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Untersuchungen
/lUll
KultuTprobleiD der Gegenwart.
Inauguraldissertation
zur
Urlangung der Do^forwürdc
der
pliilosopMsclieii Eakultät der Universität Jena
vorgelegt von
Julius Goldstein,
Hamburg.
JENA
Druck von Bernhard Vopeliui
1899.
10 1
^(7
Genehmigt von der philosophischen Fakultät der Universität Jena
auf Antrag des Herrn Professor Dr. Rudolf Eucken.
Jena, den 27. Juli 1898.
Geh. Hofrat Professor Dr. Thomae,
d. Z. Dekan.
Kiiileituiii!:.
jjass es ein Kulturproblem der Gegenwart giebt,
und dass dieses Kulturproblem zusammenfällt mit dem
Problem, welche Stellung das Geistesleben im Ganzen
der Welt einnimmt, soll der Inhalt dieser Untersuchungen
sein. Sie machen nicht den Anspruch das Kultur-
problem zu lösen, denn das könnte nur von einer
systematisch ausgebauten Kulturphilosophie geschehen,
aber indem sie den Entscheidungspunkt aufzeigen,
an dem das Kulturproblem hängt, bezeichnen sie
wenigstens die Richtung der Lösung. Wenn wir bei
diesen Untersuchungen von dem Werke A. Vier-
kandt's: „Natur- und Kulturvölker" ausgegangen sind,
und unsere eigene Position mittelst einer positiven Kritik
an diesem Autor entwickelt haben, so hat uns dabei die
Erwägung geleitet, dass wir es mit einem Buche zu thun
haben, welches eine zeitgeschichtliche Signatur trägt.
Aber wenn wir vom Kulturproblem reden, so können
wir nicht umhin auf Rousseau einzugehen, den Vater des
modernen Kulturproblems. Von den Voraussetzungen
der Aufklärungsphilosopliie ist Rousseau ausgegangen,
um aber dann hinsichtlich der Kultur zu den entgegen-
gesetzten Folgerungen zu gelangen. Das Streben der
Aufklärung war darauf gerichtet das Dasein zu ra-
tionalisieren. Die geschichtlich überkommene Kultur
zeigte in ihrem Bestände viel Unvernunft und Ver-
worrenheit. Gegen diese wendeten sich die Angriffe
der Encyclopädisten. Alles, was sich nicht vor dem
Verstände rechtfertigen konnte, sollte ausgeschieden
werden. Was dann noch übrig blieb, galt als der
unverfälschte Kerngehalt der Kultur, dem die ge-
schichtlichen Entstellungen abgestreift waren. Man
denke an die in dieser Zeit herrschenden Begriffe einer
natürlichen Religion, des Naturrechtes, der natürlichen
Moral. Aber mit aller ihrer Kritik blieben die Encyclo-
pädisten innerhalb der Kultur und der Gesellschaft. Die
Rousseau 'sehe Kritik nahm ihren Standort ausserhalb
der Kultur, sie stellte die Kultur als Ganzes in Frage.
In den Aufklärern waltete der ungebrochene Glaube,
auf dem rechten Wege zur Vervollkommnung des
Menschengeschlechtes zu sein. Ein allmähHches Ein-
sickern der Verstandesautklärung aus den kleinen
Cirkeln der bels esprits in die unteren Volksschichten
sollte auch diese die Höhe menschlicher Perfektibilität
erreichen lassen. Die Rationalisierung des Lebens gab
einen festen Wertmassstab für dessen Glücksgehalt.
Wenn man aber diesen Wertmassstab nicht anerkannte?
Ja, wenn man ihn gradezu verneinte und zum Un-
wertmassstab degradierte? Wenn man die Frage nach
dem Glück des Menschen nicht an den verkünstelten
Intellekt und an die tausenderlei Abhängigkeiten der
Gesellschaft bindet, sondern an das unmittelbare Ge-
fühl, an die möglichst grosse Ursprünglichkeit des
Lebens? Wenn alle Verfeinerung des Verstandes die
schwersten sittlichen Missstände herbeiführt und alle
gesellschaftlichen Zusammenhänge dem Menschen immer
unerträglichere Fesseln auferlegen? Dann war die ge-
priesene Kultur der Autklärung in eine Sackgasse ge-
raten. Das stolze Siegesbewusstsein musste zusammen-
brechen vor dieser Radikalkritik.
Die Kultur hörte auf eine Selbstverständlichkeit zu
sein; sie wurde zum Problem. Das ist die welthistorische
Bedeutung der That Rousseau 's. Dem Menschengeiste
ist die innere Freiheit gegenüber seinem Werke zurück-
gegeben. Rousseau hat eine alte Thatsache als ein
neues Phänomen, als ein neues Problem empfinden
gelehrt. Dass die moderne Menschheit sich von der
Natur losgelöst hat und einen eigenen Lebensstand im
Gegensatz zur Natur, eine eigene Daseinsweise, die
Kultur, sich geschaffen hat, an dieses Faktum knüpfen
alle Gedanken des Citoyen de Geneve an, um mit
den Mitteln einer glänzenden Beredsamkeit eine Rück-
kehr zur schlichten Natureinfachheit auf allen Gebieten
des Lebens zu fordern. Er fordert damit nicht zu-
gleich das Aufgeben jeder Kultur, sondern nur das
Anbahnen einer Kultur, die den Zusammenhang mit
der Natur aufrecht zu erhalten versteht. Natürlich ist
ihm eine Kultur, die den gegebenen Lebensbedingungen
entspricht, die alle Kräfte des Menschen ungehemmt
zur Entfaltung bringt.
Die Voraussetzungen für eine wahre Kultur liegen
in dem natürlichen, unverkünstelten Seelenleben. „Aus
den Händen seines Schöpfers ist der Mensch als ein
freies, reines Wesen hervorgegangen. Wenn er durch
den bisherigen historischen Prozess in falsche Bahnen
geleitet worden ist, so muss die Geschichte von Neuem
begonnen werden, so muss der Mensch von der Un-
natur des intellektuellen Hochmutes zu dem einfachen,
natürlichen Gefühle, aus der Verschränktheit und Ver-
logenheit der gesellschaftlichen Verhältnisse zu seinem
reinen unverkümmerten Selbst zurückkehren, um den
rechten Weg seiner Entwicklung zu finden. Dazu bedarf
nach Rousseau die Menschheit im Ganzen einer Staats-
verfassung, w^elche nach dem Prinzip der rechtlichen
Gleichheit dem Einzelnen die volle Freiheit seiner per-
sönlichen Bethätigung am Gesamtleben gewährleistet i)."
') Windelband, Geschichte der Philosophie, Seite 414.
— 4 —
So sieht Rousseau die Lösung des Kulturproblems
letzten Endes in einem historischen Experiment. Der
Dualismus, den er zwischen Natur und Kultur auf-
gedeckt hat, sollte in der französischen Revolution zu
Gunsten der Natur überbrückt werden.
Der Pessimismus und die Verneinung gegenüber
der falschen Aufklärungskultur wird aufgehoben in
einen Optimismus und eine Bejahung gegenüber der
wahren Kultur der Zukunft. In Hinblick auf diese
Lösung können wir das Kulturproblem bei Rousseau
als ein historisches bezeichnen.
Unter den mannigfachsten Wandlungen und Ver-
tiefungen hat das Kulturproblem die geistige Arbeit
der Menschheit bis in die Gegenwart begleitet. Auch
in dem Vierkandt'schen Werke „Natur- und Kultur-
völker" erwächst dasselbe aus dem Gegensatz zwischen
Natur und Kultur^). Aber der Gegensatz ist unüber-
brückbar geworden. Ein historisches Experiment hilft
nicht mehr. Wir können nicht mehr einstimmen in
den Ruf: „Retournons a la nature", seitdem Schopen-
hauer und Darwin den romantischen Zauberschleier
eines idyllischen Naturzustandes zerrissen haben. Wir
haben in der Natur die Züge einer gigantischen Un-
vernunft, eines blindwütigen Kampfes zu sehen gelernt.
Die Möglichkeit, unsere Lebenswerte aus der Kultur
in die Natur hinüberzuretten , ist damit für uns aus-
') Man verzeite uns den Sprung von Rousseau auf Vierkandt.
Es liegt uns in dieser Arbeit nur daran das Kulturproblem der Gegen-
wart zu entwickeln. Ein Hereinziehen Rousseau 's schien uns aber
dennoch geboten, einmal Sm den historischen Entstehungspunkt des
Kulturproblems anzudeuten, dann aber auch um der Eigenart des psycho-
logischen Kulturproblems Vierkandt 's ein besseres Relief zu geben.
Eine Darstellung der geschichtlichen Entwicklvmg des europäischen Kultur-
problems von Rousseau bis auf die Gegenwart behalten wir uns für
eine spätere Arbeit vor.
geschlossen. — Dächten wir uns aber auch, wir hätten
noch das Rousseau'sche Naturideal, so würde uns die
Aufforderung zu diesem zurückzukehren doch eigen-
artig anmuten. Dem ausgebildeten historischen Be-
wusstsein des ig. Jahrhunderts erscheint der Gedanke
utopisch, dass wir uns den Verkettungen einer mehr-
tausendjährigen Entwicklung entziehen können, um
die Geschichte von vorne zu beginnen. Die historische
Thatsächlichkeit hat für uns die Labilität der Auf-
klärung \'erloren; das geschichtlich Gewordene trägt
eine immanente Notwendigkeit in sich, die sich nur
langsam umbiegen lässt. Die grossen Zw^eckzusammen-
hänge des gesellschaftlichen und geistigen Lebens gelten
uns nicht mehr wie der Aufklärung als Produkte
individueller Willkür, die man daher auch leicht nach
Verstandesregeln umformen könne. Das vSchiller'sche
Wort: „Leicht bei einander wohnen die Gedanken,
doch hart im Räume stossen sich die vSachen" ent-
spricht mehr den Stimmungen einer Zeit, welche das
„Pathos der Distanz" zwischen Ideal und Wirklichkeit
in schweren Erschütterungen kennen gelernt hat. Der
Zukunftsoptimismus Rousseau s hat einem gewissen
Pessimismus dem empirisch vorliegenden Dasein gegen-
über weichen müssen — womit noch lange keine An-
erkennung eines transzendenten , allgemeinen Welt-
schmerzpessimismus ausgesprochen ist. —
Was aber auch immer an Dunkelheiten und
Schwierigkeiten der Kulturstand mit sich bringt, wir
können ihn nicht mehr negieren, wir müssen ihn auf-
recht erhalten als die Sphäre unserer geistigen Wirk-
samkeit. Und nicht in der möglichst grossen An-
näherung an die Natur sieht die Kultur ihre Aufgabe,
sondern nur im Kampfe mit der Natur vermag sie ihr
Dasein zu behaupten. Eine Umkehrung der Werte
von Natur und Kultur hat seit dem Zeitalter Rousseaus
stattgefunden. Beide Begriffe haben einen anderen
Sinn und eine tiefere Bedeutung bekommen, und mit
dieser Veränderung der Begriffe treten wir in das
moderne Stadium des Kulturproblems, das wir an dem
Vierkandt'schen Werke: „Natur- und Kulturvölker" zu
entwickeln versuchen wollen.
Zu diesem Zweck wird sich die folgende Unter-
suchung in drei Teile gliedern. Der erste Teil um-
fasst eine kurze Darlegung der prinzipiellen Haupt-
gedanken und der Methode Vierkandts. Die Kon-
statierung des psychologischen Kulturproblems leitet
uns hinüber zum zweiten Teil, der sich mit der Un-
haltbarkeit des psychologischen Kulturproblems be-
schäftigt und dadurch den Boden frei macht für
das im dritten Theil zu behandelnde metaphysische
Kulturproblem.
I.
Das psychologische Kulturproblem.
Die Mannigfaltigkeit der Verschiedenheiten zwischen
Natur- und Kulturvölkern sucht Vierkandt auf ein
zusammenfassendes psychologisches Prinzip zu redu-
zieren, das weit genug ist, um eine Bestimmung des
Wesens der Kultur zu geben. Dieses Prinzip ent-
nimmt er den Anschauungen der Wundt'schen Psy-
chologie. Nach dieser zerfallen alle Willensakte in
unw^illkürliche oder triebartige und in willkürliche oder
reflektierende, je nachdem der äussere Reiz die Richt-
ung des Willens eindeutig bestimmt, oder der Willens-
akt sich als das Resultat einer Wahl zwischen ver-
schiedenen Motiven darstellt. Eine ähnliche Unter-
— 7 —
Scheidung- g^ilt auch auf intcllekUu^lem (icl^iet, insofern
dem Wahrnehmen und Urteilen eine n^ich innen ge-
richtete Willensthätigkeit in Form der Apperzeption
zu Grund Hegt. Den unwillkürhchen Willens^ikten ent-
spricht die assoziative Form der Vorstellungsverknüpfung
(oder die passive Form der Apperzeption, den willkür-
lichen Willensakten entspricht die nach logischen Normen
verlaufende Vorstellungsverknüpfung oder die akti\'e
Form der Apperzeption. Diese beiden Typen des in-
dividuellen Bewusstseinsverlaufes sind die begrifflichen
Zentralpunkte, um die sich die Völker gruppieren.
Nach der Seite ihres geistigen Lebens hin betrachtet,
scheiden sich die Völker in Naturvölker, für welche
die unwillkürlichen Bewusstseinsvorgänge charakter-
istisch sind, und in Kulturvölker oder besser Vollkultur-
völker, bei denen beide Willensformen vorhanden sind,
die willkürlichen Bewusstseinsvorgänge aber vor-
herrschen.
Zu diesen Vollkulturvölkern rechnet Vierkandt
die alten Griechen, die westeuropäischen Völker der
Neuzeit und deren „ausgeprägte Siedelungskolonien",
als da sind die Vereinigten Staaten von Nordamerika,
der südöstliche Teil von Kanada, das südliche Afrika,
Australien und Neuseeland.
Ausserdem bildet Vierkandt noch den Zwischen-
begriff der „Halbkultur" zu dem er die römische und
mittelalterliche Kultur zählt. „Ihm gehören überdies
die nomadischen Völker des grossen Wüsten- und
Steppen gürteis der alten Welt und diejenigen sesshaften
Völker zu, die sich geordneter stabiler politischer und wirt-
schaftlicher Verhältnisse erfreuen, wie die sudanesischen,
die orientalischen und vorkolumbischen Staaten".
Diese Halbkulturvölker fügen sich aber auch dem
zweiteiligen psychologischen vSchema ein , denn „sie
stehen mit wenigen Ausnahmen — Inder und Juden —
noch ganz auf der Stufe der Naturvölker. Ihr Wesen
ist von Ratzel treffend dahin gezeichnet worden,
„dass sie auf wirtschafthchem Gebiet bereits eine hohe
Reife erlangt haben, auf sittlichem und geistigem
Gebiet aber noch mehr oder minder auf der Stufe der
Barbarei stehen" (S. 8).
Dieses psychologische Klassifikationsprinzip, das
den einen Teil der Völker der Naturstufe, den andern
Teil der Kulturstufe zuweist, ist rein formaler Natur;
denn wird die Verschiedenheit des Verlaufes der Bewusst-
seinsvorgänge zum Unterscheidungszeichen zwischen
Natur und Kultur gemacht, so ist über den thatsäch-
lichen Inhalt der Bewusstseinsvorgänge noch gar
nichts ausgesagt. Könnten nicht auf der Kulturstufe
quahtativ neue Inhalte erscheinen, so dass die blosse
Umw^andlung der seelischen Lage, wie sie sich in den
willkürlichen Willensakten kundgiebt, nicht mehr aus-
reichte als Wesenskennzeichen der Kultur? Diese Mög-
lichkeit, die uns weiterhin auf die methodologischen und
philosophischen Voraussetzungen des Buches führt, ver-
neint Vierkandt mit dem Hinweis auf die allgemeine
Stetigkeit des seelischen Lebens der Menschheit (S. 14).
Dieser Begriff der Stetigkeit ist eine fundamentale \^or-
aussetzung, die sich von verhängnisvoller Bedeutung
für die ganze Auffassung der Kultur erweisen wird.
Zwei Thesen sind im Begriff der Stetigkeit ent-
halten: eine geschichtlich-sozialpsychologische und eine
philosophische. Die erstere besagt die Kontinuität des
Wachsens und Werdens des geistigen Lebens der
Gesamtheit. Indem sie die Gebundenheit der Gegen-
wart an die Erlebnisse aller früheren Zeiten betont,
ist sie ein Ausdruck der historischen Denkweise unserer
Tage. Der individualistischen Auffassung des 18. Jahr-
hunderts tritt die sozialpsychologische entgegen. Mit
den Tiefen seines Seelenlebens wurzelt der Einzelne
in der Gesamtheit. Er ist in seinen Anschauungen
und Handlungen, auch da, wo er sich v()llig frei
glaubt, \'on ihr abhängig.
Vierkandt geht allerdings in der Auslöschung
der Selbständigkeitssphäre des Individuums nicht so
weit wie Bastian und Gumplovicz^), sondern er er-
kennt mit Wundt die Doppelnatur des menschlichen
Individuums, das einerseits überall eine gewisse Selb-
ständigkeit besitzt, andererseits zugleich als ein soziales
Element von Haus aus dazu angelegt ist, in eine
grössere Gesamtheit aufzugehen (S. 48). Auch bei
dieser gemässigten Auffassung sind die Thatsachen
des geistigen Lebens als Phänomene der sozialen Ge-
meinschaft zu betrachten, „Alles soziale Leben ist von
der Thatsache beherrscht, dass durch das blosse Zu-
sammenwirken der Einzelwesen neue Eigenschciften
und Leistungen hervorgerufen werden, die durch keine
Addition der Leistungen der blossen Individuen er-
halten werden können" (S. 66). Das Geistesleben ist
also ein sozialpsychologisches Differenziationsprodukt.
Es fällt damit der Relativität eines psychogenetischen
Entwicklungsprozesses anheim, in welchem jede höhere
Stufe schon auf einer früheren vorgebildet ist und
daher nichts qualitativ Neues, sondern nur intensiv
Neues enthält (S. 66). Daher schlingt sich ein Band
') Aus dem Grundriss der Soziologie von Gumplovicz S. i6
führt Vierkandt die charakteristische Stelle an: ,,Der grösste Irrtum
der individuellen Psychologie ist die Annahme, dass der Mensch denkt.
Was im Menschen denkt, ist nicht er, sondern seine soziale Gemein-
schaft. Die Quelle seines Denkens liegt nicht in ihm, sondern in dem
sozialen Medium und er kann nicht anders denken als so, wie es sich
aus den Einflüssen des sozialen Mediums ergiebt." (Natur- und Kultur-
völker S. 48.)
des Zusammenhanges um alles geistige Leben von
den untersten Tierstufen bis zu den höchsten Kultur-
stufen (449). Hiermit tritt die philosophische These
des Begriffes der Stetigkeit in Kraft. Das Geistes-
leben als kosmische Thatsache enthält keine sachliche
Diskontinuität gegen die Natur. Natur und Kultur
kommen in einer Ebene zu liegen. Zwischen ihnen
bestehen nicht Unterschiede des Wesens, sondern nur
solche des Grades (S. 15). Die wissenschaftliche Denk-
weise der Naturbetrachtung, wie sie sich in der An-
wendung einer ausnahmslos herrschenden Gesetzmässig-
keit und der Entwicklungsidee darstellt, hat auch für
das menschliche Geistesleben vollkommene Geltung.
„Auch alles menschliche Leben und Sein muss als ein
Stück Natur betrachtet w^erden in dem Sinne einer
ausnahmslos herrschenden Gesetzmässigkeit. Spinozas
Forderung, die menschlichen Dinge nicht zu tadeln
und zu loben, sondern zu verstehen, gilt auch für die
moderne Wissenschaft, aber die Starrheit seines Welt-
bildes wird heute modifiziert durch die Erkenntnis der
Thatsache der Entwicklung" (S. 67).
So bildet den Hintergrund des ganzen Kultur-
dramas der Menschheit ein evolutionistischer Spinozis-
mus, in welchem jeder Wesensunterschied zwischen
Natur und Kultur verschwindet. Aber von der em-
pirischen Lage aus angesehen gehen Natur und Kultur
weit auseinander.
Hier sind zwei Betrachtungsweisen möglich, die
sich bei Vierkandt verschHngen. Die eine nimmt
ihren Ausgangspunkt von dem geschichtlich vorliegen-
den Befunde und strebt zu einer inhaltlichen Bestimm-
ung von Natur und Kultur, indem sie auf beiden
Seiten Typen von Thatsachen herausarbeitet und gegen-
überstellt, um dann den letzten Unterscheidungspunkt
— 1 1
zn finden. Dieser liegt in der verschiedenen Stellung
der Natur- und KulturvcUker zum geistigen Leben.
Die andere Betrachtungsweise setzt die erste schon
voraus. Sie nimmt das dargebotene, geordnete Ma-
terial und sucht es zurückzuführen auf psychologische
Ursachen. Die Verschiedenheiten des Seelenlebens
auf der Natur- und Kulturstufe werden schliesslich,
wie wir schon sahen, reduziert luif den Unterschied
von unwillkürlichen und willkürlichen Bewusstseins-
vor gangen.
Bei den Naturvölkern kommen die unwillkürlichen
Bewusstseinsvorgänge am schärfsten zur Ausprägung.
Nach der wSeite des Intellektes tritt dies in dem asso-
ziativen Vorstellungs verlauf zu Tage. Die Willens-
thätigkeit bleibt in der Sphäre der Triebhandlungen.
Das individuelle sittliche Leben steht ganz unter der
Herrschaft momentaner Antriebe, es ist rein impulsiv.
Der Charakter, wie er sich in festen Grundsätzen,
persönlichem Ehrgefühl und Wahrhaftigkeit äussert,
fehlt den Naturvölkern noch vollkommen. Eine ge-
wisse äussere Regelung erfährt aber das sittliche
Leben durch die sozialen Mächte der Sitte, der öffent-
lichen Meinung und der rehgiösen Gebote. Die Be-
deutung der Sitte liegt in ihrem objektiven Charakter.
„Wir können ihre Herrschaft als einen inneren Zwang
bezeichnen, dem sich auch unabhängig von allen et-
waigen äusseren Einflüssen und Rücksichten der
Mechanismus des seelischen Lebens nicht entziehen
kann, wo die betreffende Sitte voll entwickelt und in
jenem Mechanismus eingewurzelt ist. Wo aber eine
Sitte noch nicht völlig fertig geworden ist, da kommen
für ihre Einwurzelung vor allem der Druck der öffent-
Hchen Meinung und die Macht der göttlichen Gebote
in Betracht, deren Einfluss im Gegensatz zu dem
2
inneren Zwang der Sitte als ein äusserer Zwang be-
zeichnet werden kann" (S. 276).
Das individuelle Selbstbewusstsein empfängt hier
seinen Halt aus der Uebereinstimmung mit der Ge-
samtheit. Die Gebundenheit des Bewusstseinsstandes
bringt die Heerdennatur des Menschen auf dieser Stufe
voll zum Ausdruck. Dabei steht das Individuum der
umgebenden Natur als einer übermächtig drohenden
Gewalt passiv gegenüber; in dem religiösen Gefühl
spiegelt sich dies wieder als Furcht vor den haupt-
sächlich dynamisch gefassten Göttern. Schon aus
diesen wenigen Beispielen — und die übrigen liegen
auf derselben Ebene — ergiebt sich für die Inhalte
des geistigen Lebens auf der Naturstufe das gemein-
same Merkmal, dass sie noch nicht zur Selbständigkeit
gelangt sind, sondern im Dienste einer von Trieben
beherrschten Lebensführung stehen. Die Natur er-
scheint hier in unverhüllter Nacktheit, und je schärfer
die Züge dieser Natur, dieses unwillkürlichen Seelen-
lebens herausgearbeitet werden, um so mehr hebt sich
die Kultur dagegen ab. Es liegen aber im Begriff
der „Natur" nach den vorstehenden Erörterungen zwei
Merkmale eingeschlossen: „Die Abhängigkeit von
äusseren Einflüssen d. h. die Bestimmung der Lebens-
vorgänge von aussen und der Mangel eines mass-
gebenden inneren Schwerpunktes und Zentrums und
zweitens der Mangel an Werten" (S. 239).
