabeftranb!
Slucfj eine Sa^ t>on SRären unb Sagen biefer Heimat hat Seitner poetifch
bearbeitet unb bamit eine SReihe fe^r toirfungSboUer, formfehöner ©ebichte ge-
fdhaffen, toie er überhaupt auf bem ©ebiete ber poetifdfjen ©rjähfong, ber Söattobe
unb Slomanje befanntlid} ju ben begabteften unb bebeutenbften ber lebenben
beutfehen Siebter geaähft toerben mufe. ©eine romantifche ©rjählung: „®er &err
beS äReereS", ift beinahe in alten beutfehen Anthologien $u finben. ©3a$ Seitner’S
S^rif toeiter betrifft, fo ift er ein trefflicher Eharafterjeichner einzelner ©eftatten
ans bem Alpenleben im Siebe; „®er ©emSjäger", „®er Alpentoanberer", bie
berfchiebenen gtfeher* unb © iff er lieb er, eine Sieihe bon Sonetten u. a. m. jeigen
fein ®alent im fünften Sidhte. gormf<hön miiffen auch einige ber Siebeslieber
beS ®ichterS genannt toerben, bie er in feiner erften Sammlung „©ebichte" ber*
einigt hat. Unter ben jüngften feiner Sßoefien toeifen mehrere auf feine toarme
patriotifefje ©efinnung, fo „®er beutfehe Defterreicher" (1870) unb „®er Sihein
1870", beffen fdjöne Strophen felbft tote ©raufen beS beutfehen ©tromeS bahinfluten:
Stun bin ich toieber roohlgemuth,
$ann toieber ftol$ erbraufen,
©eit linfS unb rechts oon meiner glut
Stur beutfehe ©rüber häufen.
®erfelbe ®ichter rief, als er nach ben ©iegen beS Jahres 1870 feinen 70. @c*
burtStag feierte, in einem Siebe bamalS begeiftert auS:
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768
Uitfere Seit.
Unb ba$ beutfdge Soff, — nodj ebtn
#auptto«, ein jerftfitfter Stumpf, —
Cinig je|t, boQ @eift unb Seben,
feiert feiner SRacgt ®rinmpg!
Sieben Seihtet »eilt noch ein anberer 3)icgter in ber ©teiermarf, bet ju ben
geröorragenben poetifegen Talenten DefterreidgS {u {ägten ift unb inSbefonbere al§
Sgrifet bureg ©lätte ber gorm unb ©ebanfenanmutg fieg au£{ei<gnet: e3 ift
©tepgan Oon SJiito», bet {urü(fge{ogen in ©grengaufen, füblidg bon ©rag, lebt,
unb beffen „©ebiegte" (|>eibelberg 1864) im Sagte 1867 in {»eitet Stuftage
erfdjienen, »otauf et bie pgitofopgifcge $icgtung: „Sin Sieb bon bet SJtenfdggeit"
($eibetberg 1869), bie „Sleuen ©ebiegte" (Stuttgart 1870), unb in ben testen
Sagten bie ©ebi(gte: „Sn bet ©onnen»enbe" (^eibetberg 1877) folgen lieg; alte
biefe Sammlungen ftnb in bet SluSgabe feinet „©ebiegte" (Stuttgart 1882) bereinigt,
fßgitofopgifcge ©ebanfenfiilte {eigt fieg in ben Siebern iDiito»’#, benen fein epifdjer
3ug inne»ognt; inSbefonbere im Sonett, baS et meiftertieg ganbgabt, »ei| er
feine SebenSanfigauung, feine SBeurtgeilung bon SBett unb äJienfcgen, feine gceube
unb feinen Scgmerj auäjubtütfen; auch bie ©pruegbiegtung in (Epigrammen unb
SHftidjen finbet in igm einen begabten Vertreter, baS Sbptt unb bie Stegie
nidgt minbet. SBie etgreifenbe ©egenfäge ber $idjter im Siebe barjuftetten weif),
baöon einige egarafteriftifdge ©tropfen aus bem ©ebitgt „Sin mein föinb":
D {(bau mich an, mein fiitib, unb lächle.
Sag betnen $amg mi<g fanft umroegn,
®ag er mir ®roft unb Sabung fächle:
3<g gäbe Deute gerben fegn.
®u gotbeS Jtinb, tag mifg’S nidjt benten,
(Srftarrt, berjmeifett fueg’ tdj bidg,
34 »in mi4 ganj in bidfj berfenten,
allein Äinb, mein Sinb, errette mitg!
D ffiunberftargeit, #immet$reine,
®ie mir au4 beinern Slntlig fpridgt!
®u ftegft bor mir in rof'gem Steine
Unb um bieg wirb es mägltdj li(gt.
ffltir ift, itg tag in bangen ®räumen,
9hm fiegt mein Singe ttar erhellt,
Unb Seben quillt in alten Räumen,
Unb fegön unb geiter ift bie SBett!
Sn bet ©ebidgtfammtung SJtilow’S »on 1877 »alten bie ggmnenartigen ©efänge
unb antife ©tropgenformen bot. $>ie „#gmnen ber Siebe" {eigen begeifterten ©dgwung
unb eine »unbetbate ©egertfdgung bet ©pradje; inSbefonbere aber bfirften bie
fteinern „Siebet" {U bem S3eften gehören, was ber 2)icgter gef (gaffen, bie feine
Staturempfinbung barin, bie Ungejroungengeit bet in originalen SBcnbungen fug
bewegenben ©ebanten, bie 3®rtgeit berfetben unb bie fnappe poetifdge StuSbrucfS*
»eife »eifen auf eegt bicgterifcgeS ©mpfinben gin, baS fug im fliefjenben SSerfe
funbgibt. So rügt in ÜJtitow eine poetifege Äraft, bie in jebem neuern ©ebiegt
megr {um StuSbrud gelangt, unb feine Stufe bürfte »ot noig nitgt „in bet
Sonnen»enbe" igreg Scgaffenä ftegen.
.'s*.
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Die lebten jef^t 3 a ^ rc öeutfc^^ofterrctcfjifc^er £yrtf.
769
9?ocb oerbient ein $idjter ^ier angeregt gu Serben, toeldjer eine Steife ber
lepten gapre feines Sebent in Steiermarf ^erbracht unb im gabre 1878 gu ©rap
ftarb. ©S ift bieö guftuS grep, öon bem g»ei Sammlungen „©ebiebte"
(®rap 1874) erfdjienen finb, »eiche eS oerbienen, baß ber Slame biefeS Sßoeten
befannter »erbe, als er eS bisher gemorben. grep’S Dichtungen jäljlen feines*
»egS gu ber Dupenb»aare, bie an biefer ©teile überhaupt nid^t in ©etraebt fomrnt;
e3 finb fcb»ungOoße ©efänge eines ernften, gereiften ßttanneS; obgleich gum großen
2^eil 9tefte£ionStprif, »eifen biefe Sieber bodp auch garte ©eiten auf unb man
»irb burdj bie SBärme unb Harmonie, bie in grep’S SiebeSliebern perrfebt, oft
an bie beften beutfepen Sieber gemahnt, felbft »enn ber Dichter ein befannteS
Dpenta Oariirt, »ie g. ©. in bem ©ebiept „©rpörung":
©o halt* ich »irflicp bidj umfangen?
©S ift fein ©üb, öom Xraum gemalt?
gd> barf fte ffijfen, biefe SBangen,
2Bo fteggemiß bie ©cpönbeit ftraplt?
geh barf bidj an ben ©ufen preffen,
geh barf in beinern gauberarm
2Tuf aßeS um mich brr öergejfen,
9luf äße Suft unb aßen #arm?
D unauSfprecpticb füge ©tunbe,
SBenn ©eeP in ©eele ftd) ergießt,
SBenn enblicp öon bem tpeuern 9ftunbe
DaS garoort reiner Siebe fließt;
SBenn »ilberregt bie Sßuffe Hopfen,
Das $erg oor ©ebnfuept fteigt unb feptoißt,
Sßenn Don bem Slug’ in beißen tropfen
Die Xpräne beS Verlangens quißt!
«uep auf bem ©ebiete ber politifcpen Sprif enthalten grep’S ®ebicpte, ins*
befonbere in ber g»eiten Sammlung, fraftige beacptenStoertpe Strophen, aus benen
toir ben biebern beutfepen ©inn beS ©erfafferS fennen lernen, ber fein großes
beutfcpeS ©aterlanb mit »armer Siebe umfing. ©ins ber fepönften ©ebiebte beiber
reichen Sammlungen fann ich mich nicht enthalten, hier noch »iebergugeben:
Richtern gum Drofte.
Saß immerbin ben Slufrupr toben,
Der tief bein gnnerfteS betoegt;
DaS aKenfcpenperg ift nicht gu loben,
DaS Dag für Dag bebäebtig feblägt.
DaS $erg ift feine SBiefenqueße,
Die nipig über Wiefel rinnt,
gn beren fpiegelglatter SBeße
©ich froh befepaut ein SÖIumenfinb:
©S ift ein 3Keer, baS »ol gutoetlen
UnS frieblicb fepeint unb fanft unb gut,
Docp baS auch ©türme »i(b ereilen
TOit ungeahnter ÄampfeStoutp.
Unfpre &t\t. 1882. I. 49
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770
Uttfere £eit.
SBeitn tS ben Schläfern ffnlicf) träumte,
$ielt feinen @f a$ tS tooijl öernmljrt:
Stur rnenn tS wogte, ttenn e£ fd)öumte,
#at e« ben 9Reicf)tt)um offenbart.
Senn wir auf bem ©ebiete ber Sttftentänber Defterreif« oerbtefen, fo weift
nof ba« wefttif fte berfelben, Xirol, mehrere angefeßene latente auf. Unter biefen
fteßt obenan ein ®if ter unb $elb, ber für bie ©eftrebungen be« beutff en ©uttur=
gehanten« auf jenem ©ebiet ber Stiften nift nur bie gebet, fonbem auf ba«
Schwert ju führen mußte, Stbolf fßidjler, ber im gaßre 1848 gegen Italien
tämfifte unb in feinen im gaßre 1853 crff ienenen „©ebif ten" (3nn«brud) eine nift
minber mannhafte ©efinnung geigte. Offene, ff mungbolte Sftraf e ift ein $auftt»
borjug biefer Stiftungen, in benen aber auf fföne Staturbilber bie ftoetiffe Stuf»
faffung be« Soßne« bet Stiften weifen, in benen er einffmeifelnbe ©troffen ber
Siebe unb bem ^erjenSteben wibmet. fßifter ift ein tängft in ganj S)eutfftanb
anerlannteS Xatent; er ßat fif feinen Stamen fowot auf friffem al« auf auf
eftiffem ©ebiet errungen, auf Wetfem in jüngfter Seit bie „SRarffteine! ©rgäßtenbe
S)iftungen" (®era 1874) erffienen finb. ©on Sammlungen, bie in«befonbere
ßierßer gehören, feien nof „£>ßmnen" (2. Stuft., Nürnberg 1857); „gn Siebe unb
&aß. ©tcgien unb ©ftigramme au« ben Stiften" (@era 1869); „S)eutffe läge.
Seitgebifte au« Xirot" (Serlin 1870) erWäßnt. 3n alten ßcrrfft bie gteife
©egeifterung für bie engere unb weitere Heimat, für Steft unb greißeit, unb
wenn auf feitbem leine Sammlung ber ©ebifte ißifler’« meßr erffienen ift,
fo ertönten bof ßier ober bort be« ißoeten fräftige moßtlautenbe ©troffen, bie
beweifen, baß er nof immer ftoetiff tßätig ift. Sumat ben ßeimiffen ©ergen
Wibmet er bie ffönften feiner Sieber; ßat er bof biefe Serge fetbft erltommen
unb auf ben ßöfften SUftengiftfeln geftanben, ba« ©wige, ©öttlif e ber erhabenen
Statur bewunbernb, er — benn ©ifter ift nift nur S)ifter, fonbem auf geteerter
Staturforffer — ber auf im Meinen unb unbebeutenb Sfeinenben ba« ©Satten
biefer Statur ju faffen weiß.
Xaß fo gewaltige Staturfförfeiten, Wie fie Xirot bietet, auf alte ftoetiffen
Xatente be« Sanbe« bon ©inftuß gemcfen unb in«befonbere ben ©inftuß geßabt,
baß ftf biefe Xatente mit ©ortiebe benfetben jugemanbt, ift teif t erltärtif. Stuf
©ßriftian Sfnetter, ber ffon im gaßre 1857 bie Sammlung ,,8tu« ben
©ergen" (Stürnberg) erff einen unb im 3aßre 1864 „Senfeit« be« ©renner«.
©ebifte" (gnnöbrud) folgen ließ, ffitbert in feinen Siebern ba« Sttftenteben
in tßriffen Mängen. ©on ftoetiff en Strbeiten Sfnetter’« ift jebof in ben Iej}=
ten jeßn galten nift biet meßr belannt geworben. Steßnlife« gilt bon bem
at« geteerten Senner be« beutffen Stttertßum« weit belannten 3fl« a S ©incenj
Bingerle, bcffen „©ebifte" (gnnöbrucf 1853) auf feßr fföne tßriffe ©rgüffe
bieten, obwot fr $aufitwertß in ben ©attaben unb Segenben gififelt. ©on feiner
Seobaftung«gabe jeugen in«befonbere be« Xifter« ©ftigramme. Stuf gingerte
ßat im testen Xecennium faft gar leine ftoetiff en Strbeiten, bafür freitif eine
tRefe trefflicher SBerle gut ©ultut» unb Siteraturgeffifte Xirot« beröffenttift.
3uteßt fei nof be« Xifterfiaare« SubWig unb Stngetila bon $örmann
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Die lebten jefyn 3 a ^? re ieutfc^* Sperreidpfdjer £yrif. 77 \
gebaut. Süücfj jie finb beibe echte, warmfühlenbe Siroler in ihren Siebent, bie
leibet nur bon Sfngelifa bon $örmann in ben „©rüfjen aus Xirol" (Sera 1869)
gefammelt borliegen, Selbft bon biefen ift eine fdhon länget botbereitete bet»
mehrte Neuauflage noch nicht erfdjienen, toaS man um fo mehr Beilagen muß, als
bie Sichterin ein eigengeartetes formgetoanbteS Talent belunbet, baS fidfj, toie if)te
feitbem jerftreut publicirten fßoefien nadh weifen, noch berboKlommnet hat. Sie
„©rüfje aus Xirot" weifen ein reiches inniges ©emüthsteben 2fngelila bon £>örmann’S
auf, fie bieten nicht bloS Naturbilber bet $eimat; feelifd^e Stimmungen unb bon
warmem ©efühl getragene ©etrachtungen in Igrifdjem ©ewanbe zeugen bon ber
©egabung ber ©erfafferin. Sie fnappe fjorm, welche fie oft einem Siebe $u geben
bermag, Ijinbert leineSWegS bie 9tnfdhauli<hfeit, Wobon nur eine fßrobe:
DrtleS.
©dfneebebecfte Reifen ragen
Stuf gunt §immel, blau unb tlar;
Sofenb an bent ^ßc^ften (Sipfel
$Sngt ber Stbenbmolten ©cfjat.
@e^en einen Ärang bon Stofen
aufs treibe ©djeitelfjaar:
Stufig fdjaut er auf baS Xreiben,
(Stoig !alt, untoanbelbar.
Bwei fßoeten, Welche bem ©ebiete Oberöfterteichs entftammt finb, müffen ^ier
noch genannt werben, obwol beibe in ben fiebjiger Sagten geftorben finb. StuS
bem Nadhlaffe beS erften: SDtorifc Schleifer, h«t Slbolf fßi$ler „Sichtungen"
(SnnSbrucf 1879) ^erauSgegeben. @S ift ein Heines ©änbchen unb enthält lhrif<b=
epifdje ©ebiete bon grofjer Schönheit, aber auch l^rifc^e Klänge bott gartet ©nt»
pfinbung finb barin angefchlagen; eine Baffl bon Sonetten bietet prächtig entworfene
Naturbilber. Schleifer überrafcht nicht feiten burdj Originalität ber Sarftetlung
unb ber Silber. Ser geljler Sdjleifer’S, ber in einzelnen ©erftöfjen gegen bie
Steinzeit ber Neime beftefjt, wirb burch eine ^oc^poetifd^e Sprache unb inniges
©mpfinben aufgewogen, Kraft unb Sülle weifen inSbefonbere „SaS lefcte Sieb
ber ©eHeba" unb „Sie $tage OSWalb’S bon SBotfenftein" auf; wie warm ben
Sinter bie neue ©inigung unb Kräftigung SeutfdEjlanbS berührte, geigt fein
„®rufj an ben Seutfchen Kaifer".
Set gweite Oberöfterreicher ift grang Stelghamer, bon bem bei Sebgeiten
„©ebiete“ (Stuttgart 1855) unb Sammlungen bon Sialeltgebidjten in obberenfifcJjer
fDhmbart erfdjienen; baS Sieberbuch „SiebeSgürtel" (fßrefjburg 1876) würbe burch
Dr. @gger=2Röttroatb aus bem Nacfilaffe beS Sinters herausgegeben. @S ift bies eine
bebeutenbe Seiftung bon großem poetifcfjen SBertlj. Saft auSfchliejjlich Siebeslieber
entljaitenb, umfafjt biefe Sammlung gugteich baS ffiefte, waS Stelghamer’S SDtufe
überhaupt geraffen, unb geigt, bafj ber fßoet leineSWegS nur auf munbarttidhem ©e»
biete $erborragenbeS gu bieten im Stanbe war. ©ingetne biefer einerfeits bon
frifchem $umor, bann wieber bon eigenem feltfamen 2ßej) burdhjogenen Sieber gehören
gu ben fchönften SiebeSgefängen ber Neugeit; manche treffen überrafchenb ben Son
beS ©ollStiebeS, alle aber tragen ben Stempel lwh er Originalität an fidh. ©ine
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Uttfere «geit.
5ßrobe berjumeift tätigem Sieber t)ier anjufütjren, $ält fcfjmer; bodj möge menig*
ftenS ein ©ebidjt aus bem EijftuS „3n ber ftrembe" Xonfall unb ET^arafter biefer
Sieber Deranfdfjaulirfjen:
Sdjtägt im ©ufen, im meltemoeiten,
Sldfj ein $erj öoD ©erlangen,
©tödjte meine Sirme auSbreiten
©ine SBett $u umfangen —
9tteine SBett in mailidfjer ©radfjt,
SBo fermere buftige SRofen,
$olb bon SiebeSgeiftern bemacht,
9Jtit leufdjen Silien fofen —
SBo gtnei Sterne, jmei fifBer^elle
SJtidj fo tynlbig bebauen;
SBo aus rofiger SBunberquelle
£iebe raufet unb ©ertrauen —
2)u mein maifidfjeS ©igentljum,
SJtein junges Siebten, mein Seben,
Äönnt' id) atljmen um bidj Ijerum,
SBaS njottt' id) laffen unb geben!
9tur fo lang' feie im Dbemjuge
9ttödjt r ict) fel)n bid^ unb fragen,
9tur brei »innige SBorf im gtuge,
9tur brei SBorte bir fagen.
i #immel! $iefe einzige ©unft,
$ie$ eine ©Ifid mir gemätjre,
$afj ber Seljnfudjt lobernbe ©runft
äftein armes $er$ nid)t ber^re.
Unter ben fc§on im Sormarj befannten öfterreidjifeijen 2)i<§tern ift nodfj einer
auS bem Sanbe ob ber ©nS $u nennen, ber feinerjeit biet mit ©riffparjer ber*
teerte unb audlj beffen Sftac^folger im Slmte mürbe: eS ift bieS Otto Sßredjtler,
meiner nodj in ben testen 3^ren bor feinem lobe Heinere lprif<$e Sammlungen
beröffenttic^t l)at. 9WerbingS mar er nteljr auf bramatifdfjem ©ebiete tljätig, unb
in frühem S^en ntxt ©rfolg; boc^ erfdjienen fc^on im 3a^re 1836 bon itjm
„2)idjtungen" (SBien), unb eine ©efammtauSgabe feiner „©ebidtjte" (SBien 1844)
folgte nad(j. Das 3fa^r 1848 begeifterte ifjn ju ben tljeilmeife überaus fräftigen
Siebern: „Ein 3al)r in Siebern, S^tftimmen aus bem Sa^re 1848" (SBien 1849).
Stujserbem folgten bie (Sammlungen: „3eitlofen. SRacfjflänge beS 3af)reS 1848"
(SBien 1855); „Sommer unb ©erbft. 9teue ©ebiete" (Stuttgart 1870);' „Seit*
accorbe" (Sin} 1873); „$)aS ^arabieS ber ®ronprin}*9tubotfSba!jn" (Sin} 1874)
unb „Slccorbe bon ber ©ifetabaljn" (Sin} 1878). 5ßredjtter mibmete ber Siebe
unb ber Statur tnandje fc^öne finnige Strome, er mar einer ber menigen, metdje
baS ©ebiet ber Sßoefie unermübet pflegten unb fiel) eine frifdje ibeale SBettanfd&anung
bis ins Sitter bemaljrt t)aben. SdEjon bie Xitel ber lebten Sammlungen beuten
es an, bafj fidj ber $)idjter tjier bormiegenb mit Staturbilbem befcJjäftigt; eine
Steife fotdf)cr Silber aus Saljburg, lirot, Sfärnten unb Steiermar! }ie§t in bunter
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Dte lebten jcfjn 3 a *? rc öcutfdj^oftcrreictjifc^cr £yrtf*
773
Slbtuec^fclunfl am 2luge vorüber, 3)er Sßoct berfteljt es, bic ©egenb ju djaraf*
terifiren, iljre ©djönf>eiten ju fdjitbern unb in ftinunungSboDen ©trogen ju jei^nen,
mte ettoa in bcm ©ebidjt „3eH am ©ee":
$a liegt ber ©ee in fc^tüülcr SRittagSrul)',
Unb leine SBeHe raufet unb feine $rife;
$>ie SHtyen ragen füll bcm $itnmel ju
Unb reifer quillt ber $)uft aus SBatb unb SBtefe.
©in $ilb be$ griebenS fo in blauer #5$' —
Unb em’ger griebe, fdjeint e$ — in ber $iefe;
$)ie alte Ätrdje foiegelt ftdj im See,
@8 ift, als ob i$r ©lötflein griebe riefe.
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Wtt toufftyf Eennfport
Sott
flermamt flogt.
Unter ben ^auStljieren h at baS eble unb fdjöne fßferb mit feinem treuen
SDiutlje, willigen ©eljorfam unb feiner ©elehrigfeit ftets eine Ijettoorragenbe
©teile eingenommen. 3« fteter ©egteitung beS äJtenfchen ift eS iljm nnb feiner
©uttur überall f)in gefolgt unb ift auch in folgen Säubern ^eimifi^ geworben,
Wohin bie Satur eS nicht gepflanjt h°tte. ©eine Sraudjbarfeit ju ben Sweden
beS Kriege« unb ber 3agb, wie ju ben berfchiebenen Verrichtungen beS täglichen
SebenS, in ber Sanbwirthfcfjaft, im $anbel unb Verfeljr, h“t bem 3Renfdjen
lieb unb Werth gemacht unb feine 3ucht feit ben Seiten ber älteften Sulturoöller
geförbert. ®ie SWenge ber ©ferbe in ben betriebenen europäifchen ©taaten
erreicht jum bebeutenbe Siffem. Sin ber ©pifce fteht Sufjlanb, beffen weite
©benen einen Seftanb bon mehr als 19 9JtiH. ©ferben beherbergen; ber öfterreichifche
Äaiferftaat jäljlt etwa 3‘/ a 9Jtill. Vf erbe, bon bencn mehr als 2 9RiH. auf bie
tranSteithanifche §älfte entfallen; granfreidj 3 SWitt.; baS $eutfche Steich 3,352231,
babon ©reufjen 2,279606 ©ferbe. ©rfdjeint Sujjlanb bemnacfj abfolut genommen
als bas weitaus pferbereichfte Sanb, fo nimmt ©rofjbritannien mit einem ^5fcrbe=
beftanbe bon 2,762148 im Verhältnis ju ber lanbwirthf^afttich benufcten ©oben»
fläche relatib ben erften ©la| ein. ®ort fommen auf eine Ouabratmeite nämlich
837 ©ferbe, in Ungarn 638, im ®eutfchen Seich 512, in ©reufjen 468, in Sufi*
lanb 470 unb in granfreich 392 ©ferbe.
©erechnet man im $eutf<hen Seiche ben ©urchfdjnittswerth eines ©ferbeS nur
mit 500 ÜDiarl, fo bilbet bie ©efammtfumme mit 1700 2RiH. 3Jiarl unb 1200 SRiH.
2Rarf in ©reufjen immerhin einen anfehntidhen ©ruchtheil beS SationalbermögenS,
unb Wenn man babei in ©etracht jieljt, wie infolge ber beutfdjen ^eereSeinrich-
tungen bei eintretenber SRobilmachung ber ©ebarf an SRilitärpferben fich bon
79000 auf 301000 erhöht unb bamit gegen 9 ©roc. beS gefammten ©ferbebeftanbeS
in Stnfpruch nimmt, fo erfcheint eS natürlich, bafj namentlich ©reufjen, wie faft
alle europäifdjen Staaten, bie SanbeSpferbejucht Wirffam ju unterftüfccn nnb ju
heben berfucht. ©s gefdjieljt bieS burch Unterhaltung bon ©eftüten unb £>engft-
bet)otS, burch Slnlauf bon Suchtmaterial, burch Sucht* unb Einfuhrprämien unb
burch ©lämien für SBettrennen, für welche Swecfe ber ©tat für 1881/82 inSgefammt
4,150130 Start flüffig gemacht hotte.
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Der beutfdje Kennfport.
775
Sie britifeßen Unfein bieten in bent mitten gleichmäßigen fflirna eine befonberS
günftige Vorbebingung für bie gueßt fämmtlicßer ^auätßiere, unb ber ©nglänber
fteßt mit ber rüefftcßtslofen Verwenbung feiner reifen pecuniären SDtittel, bem praf»
tifeßen Vlicf wie ber Konfequenj unb Saßigteit in ber Verfolgung eines borge»
fteeften 3i«tt als unübertroffenes Vorbitt eines SficßterS ba. Unähnlich bem
Seutfcßen, ber ein ißferb hoben möchte, welches gleichmäßig ollen ©ebraucßSgWecfen
entfpräche, jfießtet ber ©nglänber im ©egentßeil bie öerfeßiebenften Schläge, bom
Meinen, runben Shooting-pony beS ölten bequemen $erm, bis pm auSbauemben
Sagbpferbe (hunter), bom bornehm eleganten ßutfeßpferbe mit ber hohen ftnieaction
(stepper) bis p ben elefontenähntichen X^icrcn, welche mit ben feßweren Vier»
Wogen hinter ficß in ben Straßen SonbonS unfer ©rfiounen erregen (dray-horse),
immer nur p einem beftimmten 3wecf. ggte in folcßer ©infeitigleit gonj wefent»
lieh «in ^ouptfoctor beS Erfolges p fuchen bleibt, fo ift nun im VoUblutpferbe
eine Stoffe gefdjaffen, welche burdj Sreupng alle ^albblutfchläge aufjufrifeßen unb
p berbeffern geeignet ift.
<£S lann nicht bie Slbficßt fein, ßier Wiffenfeßaftticß ben Veweis p führen,
Wie boS Votlblutpferb bie bureß conftonte 3«cßt erlangten ßößern förpertießen unb
geiftigen eigenfeßoften, ben feftern Snocßenbau, feine Scßnelligfeit unb StuSbauer,
ßößem SRutß unb feuriges Semperament, nun auf bie gemeinen Scßläge Weiter
bererbt; bietmeßr genügt bie erWäßnung ber Sßatfacße, baß ber fteten unb ratio»
nellen Zuführung bon Vollblut in bie SanbeSpferbepcßt beifpielsweife einerfeits
baS auSbauembe unb oorjüglicße preußifeße Solbatenpferb, anbererfeüS baS eng»
lifcße ^albblutpferb mit ben ßoßen Seiftungen als Sagb» unb ©ebraucßSpferb
feine ©ntfteßung berbanlt.
Sie englifdße Vottblutpcßt läßt fieß bis in baS Saßr 1660 unter ber ^Regierung
ffiarl’S II. unb auf bie fireupng breier arabifeßer $engfte mit bem feßon früher
berebelten einßeimifchen Stutenftamme prüeffüßren unb ßat einen feften StnßaltSpunlt
mit ber Verausgabe beS „General-stood-book" gewonnen, welches, im 3faßre 1808
mit einem Veftanbe bon 5500 Vferben beginnenb, ein forttaufenbeS Verjeicßniß
fämmtlicßer VoUblutpferbe unb ißrer Slbftammung barfteUt.
Von ©nglanb ift bie Vollblutpcßt im Saufe biefeS 3aßrßunbertS aueß auf
bie Staaten beS europäifeßen Kontinents, naeß STuftralien unb Stmerila übergegangeit.
SEBäßrenb anbererfeitS aueß „arabifcßeS Vollblut" gepeßtet wirb, fo in Seutfcßtanb
beifpielsweife in einer bem Könige bon SBürtemberg gehörigen ißepiniere unb in
bem ©eftfit beS ©rafen Scßimmetmann p Slrenbfee in Votftein, Welses übrigens
für europäifdße ©ebraueßspeefe wenig geeignet erfeßeint, läßt fieß bie Slbfunft
fämmtlicßer anberer Voßblutpferbe, mögen biefelben nun in granfreieß, Defterreicß,
in welcßen betten Sänbern ber 3ucßt berfelben große Summen unb großes
3ntereffe pgemenbet werben, ober in Scutfcßlanb gepgen fein, auf baS eugtifeße
Vollblut prüeffüßren. Unb wenn aueß jebeS biefer Sänber ein eigenes ©eftütbueß
für bie innerhalb feiner ©renjen gezogenen Votttluttßiere füßrt, bleibt bie britifeße
3ucßt boeß unerreicht unb ©nglanb immer ber Schöpfbrunnen, aus bem neues
SJtaterial angefauft wirb, p welchem 3wecfe Vteußen unter anberm im 3aßre 1881
bie Summe öon 300000 3Jtarf oerWenbet ßat.
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776
Unfere ,3eit.
Die Prüfung be« Soltbtutpferbe« für feine ©rauchbarfeit jur 3ud)t gefchieljt
burch bie kennen, bie fich au« ben fdjon im JRittetoiter gefannten ©olföfeften
junädjft in Engtanb ju biefem 3wede nach einem beftimmten ©pftern IjerauSgebilbet
haben, unb bann mit ihren fämmttichen Gebräuchen unb Gemohnheiten, ja grofjen*
theitö mit unüberfefeten unb !aum überfehbaren terminis technicis auch nach Deutfeh'
lanb berpftanjt finb.
Sangjährige ©eobad)tungen unb Erfahrungen Robert ba« Stjiom feftgeftettt,
nach Welchem in ber Energie unb bem guten SBtUen, mit bem ba« junge 9Sottbtut=
pferb nach ber Slnftrengung be« borangegangenen tängern Sauf« noch ben lebten
Äampf um ben ©ieg mit aller Eingebung au«ficht, getoiffermaßen ba« 3ufammen»
mitten alter feiner medjanifchen, phhfiföen unb geiftigen Äräfte, be« tabeltofen,
normalen ©aue«, ber jähen, innern Gefunbljeit, bon Äraft unb 2Ruth ju erbtiden
ift. Stber auch bom ©tanbpunfte ftrenger 2Biffenfchafttid)feit au« liefert bie 9tenn«
Prüfung ein rneit genauere« SRefultat at« manche in ph l )fitalifchen unb chemifchen
SDlartermerfftätten mit tebenben Dhieren angeftetlten ©erjuche, ba fich ergibt, mie
bie ©djneltigfeit eine« ©ferbe« in gemiffem feftftehenben ©erhättnifj ju ber Saft
fich oerminbert, bie e« ju tragen hot. ©on jmei fonft at« gleich gut au«probirten
Dhieren mirb ba«jenige im ©enntauf unterliegen, metche« ein äftehrgetbicht bon
3 ©fb. ju tragen hat, unb ein ©ferb ift atfo 3 ©fb. „beffer" at« fein ?ttter«genoffe,
menn e« unter fotcher SJtehrbetaftung benfetben noch i u fchtagen im ©tanbe ift.
Die mirthfchafttiche ©ebeutung biefer 3udjtrennen hot ihre birecte Unterftüfjung
bon ©eiten alter ©taaten jur ffotge gehabt. 3« Engtanb, mo ber enorme Stuf»
fchwung be« „Turf" mefenttich au« ber ftnitiatibe unb ber allgemeinen ©etheitigung
ber ©ebölferung fich ergibt, mährenb bei un« ba« 3ntereffe baran auf beftimmt
abgegrenjte Greife befchränft bteibt, bie SDtenge be« gebitbeten ©ubtitum« bem=
fetben aber ffeptifch gegenüberftefjt, ift biefer ©taat«jufchufj berhättnifsmäfjig nur
gering unb beträgt im ganjen 108000 3Rart, metche fich flU f 54 fogenannte
Queen’s plates im ©etrage bon je 2000 Stiart bertheiten. Defterreidj bermenbet
41600 St. für SRennprämien unb ©reuten hot ju biefem 3wede 210700 SRarf au«=
geworfen. Um bie 18 ,,©taat«preife", beten Dotation mit im ganjen 52000 SRarf
bon 1500—10000 9Rarf bariirt, fotoie um bie meiften noch uiit ©taat«jufcf)üffen
bebachten ©reife fönnen inbef?, bom fdjuhjöHnerifchen ©tanbpunfte au«, nur im
3ntanbe, b. h- int Deutfdjen Steife geborene §engfte unb ©tuten concurriren,
mährenb bie engtifchen grofjen 3«^trennen fämmttich bie internationale ©etheitigung
geftatten unb auch &ie bort au«gefe|}ten ©reife thatfächtich bereit« mehrfach bon
au«tänbifchen ©ferben gemonnen finb.
©reufjen tritt für bie Hebung ber ©ottbtutjucht, aufjer burch bie Gemäljrung bon
©ennprämien, auch burch ba« in Grabij} bei Dorgau unterhaltene Geftüt ein.
Der ©eftanb beffetben beziffert fich ouf 8 $cngfte, 190 2Rutterftuten unb 534
junge ©ferbe, unb fein 3lu«gabeetat bon 381220 ÜRarf erforbert einen Staat«-
jufchuf) bon 150000 ÜRarf. 2Jiit bem Geftüt ift eine Drainiranftatt oerbunben
unb bie ©ferbe taufen für fi«catif<he Rechnung; ihre Geminne inbefj merben in
Sorm bon Grabi|er*Geftüt=©reifen theitmeife bem Sntgemeinmotjl mieber nujjbar
gemacht.
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Der beutfcfje Hennfport.
777
2Bie bie görberung ber 3ucfe trennen bem Stationalwofelftanbe pgute fommt,
fo finb bie „Hinbemiferennen", in benen Herren in ben Sattel fteigen, um ihre
Unerfcferodenfeeit, ihren falten überlegenen SJtutfe unb if|r fixeres Sluge, neben ber
©üte ihrer Sßferbe, im öffentlichen SSettfampf p meffen, ein SDtittel pr ©teige»
rung ber nationalen SBeferfraft. Such biefe kennen finb oon Englanb ju uns
herübergcfommen, aber wäferenb bort bie $errenreiterei immer mehr oerfcfewinbet
unb bie Sebeutung ber Steeple-chases p einem biofeen Sinnenfifcet für bie über*
reijten Sterben ber 3«f<h auer feerabfinft, 8 e fet bie SDieferpfel ber SReiter auf beutfchen
Sahnen aus bem DffijiercorpS feerüor, welches berufen bleibt, ber Steiterei im
gelbe als güferer ben 2ßeg p ihren Erfolgen p jeigen, bie nur ber Eaüalerie
blühen fönnen, bei welcher ber frifcfee ©eift beS SteitenS querfelbein gehegt unb gepflegt
Wirb. SBenn auch ber in Serlin neugegrünbete Serein für Hinbemiferennen ber
godefereiterei auf beutfchen Hinbemifebafenen eine weitere SluSbefenung anweifen
will, fo Wirb hoch ber £>auptfdjwerpunft auf bie $errenreiterei gelegt werben
fönnen unb müffen, folange ber ftaifer biefe Stennen burch reiche Dotationen
unterftüfct unb ben Siegern ^öc^fteigenfjänbig bie wertfeüotten Silberpreife p
überreichen liebt. ®er preufeifcfee Staat fuboentionirt bie $inberniferennen mit
32000 SDtarf, unb wie bie 3afel oon 140 im Safere 1881 gewonnenen Eferenpreifen
bie ibeate Sluffaffung beS Sports in ben beutfchen ^ertenfreifen barftettt, fo jeugen
bie 292 Stennen, oon benen 261 oon Herren abgefealten werben, unb 168 oerfdfeiebene
fiegreicfee Herrenreiter oon bem paffionirten Ernft, mit bem bie Sache betrieben
wirb, ©egen 300000 SDtarf finb aufeer bem StaatSpfcfeufe an ©elbpreifen unb
75000 SDtarf burch bie Einfäfce aufgebracht; baS grofee Srmeejagbrennen p ©oben*
Saben ftettt einen SBertfe oon 4900 SDtarf bar. 2)ie Sebeutung biefer 3afet wirb
erfennbar burch einen Sergleicfe mit bem nachbarlichen Oefterreicfe, wo in ber üer»
floffenen Saifon nur 71 Hinbemiferennen ftattfanben, üon benen 36 Oon Herren
geritten würben, bie Summe ber ©ewinne 15 Eferenpreife unb 64960 gl. betrug
unb bie 3<*h* ber Herrenreiter 25 nicht überflieg.
Unter ber bebeutenben 3nfel oon Sottblutpferben, welche jährlich aus ben
©eftüten feeroorgefeen, fann es naturgemäfe ftetS nur einer oerfeältnifemäfeig Meinen
Scfear Sßferben „1. klaffe“ gelingen, bie grofeen Sßreife ber 3ucfe trennen baoonju*
tragen. 3* feöfeer nun SßrobuctionS» unb UnterfealtungSfoften mit ber pnefemenben
Steuerung aller Sebürfniffe fich ftetten, je mefer tritt für bie Sßferbejüchter baS
Sebürfnife p Xage, burch Stennen unter anbern Sebingungen ifere Xfeiere noch
weiter auSpnufeen, um auf biefe SSeife einigermafeen Erfafe p finben für ben
Slufwanb oon Sorgfalt, SJtüfee, 3^it unb Kapital. ®iefer Erwägung Oerbanfen
bie grofee 3nfel oon Stennpropofitionen ifere Sntftefeung, wetdfee neben ben 3«<ht 5
rennen baS Sßrogramm ber Steuntage p füllen pflegen. Unter ihnen berufet bie
SInorbnung ber „Handicaps" auf ber rationetten ©runblage beS oben erwähnten
SafeeS Oom Serfeättnife beS p tragenben ©ewicfets p ber Scfenettigfeit. 35er
„Hanbifapper", welchem Erfahrung wie Vertrauen pr Seite ftefeen müffen, be»
ftimmt unter 3ugrunbelegung einer allgemein gültigen Scala für jebeS p bem
Stennen genannte Sßferb baS p tragenbe ©ewiefet, belüftet nach SDtafegabe ber bis*
feerigen Stennleiftungen bie beffern Sfeiere feöfeer unb fuefet fo bie Efeancen beS
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778
Unfere £eit.
©tegtö für äße gleichmäßig ju geftalten. Ser |>anbifappet tjat baS Nichtige ge»
troffen, toenn Wirtlich fäntmtlidje ißferbe baS ihnen jugetheilte ©ewicßt „annehmen",
unb bemnächft eins ber fchwädjera Shiere ben Sieg baüonträgt.
Sie kennen unter SUterSgewicht grünben fich auf bettfeiben ©runbfap, inbem
bie fortgefchrittene förperliche Kntwidetung unb größere föraft beS ältem ißferbeS
burch höheres ©ewicht gegenüber bem jüngern ausgeglichen Wirb. 3 n ben Ber=
faufSrennen mirb ber Sieger öffentlich üerfteigert, in ben BerlofungSrennen unter
ben SoSnehmem, ober gar ben färnrntlicßen Inhabern üon KntreebißetS üerioft,
mährenb {Renner für 3weiiährige bem Befifcer fdßon einen Ktfafc für feine Auslagen
in biefem Sitter bieten foflen, ba bie eigentlichen 3uchtrennen nur breijährigeu
Bferben geöffnet ftnb.
Sie SDtittel jur Sotation folcher {Rennen werben aus ben Kinfäfeen, aus
©efchenlen üon Korporationen, Kommunen unb tßriüaten, ans ben Kinnahmen ber
Sribüne unb aus ben Slbgaben gewonnen, welche Sotalifator unb Buchmacher an
bie {Renufaffe jn fahlen höben. Ser höchfte {ReratpreiS in granfreich, ber grand
prix de Paris, beträgt lOOOOO grS. unb wirb ju gleichen Xheilen üon ber Stabt Baris
unb ben fünf großen KifenbahngefeUfdjaften gegeben. Slber obgleich bie erjle Sn»
regung h‘ ec iu üon bem Äaifer SRapoIeon ausgegangen ift, fo weigern fich bodj
felbft bie jefcigen rabicalen Bätet ber Stabt nicht, biefe Summe immer üon
neuem ju üotiren, ba ber Untfafj in IßariS an einem folgen {Renntage ben Sur<h»
fdjnitt um 20—30 ÜJtiß. grS. überfteigen fofl. Sie bei ben „courses" jufamtnen»
ftrömenbe ÜRenge fteigt oft auf eine halbe ÜDHßion unb bie Sribüneneinnahmen
erreichen nicht feiten bie $ölje üon 2—300000 grS.
3n ber üerfloffenen {Rennfaifon beS SahreS 1881 ftnb im Seutfchen {Reiche
im ganzen auf 47 üerfchiebenen {Rennplä$en an 111 {Renntagen 253 glachremten
gelaufen worben. Sie Summe ber ©etbpreife betrug 936101 SRarl, üon Welcher
Summe neben bem StaatSjufdjuß üon 177800 SDSart 513442 9Rarf burch bie
{Rennüorftänbe unb 244858 burch bie ©infäfje aufgebracht würben. OefterreichS
134 {Rennen üertheilten fich auf 10 {Rennptäfee unb 40 {Renntage unb waren botirt
mit 290261 gl., unter benen 41600 gl. StaatSjufdjuß, 179950 gl. an üet»
fchiebenen ©oben unb 66711 gl. an Kinfäfcen fid) befanben.
Stuf britifdjen Bahnen würben bereits im ^alfre 1877 1639 glachrennen
gelaufen unb betrug bie $ölje ber ©elbgewinne einfchließlich beS StaatSjufchuffeS
üon 108000 URarf 7,314480 HRarf. 2öie fich bie 3alß ber {Rennen bort üon
3ahr ju 3ahr üermehrt, wenn für bie lefcte Saifon auch eine efacte Siffer noch
nicht geboten werben fann, fo ift bie Summe ber ©elbpreife in einer SBeife an»
gewachfen, baß bie 33 pchften greife aßein bie 3iffer üon 1,429600 HJtarf bar»
fteßen unb bamit bie Summe beffen, was überhaupt in Seutfchlanb an {Renn»
preifen aufgebracht wirb, erheblich überfteigen. Slbgefeljen üon ber großen 3ahl
tteinerer {Rennen, ftnb bann noch 73 B*eife * m SBert^e üon 6—20000 SRarf
$ur Bertheilung gelangt. SEBährenb bas bieSjäljrige Serbp, beftritten üon 15 Bf erben,
einen Sßerth üon 118500 SRart, bie „two thousand guineas" gar 123000 ÜJtarf bar»
fteßen, liefen für baS bebeutenbfte ^eitnifche {Rennen, baS tRorbbeutfdje Serbp in $am»
bürg, 9 Bferbe ab, üon benen ber Sieger außer ben Kinfäfcen 20000 SRar! gewann.
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Der beutfepe Hennfport.
779
äJtit ben popen Slenngewinften für einzelne ißferbe, bie namentlich auf eng*
lifcpen unb franjöfifchen Sahnen juweiten fepr bebeutenbe 3tffem erreichen, ift ber
ißreiS non gutem Sollblutmaterial jur Bucht wie ju toeiterer SluSnufcung auf ber
3tennbapn in ftetem ©teigen begriffen. Der pöcpfte bislang toirflich für ein Slemt*
pferb, ben §engft Doncafter, gezahlte ißreis betrug 280000 SJtart, bodj finb in
©ngtanb fcpon höh ere ®ebote gemacht unb auSgefcplagen tnorben; 200000 SDlarl,
160000 äJtart finb berfepiebenemat unb 100000 3Jiart öon ber preußifdpen Sie*
gierung für ben #engft Sluftic gejohlt, welcher jefct in Dratepnen fteht. SRutter*
ftuten erjielen in ©ngtanb greife bon 20—40000 ÜRart unb ber DurcpfcpnittS*
preis für „Säprtinge", welche für bie Slenncarriere borbereitet werben, pat ft<P
bon 720 SDtarl im 3apre 1797 auf 5140 SQtarl im Sapre 1876 gehoben, ©injetne
StuSnapmepreife haben bie #öpe bon 80000 SJtarf erreicht, unb im 3apre 1881 finb
384 Sührtinge für 1,627780 ÜJtart berfauft worben. Solche Summen hat nur baS
reiche ©nglanb für biefe 3ü>ede übrig, hoch ftettt baS ©eftüt ©rabip feine ©engfte
mit 100000 SRart, 60000 ÜJtarf unb 30000 SJZarf, wenn auch bietleicht etwas
hodj, in bie Sitanj, unb berechnet ben Sßertp feiner Stuten bmpmäßig in ber*
fchiebener $öpe bon 5—50000 SJtarf. S3on ben 143 tebenben gopten beS 3apr*
gangS 1880 in Deutfcptanb finb 40 für ben DurdjfcpnittSpreiS bon 3775 SDlarl
oertauft. Der hüpfte SßreiS betrug 15000 SRarf; biefeS Slefuttat bejeiepnet gegen
ben Durcpfcpnitt beS SährtingSberfaufS 1878 mit 2168 SJtarf eine nicht uner*
pebtiepe IJJreiSfteigerung.
©in llnpattSpuntt für baS Uebergemicht engtifcher Soltbtutprobuction finbet fich
noch * n Sergteicpe ber 3apl ber Slennpferbe. SBäprenb nämlich im 3 a pte 1877
in ©ngtanb 2057 berfchiebene ißferbe gelaufen finb, erreicht bie 3iff e * ber int
3apre 1881 überhaupt abgetaufenen Dpiere in Deutfchtanb nur 1166, in Oefter*
reich 558 un b finb in biefen testen beiben Bähten bie Ijßferbe fo oft gejäptt, als
fie gelaufen finb.
Unter bem #eere beS berf^iebenartigften ©eftüt* unb StaltperfonatS nehmen
bie Sleiter ber ebetn Dpiere, bie ^odeps, eine peroorragenbe Stelle ein. Sie
bitben eine eigene, fchon beS erforbertidjen SeicptgewicptS wegen nicht fehr japt*
reiche Äafte, beten regelmäßige Sefotbung burch Tantiemen bon ben errungenen
©etbpreifen unb manche ©jtragratificationen erhöht Wirb, ba bon ihrer ©e*
fchicftichteit unb bem guten ^Bitten biet abhängt. Stuf beutfepen Sahnen ift im
3apre 1881 bon ben etwa 30 berfepiebenen 3°cfepS Sopp ber ÜJiatabor, ber bon
122 Slitten 43 mal als ©rfter unb 26 mal als Breiter baS 3iet paffirt hat.
2ltS 3Jtonftrofität möge baneben beS engtifepen 3»<fepS 3reb. Urcper ©rwäpnung
gefepepen, weiter feit einigen Sapren bie Sapnen beS SnfetreicpS „beherrfdpt''.
Strcper ift in ber tefcten Stennfaifon 532 mal abgeritteu unb pat mit feinen 220
©rfotgen bie ©efammtjapt ber Siege auf 1648 gebracht. @r genießt ein SapreS*
eintommen, welches in ber £>öpe bon 200000 SJZarl etwa bem ©epatte beS first
lord of the treasury entfpriept.
3m engen Bufammenpange mit ben Stennen ftept ein ©pftem öffentlicher SESetten.
Die SBetttuft ber Sriten ift betannt unb fpricpwörtticp, wie benn bie ©ewißpeit,
für jebe Sepauptung mit bem ©elbbeutet eintreten ju müffen, niept opne ©inftuß
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780
Unferc «geit.
auf bie Entwicfelung beS {RationalcharafterS geblieben fein fott. Urfprüngltch
mögen bie ©efi|er in ber Erregung beS StugenblicfS h°h e ©eträge auf ihre gegen»
feitigen ©ferbe gewettet haben; halb aber bemächtigten ©peculanten, bie fogenaunten
Bookmaker, fidf ber ©ermittelung oon SBetten, unb trieben bamit ein börfenmäßigeS
Spiel, woburdj bie Sache felbft in feiner SBeife gewinnen fonnte, wenn auch bem
Spieler wie bem ©ferbebeßher Gelegenheit geboten wirb, feine {Rennberlufte unb
StaHauSgaben ju bedien, ©eit wenigen fahren finb bie ©uchmacher auch auf
ben beutfdjen ©ahnen erfchienen unb haben bei bem borjugSWeife betheiligten
©ubliffmt folgen Slnflang gefunben, baß bon facßmännifcher Seite wieberholt
öffentlich ber Snjuht SluSbrud gegeben ift, baS fRenntoefen als folcheS fönne ohne
$ülfe beS SuchmacherS nicht beftehen.
®er ©uchmacher hat für jebeS ju einem beftimmten {Rennen angemelbete ©ferb
einen ©reis, welcher nach ber bewiefenen ober bermutheten SeiftungSfähigfeit
beffelben berfchieben ift. Er bietet bon brei ©ferben: A, B, C, beifpielsweife baS
beffere A mit 1:1 ober pari gegen bie übrigen, „baS gelb", aus, fobaß ber
SBettenbe, wenn A ber SBahrfcheinlichfeit nach fiegt, eine Summe gewinnt, bie
feinem Einfafce gleicht. B fleht 1:2 gegen baS gelb in ben SBetten, fobafj ber
„{Rehmer" wahrfdjeinlich 1 ju jahlen haben Wirb, währenb er 2 gewinnt, falls
B gegen bie ©ermuthung fiegt. C enblidj, ein ganj untergeorbneteS ©ferb, wirb
mit 1:7 gegen bas gelb auSgeboten, fobaß ber SBettenbe immer nur feinen ein*
fachen Einfaf} oertieren lann, aber baS Siebenfache beffelben gewinnt, Wenn G allen
©eredjnungen juwiber bennodj fiegt. ®ie 2Röglid)feit eines h°h en ®ewinneS bei
geringem Einfafce wächft alfo in bem 3Rafje, je „länger bie Odds gegen ein ©ferb
ftehen"; unb auf biefen Safe grünbet fich bie SBettfpeculation. S)ie ©uchmacher
beröffentlichen fd)on lange bor bem {Rennen felbfl bie bon ihnen „gelegten Odds",
welche nach ben ©eridjten über ben ©efunbljeitSjuftanb unb ben SluSfall neuer
{Rennen wechfetn, wie ber ßurS ber ©örfenpapiere, unb nehmen an ben Renntagen
felbft ihren ©Iah an weit fichtbarer Stelle ein, wo fie mit lautem Angebot baS
große ©ublifum ljeranjiehen. ®ie Odds auf ein ©ferb fteigen unb fallen bis
jum Slblauf, ja noch währenb ber einjelnen 3tbtf^enfäKe beS {Rennens unb bie
SSettfpeculanten berfolgen mit bem SBettbuche in ber $anb jebe Schwanfung beS
EurfeS, um nach ®rt beS SörfenfpielS burch bie betriebenen Eintragungen bie
SRöglidhfeit eines h°h en ®eminftcS nicht ju berlieren unb fich bodh gegen ftarfe
©erlufte ju „becfen".
3u Englanb wie in granfreich beftehen ©eftimmungen, welche biefe Sttrt beS
öffentlichen SBettbetriebS berbieten; fie werben aber nicht burchgefüljrt, unb wenn
in erftcrm Sanbe auch bem Unfuge ber „Betting-saloons", förmlicher SBettbörfen, in
neuerer 3«t gefteuert ift, fo ift boch ber Einfluß beS „Betting-riug" feineSWegS
gebrochen unb baS fpeculatioe SBetten bei h°ch unb niebrig, bei alt unb jung
unb namentlich bei allen benen, Welche mit ben {Rennen in irgenbwelctjem 3*»*
fammenhonge ftehen, allgemeine Sitte. ES nimmt in einjelnen gälten foldje kirnen»
fionen an, baß ber ©efifcer beS bieSfäßrigen DerbpfiegerS 600000 SRarl an SBetten
einftreießen fonnte unb einem amerifanifchen ©peculanten, SBalton, Währenb ber
©aifou ein SBettgewinft bon mehr als 1 ‘/ 2 SRill. nachgerechnet wirb. 3« ®eutfch*
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Per beutfcße Hennfport.
78 \
lanb merben biefe ®inge nic^t in gleichem Umfange bor ber Deffentlicßleit Per»
ßanbelt, bodj mag auch ^tcr ber SBettgeminft eines ©tödlichen an einem unb
bemfelben Renntage mitunter bie $öße non 50000 Marf erreichen ober überfiteigen,
unb für baS im Saßre 1883 ju laufenbe Siorbbeutfcße ®erbp, ju bem, toie ju
allen 3udj trennen bie Spiere bereits nor ber ©eburt nad) ber ißaarung ber Heitern
angemelbet tnerben, ift „über" ein fioffnungSöoHeS ißferb ftfjon je|t eine Mette
mit 100000 : 3000 Mart abgefcßloffen. (Sin beftimmteS ©efeß über baS Mett»
toefen efiftirt in ®eutfcßtanb nidjt. ®te SSert^eibiger ber Metten feßen in benfelben
fein ©lüdsfpiet, ba man ja auf bie befannte ©fite unb ©raudjbarfeit eines
fßferbeS feine ©peculation bafiren fönne. Sie haben inbeß nur feßr bebingungS»
toeife recht; benn einmal menbet ficß ber Suchmacher borjugStoeife an baS große
©ubltfum, meinem bie ©raudjbarfeit ber ißferbe nicht befannt ift, meldjeS feine
Metten alfo nur nach äußern, gelegentlichen Ginbrüden abfcßließen fann, unb
bann ift ber förderliche 3uftanb beS IßiereS bon fo manchen 3ufäHigteiten ab»
Ijängig unb mecßfetnb, fobaß bie ©peculation barauf bocß auf recht fcßmattfen
güßen fteßt. $ie breite Maffe beS IßubtifumS hat ftdj benn auch in ®eutfcfj*
lanb um fo mefjr gegen bie öffentlichen ©ucßmacßer erflärt, als einige $änbe
unter ihnen nach bem AuSbrud eines berfelben als „nicht ganj rein" bejeicßnet
merben. ®iefe Stimmung finbet AuSbrud in bem ©infdjreüen ber ©taatSantoalt»
fdjaft, meldje auf berfcßiebenen Slennpläfcen bie ©udjmacßer in Anftagejuftanb
berfeßt ßat. ©in einzelner ißroceß ift in erfter 3fnftanj ju Uitgunften berfelben
entfcfjieben unb bamit ein borläufigeS ©räjubij gefcßaffen, bocß läßt ficß faum
überfeßen, in metcßer Meife biefer 3uftanb feine enbgültige Siegelung finben mirb.
®urdj bie bon ben jugelaffenen ©udjmacßern gejohlten ©tanbgelber fließen ber
Siemtfaffe gemiffe ©innahmen ju, mie biefelbe auch oon bem aufgeftellten lotali*
fator 6 ©roc. aller ©inlagen erhebt. ®iefe Mafcßine fcßließt bie Möglicßfeit um
reblidher Manipulation auS unb regelt bie Odds mecßanifcß nach ber $ölje ber
©intagen mit beftimmtem ©inßeitsfaß. Angenommen, baß in einem Siennen fedjs
ißerfonen ben ©inßeitsfafc bon 10 Marf auf A gemacht hätten, mäßrenb B nur
bon brei Mettern befept ift unb nur einet fein ©etb auf C geioagt hat, fo bleiben
nach Abjug bon 6 ißroc. 94 Marf für bie ©eminner. ®iefe bertheiten ficß, menn
A fiegt, auf bie fecßs ®eßer, unb fallen ganj bem einen Mutßigen ju, menn C
ben Siicßterpoften als ber ©rfte paffirt. Auch gegen ben ®otalifator hat ftdj bie
öffentliche Meinung gemenbet, jumal bie niebrigen ©äße bielfach ein ©ublifum
jum Metten berteiten, meldjeS faum reif baju genannt merben fann; eine bureß»
greifenbe Siegelung fleht auch in biefem Salle bon bem AuSfprudje ber ©erießte
ju ermatten.
©on bem Augenbtide an, mo bie ©udjmadjer fidj mit ber ©rlaubniß ber
Siennborftänbe an baS große fßubtifum menben, bilben bie Siennen felbft eine
öffentliche Angelegenheit, an meteßer baS ©ublifum mit feinem ©elbe betßeiligt ift.
®eSßa!b finb Siennen unb Metten in ihrer Serbinbung gemiffen Siegeln unter»
morfen, meteße eine Ueberbortßeilnng ßinbem foHen. Unter biefen finb bie midj-
tigften, baß ©efißer nicht gegen eigene Ißferbe unb SodeßS nur auf folcße ißferbe
metten bürfen, meldje fie reiten, unb baß bie ißferbe „treu" auSgeritten merben
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782
Unfere Seit.
ntüjfen, b. h- nicht fünfttidj in ihrer ©djnefligfeit jurfidge^alten werben büvfen.
®ie ©rünbe hierfür liegen auf ber $anb unb entfpringen ber großen Serfudjung,
Welche uw fo berlodfenber auftritt, als bie Sofien Ziffern etwaiger SBettgeWinfte
bie eigentlichen {Remtpreife bei weitem überfteigen, ®aS SRennwefen ber ber*
fdjiebenen Sänber concentrirt ftch in einer Korporation, welche in Knglanb unb
Sranfreich als Socfetjcfub, in ®eutfdjlanb als Unionclub bezeichnet werben;
ber te|tere hot in {Berlin feinen ©ifc; »hm fteljt zur enbgüttigen {Regelung bon
Streitigfeiten, Welche bie {Rennen fefbft betreffen, ein „oberfteS ©cfjiebSgericht" zur
©eite. ®ur<h ©efefc mit befonbern SRacfjtbefugniffen auSgeftattet, regeln unb
orbnen biefe Klubs alle {Remtangelegenheiten ihrer Sünber unb wenben {ich nament*
lieh mit aller ©chürfe gegen bie burch baS öffentliche SBetten ^eroorgerufeneit
SluSfcfjreitungen. ®er alte energifche Slbmiral {RouS war bor 3 a hren mit beftem
Krfotge bemüht, foldje überhanbnehmenben StuSWüchfe im Betting-ring zu befdjneiben;
ber franzöfifdje Socfehclub war 1877 gezwungen, ben ©rafen donnere auf Sebent
Zeit, unb beffen 3o<fet> Wegen unehrlichen Seitens für mehrere 3°h te bon aßen
{Rennbahnen ffranfreicfjS zu berbannen, unb unter bem SBotfifce beS Herzogs bon
{Ratibor hot auch ber Unionclub bor einiger 3eit eine ähnliche Strafe gegen einen
gefuchten 3o«f«h berfjangen müffen, wührenb berfelbe glücflicherweife noch feine
SRafcnahmen gegen Herren zu regiftriren hot.
®er ®raberfport, ber in ben lebten 3oh re « manche Anhänger gewonnen h«t
unb in 2)eutfdjtanb in ber {Rühe ber {ReidjShauptftabt eifrig betrieben Wirb, fteljt
mit ben auf bie Serbefferung ber {ßferbezudjt gerichteten Seftrebungen beS legitimen
{RemtfportS in feiner {Beziehung. ®urdj bie aufjerorb entliehen Seiftungen einer
SDtifdfjraffe, ber ruffifchen fogenannten Drlofftraber, ins Seben gerufen, ift er batb
nach Stmerifa berpfianzt worben. ®ie ganfeeS hoben fich beffelben mit befonberer
Seibenfdjaft bemächtigt unb fogar ein eigenes 3üct)tungSprincip für gute Xraber auf*
geftellt, welches fich jeboch um fo hinfälliger erweifen bürfte, als feine Sorberungen
fich feineSWegS mit bem normalen unb fernen Sau beS {ßferbeS beefen unb in
neuefter Seit in Stmerifa fetbft ein „trabenber Ddjfe" mit feinen burch confequente
®reffur fjetborgerufenen Seiftungen bemfetben gerabezu |>otjn fpricht. SBemt ftch
ber {Reiter auf weitere Kntfernungen auch öorzugSWeife eines ruhigen, gleichmäßigen
®rabeS bebient, um rafch, ohne fein {ßferb über bie ©ebühr anzuftrengen, bor*
wärts zu fommen, fo erheben fich bie Seiftungen ber eigentlichen Araber auf ber
furzen {Rennbahn bocfj faum über baS {Ribeau einer Spielerei.
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Ißotfxt unb Jlnrfa.
6itie I e it j o n e
toon
(Emil ©oxibert.
^tofa.
©eh mit beineg Steid^t^umö Ueberfchtoange,
deiner Silber gletSnerifdjem Irug,
deiner 9tbptf)men loechfelboflem ©ange —
®elj! lie SBaljrljeit iß firfj fetbft genug.
$u oerfälfdjeft, mag ich fc^tic^t oerfünbe,
S)u üerbrämft, öerjerrft Jo ©lücf wie 2eib;
©<hön unb tocfenb biß bu tote bie ©üttbe,
$odj bie Irene — mein ©efdjmeib’!
ißoefie.
0, fein Irug ift, tta$ bie Steinte fünben!
©ief), be3 lofeinä ^atbljeit, Ouat unb ©treit
©oQ im Sieb fidj jur Soüenbung riinben:
Stur bie Äunft ergänzt bie 2BirfIid|!eit!
Stur geläutert geb’ ich, ttaS ich füge,
UneutfteDt mit reinem Slang jurücf:
SBirft nicht ber Serffärung ^eit'ge Süge
Iroft, Segeifterung unb ©lücf?
Sßrofa.
©chilt mich nic^t! SOtit offnem Singefichte
©^au’ unb prüf’ unb toäg’ ich Seit um Seit.
®u bertoirrft bie gäben ber ©efdjicfjte,
leine SBitßür löft ben SBiberftreit.
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Unfere <5eit.
78<*
Stber icf) jergtiebre lob unb fieben,
2)rang unb Sampf, bet SSöffer $afj unb Stieg.
SJtein bog SEBiffen, bein bog Ueberljeben —
$ir ber Spott unb mit bet Sieg!
ißoefie.
SBog im ©rab ber Seiten liegt berbunfett.
Stur ber Setjer ftetjt eg, ber ißoet.
SBog in Stacht getaudjt mot, glü^t unb funfett :
2Bat)rf)eitgtrunfen fc^aut eg ber ißropljct.
3 fern erfdjtiefjt fidj eto’ger äJtadjte SEBalten,
®enn jum ©otte fpridjt allein ber ©ott.
SJtein bie ©tut, bein — froftigeg ©rfotten;
SJtir ber Sieg unb bir ber Spott!
ißrofa.
Iroun, bu magft bie SJtenge nur berfüljren,
SJtiijsiggang unb Sroum ift bein 3&ot.
2>u entneröft unb »iHft ju frönen rühren,
Spiet unb ©oufetei ift bein Stjmbol.
3<f) erriet)' jum @rnft, jum tljät'gen Gingen,
SJtid) erquitft bie ungefdjminfte Sraft.
#eit bem Sagen, ober met) bem Singen!
Sdjmeicfjterifcfier Steim erfdjtafft.
©oefie.
3<fe nur fann beg $erjeng Spröde fpredjen:
Unb ber ©ruft tiefinnerfteg ©efütjl
Strömt, ein SBalbbadjj um Ijerborjubredjen
2tug beg ©rameg unb ber Suft ©etoüljt.
Sein ©mpfinben mag öerborgen bleiben!
SBie ein Stufe ber ©b’ne fcfjteidjft bu fort,
Stur beg Stujjeng ^ämmerwert ju treiben —
Stur ber Scfeönfecit bient mein SBort.
ißrofa.
Stufjtog träumft bu auf ber SJtufen Sdjmefle,
Sein ©rmerben folgt beg Sängerg Spur.
®cinc Xunfelljeit tveidjt meiner $ellc,
Seine Sunft ber fiegenben Statur.
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Pocfie unb Profa.
785
Sbredj’ id) nicf)t bei ©olfl gematt’ge Stimmen?
Seiner Seelen Stulbrucf — idj allein!
®eine Junten muffen jäf) »erglimmen;
3<Jj bal SEefen, bu ber Steinl
©oefie.
SBaljr iffl, meine jünger faf) ict) barben;
$odj iljr SReidjtfjum mar bie ©Ijantafie,
Unb fie leben — beine SOteifter ftarben —
Sljren Sauber, Slermfte, fpiirft bu nie!
Sidjtermort öerflärt bei ©otfel Renten,
Unb ber Seelen ©otmetfdfj bin nur icf) —
Sterne Ijab’ id), ©Selten ju »erfreuten;
Slrmutlj felbft mirb reid) butcf) micf)!
©rofa.
Äannft bu leugnen, bafj bu, matt unb trunten,
Sei ber 9tjjt)tf)men trciumerifcfiem Sdjmung
3n bid| felbcr tljatlol fjarrft »erfunten
Unb in ftitle Selbftbefpiegelung?
©Hilft nur, ein SJtarcifj, bicf) felber flauen
Unb beraufcljeft bicf) am eignen ©ilb.
Stunjetft bu im Born audj beine ©rauen,
SBirb ber Sdjmerj ber SBeft geftiHt?
©oefie.
®u nur medjfelft emig mit ber SDlobe
©alb bein feinel, halb bein grob ©etoanb;
®od| ber ftotje galtenrourf ber Dbe
Ueberbauert beinen glittertanb.
©iidjtern fcfiauft bu felbft nur bidj; ber ®id)ter
gül)lt in fidj bei ©ottel §erj unb Sinn,
Unb bie $idjtfunft ift, ein Sßeltenricfjter,
2Ulel Seibl ©erföljnerin.
ttttftre Seit. 1883. I.
50
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(Efjromk 'btx ©tgenroari
Jttnlikalifdje Jtcvuc.
Die ©liefe ber SBagnen©emeinbe richten fiep mit gefpannter ©rmartung naep
bem Sunfttempel SaireutpS, mo im SBagnenDpeater bie Snfcenirung be$ „5ßar*
fifal" vorbereitet mirb. ©ereilt ift in politischen Seitungen, in mufitalifepen unb
betfetriftifd^en ©lättem bie *ßarfifal=Srage eingepenb befproepen morben, auep Dpco*
logen finb mit ihrem Urteile ber Sunft 3ti<parb SSagner'3 näper getreten uitb
paben Von iprem ©tanbpunfte aus bem Sauberer von Saireutp maneperlei ©orroürfe
unb Sebenflicpfeitcn im ^inblidf auf bie Sepanblung beS cpriftlidpen SegenbenftoffeS
niept erfpart. £wuptfäd)licp ift folcpe Cppofition mol bur<p bie päufig reept mettig
ben ffern ber ©aepe treffenben, mit mpftifepen Deutungen burdpfepten ©ertöte unb
Slnalpfen ber fcpriftfteUernben greunbe beS Dicpter^Gomponiften perVorgerufcn
morben, meldpc bie Slufmerffamfeit von bem innern SBefen be£ fi'unftprobuctS
abgewogen unb auf äußerliche ©e^iepungen piugelenft paben. ©inen gerabesu
fomifepen ©inbruef maept bie 2lnfidpt, baß im „^Barfifal" bie ©dpopcnpauer’fcpe
©pilofoppie Vcrperrliipt merbe, mäprenb boep einfad) bie Grlöfung Vom ©Öfen
burdp bie {Reinheit beS ^erjenö unb burep ben innigen feften ©tauben an bie
£eilstpat beS GrlöferS in mittelalterlicher fiegenbenform 5 ur DarfteHung fontmt.
Die mittelalterlichen {paffionsfpicle, mie bie oberammergauer, brachten ben £ei-
lanb felbft auf bie ©iipne; bie ^affioit ©ebaftian ©acp’S cntpüllt un£ bie
SeibeuSgefdpicpte C£I>rifti halb in cr^äplenber gorm burch ben ©vangcliften, halb
in Iprifcpen ©etradptungen unb bramatifd; gefärbten ©hören; SRid^arb SBagncr
benupt bie bramatifcfjc Decpnif 5 ur Darlegung ber SBirfung, melcpe bie |>eil 3 tpat
im aRenfdpentpum Vollbracht hat, unb beitupt 3 ur ©fpofition mit großem ©efepief
bie ©age Vom ©arfifal. Daß SBagner bie ©injelpeiten beS „{ßarciVal" von
SBotfram von ©fepenbaep nicht brantatifiren foitnte, ift gerniß allen flar, melcpe
mit ber ©iihnentechnif nur einigermaßen vertraut finb. ©in ©erlangen fotcher
$lrt mürbe ebenfo unverftänbig fein, als bie Sorberung an ©epilier, baß biefer
ben „SBatleuftein" mit allen gefcpidptlicpen Dpatfadpen, melcpe mit ber Sßerfon
SBallenftein’S aufammenpängen, hätte auSftatten foUen. Der bramatifepe Didptcr
ift ein $errfcper in feinem {Rcicpe, meldjem ber religionSppilofoppifcpc ©tanb^
punft bcS Dpeologen unb bie Detailaitalpfe beS |)iftoriferS bie eigene ^errfepaft
niept ftreitig maepen barf. Seber Dicptcr pat niept allein baS fRedpt, fonbent
fogar bie ©ffiept, bie ©paraftere in ber feinem geiftigen SBefcn eigentpümlicpcn
poetifepen ©cfuplS* unb Denfmeife 5 U erfaßen unb mit bramatifeper üttotivirung
in lebensvoller firaft Vor^ufüpren. IRicparb ©Jagner patte aber niept allein als
bramatifeper Didjter, fonbent Vor allen Dingen als ÜRufifer, meldper feine Dicp*
tung in konformen $ur Grfcpcinung bringen mollte, ju paitbeln. ©r mußte alfo
bie Segenbc SBolfram’S vom ©ral, von ber Dafelrttnbe unb vom ^arcival auf
bie Pointen befdjränfen unb bie panbelnbeit ©paraftere berart feenifdp einführen,
baß allenthalben baS innere SBefcit berfelben gu erfennen mar, ipm aber bod)
voüfter ©pielraum $ur ©ntfaltung beS ©mpfinbungSlebenS burep bie SJtufif blieb.
2 Bcr ben $e£t optte 3Riidfid;t auf bie mufifalifdje ©jpofitiou betradptet, Verftcpt
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JTCuftfalifdje Herme.
787
t»ort ber mufifalifch*bramatifchen Sehanblung unb öon ber Aufgabe, toelche bie
SNufif ju löfen h^ Siefe Aufgabe ift offenbar bezüglich beS „5J?arfifat"
SBagner’S eine bei meitern größere als im „Ning beS Nibelungen"; benn ber
Efjortyrif, toelche im „Ning beS Nibelungen'' ganj fehlt, ift eine fe$r bebeutenbe
SRoÖe jugetoiefen; in ben Stören felbft tritt ber ©egenfafc fo ftar! Ijerbor, ba§
man bei bem Sefen beS SefteS fofort erfennt, toie ^ier hauptfächlich ber bidjterifch
infptrirte SRufifer bie SiSpofitionen getroffen hat; lange ©efpräcfje, toie bieienigen
ber ©ötter in ben „Nibelungen", finb ganj bermieben. Alles brüngt bielmehr
jur Ausbreitung ber Sonmaffen unb $ur ntufifalifchen Entfaltung beS ©effihlS*
lebenS ^in. SBenn man bie abgebrochenen ©chmerjenSrufe ber $unbrp lieft, fo
erfennt mau fogteich, toie h^ bie SäJtufit eintreten foH, um baS Seelenleben boll*
ftänbig ju offenbaren, toie ber Sinter, atterbingS in fe^r glüdtichen Süßen, nur
ffi^jirt, toaS ber SNufifer mit feinen Sönen toeiter ausbreiten unb ber (Seele beS
|)örerS juführen foH. SSon allen Seiten SBagner’S ^alte id) ben $ßarfifal*Xe£t,
bom mufüalifdjen ©tanbpunft aus betrachtet, für ben gelungenen; toemt ber
Sonbidjter bei ber ntufifalifchen ßonception noch über bie ihm früher eigene
Sfraft berfügt hat, fo biirfen mir getoiß baS Sebeutenbfte ertoarten, toaS — um
in ber SBeife beS Sichters $u fprechen — bem ^erjblute SBagner'S entblüljte.
SaS ganje SBerf ift äußerft ftimmungSbofl, ganj $ur ntufifalifchen ©ompofitton
gefchaffen, unb babei im ganzen, felbft an ben ©teilen, toelche bie an Sßarfifal
berfudjten SerführungSfünftc ber $Näb<hen unb ber Sunbrp im Saubergarten beS
ÄlingSor fchtlbern, boch ebet unb fitttich motibirt.
©ine fßrobe bon biefer mufifalifch ftimmungSbotlen Haltung beS SejteS möge
hier fßlafc finben. SaS ©an^c gipfelt in ber ©h ar f re üag3feier. AIS Sßarfifal fich
über bie herrliche Aue im buftenben Slütenfchmucf freut unb bie SWeinung aus*
fpricht, baß er niemals bie £>errlidf)feiten ber Natur in bem SNaße erfchaut höbe,
jagt ihm ©urnentana, baß ©harfreitag fei unb biefer Sauber ber Natur mit bem
heiligen Sage fich berbinbe, toorauf ^ßarfifal antwortet:
0 weh, beS hofften ©chmeraenStageS!
Sa follte, mahn' ich, toaS ba blüht,
2SaS athntet, lebt unb mieber lebt,
Nur trauern, ad)! unb meinen?
Soch ©urnemanj gibt nun bon ber Sebcutung beS ©IjarfreitagS ^ne toirllich
herrliche ©rflärung:
Su fielet, baS ift nicht fo.
SeS ©ünberS Neuethränen finb eS,
Sie heut mit heil'gem Sh au
SBeträufet glur unb Au:
Ser lieg fie fo gebeihen.
Nun freut fich ölte ©reatur
Auf beS ©rlöferS halber ©pur,
SBiH ihr ©Jebet ihm meihen.
3hn felbft am ßreu 3 e fann fie nicht erfchauen:
Sa blieft fie gum erlöften SNenfcheu auf;
Ser fühlt fiel) frei bon ©ünbenangft unb ©rauen,
Surch ©otteS fitebeeopfer rein unb heil:
SaS merft nun §ahn unb Sölume auf ben Auen,
Saß h^t be§ SNenfcheit guß fie nicht gertritt,
Sotf) mol, mie ©ott mit Ijimmlifcher ©ebulb
©ich fein erbarmt unb für ihn litt,
Ser Sfteufch au<h heut in frommer £ulb
©ie fchont mit fauftem ©dhritt.
SaS banft bann alle ©reatur,
SBaS aH ba blüht unb halb erftirbt,
Sa bie entfünbigte Natur
$eut ihren UnfchulbStag ermirbt.
50»
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788
Unfere .geit.
Sille Seurtßeilungcn beg Sejteg, Welche Oor ber mufifalticßen Stuffüßrung ober
oßne 3ufantmenßang mit ber Sonbicßtung veröffentlicht toorben ßnb, fönnen
gar leinen Slnfprudj auf irgenbtoelcße Sebeutung machen; eg toirb fich vielleicht
etroeifen, baß Sicßarb SBagner bie in ben ,3li6elungen" $u Sage tretenben
©ftreme oermieben ßat unb jum richtigen 2Jtaß jurücfgcleßrt ift, oßne babei in
ber ®röße ber Gjpofition hinter ben „Nibelungen" jurücfyubleiben.
Sag ^auptgefpräcß in ben mufilalifcßen Sfreifen bitbet jeßt bie gnfeenefeßung
beg „Sßarfifal"; benn eg ift eben uidjt ju leugnen, baß Sicßarb SBagner afe b<r
größte Sonbicßter ber ©egenroart aller Stugen auf ficb siebt unb in mufifatifeßer
Schiebung bie S3äbnen betjerrfd)t. Seine SBerfe hoben auch ber Secorationgfunft
unb SWafcßinerie manche neue Stufgaben gefteüt, unb befonberg oerlangen bie Ser*
roanblunggbecorationen für ben „ißarfifal" bie forgfamfte Slugarbeitung aller
Ginjelßeiten. Sie Gnttoürfe ju ben pracßtoollen Sccnerien finb oon bem SJtaler
oon Sonloroglß angefertigt ; jur praltifcben Slugfüßrung ßnb bie Secorationen oon
ben ©ebrübern Srücfner in Coburg gefommen, roelcße oielfacß felbftfcßöpfcrifcb
tbätig fein unb oon ben ©ntroürfen abtoeicben mußten. Sin Sefucßer beg bau
reutper ffimfttempetg äußerte oor fürjerer 3cit, baß bie Sßeilneßmer an ben
„Sarfifal"*Sluffüßrungen im Sommer 1882 2Bunbertoerfe ber Secorationgfunft ju
jeßauen belommen mürben. 3unöcßft ben ibealen SBalb oor ber ©ralgburg mit
bem ©lief auf ben SBalbfee. Sicfe Scene oerroanbelt ftcfj fpäter in ein fort*
laufenbeg Sanorania; bie gelfengebirge bcö nörblicben Spanien^ treten plaßifdj
Oor unfer Sluge; bureb bunlle ©änge unb ©rotten febreiten ©arfifal unb ©urne*
manj, big fid$ bie SBanbelbecorationen in einen mächtigen bretfcßifßgen Kuppel*
faal (bag innere ber ©ralgburg) oeränbern. Ser Setfaal ber Nitter ift in ge*
ßeimnißbofleg Sunlel gehüllt, roäßrenb aug ber £öße ber S'uppel Siebt unb ©efang
bringt. Such bie ©efäße, ber ßeilige ©cal felbft, mit i>iitfe beg elettrifcben
Sicbteg jum Grglüßen gebracht, ßnb nach Segnungen 3onfotvSfh’ 5 in ftitootter
gorm auggefübrt. Ste Secorationen beg jmeiten Slcteg merben bie beg erften
noch meit überbieten. Sag innere Surgoerlieg beg 3oubererg fflinggor magfirt
nur bie barauffotgenbe beßriefenbe Sccoration beg 3aubergarteng mit feiner
üppigen Slumcnpracßt unb ber Serraffe beg 3ouberfcßtoßeg. Sie Scene toirb
bie ganje Siefe beg baireutber Süßnenraumeg einneßmen. Unter ben ©erfaß*
ftüdfen unb tbeilroeife aug ben Slütengebüfcßen fteigen bie ßoubermäbeßen beroor,
beren ©oftüme ben augfüßrenben Zünftlern maneße Scßmierigfeiten bereitet hoben,
ba SRicßarb SBagner alleg SrabitioneHe ober Saüetmäßige ftreng oerpönt Sßlöß*
ließ oerroanbelt ßcß ber prächtige Slumengarten in eine bürre Gittöbe, naeßbent
alle 3ouberlünfte an ber Sugenb ©arfifal'g gefeßeitert ßnb unb biefer jenen oon
Älinggor naeß ißm gefcßleuberten Speer geroonnen bat. Stucß bie Secorationen
beg leßten Slcteg foflen naeß ben poeßeooHen Gntroürfen oon gonforogfp’g mit
äußerßer Sorgfalt angefertigt fein unb jur finnootten Sarfteßung ber Situation
glücfticß beitragen. 3Jtit ber Slbenbmaßlgfeier in ber ©ralgburg fcßließt belannt*
ließ bag SBerl.
Sor bem Sßeater fpeift bie neue baireutßer SBafferleitung eine mächtige gontaine
unb im Innern beg £>aufeg iß biefelbe mit berartigen Slpparaten in Serbinbung
gefeßt, baß jebe geuerggefaßr auggefcßloßcn erfeßeint. Sine für bie SBagner-Sacße
unb fpecieß für bie baireutßer geftauffüßrungen ungemein tßätige fitaft ift Santier
©roß, ber Slffocie beg §aufeg geußel. Serfelbe leitet nießt nur ben ganzen ge*
fcßäftlicßen Sßeil beg ©atronatgoereing unb ber Süßnenoerroaltung, fonbern er
birigirt aueß bie gejcßäftlicßen Slngelegenßeiten mit ben Zünftlern, ben SiHetoer*
lauf unb anbere 3»oeige ber Serroaltung. Sie Sßeilnaßme ift eine fo rege, baß
ber Sidetoerfauf halb gefcßloffen roerben fott, eine ung mitgetßeilte Sßatfacße,
roelcße oon ber großen Sln^icßunggfraft ber oon feiten beg Sicßter Gomponiften ent*
falteten Sßätigteit bag beße 3cugntß gibt. 3eßt ift bie Slnficßt oerbreitet, baß
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ZTTufifalifcfye 2Jepue.
789
SBagner’b „fßarfifat" nur in Vaireuth 3 ur Slufführung fommen merbe unb ben anbcrn
Sinnen un 3 ugängtich fei. $ie Seit mirb lehren, ob fich bab (Spiel mit ben
„Nibelungen" miebertiott, toeldjen auch anfänglich bie Verbreitung auf anbern Vühnen
abgefprochen mürbe. Nun fehen mir fogar, bafe burch eine Unternehmung in grofc
artigem SRafjftabe bie „Nibelungen" in aujjerbeutfchen Säubern aufgeführt merben
faßen, nachbem fie in mufitalifchen ^auptftäbten Deutfcfjlanbb ben Sieg baPon*
getragen fm&en- Stngelo Neumann, ber unermübtiche, rafttob thätige Cpcrnbirector
beb leipjiger ©tabttheaterb, Peranftattet im SKonat SNai bie fogcnannten englifchen
Stufführungen, natürlich in beutfdjer Sprache, für metdhe hochongefehene tonboner
Ntufifer, mie ®anreuther, SBalther Vadje u. f. m., unb Piete gütjrer ber Slrifto*
fratie ungemein thätig gemefen finb. ®er ffönig Pan Vaiern h<*t in hutbPoßfter
SBeife bie fünftterifche üRitmirfung beb berühmten Ehepaarb Vogl genehmigt, fobajj,
menn fonft nicht bie tonboner Nebet ben Stimmen fchäbtich finb, bie Durchführung
beb Niefeuunternehmenb gefiebert erfdfjeint. 2Rit bemunbernbmerther Umficht unb
Energie hat SDirector Stngeto Neumann feine $ibpofitionen getroffen. 3ebe Noße
mürbe Pon ihm breifach befefct, um aßen eintretenben $tibi$pofitionen begegnen 31 t
fönnen. Ser ejeeßente 3Bagner=$irigent ©eibl leitet ben mufitalifchen £h c ü unb
hält umfaffenbe groben in Hamburg, mo auch bab für biefen SüJec! befonberb
gebitbete, burch treffliche junge Zünftler Perftärfte Drchefter 3 ur thatträftigen Seiftung
Porbereitet mirb.
Sn Seip 5 i 9 mirb pon ber ©emanbhaubbircction rüftig gearbeitet, bab
fßroject jum Vau eineb neuen Eoncerthaufeb in mögtichft tur^er Seit praftifc^
burch^uführen. Sie Perftoffene ©aifon f)at mieberunt bemiefen, baß ber ©aat
im ©emanbhaufe für bie Slbonnementconcerte nicht mehr aubreichenb ift. Vei
gröfeern Ehoraufführungen, metd)e aub SNangel an Naum nur mühfarn
fteflen finb, müffen bie Vefifcer ber *ßtähe in ber Nähe beb Ordjefterb eine SBan*
berung in ben fogenannten Keinen ©aat antreten, mo bie Stfuftif atb eine
gerabe^u gebrodene erfdheint. derartige ©horconcerte, mie fie im ©ür^enichfaat
ju ®ötn, in ber Eoncerthafle 3 U Stachen u. f. m. ftattfinben, finb im ©emanb*
haubfaate unmöglich, eb bominirt baher mit Nedht bie Snfftumentatmufit unb ber
©otogefang. Sie bebeutenbften tünftterifchen ffräfte merben jur fotiftifdhen äJtit*
mirtung gemonnen, 3 . V. Spännt, Vrahmb, Nubinftein u. a., unb Pon ben No*
Pitäten tommen bie beffem in biefen 22 Stbonnementconcerten beb ©emanbhaub*
concertinftitutb in jeher ©aifon 3 U ©ehör. S°h annc ^ ®rahmb h a * fein neueb,
meiftertich gearbeitete^, in ber Setaitburchführung fehr iutereffanteb, in ber 2Jie*
tobif unb thematif^en Erfinbung meniger herPorragenbeb 3 meiteb fftaPierconcert
fetbft Porgefütjrt unb Slnton Nubinftein fungirte am 12. San. als Dirigent bei
Stabführung feiner neuen fogenannten „Nuffifdjen ©pmphonie". SBieberhott muß
ich fyitt aubfprechen, bafj biefe fünfte ©pmphonie beb SNeifterb (in G-moll) in
gtän 3 enber SBeife ejecutirt mürbe; fetbft ber ftrengfte ©plitterrichter hätte ber be*
munbernbmerthen Seiftungbfähigteit beb lediger ©emanbhauborcheftcrb bie größte
Stnerfennung nicht Porenthatten fönnen. Slnton Nubinftein, metcher an ber ®pi£e
mit feiner ©eniatität eteftrifirenb auf bab Orchefter einmirfte unb, mit fidlerer
$anb bab Enfembte teitenb, ben herrtichften Sieg 3 U erringen Permodjtc, ift ein
mahrhaft gottbegnabeter Sonfchöpfer, beffen Sbeenreichthum bab &er 3 beb Suhörerb
unmittelbar trifft, ©eine fßrobuctionen finb nicht angefüflt mit fchmerfäfliger
Slrbeit unb mit aubgegrübetten Sünftcteien, fonbern in ihnen mattet bab ©enie,
oft fogar mit einer ©orgtofigfeit, bafj bem h°dh&egabten Xonbict)ter mehr Nuf;e
unb Veftänbigfeit in ber Verarbeitung beb tünftterifchen ©ebanfenb 3 U münfehen
märe. S n ^ cr ermähnten Symphonie hat jebodh ber SNeifter feinen ©eniub feft=
gebannt unb ihm nicht bie Erlaubnis 3 U Stbfchmeifungen ertheitt. geftgegtiebert
in ber gorm, einheitbooß in ber Gattung, reidh aubgeftattet mit contrapunftifchen
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ltnfere «geit.
©eftaltungen unb ungemein reigOod im Kolorit, befunbet jeher @a£ ben innern
©eruf beS XonfcfjöpferS, melier mit biefer fünftterifchen 2^at baS SInbenfen feiner
oerftorbenen Schülerin, ber ©rofcfürftin |>elene, als probuctioer Zünftler geehrt
hat. 2IuS biefem ©runbe ift eS auch erflärlidh, bafj bie Symphonie eine ruffifd)e
gärbung befifct unb baS ©ange Oon einer getoiffen SBehmuth burchgogen ift, bie
ein finniges ©emüth ungemein anfpricht. 9Rit bcr Schönheit ber S^emata Oer*
binbet fich, Wie fchon angebeutet, eine oortreffliche gactur, bie nicht feiten burch
reiche unb intereffante ^ßolpphonie gu ^o^er ©ebeutung emporgehoben ift. Sicht
allein bie technifchc ©emanbtjheit in ber ©ehanblung ber Schemata gibt ber fünft*
lerifdjett Arbeit neben ber Grfinbung ber ©runbgebanfen jene bebeutfame SBirfungS*
fähigfeit, fonbern bie innere Vertiefung beS SReifterS bei ber polppfjonen ©eftaltung
unb baS contrapunftifche gneinanberfchtingen ber SRotiOe erhöhen ben SBerth in
bebeutungSOoder SBeife. Sach ffenntnifjnahme biefeS SBerfeS Wirb baS Urteil,
baf$ SInton Subinftein nicht forgfältig genug in ber Surdjarbeitnng »erfahre, mit
Verfielt abgugeben fein. ®enn er ^at fjier aderbingS gezeigt, bafj er bie ®raft
befifct, auch in biefer Stiftung mit jebem Snftrumentalcomponiften in bie ©chranfen
treten gu fönnen. hoffentlich ift eS Seipgig fpäter oergönnt, ben äReifter als
Dperncomponiften fennen gu lernen. SRöglichermeife Wirb auch au f bem ©ebiete
ber Dper Oon ihm noch ©ebeutfameS probucirt. Schon §anS *>on Sülom fteHte,
Wie bereits in biefer 3citfc^rift mitgetheilt, in ber ©efprechmtg ber Oper „Sero"
oon SInton Subinftein fein Urtheil bahin feft, bafj Subinftein nicht bie ©ahnen
SBagner’S wanble, weil er bie $oteng gu eigenartigem Schaffen befifce! Gs märe
mahrlich eine greube, in ber Oper einmal wieber ber ©elbftänbigfeit gu begegnen,
nacf>bem faft nur SBerfe probucirt toorben finb, beren gnhalt nnS ^ cm .Sauberbanne
SBagner'S nicht herauSfommt. Safj Subinftein als ein gewaltiger 3 fl uberer bie
$ergen feiner 3ufjörer gefangen nimmt, mürbe in jenem ©emanbhauSconcert fd)on
nach ber ©pmphonie offenfunbig. 2)ie ©eifadsfalüen unb heroorrufe mifchten fich
mit einem mächtigen Drcheftertufch, wonach ber ©efeierte in ber tiebenSWürbigften
SBeife ©elegcnheit nahm, feinen 2)anf in Sönen auSgubrücfen. ®er zufällig im
©emanbhauSfaale aufgeftedte Slliquotflügel aus ber föniglich fächfifchen $of*
pianofortefabrif beS herm Gommergienrath SuliuS ©lüthner biente bem äReifter
gut Gntfaltung feiner munberbaren ©irtuofität, mit welcher er baS Sßublifunt gur
höchften ©egeifterung $ie ©irtuofität h a * fich auch in anberer Sichtung
in ben ©ewanbhauSconcerten ©eltung oerfdhafft. Unter ben oielen Sirtuofen,
welche für bie eingeliten Goncerte gur SRitmirfung gewonnen waren, ragte befonberS
ber ©ioIoncedooirtuoS Julius Klengel heroor, beffen Jechnif oon ben wenigften
gadjgenoffen erreicht, Oon feinem anbern übertroffen ift. S)er noch fehr junge
SReifter befifct aber auch ue6en ber ftaunenSmerthen gertigfeit einen fehr fdjönen,
ebeln Son unb ift gugleich ein Oortrefflidjer dRufifer, Weidner mit einem eigenen
Gedoconcert unb mit anbern reigüoden Gompofitionen fich erfinbungSreicher
unb formgeWanbter Gomponift Suhm unb Ghre erworben hat. Sicht allein in
2)cutfchlanb, fonbern auch in £>odanb würbe bie Vebeutung beS Virtuofen in
hohem ©rabe anerfannt, foba§ fein Sünftlername unbeftritten in ber ehrenoollften
SBeife feft begrünbet ift. SBährenb Slengel feine Virtuofenlaufbahn erft feit Oer*
hältnifcmä&ig fürgerer 3^it begonnen h^t, ift Slnton Subinftein am 3ide angelangt;
benn leiber ift eS ber fefte SBitte biefeS uuoergleichlichen SReifterS, fich nom öffent*
liehen ®laoier[pieI guriidgugiehen.
®aS gaScinircnbe feines Spiels unterfcheibet fi^ Wefentlich Oon bem afabe*
mifchen 3erlegen beS SHaoieroirtuofen §anS oon Vülow, welcher an bem
mit ber meiningenfehen hoffapede im ©aale beS ©ewanbhaufeS Oeranftalteten
VrahmS*S(benb baS VrahmS’fcfje Slaoicrconcert Sr. 2 fehr correct, folib unb
meifterlich in ber formalen ©eftaltung, aber „fühl bis ans £erg hinan" oortrug.
S>ie oon bcr meiningenfehen ^offapede gegebenen Goncerte h a ^ en überhaupt
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ITTufifalifcpe Hcduc.
bemiefen, bah bic ©tärfe beS £>ofintenbanten Dr. £anS öon, ©ülom im glieb*
meifen Stiegen $u fud^ett ift, bah er mit bem ipin unterteilten Orcpefter jebeS
©reScenbo unb SecreScenbo, jebert Slccent, jebe ©prafiruug mit fubtitfter @e*
nauigfeit pcrauSarbeitet unb fomit eine geiftöoHe Slnalpfe barbietet, bah aber
opne jeben Steifet ber Organismus beS ganzen SonftücfeS burdp eine berartige
fubtile anatomifdpe ©rocebur öon bem ftarfen ßebenöftrom etmaS öerliert unb
bann in ber Totalität meniger mirft. willen ttefpect öor bem ©erftänbnih beS
Dr. §anS öon ©ülom, aber fein ©erfahren ift äumeilen ein extremes unb palt
fid^ niept immer in mahöoHen ©rennen, namentlich menn berfetbe fogar Ignftrumen*
tationSänberungen öornimmt, melcpe boep einem ©eetpöoen gegenüber !aum ju
rechtfertigen fittb. Sie r^etorifd^e Spätigfeit beS ^pofintenbanten ift in Seip^ig
nicht allenthalben gebilligt morben; baS leipziger ©ublifunt fonnte gar nicht be*
greifen, aus meinem ©runbe Dr. £>anS öon ©ülom „SatiSfaction" für ©rapmS
fepaffen mollte. Sah früher ©rapmS mit bem ©ortrage feinet SHaöierconcertS
nicht bie pödpfte Segeifterung ermeefte, mar {ebenfalls nicht bie ©cpulb beS ©ublifumS.
Srofc attebem maren bie ©ütom^Soncerte geuuhreiep; fie haben öor alten Singen funb*
gethan, mit melcher Slufopferung §anS öon ©ülom baS ©tubiurn ber SBerfe betrieben
hat unb mie er aus öerpättnihmähig mittlern Kräften ein fehr bebeutenbeS fünfte
lerifcpeS ©nfemble gebilbet hat, beffen technifche ßeiftungen öon ber eminenten
^nftructionSfunft beS Seiten rupmreicpeS 3 e ugnih abiegen. Sah nach fo groben
Slnftrengungen eine gemiffe 9teröofität eintreten muh, ift 0 an$ erftärtidp; möchte
ber ©ommer Dr. öon ©ülom bie nötige ©rpolung bringen, bamit uns biefer
hochbebeutenbe Sünftler in fünftiger ©aifon mit neuen ©aben erfreuen fann.
©olcpe ©aben nimmt man {ebenfalls banfbarer auf als ^meifelpafte Opern*
probucte, mit melchen auch i n aeuefter 3^it baS ©ublifunt nicht öerfepont morben
ift. ©ine ber armfetigften Spaten auf bem ©ebiete ber 0per ift baS fepon früher
in biefer 3eüfcprift ermähnte bramatifepe SBerf „SDteppiftoppeleS" öon Slrrigo
©oito, melcpeS bie beiben Speile beS ©oetpe’fcpen gauft in fo fcplimmer gorm ju
einem Dperntejte öerarbeitet aeigt, bah bie beutfepe ®ritif entfepieben ©roteft ba*
gegen erpeben muh. $iefer „üJteppiftoppeteS" ift nun auep in SBien grünbtiep
5 urecptgemiefen morben. ©ingepenb unb intereffant pat fiep ©buarb §anSticf in
ber „SReuen freien ©reffe" geäuhert. Ser geiftöotle ®ritifer meift barauf pin,
bah jener „melfcpe Seufet" geraume 3^it öon fiep reben gemacht pabe. 3uerft
burcpgefallen, bann ju beit SBolfen erpoben, „gerieptet" in Sßaitanb, „gerettet" ju
©ologna, pat „SKeppiftoppeleS" ben ÜJlamen feinet 2lutorS, Slrrigo ©oito, fcpliehlicp
3 ur ©erüpmtpeit gebracht. ©3 ift mol baS erfte ©eifpiel, meint ©buarb ipanSlicf,
bah ein italienifeper ßomponift gleich mit feiner ©rftlingSoper niept nur feften
Suh faht im ©aterlanbe, fonbern auep ben SBeg finbet über bie Sllpen. SRofftni,
©eUini, Soni^etti unb ©erbi pabeit biefe Stellung amar in jüngern 3apren erreidpt
als ber jefct öierjigiäprige ©oito; aber feiner öon ihnen mit feiner erften, auep
niept mit feiner ameiten unb brüten Oper. „SKeppiftoppeleS" hingegen ift bereits
in Sonbon unb ©eterSburg, in Hamburg, S'öln, ©rag, fcpliehlicp in SBien gegeben
unb genieht in Stalien bie ©pren eines ®unftmerfeS öon erftem SRange. ©ei uns
pält mol niemanb öiel öon bem „Sriumppe" einer Opernpremiere in Italien;
12—20 $eröorrufe beS SJiaeftro mollen bort menig bebeuten, unb bie Oper felbft
lebt öietteiept niept ebenfo öiele 3Konate. ©cbeutfamer als baS Furore ift uns
fdpon baS giaSco einer neuen Oper in Italien. Sah ber „©arbier öon ©eöiQa",
„Slortna" unb „La Traviata" bei iprer erften Sluffüprung burcpgefallen finb, pat
faft ben SBertp einer günftigen ©orbebeutung erlangt — auep für ©oito’S „Slteppifto^
ppeleS", ben fie in 2Jiaitanb als geleprte „Masica tedescha" öerurtpeilt paben.
3n feiner ®ritif ermäpnt §anSlicf auep bie ©efpreepung S33. Sübfe'S in ber
„©egenmart", mo biefer fein ©oito=2ob mit etlichen SluSfäHen auf bie „3JZeifter*
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792
Unfere <5ett.
finget" Würjt unbj. SB. meint, baß „SRepßiftopheteS", auch wo er einen ^>ö£ten=
lärm entfeffett, nirgenbS „etwas fo SBüfteS wie bie berüchtigte Sßrügelfcene in ben
«SReifterfingera» Berübt höbe". §anSticf, bcfanntticß in Bieter SBejiehung ©egner
SBagner’S, erftärt bagegen, „baß nach feiner Gmpfinbung «ßRephiftopheleS» fleflm
bie «ßReifterfinger» nur eine SaßrmarftSmufif fei, ein Opemfpectafel, in welchem
jwar mancherlei SBagiter nachgemacht wäre, aber nichts fo gut nachgemacht, bafj
eS in ben «SReifterfingern» fte|en tönnte". SRun beutticher tonnte fiep ber wiener
Sritifer nicht auSfprecßen. ®er S«h a ^ beS ©tüdeS ift unfern fiefem auS einer
frühem „SReoue" befannt.
Gegenüber fotch anfpruchsooßem wetfdjem Ireiben oerbient bie liebenSWür*
bige SBefcheibenheit, weiche in ber jur Ober umgeformten SRärchenbichtung
„SRaimonbin", componirt oon Sari Bon S|B er fall, ju bemerfen ift, BoIIeS fiob.
3War oermocßte baS in fünf Stete eingetßeilte SEBevf, WetchcS beffer weit fürjer
jufammengejogeit unb mit SRüdfidjt auf bie t^rifefje Rottung nicht als Dper,
fonbern als „mufifalifcfjeS äRärchen" angetünbigt würbe, in Seipjig einen nach»
haltigen Grfotg nicht ju ergicten, wie bieS wol auch in SRündjen ebenfo ber
goß gewefen ift; man erfannte aber baS latent jum SRännet chorliebe, jum
Itjrifchen ©otogefange unb flangboßen Gnfemble, welches bei fnapper unb einheit*
ticher Saffung beS ©anjen jur ©ettung fommen tann. Um bie teipgiger ®ar*
fteßung erwarben fidj grau ©achfe=|>ofmeifter (SRetufine), fperr fieberet (SRaimonbin),
f>ert ©djelper (®raf fjoreft), |>err SBieganb (Gcfart) große Sßcrbienfte. ®er ©her
befriebigte, baS Drdjefter war unter ber ®irection beS SapcßmeiftcrS ©triegler
ausgezeichnet unb bie StuSftattung erwies fich als eine gtanjooße.
dagegen hot bie bereits in einer frühem „SÜeoue" befproefjene Dper „®er ®ämon"
Bon Stnton SRubinftein in Sollt bebeutenbe ©enfation ßeroorgerafen unb ber
$heaterfaffe beS ®irectorS SuliuS $ofmann feine Ginbuße Berarfacht. SRubinftein
fetbft hoi fich äußerft jufrieben gefteUt geäußert unb bem fötner Dpemenfemble
ein fehr günftigeS .Qeugniß auSgefteßt. GS ift recht erfreulich, baß ber genannte
Xßeaterbirector mit feinem ©inn für baS Gbte in ber mufifatifchen Sunft in
Söln wirffam bureßbriugt, unb bie Sljeotcroertjättuiffe, inSbefonberc bie Drcßefter»
guftänbe, bureß fein tßatfräftigeS Gingreifen Wefentlicß gebeffert hat. tpauptfächlicß
ift babei ßerborjuheben, baß fich Sßcaterbirector S u KuS |>ofmann Bon ber Gin*
feitigfeit fern gehalten h fl t unb aßen berechtigten Sunftricßtungen ein ©dpi per
gewefen ift.
Sn Sötu Wirft befannttich atS ftäbtifcher Sapeßmeifter Dr. gerbinanb oon
Ritter, beffen ©oireen Bon ben äRitgtiebern beS ©tabtthcaterS fehr befucht finb.
Xrofc ber jurüefgetegten 70 Söhre befißt ber fweßbebeutenbe Sünftter eine foteße
Gfafticität, baß berfetbe fütjtidj bei feiner Slnwefenßeit in fieipjig im ©aafe beS
fönigtichen GonferOatoriumS atS SlaoieroirtuoS unb Smpronifator große Triumphe
feierte, gerbinanb Bon £>ifler ift befannttich auch e ' n fehr geiftBofler mufifa*
lifcher geuißetonift.
Jfloütifd)c fteouc.
20. Stprit 1882.’
roid^tigfte ©reignifj in ben bisherigen ffier^anblungen unb Slbftimmungen
be£ preufeifchen 2lbgeorbnetenhaufe3 ift bie ürdjenpolitifdje Debatte unb
i^r SRefultat. $ic confert>atit)=fleri!ale Mian^, tuetdje tum Dielen Seiten als eine
©eefdjlange bezeichnet tuorbeu unb int ga^en bisher unprobuetto geblieben, ift
bamit eine Sfyatfacfye getoorben. $iefc 3niiaii3 tuar plö^Iid) entftanben, über-
rafdjenb für bie Regierung unb für bie anbem Parteien, ba bie SommiffionS*
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Politifcfce Heime.
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fifcungen burch Slblehnung ber ©efammtbortage uttb bantit auch ber fünfte, über
melclje fidf) Gonferbatibe unb Klerifafe geeinigt hatten, ein burdjauS negatibeS SRe^
fultat ergeben Ratten. ®ie ^nitiatine $u biefer Ginigung ging {ebenfalls bon ben
Gonferbatiben aus, melche bod) nicht „ber Siebe 2Rüh" bertoren haben trollten:
fie berlangten bom Gentrum nur ben Serjicht auf ben SBinbthorft’fchen Antrag,
beni jufolge baS Sefen ber äReffe unb baS ©penben bon ©aframenten für äße
gäße ftrafloS bleiben foUe. SludE) bie Regierung erflärte biefen Antrag für un*
annehmbar. %m übrigen hatte ber GultuSminifter bon ©oßter in ber Gommiffion
betreffs ber Serhanbfungen mit ßtom erflärt, baß fich |>err bon ©chfö^er nur
über bie Sorlage ber Regierung mit ber Gurie $u berftänbigen gefugt habe;
er tuiffe nicht, ob er, über ben Nahmen berfelben hiuauSgehenb, auch aber
bie organifdje ßtebifion ber ßRaigefefcgebung berhanbelt habe. Qebenfatt^ halte
bie Regierung an ber 9lnficf)t feft, baß fich ber Staat burch bie Gntfcfjließungen
ber Gurie in ber freien SluSübung beS ©efefcgebungSrechteS burdjauS nicht be=
fchränfen laffen fönne. ®amit mar bie Vorläufige SRefuItatlofigfeit ber Serhanb*
iungen beS $errn bon ©d^lö^er in SRom auSreichenb conftatirt.
®aS Gompromiß ^mifchen ben Gonferbatiben unb Verdaten, baS am 27. ßRärj
•$u ©tanbe fam, beruhte im mefentlidjen auf folgenben fünften. Slcceptirt mirb
bie Serlängerung ber im !gahrc 1880 ber Regierung ertheilten biScretionären
Sollmachten bis jum 1 . Slpril 1883. gerner foß burch baS SegnabigungSredE)t
beS Königs ein früher burdf) gerichtliche^ Urtheil aus feinem Ämt entlaffener
Sifchof toieber bie ftaatliche Slnerfennung geminnen. Sann fam man überein
über bie Sefeitigung beS GutturejamenS, bon beffen Ablegung biejenigen Gan*
bibatcn befreit fein fotlen, toelche ihre GnttaffungSprüfung auf einem beutfchen
©pmnafium abgelegt haben unb ein breijähriges theologifd^eS ©tubium auf einer
beutfchen Uniberfität ober auf einem preußifchett firdhlichen Seminar, toelcheS nach
bem ©efefje ihr gleidjfteht, fotoie ben fleißigen Sefud) bon Sorlefungen auf bem
©ebiete ber ^Sh^°i°P^e, ©efcfjichte unb Siteratur nachmeifen fönnen. dagegen
mürben bie Slrtifel ber ßtegierungSoortage, melche ber Regierung biScretionäre
Sollmachten bei Slnfteßung bon .£>ülfSgeiftli<hen, b. h* too baS 2lmt felbft fdjon
befefct ift, ertheilen, unb SRobificationen ber gefefclichen Seftimmungen über bie
Sln^eigepflicht nadh bem Sorbilbe ber öfterreid)ifchen ©efefcgebung feftfe^en, bon
bem Gentrum unb ben Gompromißparteien abgeleßnt.
