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Full text of "Untersuchungen zum Kulturproblem der Gegenwart"

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Untersuchungen 


/lUll 


KultuTprobleiD  der  Gegenwart. 


Inauguraldissertation 


zur 


Urlangung  der  Do^forwürdc 

der 

pliilosopMsclieii  Eakultät  der   Universität  Jena 

vorgelegt  von 

Julius  Goldstein, 

Hamburg. 


JENA 

Druck   von  Bernhard   Vopeliui 
1899. 


10 1 

^(7 


Genehmigt  von  der  philosophischen  Fakultät  der  Universität  Jena 
auf  Antrag  des  Herrn  Professor  Dr.   Rudolf  Eucken. 

Jena,  den  27.  Juli   1898. 

Geh.   Hofrat  Professor  Dr.  Thomae, 
d.  Z.  Dekan. 


Kiiileituiii!:. 

jjass  es  ein  Kulturproblem  der  Gegenwart  giebt, 
und  dass  dieses  Kulturproblem  zusammenfällt  mit  dem 
Problem,  welche  Stellung  das  Geistesleben  im  Ganzen 
der  Welt  einnimmt,  soll  der  Inhalt  dieser  Untersuchungen 
sein.  Sie  machen  nicht  den  Anspruch  das  Kultur- 
problem zu  lösen,  denn  das  könnte  nur  von  einer 
systematisch  ausgebauten  Kulturphilosophie  geschehen, 
aber  indem  sie  den  Entscheidungspunkt  aufzeigen, 
an  dem  das  Kulturproblem  hängt,  bezeichnen  sie 
wenigstens  die  Richtung  der  Lösung.  Wenn  wir  bei 
diesen  Untersuchungen  von  dem  Werke  A.  Vier- 
kandt's:  „Natur-  und  Kulturvölker"  ausgegangen  sind, 
und  unsere  eigene  Position  mittelst  einer  positiven  Kritik 
an  diesem  Autor  entwickelt  haben,  so  hat  uns  dabei  die 
Erwägung  geleitet,  dass  wir  es  mit  einem  Buche  zu  thun 
haben,   welches    eine   zeitgeschichtliche  Signatur   trägt. 

Aber  wenn  wir  vom  Kulturproblem  reden,  so  können 
wir  nicht  umhin  auf  Rousseau  einzugehen,  den  Vater  des 
modernen  Kulturproblems.  Von  den  Voraussetzungen 
der  Aufklärungsphilosopliie  ist  Rousseau  ausgegangen, 
um  aber  dann  hinsichtlich  der  Kultur  zu  den  entgegen- 
gesetzten Folgerungen  zu  gelangen.  Das  Streben  der 
Aufklärung  war  darauf  gerichtet  das  Dasein  zu  ra- 
tionalisieren. Die  geschichtlich  überkommene  Kultur 
zeigte  in  ihrem  Bestände  viel  Unvernunft  und  Ver- 
worrenheit. Gegen  diese  wendeten  sich  die  Angriffe 
der  Encyclopädisten.  Alles,  was  sich  nicht  vor  dem 
Verstände    rechtfertigen    konnte,    sollte    ausgeschieden 


werden.  Was  dann  noch  übrig  blieb,  galt  als  der 
unverfälschte  Kerngehalt  der  Kultur,  dem  die  ge- 
schichtlichen Entstellungen  abgestreift  waren.  Man 
denke  an  die  in  dieser  Zeit  herrschenden  Begriffe  einer 
natürlichen  Religion,  des  Naturrechtes,  der  natürlichen 
Moral.  Aber  mit  aller  ihrer  Kritik  blieben  die  Encyclo- 
pädisten  innerhalb  der  Kultur  und  der  Gesellschaft.  Die 
Rousseau 'sehe  Kritik  nahm  ihren  Standort  ausserhalb 
der  Kultur,  sie  stellte  die  Kultur  als  Ganzes  in  Frage. 
In  den  Aufklärern  waltete  der  ungebrochene  Glaube, 
auf  dem  rechten  Wege  zur  Vervollkommnung  des 
Menschengeschlechtes  zu  sein.  Ein  allmähHches  Ein- 
sickern der  Verstandesautklärung  aus  den  kleinen 
Cirkeln  der  bels  esprits  in  die  unteren  Volksschichten 
sollte  auch  diese  die  Höhe  menschlicher  Perfektibilität 
erreichen  lassen.  Die  Rationalisierung  des  Lebens  gab 
einen  festen  Wertmassstab  für  dessen  Glücksgehalt. 
Wenn  man  aber  diesen  Wertmassstab  nicht  anerkannte? 
Ja,  wenn  man  ihn  gradezu  verneinte  und  zum  Un- 
wertmassstab degradierte?  Wenn  man  die  Frage  nach 
dem  Glück  des  Menschen  nicht  an  den  verkünstelten 
Intellekt  und  an  die  tausenderlei  Abhängigkeiten  der 
Gesellschaft  bindet,  sondern  an  das  unmittelbare  Ge- 
fühl, an  die  möglichst  grosse  Ursprünglichkeit  des 
Lebens?  Wenn  alle  Verfeinerung  des  Verstandes  die 
schwersten  sittlichen  Missstände  herbeiführt  und  alle 
gesellschaftlichen  Zusammenhänge  dem  Menschen  immer 
unerträglichere  Fesseln  auferlegen?  Dann  war  die  ge- 
priesene Kultur  der  Autklärung  in  eine  Sackgasse  ge- 
raten. Das  stolze  Siegesbewusstsein  musste  zusammen- 
brechen vor  dieser  Radikalkritik. 

Die  Kultur  hörte  auf  eine  Selbstverständlichkeit  zu 
sein;  sie  wurde  zum  Problem.  Das  ist  die  welthistorische 
Bedeutung  der  That  Rousseau  's.    Dem  Menschengeiste 


ist  die  innere  Freiheit  gegenüber  seinem  Werke  zurück- 
gegeben. Rousseau  hat  eine  alte  Thatsache  als  ein 
neues  Phänomen,  als  ein  neues  Problem  empfinden 
gelehrt.  Dass  die  moderne  Menschheit  sich  von  der 

Natur  losgelöst  hat  und  einen  eigenen  Lebensstand  im 
Gegensatz  zur  Natur,  eine  eigene  Daseinsweise,  die 
Kultur,  sich  geschaffen  hat,  an  dieses  Faktum  knüpfen 
alle  Gedanken  des  Citoyen  de  Geneve  an,  um  mit 
den  Mitteln  einer  glänzenden  Beredsamkeit  eine  Rück- 
kehr zur  schlichten  Natureinfachheit  auf  allen  Gebieten 
des  Lebens  zu  fordern.  Er  fordert  damit  nicht  zu- 
gleich das  Aufgeben  jeder  Kultur,  sondern  nur  das 
Anbahnen  einer  Kultur,  die  den  Zusammenhang  mit 
der  Natur  aufrecht  zu  erhalten  versteht.  Natürlich  ist 
ihm  eine  Kultur,  die  den  gegebenen  Lebensbedingungen 
entspricht,  die  alle  Kräfte  des  Menschen  ungehemmt 
zur  Entfaltung  bringt. 

Die  Voraussetzungen  für  eine  wahre  Kultur  liegen 
in  dem  natürlichen,  unverkünstelten  Seelenleben.  „Aus 
den  Händen  seines  Schöpfers  ist  der  Mensch  als  ein 
freies,  reines  Wesen  hervorgegangen.  Wenn  er  durch 
den  bisherigen  historischen  Prozess  in  falsche  Bahnen 
geleitet  worden  ist,  so  muss  die  Geschichte  von  Neuem 
begonnen  werden,  so  muss  der  Mensch  von  der  Un- 
natur des  intellektuellen  Hochmutes  zu  dem  einfachen, 
natürlichen  Gefühle,  aus  der  Verschränktheit  und  Ver- 
logenheit der  gesellschaftlichen  Verhältnisse  zu  seinem 
reinen  unverkümmerten  Selbst  zurückkehren,  um  den 
rechten  Weg  seiner  Entwicklung  zu  finden.  Dazu  bedarf 
nach  Rousseau  die  Menschheit  im  Ganzen  einer  Staats- 
verfassung, w^elche  nach  dem  Prinzip  der  rechtlichen 
Gleichheit  dem  Einzelnen  die  volle  Freiheit  seiner  per- 
sönlichen Bethätigung  am  Gesamtleben  gewährleistet  i)." 

')  Windelband,   Geschichte  der  Philosophie,   Seite  414. 


—     4      — 

So  sieht  Rousseau  die  Lösung  des  Kulturproblems 
letzten  Endes  in  einem  historischen  Experiment.  Der 
Dualismus,  den  er  zwischen  Natur  und  Kultur  auf- 
gedeckt hat,  sollte  in  der  französischen  Revolution  zu 
Gunsten  der  Natur  überbrückt  werden. 

Der  Pessimismus  und  die  Verneinung  gegenüber 
der  falschen  Aufklärungskultur  wird  aufgehoben  in 
einen  Optimismus  und  eine  Bejahung  gegenüber  der 
wahren  Kultur  der  Zukunft.  In  Hinblick  auf  diese 
Lösung  können  wir  das  Kulturproblem  bei  Rousseau 
als  ein  historisches  bezeichnen. 

Unter  den  mannigfachsten  Wandlungen  und  Ver- 
tiefungen hat  das  Kulturproblem  die  geistige  Arbeit 
der  Menschheit  bis  in  die  Gegenwart  begleitet.  Auch 
in  dem  Vierkandt'schen  Werke  „Natur-  und  Kultur- 
völker" erwächst  dasselbe  aus  dem  Gegensatz  zwischen 
Natur  und  Kultur^).  Aber  der  Gegensatz  ist  unüber- 
brückbar geworden.  Ein  historisches  Experiment  hilft 
nicht  mehr.  Wir  können  nicht  mehr  einstimmen  in 
den  Ruf:  „Retournons  a  la  nature",  seitdem  Schopen- 
hauer und  Darwin  den  romantischen  Zauberschleier 
eines  idyllischen  Naturzustandes  zerrissen  haben.  Wir 
haben  in  der  Natur  die  Züge  einer  gigantischen  Un- 
vernunft, eines  blindwütigen  Kampfes  zu  sehen  gelernt. 
Die  Möglichkeit,  unsere  Lebenswerte  aus  der  Kultur 
in    die   Natur   hinüberzuretten ,   ist  damit  für  uns  aus- 


')  Man  verzeite  uns  den  Sprung  von  Rousseau  auf  Vierkandt. 
Es  liegt  uns  in  dieser  Arbeit  nur  daran  das  Kulturproblem  der  Gegen- 
wart zu  entwickeln.  Ein  Hereinziehen  Rousseau 's  schien  uns  aber 
dennoch  geboten,  einmal  Sm  den  historischen  Entstehungspunkt  des 
Kulturproblems  anzudeuten,  dann  aber  auch  um  der  Eigenart  des  psycho- 
logischen Kulturproblems  Vierkandt 's  ein  besseres  Relief  zu  geben. 
Eine  Darstellung  der  geschichtlichen  Entwicklvmg  des  europäischen  Kultur- 
problems von  Rousseau  bis  auf  die  Gegenwart  behalten  wir  uns  für 
eine  spätere  Arbeit  vor. 


geschlossen.  —  Dächten  wir  uns  aber  auch,  wir  hätten 
noch  das  Rousseau'sche  Naturideal,  so  würde  uns  die 
Aufforderung  zu  diesem  zurückzukehren  doch  eigen- 
artig anmuten.  Dem  ausgebildeten  historischen  Be- 
wusstsein  des  ig.  Jahrhunderts  erscheint  der  Gedanke 
utopisch,  dass  wir  uns  den  Verkettungen  einer  mehr- 
tausendjährigen Entwicklung  entziehen  können,  um 
die  Geschichte  von  vorne  zu  beginnen.  Die  historische 
Thatsächlichkeit  hat  für  uns  die  Labilität  der  Auf- 
klärung \'erloren;  das  geschichtlich  Gewordene  trägt 
eine  immanente  Notwendigkeit  in  sich,  die  sich  nur 
langsam  umbiegen  lässt.  Die  grossen  Zw^eckzusammen- 
hänge  des  gesellschaftlichen  und  geistigen  Lebens  gelten 
uns  nicht  mehr  wie  der  Aufklärung  als  Produkte 
individueller  Willkür,  die  man  daher  auch  leicht  nach 
Verstandesregeln  umformen  könne.  Das  vSchiller'sche 
Wort:  „Leicht  bei  einander  wohnen  die  Gedanken, 
doch  hart  im  Räume  stossen  sich  die  vSachen"  ent- 
spricht mehr  den  Stimmungen  einer  Zeit,  welche  das 
„Pathos  der  Distanz"  zwischen  Ideal  und  Wirklichkeit 
in  schweren  Erschütterungen  kennen  gelernt  hat.  Der 
Zukunftsoptimismus  Rousseau s  hat  einem  gewissen 
Pessimismus  dem  empirisch  vorliegenden  Dasein  gegen- 
über weichen  müssen  —  womit  noch  lange  keine  An- 
erkennung eines  transzendenten ,  allgemeinen  Welt- 
schmerzpessimismus ausgesprochen  ist.  — 

Was  aber  auch  immer  an  Dunkelheiten  und 
Schwierigkeiten  der  Kulturstand  mit  sich  bringt,  wir 
können  ihn  nicht  mehr  negieren,  wir  müssen  ihn  auf- 
recht erhalten  als  die  Sphäre  unserer  geistigen  Wirk- 
samkeit. Und  nicht  in  der  möglichst  grossen  An- 
näherung an  die  Natur  sieht  die  Kultur  ihre  Aufgabe, 
sondern  nur  im  Kampfe  mit  der  Natur  vermag  sie  ihr 
Dasein    zu    behaupten.      Eine    Umkehrung   der   Werte 


von  Natur  und  Kultur  hat  seit  dem  Zeitalter  Rousseaus 
stattgefunden.  Beide  Begriffe  haben  einen  anderen 
Sinn  und  eine  tiefere  Bedeutung  bekommen,  und  mit 
dieser  Veränderung  der  Begriffe  treten  wir  in  das 
moderne  Stadium  des  Kulturproblems,  das  wir  an  dem 
Vierkandt'schen  Werke:  „Natur-  und  Kulturvölker"  zu 
entwickeln  versuchen  wollen. 

Zu  diesem  Zweck  wird  sich  die  folgende  Unter- 
suchung in  drei  Teile  gliedern.  Der  erste  Teil  um- 
fasst  eine  kurze  Darlegung  der  prinzipiellen  Haupt- 
gedanken und  der  Methode  Vierkandts.  Die  Kon- 
statierung des  psychologischen  Kulturproblems  leitet 
uns  hinüber  zum  zweiten  Teil,  der  sich  mit  der  Un- 
haltbarkeit  des  psychologischen  Kulturproblems  be- 
schäftigt und  dadurch  den  Boden  frei  macht  für 
das  im  dritten  Theil  zu  behandelnde  metaphysische 
Kulturproblem. 


I. 
Das  psychologische  Kulturproblem. 

Die  Mannigfaltigkeit  der  Verschiedenheiten  zwischen 
Natur-  und  Kulturvölkern  sucht  Vierkandt  auf  ein 
zusammenfassendes  psychologisches  Prinzip  zu  redu- 
zieren, das  weit  genug  ist,  um  eine  Bestimmung  des 
Wesens  der  Kultur  zu  geben.  Dieses  Prinzip  ent- 
nimmt er  den  Anschauungen  der  Wundt'schen  Psy- 
chologie. Nach  dieser  zerfallen  alle  Willensakte  in 
unw^illkürliche  oder  triebartige  und  in  willkürliche  oder 
reflektierende,  je  nachdem  der  äussere  Reiz  die  Richt- 
ung des  Willens  eindeutig  bestimmt,  oder  der  Willens- 
akt sich  als  das  Resultat  einer  Wahl  zwischen  ver- 
schiedenen   Motiven    darstellt.      Eine    ähnliche    Unter- 


—      7      — 

Scheidung-  g^ilt  auch  auf  intcllekUu^lem  (icl^iet,  insofern 
dem  Wahrnehmen  und  Urteilen  eine  n^ich  innen  ge- 
richtete Willensthätigkeit  in  Form  der  Apperzeption 
zu  Grund  Hegt.  Den  unwillkürhchen  Willens^ikten  ent- 
spricht die  assoziative  Form  der  Vorstellungsverknüpfung 
(oder  die  passive  Form  der  Apperzeption,  den  willkür- 
lichen Willensakten  entspricht  die  nach  logischen  Normen 
verlaufende  Vorstellungsverknüpfung  oder  die  akti\'e 
Form  der  Apperzeption.  Diese  beiden  Typen  des  in- 
dividuellen Bewusstseinsverlaufes  sind  die  begrifflichen 
Zentralpunkte,  um  die  sich  die  Völker  gruppieren. 
Nach  der  Seite  ihres  geistigen  Lebens  hin  betrachtet, 
scheiden  sich  die  Völker  in  Naturvölker,  für  welche 
die  unwillkürlichen  Bewusstseinsvorgänge  charakter- 
istisch sind,  und  in  Kulturvölker  oder  besser  Vollkultur- 
völker, bei  denen  beide  Willensformen  vorhanden  sind, 
die  willkürlichen  Bewusstseinsvorgänge  aber  vor- 
herrschen. 

Zu  diesen  Vollkulturvölkern  rechnet  Vierkandt 
die  alten  Griechen,  die  westeuropäischen  Völker  der 
Neuzeit  und  deren  „ausgeprägte  Siedelungskolonien", 
als  da  sind  die  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika, 
der  südöstliche  Teil  von  Kanada,  das  südliche  Afrika, 
Australien  und  Neuseeland. 

Ausserdem  bildet  Vierkandt  noch  den  Zwischen- 
begriff der  „Halbkultur"  zu  dem  er  die  römische  und 
mittelalterliche  Kultur  zählt.  „Ihm  gehören  überdies 
die  nomadischen  Völker  des  grossen  Wüsten-  und 
Steppen  gürteis  der  alten  Welt  und  diejenigen  sesshaften 
Völker  zu,  die  sich  geordneter  stabiler  politischer  und  wirt- 
schaftlicher Verhältnisse  erfreuen,  wie  die  sudanesischen, 
die  orientalischen  und  vorkolumbischen  Staaten". 

Diese  Halbkulturvölker  fügen  sich  aber  auch  dem 
zweiteiligen    psychologischen    vSchema    ein ,    denn    „sie 


stehen  mit  wenigen  Ausnahmen  —  Inder  und  Juden  — 
noch  ganz  auf  der  Stufe  der  Naturvölker.  Ihr  Wesen 
ist  von  Ratzel  treffend  dahin  gezeichnet  worden, 
„dass  sie  auf  wirtschafthchem  Gebiet  bereits  eine  hohe 
Reife  erlangt  haben,  auf  sittlichem  und  geistigem 
Gebiet  aber  noch  mehr  oder  minder  auf  der  Stufe  der 
Barbarei  stehen"  (S.  8). 

Dieses  psychologische  Klassifikationsprinzip,  das 
den  einen  Teil  der  Völker  der  Naturstufe,  den  andern 
Teil  der  Kulturstufe  zuweist,  ist  rein  formaler  Natur; 
denn  wird  die  Verschiedenheit  des  Verlaufes  der  Bewusst- 
seinsvorgänge  zum  Unterscheidungszeichen  zwischen 
Natur  und  Kultur  gemacht,  so  ist  über  den  thatsäch- 
lichen  Inhalt  der  Bewusstseinsvorgänge  noch  gar 
nichts  ausgesagt.  Könnten  nicht  auf  der  Kulturstufe 
quahtativ  neue  Inhalte  erscheinen,  so  dass  die  blosse 
Umw^andlung  der  seelischen  Lage,  wie  sie  sich  in  den 
willkürlichen  Willensakten  kundgiebt,  nicht  mehr  aus- 
reichte als  Wesenskennzeichen  der  Kultur?  Diese  Mög- 
lichkeit, die  uns  weiterhin  auf  die  methodologischen  und 
philosophischen  Voraussetzungen  des  Buches  führt,  ver- 
neint Vierkandt  mit  dem  Hinweis  auf  die  allgemeine 
Stetigkeit  des  seelischen  Lebens  der  Menschheit  (S.  14). 
Dieser  Begriff  der  Stetigkeit  ist  eine  fundamentale  \^or- 
aussetzung,  die  sich  von  verhängnisvoller  Bedeutung 
für  die  ganze  Auffassung  der  Kultur  erweisen  wird. 
Zwei  Thesen  sind  im  Begriff  der  Stetigkeit  ent- 
halten: eine  geschichtlich-sozialpsychologische  und  eine 
philosophische.  Die  erstere  besagt  die  Kontinuität  des 
Wachsens  und  Werdens  des  geistigen  Lebens  der 
Gesamtheit.  Indem  sie  die  Gebundenheit  der  Gegen- 
wart an  die  Erlebnisse  aller  früheren  Zeiten  betont, 
ist  sie  ein  Ausdruck  der  historischen  Denkweise  unserer 
Tage.    Der  individualistischen  Auffassung  des  18.  Jahr- 


hunderts  tritt  die  sozialpsychologische  entgegen.  Mit 
den  Tiefen  seines  Seelenlebens  wurzelt  der  Einzelne 
in  der  Gesamtheit.  Er  ist  in  seinen  Anschauungen 
und  Handlungen,  auch  da,  wo  er  sich  v()llig  frei 
glaubt,  \'on  ihr  abhängig. 

Vierkandt  geht  allerdings  in  der  Auslöschung 
der  Selbständigkeitssphäre  des  Individuums  nicht  so 
weit  wie  Bastian  und  Gumplovicz^),  sondern  er  er- 
kennt mit  Wundt  die  Doppelnatur  des  menschlichen 
Individuums,  das  einerseits  überall  eine  gewisse  Selb- 
ständigkeit besitzt,  andererseits  zugleich  als  ein  soziales 
Element  von  Haus  aus  dazu  angelegt  ist,  in  eine 
grössere  Gesamtheit  aufzugehen  (S.  48).  Auch  bei 
dieser  gemässigten  Auffassung  sind  die  Thatsachen 
des  geistigen  Lebens  als  Phänomene  der  sozialen  Ge- 
meinschaft zu  betrachten,  „Alles  soziale  Leben  ist  von 
der  Thatsache  beherrscht,  dass  durch  das  blosse  Zu- 
sammenwirken der  Einzelwesen  neue  Eigenschciften 
und  Leistungen  hervorgerufen  werden,  die  durch  keine 
Addition  der  Leistungen  der  blossen  Individuen  er- 
halten werden  können"  (S.  66).  Das  Geistesleben  ist 
also  ein  sozialpsychologisches  Differenziationsprodukt. 
Es  fällt  damit  der  Relativität  eines  psychogenetischen 
Entwicklungsprozesses  anheim,  in  welchem  jede  höhere 
Stufe  schon  auf  einer  früheren  vorgebildet  ist  und 
daher  nichts  qualitativ  Neues,  sondern  nur  intensiv 
Neues  enthält    (S.  66).      Daher  schlingt  sich  ein  Band 


')  Aus  dem  Grundriss  der  Soziologie  von  Gumplovicz  S.  i6 
führt  Vierkandt  die  charakteristische  Stelle  an:  ,,Der  grösste  Irrtum 
der  individuellen  Psychologie  ist  die  Annahme,  dass  der  Mensch  denkt. 
Was  im  Menschen  denkt,  ist  nicht  er,  sondern  seine  soziale  Gemein- 
schaft. Die  Quelle  seines  Denkens  liegt  nicht  in  ihm,  sondern  in  dem 
sozialen  Medium  und  er  kann  nicht  anders  denken  als  so,  wie  es  sich 
aus  den  Einflüssen  des  sozialen  Mediums  ergiebt."  (Natur-  und  Kultur- 
völker S.   48.) 


des  Zusammenhanges  um  alles  geistige  Leben  von 
den  untersten  Tierstufen  bis  zu  den  höchsten  Kultur- 
stufen (449).  Hiermit  tritt  die  philosophische  These 
des  Begriffes  der  Stetigkeit  in  Kraft.  Das  Geistes- 
leben als  kosmische  Thatsache  enthält  keine  sachliche 
Diskontinuität  gegen  die  Natur.  Natur  und  Kultur 
kommen  in  einer  Ebene  zu  liegen.  Zwischen  ihnen 
bestehen  nicht  Unterschiede  des  Wesens,  sondern  nur 
solche  des  Grades  (S.  15).  Die  wissenschaftliche  Denk- 
weise der  Naturbetrachtung,  wie  sie  sich  in  der  An- 
wendung einer  ausnahmslos  herrschenden  Gesetzmässig- 
keit und  der  Entwicklungsidee  darstellt,  hat  auch  für 
das  menschliche  Geistesleben  vollkommene  Geltung. 
„Auch  alles  menschliche  Leben  und  Sein  muss  als  ein 
Stück  Natur  betrachtet  w^erden  in  dem  Sinne  einer 
ausnahmslos  herrschenden  Gesetzmässigkeit.  Spinozas 
Forderung,  die  menschlichen  Dinge  nicht  zu  tadeln 
und  zu  loben,  sondern  zu  verstehen,  gilt  auch  für  die 
moderne  Wissenschaft,  aber  die  Starrheit  seines  Welt- 
bildes wird  heute  modifiziert  durch  die  Erkenntnis  der 
Thatsache  der  Entwicklung"  (S.  67). 

So  bildet  den  Hintergrund  des  ganzen  Kultur- 
dramas der  Menschheit  ein  evolutionistischer  Spinozis- 
mus,  in  welchem  jeder  Wesensunterschied  zwischen 
Natur  und  Kultur  verschwindet.  Aber  von  der  em- 
pirischen Lage  aus  angesehen  gehen  Natur  und  Kultur 
weit  auseinander. 

Hier  sind  zwei  Betrachtungsweisen  möglich,  die 
sich  bei  Vierkandt  verschHngen.  Die  eine  nimmt 
ihren  Ausgangspunkt  von  dem  geschichtlich  vorliegen- 
den Befunde  und  strebt  zu  einer  inhaltlichen  Bestimm- 
ung von  Natur  und  Kultur,  indem  sie  auf  beiden 
Seiten  Typen  von  Thatsachen  herausarbeitet  und  gegen- 
überstellt, um  dann  den  letzten  Unterscheidungspunkt 


—      1 1 


zn  finden.  Dieser  liegt  in  der  verschiedenen  Stellung 
der  Natur-  und  KulturvcUker  zum  geistigen  Leben. 

Die  andere  Betrachtungsweise  setzt  die  erste  schon 
voraus.  Sie  nimmt  das  dargebotene,  geordnete  Ma- 
terial und  sucht  es  zurückzuführen  auf  psychologische 
Ursachen.  Die  Verschiedenheiten  des  Seelenlebens 
auf  der  Natur-  und  Kulturstufe  werden  schliesslich, 
wie  wir  schon  sahen,  reduziert  luif  den  Unterschied 
von  unwillkürlichen  und  willkürlichen  Bewusstseins- 
vor  gangen. 

Bei  den  Naturvölkern  kommen  die  unwillkürlichen 
Bewusstseinsvorgänge  am  schärfsten  zur  Ausprägung. 
Nach  der  wSeite  des  Intellektes  tritt  dies  in  dem  asso- 
ziativen Vorstellungs verlauf  zu  Tage.  Die  Willens- 
thätigkeit  bleibt  in  der  Sphäre  der  Triebhandlungen. 
Das  individuelle  sittliche  Leben  steht  ganz  unter  der 
Herrschaft  momentaner  Antriebe,  es  ist  rein  impulsiv. 
Der  Charakter,  wie  er  sich  in  festen  Grundsätzen, 
persönlichem  Ehrgefühl  und  Wahrhaftigkeit  äussert, 
fehlt  den  Naturvölkern  noch  vollkommen.  Eine  ge- 
wisse äussere  Regelung  erfährt  aber  das  sittliche 
Leben  durch  die  sozialen  Mächte  der  Sitte,  der  öffent- 
lichen Meinung  und  der  rehgiösen  Gebote.  Die  Be- 
deutung der  Sitte  liegt  in  ihrem  objektiven  Charakter. 
„Wir  können  ihre  Herrschaft  als  einen  inneren  Zwang 
bezeichnen,  dem  sich  auch  unabhängig  von  allen  et- 
waigen äusseren  Einflüssen  und  Rücksichten  der 
Mechanismus  des  seelischen  Lebens  nicht  entziehen 
kann,  wo  die  betreffende  Sitte  voll  entwickelt  und  in 
jenem  Mechanismus  eingewurzelt  ist.  Wo  aber  eine 
Sitte  noch  nicht  völlig  fertig  geworden  ist,  da  kommen 
für  ihre  Einwurzelung  vor  allem  der  Druck  der  öffent- 
Hchen  Meinung  und  die  Macht  der  göttlichen  Gebote 
in     Betracht,    deren    Einfluss    im    Gegensatz     zu    dem 


2        


inneren  Zwang  der  Sitte  als  ein  äusserer  Zwang  be- 
zeichnet werden  kann"  (S.  276). 

Das  individuelle  Selbstbewusstsein  empfängt  hier 
seinen  Halt  aus  der  Uebereinstimmung  mit  der  Ge- 
samtheit. Die  Gebundenheit  des  Bewusstseinsstandes 
bringt  die  Heerdennatur  des  Menschen  auf  dieser  Stufe 
voll  zum  Ausdruck.  Dabei  steht  das  Individuum  der 
umgebenden  Natur  als  einer  übermächtig  drohenden 
Gewalt  passiv  gegenüber;  in  dem  religiösen  Gefühl 
spiegelt  sich  dies  wieder  als  Furcht  vor  den  haupt- 
sächlich dynamisch  gefassten  Göttern.  Schon  aus 
diesen  wenigen  Beispielen  —  und  die  übrigen  liegen 
auf  derselben  Ebene  —  ergiebt  sich  für  die  Inhalte 
des  geistigen  Lebens  auf  der  Naturstufe  das  gemein- 
same Merkmal,  dass  sie  noch  nicht  zur  Selbständigkeit 
gelangt  sind,  sondern  im  Dienste  einer  von  Trieben 
beherrschten  Lebensführung  stehen.  Die  Natur  er- 
scheint hier  in  unverhüllter  Nacktheit,  und  je  schärfer 
die  Züge  dieser  Natur,  dieses  unwillkürlichen  Seelen- 
lebens herausgearbeitet  werden,  um  so  mehr  hebt  sich 
die  Kultur  dagegen  ab.  Es  liegen  aber  im  Begriff 
der  „Natur"  nach  den  vorstehenden  Erörterungen  zwei 
Merkmale  eingeschlossen:  „Die  Abhängigkeit  von 
äusseren  Einflüssen  d.  h.  die  Bestimmung  der  Lebens- 
vorgänge von  aussen  und  der  Mangel  eines  mass- 
gebenden inneren  Schwerpunktes  und  Zentrums  und 
zweitens  der  Mangel  an  Werten"   (S.  239). 