Die Gebundenheit des Bewusstseinsstandes lässt
hier noch keine Fragen aufkommen nach dem Recht
und der Wahrheit der herrschenden Zweckzusammen-
hänge. Die Geschlossenheit des psychischen Mechanis-
mus wird durch keinen Zweifel gestört.
Auf der Kulturstufe tritt nun aber in dieser
Richtung eine grosse Umwälzung ein. Die Gemein-
I ^
samkeit des geistigen Lebens, die im Gebiet des Un-
willkürlichen, Triebartigen wurzelt, tritt in dem Masse
zurück, „in welchem im menschlichen Leben selber die
sinnhche Grundlage zurückgedrängt wird zu Gunsten
einer von abstrakten und idealen Gesichtspunkten ge-
leiteten Lebensführung" (S. 85).
Es tritt damit auf der Kulturstufe eine Um-
kehrung der Stellung des Geisteslebens ein. Während
auf der Xaturstufe das Geistesleben sich noch nicht
abgelöst hat von den Mitteln der sinnlichen Lebens-
erhaltung, rückt es auf der Kulturstufe zum Rang eines
Selbstzweckes auf. LIiermit erst bekommt die Wirk-
lichkeit einen Sinn und eine Vernunft.
Dem Individuum der Naturvölker steht die Wirk-
lichkeit gegenüber als eine „zusammenhangslose Masse
von Erscheinungen, deren inneres Wesen sich in einer
Reihe von Dämonen und göttlichen Gewalten dar-
stellt, deren Kern unberechenbare Launenhaftigkeit
und willkürliches Handeln ausmacht Die be-
wegende Triebkraft dieser ganzen Welt, sowohl bei
den Geistern wie auch den realen Menschen ist nur
eine Reihe tierischer Affekte, die alles menschliche
Leben und Wesen den Launen des Zufalls preisgeben"
(S. 245).
„Im Gegensatz dazu erblickt das vollentwickelte
Individuum der Kulturvölker in der umgebenden
Körperwelt eine Reihe vergeistigter Mittel und über
ihnen schwebend als Kern der Wirklichkeit ein Reich
geistiger Güter und absoluter Werte, in dessen Dienst
alles Geschehen tritt" (S. 245).
„Der Ausdruck „Kultur" ist in einer recht ein-
seitigen und das Wesen der Sache nur wenig treffen-
den Weise von der Thätigkeit des Ackerbaues her-
genommen worden. Eine Andeutung des tieferen
— 14 —
vSinnes des ganzen Begriffes liegt in dieser Bezeichnung
allerdings insofern als die Bebauung des Bodens so-
wohl eines der ersten wie auch eines der wichtigsten
Beispiele jener Beherrschung der Natur darstellt,
welche die eine Seite des Begriffes der Kultur aus-
macht^). Allein die andere Seite dieses Begriffes, das
Vorhandensein absoluter Werte liegt in dem Wort
Kultur in keiner Weise angedeutet. Wäre der Aus-
druck nicht bereits so tief eingewurzelt, dass sich unser
Gefühl gegen eine rationalistische Neuerung und Ver-
drängung sträuben würde, so würde der Ausdruck
„Geistesvölker" oder ein ähnlicher mehr innere Be-
rechtigung für sich haben; denn er schliesst beide
Seiten der Sache in sich, sowohl die Beherrschung der
Natur wie die Existenz allgemeiner Wertbegriflfe"
(wS. 245). Bei den Halbkulturvölkern fehlen noch diese
absoluten Werte und daher auch jenes Selbstbe\Ausst-
sein, „welches den Menschen in den Mittelpunkt der
Welt stellt, welche das Geistige als den Kern und das
Ziel des ganzen Weltgetriebes betrachtet" (S. 143).
Auf der Stufe der Vollkultur erscheinen deshalb auch
„das menschliche Leben und Sein, insbesonders seine
sittlichen Aufgaben nicht mehr als willkürliche und
zufällige, an sich wertlose Anhängsel der übrigen
Natur oder als willkürliche Ausflüsse der Laune der
Gottheit, sondern sie stehen für die Werturteile des
menschlichen Geistes im bestimmenden Mittelpunkt und
sind das Mass, nach dem alles gemessen wird" (S. 152). —
') Wir würden für den Zustand eines Volkes, wo die wirtschaftlich-
technische Seite des Lebens realisiert ist, den Namen „Zivilisation" vor-
schlagen. Es wäre damit eine zusammenfassende Bezeichnung für einen
Lebensstand gegeben, der mit der V ierk and t 'sehen ,, Halbkultur" zu-
sammenfällt. Ausserdem würde dadurch eine qualitative Abgrenzung
gegen die ,, Kultur" gegeben sein. Jede Ei-findung einer neuen Maschine
schreit sich heute als einen Fortschritt der „Rultur" aus.
— 15 —
Wir haben mit Absicht Vierkandt hier wörthch
zitiert, damit sein kulturpliilosophischer IdeaHsmus recht
deutlich hervortrete. Ziehen wir jetzt das Fazit aus
den angeführten Sätzen.
Durch die KuUur vollzieht sich eine fundamentale
Umkehrung der individuellen und sozialen Lebens-
führung. Der sinnliche Zusammenhang zwischen den
Menschen fällt und ein neuer, auf idealen Faktoren
beruhender bahnt sich an. Diese idealen Fiiktoren,
die wir einstweilen kurz mit dem Namen Geistesleben
zusammenfassen wollen, stellen sich als absolute Werte
dar. Indem die Menschheit diese zu realisieren trachtet,
baut sie ein Ganzes von idealen Lebensordnungen im
Laufe ihrer geschichtlichen Entwicklung auf, das seine
Verkörperung in der Kultur findet. Ist dies der ge-
schichtlich'e Thatsachen verlauf , so liegt philosophisch
diesem Menschheitswerke als Voraussetzung der Ge-
danke zu Grunde, dass das Geistesleben, welches das
Fundament der Vollkultur bildet, kein zufälliges Neben-
produkt des Naturprozesses ist, sondern Kern und Ziel
der Wirklichkeit bildet.
Mit dieser Auffassung der Kultur geben wir uns
vollständig zufrieden. Ob allerdings der Metaphysiker
Vierkandt mit seinem evolutionistischen Spinozismus
nicht in einen unauflösbaren Widerspruch mit dem
Kulturphilosophen Vierkandt kommt, ist eine Frage,
die uns späterhin beschäftigen wird.
Dieser inhaltlichen Verschiedenheit der Kultur
gegenüber der Natur liegt eine Strukturveränderung
des seelischen Lebens zu Grunde, aus welcher heraus
Vierkandt das Wesen der Kultur, vor allem auch
die Schwierigkeiten der ganzen Kulturlage verstanden
wissen will, denn die Kultur ist zwar einerseits eine
Thatsache, andererseits aber auch eine ungeheuere
— i6 -
Aufgabe. Der ethische SpirituaHsmus, der die Kultur-
bestrebungen beherrscht, treibt nach allen Richtungen
Idealforderungen hervor, die auf unüberwindliche innere
und äussere Schwierigkeiten stossen. Die äusseren
Schwierigkeiten übergehen wir hier. Sie ergeben sich
mit Notwendigkeit aus dem Umstand, dass das mensch-
liche Geistesleben verflochten ist in das blinde Spiel
eines mechanischen Naturprozesses. Viel tiefer greifen
die inneren Schwierigkeiten, die aus der inneren Struk-
tur des Kulturindividuums stammen. Vierkandt
nimmt, wie wir schon sahen, einen Dualismus der Be-
wusstseins Vorgänge an. Auf der beinahe ausschliess-
lichen Thätigkeit der unwillkürlichen Bewusstseinsvor-
gänge beruht das Eigentümliche des Naturzustandes.
Das Wesen der Vollkultur besteht dagegen auf dem
Überwiegen der willkürlichen vor den unwillkürlichen
Bewusstseinsvorgängen überall da, w^o es sich um \vich-
tige und entscheidende Angelegenheiten des individuellen
und sozialen Lebens handelt. Nur in dieser Einschränk-
ung kann von einem Ueberwiegen der willkürlichen
Willensakte gesprochen werden, „im übrigen behauptet
auch hier das Element des Unwillkürlichen seine
Herrschaft in weiter Ausdehnung" (S. 287).
Diese für die Kultur folgenschwere Erscheinung
hängt mit zwei Thatsachen des seelischen Lebens zu-
sammen. Einmal mit seiner ökonomischen Natur, ver-
möge deren eine unausgesetzte Häufung von will-
kürlichen Willensakten mit ihrem komplizierten Apparat
von Ueberlegungen und Abwägungen das Bewusstsein
zu stark belasten würde (S. 287). Dann aber spielt
hier die allgemeine Neigung der psychischen Vorgänge
zum Mechanisieren eine wichtige Rolle. Diese Neigung
äussert sich darin, dass bei häufiger Wiederholung der-
selben Vorgänge sich nicht blos willkürliche zu un willkür-
— 17 —
liehen, soiuliM-n aueh diese zu automatisc^uMi und ReHex-
vorg-ängen vereinfachen, wodurch zugleich im vSinne jener
eben erwähnten Ökonomie das Bewusstsein entlastet wird.
Zeigt es sich schon hier, d^iss die willkürlichen Be-
wusstseinsvorgäng'e das Unwillkürliche nicht einfach
abstossen können, sondern von diesem gehemmt und
hinabgezogen werden, so wachsen die vSchwierigkeiten
der Existenzbedingungen des psychischen Kulturfunda-
mentes dadurch noch mehr, dass der Kraftpunkt des Da-
seins auch auf der Kulturstufe in dem Gebiet des Un-
willkürlichen verharrt. Gegenüber dieser „Tiefseeregion
des seelischen Lebens" sind die willkürlichen Bewusst-
seinsvorgänge von verschwindender Bedeutung. Sie
verhalten sich zur Sphäre des Unwillkürlichen „mehr
regulativ als konstitutiv, mehr dirigirend als schaffend,
mehr ordnend und verstärkend als neuschaffend"
(S. 291). Bei diesem Stande der Dinge trägt die Kultur
einen Konflikt in sich; sie soll einen neuen Uebens-
stand gegen die Natur aufrechterhalten und durch-
setzen und doch hat sie nicht die Mittel dazu. Die
Kraft des Lebens ruht in der Natur, der Wert in der
Kultur. Diese Diskrepanz kann nie aufgehoben werden,
denn sie liegt in dem Vorhandensein der doppelten
Bewusstsein sschicht auf der Kulturstufe. Damit ist
der Gegensatz von Natur und Kultur ins psychische
Gebiet hineingetragen.
Auch Rousseau nahm eine doppelte Art des
Seelenlebens an: ein natürliches, unverkünsteltes, und
ein durch die gesellschaftliche Kultur verkünsteltes.
Letzteres hatte das un verkünstelte vSeelenleben ver-
schüttet und sollte daher weggeräumt werden durch
das Neueinsetzen einer individuellen und sozialen Er-
ziehung, durch ein historisches Experiment. Der Unter-
schied gegen Vierkandt liegt aber in zw^ei Momenten:
— i8 —
das erste ist die Verschiebung des Wertaccentes, das
zweite Hegt in der verschiedenen Stellung zur psychischen
Thatsächlichkeit des Kulturindividuums. Rousseau
glaubt den psychischen Dualismus der gegebenen Kultur
in seinem Ideal einer natürlichen Kultur zu überwinden.
Vierkandt sieht den seelischen Dualismus als mit
jeder Art der Kultur notwendig verknüpft. Das histo-
rische Kulturproblem Rousseau 's muss der tieferen
psychologischen Einsicht der Gegenwart weichen. Das
Kulturproblem Vierkandt 's bezeichnen wir daher als
ein psychologisches. —
IL
Die Uiihaltbarkeit des psychologische«
Kulturproblems.
Man kann Natur und Kultur unter dem Gesichts-
punkt eines doppelten Gegensatzes betrachten : unter dem
Gesichtspunkt eines ethischen — dies Wort im weitesten
Sinne — und unter dem eines dynamischen Gegensatzes.
Der ethische Gegensatz, den wir früher schon als einen
inhaltlichen bezeichnet hatten, gipfelt in dem Gegensatz
einer von Trieben beherrschten Lebensführung und einer
Lebensführung, die sich geistigen Zweckmomenten unter-
ordnet. Die psychologische Behandlung reduziert das
Ethische dieses Gegensatzes auf einen dynamischen Ge-
gensatz, auf die Dialektik zweier Bewusstseinsschichten.
Vom dynamisch psychologischen Standpunkt aus würde
ein Vordringen der willkürlichen Bewusstseinsschicht
in die unwillkürliche einen Gewinn für die Kultur be-
deuten. Aber was nach der dynamischen Seite ge-
wonnen wird, geht nach der ethisch-inhaltlichen Seite
der Kultur verloren, denn nach den Vierkandt 'sehen
Voraussetzungen sind grade in der unwillkürlichen
— IQ —
Schicht die rehgiösen und sittlichen Prozesse \cr-
ankert (S. 68 u. a.). Letztere würden also eine um so
gr()ssere Schwächung- erfahren, je mehr die Kultur
ihre psychische Eigentümlichkeit durchzusetzen strebt,
d. h. die Kultur als rein psychologisches Problem ge-
fasst, vernichtet sich selbst. In dem letzten Abschnitt
seines Buches, der sich die „Gebrochenheit der Voll-
kultur" tituliert, streift Vierkandt bedenklich nahe
diese Lösung bezw. Auflösung des Kulturproblems.
Vierkandt bezeichnet den auf der Kulturstufe
mit Notwendigkeit vor sich gehenden Prozess der Zu-
rückdrängung des Unwillkürlichen, Irrationalen als
die Rationalisierung des Seelenlebens. Hierbei sind
zwei Typen zu unterscheiden. Entweder erscheint die
Schicht der willkürlichen Bewusstseinsakte als eine
natürliche Fortsetzung der unwillkürlichen, oder die
erstere steht zu der letzteren in einem Gegensatz (vgl.
S. 407). Der erste Typus, der ein harmonisches Gleich-
gewicht zwischen den beiden Elementen der Vollkultur
darstellt, ist sehr selten. Vierkandt übergeht ihn
daher auch. Der zweite Typus, der durch eine „dis-
kordante Lagerung" der Bewusstseinsschichten repräsen-
tiert ist, begreift wiederum z\vei Fälle unter sich:
„Entweder setzt sich die obere Schicht zu der unteren
in einen blossen Widerspruch, lässt sie aber bestehen,
so dass die Kultur einem gewissen Dualismus verfällt,
oder sie wirkt zerstörend auf die letztere ein, so dass
sich eine gewisse Missachtung und Verdrängung des
Unwillküriichen sowohl in theoretischer wie praktischer
Beziehung bemerkbar macht" (S. 407).
Der L'all des Widerspruchs äussert sich in dem
Konflikt zwischen Intellekt und Gemüt. Die Kultur
verfällt einem gewissen Dualismus. Im Mittelalter hat
dies System der doppelten Wahrheit geherrscht. Dort
20
war es noch möglich. Bei der raschen intellektuellen
Bewegung der modernen Menschheit kann aber das
Wort Pascal's: „Le coeur a ses raisons, que la raison
ne connait point" keine Geltung mehr beanspruchen.
Der Konflikt zwischen Intellekt und Gemüt, der wohl beim
Einzelnen bestehen kann, treibt aber im Ganzen der
Kulturmenschheit übersieh selbst hinaus zum zweiten Fall
der Verdrängung des Unwillkürlichen. Und daraus er-
geben sich schwere Folgen für die ganze Existenz der Kul-
tur. Einige der wichtigsten wollen wir hier kurz andeuten.
Mit dem Zurückdrängen der irrationalen Elemente
sehen wir einen ,,Amerikanismus'* der Lebensführung
um sich greifen. Eine reine technische Denkweise
entnimmt ihre Zwecke nur dem persönHchen Nutzen
und schreitet über die Forderungen der sozialen Zu-
sammenhänge hinweg. Die Erleuchtung der dunklen
Gefühlsregionen durch die Fackel des kritischen In-
tellektes bewirkt immer mehr eine Atomisierung oder
Entwurzelung des Individuums. Diese besteht darin,
„dass das Individuum sich nicht mehr mit seiner ganzen
Umgebung, seinem Volke, seinem örtlichen und zeit-
lichen und metaphysischen Hintergrunde organisch und
solidarisch verknüpft fühlt, sondern dass es sich deut-
lich von seiner ganzen Umgebung in seinem Bewusst-
sein abhebt und sich als etwas Zufälliges fühlt, das
ebenso gut gar nicht oder unter ganz anderen Ver-
hältnissen existieren könnte" (S. 360). Vierkandt be-
zeichnet diesen Vorgang als eine „unvermeidHche Folge
der Ausprägung des Wesens der Vollkultur" M. Vor
dem Ansturm der rationalen Motive kann sich auch
die Religion nicht mehr halten, da die Religion nach
M Wir erinnern hier an eine Skizze von Guy de Maupassant:
,,Wer hat Recht", wo diese typische Stimmuntj: der absohiten Verein-
samung zu erschütternder Darstelhing kommt.
2 1
Yierkandt ihre Wurzeln in der irrationalen Gefühls-
sphäre hat. Werden dieser die Quellen abgegraben,
so muss auch die Religion verschwinden.
„Die Hemmung, welche die Lebendigkeit des
religiösen Lebens durch die zunehmende Rationalisier-
ung und Vergeistigung des Lebens erfährt, deutet
darauf hin, dass eine in diesem Sinne reine und aus-
schliessliche Vollkultur zuletzt sich selbst verzehrt"
(S. 445)-
Wir brauchen diese Züge der Selbstauflösung der
Vollkultur hier nicht weiter zu vermehren. Der letzte
Abschnitt des Buches fasst sie noch einmal alle unter
dem Titel der „Gebrochenheit der Vollkultur" zusammen.
Wir sind bis jetzt grösstenteils den Ausführungen
Vierkandts gefolgt und haben die Konsequenzen
des psychologischen Kulturproblems dargelegt. Als
solche ergaben sich nicht nur Schwierigkeiten, die der
ReaHsation der geistigen Werte entgegenstehen, sondern
die fortschreitende rationalisierende Tendenz der Kultur
droht die geistigen Werte selbst aufzulösen. Das trat
z. B. deutlich bei der Religion hervor. ]\Iit einer ge-
wissen Notwendigkeit musste die Kultur in ihrer
weiteren Entfaltung hinarbeiten auf eine Zersetzung
ihrer eigenen Grundlage.
Wenn nun aber diese Notwendigkeit nicht ver-
knüpft wäre mit dem Wesen der Kultur, sondern nur
mit der psychologischen Fassung ihres Wesens? Und
wenn diese psychologische Fassung grade Haupt-
momente der Kultur gar nicht in sich enthielte, ja,
wenn die psychologische Fassung überhaupt unfähig
wäre das Wesen der Kultur auszudrücken?
Vierkandt giebt zwei Bestimmungen vom Wesen
der Kultur. Die ethisch-inhaltliche Bestim.mung er-
blickt das Wesen der Kultur in den absoluten Werten
des geistigen Lebens, welches letztere hier als Kern
und Ziel der Welt gilt^). Nach der psychologischen
Bestimmung besteht das Wesen der Kultur in dem
Ueberwiegen der willkürlichen vor den unwillkürlichen
Willensakten.
Nun ist von diesen beiden Bestimmungen die
ethisch-inhaltliche die primäre, die notwendig schon
gegeben sein muss, wenn das psychologische Kultur-
problem überhaupt entstehen soll, denn der blos dy-
namische Gegensatz der beiden Bewusstseinsschichten
ist ganz indifferenter Natur. Ein psychologisches
Kulturproblem erwächst erst aus der Voraussetzung,
dass die willkürlichen Bewusstseins Vorgänge sich auch
behaupten sollen. Dies entspringt aber einer Wert-
qualifizierung, die nicht den willkürlichen Bewusstseins-
vorgängen als solchen gilt, sondern den geistigen
Inhalten, die in dieser Form auf der Kulturstufe er-
scheinen -).
Ist also das ethisch-inhaltliche Wesen der Kultur
das ursprünglich gegebene und gipfelt dies in der
Existenz absoluter Werte •^), so lässt sich von hier aus
die psychologische Fassung des Wesens der Kultur
als ein Unternehmen beurteilen absolute geistige
Werte auf psychische Vorgänge zu reduzieren. Und
hier ist der Punkt, wo die Kritik einzusetzen hat,
wenn sie die Unhaltbarkeit des psychologischen Kultur-
problems erweisen will.
') Vgl. dazu oben S. 13 und 14.
"-) Ein Beweis hierfür liegt auch in der Zuordnung der Halbkultur-
völker zu den Naturvölkern. Das geschieht nicht aus psychologischen
Gründen, sondern weil bei den Halbkulturvölkern noch eine der Kultur-
stufe angemessene geistig-sittliche Lebensauffassung fehlt (cf. S. 8).
^) Wir lassen einstweilen das zweite Moment des ethisch-inhalt-
lichen Wesens der Kultur — das Geistesleben Kern und Ziel der
Welt — aus, um der Darstellung eine leichtere Übersichtlichkeit zu geben.
— 23 —
Wir können unserer Kritik die Form eines all-
gemeinen Problems geben, nämlich des Problems vom
Verhältnis der Werte zur Psychologie. In den letzten
Dezennien, wo die psychologische Forschung weite
Dimensionen angenommen hat, ist dieses (irenzproblem
der Norm Wissenschaften häufig Gegenstand der wissen-
schaftlichen Diskussion gewesen. Dabei haben sich,
wie es in der Natur der Sache lag, zwei Richtungen
gebildet. Die eine Richtung sieht in den geistigen
Werten ^) qualitativ unableitbare Grössen, die zwar dem
psychischen Sein angehören, die aber in ihrer quali-
tativen Eigentümlichkeit ganz ausserhalb des Gebietes
der Psychologie liegen. Aus der blossen Thatsache
ihrer seelischen Existenz kann nichts abgeleitet werden
für ihr Recht und ihre Wahrheit. So sagt Sigwart
(Logik Bd. I, S. lo, 2. Aufl.): „Der Gegensatz von
wahr und falsch hat ebensowenig eine Stelle in ihr
(der psychologischen Betrachtung) wie der Gegensatz
von gut und böse im menschlichen Handeln ein
psychologischer ist -)."
Hiernach würde die psychologische Fassung der
Kultur das ethisch-inhaltliche Wesen der Kultur, das
sich in der Existenz absoluter Werte ausspricht, gar
nicht treffen. Das Oberwiegen der willkürlichen vor
den unwillkürlichen Willensakten würde nur bedeuten,
dass unter diesen seelischen Bedingungen das Wesen
der Kultur zum Ausdruck kommt. Das psychologische
^) Wir behandeln hier die Frage der absoluten Werte nur kur-
sorisch, um zum metaphysischen Kulturproblem zu i^elangen, wo uns
das Problem der absoluten Werte mehr prinzipiell beschäftigen wird.