Sa bie Solen fiel) bem Gompromiß angefchloffen, fo mar eine SRehrheit im
Slbgeorbnetenhanfe boUftänbig gefiebert; ber SRebefampf hatte bamit baS !gntereffe
bertoren, baS er bei fdfjmanfenben unb unentfdjiebenen gragen, mo ber Sereb*
famfeit immerhin noch ein Grfotg in Sejug auf bie SIbftimmung in 2luSficht fteht,
5 U haben pflegt. Sei ben Sebatten am 30. unb 31. 3Rär$ fam es ben Parteien
nur barauf an, ihren ©tanbpunft feft^ufteflen unb 5 U motibiren. SBinbthorft hob
herbor, baß ben ^auptborfheil beS GompromiffeS bie Gonferbatiben babontrügen:
bie Sefeitigung beS GulturejamenS fei für bie ebangetifche Kirche ein außerorbent*
lieh foftbarer ©eminn. SaS Gentrum aber betrachte baS, maS eS jefct erreiche,
nur als eine fteine 2lbfchlagS$ahlung unb ermarte, baß bie Gonferbatiben ihnen
helfen mürben, auf eine meitere ©tufe $u gefangen.
Slbgeorbneter bon §ammerftein begrüßt bie Xljatfache mit greuben, baß baS
Gentrum ^um erften mal an einer ©efefcgebung rnitmirfen miß, metche beftimmt
ift, bie gärten ber Gulturfampfgefe&gebung ju milbern, unb bebauert nur, baß
bie Gonferbatiben feine Gombination ber Parteien finben fonnten, um noch bie
2Irt. 4 unb 5 (bie obenermähnten Strtifel) burchaubringen. gür bie greiconfer*
batiben fpradh ber Slbgeorbuete bon 3 ebli£, melier ben anbern Parteien aßen
baS ©ünbenregifter ihrer SSanbfungen borenthielt, aber hoch bie innere 3erfliif=
tung ber eigenen Partei nicht bcrbecfen fonnte, inbem ber Slbgeorbnete bou Kar*
borff im SReidjStage, mie mit SRecht ermähnt mürbe, einen gan^ entgegengefehten
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Unfere &xt.
m
©tanbpunft bertrat. Sludj ©ircf)om marf bcnt ©entrum bor, bafc e3 feit bem
7. gebr., mo e3 fid) gegen bie biScretionären ©oflmachten al$ gegen eine 2lu£*
lieferung auf ©nabe unb Ungnabe erffärt patte, eine grofce Scpmenfung gemalt
hätte. $ocp eS ift \a tein Kompromiß möglich opne bie borläufige „opportune"
Aufopferung bon ^rincipten. 21m fcpärfften für bie ©runbfäfce be3 Kultur*
fampfeS, für bie ©eifte^freipeit ber beutfipen Station gegenüber beit Siänfen be3
römifcpen SefuitenorbenS unb be3 ©apfteS fpracp ber 2Ibgeorbncte bon ©pnern;
bieS ©cpo au£ ber Seit ber „SJtaigefepgebmtg" Hang befremblicp au3 ben an
biplomatifcpen SBenbungen ber berfcpiebenften 2lrt überreichen Debatten perbor.
©benfo energifcp trat ber 21bgeorbnete bon Staucppaupt für bie SEBieberperfteßung
be3 griebenö mit bem fatpolifcpen ©olfe auf. ®er SJtinifter bon ©ofjler mährte
ben ©tanbpunft ber StegierungSborlage unb erHävte fiep befonberS gegen bie ©e*
feitigung be$ ©ulturejamenS. SJtinifter bon ©uttfamer rechtfertigte feine frühere
Haltung. $ie 2Ibftimmung nach biefer feiten Seratpung ergab bie unbeftrittene
Ueberlegenpeit ber neuen Koalition.
®ie Debatte bei ber britten Sefung, bie gleich am ®age barauf, am 31. SJtärj,
erfolgte, förberte feine neuen ©eficptspunfte $u Sage, ßonferbatibe unb grei*
conferbatibe befehbeten fiep mieberum, eine ©ermirrung, bie, mie Stichler meint,
nur barauS perborgcpt, bafc ber Sandler berreift fei unb bafc e3 an ben nöthigen
^Informationen über bie Intentionen beffelben fehle: baher bie ©ile, bie ba£ Sen«
trum habe, um bie Sache rafch unter $acp unb gacp su bringen, bantit nicht
noch im lefcten 21ugenblid ein Söort bon griebricpSruhe fontnte, melcpe£ ©ermirrung
fchaffe unb ben Sranf noch smifcpen Sipp 7 unb SMcpeSranb berberbe. 21ucp pob
Stifter perbor, ba§ e3 fich um ein Xaufcpgefdpäft hanble, mobci ba£ XabarfSmonopol
gegen bie firchenpolitifche ©efcpgebung in ©egenrccpnung gefteflt loerbe. ®ie
©onferbatiben unb auch ber SultuSminifter hoben mieberpolt perbor, baß ba3
©entrum enblich au£ ber bloö negirenben Haltung peroorgetretcn fei. Stoch ift ein
Slagelieb be3 Slbgeorbneten ©remer ju bezeichnen, ber über bie ©ehanbluttg flagte,
bie ihm bon feiten beS ßentrumä autpeil getoorben, nur meil er bon £>au£ au3
ben ©oben ber ©erftänbigung betreten habe, ben jept ba3 ©entrum en masse be¬
tritt. ®a3 mar aflerbingä eine fehr unliebfame Erinnerung, melche bie Snconfe*
quenjen be8 ©entrum^ unb feine biplomatifcpen SBinfel^üge ins h^fa fteßte.
Abgeorbneter ©töder geigte fich, mie Stifter nach ihm perborpob, mieberum a 1$
fepöner griebenSengel. aßinbtporft hatte bie Slbftimmung eine Dämmerung ber
©eredptigfeit genannt, ©töder beaeidpnete fie al§ ein „SJiorgenrotp be3 grieben$";
er münfehte bann, bafj bie fatholifche Sfirdpe in ben Säubern, in benen fie perrfept,
ben Umfturj überminben möge, unb reichte im Stauten feiner mefentlich proteftan*
tifchen ©artei ben Satpolifen be3 SentrumS bie $anb aum grieben. Sutper mar
befanntlich ber Sircpe gegenüber nicht fo freunblich gefinnt gemefen mie ©töder;
hoch bie fatholifche Unfehlbarfeit unb bie proteftantifdpc Drtpobo^ie haben einen
gemeinfamen ©egner, ben Umfturj, ba3 pei&t bie freie geiftige ©emegung, bie
Speorien afler großen Senfer ber Steujeit. ®er ©efepentmurf mürbe im ganzen
mit 228 gegen 130 Stimmen angenommen; bie freiconferbatibe Partei fputete fich
bei ber Abftimmung. ©£ ift jept biejenige be3 |>errenhaufe§ ab 5 umarten, in
meinem, mie e§ f^eint, ba§ Kompromiß burd^ nidht unmichtige Abänberungen
mieber in grage gefteßt merben fofl; bann hat noch bie Stegierung felbft ©teßung
3 U bem auö ber Stetorte ber ®ebatten in ©ommiffion unb Plenum in beränberter
©eftalt herborgegangenen ©efepentmurf ^u nehmen.
®aß ba§ ©entrum inbefc gefd^loffeu für ba^ ®abad§monopol ftimmen merbe,
menn eS baS firchenpolitifche ©efep mit feinen 21bfd)mächungen unb ©egünfti^
gungen al§ enbgültig boß^ogen einheimfen fann, bleibt hoch fef)r ju be^meifeln.
Abgeorbneter aBiubtporft hat ba^ ©entrum ja fd)on bei bem Sompromife al^ bie
am menigfteu begüuftigte Partei hinö^fteßt: marum foßte fie einen fold>cn Slufmanb
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Politifdje Xcduc.
795
t»oit ®anfbarfeit machen? 23aS baS ^öd^ft heterogene Jaufchobject für jene Vor*
tage, baS XabadfSmonopol, betrifft fo fteht wol jefct feft baß bie Vorlage fowol
bem SunbeSratg Wie bem ^Reichstage zugeben unb bag, Wenn fie bei bent te^tern
non ber Sitbfläcge nerfdjwinben foüte, biefer 9teid)Stag felbft wol ihr ©djicffat
theilen wirb. ®ie X^atfac^e, bag ber VolfSrairtbfchaftSrath am 21. 2Rärz Wiber
atleö ©rwarten, ba norber bie einzelnen fünfte ber Vorlage angenommen worben,
baS ÜRonopot mit einer Mehrheit non 33 gegen 31 Stimmen abgelehnt hat
änbert nichts an beit Intentionen ber Regierung. ®ie Slätter berfelben fudE)en
biefe Rieberlage noch in einen Sieg zu nerWanbeln, inbem fie barauf hiuweifen,
bag wenigftenS für bie Heranziehung beS JabadS zu einer h^h eru ©teuer eine
überwiegenbe SRchrheit im VolfSwirtpfdjaftSratb fich auSgefptodjen habe. 2tßer-
biugS hatten bei ber Slbftimmung biejenigen SRitglieber, benen einzelne Seftim*
mungen ber Vorlage nicht zufagten, mit ben principieHen ©egnern berfelben gemein*
fchaftliche Sache gemacht
©lücflidjer als baS labacfSntonopol im VolfewirthfcbaftSratb War ber Steuer*
erlag im Wbgeorbitctcnbaufe, welches am 23. unb 24. 9Rärz über benfelben
oerbanbelte. Sei biefcn ^Debatten würbe bie gegenwärtige Finanzlage non ben
nerfcbicbenften Seiten beleuchtet; Fiuauzminifter Sitter hatte fie als eine fehr gute
bargeftettt; hoch Stimmen aus cntgegcngefefcten Parteien h°&eu ihre Unfidherheit
hernor unb betonten, bag z u einem Steuerertag feine Veranlaffung norliege, wenn
man bie Finanzlage ins Sluge faffe. So fprach fich auch non ben ©onfematinen
ber Slbgeorbnete non 9Reper*ärnSwalbe aus, ber, wie er felbft Jagt, nietfach „alt*
mobifchen" ®b eör i en hulbigt. Slbgeorbncter non SBinfcingerobe b ö & h e ^or, bag
in ber Fiuanzgefepgcbung ber lepten 3 a b re bie grögte Verwirrung fyexx\ä) e; er
ftimme gegen ben Steuererlag, weil er eine Reform biefeS ©ebieteS auf breitefter
©runblage wünf^e. dichter unb SEBinbthorft finb für ben Eintrag, um bie fehlere
Sage ber Steuerzahler zu beffern. SBäljrenb ber Antrag ber Regierung ben fedjS
unterften Stufen ber Slaffenfteuer ^töti SJconatSraten, ben fedhS obern ber Staffen*
unb ben fünf unterften ber ©infommenfteuer eine 3RonatSrate erlaffen Will, liegt
ein Slntrag ber ©onfematinen (non Hammerftein unb ©enoffen) nor, nur bie unterfte
Slaffenfteuerftufe ganz 5 U befeitigeit. ®er Slntrag Würbe in ber Debatte mehrfadh
geftreift; als ihn aber ber ^räfibent zur Stbftimmung bringen Wollte, würbe ba*
gegen befonberS non Sennigfen Vroteft erhoben, Weil er auf einem ©efefce beruhe,
welches nom Haufe uoch nic^t beratheit, niel weniger befchloffen fei, unb baburch
baS Recht beS HerrenhaufeS, bei ber Sleuberung beS VerwenbungSgefefceS nom
15. Suli 1880 mitzuwirfen, beeinträchtigt würbe. 2lu<h äRinifter Sitter erftärte
fich in gleicher SBeife. Sei einer Slbftimmuug über bie 3utäffigfeit beS Hauimer*
ftein'fdhen Eintrags erflärten fich 163 Stimmen gegen biefetbe unb nur 159 ju
ihren ©unften; ber Steuererlag felbft würbe mit groger SReljrheit gegen bie
Stimme ber Rationaltiberalen, ber meiften Freiconferoatinen unb eines ®h e i^ ber
©onfematinen angenommen, ©benfo fanb eine Refolution ber Subgetcommiffion,
welche bie Staatsregierung zu einer Vorlage im Sinne einer organifdhen Steuer*
reform unb einer anberweitigen Vertheitung ber birecten Steuern wegen SRehr*
betaftung einzelner Steuerftufen burtf) bie inbirecten aufforberte, bie SOtchrheit
ber Stimmen.
■Rad) wie nor gaben bie ©tatsberatljungen zu ben nerfdhiebenfien Debatten
unb Sefdhwerben Slnlag: ber ©tat beS GultuSminifteriumS brachte Stagen über
baS UnioerfitätSwefcn mit fich unb führte zu einem Rebefampf ztuifchen SBinbthorft
unb Virchow, non benen ber erftere für bie Freiheit ber SBiffenfdbaft einzutreten
norgab, non einem „Vrofefforenring" fprach, bie Sefdbulbigung beS RepotiSmuS erhob,
bie Sage ber ^Jrinatbocenten beftagte, währenb Virchow bie beftehenben ©inrid) 3
tuugen in S<$up nahm. Such über ®uetlunwcien, ben geringen ©ifer ber fünften
bei ihrem Stubium, über Verfdjärfung ber juriftifchen ©jamina. bau« «6er Scauf*
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Unfcre geit.
fidßtigung bcr Sotfsfdßulen u. a. mürbe bicl tyin* unb ^erbebattirt. Sei ber 93c*
ratßung beS ©tats beS £>anbelSminifterium3 mürben bie ^janbelsfammern, bie
befanntlicß bei bent 9teicfj3fanzfer nicht befonberS gut angefcßrieben finb, ©egen*
ftanb ber Debatte. Sie ©tatsberatßungen im ganzen ^ogen ficß mieber fo lange
hin, inbem bie SRonologe unb Sialoge, bie mit ißnen berfnüpft finb unb bie mit
ben Soften beS GtatS, um bie eS fic^ haubelt, oft in locferftem 3ufammenhange
fielen, immer feßr biel 3eil in Slnfprudß nennen.
©ine mistige Slbftimmung über ben meitern ©rmerb non Pribatbaßnen burcß
ben ©taat fanb am 18. 2Rärz ftatt, nacßbem ben Sag borßer ba$ £errenßau3
bie finanziellen ©arantien einftimmig angenommen f)atte. Sie Slbftimmung, bie
Zu ©unften be$ ©efefcentmurfS mit 243 gegen 107 ©timmen ftattfanb, bemieS,
baß bie Serftaatlicßung ber ©ifenbaßnen boit gaßr zu 3 a ßr meßr Slnßänger finbet.
Sagegen ftimmte bie SReßrßeit beS ©entrumS, bie SortfcßrittSpartei, bie ©eceffioniften
unb einige SRationafliberale. Sen Proteft ber SortfcßrittSpartei gegen jebe Ser*
ftaatlicßung, melcße bie Straft beS ©inzelnen läßme unb Preußen zur Goncurrenj
auf bem SSeltmarftc non gaßr zu %af)x unfähiger mache, erßob ber Slbgeorbnete
Süchtemann, ber überbieS einen neuen Paragraphen bem ©cfefce beifügen moflte,
baß Slenberungen ber normalen ©inheitsfäfce im Sarif alljährlich im ©tat feft=
gefegt merbcn füllten. Ser 2Intrag fanb aber feine Stimmenmehrheit.
©in beftänbiger 9?ebenant beS SlbgeorbnctenßaufeS ift auch ber SBelfen- ober
fogenannte 9teptilienfonb3, gegen melcßett bie gortfcßrittSpartei, Siriißfet, dichter
unb Sircßom am 29. 9Rärz einen Slntrag ridhteten. Ser gonbS, baS bem Sönig
©eorg I., jefct bem Prinzen Don ©umberlanb gehörige Sermögen, beffen 9iebenueit
mährenb ber Sefcßtagnahme zur Uebermacßung unb Slbmeßr ber gegen ben preußifcßen
©taat gerichteten feinbüchen Unternehmungen benußt merben foÖen, jefct aber zur
Unterhaltung einer mehr ober meniger officiöfen Preffe gebraust merben, ift natiir*
(ich ber gortfcßrittspartei fehr unangenehm. Stbgeorbneter Don Sennigfcn brachte
gegenüber bem Antrag ber leptern, bie Ueberfchüffe bem SermögenSbeftanbe zuzu¬
führen, eine motibirte SageSorbnung ein, in beren -tiRotiben bie ©rmartung einer
balbigen Aufhebung ber Sefcßlagnaßme beS SermögenS beS Königs ©eorg auSge*
fprochen ift, unb bertßeibigte biefe SageSorbnung in einer 9?ebe bon einem gemiffen
@uß unb ©dhmung ftaatSmämtifcßer ©loquenz, fobaß 9taucßßaupt mit 9?ecßt fagen
fonnte, Sennigfen unb SBinbtßorft, ber nach ihm in gleichem ©inne fprach, hatten bie
grage mieber auf ihre ftaatSrecßtlicße £öße gebracht. ©S mürbe inbeß bie einfache
SageSorbnung, bie Slbgeorbneter bon Dtaucßhaupt öorfcfjlug, mit ber flerifal-confer*
batiben SiRajorität angenommen, melche fo oft in biefer ©ifcung ben SluSfcßlag gab.
Sa bie SBiebereröffnung ber 9feidh3tagSfihungen auf ben 27. Slpril feftgefept ift, fo
fteht für ben ÜRonat 2Rai bie gleichzeitige Shätigfeit ber beutfcßen unb bcr
preußifcßen SolfSbertretung in SluSficßt, unb eS mirb biefer SJionat in ber Gßronif
parlamentarifcßer ©reigniffe manches beacßtenSmerthe ©reigniß bringen.
Sie auSmärtige Politif beS Seutfdhen 9tcicßeS h a * jefct ben Dften mie ben
SBeften gleichmäßig ins Sluge zu faffen: aus einer 2leußerung beS 9?eicßSfanzIer&
geht herbor, baß biefe Politif je^t feine Sfjätigfeit borzugsmeife in Slnfpruch
nimmt. 2lu3 9tußlanb fommen halb friegertfehe, halb frieblichc 9)tittheilungen;
fomenig inbeß bie 9teben ©fobetem 7 ^, ber fich als ruffifcher ©aribalbi auffpielt,
auf eine im Petersburger ©abinet borbereitete SriegSerflärung gegen Seutfcßlanb
hinmeifen, fomenig mirb bie ©rnennung beS frieblid) gefinnten, beutfchfreunblichen
^)errn bon ©ierS zutn SQtinifter beS Wurmartigen an ©ortfchafom’S ©teile, obfehon fie
mit greuben begrüßt mürbe, eine längere griebenSära mit fidh bringen. Sie Sörfe,
bie bom 9lugcnblicf lebt, mag biefe ÜRadbricßt mit einer ^auffe beantmorten; bie 9te^
gierungeit, melche befürchteten, gguatiem fönne ber ÜieicßSfanzler 9tußfanbS merben,
mögen fieß zur Slbmenbung biefer europäifcljen Galamität bcgliicfmünfchen. 3m
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Politifcfje Herme.
797
©runbe ift bie (Situation unüeränbert geblieben, bo ©err Bon ©ierS fdjon lange
3eit für ben NeichSfanjler, ben dürften ©ortfchafow, bie ©efdjäfte beS SlnSwärtigen
SlrnteS führte, unb bie Perufügung liegt nur barin, baß fie fi<h nicht oerfchtimmert
hat. gürft ©ortfchafow tnar befanntlich feit bem berliner Kongreß ein ©egner
DeutfcßtanbS unb machte barauS tnie auS feiner Neigung, mit granfreidj ju cont*
plotircn, lein ©el)l; bocfj er fpielte fdfon lange 3eit feine Nolle met)r als (Staats*
mann, unb ber StaatSfecretär üon ©ierS tuar ber eigentliche Seiter ber aus*
Wärtigen Slngetegenljeiten. Durch ben üoüftänbigen Nücftritt beS NeidhSfanjlerS
ift ein lange beftehenbeS fait accompli auch mit ber öffentlichen Sanction be*
lleibet worben.
3m 3nnern tuirtfifc^aftet inbeß 39 natieW mit uneingcfchränfter 2Racht, unb
Wenn ber äußere Stieg gegen bie Deutfdjen ttocf) eine grage ber 3ufunft ift, fo
Wirb im gwtern ber Sri eg gegen biefelben grünblich organifirt unb tapfer ge*
führt; ber ruffifdhe ©hauüiniSmuS will auf einmal alle fremben Dropfen aus feinem
Plute fortfehaffen; er Oergißt babei, baß bie ©ioitifation NußtanbS Wefentlich burdh
bie StuSlänber bewirft worben ift unb baß 00 m Slltruffenthum, wenn man ben
girniS berfelben üon ihm abftreifen ober alles auSbrennen will, was ben Nuffen
Oon ihr in gleifch unb 95lut übergegangen ift, nur baS Parbarentljum übrigbleibt.
DaS Streben nach nationaler Selbftänbigfeit ift inbeß felbft oon bem Oerhaßten
SBeften überfommen; feit mehrern 3 a h r i e h n t en , feitbem bie Nationalitätenfrage
oon ber politif beS second empire fo fcharf betont würbe, feitbem bie beutfdje
Nation fich ju einem großen Neich jufammengerafft hot, ift bie nationale Selb»
ftänbigfeit unb ihre Kräftigung in ©uropa bie Sofung geworben: jef)t wirb baS
©<ho berfelben an ber NioSfwa unb Newa oernehntlicfj. ©in proteft gegen bie
oon Peter bem ©roßen inaugurirte Nidjtung ber Pitbung burdh baS 2luStanb
geht burdh 3Raßnal)men ber je|igen Negierung; bie alte ruffifche Nationaltracht
foQ wieber jur officieüen ©eltung fommen, bie bei ben ©ifenbaßnen unb fonft
angefteHten SluSlänber, welche fünf 3«h re in Nußtanb leben, follen ihre Stellen
Oerlieren, Wenn fte fidh in Nußlanb nicht nationaleren taffen. DaS Porgeljen
ber Nuffen gegen bie Deutfcfjen in ben Dftfeeproüinjen, in benen ja auch fdjon
bie Sioen unb ©ften fidh i u tumnltuarifchen ©jeeffen hinreißen ließen, wirb im
„Golos" oon einem beutfdjen Paron als SluSfluß jener moralifchen ©pibemie
einer nationalen SluSnahmefteHung bezeichnet, üon welcher bie ganje ruffifeße ©e*
fettfehaft ergriffen fei. 2tm fcfiärfften geht 3gnatiew gegen bie 3«5> e n oor; baß
14 jübifche Slpothefer in Petersburg binnen ^a^reSfrift ihre Slpothefen üerfaufen,
angeftedte jübifche prooiforen ihre Stellen nieberlcgeit müffen, beruht atterbingS auf
einem ©efe| oon 1879, weldheS oon ben 3nben bisher umgangen würbe: ebenfo
finb eS ältere rufftfdje ©efefce, auf welche fich bei ber SluSweifung ber gaben aus
bem „Pobot", bem ©efdjäftSoiertel oon Siew, bie Peljörben berufen fönnen;
bennodh werben biele gaben fchwer baoon betroffen; benn bie Strenge, mit welcher
auf einmal biefe Peftimmungen jur 2tnwenbnng gebracht Werben, trägt ganj ben
©horafter einer 3ubenoerfolgung, bie fich über alle Stäbte beS NeidheS ausbreitet.
Die mittelalterlichen Scenen ber gubenfjah, bie noch immer an üerfdfjiebenen Orten
ftattfinben, mit SlnSfcfjreitungen, welche fonft in ©tiglanb ben lauten Proteft ber
angefehenften Niänner hetoorriefen, betommen burch bieS Porgehen ber Negierung
ein Nadhfpiel, inbem ben gnfulten beS Pöbels gleichfam oon oben recht gegeben
Wirb. SNan fpridjt bereits Oon einer Drganifation ber SluSwanbetung ber guben
aus Nußlanb: unter anbern Sänbern wirb auch SKejico als 3iel berfelben be*
jeicßnet.
Die mit bem Säbel raffetnben ©enerate finb tro| ihres dhauOiniftifdhen SriegS*
eiferS burchauS nicht in Ungnabe gefallen. Sfobelew fonnte fogar in SNoSfau
erllären, ber 3ar theile feine Slnfichten; er bürfe nur auS Nücfficht auf bie euro*
päifche Diplomatie bieS nicht eingeftehen. Sfobelew ift injWifchen jum Porten*
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Unfere <^eit.
ben ber ©ommiffion ernannt toorben, melche bie centralafiatifdjen SKngetegenheiten
$u orbnen hat. 3n gan$ ähnlicher SBeife mie (Sfobeleto fpradE) fich gegenüber
einem lonboner SnterOietoer ©eneral Sfchemajem auS: biefer begibt ftc^ jefct
auf feinen Poften als ©ouoerneur non SBeftfibirien. Sie ©enerale, welche baS
afiatifdje Stuffenthum, bie Ueberflutung ©uropaS mit ben milben Siäuberhorben
prebigen, toerben nad) Slfien oerfchicft; an ber Sterna ein frieblicheö SKinifterium
beS ÄuSmärtigen, ber „Golos", ber eine grofce ©chmenfung burchgemacht hat unb
fich fehr beutfchfreunblidE) $eigt, auch bie anbent ruffifchen Seitungen alle toie
griebenStauben erfcheinenb, mit bem Del^toeig im SJtunbe: fott ba bie öffentliche
SJteinung in Seutfchlanb unb Defterreich fid^ nicht beruhigen? Sie ©rflärung für
biefe ettoaS oftentatibe griebenSliebe liegt tool in ber Ih atenun ^ u ft ber jefeigen
franjöfifchen Regierung. Ohne SunbeSgenoffen fann Siu&lanb trofc aller Stobo*
montaben feiner ©enerale ben Krieg gegen Seutfchlanb unb Defterreich nicht
führen. Ser ©chlüffet für bie ©chmenfung ber ruffifchen fßotitif liegt in Paris:
baS jefcige Prooiforium berfelben mirb tool fo lange bauern, bis bort anbere harten
auffdjtagen. Ignjmifchen mirb ber ruffifche S^auüintjgmuö in jeber SBeife geträftigt.
Smmer mieber inbefc broht bie raftlofe SJtinirarbeit ber Schiliften ben Pan*
flamiften baS ©cfjmert in bie &anb ju brüden: benn eS fcheint, als ob nur eine
gemaltige Slbtenfung na<h au|en ben Procefe ber innem Berrüttung aufhalten
fönne. Stoch ehe bie ©eremonienmeifter beS £ofc3 für bie moSfauer Krönung bie
nöthigen Slnorbnungen treffen fonnten, maren bie Skiliften fdhon mieber am SBerte,
um in ihrer SBeife für ben ©mpfang beS Suren $u forgen. ©3 ift ber Polizei
geglüdt, einige ber Serfchmörer $u oerhaften, ©chon früher mar berfelben ein
großer gang gelungen: faft alle Stihiliften, melche fich bei ben Sittentaten unb
Slttentatsoerfuchen auf ben Kaifer betheiligt hatten, ftanben in bem fogenannten
Procefc Srigonje in Petersburg Oor ben ©chranten beS ©erichtS. @3 befanb
fich barunter SStidhaitom, welcher fchulbig mar, an ber Sorberathung bei ber ©r*
morbung beS KaiferS Stleyanber fid) betheiligt $u höben, fotoie biejenigen, melche
in ber ©artenftrajje bie unterirbifche SJtine gelegt unb unter angenommenen Sta*
men in ber ffäfehanblung ber grau Kobofem bie beabfichtigte ©jplofion leiten
tüoHten; ferner biejenigen, bie unter bem ©ifenbahnbamm bei SHejanbrotoSf, unter
bem ©leis ber SJtoSfausKurSfer Sahn, im SBinterpalaiS im gebruar 1880, in
Petersburg unter ber fteinernen Srüde, im grühjahr 1880 in Dbeffa ^ur ©preiu
gung ber 3taljan3fa eine SJtine gelegt hatten, ferner biejenigen, toelche aus ber
©ouüernementsfaffe oon ©herfou 1 V 2 SJtill. Stub. geftohlen h a tt en (Snbmilla
Serentjetoa, eine ßollegienrath^tochter, mar bie entfdjloffene Siebin), unb bie
* Kaffenbiebe, bie in Kifchinem 3 U biefem $med ihre SJtinengänge legten, fotoie ein
SJtörber beS ©eneralS SKefenjom. Sie ganae nihiliftifche ©hronif ber lebten
Sahre toar gleichfam oor ©erid)t gefteHt toorben. Stenn ber Stngeftagten mürben
am 27. gebr. jum Sobe burch ben ©trang oerurtheitt. Ser ®aifer oertoanbelte
am 3. SKärj bie SobeSftrafe in ßmangSarbeit; nur ber frühere äKarinelieutenant
©udhanom blieb jum Sobe oerurtheitt; hoch mürbe bie ©träfe beS ©atgenS in
biejenige beS ©rfdhiefjcnS Oertoanbelt. Sie Sertheibigung ©uchanoto’3 marf ein
eigenthümlicheS Sicht auf bie ruffifchen 8 uftänbe: ba§ fich ^ e f er SKarineoffijier
gegen bie Unreblichfeit, bie Sefte^lid^feit ber Sorgefe^ten aufgetehnt unb baburd)
ihren ©roll auf fich 9^°9 en hatte, mar bie Urjache, marunt er in baS reoolutio*
näre Säger übergegangen mar. Siefe Sertheibigung, melche gemifferma^en bie
®£iften5bered)tigung beS Stihiti^muS motioirte, erregte bie meifte ©hmpathie für
benjenigen Slngeftagtcn, ben bie härtefte ©träfe traf, inbem er halb barauf in
®ronftabt erhoffen mürbe.
gür neues Slctenmateriat forgten inbefe bie Schiliften. Sie Sunbe oon bem
faifcrlichen ©nabenact mar noch nicht nach Dbeffa gebrungen, als am 20 . 3Rär$
bort ber Procitrator beS Kriegsgerichts oon Kiem, ©eneral ©trelnüom, auf einer
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polttifcfje Kepue.
799
Vant ant Stranbbouleöarb burd) einen Seöoloetfdjufj in ben Süden getöbtet
würbe. 9Rit ben beiben Slörbern, bie fid) noch mit @d)üfien unb Dolchftöfjen
gegen bie Verfolger wehrten, würbe turger ißrocel gemalt: fie würben oor @e*
ric|t gefteflt, gum Dobe oerurtheilt unb gelängt; erft fpäter, wie eS fdjeint, hat
man ihre Samen erfahren.
Der ruffifche Subei fpielt nicf)t bloS bei ben SBenben in Deutfdßanb, Wie
bie „Schlefifche Rettung" enthüllte, fonbern auch in Serbien unb ber $ergego*
wina eine gewiffe Soße, obfdion bie Schar oon 70 ruffifdjen greiwifligen, welche
ben ütufftänbifdjen bort gu £ülfe lammen will, icfjwerlictj an ber Sieberlage ber»
felben etwas änbem wirb. 3war ift ber Slufftanb nodj feineSWegS gang erlogen;
oon neuen Vorftöjjen ber gnfurgenten, bem Sieberbrennen öfterreidjifdjer ©enS*
barmentafernen, oon oereingelten Sümpfen berieten bie DageSblätter fortwährend
Doch ift burd) bie Uebermac^t ber öfterreidjifdjen Druppen ber Stufftanb, Wo er
nicht gebämpft ift, wenigftenS localifirt unb ein Umfidjgreifen beffelbeit nad) VoS*
nien nicht metjr gu befürchten.
gn Serbien, bem jungen Sönigteicfje, welches Defterreid) unb Deutfdjlanb fo
rafch aus ber Daufe hoben, nehmen bie parlamentarifdjen Vorgänge jefct baS
Sntereffe in Slnfprudj. Der 3ufammenbruch ber Union g£n6rale, welcher ber
Sau ber ferbifchen ©ifenbahnen anoertraut unb Welcher ber größte Dh e 'l ber
Summe für bie Vautoften bereits in ©ifenbahnobligationen übergeben war, h fl t
Serbien feljr in SKitleibenfchaft gezogen. Der SSerluft beträgt minbeftenS 10—
15 SSiß. grS. nach Angabe ber SegierungSfreife, 30—40 SDliß. nach Angabe ber
Oppofition. Die Si in ift er haben ingwifdjen mit einem parifer ßonfortium einen
fehr günftigen Vertrag für ben Sahnbau abgefchloffen, Weigern fich aber, ber gor*
berung ber Sabicalen in ber Sfupfd)tina nadjgutommen unb jejjt fchon 9tuff<hlufj
über biefen Vertrag gu ertheilen. gnfolge beffeit legten 41 SKitglieber ber Dppo»
fition ihre SKanbate nieber.
Die Suftänbe in Slegppten finb für ßnglanb unb für grantreich, Welches
auch ’ n IJuniS unb Algier noch immer mit auffäfftgen Stämmen gu lämpfen half
bie fich ber Verfolgung ber grangofen burd) ben Südgug auf baS Sachbargcbiet,
bort Tripolis, hier SKarotfo, gu entgiehen wiffen, noch immer beunruhigend DaS
Vubgetredjt, baS bie SotabelnOerfammlung beanfprucht, unb baS ginanggefefc, baS
fie angenommen hat, finb mit ben gntereffen ber europäifchen ©läubiger nicht gu
üereinigen. ©nglanb unb grantreich wahren biefe gntereffen unb haben fich
barüber mit ben anbern europäifchen SSädjten Oerftänbigt. Da biefe Verhanb*
Iungen, tro| ber betannten fjkoteftnote p er Pforte, mit Umgehung berfetben birect
mit ber ägtjptifchen Segierung gepflogen worben, fo fcheint bie Pforte ben ßabi»
neten ihre Souoeränetät nachbrüdlich in ©rinnerung bringen gu wollen, inbem fie,
wie oerlautet, ben jefcigen Vicefönig Dewfif*Va)d)a abfefcen will. Die Saggia
gegen bie gremben ift in Slegppten je|t gang fo auf bie DageSorbnuitg gefegt
wie in Sufjlanb: bie arabifdien Vlätter ergehen fich in Slntlagen gegen alle euro-
päifchen Veamten auf bem ©ebiete beS 3oß= unb ©ifenbahnwefenS unb ber Domä=
nen. 2So bie ägpptifche Segierung cS oermag, ohne gegen bie internationalen
Verträge gu Oerftofjen, entfernt fie äße europäifchen Veamten. 2lrabi*Vei ift immer
noch ber SSann ber Situation als fpauptDorfämpfer ber nationalen Sichtung;
nod) ift eS untlar, welche VeWanbtnifj eS mit ber Verfchwörung ber 16 Dffigiere
in Sairo gegen ihn hat: jebenfaflS liegt in Slegppten oiel 3ünbftoff aufgehäuft;
bie ftaatSrethtlidje Souoeränetät beS Sultans, bie finangiefle Oberhoheit ber noch
bagu rioalifirenben äBeftmädjte unb bann baS Streben beS Voltes nach nationaler
Selbftänbigtcit baS tann einen Snäuel Oon VerWidelungen bilben, beffen Söfung
früher ober fpäter burd) eine gewalttätige Sataftropfje in SluSficht fleht.
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800
ttnfere |$eit.
3fn ©nglanb feinen bie läge beb SRinifteriumb ©labftone gejault ju fein:
bie ©eftrebungen ber ©onferoatioen, boffelbe ju erfcfjüttern, »erben in hohem SRafje
burch bie irifchen .guftänbe unterftüfct. Ser oermegenfte SRorb ift bort an ber Sageb*
orbnung: nirfjt nur ©utbbefijjer, »ie ber griebenbrichter Herbert, fallen bet 9}ad)e beb
©olfeb anheim; aucE) grauen »erben erftroffen, »ie neuerbingb eineSRifi ©mpthe bei
einer Sirchfafirt in ber ©raffcfjaft SBeftmeath. Sie irijdjen Stit)ififten, bie genier,
bebrotjen bie ©taatbgebäube in ©nglanb unb 3frtanb mit ihren Spnamitfprengungen;
eb herrfdjt im ©rünen ©rin ein ftrieg aller gegen alle, bie bollftänbigfte 9lnarcf)ie.
Unb bie ©onferoatioen machen bafiir bie „energielofe Quäferpoliti!" beb jefcigen
SRinifteriumb üerantmortlid). Sorb ©alibburp unb ©ir ©tafforb 9?ort£jcote agi«
tiren unermüblid) gegen baffelbe; fie [preßen bei ben oerfchiebenften SReetingb.
SBol hat ber ©taatbfecretär für grlanb, SR. gorfter, Slnfang SRärz eine Steife
borthin gemacht, um fich felbft oon ben bort fjerrfdjenben 3uftänben zu überzeugen;
er hat eingefeljen, bah bie ©rfiilberung berfelben nicht auf Uebertreibungen beruht
unb in Slnreben an bie grett ben feften ©ntfchlujj ber Regierung aubgefprochen,
mit ftarfer fmitb allen Unfug, allen Uebertretungen ber ©efejje unb ©ermeige*
ritngen ber ©acfjtzahlung gegenüberzutreten, auch bie ©erbädjtigen nicht eher in
greiheit ju fefcen, bib bie ©emaltthätigfeiten unb ber gefefclofc ßuftanb ein ©nbe
erreicht hätten. Socp bab öerbienftlidje unb mutpige Auftreten gorfter’b hat feine
Slenberung in bem ©enepmen ber irifchen Slnarcpifteu herüorgerufen: ©nglanb ber*
langt burdjaub größere ©nergie im ©infdjteiten gegen biefelben unb bebhalb ge«
»innen bie ©onferoatioen mit ihren Slnflagen unb ©roteften immer mehr ©oben.
Sie irifche grage befdhäftigt bie ©emüther lebhafter alb bab Sittentat beb irr«
finnigen SRacleait auf bie Königin unb bie Slffaire ©rablangh’b, ber, abermalb
ttom Unterhaufe aubgefchtoffen »egen ber leibigen ©ibebfrage, non feinen 3Bäl)lern
bon neuem gewählt worben ift.
5fn granfreich befeftigt fich bab neue SRinifterium grehänet«©ah bon Sag
ju Sag. ©ambetta, ber frampfhafte Slnftrengungen macht, fich ber Sagebprejfe,
befonberb ber berbreitetften fleinen ©lättet jn bemächtigen, wirb junächft in ben
^»intergrunb gebrängt, ©eine Partei ift unterlegen bei ben ©aplen in bie ©ubget«
commiffion, bie einflufjreichfte bon allen, beren ©räfibent bie nächften Sfubfichten
auf bab Sammetpräfibium ju haben pflegt. ©on 33 gewählten SRitgliebem ftehen
22 jur jefcigen Stegierung: eine empfinbliche Stieberlage für ben gleichfam auf
|>albfolb gefegten ©taatbmann. Unb jum ©räfibenten ber ©ommiffion würbe
©Jilfon gewählt, ber ©chwiegerfohit ©rcop’b, »eicher bie ©olitif beb ©Itjfee mit
unleugbarem Salent in ben ©orbergrunb treten läßt. Ser ©inflang berfelben
mit bem jefcigen SRinifterium erfcheint fo alb unbeftreitbar; ©ambetta mar
bem ©räfibenten immer minbeftenb unbequem. Sluch anbere parlamentarifche
©iege hat bab SRinifterium ju oerzeichnen: im ©enat würbe bab ©efefc über ben
obligatorifchen retigionblofen ©lementarfdjutunterricht mit 179 gegen 108 Stimmen
am 24. SRärz angenommen, tro§ aller Slnftrengungen ber bereinigten Siechten, eb
ZU gaH z« bringen. Slm 27. SRärz würbe in ber Seputirtenfammer ber oon ben
©onapartiften lebhaft angegriffene Siachtragbcrebit für bie tunefifdje ©fpebition
mit 376 gegen 71 Stimmen bewilligt, unb am 28. bie Oon ©ifdjof greppet mit
heftiger Slnflage oor bie Sommer gebrachte Slubtreibung ber ©enebictiner oon
©olebmeb burch ein mit 418 gegen 73 Stimmen (meift Segitimiften) erlaffcneb
©ertrauenbootum für bie Stegierung gebilligt.
S8erant»ortlid)er SRebacteur: Dr. ERubotf oon ©ottfd|att in Seipztg.
Srucf unb ©erlag Oon g. %, Srocflfaub in Leipzig.
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2Dor Mlnunkruß.
Gin ©cgattenfpiel
bon
iUiUjelm Senfett.
(©(ging.)
VI.
'Der Stücgtting aus bem $aufe unb bet päbagogifcgen Dbgut beS §errn G^viftian
Gojud DteariuS tourte nicgt, toogin bie neigen Segel ign tragen fottten. hinaus
aus bet Gnge inS SBeite, aus bumpftaftenbem Srutf in bie SBefreiung! 3nS Un=
betannte, ju neuen Singen unb neuen SDtenfcgen, um bann mit freiatgmenber ©ruft
baS Sitte toieberjugnben, baran baS $erj ging! SBeiter bacgte er nidjts. ©titt tag
bie ©ee, fottnengtänjenb bie gerne ttor igm, in bie ign bie „Hoffnung" baöoittrug.
Slber nocg weniger hmgten alle, bie mit igm lebten, bag fie ebenfo ben gug
an ben Sorb eines grogen ©cgiffeS gefegt, bag fie alle autg ben Siet non bcr
alten $eimatf<golte abftiegen, in bie fcgaufetnbe SBettc. hinaus aus ber ©ngnig,
bem bumpfen Srucf ber Sßergangengeit in bie unbetannte SBeite, ju neuen Singen
unb neuen SDtenfcgen! tRugig fpiegetnb tag baS SBaffer, unb teife nur fummte
ber SBinb no<g in ben ©egetn. Sangfam mit feiner agnungSlofen SRannfcgaft gog
baS SRiefenggiff bagin; „Sie neue Seit" flatterte fein SRame Dom SBimpelmaft.
Neugierig fagen ge ju bem bunten garbengeringcl auf unb täcgetten. SBeiter badgten
fie nicgts. Sag ge alte fetbft mit auf ben morfdjen 4?otjptan!en über ber SJteereS*
tiefe gautetten, taugten ge ni<gt.
Sa fam ein SBinfetn, ein pfeifen, ein Srögnen. Unb ptögticg baufdgten bie
©eget unb bogen g<g bie SRaften, unb toeiger @<gaum quirlte aus bem ©pieget»
gtanj ber ©ee. @S fnatterte in ben Säften unb eS jifcgte in ben SRaaen, auS
fcgroarjen SBolfen fugr ber ©djtaefetbtig unb fcgnob ber ©türm. Ser ungegeuere
©igiffSrumpf ädgjte, pragetub fcgmetterten bie ©pieren aufs Secf gerab. 2Rit
ggrecfberftummten, tobtentoeigen ©eficgtern ftarrte bie mittionenföpgge SSemannung.
Sie gatten nicgts oon ber tailben ©ee getaugt unb »erftanben ficg nicgt auf ©cgiger=
funft. Stber aucg bie, wetcge geglaubt, g<g barauf ju öerftegen, ftanben ratgtoS
betäubt, ggre §änbe geten untgätig itnb ftgtaff nieber, baS ©cgiff gegorcgte bem
©teuer niegt megr.
Unfere iJeit. 1882. I. 51
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802
Untere ,geit.
®q war eS fein ©turnt mef|r — ein Drfan. Slufrafenb wälgten ftd) bie Sogen
herüber unb gerfradjten wie Sinberfpielgeug bie taufenbjährigen Srüftungen unb
Santen. SJtillionengungiger ©djrei gellte jefct auf. StingSum riffen bie Saffer»
berge bie feftgeflammerten £>änbe oon ihrem .jpalt unb warfen fie mit bonnembem
©etöfe über SBorb. ©ifdjt unb Stacht oerbüllte alles.
S)a war eS fein Drfan mehr — ein Xeifoon, baS S^aoä. gerfplittert fdjoffen
bie SJtaften in bie 'Xiefe, gerfdjellt folgten bie StettungSboote itinen nacf); ber Siel
barft, ber Stbgrunb ftieg herauf. Sinem nacften ©efpenft gleich, fdjleuberten Sinb
unb Sellen ben WiHenlofen Stumpf beS StiefenfdjiffeS „®ie neue 3eit".
Dod) nun fa^en bie Stugen berer, bie geblieben Waren, irrungläubig auf. ©in
trübes, unfichereS £id)t, boc^ ein gwitterljafter Schimmer fam bom Fimmel, unb
wie burdj ein Sunber war ber Ueberreft beS ©Riffes burch bie djaotifcbe 83ran«
bung binburchgelangt; ein Sratf, lag er auf matt bammernbem ©tranbe. Unb wie
bie Stugen ftarrenb auf biefem hafteten, war eS bie alte ^eimatfehotle mit Salb
unb Stürmen, ®ädjcrn unb Segen, bie fie bon Sinbljeit auf gefannt. Stur
fonberbar anberS fab alles aus, Oon einem fremben £idjt umflimmert, ©ie gingen
in igre unoeränberten $ auf er unb festen fiel) an iljre Xifef» e, aber etwas ©eifter«
bafteS umgab fie. Ratten fie nur geträumt, bag ber Sirbelfturm fie über baS
Seltmeer geworfen, unb war biefer fieimifc^e ©oben felbft es gewefen, ber gleich
morgen ©djiffsptanfen unter ihnen gefdjwanft, geftöbnt unb gerborften? ©ie
agen unb tranfen unb trieben ifyr UageSgefd^äft, aber fie fonnten ficb nid)t weiter
befinnen als auf geftern, unb fie fa^en fidj an wie im Sraum. Senn fie gurücf«
bliefen wollten, t)ob fiel) nur eine gigantifdje, fc^äumenbe Saffermauer hinter ihnen
oon ber ©rbe bis gu ben Sotfen.
2)ocf) am wunberlicbften war’S, wenn fie auf bie ©trage binauSgingen. 2>a
gogen bie alten ©affen ficf> gum SJtarft, gum alten 9tatf)baufe, ber alten Sircbe.
Slber anbere SRenfcben Wanberten bagwifegen umtjer, in anbern Sleibern, |>üten
unb ©djuf)en. ©ie geberbeten ficb anberS, batten anbere ©efiebter unb grifuren,
unb ihre Sippen fpradjen anbere Sorte. $ann unb mann häufte fitb einmal
ein ©cbwarm oon ©affenjungen unb lief fingerfpottenb hinter einer abfonberlidjcn
gigur brein, bie mit nieberbängenben ©crrüfenlocfen, langer, oerblicbener ©cgoS«
wefte unb auf bie gerfen fcblotternbem 3tod, alt unb gebüeft bie ©trage entlang
fcblidj. ©erwunbert ftanb wol einer, ben Stuf lauf betradjtenb, ftitt. SeSbalb
lasten unb fc^rien bie ©üben? ©ab ber alte fperr benn lächerlich aus? Saturn
fpotteten fie nicht auch über ben 3ufdjauer felbft? ©r ging nach tpauS unb fteHte
fidj oor ben, Oon oergolbeten Slmoretten unb ©enien getragenen Spiegel, unb fein
eigenes ©ilb mit bem natürlichen, lurggefdjnittenen §aar, bem fteiffragig bic
Obren umllappeitbcn grünen gradroef, bem in fpige Seinwanb eingegrabenen Sinn
unb ben ©tiefelfchäften bis gum Snie herauf fab ihm noch immer halb unbefannt.
Wie ein WunberlicbeS ©onterfei aus frembem Sanbe entgegen. Sar et baS wirf«,
lieh felbft ober nur ein Sranmgebilb? @r fühlte, auch in bem Sopf, ben er ba
oor fid) fab — Wenn ber ihm gehörte — wohnten anbere Slnfcbauungen, anbereS
©mpfinben unb anbere ©ebanfen. $nS ©efpenftifdjc tag nicht nur um ihn hemm,
am gebcimnigootlften in ihm felbft. ©r War nid)t mehr ber, als Welcher er gut
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Der Ulmenfrug.
803
SBelt getommen unb eiitft gelebt; bal große ©eifterfc^tff ßatte ißn in eine anbere
SEBelt, an ben ©tranb bet „neuen 3dt" geworfen, bie feine Srüefe jur Ser*
gangenßeit befaß.
$iefe neue Seit aber ßatte toiet gefeiert unb oiet getßan. ©ie ^atte in ber
SBiege gelegen wie ein fleiitel weinenbel Sinb unb war in anbertßalb Saßrjeßnten
ju einem ©imfon aufgeworfen, ber ben ©äulenbau t>on Saßrtaufenben gepaeft
unb jufammengefeßmettert. ÜJtit riefenßaften ©cßriftjügen ßatte fie ißre ©efeßießte
in alle Sänber ©uropal eingefeßrieben, gegraben, geäßt mit rotier Sinte aul ben
Stbern ißrer Kinber. Mul bem großen Sont bei Sebenl Ijatte fie meßr Slut ge*
feßöpft all Saßrßunbepte bor ißr. ©ie ßatte mit allem, wal bie ©tbe trug,
Satt gefpielt, mit Kaiferfronen unb Königreießen, mit altem |>o<ßmutß unb neuem
Stolj, Steicßtßum, |>errfeßaft, ©lüef unb ©lenb, am meiften mit ben köpfen ber
SDtenfeßen. SJtaneßer ßatte faum meßr gewußt, ob er noeß einen Kopf auf ben
©eßultern trage, ober ob Seil unb (Scfitoert ißm benfelben feßon abgeßauen; aber
alle Ratten gewußt, in jeber näeßften ©tunbe fimne ber irrige mit auf ben blut*
raueßenben Soben bei großen ©cßlacßtßaitfel ßinunterrotten.
Unb immer Steuel, SBunberfamerel noeß faf) bie Seit, ©ie faß ©terne aul*
löfeßenb ßerunterftürjen unb SJteteore ju ©onnen aufglüßen unb in feurigem,
blenbenbem ©lanj bie Süfte bureßfreifen. ©ie faß ßoeßragenbe ©ößenbilber, bon
ungefeßreefter gauft getroffen, gleitß bermoberten SJtumien in ©taub fallen unb
attmäeßtige ©öfter aufwadßfen aul 3leifcß unb Sein, dürften faß fie all Settier,
unb aul ber $efe bei Solfel Könige gebären, ©ine neue Sölferwanberung faß
fie über bie ©rbe gewäljt, Sultane aufbreeßen unb Sabafluten aulfpeien, uner=
meßließe ©räber üotn Mufgang jum Stiebergang. ©ie faß, baß nicßtl groß, nießtl
feft unb ßoeß unb ßeilig war; fie faß, baß nicßtl bon feinem Urfprung ßer flein,
niebrig, oßnmäcßtig, ber Seacßtung unwertß fei. Unb über allen faß fie eine un=
feßeinbare ©eftalt, bie ber ©imfon war, ber bie ©äulen ber alten Seit jufammenriß.
3fn ben Mugen berer, bie mit ißm lebten, faß fie töblicßen §aß unb Mbfeßeu gegen
ißn funfein, trunfene Segeifterung für ißn (eueßten. Stoeß immer wueßl bal @ume=
nibenantliß ber neuen Seit gigantenßafter empor; ißre betäubenbe Stimme rebete bon
ben Sippen bei Kaiferl Stapoteon, rollte jeßt ben Bonner ber geuerfcßliinbe an ber
Ober unb SBeicßfcl, wo ®eutfcßlanbl ©ößne gegen bie ©ößne SDeutfcßlanbl fämpften.
Unb boeß, bem Unerßörten jum Sroß, ging überall bal Seben fort. 2Bo ber
Staeßen bei Sebiatßan el nießt berfeßlungen unb jermalmt, erßielt el fieß gleicß
bem jäßen fßflanjenwueßl ber Statur, bie aul bem umgeftürjten Meter ftetig neue
Keimblätter ßeröortreibt. Unb Unfraut wueßerte wie früßer barunter, boeß feit*
fam, aueß Slumen noeß wie einft. ®ie SDtenfeßßeit im großen moeßte emfter
geworben fein, bal Kleinlicße, ©rbärmlicße, Säeßertieße ßatte ber Mnßaueß bei
iliefenweibe! nidßt erftieft. Stur unbeaeßteter, in ftittern SBinteln wueßl, bläßte
unb fpreijte el fieß, wie oon jeßer; boeß ebenfo bargen fieß bort aueß noeß bann
unb wann bie unberwüftließen Slüten bei ®afeiitl, ber jugenbfräftige unb feßn*
fueßtlootte ©eßlag bei ^er^enl, bie greubc, bal ßeimließe ©lüef.
®enn bal blieb el boeß, wonaeß in bem ungeßeuern ©etümmel wie oon Mn»
beginn ber SDtenfeßßeit jeber einzelne rang — um fein ©lüef. SDtoeßte biel ißm
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Unfere «Jeit.
Sog
als eine Steine etjrfjcineu, alä ©oiü unb Sluhm, als eilt 3rrWifch, als baS trau¬
liche Si^t in einem (leinen frieblichen ^eimatgemadh, er rang banadj mit allen
Sräften, bie er befaß. $unberttaufenbe hatte ber Dcean berfchlungen, hoch $unbert»
taufenbe hotte baS ©tüd, ber Bufaß, ihre Sörperfraft ober ©eifteSgegenwart in
bem unermeffenen Schiffbruch ein treibenbeS $oljfcheit umflammern taffen. Sie
hielten fich baran, unb bie ffieflen warfen fie hierhin wnb borthin. -Reue Strö»
mungen paeften fie, riffen fie mit fich unb wirbelten biete in bie liefe hinunter.
2tber bie ftarfen Schwimmer, wenn bie ®ötter beS äReereS mit ihnen Waren,
lämpftcn fich ö °n Sranbung ju Sranbung. Sie hörten ben Sonnet beS großen
Unterganges um fich, waren nur ein winjigeS Spieljeug ber Wilben SBaffer. Soch
wie im gleichmäßigen ruhigen SageSgange ber alten 3eit, hielt im Sufammen»
bruche ber SEBelt jebet einzelne nur fein Siet bor Slugen, nach bem bie bedangen»
ben £änbe bie SBeßen jertfjeilten, baS feine SBelt umfdßoß. ...
Sa (am einer, bem man eS anfah, baß er ein guter Schwimmer geWefen.
9ln ber Spifce eines (leinen SReitertruppS fprengte er in baS Xljor beS waffer»
umgürteten StäbtchenS an ber Dftfee. Sr War im Sanbe nicht Sreunb noch 3einb,
überbrachte nur bom Süben her als Sote eine SRadjricht, bereu Reibung er auf
fich genommen; bodj äße 3lugen in ben Straßen richteten fich neugierig auf feine
gotbfehimmernbe franjöfifche OfffäterSunifornt, beten Spauletten trofc ber Sugcnb
beS SrägerS fchon einen beträchtlichen SRang oertünbigten. SRoch beutticher aber
hafteten mit regftem Sntereffe bie Slide ber ßRäbchen auf ber (raftboß»fcf)tanten
©eftalt, ben (ühnen, lebensooß frönen Bügen unb heßen Stugenfternen beS jungen
SleiterS. Sr flaute überaß hin um fich nnb grüßte artig unb ritt ju bem größten
©aftßofe ber Stabt. Sort fprang er gewanbt bom Sattel, trat bem hurtig heraus»
(ommenben SBirtlje entgegen unb mit biefem in bie ©aftftube hinein. 8luf beutfeh,
baS ihm hörbar als feine 9Rutterfpradie bon ben Sippen (am, fragte er eilig nach
bem ißrofeffor ber Vernunft» unb Sittenlchre, |>errn Shriftian SajuS DleariuS,
bann nach bem ißrofeffor ber Serebfamfcit, SBeltWeiSljeit unb Ißäbagogit, 'perrn
Joachim äRattljiaS Sortholt. Sr that’S mit heftigen SBorten unb boch, als berweile
fein ©ebante eigentlich nicht bei beitfeiben; aber ber SBirth fchüttelte ju beiben
fragen bcbauerlich ben breitfdiäbeligen Sopf. „Sitte fubmiffeft um Sfcufe,
Sjceßenj, §err ©encral, höbe bon ben beiben jubenannten Herren fßrofefforen
niemalen etwas in Vernehmung gebracht. Soßten Selbige einftmaten in unferer
Stabt refibirt hoben, muß eS bor unauSbenttidjen Beitläuftcn gewefen fein."
5Run fiel ber Dffijier, faft ein wenig ftotternb mit ber Bunge anftoßenb, ein:
,,3cf) bin (ein ©eneral, nur Capitaiue-lieutenant — vous avez droit, cS war in
einer anbern SEBelt unb ließ fich erwarten — ift 3h n en etwa in ber Stabt jemanb
anberS, eine Same, grau Sonrectorin ©raboW befannt, ob btefelbe fich noch am
Seben befinbet unb hier aufhält?"
Sr hatte eS jögernb gefragt, jefct leuchtete baS ©eficht beS SBirtheS erfreut
unb er berfefete: „D gewiß — ccrtainement, Sjceflcnj, £)crv Lieutenant-colonel,
SRabame ©raboW refibirt in Ijiefiger Stabt als eine Same bon biftinguirteftem
©cfchmact unb ejquifitefter Slögance; fie unb mademoisellc Margucrite, ihre Iorf)ter,
beren 9lehnlict)teit mit ber reine Hortense man weit berühmt."
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805
Der Ulmenfrug.
„©eben ©ie mir femanb mit, ber mir bcn SBcg jum $>aufe ber grau
©rabow geigt", antwortete ber ©tabstapitän mit ^ocf) Don pfö^tic^et: ©lutwelle
geröteten Sögen, unb et ging mit bem güljrer burdf bie ©traten. „3a, üor
unauSbcnlticher 3«*"» murmelte er oor ftch Ijin — „ober War eS geftern?" ©r
fah auf; fie ftanben oor einem, im Sarodftit neugebauten |>aufe; auf baS ©eläut
ber Jfiörflinget !am eine Sienftmagb mit eng um bie £)üften fpannenbem 9?od
unb beantwortete bie grage nach ber |)errfcf)aft: „ÜRabante unb ÜJtabemoifelle finb
3 u einem nachmittäglichen plaisir cbampotre im jardin ber ©aumfdjule inüitirt."
Um ben 3J?unb beS DffijierS ging ein leicht fpöttifdjeS Süden. ©r ent»
gegnete: „ 3 m 3 orgon ber p 6 pini 6 rc?" unb tnüpfte einen $ant in franjöftfcher
Sprache baran, ber bem 2 Jtäbcf)en feine ©ewunberung über ihre feingebilbete
„expression" auSbrfidte. Sie öerftanb offenbar nichts üon feinen SBorten, aber
Inidfte grajiöS als ©rwiberung; ber Rührer fragte, ob er ben $errn ©enerat jur
©aumfchulc bringen fotte. $odj ber Kapitän üerfefcte !urj: „3ch fittbe ben SBeg
Wol fetbft", unb ging allein Weiter.
©S War ein herrlicher 3ulinarf>mittag, fchon gegen Slbenb; ber SBanberer fchritt
rafctjen gufjeS ben ^ß^ilofop^ifchen ©ang entlang. 2)aS grüne Saubgejweig beffelben
hing Weiter unb bunfter fdjattenb über als anbertljalb 3 a h r 3 e hnte 3 Uüor, fonft
hatte fich nichts üerftnbert. 3)er SBeg lag unbelebt einfam, jur Stedten fpiegclte
burch bie ©lätterlücfen ruhig bie SBaff er fläche beS fpafenS. 3« tiefem grieben
30 g ein ©egel barüber hin, bei: Cff^ier ftanb einen 9lugenblict unb fah bem
©chiffc nad). ©ine filberne gurdje glimmerte lang h' n t er bem Siel, fie Warb
röthtich, benn bie ©onne begann 3 U finfen. 3)er ©etrachter nidte hinüber unb
fchritt hnfüfl OorWärtS.
©in gelbweg führte ihn jejjt ant SBatbranb hin, bann famen Stufe unb Sachen
burch bie ftiße Suft. Stoch einige ÜJtinuten, unb er ftanb am 3 u 9 an g ber in
länblidie ©infamleit eingebetteten ©aumfchule; üor bem hodjwipfelig überfchatteten
moosbebadjten SBirthfdjuftShaufe brüben tummelte fich eine 3 ahlreidje ©efettfdjaft
auf Stafenplähen unb in ben ©artengängen umher. 3>cr unbeachtete Sufdjauer
btidte hinüber, feinen Sippen entfuhr unWitUürlidj halblaut: „2>ie SBelt bricht iu
Scherben — unb fie tan 3 en."
Xod) Warum foHten fie es nicht? ©ein ffopf wanbte fich — ber ©oget 3 Witfchcrte
int ©efträud), baS ffiicfjhörnchen lletterte behenb am Suchenftamm empor. SBaS
9 ing fie bie braunen in krümmer fallenbe SBelt, bie Slngft unb ÜRotlj berfelben
nn? ,f)ier herrfchte grieben, auf einer im SJteer treibenben @djoHe, bie ber grofje
Untergang bis heute nicht mit betroffen. 3 )er SBirbetorlan hotte nur umher»
gelreift, bie SBeKe nur üon ba unb bort gerfcheiterte ©tanten anS Ufer geworfen —
onb fie lachten unb tankten auf ihrer phäalifchen 3nfet. 3)ie SBettgefchichte fefcte
fith ja boch nur barauS 3 ufammen, bafj jeber ei^elne feinem Siel« nachtrachtete,
unb ihres war heute, fidj 3 U beluftigen.
Sag in ber Xh at ein ©arten ber ©häalen ba bor ihm, an beffen ©ingang er
nte ein Winb» unb wetteroerfchlagener ObpffeuS ftanb? ©S beburfte laum ber
ißhantafie, um baS bunte Silb oor ben Slugen fo auf 3 ufaffen. ®ie Weiblichen
®eftalten erfchienen üon weitem faft wie in heHenifdie ©ewänbet gelleibet; wunber»
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806
Unfere ^eit.
lidf atcachroniftifch freilich nahm fiel) bie fteife, fcf)nörfell)afte Sracht bet getreu
bajWifchen auS. Safür befaßen bie jungen SKäbdjen an ihrer ©eite etwas reij*
tioll ©efchmeibigeö; non ben weitentbloßten Staden unb Schultern floffen bie
engumfdjließenben feibenen Stoben wie an Seifen ober Stajaben Ijrrab, bie eben
aus ihrem feuchten ©lement emporgetaucht. Sie jugenblid) anmutigen formen
ber Statut leuchteten bei jeher ©emegung hinburdj, bie ©lieber ber fronten, halb
tior, halb jurüefgebogenen Sängerinnen wölbten fich gteid^ leifett ©chlangenWinbungeit
auf unb tierfd)Wanben. Sie Weißen Sirme flimmerten bis an bie Schulter ent*
blößt, nur über bem ©Inbogen unb bem ^mnbgeleitf tion breiten ©olbfpangen
umfaßt; £aub* unb ©luntengewinbe umfränjten baS jumeift in taufenb Keine
Söcfchen unb tief in bie ©tim niebergeringelte |>aar. ©inige fpiclten ffeberbaü
unb bogen fich utit bem geftielten gangnefc in grajiöfen Slttituben, anbere tanjten
unb anbere führten eine lebhafte ©ontierfation. SltleS toar im tiotlften SJtaße,
jeber ftrengften Slnforberung gemäß becent unb fdjicflich, aber tior ben Stugen beS
©efchauerS ftanb eS fettfam ba. SBaS hätten bie SKütter ber tiorauSgegangenen
©eneration gefagt, menn fich >h nen plöfeli<h biefer Slnblicf bargeboten, ihre Söchter
fo in bem „antifen", ben Stugen nichts tierfagenben ßoftüm fich t, °r ihnen im
Steife ber ÜJtänner bewegt hätten? Socfj bie SOtütter tion heute befanben fich in
ähnlichen ©etoänbern mitten unter ihnen, unb ber SluSbrucf ihrer ©efichter that
funb, baß feiner etwas bation auffalle, baß eS felbfttierftänblich, tiorfchriftSgemäß,
tiom SInftanb geforbert fei, fich f° 5 U Reiben. ©S mar bie neue Seit, bie auf
bem Stafenplajj ber länbtichen SBirthfchaft an ber Peripherie ber SEBelt SDtenuet
tatyte unb gangbatl fpiette, Wie, tachenb unb fchönheitftrahlenb, bie Samen ber
Sage beS SirectoriumS eS in ben ©arten oon Paris unb ©crfaiHeS gethan, als
um fie her ber Sücßtfarren gefnarrt unb baS ffatlbeil mit Söpfen ©all gefpielt.
Unb fie mußten eS fchon nicht mehr, boch ihr furjgefchnitteneS fpaar unb ber Weit
tiom Staden jurücfgefchlagene fragen ahmten noch bie „Soilette ber ©uiHotine"
nach, unb baS Sticfen beS SopfeS, mit bem bie Herren ihre Sameu jum Sang auf*
forberten, War als fchauertidje neuefte SDtobe an ber ©eine entfpruugen unb bebeutete
baS $erunterfaßen ber Söpfe — h eut ober morgen — unter ber ©chneibe beS ©eits.
Soch f)iex gebachte niemanb mehr baran; wer fonnte fich noch auf geftern
befinnen unb woju? ©S mar eine galante ööfüdjfeitsform, wie eS tiorbetn anbere
gegeben, unb eS mar ein heiteres, anmuthigeS ©ilb, ein fdjöneS fogar, baS ba
farbig im Slbenbroth ber weichen ^uliluft burdjeinanberfloß. Unb nun ftanb ber
junge franjöfifche Sapitän inmitten ber eleganten ©efeHfdjaft.
Stur flüchtigen SreinfchaucnS unb SlufhorchenS beburfte eS, um ju erfennen,
baß er in Wenigen Slugcnblicfen ber ©egenftanb atlgemcinften SntereffeS, lebhaf*
tefter ©ewunberung war. ©on allen Sippen tönten franjöfifche ©egrüßungen unb
Slnrebeit; alles Wetteiferte, bie Reinheit feiner ©ilbung an ben Sag ju legen unb
bem „empereur du monde" in feinem uberrafchenb bafteßenben jugenblicßen, uniform*
leuchtcnben ©ertretcr fcfimeidjclnbc $ulbigung barjubieten. SEBie um einen ©oten
beS DlpntpS, ber bie Stpmphen beS ShalcS befugt, brängten fie fich um ihn, ge*
«offen bie hohe SluSjeichnung, mit einem Slbglan^gcbilbe beS erhabenen ffaiferS,
beS neuen ©rouiben ju contierfiren.
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Der Ulmenfrug.
807
©r fpracb halb beutfdj, halb franpfifcb, fragte jejjt nach SDtabame ©rabom.
2 )a !am bie eilig #erbeigerufene, mager unb fpifcgefidjtig, bod) mit beit Slßuren
eines jungen SWäbcbenS, baS meifjfäbig burebpgene £>aar blumengefcbmüdt, ben
©uißotinefragen toeit Dom 3iacfen abfebmeifenb unb bie eingefunfene Sruft tief
becoßetirt. 2)er Offijier Derbeugte ficb oor ihr unb fpracb fie an:
„Sie »erben fid; meiner oieüeidjt erinnern, Sbtabame; icb Ijeifje ®otrab SBeftebt
unb bin gefommen, meine SSaterftabt einmal mieberpfeben."
©r batte beutfd) gebrochen, fie erluiberte mit einer tiefen ßteoerenj: „Oh
monsieur, je suis charmbe, quelle honneur pour notre ville mödeste!“' ©ie futjr
auf franjöfifcb fort: ,, 0 f), 3 b r großer ffaifer, ber 2 lßmä<btige fcbü&e unb erhalte
i£)n in feiner unberganglidjen ©lorie!" 3 b r « Säge briidten aus, bajj itjre @e*
banfen im ffopf angeftrengt umljerfud)ten, fie fügte febnefl fyittju: „ 2 Bie id) mid)
3^rer erinnere, fdjott bamalS einem jungen SriegSgotte gleich, bie Hoffnung unferer
ganzen guten ©efeüfcfjaft.“
„©ine fe^r toinjige Hoffnung, ßßabame", oerfefcte er lädjelnb; „benn id) mar
erft elf Saljre, als ich bie ©tabt unb 3f)re Obhut im Ulmenfrug Derliefj."
„3m Ulmentrug —", miebertjoltc fie, nur baS Iefcte SBort beutfd), bod) mit
franjöfifcfjem Slccent fprec^enb — „ja, mir ift eS mie beute! 9Jtit melcbem mütter*
lieben ©tolj gab icb 3b nen beim Slbfcbieb ben ©egen unb Dernabm icb ftetS Don
3b*e* glänjenben ©arriere! 3<b tourte, ©ie jögen p ben Slblern beS SBelt»
befiegetS, unb mein beglüdt fcblagenbeS $etj 50 g mit 3b nen . Stein — im Ulmen*
trug — eS ift lange her — im Ulmenfrug tonnte icb baS mol noch nicht miffen;
aber mein ©cmütb abnte eS, fagte mir mit erbebenber ©etoijjbeit, bafj ©ie p
ben böcbften Sielen berufen feien, ein Sefreier beS beutfeben ffiaterlanbeS unb Se*
glüder ber SDtenfcbbeit p merben. $ocb marurn ermeifen ©ie mir nicht bie ©bte,
mit bem SBobllaut 3b*er b e **ti<beu ©brache p mir p reben? Unfere ©tabt ift
jmar Hein; aflein mir miffen, maS mir bem unoergleicblicbett Sauber beS 3biomS
fcbulbig finb, in bem Sb* gottbegnabeter ©ouüerän feine erhabenen ©ebanfen fafjt
unb bem ©rbtreis funbgibt. 3<b b a & c bon föinbbeit auf einen 3)egoüt Dor ber
orbinören SluSbrudsmeife unferS IßolfeS befeffen — 0 mie rnirb meine locbter
ebarmirt fein, ficb ber Siftinction 3b rec ®efanntfcbaft, eines SlmbaffabeurS beS
groben SaiferS, erfreuen p bürfen. Sefanb fie ficb bamalS febon auf ber SBelt? —
eS ift lange — ah, la voilä — Marguerite, ma fille ! Monsieur Volrad Westedt,
ma chbre — major ou colonel? de Sa Majestä l’empereur."
„9tur fpauptmantt, SDtabame", ermiberte SJolrab SBeftebt halb ungefebidt
unb btidte oertoirrt in baS ©efiebt einer jungen $ame, bie febou einige Seit
binbureb bem ©efpräcb pgebört batte unb ficb jejjt mit einem ceremoniöfen Änids
Dor bem Offizier faft pr ©rbe prüdbog. Unfraglid) bilbete fie bie reipoflftc
aßer ©Meinungen ber jugenblicfjen SDtäbcbenmelt umher unb auch bie elegantcfte
in ber Toilette. 3b* SituSföpfcbcn, beffen furjeS Stingelgetod ficb tu jmei „möches"
an ben SRofenmufcbeln ber Obren berabfraufte, trug ein leicbteS ©eflecbt Don ©cbilf»
blättern unb *®lüten um ben aebatbraunen Scheitel; bacbaufgefcbürjt hob ficb bie
tofige SBölbung beS SufenS faft augenoermirtenb aus einem febmaten, buftigen
©pibengemölf; mie bie nacbfliefjenb ficb anfd)miegenbe Umbüßung einer Sttijre glitt
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808
Unfere <3eit.
ba« wafferfarbig grünfeibene ®ewanb, audj am Saum mit einem Scßilffranj
garnirt, auf bie butcßbrodjetten, apfelblütenßett fd)immernben Strümpfe, bereu $ier=
lieber 3uf)att bon rotßen Waroquinfdtußdjen getragen Warb. ®ie bi« jur Steffel
entblößten weidß gerunbeten 2lrme warfen ein blißenbe« £id)t oon ©olbreifen unb
btüßenber Wäbdfjenfdjöntjeit.
„Sinb Sie — ffräulein Wargaretße ©rabow?" fagte ber junge Offizier bei»
naße ftotternb.
„Oui, monsieur, je me fais l’honneur, de vous saluer."
©et(ß wunberlicße« 2i<fjt lag auf einmal über allem umßer; ein gefpenftifeßer
3ug lief oor ben 2lugcn Sßolrab ©eftebt’« über bie grajiöfen Figuren unb @e=
fitßter, Wie ba« lippenberjerrenbe Stuflacßen eine« großen geiftcrßaften Slnttiße«.
@r ßatte ßierßin unb bortßin ju erwibern, boeß nadj einer ©eile ftanb er etwa«
abfeit« wicber neben ber $emoifeHc Warguerite ©rabow unb fagte:
„©rimtem Sie fidj etwa, baß wir al« Äinber einmal ßier jufammen gefcßaufelt
ßaben?"
©r beutete auf eilte, jWiftßen jWei Saumftämmen au«gefpannte Schaufel; fie
entgegnete:
„Pardonncz, monsieur, mais il ne m’cn souvient pas. Ah, peut-etre — in-
distinctement."
Sßre feine $anb glitt flüchtig ju ben leßten ©orten über bie Stirn; er oerfeßte:
„SieHeidjt wenn Sic fieß auf beutfeß befännen. ©arunt fpretßen Sie fron»
jöfifdj mit mir?"
3ßre klugen ßefteten fieß einen Woment eigentßümticß in fein ©efidjt, unb fie
erwibertc: „Sinb Sie benn ein Xeutfcßer? Sie tragen ja fraujöfifcße Uniform."
®odj fie fügte rafcß ßinterbrein: „Weine Warna miinfeßt e« uießt, i<ß barf im
ftaufc nur ftanjöfifd) fpreeßen."
®er junge Dffijicr ftanb ein paar Secunben feßweigenb, bann fagte er:
„511« icß fortging, war tcß ein Xeutfcßer, unb bie lebten ©orte, bie icß Oon
3ßnen ßörte, äußerten in beutfeßer Spracße bic ©eforgniß, icß fönne ftuftcit unb
Sdjnupfen befommen."
„Ah — ä präsent — Sie fprangen in ein ©affer — nidßt in ba« große, in ein
Heine«, unb c« fprißte um Sic auf. X>a« War fomifcß — warum traten Sie’« boeß?"
„3dj Wollte ©lumen pflüden, Wabemoifetle."
„3n ber Xßat — ja, id) erinnere mieß — blaue ©turnen. Que vous plait-il,
monsieur?"
©in junger $err ber ©cfetlfcßaft War fjinjugetrcteu unb forberte fie mit bem
ffopfniden Oon ber ©lace be la ©oncorbe jum Xan$ auf. Sie reifte ißm bie
.ftanb unb fdßwebtc über ben SRafenplaß batjiu; bann tanjte fie ebcitfo mit ©olrab ©e»
ftebt, unb fie ftanben, auSrußenb, wieber beifammen, unb Wargaretße ©rabow fagte:
„Wir War, at« Sie in ben ©arten eintraten, Wie Wenn icß Sie fdjon einmal
gefeiten, Wonfieur. $n« ©ebäcßtniß ift wol Wie ein ©ilb, bon bem man Staub
unb Spinnweben fortbläft, baß e« wieber ßetl wirb, ©in Sdjiff fegelte braußeit,
al« wir un« juleßt faßen, unb am Stranbc lag ein ©oot mit einem Watrofen
barin, in ba« ftiegen Sie ßinein."
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Per Ulmenfrug.
8 O 9
„Unb Sic lootlten mit in baS © 00 t, SRabemoifeUe."
„Sa — ^aben Sie’S begatten? — SaS War ein finbifdjer ©infall. Stber
Sb ret War audj fonberbar, unb ich Weiß, ich War febr oerwunbert. SBarurn fuhren
Sie mit bem © 00 t, SJtonfieur, unb Wohin?"
„SaS Wäre lang ju erjagten, SKabemoifeüe. S<b wußte eS bamalS nicht unb
OieUeicbt weiß icb’S auch fjeut nid^t. Sn frembe fiänber tarn ich unb in ben
Sturm auf ber See unb auf bem Sanbe. ®ber es war leichter, im wifben SBaffer
an bie öbe Uüfte 31 t fdjwimmen, SKabemoifette, als im Strom ber ÜJtenfdjen, bie
über ihren Seibern eine neue Seit in bie Suft tfjürmten. SEBenn Sie mich fragen,
wie’S gefc^ab, baß idj eines SagS in ben gsofien SEBeltbafen an ber Seine ge»
worfen unb ftatt in ber üJtatrofenjacfe als IRefrut beS ©onfulatS auf ben Straßen
oon ©ariS umbertief, fo weiß icb’S taurn ju fagen. Stber Wobin icb wollte, Wußte
icb auf ber anbern Seite ber ©rbe wie auf biefer. ©S ftanb immer ein Stern
am Fimmel, nach bem ich auffab, ber mir bie Stiftung WicS."
„Unb Wobin War baS, SWonfieur?"
„S<b Wollte eines SagS bt er b cr jurüd — ift baS nicht bie nämticbe Sdjau!el,
bie bamatS jWifdben biefen beiben grauen Stämmen hing?"
Set junge Kapitän beutete etwas feitwärts, äftargaretbe ©raboW fiel ein:
„Sa, Wir Iahten über ben bärtigen, ptumpgefcbnifcten Siegenbocffopf hier am
Stüfcranb, ich erfenne ihn Wieber. 2Bir Waren oft miteinanber im SEBalb unb im
gelb, ehe Sie in bem Soot battonfubreit. 9Jtir fäHt’S beutticb ein, ba mußte ich
jum erften mal oont §afcn allein burcbS gelb nach fjaufc geben, unb habe mich
Wol gefürchtet, benn ich Weinte auf bem ganjen 2Bege."
„SaS War unrecht oon mir."
„2BaS meinen Sie?"
„Saß idb Sb««« Übränen oerurfa^te; cSbat mich fpäter, als ich jur ©efimtung
gefommen, oft gereut."
Sie beftätigte feine SBorte mit einem Uopfnicfeit. „Sa, Umbern !ann auch
etwas febr web tbun, unb idb War febr böfe auf Sie. S"t Slnfaitg badete ich, es
fei unmöglich unb Sie müßten an jebem Sage wieber bafteben; aber nachher Witrben
bie ©lumen immer troefener unb farblofer."
„§aben Sie ben Strauß bewahrt?"
„Sie fagten ja, idb fotle an Sie babei benlcn, bis Sie jurüdlämen, unb idb
febrieb mit febr fdbledbter ipanbfcbrift «Solrab» auf baS Uäftcben, Worin ich fie
aufbeWabrte. über baß ber franjöfifcbe Dfßjier jener ©olrab fei, ahnte idb nicht.
Wun freilich f«b’ ich’ 8 -"
Sie btieften ßdb bur<b bie fdjon jinnlicb tief bcrabgefunlene Sömmerung
Wecbfelfeitig ins ©efiebt. „Stb auch", toerfefete er; „idb erfannte Sie auch nicht
gleich, aber jefct febe icb’S —"
Sa er anbielt, fragte fee: „SBaS feben Sie?"
„Saß Sie 2Reta ©rabow finb."
„SEBarten Sie — fo nannten Sic mich bamalS nicht."
„9tein."
„933ie boeb? @S War bnbfcb."
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8*0
Unfere ,3cit.
„3$ Sie nach bern ÜRamen meiner SDtutter."
„Sogen Sie’S nicht — idj miü eS fefbft — gleich hab’ id)’S — Seate riefen
Sie mich, memt Sie burcf) ben £>oh!meg aus ber Schule ^eimfomen."
„Unb Sie ftanben broben am 3aun unb marteten auf mid), unb mir liefen
$anb in §anb inS gelb."
„ga, baS mar fd)ön — fo fdjeint bie Sonne nicht mehr wie barnals."
Sie fdfjroiegen beibe einige 2lugenbtide, bann fragte Solrab SBeftebt rafd):
„SBotten Sie einmal triebet fdjaufeln? gür uns jufammen ift ber Sifc Ijeute
freilich ju eng."
Sie fefcte fid) mit ftummer ©rmiberung auf bie bemeglidje Sani, unb er jog
mit ben £>änben bie laue an unb lief) fie fahren, gm 3mielid)t ( am bie leidste
©eftalt, lautlos fdjtoingeub, jurüd unb fchmebte an iljm üorüber. @r empfing
fie unb befdjleunigte bie ©c^neßigleit tljreS glugeS; einmal tterfeljlte feine $anb
bie ^oljtebne jurn Stbftojj unb brängte ftatt ihrer bie meiere Spultet 3Jleta ®ra»
bom’S üor. £>alb ladjenb, halb crfcfjredt, ftiejs fie einen unmiMürlidjen 9tuf aus:
„9tid)t ju ftarl, Solrab!" Umljer im ©arten mürben bunte SampionS angejönbet;
nun fagte bie Sdjaufelnbe: „Sitte, nicht mehr, mir fdjminbclt ein menig."
@r bot ihr bie $anb, um ihr Dom Sifc <;u Reifen, unb fragte:
„Soll ich Sie ju ben Sänjern führen?"
„Stein", antmortete fie ^aftig. Sie ^ielt ttod) feine $anb unb jog ihn
einige Schritte feitmärts mehr ins Suttlel ber Säume. „SDtir mar’S auf ber
Schautel mie im Xraum", fagte fie mit jaubernb leifer Stimme.
„Unb barum foUte idj an^alten, bamit Sie aufmachten?"
„Stein — barum nicht."
„Unb maS träumten Sie?"
„ffltir mar, als feien mit mieber ffinber, unb ich glaube, id) rief Sie bei
Stamen — üerjeijjen Sie mir bie Unart, mein fiüpf mar fc^minbelig."
„333ar es benn bamalS Unart, SJteta? SBeSljalb heute?"
„3a, meShalb? SJtir larn'S auch, baf) eS ttjöridit fei."
Sie gingen fdpoeigenb nebeneinanber auf einem bunleln ©e^öljmeg; hinter
ihnen üetflang ferner ber Stimmcufc^atl ber ©efettfdjaft. Stun fragte SJlcta ©rabom:
,,3Bo£)in gehen mir? SOSir mäffen mol jurüd, eS toirb finfter hier."
„3rgenbmol)in", antmortete er, „fürsten Sie fidi ?"
„Stein, mie foKt’ idj’S, menn Sie bei mir finb?"
„SOtid) bäucht auch, eS ift alles mie einft unb mir hätten uiel miteinanber ju
reben. 3)a finb mir im greien, leimen Sie ben 3auntoeg noch?"
Stemengeflimmer fiel über einen, fief) am Stanbe beS Keinen ©e^öljes öffnettbett
3Beg, bod) meiter oftmärtS lag er in einem ftärtem meifjlidjen Stimmer. @S
mar ein traumhaftes Sicht, bie 2uft mittagSroarnt unb unbemegt. $aS SDtäbdjen
hatte bie |>anb auf ben 91rm feines SegleiterS gelegt unb ermiberte:
„3a, mie einft — üor einer Stunbe lag'S mir noch unter bichtem Siebet, nun
fdjeint’S mir mie geftern. 2)aS tjjut bie Sonne."
„Ober ihr Sote bort", lächelte ber junge Offizier, auf ben boü jefet üor ihnen
üom 4?orijont fteigenben SÖtonb beutenb.
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Der UlmcnFrug.
8U
„Stein, es ift bie SDtorgenfonne", fiel fte ein, „bie Sonne bcr ©rinnerung."
®urdj i^re Stimme irrte ein leifer fcf)toennütf)iger Mang auf, ber mit bem
jugenbtidjen S^ön^eitäjauber iAeS SilbeS nicE»t im ©inftang ftanb. Sie fügte
fcfjiteH ^inju: „0 wie fdjien bie Sonne an bem SJtorgen, als bu — als Sie
plöfclid) rafdjelnb burcij bas ßaungejnteig ju mir unb meinen bunten Käfern
Ijerunterfprangen."
„SBat’S benn nadjfjer nicA meA fo, Seate?"
Sie ftanb unb falj i§m mit monbbeglänjten 2lugen ins ©efidjt.
„®aS Ringt mir glütflic^ ins $erj — idj f)abe Feine fdjöne Stunbe uteA
gehabt, feitbem bu — ja, feitbem bu fortgingft, Solrab. So ift eS erft wieber
wie einft — lag eS wieber fo fein jwifcAn uns! D eS ift nidjt gut, bag bu
jurüdgefommen, Wenn bu wieber fortge^ft, Solrab! 3$ bin fo einfam gewefen
unb A&’ es ni<A gewußt — boclj manchmal füllte idj’S, unb bann Fam’S mir
mit einem ©rauen oor i^nen allen. Slber icf) rnugte ja mit iljnen leben, unb idj
War nidjt anberS als fie, icf) warb’S audfj nic^t. 3a, manchmal füllte idj’S unb
weinte bei ben trocfenen Stumen, bie bu mir gelaffen. 3$ A& e nidfjtS gebadet,
als fort aus ber ©rabeSfälte, aus bem £>aufe meiner SKuttcr — irgenbwo^in —
o Ijcitteft bu ntidf) bamalS mitgenommen! ©ib mit beine £>anb wieber, fie ift
nocf) warm toon ber Senne!"
©in fröftctnber Schauer übertief fie; SSolrab SBeftebt lüfte einen öuffdjlag oou
feiner Uniform unb legte ifjtt fanft um i^ren Weigrinnenben Kadett. Sie gingen
|>anb in £anb jWif<A« Ijofjen, reglofen SornäAen; SJteta ©rabow fpradj flüftern»
ben ®oneS oon langen falten 3»A e n, bie über fie Angegangen. ®er junge Offi=
$ier unb rebete bajtoifdjen oon feinen Scf)icffaleu. ©S Waren jWci Mnbet,
bie troftooH Seib miteinanber taufd^ten.
®a faA« fie einmal jugleidj auf unb ftufcten; etwas ©eifterljafteS ftieg oor
iAen aus bem Sobett. ®ann untcrfc^ieb baS Sluge eine beftraAte gelbliche SBanb,
oon bunfelm SJtooSbad) unb AA« Saubwipfeln überragt, unb Solrab SBeftcbt ftieg
Oon leidet jitternben Sippen:
„®er Ulmenfrug —! Unfere güge Aben ben Sßeg gewugt — bas war ber
Stern, Söeatc, ber mir immer bie SRidjtung Wies!"
®aS ©eljöft lag in tiefem, lautlofem SdE)laf oerfunfen, bodj unOeränbert blidte
alles ben baoor SteAnben entgegen, nur bie Ulmenfronen waren weiter über ben
grauen Ißferbefopf cmporgewadjfen. ©inige Secunben faA« bie klugen beiber
fdf)Weigfam oor fiel) f)m> bann fagte er:
„SEBoHen wir uns in bie Saube feAn, Seate?"
@S war eine IraumeSnadA, feine SEBirfticAeit unb feine Sßelt lag braugen
umAr. „3a, lag uns in bie Saube geAn, Solrab", entgegnete Dieta ©raboto.
®ort fagen fie unter bem tief überfjcmgenben ©ejweig, bodj fidj tocdjfelfeitig
jefct faum fiditbar unb oerftummt, als gatten fie fidj nun alles gefagt unb feiner
oon ignen wiffe nteA ein SBort.
®odj ba fragte ptüglitg bie Stimme beS SKäbcAnS: „Solrab, wie ift eS benn
möglicg?"
„SBaS, Seate?"
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8(2 Urtiere ^eit.
„®a6 bu mit ju ißncn gcßörft, bor betten mir graut! ®aß bu bie Uniform
beS fremben, tyerrfcfifüdjtigen, ruefjfofen (Eroberers trägft? ®aß bu, ein Jleutfcßer,
gegen ®eutfcße, gegen bein Saterlanb fämpfft? 3<ß b a & e immer baröber gebaut,
aber ich fann’S nicf)t faffen. 2Bie ift eS möglich, Solrab!"
SKit einer ficb fteigernben leibenfcßaftlicben (Erregung mar eS unbermutßet au§
ißrer ©ruft gefommen; ber feltfame Jon legte ficb bem $örer etmaS mit Ser*
mirrung nm bie Sinne unb bie Sprache. (Er ermiberte ftocfenb:
„2BaS gebt baS uns an, ©eate, bidj unb mich? Baß bie SBelt jerfcßlageu,
mer miß, menn biefe Saube bleibt! 3<b habe fein Saterlanb, Ijatte feinS, maS
bat es für mich getban? SllS einen Slbenteurer b fl t’3 nticf» in ben Sturm ge=
morfen; baß meine $änbe ftarf jum Scbmimmen maren, berbanfte ich nicht ißm."
„Sßem fonft? ®u bift fein fi“inb — bu fcfjtägft beine 9Jiutter!"
„®u toeißt, ich habe feine gefannt — menn bu meine §eimat fo nennft,
mar’S eine ÜRutter roie bie beinige! 3m <Scf)iff6ruc^ ber äJlenfcßbeit fcbmamrn ich
toie jegtidjer nur na<b meinem Siel umber, nußte SSinb unb ©eilen."
„Um in beine |>eimat jurütfjufommen, fagteft bu —"
„Stießt ju ibr — allein ju bir, ©eate!"
®er Sprecher mar oon ber ©auf aufgeftanben, bocb jugleicß erhob baS
SWäbcben ficb unb trat Ijaftig aus ber Saube in ben äftonbgtanj b' nau ^- ® r
folgte ibr nach; ihre opalfcßimmernbe ©ruft ßob unb fenfte ficb i« heftigen SUßem*
jügen, etmaS UnoerftänbticbeS, UngefprodjeneS tag in ihrer (Erregung, mie menn
fic biefelbc mit einer unbeutlicben SDJittenSabficbt noch ju erhöben trachte. Slls
höben fie eine SSaffe gegen ihn, ftießen ihre Sippen ßerbor:
„8u mir? SBaS fucbft bu bei mir? 3<b bin eine Jeutfcße, bu bift mein
fteinb! ®aS mar baS einzige, moran ich mich feftgefjalten, baS mir geblieben
unb mobon ich mußte, baß eS mabr unb treu in mir fei. 9Rein SJiunb rebete
in franjöfifdjer Sprache, aber nur bie Simge tbat’S; mein $erj berabfcheute bie
Sermfifter, bie ©ebrücfer, bie Jobfeinbe ®eutfcßlanbs. 3<b ßobe feinen SBunfcß
ju leben, als um beinen befaßten ffaifer fo tief fallen ju feßen, Solrab SBeftebt,
mie er über baS ©lücf unb Seben bon ÜDMionen in bie $öße geftiegen — ißn
unb alte mit ißm, bie an Jeutfcßlanb UeblcS getban. ®u bift auch ein Serrätber
an ißm, unb mir graut bor beiner §anb, bie icß gefaßt, benn beutfdjeS ©lut fließt
bon ißr. ©eß’ jurücf, moßer bu gefommen — bu bift nicßt Solrab SBeftebt —
mir ßabcn nichts meßr miteinanber gemeinfam!"
®er junge Offizier blicfte fie fpracßloS an, eine unbegreifliche Sermanblung
ßatte fie bor feinen Slugen umgeänbert. ®ocß menn fie mirflicß fo bacßte, im
3nnerften empfanb, marum fpracß fie eS erft jeßt, urplößlicß — marum nicßt
fcßon früßer? Sie ßatte eS bocß immer gemußt, folange fie ißn miebergefeßen
unb #anb in $anb mie ehemals mit ißm gegangen. *
@S Rang, als ßabe fic einen Streit gefucßt, einen Sormanb, folcßen ju be*
ginnen, um ißn geben ju ßeißen; unb fo micßen jeßt aucß ißre Slugen an ißm
borbei. Unb bocß fünbcte ein ©lanj ber SBaßrßeit auS ißnen, baß ißr bie SEBorte
aus ber tiefften Seele gefommen. Unb bocß — jum erften mal in feinem Beben
burcßrann ißn bie (Erfenntniß mit einem Schauer — mar eS aucß ©aßrßeit, maS
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Der Ulmenfrug. 8J3
fie gefprochen. ®« fiel jä^lingä oon feinen lichtgeblenbeten Singen — er war ein
©oijn be« beutfchen SBaterlanbe« nnb hob, nur an ftc^ feiber benfenb, gegen fein
eigene« SJoIt bie £>anb für einen jfremben. Saufenbe traten e« mit ihm, bocf)
e« war wiber bie Statur, rud)Io«, oerrätherifch oon jebem, ber ben Slblern nadj*
jog, bie 2)eutfc£)ianb jerfleifcf)ten. Unb ba« hatte ihm ein SJtäbchen erft fagen
müffen — fte, um berentwitlen er e« bewußtlo« gethan!
SSoirab Seftebt ftanb btifcbetäubt; bann juctte feine £>anb auf unb faßte ben
Strm SJteta ©tabow’«. ©ie hotte ben guß bewegt, ihren Sorten nad^jut)an=
bein, oon iljm ju gehen; bodj nun hielt er fie frampfhoft unb ftammeite:
„Su fiaft rec^t — aber Wir haben hoch noch etwa« gemeinfam — bort!"
©r wie« nach ber tage«hett beftrahtten Sanb be« Utmenfruge«, auf bie ber
SJtonb ihre beiben ©chattenriffe nebeneinanberwarf. @twa« feitwärt« baöon jogen
fich h a ^ oerwafchene buntte ©triebe über ben Salfberourf be« Gemäuer«, unb er
fügte haftig ^inju:
„Seiht bu noch, wer ba« ift? Sa« War auch eine anbere."
Shr flog oon ben Sippen: „Stein, e« ift biefelbe gebiieben."
«ßlöhtich tief} er ihre $anb fahren unb fagte mit eigentümlichem Son:
„Sleib’ einmal fo fielen, Seate — aber ganj ruhig — bi« ich feige: Sinn!"
Sin gittern burdjlief ihre ©eftalt. „Sa« wißft bu? Stein —"
„Sir beweifen, bah e« eine anbere ift!"
„Stein!"
„3<h biete bir einen hohen ißrei« bafür!"
„Sa« für einen ißrei«?"
„Sah unfer Saterlanb, beinc« nnb meine«, einen ©ohn mehr hot!"
©ie fließ freubenhell au«: „SSoIrab! Sann Iah mich p ©tein werben nnb
fo flehen bleiben bi« an« ©nbe!"
@r griff in bie Safdje, pg einen ©tift herüor unb umriß mit fliegenben
Ringern ihren ©chatten an ber Sanb. „Stun!" fagte er, nnb ihr ißtofilbilb fal)
ihr mit weichen, jungfräulichen Sinien oom Scheitel bi« pm f<hön gewölbten
SSufen entgegen. „3ft ba« nicht eine anbere?" fragte er. „Sie S?no«pe bort hat
ber Stegen herabgeworfen, aber eine Stofe ift aufgebläht."
©ie antwortete nicht«; er hatte wieber ihre £>anb gefaßt unb pg fie bitter
mit fich an bie Sanb. „3<h habe beinen ißrei« bcphlt, werbe e« morgen tf>un
— nun Oertange ich auch ben meinigen, SSeate."
Sine irre Slngft flimmerte in ihren Singen auf: „Selchen fßtei«?"
„®r fleht h«r gefchrieben, ich fänb’ ihn in bunfler Stacht" — feine #anb
fnidfte übergewadjfene« Slprifofenlaub prücf — „ba ift er unb nicht oertöfcht!
Sticht biefer — ber anbere brunter! Stiemanb fann ihn lefen al« mein #er$ — unb
al« bein«. 3<h bin gefommen, ihn p holen, Seate — will bein Iperj ihn pljlen?"
©einStrm fdjtnng fi<h um ihrenStacfen, fie ftiefj angftoott au«: „Saß mid), Solrab!"
Soch er rief: „©an} gewiß! Sch h fl b’« erfüllt, nun thu’ auch bu’«! 3<h
tonnte heut noch nicht jur £>ochjeit fommen, nur ben Srantfuß bir auf bie Sip*
pen p brüefen."
@r hielt fie Ieibenfchoftlich umfaßt, fie rang athemlo« ihre Sippen oon ihm
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Unfere <5eit.
8H
fort. 9tot^e Slutgtrogfen quollen plöfetic^ aug feiner Stecgten, bei bet Slbmegr
mar bet ©chilffranj Don ihrer ©tim gefallen unb bie fdjarfen hättet hatten
ihm tief in bie $anb gefchnitten. 9tun ftanb fte, gewattfam oon ihm toggerungen,
unb ihr SDtunb ftieß bebenb geroor:
„3<h batf bi(h nicht füffen — ich bin eineg Slnbern Staut — in bet näcgften
SEBocge feine 5rau."
Sag Stut toat aus ihrem ©eficgt gefloffen, wie an einem 9Jtarmorantlifc rann
bag SRonblicgt ihr über ©chtäfen unb Sßangen. ©ebanlengelägmt ftarrte Sotrab
SBeftebt fie an, feine Sieben toieberhotten nur: „ffiineg Stnbern Staut?"
©ie fgracg betoußtlog: „Um aug meiner äJtutter §aufe fort — gteichoiet too=
hin — unb er ift gut unb hat mich heb. SKein #erj ahnte eg unb tooßte fich
mit bir entjtoeien —"
(Sin fcgarftönigeg Sachen brach aug Sotrab SBeftebt’g SJtunb. „Sag mar nicht
nötgig — ich hatte bie Sreue, bie ich gelobt, aber ich mache nicht treulog. Su bift
gefeit, SDteta ©rabom — bift nur ein ©chattenbilb mehr. Seb' mohl für bieg Seben!"
©t manbte fich «nb girtg; mie in bie ©rbe hinab berfanf feine ©eftalt in ber
geifterhaften ©giegetung ber großen fcgtoarjen ©lagfuget. Sag Stäbchen fchrie auf:
„Sotrab —!"
©ie flog auf ihn ju, marf bie 2lrme um ihn unb fügte ihn. „Sag ift für
bie furje ©onne am SDlorgen unb am SJtittag — teb’ moht fürg Seben!"
(Einige ^perjfcgtäge taug noch hielten fie fich umfchtoffen, bann gingen fie
fdjmeigenb augeinanber, norbmärtg unb fübmärtg bur<h ben ©arten beg Utmen=
frugeg. ©ie manbten fidh nicht um, ber Sraum einer Qulinacgt mar oorüber.
Um eine halbe ©tunbe fgäter ritt Sotrab SBeftebt ohne Segteiter burch bag
alte Igor feiner Saterflabt in bie monbgelte SEßett ginaug.
VII.
Sie SBelt, in bie Sotrab SSeftebt ginaugritt, freißte micberum, eine neue Seit
ju gebären, ©ie frümmte ficf» in Ungeheuern SBegen, unb gelte ©cgmerjengfcgreic
rangen fich ih r öon ben Siggen, gaft ein Sagrjcgnt ginburcg noch burcgrüttelten
mitbe Sramgfjucfungen öom ©feitet big jur ©ogte alte ©lieber ©urogag,* ber
alten ÜDlutter mechfetnber Seiten.
Stber bann tag ein ftitteg ffinb in ber Sßiege, rnerfmürbig tauttog. ©in
erlauchter Äreig oon $att)en gatte ficg jufatnmengefunben, um baffetbe aug ber
Saufe ju geben; unb fie ftanben mit metteifemb gefalteten £änben um bag
Seden, aug bem bie ginger beg ißriefterg gemeigteg SBaffcr fcgögften, um ben
ffogf beg Säuftingg bamit ju haben unb in egrifttieger SSiebergeburt bie ©rbfünbe
feineg Urfgrungg oon igm abjumafdgen. Unb ber gottbegnabete 9J?unb beg Säuferg
fügte ber heiligen, ejorcifirenben Sefgrengung bie meigeoolte ©atbe feiner Sereb-
famfeit ginju, baß ber junge ©größling feine Seraunft gefangen negmen möge
unter bem ©tauben — bem ©tauben an eine bereinige Sergettung alter irbifegen
Unjutängticgfeit unb Ungleichheit ber ©rbengüter, ber Sreuben unb Seiben, in ben
gerrlicgen SBognftätten beg Saterg im $immet, ber allen feinen ttinbeni bie
gteiegen ©cfilbe ber ©etigfeit unb beg Sogneg igrcl gläubigen irbifchen SBanbetg
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Der Ulmenfrug.
8J5
bereit h«lte Dort ©roigfeit gu ©roigfeit — bem ©lauben an bie SlflroeiSheit, 8tß»
unfehlbarfeit unb $lßgered)tigfeit berer, roetdje ber $err ben ©öllern als Dbrig»
feit gefegt — Simen — Unb „Simen!" fd)ludjjten ergriffen unb anbachtSBoß
^nnberttaufenbe Bon Stimmen Ijinterbrein — es mären Biele Sippen barunter,
bie ehemals am tauteflen „Liberty — fraternitö — Sgalitö!" gefangen unb bie
Same ©ernunft auf bem Slltar mit göttlichen Slttributen befrängt hatten — boch
mer fonnte ft<h noch auf bieSNobe Bon geftem befinnen? Sie gingen nach$aufc,
SDtann unb SBeib, unb bie gum ledern ©efchtecht ©ehörigen fteßten fi<h Bor ben
Spiegel unb bängten entfefct, mo ein Stücf unoertjüHter Statur an Körper unb
©eift ihnen entgegenteucljtete, einen grauen ©ombafinlappen bariiber, umfältelten,
umbaufchten unb umfchlotterten forgtich bie jungen ober alten ©lieber oom Sinn
bis auf bie reigBoflen ober plumpen, bodb gleich fünbhaften güfje herab. Unb bie
SWänner gogen lange §ofen unb fchmarge, ehrbar ben Seib utnfd)tiefjenbe Nöde
an, unb maS Bon beiben ©efchlechtern Stnfpruch erhob, bem „guten Ion" bei»
gegähtt gu toerben, nahm ein fdjmargeS, golbfchnittblifcenbeS ©efangbuch, fe|te fich
am Sonntagmorgen unb »Nachmittag in ben referoirten Sirchenftuht unb banfte,
bas ©eficht auf ben SchoS neigenb ober im £>ut Berbergenb, erft mit einem leifen
©ebet unb bann mit einem lauten jpaüelujn bem £rorrn für feine tounberbarcu
Söege aus ber Sinfternifj gum Sicht, gur SBieberljerfteflung bet Orbnung unb ©e»
fittung, ber Sirchengudjt unb beS Seutfdjen ©unbcStageö, ber obrigfeitlidjen Sluto»
rität unb ber ^eiligen Sttliang.
Nur baS neugeborene Sinb lag reglos unb gab, obrnot baS alles lebigtidj ihm
gu ©hren gefc^a^, leinen Ion Bon fid). @S mar ein merfrnürbig ftiUeS Sinb,
unb mie es hetantouchs, marb es immer ftiller unb ftitter, als ob es gar feinen
SNunb beftfce. ®S fd^ien taubftumm gur SSSett gefommen, unb bei feinem fdjmäd}»
liehen ©ebenen mochten manche eS fopffchüttelnb für einen Bößigen Sretin an»
fehen. loch trofcbem hörten feine Ohren altes, maS umher Borging; nur thaten
fte nichts Bon biefem ©erftänbnifj lunb, als bann unb mann burch einen Stid
ber Slugen. Ser Stuffchlag biefer Slugen beS lautlofen, blafjmangig, ohne ^ugenb»
freubigfeit entpormachfenben SinbeS befafj etmaS ©igenthümlicheS. ©in fchmeig»
famer, fehnfüchtiger ©lang lag groifdjen ben fcheuen Sibem unb fprach Bon innerm,
heimlichem Seben. @S maren ftummberebte, fehr f<höne SJtenfchenaugen, mit
meldhen es gu benen auffah, bie feinen ©lid Berftanben, Bießeicht inhaltstiefer,
als fie Borhet auf ber ©rbe gemefen.
Stuf biefer ©rbe aber fah es munberlich aus. Sie ßJtenfdjen, bie ein halbes
Sahrhunbert erlebt, holten brei Seitalter gef eben; fie maren afle alter als ihre
3ahre. Sa$ erfte hatte ber SBirbelfturm ber SSettgefchichte mie Spreu Bon einer
lenne gerftoben, unb nichts baoon mar geblieben. Sin bem gtociten fegten bie
Sehrbefen ber Sronen» unb lonfurträger, bie geberfahnen in Sangleien, Safri»
fteien unb StaatSphilofophen»S33erfftätten, um nidjtö baBon übriggulaffen. hinter
aßen tag ber SNorgen Bon traumhaftem Nebelgemötl umfd^teiert, ber Ntittag mie
ein langer, blifcburchtoberter, orfanumheulter Iraum beS SBeltuntergangeS; jejjt
ftanben bie Singe erfennbar Bor bem machen ©lid ba, hoch Bon einem greifen»
haften, müb’ Berfchmirnrnenbcn Slbenbtidhte umronnen.
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8f6
Uttfere £eit.