Die  Gebundenheit  des  Bewusstseinsstandes  lässt 
hier  noch  keine  Fragen  aufkommen  nach  dem  Recht 
und  der  Wahrheit  der  herrschenden  Zweckzusammen- 
hänge. Die  Geschlossenheit  des  psychischen  Mechanis- 
mus wird  durch  keinen  Zweifel  gestört. 

Auf  der  Kulturstufe  tritt  nun  aber  in  dieser 
Richtung   eine   grosse  Umwälzung   ein.     Die   Gemein- 


I  ^ 


samkeit  des  geistigen  Lebens,  die  im  Gebiet  des  Un- 
willkürlichen, Triebartigen  wurzelt,  tritt  in  dem  Masse 
zurück,  „in  welchem  im  menschlichen  Leben  selber  die 
sinnhche  Grundlage  zurückgedrängt  wird  zu  Gunsten 
einer  von  abstrakten  und  idealen  Gesichtspunkten  ge- 
leiteten Lebensführung"  (S.  85). 

Es  tritt  damit  auf  der  Kulturstufe  eine  Um- 
kehrung der  Stellung  des  Geisteslebens  ein.  Während 
auf  der  Xaturstufe  das  Geistesleben  sich  noch  nicht 
abgelöst  hat  von  den  Mitteln  der  sinnlichen  Lebens- 
erhaltung, rückt  es  auf  der  Kulturstufe  zum  Rang  eines 
Selbstzweckes  auf.  LIiermit  erst  bekommt  die  Wirk- 
lichkeit einen  Sinn  und  eine  Vernunft. 

Dem  Individuum  der  Naturvölker  steht  die  Wirk- 
lichkeit gegenüber  als  eine  „zusammenhangslose  Masse 
von  Erscheinungen,  deren  inneres  Wesen  sich  in  einer 
Reihe  von  Dämonen  und  göttlichen  Gewalten  dar- 
stellt, deren  Kern  unberechenbare  Launenhaftigkeit 
und  willkürliches  Handeln  ausmacht Die  be- 
wegende Triebkraft  dieser  ganzen  Welt,  sowohl  bei 
den  Geistern  wie  auch  den  realen  Menschen  ist  nur 
eine  Reihe  tierischer  Affekte,  die  alles  menschliche 
Leben  und  Wesen  den  Launen  des  Zufalls  preisgeben" 

(S.  245). 

„Im  Gegensatz  dazu  erblickt  das  vollentwickelte 
Individuum  der  Kulturvölker  in  der  umgebenden 
Körperwelt  eine  Reihe  vergeistigter  Mittel  und  über 
ihnen  schwebend  als  Kern  der  Wirklichkeit  ein  Reich 
geistiger  Güter  und  absoluter  Werte,  in  dessen  Dienst 
alles  Geschehen  tritt"  (S.  245). 

„Der  Ausdruck  „Kultur"  ist  in  einer  recht  ein- 
seitigen und  das  Wesen  der  Sache  nur  wenig  treffen- 
den Weise  von  der  Thätigkeit  des  Ackerbaues  her- 
genommen   worden.      Eine    Andeutung     des    tieferen 


—       14      — 

vSinnes  des  ganzen  Begriffes  liegt  in  dieser  Bezeichnung 
allerdings  insofern  als  die  Bebauung  des  Bodens  so- 
wohl eines  der  ersten  wie  auch  eines  der  wichtigsten 
Beispiele  jener  Beherrschung  der  Natur  darstellt, 
welche  die  eine  Seite  des  Begriffes  der  Kultur  aus- 
macht^). Allein  die  andere  Seite  dieses  Begriffes,  das 
Vorhandensein  absoluter  Werte  liegt  in  dem  Wort 
Kultur  in  keiner  Weise  angedeutet.  Wäre  der  Aus- 
druck nicht  bereits  so  tief  eingewurzelt,  dass  sich  unser 
Gefühl  gegen  eine  rationalistische  Neuerung  und  Ver- 
drängung sträuben  würde,  so  würde  der  Ausdruck 
„Geistesvölker"  oder  ein  ähnlicher  mehr  innere  Be- 
rechtigung für  sich  haben;  denn  er  schliesst  beide 
Seiten  der  Sache  in  sich,  sowohl  die  Beherrschung  der 
Natur  wie  die  Existenz  allgemeiner  Wertbegriflfe" 
(wS.  245).  Bei  den  Halbkulturvölkern  fehlen  noch  diese 
absoluten  Werte  und  daher  auch  jenes  Selbstbe\Ausst- 
sein,  „welches  den  Menschen  in  den  Mittelpunkt  der 
Welt  stellt,  welche  das  Geistige  als  den  Kern  und  das 
Ziel  des  ganzen  Weltgetriebes  betrachtet"  (S.  143). 
Auf  der  Stufe  der  Vollkultur  erscheinen  deshalb  auch 
„das  menschliche  Leben  und  Sein,  insbesonders  seine 
sittlichen  Aufgaben  nicht  mehr  als  willkürliche  und 
zufällige,  an  sich  wertlose  Anhängsel  der  übrigen 
Natur  oder  als  willkürliche  Ausflüsse  der  Laune  der 
Gottheit,  sondern  sie  stehen  für  die  Werturteile  des 
menschlichen  Geistes  im  bestimmenden  Mittelpunkt  und 
sind  das  Mass,  nach  dem  alles  gemessen  wird"  (S.  152).  — 


')  Wir  würden  für  den  Zustand  eines  Volkes,  wo  die  wirtschaftlich- 
technische  Seite  des  Lebens  realisiert  ist,  den  Namen  „Zivilisation"  vor- 
schlagen. Es  wäre  damit  eine  zusammenfassende  Bezeichnung  für  einen 
Lebensstand  gegeben,  der  mit  der  V ierk and t 'sehen  ,, Halbkultur"  zu- 
sammenfällt. Ausserdem  würde  dadurch  eine  qualitative  Abgrenzung 
gegen  die  ,, Kultur"  gegeben  sein.  Jede  Ei-findung  einer  neuen  Maschine 
schreit  sich  heute  als  einen  Fortschritt  der  „Rultur"  aus. 


—      15     — 

Wir  haben  mit  Absicht  Vierkandt  hier  wörthch 
zitiert,  damit  sein  kulturpliilosophischer  IdeaHsmus  recht 
deutlich  hervortrete.  Ziehen  wir  jetzt  das  Fazit  aus 
den  angeführten  Sätzen. 

Durch  die  KuUur  vollzieht  sich  eine  fundamentale 
Umkehrung  der  individuellen  und  sozialen  Lebens- 
führung. Der  sinnliche  Zusammenhang  zwischen  den 
Menschen  fällt  und  ein  neuer,  auf  idealen  Faktoren 
beruhender  bahnt  sich  an.  Diese  idealen  Fiiktoren, 
die  wir  einstweilen  kurz  mit  dem  Namen  Geistesleben 
zusammenfassen  wollen,  stellen  sich  als  absolute  Werte 
dar.  Indem  die  Menschheit  diese  zu  realisieren  trachtet, 
baut  sie  ein  Ganzes  von  idealen  Lebensordnungen  im 
Laufe  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung  auf,  das  seine 
Verkörperung  in  der  Kultur  findet.  Ist  dies  der  ge- 
schichtlich'e  Thatsachen verlauf ,  so  liegt  philosophisch 
diesem  Menschheitswerke  als  Voraussetzung  der  Ge- 
danke zu  Grunde,  dass  das  Geistesleben,  welches  das 
Fundament  der  Vollkultur  bildet,  kein  zufälliges  Neben- 
produkt des  Naturprozesses  ist,  sondern  Kern  und  Ziel 
der  Wirklichkeit  bildet. 

Mit  dieser  Auffassung  der  Kultur  geben  wir  uns 
vollständig  zufrieden.  Ob  allerdings  der  Metaphysiker 
Vierkandt  mit  seinem  evolutionistischen  Spinozismus 
nicht  in  einen  unauflösbaren  Widerspruch  mit  dem 
Kulturphilosophen  Vierkandt  kommt,  ist  eine  Frage, 
die  uns  späterhin  beschäftigen  wird. 

Dieser  inhaltlichen  Verschiedenheit  der  Kultur 
gegenüber  der  Natur  liegt  eine  Strukturveränderung 
des  seelischen  Lebens  zu  Grunde,  aus  welcher  heraus 
Vierkandt  das  Wesen  der  Kultur,  vor  allem  auch 
die  Schwierigkeiten  der  ganzen  Kulturlage  verstanden 
wissen  will,  denn  die  Kultur  ist  zwar  einerseits  eine 
Thatsache,    andererseits    aber    auch    eine    ungeheuere 


—      i6       - 

Aufgabe.  Der  ethische  SpirituaHsmus,  der  die  Kultur- 
bestrebungen beherrscht,  treibt  nach  allen  Richtungen 
Idealforderungen  hervor,  die  auf  unüberwindliche  innere 
und  äussere  Schwierigkeiten  stossen.  Die  äusseren 
Schwierigkeiten  übergehen  wir  hier.  Sie  ergeben  sich 
mit  Notwendigkeit  aus  dem  Umstand,  dass  das  mensch- 
liche Geistesleben  verflochten  ist  in  das  blinde  Spiel 
eines  mechanischen  Naturprozesses.  Viel  tiefer  greifen 
die  inneren  Schwierigkeiten,  die  aus  der  inneren  Struk- 
tur des  Kulturindividuums  stammen.  Vierkandt 
nimmt,  wie  wir  schon  sahen,  einen  Dualismus  der  Be- 
wusstseins Vorgänge  an.  Auf  der  beinahe  ausschliess- 
lichen Thätigkeit  der  unwillkürlichen  Bewusstseinsvor- 
gänge  beruht  das  Eigentümliche  des  Naturzustandes. 
Das  Wesen  der  Vollkultur  besteht  dagegen  auf  dem 
Überwiegen  der  willkürlichen  vor  den  unwillkürlichen 
Bewusstseinsvorgängen  überall  da,  w^o  es  sich  um  \vich- 
tige  und  entscheidende  Angelegenheiten  des  individuellen 
und  sozialen  Lebens  handelt.  Nur  in  dieser  Einschränk- 
ung kann  von  einem  Ueberwiegen  der  willkürlichen 
Willensakte  gesprochen  werden,  „im  übrigen  behauptet 
auch  hier  das  Element  des  Unwillkürlichen  seine 
Herrschaft  in  weiter  Ausdehnung"  (S.   287). 

Diese  für  die  Kultur  folgenschwere  Erscheinung 
hängt  mit  zwei  Thatsachen  des  seelischen  Lebens  zu- 
sammen. Einmal  mit  seiner  ökonomischen  Natur,  ver- 
möge deren  eine  unausgesetzte  Häufung  von  will- 
kürlichen Willensakten  mit  ihrem  komplizierten  Apparat 
von  Ueberlegungen  und  Abwägungen  das  Bewusstsein 
zu  stark  belasten  würde  (S.  287).  Dann  aber  spielt 
hier  die  allgemeine  Neigung  der  psychischen  Vorgänge 
zum  Mechanisieren  eine  wichtige  Rolle.  Diese  Neigung 
äussert  sich  darin,  dass  bei  häufiger  Wiederholung  der- 
selben Vorgänge  sich  nicht  blos  willkürliche  zu  un  willkür- 


—      17     — 

liehen,  soiuliM-n  aueh  diese  zu  automatisc^uMi  und  ReHex- 
vorg-ängen  vereinfachen,  wodurch  zugleich  im  vSinne  jener 
eben  erwähnten  Ökonomie  das  Bewusstsein  entlastet  wird. 

Zeigt  es  sich  schon  hier,  d^iss  die  willkürlichen  Be- 
wusstseinsvorgäng'e  das  Unwillkürliche  nicht  einfach 
abstossen  können,  sondern  von  diesem  gehemmt  und 
hinabgezogen  werden,  so  wachsen  die  vSchwierigkeiten 
der  Existenzbedingungen  des  psychischen  Kulturfunda- 
mentes dadurch  noch  mehr,  dass  der  Kraftpunkt  des  Da- 
seins auch  auf  der  Kulturstufe  in  dem  Gebiet  des  Un- 
willkürlichen verharrt.  Gegenüber  dieser  „Tiefseeregion 
des  seelischen  Lebens"  sind  die  willkürlichen  Bewusst- 
seinsvorgänge  von  verschwindender  Bedeutung.  Sie 
verhalten  sich  zur  Sphäre  des  Unwillkürlichen  „mehr 
regulativ  als  konstitutiv,  mehr  dirigirend  als  schaffend, 
mehr  ordnend  und  verstärkend  als  neuschaffend" 
(S.  291).  Bei  diesem  Stande  der  Dinge  trägt  die  Kultur 
einen  Konflikt  in  sich;  sie  soll  einen  neuen  Uebens- 
stand  gegen  die  Natur  aufrechterhalten  und  durch- 
setzen und  doch  hat  sie  nicht  die  Mittel  dazu.  Die 
Kraft  des  Lebens  ruht  in  der  Natur,  der  Wert  in  der 
Kultur.  Diese  Diskrepanz  kann  nie  aufgehoben  werden, 
denn  sie  liegt  in  dem  Vorhandensein  der  doppelten 
Bewusstsein sschicht  auf  der  Kulturstufe.  Damit  ist 
der  Gegensatz  von  Natur  und  Kultur  ins  psychische 
Gebiet  hineingetragen. 

Auch  Rousseau  nahm  eine  doppelte  Art  des 
Seelenlebens  an:  ein  natürliches,  unverkünsteltes,  und 
ein  durch  die  gesellschaftliche  Kultur  verkünsteltes. 
Letzteres  hatte  das  un verkünstelte  vSeelenleben  ver- 
schüttet und  sollte  daher  weggeräumt  werden  durch 
das  Neueinsetzen  einer  individuellen  und  sozialen  Er- 
ziehung, durch  ein  historisches  Experiment.  Der  Unter- 
schied gegen  Vierkandt  liegt  aber  in  zw^ei  Momenten: 


—      i8      — 

das  erste  ist  die  Verschiebung  des  Wertaccentes,  das 
zweite  Hegt  in  der  verschiedenen  Stellung  zur  psychischen 
Thatsächlichkeit  des  Kulturindividuums.  Rousseau 
glaubt  den  psychischen  Dualismus  der  gegebenen  Kultur 
in  seinem  Ideal  einer  natürlichen  Kultur  zu  überwinden. 
Vierkandt  sieht  den  seelischen  Dualismus  als  mit 
jeder  Art  der  Kultur  notwendig  verknüpft.  Das  histo- 
rische Kulturproblem  Rousseau 's  muss  der  tieferen 
psychologischen  Einsicht  der  Gegenwart  weichen.  Das 
Kulturproblem  Vierkandt 's  bezeichnen  wir  daher  als 
ein  psychologisches.  — 


IL 

Die  Uiihaltbarkeit  des  psychologische« 
Kulturproblems. 

Man  kann  Natur  und  Kultur  unter  dem  Gesichts- 
punkt eines  doppelten  Gegensatzes  betrachten :  unter  dem 
Gesichtspunkt  eines  ethischen  —  dies  Wort  im  weitesten 
Sinne  —  und  unter  dem  eines  dynamischen  Gegensatzes. 
Der  ethische  Gegensatz,  den  wir  früher  schon  als  einen 
inhaltlichen  bezeichnet  hatten,  gipfelt  in  dem  Gegensatz 
einer  von  Trieben  beherrschten  Lebensführung  und  einer 
Lebensführung,  die  sich  geistigen  Zweckmomenten  unter- 
ordnet. Die  psychologische  Behandlung  reduziert  das 
Ethische  dieses  Gegensatzes  auf  einen  dynamischen  Ge- 
gensatz, auf  die  Dialektik  zweier  Bewusstseinsschichten. 
Vom  dynamisch  psychologischen  Standpunkt  aus  würde 
ein  Vordringen  der  willkürlichen  Bewusstseinsschicht 
in  die  unwillkürliche  einen  Gewinn  für  die  Kultur  be- 
deuten. Aber  was  nach  der  dynamischen  Seite  ge- 
wonnen wird,  geht  nach  der  ethisch-inhaltlichen  Seite 
der  Kultur  verloren,  denn  nach  den  Vierkandt 'sehen 
Voraussetzungen    sind    grade    in    der    unwillkürlichen 


—         IQ        — 

Schicht  die  rehgiösen  und  sittlichen  Prozesse  \cr- 
ankert  (S.  68  u.  a.).  Letztere  würden  also  eine  um  so 
gr()ssere  Schwächung-  erfahren,  je  mehr  die  Kultur 
ihre  psychische  Eigentümlichkeit  durchzusetzen  strebt, 
d.  h.  die  Kultur  als  rein  psychologisches  Problem  ge- 
fasst,  vernichtet  sich  selbst.  In  dem  letzten  Abschnitt 
seines  Buches,  der  sich  die  „Gebrochenheit  der  Voll- 
kultur" tituliert,  streift  Vierkandt  bedenklich  nahe 
diese    Lösung    bezw.    Auflösung    des    Kulturproblems. 

Vierkandt  bezeichnet  den  auf  der  Kulturstufe 
mit  Notwendigkeit  vor  sich  gehenden  Prozess  der  Zu- 
rückdrängung des  Unwillkürlichen,  Irrationalen  als 
die  Rationalisierung  des  Seelenlebens.  Hierbei  sind 
zwei  Typen  zu  unterscheiden.  Entweder  erscheint  die 
Schicht  der  willkürlichen  Bewusstseinsakte  als  eine 
natürliche  Fortsetzung  der  unwillkürlichen,  oder  die 
erstere  steht  zu  der  letzteren  in  einem  Gegensatz  (vgl. 
S.  407).  Der  erste  Typus,  der  ein  harmonisches  Gleich- 
gewicht zwischen  den  beiden  Elementen  der  Vollkultur 
darstellt,  ist  sehr  selten.  Vierkandt  übergeht  ihn 
daher  auch.  Der  zweite  Typus,  der  durch  eine  „dis- 
kordante  Lagerung"  der  Bewusstseinsschichten  repräsen- 
tiert ist,  begreift  wiederum  z\vei  Fälle  unter  sich: 
„Entweder  setzt  sich  die  obere  Schicht  zu  der  unteren 
in  einen  blossen  Widerspruch,  lässt  sie  aber  bestehen, 
so  dass  die  Kultur  einem  gewissen  Dualismus  verfällt, 
oder  sie  wirkt  zerstörend  auf  die  letztere  ein,  so  dass 
sich  eine  gewisse  Missachtung  und  Verdrängung  des 
Unwillküriichen  sowohl  in  theoretischer  wie  praktischer 
Beziehung  bemerkbar  macht"  (S.  407). 

Der  L'all  des  Widerspruchs  äussert  sich  in  dem 
Konflikt  zwischen  Intellekt  und  Gemüt.  Die  Kultur 
verfällt  einem  gewissen  Dualismus.  Im  Mittelalter  hat 
dies  System  der  doppelten  Wahrheit  geherrscht.     Dort 


20        

war  es  noch  möglich.  Bei  der  raschen  intellektuellen 
Bewegung  der  modernen  Menschheit  kann  aber  das 
Wort  Pascal's:  „Le  coeur  a  ses  raisons,  que  la  raison 
ne  connait  point"  keine  Geltung  mehr  beanspruchen. 
Der  Konflikt  zwischen  Intellekt  und  Gemüt,  der  wohl  beim 
Einzelnen  bestehen  kann,  treibt  aber  im  Ganzen  der 
Kulturmenschheit  übersieh  selbst  hinaus  zum  zweiten  Fall 
der  Verdrängung  des  Unwillkürlichen.  Und  daraus  er- 
geben sich  schwere  Folgen  für  die  ganze  Existenz  der  Kul- 
tur. Einige  der  wichtigsten  wollen  wir  hier  kurz  andeuten. 
Mit  dem  Zurückdrängen  der  irrationalen  Elemente 
sehen  wir  einen  ,,Amerikanismus'*  der  Lebensführung 
um  sich  greifen.  Eine  reine  technische  Denkweise 
entnimmt  ihre  Zwecke  nur  dem  persönHchen  Nutzen 
und  schreitet  über  die  Forderungen  der  sozialen  Zu- 
sammenhänge hinweg.  Die  Erleuchtung  der  dunklen 
Gefühlsregionen  durch  die  Fackel  des  kritischen  In- 
tellektes bewirkt  immer  mehr  eine  Atomisierung  oder 
Entwurzelung  des  Individuums.  Diese  besteht  darin, 
„dass  das  Individuum  sich  nicht  mehr  mit  seiner  ganzen 
Umgebung,  seinem  Volke,  seinem  örtlichen  und  zeit- 
lichen und  metaphysischen  Hintergrunde  organisch  und 
solidarisch  verknüpft  fühlt,  sondern  dass  es  sich  deut- 
lich von  seiner  ganzen  Umgebung  in  seinem  Bewusst- 
sein  abhebt  und  sich  als  etwas  Zufälliges  fühlt,  das 
ebenso  gut  gar  nicht  oder  unter  ganz  anderen  Ver- 
hältnissen existieren  könnte"  (S.  360).  Vierkandt  be- 
zeichnet diesen  Vorgang  als  eine  „unvermeidHche  Folge 
der  Ausprägung  des  Wesens  der  Vollkultur"  M.  Vor 
dem  Ansturm  der  rationalen  Motive  kann  sich  auch 
die  Religion  nicht   mehr  halten,   da  die  Religion  nach 


M  Wir  erinnern  hier  an  eine  Skizze  von  Guy  de  Maupassant: 
,,Wer  hat  Recht",  wo  diese  typische  Stimmuntj:  der  absohiten  Verein- 
samung zu  erschütternder  Darstelhing  kommt. 


2  1        

Yierkandt  ihre  Wurzeln  in  der  irrationalen  Gefühls- 
sphäre hat.  Werden  dieser  die  Quellen  abgegraben, 
so  muss  auch  die  Religion  verschwinden. 

„Die  Hemmung,  welche  die  Lebendigkeit  des 
religiösen  Lebens  durch  die  zunehmende  Rationalisier- 
ung und  Vergeistigung  des  Lebens  erfährt,  deutet 
darauf  hin,  dass  eine  in  diesem  Sinne  reine  und  aus- 
schliessliche   Vollkultur    zuletzt    sich    selbst    verzehrt" 

(S.  445)- 

Wir  brauchen  diese  Züge  der  Selbstauflösung  der 
Vollkultur  hier  nicht  weiter  zu  vermehren.  Der  letzte 
Abschnitt  des  Buches  fasst  sie  noch  einmal  alle  unter 
dem  Titel  der  „Gebrochenheit  der  Vollkultur"  zusammen. 

Wir  sind  bis  jetzt  grösstenteils  den  Ausführungen 
Vierkandts  gefolgt  und  haben  die  Konsequenzen 
des  psychologischen  Kulturproblems  dargelegt.  Als 
solche  ergaben  sich  nicht  nur  Schwierigkeiten,  die  der 
ReaHsation  der  geistigen  Werte  entgegenstehen,  sondern 
die  fortschreitende  rationalisierende  Tendenz  der  Kultur 
droht  die  geistigen  Werte  selbst  aufzulösen.  Das  trat 
z.  B.  deutlich  bei  der  Religion  hervor.  ]\Iit  einer  ge- 
wissen Notwendigkeit  musste  die  Kultur  in  ihrer 
weiteren  Entfaltung  hinarbeiten  auf  eine  Zersetzung 
ihrer  eigenen  Grundlage. 

Wenn  nun  aber  diese  Notwendigkeit  nicht  ver- 
knüpft wäre  mit  dem  Wesen  der  Kultur,  sondern  nur 
mit  der  psychologischen  Fassung  ihres  Wesens?  Und 
wenn  diese  psychologische  Fassung  grade  Haupt- 
momente der  Kultur  gar  nicht  in  sich  enthielte,  ja, 
wenn  die  psychologische  Fassung  überhaupt  unfähig 
wäre  das  Wesen  der  Kultur  auszudrücken? 

Vierkandt  giebt  zwei  Bestimmungen  vom  Wesen 
der  Kultur.  Die  ethisch-inhaltliche  Bestim.mung  er- 
blickt das  Wesen  der  Kultur  in  den  absoluten  Werten 


des  geistigen  Lebens,  welches  letztere  hier  als  Kern 
und  Ziel  der  Welt  gilt^).  Nach  der  psychologischen 
Bestimmung  besteht  das  Wesen  der  Kultur  in  dem 
Ueberwiegen  der  willkürlichen  vor  den  unwillkürlichen 
Willensakten. 

Nun  ist  von  diesen  beiden  Bestimmungen  die 
ethisch-inhaltliche  die  primäre,  die  notwendig  schon 
gegeben  sein  muss,  wenn  das  psychologische  Kultur- 
problem überhaupt  entstehen  soll,  denn  der  blos  dy- 
namische Gegensatz  der  beiden  Bewusstseinsschichten 
ist  ganz  indifferenter  Natur.  Ein  psychologisches 
Kulturproblem  erwächst  erst  aus  der  Voraussetzung, 
dass  die  willkürlichen  Bewusstseins Vorgänge  sich  auch 
behaupten  sollen.  Dies  entspringt  aber  einer  Wert- 
qualifizierung, die  nicht  den  willkürlichen  Bewusstseins- 
vorgängen  als  solchen  gilt,  sondern  den  geistigen 
Inhalten,  die  in  dieser  Form  auf  der  Kulturstufe  er- 
scheinen -). 

Ist  also  das  ethisch-inhaltliche  Wesen  der  Kultur 
das  ursprünglich  gegebene  und  gipfelt  dies  in  der 
Existenz  absoluter  Werte  •^),  so  lässt  sich  von  hier  aus 
die  psychologische  Fassung  des  Wesens  der  Kultur 
als  ein  Unternehmen  beurteilen  absolute  geistige 
Werte  auf  psychische  Vorgänge  zu  reduzieren.  Und 
hier  ist  der  Punkt,  wo  die  Kritik  einzusetzen  hat, 
wenn  sie  die  Unhaltbarkeit  des  psychologischen  Kultur- 
problems erweisen  will. 


')  Vgl.  dazu  oben  S.    13   und    14. 

"-)  Ein  Beweis  hierfür  liegt  auch  in  der  Zuordnung  der  Halbkultur- 
völker zu  den  Naturvölkern.  Das  geschieht  nicht  aus  psychologischen 
Gründen,  sondern  weil  bei  den  Halbkulturvölkern  noch  eine  der  Kultur- 
stufe angemessene  geistig-sittliche  Lebensauffassung  fehlt  (cf.  S.  8). 

^)  Wir  lassen  einstweilen  das  zweite  Moment  des  ethisch-inhalt- 
lichen Wesens  der  Kultur  —  das  Geistesleben  Kern  und  Ziel  der 
Welt  —  aus,  um  der  Darstellung  eine  leichtere  Übersichtlichkeit  zu  geben. 


—      23     — 

Wir  können  unserer  Kritik  die  Form  eines  all- 
gemeinen Problems  geben,  nämlich  des  Problems  vom 
Verhältnis  der  Werte  zur  Psychologie.  In  den  letzten 
Dezennien,  wo  die  psychologische  Forschung  weite 
Dimensionen  angenommen  hat,  ist  dieses  (irenzproblem 
der  Norm  Wissenschaften  häufig  Gegenstand  der  wissen- 
schaftlichen Diskussion  gewesen.  Dabei  haben  sich, 
wie  es  in  der  Natur  der  Sache  lag,  zwei  Richtungen 
gebildet.  Die  eine  Richtung  sieht  in  den  geistigen 
Werten  ^)  qualitativ  unableitbare  Grössen,  die  zwar  dem 
psychischen  Sein  angehören,  die  aber  in  ihrer  quali- 
tativen Eigentümlichkeit  ganz  ausserhalb  des  Gebietes 
der  Psychologie  liegen.  Aus  der  blossen  Thatsache 
ihrer  seelischen  Existenz  kann  nichts  abgeleitet  werden 
für  ihr  Recht  und  ihre  Wahrheit.  So  sagt  Sigwart 
(Logik  Bd.  I,  S.  lo,  2.  Aufl.):  „Der  Gegensatz  von 
wahr  und  falsch  hat  ebensowenig  eine  Stelle  in  ihr 
(der  psychologischen  Betrachtung)  wie  der  Gegensatz 
von  gut  und  böse  im  menschlichen  Handeln  ein 
psychologischer  ist  -)." 

Hiernach  würde  die  psychologische  Fassung  der 
Kultur  das  ethisch-inhaltliche  Wesen  der  Kultur,  das 
sich  in  der  Existenz  absoluter  Werte  ausspricht,  gar 
nicht  treffen.  Das  Oberwiegen  der  willkürlichen  vor 
den  unwillkürlichen  Willensakten  würde  nur  bedeuten, 
dass  unter  diesen  seelischen  Bedingungen  das  Wesen 
der  Kultur  zum  Ausdruck  kommt.    Das  psychologische 


^)  Wir  behandeln  hier  die  Frage  der  absoluten  Werte  nur  kur- 
sorisch, um  zum  metaphysischen  Kulturproblem  zu  i^elangen,  wo  uns 
das  Problem  der  absoluten  Werte  mehr  prinzipiell  beschäftigen  wird. 

-)  Trotzdem  kommt  auch  Sigwart  letzthin  nicht  über  die 
Psychologie  hinaus,  wenn  er  die  Wahrheit  der  logischen  Normen  auf 
„das  innere  Gefühl  der  Evidenz"  baut.  Das  ist  die  gefährliche  psycho- 
logistische  Achillesferse,  mit  der  jede  immanente  Logik  behaftet  ist, 
die  eine  metaphysische  Begründung  a  limine  abweist. 


