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Full text of "Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie"

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Untersuchungen 


zur 


Gegenstandstheorie  und  Psychologie. 


Mit  Unterstützung  des  k.  k.  Ministeriums  für  Kultus 
und  Unterricht  in  Wien 

herausgegeben  von 

A.  Meinong. 


Leipzig. 

Verlag  von   Johann   Ambrosius   Barth. 
1904. 


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Zum  zehnjälirigen  Bestände 


des 


Psychologischen  Laboratoriums 


der  Universität  Graz. 


Vorwort. 


Es  war  gegen  Ende  des  Jahres  1894,  daß  nach  Vollendung- 
des  neuen  Hauptg-ebäudes  der  Grazer  Universität  Österreichs  erstes 
psychologisches  Institut  seine  ersten,  damals  freilich  noch  recht 
knapp  bemessenen  Räume  bezog-.  Schnell  schreitet  die  Zeit,  und 
fast  will  es  nicht  mehr  gelingen,  sich  in  die  Verhältnisse  zurück- 
zuversetzen, die  einst  die  Gründung  dieses  Institutes  zu  keiner 
ganz  leichten  Sache  machten,  —  insbesondere  in  die  Gedanken  und 
Stimmungen,  aus  denen  heraus  damals  ernst  denkende  Natur- 
forscher gegen  eine  Veranstaltung  zum  Betriebe  experimenteller 
Psychologie  im  Namen  vermeintlich  bedrohter  Nachbarwissen- 
schaften Bedenken  erheben  zu  sollen  meinten.  Die  Bedenken  sind 
geschwunden  oder  doch  in  den  Hintergrund  getreten:  das  anfäng- 
liclie  Mißtrauen  gegen  Unerhörtes  oder  doch  Unbekanntes  macht 
natürlichen  Ireundnachbarlichen  Beziehungen  Platz;  ja  die  experi- 
mentelle Psychologie  scheint  auf  dem  Wege,  eine  populäre  Wissen- 
schaft zu  werden,  seit  es  ihr  gelingt,  mit  den  Bedürfnissen  des 
praktischen  Lebens  engere  und  hoifentlich  immer  enger  werdende 
Fühlung  zu  nehmen.  Speziell  in  Österreich  ist  das  Grazer  psycho- 
logische Laboratorium  auch  nicht  mehr  das  einzige  geblieben:  be- 
reits vor  Jahr  und  Tag  hat  in  Innsbruck  eine  schöne  Experimental- 
arbeit  ein  junges  Institut  inauguriert,    dem   nunmehr    auch  ge- 


yj  Vorwort. 

eignete  Räume  gestatten,  seine  Tätigkeit  voll  zu  entfalten; 
an  anderen  österreicliisclien  Universitäten  ist  die  Gründung  psycho- 
logischer Institute  entweder  schon  tatsächlich  in  Vorbereitung 
oder  sie  zälilt  doch  mindestens  zu  den  ausdrücldich  erhobenen 
Desideraten  der  betreffenden  Fakultäten.  Darf  au  solchem  Wandel 
der  Dinge  das  Grazer  psychologische  Laboratorium  sich  jenen 
Anteil  beimessen,  der  einerseits  der  Beschaffenheit  der  aus 
diesem  Institute  hervorgegangenen  Arbeiten,  andererseits  der 
sonst  wohlbegründeten  Präsumtion  zugunsten  des  Einflusses 
eines  Präzedens  gemäß  ist,  dann  werden  die  zehn  ersten  und 
sicherlich  in  mehr  als  einer  Hinsicht  schwierigsten  Arbeitsjahre, 
die  das  Grazer  Institut  nun  demnächst  hinter  sich  hat,  keine  er- 
folglosen gewesen  sein,  und  der  Abschluß  dieses  ersten  Dezenniums 
mag  denkwürdig  genug  erscheinen,  das  Gedächtnis  an  die  darin 
in  Angriff  genommene  und  der  Hauptsache  nach  hoffentlich  auch 
geleistete  Arbeit  durcli  —  neue  Arbeit  zu  begehen. 

In  dieser  Meinung  sind  zehn  Untersuchungen  zum  gegen- 
wärtigen Bande  vereinigt  worden,  welche  die  Jüngsten  aus  dem 
Kreise  derjenigen  philosophischen  Forscher  zu  Autoren  haben,^) 
die  sich  dem  Grazer  psychologischen  Institute  (uud  was  diesem 
an  mehr  oder  weniger  formlosen  Veranstaltungen  vorangegangen 
ist)  zugehörig  fühlen.  Für  die  Gesinnung,  in  der  die  nachstehenden 
Abhandlungen  ihrem  Zwecke  zur  Verfügung  gestellt  worden  siud, 
an  diesem  Orte  herzlich  zu  danken,  hat  wohl  vor  allem  derjenige 
die  Pflicht,  für  den  die  Gründung  des  Grazer  Institutes  ein  Stück 
Lebensarbeit  ausgemacht  hat,  wie  man  sie  nur  einmal  verrichtet. 
Nicht  minder  obliegt  ihm  aber  auch,  dankbar  des  fördernden  An- 
teiles der  obersten  Unterrichtsbehörde  zu  gedenken,  ohne  den 
natürlich  alle  Bemühungen  um  Begründung  oder  Erhaltung  eines 
Universitätsinstitutes  aussichtslos  gewesen  wären,  wie  denn  auch 


')  Eine  Ausnahme   macht  nur  die  kleine  Studie  Nr.  I,  die  zur  Einführung 
von  Nr.  II  nnd  III  unentbehrlich  schien. 


Vorwort.  VI! 

ohne  denselben  die  g-egenwärtig-e  Publikation  trotz  des  bewährten 
Entg-eg-eukommens  der  Verlagsbuchhandlung;  Johann  Ambrosiüs 
Barth  nicht  wohl  hätte  zustande  kommen  können. 

Zur  näheren  Charakteristik  dessen,  was  hiermit  unter  dem 
Namen  von  „Untersuchungen  zur  Gegenstandstheorie  und  Psj^cho- 
logie"  den  Fachgenossen  vorgelegt  wird,  mögen  nun  hier  noch 
einige  Bemerkungen  am  Platze  sein.  Vor  allem  könnte  es  im 
Hinblick  auf  den  eben  berührten  Anlaß  dieser  Veröftentlichung 
auffallen,  daß  sich  dieselbe  nicht  auf  das  Gebiet  der  Psychologie 
beschränkt  hat.  Aber  darin  möchte  vielleicht  in  nicht  unange- 
messener Weise  ein  Grundsatz  zum  Ausdruck  gelangt  sein,  unter 
dem  bisher  im  Grazer  psychologischen  Laboratorium  jederzeit  ge- 
arbeitet worden  ist.  Wir  alle  sind  stets  der  Meinung  gewesen, 
daß  das  psychologische  Experiment  niemals  Selbstzweck  ist,  daß 
es  vielmehr  im  Dienste  der  Aufgaben  psychologischer  Theorie  steht, 
und  diese  selbst  zwar  ein  grundlegendes  Konstituens,  einen  inte- 
grierenden Teil,  aber  eben  doch  nur  einen  Teil  ausmacht  innerhalb 
der  Gesamtheit  der  eng  verwandten,  unter  dem  Namen  „Philo- 
sophie" vereinigten  Wissenschaften.  Demgemäß  ist  das  Grazer 
psychologische  Laboratorium  als  das  eine  der  zwei  an  dieser 
Universität  bestehenden  „philosophischen  Institute"  mit  dem  zweiten 
derselben,  dem  philosophischen  Seminar,  äußerlich  zwar  nur  durch 
eine  Art  Union  in  der  Person  des  bisherigen  Vorstandes,  dafür 
aber  innerlich  um  so  enger  durch  die  Einrichtung  der  beiden  Ver- 
anstaltungen und  den  darin  zum  Herkommen  gewordenen  Wissen- 
schaftsbetrieb verbunden.  So  ist  denn  auch  die  „Gegenstands- 
theorie" in  den  Bäumen  des  Grazer  psychologischen  Laboratoriums 
kein  Fremdling  geblieben :  und  sind  die  folgenden  Untersuchungen 
I— III  auch  geradezu  darauf  aus,  der  „Gegenstandstheorie"  die 
neue  Position  einer  eigenen  und  namentlich  der  Psychologie  gegen- 
über selbständigen  philosophischen  Disziplin  zu  sichern,  so  ist  das 
ein  Beginnen,  durch  das  sich  die  Psychologie,  wie  sie  im  Grazer 
Laboratorium    bisher    betrieben    worden    ist,    sowohl    ihren    ent- 


Yj-rr  Vorwort. 

fernteren  als  auch  ihren  näheren  Zielen  nach  in  ausgiebigster 
Weise  gefördert  gefunden  hat  Sind  also  auch  die  nachstehenden 
Untersuchungen,  als  ein  Ganzes  betrachtet,  nicht  so  sehr  aus 
dem  Grazer  „psychologischen  Laboratorium"  als  aus  den  Grazer 
„philosophischen  Instituten"  hervorgegangen,  so  wird  das  Labo- 
ratorium sich's  wohl  gern  gefallen  lassen  dürfen,  wenn  ihm  zum 
Dank  für  den  immer  neu  belebenden  Kontakt  mit  der  ex- 
perimentellen Empirie  das  Seminar  das  Beste  zueignet,  was  es 
zur  Zeit  durch  außerexperimentelle  Forschung  zutage  zu  fördern 
imstande  war. 

In  welchem  Sinne  übrigens  in  den  Abhandlungen  II  und  III 
von  „Gegenstandstheorie"  die  Rede  ist  und  wie  in  dieser  Theorie 
gerade  Interessen  zur  Geltung  kommen  möchten,  die  mehr  oder 
minder  unbewußt  bereits  für  eine  ganze  Reihe  von  Grazer  Arbeiten 
maßgebend  gewesen  sind,  darüber  genauer  Rechenschaft  zu  geben 
war  die  Absicht,  in  der  die  Abhandlung  I  den  übrigen  vorange- 
stellt worden  ist:  auf  sie  darf  daher  auch  hier  verwiesen  werden. 
In  betreff  der  die  zweite  Hälfte  des  vorliegenden  Bandes  füllenden 
psychologischen  Untersuchungen  ist  bei  der  Mehrzahl  derselben 
die  Verbindung  mit  älteren  Grazer  Arbeiten  ohne  weiteres  er- 
sichtlich. Die  Abhandlung  über  Vorstellungsproduktion  (VIII)  be- 
handelt ja  die  psychologische  Seite  der  Fundierung.  Die  beiden 
Abhandlungen  zur  Psychologie  des  Gestalterfassens  (V  und  VI) 
schließen  sich,  von  ihren  Beziehungen  zur  Angelegenheit  der  Gegen- 
stände höherer  Ordnung  ganz  abgesehen,  an  die  im  Grazer  Labora- 
torium durchgeführten  und  bereits  veröffentlichten  Experimente 
St.  WiTASEKs  und  \.  Benussis  an.  Die  Darlegungen  über  Phan- 
tasiegefühle und  Phantasiebegehrungen  (XI)  erörtern  die  Frage 
nach  emotionalen  P^rlebnissen,  die  sich  zu  Gefühlen  und  Begehrungen 
verhalten  wie  die  von  mir  bereits  näher  untersuchten  „Annahmen" 
■/AI  den  i:rteilen.  Die  Abhandlung  X  endlich  fördert  die  von 
Graz  ausgegangenen  wertpsychologischen  Forschungen  durch  ein- 


Vorwort.  JX 

gehende  kritische  Würdig-ung-  einer  besonders  beachtenswerten  lite- 
rarischen Vertretung-  des  Voluntarismus  in  der  Werttheorie. 

Um  vieles  äußerlicher  hängen  die  beiden  farbenpsycholog-ischen 
Arbeiten  VII  und  IX  mit  den  Versuchen  zusammen,  aus  denen 
meine  „Bemerkungen  über  den  Farbenkörper  und  das  Mischungs- 
gesetz" hervorgegangen  sind.  Am  losesten  erscheint  mit  Themen, 
die  von  den  Grazer  philosopliischen  Instituten  aus  bislier  lite- 
rarisch behandelt  wurden ,  die  Arbeit  über  die  Ökonomie  des 
Denkens  (IV)  verbunden,  zugleich  diejenige  unter  den  vor- 
liegenden Abhandlungen,  die  unter  den  Gesamttitel  des  Buches 
sich  nicht  zwanglos  subsumieren  läßt.  Hoftentlich  wird  niemand 
an  dieser  im  Interesse  der  Kürze  kaum  vermeidlichen  Benennung 
„a  potiori*'  Anstoß  nehmen.  Der  Stolf  der  Denkökonomie  selbst 
aber  hat  das  Seminar  in  den  Diskussionen  des  Sommers  1902 
(ähnlich  wie  die  voluntaristische  Werttheorie  des  „Gefallens"  im 
Winter  1903/4)  eingehend  beschäftigt,  so  daß  sicher  auch  hier, 
unbeschadet  der  Individualität  und  Selbständigkeit  des  Autors, 
das,  was  man  den  „genius  loci"  der  Grazer  philosophischen 
Institute  nennen  könnte,  mit  zum  Worte  kommt. 

Ob  dieser  Genius  freilich  ein  guter  war  und  ist  oder  ein 
schlimmer?  Wer  die  Aufgabe  hatte,  ihn  während  dieses  ersten 
Jahrzehnts  und  eigentlich  noch  viel  länger  zu  pflegen  und  wohl 
auch  nach  bestem  Wissen  zu  lenken,  dem  darf  diese  Frage  nahe 
genug  gehen,  und  kaum  würde  er  sich  zu  verantworten  vermögen, 
wäre  es  ein  anderer  Geist  als  der  strengster  Wissenschaftlichkeit 
und  zugleich  weitest  gehender  Toleranz  innerhalb  der  Grenzen 
solcher  M'issenschaftlichkeit.  Sollte  dieser  Geist  auch  noch  außer- 
dem, trotz  grundsätzlicher  Achtung  einer  jeden  Forscherindivi- 
dualität als  solcher,  in  charakteristischer  Weise  zur  Geltung  ge- 
langt sein,  so  mag  billig  der  Zukunft  überlassen  bleiben,  inwie- 
weit unsere  Hoffnung,  nach  rechten  Zielen  die  rechten  Wege  ein- 
geschlagen zu  haben,  sich  bewährt  oder  nicht.  Möge  sich  also  im 
zweiten  Jahrzehnt  als  tragfähig  erweisen,  was  das  erste  Jahrzehnt 


X  Vorwort. 

gebaut  hat.  und  möchte,  wer  dann  das  dritte  Dezennium  unseres 
Institutes  zu  inaugurieren  berufen  sein  wird,  ebenso  arbeitstüchtige 
und  arbeitswillige  Kräfte  an  seiner  Seite  wissen,  wie  sich  solcher 
derzeit  das  Grazer  psychologische  Laboratorium  als  bester  Bürg- 
schaft künftiger  Erfolge  rühmen  darf, 

Wraz,  14.  Oktober  1904. 

Der  Herausgeber. 


Inhaltsübersicht. 

(Eingehendere  Inhaltsangaben  gehen  jeder  einzelnen  Abhandlung  voraus.) 


Seite 

Vorwort V 

Inhaltsübersicht XI 

I.   Über  Gegenstaudstheorie.     Von  A.  Meinong 1 

II.   Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie.    Von  Dr.  Rudolf 

Ameseder 51 

III.  Untersuchungen  zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.     Von  Dr.  Ernst 
Mally 121 

IV.  Über  Ökonomie  des  Denkens.     Von  Dr.  Wilhelm  Fhankl      ....  263 
V.   Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.     (Die  MüLLER-LYEßsche  Figur.) 

Von  Dr.  Vittorio  Benussi 303 

VI.   Die  verschobene  Schachbrettfigur.     Von   Dr.   Vittokto   Benussi   und 

Wilhelmine  Liel 449 

VII.   Ein   neuer  Beweis   für  die  spezifisclie  Helligkeit   der   Farben.     Von 

Dr.  Vittorio  Benussi 473 

VIII.   Über  Vorstellungsprodnktion.     Von  Dr.  Rudolf  Ameseder     ....  481 
IX.   Über  absolute  Auffälligkeit  der  Farben.     Von  Dr.  Rudolf  Ameseder  509 
X.  Gegen  eine  voluntaristische  Begründung  der  Werttheorie.     Von  Wil- 
helmine Liel 527 

XI.  Über  die  Natur  der  Phantasiegefühle  und  Phantasiebegehrungen.    Von 

Dr.  Robert  Saxinger 579 

Register 607 


über  Gegenstandstheorie. 


Von 
A.  Meinong. 

Inhalt. 

Seite 

§     1.    Die  Frage 1 

§    2.    Das  Vorurteil  zugunsten  des  Wirklichen 3 

§    3.    Sosein  und  Nichtsein 7 

§    4.    Das  Außersein  des  reinen  Gegenstandes 9 

§     5.    Gegenstandstheorie  als  Psychologie 13 

§    6.    Gegenstandstheorie  als  Theorie  der  Erkenntnisgegenstände 17 

§     7.    Gegenstandstheorie  als  „reine  Logik'' 20 

§    8.    Gegenstandstheorie  als  Erkenntnistheorie 23 

§    9.    Gegenstandstheorie  als  eigene  Wissenschaft 26 

§  10.    Gegenstaudstheoretisches  in  anderen  Wissenschaften.    Allgemeine  und 

spezielle  Gegenstaudstheorie 29 

§  11.    Philosophie  und  Gegenstandstheorie    ...         34 

§  12.    Schlußwort 45 


§  1.    Die  Frage. 

Daß  man  nicht  erkennen  kann,  ohne  etwas  zu  erkennen,  all- 
gemeiner: daß  man  nicht  urteilen,  ja  auch  nicht  vorstellen  kann, 
ohne  über  etwas  zu  urteilen,  etwas  vorzustellen,  gehört  zum  Selbst- 
verständlichsten, das  bereits  eine  ganz  elementare  Betrachtung 
dieser  Erlebnisse  ergibt.  Daß  es  auf  dem  Gebiete  der  Annahmen 
nicht  anders  bewandt  ist,  habe  ich.  obwohl  sich  die  psychologische 
Forschung  ihnen  eben  erst  zugewandt  hat.  fast  ohne  besondere 
Untersuchung   dartim   können.^)     Verwickelter  steht  es   in  dieser 


^)  ,,Über  Annahmen".     Leipzig  1902.     S.  256  f. 
Meiuong,  Untersuchungen. 


2  A.  Meinung. 

Hinsicht  ja  jedenfalls  bei  den  Gefühlen,  wo  wenigstens  die  Sprache 
mit  dem  Hinweise  auf  das,  was  man  fühlt,  etwa  Freude,  Schmerz, 
aucli  wohl  Mitleid,  Neid  etc.,  ohne  Zweifel  einig-ermaßen  irreführt, 
—  und  bei  den  Beg-ehrungen.  sofern  man  da  trotz  des  hier  wieder 
ganz  eindeutigen  Zeugnisses  der  Sprache  ab  und  zu  immer  noch 
auf  die  Eventualität  von  Begehrungen,  durch  die  nichts  begehrt 
wird,  zurückkommen  zu  sollen  meint.  Aber  auch  wer  nicht  meiner 
Meinung  beii)Hichten  sollte,  daß  Gefühle  wie  Begehrungen  insofern 
unselbständige  psychische  Tatsachen  sind,  als  sie  Vorstellungen 
zur  unerläßlichen  „psychologischen  Voraussetzung"  haben. ').  wird 
unbedenklicli  einräumen,  daß  man  sich  über  etwas  freut,  für  etwas 
intei-essiert.  mindestens  in  den  allermeisten  Fällen  nicht  will  oder 
wünscht,  ohne  etwas  zu  wollen  oder  zu  wünschen,  mit  einem  Worte : 
niemand  verkennt,  daß  dem  psychischen  Geschehen  dieses  eigen- 
tümliche „auf  etwas  Gerichtetsein"  so  außerordentlich  häufig  zu- 
kommt, daß  es  mindestens  sehr  nahe  gelegt  ist,  darin  ein  charak- 
teristisches Moment  des  Psychischen  gegenüber  Nicht-Psychischem 
zu  vermuten. 

FiS  ist  indes  nicht  die  Aufgabe  der  nachstehenden  Ausführungen, 
darzulegen,  weshalb  ich  diese  Vermutung  trotz  mancher  ihr  ent- 
gegenstehenden Schwierigkeiten  für  bestens  begründet  halte.  Der 
Fälle,  in  denen  sich  die  Bezugnahme,  ja  das  ausdrückliche  Ge- 
richtetsein auf  jenes  „etwas",  oder,  wie  man  ja  ganz  ungezwungen 
sagt,  auf  einen  Gegenstand  in  durchaus  unzweifelhafter  Weise  auf- 
drängt, sind  so  viele,  daß  auch  im  Hinblick  auf  sie  allein  die 
Fi'age  nicht  dauernd  unbeantwortet  bleiben  sollte,  wem  denn  eigent- 
lich die  wissenschaftliche  Bearbeitung  derartiger  Gegenstände  als 
solcher  obliegt. 

Die  Aufteilung  des  der  theoretischen  Bearbeitung  Würdigen 
und  Bedürftigen  in  verschiedene  Wissenschaftsgebiete  und  die 
sorgfältige  Abgrenzung  dieser  Gebiete  ist  ja  freilich  in  betreif  der 
dadurch  zu  erzielenden  Förderung  der  Forschung  eine  Sache  von 
oft  geringem  praktischen  Belang;  auf  die  Arbeit  kommt  es  ja  am 
Knde  an,  die  geleistet  wird,  und  nicht  auf  die  Flagge,  unter  der 
dies   geschieht.     Aber  Unklarheiten   über    die   Grenzen    der    ver- 


'j  Vgl.   meine  „Psychologisch-ethischen  Untersuchuugeu   zur   Werttheorie",. 
Graz  18534,  S.  34  f.,  auch  Höflkr,  Psychologie  S.  389. 


über  Gegenstandstlieorie.  3 

schiedenen  Wissenschaftsgebiete  können  in  zwei  entgegengesetzten 
Weisen  zur  Geltung  kommen:  entweder  so,  daß  die  Gebiete,  auf 
denen  tatsächlich  gearbeitet  wird,  übereinander  greifen,  oder  so, 
daß  sie  einander  nicht  erreichen,  und  infolgedessen  unbearbeitetes 
Gebiet  inmitten  bleibt.  Die  Bedeutung  solcher  Unklarheiten  aber 
ist  in  der  Sphäre  des  theoretischen  Interesses  genau  die  entgegen- 
gesetzte wie  in  der  Sphäre  des  praktischen.  Hier  ist  die  „neutrale 
Zone"  eine  jederzeit  erwünschte,  nur  selten  realisierbare  Bürg- 
schaft freundnachbarlicher  Beziehungen,  indes  das  Übereinander- 
greifen  angesprochener  Grenzen  den  typischen  Fall  des  Interessen- 
konfliktes darstellt.  Dagegen  ist  im  Bereiche  theoretischer  Arbeit, 
wo  zu  derlei  Konflikten  mindestens  jeder  Rechtsgrund  fehlt,  ob- 
jektiv betrachtet  das  AufeinanderfaUen  von  Grenzdistrikten,  die 
infolgedessen  eventueU  von  verschiedenen  Seiten  her  Bearbeitung 
finden,  höchstens  ein  Gewinn,  das  A  u  s  einanderfaUen  jedoch  stets 
ein  Nachteil,  dessen  Größe  dann  natürlich  von  der  Größe  und 
sonstigen  Bedeutung  des  Zwischengebietes  abhängen  wird. 

Auf  ein  solches  bald  übersehenes,  bald  mindestens  nicht  seiner 
Eigenart  nach  ausreichend  gewürdigtes  Wissensgebiet  hinzuweisen, 
ist  die  Absicht  der  hiermit  aufgeworfenen  Frage,  wo  denn  eigent- 
lich die  wissenschaftliche  Bearbeitung  des  Gegenstandes  als  solchen 
und  in  seiner  Allgemeinheit  ihren  sozusagen  rechtmäßigen  Ort 
hat,  die  Frage  also,  ob  es  unter  den  durch  das  wissenschaftliche 
Herkommen  akkreditierten  Wissenschaften  eine  gibt,  in  der  man 
die  theoretische  Behandlung  des  Gegenstandes  als  solchen  suchen 
oder  von  der  man  sie  wenigstens  verlangen  könnte. 

§  2.    Das  Vorurteil  zugunsten  des  Wirklichen. 

Es  war  kein  Zufall,  daß  die  obigen  Ausführungen,  um  zum 
Gegenstande  zu  gelangen,  vom  Erkennen  ihi'en  Ausgang  nahmen. 
Gewiß,  nicht  nur  das  Erkennen  „hat"  seinen  Gegenstand:  aber 
es  hat  ihn  jedenfalls  in  einer  ganz  besonderen  Weise,  die  es  nahe 
legt,  dort,  wo  vom  Gegenstande  die  Rede  ist.  in  allererster  Linie 
an  den  Gegenstand  des  Erkennens  zu  denken.  Denn  der  psychische 
Vorgang,  den  wir  als  Erkennen  benennen,  macht,  genau  genommen, 
für  sich  aUöin  den  Erkenntnistatbestand  noch  nicht  aus :  Erkennt- 
nis ist  sozusagen  eine  Doppeltatsache,  in  der  dem  Erkennen  das 

1* 


A  A.  Meinong. 

Kikannte  als  »mu  relativ  ^Selbständiges  gegenübersteht,  auf  das 
jenes  nicht  nur,  etwa  in  der  Weise  falscher  Urteile,  gerichtet  ist, 
das  vielmehr  durch  den  psychischen  Akt  gleichsam  ergriffen,  er- 
faßt wird  oder  wie  man  sonst  in  unvermeidlich  bildlicher  Weise 
zu  beschreiben  versuchen  mag,  was  unbeschreiblich  ist.  Faßt 
man  nun  diesen  Erkenntnisgegenstand  ausschließlich  ins  Auge,  so 
stellt  sich  die  eben  aufgeworfene  Frage  nach  der  Wissenschaft 
vom  Gegenstande  fürs  erste  in  wenig  günstigem  Lichte  dar.  Eine 
Wissenschaft  vom  Gegenstande  des  Erkennens:  besagt  dies  denn 
mehr  als  die  Forderung,  das,  was  als  Gegenstand  des  Erkennens 
eben  bereits  erkannt  ist,  nun  zum  Gegenstande  einer  Wissen- 
schaft, somit  ein  zweites  Mal  zum  Gegenstande  des  Erkennens  zu 
machen?  Anders  ausgedrückt:  wird  da  nicht  nach  einer  Wissen- 
schaft gefragt,  die  entweder  durch  die  Gesamtheit  der  Wissen- 
schaften ausgemacht  wird,  oder  noch  einmal  zu  leisten  hätte, 
was  die  sämtlichen  anerkannten  Wissenschaften  zusammen  ohne- 
hin leisten? 

Man  wird  sich  zu  hüten  haben,  auf  solche  Erwägungen  hin 
den  Gedanken  einer  allgemeinen  Wissenschaft  neben  den  Sonder- 
wissenschaften für  wirklich  ungereimt  zu  halten.  Was  den  Besten 
aller  Zeiten  als  letztes  und  vor  allem  würdiges  Ziel  ihres  Wissens- 
triebes vorgeschwebt  hat,  jenes  Erfassen  des  Weltganzen  nach 
seinem  AVesen  und  seinen  letzten  Gründen,  das  kann  doch  nur 
vSache  einer  umfassenden  Wissenschaft  sein  neben  den  Einzel- 
wissenschaften. Wirklich  hat  man  sich  unter  dem  Namen  der 
Metaphj'sik  auch  nichts  anderes  gedacht  als  eine  solche  Wissen- 
schaft: und  sollten  der  getäuschten  Hoffnungen,  die  sich  an  diesen 
Namen  geknüpft  haben  und  knüpfen  werden,  noch  so  viele  sein, 
es  ist  nur  unser  intellektuelles  Unvermögen  und  nicht  die  Idee 
dieser  Wissenschaft,  was  daran  die  Schuld  trägt.  Darf  man 
daraufliin  aber  etwa  so  weit  gehen,  kurzweg  die  Metaphysik  als 
diejenige  Wissenschaft  anzusprechen,  die  die  Bearbeitung  des 
Gegenstandes  als  solchen  resp.  der  Gegenstände  in  ihrer  Gesamt- 
heit zu  ihrer  natürlichen  Aufgabe  hat? 

Wenn  man  der  Tatsache  eingedenk  ist,  wie  die  Metaphysik 
von  jeher  darauf  bedacht  war,  Fernstes  wie  Nächstes,  Größtes  wie 
Kleinstes  in  den  Bereich  ihrer  Aufstellungen  einzubeziehen,  dann 
könnte   es   immerhin   befremden,    daß    die   Metaphysik   die   eben 


über  Gegenstandstheorie.  5 

formulierte  Aufg-abe  deshalb  nicht  auf  sich  nehmen  kann,  weil  sie 
trotz  der  für  ihre  Erfolge  oft  so  verhängnisvoll  gewordenen  Uni- 
versalität ihrer  Intentionen  für  eine  \\'issenschaft  vom  Gegen- 
stande immer  noch  weitaus  nicht  universell  genug  intentioniert 
.ist.  Metaphysik  hat  es  ohne  Zweifel  mit  der  Gesamtheit  dessen 
zu  tun,  was  existiert.  Aber  die  Gesamtheit  dessen,  was  existiert, 
mit  Einschluß  dessen,  was  existiert  hat  und  existieren  wird,  ist 
unendlich  klein  im  Vergleiche  mit  der  Gesamtheit  der  Erkenntnis- 
g-egenstände ;  und  daß  man  dies  so  leicht  unbeachtet  läßt,  hat  wohl 
darin  seinen  Grund,  daß  das  besonders  lebhafte  Interesse  am 
Wirklichen,  das  in  unserer  Natur  liegt,  die  Übertreibung  be- 
g-ünstigt.  das  Nichtwirkliche  als  ein  bloßes  Nichts,  genauer  als 
etwas  zu  behandeln,  an  dem  das  Erkennen  entweder  gar  keine 
oder   doch   keine   würdigen  Angriffspunkte  fände. 

Wie  wenig  eine  solche  Meinung  im  Rechte  ist,  darüber 
orientieren  wohl  am  leichtesten  ideale  Gegenstände, M  die  zwar 
bestehen,  in  keinem  P'alle  aber  existieren,  daher  auch  in  keinem 
Sinne  wirklich  sein  können.  Gleichheit  oder  Verschiedenheit  sind 
z.  B.  Gegenstände  dieser  Art:  vielleicht  bestehen  sie  unter  diesen 
oder  jenen  Umständen  zwischen  Wirklichkeiten;  aber  sie  sind 
nicht  selbst  ein  Stück  Wirklichkeit.  Daß  jedoch  Vorstellen  so 
gut  wie  Annehmen  und  Urteilen  sich  mit  diesen  Gegenständen 
beschäftigt  und  oft  Grund  hat,  sich  sehr  eingehend  damit  zu 
beschäftigen,  steht  natürlich  außer  Frage.  Auch  die  Zahl 
existiert  nicht  neben  dem  Gezählten  noch  einmal,  falls  letzteres 
nämlich  existiert;  man  erkennt  das  deutlich  daran,  daß  man 
auch  zälilen  kann,  was  nicht  existiert.  Desgleichen  existiert 
der  Zusammenhang  nicht  neben  dem  Zusammenhängenden,  falls 
dieses  letztere  nämlich  existiert:  daß  dies  aber  auch  seiner- 
seits gar  nicht  unerläßlich  ist.  das  beweist  etwa  der  Zu- 
sammenhang zwischen  der  Gleichseitigkeit  und  der  Gleich- 
winkeligkeit beim  Dreiecke.  Überdies  verbindet  die  Zusammen- 
hangsrelation auch  dort,  wo  es  sich  um  Existierendes  handelt,  wie 
etwa  Luftbeschaftenheit  und  Thermometer-  oder  Barometerstand, 
zunächst   nicht  so   sehr   diese  ^^'irklichkeiten   selbst   als   vielmehr 


')  Über  den  Sinn,  in  dem  ich  den  sprachgebräuchlich  leider  mehrdeutigen 
Ausdruck  „ideal"  meine  anwenden  zu  sollen,  vgl.  meine  Ausführungen  „Über 
Gegenstände  höherer  Ordnung  etc.",  Zeitschrift  für  Psychologie  Bd.  XXI,  S.  198. 


g  A.  Meinono. 

deren  Sein  oder  wohl  auch  Nichtsein.  Beim  Erkennen  solchen 
Zusammenhanges  hat  man  es  also  bereits  mit  jenem  eigentüm- 
lichen Gegenstandartigen  zu  tun,  von  dem  ich  gezeigt  zu  haben 
hofte,^)  daß  es  den  Urteilen  und  Annahmen  in  ähnlicher  Weise 
gegenübersteht  wie  der  eigentliche  Gegenstand  den  Vorstellungen. 
Ich  habe  dafür  den  Namen  „Objektiv"  vorgeschlagen  und  dar- 
getan, daß  dieses  Objektiv  selbst  wieder  in  die  Funktionen  eines 
eigentlichen  Objektes  eintreten,  insbesondere  Gegenstand  einer 
neuerlichen,  ihm  wie  einem  Objekte  zugewandten  Beurteilung  wie 
sonstiger  intellektueller  Operationen  werden  kann.  Wenn  ich  sage : 
,.es  ist  wahr,  daß  es  Antipoden  gibt",  so  sind  es  nicht  die  Anti- 
poden, denen  die  Wahrheit  zugeschrieben  wird,  sondern  das  Objektiv, 
„daß  es  Antipoden  gibt".  Diese  Existenz  der  Antipoden  aber  ist 
eine  Tatsache,  von  der  jedermann  sofort  einsieht,  daß  sie  zwar  sehr 
wohl  bestehen,  aber  nicht  ihrerseits  sozusagen  noch  einmal  existieren 
kann^  Das  gilt  dann  aber  auch  von  allen  übrigen  Objektiven,  so  daß 
jede  Erkenntnis,  die  ein  Objektiv  zum  Gegenstande  hat,  zugleich 
einen  Fall  von  Erkenntnis  eines  Nichtexistierenden  repräsentirt. 
Was  hier  vorerst  nur  an  vereinzelten  Beispielen  dargelegt 
worden  ist.  dafür  zeugt  nun  eine  ganze  hoch-,  ja  höchstentwickelte 
A\'issenschaft :  die  Mathematik.  Wirklichkeitsfremd  in  dem  Sinne, 
als  ob  sie  mit  dem,  was  existiert,  nichts  zu  schaffen  hätte,  wird 
man  die  Mathematik  sicher  nicht  nennen  wollen:  es  ist  ja  unver- 
kennbar, eine  wie  weite  Anwendungssphäre  ihr  im  praktischen 
Leben  nicht  minder  als  in  der  theoretischen  Bearbeitung  des 
Wirklichen  gesichert  ist.  Dennoch  handelt  rein  mathematische 
P^rkenntnis  in  keinem  einzigen  Falle  von  etwas,  dem  es  wesent- 
lich wäre,  wirklich  zu  sein.  Nirgends  ist  das  Sein,  mit  dem  die 
Mathematik  als  solche  sich  zu  befassen  hat,  Existenz;  nirgends 
geht  sie  in  dieser  Hinsicht  über  Bestand  hinaus:  existiert  doch 
eine  gerade  Linie  so  wenig  wie  ein  rechter  Winkel,  ein  regel- 
mäßiges Polygon  so  wenig  als  ein  Kreis.  Daß  aber  der  mathe- 
matische Sprachgebrauch  unter  Umständen  Existenz  ganz  aus- 
drücklich in  Anspruch  nimmt,-)  kann  doch  nur  für  eine  Besonder- 

')  „Über  Annahmen",  Kap.  VII. 

*)  Vgl.  K.  ZiNDLER,  Beiträge  zur  Theorie  der  mathematischen  Erkenntnis, 
Sitzanj^sberichte  der  kais.  Akademie  der  Wissenschaften  in  Wien,  philos.  bist. 
Kl.  Bd.  CXVIJI,  1889,  S.  33,  auch  53  f. 


über  Gegenstandstheorie.  7 

lieit  eben  dieses  Sprachgebrauches  gelten,  imd  kein  Mathematiker 
dürfte  anstehen,  einzuräumen,  daß,  was  er  von  den  seiner  theo- 
retischen Bearbeitung-  zu  unterwerfenden  Objekten  unter  dem 
Namen  der  „Existenz"  fordert,  am  Ende  doch  nichts  anderes  ist, 
als  was  man  sonst  j.Möglichkeit"  zu  nennen  pflegt,  immerhin  vielleicht 
mit  einer  sehr  beachtenswerten  positiven  Wendung  dieses  gemein- 
hin bloß  negativ  charakterisierten  Begriftes. 

Zusammen  mit  dem  oben  berührten  Vorurteil  zugunsten  der 
Wirklichkeitserkenntnis  läßt  diese  prinzipielle  Unabhängigkeit  der 
Mathematik  von  der  Existenz  eine  Tatsache  verstehen,  die  ohne 
Berücksichtigung  dieser  Momente  billig  befremden  könnte.  Ver- 
suche, die  aufweine  Systematik  der  Gesamtheit  der  Wissenschaften 
abzielen,  finden  sich  der  Mathematik  gegenüber  zumeist  in  einer 
Verlegenheit,  aus  der  dann  mehr  oder  minder  künstliche  Aus- 
kunftsmittel mit  mehr  oder  weniger  (xlück  heraushelfen  müssen. 
Das  steht  im  Grunde  in  auffallendem  Gegensatz  zu  der  Aner- 
kennung, man  darf  geradezu  sagen  Popularität,  die  sich  die  Mathe- 
matik durch  ihre  Leistungen  selbst  in  Laienkreisen  erworben  hat. 
Aber  die  Einordnung  alles  Wissens  in  Natur-  und  Geisteswissen- 
schaft trägt  unter  dem  Scheine  einer  vollständigen  Disjunktion 
eben  nur  demjenigen  Wissen  Rechnung,  das  es  mit  der  Wirklich- 
keit zu  tun  hat:  es  ist  also  näher  besehen  gar  nicht  zu  wundern, 
daß  die  Mathematik  dabei  nicht  zu  ihrem  Rechte  gelangt. 

§  3.    S  0  s  e  i  n  und  N  i  c  li  t  s  e  i  n. 

Es  unterliegt  also  keinem  Zweifel:  was  Gegenstand  des  Er- 
kennens  sein  soll,  muß  darum  noch  keineswegs  existieren.  Indes 
könnten  die  bisherigen  Ausführungen  immer  noch  der  Vermutung 
Raum  geben,  die  Existenz  könne  nicht  nur  durch  den  Bestand 
ersetzt  werden,  sondern  müsse  es  auch,  wo  keine  Existenz  vor- 
liegt. Aber  auch  diese  Einschränkung  ist  unstatthaft.  Das  lehrt 
ein  Blick  auf  die  beiden  eigentümlichen  Leistungen  des  Urteilens 
und  Annehmens,  die  ich  durch  die  Gegenüberstellung  der  „theti- 
schen  und  synthetischen  Funktion"  des  Denkens  \)  festzuhalten 
versucht  habe.    Im  ersteren  FaUe  erfaßt  das  Denken  ein  Sein,  im 


')  „Über  Annahmen",  S.  142  ff. 


8 


A.  Meinong. 


zweiten  ein  ,.8o.sein".  jedesmal  natürlich  ein  Objektiv,  das  ganz 
verständlich  dort  als  Seinsobjektiv,  liier  als  Soseinsobjektiv  be- 
zeichnet werden  mag.  Nun  entspräche  es  gar  wohl  dem  eben 
berührten  Vorurteile  zug-unsten  der  Existenz,  zu  behaupten,  daß 
von  einem  Sosein  jedesmal  nur  unter  Voraussetzung  eines  Seins 
geredet  werden  dürfte.  In  der  Tat  hätte  es  nicht  viel  Sinn,  ein 
Haus  groß  oder  klein,  eine  Gegend  fruchtbar  oder  unfruchtbar  zu 
nennen,  ehe  man  wüßte,  daß  das  Haus  oder  das  Land  existiert, 
existiert  hat  oder  existieren  wird.  Aber  die  nämliche  Wissen- 
schaft, der  wir  oben  die  zahlreichsten  Instanzen  gegen  jenes  Vor- 
urteil entnehmen  konnten,  läßt  auch  besonders  deutlich  die  Un- 
haltbarkeit  eines  solchen  Prinzips  erkennen:  die  Figuren,  von 
denen  die  Geometrie  handelt,  existieren  nicht,  wie  wir  wissen; 
dennoch  sind  ihre  Eigenschaften,  also  wohl  ihr  Sosein.  festzustellen. 
Ohne  Zweifel  wird  auf  dem  Gebiete  des  bloß  a  posteriori  Ei'keun- 
baren  eine  Soseinsbehauptung  sich  gar  nicht  legitimieren  können, 
wenn  sie  nicht  auf  Wissen  von  einem  Sein  gegründet  ist:  und 
ebenso  sicher  mag  dem  Sosein,  das  nicht  ein  Sein  gleichsam  hinter 
sich  liat.  oft  genug  alles  natürliche  Interesse  fehlen.  Das  aUes 
ändert  nichts  an  der  Tatsache,  daß  das  Sosein  eines  Gegenstandes 
durch  dessen  Nichtsein  sozusagen  nicht  mitbetroffen  ist.  Die 
Tatsache  ist  wichtig  genug,  um  sie  ausdrücklich  als  das  Prinzip 
der  Unabhängigkeit  des  Soseins  vom  Sein  zu  formulieren.^)  und 
der  Geltungsbereich  dieses  Prinzips  erheUt  am  besten  im  Hinblick 
auf  den  Umstand,  daß  diesem  Prinzipe  nicht  nur  Gegenstände 
unterstehen,  die  eben  faktisch  nicht  existieren,  sondern  auch 
solche,  die  nicht  existieren  können,  weil  sie  unmöglich  sind.  Nicht 
nur  der  vielberufene  goldene  Berg  ist  von  Gold,  sondern  auch  das 
runde  Viereck  ist  so  gewiß  rund  als  es  Aäereckig  ist.  Einsichten 
von  wirklichem  Belang  wird  man  ja  freilich  in  betreff  solcher 
(legenstände  nur  ausnahmsweise  zu  verzeichnen  haben :  gleichwohl 
dürfte  auch  von  hier  einiges  Licht  auf  Gebiete  fallen,  die  des 
Erkanntwerdens  in  vorzüglichem  Maße  würdig  sind. 

Lehrreicher  jedoch  als  der  Hinweis  auf  derlei  dem  natürlichen 


')  Zuerst  ausgesprochen  von  E.  Mally  in  seiner  durch  den  Wartingerpreis 
1903  gekrönten  Abhandlung,  die  völlig  umgearbeitet  in  Nr.  III  dieser  Unter- 
suchungen vorliegt.    Vgl.  daselbst  Kap.  I,  §  3. 


über  Gegenstandstheorie.  9 

Denken  immerhin  schon  ziemlich  fremdartige  Dinge  ist  die  Er- 
innerung an  die  triviale,  den  Bereich  des  Seinsobjektivs  noch  nicht 
überschreitende  Tatsache,  daß  ein  beliebiges  Nichtseiendes  den 
Gegenstand  mindestens  für  solche  Urteile  abzugeben  imstande  sein 
muß,  die  dieses  Nichtsein  erfassen.  Es  ist  dabei  ganz  unwesentlich, 
ob  dieses  Nichtsein  ein  notwendiges  oder  bloß  tatsächliches  ist,  — 
nicht  minder,  ob  im  ersteren  Falle  die  Notwendigkeit  dem  Wesen  des 
Gegenstandes  oder  ob  sie  Momenten  entspringt,  die  dem  betreffen- 
den Gegenstande  äußerlich  sind.  Um  zu  erkennen,  daß  es  kein 
rundes  Viereck  gibt,  muß  ich  eben  über  das  runde  Viereck  urteilen. 
Wenn  Physik,  Physiologie  und  Psychologis  übereinstimmend  die  so- 
genannte Idealität  der  sensiblen  Qualitäten  behaupten,  so  ist  da- 
mit implicite  sowohl  über  die  Farbe  wie  über  den  Ton  etwas  aus- 
gesagt, nämlich,  daß  es  streng  genommen  jene  so  wenig  gibt  wie 
diesen.  Wer  paradoxe  Ausdrucksweise  liebt,  könnte  also  ganz 
wohl  sagen:  es  gibt  Gegenstände,  von  denen  gilt,  daß  es  der- 
gleichen Gegenstände  nicht  gibt;  und  die  aller  Welt  so  geläufige 
Tatsache,  die  damit  gemeint  ist,  wirft  ein  so  helles  Licht  auf  das 
Verhältnis  der  Gegenstände  zur  Wirklichkeit  resp.  zum  Sein  über- 
haupt, daß  ein  etwas  näheres  Eingehen  auf  die  auch  an  sich 
fundamental  wichtige  Sache  ganz  und  gar  in  den  gegenwärtigen 
Zusammenhang  gehört. 

§  4.   Das  Außer  sein  des  reinen  Gegenstandes. 

Das  Paradoxon,  das  hier  wirklich  vorzuliegen  scheint,  zu  be- 
seitigen, dazu  bietet  sich  der  Rekurs  auf  gewisse  psychische  Er- 
lebnisse ziemlich  natürlich  dar,  und  ich  habe  das  Wesentlichste 
des  Hierhergehörigen  darzulegen  versucht.^)  Demgemäß  wäre, 
wenn  mau  sich  z.  B.  die  eben  erwähnte  Subjektivität  der  sensiblen 
Qualitäten  gegenwärtig  hält,  vom  Gegenstande  etwa  der  Blau- 
vorstellung nur  im  Sinne  einer  Fähigkeit  dieser  Vorstellung  zu 
reden,  der  die  Wirklichkeit  sozusagen  die  Gelegenheit  vorenthält, 
sich  zu  betätigen.  Vom  Standpunkte  der  Vorstellung  besehen, 
scheint  mir  auch  jetzt  noch  damit  etwas  ganz  Wesentliches  ge- 
troffen: aber  ich  kann  mir  heute  nicht  verhehlen,  daß  der  Gegen- 


')  „Über  Annahmen",  S.  98  ff. 


10 


A.  Meinong. 


Stand,  um  nicht  zu  existieren,  das  Vorgestelltwerden  womöglich  noch 
weniger  nötig  hat.  als  um  zu  existieren,  und  daß  selbst,  sofern  er 
darauf  angewiesen  wäre,  aus  dem  YorgesteUtwerden  doch  höchstens 
eine  Existenz  —  die  ,.Existenz  in  der  Vorstellung",  also  genauer  die 
,.Pseudoexistenz"  \)  —  -resultieren  könnte.  Genauer  ausgedrückt: 
wenn  ich  behaupte,  ,.Blau  existiert  nicht",  so  denke  ich  dabei  in 
keiner  Weise  an  eine  Vorstellung  und  deren  etwaige  Fähigkeiten, 
sondern  eben  an  Blau.  Es  ist,  als  ob  das  Blau  erst  einmal  sein 
müßte,  damit  man  die  Frage  nach  seinem  Sein  oder  Nichtsein 
überhaupt  aufwerfen  könne.  Um  aber  nicht  neuerlich  in  Paradoxien 
oder  wirkliche  Ungereimtheiten  zu  verfallen,  mag  etwa  die  Wendung 
gestattet  sein:  Blau  und  ebenso  jeder  andere  Gegenstand  ist  unserer 
Entscheidung  über  dessen  Sein  oder  Nichtsein  in  gewisser  Weise  vor- 
gegeben, in  einer  W^ise,  die  auch  dem  Nichtsein  nicht  präjudiziert. 
Von  der  psychologischen  Seite  könnte  man  die  Sachlage  auch  so 
beschreiben :  soU  ich  in  betreif  eines  Gegenstandes  urteilen  können, 
daß  er  nicht  ist,  so  scheine  ich  den  Gegenstand  gewissermaßen  erst 
einmal  ergreifen  zu  müssen,  um  das  Nichtsein  von  ihm  aussagen, 
genauer  es  ihm  zuurteilen,  oder  es  ihm  aburteilen  zu  können. 

Man  könnte  holten,  diesem  trotz  seiner  Alltäglichkeit  doch, 
wie  man  sieht,  ganz  eigenartigen  Sachverhalte  mit  etwas  mehr 
theoretischer  Strenge  durch  folgende  Erwägung  gerecht  zu  werden. 
Daß  ein  gewisses  A  nicht  ist,  kürzer  das  Nichtsein  des  A  ist,  wie 
ich  an  anderem  Orte  dargelegt  habe.  ^)  ganz  ebensogut  ein  Objektiv, 
wie  das  Sein  des  A :  und  so  gewiß  ich  berechtigt  bin  zu  behaupten, 
daß  A  nicht  ist,  so  gewiß  kommt  dem  Objektiv  „Nichtsein  des  A"' 
selbst  ein  Sein  (genauer,  wie  oben  berührt,  ein  Bestand)  zu.  Nun 
steht  das  Objektiv,  gleichviel  ob  Seins-  oder  Nichtseinsobjektiv, 
seinem  Objekte  doch,  wenn  auch  cum  grano  salis,  ähnlich  gegen- 
über wie  das  Ganze  dem  Teile.  Ist  aber  das  Ganze,  so  wird  wohl 
auch  der  Teil  sein  müssen,  was,  auf  den  Fall  des  Objektivs  über- 
tragen, zu  besagen  scheint:  ist  das  Objektiv,  so  wird  auch  das 
zugehörige  Objekt  in  irgend  einem  Sinne  sein  müssen,  selbst  für 
den  Fall,  daß  jenes  Objektiv  ein  Nichtseinsobjektiv  ist.  Da  aber 
ferner  das  Objektiv  gerade  verbietet,  unser  A  für  seiend  zu  nehmen, 


Vgl.  „tJber  Gegenstände  höherer  Ordnung  etc."  a.  a.  0.  S.  186 f. 
„Über  Annahmen".  Kap.  VII. 


über  Gegenstandstheorie.  11 

wobei,  wie  wir  sahen,  das  Sein  unter  Umständen  nicht  nur  im 
Sinne  von  Existenz  sondern  auch  im  Sinne  von  Bestand  zu  nehmen 
sein  kann,  so  scheint  die  oben  aus  dem  Sein  des  Nichtseinsobjektivs 
erschlossene  Forderung"  eines  Seins  des  Objektes  nur  insofern  Sinn 
zu  haben,  als  es  sich  dabei  um  ein  Sein  handelt,  das  weder  Existenz 
noch  Bestand  ist,  wohl  also  nur  insofern,  als  den  beiden,  wenn 
man  so  sagen  darf,  Stufen  des  Seins,  der  Existenz  und  dem  Be- 
stand, noch  eine  Art  dritter  Stufe  beizuordnen  ist.  Dieses  Sein 
müßte  dann  jedem  Gegenstande  als  solchem  zukommen:  ein  Nicht- 
sein derselben  Art  dürfte  ihm  also  nicht  gegenüberstehen;  denn 
ein  Nichtsein  auch  in  diesem  neuen  Sinne  müßte  sofort  wieder 
die  analogen  Schwierigkeiten  im  Gefolge  haben,  wie  sie  das  Nicht- 
sein im  gewöhnlichen  Sinne  mit  sich  führt  und  zu  deren  Beseiti- 
gung ja  die  neue  Konzeption  in  erster  Linie  zu  dienen  hätte. 
Mir  hat  darum  für  dieses  immerhin  etwas  ungewöhnlich  beschatiene 
Sein  der  Terminus  „Quasisein"  eine  Weile  ein  ganz  brauchbarer 
Ausdruck  geschienen. 

"Was  aber  zunächst  diese  Benennung  anbelangt,  so  hätte  sie 
zusammen  mit  schon  länger  bewährten  Bezeichungen  wie  „Psendo- 
existenz"  und  „Quasitransszendenz" ')  sicher  die  Gefahr  gegen 
sich,  zu  Verwirrungen  Anlaß  zu  geben.  Wichtiger  sind  indes 
sachliche  Erwägungen.  Ein  Sein,  dem  prinzipiell  kein  Nichtsein 
gegenüberstände,  mrd  man  das  überhaupt  noch  ein  Sein  nennen 
können?  Dazu  ein  Sein,  das  weder  Existenz  noch  Bestand  sein 
soll,  —  nirgends  sonst,  soviel  sich  hier  urteilen  läßt,  findet  sich 
Anlaß  zu  einem  derartigen  Postulat:  wird  man  da  nicht  darauf 
bedacht  sein  müssen,  es  auch  in  unserer  Sache,  wo  möglich,  zu 
vermeiden?  Was  dazu  hinzudrängen  schien,  war  ein  freilich 
sicherlich  gut  beobachtetes  Erlebnis:  A  muß  mir,  wie  wir  sahen, 
irgendwie  „gegeben"  sein,  wenn  ich  sein  Nichtsein  erfassen 
soll.  Dies  leistet  aber,  wie  ich  bereits  an  anderem  Orte  daigetan 
habe,-)  eine  Annahme  affirmativer  Qualität:  um  A  zu  negieren. 
muß  ich  vorerst  das  Sein  des  A  annehmen.  Damit  nehme  ich 
freilich   auf  ein  gewissermaßen   vorgegebenes  Sein  des  A  Bezug: 


^)  „Über  Annabmen",  S.  95. 
2)  A.  a.  0.  S.  105  ff. 


j2  A.  Meinong. 

aber  es  liejft  ja  im  A\'esen  der  Annahme,  daß  sie  sich  auf  ein  Sein 
richtet,  das  selbst  nicht  zu  sein  braucht. 

So  böte  sich  also  am  Ende  doch  die  ohne  Zweifel  sehr  be- 
ruhigende Aussicht,  jenes  wunderliche  Sein  des  Nichtseienden  für 
ebenso  absurd  nehmen  zu  dürfen  als  es  |«:lingt,  schiene  nicht  das 
seiende  Objektiv  auf  alle  Fälle  ein  seiendes  Objekt  zu  verlangen. 
Inzwischen  beniht  diese  Fordenmg  nur  auf  der  Analogie  zum  Ver- 
halten des  Teiles  zum  Ganzen:  das  Objektiv  wird  dabei  als  eine 
Art  Komplex,  das  zugehörige  Objekt  als  eine  Art  Bestandstück 
behandelt.  Das  mag  in  mancher  Hinsicht  unserem  zur  Zeit  noch  so 
überaus  mangelhaften  Einblicke  in  das  AVesen  des  Objektivs  ganz 
gemäß  sein :  daß  aber  die  Analogie  doch  nur  ein  erster  Yerlegenheits- 
behelf  ist,  und  daß  man  kein  Recht  hätte,  sie  auch  nur  einigermaßen 
streng  zu  nehmen,  wird  niemand  verkennen.  Statt  also  auf  Grund 
einer  fragwürdigen  Analogie  aus  dem  Sein  des  Objektivs  ein  Sein 
seines  Objektes  auch  für  den  Fall  abzuleiten,  wo  jenes  Objektiv  ein 
Nichtseinsobjektiv  ist.  wird  man  sich  besser  aus  den  Tatsachen,  die 
uns  beschäftigen,  darüber  belehren  lassen,  daß  jene  Analogie  für  Nicht- 
seinsobjektive eben  nicht  gilt.  d.  h.  also,  daß  das  Sein  des  Objektivs 
keineswegs  allgemein  auf  das  Sein  seines  Objektes  angewiesen  ist. 

Es  ist  das  eine  Position,  die  nun  ohne  weiteres  aucli  für  sich 
selbst  spricht:  ist  der  ganze  Gegensatz  von  Sein  und  Nichtsein 
erst  Sache  des  Objektivs  und  nicht  des  Objektes,  dann  ist  es  ja 
im  Grunde  ganz  selbstverständlich,  daß  im  Gegenstande  für  sich 
weder  Sein  noch  Nichtsein  wesentlich  gelegen  sein  kann.  Das 
besagt  natürlich  nicht,  daß  irgendein  Gegenstand  einmal  weder 
sein  noch  nicht  sein  könnte.  Ebensowenig  ist  damit  behauptet, 
daß  es  der  Natur  eines  jeden  Gegenstandes  gegenüber  rein  zufällig 
sein  müßte,  ob  er  ist  oder  nicht  ist :  ein  absurder  Gegenstand  wie 
das  nmde  Viereck  trägt  die  Gewähr  seines  Nichtseins  in  jedem 
Sinne,  ein  idealer  Gegenstand  wie  Verschiedenheit  die  seiner 
Nichtexistenz  in  sich.  Wohl  aber  könnte,  wer  den  Anschluß  an 
berühmt  gewordene  Muster  suchte,  das,  was  sich  uns  oben  ergeben 
hat,  etwa  zu  der  Behauptung  formulieren,  der  Gegenstand  als 
solcher,  ohne  Rücksicht  auf  gelegentliche  Besonderheiten  oder  auf 
den  jederzeit  gegebenen  Objektivbeisatz,  mau  könnte  vielleicht 
sagen:  der  reine  Gegenstand  stehe  ,Jenseits  von  Sein  und  Nicht- 
sein".   Minder  ansprechend  oder  auch  minder  anspruchsvoll,  dafür 


über  Gegeustandstheorie.  13 

aber  meines  Erachtens  sonst  geeigneter,  ließe  sich  dasselbe  auch 
etwa  so  aussprechen:  der  Gegenstand  ist  von  Natur  außerseiend, 
obwohl  von  seinen  beiden  Seinsobjektiven,  seinem  Sein  und  seinem 
Nichtsein,  jedenfalls  eines  besteht. 

Was  man  sonach  passend  den  Satz  vom  Außerseiii  des  reinen 
Gegenstandes  nennen  könnte,  beseitigt  nun  endgültig  den  Schein 
des  Paradoxen,  der  zur  Aufstellung  dieses  Satzes  den  nächsten 
Anlaß  gegeben  hat.  Daß  sozusagen  um  nichts  mehr  dazu  gehört. 
an  einem  Gegenstande  sein  Nichtsein  zu  erfassen  als  sein  Sein, 
das  ist  ohne  weiteres  verständlich,  sobald  man  erkannt  hat,  daß. 
von  Besonderheiten  abgesehen.  Sein  wie  Nichtsein  dem  Gegenstande 
gleich  äußerlich  ist.  Eine  willkommeue  Ergänzung  hierzu  stellt 
nun  das  oben  erwähnte  Prinzip  von  der  Unabhängigkeit  des  Soseins 
vom  Sein  dar:  es  sagt  uns,  daß  dasjenige,  was  dem  Gegenstande 
in  keiner  ^\'eise  äußerlich  ist,  vielmehr  sein  eigentliclies  Wesen 
ausmacht,  in  seinem  Sosein  besteht,  das  dem  Gegenstande  anhaftet, 
mag  er  sein  oder  nicht  sein.  Endlich  sind  wir  eigentlich  erst 
jetzt  in  der  Lage,  dem  gegenüber  ausreichend  klar  zu -sehen,  was 
uns  oben  als  das  Vorurteil  zugunsten  der  Existenz  oder  doch 
des  Seins  aller  möglichen  Erkenntnisgegenstände  entgegengetreten 
ist.  Sein  ist  eben  nicht  die  Voraussetzung,  unter  der  das  Erkennen 
gleichsam  erst  einen  Angriffspunkt  fände,  sondern  es  ist  selbst 
schon  ein  solcher  Angriffspunkt.  Ein  eben  so  guter  ist  dann  aber 
auch  Nichtsein.  Überdies  findet  das  Erkennen  bereits  im  Sosein 
eines  jeden  Gegenstandes  ein  Betätigungsfeld,  das  es  sich  durch- 
aus nicht  erst  durch  Beantwortung  der  Frage  nach  Sein  oder 
Nichtsein  oder  gar  durch  deren  affirmative  Beantwortung  zugänglich 
zu  machen  nötig  hat. 

§  5.    Gegenstandstheorie  als  Psychologie. 

Wir  wissen  nunmehr,  wie  wenig  die  Gesamtheit  der  Gegen- 
stände äes  Erkennens  durch  die  Gesamtheit  des  Existierenden  oder 
selbst  des  Seienden  ausgemacht  wird,  und  wie  wenig  darum  eine 
noch  so  allgemeine  Wissenschaft  vom  Wirklichen  oder  auch  vom 
Seienden  überhaupt  als  die  Wissenschaft  von  den  Erkeuntnis- 
gegen  ständen  schlechthin  angesehen  werden  könnte.  Dabei  war 
nun  aber  in  den  letzten  Paragraphen  eben  immer  nur  von  Gegen- 


1^^  A.  Meinong. 

ständen  des  Erkennens  die  Rede,  indes  doch  schon  die  an  den 
Anfang-  dieser  Ausführungfen  gestellte  Frage  davon  hatte  Akt 
nehmen  müssen,  daß  nicht  nur  das  Erkennen,  sondern  jedes  Urteilen 
lind  Vorstellen  seinen  Gegenstand  habe,  von  der  Gegenständlichkeit 
außerintellektueller  Erlebnisse  nun  gar  nicht  noch  einmal  zu  reden. 
Diese  umfassende,  ja,  wie  bereits  einmal  flüchtig  berührt,  vielleicht 
geradezu  charakterisierende  Bedeutung  der  Gegenständlichkeit  für 
das  psj^chische  Leben  kann  nun  den  Gedanken  nahe  legen,  wir 
hätten  uns  oben  durch  ausschließliche  Berücksichtigung  des  Er- 
kennens auf  einen  leicht  vermeidlichen  Abweg  führen  lassen,  indem 
doch  natürlichst  diejenige  Wissenschaft  sich  mit  den  Gegenständen 
als  solchen  werde  zu  beschäftigen  haben,  deren  Pflicht  es  ist,  von 
jener  Gegenständlichkeit  zu  handeln,  eine  Aufgabe,  die  dem  eben 
wieder  Berührten  gemäß  ja  doch  nur  der  Psychologie  zufallen  zu 
können  scheint. 

Es  wird  vor  allem  jedenfalls  eingeräumt  werden  müssen,  daß 
der  gegenwärtige  Betrieb  der  Psychologie  einer  solchen  Auffassung 
durchaus  nicht  in  jeder  Hinsicht  entgegen  ist.  Es  gibt  ja  z.  B. 
eine  Tonpsychologie  nicht  minder  als  eine  Farbenpsychologie,  die 
es  keineswegs  für  ihre  unwichtigste  Aufgabe  hält,  die  Mannig- 
faltigkeit der  dem  betreff"enden  Sinnesgebiete  zugehörigen  Gegen- 
stände zu  ordnen  und  auf  ihre  sonstige  Eigenart  zu  untersuchen.  ^) 
Auch  ist  es  ganz  natürlich,  daß  die  Wissenschaft  von  den  psychi- 
schen Tatsachen  die  eigentümlichen  Leistungen  des  Psychischen 
und  insbesondere  des  Intellektuellen  mit  in  Untersuchung  zieht. 
Es  wäre  eine  seltsame  Psychologie  des  Urteils,  die  von  dessen 
Fähigkeit  keine  Notiz  nähme,  unter  ausreichend  günstigen  Um- 
ständen gleichsam  über  sich  hinauszugreifen,  sich  in  gewisser  Weise 
der  Wirklichkeit  zu  bemächtigen.  Und  gibt  es  außer  der  Wirklich- 
keit noch  anderes,  von  dem  sich  Kenntnis  nehmen  läßt  und  von 
dem  wir  mit  Hilfe  gewisser  intellektueller  Operationen  Kenntnis 
zu  nehmen  imstande  sind,  so  wird  die  Psychologie  sicher  nicht 
unterlassen  dürfen,  unter  Einem  mit  dieser  Fähigkeit  jenes  Außer- 
wirkliche mit  in  Betracht  zu  ziehen,  dem  die  diese  Fähigkeit 
charakterisierenden  Leistungen  zugewandt  sind. 

')  Vgl.  einiges  Nähere  in  meinen  „Bemerkungen  über  den  Farbenkörper  und 
das  Mischungsgesetz".  Zeitschrift  für  Psychologie  und  Physiologie  der  Sinnesorgane, 
Bd.  XXXIII,  S.  3  ff. 


über  Gegenstandstheorie.  15 

Insofern  also  linden  die  Geg'enstände  des  Urteilens.  Annehmens 
und  Vorstellens,  ebenso  die  des  Fülüens  und  Beg-elirens  ohne 
Zweifel  Eing-ang*  in  die  Psychologrie :  aber  jedermann  merkt  sofort, 
daß  dabei  diese  Wissenschaft  auf  die  Geg-eustände  nicht  um  ihrer 
selbst  willen  Bedacht  nimmt.  Für  die  Praxis  innerhalb  wie  außer- 
halb des  Wissenschaftsbetriebes  mag-  freilich  oft  genug*  recht  neben- 
sächlich sein,  was  beabsichtig-ter  Haupterfolj^ ,  was  fast  nur  per 
accidens  mitgenommener  Nebenerfolg  ist :  der  Altertumskunde  z.  B, 
ist  es  sicherlich  bestens  zustatten  gekommen,  daß  die  Erforder- 
nisse der  Textinterpretation  die  Philologen  so  oft  auf  die  „Kealien" 
hinwiesen.  Dennoch  denkt  niemand  daran,  klassische  Altertums- 
kunde für  klassische  Philologie  zu  ei'klären,  welch  letztere  sonst 
leicht  Anspruch  auf  die  verschiedensten  Disziplinen  erhellen  konnte, 
wie  ja  tatsächlich  die  Beschäftigung  mit  den  alten  Sprachen  den 
Ausgangspunkt  für  den  verschiedenartigsten  Wissenschaftsbetrieb 
abgegeben  hat.  Ähnlich  könnte  auch  psychologische  Forschung 
für  Nachbargebiete  Früchte  tragen,  zumal  sofern  diese  zu  Wissen- 
schaften gehören,  die  entweder  minder  entwickelt  sind  wie  die 
Psychologie  oder  wohl  gar  eine  förmliche  Anerkennung  als  Sonder- 
wissenschaften noch  gar  nicht  gefunden  haben.  Daß  sich  solches 
in  betreif  der  theoretischen  Bearbeitung  der  Gegenstände  wirklich 
zugetragen  hat,  beweist  vielleicht  nichts  deutlicher  als  das  oben 
bereits  erwähnte  Beispiel  der  Farben,  bei  denen  ohne  Zweifel  erst 
die  Erforschung  des  psychologischen  Sachverhaltes  auf  die  des 
gegenständlichen,  der  Farbenkörper  auf  den  Farbenraum  hingeführt 
hat.  ^)  Wie  wenig  man  gleichwohl  die  Psychologie  für  die  eigent- 
liche Wissenschaft  von  den  Gegenständen  gelten  lassen  dürfte, 
ergibt  der  Hinweis  auf  die  eben  schon  herangezogene  Sprach- 
wissenschaft noch  in  einer  anderen  Hinsicht.  Auch  diese  hat  es 
ja  in  den  Wort-  und  Satzbedeutungen  ganz  obligatorisch  mit 
Gegenständen  zu  tun  -),  und  die  Grammatik  hat  dem  theoretischen 
Erfassen  der  Gegenstände  wirklich  in  ganz  grundlegender  Weise 
vorgearbeitet.  So  ist  in  der  Tat  nicht  abzusehen,  unter  welchem 
Gesichtspunkte  in  dieser  Sache  der  Psychologie  ein  Vorrecht  ein- 
zuräumen  wäre:   vielmehr  erkennt  man  deutlich,  wie  eben  keine 


')  Vgl.  a.  a.  0.  S.  11  ff. 

^)  Vgl.  „Über  Annahmen",  S.  271  ff. 


16 


A.  Mkinong. 


der  beiden  Disziplinen  die  gesuchte  Wissenschaft  von  den  Gegen- 
ständen sein  kann. 

Es  müßte  aber  wirklich  auch  mit  seltsamen  Dingen  zugehen, 
wenn,  nachdem  sich  die  Gesamtheit  der  Wissenschaften  vom 
Seienden  einschließlich  der  Wissenschaft  von  der  Gesamtheit  des 
AMrklichen  dazu  als  unzureichend  erwiesen  hat,  nun  doch  eine 
dieser  Wissenschaften  sozusagen  unversehens  die  Eignung  zeigte, 
die  Gesamtheit  der  Gegenstände  zu  umfassen.  Man  kann  zudem 
genau  angeben,  welcher  Ausschnitt  aus  dieser  Gesamtheit  allein 
und  zwar  günstigsten  Falles  die  Psychologie  zu  beschäftigen  ver- 
mag. Nur  für  solche  Gegenstände  kann  sich  die  Psychologie 
interessieren,  auf  die  irgendein  psychisches  Geschehen  wirklich 
gerichtet  ist;  kürzer  könnte  man  vielleicht  sagen:  nur  für  solche, 
die  tatsächlich  vorgestellt  werden,  deren  Vorstellungen  also 
existieren,  die  sonach  selbst  wenigstens  ,.in  unserer  Vorstellung 
existieren",  richtiger  pseudo-existieren.')  Darum  war  oben  der 
Farbenkörper,  als  der  Inbegriff  aller  Farben,  die  in  der  Empfindung 
und  Einbildung  des  Menschen  vrirklich  vorkommen,  als  Angelegen- 
heit der  Psychologie  zu  bezeichnen,  und  auch  er  nicht  mit  strenger 
Genauigkeit,  da  diese  Gesamtheit  so  wenig,  als  sonst  je  eine 
Punktmenge,  ein  Kontinuum  wirklich  auszumachen  vermag,  soweit 
nicht  etwa  Veränderungsvorgänge  dabei  zu  Hilfe  kommen.-)  Da- 
gegen ist  die  Konzeption  des  Farbenraumes  nur  auf  die  Natur 
der  einschlägigen  Gegenstände  gegründet,  also  ganz  unpsychologisch, 
aber  zweifellos  gegenstandstheoretisch,  und  man  spürt  vielleicht 
an  dem  Beispiel  ganz  unmittelbar,  ohne  Zuhilfenahme  besonderer 
ErAvägungen  die  prinzipielle  Verschiedenheit  des  im  einen  und  im 
anderen  Falle  eingenommenen  Standpunktes. 

Nur  ein  Gedanke  könnte  etwa  noch  geeignet  scheinen,  den 
Eindruck  völliger  Verschiedenheit  zu  verwischen,  mindestens  so 
viel  glaublich  zu  machen,  daß  es  entgegen  der  eben  in  betreff  der 
Farben  vertretenen  AulYassung  genau  besehen  doch  keinen  Gegen- 
stand geben  könne,  der  nicht  ganz  unvermeidlich  auch  als  Vor- 
stellungsgegenstand mit  vor  das  Forum   der  Psychologie  gehöre. 


')  „Über  Gegenstände  höherer  Ordnung  etc.",  a.  a.  0.  S.  186 f. 
*)  Vgl.  E.  Mallt  in  der  dritten  der  gegenwärtigen  Untersuchungen.     Kap. 
I  §  15,  Kap.  III  §  20,  Kap.  IV  §  25. 


über  Gegenstandstheorie.  17 

Auf  welchem  Wege  immer,  so  könnte  man  meinen,  wir  auch  dazu 
gelang:t  sein  mögen,  den  betretenden  Gegenstand  der  theoretischen 
Bearbeitung  zuzuführen,  wir  müssen  ihn  am  Ende  doch  erfaßt, 
Also  zunächst  wohl  vorgestellt  haben:  damit  ist  er  aber  in  die 
Eeihe  jener  pseudoexistierenden  Gegenstände  getreten,  die  auch 
die  Psychologie  angehen.  Denke  ich  also  an  ein  Weiß,  das  heller 
ist,  als  je  ein  menschliches  Auge  eines  gesehen  hat  oder  sehen 
wird,  so  ist  dieses  ^^>iß  trotzdem  ein  vorgestelltes  \\'eiß,  und  nie 
könnte  sich  insofern  eine  wie  immer  beschaffene  Theorie  auf  ein 
Un  vorgestelltes  beziehen. 

Der  Gedanke  erinnert  einigermaßen  an  das  seltsamerweise 
immer  noch  nicht  ganz  vergessene  Argument  der  „Idealisten",  daß 
„esse",  wenn  auch  nicht  gerade  „percipi",  so  doch  jedenfalls 
„cogitari"  deshalb  sein  müsse,  weil  niemand  ein  „esse"  denken 
■kann,  ohne  —  es  zu  denken.  Und  jedenfalls  dürfte  die  M'irkung 
solcher  Erwägungen  ihrer  Absicht  eher  entgegen  als  gemäß  sein. 
Ist  nämlich  etwa  das  erwähnte  Ultraweiß  einmal  durch  eine 
darauf  gerichtete  Konzeption  in  den  Bereich  theoretischen  Nach- 
denkens einbezogen,  da-nn  könnte  aus  dem  so  neu  ins  Leben  ge- 
tretenen psychischen  Geschehnis  für  die  Psychologie  gar  wohl 
neue  Arbeit  erwachsen.  Unerläßlich  ist  es  freilich  keineswegs: 
gerade  im  Falle  des  vorliegenden  Beispieles  ist  es  kaum  zu  er- 
warten, da  es  verwandter  Konzeptionen  auch  sonst  schon  die 
FüUe  gibt.  Aber  die  Möglichkeit  ist  sicher  ins  Auge  zu  fassen; 
und  ist  sie  einmal  wirklich  realisiert,  dann  wird  gerade  besonders 
deutlich,  wie  wenig  etwa  die  Konzeption  des  Ultraweiß  schon 
selbst  Psychologie  ist.  Die  Gegenstandstheorie  hat  durch  diese 
Konzeption  ihre  Arbeit  gewissermaßen  bereits  getan,  die  Psycho- 
logie aber  hat  daraufhin  die  ihre  eventuell  erst  zu  tun:  und  da 
wäre  es  doch  seltsam  genug,  die  getane  Arbeit  um  der  erst  zu 
tuenden  willen  schon  für  eine  psychologische  zu  nehmen. 

§  6.  Gegenstandstheorie  als  Theorie  der  Erkenntnis- 
gegenstände. 

Was  sonach  die  Psychologie  in  keiner  A\'eise  zu  leisten  ver- 
mag, möchte  mit  weit  besseren  Aussichten  dort  zu  suchen  sein, 
wo   Tatsachen   untersucht  werden,   an   deren   Charakteristik   dem 

Meinong,  Untersuchungen.  - 


jg  A.  Meinong. 

Gegenstande  ein  konstitutiver  Anteil  zukommt.  Nach  Früherem 
kann  nicht  wohl  zweifelhaft  sein,  daß  im  Erkennen  Tatsachen 
dieser  Art  vorlieg-en.  Erkennen  ist  ein  Urteilen,  das  nicht  etwa 
bloß  zufällig-,  sondern  seiner  Natur  nach,  sozusagen  von  innen 
heraus  wahr  ist:  wahr  aber  ist  ein  Urteil ,  ^nicht  zwar  sofern  es. 
einen  existierenden  oder  auch  nur  einen  seienden  Gegenstand  hat,, 
wohl  aber,  sofern  es  ein  seiendes  Objektiv  erfaßt.  Daß  es  schwarze 
Schwäne  gibt,  ein  Perpetuum  mobile  aber  nicht,  ist  beides  wahr,, 
obwohl  es  sich  einmal  um  einen  existierenden,  das  andere  Mal 
um  einen  nichtexistierenden  Gegenstand  handelt:  dort  besteht 
eben  das  Sein,  hier  das  Nichtsein  des  betreifenden  Gegenstandes. 
An  das  Sein  dieser  Objektive  ist  die  Wahrheit  jedesmal  gebunden 
und  wird  dadurch  teilweise  ausgemacht.  Das  Urteil  wäre  ja  nicht 
wahr,  wenn  das  betreffende  Objektiv  nicht  wäre.  Das  Urteil  wäre 
auch  nicht  wahr,  wenn  es  anders  beschaffen  wäre,  als  es  ist,. 
und  deshalb  mit  den  Tatsachen  gleichsam  nicht  zusammenstimmte. 
Das  Zusammentreffen  dieses  subjektiven  und  jenes  objektiven  Er- 
fordernisses kann  dabei  ein  ganz  und  gar  zufälliges  sein:  so  etwa, 
wenn  man  aus   talschen  Prämissen   eine   wahre  Konklusion   zieht 

Solche  Zufälligkeit  oder  Äußerlichkeit  ist  nun  freilich  dem 
Verhältnis  zwischen  Erkennen  und  Erkanntem  fremd:  hier  liegt 
es  in  der  Natur  des  Urteils,  daß  dieses  nicht  sozusagen  neben  dem 
zu  Erkennenden  vorbei  triff't,  und  diese  Eigenart  des  Erkennens 
kommt  vor  dem  Forum  der  Psychologie  in  dem  zur  Geltung,  was 
man  als  Evidenz  kennt.  Aber  das  evidente  Urteil  macht  für  sich 
die  Tatsache  des  Erkennens  nicht  aus :  wesentlich  ist  das  Erfassen 
des  Objektes  resp.  des  Objektivs,  wozu  das  Sein  des  letzteren  un- 
erläßlich ist.  In  dieser  Hinsicht  steht  das  Erkennen  dem  sozusagen 
per  accidens  wahr  Urteilen  völlig  gleich,  und  eben  deshalb  konnte 
bereits  im  Anfange  der  gegenwärtigen  Darlegungen  das  Erkennen 
als  Doppeltatsache  bezeichnet  werden.  Wer  dieser  Doppeltatsache 
aber  wissenschaftlich  näher  kommen  will,  darf  sich  dann  nicht 
auf  deren  psychologischen  Aspekt  beschränken,  muß  vielmehr  auch 
die  zweite  Seite,  d,  i.  die  seienden  Objektive  und  die  in  diese 
implizierten  Objekte  ganz  ausdrücklich  als  einen  Teil  der  ihm 
gestellten  Aufgabe  in  Betracht  ziehen. 

\\'ir  gelangen  damit  in  betreff"  unserer  Hauptfrage  einiger- 
maßen auf  einen  Standpunkt  zurück,  den  wir  eben  erst  im  vorigen 


über  Gegenstandstheorie.  19 

l^aragraphen  unter  Berufung-  darauf  verlassen  haben,  daß  nicht 
bloß  dem  Erkennen  Geg-enstände  eignen,  sondern  auch  falschen 
Urteilen,  Vorstellungen  und  ganz  außerintellektuellen  psychischen 
Betätig'ungen.  Sind  wir  nun  eben  zum  Ergebnis  gelangt,  daß  die 
Lehre  von  den  Gegenständen  doch  wohl  natürlichst  im  Zusammen- 
hange mit  der  wissenschaftlichen  Bearbeitung  des  Erkennens  an- 
zutreften  sein  möchte,  so  liegt  nun  die  Frage  nahe,  ob  durch  die 
Beschränkung  auf  das  Erkennen  resp.  den  Ausschluß  der  übrigen 
psychischen  Geschehnisse  nicht  eben  doch  auch  ein  Teil  der  Gegen- 
stände ausgeschieden  und  so  die  Allgemeinheit  aufgegeben  sei, 
auf  die  bei  Bearbeitung  der  Gegenstände  als  solcher  doch  nicht 
wohl  verzichtet  werden  könnte. 

Inzwischen  ist  dieses  Bedenken  unbegründet.  Um  dies  ein- 
zusehen, muß  man  sich  vor  allem  auf  einen  charakteristischen 
Unterschied  besinnen,  der  zwischen  Psychologie  und  Wissenschaft 
vom  Erkennen  besteht.  Es  versteht  sich  von  selbst,  daß  die 
Psychologie  nur  mit  den  wirklichen  psychischen  Geschehnissen  zu 
tun  hat  und  nicht  mit  den  bloß  möglichen.  Eine  Wissenschaft 
vom  Erkennen  wird  sich  ähnliche  Schranken  nicht  setzen  dürfen, 
schon  weil  Wissen  als  solches  Wert  hat,  so  daß  hier  etwas  das 
nicht  ist.  aber  sein  könnte,  die  Aufmerksamkeit  als  Desiderat  erst 
recht  auf  sich  zieht.  Demgemäß  kommen  hier  als  Gegenstände 
unseres  Wissens  nicht  nur  die  sämtlichen  pseudoexistierenden,  also 
wirklich  beurteilten  resp.  vorgestellten  Gegenstände,  sondern  alle 
Gegenstände  in  Frage,  die  auch  nur  der  Möglichkeit  nach  Gegen- 
stände unseres  Erkennens  sind.  Es  gibt  aber  keinen  Gegenstand, 
der  nicht  wenigstens  der  Möglichkeit  nach  Erkenntnisgegenstand 
wäre,  wenn  man  sich  auf  den  Standpunkt  der  auch  sonst  oft  ganz 
instruktiven  Fiktion  stellt,  daß  die  Erkenntnisfähigkeit  durch  keine 
der  in  der  Konstitution  des  Subjektes  gelegenen  und  darum  tat- 
sächlich nie  ganz  fehlenden  Einschränkungen  von  der  Art  der 
Reiz-,  Unterschiedsschwellen  u.  dgl.  beeinträchtig  wäre.  Unter 
Voraussetzung  einer  unbegrenzt  leistungsfähigen  Intelligenz  also 
gibt  es  nichts  Unerkennbares,  und  was  erkennbar  ist,  das  gibt  es 
auch,  oder,  weil  „es  gibt"  doch  vorzugsweise  von  Seiendem,  ja 
speziell  von  Existierendem  gesagt  zu  werden  pflegt,  wäre  es  viel- 
leicht deutlicher,  zu  sagen:  AUes  Erkennbare  ist  gegeben  —  dem 
Erkennen   nämlich.    Und  sofern  aUe  Gegenstände  erkennbar  sind. 


20 


A.  Meinong. 


kann  ihnen  ohne  Ausnahme,  mögen  sie  sein  oder  nicht  sein,  Ge- 
gebenheit als  (Mne  Art  allgemeinster  Eigenschaft  nachgesagt  werden. 
Die  Konsequenz  für  das  Verhältnis  der  Gegenstände  des  Er- 
kennens  zu  Gegenständen  anderer  psychischer  Betätigungen  braucht 
nun  kaum  mehr  ausdrücklich  gezogen  zu  werden.  Gegenstände,  zu 
was  für  Erlebnissen  auch  immer  sie  gehören  mögen,  sind  ganz 
unfehlbar  auch  Erkenntuisgegenstände.  A\'er  also  die  Gegenstände 
sozusagen  vom  Standpunkte  des  Erkennens  aus  wissenschaftlich 
zu  beai'beiteu  unternimmt,  braucht  nicht  zu  besorgen,  er  könnte 
durch  diese  Stellung  der  Aufgabe  irgendein  Gebiet  aus  der  Ge- 
samtheit der  Gegenstände  ausschließen. 


§  7.    Gegenstandstheorie  als  „reine  Logik". 