SSiedeic^t tiefe fich am beften fagett, bafe auf Sahrjeljnte ber Xrunfenljeit aller
Söpfe ©uropaS eine unermeßliche (Ernüchterung gefolgt mar. So ^antaftifd^e
Ausgeburten ber menfdjenaltertange Staufch mit unglaublich getoorbenen SBirfticf)»
leiten, mit toHen, frauenhaften, grauentioHen unb frönen SBafenfpiegelungen erjeugt
hatte: fo tief, müb' unb bleiern legte fiel) bie Stiebergefdjlagenheit auf alles
äRenfdienftnnen unb 2Jlenf<henthun. Xie 2uft am Ueberfchwang, an ber ©egeifte-
rung, ber greifjett, ber ©eftthtSwaHung, an Xrug unb SBahrljeit, ©öfcenbienft unb
Staturreligion, an Schönheit, XoHheit unb SBatertanbSliebe hatte tobenbe SBacdja*
nale gefeiert; jefct toarb Stüchternheit bie Signatur ber Seit. ®er ©eift toar
nüchtern getoorben wie baS $etj, baS Allgemeine wie baS ©injetne, baS $auS
wie jebeS ©erüth barin. (Es brachen feine Sturmfluten mehr über bie SOtenfchheit
herein, aber abgefpannt apathifch liefe fie fich oon langfam rinnenben SBaffent
umfchlammen. ©ine 9tiefelweHe um bie anbere lam herauf unb legte ihren ®oben=
fafc ber platten Swecfmafeigfeit, ber Gntäufeerung jebeS äfthetifchen ®ebürfniffeS
unb ber banaufifchen ©efchmacflofigfeit über bie gleichgültig unb ftumpfftnnig
Xreinfchauenben. AHeS War eng, bürftig, nüfclich, bie ©ebanfen unb ffimpfin«
bungen, ber flem unb bie Schale beS SebenS. Xie langperrüften unb «bezopften
©eftalten beS oorigen SiahrhunbertS hatten in bem breiten ©tanjnebelfdjweif
ihrer tieffinnig abwägcnben ©etehrfamfeit manche bewufete unb Oiel unbeWufete
Somit nach fi<h gezogen; ber Stüchternheit unb 3tüj}licf|feit beS tiorfdjreitenben
neuen SahrhunbertS fehlte fogar bie abfidjtSlofe Starrheit. SOtan lachte nicht unb
Würbe nicht tierlacht. ®erftänbig, trocfen unb fteif, Wie bie hochbeinigen Xifdje,
Stühle unb Sommoben ihrer Söohnungeit fchritten bie SDtcnfchen nicht mehr mit
natürlicher, fonbem mit pebantifch erfünftelter ©ratiitüt umeinanber herum, ©in
gleichmäßiger grauer Delaitftrich lag auf ben gufeböben unb ©imfen ihrer Siwmer
unb auf ihren @ejicf)tem. Sie trugen fein ®egel)ren nach Stenaiffance», noch nach
Stococomöbcln, fie »erlangten nur ein ^oljbret mit tiier Stüfcen barunter, um
barauf ju fifcen, unb ein fpoljbret mit tiier Stü^cn batior, um baran ju effen
unb ju arbeiten. Xie Sunft War ausgewogen unb ber Sunftfiitn, bie greubigfeit
unb baS Sehagen am eigenen Sefifc. ©in Xrang nach höh ctn SebenSfteHungeit
tiermehrte ben Sujug ber ßanbgeborenen jur Stabt; bie ©täbte erweiterten fich,
tiielftöcfige SKiethSljäufer begannen aufwuwadjfen. Stille tag braufeen auf ben
©trafeen unb Stühe war erfte ^Bürgerpflicht. 2Bie oon je ging jeber einzelne
feinem ^Betrieb, ©tücf unb @efcf)icf nach, boef) ein gemeinfameS Qntereffe aller
War nicht mehr tiorljanben. XaS oerwalteten mit gleichmäßig unfehlbar fort*
flappentber SRafchinerie Amtsbureau unb Sanjel. Stiemanb brauchte fich barum
ju befümmern unb niemanb that’S, benn er hätte baburdj baS $ennjei<hen eines
fchtechten Sharafterä an ben Xag gelegt. AHeS ging in OoHenbeter Drbnung;
bie ßeute würben geboren, lernten lefen unb fc^reiben, ein ©efchäft betreiben,
»erheirateten fich, erlogen $inber unb ließen fich begraben, Wie früher. IDie
feine SBilbung fammelte fich unt ben Xheetifch »nb fprach Oon ber ©ünbflut unb
ber Sontinentalfperre, tion ben ©räberfunben in ®ompeji unb ©otteS unerforfdj*
lichem Stathfchlufe bei ber ©rfchaffung beS corftfchen Ungeheuers. Sie War fehr
gelehrt, fehr geiftreid) unb fehr fromm, wie ber Anftanb eS gebot. Unb in ben
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8*7
Der Ulmenfrug.
grauen $immet über beit Hierjig Saterlänbern be« beutfepen SBolfeS fcptug nur
ba unb bort ba« fcpmäcptige, fülle &inb ber alten Seit peimticp bie Seitepenaugen
einer neuen Sichtung auf nnb fap ber gugenb bamit in« ©efiept....
Stucp bie Sßpppognomie ber alten «Stabt an ber Cftfee patte pep mit bem S3or=
fcpritt be« britten Saptjepnt« erpebticp oeränbert. Sie patte ipre ©cpnürbruft
abgelegt unb Hietfacp neue glittet an ipren Steibfaum gelängt. SB er fie im Hö¬
rigen gaprpunbert julept gefepen, mochte beim erften Stnbtid jweifetn, ob pe es
nocp fei. Sie begann, ipre lange regungstos eingejwängten ©tiebmapen ju bepnen,
einen ginger unb einen Set) auSjuftrecfen. SRocp fepr fcpücptern, ungewip unb
Hereinjett toaren biefe Bewegungen; aber man fap an manchen ©teilen gefepäftige
Seute, bie ipr mit ffarft unb ©Raufet tpta^ für tebenbigere Stufbepnung au« bem
japrpunbertetangen ©cptaf ju fcpaffen fugten. Stuep ber ißpitofoppifepe ©ang war
tpr p fcpmat für ba« neue StuSbreitungSbebürfnip iprer wanbernben Sewopner
geworben unb pe patte eine breite, regelrechte Saumattee an feine ©teile gefept.
Sa !am einer, ber fie faft nicht ertannte. ®« war ipm nicht ju Herargen,
benn wo et julept ben gup burep ein enge«, bunfte« Spor gefept, emppng ipn
jept eine gerabe, offene ©trape mit nüchternen, neujeitliepen Käufern. <£r ftanb
eine SBeite Hör fiep pinau«bticfenb, epe er, !urj mit bem grauen $opf niefenb,
pineintrat. Socp. et fepritt nur tangfam burep bie ®affen burep unb an ber an«
bem ©eite wieber pinau« in« fommertiepe gelb. 9tb unb ju wanbte fiep ipm
ein Stuge naep, boep niept mit bem 93ticf, ber etwa« Sefannte« antrifft, fonbern
ber einen ätioment auf etwa« Ungewöpntiepem paften bleibt. Stiemanb tannte ipn,
er War gteiepmäpig für alle ein grember.
Socp man fap ipm an, bap er mit auf bem gropen ©eifterfepiff gefapren fein
mupte, HieÖeiept poep oben in bem fturmjerfepmetterten Safetwerf. ©ein ®ang
War peher, aber boep mit einem müben SluSbrud, wie feine pope, etwa« oorge*
büefte ©eftalt; um Stacfen unb ©eptäfen ping ipm jiemtiep lange« eisgraue« §aar.
®« pel fepwer, fein Stlter ju beftimmen, man tonnte fiep mögtieperweife um ein
Siertetjaprpunbert batin täufepen; er oermoepte am @nbe ber gunfjiger unb an
bem ber ©iebjiger ju ftepen. ©eine Reibung patte ipm mutpmaptiep fepon lange
gebient; pe fiep pep niept at« abgetragen bezeichnen, boep ber ftraff gezogene tRoef
befap etwa« Wie mit ben ©liebem barunter SufammcngewacpfeneS unb entfpraep
feinem SWobefepnitt ber lepten gaprjepnte, war überpaupt in ber „©efettfepaft"
nie braueptiep gewefen, obwol ein geiftige« ßeben in ben Sügen be« gremben auf
Sugepörigfeit beffetben ju ben „Steifen ber Bitbung" ju beuten fepien. Sr tmg
ben tinfen Strm in ben SRocffcplip gefteeft; ein ©eptottem be« untern Stermetftüde«
regte ben ©iitbruef, at« ob bie §anb barin fepte.
9tun ging er in einfamem getb; nur ba unb bort fapen einige neugebaute
©artenpäufer auf, bann jog pep ein frautberwaepfener §optweg etwa« empor.
Ser SEBanberer burepfepritt benfetben tangfamer, wie immer mepr jögeraben gupe«;
e« fepien einigemal faft, at« wolle er umwenben, benor er ba« ©nbe erreicht.
953ie er bennoep bi« an bie« gelangte, tegte er bie SRecpte über bie beinape weipen
Augenbrauen unb ftanb fo tanger at« eine SDtinute ftitt. Sann jog er mit einer
ptöpticpen ©ntfeptoffenpeit bie §anb jurücf, fap Hot fiep pinau« unb fagte, wie
Untere Seit. 1882. I. 52
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8f8
Unfere ^ctt.
einer, beffen zmeifetbange ©ebanfen non einet fchrecfhaften greube abgefdjloffen
»erben:
„Der Ulmenfrug!"
®r atmete nur tief auf banadj unb blieb noch eine Seile, unnerrütft baS
alte ©ehöft mit bem ©lief umföliefjenb, fte^en. <5S tag ebenfo im Storgenfonnen*
lic^t eines gulitageS ba, toie fdjon bie Äugen lange jur Stube gegangener @e=
fdjlechter eS gefeben. 3wif<h cn ben beiben fyofyen, bunlelbelaubten Ulmen bliefte
ber graue $olzpferbefopf nont (Siebet berab; er batte fein oermoofteS Dach getreu*
lieb nor bem mitben Sirbelfturm, ber über bie ©rbe gefahren, behütet StidjtS
an bem ©ebäube mar neränbert, nichts umher; eS batte gleichmütig bie Dage
ber tßerrüte, beS 3opfeS, beS DirectoriumS unb ber ftaiferjeit an {ich Darüber*
manbero taffen unb auch b eut feine neue Stobetoilette angelegt. Stur menn man
baS fjauS mit einer StenfchennhSfiognomie oerglidj, maren feine ©eficbtSjüge noch
ein menig älter unb runzeliger gemorben; im ©onnenglanz zitterte ein teifer,
greifenartig*geifterbafter ÄuSbrucf über bie gelbe Stauermanb, aber ber ©arten
banor ftanb in emig grüner gugenb, unb fommerfreubig faben ztaifeben ben
©emüfebeeten buntfarbige SHofternelfen unb rotbglübenbe geuerlilien auf.
Der Dbau btinfte noch an ben ©chattcngräfern beS $ofranbeS, eS mar ganz
ftiQ nor ber geöffnet ftebenben $auötbür, für eine länblicbe Sirthfdjaft ctmaS
überrafebenb; benn ber Storgen mochte boeb bereits bis zur fiebenten ©tunbe nor*
gerüeft fein. gefct mar ber grembe Schritt um ©c^ritt bis zmifeben bie beiben
Ulmen binangegangen, unb auS ber Dbür trat eine fc^on ältliche Dienftmagb, um
Saffcr auS ber ©umpe zu boten, ©ie mag ben unmett nor ihr ©tebenben mit
nermunbertem ©lief unb fragte:
„3u mem münfeben ©ic?"
©r antmortete, ihr gleich einem Äuftoadjenben inS ®efid)t bticfenb:
„SEBirb hier feine Sanbmirthfdjaft mehr betrieben?"
„Stein", entgegnete fie, „baS £anb ift Derfauft, mit haben nur baS £auS unb
ben ©arten."
„Statürlicb, bie Älten leben nicht mehr", nidfte ber grembe, auf ben leeren
Sanbfteinfif} neben ber Dhür febauenb — „nur bie alten Stauern." @r fügte
hinzu, aber man hörte, feine ©ebanfen befanben ficb nicht bei ber grage: „Ser
mobnt jefet in bem §auS?"
,,©S gehört feit einigen fahren ber nermitmeten grau guftizräthin DremeS",
ermiberte baS Stäbchen.
,,©o — bie Dame mirb mol erlauben, bafj ich ntich ein yaar Stinuten im
©arten auf bie ©anf fefce, um mich auSjuruhen — ich bin meit gegangen unb
ein menig mübe."
Äuch ber Don, mit bem er bie Äntmort gegeben, mar ein etrnaS unftdjerer
unb müber; bie Stagb ermiberte, gegen ben ©runnen meiter fchreitenb: „©ehe ber
$err nur hinein!" Unb er trat burch bie hölzerne Pforte in ben ©arten. Da
ftanb auch bie grojje fchmarze ©laSfugel neben ber, einem grünen £>ügel gleich
nom ©oben aufgemölbten ©fchentaube. Der Äntömmling niefte ihr entgegen unb
murmelte: „Sie ein alter ©rufttjügel, bie ©orzeit liegt unter ihm begraben."
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Der tUmenfrug.
8*9
Sangfam bog feine §anb ba« biente Stattwerf ber Saube jur Seite, bocE) bann
ftufcte et, unangenehm überrafcht, unb ftotterte holt 1 erfchredt:
„©ntfehutbigen Sie, ich Wußte nicht —"
Unter bem ©ejmeig auf bet Sani faf eine alte Dame unb Ia«, oermuthtich
bie jefcige Seherin be« ©ehöft«. Sie bot trofc bem fitbetnen $aar, ba« ihr glatt
ben Scheitet überbedte unb fich am Cht ju awei Keinen Stingflechten umbog, wie
fie unmiWürlich je|t aufftanb, noch eine fd>tanf»aiertiche ©eftatt, bie ein Schimmer
einftiger 3fugenb umflog. 3h r ©eficht war mannigfach mit gatten betrieben,
boch e« umfaßte mit feinem atten Nahmen bie Slugen wie jWei helle ffibetfieine,
Unb ptö$tich brach ber gtembe feine ©ntßhutbigung ab unb fagte mit wunberfam
bebenbem Ätang ber Stimme:
„9Jteta ©rabow!"
Sie fah ihn an, ihre noch immer feine, fdjmate £>anb ftredte fich *h m ent*
gegen; boch fie antwortete ganj getaffen:
„Sei mir wittlommen, Solrab SBeftebt. wufjte immer, wenn bu lebteft,
fämeft bu noch einmal wieber hierher."
SBemt e« jemanb gehört, hätte er glauben mögen, fie feien geftem antefct öon=
einanber gegangen: fo ruhig bewegten fich We Sippen unb legten fich bie £>änbc
jufammen. Stur für bie güße ber beiben war bie SJiinute, bie ein Seben auf=
gtänaen unb au«töfchenb nieberfatten tieft, boch ju toiet; fie festen fich mechanifch
beibe auf bie Sani unb btidten fidf üerftummt in« ©eficht. @3 war in 2Birftich=
feit ein grünbelaubter ©rufthüget, ber feine fchweigfame Kammer über jwei noch
fchtagenbe ^erjen Wölbte. Ungefprodjen ging an ihren Stugen gemeinfam ba«
©teiche oorüber, ber Dage«gtana üerfchwanb unb ein weife« Sicht rann burch ba«
©ejweig. Unb barunter gitterte ein fpietenbe« gtämmchen auf unb wuch« tjaftig
ju einet gtamme in bie $öhe, jum heißen ©etober einer Sommermonbnachtftunbe,
unb jäh Wie ein Srrticht lofeh f te au«.
Die oier atten Slugen fahen fid) fettfam an. 6« hätte ein gotbheller üRorgen
auf jene Stacht folgen fönnen, ein fdjöner freubiger SJtittag. Statt beffen nidte
bort unb hier bem Stid ba« SBieberbitb eine« langen, fonnento« trüben Jage«
entgegen. Stoei SJlenfchenfchidfale hätten einen anbern SBeg nehmen tönnen; nun
war e« fpät am Slbenb geworben unb fie ftanben unweit öom 3iel.
Slber bie rüdwärt« fchweifenben ©ebanfen hielten nicht an, gingen weiter. Da
fdjwanb auch ber SJtonb wieber unb bie Sonne fam jurüd. Unb ob ein Seben
barüber tjingefchritten, oor beiben tag ptöfclich ba« Such, ' n &em &ie alte Dame
getefen, wie ein weiße« Statt, ba« SDJeta ©rabow eben au« ber £anb gelegt, um
bem ©ebädjtniß be« Knaben t»or ihr eine Stufgabe baoon abjuhören. Sie faßen
jufammen auf ber nämlichen Sani, unb bie nämlichen Stefte floaten fich, nur
bider geworben, über ihnen aum Dach ineinanber, unb e« war, at« taufe an ber
Saubwanb noch ba« ©<ho einer Stimme entlang, bie eben unmuthig au«geftofen :
„3ch Witt'« nicht — ich thu’« nicht!"
Da bog bie $anb SJteta ©rabow’«, bie einen anbern Stamen jefct trug, ba«
©eaweig aut Seite, unb in bie ootte SJtorgenfonne hinan«beutenb, brach fie auerft
ba« furae unb boch unermeßliche Schweigen unb fagte:
62*
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Unfere <geit.
820
„@S ift nocf) biefelbe — wenn wir nur einen ©ugenblicf Ijier geträumt hätten,
©olrab, elj' bu jur Sdjule gefift?"
©r nitfte: ,,©S War alles Jraum — alles, was ic§ gebaut, gehofft — baS
jWecflofe Seben."
„Klidjt alles, benn bu bift wieber Ijier, um nicE>t mef)r fortjugeljen, unb bleibft
bei mir."
Jocf) er fdjättette mit einem bittem Sug um ben KJlunb bie Stirn: „(SS
war alles Jraum, ©eate — icf) bin auc§ nic£»t frei unb nidjt reicfj geworben.
fDlfiljfam Ijabe ic§ bis f)eut in niebriger Stellung mein Seben burdjgefdjleppt unb
feit breiig Sauren mir eine £>anb boll Scaler jufammengefpart, baß icfj ntidj ju
guß auf ben weiten ©3eg machen lönnte, f)ier nodj einmal ju fifcen. ©ber meine
grift läuft fcfinell ab unb icf) muff wieber jurücf in meine Sdjreibftube."
„55aS wirft bu nidjt", antwortete fte ruljig, „itb l)abe genug für unfern ©benb."
Jod) er Rüttelte abermals, nur rafcfjer ben ßopf: „JaS foQte baS (Snbe
fein? Klein, ©eate — fo Diel Stolj f»abe idj nod) bewahrt."
„Jie KJlorgenfonne fagt ja, es ift ber Slnfang", fiel fte ein. „Stolj? ©5aS
ift KRenfdjenftotj? Sin Jreiben auf ben ©Sellen, woljin ber SSinb will, ©m
Schluß erfennen Wir, baff uns wenig ©erbienft jugemeffen ift unb wenig Sdjulb.
©ib mir wie einft beine $änbe, ©olrab — unb wir ßaben nur geträumt."
Sin weljmutljSbolIeS Säbeln ging um iljre Sippen, unb föwerraütljig legte er
feine Klette wieber in itire $änbe. ©ber fie fagte:
„Klein, bie anbere aud), baß fie mir beibe öerfpredjen —"
Slllein nun umflog aucf) feinen KTlunb ein mattes Säckeln, wie er ben linlen
©cm aus bem Klocffpalt Ijerborjog.
„$ie berfpridjt lange nichts meljr, ©eate, fdjon halb feit bem, WaS man ein
KJlenfdjenleben Reifet, nic^t meljr."
Sie faßte mit einem Saut beS Scfjrecfs ben ©rm, an bem bie |>anb fehlte.
„©So Ijaft bu fte bertoren?"
„Sei Seipjig gegen ben geinb unferS SaterlanbeS."
„©egen granfreicfj —?"
,,gdj Ijatte eS bir ja üerfprodjen."
„So Ijaft bu fie für nticf) oerloren — unb woHteft mir nidjt öerfpredjen, baß
id) ein boppelteS 9led)t baburdj auf bie anbere gewonnen?"
Sr wieberljolte mit bitterm Mang: „©ewonnen? ©SaS Ijabcn wir unferm
©olfe an bem Sage bei Seipjig gewonnen, ©eate? Jie alte Süge, fcfjlimmere
$euc$elei als jubor, tiefere Änedjtfdiaft. Jein §erj £>atte redjt in jener Ktadjt,
aber bein ®opf falj ben bunfetn Jag nicE)t, bet barauf folgte, fonft Ijätteft bu eS
nicßt bon mir geforbert."
„Jod), ©olrab, icf) tfiät’S aucf) fjeut. ©Senn unfere ©ugen eS audj nidjt meljr
feljen, f)at beine $anb fidj bod) für ben ©ewinn ber ßufunft Ijingegeben. Ju
Ijaft bie Untreue gefüljnt, bie bu erlenntnißloS begangen, unb ben Soljn in bir
getragen. KRan fott immer nur tfjun, was baS $erj gebietet."
Sr fpradj fdimerjlicf) iljre lebten ©Sorte nadj: ,,©5aS baS §erj gebietet, ©eate?
$ätte es bir in einer KJlonbnadjt nidjt anbereS geboten?"
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Der Ulmeitfrug.
82*
„So h«i&’ ei, ma« bie ©fticf)t oerrangt, bie bu unb ich erfüllt."
Sin fröftetnber Schauer überriefette ihn. „68 ift bocij füht hier", murmelte
er nur fjatb oernehmtich.
„So fomm in bie SDtorgenfonne!" Sie 30 g ihn an ber $anb nach ftch au«
ber Saube heroor in« »arme, Ooße Sotbticht. ®a ftanben fte, ihre Statten
fielen auf bie arte SDtauertoanb bei Utmenfruge«, an ber unoerfennbare fchmarje
Striche nebeneinanber Untiefen, unb ptöfclich fagte bie mei&hoarige ®ame:
„SBart’ einen Augenbtid, ©otrab." Sie ging noch jugenblich rafc^ in« $au« unb
fam mit einer Sohle in ber $anb jutüd. „®a", lächelte fie, ,,$eig’ noch einmat
beine arte Sunft, ich miß ganj ruhig fielen unb toarten, bift bu «Nun!» fagft.
®u forberteft einmat einen ißrei« bafttr, ben icf) nicht geben burfte; jefct Oertange
ich einen üttem — bu toeifjt, bort ftefjt er unter bem Aprifofentaub eingefTrieben:
«®anj gemifj fomme ich jurütf unb bleibe bei bir!»"
St fah ihr trüb, in bie Augen: „So hiefj e« nicht"
Sie nidte: „®odfj — unb mir Ratten’«. ®ie 3 ugenb hotte nur ein anbere«
SBort bafür, ba« fie fpracfj, ohne e« ju oerfte^en. SEBir haben nur geträumt,
ffiotrab, bafj atte« anber« gefommen — zeichne ben Statten miebet auf bie
SBanb, unb mir finb aufgemacht, unb ma« hinter un« tiegt, ift alle« nicht ge«
fdjeljen; benn mir ftehen £>anb in $anb jufamtnen hier, mie mir'« nicht anber«
tönnten, menn e« nicht fo gemefen."
Seine Singer nahmen bie Sollte, hoch e« oerging bängere Seit, at« er jtoei*
mat jum gleichen ®h un on biefer Steße beburft, ehe er mit einem f)olb erftidten
Saut „Nun!" fagte. Sie manbte fich um, bie Sinien be« Schattenriffe« rnaren
oon einet jitternben £»anb gejogen; aber fie nidte: „ 3 a, ich bin’« — bu unb bie
Sonne hoben ihre atte Sunft nicht oerternt — h°bt beibe ®anf!"
Unbetoujjt faft fam e« ©otrab SBeftebt über bie Sippen: fi Qg mar noch ein
britter mit baran tljätig — h°t ber Ntonb feinen ®anf oon bir oerbient, ©eate?"
Sie heftete ihren ©tid tief in ben feinigen. „®u rneifit e« — muht bu e«
auch einmat hören? Sr ift bie Sonne meiner Seben«nacht gemefen — nun ift
e« SKorgen unb bebarf ich feiner nicht mehr."
®er fonnige Xag ging meiter, friebooße Sanbftiße tag noch immer runbhin
unter bem grauen tßferbefopf be« UlmenfrngS. Am Nachmittag, mie bie Strahlen-
gtut fich mitberte, manberten bie beiben Angehörigen beffetben in« Selb hinau«.
S« maren noch bie nämtichen SBege; mo an ihren Nänbem in menfdhentofer
Sinfamfeit ba« hohe Sorn mit bunt heroorbtidenben ©tumenaugen aufftieg, legte
©otrab SBeftebt ben rechten Arm um ben Naden feiner alten Sefährtin, unb fo
gingen fte langfam bahnt. Sie fahen afle« um fich h er » boch nicht in ber Segen¬
mart; Aehrenmogen unb ©ogelftimmen eine« längftentfehmunbenen Sommer«
fummten unb fangen um ihre Stirnen, halblaut rebeten fie oon Gingen einer
oergangenen SBett, aber es tönte feine Stage barin, eS ftang, at« ob fie oon
Sremben erjähtten. Sr fprach oon feinem einfamen Seben in einem fern ent»
legenen Stäbtchen Sübbeutfdfjlanb«, mohin ihn bie testen SBeßenfdhmiugungen be«
großen Sturme« gemorfen, um mit oerftümmettem Sörper um fein tägliche«, in»
hattötofe« ®afein ju ringen. Sie rebete oon ihrem langen Nebeneinanberteben
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822
Unfete ^eit.
an bec Seite eines guten, oerftänbigen SftanneS, ber fie lieb gehabt, fotoeit (ein
$er$ ein foIc^eS ©efttfjl gefannt, unb für beffen Sohlbefinben fie Sorge getragen,
fotoeit eS ihr möglich getoefen. Sie Ratten frühe nnb fpäte Sage ofjne fiinber
oerbracht, bod) ihre Sftutter noch fange in ihrem $aufe gelebt, nur Ooit jtoeien
Singen noch befeeft, ber inbrünftigen Serehrung für bie £>eilswunber ber fiird}e
wie für ben $auptpaftor ber Stabt, unb non bem unermübtidjen ©ifer, jeglichem
mitjutheilen, mit welchem morafifchen 9f6fcf)eu fie oom erften Zage an ben cor*
fifctien ißaroenu beteftirt habe, unb wie fie bem £erm ber £eerfdjaren täglich auf
ben firnen für bie herrliche Siebergeburt beS beutfchen SaterlanbeS ihren SanfeS*
pfalnt barbringe. „Sajfen wir bie Zobten fd|Iafen!" fagte SKeta ©rabow gefaffen.
@S tag alles hinter ihnen, als ob es fie nichts angele, fie nie beffimmert habe.
Stur ba (ag je|t etwas tior ihren leiblichen Sfugen, auf baS bie atte Same hinunter*
Wies. Stumm [allen beibe ein Seilchen auf eine {feine feuchte ©infenfung jenfeit beS
SegranbeS, auS ber ein bidjter, btauer Straufj non Sergifjmeimticht emporfehaute.
Sann fagte SDteta ©rabow f&chefnb: „3<h [ehe baS IjeUe SBaffer nodj um bt<h
aufflatfchen — unb fie blühen wie bamafs."
Solrab SBeftebt fam ein ©ebächtnifiwort über bie Sippen: „Se (ütt Seern — fie
hat umfonft bei ben trodenen Slunten auf ihn gewartet, benn er crtranf an ber fiüfte
non ®af)ia. Efiich trug ein ^ofjfcheit — h a ft bu beine Slunten noch immer, Seatc?"
Sie nicfte, unb ihre #anb fegte fich jugleich auf ihr $erj.
„Sie nehme ich mit mir, oieüeidjt blühen fie noch einmal ioieber aus ber
©rbe herauf."
Schtneigenb bticften je|t beibe nor fi«h in bie Seite; unter ihnen lag ber §afen,
non ber niebertauchenben Sonne purpurn gefärbt, ein weifjfeuchtenbeS Segel freujte
langfam in bie uferlofe See hinaus.
SllS fie jum Ulmenfrug jurüdfamen, webte erfteS 3n>ielid)t feine Statten*
fäben über ben ©arten. Sie fchritten an ber fdjwarjen ©laSlugel norüber, unb
unwittfürtidj toanbten fte fich miteinanber gegen biefelbe um. @S war noch f°
hell, bafe ihre beiben Spiegelbilber beutlich aus bem bunfeln ©runbc wieberfeljrten,
boch in einem munberlichen Sicht. So nahe ihre ©efidjter auch jufammenrüdten,
blieb eS ftetS, als liege eine unauSfüübare Seite jwifdjen ihnen gebreitet. Unb
flar auch noch Wiebergegeben ftanb alles um fie her ba, aber gleichfalls unenblich fern,
im lepten Schimmer eines fpäten, fonnenlofen SfbenbS. Sann fagte ÜJteta ©rabow:
„Sir finb’S!" Unb fie gingen weiter, unb ihre Silber rannen nieberfinlenb $u*
fammen in bie ©rbe.
Unb als nach nnb nach bie jögernb tommenbe Sämmerung beS norbifdjen
SulitageS oorgefdjritten, ba war'S in ihrem ungewiffen binnen, als habe bie 3 e >t
nidht nur §olj unb Stein, fonbern auch ein 2Renfd)cnbilb bajmifchen um mehr
als ein halbes Saljrhunbert treulich auf bewahrt, unb als rafte noch auf bem
Steinpl jur Seite ber^muStljür baS alte weißhaarige ißaar, bem wieber einmal
beinahe üor SJlenfchengebenfen ber Ulmenfrug angehört, ©inem herauSgewachfenen
ÜJiauerftütf ähnlich, fafjen bort jwei greife ©eftalten biefeS Zages unter bem
herabtugenben grauen Ißferbefopf. SRanchmal rebeten fie miteinanber, manchmal
fdjwiegen fie miteinanber. SWun fagte Solrab Seftebt:
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Per Ulmenfrug.
823
„@S fommt mir plöfclich feit tanger Seit — in unferer Kinbljeit lernte man
noch bie ®ebi(t)te von ffriebrich 2Bilhetm ©otter. darunter mar eins, baS «Die
greunbfdiaft» ^iefe, barauS falten mir heut bie altmobifchen Sßerfe mieber ein:
Oft, menn baS toutibe .fjerj nod) Mutet,
gfifjrt ben ©efäfjrten unöermutljet
Sin Umtoeg mieber auf un$ ju —"
Die alte Dame an feiner ©eite niefte mit bem Köpf. „2jch h°be cs auch noch
gelernt; es geht rneiter:
Die frühe fidj ocrloren- hatten,
Begegnen fidj im 2tbenbfd)atten
Unb gehen §anb in $anb jur Muh’."
©ie legte ihre §anb in bie beS SugenbfreunbeS. ,,©ang gemifj", fagte 93ot=
rab SBeftebt.
Dann fchmiegen fie mieber unb fafien vor (ich hinaus. @S marb bunfler unb
ein IeifeS Häufchen ging burdj bie alten Ulmenfronen über ihnen. Sangfam mür*
big manberten jmei fonberbare vergoltene ©eftatten bem §ohtmeg briiben ju,
ber ©tobt entgegen; bas ©emurmet beS SBinbeS Hang mie bie Stimmen beS
|>erm S^riftian ffiajuS DleariuS, orbenttichen IßrofefforS ber S3eraunft= unb ©itten=
tehre, unb beS &errn Joachim SJtatthiaS Kortholt, orbenttichen ißrofefforS ber
®erebfamleit, ber SBettmeiSljeit unb fßäbagogif. ©ie fchritten, quasi re optima
gesta, unter lehrreichem nnb annehmlichem ©efprädj bahin; ihre langen fßerriifen
oerfchmanben in ber Dunfetfjeit, unb jmifchen ben Ulmenftämmen btieb nur ein
fchmächtig btaffer Knabe mit feuchtglänjenben Slugen jurücf. Unb baS ©ummen
beS SBinbeS Hang mieber mie mit einer munberlidjj geifterhaften Stimme: „SBenn’t
Slbcnb marrb, famt be SSageln of mebber un frupt ütiner."
<£s mürbe nicht mehr bunfter, fonbern mählich mieber heH, immer fetter.
9Jiit meinen 93änbern rollte es fich auf unb fam gteich fliefjenben ßichtmelten
heran; tauttoS unbemegt lehnten bie beiben alten Köpfe an ber Stücfmanb beS
©teinfifceS, nur ihre £>änbe fchloffen ftdj fefter ineinanber, unb bie vier Stugen
fchauten ftumm in ben mebenben ©tan} ber Sulimonbnacht hinaus....
Die alte ©<heune bereitet heut bem ©lief feines ©tabtrathes ein Slergernifj
mehr. Den ®eficf)tem berer entriieft, bie auf bem frönen, geraben ©trafjenoiereef
urnhermanbern, fjoit fie mie eine uralte ©reifin unter bem ihr über ben Kopf
gesoffenen neuen $äufergef<hle<ht; menn ber SBinb burch bie ©räfer unb SRanfen
ihres Scheitels ftreidht, ift es manchmal, als murmele fie mit jahnlofen Kiefern.
Sumeilen fliegt eS im 2Jtorgenfonnenf<hein ober noch me Ü r i n ber heßtn SKonb»
nacht plöfclicfj einmal mie ein geifterljafteS ©chattcnfpiel Oermafchener bunflet
ßinien über ihr öerrunjelteS ©eficht, aber bie rüftigen SBerfarbeiter um fie herum
haben SimmermannSneröen in ben Slugen unb sminfern nicht mit ben ßibern,
mie gefpenftifd) bie Sitte auch breinfeljen mag.
Die ncuefte Königin 3eit baut, ihre Karren fnarren, unb bie Kärrner h«ben
anbereS ju thun, als ju benten, ob etmaS t>or ihnen geroefen.
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Dfr pf)ütügrapf)tfd)£ Zeitroman in Itankxtxö).
Sine © tub ie
bon
töubolf sott ©ottfdjall.
Sieben bem naturaliftifchen Vornan, beffett Slpoftet in X^eorie unb tßraji«
©mite Sota ift unb ber feine Sömenfraßen mit bet größten Unerfehrodfenljeit in
„Nana" herau«ftrecft, Ijat ficb in Sranfreicb al« eine Slb^meigung biefet £aupt*
gattung ein Stomangenre entmicfett, ba« mit am treffenbften mol at« ben „Photo»
grapbifchen Seitroman" bejeicbnen. SBenngteicb Sota befonber« in feinen Stomanen
„La curöe" unb „Son Excellence Engine Rougon" SSBerfc gefdbaffen bat, metdje ju
biefem ©enre ju rechnen ftnb, fo ift hoch nicht er, fonbern ein ifjm an latent febt
überlegener Stutor, Sttpfjonfe Raubet, in feinen brei neueften Stomanen: „LeNabab",
„Les rois en exil" unb „Numa Roamestan", ber fpauptbertreter biefet f>^otO'
grapbifcben Seitroman«, ©ein Vorläufer aber ift jenfeit be« Kanal« §u fuc^en;
e« ift Senf am in $’3«raeti, bet noch in feinem tefjten SSerf „Endymion" in au«»
geprägtefter SBeife biefe« eigenartige Stomangenre cuttioirte, mäbrenb er bereit«
Oor oieten 3ob r jebnten im „Vivian Grey", „Coningsby" unb anbera Stomanen bie
erften Stntüufe bajn genommen bot, ber Seitgefcbicbte ben Spiegel im Siabmen be«
Vornan« oorjubalten.
Offenbar entfpridbt ber Seitroman am meiften ben Stufgaben ber Stomanbidbtung:
ben biftorifcben Stornan tann man nur mit ©infdf)tänfung gelten taffen, nur infotoeit
at« er eine ber ©egentvart oermanbte Seit mit ihren ©eftrebungen unb Kämpfen
barftetft. ®er arcbäotogifcbe ober ber Softümroman ift je|}t beliebt: hoch ift bie«
nur eine SJtobe ober SJtarotte be« ißubtitum«, ba« ficb ja auch gern einmal ein
etbnograpbifcbe« SRufeum ober irgenbein Stntiquitätencabinet anfiebt unb fetbftbie
berumtrabbetnben unb fcbmimmenben Sßunber eine« Slquarium« mit Stntbeit be»
trad&tet, menn e« nur mit ben getebrten Flamen Berfdjont bleibt. ®ie ©etebrfam*
teit, mir motten nicht einmal fagen bie 2Biffenf<baft fpiett in biefem ganj bonneten
©enre ber Smitterbicbtung eine ebenfo grofje Stoße mie bie tßoefie. Unb marum
foß ficb ba« tßubtifum nicht in angenehmer ÜBeife unterrichten taffen, nicht feine
Kenntniffe ber ©efdbicbte unb Sutturgefcbicbte fpietenb Bern ehren? SJebanbelt ein
bicbterifcbe« latent fotcbe Stoffe, fo mirb e« auch in biefen Stomancn ober Srjah»
tungen an Sicht» unb ©itberbticfen ber tßoefie nicht fehlen. ®ennoch ftnb bie
3eitcn Boriiber, mo man bie fftucht au« ber ©egenmart für afle echte Sßoefie
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Der pfjotograpfyifdje Zeitroman tn ,franfreicp.
825
obligatorifcp machen wollte, unb wenn man je|t bei bem SKotocp bon Sartpago,
bet ben ägpptifcpen ^ßpramiben, in ben römifcpen Sirenen, in ben alten Vurgen
ber dpüringer gern oerweilt, fobalb nur ein wohlunterrichteter Autor biefe ©ce*
uerie mit freierfunbener $anblung belebt, fo pat man babei leineSWegS bie fefte
äftpetifcpe Ueberjeugung Don ber Alleinberechtigung folcper in bie Vergangenheit
fiep tertiefenber ißoefie, fonbern nur ben woplthuenben Stebengebanlen, baß man
bei biefer Vomanleltüre zugleich einen ©inblid geminnt in baS Seben unb Ireiben,
in bie Sitte unb Sunft alter Völler. Unb trofc aller bunten poetifchen üJtaSfe=
raben bleibt boch immer ber felige 3ean Jacques Varthelemp, ber Verfallet ber
„Voyage du jeune Anacharsis en Gröce", ber Ahnherr biefer arcpäologifchen Vo*
mane, trenn auch ' n ber 3Jtifcpung non bichterifcher ©rfinbung unb culturhifto*
rifcher ©dpitberung neuerbiitgS ein größeres ©leicpgeroicpt ^ecgeftetlt ift als in
bem SBerfe bes alten parifet AfabemtlerS, welcher ben ©chwerpunft mit aus»
gefprochener Abficptlicpfeit auf bie darftedung non Sanb unb Seuten im Alter*
thum legte.
der Seitroman lann fich ganz auf bem ©ebiet freier ©rfinbung bewegen;
bann gibt unfer ©utturleben ungezwungen ben $intergrunb baju her: baS Seben ber
nerfchiebenen ©tänbe, bie ©onflicte ber SDieinungen unb Vorurteile, norjugöweife
aber bie pfpdpotogifcpen ©ntroidelungen in ben liefen bes ©emütps. Sillen biefen
Vorgängen auf bem ©ebiete beS IßrioatlebenS leuchtet bie ©onne beS 19. 3upr=
punbertS; eS bebarf baju feiner befonbern VeleucptungSeffecte; wie wir felbft, fo
wanbeln auch bie Sßerfonen ber Vomane in ihrem Sichte, unb fo oiele gehler
biefelben fonft aufweifen mögen, bet Anachronismus wirb nicht baju gehören,
©inen ©tritt weiter geht ber Seitroman, wenn er ganze fociale klaffen fchilbert,
wie bieS in ben $auptromanen oon ©ugene ©ue ber gaH ift, bie aber nirgcnbS
ben Vereicp freier ©rfinbung oerlaffen unb mit leinerlei IßorträtmebaitlonS ben
grieS ihrer contes bleus unterbrechen. das gilt auch oon Victor $ugo’S „Les
miserables", wo nur einmal eine hiftorifche ©lijje mit bem imperatorifchen ®pa*
ralterlopf fich in bie $anblung einfchiebt. dergleichen epifobifche tßorträtzeiep*
nungen mit bem ©rapon unb ber treibe finben fich au t in manchen beutfepen
Vomanen, wie j. V. in SDteißner’S „©cpwarzgelb". dritt aber eine berartige
©pifobe in ben Vorbergrunb, nimmt fte gar einen gtößern Vaunt ein ober befteht
ein ganzes SBerl nur aus einer SDiofaif folcper ber Seitgeftichte entliehener 3Jlo*
tioe, Vorgänge unb ©haraltere mit unzweibeutiger Vczeichnung ber panbelnben
Verfonen mit ihrem ganzen tarnen, fo erhalten wir ben „Photographien Seit»
roman opne Vetoucpe".
dies ©enre ift befonberS in deutfcplanb angebaut worben: man übertrug ben
gerichtlichen Vornan ohne weiteres auf bie ©egenwart. SBie man Sari ben
©roßen, Vicparb Söwenherz, griebrich ben ©roßen in jenen Vomanen fpreepen
ließ, fo in bem Seitroman Vapoleon III., ViSmard, ©atibalbi, unb nicht gele=
gentlicp einmal, fonbern recht ausführlich in langen Sapiteln. ©benfo lang wie
bie ©efpräche waten bie Ißcrfoitalfcpilberungen. der eigentliche Schöpfer biefeS
VomanS war ber ^reuzzeitungSmann unb ißoftfecretär ©oebfepe, ben waprfcpeinlich
SouiS ©epneiber, ber oielgetuanbte, mit feinen SBaprnepmungen unb Aufzeichnungen
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826
Unfere <3cit.
unterftüpte: ber ehemalige Scpaufpieter war, wenn audp tn untergeorbneter «Stet*
lung, mit bieten pocpgeftetlten ißerfönticpfeiten in nape Vejiepung gefommen, unb
befaß baS latent, marfirte Eigentpümlicpleiten ipnen abgulaufcpen; überbieS
mar er ein fßolppifior bon erftaunlicpen Äenntttiffen auf ben berfcpiebenften ®e*
bieten, bemanbert in ben neuen ©praßen, in ber Völtertunbe, in ber Äunbe beS
SRilitär* unb geftungSwefenS, Wie ja aucp feine in unferer 3eitfcprift mitgetpeilten
Stufföpe über ben Ärieg bon ^araguat) gegen bie attiirten ©taaten jur ©enüge
bemeifen. ©alt bocf) lange 3^it pinbutdp SouiS ©cpneiber für ben SSerfaffer jener
unter bem fßfeubonpm 3opn Stetcliffe petauSgegebenen fRomane „©ebaftopol",
„Vena ©apib", „Villafranca", wäprenb er bocp mol bem SSerfaffer nur feine teicp*
tjattigen fßribatarcpibe öffnete ober in ißribatgefprädjen bie intereffanteften unb
nfiplicpften SRittpeilungen machte. ®ie Ißpantafie ©oebfcpe’S, bie fid^ fdpon im
3ufcpauer bet „ffreujjeitung" als fepr anregungSfäpig bemiefen patte, inbem fie
ben Vertretern ber tiberaten Parteien manche compromittirenbe giction an bie
Vocffcpöße ping, mürbe burcp biefe gölte bon Xpatfacpen unb Votijen fo befruchtet,
baß fie eine Veipe meprbänbiger Vomane müpeloS probucirte. Unb biefe etfcpie*
nen noch baju in ber öoltstpümticpen gorm ber Eolportageromane unb erlangten
baburch eine Verbreitung, metche biejenige ber jepigen SRoberomane bon greptag
unb SberS noch weitem übertraf. Von ber £>ütte bis jum ©chtoß Würben fte
getauft unb getefen, ja eine 3rit lang berfchtungen. SRan fpracp bamals bon
„Vena Sahib", wie man jept bon „gngo unb gngraban" fpridpt ober menigftenö
bis bor turjem gefprochen pat: benn auch bie „9tpnen" werben batb bem Slpnen*
faat ber Siteratur angepören. ES mar inbeß nicht baS brennenbe gntereffe ber
Stctuatit&t allein, baS biefe Vomane fo betiebt machte: pe patten in ber Spat
eine btenbenbe, ppantapebofle Decoration, waren reiep an bunten, craften Slben*
teuern unb berfcpmöpten niept ©epitberungen bon gtüpeuber ©inntiepteit, bon Vu*
bitäten unb gewagten Situationen, welche inbeß bamats felbft in bet 3«tt ber
craffeften Vcaction niept bie Slufmertfamfeit beS ©taatSanwattS erregten.
Einen niept minber bebeutenben Erfolg trug ©regor ©amarow (OSlar SRebing)
mit feinen ppotograppifepen 3eittomanen babon; anep pier feplte jebe Vetoucpe;
es waren bie Vamen aus ben 3eitungen, bie ©efiepter aus ben ittuftrirten Vlät*
tern; es waren bie perborragenbften wettbefannten Ißerfönlicpfeiten, bie in biefen
Vomanfapiteln pgurirten. 3)ocp Osfar SRebing patte ©etegenpeit gepabt, biefe
SRänner alle bon Vngeficpt ju fepen; er patte als Slgent beS Königs bon $annober
in fcpwierigen 3eitoerpättniffen mit ben meiften felbft berpanbett, unb fo patten
feine Vomanfdpilberungen jum Xpeil ben 28ertp jeitgenöffifeper SRemoiren, inbem
er bie Vefultate feiner eigenen Vnfcpauungen unb Veobacptungen in ipnen ber*
wertpete. ©eitbem er jept felbft feine intcrePanten SRemoiren*) opne poetifepe Ein*
Reibung perauSgegcben pat, laffen fiep jene in Vomanfapitel gebraepten Erfahrungen
einigermaßen controliren. Offenbar befipt SRebing £alent jur Vorträtjeidpnung;
er Weiß bie Eigenart ber fßerfönlicpfeiten feparf ju erfaffen unb wieberjugeben.
*) „äJtemoiren pr geitgefdjidfte" (1. unb 2. Slbttjeilung; Setpjig, g. 81. SroctpauS,
1881—82).
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Der pfyotograpfyifdje Zeitroman in ,franfrcidj.
827
Sudan Herbert trat in bie gugftapfen ©regor ©amarow’S, befonberS in bent
SBerfe „Napoleon III. unb fein #of".
SBaS nun biefen nid^t retouchirten ^fiotogca^ietoman aus bec ©egenwart
betrifft, fo ift feine äftljetifäe ©erechtigung in feiner Sßeife anjuerfennen. ©djon
bei bem hiftorifcfjen Stornan hot bie 9Teftf)ett! mit Siecht bagegen ©ebenfen geäußert,
bag p feinen gelben groge weltgefdjiditlidje ©Ijaraftere gewählt werben; benn Wie
eS für ben Äammerbiener feine gelben gibt, fo gibt eS auch folt^e nicht für ben
gefdjidjtlidjen Vornan, ber bie feinigen gleichfant aus» unb anjiefft, in bem ganzen
Detail iljter SebenSfüfjrung beobachtet unb fc^ilbert unb fo baS biftorifch ©ebeu*
tenbe, baS in ber 3nitiatite großer Dljoten liegt, nur abpfchwäcfjen oermag. gär
ben Dramatifer bagegen, ber in baS gnnere ^erabfteigt unb baS 9leugere mehr
bem ©arberobier unb DecorationSmaler überlägt, finb biefe grogen gerichtlichen
©haraftere gefchaffen. ©ilt jenes ©ebenfen inbeg fc^on bem Vornan, ber in ber
gefdjichtlichen ©ergangenheit fpielt, fo tritt es noch me h r h er0or gegenüber lebenben
3eitgenoffen, beren ©ebeutung in Slomanfapiteln nur oerfümmert werben fann.
'Cer genrehafte Ülufpufc gehört als Sielief an baS ©iebeftal, nicht an bie (Statue
felbft, bie er entftellen Würbe, ©or allem aber ift biefe fpanbgreiflicf)feit unter»
hüHter SebenSWahrgeit ein ftörenber ©ingriff in baS Sleidj ber Dichtung, beren
©renjtinien gegen bie 3«»tung hin bann Oollftänbig verfliegen. Sti^t bloS baS
Sitb, fonbern auch baS SRobeH wirb gteichfam mit auf bie SluSfteÜung gefchicft,
unb jebermann ift p ©ergleichen berechtigt; baS ©egeimnig beS WtelierS wirb
bem grogen SRartte berratgen. Unb was biefe ©iSmarcf unb ©aribalbi im SRo-
man fprechen, baS ift ja am ©djreibtifcfj ber Siomanautoren erfonnen worben:
man ljot immer baS ©efügl, als mügten bie ©iSmarcf unb Äcubetl, biefe h»hen
Diplomaten, in 3lmt unb SBürben auftreten unb erflären: „Siebfter SRebing, es ift
uns ja gar nicht eingefallen, baS getljan ober gefprocgen p hoben, was Sie uns
tgun unb fprecgen taffen: Wie fommen Sie bap, uns p 3h rem Sprachrohr p
machen? SSir hoben genug an unferer gerichtlichen Serantwortung; wir brauchen
nicht noch bie ©erantwortung für 3h re Slomanfapitel p übernehmen." Die flie»
genbe ©renje jWifcfjen SBahrgeit unb Dichtung wirb üon bem Sefepubtifum nicht
wahrgenommen werben, gn ber Dh fl t entfteljt aus biefer SRifchung ber beiben
©lemente eine untermeibliche Sonfufion, fobatb eS fich um Sebenbe honbelt, bie
noch unter uns wanbetn. Die Unfreiheit unb ©ebunbengeit beS SiomanautorS ift
ihnen gegenüber fo grog, bog ton einer freien fdjöpferifdjen ©hontafie nicht bie
Siebe fein fann. Der Siomanautor ift bann im ©runbe nicht Oiel mehr als ein
wenig gewiffenhafter SRemoirenfchreiber. Der testete refpectirt baS Dhotfächliche
unb tljut nichts binp als baS Urtheit unb bie ©djilberung; jener aber gibt noch
2Ber<h t>on feinem eigenen ©pinnrocfen binp, legt feinen gelben felbfterfunbene
SReinungen in ben SRunb unb gibt ihrem ©ilbe fo einen fcfjielenben 3«9- Slucb
wirb er nicht umhin fönnen, uns meiftenS einen moljtgeorbneten Katalog ihrer
©igenfchaften p geben, ähnlich bem SRenageriewarter, ber mit bem ©tocfe ton
einem Säfig pm anbern geht unb gewichtig auSruft: „Das ift ber Söwe, er ift
gelb unb grogmütljig!"
Das ©efügl ber poetifchen Unptänglidjfeit folget DarfteUungSWeife hot jeben»
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828
Unfere
falld ben in ©ngtanb, befottberd übet in grantreich jur ^errfdjaft gelangten „pho*
togra^b)ifcE»en Seitroman mit Stetouche" herüorgerufeit, eine ganj eigentümliche
9tomanform, beten SBefen in bet HRpftificatton beruht. Sie Dffenherjigleit bed
3eitungdromand ift in Hcf)t unb ©ann gethan; |ier »erben nicht bie ©erfönlid)*
leiten unb grögern Stamen offen audgefpielt, fonbern fie erffeinen in einer äRadle
unb taffen fich erraten. «Sie finb ed unb finb eä toieber nicht, je nadjbetn ed
bem Dieter beliebt; er hot leine ©eranttoortlichleit gegenäber bem Original, bad
er fich ja für feine ©orträtftubien jurechtmacht unb äurecfjtrüdt: er jtiehtt fich ein»
jelne 3üge Don ihm, gibt jum ©efidfjt ein anbered ©oftüm ober jum ©oftüm ein
anbered ©eficf)t. So wahrt er fid) feine poetifche greiheü nnb läßt auch bie 3<it=
gefdjidjte im blauen Suft bed SRärdjend erfcheinen. gn äft^etifc^er £inficht frei
unb ungebunben, übernimmt er aber eine ©erant» Ortung gerabe ber 3eitgefdjicfjte
unb ihren feftftehenben Säten gegenüber. Huch biefe ©ehanblungdtoeife getoinnt
ettoad Schtelenbed, »ad ben Sefer beunruhigt; benn ba jebed ©eneatogifdje Saften*
buch bie gürften unb grinsen aller $öfe auf bad genauefte angibt, ba man aud
ben 3eitungen unb ben aud ihnen entnommenen Sarfteflungen ber neuem ©efdjühte
nidht blöd bid auf bad gahr, fonbern auch ^id auf ben lag bie Stauer eined
jeben einzelnen SRinifteriumd an ben gingern herjujähten »ei|: »o in aller SBett
ift ber ©lafc für ©hantafiefürften unb ©hontafieminifter, bie ihre fronen unb ihre
©ortefeuißed gleichfam nur aud bem Xintenfag bed 9tomancierd fchöpfen? Ser
fachliche Sie lägt bem Sefer leine 9tufic; er oergleicht bie Säten bed ftomand mit
ben Säten ber ©efdhichte: »enn fie übereinftimmen, fo lägt er fidh atlenfalld bie
oorgenommene 9Jtadte bed Stomanljetben gefallen; ftimmen fte aber nicht überein,
fo ift er nicht abgeneigt, ber ©hantafte bed Hutord eine gerichtliche gätfdhung
fchulb ju geben: minbeftend beunruhigt ihn bad ©hantafiegebilbe, bad fi<h »ie ein
buntbeteudjteted Sunftge»61le öerfjüttenb über bie Haren Umriffe belannter ©er*
fönlidjleiten unb Dertlichleiten legt. Setbft bei ben liberalften Sugeftänbnijfen an
bad Stecht ber freien ©rfinbung, mit ben Singen unb ©erfonen biefer SEBelt fo
ungenirt »ie möglich umjufpringen, »itb bei bem Sefer ein 9teft oon Unbefrie*
bigung jurücfbleiben, ber immer aud einem ungetöften Stäthfel heröorgeht ober
aud einem Sdjachproblem, bad mehrere Slebenlöfungen plägt.
gn bem oon ©ufelo» erfunbenen Stoman bed Stebeneinanber ift juerft biefe
SRadlirung jeitgefchichtlicher ©erföntichleiten in Hnwenbung gebracht »orben; aber
bied gilt nicht oon ben ^nuptperfonen. Ser gürft in „Sie Stitter oom ©eifte", in
bem Staat bed Sreubunbed, lann boch lein anberer fein ald griebrich SBilhetm IV.,
unb auch anbere ©erföntichleiten jener in bem Dtoman gefchilberten ©poche, »ie j. ©.
SRabowifc, finb unter einer SDtadfe porträtirt. Sad ©erfdjmeljen ber Hctualität mit
bichterifchen ©ifionen, »ie ed am Schlug bed „8auberer oon 3tom" ftattfmbet,
gehört fdjon ju ben poetifchen Sicenjen, bie in einem bad Seben ber ©egen»art
fchilbemben Vornan unftatthaft finb; benn bag auf ©iud IX. ©onaoentura ald
©apft folgen foHte, ift boch «ine oflju lühne £>ppothefe ber Sichtung; ©hantafie»
geftatten fifcen nicht auf ©etri Stuhl, unb »it lönnen ben Sichter jefct corrigiren,
ba ber jefcige ©apft mit einem ©onaoentura nicht bie geringfte Hefjntichteit h a *-
Huch in Spiethagcn’d 9ioman „gn ©eil)’ unb ©lieb" ift bad SRobeß uuoer*
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Der pfyotograpfjifdje Zeitroman in ^ranfreicfj.
829
tennbar, baS bem Dichter für feinen gelben £eo gefeffeit jat: eS ift gerbinanb
Saffatle, wenn auch bie biographifdjen ißorauSfe|ungen gänzlich b ergebene finb;
hoch bas Streben, ben StaatSfocialiSmuS mit £ülfe ber mafjgebenben Staats»
rnächte ju begtünben, unb bie Abenteuer, welche ben Stbfdjlufj für baS Seben beS
gelben bitben, erinnern forttoährenb an ben pljilofophifchen Agitator. Die {pjan»
tafie, bie ftd^ an ben gerichtlichen Daten ju orientiren fudjt, toirb barauf §in»
getoiefen, in bem {Monarchen, an melden fidj Seo’S Sufunftsplane menben, ben
ßönig Sriebricj SBilhelm IT. ju fudjen; bodfj bei mannen ©igenfchaften, bie fidj
mit ben gefdji$tlidfjen beS {Monarchen beden, finbet man wieber anbere, toeld£je im
SBiberfpruch ju ihnen fielen ober nur leife an biefetben anflingen. So bleibt
auch hier bie Unbefriebigung jurürf, meiere jebe ^albe ober ganze {Mpftification
erzeugt. Das Schlimme ift, bafs biefelbe in biefem geiftootten unb fpannenben
{Roman bie £>aupthelben felbft betrifft. Sn Spielfjagen’S „Sturmflut" treten nur
epifobifche ffiguren aus ber 3<itgef<hi<hie auf: hier ift Don einem Srrattjen meiter
nicht bie Diebe; ber Sbgeorbnete SaSfer bedt fid) oon $opf bis zu Sufi; er er»
fdfjeint mit botltommen gelüftetem SSifir, mit feinem botten Manien, unb ©gcettenz
SBinbthorft toirb jtoar nicht mit biefem eingefüjrt, bodj if»r Sncognito ift boü»
tommen burchfichtig. SBaS toir gegen biefe offenherzige Stctuatität auf bem $erzen
haben, baS fpracjen toir fdfjon borljin aus.
SBenn D’SSraeli bie maSlirte ülctualitüt in feinen {Romanen borzugStoeife
pflegte, fo lag bieS an ber ganzen eigenartigen Sebeutung biefeS Staatsmannes,
bei bem baS unermüblidje Korrelat einer pjantafieboflen fßolitit bie politifdje
SebenStoa^r^eit feiner {Romanphantafien toar. Der {Romancier unb ber fßotititer
waren bei iljm untrennbar berfchmolzen; einige feiner {Romane waren politifdje
{Programme unb feine politifdjen {Programme oft fdjwungljafte 3«tunftSromane.
SBir haben in bem 2tuffa|e über „Endymion"*) bie ©ejanblungStoeife D’SSraeli’S
eingejenber cjarafterifirt unb uns namentlich gegen baS potttifcje SKärcjen erflürt,
beffen £>elb {prinz gloreftan ift, jeber Sott {Rapoleon III. unb bodj nadjjer wieber
ein filönig im Süben.
Drofe biefer Vorläufer in Kngtanb unb Deutfcjtanb ift bocj erft ber neuere
franzöfifche {Roman, namentlich baS Kleeblatt ber lebten Daubet’fchen {Romane, für
bie ganze {Richtung tonangebenb geworben. Sehr tühn toar fcjon Sola oorge»
gangen in feinem {Roman „Son Excellence Eugene Rougon", inbem er jier ben
ftaifer {Rapoleon mit boHer {porträtühnlichfeit, ben Herzog bon SMornt) unter einer
9JtaSfe barfteUte, in feinem gelben aber wieber in bie Äapitel feines {Romans
eins jener Phantaftifch»hiftorifchen gabettoefen bertoebte, beren {Berechtigung wir in
Stage ftetten. Die mehrfache 2tnfnüpfung an feftftehenbe gerichtliche Daten macht
ben gelben z« einer jener „fchtoanfenben ©eftalten", mit benen bie {pjantafie fich
feinen {Rath toeif». {Rougon toirb SRinifter nach bem Attentat Drfini’S auf ben
ßaifer: man fudjt {Rougon auf bet bamaligen SRinifterlifte unb finbet ijn nicht;
ift {Rougon ein DhP«$» ben ber {Romanbi^ter aus ber imperialiftifdjen ©poche
*) Sgl. „fiorb SeaconSpelb’S neuefter 9toman" („Unfere Seit", 1881, I, 420 fg.).
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850
Unfete ^ett.
herausgegriffen hot, fo fann er biefen XppuS nicht ju einer hiftorifcf) controlirbaren
(ßerfänlichfeit matten; ift (Rougon ein Porträt, öietteid)t nach bern SRobett beS
(DlinifterS (Rouher entworfen, fo Werben bie Unähnüdjfeiten jebenfattS größer fein
als bie Slejjnlidjteiten, unb bie freie ©rfinbung ber junt Itjeil croffen gantilien»
fcenen würbe ja auf baS (ßiebeftal beS oietgenannten Staatsmannes ganj unge»
hörige SReliefbilber meifjetn. 3nt ganzen hat aber Sola fidj nur auSnahmSweife
in bie gefdjidjtlidje ©pljäre gewagt: er hat fich bie Originale für feine photogra*
Phifdje Sarftettung bagegen oft in ben niebrigften Greifen beS focialen SebenS gefugt.
®anj anberS 3I(phonfeSaubet, einStutor, ber, über bem oft brutalen SReatiS*
muS S°fo’3 ergaben, in feinen SBerfen eine pljantafie» unb gemüthbottere Sarftel»
(ungSWeife an ben Sag (egt. Saubet begann mit ©ebichten unb ©fijjen, <B<S)iU
berungen unb ÜRobetten non einer oft wunberbaren geinljeit ber &quarettma(erei,
bis er in feinem (Roman: „Fromont jeune et Risler ainä", für ben er fettend
ber Slfabemie ben Souppreis erlieft, fid) mit einem Silage unter ben (Roman»
fdjriftfteßera granfreidjS bie erfte ©teile eroberte. Siefer (Roman, ber barauf
folgenbe „Jack" fowie atte oorauSgehenben ©ebidjt», @(ijjen= unb fRobettenfamm»
(ungen finb in unferer Seitf^rift bereits eingeljenb analqfirt unb gemürbigt worben.*)
3n einer biefer (Robettenfammlungen: „Robert Helmont. Etudes et Paysages",
finben fidj jwei jeitgef^it^tlid^e ©tubicn: „Le Nabab" unb „La mort du Duc de
M .. eS finb bieS bie garbenffijjen ju bem breit ausgeführten ®emälbe „Le
Nabab. Moeurs parisiennes", baS im Saljre 1881 bereits in ber 67. Auflage
erfchtenen ift ((ßariS, ®. Sfiarpentter); ja bie ©djilberung beS SobeS beS |»erjogS
oon 2R ... ift faft Wörtlich aus jener ©tubie mit aufgenommen. Stbifdjen ben
getrennten ©fi^en bat ber Slutor einen Sufammenhang betjuftetten unternommen,
bie gelben berfelben in nähere (Begebung gebracht unb burcb eine rei<bbe(ebte
Swifdbenbanblung ein ®emä(be gefrfjaffen, welkes bie (Bezeichnung „Moeurs pari¬
siennes" mit (Recht betbient, bon ben brei lebten 2Berfen beS SlutorS als baS bor=
jügticbfte unb abgefcbloffenfte, über bie blofje ©ittenfcbilberung hinaus auch als
ein 3eitroman aufgefafjt werben fann.
9(uS bem 2Robett macht Sllphonfe Saubet fein §ef)(, wie er unS überhaupt ben
botten ©inbticf in fein Sltelier geftattet: er hat ja bereits burcb feine ©tubie Rar
bewiefen, baß eS fich um bie ©djilberung einer (ßerfönlidjfeit hanbelt, bie nicht
aus bem Sopfe beS Sichterd entfprungen ift, fonbern in bem realen parifer Scben
eine (Rotte gefpielt hot. Ser (ttutor gibt bieS auch in ber (Borrebe ju, in ber
„Declaration", bie er ben fpätern Auflagen feines SBerfes borauSfchicfte; benn inbem
et baS (Recht beS (RomanfchreiberS unb bie Unberantwortlidjfeit beffelben, WaS bie
Sreue gegenüber irgenbeinem Original betrifft, bertheibigt, wehrt er eigentlich nur
ben (Borwurf ab, ein (ßaSquitt getrieben ju haben, ben (Borwurf ber Unbanfbar»
feit gegen (ßerfönlichfeiten, mit benen er in näherm SBerfehr geftanben, benen er
zum Sanf oerpflichtet war, obfchon er bod) nicht in dbrebe ftettt, im wcfenüichen
nach ber (Ratur gezeichnet ju hoben. Siefe SSorrebe in ihrem ©chwaitfen jWifchen
*) ®flt- „Süngere franjöfifcbe (ftomanfdjriftfieller. SSon griebrid) ffarl (ßeterSfen. I.
9Upl)tmje Saubet" („Unfcre Seit", 9?euc gotge, XIII, 1., 81 fg.).
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Der pljotograpljifcfjc Zeitroman in ^ranfretdj.
83 \
Sugeftänbniß unb ©erteugnung djarafterifirt baS SBefen beS p^otograpfjifdfjen Seit»
romanS, ofine äfttjetifdje Slnalpfe unb ©egriffsbeftimmung, bloS burd) bie Xljatfadfje,
Wie ber Slutor fidlj brefjen muß, um an feinen stippen üorüberjufontmen, fo beut=
lid^ unb fdjarf, baß mir nid)t umljin fönnen, fie E»ier ooßftänbig mitjuttjeifen.
,,©ot Ijunbert galten", fagt Xaubet, „fdjidte ße Sage fotgenbe SBorte feinem
«Gil Blas» borauS: «SBie eS Sjßerfonpn gibt, bie nicE)t lefen fönnen, offne bon ben
laftertjaften ober lädjerlidtien ©Ijaralteren, bie fie in ben SBerfen finben, fogteic^
bie 91ntoenbung ju macfjen, fo erfläre id) biefen böswilligen ßefern, baff fie un=
ret^t t)aben, bie ©orträtS, bie fidf in bem oorliegenben ©udfe finben, auf irgend
jemanb §u bejietfen. 3df) erfläre öffentlich: iöE) habe mir nur oorgenommen, baS
ßeben ber SDtenfdien fo ju fdjilbem, wie es ift.»
„So weit aud) mein Stoman hinter bem bon ße Sage juriidfteljen mag, fo pttc
id) bodj gemflnfdfjt, eine ähnliche Stflärung auf ber erften ©eite beS «Nabab»
gleich n®dj feiner ©eröffentlidiung ju bringen, integrere ©rünbe gelten midi) babon
ab: junädfft bie ffurd)t, baß man folget 2Jtittf)eilung ju feßr ben 9lnfd)ein geben
fönnte, als wofle fie baS ©ublifum antoden unb feine Ülufmerffamfeit erjmingen.
3)ann backte id) audl) nicht entfernt baran, baß ein ©udf), baS nur aus rein lite*
rarifdjem 3ntereffe gefchrieben mar, fo plöfclid) biefe anefbotifc^e ©ebeutung ge=
minnen unb mir eine foldfe lärmenbe ßJtaffe bon SReclamationen jujieljen fönne.
Sin ber Xl)at, es Ijat fich mol niemals etmaS Sehnliches jugetragen. Sticht eine
Seile meines SBerfeS, nicht nur feine gelben, nicht einmal eine ber bloS filhouet»
tirten ißcrföntidjfeiten, Welche nicht Slnlaß ju Slnfpietungen, ju ©roteften gegeben
hätte. $er Slutor mag fich bertljeibigen, mag fdiwören fo biel er miß, baff fein
ßtornan feinen ©ctßüffet hat: feber fdfmiebet minbeftenS einen baju, mit beffen
$ülfe er baS ©djloß ju öffnen fich anmaßt. Slfle biefe Xtypen müffen gelebt liaben,
ja fie leben nodj, ibentifdj bon ®opf bis ju guß. äKontpabon ift ber unb ber,
nicht Waßr? $ic Sehnlichleit bon SenfinS ift frappant. Xer eine ärgert fich, mit
babei §n fein, ber anbere barüber, baß er'S nicht ift, unb mit |>ütfe biefer ©fan=
balfucht l)aben felbft jufäßig gleidjlautenbe tarnen, fo berliängnißoofl in bem neuen
Stoman, bie ebenfo jufäßig gemähten ©ejeicfinungen ber Straßen unb ber $äufer=
nummern eine Srt bon Sbentität folgen ©eftalten gegeben, bie aus taufenb im
mefentließen frei erfunbenen Sögen gefdfaffen finb.
„Xer Slutor Ijat ju biel ©efheibenljeit, um biefen ganjen ßärm auf fein Konto
ju netjmen. 6r weiß, melden Slntljeil baran bie freunbfdjaftlidfien ober Ijinter*
liftigen SnbiScretionen ber Journale gehabt Ifaben, unb offne ben einen rneljr ju
banfen als ifinen jufommt, offne ben anbern beSljalb maßlos ju ßeibe ju gellen,
finbet er fidff in fein geräufdfbofleS Abenteuer mie in etmaS Unbcrmeiblic^eS unb hält
eS nur für ©firenfadffe, ju berfidfiern, bei jmanjig 3aljren Slrbeit unb literarifdfer
SReblichleit, baß er bieSmal fo wenig mie fonft bieS (Element beS (Erfolges gefudft ffabe.
„Snbem er feine ©rinnerungert burd^blättert, baS Stecht wie bie ©flicht jebeS
ßtomanfdfreiberS, tief er fidf eine merfwürbige ©pifobe beS foSinopolitifdlfen ©aris
juräd, bie bor 15 Sauren fpielte. XaS Stomantifhe einer ebenfo blenbenben wie
flüchtig borübergeifenben ©rfdfjeinung, weihe wie ein SDteteor ben parifer Fimmel
burdffreujte, ßat offenbar für ben «Nabab», bieS ©ernälbe ber Sitten, bie gegen
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832
Unfere ^cit.
(Enbe beS second empire ^errfc^ten, bie ©runbjüge gegeben (servi de cadrc). SIber
um bicfe Situation, um befannte Abenteuer, bie jeber ein Siecht tjatte ju jtubiren
unb fich in bie (Erinnerung jurüdjurufen ... welche ißfjantaften Ijat ba ber Slutor
gruppirt, welche ©rfinbungen, welche Stidereien, befonberS melden Stufwanb beftän«
biger, reifer, faft unbewußter Beobachtung, ohne bie es ja feine Serfaffer oon
ißhantafiewerfen geben fann. Um ftd) übrigens einen Begriff ju machen bon biefer
frhftaflifirenben Arbeit, welche bie einfachen Umftänbe aus ber SBirflid)feit in baS
Neid) ber (Dichtung, aus bem Seben in ben Vornan überträgt, genügt es, ben
«Moniteur officiel» beS gebruar 1864 aufjufdjlagen unb eine gewiffe Sifcung beS
Corps lSgislatif mit bem ©emälbe ju begleichen, baS ich in meinem Buche bon
berfelben entwerfe. 28er t)ätte erwarten fönnen, baß nach fo bieten 3“h ren baS
furjtebige IßariS baS urfprüngtiche SNobeß in ber ibeatifirenben ©larfteßung beS
NomanfdjreiberS wieberertenneu unb baß fich Stimmen ergeben würben, um ben«
jenigen ber Unbanfbarfeit anjuftagen, ber feincSWegS ber beftänbige Xifcfjgenoffe
feines gelben war, fonbern nur, bei feinen fettenen Begegnungen mit itjm, ein
Neugieriger, in bem bie SebenSWaljrheit fich blifcfdineß abpljotographirt unb Wetdjer
aus feiner (Erinnerung niemals bie einmal fijirten Silber bertöfdjen fann?
„3«h habe ben Nabob im 3atw e 1864 gefannt. 3<h befteibete bamatS eine
halbofficieße. Stellung, bie midi ju großer gurüdhattung nötigte in Sejug auf
bie Befuge, bie ich bei biefem pomphaften unb gaftlichen ÜRorgentänber machte.
Später ftanb ich einem feiner Srüber nahe, boch bamals quälte ber arme Nabob
fi<h in ber gerne ab in einem Sufchwerf mit graufamen Konten unb man fah ihn
nur feiten noch > n 2?ariS. 3m übrigen ift es fehr peinlich für einen anftänbigen
SDtenfchen, mit ben lobten abjurechnen unb ju fagen: «Sie tauften ftch; obgleich
er ein tiebenSWürbiger SBirth war, h°t wan mich boch fetten bei ihm gefeijen.»
©enüge es baljer fym, wenn idf erftäre, bafj, inbem ich *>on bem Sohne ber
Stutter grangoife fo fpreche, wie ich gct^an, ich ih n fhmpathifdj machen wollte
unb bafj ber Sorwurf ber Unbanfbarfeit mir in jeber $infid)t atS eine 8bge«
fchmadtheit erfcheint. 2)ieS ift fo wahr, baß Diele baS ißorträt $u fehr gefcfjmeichelt
finben, intereffanter atS baS Original. $>aher antworte ich flanj einfach: «3«“ 3
foulet h«t auf mich ben (Einbrud eines (Ehrenmannes gemacht; aber für afle gäße,
Wenn ich wich h‘ er > n täujche, fo hatten Sie fich an bie 3ournate, bie 3h nen f e ’ ;
nen wahren Namen genannt haben. 3$ habe euch weinen Noman gegeben, atS
Noman gut ober übet, ohne ©arantie für bie ütehntidjfeit.»
„2BaS SNora betrifft, fo ift baS freilich etwas anbereS; man hat bon 3 n biS*
cretion, bon potitifdjer Stbtrünnigfeit gefprochen. Niein ©ott, ich habe ja barauS
niemals ein £ehl gemacht. 3<h war im 2llter bon 20 3ah«n in bem ©abinet
beS hohen StaatSWürbenträgerS angefteßt, ben ich atS 2ppuS benufjt habe, unb
meine greunbe aus jener 3eit wiffen, was ich bamatS für eine gewichtige poli«
tifche ißerföntidjfeit war. 2tud) bie Serwattung hat gewiß eine fonberbare ©rin«
nerung bewahrt an jenen phantaftifchen Beamten mit merobingifdjer #aarmähne,
ber immer jutefct auf baS Surean fam, juerft wieber fortging unb niemals jum
$erjog emporfticg, atS Wenn er ihn um Urlaub bitten Woßte, ber babei fich einen
unabhängigen ©harafter unb reine £>änbc bewahrte unb mit bem Äaiferreich fo
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Bet pfyotograpfyifdje Zeitroman in ^tanfretdj.
833
wenig öertaacbfen war, baff an betn Sage, wo bet ^etjog ihm eine Stede in fei*
nem Sabinet anbot, bet fünftige Stttacffe glaubte, mit einer jugenblichen unb rülj*
renben tJeierlid^Ieit erftären gu müffen, «baff et Segitimift fei».
,,«S)ie Saiferin ift es auch», erwiberte Se. ®£ceßeng mit oornehmer Nuhe unb
impertinentem Sädfjeln. SNit biefem Säbeln hob' id) ihn immer gef eben; ich batte
bagu nic^t nöt^ig, bur<h ba$ Schlüffelloch gu gucfen, unb fo höbe ich ih n gefehlt
bert, fo liebte er ftdj gu geigen, gang als Nichetieu*©rümmel. $ie ©efdjichte wirb
ftch mit bem Staatsmann befdjäftigen. 3<h ^abe, inbem ich ih n 0 ong ü °n weitem
in bie Srfinbung meines NomanS oerwebte, ihn als ben Säeltmann gezeigt, ber
er war unb fein wollte, unb bin im übrigen gang ficher, ba|, wenn er noch lebte,
es ihm feines Wegs unangenehm fein würbe, pdj fo bargefteßt gu fehen.
„StaS ift’S, was ich i e ^ S« fagen hatte. Unb nun nach biefen freimüthigen
Srflärungen lagt uns rafch gur Arbeit gurüeffehren. SDtan Wirb meine ©orrebe
etwas furg finben unb bie Neugierigen werben barin oergeblich bie erwartete
fdjarfe SSürge gefugt hoben. Um fo fdjlimmer für fie. So furg biefe Seiten
finb, für mich ftnb fie f<hon breimal gu lang. S)ie ©orreben hoben befonberS
bie Schottenfeiten, bafj fie uns oerhinbem, Sucher gu fdjreiben."
Raubet gefteht alfo offen ein, baff er feine beiben £>auptcf)araftere nach Ntobeden,
nach Jppen gearbeitet hot; et wehrt {ich mit bem Ned)t beS NomanfchreiberS
gegen bie Stnflage, gu wenig gefchmeichelte ©orträts entworfen gu hoben; boch
biefe Slnflage gegen ben Nomanfchreiber, bie er mit Stecht gurüefweift, bleibt be*
ftehen als eine Slnflage gegen ben Noman. ®er Stutor hot gewiff nicht auf bie
Neugier unb ben Sfanbal fpeculirf; boch inbem er allgemein befannte Jopen aus
ber Sefedfchaft Wählte, hot er baS ©ublifum in erfter Sinie IjerauSgeforbert, ©a=
radelen gwifchen bem Original unb ber bichterifchen Kopie gu giehen. ®aS beein*
trächtigt aber Oodfommen bie rein äfthetifche Säirfung eines NomanS. S)ieS ©er*
gleichen, bieS Näthfet* unb NebuSrathen, bieS Slbmeffen, wieoiel ber Srfinbung,
Wiebiel ber SBirflichfeit angehört, finb geiftige Xljätigfeiten, Welche oiedeicht ben
Sdjarffinn auf eine nicht unwidfommene ©robe fteden, feineSWegS aber ben ruhigen
©efammteinbruef erfefcen fönnen, ben eine abgefchloffene Stiftung machen fod;
benn nichts wiberfpricht bem hormonifchen ©enufj berfelben mehr, als bie Nöthi*
gung gu einer gerpflüefenben Stnalpfe.
SBir in Jeutfchlanb finb wol baoon übergeugt, baff bie Vorgänge im ©alais
beS $ergogS oon Ntornp, bie lefcten ßebenStage unb ber lob biefeS weltmännifchen
Smperialiften mit oodftänbiger SBahrheit gegeichnet finb, wiffen aber nichts baoon,
wieoiel ber dichter in ber Schilberung beS „Nabab" oon feinem (Eigenen bagu*
gethan. SBaS beffen ©egiehungen gu Junis betrifft, bie ©orbeifahrt beS ©ei an
feinem gu gaftlicfjer Slufnahme eingerichteten Schloß, bie KonfiScation feines rie*
figen ©ermögenS unb bie baburch über ihn hereinbrechenbe ffiatajtrophe, fo fcheint
cS, als ob eine ben fpätem Sluflagen beS NomanS beigefügte Srflärung beS ©er*
legerS bieS adeS in baS ©ereich ber freien Srfinbung oerweifen wode; benn $err
Khorpcntier fagt: „Ntan hot uns mitgetljeilt, baff bie Negierung oon Junis, nach
ber ©eröffentlichung beS «Nabab» im geuideton, batüber aufgebracht gewefen ift,
barin ©erfonen auftreten gu fehen, benen ber Slutor Namen unb Sitten jenes San*
Unfete »eit. 1883. I. 53
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834 Unfere ^eit. ___
be« geliehen fjot. SBir finb non Jperrn Afphonfe Saubet beooflmächtigt worben,
ju erftären, baf} bie ©eenen be« ©udje«, in benen e« fid) um Xuni« fjanbelt, ganj
ber freien Grfinbijng angeboren unb bajj er niemat« bie Abficht gehabt tjat, auf
irgenbeinen SBurbenträger biefe« Staate« ^inweifen ju moflen." Db aber bie
Sugenbgefdjidjte be« üftabob unb ob fein Sob auf 9Bat)rt>eit beruht: barüber
braunen bie beutfd)en Sefer fidj nicht ben Sfopf ju jerbredjen.
3ebenfafl« ift biefer SJiabob 3anfoutet al« bicf»terifc^cr Gharafter einer ber ori«
gineßften unb beften Figuren ber franjöfifchen SRomanbichter. SBir fe^en ba« ©ilb,
unb Ijiet fanu man wol fagen, bie ©ijotograpfjie fte^t gleich (ebenbig oor un«:
ber Stiefe, fdjwarjbraun Don ber ©onne, fafrangetb, ben Äopf in ben ©futtern
ftedenb, bie furje Slafe, bie ft cf) in bem gefdjrooßeneu ©eficht Derliert, bie fraufen
£>aare wie eine Aftrachanmüfce auf eine niebrige, ftörrige ©tim geftulpt, bie
bidbufchigen Augenbrauen, bie Augen eine« auf ber Sauer fiegenben toüben
Spiere«. Sa« äße« macht ben Ginbrud eine« Don S'iaub unb ©eute febenben SBit«
ben. ©tüdlidjerweife mäßigt bie untere Hälfte be« ®efid)t«, bie hoppelte, mul«
ftige Sippe, bie ein tieben«roürbige« Sädjeln Doß $eijen«güte umfd>roebt, jenen
mifben Ginbrud. Stur in ber Stimme, ber ©timme eine« 9lfwnefd)iffet« mit
grobem füblidjem Accent, jeigt fid) roieber bie niebere fjerfunft be« SJianne«: er
erjäljtt fctbft feinen ©äften Don feiner betteffjaften Sugenb unb Don ber Saufba^n,
bie er gemacht hat. Gr fam nach $uni« mit einem halben Soui« in feiner Safd)c
unb lehrte jurüef mit 25 SKiflionen, abgefehen Don feinem ©alaft in Xuni«, feinen
@<hiffen im $afen Don ©oulette, feinen diamanten, feinen Gbetfteinen, welche
gewifj ben hoppelten SBerth h a & eu -
Köftlidj ift bie ©chilberung, Wie bie parifer ©lünberung fich auf ben ÜRabob
ftttrjt. Ser gute Soctor ScntinjS, ber Grfinber ber arfenifhaltigen ©efunbhcit««
pißen, Derfangt 150 2Jiiß. Sr«, für ein Kinberljeim, ©ethlehem genannt, wo bie
Kleinen mit Stcgenmif^ genährt Werben, unb fteflt ihm bafür ba« Krcuj ber Gljren«
legion in Au«ficht. Gin ©erwa(tung«rath ber Gaiffe territoriale, bie wieber in
Slufj gebracht Werben fofl, unb ber Sirector biefer ©efeßfehaft, bie auf bie Au«*
beutung ber ©chäfee Gorfica« ihr £auptaugenmer! gerichtet hat, fdjminbeln bem
Stabob SWißionen, junächft einen erften Bufdjujj Oon 400000 Sr«. ab: er erhält
bafür bie guficherung, in Gorfica jum Seputirten gewählt ju werben. Unb wa«
foß nicht aße« auf biefer 3nfel gegrünbet werben: Gifen», ©chwefel«, Kupferminen,
ßJiarmorbrüche, Koraßen* unb Aufternfifdjereien, eifen* unb fchwefelhaltige ©äber,
ungeheuere SBälber Don Seben«bäumen unb Korleidjen unb baju ein SRefc Don
Gifenbahnen, ein Gur« Don ©atfetfehiffen. Gier 3ournalift SOioiffarb läjjt fidf fei«
nen Artifet im „Messager" über ben SJtabob, ben 3Bof)Ithäter ber Kinbljeit, bejahten;
bann metbet fich ber Sheaterbirector Garbailhac, ber fein ^heaterfchiff mit $ütfe be«
Sieunbe« flott machen miß; ein Pfarrer ber ©rooinj, ber für ben ©au feiner
Kirche fammelt; ber ©emätbehänbter ©cfjwalbach, ber einen £obbema au« ber
©aterie be« #erjog« Don 2Jtora ihm für 20000 Sr«. Derfauft. Aße biefe ©eenen
erinnern lebhaft an ©haffpeare’« „Simon Don Athen".
Am meiteften in ihren ©peculationen geht eine btafirte emancipirte Künftlerin
Seticia, bie ben SRabob in ihrem ©ifbhaueratetier mobeflirt; fie miß ihn, obgleich
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t)er pfyotograpfyifdje Zeitroman in ^ranfreidj. 833
fie (Gelegenheit hat, feine #äfjli<f)feit genau ju ftubiren, heiraten: fo niete Millionen
üben boch ihren Sauber aus. Sa ergibt eS ficf) ju ihrem ©chted, bafj ber Stabob
fchon nerheirathet ift — unb halb trifft auch SDtabame in IßariS ein. Sie Seich*
nung biefer üppigen, ftumpfen Orientalin ift meifterhaft. SaS ift ein gleifchflumpen
mit einem hübfcfjen, aber ganj entftellten ©eficht, mit tobten Stugen unter herab»
finfenben, Wie SJtufchelit geftreiften Slugenlibern, mit Siamanten unb Gbelfteinen
überlaben, wie ein inbifcher ©öfce. @ie muß in ihr ©emath getragen werben, finbet
aber ^ßarid unerträglich, bleibt im Sette liegen, weint unb heult in bie ©pifcen
ihres KopffiffenS: bie genfter finb gefdjloffen, bie Vorhänge perabgelaffen, bie
Sampen brennen Sag unb Stacht, ©egen ihre Slpattjie fcheint cS fein SOtittel §u
geben: ba erfcheint ber ißtofeffor ber SDtaffage, Gabaffu, ein ftarfer, fchwarjer,
breitfchulteriger SStann, unerfcf)öpftich in ben ©efchichten ber parifer ©erailS ...
unb cS begibt fith baS SBunber, baß bie grau Stabob, nachbem er fie „gefnetet"
hat, an ihm ©efaüen finbet, unb bafj fie ihn auSfchließlidj in Sienft nimmt, mit
ihm baS Sljeater befugt unb fich fogar bon ihm ©tücfe öortefen läßt, bie ihr ber
Sirector ©arbailhac ju biefem SUJccfe einfenbet. SaS gamilienleben beS Stabob,
bie ©rjieljung feiner Kinber ift in einer SReib»e origineller Silber gefchitbert.
2BaS aber ift aus ben ÜJtiHionen beS KröfuS aus SuniS geworben? SBaS aus
bem oerbeißenen Solju für feine mehr als fürftliche greigebigfeit? SDtit ironifch
lächelnber SJtiene führt uns ber Sichter in baS Sethlehem beS Soctor Senf ins:
bie ©chitberung biefer Kinberanftatt, welche an ähnliche ©chitberungen in „Nicholas
Nickleby" bon SidenS erinnert, ift in ihrer 2lrt meifterhaft: ber Stabob unb ein
Sertreter ber Regierung befuchen bieS Kinberljeim, ju welchem ber erfte fo reiche
Kapitalien beigefteuert hat- Obfchon für biefen Sefuch alles borbereitet ift, alle
Schöben berbedt finb, bie ganje SDtiSwirthfchaft bcrfchleiert ift, fo taffen fich boch
bie armen franfen ober fterbenben Kinber nicht gattj aus bem SBege räumen: bei
aller Sronie fchwebt ein ©chatten bon äBeljmuth über biefen ©enrebilbern, unb
nicht ohne Stührung fehen wir biefe mit Siegenmilch aufgenährten Kleinen in ihrer
ganzen berfümmerten ©jiftenj. Sie Gonfequenjen biefeS SefucheS felbft aber ftnb
fehr ironifch beleuchtet. Ser Stabob träumt bon bem ihm oerljeißeuen Drben: in
ber Shat bleibt ber Sefuch beS StegierungSbeainten in Sethlehem nicht ohne golge,
boch nicht ber Stabob Wirb becorirt, fonbern ber Slrjt ber ^eilanftalt, ber Soctor
SenfinS, ber mit bem ©elbe beS SJtiUionärS fich ein Sänbchen inS Knopfloch ge*
jaubert hat.
Sie SOtiHionen, bie et für bie Gaiffe territoriale hergegeben, fichern ihm We=
nigftenS bie SBahl in Gorfica. Sie Suftänbe biefer Snfel, Welche Saubet felbft
bereift hat, noch als er in SJtorntj’S Sienften War, ftrafen bie Sieclamen jener Gaiffe
Sügen: mit bielem £>umor finb bie ©teinbrüche, bie ©ifenbaljnen unb anbere Gom»
municationen ber Snfel gefchilbert, oor allem auch bie mit £>ülfe beS Srigantaggio
infeenirten SBajjlen. ©teichbiet, ber Stabob ift gewählt, ift SolfSüertreter: ein
ßichtblid in feinem Seben. Stun !ann ber Sei oon SuniS, ber ganj in ben £>an»
ben feines ©egnerS, beS SanÜerS §emertingue, ift, nicht fo ohne weiteres feine
©üter confiSciren. §at er ihm boch e ' ne fchmer^liche ©nttäufchung bereitet: auf
bem Schloß beS Stabob im ©iiben War alles jum Gmpfang beS burchreifenben
53*
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836
Unfere £e\t.
fterrfcljerS feftlic^ eingerichtet, bie ganze Seoölferwtg auf ben Seinen, er felbft mit
feinen angefeljenen greunbett auf bem Sahnhofe: ba brauft ber Bug borüber, unb ber
Utabob hat noch gerabe Seit, im Soupe feinen erbitterten ©egner, ben Sanfier
$emertingue, ju bemerfen. 3 mmet h* n — er ip gerodelt unb hot baS Sollgefühl
feiner Sebeutung. ®a begibt fid) baS Unoerhoffte: feine (Segnet beftreiten bie
©üttigfeit feiner SBaljl. 2rojj feiner VertheibigungSrebe wirb biefelbe caffirt: biefe
parlamentarifche $aupt* unb StaatSaction erhält baburch eine poetifdje gfluftration,
baft bie SJiutter beS Vabob, granjoife, eine grau aus bem Volte, berfelben bei=
wohnt, fobaft ber ©inbrucf, ben bie Verhanblungen auf baS ©emütlj biefer grau
machen, auch int ©emfith ber Sefer Ijeroorgerufen wirb. Originell ift bie Segeg*
nung beS ganfoulet mit feinem eifrigften ©egner, bem Santier ^»emerlingue, auf
bem $ere*2a<haife, bie Verföljnung berfelben, bie aber baburch refultatloS bleibt,
baft grau $emertingue zur Sebingung beS griebenS ben Sefuch ber üppigen unb
trägen Orientalin, ber grau beS 9?abob, in ihren Salons macht. 3)ie ftolje ®ame
aber weigert fich entfchieben baljin ju fommen. Voch eine trübe («Erfahrung rnuft ber
Vabob mit bem gouraaliften SJtoiffarb machen: nachbem et einen neuen ©rpreffungS*
oerfudfj beffelben abgefchlagen, wirb er üon ihm in ber Beitung mit bem erbit*
tertften §ohn angegriffen, unb er felbft rächt fich on *h m burch einen Angriff auf
offener Strafte, als er im Sabriolet mit feiner Schönen üorüberfäljrt. $)ie öffent*
liehe SKeinung ift inbeft gegen ben 9labob aufs äufterfte empört, unb als er in
feiner Soge im Sweater erfcheint, hot er baS ooHe ©efähl biefer feinbfeligen ©tim*
mung, ba« ihn fo aufregt, baft ber Schlag ihn rührt.
®aS ift ber §elb ber einen frühem ©fijje SDaubet’S: ber §elb ber anbem Wat
ber $ergog oon SDtora; bie ^Beziehungen jWifdhen ben beiben finb nicht gerabe tief*
gehenber Slrt, unb eS ift bem ^Dichter nicht gelungen, beibe ©horaltere burch eine
fpannenbe Verwidelung zu oertnüpfen. ®er Herzog oon SKornt) ift ein beliebtes
SRobett beS neufranzöfifchen VomanS: auch ©ntile Sola hot ihn als folcheS benufct.
®r war ber glänzenbfte 2lbenteurer ber imperialiftifchen ©efettfdjaft; Raubet, ber
in feinem Sureau gearbeitet, gibt jebenfalls ein treues Silb feines SebenS unb
Sterbens: baS lejjtere ift üon tiefergreifenber Xragif; ber burch bie StrfenifpiUen
beS ®octor genfinS mit franthafter Sebenbigfeit aufrecht gehaltene alternbe Staats*
mann, mit feinen SiebeSabenteuem, feiner hoftigen, nie bie ©ä|e üoUenbenben
©prechweife, feiner unerfchütterlichen SRuhe unb Vornehmheit, feiner farfaftifefjen
Ueberlegenheit, jeber 3oü ein Sabatier, tritt unS mit photographier SebenS*
Wahrheit entgegen: bie Sterbefcene fowie baS Seichenbegängnift finb jebenfalls ganz
nach ber Vatur gezeichnet. ®er greunb beS Herzogs, SJlontpabon, biefer fünftlich
aufgepufcte unb Oergnügte Sebemann, ber ftch zutefct felbft ben 2ob gibt, ift jeben*
falls auch Vorträt. S33aS ben Siebermann SenfinS betrifft, biefen in ben hödjften
Greifen ber ©efeUfchaft fo erfolgreichen (Sharlatan, fo beutet 2>aubet in ber Vor*
rebe felbft an, baft man baS Original zu biefem Vachbilb gefudjt hot unb gefunben
zu hoben glaubte.
Somit tonnte ©utile 8ola ben Vornan oon SDaubet gefchrieben hoben, Wenn
auch $aubet oft eine wärmere Seleuchtung auf feine ©eenen unb ©ruppen fallen
täftt. „Le Nabab “ enthält aber aufterbem mehrere unb ziemlich umfangreiche
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Der ppotograppifdje 5 e ' ttoman * n Jranfreicp.
837
Partien, in benen bie (Eigenart TaubefS unb bet tiefere 3ug feines Talents in
einet für 3ola unerreichbaren ScpilberungSweife ^eröortrritt- Staubet ^at #umor,
£>utnor im beutfepen unb engtijepen Sinne beS 2BorteS, jenen $umor, ber bie
taepenbe Tpräne im SBappen führt, wäprenb 3ola atteS mit berfelben Silpouetteu*
fepere auSfdhneibet unb eS ^öc^ftenS ju chnifchen SarfaSmen bringt. Man fann
bon feiner Mnfe, um einen feiner SiebtingSauSbrüde ju gebrauchen, fagen: eile
ricane. TaS fortwährenbe pöpntf<pe ©rinfen ermübet aber auf bie Sänge. ©ei
Taubet ift baS gan$ anberS: „Le Nabab" enthält gean Pauffcpe ©jtrablätter; bie
„Mämoires d’un gar$on de bureau" finb föftlicpe Sfijjen aus bem ©ureau einer
Scpwinbelgefellfcpaft, mit ebenfo frifcher Staibetät wie feiner ©eobacptungSgabe bar*
geftetlt. @3 finb bie3 #umore3!en, wie fie allenfalls auch ®iden3 gefeprieben haben
Knute; es finb aber ttidfjt bie horten ©runbftricpe einfehneibenber Satire, fonbern
bie feinen $aarftricpe eines weichen $umor3. Stoch mehr gilt bies bon aßen
Kapiteln, welche bie famille Joyeuse behanbeln; bie ^äuSlicpfeit beS fubalternen
Stngefteßten, bie Keinen Mäbcpen mit ber „Mama", bie fie bemuttert, bie Siebe
beS oerftoßenen Sohnes, beS Photographen unb bramatifchen TicpterS ju ber einen,
beS $erm be ©erp jur anbem: baS alles ift in einer güße reijenber, bon
warmem ©efüplspaucp burepwepter ©enrebilber bargefteflt. Unb gar bie gigur
biefeS gopeufe felber — ift biefer liebenSwürbige Träumer nicht eine echt Scan
Pauffcpe ©eftalt? $ier ift eine ^nnerüchfeit, bie bem brüsten franjöfifcpen SRealiS«
muS ganj abhanben gefommen ift. Ter alte gopeufe, bem, um mit £erbart ju
fpreepen, eine SReipe bon ©orftettungen über bie Scpwelle beS ©ewußtfeinS tritt,
mit folcper Sebenbigleit, baß er ftets baS ©rträumte ju erleben glaubt, mit lauten
Steuerungen beS SlffectS perborbriept unb bamit fiep felbft aus feinem Traum¬
leben aufwedt, ift eine fo föftlicpe gigur unb bie Varianten feiner Traumaffocia*
tionen finb fo ergöplicp erfunben, baß man ftets ein SBoptbepagen befter Saune
empfinbet, fobalb biefe ©eftalt auf ber ©ilbfläepe beS StomanS erfepeint.
„2Senn 3opeufe, burep ben gaubourg Saint=£onore prüdfeprenb, auf bem
Trottoir jur Stecpten, auf bem er immer bapinfepritt, ben fcpweren ©Jagen einer
SBäfcpetin, rafcp bapinfaprenb, erblidte, gelenft bon einer grau bom Sanbe, bereu
ffiinb fiep ein wenig bomeigte, auf einem Raufen SBäfcpe fipenb, fo rief ber brabe
Mann erfepredt auS: «TaS Kinb — geben Sie Sldpt auf baS Kinb!» Seine
Stimme berlot ftep im Särm ber SRäber unb feine ©Jarnung im ©epeimniß ber
©orfepung. Ter ©Jagen fupr weiter, ©r folgte ipm einen Slugenblid mit bem
äuge, bann fefcte er feinen 3Beg fort, aber baS Trama, baS in feinem ©eift be*
gönnen, fupr fort, fiep ju entwideln mit taufenb Peripetien. TaS Kinb war
peruntergefatten ... bie SRäber bropten über baffelbe pinWegjugepen. gopeufe
fprang pinju, rettete baS Keine ©Jefen, baS bem Tobe fo nape war; nur bie
Teichfel traf ipn mitten in bie ©ruft unb er fan! nieber, gebabet in feinem ©lute,
hierauf fap er fiep jum Slpotpefer gebracht, mitten in einer bieptgebrängten Menge.
Man legte ipn auf eine ©apre, man trug ipn in feine ©Jopnung hinauf, piöp*
liep pörte er ben perjjetreißenben Sluffcprei feiner Töcpter, feiner heißgeliebten, als
fie ipn in biefem 3«ftonbe erblidten. Unb biefer bezweifelte Scprei brang ipm
ins $erj; er pörte ipn fo beutlicp im tiefften gnnem: «Papa, lieber Papa», baß
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838
Unfere ,geit.
er ipn felbft auf bet Strafe auSftiefj, $um großen ©rftaunen ber IBorübergepenben,
mit einer rauben Stimme, bie iljn aus bem Slip feiner Jräume aufwecfte."
Jet warme Jon ber Jaubet’fcpen JarftellungSweife gept fdjon aus biefer
Beinen Ijkobe peroor; audp fie fcpon betätigt, was fein ®enoffe unb Sftibal, ©mite
3ota, Oon tpm fagt: „Jet 8teij Stlpponfc Jaubet’S, ber mätptige SReij, ber ipm
eine fo pope Stelle in unferer jeitgenöffifcpen Siteratur Oerfcpafft pat, befielt in
bem originellen Strom, baS er jeber feiner SBenbungen ju geben weifc! @r lann
teine Jpatfacpe erjäpten, feine ißerfönlicpfeit uns öorfüpren, optte fidp ganj in biefe
Jpatfacpe unb ißerfönticpfeit ju oerfepen, mit feiner lebhaften Sronie unb jarten
Sanftmutp. SJian wirb eine Seite Oon ipm unter punbert anbem perauSerfennen,
Weil jebe feiner Seiten ein eigenartiges Seben pat. @r ift ein 3«uberer, einer
jener ©rjäpler beS SübcnS, welche baS, was fie erjagten, mtS öorfpieten mit
fcpöpferifdjen ©eberben unb einer Stimme, welche bie ©eifter perbeibefdpwört.
Silles belebt fid^ unter feinen £>änben, alles nimmt eine garbe, einen ©erucp,
einen Jon an. @r meint unb lacpt mit feinen gelben, er bujt fie, er gibt ipnen
foltf»e SebenSWirflicpfeit, baf? man fie Oor fiep fielet, folange fie fpreepen."
Sn bemfelben Sluffap feiner Sammlung über „le roman experimental" fprie^t
3ola baoon, wie Jaubet mit feinem SSerfe berfcpntilat unb berioäcpft: „33ei biefer
innigen ©inpeit fann man bie SBirflicpfeit ber Scene unb bie ißerfönlicpfeit beS
SJomanfcpriftftellerS nicf)t mepr unterfepeiben. SBelcpeS finb bie oollfommen wahren.
Weites bie erfunbenen JetailS? JaS ift gewifi ferner ju fagen. S^cifeltoS ift
nur, baf} bie SRealität ber SluSgangSpunft war, bie treibenbe Kraft, bie ben SRoman»
bitter mächtig oorwärtS trieb; er pat bann bie Sßirflicpfeit weiter oerfolgt, bie
£>anblung in bemfelben Sinne weiter entmiefett, inbem er ipr ein fpecielteS unb
nur ipm, Sllpponfe Jaubet, eigenes Seben gab."
SBenn Jiaubet, ittbem er ben $er$og oon SRora als SRomangeftalt auftreten
ließ, ein Porträt aus ber Seit beS second empire fd^uf, gu Welkem jebermann
bie Unterfcprift oon felbft ergänzte, fo ift ber König ©priftian in „Les rois cn
exil"*) eine ißpantafiegeftalt, ein JppuS, unb eS muff nur Siebenten erregen,
baf} biefe ißpantafiegeftalt in ber allerneueften 3 c *t auftauept, wo für foltpe freie
©rfinbung fein Staunt ift, foweit eS jeitgefdjiiptlicpen ißerfönlidpfeiten gilt. Jie
©eograppic unb ber genealogifdje Kalenbcr proteftiren gleicpjeitig bagegen, baf}
eS einen König bon 3Hprten gibt, beffen fpauptftabt ben Stamen Sepbadp füprt.
©S ift bieS baS politifdpe SJtärcpen, wie eS Sorb SBeaconSfielb ju erjäplen liebt
unb äpnlicp in feinem „ißrinjen gloreftan" ergäplt pat; nur baf} ißrinj gloreftan
eine burepfieptige ÜKaSfe für ben ißrinjen SouiS Sonaparte War unb bie abfiepttiep
untfcpleiernben märepenpaften SlrabeSfen oon jebem nur als eine 3utpat betradptet
würben, bie ein Stotpbepelf ber Stomanbicptung ift. König ©priftian oon QHprien
aber ift nidpt naep einem einzigen SKobctl gejeiepnet: er ift eine freierfunbene
Sigur, wet(pe bie oon oerftpiebenen SJiobellen entlepnten 3>ige in fiep bereinigt.
Kommt fo baS freie poetifepe Scpaffen mepr ju feinem Stecpte als bei einer fßpoto«
*) „Le^ rom eu exil. Roman parisien" (55. tßariS, Jentu, 1882).
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Der yfyotograpfyifcfje Zeitroman in ,franfreidj.
839
graste mit MoS oeränberter StamenSunterfchrift, fo ift auf ber anbern ©eite baS
aJiiööergnügen lebhafter, weldjeS fief) bei bet SSerfünbigung gegen bie 3eitgefchid)te
regt. ®aS Stärken als SBanbnachbar bet Leitungen, beibe gteichfam burdj eine
offene Xljür miteinanbet oerfeljrenb: baS ift ein in ber 2)idjtmtg faum ptäffigeS
SBertjättniß.
$ie anbetn Könige unb ißrinjen beS StomanS finb freilich fenntticher, wie ber
btinbe Sönig oon $annotier mit feiner Softer unb ber abenteuembe ißrinj Ear»
los. $aß finb im Vornan pfeubonqme ®efta(ten, beten toasten tarnen man batb
fjerauäerfennt; freilich fielen fie nur eine fetfr epifobifdje Stolle.
Sönig Eljriftian, ber |>etb beS StomanS, ift tein gefdjmeidjetteS Silb; oft tjat
nicht bie reine ©djaffenSfreube, fonbern bie Satire bem Slutor bie gebet geführt.
Raubet erflärte bem $erjog oon 3Jtomt| gegenüber, baß er Segitimift fei, unb
bodj ift faum je eine fefjärfere Satire gegen bie Segitimität gefdjrieben loorben
als biefer Stoman. ©ewiß, fte finbet in bemfelben auch eine toürbige Vertretung:
bie Königin greberique ift ihre begeifterte SDtufe; es ift bieS eine ebte, wahrhaft
öorneljme grauengeftatt, welche jebe Spur ber Entartung, bie fich an baS Sönig*
tfjum heftet, p Oerbergen ober p üertilgen fudjt. 2lt3 fie ben ©atten aufgeben
muß ober biefer oietmetjr fich fetbft aufgibt, ba fefct jte alle Hoffnungen auf ben
einzigen Sohn, ben fie mit unauSgefejjter Sorgfalt hütet. Er ift nach ber Ent»
fagung Ehriftian’S ber legitime Erbe; bodj er ift franf, feine Srantljeit nimmt p.
Sie befugt mit iljm ben Strjt; nur eine gefährliche Operation, bei ber eS fidj um
lob unb Seben tianbeU, lann ifjn toieber ganj gefunb machen; franf aber fann
er nicht feinet SanbeS fünftiger Herrfdier fein. Sitten bröngt pr Operation. $odj
bei if)t fiegt bie SQSutterliebe; fie öerjidjtet auf ade if|te Hoffnungen, auf bie große
Stufgabe ihres Sehens, bie SReftauration ber 2)pnaftie. 2>amit finbet auch bet
Stoman feinen berechtigten Slbfchtuß. Sönig Efjriftian, ber Sümpfe unb ©e»
Iagerungen mit burdjgemacfjt tjat, altes im gntereffe feiner föniglidjen SERae^t, ift
pmr ein fefjr ritterlicher unb liebenSWürbiger gürft; aber im Efit, in ber SBelt»
ftabt IßariS, wirb ihm baS Sönigtfjum unb bie Segitimität unbequem; er Will fidj
amufiren unb geht auf Stbenteuer auS. ©teich nach feiner Stnfunft in ißaris be»
gibt er fidj in ben Harbin SfKabite; eß bauert nicht lange, fo hat er bereits eine
ganje Shronif oon Siebfchaften aufptoeifen. gn feiner SBitta hat er ein Slffen»
hauS; feber feiner Oertaffenen ©etiebten, bie ihm täftig toarb, fchenfte er pm
Stbfchieb einen ©ifamaffen: pour prendre congb. ©anj in ber Stühe ber Sönigin,
in feinem eigenen Haushalt, unterhält er eine Siebfdjaft mit Eotette oon Stofen,
ber greunbin feiner ©emahlin, ber ©attin eiueS jungen SJtanneS, ber fein wärm»
fter Stnhänger unb jeben Stugenbtid bereit ift, fich für ihn p opfern. Eotette,
ein parifer ©ürgermäbdjen, baS ber ©aron ge^eirathet, gab fich bem Sönig hin,
weit es eben ber Sönig war unb ber ©tanj ber fouoeränen Hewtidjfeit fie bien»
bete. Studj fie entgeht inbeß ihrem Stffen nicht. ®er Sönig entbrennt in Siebe
für bie grau Üom SeoiS’, beS fatfdjen EngtänberS, bes StlterwettSagenten. S)iefe
Sephora gilt für leine leichte Eroberung, ©rinj Sljet, ein junger Stoue, ber
gntimuS beS SönigS, ift baran gefdjeitert. ®er Sönig wettet inbeß um 2000
SouiS, baß Sephora in einem SRonat bie Seine ift. gn ber Üfjat Wirb fie feine
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840
Unfere
notorifdje SStaitreffe unb er madjt fie jut ©täfln öon Spoleto, ein Sludfluß feinet
audj im ©Etl nid|t erlofdjenen Souoeränetät. Siefe ©täfln aud bent Stgentur*
buteau ift audj bie Slrmiba, welche ben Stinalbo üon lüljnen Saaten abljält. ©in
rittertidjer fireuzzug foH ifjm 8anb unb firone wiebererobern; ed ift atted öor=
bereitet; Uniformen jeher Mrt finb gezeichnet für bie ittgrifdten greiwittigen, bie
Dragoner bed ©laubend, bie ©riinljemben, bie fiütaffiere bed guten Stedjtd; ein
Stbfdjiebdfeft ift gefeiert; bie ©etreuen finb öoraudgeeilt; bet fiönig ift bereit, iljnen
■ ju folgen; bodj bad ift nid)t im ^ntereffe bed ©atten unb Saterd bet Sepljora,
welche bebeutenbe Summen öorgefdjoffen fjaben unb iljren ©täubiger nidE)t ent=
fließen Taffen Wollen. Sie ©räfin fteigt mit in ben 3ug; in bem SBaggon in
gontainebleau fpielt fie alle itjre Stümpfe aud, um ben fiönig Ijeraudaufdjmeidieln;
in bet Sljat, et läßt fic& beftimmen, noch eine Siebednadjt in ihren Firmen T)in=
Zubringern 3njmifc^en werben öon ißarid aud bie nötigen Drbted erteilt, unb
ald bet fiönig in SÜtarfeiHe anlommt, wirb er butcf» bie Ißolijei geljinbert abju»
reifen, unb muß aurüdfe^ten. Sie fiämpfet für feine Sache, bie oorljer abgereift,
gehen, öon iljm öerlaffen, einem fiebern Sobe entgegen; bet junge Stofen, beffen
grau öon ©Ijriftian öerfüljrt worben ift, fällt burdj bie fiugel, bie bad firiegd=
geriet übet if)n öerhängt hat. Ser fiönig aber finit immer tiefer unb begibt
fidj in fo fatale Stbenteuer, baß einmal fein greunb, bet ißrinj Sljel, ihn mit
feinem Slamen beden muß.