—        24       — 

Wesen  der  Kultur  verhält  sich  zum  ethisch-inhaltlichen 
wie  das  psychologische  Wesen  der  Urteilsfunktion 
zum  logischen  Wesen  des  Urteils.  Und  wie  das 
psychologische  Problem  der  Urteilsfunktion  noch  gar 
nicht  das  logische  Problem  des  Urteils  berührt,  so  be- 
rührt das  psychologische  Kulturproblem  noch  gar 
nicht  das  ethisch-inhaltliche  Problem  der  Kultur. 

Während  die  Vertreter  der  eben  geschilderten 
Richtung  der  Psychologie  vor  dem  „Dass"  der  Werte 
Halt  gebieten,  und  die  Begründung  der  Rechtsfrage 
aus  andern  Znsammenhängen  erwarten,  lässt  die 
andere  Richtung,  der  man  den  Namen  „Psychologismus" 
gegeben  hat^),  die  Werte  auch  vollständig  absorbiert 
werden  von  der  Psychologie.  Die  Werte  sind  psy- 
chische Phänomene  also  —  so  schliesst  man  —  kann 
ihr  Wesen  auch  nur  durch  die  psychologische  Zer- 
gliederung erkannt  werden.  Diese  hat  die  einzelnen 
psychischen  Elementarfaktoren  aufzuzeigen,  welche 
durch  die  Konstanz  ihrer  ^^erbindung  die  Existenz 
dieses  bestimmten  Wertes  zu  stände  bringen. 

Auf  dem  Boden  dieses  Psychologismus  kann 
natürlich  von  absoluten  Grössen  keine  Rede  sein. 
Der  Unterschied  zwischen  dem  natürlichen  Seelenleben, 
das  nur  Lust  und  Unlust  kennt,  und  dem  von  geistigen 
Werten  beherrschten  ist  nur  ein  quantitativer.  Die 
Frage  nach  der  Wahrheit  der  Werte  kann  hier  gar 
nicht  aufkommen;  sie  sinkt  von  vorneherein  in  sich 
selbst  zusammen. 

Die  psychologische  Fassung"  des  Wesens  der 
Kultur  erzeugte  das  psychologische  Kulturproblem. 
Um  den  zerstörenden  Konsequenzen  desselben  zu  ent- 


^)  Hierher   gehören   u.  a.  Eisenbaus,    Marty,    Brentano,  die 
Münchener  Psychologenschule  unter  der  Führung  von  Lipps. 


—      25      — 

gehen,  untersuchten  wir  es  auf  seine  Voraussetzung 
hin.  Diese  Vor^lussetzung  war  die  M()gHchkeit  der 
Reduktion  absohiter  Werte  auf  psychische  Vorgänge. 
Bei  der  Verneinung  dieser  MögHchkeit  konnte  das 
psychologische  Kulturproblem  nicht  den  Anspruch  er- 
heben auch  über  das  Recht  und  Wahrheit  des  ethisch- 
inhalthchen  Wesens  der  Kultur  entscheiden  zu  können. 
Das  war  ein  mehr  indirekter  Beweis  seiner  Unhaltbar- 
keit.  Direkt  aber  ergab  sich  seine  Unhaltbarkeit, 
wenn  die  JMöglichkeit  bejaht  wurde,  denn  damit  be- 
finden wir  uns  auf  dem  Boden  des  Psychologismus, 
der  absolute  Werte  nicht  anerkennen  kann.  Das 
psychologische  Kulturproblem,  das  grade  über  das 
Schicksal  der  absoluten  Werte  Belehrung  geben 
wollte,  hat  sich  dazu  als  prinzipiell  unfähig  erwiesen.  — 

Eng  mit  dem  psychologischen  Kulturproblem  hängt 
die  sozialpsychologische  Betrachtungsweise  des  geistigen 
Lebens  zusammen.  Die  geistigen  Inhalte  erscheinen 
der    Sozialpsychologie    als    Produkte    der    Gesamtheit. 

Ist  nun  die  sozialpsychologische  Anschauung  des 
geistigen  Lebens  im  stände  die  Existenz  absoluter 
Werte  zu  stützen  und  damit  dem  ethisch-inhaltlichen 
Wesen  der  Kultur  gerecht  zu  werden?  Wie  bei  der 
Individualpsychologie  können  wir  auch  hier  die  vor- 
liegende Frage  auf  die  Problemformel  vom  Verhältnis 
der  Sozialpsychologie  und  der  absoluten  Werte  bringen 
und  unter  dem  Gesichtspunkt  einer  doppelten  Möglich- 
keit betrachten. 

Die  Sozialpsychologie  kann  einmal  rein  descriptiv 
den  Werten  gegenüberstehen  und  blos  ihre  besondere 
Färbung  aus  den  gesellschaftlichen  Zusammenhängen 
heraus   begreiflich   zu    machen    suchen  ^).     Nach  dieser 


Vgl.   Höffding,   Psychologie  S.  33. 


—       26       — 

Auffassung  behandelt  die  Sozialpsychologie  die  Werte 
immer  schon  als  gegeben  und  rechnet  mit  ihnen  als 
mit  gegebenen  Grössen,  ohne  etwas  darüber  ausmachen 
zu  können,  woher  sie  ihre  Absolutheit  nehmen.  Die 
Sozialpsychologie  als  rein  descriptive  Disziplin  kann 
absolute  Werte  nicht  begründen  und  erweist  sich 
damit  als  unfähig  zur  Behandlung  des  ethisch-inhalt- 
lichen Wesens  der  Kultur, 

Nun  aber  hat  die  Sozialpsychologie  in  neuerer 
Zeit  ein  genetisches  Moment  in  sich  aufgenommen. 
Sie  will  den  Werdegrund  abgeben,  aus  dem  alle  In- 
halte des  geistigen  Lebens  wie  Religion,  Ethik,  Recht 
etc.  ihren  Ursprung  genommen  haben,  und  von  dem  sie 
getragen  werden.  ,,Der  Geist  ist  das  gemeinschaft- 
liche Erzeugnis  der  menschlichen  Gesellschaft  i)." 

Vom  Standpunkt  dieser  genetischen  Sozialpsycho- 
logie sind  aber  alle  Werte  im  Fluss  des  historischen 
Entstehens  und  Vergehens,  und  es  ist  unmöglich  von 
dieser  empirischen  Eage  aus  einen  Punkt  zu  fixieren, 
von  dem  aus  die  Werte  als  absolute  bezeichnet  werden 
könnten.  Im  Gegenteil,  die  einzige  Absolutheit,  welche 
die  Sozialpsychologie  den  Werten  geben  könnte,  wäre 
die  Absolutheit  der  Relativität.  So  scheitert  die  Sozial- 
psychologie mit  dem  Unternehmen,  aus  eigenen  Zu- 
sammenhängen absolute  Werte  zu  begründen;  in  ihrem 
Versuche  dies  zu  thun,  wird  sie  eine  heute  besonders 
.weit  verbreitete  Spielart  des  Psychologismus,  die  wir 
als  „Sozialpsychologismus"  bezeichnen. 

Wir  wenden  uns  jetzt  der  zweiten  Voraussetzung 
des  ethisch-inhaltlichen  Wesens  der  Kultur  zu:  dass 
das  Geistesleben   „Kern   und    Ziel    der  Welt   sei"    und 


')    Zeitschrift     für     Völkerpsychologie     iincl      Sprachwissenschaft. 
Bd.  I,    S.  3. 


—       27       — 

fragen,  ob  die  psychologische  Fassung  des  Wesens 
der  Kultur  eine  Begründung  dieser  These  geben  kann. 
Nun  sind  Individual-  und  wSozialpsychologie  von  vorne- 
herein dazu  unfähig,  denn  ihr  Erkenntnisobjekt  ist  auf 
die  Immanenz  beschränkt.  Eine  Antwort  können 
wir  daher  nur  von  der  Metaphysik  Vierkandt's  er- 
warten. 

Ist  mit  der  Behauptung  der  kosmisch  zentralen 
vStellung  des  Geisteslebens  auf  der  Kulturstufe  eine 
metaphysische  Thatsache  von  objektiver  Bedeutung 
ausgesprochen,  oder  spielt  sich  diese  durchgreifende 
Wandlung  des  Weltbildes  nur  im  Bewusstsein  des 
Kulturindividuums  ab,  und  entspricht  ihr  keine  trans- 
subjektive Realität? 

Vierkandt  war,  wie  wir  oben  sahen,  aus  metho- 
dologischen und  sozialpsychologischen  Gründen  dahin 
gelangt  auch  „alles  menschliche  Leben  und  Sein"  als 
„ein  vStück  Natur"  zu  betrachten.  Es  war  der  Begriff 
der  Stetigkeit,  der  es  dem  Metaphysiker  Vierkandt 
verbot  einen  Wesensunterschied  zwischen  Natur  und 
Kultur  zu  statuieren  und  ihn  veranlasste,  auch  im 
menschhchen  Geistesleben  nichts  anderes  zu  sehen  als 
eine  quantitative  Komplikation  naturgegebener  Grössen 
(vgl.  dazu  bes.  S.  14,  Entwicklung  des  sittlichen  Lebens). 
Somit  entspricht  der  Aussage  des  Kulturbewaisstseins 
oder  wie  Vierkandt  es  nennt  des  „sozialen  Selbst- 
bewusstseins",  dass  das  Geistesleben  Kern  und  Ziel 
der  Welt  sei,  keine  Realität. 

Vierkandt  nimmt  seine  metaphysische  Position 
in  Gestalt  eines  evolutionistischen  Spinozismus  auf  dem 
Boden  der  Natur.  Das  in  der  Kultur  zu  Tage  tretende 
Geistesleben  soll  nun  aber  kulturphilosophisch  den 
Kern    der    Wirkhchkeit     bilden,     während     es    meta- 


—       28       — 

physisch  ein  bedeutungsloses  Anhängsel  der  übrigen 
Natur  isti). 

Also  während  auf  der  Kulturstufe  das  Sein  sich 
gleichbleibt,  tritt  trotzdem  eine  radikale  qualitative 
Wert  Verschiebung  diesem  Sein  gegenüber  ein.  Vom 
Sein  aus  betrachtet,  bedeutet  die  ganze  Kultur  nur 
eine  Gradverschiedenheit  gegen  die  Natur;  vom  Wert 
aus  betrachtet,  bedeutet  die  Kultur  eine  qualitative 
Wesensverschiedenheit  gegen  die  Natur.  — 

Wir  wollten  die  Unhaltbarkeit  des  psychologischen 
Kulturproblems  nachweisen.  Wir  thaten  das  in  indi- 
vidualpsychologischer, sozialpsychologischer  und  meta- 
physischer Richtung.  Als  Resultat  konnten  wir  fest- 
stellen, dass  die  psychologische  Fassung  der  Kultur 
in  keiner  Weise  dem  ethisch-inhaltlichen  Wesen  der 
Kultur  gerecht  werden  kann.  Die  Kritik  hat  aber 
noch  ein  anderes  Ergebnis  zu  Tage  gefördert,  das  wir 
jetzt  genauer  ins  Auge  fassen  wollen. 

Das  psychologische  Kulturproblem  hatte  als  fest- 
stehende Voraussetzung  das  ethisch-inhaltliche  Wesen 
der  Kultur.  Dieses  ruhte  auf  zwei  Momenten:  i.  Die 
Existenz  absoluter  Werte  und  damit  verbunden  2.  die 
kosmisch -zentrale  Stellung  des  Geisteslebens.  Das 
erste  Moment  fiel  ausserhalb  der  Begründungsmöglich- 
keit des  psychologischen  Kulturproblems.  Das  zweite 
Moment  hingegen  wurde  als  subjektive  Illusion  eines 
hochgespannten,  sozialen  Selbstbewusstseins  erkannt; 
das  Weltbild,  das  von  Vierkandt  scheinbar  als  not- 
wendige   Konsequenz    der    Ergebnisse    der    modernen 

^)  Wenn  Vierkandt  an  einer  Stelle  S.  250  auch  das  mensch- 
liche Leben  ,, angesichts  seiner  idealen  Regungen  und  Kräfte  als  ein 
Stück  höherer  Natur"  betrachtet  wissen  will,  so  sehen  wir  darin 
nur  eine  Velleität  des  Ausdrucks,  die  uns  nur  interessant  ist  als  Zeichen 
des  Streites  zwischen  dem  Kulturphilosophen  und  dem  Metaphysiker 
Vierkandt. 


—        29        — 

Wissenschaft  unterwortVn  wird,  hcit  koincn  Kciuin  mclir 
für  die  metaphysische  These  vom  Geistesleben,  welche 
das  ethisch  -  inhaltliche  Wesen  der  Kultur  verlangt. 
Was  bedeutet  das  aber?  Vor  allem  bewegen  wir  uns 
jetzt  nicht  mehr  auf  dem  P>oden  des  psychologisclien 
Kulturproblems  ^),  denn  dieses  nalim  die  kosmisch-zen- 
trale Stellung  des  Geisteslebens  ununtersucht  hin.  Wird 
aber  die  kosmisch -zentrale  vStellung  des  Geisteslebens 
in  Frage  gezogen,  ja  geradezu  negiert,  so  werden  wir 
über  das  psychologische  Kulturproblem  hinausgetrieben 
zu  dessen  Voraussetzung,  dem  ethisch-inhaltlichen  Wesen 
der  Kultur.  Da  dieses  aber  an  bestimmte  metaphy- 
sische Bedingungen  hinsichtlich  der  Stellung  des  Geistes- 
lebens gebunden  ist,  diese  Bedingungen  aber  im  Wider- 
streit mit  dem  evolutionistischen  JSpinozismus  Vier- 
kandts  stehen,  so  wird  dadurch  auch  das  ethisch- 
inhaltliche Wesen  der  Kultur  in  Mitleidenschaft  gezogen 
und  aus  der  selbstverständlich  hingenommenen  That- 
sache  der  Kultur  wird  ein  Problem;  aber  angesichts 
der  hier  in  Betracht  kommenden  Fragen  ein  meta- 
physisches Problem.  Wir  sind  bei  der  Frage  der 
Möglichkeit  der  Kultur  überhaupt  angelangt,  beim 
metaphysischen  Kulturproblem. 


Das  metaphysische  Kulturproblem. 

Das  psychologische  sowohl  wie  das  metaphysische 
Kulturproblem  haben  das  Geistesleben  zum  Vorwurf; 
aber  in  der  Behandlung  desselben  unterscheiden  sie 
sich  prinzipiell.  Das  psychologische  Kulturproblem 
nimmt    das   Geistesleben    als   gegebene   Thatsache   hin 


^)  Das  psychologische  Kulturproblem  hebt  die  Kultur  auf,  wenn 
es  das  einzige  sein  will.  Als  ein  Unterproblem  des  metaphysischen 
Kulturproblems  ist  es  völlig  berechtigt,  indem  es  die  inneren  Realisations- 
schwierigkeiten des  ethisch-inhaltlichen  Wesens  der  Kultur  zeigt. 


—     30     — 

und  untersucht  die  Realisationsschwierigkeiten  der 
geistigen  Inhalte  innerhalb  des  Dualismus  der  beiden 
Bewusstseinsschichten,  Das  metaphysische  Kulturpro- 
blem hat  einzig  und  allein  mit  dem  Geistesleben  zu 
thun  ohne  Beziehung  auf  irgend  welche  psychologische 
ReaHsationsschwierigkeiten.  Es  untersucht,  welche 
Wahrheit  den  Forderungen  des  Geisteslebens,  Kern 
und  Ziel  der  Welt  zu  sein,  zukommt;  ob  und  wie 
diese  P'orderungen  sich  aufrecht  erhalten  lassen  vor 
dem  wissenschaftlichen  Bewusstsein  der  Gegenwart. 
Damit  sieht  das  metaphysische  Kulturproblem  sich 
vor  eine  Aufgabe  gestellt,  welche  jenseits  aller  em- 
pirisch-psychologischen Untersuchungen  liegt.  Oder 
anders  ausgedrückt:  Das  psychologische  Kulturproblem 
fragt:  „Wie  weit  ist  Kultur i)  möglich?"  Das 
metaphysische  Kulturproblem  fragt:  „Wie  ist  Kultur 
überhaupt  möglich?" 

Dass  wir  zur  Aufwerfung  dieser  Radikalfrage 
berechtigten  Grund  haben,  wird  sich  genauer  erweisen, 
w^enn  wir  die  Unterhöhlung  der  metaphysischen  Grund- 
lage der  Kultur  mehr  ins  Einzelne  verfolgen.  Zugleicli 
wird  dabei  noch  die  methodische  Verschiedenheit  des 
psychologischen  und  metaphysischen  Kulturproblems 
schärfer  hervortreten. 

Wir  sind  auf  das  metaphysische  Kulturproblem 
hingelenkt  worden  als  sich  herausstellte,  dass  die  eine 
Voraussetzung  der  Kultur,  die  zentral-kosmische  Stellung 
des  Geisteslebens  von  dem  evolutionistischen  Spi- 
nozismus  Vierkandt's  aufgehoben  wurde.  Damit  ver- 
sank eine  Hauptforderung  des  sozialen  Selbstbewusst- 
seins   ins   Subjektive.      Wenden   wir  uns  jetzt  zur  Re- 


')  Der  Einfachheit  halber  ist  statt  „ethisch-inhaltliches  Wesen  der 
Kultur'-'  von  nun  an  schlechthin  „Kultur"  gesetzt. 


lis^'ion  und  Ethik,  so  wird  uns  hier  ein  (Reiches  ))('- 
gegnen. 

Das  Zurücktreten,  ja  das  unvermeidliche  Aussterben 
der  Religion  war  eine  der  Konsequenzen,  die  sich  aus 
dem  psychologischen  Kulturproblem  ergaben.  Als 
Grund  wurde  angeführt  die  zunehmende  Rationalisie- 
rung des  Seelenlebens,  welche  die  Schicht  des  ITn- 
willkürlichen,  Unbewaissten  immer  mehr  zurückzu- 
drängen strebt.  In  dieser  dunklen  Gefühlssphäre 
wurzelt  aber  nach  Merkandt  die  Religion.  Hiermit 
mussten  wir  uns  \'om  Standpunkt  des  psychologischen 
Kulturproblems  aus  zufrieden  g-eben.  Das  metaphy- 
sische Kulturproblem  aber,  das  die  Wahrheitsfrage  des 
Geisteslebens  aufnimmt,  richtet  diese  auch  an  die  Reli- 
gion. Und  da  zeigt  sich  dann,  dass  es  mehr  als  psy- 
chologische Motive  sind,  an  denen  die  Religion  zu 
Grunde  geht.  In  dem  Abschnitt:  „Das  religiöse  Leben 
der  Vollkultur"  (S.  372)  lesen  wir  bei  Vierkandt:  „Bei 
der  Entwickelung  des  sozialen  Selbstbewusstseins 
kommt  ferner  jene  allgemeine  Selbstbesinnung  in  Be- 
tracht, welche  die  Menschheit  im  Reiche  der  Voll- 
kultur vollzieht  und  vermöge  deren  sie  sich  darauf 
besinnt,  dass  sie  Schöpferin  ihres  religiösen 
Lebens  ist,  und  dass  alle  religiösen  Lehren  und 
Vorschriften  Projektionen  ihrer  eigenen  seeli- 
schen A^orgänge  bedeuten." 

Also  der  reinste  Feuerb  ach 'sehe  Illusionismus 
als  Resultat  der  Kulturbewegung!  Dabei  kann  es 
freilich  dann  nicht  Wunder  nehmen,  wenn  das  religiöse 
Leben  auf  der  Höhe  der  Kultur  untergehen  muss; 
aber  dies  geschieht  nicht  aus  psychologischen  Gründen, 
wie  Vierkandt  uns  glauben  machen  möchte,  sondern 
w^eil  von  vornherein  der  Religion  keine  objektive 
Wahrheit  zukommt,  und  dies  mit  der  auf  der  Kultur- 


stufe  sich  entwickelnden  kritischen  Denkschärfe  zum 
Bewusstsein  kommt.  So  deckt  das  metaphysische 
Kulturproblem  hier  erst  die  ganze  Schwierigkeit  auf 
und  zeigt,  dass  bev^or  man  die  psychologischen  Schwie- 
rigkeiten der  Rehgion  auf  der  Kulturstufe  erfassen 
will,  man  sich  erst  der  Wahrheit  der  Religion  ver- 
gewissern muss.  Noch  einmal  sei  es  gesagt:  Die  Reli- 
gion ist  metaphysisch  schon  zu  Tode  verurteilt,  und 
das  psychologische  Kulturproblem  zeigt  nur  ihre  Todes- 
kämpfe. 

Hiernach  können  wir  uns  von  dem  Idealismus 
Vierkandt's  ein  Bild  machen,  wenn  er  S.  468 
schreibt:  „Da  die  religiöse  Betrachtungsweise  der 
Dinge  eine  besondere  Form  des  Idealismus  überhaupt 
bildet,  so  muss  jede  Schwächung  der  ersteren  auch 
den  letzteren  treffen."  Aber  nachdem  Vierkandt 
einmal  die  objektive  Unwahrheit  der  religiösen  Be- 
trachtungsweise verkündet  hat,  kann  es  sich  doch  nicht 
mehr  um  eine  Schwächung  derselben  handeln,  sondern 
nur  um  ein  radikales  Aufgeben  des  als  blosse  Phantasma- 
gorie  Erkannten. 

Beim  Zusammenbruch  aller  objektiven  Grössen 
bleibt  als  rocher  de  bronze  noch  die  Ethik.  Ihr  will 
Vierkandt  den  absoluten  Ch^irakter  bewahrt  wissen, 
in  ihr  sieht  er  das  letzte  Kriterium  Aller  geistigen 
Güter  und  Werte.  Ja,  er  glaubt,  dass  die  Reduktionen 
auf  ästhetischem  und  religiösem  Gebiet  keine  wesen- 
haften Verluste  für  die  Vollkultur  bedeuten,  da  „die 
letzte  Instanz  für  alle  menschlichen  Werte  die  sittliche 
ist"  (S.  454).  Wenn  man  dabei  noch  an  die  Aeusse- 
rungen  denkt,  welche  den  sittlichen  Aufgaben  der 
Vollkultur  einen  geistigen  Welthintergrund  geben 
(S.  143,  245),  so  sollte  man  erwarten,  dass  Vierkandt 
im   Ethischen   mehr  sieht   als    eine   blosse   Privatange- 


legenheit  der  Menschheit.  Aber  auch  darin  sehen  wir 
uns  getäuscht.  In  den  Ausführungen,  in  denen  Vier- 
kandt  die  Verdienste  Kant's  um  die  Entwickking 
sozialpsychologischer  Vorstellungen  behandelt,  tritt  mit 
unverhüllter  Deutlichkeit  die  Versubjektivierung  des 
Ethischen  zu  Tage.  Es  heisst  dort  S.  38:  „Zunächst 
ersetzt  Kant  den  bisherigen  Materalismus  in  der  Be- 
trachtung der  Welt  durch  eine  idealistische  Denkweise, 
welche  den  Dualismus  zwischen  Geist  und  Körper  zu 
Gunsten  des  ersteren  überbrückt.  In  ihm  vollzieht 
sich  gleichsam  ein  Stück  Selbstbesinnung  der  moder- 
nen, sich  zunehmend  auf  ihre  eigenen  geistigen  Werte 
besinnenden  und  zur  Herrschaft  über  die  Aussenwelt 
gelangenden  Menschheit;  aus  ihm  spricht  jenes  Selbst- 
bewusstsein  der  modernen  Menschheit,  welches  sich 
des  unbedingten  Mehrwertes  alles  geistigen  Seins  so 
sicher  bewusst  ist,  dass  es  in  der  ganzen  Körperwelt 
hinfort  nur  die  Mittel  für  die  Realisierung  geistiger 
Zwecke  zu  erblicken  vermag." 

Bei  Kant  finden  sich  nach  Vierkandt  aber  eine 
Reihe  von  Rückständigkeiten,  und  zu  diesen  rechnet 
er  „jene  Substanzialisierung  der  Ideale  in  Gestalt  einer 
übersinnlichen  Welt,  die  wiederum  mit  der  von  ihm 
so  nachdrücklich  vertretenen  aktuellen  Denkw^eise, 
„gemäss  der  jene  Ideale  nur  die  Bedeutung 
letzter  Ziele  im  menschlichen  Leben  bean- 
spruchen dürfen,  aufs  schärfste  kontrastierte"  (S.  41). 
Wenn  aber  die  ethischen  Ideale  nur  die  Bedeutung 
letzter  Ziele  im  menschlichen  Leben  haben,  nur  Nor- 
men unseres  subjektiven  Lebenskreises  sind,  w^ie  darf 
dann  das  soziale  Selbstbewusstsein  behaupten,  dass 
unsere  höchsten  ethischen  Werte  Kern  und  Ziel  der 
Wirklichkeit  sind?  Was  für  das  individuelle  Selbst- 
bewusstsein Unwahrheit  ist,  wird  doch  nicht  durch  die 

3 


—      34      — 

Behauptung     des     sozialen     Selbstbewusstseins     zur 
Wahrheit. 

Nunmehr  können  wir  das  metaphysische  Kultur- 
problem auf  ein  wissenschaftlich  zugängliches  Problem 
bringen.  Wir  sahen,  dass  auf  der  ganzen  Linie  die 
Behauptungen  der  Kultur  hinsichtlich  des  transzen- 
denten Weltcharakters  des  Geisteslebens  in  Nichts  zu- 
sammensanken, wenn  wir  mit  der  Frage  nach  ihrer 
Wahrheit  an  sie  herangingen.  Wir  konnten  diese  Frage 
nur  aufnehmen  vom  Boden  derjenigen  Weltanschau- 
ung, die  dem  Werke  Vierkandt's  zu  Grunde  Hegt, 
und  die  wir  als  evolutionistischen  Spinozismus  be- 
zeichnet haben.  Hier  sind  nun  zwei  Möglichkeiten 
gegeben.  Entweder  die  Kultur  hat  Recht  mit  ihrer 
These  von  der  kosmisch  zentralen  Stellung  des  Geistes- 
lebens, dann  muss  man  den  evolutionistischen  Spino- 
zismus aufgeben,  oder  aber  der  evolutionistische  Spino- 
zismus ist  das  letzte  Wort  der  Wissenschaft,  dann  ist 
Kultur  unmöglich.  Tertium  non  datur.  So  hängt  die 
Möglichkeit  der  Kultur  an  der  kosmisch -zentralen 
Stellung  des  Geisteslebens,  und  wir  können  das  meta- 
physische Kulturproblem  bestimmen  als  das  Problem 
von  der  vStellung  des  Geisteslebens. 

Indem  wir  das  methaphysische  Kulturproblem  als 
das  Problem  von  der  wStellung  des  Geisteslebens  be- 
stimmt haben,  sind  wir  an  einem  Knotenpunkt  unserer 
Arbeit  angelangt,  von  dem  aus  sich  neue  Gedanken- 
perspektiven eröffnen.  Vor  allem  haben  wir  mit  dieser 
Problemstellung  den  Begriff  der  Kultur  abgelöst  von 
der  Willkürbestimmung  des  Subjekts  und  ihn  zugleich 
aus  der  Sphäre  vager  Zeitstimmungen  auf  die  Höhe 
wissenschaftlicher  Betrachtung  gehoben. 

Aber  damit  haben  wir  zugleich  ein  neues  Problem 
aufgenommen,  das  wir   nicht  mit  Stillschweigen  über- 


gehen  dürfen,  ohne  uns  der  Krschleichung  schuldig 
zu  nuichen.  Wir  habim  nämhch  aus  einer  blos  ge- 
schichtlichen Thatsache  eine  metaphysische  Thatsache 
gemacht.      Und  das  bedarf  der  näheren  Erörterung. 

Die  Kultur  ist  als  eine  v^on  der  Xatur  sich  ab- 
hebende Lebenstufe  der  Menschheit  vorerst  ein  rein 
geschichtliches  Faktum.  Zur  Feststellung  dessen,  was 
Kultur  ist,  ist  uns  nur  das  geschichtlich  Ueberkom- 
mene  gegeben.  Aber  alles  (yeschichtliche  ist  rein  als 
solches  betrachtet  zufällig  M ,  dem  Wandel  des  Augen- 
bhcks  unterworfen.  In  diesem  Sinne  zufällig  ist  auch 
die  Bestimmung  des  ethisch  inhaltlichen  Wesens  der 
Kultur  bei  A'ierkandt.  Nirgends  finden  wir  bei  ihm 
eine  Begründung  der  die  Kultur  tragenden  beiden 
Momente:  Der  Existenz  absoluter  Werte '^)  und  der 
kosmisch  zentralen  Stellung  des  Geisteslebens.  Sie  sind 
ihm  überkommen  aus  dem  geschichtlich  vorliegenden 
Befunde  der  Kultur.  Wäre  es  aber  nicht  möglich, 
dass  die  geschichtlich  gewordenen  Voraussetzungen 
der  Kultur  hinfällig  geworden  sind  durch  die  verän- 
derte wissenschaftliche  Lage  der  Gegenw^art?  Auch 
die  supranaturalistische  Offenbarungsreligion  ist  uns 
aus  der  Vergangenheit  überliefert,  aber  können  wir 
dieselbe  aus  diesem  blos  geschichtlichen  Grunde  heute 
noch  als  Wahrheit  annehmen?  Verlangt  nicht  alles 
geschichtlich    l^eberlieferte    eine  Begründung    aus    der 

*)  Damit  soll  selbstverständlich  nicht  gesagt  sein,  dass  geschicht- 
liche Thatsachen  nicht  untereinander  kausal  bedingt  sind.  Aber  was 
rein  vom  Standpunkt  der  Geschichte  in  kausaler  Verkettung  erscheint, 
gilt  vom  Standpunkt  der  Vernunft  aus  betrachtet  als  zufällig. 

-)  Bei  der  Bestimmung  des  metaphysischen  Kulturproblems  als 
des  Problems  von  der  Stellung  des  Geisteslebens  haben  wir  mit  Ab- 
sicht dieses  Moment  ausser  acht  gelassen,  denn,  wie  sich  später  /eigen 
wird,  sind  absolute  Werte  nur  möglich  bei  der  kosmisch  zentralen 
Stellung  des  Geisteslebens. 