-) Trotzdem kommt auch Sigwart letzthin nicht über die
Psychologie hinaus, wenn er die Wahrheit der logischen Normen auf
„das innere Gefühl der Evidenz" baut. Das ist die gefährliche psycho-
logistische Achillesferse, mit der jede immanente Logik behaftet ist,
die eine metaphysische Begründung a limine abweist.
— 24 —
Wesen der Kultur verhält sich zum ethisch-inhaltlichen
wie das psychologische Wesen der Urteilsfunktion
zum logischen Wesen des Urteils. Und wie das
psychologische Problem der Urteilsfunktion noch gar
nicht das logische Problem des Urteils berührt, so be-
rührt das psychologische Kulturproblem noch gar
nicht das ethisch-inhaltliche Problem der Kultur.
Während die Vertreter der eben geschilderten
Richtung der Psychologie vor dem „Dass" der Werte
Halt gebieten, und die Begründung der Rechtsfrage
aus andern Znsammenhängen erwarten, lässt die
andere Richtung, der man den Namen „Psychologismus"
gegeben hat^), die Werte auch vollständig absorbiert
werden von der Psychologie. Die Werte sind psy-
chische Phänomene also — so schliesst man — kann
ihr Wesen auch nur durch die psychologische Zer-
gliederung erkannt werden. Diese hat die einzelnen
psychischen Elementarfaktoren aufzuzeigen, welche
durch die Konstanz ihrer ^^erbindung die Existenz
dieses bestimmten Wertes zu stände bringen.
Auf dem Boden dieses Psychologismus kann
natürlich von absoluten Grössen keine Rede sein.
Der Unterschied zwischen dem natürlichen Seelenleben,
das nur Lust und Unlust kennt, und dem von geistigen
Werten beherrschten ist nur ein quantitativer. Die
Frage nach der Wahrheit der Werte kann hier gar
nicht aufkommen; sie sinkt von vorneherein in sich
selbst zusammen.
Die psychologische Fassung" des Wesens der
Kultur erzeugte das psychologische Kulturproblem.
Um den zerstörenden Konsequenzen desselben zu ent-
^) Hierher gehören u. a. Eisenbaus, Marty, Brentano, die
Münchener Psychologenschule unter der Führung von Lipps.
— 25 —
gehen, untersuchten wir es auf seine Voraussetzung
hin. Diese Vor^lussetzung war die M()gHchkeit der
Reduktion absohiter Werte auf psychische Vorgänge.
Bei der Verneinung dieser MögHchkeit konnte das
psychologische Kulturproblem nicht den Anspruch er-
heben auch über das Recht und Wahrheit des ethisch-
inhalthchen Wesens der Kultur entscheiden zu können.
Das war ein mehr indirekter Beweis seiner Unhaltbar-
keit. Direkt aber ergab sich seine Unhaltbarkeit,
wenn die JMöglichkeit bejaht wurde, denn damit be-
finden wir uns auf dem Boden des Psychologismus,
der absolute Werte nicht anerkennen kann. Das
psychologische Kulturproblem, das grade über das
Schicksal der absoluten Werte Belehrung geben
wollte, hat sich dazu als prinzipiell unfähig erwiesen. —
Eng mit dem psychologischen Kulturproblem hängt
die sozialpsychologische Betrachtungsweise des geistigen
Lebens zusammen. Die geistigen Inhalte erscheinen
der Sozialpsychologie als Produkte der Gesamtheit.
Ist nun die sozialpsychologische Anschauung des
geistigen Lebens im stände die Existenz absoluter
Werte zu stützen und damit dem ethisch-inhaltlichen
Wesen der Kultur gerecht zu werden? Wie bei der
Individualpsychologie können wir auch hier die vor-
liegende Frage auf die Problemformel vom Verhältnis
der Sozialpsychologie und der absoluten Werte bringen
und unter dem Gesichtspunkt einer doppelten Möglich-
keit betrachten.
Die Sozialpsychologie kann einmal rein descriptiv
den Werten gegenüberstehen und blos ihre besondere
Färbung aus den gesellschaftlichen Zusammenhängen
heraus begreiflich zu machen suchen ^). Nach dieser
Vgl. Höffding, Psychologie S. 33.
— 26 —
Auffassung behandelt die Sozialpsychologie die Werte
immer schon als gegeben und rechnet mit ihnen als
mit gegebenen Grössen, ohne etwas darüber ausmachen
zu können, woher sie ihre Absolutheit nehmen. Die
Sozialpsychologie als rein descriptive Disziplin kann
absolute Werte nicht begründen und erweist sich
damit als unfähig zur Behandlung des ethisch-inhalt-
lichen Wesens der Kultur,
Nun aber hat die Sozialpsychologie in neuerer
Zeit ein genetisches Moment in sich aufgenommen.
Sie will den Werdegrund abgeben, aus dem alle In-
halte des geistigen Lebens wie Religion, Ethik, Recht
etc. ihren Ursprung genommen haben, und von dem sie
getragen werden. ,,Der Geist ist das gemeinschaft-
liche Erzeugnis der menschlichen Gesellschaft i)."
Vom Standpunkt dieser genetischen Sozialpsycho-
logie sind aber alle Werte im Fluss des historischen
Entstehens und Vergehens, und es ist unmöglich von
dieser empirischen Eage aus einen Punkt zu fixieren,
von dem aus die Werte als absolute bezeichnet werden
könnten. Im Gegenteil, die einzige Absolutheit, welche
die Sozialpsychologie den Werten geben könnte, wäre
die Absolutheit der Relativität. So scheitert die Sozial-
psychologie mit dem Unternehmen, aus eigenen Zu-
sammenhängen absolute Werte zu begründen; in ihrem
Versuche dies zu thun, wird sie eine heute besonders
.weit verbreitete Spielart des Psychologismus, die wir
als „Sozialpsychologismus" bezeichnen.
Wir wenden uns jetzt der zweiten Voraussetzung
des ethisch-inhaltlichen Wesens der Kultur zu: dass
das Geistesleben „Kern und Ziel der Welt sei" und
') Zeitschrift für Völkerpsychologie iincl Sprachwissenschaft.
Bd. I, S. 3.
— 27 —
fragen, ob die psychologische Fassung des Wesens
der Kultur eine Begründung dieser These geben kann.
Nun sind Individual- und wSozialpsychologie von vorne-
herein dazu unfähig, denn ihr Erkenntnisobjekt ist auf
die Immanenz beschränkt. Eine Antwort können
wir daher nur von der Metaphysik Vierkandt's er-
warten.
Ist mit der Behauptung der kosmisch zentralen
vStellung des Geisteslebens auf der Kulturstufe eine
metaphysische Thatsache von objektiver Bedeutung
ausgesprochen, oder spielt sich diese durchgreifende
Wandlung des Weltbildes nur im Bewusstsein des
Kulturindividuums ab, und entspricht ihr keine trans-
subjektive Realität?
Vierkandt war, wie wir oben sahen, aus metho-
dologischen und sozialpsychologischen Gründen dahin
gelangt auch „alles menschliche Leben und Sein" als
„ein vStück Natur" zu betrachten. Es war der Begriff
der Stetigkeit, der es dem Metaphysiker Vierkandt
verbot einen Wesensunterschied zwischen Natur und
Kultur zu statuieren und ihn veranlasste, auch im
menschhchen Geistesleben nichts anderes zu sehen als
eine quantitative Komplikation naturgegebener Grössen
(vgl. dazu bes. S. 14, Entwicklung des sittlichen Lebens).
Somit entspricht der Aussage des Kulturbewaisstseins
oder wie Vierkandt es nennt des „sozialen Selbst-
bewusstseins", dass das Geistesleben Kern und Ziel
der Welt sei, keine Realität.
Vierkandt nimmt seine metaphysische Position
in Gestalt eines evolutionistischen Spinozismus auf dem
Boden der Natur. Das in der Kultur zu Tage tretende
Geistesleben soll nun aber kulturphilosophisch den
Kern der Wirkhchkeit bilden, während es meta-
— 28 —
physisch ein bedeutungsloses Anhängsel der übrigen
Natur isti).
Also während auf der Kulturstufe das Sein sich
gleichbleibt, tritt trotzdem eine radikale qualitative
Wert Verschiebung diesem Sein gegenüber ein. Vom
Sein aus betrachtet, bedeutet die ganze Kultur nur
eine Gradverschiedenheit gegen die Natur; vom Wert
aus betrachtet, bedeutet die Kultur eine qualitative
Wesensverschiedenheit gegen die Natur. —
Wir wollten die Unhaltbarkeit des psychologischen
Kulturproblems nachweisen. Wir thaten das in indi-
vidualpsychologischer, sozialpsychologischer und meta-
physischer Richtung. Als Resultat konnten wir fest-
stellen, dass die psychologische Fassung der Kultur
in keiner Weise dem ethisch-inhaltlichen Wesen der
Kultur gerecht werden kann. Die Kritik hat aber
noch ein anderes Ergebnis zu Tage gefördert, das wir
jetzt genauer ins Auge fassen wollen.
Das psychologische Kulturproblem hatte als fest-
stehende Voraussetzung das ethisch-inhaltliche Wesen
der Kultur. Dieses ruhte auf zwei Momenten: i. Die
Existenz absoluter Werte und damit verbunden 2. die
kosmisch -zentrale Stellung des Geisteslebens. Das
erste Moment fiel ausserhalb der Begründungsmöglich-
keit des psychologischen Kulturproblems. Das zweite
Moment hingegen wurde als subjektive Illusion eines
hochgespannten, sozialen Selbstbewusstseins erkannt;
das Weltbild, das von Vierkandt scheinbar als not-
wendige Konsequenz der Ergebnisse der modernen
^) Wenn Vierkandt an einer Stelle S. 250 auch das mensch-
liche Leben ,, angesichts seiner idealen Regungen und Kräfte als ein
Stück höherer Natur" betrachtet wissen will, so sehen wir darin
nur eine Velleität des Ausdrucks, die uns nur interessant ist als Zeichen
des Streites zwischen dem Kulturphilosophen und dem Metaphysiker
Vierkandt.
— 29 —
Wissenschaft unterwortVn wird, hcit koincn Kciuin mclir
für die metaphysische These vom Geistesleben, welche
das ethisch - inhaltliche Wesen der Kultur verlangt.
Was bedeutet das aber? Vor allem bewegen wir uns
jetzt nicht mehr auf dem P>oden des psychologisclien
Kulturproblems ^), denn dieses nalim die kosmisch-zen-
trale Stellung des Geisteslebens ununtersucht hin. Wird
aber die kosmisch -zentrale vStellung des Geisteslebens
in Frage gezogen, ja geradezu negiert, so werden wir
über das psychologische Kulturproblem hinausgetrieben
zu dessen Voraussetzung, dem ethisch-inhaltlichen Wesen
der Kultur. Da dieses aber an bestimmte metaphy-
sische Bedingungen hinsichtlich der Stellung des Geistes-
lebens gebunden ist, diese Bedingungen aber im Wider-
streit mit dem evolutionistischen JSpinozismus Vier-
kandts stehen, so wird dadurch auch das ethisch-
inhaltliche Wesen der Kultur in Mitleidenschaft gezogen
und aus der selbstverständlich hingenommenen That-
sache der Kultur wird ein Problem; aber angesichts
der hier in Betracht kommenden Fragen ein meta-
physisches Problem. Wir sind bei der Frage der
Möglichkeit der Kultur überhaupt angelangt, beim
metaphysischen Kulturproblem.
Das metaphysische Kulturproblem.
Das psychologische sowohl wie das metaphysische
Kulturproblem haben das Geistesleben zum Vorwurf;
aber in der Behandlung desselben unterscheiden sie
sich prinzipiell. Das psychologische Kulturproblem
nimmt das Geistesleben als gegebene Thatsache hin
^) Das psychologische Kulturproblem hebt die Kultur auf, wenn
es das einzige sein will. Als ein Unterproblem des metaphysischen
Kulturproblems ist es völlig berechtigt, indem es die inneren Realisations-
schwierigkeiten des ethisch-inhaltlichen Wesens der Kultur zeigt.
— 30 —
und untersucht die Realisationsschwierigkeiten der
geistigen Inhalte innerhalb des Dualismus der beiden
Bewusstseinsschichten, Das metaphysische Kulturpro-
blem hat einzig und allein mit dem Geistesleben zu
thun ohne Beziehung auf irgend welche psychologische
ReaHsationsschwierigkeiten. Es untersucht, welche
Wahrheit den Forderungen des Geisteslebens, Kern
und Ziel der Welt zu sein, zukommt; ob und wie
diese P'orderungen sich aufrecht erhalten lassen vor
dem wissenschaftlichen Bewusstsein der Gegenwart.
Damit sieht das metaphysische Kulturproblem sich
vor eine Aufgabe gestellt, welche jenseits aller em-
pirisch-psychologischen Untersuchungen liegt. Oder
anders ausgedrückt: Das psychologische Kulturproblem
fragt: „Wie weit ist Kultur i) möglich?" Das
metaphysische Kulturproblem fragt: „Wie ist Kultur
überhaupt möglich?"
Dass wir zur Aufwerfung dieser Radikalfrage
berechtigten Grund haben, wird sich genauer erweisen,
w^enn wir die Unterhöhlung der metaphysischen Grund-
lage der Kultur mehr ins Einzelne verfolgen. Zugleicli
wird dabei noch die methodische Verschiedenheit des
psychologischen und metaphysischen Kulturproblems
schärfer hervortreten.
Wir sind auf das metaphysische Kulturproblem
hingelenkt worden als sich herausstellte, dass die eine
Voraussetzung der Kultur, die zentral-kosmische Stellung
des Geisteslebens von dem evolutionistischen Spi-
nozismus Vierkandt's aufgehoben wurde. Damit ver-
sank eine Hauptforderung des sozialen Selbstbewusst-
seins ins Subjektive. Wenden wir uns jetzt zur Re-
') Der Einfachheit halber ist statt „ethisch-inhaltliches Wesen der
Kultur'-' von nun an schlechthin „Kultur" gesetzt.
lis^'ion und Ethik, so wird uns hier ein (Reiches ))('-
gegnen.
Das Zurücktreten, ja das unvermeidliche Aussterben
der Religion war eine der Konsequenzen, die sich aus
dem psychologischen Kulturproblem ergaben. Als
Grund wurde angeführt die zunehmende Rationalisie-
rung des Seelenlebens, welche die Schicht des ITn-
willkürlichen, Unbewaissten immer mehr zurückzu-
drängen strebt. In dieser dunklen Gefühlssphäre
wurzelt aber nach Merkandt die Religion. Hiermit
mussten wir uns \'om Standpunkt des psychologischen
Kulturproblems aus zufrieden g-eben. Das metaphy-
sische Kulturproblem aber, das die Wahrheitsfrage des
Geisteslebens aufnimmt, richtet diese auch an die Reli-
gion. Und da zeigt sich dann, dass es mehr als psy-
chologische Motive sind, an denen die Religion zu
Grunde geht. In dem Abschnitt: „Das religiöse Leben
der Vollkultur" (S. 372) lesen wir bei Vierkandt: „Bei
der Entwickelung des sozialen Selbstbewusstseins
kommt ferner jene allgemeine Selbstbesinnung in Be-
tracht, welche die Menschheit im Reiche der Voll-
kultur vollzieht und vermöge deren sie sich darauf
besinnt, dass sie Schöpferin ihres religiösen
Lebens ist, und dass alle religiösen Lehren und
Vorschriften Projektionen ihrer eigenen seeli-
schen A^orgänge bedeuten."
Also der reinste Feuerb ach 'sehe Illusionismus
als Resultat der Kulturbewegung! Dabei kann es
freilich dann nicht Wunder nehmen, wenn das religiöse
Leben auf der Höhe der Kultur untergehen muss;
aber dies geschieht nicht aus psychologischen Gründen,
wie Vierkandt uns glauben machen möchte, sondern
w^eil von vornherein der Religion keine objektive
Wahrheit zukommt, und dies mit der auf der Kultur-
stufe sich entwickelnden kritischen Denkschärfe zum
Bewusstsein kommt. So deckt das metaphysische
Kulturproblem hier erst die ganze Schwierigkeit auf
und zeigt, dass bev^or man die psychologischen Schwie-
rigkeiten der Rehgion auf der Kulturstufe erfassen
will, man sich erst der Wahrheit der Religion ver-
gewissern muss. Noch einmal sei es gesagt: Die Reli-
gion ist metaphysisch schon zu Tode verurteilt, und
das psychologische Kulturproblem zeigt nur ihre Todes-
kämpfe.
Hiernach können wir uns von dem Idealismus
Vierkandt's ein Bild machen, wenn er S. 468
schreibt: „Da die religiöse Betrachtungsweise der
Dinge eine besondere Form des Idealismus überhaupt
bildet, so muss jede Schwächung der ersteren auch
den letzteren treffen." Aber nachdem Vierkandt
einmal die objektive Unwahrheit der religiösen Be-
trachtungsweise verkündet hat, kann es sich doch nicht
mehr um eine Schwächung derselben handeln, sondern
nur um ein radikales Aufgeben des als blosse Phantasma-
gorie Erkannten.
Beim Zusammenbruch aller objektiven Grössen
bleibt als rocher de bronze noch die Ethik. Ihr will
Vierkandt den absoluten Ch^irakter bewahrt wissen,
in ihr sieht er das letzte Kriterium Aller geistigen
Güter und Werte. Ja, er glaubt, dass die Reduktionen
auf ästhetischem und religiösem Gebiet keine wesen-
haften Verluste für die Vollkultur bedeuten, da „die
letzte Instanz für alle menschlichen Werte die sittliche
ist" (S. 454). Wenn man dabei noch an die Aeusse-
rungen denkt, welche den sittlichen Aufgaben der
Vollkultur einen geistigen Welthintergrund geben
(S. 143, 245), so sollte man erwarten, dass Vierkandt
im Ethischen mehr sieht als eine blosse Privatange-
legenheit der Menschheit. Aber auch darin sehen wir
uns getäuscht. In den Ausführungen, in denen Vier-
kandt die Verdienste Kant's um die Entwickking
sozialpsychologischer Vorstellungen behandelt, tritt mit
unverhüllter Deutlichkeit die Versubjektivierung des
Ethischen zu Tage. Es heisst dort S. 38: „Zunächst
ersetzt Kant den bisherigen Materalismus in der Be-
trachtung der Welt durch eine idealistische Denkweise,
welche den Dualismus zwischen Geist und Körper zu
Gunsten des ersteren überbrückt. In ihm vollzieht
sich gleichsam ein Stück Selbstbesinnung der moder-
nen, sich zunehmend auf ihre eigenen geistigen Werte
besinnenden und zur Herrschaft über die Aussenwelt
gelangenden Menschheit; aus ihm spricht jenes Selbst-
bewusstsein der modernen Menschheit, welches sich
des unbedingten Mehrwertes alles geistigen Seins so
sicher bewusst ist, dass es in der ganzen Körperwelt
hinfort nur die Mittel für die Realisierung geistiger
Zwecke zu erblicken vermag."
Bei Kant finden sich nach Vierkandt aber eine
Reihe von Rückständigkeiten, und zu diesen rechnet
er „jene Substanzialisierung der Ideale in Gestalt einer
übersinnlichen Welt, die wiederum mit der von ihm
so nachdrücklich vertretenen aktuellen Denkw^eise,
„gemäss der jene Ideale nur die Bedeutung
letzter Ziele im menschlichen Leben bean-
spruchen dürfen, aufs schärfste kontrastierte" (S. 41).
Wenn aber die ethischen Ideale nur die Bedeutung
letzter Ziele im menschlichen Leben haben, nur Nor-
men unseres subjektiven Lebenskreises sind, w^ie darf
dann das soziale Selbstbewusstsein behaupten, dass
unsere höchsten ethischen Werte Kern und Ziel der
Wirklichkeit sind? Was für das individuelle Selbst-
bewusstsein Unwahrheit ist, wird doch nicht durch die
3
— 34 —
Behauptung des sozialen Selbstbewusstseins zur
Wahrheit.
Nunmehr können wir das metaphysische Kultur-
problem auf ein wissenschaftlich zugängliches Problem
bringen. Wir sahen, dass auf der ganzen Linie die
Behauptungen der Kultur hinsichtlich des transzen-
denten Weltcharakters des Geisteslebens in Nichts zu-
sammensanken, wenn wir mit der Frage nach ihrer
Wahrheit an sie herangingen. Wir konnten diese Frage
nur aufnehmen vom Boden derjenigen Weltanschau-
ung, die dem Werke Vierkandt's zu Grunde Hegt,
und die wir als evolutionistischen Spinozismus be-
zeichnet haben. Hier sind nun zwei Möglichkeiten
gegeben. Entweder die Kultur hat Recht mit ihrer
These von der kosmisch zentralen Stellung des Geistes-
lebens, dann muss man den evolutionistischen Spino-
zismus aufgeben, oder aber der evolutionistische Spino-
zismus ist das letzte Wort der Wissenschaft, dann ist
Kultur unmöglich. Tertium non datur. So hängt die
Möglichkeit der Kultur an der kosmisch -zentralen
Stellung des Geisteslebens, und wir können das meta-
physische Kulturproblem bestimmen als das Problem
von der vStellung des Geisteslebens.
Indem wir das methaphysische Kulturproblem als
das Problem von der wStellung des Geisteslebens be-
stimmt haben, sind wir an einem Knotenpunkt unserer
Arbeit angelangt, von dem aus sich neue Gedanken-
perspektiven eröffnen. Vor allem haben wir mit dieser
Problemstellung den Begriff der Kultur abgelöst von
der Willkürbestimmung des Subjekts und ihn zugleich
aus der Sphäre vager Zeitstimmungen auf die Höhe
wissenschaftlicher Betrachtung gehoben.
Aber damit haben wir zugleich ein neues Problem
aufgenommen, das wir nicht mit Stillschweigen über-
gehen dürfen, ohne uns der Krschleichung schuldig
zu nuichen. Wir habim nämhch aus einer blos ge-
schichtlichen Thatsache eine metaphysische Thatsache
gemacht. Und das bedarf der näheren Erörterung.
Die Kultur ist als eine v^on der Xatur sich ab-
hebende Lebenstufe der Menschheit vorerst ein rein
geschichtliches Faktum. Zur Feststellung dessen, was
Kultur ist, ist uns nur das geschichtlich Ueberkom-
mene gegeben. Aber alles (yeschichtliche ist rein als
solches betrachtet zufällig M , dem Wandel des Augen-
bhcks unterworfen. In diesem Sinne zufällig ist auch
die Bestimmung des ethisch inhaltlichen Wesens der
Kultur bei A'ierkandt. Nirgends finden wir bei ihm
eine Begründung der die Kultur tragenden beiden
Momente: Der Existenz absoluter Werte '^) und der
kosmisch zentralen Stellung des Geisteslebens. Sie sind
ihm überkommen aus dem geschichtlich vorliegenden
Befunde der Kultur. Wäre es aber nicht möglich,
dass die geschichtlich gewordenen Voraussetzungen
der Kultur hinfällig geworden sind durch die verän-
derte wissenschaftliche Lage der Gegenw^art? Auch
die supranaturalistische Offenbarungsreligion ist uns
aus der Vergangenheit überliefert, aber können wir
dieselbe aus diesem blos geschichtlichen Grunde heute
noch als Wahrheit annehmen? Verlangt nicht alles
geschichtlich l^eberlieferte eine Begründung aus der
*) Damit soll selbstverständlich nicht gesagt sein, dass geschicht-
liche Thatsachen nicht untereinander kausal bedingt sind. Aber was
rein vom Standpunkt der Geschichte in kausaler Verkettung erscheint,
gilt vom Standpunkt der Vernunft aus betrachtet als zufällig.