Es  entspricht  altem  Herkommen,  dort,  wo  von  einer  wissen- 
schaftlichen Bearbeitung  des  Erkennens  die  Rede  ist,  zunächst  an 
die  Logik  zu  denken;  und  wirklich  sind  erst  in  allerjüngster 
Zeit  für  einen  ihrer  Hauptteile,  die  sogenannte  reine  oder 
formale  Logik  ^)  Aufgaben  gestellt  worden-),  die  mit  dem,  was 
von  einer  theoretischen  Bearbeitung  der  Gegenstände  als  solcher 
billig  verlangt  werden  muß,  in  unverkennbarer  Weise  zusammen 
stimmen.  Ich  habe  meine  prinzipielle  Zustimmung  zu  E.  Husserl's 
Eintreten  gegen  den  „Psychologismus"  in  der  Logik  bereits  an  an- 
derem Orte  ■')  und  zu  einer  Zeit  ausgesprochen,  da  ich  aus  äußeren 
Gründen  von  dem  umfangreichen  Werke  des  genannten  Autors 
nur  eine  ganz  vorläufige  und  auch  noch  sehr  unvollständige  Kennt- 
nis hatte  nehmen  können.  Heute,  nachdem  ich  den  Verdiensten 
der  in  Rede  stehenden  Publikation  durch  eingehendes  Studium 
einigermaßen  gerecht  geworden  zu  sein  hoffe,  kann  ich  den  Aus- 
druck meiner  Zustimmung  nicht  nur  durchaus  aufrecht  erhalten, 
sondern  sie  außer  auf  vieles  andere  auch  auf  jene  ,. Aufgaben" 
ausdehnen,   und  es  ist  da  vielleicht  nur  ein  Dissens   von   relativ 


■)  Vgl.  E.  HüSSERL,  „Logische  Untersuchungen'",  2  Bde.  Leipzig  und  Halle 
190()  und  19;U.  Ausdrücklich  identifiziert  werden  „reine''  und  „formale"  Logik 
z.  B.  Bd.  I,  S.  252. 

*)  Insbesondere  Bd.  I,  S.  243  ff.,  auch  Bd.  II,  S.  92  ff. 

»j  „Über  Annahmen",  S.  196. 


über  Gegenstandstheorie.  21 

untergeordneter  Wichtigkeit,  wenn  ich  diese  Aufgaben  nur  nicht 
gerade  jener  ..reinen  Logik*'  zuweisen  möchte. 

Mir  scheint  hierfüi-  vor  allem  der  Umstand  maßgebend,  daß, 
soviel  ich  sehe,  der  Gedanke  an  Logik  von  dem  an  eine  Kunst- 
lehre im  Interesse  der  Leistungsfähigkeit  unseres  Intellektes  ohne 
Gewaltsamkeit  nicht  zu  trennen,  daß  die  Logik  also  unter  allen  Um- 
ständen eine  ..praktische  Disziplin"  M  bleibt,  bei  deren  Bearbeitung 
sich  höchstens  der  Übergang  zu  dem  vollziehen  mag,  Avas  ich 
gelegentlich  als  .,theoretisch-praktische  Disziplin"  charakterisiert 
habe.  ^)  Eine  Logik  also,  welche  von  allen  praktischen  Intentionen 
,.gereinigt"  und  deshalb  als  ,.reine  Logik'"  zu  bezeichnen  wäre,  ^) 
möchte  ich  darum  lieber  überhaupt  nicht  mehr  Logik  nennen,  viel- 
mehr die  der  ..reinen  Logik"  gestellten  Aufgaben  nur  der  theo- 
retischen Disziplin  oder  einer  der  theoretischen  Disziplinen  zu- 
weisen, auf  die  die  Logik  gleich  jeder  anderen  praktischen  Dis- 
ziplin am  Ende  zurückgehen  muß. 

Daß  in  diesem  Sinne  nicht  etwa  ausschließlich  auf  die  Psycho- 
logie zu  rekurrieren  ist,  darüber  bin  ich.  wie  oben  neuerlich  be- 
rührt, mit  dem  Verfasser  der  „Logischen  Untersuchungen"  durch- 
aus Einer  Meinung.  Ja.  wenn  ich  die  Leitbegriife  in  Betracht 
ziehe,  auf  die  er  gerade  in  seiner  Polemik  gegen  den  ..Psycholo- 
gismus" zum  Zwecke  der  Charakteristik  jenes  außerpsychologischen 
Wissensgebietes  immer  wieder  zurückkommt,  so  fällt  es  mir  schwer, 
mich  des  Eindruckes  zu  entschlagen,  als  hätte  sich  unser  Autor 
von  dem,  was  er  mit  ebensoviel  Eifer  als  Recht  bekämpft,  selbst 
noch  nicht  ganz  frei  zu  erhalten  vermocht.  Mit  „Begriffen", 
„Sätzen-',  „Schlüssen-'  u.  dgl.  soll  es  die  „reine  Logik"  zu  tun 
haben.  Aber  sind  Begriffe  nicht  am  Ende  doch  zwar  vielleicht 
zu  theoretischen  Zwecken  bearbeitete  Vorstellungen,  aber  eben 
doch  Vorstellungen?     Und  wenn  man   beim  „Satze"   von  der  sich 


^j  Näheres  habe  ich  in  meiner  Schrift  „Über  philosophische  Wissenschaft 
nnd  ihre  Propädeutik",  Wien  1885  darzulegen  versucht,  vgl.  insbesondere  S.  96f. 

2)  A.  a.  0.  S.  98. 

'j  Beim  äquivalenten  Terminus  „formale  Logik"  kommt  mir  überdies  noch 
die  Erinnerung  an  all  das  in  den  "Weg,  was  man  an  dem  so  lange  unter  diesem 
Namen  fast  ausschließlich  Gelehrten  mit  Recht  bekämpft  und  so  ziemlich  überwunden 
hat.  Sollte  dem  eine  blol]  individuelle  Eigenheit  zugrunde  liegen  ?  Kommt  darin 
nicht  vielleicht  auch  die  geringe  Eignung  des  Ausdruckes  .,Form"  zur  Geltung,  für 
das.  was  er  besagen  soll,  mindestens  ein  einigermaßen  deutliches  Bild  zu  bieten? 


22  ■^-  Meinong. 

so  sehr  aufdrängenden  grammatikalischen  Bedeutung  dieses  Wortes 
absielit.  wie  dies  z.  B.  von  Bolzano  ausdrücklich  verlangt  worden 
ist,  wird  man  dann  auch  noch  ebenso  von  dem  durch  den  Satz 
der  Grammatik  ausgedrückten  psj^chischen  Vorgang  (Annahme  oder 
Urteil)  absehen  können,  oder  genauer,  wenn  man  dies  tut,  was  be- 
hält man  noch  übrig,  das  auf  den  Namen  „Satz"  einigeimaßen 
Anspruch  erheben  kann?  Immerhin  gibt  es  hier  aber  doch  noch 
einen  außerpsychologischeu  Sinu,  in  dem  man,  freilich  kaum  je 
ohne  das  Gefühl  ziemlich  übertragenen  Wortgebrauches,  von  „Satz 
des  Widerspruches",  vom  „CARNOT'schen  Satz"  redet  u.  s.  f.^) 
Ganz  und  gar  fehlt,  soviel  ich  sehe,  ein  solcher  Sinn  dem  Worte 
„Schluß";  denn  redet  man  auch  ganz  natürlich  von  „dem"  Schluß 
nach  dem  Modus  darapti,  von  „dem"  hypothetischen  Schlüsse  u.  dgl., 
so  ist  damit  nicht  weniger  ein  intellektueller  Vorgang  oder  etwa 
dessen  mögliches  Ergebnis  gemeint,  als  mit  „dem"  Blutkreislaufe 
ein  physiologischer  Vorgang. 

Danim  würde  mir  auch  durch  den  Hinweis  auf  „objektive" 
Schlüsse  und  Beweise  im  Gegensatze  zu  den  subjektiven'-)  die 
Sachlage  eher  verdunkelt  als  geklärt  erscheinen,  dürfte  ich  nicht 
aus  dem  ganzen  Tenor  der  „Logischen  Untersuchungen"  und  aus 
vielen  Einzelausführuugen  darin  die  Überzeugung  schöpfen,  daß 
trotz  mannigfacher,  zur  Zeit  unvermeidlicher  Divergenzen  im 
Detail  es  in  der  Hauptsache  doch  die  nämlichen  Ziele  sind,  auf  die 
unseren  Autor  seine  mathematisch-philosophischen  Forschungen  ^), 
mich  die  aus  teils  wirklich,  teils  vermeintlich  psychologischen  Er- 
wägungen heraus  entsprungene  Auseinanderhaltung  von  Inhalt 
und  Gegenstand*)  und  noch  mehr  die  von  Objekt  und  Objektiv^) 
hingedrängt  hat.  Unter  solchen  Umständen  wird  es  dieser  ge- 
meinsamen Sache  förderlicher  sein,  wenn  ich,  statt  bei  den  obigen, 
vielleicht  ohnehin  vorwiegend  terminologischen  Bedenken  und 
ihresgleichen  zu  verweilen,  lieber  sogleich  kurz  darzulegen  ver- 
suche, in  welcher  Weise  meines  Erachtens  der  trotz  der  ihr  zu- 


*)  Es  handelt  sich   dabei  natürlich   um   Objektive,   vgl.  ..Über  .\nnahraen" 
197  .\nm. 

*)  Logische  Untersuchungen  Bd.  II  S.  26,  auch  94.  101. 
')  Vgl.  a.  a.  0.  Vorrede  zu  Bd.  I,  S.  V. 
*)  „Über  Gegenstände  höherer  Ordnung  etc.",  S.  185 flf. 
*)  „Über  Annahmen",  S.  150  ff. 


über  Gegenstandstheorie.  23 

gewandten  Aufmerksamkeit  vielleicht  immer  noch  nicht  ganz  be- 
seitigten Gefahr  des  „Psychologismus"  in  einigermaßen  aus- 
reichender \\'eise  zu  begegnen  sein  möchte. 


§  8.    G  e  g  e  n  s  t  a  n  d  8 1  h  e  0  r  i  e  als  Erkenntnistheorie. 

Zuvor  sei  aber  aus  dem  oben  ausgesprochenen  Bedenken  gegen 
den  Ausdruck  „reine  Logik"  eine  außerordentlich  nahe  liegende 
praktische  Konsequenz  gezogen.  Der  Name  für  eine  Lehre  vom 
AVissen,  die  sich  keine  praktischen  Ziele  steckt,  sonach  eine  theo- 
retische Wissenschaft  darstellt,  braucht  ja  längst  nicht  mehr  er- 
funden zu  werden.  Auch  könnte  man  sich  dafür  nichts  Natürlicheres 
wünschen  als  die  Bezeichnung  „Theorie  des  Erkennens",  oder 
kürzer  „Erkenntnistheorie".  Ich  will  also  statt  von  „reiner  Logik" 
von  „Erkenntnistheorie"  reden  und  holte  nun  zu  zeigen,  daß  die 
Sache  des  „Psychologismus"  in  der  Erkenntnistheorie  uns  sogleich 
wieder  zur  Lehre  von  den  Gegenständen  zurückführen  wird,  von 
der  die  obigen  Bemerkungen  uns  anscheinend  einigeimaßen  ent- 
fernt haben  könnten. 

„Psychologismus"  als  Bezeichnung  für  eine  natürliche  oder 
auch  auf  bestimmte  Überlegungen  gegründete  Neigung  oder  Be- 
reitschaft, die  Lösung  von  Problemen  mit  vorwiegend  psycholo- 
gischen Mitteln  in  Angriif  zu  nehmen,  involviert  an  sich  keinen 
Tadel. ')  Innerhalb  eines  gewissen  Problemenkreises  aber,  eben  des- 
jenigen, mit  dem  wir  es  hier  zu  tun  haben,  fehlt  dem  Worte  eine 
ablehnende  Färbung  keineswegs:  man  meint  damit  eben  kurzweg 
psychologische  Behandlungs weise  am  unrechten  Orte.  Da  Erkennen 
ein  Erlebnis  ist.  so  wird  aus  der  Erkenntnistheorie  die  psycho- 
logische Betrachtungsweise  gewiß  nicht  prinzipiell  zu  verbannen 
sein;  auch  von  Begritfen.  Sätzen  (Urteilen  resp.  Annahmen), 
Schlüssen  u.  dgl.  wird  sie  zu  handeln  haben,  und  zwar  psycho- 
logisch. Aber  dem  Erkennen  steht  das  Erkannte  gegenüber;  das 
Erkennen  ist.  wie  bereits  wiederholt  berührt,  eine  Doppeltatsache. 


^)  Dafür  bürgt  mir  in  eigenster  Sache  die  bewährte  Objektivität  Überweg- 
Heinz  e'scher  Tatsachendarstellung,  die  mein  eigenes  wissenschaftliches  Tun  unter 
den  Gesamttitel  „Psychologismus-'  einordnet  (^„Grundriß  der  Geschichte  der  Philo- 
sophie", 9.  Aufl.,  4.  Teil,  S.  312  ff.  i  In  welchem  Sinne  ich  selbst  dieser  Charakte- 
ristik zustimmen  zu  dürfen  meine,  vgl.  ,.Über  Annahmen''  S.  196. 


24  A-.  Meinung. 

Wer  die  zweite  .Seite  dieser  Tatsache  vernachlässigt,  also  in  der 
Weise  Erkenntnistheorie  treibt,  als  g:äbe  es  nur  die  psychische 
Seite  am  Erkennen,  oder  wer  jene  zweite  Seite  unter  den  Ge- 
sichtspunkt des  psj^chischen  Geschehnisses  zwängen  w^ill,  dem  wird 
der  Vorwurf  des  Psycholog-ismus  nicht  zu  ersparen  sein. 

Und  können  wir  uns  einigermaßen  klar  machen,  worauf  sich 
eigentlich  die  Gefahr  gründet,  in  solchen  Psychologismus  zu  ge- 
raten, die  Gefahr,  der  kaum  irgend  einer,  der  sich  mit  erkenntnis- 
theoretischen Dingen  beschäftigt  hat,  seinen  Tribut  vorenthalten 
haben  wird?  Jene  Doppelseitigkeit  des  Erkennens  ist  auffällig 
genug,  daß  sie  kaum  jemand  übersehen  könnte,  gäbe  es  nur 
Existierendes  zu  erkennen.  Aber  schon  die  ganze  Mathematik, 
besonders  auffällig  die  Geometrie,  handelt,  wie  wir  sahen,  von 
Nichtwirklichem;  und  so  führt  das  wiederholt  erwähnte  Vorurteil 
zugunsten  der  "\Mrklichkeit  schon  hier  zu  einem  ganz  einleuchtend 
scheinenden  und  doch  im  Grunde  so  wunderlichen  Dilemma,  dessen 
man  sich  explicite  freilich  nicht  leicht  bew^ußt  werden  mag,  das 
sich  aber  etwa  so  formulieren  läßt:  Entweder  es  existiert  das,  dem 
sich  das  Erkennen  zuwendet,  in  Wirklichkeit,  oder  es  existiert 
doch  wenigstens  „in  meiner  Vorstellung"',  kürzer:  es  „pseudo- 
existiert".  Für  die  Natürlichkeit  dieser  Disjunktion  legt  vielleicht 
nichts  beredteres  Zeugnis  ab,  als  die  Anwendung  des  Wortes 
„ideal",  das  für  das  moderne  Sprachgefühl  ja  ohne  Rücksicht  auf 
alle  Geschichte  so  viel  als  „gedacht"  oder  „bloß  vorgestellt"  be- 
deutet und  dadurch  ganz  von  selbst  allen  jenen  Gegenständen  zu- 
fallen zu  müssen  scheint,  die  nicht  existieren  oder  wohl  gar  auch 
nicht  existieren  können.  Was  nicht  außer  uns  existiert,  muß,  so 
denkt  man  unwillkürlich,  doch  wenigstens  in  uns  existieren:  es 
gerät  damit  vor  das  Forum  der  Psychologie  und  man  kann  dann 
am  Ende  noch  dem  Gedanken  Raum  geben,  ob  sich  nicht  auch 
das  Erkennen  des  Existierenden  und  mit  diesem  Erkennen  die 
Wirldichkeit  selbst  „psychologisch"  behandeln  lasse. 

Und  vielleicht  läßt  sich  nun  jenes  Wirklichkeitsvorurteil  selbst 
noch  einen  Schritt  zurück  verfolgen,  indem  man  die  ^^"ahrheit 
aufzeigt,  der  es  entsprungen  sein  könnte.  Es  wäre  sicher  irrig, 
zu  meinen,  daß  jedes  Erkennen  von  Existenz  oder  von  einem 
Existierenden  handeln  müßte :  ist  es  aber  nicht  richtig,  daß  es  am 
p]nde  doch  jedes  Erkennen  als  solches  mit  einem  Seienden  zu  tun 


über  Gegenstandstheorie.  25 

hat?  Das  Seiende,  die  „Tatsache"',  ohne  die  kein  Erkennen  für 
Erkennen  g-elten  dürfte,  ist  das  durch  den  betreffenden  Erkenntnisakt 
erfaßte  Objektiv,  dem  ein  Sein,  g-enauer  Bestand  zukommt,  mag'  es 
positiv  oder  negativ,  mag  es  ein  Sein  oder  ein  Sosein  sein.  \\'äre 
es  allzu  gewagt,  zu  vermuten,  diese  jedem  Erkennen  unfehlbar 
beigegebene  Tatsächlichkeit  seines  Objektivs  habe  eine  Art  Über- 
tragung auf  das  von  der  Theorie  ohnehin  fast  allein  beachtete 
Objekt  erfahren,  um  dann  etwa  nocii  zur  stillschweigenden  Forde- 
rung der  Wirklichkeit  alles  dem  Erkennen  Gegenüberstehenden 
übertrieben  zu  werden? 

Die  Frage  darf  hier  unentschieden  bleiben:  nicht  Psj^chologie 
des  Psychologismus  ist  unsere  Aufgabe.  Soviel  aber  steht  wohl 
außer  Zweifel,  daß  der  Psychologismus  in  der  Erkenntnistheorie 
allenthalben  auf  Vernachlässigung  oder  Verkennung  der  Gegenstands- 
seite der  Erkenntnistatsache  zurückgeht,  das  Wort  „Gegenstand" 
in  jenem  weitesten  Sinne  genommen,  in  dem  dieser  auch  das  Objektiv 
in  sich  eiubegreift.  Wer  die  Bedeutung  und  Eigenart  des  Objektivs 
nicht  erfaßt  hat,  wer  infolgedessen  das  jedem  Erkennen  zugehörige 
Sein  am  Objekte  sucht,  daher  die  Eventualität  des  Nichtseins  und 
Soseins  nicht  ausreichend  würdigt  und  wohl  gar  noch  in  allem 
Seienden  ein  Wirkliches  antrelfen  zu  müssen  meint,  der  verfällt 
dem  Psychologismus.  Und  wer  sich  von  diesem  frei  erhalten  will, 
braucht  sich  zwar  sicher  nicht  zur  Aufgabe  zu  machen,  etwa  alle 
Psychologie  von  der  Erkenntnistheorie  sorgfältig  fern  zu  halten: 
Psychologie  des  Erkennens  wird  vielmehr  jederzeit  einen  in- 
tegriei'enden  Teil  der  Erkenntnistheorie  ausmachen  müssen;  er 
wird  sich  nur  zu  hüten  haben,  in  der  Erkenntnistheorie  für  Psycho- 
logie zu  nehmen,  was  eben  —  Theorie  der  Gegenstände  ist  und 
bleiben  muß. 

Stellt  sich  uns  so  die  Theorie  der  Erkenntnisgegenstände  oder 
kürzer  die  Gegenstands  theorie  als  ein  integrierender  Bestandteil 
der  Erkenntnistheorie  dar^).  so  könnte  damit  leicht  auch  die 
Antwort  auf  die  Ausgangsfrage  gegenwärtiger  Darlegungen  ge- 
funden sein.    Der  eigentliche  Ort  für  die  Untersuchung  der  Gegen- 


M  Übereinstimmend  neuestens  A.  Höfler,  „Zur  g-egenwärtigen  Naturphilo- 
sophie" in  Heft  2  der  „Abhandhmgen  zur  Didaktik  und  Philosophie  der  Natur- 
wissenschaft" herausg.  von  F.  Poske,  A.  Höfler  und  E.  Grimsehl,  Berlin  1904, 
S.  151  (91  der  Sonderausgabe;. 


26  A.  Meinong. 

Stände  als  solcher,  so  könnten  wir  dann  sagen,  ist  die  Erkenntnis- 
theorie. Und  in  der  Tat  ist  dies  ein  Ergebnis,  bei  dem  man 
sicher  ohne  erheblichen  vSchaden  für  die  Gegenstandstheorie  stehen 
bleiben  könnte.  Erkenntnistheorie  wird  um  so  gewisser,  je  deut- 
licher sie  sich  ihrer  Aufgaben  bewußt  wird,  einem  fundamentalen 
Teile  nach  Lehre  von  dem  zu  Erkennenden,  vom  ,.Gegebenen"  in 
dem  oben  gebrauchten  Sinne  des  Wortes,  also  von  den  Gegen- 
ständen in  ihrer  Gesamtheit  werden  und  bleiben,  und  erkenntnis- 
theoretische Interessen  werden  den  gegenstandstheoretischen  sicher 
oft  genug  in  natürlichster  Weise  den  Weg  bereiten.  Dennoch  wird 
man,  wenn  ich  recht  sehe ,  noch  um  einen  Schritt  weiter  gehen 
müssen,  will  man  den  Ansprüchen  wirklich  gerecht  werden,  die  eine 
Theorie  der  Gegenstände  vermöge  ihrer  Eigenart  zu  erheben  befugt  ist. 

§  9.    Gegenstands theorie  als  eigene  Wissenschaft. 

Darauf  weist  eigentlich  schon  die  Stellung  der  anderen  Wissen- 
schaft hin.  der  wir  eben  an  der  Seite  der  Gegenstandstheorie  einen 
fundamentalen  Anteil  an  der  Erkenntnistheori  zeusprech  en mußten: 
der  Psj'chologie.  Es  kann,  wie  wir  als  selbstverständlich  erkannt 
haben,  keine  Erkenntnistheorie  geben,  die  sich  nicht  mit  dem  Akte 
des  Erkennens  beschäftigte  und  insofern  nicht  auch  Psjxhologie 
des  Erkennens  wäre.  Aber  niemand  möchte  darum  die  Stellung 
der  Psychologie  im  System  der  ^^^issenschaften  durch  ihre  Be- 
deutung für  die  Erkenntnistheorie  für  ausreichend  charakterisiert 
halten,  niemand  wird  in  der  Psychologie  nichts  weiter  als  ein 
Stück  Erkenntnistheorie  sehen  wollen.  Wird  man  sich  bei  der 
Gegenstandstheorie  mit  einer  ganz  analogen  Kennzeichnung  zu- 
frieden geben  dürfen  ?  Ist  es  etwa  für  das  Interesse  an  den  Gegen- 
ständen wesentlich,  durch  das  Interesse  am  Erkennen  gleichsam 
hindurch  zu  gehen? 

Daß  dem  nicht  so  sei,  darüber  hat  so  ziemlich  jeder,  der 
gegenstandstheoretischen  Problemen  etwas  näher  getreten  ist,  ganz 
ausreichende  direkte  Erfahrungen.  Minder  direkte,  aber  nicht 
minder  deutliche  Auskunft  gibt  die  Erwägung,  inwieweit  denn  etwa 
alles  gegenstandstheoretische  Detail,  auf  das  die  einschlägige 
Forschung  bereits  gefühlt  hat  und  in  noch  weit  ausgiebigerem 
Maße  in  Zukunft  führen  wird,  den  Problemen  der  Erkenntnistheorie 


über  Gegenstandstheorie.  27 

nutzbar  zu  machen  ist.  Man  kann,  wie  es  auch  oben  geschehen 
ist,  die  grundlegende  Bedeutung  gewisser  gegenstandstheoretischer 
Ergebnisse  etwa  in  Sachen  des  erkenntnistheoretischen  Psycho- 
logismus und  auch  sonst  vollauf  würdigen  und  gleichwolü  einräumen, 
daß  die  Gegenstandstheorie  auch  Aufgaben  stellt,  an  deren  Lösung- 
man  vorerst  nur  wegen  des  ihnen  um  ilirer  selbst  willen  zu- 
kommenden Interesses  herantritt. 

Besonders  deutlich  wird  dies  unter  einer  Voraussetzung,  die 
immerhin  noch  manches  Ungeklärte  an  sich  haften  haben  mag, 
mit  der  ich  aber  in  der  Hauptsache  nicht  fehlzugehen  fürchte. 
Ich  hatte  oben  auf  die  Tatsache  hinzuweisen,  daß  man  im  System 
der  Wissenschaften  für  die  Mathematik  eigentlich  nie  einen  recht 
natürlichen  Platz  hat  ausfindig  machen  können.  Irre  ich  nicht,  so 
hatte  das  der  Hauptsache  nach  darin  seinen  Grund,  daß  der  Begritf 
der  Gegenstandstheorie  noch  nicht  gebildet  war;  die  Mathematik 
aber  im  wesentlichen  ein  Stück  Gegenstandstheorie  ist.  Ich  sage 
„im  wesentlichen"  und  möchte  damit,  das  meinte  ich  mit  den  eben 
berührten  Ungeklärtheiten,  die  Eventualität  einer  noch  irgendwie 
ganz  eigenartigen  Differentiation  mathematischer  Interessen  aus- 
drücklich offen  gelassen  haben  ')•  Von  derlei  abgesehen  scheint 
mir  ganz  offenbar,  daß  der  Mathematik  auf  ihrem  Gebiete  inner- 
liche und  äußerliche  Momente  den  Vorzug  gesichert  haben,  zu 
leisten,  was  für  das  Gesamtgebiet  der  Gegenstände  durchzuführen 
sich  die  Gegenstandstheorie  zur  Aufgabe  stellen,  oder  wohl  nur 
als  freilich  unerreichbares  Ideal  vor  Augen  halten  muß.  Hat  es 
aber  damit  seine  Richtigkeit,  dann  ist  vollends  unverkennbar,  wie 
wenig  gegenstandstheoretische  Interessen,  sobald  ihnen  einiger- 
maßen ins  Speziellere  hinein  Rechnung  getragen  wird,  noch  er- 
kenntnistheoretische Interessen  sind. 

Ich  ziehe  aus  dem  Dargelegten  den  Schluß,  daß  die  Gegen- 
standstheorie auf  die  Stellung  einer  auch  der  Erkenntnistheorie 
gegenüber  selbständigen  Disziplin  und  damit  auf  die  einer  selb- 
ständigen Wissenschaft  schlechthin  Anspruch  hat.  Da  dieser 
Anspruch  nicht  für  etwas  Fertiges  erhoben  werden  kann,  sondern 
im  Gegenteil  für  ein   kaum   den   ersten  Anfängen   nach  Verwirk- 


')  Vgl.  als  Anfang  einschlägiger  Feststellungen  E.  xMally  in  Nr.  III  dieser 
Untersuchungen,  Einl.  §  2,  Kap.  VII  §  40  f. 


2y  A.  Meinong. 

liclitt's.  s(t  lieoft  in  der  hohen  P^ntwicklung  eines  Teiles  dieses 
vorerst  mehr  geforderten  als  aufzuweisenden  Ganzen  ein  kaum 
gering  anzusclüagendes  äußeres  Hindernis  für  die  Anerkennung 
des  in  Rede  stehenden  Anspruches.  Leicht  könnte  es  ein  Mathe- 
matiker als  eine  nicht  ganz  geringfügige  Zumutung  verspüren, 
wenn  er  einräumen  sollte,  daß  er  „eigentlich"  Gegenstandstheore- 
tiker sei.  Aber  auch  vom  Physiker  oder  Chemiker  wird  niemand 
verlangen,  er  solle  sich  für  einen  Metapliysiker  halten,  einmal, 
weil  man  eine  bereits  vorhandene  Wissenschaft  nicht  nach  einer 
vorerst  bloß  erstrebten  wird  charakterisieren  oder  gar  benennen 
können,  dann  aber,  weil  eine  relativ  allgemeinere  Wissenschaft 
als  solche  sich  Ziele  stecken  kann,  ja  muß.  die  der  relativ  spezieilen 
fremd  sind.  Dieser  zweite  Punkt  wird  im  Verhältnis  der  Mathe- 
matik zur  Gegenstandstheorie  dadurch  einigermaßen  verdunkelt, 
daß  im  Gebiete  der  letzteren  die  Mathematik  nicht  eine,  sondern, 
zur  Zeit  wenigstens,  die  einzige  in  ihrer  Eigenart  bekannte  und 
anerkannte  SpezialWissenschaft  repräsentiert.  Dadurch  ist  der 
Gegenstandstheorie  vorerst  eine  doppelte,  in  ihren  Teilen  vielleicht 
recht  ungleichartige  Aufgabe  zugewiesen,  einerseits  die  einer  AA'issen- 
schaft  von  allergrößter  Allgemeinheit  resp.  Umfänglichkeit,  anderer- 
seits die,  gewissermaßen  an  die  Stelle  sämtlicher  einschlägigen 
SpezialWissenschaften  zu  treten,  denen  eine  Sonderbehandlung  bis- 
her nicht  zuteil  geworden  ist.  Durch  die  hierin  liegende  Nötigung 
im  Bedarfsfalle  auch  in  relativ  speziellere  Gebiete  herabzusteigen, 
wird  dann  unvermeidlich  wieder  der*  Charakter  der  Allgemein- 
wissenschaft verdunkelt,  und  die  Subsumtion  der  Mathematik  in 
das  Gebiet  der  (xegeustandstheorie  kann  dann  leicht  die  Eigenart 
und  Eigenberechtigung  der  ersteren  zu  bedrohen  scheinen. 

Aber  derlei  Äußerlichkeiten  und  Zufälligkeiten  dürfen  der 
Einsicht  in  die  innere  Zusammengehörigkeit,  soweit  eine  solche 
vorliegt,  niclit  in  den  Weg  treten.  Am  besten  wird  man  vielleicht 
der  immerhin  nicht  ganz  einfachen  Sachlage  Rechnung  tragen, 
wenn  man  etwa  sagt:  Mathematik  ist  sicher  nicht  Gegenstands- 
theorie, sondern  nach  wie  vor  eine  Wissenschaft  für  sich;  aber 
ihre  Gegenstände  liegen  im  Bereiche  dessen,  das  in  seiner  Totalität 
die  auch  ihrerseits  eigenberechtigte  (4egenstandstheorie  zu  beai'- 
beiten  hat. 


über  Gegenstandstheorie.  29 

§    10.    Geg'eiis tandstheoretisches   in   anderen   Wissen- 
schaften.   Allgemeine  und  spezielle  Gegenstandstheorie. 

Die  Wissenschaftslehre  kann  dem  Stoffe  gegenüber,  mit  dem 
sie  es  zu  tun  hat.  das  ist  den  verschiedenen  AMssenschaften  gegen- 
über, je  nach  Umständen  einen  doppelten  Standpunkt  einnehmen. 
Am  natürlichsten  geht  es  sicher  zu.  wenn  sie  sich  an  das  Prinzii) 
aller  Tatsachenwissenschalt  halten  kann:  erst  die  Tatsachen,  dann 
die  Theorie.  Erst  müssen  eben  die  mancherlei  Wissenschaften 
gegeben  sein:  dann  mag  sich  das  Bedürfnis  geltend  machen,  auf 
ihr  Wesen  und  gegenseitiges  Verhältnis  etwas  näher  einzugehen. 
Aber  Wissenschaft  ist.  zum  Teil  wenigstens,  auch  das  Ergebnis 
vorbedachten  Tuns:  im  Dienste  solcher  Yorbedachtsamkeit  kann 
die  Wissenschaftslehre  auch  von  AMssenschaften  handeln,  die  es 
noch  nicht  gibt,  aber  geben  sollte,  und  kann  sich  darauf  hingewiesen 
finden,  Begriff'  und  Aufgaben  solcher  Wissenschaften  so  gut  zu 
präzisieren,  als  derlei  vorgängig  eben  möglich  ist. 

Auch  wir  haben  uns  im  vorstehenden  durch  das  Interesse  für 
die  Gegenstände  auf  Erwägungen  hingedrängt  gefunden,  die  der 
Wissenschaftslehre  zugehören.  Letzterer  obliegt  es  dabei,  in  der 
zweiten  der  eben  angegebenen  Weisen  zu  funktionieren:  die  Gegen- 
standstheorie, die  wir  als  eigene  Vüssenschaft  in  Anspruch  nehmen 
mußten,  ist  der  Hauptsache  nach  eine  Wissenschaft,  die.  zumal 
als  in  ihrer  Eigenberechtigung  ausdrücklich  anerkannte  Sonder- 
disziplin, zur  Zeit  so  gut  wie  noch  gar  nicht  existiert.  Nun  ist 
dies  aber  keineswegs  so  zu  verstehen,  als  ob  bisher  Gegenstands- 
theorie der  Sache  nach  so  wenig  getrieben  worden  wäre  als  dem 
Namen  nach.  Und  mag  auch,  den  vermutlich  äußerst  zahlreichen 
und  engen  Anschlüssen  an  bisher  betretene  Gedankenwege  genauer 
nachzugehen,  dann  erst  eigentlich  an  der  Zeit  sein,  wenn  die  neu 
geforderte  Wissenschaft  durch  das,  was  sie  zu  bieten  vermag,  sich 
einigermaßen  selbst  legitimiert  haben  wird,  so  dürfte  es  doch  dem 
hier  von  mir  versuchten  Eintreten  für  die  neue  \Mssenschaft 
nicht  ungünstig  sein,  es  wenigstens  nicht  an  allen  Hinweisen 
darauf  fehlen  zu  lassen,  daß  durch  dieselbe  nur  längst  gefühlten 
und  bereits  in  der  verschiedensten  Weise  zu  einem  gewissen  Aus- 
diTick  gelangten  Bedürfnissen  unter  beTNiißter  Herausarbeitung 
verbreitetster .  nur  vielleicht  ihrem   eigentlichen  Zielpunkte  nach 


30 


A.  Meinong. 


oft  unerkannt   gebliebener  Interessen  Rechnung;  getragen  werden 

möchte. 

In  der  Tat  meine  ich.  daß  es  besonderer  historischer  Nach- 
forschungen wahrlich  nicht  bedarf,  um  zu  erkennen,  daß  Gegen- 
standstheorie bisher  zwar  wahrscheinlich  noch  nicht  ,.explizite", 
um  so  häufiger  aber  „implizite"  getrieben  worden  ist.  wobei  noch 
hinzugefügt  werden  muß,  daß  es,  für  die  Praxis  wenigstens,  in  der 
Implikation  Grade  gibt,  die  den  Übergang  zum  Tatbestande  des 
Expliziten  geradezu  als  einen  fließenden  erscheinen  lassen  können. 
Wer  solchen  Übergängen  und  den  Ansätzen  dazu  nachgehen  will, 
wird  berücksichtigen  müssen,  daß  wir  gegenstandstheoretische 
Interessen  sozusagen  an  zwei  verschiedenen  Orten  angetrofien 
haben:  bei  Fragen,  die  gewisse  speziellere  Gegenstandsgebiete  für 
sich,  und  bei  Fragen,  die  das  Gesamtgebiet  der  Gegenstände  an- 
langen. Wir  können  in  diesem  Sinne,  und  wäre  es  auch  nur  zur 
augenblicklichen  Verständigung,  spezielle  und  allgemeine  Gegen- 
standstheorie auseinanderhalten. 

Nun  wurde  oben  bereits  darauf  hingewiesen,  daß  spezielle,  in 
gewissem  Sinne  speziellste  Gegenstandstheorie  in  der  Mathematik 
die  glänzendste  Repräsentation  gefunden  hat.  die  man  sich  nur 
wünschen  kann.  Dieser  Glanz  hat  längst  zu  dem  Streben  geführt, 
die  Behandlungsweise  „more  mathematico"  auch  anderen  AVissens-, 
ich  darf  wohl  kurzweg  sagen,  Gegenstandsgebieten  zugänglich  zu 
machen,  und  es  wird  schwerlich  ein  erheblicher  Fehler  unterlaufen, 
wenn  hinzugefügt  wird:  wo  immer  solche  Versuche  unternommen 
worden  sind,  hat  man  zugleich  auch  versucht,  spezielle  Gegeu- 
standstheorie  auf  außermathematischem  Gebiete  zu  treiben.  Frei- 
lich darf  dabei  nicht  etwa  jede  Anwendung  mathematischer  Ver- 
fahrungsweisen  mit  in  Anschlag  gebracht  werden :  wenn  der  Kauf- 
mann oder  der  Ingenieur  rechnet,  so  hat  er  dabei  mit  Gegenstands- 
theorie so  Avenig  zu  tun,  als  mit  sonst  einer  Theorie.  Aber  ge- 
wisse gegenständliche  Voraussetzungen  liegen  natürlich  auch  jeder 
solchen  praktischen  Anwendung  zugrunde,  und  es  ist  damit  nicht 
anders  bewandt,  wenn  die  Anwendung  einmal  im  theoretischen 
Interesse  erfolgt.  Dabei  kann  die  Natur  dieser  Voraussetzungen 
gegenüber  der  die  ganze  Aufmerksamkeit  beanspruchenden  Rechen- 
technik völlig  in  den  Hintergrund  treten,  wie  am  deutlichsten  das 
Beispiel  der  Wahrscheinlichkeitslehre  oder  auch  der  Fehlertheorie 


über  Gegenstandstheorie.  31 

beleuchtet,  deren  natürliche  Zug'ehörigkeit  zur  Logik  resp.  Psycho- 
logie auch  heute  noch  keineswegs  von  jedermann  erkannt  oder  gar 
anerkannt  sein  wird.  Die  Natur  dieser  Voraussetzungen  nun  kann 
die  betreftenden  Rechnungsoperationen  eventuell  ganz  direkt  in 
den  Dienst  der  Gegenstandstheorie  stellen,  wie  sich  leicht  am  Bei- 
spiele der  Kombinationslehre  ersehen  läßt.  Bereitwilliger  als  die 
Arithmetik  scheint  indes  noch  die  Geometrie  gegenstandstheo- 
retischen Feststellungen  über  ihre  engsten  Grenzen  hinaus  die 
Hand  zu  bieten.  Betrachtet  man  nämlich  wie  bei  jener  die 
Zalilengrößen.  so  bei  dieser  die  Raumgrößen  als  das  ihr  eigentlich 
zugehörige  Gebiet,  dann  ist  bereits  alles,  was  sich  als  die  jeder- 
mann so  geläufige  Übertragung  geometrischer  Betrachtungsweisen 
vom  Baume  auf  die  Zeit  darstellt,  außermathematisch,  zugleich 
aber,  weil  an  die  sogenannte  Realität,  genauer  an  die  wirkliche 
Existenz  der  Zeit  in  keiner  \\'eise  gebunden,  gegenstandstheoretisch. 
Daß  von  der  Phoronomie  Analoges  noch  in  weit  höherem  Maße 
gilt,  versteht  sich;  und  hat,  was  mir  kaum  abzuweisen  scheint, 
A.  HÖFLER  Recht,  wenn  er  neben  Raum  und  Zeit  auch  noch 
Spannung  als  das  „dritte  Grundphänomen  der  Mechanik"  in  An- 
spruch nimmt, ^)  so  ist  damit  eine  weitere  Richtung  gekennzeichnet, 
in  der  diese  Wissenschaft  unbeschadet  ihres  von  Natur  empirischen 
Charakters  durch  möglichst  weitgehende  apriorische  Bearbeitung 
ihrer  Objekte  den  Interessen  der  Gegenstandstheorie  entgegen- 
kommt. 

Noch  deutlicher  wird  dieses  über  sich  Hinausgreifen  der  geo- 
metrischen Betrachtungsweise  dort,  wo  es  vermöge  der  Eigenart 
des  einbezogenen  Gebietes  nur  teilweise  gelingt.  In  dieser  Hin- 
sicht sind  die  Bemühungen  der  modernen  Psychologie,  die  den  ver- 
schiedenen Sinnen  zugehörigen  „Empfindungsgegenstände"  -)  zu 
ordnen  und  ihre  Mannigfaltigkeiten  wo  möglich  durch  räumliche 
Abbildung  zu  erfassen,  besonders  lehrreich;  und  wenn  auch  selbst 
dort,  wo  diese  Bemühungen  bisher  die  greilbarsten  Ergebnisse  zu- 


M  A.  Höfler,  „Zur  gegenwärtigen  Naturphilosophie",  S.  84  (24  der  Sonder- 
ausgabe), Aum.  23,  auch  S.  164  (104).  Die  „Diraensionslehre",  auf  die  a.  a.  0. 
S.  147  (87)  hingewiesen  wird,  verdient  wohl  ebenfalls  im  gegenwärtigen  Zu- 
sammenhange angeführt  zu  werden. 

^)  Ein  mir  sehr  brauchbar  scheinender  Terminus  Witasek's  (vgl.  dessen 
.,Grundlagen  der  allgemeinen  Ästhetik",  Leipzig  1904,  S.  36  ff.). 


32  A.  Meinong. 

tacre  oeionl(Mt  habeii.M  beim  Lichtsiime.  die  Bezeichnung-  „Farben- 
peometiie"  ein  noch  bei  weitem  nicht  verdientes  Lob  in  sich 
schließt,  so  tiitt  doch  o:erade  darin  der  weit  mehr  gegenstands- 
theoretische als  psychologische  Charakter  der  einschlägigen  Unter- 
suchungen in  besonders  unverkennbarer  Weise  zutage.  Holfent- 
lich  ist  es  nicht  allzu  persönlich,  wenn  ich  an  dieser  Stelle  be- 
richte, daL)  mir  erst  während  des  vermeintlich  ausschließlich 
psychologischen  Bemühens,  in  der  IvJärung  dieser  Dinge  vorzu- 
dringen, manches  vom  ^^'esen  der  gegenstandstheoretischen  Frage- 
stellungen in  ihrer  ganzen  AUgemeinheit  aufgegangen  ist. 

Was  ich  eben  als  das  Übergreifen  mathematischer  Betrach- 
tungsweise über  ihr  engstes  Gebiet  bezeichnet  habe,  hat  den 
C;harakter  des  Instinktiven.  Unbewußten  im  Vergleiche  mit  den 
ganz  ausdrücklich  auf  Erweiterung  jenes  Gebietes  und  möglichste 
Verallgemeinerung  der  Fragestellungen  gerichteten  Bestrebungen, 
die  wohl  schon  unter  dem  Namen  der  allgemeinen  Funktionen- 
theorie, unverkennbar  aber  in  Bezeichnungen  wie  „Ausdehuungs- 
lehre",  „Mannigfaltigkeitslehre",  wohl  auch  unter  dem  so  viel  miß- 
deuteten Schlagworte  „Metamathematik"  zur  Geltung  gekommen 
sind.  Von  dem  für  uns  an  dieser  Stelle  maßgebenden  Gesichts- 
punkte aus  besehen  repräsentieren  die  einschlägigen  hochbedeut- 
samen Untersuchungen  den  Übergang  von  der  speziellen  zur  all- 
gemeinen Gegenstandstheorie.  Eine  ähnliche  Stellung  mag  in 
mancher  Hinsicht  den  sonst  so  völlig  anders  inteutionierten  Be- 
strebungen und  Ergebnissen  zukommen,  die  man  sich  unter  den 
Gesamtnamen  „mathematische  Logik"  zusammenzufassen  gewöhnt 
hat.  Dagegen  wird  das  trotz  des  philosophiegeschichtlichen  Wissens 
unserer  Zeit  vorerst  kaum  annähernd  Einzuschätzende  an  wert- 
vollen Aufstellungen  und  Anregungen,  welche  (nicht  mathematische) 
Logik,  Erkenntnistheorie  und  Metaphysik  von  Aristoteles  bis  auf 
die  Gegenwart  zur  Durchforschung  des  uns  hier  beschäftigenden 
Interessenkreises  beigesteuert  hat,  wohl  in  allererster  Linie  der 
allgemeinen  Gegenstandstheorie  zustatten  kommen.  Das  Nämliche 
gilt  aber  auch  von  der  Sprachwissenschaft,  insbesondere  Grammatik, 
deren  Bedeutung  zwar  weder  von   alter  noch   von    neuer  Logik 


')  Vgl.  meine  ..Bemerkungen   über  den   psychologischen  Farbeukörper  etc." 
a.  a.  0.  S.  oft'. 


über  GegeustandstUeorie.  33 

Übersehen  worden  ist,  indes  schwerlich  recht  gewürdigt  werden 
konnte,  ehe  man  im  Wesen  von  Wort-  resp.  Satzbedeutung  Objekt 
resp.  Objektiv  erkannt  hatte.  ^)  So  völlig  verschieden  die  Dinge 
im  ganzen  auch  stehen,  man  fühlt  sich  doch  versucht  zu  behaupten, 
die  allgemeine  Gegenstandstheorie  habe  von  der  Grammatik  in 
ähnlicher  Weise  zu  lernen,  wie  die  spezielle  Gegenstandstheorie 
von  der  Mathematik  lernen  kann  und  soll. 

Wie  dieser  rasche  Umblick  trotz  seiner  Flüchtigkeit  dartut, 
ist  die  Gegenstandstheorie  keineswegs  in  allen  Dingen  erst  auf 
zu  leistende  Arbeit  angewiesen.  Eher  fast  könnte  die  Frage  ent- 
stehen, ob  das  hier  versuchte  Eintreten  für  eine  ,, Gegenstands- 
theorie" mehr  zu  l)edeuten  habe  als  einen  neuen  Namen  für  eine 
alte  Sache.  Und  leicht  könnte  man  dann  finden,  daß  es  für  zu 
leistende  Forschungsarbeit  gleichgültig  genug  sein  möchte,  ob  sie 
von  einem  Mathematiker,  Phj'siker,  Logiker  oder  —  Gegenstands- 
theoretiker unternommen  werde.  Indes  läge  in  dieser  letzten 
Wendung  ein  Mißverständnis,  dem  bereits  im  Anfange  dieser 
Darlegungen  ausdrücklich  entgegengetreten  worden  ist.  Es  ist 
sicher  einerlei,  wer  theoretische  Probleme  löst  und  unter  welchem 
Namen  er  es  tut.  Sollte  es  auch  gelingen,  die  Anerkennung  der 
Gegenstandstheorie  als  besonderer  Disziplin  durchzusetzen,  so  wird 
man  nach  wie  vor  Mathematikern  wie  Physikern.  Sprachforschern 
wie  den  Vertretern  welcher  sonstigen  Wissenschaft  immer  für 
tatkräftige  Förderung  der  gegenstandstheoretischen  Interessen 
dankbar  sein  dürfen,  und  dies  auch  dann,  wenn  sie  dabei  den 
Eechtsboden  ihrer  eigenen  ^Vissenschaft  nicht  verlassen  zu  haben 
meinen.  Dagegen  dürfte  es  für  viele,  wo  nicht  die  meisten  ein- 
schlägigen Arbeiten,  wie  sonst  so  häufig,  von  größtem  Belange  sein, 
von  der  Natur  der  zu  lösenden  Aufgabe  eine  möglichst  klare  Vor- 
stellung zu  hal)en:  die  Verschärfung  alter,  das  Hinzutreten  neuer 
fruchtbarer  Fragestellungen  ist  eine  natürliche  Folge.  Schon  der 
Umstand,  daß  die  eben  zusammengestellten,  zunächst  so  verschieden- 
artig scheinenden  Probleme  und  Bestrebungen  sich  unter  dem 
Gesichtspunkte  der  Gegenstandstheorie  als  zusammengehörig  dar- 
stellen, gewährleistet  den  Wert  dieses  Gesichtspunktes. 


')  Vgl.  ,,Cber  Aiinahuieu",  besonders  S.  19  ff.,  175  ff. 

M  e  i  n  0 11  g ,  L'ntersucbungen. 


34  A.  Meinong. 

§  11.    Pliilosophie  und  Gegenstandstlieorie. 

Darf  icli  hoffen,  durch  das  Bisherige  die  Eigenberechtigung- 
der  Gegenstandstheorie  gegenüber  den  übrigen  Wissenschaften 
ausreichend  dargetan  zu  haben,  so  mag  es  nun  an  der  Zeit  sein, 
auch  ihrem  Verwandtschaftsverhältnis  zu  diesen  übrigen  Wissen- 
schaften einige  Aufmerksamkeit  zu  schenken,  mit  anderen  Worten : 
den  Ort  der  Gegenstandstheorie  im  Systeme  der  Wissenschaften 
einigermaßen  zu  bestimmen.  Die  Schwierigkeiten,  mit  denen  man 
sich  dabei  abfinden  muß,  namentlich  wenn  man  von  einigermaßen 
befriedigenden  Definitionen  der  betreffenden  Wissenschaften  aus- 
zugehen bemüht  ist,  sind  keineswegs  ausschließlich  auf  Rechnung 
der  Gegenstandstheorie  oder  der  hier  vertretenen  „Idee"  derselben 
zu  setzen.  Denn  an  den  verschiedensten  Wissenschaften  kann 
man  immer  noch  erkennen,  wie  wenig  sie  sich  im  Wachsen  und 
Gedeihen  durch  den  Umstand  stören  lassen,  daß  sich  eine  in  jeder 
Hinsicht  einwurfsfreie  Definition  für  sie  bisher  nicht  hat  finden 
wollen.  Ich  ziehe  daraus  keineswegs  die  Konsequenz,  daß  die  auf 
Gewinnung  solcher  Definitionen  gerichteten  Bemühungen  nicht 
fortgesetzt  werden  sollten,  wohl  aber,  daß  man  zwar  das  bisher 
erreichte  Unvollkommene  nicht  unbenutzt  lassen  darf,  daneben  es 
aber  ganz  wohl  auch  einmal  damit  versuchen  kann,  wie  weit  sich 
auf  Grund  einiger  konkreter  Sachkenntnis  auch  schon  ohne  förm- 
liche Definition  Rat  schaffen  läßt. 

Auf  solche  Grundlagen  hin  wird  es  insbesondere  jedem,  der 
irgendwie  einer  jener  Wissenschaften  näher  steht,  deren  Gesamt- 
heit unter  dem  Namen  „Philosophie"  zusammengefaßt  wird,  ^)  nicht 
eben  schwer  fallen,  auch  in  der  Gegenstaudstheorie  eine  dieser 
Wissenschaften  zu  erkennen.  Auch  Gegenstandstheorie  ist  also 
Philosophie  und  nur  nach  ihrer  Stellung  zu  den  übrigen  „philo- 
sophischen Disziplinen"  kann  noch  die  Frage  sein.  Ihrer  Be- 
antwortung habe  ich  aber  bereits  den  größten  Teil  der  vorstehenden 
Darlegungen  gewidmet.  Es  hat  sich  herausgestellt,  daß  und  warum 
Gegenstandstheorie  weder  Psychologie  noch  Logik  ist.    Auch  daß 


^)  Genaueres  hierüber  in  meinen  Ausführungen  „Über  philosophische  Wissen- 
schaft und  ihre  Propädeutik",  Kap.  I.  Vgl.  neuestens  Hüfler,  „Zur  gegenwärtigen 
Naturphilosophie",  a.  a.  0.  S.  123  (63)  ff. 


über  Gegenstandstheorie.  35 

sie  der  Erkenntnistheorie  gegenüber  selbständig  sei,  meinte  ich 
dartun  zu  können;  doch  möchte  ich,  wie  schon  angedeutet,  auf 
dieses  Ergebnis  weniger  Gewicht  legen.  Daß  man  nicht  Erkenntnis- 
theorie treiben  kann,  ohne  auch  Gegenstandstheorie  zu  treiben 
oder  sich  wenigstens  die  wichtigsten  Feststellungen  der  Gegen- 
standstheorie zu  nutze  zu  machen,  scheint  mir  auf  alle  Fälle  außer 
Zweifel,  ^)  und  darum  möchte  es  am  Ende  ein  unerheblicher  Dissens 
sein,  falls  jemand  meinen  sollte,  daß  jene  Feststellungen  selbst 
eigentlich  sozusagen  nur  im  Namen  der  Erkenntnistheorie  vor- 
genommen oder  vorzunehmen  wären. 

Viel  wichtiger  für  die  Position  der  Gegenstandstheorie  scheinen 
mir  hingegen  ..geordnete  Beziehungen"  zu  einer  anderen  Nachbar- 
wissenschaft, von  der  im  Vorhergehenden  auch  schon  wiederholt 
die  Kede  war:  ich  meine  die  Metaphysik,  unter  deren  Namen  die 
Geschichte  der  Philosophie  ja  tatsächlich  viele  der  bedeutsamsten 
gegenstandstheoretischen  Aufstellungen  verbucht  hat.  Auch  wer 
im  Sinne  der  eben  als  relativ  zulässig  bezeichneten,  obwohl  nicht 
gebilligten  Ansicht  die  Gegenstandstheorie  als  einen  Teil  der 
Erkenntnistheorie  betrachten  wollte,  würde  dadurch  dieser  Grenz- 
frage nicht  überhoben:  die  Gegenstandstheorie  zählte  dann  eben 
zu  den  Gebieten,  oder  machte  am  Ende  gar  eben  das  Gebiet  aus, 
in  betreif  deren  (oder  dessen)  Erkenntnistheorie  und  Metaphysik 
sich  bisher  bekanntlich  nicht  haben  einigen  können. 

Leider  ist  aber  gerade  bei  der  Metaphysik  eine  Verständigung 
ohne  alle  Berufung  auf  definitorische  Bestimmungen  nicht  zu  er- 
zielen. In  diesem  Sinne  darf  ich  hier  wenigstens  den  mir  während 
der  Niederschrift  der  gegenwärtigen  Untersuchungen  zukommenden 
Vorschlag  A.  Höpler's  nicht  ganz  unerwähnt  lassen,  der  unter 
Zugrundelegung  einer  geistvollen  Konzeption  J.  Breuer's  -)  dafür 
eintritt,  Metaphysik  als  die  Wissenschaft  vom  „Metaphänomenalen" 
zu  charakterisieren.  ^)  Der  Grund ,  um  deswillen  ich  diesem  Vor- 
schlage beizupflichten  außerstande  bin,  ist  im  wesentlichen  der 
nämliche,  um  deswillen  ich  mich  seit  Jahren  nicht  mehr  ent-. 
schließen   kann,   die  ..Phänomene"    des  Lichtes,   des  Schalles   etc 


^)  Vgl.  anch  Höpler  a.  a.  0.  S.  151  (91). 

^)  Mitgeteilt  in  Beilage  I  zu  Hüfler's  wiederholt  angeführter  Schrift  „Zur 
gegenwärtigen  Naturphilo  sophie". 
*)  A.  a.  0.  S.  154  (94)  ff. 

3* 


3ß  A.  Meinong. 

für  das  zu  halten,  mit  dem  der  Physiker,  oder  auch  die  ,.psychi- 
schen  Phäiiümene"  für  das,  womit  es  der  Psycholog  zu  tun  hat. 
Phänomene  als  solche  sind  eine,  immerhin  eine  sehr  wichtig-e,  Art 
pseudo-existierender  Gegenstände.  "Was  im  Falle  einer  Pseudo- 
existenz  wirldich  existiert,  sind  jederzeit  nur  inhaltlich  bestimmte 
Vorstellungen:  Vorstellungen  aber  sind,  um  hier  der  Einfachheit 
wegen  nur  von  der  Physik  zu  reden,  me  ja  gerade  Höfler  selbst 
durch  besonders  handgreifliche  Argumente  dargetan  hat  ^).  niemals 
Untersuchungsobjekte  der  letzteren.  Nun  ist  freilich  das  Phänomen 
nicht  das  Phänomenale,  die  Erscheinung  nicht  das  Erscheinende, 
sofern  unter  letzterem  etwas  gemeint  ist,  das  aus  der  Erscheinung 
erkannt  werden,  dessen  Existenz  also  etwa  aus  der  Tatsache  der 
Erscheinung  ersclüossen  werden  kann.  Daß  ein  solches  Er- 
scheinendes das  ist,  dem  sich  z.  B.  das  physikalische  Interesse 
zuwendet,  das  möchte  auch  ich  ganz  und  gar  nicht  bestreiten. 
Dann  kann  ich  aber  auch  nicht  absehen,  vde  es  möglich  sein 
sollte,  dergleichen  „Phänomenales"  aus  dem  Bereiche  metaphysischer 
Problemstellungen,  etwa  deren  nach  Anfang  und  Ende  dieses  Er- 
scheinenden, auszuschließen. 

Da  ich  mir  eine  so  ausgiebige  Abschweifung  vom  Hauptthema 
dieser  Studie,  wie  die  Wichtigkeit  des  von  Breuer  und  Höfler 
angeregten  Gedankens  zu  einigermaßen  angemessener  Würdigung 
erforderte,  nicht  gestatten  kann,  so  mögen  für  jetzt  diese  wenigen 
Andeutungen  genügen,  zu  motivieren,  warum  es  mir  nach  wie  vor  -) 
immer  noch  am  angemessensten  scheint,  bei  der  Charakteristik 
der  Metaphysik  auf  das  Moment  der  größtmöglichen  Allgemein- 
heit im  Sinne  eines  möglichst  umfassenden  Geltungsbereiches 
für  ihre  Aufstellungen  das  Hauptgewicht  zu  legen.  Die  Meta- 
physik ist  weder  Physik,  noch  physische,  noch  psychische  Biologie, 
vielmehr  fasst  sie  Unorganisches  wie  Organisches  und  Psychisches 
in  ihi-  Forschungsgebiet  zusammen,  um  zu  ermitteln,  was  für  die 
Gesamtheit  des  in  diese  so  verschiedenen  Gebiete  Fallenden  Geltung 
hat.  Natürlich  wird  gerade  dieser  Bestimmung  gegenüber  um  des 
Nachdruckes  willen,  den  sie  auf  die  Allgemeinheit  legen  muß,  be- 
sonders  stark   das   Bedürfnis    fühlbar,    das    Verhältnis    zwischen 


')  Vgl.  „Zur  gegenwärtigen  Naturphilosophie",  besonders  S.  131  (71)  ff. 
^)  „Über  philosophische  Wissenschaft  etc."  S.  7. 


über  Gegenstandstheorie.  37 

Metaphysik  und  Gegenstandstheorie  ins  reine  zu  bringen,  nach- 
dem auch  bei  letzterer  die  besondere  Weite  des  ihr  zugehörigen 
Gebietes  unsere  Aufmerksamkeit  auf  sich  gezogen  hat.  Aber  viel- 
leicht führt  uns  gerade  die  Mitberücksichtigung  der  Gegenstands- 
theorie auf  einen  Gesichtspunkt,  der  uns  gestattet,  die  obige 
Charakteristik  der  Metaphysik  noch  zu  vervollständigen  und  da- 
durch manches  Bedenken,  dem  sie  bisher  ausgesetzt  sein  mochte, 
zum  Schweigen  zu  bringen. 

Übrigens  kann  ich  dabei  auf  bereits  Besprochenes  zurück- 
greifen und  mich  insofern  kurz  fassen.  Existiert,  wie  wir  ja  wohl 
glauben  dürfen,  nichts  in  der  AVeit,  das  weder  physisch  noch 
psychisch  wäre,  dann  ist  die  Metaphysik,  sofern  sie  sowohl  dem 
Psychischen  als  dem  Physischen  zugewandt  ist,  sicher  die  Wissen- 
schaft von  der  Gesamtheit  des  Wirklichen.  Insofern  ist  dann 
z.  B.  natürlich  auch  die  Grundthese  des  Monismus,  welche  die 
Wesensgleichheit,  und  nicht  minder  die  des  Dualismus,  welche  die 
Wesensverschiedenheit  des  Physischen  und  Psychischen  behauptet, 
metaphysisch.  Aber  wer  zwei  Dinge  als  gleich  oder  verschieden 
erkennt,  erkennt  freilich  etwas  in  betreff"  dieser  Dinge:  seine  Er- 
kenntnis betriff't  jedoch  auch  Gleichheit  resp.  Verschiedenheit,  und 
Gleichheit  ist  selbst  so  wenig  wieder  ein  Ding  wie  Verschieden- 
heit; beide  stehen  außerhalb  der  Disjunktion  zwischen  Physisch 
und  Psychisch,  weil  außerhalb  des  Realen.  Es  gibt  eben  auch 
Wissen  von  Nichtwirklichem:  und  mögen  die  Aufgaben  der  Meta- 
physik in  ihrer  Weise  noch  so  allgemein  gefaßt  werden,  es  gibt 
noch  allgemeinere  Fragestellungen  als  die  der  Metaphysik,  solche 
nämlich,  für  die  jene  für  die  Metaphysik  wesentliche  Richtung  auf 
das  Wirkliche  keine  Schranke  mehr  ausmacht.  Dieser  Art  aber 
sind  eben  die  Fragestellungen  der  Gegenstandstheorie. 

Aber,  so  wird  man  wohl  vor  allem  fragen,  ist  es  nicht  ge- 
waltsam, oder  doch  zum  mindesten  willkürlich,  alle  idealen  Gegen- 
stände^) aus  dem  Untersuchungsbereiche  der  Metaphysik  grund- 
sätzlich auszuschließen?  Ich  antworte  darauf  zunächst,  daß  sie  ja 
keineswegs  in  jedem  Sinne  ausgeschlossen  sein  sollen:  es  wäre 
sicher  schlimm  um  unsere  metaphysischen  Interessen  bestellt,  wenn, 
das  Beispiel  von  Monismus  und  Dualismus  hat  es  eben  erst  dar- 


„Über  Gegenstände  höherer  Ordnung  etc."  S.  198  f. 


38  A.  Meinong. 

getan,  in  der  ^letaphysik  nicht  von  Gleichheit  oder  Verschieden- 
heit, ebenso  wenn  darin  nicht  von  Ursache.  Zweck,  Einheit, 
Kontinnität  und  vielen  anderen  Gegenständen,  die  ganz  oder  teil- 
weise idealer  Natur  sind,  die  Rede  sein  dürfte.  Aber  von  vielem 
derartigen  ist  ja  auch  schon  etwa  in  der  Physik  die  Rede,  das 
gleichwohl  niemand  den  Gegenständen  phj'sikalischer  Forschung 
zuzählen  möchte.  Es  ist  also  jedenfalls  mit  ganz  bestimmten  Vor- 
))ehalten  gemeint,  wenn  von  einer  Beschränkung  des  Gebietes  der 
Metaphysik  auf  die  Wirklichkeit  die  Rede  ist.  Solche  Vorbehalte 
aber  vorausgesetzt,  glaube  ich  nun  vor  allem  Tsdrklich,  daß  diese 
Beschränkung  durchaus  dem  Geiste  gemäß  ist,  in  dem  in  alter 
und  neuer  Zeit  stets  Metaphysik  getrieben  wurde,  entsprechend 
zugleich  dem  wiederholt  erwähnten  natürlichen  Interessenvorrange 
des  AMrklichen.  Daß  „Ontologie",  „Kategorienlehre''  und  was 
sonst  mit  mehr  oder  weniger  Einstimmigkeit  dann  immer  noch 
der  ^letaphysik  zugerechnet  \s-urde.  ab  und  zu  auch  den  Interessen 
stattgegeben  hat,  die  über  die  Grenzen  des  Wirldichen  hinaus- 
reichen, zeugt  nur  für  das  gute  Recht  und  die  Unabweisbarkeit 
auch  dieser  Interessen,  gibt  aber,  so  viel  ich  sehe,  keinem  Zweifel 
daran  Raum,  daß  die  Grundintention  aUer  Metaphysik  doch  jeder- 
zeit auf  das  Erfassen  der  „Welt"  im  eigentlichen,  natürlichen 
Sinne,  d.  i.  der  ^\'elt  des  Wirklichen  gerichtet  war,  selbst  dann, 
wenn  dieses  Erfassen  zu  ergeben  schien,  daß  das  zu  Erfassende 
auf  den  Namen  eines  Wirklichen  gar  keinen  Anspruch  habe.  SoUte 
aber  auch  die  hier  ausgesprochene  Ansicht  vom  eigentlichen 
Charakter  der  bisherigen  Metaphysik  nicht  jeden  überzeugen,  ja 
wohl  gar  sich  als  historisch  irrig  erweisen  lassen,  der  Irrtum  be- 
träfe immer  nur  die  Begriffsbestimmung  gleichsam  ..de  lege  lata" 
und  die  „de  lege  ferenda"  ^)  stünde  noch  der  Erwägung  offen. 
Unter  dieser  Voraussetzung  wäre  das  oben  zur  Charakteristik  dei- 
Metaphysik  Beigebrachte  ein  Definitionsvorschlag:  den  Namen 
„]VIetai)hysik"  auf  die  ADgemeinwissenschaft  vom  Wirklichen  ein- 
zuschränken, wäre  eben  gleich  wünschenswert  im  Interesse  klarer 
Aufgabenstellung  für  diese  Wissenschaft,  wie  im  Interesse  deut- 
licher Abgrenzung  derselben  gegenüber  der  Gegenstandstheorie. 
Nur  ist  hier  nun   in  bezug  auf  letztere   noch   ein  Punkt  ins 


'1  Breuer  bei  Hüfler  a.  a.  0.  S.  189  (129). 


über  Gegeustandstheorie.  39 

reine  zu  bringen.  Ist  Metaphysik  die  Allgemeinwissenschaft  vom 
Wirklichen,  wollen  wir  ihr  die  Geg'enstandstheorie  als  Allg-emein- 
wissenschaft  A^om  Xichtwirklichen  g-eg-enüberstellen  ?  Das  wäre 
offenbar  zu  eng':  warum  sollten  die  wirklichen  Geg'enstände  aus 
der  Lehre  vom  Gegenstände  als  solchem  ausgeschlossen  sein? 
Oder  wäre  es  entsprechender,  die  Gegenstandstheorie  als  Lehre 
vom  Bestehenden  zu  kennzeichnen,  das  Wort  „bestehen"  einiger- 
maßen im  Gegensatz  gegen  „existieren"  genommen/)  wobei  voraus- 
gesetzt werden  dürfte,  daß  zwar  alles  Existierende  auch  besteht, 
nicht  aber  alles  Bestehende  (z.  B.  Verschiedenheit)  •  existiert  ? 
Auch  hier  wäre  nicht  das  Gesamtgebiet  einbegriffen,  das,  wie  wir 
sahen,  der  Gegenstandstheorie  untersteht:  das  Nichtbestehende, 
das  Absurde  wäre  ausgeschlossen,  dem  das  natürliche  Interesse 
ja  sicher  nur  in  weit  geringerem  Maße  zugewandt  ist  und  das 
auch  intellektuellem  Erfassen  weniger  Angriffspunkte  bietet,-)  aber 
am  Ende  doch  auch  zu  dem  ..Gegebenen"  gehört,  so  daß  die  Gegen- 
standstheorie es  in  keiner  Weise  ignorieren  kann. 

Solchen  Mängeln  ließe  sich  einfach  durch  die  Festsetzung 
begegnen,  die  Gegenstandstheorie  beschäftige  sich  mit  dem  Ge- 
gebenen ganz  ohne  Rücksicht  auf  dessen  Sein,  indem  sie  nur  auf 
die  Erkenntnis  seines  Soseins  bedacht  sei.  Und  immerhin  ist,  was 
ein  Verbleiben  bei  dieser  Bestimmung  verbieten  dürfte,  bereits 
sozusagen  gegenstandstheoretisch  intimerer  Natur.  WoUte  sich 
nämlich  die  Gegenstandstheorie  Gleichgültigkeit  gegen  das  Sein 
zum  Grundsatze  machen,  dann  müßte  sie  zugleich  darauf  ver- 
zichten. ^Mssenschaft  zu  sein,  und  auch  das  Erkennen  des  Soseins 
wäre  damit  ausgeschlossen.  Denn  für  das  Erkennen  ist,  wie  wir 
wissen,  zwar  durchaus  nicht  erforderlich  daß  sein  Gegenstand  sei: 
aber  ein  seiendes  Objektiv  muß  jedes  Erkennen  haben,  und  be- 
faßte sich  die  Gegenstandstheorie  mit  einem  Sosein,  dem  selbst 
ein  Sein  nicht  mehr  zukäme,  so  hätte  sie,  von  hier  zu  übergehenden 
Ausnahmssituationen  abgesehen,  insofern  keinen  Ansprucli  mehr 
darauf,  für  eine  Theorie  zu  gelten.  Man  könnte  nun  freilich  immer 
noch  den  Grundsatz  so  formulieren:  die  Gegenstandstheorie  ver- 
nachljüssigt    das    Sein    nur   bei    ihren    Objekten,    nicht   aber   bei 


')  „Über  Gegeustände  höherer  Ordnung  etc.",  S.  186. 

*)  Vgl.  E.  Mallv  iu  Xr.  III  dieser  Untersuchungen,  Kap.  I.  §  öf. 


^Q  A.  Meinong. 

(gewissen)  Objektiven.  Weshalb  aber  dann  die  Ungleichmäßigkeit? 
Und  dann,  oder  vielleicht  vor  Allem :  ob  dieser  oder  jener  Gegen- 
stand von  Xatnr  absurd  ist,  ob  er  besteht  oder  auch  wohl  gar 
existieren  kann,  das  sind  Fragen,  die  die  Gegenstandstheorie  tat- 
sächlich interessieren,  und  am  Ende  doch  Fragen  nach  dem  Sein. 
Kurz  also:  auch  die  Beschränkung  auf  das  Sosein  läßt  sich  mit 
dem  Wesen  der  Gegenstandstheorie  nicht  wohl  in  Einklang  bringen. 
Es  dürfte  nun  aber  doch  ein  ziemlich  einfaches  Mittel  geben, 
liier  Rat  zu  schatten :  einen  methodologischen  Gesichtspunkt,  einen 
also,  wie  man  deren  bei  der  Charakteristik  von  Wissenschaften 
eher  mit  zuviel  als  zuwenig  Eifer  namhaft  zu  machen  versucht 
hat.  Es  gibt  bekanntlich  Erkenntnisse,  die  ihre  Legitimation  in 
der  Beschaifenheit,  im  Sosein  ihrer  Objekte  resp.  Objektive  haben, 
—  andere  dagegen,  wo  dies  nicht  der  Fall  ist. ^)  Jene  heißen 
längst  apriorische,  diese  empirische,  und  wenn  es  ab  und  zu  auch 
noch  heute  begegnet,  daß  dieser  Unterschied  geleugnet  wird,  so 
hat  das  für  diesen  Unterschied  selbst  nicht  mehr  zu  bedeuten, 
als  es  für  die  Verschiedenheit  von  Farben  verschlägt,  wenn  der 
Farbenblinde  ihrer  nicht  gewahr  wird,  nur  daß  die  Farbenblindheit 
psychologisch  um  vieles  interessanter  ist.  Nimmt  man  nun  diesen 
Unterschied  zu  Hilfe,  dann  gelingt,  wie  mir  scheint,  eine  be- 
friedigende Diiferentiation  unserer  beiden  Disziplinen  ohne  die 
geringste  Schwierigkeit.  Was  nämlich  aus  der  Natur  eines  Gegen- 
standes, also  a  priori,  in  betreif  dieses  Gegenstandes  erkannt  werden 
kann,  das  gehört  in  die  Gegenstandstheorie.  Es  wird  sich  dabei 
zunächst  um  das  Sosein  des  „Gegebenen"  handeln,  aber  auch  um 
dessen  Sein,  sow^eit  dieses  aus  dem  Sosein  erkennbar  ist.  Was 
dagegen  über  Gegenstände  nur  a  posteriori  auszumachen  ist,  ge- 
hört, ausreichende  Allgemeinheit  vorausgesetzt,  der  Metaphysik  zu : 
daß  dabei  der  Kreis  des  Wirklichen,  soweit  die  betreffenden  Er- 
kenntnisse affirmativer  Natur  sind,  nicht  überschritten  wird,  dafür 
sorgt  der  aposteriorische  Charakter  dieser  Erkenntnisse.  Es  gibt 
dann  eben  einfach  zwei  allgemeinste  Wissenschaften,  eine  apriorische, 
die  alles  Gegebene  betrifft,  und  eine  aposteriorische,  die  vom  Ge- 
gebenen so  viel  in  Untersuchung  zieht,  als  für  empirisches  Er- 
kennen eben  in  Betraclit  kommen  kann,  die  gesamte  A^'irklichkeit 


^)  „Über  Annahmen",  S.  193  f. 


über  Gegeustandstheorie.  41 

nämlich:    diese   letztere   Wissenschaft    ist   die   Metaphysik,  jene 
erstere  die  Gegenstandstheorie. 

Was  an  dieser  Bestimmung:  wohl  in  erster  Linie  auffallen 
wird,  ist  dies,  daß  darin  die  Metaphysik  als  empirische  Wissen- 
schaft auftritt,  indes  doch  der  Mangel  an  ausreichender  Empirie 
gerade  dasjenige  ist,  was  von  den  Vertretern  der  Einzelwissen- 
schaften alter  wie  neuer  Metaphysik  stets  in  erster  Linie  zum 
Vorwurfe  gemacht  worden  ist.  Ich  möchte  niemanden,  der  einen 
solchen  Vorwurf  verdient,  gegen  ihn  in  Schutz  nehmen,  und  hotte 
es  durch  Obiges  auch  so  wenig  getan  zu  haben,  daß  ich  eben 
bereits  in  der  Definition  der  Metaphysik  den  berechtigten  An- 
sprüchen der  Empirie  auf  sie  Kechnung  zu  tragen  bemüht  war. 
Was  Wirklichkeitswissenschaft  ist,  gleichviel  ob  speziellere  oder 
aUgemeinere,  dem  steht  in  letzter  Linie  eine  andere  Erkenntnis- 
quelle als  die  Erfahrung  nicht  zu  Gebote.  Li  letzter  Linie:  d.  h. 
nicht  alles  muß  direkt  erfahren,  es  kann  aus  Erfahrenem  auf 
Unerfahrenes,  allenfalls  auch  auf  Unerfahrbares  geschlossen  werden. 
Aber  was  die  Empirie  zur  unentbehrlichen  Grundlage  hat,  bleibt 
selbst  jederzeit  empirisch  und  vom  erkenntnistheoretischen  Gesamt- 
charakter des  Apriorischen  toto  coelo  verschieden.  Li  diesem 
Sinne  gibt  es  eben  kein  anderes  Wissen  von  Existierendem  als 
Erfahrungswissen:  stehen  der  Metaphysik  die  Erfahrungen  nicht 
zu  Gebote,  die  zu  Aufstellungen  von  der  für  sie  charakteristischen 
Allgemeinheit  erforderlich  wären,  dann  —  gibt  es  eben  keine 
Metaphysik,  mindestens  keine  wissenschaftliche,  und  von  der  allein 
ist  hier  immer  die  Rede.  Und  darauf  ist  ja  bereits  ausdrücldich 
hingewiesen  worden,  daß  es  für  die  gegenwärtigen  Aufstellungen 
ganz  außer  Betracht  bleiben  kann,  in  welchem  Maße  sich  das 
Streben  nach  wissenschaftlicher  Metaphysik  bisher  hat  in  die  Tat 
umsetzen  lassen.  So  ist  es  nur  ein  scheinbares,  durch  kurze  Über- 
legung zu  •  beseitigendes  Paradoxon ,  wenn  ich  behaupten  muß : 
so  viel  oder  wenig  von  metaphysischem  Wissen  uns  zugänglich  sein 
mag,  dieses  Wissen  kann  zuletzt  kein  anderes  als  empirisches 
Wissen  sein. 

Hält  man  dem  aber  die  Tatsache  entgegen,  daß  man  mit  dem 
^^'orte  ..Metaphysik"  so  oft  auch  wissenschaftliche  Bestrebungen, 
vielleicht  auch  Leistungen  benannt  hat,  bei  denen  man  sich  un- 
verkennbar, vielleicht  sogar  grundsätzlich  außerempirischer,   also 


42  A.  Meinono. 

apriorisclicr  Kikfiiiitnismittel  bediente,  so  verg-ißt  man.  daß  wir 
jetzt  anf  dem  Standjinnkte  der.  sit  venia  verbo.  ..definitio  ferenda" 
stehen.  Daß  man  die  beiden  Erkenntnisgebiete,  um  deren  reinliche 
Scheidung-  mir  eben  jetzt  zu  tun  ist,  bei  weitem  nicht  immer  rein- 
lich ,e-eschieden  hat,  das  ist  mir  natürlich  g-anz  wohl  bekannt. 
Daß  aber  die  Scheidung;,  falls  sie  mir  gelung:en  sein  sollte,  keine 
granz  wertlose  Sache  sein  möchte,  dafür  mag  an  dieser  Stelle  nur 
das  ontologfische  Arg-ument  zeug-en,  dem  oder  wenig-stens  dessen 
Analog-ien  vielleicht  auch  noch  heute  nicht  jedermann  entwachsen 
ist:  es  ist  eben  ein  Versuch,  eine  metaphj'sische  Frag-e  bloß  apri- 
orisch zu  lösen,  sie  insofern  auf  dem  Fuße  einer  bloß  gegenstands- 
theoretischen Frage  zu  behandeln;  damit  ist  das  Argument  und 
seinesgleichen  gerichtet. 

Daß  durch  diese  Scheidung  alle  Grenzschwierigkeiten  zwischen 
Metaphysik  und  Gegenstandstheorie  aus  der  Welt  geschattt  sein 
sollten,  ist  unwahrscheinlich.  Aber  es  wäre  auch  unbillig,  gerade 
in  diesem  Falle  zu  verlangen,  was  ungefähr  noch  in  keinem  Falle 
zwischen  Grenzwissenschaften  erzielt  worden  sein  wird.  AMchtiger 
ist  ein  Einwurf  speziell  vom  Standpunkte  der  Gegenstandstheorie 
aus.  Diese  wurde  zuletzt  kurzweg  als  allgemeine  AMssenschaft 
behandelt,  indes  wir  doch  oben  ganz  ausdrücklich  allgemeine  und 
spezielle  Gegenstandstheorie  auseinander  zu  halten  Anlaß  hatten. 
Hier  liegt  aber  eine  ünvollkommenheit  vor,  die  sich  wenigstens 
fürs  erste,  d.  h.  l)eim  gegenwärtigen  Stande  unseres  "Wissens  in 
gegenstandstheoretischen  Dingen  aus  praktischen  Gründen  nicht 
wird  beseitigen  lassen.  Daß  der  Mathematik,  soweit  sie  spezielle 
Gegenstandstheorie  ist,  noch  verschiedene,  ihrer  Anzahl  nach  zur 
Zeit  kaum  zu  bestimmende  andere  spezielle  Gegenstandswissen- 
schaften an  die  Seite  treten  könnten,  ist  klar.  Aber  diese  Gebiete 
sind  uns  wenigstens  zurzeit  noch  so  unvollkommen  bekannt,  daß 
ein  Bedürfnis,  sich  bei  deren  Bearbeitung  zu  spezialisieren,  vorerst 
nicht  vorliegt.  Die  speziellen  Gegenstandstheorien  zerfallen  also 
])raktisch  derzeit  in  Mathematik  und  Nichtmathematik:  und  was 
über  das  zweite  Glied  dieser  noch  recht  primitiven  Teilung  zu 
sagen  ist,  ist  derzeit  so  wenig,  daß  es  vorerst  mit  leichter  Mühe 
im  Rahmen  der  allgemeinen  Gegenstandstheorie  Platz  findet.  In- 
sofern gibt  es  gegenwärtig  tatsächlich  noch  keine  spezielle  Gegen- 
standstheorie, die  nicht  Mathematik  wäre :  es  läßt  sich  aber  natür- 


über  Gegenstandstheorie.  43 

lieh  in  keiner  Weise  vorhersag'en ,  wie  lange  es  so  bleiben  wird. 
Vorgegriffen  ist  einer  diesbezüglichen  Entwicklung  durch  die  oben 
vorgeschlagene  Definition  nicht.  So  gut  der  empirischen  Allgemein- 
wissenschaft empirische  Sonderwissenschaften  gegenüberstehen,  so 
gut  können  der  apriorischen  Allgenieinwissenschaft  apriorische 
Sonderwissenschaften  zur  Seite  treten.  Realisiert  ist  diese  Mög- 
lichkeit zurzeit  nur  in  der  Mathematik,  die  durch  ihre  Subsumtion 
unter  gegenstandstheoretische  Gesichtspunkte  zwar  nicht  neben 
wirkliche,  wohl  aber  mindestens  neben  mögliche  Disziplinen  ge- 
stellt ist,  so  daß  sie  sich  nunmehr  auf  alle  Fälle  keineswegs  in 
jener  seltsamen  Isolierung  befindet,  die  uns  bereits  oben  als  Zeichen 
eines  Mangels  in  der  bisher  üblichen  wissenschaftstheoretischen 
Auffassung  dieser  "Wissenschaft  aufgefallen  ist.  \) 

Schließlich  aber  muß  ich  nun  noch  einmal  auf  die  oben  ohne 
Appell  an  eine  Definition  vollzogene  Einbeziehung  der  Gegenstands- 
theorie unter  die  philosophischen  Wissenschaften  zurückkommen. 
Ich  habe  seinerzeit  diejenigen  Wissenschaften  als  philosophische 
zusammenzufassen  versucht,  die  sich  etweder  n  u  r  mit  Psychischem 
oder  doch  auch  mit  Psychischem  befassen.  Es  ist  nun  neuestens 
die  Yermutung  ausgesprochen  worden,  -)  meine  relations-  und  kom- 
plexionstheoretischen  Arbeiten  dürften  mich  dazu  geführt  haben, 
der  Philosophie  nunmehr  einen  Doppelgegenstand,  ,.Psychisches 
und  Relationen  (nebst  Komplexionen)"  als  wesentlich  zuzusprechen. 
Daß  eine  solche  Modifikation  die  ursprüngliche  Bestimmung  ganz 
und  gar  um  ihre  Einheitlichkeit  brächte,  ist  ohne  weiteres  ersicht- 
lich; und  nur  wenn  man  einer  Charakteristik  der  Philosophie  für 
jeden  Fall  den  Gedanken  zugrunde  legen  zu  müssen  meinte,  daß 
das  Objekt  ihrer  Forschung  einfach  durch  dasjenige  ausgemacht 
werde,  was  ihr  die  Naturwissenschaft  sozusagen  übrig  gelassen 
hat.  ^)  dürfte  man  keinen  Anstoß  daran  nehmen,  falls  dieser  Rest 
sich  auch  als  ein  noch  so  buntes  Vielerlei  darstellen  soUte.  Aber 
eine  sonderlich  würdige  Position  wäre  der  Philosophie  damit  nicht 
angewiesen:  und  möchte  es  auch  gar  nicht  ohne  jede  praktische 
Berechtigung  sein,  einen  Wissenschaftsbetrieb  einzuführen,  der  im 


^)  Vgl.  oben  S.  7,  27. 

^)  Von   HöFLEß   in   seiner  Studie   „Zur   gegenwärtigen    Naturphilosophie", 
a.  a.  0.  S.  124  (64),  Anm. 

■■')  Vgl.  J.  Bkeüer  bei  Höfler  a.  a.  0.  S.  190  (130). 