3* 


3^^ 


Gegenwart,  ja  aus  einer  zeitlosen  Gegenwart,  wenn  es 
Wahrheit  für  uns  sein  soll?  Nirgends  mehr  als  bei 
der  Geschichte  des  Geistes  hat  Spinoza's  Wort  recht, 
dass  ein  Erkennen  nur  sub  specie  aeterni  möglich  ist.  — 

In  dem  Werke  Vierkandt's  ist  der  KulturbegrifF 
verknüpft  mit  der  These  von  der  kosmisch-zentralen 
Stellung  des  Geisteslebens.  Eine  geschichtliche  In- 
duktion vermag  niemals  die  Notwendigkeit  dieser  Ver- 
knüpfung darzuthun  und  uns  eine  universale,  für  alle 
Zeiten  gültige  Lehre  zu  geben,  dass  Kultur  als  solche 
auf  dieser  metaphysischen  These  ruht.  Dazu  bedarf 
es  einer  gesonderten  metaphysischen  Untersuchung, 
die  aber  nicht  durchgeführt  werden  kann,  ohne  zu- 
gleich die  Frage  nach  dem  Recht  und  der  Wahrheit 
dieser  These  mitaufzunehmen.  Die  Kultur  stellt  die 
Forderung  einer  kosmisch  zentralen  Stellung  des  Geistes- 
lebens auf  Grund  des  unbedingten  Wertes,  welche 
das  geistige  Leben  auf  der  Kulturstufe  hat. 

Dass  die  Geschichte  für  die  Wahrheit  dieser 
Forderung  nichts  ausmachen  kann,  haben  wir  gesehen. 
Noch  unzureichender  ist  aber  dafür  die  Psychologie, 
mit  der  man  heute  die  grossen  metaphysischen  Fragen 
zu  erledigen  pflegt. 

Dass  das  geistige  Leben  auf  der  Kulturstufe  als 
Kern  und  Ziel  der  Wirklichkeit  angesehen  wird,  ist 
psychologisch  verständlich  bei  der  Bedeutung,  welche 
das  geistige  Leben  auf  der  Kulturstufe  besitzt.  Man 
kann  sogar  eine  gewisse  psychologische  Notwendig- 
keit dafür  geltend  machen  und  aus  der  Geschichte 
mit  Beispielen  belegen,  dass  der  Mensch  das,  was 
sein  Innenleben  stark  bewegt,  in  das  All  projiziert. 
Auf  dieser  selben  psychologischen  Notwendigkeit  be- 
ruht aber  auch  die  Weltbetrachtung  der  Naturvölker, 
die   ihr   eigenes,   von  Trieben   beherrschtes  Innenleben 


—     37      — 

auf  das  All  übertragen.  Ihnen  erscheint  die  Wirk- 
lichkeit als  ,.eine  zusammenhangslose  Masse  von  Er- 
scheinungen, deren  inneres  Wesen  sich  in  einer  Reihe 
von  Dämonen  und  göttlichen  Gewalten  darstellt,  deren 
Kern  unberechenbare  Launenhaftigkeit  und  willkürliches 
Handeln  ausmacht". 

Der  Mensch  auf  der  Naturstufe  bleibt  nun  aller- 
dings beim  psychologisch  Notwendigen  stehen;  er 
nimmt  sein  eigenes  Leben  ebenso  als  eine  gegebene 
Thatsache  hin  wie  die  äussere  Natur.  Der  Mensch 
auf  der  Kulturstufe  kann  aber  bei  dem  psychologisch 
Notwendigen  nicht  stehen  bleiben.  Er  überschreitet 
es  thatsächlich  überall  da,  w^o  er  als  selbständige 
Persönlichkeit  denkt  oder  handelt.  Die  Notwendigkeit 
des  Logischen  im  Betriebe  der  Wissenschaften  lässt 
alle  psychologische  Notwendigkeit  weit  hinter  sich, 
ja  sie  steht  meistens  gradezu  in  einem  Gegensatz  zu 
derselben.  Bei  der  These  der  kosmisch -zentralen 
Stellung  des  Geisteslebens  sich  mit  der  psychologischen 
Notwendigkeit  genügen  lassen ,  bedeutet  ein  schwächliches 
Ausweichen  gerade  an  dem  Punkte,  von  dem  aus  erst 
alles  geistige  Ringen  der  Menschheit  einen  Sinn  be- 
kommt, bedeutet  das  Grosszüchten  einer  inneren  Un- 
wahrheit, die  nirgends  entsittlichender  wirkt  als  bei  den 
letzten  Fragen  unserer  geistigen  Existenz. 

In  der  Kultur  soll  so  gehandelt  werden,  als  ob 
das  Geistesleben  Kern  und  Ziel  der  Wirklichkeit  wäre. 
Das  metaphysische  Problem  lautet  daher:  hat  das 
(jeistesleben  diese  kosmisch-zentrale  Stellung? 

Eine  vornehm  thuende  Philosophie  mag  dieses 
Problem  als  unwissenschaftlich,  als  allzu  metaphysisch 
unerledigt  bei  Seite  schieben;  w4r  halten  es  für  ein 
Zeichen  noch  grösserer  Unwissenschaftlichkeit  wirklich 
vorliegenden    Problemen    aus    dem    Wege    zu    gehen. 


weil  sie  nicht  in  den  engen  Kreis  dogmatisch  fest- 
gelegter Probleme  hineinpassen  i). 

Vierkandt  sieht  den  fundamentalen  Unterschied 
zwischen  den  Natur-  und  Kulturvölkern  in  ihrer  ver- 
schiedenen Stellung  zum  geistigen  Leben.  Bei  den 
Naturvölkern  ist  das  geistige  Leben  noch  nicht  zur 
Selbständigkeit  gelangt;  bei  den  Kulturvölkern  ist  es 
zum  Selbstzweck  geworden.  Damit  hat  Vierkandt 
ein  geschichtliches  Faktum  konstatiert.  Er  könnte 
dabei  stehen  bleiben,  wenn  nicht  zugleich  mit  der 
geschichtlichen  Thatsache  ethische  Forderungen  und 
metaphysische  Behauptungen  gesetzt  wären.  Auf  der 
Kulturstufe  wird  das  geschichtlich  Gewordene  nicht 
blos  behandelt  als  das,  was  ist,  sondern  zugleich  als 
das,  was  sein  soll.  Damit  wird  die  Thatsache  der 
Kultur  zugleich  eine  Aufgabe,  die  alle  Kräfte  des 
Menschen  anspannt.  Das  materielle  Leben  sinkt 
herab  zu  einem  Mittel  für  die  Verwirklichung  geistiger 
Zwecke.  Diese  geistigen  Zwecke  nehmen  die  ganze 
Idealität  des  Menschen  in  sich  auf  und  wachsen  zu 
einer  geistigen  Wirklichkeit  aus,  die  der  v^om  sittlichen 
Bewusstsein  getragene  Gedanke  als  den  Kern  der 
Welt  proklamiert. 

Liegen  aber  in  der  geschichtlichen  Thatsache  der 
Kultur  so  viele  Forderungen  und  Thesen,  ist  die 
Kultur  so  verknüpft  mit  den  letzten  Idealtendenzen 
des  Menschen,  dann  lässt  sich  nicht  stehen  bleiben 
bei  der  Geschichte,  dann  muss  die  Geschichte  ihr 
Recht    erweisen.      Das    kann    nicht    wieder    von    der 


^)  Windelband,  der  in  seinen  ,, Präludien"  den  ncukantischen 
Standpunkt  der  Bewusstseinsimmanenz  sehr  schroff"  vertritt,  nennt  dort 
einmal  die  Philosophie  die  ,, entsagungsvolle  Wissenschaft  vom  Xormal- 
bewusstsein".  Danach  fallen  ungefähr  dreiviertel  aller  philosophischen 
Probleme  ausserhalb  der  Philosophie.  Die  Methoden  haben  sich  aber 
nach  den  Problemen,  nicht  die  Probleme  nach  den  ]\[cthoden  zu  richten. 


—      39      — 

(xeschichte  aus  geschehen.  Die  Wertung  der  Geschichte 
kann  nur  ausgehen  von  einer  GesamtaufFassung  des 
(reisteslebens.  Erst  von  dieser  Gesamtauffassung  aus 
kann  über  Wahrheit  und  Recht  des  in  der  Kultur 
zu  Tage  getretenen  geistigen  Lebens  entschieden 
werden  und  damit  zugleich  über  die  Wahrheit  der 
ganzen  Kultur.  Das  bedeutet  eiber  ebenfalls  die  bis 
jetzt  blos  geschichtliche  Thatsache  der  Kultur  aus 
ilirer  Zufälligkeit  befreien  und  sie  zur  Notwendigkeit 
erheben.  Damit  erst  gewinnen  wir  ein  Recht  zur 
Kritik  und  Abweisung  aller  Bestrebungen,  welche 
mit  der  Vergangenheit  brechend,  willkürlich  neue 
Kulturgrundlagen  legen  wollen.  Man  denke  z.  B. 
an  Nietzsche.  Vom  Standpunkt  der  blossen  Ge- 
schichte stehen  wir  wehrlos  jedem  Bilderstürmer  gegen- 
über, der  in  Sachen  der  Kultur  Studiosus  rerum 
novarum  ist.  Und  das  ist  unsere  Zeit,  der  wir  den  ge- 
rühmten historischen  Sinn  auf  geistigem  Gebiete  ab- 
sprechen. Die  Gegenwart  erstickt  vor  Geschichte  und 
ist  zugleich  vor  lauter  Geschichte  ungeschichtlich. 
Wir  stehen  vor  dem  Abgrund  des  Unhistorischen; 
was  eine  mehrtausendjährige  Arbeit  der  Menschheit 
an  geistiger  Vertiefung  errungen  hat,  sehen  wir  dem 
Bewusstsein  der  Gegenwart  entschwinden.  Noch  nie 
gab  es,  selbst  nicht  in  der  verachteten  Aufklärungs- 
zeit, einen  grösseren  Bruch  mit  der  Geschichte,  als 
ihn  die  vom  N^ituralismus  beherrschte  Gegenwart 
vollzieht,  ohne  es  zu  wissen.  — 

Also  die  Kultur  verlangt  zu  ihrer  Bewahrheitung 
einer  Metaphysik.  Das  ist  nun  nicht  etwas  so  schlimmes, 
wie  es  sich  viele  vorstellen,  wenn  sie  sagen:  man  solle 
doch  aufhören  unsere  höchsten  Güter  an  das  traurige 
Schicksal  der  Metaphysik  zu  ketten.  Einmal  ist  die 
Verbindung    nicht    der    Willkür    der    Alenschen     ent- 


—      40     — 

Sprüngen,  sondern  im  Wesen  unserer  höchsten  Güter 
hegt  ein  hinübergreifender  Zug  ins  Metaphysische;  das 
blosse  Moment,  dass  sie  sich  über  den  Wandel  des 
Augenblicks  erheben  und  einen  Zug  von  Ewigkeit  an 
sich  tragen,  führt  die  denkende  Betrachtung  über  den 
Wechsel  der  sinnlich  gegebenen  Welt  hinaus  und 
lässt  den  Menschen  nach  einer  Verankerung  in  meta- 
physischen Zusammenhängen  ausspähen. 

Dann  aber:  Finden  wir  bei  Vierkandt,  den  So- 
ziologen und  Sozialphilosophen  nicht  auch  eine  Meta- 
physik und  zwar  die  schlimmste,  die  es  giebt,  die 
Aletaphysik  der  Selbstverständlichkeit.  Allgemeine 
naturwissenschaftliche  Thatsachen  und  Gesetze  werden 
über  sich  selbst  verlängert.  Die  Fäden  von  Abstrak- 
tionen w4e  Gesetz,  Entwicklung,  Stetigkeit  etc.  laufen 
hinter  der  sinnlichen  Weltbühne  zusammen  und  geben 
einen  metaphysischen  Knoten,  der  stark  genug  er- 
scheint, um  Gott  und  Mensch  daran  anzuhängen. 
Wissenschaftlich  formuliert  wird  eine  solche  Metaphysik 
als  Aufgabe  der  Philosophie,  die  darin  bestehen  soll, 
die  Resultate  der  Einzelwissenschaften  —  worunter 
meistens  die  Naturwissenschaften  verstanden  werden  — 
zu  verallgemeinern  und  unter  einander  in  Beziehung 
zu  setzen.  Wir  müssen  eine  derartige  Metaphysik 
aber  ablehnen,  weil  sie  grade  —  wie  sich  noch  ge- 
nauer zeigen  wird  —  den  spezifischen  Thatsachen  und 
Problemen  des  Geisteslebens  nicht  gerecht  werden  kann. 

Welcher  Art  aber  muss  die  von  uns  geforderte 
Metaphysik  sein?  Die  Transzendentalfrage  der  Kultur- 
philosophie: Wie  ist  Kultur  möglich?  muss  uns  hier 
den  Weg  weisen.  Diese  Transzendentalfrage  bedeutet, 
was  muss  wirklich  und  gegeben  sein,  damit  Kultur, 
die  als  Thatsache  vorliegt,  überhaupt  sein  kann.  Nun 
sahen  Avir,  dass  die  aus  der  geschichtlichen  Thatsache 


—      41      — 

der  Kultur  hervorspringende  Forderung  einer  kosmisch- 
zentralen Stellung  des  (xeisteslebens  die  These  war, 
auf  die  alles  ankommt.  Und  es  handelt  sich  jetzt 
darum  dieselbe  aus  dem  Gebiet  geschichtlicher  Zu- 
fälligkeit in  diis  (xebiet  metaphysischer  Notwendigkeit 
hinüberzuleiten.  Dass  eine  derartige  These  nur  aus 
einer  idealistischen  Metaphysik  ihre  Begründung  finden 
kann,  leuchtet  von  vorneherein  ein.  Zugleich  liegt  es 
auch  in  der  Natur  der  Aufgabe,  dass  dieser  Idealismus 
seinen  Ausgangs-  und  Ansatzpunkt  in  den  Thatsachen 
des  geistigen  Lebens  nimmt.  Darin  treffen  wir  zu- 
sammen mit  einem  Streben  der  Zeit  von  den  Geistes- 
wissenschaften aus  zu  einem  neuen  Idealismus  zu  ge- 
langen.  — 

Eine  bedeutsame  Verschiebung-  macht  sich  im  all- 
gemeinen Zeitbewusstsein  geltend  hinsichtlich  des  Er- 
kenntniswertes der  Naturwissenschaften.  Glaubte  man 
noch  vor  ein  paar  Dezennien ,  dass  nur  die  Natur- 
wissenschaften dem  Menschen  alle  Tiefen  der  Welt 
erschliessen  könnten,  so  war  der  Ruf  des  Dubois  Rey- 
mond:  „Ignoramus  et  semper  ignorabimus"  der  Anfang 
vom  Ende  dieses  Glaubens  ^).  Die  erkenntnistheo- 
retische Besinnung  des  Neukantianismus  kam  noch 
dazu.  In  naturwissenschaftlichen  Kreisen  ist  die  Ten- 
denz im  xVnwachsen  begriffen  auf  alle  Naturerklärung 
zu  verzichten,  um  desto  sicherer  die  reine  Naturbe- 
schreibung  walten   zu  lassen  -).     Damit  hat  die  Natur- 


*)  Vgl.  auch  dazu  die  genauere  Formulierung  Dilthey's  in  der 
„Einleitung  zu  den  Geisteswissenschaften",  S.    12 — 17. 

')  Sehr  scharf  tritt  diese  Tendenz  zu  Tage  in  den  ,, populär 
wissenschaftlichen  Vorlesungen"  von  E.  Mach  und  hier  besonders  in 
dem  Aufsatz:  „Die  ökonomische  Natur  der  physikalischen  Forschung." 
Vgl.  auch  Ostwald:  „Die  Überwindung  des  wissenschaftlichen  Mate- 
rialismus." 


—      42      — 

Wissenschaft  den  Anspruch  aufgegeben  eine  ab- 
schliessende Welterklärung  zu  geben.  Die  Phrase  von 
der  „naturwissenschaftlichen  Weltanschauung"  ist  über- 
haupt ohne  vSinn,  denn  die  Naturwissenschaften  haben 
nur  viele  Geheimnisse  auf  wenige  reduziert,  und  diese 
lässt  sie  auf  sich  beruhen.  Dadurch  grade  hat  die 
Naturwissenschaft  ihre  Grösse  erreicht,  dass  sie  es 
verstanden  hat,  alle  metaphysischen  Probleme  soweit 
abzublenden,  dass  die  Sicherheit  ihres  methodischen 
Grundbaues  in  keiner  Weise  gefährdet  und  beeinflusst 
wird.  In  diesem  Punkte  treibt  sie  die  aufstrebenden 
Geisteswissenschaften  zur  Nacheiferung  an.  Herrscht 
auch  im  Gebiet  der  Geisteswissenschaften  noch  grosser 
Methodenstreit  1),  so  besteht  doch  mehr  oder  minder 
darin  Übereinstimmung,  die  metaphysischen  Fragen, 
die  sich  an  die  geistigen  Thatsachen  knüpfen,  so  weit 
als  möglich  zurückzuschieben,  um  den  geisteswissen- 
schaftlichen Untersuchungen  die  wSicherheit  der  Natur- 
wissenschaften zu  geben.  Auch  das  Begriffsgerüste, 
das  sich  so  fruchtbar  erwiesen  hat,  wird  grösstenteils 
mit  herübergenommen. 

So  hofft  Vierkandt,  dass  ,, dieselbe  wissenschaft- 
liche Denkweise,  welche  seit  der  Renaissance  in  das 
Gebiet  der  Naturbetrachtung  siegreich  eingedrungen 
ist,  auch  bei  der  Betrachtung"  des  geistigen  Lebens 
sich  die  Herrschaft  erwerben  wird"  (S.  58). 

Das  soll  dadurch  geschehen,  dass  die  Begriffe 
der  Kausalität  und  der  Gesetzmässigkeit  in  den  Mittel- 
punkt   der    wissenschaftlichen     Betrachtungsweise    ge- 

')  AVir  erinnern  hier  u.  a.  an  Werke  wie  Dilthey's  „Einleitung 
in  die  Geisteswissenschaften",  Windelband 's  Rektoratsrede:  „Ge- 
schichte und  Naturwissenschaft",  Rickert:  ,, Grenzen  der  naturwissen- 
schaftlichen Bcgriflsbildung",  Wundt:  Logik  II,  Carl  Menger: 
., Untersuchungen  über  die  Methode  der  Sozial  Wissenschaften."  Auch 
der   Streit    um    die  Begriffsbestimmung    der  Psychologie    gehört  hierher. 


—     43      — 

stellt  werden.  Danin  sehliesst  sich  noch,  als  besonders 
den  Thatsachen  des  geistigen  Seins  eigen,  der  Ent- 
wickln ngsbegriff.  Der  Entwicklungsbegriff  giebt  nach 
Vierkandt  dem  geistigen  Leben  eine  eigene  Position 
gegenüber  der  Natur. 

„Hat  also  diis  geistige  Leben  einen  andern  Cha- 
rakter als  das  der  Natur,  so  wird  sich  für  eine  ab- 
schliessende philosophische  Betrachtung  der  Ide^dismus 
nicht  mehr  blos  aus  dem  theoretischen  Grunde  em- 
pfehlen, dass  unser  eigenes  Sein  uns  leichter  begreif- 
lich ist  als  das  materielle,  sondern  auch  durch  die 
sachliche  Erwägung,  dass  die  Thatsache  der  Ent- 
wickelung  erst  in  den  Eigentümlichkeiten  des  geistigen 
Seins  zum  vollen  Ausdruck  gelangt"  (S.   67). 

Dieser  Versuch  Vierkandt's  von  den  Geistes- 
wissenschaften aus  einen  Idealismus  zu  begründen,  trägt 
eine  zeitgeschichtliche  Signatur,  und  wenn  wir  diesen 
Versuch  daher  einer  kurzen  Kritik  unterziehen,  so 
weisen  wir  damit  eine  Fehlrichtung  der  Zeit  auf. 

Vierkandt  will  sich  für  den  Idealismus  entschei- 
den: I.  Weil  „unser  eigenes  Sein  uns  leichter  begreif- 
lich ist  als  das  materielle";  2.  Weil  „die  Thatsache  der 
Entwicklung  erst  in  den  Eigentümlichkeiten  des  geisti- 
gen Seins  zum  vollen  Ausdruck   gelangt." 

Den  ersten  Grund  müssen  wir  ablehnen,  wenn  wir 
uns  auf  den  Boden  Vierkandt's  stellen.  Wird  unser 
eigenes  Sein  geisteswissenschaftlich  behandelt  in  dem 
wSinne,  dass  die  metaphysischen  Fragen,  die  mit  den 
Thatsachen  des  Innenlebens  zugleich  gesetzt  sind,  ab- 
geschnitten werden,  so  stehen  wir  unserem  eigenen 
Sein  als  einem  Komplex  seelischer  Phänomene  genau 
so  unbekannt  und  fremd  gegenüber  wie  dem  materiellen 
d.  h.    natürlich,    wenn    unser   eigenes  Sein  uns  die  Er- 


—      44      — 

kenntnis  des  Weltgrundes  vermitteln  soll  ^).  Und  darum 
handelt  es  sich  doch,  wenn  man  von  den  Thatsachen 
des  geistigen  Seins  aus  zu  einer  idealistischen  Welt- 
anschauung gelangen  will.  Es  liegt  aber  in  den  geistes- 
wissenschaftlichen Thatsachen  gar  kein  zwingendes 
Moment  der  Umwandlung  des  naturwissenschaftlichen 
Weltbildes,  Methoden  und  Begriffe  wandern  aus  dem 
einen  Gebiet  in  das  andere  und  unterwerfen  die  Geistes- 
thatsachen  einer  positivistischen  Behandlungsweise.  Wir 
sagen  mit  Absicht  „positivistisch",  denn  der  Positivismus 
hat  das  Erkenntnisideal  der  Naturwissenschaften  auch 
auf  die  geistigen  Thatsachen  übertragen  -). 

Übersteigt  daher  in  Wirklichkeit  der  metaphysische 
Erkenntniswert  der  geisteswissenschaftlichen  That- 
sachen in  keiner  Weise  den  der  Naturwissenschaften, 
so  fällt  die  Begründung  des  Idealismus  auf  die  (jeistes- 
wissenschaften  in  sich  zusammen. 

Aber  vielleicht  leistet  die  „sachliche  Erwägung, 
dass  die  Thatsache  der  Entwicklung  erst  in  den  Eigen- 
tümlichkeiten des  geistigen  Seins  zum  vollen  Ausdruck 
gelangt"  mehr  für  die  Begründung  einer  idealistischen 
Weltanschauung? 

Vierkandt  legt  grosses  Gewicht  auf  die  Bedeutung 
des  Entwickelungsbegriffes  für  den  Idealismus. 

„Das  Reich  der  Natur  ist  vor  allem  dazu  ange- 
than  in  uns  das  Verständnis  für  die  Gesetzmässigkeit 
alles  Geschehens  zu  erwecken,  das  Reich  des  geistigen 
Lebens    vor    allem    dazu    angethan    uns    die  Thatsache 


^)  Erkenntnistheorelisch  ist  es  selbstverständlich,  dass  vor  allem 
unser  eigenes  Sein  uns  gegeben  und  begreiflich  ist,  ebenso  wie  auch  das 
materielle  Sein  uns  streng  genommen  nur  als  Bewusstseinsinhalt  gegeben 
ist.     Aber  metaphysisch  ist  damit  noch  garnichts  gewonnen. 

-)  Vgl.  die  klassische  Formulierung  des  positivistischen  Erkenntnis- 
ideals in  Mill's  Essay:   „August  Comte  und  der  Positivismus"  S.  4. 


~      45      — 

der  Entwicklung- verständlich  zu  machen.  Dieser  Unter- 
schied hängt  zusammen  mit  einem  andern,  nämhch  dem 
verschiedenen  Verhältnis  der  einzelnen  Elemente  zu 
der  Gesamtheit  oder  dem  resultierenden  Gesamtvor- 
gange. In  der  Mechanik  —  die  organischen  Diszi- 
plinen der  Naturwissenschaft  bilden  auch  in  dieser 
Richtung  gleichsam  eine  Art  Uebergang  zu  den  Geistes- 
wissenschaften -  lässt  sich  der  Gesamtvorgang  bei  der 
Betrachtung  der  Kräfte  und  Bewegungen  stets  durch 
eine  blosse  x\ddition  der  Wirkungen  der  einzelnen 
Elemente  berechnen:  Die  Gesamtheit  ist  hier  stets 
gleich  der  Summe  der  Elemente.  Im  geistigen 
J.eben  ist  sie  stets  grösser.  Schon  ein  einziger  ge- 
sprochener Satz  enthält  vielmehr  an  logischem  und 
psychologischem  Inhalt  als  sich  durch  eine  blosse  Ad- 
dition der  entsprechenden  Inhalte  der  einzelnen  Wörter 
ergeben  würde.  Ebenso  ist  alles  soziale  Leben  der 
Menschheit  von  der  Thatsache  beherrscht,  dass  durch 
das  blosse  Zusammenwirken  der  Einzelwesen  neue 
Eigenschaften  und  Leistungen  hervorgerufen  werden, 
die  durch  keine  Addition  der  Leistungen  der  isolierten 
Individuen  erhalten  werden  können.  Aller  Entw^ick- 
lung  liegt  dieselbe  Thatsache  zu  Grunde.  Auf  einer 
früheren  Stufe  sind  die  Eigenschaften  der  späteren 
zwar  schon  vorgebildet,  aber  die  höhere  Stufe  enthält 
zwar  nicht  qualitativ,  aber  doch  intensiv  Neues 
in  sich,  das  auf  der  früheren  noch  nicht  vorhanden 
war"  (S.  66). 

Wir  können  nun  diesem  eben  geschilderten  Ent- 
wicklungsbegriff gar  keinen  metaphysischen  Erkennt- 
niswert beimessen.  Wenn  Vierkandt  sagt,  dass  der 
Entwicklungsgedanke  erst  seit  der  Mitte  unseres  Jahr- 
hunderts aus  den  Geisteswissenschaften  in  die  Natur- 
wissenschaften übertragen   worden  ist,   so  ist  hinzuzu- 


-      46      - 

fügen,  dass  die  Naturwissenschaften  den  Entwicklungs- 
begriff  stark  modifiziert  haben,  und  dass  er  in  dieser 
veränderten  Form  heute  auf  die  Geisteswissenschaften 
zurückwirkt.  Diese  durchgreifende  Veränderung  be- 
steht in  der  I  mm  anent machung  des  Entwicklungs- 
begriffes, in  dem  Fallenlassen  des  festen,  transzendenten 
Hintergrundes.  Der  Entwicklungsbegriff  hat  aber  nur 
dann  einen  metaphysischen  Erkenntniswert,  wenn  sich 
in  der  Entwicklung  ein  ihr  zu  Grunde  liegendes  Sub- 
jekt oder  eine  Substanz  erschliesst  ^j.  „Damit  ist  zu- 
gleich gegeben,  dass  uns  erst  das  Ende  der  Entwick- 
lung offenbart,  was  der  Anfang  enthielt;  in  ihm  war 
erst  als  Anlage  enthalten,  was  durch  die  successiven 
Thätigkeiten  schliesslich  geworden  ist;  und  eben  da- 
mit ist  der  ganze  Prozess  unter  den  teleologischen 
Gesichtspunkt  gestellt,  der  vom  Enderfolg  aus  die  vor- 
angehenden Stadien  als  Bedingungen  oder  Mittel  be- 
greift, durch  die  das  reXog  verwirklicht  wird,  zugleich 
aber  in  den  Begriff  des  Subjekts  den  vollen  Grund 
dessen  legen  muss,   was   es  wird"-). 

Das  sind  die  formalen  Bedingungen,  unter  denen 
der  Entwicklungsbegriff  überhaupt  einen  metaphysi- 
schen Erkenntnis  wert  hat. 

Bei  Vierkandt  besteht  der  ganze  Gewinn  der 
Entwicklung  in  einem  sozialpsychologischen  Plus,  das 
keinen  Rückschluss  gestattet  auf  eine  ihm  zu  Grunde 
liegende  Wirklichkeit,  denn  es  kommt  bei  der  Ent- 
wicklung nach  den  eigenen  Worten  Vierkandt's  ja 
nichts  qualitativ  Neues  heraus.  Die  Entwicklung  ist 
hier  nicht  an  eine  wSubstanz  gebunden,  die  sich  ent- 
wickelt.   Es  fehlt  diesem  freischwebenden,  immanenten 


^)  Im   Hegerseben  System  hat    dieser  metaphysische  Erkenntnis- 
■wert  der  Entwicklung  seinen  grossartigsten  Ausdruck  erlangt. 
-    Sigwart:   Logik   Bd.  II,   S.   651    (2.   Aufl.). 


—     47      — 

Ent\vicklunt>sbei)Tiftb  jedes  teleologische  Moment.  J)as 
Intensiv  Neue,  das  als  sozialpsychologischer  Nieder- 
schlag herausk(^mmt,  kann  ebensogut  vom  Standpunkt 
eines  idealen  Fortschritts  angesehen  antiideal  als  ideal 
sein.  Wohl  ist  im  geistigen  T.eben  die  Summe  stets 
grösser  als  die  (i-esamtheit  der  Elemente,  aber  be- 
deutet dieses  „grösser"  schon  „besser"  oder  „höher" 
im  Sinne  einer  idealistischen  Entwicklungstheorie? 
Der  Entwicklungsbegriff  Vierkandt's  ist  bedenkhch 
naturalistisch  gefärbt  und  das  Betonen  des  Intensi\- 
Xeuen  imi  geistigen  Leben  hebt  nicht  die  Thatsache 
auf,  dass  jedes  sozialpsychologische  Produkt  nur  eine 
quantitative  Komphkation  naturgegebener  Grössen  dar- 
stellt. Das  Wertmoment  ist  in  den  Entwicklungs- 
begriff hineingetragen  vom  Gefühl,  das  noch  aus  den 
Quellen  unserer  klassischen  Philosophie  schöpft. 