Sieben ben ßiebfdjaften geljen bie finanziellen Sebrängniffe einher: anfangd
bedt bet ^erjog öon Stofen, ber treue Siener feined §erm, le conrtisan du
malheur, wie ihn biefer fpöttifch in ben Siebedbricfen an feine Schwiegertochter
nannte, ben Slufwanb bed föniglichen $audljalted mit feinem eigenen ©elbe. Slld
bie fiönigin bied erfährt, ift fie außer fi<fj. Ser fiönig fdjreibt inbeß noch immer
Sßedjfel, Slnweifungen auf feine fiaffe; feiner ©attin bleibt nur ein einziged SJtittel:
bie fironjuwelen; benn bie firone führten fie mit fiel). 2Bie fich ihre $anb an
bad ^eiligtljum wagt, gehordjenb bem gebieterifdjen Stange ber Stoff), mit £ülfe
iljted Sertrauten, bed ©eiftlidten ©Itjfee: bad macht gewiß einen rüljrenben ©in»
brud; unb ebenfo ,ift ed eine effectöoüe Uebertafdjung, baß fid) bei bem Verlauf
bed erften Steined bie Unedjtheit ber Juwelen ergibt. Seine SJtajeftät war fd)on
früher ald bie grau ©emafflin auf ben glüdlidjen ©ebanfen gelommen, bie firone
iljted echten ©lanzed zu berauben, nadjbem bied bad Schidfal o^nebied getljan!
SBelche „fanglante" Sronie! Slußerbem ferlägt ber fiönig nod) in einer anbern
SEBeife ©elb aud feiner efilirten Souöeränetät ^eraud: er fabricirt Drbendbiplome
en masse, mit bem iüprifcfjen Söwen, unb treibt bamit £>anbel. Sod) ald er ben
$auptcoup audfü^ren, für fich unb feine Stadjfommen bem S^ron entfagen unb
fich biefe S^ronentfagung öon feinem guten Solle unb feinen getreuen Stänben
mit ©olb aufwiegen Taffen will: ba broljt fid) bie fiönigin mit bem Sohne im
Slrm zum genfter fjinaudzuftürzen, unb er muß auf bied bequeme SRittcl belichten,
feine Sdjulben zu bezahlen.
Sitte biefe Sdjilberungen finb mit fatirifdjer Schärfe burdjgefüljrt; ed fehlen
aber in bem Stoman bie weitem Sinten, welche in „Le Nabab" ben ©inbrud
ber fd)arfumrijfenen 3ei<hnungen milbern. Sie Siebe bed fdjwärmerifdjen ©Ipfee
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Der pfjotograpfjifcfjc Zeitroman in ^ranfreid).
jut Königin, bie (Säuberung ihres gemeinfamen Vefud&S auf betn 3afjrmarft ju
VincenneS, bet Unfall, ben er wiber SSiHen bem ©rben bet Krone jujieht, feine
Verbannung unb fein 2ob: baS alles fjat manche etgreifenbe ©injefljeit, fann fich
abet in bet ©efammtwirfung nicht mit jenen glänjenben £umoreSfen beS „Nabab"
Dergleichen. $>ie noch in ihrer Uebertreibung herjerhebenbe Ireue beS alten #er*
jogS non Vofen geht aus einem fanatifdjen SerbiliSmuS herbor, ben ber tßoet
mehr fatirifch ju geifein als ju oerherrlichen fucht. SBaS auch @hriftian thut, es
ift immer ber König, unbertefclich auch feinem eigenen Urtheil gegenüber, unb fetbft
als er auS ben Vriefen feiner ©djtoiegertochter erfährt, baß ber König mit ihr ein
intimes Verhältnis ^atte, gibt er baS ®ogma feiner befchränlten UnterthanenweiS*
heit nicht auf. 3ntmer bleibt in biefem Vornan baS erfte SBort bie Satire, welche
bie SKifere biefeS in ber Verbannung tebenben Königtums mitleibSloS aufbeeft.
Kaum erfüllt uns ber Untergang ber treuen Vopatiften bei ihrer Kriegsfahrt in
bie §eimat mit ÜDHtteib ... warum opfern fie fiefj einem König, ber fie alle einer
Siebesnacht mit einer Vuljlerin opfert?
©ine ber amufanteften ©eftalten beS VomanS ift ber ©atte ©ephora’S, 3 . 2om
SebiS, agent des dtrangers; wir Wiffen nid^t, ob 3- 2om SebiS ganj ber Vh an *
tafie beS $ichterS angehört, ober ob irgenbein Stgent ber SSeltftabt ju biefem
©haratterbitbe gefeffen hot. Vur ftofjen wir hier auch ouf eine ©igenthümtichfeit
beS photographifchen VomanS, ber burch bie genaue Eingabe ber ©tragen unb
Käufer feine SebenSWahrheit ju erhöhen fucht. SBie genau ift biefe Agentur bon
3 . £om SebiS befchrieben; babei aber erfahren Wir ganj genau, baß jie fich an
ber ©efe ber Vue Vopale unb beS gaubourg=@aint=|)onore befinbet; welcher Sefer
würbe fie bort nicht auffucljen gehen? @S finb ja erft einige 3ohte berfloffen, feit ber
Seit, wo bie $anblung beS VomanS fpielt; jeber Vorifer befinnt fich, bort ein
folcher Saben, wenn er auch jefet nicht mehr befteht, im 3ah rc 1872 beftanben hot.
Solche VhontaSmagorien mitten in bie reale SSelt einjufchieben, erfcheint uns un=
juläffig; foldje Attentate auf baS Slbrefjbuch finb unerlaubt; benn wir fönnen nicht
anitehmen, bajj ber Äutor mit fo genauer Slngabe ber ütbreffe wirtliche Samilien»
gefchichten erjählt. derartige 3nbiScretionen würben ja bie 3«ftii h«*ouSforbern.
®iefer Stgent ber grenibctt, 3- $om SebiS, ift übrigens bie pifantefte Sigur beS
ganzen VomanS, aßerbingS fehr wenig fhmpathifch; ober außer ber Königin unb
ben beiben Vofen enthält ber Vornan überhaupt feine fhmpathifch«« Shoraftere.
SBähtenb wir in „Le Nabab" teine Veranlaffung fanben, eine ju fehr ins
Detail gehenbe ©chilberung ber äußern ®inge, bie ohne Vejiehung auf innerliche
Vorgänge finb, ju rügen, tonnen wir mehrern ©eiten in „Les rois en exil" unb
noch mehr in bem lefcten Vornan „Nmna Roumestan" biefen labet nicht erfparen.
©S finb ©jeeffe beS VeatiSmuS, ber alles Steußere für gleichberechtigt hält, in
feinen Vh°togtaphiefciften aufgenommen ju werben.
„Numa Roumestan", ber neuefte Vornan $aubet’S*), hot jum gelben leinen
geringem als einen maSfirten ©ambetta, wenn man ben Vlättem glauben barf;
*) „Numa Roumestan. Moeurs parisiennes" (tßariS, ©. ©tjarpentier, 1881).
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8<*2
Unfere «Jcit.
benn um ein felbftänbigel Urtheil barübet ju geben, müßte man bie ©igenart,
bal ganze persönliche ©ehaben bei $ictator§ fennen, ba baäjenige, wal man im
Slullanbe beurteilen lann, bie politische ^Richtung bei Staubet’ften gelben, bie
ganz entgegengefefcte ift; benn Suma SRoumeftan ift ein Begitimift, wal inbeß
nicht Ijinbert, baß bal agitatorische Stamagogenthum fit auf biefer regten Seite
ebenfo geltenb matt all fonft auf ber linlen, wenigftenl im Vornan. Derfetbe
erhält atlerbingl babureß etwa! <S«hiefe^ unb ©chietenbeS; benn el gibt bei ber»
artiger Agitation bot feinere Unterftiebe unb man fann bie Sllluren ber auf bie
große SJtaffe wirfenben ©olllführer ber Sinfen nicht ohne weiterel auf bie Slpoftel
ber Legitimität übertragen, darauf fommt el aber bem ©etfaffer nicht an; er
gibt eine retoudjirte ober colorirte Photographie in ber Ueberjeugung, baß fit
bie Sefer bie Setoute unb bal Kolorit bon felbft Ijintoegbenlen loerben. @r
regnet gleitfom auf ihre garbenbtinbheit, inbem er Weiß unb rott) berwetfelt.
Raubet ßat in feinen neuen Soutanen meiftenl frühere Slizzen aulgeführt.
Sun war aber ©ambetta aut einmal bal Cbject, auf bal feine beobattenbe
Stufe oifirte. gn feiner „Sfizzenfammtung auf ©orpoften" finbet fit ein ©rief „$)ie
®ictatoren", in Weitem ©ambetta unb Sotefort geftilbert Werben, ©ambetta
erftien öfters im ©aftjimmer einel $otell an ber Sue be Xournon, unter feinen
Sanblleuten aul ber ©alcogne, wo aut ber junge Staubet fit bilWeilen einfanb.
Stal SBilb, bal er bon bem Spätem S)ictator entwirft, bon bem „unmallirten"
©ambetta, ift wenig gcftmeitelt, ja el ift ber Slulbrud entftiebenfter Antipathie.
9tn biefe Stilberungen werben wir aulbrüdlit erinnert, wo uni Raubet in
„Numa Roumestan" ben ©erfefjr feinel gelben bei Stalmul ftilbert. Sjier lüftet
ber Slutor boßenbl bal SSifir. S)ie Biographie bei gelben, ber allerbingl in 9lpl
geboren ift, in ber ©robence, nitt Wie ©ambetta in Kaßorl, hat fonft große
Sleßnlitfeit mit ber Biographie bei lefctern, ber ja aut Surift in ©aril
ftubirte, fit all Slbbocat einftreiben ließ unb juerft burt eine ©crtheibigungl*
rebe bon fit fpreten matte, greilit galt biefe ©ertheibigung einem republi*
faniften Journal, „Le Rbveil", unb nitt einem legitimiftiften, „Le Furet", wie
im Vornan; bot bal ift aüel burtfittige ©erftleierung, bagegen bie StarfteHung
feiner ©erebfamleit felbft photographische Aufnahme. „Dh ne ©orbereitung erftien er,
bie $änbe in ben haften, fprat jwei Stunben mit einem bernteffenen ©twung
unb mit fo bieter guter Saune, baß er bie Sitter jwang, ihn bil jum Stluß
anphören. Sein Accent, biel ftrecflite Stnarren unb 3tnftoßen mit ber 8«nge,
bon bem fit freijumaten er biel ju träge War, gab feiner gronie etwal ©eißenbel.
©I war eine SERat*, ber Shhthmul biefer fübliten theatratiften unb ungezwungenen
©erebfamleit, aulgeftattet befonberl mit jener Klarheit, bem breiten Süßt, bal
man in ben Kunftrocrfen ber Seute bon bort unten finbet, Wie in ihren bil
jum ©runbe burtfittigtn Sanbftaftcn."
SBeiterhin trifft el bon Soumeftan: „«SBenn it nitt rebe, benle it nitt»,
fagte er fcljr naib p fit felbft, unb el war bie SBajjrbeit. $al SBort fprang bei ihm
nitt hc>Wor burt bie Kraft bei ©ebanfenl; el ging biefem im ©egentheil boraul,
el rneefte ibn burt feinen ganz äußersten Sarm. ©r war felbft barüber erftaunt
unb erfreute fit an biefem 3ufammcntreffen ber ©Sorte, ber in irgenbeinem SBittfel
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Der pfyotograpfyifcfjc Zeitroman in ,franfreidj.
8^3
feine« ©ebächtniffe« oerlorenen 3been, weiche ba« ©Sort wieberfanb, jufammen«
brachte, in ein ©Anbei oon Argumenten oereinigte. ©Säljrenb er fprach, entbedfte
er in fi<h eine ©efühlswärme, bie ihm früher unbefannt geblieben; er beraubte
fich am öibrirenben ©lang feiner eigenen Stimme, an getoiffen ©etonungen, bie
ihm im gnnerften ergriffen, feine Augen mit frönen füllten." ©Sir begegnen
bem gefeierten Stebner unb Abgeorbneten juerft bei einem ©efudie in feiner ©ater«
ftabt, wo er »on feinen Sanbsleuten gefeiert wirb, befonbet« im alten Sircu«
ber Stabt, wo fich Xaufenbe §um Sefte ber $hierfchau üerfammelt Ratten. „Aßt«
brängte fich bort, ben großen SJtann auf ber ©ftrabe ju begrüben: greunbe,
Klienten, alte Scfjulfameraben. Unb Wie Stuma fie alle begrüßte ohne Unterfdjicb
üon Slang unb Stanb! §änbebriide, Umarmungen, ba« Wo^lWoQenbe Klopfen
auf bie Schulter, Welche« ben ©Serth ber ©Sorte Oerboppelt, bie immer ju falt
finb, um bie Spmpathien be« Süben« auSjubrfiden. ®ie Untergattung bauerte
nicht lange, @r hörte nur mit einem £)f>r, mit jerftreuten ©liefen, unb Wä^renb
er fprach, winfte et mit ber £anb ben neuen Anlömmlingen einen ©ruß ju; bocfj
niemanb fühlte fidj gefränft burdj feine brüSfe Art unb ©Seife, mit guten ©Sorten
feine Seute lo« ju Werben: «Schön, fd)ön ... ba« werbe idj beforgen. Stellt nur
eure Sorberung, ich werbe fie burdfjfefcen.» @« waren ©erfpredhungen oon £abad«=
bureau«, bon ©inna^mefteHen; wa« man nicht oerlangte, er erriet!) es unb er=
mut^igte ben fchüdjternen ©fjrgeij, er rief iljn ^erOor. Stoch feine SJtebaille, ber
alte ©abantou«, nach jWanjig Stettungen! «Sdjidt mir eure ©apicre, bei ber
©tarine betet man mich an!» «©Sir werben biefe Angelegenheit wieber gut machen.»
Seine Stimme tönte, warm unb metaQifdj, jebe« einzelne ©Sort marfirenb; es
war Wie ba« Stollen ganj neuer ©olbftücfe. Unb alle waren entjudt oon biefer
glänjenben Sftünje unb oerließen bie ©ftrabe mit ber ftrahlenben Stirn be«
Schüler«, ber feinen ©reis baOonträgt. $a« Sdhönfte bei biefem SeufetSmenfdjeit
War feine wunberbare ©ewanbtheit, bie Spanier, ben 2on ber Seute anjunehmen,
mit benen er fprach, unb ba« in ber natttrlidjften, abßdjtslofeften ©Seife Oon ber
©Seit. SalbungSOotl, mit offener SJtiene, ba« ^etj im SJtunbe bei bem ©räfibenten
©ebarribe, ben Arm mit obrigfeitlidfjer ©Jfirbe auSgeftrecft, Wie wenn er feine
$oga Oor ben Scßranfen be« ©eridjt« fdjüttette, mit friegerifcher SJtiene, ben £>ut
auf einem Dhr, wenn er mit bem Dberften Stodjemaure fprach, unb gegenüber
©abantou« bie $änbe in ben Safdfjen, bie ©eine gefpreijt, mit ben Schultern
fdjWanfenb Wie ein alter Seehunb. ©on 3eit ju Beit, jWifdjen jwei Umarmungen,
lehrte et ju feinen ©ariferinnen jurüd, ftrahlenb unb fich ben Schweiß abtroefnenb,
ber ißm oon ber Stirn troff.
„«Aber, mein guter Stuma», fagte fportetife ganj leife ju ihm mit einem freunb«
liehen Sächeln, «wo wiHft bu benn alle bie ÜabadSbureau« hemeljmen, bie bu
ihnen Oerfprichft?» Stoumeftan neigte feinen großen, fraufen ®opf, ber im Scheitel
fchon etwa« fahl war: «©erfpredjen, fletne Schwefter, hf'&t nicht geben!»"
$iefe ©erfprechungen bringen inbeß unfern gelben fpäter boch in ©erlegenheit.
®er erfte Xamburinfchtäger ber ©rooence, ©almajour, ber im ©ircu« auftritt,
begeiftert Stuma fo, inbem er ihm ©rinnerungen feiner Äinbljeit unb Sugenb jurüd«
ruft, baß et in laute ©ewunberung feiner ffunft ausbricht unb ihm juruft: „Somm
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Unfcrc U«t.
8W
nach ißari# unb bein ©tüd ift gemacht!" Stucp oerfpracp er iljn gu befugen unb
erfüllt bie# SSerfprecpen, ittbem er ihm, bem 23ater, ber Scpwefter, neue SSer=
Neigungen für bie parifer ©aifon gibt. $amit ift ein gaben angefnüpft, ber pcp
burcp ba# gange ©ewebe be# Sioman# pinburcbgiept. 811# Siurna SRinifter geworben,
fommt SSalmajour mit feiner Scpwefter nnb feinem SSater nach $ari#, gur größten
SSeunrupigmtg be# ©taat#Würbenträger#, bem ba# gegebene SSerfprecpen fepr un¬
bequem wirb. 3lt# Euriofität lägt er ihn inbeß einmal in einer Soiree feine#
SRinifterpotel# auftreten, erteibet aber nachher bie emppnbticpe ©emütpigung, baß
fein Scpü|}ting fid) im grote#!en aniafiecoftüm an allen Straßeneden auf einem
ißtafat, in bem er gu feinen SSorfteltungen einlabet, abmalen tagt, ©r tritt auf
unb fällt burcp. Stuma’# (Schwägerin, #ortenfe, oerliebt fiep in ben Tamburin«
fcptäger unb gebt an beffen Siebe gu ©runbe. 6# ift eine 8trt oon Stemejt#, bie
über ben an SSerfptecpungen fo reifen „grogen SRann" pereinbricpt. ©teidjwol
bat bie gange ©rßnbung, trop be# fübtänbifcben EotoritS, ba# ße bem Vornan gibt,
taum ein tiefere# gntereffe, wenn auch SSatmajour’# Scbwefter, bie refolnte Sfubi*
berte, gut gegeicpnet ift unb manche Vorgänge im ©ernütbe ber £>ortenfe STbetl*
nähme erweden. ©teicbwot fagt man ficb immer: „e# ift bie# eine merfwürbige
Saprice bei einem feingebitbeten SRäbcpen", unb tann ficb * n bie Iragif nicht recht
bineinpnben, bie ficb an biefe SSerirrung tnüpft. ®a finb bie Stebenpanbtungen
in „Le Nabab" oon gang anberer übergeugenber SBaprbeit unb ergreifenber
Snnigteit.
Stuma Stoumeftan ift ingwifchen SRinifter geworben, SRinifter be# SRarfdjatl#;
nun regnet’# SSerfprecbungen in noch gang anberm SRaße at# in ber Slrena ber
ißroüence. ®ie Sipung, in welcher er ba# Portefeuille im ©türm erobert pot,
ergäbtt er fetbft febr anfcbautich, fowie er bon ber fcbweren SSerantwortticpfeit unb
ben grogen Slufgaben feine# Slmte# at# Unterricht#minifter burchbrungen iß.
©teicbwot forgt er für bie flores unb amoenitates feiner Stebenftunben; eine fteine
©panfonSfängerin macht ihm ihre Stufwartung mit ber $b eotermu tter; er lägt pe
in ben SRufdfaal führen unb wäbrenb oben ber SSorfaat überfüllt ift mit fotchen,
bie auf eine Stubieng warten, ergäbt er ficb «nt«« am piano, inbem er mit ber
Meinen bott#tbümtid)e Sieber fingt. $)iefe niebtiche SSacpelterp gibt ihm ba# @e-
fübt feiner 3ugenb wieber, füllt feine Seele gang. 3« ben Sorriboren ber Sam»
mer trillert er ba# Sieb, ba# er mit ipr gefungen. Stuf ber SRinifterbanf ßfcenb
hörte et mit einer für ben Stebner fepr fcbmeidjetbaften Stufmerffamfeit eine enb»
tofe Siebe über ben 3otttarif, unb täfelte fetig mit prcabgefenften Stugentibem.
Unb bie Sinfe, bie fein Stuf at# ßbtauer 3«triguant beängftigte, fagte pch gittemb:
„Ratten Wir un# tapfer! Stoumeftan bereitet etwa# bor." Unb boeb War e# nur
bie ©itbouette ber Keinen SSacpelterp, Wetcpe feine fßpantafie beraufbcfdpwor in bie
Debe ber tärmenben Siebe unb pe öorbeitangen lieg an ber SRinifterbanf mit
alten ihren Steigen, ihren paaren, Welche bie Stirn teilten mit ben btonben
Scibentödcben, mit ihrem Stofenteint, mit bem mutwilligen SBefen eine# Keinen
SRäbcpen#, ba# babei fcbon gang grau ift.
$iefe Siaifon bitbet einen gweiten burcb ben Stoman ficb binburcpgiebenben
gaben. Stuma ift öerbeiratpet mit Stofatie, ber Eocpter eine# ©ericpt#präpbenten
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Der pgotograpgifcge Zeitroman in ,franfreicg.
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Se Ouelnog, einer etwa« füllen ©tgöngeit. ©dgon einmal gat fie ben man volage
ertappt bei bem Slenbepou« mit einer altem ÜRarquife, einer Segitimiftin, bie
igm Karriere machen galf. ©ein neue« ©ergältniß fommt erfi jpät pr ©lüte
unb nodg fpfiter pr Äenntniß feiner grau; e« fügrt inbeß p einem Abenteuer,
beffen ©dgilberung mit bem pitanteften ©arfaSmu« Saubet’« au«gefügrt ift. ©lifa
©acgeBerg WiB an bem großen Dpemtgeater al« erfte Sängerin engagirt fein;
fotange bi« ber SDlinifter ba« bnrcggefejjt t;at, lägt fie fitg butdg feine feiner Sieben«»
würbigleiten fangen, Wägrenb fie ign fortwägrenb in igrem ©ame p galten weiß.
Huf bie ©erfpreigungen Slunta’« gibt fie niegt«; fte h>iH ba« alle« auf Stempel»
papier bor fieg fegen. 311« niegt« berfängt, reift fie in« 93ab nadj HrbiBarb, Wo
Sluma’« ©djwägerin fieg befinbet. Ser SRinifter gat in ©gamberg, wo ber erfte
©tein p einem Sgceum gelegt merben foB, eine Siebe p galten. Sie« unb ber
©efudg bei #ortenfe gibt igm ben ttriBfommeneu ©orWanb, fieg natg SlrbiBarb ju
begeben, Wo er benn audg halb ben mutgwiBigen glücgtling trifft. Sie wognt
über igm im $otel unb aBe Släcgte wirb fein ©dglaf geftört burdg Sacgen, Oe»
fange, ba« dürfen ber ©pieltiftge über feinem ßopfe. ©ei läge fiegt er bie SRaul»
tgiercabalcabe, in beren SRitte fie bon bannen trabt: ring«um eine 3agl öon
jungen ©eregrem, bie er berabfdgeut. ®r fann’« niegt länger ertragen, fo neben»
ger p gegen: ein fügner ©ntfcgluß; er bringt igr ben ©ontract bon ©arbiBac,
ein fünfjägrige« ©ngagement. Sa änbert fidg nun mit 3<mberfcgtag bie ©eene:
bie jungen Seute, bie unten garten, fdgon pr gagrt gerüftet, werben geintge»
fdgidt unb Stuina figt, ben breiten ©troggut auf feinem Stömergeficgt, im SBägel»
dgen neben ber ©ängerin. Sie fjagrt gegt naeg bem romantifdg gelegenen ©gäteau»
©agarb, ber ©urg be« Stifter« ogne gurdgt unb Sabel. Sort im einfamen ©urg»
gematg, Wägrenb ein OeWitter über ben ©ergen gcraufjiegt, arbeitet ber SRinifter
an ber Siebe, bie er in ©gamberg galten foB. 3lu« einem Steifeganbbudg gatte
er feiner Steifegefägrtin bie SBorte borgetefen, weldge SRutter £>elene igrem ©ogne
Sagarb mit auf ben SBeg gab: „©ierre, mein greunb, itg ratge bir bor aBen
Singen: ©ott p lieben, p fürdgten unb igm p bienen unb ign nie ju be»
leibigen. Wenn e« bir möglicg ift" — unb biefe SB orte gatten ign fo begeiftert,
baß er mit einer fieg nadg ©gamberg ginüberwenbenben ©eberbe fagte: „Sa« muß
man ben Äinbem fagen, ba« müffen afle ©Item, aBe Segrer..." Sa fdglug er
fieg bor bie ©tim: „SReine Siebe, meine Siebe. 3(g gab’«, ^errtieg... ©egloß
©agarb, eine locale Segenbe." Unb er fegte fidg gin in« ©egloßgemadg. gum
Unglüd raufdgte neben igm ba« ©ewanb ber Heinen ©ängerin, bie, wägrenb bie
anbem im ©arten fpajieten gingen, fi<g in einem Slebenjimmer etwa« pr Sluge
legte, ©r belaufegt fie; fie erwaegt, unb wägrenb be« Unwetter« gibt fie fieg igm
gin. ©alb barauf gielt er feine Siebe in ©gamberg, mitten unter geftidten Stad«,
bidraupigen ©pauletten, eine unjägltge SRenge begerrfdgenb mit ber SRacgt feiner
fcgwungboBen SBorte, inbem er noeg in feiner $anb bie Heine SRauerfeße bon
©Ifenbein gielt, bie eben ben erften ©tein be« Sgceum« berfittet gat: „SRöcgte
bie Uniberfität Sranfreieg« jebem igrer Äinber prüfen: Sßierre, mein Steunb, ieg
empfegle bir bot aBen Singen..." Unb wägrenb er biefe rügrenben SBorte
bictirte, gitterten feine £>anb, feine Stimme, feine breiten ©aden bor innerer ©e»
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846
Unfere <^ctt.
wegung, bet ber Erinnerung an bab große Xfjnrmgemadj, wo er, in ber Stuf*
regung eineb mertwürbigen UngeWitt^rb, bie Siebe oon Sljambert) oerfaßt ßat.
Sn biefer mit feiner Sronie aubgemalten Situation liegt ber $öEepuntt ber
ErgäElung: bie innere Unedjtljeit beb ißßrafenßetben tritt ßier am fdjärfften ßeroor.
Sir erfahren bann nodj,.baß er feine {(eine Sängerin in Sßarib einquartiert, bort
einen gweiten $aubftanb etablirt, Wo er aucß feinen culinarifc^en ©eltiften unge»
Einbert frößnt, baß feine grau ißn bort ertappt, fidj oon tyrn lobfagt, fpäter am
Sterbebette itjrer ScEwefter §ortenfe fitß wieber mit üjm auäfößnt, nadjbem fie
iEm einen Soßn geboren, ben fie mit folgenben, bie Sorat beb Serleb ent^at*
tenben Sorten anrebet: „Sirft aucf) bu ein Sügner Werben? Sirft bu bein
Seben bamit Einbringen, bie anbern unb bid) felbft gu üerratßen, treue bergen gu
bredjen, roeldje ficß nicEtb gu Scßulben fommen ließen, alb bir gu glauben unb
bidj gu lieben? Sirft aud) bu jene leichtsinnige unb graufame Unbeftänbigleit
befißen, bab Seben alb Süirtuofe, alb ein Sänger üon Saoatinen auffaffen? Sirft
aud) bu mit Sorten $anbel treiben, ol)ne bicß um ihre ©ebeutung, um ttjren Ein*
Hang mit ben ©ebanten gu belämmern, Wenn fie nur glängen unb Hingen?...
Sirft aud) bu ein Stoumeftan fein?"
®ie ©egieEungen auf ©ambetta, ben ja aucE fcßon Sarbou im „Rabagas"
gum SobeE für einen Saulljelben na^m, finb Eier unoerfcnnbar; gteicEwol bleiben
eb immer nur ©egieEungen, nur einzelne bem SobeE abgefeEene 3üge; benn aucE
ber größte ©egner beb ®ictatorb oon lourb muß eingefteßen, baß biefer unb
Sioumeftan ficß nicht betfen. WbgefeEen oon ben abfiiEtlidj E erö0r 9 e E 0 &enen Un»
äEnli<EIciten, mit benen ber ®icEter felbft bie Sbentität feineb StomanEelben unb
jeneb öffentlichen ©Earafterb ableEnt, E at , ©ambetta in ben SaEren 1870 unb
1871, in benen er ben frangöfifhen ©ollblrieg organifirte, hinlänglich gegeigt, baß
er lein bloßer ^5E ta f en § e ^ »fc fonbern au<E Xhatfraft unb Energie befijjt.
Raubet ift ein ®icEter; aber er bicEtet neuerbingb unter bem Einfluß einer
fallen SEeorie, ber 2E eDr ' c beb Roman experimental. Sein preibgelrönteb
4?auptwerl „Fromont jeune et Risler aine" gehört nicht in biefe Sategorie;
eb War ein Stoman im tünftlerifdjen Sinne beb Sorteb. dergleichen ©Eantafie*
ftEöpfungen finb aber jefct oon ber jüngern Scßule in granlreidj geächtet. „®er
naturaliftiftEe Stoman", fagt „legt feinen ScEwerpunlt nicht meEr auf bab
©eiftrei^e einer gut erfunbenen unb nacß gewiffen Siegeln entmidelten gabel.
$ie iPEantafie finbet leine Slnwcnbung meEr; bie gntrigue ift feEr unwicßtig für
ben Stomanbicßter, ber (ich Weber um bie Ejpofition nocE um ©crlnüpfung unb
Söfung beb S'notenb tümmert: i<E meine bamit, baß er felbft nicht eingreift, um
bie SirHicßteit eingufdjränfen ober ihr etwab Eingugufiigen, baß er ni<Et ein @e*
räfte nacß ben ©ebürfniffen einer im ooraub gefaßten Sbee gufammengimmert.
San geht baoon aub, baß bie Statur genögt; man muß fie neEmen wie fie ift,
oEne fie gu mobificiren ober ißr etwab abguhtappen; fie ift fcßön unb groß genug,
um burcE fie eine Sntwidelung, einen Anfang, eine Sitte unb ein Enbe gu er*
ringen. Statt ein Stbenteuer aubgufinnen, eb gu Derwideln, ^Eeatercoupb angu*
bringen, bie eb oon Scene gu Scene gu einem cnblicEen SlbfcEluß fäEren, greift
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Der pfyotograptjifcfje ^citronidn in ^ranfreicfr ._8^7
man einfach auS bem 8eben bie ©efchichte eines SBefenS ober einer ©ruppe non
SSejen heraus, beren ©rlebniffe man getreulich regiftrirt. $aS SEßerf ift ein
©rotololl, nichts weiter, es tjat nur baS ©erbienft genauer ©eobachtung, gröfeetn
ober geringem ©charffinneS ber Slnatpfe, logtfcher ©erfnüpfuttg ber Itjatfadjen.
3a bisweilen ift es nicht einmal eine befonbere Sjiftenj, mit einem Slnfang unb
©nbe, über bie man berichtet; es ift nur ein ©tüd ©fiftenj, einige Safjre ««3
bem Seben eines SOtanneS ober einer grau, eine einzige ©eene ber menfchlidjen
©efchichte, was ben SRomanbichter angetodt fjat." 3)er Stoman foö atfo fein fünft»
lerifd^er Organismus fein, ber aus einem ©ebanfen heraus geraffen ift; fonbern
nur eine gotge bon ©fijjen; er wirb als Kunftwerf begrabirt unb abgefefct. 3“
fetbft fein Starne wirb geächtet; Sota weife nichts ©effeteS an feine ©teile ju fefcen,
höchftepS baS SBort „©tubie"; ®aubet hilft fiel) mit „Moenrs parisiennes", ein
äSort, baS fdjon auf toder oerfnüpfte ©ittenfehilberungen ^inbeutet. SEßenn er
einft „Le Nabab" mit biefer ©tifette bezeichnet, Wäljrenb er „Les rois en exil"
einen Sloman nennt, fo irrt er fi<h über bie ©ebeutung feinet eigenen ©robuctionen.
©on ben befprodjenen SBerfen berbient nur „Le Nabab" ben Xitel eines StomanS.
Obgleich bie beiben £>auptcharaftere faum mehr ©ejietjung jueinanber ^aben atS
auf berfetben ©eite eines StlbumS fteljenbe jwei ©tubienföpfe, fo macht boch bieS
SBerf am meiften ben ©inbrud eines gefc^toffenen Kunft wertes, baS aus einem
©runbgebanten heraus geraffen ift, baS eine ©ntwidetung unb einen Stbfdjtufe
hat. 2lm wenigften ift bieS in „Numa Roumestan" ber galt, bem fdjwädjften
biefer Stomane, was bie Anlage unb ©ompofition betrifft: jwifdjen bem Slnfang
unb bem ©nbe, wo uns gleichmäfeig ber fonore ©ebner beS ©übenS entgegentritt,
liegen nur ein paar häusliche unb aufeerljäuStiche Slbenteuer. 3*n ganzen aber
ift ®aubet’S latent immer mächtiger als eine falfche Sfeeorie, beren ©fronten es
oft genug fcfjmungfjaft überfliegt, wä^renb Sola ftets in feinen boctrinären SluS»
fchwijjungen Heben bleibt, ©or allem ift Raubet ein prächtiger ftimmnngSöotter
SanbfchaftSmater: Welches gtühenbe ©otorit in biefen ©ilbern aus feiner Heimat,
bem füblicheu granfreich! 2Bo er SanbfchaftS» unb ©aturbilber matt, ba hat er
eine feltene ©rägnanz beS SluSbrudS, einen ®uft ber ©oefie, wie er Ijerborragenben
Steifem eigen ift; fo j. ©. in ber ©chilberung beS bon ben Sllpen heraufziehen»
ben ©ewitterS: „Stuf bem jadigen Kamme ber ©augeS waren bie Kalfgipfel ber
©ranbe ©hartreufe bon ©lifcen eingetjüttt, wie ein geheimnifeooller ©inai, ber
$)immet berfinfterte fich mit einem Ungeheuern Xintenfled, ber fichtlidj fi<h ber»
gröfeerte unb unter bem baS ganze %§ai, ber SEßirbel ber grünen ©äume, baS
©otb ber Kotnfelber, bie SEßege angezeigt burch leichte ©treifen weifeen, aufge»
ftürmten ©anbeS, baS ©ilbernefc ber Sfere eine aufeerorbentliche Seudjtfraft ge»
wannen, wie unter bem Sicht eines fchief aufgefteöten, weifeen ©eflectorS, je näher
bie finfter grottenbe Xrohung fam."
©ei ber ©chilberung äufeerer Singe berfätlt Saubet oft in eine ermübenbe
©reite: fo bei ber ©chilberung beS ©übfruchtlabenS, aus welchem ber ©ourmanb
Stoumefian bie reiften ©cf)äj}e für feinen illegitimen ^auSIjalt bezieht. Stuf
mel}rern ©eiten wirb unS ba ein Katalog biefer grüßte gegeben, ber ermübenb
Wirft; möglich, bafe ben Sichter fein §eimatSgefül)l über bie SBirfung biefcS
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8^8
Uttfere £tit.
Stillleben? täufdjte, bag bet ben Cefern ohne foldje Stachhülfe, trofe aller Sßinfel*
ftrid&e betaittirter garbengebung, wie ein trocfeneg SBerjeicßniß wirft: biefe ffaftanien,
SRelonen, geigen, Stauben, Sananen, Drangen, ©ranaten, frifdj ober eingelötet
ober füß jnbereitet, fowie bag gange Sreiben in einer berartigen $anblung finb
ein ju weitoergweigteg epifobifcheg SBeiwerf, um bag öeljagen beg Seferg erwecfen
gu Tönnen. Solche gruchtftücfe auf einem felbftänbigen Silbe mögen öieHeic^t burdj
bie faubere ®ugfüf>rung unb bie feine garbengebung erfreuen; in bem Stoman
wirfen fte ftörenb alg breiteg ffiinfchiebfel.
Sin fdjarfer ^Beobachtung beg Sebeng ftefjt Saubet gewiß nid^t hinter Sofa
gurücf; bodj jener nimmt felbft gemüthOotlen Slntfjeil an feinen ißerfonen unb
^Begebenheiten, woburd) eine poetifdje Stimmung fjeroorgerufen Wirb, wä^renb
3ota allen feinen ©fjarafteren nur mit bem Secirmeffer auf ben Seib rüdft. Sieg
gilt namentlich bon ben ^tjftoXogifen unb patljologifchen Stubien ber beiben
Stutoren. Saubet liebt berartige Äranfenbitber: ber Sob beg $ergogg oon ÜDlora
ift gewiß eine auggegeicfjnete unb nicht fdjablonenartige Schilberung; ebenfo ber=
jenige beg anbern Slrfenifefferg SDiontpaOon; eg fehlt biefen Utacfitftücfen auch an
greller SBeteudjtung nicht, ©bettfo ift ber Unfall unb bie Äranfljeit beg jungen
iHhrifchen ißringen mit mebicinifcßer ©inßcfjt unb Stugfüljrlichteit gefchilbert Wie
bie Sdjwinbfucht ber Schwägerin SRoumeftan’g; hoch Wie Diele warme ©emüth&
elemente in biefen Schilberungen! 2Bir erinnern nur an ben riUjrenben Slbfchieb,
ben bet fdjeinbar fo falte Slrgt Southereau oon ber aufgegebenen $ortenfe nimmt.
Saubet ift Sichter, Wo Sola nur Slnatom ift.
Ser photographifdje Vornan Saubefg wählt fi<h öffentliche ©fjaraftere, potitifdfjc
Sppen aug; boch auch int ^rioatleben finbet bie Iß^otograp^ie ber Staturaliften
eine reiche Slugbeute unb Wie weit fte in bem fogenannten Slufgreifen ber ©fiftengen
gehen fann, bag bewieg ber )Jkoceß, welcher gegen Sofa ÜJiitte gebruar biefeg
Siahreg oon bem Suriften SuOerbp geführt unb gewonnen würbe, gn feinem ba=
malg im „Gaulois" erfchienenen Stoman „Pot-Bonille"*) hatte ©mile Sola einen
Suriften gleichen Slameng unb gleichen Stanbeg, ber überbieg in jener ©egenb
wohnte, in welcher bag £aug beg brobelnben $odj|topfeg liegt, mitfpieten faffen.
Sie Stage beim ©ericht würbe gu Sofa’g Ungunften entfchieben; er würbe Oer»
urtheilt, ben Slamen Suüerbt) aug bem SRomane gu entfernen unb für jeben Sag
beg SJergugg 100 grg. gu gahten. Suoerbh oerwanbeite fich bann in Suoetjrier,
unb bagegen hotte bag ©ericht nidjtg mehr einguwenben. ©ine Iebenbe Sßerfon
noch bagu mit Slngabe oon Stanb unb SBohnung in einem Stoman auftreten gn
faffen: bag heißt bodh bag Stecht ber ißhotographie migbrauchen. ©erabe ben
Stamen gu änbent war ihm fo leicht: eg geugt eben oon ber brügfen ^Brutalität
Sofa’g, baß er bie ßebenben beim Schopf ober minbefteng beim Stocffdjoß faßt
*) ®egcnn>ärtig auch im SBudjberlag erfcf)ienen als ein ber Serie: „Les Rougon-
Macquart, histoire naturelle et sociale d’une famille sous le second empire" ßßarig,
®. Efjarpenticr, 1882). Sag ung Botlicgenbc ©jentplar trägt auf bem Umfdjlag bie SBe*
geübnung „Trente-sixieme mille", obtuol eg ung nur wenige Sage nach bem @rf<bcinen
beg SBerfeg gutam.
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Der pfyotograpfyifcfye Zeitroman in ,-franfreicfj. 849
unb fie ohne weiteres in feinen Stoman ^ineinjerrt. 3Bir wiffen jwnr nicht, wie
weit fich bie drtetmiffe beS Klägers mit benen ber Stomanfignr beeten, ©iefleiebt
ift bieS gar nicht ber Satt, bann war ber dclat um fo überfliiffiger; ift bieS
aber ber Saß, fo getjt bie ^otograpt)ie in baS ißaSquifl über unb bie äßirfung
ift nicht anf bie Dichtung, fonbem auf ben ©fanbal beredetet.
Unter aßen Umftänben batte ber 3urift ein Stetst, bie ißerfon, bie feinen
Dtamen trägt, fo unfbmpatbifch ju finben, bafi er mit tf)r nic^t tcrwccf)fcU ju
werben wiinfehte; fie macht fidf» unfauberer £»anbtungen fdiutbig unb ift in un«
faubere Abenteuer berwiefett. $utjet)rier ift ÜRitbemobner beS Kaufes ber 8?ue be
(£E»oifeuI, beffen ©efdjichte unS dmile 3ota erjagt. 3)ieS £>auS ift bem Anfcheine
na<b ein SKufter fteinbürgerlicher dbrbarfeit, wie ber Concierge nicht aufböten
fann ju erzählen: fo beforgt ift er für bie „SRefpectabitität", bie nur jweimat
bureb bie aßeroberften SRietber in Stage gefteflt wirb, einen Arbeiter, ben feine
eigene Srau, bie wo anberS wobnt, befugt, unb bann bureb eine Arbeiterin, bie
bodjfcbwanger ift unb rechtzeitig auS bem £aufe gejagt Wirb. Ueber biefe Heim
bürgerliche „SRefpectabilität" gibt nun Sota bie baarftraubenbften Auffdjtüffe; eS
berrfebt ^ier eine llnfittticbteit, bie, wenn bie ©ebitberungen beS ©ittenmaterS auf
SSabrbeit beruhen, aße biejenigen Siigen ftrafen Würbe, welche bie ©efunbbeit beS
parifer ©ürgerftanbcS rühmen unb meinen, bafj nur bie Sltaffe ber juftrömenben
Sremben unb bie böbem ©tänbe, afleS WaS gleicbfam oben fchwimmt, baS ©abet
in fo übetn SRuf gebracht hätten. dS fheint, bafj Sota bie Anfichten feines ®octor
Suiflerat tbcitt, welcher mit jafobinifchem SanatiSmuS bie Sobteugtocfe ber Der«
fommenen ©ourgeoifie läutet, beren morfche ©tüf}en öon fetbft jufammenbrechen.
diner oon ber ©pecieS ber SRougon, beren 9taturgefhichte 3ola fchreibt, Dctaoe, ein
junger Kommis, fommt in baS §auS wie ber Riecht in ben Karpfenteich unb richtet
mit feiner brutaten 2)on»3uanerie eine ©erwüftung auch unter aß ben SBeibtich-
feiten an. Welche bisher noch eine gewiffe SReferoe beobachtet batten. S'oar ift er
nicht überaß fiegreich; ffiatcrie, eine ®ame, bie außerhalb beS Kaufes ihre Abem
teuer bot, Weift ihn juriief, unb bie fittfame SWabame Qugeur ertaubt ihm zwar
weitgebenbe ©ertrautichteiten, aber fie gibt fich ihm nicht bin- Octaoe beiratbet
zutefct feine anfängliche ©rotberrin, eine SRabame $ebouin, bie er auch juerft
oergebtich z u berfübren fuebte, nachbem fie SBitroe geworben, unb fommt baburch
in gtänzenbe ©erbättniffe, bie er mit faufmännifcher dinfiebt weiter fortbitbet.
$iefc fotibe Siichtigfeit bot baS $erz ber SRabame £>ebouin gewonnen: fie
hoben fich gefunben bei ihren Kontobüchern, unb bie febr praftifche Srau flimmert
fiefj nicht im entfernteften um ben ectatanten ©fanbat, ben Octabe borher in ber
9tue be Kboifeut beröorgetufen bot. 3)iefer Kommis ift ein ganz gewöhnlicher ©tiiefs»
jäger; man würbe unrecht tbun, ihn für ein männliches ©egenbitb ber 9lana
Zu hotten, bie wenigstens in ihrer ©erworfenbeit ein XtjpuS ift. Dctabe bot einige
gute digenfebaften, bie mit feiner £>erztofigfeit auSföbnen fönnen.
Soffen Wir nun einmal baS 9tegifter ber ©emeinbeiten zwfammen, Welche Sota
in bem £>anfe ber 3tue be Kboifeut tburmboeb aufgebäuft bot. ©emeinbeiten —
es ift ber richtige AuSbrucf; beim noch fhtimmer atS bie gefchitberten ©eenen ber
Sw^ttofigfeit ift bie ©emeintjeit ber ©rfinnung, bie fich ' n aßen biefen Greifen
Unfete öett. 18S2. I. 5t
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850
Unfete ^eit.
auSfprieht. S)a ift bie gamilie Igofferanb: bet Site, ber beS Staats arbeitet, um
wenigftenS etwas für bie gamilie gu berbienen, beten Snfpriiche fehr groß finb,
ift bet einzige anftänbige Menfch; bodj er ift eine SRuB gegenüber feiner grau.
$iefe Mabame ^offeranb, bie Mutter gweier löchter, bie fie um jeben IßreiS an
ben Mann bringen miß, ift üon einer #errfdjfuctjt, meiere bie gamilie tprannifirt,
nnb bebt not feinem ©d)Winbel guriief, um ihre Stoecfe gu erreichen. ®a ift ein
alter immer betrunfener Dnfet SBadjiriarb, melier eine Mitgift bon 50000 grS.
gu geben üerfprochen tjat, aber baS SBerfpredjen nie erfüllt. Such er hat eine
ibhBifdje ©eliebte, ein fanfteS Mähren, welkes Sola ironifch anfangs mit einer
Srt üon ^eiligenfdjein umgibt, ©achiflarb ift fo ftolg auf biefen berborgenen
Schaft, baß er iljn einmal feinen jungen greunbeit geigt: natürlich bleibt ber
©rfotg biefeS unbebauten ©drittes nicht auS; er überrafdjt bieS 3beal weiblicher
Xugenb in einer ©eene mit einem feiner ©efannten nnb entfließt fiel) guteftt, bie
50000 grS. ihr gur SuSftattung bei ber £eiratlj mit ihrem Siebhaber gu geben.
So geht bie gamilie Sofferanb leer auS; aber grau 3°il erc, nb operirt mit ben
50000 grS., als ob fie biefelben boch in ber Xafche hätte, unb töbert fo, mit
£>ülfe ihrer anbeni Tochter ^»ortenfe, ben einen ©ohn beS &anSwirtheS Sabre,
Sugufte, einen immer mit ber -Migräne behafteten Schwächling, fobaß er ber
jüngfien Tochter Sertha bie |>anb reicht. Sertha ift gang baS ©benbilb ber
Mutter, fatt unb habfücßtig: Dctaüe gewinnt fie burch ©efdjenle, fie werben in
flagranti Oon bem ©atten überragt. ®ie ©eene ift fehr braftifch, fie fpielt oben
im Bimmer beS Dctaüe. SBäßrenb bie Männer aueinanbergerathen, flüchtet
fich Öertha bie kreppe hinab, lann nicht in ihr eigenes oerfchloffeneS Sogis
hinein unb lanbet fchließlidj in ber gamilie ber ßamparbonS, Wo benn ber Mann,
bie grau, bie Soufine, bie junge lochtet unb baS tDienftmäbcßen nacheinanber bie
flüchtige ©hebeedjerin in ihrer faft parabiefifdjen Toilette anftauneu. (SS foflte gu
einem Shtefl gwifchen ihrem ©atten unb Siebhaber fommen, boch ber S'ampfeSmntf)
beS jungen Slugufte erlahmt. ©ertlja wirb oon ihren Seltern gurüefgenommen, nicht
ohne baß ihre Mutter ihr bie bitterften Sortoürfe barüber macht, baß fie jeftt als
Mitefferin bie fjauSfoft ber gamilie beeinträchtige. Später wirb fie mit bem
©atten wieber auSgeföhnt. $ie ältefte Sodjter ber QofferanbS hot eine ©raut»
feßaft mit einem |>errn Serbier, üon bem wir im SRoman nur einmal ben SRücfen
gu fehen befommen. Sliefer ©rautfehaft fteht aber noch baS notorifche ©erftältniß
beS §errn mit einer anbern entgegen, mit ber er gufammentebt unb bie üon ihm
ein Sinb hat. ©S hanbelt fich mir baritm, Wann biefc beiben SBefen an bie Suft
gefeftt werben foBen, unb ba gibt es immer üerfchiebene ©rünbe für ben Suffdjub.
2)ann ift nodj ein ©ohn Seon außer bem §aufe: er hat ein ©erljältniß mit einer
SJitwe, einer grau Siamremont, bie ihn fchließlidj mit einer ihrer Stiebten üerhei
rathet; boch er feftt nichtsbeftoweuiger fein ©erftältniß mit ber lante fort.
®ann ift ba bie gamilie Gamparbon: ber Mann ift Srchiteft, baut Archen,
hat eine fromme, fittliehe ©efinnuitg. $aS hinbert aber nicht, bah er eine Goufine,
©aSparbine, gn fich ins $auS nimmt unb, Wührenb feine bequeme unb hübfehe
grau ihre Schönheit pflegt unb fich Pflegen läßt, bie 9täcf>te mit ber häßlichen
Goufine gubringt.
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Der photograpfyifcfye Zeitroman in ^franfreidj,
851
®onn ift bo bie Samilie $id»on: bet SJtann ift ein bürftiger Subaltern»
beamtet; bie Heine Stau gibt fic^ Dctaoc ohne weiteres h'n; et ift faum ftolj auf
bie ©robernng. ®ie ©twiegerältern finb ftets außer fit, wenn fte ein $inb be-
fommt; fie wollen ftt von ben fi'inbern ganj loSfagen, wenn folte StficffittS»
(ofigfeiten notmalS paffiren. ®ie Debatten hierüber finb edjt franjöfift unb feljr
ergöfclit-
®ann ift ba bie fjamilie beS £auSbefifcerS Sabre: ber Sitte, bet ©emälbe»
fatatoge pfammenfteHt unb nebenbei fein Selb verfpeculirt, ber ©oljn mit ber
Stigräne, bet Bertha ^offetanb p ^eirat^en baS Ungtücf hatte, 2f)eopt)ile, bet
mit feiner Materie gleichfalls übte 6tfaf)tungeu unb bei Bertha'S §otjeit in ber
Kirche ©fanbat macht, unb ßlotilbe, eine ftolje, etwas falte Schönheit, bie ben
©erittSrath $uveprier geheiratet hat.
Sn bet Xh fl i> £>err ®uverbt), wie bet Stame anfangs lautete, hatte volles
Siecht, fit äu befchweten, fo mit tebenbigem Seibe in SRomanfapitel eingefperrt
unb ber Sivifection beS phpfiologiften SiomanftreiberS unterworfen p werben.
Saft fcheint bet Autor ppgeben, baß es fich um eine 1)3^otograp»f)ic hanbett; er¬
läßt in bem $aufe aut einen SRomanftriftftelter Wohnen, ber ftmujige SHontanc
ftreibt, fit biefen ©tmuj mit ®olb bejahen läßt unb bie ©fjronit beS Kaufes
auSbeutet, ja einzelne ißerfonen, wie ben ®ut»eprier, fo hinftellt, wie et leibt unb
lebt. ®er ©erittSrath ift eiu Anhänger beS second eropire, ftrömt über von
Xugenbphrafen, ift ein ftrenger unerbittliter Sitter, lebt aber außer bem $aufe
pr großen Beruhigung feiner Stau, bie ihn verabfteut, mit einer SRaitreffe,
ßtariffe, bei ber er aut feine Sreunbe empfängt. ®S ift in ber 23jat feJ>c ergöß»
lit, baß ©lotitbe, als ©lariffe einmal fpurtoS verftwunben war, bariiber fepr
unglücHit ift, weil fie wieber bie Annäherung ihres ©atten fürttet. ©lariffe
bringt inbeß ®uveprier’S ©elb burt, ber fie mit ihrer ganjen Samilie ernähren
muß unb bafür von allen mishanbelt wirb, ©lariffe matt fit aus, baß er über
ipr Serl)ältniß p einem jungen SDlufifer bie Augen pbrücft, unb als fie einen
anbent reiten alten #erm gefunben, wirb ber ©erittSrath bie ®reppe hinunter'
geworfen. @r ift in SerjWeiflung, bie Zerrüttung feiner Sinanpn, feines ScbenS»
gtücfeS bringt ihn außer fit; er matt mit einem Sevolver einen ©elbftmorb»
Verfut, wobei er fit bie ffinnlabe jerftmettert. ©eine S*au finbet eS befonberS
unpaffenb, baß er bap einen ungeeigneten Ort, ben lieu d’aisance, fit aus*
gewählt hat. ®uveprier behält nur eine etwas fcf)iefe Sinnlabe, hält aber not
immer bei ©eritt feine Sieben gegen bie ©tutbigen. Aut baS Samilienglücf
wirb wieberhergeftellt, ba er an ©teile feiner ©lariffe eine anbere, weniger foff-
fpielige ©tönheit gefunben hat.
©ummiren wir bie ©hronif beS §aufeS: jWei ©bebrüte in ber Samilie
Söffe raub, einer in bet Samilie $iton, einer in ber Samilie ©amparbon, jwei
in ber Samilie ®uveprier unb bann was oben bei ben Sonnen vorgeht unb fit
nitt genau mehr jählen läßt. ®a ift ein junger SDtann, Ürublot, ber fit immer
in biefen fjöhern Stegionen herumtreibt unb von einem Zimmer ins anbere geht;
aut ber ©erittSrath finbet fit bort oben ein, wenn bie ©attin auf bem Sanbe
ift. ®ie Zofe ber tefctern unb fein fammerbiener haben ein Serljältniß mitein'
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Unfete <geit.
onber, ba$ Stnftofj erregt; ©totitbe bittet ben Stbbe SJtaupuiS, bocb ihnen ba$ tior»
pfteßen unb ihnen junt $erjen p fpre<ben. @r t^ut baS mit einem großen Stuf*
manb toon ©erebfamteit; feinet ©tfotgeS fidjer, fragt er fie, ob fie nun nid^t fidb
beiratben moflen? Xa erftärt ber Äammerbieiter, bafj bicS mot ganj t)übf<f) märe,
bajj er aber ft^on — oerljeirattjet fei, unb ber Slbbe ift über bie ©erfcbmeubung
feiner ©erebfamfeit febr oerftimmt.
Xie Xomeftifen fpieten in bem Vornan, ber ficb faft au§fcE>Iie§tic^ in ber ge»
fcbtecbtticben ifj^fiotogie bemegt unb babei manchen frappanten ßug, menn nicht
beS menfcbticben #erjen$, bodfj ber menfcbticben Statur in ihrer gröbftcn Urfprting«
lieb feit enthält, eine grofje Stoße. $n ben Untergattungen ber Xomeftifen gipfelt
ber 3ofa’fdjt ßpniSmuS; es ift bie SBaljrljeit ber aßergemeinften Statur; es finb
bie unanftänbigften, äftbetifdb mibermärtigften Sieben unb Stuftritte, bie uns ba
mit bem ganzen Xrofc tiorgefübrt merben, p bem nur eine falfdje äft^etifcfje Xbeorie
ermutigen tarnt. Xap bie muffigen ©eriicbe beS fteinen $ofeS, mie überhaupt
ber (Serudjäfinn bei aßen ©cbilberungen Sola’ä meift in roibrigfter SBeife in Sin*
fprud) genommen mirb. XaS ma^r^aft Unglaubliche ift bie tjödjft überflüffige ßr=
pbtung ber ©ntbinbung eineö SJtäbcbenS, Stbele, ohne fpülfe ber Hebamme unb
beS StrjteS, eine ©rpbtung, bie mehrere ©eiten füllt, oon p^pfiologift^er SBabrbeit,
aber mit einer entpörenben ©ortiebe für ben ©djmuj, ber mit folgen |3tatnr=
proceffen tterbunben ift.
SBit begegnen 3<>ta in biefem Stoman auf einem ©ebiete, auf metdjem IjSaut
be ßocf feine Sorbern errungen bat, auf bem beS parifer fteinbürgerticben ©itten-
gemälbeS. Slu<b ißaut be ßotf mar ein Gpnifer, aber fein SpniSntuS mar joüiaf;
berjenige Don 3<>ta ift brutat. ißaut be ffocf fdptberte tenbenjloS Sebett nnb ©itte;
für Sota’S XarfteflungSmeife tann man nur beit SluSbrucf „faugtant" gebrauchen;
er fcbmetgt mit ©ebagen in ben ©cbilberungen ber greßften Unfitte, ber Unan*
ftänbigfeit, ber grecbbeit »nt* Stobeit; er reißt ber ©efetlfcßaft baS Feigenblatt
ab unb ftedft eS ficb an bie SJiilbe, bie er mit pbetnber Stcnommage „über bie
gelungene ©ntbtöfjung ber menfcbticben Statur“, ber man fptittemacft jebe Stippe
pbten fann, in ben fiüften fcbmenft.
Stm ©dbtuffe beS „Pot-Bouille" fagt bie eine 3ofe Jur anbem, metcbe fortgeben
nnb „unc pareille baraque de maison" tiertaffen miß: „Mon Dieu! mademoiselle,
celle-ci ou celle-lü, toutes les baraques se ressemblent. Au jour d’aujourd’hui,
qui a fait l’une a fait l’autre. C’est coclion et compagnie!“
SSenn man bie? Urtbeit auf bie festen Stomane oon 3®ta beliebt, fo ift es
iebenfaßs ptreffenb.
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Wit |torfetnt int flkuffdjnt Itridjsfag*.
»Olt
3o{jatut£B ßecg.
II.
Ser pfeuboconferbatibe ober „rfjiifiltdje" ®ociali«muS unb ber MnttfemihSmuS,
bon 1867 bi« 1882.
Daä heutige ©efdjtecht btt SJltnfdjeit jeidjnet fid) aus burch ©chneßtebigleit
unb ein fur^cS ©ebädjtnifj.
9?ur baburd) ift eci erttärlidj, baj) bei ber Stolle, welche beut äußern Stnfc^ein
nach ber ©taatSfociatiSmuä, bie ©ociatconferbatibeu, bie ©ociatariftofraten unb
bie ®I)riftttdjfociaIen noch fielen unb iu ber jilngften Sergaitgenheit, feit 1878,
gezielt haben, eS noch nientotib eiugefaflen ift, boron ju erinnern, »oie fdEjott 1867,
jur 3 c 'i beS Oerfaffunggebeuben SleichStageS, jener ©taatSfociatiSmuS, weiter feine
oggreffibe ©pifce gegen ben beutfcEjen SJlittetftanb, gegen bie eigentlich Wirthfdjnfttich*
felbftanbig«probuctibe Staffe, gegen ba$ Sürgertt)um in ©tabt uub 2nnb richtet,
offen feine Sahne entrollte, unb auch ben Slawen best bamatigen ©rafen SiSntarcf«
©chönhaufen, bcs pre«fjifd)cu ÜJtinifterpräfibeuteu, in unmittelbare Serbinbuttg mit
feinen Scftrebungen ju bringen berfudjte.
Die gelben biefer bergeffeiten ßpifobe bon 1867 fittb erftenS ber bormalige
Sribatboceut Dr. (fugen Dühtiug unb ber bormalige „SreHjjeitung$"=Slebacteur
unb SleidjStagSabgeorbnete für Sleuftettin, Hermann SBagener, welcher barnats,
1867, bortragenber Statt) im preufjifchen ©taatSminifterium war unb, neben bem
ebenfalls ein wenig fociatiftifch angehauchten Sottjar Sucher, als ber intimfte Stnth=
gebet be$ ©rafeu SiSntarcf betrachtet würbe. Der Ipergang Wat fotgenber.
Damals, 1867, erfd)ien iu Sertin, unb jwar anonpm, eilt Such, betitelt:
„lieber wirthfchafttiche Slffociationen unb fociale ©oatitionen", weichet junädjft ben
@chutje=Detij}f<h’fchen (Srebitgeuoffenfchafteu ben Stieg erttärte, bann aber bie ganje
gegenwärtige ©efeßfchaftSorbnung unb bie Sribatinbuftrie, bie inbibibueße Srei*
heit fowie baS perföutiche ffiigcuthuin, worauf biefetbe bafirt ift, befämpfte unb
borfchtug, biefetben ju erfefcen butch „fociale Goalitionen', welche mit $iitfe bce
©elbeS unb ber ©ewatt beS Staates ju grünbeu unb burdjjuführen feien. Da«
Such würbe anfangs nur iu confetbatibeu Steifen berbreitet. ©iit ©jetnplar aber,
welches fief) iu bie .'pänbe bet grei^anbelspiartei berirrt hotte. Würbe bort fofort
richtig erlannt als eine, an eine höh ere 2tbreffe gerichtete Slufforbermtg jur Unter«
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85<t
Httfere
grabung bet beftehenben ©efetlfchaftSorbnuug. Es würbe alsbalb in bet ,,93iertet=
jaljrfchrift für Solfswirthfchaft" (3af) r 9 an 0 1867, Sb. 2) einer fdjorfen »oiffett-
fchaftlidjen ftritit unterzogen. Julius gaudjer toar beren Serfaffer.
Xrohbem italjm bie öffentliche Meinung wenig ober gor feine S?otij bou bent
allem; unb e$ würbe überhaupt bie allgemeine Slufmerffamfeit auf baS Such nicht
hingelenft worben fein, wenn fich nicht an baS zweite Erfcfieinen beffelben S ro =
ceffe, nebft allerlei Stanbal, angelnüpft hätten, welche zugleich auch feltfame ©nt*
hüßungen über feine ©ntftehungSgefchichte brachten.
Xaffetbe Such, baS anfangs anonhm, unb fogar unter forgfältiger ®eheim=
haltung beS SlutorS unb beS Herausgebers, in Serlin erfchieneu tnar, würbe we»
nige 33ßoct»eit banach in einer „zweiten Auflage" t»on einem leipziger Serleger
herausgegeben. Xer Xitel war berfelbe geblieben, nur war barauf Hermann
SBagener als Serfaffer genannt.
9tuu trat Dr. Xühting auf mit ber Sehauphiug, biefe Sezeichuuug bcS Autors
fei eine freche Ufurpation; nicht Herwann SBagener, fonbern er, Dr. Xühring, fei
ber Serfaffer. SBagener gab baS zu, fchob aber bie Sdjulb auf ben leipziger
Serleger, ber ihn ohne fein SBiffen unb SBotlen als Slutot auf ben Xitel gefefct
habe. XaS ©nbe biefer nicht ohne Sebhaftigfeit in ber XageSpreffe geführten Er»
örterungen war, baß SBagener ben Serleger wegen Serleumbung in Seipzig, unb
baß Xühring wegen Sertejjung feiner Autorrechte ben SBagener in Serlin berllagte.
Xet Serleger würbe freigefprochen unb SBagener würbe oerurthcüt. 3<h übergehe
bie intereffanten juriftifchen fragen, welche in biefen ifkoceffen erörtert unb ent»
fchteben würben. H ier »ft es für uns Ooti ^ntereffe, zu erfahren, baß fich aus
ben gerichtlichen Serhaublungen mit ziemlicher ©cwißljeit SolgenbeS herauSfteßte.
3m Sahre 1865, alfo zu einer Seit, ba in ißreußeit ber SerfaffungSconflict
noch leine Söfung gefunben h a tte, evfdjiett ber ©eheimrath SBagener bei bem
'JJribatboceuten Xühriitg, ber bamals fchon SerfchiebeneS gegen bie „ÜKandjefter*
Partei" gefchrieben hatte unb fich als einen eifrigen Schuhzöllner nach ber Xoctrin
beS AmerilanerS Earep geberbete. Seibe HJtänner tannten einanber bis bahin
nicht perfönlich. SBahrfcheinlich £>attc SBagener an ben leibenfchaftlidjen Singriffen
Xühring’S gegen baS „SRanchefterthum" ©efallen gefunben. Xetm er felbft zog
au bem nämlichen Strange; unb fobalb in bem Slbgeorbnetenhaufe bie liberalen
bie betfaffungSmäßigen Siechte zu wahren fugten, nannte SBagener fie „Bourgeois"
ober, wie es in feinem etwas breiten unb harten granzöfifd) lautete: „Purr-sclio-
wahs", unb bebrohte fie mit ben SlrbeiterbataiHonen, beren gleichmäßigen unb
oemichteuben Xritt er fchon bon weitem auf bem ißflafter bernahm.
SBagener erfuchte ben Sßrioatbocenten Xühring „im Sluftrage beS Slinifter»
präfibenten ©rafen SiSmarcf", eine Xentfcfjrift in bem bezeichttetcn unb noch uäher
Zu bezcichnenben Sinne zu fchreiben. Xühriitg nahm ben Sluftrag an. ©r fchrieb
bie Xenlfchrift fo, wie fie 1867 im Xtucf erfdjienen ift. @r überlieferte fieSBa»
gener, ber fie „für ben SJtinifterpräfibcnten" in Empfang nahm. 3« Setreff bcS
SlutorrechteS unb beS Honorars würbe, wie es fcheint, leine Serabrebung getroffen.
Xüljring fcheint auf eiu fchnetteres SorWärtSfommen in ber alabeutifchen Saufbahu
gerechnet zu haben. Ob ihm SBagener Anlaß zu folgen Hoffnungen gegeben, ift
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Die Parteien im Detttfefjen Reichstage.
855
ungewig. ©ewig ift nur, bag fich biefe Hoffnungen burchauö nicht erfüllten.
Stagencr will 1867 bie Schrift im Auftrag ober au$ Betanlajfung ber confer-
batiben Partei pm Drucf beförbert haben. Sille biefe Slngaben SBagener’S finb
bamalss in bie Oeffentlidjfeit gelangt uitb in ben Leitungen erörtert worben.
SBeber bie conferbatibe fßartei noch ber ©raf BiStnarcf haben SBagener’S Slngaben
wiberfprochen. Der legiere hat auch feilte Strafanträge gegen SBagener eingereicht,
bielmehr rücfte SBagener in feiner bienftlidjen Stellung immer weiter auf unb
blieb bor wie nach einer ber intimfiten Satljgeber beö ©rafen.
Die Denffchrift Dühring’S, welche SBagener herausgab, ift im Suchhaitbel
nicht mehr p haben. Dies unb ber Umftanb, bag fie burch unfere SBanblungen
feit 1878 eine fehr eigenthümliche retrofpectibe Beleuchtung unb relatibe Bebeu-
tuitg erhalten hat, bcranlagt mich p einigen Slngaben über bereu Inhalt.
Sie jerfäflt in jwei Dh e 'U- ®et erftc hanbelt bon ben Schulje-Delifcfch’fchen
©enoffenfehaften, bie beut Berfaffer ein Dorn im Sluge finb. Gr fucht p beWeifen,
bag alle biefe Borfchug-, ©oujum-, Soljftoff» unb üSagaptbereiite unb fßrobuctib-
affociatiouen feinen Schug fftulber Werth finb.
Der pieite Dheit hanbelt bon ben Koalitionen. Gr fucht barptbuu, bag in
beit Slrbeiteraffociationen, unb namentlich in ber bem Unternehmer feinbfeligen
Sichtung berfeiben, bie Wahre ©runblage für eiuen neuen Staate unb ©efed-
fdjaftsbau ju fiitbeu, unb bag bie Segierung berufen fei, biefen ©oalitionen bie
Haub p reichen, um beit SnbuftrialiSmuS, b. h- Haubel unb ©eWerbe ber ißri-
baten, bajWifchenpneljmen, ihm ben ©araus ju machen unb auf feinem ©rabe
ben communiftifchen ^nbuftrieftaat p ctabliren unb p ftabilifiren, wie einen
rocher de bronzc.
SlUeS baS ift in fehr borfichtigeu unb gewählten Störten bon hppceconferba-
tibfter ffärbung borgetragen, fobag, wenn mau berfudjt, fie p überfefcen iu bie
Sprache best gewöhnlichen SebcnS, in welcher wir anbern Sterblichen gewöhnt
finb p rebeti, man fich ebenfo fehr bem Borwurfe bcS StiSberftänbniffeS aus-
fefct, wie wenn man es unternimmt, Drafelfprüdje p beuten.
SRan fautt mol behaupten, bag fich h«et bie ©ftreme nicht nur berühren, fou-
bertt miteinanber oöüig berjdjmeljen. Sleugerfte Seihte unb äugerfte ßinfe mit-
einanber ibentificirt auf bem fjödjften ©ipfel ber eftrauaganteften Sucht, bieSBclt
ooit oben herunter par ordre du Moufti p berbeffetit, unb jebermann, auch gegen
feinen Stillen, flug, brab, glüdlidj unb mohlhabenb p machen, ohne bag er nöthig
hätte p beitfen, p lernen, p arbeiten unb p fparen. Sur ftiUc halten mug er
unb auf baS Secht ber ißerfönlichfeit für immer belichten.
Die fßarote Stahl’S: „Slutorität, nicht Majorität", hat fich bei Dühring ber-
waubeit in: „Staat, uicht©igenthum", unb: „Unfreiheitpm3mecfe berSBohlfahrt."
Gs ift fehr iutereffant, Düljring’S Borfchläge im einzelnen p berfolgcn. Sie
fiub fchlau auSgefoitnen, aber praftifch nicht rcalifirbar, ohne juerft ben Bautrott
aller fßribatuittemehmer unb bann auch beit bes Staates Ijerbeipfüljten.
SKait ift berfudjt, bem B r 'batbocenten P fagen, was im „SBatlenftein" bem
'.fiater gefagt wirb:
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Unfere 5«**-
2Bof)t auSgefonnen, Später üamormatit!
SBär' ber ©ebniif’ nidjt fo Beriuüufdjt gcjdjcit,
SDfan war’ üerfudjt, ifju fjcrjtrdj bumnt ju nennen.
®eö£)atb batf man aber $üljring nid)t unterflögen. 2>enn tuir fiuben bet
ihm baS gefammte Stüftjeiig, beffen ft cf) je^n gaffte fpäter unfere E^rifttic^foctalen,
Socialariftofrateu unb Socialconferbatioen bemächtigt haben. (Sä ift in ber Xtjat
atlcö fdjon bagewefen; unb ®ühriug, bent ntan bie Dualität eines SgftematiferS
nicht abftreiteu fauit, ^at baS ©anze, beffen ©injet^eiten aSerbingS jehon tneit
ältern $atümS fmb, in biefe Petbiubung gebraut unb auf bie ntoberue priüat=
iubuftrie antoenbbar erflärt.
SBir ftnben bei iljm fdjon jene gbioftjnfrafie gegen bie fetbftänbig toirthfehaft'
lieh tätigen mittlem Sd)ithten ber bürgerlichen ©efettfcf)aft, loeldje iu brangbotl
fürchtecliche ©nge bajtoifdiengepadt unb um ihre jefcige «Stellung gebracht werben
fotten burdj ein gegen fte gerichtetes Scf)uh= unb Irufjbünbuifj ztuifcf)cn Ariftofratie
unb Proletariat, tuelcheS teuere ju biefem 3>»e<fe in ätüang^corboratiouen eiu=
geteilt tcerben foU, bie weniger an ©ewerfoereine ober attbere freie wirthfehnft-
liehe Arbeitercoalitionen unb Affociationen, als an 3ünfte unb ähnliche proljibitibe
Perbänbe erinnern.
Aud) jene Porliebe für uneinlöSbareS Papicrgelb mit ober ol)ue 3»uangScurS,
weldje heutzutage bei ben Pfeuboconferbatiöeu uub Agrariern borherrfcht, unb
fogar in bem Probucte „ber gebet einest SWanneS, welker borjugäweife berufen
ift, alle ©rfcheinungen auf bem ©etbmarfte unb bie Pebürfniffe beä Pcr!el)rS fort=
bauernb gu beobachten"*), leife unb borfidjtig anttingt, finben toir fchott bei ®ül)ring.
®ie Procebur, welche er borfdjlägt, h«t fünf Stationen, welche man auch in
Anbetracht, bafj baS ©nbe ein fchrecflidjeS fein Würbe, als bie fünf Acte einest
XrauerfpielS bezeichnen fönnte.
®ie fünf Stationen finb bem Pertaufe uub ber ®arfteltung nach folgcnbe:
ffirfte Station. ®ie ©enoffenfehaften taugen nichts!. Sie curireu feineSluegS
alle fociaten Sranftjeiten, fie folgen ber Dichtung beS gnbuftrialiSmuS uitfcrer
®age. gtt ihnen h au f en bielleicht gar gegen ben Staat gehegte unb gepflegte
parteianfichten. gort mit ben ©enoffeufchaften!
3u>eite Station. Probiren wir es einmal mit ben Arbeitercoatitioneu. Stellen
wir ihneu bie ActiengefeUfchaften, über bie ber Staat ja fchott bie Aufficht zu
führen hot, uub bie $anbelSlammern, welche ja auch fchott unter feinem ©riff
finb, gegenüber. Pewuttberungswürbige, ftänbifdjc ©liebetuug! &ie Unternehmer,
hie Arbeiter! Jpie SBelf, hi« SBaibliitgen! Natürlich gibt’S Streit zwifchen ben
ftörperfchafteu ber Arbeitgeber auf bet einen unb ben Slörperfchaften ber Arbeit
nehmet auf ber anberu Seite. ®efto beffer!
®ritte Station. Dividc et impera! Xljeilc unb h err f t h e ! ®ie ftreitenben
®h*»le bebürfen eines SRidjtevS. SSJer ift ein beffercr, ein unparteilicherer Stichler
als bie Regierung, namentlich bann, wenn fie felbft einer ganz ejelufiben, fleinen
aber mächtigen Partei augehört? ©in ©efefcbud) ift nicht nöthig. ®er Segriff
*) ®fll. „'Jiorbbcutjdjc Aflgcmcine Leitung" Dom 5. April 1882.
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Die Parteien im Deutfdjcn Hcidjstage.
857
beS tm Stoffe eines berliner ipribatbocenten entbrijouifch fchlummernben „Staats*
ArbeiterreehtS" ober „ArbeitersStaatSredjtS" genügt. ®ie ©efefcgebung regelt jo
iefet fefjou bie Arbeitszeit für jugenbliche Arbeiter. SBarum follte benn bie {Re¬
gierung uie^t bie Arbeiterberljältniffe fchleehtweg auch ohne ©efefce überhaupt
regeln? SBarum follte fie nic^t jebe wirtljfchaftliche Xljätigfeit für Staatsfache
erflären? Sie beauffichtigt ja au<h jefct fefjon bie ActiengefeQfchaften. SBarum
follte fie benn nicht ihnen, fotoie auch aQen anbern gabrifen bie Sohnfäfce bor*
fdjreiben? $aS geht bortrefflief), wenn nur „ber Staat bafür forgt, baß bic
Unternehmer 3Jtittel erhalten, ihre Serbinblicfifeiten ju erfüllen“. Unb nichts ift
leichter als baS. ®aju hat ber Staat nur nöthig, fich ber Saufen ju bernäcf) 3
tigeu. „^m 3ufammenhange mit ben angebeuteten aufjerorbeutlicljen äRafjregeln,
tueldhe felbftoerftänblid) nur bei ©elegenljeit einer fehr fritifchen ©eftaltung ber
©erljältniffe jn ergreifen, bann aber bauernb feftjuhalteu fein würben, bilbet ja
bie Soljufrage eine berhältnijjmäjjig leicht ju regulirenbe Angelegenheit."
Sierte Station. 5)ie wirthfdjaftliche ©efeUfdjaft alfo fann fich tbeber auf bem
SBegc ber ©enoffenfthaften, noch ou f irgenbeinem anbern felbft helfen, ©leibt
feine tpülfe als beim Staate; unb ber Staat — baS ift bie {Regierung. Xie
{Regierung alfo hat auSfchliefjlid) bie Sohn- unb ArbeitSberhältniffe ju regulirett.
kommen babei bie Unternehmer in baS ©ebräuge, fo muh fie ihnen natürlich
auch beifpringen. Sie fjat’S jn gemacht unb ift alfo auch berantwortlich. 2Rau
fann hoch bem {Privatunternehmer nicht jumutfjeu, bah er befahlt, was bie {Regie¬
rung fchulbig bleibt. ®ie {Regierung muh fi<h alfo „{Wittel zur ©rfüdung ber
Serbinbtidhfeiten beS Unternehmers" befdjaffen. Stenern ju biefem Bwecfe ju
erheben, wäre aber hoch h öt hf* unpopulär, würbe auch a “f bie Xaucr nicht bor»
halten; benn biefe Ausgaben Würben foloffal Waffen. SBoher aber baS ©elb
nehmen unb nicht ftcl)len? ©i nun, um ©anfnoteu ju machen, ift ja nichts nöthig
als ©apier unb eine {ßreffe. '-Bemächtigen Wir uuS alfo beS SanfwefenS unb
machen wir Sanfnoten. ©olb ober Silber, um fie einjulöfen, ift nicht nöthig.
ffiill fie baS {ßublifum nicht nehmen, bann geben wir ihnen BwangScurö. ®aS
ift ja alles fchou bagetoefen. §at nicht ber SBohtfahrtSauSfchufj auch Affignaten
fabricirt unb 3Riniinalfähe für ben Sohn unb ÜRaiimalfäfcc für bie SebenSmittel
feftgefefct? freilich ging es bamals fchief. Allein wer fann nach einem einzigen
mislungeiteu ©erfuch urtheilen? $er SBohlfahrtSauSfchujj h at i n bie Sache nicht
confegueitt fortgefefct. 2Bir aber, toir Wollen „bie äRafjregelu, welche bei ©elegenheit
eiuer fehr fritifchen ©eftaltung berSerhältniffe zu ergreifen Wären, bauernb fefthalten".
günfte Station. SieHeidjt fönnte jentanb glauben, wenn Wir uns auf bie
gijirung ber Söhne burch bie {Regierung unb auf bie gabrilation non Sanfuoten
ober Affignaten burdh biefclbe befcfjränften, fo bliebe bon ber je^igen wirthfcf>aft=
liehen Drbnuug ber Xinge noch aüju biel beftehen unb bie neue fociale Staats*
unb ©efeUfchaftSumgeftattuug gelange nicht jur ©enüge jum Xurchbrudj. S3ir
fönueu biefe {Befürchtungen eines {Patrioten wiberlegen. fWau fteUe fich bie Sache
nur einmal bilblich bor. ®aS ©elb ift bie ©eueralmaate. Alle Staaten erzeugt
bie Arbeit. 5)aS ©elb unb bic Arbeit finb alfo bie beiben Bipfri beS ©etttucheS,
worauf bie ganze wirthf^aftlidje ©efetlfchaft ruht.- tpaben wir nun erft eiuntal
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Untere ^ett.
biefe beibeit gipfel in ber $attb, „bann Wodett mit bie bürgerliche ©efedfdjaft
wippen, baß tljt jebet Stiochen im Sleibe tratet unb fich bei iljr bas Dberfte p
unterft feljrt — ganj anberS als währettb bet Sdjrccfensherrfchaft in ffraufreieh“.
Dann werben bie Ißribaten bon felbft fointnen unb p bent Staat fagcit:
„Du haft unfer ©eßhäft ruinirt. SEBir fönneu nicht metjr. SSJir Wollen nicht
mehr. Uebemintm bu alles!“
So wirb benn alles Staatsmonopol unb bie fociale Stage iß glücflich gelöft.
Qaod erat demonstrandum!
Sch fann ber Serfucfjung nicht wiberfteheit, aus beit S$orfcf)tägeu, welche
Dr. ÜDüljring macht, unt an bie Stelle ber freien Snitiatiue ber Snbioibucn unb
ber aus eigenem Stntrieb probuctio arbeitenben bürgerlichen unb wirtschaftlichen
©efedfdjaft ben monopoliftifch-communiftifchen 3>oangSftaat p fefeett, auch noch ein
Kuriofutn mitptheilen. Kr anticipirt nämlich baS ^nftitut ber IReptile unb macht
folgenbett SJorfdjlag: bie Literatur unb namentlich bie IfJubliciftif unb bie treffe
ftaatsfocialiftifch p organifiren, ein SBorfchlag, ber fo baroef unb eigenthümlich
ift, baß man ihu uur ipsissimis verbis autoris mittheileu tauu.
„Uut bie Tragweite ber eigentlich focialen ©enoffenfehaftett aupbeutett", fagt
Dr. ®ühring, „fei neben bett übrigen 3weigett ber inbuftriedeit Sohnarbeit noch
fpecieH auf bie literarifdje Sohnarbeit hingewiefen. ©cnoffenfchaftliche tßereini»
gungett im ^Bereich ber lefcteru würben bielleicht int Stanbe feitt, bie bcbenlliche
Ktniebriguttg biefer Sphäre allmählich gegen eilte fociale ißofitiou uertaufdjbar p
machen, welche nicht nothwenbig mit ber Steigung pr Korruption behaftet ift.
'-Namentlich würbe fich in biefer Stidjtung iubirect auf bie ißreffe einwirfen unb
ber mit ber Siteratenfflaberei berbunbenen Korruption einigermaßen ftcuern taffen.
$cr bödige Stängel eines StüdljaltS unb bie unbebingte Unterwerfung unter bie
©ebote ber Sapitalintereffeit machen bie 4?anbWerfSliteraten i« einer Stoffe, bie
für beftimmte potitifdje unb gefedfchaftlidje ißarteijWccfe weit leichter berfügbar ift
als bie gewöhnlichen Sfrbeitermaffen. 2)a ber ©egenfafc bon Arbeit unb Sapital
Wot nirgettbS entfdjiebeiter ausgeprägt werben bürfte als gerabe in bent ©ebiete
ber literarifchen Xh&tigfeit, fo möchte bie Spannung beS hier borhanbenen natür»
liehen SBiberftanbeS ber einzige 2Beg fein, bie in biefer Sphäre am meiften er»
forbertidje öffentliche Kontrolc einpleiten unb ben Ißunft p gewinnen, in welchem
bie #ebet pr ®iSciplinirung ber literarifchen Stgitatiouen augefertigt werben
fönnten. $ie Kinfüljtung bon Prüfungen, fowie überhaupt bie 3eftfefcung bott
ißorbebingungen bet SluSübung gemeingefährlicher 3'oeige beS literarifchen ©ewerbes
würbe auch erft itt gehörigem Umfange möglich fein, fobatb bie literarifchen Sir»
beiter bon ben Unternehmern gefonbert unb in focialen ©enoffenßhaften pr SBaßr»
nehmung ihrer fpeciftfdjen 3«tereffeu bereinigt wären. Sorgt ber Staat, weitu
auch uut iubirect, für bie gntereffen ber literarifchen tpanbwerfer unb befchüfet er
biefelben gegen einen Xrucf, mit welchem moralifcfje Verantwortlichkeit ber betroffe»
nett ißerfonen unerträglich ift, fo fann er auch au f e * ne beffere Haltung ber ißteffe
unb Siteratur rechnen.“
Sllfo auch bie Schriftftederei foU ftaatsfocialiftifch organifirt werben, uub ber
Schriftfteder Xühring nimmt feinen Slnftaitb, bei biefer Gelegenheit bem Sehriftfte Her
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Die Parteien im Deutfdjen Heicfystage.
859
bie beutbar itiebrigfte Stolle gugutheilen. ©r betrachtet bcu Verleger als ben
Unternehmer uub Arbeitgeber, ben ©chriftfteller bagegen als ben Arbeitnehmer
ober gabrifarbeiter. Auf ©runb biefer eigentümlichen ©Jeltanfchauung will er
bie „literarifchen Sohnarbeiter" gu einer $unft geftalten, welche mit ©orporalioitS'
rechten, 3toang$prüfungen unb ©erbietungSrechtcn auSgeftattet uub üont Staat,
b. h. twn bw ^Regierung, unterftüfct unb geleitet wirb. Statürlich foll auch biefe
3unft, ober, um Dühring’S AuSbrucf anguweitbeu, biefe „fociale Koalition" bem
feinbfeligen ®egenfafc gwifchen Arbeit uub Kapital bienen unb fo bem Staat,
b. i. ber ^Regierung, bie $anbhabe bieten, ben ©erlagSbuchhaublern gu Seibe gu
gehen uub biefelbeu ihrer ®ewalt gu unterwerfen.
Diefer ©ebantc ift übrigens nicht neu. Der DriSmegiftuS ber europäifcheu
Steaction, gürft SRetternich, h at ebenfalls mit bentfelben gefpielt. ©S war am
20. 3Rärg 1820, Wo er ben Wiener ÜRinifterialconferenjeu eine Denffdjrift
„Ueber bie ftaatliche Drganifatioit beS beutfcheit ©uchhaitbelS" borlegte. ^Natürlich
ift aus biefem ftaatsfocialiftifcheu Duacffalber* uub Dafchenfpielerprojectc nichts
geworben. ©S lohnt aber ber 3Rühe, babon ftenntuiß gu uehmeit uub es mit
bem Dühriug'fchen ©orfchlage gu begleichen. Der ©runbgebanfe ift berfelbe.
s Jiur ift bei äRetternich mehr bie poligeitidhe unb bei Dühring mehr bie focia*
liftifche Seite eutwicfelt*) Les beaux esprits sc rencontrent
Sou Wahrhaft culturhiftorifcher ©ebeutung bagegen ift bie Sianbgloffe, mit
Welcher SutiuS ganzer ben oben wörtlich angeführten s ßaffu$ ber Dühring’fcheu
*) 2Bir berbanlen bie allgemeine Äenntniß beS 9Retterni<h'fchett ©rojectS £errn Dr. $eiit*
rieh ©buarb ©rocfhauS, welcher baffelbe in bem „Ardfjib für ©cfchichte beS beutfc^eit
©uchhanbelS" (Scip^ig 1878, I*, 91—119) feinem gangen SBortlaute nach publicirt unb
mit ben nötigen ©rläuteruugen berfehen hat. Auch in ber ©iographic feines ©roß*
baterS: „griebrich Arnolb ©rocfhauS" (Seipgig 1881, III, 88 fg.), fommt ber ©erfaffer
auf biefen ©egenftanb ausführlich gurücf. Stach ber Uebergeugung bon griebrich Arnolb
©rocfhauS (beS ©roßbaterS unb ©rünberS ber ©mhhänblerfirma) ift Abam 9ÄüHcr,
unter ©eiftanb bon griebrich ©enfc, ber „©ater beS ©ebanfenS" unb ber ©erfaffer ber
ben 9Riniftern ber beutfehen ©ingelftaaten borgelegten Denffdjrift. 3n ber Dhat ift bie
Annahme bon griebrich Arnolb ©rocfhauS fehr wahrfd)einlich; benn SRetternich hatte feine
eigenen ©ebanfen, fonbern lieg fich folche bon feinen „Schriftgelehrten'' griebrich ©en&
unb Ab'am 9RfiHer fuppebitiren. SRüüer, eigentlich Abam Heinrich SRüIler, als Schrift
ftetter aber immer fchiechtweg Abam SRüüer genannt, War ein ©erliner bon ©eburt (geb.
30. guni 1779) unb würbe bon ©enjj, ber ebenfalls ©reuße bon ©eburt war (geb. in
©reSlau am 2. 2Rai 1764), nach SBien gegogen, wo er, gleich griebrich Schlegel unb ©oit*
forten, gum $atholiciSmuS übertrat unb bon ßaifer grang unter bem ©hantafienameu
eines „ÄitterS bon StitterSborf" in ben „erblänbifdjen SRitterftanb" erhoben würbe. Um
1820 lebte Abam SRüller in Seipgig als „f. f. wirflicher AegierungSratf), ©efchäftSträger
an mehrern $öfen unb f. f. ©eneralconful" (fo pflegte ber eitle ©ecf auch ©ribatbriefe an
befreunbete ©erfonen gu untergebnen; bgl. „griebrich Arnolb ©rocfhauS", III, 368). ©r
hat auch ein berrücfteS ©uch unter bem Xitel „Steuc Xheorie beS ©elbeS" (Seipgig 1816)
gcfchrieben, baS aber bamals bon allen reactionär*romantifchen ©hantaften bewunbert würbe.
.§eutc hat Defterreich in Seipgig nid)t mehr einen folgen „Aitter bon AitterSborf" gum
©eneralconful, fonbern Dr. Starl bon Sdfjerger, einen 9Rann bon gebiegenfter wiffenfdjaft*
lieber ©ilbung, wie er folche noch burch feine neuefte Schrift: „SBirthfchaftliche Xhatfachen
gum Aachbenfen" (Seipgig 1881) bewahrt hat. Anm. bei ©erfafferS.
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860
ttnfere <Jeit.
$enffd)rift Begleitet. Sr fdjliefjt itämlid) feine bereits ermähnte Stritif in bev
„5BoIfSWirtljfd|aftlid)en J8terteIjal)rSfd|rift" (XVII, 227) mit beit folgtnben, Dr. $ül)=
ring apoftropfjirettben SBorteu:
„ ... De Te fabnlam ipse narravisti. 3)u l)aft t)ier bein eigenes Sd)idfat
Befungen.
„ ... @o fdjtimm ftef)t es aBet um bie literarifdje üo^uarbeit niefit, wenn fie
nur, fid) Befd^eibettb, eben Strbeit ju fein uub nid)t StaatSftmft fpielett ju woflett,
if»r Scf)iff(ein ruf|ig bent Strome beS Wirtf)fd|nftlicf|en gortfd^ritts, beit bie greifjeit
Bringt, unb ber beit Soljn auf Soften beS Uittetnef)niergeWinnS Beftänbig erfyöljt,
anbertrauen min. 3)enffd)riften für Staatsmänner finb Sofe in einer Sotterie mit
bieten Mieten; Sluffäfoe für SBißbegterige, luenn fie battad) finb, loljnt nidß Bloss
ber Söerteger, fonbern julefct aud) bie banfbare ©efeßfdjaft!"
3tt ber Xf|at würbe ber gute $ül)riug beffer gefahren fein, wenn er fein Sud)
gegen Honorar in beit Verlag eines „ft'apitaliften" gegeben f)ätte, ftatt biefeit
Sdjajj bent Sren^eitungS - Staatsmann anjitbertrauett, in feinem fauguinifdj-
d)oIerifd)en $erjen allerlei „Stütenträume" fjegenb, welche niemals il)re 33erwirf=
lid)uug finben foüten.
2)a übrigens Sauger unmittelbar ttat^ beut Gtfdfeitten ber erfteu (anonymen)
SluSgabe fdjrieb unb beit ganzen Status causac ct controvcrsiac, welken id) im
Gittgang mitget^eilt l)abe, itod) gar itidjt famite, fo faitit mau feinem bioinato=
riffelt Sdjarffinn geregte Setouttberuug nid)t oerfageit.
@rwäf)nen muft id) ttocfi, wenn aud) nur ber öoßftänbigfeit falber, baß
Dr. 3)fif|riitg eine Strcitfd^rift übet bie Sdjitffate feines ftaatsfocialiftifdjen Sucres
unb über feine ®iffereitjen mit SBagener gefdjriebett I)at, welche jeber tefen muß,
ber über bie ©eitefis unferS gegenwärtigen focialiftifdjen PfeubocouferbatiSmus
ooßftäubig orientirt fein Witt.
3nt übrigen glaube id) feiner Gntfdjutbiguug ju bebürfeit, wenn id) fo lange
bei 3)üßring uerweile. Gr ift jWar nid)t fctbft Parlamentarier. Slber er ift ber,
wefdjet bie Parlamentarier iufpirirt tjat non bent SBirHidjen ©ei). DberregierungS*
ratf) uub SreujjeituugSinanit ^ermann SBagener bis ju bent tpof= unb £)om»
prebiger Stbotf Gtjriftiau Städter, bent Süfjrer bes Stutifortfcfiritts unb ber Gf)riftfi$‘
Socialen unb bem antifemitifdjeii Agitator. SBenti einer biefer Herren als’ Stuma
PompitiuS beS StaatSfocialiSmuS bejeidf)net werben fönnte — was wir aus ber=
fdjicbeueu ©tünbeu bafjiugcftcßt feitt laffeit looflcit — fo Würbe es bettt Dr. ®ülj=
ring nid)t als Unbefdjcibeufjeit ausgelegt werben föuuett, wenn er für fid) beit
Xitel einer 3tpmpl)e Ggeria beS befagten Sturna in SInfprud) nehmen wollte.
3ebenfaflS geniest $>üt)ring bor allen anbent, aud) bie ftaatsfociafiftifdjen Uttibcr-
fitätslef)rer ber SIo(fSroirtl)fcf)aft uidjt ausgenommen, itoei uubeftreitbare Sor^üge,
Hämlid) erftcitS beit, baß er es bou aßen am beftcu berftetjt, feinen SociatiSmuS
wiffcufdjaftlidf) ju brapircu, unb zweitens beit, baß er iit feiner eigenen einzelnen
Perfon jugteid) afle bcrfdjicbciteu focialiftifd^eu Stiftungen, bon 2Bitt)eIm SMe6>
fned)t unb Sluguft Söebel bis ju $ermautt SBagener unb Slbolf Gtjriftian Stöder,
bereinigt. 2)ieS festere bebarf nod) eiuer uäljeru Staflueifutig.
Dütjriug faitu aßes, uid)t nur mit beut StreujjeituugS'SBagener couferbatib
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Die Parteien im Deutfcfyen Seidjstage.
86t
fein, fonbera aud) mit bem ©ocialiftenfiifirer ©ebel ©pmpathien ^egen für bie
parifer Kommune oon 1871; fetbft ber SlntifemitiSmuS, welcher feit einigen Sah*
ren einen toefenttidjen ©eftanbtljeil beS fociatiftifdjen ißfeuboconferOatiSmuS bitbet,
finbet in if)m feinen energifchften SBertreter. Unb baS afleS betreibt er mit einem
fo emftfjaften unb ingrimmigen Sifer, baß er alle feine tßadjbeter unb Koncur«
renten überflügelt unb weit tjinter fid; 3 urüdläßt. Stud» hat er für feine ©eftre*
bungen niemals eine ftaattic^e ©etoßnung ober irgenbeinen ©Ortzeit bejogen, unb
auch baS gereicht if)m, im ©ergleid) mit fo manchem anbern — nomina snnt.
odiosa — p einem retatiöen ©orpg. Subtil aber ift es ptoeiten auch im
öffentlichen Sntereffe 311 wünfd)en, bafs bie Dinge fo, wie es Dülfring thut, auf
bie ©pifce getrieben werben. Dann }ief)t man nämlich am beften, baß nichts
batjinter ftedt; unb man gewinnt bie ©erutjigung, es gelte auch Ijeutptage nodj bie
alte SBatir^eit: „KS ift bnfür geforgt, baß bie Säume nicht in ben Stimmet warfen."
Der ipof* unb Domprebiger Slbolf K£>riftian ©töcfer hat, wie Kugen Stifter,
fein partamentarifcher Kollege, oerfichert, feine ©ebanfen. Dr. Düfiring, im ©egen»
fafce 31 t Störtet, hat ©ebanfen, unb hält mit großer Bähigfeit feft an benfetben.
KS fragt fid) nur, ob biefe ©ebanfen etwa! taugen.
3<h will hier nicht unterfuchen, ob Kugen SRicßter mit feinem „garten SBorte"
abfotut recht f>at. 916er baS fönnen auch bie ffreunbe beS Vtbgeorbneten ©töcfer
nicht beftreiten, baß berfetbe in ber Subenfrage eigentlich nichts SteueS norgebracht
hat — nichts, was nicht 3 . 8 . im oorigen 3nh r h un bert non Kifenmenger (in fei*
nem „Kntbertten 3«benthum") unb oon bem DreSbenet ©ottfrieb ©etig (in feinem
oietbänbigen ©ammeiwerf „Der Sube", ©restau 1777), in biefem ^ahrhunbert
oon St. Stöffling in feinem „Datmub*3uben" (ÜJtünfter 1877) unb oon bem wiener
Docenten Vlbotf SBahrmunb in feinem gelehrten ©uche „©abhtonierthum, Silben*
thum unb Khriftenthum" (Seip 3 ig 1882) fdjon oiete hunbert mal (unb 3 War oiet
beffer unb griinbticher) gefagt, unb nicht fchon hwnbert mal wibertegt worben Wäre,
ferner, baß ©töcfer feit 1878 nichts ßieues gefagt, fonberu fich ewig fetbft repetirt
hot. SEBeiter, boß feine Slnträge auf weiter nichts h*« fl uStiefen, als baß bie
itibifchen Sefjrer ans ben Kommunatfchuten oertrieben werben foQen, unb boß bie
Bäht ber jübifdjen StechtSonwätte unb ©idjter 3 U befdjränfen fei, wobei oießeidjt
auch & et ni<ht a ^J u «hcifttiche ©rotneib bei ben ©eifottfpenbem fein ßiößchen
gefpielt hat. SBeiter, baß ©töcfer fogar einmal feine Unterfchrift oerteugnet
hot unter ber, in 3 Wifchen ebenfalls ftongloS 3 um OrcnS hinabgegangenen, feiner*
3 eit aber fo oiet befdfrienen ontifemitifchen SRonftrepetition an ben ©eichsfanster,
beffen Antwort heute, nach Sohr «nb Dag, bie ©etenten immer noch üergeblid)
erwarten. Knbtich baß ©töcfer fine finali erflärt hat, er habe eigentlich boch nur
ben berliner 3 «ben ein wenig bange machen woßen, bomit fie in Bnfunft in ber
©efeßfehaft etwas befcheibener aufträten, unb feine Agitation fei nichts gewefen
unb habe auch bon Anfang an nichts fein foßen als ein ©icherheitSOentit, burch
welches ber Dampf ber überhiftten ©olfsftimmung entweiche 3 U bem Bwerf, baß feine
Kfptofion erfolge; fie fei alfo im ©runbe nur 3 U ©unften ber 3 «ben unternommen.
„Credat Judaeus Apella!" fogte in einem ähnlichen Säße DuintuS IporatiuS
StaccuS. Viflein ^orotiuS War, obgleich „fonft gerabe fein bummer ffert", boch
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Unfete <§*'*•
nur ein „blinber $eibe", unb b<*t ba^et über bie ©laubmürbigleit eine? t^rift=
liefen £of= unb ©lomprebigerS unb Agitator? feinertei Urteil.
Snbeffen mag man baüoit galten, roaS man rnid, fo muff man boeb gefteljen,
©lübring ift anberS als Stöcfer. (ft ift l’homme principe, et ift ein ©baraltev
gleich Sltta Xrod. 333er bei ihm einmal oerbammt ift, ber bleibt eS in alle ©roigfeit.
Unb toen bat er nidjt öerbammt?
SRacb if|m finb ©artefiuS, ÜlrdjimebeS, ÄriftoteleS unb Seibnij nichts als Irottel.
.fpclmbolfc ift ein fßlagiariuS unb 3>"triguant. Seffing ift nichts als ein Slenber,
ein bezahlte? SBerfyeug ber 3uben; ein 2Rann ohne ®eift, ber nichts b<*t als eine
gefdjicfte SRacbe.
SBenn nun ©lübring feine Sefdjulbigungen gegen unfere jübifeben ÜRitbürger
erbebt, fo lönnen ficb biefelben bamit tröffen, bafj fie ficb babei menigftenS in einer
febr auSermäblten ©efedfebaft befinben. Sliid) belieben fie ficb, bie Sefcbulbigungen
nämlich, auf längftoergangene Seiten; j. S. auf bie ftlucbt auS Slegtjpten, bei
melcber bie $uben, nach ©lüljring, baS bei ihnen öerfejjte fitbeme Safelferbice
IßbaraoniS mitgenommen haben Joden; ober auf bie ©efebiebte non ber frönen
©ftber, melcbc fi<b beS £erjenS beS SönigS 9tSberuS bemächtigte, um ficb unb bie
Sbtigen ju fdjüfjen gegen bie SSutb beS böfen ^aman. ©labei brebte eS ficb fcei=
lieb bantals einfach um bie Srage: „SBer fod gebeult merben — ich ober bu?" unb
ich meifj nicht, maS in einem folcben ftade felbft fo ein erhabener ©barafter mie
Dr. ®übring getban haben mürbe, b. b. ob er nicht ebenfo gebanbelt hätte mie ffiftber.
SebenfadS aber finb baS adeS „ode ©ameden"; unb ohne aden Smeifel finb
meber SRotbfcbilb noch Sleicbröber babei tbätig gemefen.
Slber nun höre man bie Vorfcbläge beS Dr. 2)übring: baS finb boeb SRafj»
regeln, melcbe bie „meifje Salbe" Stöcler’S meit übertreffen.
Sunächft befürmortet er eine „heilige Sdianj" miber bie Suben, ähnlich ber,
melcbe 1815 geftiftet mürbe unb gegen ffranfreicb unb bie SRebolntion bienen fodte.
Seiber bat lefctere feine oder ber jablreidjeit Sieoolutionen ju binbem oermoebt;
benn fie mar niemals ba, mo man fie hätte brauchen lönnen. Viedeicbt lag baS
aber nur baran, bafj bloS SRufjlanb, fßreufjen unb Defteraid) actioe dRitglieber
biefer Verbinbuitg maren. Dr. Dübring aber mid baS jefct ganj anberS anfaffen.
9ta<b ihm foden ade gefrönten Raubtet unb ade ^Regierungen oder cioilifirten
Sänber biefer Sldianj beitreten, um nicht nur ber machfenben ^Bereicherung, fon=
bem auch ber machfenben VollSjabl ber Suben eutgegentreten. Seiber mirb, ab»
gefeben öon ben Schmierigleiten biefer beiben Aufgaben, namentlich ber lefctern,
manche Regierung, melcbe genötigt ift, Staatsanleihen ju negociiren ober fonftige
«Finanzoperationen oorjunebmen, unb melcbe nicht bie beroifebe ©baralterftärfe beS
Dr. ©lühring befifct, fürchten, burch ben Seitritt ju jener heiligen ftdianj ficb bei
ber hoben «Finanz mistiebig ju machen. „Unb bie fßeft über ade feigen äJlemmen!“
fagt Sir Sohn. Mujjerbem merben bie ^Regierungen auch oiedeicf)t ©lühring
nicht als ihren Vertrauensmann anfeben, menn fie erfahren, mie er in einem
feiner gelehrten Sücber bem blnttriefenben Scbeufal 3ean fßaul ÜRarat ob feiner
„unoergleicblicben ©röfje" feine aufriebtigften $ulbigungen barbringt, unb mie er
0 ®''bring), obgleich er ' m übrigen bie gelben ber parifer Kommune non 1871
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Die Parteien im Deutfdjen Xeidjstage. 863
betounbert, ihnen bod^ garte Borwürfe macf)t, weit fie nic^t bem Beifpiete bes
bewunbemSwerthen 3*an ißaut ÜRarat gefolgt, weit fie fich burch unbegrünbete
Scrupel unb eine übet angebrachte romantifche Sentimentalität baöon abhatten lie«
gen, bie ©uittotine wieber in Slctioität gu fegen unb BolfSjuftig gu üben wie Stnno 93.
,,©o fetjr §err Stthring auch ^ß^itofopf» ift", fagt ein frangöfifchet Kritifer,
„fo ift er bod) befeett t>on bem &affe eines fanatifdjen ißriefterS, unb er gleicht
jenen Butlboggen ober Bojern, welche fich in ihr Opfer berart oerbeigen, bag fie
eS gar nicht wieber loSlaffen fönnen, ohne ihre 3äfj«e gu opfern."
Sühring ttagt babei bie 3uben oor altem ber 3ntoterang an unb rechtfertigt
bie $einbfetig!eiten, welche er gegen fie oorfchtägt, burch bie Behauptung: „Sie
intoleranten haben leinen Stnfpruch auf Soterang": ein ©pru<h, ber ftch in
feinem SDlnnbe fonberbar anSnimmt; benn er ift ein ©d)Wert, baS feine ©pijje
gegen ihn fetbft richten fönnte.
©r Witt bie Subett burch Sotolerang gwingen, tolerant gu werben, unb ber«
gigt, bag nach feiner eigenen Sarftettung bieS URittet, obgleich man es feit bei«
nahe 2000 Sagren anwenbet, bisher ben entgegengefegten Srfolg gehabt hat, >uäh
renb in ©ngtanb unb ffranfreich, wo man ben Suben nicht mehr unb nicht Weniger
Siechte einräumt ats alten anbem ÜRenfdjen, bie Sieben fetjr gute ©ngtänber unb
fehr gute grangofen finb, ohne beShatb aufguhören, Suben gu fein. Unb fo ift
eS in ber Shat richtig. Ser wirtliche (Julturftaat ift gunädjft baran tennttich,
bag er auch bie SRinoritäten befchügt, unb bag er Staunt, Schuh, Trieben unb
Freiheit hat für alte möglichen ©orten oon SRenfcgen. Schon ber grögte itnga«
rifche König hat bie SRothwenbigteit ber SRannichfattigteit betont mit ben foftbaren
SBorten: „Regnum unius linguae consistere uequit" Seiber hat ein Sljeil ber
heutigen SRagpareu biefeS weisheitstotte SBort ihres Königs oergeffen; unb bas
gereicht ber Station Weber gur ©h re noch gum ÜRugen.