44  A.-  Meinong. 

wesentlichen  darauf  gerichtet  wäre,  Eückstände  aufzulesen,  so 
könnte  das  schwerlich  etwas  an  der  Tatsache  ändern,  daß  theoretisch 
diese  Eückstände  zusammen  noch  bei  weitem  nicht  den  Stoff  einer 
"Wissenschaft  für  sich  ausmachten.  Andererseits  ist  indes  freilich 
auch  richtig,  daß  Komplexionen  und  Kelationen,  soweit  sie  ideal 
sind,  —  noch  lieber  würde  ich  heute  sagen:  Idealkomplexe  und 
Idealrelate,^)  —  weil  überhaupt  nicht  real,  so  auch  weder  physisch 
nocli  psycliisch  sind.  Um  sie  aber  in  den  Bereich  philosophisch 
zu  nennender  Untersuchungen  einbeziehen,  mit  anderen  AVorten, 
um  die  Gegenstandstheorie  als  philosophische  Disziplin  betrachten 
zu  dürfen,  dazu  bedarf  es  bei  der  einen  Universalwissenschaft  so 
wenig  eines  neuen  Beisatzes  zur  Charakteristik  des  ..Philosophischen" 
als  bei  der  anderen.  Durfte  ich  die  Metaphysik  den  philosophischen 
Wissenschaften  beizählen,  weil  sie  ihre  Aufgaben  weit  genug  faßt, 
um  neben  dem  Physischen  auch  das  Psychische  in  diese  einzu- 
beziehen,  dann  kann  auch  nichts  im  "Wege  stehen,  aus  demselben 
Grunde  die  Gegenstandstheorie  als  philosophische  Wissenschaft  zu 
behandeln.  Zum  Gegebenen,  mit  dessen  Gesamtheit  sie  es  zu  tun 
hat,  gehört  eben  auch  das  Psychische,  unbeschadet  der  Tatsache, 
daß  auch  physische  und  ideale  Gegenstände  darin  zur  Bearbeitung 
kommen  müssen,  —  davon  gar  nicht  zu  reden,  daß  beim  Idealen, 
das  von  Natur  stets  Superius  ist,  als  unerläßliche  Inferiora  gar 
wohl  noch  einmal  psychische  Gegenstände  in  Frage  kommen  können. 
Natürlich  stehe  ich  aber  nicht  an,  dem  eben  neuerlich  be- 
währten Parallelismus  zwischen  Gegenstandstheorie  und  Meta- 
physik auch  noch  in  einer  anderen,  im  Grunde  mehr  praktisch  als 
theoretisch  wichtigen  Sache  stattzugeben.  Aus  dem  Umstände, 
daß  die  Metaphysik  es  zwar  auch  mit  Psychischem,  aber  nicht 
nur  mit  Psychischem,  sondern  auch  mit  Physischem  zu  tun  hat, 
habe  ich  seinerzeit  die  Konsequenz  gezogen,  daß  zur  Bearbeitung 
metaphysischer  Probleme  nicht  nur  der  Vertreter  der  Wissen- 
schaften des  Psychischen,  sondern  nicht  minder  der  Vertreter  einer 
Wissenschaft  des  Physischen  berechtigt  und  berufen  sei.  Mir 
scheint  nun  in  der  Tat,  daß  man  nicht  umhin  können  wird,  ganz 
das  Nämliche  auch  in  betreff  der  Gegenstandstheorie  einzuräumen. 


')  Über  die  Gründe  für  diese  Veränderung  in  der  bisher  von  mir  verwendeten 
Terminologie  vgl.  diese  Untersuchungen  Nr.  III,  Kap.  I,  §  9,  11. 


über  Gegenstandstheorie.  45 

Zwar  dürfte  hinsichtlich  der  Forschungstechnik  sowohl  in  der 
Metaphysik  wie  in  der  Gegenstandstheorie  derjenige  einen  ge- 
wissen Vorsprang  haben,  der  anf  die  wissenschaftliche  Bearbeitung 
psj^chischer  Erlebnisse  eingeübt  ist:  speziell  in  betreif  der  Gegen- 
standstheorie spricht  die  Tatsache,  daß  man  bei  ihr  mit  einer,  wie 
wir  wissen,  gelegentlich  verhängnisvollen  Leichtigkeit  ins  Psycho- 
logische hineingerät,  eine  nicht  mißzuverstehende  Sprache.  Aber 
mehr  als  Rücksichten  der  Technik  sind  dies  nicht:  auch  ist  in 
vorhinein  gar  nicht  abzusehen,  wie  leicht  derlei  unter  besonderen 
Umständen  etwa  durch  eine  eigene  von  einer  anderen  Wissen- 
schaft mitgebrachte  Technik  mehr  als  wett  gemacht  werden  kann. 
Soweit  namentlich  Mathematik  als  spezielle]  Gegenstandstheorie 
betrachtet  werden  darf,  wäre  es  undankbar,  zu  vergessen,  zu  welch 
glänzenden  Ergebnissen  hier  gegenstandstheoretische  Forschung 
oft  ohne  alle  Fühlung  mit  sonstigen  philosophischen  Interessen 
geführt  hat. 

§  12.    Schlußwort. 

Haben  die  bisherigen  Darlegungen  Wesen  und  Eigenbe- 
rechtigung einer  besonderen  Wissenschaft  „Gegenstandstheorie", 
sowie  deren  Stellung  in  der  Gesamtheit  der  "Wissenschaften 
wenigstens  in  groben  Umrissen  dargetan,  so  könnte  nunmehr  an 
der  Zeit  sein,  auch  noch  etwas  Genaueres  über  Aufgaben  und 
Methode  der  neuen  ^Vissenschaft  auszuführen.  Aber  einerseits  hat 
sich  das  Wichtigste  in  dieser  Hinsicht  oben  bereits  ganz  von 
selbst  ergeben:  weiß  man  einmal,  womit  eine  Wissenschaft  es  zu 
tun  hat,  so  sind  damit  ja  bereits  ihre  Aufgaben  im  allgemeinen 
vorbestimmt,  zumal  wenn  auch  der  apriorische  Charakter  der  frag- 
lichen Wissenschaft  vorgegeben  ist;  und  durch  letzteren  Beisatz 
ist  auch  zugleich  das  ^Vichtigste  in  betretf  der  Methode  ausgemacht. 
Andererseits  aber  und  vor  allem  ist  bekanntlich  Plane  machen 
„mehrmalen  eine  üppige  prahlerische  Geistesbeschäftigung",  und 
Anderen  Wege  vorzeichnen,  die  man  selbst  einzuschlagen  unter- 
läßt, womöglich  eine  noch  üppigere.  Deshalb  würde  ich  mich 
der  vorstehenden  Abhandlung  über  eine  Wissenschaft,  die  erst 
werden  soll,  vielleicht  besser  enthalten  haben,  dürfte  ich  nicht 
hoffen,  daß  mein  bisheriges  Verhältnis  zu  ihr  doch  wohl  den  Ver- 


4g  A.  Meinono. 

dacht  ausschließen  wird,  als  begnügte  ich  mich  mit  Projekten, 
statt  selbst  Hand  anzulegen.  Es  gehört  um  so  vieles  mehr  dazu, 
Prometheus  zu  sein  als  Epimetheus,  daß  es  sicher  nicht  wie 
Selbstlob  aussehen  wird,  wenn  ich  hier  die  Tatsache  verzeichne, 
daß  ich  Jahre,  ja  eigentlich  jahrzehntelang  unter  dem  Einflüsse 
gegenstandstheoretischer  Interessen  wissenschaftlich  gearbeitet 
habe,  ohne  daß  mir  von  der  eigentlichen  Natur  dieser  Interessen 
auch  nur  eine  Ahnung  aufgegangen  wäre.  Daß  aber  diese  Natur 
sich  so  ganz  von  selbst  erst  praktisch  und  dann  einmal  auch,  ich 
könnte  selbst  kaum  sagen,  wann,^)  theoretisch  bei  mir  durchge- 
setzt hat,  darin  sehe  ich  ein  zwar  nicht  eben  formal  stringentes, 
gleichwohl  seinem  Gewichte  nach  nicht  gering  anzuschlagendes 
neues  Argument  für  die  Legalität  der  oben  im  Namen  der  Gegen- 
standstheorie erhobenen  Ansprüche.  Diese  Ansprüche  selbst  aber 
bedeuten  so  für  mich  weit  mehr  eine  Eück-  als  eine  Vorschau ;  und 
hatte  ich  überdies  Gelegenheit,  mich  an  mir  wie  an  anderen  davon 
zu  überzeugen,  wie  befruchtend  die  bewußt  gegenstandstheoretische 
Betrachtungsweise  alten  wie  unabsehbar  zahlreichen  neuen  Problem- 
stellungen und  -lösungen  gegenüber  sich  geltend  macht,  dann  durfte 
ich  einen  Versuch  nicht  für  verfrüht  halten,  dieser  Betrachtungs- 
weise durch  Darlegung  ihrer  Eigenart  zu  ausdrücldicher  An- 
erkennung zu  verhelfen. 

Gleichwohl  hat  indes  das  Auftreten  der  voranstehenden  Aus- 
führungen im  Bahmen  der  gegenwärtigen  Sammlung  von  Unter- 
suchungen noch  einen  spezielleren  Anlaß.  Es  konnte  nicht  fehlen, 
daß  in  dem  Kreise,  innerhalb  dessen  die  Einsicht  in  die  Bedeutung 
der  Gegenstandstheorie  zum  ersten  Male  recht  lebendig  geworden 
Avar,  auch  die  gegenstandstheoretische  Forschung  besonders  liebe- 
volle Pflege  fand.  So  ist  es  möglich  geworden,  bereits  zwei  der 
Gegenstandstheorie  gewidmete  Studien  an  die  Spitze  der  gegen- 
wärtigen Sammlung  zu  stellen,  die  vielleicht  außerdem  noch  in 
ihren  übrigen  Stücken  da  und  dort  Zeugnis  dafür  ablegen  wird, 
daß  gegenstandstheoretisches  Wissen  und  Können  auch  psycho- 
logischer Forschung  gar  wohl  zu  statten  kommen  mag.    Es  schien 


*)  Jedenfalls  lange  vor  1903,  wo  ich  zum  ersten  Male  Gelegenheit  nahm, 
auf  die  Gegenstandstheorie  auch  bereits  unter  diesem  Namen  ausdrücklich  hinzu- 
weisen, vgl.  „Bemerkungen  über  den  Farbenkörper  etc.",  a.  a.  0.  S.  3f. 


über  Gegenstandstheorie.  47 

im  Hinblick  hierauf  geboten,  schon  im  Titel  der  ganzen  Sammlung' 
ausdrücklich  der  Gegenstandstheorie  zu  gedenken,  und  den  beiden 
genannten  Abhandlungen  eine  Art  prinzipieller  Verständigung  über 
das  mit  diesem  AA'orte  gemeinte  vorausgehen  zu  lassen.  iSo  stellt 
sich,  was  im  Obigen  über  eine  neue  Wissenschaft  gesagt  worden 
ist,  auch  innerhalb  der  gegenwärtigen  Veröitentlichung  selbst 
nicht  als  ein  bequemer  Zukunftstraum  oder  gar  als  eine  Utopie 
dar,  sondern  als  ein  möglichst  klar  ins  Auge  gefaßtes  Ziel,  dem 
näher  zu  kommen  wir  bereits  unser  bestes  Können  einzusetzen  be- 
gonnen haben. 

Haben  sonach  die  gegenwärtigen  Ausführungen  zugleich  als 
eine  Art  speziellerer  Vorrede  zum  gegenstandstheoretischen  Teile 
des  vorliegenden  Buches  zu  fungieren,  so  ist  hier  nun  wohl  auch 
der  geeignete  Ort  für  ein  paar  Bemerkungen  in  betrelf  der  nach- 
folgenden beiden  Arbeiten.  Es  ist  nicht  nur  der  Herausgeber 
dieser  Arbeiten,  der  in  diesen  Bemerkungen  zum  Worte  kommt, 
sondern  vielleicht  noch  mehr  der  akademische  Lehrer,  der  in 
Zeiten,  die  meist  noch  gar  nicht  so  sehr  weit  zurückliegen,  die 
Freude  hatte,  die  Autoren  der  nachfolgenden  Untersuchungen  in 
die  philosophischen  Wissenschaften  einzuführen,  und  der  sich  da- 
durch für  berechtigt,  oder  unter  den  vorliegenden  besonderen  Um- 
ständen vielmehr  für  verpflichtet  hält,  hinsichtlich  der  Intentionen 
der  in  Rede  stehenden  Arbeiten  von  vornherein  einige  naheliegende 
Mißverständnisse  auszuschließen. 

Ich  werde  nach  Früherem  kaum  dem  Verdachte  ausgesetzt  sein, 
die  Vorabeiten,  die  der  Gegenstandstheorie  von  so  verschiedenen  Seiten 
her  zu  statten  kommen,  nicht  ausreichend  dankbar  zu  würdigen,  wenn 
ich  gleichwohl  sage:  die  Gegenstandstheorie  ist  eine  junge,  eine 
sehr  junge  Wissenschaft.  Wer  sich  in  ihr  Gebiet  begibt,  findet 
zwar  der  zu  bearbeitenden  Probleme  wie  der  sich  darbietenden 
Lösungsmöglichkeiten  eine  geradezu  unermeßliche  Fülle:  aber  er 
kann  auch  bei  reiflichster  Überlegung  nicht  hoffen,  jedesmal  das 
Richtige  zu  treffen,  er  muß  vielmehr  darauf  rechnen,  daß  von  dem, 
was  er  festgestellt  zu  haben  meint,  gar  manches  vorgeschrittenem 
Wissen  und  entwickelterer  Forschungstechnik  künftiger  Zeiten 
wieder  zum  Opfer  fallen  wird.  Auch  daß  der  Individualität  des 
Forschers  zu  Anfang  ein  bestimmenderer  Anteil  an  den  Ergeb- 
nissen zufallen  muß  als  in  Zeiten  fester  Traditionen  und  geebneter 


48  A.  Meinong. 

Forscliuiig-sweffe,  ist  selbstverständlich.  Darum  möchten  die  folgen- 
den Darleo-ungen  keineswej^s  so  verstanden  sein,  als  meinten  deren 
Verfasser  kurzweg  abschließende  Eesultate  vorlegen  zu  können. 
Es  sind  nur  vorläufige  Ergebnisse,  gewiß  nicht  wie  der  Heraus- 
geber bezeugen  kann,  eilfertig  konzipiert,  wohl  aber  in  der  Voraus- 
sicht, daß  daran  noch  gar  vieles  zu  bessern  übrig  sein  mag,  — 
in  der  Meinung  danim,  daß  das  hier  Gebotene  weit  weniger  dazu 
bestimmt  sei,  vom  Leser  passiv  übernommen,  als  kritisiert  und 
weiter  gebildet  zu  werden. 

Unter  dieser  Voraussetzung  wird  dann  auch  kein  begründeter 
Anstoß  daran  zu  nehmen  sein,  daß  die  Aufstellungen  der  beiden 
Arbeiten  den  Begriffen,  wie  den  Terminis  nach  untereinander  und 
mit  den  etwa  von  mir  selbst  versuchten  Konzeptionen  nicht  immer 
im  Einklänge  stehen,  obwohl  sie,  was  selbst  wieder  ein  Zeichen 
des  noch  so  primitiven  Zustandes  der  Gegenstandstheorie  ist.  mehr 
als  einmal  sich  genötigt  sehen,  auf  Prinzipienfragen  und  darum 
wohl  auch  gelegentlich  auf  die  nämlichen  Prinzipienfragen  ein- 
zugehen. Man  könnte  leicht  geneigt  sein,  uns  einen  Vorwurf 
daraus  zu  machen,  daß  wir  nicht  in  mündlichem  Verkelir  die 
Divergenzen  geschlichtet  haben,  um  erst  nachher  mit  einem  fest- 
gefügten Sj'stem  in  sich  zusammenstimmender  Begriffe  und  Termini 
vor  die  Öffentliclikeit  zu  treten.  Die  Forderung,  Kontroversen 
lieber  privatim  als  literarisch  zum  Austrag  zu  bringen,  ist  gewiß 
eine  berechtigte,  und  ich  darf  berichten,  daß  in  den  Grazer  philo- 
sophischen Instituten  an  Diskussionen  nicht  gespart  wird.  Aber 
natürlich  gilt  dabei  das  Prinzip  weitestgehender  Überzeugungs- 
freiheit; und  hätten  wir  unser  Absehen  darauf  gerichtet  gehabt, 
die  individuelle  Auffassung  auch  über  gewisse  Grenzen  liinaus 
nicht  zum  Worte  kommen  zu  lassen,  so  hätten  wir  damit  suggestiven 
Einflüssen  den  Weg  gebahnt,  die  dort  am  schädlichsten  werden 
können,  wo  die  Forschung  sich  in  ihren  Anfängen  fühlt.  Und 
hätten  wir  im  folgenden  Abgerundeteres.  Einstimmigeres  geboten, 
wir  hätten  es  nur  tun  können  um  den  Preis  des  Verlustes  von 
Anregungen,  die  sich  möglicherweise  als  die  für  die  Weiterent- 
wicklung der  Gegenstandstheorie  fruchtbarsten  herausstellen  könnten. 

Mindestens  teilweise  auf  analoge  Kücksichten  geht  ein  anderer 
Mangel  der  beiden  folgenden  Beiträge  zurück,  der  den  Autoren 
derselben  ebenfalls  wohl  bekannt   ist.    Auch   die  Literatur  eines 


über  Gegenstandätheorie.  49 

Gegenstandes  kann  denjenigen,  der  an  dessen  Erforschung  heran- 
tritt, einerseits  zwar  durch  Anregung  tordern,  andererseits  aber 
auch  in  ihm  durch  Suggestion  entwicklungsfähige  Keime  ersticken. 
Darin  liegt  hoffentlich  wenigstens  ein  Teil  der  Rechtfertigung 
dafür,  daß  ich  als  ein  erstes  Forschungsprinzip  längst  den  Grund- 
satz befolge  und  lehre:  erst  beobachten  und  nachdenken,  dann 
lesen.  Aber  dieser  Grundsatz  schließt,  wie  ich  nicht  verkennen 
kann,  einigermaßen  die  Gefahr  in  sich,  daß  die  Literaturbenutzung 
einmal  auch  zu  kurz  kommen  könnte,  namentlich,  wenn  der  Ab- 
schluß einer  Arbeit  an  eine  bestimmte  Zeit  gebunden  oder  das 
Heranziehen  der  Literatur  durch  besondere  Umstände  erschwert 
ist.  Beides  ist  für  die  folgenden  gegenstandstheoretischen  Unter- 
suchungen eingetroften.  Da  der  äußere  Anlaß  der  gegenwärtigen 
Veröftentlichung  das  Erscheinen  des  Buches  vor  Ende  1904  ver- 
langte, mußte  ich  die  Autoren  zum  Abschlüsse  ihrer  Beiträge 
drängen  zu  einer  Zeit,  da  sie  sich  über  die  innere  Unabgeschlossen- 
heit  dieser  Arbeiten  durchaus  keinen  Täuschungen  hingaben. 
Andererseits  ist  die  gegenstandstheoretische  Literatur,  wie  bereits 
den  oben  gelegentlich^)  beigebrachten  Hinweisen  zu  entnehmen 
war,  zurzeit  alles  eher  als  leicht  zugänglich,  weil  sie,  nicht  nur 
nach  allen  Windrichtungen  zerstreut,  sondern  überdies  zum  Teile 
erst  bei  sehr  tief  eindringendem  Studium  von  Nachbarwissen- 
schaften zu  erschließen,  geschweige  auszuschöpfen  ist.  So  wird 
man  eine  einigermaßen  gleichmäßige  Benutzung  insbesondere  der 
einschlägigen  mathematischen  Literatur  trotz  ihrer  voraussicht- 
lich tiefgehenden  Bedeutung  für  die  Grundlegung  der  Gegenstands- 
theorie in  den  beiden  folgenden  Abhandlungen  noch  vergebens 
suchen.  Niemand  von  uns  ist  der  Meinung,  daß  es  dabei  sein 
Bewenden  haben  dürfte:  ich  für  mein  Teil  aber  hoffe,  daß  man 
das  Prinzip  von  Nachdenken  und  Lesen  trotz  der  besonderen 
Umstände  immer  noch  bewährt  finden  wird. 

Täusche  ich  mich  hierin  nicht,  dann  wird  der  Leser  wohl 
auch  an  der  Menge  neuer  Begriffe  und  Termini  keinen  Anstoß 
nehmen,  deren  manche  ihm  überflüssig  und  lästig  scheinen  könnten, 
und  sich,  soweit  sie  es  wirklich  sind,  ja  auch  sicher  nicht  auf 
die    Dauer   behaupten    werden,    —    auch    daran    nicht,    daß    wir 


')  Vgl.  §  10. 
Meinong,  Untersuchungen. 


50  A.  Meinong,  Über  Gegenstandstheorie. 

uns  entschlossen  haben,  diesen  oder  jenen  Begriff  anders  zu  be- 
nennen, als  ich  es  etwa  in  früheren  Arbeiten  vorgeschlagen  habe. 
Ein  guter  Terminus  ist  so  viel  als  eine  halbe  Entdeckung:  und 
besser,  einen  schlechteren  Terminus,  wenn  man  einen  besseren  ge- 
funden hat,  durch  diesen  ersetzen,  als  nur  aus  Konservativismus 
die  üblen  Folgen  des  alten  weiterschleppen. 

Ich  fasse  zusammen:  Im  Vorangehenden  ist  der  Versuch  ge- 
macht worden,  die  Eigenberechtigung  der  Gegenstandstheorie  als 
einer  Wissenschaft  für  sich  zu  erweisen.  Die  beiden  folgenden  Ab- 
handlungen, —  nebenbei  und  implizite  wohl  auch  noch  andere  der 
in  diesem  Buche  gesammelten  Untersuchungen,  —  wollen  Beiträge  zu 
dieser  Wissenschaft  bieten.  In  dieser  Hinsicht  Fertiges  und  Un- 
umstößliches zu  verlangen,  möchte,  wie  die  Dinge  heute  noch 
liegen,  schwerlich  billig  sein :  genug,  wenn  es  gelungen  sein  sollte, 
der  Erwägung  und  Kritik  des  Weiterstrebenden  Konzeptionen  vor- 
zulegen, durch  die  der  eingeschlagene  Weg  als  vertrauenswürdig 
dargetan  und,  wer  sich  ihn  einzusclilagen  entschließt,  gefördert 
wird.  Möge,  was  wir  beizubringen  vermochten,  sich  als  geeignet 
erweisen,  der  neuen  Wissenschaft  der  Gegenstandstheorie  An- 
erkennung und  Freunde  zu  erwerben. 


II. 
Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie. 

Von 
Dr.  Rudolf  Ameseder. 

Inhalt. 

Seite 
Allgemeiner  Teil. 

I.   Allgemeines. 

1.  Jedes  Seiende  oder  Nichtseiende  ist  ein  Gegenstand 53 

2.  Es  gibt  zwei  Klassen  von  Gegenständen:  Objekte  und  Objektive     .  54 

3.  Es  gibt  zwei  Klassen  von  Objektiven:  Seins-  und  Soseinsobjektive  .  55 
II.   Beziehungen  z  Avis  eben  Gegenstand  und  Objektiv. 

4.  Zuordnung  von  Gegenstand  und  Objektiv 55 

5.  Vergegenständlichung  der  Objektive 57 

6.  Gemeinsame  Gegenstände  von  Objektivkomplexen 60 

7.  Vor-  und  nachgegebene  Objektive 61 

III.  Relevante  Eigenschaften  der  Objektive. 

8.  Die  Qualität  der  Objektive 64 

9.  Alle  Objektive  sind  Tatsachen  oder  Nichttatsachen 66 

10.  Positivität  und  Tatsächlichkeit 68 

IV.  Das  Aufbauen  der  Superiora. 

11.  Das  Aufbauen  der  Superiora  und  die  Fundierung 71 

12.  Sosein  und  Eelation 75 

13.  Mitgegebene  Objektive  und  Objekte 76 

V.  Zur  Einteilung  der  Gegenstände. 

14.  Tatsächliche  und  nichttatsächliche  Gegenstände 78 

15.  Reale  und  ideale  Gegenstände 81 

16.  Die  Dreiteilung  des  Gegenstandsgebietes 81 

17.  Das  Sein  der  Gegenstände  im  allgemeinen 83 

Spezieller  Teil. 

VI.  Nichtfimdierungsgegenstände. 

18.  Die  Diuggegenstände 91 

19.  Empfindungsgegeustände 93 

4* 


52  Rt'DOLF   AmESKDER. 

Seite 
VII.   Ähnlichkeits-  und  Verschiedenheitsgegenstände. 

20.  Gleichheit 95 

21.  Ähnlichkeit 97 

22.  Beziehungen  zwischen  Ähnlichkeit  und  Verschiedenheit   ....  99 

23.  Verschiedenheits-  und  Ähnlichkeitsrelate  sind  unteilbare  Quanta  .  105 

24.  Die  Zvveizahl  der  Fundamente 105 

25.  Beschaifeuheit  der  Inferiora 106 

26.  Das  Sein  der  Ähnlichkeits-  und  Verschiedenheitsgegenstände   .    .  108 
VIII.  Gestaltgegenstände. 

27.  Die  Gestaltgegeustände  haben  eigene  Relate 110 

28.  Einteilung  der  Gestalten  hinsichtlich  ihrer  Inferiora 112 

29.  Eigenschaften  und  Sein  der  Gestaltgegenstände 115 

IX.   Verbindungsgegenstände. 

30.  Die  Verbindungsgegenstände  und  ihre  Relate 116 

31.  Eigenschaften  der  Verbindungsgegenstände 118 

32.  Das  Sein  der  Verbindungsgegenstände 120 


Die  folgenden  Beiträge  sollen  dem  Zwecke  dienen,  die  Ge- 
samtheit der  Gegenstände  einer  vorläufigen  Untersuchung  zu  unter- 
ziehen. Dafür  waren  zwei  Wege  oifen:  Die  Gesamtheit  in  die 
nächsten  Unterarten  einzuteilen,  deren  Tatsächlichkeiten  zu  be- 
stimmen und  dies  Verfahren  bis  zu  genügend  speziellen  Ergebnissen 
fortzuführen,  —  oder  aber  von  Einzeltatsachen  aus  zu  stets  all- 
gemeineren Einsichten  zu  kommen.  Dem  apriorischen  Charakter 
der  Gegenstandstheorie  ist  der  erstere  Weg  der  angemessenere; 
auch  mußten  gewisse  allgemeine  Eigenschaften  der  Gegenstände 
erörtert  und  das  Notwendigste  an  Terminologie  vorgesehen  werden, 
ehe  an  speziellere  Untersuchungen  herangetreten  werden  konnte. 
Deshalb  folgte  ich,  solange  dies  anging,  der  ersten  Methode.  Dies 
war  aber  nur  bis  zu  einem  bestimmten  Punkte  möglich.  Die 
Identität  eines  durch  einen  herkömmlichen  Namen  bezeichneten 
Gegenstandes  mit  einem  nach  seinen  Eigenschaften  bestimmten 
läßt  sich  erst  feststellen,  wenn  die  Eigenschaften  des  benannten 
Gegenstandes  bekannt  sind.  Daher  empfahl  es  sich,  dort  wo  von 
Gegenständen  gehandelt  werden  sollte,  welche  in  der  Umgangs- 
sprache oder  in  wissenschaftlichem  Zusammenhange  bestimmte 
Namen  erhalten  haben,  das  zu  Untersuchende  in  möglichst  natür- 
liche Gruppen  zusammenzuschließen  und  auf  seine  Eigenschaften 


Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie.  53 

gemeinsam  zu  untersuchen.  Dies  ist  der  Weg,  welcher  im  zweiten 
Teile  eingehalten  ist.  Da  hier  nicht  durchwegs  apriorische  Er- 
kenntnisse vorlagen,  ist  die  Zuverlässigkeit  der  Ergebnisse  in  diesem 
Teile  erheblich  geringer  als  im  ersten;  während  bei  den  Gegen- 
ständen jenes  das  Gewinnen  einzelner  Evidenzen  besondere  Schwierig- 
keiten bereitet,  und  demzufolge  manche  der  vorgebrachten  Positionen 
eine  besonders  sorgfältige  Nachprüfung  erheischen  —  ich  erwähne 
nur  die  Identifikation  von  Sosein  und  Relation,  —  liegt  die  Ursache 
der  Un Vollkommenheiten  des  zweiten,  speziellen  Teiles  in  der 
Schwierigkeit,  auch  nur  die  wichtigsten  Gegenstandgruppen  zu  be- 
handeln. Eine  Gruppe,  die  der  psychischen  Gegenstände,  ist  als 
Ganzes  überliaupt  nicht  zur  Untersuchung  gelangt,  weil  diese 
Untersuchung  zu  schwierig  erschien,  und  somit  fehlt  diesem  zweiten 
Teil  entschieden  der  Anspruch  auf  genügende  Vollständigkeit. 
Besonders  aber  dies  letztere  Ziel,  die  Vollständigkeit  des  Unter- 
suchten konnte  nicht  die  Aufgabe  eines  derartigen  ersten  Entwurfes 
sein.  Denn  wenn  auch  gegenstandstheoretische  Erkenntnisse  in  allen 
Zeiten  wissenschaftlichen  Betriebes  gefördert  wurden,  ist  ein  Ver- 
such, das  Wichtigste  des  von  den  Gegenständen  Wißbaren  zu- 
sammenzufassen, bisher  nicht  veröffentlicht  worden. 

Wenn  ich  mit  dem  Folgenden  diesen  Versuch  wage,  kann  ich 
nicht  anders,  als  meiner  Freude  Ausdruck  geben  über  das  Schick- 
sal, einer  Zeit  anzugehören,  die  die  Mitarbeit  an  diesen  Problemen 
verstattet  und  einen  Lehrer  zu  haben,  der  zur  Erkenntnis  dieser 
Probleme  zu  führen  vermag. 


Allgemeiner  Teil. 

I.   Allgemeines. 

1.  JedesSeiendeoderNicht seien deisteinGegen stand. 

Was  ein  Gegenstand  ist,  läßt  sich  zunächst  psychologisch 
charakterisieren.  Jedes  Psychische  ist  auf  etwas  gerichtet,  trifft 
etwas,  erfaßt  etwas,  was  mit  dem  erfassenden  Psychischen  nicht, 


g4  Rudolf  Amesedeb. 

auch  nicht  teilweise  identisch  ist.  Dieses  Erfaßte  ist  ein 
Gegenstand. 

Da  alle  Gegenstände,  über  welche  geurteilt  wird,  erfaßt  sein 
müssen,  kann  jede  Theorie,  somit  auch  die  der  Gegenstände  nur 
eine  Theorie  des  Erfaßten  sein.  Insofern  ist  Erfaßtes  und  Gegen- 
stand dasselbe.  Da  jeder  Gedanke  an  einen  Gegenstand  diesen  zu 
einem  Erfaßten  macht,  scheint  auch  der  Gedanke  an  einen  Gegen- 
stand mit  dem  an  ein  Erfaßtes  identisch.  Das  Erfaßte  kann  je- 
doch als  solches  oder  auch  nur  als  Gegenstand  gedacht  werden. 
Als  Erfaßtes  wird  es  nämlich  gedacht,  wenn  die  Relation,  in  der 
es  zum  erfaßenden  Subjekt  steht,  mitgedacht,  also  selbst  erfaßt 
ist.  Dies  ist  jedoch  keineswegs  nötig.  Es  kann  also  ein  Erfaßtes 
auch  bloß  als  Gegenstand  gedacht  werden.  —  Die  erwähnte  Relation 
ist  aber  nicht  nur  nicht  im  Gedanken  des  Gegenstandes  enthalten; 
sie  gehört  auch  gar  nicht  zum  Wesen  desselben.  Jeder  Gegenstand 
steht  zu  einer  Menge  anderer  in  Relationen;  dadurch,  daß  eine 
dieser  Relationen  das  Erfaßtsein  seitens  eines  Subjektes  ist,  wird 
er  zum  Erfaßten,  aber  nicht  erst  zum  Gegenstand. 

Der  Gegenstand  als  solcher  muß  also  unabhängig  von  dieser 
Relation  bestimmbar  sein,  wie  er  auch  unabhängig  von  ihr  sein 
kann.  Die  Unabhängigkeit  des  Gegenstandes  besteht  darin,  daß  er 
sein  kann,  auch  wenn  der  erfassende  Inhalt  nicht  ist  und  daß  er 
ev.  nicht  sein  kann,  wenn  dieser  Inhalt  ist.  Dieses  Sein-  oder 
Nichtseinkönnen  ist  also  das  Charakteristische  des  Gegenstandes. 
Es  gibt  keinen  Gegenstand,  der  außerhalb  des  Gegensatzes  von 
Sein  und  Nichtsein  stünde,  dagegen  wohl  Gegenstände,  welche 
sind,  und  solche,  welche  nicht  sind.  Letzteres  ergibt  sich  daraus, 
daß  jedes  Erfaßte  ein  Gegenstand  ist,  aber  auch  Nichtseiendes 
erfaßt  werden  kann.  Ein  seiender  Gegenstand  ist  z.  B.  die  Ver- 
schiedenheit von  Rot  und  Grün,  ein  nichtseiender  die  Gleichheit 
derselben  Inferiora. 

2.  Eg  gibt  zwei  Klassen  von  Gegenständen:  Objekte 
und  Objektive.*) 

Auch  das  Sein  hat  Sein,  so  ist  z.  B.  eine  Existenz  oder  ein  Be- 
stehen.   Jene  Gegenstände,  welche  Sein  sind  und  Sein  haben,  sind 

')  Vgl.  Meinong,  Über  Annahmen,  Kap.  "VII. 


Beiträge  zur  Grundlegune:  der  Gegenstandstheorie.  55 

wesentlich  anders  als  jene,  welche  bloß  Sein  haben,  aber  nicht 
selbst  Sein  sind.  Jene  Gegenstände,  welche  Sein  sind  und  sich 
im  sprachlichen  Ausdruck  durch  die  „daß -Konstruktion"  kenn- 
zeichnen, hat  Meinong  a.  a.  0.  als  „Objektive"  benannt.  Gegen- 
stände, die  nicht  Objektive  sind,  sind  Objekte.  Die  Objekte  sind 
wenn  dies  auch  sprachlich  nicht  angedeutet  ist,  eine  Unterart  der 
Gegenstände.  Objekte  sind  z.  B.  P'arben,  Zahlen,  Strecken;  Ob- 
jektive sind  die  Existenz  einer  chemischen  „Verbindung",  das 
Nichtsein  des  runden  Viereckes,  das  Farbigsein  eines  bestimmten 
Gegenstandes  u.  dgl.  mehr,  oder  in  der  typischen  Form:  „daß  eine 
chemische  Verbindung  existiert",  „daß  ein  rundes  Viereck  nicht 
ist",  „daß  ein  Objekt  farbig  ist"  usw. 

3.  Es  gibt  zwei  Klassen  von  Objektiven:  Seins-  und 
Soseinsobjektive.  ^) 

Neben  jenen  Objektiven,  welche  die  Form  haben  „daß  etwas 
ist"  gibt  es  noch  solche,  die  sprachlich  durch  „daß  ein  AB  ist" 
oder  schlechtweg  „daß  etwas  so  ist"  ausgedrückt  werden.  Objek- 
tive letzterer  Art  lassen  sich  in  keiner  Weise  auf  Objektive  der 
ersteren  zurückführen,  ebensowenig,  wie  jene  auf  diese. 


II.    Beziehungen  zwischen  Gegenstand  und  Ohjektiv. 

4.  Zuordnung  von  Gegenstand  und  Objektiv. 

Zwischen  den  Objektiven  und  allen  Gegenständen  überhaupt 
besteht  eine  Beziehung :  Gegenstände  können  in  Objektiven  „stehen" 
und  Objektive  können  an  Gegenständen  „haften",  und  zwar  steht 
jeder  Gegenstand  mindestens  in  einem  Objektiv,  und  jedes  Objektiv 
haftet  mindestens  an  einem  Gegenstand.  Dementsprechend  sind 
Gegenstand  des  Objektivs  und  Objektiv  des  Gegenstandes  aus- 
einanderzuhalten. 

Worin  das  „im  Objektiv  stehen"  und  „am  Gegenstand  haften" 
besteht,  ist  nicht  anzugeben.  Eine  gewisse  Analogie  zum  „Auf- 
baue" eines  Superius  auf  Inferiora  ist  nicht  zu  verkennen;  anderer- 


Vgl.  Meinong,  a,  a   0.  §  42. 


5ß  Rudolf  Ameseder. 

seits  ist  doch  der  besprochene  Sachverhalt  wesentlich  anders  als 
dieses  Aufbauen,  ^^'ährend  nämlich  die  Inferiora  nur  die  Yoraus- 
setzun?  für  das  Superius  abgeben,  von  diesem  aber  unabhäng-ig;  sind, 
ist  die  Abhängigkeit  von  Gegenstand  und  Objektiv  eine  durchaus 
gegenseitige ;  es  kann  kein  Sein  oder  Sosein  geben,  ohne  daß  etwas 
ist  oder  so  ist.  Dieses  Verhältnis  nicht  unbenannt  zu  lassen  und 
doch  auch  dem  Aufbaue  des  Superius  gegenüberzustellen,  ist  viel- 
leicht der  Ausdmck  Zuordnung  in  genügender  Weise  geeignet. 

Die  Zuordnung  besteht  nicht  zwischen  Objektiv  und  Objekt, 
sondern  zwischen  ersterem  und  Gegenstand  schlechtweg.  Ist  ein 
Objektiv,  so  ist  dieses  Sein  ebenfalls  ein  Objektiv,  das  aber  nicht 
einem  Objekt,  sondern  einem  Objektiv  zugeordnet  ist.  Gemäß  der 
festgestellten  Gesetzmäßigkeit  muß  freilich  wieder  dieses  Objektiv 
einem  Gegenstand  zugeordnet  sein  usw.,  was  nur  dann  ein  Ende 
findet,  wenn  der  zugeordnete  Gegenstand  ein  Objekt  ist.  Und 
insofern  muß  jedes  Objektiv  vermittelt  auch  einem  Objekt  zuge- 
ordnet sein.  Aber  die  Zuordnung  besteht  doch  zwischen  dem 
Objektiv  und  dem,  was  im  Objektiv  steht,  und  das  kann  unter 
Umständen  gleichfalls  ein  Objektiv  sein. 

Andererseits  besteht  die  Zuordnung  auch  nicht  bloß  zwischen 
einem  Gegenstand  und  seinem  Sein,  sondern  zwischen  dem  Gegen- 
stand und  einem  Objektiv  schlechtweg.  Nicht  alle  Objektive  sind, 
es  gibt  solche,  welche  nicht  sind  und  die  als  unwahre  oder  als 
Nichttatsachen  bezeichnet  werden  müssen,  wie  z.  B.  daß  Gold 
blau  ist,  oder  daß  Cajus  nicht  sterblich  ist.  Aber  auch  diese 
Objektive  haben  ihre  Gegenstände,  an  welchen  sie  haften,  und 
diese  Gegenstände  stehen  in  diesen  Objektiven,  wenn  auch  nicht 
in  derselben  Weise,  wie  dies  bei  wahren  Objektiven  der  Fall  ist. 

Die  Zuordnung  ist  also  die  Beziehung  von  Objektiv  und 
(Gegenstand,  gleichviel,  ob  das  Objektiv  eine  Tatsache  ist  oder 
nicht,  sie  ist  also  der  allgemeinste  Fall  dieser  Beziehung.  Ihm 
gegenüber  sind  zwei  Sonderfälle  zu  unterscheiden.  Zugeordnet 
sind  dem  Gegenstande  alle  möglichen  Objektive;  dagegen  kommen 
ihm  einige  in  besonderer  Weise  zu.  p]in  Gegenstand  kann  zwei 
Objektiven  zugeordnet  sein,  die  sich  nur  dadurch  unterscheiden, 
daß  das  eine  die  Negation  des  anderen  ist;^)  z.  B.  ist  dies  der 


')  Vgl.  diese  Arbeit,  S.  66. 


Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie.  57 

Fall  bei  den  Objektiven  ,.A  ist  B"  und  ..A  ist  nicht  B".  Das 
eine  der  beiden  Objektive  ist  wahr  mid  kommt  dem  zugeordneten 
Gegenstände  tatsäclüich  zu,  das  zweite  kommt  dem  Gegenstände 
nicht  tatsächlich  zu.  Die  Art,  wie  es  an  diesem  Gegenstand 
haftet,  und  wie  dieser  Gegenstand  in  diesem  Objektive  steht,  ist 
eine  wesentlich  andere,  als  beim  ersten  Objektiv,  In  diesem 
kommt  etwas  hinzu,  was  in  jenem  fehlt:  Objektiv  und  Gegenstand 
gehören  hier  nämlich  zu  einer  Tatsache  zusammen,  während  im 
anderen  Fall  Gegenstand  und  Objektiv  auch  zusammen  gehören, 
ihre  Vereinigung  aber  nicht  Tatsache  ist.  Die  erstere,  oitenbar 
als  enger  zu  bezeichnende  Verbindung  von  Gegenstand  und  Ob- 
jektiv sei  als  Zugehörigkeit  benannt,  während  die  zweite,  wo 
dies  erforderlich  ist,  ihr  als  b  1  o  ß  e  Z  u  o  r  d  n  u  n  g  gegenübergestellt 
sein  möge. 

Da  Gegenstände  sowohl  sein  als  nichtsein  können,  ist  die 
„Qualität"  des  Seinsobjektivs  für  den  Gegenstand  als  solchen  be- 
langlos. Die  alternative  Bestimmung,  Gegenstand  ist  etwas,  sofern 
es  ist  oder  nicht  ist.  ist  darum  erläßlich,  weil  sie  sich  durch  eine 
einfache  ersetzen  läßt,  nämlich:  Gegenstand  ist,  was  einem  Seins- 
objektiv zugehört. 

Nun  gilt  allerdings  von  allen  Gegenständen,  daß  sie  einem 
Seinsobjektiv  zugehören;  ebenso  sind  aber  alle  Gegenstände  So- 
seinsobjektiven zugehörig:  die  Bestimmung.  Gegenstand  ist.  was 
einem  Soseinsobjektiv  zugehört,  wäre  somit  in  gleicher  "Weise  be- 
rechtigt. Allgemeiner  als  durch  jede  dieser  beiden  ist  natürlich 
Gegenstand  als  das  bestimmt,  was  einem  Objektiv  zugehören  kann. 
Aber  selbst  die  Zugehörigkeit  ist  nicht  erforderlich,  da  auch,  was 
immer  bloß  zugeordnet  ist,  ein  Gegenstand  sein  muß.  Gegenstand 
ist  natürlich  nicht  definierbar;  aber  es  kommt  einer  Definition  am 
nächsten,  Gegenstand  als  das  zu  bezeichnen,  was  einem  Objektiv 
zugeordnet  ist;  als  möglichst  allgemeine  ist  diese  Bestimmung 
auch  vollständig  frei  von  willkürlichen  Festsetzungen. 

5.  Vergegenständlichung  der  Objektive. 

„Daß  ein  Mensch  existiert"  und  ,.daß  ein  Dämon  existiert" 
sind  zwei  Objektive,  was  daraus  hervorgeht,  daß  das  eine  Tat- 
sache ist.  das  andere  nicht.    Andererseits  sind  die  beiden  Objektive 


^g  Rudolf  Amesedek. 

nur  insofein  andersartig,  als  der  dem  einen  zugheörige  und 
der  dem  zweiten  bloß  zugeordnete  Gegenstand  andersartig  sind. 
Das  aber,  was  eigentlich  unabhängig  vom  Gegenstand  als  Objektiv 
zu  gelten  hätte,  scheint  in  beiden  Fällen  dasselbe  zu  sein,  nämlich 
die  Existenz.  In  einigen  besonderen  Fällen  ist  dieses  vom  Gegen- 
stand losgelöste  Objektiv  auch  zur  Benennung  gekommen,  wie 
eben  im  Fall  der  Existenz ;  noch  auffallender  aber  in  dem  der  Ver- 
schiedenheit, wobei  ausdrücklich  zur  Geltung  kommt,  daß  die  Ver- 
schiedenheit zwischen  zwei  Gliedern  a  und  b,  sowie  zwischen 
anderen  c  und  d  dieselbe  sei.  Ist  die  Verschiedenheit  von  a 
und  b  das  Objektiv,  ..daß  a  und  b  verschieden  sind"^),  so  kann 
das  Identische  nur  das  Verschiedensein  sein,  also  das  Objektiv, 
losgelöst  von  den  zugehörigen  Gegenständen.  Natürlich  gibt  es 
kein  Objektiv  ohne  Gegenstand;  aber  am  Objektiv  ist  der  Gegen- 
stand von  einem  anderen  Tatbestand  zu  unterscheiden.  Das  Ob- 
jektiv ist  also  nicht  etwa  aus  zwei  Teilen,  dem  Gegenstand  und 
noch  einem  Teil  zusammengesetzt,  so  daß  auch  jeder  dieser  Teile 
für  sich  sein  kann.  Aber  es  ist  insofern  komplex,  als  jeder  dieser 
unterschiedlichen  Gegenstände  mit  anderen  auftreten  kann;  z.  B. 
kann  ein  A  C  sein,  oder  kann  auch  ein  B  C  sein,  aber  A  kann 
auch  D  sein.  Das  A  oder  B  wäre  dem  gemäß  ;der  Gegenstand 
des  Objektivs,  während  das  C-  oder  D-sein,  das  von  diesem 
Gegenstand  freie  Objektiv  wäre,  obwohl  es  natürlich  als  solches 
nicht  sein  kann.  Nachdem  nun  in  zwei  Fällen,  wie  das  frühere 
Beispiel  von  der  Existenz  zeigt,  sowohl  zwei  andersartige  Ob- 
jektive vorzuliegen  scheinen,  als  auch  nur  ein  einziges  (gemein- 
sames) Objektiv,  kann,  was  in  beiden  FäUen  als  Objektiv  be- 
zeichnet wurde,  nicht  dasselbe,  also  auch  nicht  beides  sclilechtweg 
Objektiv  sein. 

Es  ist  schon  früher  gesagt  worden,  daß  die  Andersartigkeit  der 
Objektive  im  Existenzbeispiel  lediglich  durch  die  Gegenstände  bedingt 
ist;  demzufolge  liegt  es  näher,  das  davon  unabhängige,  also  Exi- 
stenz, Bestand,  Sosein  als  Objektiv  in  Anspruch  zu  nehmen.  Anderer- 
seits kommt  aber  in  Betracht,  daß  die  Existenz,  der  Bestand,  das 
Sosein  keine  Tatsachen-)  sind  und  auch  keine  Nichttatsachen, 
sondern  solange  außerhalb  dieses  Gegensatzes  bleiben,  als  sie  keine 

')  Wobei  das  „verschieden"  quantitativ  bestimmt  ist.    Vgl.  unten,   S.  100. 
")  Vgl.  unten,  S.  66. 


Beiträge  zur  Gnindlegung  der  Gegenstandstheorie.  59 

Gegenstände  haben.  Erst  die  Existenz  von  etwas  usw.  ist  Tat- 
saclie  oder  Nichttatsache.  Ist  aber  die  Tatsäclilichkeit  für  das 
Objektiv  von  Belang-,  dann  geht  es  auch  nicht  an,  nur  das  von 
den  Gegenständen  freie  Objektiv  als  solches  zu  bezeichnen. 

Das  vom  Gegenstand  freie  Objektiv  ist  in  vieler  Hinsicht  anders, 
als  das  Objektiv  mit  Gegenständen.  Von  ersterem  gilt,  was  aus 
der  Natur  des  Objektives  folgt;  dagegen  ist,  was  es  von  den  an 
den  Gegenständen  haftenden  Objektiven  unterscheidet,  durch  diese 
Gegenstände  bedinget.  Wird  der  eine  Fall  als  reines  Objektiv 
bezeichnet,  so  steht  ihm  der  andere  ais  vergegenständlichtes 
Objektiv  gegenüber.  Ein  Objektiv  ist  sowohl  an  einem  Gegen- 
stande vergegenständlicht,  welchem  es  zugehört,  als  an  einem 
welchem  es  bloß  zugeordnet  ist.  Es  bedeutet  dies  aber  eine 
Unterscheidung  der  Vergegenständlichungen.  Die  Vergegenständ- 
lichung eines  bloß  zug-eordneten  Objektivs  ist,  da  dann  entweder 
der  Gegenstand  oder  das  Objektiv  nicht  tatsächlich  ist,  selbst 
keine  tatsächliche;  dagegen  ist  die  Vergegenständlichung  zu- 
gehöriger Objektive  tatsächlich. 

Die  Vergegenständlichung  kann  ferner  einfach  oder  doppelt  sein 
Alle  Seinsobjektive  können  nur  je  einem  Gegenstand  zugeordnet 
sein;  dagegen  bedingen  die  Soseinsobjektive,  welche  die  Form, 
„daß  a  b  ist"  haben,  ein  a  und  ein  b,  also  zwei  Gegenstände.  Dem- 
entsprechend gibt  es  bei  den  Soseinsobjektiven  neben  der  voll- 
ständigen eine  unvollständige  Vergegenständlichung  u.  z.  in  zwei 
Formen:  das  „Sosein  des  a"  und  das  „b-sein".  Beide  Formen 
sind  hinsichtlich  eines  der  möglichen  Gegenstände  bestimmt;  und 
zwar  die  erste  hinsichtlich  jenes,  den  die  grammatische  Termino- 
logie als  „Subjekt"  bezeichnet  hat,  die  zweite  hinsichtlich  des 
„Objektes". 

Diese  Termini  verallgemeinern  eine  Sachlage,  welche  vorliegt, 
wenn  einer  der  Gegenstände  ein  Subjekt  (im  psychologischen  Sinn) 
ist.  Tatsächlich  ist  aber  die  gegenständliche  Sachlage  die  allge- 
meinere, die  psychologische  ein  Spezialfall  derselben.  Hingegen 
läßt  sich  die  Stellung  der  Gegenstände  zum  Objektiv  als  be- 
stimmend erkennen:  dabei  ist  in  dem  Objektiv  „a  ist  b"  a  dem  Objek- 
tiv offenbar  vorgegeben,  b  im  Objektiv  mitgegeben.  Das  a  ist  also 
gewissermaßen  der  erste,  b  der  zweite  Gegenstand.  Terminologisch 
seien  beide  Fälle  wegen  der  Möglichkeit  der  Bildung  von  Adverbien 


(jQ  Rtdolf  Ameseder. 

aJs  primärer  und  s  e  k  ii  n  d  ä  r  e  r  Gegenstand  ^)  bzw.  primäre  und 
sekundäre  Vergregenständlichung  bezeichnet. 

Es  ist  im  allgemeinen  gleich,  welcher  Gegenstand  als  primärer, 
welcher  als  sekundärer  bezeichnet  wird,  d.  h,  Soseinsobjektive  sind 
umkehrbar.  Dagegen  ist  es  erforderlich,  der  gegebenen  Sachlage 
gegenüber,  beide  Gegenstände  auseinanderhalten  zu  können,  wozu 
obige  Terminologie  dient. 

Von  allen  reinen  Seinsobjektiven  und  nur  sekundär  vergegen- 
ständlichten Soseinsobjektiven  sind  einige  dem  Gegenstand  zuge- 
hörig, alle  anderen  bloß  zugeordnet.  Und  zwar  sind  ihm  ein  posi- 
tives oder  mehrere  positive  -)  zugehörig ,  alle  übrigen  positiven 
bloß  zugeordnet,  —  die  den  zugehörigen  positiven  entsprechenden 
negativen  Objektive  bloß  zugeordnet,  alle  übrigen  zugehörig.  Daß 
entwede  das  positive  Objektiv  oder  das  entsprechende  negative 
zugehörig,  das  andere  dann  zugeordnet  sein  müsse,  ist  der  Sinn  des 
Satzes  vom  ausgeschlossenen  Dritten. 

6.   Gemeinsame  Gegenstände  von  Objektivkomplexen. 

Ein  Gegenstand  kann  einfaches,  aber  auch  beliebig  kompli- 
ziertes Sosein  haben.  Das  kann  in  zweierlei  Weise  der  FaU  sein. 
Ein  an  ihm  primär  vergegenständlichtes  Soseinsobjektiv  kann 
sekundär  an  einem  Komplex  vergegenständlicht  sein;  es  kann  aber 
auch  an  einem  Gegenstande  eine  Mehrheit  —  also  ein  Komplex  — 
von  Soseinsobjektiven  primär  oder  sekundär  vergegenständlicht 
sein.  Der  primäre  bzw.  sekundäre  Gegenstand  ist  aUen  Objektiven 
dieses  Soseinskomplexes  gemeinsam,  er  sei  daher  als  gemeinsamer 
primärer,  bzw.  sekundärer  Gegenstand  des  Soseinskom- 
plexes bezeichnet.  Von  Wichtigkeit  sind  zunächst  nur  gemeinsame 
l»rimäre  Gegenstände.  Da  diese  auch  zugleich  in  Seinsobjektiven 
stehen,  sind  sie  nicht  nur  die  gemeinsamen  primären  Gegenstände 
eines  Soseinskomplexes,  sondern  eines  Objektivkomplexes  überhaupt. 
Zur  Unterscheidung  von  anderen  Objektivkomplexen,  welche 
keine  gemeinsamen  Gegenstände  haben,  heiße  ein  solcher  ein  ge- 
rn e  i  n  s  a  m  v  e  r  g  e  g  e  n  s  t  ä  n  d  1  i  c  h  t  e  r. 


*)  Nicht  zu  verwechseln  mit  den  primären  \mA  sekundären  Gegenständen 
(besser:  Erfaßten)  des  Urteils.    Vgl.  Meinong,  Über  Annahmen,  S.  130f. 
*)  Vgl.  diese  Arbeit,  S.  64f. 


Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie.  61 

Die  sprachliche  Form  für  gemeinsam  vergegenständlichte 
Objektivkomplexe  ist  vorzugsweise  eine  Konstruktion  mit  Relativ- 
sätzen, z.  B.  „ein  Körper,  welcher  das  Volumen  v^  hat  und  der 
mit  einem  Gewicht  Pi  auf  seine  Unterlage  drückt".  Neben  dieser 
Form  finden  sich  noch  andere,  kürzere,  wenn  auch  teilweise  mit 
Variationen  hinsichtlich  der  getroffenen  gegenständlichen  Seite. 
Da  jede  Definition  aus  einer  Anzahl  —  den  wesentlichen  —  der  ge- 
meinsam vergegenständlichten  Objektive  besteht,  hat  auch  sie 
stets  die  obige  Form. 

Nachdem  es  keinen  Gegenstand  gibt,  welcher  nur  einem 
Soseinsobjektiv  zugeordnet  wäre,  ist  jeder  Gegenstand  ein  gemein- 
samer primärer.  Die  gemeinsamen  Gegenstände  sind  also  keine 
besondere  Klasse  von  Gegenständen,  sondern  nur  fakultativ  von 
anderen  zu  unterscheiden,  nämlich  einem  vorliegenden  Objektiv- 
komplex gegenüber.  In  der  Regel  kommt  dabei  nur  der  Komplex 
der  zugehörigen  Objektive  in  Betracht,  da  der  der  bloß  zugeord- 
neten bei  verschiedenen  Gegenständen  der  gleiche  sein  kann. 


7.  Vor-  und  nachgegebene  Objektive. 

Ein  Komplex  reiner  oder  sekundär  vergegenständlichter  Ob- 
jektive kann  an  einem  Gegenstand  seine  gemeinsame  primäre  Ver- 
gegenständlichung der  Art  finden,  daß  der  Gegenstand  dem  Ob- 
jektivkomplex  zugehört.  Es  kann  dann  sein,  daß  dem  Gegenstand 
keine  weiteren  Objektive  zugehören;  er  kann  aber  auch  tatsächlich 
in  weiteren  Objektiven  stehen. 

Ergibt  sich,  daß  ein  Gegenstand,  welcher  dem  Objektivkomplex 
Cj  gemeinsam  zugehört,  noch  dem  Objektivkomplex  Cg  zugehörig 
ist,  dann  ist  der  Gegenstand  durch  den  Komplex  Cj  auch  hin- 
sichtlich des  Komplexes  Cj  bestimmt.  Die  Cj  ausmachenden  Ob- 
jektive können  nämlich  willkürlich  zusammengestellt  sein,  ein  ge- 
meinsamer Gegenstand  wird  ihnen  entsprechen ;  dieser  Gegenstand 
steht  aber  dann  im  Komplex  C«,  der  nicht  mehr  willkürlich  sein 
kann,  da  der  gemeinsame  Gegenstand  ein  durch  C^  bestimmter 
Gegenstand  ist  und  ein  bestimmter  Gegenstand  aucli  bestimmten 
Objektiven  zugehört. 

Der  Komplex  {\   bestellt   also   aus  Objektiven,   welche   dem 


62  Rudolf  Ameseder. 

Gegenstand  vorgegeben  sind;  dagegen  sind  C.^  die  dem  Gegen- 
stand nachgegebenen  Objektive.') 

Auch  der  Komplex  C.^  kann  vorgegeben  sein ;  doch  ist  er  dies 
keineswegs  oder  nur  ausnahmsweise  für  Cj.  Z.  B.  ist  der  Tisch, 
der  in  meinem  Zimmer  steht,  rot.  Das  „Tischsein"  und  das  „in 
meinem  Zimmer  stehen"  sind  die  vorgegebenen  Objektive,  das 
..Rotsein"  ein  nachgegebenes  Objektiv.  Dem  „Rotsein"  als  vor- 
gegebenen Objektiv  ist  aber  das  „Tischsein"  und  das  „in  meinem 
Zimmer  stehen"  keineswegs  nachgegeben,  oder  wenigstens  nicht 
ausschließlich. 

Objektive  können  einem  durch  vorgegebene  Objektive  bestimmten 
Gegenstande  in  zweierlei  Weise  nachgegeben  sein.  Ist  z.  B.  nur 
ein  Objektiv  vorgegeben,  etwa  „Rotsein",  so  ist  der  Gegenstand 
dieses  Objektivs  das,  was  rot  ist.  Es  gibt  nun  verschiedene  Gegen- 
stände, welche  rot  sind;  der  Gegenstand  des  Rotseins  scheint 
somit  unbestimmt;  es  muß  keineswegs  ein  Tisch,  auch  nicht  in 
einem  Zimmer  sein  u.  dgl.  Diese  Objektive  sind  dem  Gegen- 
stand zwar  nachgegeben,  aber  sie  sind  es  nur  zufällig;  aus  der 
Natur  des  Gegenstandes  des  Rotseinsobjektives  folgt  keineswegs, 
daß  der  Gegenstand  hier  oder  dort  ist  usw. 

Dem  durch  das  vorgegebene  Objektiv  bestimmten  Gegenstand 
sind  also  zwei  Gruppen  von  Objektiven  nachgegeben;  die  eine 
folgt  aus  der  Natur  des  Gegenstandes,  die  zweite  nicht. 

Z.  B.  ergibt  sich  aus  der  Natur  des  Gegenstandes  des  Rotsein- 
objektivs, daß  der  Gegenstand  ausgedehnt  ist.  Mit  dem  Rotsein 
ist  das  Ausgedehntsein  notwendig  verbunden.  Aus  der  Natur  eines 
Gegenstandes  folgen  somit  diejenigen  Objektive,  welche  notwendig 
mit  den  vorgegebenen  verbunden  sind,  somit  die  notwendig 
nachgegebenen  Objektive. 

')  Das  Erfcassen  der  vorgegebenen  Objektive  geschieht  normalenveise  keines- 
wegs (Inrch  das  Urteil.  Ist  z.  B.  von  einem  Gegenstande  vorgegeben,  daß  er  rot 
ist,  so  ist  die  sprachliche  Bezeichnimg  für  das  Erfaßte  nicht:  „ein  Gegenstand 
ist  rot",  sondern  „ein  Gegenstand,  welcher  rot  ist"  oder  „wenn  ein  Gegenstand 
rot  ist".  Das  Urteil  erfaßt  hingegen  die  nachgegebenen  Objektive,  zu  denen  auch 
die  notwendige  Verbindung  nachgegebener  mit  den  vorgegebenen  Objektiven  ge- 
hört. Da  aber  Gegenstände  mit  nur  vorgegebenen  Objektiven  nicht  anders  erfaßt 
werden  können,  als  durch  Erfassen  dieser  Objektive,  ist  ihr  natürliches  psychisches 
Korrelat  die  Annahme.  In  Hinblick  darauf  scheinen  sie  psychologisch  am  besten 
als  f  i  k  t  i  V  e  Gegenstände  bezeichnet  zu  werden. 


Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie.  63 

Wie  erwähnt,  ist  mit  dem  Rotsein  stets  auch  eine  bestimmte 
Lokalisation  verbunden ;  diese  erj[(ibt  sich  keineswej^s  aus  dem  Rot- 
sein, der  Gegenstand  des  Rotseinobjektivs  liat  sie  nicht  als  solcher. 
Sie  ist  also  eine  ^Eigenschaft,  die  nicht  aus  der  Natur  des  Gegenstandes 
folgt,  sondern  ihm  ohne  Notwendigkeit  zufällig  nacligegeben  ist. 

Die  Frage,  welche  Objektive  einem  durch  vorgegebene  Objektive 
bestimmten  Gegenstand  zufällig  nachgegeben  sind,  kann  nur 
empirisch  entschieden  werden;  sie  ist  somit  keine  gegenstands- 
theoretische. Dagegen  steht  es  völlig  anders  mit  der  Frage  nach 
denjenigen  Objektiven,  welche  zufällig  nachgegeben  sein  können; 
sie  ist  nämlich  gleichbedeutend  mit  der,  ob  die  beiden  Objektive 
verträglich  sind,  d.  h.  ob  ihnen  als  vorgegebenen  ein  gemeinsamer 
möglicher  Gegenstand  entspricht. 

Die  notwendig  nachgegebenen  Objektive  folgen  aus  der  Natur 
des  Gegenstandes.  Der  Gegenstand  muß  in  diesen  Objektiven 
stehen;  er  muß  aber  auch  in  den  vorgegebenen  Objektiven  stehen. 
Diese  folgen  aber  nicht  aus  seiner  Natur,  sondern  machen  sie 
aus,  konstituieren  sie. 

Die  meisten  Objektivkomplexe  haben  einen  gemeinsamen  Gegen- 
stand; und  zwar  solche,  welche  nur  aus  Soseinsobjektiven,  sowie 
solche,  welche  aus  Soseinsobjektiven  und  einem  Seinsobjektiv  be- 
stehen. Dagegen  nimmt  das  positive  Seinsobjektiv  eine  Ausnahme- 
stellung ein.  Belinden  sich  widersprechende  Eigenschaften  unter 
den  vorgegebenen  Objektiven,  so  ist  dem  zugehörigen  Gegenstand 
ein  Nichtseinsobjektiv  nachgegeben,  nichtsdestoweniger  ist  er  ein 
Gegenstand  —  nur  ein  nichtseiender.  Er  steht  aber  sowohl  in 
den  vor-  als  in  den  nachgegebenen  Objektiven.  Soll  dagegen 
neben  den  widersprechenden  Eigenschaften  noch  das  Sein  vor- 
gegeben sein,  dann  ist,  was  gemeinsamer  Gegenstand  sein  würde, 
seinen  Objektiven  nicht  zugehörig.  Ein  rundes  Viereck,  welches 
ist,  wäre  nicht  nur  nicht,  sondern  es  wäre  sit  venia  verbo  als  etwas, 
was  kein  Gegenstand  ist,  zu  bezeichnen.  Dagegen  kann  das  Nicht- 
sein stets  und  überall  vorgegeben  sein,  u.  zw.  mit  jedem  beliebigen 
Komplex  von  Soseinsobjektiven;  überall  hat  es  mit  ihnen  einen  ge- 
meinsamen Gegenstand,  dem  es  ebenso  zugehört,  wie  die  anderen  vor- 
gegebenen Objektive.  Ein  positives  und  ein  negatives  Seinsobjektiv 
führt  als  vorgegeben  aber  wieder  zur  Gegenstandslosigkeit  des  Objek- 
tes. Das  positive  Seinsobjektiv  kann  also  nur  bedingt  vorgegeben  sein. 


ß^  Rudolf  Amesedeb. 

III.    Kelevante  Eigenschaften  der  Objektive. 

8.  Die  ,.Qualität"  der  Objektive. 

Das  Sein  und  das  Nichtsein,  das  Sosein  und  Nichtsosein  bildet 
einen  Gegensatz,  welchem  eine  Einteilung  der  Objektive  in  p  o  s  i  t  i  v  e 
und  negative  entspricht.  Dabei  ist  aber  nicht  bloß  das  positive 
Objektiv  der  eigentliche  Vertreter  der  Objektive  und  das  negative 
bloß  eine  Bezeichnung  für  den  Mangel  eines  positiven  Objektives. 
Auch  das  Nichtsein  ist  ein  richtiges  Objektiv,  da  es  selbst  Sein 
hat,  somit  ein  Gegenstand,  aber  kein  Objekt  ist  Die  den  positiven 
und  negativen  Objektiven  zugehörigen  Gegenstände  weisen  aller- 
dings eine  solche  Andersartigkeit  auf.  Ein  Gegenstand  ist  z.  B. 
so  beschatten,  daß  er  sein  kann,  etwa  eine  bestimmt  lokalisierte 
gefärbte  Fläche.  Ist  diese,  so  ist  sie  etwas  Wirkliches,  ist  sie 
nicht,  so  ist  sie  nichts  Wirkliches.  Wenn  nun  auch  ein  Objektiv 
nichts  Wirkliches  sein  kann,  so  könnte  doch  der  Gegensatz  von 
positiv  und  negativ  ein  ähnliches  Verhältnis  bedeuten  v,ie  zwischen 
AMrklichem  und  Nichtwirklichem.  Eine  solche  Analogie  liegt  nun 
bei  den  Objektiven  vor,  aber  keineswegs  im  angedeuteten  Sinn. 
Ein  Gegensatz,  der  dem  vom  Wirklichen  und  Nichtwirklichen 
ähnlich  ist,  und  von  welchem  dieser  auch  einen  Spezialfall  bildet, 
ist  der  vom  Seienden  und  Nichtseienden.  Dieser  findet  sich  auch 
bei  den  Objektiven,  da  er  aber  nicht  darin  besteht,  positiv  oder 
negativ  zu  sein,  ist  er  nicht  zwischen  solchen  Objektiven  vorhanden, 
sondern  eben  auch  zwischen  den  seienden  und  den  nichtseienden. 
Zu  diesen  beiden  gehören  aber  sowohl  positive  als  negative  Ob- 
jektive. Ist  das  Nichtwirkliche  dem  Wirklichen,  das  Nichtseiende 
dem  Seienden  gegenüber  etwas  „Negatives",  dann  ist  das  negative 
Objektiv  nicht  selbst  etwas  ,.Negatives" ,  sondern  es  hat  eine 
Qualität,  derzufolge  seine  zugehörigen  Gegenstände  etwas  ,.Nega- 
tives"  sind  oder  es  selbst  nur  an  solchen  Gegenständen  haften, 
ihnen  zugehören  kann. 

Der  Gegensatz  von  Ja  und  Nein  hingegen  ist  einer,  welcher 
ausschließlich  der  Annahme  und  dem  Urteil  angehört,  also  ein 
psychologischer.  Jedoch  ist  er  vollständig  abhängig  von  dem  ob- 
jektiven, von  Positiv  und  Negativ.  Scheinbar  kann  allerdings  auch 
ein  affirmatives  Urteil  ein  negatives  Objektiv,  ein  negatives 


Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstlieorie.  65 

Urteil  ein  positives  Objektiv  treffen.  Dies  ist  der  Fall,  wenn 
z.  B.  verneint  wird,  daß  zweimal  zwei  fünf,  bejaht,  daß  drei  nicht 
«lerade  ist.  "Was  das  erste  verneinende  Urteil  erfaßt,  ist  hingeg'en 
nicht  das  Objektiv  ,.zweinial  zwei  ist  fünf",  sondern  etwa  das 
Objektiv,  „daß  zweimal  zwei  fünf  ist,  ist  nicht".  Das  scheinbar 
verneinte  Objektiv  ist  dann  also  gar  nicht  das  zunächst  durch  das 
l'rteil  erfaßte,  sondern  bloß  der  Gegenstand  des  erfaßten  Objektivs. 
Diese  psjxhologische  Sachlage  ist  nun  allemal  beim  Verneinen 
eines  positiven  Urteils  möglich,  aber  keineswegs  notwendig;  viel- 
fach würde  sich  diese  Annahme  als  eine  zu  komplizierte  Inter- 
pretation erweisen.  Einem  einfacheren  Sachverhalt  entspricht  es, 
als  Erfaßtes  des  verneinenden  Urteils  nicht  ein  Objektiv  voraus- 
zusetzen, das  selbst  ein  Objektiv  zum  Gegenstand  hat,  sondern 
ein  Objektiv  erster  Ordnung.^)  Wenn  ein  Subjekt  durch  ein  —  nega- 
tives —  Urteil  das  Objektiv  erfaßt  „zweimal  zwei  ist  nicht  fünf"'^ 
dann  hat  es  das  Objektiv,  „daß  zweimal  zwei  fünf  ist"  verneint; 
das  Subjekt  verneint  also  ein  positives  Objektiv,  wenn  es  ein  im 
übrigen  übereinstimmendes  negatives  Objektiv  erfaßt,  ein  nega- 
tives, wenn  es  das  bezügliche  positive  erfaßt.  Besonders  sicher 
wird  dann  dieses  Verhalten  als  Verneinen  bezeichnet,  wenn  das 
qualitativ  entgegengesetzte,  aber  gegenstandsgleiche  Objektiv  vom 
Subjekt  vorher  erfaßt  wnirde,  durch  Annahme  (z.  B.  bei  einer, 
Frage)  oder  durch  Urteil  (bei  Überzeugungswechsel).  Nimmt 
jemand  ein  Objektiv  an  und  urteilt  dann  das  entgegengesetzte 
so  hat  er  das  erste  Objektiv  verneint,  ohne  etwa  durch  negative 
Urteilsqualität  ein  positives  Objektiv  erfaßt  zu  haben. 

Entsprechend  liegt,  wenn  bejaht  wird  „daß  di-ei  nicht  gerade 
ist"  ein  affirmatives  Urteil  mit  dem  Objektiv  ,.daß  drei  nicht  ge- 
rade ist,  ist",  vor,  oder  schlechtweg  ein  affirmatives  Urteil  mit 
dem  Objektiv  „daß  drei  gerade  ist"  als  Erfaßtem. 

Das  Urteil  ist  also  immer  affirmativ,  wenn  es  ein  positives, 
negativ,  wenn  es  ein  negatives  Objektiv  erfaßt.  Affirmativ  und 
negativ  sind  somit  die  der  positiven  und  negativen  Objektivqualität 
korrelativen  Urteilsqualitäten.  Könnte  ein  negatives  Urteil  ein 
positives  Objektiv  als  nächstes  Erfaßtes  haben,  dann  müßte  dies 
auch  bei  der  Annahme  —  welche  dieselben  beiden  Qualitäten  wie 


')  Vgl.  diese  Arbeit  S.  68. 
Meinong,  Unteisuchungen. 


ß(j  Rudolf  Ameseder. 

das  Urteil  hat  —  nur  noch  eher  der  Fall  sein,  da  die  Annahme 
offenbar  etwas  viel  A\'illkürlicheres  ist,  als  das  Urteil.  Nun  ist 
es  aber  ganz  unmöglich  mit  negativer  Annahme  zunächst  zu 
erfassen,  daß  etwas  sei  oder  so  sei,  oder  mit  affiraiativer  Annahme 
ein  negatives  Objektiv,  ^^'iderspricht  dies  aber  der  Qualität  bei 
der  Annahme,  so  kann  es  beim  Urteil  nicht  anders  sein,  da  diese 
Qualität  ja  hier  dieselbe  ist  wie  dort. 

Eine  eigenartige  Beziehung,  auf  welche  vorübergehend  liin- 
gewiesen  wurde,  besteht  zwischen  bestimmten  positiven  und  nega- 
tiven Objektiven,  welche  in  gewissem  Sinn  kontradiktorische 
sind.  Solche  Objektivpaare  sind  z.  B.  „daß  ein  Dämon  ist"  und 
,.daß  ein  Dämon  nicht  ist" ,  „daß  Gold  gelb  ist"  und  „daß  Gold 
nicht  gelb  ist".  Sie  unterscheiden  sich  nur  hinsichtlich  der  Quali- 
tät und  der  diesen  verschiedenen  Qualitäten  notwendig  nachge- 
gebenen Objektive. 

9.  AlleObjektive  sindTatsachenoderNichttatsachen. 

Ein  Gegenstand  kann  sein  oder  nicht  sein.  Ist  der  Gegen- 
stand, dann  ist  sein  Sein  eine  Tatsache;  ein  Sein  das  nicht  ist, 
ist  keine  Tatsache.  Daß  zwischen  Rot  und  Grün  eine  Verschieden- 
heit besteht,  ist  Tatsache,  —  daß  die  Verschiedenheit  besteht  ist 
eben;  daß  zwischen  Rot  und  Grün  Gleichheit  besteht,  ist  nicht  Tat- 
sache, —  daß  die  Gleichheit  besteht,  ist  nicht.  Ein  Gegenstand 
kann  ferner  ein  Sosein  haben,  oder  dieses  Sosein  nicht  haben; 
dieses  Sosein  ist  dann  Tatsache  oder  nicht  Tatsache.  Daß  Gold 
gelb  ist,  ist  Tatsache,  weil  dieses  Sosein  ist;  daß  Gold  farblos 
ist,  ist  nicht  Tatsache,  weil  dieses  Sosein  nicht  ist. 

Objektive  sind  also  innerhalb  dieses  Gegensatzes;  dagegen 
erscheint  es,  trotz  gegenteiliger  Aufstellungen, ')  nicht  ungezwungen. 
Objekte  als  Tatsachen  zu  bezeichnen.  Auch  diese  könnten  natür- 
lich nur  Tatsachen  sein,  wenn  sie  sind;  aber  es  entspricht  doch 
bloß  einer  Ungenauigkeit  des  Sprachgebrauches,  Gold  als  eine 
Tatsache  zu  bezeichnen.  Dagegen  sind  dem  Gold  zugeordnete 
Objektive,  wie  „daß  Gold  ist."  „daß  Gold  gelb  ist",  wie  schon  er- 
wähnt, unstreitig  und  ohne  jede  Verschiebung  des  Sprachgebrauches 


')  Vgl.  Meinong  a.  a.  0.  S.  189. 


Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie.  67 

Tatsachen.  Scheinbar  eine  Ausnahme  gegen  die  ausschließlich  auf 
Objektive  beschränkte  Anwendbarkeit  des  Terminus  Tatsache 
machen  jene  Fälle,  in  denen  in  herkömmlicher  Ungenauigkeit  Ob- 
jekte und  zugehörige  Objektive  sprachlich  gleich  bezeichnet  sind. 
So  wird  man  eine  Verschiedenheit  leicht  als  Tatsache  bezeichnen; 
ist  dies  aber  der  Fall,  dann  heißt  es  allemal  ,.daß  a  und  b  ver- 
schieden sind"  ist  Tatsache  und  das  gilt  nicht  von  jenem  Objekt, 
welches  auf  a  und  b  aufgebaut  ist,  Größe  hat  und  sich  der  naiven 
Beachtung  sowenig  aufdrängt,  daß  es  für  die  Theorie  gewissermaßen 
•erst  entdeckt  werden  mußte.  ^) 

Eine  Unterscheidung  der  Gegenstände,  gleichviel  ob  Objektive 
■oder  Objekte,  ist  durch  die  Gegenüberstellung  von  Tatsachen  und 
Nichttatsachen  aber  doch  bedingt.  Was  unter  Tatsächlichkeit 
gemeint  ist.  gilt  nicht  von  der  Tatsache,  sondern  von  dem  zuge- 
hörigen Gegenstand.  Die  Tatsächlichkeit  kommt  einem  Gegenstand 
auch  zu,  wenn  er  ein  Objekt  ist;  sie  kommt  z.  B.  einer  Farbe  zu, 
deren  Sein  Tatsache  ist.  Die  Tatsache  ist  auch  hier  das  Objektiv, 
Tatsächlichkeit  hat  aber  das  Objekt  —  allgemeiner  der  der  Tat- 
sache zugehörige  Gegenstand  — .  denn  auch  das  Sein  der  Farbe 
hat  Tatsächlichkeit,  da  sein  Sein  Tatsache  ist.  —  Die  Tatsächlich- 
keit eines  Gegenstandes  ist  aber  durch  die  Zugehörigkeit  zu  einer 
Tatsache  noch  nicht  bedingt,  da  sich  in  dieser  Hinsicht  die  beiden 
Klassen  von  Tatsachen:  Seinstatsachen  und  Soseinstatsachen  nicht 
gleich  verhalten.  Der  Gegenstand,  welcher  einer  positiven  Seins- 
tatsache zugehört,  hat  allemal  Tatsächlichkeit;  die  Zugehörigkeit 
zu  einer  positiven  Soseinstatsache  ist  nun  allerdings  kein  Hinder- 
nis für  die  Tatsächlichkeit,  sie  reicht  aber  nicht  aus,  dieselbe  zu 
begründen,  und  ist  auch  für  sie  keineswegs  notwendig.  Daß 
etwas  Bundes  rund  ist,  ist  gewiß  eine  Tatsache  unabhängig  davon, 
ob  es  so  etwas  gibt  oder  nicht;  auch  das  Bundsein  des  runden 
Viereckes  ist  Tatsache,  Tatsächlichkeit  kommt  dem  runden  Viereck 
aber  gewiß  nicht  zu. 

Die  Tatsächlichkeit  kommt  also  einem  Gegenstand  zu,  der  sie 
hat;  sie  stellt  sich  somit  als  eine  Eigenschaft  der  Gegenstände 
dar.  Genauer istdieTatsächlichkeiteinesGegenstandes, 
seine  Zugehörigkeit  zu  einer  positiven  Seinstatsache. 


^)  Nämlich  „der  Eelaf'  im  Sinne  der  auf  S.  72  gebrachten  Ausführungen. 

5* 


ßg  Rudolf  Ameseder. 

Ein  Gegenstand,  dem  Tatsächlichkeit,  zukommt  heißt  auch 
ein  tatsächlicher.  Demgemäß  gibt  es  tatsächliche  Objektive 
und  Objekte,  und  die  negativen  Gegenstücke  hierzu. 

Von  Objektiven  sind  nur  jene  tatsächlich,  welche  selbst  Tat- 
sachen sind,  diese  aber  mit  Notwendigkeit;  denn  das  Sein  einer 
Tatsache  ist  selbst  allemal  eine  Tatsache  und  darum  ist  erstere 
Tatsache  etwas  Tatsächliches.  Daraus  ergibt  sich,  daß  jeder  Tat- 
sache eine  unendliche  Eeihe  von  Tatsachen  zugehört,  welche  Reihe 
aber  deshalb  nicht  fehlerhaft  ist,  weil  die  Tatsache  die  unendliche, 
Reihe  nicht  voraussetzt,  sondern  bedingt. 

Für  die  Terminologie  bedeutet  dies,  daß  den  Objektiven  gegen- 
über die  Bezeichnung  als  „tatsächlich"  meist  überflüssig  ist,  da 
die  Bestimmung  eines  Objektives  als  Tatsache  jene  andere  Be- 
stimmung ersetzt. 

Von  Objekten  sind  gleichfalls  jene  tatsächlich,  welche  einer 
Seinstatsache  zugehörig  sind.  Objekte,  die  nur  irgend  einem 
andersartigen  Objektiv  zugehören,  sind  nicht  tatsächlich.  Hierher 
gehören  zunächst  die  Objekte,  welche  ein  bestimmtes  Sosein  haben. 
Mit  der  Zugehörigkeit  zu  der  Soseinstatsache  ist  keine  Zugehörig-^ 
keit  verbunden  als  die  mittelbare  zu  jenen  Tatsachen,  welche  in 
unendlicher  Reihe  zur  Soseinstatsache  gehören.  Bringt  man  die  Anzahl 
jener  Objektive,  welche  gegeben  sein  müssen,  damit  das  in  Betracht 
stehende  Objektiv  einen  zugehörigen  Gegenstand  habe,  als  Ord- 
nungshöhe des  Objektivs  in  Anschlag,  so  daß  das  Sosein  eines 
Objektes  ein  Objektiv  erster  Ordnung  ist,  dann  gilt  von  einem 
Soseinsobjektiv  erster  Ordnung  (auch  wenn  es  Tatsache  ist),  daß 
der  demselben  zugehörige  Gegenstand  keinem  Seinsobjektiv  zuge- 
hören muß.  ^) 

10.  Positivität  und  Tatsächlichkeit. 

Einem  Gegenstand  können  mehrere  Tatsachen  zugehörig  sein- 
die  Beziehungen  zwischen  diesen  sind  aber  nicht  immer  notwendige. 

Daß  es  einen  Gegenstand  gebe,  welcher  kein  Sosein  besitzt, 
ist  nicht  Tatsache.     Solche  Gegenstände  sind  also  nicht,   daher 

')  Diese  Unabhängigkeit  des  Soseins  von  Sein  wurde  meines  Wissens  zuerst  von 
E.  Mally  vertreten.  Vgl.  seine  Abhandlung  „Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens"^ 
diese  Untersuchungen  Nr.  III,  Kap.  1,  §  3,  überdies  Nr.  I,  Seite  8, 


Beiträge  zur  Grunälegung  der  Gegenstandstheorie.  69 

liaben  alle  tatsächlichen  Gegenstände  Sosein  und  ist  mit  der  Zu- 
gehörigkeit zu  einer  positiven  Seinstatsache  zugleich  die  zu  einer 
■oder  mehreren  Soseinstatsachen  gegeben.  Da  aber.  ,.daß  a  nicht 
b  ist"  auch  eine  Soseinstatsache  sein  kann,  gilt  obiger  Zusammen- 
hang in  noch  höherem  Grade :  mit  der  Zugehörigkeit  zur  positiven 
Seinstatsache  ist  die  zu  einer  positiven  Soseinstatsache  mitge- 
geben. Scheinbar  macht  hiervon  eine  Klasse  von  Gegenständen 
eine  Ausnahme,  nämlich  gerade  die  Seinsobjektive  selbst.  Daß 
a  ist,  ist  ein  Objektiv,  welches  Tatsächlichkeit  hat,  zu  dem 
^Iso  eine  Seinstatsache  gehört;  dagegen  ist  nicht  ohne  weiteres 
ersichtlich,  welche  Soseinstatsache  dem  Objektiv,  .,daß  a  ist"' 
zugehört.  Wo  Sosein  aber  sonst  in  Betracht  gezogen  wird, 
ist  dies  das  Sosein  von  Objekten;  da  natürlich  ein  Sosein,  wie 
es  Objekten  zukommt,  nicht  auch  Objektiven  muß  zugehörig 
sein  können,  kann  das  Sosein  der  Objektive  unter  diesen  So- 
seinsformen möglicherweise  nicht  vorfindlich  sein.  Gibt  es  jedoch 
mehrere  Objektive  und  nicht  bloß  eines,  so  muß,  was  an  den  Ob- 
jektiven anders  ist,  ihr  Sosein  sein.  In  erster  Linie  ist  nun  zu 
diesem  Sosein  zu  zählen,  ob  ein  Objektiv  positiv  oder  negativ  ist. 
Auch  das  Sosein  des  dem  Objektiv  zugehörigen  Gegenstandes 
scheint  für  das  Sosein  des  Objektives  relevant.  „Daß  Rot  ist", 
ist  ein  anderes  Objektiv,  als  „daß  Grün  ist".  Das  Sosein  des  zu- 
gehörigen Gegenstandes  ist  nun  freilich  mit  dem  Sosein  des  Ob- 
jektives nicht  identisch,  da  das  Sein  des  Rot  nicht  selbst  rot  ist; 
aber  eine  Dilferenzierung  der  Objektive  ist  durch  die  ihrer  Gegen- 
stände doch  mit  gegeben.  Eine  dritte  Klasse  des  Soseins  von  Ob- 
jektiven ist  durch  die  Mannigfaltigkeit  der  Beziehungen  bestimmt, 
in  denen  sie  stehen  können;  so  ist  ein  Objektiv  zugehörig  oder 
zugeordnet,  notwendig  oder  nicht  notwendig  mit  anderen  Objektiven 
verbunden.  Auch  von  den  Objektiven  gilt  also,  daß  sie  nicht  sein 
können,  ohne  Sosein  zu  haben. ^) 

Dazu  kommt,  daß  auch  die  negativen  Soseinsobjektive  Soseins- 
objektive sind,  bzw.  Tatsachen  sein  können.  Mit  solchen  Soseins- 
objektiven steht  nun  jede  Seinstatsache  in  Zugehörigkeit,  da  sie 
beispielsweise  nicht  rot,  nicht  ausgedehnt  usw.  ist.     Selbst  wenn 


')  Zahlreiche  Beispiele  und  ausführliche  Begründung  bei  Meinong,  Über  An- 
nahmen S.  173  f. 