So  müssen  wir  schon  aus  erkenntnistheoretischen 
Gründen  den  Versuch  abweisen  von  den  ,, Geistes- 
wissenschaften" zu  einem  Idealismus  zu  gelangen. 
Damit  aber  erkennen  wir  dem  Gedanken,  dass  nur 
von  den  Thatsachen  des  geistigen  Lebens  aus  ein 
Idealismus  möglich  sei,  vollkommene  Berechtigung  zu, 
nur  muss  dann  dieses  geistige  Leben  anders  gefasst 
werden  als  es  die  Geisteswissenschaften  thun.  Es 
fragt  sich  nämlich,  ob  die  Geisteswissenschaften  nicht 
dem  Wunsche  nach  Einheitlichkeit  der  Methode  das 
konkrete  Sein  der  Geistesthatsachen  opfern ,  ob  die 
einfache  Übertragung  der  naturwissenschaftlichen  Be- 
griffe und  Methoden  auf  das  Reich  der  geistigen  That- 
sachen statthaft  ist. 

An  den  beiden  Begriffen  der  Entwicklung  und 
der  Stetigkeit  können  wir  zeigen,  dass  die  Thatsachen 
des   Geisteslebens    in    keiner   Weise   den    methodischen 


-      48      - 

Forderungen  der  „Geisteswissenschaften"  entsprechen, 
sondern  ihnen  gradezu  entgegengesetzt  sind. 

Der  Begriff  der  Entwicklung  mag  eine  methodische 
Bedeutung  für  die  Geisteswissenschaften  haben,  aber 
wenn  wir  uns  an  den  Thatsachen  des  Geisteslebens 
selbst  orientieren,  so  ist  hier  der  Entwicklungsgedanke 
nicht  glatt  durchzuführen.  Eucken  sagt  mit  Recht: 
„Zeigen  sich  in  der  Lebensbewegung  grosse  Gegen- 
sätze, die  im  Laufe  der  Geschichte  eher  zunehmen  als 
abnehmen,  so  versagt  jener  Begriff" i).  L^nd  bei  Vier- 
kandt  versagt  er  auch.  Der  Begriff  der  natürlichen 
Entwicklung,  der  am  Anfang  des  Buches  mit  solcher 
Emphase  eingeführt  wird,  bricht  unterwegs  zusammen 
vor  der  Wucht  der  gegenteiligen  Thatsachen.  Der 
Titel  des  letzten  Kapitels:  „Die  Gebrochenheit  der 
Vollkultur"  ist  die  beste  Kritik  der  Möglichkeit  der 
Übertragung  des  natürlichen  Entwicklungsbegrififes  von 
der  Notwendigkeit  der  Natur  auf  das  Reich  des 
Geistes. 

Mit  dem  Begriff  der  Stetigkeit  geht  es  nicht 
anders.  Mit  diesem  Begriff  können  zwei  ganz  ent- 
gegengesetzte Weltanschauungen  gestützt  werden. 
Geht  man  vom  Geist  aus,  wie  es  z.  B.  Hegel  that, 
so  kommt  man  zu  einem  monistischen  Ideahsmus,  der 
die  Natur  vergeistigt.  Geht  man  hingegen  von  der 
Natur  aus,  wie  es  heute  geschieht,  so  naturalisiert  man 
das  Geistesleben.  Beides  ist  gleich  einseitig.  Die 
Position  Hegel's  gegenüber  der  Natur  hat  man  auf- 
geben müssen.  Ein  Reich  mechanischer  Notwendig- 
keit Hess  sich  nicht  einfach  wegspiritualisieren. 


^)  Eucken:  Grundbegriffe  der  Gegenwart  S.  ii6.  Vgl.  auch 
Siebeck,  Lehrbuch  der  Religionsphilosophie  S.  415.  „Der  Fortschritt 
ist  nicht  als  eine  natiu-notwendige  Thatsache,  sondern  als  eine  ethische 
Aufgabe  zu  betrachten." 


—     49      — 

Aber  lässt  sich  denn  das  (Tcistcsleben  dorn  Natur- 
prozess  einfügen?  Im  Begriff  der  Stetigkeit  liegt  die 
These,  dass  auch  alles  geistige  Leben  nur  eine  quanti- 
tative Komplikation  naturgegebener  P^aktoren  ist.  Es 
ist  das  wiederum  eine  methodische  Forderung,  die 
ihren  letzten  (rrund  in  den  Naturwissenschaften  hat. 
Die  „geisteswissenschaftlichen"  Thatsachen  setzen  in 
der  That  dem  Begriff  der  vStetigkeit  keine  Schwierig- 
keiten entgegen. 

Nun  hat  Vierkandt  die  seelischen  Kräfte  und 
Grössen,  die  auf  der  Naturstufe  thätig  sind,  sehr  scharf 
beleuchtet  und  ihre  Eigentümlichkeiten  an  einer  P^ülle 
von  Beispielen  anschaulich  gemacht^).  Das  geistige 
Leben  der  Naturvölker  ist  noch  vollkommen  im  Bann 
einer  von  Trieben  beherrschten  Lebensführung.  Die 
Bewusstseinsvorgänge  sind  unwillkürlicher  Art.  Wenn 
wir  damit  die  Grössen  vergleichen,  die  bei  den  Kultur- 
völkern Macht  gewonnen  haben,  so  ist  es  ganz  un- 
begreiflich, wie  ohne  Neueinsetzen  einer  qualitativ 
andern  Art  von  Kräften  derartige  Grössen  wie  absolute 
Werte  aus  dem  Seelenleben  der  Naturvölker  entstehen 
konnten.  Vierkandt  erkennt  absolute  Werte  an. 
Damit  ist  aber  Stetigkeit  unvereinbar.  Entweder  ab- 
solute Werte  sind  ein  qualitatives  Novum  innerhalb 
des  von  Lust  und  Unlust  bewegten  Seelenlebens  oder 
es  sind  keine  absoluten  Werte.  Nun  nimmt  Vier- 
kandt zwar  auch  einen  Dualismus  innerhalb  des 
Seelenlebens  bei  den  Kulturvölkern  an,  aber  dieser 
Dualismus   ist   rein    formaler    Natur    und    entspricht  in 


^)  Vgl.  dazu  auch  den  Aufsatz  Vierkandt's:  „Die  Entstehung 
neuer  Sitten"  in  der  Festschrift  der  Herzogl.  Technischen  Hochschule 
Carolo- Wilhelmina  zur  LXIX.  Versammlung  deutscher  Naturforscher 
und  Arzte. 


—     50     — 

keiner  Weise  dem  inhaltlichen  Lebensdualismus,  der 
zwischen   Kultur  und  Natur  waltet. 

Zeigte  sich  hier  schon,  dass  das  Geistesleben  die 
naturwissenschaftlichen  Begriffe  nicht  verträgt,  so 
Avollen  wir  jetzt  den  (xegensatz  zwischen  Geistes- 
wissenschaften und  Geistesleben  auch  nach  der  posi- 
tiven wSeite  hin  vertiefen,  indem  wir  die  Frage  auf- 
nehmen :  Gestatten  die  Thatsachen  des  geistigen  Lebens 
eine  den  Methoden  der  Naturwissenschaften  ent- 
sprechende Behandlungsweise? 

Bei  den  Thatsachen  der  Naturwissenschaft  können 
wir  uns  mit  der  Einordnung  in  ein  Gewebe  von  ab- 
strakten Formeln  genügen  lassen.  Den  letzten  Ele- 
menten der  Naturwissenschaft  stehen  wir  unbekannt 
gegenüber,  aber  die  Positivität  der  naturwissenschaft- 
lichen Thatsachen  wird  dadurch  in  keiner  Weise  auf- 
gehoben, dass  ihre  metaphysische  Wurzel  im  Dunkeln 
bleibt.  Zwar  ruht  auch  die  ganze  Arbeit  der  Natur- 
wissenschaft auf  einer  metaphysischen  Zurechtlegung 
der  Wirklichkeit,  aber  die  Wahrheit  ihrer  Aussagen 
wird  nicht  angetastet,  wenn  Atome,  Moleküle,  Attrak- 
tion, Repulsion  etc.  als  blosse  Rechenmarken  ange- 
sehen werden;  denn  die  Naturwissenschaft  hat  einen 
Vorgang  erklärt,  wenn  sie  dieselben  gleichbleibenden 
Thatsachen  in  der  Mannigfaltigkeit  wieder  erkennt 
und  sie  einer  Formel  einfügen  kann  ^). 

Diese  Tendenz  der  Naturwissenschaften  abzusehen 
von  dem  metaphysischen  Wesen  ihrer  Elemente  — 
eine  Tendenz,  die  auf  ihrem  Gebiet  ganz  berechtigt 
ist,  weil  man  es  dort  nur  mit  quantitativen  Grössen 
zu  thun  hat,  —  hat  sich  auch  den  Geisteswissenschaften 
mitgeteilt,    und    in    diesem  Sinne  haben  wir  ein  Recht 

*)  Vgl.  dazu  E.  Mach,  ,,Die  ökonomische  Natur  der  pliysika- 
Hschen  Forschung"  S.   211    u.   w. 


—     51       — 

von  einer  naturwissenschaftlichon  Beliandlungswoise 
des   geistigen   ]>ebens  zu  spreclien. 

Nun  behaupten  wir,  dass  diese  naturwissenschaft- 
liche Behandkuigsweise  den  Geistesthatsachen  nicht 
gerecht  werden  kann.  Es  ist  das  Eigentümliche  aller 
Geistesthatsachen,  wodurch  sie  sich  prinzipiell  von  allen 
Naturthatsachen  unterscheiden,  dass  sie  immanente 
P^ orderungen  in  sich  tragen.  Sie  weisen  über  sich 
selbst  hinaus. 

Xehmen  wir  z.  B.  die  Religion.  Einmal  ist  sie 
eine  psychische  Thatsache.  Damit  ist  sie  aber  noch 
nicht  erschöpft.  Sie  weist  über  ihre  Seinsweise  als 
psychisches  Phänomen  hinaus;  sie  will  über  Sinn  und 
Vernunft  der  Welt  aussagen.  Begnügt  man  sich  nun 
zu  konstatieren,  dass  beim  Menschen  eigenartig  be- 
stimmte, immer  wiederkehrende  psychische  Prozesse 
auftreten,  die  man  mit  dem  Namen  „Religion"  belegt, 
so  ist  das  zwar  eine  Wahrheit,  aber  dieselbe  wird 
dem  Charakter  der  Religion  als  einer  geistigen  That- 
sache nicht  gerecht. 

Oder,  um  ein  Beispiel  aus  der  Logik  anzuführen: 
es  wird  heute  im  allgemeinen  anerkannt,  dass  die 
Darstellung  der  psychischen  Prozesse,  aus  denen  sich 
das  Urteil  zusammen  setzt,  in  keiner  Weise  das  Wesen 
des  Urteils  trifft.  Dieses  vielmehr  liegt  in  der  Forderung 
überindividuelle,  objektive  Gültigkeit  zu  besitzen  i). 
Dieser  Anspruch  ist  aber  psychologisch  nicht  zu  be- 
gründen. 

Wir  können  daher  zwei  Seiten  an  den  geistigen 
Thatsachen  unterscheiden.  Einmal  sind  sie  psychische 
Phänomene  und  rein  als  solche  betrachtet,  konzentriert 
sich    alles  Interesse   wie   bei   den   Naturthatsachen   auf 

')   Vgl.    Sigwart,   Logik  B.   1,   §    14. 

4* 


die  Thatsächlichkeit.  Hier  kann  ihre  Daseinsweise  im 
psychischen  Gesamtprozesse  aufgezeigt  werden,  ihre 
Abhängigkeit  von  äusseren  Naturfaktoren,  ihre  Ver- 
stärkung oder  Schwächung  durch  die  sozialpsycho- 
logischen Zusammenhänge  und  —  last  not  least  — 
ihre  geschichtliche  Entwicklung  in  den  Perioden  der 
Menschheitsgeschichte.  Dabei  bewegen  sich  diese 
sog.  Geisteswissenschaften,  was  Stellung  zur  Meta- 
physik anbelangt,  auf  einer  Ebene  mit  den  Natur- 
wissenschaften. Als  die  Zentralwissenschaft  dieser 
Gruppe  von  Wissenschaften  gilt  die  Psychologie,  und 
in  dieser  herrscht  das  stärkste  Bestreben  alles  Meta- 
physische aus  dem  Umkreis  ihrer  Untersuchungen  zu 
verbannen;  der  Begriff  Psychologie  ohne  Psyche  hat 
längst  aufgehört  paradox  zu  erscheinen;  man  sucht  in 
der  Psychologie  keine  Substanz,  keine  Seelenvermögen 
mehr  zu  entdecken,  man  operiert  nur  noch  mit  psychi- 
schen Prozessen. 

Wir  würden  für  die  Gesamtheit  dieser  Wissen- 
schaften den  Namen  „psychologisch-historische  Wissen- 
schaften" vorschlagen. 

Die  Untersuchungssphäre  dieser  psychologisch- 
historischen Wissenschaften  hört  aber  da  auf,  wo  die 
Thatsachen  des  geistigen  Lebens  nicht  mehr  als  blos 
psychische  Phänomene  betrachtet  werden,  sondern  nach 
der  Seite  ihrer  Forderungen,  wo  aus  dem  Pluss  des 
seelischen  Geschehens  Thatsachenkomplexe  von  über- 
individueller Gültigkeit  sich  herausheben,  und  die  Frage 
nach  dem  Recht  und  der  Wahrheit  dieser  überindivi- 
duellen Gültigkeit  auftritt.  Hier  versagt  die  Psychologie, 
die  in  den  psychologisch-historischen  Wissenschaften 
als  Schlüssel  des  Verständnisses  diente. 

Nehmen  wir  als  verdeutlichendes  Beispiel  die 
Ethik.      Die    Ethik    bleibt    so    lange    (regenstand    der 


—    öö    — 

psychologisch-historischen  Wissenschafton  als  sie  das 
ethische  Bewusstsein  psychologisch  zergliedert,  empi- 
rische Daten  sammelt,  die  geschichtliche  Entwicklung 
der  ethischen  Normen  darlegt   usw. 

Aber  die  grösste  Stoflfanhäufung  der  Ethik  als 
psychologisch -historischer  Wissenschaft  vermag  nie 
die  eigentlich  ethischen  Probleme  lösen  wie  das 
Problem  der  A^erpflichtungskraft  der  ethischen  Normen, 
oder  das  Problem  des  höchsten  Gutes,  oder  das  Kri- 
terium der  ethischen  Handlung  etc. 

Diese  Probleme,  welche  aus  der  sachlichen,  über- 
individuellen Natur  des  Ethischen  stammen,  sind  einer 
qualitatix'  andern  Art  von  Wissenschaften  zuzuweisen, 
für  die  wir  den  Namen  Geisteswissenschaften  oder 
,,noologische'*  1)  Wissenschaften  vorbehalten  würden. 
Wie  die  Ethik,  so  sind  alle  Thatsachenkomplexe  des 
geistigen  Lebens  wie  Religion,  Recht,  Logik,  Ästhetik 
sowohl  Gegenstand  der  psychologisch-historischen  als 
auch  der  noologischen  Wissenschaften.  Aber  vom 
Standpunkt  der  geistigen  Thatsachen  selbst  sind  die 
noologischen  W%senschaften  von  weit  grösserer  Be- 
deutung als  die  psychologisch-historischen,  denn  erst 
in  den  noologischen  Wissenschaften  erreichen  die 
Geistesthatsachen  sozusagen  ihr  eigenes  Wesen,  hier 
sprechen  sie  ihre  Forderungen  aus,  und  auf  dem  Boden 
der  noologischen  Wissenschaften  kann  sich  erst  die 
nur  dem  Geistesleben  eigentümliche  Frage  nach  dem 
Recht  und  der  Wahrheit  seiner  Thatsachen  erheben. 
Gegenüber  einer  empiristischen  Sammelwut,  die  in 
der  massenhaften  Anhäufung  von  Thatsachen  alle 
Rätsel    des   geistigen    Lebens    gelöst   glaubt,    muss   es 


')  Der  Ausdruck  „noologisch"  ist  aus  den  Werken  Eucken's 
genommen.  Dieser  hat  ihn  gebildet,  um  damit  einen  Gegensatz  zum 
Psychologischen  zu  bezeichnen. 


—     54      — 

betont  werden,  dass  diese  Thatsachen  als  solche  tot 
und  stumm  sind  und  erst  Leben  und  Sprache  ge- 
winnen von  den  Problemstellungen  der  noologischen 
Wissenschaften  aus. 

Die  psychologisch-historischen  Wissenschaften  ver- 
fahren deskriptiv  und  analytisch;  sie  decken  Kausal- 
zusammenhänge auf  Die  empirischen  Gestaltungen, 
in  denen  das  gesellschaftlich-geschichtliche  Leben  sich 
darstellt,  ist  ihr  Gegenstand.  Sie  haben  in  diesem 
Jahrhundert,  bes.  in  der  zweiten  Hälfte,  eine  uner- 
messliche  Ausdehnung  erfahren.  Unser  geschichtliches 
Wissen  hat  uns  die  Jahrtausende  erschlossen ;  wir 
kennen  die  Geschichte  der  alten  Völker  besser  als 
diese  selbst;  das  Entstehen  und  Werden  der  grossen 
Weltreligionen  ist  uns  bekannt  geworden;  wir  kennen 
den  Wandel  der  Anschauungen,  den  Wechsel  der 
Ideale;  alles,  was  uns  fest  dünkte,  hat  sich  als  im 
Strome  der  Entwicklung  befindlich  gezeigt,  alles,  was 
absolut  schien,  ist  relativ  geworden.  L^nd  w4r  haben 
die  Abhängigkeiten  und  Bedingtheiten  der  Erschei- 
nungen unter  einander  zu  würdigen  gelernt. 

Aber  —  dieses  geistige  Leben,  das  in  tausenderlei 
Gestaltungen  ausgebreitet  vor  uns  liegt,  was  ist  es 
selber?  Was  bedeutet  dieser  bunte  Maskenzug  von  That- 
sachen? Hat  die  psychologisch-historische  Arbeit  des 
Jahrhunderts  uns  das  Wesen  des  Geistes  tiefer  er- 
schlossen? Sind  wir  an  geistiger  Erkenntnis  durch  die 
empirische  Forschung  reicher  geworden? 

Von  den  psychologisch-historischen  Wissenschaften 
aus  erscheint  das  geistige  Leben  als  ein  sich  ewig 
wandelnder  Prozess  ohne  Sinn  und  Zweck,  objektive 
Grössen  giebt  es  hier  nicht;  aus  dem  zufälligen  Zu- 
sammenspiel gesellschaftlicher  Elemente  erwachsen  die 
geistigen  Inhalte,  Produkte  des  gesellschaftlichen  Lebens. 


—     oo     — 

Das  ( leistesleben  erlangt  hier  keine  Selbständigkeit, 
es  erscheint  als  eine  blosse  Fortsetzung  des  Natur- 
prozesses. 

Bleibt  man  also  bei  den  psychologisch-historischen 
Wissenschaften  stehen,  so  liefert  das  geistige  Leben 
keinen  eigenen  Ansatzpunkt  für  eine  Metaphysik,  denn 
es  wurzelt  hier  nicht  in  einer  Notwendigkeit  der  Dinge, 
es  ist  nur  eine  Oszillation  des  Naturprozesses,  eine 
quantitative  Komplikation  naturgegebener  Grr)ssen. 
Eine  eigene  Realität  und  Selbständigkeit  hat  unter 
diesen  Umständen  nur  ein  sich  selbst  genügender 
Naturprozess,  der  deshalb  auch  zum  einzig  möglichen 
Stützpunkt  einer  naturalistischen  Metaphysik  gemacht 
wird.  Wie  jede  Weltanschauung,  so  übt  auch  der 
Naturalismus  eine  bestimmte  Wert  Verteilung  auf  das 
Ganze  der  Wissenschaften  aus.  Metaphysischen  Er- 
kenntniswert haben  für  den  Naturalismus  nur  die 
Naturwissenschaften.  Die  Fortschritte  derselben  be- 
deuten eine  immer  umfassendere  Bestätigung  des  von 
ihm  angenommenen  mechanischen  Grundbaues  der 
Wirklichkeit.  Die  psychologisch-historischen  Wissen- 
schaften sind  ohne  jeden  Einfluss  auf  die  Gestaltung 
der  Weltanschauung. 

So  hat  sich  hier  auf  einem  mehr  prinzipiellen 
Wege  dasselbe  ergeben,  was  wir  schon  bei  der  Kritik 
Vierkandt's  gezeigt  haben:  dass  nämlich  die  That- 
sachen  des  geistigen  Lebens,  wenn  geisteswissenschaft- 
lich d.  h.  nach  unserer  Terminologie  psychologisch- 
historisch behandelt ,  keinen  Idealismus  begründen 
krmnen,  dass  sie  nicht  einmal  einen  eigenen  Ansatz- 
punkt zu  einer  Metaphysik  geben  und  daher  bei  der 
gegenwärtigen  philosophischen  Lage  nur  zu  einer  Be- 
kräftigung des  Naturalismus  führen  —  was  wir  ja 
schliesslich  auch  bei  Vierkandt  sehen. 


—      56      ~ 

Nun  können  wir  aber  bei  den  psychologisch- 
historischen Wissenschaften  nicht  stehen  bleiben.  Die 
geistigen  Thatsacheri,  wie  wir  oben  gesehen  haben, 
verlangen  für  die  wichtigste  Seite  ihrer  Existenz  eine 
neue  Art  von  Wissenschaften,  die  wir  als  noologische 
bezeichnet  haben. 

Können  nun  die  noologischen  Wissenschaften 
ohne  Metaphysik  auskommen? 

Wir  sahen,  dass  die  psychologisch -historischen 
gleich  den  Naturwissenschaften  bei  ihren  Untersuch- 
ungen die  Metaphysik  ganz  zurückschieben  konnten. 
Die    noologischen    Wissenschaften    können    das    nicht. 

Mit  den  Thatsachen  der  noologischen  Wissen- 
schaften sind  zugleich  Probleme  verknüpft,  welche  die 
noologischen  Wissenschaften  aus  ihren  eigenen  Zu- 
sammenhängen nicht  lösen  können.  Jede  einzelne 
dieser  Wissenschaften  kommt  bei  ihren  Untersuchungen 
auf  Punkte,  die  von  ihrem  begrenzten  Wissensgebiete 
nicht  erledigt  werden  können,  und  die  doch  erledigt 
werden  müssen,  wenn  nicht  das  Ganze  in  Frage  ge- 
zogen werden  soll.  Nehmen  wir  als  Beispiel  die  Logik. 
Ob  wir  bei  Befolgung  der  logischen  Normen  mit 
unserem  Denken  die  Wirklichkeit  treffen,  ob  unser 
Denken  nur  auf  dem  beschränkten  Kreis  der  subjek- 
tiven Sinnesempfindungen  eingestellt  ist,  oder  ob  es 
ein  objektives  Weltmoment  von  Hause  aus  in  sich 
enthält  wie  es  Spinoza  und  Hegel  behaupten,  das 
sind  Fragen  die  zur  Beantwortung  drängen,  wenn 
nicht  die  ganze  Logik  in  Luft  schweben  soll.  Die 
Logik,  die  hier  eine  IMetaphysik  als  Fundament  ihres 
Baues  abweist,  verfällt  der  Psychologie,  die  sie  zur 
Behandlung  dieser  Probleme  als  unzulänglich  erklärt 
hat.  Die  hervorragende  Logik  von  Sigwart  giebt 
davon   Zeugnis.  — 


-     57      — 

Es  kommt  aber  nocli  ferner  hier  in  Betracht  die 
ausschhiggebende  Bedeutung  der  Rechts-  und  Wahr- 
heitsfrage für  die  geistigen  'Hiatsachen ').  An  die 
Beantwortung  dieser  Frage  hängt  die  Existenz  der 
noologischen  Wissenschaften.  Wird  z.  B.  bei  der 
ReHgion  die  Wahrheitsfrage  nicht  aufgenommen,  oder 
wenn  aufgenommen,  negati\-  beantwortet,  so  sinkt  die 
ReHgion  von  einer  Geistesthatsache  zu  einem  psychi- 
schen Phänomen  herab,  das  keinen  grösseren  Geltungs- 
wert hat  als  die  Wahnvorstellung  eines  Irren.  Man 
kann  mit  Umdrehung  eines  Hegel'schen  Wortes 
gradezu  sagen,  dass  bei  Wegfall  der  Wahrheitsfrage 
auf  geistigem  Gebiet  die  Qualität  in  die  Quantität 
umschlägt.  Diese  Wahrheitsfrage  kann  aber  nur  von 
einer  Metaphysik  beantwortet  werden.  Wir  müssen 
daher  für  die  noologischen  Wissenschaften  die  natur- 
wissenschaftliche Behandlungs weise  als  ungeeignet  zu- 
rückweisen. Die  geistigen  Thatsachen  sind  aufs  engste 
verknüpft  mit  den  Problemen  der  Metaphysik.  Und 
diese  Probleme  müssen  hier  aufgenommen  werden, 
denn  sie  sind  nicht  etwas  von  aussen  herangebrachtes, 
sondern  sie  erwachsen  aus  dem  eigenen  Charakter  der 
Geistesthatsachen  -).       Die     Metaphysik     —    um     einen 


*)  Vgl.  dazu  auch  die  Bedeutung  des  Rechtsgrundes  beim  Denken 
gegenüber  dem  Vorstellungsverlauf  Lotze,   Logik  S.   6 — 8. 

-)  Naturwissenschaften  und  psychologisch-historische  Wissenschaften 
brauchen  nicht  notwendigerweise  zu  scharf  ausgeprägten,  metaphysischen 
Thesen  zu  führen.  Der  Naturalismus  kann  sich  als  ,, Agnostizismus" 
als  ,, passiver  Unglaube"  wie  ihn  Kidd  treffend  nennt,  eine  gewisse 
intellektuelle  Reserve  auferlegen  gegenüber  den  letzten  Fragen  des 
Seins.  Er  kann  wenigstens  für  das  Gefühl  manches  in  der  Schwebe 
lassen.  Man  denke  an  das  berühmte  Spencer' sehe  ,,Unknowable*', 
diesen  Schlupfwinkel  gestrandeter  Herzenswünsche.  Für  den  Natura- 
lismus ist  das  möglich,  weil  er  keine  realen,  unaufhebbaren  Gegensätze 
des  Lebens  kennt,  und  wo  die  Gegensätze  des  Lebens  fehlen,  da  fehlt 
auch   der  innere   Zwang  zin-  Metaphysik. 


mathematischen  Ausdruck  zu  gebrauchen  —  ist  die 
Funktion  der  Geistesthatsachen. 

Was  die  Notwendigkeit  einer  Metaphysik  noch 
erhöht  ist  der  Umstand,  dass  die  noologischen  That- 
sachen  hart  mit  der  gegebenen  Wirkhchkeit  zusammen- 
stossen.  Während  die  psychologisch  -  historischen 
Wissenschaften  kein  zwingendes  Moment  der  Um- 
wandlung des  ersten  Weltbildes  enthielten,  können 
sich  die  noologischen  Wissenschaften  nur  halten  bei 
einer  radikalen  Umgestaltung  des  vorliegenden  Da- 
seins. So  hängt  z.  B.  die  Wahrheit  der  Religion  davon 
ab,  dass  das  Wesen  des  Menschen  über  die  psycho- 
mechanische  Naturkausalität  hinausreicht  in  eine 
Sphäre  der  Freiheit. 

Gegenüber  einer  derartigen  Behauptung  ist  aber 
mit  einer  einfachen  Verschiebung  empirischer  Daten 
nichts  gethan.  Da  hilft  nur  eine  durchgreifende  Um- 
wandlung und  Vertiefung  der  Wirklichkeit.  Eine 
einzelne  Thatsache,  und  sei  sie  ^luch  noch  so  bedeutend, 
hat  aber  nicht  das  genügende  erkenntnistheoretische 
Gewicht,  um  das  zu  thun.  Dazu  kommt  noch,  dass 
die  Wahrheit  und  Bedeutung  der  einzelnen  Thatsache 
auf  geistigem  Gebiet  von  der  Wahrheit  des  Ganzen 
abhängt.  Im  Geistesleben  ist  das  Ganze  vor  den 
Teilen.  Wie  verschieden  fällt  z.  B.  das  Wesen  des 
Ethischen  aus,  wenn  ein  Spinoza  und  ein  Kant  mit 
ihrer  total  verschiedenen  Gesamtanschauung  es  be- 
stimmen. Die  Frage  nach  |der  Wahrheit  der  Ge- 
samtheit der  noologischen  Thatsachen  hat  aber  einen 
ganz  bestimmten  Sinn,  wenn  wir  sie  der  Gesamtheit 
der  psychologisch-historischen  Thatsachen  gegenüber- 
stellen. Das  geistige  Leben  vom  Standpunkt  der 
psychologisch-historischen  Wissenschaften  aus  hat  keine 
Selbständigkeit    gegenüber   dem   Naturprozess.     Diese 


—     59     — 

erlangt  es  aber  in  den  noologischen  Wissenschaften. 
Schon  als  wir  die  naturalistisch  gefärbten  Begriffe  der 
Entwicklung  und  der  vStetigkeit,  ivvelche  die  Wirk- 
lichkeit auf  einen  einheitlichen,  die  Gegensätze  ver- 
wischenden Zusammenhang  bringen  wollen,  als  für 
das  Geistesleben  selbst  nicht  anwendbar  zurückge- 
wiesen haben,  haben  wir  damit  in  dem  Geistesleben 
wenigstens  nach  der  negativen  Seite  ein  qualitatives 
Novum  anerkennen  müssen.  —  Nach  der  positiven 
Seite  erlangte  das  geistige  Leben  eine  Selbständigkeit 
und  eine  konkrete  Bestimmtheit  durch  die  noologischen 
Wissenschaften.  Das  geistige  Leben  zeigt  sich  hier 
beherrscht  von  sachlichen  Momenten;  in  der  Ethik, 
der  Religion,  der  Logik  treten  überindividuelle  Inhalte 
auf,  die  aus  sich  heraus  Forderungen  stellen.  Damit 
haben  wir  eine  qualitative  Scheidung  im  Innenleben 
zu  konstatieren:  eine  rein  subjektive,  zuständliche  Seite, 
die  für  sich  betrachtet  eine  blosse  Begleiterscheinung 
des  Naturprozesses  ist  i),  muss  geschieden  werden  von 
einer  objektiven,  schöpferischen  Seite,  bei  der  der 
Fluss  des  Geschehens  zum  Stehen  kommt  und  objektive 
Grössen  erscheinen. 