Dr. Sühring erinnert burch fein Beftreben, bie Solerang mittels ber Sntoterang
gu ergwingen, in fcherghafter SBeife an König Sriebricfj SBithetm I. oon ißreugen
unb in fegr emfthafter an bie heitige Snquifitioit in Spanien unb an anbem Orten.
Sriebrich SBithetm I. war ein bortrefflidjer König, ben ich nicht mit bem
Dr. Sügring unb bem £>of= unb Somprebiger ©töder auf gleiche Sinie fegen
möchte. Mein er hatte ein etwas heftiges Semperament, unb baS pflegte ihm
guWeiten Streiche gu fpieten. Ser König tjagte alle SRügiggänger unb Bummler
unb pflegte, wenn er burch bie ©tragen Berlins wanbette unb, wie baS feine
Slrt war, alles mit aufmertfamem Btid obferoirte, Seute, bie nichts thaten, barob
gur Siebe gu ftetten. SaS war allgemein befannt. ©ineS SageS fap ein Smpp
Bummler, ber an einer ©tragenede ftanb unb fegwagte, plögticg ben geftrengen
König unb $errn, ben mächtigen Bambus in ber $anb, auf fich toSfchreiten.
Bon einem panifchen ©chreden ergriffen, ftoben fie eitigft auSeinanber. Ser
König aber lieg fie einfangen unb oorführen uub fragte fie hHtbreidj:
„SEBarum feib ihr benn oor mir fortgetaufen, Seute?"
„SRajeftät, wir fürchteten unS", lautete bie Stntwort.
„SBaS? fürchten?" rief ber König, „lieben fottt ihr mich, ihr Kerle!" unb
lieg feinen Stoljrftod auf ihnen tangen.
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86$
Unfere 5°^*
SBaS aber bie fpanifc^e Snquiption antangt, fo fehlte biefelbe nicht bnrrf»
Temperament, Wie Jener fpartanifdje ffönig, fonbern par principe, wie ber philo*
fophifdje Dr. Tühting. (Sie wollte burcf) einen ftanbftreich bie unfterblichen
Seelen erretten, inbem fie bie fterblidjen Seiber an einem langfamen Seuer ber
brannte. Sie behauptete, aus reiner SJtenfchenliebe ju honbeln, nämlich um ihren
Opfern bie ewige ©liicffeligfeit ju berfdjaffen. Vießeidjt meinte pe es, ihrer 9tn=
ficht nach, noch fogar beffer als ber £>of= unb Tomprebiget Stöder mit ben Sieben.
Hm jebodj Wieber anf Dr. Tühring unb feinen 9lnflageact*) jiiriidjiifommen,
fo finb bie SRaffregeln, bie er gegen bie Suben borfdßägt, anffaflenb gelinbe;
wenigftenS bleiben pe weit jurücf hinter benjenigen, welche fein bielgeliebter Sean
Vaul ÜJtarat gegen bie Slriftofraten, nnb welche bie Snquiptoren wiber bie ft'effet
ergriffen hoben. 9Jtan höre.
Ter nächfte Vorfdflag, welchen Dr. Tühring macht, ift geeignet, unS lebhaft
an feine junftweife Organifation ber „Iiterarifdjen Sohnarbeit" ju erinnern, beren
ich bereite gebacht höbe. Sr will nämlich „im Sntereffe ber ißubliciffif" bie 3uben
bon ber Vreffe auSgefdjloffen hoben, ähnlich toie ber Tenbenjbär Sltta Troll,
beffen ich ' m Saufe meiner Slbhanblung fdjon einmal gebenfen muffte, ihnen „im
Sntereffe ber ft'unft" baS Tanken auf ben 9Jtärften berbieten wollte. 911S $eranS=
geber, als Eigentümer, als SHebacteur, als SWitarbeiter einer 3«itung fofl bie
^Regierung niemanb julaffen, ber nicht ben VeweiS erbringt, baff feine Vorfahren
feit brei ©enerationen bon chriftlidpgermanifchcr (Qualität Waren, unb baff fein
Tropfen femitifdjen VluteS in feinen Slbern roße. SS Wirb alfo, wer einen Bei*
tungSartifel fchreiben wiß, jubor bei bem 9teichS»ißreff=$erolbSamt eine Ülffnenprobe
ju befteffen hoben, bei welcher er feine 16 Quartiere nadjjuweifcn h°t, wie
jernanb, ber fuccebiren wiß in ein 3ami(ien=Sibeicommiff, baS ex pacto et pro-
videntia majorum baS blauefte Vlut, nämlich reinen beutfdjen ftiftSfähigen nnb
ritterbiirtigen Slbel erforbert — wie folcffer, beiläufig bemerft, heutzutage im gan*
jen Tentfdjen Stcidje faum noch aufjutreiben ift, unb Wenn man mit ber Saterne
bes TiogeneS fueffte.
Sein jweiter Vorfdjlag erinnert ebenfaßS an feine ftaatSfocialiftifch^reactionäre
Tenffdjrift bon 1865, in welcher er aße Sabrifunternehmungen burch bie Stegie*
rnng leiten unb ben bisherigen ^riuateigenthümern via facti aus ber £>nnb fpielen
(affen woßte.
Unfer ^auptnngliicf, fo ungefähr argumentirt Sagen Tühring, ift bie hohe
Jfinanj an ber Vörfe. Sie bepnbet fich faft anSfchliefflich in ben $änben ber
Silben. Sie berfteht es, unfere Scffweifftropfeit in ®olb ju berwanbeln unb leffte-
reS in ihre eifernen ©elbfdjränfe unb ihre bombenfeften ®ewölbe ffieffen ju machen.
Tiefe hoh e Sinanj regiert gegenwärtig in Tcutfcfflanb bie fiönige unb bie Völfer.
Sie ift gemeinfchäblich unb muff abgefdjafft werben. Sin folcffer Buftanb ffot noch
nie nnb nirgenbS ejriftirt Wie in Teutfchlanb.
$ier möchte ich, mit gütiger Srlaubniff bcS £>errn Tiiljring, eine fleine Bwif^en*
bemerfung einfchalten, 311 welcher mich mein f)ofjeS Sllter befähigt. S<h erinnere
*) *g(. „$ie Subenfrage" (Karlsruhe anb Seipjig 1881).
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Die Parteien im Deutfcfjen Reichstage.
865
mich, ba| oot ungefähr 40 Sollen in ffranlreich eine ähnliche (allerbingS immer»
hin in etwa« cioilifirtem {formen auftretenbe) antifemitifche ©eWegung efiftirte.
@S regnete bort ebenfalls bamals, wie heute bei uns, jubenfeinbliche ©rofcf)üren,
in melden gong baffelbe non {franfreiefj behauptet mürbe, was jefct Dr. Xiihring
Oon unS fagt. Sie führten ben Xitel: „Les juifs rois de l’epoque" u. f. tu.
$eutgutage h fl t man baS alle« oergeften; bie wenigen ffrangofen, welche es im
©ebächtniff begatten hoben, fdjämen fich beffen unb tacken baröber, baff ^eute bie
Xeutfdjen unb Stuften bumm genug finb, bie Äteiber gu tragen, welche bie ftugen
ffrangofen fchon Oor länger als einem SJtenfchenalter als gefchmacfloS unb alt»
mobif<b abgelegt hoben. 3« Defterreidj h°t mon es gar nicht fo weit lommen
laften Wie in Xeutfdjlonb. SJtan ^at gleich im Slnfang febon ein @nbe gemacht.
&aum hotte man in SBien unter ber fallen (flagge „©hriftlicher ©eWerbeftanb"
©erfammtungen oeranftaltet, um barin ben ©erfudj gu machen, ähnlich wie in
©erlin, bie 3ubenhefee in ©eene gu fefcen, als auch febon bie Stegierung einfehritt.
Sin officielleS wiener Xelegrantm uom 9. Slpril 1882 fagt:
„Xer SJiinifterpräfibent als Seiter beS SJtinifteriumS beS Innern hot gemeftene
Reifungen ertheilt, ©erfammlungen mit auSgefprochen antifemitifdjer Xenbeng über»
houpt nicht gu geftatten, bann aber auch bie ißoligeiorgane gu beauftragen, ©er»
fammtungen, in welchen berartige ©eftrebungen, wenn auch nur nebenher auftreten,
fofort aufgulöfen. Xie Stegierung hält fich oerpflichtet, jeben Staatsbürger ohne
Unterfdfieb ber potitifchen ober confeffioneüen Slnfchauung in allen feinen Siechten
gu febüfcen, weil biefer Schuh nur als Slequioalent für bie nicht geringen Seiftungen
ber ©ärger an ben Staat gu betrachten ift. Xie antifemitifche ©emegung, wenn
fie geplant ift, um ber Stegierung eine ©erlegenbeit gu bereiten, Wirb febr halb
an bem feften SSiüen beS SRinifteriumS, baS ©efef} gu wahren, gerfcheßen."
Sluch in ber fogenannten „Subenfrage", welche angefichtS ber in Xeutfdjlanb be»
ftehenben Steigs» unb SanbeSgefefcgebung überhaupt nicht mehr als eine ,,jfrage"
behanbelt werben bürfte, hot Xeutfchlanb bie 23af)l, ob es fich ouf bie Seite Defter»
reichS fteßen will ober auf biefenige Stuftlanbs. XaS lejjtere thut nicht einmal
unfer Slutor. Xenn es ift auch b' er toieber ber fonft fo confequente unb rabicate
Dr. Xühring ein wenig Oon „jener falfcfjen Sentimentalität" angehänfelt, welche
er, unter ©erufung auf feinen „grofjen" 3eon ißaul SRarat, ben SRännern ber
©ontmune oon 1871 guin ©orwurf macht. Sr will bie hohe jfinang Weber be»
rauben noch abfchtachten, obgleich feine Xebuctionen fich gunt Xheil in einer folchen
Stiftung bewegen.
3Ran h«t ja bie ßlöfter aufgehoben unb ihre ©üter eingegogen, fo fagt er.
SJtan hot bie geiftlichen Äurfüfften unb Prälaten abgefchafft. SRan hot §unberte
oon weltlichen dürften mebiatifirt unb noch in neuefter Seit einige chriftliche Sou»
Oeräne bepoftebirt. SBarum foftte man es mit ben jübifchen ©örfenfürften nicht ge»
rabe fo machen? ^ebenfalls aber, wenn fo ein Sanlgefchäft eine gemifte ©renge
überfchreitet, wenn es eine SluSbeljnung gewinnt, ba| fein jübifefjer ©hef über
$unberte oon ©ommiS, über ein ganges §eer oon ©eamten gebietet, bann ift es
eine SRacht in bem Staate; unb in bem Staate barf niemanb eine SRacht fein
als bie Stegierung. {folglich muff man ein folcheS ®efchäft unter bie Staatsgewalt
Unfert «fit. 1882. I. 55
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8 66
Unfere ^eit.
beugen, ihm Sdjranfen jie^en, ihm ben Staat gleidjfam jum Partner unb zum
©ormunb geben, — natürlich zu einem Sßartner, bet feine Einlagen macht, bet
nur an ber Ausbeute theitnimmt unb nicht an bet 3ubuße, — ju einem ©or*
munb, bet nur Siebte fiat, aber feine Pflichten feinem SRünbel gegenübet.
Aud) f|iet möchte ich bie antifemitifche Diatribe beS Dr. Dühring auf fünf
Minuten unterbreiten, um eine Analogie aus bet ©ergangenheit h«anzuziehen,
tt»efif»e beweift, baß fi<h feine Argumente nicht fo fehr beS Reizes bet Reuljeit er*
freuen, wie wof mancher Unfunbige glauben möchte.
@8 war in ben Sorten 1522 unb 1523, als auf bem beutfdjen Reichstage
bie beweglichften Klagen aus bem SDtunbe ber weltlichen unb geifttic^en dürften,
ber Prälaten unb fRitter über bie ©auf* unb $anbetSf)äufer ertönten. SRan War
bamals anftänbig unb machte feinen Unterfchieb jwifdhen 3uben unb Ehriften.
3m übrigen aber befihufbigte man bie beutfchen unb namentlich bie fübbeutfdjen
$anbelshäufer, fie verführten baS SSolf zu neuen ©enüffen unb neuen ©ebürfniffen,
fie feien fcfjulb baran, baß „fo viel ©elb aus bem Sanbe gehe", in ihren $änben
hätten fich enorme Kapitalien jufammengebatlt, ihre fjactoreien Verbreiteten fich
ringS um bie Erbe, fie brohten ben ReichSftänben, ben Rittern unb ben ©rälaten
über ben Kopf ju Waihfen. Unter bem Einbrude biefer Klagen, welche mit ben
Auflagen unferer heutigen pfeuboconfervativen Demagogen unb Agitatoren eine
unverfennbare gamilienähnli^feit hoben, befchfoß bamalS ber beutfdje Reichstag,
jebe |>anbelögefe(lf<haft 8 U unterbrücfen, beten ©efdjäftslapital auf mehr als
50000 gl. anwadjfe; anberthalb Sah« Seift wolle man ihr bann noch gönnen, um
Zit liquibiren; fei fie aber nach Ablauf biefer $eit bamit noch nicht fertig, bann
foHe eine hohe Dbrigfeit unbarmherzig jugreifen unb bie Auflöfung felber voUftrecfen.
Allein biefer ©efchluß beS Reichstags ift nie in ©ottjug gefefct worben; zu*
nächft aus bem bereits angeführten ©runbe, baß man gewiffe Dummheiten leichter
befchließen fann als vollziehen, ©iefleidjt auch beShatb, Weil baS Oberhaupt beS
^eiligen Röntifchen Reiches beutfeher Ration felber genötigt war, bei bem &aufe
3ngger, bem $aufe SBelfer unb anbent „gemeinfchäblichen Kapitalsten" zu borgen.
Kurz, es Würbe nichts aus biefen reichs* unb ftaatsfocialiftifdjen ißrojecten. 3nt
nächften 3atwhunbert aber fam ein, von fanatifdjen Sßrieftem unb anbern £>efcern
angefachter „frifd^er fröhlich« Krieg", Welcher breißig 3oh« lang Deutfdhlanb
verwüftete unb beffen regierenbe Herren, geiftliche wie weltliche, ber SRühe über*
hob, fich fernerhin noch bie hohen Häupter zu martern mit ber grage, wie bem
Anwachfett beS Reidjthumö unb ber ©evötferung vorzubeugen, unb wie ber
„fapitaliftifchen ©robuctionSweife" Scfjranfen zu fe|cn. Die nächfte Antwort aber
auf jene pfeuboconfervativen ©etleitäten beS beutffljen Reichstages von 1523 gab
ber unmittelbar barauffolgenbe Aufftanb ber Säuern, welche vor bem ©runbfapitat
ber „Herren" noch weniger Refpect hatten als bie ©runbljerren Vor bem beweglichen
Kapital ber Kaufteutc unb ©attfhäufer; unb in ber Dljot, wenn man für baS tefctere
eine SRajrimalgrenze fefct, warum bann nicht auch für bie fiatifunbien ber erftern?
Die Sacqueric, welche fo oft fchon in Europa ihr fpaupt erhoben, hat an bem
©runbeigenthum ein Weit greifbareres Object als bie Socialariftofratie an bem
beweglichen Kapital, baS ben SeweiS geliefert hat, wie außcrorbentlidj leicht es
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Die Parteien im Dcutfcfycn Keiefystage.
867
ihm ift, fich jenen begehrlichen Zugriffen $u entziehen, ju welchen bie ©efefcgebung
eines einzelnen SanbeS ober bie Regierung beffelben geneigt ift. $aS bewegliche
©ermögen fann leicht bie ©renz« überfdjreiten; baS unbewegliche ift unauflösbar
gefettet an bie ©efdjide beS SanbeS; unb beShalb ift es fdjwer §u begreifen, wie
wirtliche Slriftofraten unb ©runbherren fich ju einer Demagogie oerleiten taffen
follten, welche eigentlich bodj nur bei befiplofen Proletariern einen Sinn hot.
Unb nun erft heutzutage, wo ber entjünbbare Stoff fo nahe liegt, wo unS
j. ©. noch int $ecember 1881 bie englifchen 3eitungen ntelbeten:
„2)ie tathotifche ©eifttichleit in 3rlanb lä|t ein $ocument fotgenben Inhalts
circutiren: «Ser ©oben ift baS gemeinfame ffiigetttljum Silier!» (StuSjug aus
bem ©riefe beS h oc hwürbigften Dr. Dtuttp an ben SteruS unb baS Saienthum ber
Siöcefe ©teath, 1881.) «Set ©oben eines jeben SanbeS ift baS gemeinfame ©igett*
thum beS ©olfeS biefeS SanbeS, weit fein wirtlicher ©efifcer, ber Schöpfer, ber
ihn fchuf, benfelben bem ©otfe als freiwillige Schenfung übertrug. ,Terram autem
dedit filiis hominum.' (,Sie ©rbe, bie er ben Äinbem öon ©tettfehen gegeben.') 3?uu,
ba jebeS 3nbiöibuum in jebem Sanbe eine Schöpfung unb ein ßinb ©ottes ift
unb ba alle ©efdjöpfe in feinen Stugen gleich finb, würbe irgenbeine Siegelung
beS ©obenbefipeS biefeS ober irgenbeineS anbem SanbeS, welche ben SWiebrigften
in biefem ober jenem Sanbe öon feinem Slntljeite an bem gemeinfamen ©rbe aus»
fdfjtiefien Würbe, nicht allein eine Ungerechtigfeit unb ein Unrecht gegen biefen
©tarnt, fottbem überbieS ein gottlofer SBiberftanb gegen bie wohtwollenben Stb»
fichten feines Schöpfers fein. ShomaS Stuttp, ©ifcljof ton ©teath.»"
®S ift eben bie alte ©efdjichte, boch bleibt fie — wenigftenS für bie ©lenfcfjeit,
Welche öon Unterftanb unb btinben Setbenfdjoften regiert finb — „ewig nett":
„Quem deus vult perdere, dementat", ober, Wie eS fepott SophofleS weit fchöner unb
Weit früher gefagt hot:
"Orav 5'i> 5a[,uiov avdpl itopaöv») xaxa,
Tov voüv fjäXa+e itpürov, (o ßouXeusTal.
SBie mon otfo 1523 bie §anbelS= unb SBechfelgefchöfte ber ©bner unb 3m=
hoff, bet $o<hftetter unb Utftetter, ber ©eljoim unb ^»irSöogel, ber SBelfer unb
ffugger befchneiben Wollte, fo will es 1881 Dr. ®ithring machen mit ben ©anf*
gefchäften öon ©leichröber unb öon SRothfchtlb, über welch tefctem Stöder einmal
in einer feiner ©otfSöerfammtungen eine Steuerung gethan hot, welche ihn (Stöcfcr)
fetbft weit fchärfer charalterifirt, als bieS fein partamentarifcher Slntipobe (Eugen
dichter öermöchte.
„$at ja boch ber eine fRothfdjitb", fo rief er mit ©ntppafe, „ganz oUcin
mehr jährliches ©infommen, als fäntmtlidje ©rebiger beS SanbeS zufantmen*
genommen!"
Sühring will — unb baS erinnert wieber an feine Senffchrift ton 1865 —
jebem ©anfgefchäft, baS eine gewiffe SluSbehnung hot, wenn fein ©igenthümer
jübifdjer ©onfeffion ift, einen StaatScommiffar beiorbnen, ber bie ©efdjäftsführang
überwacht uttb leitet unb „feine .fpanb unb fein Sluge in allen ©ontocorrenten hot".
Siefe ©ommiffarien unb ©uratoren foH bie ^Regierung mit Sorgfalt ausmähten
unb — Wie? fagt Siihring teiber nicht — gegen jeben ©erfnch ber ©orrnption
55*
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Unfere £eit.
868
ficberftellen. Saß es abfolut unmöglich ift, ein ©antgefcbäft auf biefe SBBeife ju
führen, baß bie Regierung bamit für etwaige Summbeiten (bie gewiß nicht auS*
bleiben Würben) eine ©erantwortlccbleit übernähme, für welche bie Steuerjabler
(ein ©efcböpf, bon Wettern ber pbilofopbifcbe Soctor par principe niemals bie
geringfte 9lotij nimmt) botfj auffontmen müßten, baran benft er gar nid)t.
®efd)Weige benn, baß ber grimmig ernftbafte 9Rann einen Sinn hätte für bie
fomifcbe Seite ber Sache. 3Ran benfe ficf) boc^ einmal ben KreujjeitungS*8Bagener
afö ©ormunb im ©anfbaufe 3?ott)fd|ilb ober ben Dr. S übring als eine Slrt Port
©anf*„3abrifinfpector" bei ©leidjröber, — baS ift ein ©ilb, Würbig, bon einem
Sonat^an Swift nabet oudgefü^rt ju werben.
Seiber famt man bei fo luftigen Singen nic^t lange berWeiten. ©ielmebr ift
eS immer betfelbe traurige ©ebanfe, Wetter unS, wie Klopftod fingt, „tief in bie
SRelancbolie fleucht". ®S ift bie ©rinnerung an baS 16. S^bunbert, welches,
wenigftenS für Seutfdjtanb, eine öerbängnißöotte Slebnlicbleit b<*t mit unfern gegen*
Wärtigen Seiten. SBenn ich bie Schriften bon Saffatte unb anbem ftaatsfociaüfti*
feben ©erfpredjöirtuofen, mögen fie ju ben ©onferbatiben ober ju ben fRabicalen
geboren, lefe, fo !ann icb mich niemals enthalten, an 3an ©odelfobn ju benfen,
ben Scbneiber bon Seiben, welcher in bem alten ebrwürbigen SifcbofSfijje fünfter
in SBeftfalen baS cbriftlicb*fociale Königreich 3i°n grünbete, baS alle ©erbeißungen
erfüllen unb jebermann aus bem ©ölte alle ©enüffe beS ©arabiefeS ohne jebe
Slnftrengung zugänglich wachen fottte, oorauSgefefct, baß er glaube an biefen König
bon Sinn unb fein biwmlifches c^riftlic^ = focialeS ©eich unb bafüt fein ffeH ju
äJlarft trage. '
So groß bie ©erfuchung auch ift, eine ©arattete ju jieben jwifeben ben ©e*
Wegungen beS öffentlichen ©eifteS im 19. unb im 16. Sabrbunbert — beiben
gemeinfam ift ber SRiSbraucb ber Steligion ju weltlichen Sweden, jener SRiSbraucb,
welchen ber jejjige Seutfcbe Kaifer in ber Slnfprache, welche er in feiner ©igenfebaft
als ©rinj*SRegent öon ©teußen am 8. ©obembet 1868 an fein neuemannteS
liberales SRinifterium richtete, berurtbeilt mit ben SB orten: „Sitte Heuchelei, Schein*
beiligteit, furjum alles Kircbenwefen als äRittet ju egoiftifchen Sweden ift ju ent*
^ latoen, wo es nut möglich ift" —. fo Witt ich b< er boch babon abfeben unb mich
auf eine furje Slnbeutung barüber bekrönten, baß unb Warum unfere ©egenwart
in ähnlicher SESeife wie jene Seit in bolfSWirthfchaftlicher ©ejiebung ben ßb Qr °tter
einer UebergangSperiobe trägt, baß unb Warum Wir baber ähnlichen ©efabren aus*
gefefct finb wie unfere ©orfabren bor mehr als 300 fahren.
3n einem folgen Stabium ber ©ntwidelung pflegen natürlich Krifen einju*
treten, ober wenigftenS meitreidjenbe äRiSftimmungen unb Unbehaglichsten. Sen
einen gebt es biel }u fchnett unb ben anbern biet ju langfam. Sie einen möchten
wieber jurüd, bie anbern möchten ihre ©ahnen bureb bie Süfte nehmen. SBeber
bas eine noch baS anbere ift möglich- Slber beibeS erfchwert uns anbem ben
ruhigen organifchen gortfebritt auf ebener ©tbe. Unfere ©ewegung wirb aufge*
halten unb berlangfamt burch bie fortwäbrenben Kämpfe, welche wir mit ben
£>t)perconferbatiben auf ber einen unb mit ben ^pperrabicalen auf ber anbem
Seite ju befteben höben, ©etrachten wir einige ber ©igentbümlicbleiten biefeS
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Die Parteien im Deutfdjen Kcidjstagc.
869
UebergangeS. ®ie bildet getrennten £änber unb SBettt^eite rüden eng aneinanber.
®ie SRafdfjinen erfparen Äraft. ®ie Stampffdjiffe, bie Gifenbahnen, bie SEele*
graphenbr&hte betfürjen Seit unb Staunt unb öertüngern baburch baS menfchtiche
£eben. Sie bertängero es intenfib, wenngleich fie bietteicht fein ejtenfibeS 2Jta|
für ben einzelnen fürjen. ®er DrtSmarft ift SBeltmarlt geworben. ®aS Getrennte
ift Derbunben. Seber mufj mit jebem concurriren, Weit atteS mit altem jufammen*
hängt. 3)aS #anbwerf unb bie £anbwirthf<haft ftnb Snbuftrie geworben; unb bie
Snbuftrie tennt feine ©chranlen, als bie beS SJtajjeS beS jur Verfügung ftefjenben
Äapitats unb ber Strbeit.
dagegen empört fid; ber greifende IßfeuboconferbatiSmuS unb ber jugenblidje
^»pperrabicatUmuS. ©eibe Gjtreme berühren einanber. ©ie ^armoniren oott=
ftänbig in bem einen ißunft, ba| fie glauben, bie Gefefce beS Staates feien ftärfer
als bie Gefefee ber Statur, unb fubjectibe SBitttür fönne ben ©chutmeifter ber ©or*
fehung fpieten unb ber SBettgefdjicfjte baS ißenfum corrigiren. ©eibe erfc^retfeu'
bor bem Sortfdjritt ber SDtenfdjfjeit. ®ie einen möchten am tiebften Xetegrapfj,
®ampffdhiff, Gifenbahn unb 2Rafd£)tnen abfdjaffen, ober bie ^eitfamen SEBirfungett
biefer Grtöfer ber SOtenfdjtjeit, welche bie internationale StrbeitSt^eitung befötbern,
ben eingelnen entlüften unb alten Gelegenheit geben, an ben 9Bot)tt!jaten beS SEett*
marfteS theiljunehmen, baburdj paralpfiren, bafe fie mittels ber ißrohibitibmafs*
regeln unb ber ©«hufcjölle himmelhohe Ghineftfdje SOfauem um ein jebeS einjetne
£anb jiehen unb ben internationaten SttuStaufdj oerhinbern. $ie anbem Wollen
ihnen einen SDteifter geben. SDiefer SKeifter foH ber fociatiftifdje SwangSftaat fein.
Gr foQ ben SJtenfchen bie Freiheit nehmen, um fie gtücftidj ju machen. Gr foH
auf bem SBege ber ©efteuerung ber Wirthfdjaftlich-probuctiben bürgerlichen Gefell*
fchaft baS Kapital entreißen, um eine $anb üott tßrojectenmacher bamit ejperimen*
tiren ju taffen. Gr foH baS ganje Gemeinwefen aus ben SBurjetn reifen, es auf
ben Ütrm nehmen unb mit ihm einen Sprung in baS ®unfte riSfiren.
©türjt er babei in ben ©umpf, — Was ttjufs. Gr wirb es machen wie ber
berühmte $err bon SDtilnchhaufen: er wirb fidh an feinem eigenen Sopf Wieber
herauSjiehen. Gr wirb ben £euten, bie gearbeitet hoben, baS Getb abnehmen unb
bamit biefenigen gtücftich machen, bie nichts arbeiten Wollen. Ober er wirb jebeit
auf ftoften alter unb alte auf ftoften eines jeben berftchent.
Unb fo ba jemanb fein fottte, ber bieS Gbangetium beS mit ber tßuerilität
bereinigten Marasmus senilis nicht glaubt, ber ift ein „herjlofer SKandjeftermann"
unb mufj „ethifch 5 pathetifch" gethndjt werben. 2tuS biefer Duette entfpringt unter
anbern audh baS Gefdjrei gegen baS „SJtanchefterthum", unter Welchem SBorte ftch
ein jeber etwas anbereS borftettt, bie meiften aber eigentlich gar nichts.
®ie eigentlichen Grfinber, b. h- biejenigen, welche bieS SBort, baS in Gngtanb
aufgefommen ift unb mit welchem man bort atterbingS einen beftimmten ©egriff
berbinbet, angewenbet hoben auf beutfdje ißerfonen unb Suftonbe, auf welche eS
paßt wie bie gauft auf baS Stuge, bie Grfinber gebrauchten es ju bem Swecfe,
bie potitif^e unb wirthfehofttiche 9JJachtfteltung beS ©ürgerftanbeS in ®eutfchtanb
ju fchmätern. $a§ bie Grfinbung Slnftang fanb, erftärt fidh ouS einer eigenthüm*
ticken Gonftettation, auS welcher ich §>er nur ein SKoment hetborheben Witt.
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870
Unfcre <gcit.
Sßor etwa Satjreit hat fif in SDeutfflaitb eine „neue Sf ule" bet Solls*
wirfff aft aufgethan, welche baS „efiffe fßathoS" Betonte unb fif in einen be=
Wußten ©egenfafc ju bent frefänbleriffen „Kongreß beutff er Sotlswirfe" fefcte,
auf einen „Serein für Socialpolitil" grünbete, bet ju 3ape8fi|ungen jufammeiu
trat, weife inbeß Bereits, wegen SJtanget an XBeitna^me in weitem Greifen, wiebev
aufgehört haben. ®er Serein jaulte unb jähtt ju feinen SRitgliebern eine Stefe
bon Stamen, fowot Staatsmänner als fßrofefforen, weife in ganj Seutff lanb mit
Stiftung auSgefprofen werben.
StUein er ift nift böüig Bewahrt geblieben bor bem Sficffal, in einem ber
SRehrjahl feiner SJtitglieber, unb namentlich SJtämtem wie bie Sßrofefforen ©neift,
ßonrab, Stoffe, SBrentano unb $elb bollfommen fremben unb antipafiffen ©eifte
ju politiff unb bolfswirfffafttif reactionären 3Weden auSgebeutet §u werben.
Schon bie „Mise en scöne" war nicht ganj glücllif. Sie war eingeleitet
burch eine Stebe, welche Sßrofeffor Slbolf SBagner (nicht ju berwechfeln mit bem
ihm an ©eift unb Äenntniffen überlegenen ^reujjeitungSmann Hermann SBagener)
in ber Sßaftorenconferenj bie im Stuguft eines jeben 3ah*eS * n ©erlin
ftattjufinben pflegt. ©r ftetlte barin einige feltfame Sorberungen unb Siefen auf,
j. 93. bie: ber Staat ober bie ©emeinbe müffe in SBertin ben Sürbeitem SBohnungen
berffaffen. Um gerecht ju fein, muß if ieboch Bemerlen, baß er biefe X^efiS
gegenwärtig oerleugnet unb baß er überhaupt feine wiffenffaftlifen Slnfiften
fehr häufig weffelt. 3« ber SJtünjfrage hat er bieS fchon breimal gethan, ohne
beShatb jemals baS ©eringfte einjubüßen an 3uberfif t gu ber Unfehlbarleit feiner
jebeSmaligen neuen unb neueften Slnfift. 3f lann nicht umhin, hier eine feßr
jutreffenbe Semerfung Oon Dr. $anS liefet *), bem bolfswirfffafttif en Stebacteur
ber „Sfölitiffen Seitung", einguff alten, welche unfer bolfswirfffafttif es unb
politifcheS ©onbertitenfum Betrifft, baS in ber ©egenwart eine fo große Stolle
fpielt unb fi<h burch alles eher als burch 93effeibenf)eit auSgeif net, bielmehr ben
anbern Seuten, welche an einer burch forgfättigeS Stubium gewonnenen reiflichen
Politiken ober Wiffenfchaftlichen UeBergeugung feff alten, ohne Siücffift auf bie
wechfelnben Stiftungen ber Stegierungen unb ber SJageSanfif ten, — barauS einen
SBorwurf gu machen geneigt ift. „Stun noch", Tagt &anS Slefer, „gugutertefct eine
gang furge Senterfung über einen ©egenftanb, ber an fif eine reft lange @r*
örterung wohl rechtfertigen fönnte, nämlif eine Semerfung über baS wiffenffaft=
life Sonbertitenfum, baS in unfern Sagen reft häufig geworben ift, namentlich
in ben politiff en SEBiffenffaften; mag baS nun mehr in ber eigentlichen 2Biffen>
ffaft ober in ber eigentlichen Sßolitif feine Urfafen haben. 2Ber eine frühere
UeBergeugung änbern gu müffen geglaubt hat, bem gereift eS gewiß nift gum
Sorwurf, baß er bieS öffenttif lunbgibt; es maft im ©egenfeit feiner 28ahr=
haftigleit bie pf fte ©pe- Stur will es uns Bebenflif ff einen, baß baS SBefennt*
niß beS frühem SrtfmnS weniger bon ber 93etraftung über bie Stiftigfeit unb
Ungulängtiffeit menfflifen ©rfennenS überhaupt begleitet ift, als bielmehr bon
*) ®gt. bef{en Schrift ,,©olb unb SBöljrung. (Sitte Stritif BimctaHiftiff er Stoff auungen"
(93crltn, ißuttfammer unb 3JlüljI&rcft, 1881), <3. 6 fg.
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Die Parteien im Deutfdjen Heicfjstage. 87 \
ber anfpruchsuoüften ©etheuerung, baß nun baS unfehlbar ^Richtige gewonnen fei.
2Bar man ^eute bor jetjn Sauren im 3rrtl)um, wer bürgt bafür, baß man t)eute
übet jefin 3ahre nicht erfennen Werbe, auch not bann jeljn Sauren habe man bie
SEBa^r^cit noch nicht befeffen! Darum fottte auf bem ©ebiete ber SBiffenfchaft fein
SlnberSbefehrter bie Slltgtäubigen bamit höhnen, baß fie im ©egenfa| p if)tn uidE»t<S
mehr hinpgelentt Jütten. 2Ran hat es ja fogar twn retigiöfen Eonbertiten erlebt,
baß jte bor ihrem Enbe wieber ju ihrem erften ©tauben prüeffehrten; warum
fott atfo ber wiffenfefjafttiefje gorfcher, ber ^eute mitteibig auf feine Slnfichten bor
jeffn 3afjren prücfbticft, nach abermals je^it Sauren weitern ©tubiuniS nic^t
wieber hinpgelernt haben unb bann feine heutige SReinung wieberum abf^wöreit!
©olfswirthfchaftliche unb politifche SReinungen haben ja überhaupt mit gewiffen
religiöfen Streitfäfcen mehr Sle^ntictifeit als mit mathematifdhen tßrobtemen, bie,
einmal richtig getöft, für immer feftftelfen. Eonbertiten in ber SSiffenfdffaft alfo,
meinen Wir, fottten im ©egenfafce p beneit ber SReligion nid^t fofort ganatifer
beS neuen ©efenntniffeS Werben; benn fie wißen ja, — Wie leicht — ober auch
wie fdfjwer — man um fein bisheriges ©efenntniß gebraut werben fann. 2BaS
nun fpeciett bie Sonbertiten ber Doppelwährung betrifft, fo hoben wir nicht ge*
fuitbeu, baß ihre neueften Unterfudjungen ben Stempel fcheuer Stengftlichfeit unb
übertriebenen DurdhbrungenfeinS bon ber Unplänglidfjfeit unb SRetatibität aller
menfchlicheu Erfenntniß tragen. 3Ber aber an fidh fetbft bie Erfahrung gemacht,
baß er fdjjon einmal Srrtehre geprebigt, ber fottte bei ©ertljeibigung ber neuen
SReinung nicht attp biel Buberficht pr Schau tragen; nach weitem Prüfungen
unb ©tubien wenbet er fidh bielleicht wieberum bon ber neuen Sehre ab unb aber*
mals ber frühem p."
3ch fomme bon biefem Eitat, bas gewiß fein ißarergon ift, prücf p SBagner’S
©ortrag auf ber berliner Sßaftorenconferenj. Derfelbe trug fchon ganj beuttidfj ben
ßeirn feiner je|igen aus EonferbatiSmuS unb IRabicaliSmuS recht fettfam pfammen*
gefoppetten Stiftung in fi<h.
Er forberte baburch ben SBiberfpruch ber greiljanbelspartei h^auS. ES war
Heinrich Sernharb Oppenheim, weldher bagegen baS SSort ergriff unb bie „neue
Schute" als ©üßwaffercommuniSmuS ober „ÄatheberfociatiSmuS" bejeidhnete. DaS
leitete SBort hat, ähnlich »bie bie SSorte „9Ran<hefterthum", „SReptil", „Rammet*
fpmng", „Seniorenconbent" u. bgl., baS ^Bürgerrecht erlangt in bem potitifcheu
SRothwelfdj unferer Dage. SSagner antwortete auf bie StuSeinanberfejjung Oppen*
heim’S in einem „Offenen ©riefe", weither fidh wehr burdfj ©robheiten herborthat
als burch ©rünbe. Durch baS ganje Slctenftücf jitterte jene ungefunbe Sterben*
erregung, Welche ein Ißrobuct unferer $eit ift; unb um ex unge leonem errathen
p fönnen, b. h- um anpbeuten, baß bereinft Slbotf SBagner Slrm in 2trm mit
Äbolf Ehriftian ©töcfer an ber ©pi|e ber Ehrifttich*©ocialen baS ungläubige
Sahrhunbert in bie ©chranfen forbem werbe, flang auch aus bem offenen ©riefe
ein unjWeifelhafteS „$epp*$epp" h*töor, wenngleich auch borerft noch, wie gon*
tane fingt:
Seife — ganj teife,
heimlich berftohlenertoeife.
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872
Unfere ^eit.
$)amit mar baS |ioroffop ft^on gegeben.
®ie ^auptmotoren bet „neuen Schule" mären atfo SEBagner unb ©chmoller.
Allein bie „Schute" oermodite ihren führten SBanblungen nicht immer ju folgen;
unb pr Seit befinben ficf) bie beiben ©enannten fdjon rneit ab üon bem „SSerein
für ©ocialpolitif", ja fogar in einem p)at noch ettoaS latenten, aber boch feinb*
fetigen ©egenfafce p bemfetben, moju bie greiljänbler bem im übrigen fo berbienft*
botten Hierein gratuliren.
3m ©egenfajje p Dr. ©ugen SDü^ring, ber fich, beiläufig bemerft, auch mit
Abolf SEBagner in ben Seitungen ^erumgebalgt hatte, unb meinem baS liberale
©ultuSminifterium galt mit einer ^>arte, für melcfje mir ein jegliches HSerftänbniß
mangelt, fogar baS large 33rot beS Sßribatbocenten entzogen fjat, ift es SEBagner
unb ©demolier gelungen, bie beiben Sehrftüljle ber Hiolfsmirthfchaft an einer ber
erften $odjfdbulen $eutfchlanbs, in bet beutf^en SReichShauptftabt, p befteigen.
@S märe unrecht, ihnen biefen SBefifc p miSgönnen. Aber bieS fdjließt nicht aus,
baß man berechtigt ift, p münfcfjen, baß neben biefen beiben Koryphäen ber
„neuen ©dhule" hoch auch noch ein Sehrer an ber berliner fpodjfchule ejiftire, ber
baS borträgt, maS man bisher in Seutfcfjlanb unter „EJlationalölonomie" ober
„HJolfsmirthfchaft" berftanben unb maS auch bie anbern ©ulturbölfer barunter ber*
fielen; unb eä ift fogar begreiflich, baff jemanb, ber für baS SabadSmonopol
fchmärmt, hoch ein SÖlonopot für ben ©taatSfocialiSmuS bon folcher Xragtaeite,
baß außer ihm eine anbere Sehre auf ber erften beutfchen $odhfchute nicht bot*
getragen merben bürfe, etmaS meniger empfehlenSmerth finbet.
Preußen hat fthon einmal ein ähnliches afabentifcheS Sehrmonopol ber $egel’=
fdhen Eßljilofophie eingeräumt, unb ich glaube, eä ift babei nicht fo gut gefaljreu,
baß es barin eine Aufforberung finben fönntc, eine foldje SJlonopoI* unb ißribilegien*
mirthfchaft fetbft auf toiffenfchaftlichem ©ebiete bon neuem p etabliren.
©eben mir prücf auf bie 3Bir!fam!eit unb bie ©rfolge ber „neuen ©chule",
an beren ©pi|e ©chmoller unb SEBagner geftanben haben, fo finben mir folgenbe
©rfcheinung ju bezeichnen.
©S ift ihr gelungen, bie Autorität ber bisherigen X^eorie bei gemiffen Älaffen
ber S3eoölferung, melchen biefe Sehre nicht in ihren ft'ram paßte, ju erfdhüttern.
dagegen ift es ihr nicht gelungen, eine mefentlich neue EEljeorie p fchaffen unb
bie SEBelt bon beren 3ti<btigfeit p überzeugen.
23er eine hat beraltete Srrthiimer bcS SchuyjotlfyftemS unb beS SDlercantiliS*
muS mit fcheinbar neuen Argumenten mieber aufgemärmt; ber anbere proclamirt
ben ©taatsfocialismus, ber auch nichts Bleues ift, fonbern nur eine neue ber*
fchlechterte Auflage jener fiScalifchen ißluSmacherei ber SDionopole, ber Biegalien
unb ber „Serme", moburch ißreußen gegen ©nbe beS hörigen 3al>rhunbertS feine
Sinanjen ruinirt unb ben großen St'rach bon 1806 h«aufbef<hmoren hat. S)er
britte proclamirt bie „Guinteffenj beS ©ocialiSmuS". ®er bierte fchmärmt
menigftenS für bas „ethifdje ißathoS", baS er an bie ©teile ber ajacten miffen*
fdhaftlichen gorfdEjung fefcen möchte, unb mibmet feine Sympathien fo auSfdfjließlich
bem Arbeitnehmer, baß er fich in ©efatir begibt, gegen ben Arbeitgeber ungerecht
ju merben.
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Die Parteien im Deutfdjeti Reichstage.
873
SHIeS baS h“t nicht baju gebient, bei ben Saien, welche vergeblich auf baS
„neue ©pftern" warteten, von bem fte fi(fj SBunberbinge besprachen, bie Ächtung
vor bet SBiffenfc|aft ju erhöhen, tvohi aber hat eS, gewiß Vielfach gegen ben SBiUen
ber Urheber, baju beigetragen, bei vielen bie Ueberjeugung von ber Rotljwenbigleit
ber ©runblagen unferer gefeHfdjjaftlichen, Wirthfchaftlidjen unb bürgerlichen 93er»
faffung ju erfchüttem. Snbeffen mag es immerhin als eine, wenngleich etwas
eigenthümliche, Art Von Iriuntph für bie SBiffenfchaft gelten, baß ber 3firft*ReichS*
fanjler, Welcher währenb ber brei 3“h re von 1879—81 fo oft, unb namentlich
auch im Reichstage bie „SßrafiS" auf ftoften ber SBiffenfchaft, ber Solfswirthfchaft
unb ber Statifitil gepriefen, fich in Angelegenheit ber Unfall* unb Ärbeiterverficherung
unb corporativen §ülfSlaffen, von ben „ißraftifern", wie von bem beiannten
Agitator ©elf. Eommerjienrath SSaare Von ®odjum unb ©enoffen, ganj wieber
abgewanbt unb jwei „ißtofefforen" ju feinen Ratgebern unb SßertrauenSmänitern
gemacht h fl t. Auf ©runb ihrer Rathfchläge warb ein ganj neuer ©ntwurf
ausgearbeitet, welcher auf biametral entgegengefefcten ©runbfäfcen beruht Wie
berjenige von 1881, welker bem Reichstage fo viel SSorwürfe jugejogen hot,
Weil et ihn nicht fofort annahm. SRir fd^eint barin ber beweis ju liegen, bafi
jene RorWürfe unbegrünbet waren; unb Weit entfernt, ben ®egnem ober ben An*
hängem beS Entwurfs ebenfalls SBorwürfe ju machen, höbe ich vielmehr triftige
©rünbe ju glauben, baß bie fßrojecte, weldje unter Umftänben bie ©taatöfinanjen
fo fehr in SRitleibenfchaft jiehen, noch nicht jur völligen Reife gebiehen finb; ja
ich jtoeifle fogar, ob es bei ber bisherigen SRethobe überhaupt möglich ift, biefelben
ju jener Reife gelangen ju laffen.
©berljarb Albert ©djäfffe, ber SBerfaffer ber in wieberholten Auflagen er*
fchienenen unb fehr beachtenswerten „Ouinteffenj beS ©ocialiSmuS", ift merf*
würbigerweife ebenfalls von $auS aus evangelifcher Xheologe unb hat auf bem
berühmten tübinger Stift feine wiffenfchaftliche ÄuSbilbung genoffen. 3t erwähne
bieS im Sufommenljang mit ber (Srfdjeinung, baß es vorjugSWeife evangelifche
Sßrebiger unb ißaftoren finb, Welche ben ©taatSfocialiSmuS cultibiren, ohne fich
bis bahin theoretifch ober praftifdj mit Sßolfswirthfchaft befchäftigt ju haben. Auch
bie 3eitft*ift „2) er ©taatSfocialift" würbe von einem foldjen ißtebiger heraus*
gegeben unb relrutirte ihre SRitarbeiter meift aus bem geglichen ©tanbe; allein
fie hat nach lurjem ®eftehen wieber eingehen müffen, weil fie julefct mehr SRit*
arbeitet hotte als Sefer.
AIS alabemifcher Sehrer unb als miffenfdjaftlicher ©chriftftetler ift ©djäffle
ein SRann von großen unb neuen ©ebanlen; allein es finb nicht ber Erfahrung
entnommene ©äffe, fonbem fühne tßlane für bie Sulunft, beten ®raucljbarleit für
bie ©egenwart fdjon um beSWiHen in 3weifel gejogen werben barf, weil Schaffte
fetbft, währenb er öfterreichifcher SRinifter war unb alfo bie fdjönfte Gelegenheit hotte,
feine fociatpotitifchen ©ebanlen in bie tßrajris überjufüljren, nicht im entfernteften
baran gebacht hot, auch nur einen fchüchtemen SBerfudj in biefer Richtung ju wagen.
©eine SBorfdjläge in ^Betreff ber ©infüfjrung unb Organifation beS „cotpora*
tiven #ülfSlaffenjwangeS" in 2)eutfdjtanb verrathen eine großartige Sonception
unb finb jebenfaäs burchbachter unb gefünber als bie bisher in jäher Jlucljt
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Unfcre «Jett.
87$
einanber ilberftür^enben projecte; allein ba (Staffle fetbft feilt #e(jl barauS macht
bog eine geraunte 3«* nöthig ift ju ihrer ©erbreitung, unb „baß ber ©efarnmt*
aufbau biefeS #ütfSfaffenWefenS gahrjetjnte in Slnfprud; nimmt", fo bürfte fein
Plan tveber bem S^atafter unferS raf<h= unb leichtlebigen Seitalters, noch auch
bem ungebulbigen Sfyttenbrange beS Sürftett-SRei^Sfonjterä entfpredjen.
3n einem Xabteau unferer heutigen Sociatpolitif burften SJtänner, Welche jur
Seit einen fo maßgebenben Kinfluß befifcen toie bie profefforen SBagner unb
Scßäffle, nicht fehlen. Schaffte ift ja auch jubem partamentarifch thätig getoefen,
nämlich als toürtembergifcher Slbgeorbneter jum Sottparlament. SBagner aber toirb
ohne Steifet noch einmal SKitgtieb beS SJeutfdfjen sieid^Stage« werben. Kr ift bei
ben Parlamentswahlen im $erbft 1881 in nicht weniger als oier bis fünf SBaht*
bejirfen als Kanbibat auf getreten, unb an SBaljtreben unb 2)rucf fachen hat et
tonhrhaft StußerorbentlidjeS geteiftet, fobafi man ihm feine ©orwürfe machen barf,
wenn eS ihm bieSmat noch nicht gelungen, gewählt gu werben. Ohne Steifet
aber Wirb bei ben angeblich nunmehr in SluSficht ftehenben wieberhotten Parlaments*
auflöfungen eS ihm einmal unb irgenbmo getingen, gewählt gu werben; unb beS*
halb bürfte eS gerechtfertigt erfdjeinen, wenn id) ihn, wie in Obigem gefdjehen,
bona mente unb gteichfam pränumeranbo als Parlamentarier behanbelt ftabe.
Solche SDtämter, wie Stbolf SBagner unb Slbolf Khriftian Stöcfer, gehören in ben
Reichstag, bamit fie fi<h an ein contrabictorifcheS Verfahren gewöhnen, unb bamit
fie ©elegeitljeit haben, burch praftifche Anträge bie ^tueifet betet gu wibertegen,
welche-an ihren ©eruf als focialpolitifdje Reformatoren auf ©runb ihrer SRonotoge
nicljt glauben. „Prüfet Stiles unb baS ©efte behaltet." ®ieS mag auch ber
Reid)Sfangter gebacht haben, als er gu ben Sifcungen beS SereinS für Social*
potitif, bie bamals noch tu Kifenadj ftattfanben unb anfangs fehr ftarf bon ftaats*
fociatiftifchen Xenbengen beeinflußt waren, was jefct gang aufgehört hat, feine
ofßcieHcn $elegirten abfanbte. Suuächft beauftragte er ben $reuggeitung3*SBa*
gener — welcher bamals fowot im preußifchen StaatSminifterium als auch im
©eutfehen Reichstage eine herborragenbe Stellung einnahm, auch ««fie Süljtung hatte
mit bem ingwifchen unter bie Poffenbichter gegangenen unb bann geftorbenen focia*
liftifcheu „Präfibenten" gohann ©aptift bon Schweifet (aus granffurt a. SIR., eben*
falls ReichStagSmitglieb bon 1867—70) — bem Kongreß ber „fiatljeberfocialiften"
in feinem Stuftrage beiguwohnen. ^ermann SBagenet gab biefen Stuftrag öffent*
lieh funb. Kr erfchien in Kifenach in ©egteitung beS Dr. SRubolf üReper, welchen
er fich mit ©enehmigung beS ReichSfangterS als feinen SlmanuenjtS ober Slbju*
tanten beigeorbert hatte. SReper würbe ebenfalls als „Socialconferbatiber" be*
geichnet. Kr hat eine gange Sibliothef bon SBerfen über bie Slrbeiterfrage, über
bie fociate grage, über bie focialiftifche Literatur, über bie tänbtichen Slrbeiter,
über SocialiSmuS unb StuSWanberung unb bie SRittel gegen beibeS gefchrieben.
Sein $auptroerf ift betitelt „®et KmancipationSfampf beS bierten StanbeS".
KS hat einen fehr anfeljnlichen Umfang unb Würbe feinerjeit bon Slbotf SBagner
in ber „Jenaer Siteraturjeitung", fowie bon £>anS bon Sdjeel, einem SRitgliebe
beS Statiftifchen ©ureau für bas ®eutfche Reich, als baS bebeutenbfte SBerf über
bie fociate Stage gefeiert
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Die Parteien im Deutfdjcn Kcidjstciöc.
875
3« jener Spoche, welche idj in meinem erften Sluffa|e*) ausführlich gefchitbert,
in ber Seit, ba ber nunmehr reumütige Dr. granj ißerrot, jefct conferüatioer
ReidiStagSabgcorbneter für ben furheffifdjen SBaljtbejirf Rotenburg=$erSfelb=£>ünfetb,
in ber „Sreujjeitung" beS ^odiconferöatioen $erm non RathuftuS^Subom mit hödjft
commenttoibrigen SBaffen gegen ben gürftewReidjStanäter auf ber SRenfur tag unb
bie SUtconferöatiöen — trofc attebem unb aüebem — für ißerrot unb gegen ben
ReidjSfanjter via declarationis in höchft bemonftratiöer SBeife Partei ergriffen,
in jener Seit, ober etwas fpäter War eS, Wo Dr. Rubolf 3Ret)er, uneingebenl
feiner eifena<$er SRifftonen, ebenfalls gegen ben gürften SBiSmatcf Partei ergriffen
unb fich burd) eine ißubtifation in ber ißreffe einen ber belannten Strafanträge,
unb wenn ich nicht irre, auef} eine SBerurtheitung ju mehrjähriger ©efängnififtrafe
jujog. Um fidf) ber SoQftredung biefer Strafe ju entziehen, hat er baS leutfdje
Reich bertaffen unb nach längerer Seit in ben feubaten unb Iteritaten Greifen
OefterreidjS Aufnahme gefunben, welche Greife, in (Srmangetung „eigenen SBadjS*
thumS" („propre cru" ober „notre cru" nennt es ber granjofe unb „eigene gedj=
fung" ber 3)eutfch=Ungar) ftets gern bereit finb, fidj norbbeutfeher Gapacitäten ju
bemächtigen, unb wenn es fogar proteftantifche ffe^er wären. lernt fotche Seher
taffen fich am Gnbe oielteicht gar noch in ben SchoS ber atteinfetigmachenben
Sirche jurücf führen. Seweis: Stbam SRütter unb griebridj Seht eget; unb wenn
auch nicht, fo finb hoch fotche ÜRänner fchon brauchbar. SeWeiS: griebridj ©enf);
unb in hüherm Stile: ©raf Seuft.
3n neuefter Seit hoben bie öfterreichifdjen unb ungarifdjen Seitungen gemetbet,
bafi Sßreufjen bie StuStieferung beS Dr. Rubotf SRehet verlangt hot, um an ihm
bie obenerwähnte Strafe wegen 33iSmard=®eteibigung ju cottjiehen. 3« GiS war
man im SSegriffe, bet Stequifttion golge ju geben; allein SRetjet begab fich nun
nach Irans; unb ba ber ungarifdje Sßremierminifter Sotoman XiSja im Reichstage
erftärt hot, er hatte bie SluStieferungSberträge mit leutfehtanb für unanwenbbar
in Ungarn, ba bieS niemats jum leutfcheit SunbeSgebiete gehört höbe, fo befinbet
fich 2Reper in botltommener Sicherheit im Sanbe ber äRagparen. ®aS finb bie
SBortljeite beS S)uatiSmuS.
SBiettei^t Wäre eS aber auch eine ungerechtfertigte $ärte, jene Strafe an
Rubotf äReper nodj ju bott^iehen — jefct, wo fich bie Gonftettationen in 5)eutfch=
tanb unb ißreufien fo fehr geänbert hoben, bajj ÜReper, wenn er noch in leutfeh»
tanb wäre unb in ben Reichstag gewählt würbe, ohne 3n»eifet feinen Sifc auf
ber conferbatib--goubernementaten Renten, in ber Rähe beS Stbgeorbneten Dr. gran^
tßerrot nehmen Würbe.
Sagt man boch in SBien, bajj Rubotf ÜReper einen erheblichen Ginftuf? auf
bie öfterreidjifdje Regierung, namentlich auf ben SRinifterpräfibenten ©rafen laaffe
unb auf ben Stderbauminifter auSübe. 3<h ncitt einen Umftanb anführen, Wetter
mir biefe {Behauptung nicht unglaubhaft erfdjeinen läftt. Etwa um biefetbe Seit,
wo bie preufjifcpe Regierung bem Sanbtage einen ©efefcentwurf wegen ber ®rb=
folge in iBauergütern in ber Sßrotiinj SBeftfaten oortegte, welcher Entwurf
*) »flt. <3. 674 fg. biefeS 93anbeS.
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Unfere ,3eit.
©erhütung ber Steifung ber ©auergüter, unter Slnlehnmtg an ba$ feit bem
1. 3uli 1875 eingeführte ©efejj betreffenb baS #öfered)t Dom 2. $uni 1874, be*
jwecfte, hat ber äfterreidjifdie Slderbauminifter jwei Drudfchriften in engem Greifen
tierfanbt, toobon bie eine „©emertungen über bie {Reform ber ©rbfotge in tanb*
wirthfchafttidjen ©eftfcungen", unb bie anbere „fragen betreffenb bie {Reform bet
©rbfolge in tanbroirthfchafttichen ©eftfeungen" betitelt ift. Diefe Drudfchriften
ergeben, baß ber öfterreidjifche „Slderbauminifter" noch einen guten ©cfjritt Weiter
jurüd in {Repriftination mittelalterlicher ^uftänbe für „baS liebe Sanböotf" bief*
feit ber fieit^a jn tljun gebenft als ber preuffifcije „SDiinifter für Sanbwirthfchaft
Domänen unb gorften". Die „©emertungen" beS erftgenannten enthalten aber
mancherlei, baS an bie ©fidjer oon IRubolf SReper erinnert, So namentlich auch
baS Stnrufen tion {RobbertuS, als einer grofjen tiottswirthfchafttichen Slutorität, unb
bie ©epgnatjme auf beffen feltfameS ©uch „3ut ©rflärung unb Slbljülfe ber
heutigen ©rebitnoth beS ©runbbefifceS" (2. Stuft., I, 17—19, unb II, 71 fg.). 3n
Defterreidj ift atfo {RobbertuS bereite bei ber {Regierung ju tanonifdjem Stnfetjen
gelangt. 3» ©reuten noch nicht. Der ©ropljet gilt eben einmal nichts in feinem
eigenen ßanbe.
3n berfetben {ReidjStogSfthung bom 17. ©ebt. 1878, in Welcher ber gürft
©iSmard bie betannteit Steuerungen über gerbinanb SaffaHe that, rechtfertigte er
bie ©erwenbung beS ^ermann SBagener in fociatbotitifchen gragen unb beffen
Detegirung ju bem ©ifenacher ©ongrefj bamit, bah er ihn (ben ÄreujjeitungS»
SBagener) als einen „für biefe Sachen burdjauS funbigen 9Rann, einen SRann bon
©eift" bejeidjnete.
SBottte ich «eben biefen groben ©ropheten auch alle bie Meinen, Welche fytuU
jutage ben StaatSfociatiSmuS unb berwanbte ID^eorieu btebigen — ©ott fei Dant,
ohne bisjefet in ber ©raj:i$ jur £>errfdjaft gelangt ju fein —, aufführen, fo würbe
ein gotiant baju nicht auSreichert.
3ch müfjte bann neben ben bereits erwähnten proteftantifdjen ©rebigem auch
ber tatt}otif<hen ©rätaten unb ©riefter gebenten, welche fidj gleichseitig mit bem
©artamentariSmuS unb mit bem ©ociatiSmuS befchäftigen unb befchäftigt haben.
3n erfter fiinie ift ba ju nennen bet mainjer ©ifchof SBilhelm ©manuel
bon fietteter, 1871 SRitgtieb beS {Reichstages, jefet fdjon öcrftorben. @r unterhielt
perfönticfie ©ejiehungen ju Saffatte, fcfjrieb ein ©uch über bie Strbeiterfrage unb
hielt ©tanbeSprebigten für bie „Strbeiter", inbem er fidj „ats bem JRepräfentanten
beS 3iwmermannSfohneS" (bamit meint er 3efuS ©hriftuS) auch ben Quafi*
charatter eines „Ouvrier" ju oinbiciren fudjte. 3« jWeiter ßinie ift beS Dom»
tapitutarS ©hriftoph SRoufang ju gebenten, früher {ReicfjStagSabgeorbneter für
9Rain$, unb feitbem bie Slerifalen biefen SBahttreiS an bie gortfchrittspartei haben
abgeben müffen, für SBipperfürth»3Rütheim, SRegierungSbejirt fiötn.
Die tterifaten ©ociatiften bitben inbefj eine ganj befonbere ©pecteS. ©ie
perhorrefciren in gewiffem Sinne ben fociatiftifdjen 3wangSftaat unb wollen nicht
bie SJtachtftettung beS Staates, fonbem bie ber Kirche tiermehren, ©ieHeidjt beuten
fie an bie {Rotte, welche oormats bie Seiten in ©araguah unb in ©anaba gefpiett
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Die Parteien im Deutfdjen Reichstage.
877
tjaben. Der toaste Urheber bei pfeuboconferüatiöen ©ocialilmu! in Seutfcßlanb
ift aber ber befannte General bon 9tabowi|, bet Slnno 48 im franffurter Par*
lament faß unb fdjon borget ben ®unb bei Ißronel unb Slbetl mit bem bierten
Stanbe, jur Unterbrüdung bei britten ©tanbel, geprebigt hat
tftabowifc belehrt uni barübet in feinen „©efprädjen aul ber ©egenwart über
Staat unb ftirdje" (2. Stuft., Stuttgart 1846) in folgenbet SBeife.
(Sr fdjilbert bie ©efaßten bei Proletariat!, bal biljefct jwar nur in ben
©täbten graffire, aber ßcß batb auch über bal fladje Sanb aulbeßnen »erbe.
Sann fragt er: „SBie finb bie ©efaßten ju befcß wären?"
Sie Stntmort tautet:
„3n ben Oorßanbenen aulgetretenen ®aßnen ift hierin gewiß nichts ju erreichen,
benn bie Stuf gäbe ift eine neue! 3Jlit tteinen $ütfen unb SJtaßregetn ift gewiß
nictjt! auljuricßten, benn bie Stufgabe ift eine große! Solange mcßt ein ßäßerel
®efe$ aufgeftellt wirb all ber (Sigennujj, folange nic^t ber ©efammtßeit ein Stedjt
gegeben wirb über alle Sterte, atfo auch über bie (Sigentßumlrecßte bei einjelnen,
lann an leine Leitung gebaut werben.
„£at ber wahre Staat ben Schuß bei bloßen SRecßtel all einen ju befcßränlten,
ja all einen ßinberlidjen ®eruf hinter ßcß gelaffen, tjat er bie ©tüdfeligleit feiner
Slngetjörigen ßcß jum alteinigen Smede unb gefterft, fo liegt ißm auch ob,
bie übernommene Pßicßt toirflicß ju erfüllen. $eine Regierung, wie aud) fonft
ißre gorm fei, lann entgegenhalten, baß e! ißr tjierju an prüften gebräche, benn
bal iß eben bie Sleußerung bei mobemen ®ewußtfeinl im Staat, baß färnnttlidje
Kräfte feiner ®ürger ißm jur (Streichung bei allgemeinen Bredel gehören.
„Senlen Sie ßcß, ber Staat fetber trete atl gabrilant, all Snbußrieller auf.
„Sie inbuftrietlen Stnftalten, bie ber Staat mit feinen Mitteln ßeroorruft, werben
bie grüßten fein, alfo nach bem belannten ©efeße in biefer Sphäre, bie neben
ißnen befteßenben prioatuntemeßmungen in mäßiget Seit bemicßten. Ser reine
©ewinn in biefen Stnftalten, ber eben wegen ißrer Slulbeßnnng ein großer fein
Wirb, falle ben ju ißnen gehörigen Slrbeitem ju, anfänglich tßeilweife, in fernem
gaßren gottj. 3n bemfelben SDiaße werbe ißnen auch ein immer ßeigenber Xßeit
an ber Seitung unb ®erwaltung ber Stnftalt übergeben, bil ße ganj in ihr <Sigen=
thum übergeht Sie Slrbeiter jeber Staatlfabri! bilben eine ©enoffenfcßaft, bie
ihre SIngelegenheiten felbft oerwaltet; biefe Korporation ift el, in welcher baßer
juleßt Kapital unb Strbeit in unjertrennticßer ®erbinbuug erfcßeint.
„SBarum foQte bal baju erforbertiche Kapital mcßt aul Staatlmitteln ßießen?
©ibt el unter bem, Wal man öffentliche Swede nennt, etwa! jum ©emeinwoßt
Sienlidjerel? 3<ß glaube gar nicht, baß babei bebeutenber ®erluft wäre, fottbem
baß man bal aufgeWenbete Kapital allmählich amortißren lönnte. SBenn biel aber
auch nicßt gelänge, rentirt ßd| jebe (Sßaufiee, jeber Seinpfab?
„SBenn ich ein« Sonnerßimme hätte, um meine SBamungen unb ®itten in bie
0ßren ber SDtäcßtigen ju fdjreien, fo würbe ich mich fußet nicßt an bie «®olll*
Oertreter», an biefe ©olone unb Sßlurge öon 10000 gl. wenben, fonbem eßer
an bie abfoluteften $ertfcßer. Soußenet ßat recßt, baß bie fürßlicßen Xßrannen
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Unfete ,geit.
immer noch ben ©ottsintereffen unenblich näher fielen als bie ©tutotraten aller
Slrt, bte er mit bem fummarifdjen tarnen «Rubens begegnet.
„Stoch gebe ich ben Äampf nicht auf, noch ftnb auch für unfere Surften bie
hülfen nicht erfchöpft, um im Streite gegen bie triumphirenbe 2Jtittelmäßigfeit gu
befielen. Sie mögen ben SJtuth haben, fid^ an bie SDtaffen gu wenben. Stort in
ben untern unb gaJflreidjften Soltsllaffen finb noch ihre natürlichen Serbünbeten,
finb noch unberbraudjte Prüfte, finb noch Staturen, bie bet Stonlbarteit, ber ©fr»
erbietung, ber Belehrung fähig finb, bie bor allem ber Stücffeljr gut ©otteSfurdjt
gugänglicher finb als baS in ber fcfjlechten Beitbitbung berfommene, um Sreu’ unb
©tauben gebrachte ©ublifum ber Beitungen, ©ürgerberfammlungen unb 3)eputirten=
Jammern!
„®ie SJtonarchie ift in ®eutfdjtanb noch nicht mit fjäuften unb ©flafterfteinen
angegriffen worben; fie braucht biefe auch noch nicht gu ihrer ©ertheibigung. 3)tan
befämpft fte öffentlich unb untertoühlt fie ^eimtich» auf bem legalen SBBege; auf
bemfelben SBege bertheibige fie ft<h! Unb groar toie jebe tüchtige ©ertheibigung,
inbem fie felbft in ben Singriff übergeht!
„können Sie leugnen, baß bie ©efefcgebung bisher faft auSfcfjließlich bie Suter»
effen beS SJtittelftanbeS gum Biele unb Btt>ecfe gehabt, baß bie Regierung über»
toiegenb in beten Sinne geführt toorben ift? 23ir toiffen, Welchen 3)an! bie
Sanbesljerren geerntet. Welcher ©ebrauch bon bem erlangten Stöeinbefifce ber ©elb»
macht bor unfern Slugen gemacht wirb! SSenn eine ^Regierung ihr, gottlob! noch
immer beträchtliches ©ewidjt in bie anbere SBagfchale würfe, wenn fie fidf bie
Sntereffen ber befifctofen Stäube gum $auptgiele nähme, wenn fie in biefem
Sinne regierte, berwaltete? ©erfteht fich, immer auf rein gefefctidjem SBege, aber
biefer ift fehr breit. Selbft ben liberalften Kammern fann man ©efefce abforbem,
bie noch liberaler, wenn auch iu einer anbern Dichtung als bie hergebrachten finb!
©lauben Sie nicht, baß bie große SWehrgahl beS SoHeS im Stanbe wäre, ftch bon
bem trugbollen Seitfeile toögumacfjen, an Welchem fie jejjt bon ber Slriftolratie beS
©elbeS, ber Subuftrie, beS Spießbürgertums gegängelt wirb? ®aß fie eingufelfen
bermöchte, wo ihre eigentlichen ©egner unb wo ihre wahren Serbünbeten gu fudfen
finb? ©lauben Sie nicht, baß bann auch eine SageSliteratur emportauchen würbe,
bie ihnen biefe Sehre ebenfo einbringlidj borhielte als jef}t bie umgelehrte? Stoß
fich auch eine öffentliche Meinung bilben lönnte in entgegengefefcter Stichtung wie
bie heutige? Stoß biefe bie geregte Sache ber Könige mächtiger ftü|en würbe
als alle ©atliatibe ber heutigen StegierungSfunft? Stoß baS ©erlfältniß ber Kräfte
in beiben Sägern (ich gewaltig umgeftalten, bei einem etwaigen Bufammenftoße
gang anbere Stefultate liefern würbe als bie Äataftrophen, bie wir feit 1789 ge»
fehen haben?"
So Stabowi^.
Sch h a & e nicht nöthig, bem irgenb etwas hingugufügen.
SDtan müht fich t>»n allen Seiten, uns focialiftif^e ©rillen auf bie 9tafe gu fehen.
Sch über habe gu bem bentfdjcn ©ot!e baS ©crtraitcn: cS wirb bie ©rillen
ab» unb bie Slugen aufthun.
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JDte mfUid)t (Dpemfumsfrmtf Hujjlaitfcs uttir M t
dftli(f)t Wmtföianbs.
Von einem prenfjtfdjen Siabsofftjier.
Der Sanbftrich, in meinem fi<h bie beiben Sachtfphären StufjtanbS unb Deutfeh»
lanbs einanbec berühren unb ftch auf einer langem Sinie gegenüber treten, trägt
im allgemeinen einen einheitlichen geographif<h en Gharafter. Unb bo<h ift bie
ißhhfiognomie biefeS meitgeöffneten DieflanbeS im Seften ber Seichfel fehr berfd)ie*
ben öon berjenigen im Dften bet Seichfel. Der magere ©anbboben, bie füm»
merliche Vegetation, bie geringe Saffermenge, ber Kiefern»alb ftnb germanifch.
Der fettere, reichbemäfferte ©oben, bie üppigere ©flanjennatur, baS bem Slabel»
holj fräftig an bie ©eite tretenbe Saubholj üerfünben bie farmatifche Statur.
Die ©renjtinie, »eiche bie beiben Staaten boneinanber trennt, hat non ber
Statur feine äußere StuSprägung erhalten; bie ©renje ift bielmeljr überall als eine
offene ju betrachten, unb bie militärifche ©enufcung ber ©tenjlanbe in einem
Kriege ift tebiglich burch bie ©efdjaffenheit ber te|tem mehr ober minber befchränft.
Die Konfiguration ber Politiken ©renje, »eiche bem ©ange ber territorial»
geeichte beiber Sänber ihre ©ntfteljung berbanft, ift berart, baß baS mffifche ©c*
biet et»a auf bet SJtitte jener Sinie 200 Kilometer in baS preujjifdje ©ebiet ein»
bringt unb fidj baburdj ber preufitfch»beutf(hen $auptftabt ©erlin bis auf et»a
40 Seilen nähert; bafür »irb eS anbererfeitS im Storben burch bie fid) längs ber
Dftfüfte auSbehnenben DIjeile ber ©robin^en Oft» unb Seftpreujjen in »eitern
©ogen, im ©üben bon ber ©robinj ©djlefien in geringerm ©rabe umfafjt. Die
Sänge biefer Sinie beträgt im ganzen ungefähr 1200 Kilometer, bon benen einzelne
Stbfdjnitte auf fflufjläufe unb ©een fommen.
Stehen ber Sanbgrenje fommt auch bie Dftfeefüfte als SeereSgren^e gegen
Stufjtanb in ©etracht, ba »enigftenS numerifch bie ruffifdfjen ©eeftreitlräfte ben
beutfcfjen gegenüber im gaU eines EonflictS in entfprechenbem Umfang jur ©er*
»enbung gelangen toürben..
©ei ber militärifchen Setrachtung beS ©renjtanbeS bilbet baS ©ifenbafjnnefe ber
©renjjonen einen »efentlichen gactor.
STuf biefem ©ebiet hat Deutfdjtanb bor Stufflanb einen »eiten ©orfprung burd)
bie gahl unb bie Sage ber @chienen»ege, »eiche bie öftlichen SanbeStheilc burch»
jieljen unb ber militärifchen ©enufcung bienftbar finb.
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Wnfere £t\L
3m Soeben treten, and bem mittel« unb norbbeutffen ©afjnfftem tommenb,
hier fiinien an bie SBeiffet heran, wetfe biefen Strom innerhalb beS beutffen
®ebieteS auf brei großen ©rüden überleiten.
Stbgefeljen ^teroon münben in Dftpreußen t»ier öatjnftreden auf bie ®reitgen
auS. 3m mitttern X^eit ber tejjtern berühren bie ©ahnen ©romberg=Xt)orn unb
©reStau«2BithetmSbrüd unmittelbar bie ®renge. ©on ©ofen aus, baS ben £aupt=
fnotenpuntt ber oon SBeften ^er nach 9torb unb ©üb Weiter geführten ©dienen«
Wege bilbet, taufen in biefen Stiftungen auf brei große ©araüetbahnen tängS
ber ®renge, fobaß auf an XranSberfalWegen tein SRanget ift. Xiefe XiSpofition
beS öfttifen ©atmnepeS ermögtift nift nur einen ffnetten ftrategiffen Stuf«
marff ber gangen beutffen £eereSmaft an jeher beliebigen ©rengftrede, fonbern
erteif tert auf jeben SBef fet ber erften SuffteUung unb erforbertif enfalts bie ©er«
ffiebung größerer Xruppenmaffen oon ber einen Seite ber ©renge gur anbent.
©ei ber Unmögtif feit, bie gange S'üftentinie mit Xrappen gu beferen, ^at man
fif barauf beffränlt, für bie an eingetnen wiftigen ©untten gu concenhrtrenben
©erfeibigungSfrfifte bie SRögtiffeit eines raffen XranSporteS an jebe Äüftenftrede
gu erlangen, demgemäß ift auf $erftettung einer burfgeljenben Äfijtenbaljn ©e»
baft genommen, unb ein Sfienenweg Oon SRemel naf SfteSwig mit me^rem
Stbgweigungen naf bem $intertanbe fowot als naf eingetnen bebeutenbem See«
Jjäfen ^ergefteltt worben. Stußer ber auSfftießtif ber MftenOerf eibigung bienft«
baren ©ifenftraße münben fonaf fefs burfgehenbe große ©fienenftränge, au$
bem 3nnent tommenb, an Xeutff tanbs SRorboftgrenge. (ES finb bieS bie ©treden
1) #amburg«©tettin«®önigSberg«<Ebbtfuhnen; 2) §annoöer«©ertin»fiüftrin=®raubeng=
3nfterburg; 3) ®ötn«Sertin«grantfurt a. D.=©ofen=2f orn; 4) ftaffet=Xorgau«Äottbtt3*
@togau»Siffa; 5) ®obleng=8eipgig«Ftiefa=2iegni$«StreStau; 6) |>of=XreSben«©örlip»
9teiffe=$ofet.
Xabei fteljt, Was für mititäriffe Swede oon ©Ortzeit ift, ber größere Xtjeit
ber genannten ©aljntinien unter StaatSüerwattung.
Xer SRittetpunft beS Xeutfftanb benafbarten ruffiffen (EifenbatjnnefceS ift
SBarffau.
$ier oereinigen fif bie oon ©etersburg, SRoStau unb bie aus bem fübtifen
Stußtanb tommenben Sfienenwege gu einem Strange, ber fif bann fpattet unb
einen Sweig naf Storb, ben anbern naf Siibweft fenbet. ©on ber fiinie ©eterS«
burg«2Barff au gweigen fif nur brei Sinien naf ber preußiff en ®renge ab, wetf e
bie $auptabfafewege für ruffiffe SanbeSprobucte naf ben beutffen Dftfeepttfen
barftetten.
Xie gutejjt genannten ©a^ntinien bleiben auf bem reften Ufer ber SBeiffet;
Oon SBarffau aus führt bisher nur eine Sinie naf bem linten Ufer, Welfe fif
bann feilt unb einerfeits bie untere SBeiffet naf SUejranbrowo bei Xtjorn be«
gleitet, anbererfeits an baS preußiff e ©ahnnefc in ber füböfttif en ©de bon ©f te«
fien führt. Xie bagwiffentiegenbe ©rengftrede ermangett nof oööig ber @ifen«
bahnen.
SRit biefen lurgen Strifen ift im allgemeinen baS ruffiffe ©aljnneß beS
SBeftenS gegeif net. ®roße ftrategiff e Kombinationen taffen fif bei biefem gerin«
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Die u>eftli<he Operationsfront Rußlands unb bie Sftlic^e Deutfdßanbs. 88 \
gen ©tabium bet Entrotcfelung, abgefehen etwa non einer $ruppenanfammlung
gegenüber Oftpreußen, ntc^t wollt auf baffetbe bauen. Son größerer Sebeutung
finb bie non Often her in SBarfd^au münbenben Sahnen, welche int ©tanbe wären,
an ber SS eichfei eine Eoncentration ber ©treitfräfte auS allen Ereilen beS 8tei<heS
in berhättnißmäßig turjer Seit burchzufüfjreit. ®ie SRegfamfeit, bie fidf in neuerer
Seit in fRußtanb auf bem ©ebiet beS EifenbaljnWefenS entfaltet, wirb an biefen
Serhältniffen borau3ficf)tlich manches halb änbem. Son Neubauten finb nament*
fic^ Schienenwege nach bem mitttem Xheil ber beutf<h=ruffifchen Orenje unb zwar
nach ©tupjp, nach Katifcf), unb an bie preufjifdje ©renje bei SSithetmSbrüd pro»
jectirt. ®iefe Ergänzungen haben inbeß für bie militärifche 9tu|barmachung beS
weftruffifchen EifenbahnnefceS fo lange feinen befonbern SBerth, als ber Uebergang
über ben SSeidjfetftrom unb bamit ber Sufammenhang ber Sahnen beS linfen
UferS mit ben Serbinbungen, bie aus bem Sunem fRußtanbS fommen, auf bic
Eifenbahnbrüdfe bei SBarfdjau befd^ränft ift. Su einer, ber heutigen Kriegführung
entfpredEjenben fdjneüen Eoncentration ber ruffifchen ©treitfräfte in ber Sftitte ber
©renje bebarf es mehrerer großer Eifenbahnübergänge über bie ÜBeidjfel; nur mit
£filfe berfelben fann eS getingen, ben ftrategifchen Aufmarfch beS ©eereö recht»
jeitig zu bewirten.
2Ba8 größere, aus bem Snnern StußtanbS fommenbe Eifenbahntinien betrifft,
fo gebietet bie ruffifcße KriegSberWaltung über brei $auptftränge: 1) Petersburg*
®ünaburg*SBarf(hau; 2) 3JtoSfau*@motenSf*3Barfchau; 3) KurSf=KieW=2ublin.
Stehen biefen §auptberfehrSwegen auch mehrfache Ouerberbinbungen zur ©eite,
fo taffen fidf) hieraus hoch immerhin nur fünf Stufmarfchtinien gegen Polen unb
Sitauen herleiten; auch fehlt es bem potnif<h*titauifchen Sahnneß an SranSberfat*
bahnen für bie Serfdljiebung ber Gruppen währenb beS StnmarfcheS nach einem
betiebigen punft ber ©renztanbe.
$ie SerWaltung ber ruffifchen Eifenbahnen liegt zum großen in ben
§änben oon prioaten; es gibt einige fünfzig ©efettfdhaften; aber ber Staat h°t
baburch, baß er bei fcßr bieten SinSgarantie geteiftet, einen gewiffen Einfluß
auf biefetben, ber fidE) neuerbingS namentlich in ber ffufion ber Serwattungen zu*
fammenhängenber Sahnlinien geltenb gemacht hui- ®ine SerfehrSfdtjwierigfeit bietet
im ruffifchen EifenbahnWefen bie aus fRücfficht auf bie Sanbeöbertheibigung unb
auf etwaige Snbafton angenommene geringere Spurweite ber Streife bar, welche
oon frembem SetriebSmaterial nur SSagen mit bestellbaren Stabern zuläßt.
Eine ruffifdhe Snbaßon gibt ihren Operationen am zweefmäßigften bie Stidtjtung
auf ben Pregel, unter gleichzeitiger Ausführung eines SorftoßeS längs ber SBeichfet,
um bie Probinz Oftpreußen mit ihren $ütfSmittetn abzufeßneiben unb fte bem
ruffifeßen ©ebiet einzuberleiben, ebenfo um mögliche fdjnetl rücfwärtige Serbin*
bungen zur See zu erlangen. Sei einer Offenfibe auf ber Sinie 2Barfchau=Pofen*
Sertin gäbe fRußlanb feine rücfwartigen Serbinbungen zu feljr preis.
Eine genauere Setrachtung beS oftpreußifchen ber ©renze junächftgetegenen
©elänbeS zeigt, baß es auf beutfeher ©eite hier an einem feßü^enben Abfdfjnitt
fehlt. $aS Sanb liegt ziemlich offen, bazu trennt bie Stiebeneng beS SRemelftnffeS
Untere Seit- 188*. I. 56
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882
Untere ^eit. _ _
ben ftpmalen Snnbftritp, ber fiep jmijtpen ber ruffijtpen ©renje unb bem Kuriftpen
fjaff norbwärtß etftrecft, bon bem 3teft ber ©roohtj üöflig ab, — Sie in bem
lebten Igaprjepnt lebhaft aufgeblähte ImnbelSftabt SRemet ift infolge beffen einem
Angriff oon ber Sanb* unb ©eefeite per gegenüber, trop iprer Küftenfortß, etwas
ejponirt. Uebrigenß ift bie ©efapr einer feinbticfjen ©efipnapme beß Kuriftpen
£affß baburtp fepr nerminbert, baß biefer SReereStpeil ftpon in geringer Ent*
fernung bon feiner SJlünbung unb bon bem memeler $afen fo flach ift/ baß nur
leitpf gebaute, flach ßepenbe Kanonenboote in benfetben einbringen fßnnen.
©flblitp ber SDiemelnieberung finbet fiep ein, baß Vorbringen beS geinbeß wenig
begünftigenber, birect auf Königsberg füprenber ©obenabftpnitt, an welchem ber
©egner nicht borübergepen fann.
Sie feit ben bierjiger gapren ju einem berftpanjten Saget erweiterte geftung
Königsberg ift im tepten gaprjepnt mit einem 3ting bon 13 ftar! armirten Slußen*
werfen umgeben Worben, weltpe biefelbe jum ©tpwcr* unb HRittelpunlt ber Sefen*
fibe DftpreußenS machen unb ipm eine SBirfungßfppäre fidlem, bie bei fräftigcr
Seitung ber Sertpeibigung jiemlitp Weit reicht. Königsberg fleht natp brei ©eiten
mit fteinern ©efeftigungen in ©erbinbung, Weldje ipm theilS bie gront unb gtanfe,
tpeilS ben Stütfen bedten. Sie erftern finb bie gefte ©open bei Söpen unb SJlemet,
bie leptere ©itlau. — Söpen gibt einen ©tpWerpunft für bie, baß große ©een»
bcfift ber mafurifdpen Seenplatte burtpjiepenbe ©traße, ben fürjeften 2Beg nadp
Königsberg. SRemel in ber Sußerjten linfen glanfe bertpeibigt ben Eingang in
baß Kurifcpe $aff unb fcpüpt bie ©apn nacp Königsberg; ©ittau, ber ©tplüffel
jum griftpen £aff, bermittett bie Slufrecptpaltung ber ©erbinbung jwiftpen Königs*
berg unb Sanjig auf bem SBege über baS griftpe $aff, unb fcpüpt bamit ben
Sefip biefeß ©innenfeeS. Sie SBerfe bon ©illau matpen Königsberg $u einet
©ofition, bie opne borperige Eemirung beß ©ittauer Siefs, unb opne feinbliche
glotitle auf bem $aff nicht böttig eingefcploffcn Werben fann. ^ebenfalls müßte
eine angreifenbe, refp. borgepenbe 3lrmee jur ©lofabe ober ©elagerung Königsbergs
anfepnlicpe ©treitfrafte jurüdlaffen unb fiep baburtp für weitere Operationen fepr
ftpwücpen. Sic Sefeftigung bon ©iltau ift burtp jtoci ©anjerfortS, bie bon ©lernet
burtp ein neues gort berftärft worben, ©on einer ©efeftigung ber ©renjbapnen pat
man im beutfepen SanbeSbertpeibigungSfpjtem abgefepen, in ber gewiß richtigen Ueber*
jeugung, baß man burtp ein einzelnes ©perrfort bodp nicht bie Störung ber ©apn
burep ben geinb pinbem fönne. SaS fepon borper erwäpnte, ben ©regelfluß umge*
benbe DperationSterrain Wirb im ©üben bon ben mafuriftpen ©een umfäumt. Siefe
großen SBafferbetfen in ©erbinbung mit ben Keinem Kanälen unb SSafferlfiufen
betfen bie ©rooinj Dftpreußen gegen eine bon ©üben per fommenbe Snbajton, fo*
baß bie beutfepe ©renje bafelbft auf ber circa 100 Kilometer langen ©tredfe als
gefitpert gegen größere feinblitpe Untemepmungen betraeptet Werben muß.
Eine bie Sßeitpfel abwärts monöbrirenbe feinblitpe $eereßabtpcilung ftößt fepr
batb auf Sporn, baS infolge ber ipm neuerbingS gegebenen fortißcatorifcpen 8tuS*
bepnung unb Slußftattung ben ßparafter einer ftarfen Sefenfib* unb Offcnfib*
pofition trägt unb baburtp, baß cß einen guten ©tüppunft für eine gelbarmee
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Die roeftlicße Operationsfront Huflanös unb bte öftlicfje Peutfcßtanbs. 885
bietet, eine oftmartS bis p bem Hbfcßnitte ber ©een unb ©ftmpfe in SDtafuren
reicßenbe SBirfungSfpßäre ßat. Stan !ann uacß bem Oorfteßenb furj ftijjirten
©efeftigungSfpftem DftpreußenS im allgemeinen anneßmen, baß ber geinb p einer
noüftänbigen Dccupation beS SanbeStßeilS jroißßen 2Bei<ßfel unb kregel erft bann
mürbe fcßreiten fönnen, menn eine ber beiben genannten §auptfeftungen, Königs*
berg ober Xßom, in feine #anb gefallen märe.
Sine rufflftße 3nöafion, welche bie XBeicßfet überfcßritten fiat, muß baS in ißrer
regten gtanfe liegenbe SJanjig unfcßäbticß matßen, eße fie meiter lerrain nacß
SBeften ßin geminnen fann; bie Sage biefer allerbingS nur befenfioen geftung (mit
brei öorgefißobenen SBerfen auf bem linfen, fünf auf bem regten SBeicßfetufer), in
ber oon nieten SBafferläufen burtßpgenen SBeicßfetnieberung, fefet beren Sinfcßließung
unb Stbfcßtießung non ber ©erbinbung mit Königsberg einige, menigftcnS bem
Gegner einen Seitnertuft oerurfacßenbe ©cßmierigfeiten entgegen. 3)en mitttem
Ißeil beS ©renjtanbeS f»at bie Statur für eine 3nOafion menig geeignet gemadjt.
Störbticß ber SSBartße bis pr Steße ßiu 6reitet ficß eine Steife burcß ©umpftanb
miteinanber netbunbener ©een auS, unb auf bem linfen SBartßeufer legt ficß baS
Dbrabrucß einem oon Dften ßer anrücfenben ©egner Oor unb jmingt ißn, entmeber
bie Stiftung auf ©ofen ober auf ©togau einpfcßtagen. ©ofen mit feinen elf gortS
mirb, menn biefe Anlagen öoHenbct fein merben, ein großes öerfdßanjteS Säger
barfteOen, beffen SBirfungSfpßäre ben Slbfcßnitt piifcßen Steßenieberung unb Dbra»
brucß umfaßt, ©togau ifi nur Oberbrücfenfopf unb als folcßer meßr non localer
©ebeutung. ®ie geringere SBiberftanbSfäßigfeit biefeS ©laßeS mirb ben geinb
immer nacß biefer Stiftung ßiitjießen, pmat ißn nacf» einer Sinfcßließung ber
Heftung gar nichts baran ßinbert, ©cßtefien p occupiren unb ficß bort eine ÜJlenge
Oon mistigen $ülfSqueHen p berfcßaffen. Sine non ©togau in ber Stiftung auf
©ertin fortgefeßte Snoafion bleibt außerhalb beS ©ercicßeS ber geftung Küftrin, melcße
oermöge iljrer roeit norgetegten unb ftarfen fecßS Slußenroerfe unb ißrer fcßmer pgäng*
ließen Sage in einer breiten, fumpfigen Xßatnieberung einem feinblicßett ©orgeßen
non ©ofen ßer längs ber SBartße emfte ©cßmierigfeiten p bereiten oermag. Sin
im fttbticßen Xßeite beS preußifeßen ©renjgebieteS einbringenber ©egner fänbe nur
in bem auSgebeßnten SBalbtevrain p beiben ©eiten beS 3JtatapanefIuffeS ein
£>inberniß ber Stnnäßerung; meber Steiffe uoeß ©laß mürben ißn Oerßinbern, fieß
übet ©eßtefien auSpbreiten, erft bei ©togau mürbe er auf eine Sortiere treffen,
mobei atterbingS p bemerfen, baß eine Offenftoe in biefer 9tiißtung bie feinblicße
OperationStinie in bebenftießer SBeife nertängern unb aus biefem ©runbe mot
feßmertieß als ^auptoperation unternommen merben mürbe.
SS erübrigt noeß einen ©lief auf baS beutfdße Sitorate p merfen, um p feßen,
inmiemeit baffetbe bei einer ©ertßeibigung unb einer friegerifeßen Slction in Se=
traeßt tommt.
3m battifeßen SDteereSbeden finbet mie befannt *in faum roaßrneßmbarer SEBecß*
fet jmifeßen Sbbe unb gtut ftatt: ein Umftanb, ber feinbtieße Unterneßmungen
nitßt an beftimmte Seit«« binbet. 3)afür feßtt es bem faft breimat fo langen
beutfeßen Cftfeegeftabe an ben feßüßenbett Untiefen unb ben ©eebänfen beS friefifeßen
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88^
Uttfcre 5eit.
unb weftfiotfteinifchett Süftenlanbeg; aud) reicht bie SBaffertiefe bon 6 SReter für
grofje Sricggfchiffe an meutern ©teilen bis nahe an bie Ufet heran unb begünftigt
bag Mugfcfjiffen Don Sanbmtggtruppen unb Srieggmaterial.
3h*er Konfiguration unb natürlichen 93efd^affen^eit nach zerfällt bie baltifche
Süfte für bie militärifche Betrachtung in btei Slbfchnitte. Sen am meiften bon
ber Statur wiberftanbgfäljig angelegten Sheil bilbet ber ©tranb bon SJiemel big
Sanzig, bermöge ber langgeftredten flachen ßanbjungen, bie unter bem Starnen
ber Stehrungen bie bahinterliegenben SJteeregtheile beden (Surifche unb grifdje
Stehrung). Stur in bem fübweftlidjen Steile ber Sanziger Bucht ftetlen fich einem
feinbüchen ©efchwaber feine bie Schiffahrt hemmenben ©dfwierigfeiten entgegen.
Slber hi« liegen bie Süftenbefeftigungen, bie einen ©efdjüfcfampf aufnehmen fönnen,
an ben fchmalen SJtünbunggarmen ber SSeichfet, Währenb bie Dffenfibfraft ber
nahetiegenben geftung Sanzig Sanbungen bon Xruppen jurütfjutbeifen im ©tanbe
ift. Sie (Hinfahrten unb ber 3ugang 3 « ben beiben $affg finb burdh bie Be=
feftigungen bon SJtemel unb ißitlau gefchloffen. Bon ber Sandiger Bucht an beginnt
bie tanggeftredte pommerfche Süfte, bie faft gerablinig big ju ben Dbermünbungen
bertäuft. Stuf biefer Süftenftrede liegen bie nur für Schiffe mit geringem Sief»
gang zugänglichen fpäfen bon ©tblpmünbe, Siügenwalbe unb Solberg. Mufjer
biefer ©tabt liegt fein größerer Drt ber ffiüfte fo nahe, bafj eine Besiegung
beffelben Kinbrud machen fönnte. |)ier befinben fich auch, dug früherer Seit her=
ftammenb, Süftenbefeftigungen, beren Strmirung augreichenb ift, um anbere feinb»
liehe Unternehmungen abzuwehren. Bon ben brei Dbermünbungen ift nur ber
mittlere Slrm, bie ©Witte, zugänglich; er wirb aber bon ben Befeftigungen bon
©Winemünbe gebedt. SbJtf^en ber pomnterfefjen unb ber medlenburgifchcn Bucht
liegt bie 3 fnfet Stügen, bur<h fchmaleg ©ewäffer bom gefttanbe getrennt, geinb*
liehe Sanbungen, bie bort 3 ur Slugführung gelangen fönnten, Würben burd) eine
Dffenfibe bon ©tralfunb her leicht 31 t befämpfen fein. Sie Süfte SJtedlenburgg
ift burch ungünftige ©tranbberhältniffe ziemlich gefchüfct; erft bie Dftfüfte §olfteing
unb beren Buchten fcfjeinen feinblichen Unternehmungen günftig.
hiernach finb an ber Dftfeefüfte mehrere Socalitäten unb fünfte borhanben,
welche feinbüchen ©Riffen geftatten, big in gefahrbrotjenbe Stahe heranzugehen, wäf)=
renb an ber Storbfeefüfte bie bon feinblichen Unternehmungen bebrohten fünfte
nur wenige unb bon geringer Slugbehnung finb.
3n ähnlicher SBeife wie bie natürlichen geftalten fich uucf> bie ftrategifchen
Berhältniffe im baltifchen Beden ungünftiger alg in ber Storbfee. Sie ungefähr
130 SJteilen lange zu bertheibigenbe Sinie ber Dftfeefüfte bietet auf beiben glügeln
bent Angreifer offene ©ewäffer. Sie ©tüjjpunfte ber actiben maritimen Sefenftbe
finb Sanzig für ben öftlichen unb fiel für ben weftlichen Sheil. Bon beiben
müffen bie glottenoperationen auggehen, welche barauf gerichtet finb, ben geinb
bon ben beutfdien Säften fern zu haßen. Sanzig fällt auf biefe SBeife bie Stolle
eineg Bafigpunfteg bei Bertheibigung, refp. einer Dffenfibe, im tätlichen Sheile ber
Oftfee z«. Siefer Aufgabe entfpricht feine jefcige Befchuffenheit alg SJtarine»
etabliffement. Sanzig bietet bie SOtittel bar, um fünf gal)rzeuge gleichzeitig z«
boden; ein Srodenbod mit fünf $orizontalftipg nimmt biefelben bequem auf;
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Die weftlidjc Operationsfront Jvufflanbs unb bie öftlidje Deutfdjlanbs. 885
auffetbent ift bafelbft auch ein Schwitnmbocf öorhanben jur Slufnahme unb Unter*
fudjung reparatnrbebürftiger ©eefdhiffe. $ie banjiger SBerft bietet aufferbem, im
Setein mit ben ©tabtiffementr ber Sanbheerer, bie SOtöglichfeit einet geniigenbett
SdhiffrauTrfiftung bei einer iljcilmeifen Äampfuntüchtigfeit bet gahrjeuge bot.
®ie Soge non ®iet ouf bem entgegengefefjten glügel bet Dperatiourbafir in
bet Oftfee ift meniget bortheilhaft. 3« weit tanbeinwärtr juriiefgejogen, gewährt
er bem Angreifer mehr bie SJiöglichfett,* ben Hafen ju btoüren, alr bem Set»
tfjeibiger, ben ©unb unb bie Seite ju be^errfc^en. Äiel ift baher }u einer Sofition
gemalt motben, aur bet Ijetauä leidet Ausfälle ju unternehmen finb, bamit einem
©egner, ber fi<h im ^otfteinifd^en SBinfel mit feinen Schiffen aufgefteKt hat unb
bie in bemfelben gelegenen Häfen fperten will, mag bei bet bortigen Konfiguration
üon Sanb unb SDteer nicht ferner ift, offenfib entgegengetreten Werben famt. Stuf
bet einen ©eite ein gtoffer berfchanjter Saget für bie bort concenttirten glotten»
ftreitfräfte barftcQenb, ift er anbererfcitT ebenfo fef)t Schiffbau» unb SluTrfiftungr»
plafc mit mancherlei in großem Stil gehaltenen Slntagen jur ©rjeugung unb ©rgän»
jung aller Sitten bon Sdhiffrbebarf unb Äriegämaterial für ben ffampf jur ©ee.
©tar! armirte SBerfe auf beiben Ufern ber Sucht (gort galcfenftein, gort @tof<h)
Oertheibigen ben ©ingang in biefelbe; Weiter lanbeinwärtr ju gelegene SBerfe (gefte
griebrich^ort unb gort Sorügen) ftellen bie Hauptftüfcpunfte ber feewärtr tiegenben
Sofition wie ber innern Hafenr unb feiner SEBerfftatten unb SIrfenale bar. 3wei
Saffinr, ein Schiffbau» unb ein SluSrüftungSbaffin, bie ®iel befi^t, finb fo ein»
gerichtet, baff bie gröfften ßriegrfahrjeuge in ihnen geboeft werben fönnen. Sluf
ben ®odfr unb ben Hellingen bafelbft fönnen gleichseitig fieben ©chiffe erbaut ober
reparirt, in bem SluSrüftungSbaffin ebenfo biele gleichseitig auögerüftet werben.
Slufferbem ftehen für 3wecfe ber Schiffbauer noch bie an bie Hellinge fich an»
fchlieffenben ©lipr jur Serfügung. güt ^Reparaturen ift übetbieS ein eiferner
©chwimmboi »orljanben.
SBar bie Stbwehr bon Sanbungen im beutfdhen Sitorale betrifft, fo ermöglicht
bar günftige ©ifenbahmtefc in ben beutfdhen Äüftenprobinjen unb feine Serbinbung
mit ben ©ifenbahnen im Innern ein fdjnetler ©rfdheinen gefchloffenet Gruppen»
abtheilungen, bie jur Sertreibung ber gelanbeten ©egnerr ^erangefit^rt werben
fönnen. SUr SJlittelpunft einer folgen 3)efenfibe fann SUtona gelten, Welcher ein
mehrere Sräljte einfchlieffenber unterirbifdher ®abet mit Serlin berbinbet. ®afelbft
wirb auch bie Hauptmacht ber jur Süftenbertheibigung beftimmten ©treitfräfte
ihre SluffleHung erhalten, weil fie bon bort aur nach allen ©eiten fchneU ent»
faltet Werben fann. Storch bie ©ifenbaljnlinie Senloo» Hamburg unb ihre Ser»
jweigungen, im Serein mit ben nach bem öftlichen Hwterlanbe führenben Schienen»
wegen, ift ber ftüftenbefenfion ebenfo ein ©lement gegeben, welcher bie ©tärfe bet»
felben Wefentlich bermehrt. ®anf einem in folcher SSeife planmäffig borbereiteten
unb geglieberten ©chuh ber beutfehen ©eftabe, ber fich aur geftungrwerfen unb
leichtem Stnlagen biefer Slrt, aur Seobachtungrftationen, aur ben actiben Streit»
mittein ju Sanb unb jur See jufammenfeht, unb in beffen $ienft 3)antpf unb
©Ieftricität eine herborragenbe Stolle fpielen, ift baher, foweit menfcfjliche ffraft
unb ©infidht reichen, Iängr ber breiten Staturgrenje ber 2Reerer Sorge für bie
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886
llnfere
A6wetjr äußerer ®efaf)t getroffen unb auch biefer I^eit ber Stüftung bei ©ater»
tonbfi nad) Ptöglidjfeit gefcßtoffen toorben.
SBenn man nach biefer furjen ©etrachtung unb SBürbigung ber natürlichen
©erttjeibigungSfähigfeit bei ®etänbeS unb feiner fünfttidjen ©erftärfung im allge«
meinen folgern fann, baß bie beutfdjen ©renjgebiete in paffioer SBeife hinlänglich
gefiebert finb, fo mirb man in biefer Annahme beftärft burdj bie ©rwägung, baß
bie beutfdßen fteereSfräfte leicht unb fc^nett ju mobitifiren unb auf mistigen
fünften jufammenjujießen finb, baß ihnen ein weitoerjweigtes ffiifenbahnnefc ju
®ebote ftet)t, unb baß fie einen §alt an ben ju biefem 3wecf oorbereiteten großen
SBaffenpläfcen flnben, welche befeftigten Sägern ju tergleicßen unb im ©tanbe finb,
eine feinbti$e Sntmfion genügenb lange in ben ©renjgebieten aufjußatten, bis
eine träftige ©ertßeibigung weiter rücfwärtS otganifirt ift.
®ie Sertheibigung unb geftßaltung ber ruffifdjen ©renjlanbe finbet eine fräf»
tige Unterftüfcung in bem Ungeheuern territorialen Umfang beS fReitßeS, in ber
geringen SBegfamfeit, ber bünn oertheilten ©eoölferung, bem fpärlidjen Anbau,
Welche fowol bie ©ewegung als bie Annäherung einer ^nbafionSarmee außer»
orbenttidj erfdjweren, wenn nicht unmöglich machen bürften. ©in ©orftoß gegen
bie ^auptftabt Petersburg fönnte, abfotut betrachtet, gewiß bon ©inftuß auf bie
©rgebniffe eines Krieges fein; aber eine Oon Oftpreußen bahin unternommene
Dffenfioe hätte nicht nur mit ber Ueberfdjreitung einiger großen Ströme unb bem
Paffiren weiter ©umpfftrecfeu jiemlich anfehntiche ©chwierigfeiten ju überwinben;
fie müßte fich auch nach beibeu ©eiten hin feh r in bie ©reite auSbehnen, um ihre
Serbinbungen gegen ©ebroljungen oon bem Innern unb oon ber Küfte het ju
frühen. Aber auch wenn man annimmt, baß bieS in oodem Piaße gelänge, fo
würbe hoch immer noch ber paffiee SBiberftanb ju überwinben fein, ben bie ©e»
fdjaffenheit beS SanbeS einem eingebrungenen ®egner entgegenfefct; auch wäre
eS fdjwer ju berljinbern, baß oom Königreich Polen aus nicht ©infätte in bie
benachbarten preußifchen Prooinjen gefdjähen. ©ine gegen baS SDeutfdjlanb be*
nachbarte wefttiche Ftußlanb geplante Dffenfioe muß baljer immer mit ber ©roberung
beS Königreichs Polen beginnen, baS ftch wie ein Keil gwifcßen bie öfttichen
preußifchen ©renjlanbe hineinfcßiebt, unb baburch ben @h arfl tter einer natürlichen
Dffenfiopofition h<*t. ©rft Wenn eS bem Angreifer gelungen, hi« feften guß ju
faffen unb baS feiner natürlichen ©efchaffenheit nach ß<h gut ju Operationen
eignenbe Sanb in feinen ©efifc ju bringen, ift eine erfolgreiche SBciterfüßrung beS
Krieges benfbar, bie fich bann anbern weiter geftecften 3>efen juwenben fönnte.
5RuffifchcrfeitS fd^eint man bei Anorbnung ber SanbeSOerttjeibigung beS rufftfch«
beutfchen ©ren^gebieteS oon ber gleichen Auffaffung ber jtrategifdjen ©erhältitiffe
ausgegangen ju fein; benn bie am weiteften nach SBeften oorgefchobenen Sefeftigungen
finb an bie mittlere SBeidjfet gelegt, wo fie jwifctjen biefem Strom unb bem ©ug
ein großes Ereiecf bilben. ©rft in einer ©ntfernung Oon einigen 60 ©teilen
weiter öftlidj finben fich bem Dnjepr, ber $wina unb ©ereSjina anbere geftnngen,
bie aber mit ber ®renjüertheibigung in feinem 3ufommenhang fteßen, unb theilS
wichtige ©tromübergängc, tßeils $aupt»Straßenfnotenpunfte fichern follen.
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Ute u>eftlicfye Operationsfront Kußlanbs unb bie öftlicfjc IJeutfcfjlanös. 887
9ln bet einen ftarten Stbfdjnitt bilbenben SBeithfelltnie, hinter netter bemnacb
bie ruffifebe Ärraee in concentrirter Stellung ihren ©egner ermarten mürbe, bilben
bie brei ©lafce ©oöo»@eorgiem«f (früher ©foblin), SBarfcbau unb Soangorob eine
geftung«front, melier ©reft=2item«f al« ©üdfh«lt bient. S)a3 taftifc£»e Zentrum biefe«
©efeftigung«fhftem« im Sönigreidj ©ölen fc^eint SBarfcbau ju fein mit feinen
fortificatorifdj fefjr feften, räumlich auSgebeljnten, aber eine DffenfiBe nadj bem
linfen Stromufer nicht gerabe begünftigenben Anlagen. ®en regten gtügel«Stü|}=
punft ber SBcicbfetfront bilben ©ooo=©eorgiem«f, bem bei 2>ur<bfübrung be« oor*
ftehenb gebauten ©tane« beutfdjerfeit« eine mistige Aufgabe jufallen mürbe. Sud)
bi« bei biefem ©taffe ift meber bie Slnlage noch bie ©ertljeitung ber SBcrfe fo,
baß fie jur Erleichterung einer Offenfioe in großem Stile beitragen tönnten; jur
beffem Sicherung ber regten gtanfe ber SBeicbfelpofition foQen noch ©efeftigungen
bei Sierocf errietet merben, moburdj eine in jeber Se$ieljung entfpredjenbe ©er»
ooüftänbignng ber gefammten 2anbe«oertljeibigung bemirft märe. Ser linfe glügel,
non 3»angorob ober Semblin gebilbet, ift noch in ber ©efeftigung begriffen, unb
jtoar mirb beabfid^tigt, bort auf bem linfen SBeichfelufer einen Dffenfiobrüdenfopf
herjuftetlen, mittels beffen man mit größer« ©taffen Bon bort oorbred&en fönnte.