-) Bei der Bestimmung des metaphysischen Kulturproblems als
des Problems von der Stellung des Geisteslebens haben wir mit Ab-
sicht dieses Moment ausser acht gelassen, denn, wie sich später /eigen
wird, sind absolute Werte nur möglich bei der kosmisch zentralen
Stellung des Geisteslebens.
3*
3^^
Gegenwart, ja aus einer zeitlosen Gegenwart, wenn es
Wahrheit für uns sein soll? Nirgends mehr als bei
der Geschichte des Geistes hat Spinoza's Wort recht,
dass ein Erkennen nur sub specie aeterni möglich ist. —
In dem Werke Vierkandt's ist der KulturbegrifF
verknüpft mit der These von der kosmisch-zentralen
Stellung des Geisteslebens. Eine geschichtliche In-
duktion vermag niemals die Notwendigkeit dieser Ver-
knüpfung darzuthun und uns eine universale, für alle
Zeiten gültige Lehre zu geben, dass Kultur als solche
auf dieser metaphysischen These ruht. Dazu bedarf
es einer gesonderten metaphysischen Untersuchung,
die aber nicht durchgeführt werden kann, ohne zu-
gleich die Frage nach dem Recht und der Wahrheit
dieser These mitaufzunehmen. Die Kultur stellt die
Forderung einer kosmisch zentralen Stellung des Geistes-
lebens auf Grund des unbedingten Wertes, welche
das geistige Leben auf der Kulturstufe hat.
Dass die Geschichte für die Wahrheit dieser
Forderung nichts ausmachen kann, haben wir gesehen.
Noch unzureichender ist aber dafür die Psychologie,
mit der man heute die grossen metaphysischen Fragen
zu erledigen pflegt.
Dass das geistige Leben auf der Kulturstufe als
Kern und Ziel der Wirklichkeit angesehen wird, ist
psychologisch verständlich bei der Bedeutung, welche
das geistige Leben auf der Kulturstufe besitzt. Man
kann sogar eine gewisse psychologische Notwendig-
keit dafür geltend machen und aus der Geschichte
mit Beispielen belegen, dass der Mensch das, was
sein Innenleben stark bewegt, in das All projiziert.
Auf dieser selben psychologischen Notwendigkeit be-
ruht aber auch die Weltbetrachtung der Naturvölker,
die ihr eigenes, von Trieben beherrschtes Innenleben
— 37 —
auf das All übertragen. Ihnen erscheint die Wirk-
lichkeit als ,.eine zusammenhangslose Masse von Er-
scheinungen, deren inneres Wesen sich in einer Reihe
von Dämonen und göttlichen Gewalten darstellt, deren
Kern unberechenbare Launenhaftigkeit und willkürliches
Handeln ausmacht".
Der Mensch auf der Naturstufe bleibt nun aller-
dings beim psychologisch Notwendigen stehen; er
nimmt sein eigenes Leben ebenso als eine gegebene
Thatsache hin wie die äussere Natur. Der Mensch
auf der Kulturstufe kann aber bei dem psychologisch
Notwendigen nicht stehen bleiben. Er überschreitet
es thatsächlich überall da, w^o er als selbständige
Persönlichkeit denkt oder handelt. Die Notwendigkeit
des Logischen im Betriebe der Wissenschaften lässt
alle psychologische Notwendigkeit weit hinter sich,
ja sie steht meistens gradezu in einem Gegensatz zu
derselben. Bei der These der kosmisch -zentralen
Stellung des Geisteslebens sich mit der psychologischen
Notwendigkeit genügen lassen , bedeutet ein schwächliches
Ausweichen gerade an dem Punkte, von dem aus erst
alles geistige Ringen der Menschheit einen Sinn be-
kommt, bedeutet das Grosszüchten einer inneren Un-
wahrheit, die nirgends entsittlichender wirkt als bei den
letzten Fragen unserer geistigen Existenz.
In der Kultur soll so gehandelt werden, als ob
das Geistesleben Kern und Ziel der Wirklichkeit wäre.
Das metaphysische Problem lautet daher: hat das
(jeistesleben diese kosmisch-zentrale Stellung?
Eine vornehm thuende Philosophie mag dieses
Problem als unwissenschaftlich, als allzu metaphysisch
unerledigt bei Seite schieben; w4r halten es für ein
Zeichen noch grösserer Unwissenschaftlichkeit wirklich
vorliegenden Problemen aus dem Wege zu gehen.
weil sie nicht in den engen Kreis dogmatisch fest-
gelegter Probleme hineinpassen i).
Vierkandt sieht den fundamentalen Unterschied
zwischen den Natur- und Kulturvölkern in ihrer ver-
schiedenen Stellung zum geistigen Leben. Bei den
Naturvölkern ist das geistige Leben noch nicht zur
Selbständigkeit gelangt; bei den Kulturvölkern ist es
zum Selbstzweck geworden. Damit hat Vierkandt
ein geschichtliches Faktum konstatiert. Er könnte
dabei stehen bleiben, wenn nicht zugleich mit der
geschichtlichen Thatsache ethische Forderungen und
metaphysische Behauptungen gesetzt wären. Auf der
Kulturstufe wird das geschichtlich Gewordene nicht
blos behandelt als das, was ist, sondern zugleich als
das, was sein soll. Damit wird die Thatsache der
Kultur zugleich eine Aufgabe, die alle Kräfte des
Menschen anspannt. Das materielle Leben sinkt
herab zu einem Mittel für die Verwirklichung geistiger
Zwecke. Diese geistigen Zwecke nehmen die ganze
Idealität des Menschen in sich auf und wachsen zu
einer geistigen Wirklichkeit aus, die der v^om sittlichen
Bewusstsein getragene Gedanke als den Kern der
Welt proklamiert.
Liegen aber in der geschichtlichen Thatsache der
Kultur so viele Forderungen und Thesen, ist die
Kultur so verknüpft mit den letzten Idealtendenzen
des Menschen, dann lässt sich nicht stehen bleiben
bei der Geschichte, dann muss die Geschichte ihr
Recht erweisen. Das kann nicht wieder von der
^) Windelband, der in seinen ,, Präludien" den ncukantischen
Standpunkt der Bewusstseinsimmanenz sehr schroff" vertritt, nennt dort
einmal die Philosophie die ,, entsagungsvolle Wissenschaft vom Xormal-
bewusstsein". Danach fallen ungefähr dreiviertel aller philosophischen
Probleme ausserhalb der Philosophie. Die Methoden haben sich aber
nach den Problemen, nicht die Probleme nach den ]\[cthoden zu richten.
— 39 —
(xeschichte aus geschehen. Die Wertung der Geschichte
kann nur ausgehen von einer GesamtaufFassung des
(reisteslebens. Erst von dieser Gesamtauffassung aus
kann über Wahrheit und Recht des in der Kultur
zu Tage getretenen geistigen Lebens entschieden
werden und damit zugleich über die Wahrheit der
ganzen Kultur. Das bedeutet eiber ebenfalls die bis
jetzt blos geschichtliche Thatsache der Kultur aus
ilirer Zufälligkeit befreien und sie zur Notwendigkeit
erheben. Damit erst gewinnen wir ein Recht zur
Kritik und Abweisung aller Bestrebungen, welche
mit der Vergangenheit brechend, willkürlich neue
Kulturgrundlagen legen wollen. Man denke z. B.
an Nietzsche. Vom Standpunkt der blossen Ge-
schichte stehen wir wehrlos jedem Bilderstürmer gegen-
über, der in Sachen der Kultur Studiosus rerum
novarum ist. Und das ist unsere Zeit, der wir den ge-
rühmten historischen Sinn auf geistigem Gebiete ab-
sprechen. Die Gegenwart erstickt vor Geschichte und
ist zugleich vor lauter Geschichte ungeschichtlich.
Wir stehen vor dem Abgrund des Unhistorischen;
was eine mehrtausendjährige Arbeit der Menschheit
an geistiger Vertiefung errungen hat, sehen wir dem
Bewusstsein der Gegenwart entschwinden. Noch nie
gab es, selbst nicht in der verachteten Aufklärungs-
zeit, einen grösseren Bruch mit der Geschichte, als
ihn die vom N^ituralismus beherrschte Gegenwart
vollzieht, ohne es zu wissen. —
Also die Kultur verlangt zu ihrer Bewahrheitung
einer Metaphysik. Das ist nun nicht etwas so schlimmes,
wie es sich viele vorstellen, wenn sie sagen: man solle
doch aufhören unsere höchsten Güter an das traurige
Schicksal der Metaphysik zu ketten. Einmal ist die
Verbindung nicht der Willkür der Alenschen ent-
— 40 —
Sprüngen, sondern im Wesen unserer höchsten Güter
hegt ein hinübergreifender Zug ins Metaphysische; das
blosse Moment, dass sie sich über den Wandel des
Augenblicks erheben und einen Zug von Ewigkeit an
sich tragen, führt die denkende Betrachtung über den
Wechsel der sinnlich gegebenen Welt hinaus und
lässt den Menschen nach einer Verankerung in meta-
physischen Zusammenhängen ausspähen.
Dann aber: Finden wir bei Vierkandt, den So-
ziologen und Sozialphilosophen nicht auch eine Meta-
physik und zwar die schlimmste, die es giebt, die
Aletaphysik der Selbstverständlichkeit. Allgemeine
naturwissenschaftliche Thatsachen und Gesetze werden
über sich selbst verlängert. Die Fäden von Abstrak-
tionen w4e Gesetz, Entwicklung, Stetigkeit etc. laufen
hinter der sinnlichen Weltbühne zusammen und geben
einen metaphysischen Knoten, der stark genug er-
scheint, um Gott und Mensch daran anzuhängen.
Wissenschaftlich formuliert wird eine solche Metaphysik
als Aufgabe der Philosophie, die darin bestehen soll,
die Resultate der Einzelwissenschaften — worunter
meistens die Naturwissenschaften verstanden werden —
zu verallgemeinern und unter einander in Beziehung
zu setzen. Wir müssen eine derartige Metaphysik
aber ablehnen, weil sie grade — wie sich noch ge-
nauer zeigen wird — den spezifischen Thatsachen und
Problemen des Geisteslebens nicht gerecht werden kann.
Welcher Art aber muss die von uns geforderte
Metaphysik sein? Die Transzendentalfrage der Kultur-
philosophie: Wie ist Kultur möglich? muss uns hier
den Weg weisen. Diese Transzendentalfrage bedeutet,
was muss wirklich und gegeben sein, damit Kultur,
die als Thatsache vorliegt, überhaupt sein kann. Nun
sahen Avir, dass die aus der geschichtlichen Thatsache
— 41 —
der Kultur hervorspringende Forderung einer kosmisch-
zentralen Stellung des (xeisteslebens die These war,
auf die alles ankommt. Und es handelt sich jetzt
darum dieselbe aus dem Gebiet geschichtlicher Zu-
fälligkeit in diis (xebiet metaphysischer Notwendigkeit
hinüberzuleiten. Dass eine derartige These nur aus
einer idealistischen Metaphysik ihre Begründung finden
kann, leuchtet von vorneherein ein. Zugleich liegt es
auch in der Natur der Aufgabe, dass dieser Idealismus
seinen Ausgangs- und Ansatzpunkt in den Thatsachen
des geistigen Lebens nimmt. Darin treffen wir zu-
sammen mit einem Streben der Zeit von den Geistes-
wissenschaften aus zu einem neuen Idealismus zu ge-
langen. —
Eine bedeutsame Verschiebung- macht sich im all-
gemeinen Zeitbewusstsein geltend hinsichtlich des Er-
kenntniswertes der Naturwissenschaften. Glaubte man
noch vor ein paar Dezennien , dass nur die Natur-
wissenschaften dem Menschen alle Tiefen der Welt
erschliessen könnten, so war der Ruf des Dubois Rey-
mond: „Ignoramus et semper ignorabimus" der Anfang
vom Ende dieses Glaubens ^). Die erkenntnistheo-
retische Besinnung des Neukantianismus kam noch
dazu. In naturwissenschaftlichen Kreisen ist die Ten-
denz im xVnwachsen begriffen auf alle Naturerklärung
zu verzichten, um desto sicherer die reine Naturbe-
schreibung walten zu lassen -). Damit hat die Natur-
*) Vgl. auch dazu die genauere Formulierung Dilthey's in der
„Einleitung zu den Geisteswissenschaften", S. 12 — 17.
') Sehr scharf tritt diese Tendenz zu Tage in den ,, populär
wissenschaftlichen Vorlesungen" von E. Mach und hier besonders in
dem Aufsatz: „Die ökonomische Natur der physikalischen Forschung."
Vgl. auch Ostwald: „Die Überwindung des wissenschaftlichen Mate-
rialismus."
— 42 —
Wissenschaft den Anspruch aufgegeben eine ab-
schliessende Welterklärung zu geben. Die Phrase von
der „naturwissenschaftlichen Weltanschauung" ist über-
haupt ohne vSinn, denn die Naturwissenschaften haben
nur viele Geheimnisse auf wenige reduziert, und diese
lässt sie auf sich beruhen. Dadurch grade hat die
Naturwissenschaft ihre Grösse erreicht, dass sie es
verstanden hat, alle metaphysischen Probleme soweit
abzublenden, dass die Sicherheit ihres methodischen
Grundbaues in keiner Weise gefährdet und beeinflusst
wird. In diesem Punkte treibt sie die aufstrebenden
Geisteswissenschaften zur Nacheiferung an. Herrscht
auch im Gebiet der Geisteswissenschaften noch grosser
Methodenstreit 1), so besteht doch mehr oder minder
darin Übereinstimmung, die metaphysischen Fragen,
die sich an die geistigen Thatsachen knüpfen, so weit
als möglich zurückzuschieben, um den geisteswissen-
schaftlichen Untersuchungen die wSicherheit der Natur-
wissenschaften zu geben. Auch das Begriffsgerüste,
das sich so fruchtbar erwiesen hat, wird grösstenteils
mit herübergenommen.
So hofft Vierkandt, dass ,, dieselbe wissenschaft-
liche Denkweise, welche seit der Renaissance in das
Gebiet der Naturbetrachtung siegreich eingedrungen
ist, auch bei der Betrachtung" des geistigen Lebens
sich die Herrschaft erwerben wird" (S. 58).
Das soll dadurch geschehen, dass die Begriffe
der Kausalität und der Gesetzmässigkeit in den Mittel-
punkt der wissenschaftlichen Betrachtungsweise ge-
') AVir erinnern hier u. a. an Werke wie Dilthey's „Einleitung
in die Geisteswissenschaften", Windelband 's Rektoratsrede: „Ge-
schichte und Naturwissenschaft", Rickert: ,, Grenzen der naturwissen-
schaftlichen Bcgriflsbildung", Wundt: Logik II, Carl Menger:
., Untersuchungen über die Methode der Sozial Wissenschaften." Auch
der Streit um die Begriffsbestimmung der Psychologie gehört hierher.
— 43 —
stellt werden. Danin sehliesst sich noch, als besonders
den Thatsachen des geistigen Seins eigen, der Ent-
wickln ngsbegriff. Der Entwicklungsbegriff giebt nach
Vierkandt dem geistigen Leben eine eigene Position
gegenüber der Natur.
„Hat also diis geistige Leben einen andern Cha-
rakter als das der Natur, so wird sich für eine ab-
schliessende philosophische Betrachtung der Ide^dismus
nicht mehr blos aus dem theoretischen Grunde em-
pfehlen, dass unser eigenes Sein uns leichter begreif-
lich ist als das materielle, sondern auch durch die
sachliche Erwägung, dass die Thatsache der Ent-
wickelung erst in den Eigentümlichkeiten des geistigen
Seins zum vollen Ausdruck gelangt" (S. 67).
Dieser Versuch Vierkandt's von den Geistes-
wissenschaften aus einen Idealismus zu begründen, trägt
eine zeitgeschichtliche Signatur, und wenn wir diesen
Versuch daher einer kurzen Kritik unterziehen, so
weisen wir damit eine Fehlrichtung der Zeit auf.
Vierkandt will sich für den Idealismus entschei-
den: I. Weil „unser eigenes Sein uns leichter begreif-
lich ist als das materielle"; 2. Weil „die Thatsache der
Entwicklung erst in den Eigentümlichkeiten des geisti-
gen Seins zum vollen Ausdruck gelangt."
Den ersten Grund müssen wir ablehnen, wenn wir
uns auf den Boden Vierkandt's stellen. Wird unser
eigenes Sein geisteswissenschaftlich behandelt in dem
wSinne, dass die metaphysischen Fragen, die mit den
Thatsachen des Innenlebens zugleich gesetzt sind, ab-
geschnitten werden, so stehen wir unserem eigenen
Sein als einem Komplex seelischer Phänomene genau
so unbekannt und fremd gegenüber wie dem materiellen
d. h. natürlich, wenn unser eigenes Sein uns die Er-
— 44 —
kenntnis des Weltgrundes vermitteln soll ^). Und darum
handelt es sich doch, wenn man von den Thatsachen
des geistigen Seins aus zu einer idealistischen Welt-
anschauung gelangen will. Es liegt aber in den geistes-
wissenschaftlichen Thatsachen gar kein zwingendes
Moment der Umwandlung des naturwissenschaftlichen
Weltbildes, Methoden und Begriffe wandern aus dem
einen Gebiet in das andere und unterwerfen die Geistes-
thatsachen einer positivistischen Behandlungsweise. Wir
sagen mit Absicht „positivistisch", denn der Positivismus
hat das Erkenntnisideal der Naturwissenschaften auch
auf die geistigen Thatsachen übertragen -).
Übersteigt daher in Wirklichkeit der metaphysische
Erkenntniswert der geisteswissenschaftlichen That-
sachen in keiner Weise den der Naturwissenschaften,
so fällt die Begründung des Idealismus auf die (jeistes-
wissenschaften in sich zusammen.
Aber vielleicht leistet die „sachliche Erwägung,
dass die Thatsache der Entwicklung erst in den Eigen-
tümlichkeiten des geistigen Seins zum vollen Ausdruck
gelangt" mehr für die Begründung einer idealistischen
Weltanschauung?
Vierkandt legt grosses Gewicht auf die Bedeutung
des Entwickelungsbegriffes für den Idealismus.
„Das Reich der Natur ist vor allem dazu ange-
than in uns das Verständnis für die Gesetzmässigkeit
alles Geschehens zu erwecken, das Reich des geistigen
Lebens vor allem dazu angethan uns die Thatsache
^) Erkenntnistheorelisch ist es selbstverständlich, dass vor allem
unser eigenes Sein uns gegeben und begreiflich ist, ebenso wie auch das
materielle Sein uns streng genommen nur als Bewusstseinsinhalt gegeben
ist. Aber metaphysisch ist damit noch garnichts gewonnen.
-) Vgl. die klassische Formulierung des positivistischen Erkenntnis-
ideals in Mill's Essay: „August Comte und der Positivismus" S. 4.
~ 45 —
der Entwicklung- verständlich zu machen. Dieser Unter-
schied hängt zusammen mit einem andern, nämhch dem
verschiedenen Verhältnis der einzelnen Elemente zu
der Gesamtheit oder dem resultierenden Gesamtvor-
gange. In der Mechanik — die organischen Diszi-
plinen der Naturwissenschaft bilden auch in dieser
Richtung gleichsam eine Art Uebergang zu den Geistes-
wissenschaften - lässt sich der Gesamtvorgang bei der
Betrachtung der Kräfte und Bewegungen stets durch
eine blosse x\ddition der Wirkungen der einzelnen
Elemente berechnen: Die Gesamtheit ist hier stets
gleich der Summe der Elemente. Im geistigen
J.eben ist sie stets grösser. Schon ein einziger ge-
sprochener Satz enthält vielmehr an logischem und
psychologischem Inhalt als sich durch eine blosse Ad-
dition der entsprechenden Inhalte der einzelnen Wörter
ergeben würde. Ebenso ist alles soziale Leben der
Menschheit von der Thatsache beherrscht, dass durch
das blosse Zusammenwirken der Einzelwesen neue
Eigenschaften und Leistungen hervorgerufen werden,
die durch keine Addition der Leistungen der isolierten
Individuen erhalten werden können. Aller Entw^ick-
lung liegt dieselbe Thatsache zu Grunde. Auf einer
früheren Stufe sind die Eigenschaften der späteren
zwar schon vorgebildet, aber die höhere Stufe enthält
zwar nicht qualitativ, aber doch intensiv Neues
in sich, das auf der früheren noch nicht vorhanden
war" (S. 66).
Wir können nun diesem eben geschilderten Ent-
wicklungsbegriff gar keinen metaphysischen Erkennt-
niswert beimessen. Wenn Vierkandt sagt, dass der
Entwicklungsgedanke erst seit der Mitte unseres Jahr-
hunderts aus den Geisteswissenschaften in die Natur-
wissenschaften übertragen worden ist, so ist hinzuzu-
- 46 -
fügen, dass die Naturwissenschaften den Entwicklungs-
begriff stark modifiziert haben, und dass er in dieser
veränderten Form heute auf die Geisteswissenschaften
zurückwirkt. Diese durchgreifende Veränderung be-
steht in der I mm anent machung des Entwicklungs-
begriffes, in dem Fallenlassen des festen, transzendenten
Hintergrundes. Der Entwicklungsbegriff hat aber nur
dann einen metaphysischen Erkenntniswert, wenn sich
in der Entwicklung ein ihr zu Grunde liegendes Sub-
jekt oder eine Substanz erschliesst ^j. „Damit ist zu-
gleich gegeben, dass uns erst das Ende der Entwick-
lung offenbart, was der Anfang enthielt; in ihm war
erst als Anlage enthalten, was durch die successiven
Thätigkeiten schliesslich geworden ist; und eben da-
mit ist der ganze Prozess unter den teleologischen
Gesichtspunkt gestellt, der vom Enderfolg aus die vor-
angehenden Stadien als Bedingungen oder Mittel be-
greift, durch die das reXog verwirklicht wird, zugleich
aber in den Begriff des Subjekts den vollen Grund
dessen legen muss, was es wird"-).
Das sind die formalen Bedingungen, unter denen
der Entwicklungsbegriff überhaupt einen metaphysi-
schen Erkenntnis wert hat.
Bei Vierkandt besteht der ganze Gewinn der
Entwicklung in einem sozialpsychologischen Plus, das
keinen Rückschluss gestattet auf eine ihm zu Grunde
liegende Wirklichkeit, denn es kommt bei der Ent-
wicklung nach den eigenen Worten Vierkandt's ja
nichts qualitativ Neues heraus. Die Entwicklung ist
hier nicht an eine wSubstanz gebunden, die sich ent-
wickelt. Es fehlt diesem freischwebenden, immanenten
^) Im Hegerseben System hat dieser metaphysische Erkenntnis-
■wert der Entwicklung seinen grossartigsten Ausdruck erlangt.
- Sigwart: Logik Bd. II, S. 651 (2. Aufl.).
— 47 —
Ent\vicklunt>sbei)Tiftb jedes teleologische Moment. J)as
Intensiv Neue, das als sozialpsychologischer Nieder-
schlag herausk(^mmt, kann ebensogut vom Standpunkt
eines idealen Fortschritts angesehen antiideal als ideal
sein. Wohl ist im geistigen T.eben die Summe stets
grösser als die (i-esamtheit der Elemente, aber be-
deutet dieses „grösser" schon „besser" oder „höher"
im Sinne einer idealistischen Entwicklungstheorie?
Der Entwicklungsbegriff Vierkandt's ist bedenkhch
naturalistisch gefärbt und das Betonen des Intensi\-
Xeuen imi geistigen Leben hebt nicht die Thatsache
auf, dass jedes sozialpsychologische Produkt nur eine
quantitative Komphkation naturgegebener Grössen dar-
stellt. Das Wertmoment ist in den Entwicklungs-
begriff hineingetragen vom Gefühl, das noch aus den
Quellen unserer klassischen Philosophie schöpft.