Wir  fassen  diese  noologische  Seite  des  Innenlebens 
mit  dem  Begriff  „Geist"  zusammen.  Bei  „Geistesleben" 
würden  wir  dann  an  die  Gesamtheit  der  Äusserungen 
des  „Geistes"  zu  denken  haben. 

Doch  bevor  wir  nähere  Bestimmungen  des  Be- 
griffes geben,  wollen  wir  uns  an  der  Geschichte  des- 
selben orientieren.  Das  wird  uns  von  selbst  dann 
weiterführen.  — 

Ohne  auf  die  früheren  Ansätze  zu  einer  qualita- 
tiven   Scheidung   des    Innenlebens    einzugehen    —   das 

^)  Für  diese  zuständliche  Seite  des  Innenlebens  hat  der  psycho- 
physische  Parallelismus  eine  Berechtigung. 


—      6o     — 

würde  zu  weit  führen  —  finden  wir  in  der  neueren 
Philosophie  bei  Kant  im  grossen  Stil  eine  überindivi- 
duelle geistige  Organisation  kräftig  herausgehoben 
aus  dem  individuellen  Seelenleben  i).  Dieser  Begriff 
des  Geistes  —  bei  Kant  heisst  es  dafür  „Vernunft"  — 
erhält  auf  ethischem  Gebiet  eine  neue  Inhaltlichkeit. 
Grössen  wie  Pflicht,  Gerechtigkeit,  das  Gute  etc. 
wachsen  zu  einer  eigenen,  einer  geistigen  Wirklichkeit 
aus,  die  ihren  Ursprung  weder  in  dem  psychischen 
Mechanismus  noch  in  der  umgebenden  Welt  haben, 
sondern  die  eine  neue  Ordnung  der  Dinge  ankündigen 
und  den  Menschen  mit  dieser  verbinden.  Damit  tritt 
ein  neues  Moment  in  den  Begriff  des  „Geistes"  ein, 
das  Moment  des  Metaphysischen.  — 

„Die  praktische  Vernunft  ist  die  Wurzel  aller 
Vernunft",  sagte  Fichte.  Damit  wird  der  Geist  zu 
einem  objektiven  Lebensprozess  erweitert,  der  als  Aus- 
druck einer  objektiven  Weltvernunft  gefasst  wird. 

In  dem,  worin  diese  objektive  Weltvernunft  ge- 
sehen wird,  unterscheiden  sich  Fichte,  wSchelling 
und  Hegel. 

Fichte  fand  sie  in  der  ethischen  That,  Schell ing' 
im  Kunstwerk  und  im  künstlerischen  Schaffen,  Hegel 
im  Denkprozesse.  Damit  ist  aber  eine  Einengung 
des  Geisteslebens  gegeben,  welche  die  Einzelgebiete 
nicht  voll  zur  Geltung  kommen  lässt,  welche  von 
einer  bestimmten  Provinz  des  Geisteslebens  aus  eine 
Tyrannei  auf  die  ^Manigfaltigkeit  und  die  qualitative 
Eigentümlichkeit   der   geistigen   Erscheinungen  ausübt. 

Das  hängt  zusammen  mit  einem  Fehler  der 
klassischen    Philosophie,   der   aus  einer   Überschätzung 


^)     Vgl-      Evicken,     Lebensanschauungen     der     grossen     Denker. 
S-  433—435- 


—      6i      — 

dos  monschlichen  Kc'nincMis  fl(>ss.  Wir  mcincMi  jenen 
Konstruktionstrieb,  der  von  einem  absoluten  l-*rinzip 
aus  gleich  alle  Einzi^lg-estaltungen  des  geistigen  Lebens 
als  notwendig,  a  priori  deduzieren  wollte.  Ein  grosser 
Gedanke  lag  dem  zu  (irunde.  Alle  empirischen  1^'akta 
erhielten  dadurch  (muc  zentrale  Beziehung  zur  Ver- 
nunft und  wurden  über  ihre  blosse  Thatsächlichkeit 
hinausgehoben.  Diese  Verbindung  war  aber  eine  allzu 
enge.  Die  Einzelforschung  hat  sich  von  diesem  Zwang 
befreit  und  sich  ganz  losgerissen  von  einem  zusammen- 
haltenden metaphysischen  Prinzip.  Dadurch  ist  man 
heute  in  den  entgegengesetzten  Fehler  verfallen.  Man 
will  aus  einer  blossen  Anhäufung  empirischer  Fakta 
schon  Wahrheit  und  Vernunft  im  Geistesleben  ent- 
decken. 

Um  beide  Fehler  zu  vermeiden  muss  man  die 
Scheidung,  die  durch  die  empirische  Forschung  ein- 
getreten ist,  anerkennen.  Sammlung  von  Thatsachen 
und  metaphysische  Bedeutung  dieser  Thatsachen  sind 
zwei  verschiedene  xAufgaben,  die  getrennt  zu  behandeln 
sind.   — 

Aber  trotz  aller  Einseitigkeiten  und  Fehler  der 
klassischen  Philosophie  könen  wir  bei  der  Frage  nach 
der  metaphysischen  Bedeutung  der  geistigen  That- 
sachen —  und  das  heisst  in  diesem  Falle  dasselbe  wie 
die  Wahrheit  des  Geisteslebens  —  die  Voraussetzung 
einer  objektiven  Weltvernunft  im  letzten  Grunde  des 
Seins  nicht  aufgeben,  wenn  wir  sie  auch  wieder  erobern 
müssen  im  Kampfe  mit  Psychologie  und  Natur- 
wissenschaft.  — 

Gegeben  sind  zwei  qualitativ  verschiedene  Reihen 
von  Thatsachen,  eine  psychomechanische  Reihe  und 
eine  noologische  Reihe.  Die  psychomechanische  Reihe 
bleibt  bei  der  ThatsächUchkeit  stehen,   die  noologische 


—        62        — 

Reihe  kann  das  nicht;  sie  kann  nur  bestehen,  wenn 
die  immanenten  Forderungen,  die  den  noologischen 
Thatsachen  eigen  sind,  als  Wahrheit  sich  erweisen 
lassen.  Die  Wahrheit  der  einzelnen  noologischen 
Thatsache  ruht  auf  der  Wahrheit  der  Gesamtheit. 
Die  Forderung  des  Geisteslebens  als  Ganzes  muss  wahr 
sein,  wenn  die  einzelne  noologische  Thatsache  wahr 
sein  soll.  Die  Forderung  des  Geistesleben  als  Ganzes 
ist  die  Forderung  der  Vernunft  des  Daseins,  oder  besser: 
für  uns  giebt  es  nur  eine  Vernunft  des  Daseins  im 
Geistesleben.  Dass  wir  diese  Vernunft  behaupten 
wollen,  dafür  giebt  es  keinen  logischen  Grund  mehr, 
das  ist  eine  noologische  Wesensnotwendigkeit,  die 
ursprünglichste  und  letzte,  die  uns  zugänglich  ist. 
Diese  noologische  Wesensnotwendigkeit  ist  der  Keim- 
punkt aller  IMetaphysik. 

Übrigens  konnten  wir  bei  der  Kritik  Vierkandt's 
eine  solche  Notwendigkeit  auch  aufzeigen.  Der  Gegen- 
satz zwischen  unwillkürlichen  und  willkürlichen  Be- 
wusstseinsvorgängen  führte  erst  dann  zu  einem  psycho- 
logischen Kulturproblem,  wenn  die  unwillkürlichen 
Bewusstseinsvorgänge  sich  auch  behaupten  sollen. 
Aber  giebt  es  für  dies  sollen  einen  zureichenden 
logischen  Grund?  —  Ebenso  widerlegt  die  „Kritik 
der  reinen  Vernunft"  nur  dann  Hume,  wenn  Wissen- 
schaft sein  soll. 

Wenn  wir  im  Geistesleben  die  Vernunft  des  Lebens 
behaupten  müssen,  so  treibt  uns  diese  noologische 
Notwendigkeit  über  das  gegebene  Dasein  hinaus. 
Empirisch  betrachtet  sehen  wir  nur  ein  an  die  Einzel- 
indi\'iduen  zerstreutes  Geistesleben  vor  uns,  das  allen 
Zufälligkeiten  ^lusgesetzt  ist.  Beim  Empirischen  können 
wir  nicht  stehen  bleiben.  Wir  wären  einer  in  sich 
zerspahenen     und     zerklüfteten    Vernunft    ausgehefert. 


-     63     - 

Die  r<ealität  des  (xcistcs  stände  im  umgekehrten  A'er- 
hältnis  zu  seinem   Wert. 

Wir  können  aucli  nicht  mehr  wie  die  klassische 
Philosophie  die  Subst^inz  ganz  aufgehen  lassen  in  den 
Prozess.  Dass  alles  Wirkliche  vernünftig  und  alles  \'er- 
nünftige  wirklich  ist,  kcHincn  wir  nach  den  Erfahrungen 
dieses  Jahrhunderts  nicht  mehr  behaupten.  Und  dann 
führt  das  Aufgehenlassen  der  Substanz  in  den  Prozess 
doch  schliesslich  zu  einer  Auflösung  der  X'^ernunft; 
denn  dann  ist  die  Dialektik  ein  Gesetz  des  Geistes 
und  in  den  (reist  selbst  wäre  die  Unvernunft  hinein- 
getragen. Wir  hätten  Wesensantinomien,  während 
die  Dialektik,  wenn  sie  nicht  die  Vernunft  aufheben 
soll,  nur  der  Existenzform  des  Geistes,  unserer  mensch- 
lichen Lage,  angehören  darf. 

Das  Geistesleben  ist  nur  dann  die  Vernunft  des 
Lebens,  wenn  der  zersplitterten  Existenzform  eine 
Substanz  zu  Grunde  liegt.  Xur  wenn  das  Geistes- 
leben eine  kosmisch -zentrale  Stellung  einnimmt,  ist 
es  mehr  als  eine  vorübergehende,  sinnlose  Störung  des 
Naturprozesses  und  stellt  ein  eigenes  Reich  der  Wirk- 
lichkeit dar,  eine  neue  Stufe  des  Seins.  Erst  von  hier 
aus  bekommen  die  Forderungen  der  einzelnen  noolo- 
gischen  Thatsachen  wie  Religion,  Ethik  etc.  einen 
Sinn  und  lassen  sich  bewahrheiten.  Das  Geistesleben 
ist  entweder  Kern  und  Ziel  der  Welt,  oder  es  ist  über- 
haupt nicht  \).  — 


^)  Wir  sind  hier  in  knapper  Weise  von  einer  These  zur  andern 
geeilt,  weil  nur  der  Weg  von  den  Geisteswissenschaften  zu  einer  Meta- 
physik selber  in  dem  Rahmen  unserer  Arbeit  liegt,  und  weil  ausserdem 
das,  was  wir  hier  als  Grundstock  einer  idealistischen  Metaphysik  ange- 
deutet haben,  von  Eucken  ausführlich  dargelegt  ist  im  Ganzen  einer 
systematischen  Anschauung.  Dort  findet  man  auch  eine  eingehende  Be- 
gründung der  von  uns  angegebenen  These  der  kosmisch-zentralen  Stellung 
des  Geisteslebens.      Die    Hauptschriften,    die    wir    hier    im  Auge  haben, 


-      64     - 


Das  Kiilturi)rol>lem  der  Oesioiiwart. 

Diese  Untersuchung  sollte  uns  zweierlei  liefern. 
Einmal  sollte  sie  uns  zeigen,  dass  die  Kultur  als  solche 
abgesehen  von  jeder  näheren  inhaltlichen  Bestimmtheit 
notwendig  verknüpft  ist  mit  der  These  von  der 
kosmisch-zentralen  Stellung  des  Geisteslebens,  dann 
sollte  sie  zugleich  —  und  das  war  nur  die  andere 
Seite  der  Aufgabe  —  den  Weg  weisen,  der  zu  einer 
Rechtfertigung  und  Bewahrheitung  dieser  These  führt. 
Beides  haben  wir  erreicht,  indem  wir  eine  idealistische 
Metaphysik  in  grossen  Zügen  andeuteten,  von  der  aus 
erst  die  These  der  Kultur  ihre  Wahrheit  erlangen  kann. 

Wir  können  also  jetzt  im  universalen  Sinne  sagen, 
dass  die  Kultur  als  solche  ein  metaphysisches  Problem 
ist.  Wir  wollen  dies  die  „reine  Kulturlehre"  nennen. 
Die  reine  Kulturlehre  ist  die  übergeschichtliche,  sich 
immer  gleichbleibende  Seite  des  metaphysischen  Kultur- 
problems.     Sie    ist    aber    eine    Abstraktion    aus    dem 


sind:  „Die  Einheit  des  Geisteslebens  in  Bewusstsein  und  That  der 
Menschheit",  der  „Kampf  um  einen  geistigen  Lebensinhalt"  und  die 
„Grundbegriffe  der  Gegenwart". 

Im  Gegensatz  zu  dem  anthropozentrischen  Idealismus  eines  I.otze 
und  dem  axiologischen  Idealismus  eines  Wundt  und  Paulsen  vertritt 
Eucken  einen  noozentrischcn  d.  h.  den  einzig  wissenschaftlich  haltbaren 
Idealismus.  In  der  Richtung  Eucken's  arbeiten  unter  anderen:  G.  Class 
in  seinem  letzten  \\''erk:  ,, Untersuchungen  zur  Phänomenologie  und 
Ontologie  des  menschlichen  Geistes",  ausserdem  auf  religionsphilosophisch- 
theologischem  Gebiet  dessen  Schüler  E.  Troeltsch  (vgl.  die  Aufsätze 
im  5.  und  6.  Jahrgang  der  Zeitschrift  für  Theologie  und  Kirche)  und 
der  schottische  Philosoph  A.  Seth  in  seinen  beiden  Werken:  Hegelianisra 
and  Personality  und  Man's  Place  in  the  Cosmos. 


—      65      — 

immer  mit  i^c\schichtlicher  r'ärbunL>"  .luftretendcn  metci- 
physischen  Kulturproblem.  Die  roinc  Kulturlehre  be- 
sagt, dass  in  der  Kultur  eine  Thatsache  vorliegt,  welche 
eine  scharf  ausgeprägte  These  —  kosmisch -zentrale 
wStellung  des  Geisteslebens  —  über  Welt  und  Mensch 
enthält,  eine  These,  die  sich  nicht  einfügen  lässt  in 
jede  beliebige  Weltanschauung.  Nähmen  wir  nun 
einmal  an,  dass  die  Gegenwart  von  einer  Weltan- 
schauung beherrscht  würde,  welche  im  Einklang  stände 
mit  der  kosmisch-zentrcden  Stellung  des  Geisteslebens, 
so  würde  zwar  die  „reine  Kulturlehre"  zu  Recht  be- 
stehen bleiben  1),  aber  ein  bestimmtes  metaphysisches 
Kulturproblem,  ein  Kulturproblem  der  Gegenwart 
würde  nicht  existieren.  Ein  solches  ergiebt  sich  erst, 
w^enn  das  Bewusstsein  der  Zeit  von  einer  Weltanschau- 
ung eingenommen  ist,  die  in  einem  Gegensatz  zur 
„reinen  Kulturlehre"  steht.  Dieser  Gegensatz  konzen- 
triert  sich   hier   auf  die  Auffassung    des  Geisteslebens. 

Nun  haben  wir  in  dem  letzten  Teil  unserer  Arbeit 
zwei  total  verschiedene  Auffassungen  des  Geisteslebens 
kennen  gelernt.  Die  eine  knüpft  an  die  Leistungen 
der  klassischen  Philosophie  an  und  sieht  in  dem 
Geistesleben  eine  kosmische  Thatsache,  die  andere 
zieht  auch  das  Geistesleben  in  den  Bereich  der  natur- 
wissenschaftlichen und  psychologischen  Denkweise  und 
erkennt  dem  Geistesleben  keine  qualitative  Position  zu. 

Da  nun  die  Kulturstufe  in  dem  Geistesleben  ihr 
unterscheidendes  und  auszeichnendes  Merkmal  gegen 
die  Naturstufe  hat,    so  ergeben  sich  je  nach  einer  der 


')  Wir  würden  dann  aber  auch  schwerlich  zu  einer  reinen  Kultur- 
lehre gekommen  sein,  weil  der  Gegensatz  fehlte,  aus  dem  heraus  wir 
zum  Bewusstsein  der  reinen  Kulturlehre  gelangt  sind.  Es  muss  hier 
wieder  unterschieden  werden  zwischen  dem  Weg,  auf  dem  der  Mensch 
zu  einer  Sache  kommt,    und  der  Sache   selbst. 

5 


—      66     — 

beiden   Auffassungen    zwei    grundverschiedene    Urteile 
über  die  Kultur. 

Nach  der  kosmischen  Auffassung  des  Geistes- 
lebens bedeutet  die  Kultur  den  Aufbau  eines  neuen 
Reiches  der  Wirklichkeit;  der  Mensch  wird  hinaus- 
gehoben aus  dem  zwecklosen  Spiel  blinder  Naturtriebe 
in  eine  Sphäre  normativen  Lebens.  Und  dieses  nor- 
mative Leben ,  dieses  Realisieren  absoluter  Werte 
innerhalb  der  Grenzen  seiner  Existenz  verknüpft  die 
Arbeit  des  Menschen  mit  Weltzusammenhängen  und 
giebt  seinem  Leben  und  Wirken  eine  Vernunft  und 
einen  Sinn. 

Bei  der  naturalistischen  Auffassung  des  Geistes- 
lebens als  einer  quantitativen  Komplikation  naturge- 
gebener Grössen  verschwindet  jeder  Wesensunterschied 
zwischen  Natur  und  Kultur.  Es  fallen  damit  zugleich 
alle  absoluten  Werte.  Das  psychologische  Subjekt 
wird  zum  Mass  aller  Dinge.  Die  Forderung  der 
Kultur  muss  versinken  vor  der  Erkenntnis,  dass  sie 
von  Prämissen  ausgeht,  welche  die  Wissenschaft  der 
Gegenwart  nicht  mehr  aufrecht  erhält. 

Damit  fällt  die  Kultur  selbst  als  eine  qualitativ 
neue  Lebensstufe  der  Menschheit.  Die  sogenannte 
Kultur  ist  dann  nur  eine  Verschlechterung  der  Natur, 
und  alle  Beschuldigungen,  welche  Rousseau  gegen  die 
Kultur  schleuderte,  sind  völlig  berechtigt.  Kultur  be- 
deutete dann  im  Sinne  des  psychologischen  Kultur- 
problems eine  allmähliche  Ernüchterung,  ein  Auf- 
wachen aus  einem  Rausche,  der  die  Menschheit  in 
der  Illusion  einer  Anteilnahme  an  einer  Weltvernunft 
gefangen  hielt.  Dann  wäre  in  der  That,  wie  Vier- 
kandt  es  einmal  anzudeuten  scheint,  der  Irrtum  — 
der  Naturzustand  -  das  Leben  und  das  Wissen  — 
der    Kulturzustand    —    der    Tod.      Die    ganze    gesell- 


-     67     - 

schaftlich -geschichtliche  Wirklichkeit  ist  im  drundo 
ein  sinnloses  (xetriebe  zur  Erhaltung  des  sinnlichen 
Daseins,  dessen  naturstarke  Triebe  durch  die  tausenderlei 
Rücksichten  und  Hemmungen  des  gesellschaftlichen 
Lebens  gebrochen  und  zerbröckelt  würden.  Der  Pessi- 
mismus der  IaisI-  und  Unlustgefühle  hätte  leichtes 
Spiel  dem  Menschen  diese  ganze  Zivilisation  zu  ver- 
leiden, denn  die  Zivilisation  nennen  wir  eine  Lebens- 
stufe, welche  gegenüber  dem  Naturstande  nur  das 
Plus  eines  wirtschaftlich -technischen  Apparates  hat. 
Alle  Schöpfungen  des  geistigen  Lebens  sind  nur  zivili- 
satorische Surrogate,  um  wenigen  Auserwählten  des 
Glücks  das  Dasein  erträglicher  und  angenehmer  zu 
gestalten.  — 

Aus  dem  Zusammenstoss  der  eben  geschilderten 
beiden  Auffassungen  des  Geisteslebens  entsteht  nun 
das  Kulturproblem  der  Gegenwart.  Und  zwar  können 
wir  drei  Hauptrichtungen  innerhalb  dieses  Kulturpro- 
blems unterscheiden. 

Die  erste  Richtung  wird  in  typischer  Weise  re- 
präsentiert durch  Vierkandt.  Sie  will  die  Konsequenzen 
der  kosmisch-zentralen  Stellung  des  Geisteslebens  auf- 
rechterhalten von  den  Prämissen  der  immanent  natura- 
listischen Stellung  des  Geisteslebens.  Im  ersten  Teil 
unserer  Arbeit  haben  wir  das  im  Einzelnen  dargelegt. 
Dabei  glaubt  diese  Richtung  die  Diskrepanz  zwischen 
Voraussetzung  und  Folgerung  überwinden  zu  können 
durch  folgende  Mittel:  Praktischer  Idealismus,  Psycho- 
logisches Lokalisieren,  Sozialpsyche,  absolute  Werte 
und  Werturteile. 

Der  vollendetste  Ausdruck  der  zweiten  Richtung 
ist  Friedrich  Nietzsche.  Er  hebt  mit  der  Prämisse 
der  kosmisch-zentralen  Stellung  des  Geisteslebens  zu- 
gleich   auch    alle    Konsequenzen    auf    und    damit    die 

5'^ 


—      68      — 

Kultur.  Sein  Werk  lässt  sich  nur  verstehen  als  das 
Bestreben  auf  der  Basis  der  immanent  naturalistischen 
Stellung  des  Geisteslebens  eine  neue  Kultur  zu  schaffen. 

Das  Charakteristikum  der  dritten  Richtung"  be- 
steht in  dem,  was  wir  das  Versozialisieren  der  geistigen 
Probleme  nennen.  Man  hat  die  Prämissen  der  kosmisch- 
zentralen Stellung  des  Geisteslebens  aufgegeben,  will 
aber  nicht  wie  die  erste  Richtung  aus  einem  mehr 
religiös-metaphysischen  Bedürfnisse  die  Konsequenzen 
beibehalten  wissen,  sondern  aus  Gründen  des  sozialen 
Gemeinschaftslebens.  Dabei  ergeben  sich  dann  die 
sonderbarsten  philosophischen  Konstellationen.  Als 
einen  etwas  ins  Karrikaturhafte  gediehenen  Ausdruck 
dieser  Richtung  können  wir  das  dickbändige  Werk 
von  Ludwig  Stein:  „Die  soziale  Frage  im  Lichte  der 
Philosophie"  betrachten. 

Alle  drei  Richtungen  sind  das  beste  Zeugnis  dafür, 
dass  unser  ganzer  geistiger  Lebensstand  in  Erschütter- 
ung geraten  ist,  und  dass  wir  in  einer  Kulturkrise 
stehen,  der  man  offen  ins  Auge  sehen  muss.  Eine  der- 
artige geistige  Krise  hat  das  Gute,  dass  sie  die  Philo- 
sophie zur  Selbstbesinnung  aufrüttelt,  und  sie  aus  der 
Zerstreuung  und  Isoliertheit  peripherer  Einzelprobleme 
auf  die  Zentralfragen  zurücklenkt.  Das  ist  aber 
dringend  notwendig,  denn  in  keiner  Wissenschaft  ist 
es  gefährlicher  als  in  der  Philosophie,  die  grossen, 
letzten  Probleme  aus  den  Augen  zu  verlieren.  Die 
Naturwissenschaft  mag  sich  noch  so  sehr  in  Spezial- 
untersuchungen zersplittern,  so  nimmt  sie  doch  da- 
durch keinen  vSchaden.  Die  Einheit  des  Objektes  und 
der  Methode,  der  sichere  Fonds  schon  erworbenen 
Wissens,  der  in  seiner  Thatsächlichkeit  nicht  mehr  dem 
Warum  und  Wozu  ausgesetzt  ist,  führen  doch  schliess- 
lich  die   Resultate    der  Einzeluntersuchungen    auf  das 


-      69      - 

Ganze  zurück,  und  was  im  lunzelnen  an  lirkenntnis 
gewonnen  wird,  fördert  so  die  Erkenntnis  des  Ganzen. 
Anders  in  der  Philosophie.  Ein  philosophisches  Spe- 
ziidistentum.  das  jede  Berührung  mit  den  Weltproblemen 
aufgiebt  und  sich  möglichst  an  die  Einzelwissenschaften 
anlehnt,  verliert  jede  Bedeutung  und  verzwergt.  Es 
muss  sich  damit  begnügen,  halbdunkle  Probleme  zu- 
rechtzukauen,  bis  sie  für  den  Organismus  der  Wissen- 
schaft \'erdaulich  sind.  Dann  heisst  es:  der  Mohr  hat 
seine  Schuldigkeit  gethan,  er  kann  gehen  ^).  An  philo- 
sophischer Erkenntnis  ist  dieses  Spezialistentum  völlig 
unfruchtbar,  denn  seine  Untersuchungen  gewinnen 
keine  Beziehungen  zu  den  grossen  Weltproblemen  der 
Philosophie,  und  wo  diese  Beziehungen  fehlen,  da  ist 
die  Philosophie  in  Gefahr  ihre  Selbständigkeit  zu  ver- 
lieren und  zur  ]Magd  irgend  einer  Wissenschaft  zu 
w^erden.  Ist  sie  dann  glücklich  zum  Range  einer 
Eachwissenschaft  unter  anderen  herabgesunken,  dann 
verliert  sie  jede  Teilneihme  und  jedes  Verständnis  für 
die  geistigen  Kämpfe  ihrer  Zeit  —  wie  es  heute  ge- 
schehen ist.  Rafft  sie  sich  aber  trotzdem  auf  und  er- 
kennt, dass  ewige  Probleme  zu  Problemen  der  Zeit  ge- 
worden sind,  so  rächt  sich  die  lange  Vernachlässigung 
der  prinzipiellen  Probleme,  indem  die  Philosophie  jetzt 
den  Blick  für  das  Prinzipielle,  die  Logik  des  Prinzipiellen, 


')  Von  dieser  heute  weitverbreiteten  Auffassung  der  Philosophie 
kann  dann  auch  sehr  leicht  die  Frage  nach  der  Existenzberechtigung 
der  Philosophie  entstehen.  Xg\.  dazu  De  Roberty:  „La  philosophic 
du  siecle."  ,,La  philosophie  doit-elle  continuer  ä  exister  ou  doit-elle 
etre  remplacee  par  les  sciences  particulieres?"  (S.  34).  ,,La  philosophie 
est  ä  la  science  ce  que  l'eau-mere  est  au  cristal"  (S.  348).  —  Über 
die  Überflüssigkeit  der  Philosophie  als  Erkenntnistheorie  und  Methoden- 
lehre Philippovich :  ,, Aufgabe  und  Methoden  der  politischen  Ökonomie" 
S.  5.  Auch  das  sonderbare  Werk  von  Wähle:  ,,Das  Ganze  der  Philo- 
sophie und  ihr  Ende"  gehört  hierher. 


verloren  hat.  —  Der  Ursprung  dieser  unerquicklichen 
Lage  reicht  zurück  bis  in  die  Zeit  Hegel's.  Die 
klassische  Philosophie  philosophierte  angesichts  der 
Ewigkeit  und  der  Unendlichkeit.  Die  nachklassische 
Philosophie  verlor  die  Weltfragen  aus  den  Augen. 
Die  geistige  Situation  kippte  nach  dem  Tode  Hegel's 
um.  An  sich  selber  sollte  der  Philosoph  der  Dialektik 
seine  Lehre  erfahren.  Der  tiefste  Punkt,  der  von  dieser 
Dialektik  getroffen  wurde,  und  der  am  verhängnis- 
vollsten für  die  ganze  fernere  Entwicklung  gew^orden 
ist,  war  das  Aufgeben  des  festen  geistigen  Hinter- 
grundes des  Lebens.  Bei  Hegel  war  der  Älensch 
ein  Produkt  der  Idealwelt,  bei  den  Hegelianern  des 
linken  Flügels,  die  schliesslich  den  Sieg  davontrugen, 
wurde  die  Idealwelt  zum  Produkt  des  Menschen.  Das 
war  der  bedeutungsvolle  intellektuelle  Sündenfall,  an 
dessen  Folgen  wir  heute  mehr  als  je  kranken.  Auf 
diesen  Punkt,  den  wir  als  das  Problem  von  der 
Stellung  des  Geisteslebens  bezeichnet  haben,  gilt  es 
den  Blick  zurückzuzwingen,  denn  ein  Idealismus,  der 
an  diesem  Punkte  nicht  Farbe  bekennt,  ist  nichts  wert. 
Es  kamen  nach  dem  Tode  Hegel's  viele  Momente 
zusammen,  um  den  metaphysischen  Hintergrund  des 
Lebens  zu  zerstören.  Die  theoretische  Konsequenz 
der  Linkshegelianer  wurde  verstärkt  und  erhielt  erst 
ihre  Durchschlagskraft  durch  die  Interessenverschiebung 
des  allgemeinen  Lebens  von  der  Transzendenz  zur 
Immanenz;  vor  den  drohend  aufsteigenden  politischen 
und  sozialen  Problemen  verblassten  die  Weltfragen ;  die 
grossen  Entdeckungen  und  Fortschritte  der  Naturwissen- 
schaften führten  zu  einem  ausgeprägten  dogmatischen 
Materialismus  in  den  50er  und  60er  Jahren.  Dieser 
wurde  dann  abgelöst  vom  Positivismus  und  Neu- 
kantianismus.   Letzterer  ist,  was  die  Stellung'  zur  Meta- 


—     71      — 

physik  anbetrifft,  auch  nur  ein  Positi\ismus,  der  nur 
weiss,  weshalb  er  Positivismus  ist.  Der  Neukantianismus 
ist  die  letzte,  grössere  philosophische  Bewegung,  die 
eine  für  ihre  Zeit  notwendige,  allerdings  rein  negati\e 
Aufgabe  erfüllt  hat.  Er  hat  die  Übergriffe  des  dog- 
matischen Materialismus  zurückgewiesen,  indem  er  die 
philosophische  Forschung  auf  die  strengste  Immanenz 
einschränkte.  T3ie  Metaphysik  wies  er  als  „Begrififs- 
dichtung"  (Lange)  in  das  Märchenland  der  Dichter. 
Sie  sollte  nicht  mehr  die  Kreise  der  exakten  Wissen- 
schaften stören.  Das  ging  so  lange  gut,  als  die 
metaphysischen  Probleme  innerhalb  einer  politisch  und 
sozial  aufgeregten  Zeit  nur  noch  als  intellektuelle 
Spielereien  weltfremder  Narren,  genannt  Metaphysiker, 
erschienen.  Zeigten  sich  indessen  die  metaphysischen 
Probleme  wieder  als  Lebensfragen  der  Menschheit, 
als  zum  Grundbestande  der  Kultur  gehörig,  sprangen 
aus  den  eigenen  Verwickelungen  der  Zeit  Fragen 
ethischer  und  geschichtsphilosophischer  Art  heraus, 
gewannen  die  religiösen  Probleme  wieder  an  Macht 
und  Bedeutung,  machten  sich  in  Leben  und  Litteratur 
die  unheilvollen  Konsequenzen  einer  von  Zweifeln 
zerrissenen,  glaubenslosen  Zeit  bemerkbar,  dann  hat  der 
Neukantianismus  seine  Rolle  ausgespielt.  Zum  posi- 
tiven Schaffen  ist  er  von  vornherein  unfruchtbar,  und 
Falckenberg  hat  recht,  wenn  er  die  Herrschaft  des 
Neukantianismus  ein  Provisorium  nennt  i).  Auf  die 
Probleme  der  Geschichte  und  Gesellschaft,  auf  das 
Problem  der  Kultur  giebt  die  „Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft" keine  Antwort.  Wir  sehen  daher  auch  die 
Philosophie  der  letzten  Gegenwart,  soweit  sie  sich 
noch   den  Blick    für  die   allgemeineren   Probleme   frei- 

^)    P'alckenberg:    Geschichte  der    neueren    Philosophie    2.    Aull. 
S.   502. 


gehalten  hat,  Anleihen  bei  den  grossen  Systemen 
eines  Fichte  und  eines  Hegel  machen.  Damit  gelangt 
dann  auch  wieder  die  „Kritik  der  praktischen  Ver- 
nunft" mehr  zur  Geltung. 