70  Rudolf  Ameseder. 

also  die  bejahenden  Soseinsobjektive  von  Seinsobjektiven  bzw.  Tat- 
sachen in  Frage  gestellt  sein  sollten,  besteht  auf  jeden  Fall  die 
Zugehörigkeit  jedes  Objektives  zu  Soseinstatsachen  im  allgemeinen. 

Von  Gegenständen,  welche  einer  positiven  Soseinstatsache  zu- 
gehören, wurde  schon  erwähnt,  daß  sie  einer  positiven  Seinstat- 
sache zugehören  können,  daß  dies  jedoch  auch  nicht  der  Fall  sein 
könne;  dann  gehören  sie  aber  jedenfalls  einer  negativen  Seinstat- 
sache zu.  Allgemein  gilt  also  auch  von  den  positiven  soseienden 
Gegenständen,  daß  sie  einer  Seiustatsache  zugehören  müssen.  Ähn- 
lich ist  es  nun  bei  der  Zugehörigkeit  zu  negativen  Tatsachen. 
Gegenstände,  welche  einer  negativen  Seinstatsache  zugehören, 
haben  allemal  Sosein  im  allgemeinen  Sinn,  Gegenstände,  die  einer 
negativen  Soseinstatsache  angehören,  wenigstens  Zugehörigkeit  zu 
einer  negativen  Seinstatsache.  Gegenstände,  welche  irgend  einem 
Objektiv  bloß  zugeordnet  sind,  fallen  immer  unter  einen  der  vor- 
gebrachten Gesichtspunkte.  Gemäß  der  Tatsache,  daß  von  kontra- 
diktorischen Objektiven  eines  zugehörig  sein  muß.  haben  solche 
Gegenstände  stets  eine  zugehörige  Tatsache.  Ein  Gegenstand^ 
welcher  bloß  einem  Objektiv  zugeordnet  wäre,  ohne  einem  anderen 
zuzugehören,  ist  nicht  möglich.')  Die  bloß  zugeordneten  Gegen- 
stände sind  dann  als  solche  zu  betrachten,  welche  Objektiven  zu- 
gehören, die  den  bloß  zugeordneten  kontradiktorisch  sind. 

Neben  diesen  allgemeinen  Gesetzen  des  notwendigen  iMitein- 
anderauftretens  von  Objektiven  —  man  könnte  es  Koinzidenz 
nennen  —  gibt  es  noch  bei  jeder  Gegenstandsklasse  besondere. 
Gewisse  Soseinstatsachen  koinzidieren,  z.  B.  ist  Farbigkeit  und  Aus- 
gedehntheit notwendig  aneinander  gebunden ;  manche  Gegenstände, 
welche  schon  bestimmten  Tatsachen  zugehörig  sind,  können  anderen 
nicht  zugehörig  sein,  bzw.  sind  mit  Notwendigkeit  den  kontradik- 
torischen Objektiven  zugehörig.  Diese  beiden  Fälle  fallen  somit 
insofern  zusammen,  als  sie  notwendige  Zugehörigkeit  zu  einer 
Tatsache  darstellen,  —  auseinander,  indem  diese  Tatsache  im  einen 
Fall  positiv,  im  anderen  negativ  ist.  Schließlich  können  Gegen- 
stände auch  ohne  Notwendigkeit  einer  Tatsache  zugehören.  l)zw. 
die  dem  Gegenstande  zugehörigen  Tatsachen  können   mit   einer 


')  Wofern  Gegenstand   als  das  definiert  würde,   was  den  vorgegebenen  Ob- 
jektiven zugehört,  wäre  dieses  Etwas  kein  Gegenstand. 


Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie.  71 

anderen  Tatsache  zusammen  auftreten,  ohne  notwendig  mit  ilir 
verbunden  zu  sein.  Diese  drei  Tj-pen  ließen  sich  etwa  als  not- 
wendija:  verbundene,  unverträg-liche  und  zufällio:  verknüpfte  Tat- 
sachen bezeichnen. 


IV.   Das  Aufbauen  der  Superiora. 

11.  Das  Aufbauen  der  Superiora  und  die  Fundierung. 

Meinung  nennt  ein  Superius,  das  mit  Notwendigkeit  den  In- 
ferioren zukommt ,  fundiert ;  ^)  Superiora  aber  sind  Gegenstände, 
„die  sich  gleichsam  auf  andere  Gegenstände  als  unerläßliche 
Voraussetzungen  aufbauen".  -) 

Ist  ein  Gegenstand  auf  andere  aufgebaut,  so  ist  dies  „aufgebaut 
sein"  eine  Relation  zwischen  dem,  was  sich  aufbaut,  und  dem, 
worauf  aufgebaut  ist.  Kenntlich  ist  diese  Relation  dadurch,  daß 
das  Superius  zwar  eventuell  ohne  diese  luferiora,  niemals  aber 
ohne  Inferiora  sein  kann.  Diese  Charakteristik  reicht  aber  für  das 
..Aufbauen"  eines  Superius  nicht  aus.  Es  gibt  Gegenstände,  zu 
deren  Sein  das  Vorhandensein  anderer  erforderlich  ist,  und  die 
sich  doch  nicht  auf  sie  „aufbauen",  selbst  wenn  sie  nur  Gegen- 
stände von  bestimmter  Beschaffenheit  und  keineswegs  eindeutig 
bestimmte  Gegenstände  benötigen.  Dies  ist  z.  B.  der  Fall  bei 
vielen  unmittelbar  oder  auch  mittelbar  kausierten  Tatbeständen. 
Zum  Vorhandensein  eines  Schattens  von  bestimmter  Gestalt,  Größe 
und  Lokalisation  ist  neben  dem  Vorhandensein  einer  Lichtquelle 
noch  das  eines  Lichthindernisses  von  bestimmter  wenn  auch  nicht 
eindeutig  bestimmter  Beschaffenheit  erforderlich.  Der  Schatten 
ist  aber  keineswegs  auf  diese  Bedingungen  aufgebaut:  er  ist 
kein  Superius  derselben,  von  Fundierung  noch  ganz  abgesehen. 

Dagegen  zeigt  sich,  daß  überall,  wo  ein  Superius  vorliegt, 
nicht  nur  eine  Relation  zwischen  Superius  und  Inferioren  gegeben 
ist,   sondern  eine  Relation,  welche  mit  dem  Superius  ganz  oder 


1)  Über  Gegenstände  höherer  Ordnung  etc.,  S.  200  f.  Für  die  psychologische 
Seite  der  Sache  vgl.  meine  Arbeit  „Über  Vorstellungsproduktion";  diese  Unter- 
suchungen Nr.  VIII. 

'■')  Meinono,  a.  a.  0.  S.  189. 


72  Rudolf  Ameseder. 

partiell  identisch  ist.  »Superiora  sind  also  stets  Gegenstände  von 
ganz  bestimmter  Art.  Da  aber  auch  Superiora  zu  andern  Gegen- 
ständen als  ihren  Inferioren  in  dem  durch  das  Schattenbeispiel  ge- 
gebenen Verhältnis  stehen  können,  zeigt  sich,  daß  das  Aufbauen 
selbst  durch  die  Eigenart  des  Aufgebauten  und  die  in  Rede 
stehende  Relation  nicht  zu  bestimmen  ist.  Dagegen  läßt  sich  die 
Superius-Inferiusrelation  umso  eher  als  letztes  unzurückführbares 
Datum  ansehen,  als  ein  Kriterium  für  das  Vorliegen  dieser  Relation 
schwerlich  nötig  sein  wird.  Ihr  gegenüber  erscheint  nun  die 
Fundierung  als  Determination,  wobei  die  differentia  durch  die 
Notwendigkeit  gegeben  ist :  p]in  notwendig  Superius  seiender  Gegen- 
stand ist  also  fundiert. 

Sind  zwei  Gegenstände  a  und  b  verschieden,  so  besteht  zwischen 
ihnen  die  "S'erschiedenheit  V.  Diese  Verschiedenheit  ist  ein  Ob- 
jektiv, nämlich  „daß  a  und  b  verschieden  sind".  Dagegen  stellt 
sich  auch  das  „verschieden"  zwischen  oder  auf  beide  Gegenstände 
als  ein  neuer  Gegenstand.  Diesem  „verschieden''  kommt  unter 
anderem  auch  Größe  zu,  dem  Objektiv  „Verschiedenheit"  dagegen 
nicht.  Sprachgebräuchlich  ist  es  wohl,  unter  Verschiedenheit  bald 
das  Objektiv  als  diesen  neuen  Gegenstand  zu  verstehen,  bald  einen 
Gegenstand,  der  ein  Objekt  ist.  Terminologisch  lassen  sich  beide 
Gegenstände  auseinander  halten,  wenn  man  das  Objektiv  als  die 
Relation,  das  Objekt  als  den  R  e  1  a  t  bezeichnet.^)  Die  Inferiora  im 
Relat  bilden  den  Komplex,^)  der  ein  Objekt  ist;  das  „Komplex 
bilden",  ein  Objektiv,  ist  die  Komplexion.  Neben  diesen  Gegen- 
ständen liegt  noch  das  Sein  jedes  Inferius,  das  Sein  des  Relates 
und  des  Komplexes,  sowie  der  Relation  und   der  Komplexion  vor. 

Der  bisherigen  Verwendung  des  Terminus  „Fundierung"  ent- 
spricht es,  ihn  für  die  Relation  von  Inferioren  und  einem  Objekt, 
das  Superius  ist,  zu  gebrauchen,^)  Überdies  wird  das  Verhältnis 
von  Objektiven  zu  den  zugehörigen  Gegenständen  als  Zugehörigkeit 


^)  Vgl.  hierzu  deu  übrigens  abweichenden  Gebrauch  des  Terminus  bei  Mally, 
a.  a.  0.  Kapitel  I,  §  9. 

*)  HussEBL  verwendet  in  seinen  Logischen  Untersuchungen  (zweiter  Teil, 
S.  254 ff.)  den  Terminus  Fundierung  in  sehr  verändertem  Sinn;  doch  scheint,  daU 
dieser  veränderten  Bedeutung  das  Wort  „Abhängigkeit"  zu  entsprechen  vollauf 
fähig  wäre,  und  der  in  Rede  stehende  Terminus  somit  für  die  Anwendung  auf 
den  wichtigen  Spezialfall  beibehalten  werden  sollte. 


Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegenstaudstheorie.  73 

bezeichnet.  Also  können  von  allen  den  vielen  in  Betracht  kommen- 
den Geg-enständen  nur  zwei,  nämlich  Komi)lex  und  Relat  als  fun- 
diert bezeichnet  "werden.  Da  aber  Fundierung  die  Relation 
von  Superius  zu  Inferioren  bezeichnet,  diese  Relation  aber  bei 
Komplex  und  Relat  nicht  dieselbe  ist,  liegen  hier  zwei  Fälle  vor, 
die  entweder  als  „verschiedene"  Arten  der  Fundierung  zu  gelten 
haben,  oder  von  denen  nur  einer  Fuudierung  ist.  Was  Relat 
und  Komplex  im  Verhältnis  zu  den  Inferioren  unterscheidet,  fäUt 
dabei  nicht  bloß  innerhalb  des  Rahmens  der  Fundierung.  Ist  der 
Relat  notwendig,  so  ist  es  der  Komplex  auch ;  das,  was  Fundierung 
von  anderen  Arten  des  Aufbaues  unterscheidet,  triitt  für  beide  in 
gleicher  Weise  zu.  Dag-egen  ist  das  Superius  Relat  in  anderer 
Weise  auf  die  Inferiora  aufgebaut,  als  das  Superius  Komplex. 
Zunächst  ist  der  Relat  als  neuer  Gegenstand  auf  die  Inferiora 
aufgebaut.  Die  Inferiora  im  Relat  hingegen  sind  zwar  den  bloßen 
Inferioren  geg'enüber  auch  etwas  Neues,  aber  doch  nur,  weil  eben 
der  Relat  etwas  anderes  als  die  Glieder  ist.  Der  Ausdruck  „sich 
auf  die  Inferiora  aufbauen"  paßt  also  wohl  besser  auf  etwas,  das 
in  keiner  Weise,  auch  nicht  partiell,  diese  Inferiora  ist.  Eine  ge- 
wisse Ähnlichkeit  des  Sachverhaltes  mit  der  Relatfundierung  ist 
indes  auch  beim  Komplex  nicht  zu  verkennen. 

Ein  Relat  —  z.  B.  das,  was  an  einer  Verschiedenheit  Größe 
hat  —  kann  ohne  die  ihn  fundierenden  Gegenstände  nicht  sein. 
Dagegen  ist  der  Relat  etwas  neben  diesen  Gegenständen.  Die 
Sachlage  ist  hier  ganz  ähnlich  der  beim  Objektiv,  das  nicht  sein 
kann,  ohne  vergegenständlicht  zu  sein,  und  dessen  reine  Form,  die 
das  bloße  Objektiv  darstellt,  dennoch  die  nicht  vergegenständlichte 
ist.  Auch  der  Relat  der  Inferiora  a  b  und  c  d  kann  derselbe  sein. 
Das  Identische  dabei  ist  der  nicht  vergegenständlichte  Relat;  der 
vergegenständlichte  Relat  ist  dasselbe  wie  die  Inferiora  im  Relat, 
also  der  Komplex.  Da  der  nicht  vergegenständlichte  Relat  sich 
auf  die  Inferiora  aufbaut,  kann  man  den  vergegenständlichten  als 
mitaufgebaut  bezeichnen.  Ist  somit  allgemein  der  Relat  auf 
die  Inferiora  aufgebaut,  der  Komplex  mit  aufgebaut,  so  ist  im 
Spezialfall  der  Fundierung  der  Relat  fundiert,  der  Komplex  m  i  t  - 
fundiert.  Die  beiden  Klassen  superiorer  Objekte  stehen  so- 
mit zu  den  Inferioren  in  zwei  Relationen,  Fundierung  und  Mit- 
fundierung. 


17^  Rudolf  Ameseder. 

Neben  Relat  und  Komplex  sind  noch  Relation  und  Komplexion 
in  einer  superiusartigen  Stellung  zu  den  Inferioren.  Im  Falle  der 
Verschiedenheit  liegt  das  Objektiv  vor  „daß  a  und  b  verschieden 
sind",  allgemein  also,  „daß  die  Inferiora  in  Relat  stehen".  Dem 
stünde  als  mögliches  Objektiv  gegenüber  „daß  die  Inferiora  in 
Komplex  stehen''  und  so  ergäbe  sich  das  erste  von  beiden  als 
Relation,  das  zweite  als  Komplexion.  Allein,  daß  die  Inferiora  in 
Komplex  stehen,  heißt  nichts  anderes,  als  daß  sie  in  einem  ver- 
gegenständlicliten  Relat  stehen;  nun  können  Inferiora  natürlich  in 
keinem  anderen  als  in  einem  vergegenständlichten  Relat  stehen, 
da  dieser  sich  ja  an  den  Inferioren  vergegenständlicht.  Daß  die 
Inferiora  einen  vergegenständlichten  Relat,  also  einen  Komplex 
bilden,  ist  gegenständlich  nicht  mehr,  als  „daß  sie  in  einem  Relat 
stehen".  Sollen  Komplexion  und  Relation  Analogiebildungen  zu 
Komplex  und  Relat,  aber  auf  dem  Gebiet  der  Objektive  sein,  so 
müssen  sie  anders  bestimmt  werden.  Für  Komplexion  ergibt  sich 
nun  wohl  nichts,  als  die  Bestimmung  „daß  die  Inferiora  in 
Relat  stehen",  die  nach  der  aufgezeigten  Kongruenz  sich  mit  der 
bisherigen  Bestimmung  gegenständlich  deckt.  Dies  ist  aber  ein 
vergegenständlichtes  Soseinsobjektiv.  \)  Ist  nun  Komplex  ein  ver- 
gegenständlichter Relat,  und  Komplexion  ein  vergegenständlichtes 
Soseinsobjektiv,  so  muß  Relation  analog  ein  nicht  vergegenständ- 
lichtes Soseinsobjektiv  sein,  also  z.  B.  das  Verschieden  sein 
abgesehen  davon,  ob  es  Verschiedensein  gerade  von  Rot  und  Grün 
ist.  Dieses  „Verschiedensein"  deckt  sich  auch  am  besten  mit  ..Ver- 
schiedenheit", welches  AVort  doch  die  Relation  bezeichnen  soll. 

Die  oben  gemachte  Einschränkung,  daß  nur  Objekte  fundiert 
sein  können,  stützt  sich  auf  Folgendes.  Wenn  Objektive  fundiert 
sein  könnten,  so  wäre  dies  zunächst  bei  der  Relation  der  FaU; 
diese  wäre  dann  durch  jene  Gegenstände  fundiert,  an  welclien  sie 
vergegenständlicht  ist.  Durch  dieselben  Gegenstände  ist  aber  der 
Relat  fundiert,  da  es  keine  Relation  ohne  Relat  geben  kann.  Auf 
die  Inferiora  ist  also  dann  sowohl  Relat  als  Relation  fundiert;  da 
die  Fundierung  selbst  eine  Relation  ist,  stünde  somit  ein  Relat 
und  eine  Relation  zu  denselben  Gegenständen  in  derselben  Relation. 
Fundieren  nun  Inferiora  J  zwei  Superiora  Sj^  und  S.j,  etwa  so,  daß 

')  Vgl.  s.  75. 


Beiträge  zur  Gnmdlegung  der  Gegeüstandstheorie.  75 

81  die  Distanz,  S._>  die  Gestalt  von  zwei  Ortsbestimmungen  dar- 
stellt, so  liegt  zwar  in  beiden  Fällen  Fundierung  vor,  aber  es  ist 
nicht  dieselbe  Fundierung  die  zwischen  Sj  und  J  und  die  zwischen 
S.2  und  J  besteht.  Ks  ei'geben  sich  also  mehrere  Gattungen  der 
Fundierung  von  Objekten.  Sind  aber  die  verschiedenen  Gattungen 
der  Fundierung  dadurch  bestimmt,  daß  Objekte  Sj,  S.,  usw.  auf 
dieselben  Inferiora  aufgebaut  sind,  dann  können  Objektive,  welche 
ebenfalls  auf  diese  Inferiora  ..aufgebaut"  sind,  nicht  in  den  erstereu 
koordinierten  Fundierungen  stehen.  Soll  also  die  Heterogeneität 
beider  Relationen  nicht  terminologisch  verwischt  werden,  so  ist 
die  Beschränkung  des  Terminus  Fundierung  auf  einen  von  beiden, 
natürlicher  den  der  Objektsfundierung.  notwendig.  Das  Verhältnis 
der  Eelation  oder  Komplexion  zu  den  Inferioren  ist  den  vorherigen 
Ausführungen  gemäß  ohnedies  als  Zugehörigkeit  bestimmt. 

12.  So  sein  und  Relation. 

AVie  bereits  erörtert  gibt  es  neben  den  Seinsobjektiven  auch 
Soseinsobjektive.  Diese  Einteilung  sei  hier  nochmals  erwähnt,  da 
sie  für  die  Einteilung  der  Gegenstände  relevant  ist.  Keine  von 
beiden  Arten  der  Objektive  ist  auf  die  andere  zurückführbar.  Da- 
gegen stehen  die  Soseinsobjektive  in  engster  Beziehung  zu  einem 
vieluntersuchten  Gegenstande.  Ist  a  und  b  in  der  Verschiedenheit  v, 
so  ist  dies  Verschiedensein  ein  Sosein ;  gleichzeitig  ist  es  das,  was 
unter  der  Bezeichnung  Relation  gemeint  ist.  Überall,  wo  eine 
Relation  vorliegt,  ist  sie  ein  Sosein,  und  jedes  positive  Soseins- 
objektiv ist  eine  Relation.  Beim  negativen  Soseinsobjektiv  scheint 
es  jedoch  anders  zu  sein.  Ist  a  von  b  verschieden,  dieses  „ver- 
schieden" dabei  immer  quantitativ  bestimmt  verstanden^),  so  be- 
steht ein  Soseinsobjektiv  „Verschiedenheit".  Dieses  hat  Sein. 
Dieselbe  Verschiedenheit  besteht  zwischen  a  und  c  nicht.  Diese 
Verschiedenheit  hat  also  zrv\äschen  a  und  c  Nichtsein.  Daß  nun 
diese  Verschiedenheit  nicht  besteht,  ist  kein  Soseins-  sondern  ein 
Seinsobjektiv.  Dagegen  gibt  es  negative  Soseinsobjektive;  ist  so- 
mit das  positive  Soseinsobjektiv  eine  Relation,  so  müßte  das  kon- 
tradiktorische auch  eine  sein,  und  nicht  etwa  bloß  das  Nichtbestehen 


Vgl.  die  gegeinvärtige  Arbeit,  VII,  22,  2. 


'^^^  Rudolf  Ameseder. 

einer  sulchen,  ebensowenig  eine  andere  bestehende  (positive)  Ver- 
schiedenheit. 

Diese  Schwierigkeit  besteht  jedoch  nur  unter  Voraussetzung 
der  bisherigen  Ansicht  von  der  Relation,  derzufolge  diese  ein  Ob- 
jekt, oder  wofern  ein  Objektiv,  so  doch  jedenfalls  ein  positives 
ist.  Das  Nichtverschiedensein  ist  jedoch  keineswegs  dasselbe,  wie 
das  Nichtsein  der  Verschiedenheit;  es  ist  nicht  ein  Seinsobjektiv 
sondern  ein  Soseinsobjektiv.  Offenbar  ist  es  ebenso  ein  Verschieden- 
sein im  weitern  Sinne,  wie  das  Nichtsein  ein  Sein  im  weitern 
Sinne  ist.  Neben  den  positiven  Relationen  sind  also  negative 
sehr  wohl  möglich.  Dies  erhellt  noch  mehr  daraus,  daß  auch  das 
Nichtverschiedensein  quantitativ  bestimmt  ist.  Sind  nämlich  a 
und  b  in  der  durch  v  quantitativ  bestimmten  Verschiedenheit,  so 
besteht  die  durch  v  bestimmte  NichtVerschiedenheit  nicht,  die 
durch  ein  v^  bestimmte  besteht  aber. 

13.  Mitgegebene  Objektive  und  Objekte. 

Einer  eingehenderen  Erwägung  bedarf  noch  das  Verhältnis 
der  Relation  zum  Relat.  Die  Relation  kann  nicht  als  das  zum 
Relat  zugehörige  Objektiv  bezeichnet  werden,  denn  eine  Relation 
ist  trotz  des  Vorhandenseins  des  Relates,  nicht  vergegenständlicht. 
Sie  kann  also  nicht  am  Relat  vergegenständlicht  sein.  Überdies 
vergegenständlichen  sich  am  Relat  andere  Objektive :  das  Sein  des 
Relates  und  das  Sosein  des  Relates. 

Nennen  wir  unvorgreiflich  das  Objektiv  ,. Verschiedenheit" 
das  dem  Relat  „verschieden"  mitgegebene  Objektiv,  so  sind 
zunächst  Relationen  den  Relaten  gegenüber  als  mitgegeben  be- 
zeichnet. Da  ein  derartiges  wo  nicht  dasselbe  Verhältnis  auch 
in  umgekehrter  Richtung  besteht,  können  dementsprechend  auch 
Relate  als  den  Objektiven  mitgegeben  bezeichnet  werden. 

Jedem  Relat  ist  eine  Relation  und  jeder  Relation  ein  Relat 
mitgegeben.  Da  die  Relation  ein  Soseinsobjektiv  ist,  ist  jedem 
Relat  ein  Soseinsobjektiv  mitgegeben;  dagegen  ist  zu  untersuchen, 
ob  allen  Soseinsobjektiven  ein  Relat  mitgegeben  ist.  —  Das  So- 
seinsobjektiv lautet  in  der  unvorgreif liebsten  Formulierung:  A  ist 
so.  Dieses  „so"  kann  z.  B.  „verschieden  von  B"  bedeuten.  Dann 
ist  also  nicht  bloß  das  „verschieden",  sondern  auch  das  B  in  dem 


Beiträge  zur  Gn;ndlegimg  der  Gegenstaudstbeorie.  77 

„so"  enthalten.  Bei  Unterscheidung-  der  Vergegenständlichimg-en  ^) 
ist  dies  ein  unvollständig-  u.  z.  sekundär  vergegenständlichtes 
Soseinsobjektiv. 

Diese  sekundäre  Vergegenständlichung  scheint  auch  in  allen 
jenen  Soseinsobjektiven  vorzuliegen,  bei  welchen  von  einer  Relation 
nichts  zu  bemerken  ist.  Hat  ein  Objekt  Farbe,  so  liegt  unter  an- 
derem das  Objektiv  vor  „x  ist  rot".  Hier  scheinen  die  zwei  Gegen- 
stände X  und  rot  und  sonst  höchstens  noch  ein  Sein,  weiter  aber 
nichts  gegeben  zu  sein.  Unzweifelhaft  steht  aber  ein  Objekt  zu  der 
Farbe,  die  es  hat,  in  einer  Relation,  die  eben  das  „Haben"  der 
Farbe  ist.  Wenn  x  rot  ist,  so  „hat"  es  eben  die  Farbe  Rot;  „rot 
sein"  und  „rot  haben"  sind  also  gleichbedeutend  und  somit  dürfte  in 
dem  i  s  t  implizite  eine  Relation  enthalten  sein,  die  deshalb  unbenannt 
geblieben  ist,  weil  die  Satzkonstruktion  sie  unzweideutig  bezeichnet. 
Offenbar  ist  aber  „rot"  in  diesem  Soseinobjektiv  das  „So". 

Nichtsdestoweniger  hat  das  Soseinsobjektiv  seinen  Charakter 
nicht  von  den  zugehörigen  Gegenständen;  auch  wenn  es  gar  nicht 
vergegenständlicht  ist,  ist  es  noch  ein  (wenn  auch  nicht  seiendes) 
Soseinsobjektiv.  Oder  in  anderer  Formulierung :  auch  abgesehen 
von  seiner  Vergegenständlichung  ist  es  ein  Soseinsobjektiv.  Also 
außer  dem  x  und  dem  Rot  ist  noch  das  unvergegenständlichte 
Sosein  da,  das  dann  eben  nur  mehr  die  Relation  von  x  und  Rot 
sein  kann.  Ein  Soseinsobjektiv  ist  also  jenes  eigentümliche  Sein, 
welches  eine  Qualität,  das  „So"  mit  einem  Gegenstand  verbindet. 

Da  es  nicht  nur  ein  Soseinsobjektiv  gibt,  haben  die  Soseins- 
objektive auch  Sosein.  Hat  aber  das  Sosein  selbst  Sosein,  so  ist 
mit  jedem  Sosein  eine  unendliche  Reihe  gegeben.  Dies  entspricht 
nun  wohl  dem  tatsächlichen  Sachverhalt,  da  jedes  Sosein  bejahend 
oder  verneinend  ist  usw.  und  auch  weitere  Eigenschaften  hat, 
durch  welche  es  sich  von  anderen  Soseinstatsachen  unterscheidet. 
Dagegen  ist  es  schwieriger,  das  „So"  zu  diesem  Sosein,  den  sekun- 
dären Gegenstand  namhaft  zu  machen.  Ist  dieser  sekundäre  Gegen- 
stand etwas  am  Sosein  selber,  wie  etwa  das  bejahende  oder  ver- 
neinende Moment,  so  liegt  ein  ähnlicher  Fall  vor  wie  bei  einer 
ausgedehnten  Farbe;  Farbe  ohne  Ausdehnung  ist  unmöglich, 
aber  die  Farbe  ist  nicht   die  Ausdehnung.     Ebenso  ist  das  So- 


^)  Vgl.  diese  Arbeit  S.  59. 


*7g  Rudolf  Ameseder. 

sein  nicht  die  Bejahung  und  umg-ekehrt,  trotzdem  es  ohne  eine 
derartig:e  Qualität  nicht  sein  kann.  Das  Sosein  aber,  welches  die 
Verschiedenheit  von  der  Ähnlichkeit  unterscheidet,  wäre  durch  die 
Relation  zum  mitg-eofebenen  Relat  bestimmt.  Da  jedes  Sosein 
mindestens  zu  dem  mitgeg-ebenen  Relat  in  Relation  steht,  so  ist 
die  unendliche  Reihe  von  Soseinsobjektiven  hierdurch  gesichert. 


T.   Zur  Einteilung  der  Gegenstände. 

Die  vorgebrachten  Gesichtspunkte  gestatten  mehrere  Ein- 
teilungen der  Gegenstände,  von  denen  jedoch  bloß  eine  —  wie  zu 
erweisen  sein  wird  —  Anspruch  auf  Vollständigkeit  hat.  Eine 
von  diesen  Möglichkeiten  hat  literarische  Vertretung  gefunden. 
Aus  methodischen  Gründen  möge  sie  erst  an  zweiter  Stelle  dis- 
kutiert werden. 


14.  Tatsächliche  und  nichttatsächliche  Gegenstände. 

Die  Gegenüberstellung  von  Existenz  und  Bestand  gründet  sich 
zunächst  auf  eine  Sonderstellung  der  ersteren,  welche  als  das  Sein 
des  Wirklichen  auch  im  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  mit  weitaus 
größerer  Bestimmtheit  abgegrenzt  erscheint  als  jene  Seinsart. 
welche  nicht  Existenz  ist.  A\'ird  indes  von  charakteristischen 
Existenz-  und  Bestandfällen  ausgegangen,  so  ergeben  sich  für  beide 
Tatbestände  unzweifelhafte  Kriterien,  welche  dartun,  daß  inner- 
halb des  Gebietes  positiver  Seinstatsachen  der  eine  das  Gegen- 
teil des  andern  ist.  Beispiele  für  Existenz  sind  das  Sein  eines 
Quantums  Wasser,  eines  psychischen  Vorganges,  —  das  Sein  einer 
Ähnlichkeit,  das  Verschiedensein  von  Rot  und  Grün,  für  Bestand. 
Zerlege  ich  das  Quantum  Wasser  durch  Elektrolyse,  dann  existiert 
wohl  Wasserstolf  und  Sauerstoff,  aber  das  Wasser  existiert  nicht 
mehr;  ebenso  geht  der  psychische  Vorgang  vorüber  und  hat  dann 
keine  Existenz  mehr.  Existenzen  können  also  aufhören,  d.  h.  ein 
Gegenstand  kann  im  Zeitpunkt  t,  existieren  und  in  t.,  nicht 
existieren.  Dies  gilt  nun  zwar  nicht  von  allen  existierenden 
Gegenständen.  So  gilt  von  den  Elementen  der  Chemie,  wofern 
.sie  richtig  als  Elemente  bestimmt  sind,  im  besondern,  von  Materie 


Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstbeorie.  79 

im  allgemeinen,  daß  sie  unzerstörbar  seien,  nie  verloren  gehen 
können,  d.  h.  immer  existieren;  ähnliche  Gesichtspunkte  würden 
sich  vielleicht  auch  für  Psychisches  namhaft  machen  lassen. 
Sollten  aber  auch  diese  Bestimmungen  sich  als  unrichtig  erweisen 
können,  so  tut  ihr  Vorhandensein  doch  dar,  daß  das  Aufhören 
keineswegs  in  der  Natur  der  Existenz  liegt  oder  zu  ihr  gehört.  — 
Dagegen  erweist  sich  die  Existenz  auch  in  diesen  und  somit  in 
allen  Fällen  als  zeitlich  bestimmt ;  sie  ist  allemal  i  n  der  Zeit,  wenn 
sie  auch  eventuell  alle  Zeitbestimmungen  durchmacht.  —  Ganz 
anders  verhalten  sich  die  Bestände.  Die  Ähnlichkeit  zweier  Gegen- 
stände besteht  u.  zw.  ottenbar  nicht  „jetzt",  sondern  überhaupt  zu 
keiner  Zeit,  weshalb  ein  Anfangen  oder  Aufhören  einer  Ähnlich- 
keit nicht  denkbar  ist  ^) ,  selbst  dann  nicht ,  wenn  das  aufhören 
oder  anfangen  könnte,  was  ähnlich  ist,  also  die  Ähnlichkeit  eine 
von  existierenden  Gegenständen  wäre.  Ebenso  besteht  die  Ver- 
schiedenheit von  Rot  und  Grün  nicht  zu  einer  bestimmten  Zeit, 
sondern  zeitlos,  ^^'ährend  also  Existenz  immer  an  eine  Zeitbe- 
stimmung, genauer  eine  Gegenwart  gebunden  ist,  ist  Bestand  zeit- 
los, und  lassen  sich  beide  Seinsarten  einander  als  „gegenwärtig 
sein"  und  „zeitlos  sein"  gegenüberstellen.  Da  jede  Existenz  diese 
Zeitbestimmtheit  hat,  ist  sie  von  jedem  Bestand,  der  sie  niemals 
hat,  zu  unterscheiden. 

Der  zugehörigen  positiven  Seinstatsache  entsprechend  zerfallen 
die  tatsächlichen  Gegenstände  in  wirkliche  und  nichtwirkliche. 

Nur  „wirkliche"  Gegenstände  existieren  und  nur  jene  Gegen- 
stände, welche  existieren,  sind  wirkliche.  Dadurch  fällt  „wirklich 
sein"  keineswegs  mit  existieren  zusammen,  was  deshalb  schon  un- 
möglich ist,  da  „wirklich  sein"  olfenbar  ein  Sosein  ist.  Ist  hin- 
gegen ein  Gegenstand  insofern  wirklich,  als  er  existiert,  so  steht 
er  in  einer  positiven  Existenztatsache.  Zwischen  der  Existenz 
und  dem  Gegenstand  besteht  somit  eine  Relation,  die  im  allgemeinen 
bei  Tatsachen  als  Zugehörigkeit  bezeichnet  wurde.  Die  Wirklich- 
keit stellt  sich  als  diese  Relation,  somit  als  ein  Spezialfall 
von  Zugehörigkeit  heraus,  sie  ist  die  Zugehörigkeit  eines  Gegen- 
standes zu  einer  positiven  Existenztatsache. 


^)  Eine  Scheinausnalime  liegt  in  dem  Falle  vor,  bei  welchem  zwei  Gegen- 
stände sieb  derart  verändern,  daO  sie  in  eine  Ähnlichkeit  eintreten  usw. 


QQ  Rudolf  Ameseder. 

Da  wirkliche  Gegenstände  aufhören  können  zu  existieren,  be- 
steht keine  Notwendigkeit,  daß  jederzeit  dieselben  wirklichen 
(4eti-enstände  vorlianden  sind,  liingeg-en  eine  auch  empirisch  be- 
gründete A\'ahrscheinlichkeit,  daß  dies  niemals  der  Fall  sein  wird. 
Der  „Umfang"  der  Klasse  der  wirklichen  Gegenstände  unterliegt 
somit  in  der  Zeit  Veränderungen;  damit  ist  die  Möglichkeit  ge- 
geben, daß  zu  einer  bestimmten  Zeit  wirkliche  Gegenstände  von 
einer  bestimmten  Beschaffenheit  nicht  existieren. 

Gegenstände,  welche  bloß  existiert  haben  oder  erst  existieren 
werden,  sind  gegenwärtig  keine  wirklichen  Gegenstände,  gehören 
aber  offenbar  mit  diesen  eventuell  in  eine  Klasse.  Eine  derartige 
Klasse  umfaßt  demgemäß  neben  wirklichen  Gegenständen  auch 
solche,  die  es  waren  oder  sein  werden  und.  —  da  die  Bestimmung 
der  tatsächlichen  Existenz  außerhalb  des  Rahmens  der  Gegenstands- 
theorie  fällt  —  solcher,  welche  existieren  können.  Nicht  gegen- 
standstheoretisch ist  diese  Bestimmung  aber  deshalb,  weil  die  Gegen- 
standstheorie nur  notwendige  Tatsachen  behandelt.  Daher  ist  eine 
Teilung  der  Gegenstände  in  wirkliche  und  nichtwirkliche  nicht 
gegenstandstheoretisch  brauchbar. 

Verliert  ein  wirklicher  Gegenstand  seine  Existenz,  so  hört  er 
doch  nicht  auf  Gegenstand  zu  sein.  Ein  solcher  Gegenstand  ist 
somit  einer,  der  alle  Eigenschaften  des  gewesenen  Gegenstandes 
hat  bis  auf  die  Wirklichkeit,  also  obiger  Ausführung  gemäß  die 
Zuordnung  zu  einer  Existenztatsache.  Existiert  der  Gegenstand 
aber  nicht,  dann  hat  er  kein  weiteres  positives  Sein,  solche 
Gegenstände  sind  also  nicht  tatsächliche. 

Daraus  ergibt  sich  eine  Gruppe  von  Gegenständen,  welche 
unter  Umständen  tatsächlich  oder  nicht  tatsäclilich  sind.  Da  der 
Umfang  dieser  Gruppe  nicht  zeitlich  bestimmt  ist,  besitzt  sie  für 
die  Systematik  einen  Vorzug  vor  der  der  wirklichen  Gegenstände. 
Da  sie  aber  weder  in  die  Klasse  der  tatsächlichen  Gegenstände 
fällt  noch  in  die  der  nichttatsächlichen,  sondern  beiden  angehört, 
ist  die  Zusammenfassung  von  Gegenständen  in  diese  Gruppe  un- 
verträglich mit  der  Einteilung  in  jene  zwei  Klassen. 

A\'eil  aber  die  wirklichen  Gegenstände  zu  den  tatsächlichen 
gehören,  ist  auch  der  Umfang  der  tatsächlichen  und  somit  auch 
der  der  nichttatsächlichen  schwankend. 


Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie.  81 

15.  Reale  und  ideale  Gegenstände. 

Meinong  ^)  nennt  einen  Gegenstand  real,  wenn  er  seiner  Natur 
nach  existieren  kann ;  andernfalls  ist  er  ein  idealer.  Diese  Scheidung 
ist  vollständig  und  hängt  auch  nicht  von  der  Tatsächlichkeit  der 
Gegenstände  ab. 

Während  aber  nun  bezüglich  der  Einreihung  eines  Seins  in 
die  Gruppe  der  Existenz  oder  in  die  der  Nichtexistenz  selten 
Schwierigkeiten  vorkommen,  läßt  sich  aus  der  Natur  eines  Gegen- 
standes zwar  entnehmen,  ob  er  sein  kann  oder  nicht,  aber  nicht 
ebenso,  ob  er  existieren  kann.  Ist  Existenz  ein  vom  Bestehen 
qualitativ  verschiedenes  Sein,  und  nicht  vielmehr  das  Sein  von 
Gegenständen  völlig  anderer  Art,  so  läßt  sich  keineswegs  fest- 
stellen, ob  es  neben  der  Existenz  und  neben  dem  Sein  einer  Ver- 
schiedenheit nicht  noch  eine  dritte  Art  des  Seins  geben  könnte, 
etwa  die  des  Seins  der  Empfindungsgegenstände.  Bei  dieser  Un- 
sicherheit des  Begriffes  Existenz  kann  aber  keineswegs  aus  der 
Natur  des  Gegenstandes  entnommen  werden,  ob  er  existieren  kann 
oder  nicht. 

Wird  dieser  Begriff'  aber  definitorisch  festgelegt,  so  daß  Existenz 
als  das  Sein  des  Wirklichen  zu  bezeichnen  wäre,  dann  haben 
Gegenstände,  die  als  Paradigma  für  Reales  angeführt  werden, 
offenbar  keine  Existenz,  da  sie  nicht  wirklich  sind. '-)  Nach  Aus- 
schluß dieser  wäre  aber  die  Gruppe  der  Gegenstände,  welche 
existieren  können,  derartig  klein  und  unserer  Erkenntnis  so  wenig 
zugänglich,-^)  daß  damit  für  das  eigentliche  Gebiet  der  Gegenstands - 
theorie  keine  zweckmäßige  Einteilung  gewonnen  wäre.  Die  Ein- 
teilung in  Real  und  Ideal  ist  gelegentlich  sehr  entsprechend;  sie 
aber  zum  Ausgangspunkt  einer  Systematik  zu  nehmen  ist  um  so 
eher  zu  entbehren,  als  eine  Dreiteilung  der  Gegenstände  möglich 
ist,  welche  allen  Anforderungen  der  Sj^stematik  zu  genügen  scheint. 

16.  Die  Dreiteilung  des  Gegenstandsgebietes. 

Diejenigen  Gegenstände,  welche  wirklich  sind  oder  waren  usw. 
gehören  nicht  schlechtweg  einer  Existenz  (allgemein  Seinstatsache) 

')  Über  Gegenstände  höherer  Ordnung  S.  189. 
*}  Vgl.  unten,  S.  93. 
3)  Vgl.  unten,  S.  91. 
Meinong,  Untersuchungen.  6 


g2  Rudolf  Amesedeb. 

ZU,  sondern  sie  können  ihr  zugehören,  müssen  aber  nicht.  Bei 
anderen  Gegenständen  ist  die  Zugehörigkeit  eine  notwendige,') 
wie  z.  B.  bei  der  Verschiedenheit  von  Kot  und  Grün,  bei  anderen 
besteht  notwendige  Zuordnunl"  zum  Nichtsein,  wie  beim  runden 
Viereck.  Eine  andere  Teilung  ist  die  der  Gegenstände  in  solche, 
welche  tatsächlich  sein  können,  und  solche,  welche  es  nicht  können. 

Bei  der  ersten  Teilung  ist  die  Differentia  die,  ob  die  Zu- 
gehörigkeit zum  Sein,  gleichviel  ob  es  positiv  oder  negativ  sein 
mag,  notwendig  oder  nicht  notwendig  ist.  Es  ergäben 
sich  also  zwei  Klassen:  notwendig  seiende  —  im  weitesten  Sinn 
—  und  zufällig  seiende  oder  zufällig  nichtseiende.  Nach  der 
Qualität  des  Seins  lassen  sich  unter  den  notwendigen  Gegenständen 
notwendig  seiende  im  engeren  (positiven)  Sinn  den  notwendig 
nichtseiende n  oder  unmöglichen  Gegenständen  gegenüber- 
stellen. 

Nach  der  an  zweiter  Stelle  vorgebrachten  Einteilung  ergeben 
sich  ebenfalls  zwei  Klassen.  Die  Gegenstände,  welche  nicht  sein 
können,  sind  offenbar  die  bereits  erwähnten  unmöglichen :  dagegen 
sind  die  anderen  das  kontradiktorische  Gegenteil  der  unmöglichen, 
somit  mögliche  Gegenstände.  Zu  den  möglichen  Gegenständen 
gehören  nicht  nur  die  zufälligen,  sondern  auch  die  notwendigen,  da 
ja  diese,  indem  sie  sein  müssen,  natürlich  auch  sein  können. 
Die  zweite  Einteilung  gibt  aber  der  ersten  gegenüber  nichts  Neues, 
als  bloß  eine  zusammenfassende  Bezeichnung  für  die  notwendigen 
und  die  zufälligen  Gegenstände,  welche  sich  manchmal  als  zweck- 
mäßig erweist. 

Es  ergeben  sich  also  folgende  drei  Klassen  von  Gegenständen : 

1.  Gegenstände,  welche  mit  Notwendigkeit  einer  positiven 
Seinstatsache  zugehören, 

2.  Gegenstände,  welche  sowohl  sein  als  nichtsein  können, 

3.  Gegenstände,  welche  mit  Notwendigkeit  einer  negativen 
Seinstatsache  zugehören. 

Dabei   decken    sich    die    ersten   beiden  Klassen   mit   solchen. 


')  Unter  Notwendigkeit  ist  bier  wie  im  folgenden  nur  jene  verstanden, 
welche  sich  ans  der  Natur  des  Gegenstandes,  somit  aus  dessen  vorgegebenen  Ob- 
jektiven ergibt.  Daneben  gibt  es  noch  kausale  Notwendigkeit,  die  aber  nicht  aus 
der  Natur  des  Gegenstandes  folgt.  Z.  B.  ist  das  Sein  eines  Naturereignisses 
nicht  seiner  Natur  nach,  sondern  nur  kausal  notwendig.     Vgl.  S.  62 f. 


Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie.  83 

welche  wie  erwähnt  literarische  Vertretung  gefunden  haben.  Für 
die  ..idealen"  Gegenstände  ist  die  Notwendigkeit  bereits  als  wesent- 
liches Bestimmungsstück  erkannt,  die  ,.realen"  sind  sogar  durch 
Definition   als    diejenigen    bezeichnet,    welche    existieren   können. 

Durch  Bezeichnung  der  zweiten  Gruppe  von  Gegenständen  als 
realer  wäre  aber  eine  Umdeutung  dieses  Terminus  gegeben,  u.  z. 
eine  Erweiterung.  In  diese  Gruppe  gehören  nämlich  die  Gegen- 
stände, welche  sein  können  aber  nicht  notwendig  sind.  „Existieren" 
ist  dabei  ein  Sein  von  eigener  aber  definitorisch  nicht  näher  zu 
bestimmender  Art.  Solche  Existenz  kommt  gewissen  Objekten  (den 
wirklichen),  aber  niemals  Objektiven  zu. 

Jenes  Sein,  welches  möglich  aber  nicht  notwendig  ist,  fällt 
nun,  soweit  Objekte  in  Betracht  kommen,  mit  Existenz  zusammen.  Es 
wird  kein  Objekt  dieser  Klasse  geben,  das  einer  anderen  bejahenden 
Seinstatsache  zugehören  kann,  als  Existenz,  und  Existenz  wird  nur 
Objekten  dieser  Klasse  zukommen  können.  Bezüglich  der  Objektive 
aber  stehen  die  beiden  Seinsarten  im  Gegensatz.  Sowohl  Sein  als 
Sosein  haben  unter  Umständen  Sein,  aber  niemals  Existenz;  da- 
gegen kann  ein  nicht  notwendiges  aber  mögliches  Sein  auch  Ob- 
jektiven zugehören,  u.  z.  ist  dies  bei  der  Existenz  der  Fall.  Die 
Existenz  kann  sein,  ist  aber  nicht  notwendig,  wenn  sie  ist. 
Abgesehen  davon,  daß  die  Existenz  als  Objektiv  nicht  wieder 
existiert.  Die  Existenz  hat  also  nur  mögliches  Sein.  Daher  deckt 
sich  dieses  nicht  mit  Existenz. 

Da  die  Termini  ,.real"  und  ..ideal''  sich  aber  bloß  insoweit  emp- 
fehlen würden,  als  sie  herkömmlich  annähernd  die  besprochenen 
Ivlassen,  vielleicht  aber  noch  besser  erst  zu  bestimmende  Unterab- 
teilungen derselben  bezeichnen,  seien  jene  Ivlassen  einer  Entscheidung 
über  die  Verwendung  vorfindlicher  Termini  unvorgreif  lieh,  als  die  der 
notwendigen,  zufälligen  und  unmöglichen  Gegenstände  bezeichnet. 

17.  Das  Sein  der  Gegenstände  im  allgemeinen. 

Bei  der  Untersuchung  der  Notwendigkeit  ist  zunächst  zwischen 
dieser  selbst  und  den  notwendigen  Gegenständen  zu  unterscheiden. 
Dabei  sei  zunächst  von  dem  durch  die  Überschrift  gegebenen  er- 
weiterten Gebrauch  des  Wortes  Notwendigkeit  abgesehen  und  der 

übliche  herangezogen. 

6* 


y4  Rudolf  Ameseder. 

Notwendig  ist  allemal  nur,  daß  etwas  ist  oder  so  ist.  Alle 
jene  Fälle,  in  welchen  der  Schein  anders  ist,  lassen  sich  mit  An- 
näherung- an  einen  expliziteren  aber  korrekteren  Wortgebrauch 
auf  diese  Form  bringen.  Vor  allem  kommt  hier  der  Fall  in  Betracht, 
bei  welchem  einer  ,. Verbindung"  mehrerer  Gegenstände  das  Prä- 
dikat „notwendig"  zukommt.  Die  Verbindung  ist  kein  Objekt, 
sondern  selbst  ein  Objektiv,  nämlich  die  Komplexion  des  Verbun- 
denen. Nur  in  der  oben  erwähnten  Erweiterung  kann  es  als  ab- 
gekürzte Benennung  zulässig  sein,  Gegenstände,  denen  mit  Not- 
wendigkeit Sein  zukommt  als  nothwendige  Gegenstände  zu  be- 
zeichnen. Diese  Bedeutung  des  Wortes  ist  aber  dann  eine  termino- 
logisch bestimmte  und  nicht  für  den  ursprünglichen  Sinn  in  Betracht 
kommende. 

Entsprechend  der  doppelten  Vergegenständlichung  der  Soseins- 
objektive ^)  kann  ihre  Notwendigkeit  eine  zweifache  sein.  Es  kann 
z.  B.  notwendig  sein,  daß  a  mit  b  ist,  ohne  daß  b  mit  a  sein 
müsste;  es  kann  notwendig  sein,  daß  b  mit  a  ist,  ohne  daß  a  mit  b 
sein  müßte  und  schließlich  kann  beides  notwendig  sein.  Im  letzteren 
Fall  liegt  eine  sog.  umkehrbare  Notwendigkeitsbeziehung  vor,  die 
sich  aber  eben  als  eine  doppelte  erweist,  während  die  nicht  um- 
kehrbaren, deren  es  zwei  Formen  gibt,  sich  als  zwei  einfache  Not- 
wendigkeiten darstellen,  welche  zusammen  die  umkehrbare  ergeben. 
Die  beiden  Foimen,  welche  am  selbe»  Objektiv  auftreten  können, 
unterscheiden  sich  durch  die  Stellung  der  Notwendigkeit  zum  Ob- 
jektiv. Liegt  ein  Sosein  vor,  das  durch  a  und  b  vergegenständlicht 
ist,  so  kann  es  notwendig  sein,  daß  das  primär  durch  a  ver- 
gegenständlichte Objektiv  sekundär  durch  b  vergegenständlicht 
sei,  ferner  daß  das  durch  b  sekundär  vergegenständlichte  Objektiv 
dem  a  primär  zugehöre. 

Um  Komplikationen  zu  vermeiden  sei  im  folgenden  unter 
Notwendigkeit  nur  die  nicht  umkehrbare  verstanden.  Eine  solche 
Relation  besteht  allemal  zwischen  Gegenständen,  die  Objekte, 
Objektive  oder  auch  beides  sein  können.  Besteht  eine  derartige 
Verbindung  zwischen  a  und  b,  so  ist  zunächst  a  mit  b  notwendig 
verbunden;  das  Sein  dieser  Verbindung  ist  ebenfalls  notwendig, 
schließlich  aber  auch  das  Sein  des  b   im  Hinblick  auf  das  Sein 


')  Vgl.  diese  Arbeit  S.  59  f. 


Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie.  85 

des  a:  das  b  ist  also  ein  notwendig  seiender  Gegenstand,  sofern 
es  mit  a  in  notwendiger  Verbindung  steht.  Neben  den  notwen- 
digen positiven  gibt  es  natürlich  auch  notwendige  negative  Seins- 
objektive: das  Nichtsein  der  unmöglichen  Gegenstände;  negative 
Hoseinsobjektive  können  ebenfalls  notwendig  sein,  z.  B.  das  Nicht- 
eckigsein  eines  Kreises  u.  dgl. 

Ein  Kriterium  für  Notwendigkeit  aufzustellen,  ist  im  vor- 
stehenden nicht  gelungen.  Zwar  stehen  die  fundierten  Objekte 
sicher  im  Zentralgebiet  der  notwendigen  Gegenstände,  aber  die 
Fundierung  selbst  wurde  durch  Notwendigkeit  bestimmt,  nicht  um- 
gekehrt die  Notwendigkeit  durch  Fundierung.  Dagegen  bilden  die 
fundierten  Objekte  offenbar  jenes  Gegenstandgebiet,  welches  am 
meisten  der  Untersuchung,  besonders  der  der  Notwendigkeit  offen  steht. 

Liegen  zwei  nicht  primär,  wohl  aber  sekundär  vergegenständ- 
lichte Soseinsobjekiive  S^  und  S.^  vor,  so  können  sie  einen  ge- 
meinsamen Gegenstand  haben.  Dieser  Gegenstand  kann  notwendig 
sein ;  er  kann  aber  auch  bloß  möglich  sein,  wenn  z.  B.  das  S^  dem 
Gegenstand  eine  gewisse  Farbe,  S.^  eine  bestimmte  Örtlichkeit  zu- 
weist. Neben  dieser  ist  noch  eine  dritte  Möglichkeit  vorhanden. 
Ist  z.  B.  Si  das  Rotsein,  S.,  das  Nichtrotsein,  dann  ist  der  ge- 
meinsame primäre  Gegenstand  entweder  tatsächlich,  aber  nur  dem 
einen  der  beiden  Objektive  zugehörig,  dem  anderen  zugeordnet, 
oder  er  ist  beiden  zugehörig,  aber  nicht  tatsächlich.  Die  Zuge- 
liörigkeit  beider  Objektive  zu  einem  tatsächlichen  Gegenstand  ist 
unmöglich.  Solche  gemeinsame  Gegenstände  bilden  die  Klasse  der 
unmöglichen  Gegenstände. 

Diesen  Anforderungen  können  sowohl  Objekte  als  Objek- 
tive genüge  leisten,  es  wird  also  unter  beiden  Gegenstaudsklassen 
unmögliche  geben;  daneben  finden  sich  noch  Seins-  und  So- 
seinsobjektive, welche  vermöge  ihrer  Zuordnung  zu  solchen  ge- 
meinsamen Gegenständen  gleichfalls  unmögliche  sind.  Nicht  nur 
der  den  Soseinsobjektiven  S^  und  S.,  gemeinsame  Gegenstand 
G  ist  unmöglich,  sondern  auch  sein  Sein,  das  Sein  dieses  Seins 
usw.  Ist  das  Objektiv  S^  dem  Gegenstand  G  zugeordnet,  dann 
ist  das  Soseinsobjektiv  S,  mit  dem  Gegenstand  G  ebenfalls  un- 
möglich, sein  Sein  ebenso  usw. 

Scheinbar  müssen  sich  also  nur  Objekte  in  der  Stellung  der 
gemeinsamen  Gegenstände  befinden,  um  unmögliche  sein  zu  können, 


gg  Rudolf  Ameseder. 

Objektive  hing-ei^eu  nicht.  Genau  genommen  stellen  aber  jene  zwei 
exzeptionellen  Fälle  doch  denselben  Sachverhalt  dar.  Das  Sein 
des  gemeinsamen  Gegenstandes  ist  eben  das  Sein,  welches  dem 
primären  Gegenstande  des  Objektivs  S,  und  dem  des  S^  zukommt. 
Daneben  hat  es  noch  sein  eigenes  Sosein,  nämlich  alles,  was  es 
sonst  von  anderen  Objektiven  unterscheidet.  Ebenso  steht  es  bei 
dem  unmöglichen  Soseinsobjektiv.  Das  Eundsein  eines  Viereckes 
ist  ein  gemeinsamer  Gegenstand,  da  es  selbst  Sosein  hat,  dazu  noch 
das,  daß  es  demselben  Gegenstand  zugehören  soll,  wie  das  Vier- 
eckigsein. 

An  die  Stelle  der  Soseinsobjektive  können  nun  auch  Seins- 
objektive treten;  es  kann  also  S^  in  der  mehrfach  benutzten 
Symbolik  nunmehr  ein  positives,  S^  ein  negatives  Seinsobjek- 
tiv bedeuten.  Auch  in  diesem  Fall  ist  der  gemeinsame  Gegen- 
stand möglich,  wenn  nur  eines  der  beiden  Objektive  ihm  zuge- 
hörig, das  andere  zugeordnet  ist.  Dabei  zeigen  aber  die  Seins- 
objektive doch  ein  ganz  anderes  Verhalten  als  die  Soseinsobjektive. 
Die  Soseinsobjektive  haben  nämlich,  welche  immer  es  sein  mögen, 
einen  gemeinsamen  Gegenstand,  dem  sie  zugehören,  wenn  dieser 
Gegenstand  auch  nicht  tatsächlich  ist.  Das  runde  Viereck  ist 
tatsächlich  rund,  wenn  es  auch  kein  tatsächliches  Sein  hat.  Da- 
gegen ist  der  Gegenstand  des  Seins-  und  des  Nichtseinsobjektives 
tatsächlich  nicht,  er  gehört  also  nur  einem  der  beiden  Objektive 
zu.  Daraus  ergibt  sich,  daß  durch  die  Wendung  „ein  Gegenstand, 
welcher  sowohl  einem  Seins-  als  einem  Nichtseinsobjektiv  zugehört" 
gar  kein  Gegenstand  getroffen  wird,  nicht  einmal  ein  unmöglicher, 
da  die  unmöglichen  Gegenstände  notwendig  dem  Nichtsein  zuge- 
hören. Das  Paradoxon  gegenwärtig  einer  Lösung  zuzuführen,  ist 
vielleicht  ebensowenig  möglich,  als  an  dieser  Stelle  nötig;  nur 
scheint  sich  soviel  zu  ergeben,  daß  die  Konstruktion  mit  Relativ- 
sätzen bloß  für  Soseinsobjektive  und  Nichtseinsobjektive  statthaft 
ist,  vielleicht  überhaupt  nur  für  erstere  und  in  willkürlicher  Über- 
tragung auf  Seinsobjektive  eben  paradox  wird. 

Objektive,  welche  einem  gemeinsamen  Gegenstand  zugehören, 
befinden  sich  in  einer  eigenartigen  gegenseitigen  Stellung,  welche 
als  Zusammensein  bezeichnet  sei.  Unmögliche  Gegenstände  ge- 
hören Objektiven  zu,  deren  Zusammensein  anders  beschaffen  ist 
als  das  anderer  Objektive  mit  gemeinsamen  Gegenständen.     Ob- 


Beiträge  zur  Grundleguug  der  Gegenstaudstheorie.  87 

jektive,  welche  im  Zusammensein  der  ersteren  Art  stehen  können, 
wurden  schon  herkömmlich  als  unverträgliche  Eigenschaften  be- 
zeichnet; damit  ergäbe  sich  eine  Gegenüberstellung  verträglicher 
und  unverträglicher  Objektive,  denen  als  dritte  Gruppe  die  not- 
wendig verknüpften  entsprechen  würden.  Unmöglich  sind  also 
nur  die  gemeinsamen  Gegenstände  unverträglicher  Objektive,  und 
für  die  Theorie  der  unmöglichen  Gegenstände  ergibt  sich  somit 
nur  die  Notwendigkeit,  festzustellen,  welche  Objektive  miteinander 
unverträglich  sind. 

Zur  Übersicht  der  hier  möglichen  Ausgestaltungen  seien 
positive  und  negative  Seins-  und  Soseinsobjektive  herangezogen; 
da  alle  in  Betracht  kommenden  Objektive  denselben  primären 
Gegenstand  haben,  können  die  Soseinsobjektive  nur  hinsichtlich 
des  sekundären  Gegenstandes  übereinstimmen  oder  voneinander 
abweichen,  sowie  hinsichtlich  des  mitgegebenen  Relates.  Bezeichnet 
man  behufs  einer  übersichtlichen  Symbolik  die  Seinsobjektive  mit 
S,  die  Soseinsobjektive  mit  ©  und  einem  danebengeschriebenen  r  zur 
Unterscheidung  der  mitgegebenen  Relate  (ev.  mit  Indices),  die 
sekundären  Gegenstände  mit  g  und  einem  Index,  die  Positivität 
mit  -|-,  die  Negativität  mit  — ,  die  gemeinsamen  primären  Gegen- 
stände jedoch  nicht  oder  nötigenfalls  mit  g  und  einem  anderen 
Index  links  vom  Objektivzeichen,  so  stellt  sich  ein  Seinsobjektiv 
dar   als   S+    oder  S~  ,   ein  Soseinsobjektiv  jedoch   allgemein  als 

(S~r   o-    wobei  der  griechische  Index   die   Art   des   Relates,    der 

lateinische  den  Fall  desselben  bezeichnet,  also  etwa  (p  einen  Ver- 
schiedenheitsrelat,  m  die  Größe  desselben. 

Die  einschneidenste  Veränderung  ist  bei  sonst  gleichbleibenden 
Umständen  die  Verwandlung  des  Zeichens  -j-  und  — .  Die  Soseins- 
objektive   @  r  o-    und  (S~r  e-    sind  unverträglich,  was  auch  sonst 

mit  r  und  g  getroffen  sein  mag,  außer  gn  ist  selbst  ein  unmög- 
licher Gegenstand.    Ist  dies  nämlich  der  Fall,  dann  kann  man  gn 

als  primären  Gegenstand  betrachten;  (g^)  (g^r  g  ^'i'i  (gn)  ^/T^m^x 
sind  unverträglich,  d.  h,  der  primäre  Gegenstand  ist  ein  unmög- 
licher, wenn  gx  keineswegs  unmöglich  ist;  da  aber  von  den  beiden 
Gegenständen  eines  Soseinsobjektives  jeder  als  primärer  funktio- 
nieren kann,   d.  h.  man  obige  Aufschreibung   auch  von  rückwärts 


gg  Rudolf  Ameseder 

nach  voine  lesen  kann,  ergibt  sich,  daß  von  den  beiden  gemein- 
samen Gegenständen  zweier  kontradiktorischer  Soseinsobjektive 
nur  einer  unmöglich  ist.  Z.  B.  ist  ein  Gegenstand,  welcher  von 
Kot  verschieden  und  nicht  verschieden  ist,  unmöglich;  dieser  un- 
mögliche Gegenstand  steht  zu  Kot  aber  in  diesen  beiden  Soseins- 
objektiven, Rot  also  auch  zu  ihm;  daher  ist  Rot  von  diesem  Gegen- 
stand verschieden  und  doch  nicht  verschieden,  ohne  deshalb  ein 
unmöglicher  Gegenstand  zu  sein. 

Die  nächste  Variationsmöglichkeit  besteht  hinsichtlich  der 
zugehörigen  Relate,  und  zwair,  wenn  wir  das,  was  die  griechischen 
und  lateinischen  Indices  bedeuten,  als  ihre  Art  bzw.  als  den  Fall 
der  Relation  bezeichnen,  hinsichtlich  ihres  Falles.  Es  liegen  dann 
die  Objektive 

(g  r  of    und  ©  r  2" 

,"    m^n  ,«    n&n 

vor;  diese  Objektive  sind  gleichfalls  miteinander  unverträglich, 
der  gemeinsame  Gegenstand  ist  somit  unmöglich.  Natürlich  gilt 
dies  aber  auch  hier  nur  von  einem  der  beiden  gemeinsamen 
Gegenstände,  gleichviel  ob  es  der  primäre  oder  der  sekundäre  ist. 
Dagegen  könnten  sich  leicht  Zweifel  erheben,  ob  hier  die  Un- 
möglichkeit das  primäre  ist;  ist  ein  Sein  oder  Sosein  unmöglich, 
dann  ist  allemal  das  Nichtsein  oder  Nichtsosein  notwendig.  Dabei  ist 
es  nicht  ausgeschlossen,  aber  auch  keineswegs  notwendig,  dass  von 
den  beiden  Relationen  Notwendigkeit  und  Unmöglichkeit  eine  auf 
die  andere  aufgebaut  ist.  —  Ändert  sich  gleichzeitig  das  Vorzeichen 
und  der  Relationsfall,  so  sind  natürlich  die  Objektive  nicht  nur 
verträglich,  sondern  notwendig  verknüpft. 

Verschiedene  Arten  von  Relationen  sind  teils  notwendig  ver- 
knüpft, teils  voraussichtlich  miteinander  unverträglich.  Dabei  sind 
folgende  Fälle  möglich: 

a)  Die  Art  /<  ist  mit  der  Art  v  unverträglich,  d.  h.  kein  Fall 
von  fi  ist  mit  irgend  einem  Fall  von  v  verträglich. 

b)  Ein  beliebiger  Fall  von  i^i  ist  mit  jedem  Fall  von  ^  ver- 
träglich; z.  B.  die  Entfernung  zweier  Punkte  und  die 
durch  sie  fundierte  Gestalt  (Lage). 

c)  Jeder  Fall  von  /<  ist  nur  mit  einem  bestimmten  Fall  von 
7c  verträglich,  u.  z.  mit  diesem  notwendig  verknüpft,  z.  B. 
Ahnliclikeit  und  Verschiedenheit. 


Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie.  89 

Festzustellen,  welche  Kelationen  sich  nach  jeder  dieser  Gesetz- 
mäßigkeiten richten,  muß  einer  speziell  die  Relationen  behandelnden 
Untersuchung  vorbehalten  bleiben;  allgemeine  Bestimmungen  über 
die  Verträglichkeit  von  Soseinsobjektiven  bei  Variationen  der  Art* 
des  Relates  lassen  sich  obigem  entsprechend  nicht  geben. 

Es  erübrigt  noch,  die  Variabilitätsbedingungen  der  gemein- 
samen, zunächst  der  sekundären  Gegenstände  zu  untersuchen. 
Auch  hier  siiid  verschiedene  Fälle  möglich.  Es  hängt  von  der 
Art  des  Eelates  ab,  ob  der  gemeinsame  Gegenstand  zu  einem 
zweiten  und  dritten  Gegenstand  im  selben  Relationsfall  stehen  kann 

+  + 

oder  nicht.     Die  Objektive  p-^  «-v  o-    und  o-,.  s^r  o-    sind  also  ver- 

träglich  oder  unverträglich,  je  nach  der  Beschaftenheit  des  /ur 
Ist  ein  Objekt  rot,  so  kann  es  nicht  zugleich  grün  sein,  dagegen 
kann  ein  Objekt  von  zweien  die  gleiche  Verschiedenheit  aufv^^eisen. 
Auch  hier  muß  die  genauere  Untersuchung  aufgeschoben  werden. 

Schließlich  seien  noch  jene  Fälle  herangezogen,  in  welchen 
mehr  als  zwei  Objektive  in  Unverträglichkeit  stehen,  wenn  sie 
teils  einen,  teils  mehr  gemeinsame  Gegenstände  haben.  Letzteres 
kann  zunächst  vorliegen,  wenn  zwei  Soseinsobjektive  ohne  gemein- 
samen Gegenstand  vorgegeben  sind,  ihre  primären  Gegenstände 
aber  in  einer  vorgegebenen  Relation  stehen.  Das  erste  und  dritte 
Soseinsobjektiv  haben  dann  einen  gemeinsamen  Gegenstand,  während 
der  sekundäre  des  dritten  mit  dem  primären  des  zweiten  zu- 
sammenfällt. Da  auch  zwischen  den  sekundären  Gegenständen  des 
ersten  und  zweiten  Objektives  eine  Relation  besteht,  die  ebenso 
wie  bei  der  primären  Identität  sein  kann,  stellen  sich  alle  bisher 
betrachteten  Fälle  als  Spezialfälle  dieses  einen  allgemeinen  dar. 
Eine  weitere  Verallgemeinerung  besteht  nur  noch  darin,  daß  mehr 
als  zwei  Objektive  mit  den  Relationen  zwischen  ihren  primären  und 
sekundären  Gegenständen  in  Betracht  gezogen  werden. 

Den  beiden  besprochenen  Gegenstandsklassen,  den  notwendigen 
und  den  unmöglichen  Gegenständen  steht  eine  dritte  Klasse  gegen- 
über, von  Gegenständen  gebildet,  aus  deren  Natur  weder  die  Zu- 
ordnung zum  Sein  noch  zum  Nichtsein  sich  mit  Notwendigkeit  er- 
gibt. Ein  Gegenstand,  welcher  keiner  der  ersten  beiden  Klassen 
angehört,  fällt  somit  dem  Bereich  dieser  Klasse  zu.  Die  Einord- 
nung dieser  Gegenstände  in  ihre  Klasse  ergibt  sich  jedoch  nicht 


90  Rudolf  Ameseder. 

bloß  aus  der  Unmöglichkeit  ihrer  Einreihimg  in  eine  der  vorer- 
wähnten Klassen,  sie  folgt  vielmehr  aus  der  Natur  der  hierherge- 
hörigen Gegenstände.  Folgt  aus  der  Natur  eines  Gegenstandes 
weder,  daß  er  mit  Notwendigkeit  Sein,  noch  daß  er  Nichtsein  hat, 
so  folgt,  daß  er  sowohl  Sein  als  Nichtsein  haben  könne. 

Soll  ein  vorgegebener  Gegenstand  in  eine  der  drei  Klassen 
eingeordnet  werden,  so  ist  natürlich  über  sein  Sein  nichts  vorge- 
geben, er  ist  vielmehr  nur  nach  den  zugehörigen  Soseinsobjektiven 
als  deren  gemeinsamer  Gegenstand  bestimmt.  Sind  diese  sowohl 
mit  dem  Sein  als  dem  Nichtsein  verträglich,  dann  gehört  der 
Gegenstand  in  die  besprochene  Klasse.  Die  Verträglichkeit,  der 
zugehörigen  Objektive  aber  hängt  von  den  koinzidierenden  Relaten 
ab  und  somit  muß  der  Untersuchung  dieser  Hasse  die  nunmehr 
folgende  über  die  Relate  vorangehen. 


Spezieller  Teil. 

Wenn  im  folgenden  Teil  eine  Aufzählung  jener  Gegenstände 
versucht  wird,  welche  bisher  bekannt  und  benannt  sind,  so  war 
es  nicht  immer  möglich  Verwandtes  zusammen  abzuhandeln;  es 
wurde  aber  soweit  als  möglich  angestrebt,  die  Gegenstände  in 
Gruppen  zu  untersuchen,  welche  —  wenn  auch  noch  keiner  gegen- 
standstheoretischen Einteilung  entsprechend,  doch  vermöge  ihrer 
Zusammengehörigkeit  eine  summarische  Behandlung  zuließen.  Ein 
gemeinsamer  Name  für  die  einer  solchen  Gruppe  angehörenden 
Gegenstände  wurde  in  der  Weise  gebildet,  daß  er  nach  einem  be- 
reits benannten  charakteristischen  Gegenstand  derselben  festgesetzt 
wurde.  So  sind  unter  Verschiedenheitsgegenständen  nicht  nur 
alle  Verschiedenheitsobjektive,  sondern  auch  alle  Verschieden- 
heitsrelate,  ihr  Sein  usw.  sowie  auch  ihre  Inferiora  als  solche 
zu  verstehen. 

Den  Hauptteil  der  folgenden  Ausführungen  werden  Fundierungs- 
gegenstände  einnehmen.  Vor  ihrer  Untersuchung  ist  es  aber  doch 
erforderlich,  jene  Gegenstände,  welche  nicht  fundiert  und  vielleicht 


Beiträge  zi;r  Grundlegi;ng  der  Gegenstandstheorie.  91 

Überhaupt  keine  Inferiora  sind,    eingehend  zu  betrachten.    Eine 
zusammenfassende  positive  Bezeichnung  für  sie  fehlt. 


Tl.  Nichtfuiidieruugsgegeiistäude. 

Die  Erfaßten  ^)  der  Sinneswahrnehmung-en  sind  nicht  gleichzeitig 
die  Ursachen  des  Erfassens;  allgemein  aber  gilt,  daß  die  Sinnes- 
wahrnehmungen kausiert,  u.  zw.  durch  außerhalb  befindliche  Gegen- 
stände kansiert  sind.  Es  liegen  also  Gegenstände  vor,  welche 
psychische  Vorgänge  kausieren,  deren  Erfaßte  nicht  mit  den  kau- 
sierenden  Gegenständen  identisch,  sondern  andere  Gegenstände  sind. 
Diese  Gegenstände,  welche  als  ,.Dinge  au  sich"  den  ,.Erscheinungen" 
gegenübergestellt  sind,  bilden  insofern  keinen  Gegensatz  zu  diesen, 
als  auch  die  „Erscheinungen"  Gegenstände  und  als  solche  unab- 
hängig davon,  ob  sie  erfaßt  werden  oder  nicht,  also  gleichfalls 
„an  sich"  sind.  Dagegen  gehören  sie  dadurch  zu  einer  Gruppe 
zusammen,  daß  sie,  falls  sie  sind,  etwas  Wirkliches  sind,  die  Er- 
scheinungen hingegen  nicht. 


18.  Die  Ding  gegenstände. 

Dinggegenstände  sind  ausschließlich  Objekte,  da  Objektive 
niemals  wirklich  sein  können.  Wofern  die  Dinggegenstände  sind, 
existieren  sie.  Es  liegt  keineswegs  in  der  Natur  der  wirklichen 
Gegenstände  zu  sein,  da  sonst  jederzeit  alle  wirklichen  Gegen- 
stände sein  müßten;  sie  können  auch  nicht  sein.  Somit  sind 
sie  zufällige  Gegenstände. 

Zu  den  Dinggegenständen  gehört  zunächst  die  Materie.  ^) 
Die  Materie  kann  mehrerlei  Sosein  haben.    Komplexe  Materie 
kann  selbst  nur  Materie,  oder  deren  Eigenschaften  zu  Inferioren 
haben.     Zu  den  komplexen  Materien  im  ersten  Sinn  gehören  alle 


')  Vgl.  S.  54. 

*)  Aus  äußeren  Gründen  können  die  Diuggegenstände  nicht  eingehender  be- 
handelt werden.  Vor  allem  sollte  durch  die  folgenden  Aufstellungen  auch  nicht 
in  das  Kompeteuzgebiet  anderer  Wissenschaften,  besonders  der  Chemie  überge- 
griffen werden. 


{)9  Rudolf  Amesedek, 

Stoffe  der  Chemie.  Dadurch,  daß  sie  teilbar  sind, i)  erweisen 
sie  sich  als  komplex.  Ihr  Komplex  ist  aber  zufällig,  da  diese 
Teile  keineswegrs  in  dem  Relat,  in  welchem  sie  stehen,  stehen 
müssen.  Die  teilbaren  Materienkomplexe  sind  somit  zufällige 
Gegenstände. 

Während  die  Teile  der  Materie  gleichartig  sein  können,  gibt 
es  Materienkomplexe,  welche  nur  zwischen  andersartigen  Materien 
bestehen.  Es  sind  dies  die  chemischen  Verbindungen.  Auch  bei 
diesen  ist  das  Superius  nicht  mit  Notwendigkeit  auf  die  Inferiora 
aufgebaut. 

Kausiert  ein  Dinggegenstand  eine  Vorstellung  von  z.  B.  Rot, 
so  ist  nicht  der  Dinggegenstand  als  Ganzes,  sondern  genauer  etwas 
an  ihm,  also  ein  Inferius,  die  Ursache  der  Vorstellung.  Dieses 
Inferius  ist  die  Eigenschaft,  derzufolge  Rot  ist.  Da  das  Objektiv, 
„daß  der  Dinggegenstand  die  Eigenschaft  hat,  die  Rotvorstellung 
zu  kausieren",  zufällig  ist,  ist  der  Komplex  von  Dinggegenstand 
und  Eigenschaft  im  dargelegten  Sinn  gleichfalls  zufällig. 

Auch  die  mit  jedem  dieser  Relate  und  Komplexe  koinzidierenden 
Objektive  sind  zufällig;  dementsprechend  gibt  es  eventuell  neben 
den  positiven  negative  Soseinsobjektive  von  allen  Arten  der 
ersteren. 

Das  Sosein  zufälliger  Gegenstände  kann  somit  zufällig,  es 
kann  aber  auch  notwendig  sein.  Hat  eine  Materie  die  „Eigen- 
schaft" eine  Vorstellung  zu  kausieren,  z.  B.  rot  zu  sein,  so  muß 
das,  was  die  Rotvorstellung  kausiert,  von  allem  was  eine  Vor- 
stellung mit  von  Rot  verschiedenem  Gegenstand  kausiert,  gleich- 
falls verschieden  sein.  Die  Dinggegeustände  können  somit  auch 
fundieren  und  folglich  in  notwendigen  Soseinsobjektiven  stehen. 

Das  Sein  jedes  zufälligen  Gegenstandes  ist  selbst  zufällig, 
daher  ist  mit  jedem  zufälligen  Gegenstande  eine  unendliche  Reihe 
zufälliger  Gegenstände  gegeben.  ^)  Ist  z.  B.  zufällig ,  daß  a  mit 
b  in  Komplex  ist.  dann  ist  das  Sein  dieses  Komplexes  ebenfalls 
zufällig,  d.  h.  es  kann  sein,  aber  ohne  Notwendigkeit.  Das  Sein 
dieses  Seins  ist  wieder  zufällig  usw. 


')  Wobei  auf  Probleme  der  Atomistik  nicht  eingegangen  werden  kann. 

")  Was  mit  den  Ergebnissen  der  Wahrscheinlichkeitstheorie  keineswegs  im 
Widerspruch  steht,  da  das  Sein  des  Gegenstandes  nicht  durch  diese  unendliche 
Reihe  bedingt  ist. 


Beiträge  zur  Grundlegung'  der  Gegenstandstheorie.  93 

Neben  den  besprochenen  Dingg-egenständen  wäre  noch  darauf 
hinzuweisen,  daß  auch  auf  dem  Gebiete  des  Psychischen  Ding- 
gegenstände möglich  sind.  Dies  ergibt  sich  daraus,  daß  Psychisches 
zufällige  Komplexe  bilden  kann.  \) 


19.  Empfindungsgegenstände.') 

Empfindungsgegenstände  sind  Farben  und  Töne,  die  Erfaßten 
der  Geschmacks-,  Geruchs-,  Temperatur  und  Tastempfindungen  im 
weitesten  Sinn,  daneben  Orts-  und  Zeitbestimmungen,  welche  nicht 
Erfaßte  bestimmter  Empfindungen  sind,  sondern  neben  anderen 
Gegenständen  mit  erfaßt  werden. 

Hinsichtlich  des  Soseins  zerfallen  die  Empfindungsgegenstände 
in  zwei  Gruppen,  in  deren  eine  Farben,  Töne  usw.  gehören,  während 
die  zweite  durch  Orts-  und  Zeitbestimmungen  gebildet  wird.  Die 
Gegenstände  der  ersten  Gruppe  können  nämlich  untereinander 
unmittelbar  in  zufälligen  Relationen  ^)  stehen ,  nicht  aber  die  der 
zweiten;  dagegen  ist  dies  zwischen  Gegenständen  der  ersten  und 
zweiten  Gruppe  möglich.  So  ist  eine  Farbe  allemal  örtlich  und 
zeitlich  bestimmt  usw.  Natürlich  ist  eine  zufällige  Verbindung 
auch  von  Farbe  und  Ton  mittelbar  hergestellt,  wenn  beide  dieselbe 
Zeitbestimmung  haben. 

Es  liegt  nicht  in  der  Natur  der  Farbe,  diese  Ortsbestimmung 
zu  haben;  dagegen  liegt  es  in  der  Natur  der  Farbe,  ortsbestimmt 
zu  sein,  also  eine  Ortsbestimmung  zu  haben.  Zufällig  ist  also 
nur  die  erste  Relation,  die  zweite  hingegen  n  o  t  w  e  n  d  i  g.  Ist  eine 
Farbe  orts-  und  zeitbestimmt,  so  ist  hierdurch  eine  zufällige  Ver- 
bindung von  Ort  und  Zeit  vermittelt;  es  liegt  jedoch  keineswegs 
in  der  Natur  des  Ortes  zeitbestimmt  —  des  Zeitpunktes  orts- 
bestimmt zu  sein.  Diese  Superiora  von  Zeit  und  Ort  sind  dem- 
nach nicht  notwendig,  sondern  zufällig. 

Farben,  Töne,  Temperatur-  und  Tastempfindungsgegenstände 
gehören  Kontinuen  an,  —  möglicherweise  auch  die  Gegenstände  der 
Geruchsempfindungeu ;    bei    den    Geschmacksempfindungen   scheint 


^)  Vgl.  meine  Arbeit  über  Vorstellungsproduktion ,   diese  Unter?.,  Nr.  VIII. 
^)  Vgl.  WiTASEK,  Grundzüge  der  allgmeiuen  Ästhetik,  S.  36. 
^)  Z.  B.  Töne  in  Tonverschmelzung. 


94  Rudolf  Amesedeb. 

eine  solche  Möglichkeit  noch  ferner  gerückt.  Jedoch  entspricht 
auch  bei  diesen  jedem  Punkt  des  Kontinuums  ein  möglicher  Gegen- 
stand, da  die  Geschmacksempfindungsgegenstände  offenbar  Ähnlich- 
keit und  Verschiedenheit  haben.  Somit  können  Empfindungsgegen- 
stände auch  notwendige  Komplexe  bzw.  Komplexionen  bilden. 

Das  Sein  der  Empfindungsgegenstände  ist  zufällig.  Es  folgt 
nicht  aus  der  Natur  der  Farbe,  des  Tones  usw.,  daß  der  be- 
treftende  Gegenstand  sein  muß.  Andererseits  kann  der  Empfindungs- 
gegenstand nur  sein,  wofern  der  kausierende  Dinggegenstand  ist; 
dieser  ist  aber  zufällig,  somit  der  Empfindungsgegenstand  auch. 
Keineswegs  aber  ist  das  Sein  der  Empfindungsgegenstände  vom 
Sein  der  Empfindung  abhängig,  da  sie  nicht  Empfindungsgegen- 
stände sind,  wofern  sie  empfunden  werden,  sondern  weil  sie  emp- 
funden werden  können. 

Die  Behauptung  von  der  Kealität  der  Empfiudungsgegenstände  ^) 
involviert  eine  über  die  Art  des  Seins  derselben.  Keal  ist  näm- 
lich, was  existieren  kann.  Kann  die  Farbe  existieren,  dann  ist  sie 
real.  Es  ergibt  sich  nun  wohl  aus  der  Natur  der  Farbe,  daß  sie 
sein  kann,  auch  daß  sie  einem  Nichtseinsobjektiv  zugehören  kann, 
aber  es  folgt  nicht,  daß  sie  existieren  kann. 

Nicht  jedes  zufällige  Sein  ist  Existenz.  Ein  Ding  existiert 
unzweifelhaft,  wenn  es  ist;  das  Objektiv,  „daß  die  Farbe  a  den 
Ort  b  hat",  existiert  ebenso  unzweifelhaft  nicht,  auch  wenn  es  ist. 
Das  Existieren  ist  also  eine  Art  des  zufäUigen  Seins,  die  offenbar 
nur  gewissen  Gegenständen  zukommt,  vielleicht  auch  ihnen  allein 
seine  Charakteristik  verdankt.  Und  da  ergibt  sich  zunächst  keine 
andere  Möglichkeit,  als  die,  von  Existenz  nur  bei  Wirklichem  zu 
sprechen.  Wirklich  ist  aber  nur,  was  kausieren  kann.-)  Da  die 
Farbe  nicht  kausierungsfähig  ist,  ebensowenig  wie  jeder  andere 
Empfindungsgegenstand,  so  ist  ihr  Sein  keine  Existenz. 