Seiten« ber ruffifefjen Srieg«Bermaltung finb foeben bie Setail« für bie im ©rincip
befdjtoffene Erbauung neuer ©efeftigung«anlagen bei SBarfdjan, Sorono unb ®o=
nionj (©ouBernement ©robno) feftgeftellt morben. Sie bejüglidjen Arbeiten foüen
in 3 eb« Sauren beenbet fein. Sie gort« bei SEarfdjau merben noch in biefem
Sa^re in Angriff genommen merben. Sedj« SBerft, b. f). ungefähr eine beutßbe
©feile, auf bem linfen Ufer ber SBeicbfel merben fieben gort«, oertljeilt auf eine
Stretfe Bon 4'/, ©feilen Umfrei«, angelegt, ßmeiunbeinhalb Silometer Bon biefer
©efeftigung«linie entfernt merben Bier gort« Bon berfelben ©röße errichtet, unb
jenfeit ber ©orftabt Bon ©raga, eine ©feite Bon ber Stabt entfernt, beabfidjtigt
man Bier gort« Bon größern Simenfionen ju erbauen. ffireft»2item«f, mie fefjon
gefagt ba« ©ebuit für bie SBeidjfelfeftungen, an bem Uebergang ber SBarfcbau»
©fo«fauer ©ab« über ben mittlern Sug gelegen unb burdi oorgefebobene SBerfe
ju einer ©rt Sagerfeftung jur Slufnabme einer Slrrnee gemacht, ift Bon ©ebeutung
megen feiner 2age an ben meftlicben ©u«läufern ber ©ofitnofümpfe, bie ficb
öftlicb bi« gum Snjepr erftreefen unb bei ihrer BöHigen Ungangbarfeit in militä»
rifeber ©ejtehung ben an Seutfdjlanb grenjenben nörblidicn Xbeil Bon bem an
Defterreicb grenjenben fübli<beit Jheil be« meftlicben ©ußtanb ooüftänbig trennen.
Sa ©reft»2item«f Bon ber au« bem Süben ©ußlanb« fommenben ©ahn berührt
mirb, toelcbe bie reichen $ülf«queHen biefe« ZfyiU be« ©eiche« nach ben norb-
meftli^en ©rennen betanjuführen Bermag, fo geht man mffifeberfeit« jefjt bamit
Bor, in bem ©aume jmifeben ben fübmeftticben Zfytikn ber ©ofitno» ober ©in«»
fifdjen Sümpfe unb ber galijifeben ©rctye ©efeftigungen, etma bei ben Stäbten
2ujf unb Subno, anjulegen.
Siefe noch ju erbauenben geftungen mürben im gaH be« ©otbringen« einer
beutfehen ©rmee auf ©reft bie Stüfcpunfte einer ruffifeben DffenfiBe gegen bie
©ebiete be« ©ug unb ber SBeicbfel abgeben.
Sie 8anbe«theile öftlicb unb nörbUcb be« Sönigreidj« ©ölen, bureb melcbe bie
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888
Unfere £eit.
Schienenwege nach Petersburg unb SDtoSfau führen, fejjen einer beutfc^en Snöafion
junächft feine fortificatorifchen Einlagen, bafür aber ein ftarfeS natürliches $lbwehr=
mittel entgegen. (Debitbet Wirb baffetbe burch bie wiberftanbsfähigen Stbfchnitte
ber Dwina unb beS DnjeprftromeS mit ihren beiben SBaffertäufen unb ihren
moraftigen Sßieberungen. 3m Sntereffe ber Perttjeibigung ift jenfeit biefer non
ber Statur gezogenen Karriere eine berfetben paraEete Sahnlinie angelegt, welche
bie beiben ftauptberfehrSarterien, bie aus bem 3 n nem beS Steiges fommen, b. f).
bie non Petersburg unb SDtoSfau auSgefjenben ©tragen untereinanber öerbinbet.
Diefe DranSberfatbahn ift im Sßorben bis jur ©ee, b. fj. bis jum $afen non
Stiga bertängert; nach ©üben ^in ift fie an baS Sahnnefc beS innern SRuglanb
angefcfjloffen. Daburd) tjat ber obengenannte Sobenabfdjnitt eine grögete S3er=
ttjeibigungSfütjigfeit ermatten. Stugerbem liegt an ben beiben ^auptftragenüber^
gängen, unb jwar an bem über bie Dwina, bie atte geftung Dünaburg mit einem
$ent bon tüchtigen SefeftigungSbauten unb meutern Stugenmerfen unb mit einem
ziemlich ftarfen, aus meutern SBerfen befteljenben Srttcfenfopf. DaS SBiberftanbS*
bermögen beS genannten ptafceS ift burd) baS benfetben umgebenbe Derrain noch
gefteigert. Dünaburg ift nicht btoS als ©rüdenfopf, fonbern auch baS $auptbepot
unb Sßerfftätte für ÄriegSbebarf bon Sebeutung. Die ben ©tragenübergang, ber nach
SDtoSfau fü^rt, becfenbe geftung ift SobruiSf, am regten Ufer ber SereSjina. So-
bruiSf becft jWar bie atte $auptftrage bon 2Barfd)au auf SDtoSfau unb noch anbere
Eommunicationen, aber es bleibt ungefähr 20 SDteiten füblidj bon bem Uebergang
ber SBarfchau-'SDtoSfauer (Sifenbahn über bie ©ereSjina liegen. Daburch h a * biefer
pta| weniger Sebeutung bei einem beutfd)*ruffi{chen Kriege; er bteibt augerbem
borauSfidjttich auch beShatb ber StctionSfphäre ferner, weit baS ganje gluggebiet
ber SereSjina mit ©umpftanb (baS einen Dljeit ber SRofitnofümpfe bitbet) burd)*
jogen ift unb baher fein geeignetes Dertain für Operationen abgibt.
(Sbenfo wenig wie SobruiSf wirb Äiew, bie nächfte Weiter fübwärts gelegene
Dnjeprfeftung, bei einer bon SBeften her fommenben Dffenfibe eine (Sinwirfung auf
ben (Dang ber Operationen hoben. Die mit einer Eitabeüe unb fünf Stugenwerfen
oerfehene ©tabt, befanntlicfj eine ber grögten unb botfreichften ©übrugtanbs,
becft biefen fruchtbaren SanbeStheit mit ihren fortificatorifchen Einlagen gegen eine
3nbafion bon ßfterreichifcher ober beutfcher ©eite her; bon bem ©chauplafc, auf
bem fi<h borauSfichttich eine beutfdje Stetion abfpielen würbe, ift ffiew inbeg burch
bie auSgebehnten unb unpaffitbaren SRofitnofümpfe getrennt.
Die Stngaben über bie numetifche ©treitfraft, bie SRugtanb in einem Kriege
gegen Deutfdjtanb auffteBen unb jur SBerwenbung bringen fönnte, gehen ziemlich
auSeinanber. (Sine ber SBirftichfeit am meiften entfprechenbe ©chäfcung normirt bie
getbtruppen auf 600000 SDtann, bon benen aber runb 200000 SDtann auf ben
SPaufafuS, bie Süftenbefajjungen beS Schwarten SDteereS, bie öfterreidjifchc (Drenje,
bie Dftfeefüjte unb ©ibirien unb Durfeftan abgehen bürften, fobag nur eine ©tärfe
bon etwa 400000 SDtann berfügbar btiebe. (SS ift bei biefer Rechnung angenommen,
bag $ut Sefafcung ber geftungen unb ber grogen ©täbte SRcferbeformationen ber*
wenbet würben, was, ba bie neuen Formationen fucceffibe bisponibet werben, juerfl
auch Abgaben bon Iruppen aus ben SReihcn ber getbarmee nothwenbig machen
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Die meftlicße Operationsfront Kujjlanös uni öie öftlicße Deutfcßlanbs. 889
müßte; benn bie Silbuitg unb SluffteUung folcßer Formationen öoQjie^t fid) nicßt
mit ber Sdjnetligfeit, um fie fofort ber gelbarmee einoerleiben ju fönnen, ba eg
fid) ^ier um oottftänbige Steuern cf) tungen ^anbelt. 9tacß bem bafür aufgefteHten
Slane foöen an ©rfafc», geftungg» unb Steferüetruppen bei einer allgemeinen
Mobilmachung 653 Sataißone neu aufgefteUt werben, mag einen Meßrbebarf 0011
etwa lOOOO Offizieren ergibt, ben ba« Steicß, Welchem bie Qnftitution ber 2anb=
meßr» unb Steferoeofßziere nicht zu ©ebote ließt, fo teilet nicht ju beden oermag.
Geringere (Schmierigfeiten bietet bie Mobilifirung ber gelbartiHerie. ®er ßoße
©tat an ©bargen geftattet hier mit £eid)tigfeit bie StulfüHung neuer ©abreg; ber
große Sfabereicßthum beg Sanbeg erleichtert ferner bie ©omptetirung ber gelb»
batterien oon 4 auf 8 ©efdjüße. Sei ber Mobilmachung biefer SBaffe im Igaßre 1876
waren circa 63000 ißferbe erforbertich; bie Hugßebung berfelben oottjog fich an»
ftaubgtog innerhalb ber erften 14 Mobilmacßunggtage. ®ie Mobilmachung felbft
ift jefct im wefenttidjen ganz nach Analogie berjenigen beg beutfehen ©eereg georbnet.
©rfdjmerenb wirft auf biefetbe bie ©röße ber ©ntfernungen unb bie weiten Stäume,
welche bie ©inberufenen big jur ©ifenbahn ober zu ihrem Eruppentßeil jurücfju»
legen haben. 2fadj öerurfaeßt bie Stotßmenbigfeit, ben im Königreich Solen fteßen»
ben Sruppentßeilen ihren ©rfafc aug Stußlanb, unb umgefehrt bie polnifcßen unb
aug ben Dftfeeprooinjen fomntenben Urlauber ben Gruppen im Innern zuzuführen,
großen Seitüerluft.
®er Slufmarfcß einer ruffifeßen Dperationgarmee an ber ©renje ift baburch
erleichtert, baß feeßg Slrmeecorpg mit ihren zugehörigen fe<ßg ©aoaleriebioifionen
im grieben längg ber öfterreicßifch»beutfchen ©renje aufgefteflt finb, fobaß ber bei
bem Seginn ber heutigen Kriege fo mistige ftrategifche tlufflärunggbienft fogleidj
in großem Maßftabe Slnwenbung finben fönnte. ®er Ürangport ber übrigen ©orpg
big zur ©renze fann bei ben großen ©ntfemungen unb ben meift eingteifigen
Sahnlinien nur im langfamen Sernpo erfolgen, um fo langfamer, alg bie ruffifchen
Schienenwege mit ihrem geringen Serfeßt unb ihrem wenig gefdjulten ^erfonal
Zu einer Kraftleiftung, wie fie bie gortfeßaffung fo großer Maffen an Menfchen
unb Krieggmaterial erforbert, nicht fo leicht fähig fein bürften.
@g läßt fich baljer aug ben oorfteßenb furz tefumirten Setracßtungen Wo! mit
Stecßt ber Schluß z«hen, baß einet Offenfioe ruffifeßerfeitg gegen bie beutfeße
Dperationgfront, etwa um fcßneH unb überrafeßenb ©rfolge zu erzielen, fo zient»
ließ alle Sorbebingungen beg ©elingeng feßlen.
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fflxrrtrafnlia uttlr ferne Debeutung in ber (ßegemoart
Sott
jFricbridj non ffJcUtoalb.
m.
3nt Sfabre 1881 ift bie Negentfchaft XuniS jiemlich plöfclich — fo mußte eS
wenigftenS allen jenen erfefjeinen, bie fich leinen tiefem ©inblicf in bie wahren
Serbältniffe oerfchaffen fonnten — in ben Sorbergrunb beS politifd^en gntereffes
getreten. 3« SBirtlic^feit tarn bloS jum Austrag, was febon opn langer #anb
Oorbereitet gewefen. 2Bir wollen oerfuchen, bie aHerbingS jiemlidj oerwief eiten
Serbältniffe einigermaßen Har ju machen.
3)ie ältere ©efc^ic^tc SunefienS bietet wenig SemerfenSWertbeS; wieberbotte
Aufftänbe im Innern unb Kämpfe mit bem 3)ei beS benachbarten Algier, beffen
Oberhoheit burch Xributpbtung anerlannt werben mußte, machen ihren $aupt*
inhatt aus. $)a XuitiS Oon allen norbafrilanifcheu Staaten Oerbältnißmäßig am
wenigften Seeraub betrieb, fo waren feine Schiebungen ju ben euroj>äifcben
SKächten burchfchnitttich frieblich- SKebr Aufmerlfamleit begann eS $u erregen,
als granfreicb fich Algeriens bemächtigt hatte. Schon am 8. Äug. 1830 tourbe
Junis ju einem Sertrage gezwungen, in welchem es eine Zahlung oon 800000 gr$.
an grantreicb, bie Abfcbaffung ber Seeräuberei unb Sflaüerei, fowie bie Abtre*
tung ber ehemals ©enua gehörigen 3nfel Xabarla öertyradj. Am 20. SNai 1836
ftarb ber Sei oon Junis, Sibi*£uffcin, unb fein Sruber Sibi>2Ruftapba trat an
feine Stelle. Aber auch « ftarb fchon nach jwei fahren unb ihm folgte fein
Sohn Sibi* Acbmeb, Welker große Sauten unternahm, feine SNilitärmacbt ftar! oer*
mehrte unb fich wegen feines entfebiebenen Auftretens gegen ben Sllaomhanbel oer*
bient machte. Sein Nachfolger War am 2. Iguni 1855 fein Sohn Sibi*3Nobammeb,
welcher ben $anbet febr beförberte, burch feine oielfachen Neuerungen jeboeb 1857
einen Aufftanb beroorrief, ber nur mit 2Rübe unterbrtteft werben tonnte. 35er
jej}ige Sei, SDlobammeb*es*Sabot, ber Sruber beS nötigen, regiert feit bem
24. Sept. 1859, unb feine SerWattung oerfiel mehr benn je in ben gebier, einen
großen ©lanj ju entfalten unb bie (Einrichtungen ber ©roßftaaten nachpabmen.
Sängft war es üblich, bie Negierung in bie $änbe ber SNinifter p geben, bie,
mciftens AuSlänber, unb $mar gewöhnlich fchlaue ©riechen, nur ©in 3>el Oer*
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ttorbafrifa unb feine Beöeutung in 6er (Segentoart. 89 f
folgten: fieß gu bereichern, gleichbiet auf treffen Soften: man fog ba$ Sott aus
unb branbfeßaßte bie Staatsfaffe. Unruhen im Sfnnent erforberten eine große
{»eereSmacßt, unb #eere foften biet ©elb. darüber mürbe bie Sobenycttur ber»
naeßtäffigt, bie ®innaßmen berminberten fich baßer, unb grnar in bemfetben ÜJtajje,
mie bie Ausgaben unb Stnfprücße be$ Staates mueßfen. 9Ran machte atfo Schul»
ben; als es fieß aber barum ßanbette, fie ju bejahten, ba manberten bie ftäffig
gemachten ©etber faft alte in bie Jafcßcn ber ungäßligen großen unb Heinen
Beamten, ber Seßmaroßer, bie ben £>of belagern, ber Quben, meteße bie ®e=
feßäfte bermittetten unb abfehtoffen, unb — bie StaatSfaffen maren unb blieben
leer. So mußte man neue Seßulben contraßiren unb immer neue, bis nach
tauf meniger gaßre bie Heine urfprüngließe Schutb im Saßre 1868 bie §öße
öon rainbeftenS 100 SRitt. grS. erreicht ßatte — minbeftenS, benn bie meiften
Angaben finb häßet: äRaltgan beziffert fie 1869 auf 275 SRitt. unb berjeießnet
meiter als ©innaßmen etma 18 SRttt. grS. gegen circa 35 SKitt. 3infen. ®ie
türfifeße ginanjmirtßfcßaft ift, fo ungtaubtieß bieS aueß Hingen mag, eine Sinberpoffe
im Sergteicß ju ber tunefifeßen. SBäßrenb bort am ffinbe boeß eine gemiffe Staats»
controte befteßt, arbeitete ber Sei gang unb gar naeß eigenem Setieben. Sei ben
Serfucßen, bie finangiette Sage beS SanbeS ju beffem, ßatten einen Sortßeit allein
unb unter alten Umftänben nur bie ÜRänner, benen fieß ber Sei anbertraute;
benn er fetbft, äRoßammeb»e$»Sabof, mottte nichts mit ben ©efcßäften ju tßun
ßaben. Seiner Umgebung aber mar es ganj gleichgültig, ob ber Staat, ob ein
Sott ju ©runbe ging; ber feßmäßtießfte ßigennuß tenHe naeß mie bor ißre $anb»
tungen. Unb bieS mar nießt §u oermunbern, benn bie meiften biefet unmiffenbett,
gematttßätigen unb roßen ©ünfttinge ßatte 9Roßammeb»e8»Sabot aus ben unterften
SottSfcßicßten ju fieß emporgegogen unb mit ißrer #ülfe 3uftänbe geraffen, ärger
als je früßer unter ben gemiffentofen, aber fräftigen i^iratenfürften. 2Bie biefe
SBirtßfcßaft befeßaffen mar unb mie er fetbft babei fußr, bieS fönnen mir uns erft
bann auSmaten, menn mit in @mite ©uimet’S „Aqnarelles africaines" bie trefftieße
Scßitberung beS „Emprant fantastiqne" Iefen, ju meteßer tunefifeße Segebenßeiten
unb Bufföitbe bie £>auptjüge lieferten.
©anj befonbere S)imenfionen naßm bie SRismirtßfcßaft an, naeßbem im guti
1877 ber ÜRinifterpräfibent unb ÜRinifter ber auSmärtigen Slngetegenßeiten, ©ßeir»
ebbht»fßafcßa, feine ©nttaffung eingereießt unb 3Ruftapßa=Sen=33tnain an feiner
Stelle jum SRinifterpräfibentcn ernannt morben mar. ®iefer ©flnftting beS Sei
— it Seniamino matb er barum oon ber europäifeßen Sebölferung in Junis
genannt — inaugurirte ein beSpotifcßeS unb mitttürticßeS {Regiment fonbergteießen;
et umgab fieß mit einer Slngaßt ber äbelberücßtigtften Äbenteurer unb Setrüger,
bie ißn auf baS feßtimmfte berietßen unb bie eingeborene Seöötterung in rttcfficßts»
tofefter unb graufamfter SBeife bebrüden ßatfen. gälte ber feßamtofeften @r»
preffnng merben bon ißm ergäßtt unb noeß bureß baS meitere ©ebaren SRufta»
pßa’S fetbft beftätigt, meteßer fieß bie Oergebticße SDtüße gab, bureß perfönticßeS
Sorfprecßen bei ben in lunis refibirenben Gonfuln baS Serbot unb bie ©onfis»
cation ber europäifeßen, ißn tabetnben Stätter gu ermirfen, unb bann beS meitern
ben ebenfo erfotgtofen Serfucß maeßte, bureß ©etbgefcßente bie ©orrefponbenten
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ltnfere ^cit.
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biefer ©tätter gur ilenberung ihrer ©eridjte gu bewegen.*) ©olb um jeben ißreiS
oerlangte bet SRinifter für fich unb feine Kreaturen; unb mit fieberhafter H a ft
häufte er SReidjthümer auf unb brachte fie in Sicherheit, bamit ein ©Sechfel ber
$inge ihn nicht unoorbereitet treffe. Schon 1878 erftärte man biefen SEßechfet
für unausbleiblich unb ftetlte ihn für eine nahe Sutunft in SluSfidjt; ber ©ogen,
hiejj es, Werbe gu ftraff gekannt; über furg ober lang müffe er gerbrechen, wenn
nicht ein Deus ex machina auftrete, ber ihn bem übermütigen Schüßen entwinbe.
ffiinftweilen blieben aber Krprcffungen unb ©ergewaltigungen ber frieblichen Unter*
thanen an ber lageSorbnung. Bahlreiche Stammhäuptlinge aus ber Umgebung
Oon ©abeS, bie ihren ©erpflichtungen regelrecht nachgefommen waren, würben
mit neuen, unerfchwingtichen ©efteuemngen belaftet, unb ba fie nicht gu iahten
oermochten, miShanbett unb ins ©efängnifs geworfen; als ihre ©Seiber unb ©er*
wanbten mit ihren Etagen bis gum ©ei brangen, betheuerte ber erfte SRinifter:
bah et bie Häuptlinge nur aus 9tüdfid)ten ber öffentlichen Sicherheit unb um
brohenbe ©ufftänbe im Äeime gu erftiden, eingelertert höbe. Sin anbermat bela*
gerten $unberte oon ©ebuinen ben EJSalaft beS ©ei unb erfüllten bie Suft mit
ihren Etagen über bie ©eraubungen unb ©ebrüdungen, welche fie burdj ben
©ouOerneur @t Belafftj, eine Kreatur ÜRuftaplja’S, gu erbutben hätten. SRit nid)t
geringerer Hätte als bie aufjerorbenttichen Abgaben, gu benen bie Stämme oon
bem erften SRinifter in willtürticher ©Seife eingefchäfct würben, pflegte er bie jebeS
Sahr gu teiftenben Steuern eintreiben gu taffen. SRach 2trt ber 3)ragonaben Sub*
wig’S XIV. warb alljährlich eine HeercSabtheilung in bie ©rengproOingen entfenbet,
welche fich fo lange bei ben fteuerpflichtigen Stämmen unb auf beren Äoften ein*
quartierte, bis biefe aus freien Stüden bie fchutbigen Behlen unb ben „Saraun",
b. h- bie auf jebem eingelnen Dlioenbaum ^aftenbe Staatsabgabe entrichteten.
2 :er Krtrag ber auf fo rüdfi^tslofe ©Seife eingetriebenen Stbgaben fott fich 1878
auf 3,276400 ©iafter belaufen hoben. K)ie Sache tief übrigens nicht ohne blu«
tigen Bufammenftoh mit räuberifchen ©rengftämmcn ab, bie nächtlicherweile baS
bei Urghama gebitbete Säger überfielen, eine Kanone erbeuteten unb etwa 60 Sol*
baten theits fampfunfähig, theils aber gu ©efangenen machten; fetbft ber comman«
birenbe ©enerat wäre beinahe in bie Hänbe ber Slufftänbifdjen gefallen, wenn er
fich nicht burd) fchteunige gludht bem geftettten Hinterhalte entgogen hätte.
5)ie finanzielle Sage bebingt natürlich auch bie wirtljfchafttiche. Um ben
©läubigem wenigftenS ben ©eweis gu geben, bah man ihre ©nfprücfje nicht Oer«
geffe, ba bie ©ertreter oerfchiebener SRächte fdjon wieberhott gegwungen waren,
im ^ntereffe ihrer SanbSteute ben Schutbnem brohenbe ÜRienen gu geigen, fah
fich bie ^Regierung genötigt, allmählich eine Steuer nach ber anbem gut Sedung
ber fälligen ginfen ]>en ©laubigem gu oerpfänben. K)aS ©erljältnih ber Staats«
einfünfte gu ber Binfenlaft iß aber etwa wie 1:2. So finb benn faft alte
Stenern in bie Hönbe ber ©laubiger gefommen, unb ba foWol Kngtanb unb
tfranfreich als Italien bie tunefifche StaatSfchulb oerbürgt hatten, fo war tängft
mittels SDecret üom 5. 3uli 1869 gut Kinfefcung einer Sinangcommiffion ge«
*) ®8t- augäburgcr „Allgemeine Leitung" Dom 6. 9?oö. 1878.
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Horbafrifa unb feine Bebeutung in 6er ©egemmrt.
895
ftritten worben, in Wetter bie beteiligten Staaten burdj ÜJtitgtieber oertreten
Waren, als beren ©orpfeenber aber mieberuttt ber erfte ÜJtinifter 2Jiuftapt)a*©en=
SSmain fungirte. Um bie jerrüttete Sage ber ginanjoer§ättniffe ju beftönigen,
liefe biefer 1879 fogar eine trirftic^e ßomöbie auf führen, in ber fetbft bem ©ei
eine SRotfe jutfieit warb. SJtupaplja fanb nämtit bie non feinem ©orgänger
ßtieirebbin ooltjogene ginanjoperation, oermöge weiter ju Slnfang beS 3faf)reS
tägtit eine bejitimmte Hnja^I entwerteter „KaimeS" oerbrannt werben fottte, ber
9?acf)af)mung wert!), unb oerfügte bie ©erbrennung ber in ber ffiaffe ber ginanj«
commiffion oorffanbenen unb gtütftit bejahten SouponS 00 m 1. gan. 1871 bis
jum 31. 3)ec. 1873, nebp einem Raufen anberer werttjtofer ©agiere, weite not
öon frühem knieten ber tunefiften Regierung f)errütjrten. ®a8 2luto be ge
fanb am 15. ÜDiürj 1879 in ©egenwart beS ©ei ftatt. 3« biefer grogen geier«
litleit waren fämmtlitc europäifte unb eingeborene ©otabititäten eingetaben;
ber leittgläubige ©ei, bem ber ränfeooUe üRuftapfja ju oerfteljen gegeben fiatte,
bag es pt $ in um bie ©ernittung einer grogen 9tnjatjt öon Obligationen ber
tunepften ^auptftulb im SBertlje Oon 7 3JtitI. grS. tjanble, rittete in biefem
©tauben freunbtite SBorte beS JanteS an bie oerfammelten SDiitgtieber ber ginanj«
commiffion. Obwol bei bem Stete fetbft baS ©rotofoH ber einige Jage juoor
abgetiattenen Sipung ber ginanjeommifpon, in Weiter biefer ©eftlug ber Ser«
nittung beS wertijtofen ©apierfiaufenS gefagt worben war, in unentftettter SBeifc
jur ©erlefung tarn, tonnte bot bie ©tpftipeation fo weit getrieben werben, bag
bet Sei, im guten ©tauben an bie treu getesteten Jienfte ber ginanjeommifpon,
ben einzelnen ÜJiitgtieberrt berfelben eine ganj befonbere Stnertennung gewähren
gu müffen glaubte, inbem er benjenigen, Welte bereits im ©efifje ber tunefiften
DrbenSbecoration beS Stiftam 3ftitar pt befanben, eine pokere Stafle beS Cr«
benS berlielj, unb ben anbern, bei weiten bieS nitt mepr möglit war, ein
WerttjöoUeS ©eftent überreiten lieg. Setbftoerftönbtit tonnte aut bet ©or«
fifcenbe ber um ben ©ei fo feljr berbienten ginanjeommiffion, ÜRuftapt|a«©en=!3s«
main, nitt teer auSgeljen, unb es warb itjm als ©eftent ber reit mit ©belftei«
nen geftmüefte ffifjrenfäbet jutljeil, ben einft Sultan 9lbb«ut«Stjij bem ©ei über«
fanbt fjatte. Die tunepfte #auptftutb aber, wette am SDtorgen beS 15. 9J?ärj
1879 üor ber ©erbrennung ber ©apiere einen ©efammtbetrag oon 125 SDtitt. grS.
auSmatte, featte nat bem Stuto be ge um teinen ©iafter abgenommen, gn ber
greube feines #erjenS über bie oermeinttite bebeutenbe ©rteitterung ber Staats«
ftutbentaft gab ber ©ei fofort ben ©efeljt, bag für feine Sotbaten neue Stufje
angeftafft werben fotten. ©tan brautt nur einigermagen bie ©ertjättniffe am
tunefiften #ofe $u tennen, um biefen beinahe märtentiaft ttingenben Seritt
nitt metir fo ungtaubfit ju pnben: ber inbolente Sei, ber leine anbere Sprate
berfteljt als bie arabifte, oerfe^rte mit ber 9lugenwett nur butt bie ©ermittetung
feines unjertrenntiten SiebtingS ©tuftaplja, unb emppng bie europöiften ®on«
futn ober feine eigenen SSürbenträger nur in beS textern ©egenwart, ©on ben
©onfutn fanb es oorerft, bis auf einen, teiner in feinem Sntereffe, ben ©etjerrfter
ber ©egentftaft über baS ftamtofe Jreiben feines erften JienerS aufjuttären;
bie 3uneigung beS ©ei ju bem tefjtem war übrigens eine fo grenjentofe, bag er
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894 Unfere ^ett.
im Stanbe mar, eher bie Mufridjtigfeit unb Wahrheitsliebe eines ©onfulö, bet bieS
unternehmen wollte, in 3^*cifel gu gieren, als an bie ÜDlögtichfeit gu glauben,
baß ihn fein erfter Stinifter ^interge^e. Diefer felbft aber muhte ftetS in ge»
fchicfter SEBeife gu oerfjinbern, bah irgenbrnetcße 9?atf»ric^t Aber fein Zreiben bem
Sei gu Dhren fomme, unb foH fogar ben in bie ©emädjer beS Sei gügetaffenen
tuneßfdjen Seamten bie Zafchen ^a6en burchfuchen taffen, bamit ja fein« ber
törfifchen Stätter, metthe wahrheitsgetreue Sendete Aber tunefifche ßuftänbe ent»
hielten, in ben tßataft eingefthmuggelt merbe.*)
©o marb in ZuniS geroirthfihaftet bis auf bie neuefte Seit. ©S mar eine
SUiSmirthf^aft ber greulichften Art, bis herab in bie Heinften Dinge; fo mürbe
feit 1878 über bie fchledjte SBaare geftagt, metche non ber tunefifdfen ZabacfS»
regie gum Serfauf gebracht mirb. infolge beffen nahm ber Zabadfchmuggel,
welcher bis baljin ohnebieS fchon in gang befonberer Stute ftanb, gemaltige Dirnen»
fionen an, unb bie frAher nicht unbebeutenbe Ausfuhr ber namentlich in Deutfdj=
tanb fo beliebten tunefifchen ©igaretten gerieth in ein beinahe oöQigeö Stoden.
Damit mar mieberum eine ©innahmSquelle oerfiegt. Unfer Seridjt mürbe jeboeß
nicht ooltftänbig fein, moQten mir ni<f»t noch eines UmftanbeS gebenfen, melcher
ben tunefifchen Serhättnijfen feinen Stempel aufbrüdt. AIS michtigeS Mittel, bie
tRegentfdjaft auf bie Stufe ber ©roßftaaten gu heben, fah man befonberS bie ©in»
führung einer höljern ©ioitifation an. 3« biefem Sinne hatte fchon SibUAcßmeb»
Eßafcf)a (1837—55) gu mirfen gefugt, ohne Wefenttidje Stefultate gu ergieletu
3Rohammeb»eS Sabot folgte ihm auf ber eingetragenen Sahn mit bem gröhten
©ifer; hoch meit er gu oiet auf einmal moAte, erreichte er faft gar nichts; ja
feine ftaattichen Reformen roaren für ZuniS eher Oerberbtich als nufebringenb.
Die fchon unter feinem Sorgänger erteilte feiten liberale Serfaffung, in metcher
Freiheit beS #anbelS, Sicherheit ber tßerfonen, gleiches Siecht für Angehörige
alter ©onfeffionen oertünbet Würben, fanb wegen ber bamit öerbunbenen Steuer»
reform unb Steuererhöhung im Solte ben lebßafteften SBiberfpruch unb mußte
infolge beffen in Wenigen fahren rnieber aufgehoben Werben. Die Seränberungen
befchränften fieß baher auf eingelne wenige Aeußerlicßfeiten. Stach bem Sorgange
beS Sei g. S. nahm auch feine Umgebung europäifeße Zracßt an; bie Uniformen
beS äJtilitärS mürben europäifirt — furg: alle cioitifatorifchen Seftrebungen gaben,
auf Soften beS StationalcßarafterS, nur fcheinbare unb rein äußerliche Stefultate.
Daß ber gmar gutmütige, aber unoerftänbige unb unfittliche Sei unb feine un»
moratifche Umgebung ben Dingen einen anbern Schein gu geben mußten, »er»
banfte man nur ber Äurgficßtigfeit ber Diplomaten. Stoch h ( »te lobt man feine
oietfadjen Steformmaßnahmen unb betont beifpielsmeife mit großer ©enugtßuung,
baß er bei geilen ben gangen $arent auflöfte unb fi<ß nur ©ine grau behielt.
©S ift nun aüerbingö wahr, baß 3Jtohammeb»eS=Sabo! baS ffißcgtüd nur ©inev
grau gutheil werben läßt; einen §arem befifct aber ber eble SDienfcßenfreunb
gleicßmol, nur baß er nicht oon grauen unb EJtäbeßen, fonbern Don — SRignonS
beoöltert ift. Diefe SDtignonS bitbeten ben Stod, aus welchem faft alle Würben»
*) ®ßl. augsburger „Allgemeine 8eitung" Dom 17. April 1879.
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iToröafrifa unb feine 33ebeutun$ tn 6er (ßegenroart.
895
träger in ben lebten 20 Sagten ^ertiorgegangen finb. Der Ißremierminifter äJlu*
ftapha War ebenfalls ein SDtitglieb jenes ©elichterS. Daß übrigens bie DJiignonS
einer orientatifdjen Staatswirthfcijaft noch weit üerhängnißüofler zu »erben pflegen
als ber beftbotirte fjarem, begreift fh unfdiwer. grauen finb nur innerhalb
ihrer üiet SJtauem anfprucf)Süoß; bie SDlignonS »ollen aber außer biefein Danb
währenb ihrer Sugenbja^re, »enn fie ntünbig geworben unb in bie SBelt treten,
toftfpietigere Dinge: Ehrenfteßen, Slang, SBürben, fette ©frünben, einträgliche 3ie=
giemngSämter. Daß ber 93ei für feinen Änabenharein gelegentlich große Summen
für puppen, Spielzeug, Springteufet unb 2Jiufif6üd)fen beranSgabt, ifl geringfügig
ju nennen gegenüber ben enormen Summen, welche biefe lieben ©efdjöpfe »er=
praßten unb unterfhlugen, fobalb fte irgenbein Amt antraten.*)
Die europäifdje Etoilifation, für Welche bie tunefifdfen äKachtljaber fich fo feljr
begeiferten, war bie franjöffche, »eiche ihnen feit ber Eroberung Algeriens greif¬
bar nahe gerücft; tßaris bezeichnet »ot auch für ben Orient im allgemeinen, ganz
befonberS aber für DuniS baS Eentrum moberner Eultur. Dahin richteten fiep
beShatb bon allem Anfang bie ©liefe ber ÜJladjtljaber im Sarbo; über bie ©e=
fährtidjfeit ihrer neuen Sladjbarßhaft in Algerien fcheinen fte fich 06 er wunber-
barerroeife lange Seit feltfame gßufionen gemacht zu haben. Sie fahen barin
junächft eine »iHfommene Stüfee gegen bie fich ftetS »ieberholenben ©rätenponen
beS ©roßherrn in Äonfantinopel. DaS ©erhältniß ber Dlegentfdjaft jum türlifhen
SReiche »ar immer ein feljr tocfereS; boch fehlte es türfifherfeits nicht an Ser*
fuchen, baffel 6 e fefer zu gef alten. ©efonberS nach ber gänzlichen Slieberwerfung
bon DripoliS im $ahre 1835 machte bie ©forte ben ©erftd), auch über DuniS
ihre ganz bergeffene Suzeränetöt wieberljerzufteßen, unb ba tarn bem ©ei ber
Schüfe, ben bie Regierung Subwig ©hrt'PP’S ih m Pot, höchP erwünfdjt. Unb noch
Zefen 3afere fpäter (1845) »agten bie Dunefier, im ©ertranen auf franzöfiphe
$ülfe, mit Erfolg einem türfifdjen Statthalter, ber im Slarnen beS Sultans bie
©erwaltung übernehmen füllte, bie Aufnahme z« berweigern. Slber je weiter bie
granzofen ihre ©renzen längs ber ffüfte unb im Innern borfchoben, befto mehr
brängte fich Pen ©ewofenern bon DuniS baS unheimliche ©efüfjl auf, baß fie nur
ben §errn gewechfett hotten, baß fie nur zu balb baS Schicffal ihrer glaubenS»
berwanbten Slachbarn ereilen möchte. Schon umftammerten bie franzöpfhen ©e«
ftfeungen baS tuneffche ©ebiet faft bon aDen Seiten. Die glotten granfreichs
unterbanben feinen ©erlehr nach ber See, unb wenn baS ©roject, eine fahrbare
3Bafferftraße nach ber Sahara herzuftellen, fich ausführbar erwieS, fo War eS
auch um ben ©erfehr nach bem Innern gepheljen. Smmer näher unb unaufljalt»
fam fafeen fie ben SJloment heranfommen, wo baS Heine ©ebiet ber Dlegentfchaft
fetber wie eine überreife grucht ben granzofen in ben SdjoS faßen mußte. Der
energifche ©eneral Eheirebbin, SHuftapha’S ©orgänger, fcheint bem fdjwachen 3Ro=
hammeb-eS-Sabof zuerft baS ©eängftigenbe biefer Sage Har gemacht zu hoben.
Er zeigte ihm, wie es beffer fei, um SBieberherfeßung beS frühem SetjnSüerljält»
niffeS zu bem gtaubenSüerwanbten Sultan, baS man im ©efüljt ber eigenen Äraft
*) ©gl. augSBurger „Allgemeine Qcitung" üom 30. Slpril 1881.
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896
Unferc
unb ber Weiten Entfernung miSachtet unb jur teeren gorm ^erabgebrücft hatte,
nachiufuchen, als im gänftigften galt ein ftanjöfift^er Etientelfürft $u Werben. 3«
Konftantinopet ging man natürlich gern auf biefen SBunfch ein. Aber als bie
Pforte jur förmficfjen Sefifcnaljme fdjreiten woßte, mußte fie ju ihrer Enttäufchung
erfahren, baß Junis ficE» nicht mehr innerhalb ihrer SRachtfphäre befanb. granf*
reich, bamalS (1864) nocE) Kaifertljum, erflärte, eS würbe jebeS türfifche ©efdjwaber,
baS man baf|in fchicfte, als ein feinbtidjeö beljanbeln, unb bie Entfenbung unter*
btieb. Erft im gahre 1871, als baS republifanifch geworbene granfreich ge*
fcßtagen unb gebemüt^igt am ©oben lag, gelang ber fd)on oft miSglücfte Serfuch.
Am 18. ÜRoo. proctamirte ein Seöoflmächtigter beS Sultans im Sarbo feierlidjft
bie Oberhoheit ber Pforte. Jurcf) german bom 25. Oct. 1871 tjat ber Sultan
auf ben früher beftanbenen Tribut belichtet, bafür aber folgenbe SRechtSlage ge*
fcßaffen: Jer „Sei" unb „Sefijjer beS Königreiches (memlekat) JuniS" erhält bie
gnoeftitur »om Sultan unb barf ohne beffen Ermächtigung Weber Krieg führen,
noch grieben fd^tießen, noch Gebiet abtreten; er barf biplomatifche Serif anblungcn
mit bem Auölanbe nur über innere gragen halten, muß feine Jruppen ber Rolfen
Sforte im Kriege jur Verfügung fteHen unb auf ben SanbeSmünjen ben tarnen
beS Sultans prägen laffen. gm gnnern h^rrfcht ber Sei unumfchränft. JieS
ift ber SRechtSboben, auf bem ber Sei bon jefet ab ftanb. JaS bamalS gefcfjwächte
granfreich h°t bennoch biefen Sertrag niemals anerfannt, fonbent bagegen in
formeflfter SEBeife proteftirt. Jamit mußte eS fich bamalS freilich begnügen, unb
Wenn bie Angelegenheit auch fo ju Enbe festen, fo hatte eS fich boch burch feinen
fßroteft bon bornherein bagegen gefiebert, baß man, Wie eS 1881 thatfächtich ber*
fucht würbe, einmal fage: Junis ben Krieg erflären, hieße bem Sultan ben Krieg
erftären. SRan Wirb nicht irregehen, wenn man behauptet, baß gerabe biefer
german ber fRegentfchaft ben ©nabenftoß berfefet hat; benn burch ih n würbe allen
Ambitionen frember ERächte Jfjür unb ®jor geöffnet, weit bie Jürtei niemals
ERadft unb Sßißen gehabt hat, etwas für baS Seilil ju thun.
Jurch ben erwähnten german war ber Sei ber gorm nach abfehbarer Statt*
hatter ber fßroöinj Junis geworben, unb bie 3eit mußte lehren, ob er bamit für
bie Sicherheit feiner fßerfon unb feiner Jpnaftie oiel gewonnen habe. Aber
3Rohammeb=eS*Sabof fam halb jur Erlenntniß, baß er mit bem german, wie
er oft erftärt haben foß, hintergangen Worben fei; unb wenngleich er bei ©ebet
unb ERünjen bem SRamen beS Sultans ben im german angebeuteten tßfaj} anwies,
fo hat er fich both burchauS nicht an biefen german gehalten, als eS im Etuffifdj*
Jürfifcffen Kriege galt, ein Jruppencontingent ju fteßen. Jer ganje Sertrag
fdjien für ben Sei eine btoS religiöfe Sebeutung ju haben; um bas Sotitifdhc
fümmerte er fidj nach wie oor fobiel wie um ben SRamt im ERonb, unb nicht
mit Unrecht; benn er machte halb bie Erfahrung, baß gegen baS ftetige unb fpfte*
matifdje gortfehreiten beS franjöfifchen EinfluffeS ihn bie SehnSoberherrtichfeit beS
entfernten ©roßherrn wenig fchüfcte. SRic^t mit ©ewalt ber SBaffen, fonbern mit
SReßfettc unb ©rabfdjeit brangen biefe Eroberer oon aßen Seiten in fein Sanb.
SBenn er fich nicht ben unangenehmften Serwicfetungen ansfeßen Woßte, fo burfte
er fi«h bagegen nicht abfcßließen. Jen ißoft» unb Jetcgraplfenbienft hatten fie
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Horöafrifa uni» feine Beöeutung in 6er ©egentuart.
89 ?
fcf)on fängft in $änben; nun begannen pe, ifjnt noch anbere Segnungen ber Sini»
lifation ppWenben. Sine franjöpfdje ©efeflfefjaft erjwang pch bie Soncefpon
pm Sifenbaljnbau. granpfifche Ingenieure erfchienen, nnt non ber $auptpabt
nach ber algeriphen ©renje unb läng# ber &üpe nach ber ©ai non $ammamat
Schienenwege p trafpren unb p bauen. Ärn 24. 3uni 1878 Würbe bie erfte
Strecfe ber Sahn, welche Algerien unb Junepen nerbinben follte, non Juni# bi#
Jeburba unter geierlichteiten eröffnet, unb fchon bamal# betrachtete man bie Sr«
bauung biefer ©ahn al# ben einleitenben Schritt p einer Stnnegion Junepen#
an Algerien, bejiehung#weije an granlreich. Stop befanb p<h bereit# fap bie
©efamntttjeit aller tunepfchen Staat#fchulboerfchreibungen in ben $änben franjö»
pfeher ffapitaliften, fobap p<h ber ©ei non allen Seiten in ein Sieh franjöpfcher
Qntereffen unb franjöpfcher Sinffüffe nerftrieft fah, au# bem e# (einen Stu#roeg
gab. Um ber rttctficht#tofcn ©ehanblung be# erpen SDSinifter# 3Jiuftapha=©en=3f ::
main p entgehen, fugten enblich jahlreiche Singeborene im franjöpphen Sonfulat
Schuh, unb boten baburch bem franjöpfdjen ©efchäftsträger Siouftan, einem
ebenfo energifchen al# gewanbten ^Diplomaten, ©eranlaffung pr Sinmiphung in
bie innem Serhältniffe, inbem biefer non SDtuftapha bie fofortige SinpeUung
feiner ©ewattmapregeln unb Sepüonen oerlangte. Siouftan beftrebte pch auch,
fo behaupten feine phtreichen ©egner, alle öffentlichen Slcmter mit feinen Erea*
turen — unb er ^atte beren gar niete unb non allen garben — p befehen, unb
machte gar lein £>eljl barau#, bap bie Stoppten feiner Regierung auf bie Slu#=
Übung eine# ©rotectorat# über bie SRegentphaft gerichtet feien, Slbpchten, welche
er burch eine in biplomatiphen ©ewoljnheiten unerhörte 4?ärte P oerwitflichen
fuchtc. Sr mifchte pch in alle# unb befahl, wie wenn Juni# bereit# eine fran»
jöfiphe ©rooinj unb er felbft beren ©räfect wäre, trachtete baljer auch, olle anbern
Sonfuln p nerbrängen, welche ihren Sinffup auf bie tunePfche Regierung geltenb
machen lonnten. So behaupteten wenigften# feine Stnfläger.
granfreief), ba# ift nun gar nicht p leugnen, lann in bet Sdjwefterpabt be#
gaQifirten Stlgier (eine anbere SKadp Suropa# plaffen, aber mit ber Sefifc»
ergreifung be# ßanbe# felbft brauchte e# pch nicht p beeilen. Schon öerfchiebene-
mal hotte e# nerfucht, für bie 3ntereffen feiner ©Arger, ber ©laubiger be# tune*
Pfchen Staate#, träftig einpftehen; boch bie emfte ÜRiene be# neuen Sehn#herrn,
be# Sultan#, ljiett e# bei feiner eigenen Schwäche baöon ab, mit bewaffneter
$anb cinppfjretten. S# tiep einftweilcn bort alle# gehen, wie e# eben ging, war
nachfichtig gegen bie fäumigen Schulbner, fpeculirte aber babei im füllen auf ben
reichen ©oben, burch ben e# pch hinlänglich p er.tfchäbigen gebachte. $atte e#
feine Sorbereitungen getroffen, war ber ©antrott be# tunepfchen Staate# unöer*
meiblidj, fo brauchte e# nur feine fjanb auf ba# Sanb p legen unb e# al# fein
Sigenthum p reclamiteu. SBar enblich gar bie Sifenbaljn ferüg, welche bie ©e«
fetlphaft ©aügnotle# non Sllgerien nach Juni# baute, fo war e# eine ßTeinigleit,
Gruppen in groper 3®ht in 6a# Junepphe p werfen. SBie granfreidj pch auch
bie ^etrfdjaft in Juni# feit lange oorbereitet h°t, ba# erlennt man auch °n#
nielen ©agatellen. 2Bcr j. ©. in Juni#, bom ©ahnhof lommenb, bie Stabt bc<
tritt, gelangt juerft in ba# fränliphc unb maltepfche Siertel, nnb ba# erfte ,$ait#,
Unftte Seit. I88S. I. 57
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Unfere ^eit.
898
baS ifjm in8 äuge fällt, ^ält er ficfjerlicf) für ein iRegierungSgebäube. SS ift aber
nichts weiter als bas frangöfifde Eonfutat, baS für alle Sülle fo fidjer gebaut ift,
baß eS aud einem ©türm unb bet ©etoalt ber Äanonen Jroj} bieten lann.
Am $ofe, im Sarbo, bominirte tjrartfreic^ feit lange auS ben angegebenen
unb anbern leitet ertlärliden ©rünben; war es bod ber ©täubiger, unb in ber
Sbee ber Orientalen ber Eiotlifator ber SBelt. 2Bal|r ift aud, baß früher infolge
Don retigiöfen ober f>olitifc^en Verfolgungen eine große Angaf)l etjrentoertt)er unb
gütiger frangöfifder Patrioten in biefem ßüflentanbe guflud^t gefugt unb gefunben
tjaben, bie fid alle in bem ©ebanlen begegneten, überall unb immer bem §eimat*
tanbe Sfjre gu machen; in ben testen Saljren aber nahmen bie Singe eine anbere
SBenbung; eS ftrömten in Junis nur Abenteurer gufammen, bie aus oiel weniger
achtbaren ©rünben bie Heimat meiben mußten unb bie lein SRittel gu fc^ted^t
fanben, um bamit in ber {Regentfdaft ein rafdeS ©lüd p maden. grüßet übte
ber Verbannte oermöge feiner guten Eigenfdaften ßeilfamen Einfluß auf bie Sie*
gierung beS Vei aus unb erwies berfetben mit weifen unb gern oemommenen
9?atljf<f)tägen gute Sienfte. Sie jefet ins Sanb lommenben Abenteurer erwecften
bagegen burd wieberljolten VertrauenSmiSbraud ben Verbaut unb baS 2RiS trauen
ber tunefifdett {Regierung, bie fie in galjlreide, bom Saune gebrodenen Streitig*
leiten oerwidelte, moburd) {Repreffalien nöt^ig gemacht unb bie ÜJlotatität ber
Regierung untergraben würbe. Einer ber widtigften biefer Streitfälle ift jener,
ber jtdj an ben IRamen beS ©rafen be Santi) fnüpft. Vor etlichen Sauren fdiffte
fid im §afen oon SRarfeiße, auf einem Sanier, ber eben bie Anler tidtete, um
feine Saljrt nad ber norbafritanifden ftüfte anptreten, ein gewiffer gerbinanb
Seoeau, gebürtig aus Sanct), ein, nadbem er, beS bewegten unb geräufdooßen
SebenS in ber frangöfifden ÜJietropole mübe, ben feften Vorfajj gefaßt Ijatte, bem
frangöfifden Voben, ber itjm unter ben Süßen brannte, für immer ben {Rüden gu
lefjren. Aus ben {Regiftem beS ^afeuboligeiamteS gu ©oletta erßeßt, baß wenige
Jage barauf ber ©raf Seoeau be Sanct) bem oon Seanlreid angelommenen
Samfjffdiffe entftieg unb baS gafttide tunefifde ©eftabe betrat. SEBäfjrenb ber
langwierigen Scereife Ijatte er Ijinreidenbe äJtuße gefunben, um ßd lieber an
feinen burd langen SRidtgebraud etwas ftaubig geworbenen 9Baf>f)enfditb gu
erinnern. 2Rit einem ariftolratifden {Rarnen unb Jitel tarnt man in Junis eines
guten Erfolgs fider fein, gumat wenn man, wie bieö bei bem ©rafen be Sanctj
ber Saß war, burd oorgüglide Verebfamteit unb f)ödft einneßraenbeS SBefen
glängt. Sr gelangte benn aud in bie Ijödften Greife unb wußte burd fei« ein*
fdmeidelnbeS Vetragen fogar ben Sei fo fe£>r für fid einguneßmen, baß biefer
bie Sitten beS ©rafen erfüßte unb it>m baS weit auSgebeljnte, gum Anbau oor*
gügtid geeignete Sanbgut oon Sibi*Jabet, ungefähr 26 Kilometer Oon Junis
felbft entfernt, in einem für ben {ßadter äußerft günftigen Vertrage überließ.
Siefer Eontract enthielt jebod bie auSbrüdliden Seftimmungen, baß ber {ßadter
gehalten fein foße, baS Sanbgut aud loirHid angubauen unb gu befteßen, barauf
Vießgudt gu betreiben unb inSbefonbere barauf ein ©eftüt für bie Sttd* awbifder
Vferbc einguridten, baß eS itjm aber unter leiner Sebingung unb ieinem Vor*
wanbe geftattet fein foße, feine {Rechte an biefem ©runbftüde gu oeräußern ober
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ttoröafrila uni) feine Öeöeutung tn 6 er Gegenwart,
899
brüte ißerfonen ats SDlitintereffenten in fein Unternehmen aufgunefjmen. ©egen
biefe te|}te ©taufet berging fitf» aber ber ©raf be ©anct) hirge Seit barauf, nach*
bem ihm bie ©onceffion eingeräumt worben war, inbem er als ©Zeitnehmer in
feine Unternehmung fincian SRapoteon ©onaparte SBpfe unb eine Same aufnahm.
Sefctere war f<hon einmal Urfache eines ©onfticts gwifdjen Stouftan unb bem
©enerat ©heirebbin, wobei ber teuere ben lürgern 30 g, unb auch an bem nunmehr
aus ber Slffaire be ©auch fich entwiefetnben ©onftict fdjeint fte feineSwegS un«
betheiligt gewefen gu fein. 3m tunefifchen SRinifterrathe ging bie Stnfidü burch:
man foUe einen höfjern Affigier gur Sefeitigung ber entftanbenen Sifferengen un*
Oergügtietj nad) ?«ti* entfenben. Sie ftangöfifche Regierung, auf tetegraphifchem
SBege bon biefer Slbficfjt öerftänbigt, erltärte fich bamit nicht einberftanben, fonbern
lieg bietmehr burch ©ermittetung ihres ©efctjäftSträgerS eine Srotjnote überreichen.
Welche bon bet (Erfüllung fotgenber ©ebingungen bie Seilegung ber Sache ab*
hängig machte: 1 ) Sie tunefifefje Regierung fpricht bem frangöfifchen ©eneratconfut
ihr ©ebauem unb ihre ©ntfefjutbigungen auS; 2 ) fie entfett eine {Reiffe bon
namhaft gemalten ©eamten ohne weiteres ihrer Stemter; 3) fie oerpftidjtet fich,
in ©erfotgung ihrer bermeinttichen Stnfprüdje gegen ben ©rafen be ©auch ben
orbenttichen Rechtsweg gu befchreiten, b. h. mit anbern SBorten: ba ber ©raf
be ©anep frangöfifetjer Untertan ift unb öettagter, bie Sache beim frangöfifchen
©onfutat anhängig gu machen, ba nach bortigem UfuS ber ©eridjtsftanb burch
bie {Rationalität beS ©eftagten beftimmt Wirb. SiefeS Ultimatum überbrachte am
SRorgen beS 7. 3an. 1879 ber erfte Sotmetfdjer beS frangöfifchen ©eneratconfutats,
©ummaripa, in großer Uniform bem Sei. Sie Spannung fetbft erreichte mit ber
Uebertragung bet frangöfifchen SonfutatSfunctionen an ben fpanifchen ©efchäfts*
träger ©artoS be {Rameau ihren höchften ©rab. Natürlich aber fügte fich bie
tunefifche {Regierung in bie frangöfifchen Sorberungen. 3 U * Unterfuchung beS
©anch’fcfjen ©orfalts warb benn eine ©ommiffion, beftehenb aus brei frangöfifchen
ttRitgliebern unb gwei tunefifchen ©eamten, eingefe|t, welche übrigens üon bem
©anctj’fchen ©orgehen leine günftige SReinung gewannen.
Ueberatt im Orient ift es ungemein fchwer ben Singen auf ben ©runb gu
fehen; überall wimmelt es im Orient oon b)öchft öerbächtigen ©ubjecten, bie
fich einen mächtigen ©inftufj gu erwerben mufften unb beten man baffer nur
fchwer entrathen fann. Sin fotchen Snbioibuen fehtte es auch * n 2uniS nicht,
unb mit ihnen ftanb auch ber frangöfifche ©eneratconfut fRouftan im ©erlehr.
©in im Secember 1881 oon bemfetben gu ißatis geführter ©erteumbungSprocefj,
in welchem übrigens fein Stnltäger SRocfjefort bon ber fteigefprochen würbe,
gewährte atterbingS einigen ©inbtief in bie eben bamats in Sunis herrfchenben
©erhättniffe ; in ber ©ache fetbft warb unb ift nichts gegen JRouftan erwiefen
worben. Sitte bie Slnltagen, alte bie ©erteumbungen, alte bie ©erbäcfjtigungen,
welche man gegen ihn gefchteubert hotte, finb ohne ben geringften tfjatfächtichen
©eweis geblieben. ißofitioeS hot lein eingiger ber bielen 3eugen gegen ihn gu
beweifen oermocht. Sagegen erbrachten gwei ehemalige SRinifter ber auswärtigen
Slngetegenheiten, ferner ein SeffepS unb anbere Ehrenmänner bie beftimmteften,
conctubenteften unb günftigften ßeugniffe für {Rouftan, bie baS gange ©ebäube
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9oo
Unfere ,3ett.
jener finntofen ©efchutbigungen über ben Raufen fitegen. 2>aS einzige, was auf
Slouftan haften blieb, war eben ein gewiffer SJlalel feines ©rioatlebenS, nämlich
feine intimen ©ejiehungen ju bet SJiabame (EtiaS SJluffali, une träs-belle femrae,
wie SeffepS fich auSbrücfte, ber grau eines aflerbingS wenig ehrenhaften „©eueratS"
©liaS SHuffali, unb fein ©erlehr mit bem ©efdjmeig non Abenteurern unb fonftigen
faiseurs d’affaires, welches fich in Junis um ihn brängte. Ja begegnen wir ju-
nüchft bem eben erwähnte** trefflichen (Ehepaar (SliaS SJluffali, er, obwol „®eneral",
Wegen J)iebftahlS oon Gheirebbin fortgejagt, fie eine in ©aris wohlbelannte Same,
bie in ©olitif machte unb Jrinlgelbet auf Jrinlgelbet häufte. SEBet in Sun iS
irgenbetwaS burchfefcen wollte, ging ju SJiabame ffiliaS, unb wenn er ©elb jur
Verfügung h<*tte, fo erreichte er feinen Stoed. SJlan hot genau bie ©ummen an»
gegeben, für welche burch SJiabame SliaS Aemter oerlauft würben. (EtiaS SJluffali
war juerft Jiener beS ©ei, würbe bann Sragoman, erhielt als folget ben Jitcl
©eneral unb bas ©ontntanbeurfreuj ber ©^cenlegioit, ftahl bann nadf allen Stich*
tungen, würbe infolge beffen fortgejagt, aber oon Slouftan fpäter wiebet ju ®h«**
gebracht. Siefer ßliaS hatte nun einen greunb, einen tioomefer Suben SlamenS
©olterra, einen übelberüchtigten, in Italien gerichtlich Oerfolgten SJlenfchen, ber fich
in Junis mit ber ©infchmuggelung oon fatfchem Selbe befdjäftigte. Slachbem bies
entbecft, bie Sache aber mit |>filfe Slouftan’S unterbrüdt worben War, fuchte ber
lefctere bie SJlünjtalente ©olterra’S anberweitig ju oerwerthen unb üerfchaffte ihm
bie ©teile als Jirector an ber tunefifdjen SJlünje, augerbem auch We ©^cenlegion.
SJlit folgen Seuten ftanb nun Slouftan im nädjften SSerfehr, was er auch flat
nicht leugnete. 3*ugen, bie ben Orient lernten, haben auch auSeinanbergefefct, bag
im SJlorgenlanbe unb fpeciett in Junis bie ©onfuln nicht allju wählerifch fein
fiJnnen mit ihrer „Umgebung", auch ***djt h***f**htl*<h be* ße«te, beren fie fich' be=
bienen müffen. Jie Jrinlgelbet jubem fmb, wie jebermann weig, eine „berech*
tigte" @igenthümti<hfeit beS Orients, unb wenn Slouftan nicht oethinbern lonnte,
noch fel&ft Wollte, bag jene Seute, welche er in Junis benufcte unb benu$en mugte,
Jrinfgelber fich oerfcgafften, fo ift ihm felbft nichts Sehnliches oorjuwerfen. Ohne
wenigftenS ein bissen „©afchawirthfchaft" fcheint es in jenen ©reiten einmal nicht
abjttgehen. ©etrieb bo<h auch ber itatienifche ßonfuf, bag ber ©ei bie 10000 ©iafter
©diulben beS ©ruberS ber SJiabame (EliaS bejahte» eines Italieners gj amen g
Jraoerfa, welcher in ©enua wegen JiebftahlS beftraft Worben war.
immerhin brachte baS ©ebaren fo mancher franjöjtfcher Abenteurer, oielleicht
auch bie oben gefchilberten ©ejiehungen beS franjöfifchen ©eneralconfuls ju ben*
felben, eine SBanblung in ber frühem ©orliebe ber tunefifdjen Slegierung für bie
granjofen ju SBege; ja biefe ©orliebe fchlug in ihr ©egentljeil um. J>ie tunefifchc
Slegierung lieg immer offener ihren SBiberftanb unb ihre Abneigung gegen alles
granjöfifche heroortreten unb fchraf babei oor feinem SJlittel jurüd, welkes fie in
ihrem Seftreben unterftüfcen lonnte. ©alb ftettte es fi<h h era uS, bag eine förm*
liehe Koalition gegen bie franjöfifchen gntereffen beftehe, eine Koalition, in welcher
bie Stioalität Italiens unb ber (Einflug beS neuen italienifchen KonfulS, SJlacciö,
leine geringe Stoße fpielten. Jiefer würbe am 23. J>ec. 1878 oon tunefifchen
SBürbenträgern jur feierlichen AntrittSaubienj unb ©orfteßung beim ©ei abgeholt,
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tlorbafrifa uni» feine Seöeutun^ in öer ©egenwart.
90 {
währenb jwei Slbttjeitungen Seefolbaten beS Sloifo {Rapibo, bet ifjn gebraut, oor
bem ©eneratconfutat als Khrenwacfje StuffteUung nahmen. Jem neuen ©enerat»
conful fowie JbefonberS bem itatienifcheu gregattenfapitän Je Stmejaga, bem
gelben Oon Kartagena, würbe non feiten bet europäifdjen unb einl)eimifcf>en 8e»
oötferung ein überaus entfjufiaftififjer Kmpfang jutljeit; bie itaftenifdje Sßreffe aber
fnüpfte baran Setradjtungen über bie Stellung unb ben Kinftuß gtalienS in ber
SRegentfdjaft Junis. Jen gtatienern tag nämtidj ifir S3erhältniß ju Junis fe^r
am #erjen. Jie t)ifforif<f)en Krinnerungen mögen babei unbewußt auf bie Stuf»
faffung ber ganzen grage nicf>t ohne SBirfung bteiben. Jie geograptjifchen S3e»
bingungen ftanben aber ohne 3»eifet im SBorbergrunbe. #at bodj ein itatienif^er
{ßolitifer Junefien als ein Stn^ängfet SicitienS bezeichnet, unb baß an biefer
Stelle ein urfprüngticher Sufommenhang ber Kontinente in ähnlicher SBeife wie
bei ©riedjentanb unb ftteinaften im Dften anjunehmen ift, Ijot man oft fieroor»
gehoben. SSon ber Sübfpifce SicitienS erreicht ein $ampfer in wenigen Stunben
bie {Rorbfüfte SlfrifaS, unb hinauf bis ju weit nörbticher gelegenen Steilen ber
itatienifdjen Säfte beljnen fich KrwerbS» unb $anbetsbejie^ungen ju Junis aus,
wie j. 8. bie Äoratlenfifdjcr oon Kapri einen Jjjeit beS ga^reS in ben afrifa»
nifdjen ©eWäffern jujubringen pflegen. Studfj hoben bie gtotiener in Junis bie
mciften Singehörigen ihrer Station, etwa 15000; ber Krfolg ihrer KolonifotionS»
tljütigteit bafetbft ift augenfällig, währenb franjöfifche Stnfiebetungcn ju feiner
SluSbefjnung gelangt finb unb wenig Stauer betfpredjen. Jie ganze grage warb
um fo lebhafter ins Stuge gefaßt, als ber SBunfd) ber gtatiener, Kolonien ju be»
fijjen, immer beutlicher fieroortrat unb bie bereits in Junefien gegrünbeten itatie»
nifchen Stiebertaffungen ben paffenbften ©runbftamm für weitere StuSbe^nung ber»
fetben barzubieten fd^einen.
granfreict) bagegen faßt baS S3ertjättniß ganz anberS auf. S)ie granjofett
gefte^en ju, baß wenig über 1000 ihrer eigentlichen SanbSteute in Junis anfäffig
finb. Stber fie machen gettenb, baß ihre {Regierung feit tanger Seit bort ben
Schuh über 20000 grembe ausübt, baß ihre SBormunbfchaft im Sanbe tängft jur
©ewohntjeit geworben unb bis bor ganz turjem wenigftenS nicht ungern gefehen
würbe. Sie führen ferner ju ©unften ihrer Stnfprüche an, baß es eiet leichter
fei Junis mit Sttgier, ats baS teuere allein §u oertheibigen. Knbtich betonen fie
baS {Recßt beS Sleltem unb Stärfern, welches unbeftritten in ihren $änben ge»
legen höbe, bis bie gtatiener nach S3oHenbung ihrer potitifchen Kinheit anfingen,
ihren Kinftuß über Junis auSjubehnen. Jie granjofeit hätten noch hinjufügen
bürfen, baß baS einzige Stnrecht gtalienS auf Junis, wie ber große beutfdjje
SRationatöfonom Sorenj oon Stein nachgewiefen hat*), ein btühenbeS Sicitien Wäre.
Sicitien aber, bie eigentliche Srücfe oon {Rom nach Slfrifa, fotange es eine ®e»
fchidhte gibt, ift öbe unb machtlos, Sttgier bagegen ein Stücf üon Kuropa. gtatien
fann ohne ein reiches unb fruchtbares Sicitien nie feften guß in Slfrifa faffen;
eS fragt fich ober: wirb Sicitien gefunben bis ju ber Seit, >oo JripotiS reif ift
eine europäifche grage ju bitben? granfreich ift in Junis mit bem engagirt,
*) $gt. augSburger „Slttgentciiic Seitung" oom 16. SJtai 1881.
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902
Unfere «geit.
womit es überhaupt in ber Sßett etwa« gilt, mit feiner biptomatifchen unb miti*
tärifchen ©Ijre, Italien aber nur mit feinen mercantiten gntereffen. 3mmerJ}in
genügten biefe, um eine SRiöalität ber beiben Stationen auf afrifanifdfem ©oben
in« Seben ju rufen, unb eS begann ein gegenteilige« Sntriguenfpiet jwifchen ben
beiben biptomatifchen Vertretern grantreid)« unb Statten«, ben fetten Stouftan
unb SDtacciö, in meinem erfterer fiel) beftrebte, ber junehmenben ©inmifchung
Statien« in bie innern Angelegenheiten lunefien« ein Biel ju fefcen, jeher ©eßeität
einer weitern AuSbehnung be« itatienifchen ©influffe« turjweg oorjubeugen, wäfjrenb
bie granjofen nicht mübe tourben in ben Verfudjen, ihren thatfädjtichen ©influfj
ju befeftigen, unb ben ©runbfafc auffteßten: toer an Juni« rührt, rührt an granl*
reich, ein ©afc, melier, at« ihn ber „Temps" einmal offen auSfpradj, in itunis
eine gewiffe Stufregung oerurfactite unb namentlich ben ©ei feljr wenig befriebigte.
SDtacciö fanb baljer bie Unterftüfcung be« tunefifc^en fßremierminifter«, be«
faubem SDtuftapha-®en=S«main, welcher ziemlich offen ju Statien hinneigte, wa«
inbefi ba« „Avvenire di Sardegna", ein in SuniS bietgetefene« ©tatt, Welche« ftch
jum ©ertljeibiger ber itatienifchen Sntereffen unb ber itatienifchen ©otonie in Xuni«
aufgeworfen, nicht hinberte, benfetben gerabehetau« einen „gamin maliziosissimo"
ju nennen unb in ihm nur einen gtüdlidjen Xölpel („fortanato idiota") unb ben
ungtfidfetigften Staatsmann ju fehen. ©onft treffen wir bie Statiener at« bie
natürlichen ©egner aßet franjöfifchen ißrojecte. ©in« berfeiben, bon einem
frühem h°h en ©earnten be« franjöfifchen Saiferreich« im SDtinifterium ber au«*
wattigen Angelegenheiten, DSfar ©ap, auSgepenb, bejwedte nicht« ©eringere«, at«
auf ben Stuinen oon Äarthago ein neue« Sartljago erftehen ju taffen; bie bon
©ap betretene ©efeßfchaft erftrebte bie Ermächtigung jur Ausgrabung be« alten
Iartljagifchen $afen«, jur ©rrichtung bon 2)od« unb geräumigen Sagerhäufem
unb jur ©rbauung ftäbtifdjer SBoljnungen für eine jahtreiche ©ebötferung, fowie
einer djrifttichen Äirdje auf bem Xrümmerfelbe bon Karthago. ©)a« fßroject warb
in nachbrüdtichfter SBeife bon Stouftan unterftü^t, unb nicht minber fuchte e« ber
beutfche ©eneratconful, Xutin be ta Sunifie, ein naher ©erwanbter be« $erra
©ah, ju beförbem. ^Dagegen war man felbftoerftänblich auf itatienifcher ©eite eifrig
bemüht, biefem fßtane mit aßen Kräften entgegenjuarbeiten. ©in anbermat falj
ftch bie itatienifche ©otonie in nicht geringe Aufregung burdj bie Sta^richt berfefct,
bafe bie ©efeßfchaft ©atignoße« eine Abjweigung ber ©ifenbaljn bom Schüfe be«
SWebfcherba nach ber ©tabt Siferta plane, wofetbft mit ganj geringen Soften ein
äufjerft gefehlter unb fixerer §afen angelegt werben fömtte. ©ine ©ertoirttichung
biefe« ißroject« Tönnte aber auch ben $anbet ber ©tabt £uniS entjiehen unb nach
©iferta leiten.
S)ie« foßte ju einem ernftern ©treite führen. 3m 3®h« 1876 erbaute eine
engtifdje ©efeflfdfjaft eine ©ifenbahn, welche bie ^auptftabt Juni« mit ©otetta,
ihrem 18 Kilometer entfernten ^afenplape, oerbinbet, unb ein 3“h r barauf trat
fdjon eine franjöfifche ©efeßfchaft mit ber engtifdjen in ©erbinbung wegen An*
tauf« biefer ©ahn. 5)te ©erhanbtungen jerfchtugen fich inbefc, unb an ©tefle ber
granjofen war e« bie italienifche ©(piff«- unb ©ifenbahngefeßfchaft ßtubattino,
welche bie ©ahn erwarb. $ie itatienifche Regierung unterftüfcte bie nationale
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Xloröafrifaf unö feine Bebeutuiuj in ber (Begenttxtrt.
903
©efettfcfjaft unb bie itatienifdjen Kammern genehmigten für fie eine ©ubüention.
SJlotioirt mürbe bieS mit bem ©enterten, bog es in Junis mehr italienifche als
franjöfifche Eoloniften gebe, beren Sntereffen baS ©lutterlanb mahrjunetjmen höbe.
Jie tunefifdjen granjofen maren borüber üerftimmt unb morfen ihrer Regierung
©ernachläfftgung bet franjöfifchen Sntereffen üor, meit fie bie ©olettabafjn nicht
für granfreich ermorben. 9tun hotte aber, mie mir miffen, bie franjöfifcJje ©e=
fettfdjaft SatignotteS bie Eonceffton ber Eifenbatjn Don ber algerifchen ©renje,
bis mohin bie ©ahn fchon in ©etrieb ftanb, nach $unis unb bamit einen Einftufj
erlangt, ber fidfj Dom SBeften burch baS gatije Sanb bis nach ber $auptftabt er»
ftrecfte. Slouftan gelang eS aber, Dom ©ei noch brei attbere Sonceffionen für bie
franjöfifdje ©aljngefettfchaft ju erringen: J) einen §afen in Junis fetbft; 2) eine
befonbere Eifenbaljnlinie nach ber füblich am ÜJleer liegenben Stabt unb geftung
Sufa; 3) bie obenermähnte ©ahn nach bem 70 Kilometer nörblich liegenben
SDtittetmeerhafen Siferta. Stun befinbet fich in bem Eontract ber itatienifchen
Eifenbahngefettfdjaft Junis »©oletta eine Efaufet, monach ber ©ei feinem anbern
eine Eoncurrenjbahn geftatten barf. Jer italienifche Eonfut SJlacciö erblicfte aber
in ben beiben ©ahnftreden, melche Junis mit ben beiben Seehäfen ©ufa unb
©iferta Derbinben, Eoncnrrenjbaljnen. Eigentliche Eoncurrenjbaljnen bilben nun
bie Diet meitern unb in anberer Dichtung jum SJleere führenben franjöfifdjeit
©trecfcn nicht; inbeffen befchränfen fie hoch bie italienifdhe ©efettfchaft auf bie
Heine ©trecfe jmifdjen Junis unb bem SSleere im ßften. Jie Italiener fuchten
ben Arbeiten an ben neuconcefftonirten franjöfifcfjen ©ahnftreden alle möglichen
£>inberniffe in ben SEBeg ju legen, unb fie fanben Unterftüfcung am $ofe bes
©ei. Jer Ehef ber italienifchen ©efettfdjaft, bet ©enuefe Siubattino, beftritt
ber franjöfifdjen ©efettfchaft energifch baS Siecht jum Sau unb forberte bie Ent»
fcheibung eines ©cfjiebSgerichtS, baS bie granjofcn mit ©erufung auf ihre Eon»
ceffton ablehnten, infolge beffen erhob fich jmifdjcn ben Organen granfteidjS
unb gtalienS eine erbitterte ©olemif uttb bie franjöfifdjen Leitungen befdhulbigten
Italien, mie fich fpäter h«ouSftcttte, mit Dottern Siecht, bafs eS burch feine Stgenten
ein in Eagliari in arabifcher Sprache getriebenes ©latt, ben „Mostakel", unter
ben milben tunefifdjen Stämmen an ber ©renje Algeriens unb in ber franjöftfdfjen
Eolonie felbft ju bem Bmede Derbreiten laffe, um bie SBüftenföljne jur gnfur»
rection gegen granfreich aufjuftadjeln. Jie Enthüllungen beS SlebacteurS, eines
SRaroniten 3oin=3ain, meldjen freilich Eonfut SJlacciö entfdhieben miberfpradj,
taffen barüber leinen 3meifet, finb auch fpäter burch beit ©tjriet ©ofhos beftätigt
morben. Stamentlidj mar eS ber italienifche EonfutatSbragoman ©eftalojja, melcher
ftch eifrig bemühte, bie antifranjöfifche ©olemif beS „Mostakel" ju beeinfluffen,
unb biefem Slatte eigenhänbige Eorrefponbenjen fanbte. ES gelang ben gtalienem
auch mirHich eS bahin ju bringen, ba§ auf einen ©roteft ihres EonfulS hin bie
Slrbeiten auf bet ©trede Junis »$amam»el»Enf burch bie tunefifd^e Regierung
unterbrochen mürben. Slatürlich erhielt ©eneratconful Slouftan ©efehl, bem Sei
namens ber franjöfifchen Regierung ernftlidje ©orftettungen ju machen unb Don
ihm ju Derlangen, bajj man ben franjöfifchen Staatsangehörigen in Junis unb
inSbefonbere ber gefchäbigten Eifenbahngefettfchaft ihr Siecht angebeihen laffe. Jie
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Unfere ^cit.
Regierung bei Sei, welche mit bern italienifchen ©onful gemeinfam bahiu wirfte,
alle franjöfifchen Unternehmungen ju lähmen, gab all Antwort bie ©rFlärung ab:
bie SaugefeHfdjaft möge einen neuen fßlan aularbeiten, ba nach bem ber Hiegierung
borgelegten Ißroject bie Sahn ju nahe an ©habil borbeiführeti mürbe. Xiel unb
ber gleichseitig fich abfpietcnbe StreitfaH megen ber fogenannten @nfiba*Angelegcn*
heit, auf bie mir fogleidj ju fprcchen fommen merben, licken beutlich genug er¬
nennen, metchc ©efimtungen bie SRegentfchaft einem Staate gegenüber hegte, bem
fie, bei Sichte befehen, hoch ju bielent Xanfe berpflidjtet mar.
SBal bie @nfiba=Angelegenheit anbetrifft, fo hotte el bantit folgeube Semaubtnifj.
•JJluftapha’l Sorgänget, ®heirebbin=ißafcha, hotte infolge feiner Senkungen bei
bet £ohen Pforte, bie Seftätigung bei Htachfolgerrechtl ber Sermanbten bei regieren*
ben Sei ooit Xunil burchjufefcen, bon biefem eine lebenllänglidje Saljrelrente Don
75000 tunefifchen fßiaftern (etma 40000 Sftarf) jugefichert erholten. Schon im
näcfjften 3ahre taufchte ber borstige ÜRann biefe SRente gegen ben ©runbcomplej
bei Sanbgutel ©nfiba bei Sufa um, mobei er bon bornherein bebaut mar, fein
Scfifcrecht auf bie ©nfiba unanfechtbar ju machen. SBie aHe fcheibenben SRinijter
einer orientalifchen Xelpotie hotte aber auch ©tjeirebbin aHe Seranlaffung, feine
tunefifchen Sefifcungen in fichere Xitel umjumanbetn, menn er nicht ©efalfr laufen
moßte, fie einel Xagel burch Gonfilcation ju betlieren. Aber eben megen biefer
SDlöglichfeit gelang el ihm nicht, tunefifche Säufer ju finben, meil bie hier in
Setradjt fommenben ^erfönlidjüeiten billiger all burch Souf in ben Sefifc ber
©heirebbin’fchen Siegenfchaften ju gelangen hofften. Hiichtl mar alfo natürlicher,
all bajj Sheirebbin fich um einen fremblänbifchen Säufer umfah unb mit ber
Sociötö marseillaise in Serfauflberhanblungen trat, Welche ju einem am
29. Suti 1880 abgefchtoffenen befinitiben Serfauflbertrage führten. SJtun mürbe
fofort bon Xunil aul aHe! mögliche berfucht, um Sheirebbin’l ©ntfchlufi jum
SSanfen $u bringen. Umfonft, Sheirebbin erflärte ganj corrcct, bafi nunmehr bie
fratyöfifche ©efeHfchaft Sefifcerin ber ©nfiba fei unb el ihm nicht suftelje, nach¬
träglich Sauflanträge ju berücffichtigen. SBal nun folgte, gemährt einen tiefen
©inbticf in bie 3oftänbe orientalifcher Sänber unb ift ungemein lehrreich. 3«
einem biefer Angelegenheit gemibrneten Auffafce ber „AHgemeinen $eitung"*) |i n t>
bie fich on ben Serfauf ber Gnfiba Iitüpfenben Sotriguen fo !lar unb mit fotdjer
Sachfenntnih bargelegt, bafi mir el uni nicht berfagen fönnen, bal $auptfäcfj*
lichftc baraul hier wörtlich mitjutheilen:
„3unächft ftreute man aul, mie behauptet mirb burch ben gegenmärtigen Sezier
aRuftaphfl'Sen*3ömain felbft, baß ©heieebbin gar nicht Sefifcer gemefen fei, alfo
auch jum Serfaufe ber Gnfiba feine Serechtigung gehabt habe, unb bcnufcte biefen
Sormanb, um bie ©rfüHung ber Hiechtlformalitäten bon feiten ber franjöfifchen
©efeHfchaft ju berhinbern unb baburch Seit ju gewinnen. ÜDtan wie! aber fchtagenb
nach, bah niemall eine rechtlfräftigere ©igenthumlübertragnng in Xunefien ftatt*
gefunben habe all im ©heirebbin’fchett gaHe, mal ja bei einem Spanne mie ©hei*
*) «om 2. Hpril 1881.
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Horbafrifa uni» feine Bedeutung in ber <ßcgcm»art.
905
rebbin felbflberftänblid), bet nteljr als ^irtretc^enb in ben moSlimifchen ©efefcen
unb ©ebtäudjen betoanbert ift, um in jebem gaHe feine Siebte ju fiesem.. ®aS
Manöbcr, bie 93efifctitel ju befreiten, miStang alfo oollftänbig, unb man warf fic§
auf bie {Rechtsförmlichleiten, bie ju erfüllen waren. !gn mo^ammebanif^en Satt-
bern gilt befannttidj in ©emäßljeit beS SoranS baS fogenannte SJorlaufSrecht, bie
Sdjeffa’a, für unmittelbare SSefifcnachbarn ober Mitbefifcer. ®oc!j unterfcfieiben fich
hierin fowie in Dielen anbem Sleinticfjfeiten bie oier ^auptriten: $anefi, Malefi,
jpambeli unb Schaf ei, boneinanber, inbem bie einen, 3 . 83. bie #anefiten, bie
bolle Scheffa’a, hingegen anbere, 3 . 83. bie gleichfalls in luniS eingebürgerten
Matetiten, nur baS S3ortanfSrecht beS MilbeftfcerS anerfennen u. f. m.
„Seber 83orläufer jeboch muß fofort nach bem 33elanntWerben beS 33erlaufS»
abfchluffeS bem ftabi bie Scheffa’a anmelben unb fein {Recht auf bie Scheffa’a
nachweifen, worauf ber ßabi ben Käufer unb ben Schaffj»Shalit (SSortäufer) ju
fich bejdjeibet, um ben Slct ber Scheffa’a borjunehmen. SBirb bie Scheffa’a an»
erlannt, fo h“t ber Sdjafij»©halit fofort ben bollen ftauffchiHing baar $u erlegen,
©egen biefeS merfwürbige ©efefc nun fu<ht fich baS ^ßublitum nach Möglichkeit
ju fchüfcen, ba fonft faft {einerlei ÜranSaction möglich Wäre. ®ie am hüufigftcn
angewenbeten Mittel finb bie folgenben: 1 ) Man läßt bem SJertäufer einen
fdjmaten (nach bem berfchiebenen Stilen bon einem 3otl bis ju einer ©tte breiten)
Streifen rings um baS ju {aufenbe lerrain im ©igenthum, fobaß nur ber S3er»
laufet unb lein anberer an baS getaufte gelb angrenjt; 2) man gibt bem SBer»
taufet außer bem feftgefefcten greife noch ei ne £>atib boll ©elb (kamscha medschhula =
unbetannte £>anb boH) mit ben ÜBorten: «3<h laufe baS gelb für fo unb fo biel
©elb unb was in biefer $anb ift*, fobaß webet Säufer noch 33ertäufer ben genauen
{jireis tennen, was bei StuSübung ber Scheffa’a erforbertidj Wäre. ®iefer Sauf»
mobuS ber Samfdja mebfehhula muß jeboch borher bem Sabi gemelbet unb bon
biefem in bem S3erlaufScontract erfichtlich gemacht werben; 3) ber Überläufer ber»
lauft bloS etwa einen Ouabratmeter beS gelbes für ben ganzen Kaufpreis unb
fchenlt ben Steft bem Käufer. 8 B 0 aber biefer eine Ouabratmeter gelegen ift, wirb
nicht gefagt u. a. m. ®ieS alles gilt jeboch nur für $anefiten. Sft jeboch ber
Säufer Maleti, fo gibt es leine Scheffa’a. ®em 83etlagten fteht es frei, fich für bie
eine ober bie anbere SuriSbiction, b. h- bie ber £>anefi ober Maleti, ju entfeheiben,
Weshalb auch für jeben {Ritus ein befonberer Stifter ober Sabi aufgeftellt ift.
„®ie granjofen nun, unterftüfct bon ©heirebbtn, Wollten bon biefen in allen
mohammebanifchen Säubern anerlannten {Rechtsmitteln gleichfalls ©ebrauch machen,
um bie Möglichteit einer Scheffa’a 3 U berhinbern. Sie beließen beShalb einen
®errainftreifen bon mehr als einem Meter 83reite rings um bie ©nßba herum im
83ejtfce ©heirebbin’S. 8 lber fchon bei ber Samfcha mebfehhula (nadh bem linguiftifdjen
Sllhhubet richtig }u transferieren: kamsa mazhula) fließen fie auf ben SSiberftanb
beS Sabi, ber bie 3utäffigfeitSerflärung biefer S3ertaufSweife berWeigerte, inbem er
bie 83ejtfctitel ©heirebbin’S beftritt. Stuf energifcheS ©infehreiten beS franjöfifchen ©e»
fchäftSträgerS {Rouftan jeboch würbe biefeS $inberniß behoben, unb bie SluSübung
ber Scheffa’a fdjien auSgefchtoffen, jumat auch Gljeieebbin auf ein im Siobember
1880 bon ^ahtreidjen htnefifcheu Miniftern unb SBürbenträgern an ihn gerichtetes
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906
Unfere
©otlectiofchreiben biefctbe correcte Antwort erteilt hatte wie bei einet frühem
©etegenheit.
„Jrofc atlebem be^arrte bie tunefifche Partei bei intern ©eftreben: um feben
ißreis bie ©nfiba ben franzöfifchen Säufern ju entwinben. 3unäd)ft würben bie
Weitem Formalitäten, als: (Konfrontation ber contrafjirenben Parteien bor bem
Rotar, Erlegung ber UebertragungSgebüljr, ©ezahlung ber Steuern unb that*
fächlicfje ©efifcergreifung beS getauften Objects — lauter Jinge, bie erforbertich
finb, beoor ber ©ertaufSbertrag gefertigt werben fann — baju benufct, um 3eit
jn gewinnen. 3" ber Xfjat melbete halb barauf ein englifcher Untertan, So»
jeph Seo^, beim Sabi bie Sdjeffa’a an auf ©runb angeblicher Jerrainnadj»
barfdjaft. SebenfallS mufe man es minbeftenS als einen gffitftidjen 3ufatt
bezeichnen, bafe gerabe ju regtet Seit fi<h biefer ©c^afij-S^atit fanb, bon bem
bie böfe SEBelt behauptet, bafe er burdjauS nicht genögenbe F°nbS befifce, um
fich an ben Sauf eines JerraincomplefeS bon etwa 16 geographifdjen Ouabrat»
meiten zu Wagen, unb bon beffen eigenem ©ruber man fogar einen ©rief pubticirte,
in welchem folgenbe ctaffifche Stelle bortommt: «Seit bem ©eginne ber ©nfiba»
Angelegenheit habe ich ih m ©orwürfe gemacht, fich mit Sen*2l’jat (einem tunefifchen
©enerat) eingelaffen zu haben, welcher ihm ein ©enefiz bon 200000 Ft«, ju»
gefiebert hat, falls er fich berpflichte, ber Sociätä marseillaise Oppofition zu machen.»
„Sei bem nun Wie ihm wolle, leineSWegS wirb zu bertennen fein, bafe es fich
befonberS barum tjanbelte, burdj Suterbention eines cnglifchen Unterthanen @ng*
lanb bei ber Sache z u intereffiren unb fo einen biplomatifchen Sonflict herauf»
Zubefchwören. ©anz unbegreiflicherweife gelang eS ben tunefifchen ©miffaren, bie
öffentliche Rteinung, ja fetbft bas Parlament in ©nglanb z« alarmiren. @s ift
gerabezu unglaublich, bafe eine fotche rein tunefifche Angelegenheit, bie boch bon
allem Anfang flar unb beutlich in ihren Sielen unb Mitteln war, in ber eng*
lifchen ißreffe ein zuftimmenbeS ©<ho finben tonnte unb bielleicht noch heute finbet.
„SRan tiefe bie Franzofen in Junis ruhig mehr als 200000 FrS. ©ebüljren
bezahlen, unb als fie fich, wie es ©orfchrift ift, mit zwei Notaren auf bie ©nfiba
begeben wollten, um feierlich Sefifc bon bem Jerrain zu ergreifen, tonnten fie trofe
aller Recherchen teinen Rotar bazu erbötig finben unb mufeten bom franzöfifchen
©eneratconfut fich i u biefem Sweet einen ©eantten ausbitten. Rtittlerweile jeboch
war Sebp ihnen fdjon zuborgefommen. Jarauf hin gab es ißrotefte über ©rotefte;
allein bie tunefifche Partei weicht teinen Schritt zurilcf, obwol Stbp infolge ber
Referbirung beS JerrainftreifenS gar nicht einmal ©runbnachbar fein tann, unb
auch ben SaufpreiS Weber baar bezahlte, noch zufolge ber kamsa mazhula bezahlen
tonnte, atfo zur Ausübung ber Scheffa’a teineSwegS berechtigt war ober ift. Allein
in einem orientalifchen Sanbe fümmert man fich um Rechte bisweilen nur wenig,
unb fo fehen wir benn baS erbauliche Schaufpiet, bafe bie Franzofen bie Steuern
unb ben Sauffdjilling für einen ©runbeomptej bezahlt haben, ben ein britter ohne
jebe ©ereefetigung für fein Eigentum ertlärt unb als folcheS beaefert unb befäet.
Jafür aber berfteljt man es oortrefflich, unter ber arabifefeen Seoölferung bittem
$afe gegen bie Franzofen auSzuftreuen unb bie ntebem Seibenfchaften beS Röbels
aufzuftacheln."
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Horbafrifa unö feine Bedeutung in 6 er (ßegentmrt.
907
Unter folgen Umftänben ift eS nur ju begreiflich, baß bie granjofen nichts
Weiter wißen Wollten oon bern etnheimifchen „Schara’a"»®ericht, oor baS bie
tunefifdje Partei fie gern fchteppen wollte. SEBenn man ferner erwägt, baß enblich
bie Aufhebungen beS „Mostakel" ihre Sdjulbigfeit ju thun begannen, inbent
Anfang 1881 mehrere tunefifdje Sergftämme ©infätle in baS algerifdje ®ebiet
Oerübten, fo !ann man fich Wo! nicht wunbem, baß bieS im Vereine mit ben
Sektionen in ber ©nfiba» unb ffiifenbahnangetegenheit granfreidh enblich ju euer»
gifchem Vorgehen Oeranlaßte, unb bie diegentßhaft Junis tann fich wahrlich nicht
Beilagen, baß ihr ein Unrecht jugefügt worben; fie eilte ihrem Serljängniß muth»
Willig felbft entgegen. SBegen ber Unruhen an feinen ©renjen 30 g granfreich
bort einige Gruppen jufammen unb 3 Wei franjöfifche ißanserfchiffe lagen bereits
in ®oletta. 3m Sarbo mochte man baS heteinbrechenbe Unheil ahnen, baS man
felbft frevelhaft hetaufbefdjworen, unb wanbte fidfj fc£)on 1880 mit ber birecteu
Anfrage an Italien, ob baffetbe, welches ja burch feine Agenten fo fehr gegen
. granfreich intriguirt unb 3 ur grünblichen Umwäl 3 ung beS frühem freunbfehaft»
liehen SerhältnijfeS beigetragen hatte, ben Schuh oon Junis übernehmen wolle.
Italien mochte nun gehofft haben, bie Jinge fo oorbereiten 3 U fönnen, baß es
Junis, Wie fo manche anbere ©ebiete, eines fdjönen JageS werbe mühelos ein»
heimfen fönnen; barin fah eS fich jefct getäufeßt. ©in wirllicheS ©intreten, eine
Jljat lag nicht im Sinne ber italienifcßen ißolitif. So erhielt benn ber Sei oon
bem italienifchen ©abinet eine runbweg oerneinenbe Antwort, unb. bamit war
5 Weiertei für alle 3 e «ten entfliehen: Junis unb JripoliS finb für Italien ber»
loten; bem Sei oon Junis blieb aber nichts mehr übrig, als fich ber fran 3 öfifchen
Sdjuhhtref<haft i u unterwerfen, fo fchwer ihm bieS auch fatlen mochte, ©ine
©rweitemng feiner politifdjen 3Jtachtfhhäre in Ulorbafrifa paßte übrigens nicht
übel in ben Sbeengang ber ißolitif gtanfreichs, welkes entfcßloffen fchien, bie für
unoermeiblich gehaltene Seftfcnahnte AegtjptenS burch ©nglanb wett 3 U machen,
inbem eS fich mit ber 3«t bie ganje norbafrilanifche ffüfte bis au bie ägtjptifche
©rense aneignet. Sehr Wahrfcheintich alfo, baß alle bie angeführten SWomente,
welche 3 U fo gegrünbeten Sefdjwerben Anlaß gaben, granfreich nunmehr eine
willlommene ©elegenheit 3 ur ©rgreifung ernfter Maßregeln boten. So erhielt
benn im 2 Rät 3 1881 ®eneralconful Stouftan, welcher Iur 3 3 UOor mit bem Sei
einen heftigen Auftritt gehabt hatte, ben Auftrag, bem Sei bas Ultimatum $u
fteHcn: wenn nicht bie tunefifche Regierung bie franjöfifche ©ifenbahngefeUfchaft
3 ur SBieberaufnahme ihrer Arbeiten ermächtige, fo werbe eine franjöfifdhe ©jrpebitions»
colonne Oon Algerien in Junefien einrüefen.
3u einer friegerifchen Action boten übrigens bie ®ren 3 borfätte gar halb be»
grünbete Seranlaffung. Jort, in ben tuneßfehen ©ebirgen, im äußerften 9torb»
Weften ber SRegentfchaft unb hart an ber algerifchen ©renje häufen bie ©humair
ober ©hmir, gewöhnlich, jeboch fälfehlich Srumir genannt, was ber arabifchen
Schreibweife nicht entflicht, halbwilbe langhaarige Slachfommen ber alten SJiumibier,
Oorjüglid^e Schüßen, welche mit URartinigewehren bewaffnet finb unb biefe mit
befonberer ©efdjicflichleit hanbhaben. ©(eich ben Ufdjteta, welche 3 U bem großen
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Stamme SRabfa gehören, finb bie ftrumir Serber unb bitben eine Sonföberation,
welche aus oier ©liebem beftefjt. Stile biefe Stämme leben mehr ober Weniger
patriarchatifch unter intern Satb, treiben Scferbau ober Sietjjucht unb fümmern
ftd) nur Wenig um bie Autorität beS Sei in SuniS. SKan fdjäfet bie 3af|t iljret
waffenfähigen SRänner auf etwa 20000. 3m SotfSmunbe heifs«« bie Ärumit
gewöhnlich Sarotti, b. h- Stäuber, unb fie waren in ber X^at fdjon häufig räuberifdj
in ben franjöfifchen ©renjfreiä Sa Satte, unb namenttich in bie ©egenb ber Slei*
werfe um 8ef=um=SebuI eingefallen. Seit einigen 3«h ren ^atte bie franjöftfche
ÜRilitäroerWattung in Uebereinftimmung mit bem Sei oon Suniö bie ©ewohnheit,
ben Dbercommanbanten beS ÄreifeS Suf SlrrhaS an bie ©renje ju fenben, um
ftch mit einem Stbgefanbten beS Sei in Serbinbung ju fefcen. Sie Scheiche ber
Ärumir unb ber Stabfa würben jufammenberufen unb biefe Serfammtung fchäfete
bie Siebftähte unb ben fonftigen Schaben ab, beren fich bie tunefifchen Stämme
im Saufe beS 3“h re $ auf franjöfifchem ©ebiet fchutbig gemacht Sie Sunefter
bejahten bann ©ntfchäbigungen in ©etb ober Sieh, welche unter bie befdjäbig:
ten Sttgerier Oertheilt Würben. So erhielten im 3<*h te 1880 bie grattjofen
200000 gr$. unb mehr als 1000 Dchfen. Sie tunefifchen Stämme festen
trofcbem ihre SJtiffethaten fort unb floaten feither etwa 1800 Dchfen nebft einet
großen Stnjaht öon ißferben unb Sftautthieren. Sluch ermorbeten bie Sanbiten
ein Sufeenb tßerfonen unb ftecften ben großen SBatb öon Uteb S’hia im Greife
Suf StrrhaS, unb bie fünften SBätber im Greife Sa Salle in Staub. Sine neue
Serfammtung war nothwenbig unb fanb Stnfang gebruar 1881 ftatt. Ser fron*
jöfifche Sommanbant, SDtajor Stoenfang oom 3. atgerifchen Siraitteurregiment,
ftieß aber bieömat bei ben tunefifchen 2lbgefanbten, bem ®atb $affuna, ber nach
ben Reifungen beö Sarbo honbette, auf SBiberftanb. Sehr Wahrf^eintich, baß
bie 3totiener mit bem Sei unter einer Seife ftafen, unb beibe ben ©renjüber*
fällen nicht fremb waren. Sie granjofen oertangten 1800 Dchfen. Ser Sunefter
legte aber enbtich eine Sifte Oon 2000 Dchfen oor, welche franjöftfche Stämme
ben tunefifchen geraubt hoben fottten. Sie granjofen foQten atfo noch 200 Dchfen
an bie Sunefter abticfem. 3nfoIge beffen mußte fich ber franjöftfche Dfftjier auf
feinen ißoften jurücfbegeben, ohne bie geringfte ©enugthuung erlangt ju haben.
So tagen bie Singe, al$ am 10. gebt, gwei Seute aus Sechenia, tunefifche förumir,
gwei fßferbe ber Dteheba aus bem Greife Sa Satte ftahten; fie würben oon bem
Eigentümer Oerfolgt, welcher einen ber Sferbebtebe töbtete. Um benfetben ju
rachen, gingen am nächften Sage anbere Ärutnir über bie ©renje unb begingen
neue Sjrceffe. Stuf eine ernfte Sefhwerbe SRouftan’S erwiberte bie Regierung beS
Sei jwar, baß fie ihrerfeitö atteö thun wolle, um bie Stämme ju oerantaffen,
entfpredjenbe Sntfchäbigung ju teiften unb um ähnliche räuberifche Sinfätte in ber
3ufunft ju oerhüten; allein eö war notorifch, baß bie tunefifche {Regierung über
biefe unbotmäßigen Sergftämme nur fehr Wenig ober gar feine SRacht befaß, fobaß
biefetben frei fchatten unb walten unb Stuöftreitungen begehen fomtten, bie man
auf feinem fünfte ber Srbe ungeatjnbet ju taffen pflegt. Sie franjöfifche SRe*
gicrung fanbtc atfo einige Sruppen an bie ©renje, welche jeboch am 31. SRärj
bei s Jtum=et=Suf oon ben Sfrumit angegriffen würben, 3wei franjöftfche Sorn*
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tior&afrifa unö feine Seieutung in 6 er ©egemnart.
909
pagnten lämpften bort gegen 4—500 ßrumir. Seftere mürben jwar über bie
©rettje geworfen, bodfj erlitten bie granjofen relatio bebentenbe SBertufte, 4 lobte
unb 15 SerWunbete, hauptfäd>lid> infolge be$ UmftanbeS, baf» jte oljne befonbern
8 efef>l bie ©tenje nic^t überfdfjreiten burften. Sm nädjften läge ruhten bie
tfranjofen, meiste baS elfftfinbige ©efedfjt öont Sage jnoor feljr angegriffen hatte,
in ber (Erwartung ber ^erbeigerufenen SBerftärfungen au£, mätirenb bie ßrumir
auf Stbt)ängen, mit SBälbern unb ©eftrüpp bebecften Sergfämmen bortl)eitf)afte
fßoftttonen, natürlich auf tunefifdjem ©ebiete, einnaljmen unb bie anbern @renj=
ftämme aufftadjelten, an ber Bewegung tfjeiljuneljmen. Sn ber 9 tadjt t>om 1 . pm
2 . Steril jog aber ftaib ^affuna ungefähr 3000 3Wann jufammen unb rücfte nach
©ibi=et» 8 tmeffi an ber franjöfifchen ©renje, um unter bem SßorWanbe einer (Eon=
ferenj ba$ Säger beS ÜDtajorS Sioenfang bei S)ra=fferum ju überfallen. Siefer
tvar aber bei jetten benachrichtigt worben unb tonnte fich jurüdfjieljen; hoch burfte
man erwarten, jeben Stugenbtid bie tunefifch'atgerifche (Sifenbaljn angegriffen unb
ben SBetlefjr auf berfelben geftört ju fehen. Sie algerifche ©renje war jwar
nunmehr auf jeher Seite gegen jeben Ueberfaß gefiebert, aber bie ftanjöftjcficu
Srfifte waren unjureichenb, um bie ßrumir auf ihrem eigenen ©ebiete ju jüdjtigen.
©egreifTicherweife befdfjlofc bie franjoftfetje Regierung fofort 9tepreffalien jit
üben, um berartige SSorfütte ein für allemal unmöglich ju machen. Sie birigirtc
ihre oerfügbaren Truppen fogieich an bie ©renje, traf ßßobilifirungöoorbereitungen
in ÜDtarfeitte unb SDtontpellier unb oerlangte jum 3wecf einer (Ejpebition gegen
bie Sfrumir einen Srebit oon 5y 2 SKitt. gr$. oon ben beiben Kammern, welcher
fofort bewilligt würbe. Sarauf hin erhob bie tunefifdje Regierung bei bem fran=
jöfifcfjen ©efdjäftSträger SRouftan SBorftettungen Wegen ber Truppetianfamtnlungen
an ber ©renje. Tiefer überfanbte hierauf folgenbeö, 00 m franjöftfdjen SKinifter
be$ auswärtigen an ihn gerichtete Telegramm bem Sei oon Tunis:
Sch habe 3h« Jtoei Telegramme erhalten bejüglidj ber ÜtufRärungen, welche ber Sri
Wunfdjt. ©ollen Sie Sr. $oIj. erllären, bah wir auf bie treue greunbfefjaft bauen, bie
er uns fo oft oerfichert hat, unb oon ber wir heute einen tbatfächlichen SeweiS ju erbitten
in ber Sage ftnb. ©ine ernfte ©efaljr bebroht bie 3ntegrität unferS Territoriums unb bie
Sicherheit unferer Seoöllerung, welche bort unter bem Schuf unferer ©efefe lebt. Tie
©efafr fommt oon ben unbotmäßigen Stämmen, Welche einen Theil ber Staaten beS Sei
bewohnen unb gegen Welche mit ©ntfdjiebenheit oorjugehen uns eine gebieterifche Sflidjt
legitimer Sertheibigung jwingt. SBir fönnen leiber nicht auf bie Autorität beS Sei rech'
neu, um biefe Stämme mit jener (Energie unb Promptheit, welche nothwenbig finb, in
einen 3“flanb ber Unterwürfigfeit jurfidfjufüljren, welcher fie fortan mtfdjäblich machen
würbe, aber Wir haben baS fRedjt, auf bie militärifchen Äräfte beS Sei ju rechnen, bamit
fie uns bewaffneten Seiftanb bei bem nothmenbigen SBerfe ber Stepreffion leiften. Unfere
©enerale erhalten infolge beffen ben Sefeht, ftd) in freunbfchaftlicher Seife mit ben ©om*
manbanten ber tunefif^en Truppen ju Oerftänbigen in bem SDtoment, Wo bie Sebürfniffc
bet ftrategifdjen Sewegungen fie oeranlaffen würben, für ihre Operationen baS tunefifd^e
©ebiet ju wählen, fei eS bei Sa ©alle, fei eS im 9Rebf<herbatIjal. SIIS SUIiirte unb $ülf$«
truppen (auxiliaires) ber fouoeränen SOtadjt beS Sei werben bie franjöfifthen Solbaten ihren
SWarfch Oerfolgen, ffibenfo hoffen wir bie tunefifchen Solbaten, als ÜtHiirte unb ©ülfStruppen,
ju treffen, mit beren Unterftüfung wir bie Urheber fo oieler Uebeltljaten enbgültig jüchtigeu
wollen — Uebelthäter, bie gemeinfame 2feinbe finb ber Autorität beS Sei unb ber unferigen.
^äariS, 6. Kpril 1881. S. Saint=$ifaire.
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Unfere ^eit.
■T
9\0
9Ran tüirb !aum in Abrebe fteflen, bajü biefeö Schreiben bolle öeredjtignng
hatte. Tenn eS mar offenfunbig, bajj baS tunefifche SDlilitär allein burdhauS un*
jurei^enb toax , um mehrere reboltirenbe Stämme, in beren £änben fidf> über
15000 ©emeljre befanben, ju ftrafen. Abgefehen bon ben bie 3^1 1500 laum
überfdhreitenben regulären Truppen, befa§ bie SRegentfd^aft btoS eine ungenügenb
bewaffnete unb faft gar nicht gefaulte 3Jlilij, mit ber nichts auszurichten ift. Tie
©arboregierung entfanbte nun zwar gegen bie Aufftänbifchen unter bem ©efeht
beS ÄriegSminifterS eine Armee, wenn man biefen AuSbrud anmenben barf für
eine Ableitung Don 400 3Rann, unb berfprach eine größere ©otonne 3Kitij, bie
inbefc erft ju mobileren mar, unter bem ©efeljle beS ©rubere beS ©ei, Sibi-Ali*
©ei, eines fanatifc^en SBiufelman unb SrjfeinbeS 3ranfrei(^S, nadEjzufenben; zu¬
gleich aber beantwortete ber ©ei, welcher feine ©erminberung feiner Autorität
gutwillig jujugeben gefonnen mar, baS Anfuchen ber franjöfifd^en Stegierung
folgenbermafcen:
3Bir haben 3fh rcn ©rief öom 7 * April 1881 erhalten, burch welchen Sie uns anfün*
bigen, bajj bie ^Regierung ber föepublif ben ©ntfchlufj gefaxt hat, einigen tunefifchen Stäm¬
men eine Züchtigung aufzuerlegen. SBir finb überrafd)t über einen berartigen ©ntfchlufj,
oon einer befreunbeten Regierung gefaßt, zu welcher bie beften ^Beziehungen aufrecht zu
erhalten unb beren JJreunbfchaft zu bewahren Wir uns immer bemüht haben, unb welche
nun ihrerfeits uns mit ©orfchlägen fommt, bie uns oiel Kummer bereiten. 3n ber Affaire,
welche uns befchäftigt, haben wir bisher nur Heine Vorfälle erblidt, welche gäng unb gebe
finb bei benachbarten Stämmen, felbft wenn biefe einem unb bemfelben Staat angehören.
Sofort, als wir bon bem ©orfomnten bon SRuheftörungen an unferer ©renze gehört, haben
wir uns beeilt, an bie betreffenben Orte einen $ahta zu fenben, Oon uns belegtet unb bon
einer SReitercompagnie begleitet. AuS bem ©ericht, Welchen biefer Telegirte unS zngefdfjidt
hat, haben wir bie ©ewi&heit gefc^öpft, baß in biefer SRegion SRuhe h^rrfcht unb bafj bie
Stämme oielmehr ihrerfeitS beforgt finb für ihre eigene Sicherheit infolge ber militärifchen
©ewegungen, welche fie auf bem franzöfifchen Territorium bemerfen, unb beren Sietyunft
fie felbft zu fein glauben. 2Bie bem auch fei/ bie Truppen, welche wir jefet abgefefeidt
haben unb welchen halb anbere folgen werben, finb mehr als hinreichend um bie Orbnung
unb bie SRuhe befinitib aufrecht zu erhalten. gaüS feftgeftellt wirb, bajj einige unferer
Stämme Uebelthaten begangen haben, ift unfere Autorität ftarf genug, um ftch ber Schul»
bigen zu bemächtigen unb fie nach SRaßgabe ihres ©erbrechenS zu beftrafen. Tiefe oon
uns ergriffenen SRafjregeln mögen Jghrer Regierung bie Anftrengungen beweifen, welche
wir unabläffig in biefer Angelegenheit machen, um bie ^Regierung ber IRepubli! hinfichtüch
alles beffen zu beruhigen, WaS bie IRuhe in Algerien ftören fönnte. 2Bir hegen bie Hoff¬
nung, ba& bie franzöfifche ^Regierung ihr ©orhaben nicht mehr ausführen werbe. SBenn
fie trofe unferer ©erficherungen bei ihrem ©ntfdjluffe bleibt, fo halten wir eS für nothwen*
big, fie heute fdjon zu benachrichtigen, ba§ ein ähnlicher ©efchluß uns bie SRiSachtung
unferer eigenen ©ebölferung unb ber fremben Sänber zuziehen würbe. @r bürfte auch
anbere (Sompticationen unb ©efahren erzeugen, welche man in biefem Augenblide nicht bot-
herfehen fönnte. UeberbieS würbe ber Eintritt franzöfifcher Truppen auf tunefifcheS Ge¬
biet eine ©erlefeung unferer fouoeränen IRechte bebeuten unb würbe ben 3ntereffen fchaben,
welche bie fremben ^Regierungen in unferm Sanbe haben unb welche unter unfern Schüfe
geftettt finb; er würbe inSbefonbere eine ©erlefeung ber ^Rechte ber Hohen ©forte in fiefe
fließen. SRit all bem ©orftehenben erHären wir 3h n *n, baß wir auf leine Art bie Aus¬
führung ber SRaßregel annehmen unb bewilligen fönnen, welche bon 3»h rer Regierung bor*
gefchlagen ift unb barin befielt, bie franzöfifchen Truppen in unfer Territorium einrüden
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ttorbafrifa unb feine Bebeutung in 6er (ßegenroart.