Noch  ist  der  Ruf:  Zurück  zu  Kant!  nicht  abge- 
löst von  dem  Ruf:  Zurück  zu  Fichte  und  Hegel!, 
aber  wir  möchten  beinahe  die  Prophezeiung  wagen, 
dass  dieser  neue  Sammelruf  bald  erschallen  wird^). 
Bei  diesem  Rückgang  auf  die  klassische  Philosophie 
sehen  wir  aber  immer  dasselbe  Schauspiel:  ]\Ian  will 
die  Konsequenzen  der  klassischen  Philosophie  ohne  die 
Prämisse  —  die  Prämisse  der  kosmisch  zentralen 
Stellung  des  Geisteslebens.  Man  braucht  dieselben 
Ausdrücke  und  Begriffe,  ohne  sich  bewusst  zu  werden, 
dass  sie  jeden  Sinn  verlieren,  wenn  nicht  hinter  ihnen 
ein  Idealismus  steht,  für  den  das  Geistesleben  Kern 
und  Ziel  der  Wirklichkeit  ist-). 

Wir  haben  es  hier  mit  der  ersten  Richtung  innerhalb 
des  Kulturproblems  der  Gegenwart  zu  thun^).  Diese 
Richtung  versucht  die  Diskrepanz  zwischen  Voraus- 
setzung und  Folgerung  zu  verdecken  durch:  Praktischen 
Idealismus,  Psychologisches  Lokalisieren,  Sozialpsycho- 
logie, absolute  Werte  und  Werturteile. 


^)  Vereinzelt  können  wir  diesen  Ruf  schon  jetzt  in  Zeitschriften  ver- 
nehmen z.  B.  in  dem  Aufsatz:  Neu-Idealismiis  von  M.  Kronenberg,  Zukunft 
5.  Juni  97.  Es  sei  übrigens  nicht  unerwähnt  gelassen,  dass  Hegel  seit  den 
letzten  30  Jahren  die  englische  Philosophie  beherrscht.  \'g\.  meinen  Artikel : 
„Die  idealistische  Bewegung  der  Philosophie  in  England"  in  der  Beilage 
zur  Allgemeinen  Zeitung,  Jahrgang   1898,   No.    127.   — 

-)  Das  gilt  natürlich  nicht  von  denjenigen  Philosophen,  die  unter 
Anknüpfung  an  die  klassische  Philosophie  eigene  Wege  zu  einem  neuen 
Idealismus  gehen  wie  Eucken,  Class  und  A.  Seth.  Unsere  Kritik 
zielt  hauptsächlich  gegen  Pauls en,  Wundt  und  deren  Anhänger. 
Dass  wir  dabei  bes.  Vierkandt,  der  auf  philosophischem  Gebiet  ein 
Schüler  Wundt's    ist,    berücksichtigen,    liegt  im   Wesen  unserer  Arbeit. 

^')  .S.   67. 


—      73      — 

WendcMi  wir  uns  zuerst  zum  ,, praktischen  Idea- 
lismus". Nachdem  Vierkandt  davon  gesprochen  hat, 
dass  uns  die  spinozistische  Betr^ichtungsweise  das 
Opfer  auferlegt,  auch  unser  menschliches  Leben  und 
Sein  unter  dem  Gesichtspunkt  einer  strengen  Gesetz- 
mässigkeit als  ein  Stück  Natur  zu  betrachten,  kommt 
er  mit  dem  Trost  des  „praktischen  Idealismus",  der 
im  Entwicklungsbegriff  eine  „kräftige  Verankerung" 
finden  soll.  Nun  haben  wir  schon  gesehen,  auf  wie 
schwachen  Füssen  dieser  rein  formale,  naturalistische 
Entwicklungsbegriff  steht  ^).  Was  nun  den  „praktischen 
Idealismus"  selbst  anbetrifft,  so  hat  er  bei  Kant  einen 
metaphysischen  Sinn.  In  der  praktischen  Vernunft 
wurzelte  der  Mensch  in  der  letzten  Realität  der  Dinge. 
Wir  stimmen  dieser  Scheidung  der  Vernunft  in  keiner 
Weise  bei;  es  muss  aber  betont  werden,  dass  der 
„praktische  Idealismus"  bei  Kant  keine  blos  subjektive 
Gesinnung  bedeutet,  sondern  eine  auf  dem  noumenalen 
Faktum  der  Sittlichkeit  aufgebaute  idealistische  Meta- 
physik. Der  ,, praktische  Idealismus"  Vierkandt's  ist 
weder  „praktisch"  noch  „Idealismus";  denn  „praktisch" 
ist  alles,  was  durch  Freiheit  möglich  ist,  und  Idealismus 
ist  die  Lehre,  dass  der  Geist  Kern  und  Ziel  der  Wirk- 
lichkeit ist.  Ist  aber,  wie  bei  Vierkandt,  ein  evo- 
lutionistischer  Spinozismus  etabliert,  so  ist  praktischer 
Idealismus  eine  UnmögHchkeit. 

Allerdings  ist  ja  als  subjektive  Gesinnung  der 
„praktische  Idealismus"  sehr  lobensw^ert,  er  hat  aber  dann 
nichts  zu  thun  bei  den  letzten  Entscheidungen  der 
Weltanschauung. 

Der  moderne  „praktische  Idealismus"  ist  der  Pferde- 
fuss  jedes  Pseudoidealismus,  und  man  kann  sicher  sein, 


')  S.  4; 


dass  etwas  faul  ist  in  der  Weltanschauung  eines 
Denkers,  wenn  man  den  „praktischen  Idealismus"  dort 
antrifft.  Es  ist  nicht  genug-  gegen  den  ,, praktischen 
Idealismus"  in  Fragen  der  Weltanschauung  anzu- 
kämpfen, besonders  wenn  er  in  seiner  weitverbreiteten, 
neukantischen  Form  auftritt.  Da  ist  er  ein  bequemes 
Täschchen,  in  das  man  seine  verschiedenen  Glaubens- 
artikel hineinlegen  kann.  Man  vertraut  dabei  der  gut 
bürgerlichen  Anständigkeit  des  menschlichen  Geistes, 
für  welchen  die  Ethik  eigentlich  selbstverständlich  sein 
sollte,  wenn  auch  ein  wirklicher  Grund  nicht  angegeben 
werden  kann.  Für  diese  seichte  Art  sich  mit  den 
Weltproblemen  abzufinden,  giebt  es  keine  bessere  Ab- 
fertigung als  die  Worte  Hegel's:  „Es  ist  ein  Eigen- 
sinn, der  Eigensinn,  der  dem  Menschen  Ehre  macht, 
nichts  in  der  Gesinnung  anerkennen  zu  wollen,  was 
nicht  durch  den  Gedanken  gerechtfertigt  ist  —  und 
dieser  Eigensinn  ist  das  Charakteristische  der  neueren 
Zeit,  ohnehin  das  eigentümliche  Prinzip  des  Protestan- 
tismus"^). — 

Es  hängt  aber  dieser  Begriff  des  „praktischen 
Idealismus"  zusammen  mit  einem  Zug  der  Zeit  zum 
psychologischen  Lokalisieren.  Man  glaubt  z.  B.  Kant 
recht  würdigen  zu  können,  wenn  man  ihm  das  Ver- 
dienst beimisst,  die  Entscheidung  über  die  letzten  Fragen 
euis  dem  Verstand  in  den  Willen  verlegt  zu  haben'-). 
Nun  hat  allerdings  Kant  die  Ethik  in  den  Willen 
verlegt;  aber  das  psychische  Vermögen  als  solches 
galt  ihm  nichts,  es  war  nur  der  Kanal  zu  einer  über- 
sinnlichen Welt.     Im  Willen,  der  von  ethischen  NormcMi 


')  Hegel,  Vorrede  zur  Rechtsphilosophie  S.    19. 

-)  In  dem  kürzlich  erschienenen  AVerke  von  Paiilsen  über  Kant 
tritt  das  wieder  deutlich  hervor.  (Immanuel  Kant,  sein  Leben  und 
seine  Werke.) 


/ .-) 


beherrscht  ist,  sah  Kant  etwas  Metaphysisches.  Die 
immanent  psychologische  Betrarhtimi;'  des  Willens, 
wie  sie  bei  Vierkandt  und  den  Philosophen  der 
(xegenwart  herrscht,  giebt  den  Forderungen  des  Willens 
in  keiner  Weise  einen  grösseren  metaphysischen  Er- 
kenntniswert als  den  Forderungen  des  Verstandes. 

Also  dadurch,  dass  man  Ethik.  Religion  und 
Metaphysik  in  das  Gefühl  oder  in  den  Willen  legt, 
werden  sie  um  keine  Spur  wahrer,  als  wenn  sie  im 
Verstand  ihre  Wurzeln  hätten.  Erst  wenn  die  meta- 
physische Frage  nach  der  vStellung  des  Geisteslebens 
erledigt  ist,  bekommt  das  psychologische  Lokalisieren 
eine  praktische  Bedeutung  für  pädagogische  Zwecke.  — 

Eine  andere  Art  den  Mangel  eines  konsequenten 
Idealismus  zu  verdecken  ist  auch  der  Begriff  der 
Sozialpsyche.  Für  das  Gebiet  der  Völkerpsychologie 
und  der  Sozialpsychologie  erkennen  wir  diesen  Begriff 
vollkommen  an.  Wir  müssen  ihm  aber  jede  Berech- 
tigung absprechen,  wenn  er  entweder  identifiziert  wird 
mit  dem  Hegel'schen  Begriff  des  „objektiven  (xeistes" 
oder  wenn  ihm  ein  ähnlich  grosser  Wert  beigelegt 
wird.  Der  objektive  Geist  Hegel's,  wie  er  sich  im 
Recht,  in  der  Moralität  und  in  der  Sittlichkeit  darstellte, 
hatte  metaphysische  Bedeutung,  denn  er  war  eine 
Realisation  der  objektiven  Weltvernunft.  Aber  dieser 
transzendente  metaphysische  Hintergrund  existiert  nicht 
für  den  Kollektivbegriff  einer  Sozialpsyche,  eines  Ge- 
samtwillens. Und  trotzdem  fordert  man  dieselbe  Hin- 
gabe, dieselbe  Wertbeurteilung  für  den  Gesamtwillen 
(Wundt!)  wie  Hegel  für  seinen  objektiven  Geist. 

So  sehen  wir  hier  an  einem  interessanten  Beispiel 
dieselbe  ethische  Forderung  von  der  klassischen  Philo- 
sophie und  der  Philosophie  der  Gegenwart  erhoben. 
Und    doch,    wie   Verschiedenes    bedeutet    sie    für    den 


-      76     ~ 

Menschen!  Heute  bedeutet  diese  Forderung,  dass  der 
Einzelne  im  Dienste  sozialer  Zwecke  seine  ethische 
Bestimmung  habe;  in  der  klassischen  Philosophie 
bedeutete  dieselbe  Forderung,  dass  der  Einzelne 
in  der  Unterordnung  unter  den  objektiven  Geist 
z.  B.  den  Staat  an  der  Vernunft  des  Universums  teil 
h^ibe.  — 

Etwas  Ähnliches  sehen  wir  bei  den  Begriffen  des 
Werturteils  und  des  absoluten  Wertes. 

Seitdem  die  Forderungen  des  Innenlebens  sich 
wieder  energischer  in  den  Vordergrund  gedrängt  haben, 
die  festen  Positionen  der  klassischen  Philosophie  aber 
gefallen  sind,  werden  die  Wertbegriffe  als  Ersatz  vor- 
geschoben. Sie  sollen  wenigstens  dem  Gemüte  die 
ideale  Weltanschauung  aufbauen,  die  dem  Verstände 
versagt  ist. 

wSeine  weite  Verbreitung,  man  könnte  beinahe 
sagen  seine  Popularität  hat  der  Wertbegriff  durch  die 
Ritschl'sche  Schule  bekommen.  Die  Theologie 
Ritschl's  fällt  ihrer  Entstehung  nach  in  jene  Zeit,  welche 
übersättigt  von  metaphysischer  Spekulation  auf  der 
einen  Seite  und  bedroht  vom  Materialismus  auf  der 
andern  wSeite,  die  Glaubensobjekte  nur  durch  Ablehnung 
jeder  Metaphysik  retten  zu  können  glaubte. 

Das  wissenschaftliche  Erkennen  und  damit  auch 
die  Metaphysik  kann,  wie  Kant  gezeigt  hat,  niemals 
über  die  Existenz  der  Glaubensobjekte  etwas  aussagen. 
Was  aber  dem  diskursiven  Denken  versagt  ist,  soll 
dem  religiösen  Erkennen  vorbehalten  sein.  Und  zwar 
bewegt  sich  dieses  religiöse  Erkennen  in  selbständigen 
Werturteilen  d.  h.  in  Vorstellungen  über  unsere 
Stellung  zur  Welt,  welche  nur  hinsichtlich  ihres  Wertes 
für  Erregung  von  Lust  und  Unlust gefühlen  in  Betracht 
kommen.     So   darf   der  Gottesgedanke   nur   als   Wert- 


—      77      — 

urteil  oder  als  eine  für  den  (lewinn  von  (TÜtern  wert- 
volle \^orstellun_L»-  l:)ehandelt  werden  ^). 

Wenn  ^iber  diese  Ritschl'schen  Werturteile  nicht 
reine  Erfindungen  einzelner  Individuen  sein  sollen,  so 
hängen  sie  von  Seinsurteilen  ab.  und  so  werden  wir 
doch  wieder  zur  Metaphysik  zurückgetrieben.  Lehnt 
man  aber  trotzdem  eine  Aletaphysik  ab,  so  muss  man 
sich  die  Fnige  vorlegen,  ob  positive  oder  negative 
Gefühlstöne  über  die  Wahrheit  von  Vorstellungen  ent- 
scheiden können.  Wir  müssen  das  verneinen.  Sind 
Vorstellungen  deshalb  wahr,  weil  sie  uns  Lust  bereiten, 
und    deshalb    unwahr,    weil    sie    uns   Unlust    bereiten? 

Die  innere  Unmöglichkeit  und  der  subjektivistische 
Charakter  der  psychologischen  Werturteile  wnrd  aber 
erst  dann  ganz  ersichtlich,  wenn  Werturteile  über 
transzendente  Dinge  beibehalten  w^erden  bei  v()lligem 
Wegfall  jeder  Transzendenz.  Nimmt  man  mit  Ritschi 
den  Standpunkt  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  ein, 
so  sind  w^enigstens  die  von  den  Werturteilen  geforderten 
transzendenten  Objekte  nicht  unm()glich.  Nimmt  man 
aber  von  vorneherein  einen  Naturalismus  an  —  und 
jede  Weltanschauung  ist  im  letzten  Grunde  Naturalismus, 
die  nicht  dem  Geistesleben  eine  kosmisch -zentrale 
Stellung  zuweist  —  so  konimt  den  psychologischen 
Werturteilen  nur  die  Geltung  von  subjektiven  Phantasien 
zu.  Ob  diese  Werturteile  nun  von  einem  individuellen 
oder  sozialen  Selbstbew^usstsein  —  dem  allermodernsten 
Lückenbüsser  des  Pseudoidealismus  —  gefällt  werden, 
läuft  auf  dasselbe  hinaus. 


')Vgl.O.  Pf  leiderer:  Die  Entwicklun<^  der  protestantischen  Theo- 
logie in  Deutschland   seit  Kant  S.   232. 

Vgl.  auch  dazu  die  ausgezeichnete  Darstellung  und  Kritik  der 
philosophischen  Grundlagen  des  Ritschlianismus  in  dem  \\'erke  von 
R.   ^^     Wenlcy:    Contemporary    Theolog)-    and    Theisni    S.    112 — 124. 


Von  diesen  subjektivistischen  Werturteilen  aus 
soll  dann  auch  noch  der  Begriif  des  absoluten  Wertes 
aufrecht  erhalten  werden.  —  Die  Frage,  auf  die  es 
uns  hier  allein  ankommt,  lautet:  vSind  absolute  Werte 
möglich  bei  der  immanent  naturalistischen  Stellung 
des  Geisteslebens?  —  Wert  setzt  immer  ein  Verhältnis 
irgend  einer  Thatsächlichkeit  materieller,  psychischer 
oder  ideeller  Art  zu  einem  Subjekt  voraus.  Bei 
diesem  Verhältnis  liegt  der  Accent  entweder  auf  dem 
Subjekt  oder  auf  der  Thatsächlichkeit.  —  Im  ersten 
Falle  haben  wir  es  mit  den  Werten  des  individuellen, 
natürlichen  Seelenlebens  zu  thun.  Lust  und  Unlust 
und  deren  Komplikationen  bestimmen  den  Wert- 
charakter der  Thatsächlichkeit.  Wir  sprechen  hier 
von  individuellen  Emotionswerten  oder  relativen  Werten. 
Allgemeine  Gültigkeit  können  diese  Emotion  s  werte 
nicht  beanspruchen,  denn  es  giebt  nichts  Veränder- 
licheres und  Zufälligeres  als  die  subjektive  Gefühls- 
zuständlichkeit.  Ändert  sich  diese,  so  verliert  auch  die 
Thatsächlichkeit  ihren  Wert.  —  Im  zweiten  Fall  hin- 
gegen ist  die  Konstante  die  Thatsächlichkeit  und  die 
Variante  ist  das  Subjekt.  Hier  hängt  der  Wertcharakter 
nicht  mehr  von  der  Gefühlszuständlichkeit  des  Subjekts 
ab,  die  Thatsächlichkeit  behält  ihren  Wert  ungeachtet 
der  Stellung  des  Subjekts  zu  ihr^).  Wir  haben  hier 
die  vom  Standpunkt  der  Emotionswerte  paradoxe 
Erscheinung  eines  Wertes  „an  sich",  eines  absoluten 
Wertes-),  der  allgemeine  Gültigkeit  beansprucht. 

^)  Im  ersten  Fall  wird  durch  die  Emotion  erst  der  Wert  hervorgebracht, 
im  zweiten  Fall  ist  die  Emotion  nur  das  Zeichen,  dass  ich  einen  in  meinem 
Bewusstsein  auftretenden  absoluten  Wert  gefühlsmässig  bejahe  oder  verneine. 

■-')  Psychologisch  genetisch  betrachtet  kann  natürlich  die  Thatsäch- 
lichkeit erst  durch  das  Subjekt  den  Wert  des  Absoluten  bekommen.  Ist 
aber  dieser  einmal  konstatiert,  so  bleibt  er  auch,  einerlei  wie  später  das 
Subjekt  sich  zu  ihm  stellt.  Bei  der  erkenntnistheoretischen  Betrachtung 
haben   wir  es   immer  nur  mit   fertigen  Fakten  zu   thun. 


—    -i)    — 

Worauf  beruht  nun  die  Absolutheit  des  Wertes 
der  ThatsächHchkeit?  —  Auf  der  Stellung  des  Subjekts 
kann  die  Absolutheit  nicht  beruhen,  sonst  hätten  wir 
den  ersten  Fall  der  Relativität,  —  Sie  muss  also  im 
Charakter  der  ThatsächHchkeit  selbst  liegen. 

Das  können  wir  bei  Kant  sehr  gut  erkennen, 
dem  wir  uns  in  diesem  Punkte  anschliessen.  Wir 
zitieren  die  berühmte  Stelle  aus  der  „Aletaphysik  der 
Sitten"  S.  279  als  Beweis  dafür. 

„Der  Alensch  im  System  der  Xatur  (homo  phae- 
nomenon,  animal  rationale)  ist  ein  Wesen  von  geringer 
Bedeutung  und  hat  mit  den  Tieren  als  Erzeugnissen  des 
Bodens  einen  gemeinen  Wert  (pretium  vulgeire).  Selbst 
dass  er  vor  diesen  den  Verstand  voraus  hat  und  sich 
selbst  Zwecke  setzen  kann,  das  giebt  ihm  doch  nur 
einen     äusseren    \Vert    seiner    Brauchbarkeit    (pretium 

usus) Allein   der    Mensch   als   Person 

betrachtet  d.  i.  als  Subjekt  einer  moralisch  praktischen 
Vernunft,  ist  über  allen  Preis  erhaben,  denn  als  ein 
solcher  (homo  noumenon)  ist  er  nicht  blos  als  Mittel  zu 
anderer  ihren,  ja  selbst  seinen  eigenen  Zwecken, 
sondern  als  Zweck  an  sich  selbst  zu  schätzen  d.  i.  be- 
sitzt   eine    Würde    (einen    absoluten    inneren    Wert)." 

Relativer  und  absoluter  Wert  unterscheiden  sich 
also  durch  das  Sein.  Die  ThatsächHchkeit  Mensch 
als  Naturwesen  hat  einen  relativen  Wert  d.  h.  einen 
Wert  nur  in  Bezug  auf  irgend  etwas  anderes;  hingegen 
der  Mensch  als  Geistwesen  hat  einen  absoluten  Wert 
d.  h.  hier  ist  mit  dem  geistigen  Sein  zugleich  der 
absolute  Wert  gesetzt.  Wir  können  auch  sagen:  In 
den  relativen  Werten  steckt  ein  Natursein,  in  den  ab- 
soluten Werten  ein  Geistsein.  Damit  ist  zugleich  ein 
qualitativer  Unterschied  zwischen  relativen  und  abso- 
luten Werten    gesetzt,    der   nicht   ps\'chologisch   aufge- 


—      8o      — 

hoben  werden  kann.  Alles  Natursein  hat  einen  relativen, 
alles  Geistsein  einen  absoluten  Wert  d.  h.  beim  abso- 
luten Wert  fallen  vSein  und  Wert  zusammen. 

Das  sehen  wir  auch  bei  den  Religionen.  Gott 
ist  die  höchste  Realität  und  daher  auch  der  höchste 
Wert.  Die  Reahtät  Gott  und  absoluter  Wert  fällt 
zusammen.  Die  blosse  Vorstellung  Gott  ohne  Realität 
dahinter  hat  niemals  in  der  Religion  einen  absoluten 
Wert  gehabt.  —  Wir  finden  dieses  Zusammenfallen 
von  Wert  und  Sein  aber  nicht  in  der  Immanenz.  Bleibt 
man  streng  bei  dieser  stehen,  so  hat  Nietzsche's 
Wort  Berechtigung:  ,,Es  giebt  keine  moralischen  Phä- 
nomene, nur  eine  moralische  Ausdeutung  von  Phä- 
nomenen." — 

Diejenigen  verstehen  Kant  schlecht,  die  ihm  vor- 
werfen, er  hätte  bei  dem  absoluten  Wert  der  Moral 
stehen  bleiben  sollen  ohne  eine  transzendente  Geistes- 
welt zu  hypostasieren.  Erst  von  dieser  aus  wird  die 
Moral  absolut  und  losgelöst  von  der  Zufälligkeit  des 
Subjekts.  Die  kosmische  Stellung  des  Geisteslebens  ist 
die  ratio  essendi  der  absoluten  Werte,  die  absoluten 
Werte  sind  die  ratio  cognoscendi  der  kosmischen 
Stellung  des  Geisteslebens. 

Dadurch  dass  viele  Menschen  denselben  Wert 
energisch  betonen,  wird  dieser  noch  kein  absoluter 
Wert,  sonst  würde  z.  B.  das  Geld  der  absolute  Wert 
par  excellence  sein.  Bei  der  immanent  naturalistischen 
Stellung  des  Geisteslebens  sind  absolute  Werte  un- 
möglich. 

Bei  Vierkandt  war  die  Existenz  absoluter  Werte 
mit  der  kosmisch  zentralen  Stellung  des  Geisteslebens 
zufällig  verbunden.  Wir  haben  gezeigt,  dass  diese 
Verbindung  eine  notwendige  ist.  — 


—     8i      — 

Will  man  also  die  Konseciuenzon  der  klassischen 
Philosophie,  will  man  einen  Idealismus,  der  mehr  ist 
als  ein  synkretistisches  vSchlagwort,  will  man  endlich 
die  Kultur  behaupten,  so  muss  man  auch  die  Prämisse 
der  klassischen  Philosophie  annehmen:  die  kosmische 
Stellung  des  Geisteslebens.  In  Zeiten  des  Radika- 
lismus lässt  sich  mit  Kompromissversuchen  nicht  aus- 
kommen. — 

Die  immanente  Logik,  die  jeder  geistigen  Be- 
\vegung  inne  wohnt,  und  die  alle  Konsequenzen  aus 
ihr  heraustreibt,  sehen  wir  denn  auch  in  Nietzsche 
Gestalt  annehmen. 

Wenn  wir  hier  in  unserer  Arbeit  Nietzsche 
behandeln,  so  geschieht  es  nicht  um  eine  ausführliche 
Darlegung  und  Kritik  der  Gedanken  dieses  genialen 
Zerdenkers  zu  geben,  sondern  um  Nietzsche  in  den 
Zusammenhang  des  Kulturproblems  der  Gegenwart  zu 
stellen,  um  an  ihm  dieses  Kulturproblem  von  einer 
neuen  Seite  zu  beleuchten.  Wir  sind  uns  dabei  wohl 
bewusst,  dass  wir  damit  Nietzsche  nicht  voll  gerecht 
werden,  müssen  allerdings  gleich  hinzufügen,  dass,  ab- 
gesehen von  dem  grossen  Künstler  und  feinsinnigen 
Psychologen,  wir  dem  Philosophen  Nietzsche  auch 
nur  soweit  einen  bleibenden  Wert  für  die  Geistes- 
geschichte beimessen,  als  er  in  engster  Beziehung  zu 
unserer  Zeit  betrachtet  wird.  Werden  seine  Schriften 
herausgelöst  aus  dem  Zusammenhang  der  Zeit  und 
für  sich  genommen,  so  stellen  sie  ein  Chaos  wider- 
streitender Meinungen  und  Tendenzen  dar,  mit  denen 
nichts  anzufangen  ist.  Hingegen  sub  specie  temporis 
betrachtet  ist  Nietzsche  kein  Problem  sui  generis, 
sondern  das  Problem  der  Zeit  auf  einen  scharfen, 
radikalen  Ausdruck  gebracht.  Darin  liegt  seine  Be- 
deutung. 


—       82       — 

Man  hat  von  Nietzsche  gesagt,  dass  „er  die  Mo- 
dernität resümiert".  Das  ist  aber  nur  eine  halbe 
Wahrheit;  er  resümiert  nicht  blos  die  Modernität,  er 
geht  auch  die  geistigen  Bewegungen  der  letzten  50 
Jahre  bis  zu  Ende,  bis  in  die  dunkelsten  Winkel 
ihrer  Konsequenzen.  Diese  geistigen  Bewegungen 
hatten  alle  im  Verhältnis  zur  klassischen  Philosophie 
eins  gemein:  den  Zug  zur  Immanenz.  Der  grosse 
Immanenzierungsprozess  dieses  Jahrhunderts,  der  nach 
der  philosophischen  Seite  im  Materialismus,  evolutio- 
nistischen  Naturalismus,  Positivismus  und  Neukantia- 
nismus seinen  Ausdruck  fand,  hatte  den  geistigen 
transzendenten  Hintergrund  des  Lebens  und  der  Kultur 
zerstört. 

Das  Leben  auf  die  strengste  Immanenz  gestellt  — 
das  ist  die  Voraussetzung  der  Gedanken  Nietz sehe's. 

Und  er  machte  Ernst  mit  dieser  Voraussetzung 
und  ihren  Konsequenzen  für  das  Kulturleben.  Darin 
lag  auch  ein  grosser  Teil  seines  Erfolges.  Es  waren 
dem  allgemeinen  Zeitbewusstsein  die  Voraussetzungen 
für  die  unsere  Kultur  tragenden  Ideen  und  Ideale 
verloren  gegangen.  Worte  blieben  übrig,  die  man 
nicht  den  Mut  hatte  wegzuräumen.  Für  viele  wurde 
Nietzsche  daher  wirklich  ,,der  Erlöser  von  der  Seelen- 
feigheit" wie  er  einmal  in  einem  modernen  Romane 
genannt  wurde.  Ihm  ist  es  in  voller  Eindringlichkeit 
zum  Bewusstsein  gekommen,  dass  mit  dem  Wegfall 
jeder  Transzendenz  und  mit  der  Erklärung  der  ge- 
gebenen Welt  als  der  einzigen  Realität  ein  Bruch 
mit  der  Vergangenheit,  eine  Revolution  des  geistigen 
Lebens  stattgefunden  habe,  die  alle  bisher  geltenden 
Grössen  über  den  Haufen  werfen  musste.  Die  Negation 
alles  Metaph3^sischen  bedeutet  nicht  blos  ein  Fallen- 
lassen   gewisser   Grössen    etwa   der    Religion    und   ein 


-     83      - 

Betonen  anderer,  die  in  ihrer  Integrität  erhalten  bleiix'n 
—  etwa  der  Ethik  -  ,  sondern  es  bedeutet  eine  ungeheure 
Erschütterung  der  ganzen  Kultur,  eine  „Umwertung  aller 
Werte",   es  bedeutet   den  Tod  aller  christlichen  Ideale. 