So müssen wir schon aus erkenntnistheoretischen
Gründen den Versuch abweisen von den ,, Geistes-
wissenschaften" zu einem Idealismus zu gelangen.
Damit aber erkennen wir dem Gedanken, dass nur
von den Thatsachen des geistigen Lebens aus ein
Idealismus möglich sei, vollkommene Berechtigung zu,
nur muss dann dieses geistige Leben anders gefasst
werden als es die Geisteswissenschaften thun. Es
fragt sich nämlich, ob die Geisteswissenschaften nicht
dem Wunsche nach Einheitlichkeit der Methode das
konkrete Sein der Geistesthatsachen opfern , ob die
einfache Übertragung der naturwissenschaftlichen Be-
griffe und Methoden auf das Reich der geistigen That-
sachen statthaft ist.
An den beiden Begriffen der Entwicklung und
der Stetigkeit können wir zeigen, dass die Thatsachen
des Geisteslebens in keiner Weise den methodischen
- 48 -
Forderungen der „Geisteswissenschaften" entsprechen,
sondern ihnen gradezu entgegengesetzt sind.
Der Begriff der Entwicklung mag eine methodische
Bedeutung für die Geisteswissenschaften haben, aber
wenn wir uns an den Thatsachen des Geisteslebens
selbst orientieren, so ist hier der Entwicklungsgedanke
nicht glatt durchzuführen. Eucken sagt mit Recht:
„Zeigen sich in der Lebensbewegung grosse Gegen-
sätze, die im Laufe der Geschichte eher zunehmen als
abnehmen, so versagt jener Begriff" i). L^nd bei Vier-
kandt versagt er auch. Der Begriff der natürlichen
Entwicklung, der am Anfang des Buches mit solcher
Emphase eingeführt wird, bricht unterwegs zusammen
vor der Wucht der gegenteiligen Thatsachen. Der
Titel des letzten Kapitels: „Die Gebrochenheit der
Vollkultur" ist die beste Kritik der Möglichkeit der
Übertragung des natürlichen Entwicklungsbegrififes von
der Notwendigkeit der Natur auf das Reich des
Geistes.
Mit dem Begriff der Stetigkeit geht es nicht
anders. Mit diesem Begriff können zwei ganz ent-
gegengesetzte Weltanschauungen gestützt werden.
Geht man vom Geist aus, wie es z. B. Hegel that,
so kommt man zu einem monistischen Ideahsmus, der
die Natur vergeistigt. Geht man hingegen von der
Natur aus, wie es heute geschieht, so naturalisiert man
das Geistesleben. Beides ist gleich einseitig. Die
Position Hegel's gegenüber der Natur hat man auf-
geben müssen. Ein Reich mechanischer Notwendig-
keit Hess sich nicht einfach wegspiritualisieren.
^) Eucken: Grundbegriffe der Gegenwart S. ii6. Vgl. auch
Siebeck, Lehrbuch der Religionsphilosophie S. 415. „Der Fortschritt
ist nicht als eine natiu-notwendige Thatsache, sondern als eine ethische
Aufgabe zu betrachten."
— 49 —
Aber lässt sich denn das (Tcistcsleben dorn Natur-
prozess einfügen? Im Begriff der Stetigkeit liegt die
These, dass auch alles geistige Leben nur eine quanti-
tative Komplikation naturgegebener P^aktoren ist. Es
ist das wiederum eine methodische Forderung, die
ihren letzten (rrund in den Naturwissenschaften hat.
Die „geisteswissenschaftlichen" Thatsachen setzen in
der That dem Begriff der vStetigkeit keine Schwierig-
keiten entgegen.
Nun hat Vierkandt die seelischen Kräfte und
Grössen, die auf der Naturstufe thätig sind, sehr scharf
beleuchtet und ihre Eigentümlichkeiten an einer P^ülle
von Beispielen anschaulich gemacht^). Das geistige
Leben der Naturvölker ist noch vollkommen im Bann
einer von Trieben beherrschten Lebensführung. Die
Bewusstseinsvorgänge sind unwillkürlicher Art. Wenn
wir damit die Grössen vergleichen, die bei den Kultur-
völkern Macht gewonnen haben, so ist es ganz un-
begreiflich, wie ohne Neueinsetzen einer qualitativ
andern Art von Kräften derartige Grössen wie absolute
Werte aus dem Seelenleben der Naturvölker entstehen
konnten. Vierkandt erkennt absolute Werte an.
Damit ist aber Stetigkeit unvereinbar. Entweder ab-
solute Werte sind ein qualitatives Novum innerhalb
des von Lust und Unlust bewegten Seelenlebens oder
es sind keine absoluten Werte. Nun nimmt Vier-
kandt zwar auch einen Dualismus innerhalb des
Seelenlebens bei den Kulturvölkern an, aber dieser
Dualismus ist rein formaler Natur und entspricht in
^) Vgl. dazu auch den Aufsatz Vierkandt's: „Die Entstehung
neuer Sitten" in der Festschrift der Herzogl. Technischen Hochschule
Carolo- Wilhelmina zur LXIX. Versammlung deutscher Naturforscher
und Arzte.
— 50 —
keiner Weise dem inhaltlichen Lebensdualismus, der
zwischen Kultur und Natur waltet.
Zeigte sich hier schon, dass das Geistesleben die
naturwissenschaftlichen Begriffe nicht verträgt, so
Avollen wir jetzt den (xegensatz zwischen Geistes-
wissenschaften und Geistesleben auch nach der posi-
tiven wSeite hin vertiefen, indem wir die Frage auf-
nehmen : Gestatten die Thatsachen des geistigen Lebens
eine den Methoden der Naturwissenschaften ent-
sprechende Behandlungsweise?
Bei den Thatsachen der Naturwissenschaft können
wir uns mit der Einordnung in ein Gewebe von ab-
strakten Formeln genügen lassen. Den letzten Ele-
menten der Naturwissenschaft stehen wir unbekannt
gegenüber, aber die Positivität der naturwissenschaft-
lichen Thatsachen wird dadurch in keiner Weise auf-
gehoben, dass ihre metaphysische Wurzel im Dunkeln
bleibt. Zwar ruht auch die ganze Arbeit der Natur-
wissenschaft auf einer metaphysischen Zurechtlegung
der Wirklichkeit, aber die Wahrheit ihrer Aussagen
wird nicht angetastet, wenn Atome, Moleküle, Attrak-
tion, Repulsion etc. als blosse Rechenmarken ange-
sehen werden; denn die Naturwissenschaft hat einen
Vorgang erklärt, wenn sie dieselben gleichbleibenden
Thatsachen in der Mannigfaltigkeit wieder erkennt
und sie einer Formel einfügen kann ^).
Diese Tendenz der Naturwissenschaften abzusehen
von dem metaphysischen Wesen ihrer Elemente —
eine Tendenz, die auf ihrem Gebiet ganz berechtigt
ist, weil man es dort nur mit quantitativen Grössen
zu thun hat, — hat sich auch den Geisteswissenschaften
mitgeteilt, und in diesem Sinne haben wir ein Recht
*) Vgl. dazu E. Mach, ,,Die ökonomische Natur der pliysika-
Hschen Forschung" S. 211 u. w.
— 51 —
von einer naturwissenschaftlichon Beliandlungswoise
des geistigen ]>ebens zu spreclien.
Nun behaupten wir, dass diese naturwissenschaft-
liche Behandkuigsweise den Geistesthatsachen nicht
gerecht werden kann. Es ist das Eigentümliche aller
Geistesthatsachen, wodurch sie sich prinzipiell von allen
Naturthatsachen unterscheiden, dass sie immanente
P^ orderungen in sich tragen. Sie weisen über sich
selbst hinaus.
Xehmen wir z. B. die Religion. Einmal ist sie
eine psychische Thatsache. Damit ist sie aber noch
nicht erschöpft. Sie weist über ihre Seinsweise als
psychisches Phänomen hinaus; sie will über Sinn und
Vernunft der Welt aussagen. Begnügt man sich nun
zu konstatieren, dass beim Menschen eigenartig be-
stimmte, immer wiederkehrende psychische Prozesse
auftreten, die man mit dem Namen „Religion" belegt,
so ist das zwar eine Wahrheit, aber dieselbe wird
dem Charakter der Religion als einer geistigen That-
sache nicht gerecht.
Oder, um ein Beispiel aus der Logik anzuführen:
es wird heute im allgemeinen anerkannt, dass die
Darstellung der psychischen Prozesse, aus denen sich
das Urteil zusammen setzt, in keiner Weise das Wesen
des Urteils trifft. Dieses vielmehr liegt in der Forderung
überindividuelle, objektive Gültigkeit zu besitzen i).
Dieser Anspruch ist aber psychologisch nicht zu be-
gründen.
Wir können daher zwei Seiten an den geistigen
Thatsachen unterscheiden. Einmal sind sie psychische
Phänomene und rein als solche betrachtet, konzentriert
sich alles Interesse wie bei den Naturthatsachen auf
') Vgl. Sigwart, Logik B. 1, § 14.
4*
die Thatsächlichkeit. Hier kann ihre Daseinsweise im
psychischen Gesamtprozesse aufgezeigt werden, ihre
Abhängigkeit von äusseren Naturfaktoren, ihre Ver-
stärkung oder Schwächung durch die sozialpsycho-
logischen Zusammenhänge und — last not least —
ihre geschichtliche Entwicklung in den Perioden der
Menschheitsgeschichte. Dabei bewegen sich diese
sog. Geisteswissenschaften, was Stellung zur Meta-
physik anbelangt, auf einer Ebene mit den Natur-
wissenschaften. Als die Zentralwissenschaft dieser
Gruppe von Wissenschaften gilt die Psychologie, und
in dieser herrscht das stärkste Bestreben alles Meta-
physische aus dem Umkreis ihrer Untersuchungen zu
verbannen; der Begriff Psychologie ohne Psyche hat
längst aufgehört paradox zu erscheinen; man sucht in
der Psychologie keine Substanz, keine Seelenvermögen
mehr zu entdecken, man operiert nur noch mit psychi-
schen Prozessen.
Wir würden für die Gesamtheit dieser Wissen-
schaften den Namen „psychologisch-historische Wissen-
schaften" vorschlagen.
Die Untersuchungssphäre dieser psychologisch-
historischen Wissenschaften hört aber da auf, wo die
Thatsachen des geistigen Lebens nicht mehr als blos
psychische Phänomene betrachtet werden, sondern nach
der Seite ihrer Forderungen, wo aus dem Pluss des
seelischen Geschehens Thatsachenkomplexe von über-
individueller Gültigkeit sich herausheben, und die Frage
nach dem Recht und der Wahrheit dieser überindivi-
duellen Gültigkeit auftritt. Hier versagt die Psychologie,
die in den psychologisch-historischen Wissenschaften
als Schlüssel des Verständnisses diente.
Nehmen wir als verdeutlichendes Beispiel die
Ethik. Die Ethik bleibt so lange (regenstand der
— öö —
psychologisch-historischen Wissenschafton als sie das
ethische Bewusstsein psychologisch zergliedert, empi-
rische Daten sammelt, die geschichtliche Entwicklung
der ethischen Normen darlegt usw.
Aber die grösste Stoflfanhäufung der Ethik als
psychologisch -historischer Wissenschaft vermag nie
die eigentlich ethischen Probleme lösen wie das
Problem der A^erpflichtungskraft der ethischen Normen,
oder das Problem des höchsten Gutes, oder das Kri-
terium der ethischen Handlung etc.
Diese Probleme, welche aus der sachlichen, über-
individuellen Natur des Ethischen stammen, sind einer
qualitatix' andern Art von Wissenschaften zuzuweisen,
für die wir den Namen Geisteswissenschaften oder
,,noologische'* 1) Wissenschaften vorbehalten würden.
Wie die Ethik, so sind alle Thatsachenkomplexe des
geistigen Lebens wie Religion, Recht, Logik, Ästhetik
sowohl Gegenstand der psychologisch-historischen als
auch der noologischen Wissenschaften. Aber vom
Standpunkt der geistigen Thatsachen selbst sind die
noologischen W%senschaften von weit grösserer Be-
deutung als die psychologisch-historischen, denn erst
in den noologischen Wissenschaften erreichen die
Geistesthatsachen sozusagen ihr eigenes Wesen, hier
sprechen sie ihre Forderungen aus, und auf dem Boden
der noologischen Wissenschaften kann sich erst die
nur dem Geistesleben eigentümliche Frage nach dem
Recht und der Wahrheit seiner Thatsachen erheben.
Gegenüber einer empiristischen Sammelwut, die in
der massenhaften Anhäufung von Thatsachen alle
Rätsel des geistigen Lebens gelöst glaubt, muss es
') Der Ausdruck „noologisch" ist aus den Werken Eucken's
genommen. Dieser hat ihn gebildet, um damit einen Gegensatz zum
Psychologischen zu bezeichnen.
— 54 —
betont werden, dass diese Thatsachen als solche tot
und stumm sind und erst Leben und Sprache ge-
winnen von den Problemstellungen der noologischen
Wissenschaften aus.
Die psychologisch-historischen Wissenschaften ver-
fahren deskriptiv und analytisch; sie decken Kausal-
zusammenhänge auf Die empirischen Gestaltungen,
in denen das gesellschaftlich-geschichtliche Leben sich
darstellt, ist ihr Gegenstand. Sie haben in diesem
Jahrhundert, bes. in der zweiten Hälfte, eine uner-
messliche Ausdehnung erfahren. Unser geschichtliches
Wissen hat uns die Jahrtausende erschlossen ; wir
kennen die Geschichte der alten Völker besser als
diese selbst; das Entstehen und Werden der grossen
Weltreligionen ist uns bekannt geworden; wir kennen
den Wandel der Anschauungen, den Wechsel der
Ideale; alles, was uns fest dünkte, hat sich als im
Strome der Entwicklung befindlich gezeigt, alles, was
absolut schien, ist relativ geworden. L^nd w4r haben
die Abhängigkeiten und Bedingtheiten der Erschei-
nungen unter einander zu würdigen gelernt.
Aber — dieses geistige Leben, das in tausenderlei
Gestaltungen ausgebreitet vor uns liegt, was ist es
selber? Was bedeutet dieser bunte Maskenzug von That-
sachen? Hat die psychologisch-historische Arbeit des
Jahrhunderts uns das Wesen des Geistes tiefer er-
schlossen? Sind wir an geistiger Erkenntnis durch die
empirische Forschung reicher geworden?
Von den psychologisch-historischen Wissenschaften
aus erscheint das geistige Leben als ein sich ewig
wandelnder Prozess ohne Sinn und Zweck, objektive
Grössen giebt es hier nicht; aus dem zufälligen Zu-
sammenspiel gesellschaftlicher Elemente erwachsen die
geistigen Inhalte, Produkte des gesellschaftlichen Lebens.
— oo —
Das ( leistesleben erlangt hier keine Selbständigkeit,
es erscheint als eine blosse Fortsetzung des Natur-
prozesses.
Bleibt man also bei den psychologisch-historischen
Wissenschaften stehen, so liefert das geistige Leben
keinen eigenen Ansatzpunkt für eine Metaphysik, denn
es wurzelt hier nicht in einer Notwendigkeit der Dinge,
es ist nur eine Oszillation des Naturprozesses, eine
quantitative Komplikation naturgegebener Grr)ssen.
Eine eigene Realität und Selbständigkeit hat unter
diesen Umständen nur ein sich selbst genügender
Naturprozess, der deshalb auch zum einzig möglichen
Stützpunkt einer naturalistischen Metaphysik gemacht
wird. Wie jede Weltanschauung, so übt auch der
Naturalismus eine bestimmte Wert Verteilung auf das
Ganze der Wissenschaften aus. Metaphysischen Er-
kenntniswert haben für den Naturalismus nur die
Naturwissenschaften. Die Fortschritte derselben be-
deuten eine immer umfassendere Bestätigung des von
ihm angenommenen mechanischen Grundbaues der
Wirklichkeit. Die psychologisch-historischen Wissen-
schaften sind ohne jeden Einfluss auf die Gestaltung
der Weltanschauung.
So hat sich hier auf einem mehr prinzipiellen
Wege dasselbe ergeben, was wir schon bei der Kritik
Vierkandt's gezeigt haben: dass nämlich die That-
sachen des geistigen Lebens, wenn geisteswissenschaft-
lich d. h. nach unserer Terminologie psychologisch-
historisch behandelt , keinen Idealismus begründen
krmnen, dass sie nicht einmal einen eigenen Ansatz-
punkt zu einer Metaphysik geben und daher bei der
gegenwärtigen philosophischen Lage nur zu einer Be-
kräftigung des Naturalismus führen — was wir ja
schliesslich auch bei Vierkandt sehen.
— 56 ~
Nun können wir aber bei den psychologisch-
historischen Wissenschaften nicht stehen bleiben. Die
geistigen Thatsacheri, wie wir oben gesehen haben,
verlangen für die wichtigste Seite ihrer Existenz eine
neue Art von Wissenschaften, die wir als noologische
bezeichnet haben.
Können nun die noologischen Wissenschaften
ohne Metaphysik auskommen?
Wir sahen, dass die psychologisch -historischen
gleich den Naturwissenschaften bei ihren Untersuch-
ungen die Metaphysik ganz zurückschieben konnten.
Die noologischen Wissenschaften können das nicht.
Mit den Thatsachen der noologischen Wissen-
schaften sind zugleich Probleme verknüpft, welche die
noologischen Wissenschaften aus ihren eigenen Zu-
sammenhängen nicht lösen können. Jede einzelne
dieser Wissenschaften kommt bei ihren Untersuchungen
auf Punkte, die von ihrem begrenzten Wissensgebiete
nicht erledigt werden können, und die doch erledigt
werden müssen, wenn nicht das Ganze in Frage ge-
zogen werden soll. Nehmen wir als Beispiel die Logik.
Ob wir bei Befolgung der logischen Normen mit
unserem Denken die Wirklichkeit treffen, ob unser
Denken nur auf dem beschränkten Kreis der subjek-
tiven Sinnesempfindungen eingestellt ist, oder ob es
ein objektives Weltmoment von Hause aus in sich
enthält wie es Spinoza und Hegel behaupten, das
sind Fragen die zur Beantwortung drängen, wenn
nicht die ganze Logik in Luft schweben soll. Die
Logik, die hier eine IMetaphysik als Fundament ihres
Baues abweist, verfällt der Psychologie, die sie zur
Behandlung dieser Probleme als unzulänglich erklärt
hat. Die hervorragende Logik von Sigwart giebt
davon Zeugnis. —
- 57 —
Es kommt aber nocli ferner hier in Betracht die
ausschhiggebende Bedeutung der Rechts- und Wahr-
heitsfrage für die geistigen 'Hiatsachen '). An die
Beantwortung dieser Frage hängt die Existenz der
noologischen Wissenschaften. Wird z. B. bei der
ReHgion die Wahrheitsfrage nicht aufgenommen, oder
wenn aufgenommen, negati\- beantwortet, so sinkt die
ReHgion von einer Geistesthatsache zu einem psychi-
schen Phänomen herab, das keinen grösseren Geltungs-
wert hat als die Wahnvorstellung eines Irren. Man
kann mit Umdrehung eines Hegel'schen Wortes
gradezu sagen, dass bei Wegfall der Wahrheitsfrage
auf geistigem Gebiet die Qualität in die Quantität
umschlägt. Diese Wahrheitsfrage kann aber nur von
einer Metaphysik beantwortet werden. Wir müssen
daher für die noologischen Wissenschaften die natur-
wissenschaftliche Behandlungs weise als ungeeignet zu-
rückweisen. Die geistigen Thatsachen sind aufs engste
verknüpft mit den Problemen der Metaphysik. Und
diese Probleme müssen hier aufgenommen werden,
denn sie sind nicht etwas von aussen herangebrachtes,
sondern sie erwachsen aus dem eigenen Charakter der
Geistesthatsachen -). Die Metaphysik — um einen
*) Vgl. dazu auch die Bedeutung des Rechtsgrundes beim Denken
gegenüber dem Vorstellungsverlauf Lotze, Logik S. 6 — 8.
-) Naturwissenschaften und psychologisch-historische Wissenschaften
brauchen nicht notwendigerweise zu scharf ausgeprägten, metaphysischen
Thesen zu führen. Der Naturalismus kann sich als ,, Agnostizismus"
als ,, passiver Unglaube" wie ihn Kidd treffend nennt, eine gewisse
intellektuelle Reserve auferlegen gegenüber den letzten Fragen des
Seins. Er kann wenigstens für das Gefühl manches in der Schwebe
lassen. Man denke an das berühmte Spencer' sehe ,,Unknowable*',
diesen Schlupfwinkel gestrandeter Herzenswünsche. Für den Natura-
lismus ist das möglich, weil er keine realen, unaufhebbaren Gegensätze
des Lebens kennt, und wo die Gegensätze des Lebens fehlen, da fehlt
auch der innere Zwang zin- Metaphysik.
mathematischen Ausdruck zu gebrauchen — ist die
Funktion der Geistesthatsachen.
Was die Notwendigkeit einer Metaphysik noch
erhöht ist der Umstand, dass die noologischen That-
sachen hart mit der gegebenen Wirkhchkeit zusammen-
stossen. Während die psychologisch - historischen
Wissenschaften kein zwingendes Moment der Um-
wandlung des ersten Weltbildes enthielten, können
sich die noologischen Wissenschaften nur halten bei
einer radikalen Umgestaltung des vorliegenden Da-
seins. So hängt z. B. die Wahrheit der Religion davon
ab, dass das Wesen des Menschen über die psycho-
mechanische Naturkausalität hinausreicht in eine
Sphäre der Freiheit.
Gegenüber einer derartigen Behauptung ist aber
mit einer einfachen Verschiebung empirischer Daten
nichts gethan. Da hilft nur eine durchgreifende Um-
wandlung und Vertiefung der Wirklichkeit. Eine
einzelne Thatsache, und sei sie ^luch noch so bedeutend,
hat aber nicht das genügende erkenntnistheoretische
Gewicht, um das zu thun. Dazu kommt noch, dass
die Wahrheit und Bedeutung der einzelnen Thatsache
auf geistigem Gebiet von der Wahrheit des Ganzen
abhängt. Im Geistesleben ist das Ganze vor den
Teilen. Wie verschieden fällt z. B. das Wesen des
Ethischen aus, wenn ein Spinoza und ein Kant mit
ihrer total verschiedenen Gesamtanschauung es be-
stimmen. Die Frage nach |der Wahrheit der Ge-
samtheit der noologischen Thatsachen hat aber einen
ganz bestimmten Sinn, wenn wir sie der Gesamtheit
der psychologisch-historischen Thatsachen gegenüber-
stellen. Das geistige Leben vom Standpunkt der
psychologisch-historischen Wissenschaften aus hat keine
Selbständigkeit gegenüber dem Naturprozess. Diese
— 59 —
erlangt es aber in den noologischen Wissenschaften.
Schon als wir die naturalistisch gefärbten Begriffe der
Entwicklung und der vStetigkeit, ivvelche die Wirk-
lichkeit auf einen einheitlichen, die Gegensätze ver-
wischenden Zusammenhang bringen wollen, als für
das Geistesleben selbst nicht anwendbar zurückge-
wiesen haben, haben wir damit in dem Geistesleben
wenigstens nach der negativen Seite ein qualitatives
Novum anerkennen müssen. — Nach der positiven
Seite erlangte das geistige Leben eine Selbständigkeit
und eine konkrete Bestimmtheit durch die noologischen
Wissenschaften. Das geistige Leben zeigt sich hier
beherrscht von sachlichen Momenten; in der Ethik,
der Religion, der Logik treten überindividuelle Inhalte
auf, die aus sich heraus Forderungen stellen. Damit
haben wir eine qualitative Scheidung im Innenleben
zu konstatieren: eine rein subjektive, zuständliche Seite,
die für sich betrachtet eine blosse Begleiterscheinung
des Naturprozesses ist i), muss geschieden werden von
einer objektiven, schöpferischen Seite, bei der der
Fluss des Geschehens zum Stehen kommt und objektive
Grössen erscheinen.