Nun  stützt  sich  die  obige  Behauptung  nicht  darauf,  daß  die 
Farbe  existiert,  sofern  sie  ist,  sondern  darauf,  daß  aus  ihrer  Natur 
folgt,  daß  sie  existieren  kann,  und  nicht  folgt,  daß  sie  nicht  existieren 
kann.    Dies  ist  aber  insoweit  unrichtig,  als   sich  aus  der  Natur 


')  Vgl.  Meinong,  über  Gegenstände  höherer  Ordnung,  S.  198. 
*)  Vgl.  auch  oben,  S.  91  ff. 


Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie.  95 

der  Farbe  hinsichtlicli  des  Seins  gar  nicht  mehr  ergibt,  als  aus  der 
Natur  des  früher  erwähnten  zufälligen  Objektivs. 

Was  existieren  kann,  existiert,  wenn  es  ist;  es  kann  nicht 
ein  Gegenstand  einmal  positives  Sein  haben,  das  nicht  Existenz 
ist  und  ein  andermal  Existenz.  Nun  ist  aber  das  Sein  einer  seienden 
Farbe  nicht  Existenz ;  daher  kann  die  Farbe  auch  nicht  existieren. 


II.    Ähnlichkeits-  und  Terschiedenheitsgegeiistände. 

Die  Fundierungsgegenstände ,  welche  im  Nachfolgenden  be- 
handelt werden,  sind  keineswegs  von  einer  Art.  Die  Ähnlichkeits- 
gegenstände würden  somit  eine  gesonderte  Untersuchung  sehr  wolü 
zulassen,  ebenso  die  Verschiedenheitsgegenstäude.  Da  es  aber  erst 
im  Verlauf  der  Untersuchung  gelingen  kann,  diese  Unabhängigkeit 
zu  erweisen,  andererseits  viele  gemeinsame  Eigenschaften  das  Zu- 
sammenbehandeln möglich  machen,  wurde  von  einer  getrennten 
Untersuchung  beider  Gruppen  abgesehen.  Infolgedessen  deckt  sich 
die  hier  behandelte  Gegenstandsgruppe  ungefähr  mit  der  bisherigen 
der  Vergleichungsrelationen ,  wenn  darunter  auch  die  Relate  und 
Komplexe  zu  verstehen  sind. 

Als  Vergleichungsrelationen  gelten  Gleichheit,  Ähnlichkeit, 
Verschiedenheit,  Ungleichheit,  Unähnlichkeit.^)  Die  letzteren  beiden 
sind  aber  offenbar  mit  Nichtgleichheit,  Nichtähnlichkeit  identisch, 
somit  blieben  nur  drei,  bei  welchen  zu  untersuchen  wäre,  ob  und 
wieweit  sie  aufeinander  zurückfühlbar  sind. 

20.  Gleichheit. 

Dem  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  entsprechend  gibt  es  „un- 
gefähr Gleiches";  in  der  Mathematik  jedoch,  welche  u.  a.  von 
Größengleichheit  handelt,  wird  das  Wort  nur  verwendet,  wo  die 
bez.  Größen  auch  nicht  die  geringste  Verschiedenheit  aufweisen. 
Aber  auch  jener  oben  berührte  unexakte  Wortgebrauch  stellt  dem 
ungefähr  Gleichen   das    „völlig   Gleiche"    gegenüber,   wobei  jenes 


*)  Daß  der  „Unterschied"  keine  Vergleichungsrelation  ist,  hat  Meinong  zu- 
erst nachgewiesen.  Vgl.  seine  Abhandlung  „Über  die  Bedeutung  des  Weberschen 
Gesetzes".    Ztschrft.  f.  Psych,  u.  Physiol.  d.  Sinnesorg.  Bd.  XI,  S.  265 f. 


96 


Rudolf  Ameseder. 


nur  einen  Annäherimgsfall  au  die  Gleichheit  darstellt;  unter  Um- 
ständen Avird  etwas  als  „eher  gleich  wie  ein  anderes"  bezeichnet. 
Es  gibt  also  eine  Annäherung  an  die  Gleichheit,  diese  selbst  stellt 
jedoch  keine  Zone  dar,  in  welche  alle  jene  „ungefähren"  Gleich- 
lieiten  nebeneinander  zu  stehen  kämen,  sondern  sie  ist  punktuell 
und  alles  „Ungefähre"  bedeutet  eine  Annäherung  an  diesen  Punkt. 

Ändert  sich  einer  von  zwei  Gegenständen  in  bestimmter  Weise, 
so  kann  sich  ihr  Verhältnis  der  Gleichheit  nähern.  Ist  z.  B.  der 
eine  eine  rot,  der  andere  eine  gelb  gefärbte  Fläche,  und  die  letztere 
ändert  sich  kontinuierlich  über  Orange  nach  Rot,  so  tritt  bei  einem 
Punkt  dieser  Veränderung  die  Gleichheit  ein.  Bei  dieser  Ver- 
änderung ist  aber  die  Ähnlichkeit  der  beiden  Flächen  kontinuierlich 
gewachsen,  und  überall,  wo  durch  kontinuierliche  Veränderung 
Gleichheit  eintritt,  besteht  ein  derartiger  Zusammenhang,  daß  in 
den  vorhergehenden  Stadien  dieser  Veränderung  die  Ähnlichkeit 
kontinuierlich  größer  wurde. 

Beim  fortwährenden  Größerwerden  einer  Ähnlichkeit  tritt  aber 
nicht  nur  durchgängig,  sondern  notwendig  Gleichheit  ein.  Die 
Gleichheit  steht  also  entweder  in  einer  besondern  Beziehung  zur 
Ähnlichkeit  oder  ist  selbst  ein  besonderer  Fall  derselben.  Ersteres 
ist  z.  B.  bei  der  Gestalt  des  rechten  Winkels  gegenüber  einer 
kontinuierlich  wachsenden  Lageverschiedenheit  der  Fall.^)  Aber 
der  rechte  Winkel  besteht  als  Gestalt  neben  der  mitgegebenen 
Lageverschiedenheit;  dagegen  reicht  das  Wachsen  der  Ähnlichkeit 
bis  zur  Gleichheit,  es  ist  neben  dieser  keine  Ähnlichkeit  vor- 
handen. Da  eine  Ähnlichkeit  ihrer  Natur  nach  immer  größer  sein 
könnte,  solange  sie  die  Gleichheit  nicht  erreicht  hat,  muß  es  einen 
Fall  von  Ähnlichkeit  geben,  der  entweder  die  Gleichheit  ist,  oder 
neben  ihr  besteht.  Da  letzteres  nicht  zutrifft,  stellt  die  Qleich- 
heit  einen  Sonderfall  u.  zw.  einen  Steigerungsfall  der  Ähnlichkeit 
vor.  Offenbar  ist  dieser  Fall  besonders  ausgezeichnet,  da  er 
eigens  benannt  ist.  Diese  Vorzugsstellung  ist  dadurch  bedingt, 
daß  es  wohl  eine  Steigerung  zur  Gleichheit  hin  gibt ,  aber  nicht 
über  sie  hinaus;  eine  größere  Ähnlichkeit  als  die  Gleichheit  gibt 
es  nicht.  DieGleichheit  ist  alsoals  Maxim  um  der  Ähn- 
lichkeit anzusehen. 


*)  Vgl.  diese  Arbeit  unten,  VII,  24. 


Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie.  97 

21.  Ähnlichkeit. 

Von  den  eing'angs  erwähnten  Relationen  erweisen  sich  nur 
Ähnlichkeit  und  Verschiedenheit  als  unzurückführbar ;  Zurück- 
führungsversuche, welche  auf  die  letzteren  gerichtet  sind,  setzen 
vorzugsweise  bei  der  Ähnlichkeit  ein,  jedoch  treften  sie  teils  gar 
keine,  teils  konsekutive  Merkmale  der  besagten  Relation.  Die 
wichtigsten  dieser  Positionen  sind: 

1.  Ähnlichkeit  ist  nichts  als  geringere  Verschiedenheit,  Soll 
damit  gesagt  sein,  daß  es  eine  Relation  gebe,  deren  geringere 
Grade  Ähnlichkeit,  deren  höhere  Verschiedenheit  heißen,  so  ist 
die  Position  im  Hinblick  auf  Obiges  unhaltbar,  da  die  Ähnlich- 
keit nicht  zur  Verschiedenheit  wird,  wenn  sie  zunimmt,  sondern  zur 
größeren  Ähnlichkeit.  Soll  damit  jedoch  gesagt  sein,  daß  von 
Ähnlichkeit  um  so  mehr  vorliegt,  je  kleiner  die  Verschiedenheiten 
werden,  so  ist  dies  keine  Zurückführung ,  sondern  nur  die  Fest- 
stellung einer  Beziehung  zwischen  beiden  Relationen.  Wird  dabei 
die  Ähnlichkeit  als  das  Reciproke  der  Verschiedenheit  bezeichnet, 
so  ist  natürlich  ebenso  diese  das  Reciproke  der  Ähnlichkeit.  Natür- 
lich könnte  sich  aber  nur  erweisen  lassen,  daß  die  Größen  der 
beiden  Relationen  in  einer  derartigen  Abhängigkeit  stehen,  nicht 
aber,  daß  eine  von  ihnen  selbst  bloß  eine  derartige  Funktion 
wäre.    In  keinem  Fall  liegt  also  eine  Zurückführung  vor. 

2.  Wird  Gleichheit  als  Vertauschbarkeit  der  Inferiora  oder 
als  Verwechselungschance  bezeichnet,  so  involviert  dies  auch  eine 
entsprechende  Auffassung  der  Ähnlichkeit.  Von  diesen  Benennungen 
bezieht  sich  die  zweite  auf  eine  psychologische  Deutung  der  Gleich- 
heit. Was  gleich  ist.  wird  leicht  verwechselt,  d.  h.  nicht  für 
gleiches,  sondern  für  dasselbe  gehalten.  Nun  besteht  die  Gleich- 
heit aber  nicht  in  der  Möglichkeit  der  Verwechselung,  sondern 
diese  liegt  vor,  weil  Gleichheit  besteht.  Übrigens  wird  die  Gleich- 
heit nicht  dadurch  erkannt,  daß  kein  Anlaß  zur  Unterscheidung 
vorliegt,  sondern  unmittelbar.  Bezeichnet  man  die  Gleichheit  als 
Verwechselungschance,  so  ist  daher  die  psychologische  Sachlage  in 
durchaus  unzureichender  Weise  bestimmt.  Auf  jeden  Fall  bleibt 
aber  die  Charakteristik  einer  Relation  durch  Angabe  des  sie 
eventuell  erfassenden  psychischen  Vorganges  ein  Umweg. 

Ein  solcher  Umweg,  wenn  auch  ohne  Rekurs  auf  Psychisches, 

Meinong,  Untersuchungen.  • 


gg  Rudolf  ämeseder. 

liegt  auc'li  in  der  zuerst  angeführten  Position  vor,  welche  Gleich- 
heit als  Vertauschbarkeit  dessen  bezeichnet,  was  eben  gleich  ist. 
Jeder  Gegenstand  steht  zu  anderen  in  mannigfachen  Beziehungen. 
Tritt  nun  ein  anderer  an  seine  Stelle,  so  sind  die  Beziehungen 
dieses  neuen  Gegenstandes  zu  den  unverändert  gebliebenen  Gegen- 
jstäuden  natürlich  meist  andere.  Sind  die  Gegenstände  jedoch 
gleich,  so  ändert  sich  an  den  Beziehungen  nichts;  gleiche  Gegen- 
stände können  somit  durch  einander  ersetzt  werden,  ohne  daß  sich 
sonst  etwas  ändern  würde.  Nun  besteht  aber  Gleichheit  nicht  nur 
dann,  wenn  ein  solcher  Ersatz  möglich  ist,  sondern  auch  wenn  er 
sich  tatsächlich  nicht  bewerkstelligen  läßt ;  trotzdem  liegt  die  Gleich- 
lieit  nicht  nur  vor,  sondern  sie  wird  auch  erkannt,  eventuell  wird 
sogar  das  Urteil  möglich  sein,  daß  sich  beim  Vertauschen  der  Objekte 
nichts  ändern  würde.  Dieses  Urteil  betrifft  aber  das  Verhalten  einer 
großen  Anzahl  von  Relationen,  während  sonst  nur  das  eine  nötig 
wäre,  daß  die  Objekte  gleich  sind.  Es  geht  also  nicht  gut  an, 
das  Vorhandensein  der  Gleichheit  als  gefolgert  zu  betrachten  aus 
einer  Anzahl  von  Belatiousurteilen  u.  zw.  solchen  über  Nichtver- 
änderung  der  Beziehungen  bei  Wechsel  von  Objekten;  es  ist  viel- 
mehr natürlich  erheblich  einfacher,  wenn  Gleichheit  —  wie  ja 
schon  früher  festgestellt  wurde  —  unmittelbar  erfaßt,  und  die 
NichtVeränderung  aus  dem  Bestand  der  Gleichheit  erschlossen 
wird.  Was  aber  von  einem  besonderen  Fall  der  Ähnlichkeit  (der 
Gleichheit)  nicht  zu  einweisen  geht,  gilt  auch  nicht  von  ihr  im 
allgemeinen. 

3.  Ähnlichkeit  als  Teilübereinstimmung. 

Wofern  überhaupt,  gilt  die  Position,  daß  Ähnlichkeit  Teil- 
übereinstimmung sei,  nicht  allgemein:  nicht  jede  Ähnlichkeit  ist 
Teilübereinstimmung,  da  es  Ähnlichkeit  zwischen  Gegenständen 
gibt,  welche  keine  Teile  haben,  wie  Farben,  Töne,  Orte.  ^)  Aber 
auch  dort,  wo  die  ähnlichen  Gegenstände  Teile  haben,  ist  die 
Ähnlichkeit  nicht  die  Teilübereinstimmung.  Die  Übereinstimmung 
der  Teile  ist  Gleichheit.  Stimmen  zwei  aus  Teilen  bestehende 
Gegenstände  in  mehreren  Teilen  überein,  so  bestehen  ZAvischen 
denselben  ebensoviel  Gleichheitsrelationen ;  die  Ähnlichkeit  besteht 
aber  zwischen   den  teilbaren  Gegenständen  selbst.    Gesetzt  auch,,. 


')  Vgl.  Meinono,  Humestudien  II,  S.  648. 


Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie.  99 

alle  diese  Gleichheiten,  zu  denen  noch  Verschiedenheiten  anderer 
Teile  hinzukämen,  machten  zusammen  eine  Relation  aus,  so  könnte 
diese  Eelatiou  nicht  mit  der  Ähnlichkeit  identisch  sein,  da  beide 
andere  Inferiora  haben,  die  Ähnlichkeit  nämlich  Komplexe,  während 
jener  Gleichheitskomplex  nur  auf  die  Teile  der  Komplexe  auf- 
g-ebaut  ist.  Aber  aus  ebendemselben  Grund  ist  es  auch  unmöglich, 
daß  die  Gleichheiten  zusammen  eine  Relation  ausmachen,  da  auch 
von  ihnen  jede  andere  Fundamente  hat,  also  jedenfalls  eine  Rela- 
tion für  sich  ist. 

Dazu  kommt  noch,  daß  Gleichheit  ein  Spezialfall  von  Ähn- 
lichkeit ist  und  somit  die  Ähnlichkeit  der  Komplexe  nur  auf  einen 
besonderen  Fall  der  Ähnlichkeit  ihrer  Inferiora  zurückgeführt  wäre. 
Auch  müßte  die  Ähnlichkeit  der  Komplexe  selbst  dann  vorliegen, 
wenn  die  Teile  nur  ähnlich  wären;  dadurch  aber  wird  der  tauto- 
log-ische  Charakter  dieser  Auffassung-  völlig  deutlich. 

Dagegen  liegt  Ähnlichkeit  von  Komplexen  oöenbar  häufig' 
dort  vor,  wo  Teile  gleich  oder  ähnlich  sind.  Wenn  Gleichheit  der 
Teile  also  auch  nicht  die  Ähnlichkeit  der  Komplexe  ausmacht,  so 
kann  sie  doch  eine  Begleittatsache  derselben  sein.  Die  Frage,  ob 
sie  als  solche  notwendig  ist,  kann  zweierlei  bedeuten,  erstens, 
ob  Komplexe  mit  gleichen  Teilen  allemal  in  einer  Ähnlichkeits- 
relation stehen  müssen.  —  zweitens,  ob  die  Ähnlichkeit  der  Komplexe 
größer  ist,  wenn  mehr  von  ihren  Teilen  gleich,  bzw.  wenn  die 
Teile  ähnlicher  sind,  oder  nicht.  Offenbar  lassen  beide  Probleme 
eine  allgemeinere  Fassung  zu:  Teile  sind  Bestandstücke  gewisser 
Komplexe;  stehen  also  Bestandstücke  im  allgemeinen  in  der  oben 
erwähnten  Beziehung,  dann  muß  dies  auch  von  Teilen  gelten.  Da 
jedoch  mit  der  Beantwortung  dieser  Fragen  in  keinem  Fall  eine 
Zurückführung  der  Ähnlichkeit  auf  andere  Relationen  geleistet  ist, 
gehört  ihre  Behandlung  in  einen  anderen  Zusammenhang. 

22.  Beziehungen  zwischen  Ähnlichkeit  und  Ver- 
schiedenheit. 

Bei  der  Untersuchung  der  hierher  gehörigen  Gegenstände  ist 
zunächst  die  Unterscheidung  von  Relation  und  Relat  zu  machen. 
Bei  beiden  aber  ist  noch  zwischen  Art  und  Fall  zu  unterscheiden. 
Sind  von  vier  Objekten  je  zwei  ähnlich,  so  bestehen  zwischen  diesen 


100 


Rudolf  Ameseder- 


Objekten  zwei  Relate  und  die  mitgegebenen  Relationen.  Sowohl  die 
Relate  untereinander  als  die  beiden  Relationen  sind  Relate  bzw. 
Relationen  von  einer  und  derselben  Art.  Die  beiden  Objektpaare 
brauchen  aber  nicht  gleich  ähnlich  zu  sein;  es  bestehen  also  ver- 
schiedene Relate  derselben  Art  zwischen  ihnen,  die  sich  z.  B.  durch 
ihre  Größe  unterscheiden.  Dasjenige,  worin  sich  Relate  derselben 
Art  unterscheiden,  sei  als  ihr  Fall  bezeichnet.  Sind  mehrere 
Relate  von  derselben  Art,  so  sind  es  die  mitgegebenen  Relationen 
auch.  Hingegen  gibt  es  bei  der  Relation  kein  mehr  oder  weniger 
sondern  nur  ein  entweder  oder.  Das  Objektiv  „daß  1  und  10  ver- 
schieden sind",  ist  nicht  mehr,  als  das  ,.daß  1  und  2  verschieden 
sind"',  das  mehr  liegt  eben  im  ..verschieden".  Dagegen  ist  das 
Yerschiedensein  von  1  und  10  nicht  dasselbe  wie  das  von  1  und  2. 
Wenn  die  Relationen  also  auch  nicht  quantitativ  verschieden  sind, 
so  sind  ihre  Fälle  doch  durch  die  mitgegebenen  Relate  bedingt. 
Zwischen  diesen  Relaten  und  Relationen  gibt  es  nun  folgende  Be- 
ziehungen : 

1.  Koinzidenz  von  Ähnlichkeit  und  Verschiedenheit. 

Sind  zwei  Relate  oder  die  mitgegebenen  Relationen  so  be- 
schaffen, daß  der  (die)  eine  notwendig  gegeben  sein  muß,  wo  der 
(die)  andere  gegeben  ist,  so  koinzidieren  sie.  Solche  Koinzi- 
denz liegt  zwischen  Ähnlichkeit  und  Verschiedenheit  vor.  Zwei 
Gegenstände  können  nämlich  nicht  ähnlich  sein,  ohne  auch  ver- 
schieden zu  sein,  und  umgekehrt  nicht  verschieden  sein,  ohne  auch 
ähnlich  zu  sein.  Diese  Beziehung  besteht  aber  nicht  zwischen 
Relaten  oder  Relationen  schlechtweg;  mit  einer  vorgegebenen 
Ähnlichkeit  kann  nicht  jeder  beliebige  Fall  von  Verschiedenheit 
zusammen  auftreten,  sondern  nur  ein  ganz  bestimmter  FaU  der 
einen  koinzidiert  mit  einem  bestimmten  Fall  der  anderen. 

2.  Ähnlichkeits-  und  Verschiedenheitsrelate  sind  Quanta. 
Von  einer  Zahl  gilt  in  gleicher  Weise,   daß  sie  Größe  ist,  als 

daß  sie  Größe  hat.  Die  beiden  „Größen"  unterscheiden  ich  da- 
durch, daß  die  letztere  offenbar  nicht  mehr  selbst  Größe  haben 
und  daß  die  erstere  nicht  selbst  die  Größe  einer  Größe  sein,  also 
nicht  selbst  „gehabt  werden"  kann.  Die  Größe,  welche  etwas  ist, 
das  Größe  hat,  sei  als  Quantum,  die  welche  gehabt  wird  als 
Quantität  bezeichnet.  Dann  ergibt  sich,  daß  Quanta  nur  Objekte 
sein  können,  —  da  nur  Objekte  „groß  sein",  also  Größe  sein  und 


Beiträge  zur  Grimdleg-ung  der  Gegenstandstheorie.  101 

haben  können,  die  Quantität  hingegen  eine  Eigenschaft,  ein  erst 
näher  zu  bestimmendes  Sosein  des  Quantums,  also  ein  Objektiv  ist. 
Zwei  Objekte  können  mehr  oder  "weniger  ähnlich  bzw.  ver- 
schieden sein.  Das  Mehr  oder  AA'eniger  kommt  dabei  nicht  der 
Eelation  zu,  da  diese  als  Objektiv  keine  Größe  hat ;  die  Größe  hat 
also  der  Eelat,  d.  h.  er  ist  ein  Quantum.  Jedes  bestimmte  Quan- 
tum stellt  dabei  einen  „Fall"  des  Relates  vor,  Fall  ist  also  hier 
soviel  als  „Grad". 

3.  Ähnlichkeits-  und  Verschiedenheitsrelate  gehören  Konti- 
nuen  an. 

Sowohl  Ähnlichkeits-  als  Verschiedenheitsrelate  gibt  es  von 
jeder  endlichen  Größe;  daher  müssen  die  Ähnlichkeitsrelate  unter- 
einander einem  Kontinuum  angehören,  und  ebenso  die  Verschieden- 
heitsrelate. Wäre  dies  nämlich  nicht  der  Fall,  d.  h.  wäre  die 
Eeilie  dieser  Relate  irgendwie  diskret,  dann  gäbe  es  Eelate,  welche 
größer  als  der  untere  und  kleiner  als  der  obere  Grenzfall  sind, 
nicht.    Solche  muß  es  aber  geben  u.  zw.  unendlich  viele. 

Gehören  die  Eelate  Kontiuuen  an.  so  müssen  die  Inferiora  gleich- 
falls Kontinuen  angehören.  Natürlich  müssen  sich  in  diesen  Konti- 
nuen  keinesfalls  durchwegs  tatsächliche  Gegenstände  finden,  da- 
gegen müssen  sie  durchaus  mögliche  Gegenstände  enthalten.  Sind 
z.  B.  zwei  Gegenstände  a  und  b  ähnlich,  so  sind  sämtliche  Gegen- 
stände, welche  a  ähnlicher  sind  als  b,  möglich,  aber  vielleicht 
keiner  tatsächlich.  Ebenso  müssen  alle  Gegenstände  möglich  sein, 
welche  a  weniger  ähnlich  sind,  d.  h.  sind  a  und  b  ähnlich,  so 
gehören  sie  einem  Kontinuum  möglicher  Gegenstände  an.  Ein 
Gleiches  gilt  von  Verschiedenheit. 

Die  Kontinua  dieser  Eelate  sind  eindimensionale  Gebilde. 
Da  die,  einem  Kontinuum  angehörigen  Eelate  nicht  qualitativ, 
sondern  lediglich  als  Quanta  verschieden  sind,  bilden  sie  ein  ein- 
dimensionales Ganzes,  nämlich  eine  Größenreihe.  Die  Inferiora  der 
Eelate  können  natürlich  Qualitäten  sein  und  einem  mehrdimensio- 
nalen Ganzen  angehören.  Dann  wird  es  aber  Paare  von  Inferioren 
geben,  denen  nicht  ebensoviele  Eelate  entsprechen,  sondern  ein 
einziger,  da  Eelate  eines  eindimensionalen  Kontinuums,  welche 
nur  hinsichtlich  der  Größe  verschieden  sein  können,  aber  keine 
Verschiedenheit  aufweisen,  notwendig  identisch  sein  müssen. 

4.  Beziehungen  zwischen  den  beiden  Kontinuen. 


102  Rudolf  Amesedeb. 

Aus  dem  Koiiizidenzg-esetz  von  Ähiiliclikeits-  und  Verschieden- 
lieitsrelaten  erijibt  sich  eine  Konsequenz  liinsiclitlicli  ihrer  Koutinua. 
Ist  nämlich  eines  von  beiden  Kontinuen  irgendwie  begrenzt,  so 
muß  auch  das  andere  eine   entsprechende  Begrenzung  aufweisen. 

Die  gegenseitige  Lage  beider  Kontinua  ist  folgendermaßen 
bestimmt:  Wenn  die  Verschiedenheit  zwischen  zwei  Gegenständen 
kleiner  ist,  als  die  zwischen  zwei  anderen,  dann  ist  ihre  Ähnlich- 
keit größer  als  die  des  zweiten  Paares  und  umgekehrt.  Mit  der 
kleineren  Verschiedenheit  koinzidiert  die  größere  Ähnlichkeit,  mit 
der  größeren  Verschiedenheit  die  kleinere  Ähnlichkeit.  Bezeichnet 
man  jene  Beschaffenheit  des  Kontinuums,  welche  durch  die  Folge 
„kleiner-größer"  gegeben  ist,  als  die  Kichtung,  so  ergibt  sich:  Die 
Kontinua  der  Ähnlichkeits-  und  Verschiedenheitsrelate  koinzidiereu 
mit  entgegengesetzten  Kichtungen.  Da  beide  Größenkontinua  sind, 
ist  ihre  Begrenzung  einerseits  die  Null;  beide  liegen  aber  mit 
ihren  Begrenzungen  entgegengesetzt.  Da  es  jenseits  der  Ver- 
schiedenheitsnull keine  Verschiedenheiten  mehr  gibt,  welche  mit 
Ähnlichkeiten  koinzidiereu  könnten,  kann  es  da  auch  keine  Ähn- 
lichkeiten geben.  Durch  die  beiden  Nullpunkte  sind  also  die 
Kontinua  beiderseitig  begrenzt.  Aus  der  Gemeinsamkeit 
ihrer  Grenzen  ergibt  sich,  daß  sie  gleiche  Ausdehnung  haben. 

An  der  der  Null  des  betreffenden  Kontinuums  gegenüber- 
liegenden Begrenzung  muß  notwendig  der  größtmögliche  Kelat  sich 
befinden.  Daher  koinzidiert  das  Maximum  des  einen  Kontinuums 
mit  dem  Minimum  des  anderen.  Bei  Ähnlichkeitsrelaten  ist  das 
Maximum  in  der  Gleichheit  gegeben.  Tatsächlich  liegt  nur  dort 
Gleichheit  vor,  wo  die  Inferiora  keine  Verschiedenheit  aufweisen. 

Die  Maxima  beider  Kontinua  können  nur  zweierlei  Beschaffen- 
heit aufAveiseu :  entweder  sie  haben  endliche  oder  unendliche  Größe, 
pjine  Größenreihe  hat  als  solche  unendliche  Ausdehnung,  d.  h. 
es  gibt  weder  eine  bestimmte  Größe,  welche  nicht  kleiner  wäre 
als  eine  andere  ebenfalls  dieser  Reihe  angehörige,  noch  kann  es 
eine  geben.  .Jedes  Quantum,  welches  größer  ist  als  ein  bestimmtes 
vorgegebenes,  ist  ein  möglicher  Gegenstand,  —  dalier  ein  Quantum, 
welches  größer  als  jedes  mögliche  ist,  ein  unmöglicher  Gegenstand. 
Das  Maximum  einer  Größenreihe  ist  also  ein  unmöglicher  Gegen- 
stand. —  Haben  die  der  Keihe  angehörigen  Gegenstände  aber 
noch  anderes  Sosein  als   das,  Quantum  zu  sein,  so  kann  es  vor- 


Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie.  •  103 

kommen,  daß  es  größere  Qiumta  als  ein  bestimmtes  vorgegebenes 
von  dieser  Bescliaftenheit  nicht  geben  kann,  eventuell  auch  bloß 
tatsächlich  nicht  gibt.  Im  ersten  Fall  liegt  somit  ein  Maximum  vor, 
das  aber  kein  (rrößenmaximum  schlechtweg,  sondern  ein  Maximum 
von  Größen  einer  bestimmten  Art  ist.  Haben  Quanta  von  sonst 
anderweitig  bestimmtem  Sosein  ihrer  Natur  nach  ein  Maximum, 
d.  h.  kann  es  keinen  Gegenstand  dieser  Art  geben,  welcher  eine 
bestimmte  Größe  überschreitet,  dann  ist  diese  Größe  —  eben  das 
Maximum  —  ein  möglicher  Gegenstand.  Neben  unmöglichen 
sind  also  mögliche  Maxim a  festzustellen. 

Es  kann  aber  auch  die  Reihe  der  Gegenstände  vor  dem  mög- 
lichen Maximum  unterbrochen  sein,  weil  es  keine  Gegenstände  von 
erforderlicher  Größe  tatsächlich  gibt.  Das  hier  erreichte  Maximum 
ist  also  ein  tatsächliches.  Sowohl  das  tatsächliche  als  das 
mögliche  Maximum  haben  darin  ein  Kriterium,  daß  sie  stets 
zwischen  der  Null  einerseits  und  dem  unmöglichen  Maximum 
andererseits  stehen. 

Das  Maximum  der  Verschiedenheitsrelate  ist  ein  unmöglicher 
Gegenstand,  denn  es  kann  keinen  Verschiedenheitsrelat  geben, 
welcher  größer  wäre  als  jeder  beliebige  andere;  das  Kontinuum 
der  Verschiedenheiten   ist  also   nach   dieser  Richtung  unbegrenzt. 

Das  Ähnlichkeitsmaximum  ist  offenbar  aus  demselben  Grund 
ein  unmöglicher  Gegenstand;  es  kann  eben  keine  Ähnlichkeit 
geben,  welche  größer  wäre  als  jede  beliebige  andere.  Andererseits 
scheint  es  sich  mit  ihm  aber  doch  anders  zu  verhalten  als  mit 
dem  Yerschiedenheitsmaximum.  Schon  der  Umstand,  daß  es  be- 
nannt ist,  spricht  für  sein  tatsächliches  Vorkommen ;  die  Gleichheit 
zweier  realer  Strecken  scheint  mindestens  möglich,  die  zweier 
Zahlen  notwendig.  Gleichheit  kann  also  entweder  nicht  das 
Maximum  der  Ähnlichkeit  sein,  oder  die  Ähnlichkeit  hat  ein 
mögliches  Maximum ;  ein  Drittes  ist  ausgeschlossen.  Trotzdem  er- 
geben sich  bei  Zugrundelegung  jeder  dieser  beiden  Auffassungen 
erhebliche  Schwierigkeiten.  Die  der  ersten,  daß  es  tatsächlich 
keine  Gleichheit  gebe  und  daß  sie  überhaupt  unmöglich  sei,  liegt 
in  der  Evidenz,  mit  welcher  solche  Gleichheit,  vollends  aber  ihre 
Möglichkeit  erkannt  zu  werden  scheint.  Die  zweite  führt  auf 
andere  Unzulänglichkeiten.  Ist  nämlich  Gleichheit  ein  durch  die 
Koinzidenz   mit   der  VerschiedenheitsuuU   bedingtes  Maximum,   so 


iQj^  Rudolf  Ameseder. 

Wäre  zunächst  ein  solches  Bedingtsein  und  zwar  durch  die  Ähn- 
]i(-hkeitsnull  auch  fiii-  das  Verschiedenheitsmaximum  zu  erwarten: 
dieses  wäre  aber  vollständig  unhaltbar.  Hat  jedoch  die  Verschieden- 
heit kein  mögliches  Maximum,  die  Ähnlichkeit  hingegen  wohl,  dann 
müßte  es  Verschiedenheiten  geben,  welche  größer  sind  als  die  größte 
Ähnlichkeit.  Zwischen  einer  solchen  Verschiedenheit  und  dem 
Ursprung  des  Verschiedenheitskontinuums  muß  eine  Verschieden- 
heit liegen ,  welche  mit  einer  Ähnlichkeit  von  gleicher  Größe  koin- 
zidiert.  Die  Verschiedenheit  dieser  Ähnlichkeit  von  der  Gleichheit 
müßte  endlich,  die  vom  Ähnlichkeitsursprung  unendlich  groß  sein; 
dagegen  müßte  die  koinzidierende  Verschiedenheit  vom  Ursprung 
der  Verschiedenheiten  endlich,  vom  Maximum  unendlich  verschieden 
sein.  Da  aber  die  Orte  der  koinzidierenden  Kelate  zusammenfallen, 
müßte  dasselbe  Quantum,  nämlich  das  der  (mit  der  gleich  großen 
Ähnlichkeit  koinzidierenden)  Verschiedenheit ,  von  der  Null  sowohl 
endlich  als  unendlich  verschieden  sein,  d.  h.  es  müßte  eine  Ver- 
schiedenheit geben,  die  sowohl  endliche  als  unendliche  Größe  hätte^ 
was  natürlich  unmöglich  ist. 

Daraus  ergäbe  sich  aber  ferner,  daß  —  die  Größen  von 
Ähnlichkeiten  oder  Verschiedenheiten  als  Ordinaten,  ihre  Ver- 
schiedenheiten als  Entfernungen  —  bzw.  von  einem  Datum  aus  als 
Abscissen  —  aufgetragen,  die  Verbindungslinie  der  Größen  von 
Verschiedenheiten  oder  Ähnlichkeiten  in  ihrem  Kontinuum  keine 
gerade  wäre,  d.  h.  daß  eine  Verschiedenheit  von  der  Größe  1  von 
einer  Verschiedenheit  2  nicht  dieselbe  Entfernung  im  Kontinuum 
hätte,  wie  die  Verschiedenheit  2  von  der  Verschiedenheit  4  und 
entsprechend  bei  Ähnlichkeit.  Da  aber  die  Entfernungen  in  einem 
Kontinuum  Verschiedenheiten  sind,  hieße  das,  daß  gleichver- 
schiedenes nicht  gleich  verschieden  ist. 

Im  Hinblick  darauf  scheint,  soweit  ein  Urteil  derzeit  möglich 
ist,  die  Hypothese,  daß  es  tatsächlich  keine  Gleichheit  gebe  und 
geben  könne,  noch  einen  Vorzug  zu  haben,  der  überdies  dadurch 
gesteigert  wird,  daß  die  Gleichheit  von  Zahlen  sich  bei  genauerer 
Betrachtung  als  bloße  Koinzidenz  erweist.  \)  Wie  es  allerdings 
mit  den  Größen  dieser  Zahlen  steht ,  kann  auf  Grund  der  vor- 
liegenden Untersuchung  nicht  bestimmt  werden. 


')  Vgl.  unten  S.  119. 


Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie.  105 

23.  Verschiedeuheits-  und  Ähnliclikeitsrelate  sind 
unteilbare  Q  u  a  n  t  a. 

Was  Größe  hat,  hat  entweder  Teile  oder  keine.  Von  ersterer 
Art  sind  Zahlen,  Strecken  u.  dpi. ;  von  letzterer  Intensitäten.  Diese 
Teile  sind  Bestandstiicke.  auf  welche  sich  das  Superius  aufbaut. 
Sie  müssen  selbst  wieder  Größe  haben. 

Der  Verschiedeuheits-  oder  Ähnlichkeitsrelat  baut  sich  auf  zwei 
Inferiora  auf.  "Wäre  er  teilbar,  dann  hätte  er  aber  jedenfalls  nur 
zwei  Teile,  da  er  nur  zwei  Inferiora  haben  kann.  Überdies 
müssen  diese  Inferiora  keine  Größe  haben,  um  ähnlich  oder  ver- 
schieden sein  zu  können,  —  müßten  diese  aber  aufweisen,  um  Teile 
zu  sein.  Von  diesen  Kriterien  abgesehen,  ist  evident,  daß  Rot 
und  Grün  als  Fundamente  des  Yerschiedenheitsrelates,  aber  nicht 
als  dessen  Teile  betrachtet  werden  können. 

Eelate  von  gleicher  Art  aber  können  die  Teile  der  erwähnten 
Eelate  auch  nicht  sein,  da  das  Ganze,  wofern  seine  Teile  selbst 
Superiora  sind,  auch  die  Inferiora  der  Teile  enthalten  muß;  der 
Verscliiedenheitskomplex  von  Eot  und  Grün  enthält  nun  nichts 
als  den  Eelat  au  zwei  Inferioren  vergegenständlicht.  Jede  „Teil- 
verschiedenheit-' müßte  wenigstens  ein  neues  Inferius,  etwa  Gelb 
benötigen.  Dieses  ist  aber  in  obigem  Komplex  nicht  enthalten, 
und  deshalb  kann  der  Eelat  von  Eot  und  Gelb  kein  Teil  des 
Eelates  von  Eot  und  Grün  sein. 

Ähnlichkeits-  und  Yerschiedenheitsrelate  haben  also  Inferiora, 
die  keine  Teile  sind  und  enthalten  auch  keine  Teile. 

24.  Die  Zweizahl  der  Fundamente. 

Ähnlichkeits-  und  Yerschiedenheitsrelate  haben  stets  zwei  und 
nur  zwei  Inferiora.  Es  scheint  zw^ar,  daß  solche  Eelate  auch 
zwischen  mehr  als  zwei  Inferioren  bestehen  könnten;  so  sind 
sämtliche  Eadien  eines  Kreises  gleich,  alle  vier  Seiten  eines 
Trapezes  verschieden,  eventuell  aUe  Kinder  einer  Familie  einander 
ähnlich.  Dabei  steht  fest,  daß  neben  dem  fraglichen,  durch  mehr  als 
zwei  Inferiora  fundierten  Eelat  jedenfalls  Eelate  zwischen  je  zwei 
Inferioren  bestehen.  Der  in  Frage  stehende  Eelat  unterscheidet 
sich  aber  von  sonstip-en  Ähnlichkeits-  und  Yerschiedeuheitsrelaten 


jQß  Rudolf  Ameseder. 

wesentlich.  Sind  z.  B.  drei  Gegenstände  voneinander  „verschieden", 
so  hätte  der  der  obigen  Voraussetzung  entsprechende  Verschieden- 
heitsrelat  zwischen  allen  dreien  keine  Größe.  Ebenso  steht  es 
bei  der  Ähnlichkeit.  Die  scheinbare  Ausnahme,  daß  mehrere  Ob- 
jekte eine  Gleichheit  fundierten  und  somit  in  einem  quantitativ 
bestimmten  Ähnlichkeitsrelat  stünden,  geht  auf  Gleichheit  von  In- 
feriorenpaaren  zurück. 


25.  Beschaffenheit  der  luferiora. 

Nicht  alle  beliebigen  Gegenstände  können  Inferiora  für  Ähn- 
lichkeits-  und  Yerschiedenheitsrelate  abgeben.  Sind  zwei  Gegen- 
stände ähnlich,  so  muß  allemal  eine  beliebige  Anzahl  möglicher 
Gegenstände  derart  zwischen  sie  zu  interpolieren  möglich  sein, 
daß  jeder  von  ihnen  mit  einem  der  ersteren  größere  Ähnlichkeit 
aufweist,  als  jene  beiden  untereinander.  Ähnliche  Gegenstände 
müssen  also  stets  einem  und  demselben  Kontinuum  möglicher  — 
wenn  auch  nicht  tatsächlicher  —  Gegenstände  angehören.  Ebenso 
müssen  zwischen  verschiedene  Gegenstände  stets  weniger  verschie- 
dene interpolierbar  sein. 

Sind  also  zwei  Gegenstände  so  beschaffen,  daß  zwischen  ihnen 
keine  kontinuierliche  Verbindung  möglich  ist,  dann  kann  durch 
sie  weder  einÄhnlichkeits-,  noch  ein  Verschieden- 
heitsrelat  fundiert  sein.  Es  gibt  somit  Gegenstände,  welche 
z.  B.  weder  gleich,  noch  verschieden  sind.  Solche  Gegenstände, 
zwischen  welchen  ein  Ähnlichkeits-  oder  Verschiedenheitsrelat  nicht 
besteht,  seien  als  andersartige  Gegenstände  bezeichnet.  Dem- 
zufolge sind  z.  B.  Farben  und  Töne  andersartige  Gegenstände, 
aber  auch  Objekte  und  Objektive  u.  dgl.  m. 

Die  Inferiora  eines  solchen  Eelates  können  also  jedem  tat- 
sächlichen oder  möglichen  Kontinuum  angehören,  wie  dem  der 
Zeit,  Farben,  Töne,  Orte.  ,  Dabei  ist  nur  zu  erwähnen ,  daß  die 
Ähnlichkeit  und  Verschiedenheit  von  Orten  und  Zeiten  besonders 
benannt  ist.  Die  Verschiedenheit  zweier  Orte  heißt  nämlich  ihr 
Abstand  oder  ihre  Entfernung,  und  es  ist  üblich,  auch  von  zeit- 
licher Entfernung  zu  sprechen.  Das  Gegenteil  der  Entfernung  ist 
die  zeitliche  oder  örtliche  Ähnlichkeit.     Sie  wird  als  Nähe   be- 


Beiträge  zur  Grundlegung-  der  Gegenstandstheorie.  107 

zeichnet.  Die  Nälie  ist  Null,  weuii  die  Entfernung  unendlich  ist, 
—  sie  wächst,  wenn  die  Entfernuns:  abnimmt. 

Die  aufgezählten  Inferiora  gelten  als  einfache,  d.  h.  nicht 
komplexe  Gegenstände.  Es  können  aber  auch  Komplexe  Kontinuen 
angehören.  Der  Nachweis  hierfür  ist  durch  das  Kontinuum  der 
,,Lagen"  erbracht.  Lagen,  wie  Richtungen  sind  Superiora,  dies 
ergibt  sich  aus  der  Tatsache,  daß  sie  transponierbar  sind,  d.  h. 
mehrere  und  verschiedene  Orte  dieselben  Lagen  fundieren  können 

Zwei  parallele  Gerade  haben  gleiche  Lage.  Schließen  zwei 
Gerade  jedoch  einen  Winkel  ein,  oder  sind  sie  so  beschaffen,  daß 
eine  Parallele  zu  einer  von  beiden  mit  der  anderen  einen  Winkel 
bildet,  dann  haben  sie  verschiedene  Lagen.  Die  Lagenver- 
schiedenheit wächst  also  mit  dem  Winkel.  Da  es  aber  Winkel 
bis  zu  360 "  gibt .  kann  die  Lageverschiedenheit  und  selbst  die 
Eichtungsverschiedenheit  nicht  in  gleicher  Weise  mit  dem  Winkel 
zunehmen.  Bei  einem  Winkel  von  180  ^  haben  nämlich  die  Schenkel 
entgegengesetzte  Richtung  und  jede  Veränderung  der  Richtung 
eines  Schenkels  verringert  ihre  Verschiedenheit ;  während  also  der 
Winkel  über  180 "  wachsen  kann,  nimmt  die  Richtungsverschieden- 
heit  bei  diesem  ^A'achsen  wieder  ab,  so  daß  die  mit  einem  "\^^inkel 
von  360 "  koinzidierende  der  Verschiedenheit  null  ist.  Daraus  ergibt 
sich  auch,  daß  Winkel  nicht,  wie  häufig  definiert,  Richtungsver- 
schiedenheit ist.  Dagegen  erklärt  sich  die  Tatsache,  daß  der 
Winkel  von  180^  einen  ausgezeichneten  Punkt  im  Kontinuum  der 
AMnkel  darstellt,  dadurch,  daß  er  mit  dem  Maximum  der  Richtungs- 
versch  iedenheit  koinzidiert. 

Die  Lageverschiedenheit  hat  ihr  Maximum  bereits  bei  dem 
Winkel  von  90°,  welcher  infolge  dieser  Koinzidenz  gleichfalls  einen 
ausgezeichneten  Punkt  des  ^Mukelkontinuums  darstellt.  Während 
die  Ähnlichkeit  von  Richtungen  unbeuanut  geblieben  ist,  werden 
Lagen  als  gegenseitig  um  so  geneigter  bezeichnet,  je  ähnlicher  sie 
sind.  Vorzugsweise  ist  dies  der  Fall,  wenn  die  eine  der  beiden 
Lagen  die  Horizontale  ist.  Dabei  ist  aber  Neigung  und  Lage- 
verschiedenheit keineswegs  identisch,  sondern  erstere  nur  von  der 
letzteren  abhängig.  Dies  ergibt  sich  daraus,  daß  die  mit  dem 
Winkel  von  90 "  koinzidierende  Lagenähnlichkeit  offenbar  die 
Neigung  von  Nullgröße,  keineswegs  aber  die  Ähnlichkeit  von  Null- 
größe repräsentiert.     Auch   die  Verschiedenheitsmaxima  der  Rieh- 


JOS 


Rudolf  Ameseder. 


tunjEren  und  Lap-en  sind  niclit  von  unendlicher  Größe,  sondern  er- 
sichtlich mögliche  Maxima.  welche  durcli  das  Fehlen  tatsächlicher 
Inferiora  bedinoft  sind. 

In  dritter  Linie  können  auch  Objektive  Inferiora  von  Ähnlich- 
keits-  und  Verschiedenheitsrelaten  sein.  Ist  nämlich  jedem,  z  B. 
Verschiedenheitsrelat  ein  bestimmtes  Soseinsobjektiv  —  die  Kela- 
tion  —  mitgegeben,  so  müssen  diese  Objektive  entweder  alle  iden- 
tisch sein,  oder  verschieden,  da  die  zu  demselben  Relatskontinuum 
gehörigen  Objektive  unmöglich  andersartig  sein  können. 

Da  die  Identität  aller  Verschiedenheitsrelationen  nicht  wohl 
annehmbar  erscheint,  müssen  diese  auch  verschieden  sein,  dann 
aber  auch  Kontinua  ermöglichen.  Mithin  könnten  Objektive  Ahn- 
lichkeits-  und  Yerschiedenheitsrelate  fundieren.  Natürlich  sind 
die  Objektive  keine  Quanta, 

26.  Das  Sein  d  e  r  Ä  h  n  1  i  c  h  k  e  i  t  s  -  u  n  d  Y  e  r  s  c  h  i  e  d  e  n  h  e  i  t  s  - 

gegenstände. 

Die  Ähnlichkeits-  sowie  die  Yerschiedenheitsrelate  sind  als 
solche  Objekte.  Da  durch  zwei  Gegenstände,  welche  einem  Kon- 
tinuum  angehören,  ein  solcher  Relat  fundiert  sein  muß,  sind  diese 
Eelate  notwendige  Gegenstände.  Da  die  Inferiora  in  dem  Eelat, 
welchen  sie  fundieren,  ein  Komplex  sind,  ist  dieser  Komplex  gleich- 
falls ein  notwendiger  Gegenstand.  Es  ergibt  sich  aber  aus  der 
Natur  dieser  Gegenstände,  daß  jeder  Ähnlichkeits-  und  Yer- 
schiedenheitsrelat  von  bestimmter  Größe  ein  notwendiges  Objekt 
ist,  dagegen  nicht  ebenso  jeder  Komplex.  Eelate  von  unendlicher 
Größe  sind  ihrer  Natur  nach  unmöglich,  somit  unmögliche  Objekte. 

Durch  zwei  Inferiora  aus  einem  Kontinuum  ist  ein  FaU  eines 
Eelates  von  bestimmter  Art  fundiert  und  somit  nur  ein  Fall  eines 
Komplexes  bestimmter  Art  mitfundiert;  alle  mit  anderen  Eelat- 
fäUen  koinzidierenden  Komplexfälle  derselben  Ait  sind  durch  diese 
Inferiora  niclit  mitfundiert.  Die  Komplexe  aus  den  Inferioren  in 
einem  nicht  mitfundierten  Eelat  können  ihrer  Natur  nach  nicht 
sein,  sie  sind  unmögliche  Objekte.  Ebenso  ist  jeder  Komplex  mit 
einem  Eelat  von  unendlicher  Größe  ein  unmögliches  Objekt;  da 
ein  solclier  Eelat  niclit  fundiert  ist,  ist  der  bezügliche  Komplex 
auch  nicht  mitfundiert.  —  Ein   Gegenstand,  welcher  einem  not- 


Beiträge  zur  Gruudleguug  der  Geg-eustandstheorie.  109 

wendigen  oder  zufälligfen  gleichzeitio:  ähnlich  und  nicht  ähnlich, 
oder  von  ihm  zug^leich  verschieden  und  nicht  verschieden  ist,  ist 
ein  unmög-licher  Geg-enstand.^)  Dieser  unmög-liche  Gegenstand  steht 
dem  anderen  aber  tatsächlich  in  beiden  Relationen  bzw.  Eelaten; 
auch  diese  Relate  bestehen  notwendig  zwischen  dem  notwendigen 
oder  zufälligen  und  dem  unmöglichen  Inferius,  wofern  die  betreffende 
Relation  ein  vorgegebenes  Objektiv  des  unmöglichen  Gegenstandes 
ist;  folgt  dagegen  die  Relation  weder  aus  einem  dem  unmöglichen 
Gegenstand  vorgegebenen  Objektiv,  noch  aus  einem,  das  diesem 
vorgegebenen  notwendig  nachgegeben  ist,  dann  ist  der  betreffende 
Relat  unmöglich.  Ist  z.  B.  der  eine  (Tegenstand  eine  rote  Fläche, 
der  andere  ein  unmöglicher,  mit  dem  einzigen  vorgegebenen  Ob- 
jektiv, daß  er  nicht  sei,  dann  besteht  unmöglich  Ähnlichkeit  zwischen 
beiden;  ist  der  zweite  Gegenstand  jedoch  einer,  von  dem  vorge- 
geben ist,  daß  er  nicht  sei,  aber  mit  dem  ersten  in  der  Ver- 
schiedenheit V  stehe,  dann  steht  er  notwendig  mit  ihm  in  der 
mit  V  koinzidierenden  Ähnlichkeit.  Relationen  und  Komplexionen 
haben  ebensolches  Sein,  als  die  mitgegebenen  Relate  und  Komplexe ; 
sind  diese  Objekte  notwendig  oder  unmöglich,  dann  sind  es  die  Ob- 
jektive auch. 

Den  Anschein  der  Notwendigkeit  kann  auch  das  Sein  der 
Inferiora  gewinnen.  Eine  Farbe  z.  B.,  welche  von  einem  be- 
stimmten Rot  eine  Verschiedenheit  von  bestimmter  Größe  auf- 
weist, muß  es  notwendig  geben;  diese  Farbe  scheint  also  ein  not- 
wendiger Gegenstand  zu  sein.  Sie  ist  aber  nur  insofern  not- 
wendig, als  es  das  Rot  gibt  und  dieses  einem  Kontinuum  ange- 
hört ;  dieses  Rot  selbst  kann  seine  Notwendigkeit  nicht  in  gleicher 
Weise  von  der  postulierten  Farbe  ableiten  lassen.  Ist  aber  eine 
einzige  Farbe  nicht  notwendig,  dann  sind  es  alle  anderen  auch 
nicht.  Die  hier  erwähnte  Notwendigkeit  reduziert  sich  somit  auf 
die  Tatsache,  daß  zwei  Gegenstände  nicht  verschieden  oder  ähn- 
lich sein  können,  ohne  daß  es  Gegenstände  gäbe,  die  zu  jedem 
derselben  alle  möglichen  Grade  der  Verschiedenheit  oder  Ähnlich- 
keit aufweisen  würden.  Die  Inferiora  eines  Ähnlichkeits-  oder 
Verschiedenheitsrelates,  bzw.  die  Gegenstände  einer  solchen  Relation 


')  Vgl.  oben,  S.  87  f. 


]^20  RoDOLP  Amesedeb. 

sind  als  solche,  d.  h.  soweit  nichts  anderes  von  ihnen  vorgegeben 
ist.  zufällige  Gegenstände. 


Till.    Gestaltgegeustände. 

27.  Die  Gestaltgegenstände  haben  eigene  Eelate. 

Beispiele  für  Gestalten  sind  Eaumgestalten  und  Melodien. 
Die  einfachsten  derselben  haben  zwei  Inferiora.  Da  Gestalten 
allemal  auf  verschiedene  Inferiora  aufgebaut  sind,  ist  die  Gestalt, 
auch  die  mit  bloß  zwei  Inferioren,  "weder  ein  Yerschiedenheits- 
noch  ein  Ähnlichkeitsgegenstand,  da  sie  neben  solchen  mit  den- 
selben Inferioren  besteht.  Hinsichtlich  der  Zahl  der  Inferiora 
sind  die  Gestalten  nicht  bestimmt.  Da  jedes  beliebige  Stück  eines 
Kontinuums  eine  Gestalt  begründet,  bedarf  sie  überhaupt  nicht 
diskreter  Inferiora;  aber  auch  diese  sind  möglich  u.  zw.  in  be- 
liebiger Anzahl.  Sind  die  Gestaltinferiora  diskret,  so  bedarf  die 
Gestalt  mindestens  zweier  Inferiora.  Auch  im  Falle  einer  Konti- 
nuumsgestalt  liegt  nicht  etwa  ein  einziges  luferius  vor,  sondern 
die  Inferiora  sind  hinsichtlich  der  Zahl  nicht  bestimmt,  also  zahl- 
los. Somit  können  die  Inferiora  der  Gestalten  entweder  zahUos 
oder  in  bestimmten  Anzahlen  gegeben  sein,  die  größer  als  1  sind. 

Das  Sosein  der  Gestalten  ergibt  sich  am  besten  aus  jenen 
Fällen,  in  denen  das  Superius  nur  zwei  diskrete  Inferiora  hat. 
Eine  solche  Gestalt  scheint  auf  räumlichem  Gebiet  die  Lage  zu 
sein,  da  sie  durch  zwei  Punkte  gegeben  ist,  ebenso  die  Richtung, 
welche  sich  von  der  Lage  nur  dadurch  unterscheidet,  daß  die  In- 
feriora succedieren.  Dagegen  nun,  daß  Lage  oder  Richtung  Ge- 
stalt sei,  ergibt  sich  ein  Einwand  durch  Betrachtung  der  analogen 
Verhältnisse  bei  Tönen.  Unzweifelhaft  ist  nämlich  das  Intervall 
Gestalt,  da  es  ja  doch  die  einfachste  Tonmelodie  ist.  von  rein 
rhythmischen  und  dynamischen  Melodien,  welche  an  einer  einzigen 
Tonhöhe  auftreten  können,  abgesehen.  Wäre  nun  Lage  Gestalt, 
so  müßte  das  Intervall  Lage  sein;  sämtliche  Töne  können  aber 
nur  eine  Lage  zueinander  haben,  die  des  geradlinigen,  eindimen- 
sionalen Tonkontinuums.  Dieser  einen  Lage  stehen  verschie- 
dene Intervalle  gegenüber.  Hat  Quint  und  Oktave  aber  dieselbe 
Lage,  so  kann  Lage  nicht  Gestalt  sein.    Gesetzt  aber,   das  Liter- 


Beiträge  zur  Grundlegung'  der  Gegenstandstheorie.  Hl. 

vall  wäre  Lag:e  oder  Richtung,  dann  würden  Quint  und  Oktave 
verschiedene  Richtungen  bedeuten.  Die  Töne  c^d^g-,  a-  usw.  lägen 
dementsprechend  in  einer  Richtung.  c\c-, c^...  in  einer  zweiten. 
Bei  entsprechender  Fortsetzung  nähern  sich  beide  Reihen  bei  den 
Tönen  liis"  und  c^;  bei  temperierten  Intervallen^)  fallen  diese 
Töne  zusammen.  Beide  Reihen,  die  der  fortgesetzten  Quinten  und 
die  der  fortgesetzten  Oktaven  hätten  also  zwei  Punkte  c^  und  c* 
gemeinsam,  was  bei  verschiedenen  Richtungen  niemals  möglich 
ist.  Somit  kann  Intervall  nicht  Lage  sein.  Das  Intervall  ist  aber 
ein  Gegenstand  von  derselben  Klasse  wie  die  Melodie ;  bestehen  aber 
die  (zwei  Superioren)  mitgegebenen  Relate  nebeneinander  zwischen 
denselben  Inferioren,  dann  können  die  Superiora  nicht  solche  der- 
selben Klasse  sein.  Melodie  ist  aber  ein  Gestaltgegenstand,  somit 
kann  Lage  nicht  gleichfalls  einer  sein. 

Ist  die  Lage  bei  Tönen  aber  kein  Gestaltgegenstand,  dann 
kann  sie  überhaupt  keiner  sein,  also  auch  die  räumliche  Lage 
nicht.  Dies  zeigt  sich,  wenn  in  Betracht  gezogen  wird,  daß  Lagen 
nicht  nur  zwei,  sondern  beliebig  viele  Inferiora,  eventuell  auch 
Kontinua  als  Inferiora  haben  können.  ..Liegen  3  Punkte  in  einer 
Geraden" ,  so  fundieren  sie  eine  Lage ;  liegen  sie  nicht  in  einer 
Geraden,  so  fundieren  sie  nicht  eine,  sondern  drei  Lagen,  jedoch 
eine  Gestalt.  Da  diese  drei  Punkte  im  letztern  Fall  überliaupt 
nicht  eine  Lage  fundieren,  sondern  eine  Gestalt  bilden,  kann 
diese  keine  Lage  sein.  Ferner  können  zwei  Strecken  die  gleichen 
Gestalten  haben,  aber  verschiedene  Lage,  nämlich,  wenn 
sie  einen  Winkel  bilden.  Überdies  können  zwei  Punktkomplexe 
aus  drei  Punkten  gleiche  Lagen  haben,  wenn  sie  gerade  und 
parallel  liegen,  aber  verschiedene  Gestalten  sein,  wenn 
ein  Punkt  im  einen  Komplex  in  der  Mitte,  im  andern  nicht  in  der 
Mitte  liegt. 

Es  ist  versucht  worden,  Lage  -)  als  Qualität  der  Yerschieden- 

^)  Temperierte  Intervalle  sind  ebenfalls  Intervalle,  wenn  auch  vielleicht  keine 
ausgezeichneten  Fälle  von  solchen.  Sicherlich  weisen  sie  aber  sonst  alle  geo- 
metrischen Eigenschaften  der  reinen  Intervalle  auf. 

-)  Höfler  bezeichnet  in  seiner  Arbeit  „Zur  Analyse  der  Vorstellungen  von 
Abstand  und  Richtung".  Zeitschr.  f.  Psychologie  und  Physiol.  d.  Sinnesorg.  Bd.  X, 
S.  225  f.  die  Richtung  als  die  Qualität  der  Verschiedenheit.  Meinong  versucht 
dafür  Lage  einzusetzen.  Vgl.  seine  Arbeit  „Über  die  Bedeutung  des  Weberschen 
Gesetzes",  a.  a.  0.  S.  118  f. 


112 


Rudolf  Ameseder. 


heitsrelation  in  Anspruch  zu  nehmen.  Dies  ist  aber  aus  mehreren 
Gründen  unzulässig.  Zunächst  wäre  für  die  Ähnlichkeit  eine  ent- 
sprechende „Qualität"  zu  erwarten,  die  aber  natürlich  nicht  gleich- 
falls Lage  sein  dürfte.  Ähnlichkeit  und  Verschiedenheit  haben 
aber  auch  dann  verschiedene  Qualitäten,  wenn  von  Lage  ganz  ab- 
gesehen wird;  das,  wodurch  sich  beide  unterscheiden,  ist  eben  ihre 
Qualität.  Schließlich  ist  iu  Betracht  zu  ziehen,  daß  natürlich  nur 
die  mit  der  Verschiedenheit  koinzidierende  Lage  als  ihre  Qualität 
zu  gelten  Anspruch  hätte;  dies  aber  doch  wohl  nur,  weil  sie 
eben  mit  ihr  koinzidiert.  Sie  koinzidiert  nun  ebenso  mit  der  Ähn- 
lichkeit. Ähnlichkeit  und  Verschiedenheit  können  aber  unmöglich 
dieselbe  Qualität  haben.  Immerhin  muß  zugegeben  werden, 
daß  bei  der  Verschiedenheit  das  Quantitative  im  Vordergrund 
steht,  bei  Lage  jedoch,  soweit  abzusehen,  nichts  Quantitatives  vor- 
handen ist. 

Da  Lage  keine  Gestalt  ist,  anderen  Gruppen  von  Gegenständen 
aber  noch  ferner  steht,  liegt  in  ihr  ein  Gegenstand  von  eigener 
Art  vor;  die  immerhin  vorherrschende  Verwandtschaft  mit  den 
Gestalten  gestattet  aber  die  kleine  Gruppe  der  Lagen  und 
Kichtungen  ^)  in  einer  erweiterten  Gruppe,  zu  der  auch  die  Gestalten 
gehören,  unterzubringen. 

28.  Einteilung  der  Gestalten  hinsichtlich  ihrer 

Inferiora. 

Die  Inferiora  der  Gestaltsgegenstände  können,  wie  erwähnt, 
diskret  oder  kontinuierlich  sein.  Da  ein  Kreisbogen  auch  eine 
Gestalt  hat,  diese  aber  nie  durch  zwei  Punkte,  sondern  nur  durch 
ein  Kontinuum  fundiert  sein  kann,  muß  das  durch  ein  Strecken- 
kontinuum  fundierte  auch  etwas  anderes  sein,  als  was  durch  die 
Endpunkte  einer  Strecke  fundiert  ist.  Neben  den  durch  Kontinua 
fundierten  Gestalten,  sind  also  noch  Gestalten  vorhanden,  welche 
durch  diesen  Kontinuen  angehörige  diskrete  Inferiora  fundiert  sind. 


*)  Der  Gegenstand  „Lag-e"  entzieht  sich  der  praktischen  Beachtung.  Tat- 
sächlich kommt  er  nicht  nur  im  Räumlichen  vor,  sondern  überall;  wo  man  her- 
kömmlicher Weise  „Richtungen"  konstatiert ;  es  gibt  also  auch  Lagen  von  Farben 
Tönen  u.  dgl. 


Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie.  113 

Beide  können  nicht  von  einer  Art  sein.    Demgemäß  gibt  es  neben 
diskreten  Gestalten  kontinuierliche. 

Die  Inferiora  der  Gestalten  können  sowohl  zeitlos,  als  auch 
mit  Zeitbestimmungen  gegeben  sein.  Letzteres  ist  bei  Melodie, 
ersteres  bei  Raumgestalt  der  FaU.  Meinong  ^)  unterscheidet  dem- 
gemäß zeitlose  und  zeitverteilte  Gegenstände  höherer  Ordnung; 
die  Superiora  selbst  sind  aber  keinesfalls  zeitverteilt  oder  zeitlich 
bestimmt.  Jedoch  sind  auch  die  Relate  von  zeitverteilten  Superi- 
oren  oft'enbar  nicht  dieselben,  wie  von  zeitlosen.  Da  ihre  Anders- 
artigkeit nicht  auf  Beschaft'enheit  der  Inferiora  zurückgeführt 
werden  kann,  liegen  hier  zwei  Arten  von  Gestaltsgegenständen  vor. 

Die  Inferiora  der  Gestalten  können  schließlich  einfach  oder 
komplex  sein.  Jede  beliebige  Anzahl  von  Inferioren  kann  ein  oder 
mehrere  Gestaltsuperiora  haben;  neben  diesen  Gestaltsuperioren 
finden  sich  noch  andere,  welche  selbst  Gestalten  oder  andere  Supe- 
riora zu  Inferioren  haben,  deren  Inferiora  in  den  vorgegebenen 
restlos  aufgehen.  Es  sind  dies  aber  andere  Gestalten,  als  die  erst- 
erwähnten. So  fundieren  5  Töne  a,  b,  c,  d,  e  eine  Melodie  (A),  aber 
a,  b  fundiert  einerseits  ein  Superius  (B),  c,  d,  e  andererseits  auch 
eines  (G),  —  beide  (B  und  C)  als  Inferiora  eine  Gestalt  D,  welche 
mit  A  keineswegs  identisch  ist,  da  sie  andere  nächste  Inferiora 
hat,  und  die  von  ihr  doch  artverschieden  ist,  da  sie  sich  letztlich 
auf  dieselben  Inferiora  gründet.  -)  Mit  jeder  Inferiusgestalt,  d.  h. 
einer  Gestalt,  deren  Inferiora  nicht  selbst  notwendige  Superiora 
sind,  koinzidiert  eine  Anzahl  von  Super  ins  gestalten, 
solchen,  deren  Inferiora  selbst  Gestalten  oder  gewisse  andere 
Superiora  sind.  Alle  diese  Superiusgestalten  sind  verschiedene 
FäUe  einer  Art. 

Aus  zwei  verschiedenen  Inferioren  a  und  b  lassen  sich  bei 
zeitlicher  oder  örtlicher  Verschiebung  derselben  zwei  verschiedene 
Gestalten  bilden :  a  b  und  b  a.  Die  zeitliche  oder  örtliche  Ver- 
schiedenheit macht  die  Verschiedenheit  der  Gestalten  besonders 
deutlich;  sie  ist  aber  für  sie  keineswegs  notwendig.    Auch  wenn 


^)  Über  Gegenstände  höherer  Ordnung,  S.  245f. 

'')  Das  Ermitteln  der  zu  einem  bestimmten  Gestaltsuperius  gehörigen  nächsten 
Inferiora  ist  eine  wichtige  Aufgabe   der  praktischen  Ästhetik.    Besonders  in  der 
Musik  hat  sie  als  „Phrasierung"  große  Bedeutung.     Übrigens  ist  Phrasierung  auch 
hier  ein  Spezialfall  der  luferiusbestimmuug  von  zeitverteüten  Superioren. 
Meinong,  Untersuchungen.  ö 


22^^  Rudolf  Ameseder. 

die  Iiiferiora  a  und  b  weder  ilire  zeitliche,  noch  ihre  örtliche 
Relation  ändern,  können  durch  geeignete  Modifikation  der  Auf- 
merksamkeit zwei  Gestalten  erfaßt  werden.  Da  es  dabei  zwar  für 
das  Erfassen  der  Verschiedenheit  förderlich  ist,  Veränderungen  an 
den  Inferioren  anzunehmen,  dies  aber  auch  keineswegs  nötig  scheint 
liegt  das  AVesentliche  doch  darin,  daß  hier  zwei  Gestalten  durch 
dieselben  Inferiora  gegeben  sind,  welche  nebeneinander  bestehen. 
Graphiscli  lassen  sie  sich  allerdings  nicht  anders  als  durch  Ver- 
schiedenheiten der  Inferiora  bezeichnen,  etwa  durch  die  Stellung  als 
a  b  gegenüber  b  a,  oder  durch  sonstige  Unterscheidungsmerkmale 
ab,  ab.  Die  Anzahl  der  in  dieser  Weise  koinzidierenden  Superiora 
zu  bestimmen,  ist  die  Aufgabe  der  Kombinationsrechnung.  Da  a 
und  b  im  obigen  Beispiel  sowohl  selbst  Superiora  als  auch  bloße 
Inferiora  sein  können,  ist  die  Kombinationsrechnung  sowohl  zur 
Ermittelung  der  Anzahl  von  Superius-  als  auch  von  Inferiusgestalten 
verwendbar. 

Daß  so  ziemlich  aUes  Gestaltinferius  sein  kann,  scheint  evident. 
Zu  den  Gestaltinferioren  dürften  aber  vorweg  zwei  Gegenstands- 
klassen nicht  zu  zählen  sein:  Dinggegenstände  und  Objektive.  In 
Hinblick  auf  die  Unsicherheit  aller  Bestimmungen  au  Dinggegen- 
ständen möge  der  erste  Teil  dieses  Problemes  hier  unberücksichtigt 
bleiben.  Objektive  aber  scheinen  deshalb  nicht  als  gestaltfundierend 
in  Betracht  kommen  zu  können,  weil  jeder  Gestalt  offenbar  an- 
schaulich Erfaßtes  entsprechen  kann,  den  Objektiven  aber  nicht, 
—  Gestalten  mit  unanschaulich  erfaßten  Inferioren  aber  selbst 
unanschaulich  wären.  Objektive  stehen  aber  offenbar  häufig  im 
Zusammenhang,  machen  ein  Ganzes  aus,  und  dieses  Ganze  ist 
keineswegs  immer  ein  Verschiedenheitskomplex  oder  eine  bloße 
Summe  u.  dgl.  Die  Objektive  einer  Erzählung  fundieren  vielmehr 
ein  Superius,  welches  von  sonstigen  Gestalten  nur  hinsichtlicli  der 
Inferiora  verschieden  scheint.  Auch  die  psychische  Reaktion  ist 
der  sonst  auf  Gestalten  eintretenden  zum  mindesten  sehr  ver- 
wandt. Es  liegt  also  kein  Grund  vor,  die  Möglichkeit  von  Ob- 
j  ektivgestalten  anzuzweifeln. 

Von  Objekten  können,  wie  erwähnt,  sowohl  Empfinduugsgegen- 
stände  als  auch  Gestalten  von  Empfindimgsgegenständen  Inferiora 
von  Gestaltssuperioren  sein.  Daneben  liegen  aber  noch  andere 
Möglichkeiten  vor.    Sind  4  Gegenstände  a,  b,  c,  d  gegeben,  so  kann 


Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie.  115 

der  Komplex  a  b  mit  dem  Komplex  c  d  auch  dann  eine  Gestalt 
fundieren,  wenn  jeder  der  beiden  Komplexe  nicht  Gestalt,  aber 
notwendig  ist.  Auch  Yerschiedenheitskomplexe  können  Gestalten 
fundieren,  natürlich  aber  nicht  räumliche,  sondern  eben  mit  In- 
ferioren aus  dem  Verschiedenheitskontinuum.  Und  auch  für  Zahlen 
u.  dgl.  wird  dieselbe  Möglichkeit  nicht  zu  bezweifeln  sein.  Neben 
dieser  Art  der  Gestaltbildung  liegt  aber  oifenbar  noch  eine  vor: 
a  und  b  können  nicht  nur  ein,  sondern  nebeneinander  zwei  Öuperiora 
fundieren,  welche  beide  keine  Gestalten  zu  sein  brauchen :  das  eine 
kann  zum  Beispiel  Verschiedenheit,  das  andere  Lage  sein.  Diese 
beiden  Superiora  können  selbst  wieder  ein  Superius  fundieren,  die 
Verschiedenheit  mit  oder  in  der  mitgegebenen  Lage ;  da  dies  keines- 
wegs bloß  Verschiedenheit  u  n  d  Lage  derselben  Inferiora  ist,  wird 
auch  dieser  Gegenstand  als  Gestalt  zu  bezeichnen  sein. 

Damit  ist  aber  die  Möglichkeit  gegeben,  daß  verschieden- 
artige Superiora  Inferiora  derselben  Gestalt  sein  können;  diese 
liegt  schon  bei  den  Empfinduugsgegenständen  vor.  Während  ein 
Ton  und  eine  Farbe  keine  Verschiedenheit  und  Ähnlichkeit  haben 
können,  können  sie  sehr  wolü  eine  Gestalt  fundieren,  die  vielleicht 
schwer  durch  Vorstellen  zu  erfassen,  darum  aber  nicht  minder 
möglicli  ist. 

29.  Eigenschaften  und  Sein  der  Gestaltgegenstäude. 

Gestaltgegenstände  gehören  Kontinuen  an;  dies  folgt  aber 
keineswegs  aus  der  Natur  ihrer  Eelate,  wie  bei  Ähnlichkeit  und 
Verschiedenheit,  sondern  aus  der  Natur  der  Komplexe,  also  letz- 
lich  der  Inferioria.  Diese  Kontinua  sind  somit  in  Gestalt  und 
Größe  durch  die  Kontinuen  der  Inferiora  bestimmt. 

Gestaltgegenstände  sind  keine  Quanta.  Mit  ihnen  koinzidieren 
allerdings  solche,  die  aber  in  keiner  Weise  von  dem  FaU  der 
Gestalt  abhängig  sind.  So  haben  aUe  gleichseitigen  Dreiecke  die- 
selbe Gestalt,  aber  verschiedene  Größen.  Sind  somit  die  Kontinua 
der  Ähnlichkeit  und  Verschiedenheit  Quantitätskontiuua ,  so  sind 
die  der  Gestalten  (und  auch  der  Lagen)  Qualitätskontinua,  d.  h. 
solche,  welche  nach  keiner  Richtung  zur  Null  führen. 

Gestaltgegenstände  TNiirden  bereits  öfter  als  fundierte  be- 
zeichnet; und  wenn  auch  mehrere  Gestalten  auf  dieselben  Inferiora 

8* 


11g  Rudolf  Amesedeb. 

aufgebaut  sind,  so  ist  doch  jede  dieser  Gestalten  mit  Notwendig- 
keit aufgebaut.  Demgemäß  ist  ihr  Sein  notwendig  u.  zw.  sowohl 
das  der  Relate,  wie  der  Komplexe  der  fundierenden  Inferiora,  der 
Kelationen  und  der  Komplexionen  mit  zugehörigen  Gegenständen. 
Unmöglich  dagegen  sind  Komplexe  mit  anderen  als  den  fundieren- 
den Inferioren,  und  Komplexionen  mit  anderen  als  den  zugehörigen 
Gegenständen.  Schließlich  sei  noch  ei-wähnt,  daß  unter  dem  Namen 
„Gestalten"  Gegenstände  zusammen  behandelt  wurden,  welche 
keineswegs  alle  von  einer  Art  und  nur  von  verschiedenem  Fall 
sind.  Auch  hier  ist  der  Grund  für  die  Zusammenfassung  derselbe, 
wie  bei  Ähnlichkeits-  und  Verschiedenheitsgegenständen.  Ein- 
gehende Untersuchung  wird  zunächst  festzustellen  haben,  wie 
viel  Kontinua  es  für  Gestalten  geben  kann;  die  anderen  Kon- 
tinuen  angehörigen  Superiora  aber  wird  sie  als  eigenartige  Gegen- 
stände auch  mit  besonderen  Bezeichnungen  zu  versehen  haben. 


IX.  Verl)induiigsgegeiistände. 

30.  Die  Y  e  r  b  i  u  d  u  u  g  s  g  e  g  e  n  s  t  ä  n  d  e  und  ihre  Relate. 

Zwei  Gegenstände  a  und  b  haben  ein  Superius,  dessen  sprach- 
liche Bezeichnung  ,,a  und  b"  ist:  ,,Und"  ist  dabei  offenbar  die 
Bezeichnung  für  den  Relat.  Der  mitgegebene  Komplex  ist  keines- 
wegs etwa  ein  Yerschiedenheitskomplex,  da  in  allen  diesen  Fällen 
von  Undkomplexen  der  Relat  „und"  derselbe  ist;  auch  kann  ein 
solcher  Komplex  Inferiora  haben,  welche  keine  Verschiedenheit  fun- 
dieren. Er  ist  auch  nicht  Lage  oder  Gestalt,  da  Rot  und  Grün 
einerseits,  Rot  und  Blau  andererseits  verschiedene  Lage-  und  Gestalt- 
relate  fundieren,  der  Undrelat  aber  derselbe  ist.  Gegenstände,  welche 
solche  Undrelate  oder  deren  mitgegebene  Komplexe,  Objektive  und 
Inferiora ') sind, seien alsVerbindungsgegenstäude  bezeichnet. 

Einerseits  scheinen  solche  Verbindungsgegenstände  Inferiora 
in  verschiedener  Anzahl  haben  zu  können;  andererseits  vermag 
der  durch  „und"  bezeichnete  Relat  ersichtlich  nur  zwei  Inferiora 
zu  verbinden.  Die  Komplexe  mit  melir  als  zwei  Inferioren  haben 
dann    entweder  einen  anderen  Relat  als  einen   der  durch   .,und" 


')  Letztere  nur,  soweit  sie  als  Inferiora  der  Undrelate  in  Betracht  kommen. 


Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie.  117 

bezeichneten  oder  sie  sind  Komplexe,  deren  Inferiora  selbst  Ver- 
bindungsgegenstände sind.  Letzteres  ist  bei  der  Summe  a— |-b-f  c 
der  Fall,  deren  mitgegebener  Eelat  nur  einer  also  nur  ein  Plus 
sein  kann ;  diese  Summe  hat  somit  a  und  b  -j-  c  als  Inferiora  oder 
a  -|-  b  und  c  und  ist  demgemäß  unzweideutig  als  a  -|-  (b  +  c)  oder 
(a  -j-  b)  +  c  zu  schreiben. 

Drei  Inferiora  können  aber  auch  durch  einen  einzigen  Relat 
zusammengehalten  sein,  ohne  daß  zwei  von  ihnen  bereits  einen 
Komplex  bilden.  Die  sprachliche  Bezeichnung  für  diesen  Eelat  ist 
allerdings  nicht  das  Und;  streng  genommen  fehlt  eine  solche  sogar, 
denn  das  "Wort  „zusammen"  bezeichnet  nur.  daß  die  Inferiora  in 
gleicher  AVeise  an  der  Bildung  des  Komplexes  beteiligt  sind.  Wie 
es  aber  schon  bei  Ähnlichkeitsgegenständen  eine  besondere  Be- 
zeichnung für  einen  bestimmten  Fall  des  Relates  gibt,  nämlich 
Gleichheit,  so  ist  auch  hier  das  Und  nur  Bezeichnung  eines  be- 
stimmten Falles  des  Verbindungsrelates ,  nämlich  jenes  mit  bloß 
zwei  Inferioren.  Begreiflicherweise  kann  diese  Bezeichnung  dann 
nicht  auf  die  anderen,  übrigens  praktisch  minder  wichtigen  Eelat- 
fälle  anwendbar  sein. 

Daß  es  solche  Superiora  mit  mehr  als  2  Inferioren  und  nur 
einem  Eelat  tatsächlich  gibt,  erweist  sich  an  irgend  einer  Zahl, 
die  doch  gewiß  nichts  ist,  als  ein  Verbindungsgegenstand  mit  lauter 
gleichen  Inferioren.  In  der  Natur  der  Zahl  sechs  z.  B.,  liegt  es 
wohl,  eine  einzige  Einheit,  einen  Komplex  zu  bilden,  keii^eswegs 
aber  bloß  (2  -}-  2)  -f  2  oder  (2  -f  1)  -f  (2  +  1)  zu  sein,  sondern  mit 
diesen  Komplexen  nur  zu  koinzidieren.  Der  Komplex  Sechs  besteht 
neben  aUen  diesen  Superiussummen  und  ist  deshalb  mit  ihnen 
nicht  identisch.  Hat  Sechs  aber  nicht  Superiora  (aus  Einheiten) 
zu  Inferioren,  dann  stehen  eben  aUe  sechs  Inferiora  in  einem 
Relat. 

Ein  psychologisches  Argument  scheint  gleichfalls  für  diese 
Tatsache  zu  sprechen.  Die  Zahl  anschaulicher,  ähnlicher  Objekte 
ist  bis  zu  einer  gewissen  Grenze,  in  welche  Sechs  noch  fallen 
dürfte,  selbst  anschaulich  zu  erfassen.  Gäbe  es  nur  Verbindungs- 
relate  mit  zwei  Inferioren,  so  gehörten  zu  jeder  derartigen  Anzahl 
nur  um  1  weniger  Eelate  als  Inferiora,  Eelate  welche  zum  Teil 
aufeinander  aufgebaut  wären.  So  wären  3,  4  Komplexe  zweiter 
Ordnung,   nämlich    (1  +  1)  +  1   und    (1 -f  1) -f  (1 -f  1),    5   und   6, 


1  IQ  RtTDOLF    AmESEDER. 

eventuell  aber  auch  schon  4  Komplexe  dritter  Ordnung,  nämlich 

5=[(1  +  1)  +  (1  +  1)]  +  1,  6  =  [(1  +  1)  +  (1+1)]  +  (1  +  1)  oder 
[(1_|_1)  +  1]  +  [(1  +  1)  +  1]  U.S.W.  4  =  [(1  +  1)  +  1]  +  1;  somit 
wären  4,  5  und  6  schon  Komplexe  aus  Komplexen  aus  Komplexen. 
Daß  derartige  Gegenstände  höherer  Ordnung  dem  Erfassen  in  an- 
schaulicher Vorstellung  Schwierigkeiten  bereiten,  unterliegt  keinem 
Zweifel.  Keinesfalls  aber  wäre  dies  möglich,  ohne  daß  dem  Er- 
fassenden diese  Kompliziertheit  des  Erfaßten  zum  Bewußtsein 
käme;  dies  ist  aber  nicht  der  Fall.  Auch  schafft  die  Produktion 
der  Vorstellung  eines  Superius  keineswegs  die  Vorstellungen  der 
Inferiora,  sondern  setzt  diese  voraus;  sind  diese  selbst  fundiert 
so  können  auch  sie  nur  durch  produzierte  Vorstellungen  erfaßt 
werden.  Von  der  hierdurch  bedingten  Succession  der  VorsteUungs- 
produktionen  ist  beim  anschaulichen  Erfassen  der  Zahlen  5  und  6 
aber  keinesfalls,  wie  zu  erwarten  wäre,  etwas  zu  bemerken.  Das 
Erfassen  des  Superius  geschieht  vielmehr  in  Einem  mit  dem  der 
Inferiora;  erfaßt  die  Vorstellung  aber  nur  eines,  das  unmittelbar 
auf  die  Inferiora  aufgebaut  ist,  dann  muß  es  einen  derartigen 
Gegenstand  auch  geben,  da  nichts  erfaßt  werden  kann,  was  nicht 
Gegenstand  wäre. 

Somit  gibt  es  Verbindungsrelate ,  welche  nicht  nur  an  zwei, 
sondern  an  beliebig  vielen  Inferioren  vergegenständlicht  sein 
können.  Daß  Komplexe,  welche  solchen  Relaten  mitgegeben  sind 
und  eiije  bestimmte  Anzahl  diskreter  Inferiora  überschreiten,  an- 
schaulich nicht  erfaßbar  sind,  spricht  nicht  gegen  ilir  Vorhanden- 
sein. Was  erfaßbar  ist,  muß  allerdings  ein  Gegenstand  sein,  es 
kann  aber  wohl  Gegenstände  geben,  welche  nicht,  voUends  an- 
schaulich nicht  erfaßbar  sind. 


31.  Eigenschaften  der  Verbindungsgegenstände. 

Die  Inferiora  der  Verbindungsgegenstände  können  nicht  nur 
diskret,  sondern  auch  kontinuierlich  sein;  auch  was  stetig  inein- 
ander übergeht,  bildet  eine  Gesamtheit.  Da  alles  Kontinuierliche 
und  aUes  Diskrete  Inferius  eines  Verbindungsgegenstandes  sein 
kann,  sind  sie  hinsichtlich  ihrer  Inferiora  überhaupt  nicht  be- 
schränkt. Die  Verbiudungsgegenstände  der  stetigen  Inferiora 
bilden  jene  Superiora,   Avelche  Extensität   haben,   wie   Strecken, 


Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie.  119 

Flächen,  Körper  —  die  aber  daneben  noch  Gestalten  sind;  oder 
genaner:  mit  den  extensiven  Verbindung-sofegenständen  koinzidieren 
Gestalten,  da  sie  dnrch  dieselben  luferiora  fundiert  sind  wie  diese. 
Die  durch  diskrete  Inferiora  fundierten  Superiora  haben  aber 
keine  Extensität,  wie  z.  B.  alle  Zahlen. 