Das  grösste  neuere  Ereignis  —  dass  ,,Gott  tot 
ist",  dass  der  Glaube  an  den  christlichen  (lott  unglaub- 
würdig geworden  ist  —  beginnt  bereits  seinen  ersten 
Schatten  über  P^uropa  zu  werfen.  Für  die  Wenigen 
wenigstens,  deren  Augen,  deren  Argwohn  in  den 
Augen  stark  und  fein  genug  für  dies  Schauspiel  ist, 
scheint  eben  irgend  eine  Sonne  untergegangen,  irgend 
ein  altes  tiefes  Vertrauen  in  Zweifel  umgedreht,  ihnen 
muss  unsere  alte  Welt  täglich  abendlicher,  misstrauischer, 
fremder,  „alter"  erscheinen.  In  der  Hauptsache  darf 
man  sagen:  das  Ereignis  selbst  ist  viel  zu  gross,  zu 
fern,  zu  abseits  vom  P'assungsvermögen  vieler,  als 
dass  auch  nur  seine  Kunde  schon  angelangt  heissen 
dürfte;  geschweige  denn  dass  viele  bereits  wüssten, 
was  eigentlich  sich  damit  begeben  hat  —  und  was 
alles,  nachdem  dieser  Glaube  untergraben  ist,  nunmehr 
einfallen  muss,  weil  es  auf  ihn  gebaut,  an  ihn  gelehnt, 
in  ihn  hineingewachsen  war:  zum  Beispiel  unsere  ganze 
europäische  Moral.  Diese  ganze  Fülle  und  Folge  von 
Abbruch,  Zerstörung,  Untergang,  Umsturz,  die  nun 
bevorsteht:  wer  erriete  heute  schon  genug  davon,  um 
den  Lehrer  und  Vorausverkünder  dieser  ungeheuren 
Logik  von  Schrecken  abgeben  zu  müssen,  den  Pro- 
pheten einer  Verdüsterung  und  Sonnenfinsternis,  deren 
Gleichen  es  wahrscheinlich  noch  nicht  auf  Erden  ge- 
geben hat?^) 

Mit  dem  „Tode  Gottes"  mit  dem  Aufgeben  der 
kosmisch -zentralen  Stellung  des  Geisteslebens  giebt  (^s 

')   Fr()hliche  "Wissenschaft,   5tcs   Buch,   343.      Vgl.  auch    125. 

6* 


-     84      - 

auch  keine  objektive  Vernunft  mehr  in  der  Weh.  Das 
gegebene  Sein  zeigt  keine  Vernunft,  und  wenn  der 
Mensch  trotzdem  eine  Vernunft  annimmt,  so  verfälscht 
er  die  WirkUchkeit.  „Wir  sind  abgesotten  in  der 
Einsicht  und  in  ihr  kalt  und  hart  geworden,  dass  es 
in  der  Welt  durchaus  nicht  göttlich  zugeht,  ja  noch 
nicht  einmal  nach  menschlichem  Masse  vernünftig, 
barmherzig  oder  gerecht:  Wir  wissen  es,  die  Welt  in 
der  wir  leben,  ist  ungöttlich,  unmoralisch,  unmenschlich 
—  wir  haben  sie  uns  allzulange  falsch  und  lügnerisch, 
aber  nach  Wunsch  und  Willen  unserer  Verehrung  d.  h. 
nach  einem  Bedürfnisse  ausgelegt".  ^) 

An  sich  sind  diese  Sätze  nicht  besonders  neu, 
wir  können  sie  auch  z.  B.  bei  einem  Hellw^ald  lesen. 
Aber  sie  gewinnen  eine  Bedeutung  erst  dadurch,  dass 
Nietzsche  nun  auch  Ernst  macht  mit  den  Konse- 
quenzen für  die  Kultur.  Bei  Linkshegelianern  wie 
Feuerbach  kam  es  blos  zu  einer  Umkehrung  der 
Gedanken,  nicht  zu  einer  Umkehrung  der  Werte,  Die 
Werte  machten  den  Radikalismus  der  Weltanschauung 
nicht  mit. 

Nietzsche  hingegen  unterzieht  von  der  immanent 
naturalistischen  Stellung  des  Geisteslebens  aus  Geschichte 
und  Kultur  einer  Radikalrevision. 

Dabei  ergiebt  sich  dann  natürlich,  dass  der  Mensch 
der  Schöpfer  der  Idealwelt  ist.  Diese  Idealwelt  trägt 
und  beherrscht  die  ganze  bisherige  Kultur  und  ist 
eigentlich  eine  blose  Phantasmagorie,  ein  Nichts.  Also 
muss  die  christliche  Kultur  aufgegeben  werden. 

Aber  noch  aus  einem  anderen,  mehr  praktischen 
Grunde  muss  nach  Nietzsche  gegen  die  bisherige 
Kultur    angekämpft     werden.       Die    Kultur    hat    den 


*)  Fröhliche  Wissenschaft  S.   279. 


-     85     - 

Menschen  in  den  Dienst  \'on  Idealen  gestellt,  die  seine 
Kraft  aufbrauchen,  die  seine  Natur  schwächen  und 
verkrüppeln.  Für  alle  Ideale,  die  den  Menschen 
in  transzendente  Weltzusammenhänge  stellen,  hat 
Nietzsche  den  vom  Standpunkt  des  Naturalismus 
aus  treffenden  Ausdruck  „asketische  Ideide",  denn  sie 
bedeuten  ihm  nur  eine  Hemmung  und  Einschränkung 
der  naturstarken  Triebe  des  Menschen,  des  „verehren- 
den Tieres". 

Aber  ,,wenn  endlich  auch  alle  Bräuche  und  Sitten 
vernichtet  sind,  auf  welche  die  Macht  der  Götter,  der 
Priester  und  Erlöser  sich  stützt,  wenn  also  die  Moral 
im  alten  Sinne  gestorben  sein  wird:  dann  kommt  — 
ja  was  kommt  dann?"^) 

Nietzsche  kam  von  Schopenhauer  her  mit 
den  Fragen  nach  dem  Sinn  und  dem  Wert  der  Kultur 
und  des  Lebens  und  mit  diesen  F'ragen  stand  er  jetzt 
einer  naturalistischen  Wirklichkeit  gegenüber.  Die 
alten  Werte  hatten  nur  Gültigkeit,  wenn  es  eine  trans- 
zendente Geisteswelt  gab.  Da  es  diese  nicht  giebt,  und 
der  Mensch  nicht  ohne  Wert,  ohne  Zielsetzung  leben  kann, 
so  will  Nietzsche  eine  grosse  Umwertung  der  Werte 
vornehmen.  Er  will  schliesslich  eine  Kultur,  die  sich 
auf  den  von  der  Tierheit  überlieferten  Instinkten  auf- 
baut. In  seiner  letzten  Periode  statuiert  er  als  Sinn 
der  Kultur  den  Übermenschen,  ein  Soll  par  ordre  de 
Nietzsche. 

Nun  auf  eine  Kritik  oder  Widerlegung  Nietzsches 
brauchen  wir  uns  nicht  einzulassen.  Er  kritisiert  und 
widerlegt  sich  selber  in  den  verschiedenen  Perioden 
seines  Denkens  am  besten.  „Dieser  Denker  braucht 
niemanden,  der  ihn  widerlegt;  er  genügt  sich  selber  dazu". 


')  MorgennUe   96. 


—      86     — 

Nietzsche  hat  den  Alut  gehabt  den  Naturalismus 
auszudenken  und  auszufühlen  und  ist  daran  zu  Grunde 
gegangen.  — 

Die  dritte  Richtung  des  Kulturproblems  der 
Gegenwart  hat  sehr  viel  Ähnlichkeit  mit  der  ersten 
Richtung.  Wie  diese  hat  sie  die  kosmisch  -  zentrale 
Stellung  des  Geisteslebens  aufgegeben,  will  aber  auch 
die  Konsequenzen  nicht  fallen  lassen  sondern  erhalten 
wissen,  aber  weniger  aus  religiös-metaphysischen  Be- 
dürfnissen als  aus  Gründen  des  sozialen  Gemeinschafts- 
lebens. Philosophisch  unterliegt  daher  diese  Richtung 
derselben  Kritik  wie  die  erste  Richtung.  Dadurch 
aber,  dass  das  Geistesleben  ausschliesslich  unter  einen 
praktisch-sozialen  Gesichtspunkt  gestellt  wird,  vergröbern 
sich  einerseits  die  Inkonsequenzen  der  ersten  Richtung 
und  bekommen  anderseits  einen  ganz  spezifischen 
Charakter,  der  sich  in  dem  Versozialisieren  der  geistigen 
Probleme  ausspricht. 

Seit  den  letzten  Dezennien  hat  sich  die  Stellung 
der  sozialen  Bewegung  zu  den  geistigen  Faktoren 
wesentlich  verschoben  gegen  die  Zeit,  wo  Marx  seine 
materialistische  Geschichtsphilosophie  schuf  und  Engels 
die  baldige  Euthanasie  der  Religion  prophezeite.  ]\Ian 
hat  sich  davon  überzeugen  müssen,  dass  der  grosse 
Umbildungsprozess  der  ökonomischen  Verhältnisse  ein 
starkes  ethisches  Bewusstsein  der  ^Massen  zur  Vor- 
aussetzung hat;  man  sah  im  Fortgang  der  sozialen 
Bewegung,  dass  man  die  Kraft  und  Macht  der  Religion 
unterschätzt  hatte  und  es  entstanden  und  entstehen 
jetzt  Versuche  den  ^Sozialismus  selbst  zur  Religion  zu 
machen  1).     Dazu   kommt  noch,   dass  die  Vertreter  des 

^)  Es  seien  hier  nur  u.  a.  erwähnt:  J.  Dictzgen:  „Die  Religion 
der  Sozialdemokratie",  Dr.  Stamm:  ,,Die  Erlösung  der  darbenden 
Menschheit"  und  J.  Stern:  „Die  Religion  der  Zukimft". 


-      87      - 

ökonomischen  ALiterialismus  den  allmählichen  Um- 
schwung der  geistigen  Zeitstinimung  nach  der  idea- 
listischen wSeite  hin  merken  und  den  philosophischen 
Materialismus  v(3n  ihren  Rockschössen  ^lbzuschütteln 
suchen  ^).  —  Innerhalb  der  dem  orthodoxen  Sozialismus 
ferner  stehenden  Sozialwissenschaften  tritt  auch  die 
Tendenz  zur  grösseren  Wertung  der  geistigen  Faktoren 
hervor.  Im  Gegensatz  zur  klassischen  Nationalökonomie 
sehen  wir  in  der  historisch-ethischen  Schule  und  im 
sog.  Kathedersozialismus  ein  starkes  Anspannen  des 
ethischen  Momentes-).  Die  Nationalökonomie  stellt 
sich  immer  mehr  in  den  Normbereich  der  Ethik  und 
zwar  einer  Sozialethik,  die  wieder  der  Soziologie  ein- 
gegliedert werden  soll.  „Die  Wirtschaftstheorie  ist 
stets  nur  als  eine  Abteilung  der  umfassenden  Wissen- 
schaft der  Soziologie  anzusehen,  welche  mit  der  mora- 
lischen Synthese  —  der  Krone  des  gesamten  geistigen 

Systems   —  in    lebendiger  Beziehung  steht 

.  .  .  —  ...  Insbesonders  müssen  wir  uns  die  höheren 
sittlichen  Ziele  vergegenwärtigen,  denen  die  wirtschaft- 
liche Bewegung  dient"  •'^). 

Was  die  Soziologie  selbst  anbetrifft,  so  hat  sie  in 
der  zw^eiten  Hälfte  unseres  Jahrhunderts  besonders  durch 
die  Einwirkung  des  naturalistischen  Evolutionsgedankens 
weite  Dimensionen  angenommen^)  und  wenn  auch 
Männer  wie  Dilthey  ihr  den  Charakter  einer  voll- 
giltigen  Wissenschaft  absprechen,  so  ist  doch  nicht  zu 


^)  Vgl.  dazu  ,,Die  wissenschaftliche  und  philosophische  Krise 
innerhalb  des  Marxismus"  von  Prf.   Masaryk    (Prag). 

')  ^S\-  dazu  den  Aufsatz  Schmoller's:  ,,Die  Gerechtigkeit  in 
der  Volkswirtschaft"    (Zur   Sozial-    und  Gewerbepolitik    der  Gegenwart). 

■')  Ingram,   Geschichte  der  Volkswirtschaftslehre  S.   332. 

^)  Eine  vortreffliche  Übersicht  über  die  bisherigen  Leistimgen  der 
Soziologie  giebt  der  i.  Band  des  Werkes  von  P.  Barth:  ,,Die  Phi- 
losophie der  Geschichte  als  Soziologie." 


—     88     — 

leugnen,  dass  die  Soziologie  in  der  Gegenwart  eine 
graciezu  gefährliche  Bedeutung  erlangt  hat.  Diese 
Bedeutung  verdankt  sie  nicht  ihren  Resultaten,  die 
noch  ziemlich  zweifelhafter  Natur  sind,  sondern  dem 
Interesse,  das  ihrem  Objekte,  der  Gesellschaft,  ange- 
sichts der  sozialen  Frage  dargebracht  wird.  Es  geht 
heute  mit  der  Soziologie  wie  seiner  Zeit  mit  dem 
Darwinismus:  alle  Probleme  scheinen  in  ihr  die 
Lösung  zu  finden.  Was  sich  eine  besondere  wissen- 
schaftliche Empfehlung  geben  will,  setzt  sich  mit 
der  Soziologie  in  Verbindung.  Die  Philosophie  der 
Geschichte  kann  nach  Barth  nur  als  Soziologie  be- 
handelt werden,  und  doch  sollte  schon  der  total  ver- 
schiedene Ursprung  dieser  beiden  DiszipHnen  und  da- 
mit verbunden  ihre  verschiedenen  Erkenntnisziele  diese 
Gleichsetzung  unmöglich  machen.  —  Die  Religion 
wird  von  Xatorp^)  „auf  das  Feld  der  soziologischen 
Probleme"  hin  übergeführt ,  und  in  dem  Werke  von 
Ludwig  Stein:  „Die  soziale  P>age  im  Lichte  der 
Philosophie"  münden  schliesslich  alle  Probleme  des 
Geisteslebens  in  die  Soziologie. 

Das  bedeutet,  dass  das  Geistesleben,  da  es  seine 
Verwirklichung  auch  in  der  Gesellscliaft  findet,  als  ein 
soziales  Problem  betrachtet  wird  und  als  solches  wird 
es  zum  Gegenstand  der  Soziologie.  „Alle  sozialen 
Probleme  münden  nämhch  letzten  Endes  in  die  eine 
Frage  aus,  unter  welchen  Bedingungen  das  Zusammen- 
leben und  Zusammenwirken  wirtschaftlich  und  kulturell 
vorgeschrittener  Individuen  und  sozialer  Gruppen  ge- 
stellt werden  müsse,  damit  die  zu  schaffende  gesell- 
schaftliche   Organisation    sich    in    einem    alle    Glieder 


')  Paul    Natorp:     Religion    innerhalb    der  Grenzen  der  mensch- 
lichen Humanität,  Vorrede  S.    VII. 


-     89     - 

dieser  Gesellschaft  möglichst  zufriedenstellenden  Gleich- 
gewicht befinde.  Alle  diese  Fragen  aber  berühren 
sich  durchweg  mit  denjenigen  Problemen,  welche 
die  heutige  Soziologie  als  ihre  eigene  Domäne  be- 
trachtet" 1). 

Also  der  terminus  ad  quem,  unter  dem  die  So- 
ziologie das  Geistesleben  betrachtet,  ist  die  soziale 
Nützlichkeit.  Comte  hat  damit  im  grossen  Stil  be- 
gonnen, als  er  die  Ideen  der  Vergangenheit  weniger 
nach  ihrem  Wahrheitsgehalt  beurteilt  wissen  wollte  als 
nach  ihrer  Brauchbarkeit  für  soziale  Zwecke.  Seine 
Verehrung  des  Katholizismus  beruht  nicht  auf  der 
Anerkennung  der  Wahrheit  dieses  religiösen  Systems 
sondern  auf  der  hohen  Schätzung  des  Katholizismus 
als  organisierendes  Prinzip  der  Gesellschaft.  Damit 
tritt  die  Wahrheitsfrage  des  Geisteslebens  zurück  vor 
einem  utilitaristischen  Beurteilungsprinzip.  Von  hier 
aus  ist  es  nur  ein  Schritt  die  Wahrheitsfrage  ganz  zu 
eliminieren  und  das  Geistesleben  nur  unter  dem  Ge- 
sichtspunkt zu  betrachten,  welche  Aufgabe  es  in  der 
sozialen  Evolution  zu  erfüllen  habe  —  wie  es  heute 
thatsächlich  geschieht. 

Was  sich  daraus  für  das  Geistesleben  und  damit 
für  die  Kultur  ergiebt,  können  wir  am  besten  an  der 
Behandlung  der  Religion  verfolgen,  wo  die  ganze  Un- 
geheuerlichkeit, das  Geistesleben  rein  als  soziologisches 
Problem  zu  nehmen,  besonders  deutlich  wird. 

Kidd  präzisiert  diesen  Standpunkt  sehr  gut  mit 
den  Worten:  „Man  könnte  versucht  sein  in  dem  Stand- 
punkt, den  das  soziale  Denken  erreicht  hat,  eine  mehr 
oder  weniger  unbewusste  Anerkennung  dafür  zu 
finden,    dass    die   Religion    eine    ganz    bestimmte   Auf- 


^)  Stein,    Die    soziale    Frage    im    Lichte    der    Philosophie    S.    14. 


—     go     — 

gäbe  in  der  Menschheit  zu  erfüllen  habe,  und  dass  sie 
in  ^  der  sozialen  Entwicklung  ein  mächtiger  Faktor 
irgend  einer  Art  sei.  Allein  welches  diese  Aufgabe 
sei,  wo  sie  beginnt,  wo  sie  aufhört  und  welche  Stellung 
Religion  und  Glaube  in  der  Zukunft  einzunehmen  be- 
stimmt sind,  darüber  giebt  uns  die  Wissenschaft  keinerlei 
Aufschluss"  1). 

Auf  S.   i6  heisst  es  dann  weiter: 

„Wir  leben  in  einer  Zeit,  wo  die  Wissenschaft 
nichts  für  unbedeutend  ansieht.  Was  sind  denn  nun 
diese  Religionssysteme,  die  einen  so  hervorragenden 
Platz  im  Leben  und  in  der  Geschichte  einnehmen? 
Was  ist  ihr  Sinn,  ihre  Aufgabe  in  der  sozialen  Ent- 
wicklung? Die  Wissenschaft  sagt,  sie  habe  nichts  mit 
der  Religion  zu  schaffen,  da  der  religiöse  Glaube 
durchaus  nicht  vernunftgemäss  sei." 

„Nun  wer  den  Geist  des  Darwinismus  erfasst  hat, 
dem  ist  es  klar,  dass  das  gar  nicht  die  Frage  ist,  um 
die  es  sich  handelt.  Die  richtige,  wirklich  bedeutungs- 
volle Frage  ist  nicht,  ob  eine  Handvoll  noch  so  gelehrter 
Männer  der  Meinung  ist,  dass  der  Glaube  nicht  ver- 
nunftgemäss sei,  sondern  die,  ob  die  Religion  in  der 
Menschheitsentwicklung  eine  Aufgabe  zu  erfüllen  habe. 
Wenn  dies  der  Fall  ist  ...  .  dann  kann  nichts 
gewisser  sein ,  als  dass  diese  ganze  Evolution  vom 
menschlichen  Meinen  unabhängig  ihren  Weg  geht, 
dass  die  Religion  nicht  nur  nicht  aufhört,  sondern  in 
Zukunft  eine  voraussichtlich  gleich  grosse  Rolle  spielen 
wird  wie  bisher."     (S.  19.) 

Kidd  findet  nun  in  der  Religion  „eine  Glaubens- 
form, welche  eine  über  die  Vernunft  hinausgehende 
Normierung  für  die  grosse  Reihe  von  Phallen  im  Ver- 


')  Kidd,  Soziale  Evolution  S.    16. 


—     91     — 

halten  des  Indixiduums  schafft,  wo  dessen  Interessen 
und  die  Interessen  des  sozialen  Organismus  im  Wider- 
streit mit  einander  stehen  und  durch  welche  die  ersteren 
den  letzteren  unterworfen  werden  im  allgemeinen 
Interesse  der  Evolution,  welche  die  Rasse  durchmacht." 
(S.  97.)  Da  nun  nach  Kidd  das  Ziel  der  menschlichen 
Evolution,  welche  einen  Teil  der  kosmischen  Evolution 
darstellt,  in  der  immer  stärkeren  Ausbildung  des 
Altruismus  besteht,  dieser  aber  in  einer  Welt  des 
egoistischen  Kampfes  ums  Dasein  durch  den  Verstand 
nicht  gestützt  und  begründet  werden  kann,  so  muss 
die  Religion  oder  besser  der  religiöse  Instinkt  natur- 
notwendig zur  Erhaltung  des  Altruismus  die  mensch- 
liche Evolution  begleiten  1).  — 

Wir  können  hier  an  einem  extremen  Beispiel  die 
einzelnen  Züge  des  Versozialisieren  s  der  geistigen 
Probleme  erkennen. 

I.  Den  Ausgangspunkt  bildet  die  Frage:  Was 
leistet  die  Religion  für  die  soziale  Entwicklung?  Diese 
Frage  wird  nicht  nur  von  naturalistischer  Seite  sondern 
auch  von  idealistischer  Seite  aufgenommen,  um  die 
Rehgion  zu  erhalten.  Es  ist  belehrend  an  diesem 
Punkt  Kidd  und  Balfour-)  gegenüberzustellen. 

Kidd:  Die  Religion  bleibt  erhalten,  weil  sie  in 
den  Gesetzen  des  natürlichen  Fortschritts  ruht. 

Balfour:  Die  Religion  muss  erhalten  bleiben, 
wenn  die  Gesellschaft  nicht  aus  den  Fugen  gehen  soll. 

Kidd:  Der  religiöse  Instinkt  ist  vorhanden.  Ob 
der  durch  ihn  her  vorgetriebene  Vorstellungsinhalt  w^ahr 


^)  Vgl.  dazu  ,,The  religious  instinct"  von  H.  R.  Marshall  in 
Mind  No.  21  und  22  (1897J,  wo  beinahe  dieselben  absonderlichen  An- 
schauungen entwickelt  sind. 

-)  The  foundations  of  belicf. 


oder   falsch   ist,   thut  nichts  zur  Sache.     Zur  Evokition 
der  Gesellschaft  gehört  die  Religion. 

Balfour:  Die  Religion  ist  wahr,  weil  die  Wissen- 
schaft sie  nicht  widerlegen  kann,  und  weil  nur  durch 
die  Religion  das  menschliche  Zusammenleben  mög- 
lich ist. 

2.  Die  Religion  verliert  ihre  Selbständigkeit  bei 
Kidd  an  die  Biologie,  bei  Natorp  an  die  Huma- 
nität, bei  den  Ökonomisten  an  den  wirtschaftlichen 
Prozess. 

3.  Ein  einzelnes,  meist  äusserliches  Moment  der 
Religion,  das  mehr  eine  Wirkung  der  Religion  ist  als 
diese  selbst,  das  aber  grade  in  die  Anschauungen  des 
Autors  hineinpasst,  wird  zum  Wesen  der  Religion  ge- 
macht.    So  bei  Kidd  der  Altruismus. 

4.  Man  diktiert  von  den  sozialen  Zwecken  aus, 
die  man  für  die  wichtigsten  hält,  der  Religion,  das, 
was  sie  sein  und  leisten  soll. 

5.  Verlangen  Natorp  und  Stein  von  der  Religion, 
dass  sie  jeden  Transzendenzanspruch  aufgebe  und  die 
Idee  der  Menschheit  zu  ihrem  Objekt  nehme.  — 

Was  wir  hier  für  die  Religion  gezeigt  haben,  das 
gilt  auch  für  das  Ganze  des  Geisteslebens.  W^ir  sind 
mit  dem  Versozialisieren  der  geistigen  Probleme  auf 
die  Stufe  der  Zivilisation  zurückgeworfen,  denn  in  der 
Zivilisation  ist  das  Geistesleben  im  Dienste  sozialer 
und  ökonomischer  Zwecke,  während  in  der  Kultur 
ökonomische  und  soziale  Zwecke  im  Dienste  des  Geistes- 
lebens stehen.  — 

Das  Versozialisieren  der  geistigen  Probleme  er- 
reicht auch,  abgesehen  von  der  theoretischen  Unhalt- 
barkeit,  gar  nicht  das,  was  es  bezweckt.  Wenn  z.  B. 
Stein  der  Religion    dadurch   einen   grösseren  Einfluss 


—     93      — 

gewinnen  will,  dass  er  sie  auf  das  Niveau  der  sozialen 
Bewegung  herabzieht,  also  auf  ein  Niveau,  wo  nur  der 
äussere  Erfolg  etwas  gilt,  so  wird  die  Religion  hier 
etwas  rein  Akzidentelles,  das  jede  aufrüttelnde  und 
revolutionierende  Kraft  verliert.  Den  geistigen  Pro- 
blemen wird  die  bohrende  Spitze  abgebrochen,  wenn 
sie  in  einen  ihnen  völHg  heterogenen  Zusammenhang 
hineingestellt  werden.  Wir  sehen  das  ja  heute  über- 
all an  den  spontan  auftretenden  religiösen  und  ethi- 
schen Bewegungen.  Dadurch  dass  diese  sich  nicht  in 
den  Zusammenhang  einer  festgeschlossenen  idealistischen 
AVeltanschauung  stellen ,  um  von  dort  aus  geistige 
Wirkungen  auf  die  Zeit  auszuüben,  werden  sie  von 
den  verschiedensten  Tendenzen  hin  und  hergezogen, 
bis  sie  schliesslich  von  der  sozialen  Bewegung  aufge- 
sogen werden,  um  in  dieser  ein  kümmerliches,  wirkungs- 
loses Dasein  zu  fristen.  — 

Das  Geistesleben  darf  nicht  direkt  dem  alles  be- 
herrschenden Zug  zum  Sozialen  folgen,  wenn  es  seine 
Kraft  wiedergewinnen  und  bewahren  will.  Wenn 
Kuenen  fordert,  dass  die  Religion  neue  Verbindungen 
eingehen  soll^),  so  möchten  w4r  dagegen  fordern,  dass 
die  Rehgion  dem  Bewusstsein  der  Zeit  erst  wieder 
in  ihrer  schroffen  Selbstherrlichkeit  als  etwas  in  sich 
Selbständiges  und  Unableitbares  eingeprägt  werde. 
Dann  erst  kann  sie  in  fruchtbringender  Weise  neue 
Verbindungen  eingehen.  Nichts  ist  heute  der 
Religion  notwendiger  als  sie  aus  den  rostig  ge- 
wordenen Legierungen  des  Sozialen,  Evolutionisti- 
schen, Politischen,  Künstlerischen  auszuschmelzen  und 
zu  befreien.  Eine  scharfe  Analyse  ist  notwendig  vor 
der  Synthese. 


')  Kuenen,   Volksreligion  und  Weltreligi 


—      94      — 

Die  Fragen  unserer  geistigen  Existenz  müssen 
sich  erst  wieder  einmal  rein  aussprechen;  das  Geistes- 
leben muss  seine  Forderungen  ohne  jede  Rücksicht- 
nahme entwickeln. 

Daraus  mögen  sich  spröde  Gegensätze  gegen 
das  soziale  Leben  ergeben  und  die  Kompromissver- 
suche mögen  sich  schwieriger  gestalten,  aber  jeder 
Kompromiss,  den  das  Geistesleben  eingehen  muss, 
ist  ein  fauler  Kompromiss,  wenn  das  Bewusstsein  der 
innersten  Gegensätzlichkeit  fehlt.  — 


Lebensabriss. 


Geboren  zu  Hamburg  1873  besuchte  ich  daselbst 
die  Höhere  Bürgerschule,  dann  das  Realgymnasium 
des  Johanneums,  wo  ich  im  Jahre  1893  mein  Abiturien- 
tenexamen absolvierte.  Ich  bezog  im  Sommersemester 
1894  die  Universität  Berlin  und  studierte  an  derselben 
bis  zum  Sommersemester  1896  moderne  Philologie, 
Philosophie  und  Geschichte.  Dann  ging  ich  nach 
Jena,  wo  ich  mich  als  stud.  philos.  einschreiben  liess. 
Neben  meinen  philosophischen  Fachstudien  trieb  ich 
hier  u.  a.  hauptsächlich  Nationalökonomie  und  Geo- 
graphie. Ich  promovierte  Sommersemester  1898  auf 
Grund  vorliegender  Dissertation.  An  dieser  Stelle 
möchte  ich  dem  Herrn  Geh.  Hofrat  Prof.  Dr.  Lieb- 
mann  und  den  Herren  Professoren  Pierstorff  und 
Regel  noch  einmal  danken  für  die  vielen  Anregungen, 
die  ich  von  ihnen  empfangen  habe.  Herrn  Prof. 
Dr.  Eucken  fühle  ich  mich  tief  verpflichtet  als  dem 
hochverehrten  Lehrer  und  Förderer  meiner  philo- 
sophischen Studien. 

Jena,  27.  JuH  1898. 

Julius  Goldstein. 


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HM  Gold  stein,   Julius 

^01  Untersuchungen  zum 

G6  Kulturproblem  der  Gegenwart