Wir fassen diese noologische Seite des Innenlebens
mit dem Begriff „Geist" zusammen. Bei „Geistesleben"
würden wir dann an die Gesamtheit der Äusserungen
des „Geistes" zu denken haben.
Doch bevor wir nähere Bestimmungen des Be-
griffes geben, wollen wir uns an der Geschichte des-
selben orientieren. Das wird uns von selbst dann
weiterführen. —
Ohne auf die früheren Ansätze zu einer qualita-
tiven Scheidung des Innenlebens einzugehen — das
^) Für diese zuständliche Seite des Innenlebens hat der psycho-
physische Parallelismus eine Berechtigung.
— 6o —
würde zu weit führen — finden wir in der neueren
Philosophie bei Kant im grossen Stil eine überindivi-
duelle geistige Organisation kräftig herausgehoben
aus dem individuellen Seelenleben i). Dieser Begriff
des Geistes — bei Kant heisst es dafür „Vernunft" —
erhält auf ethischem Gebiet eine neue Inhaltlichkeit.
Grössen wie Pflicht, Gerechtigkeit, das Gute etc.
wachsen zu einer eigenen, einer geistigen Wirklichkeit
aus, die ihren Ursprung weder in dem psychischen
Mechanismus noch in der umgebenden Welt haben,
sondern die eine neue Ordnung der Dinge ankündigen
und den Menschen mit dieser verbinden. Damit tritt
ein neues Moment in den Begriff des „Geistes" ein,
das Moment des Metaphysischen. —
„Die praktische Vernunft ist die Wurzel aller
Vernunft", sagte Fichte. Damit wird der Geist zu
einem objektiven Lebensprozess erweitert, der als Aus-
druck einer objektiven Weltvernunft gefasst wird.
In dem, worin diese objektive Weltvernunft ge-
sehen wird, unterscheiden sich Fichte, wSchelling
und Hegel.
Fichte fand sie in der ethischen That, Schell ing'
im Kunstwerk und im künstlerischen Schaffen, Hegel
im Denkprozesse. Damit ist aber eine Einengung
des Geisteslebens gegeben, welche die Einzelgebiete
nicht voll zur Geltung kommen lässt, welche von
einer bestimmten Provinz des Geisteslebens aus eine
Tyrannei auf die ^Manigfaltigkeit und die qualitative
Eigentümlichkeit der geistigen Erscheinungen ausübt.
Das hängt zusammen mit einem Fehler der
klassischen Philosophie, der aus einer Überschätzung
^) Vgl- Evicken, Lebensanschauungen der grossen Denker.
S- 433—435-
— 6i —
dos monschlichen Kc'nincMis fl(>ss. Wir mcincMi jenen
Konstruktionstrieb, der von einem absoluten l-*rinzip
aus gleich alle Einzi^lg-estaltungen des geistigen Lebens
als notwendig, a priori deduzieren wollte. Ein grosser
Gedanke lag dem zu (irunde. Alle empirischen 1^'akta
erhielten dadurch (muc zentrale Beziehung zur Ver-
nunft und wurden über ihre blosse Thatsächlichkeit
hinausgehoben. Diese Verbindung war aber eine allzu
enge. Die Einzelforschung hat sich von diesem Zwang
befreit und sich ganz losgerissen von einem zusammen-
haltenden metaphysischen Prinzip. Dadurch ist man
heute in den entgegengesetzten Fehler verfallen. Man
will aus einer blossen Anhäufung empirischer Fakta
schon Wahrheit und Vernunft im Geistesleben ent-
decken.
Um beide Fehler zu vermeiden muss man die
Scheidung, die durch die empirische Forschung ein-
getreten ist, anerkennen. Sammlung von Thatsachen
und metaphysische Bedeutung dieser Thatsachen sind
zwei verschiedene xAufgaben, die getrennt zu behandeln
sind. —
Aber trotz aller Einseitigkeiten und Fehler der
klassischen Philosophie könen wir bei der Frage nach
der metaphysischen Bedeutung der geistigen That-
sachen — und das heisst in diesem Falle dasselbe wie
die Wahrheit des Geisteslebens — die Voraussetzung
einer objektiven Weltvernunft im letzten Grunde des
Seins nicht aufgeben, wenn wir sie auch wieder erobern
müssen im Kampfe mit Psychologie und Natur-
wissenschaft. —
Gegeben sind zwei qualitativ verschiedene Reihen
von Thatsachen, eine psychomechanische Reihe und
eine noologische Reihe. Die psychomechanische Reihe
bleibt bei der ThatsächUchkeit stehen, die noologische
— 62 —
Reihe kann das nicht; sie kann nur bestehen, wenn
die immanenten Forderungen, die den noologischen
Thatsachen eigen sind, als Wahrheit sich erweisen
lassen. Die Wahrheit der einzelnen noologischen
Thatsache ruht auf der Wahrheit der Gesamtheit.
Die Forderung des Geisteslebens als Ganzes muss wahr
sein, wenn die einzelne noologische Thatsache wahr
sein soll. Die Forderung des Geistesleben als Ganzes
ist die Forderung der Vernunft des Daseins, oder besser:
für uns giebt es nur eine Vernunft des Daseins im
Geistesleben. Dass wir diese Vernunft behaupten
wollen, dafür giebt es keinen logischen Grund mehr,
das ist eine noologische Wesensnotwendigkeit, die
ursprünglichste und letzte, die uns zugänglich ist.
Diese noologische Wesensnotwendigkeit ist der Keim-
punkt aller IMetaphysik.
Übrigens konnten wir bei der Kritik Vierkandt's
eine solche Notwendigkeit auch aufzeigen. Der Gegen-
satz zwischen unwillkürlichen und willkürlichen Be-
wusstseinsvorgängen führte erst dann zu einem psycho-
logischen Kulturproblem, wenn die unwillkürlichen
Bewusstseinsvorgänge sich auch behaupten sollen.
Aber giebt es für dies sollen einen zureichenden
logischen Grund? — Ebenso widerlegt die „Kritik
der reinen Vernunft" nur dann Hume, wenn Wissen-
schaft sein soll.
Wenn wir im Geistesleben die Vernunft des Lebens
behaupten müssen, so treibt uns diese noologische
Notwendigkeit über das gegebene Dasein hinaus.
Empirisch betrachtet sehen wir nur ein an die Einzel-
indi\'iduen zerstreutes Geistesleben vor uns, das allen
Zufälligkeiten ^lusgesetzt ist. Beim Empirischen können
wir nicht stehen bleiben. Wir wären einer in sich
zerspahenen und zerklüfteten Vernunft ausgehefert.
- 63 -
Die r<ealität des (xcistcs stände im umgekehrten A'er-
hältnis zu seinem Wert.
Wir können aucli nicht mehr wie die klassische
Philosophie die Subst^inz ganz aufgehen lassen in den
Prozess. Dass alles Wirkliche vernünftig und alles \'er-
nünftige wirklich ist, kcHincn wir nach den Erfahrungen
dieses Jahrhunderts nicht mehr behaupten. Und dann
führt das Aufgehenlassen der Substanz in den Prozess
doch schliesslich zu einer Auflösung der X'^ernunft;
denn dann ist die Dialektik ein Gesetz des Geistes
und in den (reist selbst wäre die Unvernunft hinein-
getragen. Wir hätten Wesensantinomien, während
die Dialektik, wenn sie nicht die Vernunft aufheben
soll, nur der Existenzform des Geistes, unserer mensch-
lichen Lage, angehören darf.
Das Geistesleben ist nur dann die Vernunft des
Lebens, wenn der zersplitterten Existenzform eine
Substanz zu Grunde liegt. Xur wenn das Geistes-
leben eine kosmisch -zentrale Stellung einnimmt, ist
es mehr als eine vorübergehende, sinnlose Störung des
Naturprozesses und stellt ein eigenes Reich der Wirk-
lichkeit dar, eine neue Stufe des Seins. Erst von hier
aus bekommen die Forderungen der einzelnen noolo-
gischen Thatsachen wie Religion, Ethik etc. einen
Sinn und lassen sich bewahrheiten. Das Geistesleben
ist entweder Kern und Ziel der Welt, oder es ist über-
haupt nicht \). —
^) Wir sind hier in knapper Weise von einer These zur andern
geeilt, weil nur der Weg von den Geisteswissenschaften zu einer Meta-
physik selber in dem Rahmen unserer Arbeit liegt, und weil ausserdem
das, was wir hier als Grundstock einer idealistischen Metaphysik ange-
deutet haben, von Eucken ausführlich dargelegt ist im Ganzen einer
systematischen Anschauung. Dort findet man auch eine eingehende Be-
gründung der von uns angegebenen These der kosmisch-zentralen Stellung
des Geisteslebens. Die Hauptschriften, die wir hier im Auge haben,
- 64 -
Das Kiilturi)rol>lem der Oesioiiwart.
Diese Untersuchung sollte uns zweierlei liefern.
Einmal sollte sie uns zeigen, dass die Kultur als solche
abgesehen von jeder näheren inhaltlichen Bestimmtheit
notwendig verknüpft ist mit der These von der
kosmisch-zentralen Stellung des Geisteslebens, dann
sollte sie zugleich — und das war nur die andere
Seite der Aufgabe — den Weg weisen, der zu einer
Rechtfertigung und Bewahrheitung dieser These führt.
Beides haben wir erreicht, indem wir eine idealistische
Metaphysik in grossen Zügen andeuteten, von der aus
erst die These der Kultur ihre Wahrheit erlangen kann.
Wir können also jetzt im universalen Sinne sagen,
dass die Kultur als solche ein metaphysisches Problem
ist. Wir wollen dies die „reine Kulturlehre" nennen.
Die reine Kulturlehre ist die übergeschichtliche, sich
immer gleichbleibende Seite des metaphysischen Kultur-
problems. Sie ist aber eine Abstraktion aus dem
sind: „Die Einheit des Geisteslebens in Bewusstsein und That der
Menschheit", der „Kampf um einen geistigen Lebensinhalt" und die
„Grundbegriffe der Gegenwart".
Im Gegensatz zu dem anthropozentrischen Idealismus eines I.otze
und dem axiologischen Idealismus eines Wundt und Paulsen vertritt
Eucken einen noozentrischcn d. h. den einzig wissenschaftlich haltbaren
Idealismus. In der Richtung Eucken's arbeiten unter anderen: G. Class
in seinem letzten \\''erk: ,, Untersuchungen zur Phänomenologie und
Ontologie des menschlichen Geistes", ausserdem auf religionsphilosophisch-
theologischem Gebiet dessen Schüler E. Troeltsch (vgl. die Aufsätze
im 5. und 6. Jahrgang der Zeitschrift für Theologie und Kirche) und
der schottische Philosoph A. Seth in seinen beiden Werken: Hegelianisra
and Personality und Man's Place in the Cosmos.
— 65 —
immer mit i^c\schichtlicher r'ärbunL>" .luftretendcn metci-
physischen Kulturproblem. Die roinc Kulturlehre be-
sagt, dass in der Kultur eine Thatsache vorliegt, welche
eine scharf ausgeprägte These — kosmisch -zentrale
wStellung des Geisteslebens — über Welt und Mensch
enthält, eine These, die sich nicht einfügen lässt in
jede beliebige Weltanschauung. Nähmen wir nun
einmal an, dass die Gegenwart von einer Weltan-
schauung beherrscht würde, welche im Einklang stände
mit der kosmisch-zentrcden Stellung des Geisteslebens,
so würde zwar die „reine Kulturlehre" zu Recht be-
stehen bleiben 1), aber ein bestimmtes metaphysisches
Kulturproblem, ein Kulturproblem der Gegenwart
würde nicht existieren. Ein solches ergiebt sich erst,
w^enn das Bewusstsein der Zeit von einer Weltanschau-
ung eingenommen ist, die in einem Gegensatz zur
„reinen Kulturlehre" steht. Dieser Gegensatz konzen-
triert sich hier auf die Auffassung des Geisteslebens.
Nun haben wir in dem letzten Teil unserer Arbeit
zwei total verschiedene Auffassungen des Geisteslebens
kennen gelernt. Die eine knüpft an die Leistungen
der klassischen Philosophie an und sieht in dem
Geistesleben eine kosmische Thatsache, die andere
zieht auch das Geistesleben in den Bereich der natur-
wissenschaftlichen und psychologischen Denkweise und
erkennt dem Geistesleben keine qualitative Position zu.
Da nun die Kulturstufe in dem Geistesleben ihr
unterscheidendes und auszeichnendes Merkmal gegen
die Naturstufe hat, so ergeben sich je nach einer der
') Wir würden dann aber auch schwerlich zu einer reinen Kultur-
lehre gekommen sein, weil der Gegensatz fehlte, aus dem heraus wir
zum Bewusstsein der reinen Kulturlehre gelangt sind. Es muss hier
wieder unterschieden werden zwischen dem Weg, auf dem der Mensch
zu einer Sache kommt, und der Sache selbst.
5
— 66 —
beiden Auffassungen zwei grundverschiedene Urteile
über die Kultur.
Nach der kosmischen Auffassung des Geistes-
lebens bedeutet die Kultur den Aufbau eines neuen
Reiches der Wirklichkeit; der Mensch wird hinaus-
gehoben aus dem zwecklosen Spiel blinder Naturtriebe
in eine Sphäre normativen Lebens. Und dieses nor-
mative Leben , dieses Realisieren absoluter Werte
innerhalb der Grenzen seiner Existenz verknüpft die
Arbeit des Menschen mit Weltzusammenhängen und
giebt seinem Leben und Wirken eine Vernunft und
einen Sinn.
Bei der naturalistischen Auffassung des Geistes-
lebens als einer quantitativen Komplikation naturge-
gebener Grössen verschwindet jeder Wesensunterschied
zwischen Natur und Kultur. Es fallen damit zugleich
alle absoluten Werte. Das psychologische Subjekt
wird zum Mass aller Dinge. Die Forderung der
Kultur muss versinken vor der Erkenntnis, dass sie
von Prämissen ausgeht, welche die Wissenschaft der
Gegenwart nicht mehr aufrecht erhält.
Damit fällt die Kultur selbst als eine qualitativ
neue Lebensstufe der Menschheit. Die sogenannte
Kultur ist dann nur eine Verschlechterung der Natur,
und alle Beschuldigungen, welche Rousseau gegen die
Kultur schleuderte, sind völlig berechtigt. Kultur be-
deutete dann im Sinne des psychologischen Kultur-
problems eine allmähliche Ernüchterung, ein Auf-
wachen aus einem Rausche, der die Menschheit in
der Illusion einer Anteilnahme an einer Weltvernunft
gefangen hielt. Dann wäre in der That, wie Vier-
kandt es einmal anzudeuten scheint, der Irrtum —
der Naturzustand - das Leben und das Wissen —
der Kulturzustand — der Tod. Die ganze gesell-
- 67 -
schaftlich -geschichtliche Wirklichkeit ist im drundo
ein sinnloses (xetriebe zur Erhaltung des sinnlichen
Daseins, dessen naturstarke Triebe durch die tausenderlei
Rücksichten und Hemmungen des gesellschaftlichen
Lebens gebrochen und zerbröckelt würden. Der Pessi-
mismus der IaisI- und Unlustgefühle hätte leichtes
Spiel dem Menschen diese ganze Zivilisation zu ver-
leiden, denn die Zivilisation nennen wir eine Lebens-
stufe, welche gegenüber dem Naturstande nur das
Plus eines wirtschaftlich -technischen Apparates hat.
Alle Schöpfungen des geistigen Lebens sind nur zivili-
satorische Surrogate, um wenigen Auserwählten des
Glücks das Dasein erträglicher und angenehmer zu
gestalten. —
Aus dem Zusammenstoss der eben geschilderten
beiden Auffassungen des Geisteslebens entsteht nun
das Kulturproblem der Gegenwart. Und zwar können
wir drei Hauptrichtungen innerhalb dieses Kulturpro-
blems unterscheiden.
Die erste Richtung wird in typischer Weise re-
präsentiert durch Vierkandt. Sie will die Konsequenzen
der kosmisch-zentralen Stellung des Geisteslebens auf-
rechterhalten von den Prämissen der immanent natura-
listischen Stellung des Geisteslebens. Im ersten Teil
unserer Arbeit haben wir das im Einzelnen dargelegt.
Dabei glaubt diese Richtung die Diskrepanz zwischen
Voraussetzung und Folgerung überwinden zu können
durch folgende Mittel: Praktischer Idealismus, Psycho-
logisches Lokalisieren, Sozialpsyche, absolute Werte
und Werturteile.
Der vollendetste Ausdruck der zweiten Richtung
ist Friedrich Nietzsche. Er hebt mit der Prämisse
der kosmisch-zentralen Stellung des Geisteslebens zu-
gleich auch alle Konsequenzen auf und damit die
5'^
— 68 —
Kultur. Sein Werk lässt sich nur verstehen als das
Bestreben auf der Basis der immanent naturalistischen
Stellung des Geisteslebens eine neue Kultur zu schaffen.
Das Charakteristikum der dritten Richtung" be-
steht in dem, was wir das Versozialisieren der geistigen
Probleme nennen. Man hat die Prämissen der kosmisch-
zentralen Stellung des Geisteslebens aufgegeben, will
aber nicht wie die erste Richtung aus einem mehr
religiös-metaphysischen Bedürfnisse die Konsequenzen
beibehalten wissen, sondern aus Gründen des sozialen
Gemeinschaftslebens. Dabei ergeben sich dann die
sonderbarsten philosophischen Konstellationen. Als
einen etwas ins Karrikaturhafte gediehenen Ausdruck
dieser Richtung können wir das dickbändige Werk
von Ludwig Stein: „Die soziale Frage im Lichte der
Philosophie" betrachten.
Alle drei Richtungen sind das beste Zeugnis dafür,
dass unser ganzer geistiger Lebensstand in Erschütter-
ung geraten ist, und dass wir in einer Kulturkrise
stehen, der man offen ins Auge sehen muss. Eine der-
artige geistige Krise hat das Gute, dass sie die Philo-
sophie zur Selbstbesinnung aufrüttelt, und sie aus der
Zerstreuung und Isoliertheit peripherer Einzelprobleme
auf die Zentralfragen zurücklenkt. Das ist aber
dringend notwendig, denn in keiner Wissenschaft ist
es gefährlicher als in der Philosophie, die grossen,
letzten Probleme aus den Augen zu verlieren. Die
Naturwissenschaft mag sich noch so sehr in Spezial-
untersuchungen zersplittern, so nimmt sie doch da-
durch keinen vSchaden. Die Einheit des Objektes und
der Methode, der sichere Fonds schon erworbenen
Wissens, der in seiner Thatsächlichkeit nicht mehr dem
Warum und Wozu ausgesetzt ist, führen doch schliess-
lich die Resultate der Einzeluntersuchungen auf das
- 69 -
Ganze zurück, und was im lunzelnen an lirkenntnis
gewonnen wird, fördert so die Erkenntnis des Ganzen.
Anders in der Philosophie. Ein philosophisches Spe-
ziidistentum. das jede Berührung mit den Weltproblemen
aufgiebt und sich möglichst an die Einzelwissenschaften
anlehnt, verliert jede Bedeutung und verzwergt. Es
muss sich damit begnügen, halbdunkle Probleme zu-
rechtzukauen, bis sie für den Organismus der Wissen-
schaft \'erdaulich sind. Dann heisst es: der Mohr hat
seine Schuldigkeit gethan, er kann gehen ^). An philo-
sophischer Erkenntnis ist dieses Spezialistentum völlig
unfruchtbar, denn seine Untersuchungen gewinnen
keine Beziehungen zu den grossen Weltproblemen der
Philosophie, und wo diese Beziehungen fehlen, da ist
die Philosophie in Gefahr ihre Selbständigkeit zu ver-
lieren und zur ]Magd irgend einer Wissenschaft zu
w^erden. Ist sie dann glücklich zum Range einer
Eachwissenschaft unter anderen herabgesunken, dann
verliert sie jede Teilneihme und jedes Verständnis für
die geistigen Kämpfe ihrer Zeit — wie es heute ge-
schehen ist. Rafft sie sich aber trotzdem auf und er-
kennt, dass ewige Probleme zu Problemen der Zeit ge-
worden sind, so rächt sich die lange Vernachlässigung
der prinzipiellen Probleme, indem die Philosophie jetzt
den Blick für das Prinzipielle, die Logik des Prinzipiellen,
') Von dieser heute weitverbreiteten Auffassung der Philosophie
kann dann auch sehr leicht die Frage nach der Existenzberechtigung
der Philosophie entstehen. Xg\. dazu De Roberty: „La philosophic
du siecle." ,,La philosophie doit-elle continuer ä exister ou doit-elle
etre remplacee par les sciences particulieres?" (S. 34). ,,La philosophie
est ä la science ce que l'eau-mere est au cristal" (S. 348). — Über
die Überflüssigkeit der Philosophie als Erkenntnistheorie und Methoden-
lehre Philippovich : ,, Aufgabe und Methoden der politischen Ökonomie"
S. 5. Auch das sonderbare Werk von Wähle: ,,Das Ganze der Philo-
sophie und ihr Ende" gehört hierher.
verloren hat. — Der Ursprung dieser unerquicklichen
Lage reicht zurück bis in die Zeit Hegel's. Die
klassische Philosophie philosophierte angesichts der
Ewigkeit und der Unendlichkeit. Die nachklassische
Philosophie verlor die Weltfragen aus den Augen.
Die geistige Situation kippte nach dem Tode Hegel's
um. An sich selber sollte der Philosoph der Dialektik
seine Lehre erfahren. Der tiefste Punkt, der von dieser
Dialektik getroffen wurde, und der am verhängnis-
vollsten für die ganze fernere Entwicklung gew^orden
ist, war das Aufgeben des festen geistigen Hinter-
grundes des Lebens. Bei Hegel war der Älensch
ein Produkt der Idealwelt, bei den Hegelianern des
linken Flügels, die schliesslich den Sieg davontrugen,
wurde die Idealwelt zum Produkt des Menschen. Das
war der bedeutungsvolle intellektuelle Sündenfall, an
dessen Folgen wir heute mehr als je kranken. Auf
diesen Punkt, den wir als das Problem von der
Stellung des Geisteslebens bezeichnet haben, gilt es
den Blick zurückzuzwingen, denn ein Idealismus, der
an diesem Punkte nicht Farbe bekennt, ist nichts wert.
Es kamen nach dem Tode Hegel's viele Momente
zusammen, um den metaphysischen Hintergrund des
Lebens zu zerstören. Die theoretische Konsequenz
der Linkshegelianer wurde verstärkt und erhielt erst
ihre Durchschlagskraft durch die Interessenverschiebung
des allgemeinen Lebens von der Transzendenz zur
Immanenz; vor den drohend aufsteigenden politischen
und sozialen Problemen verblassten die Weltfragen ; die
grossen Entdeckungen und Fortschritte der Naturwissen-
schaften führten zu einem ausgeprägten dogmatischen
Materialismus in den 50er und 60er Jahren. Dieser
wurde dann abgelöst vom Positivismus und Neu-
kantianismus. Letzterer ist, was die Stellung' zur Meta-
— 71 —
physik anbetrifft, auch nur ein Positi\ismus, der nur
weiss, weshalb er Positivismus ist. Der Neukantianismus
ist die letzte, grössere philosophische Bewegung, die
eine für ihre Zeit notwendige, allerdings rein negati\e
Aufgabe erfüllt hat. Er hat die Übergriffe des dog-
matischen Materialismus zurückgewiesen, indem er die
philosophische Forschung auf die strengste Immanenz
einschränkte. T3ie Metaphysik wies er als „Begrififs-
dichtung" (Lange) in das Märchenland der Dichter.