Alle  Verbindungsgegenstände  haben  Größe,  a  u  n  d  b  ist  mehr 
als  a,  mag  b  was  immer  für  ein  Gegenstand  sein.  Die  Größe  der 
durch  Diskretes  fundierten  ist  aber  eine  andere,  als  die  der  stetigen 
Verbindungsgegenstände ;  haben  die  diskreten  Inferiora  selbst  keine 
extensive  Größe,  bzw.  sind  sie  selbst  keine  extensiven  Superiora, 
so  sind  die  Verbin duugsgegenstände  die  Zahlen  dieser  Inferiora. 
Ihre  Größe  ist  somit  die  Zahlengröße;  die  Zahlenquanta  aber  ge- 
hören wohl  einem  Kontinuum  an,  keines  derselben  nimmt  aber  in 
einem  Kontinuum  eine  Strecke  ein. 

Was  die  Verbiudungsquanta  von  andern,  z.  B.  Verschieden- 
heitsquanten unterscheidet,  ist  ihre  sogenannte  Teilbarkeit. 
Unter  dieser  Bezeichnung  scheint  man  die  Möglichkeit  verstehen 
zu  müssen,  demselben  Superius  nach  Erfordernis  eine  bestimmte 
Anzahl  von  Inferioren  zuzuschreiben.  Jedes  dieser  Inferiora  ist 
eventuell  selbst  wieder  ein  teilbares  Quantum  usf.  Nun  können  die 
Inferiora  a,  b,  c,  d,  wie  erwähnt,  in  einem  einzigen  Relat  stehen  und 
dieser  Komplex  heiße  A ;  es  können  aber  auch  a,  b  einen  Komplex 
a  und  c,  d  einen  Komplex  ß  bilden ,  a  und  ß  zusammen  Inferiora 
eines  Komplexes  B  sein.  Es  ist  evident,  daß  A  nicht  derselbe 
Komplex  ist,  wie  B;  es  ist  ferner  evident,  daß  A  allemal  vier,  B 
zwei  Inferiora  hat,  und  nicht  beliebig  viele.  Dann  ist  A  aber 
auch  tatsächlich  nicht  durch  zwei  teilbar,  B  nicht  durch  vier. 
Die  einzige  hierhergehörige  Beziehung,  in  welcher  A  und  B  stehen, 
ist  die,  daß  die  Inferiora  von  A  mit  den  mittelbaren  Inferioren 
von  B  identisch  sind.  Da  jene  Fälle,  in  welchen  die  unmittelbaren 
Inferiora  zweier  andersartigen  Superioren  identisch  sind,  als  Koin- 
zidenz bezeichnet  wurden,  müssen  diejenigen,  in  welchen  die 
mittelbaren  Inferiora  eines  Komplexes  mit  den  mittelbaren  oder 
unmittelbaren  eines  anderen  Komplexes  identisch  sind,  mittel- 
bare Koinzidenzen  heißen.  Solche  Koinzidenz  liegt  bei  aUen 
Gleichungen  der  Mathematik  vor,  z.  B.  3-5  =  15  usw.  Ist  ein 
Komplex  von  m  Inferioren  durch  n  teilbar,  so  heißt  dies,  daß  mit 
ihm  ein  anderer  mit  n  Inferioren  mittelbar  koiuzidiert.    Dagegen 


120      Rudolf  Ameseder,  Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegeustandstheorie. 

sind  alle  mittelbar  oder  unmittelbar  koinzidierenden  Quanta  als 
solche  gleich,  d.  h.  sie  haben  g-leiche  Größe,  aber  verschiedene 
Qualität. 


32.  Das  Sein  der  Yerbindungsgegenstände. 

Die  Inferiora  der  Verbindungsgegenstände  können  zufällige 
und  notwendige,  aber  auch  unmögliche  Gegenstände  sein.  In  den 
beiden  ersten  Fällen  sind  die  8uperiora  natürlich  notwendig,  da 
sie  mit  den  vorgegebenen  Inferioren  bestehen  müssen,  oder  un- 
möglich, wenn  die  Inferiora  dem  Verbindungsobjektiv  nicht  zu- 
gehörig, sondern  bloß  zugeordnet  sind.  Die  nichtvergegenständ- 
lichten  Eelate  sind  natürlich  sämtlich  notwendig,  ebenso  die 
Kelationen;   die  Inferiora  als   solche  sind  mögliche  Gegenstände. 

Da  die  Verbindungsgegenstände  Quanta  sind,  kann  es  keinen 
derselben  geben,  der  keine  Größe  hat.  Ist  dies  somit  von  einem 
Verbindungsgegenstand  vorgegeben,  so  ist  er  ein  unmöglicher 
Gegenstand.  Ebenso  ist  das  Inferius,  von  welchem  vorgegeben 
ist,  daß  der  durch  dasselbe  und  einen  möglichen  Gegenstand  ge- 
bildete Verbindungskomplex  kleiner  sei  als  das  Quantum  des 
möglichen  Gegenstandes,  ein  unmöglicher  Gegenstand,  wofern 
nicht  Eichtungs-  oder  Gestaltrelate  in  bestimmter  Weise  an  der 
Komplexbildung  beteiligt  sind,  wie  dies  z.  B.  der  Fall  ist,  wenn 
ein  Weg  in  einer  Richtung  zurückgelegt  und  ein  Teil  dieses 
Weges  in  entgegengesetzter  Richtung  wiederholt  wird. 

Die  Verbindungsrelate  sind  aUemal  notwendig,  gleichviel  ob 
die  Inferiora  möglich  oder  unmöglich  sind,  wofern  sie  nur  die  den 
mitgegebenen  Relationen  zugehörigen  Gegenstände  sind;  sonst  sind 
sie  unmöglich.  Anders  scheint  es  bei  den  Komplexen  zu  sein,  da 
offenbar  ein  Ganzes  nicht  möglich  sein  kann,  wenn  seine  Teile 
nicht  möglich  sind.  Verbindungskomplexe  mit  durchwegs  unmög- 
lichen Inferioren  scheinen  somit  unmöglich  zu  sein ;  Ähnliches  wäre 
von  Komplexen  vorauszusetzen,  deren  Inferioren  teils  möglich,  teils 
unmöglich  siiid. 


in. 

Untersuchungen 

zur  Gegenstandstlieorie  des  Messens. 

Von 
Dr.  Ernst  Mallt. 

Inhalt. 

Seite 

Einleitung. 

§    1.  Begriff  der  Gegenstandstlieorie  des  Messens 122 

§    2.  Verhältnis  der  Gegenstandstlieorie  des  Messens  zur  Mathematik   .     124 

I.  Kapitel.    Allgemeine  Feststellungen^ 

§    3.  Über  Gegenstände  im  allgemeinen.     Objekt  und  Objektiv     .     .     .  126 

§    4.  Arten  des  Soseins.     Mögliche  und  unmögliche  Gegenstände  .     .     .  128 

§    5.  Arten  des  Seins.     Reale  und  ideale  Gegenstände 129 

§    6.  Momente  am  Soseinsobjektiv.     Sein  als  Bestimmung 130 

§    7.  Koinzidierende  Gegenstände.     Wassein  und  Wiesein 135 

§    8.  Explizite,  implizite  und  fiktive  Gegenstände 137 

§    9.  Qualitäten  an  Gegenständen  und  Qualitäten  zwischen  Gegenständen 

(Relationen) 141 

§  10.  Reale  und  ideale  Qualitäten 144 

§  11.  Implizite  Komplexionen  und   Komplexe.    Explizite  Komplexionen 

und  Komplexe,  die  mit  impliziten  wesentlich  koinzidiereu    .     .     .  147 
§  12.  Explizite  Komplexionen  und  Komplexe  überhaupt.    Meinongs  Koin- 
zidenzprinzip           149 

§  13.  Idealität  und  Realität  von  Komplexionen  und  Komplexen.     (Real- 
relationen)    loö 

§  14.  Mengen.    Der  Komplexionsgrad.    Die  Zahl 163 

§  15.  Homoiomere  Komplexe.    Das  Koutinuum 167 

II.  Kapitel.    Allgemeine  Charakteristik  der  Messungsobjekte. 

§  16.  Quantum  und  Quantität 170 

§  17.  Kriterium  der  Größe.     Die  Null 171 

§  18.  Größe  als  ideale  Eigenschaft 174 

III.  Kapitel.    Die  teilbaren  Quant a. 

§  19.  Teilbarkeit.    Die  Komplexe,  welche  Quanta  sind 175 


1^22  Ernst  Mally. 

§  20.  Grenzen  der  Kontinua 180 

§  21.  Die  Dimensionen 182 

IV.  Kapitel.     Die  unteilbaren  Quanta. 

§  22.  Anwendung  des  Kriteriums  der  Größe  auf  Unteilbares.    Reihen  .  190 

§  23.  Natur  der  unteilbaren  Quanta 191 

§  24.  Einfache  Quanta,  die  Qualitäten  au  Gegenständen  sind    ....  192 

§  25.  Einfache  Quanta,  die  Qualitäten  zwischen  Gegenständen  sind  .    .  19.5 

§  26.  Einfache  Quanta,  die  keine  echten  Qualitäten  sind 198 

V.  Kapitel.    Die  Messung  der  teilbaren  Quanta. 

§  27.  Koinzidenzgesetze  für  reine  Zahlen.   Direkte  Rechnungsoperatiouen  201 

§  28.  luverse  Operationen.    Erweiteruugen  des  Zahlgebietes     ....  206 

§  29.  Erhaltung  der  Operationsgesetze.    Gleichheit  von  Zahlen     .    .     .  211 

§  30.  Die  Mannigfaltigkeit  der  Zahlen.     Die  Zahlen  als  relative  Quanta  213 

§  31.  Die  Zuordnung  zwischen  teilbaren  Quantis  und  Zahlen    ....  216 

§  32.  Messen  als  Bestimmen  der  Größe 220 

§  33.  Messung  der  teilbaren  Quanta.    Meßbarkeit 221 

YI.  Kapitel.    Die  Messung  der  unteilbaren  Quanta. 

§  34.  Direkte  Zuordnung.    Meßbarkeit  einfacher  Quanta.    Grüßengesetze  227 
§  35.  Messung    der    Quanta,     die    Qualitäten    an    Gegenständen    sind. 

„Dimensionen" 231 

§  36.  Messung  der  Quanta,  die  Qualitäten  zwischen  Gegenständen  sind.  235 

§  37.  Messung  der  einfachen  Quanta,  die  keine  echten  Qualitäten  sind  244 

VII.  Kapitel.    Allgemeines  über  Messungsobjektive. 

§  38.  Allgemeine  Messungsobjektive.    Das  Wesen  des  Messens     .    .    .  247 

§  39.  Die  Größenreihe.    Ihre  Darstellung 251 

§  40.  Reine  Messungsobjektive.     Gegenstandstheorie  und  Mathematik    .  257 
§  41.  Determinierte   Messungsobjektive.     Theoretische    und   empirische 

Wissenschaft ...  260 


Eiuleitimg. 

§  1.    Begriff  der  Gegenstandstlieorie  des  Messens. 

Auf  den  Namen  der  Theorie  des  Messens  scheint  zunächst  die 
Lehre  vom  Messen  Anspruch  zu  haben,  also  ein  Wissenszweig-, 
dessen  Geg-enstand  das  Messen  wäre.  Messen  ist  nun  ein  Be- 
stimmen eines  Gegenstandes  hinsichtlich  seiner  Größe;  es  ist  im 
wesentlichen  ein  psychischer  Vorg-ang,  auf  eine  Erkenntnis 
abzielend.  —  darum  ein  Gegenstand  psychologischer  und  er- 
kenntnistheoretischer Forschung.  So  gewiß  indes  Psychologie 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  123 

und  Erkenntnistheorie  an  dem  Ausbau  einer  vollständigen  Lehre 
vom  Messen  beteiligt  sind,  so  wenig-  sind  sie  allein  imstande  ihn 
zu  leisten.  Denn  dem  psychischen  Vorg-ange  des  Messens  und  der 
durch  ihn  zu  gewinnenden  Erkenntnis  steht  noch  zweierlei  gegenüber, 
das  nicht  —  oder  doch  nicht  notwendig  —  psychisch  und  im  be- 
sondern kein  Erkennen  ist:  das  sind  einerseits  die  Gegenstände, 
die  gemessen  werden,  und  andererseits  die  Tatsachen,  die 
d  u  r  c  h  d  a  s  M  e  s  s  e  n  e  r  k  a  n  n  t  w  e  r  d  e  n  oder  doch  erkannt  werden 
sollen.  Jene  Gegenstände  des  Messens  zu  beschreiben  und  diese  durch 
Messen  zu  erkennenden  Tatsachen  systematisch  anzuführen  und  nach 
Möglichkeit  zu  erklären,  ist  die  Aufgabe  einer  Disziplin,  die  sich 
als  Gegen  Standstheorie  des  Messens  bezeichnen  läßt. 

Was  durch  Messen  zunächst  erfaßt  werden  soll,  ist  irgend 
eine  Tatsache,  z.  B.  daß  a  =  2  b  ist.  Eine  solche  Tatsache  bildet 
also  den  nächsten  Gegenstand  der  Messung;  nicht  in  dem  Sinne 
natürlich,  als  ob  sie  gemessen  würde,  sondern  als  dasjenige,  worauf 
die  im  Messen  zu  gewinnende  Erkenntnis,  und  damit  auch  der  psy- 
chische Vorgang  des  Messens  gerichtet  ist,  dessen  Verlauf  in  eben 
dieser  Erkenntnis  seinen  natürlichen  Abschluß  findet.  Eine  solche 
durch  Messen  zu  erfassende  Tatsache  heiße  ein  Messungsob- 
jektiv. —  Jede  Messung  findet  an  etwas  statt;  dieses  etwas, 
das  gemessen  wird,  ist  das  Objekt  des  Messens  oder  Messungs- 
objekt. Auch  ist  dasjenige,  wodurch  eine  Messung  ihr  Objekt 
bestimmt,  (die  Anzahl  der  Maßeinheiten)  ein  Objekt;  es  heiße 
bestimmendes  Objekt  im  Messungsobj  ekti ve.  Faßt  man  die 
Messungsobjektive,  die  Messungsobjekte  und  die  bestimmenden 
Objekte  in  Messungsobjektiven  unter  dem  Namen  der  Messungs- 
gegenstände zusammen,  so  ergibt  sich  für  die  hier  in  Angriif 
zu  nehmende  Theorie  die  Bestimmung:  Gegenstaudstheorie  des 
Messens  ist  die  Lehre  von  den  Messungsgegenständen.  Sie  könnte 
also  wohl  auch  Theorie  der  IMessungsgegenstände  heißen.  In- 
dessen habe  ich  für  die  gegenwärtige  Arbeit  einen  Titel  vorge- 
zogen, der  sie  sofort  als  einen  Beitrag  zur  Gegen stands- 
theorie  erkennen  läßt  und  mich  so  einer  allgemeinen  Charakte- 
ristik der  Natur  und  ^Methode  dieser  Untersuchung  überhebt. 

Die  Messungsgegenstände  sind  vorläufig  psychologisch  be- 
stimmt worden,  nämlich  durch  ihre  Relation  zum  psychischen  Vor- 
gange  des  Messens.     Damit  ist  festgelegt,  wovon  im  folgenden 


124  Ernst  Mally. 

gehandelt  werden  soll.  Die  Messungsgegenstände  gegenständ- 
lich zu  bestimmen,  kann,  soweit  es  möglich  ist,  nur  Ziel  einer 
gegenstandstheoretischen  Untersuchung  von  der  Art  der  vorliegen- 
den sein.  Bei  dieser  wesentlich  gegenstandstheoretischen  Aufgabe- 
Stellung  sollen  Probleme  der  Psychologie  und  der  Erkenntnistheorie 
des  Messens  nicht  prinzipiell  vermieden.  Hilfsmittel,  die  diese 
Wissenschaften  bieten,  wenn  nötig,  aufgesucht  werden. 


§  2.  Verhältnis   der  Gegenstands theorie   des  Messens 
zur  Mathematik. 

Gemessen  werden  Gegenstände,  die  Größe  haben.  Solche 
Gegenstände  werden  wegen  ihrer  Eigenschaft,  Größe  zu  haben 
wohl  auch  selbst  „Größen"  genannt.  In  diesem  Sinne  sind  also 
die  Objekte  des  Messens  „Größen".  Sie  gehören  daher  in  das  Ge- 
biet der  Mathematik,  die  ja  geradezu  als  „Wissenschaft  von  den 
Größen"  definiert  wird.  Die  Mathematik  handelt  aber  nicht  nur 
von  den  „Größen"  selbst,  sondern  noch  viel  mehr  von  den  Be- 
ziehungen zwischen  „Größen",  also  von  jener  Klasse  von  Gegen- 
ständen, die  oben  mit  dem  Namen  der  Messungsobjektive  bezeichnet 
worden  sind.  So  scheinen  alle  Messungsgegenstände  schon  in  der 
Mathematik  ihre  theoretische  Bearbeitung  zu  finden,  und  es  stellt 
sich  das  Bedürfnis  nach  reinlicher  Scheidung  zwischen  dieser 
Wissenschaft  und  der  Gegenstandstheorie  des  Messens  heraus.  — 
Eine  solche  Scheidung  wird  sich  im  Laufe  der  weiteren  Unter- 
suchung hoffentlich  mit  genügender  Schärfe  vollziehen  lassen.  Vor- 
läufig soll  nur  gezeigt  werden,  daß  Mathematik  und  Gegenstands- 
theorie des  Messens  verschiedene  Wissenschaften  sind,  und  zwar 
ihrem  Gegenstande  nach  und  besonders  nach  der  Behandlungsweise 
ihrer  Gegenstände. 

In  der  Mathematik  werden  Gegenstände,  die  Größe  haben, 
fingiert  d.  h.  angenommen,  und  dann  jene  Beziehungen  zwischen 
ihnen  untersucht,  die  sich  aus  der  Größennatur  und  aus  irgend- 
welchen weiteren  Voraussetzungen  über  die  Größenverhältnisse  der 
angenommenen  Objekte  ergeben.  Ein  Objekt  der  rechnenden 
Mathematik  kommt  also  nur  seiner  Größe  nach  oder  nur  als 
Quantum  in  Betracht.  Von  aUen  anderen  Eigenschaften  des 
Objektes  wird  abstrahiert;  ja  auch  die  dem  Quantum  wesentliche 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  125 

Eigenschaft ,  seine  Größe,  bleibt  ununtersucht.  Es  wird  nicht 
gefragft,  was  denn  die  Größe  sei,  nnd  ob  sie  etwa  in  anderen  Be- 
schaftenheiten  des  Objektes  ihren  Grnnd  habe;  es  genügt  zu  Be- 
ginn der  mathematischen  Untersuchung  durch  Angabe  eines  Kri- 
teriums festzusetzen,  was  mit  einer  „Größe"  oder  einem  Quantum 
gemeint  ist,  um  weiterhin  davon  handehi  zu  können.  Dem  gegen- 
über verhält  sich  die  Geometrie  insofern  anders,  als  sie  einerseits 
nicht  Quanta  schlechtweg,  sondern  r  ä  u  m  1  i  c  h  e  Quanta,  und  anderer- 
seits nicht  nur  räumliche  Quanta,  sondern  auch  Gestalten  des 
Eaumes  betrachtet. 

Während  also  die  Mathematik,  soweit  sie  tatsächlich  „Größen- 
lehre"  ist.  nur  Quanta  schlechtweg  und  daneben  nur  noch 
ßaumquanta  zu  Objekten  hat,  handelt  die  Gegenstandstheorie  des 
Messens  nicht  nur  von  Quantis,  sofern  sie  Quanta  sind,  d.  h.  nur 
ihrer  Größe  nach,  —  sondern  von  allen  jenen  Objekten,  die  zugleich 
Quanta  sind,  auch  ihren  anderen  Eigenschaften  nach.  In  der 
Mathematik  werden  die  Objekte,  seien  es  Quanta  oder  Raurage- 
stalten,  innerhalb  gewisser  Grenzen  frei  fingiert,  um  an  ihnen  ge- 
setzmäßige Beziehungen  zu  betrachten.  Diese  müssen  dann  in 
gleicher  AVeise  an  allen  Gegenständen  bestehen,  die  —  gleich- 
viel wie  sie  sonst  beschaffen  sein  mögen  —  nur  die  angenommenen 
Größen  oder  Gestalten  aufweisen.  Dagegen  sucht  die  Gegenstands- 
theorie des  Messens  aus  der  Gesamtheit  der  Gegenstände  —  sie 
mögen  übrigens  sein  oder  nicht  sein  —  jene  hervorzuheben,  die 
Größe  haben.  Sie  untersucht,  welche  andere  Eigenschaften  etwa 
ein  Gegenstand  haben  müsse,  damit  ihm  Größe  zukomme;  sie  fragt 
nach  dem  AA'eseu  der  Größe;  sie  macht  schließlich  jene  Tatsachen, 
welche  Mathematik  als  Objektive  au  ihren  Objekten  ermittelt  hat, 
ihrerseits  zum  Gegenstande  weiterer,  allgemeiner  Gedanken. 

Die  Theorie  der  Messungsgegenstände  ist  als  ein  Teil  der 
Gegenstandstheorie  ein  Stück  Philosophie.  Dagegen  ist  Mathe- 
matik keine  philosophische  Disziplin.  Das  zeigt  schon  die  Gegen- 
überstellung von  Mathematik  und  Philosophie  der  Mathematik. 
Was  nun  die  Mathematik  aus  der  engeren  Gnippe  der  philo- 
sophischen Wissenschaften,  trotz  unverkennbarer  Ähnlichkeiten 
mit  diesen,  ausschließt,  unterscheidet  sicher  auch  die  Mathematik 
von  der  Gegenstandstheorie  des  Messens.  Gelegenheit,  es  nach- 
zuweisen, wird  sich  im  folgenden  noch  bieten. 


■^2Q  Ernst  Mally. 

Die  Eigenart  gegenstandstheoretischer  Forschung  bringt  es 
mit  sich,  daß  auch  ein  spezielleres  Gebiet  der  Gegenstandstheorie 
nicht  anders  zu  behandeln  und  darzustellen  ist,  als  von  den  all- 
gemeinsten zugänglichen  Gesichtspunkten,  daher  unter  Voraus- 
setzung der  wichtigsten  Tatsachen  der  allgemeinen  Gegen- 
standstheorie. Bei  dem  gegenwärtigen  Stande  dieser  Wissen- 
schaft erwuchs  daraus  für  den  Bearbeiter  eines  solchen  Spezialge- 
bietes die  Aufgabe,  das  Erforderliche  an  allgemeiner  Gegenstands- 
theorie vom  Grunde  auf  auch  darzustellen,  da  eine  solche  Dar- 
stellung zur  Zeit  der  Abfassung  dieser  Arbeit  der  Öffentlichkeit 
noch  nicht  vorgelegen  hat.  Dieser  Aufgabe  nach  Kräften  zu  genügen, 
habe  ich  den  messungstheoretischen  Untersuchungen  die  „allge- 
meinen Feststellungen"  des  ersten  Kapitels  vorangeschickt. 


I.  Kapitel. 
Allgemeine  Feststelhmgeu. 

3.   Über   Gegenstände  im   allgemeinen.     Objekt  und 

Objektiv. 

Alles,  was  etwas  ist,  heißt  ein  Gegenstand.^)  — 
Das  Gebiet  der  Gegenstände  umfaßt  also  schlechthin  alles,  ohne 
Rücksicht  darauf,  ob  es  gedacht  oder  nicht  gedacht,  oder  ob  es 
überhaupt  denkbar  ist.  Insbesondere  ist  es  auch  nicht  eine  Be- 
stimmung des  Gegenstandes,  daß  er  ist,  also  existiert  oder  besteht. 
Jeder  Gegenstand  ist  etwas,  aber  nicht  jedes  Etwas  ist. 

Jeder  Gegenstand  ist  entweder  oder  er  ist  nicht.  Aber 
jeder  Gegenstand  ist  irgendwie  beschaffen.  Es  hat  also  jeder 
Gegenstand,  gleichviel  ob  seiend  oder  nicht  seiend,  ein  Sosein. 
Das  S  0  s  e  i  n  eines  Gegenstandes  ist  unabhängig  von 
dessen  Sein.  —  Ein  allwissender  Mensch  z.  B.  ist  allwissend, 
auch  wenn  er  nicht  existiert;  die  Gerade  ist  die  Linie  kon- 
stanter Richtung,-)  auch  wenn  sie  nicht  existiert;   Gleichheit 


^)  Die  Bedeutung  des  "Wortes  „Gegenstand",  die  obiger  Definition  zugrunde 
liegt,  ist  auch  von  Meinong  (in  seinem  Erkenutnistheoriekolleg  des  Wintersemesters 
1903/4)  hervorgehoben  worden. 

*)  Vgl.  A.  Höfler,  Zur  Analyse  der  Vorstellungen  von  Abstand  und  Richtung. 
Ztschrft.  f.  Psychol.  und  Physiol.  der  Sinnesorg.  Bd.  X.  S.  230. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  127 

zwischen  zwei  Brüdern  ist  Gleichheit  und  irgendwie  beschaffen, 
so  daß  sie  sich  von  Verschiedenheit  Ähnlichkeit  und  allem  andern 
unterscheidet,  auch  wenn  sie  nicht  besteht. 

Das  Sosein  ist  (wie  jeder  Gegenstand)  ein  Gegenstand,  auch 
wenn  es  nicht  besteht  (d.  h.  ist).  Diese  Unabhängigkeit  vom  Sein 
hat  es  mit  allen  anderen  gemein.  Auch  das  Sein  irgend  eines 
Gegenstandes  ist  ein  Gegenstand,  unabhängig  davon,  ob  dieser 
Gegenstand  und  damit  auch  das  Sein  selbst  ist,  d.  h.  tatsäch- 
lich ist,  oder  nicht.  Neben  dieser  allgemeinen  Unabhängigkeit 
der  Gegenstandsnatur  oder  des  Gegenstandseins  (Etwas-seins)  vom 
Sein  hat  aber  das  Sosein  noch  die  besondere  Unabhängigkeit,  daß 
es  sein  kann,  obwohl  sein  Gegenstand  nicht  ist.  Dadurch  unter- 
scheidet es  sich  wesentlich  vom  Sein  eines  Gegenstandes.  Dieser 
Gegensatz  zwischen  Sein  und  Sosein  läßt  sich  folgendermaßen 
formulieren:  Das  Sein  eines  Gegenstandes  ist,  wenn  der  Gegen- 
stand ist;  das  So  sein  eines  Gegenstandes  ist  in  seinem  Sein 
vom  Sein  des  Gegenstandes  unabhängig. 

Die  Unabhängigkeitsbeziehung  zwischen  Sosein  und  Sein  ist 
nicht  rein  umkehrbar  :DasSein  eines  Gegenstandes  istvon 
dessen  S  o  s  e  i  n  nicht  unabhängig.  Es  genügt  zum  Erweise 
die  Tatsache  zu  konstatieren,  daß  etwas  eventuell  nicht  sein  kann, 
weil  es  ein  So  sein  hat,  das  sein  Sein  ausschließt.  Dies  ist  bei 
jedem  Gegenstande  mit  widersprechenden  Bestimmungen  der  Fall. 
Das  „runde  Viereck"  ist  nicht,  weil  es  rund  und  viereckig  ist. 

Sein  und  Sosein  werden  von  MEiNONa^)  als  Objektive 
bezeichnet  und  allen  anderen  Gegenständen  als  Objekten  im 
engern  Sinne  gegenübergestellt.  Jeder  Gegenstand,  der  nicht 
Objektiv,  d.  h.  Sein  oder  Sosein  ist,  ist  also  ein  Objekt  im 
engern  Sinne.  Dagegen  können  alle  Gegenstände  überhaupt 
als  Objekte  im  w e i t e r n  Sinne  bezeichnet  werde n. 

Ein  Gegenstand,  der  ist,  ist  das  Objekt  seines  Seins;  ein 
Gegenstand,  der  nicht  ist,  das  Objekt  seines  Nichtseins.^)  Ein 
Gegenstand,  der  irgendwie  ist,  oder  der  so  ist,  ist  das  Objekt 
seines  Soseins.  —  Als  Objekt  eines  Seins  oder  eines  Soseins  kann 
auch  ein  Objektiv  auftreten.     Wenn  z.  B.  das  Sein  des  A  ist, 


^)  Meinong,  über  Annahmen.     Kap.  VIT. 

^)  Das  Nichtsein  ist  wie  das  Sein  ein  Seiusobjektiv. 


j[28  Ernst  Mallt. 

SO  ist  das  Sein  des  A  das  Objekt  eines  Seinsobjektives.  Wenn 
das  Sosein  des  A  ist  oder  besteht,  so  ist  das  Sosein  des  A  das 
Objekt  eines  Seinsobjektives.  Aber  das  Sein  ist  auch  als  Objekt 
eines  (andern)  Objektives  gleichwohl  ein  Sein,  also  ein  Objektiv, 
ebenso  das  Sosein  auch  als  Objekt  eines  (andern)  Objektives  ein 
Sosein,  also  ein  Objektiv.  Ein  Objektiv  als  Objekt  eines  andern 
Objektives  heiße  ein  „Objektiv  in  Obj  ektst eilung-."  ^) 

§  4.  Arten  des  Soseins.    Mögliche  und  unmög-liche 
Gegenstände. 

Ein  Sosein,  dessen  Bestand  (Sein)  das  Sein  seines 
Objektes  ausschließt,  heißt  ein  widersprechendes 
S  OS  ein.  Aus  der  Bestimmung  des  widersprechenden  Soseins 
ergibt  sich,  daß  ein  Gegenstand  mit  widersprechendem  Sosein  nicht 
sein  kann.  Ein  solcher  Gegenstand  heiße  ein  unmöglicher 
Gegenstand.  Ein  unmöglicher  Gegenstand  ist  z.  B.  ein  rundes 
Viereck.  Es  kann  nicht  sein,  weil  es  rund  und  viereckig  ist; 
sein  Sosein  schließt  also  sein  Sein  aus,  es  ist  widersprechend. 
Jeder  Gegenstand,  dessen  Sosein  sein  Sein  nicht  ausschließt,  kann 
sein;  er  heiße  darum  ein  möglicher  Gegenstand.  Möglich 
sind  also  alle  Gegenstände  mit  nicht  widersprechendem 
S  0  s  e  i  n. 

Ein  Sosein  ist  —  wie  irgend  ein  anderer  Gegenstand  — 
unmöglich,  wenn  es  ein  Sosein  hat,  dessen  Bestand  sein  Sein 
ausschließt  (also  wenn  es  ein  widersprechendes  Soseiu  hat).  Ein 
widersprechendes  Sosein  eines  Soseins  ist:  einen  Gegenstand 
zu  haben,  der  nicht  so  ist.  So  ist  das  Rundsein  eines  Vier- 
eckigen, d.  h.  eines  Gegenstandes,  der  viereckig  ist,  ein  unmög- 
liches Sosein.  Denn  es  hat  seinerseits  das  widersprechende 
Sosein:  das  Rundsein  von  etwas  zu  sein,  das  nicht  rund  ist. 
Das  Rundsein  des  Viereckigen  ist,  als  ein  unmögliches  Sosein, 
von  dem  Rund-  und  Viereckigsein  des  „runden  Viereckes"  wohl 
zu  unterscheiden.  Denn  dieses  letztere  ist  zwar  ein  wider- 
sprechendes,  aber   kein    unmögliches  Sosein.     Unmöglich 


')  AVesentlich  Übereinstimmendes  in  Meinongs  schon  zitiertem  Erkenntnis- 
theoriekolleg. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  129 

ist  nur,  daß  ein  Viereck  rund  sei,  dagegen  ist  nicht  unmög-lich, 
sondern  vielmehr  notwendig-,  daß  ein  rundes  Viereck  rund  und 
viereckig  sei.  —  Mit  dem  So  sein  des  unmöglichen  Gegenstandes 
dürfen  fernerauch  seine  Qualitäten  nicht  verwechselt  werden.^) 
An  dem  unmöglichen  Gegenstande,  der  selbst  nicht  besteht,  be- 
stehen auch  seine  Qualitäten  nicht.  Es  besteht  zwar,  daß  das 
runde  Viereck  rund  und  viereckig  ist  (d.  h.  sein  Sosein); 
allein  die  Qualität  der  Kreisgestalt  und  die  Qualität  der 
Vierecksgestalt  besteht  an  diesem  Gegenstande  nicht,  und 
die  Gesamtqualität  des  unmöglichen  Gegenstandes,  die  man  etwa 
„Viereckig-Eundheit"'  nennen  könnte,  besteht  überhaupt  nicht. 


Es  gibt  zwei  charakteristisch  verschiedene  Arten  des  Seins, 
die  von  Meinong-  unter  den  Bezeichnungen  „Existenz"  und 
„Bestand"  auseinandergehalten  werden.-)  Zu  ihrer  Unter- 
scheidung lassen  sich  nicht  direkte  Merkmale  anführen.  Indes 
sind  sie  dadurch  indirekt  gekennzeichnet,  daß  Existenz  nur 
aposteriorischer  Erkenntnis  (durch  Erfahrung),  Bestand  apriorischer 
Erkenntnis  zugänglich  ist.  Nach  der  Art  des  Seins,  dessen  ein 
Gegenstand  fähig  ist,  können  die  Gegenstände  in  reale  und 
ideale  eingeteilt  werden. 

Von  den  möglichen  Gegenständen  sind  alle,  die 
existieren  können,  real.  Real  ist  also  alles,  dessen  Sosein 
seine  Existenz  nicht  ausschließt.  Daher  zunächst  alles  Wirk- 
lich e :  ein  Haus,  das  existiert,  ein  Gefühl,  das  existiert,  irgend  ein 
Vorgang,  der  sich  „wirklich"  ereignet.  Real  ist  aber  auch  dasjenige 
Nichtwirkliche,  das  seiner  Natur  nach,  d.  h.  seinem  Sosein  nach, 
existieren   (oder  wirklich   sein)   könnte:  z.  B.  der  „goldene  Berg". 

Von  den  möglichen  Gegenständen  sind  alle,  die 
nicht  existieren  können,  ideal.  Ideale  Gegenstände  be- 
stehen entweder,  oder  können  bestehen.  Ideal  ist  also  alles, 
dessen  Sosein  seine  Existenz  (nicht  aber  seinen  Bestand)  aus- 
schließt.    Das  Möglichsein  eines  idealen  Gegenstandes  ist  Fähig- 

')  Näheres  darüber  in  §  9.   Vorläufig  genügt  zur  Unterscheidung  das  Beispiel. 
^)  Vgl.  zu   diesem  §  Meinong,   Über  Gegenstände   höherer  Ordnung  etc., 
Ztschr.  f.  Psychol.  Bd.  XXI,  insbes.  S.  198  ff. 

Meinong,  Untersuchungen.  9 


130 


Ernst  Mally. 


•keit  zu  bestehen.  —  Verschiedenheit,  Ähnlichkeit,  die  Tatsache, 
daß  3  -f-  2  =  5  ist,  können  ihrer  Natur  nach  nicht  existieren ;  aber 
Verschiedenheit  und  Ähnlichkeit  kann  bestehen,  und  die  Tat- 
sache, daß  3  +  2  =  5  ist,  besteht  notwendig.  Ebenso  besteht 
notwendig  Verschiedenheit  zwischen  Blau  und  Grün,  Ähnlichkeit 
zwischen  denselben  Gegenständen. 

Die  hier  nur  auf  die  möglichen  Gegenstände  eingeschränkten 
Bestimmungen  der  Kealität  und  Idealität  ließen  sich  mit  geringen 
Modifikationen  auch  auf  die  unmöglichen  ausdehnen.  Da  sich 
jedoch  zu  jeder,  noch  so  allgemeinen  Gesetzmäßigkeit  immer  eine 
unendliche  Anzahl  unmöglicher  Gegenstände  finden  läßt,  die  sich 
ihr  nicht  fügen,  scheint  mir  eine  Einbeziehung  der  unmöglichen 
Gegenstände  in  ihrer  Gesamtheit  nur  von  geringem  "Werte  zu  sein. 

§  6.  Momente  am  So  s  eins  objektiv.    Sein  als 
B  e  s  t  i  m  m  u  n  g.  ^) 

Das  Soseinsobjektiv  hat  einen  Gegenstand,  den  es  bestimmt. 
Der  Gegenstand,  den  ein  Soseinsobjektiv  bestimmt, 
heiße  sein  Objekt  oder  sein  Bestimm ungsgegeustand. 

Jedes  Soseinsobjektiv  bestimmt  sein  Objekt  durch  einen 
Gegenstand,  welcher  der  bestimmende  Gegenstand  des 
Objektives  heiße. 

Das  Sosein  selbst  kann  auch  als  Bestimmung  seines  Ob- 
jektes bezeichnet  werden.  —  In  dem  Soseinsobjektiv,  das  durch 
das  Urteil  oder  die  Annahme  „dieses  Ding  ist  ein  Hebel"  erfaßt 
wird,  ist  der  als  „dieses  Ding"  bezeichnete  Gegenstand  der  Be- 
stimmungsgegenstand, Hebel  der  bestimmende  Gegenstand,  das 
Hebelsein  dieses  „Dinges"  seine  Bestimmung.  In  dem  Soseins- 
objektiv: „der  Himmel  ist  blau",  ist  Himmel  der  Bestimmungs- 
gegenstand, blau  der  bestimmende  Gegenstand,  das  Blausein  des 
Himmels  seine  Bestimmung. 


*)  In  diesem  und  den  nächstfolgenden  Paragraphen  sollen  einige  allgemeine 
Gruppen  von  Gegenständen  nach  ihrem  Wesen  und  nach  ihren  wichtigsten  Be- 
ziehungen charakterisiert  werden.  Mit  Rücksicht  auf  diese  Aufgabe  und  auf 
die  wesentlichen  Vereinfachungen,  die  sich  aus  ihrer  allgemeinen  Bearbeitung  für 
die  spätere  Behandlung  speziellerer  Probleme  ergeben ,  mag  auch  die  Menge  von 
definitorischen  und  terminologischen  Festsetzungen  in  diesen  Abschnitten  ent- 
schuldigt werden. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  131 

Der  bestimmende  Geis:enstand  steht  dem  Sosein  in  charakte- 
ristisch anderer  "Weise  g-eg-enüber  als  der  Bestimmungsg-egenstand. 
Kr  befindet  sich  nicht  in  Objektsposition  zum  Sosein  und  kann 
darum  auch  nicht  ,. Objekt"  oder  „Gegenstand"  des  Soseins  ge- 
nannt werden.  Er  macht  viehnehr  gleichsam  einen  Teil  des  So- 
seins aus,  und  steht  im  Objektiv  dem  Bestimmungsgegenstande 
(oder  dem  Objekte  des  Objektivs)  gegenüber.^)  Der  bestimmende 
Gegenstand  im  Sosein  kann  darum,  sofern  er  ein  Objekt  (d.  h. 
kein  Objektiv)  ist,  als  ein  „Objekt  in  Objektivstellung" 
bezeichnet  werden  und  bildet  so  ein  Gegenstück  zum  Objektiv, 
das  als  Gegenstand  eines  (anderen)  Objektives  oben")  „Objektiv 
in  Objektstellung"  genannt  wurde. 

Das  Sosein  (oder  die  Bestimmung)  ist  eine  Eigenschaft 
des  Gegenstandes,  den  es  bestimmt.  Der  durch  sein  Sosein 
bestimmte  Gegenstand  heiße  der  Eigen scha ft sgegen- 
stand  des  Soseins.  —  Der  Eigenschaftsgegenstand  ist  seinem 
Bestiramungsgegenstande  gegenüber  (relativ)  bestimmt  (er  ist  der 
Bestimmungsgegenstand  mit  der  Eigenschaft  des  Soseins);  der 
Bestimmungsgegenstand  ist  seinem  Eigenschaftsgegenstande  gegen- 
über (relativ)  unbestimmt  (ihm  felilt  noch  die  Bestimmung  des 
Soseins).  Z.  B.:  Dieses  Ding  ist  ein  Hebel.  Das  Hebelsein  ist 
eine  Eigenschaft  dieses  Dinges.  Dieses  Ding,  das  ein  Hebel 
ist,  ist  der  Eigenschaftsgegenstand  der  Bestimmung  Hebelsein. 
Es  ist  gegenüber  dem  Gegenstande  „dieses  Ding"  (relativ)  be- 
stimmt; das  letztere,  als  der  Bestimmungsgegenstand,  ihm  gegen- 
über (relativ)  unbestimmt. 

Bestimmungsgegenstand  kann  jeder  Gegenstand  sein,  insbe- 
sondere auch  ein  Gegenstand,  der  Eigenschaftsgegenstand  (eines 
anderen  Soseins)  ist.  Ein  A,  das  B  ist,  ist  ein  Eigenschafts- 
gegenstand. Derselbe  Gegenstand  kann  nun  Bestimmungsgegen- 
stand in  einem  Soseinsobjektive  sein:  A,  das  B  ist,  ist  C,  usf.  ohne 
Ende.  Da  also  der  Eigenschaftsgegenstand  eines  Soseins  außer 
der  Bestimmung  durch  dieses  Sosein  (in  dem  eben  charakterisierten 
Falle)  noch  mehrere  Eigenschaften  haben  kann,  so  heiße  die  Be- 


^)  Im  Objektiv  „A  ist  B"'  steht  das  „ist  ß"  (oder  das  B-sein)  und  darin  auch 
das  B  dem  A  so  gegenüber,  wie  im  Seinsobjektiv  „A  ist"  das  „ist"  (oder  das  Sein). 
«)  §3. 

9* 


]^32  Ernst  Mally. 

Stimmung,  deren  Eigenschaftsg-egenstand  er  ist,  seine  Haupt- 
eigeuschaft  (zum  Unterschiede  von  den  übrigen  Eigenschaften). 
Z.  B.:  Dieses  Ding,  das  ein  Hebel  ist.  ist  schwer.  Das  Schwer- 
sein ist  Haupteigenschaft  ihres  Eigenschaftsgegenstandes:  „hebel- 
seiendes Ding,  das  schwer  ist".  Haupteigenschaft  des  Eigen- 
schaftsgegenstandes „dieses  Ding,  das  ein  Hebel  ist"  ist  dagegen 
das  Hebelsein. 

Eine  Bestimmung,  deren  Bestimmungsgegenstand  vollständig 
unbestimmt  ist,  heiße  eine  reine  Bestimmung.^) 

Ein  Eigenschaftsgegenstand ,  dessen  Bestimraungsgegenstand 
vollständig  unbestimmt  ist,  heiße  ein  reiner  Eigeuschäfts- 
gegenständ. 

Eine  Bestimmung,  deren  Bestimmungsgegenstand  ein  irgend- 
wie bestimmter  Gegenstand''')  ist,  heiße  eine  determinierte 
Bestimmung.  Ihr  Eigenschaftsgegenstand  ist  ein  d e ter- 
minier ter  Eigenschaf  tsge  genstand. 

Die  Bestimmung  eines  reinen  Eigenschaftsgegenstandes  (die 
seine  Haupteigenschaft  ist)  heiße  (insbesondere)  eine  Grund- 
eigenschaft. 

Eine  reine  Bestimmung  ist  z.  B.:  „daß  etwas  B  ist"  oder  das 
„B-sein  von  etwas"  oder  „B-sein"  sclüechthin.^)  Ein  reiner  Eigen- 
schaftsgegenstand ist  „etwas,  das  B  ist",  z.  B.  „etwas,  das  rot  ist" 
oder  „etwas  Kotes".  Determinierte  Bestimmungen  sind:  „daß  A 
B  ist"  oder  das  „B-sein  des  A",  z.  B.  „daß  dieser  Körper  eine 
Kugel  ist"  oder  das  Eundsein  dieses  Körpers.  Ein  determinierter 
Eigenschaftsgegenstand  ist:  „A  welches  B  ist",  z.  B.  „dieser  Körper, 
der  eine  Kugel  ist." 

Bestimmungsgegenstand,  bestimmender  Gegenstand  und  Eigen- 
schaftsgegenstand sollen  unter  der  Bezeichnung  der  „Momente  am 
Soseinsobjektiv"  zusammengefaßt  werden. 

Auch  das  Sein  kann  Bestimmung  eines  Gegenstandes,  und 
insofern,  im  weitesten  Sinne  des  Wortes,  eine  Eigenschaft  sein. 


^)  Der  Bestimmungsgegenstand  einer  reinen  Bestimmimg  ist  selbst  nicht 
Eigenschaftsgegenstand  —  und  zwar,  wie  mit  Rücksicht  auf  Festsetzungen  in 
§  8  gleich  bemerkt  werden  mag,  weder  expliziter,  noch  auch  impliziter  Eigeu- 
schaftsgegenstand. 

*)  Also  expliziter  oder  impliziter  Eigenschaftsgegeustand  (vgl.  unten,  §  8). 

')  Ebenso  auch  „Sein  von  etwas"  und  „Sein"  schlechthin  (vgl.  weiter  unten). 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  133 

Als  Bestimmiing-  des  durch  das  Sein  bestimmten  Eigenschafts- 
gegenstandes ist  es  vom  (tatsächlichen)  Sein  des  Bestimmungs- 
gegenstandes unabhängig.  Durch  das  Objektiv  ,,A  ist"  ist 
der  Eigenschaftsgegenstand  ,,A,  welches  ist"  oder  „seiendes  A"  ge- 
geben. Wenn  auch  A  (der  Bestimmungsgegenstand)  tatsächlich 
nicht  ist,  so  ist  doch  tautologisch  feststehend,  daß  das  Sein  des 
Eigenschaftsgegenstandes  „seiendes  A"  besteht,  —  Durch  ein 
Urteil:  „das  seiende  A  ist"  ist  über  das  (tatsächliche)  Sein  oder 
Nichtsein  von  A  (des  Bestimmungsgegenstandes)  ebensowenig  ge- 
urteilt wie  durch  das  hypothetische  Urteil:  „wenn  A  ist,  so  ist 
es".  —  Es  besteht  eine  Analogie  zwischen  Sein  und  Sosein  als 
Bestimmungen.  Das  Sein  des  nichtseienden  A  ist  ein  unmög- 
liches Objektiv  oder  eine  unmögliche  Bestimmung  wie  das 
Kundsein  des  Nichtrunden  oder  des  Viereckigen.  Aber  das  „Sein 
und  Nichtsein"  des  „A,  welches  ist  und  nicht  ist"  besteht, 
ebenso  wie  das  „Rund-  und  Viereckigsein"  des  ,,A,  welches  rund 
und  viereckig  ist,"  Eben  weil  das  A  ein  seiendes  und  nicht- 
seiendes  A  ist,  ist  es  ein  unmöglicher  Gegenstand.  Das  Sein 
und  Nichtsein  des  „A,  welches  ist  und  nicht  ist"  ist  zwar  eine 
widersprechende,  aber  keine  unmögliche  Bestimmung  —  so 
wie  das  Rund-  und  Viereckigsein  des  „runden  Viereckes". 

Es  gilt  demnach  allgemein  (für  Seins-  und  Soseinsobjektive): 
Die  Bestimmung  des  Eigen  Schaftsgegenstandes  be- 
steht.^) A,  welches  ist,  ist:  das  Sein  des  seienden  A  besteht; 
A,  welches  B  ist,  ist  B:  das  B-sein  des  B-seienden  A  besteht;  A^ 
welches  ist  und  nicht  ist,  ist  und  ist  nicht:  das  „Sein-  und  Nicht- 
sein" des  „A,  welches  ist  und  nicht  ist"  besteht;  A,  welches  B 
und  nicht-B  ist,  ist  B  und  nicht-B:  das  „B-  und  nicht-B-sein"  des 
„A,  w^elches  B  und  nicht-B  ist"  besteht.  Der  Satz,  daß  die 
Bestimmung  des  Eigenschaftsgegenstandes  besteht,  ist  tauto- 
logisch. 

Ist  die  Bestimmung  widersprechend,  so  ist  der  Eigen- 
schaftsgegenstand  unmöglich;   seine   Haupteigenschaft   ist   ein 


')  Der  oben,  in  §  3,  bemerkte  Gegensatz  zwischen  Sein  und  Sosein  bezüg- 
lich der  Abhängigkeit  vom  Sein  des  Gegenstandes  besteht  gleichwohl.  Denn 
das  S 0 s e i n  eines  unmöglichen ,  daher  nichtseienden  Gegenstandes  besteht; 
das  Sein  eines  unmöglichen  oder  nichtseienden  Gegenstandes  bestehtnicht, 
denn  es  ist  selbst  unmöglich. 


j^34  Eenst  Mallt. 

unmögliches  Objektiv  am  Bestimmungsgegenstande. 
Ein  „A,  welches  ist  und  nicht  ist''  ist  unmöglich;  seine  Haupt- 
eigenschaft, ..daß  es  ist  und  nicht  ist",  ist  ein  unmögliches  Ob- 
jektiv am  Bestimmungsgegenstande  A  (aber  ein  be- 
stehendes am  Eigenschaftsgegenstande  ,,A,  welches  ist  und 
nicht  ist").  Für  den  Fall  des  Soseins  gelten  die  analogen  Bei- 
spiele. \) 

Von  der  Tatsache,  daß  auch  eine  widersprechende  Be- 
stimmung an  ihrem  Eigenschaftsgegenstande  besteht,  sein  Sein 
aber  ausschließt,  indes  sie  einem  bestehenden  Bestimmungs- 
gegenstande gegenüber  selbst  ein  unmöglicher  Gegenstand  ist, 
macht  die  Erkenntnis  häufigen  und  wichtigen  Gebrauch.  In  vielen 
Untersuchungen  —  z.  B,  in  mathematischen,  bei  Überprüfung 
wissenschaftlicher  Hypothesen  auf  ihre  ,.innere"  Haltbarkeit,  usw. 
—  ist  die  Frage  zu  beantworten,  ob  ein  Gegenstand,  der  ge- 
gebenen Bedingungen  genügt,  d.  h.  ein  Eigenschaftsgegenstand  von 
gegebener  Haupteigenschaft,  bestehe  oder  nicht.  Der  "Widerspruch 
in  der  Bestimmung  ist  häufig  nicht  direkt  erkennbar.  In  solchen 
FäUen  wird  von  der  gegebenen  Haupteigenschaft  des  in  Frage 
stehenden  Gegenstandes  auf  andere,  notwendig  mitgegebene  Be- 
stimmungen, d.  h.  aus  dem  Bestände  der  ersteren  auf  den  Be- 
stand der  letzteren  geschlossen.  Wird  nun  das  Widersprechende 
(oder  die  Widerspruchslosigkeit)  der  Bestimmung  evident,  so  ist 
auch  die  Unmöglichkeit  (oder  die  Möglichkeit)  des  Eigenschafts- 
gegenstandes erwiesen.  Ist  andererseits  von  einem  Gegenstande 
A  bekannt,  daß  er  besteht,  und  es  handelt  sich  darum,  diesen 
Gegenstand  (a  priori)  näher  zu  bestimmen  (z.  B.  die  Wurzeln 
einer  Gleichung,  von  der  es  ihrer  Natur  nach  mögliche  Lösungen 
geben  muß,  nach  ihrem  Vorzeichen  u.  dgl.),  so  geschieht  dies  häufig 
in  folgender  Form:  „Wäre  A  B,  so  wäre  A  auch  C  usf.  Dann  wäre 
A  auch  X ;  wenn  aber  A  X  wäre,  so  wäre  es  unmöglich.  Nun  ist 
A  möglich:  also  ist  A  nicht  B."  Die  Bestimmung,  daß  A  nicht 
B  ist,  genügt  nun  häufig  (z.  B.  im  oben  herangezogeneu  FaUe  der 
Frage  nach  dem  Vorzeichen  einer  Zahl).  Oder  es  wird  ge- 
schlossen :   „Wäre  A  nicht  B ,  so  wäre  es  M Dann  wäre  es 


')  Eine  Anwendung  dieser  wohl  leicht  unfruchtbar  erscheinenden  Fest- 
stellungen wird  sich  später,  z.  B.  in  Kap.  V,  §  29  ergeben. 


Ziir  Gegenstandstheorie  des  Messens.  135 

auch  Y;  wenn  aber  A  Y  wäre,  so  wäre  es  unmöglich  usw.:  also 
ist  A  tatsächlich  B."  Der  „Irrealis"  dieser  hj'pothetischen 
Schlüsse  drückt  aus,  daß  dem  gemeinten  Gegenstande  A  die  an- 
genommenen Bestimmungen  (B,  bzw.  nicht  B  zu  sein)  nicht  tat- 
sächlich (also  urteilsweise)  zugeschrieben  werden.^)  Gegen- 
ständlich aber  liegt  die  Tatsache  vor,  daß  ein  Eigenschafts- 
gegenstand A  mit  der  Bestimmung  B,  (bzw.  nicht  B)  zu  sein,  un- 
möglich, daher  nicht  der  gemeinte  bestehende  Gegenstand  A  ist : 
an  diesem  bestehenden  A  ist  die  fragliche  Bestimmung  unmöglich, 
daher  ihr  kontradiktorisches  Gegenteil  notwendig.  —  Die  Wichtig- 
keit des  „indirekten  Beweises"  ist  ein  Zeugnis,  daß  die  un- 
möglichen Gegenstände  nicht  nur  für  die  Gegenstandstheorie, 
sondern  auch  für  die  Praxis  der  Erkenntnis  von  ganz  bedeutendem 
Interesse  sein  können. 

§  7.  Koinzidierende  Gegenstände.    Wassein  und 

W  i  e  s  e  i  n. 

Alle  Gegenstände,  die  Bestimmungen  oder  be- 
stimmende Gegenstände  desselben  Gegenstandes 
sind,  bilden  ein  System  koinzidierender  Gegen- 
stände; sie  heißen  koinzidierende  Gegenstände  eines 
Systemes.  Jeder  Gegenstand  kann  durch  sich  selbst  bestimmt 
werden;  der  Bestimmungsgegenstand  kann  also  immer  als  be- 
stimmender Gegenstand  seiner  selbst  auftreten  und  gehört  darum 
dem  Systeme  der  koinzidierenden  Gegenstände,  deren  Bestimmungs- 
gegenstand er  ist,  auch  au.  Bestehen  z.'  B.  die  Objektive:  A 
ist  eine  Kugel,  und:  A  ist  rot,  so  sind  Kugelsein  und  Rotsein  als 
Bestimmungen,  Kugel  und  rot  als  bestimmende  Gegenstände,  end- 
lich A  als  Bestimmungsgegenstand-)  koinzidierende  Gegenstände 
(eines  Systemes). 

Jedes  Sosein  ist  entweder  ein  Wassein  oder  ein 
Wieseln.^)  —  Der  Gegensatz  zwischen  Wassein  und  Wiesein 
läßt  sich  nicht   durch  eine  Definition  festlegen,  ist  aber  immer 


')  Vgl    Meinong,  Über  Annahmen,  §  20. 
')  Denn  es  gilt  auch  immer:  A  ist  A. 

^)  Aus  den  schon  zitierten  (MEiNONOschen)  Vorlesungen  über  Erkenntnistheorie 
ist  mir  bekannt,  daß  auch  Meinong  diese  Unterscheidung  vollzieht. 


jgg  Ernst  Mally, 

mit  Sicherheit  zu  erkennen.  Ein  Wassein  des  Gegenstandes  A 
ist  das  Objektiv  einer  Antwort  auf  die  Frage:  „Was  ist  A?-', 
ein  AViesein  des  A  das  Objektiv  einer  Antwort  auf  die  Frage: 
„Wie  ist  A?".  Ein  Wassein  ist  z.  B.  das  Objektiv:  dieses  Ding 
ist  ein  Hebel,  oder  daß  dieses  Ding  ein  Hebel  ist,  oder  das  Hebel- 
sein dieses  Dinges.  Ein  Wiesein  ist:  daß  der  Himmel  blau  ist 
oder  das  Blausein  des  Himmels. 

Der  bestimmende  Gegenstand  in  einem  AV a s s e i n  heiße 
das  „Was"  oder  das  Quid  (des  Wasseins).  —  Zur  Bezeichnung 
eines  Wasseins  diene  die  Formel:  A  ist  B  (oder  A  ist  X  u.  dgl.). 
Der  mit  B  (oder  mit  X)  bezeichnete  Gegenstand  ist  das  „Was" 
'oder  das  Quid  im  B-sein  des  A  (bzw.  im  X-sein  des  A).  Im 
obigen  Wasseinsbeispiel  ist  „Hebel"  das  Quid. 

Der  bestimmende  Gegenstand  in  einem  W i e s e i n  heiße 
das  „Wie"  oder  das  Quäle  (des  Wieseins).  —  Zur  Bezeichnung 
eines  Wieseins  diene  die  Formel:  A  ist  ß  (oder  A  ist  a,  A  ist  ^ 
u.  dgl.).  Der  mit  ß  (oder  mit  a,  §)  bezeichnete  Gegenstand  ist 
das  „Wie"  oder  das  Quäle  im  /?-sein  des  A  (bzw.  im  a-sein  des 
A,  im  ^-sein  des  A).  Im  Wieseinsbeispiele  „der  Himmel  ist  blau", 
ist  „blau"  das  Quäle. 

Das  Sein  bestimmt  seinen  Gegenstand  ohne  einen  be- 
stimmenden Gegenstand.  Doch  läßt  sich  jedes  Seinsobjektiv  ..A 
ist"  auch  in  der  Form  eines  Wieseins  „A  ist  seiend"  aussprechen, 
worin  als  „Quäle"  „seiend"  auftritt. 

Jedes  Quid  ist  durch  ein  Quale^)  vollständig  be- 
stimmt. Jedes  Quäle  bestimmt  ein  Quid  vollständig. 
Das  Quid  A,  das  durch  das  Quäle  a  vollständig  bestimmt  ist,' 
heiße  das  Quid  vom  Quäle  a.  Jedes  Wassein  koinzidiert  also 
mit  einem  Wiesein  vom  Quäle  seines  bestimmenden  Gegenstandes ; 
und  jedes  Wiesein  koinzidiert  mit  einem  Wassein,  dessen  Quid 
vom  Quäle  des  Wieseins  ist.  Koinzidierende  Gegenstände  von  dem- 
selben Quäle  heißen  wesentlich  koinzidierende  Gegen- 
stände. Alle  wesentlich  koinzidierenden  Gegenstände  sind  von- 
einander nur  formal  verschieden.  —  Mit  dem  Wassein  „A  ist 
B"  koinzidiert  wesentlich  das  Wiesein  „  A  ist  /S"  und  umgekehrt  wenn 
B  das  Quid  vom  Quäle  ß  ist.     Z.  B.  koinzidiert  wesentlich   mit 


^)  Das  einfach  oder  zusammengesetzt  sein  kann. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  137 

dem  Wassein  ,.A  ist  ein  A'iereck-'  das  Wiesein  „A  ist  viereckig"; 
denn  das  Quid  ..Viereck"'  ist  durch  das  Quäle  „viereckig-"  voll- 
ständig: bestimmt.  Mit  dem  Wiesein  „A  ist  rot"  koinzidiert  wesent- 
lich das  Wassein  „A  ist  etwas  Eotes"  oder  „A  ist  ein  Eotes";  denn 
das  Quäle  ,.rot"  bestimmt  vollständig*  das  Quid  „etwas  Rotes". 
In  manchen  anderen  Fällen  ist  das  Quäle  zu  einem  Quid 
schwieriger  anzugeben;  es  besteht  aber  sicher  in  jedem  Falle  ein 
vollständig-  bestimmendes  Quäle,  denn  jeder  Gegenstand  ist  irgend- 
wie beschaffen  und  durch  sein  „Wie"  vollständig  bestimmbar.  — 
In  den  angeführten  Beispielen  sind  ..Viereck"  und  „viereckig"  nur 
formal  voneinander  verschieden  (nicht  dem  Quäle  nach),  ebenso 
,.rot"  und  „Rotes", 

Gegenstände  mit  ungleichartigem  Quäle  heißen  wesentlich 
verschieden,  —  z.  B.  „rot"  und  „viereckig",  „Rotes"  und 
„Viereck". 


§  8.  Explizite,  implizite  und  fiktive  Gegenstände. 

Ein  Objektiv  in  der  Form:  „A  ist",  oder  „daß  A  ist";  „A  ist 
B",  oder  „daß  A  B  ist";  ..A  ist  /3",  oder  „daß  A  ß  ist"  heiße  ein 
explizites  Objektiv  oder  eine  explizite  Bestimmung. — 
Für  ein  explizites  Soseinsobjektiv,  das  dann  ein  Wassein,  „A  ist 
B",  oder  ein  Wiesein.  „A  ist  /?",  sein  kann,  diene  als  allgemeines 
SjTnbol:  „A  ist  b".  —  Explizit  sind  die  Objektive,  die  wir  durch 
Urteile  oder  ihnen  gleichartige,  nur  durch  den  Mangel  des  Über- 
zeugungsmomentes davon  unterschiedene  Annahmen  unmittel- 
bar erfassen. 

Der  Eigenschaftsgegenstand  eines  expliziten  Objektives  heiße 
ein  expliziter  Eigenschaftsgegenstand.  Er  ist  gegeben 
in  der  Form:  „A,  welches  ist";  „A,  welches  b  ist"  (wobei  b  sowohl 
ein  Quid,  B,  als  auch  ein  Quäle,  ß,  repräsentieren  kann).  —  Das 
Mittel  zum  Erfassen  eines  expliziten  Eigenschaftsgegenstandes  ist 
eine  Vorstellung  (vom  Bestimmungsgegenstande  A)  zusammen  mit 
einer  Annahme  - )  oder  einem  Urteil  (von  der  Bestimmung ,  daß  A 
ist.  daß  es  b  ist).  Der  ganze  psychische  Vorgang,  bestehend  aus 
Vorstellung  und  Annahme  (oder  Urteil)  leistet  den  charakteristischen 


^)  Vgl.  Meinong,  Über  Annahmen,  §§  25  bis  28. 


23g  Ernst  Mally. 

Effekt  des  Vorstelleiis,  ohne  reine  Vorstellung-  zu  sein.  Eine  solche 
,. Vorstellung",  in  deren  VoUzugre  der  Vollzug-  einer  Annahme  wesent- 
lich ist,  kann  eine  Annahme  Vorstellung:  genannt  werden. 

Eine  Bestimmung,  die  mit  einem  expliziten  Objektiv  wesent- 
lich koinzidiert,  ohne  selbst  ein  explizites  Objektiv  zu  sein,  heiße 
eine  implizite  Bestimmung.  Ein  Eigenschaftsgegenstand, 
der  mit  einem  expliziten  Eigenschaftsgegenstande  wesentlich  koin- 
zidiert, ohne  selbst  ein  expliziter  Eigenschaftsgegenstand  zu  sein, 
heiße  ein  impliziter  Eigenschaftsgegenstand. 

Eine  explizite  Bestimmung  mit  der  Bestimmung,  implizit 
zu  sein,  heiße  eine  fiktive')  Bestimmung.  Ein  expliziter 
Eigenschaftsgegenstand  mit  der  Bestimmung,  implizit  zu  sein, 
heiße  ein  fiktiver  Eigen  Schaftsgegenstand. 

Das  explizite  Seinsobjektiv  „A  ist"  oder  „daß  A  ist",  als  impli- 
ziter Gegenstand  bestimmt,  ist  ein  fiktives  Seinsobjektiv, 
als  solches  meist  mit  „Sein  des  A"  bezeichnet.  Hat  das  A  ein 
tatsächliches  Sein,  so  ist  dieses  Sein  ein  implizites 
Seinsobjektiv.  Denn  es  koinzidiert  wesentlich  mit  dem  expli- 
ziten Objektiv  „daß  A  ist",  ohne  explizit  zu  sein.  Jenes  Sein, 
das  einem  tatsächlich  existierenden  oder  bestehenden  A  zukommt, 
ist  ein  impliziter  Gegenstand.  Diesen  impliziten  Gegenstand  meint, 
wer  denkt:  „jenes  Sein,  das  dem  tatsächlich  seienden  A  zukommt". 
Was  er  dabei  unmittelbar  denkt,-)  ist  dagegen  ein  explizites 
Seinsobjektiv  mit  der  Bestimmung,  tatsächlich  am  A  zu  sein, 
also  implizit  zu  sein:  und  das  ist  ein  fiktives  Seinsobjektiv. 

Das  explizite  Soseinsobjektiv^  „A  ist  b"  oder  „daß  A  b  ist", 
als  impliziter  Gegenstand  bestimmt,  ist  ein  fiktives  So  seins- 
objektiv. Es  wird  gewöhnlich  mit  Wendungen  bezeichnet,  denen 
die  Formel  „b-sein  des  xl"  entspricht.  Hat  das  A  ein  tatsäch- 
liches b-sein,  ist  also  A  tatsächlich  b.  so  ist  dieses  b-sein 
eine  implizite  Bestimmung.  Denn  es  koinzidiert  wesentlich 
mit  dem  expliziten  Soseinsobjektiv  „daß  A  b  ist" .  ohne  selbst 
explizit  zu  sein.  Ein  implizites  Wassein  meint,  wer^  z.  B. 
„tatsächliches   Vierecksein    des  A"    denkt.     Was    er   dabei  un- 


')  Vgl.  deu  übrigens  abweichenden  Gebrauch  des  Wortes  „fiktiv"  bei 
R.  Ameseder,  Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie. 

-)  Auf  den  Gegensatz  von  denken  und  meinen  bin  ich  durch  Meinong 
aufmerksam   geworden. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  139 

mittelbar  denkt,  „das  tatsächliche  Vierecksein  des  A",  ist  da- 
gegen ein  explizites  Wassein,  mit  der  Bestimmung  an  seinem 
Gegenstande  tatsächlich  zu  sein,  also  implizit  zu  sein:  und  das 
ist  ein  fiktives  Wassein.  Ein  implizites  Wiesein  meint,  wer 
z.  B.  ..tatsächliches  Rotsein  des  A"  denkt.  Was  er  dabei  un- 
mittelbar denkt,  „das  tatsächliche  Rotsein  des  A",  ist  dagegen 
ein  explizites  Wiesein  mit  der  Bestimmung,  tatsächlich  am  A  zu 
sein,  also  implizit  zu  sein :  das  ist  ein  fiktives  Wiesein,  Als  sprach- 
liche Bezeichnung  eines  (gedachten)  fiktiven  Wieseins,  die  dann 
auch  den  (gemeinten)  impliziten  Gegenstand  bedeutet,  treten  oft 
sogenannte  „Abstrakta"  mit  den  Endungen  -keit  und  -heit  und 
auch  andere  (namentlich  von  Adjektiven)  abgeleitete  Wörter  auf, 
z.  B.:  Rundheit,  Viereckigkeit,  Möglichkeit,  Wahrscheinlichkeit; 
Röte,  Bläue,  Größe.  Auch  gibt  es  analog  gebildete  Bezeichnungen 
fiktiver  oder  tatsächlich  impliziter  Wasseinsobjektive,  z.  B.  Mensch- 
heit, Tierheit  (nicht in  der  „Kollektiv" -Bedeutung  „alle Menschen", 
„alle  Tiere"). 

Der  explizite  Eigenschaftsgegenstand:  „A,  welches  ist",  als 
impliziter  Gegenstand  bestimmt,  ist  ein  f  i  k t  i  v  e  r  E  i  g  e  n  s  c  h  a  f  t  s  - 
.gegenständ,  der  als  „seiendes  A"  oder  „tatsächliches  A" 
(speziell  „existierendes  A"  oder  „bestehendes  A")  bezeichnet  wird. 
Ist  A  tatsächlich,  so  ist  dieses  tatsächlich  seiende  A  ein  impliziter 
Eigenschaftsgegenstand.  Denn  es  koinzidiert  wesentlich  mit  dem 
expliziten  Eigenschaftsgegenstande  „A,  welches  ist",  ohne  selbst 
explizit  zu  sein  (es  ist  tatsächlich  einfach  ein  A;  von  ihm  gilt 
aber,  daß  es  ist).  Wer  denkt:  ..das  A,  das  tatsächlich  ist", 
meint  damit  den  impliziten  tatsächlichen  Gegenstand  A,  das  ist 
ein  A,  dem  das  Sein  tatsächlich  zukommt,  oder  woran  das  Sein 
eo  ipso  schon  ist.  Was  er  dabei  unmittelbar  denkt,  „das  A,  das 
tatsächlich  ist"  oder  „das  seiende  A",  ist  indes  ein  expliziter 
Gegenstand,  mit  der  Bestimmung,  tatsächlicher  Eigenschaftsgegen- 
stand seiner  Bestimmung  (des  Seins)  zu  sein,  also  impliziter 
Eigenschaftsgegenstand  zu  sein :  und  das  ist  ein  f  i  k  t  i  v  e  r  E  i  g  e  n  - 
s  c  h  a  f  t  s  g  e  g  e  n  s  t  a  n  d. 

Der  explizite  Eigenschaftsgegenstand:  „A,  welches  b  ist",  als 
impliziter  Gegenstand  bestimmt,  ist  ein  fiktiver  Eigen- 
schaftsgegenstand.  Ein  solcher  werde  bezeichnet  als  „Ab" 
oder  als   „b-seiendes  A";  im  besonderen  Falle   des  Wasseins  als 


j^Q  Ernst  Mally. 

..AB",  im  Falle  des  "Wieseins  als  „A/9"  oder  ,./JA".  Ist  A  tat- 
sächlich b,  so  ist  Ab  ein  impliziter  Eio:enschaftSi2'eg-enstand. 
Denn  von  einem  solchen  (etwa  konkret  vorUegenden)  Gegen- 
stande gilt,  daß  er  b  ist ;  er  koinzidiert  also  wesentlich  mit  dem 
expliziten  Eigenschaftsgegenstande  „A,  welches  b  ist",  ohne  selbst 
ein  expliziter  Gegenstand  zu  sein.  Wer  denkt:  .,b-seieudes  A", 
der  meint  einen  impliziten  Gegenstand  (Abj  von  dem  gilt,  daß 
er  b  ist,  oder  der  tatsächlich  b  ist.  Was  er  dabei  unmittelbar 
denkt  ist  dagegen  ein  expliziter  Gegenstand  „A,  welches  b  ist", 
mit  der  besonderen  Bestimmung,  impliziter  Eigenschaftsgegen- 
stand zu  sein.  Ein  expliziter  Eigenschaftsgegenstand  ist  z.  B.: 
„Fläche,  die  ein  Viereck  ist",  oder  „Körper,  der  rund  ist".  Liegt 
nun  etwa  eine  konkrete  Fläche  vor,  und  man  kann  von  ihr  kon- 
statieren, daß  sie  ein  Viereck  ist,  oder  liegt  ein  konkreter  Körper 
vor,  von  dem  man  e^ddent  urteilen  kann,  er  sei  rund:  so  sind 
diese  (konkreten)  Gegenstände  implizite  Eigenschaftsgegen- 
stände. Denn  sie  koinzidieren  wesentlich  mit  expliziten  Eigen- 
schaftsgegenständen, ohne  selbst  explizit  zu  sein.  Indem  ich  von 
diesen  Gegenständen  spreche,  handle  ich  tatsächlich  von  den  kon- 
kreten, also  impliziten  Eigenschaftsgegenständen,  die  ich  meine. 
Ich  denke  dabei  aber  zunächst  in  mianschaulicher  Weise:  „Fläche, 
die  ein  Viereck  ist,  aber  konkret,  d.  h.  hier:  implizit"  und: 
„Körper,  der  rund  ist,  aber  konkret,  also  implizit".  Was  ich  so 
unmittelbar  denke];id  erfasse,  sind  expUzite  Eigenschaftsgegenstände 
mit  der  besonderen  Bestimmung,  implizit  zu  sein.  (Ich  nehme 
damit  gewisse  implizite  Gegenstände  an  oder  „fingiere"  sie.)  Diese 
unmittelbar  gedachten  Gegenstände  sind  fiktive  Eigenschafts- 
gegenstände. 

Jeder  (tatsächlich)  implizite  Gegenstand  ist  tatsächlich 
(existierend  oder  bestehend).  Jeder  fiktive  Gegenstand  ist  ein 
expUziter  als  implizit  bestimmter  Gegenstand.  Ein  expliziter 
Gegenstand,  der  implizit  ist,  ist  unmöglich:  kein  fiktiver  Gegen- 
stand ist  tatsächlich.  Jeder  fiktive  Gegenstand  ist  aber  als  ein 
impliziter,  daher  als  tatsächlicher  oder  seiender  Gegenstand  be- 
stimmt. Er  ist  nur  fiktiver  AVeise,  d.  h.  er  existiert  oder  be- 
steht fiktiver  Weise.  Mit  dem  expliziten  Gegenstande,  der 
als  impliziter  Gegenstand  bestimmt  den  fiktiven  Gegenstand  er- 
gibt, kann  ein  tatsäclilich  impliziter  Gegenstand  wesentlich  koin- 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  141 

zidieren,  wenn  seine  Bestimmung  nicht  widersprechend  ist.  Koin- 
zidiert  mit  ihm  kein  impliziter  Gegenstand,  so  heißt  der  ent- 
sprechende fiktive  Gegenstand,  d.  i.  der  explizite  Gegenstand  samt 
der  Bestimmung,  implizit  zu  sein,  ein  rein  fiktiver  Gegenstand. 


§  9.   Qualitäten  an  Gegenständen  und  Qualitäten 
zwischen  Gegenständen  (Relationen). 

Jede  implizite  Bestimmung,  die  mit  einem  expliziten  Sosein 
wesentlich  koinzidiert,  ist  eine  implizite  Eigenschaft.  Die  im- 
pliziten Eigenschaften  sind  entweder  Objektive  oder  Objekte  im 
engeren  Sinne.  Jede  i  m  p  1  i  z  i  t  e  E  i  g  e  n  s  c  h  a  f  t ,  die  k  e  i  n  0  b  - 
jektiv  ist.  ist  eine  Qualität.  Mit  jedem  M'iesein  koin- 
zidiert wesentlich  eine  echte  oder  eine  fiktive  Qualität.  Eine  echte 
Qualität  ist  eine  (tatsächlich)  implizite  Bestimmung,  die  kein  Ob- 
jektiv ist.  Eine  fiktive  Qualität  ist  eine  nur  als  implizit  bestimmte, 
tatsächlich  nicht  bestehende  Bestimmung,  die  kein  Objektiv  ist. 

Eine  echte  Qualität  kann  nur  mit  einem  nicht  widersprechen- 
den Sosein  wesentlich  koinzidieren.  Denn  eine  implizite  Be- 
stimmung von  dem  Quäle  eines  widersprechenden  Soseins  wäre  ein 
impliziter  Gegenstand  mit  (zwei  oder  mehreren)  unverträglichen 
Quallen,  also  unmöglich.  Jeder  (tatsächlich)  implizite  Gegenstand  ist 
aber  tatsächlich,  also  sicher  nicht  unmöglich.  —  Nicht  mit  jedem 
Wiesein  koinzidiert  eine  echte  Qualität  von  demselben  Quäle. 

Jede  Qualität  ist  entweder  eine  Qualität  an  einem  Gegen- 
stande, oder  sie  ist  eine  Qualität  zwischen  Gegenständen. 
Eine  Qualität  an  einem  Gegenstande  kann  nur  sein,  wenn  ihr 
Gegenstand,  der  (implizite)  Eigenschaftsgegenstand,  ist;  das  ist 
immer  der  Fall,  wenn  ihr  Eigenschaftsgegenstand  tatsächlich  im- 
plizit ist.  Qualitäten  an  Gegenständen  sind  z.  B.  Farbe  und  Ge- 
stalt. Sie  sind  Eigenschaften,  die  keine  Objektive,  sondern  Objekte 
im  engeren  Sinne  sind.  Sie  koinzidieren  als  implizite  Bestimmungen 
wesentlich  mit  Wieseiusobjektiven,  dem  Farbigsein,  dem  (irgend- 
wie) Gestaltetsein.  Sie  können  nur  dann  bestehen,  wenn  die 
wesentlich  koinzidiereuden  Wieseinsobjektive  nicht  widersprechend 
sind.  —  Zu  einem  Rot-  und  grünsein,  das  an  einem  als  rot  und 
grün  bestimmten  unmöglichen  (expliziten)  Gegenstande  gleichwohl 
besteht,  kann  keine  Farbe  bestehen;  es  gibt  keine  implizite  Be- 


1^2  Ernst  Mally. 

Stimmung:  von  diesen  unverträglichen  Qualien ;  ebenso  gibt  es  keine 
Gestalt,  die  mit  dem  Rund-  und  viereckigsein  wesentlich  koinzi- 
dierte.  Farbe  kann  nur  an  einem  seienden  farbigen  Gegen- 
stände sein,  Gestalt  nur  an  einem  seienden  gestalteten  Gegen- 
stande. Dagegen  besteht  ein  widersprechendes  Sosein  auch  an 
seinem  unmöglichen  Eigenschaftsgegenstande. 

Jeder  Gegenstand,  an  dem  eine  echte  Qualität  ist,  ist  ein  im- 
pliziter Eigenschaftsgegenstand.  Der  Bestiramungsgegenstand  eines 
impliziten  Eigenschaftsgegenstandes  ist:  „jener  Gegenstand,  der  durch 
die  implizite  Bestimmung  zum  impliziten  Eigenschaftsgegenstande 
bestimmt  wird".  Da  der  Eigenschaftsgegenstand  implizit  ist,  ist 
dieser  (explizite)  Bestimmungsgegenstand  als  implizit  bestimmt.  Der 
Bestimmungsgegenstand  einer  impliziten  Bestimmung,  insbesondere 
einer  echten  Qualität,  ist  ein  fiktiver  Gegenstand,  d.  h.  ein  im- 
pliziter Eigenschaftsgegenstand  ohne  seine  Qualität  ist  fiktiv.  Der 
fiktive  Bestimmungsgegenstand  einer  Qualität  heißt  ihr  „Träger". 

Eine  Qualität,  die  mit  dem  Sosein  vom  Quäle  ß  wesentlich 
koinzidiert,  werde  mit  33  bezeichnet.  Analog  ist  das  Sjmbol  für 
eine  Qualität,  die  mit  dem  or-sein,  dem  y-sein  . .  .  wesentlich  koin- 
zidiert, das  Zeichen  St  bzw.  ß  . . .  Ein  Eigenschaftsgegenstand  der 
Qualität  33  sei  als  A33  bezeichnet. 

Eine  Qualität  zwischen  Gegenständen  ist  eine  Eelation 
(oder  eine  implizite  Beziehung),  Eine  Relation  kann  nicht  Qualität 
an  einem  Gegenstande  sein.  Jede  Relation  koinzidiert  als  Quali- 
tät wesentlich  mit  einem  Sosein,  das  entweder  mehrere  (mindestens 
zwei)  Bestimmungsgegenstände  hat.  oder  das  einen  Bestimmungs- 
gegenstand oder  auch  mehrere  Bestimmungsgegenstände  durch  das 
Quäle  und  durch  einen  oder  auch  mehrere  bestimmende  Gegenstände 
außer  dem  Quäle  bestimmt:  ein  solches  Sosein  heiße  eine  expli- 
zite Beziehung  und  speziell  ein  Relation sobj  ektiv.^)  Das 
Quäle  der  Relation  ist  insofern  unselbständig,  als  es  allein  nicht 
einen  Gegenstand  bestimmen  kann,  sondern  nur  mehrere  Gegen- 
stände (einen  durch  den  anderen).  Das  Quäle  der  Relation  heißt 
der  Relat.-)    Die  Relation  besteht  zwischen  den  Bestimmungs- 

')  Vgl.  unten  §  12. 

^)  Die  Unterscheidung  von  Relat  und  Relation  hat  Meinong  (im  erwähnten 
Kolleg)  vollzogen.  Die  Bezeichnung  „Relat"  wurde  von  ihm  im  Zusammenhange 
mit  der  in  §  11  z\i  bemerkenden  terminologischen  Neuerung  geprägt. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  143 

gegenständen  des  mit  ihr  wesentlich  koinzidierenden  expliziten 
Wieseinsobjektives,  welche  auch  Bestimmungsgegenstände  der  Rela- 
tion heißen  mögen.  Die  Bestimmungsgegenstände  einer  Relation 
werden  als  ihre  Glieder  bezeichnet;  sie  heißen  auch  ihre  Inferiora: 
die  Relation  ist  ihnen  gegenüber  das  Superius.M 

Da  die  Relation  nicht  Qualität  a  n  einem  Gegenstande  ist,  be- 
stimmt sie  auch  nicht  einen  impliziten  Eigenschaftsgegenstand. 

Ist  ein  Gegenstand  A  durch  sein  Relatsein  zu  einem  Gegen- 
stande B  bestimmt,  so  sind  der  Relat  q  und  das  Relationsglied  B 
ihm  gegenüber  partiell  bestimmende  Gegenstände.  Zwischen 
dem  Bestimmungsgegenstande  A  und  jedem  partiell  bestimmenden 
Gegenstande  (B,  q)  besteht  partielle  oder  unvollständige 
Koinzidenz  (zum  Unterschiede  von  der  totalen  Koinzidenz 
zwischen  Bestimmungsgegenstand  und  vollständigem  bestimmen- 
den Gegenstande). 

Relationen  sind  z.  B. :  Ähnlichkeit,  Gleichheit,  Verschiedenheit, 
Verträglichkeit  usf.  Sind  A  und  B  ähnlich,  so  besteht  als  Quali- 
tät, die  mit  diesem  expliziten  Wiesein  wesentlich  koinzidiert,  die 
Relation  ,.Ähnlichkeit  zwischen  A  und  B".  Das  Quäle  dieser 
Relation,  also  ihr  Relat,  ist:  „ähnlich".  Dieses  Quäle  kann  nicht 
einen  Gegenstand,  etwa  A  allein,  bestimmen  ohne  den  anderen  als 
mitbestimmenden  Gegenstand.  ,.A  ist  ähnlich"  hat  keinen  Sinn; 
eine  Bestimmung  des  A  durch  den  Relat  „ähnlich"  ist  nur  mög- 
lich in  der  Form:  „A  ist  dem  B  ähnlich".  A  und  B  sind  die 
Glieder  der  Ähnlichkeitsrelation.  Sie  sind  entweder  beide  Be- 
stimmungsgegenstände der  Relation,  oder  ist  eines  von  ihnen,  mit 
dem  Relat,  mitbestimmender  Gegenstand. 

Eine  Relation  werde  als  eine  Qualität  mit  dem  Buchstaben 
9fl  bezeichnet.  Die  Relation  zwischen  den  zwei  Gliedern  A,  B  sei 
durch  das  Sj-mbol  a9?b  vertreten.  (Für  eine  Bezeichnung  von 
Relationen  zwischen  mehreren  Gliedern  ergibt  sich  in  dieser  Arbeit 
keine  Verwendung.)  Ein  mit  einer  Relation  a9^b  wesentlich  koin- 
zidierendes  explizites  Wiesein  „daß  A  und  B  (zueinander)  relat 
sind"  oder  „daß  A  relat  zu  B  ist",  wird  bezeichnet  durch  AB^ 
oder  durch  AqB. 

Mit  dem  expliziten  Relatsein  eines  Gegenstandes  A  zu  einem 


')  Vgl.  Meinong,  Über  Geg.  höh.  Ord.,  S.  189  f. 