9U
ju taffen. 3n bem gatte, baff biefe StuSfüffrung gegen unfern ffitüen ftattfänbe, madjen
Wir bie {Regierung ber franjöfifd&en SRepubßf für alte gotgen oerantworttidj, tätige barauS
entfielen tönnten.
Junis, 8. Dechumada el ula 1298 = 7. Äprit 1881. (Unterfdjrift beS (Bei.)
Sugleicfj richtete ber Sei unter bem 8. Steril 1881 ein Gircutar an bie in SuniS
reftbirenben Vertreter ber ®roßmäi$te, worin er erftdrt: baß er auct) an bie $otje
Pforte einen betaiüirten Seri<$t gefcfiicft tiabe, „um feine Serantworttidjfeit itjr
gegenüber ju betfen", unb fidj an bie ©roßmüc^te menbet, bamit fie i£)m itjre
Seitjütfe teiften ju bem 3weefe, fein* unb beS oSmanifdjen ftaiferreidjS Steckte ju
fdjfifcen. Setjr merfroürbig ift jebenfalts bie Serquicfung ber „fouberänen" Siebte
beS Sei mit ben Siebten ber §o^en fßforte, um bie er fid» bis jur ©tunbe nidjt
im geringften befümmert Ifatte.
Sie im ganjen gegen 2000 BRamt ftarfe Stbtljeitung tunefifdjer Snfanterie,
ÜRitij unb BRudjajnija unter 2tti«Sei, wetdje bie Aufgabe erlieft, bie anffttinbifdjen
©tümme im Saume ju galten, bertieß am 15. Stprit SuniS unb erreichte am 19.
Sebfdja, ein etwa 5000 ©inwofjner jäfjtenbeS ©täbtcfien, etwa 95 Nitometer meft«
tief) bon Junis unb 9 Kilometer bom linfen BRebfdierbaufer entfernt. Sott foß
fie fidj bis ju 5000 3Rann bergrößert tjaben, burdj Sujüge jener Sebuinenfdjaren,
beren ©ebiet bie „Strmee" bur^wanberte. Sarauf ging es nadj ©uf*el*2trba, ber
bem Sfdjebet Gfjitmair am nüdjften gelegenen BRebfdjerbabatinftation, bon mo bie
Operationen ju beginnen Ratten. Sie ©otbaten fomot als bie Sebuinen waren
inbeß weit etier geneigt, ben Sergbemofinern beijuftefjen als fie ju jüdjtigen, unb
überzeugt, baß eS auf feinen galt gelte, bie Srumir ju befriegen, fonbem einen
getbjug gegen bie granjofen. Sem entfprecbenb war aucf) bie Stimmung im
Sanbe eine gereifte, jumat bie tunefifdje ^Regierung bei intern BtuSfprudje berbtieb,
für nidjtS bürgen ju fönnen unb für baS Ueberfdfjreiten ber ©rennen burdj fran«
jöfifdje ©olbaten ber franjöfift^en Regierung bie bolle Serantwortung für aße
©reigniffe ju tibertaffen. Sie trieb alfo tt»atfädjtidj ein Sa«banque=©piel. Sie
{Regierung ber {Repubtif erftärte if)r beStiatb, baß itjre Sruppen ats greunbe bei
Sabarfa, einer fteinen tunefifdjen 3nfet in ber 5Rafje ber atgerifdjen ©renje, tanben
Werben, um bon bort aus bie Sfdjebetija, b. Ij. bie ©ebirgSbeWotjner, anjugreifen,
unb baß fie nicf)t bie tuneßfäe Regierung, fonbem ben Sei unb feinen erften
ÜRinifter 9Ruftapfja=Sen=3[Smain perföntidj für jebeS Seib berantmorttidfj madE)e, baS
(Europäern bon ben aufgelegten BRoStim wiberfafjren fönnte. Semtodj würbe baS
franjöfiföe ÄriegSfdjiff §pene, bon Sa Säße fommenb, bon bem tunefifdjen gort
auf Sabarfa mit einigen glintenfdjüffen bebrotjt, bermutfjtidfj bon BRititär ljer«
rütjrenb, was natürlich bie granjofen nid)t tjinberte, bie gnfel am 25. Stprit 1881
ju beferen, baS an ber naljen Stifte beS SrumirgebirgeS gelegene gort Sorbfdfj»
Sfdjebib in Srümmer ju fließen unb in ben {Ruinen fid) mit brei Snfanterie»
bataißonen unter Dberft Setpedj einjuquartieren, wäfirenb bie ©enietruppen bie
geftungswerfe wieber probiforifdj in ©tanb ju fe|en fugten.
Biber au<§ bon ber Sanbfeite tjer nahmen bie Operationen einen raffen Ser«
tauf, ©ine ©jpebitionScolomte, bie Sibifion Setebecque, beftefjenb aus ben brei
Srigaben {Ritter, Sincenbon unb ©aüanb, jog bon Sa ©aüe auf einem Sergpfabe
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Unfete £eit.
burch gängtich uncuttiöirteS unb mit Sträuchem bebedteS Sanb nad) bcm niaterifchcn
Orte 9tum=el=Sut unb non bott Wieber burdj eine wilbe, gurn 2^eil mit $or&
Wölbungen beftonbene ©egenb öon feenhafter <Scf>ön^eit, aber ohne eine eiugige
SDBohnftätte, nach St 2tjun. Seibe Orte liegen noch auf atgerifchem ©ebiete, Iejjterer
hart an ber ©renge. 2)ort faxten fie auf ben erften Stufen ber förumirberge
gup unb fuchten burch eine Setoegung nach Soeben bie geinbe gu cerniren,
melche ihre erften ^Optionen aufgaben, um pdj gu fammetn. ©eneral Stifter mürbe
teiber öon einem ©etjimfchlage getroffen unb muffte nach Sa Satte gurücftranS*
portirt werben. Stoch toeiter im ©üben, im SDtebfcherbathate, ftanb bie Srigabc
Srern, bie am 30. Slpril ©^arbimau befehle, um eöentuett bem ©eneral Sogerot
bie Jpanb gu reichen, melier am 26. Slprit bie geftung ßef genommen, bie bort
unterbrochene Xetegraptjenteitung mieberhergeftettt hotte unb am 28. in Sul»et=
Strba im SRebfdjerbathate unb an ber Sifenbahn eintraf, feinen SRarfch jebodj
nach ©ebfeha fortfefete unb bei SewSefdjir bem geinbe ein erfolgreiches Treffen
lieferte, ©teidjgeitig tanbete ein frangöftfe^eö ©efdjftaber am 1. SJiai bei Siferta
ein SruppencorpS öon 8000 ÜJtamt, bie Srigaben SRauranb unb Srearb, Welches
ftch unöergüglidj biefer Stabt bemächtigte, fobap bie grangofen nunmehr eine
wichtige Stellung gwifchen bem förumirgebiete unb Juni« innehatten, öon Welchem
Siferta bloS gwei Xagemärfche entfernt ift. 2)er tßtafc ift öon einer geftungSmauer
unb öon einigen Keinen gorts umgeben, bie aber in Xrümmer falten unb beten
Sefafcung leinen Serfuch gum SSiberftanbe machte. 2)ie Sinnahme öon Siferta
bebeutete ebenfo fehr eine SBantung für ben Sei öon XmtiS ats ein SDtanäöer
gegen bie ftrumir, welche nunmehr faft öon alten Seiten umgingelt Waren, gm
Storben bebrotjten pe bie SorpS öon labarla, ber Äüfte unb Siferta, im RBeften
bie Srigaben Stifter, Sincenbon unb ©aßanb, im Süben bie Sotonne SogerofS,
welche ihnen burch ben Sormarfch im SRebfcherbattjate auch noch ben StuSWeg
nach Dften abfehnitt. 2)ie ßrumir fiepen eS nur fetten gu einem WirKichen
fammenftop mit ben grangofen fommen, fonbern gogen muthig in baS gnnerc
ihrer Serge gurüd. ®er Stuf öon ihrem unbegätjmbaren ©haratter beruhte wahr-
fdjeinlich barauf, bap pe niemals jemanb anbem gu befämpfen hotten als bic
Slrmee ber £unefier. So gab es benn IjöchftenS Keine SÜraitteurfdjarmfipet, bei
welchen bie Ärurnir bie grangofen bis auf eine Sntfentung öon 50 SReter heran*
tommen tiepen, einmal fc^offen unb bann oerphwanben. 3h* £>auptfammelort
waren enbtich, nachbem bie Sfiöipon 2)etebecque baS gange mefttiche ©ebiet ge-
fäubert hotte, bie $öhen öon SibuStbbattah=ben=2)fchemet, wo pe behaupteten, eine
uneinnehmbare Stellung imteguhaben, gegenüber bem gropen SRarftfteden Sabufdj.
SttS nun bie grangofen bis nach jenem Orte brangen, bie bortigen „©urbi" in
Sranb ftedten unb fich mit 12 Satailtonen ber 2)iöipon $elebecque gum Singriffe
auf biefe ^Option öorbereiteten: ba gogen bie tapfern ftrumir noch öor Slntunft
ber Sotbaten in ber Stiftung nach SRorboften ab unb übertiepen bem geinbe
bie wichtige Stellung ohne einen SdjWertftreich. Slm 8. SJiai, um 11 Uhr, rüdte
bie Srigabe Sincenbon in bie SRofdjee ein, welche baS ©rabmat beS öerehrten
SRarabut Sibi*Stbbaltah begeichnet unb ein Keiner netter Steinbau tp. S)ie testen
fftumir, etwa 200 an ber Saht, öerliepen bie Stätte furg öor Stntunft bergran*
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Horbafrifa unb feine Bebeutung in 6er ©egemoart.
9\3
jofen, beren „®um" ihnen bloö einige gtintenftüffe nadjfenben fonnten. Der
©efij} be« Dftebel Abbattafy, ber ftärfften ißofition be« Sanbe«, filterte ba« @nb*
ergebnijj be« gelbjuge«, welker gliidtiterweife nur wenig ©lut foftete. Die Haupt»
maffe be« ©Epebition«corp« »erfolgte bann bie feinbliten Stämme bi« ©ewSDtetir,
Vertrieb fie non bort unb warf fie auf ben Dftebel ©taaba jutüd.
Die Abteilungen oon ©iferta marftirten mittlerweile fübwärt« in ber Südjtnng
non Duni«, twr beffen Dhoren fie al«balb erfdjienen unb bei SRanuba ein Säger
bezogen. Am 16. 3Rai brat ©eneval SRauranb oon hier auf nadj SRater, ba«
er fton am 18., natbem er mit etwa 2—3000 geinben ein längere«, fiegreite«
©efedjt beftanben, einna^m unb befejjte. Aut ber SReft be« Säger« oon SJtanuba
warb aufgehoben unb nat Dftebeiba oertegt, wohin eine ©otonne mittel«
©ifenbaljn birigirt warb. Unter ben ®ebirg«bewohnent h err ft te eine ftarfe
®ärung; benn ein in jWeibeutigen SBorten »erfaßte« SRunbftreiben be« Sei an
bie ®abi hatte bie Stämme ju bem ©lauben oerleitet, ba| bie granjofen juriid»
wit«n. Snbeg fiel am 19. 2Rai aut S3ebft a in &ie $änbe ber granjofen.
Hier fttug ©eneraltieutenant gorgeniol, ber Dbercommanbant ber ganjen ©fpe-
bition, fein Hauptquartier auf. So ftanben nun bie granjofen in brei Haupt»
gruppen ba, beren gemeinfame Action ba« balbige @nbe be« gelbjug« bewirfte.
Die brei ©rigaben ©incenbon, ßaiflot (nat Stifter) unb ©aQanb Oon ber Di»
üifion Delebecque cernirten oollftänbig im SBeften ben lebten 3uflutt«ort ber
.ffrumir, auf bem ©ebirg«ftod be« Dftebet Staaba. Diefe Dioifion ftanb in
©erbinbung mit ber Dibifion oon Dabarfä. gorgemol in ©ebfta hatte in feiner
Stähe bie ©tigabe ©rem, weite bie tunefifte ©ifenbahn unb ba« ÜDtebfterbathal
iiberwatte. Die ©rigaben Sogerot unb ®aume, weite ju gleiter 3eit mit bem
Dbercommanbanten in ©ebfta cingeriicft waren, riidten Weiter nat Dabarfa, nm
fit filblit unb öftlit oom Dftebel Stoaba feftpfefcen; fie bitbeten alfo ba«
(Zentrum ber Dperation«front; ben linfen glüget bie Dibifion Delebecque mit ber
©amifon oon Dabarfa, ben retten bie in ©iferta gelanbeten ©rigaben Srearb
unb SRauranb, weite jugleit bie Aufgabe hatten Duni« ju überwaten, ÜRater
ju beferen unb ben Stamm ber SKogobi auf bie Äruntir jurüdjuwerfen. Die
weitern ©ewegungen ooßjogen fit ohne feben Särm, bot ift wan niemal« in ben
Jfabhlenfriegeit in Algerien auf größere Derrainftwierigfeiten geftofjen at« im
Sanbc ber Srumir. Aufjerbem hielten ©egengiiffe beifpiellofer Art in biefer Söhre«
jeit nnb oon wahrhaft afrifanifter Heftigfeit bie ohnehin fo ftwierigen ©ewegungen
anf. Unb währenb H* mm et unb ©rbe bie Stritte ber granjofen hemmten, be-
nuhten bie ffrumir, bie 3Refna unb bie anbern feinbtiten Stämme, wette beweg»
lit finb gleit ben Arabern ber ©bene, biefe ©erjögerung, um fit ben Streiten
ber Angreifer ju entziehen. Dot fonnten fie nitt hindern, bah ber fie umgebenbe
eiferne SRing immer enger würbe; Anfang Smti haften bie gratt^ofen alle« Sanb
nörbtit, b. h- am linfen Ufer be« äRebfterba befefjt, unb ©nbe be« nömliten
SRonat« hotten fit bie Aufftänbiften unterworfen, fobafj bie ©iidfehr ber ©jpe»
bition«truppen nat granfreit ongetreten werben fonnte.
Unfere flrit. 1882 . L 58
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Uttfere <5«it.
m
Stuf bie ftanonen* unb Slintenfchüffe, Jodelt bie frattjöftfcf)en Jruppen oit ber
©renze abfeuerten, antwortete HKohammeb* eS * ©abof mit biptomatifdjen Stoten.
3« ben testen lagen beS Stprit richtete er nicht weniger als abermals brei
Sßroteftationen an ben franzöfifdjen ©eneralconful. Vei ben Vertretern ber anbetn
äJtädjte bettagte er fich bariiber, baß Sranfreid) bem Völferrecßte juwiberfjanbTe,
unb rief bie großmütige Vermittelung Italiens unb ©nglnnbS an; and) verlangte
er bie @infe|ung eines internationalen ©djiebSgerichtS, wäßrenb fich unter ben
gefallenen Ärumir Offiziere unb ©olbaten ber regulären tunefifetjen Slrmee befanben.
Septere fpielte überhaupt eine überaus fläglidjc Volle; fie lagerte eine Seit lang
bei ©uf=el*3lrba, zog fidf) aber bann in ber Stiftung bon Junis juriid, ohne jur
Veftrafung ber $rumir, zu welchem .ßwede fie auSgefanbt worben, auch nur einen
Singer §u rühren. ?tuf bie auSbrüdlidjc Sorberung beS ©eneralS Sogerot ber*
Zidfjtete ihr ©ommanbant, $lli»Vei, nur mit großem SBiberftreben, Wie eS feheint,
auf feinen Sßtan, in Vebfdja fein Quartier aufzufdjlagen. 3« ber Jt)at ^ielt aud)
ber verlogene Orientale fein Sogerot gegebenes Verfpredfjen, auf ber Strafe über
Jeftur nach Junis jurüd§u!e^ren, nicht, fonbern nahm bie Stiftung über ©ibi=
Seöult nach Vebfdfja. ©in Jrittel feiner ©olbaten fott ju ben fi'rumir übergelaufen
fein. 3n einem Vriefe an feinen Vruber, ben Vei, erhob er unerhörte Stlnflagen
ber ©raufamfeit unb ©ewalttljätigfeit gegen bie Sronjofen, benen Sogerot ein
fategorifdfjeS Jementi entgegenfe|te. 9lngefi<$tS ber bom Vei immer noch beobacf>=
teten ablefjnenben Haltung gegen bie berechtigten Sorberungen SrantreichS — einer
Haltung, Worin er bon feinen italienifdjen Sreunben bis zutefct lebhaft unterftü|t
würbe — gab eS nur noch ein SJtittel, jur Vefefcung ber ©tabt Junis ju fchreiten,
um bie Unterzeichnung eines ©arantiebertragS, wie ihn bie Regierung ber Vepubli!
forbem muffte, ju erwirlen. SBie ber SBiberftanb ber ffruntir bor ber 3Rad)t=
entfattung ber Sronjofen berfchwanb, fo fehmotz auch i« ber Jhat ber SBiberftanb
beS Vei bor bem Stnbtide beS erften franjöfifdhen ©eneralS, beS ©eneralS Vrearb,
ber an ber ©pifce einer ^eereSfäute an bie Jhore beS Varbo pochte. 9ta<h ber
fdhlauen Slrt ber Orientalen hotte er bis jum lebten Slugenblid auf eine 9lenberung
ber Sage gewartet, bie bon irgenbwoher fommen mochte. 3m entfeheibenben 9lugen*
blid jeboch war bem Vei bie ©elbfterhaltung lieber als alles anbere, unb er unter*
fchrieb am 12. SRai 1882 nach furzer Vebenljeit einen Vertrag bon zehn Strtifeln,
ber ihm nichts bon ©elbftänbigfeit läßt als fein verweichlichtes ©atrapenteben
im Varbo unb baS ©eheinbewußtfein ber fperrfcßaft. SolgenbeS ift feinem SBort*
laute nach biefer
Vertrag
ZWifdjen ber SRegiernug ber franjöftfchen SHejnibtit unb bem Vei von Junis.
Jie Regierung ber franzöfifdjen SRepublif unb bie ©r. $ot). beS Vei bon JnniS, ge*
ttiHt, für alle Sutunft bie SSieberljotung ber Unruhen ju berhinbern, welche neulich an
ben (üreiijen beiher ©taaten unb auf bem Äüftengebiet bon Junis borgefallen ftnb, unb
bon bem ©unfdje geleitet, ihre alten freunbfchaftlidien unb freunbnadhbarlidhen Beziehungen
ju erneuern, haben befchloffen, ju biefem gmeefe unb im Sntereffe ber beiben hodjöermö-
genben bertragfchließenben Jheile, eine ßonbention miteinanber einzugehen. infolge beffen
hot ber ißräfibent ber franzöfifdjen SRepublif zu feinem Bevollmächtigten ben frerrn (Senerat
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Horbafrifa uttb feine Sebeutung in 6er ©egenroart
9(5
örforb ernannt, ber mit ©r. £oh. bem ©ei oon XuniS fich über folgenbe fünfte ge*
einigt hot:
%Crt. 1. $>ie ftriebenS*, greunbfdjaftS* unb £anbelStractate, fomie alle anbern, bereit
^tnifd^en ber franzöfifchen ©epublif unb ©r. $oh. bem ©ei oon XuniS beftehenben ©ertrage
werben auSbrücflidj beftätigt unb erneuert.
Art. 2. Um ber Regierung ber franzöfifchen ©epubtif bie SRafjnahmen zu erteiltem,
welche fie zur (Erreichung beS non ben beiben üertragfdjtiejjenben feilen inS Äuge ge*
faftten Sieles anftreben mu|, gibt ©e. $oh- ber ©ei üon XuniS feine Suftimmung bazu,
bafj bie frangöftfetje ©ttlitärbehörbe alle ©unfte befe&eu laffe, beren ©efefcung ihr zur SBieber^
herfteüung ber ©icherheit unb Drbnuug au beit ©renzen unb auf bem Äüftengebiete noth s
wenbig erfcheittt. 3)iefe Dccupation foü jebodj aufhören, wenn bie franzöfifchen unb tune*
fifchen Stfilitärbehörben übereinftimmenb erfannt unb erflärt hoben werben, ba| bie ßoeal
behörben bie fernere Aufrechthaltung ber Orbnung zu verbürgen im ©tanbe feien.
ßtrt. 3. 3)ie Regierung ber franzöfifchen ©epublif übernimmt bie ©erpßichtung, ©r. #of).
bem ©ei oon Firnis alle nötige Unterftufeung gegen jebe ©efahr zu bieten, welche feiner
©erfon ober feiner 2)pnaftie broheu, ober bie ©ul)e feiner ©taaten gefährben fönnte.
9Crt. 4. $ie Regierung ber franzöfifchen ©epublif übernimmt bie ©arantie für bie
Aufrechthaltung unb ©eobachtung ber jwifchen ber ©egentfehaft XuniS unb ben oerfd)ie
benen europäifchen Mächten beftehenben ©ertrage.
Art. 5. 2)ie ©egierung ber franzöfifchen fRepublif wirb bei ©r. #oh* bem ©ei oon
XuniS burch einen SJHnifterrefibenten oertreten fein, welcher bie Ausführung beS gegen*
wärtigen ©ertrageS überwachen unb bie ©ejiehungen ber franzöfifdjen ©egierung mit ben
tunefifchen ©ehörben in allen, beibe ©taaten gemeinfam betreffenben Angelegenheiten ber*
mittein wirb.
Art. 6. $ie biplomatifchen unb ©onfularagenten ftranfreichS in ben auswärtigen ßän*
bem finb mit bem ©chufc ber tunefifchen Jgntereffen unb ber Uuterthanen ber ©egentfehaft
betraut, dagegen oerpflichtet fidj ©e. $oh. ber ©ei, feinen Act oon internationalem ©ho*
rafter abzufchliefjeit, ohne oorher ber ©egierung ber franzöfifchen ©epublif baOon Äenntniß
gegeben unb fich mit ihr barüber geeinigt zu hoben.
Art. 7. iie ©egierungen ber franzöfifchen ©epublif unb ©e. $oh« ber ©ei Oon $uniS
behalten eS fich öor, in beiberfeitigem ©inoerftänbnifj bie ©runblagen einer finanziellen
Drganifation ber ©egentfehaft feftzufteüen, welche geeignet fein foü, bie aus ber tunefifchen
©taatSfchulb erwachfenben Verpflichtungen unb bie ©echte ber ©laubiger ber ©egentfehaft
Zu fiebern.
Art. 8. ©ine ftriegScontribution wirb ben nicht unterworfenen ©tämmen beS ©renz*
unb beS ÄüftengebieteS auferlegt werben. $ie §öhe unb bie ©tobalitäten ber (Einhebung
berfelben werben burd) eine weitere ©onOentiou beftimmt, für beren Ausführung bie ©e*
gierung ©r. £>oh. beS ©ei bie ©erantwortung übernimmt.
Art. 9. Um bie algerifchen ©efipungen gegen bie ©infchmuggelung Oon SBaffen unb
ÄriegSmunition zu fchüpeit, oerpflichtet fich bie ©egierung ©r. $oh- beS ©ei, jebe ©infüfj s
rung oon SBaffen unb ÄriegSmunitiou Oon ber 3nfel 2)fd)erba her, fowie in ben $afen
oon ©abeS unb aüen anbern |>äfcn beS (üblichen Xunefien zu Oerbieten.
Art. 10. tiefer ©ertrag wirb bem ©räfibenten ber franzöfifchen ©epublif zur ©atifi*
cirung unterbreitet unb wirb baS ratificirte $ocument ©r. £>ol). bem ©ei Oon $uniS in
fiirzefter JJrift behänbigt werben.
ftaSr*©aib, 12. 2Rai 1881.
2flohammcb*eS*©abof*©ei. ©eneral ©rearb.
®ie |>auptbeftimmung biefeS ©ertrageS ift, wie man fieht, bie ©infefcung eines
franzöfifchen SWinifterrefibenten in XuniS, unb inbem er bieS genehmigte, war ber
©ei ber erfte, ber bie Pforte, beren Oberhoheit er zuletft beftänbig im SRunbe
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Unfere <5eit.
führte, oerieugnete. ttnftatt ber Dberßoßeit ber Pforte, melcße gänjticß in ber
Suft fcßmebte, maltet nun über Junis bie Dberßoßeit granfreicßS. SJtit ber
©infeßung eines SJtinifterrefibenten erreichte Franfreicß tßatfäcßticß boffetbe, maS
eine ännejion ift; jubent oerbürgt bie geforberte ©ntfcßäbigungSfumme bie materielle
Stbßängigfeit JunefienS auf äße Seiten, öoßenbS nacßbem eS ja fcßon non früßer
{»er gegen granfreidj enorm ecrfcßulbet mar.
9lm 15. SJtai fanb in ber ©bene bei Junis, tinfS öon ber ©ifenbaßn, eine
große gtänjenbe Steöue ber in bem näßen Säger öon SRanuba befinblicßen fran»
^öfifeßen Gruppen ftatt, melcße in geraber Stiftung mit bem ©alafte ®aSr=©aib
Sluffteflnng naßmen. Jie ©timmung in ber §auptftabt unb im Sanbe unter ber
einßeimifcßen ©eöölferung mar natürlicß eine ungemein erregte, ©eneral Sarbß»
Sarrmf, ber ©räfect öon Junis, einer ber einftußreicßften unb begabteren SDtoßam»
mebaner ber SRegentfcßaft, pgteicß fanatifcßer ©egner grantreicßS, fcßeint ben
@<ßeicß=ut=3stam aufgeforbert ju ßaben, ben ßeiligen $rieg ju prebigen, unb baS
Stämticße tßaten bie fanatifcßen Utema in ber ßeiligen ©tabt ffairuan. Jie in
Junis öerbreiteten ®erücßte ließen Stouftan fogar einen SJtoment ben SluSbntcß
beS mufelntanifcßen Fanatismus befürchten, unb er begab ficß am 21. 2Rai natß
bem ©atbo mit ber Anfrage: ob ber Sei für bie ooßftiinbige ©icßerßeit ber
europäifcßen ©otonie einfteßen fönne; anbernfaßs mürben bie SanbungStruppen
ber franjöfifcßen ©tßiffe nacß Junis gerufen ober ben auf bem -SDtarfcße natß
SBeften befinblicßen ©ataißonen ber SSefeßl jur Umfeßr ertßeitt merben. Jarauf ßin
fcßritt ber ©ei ernftlicß ein; bie Stuße marb mieberßergefteßt unb troß aßer gegen=
tßeiügen Stnftrengungen traten bie Jinge immer meßr unb meßr in ein rußiges
®teiS. Sunäcßft macßte fi(ß ber franjöfif(ße ©influß burcß bie ©ntfernung ein»
feiner befonberS compromittirter ©eamten bemerfbar; eS trat baS ein, maS man
in einem europäifcßen Sanbe eine SJtinifterfrifiS nennen mürbe. 3« biefen erften
Opfern geßörte bet obenerraaßnte Sarbtj=3arrucf, ber ©eneral 3Jtoßammeb»©a!nfcß,
Jirector beS SDHnifteriumS beS 3teußern, ein ÜJtann oßne befonberc ©egabung, ber
Scßaßmeifter ffa'ib Stijaßu ©cßemama, ein in Siöorno erlogener 3ube, unb ber
erfte Interpret ßonti, metcßer gut int italienifcßen ©ittne ju arbeiten mußte. 3m
übrigen macßten ficß bie ©inmoßner ber £>auptftabt halb mit ber 3bee beS fron»
jöfifcßen ©rotectoratS oertraut unb gaben jebe Hoffnung auf eine frembe 3nter=
üention auf. S)er SJtoSlim fügt ficß aber fcßneß in ein ©cßicffaf, baS er nicßt
änbern fann, unb er ift fing genug, bie ©ortßeile beffetben rechtzeitig ju ermägett.
Jen üoßfommenen SBanbel in ber politifcßen Sage bracßte enblidß bie Steife beS
©remierminifterS 9Jiuftapßa»©en=33main nacß ©ariS, Slnfang Suni, ju ßanbgreif
licßem SluSbrud. JaS franjöfifcße ©rotectorat beßnte ficß aucß halb auf baS
religiöfe (Sebiet auS, inbem ber fecßSutibacßtäigjäßrige ©ifcßof ©utter, unter beffeu
Surisbiction bie Äatßolifen ber Stegentfcßaft bislang ftanben, feine ©ntlaffung ein»
reicßte unb ber ©rjbifcßof öoit Sltgier, Saoigerie, aucß jum apoftolifcßen Slbmini»
ftrator öon Jttnefien gemacßt mürbe. ^njmifcßcn riicfte baS franjößfcße ®elb in
Junis ein; jeber 3«g bracßte fran^öfifcßc ©inmanberer mit unb bie ©reife ber
Sänbereien in ber Stegentfcßaft ftiegeit fcßneß.
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Horbafrifa uni feine 23c6cutung in 6er ©egenwart. 9(7
©aitj auberS üerljietteit fidf bie J)inge ini übrige» Juttefien, b. Ij- aufferhalb
ber |iauptftabt. Strn 30. SDtai warb ber fraityöfifche 3ournaIift ©eguin, (Mitarbeiter
beS „Tclcgraphe", üor ben Jfjoren SebfdjoS burch ben (Deferteur @ffalUbe»4)Ioham=
meb ermorbet, hoch hatte biefer traurige Fall leine weitem folgen, ffibenfo wenig
hatte bie am SIbenb beS 3. 3uti erfolgte ©rntorbung beS SlrtiHeriehauptmanns
Napoleon be SDtattei Sebeutung, weither, als er im (Safe be Trance, nahe bem
Sahnhof bon (Dianuba, fajf, mit jwei (Reboloerfchüffen getbbtet würbe. (Der (Dtörber,
welker einen Stet ber (ßrioatradje oerübte, war fein Junefier, fonbern ein ©uro*
päer, ein (Dtaltefer ober ©icilianer. Siel bebenltit^er fah eS im ©üben ber
Dtegentfchaft aus, wo bie Seböüerung 001 t bem benathbarten (ßafchali! Jripolis
aus aufgeljeht unb fogar mit SBaffen berfehen würbe, währenb bie (ßrebigten bet
dJiarabutS, befonberS ber Kt)uan botn Drbeit ber ©nuffi, bas Shrifle thaten, um
bie ©emüther ju erhifeen. Bur Unterbrütfung ber Aufregung unb beS Schmuggels
mit Kriegsmaterial beorberte baffer ber Sei bon Junis 1200 (Staun nath bem
jpafenplahe ©faj, uub bier fran^öfiftfje KriegSfihiffe freujten ju gleichem Zwecfe
im ©olf bon ©abeS. 3« ®f“£ laut eS ju jiemlith bebeuteitben Unruhen; ber
ntoSlimifthe Fanatismus geigte fith aufs äufferfte gereijt gegeu bie ©hriften im
allgemeinen unb nitht bloS gegen bie Fraitjofen. 2lm 28. Sani fanb ber 8(uS=
bruth ftatt. ©S fielen ©eweffrfthüffe unb mehrere SluSlänber würben berwunbet.
3m Stufange freilith war bie Sewegung auSfchtiejflich gegen bie granjofen gerietet.
(Die Slraber liefen birect auf bas franjöftfd^e ©onfulat; als fie bort niemattb
fanbeu, plünberten fie eS aus unb gerriffeu bie frangöfift^e Flagge. (Dann aber
nahm bie (Bewegung beit Gffaraftcr eines ©laubenSfriegeS an, unb alle ©uropäer
faheit fith hebroht. (Die nath ®f a E gefanbten tunefifdjen Jruppen fonnten gar
nitht lanben: bie Slraber, Herren beS Fort, erflärte» auf fie fofort ju fdjieffen,
wenn fie ans 2anb ftiegeit. (Die telcgraphifthe Serbinbung mit Junis warb unter¬
brochen unb ade ©uropäer mufften fith auf bie ©djiffe flüchten, aber offne SebenS-
mittel uub offne KleibungSftüde; bie groffe (Mehrheit ber ©inwohner tierfolgte ben
franjöfifcffen Siceconful (Mattei unb bie Fronhofen bis ans SKeer. (Mattei blieb
bis junt lebten Slugeublid jurücf, um bie ©hriften unb bie 3ubcn ju befdfühett,
uub oertheibigte fief) tapfer gegeu feine Singreifer, welche ihm burdf einen SIfthieb
ben Sinn aerfefjmetterten. (Mau gä^Ite 3 Jobte unb etwa 20 Serwunbete. Siete
entrannen bem Setberbeu nur baburch, baff fie nach bem franjöfifcffen Kanonen¬
boote ©hacal fthwamnten, welches eine Stenge 00 » Flüchtigen aller Stationen auf¬
nahm. ©rwiefenermaffeu hatte ber (ßtaheommanbant 2Ui=@cherif baS ©igual jur
©mpörung gegeben; nur bie Motabeln ber ©tabt machten burch ihren Schuh bie
©infehiffung ber ©uropäer unb Subeu möglich; oon ledern flüchteten fich ihrer
800 nach Junis. JaS jurüdgebliebene ©igenthum ber Frentben warb eine herr¬
liche Seute ber räubcrifcheu SIraber. Sluf biefe SluSfchreitungen ber erfteu Saft¬
tage war eine ejemplarifche Züchtigung unerläfflid), unb ber franjöfifche ©ornman-
bant, Sinienfdhiffsfapitän ©ot, forberte bie ©tabt auf fich J u ergeben, wibrigenfatlS
fie bombarbirt werben würbe. (Die großen fraugöfifcheu ©d^iffe föntten fich freilich
nur auf 2000 (Meter, bie Kanonenboote auf 800 (Steter ber Küfte itäheru; aber
biefe ©ntfemung oerhinbert nicht ein Sombarbement, unter beffen Schuh man
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Unfcre <3eit.
Gruppen an« Sanb Werfen faittt. $en Strabern mochte bieS nicht einleucf)ten,
benn fie oerharrten im SBiberftanbe unb ernannten einen Sei, welcher bie Opera=
tionen leitete. Stuch griff bie ©ewegung im Sübeu immer weiter um fidj. Stuss
©abeS warb ber fran^öfife^e ©onfut öertrieben. 2)et italienifdje ißoftbampfer nahm
an üerfdjiebeneit fünften ber Süblüfte gamitien auf, bie ftd) aus gurdjt oor einem
Slufftanbe uub 3Jtefceleien flüchteten; bie ©täbte ©ufa, SKonaftir unb SKaljebia
Würben öon ben umwohneuben ©tümmen bebrotjt; in ben Drtfdjaften in ber Um=
gebung ©ufaS war es unmöglich ben ©efdjäften nadjgugehen. Stuf Jjfdjerba
ermorbeten bie Slraber biete grembe unb in ber ©egenb oon SRonaftir gewann
ber Slufflanb fidjtlich <nt ©oben. @S lag atfo bie $ringlidjfeit bor, alle lüften»
ftäbte gu beferen, wenn fie nicht inSgefammt halb baS ©chidfal bon ©faj, bem
$auptfi|e ber ©mpörer, theilen fotlten.
Seiber hatten bie grangofen fehr boreilig, fchon am 10. 3uni, mit ber 9tücf»
beförberung ihrer ©EpebitionStruppen aus Xunefien begonuen unb nur eine geringe
Xruppenmadjt als DccupationScorpS gurfidgelaffeit, im gangen bloS 6000 SKanu,
welche fich auf bie ©arnifouen bon ®ef, ©iferta, Sabarfa unb bie hier Säger bon
SJtauuba bei Junis, ©harbimau an ber SRebfcharbaeifenbahn, gentana unb Sliu=
®raham bei ben Ärumir bertheilten; jefct ftetlte es fich h era «ö, bafj man bie
Sachlage fatfch beurtheilt hatte, als man mit bet Unterwerfung ber nörblichen
©ebirgSbewohner bie ©Epebition für beeubet anfatj; bietmehr hätte man gleich fon
allem Slnfange an einige fünfte ber ©üboftlüfte auch beferen foUen. Sfe^t galt
es atfo baS Uebel wieber gut gu machen, bem man lieber hätte guoortommen
foUen, unb eS mufften neuerbittgS Gruppen aus granfreich herübergebracht werben,
©inftweilen muffte man jeboch ben SRebeöeu in @fa£ ben §errn geigen. Slm 7. 3uli
eröffnete ber ©hacat baS geuer unb gwat auf eine aus 11 ©efchüfcen beftehenbe,
an ber Äüfte errichtete ©atterie ohne ©ruftwepr. 2>ie Slufftänbifchen erwiberten bas
geuer, jeboch ohne gu treffen. Slm 8. bormittagS würbe bie Stabt fammt ber ft'as»
bah bombarbirt. Stuf bie ©ingeborenen machte eS tiefen ©inbrud, als fie ihre groffe
SRofdjee in eilten Schutthaufen berwanbelt fahen; fie hatten fich eingebitbet, baff
ber Prophet feinen Tempel bor ben Somben ber Ungläubigen bewahren würbe, unb
waren jejjt geneigt fich gu ergeben; aber bie Stämme ber §amama, ber ©ela, ber
Senigib, etwa 10—15000 ©ombattanten, unb an ihrer ©pifce ber güljrer beS gan-
geu SlufruhtS, Sllt*ben4?hälifa=en»9lefetti, angeblich (aber fehr unwahrf<heinlt<h) ein
ehemaliger 3öflling bon Saint=©pr, waren für ben SSiberftanb. ®arum burfteu
bie grangofen nicht attberS als in genügenber Starte ans Sanb fteigen, wogu
ihnen einftweilen bie SRannfchaften fehlten; benn es beburfte wcnigftenS 3000 Sftann
SaubungStruppen, um baS wegen ber tiefen SDtoräfte feiner nächfiett Umgebung unb
an ber ffüfte faft unnahbare Sfaj gu nehmen. S)ie tunefifcheu Üruppeu, bie fich
an ©orb einer frangöfifchen gregatte befanbeit, geigten fich als bleierne ©olbaten,
auf bie man nicht rechnen burfte. deshalb würben biefe unnüfcen Gruppen, welche
fogar auf bie grangofen fdjieffen wollten unb bei jeber aus Sfaj fommenbeu
©aloe in greubenrufe ausbrachen, nach 2uniS gurürfeEpebirt. $aS ©ombarbemcnt
würbe gwar fortgefe^t, aber blieb fernerhin giemlich WirlnngStoS; bie Sfnfurgenten
oertheibigten fi<h, Oerloren nicht ben SJtuth unb bauten, Was am Xage gerftört
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ttorbafrifa unb feine Sebeutung in ber ©egenwart. 9t9
Worben, in ber Stacht wieber auf. ®em ftarlen geinbe pgen immer itod^ Stämme
au« bem Innern p, in ber Meinung, baß bie Xruppen be« Sultan« if)nen p
$ätfe tommen würben. ©abe« unb üütatjre« befanben ftd^ in öoHem Slufruhr, nur
Stairuan blieb noch ruhig. Stun birigirte ber franpfifdhe SRarineminifter ben
©outreabmiral Eonrab mit bem Vaitprfchiffe Sa ©aliffoniere unb ein ganje« ©e*
fc^waber öon fieben Schiffen au« Xoulon mit pljtreichen Xruppen nach Sfaj.
Xiefe langten am 14. 3uli an unb bombarbirten am 15. bie Stabt, nachbent bie
Vorbereitungen pr Sanbuitg unb pm Sturm getroffen waren, tim 16. früh um
6 U£)r erfolgte bie 3lu«fchiffung, feljr erfdfjwert burdfj ben Stranbfdhlamm. 3Jiit
Energie gingen inbeß bie Xruppen oor; um 7 Ufjr bemächtigten fie fith ber ernft*
ljaft oertljeibigten X^ore unb um 8 Uhr War bie Stabt in ber ©ewatt ber gran*
pfen. Sfaj Wat freilich nur mehr ein Xrüntmerhaufen, mit Seichen überfäet;
ihrer 600 fanb man noch in ben Ruinen, obgleich oiele Xobte unb Verwunbete
non ben Slrabern Weggeführt worben waren. ®ie graupfen mußten jeben guß breit
Vobett erfämpfen. ®ie Straber f(hoffen au« ben Käufern auf fie, pgen ftch erft
in bie nädfjften ©ebäube prücf, wenn fie auf bem fünfte ftanben gefangen p
werben, uttb fingen oon neuem p fließen an. So begann benn notljgebruitgen
eine wirtliche „Slrabcrjagb", welche bann brei Xage ßinburcf) fortwährte. Sille
Stellungen in ber Stabt unb felbft in bem SBeicßbitbe würben ftart befefct, bie ganp
Verwaltung in ben £>änben ber franpfifdjen Xruppen concentrirt. Slußerbem fteKte
Dberft gamai«, ber Seiter be« Singriff«, fotgenbe griebeit«bebingungeit: 1) Sofortige
Stu«lieferung ber SBaffen unb SJlnnition aller Slrt; 2) Stellung oon ©eifein;
3) Veptjtung einer Ärieg«entfchäbigung oon 15 9Hit(. gr«.; 4) ber franjöfifchen
Vehörbe müffen alle Xran«portmittel, fiamelc, Vferbe, SDiaulthiere, Efel jur Ver*
fügung geftellt werben; Stequifition ber nothwenbigeu Seben«mittet u. f. W.; 5) Ver*
antwortlichteit ber Veoötferung für ben galt ber gerftörung ber Xelegraphenlinieit
wie für jeben coUectioen ober inbioibneHen Singriff gegen bie Sicherheit ber frait-
jöfifchen Xruppen. ®ie« hinberte nicht, baß am 20. guli in Sfaj abermal« ein
Stampf jwifdjen ben franpfifchen Xruppeit unb ben Einljeimifchen ftattfanb, bie
in ben Käufern be« arabifchen Viertel« prüctgeblieben waren unb bie Xruppen
jwaitgen, bie Käufer p erftürmen unb in bie Suft p fpreugen. 3« biefen
Straßeitlätnpfen ging e« heiß p. ®ie Käufer mußten ber Steiße nach unterfucht
Werben, unb man erfdfjoß alle«, wa« mit ben SSJaffeit in ber $anb betroffen Würbe.
Empfinbfatne Seelen tlagten mit Stecht, baß bie graitpfen in ber Stabt arg ge*
häuft hätten: ja fogar geplünbert foH biefelbe worben fein unb jWar auch in
ihrem europäifdßeit Viertel, unb obwol eine oon ©eneral Sogerot Oeranftaltete
Enquete biefe Slnfchulbigungen angeblich al« grunblo« errnie«, finb biefelben hoch
burch p oiele unparteiifeße Vericßte beglaubigt, al« baß baran gejweifelt Werben
tönnte.
®ie Einnahme oon Sfaj machte inbeß auf bie arabifchen Stämme teine«weg«
ben Einbrucf, ben man fich baüon oerfprach. Sie feßeint im ©egentheil ba« Signal
p neuen Vemegungcit unb Streifpgen ber Vanben gewefen p fein, bie fi(h felbft
bi« oor bie Xßore Ö0H 2mui« wagten unb beit Stern ber 0ccupation«armee in ber
#auptftabt einfchloffen; bie Stufftänbifcßen bebrohten gleichjeitig 8 cf, Xuni« unb
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Unfcrc 5«*-
HJtater, uub css [taub bamit ein förmlicher jwciter gelbpg bcuor. Um aßc brci
ftrategifch gleich mistigen fünfte gehörig p berfeu unb auch noch Gruppen für
6üb= unb Ofttunefien übrig p haben, ift ein gattp* s 2lrmcecorp* uöt^ig. @*
rnufjte bo^er p einer theitweifen SWobitifirung in granfreidj gekritten werben,
ba bie ffiljre ber Stepublif nicht geftattete, t»or bem fich immer mehr au*breitenben
älufftanbe prücfpweicheu, uitb anbcrerfeit* ber Sei, gegen Weiten bie aufftäubifche
Sewegung in oftenfibter SSBeife mit gerichtet war, bo feine ©fiter mit Sortiebe
geplünbert würben, ouf ©runb be* obgefchtoffenen Sertrage* berechtigt war, ooit
beit granpfen militärifchen Schuh unb Seiftanb p oertangen. Sein #eer unb
feine Serwaltung tiefen au*einanber unb gingen in Irüntnter. ÜRohamnteb'*
eigene ©jiftenj wie bie feiner Regierung unb bie potitifche ©jciftenj ber ßtegeut»
fchaft fetbft hingen nur noch non bem ©rabe ber Orbnung unb ber Sicherheit ab,
wetclje bie frattpfifchcn SBaffen herjuftetten uerntochten. @3 warb bähet bie
bauernbe mititürifche Dccupation oUer ftrategifdj ober potitifch Wichtigen Orte in
Xunefien befchtoffen. ®ie 0ccupation*truppen hatten fich auch ber politifchen unb
fouftigen Serwaltung p bemächtigen, wäljretib ber franpfifche SRinifterrefibent
bie Reform alter ScrWaltuitg*jWeige unb bie SReubefehung ber meiften Stemter,
enbtich auch bie bringtichften fi*calif<hen Reformen pr ©nttaftung ber Unterthancn
be* Sei öeranlajjte. 2e|terer unb fein äRinifter SRuftapha begriffen nun recht
Woljt, bah fie außerhalb folcher ßjiftenpebingungen teilte äufunft mehr hatten;
nicmanb rief baher brittglicher al* fie ben franpfifcheu Schuh an. Unter ihrer
girnta entwidctte fich ba* fßrotectorat pr Occupatioti unb teuere beröoßftänbigte
fich thatfüchlich bi* pr Stnnectirung, ba neben beu franpfifcheu Sicherhcit*truppeu
feine anbere 9Racht mehr beftanb unb äße gactoren ber Regierung wie aße Ser-
wattung*jWeige in franpfifche $änbe übergingen. Unzweifelhaft tonnte e* ber
SBaffeugewalt allein getingen, bie Orbitung wieberherpftcfleit unb überaß in ber
dtegentfdjaft bie ßinwohner gegen bie überaß auftauchenben SRcbcßeit p fchüheit.
s 2tuf bet eiueit Seite Umgeftattung ber Politiken unb Serfoitaloerljätttiiffe ber
ßtegentfdjaft in franpfifchem Sinne, auf ber anbern Slufreipng ber Sebuineu p
ernftticljem SBiberftaube gegen bie frembe £errJcf)aft: ba* war bie Signatur be*
Stugeubtict*.
Solange bie Stabt Sfaj belagert uub befchoffen würbe, galt fie für ba* Seit»
trum be* Stufftanbe*. s Jfach ihrer ©iuitahnte lagerten bie 2lufftänbifchen in ber
Umgebung uttb lieferten beit granpfen ©efechte; ein Xheil aber brach «ach bet
heiligen Stabt föairuan auf, wo bie Sitfurrection ein neue*, wegen feiner binticii'
tänbifdjen Sage fchwerer pgättgticf)e3, für bie Sfanonen ber franpfifcheu fßanpr*
fetjiffe ganj unerreichbare* ßentrum gewann. Sluch bie Sorgänge in SUgerien
blieben nicht ohne fRüctwirtung auf Xunefien. 2)ajj non Äairuatt au* ber Stnf-
ftanb gcfchürt werbe, begann man bi* in bie 9?ähe oon Xuiti* p fpüreti. Slui
17. 3uti machten bie Snfurgenten einen feefen Streifpg faft bi* üor ba* $aupt»
quartier ber granpfen p 2Ranuba. ©ine beträchtliche $tnptß Leiter näherten
fich ntit unerhörter Kühnheit bi* auf 10 Nitometer ber §auptftabt, ptünberten ba=
fetbft bie $omäne @nfd|ir»fi*Schafir be* ben granpfen fehr fpiitpathifchen Statieuer*
Xraüerfo unb fchteppten zahlreiche fiamete uitb Siehhcerben, ©igenthum ber tune»
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tcor&afrifa unb feine Seöeutung in ber «Segennxirt. 92 f
fifcheit Stegieruug, fort, ©elbft auf bie SBaffermerfe oon Tunis toorb ein Angriff
geplant, uub bie Solbateu beS Sei befertirten in Waffen, um fid^ ben SRebeBen
anzufchlieffcn. Straberbanben burdjftreiftcn bie ©egenb zmifcheit Teburba unb ©ut-
el=2lrba, bie ®in^eimiftf)en ermunternb, fidf gegen ben Sei, beffen Autorität ja öoB»
ftänbig Ocrnidjtet ift, aufzulehnen. Täglich braute ber Telegraph Sunbe Oon
neuen Worbttjaten unb täglich fegetten nene TranSportfchiffe nach Slfrifa, beloben
mit Truppen, ißrooiant unb Wuuition; benit eine tjeifje Eatnpagne ftanb rnieber
beüor. 3unächft erheifdjte bie öffentliche Weinung bie bauernbe Sefefcung aBet
tunefifdfjen Äflftenftäbte oon einiger ©ebeutung; itjr ju genügen fegelte Dberft
3amaiS am 19. 3uti mit ber Hälfte eines BJtarfchregimentS (aus oierten SataiBouen
befteljenb) oon ©faj ab, um bie Snfel Tfcherba unb bie ©tabt ©abeS ju beferen,
ma$ auch noch im Saufe beS 3uli auSgeführt mürbe. Warinefolbaten bemert*
ftefligten bie Occupation beS ffort Hamfut auf ber Snfel Tfcherba in ber Stacht
00 m 27. auf ben 28. ohne SBiberftanb. dagegen gärte eS fortmäljwnb gcmaltig
im heiligen Äairuan. Tie bortigen Ülraber, ganz befonberS aber bie Sebuiiten
ber Umgebung, hielten ben tunefifdjen ©ouoerneur ©UWabrel gerabe^u mie einen
©efangenen unb oertangte» oon ihm Jperabfehung beS ©alzpreifeS unb Oerfchiebenc
anbere ©rleidjterungen, z« beren Semifligung er feiuertei Stecht befafj. Ueberhaupt
muchS ber ©eift ber Unbotmäjjigteit in gleichem Serhältnijj mie bie Temperatur
ber Suft, mit metchem er auch in einem nicht ju Ieugnenben GaufaluejuS fteht.
Teun bie Araber mufften ganz gut, baff im Innern beS SanbeS bei (Einbruch ber
großen Hifee, alfo ©nbe Qfuli unb ben ganzen Sluguft hinburdj, eine frembe ÜIrmee
nicht bie geringste SluSfidjt auf (Erfolg hot, nicht bloS megen ber gerabeju er-
briiefenben §i|e, fonbern hauptfächlicfj auch megen ber ©chmierigteit ber ©erproöian»
tirung mit StahrungSmitteln unb hauptfächlich mit SBaffer. TeSljatb ermatteten bie
Stufftänbifchen, ju benett man mol ben größten ber Sebuiuen rechnen !ann,
namenttich bie Stämme ber 3lafj, ber Hamema unb ber Senijit, getroft bie Sranjofen
in Kaiman unb bereiteten fidj auf ben Santpf oor. ©ie riefen aBe ©tämrne zu ben
äüaffeu unb fanbten auch, menngleich erfolglos, an bie nahe ber atgerifdjen ©reiche
mohnenben ffrifchtfche ©miffare, um fie jnm Kampfe gegen bie granjofen aufjufor=
bern. Ta aber bie bis bat)in nach Slfrifa gefanbteu Truppen noch unzulänglich
toareu zu ben geplanten Operationen unb meitere Slachfdjübe befdjloffen mürben,
fo fahen fich bie graujofeit einftmeilen noch ju quatüoBer Unthätigleit üerurtheilt.
(Eubc Sluguft ftanben in ganz $unefien nidht mehr als 42 SataiBone gujjtruppen,
4 Gaoalerieregimenter, 13 Satterien, 6 (Eompagnien ©enie unb 6 Kompagnien
Train in Sermenbung. Tafj fie, mie einige beutfdfe Seituugen bamals melbeten,
Schlappe auf ©djlappe erlitten, ift aber einfach unmahr, fchon beShalb, meil cs
Zu 3ufammeuftöfjen mit ben Sebuiiten oorerft gar nicht tarn. 2Bo bie europäifcheit
Sfanoiten energifch eingreifen, ba meidet ber Slrabet zurücf; nur ber $antpf aus
bem Hinterhalt ift fein (Element. Tie Slraber toiffen feljr gut, baj? fie nur burch
eine berartige, ben geinb ftets beläftigeitbe Sampfesrneife ettoaS auSrichten tönneu;
beim fo thöricht finb fie nicht, um fich etma einzubilben, mit ihren alten Oer=
rofteten „Wafahil", eigentlich zum größten Theil noch ©teiitfchlofigemehren fd)tech*
teftcr ©orte, ben meittragenben franzöfifchen ©raS-Hmtertabern ober gar ben Kanonen
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Unfere 5«**
wiberfteljen ju fönnett. Nid)t mefjr öertrauen berbienen bagegen bie amtlichen,
fet)r günftig gehaltenen Scripte über ben ®efunbheü«zuftanb bet Stubben, währenb
in SBahtheit bie Sterblicf)feit 14—15 ißroc. erreichte, Heilt SBunber übrigen«,
benn bie $i$e war unerträglich; am 22. 3fuli ftanb ba« Shermometer im Sdjatten
ju Maituba auf 45° C.!
9Jlit ber Slttfunft be« neuen OberbefehlShöÖrcö ber afrifanifchen. Stubben, beet
©eneral« (Sauffier, über welken in Seutfchtanb wenig fdjmeichelhafte, aber un*
wahre Singe auSgeftreut würben, begannen bie Sranjofen fich bem fchwierigften
Sheite ihrer tunefifcheii Unternehmung jujuwenben: ber Unterwerfung be« fübtichen
Sheile« ber Negentfchaft, welcher an bie miSbergnügten algerifchett ©renjbiftricte
flöht. Sem Ginfluffe unb Antriebe Nouftan’S war eS wo( h au btfäd^tich jujufdjreiben,
bag bie tunefifche Regierung enblich Miene machte, ben SluSfchreitungen be«
arabifcheu ganatiSmu« eilt 3iel ju fefcett, unb Sruppen-gegen Sairuan abfanbte.
Such fonnte bie« felbftberftänbtich ein Vorgehen ber granjofen gegen ben rebeQifcheu
©üben nicht überftflffig machen. Schlimme Nachrichten tarnen aber bamal« au«
Sufa unb Umgebung; bie Ginwohner tonnten fich nicht mehr au« ber Stabt wagen;
benn Sebuinenmarobeure burchftreiften im Sluguft bie Sattbfchaft, wagten fich &iö
nahe oor bie Shore ber Stabt unb raubten jeben au«, ber ihnen begegnete.
Mehrere taufenb Araber lagerten auch ©itbe Sluguft bei §attiamat, 45 Hilo=
meter oon Suni« unb blo« 10 Kilometer bon ben fraiijöfifcheii Sruppett entfernt.
Sarauf hi» fehlte ber Oberbefehlshaber be« franjöfifchen DccupatioitScorp«, ©eneral
Sogerot, eine Golonne bon 3000 Mann nach 3°guan, 60 Kilometer füblich bon
Suni«, eine attbere nach ©tumbelia, füböftlich bon Suni«, unb eine britte unter
Oberft Gorrearb nach $amamat. Sille brei würben bon beu Snfurgentett atu
gegriffen, bie berfchiebetten Stämmen angehörten, aber fämmtlich unter bem 58e-
fehle SUi=ben*ffh°tifa’ö ju fteheit fchtenett. Sie ®ra«=©eroehre häuften fchrecflidj
unter ihnen, aber fie liehen ft<h nicht abfehreefen unb fielen wenigften« über bie
für bie Golonnen beftimmten ißrobiauttranSporte h er - Gorrearb warb in ber
Nacht bont 28. jum 29. Slug, bei Slrbain abermal« bon fehr ftart überlegenen
Stauben angegriffen, welchen er jwar grohe SSertufte beibrachte, bor betten er aber
hoch einen Nücfjug nach $ammanuel>Sif au«führte. Sarauf brangen bie SSebuinett
bi« in bie nächfte Nähe bon $amamat, haften fie auf ba« engfte eingefchloffen
uttb fihnitten ihr jebe tßerbinbung mit bem innent Sanbe ab; aud) plünberten bie
NebeHen unter ben Slugen ber Sruppen be« 83ei ©runtbelia unb Snrli au«. Sie
Sage in ber Stabt Suni« felbft warb immer bebenflicher; bie $nfurgenten erhielten
au« ber $auptftabt zahlreiche Sßaffenfenbungett. Sa war e« benn ein wahre« ©lücf,
bah bie Sanbung franjöfifcher Sruppen bor Sufa unb bie Söefefcuttg biefe« fßla|e«
ohne ernfttichen SBiberftanb ber Sebölferung am 13. Sept. erfolgen fonnte. Gnblidj
geftattete auch bie Slnfunft bon ©erftärfungen bem Oberften Gorrearb, am 14. Sept.
wiebet bon $ammam*ef«£if aufiubredjen unb am 17. in .Qaguan feine ^Bereinigung
mit ©etteral Sabotier ju bewerfftelligen, Welcher in ber bortigen ©egenb wieber*
holt angegriffen worben war. Sowol ßaguan al« Sufa finb bon grober SBebeu*
tuug, benn ihr Seftp erleichtert bett Marfch gegen Äairuan, ba« grohe Gentrum
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Jcoröafrifa uni» [eine JSeöeutung in 6er (Segcmuarf.
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ber Slgitation unb DperationSjiel bet granjofen, bie ©tabt, welche wie bie 3Ros=
lim glauben oon Engeln bewaeßt wirb, Weit am Sage beS großen UnglüdS bie
^Reliquien oon HJieffa baßin überbraeßt werben fotlen. 2tu ben SBällcn werben,
uaö^ arabifeßen ©ropßejeiungen, bie Kräfte ber Ungläubigen jerfcßellen. Sen
tuneflfc^en Slrabern erfeßeint Sfairuan als bie legte fefte ©urg be$ 3$lam, unb bie
grattjofen faßen baßer einen ßartnädigen SBibcrftanb borauS. Sine neue $iob£>
poft trug baju bei, bie ©orbereitungen ju bem Buge naeß ftairuan ju befeßleunigett:
bie Sifenbaßnbeamten be$ 86 Silometer oon XuuiS gelegenen ©aßnßofS oon SBab
^ergua im SRebfcßerbatßate würben am 30. ©ept. 001 t ben gnfurgenteit über-
fallen uub fcßmacßtioH niebergemegelt, bie ©aßn fetbft abgefeßnitten. SBenige Sage
juoor, am 25. ©ept., war autß bas Säger ber oon 8lli=©ei befeßligten tunefifeßen
Sruppen bei Seftur oon etwa 5000 Slrabern angegriffen worben, Welcße bie Sifen»
baßn abfeßneiben Wollten, aber jurüdgeworfen Würben. Sie in SBab Bwflua bureß
bie ©ebuineu begangenen ©ranfamleiten öffneten eitblicß ben franjöfifeßen ©ßilan=
tßropen jum Sßeil toenigftenS bie Slugen über ben Eßaralter biefeS Krieges unb
bie Dtotßweubigleiteu, welcße er auferlegte. SJtan ßatte es eiufacß mit ©arbaren
$u tßun, bie mit größter Strenge beßanbelt merben müffen fowol mäßrenb bes
Stampf es als nacßßer. Unter folcßen Uniftänben begreift cS fieß, baß ©eneral Sogerot
bie ©efegung ber ©tabt SuttiS oerlangte, weil es fonft unmöglicß wäre, bei ber Siaeß»
rießt oon ber Sinnaßme SairuanS einen Slufftaub ber mufelmanifcßeu ©eoölferung ju
Oerßüten. Slucß bie europäifeße ßolouie bereitete eine Petition oor, in Welcßer fie
auf ©efeguug ber ©tabt brang. gn einem am 7. Dct. geßaltenen SDtinifterconfeil
gab eitblicß ber ©ei feine Einwilligung baju. Sarauf ßin befegten bie franjöfifeßeti
Sruppen bie gortS, bie HaSbaß unb baS europäifeße ©tabtoiertel. 3»«' Eomrnan*
banten oon SuniS mit feiner ©amifon Oon 2000 SJtatin warb ©eneral Sambert,
ber bisßerigc ©ouOerneur Oon ©ariS, ernannt. Sie Eifeitbaßit uaeß ber algerifcßen
©renje Warb wieber faßrbar gemaeßt unb ein' eigenes EorpS gcbilbet, um fie
oor Singriffen ju feßügen. greoler, welcße eine Entgleifung ßerbeifüßren wollten,
würben ergriffen, ftanbrecßtlicß oerurtßcilt unb an bem Orte beS ©erbreeßens
füfilirt. gnfolge bet ©efeeßte, welcße Dberft Saroque in ber Umgebung oon ft'ef
ßatte, gerietß inbeß ber große 3»8 ber füblicßen ©ebuinen naeß bem Storben unb
uaeß ber Eifeubaßtt inS ©toefen.
•Jtacßbcm enblicß ber erfeßnte Stegen eingetroffen war, maeßten fieß im October
brei Eolonnen auf ben SBeg, um bie gnfurgenten bei ffairuan bureß entfeßeibenbe
©eßläge unfcßäblicß ju maeßen. Sie erfte, 8000 SOtann ftarf, marfeßirte 001 t
Baguan aus naeß ©üben, gefüßrt oon ©eneral Sogerot, bem fieß ber Obercont«
manbirenbe ©auffiet anfeßloß; bie jweite mit 6000 SDtann unter ©eneral Etienne
fegte fieß üon ©ufa auS in ©eweguug, marfeßirte alfo gegen SBeften unb oerfperrte
ben gnfurgenten ben SBeg gegen bie ©ee. Sie feßtuierigfte Slufgabe fiel aber bem
güßrer ber britten Eolonne, ©eneral gorgemot, ju, ber mit jwei gnfanterie* unb
einer Eaoaleriebrigabe, jufammen 8000 Statut, oon Sllgeriett fommenb über Sebeffa
in bie Stegentfeßaft eitttüden unb quer bureß biefelbe in einer jum großen Sßeit
Wafferlofen ©egenb oßne alle §iilfSmittel gegen Often naeß Satruait marfeßiren
foQtc; er war baßer mit einem feßr ooßftänbigen SBaffertrain auSgerüftet. Sie
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Unfere <5cit.
92*
erften Scharmiijjet beftaub bie Vorhut gorgemol’ö unter ©eneral Bonie bei $ai)bra ;
fie tämpfte ben ganzen Sag Ijinburdj mit bem Stamme ber Stifdjlföc, etwa 1500
an ber Qaty, bie tc^Iieglic^ jurüdgeworfeu würben. Sie Sioifton rücfte im ganzen
mit großer Kühnheit burch bie SBilbniß, unbefümmert um bie feinbtichen Scharen,
bie fie auf ihren Stanlen begleiteten, unb bewerfftefligte it>re Verbinbung mit ber
ceutralen unb ber ©olonne jur Sittlen. Am 27. Dct. würbe Sorgemol burd>
üielfache Angriffe auf ben Staufen unb gegen bie Siachhut beunruhigt, ber Scinb
aber immer in gejiemenber ©ntfernung geholten, unb baS gut geregelte Setter bet
Infanterie unb Artillerie brachte bemfetben empfinbtitfje Verlufte bei. Afle brei
trafen vor Sairuan je nach SJtaßgabe ber Sänge ihrer 2Rärfcf)c ein. Sie Srigabc
Stienne, welche ben lürjeften SBeg hatte, brach, nachbem fie am 20. Dct. ihre Vor»
hut unter bem Oberften Sannes borauSgefchidt, am 23. bon Sufa auf unb hatte
puächft einen UeberfatI ber Bebuinen abjuwehren. Sie Aufrührer, bie in großer
Anzahl um Kairuan jufammengejogen waren, erfchrecft bon ben concentrifchen
Bewegungen ber Stanjofen, jogen fich nach Sübeu unb Sübwefteu jurüd, unb
ließen bie heilige Stabt int Stich, welche fofort bem ©enerat Stiemte bebinguttgS»
toS ihre Shore öffnete. AIS bie Ableitung Stienne'S am 26. Dct. bis auf
4 Kilometer bor Kairuan angetangt war, erbtiefte fie bie weiße Sahne auf atteu
Shürnten ber heiligen Stabt. Ser Dberft SRoutin würbe fofort als Parlamentär
mit 100 $ufaren oorgefchidt. Si*9Wabrel, ber tunefifche ©ouberneur bon Kaiman,
tarn ihm entgegen unb überreichte ihm bie Schlüffe! ber Stabt. Als ©ruttb für
beu 9tüd$ug ber Snfurgenten gab er ben Sob beS AIi=Ben=Amatt), bes ©roß'
fcßeichS ber 3etim an, ber bei bem obenerwähnten Ueberfatte umgefommen feilt
foQte. SaS wichtige, berühmte Kairuan befanb fidj atfo in ben $änben ber Scan«
jofeu. 3tach Stiemte traf Sogerot mit Sauffier ein, am 28. Dct. Sorgemot, welcher
feboch nach einer Unterrebung mit ben beibett ©enauuteu wieber in fein eigenes
Säger jurüdfehrte. Am 29. faubte ntan ein Bataillon unb eine Sscabron nach
Sufa, um bie für bie Verpflegung ber Sotonneu erforbertichen SebenSmittet auf-
jutreiben, unb am 30. sogen ein Bataillon bes 28. Regiments SljaffeurS ä pieb,
ßuaben, eine Batterie, eine Sdjwabron ©fjaffeurS ä ©hebat unb eine Schwabrou
tpufaren burch bie h e ßifl e Stabt, bereit Beljörben ben frattjöfifchcn ©euerateu
ihre .'pulbiguttg barbrachten.
Sie wichtigste Aufgabe war nun, bie Umgebung bott Kairuan bon SKarobeurs
ju fäubern, ju welchem 3'oetfe ©enerat Sauffier perföntich mit ber ©otonne
Sorgemol auSmarfchirte. 3Ran wanbte fich aunächft nach bem bermutheten Schlupf»
wittlel ber SRebeßen, bem Sfchebet Uffetat unb bem Sfdjebet Srojja, ©ebirge, bie
etwa 20 Kilometer bon Kairuan gelegen, mit 2Batb unb |>eibe bebedt unb mit
auSgejeichuetent SBaffer in .fjüfle unb Süße berfchen fittb. Aßein Sorgentol, welcher
biefe #öl)en umging, ehe er weiter borwärts rüdte, ftieß bort nicht auf bie Slücht»
tinge, welche fich wol in brei ©ruppeu: nach ßlorben, in ber Sichtung auf ©affa
unb in jener nach @faj, bertheilt hatten. 3nt SRorben fäuberte nun Dberft Saroque
in Berbinbung mit ber Brigabe b’Aubignt) unb ber Brigabe Philebert, welche $u
betten geftoßett war, bie bereits unter ben SDiauertt KairuanS lagerten, bie gattje
füblich bes SKebfdjerbataufeS jwifcheu Kef, Seftur uttb ^tamajaba gelegene ©egettb
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Horbafrifa uni» feine Seöeutung in 6er (ßegenmart.
925
faft boUftänbig. ©eneral ©fiebert jerftreute bie im Uleb Vorgebirge angefam«
metten Äufftänbifdjen, unb SJtitte iRobember war ber SSejirt jmifchen Duni« unb
ffiairuan boDftänbig befchmichtigt, fobaff man auf bem SBege über Baguan ohne
G«corte reifen lonnte. Die meiften Stämme jtoifdjen Äairuan unb $ef bemühten
fid) um ben „Slman". Bugleich beherzten bie ©amifonen Don Sufa, 9Rahebia,
in meinem Orte jur allgemeinen 3**frieben^cit bie in Dfdjerba aufgenommene
Sefafcung auögefchifft toarb, Sfaj, ©abe« unb Dfcherba, ba« ganze Sahel unb
fperrten bie Strafe nach Dripoli«. SRach ©affa ju brach ein in SRegrin, im
äufjerften Süboften ber algerifdjen ißrobinj ftonftantine, gebilbete« Detachement
auf, um ben S33eg über bie Schott ju oerlegen. Sluch Soegemol mit Sauffier
wanbten fich bahin, toährenb Sogerot, ber in Äairuan felbft eine ftarle ©amifon
jurücfliefj, gegen ©abe« operirte. 3*®ifc^en Oglat unb 3Jief>abbeb überfiel er ein
ettoa 400 3elte ftarle« gnfurgententager, beffen fämmtliche gnfajfen gefangen
mürben. Slujjerbem erbeutete er 1200 Ochfen, 2000 Schafe unb biete ©ferbc.
?lm 29. 9ioo. boQjog bie ©antifon bon ©abe« in 9taj=el«3Rra ihre ©erbinbung
mit Sogerot, meiner bann mieber nach SRorben ju marfchiren beabfichtigte. Der
nur fälfehtich tobt gefagte 2lli«©en*9lmart) aber, ber bei ben SBergamma meitte,
fehiefte immer noch ©miffare ju ben ©ebuinen, um ihnen borjufpiegeln, bafc fich
in Dripoli« türfifdje Iruppen in ©emegung fefjen, um ihm ju $ülfe ju lommen.
Die füblichen Stämme malten baljer mieber äRiene fich S u erheben, unb in ber
Dhat, laum hatte ©eneral Sogerot ©abe« berlaffen, fo erfuhr er, bajj bie Gin«
mohner be« Dfchebel 9Ratmata unb bon Damonerta, bie fich juerft bereitmitligft
untermorfen hatten, bon ben Gmiffaren W« aufgehefet, fich auf« neue empört
hatten. Die lejjtern hatten fie überrebet, bie franjöfifche Golonne hätte eitigft jnm
9tüdjug gebtafen, um ber anrüdenben Strmee be« Sultan« ju entrinnen. Sluf
biefe Nachricht machte Sogerot halb lehrt unb brach mieber auf, um bie StebeQen
ju züchtigen. 3« ber SRälje bon ©abe« hatte er ein grofje« ©efedjt mit ihnen
ju beftehen, brachte ihnen aber fo fernere ©erlufte bei, bah fie fich enbtich oon
ber Sruchtlofigfeit jebe« meitem SBiberftanbe« überzeugten. Dberft SRoulin unter«
marf mehrere Duar auf einer Gjpebition nach 6er Gnfiba, unb bie Ulcb«V ar
fomie bie ßtafe mürben mit einer ziemlich bebeutenben Srieglcontribution belegt.
9luch Sauffier burfte mit feinem Streifzuge nach ©affa jufrieben fein. Die
Stämme leifteten ben Sebingungen ©enüge, unter melden bet Triebe ihnen ge»
mährt mürbe, unb fämmtliche S?h°l>fa ber Stäbte be« Dfcherib fudjten ben Dberften
Sacob auf, um ihn ihrer Eingebung unb ihrer frieblichen ©efinnungen ju ber«
ficherti. SRnr bie |>ammema unb einige unruhige Snbibibuen beharrten noch in
ber 9tebeHion, fahen aber auch gar halb ba« SRufclofe ihre« ©eginnen« ein. 9lm
14. Dec. 1881 mar bie ganze Golonne Sorgemol auf algerifchen ©oben jurücf«
gelehrt unb mit Schluß be« Salme« burfte man bie gefammte SRegentfchaft für
pacificirt unb ber franjöfifchen ^»errfefjaft untermorfen erachten.
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Hl« irijftn }tf)n Safjrt fceufftfhöflerretdjifd)«: l^rik.
58oit
Anton S>rhloflar.
II.
Die nachfolgenbe ©ruppe bon Xicfjtern nmfafjt bic in ober itm.SBien tebenben.
©ine 3«f|t jüngerer bebeutenber latente finbet fiep unter ihnen; ber frifcpe lebend»
frohe Bug, Wetter für ben SBiener überhaupt bqeidjncnb ift, (harafterifirt bie
meiften bon ihnen. Da« moberne SBien hot auch feiue niobemen dichter gebilbet;
bie« jeigt fd^on bie ändere gorm biefer Iprifcfjen Arbeiten. SBäprenb bor einigen
3ahrjehnten noch unreine Seime, fteine fpracptiche Sehniger, ja fogar hier unb
ba 2luftriaci«men fich manchmal in bie Dichtungen ber wiener ißoeten eingefchlicpen,
finbet man heute bei ihnen bie gröfcte ßorreetheit in allen biefen SJejiehungeu;
bie jüngere ©eneration legt ein ganj befonbere« ©etoieht barauf, eine eble, bor»
nehme Diction gu pflegen, unb an ©ebanfenfcpwung unb geuer ber Sprache ftept
fie ben übrigen $oeten!reifen in Deutfcplanb teine«weg« nach.
Slber auch au« ber hotbbergangenen Seit weilen einige ber beften noch in ber
öfterreicpifchen Sefibeng. Unb gu biefen gehört oor allen Subwig Sluguft granft.
©r würbe eigentlich ftrenggenommen nicht in ben Sahnten biefer ^Betrachtung falten;
aber in SBien« Dichtertreifcn ift er gu bebeutenb, unb at« im Saljre 1880 fein
fiebgigjährige« Dichterjubiläum gefeiert würbe, erfchien au« biefem Slnlajj auch
eine 9lu«gabc ber „©efammetten poetifchen SBerfe" granff« (3 83be., SBien 1880),
beten erfter SSanb bie tprifchen ®ebidf(te, bi« in bie neuefte Beit Oermehrt, enthält,
granfl pot ein reiche« Seben hinter fich unb ber Spiegel beffelben finb feine Sieber.
3n bunter farbenreicher Stbwechfetung giepen biefe an un« oorüber, halb bie pei=
mifche Srbe unb bie Schönheiten ihrer Satur, batb Wieber ba« herrliche Italien,
bann wieber bie ©tut ber Sibpfcpen Söitfte ober be« Sinai granitene« ißiebeftat
befingenb. Sein gweiter Dichter bietet fo oerfchiebenartige Silber in feinen Sie*
bem, unb obgleich granft in«befonbere auf epifchem ©ebiet Sebeutenbe« geraffen,
fo muh ntan boch biefe Sieber gu nicht minber Werthootlen originellen Schöpfungen
moberner Sprit gäpten. Slu« einer fo reichen Sofft gleich formgewanbter fßoefien
eine Stöbe auöjuwäplen ift fchwer, unb bei granfl’« allfeitig betanntem Samen
wot auch nicht notpwenbig; e« fei nur barauf pingewiefen, wie er mit gleichem
SBopltaut ber Sprache bie innigen Sieber au« ber £>eimat, bie prächtigen Siebe«-
tieber, bie in orientafifdjer Sro<ht auftretenben ©efänge Oon feinen gaprten unb
SBanbernngen nach bem ^eiligen Sanbc unb nach Italien, feine finnigen Strophen,
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Die lebten jeljn 3a!jre beutfcf} - öfterretcfjifc^er Cyrif.
927
welche bet reflectirenben Betrachtung gewibmet finb, tote auch bie fräftigen patrio»
tifchen Sieber unb jene aus ben bewegten lagen beS 3ahreS 1848 gefdjaffen hot.
Bühmlichft befannt fchon aus frühem lagen weilt auch ®ettp Ißaoli noch
in SBien; auch fie blicft auf ein reiches poetifcfjeS Seben jurücf unb jätfft noch S»
ben Ijtttwrragenben Slamen älterer beutf<h=öfterreichifcher Ißoefie. ©mpfänglicf) für
alles Schöne jeigt fich wie in ber erften Sammlung „©ebichte" (ißeft 1841) heute
noch * n ben hier unb ba beröffentlichten Ißoefien Ißaoli’S bie Seele ber Dichterin,
©ine Steihe bon SiebeSliebern, bie aber bon tiefem Schmerj um einen herben
Berluft burdjjittert Waren, patte feinerjeit bie h°h e Slufmerffamfeit auf Bettp
Ißaoli geteuft; ftill unb lange unbemerft pflegte fie bie fdjöne Blume ihrer Kutift,
ber fie, wenn auch bejahrt, heute noch nicht entfagt hot. Bon Bettt) ißaoli er-
fchienen nach ben Sammlungen „Stach bem ©ewitter" (Ißeft 1843), „Steue ©ebichte"
(Ißeft 1850), „SprifcpeS unb ©pifcheS" (Ißeft 1856), julefct im 3af)re 1869: „Steuefte
©ebichte" (SBien). Bis in bie jiingfte Beit aber ift ber ©mnbton ihrer Ißoefien
jener geblieben, ben fie in bem ©ebicht „X)ie fßpthia" angebeutet f»at:
3cp bicpte nicht in frohen ©tunben —
Wein Seben ift an folgen leer!
3 ch bicfjte nicht um 3 U gefunben —
(Senefung gibt’S für mich nicht mehr.
SS warb, toaS jemals ich gelungen,
2)en ©lief gerichtet himmelwärts,
Wir nur erpregt unb abgebrungen
Bom wilben Ueberwinber Schmerj.
SllS eine fräftige ©eftalt, unermüblich wie auf bem ©ebiete beS öffentlichen £e»
benS, fo auch auf literarischem unb inSbefonbere auf poetifchem Selbe jeigt fich
uns 3uliuS oon ber Xraun, ber befannte Slbgeorbnete unb glänjenbe Stebner
Sllejanber Julius Schinbler. ®ie fchönften feiner Iprifcpen ©ebichte hot Schinbler
in ben „Dtofenegger Stomanjen" (SBien 1852; 2. Slufl. 1873) unb in ber prächtig
auSgeftatteten StuSgabe feiner „©ebichte" (2 Bbe., SBien 1871) veröffentlicht;
aufjerbem gab er „Unter ben Bete«- Solbatenlieber" (SBien 1853) heraus. $es
S)ichterS Kraft liegt aDerbingö in ber epifchen ©eftaltung; barauf weifen auch
feine nobelliftifchen Schöpfungen fowie baS epifche ©ebicht „Salamon, König
bon Ungarn" (SBien 1873) hin» boch nimmt Schinbler auch unter ben Sprifera
eine bebeutenbe Stellung ein, feine SJtufe pafft freilich bie empfinblidjen weichen
iöne bon Siebesliebem; fräftig unb boUtönig preift fie bie Statur unb ihre Schön»
heiten unb jeigt im ©ewanbe ihres wohlgeformten Siebes eine emfte gereifte
SBettanfchauung. dennoch pat Schinbler in feinen 3ugenbliebern felbft manche
buftige jarte Strophe gefungen; gerabe aus ber Bohl biefer möge pter eine
Ißrobe mitgetheilt fein, bie ben dichter oon einer Seite jeigt, Welche man an
ipm, bem als (Spifer lange rühmlichft Befannten, bisher weniger beachtet hot:
Boftfjorntlang.
®aS Ißofthom fpannt bie glügel
3)eS Klanges freubig aus,
(SS fepmettert oon bem fuigel
Borüber meinem öauS.
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928
Unferc <3eit.
Vorüber in blauen Söffen
Die »eigen ©tragen entlang,
@? »etft in fernen Älüften
De? (Ecgo? golbnen Slang.
0 nimm midj mit im fftuge,
Du ©änger meiner Dual,
Kimm mit auf beinern 3uge
SDticfj in ba? ferne Dljal!
Dein klingen fod mitf) tragen
3u jener alten ©tabt,
SBo mitf) in Qugenbtagen
3Äein Sieb erwartet gat.
Dort jiege »on ber öriirfe
3u igrem $>au? ber ©cfjalT,
SBic bon bem alten (Stüde
Der legte SBiberfjall.
Sieben Scginbler fei ein SRame geftetlt, ber auch jn ben beften altern in Deftevreid)
gejäglt wirb, freilich auf Itjrifd^em ©ebiete weniger belannt ift, näntlidj 3B. ©on»
ftant, ober eigentlich fonftantin SR. »on SBurjbacg, ber weithin befannte
Serfaffer be? umfangreichen ,,99iograpf»ifc^en Sej-ifon be? Siaifertgum? Defterrcicg".
SBurjbacg gat ouger burcg feine toiffenfc^aftlic^en Arbeiten fiel) fdjon burcg feine
epifcgen ©ebicgte: „Son einer öerfdjotlenen ®önig?ftabt" (SBien 1850), „Der
Sage be? Sfaifer?" (Diiffelborf 1854), „©emmen" (Hamburg 1854), „©ameen"
(Diiffelborf 1856) u. a. bebeutenbc Slnerfennung errungen; auch feine Iprifcgen
Dichtungen finb ben gerüorragenben biefer ©attung jur Seite ju fteßen. Schon
im 3aljre 1841 erfchienen bie ©ebichte: „äRofaif" (Pratau); ihnen folgten bie
ebenfall? Itjrifdj burdjgaucgten „Sßarellelen" (Seipjig 1849), im legten 3ugr=
jegnt: „©gflamen" (SBien 1873) uitb „3lu? bem Sßfalter eine? SfSoeten" (Darm»
ftabt 1874). Obgleich auch &ei SBurjbacg bie Siebe unb bie SRatur jene Sßorwürfc
bilben, welche ber Dichter am liebften beganbelt, fo Weig er hoch in unerfdgöpf»
lieber äRannidjfaltigfeit beibe ju bariiren. Der Dieter bietet au? $eimat unb
Srembe, au? SBatb unb Selb feite fegönen SRaturbilber, bie fo häufig ben Stoff
öon ©ebichten bilben, ohne bag Klarheit unb echte frifche Urfpriinglichfeit ben
gebotenen poetifegen Silbern innewohnt. SBurjbacg’? ©ebicgte biefer 9lrt finb
jeboch im ©egenfage gierju, neben bem S33of»llaut be? Scrfe?, echte Stimmung?»
bilber be? £erjen?, ba? fich in ber Schönheit ber Statur wiberfpiegett. Seine
SBalblieber („Seib mir gegrügt, ihr SBalbe?galIen", „0 junger SBalb, Wie bift
bu fchön", „Diefe SBatbnacgt, o labe", „SBenn fegon im SBalbe bie SBögel fegweigen")
bieten in prächtiger Slbwecgfctiing eine SReige folrfjer Silber. Slber and) anmutgige
SReflejion?lprif, bie Spruch» unb ©pigrammpoefie finb in feinem reichen Sieber»
fchage »ertreten. Die jumeift au? frilgerer Seit ftammenben Siebe?lieber, welche
aber ber Dichter jum Dgeil erft in jiingftcn Sammlungen beröffentlicgte, reigen
fieg wilrbig an; oft ftegen igm fegöne Silber ju ©ebotc, bie bent ©ebiegte Straft
unb Slnfcgaulicgfcit oerlcigen, wie in bem nachftegenben fitrjcit Sßoern:
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Die lebten jcfyn 3aljre öeutfd}=öfterrcicf?ifd?er £ytif.
929
Sie mir bein SRunb int melobijdjen'Eon
HD beine ®ef$i<te erjagte,
Bit bid) fo jung ba§ Seben ftpon
SRit feinen Startern quälte:
®o fiel mir baS bnnfle Srjftürf ein,
©elegt in bie löuternben glommen,
®S brannte im glüljenbften geuerfdjein
3u @olb, ju gebiegnem, jufamnten.
Äutp bu bift auS allem ferneren Seife,
ÄuS allem (Sorgen unb Sangen,
Sin Beib in magrer $errli<$!eit
®ebiegen perborgegangen.
SUS Spriter ebenfalls nodj ju wenig befannt ift Sluguft ©ilberftein, ber
Vetfaffer ber reijenben ©efcpidjten auS bem öfterreiepifepen Sllpenleben, bie ipu
ben bebeutenbften ©rjäptern auf biefein ©ebiete anreipen. Unb bod) pat ©über*
ftein feiner Sammlung fräftiger, eept beutfdje ©efinnmtg befunbenber Sieber:
„Erupnacptigall" (Seidig 1857; 3. Sufi. 1870), jene ©efammtauSgabe feiner
Ipriftpen ©oefien, bie, unter bem Eitel „SRein $erj in Siebern“ (Stuttgart 1868)
erf<pienen, im Sapre 1878 bie üierte Stuflage aufweift, folgen laffen, welche ipnt
auch unter ben Sieberbicptern einen eprenbollen 9tang fiebert; eS finb ftt&nge ber
Siebe unb aus bem Seben, bem Vaterlanbe nnb ber Statur, tpeitweife autp bem
©djerje, bann aber auep ernftem SRatpbenlen geweifte unb ber ©rfaprung eines
gereiften ©eifteS gewibmete ©tropfen, bie ©ilberftein in feinen Eicptungen bietet.
Eie ©prudjpoefte pat in bem jierlicpen „Vücplein ÄlinginSlanb, Eitpterweifen
unb SBeifungen" (SBien 1879) Don ©ilberftein in aflerjüngfter 3«it eine befonberS
bemerlenSwertpe öereiepetung erfahren, unb nur ein lurjeS ©pafel beute auf bie
SBaprpeit unb fernigfeit ber t»ier gebotenen ©prucpWeiSpeü:
Start ift ber Sölot, ber jebeS Kämpfen wagen tann,
©tarier ber Stein, ben nimmer ein Sötoe jernagen fann,
9to<p ftärler baS Sifen, baS amp lein ©tein jerfdjlagen lann,
«m ftärlften aber baS Stenfdjenperi, baS ertragen lann,
BaS Weber ein Bort noch ein äJienfdjenmunb je fagen tann.
Eie nun in Setradpt fommenben jüngera Vertreter ber bcutfcp=öfterreicpifcpen
Stjrif finb aus if»ren neueften SEßerlen belannter; fie Dor allem ftpeinen berufen,
bie ffunft bet Sieberbicptung ju pegen unb ju pflegen; eS finb — nur foltpe fotlen
pier überhaupt in Vetratpt lommen — auSgefprotpene Ealente, weltpe mantpe mit»
unter glänjenbe ©toben ipreS ©Raffens geliefert. Einige berfelben paben einen
ftarf finnlidpen 3«9 unb eS will faft ftpeinen, bafj in biefer Stiftung eine gewiffe
SRobe ptapgreifen wolle, bie (ebenfalls Don meutern, beren SRamen nnn folgen
follen, wenn nitpt geftpaffen würbe, fo boep gepflegt wirb, greilitp fpiegelt fiep
autp pietin bie Seicptlebigfcit beS fübbeutfd) öfterreiepifepen VollScparattcrS. Eaju
tommt gerabe bei ben Vertretern biefer ©attung Sprit eine glänjenbe Verfification
unb eine oft mufterpafte Seperrfcpung ber ©praepe, gegen Weltpe in früherer 3eit.
Wie erWäpnt, gerabe öfterreiepifepe Eicpter fo oft gefiinbigt paben. Vor allem ju
Untere 8»lf. 1882. 1 . 59
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930
Unfere
nennen ift £>an# ©ra#berger; er |at formfföne „Sonette au# bem Orient"
(Sfaffhaufen 1864; 3. Stuft., Sternen 1873) gebietet, biefen bie ©ebifte „Singen
unb Sogen" (SBien 1869) folgen taffen unb eine poetiffe Sammlung „Stu§ bem
©arnebat ber Siebe" (Stuttgart 1873) oeröffcntlift. Stie ©tätte unb Seintjeit
feiner ©erfe l}ot ©ra#berger tnot auf feiner feuittetoniftifc^=fritifct|en Sfätigfeit, ber
er feit Satiren obtiegt unb bie ihn fje^ter teif t ertennen nnb mit ffarfem ©liefe
bermeiben läßt, ju berbanfen. ©ewanbt unb bietfeitig, wie auf bem ©ebiete be#
Seuifleton#, ift ber Siebter auf auf bem tpriffen: £iebe#gebifte, Statur» unb
Stimmung#bitber, ©olitiffe# unb Sociate# weifen feine Sammlungen auf; Ijat et
bof fogar jüngft ein jierlife# ©änbf en bon oberöfterreif iffen Stiateftgebiften:
„San SDtitne^m" (SBien 1880) oeröffentlift unb barin bie genaue Senntniß be#
Stiateft# ebenfo befunbet, al# bie ©räftigfeit be# ©otf#tone# getroffen. Seiner
$umor unb f)ier unb bort auf ber |>ang jum Sinnlichen machen fif befon»
ber# in ben testen ©ebiften ©ra#berger’3 gettenb, worin er feine ©ebanfen
oft in wenige Strophe« i« faffett weil; im ganjen ift er au#gefprof ener Sprifer;
in alten Sammlungen feiner ©oefien finben fich wenig epiffe Stntäufe, aber ein
ftare#, gereifte# latent macht fich i« biefen Stiftungen überall gettenb.
Stern griefiffen Sfönljeit#ibeat nafftrebenb unb Sröhlifteit unb ©ettuß
oerfünbenb, treten bie Sieber eine# bet jüngften ber wiener ©oeten auf, näntlif
Sttfreb Stiebmann’#. Seine 1873 beröffentlifte epiffe Stiftung „Sabitia"
(SBien) hotte e# mit einem überau# bebenftifen Stoffe ju fun, ben ber Stifter
ber ©eff if te entnahm; atterbing# würbe ein farbige# ©emätbe geff affen, ba# be#
©oeten Stauten batb befannter mafte; e# folgten nof mehrere Stüde epiffer
Statur, bie in einffmeifetnben ©erfen bem Steije ber Sinne mehr ober weniger
hutbigten. §ier anjuführen finb bie ©efänge „Stu# #e£ta#" (SBien 1874), Wetfe
feitweife tpriffe StimmungSbitber au# ber ffönen ctaffiffen ©riefenwett bor«
führen, bie „Seiftfinnigen Sieber" (Hamburg 1878), bie freitif nift immer
fo „teiftftnnig" finb at# einige ber erjäfjtenben Stiftungen, unb bie jüngfte
Sammlung „©ebifte" (Seipjig 1882). Sebenfalt# muß man Sriebmann eine
efte, genial angelegte Stifteraatut nennen; feine ©Ieifniffe unb SJietaphern hot
er ben größten Stiftern abgelaufft, beren Stubium au# jeber geile herttor»
teuftet; ber SBotjltaut feiner Stiction überwinbet manfe ff einbare £>ärte ber
beutffen Sprafe, bie ©erfe finb teift, glatt ftießenb. Stie „Seiftfinnigen Siebet"
nnb bie „©ebifte" bieten eine Ueberfift üon Sriebmann’# Ipriffem Sfaffen, fie
enthalten bor altem jene Siebe#lieber, in benen ber ©oet ein fo reife# §er$en#teben
befunbet, feinem ©runbfafce hutbigenb:
Sieb’ ift nift ewiger al# Stofen,
Stie ftf mit jebetn Sen; erneun,
Unb bof, wie neue# Siebe#!ofen,
Stuf# neu’ beglücten unb erfreun.
Stber auf ergreifenbe Stange weiß ber Stifter anjufftagen, bie neben ben
tollen Siebern be# Seiftfinn# jurn $erjen fprefen; fteine Stimmung#bitbfen
getingen ihm, fetbft wenn beren ©orwurf ein mehr gebraufter ift, wie etwa in
bem ©ebiftfen:
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Die lebten jefytt 3afjre beutfdj * öflerretcfjifdjet Cyrif.
SBunfdj.
SBie bet SJlonb, fo ntßdjt’ idj ge$en.
Still, allein unb ungehemmt;
SRöcbt’ bie SBelt bon weitem fefien,
Stllem drbentreiben fremb.
SBunfdjIoä auf fie nieberfdjauen,
SBie ftd) SBett' an ©eile bridjt,
Unb bieHeidjt itjr niebertljauen
Steines, füjjeS griebenSltt.
2)ie frönen Sonette aus Italien geigen uns beS $id)terS Serefjrung für
baS Sanb bet Stntife in ben reidjen Xönen, unb bie ©eljnfudjtsflänge aus ®ng*
tanb feine Warnte Siebt gut beutfdjen £>eimat. ©efonbcre Slufmerffamfeit menbet
griebmann bet gorm gu, wie fdjon bie ©ruppe „gormberfudje" geigt, aud) ntüffen
feine trefflidfien „Ueberfe^ungen" erwähnt Werben. S)afj nod) gätenber SJtoft aus*
btaufen Wirb in bent begabt angelegten Sßoeten, ift fein gmeifel; {ebenfalls ift er
berufen, einmal ber ©fjorfüljrer eines poetifcfjen ©reifes in Defterreid) gu Werben.
3 m 3al)re 1868 erfdjien in Hamburg bei §offmann u. ©ampe ein deines ©üd)=
lein, betitelt „Sieber einer Sertorenen", bon 21 ba ©Triften, baS fofort nad)
bem ©rfdjeinen bie Ijödjfte 2lufmerffamfeit ber Wiener unb ber übrigen beutfdjen
poetifdjjen Greife auf fict) gog; es offenbarte ftd) in biefen Siebern ein metfwürbigeS,
IjalbberfommeneS unb bann Wieber gu l)o£)en Sbealen aufbtidenbeS grauengemütt),
baS feine SebenSlaufbaljn in biefen Siebern tljeilS ergäljtte, tljeilS anbeutete.
©inerfeitS Slnftänge an feilte berratljenb, geigte 2lba ©griffen anbererfeitS ein
^otjeS originales latent, unb als bie tolle 2BiIbf)eit, bie Ungebunbenljeit in ©e=
banfen unb gorm in ben näd)ften ©ammluttgen ber ®idjterin gebämpft erfcfiien,
gä^tte fie halb burcf) ©djttieit ber bargelegten ©mpfinbungen gu ben Ijerborragenben
im Wiener fßoetenfreife, nur Ijier unb ba mahnte nod» ein ©leidjnifj ober ein
SBort an bie frühere ungebunbene Söilbljeit. Son 2lba ©Triften erfdjienen nod)
bie ©ebidjte „2tuS ber Slftfie" (Hamburg 1870), „©djatten" (Hamburg 1872)
unb „2luS ber liefe" (Hamburg 1878). 2We biefe Sammlungen offenbaren ein
rcidjeS feelifdjeS Seben. ®ie „Sßerlorene" £>at fid) in iljren neuern Siebern wieber*
gefunben, fie tritt ber SBett nidjt me^r mit ©troptjen entgegen wie in iljren
erften ©ebidjten:
So fommt unb feljt unb ftaunt micf) an,
3dj bin fdjon, bie iljr fudjt,
$aS SBunbertfiier, baS, no<$ fo jung,
Ser gangen SBelt fdjon fludjt.
$odj fürchtet eud) nidjt, td; bin lein J Ijier,
3>aS SBtenfdjen gerreijjt unb berfe^lingt:
$dj bin ein armes SBefen nur,
$a8 oon feinen Sdjmergen fingt.
Stber nod) immer liegt ber £>aud) tiefet Trauer unb mancher ©djmergettSgug
auf iljten ©tropfen. 3« ben fdfjönften biefer ©ebidjte gehören inSbefonbere bie
„Sieber auS SJenebig" unb ber „SRobette" übertriebene ©pftuS in ben „©Ratten",
lefetere ein SJeweiS ber feinen poetifdfjen 33eobad)tungSgabe 2lba ©Ifriften’S. ©inen
69 *
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Unfere £tit.
feltfamen ©inbrud macßt eS, wenn in ben ernften, oft traurigen Siebern hier unb
ba ein lüfterner Don burcßbricßt, wie bieS befonberö in ben ältem ©ebießten ber
Poetin ber galt ift. greilicß paßt berfetbe in ben 9taßmen beS grell gehaltenen
SeelengemälbeS, wie ja bie Dicßterin überhaupt offen unb ungefcßmintt ihr $erjen8*
leben in ihren Siebern niebergelegt hat.
Slocß muß einiger grauen ©rwäßnung gefeßeßen, bie allerbingS nicht im festen
Saßrgeßnt mit ihren poetifeßen Schöpfungen bor bie Deffentlidjfeit traten, bie aber
fcßon reiche Slnerfennung burcß biefetben errungen unb an Begabung biete hinter
ftch Iaffen. @8 iß bieS bor altem 3JIarte bon Stajmdjer, eine überaus fetb-
ftänbige tpoetin, welche guerft bie ®ebicßte „Scßneeglöddjen" (SBien 1868) nnb
in ihnen eine Steiße gierlicßer Siaturbilber (merfwürbigerweife gar teine Siebes»
lieber) beröffentlicßte, bann aber bie „©ebicßte" (SBien 1872) folgen ließ. Seßtere
Sammlung inSbefonbere ift es, bie hohe Sichtung bor ber Dicßterin einffößt, Welcße
barin fräftige männliche güge aufweiß unb babei boeß aueß ber garten SBeibließfcit
gerecht wirb. S33ie Warm apoßrophirt fie in bem ©ebichte „Sin DßuSnelba":
©rüß ©ott betn offne« beutfdjeS ©eßc^t,
Dein leudjtenbeS Slugenpaar,
MuS bem ber §immel beS grüljlingS Bridjt,
6o wonnig, fo Blau, fo flart
©rüß ©ott betner Stimme ßolben Saut,
Der ßergerquidenb mir f(Ballt,
SIS hätte burcf) ißn mir ein Ktäthfel bertraut
Sie 92pmphe am GueH im SBalb!
SBie herjtich Hingen bie Strophen „Sin meine SJtutter", wie innig unb ungegWungcn
bie „Sieber ber ©infamleit", in benen reßectirenber Staturbetracßtung manches
feßöne ©oem geweiht ift. Slucß SJtarie bon Stajmdjer geigt in ben fpötem Siebern
©ereiftheit unb Klarheit, ©ewanbtheit unb Originalität ber Sprache. Sieben ihr
ift SBitßetmine ©räfin SBidenburg=8ltmafh gu nennen, eine auch als Dicßterin
borneßm angelegte Statur, bie 20 3aßre alt „©ebichte" (SBien 1865; 3. Slufl. 1882)
beröffentlicßte, im I^aßre 1869 „Steue ©ebicßte" unb bie Sammlung „©rlebteS
unb ©rbacßteS" (SBien 1873) folgen ließ unb in biefen Sammlungen befonbere
S3egabung unb einen feinen pfhcßologifcßen ©tid belunbete, wie ße fieß auch als
gewanbte ©eßerrfeßerin ber gorm auSgeicßnete. Sie wanbte fieß in ben ergäßtenben
©ebießten: „Der ©raf bon Ftemptin" (SBien 1874), „SJtarina" ($eibelberg 1875),
fpäter meßr ber epifeßen ©attung gu. 3ßr ©atte, ©raf Sllbrecßt bon SBiden*
bürg, ein trefflicher Kenner orientalifcßcr Sprachen, ßat ßcß mit feiner Samm*
lung „©igeneS unb grembeS" (SBien 1874) würbig ben poetifeßen Scßöpfungen
feiner ©attin angefeßloßen, Wenn er aueß bisßer fieß meßr auf bem ©ebiete ber
UeberfeßungSfunft betßätigte. ^ebenfalls bietet baS gräfließe Diißterpaar eine
eigentümliche ©rfeßeinung in bem poetifeßen Seben SBienS, eine ©rfeßeinung, bie
um fo glängenber Wirft, als fieß Slbel beS ©eifteS unb ber ©eburt ßier in beiben
©atten auf feltene SBeife bereinigt ßnben. ©ftjeßologifeße gcinßeit unb eine reiche
©ßantafie weift aut Sofepßinc greiin bon Knorr in ißren „©ebießten"
(SBien 1872) unb „Steucn ©ebießten" (SBien 1874) auf.
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Die lebten jeljn 3al?re öcutfcf? = öftcrretcfjifdjcv Cyrtf.
933
SBar fchon biltjer ©elegenheit geboten, mancher ©eftalt unter ben Styrifern
auf Cefterteidjl ©oben ju begegnen, bie in betriebenen ©ejiehungen originell
angelegt erfchien, fo ^aben mir el inlbefonbere in bent wiener liierter Kajetan
©erri mit einem merfwürbigen latent ju tfjun. ©erri, erft feit feinem 20. Scbenl*
jahre ber beutfehen Sprache mächtig, oeröffentlid|te halb barauf eine SReifje boit
Ityrifdjen Dichtungen: „©lühenbe Siebe. Sprifche ©lätter" (SBien 1850), „inneres
Seben. teuere ©ebichte" (SBien 1860), „Aul einfamer Stube. Dichtungen"
(Droppau 1867), „©in @laubenl6e!enntnife. 3eitftrophen" (SBien 1872), welche
eine glänjenbe Diction, eine glüf)enbe Spraye unb eine reld^e Sebenlerfahrung
belunbeten, bie er in gebanfenboüen Strophen aulltingen liefe, ©erri ift ein
Dichter in bei SBortel ebelfter ©ebeutung, ber ebenfo tief empfunbene ©erfe ber
Siebe toibmet, all er bie Stäben ber heutigen focialen SBelt in fräftigen Dänen
anjugreifen berfteht, bann toirb fein Sieb jum braufenben SomeStoort, bal im
Sange ba^infprii^t unb mächtig jum §erjen fprie^t.
Sieben biefen Stiftern SBienl wären noch manche anjuführen; einige weilen
in ber Slefibenj, haben aber fchon lange nicht mehr poetifdje ©oben geboten.
Subwig goglar, ein feit gahrjehnten anerlanntel Talent, beffen Dichtungen
„Ggpreffen" im Stafere 1842 erfchienen unb beffen lefcte Sammlung „grcubboll
uub ScibtoU" int Jgaljre 1867 heraulgegeben würbe, ift in Anthologien unb 3eit-
fdhriften noch öfter bur<h feine ju £>crjen fpredjenben gemilthoollen Sieber bet=
treten, ©buarb oon ©auernfelb, ber auf bramatifchem ©ebiete firäuje bei
SRuhml errang, liefe feit feiner Sammlung „©ebiete" (Seipjig 1852), bie burd)
fchueibcitben SBifc unb glänjenbe epigrammatifche Schärfe aulgcjeichnet war, nur
halb ba, halb bort, jumeift in politifc^en Dagelblättem, feine SBifcfunfen in furjen
©erfen aufteuchten. Sranj Sfibor ©rofehfo, ber im 3ah« 1848 Iprifdje unb
epifche Dichtungen unter bem Xitel „gell unb After" beröffentlidjte unb beffen
lefete Sammlung „Aulgewählte ©ebiete unb ©rjählungen" (Stuttgart 1874) oor
weuigen fahren erfchien, lann, ba er borwiegenb auf bem ©ebiete bei Stomanl
unb ber erjählettben Dichtung thätig War, nur ber ©ottftänbigteit Wegen ben
Sterilem beigejählt Werben, granj greiherr bon Dingel ft ebt h a * alletbingl
in ber feit 1877 erfchienenen ©efammtaulgabe feiner SBerle feine „Stjrifdjen
Dichtungen" wieber neu beröffentlicht unb manchel fchöne Sieb ben alten berühmten
feiner Strophe« beigefügt, fich aber in ben lejjten fahren bor feinem Dobe faft ganj
om Schaffen auf biefem ©ebiete jurüefgejogen unb bem beutfehen ©ublifum bie ber-
mehrte Sieberfammlung nur gleicjjfam noch als ©rinnerung an bie Dage, in benen
ber „folmopolitifche Slachtmächter" fang, wiebergegeben. Seitbem h«t er bal reichere
abwedjfelunglbolle ©ebiet bei bramatifchen Sebent all einet ber erften unb beru=
fenften Seiter gepflegt, unb obwol er fchon feit 1867 in SBien geweilt, waren el
nur einjelne Sieber, bie er bei ©elegenheit ertönen liefe. Sein Slawe barf freilich
nicht fehlen; h at er boch auch all Dichtername auf bem ©ebiete bei fünftem
Siebei noch immer ben alten bollen Slang. 3«lej}t aber fei noch einer bon ber
altem ©eneration ber wiener ißoeten hier angeführt, ber gegenwärtig in ©aben
bei SBien weitenbe ^ermann Slollett, beffen „Sieberfränje" (SBien 1841),
„grifdje Sieber" (Ulm 1847), „Sampftieber" (Scipjig 1848) unb anbere Samm=
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93*
Uttfere §ett.
lungen ben mannhaften Poeten ebenfalls tängft belannt gemacht hoben unb ber
1865 noch eine Sammlung feinet „SluSgeWäglten ©ebiegte" erfcheinen lieg, StoHett’S
treue beutle ©efinnung, feine feenhafte Spraye in Sieb unb Ißrofa, feine Se=
geifterung für Steegt unb Steigert, für alles ©bie, SEBagre unb Schöne, bie et auch
in prächtigen feinet Sieber niebergelegt hat/ ftetlen ihn go<g water EDeutfcglanbS
ißoeten; auch er fann nicht nur auf ein bewegtes politifegeS, fonbem auch auf ein
reiches poetifcgeS Seben jurücfbticfen.
©S bleibt noch übrig, ber beutfeg=bögmifcgen fDicgter ju gebenfen. Sllfreb
3Jt eigner weilt nun in öregenj, am ©eftabe beS SobenfeeS, aber et mug
hier angeführt werben. Seine Sieber jäglen p ben glänjenbften ißerlen beutfdjer
Sgrif, feine glühenbe Segeifterung für bas engere paart fich mit ber für
baS weite Saterlanb, ber Sänger beS „SiSfa" fann 13 Auflagen feiner ,,©e=
biegte", bie juerft 1845 erfreuen ftnb, aufweifen; er hat ben ältern Siebent
wenig neuere ^tnaugefägt, aber bie warme, oft leibenfcgaftlicge Sprache, ber
SERelobiettflang feiner SBcrfe im garten Siebeslieb Wie im begeifterten S8aterlanbS=
liebe, bie ©rogartigfeit feiner Silber maegen biefe Sieber §u ben bebeutenbften,
welche moberne fßoeten gefegaffen, unb fiegerrt bem dichter einen Btang, ber
igm gewahrt bleibt, wenn er auch leinen SerS mehr nieberfegreiben fottte.