Sie sollte nicht mehr die Kreise der exakten Wissen-
schaften stören. Das ging so lange gut, als die
metaphysischen Probleme innerhalb einer politisch und
sozial aufgeregten Zeit nur noch als intellektuelle
Spielereien weltfremder Narren, genannt Metaphysiker,
erschienen. Zeigten sich indessen die metaphysischen
Probleme wieder als Lebensfragen der Menschheit,
als zum Grundbestande der Kultur gehörig, sprangen
aus den eigenen Verwickelungen der Zeit Fragen
ethischer und geschichtsphilosophischer Art heraus,
gewannen die religiösen Probleme wieder an Macht
und Bedeutung, machten sich in Leben und Litteratur
die unheilvollen Konsequenzen einer von Zweifeln
zerrissenen, glaubenslosen Zeit bemerkbar, dann hat der
Neukantianismus seine Rolle ausgespielt. Zum posi-
tiven Schaffen ist er von vornherein unfruchtbar, und
Falckenberg hat recht, wenn er die Herrschaft des
Neukantianismus ein Provisorium nennt i). Auf die
Probleme der Geschichte und Gesellschaft, auf das
Problem der Kultur giebt die „Kritik der reinen Ver-
nunft" keine Antwort. Wir sehen daher auch die
Philosophie der letzten Gegenwart, soweit sie sich
noch den Blick für die allgemeineren Probleme frei-
^) P'alckenberg: Geschichte der neueren Philosophie 2. Aull.
S. 502.
gehalten hat, Anleihen bei den grossen Systemen
eines Fichte und eines Hegel machen. Damit gelangt
dann auch wieder die „Kritik der praktischen Ver-
nunft" mehr zur Geltung.
Noch ist der Ruf: Zurück zu Kant! nicht abge-
löst von dem Ruf: Zurück zu Fichte und Hegel!,
aber wir möchten beinahe die Prophezeiung wagen,
dass dieser neue Sammelruf bald erschallen wird^).
Bei diesem Rückgang auf die klassische Philosophie
sehen wir aber immer dasselbe Schauspiel: ]\Ian will
die Konsequenzen der klassischen Philosophie ohne die
Prämisse — die Prämisse der kosmisch zentralen
Stellung des Geisteslebens. Man braucht dieselben
Ausdrücke und Begriffe, ohne sich bewusst zu werden,
dass sie jeden Sinn verlieren, wenn nicht hinter ihnen
ein Idealismus steht, für den das Geistesleben Kern
und Ziel der Wirklichkeit ist-).
Wir haben es hier mit der ersten Richtung innerhalb
des Kulturproblems der Gegenwart zu thun^). Diese
Richtung versucht die Diskrepanz zwischen Voraus-
setzung und Folgerung zu verdecken durch: Praktischen
Idealismus, Psychologisches Lokalisieren, Sozialpsycho-
logie, absolute Werte und Werturteile.
^) Vereinzelt können wir diesen Ruf schon jetzt in Zeitschriften ver-
nehmen z. B. in dem Aufsatz: Neu-Idealismiis von M. Kronenberg, Zukunft
5. Juni 97. Es sei übrigens nicht unerwähnt gelassen, dass Hegel seit den
letzten 30 Jahren die englische Philosophie beherrscht. \'g\. meinen Artikel :
„Die idealistische Bewegung der Philosophie in England" in der Beilage
zur Allgemeinen Zeitung, Jahrgang 1898, No. 127. —
-) Das gilt natürlich nicht von denjenigen Philosophen, die unter
Anknüpfung an die klassische Philosophie eigene Wege zu einem neuen
Idealismus gehen wie Eucken, Class und A. Seth. Unsere Kritik
zielt hauptsächlich gegen Pauls en, Wundt und deren Anhänger.
Dass wir dabei bes. Vierkandt, der auf philosophischem Gebiet ein
Schüler Wundt's ist, berücksichtigen, liegt im Wesen unserer Arbeit.
^') .S. 67.
— 73 —
WendcMi wir uns zuerst zum ,, praktischen Idea-
lismus". Nachdem Vierkandt davon gesprochen hat,
dass uns die spinozistische Betr^ichtungsweise das
Opfer auferlegt, auch unser menschliches Leben und
Sein unter dem Gesichtspunkt einer strengen Gesetz-
mässigkeit als ein Stück Natur zu betrachten, kommt
er mit dem Trost des „praktischen Idealismus", der
im Entwicklungsbegriff eine „kräftige Verankerung"
finden soll. Nun haben wir schon gesehen, auf wie
schwachen Füssen dieser rein formale, naturalistische
Entwicklungsbegriff steht ^). Was nun den „praktischen
Idealismus" selbst anbetrifft, so hat er bei Kant einen
metaphysischen Sinn. In der praktischen Vernunft
wurzelte der Mensch in der letzten Realität der Dinge.
Wir stimmen dieser Scheidung der Vernunft in keiner
Weise bei; es muss aber betont werden, dass der
„praktische Idealismus" bei Kant keine blos subjektive
Gesinnung bedeutet, sondern eine auf dem noumenalen
Faktum der Sittlichkeit aufgebaute idealistische Meta-
physik. Der ,, praktische Idealismus" Vierkandt's ist
weder „praktisch" noch „Idealismus"; denn „praktisch"
ist alles, was durch Freiheit möglich ist, und Idealismus
ist die Lehre, dass der Geist Kern und Ziel der Wirk-
lichkeit ist. Ist aber, wie bei Vierkandt, ein evo-
lutionistischer Spinozismus etabliert, so ist praktischer
Idealismus eine UnmögHchkeit.
Allerdings ist ja als subjektive Gesinnung der
„praktische Idealismus" sehr lobensw^ert, er hat aber dann
nichts zu thun bei den letzten Entscheidungen der
Weltanschauung.
Der moderne „praktische Idealismus" ist der Pferde-
fuss jedes Pseudoidealismus, und man kann sicher sein,
') S. 4;
dass etwas faul ist in der Weltanschauung eines
Denkers, wenn man den „praktischen Idealismus" dort
antrifft. Es ist nicht genug- gegen den ,, praktischen
Idealismus" in Fragen der Weltanschauung anzu-
kämpfen, besonders wenn er in seiner weitverbreiteten,
neukantischen Form auftritt. Da ist er ein bequemes
Täschchen, in das man seine verschiedenen Glaubens-
artikel hineinlegen kann. Man vertraut dabei der gut
bürgerlichen Anständigkeit des menschlichen Geistes,
für welchen die Ethik eigentlich selbstverständlich sein
sollte, wenn auch ein wirklicher Grund nicht angegeben
werden kann. Für diese seichte Art sich mit den
Weltproblemen abzufinden, giebt es keine bessere Ab-
fertigung als die Worte Hegel's: „Es ist ein Eigen-
sinn, der Eigensinn, der dem Menschen Ehre macht,
nichts in der Gesinnung anerkennen zu wollen, was
nicht durch den Gedanken gerechtfertigt ist — und
dieser Eigensinn ist das Charakteristische der neueren
Zeit, ohnehin das eigentümliche Prinzip des Protestan-
tismus"^). —
Es hängt aber dieser Begriff des „praktischen
Idealismus" zusammen mit einem Zug der Zeit zum
psychologischen Lokalisieren. Man glaubt z. B. Kant
recht würdigen zu können, wenn man ihm das Ver-
dienst beimisst, die Entscheidung über die letzten Fragen
euis dem Verstand in den Willen verlegt zu haben'-).
Nun hat allerdings Kant die Ethik in den Willen
verlegt; aber das psychische Vermögen als solches
galt ihm nichts, es war nur der Kanal zu einer über-
sinnlichen Welt. Im Willen, der von ethischen NormcMi
') Hegel, Vorrede zur Rechtsphilosophie S. 19.
-) In dem kürzlich erschienenen AVerke von Paiilsen über Kant
tritt das wieder deutlich hervor. (Immanuel Kant, sein Leben und
seine Werke.)
/ .-)
beherrscht ist, sah Kant etwas Metaphysisches. Die
immanent psychologische Betrarhtimi;' des Willens,
wie sie bei Vierkandt und den Philosophen der
(xegenwart herrscht, giebt den Forderungen des Willens
in keiner Weise einen grösseren metaphysischen Er-
kenntniswert als den Forderungen des Verstandes.
Also dadurch, dass man Ethik. Religion und
Metaphysik in das Gefühl oder in den Willen legt,
werden sie um keine Spur wahrer, als wenn sie im
Verstand ihre Wurzeln hätten. Erst wenn die meta-
physische Frage nach der vStellung des Geisteslebens
erledigt ist, bekommt das psychologische Lokalisieren
eine praktische Bedeutung für pädagogische Zwecke. —
Eine andere Art den Mangel eines konsequenten
Idealismus zu verdecken ist auch der Begriff der
Sozialpsyche. Für das Gebiet der Völkerpsychologie
und der Sozialpsychologie erkennen wir diesen Begriff
vollkommen an. Wir müssen ihm aber jede Berech-
tigung absprechen, wenn er entweder identifiziert wird
mit dem Hegel'schen Begriff des „objektiven (xeistes"
oder wenn ihm ein ähnlich grosser Wert beigelegt
wird. Der objektive Geist Hegel's, wie er sich im
Recht, in der Moralität und in der Sittlichkeit darstellte,
hatte metaphysische Bedeutung, denn er war eine
Realisation der objektiven Weltvernunft. Aber dieser
transzendente metaphysische Hintergrund existiert nicht
für den Kollektivbegriff einer Sozialpsyche, eines Ge-
samtwillens. Und trotzdem fordert man dieselbe Hin-
gabe, dieselbe Wertbeurteilung für den Gesamtwillen
(Wundt!) wie Hegel für seinen objektiven Geist.
So sehen wir hier an einem interessanten Beispiel
dieselbe ethische Forderung von der klassischen Philo-
sophie und der Philosophie der Gegenwart erhoben.
Und doch, wie Verschiedenes bedeutet sie für den
- 76 ~
Menschen! Heute bedeutet diese Forderung, dass der
Einzelne im Dienste sozialer Zwecke seine ethische
Bestimmung habe; in der klassischen Philosophie
bedeutete dieselbe Forderung, dass der Einzelne
in der Unterordnung unter den objektiven Geist
z. B. den Staat an der Vernunft des Universums teil
h^ibe. —
Etwas Ähnliches sehen wir bei den Begriffen des
Werturteils und des absoluten Wertes.
Seitdem die Forderungen des Innenlebens sich
wieder energischer in den Vordergrund gedrängt haben,
die festen Positionen der klassischen Philosophie aber
gefallen sind, werden die Wertbegriffe als Ersatz vor-
geschoben. Sie sollen wenigstens dem Gemüte die
ideale Weltanschauung aufbauen, die dem Verstände
versagt ist.
wSeine weite Verbreitung, man könnte beinahe
sagen seine Popularität hat der Wertbegriff durch die
Ritschl'sche Schule bekommen. Die Theologie
Ritschl's fällt ihrer Entstehung nach in jene Zeit, welche
übersättigt von metaphysischer Spekulation auf der
einen Seite und bedroht vom Materialismus auf der
andern wSeite, die Glaubensobjekte nur durch Ablehnung
jeder Metaphysik retten zu können glaubte.
Das wissenschaftliche Erkennen und damit auch
die Metaphysik kann, wie Kant gezeigt hat, niemals
über die Existenz der Glaubensobjekte etwas aussagen.
Was aber dem diskursiven Denken versagt ist, soll
dem religiösen Erkennen vorbehalten sein. Und zwar
bewegt sich dieses religiöse Erkennen in selbständigen
Werturteilen d. h. in Vorstellungen über unsere
Stellung zur Welt, welche nur hinsichtlich ihres Wertes
für Erregung von Lust und Unlust gefühlen in Betracht
kommen. So darf der Gottesgedanke nur als Wert-
— 77 —
urteil oder als eine für den (lewinn von (TÜtern wert-
volle \^orstellun_L»- l:)ehandelt werden ^).
Wenn ^iber diese Ritschl'schen Werturteile nicht
reine Erfindungen einzelner Individuen sein sollen, so
hängen sie von Seinsurteilen ab. und so werden wir
doch wieder zur Metaphysik zurückgetrieben. Lehnt
man aber trotzdem eine Aletaphysik ab, so muss man
sich die Fnige vorlegen, ob positive oder negative
Gefühlstöne über die Wahrheit von Vorstellungen ent-
scheiden können. Wir müssen das verneinen. Sind
Vorstellungen deshalb wahr, weil sie uns Lust bereiten,
und deshalb unwahr, weil sie uns Unlust bereiten?
Die innere Unmöglichkeit und der subjektivistische
Charakter der psychologischen Werturteile wnrd aber
erst dann ganz ersichtlich, wenn Werturteile über
transzendente Dinge beibehalten w^erden bei v()lligem
Wegfall jeder Transzendenz. Nimmt man mit Ritschi
den Standpunkt der Kritik der reinen Vernunft ein,
so sind w^enigstens die von den Werturteilen geforderten
transzendenten Objekte nicht unm()glich. Nimmt man
aber von vorneherein einen Naturalismus an — und
jede Weltanschauung ist im letzten Grunde Naturalismus,
die nicht dem Geistesleben eine kosmisch -zentrale
Stellung zuweist — so konimt den psychologischen
Werturteilen nur die Geltung von subjektiven Phantasien
zu. Ob diese Werturteile nun von einem individuellen
oder sozialen Selbstbew^usstsein — dem allermodernsten
Lückenbüsser des Pseudoidealismus — gefällt werden,
läuft auf dasselbe hinaus.
')Vgl.O. Pf leiderer: Die Entwicklun<^ der protestantischen Theo-
logie in Deutschland seit Kant S. 232.
Vgl. auch dazu die ausgezeichnete Darstellung und Kritik der
philosophischen Grundlagen des Ritschlianismus in dem \\'erke von
R. ^^ Wenlcy: Contemporary Theolog)- and Theisni S. 112 — 124.
Von diesen subjektivistischen Werturteilen aus
soll dann auch noch der Begriif des absoluten Wertes
aufrecht erhalten werden. — Die Frage, auf die es
uns hier allein ankommt, lautet: vSind absolute Werte
möglich bei der immanent naturalistischen Stellung
des Geisteslebens? — Wert setzt immer ein Verhältnis
irgend einer Thatsächlichkeit materieller, psychischer
oder ideeller Art zu einem Subjekt voraus. Bei
diesem Verhältnis liegt der Accent entweder auf dem
Subjekt oder auf der Thatsächlichkeit. — Im ersten
Falle haben wir es mit den Werten des individuellen,
natürlichen Seelenlebens zu thun. Lust und Unlust
und deren Komplikationen bestimmen den Wert-
charakter der Thatsächlichkeit. Wir sprechen hier
von individuellen Emotionswerten oder relativen Werten.
Allgemeine Gültigkeit können diese Emotion s werte
nicht beanspruchen, denn es giebt nichts Veränder-
licheres und Zufälligeres als die subjektive Gefühls-
zuständlichkeit. Ändert sich diese, so verliert auch die
Thatsächlichkeit ihren Wert. — Im zweiten Fall hin-
gegen ist die Konstante die Thatsächlichkeit und die
Variante ist das Subjekt. Hier hängt der Wertcharakter
nicht mehr von der Gefühlszuständlichkeit des Subjekts
ab, die Thatsächlichkeit behält ihren Wert ungeachtet
der Stellung des Subjekts zu ihr^). Wir haben hier
die vom Standpunkt der Emotionswerte paradoxe
Erscheinung eines Wertes „an sich", eines absoluten
Wertes-), der allgemeine Gültigkeit beansprucht.
^) Im ersten Fall wird durch die Emotion erst der Wert hervorgebracht,
im zweiten Fall ist die Emotion nur das Zeichen, dass ich einen in meinem
Bewusstsein auftretenden absoluten Wert gefühlsmässig bejahe oder verneine.
■-') Psychologisch genetisch betrachtet kann natürlich die Thatsäch-
lichkeit erst durch das Subjekt den Wert des Absoluten bekommen. Ist
aber dieser einmal konstatiert, so bleibt er auch, einerlei wie später das
Subjekt sich zu ihm stellt. Bei der erkenntnistheoretischen Betrachtung
haben wir es immer nur mit fertigen Fakten zu thun.
— -i) —
Worauf beruht nun die Absolutheit des Wertes
der ThatsächHchkeit? — Auf der Stellung des Subjekts
kann die Absolutheit nicht beruhen, sonst hätten wir
den ersten Fall der Relativität, — Sie muss also im
Charakter der ThatsächHchkeit selbst liegen.
Das können wir bei Kant sehr gut erkennen,
dem wir uns in diesem Punkte anschliessen. Wir
zitieren die berühmte Stelle aus der „Aletaphysik der
Sitten" S. 279 als Beweis dafür.
„Der Alensch im System der Xatur (homo phae-
nomenon, animal rationale) ist ein Wesen von geringer
Bedeutung und hat mit den Tieren als Erzeugnissen des
Bodens einen gemeinen Wert (pretium vulgeire). Selbst
dass er vor diesen den Verstand voraus hat und sich
selbst Zwecke setzen kann, das giebt ihm doch nur
einen äusseren \Vert seiner Brauchbarkeit (pretium
usus) Allein der Mensch als Person
betrachtet d. i. als Subjekt einer moralisch praktischen
Vernunft, ist über allen Preis erhaben, denn als ein
solcher (homo noumenon) ist er nicht blos als Mittel zu
anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken,
sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen d. i. be-
sitzt eine Würde (einen absoluten inneren Wert)."
Relativer und absoluter Wert unterscheiden sich
also durch das Sein. Die ThatsächHchkeit Mensch
als Naturwesen hat einen relativen Wert d. h. einen
Wert nur in Bezug auf irgend etwas anderes; hingegen
der Mensch als Geistwesen hat einen absoluten Wert
d. h. hier ist mit dem geistigen Sein zugleich der
absolute Wert gesetzt. Wir können auch sagen: In
den relativen Werten steckt ein Natursein, in den ab-
soluten Werten ein Geistsein. Damit ist zugleich ein
qualitativer Unterschied zwischen relativen und abso-
luten Werten gesetzt, der nicht ps\'chologisch aufge-
— 8o —
hoben werden kann. Alles Natursein hat einen relativen,
alles Geistsein einen absoluten Wert d. h. beim abso-
luten Wert fallen vSein und Wert zusammen.
Das sehen wir auch bei den Religionen. Gott
ist die höchste Realität und daher auch der höchste
Wert. Die Reahtät Gott und absoluter Wert fällt
zusammen. Die blosse Vorstellung Gott ohne Realität
dahinter hat niemals in der Religion einen absoluten
Wert gehabt. — Wir finden dieses Zusammenfallen
von Wert und Sein aber nicht in der Immanenz. Bleibt
man streng bei dieser stehen, so hat Nietzsche's
Wort Berechtigung: ,,Es giebt keine moralischen Phä-
nomene, nur eine moralische Ausdeutung von Phä-
nomenen." —
Diejenigen verstehen Kant schlecht, die ihm vor-
werfen, er hätte bei dem absoluten Wert der Moral
stehen bleiben sollen ohne eine transzendente Geistes-
welt zu hypostasieren. Erst von dieser aus wird die
Moral absolut und losgelöst von der Zufälligkeit des
Subjekts. Die kosmische Stellung des Geisteslebens ist
die ratio essendi der absoluten Werte, die absoluten
Werte sind die ratio cognoscendi der kosmischen
Stellung des Geisteslebens.
Dadurch dass viele Menschen denselben Wert
energisch betonen, wird dieser noch kein absoluter
Wert, sonst würde z. B. das Geld der absolute Wert
par excellence sein. Bei der immanent naturalistischen
Stellung des Geisteslebens sind absolute Werte un-
möglich.
Bei Vierkandt war die Existenz absoluter Werte
mit der kosmisch zentralen Stellung des Geisteslebens
zufällig verbunden. Wir haben gezeigt, dass diese
Verbindung eine notwendige ist. —
— 8i —
Will man also die Konseciuenzon der klassischen
Philosophie, will man einen Idealismus, der mehr ist
als ein synkretistisches vSchlagwort, will man endlich
die Kultur behaupten, so muss man auch die Prämisse
der klassischen Philosophie annehmen: die kosmische
Stellung des Geisteslebens. In Zeiten des Radika-
lismus lässt sich mit Kompromissversuchen nicht aus-
kommen. —
Die immanente Logik, die jeder geistigen Be-
\vegung inne wohnt, und die alle Konsequenzen aus
ihr heraustreibt, sehen wir denn auch in Nietzsche
Gestalt annehmen.
Wenn wir hier in unserer Arbeit Nietzsche
behandeln, so geschieht es nicht um eine ausführliche
Darlegung und Kritik der Gedanken dieses genialen
Zerdenkers zu geben, sondern um Nietzsche in den
Zusammenhang des Kulturproblems der Gegenwart zu
stellen, um an ihm dieses Kulturproblem von einer
neuen Seite zu beleuchten. Wir sind uns dabei wohl
bewusst, dass wir damit Nietzsche nicht voll gerecht
werden, müssen allerdings gleich hinzufügen, dass, ab-
gesehen von dem grossen Künstler und feinsinnigen
Psychologen, wir dem Philosophen Nietzsche auch
nur soweit einen bleibenden Wert für die Geistes-
geschichte beimessen, als er in engster Beziehung zu
unserer Zeit betrachtet wird. Werden seine Schriften
herausgelöst aus dem Zusammenhang der Zeit und
für sich genommen, so stellen sie ein Chaos wider-
streitender Meinungen und Tendenzen dar, mit denen
nichts anzufangen ist. Hingegen sub specie temporis
betrachtet ist Nietzsche kein Problem sui generis,
sondern das Problem der Zeit auf einen scharfen,
radikalen Ausdruck gebracht. Darin liegt seine Be-
deutung.
— 82 —
Man hat von Nietzsche gesagt, dass „er die Mo-
dernität resümiert". Das ist aber nur eine halbe
Wahrheit; er resümiert nicht blos die Modernität, er
geht auch die geistigen Bewegungen der letzten 50
Jahre bis zu Ende, bis in die dunkelsten Winkel
ihrer Konsequenzen. Diese geistigen Bewegungen
hatten alle im Verhältnis zur klassischen Philosophie
eins gemein: den Zug zur Immanenz. Der grosse
Immanenzierungsprozess dieses Jahrhunderts, der nach
der philosophischen Seite im Materialismus, evolutio-
nistischen Naturalismus, Positivismus und Neukantia-
nismus seinen Ausdruck fand, hatte den geistigen
transzendenten Hintergrund des Lebens und der Kultur
zerstört.
Das Leben auf die strengste Immanenz gestellt —
das ist die Voraussetzung der Gedanken Nietz sehe's.