144 


Ernst  Mally. 


Gegenstände  B  (oder  zu  mehreren),  XqB,  koinzidiert  keine  implizite 
Eigenschaft  von  demselben  Quäle  q  an  A.  Eine  als  implizit  be- 
stimmte, mit  einem  Eelatsein  A^B  wesentlich  koinzidierende  Quali- 
tät an  A  ist  rein  fiktiv.  Das  explizite  Eelatsein  eines  Gegen- 
standes zu  einem  andern  aber  ist  selbst  ein  mögliches  Wie- 
seinsobjektiv und  heiße  eine  relative  Bestimmung. 

Jeder  implizite  Eigenschaftsgegenstand  Ab  hat  seine  impli- 
zite Bestimmung  93  zur  Eigenschaft;  es  kommt  ihm  das  Quäle 
seiner  impliziten  Bestimmung  zu.  Ab  ist  ß,  z.  B.  eine  rote  Fläche, 
damit  ist  hier  eine  konkrete  Fläche  mit  der  impliziten  Bestimmung 
Kot  gemeint ,  ist  rot.  —  Der  Satz  ist  durch  das  Beispiel  freilich 
nur  mangelhaft  illustriert;  denn  um  den  gemeinten  impliziten 
Eigenschaftsgegenstand  (die  tatsächlich  rote  Fläche)  zu  bezeichnen, 
muß  eine  Wendung  gebraucht  werden,  die  dem  wesentlich  koin- 
zidierenden  expliziten  oder  dem  fiktiven  Gegenstaude  adäquat  ist 
und  zuerst  den  Gedanken  an  i  h  n  erregt,  wodurch  der  Schein  einer 
bloßen  Tautologie  hervorgebracht  wird.  —  Eine  relative  Be- 
stimmung kommt  dem  expliziten  Eigenschaftsgegenstande  nicht 
als  eine  Qualität  zu.  Ihr  Quäle  ist  nicht  ein  Quäle  an  ihrem 
Eigenschaftsgegenstande:  A,  das  von  B  verschieden  ist,  hat  nicht 
Verschiedenheit  zur  Qualität. 

§  10.  Reale  und  ideale  Qualitäten. 

Eine  Qualität,  die  ihrer  Natur  nach  existieren  kann,  heißt 
real. ^)  Eine  mögliche  Qualität,  die  ihrer  Natur  nach  nicht  exi- 
stieren (sondern  nur  bestehen)  kann,  heißt  ideal. 

Eine  reale  Qualität  ist^)  nicht  dadurch  bestimmt,  daß  sie 
existiert,  sondern  nur  dadurch,  daß  ihre  Natur  die  Existenz 
nicht  ausschließt.  Reale  Qualitäten  an  Gegenständen  sind  z.  B. 
Farbe,  Scliall,  Härte,  Temperatur,  Geschmack.  Geruch.  Wenn  diese 
Qualitäten  auch  tatsächlich  nicht  existieren,  so  ist  doch  in  ihrem 
eigenen  Wesen  nichts  gelegen,  was  ihre  Existenz  unmöglich  machte. 

Eine   reale  Qualität   existiert   nur,    wenn    ihr  impliziter 


')  Sofern  es  reale  Eigenschaften  gibt,  gibt  es  sicher  Eigenschaften,  die  nicht 
Objektive  sind,  also  Qualitäten  in  dem  oben  festgesetzten  Sinne.  Denn  jedes  Ob- 
jektiv ist  ideal.    Vgl.  Meinong,  Über  Annahmen.     Kap.  VII. 

')  "Wie  jeder  reale  Gegenstand. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  145 

Eigenschaftsg-ege  11  stand  existiert  Es  gilt  auch  die  Um- 
kehrung  dieses  Satzes:  Ein  impliziter  Eigenschaftsgegenstand 
existiert  nur,  wenn  seine  reale  Qualität  existiert.  Eine  reale 
Qualität  kann  nur  einem  realen  Gegenstande  zukommen.  Ein 
idealer  Gegenstand  mit  realen  Qualitäten  ist  unmöglich.  Denn 
da  ein  idealer  Gegenstand  nicht  existieren  kann,  so  könnte  eine 
reale  Qualität  als  implizite  Bestimmung  an  dem  idealen  Eigen- 
schaftsgegenstande  auch  nicht  existieren;  eine  reale  Qualität, 
die  nicht  existieren  kann,  ist  aber  unmöglich. 

Wenn  die  sogenannten  sinnlichen  oder  sensiblen  Qualitäten 
auch  nicht  tatsächlich  an  existierenden  impliziten  Eigenschafts- 
gegenständen (an  den  sogenannten  „transzendenten"  Gegen- 
ständen) existieren,  so  sind  sie  doch  implizite  Bestimmungen  von 
Gegenständen  unserer  anschaulichen  Vorstellungen  aus  äußerer 
Wahrnehmung.  Diese  (sogenannten  bloß  „immanenten")  Gegen- 
stände existieren  allerdings,  aller  Wahrscheinlichkeit  nach ,  n  i  c  h  t.  ^) 
„Es  gibt"  aber  doch  solche  Gegenstände,  d.  h.  sie  b  e  s  t  e  h  e  n ;  und  an 
ihnen  bestehen  als  implizite  Bestimmungen  ihre  realen  Qualitäten. 

Eine  Qualität  an  etwas  besteht  nur,  wenn  ihr  impliziter 
Eigenschaftsgegenstand  besteht.  Ein  impliziter  Eigenschaftsgegen- 
stand besteht  nur,  wenn  seine  Qualität  (als  implizite  Eigenschaft 
an  ihm)  besteht;  die  beiden  Gegenstände  sind  in  ihrem  Bestände 
notwendig  aneinander  gebunden.  Diese  Sätze  gelten  sowohl  für 
reale  als  auch  für  ideale  Qualitäten.  Eine  ideale  Qualität  an  etwas 
setzt  also  zu  ihrem  Bestände  nur  den  Bestand  ihres  impliziten 
Eigenschaftsgegenstandes  voraus;  sie  kann  daher  ebensowohl  an 
einem  realen  als  an  einem  idealen  Gegenstande  bestehen.  Z.  B. 
kann  die  ideale  Qualität  Gestalt  an  einem  realen  Gestalteten  be- 
stehen ;  sie  kann  aber  auch  an  einem  idealen  Gegenstande,  dem  Vier- 
eck, Dreieck,  Kreis  usf.  bestehen.  (Diese  Gegenstände  sind  ideale 
implizite  Eigenschaftsgegenstände  vom  Quäle  einer  Gestalt.  Ein 
Dreieck  z.  B.  kann  nicht  existieren,  sondern  nur  ein  dreieckiges 
Reales;  das  Dreieck  aber  kann  bestehen.)  Eine  ideale  Quali- 
tät, die  besteht,  besteht  notwendig.-) 

')  Aber  ihre  Nichtexistenz  ergibt  sich  nicht  aus  ihrer  Natur  heraus  .,a  priori", 
sondern  kann  nur  unter  Heranziehung  empirischer  Instanzen  „a  posteriori"  (wenn 
auch  mit  größter  Wahrscheinlichkeit)  vermutet  werden. 
-)  Vgl.  Meinong,  Üb.  Geg.  höh.  Ord.,  §  7. 
Meinong,  Untersuchungen.  10 


I^g  Erhst  Mallt. 

Eine  ideale  Qualität  zwischen  Gegenständen  ist  eine  Ideal - 
r  e  1  a  t  i  0  n.  ^)  Idealrelationen  können  zwischen  realen  und  zwischen 
idealen  Gegenständen,  und  auch  zwischen  unmöglichen  Gegen- 
ständen bestehen.  Eine  Idealrelation  ist  nicht  Qualität  an  einem 
Gegenstande,  sondern  Qualität  zwischen  Gegenständen.  Zu 
ihrem  Sein  ist  also  nicht  das  Sein  eines  impliziten  Eigenschafts- 
gegenstandes erforderlich,  woran  sie  implizite  Bestimmung  wäre. 
Doch  kann  eine  Idealrelation  (wie  jede  Qualität)  nicht  bestehen, 
wenn  das  wesentlich  mit  ihr  koinzidierende  explizite  Soseinsob- 
jektiv widersprechend  ist.-)  Verschiedenheit  besteht  z.  B. 
sowohl  zwischen  zwei  realen  Gegenständen,  etwa  zwei  Farben,  als 
auch  zwischen  zwei  idealen  Gegenständen,  etwa  zwei  Gestalten, 
oder  zwei  Dreiecken,  oder  selbst  zwischen  zwei  Verschiedenheiten. 
Sie  besteht  aber  auch  zwischen  zwei  unmöglichen  Gegenständen, 
die  verschieden  sind,  also  zwischen  zwei  unmöglichen  Gegen- 
ständen von  verschiedenem  Quäle.  Aber  Verschiedenheit  besteht 
nicht,  wenn  das  wesentlich  koinzidierende  Sosein,  das  Verschieden- 
sein ihrer  Glieder  ein  unmögliches  Objektiv  ist:  Verschiedenheit 
zwischen  zwei  gleichen  (einfachen)  Gegenständen  kann  nicht  be- 
stehen, weil  das  Verschiedensein  von  zwei  gleichen  Gegenständen 
ein  unmögliches  Objektiv  ist.  Eine  Idealrelation  besteht  auch 
nicht,  wenn  das  wesentlich  koinzidierende  Sosein  nicht  unmöglich, 
aber  widersprechend  ist:  das  Objektiv,  daß  A  und  B  die  (in  der- 
selben Hinsicht)  gleich  und  ungleich  sind,  eben  gleich  und  un- 
gleich sind,  besteht;  es  besteht  aber  keine  Eelation  mit  dem  zu- 
sammengesetzten Relat  „gleich  und  ungleich"  als  eine  Qualität 
zwischen  A  und  B,  —  denn  sie  ist  überhaupt  unmöglich. 

Idealrelationen,  die  zwischen  irgendwelchen  Quallen, 
a,  ß,  y  .  .  .  bestehen,  bestehen  auch  zwischen  den  impliziten 
Eigenschaftsgegenständen  A,  B,  C  .  .  .,  welche  Qualitäten 
von  diesen  Quallen  (31,  33,  ß  .  .  .)  an  sich  haben,  „hinsichtlich" 
dieser  Qualitäten.  Ein  impliziter  Eigenschaftsgegenstand  (A) 
ist  ein  Gegenstand,  dem  das  Quäle  (a)  seiner  Qualität  (3t)  zu- 
kommt. Er  hat  also  das  Sosein  vom  Quäle  (a)  seiner  Qualität 
(21).    Die  Idealrelation  gründet  sich  auf  die  Quallen  («,  ß,  y  .  .  .) 


')  Von  Realrelationen  soll  erst  später,  in  §  13,  gehandelt  werden. 
•)  Vgl.  oben  §  9. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  147 

und  besteht  notwendig  zwischen  Gegenständen  von  diesen  Qualien. 
Die  Verschiedenheit  (oder  die  Ähnlichkeit)  zwischen  den  Qualien 
„rot"  und  „blau"  besteht  in  gleicher  ^^'eise  zwischen  den  zuge- 
hörigen Qualitäten,  dem  „Rot"  und  dem  „Blau"  oder  der  „Röte" 
und  der  „Bläue";  sie  besteht  zwischen  dem  „Rotsein"  und  dem 
„Blausein";  sie  besteht  endlich  zwischen  einem  Roten  und  einem 

Blauen  („hinsichtlich"  ihrer  Farbe). 

* 

§  11.   Implizite  Komplexionen  und  Komplexe. 

Explizite  Komplexionen  und  Komplexe,  die  mit 

impliziten  wesentlich  koinzidieren. 

Eine  Qualität  mit  mehreren  Bestimmungsgegen- 
ständen und  einem  impliziten  Eigenschaftsgegen- 
stande heiße  eine  implizite  Komplexion. 

Der  impliziteEigenschaftsgegen  stand  einer  Kom- 
plexion heiße  ein  impliziter  Komplex.^) 

Die  Bestimmungsgegenstände  einer  impliziten  Komplexion 
heißen  ihre  Inferiora.  Die  Bestimmungsgegenstände  eines  impli- 
ziten Komplexes  heißen  seine  Bestandstücke -)  oder  auch  In- 
feriora des  Komplexes. 

Eine  implizite  Komplexion  ist  z.  B.  Dreiheit  oder  Kreisform. 
Die  Dreiheit  ist  eine  impUzite  Bestimmung  mit  mehreren  Be- 

')  Für  das,  was  hier  ein  Komplex  genannt  wird,  ist  von  Meinong  hisher 
das  Wort  „Komplexion"  gebraucht  worden.  Vgl.  Über  Geg.  höh.  Ord.  §  4. 
Indes  scheint  die  durch  obige  Definitionen  festgesetzte  Verwendung  der  beiden 
Termini  natürlicher  und  sprachgemäßer  zu  sein.  Man  nennt  in  allgemein  üb- 
licher und  verständlicher  Weise  etwas,  das  aus  mehreren  Gegenständen  besteht, 
einen  Komplex.  In  diesem  Sinne  ist,  wenn  auch  ohne  ausdrückliche  Definition, 
das  Wort  auch  von  Witasek  statt  des  Wortes  „Komplexiou"  angewendet  worden. 
Vgl.  seine  Grundzüge  der  Ästhetik  (Leipzig  1904),  insbes.  S.  40.  Dagegen  er- 
scheint der  Terminus  „Komplexion",  wie  sonst  Wörter  auf  -tion,  geeignet  und 
ursprünglich  bestimmt,  eine  Eigenschaft  zu  bezeichnen,  und  stellt  sich  der  Be- 
nennung „Komplex"  in  ungezwungener  Weise  zur  Seite.  Mit  Rücksicht  auf 
diese  Umstände  ist  die  oben  eingeführte  (und  wie  ich  hoffe  dem  natürlichen 
Denken  und  Sprechen  angemessene)  Bezeichnungsweise,  trotz  abweichender  Auf- 
fassung der  in  Frage  stehenden  Gegenstände  auch  von  Meinong  neuerdings 
angenommen  und  im  mehrfach  zitierten  Kolleg  schon  angewendet  worden.  Vgl. 
übrigens  das  oben,  S.  142,  Anm.  2,  über  den  Terminus  „Relat"  Bemerkte. 

*)  Vgl.  Meinong,  Über  Geg.  höh.  Ord.  §  4. 

10* 


J48  Ernst  Mally. 

stimmun?sge!?enständen,  nämlich  Eins,  Eins,  Eins.  Ihr  impliziter 
Eigenschaftsg-eg-enstand  ist  aber  einer,  nämlich  der  implizite 
Komplex,  der  als  D  r  e  i  bezeichnet  wird  (oder  die  reine  Zalil  Drei). 
Die  Bestimmungsgegenstände  der  Dreiheitskomplexion,  die  Gegen- 
stände Eins,  Eins,  Eins,  sind  ihre  Inferiora.  Sie  können  auch  als 
jene  Gegenstände  bezeichnet  werden,  welche  die  Komplexion  Drei- 
heit  zum  Komplexe  Drei  bestimmt  (ohne  diese  Bestimmung). 
Diese  Gegenstände  sind  zugleich  die  Bestandstücke  des  Komplexes 
Drei.  —  Die  Kreisform  ist  eine  implizite  Bestimmung  (nämlich 
eine  Gestalt).  Sie  hat  notwendig  mehrere  Bestimmungsgegenstände, 
aber  einen  impliziten  Eigenschaftsgegenstand,  nämlich  den  Kom- 
plex Kreis.  Ihre  Bestimmungsgegenstände  —  die  man  als  jene 
Gegenstände  bezeichnen  könnte,  welche  durch  sie  zum  impliziten 
Kreiskomplexe  bestimmt  werden  (jedoch  ohne  diese  Bestimmung) 
—  sind  ihre  Inferiora,  zugleich  die  Bestandstücke  des  Kreises. 
Diese  sind  —  wie  noch  später  auszuführen  sein  wird  —  notwendig 
unbestimmt. 

Inferius  einer  impliziten  Komplexion  oder  eines  impliziten 
Komplexes  zu  sein,  ist  eine  explizite  Bestimmung.  Ein  Gegen- 
stand mit  dieser  Bestimmung  ist  ein  expliziter  Eigenschafts- 
gegenstand. Ein  solcher  expliziter  Gegenstand  mit  der  besonderen 
Bestimmung,  implizit  zu  sein  (also  das  Inferiussein  gegenüber 
einer  Komplexion  oder  einem  Komplexe  als  eine  implizite  Be- 
stimmung, gleichsam  als  eine  Qualität,  an  sich  zu  haben),  ist  der 
fiktive  Gegenstand  „Inferius  (der  impliziten  Komplexion)"  oder 
„Bestandstück  (des  impliziten  Komplexes)".  Wenn  dieser  fiktive 
Gegenstand  gedacht  wird,  ist  jedoch  in  der  Regel  ein  (tatsäch- 
lich) impliziter  Gegenstand  gemeint,  der  damit  koinzidiert,  näm- 
lich ein  impliziter  Gegenstand,  der  als  solches  Inferius  auftreten 
kann.  Für  einen  derartigen  Gegenstand  wird  darum  die  Be- 
zeichnung Inferius,  bzw.  Bestandstück  ebenso  gebraucht. 

Eine  implizite  Komplexion  ^  ist  eine  Qualität  an  ihrem  (im- 
pliziten) Eigenschaftsgegenstande,  dem  impliziten  Komplexe  K. 
Das  Quäle  der  Komplexion  wird  allgemein  durch  das  Adjektiv 
„komplex"  bezeichnet,  im  besonderen  durch  Wörter  wie:  „kreis- 
förmig", „dreieckig",  „drei"  (als  adjektivisch  funktionierendes 
Zahlwort)  usf.    Das  Zeichen  für  das  Quäle  der  Komplexion  Ä  sei  x. 

Ein  explizites  Sosein  von  dem  Quäle  einer  impliziten  Kom- 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  149 

plexion  heiße  ein  Komplexionsob  jekti  v.  Es  ist  von  der 
Form  „A  ist  x"  oder  „A  ist  K",  allgemein  „A  ist  k"  oder  „daß 
A  k  ist";  oder  es  ist  von  der  Form  „A,  B,  C  . . .  sind  k"  oder  „daß 
A,  B,  C  . . .  k  sind". 

Hat  das  Komplexionsobjektiv  einen  Bestimmungsgegenstand, 
so  ist  dieser  ein  i  m  p  1  i  z  i  t  e  r  K  o  m  p  1  e  x.  Im  Komplexionsobjektiv, 
„daß  A  k  ist",  ist  der  Bestimmungsgegenstand  A  ein  impliziter  Kom- 
plex; denn  sonst  könnte  von  ihm  das  Komplexionsobjektiv  nicht 
gelten.  Z.  B.:  „A  ist  ein  Kreis".  Hier  ist  A  sicher  etwas,  wovon  gilt, 
daß  es  ein  Kreis  ist,  also  eine  Linie,  wenn  „Kreis"  die  Kreislinie 
bedeutet,  oder  eine  Fläche,  wenn  „Kreis"  die  Kreisfläche  bedeutet. 

Hat  das  Komplexionsobjektiv  mehrere  Bestimmungsgegen- 
stände,  A,  B,  C . . .,  so  ist  sein  Eigenschaftsgegenstand  e  i  n  expliziter 
Gegenstand  mit  mehreren  Bestimmungsgegenständen,  nämlich  der 
Gegenstand:  „A,  B,  C...  welche  k  sind".  Eine  explizite  Be- 
stimmung mit  mehreren  Bestimmungsgegenständen  und  einem 
(expliziten)  Eigenschaftsgegenstande  heiße  nun  eine  explizite 
Komplexion.  Der  explizite  Eigenschaftsgegenstand  mehrerer 
Bestimmungsgegenstände  heiße  ein  expliziter  Komplex.  Ein 
Komplexionsobjektiv  mit  mehreren  Bestimmungsgegenständen  ist 
also  eine  explizite  Komplexion;  ihr  (expliziter)  Eigenschaftsgegen- 
stand ist  ein  expliziter  Komplex.  Eine  explizite  Komplexion 
von  dieser  Art  ist  z.  B.:  „daß  A,  B,  C  drei  sind".  „A,  B,  C,  die 
Drei  sind",  oder  „A,  B,  C,  deren  es  Drei  sind"  ist  der  zuge- 
hörige explizite  Komplex,  der  bei  Gleichartigkeit  seiner  Inferiora 
(J)  auch  kurz  als  „drei  J"  bezeichnet  werden  kann.  —  Mit  jedem 
Komplexionsobjektiv  koinzidiert  wesentlich  eine  implizite  Kom- 
plexion; mit  seinem  expliziten  Eigenschaftsgegenstande  (dem  ex- 
pliziten Komplexe)  ein  impliziter  Komplex  (im  obigen  Beispiel: 
Dreiheit  bzw.  Drei). 

§  12.  Explizite  Komplexionen  und  Komplexe. 

Komplexionen   und  Komplexe    überhaupt.     Meinongs 

iKoinzidenzprinzip. 

Mit  der  impliziten  Komplexion  als  einer  Qualität  am  im- 
pliziten Komplexe  ihrer  Inferiora  bestehen  wesentlich  koinzidierende 
Komplexionsobjektive:   ,daß  A,  B,   C...  in  Komplexion  Ä  sind," 


150 


Ernst  Mally. 


oder:  „daß  A,  B,  C  . . .  die  Komplexion  Ä  begründen",  „daß  A,  B, 
C  . . .  den  Komplex  K  bilden".  Diese  Komplexionsobjektive  sind 
zum  Teil  formal  übereinstimmend  mit  den  als  Relationsob- 
jektive zu  bezeichnenden  Soseinsobjektiven  vom  Quäle 
einer  Relation,  wie:  „daß  M,  N,  0...  in  Relation  'tR  sind", 
oder:  „daß  M,  N,  0  . . .  die  Relation  ^  begründen".  Doch  sind 
Komplexionsobjektiv  und  Relationsobjektiv,  trotz  formaler  Über- 
einstimmung, durch  ihr  Quäle,  also  wesentlich  voneinander  unter- 
schieden. Denn  das  Quäle  des  Komplexionsobjektives  ist  ein  Kom- 
plexionsquale  (x),  das  Quäle  des  Relationsobjektives  ist  aber  ein 
Relationsquale  oder  ein  Relat  (q).  Die  Verschiedenheit  dieser 
beiden  Arten  von  Quäle  zeigt  sich  darin,  daß  die  durch  ersteres 
bestimmte  Qualität,  die  implizite  Komplexion,  Qualität  an 
einem  Gegenstande  ist,  nämlich  am  impliziten  Komplexe,  in- 
des der  Relat  nur  eine  Qualität  zwischen  Gegenständen, 
die  Relation,  bestimmen  kann.') 

Eine  explizite  Bestimmung  mit  mehreren  Bestimmungsgegen- 
ständen  oder  mit  einem  Bestimmungsgegenstande  und  mehreren 
bestimmenden  Gegenständen  ist  eine  explizite  Beziehung.-) 
Eine  explizite  Beziehung  vom  Quäle  einer  Relation  ist  oben  ^) 
als  Relationsobjektiv  bezeichnet  worden.  —  Jedes  Kom- 
plexionsobjektiv mit  mehreren  Bestimmungsgegen- 
ständen ist  nun  auch  eine  Bestimmung  von  der  Art  der  expli- 
ziten Beziehung.  Ein  Komplexionsobjektiv  mit  mehreren  Be- 
stimmungsgegenständen ist  eine  explizite  Komplexion.  Es  ist  also 
jede  explizite  Komplexion  eine   explizite  Beziehung. 


*)  Denn  da  eine  Relation  überhaupt  nicht  an  einem  Gegenstande 
Qualität  sein  kann,  so  kann  sie  auch  nicht  etwa  Qualität  des  Komplexes 
ihrer  Glieder  sein,  sofern  dieser  eben  ein  Gegenstand  ist.  Z.  B. :  Wenn  A 
und  B  verschieden  sind,  so  sind  diese  Gegenstände  eben  untereinander  ver- 
schieden ;  dagegen  hätte  es  keinen  Sinn  zu  sagen,  der  Komplex  der  Gegenstände 
A  B  sei  verschieden. 

')  Die  explizite  Beziehung  mit  mehreren  Bestimmungsgegenständen  und 
einem  bestimmenden  Gegenstande  koiuzidiert  notwendig  mit  Bestimmungen  von 
je  einem  Bestimmungsgegenstande  und  mehreren  bestimmenden  Gegenständen,  so 
daß  man  etwas  ungenau  sagen  könnte :  jede  explizite  Beziehung  bestimmt  ihre 
Gegenstände  durch  einander  (und  durch  irgendein  Quäle,  nämlich  einen  Relat 
oder  ein  Komplexionsquale). 

')  §  9,  S.  14-2. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  151 

Da  nun  mit  jeder  impliziten  Komplexion  explizite  Komplexionen 
wesentlich  koinzidieren,  so  gilt :  Mit  jeder  impliziten  Kom- 
plexion koinzidiert  wesentlich  eine  explizite  Be- 
ziehung zwischen  ihren  Inferioren.  Denn  die  Be- 
stimmungsgegenstände  (A,  B,  C  . . .)  der  impliziten  Komplexion  ^ 
(oder  ihre  Inferiora)  sind  zugleich  die  Bestimmungsgegenstände 
der  expliziten  Beziehung,  „daß  A,  B,  C  .  . .  in  Komplexion  ^  sind." 
Die  Inferiora  der  impliziten  Komplexion  sind  zugleich  Bestand- 
stücke des  impliziten  Komplexes ;  es  gilt  also  auch :  Mit  jedem 
impliziten  Komplexe  koinzidiert  ein  expliziter  Kom- 
plex derselben  Bestandstücke  als  Eigenschaftsgegen- 
stand der  wesentlich  koinzidieren  den  expliziten 
Komplexion  oder  expliziten  Beziehung. 

Eine  explizite  Beziehung  mit  der  Bestimmung,  eine  Qualität 
zu  sein,  ist  eine  fiktive  implizite  Beziehung  (zwischen  den  Be- 
stimmungsgegenständen der  expliziten  Bestimmung)  oder  eine 
fiktiveRelation.  Die  Bestimmungsgegenstände  einer  expliziten 
Beziehung  sind  also  Glieder  einer  fiktiven  Relation.  Mit  jeder 
impliziten  Komplexion  koinzidiert  wesentlich  eine 
fiktive  Relation  zwischen  ihren  Inferioren.  Die  Be- 
standstücke eines  impliziten  Komplexes  sind  Glieder 
einer  mit  der  Komplexion  wesentlich  koinzidierenden  fiktiven 
Relation.  Mit  dieser  fiktiven  Relation  können  echte  Rela- 
tionen zwischen  denselben  Gliedern  koinzidieren,  jedoch  nicht 
wesentlich  koinzidieren,  da  sie  nicht  von  dem  Quäle  der  Kom- 
plexion sein  können.  Mit  der  impliziten  Komplexion  Dreiheit 
koinzidiert  die  explizite  Komplexion,  „daß  Eins,  Eins,  Eins  die 
Dreiheit  begründen",  oder  „daß  Eins,  Eins,  Eins  in  Dreiheits- 
komplexion  sind."  Diese  explizite  Komplexion  (die  ein  Kom- 
plexionsobjektiv ist)  ist  eine  expliziteBeziehung  zwischen 
den  Inferioren  der  Dreiheit,  den  Einheiten.  Diese  Beziehung, 
„daß  Eins,  Eins,  Eins  die  Dreiheit  begründen",  als  impUzite  Be- 
stimmung oder  als  Qualität  zwischen  den  Einheiten  bestimmt,  ist 
eine  fiktive  Relation,  die  mit  der  Dreiheitskomplexion  wesentlich 
koinzidiert.  Ihr  mag  irgend  eine  echte  Relation  zwischen  den- 
selben Gliedern  entsprechen;  jedoch  ist  sie  uns  nicht  bekannt, 
vielleicht  überhaupt  nicht  direkt  erfaßbar,  also  nur  mittels  des 
Gedankens  an  den  fiktiven  Gegenstand  meinbar. 


j^52  Ernst  Mally. 

Eine  (echte)  Relation  ist  eine  implizite  Beziehung  zwischen 
ihren  Gliedern:  a^'^b-  Mit  ihr  koinzidiert  wesentlich  die  explizite 
Beziehung,  „daß  A,  B  in  Relation  9t  sind",  oder  „daß  A,  B  die 
Relation  'St  begründen";^)  außerdem  koinzidieren  mit  ihr  wesent- 
lich explizite  Beziehungen,  die  relative  Bestimmungen  irgend  eines 
einzelnen  oder  einiger  von  den  Gliedern  durch  den  Relat  und  die 
übrigen  Glieder  sind,  z.  B.  „daß  A  gegenüber  B  q  ist".  Jede  ex- 
plizite Beziehung,  die  mit  einer  (echten)  Relation  wesentlich  koin- 
zidiert, ist  ein  Relationsobjektiv.  Jede  explizite  Beziehung, 
also  auch  insbesondere  jedes  Relationsobjektiv  ist  nun  eine  Be- 
stimmung mit  mehreren  Bestimmungsgegenständen  (den  Gliedern 
der  Relation)  und  einem  (expliziten)  Eigenschaftsgegenstande  von 
der  Form  „A,  B,  C  . . .,  welche  die  Relation  9?  begründen" ,  oder 
„A,  B,  C...  in  Relation  91".  Sie  ist  formal  gleichartig  mit  dem 
(expliziten)  Komplexionsobjektiv,  „daß  A,  B,  C...  in  Komplexion  ^ 
sind",  dessen  Eigenschaftsgegenstand  der  explizite  Komplex  „A,B,  C... 
in  Komplexion  ^"  ist. 

Jede  explizite  Bestimmung  mit  mehreren  Bestimmungsgegen- 
ständen und  einem  (expliziten)  Eigenschaftsgegenstande  ist  eine 
explizite  Komplexion.  Jede  explizite  Beziehung  ist  also  so- 
wohl eine  explizite  Relation  als  auch  eine  explizite  Komplexion. 
Insbesondere  ist  jedes  Relationsobjektiv  auch  eine  explizite  Kom- 
plexion seiner  Glieder.  Es  koinzidiert  also  mit  jeder  Re- 
lation eine  explizite  Komplexion  wesentlich. 

Der  (explizite)  Eigenschaftsgegenstand  einer  expliziten  Kom- 
plexion ist  ein  e  x  p  1  i  z  i  t  e  r  K  o  m  p  1  e  x.  Jeder  Eigenschaftsgegen- 
stand (eines  Relationsobjektives)  von  der  Form  „A,  B,  C . . .  in  Re- 
lation 91"  ist  also  auch  ein  expliziter  Komplex. 

Die  mit  einer  Relation  wesentlich  koinzidierende  explizite 
Komplexion,  als  implizite  Eigenschaft  bestimmt,  ist  eine  fiktive 
implizite  Komplexion.  Mit  ihr  können  echte  implizite  Komplexionen 
derselben  Inferiora  koinzidieren,  —  jedoch  nicht  wesentlich,  da  ihr 
Quäle,  als  ein  Relat,  keine  implizite  Komplexion  bestimmt,  sondern 
nur  eine  Qualität  zwischen  Gegenständen,  d.  i.  eine  Relation. 
Mit  der  Relation  „Verschiedenheit  zwischen  A  und  B"  koinzidiert 
wesentlich  das  Relationsobjektiv,  „daß  A  und  B  verschieden  sind". 


')  AllgeineiD,  „daß  A,  B,  C . . .  in  Relation  9t  sind"  usf. 


Zur  Gegeustandstheorie  des  Messens.  153 

Dieses  ist  zugleich  eine  explizite  Komplexion  der  Inferiora 
A,  B.  Der  durch  sie  bestimmte  Eigenschaftsgegenstand  „A,  B,  die 
verschieden  sind"  oder  „die  voneinander  verschiedenen  A  und  B" 
ist  ein  expliziter  Komplex.  Dieser  explizite  Komplex  als 
implizit  bestimmt  ist  ein  fiktiver  Komplex,  der  etwa  „Ver- 
schiedenheitskomplex" genannt  werden  könnte.  Mit  ihm  koin- 
zidiert  als  echter  impliziter  Komplex  z.  B.  der  Zweierkomplex 
oder  das  „Paar",  welches  die  Gegenstände  A  und  B  bilden.  Je- 
doch ist  dieser  Komplex  von  wesentlich  anderer  Komplexion 
als  der  angegebene  explizite.  Nicht  dje  Relation  selbst  kommt 
dem  durch  sie  bestimmten  expliziten  Komplexe  als  eine  Qualität 
zu,  sondern  nur  ein  mit  der  Relation  wesentlich  koinzidierendes 
Relations objektiv:  Verschiedenheit  ist  keine  Bestimmung  am 
Komplexe  der  Gegenstände  A,  B,  welche  ihre  Glieder  sind ,  aber 
„daß  seine  Bestandstücke  untereinander  verschieden  sind"  ist  eine 
Bestimmung  (und  zwar  eine  explizite)  am  Komplexe. 

Auf  Grund  der  hier  getroffenen  Festsetzungen  über  implizite 
und  explizite  Komplexionen,  implizite  und  explizite  Komplexe  er- 
geben sich  die  allgemeinen  Definitionen: 

Eine  Komplexion  ist  eine  Bestimmung  mit  meh- 
reren Bestimmungsgegenständen  und  einem  Eigen- 
schaft sgegenstande. 

Ein  Komplex  ist  ein  Eigenschaftsgegenstand  mit 
m-ehreren  Bestimmungsgegenständen  (oder  der  Eigen- 
schaftsgegenstand einer  Komplexion). 

Von  diesen  Gegenständen  gilt  folgendes — als  Meinong'sches 
Koinzidenzprinzip  ^)  zu  bezeichnendes  —  Gesetz: 

Mit  jeder  Komplexion  koinzidiert  wesentlich  eine 
Beziehung  zwischen  ihren  Inferioren;  (und  umgekehrt:) 
mit  jederBeziehungkoinzidiert  wesentlich  eineKom- 
plexion  ihrer  Glieder. 

Diese  Gesetzmäßigkeit  läßt  sich  nach  obigen  Ausführungen 
genauer  in  folgende  Sätze  fassen: 

Mit  jeder  impliziten  Komplexion  koinzidiert  wesentlich 
eine  explizite  Komplexion  oder  explizite  Beziehung 
und  eine  fiktive  Relation  derselben  Inferiora. 

Mit  jeder  impliziten  Relation  koinzidiert   wesentlich   eine 

^)  Meinong,  über  Geg.  höh.  Ordn.  §  5. 


254  Ernst  Mally. 

explizite   Beziehung   oder    eine    explizite   Komplexion 
und  eine  fiktive  implizite  Komplexion  derselben  Inferiora. 

Zugleich  ergeben  sich  die  Parallelsätze: 

Mit  jedem  impliziten  Komplexe  koinzidiert  wesentlich 
ein  expliziter  als  Eigenschaftsgegenstand  einer  expliziten  Be- 
ziehung zwischen  den  Bestandstücken  des   impliziten  Komplexes. 

Jeder  Eigenschaftsgegenstand  einer  Relation  ist  ein  expli- 
ziter Komplex  und  koinzidiert  wesentlich  mit  einem  fiktiven 
impliziten  Komplexe  der  Relationsglieder. 

Jeder  implizite  Komplex,  den  wir  überhaupt  (direkt)  erfassen, 
ist  uns  in  anschaulicher  Vorstellung  als  ein  Ganzes  gegeben. 
Durch  psychische  Analyse  gelingt  es  eventuell  seine  Bestand- 
stücke als  solche  zu  erkennen.  ^)  Die  wesentliche  Leistung  der 
psychischen  Analyse  ist  der  Übergang  vom  Erfassen  eines  impli- 
ziten Eigenschaftsgegenstandes  oder  einer  impliziten  Bestimmung 
zum  Erfassen  eines  (vollständig)  koinzidierenden  expliziten  Gegen- 
standes. Ihr  Ergebnis  ist  das  Urteil  über  die  Koinzidenz  dieser 
Gegenstände.  Es  sei  jemandem  z.  B.  durch  „Veranschaulichung" 
an  einer  hinreichend  genauen  Zeichnung  eine  anschauliche  Vor- 
stellung von  einem  Stück  einer  Kurve  gegeben.  Es  kann  nun 
gelingen,  zwischen  den  Bestandstücken  dieses  Kurventeiles  (den  un- 
bestimmt kleinen  „Kurvenelementen"  -))  —  etwa  durch  Konstatierung 
von  Relationen  der  Kurvenpunkte  zu  bestimmten  außerhalb  der 
Kurve  gelegenen  Punkten  —  eine  Beziehung  zu  erfassen,  welche 
sie  zu  Bestandstücken  eines  bestimmten,  mathematisch  definierten 
expliziten  Komplexes  bestimmt.  Es  stelle  sich  z.  B.  heraus,  daß 
alle  Punkte,  demnach  auch  alle  nicht  direkt  zu  erfassenden  Kurven- 
elemente von  einem  Punkte  ihrer  Ebene  den  gleichen  Abstand, 
d.  h.  die  gleiche  Verschiedenheit  haben.  Dadurch  ist  die  Koin- 
zidenz des  vorgegebenen  Kurvenstückes  mit  einem  mathematisch 
definierten  expliziten  Komplexe  konstatiert,  und  der  implizite 
Komplex  als  ein  Kreisbogen  in  dem  in  der  Geometrie  festgesetzten 
Sinne  des  Wortes  erkannt.  Die  erste  Leistung  der  Analyse  war 
dabei  das  Erfassen  des  Kurvenstückes  „als"  eines  Komplexes  von 

')  Vgl.  Meinong,  Beiträge  zur  Theorie  der  psychischen  Analyse.  Zeitschr.  f. 
Psychol.  u.  Physiol.  der  Siunesorg.  VI,  S.  340  ff.,  ferner  desselben  Autors  Abhand- 
Inng  „Über  Geg.  höh.  Ordn."  §  14. 

*)  Näheres  darüber  unten  in  §  15,  S.  169. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  155 

Linienteilen ,  die  dann  durch  explizite  Beziehungen  zu  neuen  ex- 
pliziten Komplexen  bestimmt  werden  konnten. 

Jeder  explizite  Komplex,  den  wir  überhaupt  (direkt)  erfassen, 
ist  uns  in  unanschaulicher  Annahmevorstellung ')  gegeben.  Der 
psychische  Vorgang,  wodurch  von  der  unanschaulichen  Vorstellung 
des  expliziten  Komplexes  (der  expliziten  Komplexion)  zur  anschau- 
lichen des  koinzidierenden  impliziten  Komplexes  (der  impliziten 
Komplexion)  übergegangen  wird,  heißt  Synthese,  Die  Synthese 
kann  natürlich  nicht  vollzogen  werden,  wenn  mit  dem  expliziten 
Gegenstand  kein  impliziter  (vollständig)  koinzidiert.  Gleichwohl 
kann  in  diesem  Falle  ein  koinzidierender  impliziter  Gegenstand 
(explizite)  angenommen  oder  „fingiert"  werden.  Wer  z.  B.  die 
Gegenstände  A,  B,  C  erst  einzeln  vorstellt  und  dann  nach  der 
Zahl  dieser  Gegenstände  gefragt  wird,  denkt,  indem  er  die  Frage 
auffaßt,  erst  an  einen  expliziten  Komplex  von  A,  B  und  C,  geht 
aber  leicht  zur  Vorstellung  der  impliziten  Dreiheit  (dieser 
Gegenstände)  über,  bzw.  zum  anschaulichen  Erfassen  des  impliziten 
Dreierkomplexes,  worin  diese  Gegenstände  Bestandstücke  sind.  Ist 
dagegen  die  anzugebende  Anzahl  irgendwelcher  vorliegender  Gegen- 
stände A,  B,  C,  D  .  ,  .  .  N  nur  einigermaßen  größer,  so  gelingt 
das  anschauliche  Vorstellen  ihres  impliziten  Zahlkomplexes  nicht 
mehr  (obwohl  ein  solcher  besteht),  die  Synthese  versagt  also  wegen 
der  Unzulänglichkeit  der  psychischen  Fähigkeiten  dessen,  der  sie 
vollziehen  soll.  ^Vird  nun  die  Anzahl  der  Gegenstände  etwa  als  12 
oder  18  angegeben,  so  ist  mit  dieser  Angabe  ein  bestehender  impliziter 
Komplex  gemeint,  aber  gewiß  nicht  unmittelbar  gedacht.  Der 
Gedanke  erfaßt  vielmehr  zunächst  einen  expliziten  Komplex  mit 
der  Bestimmung  des  Implizitseins  (sofern  mit  der  Nennung  der 
Zahl  auch  der  adäquate  Gedanke  verbunden  ist),  also  einen 
fiktiven  Komplex,   dem  aber  ein  bestehender  impliziter  entspricht. 

§  13.    Idealität    und  Realität   von    Komplexionen    und 
Komplexen.    (Realrelationen). 

Eine  Komplexion.  die  bestehen,  aber  nicht  existieren  kann,  ist 
eine  Ideal komplexion.  Ideal  ist  jede  explizite  Komplexion, 
denn  aUe  expliziten  Bestimmungen  sind  Objektive. 

1)  Vgl.  oben  §  8,  S.  137  f. 


•j^^g  Ernst  Mally. 

Eine  Komplexion,  die  ihrer  Natur  nach  existieren  kann, 
(deren  Sosein  also  ihre  Existenz  nicht  ausscliließt.)  ist  eine  Real - 
komplexion.  Eealkomplexionen  können  nur  implizite  Kom- 
plexionen sein;  denn  diese  sind  Qualitäten  (also  Objekte  im  engeren 
Sinne),  und  unter  den  Qualitäten  sind  reale  mög-lich. 

Ein  Komplex,  dessen  Komplexion  ideal  ist,  heiße  ein  Ideal- 
komplex. Ein  Komplex,  dessen  Komplexion  real  ist,  heiße  ein 
Realkomplex. 

Eine  implizite  Komplexion,  also  auch  jede  Realkomplexion 
kann  nur  an  einem  bestehenden  impliziten  Komplexe  bestehen. 
Eine  explizite  Komplexion  kann  auch  an  einem  unmöglichen 
(expliziten)  Komplexe  bestehen  (wenn  sie  ein  widersprechendes 
aber  nicht  unmögliches  Sosein  ist). 

Mit  jeder  impliziten  K  o  m  p  1  e  x  i  o  n  —  sie  mag  real  oder 
ideal  sein  —  koinzidiert  wesentlich  ein  Komplexionsobjektiv,  also 
eine  ideale  (explizite)  Beziehung  ihrer  Inferiora. 

Mit  jeder  Relation  —  sie  mag  real  oder  ideal  sein  — 
koinzidiert  wesentlich  ein  Relationsobjektiv,  also  eine  (explizite) 
Idealkomplexion  ihrer  Glieder. 

Eine  Idealkomplexion  kann  als  ideale  Eigenschaft^)  so- 
wohl an  einem  realen  als  an  einem  idealen  Gegenstande  bestehen. 
Der  Eigenschaitsgegenstand  einer  (nicht  widersprechenden)  idealen 
Bestimmung  ist  real,  wenn  der  Bestimmungsgegenstand  real  ist. 
Ein  Komplex  mit  idealer  Komplexion  ist  real,  wenn  seine  Be- 
stimmungsgegenstände, d.  h.  seine  Bestandstücke,  real  sind.  Es 
gibt  also  neben  idealen  auch  reale  Idealkomplexe.  -) 

Implizite  Idealkomplexionen  sind  z.  B.  Gestalt- 
komplex i  o  n  e  n  (oder  Formen)  und  Z  a  h  1  k  o  ni  p  1  e  x  i  o  n  e  n.  Ge- 
staltkomplexionen sind:  die  Dreiecksform,  die  Vierecksform,  die 
Kreisform,  die  Gestalt  der  Geraden,  der  Ellipse,  des  Kegels,  der 
Ebene  u.  s.  f.  Mit  diesen  impliziten  Komplexionen,  die  ideale 
Qualitäten  an  ihren  Eigenschaftsgegenständen,  den  Gestaltkom- 
plexen sind,  koinzidieren  wesentlich  Komplexionsobjektive  als  ex- 

*)  Vgl.  die  oben  §  10,  S.  144  ff.,  angeführten  Kriterien  der  Realität  und  der 
Idealität  von  Qualitäten. 

-)  Die  Bezeichnung  „realer  Idealkomplex"  enthält  keinen  Widerspruch;  denn 
„Idealkomplex"  heißt  nicht  „idealer  Komplex"  sondern,  nach  der  Definition,  „Kom- 
plex, dessen  Komjjlexion  ideal  ist". 


Zur  Gegenstandstlieorie  des  Messens.  157 

plizite  Komplexionen  wie:  „daß  etwas  (z.  B.  A)  dreieckig-,  viereckig, 
gerade,  eben  .  .  .  ist"  oder  „das  Dreieckigsein,  Viereckigsein,  Ge- 
radesein, Ebensein  .  .  .  des  A".  Diese  Soseinsobjektive  mit  der 
Bestimmung,  implizit  zu  sein,  erhalten  meist  substantivische  Be- 
nennungen auf -heit  und -keit  ^),  wie:  „Dreieckigkeit",  „Viereckig- 
keit", „Geradheit",  „Ebenheit"  u.  s.  f.  Da  aber  beim  Erfassen 
eines  derartigen  fiktiven  Gegenstandes  oft  oder  meist  der 
wesentlich  koinzidierende  implizite  Gegenstand,  nämlich  hier 
die  entsprechende  echte  implizite  Komplexion  (oder  ideale  Qualität) 
gemeint  ist,  können  diese  Namen  in  vielen  Fällen  als  B  e  z  e  i  c  h  - 
nungen  dieser  impliziten  Komplexionen  und  als  Ausdruck^) 
eines  Erfassens  der  entsprechenden  fiktiven  Komplexionen  auf- 
gefaßt werden.  Andererseits  mögen  die  angeführten  Wörter,  und 
andere  ihrer  Art,  häufig  auch  nur  den  unanschaulichen  Gedanken 
an  das  explizite  Soseinsobjektiv  kürzer  ausdrücken,  also  die  ent- 
sprechenden Komplexionsobjektive  bedeuten.  Bei  diesem  Schwanken 
des  Sprachgebrauches  scheint  doch  dem  „Sprachgefühl"  durchaus 
Genüge  getan,  wenn  man  zu  wissenschaftlichen  Zwecken  folgende 
Festsetzung  vornimmt:  Die  implizite  Gestaltkomplexion  werde  als 
Form  bezeichnet  und  durch  Angabe  des  zugehörigen  (reinen)  Kom- 
plexes näher  bestimmt,  z.  B,  Dreiecksform,  Form  des  Kreises;  das 
wesentlich  koinzidierende  Komplexionsobjektiv  erhält  die  objek- 
tivische Bezeichnung  „daß  A  x  ist"  oder  auch  „x-sein  des  A" ;  als  Be- 
nennung der  fiktiven  Komplexion  diene  ein  Substantiv  auf  -heit  oder 
-keit  (oder  die  ausführliche  Bezeichnung  mittels  des  Wortes  fiktiv). 

Daß  die  Form  (oder  Gestalt  im  Sinne  der  Qualität)  tatsäch- 
lich eine  Komplexion  ist,  ist  schon ^)  gezeigt  worden  und  geht 
aus  der  Vielheit  ihrer  Bestimmungsgegenstände  hervor,  der  die 
Einheit  des  impliziten  Eigenschaftsgegenstandes  gegenübersteht. 
Daß  sie  nur  bestehen  und  nicht  existieren  kann  (also  ideal  ist), 
ist  aus  ihrem  Wesen  unmittelbar  einzusehen. 

Die  Idealkomplexe,  deren  Komplexionen  Gestaltkomplexionen 
sind,  heißen  Gestalt  komplexe.  Das  Wort;  „Gestalt"  dient 
wohl   ursprünglich   zur    Bezeichnung    der    Gestaltkomplexion   und 


')  Vgl.  oben  §  8,  bes.  S.  139. 

*)  Die   Unterscheidung   von  Bezeichnung  (resp.   Bedeutung)   und  Ausdruck 
ist  von  Meinong  (Über  Annahmen,  §  4.)  vollzogen  worden. 
')  Oben,  in  §  11. 


J58  Erkst  Mally. 

zwar  insbesondere  der  impliziten  Gestaltkomplexion  oder  „Form". 
Doch  scheint  es  auch  häufig  den  reinen  Gestaltkomplex 
zu  bezeichnen.^)  Um  dieser  Zweideutigkeit  auszuweichen,  will 
ich  für  „Gestalt"  in  der  ersten  Bedeutung  „Gestaltkomplexion"  oder 
„Form"  sagen,  für  „Gestalt"  in  der  zweiten,  wie  ich  glaube  über- 
tragenen Bedeutung  aber  „Gestaltkomplex",  und  im  Falle  des 
reinen  Gestaltkomplexes  „Figur".  Diese  letztere  Bezeichnung 
scheint  der  normalen  Bedeutung  des  Wortes  im  geometrischen 
Sprachgebrauche  zu  entsprechen.  Eine  „geometrische  Figur" 
ist  ein  reiner  Gestaltkomplex,  d.  h.  ein  Gegenstand,  sofern  er  nur 
durch  seine  Form  bestimmt  ist,  oder  ein  Gegenstand  mit  einer 
(impliziten)  Gestaltkomplexion  als  Grundeigenschaft.-) 

Determinierte  Gestaltkomplexe  können  auch  reale  Gegenstände 
sein.  Z.  B.  eine  Kugel  von  Stein,  ein  gläserner  ^^'ürfel  sind  reale 
Gegenstände,  die  mit  den  realen  (determinierten)  Idealkomplexen 
kugelförmiger  Stein,   würfelförmiges  Glas   vollständig  koinzidieren. 

Gestaltkomplexe  und  Gestaltkomplexionen  sind  nicht  auf  räum- 
liche Inferiora  beschränkt.  Eine  Gerade,  eine  Ebene,  ein  Drei- 
eck .  ,  .  können  nicht  nur  im  Räume,  sondern  auch  in  anderen 
Xontinuen  bestehen."^)  Mit  jeder  Gestaltkomplexion  koinzidieren 
notwendig  gewisse  explizite  Beziehungen  ihrer  Inferiora.  Darunter 
gibt  es  insbesondere  Beziehungen,  die  mit  Verschiedenheits- 
relationen zwischen  je  zwei  Inferioren  als  explizite  Beziehungen 
aller  Inferiora  untereinander  gegeben  sind.^)  Derartige  Beziehungen 
von  Bestandstücken  (oder  ..Daten")  ^)  sind  nun  auch  in  außerräum- 
lichen Kontinuen  möglich  und  bestimmen  in  ihnen  außerräumliche 
Gestalten.  Eine  außerräumliche  Gestalt,  die  uns  nicht  nur  expli- 
zite, durch  die  Beziehungen  ihrer  Inferiora,  sondern  auch  als  im- 
pliziter Gegenstand  entgegentritt,  ist  z.  B.  die  Melodie.^) 


^)  Man  meint  die  Gestaltkomplexion,  wenn  man  sagt,  die  Gerade,  der 
Kreis,  das  Dreieck  ,,habe"  eine  Gestalt;  mau  meint  den  reinen  Gestaltkom- 
plex, wenn  man  sagt,  Gerade,  Kreis,  Dreieck  „seien  Gestalten''. 

■)  Vgl.  oben  §  6,  S.  132. 

*)  Einiges  Nähere  darüber  unten  in  Kap.  III,  §  20. 

*)  Solche  Verschiedenheitsbeziehungen ,  z.  B.  Abstandsverhältnisse  von  ge- 
gebenen Punkten  und  Geraden,  untersucht  die  Geometrie,  um  durch  sie  die  koin- 
zidierende  Gestaltkomplexion  (,,analytisch")  zu  bestimmen. 

*)  Vgl.  unten  Kap.  III,  §  20. 

*)  Auch  hier  ist  wieder  die  Bezeichnung  „Melodie"  —  wie  sonst  die  Be- 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  159 

Von  den  Idealkomplexionen  und  Idealkomplexen  der  Zahl 
wird  im  folgenden  noch  ausführlieh  zu  handeln  sein. 

Eine  reale  Qualität  mit  mehreren  Bestimmungsgegenständen 
und  einem  impliziten  Eigenschaftsgegenstande  ist  eine  Real- 
komplexion.  Ihr  (realer)  Eigenschaftsgegenstand  ist  ein  Real- 
komplex. 

Die  Realkomplexion  kann  an  einem  bestehenden  Realkomplexe, 
also  bei  bestehenden  (realen)  Inferioren  nur  bestehen,  an  einem 
existierenden  Realkomplexe,  also  bei  existierenden  Inferioren, 
existieren.  Die  Realkomplexion  gründet  sich  auf  ihre  Inferiora  in 
anderer  Weise  als  die  Idealkomplexion.  Eine  Idealkomplexion 
besteht  notwendig,  wenn  das  Sosein  ihrer  Inferiora  besteht: 
sie  wird  durch  ihre  Inferioren  fundiert.^)  Eine  Realkomplexion 
existiert,  wenn  ihre  Inferiora  existieren;  aber  ihre  Existenz  ist 
nicht  notwendig  mit  dem  Bestände  des  So s eins  ihrer  Inferiora 
verbunden:  eine  Realkomplexion  wird  von  ihren  Inferioren  pro- 
duziert. Der  Realkomplex  wird  von  seinen  Bestandstücken  pro- 
duziert.-) 

Als  Beispiele  von  Realkomplexen  bzw.  Realkom- 
plex i  o  n  e  n  lassen  sich  •^)  folgende  FäUe  anführen : 

Eine  sogenannte  „chemische  Verbindung"  oder  ein  chemisch 
zusammengesetzter  Stoff  ist  ein  Komplex  von  „Elementen".  Er 
weist  andere  reale  Qualitäten  und  auch  andere  ideale  Beschaffen- 
heiten auf  als   die  einzelnen  unverbundenen  Elemente  und  auch 


Zeichnung  ..Gestalt"  im  allgemeinen  —  zweideutig.  Wenn  man  sagt,  ein  Lied 
habe  eine  schöne  Melodie,  so  meint  man  mit  diesem  Worte  die  Gestaltkom- 
plexion, deren  Inferiora  die  Töne  des  Liedes  sind;  nennt  man  aber  ein  Lied 
selbst  „eine  schöne  Melodie",  so  bedeutet  dieses  Wort  den  Gestaltkoni plex 
der  Töne.  Jedoch  ist  bei  der  Komplexbedeutung  des  Wortes  vorwiegend  an  den 
reinen  Gestaltkoraplex  gedacht.  Das  zeigt  sich  darin,  daß  eventuell  auch  noch 
das  Ergebnis  einer  „Transposition"  als  „dieselbe  Melodie-'  bezeichnet  wird,  ob- 
wohl die  Bestandstücke  des  Komplexes  nun  andere  sind  (und  eben  nur  die  Kom- 
plexion und  mit  ihr  der  reine  Komplex  geblieben  ist). 

')  Begriff  und  Terminus  ,, Fundierung"  rühren  von  Meinong  her.  Über  Geg. 
höh.  Ordn.  §  7. 

^)  Vgl.  den  Gebrauch  des  Wortes  bei  R.  Ameseder,  (diese  Untersuchungen 
Nr.  VIII,)  dem  gegenüber  der  hier  festgesetzte  eine  Verallgemeinerung  be- 
deutet. 

')  Soweit  ich  in  der  Sache  heute  urteilen  kann. 


200  Ernst  Mally. 

andere  als  ein  (Ideal-)Komplex  der  unverbundenen  Elemente 
(ein  „mechanisches  Gemenge"  aus  denselben  Elementen).  Es  be- 
darf erst  eines  realen  Vorganges  an  den  Elementen,  um 
den  chemisch  komplexen  Stoflf  zu  produzieren.  Ein  solcher  Stoflf 
M  (etwa  Wasser)  als  impliziter  realer  Eigenschaftsgegenstand  aller 
seiner  charakteristischen  Eigenschaften  bestimmt,  ist  ein  fiktiver 
realer  Gegenstand.  Der  Gegenstand  „M,  welches  aus  den  Ele- 
menten A,  B  . . .  chemisch  zusammengesetzt  ist" ,  z.  B.  „Wasser, 
welches  aus  Wasserstoff  und  Sauerstoff'  chemisch  zusammengesetzt 
ist"  oder  kurz  „HgO",  ist,  als  impliziter  Gegenstand  bestimmt, 
ein  fiktiver  Komplex  der  Elemente  A,  B  . . .  (im  Beispiele ;  H  und 
0).  Der  chemischen  Zusammensetzung  aber  ist  es  wesentlich,  daß 
sie  durch  einen  realen  Prozeß  an  den  Inferioren  (den  Elementen) 
zustande  kommt,  daß  sie  also  nicht  eine  Idealkomplexion,  sondern 
eine  Kealkomplexion  dieser  Inferiora  ist.  Der  explizite  Kom- 
plex „M,  welches  aus  A,  B  . . .  chemisch  zusammengesetzt  ist"  ist 
allerdings  ein  Idealkomplex,  aber  durch  eine  Kealkomplexion  (die 
chemische  Zusammensetzung)  wesentlich  bestimmt.  Dieser  Gegen- 
stand mit  der  Bestimmung,  impliziter  Gegenstand  zu  sein,  ist  also 
ein  fiktiver  Gegenstand,  der  durch  eine  Realkomplexion  (als  seine 
Haupteigenschaft)  bestimmt  ist,  —  daher  ein  fiktiver  Eealkom- 
plex.  Ein  solcher  fiktiver  Realkomplex  ist  der  als  implizit 
bestimmte  ;(aber  explizite)  Komplex  H^O.  Was  beim  Erfassen 
dieses  „Denkgegenstandes"  gemeint  ist,  ist  ein  impliziter 
Realkomplex  der  Elemente  H  und  0,  das  Wasser.^) 

Spannung  ist  eine  reale  Qualität,  die  wir  unter  Umständen 
(am  eigenen  Muskel)  auch  wahrnehmen  können.-)  Sie  kann  nur 
an  einem  komplexen  Gegenstande  bestehen.  Ein  Gegenstand, 
wie  „ein  materielles  System,  woran  (oder  worin)  Spannung  herrscht" 
ist  zunächst  ein  expliziter  Gegenstand.     Dieser  Gegenstand  mit 


^)  Ob  das  Wasser  als  tatsächlich  impliziter  Eealkomplex  seiner  „Elemente" 
existiert,  kann  natürlich  a  priori  niemals  entschieden  werden,  daher  bei  rein 
gegenstandstheoretischer  Behandlung  dieses  Themas  auch  gar  nicht  in  Frage 
kommen.  Existiert  es,  so  existiert  an  ihm  auch  die  Realkomplexion  der  che- 
mischen Zusammensetzung ;  besteht  aber  der  implizite  Realkomplex  nur,  so  be- 
steht an  ihm  auch  die  Realkomplexion. 

")  Vgl.  Höfler,  Psychische  Arbeit  (Ztschr.  f.  Psychol.  u.  Physiol.  d.  Sinnes- 
org.  Bd.  VIII  1895),  insbes.  §  6;  dazu  oben  S.  31,  Anm.  1. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  161 

der  Bestimmung'  implizit  zu  sein  ist  ein  fiktiver  und  insbe- 
sondere als  real  bestimmter  Gegenstand.  Seine  reale  Haupt- 
eig-enschaft.  die  Spannuno-,  hat  seine  „Massenteile"  zu  Bestimmungs- 
gegenständen, den  fiktiven  Komplex  selbst  zum  (als  real  be- 
stimmten) Eigenscliaftsgegenstande.  ^^'as  beim  Erfassen  des  fik- 
tiven Gegenstandes  gemeint  ist,  ist  ein  (impliziter)  Realkomplex 
mit  der  Realkomplexion  „Spannung."^) 

Die  chemisch  zusammengesetzten  Stoße  treten  uns  als  Ganze 
entgegen,  und  zwar  derart,  daß  keine  bloß  psychische  Ana- 
lyse genügt,  um  die  mit  ihnen  koinzidierenden  expliziten  Kom- 
plexe der  Elemente  zu  erfassen.  Andererseits  ist  es  auch  nicht 
möglich,  allein  durch  den  psychischen  Vorgang  der  Syn- 
these von  der  Vorstellung  eines  expliziten  Idealkomplexes  vor- 
gegebener Elemente  zur  anschaulichen  Vorstellung  einer  bestimmten 
„chemischen  Verbindung"  dieser  Stoffe  überzugehen.  Dagegen  ge- 
lingt es  unter  günstigen  Umständen,  mittels  eines  an  dem  ge- 
gebenen komplexen  Stoffe  direkt  angreifenden  realen  Prozesses, 
der  chemischen  Analyse,-)  au  seine  Stelle  einen  expliziten  Ideal- 
komplex nebeneinander  befindlicher  Elemente  zu  setzen,  wovon 
sich  dann  mit  genügend  großer  Wahrscheinlichkeit  aussagen  läßt, 
daß  er  mit  jenem  impliziten  Realkomplexe  vollständig  koinzidiere. 
Andererseits  kann  aus  einem  expliziten  Idealkomplexe  nebenein- 
ander befindlicher  Elemente  mittels  des  an  ihnen  angreifenden 
realen  Vorganges  der  chemischen  Synthese'^)   ein  impliziter  Real- 

^)  Auch  hier  bleibt  die  eventuelle  tatsächliche  Existenz  eines  derartigen 
Eealkomplexes ,  und  damit  seiner  Realkomplexion  gegeustandstheoretisch  auGer 
Frage.  Es  genügt  festgestellt  zu  haben,  daß  mit  den  genannten  fiktiven  Gegen- 
ständen, ihrem  Sosein  nach,  bestehende  Gegenstände  koinzidieren ,  deren  Sosein 
ihre  Existenz  nicht  ausschließt  (die  also  real  sind). 

^)  Diese  Art  Analyse  könnte  als  „Realanalyse"  jenem  rein  fiktiven  Vor- 
gange am  Gegenstande  einer  psychischen  Analyse  gegenübergestellt 
werden,  wodurch  er  „in  der  Vorstellung"  „zerlegt"  wird.  Der  tatsächliche, 
rein  psychische  Vorgang  des  Analysierens  ist  natürlich  real  und  wahr- 
scheinlich auch  eine ,  an  komplexen  Vorstellungen  (oder  wohl  direkter  noch  an 
den  Dispositionsgrundlagen  zu  komplexen  Vorstellungen)  angreifende,  Analj'se,  also 
auch  eine  ,, Realanalyse".  —  Vgl.  R.  Ameseder,  Über  Vorstellungsproduktion, 
Nr.  VIII  dieser  Untersuchungen. 

')  Der  „Realanalyse"  steht  die  „Realsynthese"  gegenüber.    Auch   die  psy- 
chische Synthese  ist  als  rein  psychischer  Vorgang  betrachtet  eine  ..Realsynthese" 
(von  Vorstellungen  oder  den  aktualisierten  oder  nicht  aktualisierten  Dispositions 
Meinong,  Untersuchungen.  11 


2ß2  Ernst  Mally. 

komplex  dieser  Stoffe  erzeugt  oder  produziert  werden.  Mit  Eück- 
sicht  auf  derartige  Erfahrungstatsachen  sind  wir  imstande, 
(günstigenfalls)  zu  einem  expliziten  Idealkomplexe  gegebener  Ele- 
mente den  impliziten  Kealkomplex.  umgekehrt  zu  einem  impliziten 
Realkomplexe  den  expliziten  Komplex  der  Bestandstücke  zu  er- 
fassen und  mit  Evidenz  für  Wahrscheinlichkeit  das  Urteil  über 
ihre  Koinzidenz  zu  fällen. 

Mit  jeder  Realkomplexion  koinzidiert  wesentlich  als  explizite 
Komplexion  derselben  Inferiora  ein  Komplexionsobjektiv,  welches 
zugleich  eine  explizite  Beziehung  zwischen  den  Bestandstücken 
des  Realkomplexes  darstellt.  Eine  explizite  Beziehung  von  dem 
Quäle  einer  Realkomplexion  und  mit  der  Bestimmung,  implizite 
Beziehung  zwischen  ihren  Inferioren  zu  sein,  ist  eine  fiktive 
Realrelation.  Mit  einer  fiktiven  Realrelation  kann  eine  im- 
plizite oder  echte  Realrelation  zwischen  denselben  Gliedern  koin- 
zidieren,  wenn  das  koinzidierende  Komplexionsobjektiv  (oder  die 
explizite  Beziehung)  nicht  widersprechend  ist.  Eine  (echte)  R  e  a  1  - 
relation  ist  eine  reale  Qualität  zwischen  Gegenständen  oder 
eine  implizite  reale  Beziehung. 

Von  direkt  konstatierbaren  Realrelationen  ist  mir  kein  Beispiel 
bekannt.  ^)  Die  Inferiora  eines  chemisch  komplexen  Stoffes  stehen 
untereinander  in  expliziter  Beziehung  von  dem  Quäle  ihrer  Real- 
komplexion ;  man  kann  sagen :  sie  stehen  in  expliziter  Realrelation 
des  chemischen  Yerbundenseins.  Die  Inferiora  eines  materiellen 
Systems,  woran  eine  Spannung  besteht,  sind  untereinander  in 
der  expliziten  Realrelation,  die  man  Spamiungsrelation  (Druck- 
relation, Zugrelation)  nennen  kann.  Diese  expliziten  Beziehungen  von 
dem  Quäle  von  Realkomplexionen,  als  implizite  Beziehungen  bestimmt, 
sind  fiktive  Realrelationen.  Solche  fiktive  Realrelationen  be- 
zeichnen "Wörter,  die  auch  zur  Bezeichnung  der  expliziten  Be- 
ziehungen verwendet  werden,  wie:  „chemisches  Verbundensein", 
„Druckrelation",  „Zugrelation",  „Anziehungsrelation",  „Abstoßungs- 
relation".  Mit  diesen  Bezeichnungen  können  aber  auch  irgendwelche 


grundlagen  zu  Vorstellungen).  Ihr  entspricht  als  ein  rein  fiktiver  Vorgang 
jener  „Vorgang"  am  Gegenstande,  wodurch  er  ..in  der  Vorstellung"  „zu- 
sammengesetzt'' wird. 

*)  Darum  ist  auch  von  diesem  Gegenstande  nicht  vor  Abhandlung  der  Eeal- 
komplexionen  und  Realkomplexe  die  Rede  gewesen. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  '         163 

mit  den  entsprechenden  Realkomplexionen  tatsächlich  koinzidierende 
echte  Eealrelationen  (von  irgendeinem  uns  unbekannten  Relat)  g  e  - 
meint  sein,  die  unserem  Erfassen  direkt  nicht  zugänglich  sind. 
Mit  jeder  Realkomplexion  koinzidieren  gewisse  ideale  Be- 
ziehungen zwischen  ihren  Inferioren,  die  zum  Teil  auch  durch 
Idealielationen ,  z.  B.  Verschiedenheiten,  insbesondere  Größenver- 
schiedenheiten.  zwischen  ihnen  bestimmbar  sind.  Die  theoretische 
Naturwissenschaft  setzt  es  sich  zur  Aufgabe,  jene  Beziehungen 
zwischen  den  Inferioren  eines  Realkumplexes  zu  ermitteln,  durch 
welche  die  koinzidierende  Kealkomplexion  eindeutig  bestimmt  ist. 
Als  solche  Beziehungen  werden  insbesondere  auch  M  a  ß  b  e  - 
Ziehungen  aufgesucht. 

§  14.   Mengen.    Der  Komplexionsgrad.    Die  Zahl. 

Mit  jeder  Komplexion  koinzidiert  als  eine  Komplexion  der- 
selben Inferiora  die  Vielheit  oder  Mehrheit  oder  „Menge" 
ihrer  Bestimmungsgegenstände.  Mit  jedem  Komplexe  koinzidiert 
darum  ein  M  e  n  g  e  n  k  o  m  p  1  e  x  seiner  Bestaudstücke.  —  Auf  Grund 
dieser  notwendigen  Koinzidenz  kann  der  Komplex  überhaupt  auch 
als  ein  Gegenstand  bezeichnet  werden,  der  aus  mehreren  Gegen- 
ständen besteht.  ^)  Auch  die  im  Vorhergehenden  gegebenen  Defini- 
tionen der  Komplexion  und  des  Komplexes  haben  von  dieser  Tatsache 
Gebrauch  gemacht.  Der  Mengenkomplex  wird  auch  als  Kollek- 
tiv-)  oder,  mit  Rücksicht  auf  den  charakteristischen  psychischen 
Akt  des  „Zusammenfassens"  (der  Bestandstücke),  der  zum  Erfassen 
eines  nicht  schon  implizit  gegebenen  Komplexes  dieser  Art  führt, 
auch  als  „Zusammenfassungskomplex"  bezeichnet. 

Mit  jeder  Mengenkomplexion  koinzidiert  wesentlich  eine  ex- 
plizite Beziehung  zwischen  ihren  Inferioren,  die,  als  implizite  Be- 
ziehung bestimmt,  „Zusammenfassungsrelation"  heißt.  Die  Zu- 
sammenfassunofsrelation   ist    also    eine    fiktive  Relation.     Mit   ihr 


')  Nur  ist  diese  Charakteristik  etwas  äußerlich,  weil  dadurch  nicht  zur 
Geltung  kommt,  daß  jeder  Komplex,  sofern  er  nicht  eben  ,,bloß'"  Mengenkomplex 
ist,  nicht  schlechthin  die  Menge  seiner  Bestandstücke  ist,  sondern  sich  diuch  eine 
wesentliche  Haupteigenschaft,  die  Komplexion.  bestimmt,  die  nur  im  besonderen 
Falle  eine  Mehrheitskomplexion  ist. 

^)  Ton  Meinong. 

11* 


1(',4  Ernst  Mally. 

können  verschiedene  echte  Relationen  zwischen  denselben  Gliedern 
koinzidieren. 

Die  Mehrheit  ist  eine  Idealkomplexion.  Zeichen  ihrer 
Idealität  ist,  daß  sie  ebensowohl  ideale  als  reale  Bestimmung-s- 
gegenstände  haben  kann,')  da  sie  ja  mit  j  e  d  e  r  Komplexion  koiu- 
zidiert.    Der  Mengenkomplex  ist  also  ein  Idealkomplex. 

Ein  Mengenkomplex,  der  nur  durch  seine  Komplexion  bestimmt 
ist  —  also  eine  Menge  völlig  unbestimmter  Gegenstände  — ,  ist 
ein  reiner  Mengenkomplex. 

Ein  Mengenkomplex  mit  mehr  Bestandstücken,  gleichviel 
welcher  Art,  heißt  eine  Menge  höheren  Grades  gegenüber 
einem  Mengenkomplex,  der  weniger  Bestandstücke,  gleichviel 
welcher  Art  entliält.  Überhaupt  heiße  ein  Komplex,  dessen  Be- 
standstücke eine  Menge  höheren  Grades  bilden,  selbst  ein  Kom- 
plex höheren  Grades  gegenüber  einem  Komplexe,  dessen  Be- 
standstücke eine  Menge  niedereren  Grades  bilden.  Analoge  Be- 
stimmungen gelten  von  der  Komplexion. 

Ein  Kriterium  des  höheren  Grades  eines  Mengenkomplexes 
läßt  sich  auch  ohne  Eekurs  auf  das  „Mehr"  an  Bestandstücken 
angeben,  das  ja  selbst  ein  ganz  besonders  charakterisierter  Fall 
von  Mehrheitsgrad  ist.  —  Eine  Menge  M  bestehe  aus  lauter  unter- 
einander gleichartigen  Gegenständen  a  und  werde  darum  mit  M(a) 
bezeichnet.  Es  sind  folgende  zwei  Fälle  möglich:  Entweder  ist 
M(a)  so  beschaffen,  daß  mit  ihm  noch  mindestens  ein  wesentlich 
anderer  Mengenkomplex  koinzidiert,  unter  dessen  Bestandstücken 
(mindestens)  ein  Mengenkomplex  M'(a)  vorkommt,  während  die 
übrigen  Bestandstücke  auch  a  sein  können.  In  diesem  Falle  ist 
M  ( a)  ein  Mengenkomplex  höheren  Grades  als  M'  (a).  Oder  ist 
M(a)  so  beschaffen,  daß  es  mit  keinem  wesentlich  verschiedenen 
Mengenkomplexe  koinzidiert,  der  unter  seinen  Bestandstücken 
mindestens  e  i  n  e  n  Mengenkomplex  von  Bestandstücken  a,  also  ein 
M'  (a)  hätte.  In  diesem  Falle  ist  M  (a)  ein  Mengenkomplex  niedersten 
Grades. 

Der  Grad  einer  Menge  ist  durch  ihre  Komplexion  be- 
stimmt; er  kommt  also  schon  dem  reinen  Mengenkomplexe  zu. 
Es  seien  z.  B.  a,  a,  a  in  Zusammenfassungskomplexion  9)?.    Dann 


')  Vgl.  oben  §  13,  S.  156,  auch  die  Anm.  1. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  165 

bilden  sie  einen  Mengeiikomplex  M  (a).  Mit  M  (a)  koinzidiert  nun  ein 
wesentlich  anderer  Mengenkomplex  'M^  (a),  bestehend  aus  einem  Be- 
standstück a  und  einem  Bestandstück  M'(a),  das  seinerseits  ein 
Mengenkomplex  der  Bestandstücke  a  und  a  ist.  M(a)  ist  also 
eine  Menge  höheren  Grades,  M'  (a)  dagegen  eine  Menge  niedersten 
Grades;  denn  unter  ihren  Bestandstücken  (a.  a)  befindet  sich  kein 
Mengenkomplex  von  Bestandstücken  a,  und  es  läßt  sich  auch  kein 
mit  M'  (a)  koinzidierender  anderer  Mengenkomplex  M  ^  (a)  angeben, 
bei  dem  dieses  der  Fall  wäre.  Was  hier  von  M(a)  und  M'(a) 
gezeigt  worden  ist.  gilt  nun  auch  von  den  entsprechenden  reinen 
Komplexen  M  und  M' :  es  ist  M  ohne  Rücksicht  auf  die  Art  seiner 
Bestandstücke  eine  Menge  höheren  Grades  und  M'  eine  Menge 
niedersten  Grades.  Denn  M  und  M'  sind  immer  durch  unterein- 
ander gleichartige  Bestandstücke  a  oder  b  oder  c  .  . .  und  endlich 
durch  die  schlechthin  unbestimmten  Bestandstücke  „Gegenstände" 
determinierbar,  ohne  daß  das  oben  gewonnene  Ergebnis  (über  die 
Gradhöhen)  sich  irgendwie  änderte.  Im  Grenzfalle  der  völligen 
Unbestimmtheit  der  „determinierenden"  Gegenstände  ist  aber  der 
Komplex  ein  reiner  Komplex.  Der  reine  Mengenkomplex  M 
des  obigen  Beispieles  ist  die  reine  Zahl  3,  der  reine  Mengen- 
komplex M'  die  reine  Zahl  2.  Der  determinierte  Komplex  M(a) 
bedeutet  3  a,  M'  (a)  bedeutet  2  a.  Aus  dem  speziellen  Beispiele 
ist  durch  den  „Schluß  von  n  auf  n-|-l''  leicht  der  Beweis  des 
allgemeinen  Satzes  zu  entnehmen,  daß  der  Mengengrad  schon  dem 
reinen  Mengenkomplexe  zukommt. 

Ein  Mengenkomplex  bestimmten  Grades  heißt 
Zahlkomplex  oder  Zahl. ^)  Ein  impliziter  reiner  Zahlkomplex 
ist  eine  „reine  Zahl" ,  das  ist  eine  Anzahl  völlig  unbestimmter 
Gegenstände,  nur  durch  ihre  (implizite)  Komplexion  bestimmt.  Ein 
impliziter  Zahlkomplex  kann  auch  determiniert  sein.  Ein  solcher 
Komplex  liegt  vor,  wenn  irgendwelche  gegebene  Gegenstände  A 
anschaulich  als  Zwei  oder  Drei  ,  .  .  erfaßt  werden.  Doch  ist '  die 
Benennung  ,.zwei  A",  „drei  A"  .  .  .  nicht  ganz  dem  Gegenstande 
adäquat,   weil   sie  das  Komplexionsquale  „zwei",   „drei"  .  .  .  vom 

*)  Unter  diese  Bestimmung  fallen  nur  die  sogenannten  natürlichen  Zahlen 
(mit  Ausschluß  der  Eins)  oder  die  (benannten  oder  unbenannten)  Anzahlen,  und 
nicht  jene  Gegenstände,  die  nur  durch  , .Erweiterungen  des  Zahlbegriffes"  unter 
diesen  subsumiert  werden  können. 


■j^gg  Ernst  Mally. 

Kollektiv  der  Bestandstücke  (dem  als  Plural  zu  verstehenden  A. 
z.  B.  „Steine")  trennt.  Adäquater  sind  Bezeichnung-en  wie  „(dieses) 
Paar",  „(dieses)  Tripel",  „Quadrupel"  usf.  Da  überdies  nur  die 
niedersten  impliziten  Zahlkomplexe  uns  überhaupt  direkt  erfaßbar 
sind,  so  können  Bezeichnungen  wie  „zwei  A",  „drei  A"  und  ins- 
besondere Bezeichnung-en  höherer  benannter  Zahlen  in  der  Form 
„n  A"  im  allg-emeinen  als  Benennung'en  expliziter  (oder  fik- 
tiver impliziter)  Zahlkomplexe  gelten.  Ein  Zahlkomplex  kann 
durch  jederlei  Gegenstände,  insbesondere  auch  durch  Zahlkomplexe 
determiniert  werden. 

Eine  „unbestimmte"  oder  „allgemeine"  Zahl  ^)  ist  ein  fiktiver 
Gegenstand,  nämlich  der  explizite  Gegenstand  „etwas  das  eine  Zahl 
ist" :  sie  ist  daher  unbestimmten  Grades,  hat  aber  die  Bestimmung, 
eine  Zahl,  daher  ein  Mengenkomplex  bestimmten  Grades  zu 
sein  (also  implizit  zu  sein).  Mit  diesem  expliziten  (fiktiven)  Gegen- 
stande können  je  nach  seiner  expliziten  Bestimmung  verschiedene 
implizite  Zahlen  koinzidieren,  im  Grenzfalle  auch  nur  eine,  oder, 
wenn  die  explizite  Bestimmung  widersprechend  ist,  keine. 

Der  Mengenkomplex  niedersten  Grades  ist  Zwei.  Eins 
ist  kein  Zahlenkomplex,  sondern  fiktives  Bestandstück  jedes  im- 
pliziten Zahlkomplexes,  d.  h.  ein  Gegenstand,  dessen  Haupteigen- 
schaft es  ist,  Bestandstück  eines  impliziten  Zahlkomplexes  zu  sein.-) 
Mit  diesem  fiktiven  Gegenstande  können  Gegenstände  jeder  Art 
koinzidieren,  insbesondere  Komplexe  und  ebensowohl  auch  Nicht- 
komplexe oder  einfache  Gegenstände.  Jeder  Gegenstand,  der 
mit  dem  fiktiven  Gegenstande  „Eins"  koinzidiert,  also  als  Be- 
standstück eines  impliziten  Zahlkomplexes  auftritt,  heißt  Einheit. 

Die  Mengen  sind,  je  niederer  ihr  Grad  ist,  der  Eins  immer 
ähnlicher.     Drei   ist   der  Eins   ähnlicher   als   Vier,   Zwei   ihr 


*)  Jeder  „allgemeiue  Gegenstand"  oder  jedes  „Universale"  ist  ein  fiktiver 
Gegenstand,  nämlich  ein  expliziter  Gegenstand  mit  der  Bestimmung,  implizit  zu 
sein.  Ihm  entsprechen,  falls  seine  explizite  Haupteigenschaft  (ohne  die  Bestimmung 
der  Iraplizitheit)  nicht  widersprechend  ist,  (mehrere)  implizite  Gegenstände,  deren 
jeder  insbesondere  gemeint  sein  kann,  wenn  das  ,, Universale"  direkt  gedacht  wird. 

'■*)  Vgl.  Ehrenfels,  Zur  Philosophie  der  Mathematik  (Vierteljahrsschr.  f.  wiss. 
Philos.  Bd.  XV.  S.  285  ff.),  wo,  S.  288,  in  Übereinstimmung  mit  Sigwart  (Logik) 
auf  die  Behauptung  mancher  hingewiesen  wird,  daß  ,,das  Zwei  ursprünglicher 
sei  als  das  Eins",  was  wohl  heißen  will,  daC  zum  Erfassen  der  ,,Eins"  der  Ge- 
danke echter  Zahlkomplexion  vorausgesetzt  ist. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  167 

ähnlicher  als  Drei  und  ähnlicher  als  jeder  (echte)  Zahlkomplex. 
Darum  kann,  obwohl  kein  stetiger  Übergang  der  Mengen  in  die 
Eins  stattfindet,  die  letztere  doch  als  „Grenzfall"  des  Mengen- 
komplexes, ihre  Grundeigenschaft,  die  „Einsheit"  oder  das  „Eins- 
sein" als  Grenzfall  der  Mengenkomplexion  (oder  der  Mehrheit)  be- 
trachtet werden.  Setzt  man  die  Gradzählung  bei  den  Mengen  so 
fest,  daß  Zwei  als  niederster  (echter)  Mengenkomplex  vom  ersten 
Grade  ist,  so  kann  Eins  als  Grenzfall  von  Mengenkomplex  eine 
„Menge  nullten  Grades"  heißen.  Damit  ist  dann  gesagt,  daß 
Eins  eben  eine  Menge  keines  Grades,  also  überhaupt  keine 
(echte)  Menge  ist,  jedoch  den  Mengen  ausreichend  ähnlich,  um 
ihnen  als  Grenzfall  zugezählt  zu  werden. 

Nur  Eins  oder  die  (fiktive)  reine  Einheit  ist  unter  allen  Um- 
ständen eine  Menge  nullten  Grades.  Denn  eine  Einheit  im  ge- 
wöhnlichen Sinne  der  determinierten  Eins  oder  ein  Gegen- 
stand, der  als  Einheit  auftritt,  kann  auch  jeder  Komplex,  also 
auch  jede  Menge  eines  von  Null  verschiedenen  Grades  sein.  Eine 
(determinierte)  Einheit  ist  darum  im  allgemeinen  nicht  absolut, 
sondern  nur  relativ  nullten  Grades,  d.  h.  sofern  sie  ihrem  un- 
mittelbaren Superius  gegenüber  als  Eins  auftritt. 

Ist  also  die  (reine)  Eins  nullten.  Zwei  ersten  Grades,  so  er- 
gibt sich  der  Grad  jedes  höheren  reinen  Zahlkomplexes  auf 
folgende  Weise :  Jeder  implizite  Mengenkomplex  ist  um  einen  Grad 
höher  als  jene  Zahl,  die  zusammen  mit  Eins  einen  mit  ihm  koin- 
zidierenden  Mengeukomplex  ausmacht.  Eine  Zahl  n  ist  also  eine 
Menge  (n  —  l)-ten  Grades , ,  wenn  ihre  Einheit  des  nullten  Grades 
ist,  was  bei  den  impliziten  reinen  Zahlen  (mit  der  Einheit  „Eins") 
immer  zutrifit, 

§  15.  Homoiomere  Komplexe.    Das  Kontin u um. 

Jeder  Komplex  ist  seinen  Bestandstücken  gegenüber  ein  Gegen- 
stand höherer  Ordnung.^  Ein  Komplex,  dessen  Bestandstücke 
selbst  wieder  Komplexe  sind,  hat  Komplexe  einer  niedereren 
Ordnung  zu  Bestandstücken  und  deren  Bestandstücke  zu  ent- 
fernteren Bestandstücken   oder   entfernteren   Inferioren. 