UebrigenS werben bie neueften ©ebiegte SKcigner’S in ber naegften Seit ebenfalls
gefammelt erfcheinen unb einen Ueberblicf auf bie Schöpfungen aus ber Steige
ber legten Sagte bieten, ©ine anbere geröorragenbe ältere 53icgtergeftalt btefeS
Steifes ift Sari ©gon ©bert in ißrag. Sor wenigen Sagten finb feine
„Sßoetifdgen SBerfe" (7 Sbe,, fßrag 1875—77) gefammelt erfegienen unb öerooH*
ftänbigen uns baS SBilb beS fDicgterS bis in bie jüngfte Seit. Obgleich auf
epifegem ©ebiete befonberS tgätig unb einer ber beften unter ben beutfegen ®icgtem
auf biefem, gat er boeg aueg eine retege Sagl formfegöner Sieber gefegaffen, bie
jumeift anmutgiger Staturbetracgtung gewibmet finb unb bem 3Balb= unb
©ebirgSteben beS frönen SögmerwalbeS. 2lucg fräftige f£öne, welcge ben eegten
beutfegen Eßoeten geigen, gat er feiner Seiet entlocft, fegon im Sagte 1827 rief er
bem Stgein bie Strophe gu:
©tgtoiH auf, o Strom, unb getunte ben geinb,
Unb fdjüg’ unS bor ©egmaeg unb ©anben;
©o bleibe treu als $ort unb greunb
$en treuen beutfegen fianben —
unb manegen treuen ©rüg gat er feitbem ben „beutfegen Sanben" gefenbet. ©bert’S
Sieberfcgag ift reich wnb wogtftingenb, bem gierlidjen SiebeStieb, ber Steflejion,
aueg bem £>umor unb ber Satire ift barin manege Stropge gewibmet ®er
greife Siegtet blieft geute auf ein öieljägrigeS poetifcgeS Scgaffen gurüd unb wirb
ßets in ben Steigen ber Seften genannt werben. ®or einigen Sagten ftarb ®art
SSictor $anSgirg, ber gier noeg angeführt fei. Seine ©ebiegte „^eimatftimmen"
(ißrag) erfegienen fegon im Sagte 1844; fein „Sieberbucg für 2>eutfege in ©ögmen"
(fßrag 1864) geigte ben mannhaften ffiorfümpfer beutfeger Sitte im tBögmerlanbe, •
feine flangooQen Sieber riegten fieg an Oefterreicg unb an bie groge beutfege
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Die lebten 5 cfjn 3<*h rc bcutfcf) = öfterrci&ifdjer Cyrif.
tpeimat mit gleitet |>erjlichleit. Sie ©efcheibenljeit, mit bet §an£girg fted auf»
getreten, ljat feine non großer ©egabung jeugenben ©erfe meniger belannt gemalt,
ad fte el oerbienten. SreUidj finb bei Sichterl epifdje ©ebicßte toeiter gebrungen
all bie Igrifdjen. Irofcbem märe el ungerecht, an biefer Stelle nicht aud) feiner,
bet bil jum Sobe bictjterifcf) ttjätig geblieben, ju gebenlen. Serbinanb Don
Saar, ber begabte Sramatiler, enblidj ßat in ben jfingften Sagen ebenfalls eine
Sammlung feiner in fforrn unb Sntjalt Dollenbeten „©ebicßte" ($eibelberg 1882)
Oeröffentlicßt
(Eine 8®hl beutf<h*öflerreichifcher Sanier ßat fidj ber munbartlicßen Sichtung
gugemanbt: Sdnton Freiherr Don ^lelßeim’l „'S Scßmarjblattl aul’n SBeaner»
rnalb" gehört ju ben älteften berfelben, feine ©ebichte in ber nieberöfterreid)ifd)en
SRunbart oerbinben ^erjlicßleit unb ©emüthlidjleit mit echter ©oldthümlidjfeit;
Steljßamer, beffen fcfjon oben gebaut mürbe, ßat im fatgburger, Salten*
brunner im oberöfterreichifdjen Sialett noch in ben testen 3<»h ten manche neue
ju §erjen fprecfjenben Sieber gebietet, beibe finb oot meljrera fahren geftorben.
(Ein fdfönel latent in ber SDlünbart Don Salzburg meift SDlärjrotß in feinem
©üdjtein: ,,©itt gar fd)ß’ — finga laß’n" (Salzburg 1878) auf; ber Siatelt»
gebiete ©ralberger’l mürbe fcfjon gebaut; in oberöfterreic^ifcßem Siateft tj<*t
auch ©afnlleri feine „Seittidjtln" (3. Stuft, SSien 1877) abgefaßt. Sitte biefe
Sichtungen finb oon frifdjem #umor burcfjmeljt. ©in befonberl urfprünglicßel,
birect aul bem ©olle ßeroorgegangenel Salent aber zeigt ficß in beitt fteirifcßen
Siebter 8t. S. ©ofegger, ber heute freilich mel)r ad SRooellift reiche Slnetlennung
ßnbet, beffen ©ebidhte in oberfteirifcher SJlunbart: „Sither unb $adbret" (2. Stuft.,
©rafc 1874) aber einen fo reichen ©om urfprünglicfjer inniger ©oefie bitben, baß
man fie füglich ad bal ^erüorragenbfte bezeichnen tann, mal munbartlicfje £t;rif
feit langer Seit geraffen. Salb heiter unb übermütig, halb tief ju derzeit
fpredjenb, finb Diele Don ©ofegger’l Siebern fcfjon in ben ©otdmunb übergegangen
unb fießern ihm ein bauernbel StnbenJen.
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Cfnronift ber (öeßcmoart.
fheatraliftht Renne.
Al# eine ©unft be# ©lüde# faun es in ber jefcigen, bet tragifchen 2Jlufe fo
abgeneigten 3«t betrautet Werben, wenn einem talentbolten bramatifctjen ®icf|tet
fic^ auf einmat bie Pforten bet oft fo fpröben §of 6 ühnen öffnen, Wenn nidjt ein#,
fonbern mehrere feiner bramatifchen SBerte, früher gefdjaffene unb jüngft gedichtete,
Aufführungen mit ben herborragenben Kräften biefer Sühnen erleben, wenn außer*
bem ißubtitum unb Äritil [ich barin bereinigen, ba# latent be# ©idjter# Witt*
lontmen p heilen, ohne baß biffentirenbe Stimmen hämifcher Art (aut werben,
wie bie# in Deutfdjlanb befonber# bei ber meift geiftig impotenten unb äftljetifch
ungebilbcten X^caterfritif in ber Siegel ber galt p fein pflegt.
Solcher ©unft be# ©lüde# barf fiih ein jüngerer Autor, ©rnft bon SBilben*
briuh, rühmen, ber fidj biefer entgegenfommenben Spmpatbie feiten# ber Kritit
fchou beSßalb erfreut, weit er ftet# fidj bon ber gournaliftif feru gehalten, niemal#
burdj tritifdje üKorbtljaten feine £änbe beflcdt unb bcöfjalb nie bie Slachepge
einer nach feinem poetifdjen Scalp lüfternen Schar jountaliftifcher Slothhöute herbor*
gerufen fat, Wie bie# befonber# ©ufctow unb albern herborragenben Autoren
begegnet ift. ©rnft bon SBilbenbrudj ift ein jüngerer beutfdjer Diplomat, ber
bie preufjtfche StegierungScarriere, foweit fie für bie biplomatifche unerläßlich
ift, abfoloirt unb unfer# SBiffen# al# Offizier auch ben gelbpg bon 1870/71
mitgemacht h at « tritt er gleidjfam mit reinen §änben in bie Siteratur.
©ebichte unb geuittetonnobellen Waren bie Sorläufcr feiner. Dramen, bon benen
bie „Karolinger" perft am meininger ^oftljeater unb bann am Sictoriatßeater
in Sertin pr Aufführung tarnen. Stadjbem fein Stücf „Säter unb Söhne" bei
Seginn ber Saifon am bre#lauer £obe*2;heatcr, fein ®rama „$cr SDtennonit"
an berfelben Sühne unb auch am frantfurter Stabttljeaier in Scene gegangen,
öffnen ihm in ber turnen 3eit bon brei SEBodjen bie brei erften ^ofbüljnen, benen
bie bierte, SKünchen, bemnächft nachfolgen wirb, ihre Pforten. $a# berliner £of*
theater gab fein f<hon in ^annober mit ©rfolg pr Aufführung gebraute# Irauerfpiel
„#arolb", bie bre#bener 4?ofbüljne unb ba# wiener ^oftheater feine „Karolinger".
Sie ©hronil biefer Aufführungen beweift pr ©enüge, baß (einem ber neuern
Sragiter in folcher SEBeife ber 2Beg geebnet worben ift. ©rft allmählich, oft im
Saufe ber Saßre, brechen auch b* e glücflichem Kinber ber tragifchen SJtufe ftch
Sahn auf ben Sretem. Sie bisherigen E)SreiSbcrtheitungen be# berliner Schiller*
ßomite blieben, ben Sühnen gegenüber, meiften# Schläge in# SBaffer, unb wenn
SBitbenbruch bon bielen fcfjon al# ber Sanbibat be# näfften Schitter-’^teife# an*
gefehen wirb, fo hat er WenigftenS bor feinen meiften Sorgängern ba# borauö, baß
feine Stücfe fcfjon borher an ben Sühnen pr Aufführung getommen finb; benn
baß auf nachträgliche ©inwirfungen jener ißreiSbertheilung wenig p rechnen ift,
hat jefct bie ©rfahrung pr ©enüge bewiefen. Sa# Settenfte aber ift, baß bie
Hochflut allgemeiner ©unft auch ältere Stüde flott macht unb baß eine ganje
bramatifdje glotte mit berfelben bichterifchen glagge pgleich in See fticht. Sie#
ift bei SBilbenbruch ber galt: hier Stüde in einer Saifon an erften Sühnen unb
barunter brei, bie bisher überhaupt noch nicht pr Aufführung getommen finb.
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Cf?eatralifd?c Keruc.
937
@3 ift natürlich, bag folcf>e ©rfotge einen gonbS bon Talent borauSfepcn;
aber es gibt biete talentbotte Slutoren, benen ba« ©ütjnenglfid nicht in gleicher
SEBeife gefächelt hot. 2Bir begrügen biefe, einem jüngem latent entgegenfommenbe
$utb ber launigen Theaterfortuna mit hoppeltet greube, »eit in fo frönet @r*
mutfflgung bie ©ürgfehaft liegt für eine SdjaffenSfreubigfeit be« Tiditer«, bem
»ir noch tj*r®orragenbere SBerfe berbanten bürften.
Tie „Karolinger“ fpieten gur Seit be« gerfattenben fränüfdjen Steiges, wetche«
ber altersschwache König Submig ber grontme besprochen hatte unter feine brei
Söhne: ©ipin, Sottjar unb Submig, gu theiten; hoch er hot wieberum geheirathet,
eine junge grau Qfwbith, bie Tochter ©etf’S, unb hot bon ihr einen Sohn Kart,
welchem bie SKutter ebenfalls einen Slnttjeil bom grantenreiche fichent Witt, währenb
bie anbem Söhne, mit ihnen ber f»h e ®bel unb Kteru«, an bem befchmorenen
2tachener Vertrage fefthatten, bur<h wetten ber jüngfte Sohn bon ber ©rbfotge
auSgefdjloffen Wirb. Ta« ift bie Situation bei beginn be« Stüde«: fo finbet fle
ber ^elb, ©ernharb, ®raf bon ©arcetona, welker als ©efieger ber Sarazenen
aus Spanien gurüdfeprt unb bon Kaifer Submig mit ber Kämmerermürbe belohnt
wirb, ©ernharb ift ber eigentliche $elb beS Stüde«, einer bom $otge, au« bem
man bie ©lajorbomu« jdjnilt. ©on fotcher Stellung ift ja, »ie bie „Karolinger“
fetbft bemeifen, ber SBeg gur Krone nicht attgu meit. ©ernharb liebt bie junge Kaiferin
Subith; er hot fie geliebt, ehe Submig fie auf ben Thron gehoben hot. Seift liegt
er hutbigenb ihr gu gügen unb bietet ihr feine Tienftc an gut SluSfüljrung ihrer
©tane, unb fie Wagt e«, ihm gu bertrauen. Ter energifdje SDtann flögt ihr BU*
neigung ein; et gewinnt ihr §erg, at« er bie Sache be« Sohne« gum Siege führt.
Sine SDtaurin ^amatettiwa, welche ©ernharb in Spanien ba« Sehen gerettet, ift ihm
in Siebe gefolgt, begleitet bon einem frühem Tiencr ihre« ©ater«, Stbbattalj, ber ©ern*
harb hogt, um fo mehr, at« er bemertt, bag jept ba« $erg be« ®rafen fidh bon bem
SKäbcgen abmenbet. Sn ber Ttjat ift ihm bie« maurifche äRäbdjen jefet gur Saft: e«
tommen Slbgefanbte be« ©ater«, gmei ebte ©tauten, um $amatettiwa gurüdguforbem.
Tiefe Utauren reiften untermeg« über ba« Säger ©ipin’3, ber eine broljenbe Stellung
mit feinem $eere einnimmt, um für ben galt, bag Kaifer Submig Kart gum 9Jtit»
erben be« ©eiche« einfefjen mürbe, gegen ihn borgurüden unb mit ©ctoalt ben 2Biber=
mf be« Kaifer« gu ergmingen. ©ernharb erftärt fleh bereit, bie Tochter bem ©ater
gurüdgugeben, Wenn fie ihre ©otfdjaft an Sothar bor Kaifer unb ©eich auSridjten
motten, rnogu fleh bie Senbtinge ©iptn’S oerftehen. Tie ©otfehaft aber tautet:
SSHeS ift bereit.
Sch bin bor fBornt« gum feftaefebten Tag
Unb holte Euch ba« ©ep — fchafft Sh* bie gifche.
2lt« nun ber ©ei<h«tag fleh berfammett h Q t unb ber Kaifer auf bem Throne
fipt, ftettt ©ernharb, ber at« Kämmerer bie Seitung be« ©eichStage« hot, bie gtage
an bie ©erfammtung, ob fie alte frieblidj getommen feien:
Ohn’ böfen SBiHen, freie« SBort gu hinbern
Turch eigne Stacht, ober bie SUacpt bon anbem,
Tie ihr bewaffnet einft gu euerm Tienft.
Stile bejahen bie grage; je|t entfeheibet fleh ber Kaifer, getreu bem frühem
Stachener ©efcglug, über be« ©eiche« Theilung, nur feine brei Söhne erfter ©h e
gu ©rben gu machen, wie ber etjrmürbige SEBota, Stbt bon Gorbep, ein SDtaitn be«
©echte« unb be« grieben«, auf ©efeht be« Kaifer« berichtet. Ter ©eidj«tag be=
fdhtiegt bemgemäg. Ta tritt ©ernharb auf unb bernichtet ben ©efdglug be« ©eich«»
tage«, meit bor ber ©forte oon SBorm« ein £>cer in SBaffen flehe,
Bereit ba« Siecfit ber ©öljne Srmengarb’S
3Rit SBaffen ihrem Batet a&gutropen,
SBenn er gu (fünften Karl’« entfepieb.
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938
Unfere <3eit.
Allgemeine Aufregung; ber Saifer »erlangt ©eweife, nun treten bie ©arajenen
öor unb rieten ©ipin’S ©otfcfiaft aus. 2)er Saifer ift aufs äufjerfte empört unb fagt
fich »on feinem älteften ©ohne tos. ©emljatb benufct bteS unb lägt bem Saifer
eine Srone bringen, bie er einem getränten ©arajenen abgenommen, bamit er
baS §aupt beS jungen Sari bamit träne! Die @öljne »ollen bas »er^inbem: ba
nimmt Subith bie Srone unb reicht fie bem greifen Saifer, »eichet Sari tränt.
Sothar unb Subwig erflären bem ©ater ben Stieg: unter tumultuarifchem Auf*
btuch beS Reichstages fchliefjt ber Act.
^[ubith hat ju ©ernharb gefagt:
O SAann unb §elb — Skrnfjarb, bu ^aft gefiegt.
Daran fnüpft fich ber Fortgang bet £>anbtung; fte entbrennt in leibenfehaft*
lidjer Siebe ju ihm: »on bem fdjlafenben ©ohne Sari »enbet fie fidfj jurn monb*
fdjeinhellen ©arten, »o fie ©ernharb treffen foH. Diefer hat ein ©efpräch mit
bem jungen Sari, ber fich bariiber wunbert, »omit er fich ©eraharb’S Siebe »er*
bient habe unb bah biefer fo »iel für ihn thue; ©ernharb aber uerfpridjt ihn jurn
Saifer ber tränten }u machen unb befcE) nächtigt bie ©ebenten beS fedfjjehnjährigen
©rinjen, ber bann feine ©lütter in ihren ©emäetjera auffudjt. ©ernharb aber
offenbart uns feine tiefem ©lane: Submig muh hinweg:
Unb biefe SBelt ift bann für Karl unb mich,
gfir Karl? 3a roofjl, folang’ in 3ubitl|'S $erjen
Auf gleichen Schalen Sari unb ©ernfjnrb ruhn,
Dorf) bu, armfel'ger Knabe, big ju leicht,
Rein — Iommen foH bie ©tuiibe, »o t|r $erj
Rur noch ben Aamen Scrafjarb tennt, unb bann,
Dann, Karolinger, ©ernharb über euch.
©on Abbaüah, bem arabifchen Sräuterfunbigen, läht fich ©ernharb ein
fixeres ©ift bereiten unb geht bann in bem ©arten ber Sönigin nach. $ama-
tettiwa »eigert fich in ber nächften ©eene, ben ©lauten ju folgen, bie fie ju ihrem
©ater führen »ollen, unb bittet Sari, ber ^tnjufommt, fie ju fchüfcen. gjoch
©ernharb, ber aus bem ©arten herooctritt, »itl bie ©laurin jiehen laffen, bem
©ebote ber ©flicht gehordfjenb; biefe aber glaubt nicht, bah er fich nur »or bem
Rechte ihres SaterS beuge; fie glaubt nicht an feine Dreue; fie hat ihn eben im
©arten mit einem anbern SBeibe gefchen, mit einem SBeibe im langen bunfeln
Schleier; Sari unb AbbaUatj rathen fogteidj auf bie Saiferin; $amateQima erjählt,
bah fie bafajj an feine ©ruft gefchmiegt. Da erfticht fie ©ernharb, weil fie bie
Saiferin ju läftern wagt. @r fe|t fich flegen bie ©arajenen jur ÄJehr; beutfdje
Ritter Iommen hinju; bie SriegSertlärung ber brei ©rüber läht baS Heine Swifdhen»
fpiel in ©chatten treten, ©ernharb »enbet fich §um Iriegerifchen Abgang.
Den »ierten unb lebten Act hat ber Dichter für bie ©ü|ne in ©leiningen
gänjlich umgeftaltet. 3m ganjen möchten »ir ber urfprünglichen Raffung ben
©orjug geben, »enngteich ber ©haralter ber Subith in berfelben aüju fehr »erlifcht.
Der fehler ift, bah ©eripetie unb Sataftroplje in biefem Act gegen bie Regeln
bramatifdjer ©ompofition jufammenfallen. Die ©eripetie liegt barin, bah ftch
Sari felbft jefct gegen feine ©lütter unb gegen ©ernharb erhebt, »eil et erfaitnt
hat, bah ihr »erbotenes Siebesoerljättnih allein ber ©tunb fei, warum ©ern*
harb ihn jum Saifer machen will, hierin liegt eine echt bramatifche SBenbung.
Der Saifer ftirbt. AbbaHah üerräth ©ernharb als ben ©lötber, unb biefer fällt
im Sampfe mit ben beutfehen Rittern unb Sarolingern.
Ohne Stage mühte baS Drauerfpiet ben Ramen Semhatb’S »on ©arcelona
tragen; er ift ber eigentliche §elb beffelben, aber hoch ein unfhmpathifdjer $elb,
ein ©erbrechet auS ©hefleij, ein ©lacbeth; boch bie lebten Siele feines ©hrgeijeS
liegen ju »eit hinaus, fo fehr im Duft ber gerne, bah ber Swecf nicht impofant
genug ift, uns mit ben ©litteln auSjuföhnen, ihnen ben mislic|en ©eigefdjmacf beS
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(Cfyeatralifcfje Hernie.
939
btoS ©erbredherifchen ju nehmen. ©hebrechet:, ©iftmifcher, Mörber — unb baS tefcte
bod^ nur aus Uebereitung. @r muß fich boch fagen, baß er Stbbaflalj fronen muß,
ben ßrreunb unb ©dhüfcer beS gemorbeten MäbchenS, ben Mitmißer beS gefährtidjften
©eheimnißeS... unb biefer bringt tljm auch fchließlidfj ben Untergang. 3n ben beiben
erften Steten ift ber Stjarafter groß angelegt; es ift Schwung in feinem Stuftreten;
im ^weiten ift bie bramatifdje güljrung oortreßtich, wenn auch einzelnes btoS auf
theatratißhe SBirfung beregnet iß, wie bie ©arajenenfrone, mit ber ein frän*
fifdjer König gefrönt wirb, jebenfaüS ein hßtorifch unmögliches ©ühneitrequifit.
3m britten unb oierten Stete entwidtett fid) ber ©harafter nicht mit gleicher ©e=
beutung; es fehlt überhaupt jebe ©infeljr in baS innere, ©ernfjarb ift ber un=
bußfertigste, ^artgefottenfte ©ünber oon aß ben bramatifchen Ufurpatoren. SGßie
regt fich in Macbeth baS ©ewiffen: bei ©ernharb feine ©pur baoon! ©r wirb
in feinet ©iinben „©tüte" hinweggerafft, ©in $elb ohne ©ewiffen fann feinen
Stnttjeit erregen. Unb wenn ein fotcher ©treber noch baju in feinen Mitteln
fehlgreift, wie ©ernharb, ben Ort ju feinem StenbejüouS mit ber Kaiferin fo un=
ftug wählt, baß fie fidj Oerrathen mäßen, ben Mauren, ber ihn haßt, jum Mit»
fchutbigen macht, fo Werben wir auch an ben Sähigfeiten beS Mannes irre, beßen
ganjeS Stecht bo<h nicht btoS in feiner Kühnheit, fonbern auch in feiner geiftigeu
Uebertegentjeit ruhen foß. gntereßanter ift ber ©harafter beS jungen Karl; in
ihm liegen tiefere ©onßicte; eS ift in ihm eine SBanbtung unb Sßenbung; hoch
erfcheint biefer Knabe Kart, Welcher jutefct für ©ernharb fo fürchterlich Wirb, uns
Oon bem Dichter ju jung angenommen; fein Stuftreten im testen Stet geht Weit
hinaus über baSjenige, was man Oon einem fedjjehnjährtgen Knaben erwarten
fann. Stuch bie Kaiferin Qubith ift gegen ben Schluß hin ju ffi^enhaft gehalten:
ber fchwache Kaifer, ber fcharfe unb heftige Sottjar, ber ehrwürbige SBota ßnb
gutgejeidhnete ©haraftere. Die in bie §anb(ung eingreifenbe ©arajenenromantif,
toetche ja auch am ©chtuß baS enßcheibenbe Motio hergibt, ift theatratifeh Wirf»
fam, bramatifch aber oon jWeifetljafter ©eredfjtigung.
Ueberhaupt tjat SBitbenbrud) gerabe in biefer £mtficht, ähnlich Wie SBilbranbt,
einen fdharfen ©tief für baS ©ßectOofle, unb WaS bei ihm auch nicht bramatifdt)
niet= unb nagetfeft iß, Wirb fidfj auf ber ©ühne hoch immer wirfungSüoß präfctt=
tiren. ©eine Sprache iß fnapp, marfig, Oon burchgreifenber ©nergie in ber
großen ©eene: aber gerabe in ©e$ug auf feinen ©tit barf man ihn am wenigften
mit ©ctjifler Oergteichen; benn bie ©rgüße bramatifcher ©toquenj unb eines feurigen
©attjoS Oon hinreißenber ©ewatt, wie fie ©chißer eigen finb unb bie ihm oor»
jugSWeife ebenfo oiete greunbe wie ©egner gewonnen, würben wir bei SBitben»
bruch oergebtich fueßen: eher erinnert fein ©tit an bie marfige Kraft ber ©fjaf»
fpeare’fchen Schute; jebenfafls führt SBitbenbruch eine gute bramatifdhe Klinge;
hierin jeigt ßch feine echte ©egabung.
Das gilt auch non bem jüngft am berliner $oftheater jur Slufführung gebrachten
Drauerfpiet „#arotb", welches Oon einem Xheit ber Kritif, wie oon Höfling in
ber „©egenwart", über bie „Karolinger" geßeßt, oon anbern, wie oon Kart
grenzet, ihnen nachgefteßt Wirb. Der |>elb beS ©tücfeS ift fjarotb, ber ©achten»
graf. Um ©eifein auSjuIiefem, begibt er fich in bie SJormanbie unb oerliebt fich bort
in SBithetm’S Dodjter Slbele. Der Stormannenherjog wiß ihm nur bann feine
Dochter jum SBeibe geben, wenn er ihm jufagt, jur ©rtangung beSjenigen, was
©buarb, ©ngtanbs König, ihm oerfprochen hot, ju helfen. Dies ift ber Singet»
punft beS ©tücfeS, unb es ift für bie tragißhe ©röße beßetben ungünftig, baß es
ßch im wefenttichen um ein Misoerftänbniß unb einen ©etrug honbett, ©buarb
hat bem König SBittjetm nach feinem Dobe bie Krone ©ngtanbs oerfprochen.
$arolb meint, baß nur eine ©rbfdfjaft in ber Stormanbie in grage ftehe, für
Welche ber englifdje König bem Stormannenherjog fein SBort oerpfänbet hot; benn
baoon hatte ©buarb mit $aro!b gefprochen. Der hintertiftige SBithetm täßt ihn
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9 #>
Huferc
bet biefer SReinung, inbem er boppelbcutig fagt: „3a, eS h°ubelt (ich um ©buarb’S
©rbfchaft!" Stad; geleiftetem Schwur erfährt §arolb, baß er ber ©etrogene fei.
SRun nimmt er bie Scljulb beS ©ibbrudjeS, menn es eine fold^e ift, auf pdj, nnb
nachbem er bon bem fterbenben ©buarb bie Ärone erhalten, befämpft er bie SRor«
mannen, wirb bei #aftingS bejiegt unb fällt im Kampfe, ©in fester baüabcnhafter
Siet folgt noch nac| bem 5£obe beS gelben. SBilhelm ber ©roherer weigert fid),
$arolb'S Seiche auSjuliefern, welche bie SKutter beffelben gefunbenljat: ba erfährt
ber S'önig, baff feine lodjter Abele geftorben, mit bem SRarnen $arolb’S auf
ihren Sippen, nnb läfjt, bon biefem lobe ergriffen, ber SRutter bie Seiche iljreS
©ohne« geben.
3n biefem ®rama erfdjeinen baS SRotib unb bie Äataftroplje nicht mächtig ge«
ttug; ein mehr ober weniger leichtgläubiger, ein betrogener $elb fteljt auf einem feht
niebrigen bramatifchen ©iebeftal; hierin erinnert baS Stüd an ©radjbogel’S „Abel*
bert bom ©abenberge"; eine berartige biplomatifche Stieberlage Ware felbft für
einen bramatifchen Hercules ein SteffuShemb; eine Ueberliftung einerfeitS, ein SRiS*
berftänbnifj anbererfeitS finb aUju fleinlidje SRotioe. SBaS aber bie ßataftroplje
betrifft, fo ift fie epifdjer Art; nur baS Schlacfjtenglüd entfdjeibet §arotb jieht
tapfer unb ungebrochen in ben Äampf, unb feine Angelfadjfen brauchten blos ju
fiegen, unb eS fehlte jeber tragifdje Abfchlufj; mit SRedjt macht grenjel barauf
aufmerffam, baff bie gelben Shaffpeare’S, Stidjarb III. unb HRacbeth, geiftig fchon
bernichtet finb, ehe fie ihre lebte Schlacht beginnen. SSJenn man überbieS nach ben
Siegeln bramatifcher ©ompofition unb nach bem ©organg unferer erften SDrama*
tifer in ben lebten Act ftets bie ®ataftrophe beS gelben berlegt, fo muh h* er ber
lebte Stet, in welchem nur bie Seiche beS gelben mitfpielt, als nachhinfenb unb
beSljalb als eine Serffinbigung gegen jenes ©efefc ber ©ompofition erflehten.
SBenn man fo baS ©erüft ber $anblung auSeittanbernimmt, fo flöht man auf
manches Sdjwanfenbe unb Schiefe; hoch bei ben Aufführungen läßt bas Talent
beS Richters, baS fid> in ber ganzen ©ehanblungsweife auSfpridjt, biefe ©ebenten
weniger auffommen; es herrfdjt eine auSnehmenbe, oft ficfi faft überftürjenbe thea*
tralifche Sebenbigfeit in ben ^auptfeenen unb ein martiger bramatifcher AuSbrud.
So Werben bie beiben erften Siete nirgenbs ihre SBirlung oerfehlen unb ber Schluff«
act wirft jwar nicht bramatifdj, aber ftimmungSboH elegifch.
SBenn SBilbenbrudj in biefen Stücfen in bie bramatifchen ffunbgruben beS
SRittelalterS herabftieg, beffen ganjeS ©olorit boch jum 2heil uns frembartig ge»
mahnt, unb auch in ber SRotibirung ©lemente mit hereinbringt, bie für bie oer»
ftänbige Auffaffung unferer Seit mehr ober weniger unglaubwürbig finb, fo hat
er in jWei anbem Fronten, bie bisher nicht an erften fiofbühnen gegeben worben
finb, ber ©efdjidjte unferS Saljrhunberts, ber baterlänbifchen ©efdjichte feine Stoffe
entlehnt. Seiber ift baS Schaufpiel „©äter unb Söhne", beffen Aufführung wir
am breSlauer Sobe^heater mit anfaijen, fo wenig einheitlich gehalten, bah eS in
jwei ©emälbe jerfäEt, bon benen baS erfte ber ©poche ber tiefften ©rniebrigung
©reufjenS, baS jweite berjenigen feines begeifterten AuffdjwungeS angehört. $a$
Stüd beginnt mit ber ©elagerung bon Äüftrin burch bie granjofen, mit ber Ueber»
gäbe ber fteftung feitenS ihres ©ommanbanten bon SngerSleben, nodj baju infolge
einer falfdjen ÜRadjricht, unb es fchliejjt mit Strahenfcenen in ©erltn, wo man ben
Bonner ber Schlacht bon ©rohbeeren mit Subei begrübt. 2)er §eib beS StücfeS
ift ber jüngere SngerSleben, Welcher, bon warmer patriotifcher ©efinnung befeelt, jur
8cit beS nationalen UnglücfS bon ben granjofen geächtet Wirb, fpäter fich ben
Scharen ber jfreiheitSfämpfer anfchlieht. ®ie ®arftettung ber ßuftänbe in bet
fteftung fi’üftrin ift fehr braftifch, Wie eS überhaupt bem Stüde nicht an fenfatio*
netten ©ffecten fehlt; boch ber teßte Act ift genrebilblich nachfdjleppenb. Sie
SituationSmalerei unb ©haralterjeichitung hat etwas .jperbeS, bisweilen ©retleS,
wie cs überhaupt ber SBilbenbruch’fth e « Stufe eigen ift. ®ieS tritt noch mehr in
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Ojeatralifcfye Hcpue.
m
bem „SJtennonit" fjerbor, einem Drama, baS einen weit einheitlichem Aufbau
geigt. ®S fpiett ebenfalls in bet Seit bet granjofenberrfcbaft. Der $etb ift ein
jugenbticber Slnbänger jener Sette, welche ben Krieg unb baS Duell gleichmäßig
geächtet bat; et liebt bie Dodjter beS Stelteften feiner ©emeinbe unb teilt ftcb um
ihretwillen mit einem franjöfifcben £auptmann fcblagen. Die SSorfchriften feiner
©efte erlauben ibm baS nicht. ©ein innerer Kampf, ber Kampf mit ber ©emeinbe,
ift bramatifdj lebenbig bargeftellt. ®r tritt als Slntealt ber SKanneSebre auf, als
Släcber ber Veleibigung, bie ein rober granjofe ber ©eliebten burcb Kufj unb Um*
armung angetban bat; er ruft auS:
©ott, Jjeil’ger ©ott, ben man allmächtig nannte,
Sum Seiten, baff bu SSater bift ber Kraft,
SBad ift no«b Stedjt, wenn biefeS Unrecht ift,
man jum Kampfe ben $errud)ten forciert,
Der betner beü’gen Schöpfung fdjönften Iraum,
$aS SBeib, mit fdjntuj’ger gredjljeit uns bejubelt.
©rft als bie ©eliebte ibm ju geböten öerfpricbt, wenn er öom Duell abfiebt,
gibt er nach, mufj fich aber bafiir öon ben franjöfifdben Offizieren einen geigliitg
fjbelten laffen; aufjerbem wirb ibm üßarie bod) noch öorentbalten. Da fagt er
fidb öon ber ©emeinbe loS unb teil! mit ber ©eliebten ju ©cbiH entfliehen, @r
Wirb öerratben unb öon ber ©emeinbe ben granjofen ausgeliefert. Den ©efangenen
fudbt bie ©eliebte ju befreien; er erfcbiefjt ben Verrätber, wirb nun aber öon ben
ijeranrüdenben granjofen bem Dobe geweiht. äRarie bricht in bödbfter Stufregung
fterbenb jufammen. Slud) in biefem Drama ift baS urfprünglidje ÜRotiö nicht
fcbtoertoiegenb genug; eS liegt mehr eine tragifcbe Ironie barin, bafj fich eine
golge fo ernfter £>anblungen an baS Heine leichtfertige Slbenteuer luüpft. Slud)
bieS Drama hätte burcb innerliche Vertiefung febr gewonnen, ba eS einen immer*
bin tief in bie ©egenwart einfcbneibenben ©runbgebanfen bat; eS ift baför ju öiel
äußerlich bunte fjanblung, ein theatralisches Sebett, Welches bie bramatifdben SBir*
fungen Weniger jufammenbält als jerfplittert; bocb ber Slufbau biefeS ©tücteS ift
einbeitli^ unb bat fünftlerifcbe Steigerung.
Sille biefe ©tüde finb ton bem ißublifum überall mit einftimmigem VeifaH
aufgenommen Worben. VefonberS „§arolb" fanb in Verliit eine entbufiaftifcbc
Stufnabme. ©elbft baS gegen norbbeutfcbe Dichter nicht immer freunblid) gefinntc
Wiener fßublifum nahm bie „Karolinger" am Vurgtbeater febr lebenbig auf unb
in bem Kunfttempel an ber Donau wie an ber Spree Würbe ber Dichter mehrfach
beröorgerufen. SBir conftatiren biefe unbeftrittenen ©rfolge mit ber ©enugtbuung,
baß fie ber ernften SRufe jugute lommeit unb einem echten bichterifdjen Daten!.
SBir glauben jwar nicht, baß bie bisherigen SBerle SBilbenbrudb’S Dauer ter»
fprechen, ba eS ihnen ju febr an bichterifcber Vertiefung unb edf)t bramatifcher
©ntwidelung fehlt, Welche ton tbeatralifchen ©ffecten aßju febr überwuchert wirb;
aber fie legen SetBmjj ab ton einem ftarlen Dalent, welches bauernbe SBerfe für
bie Satuaft ju fchaffen öerfpricbt.
Die manbeimer Direction batte jur ©äcularfeier ber erften Stuffübrung ton
©djiller’S „Stäubern" einen fßreiS ton 1000 2Rar! auSgefdjrieben für ein im
©chiüer’fcben ©eift öerfaßteS Drama. Von 156 eingefenbeten ©tüden würbe ton
ben ?ßreiSrichtem, unter benen fich $ofratb SBertber in SRanbeim befanb, ebenfo
wie Heinrich Saube, fßaul §ebfe unb VernapS in SRüncben, bem Drauerfpid
„Suigia ©anfelice" öon Sti^arb Voß biefer ijßreiS juerlannt. Der Stuffübrung
beS ©tüdeS War jteei Dage öorber bie ©cbiHer=geier in ÜRanbeim öorauSgegangen.
81m 13. San. batte $ofratb SBertber eine geiftreiche geftrebe gehalten, unb am
Slbenb fanb bie Sluffübrung ber „Stäuber" ftatt. Die Slufnabme öon „äuigia
©anfelice" War feineSWegS eine einftimmig günftige unb burchfdblagenbe; gegen
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Unfere ^to¬
ben oierten unb fünften Stet beS Stüdes machte fi<h eine lebhafte ©ppofition get*
tenb, unb erft bei bet SBieberljotung, ats bet Stothftift ber Stegie bie auf bie
©djwangerfcfjaft ber Suigia ©anfelice begügtichen ©eenen wefentlich gefürgt hatte,
war bie Stufnahme eine günftigere.
SBir haben in unferer lebten Steoue ber „©atricierin" Bon Stidjarb 8ofj ge*
bad)t, welche ebenfalls in granffurt [ich bie ©unft beS bortigen ©reiScomite er*
rungen hatte unb an mehrem Sühnen wie aud) neuerbingS in Bresben gur ®uf=
fiiljrung gefommen ift. ®ie „©atricierin" fowol wie befonberS ben „©aoonatola"
oon ©off fteHen wir flöget ats feine „Suigia ©anfelice", obfdjon auch biefe für
baS latent beS SHdjterS 3*«9«i6 abtegt. ©S ift Bug unb ©djwung in bent
$rama, befonberS in ben erften Steten; aber auch eine grettftadernbe ©eteucfjtung;
eS ^errfd)t in bem ©tüd eine neufrangöfifche ©outebarbSornamentit, bie an bie ©tute*
geit ber ©orte ©aint*3Jiartin erinnert. 2>ie beiben erften Stete geben eine tebenbig
bewegte, auef» bon poetifdjen Streiflichtern unb ©lifcen Wirffam beleuchtete ©jpo*
fition; fpäter bitbet bie ©djwangerfdjaft ber #elbin eine bebenttid^e ff tippe; brama*
tifche ©chwangerfchaften führen fetten gu gtüdtichen theatratifchen ©ntbinbungen.
3)aS 2)rama fpiett in ben blutigen feiten ber ©arthenopeifdjen Stepublit. Sine
©erfchwörung ber Saggaroni gegen biefetbe ift int SBerte; eine neapotitanifche SeSper
foü über bie Stepublifaner t)ereittbrec^en. 2)a aber oft in einem $aufe gwei ©er*
fonen wohnten, fo würben an bie SDionardjiften ©idjerheitstarten auSgetheitt. Suigia
©anfelice erhält eine folche Karte, nachdem fie gefdjworen, baS tieffte Schweigen
gu oerwahren; boch aus SobeSangft um ihren ©etiebten, einen jungen repubtifa*
nifchen Offtgier, bricht fie ihren ©djwur unb gibt bie ©idjerheitslarte bem @e*
liebten. $iefer geigt bie ©erfdjwörung an. ®ie Stopatiften werben Behaftet unb
finb bem lobe geweiht. Suigia ©anfelice folt benjenigen ber ©erfdjwörer nennen,
Bon bem fie bie Karte erhalten ^at, bo<h ats ©anbro Borgeführt Wirb, fdjwört
fie einen SJteineib gu feinen fünften. Abbrüchig aus Siebe, meineibig aus greunb*
fdjaft, Berfättt bie oon ben Stepubtifanem als §etbin ber Stepubtif Berherrtidhte
Suigia bem ©erhängnifj, ats ber weihe ©Freden unb bie btuttriefenbe Steadion
in Steapet ihren ©ingug hotten, ©ie wirb für ben Job nur aufbewahrt, bis fie
einem Kinbe bas Sehen gab, unb muh bann auf baS ©«haffot fteigen.
2)er ©toff ift burdjauS romanhaft; Sttejanbre SumaS hat aus ihm einen neun*
bänbigen Vornan gemacht, gür bie bramatifche ©ehanbtung fehlt eS ber $etbin
an ©röfje; ihre ©chutb ift bie ©chulb gutmüthiger Siebe unb SiebenSWürbigfeit,
bie eS in ©egug auf ihre Schwüre nicht fo genau nimmt. 3m ©runbe ift bas
©tüd bie Iragöbie beS SJteineibeS ober Bietmehr beS ©ibbrudjeS; benn nur ber
tefctere führt bie $etbin aufs ©chaffot. 3« bem SBirbetwinb Bietbewegtet unb btu*
tiger ©eenen fehlt jeber Stuhepunft, jeber ©ontraft. S)a| Suigia urfprüngtidj ein
munteres SJtabchen ift, welches gern lacht unb Stomangen fingt, baS !ann unter
einem |>od)brud oon fo unb fooiel tragifdjen Sttmofptjären nicht weiter gur ©ettung
tommen. $aS ®rama ift in ©rofa getrieben, nidEjt in ©erfen Wie bie „©atri*
cierin" unb „SaBonarota". 2)iefe ©rofa erinnert an ©djitler’S 3ugenbbidhtung
burct) oft hhperbotifchen Schwung; boch geben wir ber mafiooQem SDiction ber
anbem ©tüde Bon Sticharb ©oh ben ©orgug.
$aS 2rauerfpiel „Stöbert Kerr" Bon Stbotf SEßitbranbt ift am faffeter #of*
theater gut Stufführung getommen. $er |»etb beS ©tüdeS ift jener ®ünftting beS
Königs 3atob I., ber in ©emeinfehaft mit feiner grau, ber fdjönen, Witbteiben*
fdjaftlidjen Sabp ©ffej, feinen frühem greunb unb ©erather, Ih omo * Oöerburp,
bem lobe weihte. ®er ©toff hat fdjon mehrfach bramatifche ©ehanbtung erfahren.
®aS erfte mal oon Sticharb ©aoage, bem ungtüdtichen S)idjter, bem gelben beS
betannten ©uptoro’fd)en ©chaufpielS, ber aber nicht Stöbert Kerr gum gelben machte,
fonbern XpoinaS Doerburp in bem gleichnamigen 1723 gefchriehenen Xrauerfpiet.
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Cpeatralifcpe Heoue.
9*3
Ser Herausgeber biefer Seitfcprift pat in fein Srama „SfrabeHo Stuart" Stöbert
Kerr unb feine Sabp grancis ebenfalls mit aufgenommen; bocp finb fie pier nur
Helben einer jweiten Hanblung, bie mit ber Hauptpanblung eng berwebt ift.
3n bem Srauerfpiel bon 8tboIf SBilbranbt treten fie als alleinige Halben in
ben ©orbergruitb. Ser Sichter bat bem ^iftorifc^ überlieferten Stoff einen
©ruttbgebanlen gegeben; er pat aus ipm bie Sragöbie ber Süge gemacpt. Ser
junge, waprpeitliebenbe Spotte Kerr, ber ©ünftling beS Königs, berftricft fiep aus
Siebe jur fdjönen Sabp ©ffej in ein ganjeS 9tep bon Sügen, bie. oft fleinlidjer
tSrt finb, unb feine Sabp bleibt nie^t hinter ihm jurüd. Kerr bat einen ältern
gteunb, SpomaS Oberburp, ber bei Hofe in Ungnabe gefallen ift infolge eines
beigenben ©pigrammS, baS er berfagt bat, unb ficb wieber emporjufcpwingen bofft,
inbem er pcp an ben ©ünftling beS Königs anfcpliegt. 0oer6urp ift Siebter;
Sabp grancis münfebt in ©erfett gefeiert ju werben, unb Kerr bebient pcp ber
SDtufe feines greunbeS, um ficb ber ©eliebten ju empfehlen. Socb Oberburp !ennt
bie Steije, bie er befingt; Sabp grancis bat ficb ihm früher bingegeben. 911S er
bieS an Kerr berfünbet, leugnet fie’S unb befcpliegt feinen Untergang. Ooerburp
wirb in ben SoWer gebracht unb bort oergiftet. Kerr unb Sabp grancis fterben
ebenfalls gemeinfam bureb ©ift.
Stach ber ©efebiebte mürben fie belanntticb begnabigt unb lebten noch lange
ein mtfcpöneS Seben jufammen. SaS Srama bon SBilbranbt lägt ftarfe unb groge
SRotibe bermiffen; aber eS ift bon einer glänjeitben garbengebung. Sie Siebes»
feene am Schlug beS erften StcteS bat poetifdje SInmutp; bie H 0< bä«itöfcene beS
bierten, Welcher bie ©ntbeefung beS SDtörberpaareS auf bem guge folgt, jenen
orgiaftifeben 3ug, Welcher anbent Schöpfungen SBilbranbt’S, befonberS feiner „Strria
nnb SJteffalina" eigentümlich ift unb burep ben er ficb als ber Sritte im ©unbe
ju bem SJtaler SDtafart unb bem ©piter Hamerling gefeilt.
SBenn Slbolf SBitbranbt'S Stüd als ein Singleton nur an ber faffeler ©übne
auSgefpielt würbe, fo tauchten noch an einjelnen anbern Sühnen ernfte Sramen
auf, ohne bag ber ©organg berfelben beeiferte Stacpfolge fanb. 3>n SWüncpen würbe
ein Srama „Sofepbine Sonaparte", bon Karl geiget, mit ©rfolg gegeben. Sie
creolifdje Kaiferin ift für bramatifepe Sicptung eine ber Weiblicpen SieblingS»
geftalten aus bem Sereicpe ber neuern ©efepiepte. Slucp SubWig ©derbt patte fie
jum Helben eines ScpaufpielS gemaept. Natürlich feplt in bem Stiid auep 9tapo»
leon niept, für bie barfteüenbe Kunft eine Hauptaufgabe, welcpe in Stüncpen
bon ©offart in ÜJtaSfe unb Spiel trefflich gelöft Würbe. SaS Srama be»
ginnt mit einer unbegrünbeten ©iferfueptsfeene 3ofeppine’S, welcpe ein ©erpältnig
jwifepen iprem ©atten unb ber Scpaufpielerin ©eorgeS bermutpet. Später bittet
pe bei bem Kaifer für baS Seben beS H cr i°0 g 0011 ®ngpien. Stapoleon, jum
Kaifer geworben, berlangt bon ipr bie Scpeibung, in bie fie einwilligt, um feinen
popen potitifepen ©Ionen niept im SBege ju fein. 9lm Scplug tritt ge bem ent»
tpronten Napoleon gegenüber, ©on ÜDtarie Suife berlaffen, will er fiep mit ©ift
baS Seben nehmen. SofepP'ue, bom Kranfenlager perfommenb, pält ipn babon ab
unb beftimmt ipn jur Slbbanhutg; fie gept bem pepera Sobe entgegen, bem Sobe
an gebrochenem H er i en > ©tüd jerfäHt, wie bie Inhaltsangabe beweip, in
eine fReipe bon SableauS, unb baS ift baS SoS auep aller SRapoleonStragöbien bon
SumaS bis in bie Steujeit; boep pnb bie beiben Hauptcparaftere gut gejeiepnet
unb ein warmer poetifeper 3ug gept burep baS ©anje.
©in anbereS Srama, baS an bie SRapoleonifcpe Segenbe anfnüpft, ift baS in
granffurt jur üluffüprung getommene Scpaufpiel „Sarocpe" bon g. S. ©eu=
butger. Ser Helb, ein Secretär beS grogen KaiferS, ift eine Slrt bon Saffalle
ober Seo in ,,8teip’ unb ©lieb", ein 3ube mit grogen focialen ^Reformen, welcper
ebenfalls in einem SueU infolge eines SiebeSpanbelS fällt.
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Unfere «geit.
9Ji
©in ®ranta „Julian bei Abtrünnige", bon 9tubolf Stegemann, ift am
breSbener §oftbeatec gegeben worben. ®er $elb ift „tragifdj" in bet tiefern Se»
beutung beS SBorteS; et fte^t in bet SDtitte zweier SBeltalter unb fämpft mit äße»
geiftetung für baS untergebenbe. $emnacb bleibt eS fd^toer unb ift nach feinem
Siebter gelungen, biefe b'ftorifcbe £ragif wirffam in bramatifebe gorm. ju giefjen.
Sn Stegemann’S 3)rama fpielt eine Hauptrolle bie flatoift^e ißtinjeffm Safilia,
welche ben $aifer liebt unb fein H«Z immer mehr für ben EultuS bet beibnifeben
©ötter entflammt
Sn SBeimar Würbe ein ®rama „Subwig XI.", non Element, mit Erfolg ge=
geben; wir gebenfen babei eines frühem SepertoireftüdeS: „Subwig XI. in ©etonne"
non greiberrn non Auffenberg, welches in bem Sbarafter beS ÄönigS unb feines
SarbierS Dtinier febr intereffante Aufgaben für bie $arftetler enthält.
Einen beßenifeben ©rafen non Sarcetona, einen ehrgeizigen Ebtonräuber, ber,
um fein Siel ju erreichen, auch nor SDieucbelmorb nicht gurüefbebt, aber wie jener
fein Stet nicht erreicht, bat ber neugriechische dichter 9t an gäbe, ber als 2)iplo»
mat in Serlin lebt, }um gelben feines XrauerfpielS „5)ufaS" gemacht, welches
am bambutger Stabttbeater mit Erfolg in Scene ging. 9Jtan rühmt bem Stilcf
literarifchen SBertb nadf, ftnbet aber bie bramatifchen ÜRomente nicht fcharf unb
fchtagenb genug beranSgearbeitet.
2)aS berliner 92ationattbeater gehört ju ben zweiten Sühnen ber H au ptftabt,
welche bem ernften ®rama eine oft erfolgreiche pflege zutbeil Werben laffen unb
namentlich öfters ®ramen ber oom Hoftbeater ftiefmütterlicb bebanbelten Autoren
Zur Aufführung bringen. -Racbbem baS Sweater fdjon früher mit Arthur gitger’S
Schaufpiel „®ie H e E e " «inen nachhaltigen Erfolg baüongetragen, bat eS in ber
testen Saifon jtvei Iragöbien beS Herausgebers biefer Seitfcbrift: „Katharina
Howarb", in Welcher ganzisfa Eßmenreicb mit großem ©eifall bie Sitetrolle fpiette,
unb baS feit längerer Seit bon ben 9tepertoireS ber beutfehen Sühnen berfchwunbene
Srauerfpiet „SDtazeppa" zur Aufführung gebracht, teueres mit glänzenber Aus«
ftattung unb gutem Erfolg.
Auf bem ©ebiete beS Schau« unb Suftfpiets bat bie Ebronif beS SbeaterS in
biefer Saifon wenig Erfolge, noch weniger eigenartige Erlernungen zu bezeichnen.
Sie Sufammenftettung üblicher Sarianten unb eine gewiffe bramatifche Stäche
müffen hier bie Hauptfache tbun. $afj bie beutfebe AuSlänberei noch überbieS
nicht nur bei ben mobifdjen granzofen, wie wir gleich feben werben, fonbem auch
bei ben ffanbinabifchen Stationen b ö( hjt überflüffige Anleihen macht, baS zeigte
wieberum bie Aufführung beS febwebifdjen ScbaufpielS bon granz Hebberg:
„Strohhalme", am berliner H°ftbeater; benn ber Autor gehört jebenfaßs zu ben
untergeorbneten bramatifchen Segabungen, an benen wahrlich in ®eutfdjlanb {ein
SRangel ift. S)ie Entwicklung ber Hanblung ift fchablonenbaft unb febr wenig
fpannenb, ber ©runbgebanle tribiat, unb nur ein paar frifebe SiebeSfcenen bon
jener ben ffanbinabifchen Richtern eigenen Staibetät bilben eine Dafc in ber SBüfte
biefes Schaufpiets. ES ift früher in Seipzig ohne Erfolg gegeben worben unb bei
feiner blaffen garbengebung längft aus ber Erinnerung betet berfchwunben, bie
es mit angefeben.
2)aS neue Suftfpiel bon fßaul 2inbau: „ Jungbrunnen", bat am berliner
2Saßner«$beater wenig gefallen; weit mehr am breSbener Hbf* unb am breStauer
£obe«2beater, nad)bem ber Autor es einer Umarbeitung unterzogen bat. 3)ie
SJtotibe auS bem Scbaufpielerleben finb inbefi zu febr oerbrauebt, unb felbft ber
Aufpub mit neuen Sarianten bermag ihnen nicht ben 9teiz ber Steubeit zu ber«
leiben. $ie grau eines ©rofefforS, grieberife, Witt, nachbem fie in zwanzigjähriger
©he ber Sühne fern geftanben, biefelbe wieber betreten, inbem fie einen fßrotog zum
Sortrag bringt. ®er iprofeffor proteftirt anfangs gegen biefeS Sorbaben in einer
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0?eatraIif<f)e Hepue.
9*5
ber beften ©eenen beS StücfeS, gibt aber bann nach, in ber Hoffnung, baff feine
Stau ein giaSco machen wirb. Tiefe Hoffnung geht benn auch in ©rfüllung, unb
jwar in einer golge üon ©eenen, bie mel)r peintief) als luftfpielartig wirten. TaS
©runbmotiü ber Jpanblung ift für üier Stete nicht auSreichenb; eine SOtenge epi=
fobifdjer ©Ijaraftere muff biefen Mangel erfepen; eS fehlt infolge beffen nicht an
einzelnen ergöfclichen ©eenen; bon ben ©harafteren ift ber Ißrofeffor SJteifjner am
beften gelungen. Ten Flamen tiat baS ©tüd bon ber gontana Treüi in 3tom,
beten SBaffer in jebem, ber es einmal getrunfen, bie ©ehnfucht banach immer
Wieber erweeft. Tie Anfnüpfung ift eine ganj gelegentliche, üerantajjt butch bie
^Beziehungen beS ißrofefforS ju einem Sudjhänbler, bie Anwenbung aber auf bie
©djaufpieltunft, beren „Jungbrunnen" eine magifche Kraft auf alle biejenigen auS=
übt, bie einmal aus ihm getrunfen, eine naljeliegenbe.
TaS neue Suftfpiel bon §ugo Bürger: „Ter Jourfij", fchlägt einen etwas
anbern Ton an als bie bisherigen ©djaufpiele beS Autors, in benen eS fich um
pfpdjologifche fragen tjanbelt unb bie an einer etwas fchwerfätligen unb unburdp
listigen Motiüirung litten, bei bielem anerfennenSWerthen gleiß unb Talent beS
Autors. Tie SBenbung ju einem etwas leichtern ©enre fann für SBürger nur
günftig fein. Jn ber That rühmt man bem neuen ©tücf nach, bafj eS mit Schärfe
unb hoch in erheiternber SBeife fociale ©ebrecheu geifeit, ohne allerbingS biefe
Satiren an ben gaben einer fpannenben Suftfpielentwidclung ju fnüpfen. Ter
Salon einer grau SBuchholj, in welchem ein Stfrifareifenber bie .'pauptroöe fpielt,
bilbet ben eigentlichen ÜJtittetpuntt ber ©atire, welche an bie üon biefer Tarne
eingeführten jours-fixes anfnüpft.
Ter beliebtefte ©fjarafter in ®. üon Mofer’S unb 6. üon ©chönthan’S Suft*
fpiel „Krieg in grieben", ber Sieutenant üon Steif» Steiflittgen, ber fcfjneibige
Offizier, ber üon ber militärifdjen Kamerabfchaft fo hohe ^Begriffe hat, ift üon
SDtofer jurn gelben eines felbftänbigen StücfeS gemacht worben, Welches an ben
fchlefifchen SBerfuchSbühneit beS Autors unb auch nm hamburger Thaliatheater unb in
granffurt mit einem Sacherfolg in ©eene ging, ber übrigens nicht alle SBebenfen
ber Kritif ju entfräften üermodhte. 3teif=9teiflingen hat anbere Stichwörter als in
„Krieg in grieben", unb feine Kalauer ftreifen bie ücrfchiebenartigften ©egenftänbe.
Stuf einer Steife ju feinem greunbe golgen, ber jejjt ©utSbefifcer geworben ift, trifft
er mit einer reijenben jungen Tarne jufammen, ber gegenüber er fid) als SBein»
reifenber auSgibt unb bie wunberbarften ©efdjichten üorphantafirt. Unb biefe
Keine tßriSca ift Jlca'S ©chwefter, bie ©chwägerin feines greunbeS. ©r üerliebt
fich in fie auf baS fterblichfte unb am Schluß beS ©tüdeS wirb fie feine 33raut.
TaS gange ©tücf fcheint nur auf ben ©hnrafter beS SieutenantS aufgebaut }u fein
unb üon feinen Schnurren, Sßifcen, ja fogar ©ouptetS ift ber Sacherfolg abhängig,
ber bei ben bisherigen Aufführungen nicht fehlte.
2Bir hüben fdjon üon ber Aneignung eines fcpwebifchen ©chaufpielS feitenS ber
beutfehen Theater gefprochen: unfere foStuopolitifche SERufe bleibt babei natürlich
nicht ftehen; bie ©jperimente ber Keinen ©oethe=©ühne in SBeimar finb jur Sofung
geworben, Welcher bie grofjen pofttjeater folgen. Tiugelftebt war ein praftifcher
©haffpearianer; fein Nachfolger SSSilbranbt hat ber fjeUenifc^en Tragöbie feine
SSorliebe pgewenbet; f<hoit bie meiningcr Sühne braute foppoKeifche ^Bearbeitungen
üon ihm: jept hat er an ber Surg bie „©leftra" beS ©ophoHeS unb fogar ben
„©pHopen" beS ©uripibeS in ©eene gehen taffen, natürlich in ftitüotler ^Bearbeitung:
barauf lieh Iwfrath SBertper in Manheim eine Jphigenien»TriIogie folgen, inbem er
bie „©leftra" jWifcpen ©thißer’S „Jppigenie in AuliS" unb ©oethe’S „Jppigenie auf
TauriS" einfehob. Stehen ber griecpifchen Tramatif würbe auch bie fpanifepe für
unfer Theater jurechtgemadjt. Otto Teürient bearbeitete baS ©djaufpiel üon
©alberon: „Ueber allem 3aubcr Siebe" („El mayor encanto Amor"), junächft für bie
Un|ere Seit. 1832. I. 60
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,-y
9^6
Unfere |feit.
Hofbühne oott Säeimat unb brachte eS bann auch am betliner Sßictoriat^eater jur
Slufführung. SBir wiffen in bet Sh°t nicht, aus welchem ©ruube eins bet nüitho*
logifchen geftfpiele unb ©djauftücfe ©alberon’S unfeter Sühne angeeignet wirb.
SieS Hoffeftfpiel würbe juerft oor Äönig fßhiliW IV. 1635 auf SuewSftetiro auf¬
geführt; eS behanbclt bie Cpifobe bet Dbpffee, welche uns berichtet, wie DbpffeuS
öom $auber bet Circe gefeffelt Wirb, bie feine ©enoffen in Shiere öerwanbelt.
CS fehlt in bem Driginalbrama überhaupt nicht an ben wunberbarften Serwanb»
lungen. Siebenbe fpringen aus ben Säumen, in bie fie öerjaubert waren; ein
äRäbcpen fott bem ÖbpffeuS bei Sag Siebe heucheln unb beS StachtS will Circe
ihre SRotte emftfjafter burchführen; afabemifche Stögen unb Siebesfachen werben
berhanbett Wie in einem SiebeShof. Ser SBerrij bet Sichtung befteht in bem
tprifchen 3öuber, mit Welchem bie SiebeSteibenfchaft beS DbpjfeuS gefdjitbert ift,
unb in bem hetoifdjen Sluffchwung, mit bem er fich im testen Stet, auf eine
Mahnung beS Stritt, öon Circe toSreift, befdjüfct öon ber Steergöttin ©alatca,
währenb Circe in ben fetbft heraufbefdjworenen Stammen ju ©runbe geht. SaS
©tücf liegt unferm ©efefjmaef ganj fern, mit fo oietem ©efehief auch ßtto Seorient
eS ihm anjunähern fuchte. 3u gtänjenben Secorationen unb fcenifchen Sffecten
gibt eS freilich reichlichen ©toff: mußte boch bamatS ber ©artenteidj öon Suen=
Stetiro ben Sritonen unb ©irenen ber ©atatea eine gtaubwürbige Sühne fein.
Sie berliner Hofbüljne, bie ein fchwebifcheS ©tücf, wie Wir gefehen, jur Stufführung
brachte, machte auch eine Slnteitje bei ber potnifdjen Siteratur unb gab ein ^ent¬
lieh langweiliges Suftfpiel „Ser ttJtentor", öon ©raf Stebo, überfefct öon
SBithetm Sange. Sie Hauptwirfung geht barauS tjeröor, baß ein flotter Offizier
unb ein fchüdjtemer ©etehrter bie Stötten tauften, um ihre SiebeSptane burdj-
juführen; jute^t finben fich bie jufammengehörigen fßaare. Cine SDtajorSWitwe,
welche im Son eines SBachtmeifterS fich auSfpricfjt, ift eine fomifche Hauptfigur
beS ©tücfeS. Sergleichen eignet fich beffer für Operetten wie „Ser luftige Shrieg".
Saß baS franjöfifche Srama noch Wie öor auf ben beutfdjen Sühnen feine
Herrfdjaft behauptet, öerfteht fich öon fetbft. ©roßen Crfotg hötte Sictorien
©arbou’S ©chaufpiet „Dbette" am berliner SRefibenjtheater. SBie atte ©tücfe
©arbou’S ift eS mit birtuofer Sechnif abgefaßt; bie Spannung fteigert fich öon
Stet ju Stet. CS beginnt gleich mit einem ©hebruchSffanbat in optima forma.
Ser ©raf oon £atour=Ctermont überrafcht feine ©attin in flagranti unb jagt fie
aus bem £aufe. SaS ift ber erfte Stet, beffen Cjpofition an Seuttidhfeit nichts
ju wünfeßen übrigtäßt. Sie brei testen Stete fpielen 15 3at)re fpäter in Sti&a;
fie fchtießen mit bem felbftgewähtten Sob ber Dbette, bie, um bem ©tücf ber
Sodfjter nicht im SBege ju fein, aus bem Seben fcheibet. ©in ähnliches SRotib
finbet fich in SBitbranbt’S „Johannes Crbmann". Sie Haupthanbtung fpiett fich Wie
immer bei ©arbou in großen DÜitjrfcenen ab: baS fatirifche Seiwerf, in crgö|=
ließen genrehaften ©pifoben ausgeprägt, läßt öon neuem bie Bugcftänbniffe be»
bauern, welche ©arbou ber comädie larmoyante machen muß; benn er wäre ein
auSgeaeicfjneter Suftfpietbidjter im beutfehen Sinne beS SBorteS geworben.
Slußerbem würbe an öieten Sühnen „Sie SBett, in ber man fich langweilt",
oon ©buarb ißailleron, gegeben, ein ©tücf, baS einige ganj amufante ©eenen
enthält; ja baS wiener ©tabttheater gab fogar 3oIa’S „L’Assommoir", unb wie
wir aus ben Beitungen erfahren, mit Crfotg. 3n fßaris finb bie meiften ©tücfe
3ola’S burchgefatten; aber an biefem fufetbuftenben Srama mit feinem am Delirium
tremens mttergehenben Helben, mit feinem cpnifchen SRealiSmuS, feinen wiber«
wärtigen ©auf» unb Haufcenen fanb baS Sublifum an ber blauen Sonau ©efehmaef.
3n bem Srama „©ergiuS Sanin", bonDlfnet, baS an bemfetben Sheater gegeben
würbe, erfdfießt fogar eine Schwiegermutter ihren ©djwiegerfohn: ein fettfamer
Sfnatteffect unb eine ber feefften Sarianten: in Scutfchlanb gehen bie Schwieger
mütter nicht fo energifch ju SBerfe.
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politifdje Herme.
9V
flelUifdje Henne.
16. Mai 1882.
Zie neue ©effion beS ZeutfcZen ^Reichstages nmrbe ont 27. Äprit burcZ
ben StaatSminifter Don Sättiger eröffnet. 8116 Aufgaben ber ©effion würben
oon bemfelben angelünbigt bie Verätzungen über bie umgeftaltete Vorlage bet Un=
fattoerfidjerung, eine anberweitige Regelung ber je|igen ^filfslaffengefefcgebung,
eine Slbänberung ber ©ewerbeorbnung unb bas pm gwed einer ©rhöhung ber
SteichSfteuern oon ben berbünbeten SRegierungen angenommene ZabadSmonopoI. „9luf
bem ©ebiete ber Steuerreform", es in ber ©röffnungSrebe, „hat bie aHerZöcZfte
VotfcZaft oom 17. SRoo. D. 3* bie Hbfcßaffung brüdenber birecter SanbeSfteuern
unb ber 3nfcZläge p benfeiben, burcZ welche ©emeinbe» unb anbere ©ommunal*
oerbänbe bisjejjt genötZigt finb, ben Zarten unb ungleich mtrfenben Zrud biefer
Steuern p oerftärlen, in SluSfidjt genommen. Ziefe woZtmeinenbe StbficZt p
DerWirtlicZen lann nur baburch ermögticZt Werben, baß baS SReicZ burcZ ©rZöhung
ber feiner ©efefcgebung oorbeZaltenen inbirecten Steuern fi(Z in bie Sage bringt,
auf bie Matricularbeiträge p oerjidjten ober bie bisher bap erforberlidZen, eben®
tueQ aucZ nocZ i)tyen Beträge ben einzelnen Staaten ZerauSpphfett, bamit fie
pr Verminberung ber SanbeS» unb ßommunalfteuern öerfügbar werben. SBenn
ein Vebürfniß Zierp bei ben ©injelftaaten unb ihren ©ommunaloerbänben nid}t
empfunben würbe, fo läge auch lein 8Inlafj oor, eine ©rZöhung ber inbirecten
9teid)öeinnaZinen p erftreben. 3ft ein folcheS Vebürfniß aber DorZanben, fo lann
es nur burcZ größere ©rgiebigleit ber inbirecten ©innahmequellen beS Reimes
befriebigt werben. Zie Derbünbeten SRegierungen finb oon bem Vorhanbenfein beS
VebürfniffeS überjeugt unb beantragen baZer eine ©rZöhung ber SReidfjöeinnaZmen,
um iZren UntertZanen Steuererleichterung gewäZren p lönnen. Unter ben pr
Vefteuerung burcZ baS SReicZ geeigneten ©egenftänben fteZt aber ber Zabad in
erfter Sinie. SRidjt hierüber, fonbern nur über bie gorm, in welcher eine ZöZere
Vefteuerung biefeS ©enußmittels ZerbeipfüZren fei, gehen bie Meinungen im
SReicZe auseinander unb Wirb eine ©utfeheibung burcZ bie ©efefcgebung Zerbeip»
führen fein. Zie Mehrheit ber Derbünbeten SRegierungen hält bie gorm beS
Monopols für biejenige, welche bie 3ntereffen ber ©onfumenten unb Zabadbauer
am meiften fchont unb babei an ©rgiebigleit alle anbetn gormen ber Vefteuerung
übertrifft. Sie Würbe baZer ju andern Sorfchlägen erft übergehen, wenn fie bie
SluSficht auf 3«ftiwmung ber VoltSbertretung pm Monopol aufpgeben genötZigt
würde. SSenn bie SReichSregierung Weber in ber einen noch in ber anbern gornt
SluSficht auf bie VewiHigung höherer SReichSeinnaZmen hätte, fo Würbe fie mit
Vebauern unb pm Schmerle Sr. Maj. beS SaiferS für je|t auf bie SReforat ber
SteuerDerfaffung beS SRei<ZeS unb ber ©injelftaaten Detjiditen müffen, welche als
ein Vebürfniß ber Veoöllerung Don allen Regierungen feit 3 a Z reu anertannt unb
in ber VotfcZaft Dom 17. SRoD. o. 3. Don ©r. Maj. dem Staifer oerheißen ift."
3n einer gebiegenen, logifch präcifen unb maßoollen SRebe erläuterte in ber
erften Verätzung über daS ZabadSmonopoI am 10. Mai ber StaatSfecretär im
SReicZSfdjalamt, ©cholj, bie Zringlichleit einer Verbefferung ber ginanjlage beS
SReicZeS unb ber ©injelftaaten, inbem bie birecten StaatSfteuem ZocZgefpannt unb
unjulänglich, bie ©ommunaloerbänbe mit ben ihre SeiftungSfäZigleit oielfach über»
fteigenben unb noch immer wachfenben Aufgaben im wesentlichen auf gufchläge
p biefen birecten Steuern angewiefen feien. ZaS ZabadSmonopoI fei Zierp ber
bebeutfamfte, befte Schritt: eine ©innahme Don 163 Mill. fei damit ju erzielen,
ohne ©chäbigung beS ZabadSbaueS, ohne SRadjtZeile für bie ©onfumenten, nament*
lieh ber untern klaffen; auch oerfpreche biefe ©innaijmequelle ein Stnmadjfen, unb
für 3«iten beS SRiebergangeS ober beS VerlufteS anberer Quellen ober in Seiten
großer Ausgaben bic Möglichlcit, SinnaZmen p fchaffen, bie biefen Sieden
60*
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9*8
Unfere ^$eit.
genügen fönnen. Scfjotj wenbet [id> bann gegen jene Sfnflagen, toeld^e non Ein*
füfjrung be$ ©tonopols eine größere politifdfie Seeinfluffung ber Arbeiter erwarten,
gibt bie Schattenfeiten beleihen ju, betont aber bie möglichfte Vefeitigung beS
SchabenS ber ißriöatinbuftrie burct) bie Entfchäbigungen, für toeld^e 256 ©liQ.
auSgeworfen finb. 35ie übein folgen feien überhaupt nic^t auf baS ©tonopot
felbß, fonbem auf bie Einführung beffelben ju beziehen. „®ie oerbünbeten Re*
gierungen", fagte ber 9?ebner, „haben geglaubt, baß baS ©tonopol beffer unb
fcf)onenber Wirten wirb als eine höhere Verteuerung; alle anbem gornten bringen
mehr Schaben ohne irgenbweldje Sntfdjäbigung, fie begünftigen ben ©roßbetrieb
gegenüber bem Kleinbetrieb. Stuf biefe (frWägung h'« »ft bei ben Regierungen
ber ©taube an bie Unabwenbbarfeit beS ©tonopols entftanben,' unb wenn biefe
Regierung nicht bamit üorgeljt, fo wirb e$ eine ber nächften thun. SBir gtauben
aber, baß eS je eher je beffer gefdjieht. ®ie Umftänbe finb befonberS günftig;
bie gewonnenen ©littet tonnen ju Steuererleichterungen in Staat unb ©emeittbe
benufct werben, Wa$ in bebrängterer $eit vielleicht unmöglich tpäre; auch täßt
baS Stufbtühen ber gnbuftrie ein teidjteS Unterbringen ber überftüffigen StrbeitS*
träfte erhoffen." 2lucfj ber Vertreter beS ©tonopols im VolfSwirthfchaftSrathe,
UnterftaatSfecretär oon ©iapr, fprad) fich in ähnlicher SBeife im Reichstage ju
©unften beffelben aus; er hob befonberS h ert} °r, baß bei ber Rentabititätsberedh*
nung fehr oorfichtig berfahren worben fei.
@3 war bie Slbfidjt beS gürften ViSmardf, fetbft in einer größern Rebe für
baS ©tonopot einju treten, beffen SSertheibigung er, wegen neuer ©rfranfung, ben
StaatSfecretären übertaffen mußte, ^ebenfalls wäre feine Rebe mit ben gewohnten
genialen Sidjtblijjen auSgeftattet gewefen unb hütte manche weitreichenbe iJSerfpec»
tioen eröffnet: gewiß hätte es in ihr auch nicht an einem Stpergu gefehlt, welches
bie ©rünbe beleuchtet hätte, warum er, trofc ber fichera StuSfidjt auf eine parla*
mentarifdje Riebertage, bie ©tonopolbortage hoch bor ben Reistag gebracht.
®enn baß fich ' m ganzen nur 60—80 Stimmen für baS ©tonopol finben wer*
ben, wie ber Slbgeorbnete Richter herausgerechnet, baS war ein Efentpel, baS bie
Regierung fich ebenfo gut machen lonnte. Ohne Sweifet tarn eö bem ReidjSfanjter
barauf an, ein fait accompli ju fdjaffen, bie Verantwortung für ben fortbauemben
Steuerbrucf bem Reichstage jujufchieben, bor altem baS SabacfSmonopot aus bem
^Bereich ber embrponifchen Entwürfe in lebensfähiger ©eftatt anS iageSlidjt §u
förbern. „Es wirb wiebertehren", fagen bie Vertreter ber Regierung; ba$u muß
eS aber fc|on einmal erfcf)ienen fein; „niemals" ruft bie Dppofition. hierin liegt
ber SchWerpuntt ber grage. ©ewiß würbe ber gürft»ReichStändler baSjenige
ausführlicher entwicfett hoben, was ber StaatSfecretär Schotj nur angebeutet hat:
in ben feiten emfter, friegerifcfier Verwicfelung, bei einem nothgebrungenen Stppett
an bie Steuertraft ber Ration werbe baS SabacfSmonopot wiebertehren atS bie
ultima ratio einer patriotifdjen ginanjpolitif, unb jwar bann in einer Weniger
tiebenSWürbigen ©eftatt, inbem bann burdf feine Erträge feine Enttaftung t>on
birecten Steuern bewirft werben würbe, fonbem nur eine größere Energie ber
SanbeSoertheibigung. greilich erheben fich fthon je^t Stimmen beS ©iiStraueitS
bei ben Siberaten, welche bie Vefürdjtung auSfprechen, ber Ertrag beS JabadfS*
monopotS werbe fchon in griebenöjeiten nach Slblauf beS SeptennatS bem ©tititär*
etat jugute tommen, bo<h finb biefe Vefürchtungen gegenüber ben auSbrücftidjen
Erflämngen ber Regierung unberechtigt.
$a fich befonberS im VotfSmirthfchaftSrath eine ©lehrheit ber Stimmen min*
bcftenS für eine Erhöhung ber SabactSfteuer auSgefprodjen unb auch bie Eröff*
nungSrebe barauf fjingewiefen hatte, fo fuchte bie gortfdjrittspartei burd| ben
Antrag SluSfelb unb ©enoffen einen Riegel ooräufdjieben, inbem fie bie Erhöhung
ber Sabacfsfteuer für nicht minber unjutäffig erflärte atS bie Einführung beS
SabacfSiuonopols unb babei noch animam salvavit burch baS ©laubenSbefcnntniß,
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Politifdje Ketnie.
949
baff bie ft^on borhanbene unb im Sune^men begriffene ©innahmen bei angemeffener
©parfamfeit in allen Steigen beS öffentlichen £>auShaltS bie SRittet barbieten Werben,
um in ber ©teuer» unb Soflflefe&fle&uttg gärten unb Ungerechtigfeiten gu befeitigen.
Son ben ©egnern beS SabacfSmonopolS war wo! ber gewichtigfte ber frühere
ginangminifter $obred)t, welcher auSbrücflich erffärte, baß er jeben ©ebanfen an
baffetbe perhorrefcire. @r habe im Sahre 1878 eine ©nquetecommiffion angeorbnet;
baS Refuttat ihrer Serathungen fei gewefen: „^ebenfalls liefert baS SRonopol bie
höchfte ©teuer unb bertljeilt bie Saften am gerechteren, gerftört aber eine btühenbe
Sfnbuftrie, fchäbigt Oiele Igntereffen unb bernicfjtet eine Reihe bon ©jiftengen, hat
alfo traurige fociale folgen." ©r felbft fei ingwifdjen gur llebergeugung getommen,
baff in ®eutfcf|tanb auch bie beiben finanziellen Sortheite hinfällig feien; ber eine
fdjliejje ben anbern auS. ®S feien in ben SRotiben Serfpredjungen gegeben, bie
nicht gehalten werben fönnten, ober wenn fie gehalten würben, bann fönne baS
SRonopol nicht! bringen. SaS SRonopol fönne gWar recht biel bringen: bann ber»
gidjte man aber auf Serfpredjungen unb geftehe ein, bah fi<h ber ©efchmacf nach bem
SRonopol rieten muff. ®ie £uft gu freier, rebticher Arbeit Werbe im ®eutfdjen
fchwinben, bem SRonopol gegenüber: eine Sehauptung, bie gWar bon ber Sinfen
mit SeifaH aufgenommen Würbe, bie aber jebenfaQS über baS Siel hinauSfdjoh.
gut Ramen beS ©entrumS gab SBinbtljorft am 12. SRai bie für baS ©chicffal
beS SRonopolS im Reichstage entfcheibenbe, aber erwartete ©rflärung ab, bah feine
politifcfjen greunbe mit einer faft an ©inmüttjigfeit grengenben SRajorität mit ihm
ber Slnfidjt feien, bah ber Einführung beS labacfSmonopotS in ®eutf<hlanb nicht
gugeftimmt werben fönne. gn Segug auf bie wirthfchafttidheu ©rünbe gegen baS
SRonopol brachte SBinbthorft nichts ReueS bor; aber er gruppirte bie Slrgumente
gefchicft unb lieh einige ber gewohnten Schlaglichter barauf fallen. Slbgeorbnetcr
bon ©tauffenberg, ber im Rauten ber ©eceffioniften fprach, Würgte feine Rebe gegen
baS SRonopol mit allerlei wiegen ©infällen. „SRit ben folgen beS ©efefceS über
bie ©eWichtSfteuer", fagte er, „finb mir ja noch gar nicht gum Stbfchtuh gefommen.
®ie Regierung fommt mir üor wie jemanb, ber RabieSchen gepflangt hat unb fie
nun täglich IjerauSgieht, um gu feljen, was barauS geworben ift." ©tauffenberg
hebt befonberS auch bie potitifchen ©rünbe gegen baS SRonopol, bie Sermehrung
ber Saf|l ber üon ber Regierung abhängigen Seamten h erö °r, unb erflärt fich
f^liehlich int Ramen feiner politifchen greunbe auch gegen bie UeberWeifung an
eine ©ommiffion. gür bie ©ocialbemofraten fprach ber Rbgeorbnete bon Sollmar,
ein früherer bairifdjer Dffigier, ber ben gelbgug gegen granfreicf) mitgemacht hatte.
Sin RabicaliSmuS lieh feine Rebe nichts gu wünfdjen übrig. 3h r£ $auptpointe
war, bah feine Partei eigentlich ein gaible für baS SRonopol haben mfiffe, weit
baffetbe bem focialiftifdjen ©runbfahe fehr nahe fäme. SBenn man aber ben focialen
Staat Wolle, fo müffe man beim ©runbbefifc anfangen, nicht bei einer Snbuftrie,
bie zahlreiche Arbeiter befchäftige; hier folte mieberum ber fleine SRann bluten.
Richter fprach Ramen ber gortfdjrittspartei gegen baS SRonopol; auch er
tonnte in ber ^auptfache Wenig ReueS fagen; bafür fuchtc er fich burdj einige
geflügelte SBorte fdjabtoS gu halten. „Sin bem SRonopol", fagte er, „muh ber
SBiHe beS SanglerS fich brechen." „®aS SRonopol Wirb freilich nicht berfchwinben;
bafür Werben fcf)on bie SBürtemberger forgen." „Sie Reaction hat ©ile; fie muh
bie Sage gählen, benn ihre Sage finb gegählt." @r proteftirte auch gegen bie
UeberWeifung beS SRonopolS an bie ©ommiffion unb bamit gegen eine gWeite Sefung.
®och Würbe bie 3uWeifung an eine ©ommiffion bon 28 SRitgliebern mit 162 gegen
121 Stimmen angenommen.
gür baS SRonopol hatten nur einige Seutfdjconferbatibe gefprodjen, wie bon
^ammerftein, ber unter fchaüenbem ©elädjter fagte, er erfläre fich fär bas SRono»
pol, weil er feine ©rünbe gegen baffetbe gehört habe, unb einige greiconferbatibe,
bie aber nicht im Ramen ihrer fehr geteilten Partei fprechen fonnten.
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950
Unfere <3eit.
©o ift ba« ®abacf«monopol benn begraben; bie Kommiffion«berathung wirb
hieran nic^t ba« ©eringfte änbern; e« wirb fidj bort nur um Prüfung ber Bor*
anfdjläge, ber ftatiftifdhen /Beregnungen, ber KntfchäbigungSfummen Raubein, unb
augerbem um eine anbere gormutirung be« Antrages 2lu«felb. ®ann wirb bie
Ablehnung be« SRonopoI« bei zweiter ßefung mit imponirenber Majorität erfolgen.
SBir meinen inbeg, bag @taat«fecretär @dfjolz ba« Siichtige traf, tocnn er ijerüor-»
hob, bag alle fachlichen Bebenfen gegen ba« SJionopol nur ber Kinfüprung beffelben
gelten, beren ©chattenfeiten ja auch bie Regierung anerfennt, wenn fie biefetben
and) nach föräften ju mitbera fudjt, Doch bei jeber burchgreifenben Steuerung,
auch im BerlehrSleben, werben einzelne Botf «Haffen mehr ober weniger hört ge*
troffen. ®ie Siothwenbigleit, au« welker bie Bortage ^erborging, bie birecten
Steuern ^erabjufefeen unb bie Kommunen $u enttaften, befielt fort. ÜBenn in
einzelnen fd^tefifc^en Kommunen bie birecten Steuern fid) auf 45 fßroc. be« Kin*
fontmen« belaufen, fo ift bie« eine fo ejorbitante Xhotfadje, bag {ebenfalls 2lbt)ütfe
gefegafft werben mug. geft fteht, bag ber Üabad ba« geeignetfte Object für eine
ergiebige Befteuerung unb bag ba« SJtonopol bie burchgreifenbfte unb auch ge*
rechtefte gorm berfetben ift. ®a inbeg bie #anbet«!reife befonber« non ihm be*
troffen werben, fo ^ütte bie Stegierung nielleicht gleichzeitig in bie anbere S8ag*
fdhaie eine ©etränfeftener unb eine Krtjöljung ber Branntweinfteuer tegen fotten,
um bamit auch an ben Patriotismus be« ©roggrunbbefihe« ju appelliren.
®a« XabadfSmonopol ift im SieichStage nicht blo« al« wirtschaftliche grage
betjanbett Worben, fonbern auch fl l § politifche. ®ie liberalen hoben e« offen au«*
gefprodjen, bag fie, inbem fie gegen baffelbe ftimmen, auch gegen bie Bermehrung
ber Beamten unb bie baburch h er00r 8 eru f e n e Beeinfluffung bei ben SBahten fid)
erflären; bie ©ocialbemofratie nerwirft ba« 2abadf«monopot, weit e« fi<h nur um
Schaffung einer gewaltigen ©elbquelle für ben ©taat honbett, weil e« non ber
iefcigen Regierung herrührt, obfehon ber Slbgeorbnete non SBöüwartt) hoch erllärt
hatte, e« fei eigentlich im Sopfe ber einfachen fchwäbifdjen Bauern entfprungen,
unb Wa« ba« Kentrum betrifft, fo wirb ja bie fo entfliehen ableljnenbe Krflärung
non SBinbthorft nicht etwa blo« burefj bie mögliche Berfdjtedljterung ber ©orten unb
ber Sage ber arbeit«tofen Arbeiter motinirt, fonbern auch burch ben ganz beftimmt
auSgefprodfjenen proteft gegen ba« SRonopol, al« eine neue SBaffe ber Kentralifation
nom föberatinen ©tanbpunfte au«. 2lHe biefe Politiken Kinwänbe gegen ba«
SRonopot treffen baffelbe nicht in feinem Sßefen; e« ift bie ©iateftif ber Parteien,
bie ihr Spinngewebe barüber Wirft, ©o glauben wir auch nicht an ba« „Jamais,
jamais", welche« »ergebene Parteien ihm jurufen; bie ©efcfjichte hot aDjn niete
biefer „Jamais" bereit« Sügen geftraft.
3n ber ©ifcung be« SteidfjStage« am 5. unb 8. 2Rai fanb bie Debatte über
ben ©efepentwurf, betreffenb bie Slbänberung ber ©ewerbeorbnung, ftatt. ®ie
fchärffte Sfritif gegen ba« ©efej} übte in einer langem Siebe Slbgeorbneter ßa«fer,
ber fi<h gegen bie Befdhränfung be« #aufirt|anbel« unb auch ber Siechte ber $anb*
lungäreifenben entfehieben auSfpridht, befonber« auch ben Kolportagebuchhonbel in
Schuh nimmt unb meint, bie Slegierung gehe bamit um, ba« ®eutfche Sieidj in
bie gärberbutte ber preugifdjen Polizei hineinjufenfen unb in ber 2Boüe polizeilich
färben ju taffen. Slbgeorbneter |mrtmann fpridjt fich im wefentli^en ju ©unften
be« ©efefceS au«, Weldhe« non bem Bunbe«commiffar ©eheimrath Böbifer, bem
eigentlichen Urheber be« ©efehentwurfe«, lebhaft gegen Sa«fer nertheibigt Würbe.
SSeber ber $aufirhanbel foHe gefchäbigt, noch ber ©tanb ber $anblung«reifenben
herabgebrüdt, beibe nur non nerbächtigen Klementeit befreit werben. ?lm 8. SJtai
hob ber Slbgeorbnete ©ünther bie SJHsftänbe in ben non ber Sionefle betroffenen
Zweigen be« ©ewerbe« herbor unb meinte, bie Borlage werbe bie ©ewerbefreiheit
ftärlen. ®er Ülbgeorbnete tapfer bagegen erflärte fid) gegen biefetbe, Weit fie bie
iiolijeiaHmacht ftärfe, fie höbe baffelbe hoglith e ©efic^t Wie ba« ©ociaüftengefeh.
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Politifcfye Keuue.
951
©inen bermittelnben ©tanbpunft Oertrat Slbgeorbneter Stephani, ber aber befon»
berS bie ©efdjränfungen beS ©otportagebuchhanbels für bebenflidj erflärte. Slb=
georbneter Stundet fprach im Sinne SaSfef S; Söller für bie Vorlage, bie einer
©ommiffion oon 21 Stitgliebern übermiefen würbe. Slm 9. äJtai berieth ber
©eidjStag über Stbänberung beS 3ofltarifS; eine UeberWeifung an eine ©ommiffion
fanb nicht bie Sftehrheit. 2tnt 15. Stai begann bie Sebatte über ben umgearbei»
teten Gntwurf beS Unfall» unb gugleidj beS SranfenoerfidierungSgefefceS. Staats»
fecretär oon ©öttidjer oertljeibigte bie Stegierungsoorlage. Sonnemann erfannte
bie ©erbefferangen in berfelben gegen bie frühem an, lernte ben SteidjSgufchuß ab,
acceptirte aber bie corporatiüen Serbänbe. Ser ©ntwurf würbe an eine ©ommif»
fion oerwiefen. SBinbtljorft will bie ©infefcung einer ©ermanentcommiffion, bie
über baS ©efefc unb baS SabadSmonopol bis gum Dctober beraten foHe. Seine
ber Vorlagen beS Reichstages ift bisher über bie erften Sefungen |inauS gebieten:
gunädjft ift berfetbe bis nach ©fingften oertagt.
Ser preußifdje Sanbtag ift am 11. Stai gefchloffen worben, nachbem fiel)
in beiben Sörperfdjaften ©erwerben über ihr Sufammentagen erhoben Ratten.
Sie lebten ©ijjungen boten manches Unerquidtidje: fdion bie fedjsftttnbigen
©erljanblungen über bie $unbefteuer furg oor 23)oreSfct)tuf? fonnten feinen guten
Ginbrud machen. Saß in ber lebten Sifcung bet gangen fiegistaturepoche baS
©inlaufen ber Steten über bie Prüfung ber oor brei fahren beanftanbeten
SBat)ten gweter Stbgeorbneten oerfünbet werben mußte, wirfte ebenfo wenig
erbebenb, noch weniger bie ©efötußunfähigfeit beS Kaufes, als es fich um bie
Slbftimmung über bie tauenburgifdje ©ommunalborlage honette. So fprach fich
auch bie ©rflärung beS StinifterS oon ©uttfamer, mit welker er bie ©ifcung
fcfjloß, Wenig günftig über baS SRefuItat ber lefcten SegiSlaturepodje aus. Slm
meiften berftimmte bie Stegierung bie Slblehnung beS ©erWenbungSgefejjeS, über
welches am 2. unb 3. äJtai oerhanbelt Worben war. Sie conferbatiben Ser»
theibiger, Oon Stauchh^upt unb oon SDtinnigerobe, waren felbft nicht gang ber
gleichen Slnfidjt über baS ©efefc: auf baS fchärffte würbe eS oon ben fiiberalen
angegriffen, bon liefert unb Sinter, welcher ledere erflärte, er wolle bem ®efe|
ben §. 1, ben Sopf, abljauen unb ben Schwang bann in eine ©ommiffion ber»
wiefen fehen. Sie firchenpolitifche ©orlage Würbe mit ben Slbänberungen beS
^errenhaufeS noch gegen bie Stimmen ber Siberaten unter Sach unb ffach gebracht,
hierin unb in ber ©erftaattidiung einer 3<*hl Wichtiger ©rioatbahnen Kegen faft
bie eingigen pofitiben ©efultate ber SegiSlaturepoche Oor. Sie lefctere ift fogar
gegen baS ©entrum mit £>ülfe ber Stationatliberaten burchgefefct worben. 3m
gangen aber hot fich befonberS in ©egug auf bie Stagen ber Steuerreform bie
conferbatib=lterifate StUiang fo unfruchtbar wie möglich erwiefen.
Sie Bwftanbe in Slegtjpten brängen gu einer SrifiS, welche bie europäifchen
3Mä<hte mehr ober weniger in SDtitleibenfchaft gieren muß. 3unäd^ft ftnb es @ng*
latib unb Sranfreich, Welche in Slegppten gemeinfchaftlidj engagirt jtnb, obfdjon
auch ih r 3ufammengehen leicht an einer ©renge anfommen fann, wo fich *h re
Sntereffen trennen, Seibe bewahren gunächft noch immer eine abwartenbe Haltung.
Srepeinet erflärte in ber frangöftfehen Seputirtenfammer am 11. Stai, granfreich
werbe alles tl)un, um bie Unabhängigfeit SlegpptenS aufrecht gu erhalten; baS ©in»
oernehmen gwifdjen Sranfreich unb Gngtanb werbe nicht geftört werben; bie Singe
fönnten eine SBichtigfeit annehmen, welche eine ©erftänbigung mit ben europäifchen
Stäcfjten über bie ägtjptifdie Srage nothwenbig mache. 3« Stegppten Wirb in»
gwifchen ein fait accompli nach bem anbern gefchaffen, unb eine rafche ©erftän»
bigung fcheint bringenb geboten. Ser erfte Schritt ift bie Slbfenbung eines fran»
göfifch*englifchen ©efcljmaberS nach Sllejanbria.
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952
Unfere <?>eit.
®S fommen brei gactoren in Slegtjpten in Setradjt: bie SRationalpartei, an
beten ©pifce 9lrabi=Vei fteljt, bet Vicefönig Dewfif=fßafcha unb bet «Sultan, bet
getabe bie feigen Verwirrungen benufjen will, unt feine Oberhoheit in Hegppten,
bie fowol hier Wie bei ben Sßeftmädjten in Vergeffenljeit geraden ju fein fdjeint,
thatfädjtich unb tljatfräftig ju beroeifen. 2lrabi=®ei, bet gürtet bet fRationalpartei,
beren lejjteS Siel bie DoUftänbige Unabljängigfeit unb ^Befreiung bon jeber 9lrt
bet grembljerrfdjaft ift, hat fich int Slugenblide ooUftänbig bet 3figel bet 9tegie=
tung bemächtigt. DaS Gabinet reooltirt gegen ben SStceföntg unb btängt iljn ganj
in ben ^intergrunb: eine SRinifterreüolution mit einem f<|arf prononcirten Üßrä*
tenbententhum aus bet ÜDtitte beS Gabinets. Die tfcherfeffifcfjen Offiziere, Welche
fich gegen 2lrabi=Sei aus petfönlichen SRücffichten oerfdjworen hatten. Weil fie fid)
im Stüancement juriicfgefe|t glaubten, Würben oom Kriegsgericht ju harten ©trafen
Oerurtfjeilt, befonberS 4 berfelben, bie fRäbelSfüljrer, wähtenb auch bie übrigen
30, beten Slntljeil an bet Verfdjwörung nicht bottfommen nadjgewiefen Werben
tonnte, bem UrtheilSfpruch oerfieten. Dewfif=Vafcha weigerte fich, ihn $u beftätigen,
unb 0erlangte SEBieberaufnahme beS gerichtlichen Verfahrens, befonberS ba einige
bet oerurtljeilten Offiziere oon bem Sultan ben Stang eines fßafchaS erhalten
hatten. Diefe Steigerung gab ben ©runb jum oottftänbigen Stbfatt SlrabUVei’S
oon bem Vicefönige. Gr berief bie SRationaloerfammlung, welche ben lefctern ber
^Regierung entfefcen fott. Stic eS fcheint, gehen aber bie ÜRotabeln nicht auf bie
Slbfidjten 2trabi=Vei'S ein. Das ift bie fReoolution in füljnfter ©eftalt. DaS
Programm ber SBeftntäcpte wirb wo! junächft barin befielen, Dewf&fßafcha auf bem
Ihrone ju erhalten. Der ©ultan aber h°t einen anbern Ganbibaten, £alim=
fßafdja, in Vereitfdhaft. gnjWifcfjen hofft 2trabi=Vei felbft, fich jum ©ouberän
beS ägpptifdjen SRationalftaateS machen unb bie Unabhängigfeit beffelben foWot
gegen ben ©ultan wie gegen bie 2öeftmäcf)te oertheibigen ju fönnen. ©o ift ber
knoten ber VerWicfelmtg in Slegppten in bebenflidjer Steife gef^ürjt; auf eine
frieblidje Söfung ift trofc ber testen, bie Vebeutung ber KrifiS abfchwächenben
fRadjrichten faum p regnen, ©o feljr europäifdje ^aitbelSintereffen burch biefe
KrifiS bebroht Werben, fo fann man bodj bem UnabhängigfeitSbrange ober grei*
heitsfampfe biefeS oon allen ©eiten biptomatifcfj umgarnten unb gefnebelten ßanbeS
feineSwegS alle Sympathie oerfagen.
©onft liegen wichtige fRachridjten nur auS ©nglanb unb fRufflanb Oor. Die
Grmorbung beS ©taatSfecretärS für Srtanb, beS SorbS GaOenbifh, unb feines
STttache Vourle im fßhönijcparf oon Dublin hat bie größte Seftürjung erregt: fie
jeigt hinter ber ßanbliga baS unoerföhnliche Seuierthum mit ber Denbenj ber 9fe=
oolution unb ber SoSreifjung ber ©rünen Snfel Oon Gnglanb. ©labftone hatte
eben begonnen, eine fßolitif bet Verföhnung ju oerfolgen, bie Führer ber ßanb--
liga: VanteD, Ditlon, D’Kenlp u. a., aus bem ©efängnifj entlaffen, troff beS fßro*
tefteS beS ©taatSfecretärS für S^anb, Sorfter, ber beSljalb auS feiner Stellung
fchieb: fef}t freujt bie ©djrecfenSthat, gegen Welche bie Süfjrer ber Sanbliga aller*
bingS energifch proteftiren, biefe neue fßolitif unb bebroht fogar ©labftone’S Stellung.
Sn fRufjtanb haben bie Subenberfolgungen eine £öf)e erreicht, welche
beweift, baff biefer Staat jefft halb bie Gultur beS europäifdjen SRittelalterS
erreicht haben wirb. 2fuf bie unglaublichen 2Rej}eIeien unb ©dhanbthaten üon
Vatta folgte bie fRebe beS SRinifterS Sgnatiew an bie jübifche Deputation, welche
barauf hinauslief, ba|, um bie S«ben ju fchüfeen, ihnen ein grofjer Xheil ihrer
Siechte genommen werben müffe.
SeranttDDrtlidjer SRebacteur: Dr. Mubolf oon @ottf<haK in Setpjig.
®rud unb S3erlag oon J. St. KrodhanS in Seipjig.
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fnfjalf 0 Mrjrid|mfr
Seite
3tdraefe. Lobelie bon g. 5Bcl^. I—V... 1
^(Ctine erfte $ifenan$nfa$rt in Jtmert*«, vom £u*fon als anm 3tt«g«r«. »on
griebric^ ©obenfiebi. 30
Pie franjöftyd)-beistfdje Operette. ®on 9iubolfbon©ottfdjoU. f>6
^torbafri&a nnb feine 31 ebeninttg in bet Cbegcntoorf. $on griebrid) bon ©eil*
toatb. 1. 06
^aier fnret nnb fein neneftes 3htd). ®on SRaffaele 9ttartano. 88
3leues <£eaen in gorftca» Sott gerbinonb ©regorobiu$.102
Pie gfefttricifdt in ber fe^nib. ®on granj 3o{ep§ $i3fo. 1.118
3faJT*ben bon Ulbert SJioefer. 1. Üiobcrt ©uitfearb. 2. 5>octor gauft in ©aiabnrg. 137
gQronift ber Gegenwart:
Siterartfcfye töebue: Sfteue Romane bon griebrid} ©jjiefljagen, Dtto SRüHer,
Robert ©djtoeidjel, ©rnft (Scfftein, ©eorg ®ber3, iRubolf bon ©ottfdjafl. —
©ebidjte unb 3)id)tungen bon äöitfjelm Senfen, griebrid} 93obenftebt, SRartin
©reif, SHfreb griebmann, granj §irfdj, Hermann Delfdjlager, ©raf bon
©djaef. — 9?eue ^iftorifc^e ©djriften. — „SltljenatS" bon gerbinonb ©re*
gorobiuS.
^olittfdje Stebue: $ie 93i$ntar(J*9ieben im $Heid)$tage. — $ie SReidjStagSber*
fjanblungett. — ©ambetta unb bie tunefifäe ©fpebition im Sfbgeorbneten*
^oufe unb ©enat. — Vorgänge in ber Defterreic^if^Ungarifc^en SJionardjie.
141
152
3S&raeCe. Lobelie bon ©. SSetg. VI.—XII. (gortje&ung.).161
jtfgQanißftn nnb ber engflM - afg(lanifdje itrieg. S3on SBilliam Söalcf. I. . . 191
3 tef 0 rmen im &etle$x*mfen .218
Pie ffeifricUdf in ber fedjni*. 33 on granj Sofepf) $i$fo. II .232
Pie non gtorÄenaeÄ. $eutfd)e gomüien*, ©toot^* unb 9iei^gef(^i(^ten bonftorl
33raun*2Bie$baben. I..252
Pnr 1??iforopöie ber $efdH<ate. 33on 9ttorifc ©rofd). 1.276
^fabriftation, ^onsinbudrie nnb <&an$araeit. 33on ©rnft $eib.288
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Unfcre ^cit.
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gQronift der Gegenwart:
SRebue ber bilbenben fünfte: $>ie grofje afabemifdje ÄunftauSfteÜung in
Berlin bon 1881: 2)er Katalog ber SluSftellung — ^iftoriengemälbe, antife
unb allegorifdje Silber — ©enrebilber, Porträts, £anbfd)aften, Xljierbilber,
3eid)nungen unb Aquarelle. — Sßtaftifc^e Arbeiten.299
*PoIitifd)e Blebue: Serljanblungen be3 $eutfd)en SReid)$tage§. — (Srlafc be£
$aifer$ an ba$ ©iaatSminifterium. — Eröffnung beS preu&ifdjen fianbtageS
unb $l)ronrebe. — $ie SerfaffungSrebifion ©ambctta'3. — SBolfen im
Orient; Blegtjpten unb ©ubbalmatien.312
3t&r0e(e. Lobelie bon (S. SetXIII.—XX. ((Betrug.).321
^aftpfft^t und SlnfalTberMerung* (Sine ©fiäse ber neueren focialpolitifdjen Sor*
fdjfäge. Son $arf ®arei$.350
Per ^anisfamisrnns im Kampfe gegen Europa. Son Hermann Samberg. I. 3G1
Pie von $fordien0edL $eutfd)e gamilien*, ©taatS* unb $Reidj$gefd)id)ten bon ftarl
Sraun*3Bie$baben. II.372
Pie Jtnfga0en der erperiutenieJTen lyfbdjofogie. Son SBilljelm SBunbt. . . . 389
3?ordafrifta nnd feine Sfedentnng in der Gegenwart« Son griebrid) bon 4?cH*
walb. II. . . :. 407
Pas deutfdpe Sfaientoefetu.430
Warfes Slradfangf. (Sine biograpljifcfie ©fi$$e bonßeopolbÄatfdjer,.441
g^ronift der $egentbari:
SRebue ber (Srb* unb Sölferfunbe: SRadjridjten aus bem arftifc^en SRorben:
bie SRannfdjaft ber geannette, bie SBrangelinfel, bie meteorologifdje ©tation
an ber £abp granflin*83ai, eine SRcife nad) bem $fdju!tfd)cnlanbe. — jiRad)*
rieten bon (SntbecfungSreifenben in 2lfrifa, Sifien unb Simerifa. 460
$oIitifd)e SRebue: 2)ie ©effion be§ preufeifdjen fianbtageS. 2>ie firdjenpolitifdjc
Debatte, bie (StatSberatfyungen, bie Serftaatlidjung ber (Sifenbaljnen. — $ie
legte Debatte be$ 9teicg§tage^ über ben föniglidjen (Srlafc. — OJambetta^
SRücftritt in granfreidj. — S)ie ägpptifdje grage. — 2)er $anffaibi$mu$.. 471
per Stfmenftrng. (Sin ©djattenfpiel bon äBilfjelm genfen. I. II.481
$ett9ofd Jtner0a<$. @in literarifdjeS Porträt bon (Sugen 3^bel.501
(Sin JtusfTng na<$ gStofQingfon. Son griebrid) Sobenftebt.524
Per ^anisfamismns int jtampfe gegen fnrepa. Son Hermann Sdmb^rp. II. 588
Pie ^refttrieiiftt in der Son granj $ofepi) $i$fo. III.559
Per ginffttft des pafdes auf <^fima nnd S&aflerftreisfauf. Som Oberforftmeifter
$rofcffor Dr. Sorggrebe..580
3nr ^QifofopQie der $ef<$id)te. Son äRorip Srafd). II.597
Per ^pdromotor. Son SReinljoIb SBerner, (Sontreabmirai a. $.G21
gQronii der Gegenwart:
$otitifd)e SRebue: $a3 £abadSmonopoI unb ber Solt3tbirtl)fd)aft$ratl). —
Serf)anblungen in ben (Sommifftonen unb bem Plenum bc3 preu{?ifd)en &b*
georbnetenfjaufeS. — $er 9$anf(atoi3mu£ unb ©cneral ©fobeleto. — 2)er
3iufftanb in ber ^erjegomina. — 2)a^ wiener 9(bgeorbnetenIjau$. — $oU*
tifege äöinbftiUe in granfreie^.032
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3nfjaltsDcrjeic^nif.
955
©eite
Per SKraettßrug. ein ©djattenfpiel non SBilbelm igenfen. III.—V. (gortfepung.) 641
Pie Parteien Iw Penisen SteitQsiage. ©on gobanneS ©erg. 1.656
$rie4eitfattb im fepfen Jabrjebnf. einbrücfe unb guftänbe, (gretgniffe unb ©tim*
mungcn. ©on Oufiob $irfcbfelb. 1.680
Stofere j»pra<$e. ©on ©rofeffor g. föofentpal in erlangen.708
JtfftQftnifiatt und der engttfd) - afg$aitif<be <£rieg. ©on SBilliam ©alef. II. . 725
Pie fißift <Äer0ert Spencer’*. Son griebricb non ©aerenbatb.741
pie testen jebit 3abre dettlfdj-dperreitbifdjer <fprift. ©on Anton ©djloffar. I. 757
Per dettiföe Stennfport. ©on Hermann ©ogt.774
?oeße unb 'Sfrofa* (Eine 2en$one non ernil Säubert.783
gQrottUl der $egemoart:
HJtufilalifdje föenue: SBagner’S „©arftfal". — %a& leipziger ©enmnbbauS in
ber lepten ©aifon; föubinftein unb ^an§ non ©üloto. — ÜReue Opern. . 786
©olitifcbeföeOue: $a$ firebenpolitifebe eompromiß. — 3>er Steuererlaß unb
bie (Etatberatljungen im preußifdjen Abgeorbnetenpaufe. — $ftuffifd>e 3 tt *
ftftnbe. — $ie ©emegungen in Aegppten. — $ie Unruhen in grlanb. —
©ambetta'S parlamentarifdje Ufteberlage.792
Per SKfmenftritg. ein ©cbattenfpiel non SBil^elm genfen. VI- VII. (Schluß.) 801
Per ptyoiograpPiftbe Zeitroman in ^ranlreld). eine ©tubie non Siubolf non
©ottfdjall..824
Pie Parteien im Peutfd)ett 3tei<bsiage. ©on gobanneS ©erg. II.853
Pie meß(id)e Qperationjfront Stußfands und die dßftcQe Penif<bf<wds. ©on einem
preußifdjen ©tab$of fixier.879
3fardafrila nnd feine Bedeutung in der $egentoarf. ©on griebricb non $ell*
toalb. III.890
Pie festen ie0n 3*$re dentf<b-bfarrei<btf<ber <£nrift. ©on Anton ©cbloffar. II. 926
gpronift der ^egentnari:
3:^eatralifc^e föenue: ein neuer fragiler: bie gramen non ernft non SBilben*
brueb. — ein preiSgetrönteS 2>rama non 9tf djarb ©oß. — „Robert Äerr"
non Abolf SBilbranbt. — £ragöbien non $arl #eigef, g. £. Neuburger,
9iubolf ©tegemann, eiement unb SRangabe. — Uleue Suftfpiele unb Aneig¬
nungen au§ bem ©djmebifeben, ©olnifcben unb gran^öfifeben.936
©olitifebe ©edue: 2)a$ $abad$monopol im ©eicb^tage. — Anbere ©eneral*
bebatten in bemfelben. — ©ebluß be$ preußtfeben £anbtage3. — $te ÄrifiS
in Aegppten. — Uftubricbten au$ englanb unb SRußlanb.947
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$rutf bon 0f.«. ®rocf&au3 in Seipaifl*
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