Und er machte Ernst mit dieser Voraussetzung
und ihren Konsequenzen für das Kulturleben. Darin
lag auch ein grosser Teil seines Erfolges. Es waren
dem allgemeinen Zeitbewusstsein die Voraussetzungen
für die unsere Kultur tragenden Ideen und Ideale
verloren gegangen. Worte blieben übrig, die man
nicht den Mut hatte wegzuräumen. Für viele wurde
Nietzsche daher wirklich ,,der Erlöser von der Seelen-
feigheit" wie er einmal in einem modernen Romane
genannt wurde. Ihm ist es in voller Eindringlichkeit
zum Bewusstsein gekommen, dass mit dem Wegfall
jeder Transzendenz und mit der Erklärung der ge-
gebenen Welt als der einzigen Realität ein Bruch
mit der Vergangenheit, eine Revolution des geistigen
Lebens stattgefunden habe, die alle bisher geltenden
Grössen über den Haufen werfen musste. Die Negation
alles Metaph3^sischen bedeutet nicht blos ein Fallen-
lassen gewisser Grössen etwa der Religion und ein
- 83 -
Betonen anderer, die in ihrer Integrität erhalten bleiix'n
— etwa der Ethik - , sondern es bedeutet eine ungeheure
Erschütterung der ganzen Kultur, eine „Umwertung aller
Werte", es bedeutet den Tod aller christlichen Ideale.
Das grösste neuere Ereignis — dass ,,Gott tot
ist", dass der Glaube an den christlichen (lott unglaub-
würdig geworden ist — beginnt bereits seinen ersten
Schatten über P^uropa zu werfen. Für die Wenigen
wenigstens, deren Augen, deren Argwohn in den
Augen stark und fein genug für dies Schauspiel ist,
scheint eben irgend eine Sonne untergegangen, irgend
ein altes tiefes Vertrauen in Zweifel umgedreht, ihnen
muss unsere alte Welt täglich abendlicher, misstrauischer,
fremder, „alter" erscheinen. In der Hauptsache darf
man sagen: das Ereignis selbst ist viel zu gross, zu
fern, zu abseits vom P'assungsvermögen vieler, als
dass auch nur seine Kunde schon angelangt heissen
dürfte; geschweige denn dass viele bereits wüssten,
was eigentlich sich damit begeben hat — und was
alles, nachdem dieser Glaube untergraben ist, nunmehr
einfallen muss, weil es auf ihn gebaut, an ihn gelehnt,
in ihn hineingewachsen war: zum Beispiel unsere ganze
europäische Moral. Diese ganze Fülle und Folge von
Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz, die nun
bevorsteht: wer erriete heute schon genug davon, um
den Lehrer und Vorausverkünder dieser ungeheuren
Logik von Schrecken abgeben zu müssen, den Pro-
pheten einer Verdüsterung und Sonnenfinsternis, deren
Gleichen es wahrscheinlich noch nicht auf Erden ge-
geben hat?^)
Mit dem „Tode Gottes" mit dem Aufgeben der
kosmisch -zentralen Stellung des Geisteslebens giebt (^s
') Fr()hliche "Wissenschaft, 5tcs Buch, 343. Vgl. auch 125.
6*
- 84 -
auch keine objektive Vernunft mehr in der Weh. Das
gegebene Sein zeigt keine Vernunft, und wenn der
Mensch trotzdem eine Vernunft annimmt, so verfälscht
er die WirkUchkeit. „Wir sind abgesotten in der
Einsicht und in ihr kalt und hart geworden, dass es
in der Welt durchaus nicht göttlich zugeht, ja noch
nicht einmal nach menschlichem Masse vernünftig,
barmherzig oder gerecht: Wir wissen es, die Welt in
der wir leben, ist ungöttlich, unmoralisch, unmenschlich
— wir haben sie uns allzulange falsch und lügnerisch,
aber nach Wunsch und Willen unserer Verehrung d. h.
nach einem Bedürfnisse ausgelegt". ^)
An sich sind diese Sätze nicht besonders neu,
wir können sie auch z. B. bei einem Hellw^ald lesen.
Aber sie gewinnen eine Bedeutung erst dadurch, dass
Nietzsche nun auch Ernst macht mit den Konse-
quenzen für die Kultur. Bei Linkshegelianern wie
Feuerbach kam es blos zu einer Umkehrung der
Gedanken, nicht zu einer Umkehrung der Werte, Die
Werte machten den Radikalismus der Weltanschauung
nicht mit.
Nietzsche hingegen unterzieht von der immanent
naturalistischen Stellung des Geisteslebens aus Geschichte
und Kultur einer Radikalrevision.
Dabei ergiebt sich dann natürlich, dass der Mensch
der Schöpfer der Idealwelt ist. Diese Idealwelt trägt
und beherrscht die ganze bisherige Kultur und ist
eigentlich eine blose Phantasmagorie, ein Nichts. Also
muss die christliche Kultur aufgegeben werden.
Aber noch aus einem anderen, mehr praktischen
Grunde muss nach Nietzsche gegen die bisherige
Kultur angekämpft werden. Die Kultur hat den
*) Fröhliche Wissenschaft S. 279.
- 85 -
Menschen in den Dienst \'on Idealen gestellt, die seine
Kraft aufbrauchen, die seine Natur schwächen und
verkrüppeln. Für alle Ideale, die den Menschen
in transzendente Weltzusammenhänge stellen, hat
Nietzsche den vom Standpunkt des Naturalismus
aus treffenden Ausdruck „asketische Ideide", denn sie
bedeuten ihm nur eine Hemmung und Einschränkung
der naturstarken Triebe des Menschen, des „verehren-
den Tieres".
Aber ,,wenn endlich auch alle Bräuche und Sitten
vernichtet sind, auf welche die Macht der Götter, der
Priester und Erlöser sich stützt, wenn also die Moral
im alten Sinne gestorben sein wird: dann kommt —
ja was kommt dann?"^)
Nietzsche kam von Schopenhauer her mit
den Fragen nach dem Sinn und dem Wert der Kultur
und des Lebens und mit diesen F'ragen stand er jetzt
einer naturalistischen Wirklichkeit gegenüber. Die
alten Werte hatten nur Gültigkeit, wenn es eine trans-
zendente Geisteswelt gab. Da es diese nicht giebt, und
der Mensch nicht ohne Wert, ohne Zielsetzung leben kann,
so will Nietzsche eine grosse Umwertung der Werte
vornehmen. Er will schliesslich eine Kultur, die sich
auf den von der Tierheit überlieferten Instinkten auf-
baut. In seiner letzten Periode statuiert er als Sinn
der Kultur den Übermenschen, ein Soll par ordre de
Nietzsche.
Nun auf eine Kritik oder Widerlegung Nietzsches
brauchen wir uns nicht einzulassen. Er kritisiert und
widerlegt sich selber in den verschiedenen Perioden
seines Denkens am besten. „Dieser Denker braucht
niemanden, der ihn widerlegt; er genügt sich selber dazu".
') MorgennUe 96.
— 86 —
Nietzsche hat den Alut gehabt den Naturalismus
auszudenken und auszufühlen und ist daran zu Grunde
gegangen. —
Die dritte Richtung des Kulturproblems der
Gegenwart hat sehr viel Ähnlichkeit mit der ersten
Richtung. Wie diese hat sie die kosmisch - zentrale
Stellung des Geisteslebens aufgegeben, will aber auch
die Konsequenzen nicht fallen lassen sondern erhalten
wissen, aber weniger aus religiös-metaphysischen Be-
dürfnissen als aus Gründen des sozialen Gemeinschafts-
lebens. Philosophisch unterliegt daher diese Richtung
derselben Kritik wie die erste Richtung. Dadurch
aber, dass das Geistesleben ausschliesslich unter einen
praktisch-sozialen Gesichtspunkt gestellt wird, vergröbern
sich einerseits die Inkonsequenzen der ersten Richtung
und bekommen anderseits einen ganz spezifischen
Charakter, der sich in dem Versozialisieren der geistigen
Probleme ausspricht.
Seit den letzten Dezennien hat sich die Stellung
der sozialen Bewegung zu den geistigen Faktoren
wesentlich verschoben gegen die Zeit, wo Marx seine
materialistische Geschichtsphilosophie schuf und Engels
die baldige Euthanasie der Religion prophezeite. ]\Ian
hat sich davon überzeugen müssen, dass der grosse
Umbildungsprozess der ökonomischen Verhältnisse ein
starkes ethisches Bewusstsein der ^Massen zur Vor-
aussetzung hat; man sah im Fortgang der sozialen
Bewegung, dass man die Kraft und Macht der Religion
unterschätzt hatte und es entstanden und entstehen
jetzt Versuche den ^Sozialismus selbst zur Religion zu
machen 1). Dazu kommt noch, dass die Vertreter des
^) Es seien hier nur u. a. erwähnt: J. Dictzgen: „Die Religion
der Sozialdemokratie", Dr. Stamm: ,,Die Erlösung der darbenden
Menschheit" und J. Stern: „Die Religion der Zukimft".
- 87 -
ökonomischen ALiterialismus den allmählichen Um-
schwung der geistigen Zeitstinimung nach der idea-
listischen wSeite hin merken und den philosophischen
Materialismus v(3n ihren Rockschössen ^lbzuschütteln
suchen ^). — Innerhalb der dem orthodoxen Sozialismus
ferner stehenden Sozialwissenschaften tritt auch die
Tendenz zur grösseren Wertung der geistigen Faktoren
hervor. Im Gegensatz zur klassischen Nationalökonomie
sehen wir in der historisch-ethischen Schule und im
sog. Kathedersozialismus ein starkes Anspannen des
ethischen Momentes-). Die Nationalökonomie stellt
sich immer mehr in den Normbereich der Ethik und
zwar einer Sozialethik, die wieder der Soziologie ein-
gegliedert werden soll. „Die Wirtschaftstheorie ist
stets nur als eine Abteilung der umfassenden Wissen-
schaft der Soziologie anzusehen, welche mit der mora-
lischen Synthese — der Krone des gesamten geistigen
Systems — in lebendiger Beziehung steht
. . . — ... Insbesonders müssen wir uns die höheren
sittlichen Ziele vergegenwärtigen, denen die wirtschaft-
liche Bewegung dient" •'^).
Was die Soziologie selbst anbetrifft, so hat sie in
der zw^eiten Hälfte unseres Jahrhunderts besonders durch
die Einwirkung des naturalistischen Evolutionsgedankens
weite Dimensionen angenommen^) und wenn auch
Männer wie Dilthey ihr den Charakter einer voll-
giltigen Wissenschaft absprechen, so ist doch nicht zu
^) Vgl. dazu ,,Die wissenschaftliche und philosophische Krise
innerhalb des Marxismus" von Prf. Masaryk (Prag).
') ^S\- dazu den Aufsatz Schmoller's: ,,Die Gerechtigkeit in
der Volkswirtschaft" (Zur Sozial- und Gewerbepolitik der Gegenwart).
■') Ingram, Geschichte der Volkswirtschaftslehre S. 332.
^) Eine vortreffliche Übersicht über die bisherigen Leistimgen der
Soziologie giebt der i. Band des Werkes von P. Barth: ,,Die Phi-
losophie der Geschichte als Soziologie."
— 88 —
leugnen, dass die Soziologie in der Gegenwart eine
graciezu gefährliche Bedeutung erlangt hat. Diese
Bedeutung verdankt sie nicht ihren Resultaten, die
noch ziemlich zweifelhafter Natur sind, sondern dem
Interesse, das ihrem Objekte, der Gesellschaft, ange-
sichts der sozialen Frage dargebracht wird. Es geht
heute mit der Soziologie wie seiner Zeit mit dem
Darwinismus: alle Probleme scheinen in ihr die
Lösung zu finden. Was sich eine besondere wissen-
schaftliche Empfehlung geben will, setzt sich mit
der Soziologie in Verbindung. Die Philosophie der
Geschichte kann nach Barth nur als Soziologie be-
handelt werden, und doch sollte schon der total ver-
schiedene Ursprung dieser beiden DiszipHnen und da-
mit verbunden ihre verschiedenen Erkenntnisziele diese
Gleichsetzung unmöglich machen. — Die Religion
wird von Xatorp^) „auf das Feld der soziologischen
Probleme" hin übergeführt , und in dem Werke von
Ludwig Stein: „Die soziale P>age im Lichte der
Philosophie" münden schliesslich alle Probleme des
Geisteslebens in die Soziologie.
Das bedeutet, dass das Geistesleben, da es seine
Verwirklichung auch in der Gesellscliaft findet, als ein
soziales Problem betrachtet wird und als solches wird
es zum Gegenstand der Soziologie. „Alle sozialen
Probleme münden nämhch letzten Endes in die eine
Frage aus, unter welchen Bedingungen das Zusammen-
leben und Zusammenwirken wirtschaftlich und kulturell
vorgeschrittener Individuen und sozialer Gruppen ge-
stellt werden müsse, damit die zu schaffende gesell-
schaftliche Organisation sich in einem alle Glieder
') Paul Natorp: Religion innerhalb der Grenzen der mensch-
lichen Humanität, Vorrede S. VII.
- 89 -
dieser Gesellschaft möglichst zufriedenstellenden Gleich-
gewicht befinde. Alle diese Fragen aber berühren
sich durchweg mit denjenigen Problemen, welche
die heutige Soziologie als ihre eigene Domäne be-
trachtet" 1).
Also der terminus ad quem, unter dem die So-
ziologie das Geistesleben betrachtet, ist die soziale
Nützlichkeit. Comte hat damit im grossen Stil be-
gonnen, als er die Ideen der Vergangenheit weniger
nach ihrem Wahrheitsgehalt beurteilt wissen wollte als
nach ihrer Brauchbarkeit für soziale Zwecke. Seine
Verehrung des Katholizismus beruht nicht auf der
Anerkennung der Wahrheit dieses religiösen Systems
sondern auf der hohen Schätzung des Katholizismus
als organisierendes Prinzip der Gesellschaft. Damit
tritt die Wahrheitsfrage des Geisteslebens zurück vor
einem utilitaristischen Beurteilungsprinzip. Von hier
aus ist es nur ein Schritt die Wahrheitsfrage ganz zu
eliminieren und das Geistesleben nur unter dem Ge-
sichtspunkt zu betrachten, welche Aufgabe es in der
sozialen Evolution zu erfüllen habe — wie es heute
thatsächlich geschieht.
Was sich daraus für das Geistesleben und damit
für die Kultur ergiebt, können wir am besten an der
Behandlung der Religion verfolgen, wo die ganze Un-
geheuerlichkeit, das Geistesleben rein als soziologisches
Problem zu nehmen, besonders deutlich wird.
Kidd präzisiert diesen Standpunkt sehr gut mit
den Worten: „Man könnte versucht sein in dem Stand-
punkt, den das soziale Denken erreicht hat, eine mehr
oder weniger unbewusste Anerkennung dafür zu
finden, dass die Religion eine ganz bestimmte Auf-
^) Stein, Die soziale Frage im Lichte der Philosophie S. 14.
— go —
gäbe in der Menschheit zu erfüllen habe, und dass sie
in ^ der sozialen Entwicklung ein mächtiger Faktor
irgend einer Art sei. Allein welches diese Aufgabe
sei, wo sie beginnt, wo sie aufhört und welche Stellung
Religion und Glaube in der Zukunft einzunehmen be-
stimmt sind, darüber giebt uns die Wissenschaft keinerlei
Aufschluss" 1).
Auf S. i6 heisst es dann weiter:
„Wir leben in einer Zeit, wo die Wissenschaft
nichts für unbedeutend ansieht. Was sind denn nun
diese Religionssysteme, die einen so hervorragenden
Platz im Leben und in der Geschichte einnehmen?
Was ist ihr Sinn, ihre Aufgabe in der sozialen Ent-
wicklung? Die Wissenschaft sagt, sie habe nichts mit
der Religion zu schaffen, da der religiöse Glaube
durchaus nicht vernunftgemäss sei."
„Nun wer den Geist des Darwinismus erfasst hat,
dem ist es klar, dass das gar nicht die Frage ist, um
die es sich handelt. Die richtige, wirklich bedeutungs-
volle Frage ist nicht, ob eine Handvoll noch so gelehrter
Männer der Meinung ist, dass der Glaube nicht ver-
nunftgemäss sei, sondern die, ob die Religion in der
Menschheitsentwicklung eine Aufgabe zu erfüllen habe.
Wenn dies der Fall ist ... . dann kann nichts
gewisser sein , als dass diese ganze Evolution vom
menschlichen Meinen unabhängig ihren Weg geht,
dass die Religion nicht nur nicht aufhört, sondern in
Zukunft eine voraussichtlich gleich grosse Rolle spielen
wird wie bisher." (S. 19.)
Kidd findet nun in der Religion „eine Glaubens-
form, welche eine über die Vernunft hinausgehende
Normierung für die grosse Reihe von Phallen im Ver-
') Kidd, Soziale Evolution S. 16.
— 91 —
halten des Indixiduums schafft, wo dessen Interessen
und die Interessen des sozialen Organismus im Wider-
streit mit einander stehen und durch welche die ersteren
den letzteren unterworfen werden im allgemeinen
Interesse der Evolution, welche die Rasse durchmacht."
(S. 97.) Da nun nach Kidd das Ziel der menschlichen
Evolution, welche einen Teil der kosmischen Evolution
darstellt, in der immer stärkeren Ausbildung des
Altruismus besteht, dieser aber in einer Welt des
egoistischen Kampfes ums Dasein durch den Verstand
nicht gestützt und begründet werden kann, so muss
die Religion oder besser der religiöse Instinkt natur-
notwendig zur Erhaltung des Altruismus die mensch-
liche Evolution begleiten 1). —
Wir können hier an einem extremen Beispiel die
einzelnen Züge des Versozialisieren s der geistigen
Probleme erkennen.
I. Den Ausgangspunkt bildet die Frage: Was
leistet die Religion für die soziale Entwicklung? Diese
Frage wird nicht nur von naturalistischer Seite sondern
auch von idealistischer Seite aufgenommen, um die
Rehgion zu erhalten. Es ist belehrend an diesem
Punkt Kidd und Balfour-) gegenüberzustellen.
Kidd: Die Religion bleibt erhalten, weil sie in
den Gesetzen des natürlichen Fortschritts ruht.
Balfour: Die Religion muss erhalten bleiben,
wenn die Gesellschaft nicht aus den Fugen gehen soll.
Kidd: Der religiöse Instinkt ist vorhanden. Ob
der durch ihn her vorgetriebene Vorstellungsinhalt w^ahr
^) Vgl. dazu ,,The religious instinct" von H. R. Marshall in
Mind No. 21 und 22 (1897J, wo beinahe dieselben absonderlichen An-
schauungen entwickelt sind.
-) The foundations of belicf.
oder falsch ist, thut nichts zur Sache. Zur Evokition
der Gesellschaft gehört die Religion.
Balfour: Die Religion ist wahr, weil die Wissen-
schaft sie nicht widerlegen kann, und weil nur durch
die Religion das menschliche Zusammenleben mög-
lich ist.
2. Die Religion verliert ihre Selbständigkeit bei
Kidd an die Biologie, bei Natorp an die Huma-
nität, bei den Ökonomisten an den wirtschaftlichen
Prozess.
3. Ein einzelnes, meist äusserliches Moment der
Religion, das mehr eine Wirkung der Religion ist als
diese selbst, das aber grade in die Anschauungen des
Autors hineinpasst, wird zum Wesen der Religion ge-
macht. So bei Kidd der Altruismus.
4. Man diktiert von den sozialen Zwecken aus,
die man für die wichtigsten hält, der Religion, das,
was sie sein und leisten soll.
5. Verlangen Natorp und Stein von der Religion,
dass sie jeden Transzendenzanspruch aufgebe und die
Idee der Menschheit zu ihrem Objekt nehme. —
Was wir hier für die Religion gezeigt haben, das
gilt auch für das Ganze des Geisteslebens. W^ir sind
mit dem Versozialisieren der geistigen Probleme auf
die Stufe der Zivilisation zurückgeworfen, denn in der
Zivilisation ist das Geistesleben im Dienste sozialer
und ökonomischer Zwecke, während in der Kultur
ökonomische und soziale Zwecke im Dienste des Geistes-
lebens stehen. —
Das Versozialisieren der geistigen Probleme er-
reicht auch, abgesehen von der theoretischen Unhalt-
barkeit, gar nicht das, was es bezweckt. Wenn z. B.
Stein der Religion dadurch einen grösseren Einfluss
— 93 —
gewinnen will, dass er sie auf das Niveau der sozialen
Bewegung herabzieht, also auf ein Niveau, wo nur der
äussere Erfolg etwas gilt, so wird die Religion hier
etwas rein Akzidentelles, das jede aufrüttelnde und
revolutionierende Kraft verliert. Den geistigen Pro-
blemen wird die bohrende Spitze abgebrochen, wenn
sie in einen ihnen völHg heterogenen Zusammenhang
hineingestellt werden. Wir sehen das ja heute über-
all an den spontan auftretenden religiösen und ethi-
schen Bewegungen. Dadurch dass diese sich nicht in
den Zusammenhang einer festgeschlossenen idealistischen
AVeltanschauung stellen , um von dort aus geistige
Wirkungen auf die Zeit auszuüben, werden sie von
den verschiedensten Tendenzen hin und hergezogen,
bis sie schliesslich von der sozialen Bewegung aufge-
sogen werden, um in dieser ein kümmerliches, wirkungs-
loses Dasein zu fristen. —
Das Geistesleben darf nicht direkt dem alles be-
herrschenden Zug zum Sozialen folgen, wenn es seine
Kraft wiedergewinnen und bewahren will. Wenn
Kuenen fordert, dass die Religion neue Verbindungen
eingehen soll^), so möchten w4r dagegen fordern, dass
die Rehgion dem Bewusstsein der Zeit erst wieder
in ihrer schroffen Selbstherrlichkeit als etwas in sich
Selbständiges und Unableitbares eingeprägt werde.
Dann erst kann sie in fruchtbringender Weise neue
Verbindungen eingehen. Nichts ist heute der
Religion notwendiger als sie aus den rostig ge-
wordenen Legierungen des Sozialen, Evolutionisti-
schen, Politischen, Künstlerischen auszuschmelzen und
zu befreien. Eine scharfe Analyse ist notwendig vor
der Synthese.
') Kuenen, Volksreligion und Weltreligi
— 94 —
Die Fragen unserer geistigen Existenz müssen
sich erst wieder einmal rein aussprechen; das Geistes-
leben muss seine Forderungen ohne jede Rücksicht-
nahme entwickeln.
Daraus mögen sich spröde Gegensätze gegen
das soziale Leben ergeben und die Kompromissver-
suche mögen sich schwieriger gestalten, aber jeder
Kompromiss, den das Geistesleben eingehen muss,
ist ein fauler Kompromiss, wenn das Bewusstsein der
innersten Gegensätzlichkeit fehlt. —
Lebensabriss.
Geboren zu Hamburg 1873 besuchte ich daselbst
die Höhere Bürgerschule, dann das Realgymnasium
des Johanneums, wo ich im Jahre 1893 mein Abiturien-
tenexamen absolvierte. Ich bezog im Sommersemester
1894 die Universität Berlin und studierte an derselben
bis zum Sommersemester 1896 moderne Philologie,
Philosophie und Geschichte. Dann ging ich nach
Jena, wo ich mich als stud. philos. einschreiben liess.
Neben meinen philosophischen Fachstudien trieb ich
hier u. a. hauptsächlich Nationalökonomie und Geo-
graphie. Ich promovierte Sommersemester 1898 auf
Grund vorliegender Dissertation. An dieser Stelle
möchte ich dem Herrn Geh. Hofrat Prof. Dr. Lieb-
mann und den Herren Professoren Pierstorff und
Regel noch einmal danken für die vielen Anregungen,
die ich von ihnen empfangen habe. Herrn Prof.
Dr. Eucken fühle ich mich tief verpflichtet als dem
hochverehrten Lehrer und Förderer meiner philo-
sophischen Studien.
Jena, 27. JuH 1898.
Julius Goldstein.
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HM Gold stein, Julius
^01 Untersuchungen zum
G6 Kulturproblem der Gegenwart