')  Vgl.  Meinong,  Üb.  Geg.  höh.  Ord.  §  3. 


2ßg  Ernst  Mally. 

Als  Bestandstücke  (schlechthin)  sollen  im  allgemeinen  nur  die 
nächsten  Bestandstücke  des  Komplexes  bezeichnet  werden.  Die 
entferntesten  oder  letzten  Inferiora  mögen  kurz  die  ,.In- 
fima"  des  Komplexes,  bzw.  der  Komplexion  heißen.  Jede  Kom- 
plexion hat  die  nächsten  Bestandstücke  des  Komplexes,  den  sie 
bestimmt,  zu  Bestimmungsgegenständen. 

Ein  Komplex,  der  Komplexe  von  seiner  eigenen 
Komplexion  zu  Bestandstücken  hat,  heiße  ein  ho- 
m  0  i  0  m  e  r  e  r  ^)  K  o  m  p  1  e  x.  Jeder  Komplex,  der  nicht  homoiomer 
ist,  heiße  an  homoiomer.  Ein  homoiomerer  Komplex  ist  z.  B. 
2X2,  oder  5  mal  5  Punkte.  Ein  anhomoiomerer  Komplex  ist  z.  B. 
eine  Baumgruppe,  der  Komplex  5 ;  der  Komplex  4  ist  ein  impliziter 
(anhomoiomerer)  Komplex,  der  mit  einem  homoiomeren  Komplexe 
(2X2)  koinzidiert. 

Ein  Komplex,  dessen  nächste  und  entferntere 
Bestands tücke  durchaus  Komplexe  von  seiner  Kom- 
plexion sind,  heiße  durchaus  homoiomer.  Aus  dieser 
Definition  folgt:  Jedes  beliebig  entfernte  Bestandstück 
eines  durchaus  homoiomeren  Komplexes  ist  auch  ein 
durchaus  homoiomerer  Komplex.  Ein  durchaus  homoiomerer 
Komplex  hat  also  rein  fiktive  Inf  im  a. 

Ein  durchaus  homoiomerer  Komplex  ist  durch  seine  Kom- 
plexion allein  nicht  als  durchaus  homoiomer  bestimmt,  sondern 
durch  die  Komplexion  und  die  Bestimmung,  daß  jedes  seiner  be- 
liebig entfernten  Bestandstücke  ein  Komplex  von  dieser  selben 
Komplexion  ist.  Er  ist  also  ein  expliziter  Komplex.  Ein 
expliziter  Komplex  ohne  irgendwelche  implizite  Gegenstände  als 
letzte  Inferiora  ist  aber  ein  unmöglicher  Gegenstand.  Ein  durch- 
aus homoiomerer  Komplex  kann  also  nicht  als  durchaus  expli- 
ziter Komplex  bestehen,  sondern  muß  (falls  er  besteht)  irgend- 
welche implizite  Komplexe  zu  letzten  Inferioren  seiner  expli- 
ziten Komplexion  haben.  Da  aber  nach  der  Definition  jedes 
Bestandstück  eines  durchaus  homoiomeren  Komplexes  ein  durch- 
aus homoiomerer  Komplex  ist,  so  müssen  die  letzten  Inferiora 
dieser  expliziten  Komplexion  selbst  zwar  implizite,  aber 
doch  durchaus  homoiomere  Komplexe  sein,   d.  h.  implizite 


^)  Vgl.   den  Begriff  des  „Homoiomeren''  bei  Aristoteles. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  169 

Gegenstände,  die  mit  durchaus  homoiomeren  (expliziten)  Komplexen 
vollständig-  koinzidieren. 

Ein  impliziter  Komplex,  der  mit  einem  expliziten 
durchaus  homoiomeren  Komplexe  vollständig  koin- 
zidiert,  ist  ein  Kontinuum.  Das  Kontinuum  kann  wegen 
seiner  (vollständigen)  Koinzidenz  mit  einem  durchaus  homoiomeren 
Komplex  selbst  ein  impliziter  durchaus  homoiomerer  Komplex  ge- 
nannt werden.  Die  Bezeichnung  ist  jedoch  nicht  ganz  streng  zu- 
treffend. Denn  das  Kontinuum  koinzidiert  zwar  vollständig  mit 
einem  Komplex  von  Komplexen  von  Komplexen  ....  (in  infinitum), 
ist  aber  selbst  als  impliziter  Eigenschaftsgegenstand  ein  Komplex 
von  schlechthin  unbestimmbaren  Bestandstücken, ^) 
d.  h.  seine  (implizite)  Komplexion  hat  nicht  irgendeinen  dieser 
inferioren  Komplexe  zum  Inferius.  Jeder  Gegenstand,  der  als  Be- 
standstück eines  mit  einem  Kontinuum  (vollständig)  koinzidierenden 
Komplexes  auftreten  kann,  heißt  ein  Teil  des  Kontinuums  und  ist 
selbst  ein  Kontinuum.  Zur  sicheren  Unterscheidung  von  solchen 
Teilkontinuen  sollen  die  fiktiven,  notwendig  unbestimmten  Bestand- 
stücke, welche  die  Inferiora  der  impliziten  Kontinuumskomplexion 
sind,  die  I  n  f  i  m  a  des  Kontinuums  heißen. 

Ein  expliziter,  durchaus  homoiomerer  Komplex  ist  z.  B.: 
2X2X2...  in  infinitum,  zu  denken  als :  2  X  ',2  .  [2  .  (2  ...  in  inf.)]  | 
Dieser  Komplex  ist  als  ein  durchaus  expliziter  nicht  möglich.  Ein 
Kontinuum  oder  ein  impliziter  durchaus  homoiomerer  Komplex  ist 
z.  B.  eine  Strecke.  Sie  koinzidiert  mit  einem  expliziten  Komplex 
von  der  Art  des  obigen  Beispieles,  wenn  nur  an  Stelle  irgendeines 
inneren  Klammerausdruckes  ein  entsprechend  kleiner  Teil  der 
Strecke  als  Bestandstück  eintritt,  z.  B. :  2 -2  [2  Achtel  der  Strecke] }. 
Dieses  letzte  (explizit  gegebene)  Bestandstück  des  expliziten 
Komplexes  ist  dann  selbst  wieder  ein  impliziter  durchaus  homoio- 
merer Komplex,  d.  h.  ohne  Ende  teilbar. 


Vgl.  Meinung,  Üb.  Geg.  höh.  Ord.  §  14. 


170 


Ernst  Mallt. 


II.  Kapitel. 
Allgemeine  Charakteristik  der  3Iessungsol)jekte. 

§  16.  Quantum  und  Quantität. 

Seiner  Natur  nach  meßbar  ist  alles,  dessen  Be- 
schaffenheit mit  dem  Vollzüge  einer  Messung  an  ihm 
keinen  Widerspruch  bildet.  In  diesem  Sinne  meßbar  ist 
also  auch  alles  das,  was  nur  deshalb  nicht  gemessen  werden  kann, 
weil  ein  psychisches  Subjekt  mit  den  ausreichenden  Fähigkeiten 
nicht  existiert.  Die  ihrer  Natur  nach  meßbaren  Gegenstände  sollen 
weiterhin  einfach  als  meßbar  bezeichnet  werden. 

Messen  ist  ein  Bestimmen  eines  Gegenstandes 
hinsichtlich  seiner  Größe.  Zur  Meßbarkeit  eines  Gegen- 
standes ist  also  notwendig,  daß  er  Größe  besitze.  Ob  diese  Be- 
dingung auch  schon  hinreichend  ist,  wird  an  dieser  Stelle  noch 
nicht  untersucht. 

Ein  Gegenstand,  der  groß  ist  oder  Größe  hat, 
heißt  ein  Quantum.  —  Das  Wort  „Größe"  bedeutet  sowohl  im 
mathematischen  wie  im  außerwissenschaftlichen  Sprachgebrauch 
bald  die  Eigenschaft,  um  deren  wiUen  wir  einen  Gegenstand 
ein  Quantum  nennen,  bald  auch  diesen  Gegenstand,  also  das 
Quantum,  selbst.  Nun  sind  ein  Großes  und  seine  Größe  durch- 
aus nicht  ein  und  derselbe  Gegenstand.  Darum  bedarf  es  zu  ihrer 
bequemen  Unterscheidung  besonderer  Namen,  als  welche  sich  die 
oben  angeführten  ungezwungen  genug  darbieten.  Statt  des  Ter- 
minus Größe  kann  auch  „Quantität"  dem  „Quantum"  zur  Seite 
gestellt  werden.^) 

Alle  meßbaren  Gegenstände  sind  also  Quanta. 
Nun  sind  die  ihrer  Natur  nach  meßbaren  Gegenstände  natürlich 
die  Objekte  einer  möglichen  Messung,  d.  h.  die  Bestimmungsgegen- 
stände in  bestehenden  Messungsobjektiven  oder  die  Messungs- 
objekte. 

Was  demnach  von  allen  Quantis  gilt,  gilt  sicher  auch  von 
aUen  Messungsobjekten.    Daher  soll,  zum  Zwecke  einer  allgemeinen 


')  Die  ausdrückliche  Scheidung  von  „Quantum"  und  ..Quantitas"  findet  sich 
schon  bei  Kant,  Kritik  d.  r.  Vernunft,  S.  160  der  Ausgabe  von  Kehrbach. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  171 

Charakteristik  der  Messungsobjekte,  zunächst  versucht  werden,  die 
Klasse  der  Quanta  aus  der  Gesamtheit  der  Gegenstände  durch 
Angabe  eines  (nicht  willkürlich  festzustellenden,  sondern  der  ge- 
gebenen Quautumsnatur  entnommenen)  Kriteriums  hervorzuheben. 
Dann  kann  eine  nähere  Beschreibung  und  Einteilung  der  Quanta 
vorgenommen  werden  und  danach  die  Frage  ihre  Beantwortung 
finden,  wie  sich  der  besonderen  Beschaffenheit  der  etwa  zu  unter- 
scheidenden Quantumsarten  gemäß  die  Messungsobjektive  an  ihnen 
gestalten.  Endlich  sind  die  allgemeinen  Eigenschaften  der  Messungs- 
objektive zu  untersuchen,  und  im  Zusammenhange  damit  wird  auch 
zu  entscheiden  sein,  ob  alle  Quanta  oder  welche  von  ihnen 
Messungsobjekte  sind. 

§  17.    Kriterium  der  Größe.     Die  Null. 

Als  Kriterium  der  Größe  pflegt  angeführt  zu  werden,  daß 
jede  „Größe",  d.  h.  jedes  Quantum,  „vermehrt  und  vermindert 
werden  kann".  Das  „Vermehren"  und  „Yermindern",  das  hier  mit 
Recht  gemeint  sein  kann,  ist  nicht  Vergrößern  durch  Zusammen- 
setzung oder  durch  Hinzufügung  von  Quantis  zu  einem  Quantum  und 
Verkleinern  durch  Teilung  oder  durch  Wegnahme  von  Quantis  von 
einem  Quantum;  denn  es  gibt  auch  Quanta,  an  denen  solches  un- 
möglich ist,  weil  sie  nicht  zusammengesetizt  sondern  einfach  sind. 
„Vermehren"  kann  hier  also  nur  ein  Vergrößern  (schlechtweg) 
bedeuten,  „vermindern"  nur  ein  V  e  r k  1  e  i  n  e  r  n.  Der  Tatbestand  an 
den  Gegenständen  selbst,  der  der  angeführten  Wendung  ent- 
spricht, ist  der,  daß  es  zu  jedem  Gegenstande,  der  groß 
ist  (oder  Größe  hat),  noch  Gegenstände  gibt,  die  größer 
sind  als  er,  und  Gegenstände,  die  kleiner  sind  als  er. 

Da  es  zu  jedem  Gegenstande,  der  ein  Quantum  ist,  noch 
kleinere  gibt,  so  ist  kein  Gegenstand  der  kleinste;  denn 
unter  den  Quantis  ist  ein  kleinstes  ausgeschlossen,  und  ein 
Nichtquantum  ist  weder  groß  noch  klein,  kann  also  auch  nicht  als 
kleinster  Gegenstand  gelten.  Ein  kleinster  Gegenstand  ist  also 
überhaupt  kein  Gegenstand,  er  ist  nichts. 

Jeder  Gegenstand,  der  kleiner  ist  als  ein  anderer,  ist  nun 
dem  kleinsten  ähnlicher.  Zu  jedem  Quantum  gibt  es  also  noch 
Quanta,  die  dem  kleinsten  ähnlicher  sind  oder  näher  stehen.    Die 


■j^-jo  Ernst  Mally. 

Grenze,  der  sich  die  Quanta  nähern,  ist  das  Nichts,  das  ist  ein 
Gegenstand  mit  der  widersprechenden  Bestimmung-,  daß  er 
kein  Gegenstand  ist.  Dieses  „Nichts"  wird  als  Grenze  der  Quanta 
Null  genannt. 

Die  Gegenstände,  die  Quanta  sind,  haben  also  die  Null  zur 
Grenze,  oder  sie  limitieren  gegen  Null. ^)  Die  Größe  läßt  nur 
in  zwei  einander  entgegengesetzten  Eichtungen  eine 
Änderung  zu,  nämlich  in  der  Richtung  zur  Null  bis  zur  Grenze 
Null,  und  in  der  Richtung  von  Null  weg  ohne  Grenze.  Jedes 
Quantum  ist  also  seiner  Größe  nach  auch  nur  in  diesen  zwei  ein- 
ander entgegengesetzten  Richtungen  variabel.  Da  es  nun  zu  jedem 
Quantum  noch  kleinere  gibt,  d.  h.  solche,  die  der  Null  ähnlicher 
sind,  so  ist  von  jedem  bestimmten  Quantum  aus  eine  Änderung 
in  konstanter  Richtung  zur  Null  möglich,  die  über  Quanta  führt. 
Das  Kriterium  der  Größe  läßt  sich  demnach  in  folgender  Form 
aussprechen : 

D i e  G e g e n s t ä n d e  A  sind  Quanta,  wenn  es  z u  j e d e m 
bestimmten-)  Gegenstande  A^  noch  Gegenstände  A 
von  solcher  Beschaffenheit  gibt,  daß  eine  Änderung 
konstanter  Richtung  von  A^  bis  Null  über  sie  führt. 
„Es  gibt"  Gegenstände  A  heißt  dabei  nicht,  daß  sie  sind,  sondern 
nur,  daß  sie  möglich  sind. 

Ein  Gegenstand  X  von  solcher  Beschaffenheit,  daß  eine 
Änderung  konstanter  Richtung  von  einem  Gegenstand  X-  zu 
einem  Gegenstande  X2  über  ihn  führt,  liegt  zwischen  X^  und 
Xo.    Das  Kriterium  der  Größe  lautet  also  kürzer  so: 

Die  Gegenstände  A  sind  Quanta,  wenn  zwischen 
jedem  bestimmten  Gegenstande  A^  und  der  Null  Gegen- 
stände A  möglich  sind. 

Ein  Quantum  kann  nicht  Null  sein.  Denn  da  es  zu  jedem 
Quantum  noch  Quanta  gibt,  die  der  Null  ähnlicher  sind,  kann 
kein  Quantum  ihr  gleich  sein.  Ein  Gegenstand,  der  gleich  Null 
ist,  ist  ein  unmöglicher  Gegenstand,  d.  h.  er  kann  nicht  sein. 
Das  Nullsein  eines  Quantums  ist  also  ein  unmögliches  Sosein,  —  das 

^)  Vgl.  dazu  und  zu  den  gegenwärtigen  Ausführungen  überhaupt  Meinong, 
Über  die  Bedeutung  des  Weberschen  Gesetzes  (Ztschr.  f.  Psychol.  Bd.  XI.)  I.  Abschn. 

-)  Was  von  jedem  bestimmten  Gegenstande  A  gilt,  gilt  natürlich  von  einem 
beliebig  zu  bestimmenden  Gegenstande  A. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  173 

Niillsein  eines  Quantums,  das  gleich  Null  ist,  ein  bestehendes,  aber 
widersprechendes  Sosein.  Indem  ein  Quantum  sich  der  Null  nähert 
und  ,. gleich  Null  wird",  geht  es  durch  Änderung  seines 
So s eins  von  Sein  zu  Nichtsein  über.  Die  Möglichkeit  der 
unbeschränkten  Annäherung  an  das  Nichtsein  kommt  nur  den 
Quantis  zu  und  ist  dem  eben  gegebenen  Größenkriterium  äqui- 
valent. Null  ist  also  jener  (unmögliche)  Gegenstand,  dem  ein 
Quantum  gleich  wird,  wenn  es  von  Sein  zu  Nichtsein  übergeht. 
Sie  kann  daher  auch  als  ein  Gegenstand  bestimmt  werden, 
dessen  Sein  seinem  Nichtsein  gleichkommt.") 

Ein  Gegenstand  A,  der  gleich  Null  ist  (xV  =  0),  oder  die  Null 
des  A  ist  derjenige  (unmögliche)  Gegenstand  A,  der  kein  Gegen- 
stand ist  oder  dessen  Sein  seinem  Nichtsein  gleichkommt.  Setzt 
man  also  A  =  0,  so  ist  damit  nur  gesagt ,  daß  hier  kein  A  vor- 
liege; es  ist  nur  jedes  Quantum  A  als  (seiender  oder  nichtseiender) 
Gegenstand  ausgeschlossen.  Dagegen  ist  über  das  Gegenstandsein 
anderer  Gegenstände,  B,  C  .  . .  nichts  geurteilt  oder  angenommen. 
Null  schlechthin  (0)  ist  „Nichts"  als  Gegenstand,  oder  kein  Gegen- 
stand (überhaupt).  Durch  ihre  Setzung  ist  jeder  Gegenstand  aus- 
geschlossen. 

Jede  der  oben  gegebenen  Bestimmungen  der  Null  enthält  einen 
Widersinn.  Dieser  Widersinn  liegt  in  der  Natur  des  unmöglichen 
Gegenstandes,  den  wir  als  Null  bezeichnen.  Allein  eine  gegen- 
standstheoretische Untersuchung  dieses  Gegenstandes  darf,  obwohl 
sie  seine  widersprechende  Bestimmung  angeben  muß,  nicht  selbst 
wieder  AVidersprechendes  über  diesen  unmöglichen  Gegenstand 
behaupten.  Dieser  Forderung  wird  Genüge  geleistet  durch  die 
Definition : 

Null  ist  ein  rein  fiktiver  Gegenstand  mit  der  Be- 
stimmung, daß  ihm  kein  impliziter  Gegenstand  ent- 
spricht. Da  es  also  Haupt  eigens  chaft  der  Null  ist,  mit 
keinem    impliziten    Gegenstande    (vollständig)    zu    koinzidieren, 


')  Null  ist  nicht  schlechthin  ein  uichtseiendes  Quantum.  Denn  ein 
Quantum,  das  von  Null  verschieden  ist,  kann  sein  oder  auch  nicht  sein,  ohne 
daß  dadurch  seine  Grüße  geändert  würde.  So  wird  in  der  Mathematik  mit  Quantis 
gerechnet  ohne  Rücksicht  auf  ihr  Sein,  und  die  Rechnungsergebnisse  haben  ihre 
Geltung  so  gut  für  nichtseiende  wie  für  seiende  Quanta,  da  ihre  Richtigkeit  nur 
von  dem  So  sein  der  Quanta  abhängt. 


]^74  Ernst  Mally. 

nimmt  sie  unter  den  Gegenständen  eine  Ausnahmestellung  ein, 
derzufolge  sie  als  ein  Grenzfall  von  Gegenstand  überhaupt  auf- 
gefaßt werden  kann. 

Dieser  Sonderstellung  der  Null  entspricht  auch  eine  eigen- 
tümliche psychische  Sachlage  bei  ihrem  Erfassen.  Um  das  Nichts 
zu  denken  genügt  es  nicht,  überhaupt  nicht  zu  denken.  Es  ist 
vielmehr  ein  Gedanke  dazu  erforderlich.  Dieser  Gedanke  kann  keine 
einfache  und  keine  anschauliche  zusammengesetzte  Vorstellung  sein ; 
denn  solche  Vorstellungen  sind  üur  von  möglichen  (impliziten) 
Gegenständen  möglich.  Es  müssen  also  Vorstellungen,  (deren 
jede  ihren  impliziten  Gegenstand  hat)  durch  Annahmen  in  eine 
derartige  Verbindung  gebracht  werden,  daß  der  unanschaulichen 
Annahmevorstellung  als  ihrem  Komplexe  kein  impliziter  Gegen- 
stand entsprechen  kann.  Das  geschieht  durch  das  Denken  des 
expliziten  Gegenstandes:  „kein  Gegenstand"  oder:  „Gegenstand, 
dessen  Sein  seinem  Nichtsein  gleichkommt"  u.  dgl. 

§  18.  Größe  als  ideale  Eigenschaft. 

Ein  Gegenstand,  der  groß  ist,  hat  Größe  zur  Eigenschaft. 
Größe  ist  die  implizite  Bestimmung  vom  Quäle  „groß".  Sie  ge- 
hört der  Klasse  von  Eigenschaften  an,  die  oben^)  als  die  der 
Qualitäten^)  definiert  worden  ist.  Denn  Größe  ist  eine  impli- 
zite Bestimmung,  die  kein  Objektiv  ist.  Das  Objektiv  Großsein 
kann  eventuell  bestehen,  auch  wenn  eine  Größe  seines  Objektes 
nicht  besteht.  Es  besteht  z.  B,  das  Großsein  eines  unmöglichen 
Ausgedehnten,  etwa  eines  runden  Viereckes,  indes  eine  Größe  an 
dem  unmöglichen  Gegenstande  nicht  bestehen  kann. 

Größe  ist  eine  ideale  Qualität.  Sie  kommt  allen  be- 
stehenden Gegenständen   als   implizite  Bestimmung  zu,    die    dem 


1)  §  9,  S.  141. 

-)  Es  ist  zwar  populär,  die  GröOe  als  Quantität  von  anderen  Eigenschaften, 
die  keine  Objektive  sind,  als  den  Qualitäten  ausdrücklich  zu  scheiden.  Die 
Berechtigung  einer  solchen  Unterscheidung  wird  durch  die  hier  vollzogene  Sub- 
sumption  der  Größe  unter  die  Qualitäten  nicht  angefochten.  Leider  stand  mir 
jedoch  zur  Bezeichnung  dieser  weiteren  Klasse  von  Eigenschaften,  welche  die 
Quantität  eben  so  wohl  wie  die  Qualitäten  im  gewöhnlichen  (engern)  Sinne  um- 
faßt, kein  anderer  Terminus  zu  Gebote  als  eben  „Qualität". 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  175 

Kriterium  der  Größe  als  einer  expliziten  Bestimmung  genügen. 
Impliziter  Eigenschaftsgegenstand  dieser  Bestimmung,  also  ein 
Quantum ,  kann  nun  ein  realer  oder  ein  idealer  Gegenstand 
sein,  —  z.  B.  haben  die  idealen  Gegenstände  Verschiedenheit, 
Ähnlichkeit,  Dreieck  usf.  Größe.  Implizite  Bestimmung  eines 
idealen  Gegenstandes  aber  kann  nur  eine  ideale  Eigenschaft  sein. 
Ein  impliziter  Eigenschaftsgegenstand  der  Größe  ist  ein  (echtes) 
Quantum.  Ein  expliziter  Eigenschaftsgegenstand  von  der  (ex- 
pliziten) Bestimmung,  groß  zu  sein,  und  als  impliziter  Gegenstand 
bestimmt,  ist  ein  fiktives  Quantum.  Ein  Quantum  mit 
schlechthin  unbestimmtem  Bestimmungsgegenstande  ist  ein  reines 
Quantum.  Ein  Quantum,  dessen  Bestimmungsgegenstand  ein  ex- 
pliziter oder  impliziter  Eigenschaftsgegenstand  ist,  heißt  ein  deter- 
miniertes Quantum.^) 


III.  Kapitel. 
Die  teilbaren  Quanta. 

§  19.  Teilbarkeit.    Die  Komplexe,  welche  Qu anta  sind. 

Seiner  Natur  nach  teilbar  ist  jeder  Gegenstand,  dessen 
Beschaffenheit  mit  dem  Vollzuge  einer  Teilung  an  ihm  in  keinem 
Widerspruch  steht.  Ein  solcher  Gegenstand  einer  möglichen 
Teilung  soll  weiterhin  einfach  als  teilbar  bezeichnet  werden. 
Teilbar  ist  also  alles,  was  Teile  hat.-) 

Teile  sind  diejenigen  Gegenstände,  aus  denen  ein  (anderer) 
Gegenstand  als  ihr  Ganzes  besteht,  also  die  Bestandstücke  eines 
Ganzen.     Als   ein  „Ganzes"   kann   nun    allerdings  jeder  implizite 


')  Vgl.  oben  §  6,  S.  132. 

-)  Vgl.  Meinung,  Üb.  Geg.  böb.  Ordn.  §  14.  —  Die  Teilung,  deren  Mög- 
lichkeit an  einem  Gegenstande  ihn  als  einen  seiner  Natur  nach  teilbaren  bestimmt, 
ist  nicht  ein  realer  am  Gegenstande  selbst  angreifender  Vorgang  und  daher  nicht 
nur  auf  reale  Gegenstände  anwendbar.  Was  das  Wort  ,, Teilung"  hier  (und  in 
der  Mathematik)  bedeutet,  ist  vielmehr  ein  rein  fiktiver  Prozeß  am  Geg an- 
stände, der  einem  besonders  differenzierten  (realen)  psychischen  Prozesse  der 
Analj'se  an  der  Vorstellung  von  diesem  Gegenstande  entspricht.  In  diesem 
Sinne  teilbar  ist  also  alles,  woran  seiner  Natur  nach  Teile  gefunden  werden 
können,  also  alles,  was  Teile  hat. 


j^YO  Ernst  Mally. 

Komplex,  und  als  ein  fiktives  Ganzes  auch  jeder  als  implizit  be- 
stimmte explizite  Komplex  bezeichnet  werden.  Jedoch  scheint 
dieses  Wort  vorwiegend  und  eig-entlich  zur  Bezeichnuno;  eines  tat- 
sächlich impliziten  oder  als  implizit  bestimmten  Mengenkom- 
plexes  zu  dienen,  dessen  Bestandstücke  auch  das  Wort  „Teil"  in 
seinem  eigentlichen  Sinne  bedeutet.  Da  nun  aber  mit  jede  m 
Komplex  ein  Mengenkomplex  derselben  Bestandstücke  koinzidiert, 
so  kann  auch  jeder  Gegenstand,  der  Bestandstück  eines  Komplexes 
ist,  als  Teil  des  mit  diesem  Komplexe  koinzidierenden  (echten 
oder  fiktiven)  Ganzen  auftreten  und  wird  dann  auch  als  „Teil"  des 
Komplexes  bezeichnet.  Ein  Teil  ist  also  jedes  Bestandstück  eines 
impliziten  oder  als  implizit  bestimmten  Mengenkomplexes  und 
jedes  Bestandstück  irgend  eines  Komplexes,  sofern  es  zugleich  Be- 
standstück eines  solchen  Mengenkomplexes  ist.  Ein  echtes  oder 
fiktives  Ganzes  heißt  zunächst  jeder  implizite  bzw.  als  implizit 
bestimmte  Mengenkomplex,  dann  auch  jeder  Komplex,  sofern  er 
mit  einem  solchen  Mengenkomplexe  (vollständig)  koinzidiert.^) 

Was  teilbar  ist,  ist  demnach  komplex;  alle  teilbaren 
Quanta  sind  auch  Komplexe. 

Nicht  alle  Komplexe  sind  Quanta.  Denn  nicht  jeder 
Komplex  genügt  dem  Kriterium  der  Größe.  Ein  Komplex  K  ist 
ein  Quantum,  wenn  zu  jedem  bestimmten  Komplex  K^  von  seiner 
Art  noch  Komplexe  K  (der  gleichen  Art)  möglich  sind,  die  zwischen 
Ko  und  Null  liegen.  Wenn  also  dieses  Kriterium  zutrift't,  so  haben 
die  Komplexe  K  Größe,  und  es  gibt  zu  jedem  K„  noch  Komplexe 
K,  die  kleiner  sind  als  Kq.  Nun  aber  kann  ein  Komplex  K,  der 
kleiner  ist  als  der  gleichartige  Komplex  K^,  immer  als  Bestand- 
stück eines  mit  K^  (vollständig)  koinzidierenden  Komplexes  K^-f-Gi 
auftreten,  also  als  Teil  von  Kq.  Der  Komplex  K^  koinzidiert  also 
mit  einem  expliziten  Mengenkomplexe,  wovon  ein  Bestandstück  Kj ,  das 
andere  der  erst  näher  zu  bestimmende  Gegenstand  G^  ist.  Wenn  K^ 
ein  Quantum  ist,  so  ist  auch  K^  ein  Quantum,  und  es  gibt  einen  ihm 
gleichartigen  Komplex  K^,  der  ein  Teil  von  K^  ist.  Da  nun  Kj  mit  Iv^ 
gleichartig  ist,  so  koinzidiert  K^  auch  mit  einem  expliziten  Mengen- 
komplexe aus  einem  Bestandstück  K.>  und  einem  Bestandstück  Go : 


*)  Auf  Einfaches  findet  die  Bezeichnung  „Ganzes"  keine  Anwendung,  da  der 
Gegensatz  dazu  fehlt:  die  Teile. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  177 

sj^mbolisch :  Kf,  :=  K^  +  ö]>  K^  =  Kg  +  G.,.  Daher  koinzidiert  auch 
Ko  mit  einem  Meugenkomplexe  der  Bestandstücke  K^,  G.,  und  G^, 
also :  Ko  =  Gl  -|-  G.3  4"  Ko-  Da  K«  wieder  ein  Quantum  und  mit 
Kl  und  Kft  gleichartig  ist ,  so  gilt  auch :  Kg  =  Ko  -f-  G3 ,  daher 
auch :  Ko  =  G^  -|-  G.,  +  G3  +  K3.  Ein  Gleiches  gilt  nun  wieder 
von  K3  usf.,  und  es  ergibt  sich :  K^  =  Gj^  +  Gj  -j-  G3  -|-  •  •  •  Grn  4-  K^. 
Da  nun  Kn  immer  ein  Quantum  und  immer  der  Null  näher  ist, 
so  nähert  es  sich  bei  ohne  Ende  wachsendem  n  ohne  Ende  der 
Grenze  Null.^)  Der  Komplex  K^  koinzidiert  also  vollständig  mit 
einem  (fiktiven)  durchaus  expliziten  Komplexe  von  unendlich  vielen 
Bestandstücken  G.  Da  nun  K^  ein  Quantum  ist,  so  kann  keiner 
dieser  Teile  G  ein  Nichtquantum  sein:  denn  wäre  ein  G  kein 
Quantum,  so  wäre  (wegen  der  vorausgesetzten  Gleichartigkeit) 
kein  G  ein  Quantum.  —  K^  also  ein  Quantum,  das  aus  lauter 
Nichtquantis  bestünde.  Die  Bestandstücke  G  sind  also  sämtlich 
Quanta  und  Komplexe  von  der  Art  der  Komplexe  K.  Da  nun  K^, 
und  mit  ihm  jedes  K,  ein  ohne  Ende  teilbarer  Komplex  ist  und 
aus  lauter  gleichartigen  Teilen  besteht,  so  ist  auch  jeder  seiner 
Teile  ein  ohne  Ende  teilbarer  Komplex.  Ein  Komplex  K  kann 
demnach  auch  in  n  gleiche  Teile  geteilt  werden,  von  denen  jeder 
aus  n  gleichen  Teilen  besteht  usf.  ohne  Ende.  K  koinzidiert  also  als 
ein  impliziter  Komplex  mit  einem  durchaus  homoiomeren  expliziten 
Mengenkomplexe. 

Es  ergibt  sich  demnach:  Jeder  Komplex,  der  ein  Quantum 
ist,  also  jedes  teilbare  Quantum  ist  ein  impliziter  Kom- 
plex, der  mit  einem  durchaus  homoiomeren  Mengen- 
komplexe vollständig  koinzidiert. 

Wenn  es  unter  den  koinzidierenden  Komplexen  eines  Systemes 
irgend  einen  durchaus  homoiomeren  gibt,  so  gibt  es  sicher  einen 
durchaus  homoiomeren  Mengenkomplex  unter  ihnen.  Denn 
entweder  ist  der  betreftende  durchaus  homoiomere  Komplex  selbst 
eine  Menge,  oder  (wenn  er  das  nicht  ist)  koinzidiert  mit  ihm 
eine  Menge  aus  denselben  Bestandstücken,  die  dann  auch  durch- 
aus homoiomer  ist. 

Wenn  also  ein  impliziter  Komplex  mit  irgend  einem  durch- 


00 
')  Es  ist  lim  Kn  =  0,  daher  Kq  =  lim  1'  Gn. 
n  =  oo  n==l 

Meinong,  Untersuchungeu.  12 


178 


Ernst  Mally. 


aus  homoiomeren  Komplexe  koinzidiert,   so  ist  er  jedenfalls   ein 
teilbares  Quantum. 

Die  reinen  Mengen  bestimmten  Grades  sind  anhomoiomer.  Die 
reine  Zahl  ist  also  kein  Quantum.  Denn  es  gibt  nicht  zu  jeder 
reinen  Zahl  (unter  den  natürlichen  Zahlen)  noch  andere,  die 
zwischen  ihr  und  der  Null  stünden.  Die  Eeihe  der  natürlichen 
Zahlen  endet  gar  nicht  mit  Null  sondern  mit  Eins,  die  der  eigent- 
lichen Zahlkomplexe  schon  mit  Zwei. 

Trotzdem  wird  den  reinen  natürlichen  Zahlen  allem  Anscheine 
nach  Größe  zugeschrieben,  wenn  man  etwa  sagt,  5  sei  größer  als  3, 
dieses  größer  als  2.  Indes  scheint  hier  das  Wort  „größer"  oft 
nur  eine  ungenaue  Bezeichnung  des  höhern  Grades  zu  sein. 
Denn  der  Mehrheitsgrad  kommt  den  reinen  Zahlen  tatsächlich  zu, 
da  er  schon  der  Zahlkomplexion  und  überhaupt  der  Mengenkom- 
plexion,  der  Mehrheit  selbst,  zukommt.')  Vermöge  des  Mehrheits- 
grades bilden  die  reinen  Zahlen  ein  Analogon  zu  den  Quantis. 
Die  reine  Zahl  limitiert  zwar  nicht  —  wie  ein  Quantum  —  gegen 
Null,  aber  sie  weist,  wie  ein  Quantum,  unbegrenzte  Steigerungs- 
fähigkeit auf.  Zu  jeder  reinen  Zahl  Z^,  d.  h.  zu  jeder 
Menge  bestimmten  Grad  es,  gibt  es  noch  reine  Zahlen  Z, 
die  so  beschaffen  sind,  daß  Z_i  zwischen  Z  und  der 
reinen  Zahl  niedersten  Grades  Z^  liegt.  Ähnlich  gibt 
es  zu  jedem  Quantum  Qj  bestimmter  Größe  noch  Quanta  Q,  die 
so  beschaffen  sind,  daß  Q^  zwischen  Q  und  Null  liegt.  Die 
Analogie  fällt  umso  stärker  auf,  wenn  man  bemerkt,  daß  mit  der 
Zahl  niedersten  Grades  Z„,  welche  die  Eins  ist,  in  der  Einsheit 
eine  Art  determinierte  Null,  nämlich  die  Mehrheitsnull  ge- 
geben ist.  Dementsprechend  ist  auch  der  Mehrheitsgrad  der 
Eins  als  der  nullte  angesetzt  worden.  Ein  wesentlicher  Unter- 
schied zwischen  der  Eeihe  der  Quanta  und  der  Reihe  der  reinen 
Zahlen  besteht,  wie  schon  bemerkt,  darin,  daß  jene  gegen  Null 
limitiert,  diese  aber  nicht.  Denn  obwohl  sich  auch  hier  ein  Null- 
fall als  „Grenzfall"  aufweisen  ließ,  fehlt  doch  zum  Limitieren 


^)  Überdies  ist  ein  determinierter  Zahlkomplex  höbern  Grades,  der  ans 
teilbaren  Quantis  als  Einheiten  besteht,  ein  größeres  Quantum  als  ein  Zahlkomplex 
niedreren  Grades  aus  den  gleichen  Bestandstücken,  —  und  diese  Größenbeziehung 
gewisser  determinierter  Komplexe  scheint  gelegentlich  in  ungenauer  Weise 
von  den  reinen  Komplexen  ausgesagt  zu  werden.    Vgl.  übrigens  unten  §  30. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  179 

gegen  ihn  jene  nnbeschränkte  Interpolierbarkeit  von  Zwischen- 
gliedern, wie  sie  dnrch  das  Kriterium  der  Größe  gefordert  ist. 
Man  kann  diese  Tatsache  auch  in  folgender  Form  aussprechen: 
Unter  den  Z a h  1  k o m p  1  e x e n  gibt  es  einen  bestimmten 
niedersten  (nämlich  Zwei)  ^) ;  nnter  den  Quantis  gibt  es 
kein  bestimmtes  kleinstes,  —  denn  Null  ist  kein  Quantum. 

Ein  d  e  t  e  r  m  i  n  i  e  r  t  e  r  M  enge  n  k  o  m  p  1  c  x  bestimmten  Grades 
ist  ein  Quantum,  wenn  sein  Bestimmungsgegenstand  ein  Quantum 
ist;  und  das  ist  immer  der  Fall,  wenn  seine  Bestandstücke  gleich- 
artige teilbare  Quanta  sind.  Z.  B.  ist  eine  Menge  von  Strecken 
ein  Quantum,  weil  jede  Strecke  ein  teilbares  Quantum  derselben 
Art  ist. 

Eine  Menge  unbestimmten  Grades .  die  mit  einer  Menge  be- 
stimmten Grades  aus  denselben  Bestandstücken  koinzidieren  kann, 
heiße  eine  Menge  bestimmbaren  Grades.  Eine  solche  Menge  be- 
stimmbaren Grades  ist  dann  ein  Quantum,  wenn  die  koinzidierende 
Menge  bestimmten  Grades  und  derselben  Bestandstücke  ein  Quantum 
ist,  —  also  auch  nur  als  determinierter  Komplex,  dessen  Be- 
stimmungsgegenstand ein  teilbares  Quantum  ist. 

Endlich  ist  auch  jede  Menge  unendlich  hohen  und  daher  un- 
bestimmbaren Grades  nur  dann  ein  Quantum,  wenn  sie  durch 
einen  Bestimmungsgegenstand,  der  ein  Quantum  ist,  determiniert 
ist.  Dagegen  ist  eine  solche  Menge  kein  Quantum,  wenn  ihre 
Infima  bestimmt  sind,  der  Komplex  derselben  also  explizit  ist  oder 
mit  einem  expliziten  Komplex  der  Infima  koinzidieren  kann,  — 
z.  B.  eine  unendliche  Menge  von  Punkten. 

Es  ergibt  sich  also  allgemein:  Alle  Mengen,  mit  denen  ex- 
plizite Komplexe  ihrer  Infima  koinzidieren  können,  sind  als  reine 
Komplexe  keine  Quanta  und  können  nur  —  durch  Quanta  — 
zu  Quantumskomplexen  oder  teilbaren  Quantis  determiniert 
werden. 

Nur  ein  impliziter  durchaus  homoiomerer  Komplex  oder  ein 
Kontiuuum  ist  notwendig,  also  schon  als  reiner  Komplex  (ver- 
möge seiner  Komplexion)  ein  Quantum. 


^)  Denn  Eins  ist  zwar  die  niederste  „natürliche  Zahl"  aber  kein  Zahlkom  ples. 


12* 


180 


Ernst  Mally. 


§  20.  Grenzen  der  Kontinua. 

Zwei  Teile  eines  Kontinuums,  die  keinen  Teil  miteinander 
gemein  haben,  haben  entweder  einen  Teil  des  Kontinuums  zwischen 
sich,  oder  sie  haben  keinen  zwischen  sich.  Im  ersten  Falle  liegen 
sie  getrennt,  im  zweiten  Falle  grenzen  sie  aneinander.  Wenn 
also  zwei  Teile  eines  Kontinuums  aneinander  grenzen,  so  sind  — 
nach  der  ersten  Voraussetzung  —  alle  Bestandstücke  des  einen 
von  allen  Bestandstücken  des  anderen  verschieden;  jedoch  nähern 
sich  —  nach  der  zweiten  Voraussetzung  —  die  Bestandstücke 
eines  jeden  von  ihnen  denen  des  anderen  bis  zur  Gleichheit  an. 
Derjenige  Gegenstand  dem  die  Bestandstücke  der  beiden  Teil- 
kontinua  dabei  bis  zur  Gleichheit  ähnlich  werden,  ist  die  Grenze 
zwischen  ihnen.  Diese  Charakteristik  der  Grenze  zwischen  zwei 
Teilkontinuen  läßt  sich  verallgemeinert  und  zugleich  von  den  bild- 
lichen Elementen  einigermaßen  befreit  in  folgender  Form  aus- 
sprechen : 

Die  Grenze  g  eines  Komplexes  ^)  K  ist  ein  Gegenstand,  der  so 
beschaffen  ist,  daß  es  zu  jedem  bestimmten  Bestandstück  k^  von  K 
Bestandstücke  k  (desselben  Komplexes)  gibt,  die  sowohl  der  g  als 
dem  kj  ähnlicher  sind  als  g  und  k^  untereinander.  Aus  dieser 
Bestimmung  der  Grenze  folgt,  daß  sie  kein  Bestandstück  des  Kom- 
plexes ist,  dem  sie  angehört.  Denn,  wenn  es  zu  jedem  Bestand- 
stück kj  noch  andere  gibt,  die  ihr  ähnlicher  sind  als  k^  so  ist 
ihr  kein  Bestandstück  gleich. 

Jedes  Kontinuum  koinzidiert  mit  unendlich  vielen  Komplexen 
von  Teilkontinuen,  welche  unendlich  viele  Grenzen  innerhalb  des 
Kontinuums  bestimmen.  Um  auszudrücken,  daß  diese  Grenzen  dem 
Kontinuum,  obwohl  sie  nicht  Bestandstücke  von  ihm  sind,  doch 
angehören,  daß  sie  also  „Daten"  in  ihm  oder  an  ihm  sind,  nennt 
man  das  Kontinuum  auch  den  „Träger"  aller  an  ihm  bestehenden 
Grenzen. 

Jede  Grenze  in  einem  Kontinuum,  die  selbst  kein  Kontinuum 
ist,  heiße  ein  Punkt  (im  weitesten  Sinne  des  ^^^ortes).  -) 


^)  Der  nun  ein  Teil  eines  Kontinuums  oder  ein  Gesamtkontinuum  sein  kann, 
oder  sogar,  wie  aus  der  Mathematik  bekannt  ist,  eine  unendliche  „diskrete"  d.  h. 
nicht  kontinuierliche  Menge,  die  eine  „Häufungsstelle"  hat. 

*)  Hier  und  im  folgenden  müssen  Bezeichnungen,  die  ursprünglich  nur  Raum- 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  181 

Ein  Kontinuum,  worin  nur  Punkte  als  Grenzen  vorkommen 
können,  heißt  ein  lineares  Kontinuum  oder  eine  Linie.  In 
einem  linearen  Kontinuum  ist  also  keine  Grenze  ein  teilbares 
Quantum;  ein  solches  Kontinuum  heißt  auch  eindimensional. 

Eine  Linie  von  der  Beschaffenheit,  daß  von  irg-end  drei  be- 
stimmten Punkten  in  ihr  immer  einer  zwischen  den  beiden  ande- 
ren liegt,  heißt  eine  Gerade.  Von  je  drei  Punkten  einer  Geraden 
ist  also ')  einer  immer  so  beschaffen,  daß  eine  Veränderung  kon- 
stanter Kichtung  von  dem  einen  zum  anderen  der  beiden 
übrigen  Punkte  über  ihn  führt.-)  Eine  Gerade  in  diesem  all- 
gemeinen Sinne  ist  z.  B.  das  Kontinuum  der  Zeit. 

Ein  Kontinuum,  worin  nur  Punkte  und  Linien  als  Grenzen 
möglich  sind,  heißt  eine  Fläche.  Punkte  können  als  Grenzen 
an  Flächen  auftreten;  aber  sie  können  nicht  allein,  d.  h.  ohne 
Linien,  Grenzen  bilden.  Ein  Flächenkontinuum  heißt  auch  zwei- 
dimensional. 

Eine  Fläche,  worin  von  je  drei  Geraden,  von  denen  auch  nicht 
zwei  einen  Punkt  gemein  haben,  immer  eine  zwischen  den  beiden 
anderen  liegt,  heißt  eine  Ebene.  Von  je  drei  parallelen  Ge- 
raden einer  Ebene  ist  also  eine  immer  so  beschaffen,  daß  eine 
Veränderung  konstanter  Richtung  von  der  einen  zur  anderen  der 
beiden  übrigen  über  sie  führt. 

Ein  Kontinuum,  worin  Punkte,  Linien  und  Flächen  als  Grenzen 
möglich  sind',  heißt  ein  Raum  (im  weiteren  Sinne  des  Wortes). 
Ohne  Flächen  können  Punkte  und  Linien  nicht  Grenzen  in 
(oder  an)  einem  Räume  bilden.  Der  Raum  ist  dreidimensional.^) 
In  ihm  sind  drei  Arten  teilbarer  Quanta  möglich:  Raum- 
teile, die  selbst  Räume  sind,  und  zwei  Arten  von  Grenzen, 
die    teilbare    Quanta    sind,    nämlich    Flächen    und    Linien.      In 


gegenständen  gegolten  haben,  aber  im  wissenschaftlichen  Gebrauche  größtenteils 
schon  allgemeinere  Bedeutung  gewonnen  haben,  in  diesem  allgemeinen  Sinne  an- 
gewendet werden. 

')  Nach  der  Erklärung  des  „Zwischenliegens",  s.  o.  §  17,  S.  172. 

■•*)  Vgl.  Höfler,  Zur  Analyse  der  Vorstellungen  von  Abstand  und  Richtung, 
Ztschr.  für  Psychol.  u.  Physiol.  der  Sinnesorg.,  Bd.  X,  S.  230. 

*)  Für  Kontinua  von  mehr  als  drei  Dimensionen  brauche  ich  nicht  das  Wort 
„Raum",  um  alle  Mißverständnisse  in  betreff  des  Raumes  im  eigentlichen  Wort- 
sinne zu  vermeiden. 


1  QO  Ernst  Mally. 

einem  zweidimensionalen  Kontinimm  sind  zwei  Arten  teilbarer 
Quanta  möglich:  Flächen  als  Teile  des  Kontinuums  und  Linien 
als  Grenzen.  In  einem  eindimensionalen  Kontinunm  sind  nur 
teilbare  Quanta  einer  Art  möglich,  nämlich  Linien. 

Unter  den  Kontinuen  gibt  es  solche,  die  nicht  nur  als  Mengen 
durchaus  homoiomer  sind,  sondern  auch  mit  durchaus  homoiomeren 
Gestaltkomplexen  koinzidieren.  Ein  solcher  durchaus  homoiomerer 
Gestaltkomplex  ist  unter  den  Linien  die  Gerade,  unter  den 
Flächen  die  Ebene,  ohne  Eücksieht  auf  die  Grenzen.  Denn  die 
Grenzen  einer  (begrenzten)  Geraden  haben  keine  Gestalt,  und 
jeder  Teil  einer  Ebene  ist,  gleichviel  wie  gestaltet  die  begrenzende 
Linie  sein  mag,  wieder  eine  Ebene  und  als  solche  von  gleicher 
Gestalt.  Flächen,  insbesondere  Ebenen,  können  aber  auch  mit 
Eücksieht  auf  die  Grenzen  durchaus  homoiomere  Gestaltkomplexe 
sein;  wie  z.  B.  ein  Parallelogramm,  das  immer  wieder  in  gleich- 
gestaltete Figuren  geteilt  und  untergeteilt  werden  kann.  Ein 
Eaum  liat  nur  vermöge  seiner  Grenzen  eine  Gestalt,  und  kann 
nur  mit  Eücksieht  auf  ihre  Beschaifenheit  ein  durchaus  homoi- 
omerer Gestaltkomplex  sein,  z.  B.  das  Parallelepiped. 

§  21.  Die  Dimensionen. 

Zwei  Komplexe  K^  und  K,  heißen  vertauschbar,  wenn 
ein  Komplex  K^  aus  lauter  Bestandstücken  Kg  mit  einem  Komplexe 
Ko  aus  lauter  Bestandstücken  K^  koinzidiert.  Sind  zwei  Komplexe, 
Kl  und  Ko,  vertauschbar.  so  sind  ihre  Komplexionen  ^^  und  £> 
vertauschbare  Komplexionen.  Zwei  Komplexionen  Ä^  und 
^.2  sind  also  vertauschbar,  wenn  Komplexe  Ko  in  der  Komplexion 
^1  stehend  einen  Komplex  bilden,  der  mit  einem  Komplex  aus 
Komplexen  K^  in  Komplexion  ß.,  koinzidiert.  Zur  Bezeichnung 
dieses  Sachverhaltes  diene  das  Symbol:  ß^K,  =  ^.,Ki.  Z.  B. : 
5X7  =  7X5. 

Sind  Kl  und  K.,  vertauschbare  Komplexe,  und  ist  ^^K.,  = 
^2Ki  =  A,  so  gibt  es  im  allgemeinen  zu  jedem  bestimmten 
Komplexe  K^  in  A  Komplexe  IC,  (in  A),  die  mit  K^  gemein- 
same Bestandstücke  haben  und  umgekehrt,  —  z.  B.:  5X7  = 
7X5=:  35.  Hier  gibt  es  zu  jedem  Komplexe  von  5  Ein- 
heiten Komplexe  von  je   7   Einheiten   (innerhalb    des  Komplexes 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  183 

35),  die  mit  ihm  gemeinsame  Bestandstücke  haben.  —  Es  g-ibt 
jedoch  auch  Gegenstände  A.  an  denen  Komplexe  K^  bestehen,  die 
mit  keinem  Komplexe  von  der  Art  des  K.,  irgendein  Bestandstück 
gemein  haben.  Zwei  vertauschbare  Komplexe  K^  und  K.,,  deren 
jeder  an  einem  Gegenstande  A  =  ^^K.,  =  ß.Jv^  bestehen  kann, 
ohne  mit  dem  anderen  ein  Bestaudstück  gemein  zu  haben,  heißen 
unabhängig  v  e  r  t  a  u  s  c  h  b  a  r  in  bezug  auf  A ;  die  Komplexionen 
unabhängig  vertauschbarer  Komplexe  heißen  unabhängig  ver- 
tauschbare Komplexionen.  ZAvei  Komplexionen  Ä^  und  Ä., 
können  als  unabhängig  vertauschbare  Komplexionen  nur  dann  be- 
stehen, wenn  sie  an  ihrem  Bestimmungsgegenstande  A  möglich 
sind,  ohne  irgendwelche  (nächste  oder  entferntere)  Bestandstücke 
von  A  zu  Inferioren  zu  haben.  Dies  ist  nun  nur  dann  der  Fall, 
wenn  Komplexe  von  der  Art  K^  und  Komplexe  K.,  an  (oder  in) 
A  als  Grenzen  auftreten.  Zwei  Komplexe  K^  und  K.,  und  die 
zugehörigen  Komplexionen  ^^  und  ^^  sind  also  in  Bezug  auf  A 
unabhängig  vertauschbar,  wenn  an  (oder  in)  A  mindestens  eine 
Grenze  besteht,  die  ein  Komplex  von  der  Art  K^,  d.  h.  von  der 
Komplexion  ^^  ist,  und  mindestens  eine  Grenze,  die  ein  Komplex 
von  der  Art  lü.  d.  h.  von  der  Komplexion  ^.^  ist. 

Ein  Gegenstand,  woran  zwei  untereinander  unabhängig  ver- 
tauschbare Komplexionen  bestehen,  ist  zweidimensional.  Es 
sei  z.  B.  E  ein  Eechteck  (d.  h.  ein  rechteckig  abgegrenztes  Stück 
einer  Ebene)  mit  der  Grundlinie  g  und  der  Höhe  h.  Die  Fläche 
E  koinzidiert  nun  mit  einem  Komplex  von  lauter  Streifen  G,  die 
mit  g  parallel  und  von  der  Länge  der  g  sind,  und  andererseits 
mit  einem  Komplex  von  lauter  Streifen  H.  die  mit  h  parallel  und 
von  der  Länge  der  h  sind.  Jeder  Streifen  G  enthält  von  jedem 
Streifen  H  ein  Bestandstück  in  Form  eines  kleinen  Rechteckes; 
alle  Eechtecke.  aus  denen  ein  G  besteht,  sind  untereinander  in 
derselben  Komplexion,  in  welcher  die  Streifen  H  stehen,  indem 
sie  E  konstituieren;  diese  Komplexion  eines  jeden  Komplexes  G 
heiße  ®.  E  koinzidiert  also  mit  einem  Komplex  von  lauter  Be- 
standstücken H  in  KoDiplexion  @.  Jeder  Streifen  H  enthält  von 
jedem  G  ein  Bestandstück,  und  alle  kleinen  Eechtecke,  woraus 
ein  H  besteht,  sind  untereinander  in  jener  Komplexion,  worin  auch 
alle  G  stehen,  indem  sie  die  Fläche  E  konstituieren;  diese  Kom- 
plexion   eines   jeden   Komplexes   H  heiße   §.     E   koinzidiert    also 


]^g4  Ernst  JIally. 

auch  mit  einem  Komplex  aus  lauter  Bestandstückeu  G  in  Kom- 
plexion ^.  Es  ist  also  E  =  (5JH  =  ^G,  d.  h.  H  und  G  sind  ver- 
tauschbare  Komplexe,  ^  und  ®  veitauschbare  Komplexionen  in 
bezug  auf  E. 

Die  Grundlinie  g  und  jede  mit  ihr  parallele  Grenze  eines 
Streifens  G  wird  durch  die  zu  h  parallelen  Grenzlinien  der  Streifen 
H  in  ebensoviel  Strecken  geteilt,  als  G  kleine  Rechtecke  enthält. 
Die  Grenze  g  an  E  und  die  ihr  parallelen  Grenzen  in  E  sind  also 
Komplexe  von  derselben  Komplexion  ®  wie  die  Streifen  G.  Ebenso 
sind  h  und  die  mit  ihr  parallelen  Grenzen  in  E  Komplexe  von 
derselben  Komplexion  §  wie  die  Streifen  H.  Die  Linien  g  und 
h  oder  eine  Parallele  zu  g  und  eine  Parallele  zu  h  in  E  können 
nun  kein  Bestandstück  gemein  haben;  denn  sie  schneiden  sich  in 
Punkten,  welche  nur  Grenzen  an  ihnen  sind.  Die  untereinander 
vertauschbaren  Komplexionen  ©  und  §  können  also  an  E  auch  so 
bestehen,  daß  ihnen  kein  (nächstes  oder  entfernteres)  Inferius 
gemeinsam  ist:  sie  sind  also  in  bezug  auf  E  unabhängig  ver- 
tan s  c  h  b  a  r  e  K  0  m  p  1  e  x  i  0  n  e  n.  —  Der  durchaus  homoiomere  Kom- 
plex E  ist  insbesondere  ein  impliziter  Komplex  der  notwendig  un- 
bestimmten kleinsten,  d.  h.  schmälsten  Streifen  G,  beziehungsweise 
der  unbestimmten  kleinsten  Streifen  H.  Ist  §  die  (Mengen-)Kom- 
plexion,  worin  diese  unbestimmten  letzten  G  das  E  konstituieren, 
ist  ferner  @  die  entsprechende  Komplexion  der  unbestimmten  letzten 
Bestandstücke  H  von  E,  so  sind  ^  und  @  auch  die  Kom- 
plex i  o  n  e  n ,  worin  die  unbestimmtenInfimaderSt  recken 
h  beziehungsweise  g  stehen.  Als  solche  sollen  sie  die  Bezeich- 
nungen \)  und  g  erhalten.  Solange  §  und  @  Mengenkomplexionen 
bestimmten  oder  bestimmbaren  Grades  bedeuten,  ist  ein  Komplex 
H  oder  G  nicht  notwendig,  d.  h.  nicht  schon  als  reiner  Komplex 
ein  Quantum,  sondern  erst  vermöge  seiner  Determination  durch 
Quanta.  Nur  die  Komplexionen  unendlichen  und  notwendig  unbe- 
stimmten Grades,  wie  f)  und  g,  bestimmen  notwendig  Quanta,  — 
in  unserem  Falle  die  Strecken  h  und  g.  Und  zwar  heißt  1^  als 
quantumbestimmende  Komplexion  die  Länge  von  h,  ebenso  g  die 
Länge  von  g.  Die  Komplexioneu  ^  und  g  bestehen  nun  auch, 
wie  irgend  ein  Paar  zusammengehöriger  Komplexionen  §  und  ®, 
als  unabhängig  vertauschbare  Komplexionen  an  E  und  heißen 
Dimensionen  von  E. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  185 

Das  Rechteck  E  (als  ein  Stück  der  Ebene)  ist  zweidimensional, 
weil  es  mit  zwei  Komplexen  mit  untereinander  unabhängig  ver- 
tauschbaren Komplexionen  koinzidiert.  E  ist  ein  zweidimensionales 
Quantum.  Jedes  irgendwie  abgegrenzte  Stück  Ebene  und  jedes 
Flächenstück  überhaupt,  gleichviel,  ob  eben  oder  krumm,  koinzidiert 
nun  mit  einem  durchaus  homoiomeren  Mengenkomplex  (seiner 
unbestimmten  Flächenteile),  der  mit  irgendeinem  Rechteck  E  koin- 
zidiert. Es  koinzidiert  also  auch  jede  Fläche  überhaupt  mit  zwei 
Komplexen  von  untereinander  unabhängig  vertauschbaren  Kom- 
plexionen (wie  ®E[  =  §G  oder  gh=:I)g):  darum  ist  jede  Fläche 
ein  zweidimensionales  Quantum.  Das  gilt  auch  von  unbegrenzten 
Flächen,  denn  sie  sind  als  durchaus  homoiomere  Komplexe  Mengen 
derselben  Art  wie  ihre  begrenzten  Bestandstücke. 

Ein  Rechteck  E  und  jedes  damit  koinzidierende  Flächen- 
quantum ist  (seiner  Größe  nach)  durch  ein  Paar  unabhängig  ver- 
tauschbarer Komplexionen  oder  durch  zwei  Dimensionen  bestimmt. 
Seine  Dimensionen  sind  (an  ihm)  unabhängig  vertausch- 
bare Mengenkomplexionen  notwendig  unbestimmten 
Grades.  Je  zwei  untereinander  unabhängig  vertauschbare  Kom- 
plexionen der  genannten  Art  an  einer  Fläche  heißen  relativ  zu- 
einander „Länge"  und  „Breite"  der  Fläche. 

Ein  lineares  Quantum  ist  durch  die  eine  an  der  Ge- 
samtheit seiner  unbestimmten  Infima  bestehende  Mengenkomplexion 
unbestimmbaren  Grades  vollständig  bestimmt:  es  hat  nur  eine 
Dimension.  Denn  zu  der  genannten  Komplexion.  z.  B.  g  der 
Strecke  g,  besteht  keine  mit  ihr  unabhängig  vertauschbare  am 
linearen  Kontinuum.  Die  Dimension  einer  Linie  heißt  Länge 
und  kommt  in  gleicher  Weise  einer  Geraden,  wie  auch  jeder 
anderen  Linie  zu.  die  als  bloßer  Mengenkomplex  ihrer  unbestimmten 
Infima  (d.  h.  ohne  Rücksicht  auf  die  Gestalt)  mit  der  Geraden 
koinzidiert.^) 


')  Die  Untersuchung  des  Wesens  der  Dimension  wurde  nicht  in  systematischer 
Weise  an  dem  Falle  der  Linie  begonnen  (der  sich  nun  freilich  von  selbst  zu  er- 
ledigen scheint);  denn  der  Gedanke  der  Dimension  pflegt  uns  bei  Betrachtung 
zweidimensionaler  Kontiuua  weit  lebhafter  entgegenzutreten.  Und  darum  mag 
ein  Ausgehen  von  diesem  Falle  die  Entschuldigung  für  sich  haben,  natürlicher 
zu  sein. 


230  Eenst  Mally. 

p]s  sei  P  ein  rechtwiuklig-es  ParallelepipedJ)  kj.ko,  k^  seien 
drei  Kanten  von  P,  die  einen  Eckpunkt  gemein  haben.  Die 
Grenzfläche,  welche  die  Kanten  k^  und  k^  zu  Grenzen  hat, 
heiße  Ejo»  die  mit  den  Seiten  k.,  und  kg  heiße  Eog  und  die  mit 
den  Seiten  kg  und  k^  heiße  Eg^.  Nun  werde  P  durch  Ebenen 
E'j2  parallel  zu  Ej.,  in  lauter  gleiche  Schichten  Sjo  geteilt;  dann 
durch  Ebenen  E'og  parallel  zu  Eog  in  lauter  gleiche  Schichten 
Sog  und  durch  Ebenen  E'g,  parallel  zu  Eg^  in  lauter  gleiche 
Schichten  Sg^. 

Jede  Ebene  E'^g  hat  mit  kg  einen  Punkt  gemein,  und  diese 
Punkte  bestimmen  in  kg  ebensoviel  untereinander  gleiche  Teil- 
strecken, als  die  Ebenen  E'^g  Schichten  S^o  in  P  '^bestimmen. 
Die  Mengenkomplexion  5?g,  worin  die  Teilstrecken  stehen,  indem 
sie  kg  (genauer  einen  mit  kg  koinzidierenden  Komplex)  konsti- 
tuieren, ist  dieselbe,  worin  die  Schichten  Sjo  stehen,  indem  sie 
P  konstituieren.  Es  ist  also  ^g  S^«  =  P.  d.  h.  die  Bestandstücke 
Sjo  in  der  Komplexion  ^3  bilden  einen  mit  P  koinzidierenden 
Komplex. 

Jede  Schicht  S^«  wird  nun  durch  die  Ebenen  E'og  in  unter- 
einander gleiche  Säulen  Sjo,«:?  geteilt.  Die  Mengenkomplexion, 
worin  diese  Säulen  einer  Schicht  stehen,  indem  sie  diese  kon- 
stituieren, ist  dieselbe,  worin  die  Teilstrecken  von  k^  stehen,  die 
durch  die  Ebenen  E'og  in  ki  bestimmt  werden;  sie  heiße  ^,.  Es 
ist  also  ^iSjo.oa  =  Si-2?  d.  h.  Bestandstücke  s,o,og  in  Komplexion 
^1  bilden  einen  mit  Sj«  koinzidierenden  Komplex.  Jede  Schicht 
Sj2  wird  aber  auch  durch  die  Ebenen  E'gj  in  untereinander  gleiche 
Säulen  s^o.si  geteilt.  Die  Mengenkomplexion  dieser  Säulen  in 
einer  Schicht  Sj«  ist  dieselbe,  worin  die  Teilstrecken  von  ko  stehen, 
die  in  k,  durch  die  Ebenen  E'g^  bestimmt  werden;  sie  heiße  Ä.,. 
Es  ist  also  auch  ^o  s^o.gi  =  S^o. 

Nun  wird  auch  jede  Säule  s^o,«:?  durch  die  Ebenen  E'g^  in 
untereinander  gleiche  Parallelepipede  p  geteilt,  die  untereinander, 
indem  sie  eine  Säule  Si.2,03  konstituieren,  auch  in  der  Komplexion 
^0   stehen.     Es  ist  also  s^o.og^Äop.     Ebenso  wird  jede  Säule 


')  Der  Begriff  des  rechtwiuklig-eii  Parallelepipedes  wird  hier  aus  der  Geo- 
metrie übernommen,  da  eine  gegenstandstheoretisehe  Ableitung  aller  im  Laufe 
der  Untersuchung  zu  verwendenden  Hilfsbegriffe  zu  weitläufig  werden  müßte. 


Zur  Gegenstandstlieorie  des  Messens.  187 

Si2,3i  durch  die  Kbeneii  E'.,.,  iu  Parallelepipede  p  geteilt,  deren 
Meug-enkoraplexion  iu  Sjo,3i  die  Komplexion  ^i  ist.  Also  ist  Si2,:u 
^^iP.  Da  also  S^.,  mit  ^iSj.,,.,;,.  und  s,o,.2:}  mit  ^o  p  koinzidiert, 
so  koinzidiert  Sjo  auch  mit  einem  Komplex  bestehend,  aus  Bestand- 
stücken 5loP  in  Komplexion  ^j;  in  Sj^mbolen:  812  =  ^1^2?-  Und 
weil  Sj2  mit  ^2812,31.  und  Sj.>,3i  mit  5?i  p  koinzidiert,  so  koinzi- 
diert S^o  auch  mit  einem  Komplex  aus  Bestandstücken  ^j  p  in 
Komplexion  ^.y;  in  Symbolen:  Si2=^'2^iP.  Es  ist  demnach  S^^ 
=  ^1  ^2  P  =  ^2  ^1  P^  d.  h.  die  Komplexe  ^^  ^2  P  und  ^^  ^^  p,  die  mit 
Sj2  koinzidieren,  koinzidieren  auch  untereinander. 

Nun  koinzidiert  mit  P  ein  Komplex  von  Schichten  Sjo.  dessen 
Mengenkomplexion  dieselbe  ist,  worin  die  Teilstrecken  von  kj 
stehen,  die  durch  die  Schnittebenen  E'^o  in  kg  bestimmt  werden; 
diese  Meng-enkomplexion  heiße  ^3.  Daher  ist  P  =  ^3Sio  und  mit 
Kücksicht  auf  das  oben  Abgeleitete  P  =  Ä\  ^^  to  P  =  ^3  ^2  ^1  P-  — 
Auf  demselben  Wege  läßt  sich  zeigen,  daß  P==^jSo3,  daher  P  = 
Ä,  5i\>  ^3  p  =  Äi  ^3  5?2  p ;  ebenso  auch ,  daß  P  =  ^o  S31,  daher  P  = 
^2  ^3  ^1  P  =  ^-2  ^1  ^3  P-  Bezeichnet  man  einen  Komplex  von  der 
Komplexion  Sil  (und  aus  Bestandstücken  p)  mit  Kj,  also  5?!  p  =  K^, 
entsprechend  ^2P  =  Ko  und  ^gp^Kg,  so  ist 

=  Ä2  Äj   Kg    =  Äo  0X3  Kj, 

Ki,K2,K3  sind  also  Komplexe  mit  derartigen  Komplexionen  ^i,  ^2?  ^a» 
daß  immer  ein  Komplex  von  Komplexen  irgend  einer  der  drei 
Arten  (z.  B.  Kg)  in  Komplexion  von  einer  der  beiden  anderen  Arten 
(z.  B.  ^2)  ^1^  Bestandstück  (Äo^s)  eines  gleichteiligen  Komplexes 
der  dritten  Art  (also  in  diesem  Falle  in  Komplexion  Äj)  auftretend, 
einen  mit  einem  und  demselben  Gegenstande  (hier  P)  koinzidierenden 
Komplex  konstituiert.  Drei  solche  Komplexe  sind  unter- 
einander (zu  dreien)  vertauschbar;  ihre  Komplexionen 
sind  zu  dreien  v e r t a u s c h b a r e  K 0 m p  1  e x i 0 n e n.  Sie  bilden 
ein  Tripel  vertauschbarer  Komplexionen. 

Die  Komplexionen  ^,,  ^o  und  Äg  sind  nun  in  bezug  auf  P 
auch  unabhängig  vertauschbar.  Denn  ^^  besteht  auch,  ohne 
irgend  welche  Teile  von  P  zu  Inferioren  zu  haben,  an  Grenzen 
von  P,  nämlich  an  der  Kante  kj  (genauer  einem  mit  ihr  koinzi- 
dierenden Komplex   von   Teilstrecken)   und   auch   an  jeder  zu   k^ 


IQg  Ebnst  Mally. 

parallelen  Strecke  in  P;  ebenso  besteht  ^o  ^^  ^2   ^^^^^  ^^^^  <lazu 
parallelen  Strecken  in  P,  SJg  an  kg  und  den  parallelen  Strecken  in  P. 

Alle  hier  aufg"ezei^en  Koinzidenzen  von  Mengenkomplexen  mit 
P  bestehen  auch,  wenn  die  Komplexionen  Ä'  speziell  die  Mengen- 
komplexionen  unbestimmbaren  Grades  sind,  worin  die  unbestimmten 
Infima  der  bezüglichen  Komplexe  stehen,  indem  sie  diese  Kontinua 
konstituieren.  Diese  besonderen  Mengenkomplexionen  sind  die  als 
Längen  der  Kanten  k^,  k»,  k^  mit  den  Buchstaben  f^,  t,  fg  zu 
bezeichnenden.  Diese  in  bezug  auf  P  zu  dreien  unabhängig  ver- 
tauschbaren Komplexionen  sind  die  drei  Dimensionen  des  Kaum- 
kontinuums  P.  Sie  heißen  als  Dimensionen  von  P  und  relativ  gegen- 
einander „Länge",  „Breite"  und  „Tiefe". 

Jedes  Raumkontinuum  koinzidiert  als  bloßer  durchaus  homoio- 
merer  Mengenkomplex  seiner  unbestimmten  Infima  fd,  h.  ohne 
Rücksicht  auf  damit  koinzidierende  Gestalten)  mit  einem  recht- 
winkligen Parallelepiped.  daher  auch  mit  Komplexen  von  der  oben 
angegebenen  Art,  deren  Komplexionen  Tripel  von  unabhängig  ver- 
tauschbaren Komplexionen  bilden.  Jedes  Raumkontinuum  ist  also 
dreidimensional,  daher  als  Quantum  erst  durch  drei  Dimensionen 
vollständig  bestimmt. 

Im  vorhergehenden  sind  als  Beispiele  von  ein-,  zwei-  und 
dreidimensionalen  Komplexen  nur  durchaus  homoiomere  Komplexe 
(als  teilbare  Quanta)  berücksichtigt  worden,  und  der  Begriff  der 
Dimension  wurde  auch  nur  an  solchen  Komplexen  entwickelt.  In 
der  Tat  glaube  ich.  daß  er  in  seiner  eigentlichen  Gestalt  auch 
nur  auf  Kontinua  eine  Anwendung  gestattet.  —  Zwei  Erweiterungen 
des  Begriffes  (die  dann  auch  nicht  mehr  der  eigentlichen  Dimension, 
sondern  nur  damit  ähnlichen  Gegenständen  gelten  können),  sollen 
später  noch  in  Betracht  gezogen  werden :  ^)  die  eine  betrifft  die 
„Dimensionen"  nicht  durchaus  homoiomerer  Komplexe,  die  andere 
die  „Dimensionen"  gewisser  Gegenstände,  die  überhaupt  nicht 
Komplexe  sind. 

Eine  zweite  Beschränkung  in  der  Wahl  der  Beispiele,  die 
aber  der  Allgemeinheit  der  gewonnenen  Bestimmungen  keinen  Ein- 
trag tut,  ist  darin  gelegen,  daß  als  Dimensionen  zwei-  und  drei- 
dimensionaler  Kontinua   nur   solche    betrachtet    wurden,    die   an 


1)  §§  33  und  35. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  189 

rechtwinklig  zusammenstoßenden  Geraden  in  den  Kontinuen 
bestehen.  Es  braucht  nur  bemerkt  zu  werden,  daß  die  eben  fest- 
gesetzte Bestimmung  der  Dimensionen  eines  mehrdimensionalen 
Kontiuuums  C,  als  untereinander  unabhängig  vertauschbarer 
Mengenkomplexionen  durchaus  homoiomerer  Komplexe  in  bezug  auf 
C,  auch  für  Komplexionen  von  solchen  Geraden  in  C  gilt,  die 
irgend  einen  von  R  verschiedenen  Winkel  bilden.  Z.  B.  kann 
ein  schiefwinkliges  Parallelogramm  mit  zwei  Komplexen  ^^Kg  = 
^oKi  koinzidieren ,  worin  K^  ein  Komplex  von  5?j  schiefwink- 
ligen Parallelogrammllächen  und  K,  ein  Komplex  von  ebensolchen 
Bestandstücken  in  Komplexion  ^o  ist.  Die  aufeinander  normalen 
Geraden  im  Kontinuum  haben  indes  als  Träger  der  Dimensionen 
den  anderen  gegenüber  einen  Vorzug  bei  der  Ausmessung  der 
Kontinua. 

Es  könnte  schließlich  noch  fraglich  erscheinen,  ob  der  Begriff 
des  rechten  Winkels  bei  Geraden  eine  Anwendung  finden  könne, 
die  nicht  einem  im  engern  Sinne  des  Wortes  räumlichen  Kon- 
tinuum angehören,  also  bei  Geraden  in  jenem  weitesten  Sinne,  in 
welchem  sie  oben^)  definiert  worden  sind.  Für  den  gegen- 
wärtigen Zusammenhang  genügt  es  nun,  festzusetzen:  zwei  Ge- 
rade, die  einen  Punkt  gemein  haben,  bilden  einen  rechten  Winkel, 
wenn  sie  die  Ebene  in  vier  gleiche  Felder  teilen.  Diese  Be- 
stimmung der  Rechtwinkligkeit  oder  der  normalen  Lage  zweier 
Geraden  ist  nun  sicher  auf  jede  Art  von  Geraden  anwendbar,  die 
als  Grenzen  in  Ebenen  (im  weitesten  Sinne  des  Wortes  Ebene) 
auftreten.  Ein  anderes  Kriterium  der  Rechtwinkligkeit,  das  eine 
direkte  Anwendung  auch  dort  gestattet,  wo  über  das  Bestehen 
einer  Ebene,  worin  die  Geraden  liegen,  nichts  vorbestimmt  ist.  soll 
später  angegeben  werden.-) 


')  §  20. 

«)  Kap.  VI,  §  36. 


■^(jQ  Ekkst  Mally. 

IV.  Kapitel. 
Die  unteilbaren  Qnanta. 

§  22.  Anwendung  des  Kriteriums  der  Größe  auf 
Unteilbares.    Reihen. 

Seiner  Natur  uach  unteilbar  ist.  was  keine  Teile  liat.^)  Ein 
Gegenstand  ist  also  unteilbar,  wenn  mit  ihm  kein  Mengenkomplex 
seiner  Bestandstücke  (als  ein  Ganzes  seiner  Teile)  koinzidieren 
kann,  daher  wenn  er  kein  Komplex  ist.  Jeder  Gegenstand,  der 
nicht  komplex  ist,  heißt  einfach. 

Von  den  einfachen  Gegenständen  sind  jene  Gegenstände 
Quanta,  die  dem  Kriterium  der  Größe  genügen.  Es  sind  also 
die  einfachen  Gegenstände  E  Quanta,  wenn  zu  jedem  bestimmten 
von  ihnen,  E_i,  noch  Gegenstände  E  bestehen,  die  zwischen  E^  und 
Null  liegen.  Es  gibt  demnach  zu  jedem  unteilbaren  Quantum 
noch  kleinere  unteilbare  Quanta  derselben  Art,  die  nicht  seine 
Teile  sind. 

Von  jedem  bestimmten  unteilbaren  Quantum  E^  aus  führt  eine 
Veränderung  konstanter  Richtung  über  Gegenstände  E  zur  Null, 
Der  Veränderungsvorgang  koinzidiert  nun  mit  einem  Komplex  von 
lauter  (aufeinanderfolgenden)  Veränderungsvorgängen,  deren  nächste 
und  beliebig  entfernte  Inferiora  immer  wieder  Veränderungsvor- 
gänge sind.  Der  Veränderungsvorgang  ist  also  ein  durchaus 
homoiomerer  Komplex  oder  ein  Kontinuum, 

Ein  Komplex  von  Gegenständen,  die  einem  eindimensionalen 
Kontinuum  angehören,  ist  eine  Reihe.  Jedes  einfache  Quantum 
E  ist  also  Bestandstück,  und  zwar  Inf  im  um,  einer  Reihe  R(E), 
worin  von  je  zwei  Daten  E  eines  immer  zwischen  Null  und  dem 
anderen  liegt,  daher  auch  von  je  drei  Daten  E  eines  immer  zwischen 
den  beiden  anderen.  Die  Reihe  R(E)  heißt  darum  eine  gerade  Reihe. 
Die  Daten  E  von  R(E)  sind  keine  Komplexe,  können  darum 
auch  keinen  durchaus  homoiomeren  Komplex  bilden.  Die  Reihe 
der  einfachen  Quanta  ist  also  kein  Kontinuum.  Doch  gehören 
die  einfachen  Quanta  als  Grenzen  (nämlich  Punkte)  einem  Kon- 
tinuum an,  nämlich  der  Veränderungsgeraden,  die  zur  NuU  führt. 


')  Vgl.  oben  §  19. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  191 

Ein  Gegenstand  g  von  der  Beschaftenheit .  daß  zu  jedem  be- 
stimmten Datnm  einer  Eeilie  noch  (unbestimmt  viele)  Daten  be- 
stehen, die  dem  Gegenstande  g-  ähnlicher  sind,  heißt  eine 
Häuf ungs stelle^)  der  Reihe.  Eine  Häufungsstelle,  die  selbst 
kein  Datum  der  Eeihe  ist,  ist  eine  Grenze  derselben.  Die 
Eeihe  E(E)  der  einfachen  Quanta  hat  in  der  Null  eine  Häufungs- 
stelle, die  zugleich  Grenze  ist. 

Eine  Eeihe,  worin  jedes  Datum  eine  Häufungsstelle  ist,  heißt 
dicht.^)  In  einer  dichten  Reihe,  die  zugleich  gerad  ist,  gibt 
es  zwischen  je  zwei  bestimmten  Daten  immer  noch  (unbestimmt 
viele)  Daten. 

Eine  Reihe,  die  sämtliche  in  einem  Koutinuum  möglichen 
Grenzen  einer  Art  enthält,  heißt  stetig.^)  Die  Reihe  E(E)  der 
einfachen  Quanta  ist  stetig,  denn  in  der  Yeränderungsgeraden 
von  irgendeinem  einfachen  Quantum  zur  Null  ist  jeder  Punkt 
ein  einfaches  Quantum. 


§  23.  Natur  der  unteilbaren  Quanta. 

Die  unteilbaren  Quanta  sind  Eigenschaften.  Jeder 
(mögliche)  Gegenstand,  der  keine  Eigenschaft  ist,  kann  durch 
Qualitäten  bestimmt  werden  oder  ist  möglicher  Bestimmuugsgegen- 
stand  von  Qualitäten.  Insbesondere  ist  jedes  Quantum,  das  keine 
Eigenschaft  ist,  möglicher  Bestimmungsgegenstand  von  Qualitäten 
neben  der  Größe.  Ein  Gegenstand  aber,  der  Bestimmungsgegen- 
stand  von  mehr  als  einer  Qualität  sein  kann,  ist  nicht  einfach.-) 
Daher  können  Quanta,  die  nicht  Eigenschaften  sind,  nicht  unteil- 
bare Quanta  sein.  Dagegen  kann  eine  Eigenschaft  bestehen, 
die  durch  keine  Qualität  außer  der  Größe  bestimmt  werden  kann 
(sondern  nur  noch  durch  relative  Bestimmungen), 


')  Der  Terminus  ist  dem  mathematischen  Sprachgebrauche  ohne  Bedeutungs- 
änderung entnommen. 

^)  Denn  als  möglicher  Bestimmungsgegenstand  ist  er  auch  impliziter  Eigen- 
schaftsgegenstand von  mehr  als  einer  Qualität.  Daher  kann  er  (hinsichtlich  einer 
Qualität)  einem  einfachen  Gegenstande  gleich  und  zugleich  (hinsichtlich  einer 
anderen  Qualität)  demselben  Gegenstande  ungleich  sein,  was  unmöglich  wäre, 
wenn  er  einfach  wäre.  (In  Übereinstimmung  mit  Ausführungen  Meinongs  im 
zitierten  Erkenntni  stheoriekoUeg.) 


j^g2  Ernst  Mally. 

Jede  Eigenschaft,  die  ein  Quantum  ist,  ist  ein- 
fach, also  ein  unteilbares  Quantum,  Wäre  eine  Eigen- 
schaft ein  teilbares  Quantum,  so  müßte  sie  ein  Komplex  aus  lauter 
Eigenschaften  sein,  die  zwischen  ihr  und  Null  stünden,  also  mit 
ihr  gleichartig  wären.  Nun  besteht  keine  komplexe  Eigenschaft 
aus  Eigenschaften  der  gleichen  Art.  Denn  Eigenschaften  gleicher 
Art,  die  untereinander  gleich  sind,  können  keine  komplexe  Eigen- 
schaft bilden,  da  sie  eben  alle  eine  Eigenschaft  d.  h.  identisch  sind. 
Und  Eigenschaften  gleicher  Art,  die  untereinander  verschieden 
sind,  können  keine  komplexe  Eigenschaft  bilden,  da  sie  unterein- 
ander unverträglich  sind,  d.  h.  eine  unmögliche  komplexe  Eigen- 
schaft konstituieren,  z.  B.  die  Temperatur  t  und  die  Temperatur  t' 
als  Teilbestimmungen  gegenüber  einem  und  demselben  Gegen- 
stande. Es  können  jedoch  mit  einer  einfachen  Eigenschaft,  ins- 
besondere einer  einfachen  Qualität,  mehrere  relative  Bestimmungen 
koinzidieren. 


§  24.  Einfache  Quanta,  die  Qualitäten  an 
Gegenständen  sind. 

Einem  Gegenstande,  der  eine  Qualität  hat,  kommt  auch  ihr 
Quäle  und  demnach  das  Sosein  von  diesem  Quäle  zu.  Ein  Gegen- 
stand, der  Röte  hat,  ist  rot  oder  hat  das  als  Rotsein  zu  bezeich- 
nende Sosein.  Idealrelationen  setzen  zu  ihrem  Bestände  (nur) 
das  S  0  s  e  i  n  der  Inferiora  voraus.  Idealrelationen  zwischen 
Qualitäten,  die  sich  nur  auf  deren  Quallen  gründen,  bestehen 
also  auch  zwischen  Gegenständen,  denen  das  durch  diese  Quallen 
bestimmte  Sosein  zukommt.*)  Rot  und  Blau  sind  verschieden; 
dieselbe  Verschiedenheit,  die  zwischen  diesen  Qualitäten  besteht, 
besteht  auch  zwischen  Rotem  und  Blauem  (».hinsichtlich"  ihrer 
Farbe). 

Ist  die  Qualität  @  ein  Quantum,  so  gehört  sie  einer  Quantums- 
reihe R((£)  an.  Ein  Gegenstand  T,  dem  das  Quäle  e  von  6  zu- 
kommt, ist  dadurch  derart  bestimmt,  daß  Idealrelationen,  die  sich 
auf  die  Quallen  «  gründen,  auch  zwischen  den  Gegenständen  «T  be- 
stehen.   Nun  bestehen  zwischen  den  Qualitäten  ©,  vermöge  ihrer 


')  Vgl.  oben  Kap.  I,  §  10,  S.  146  f. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  193 

Größe,  die  Idealrelationen,  die  zwischen  Gliedern  einer  Quantums- 
reihe bestehen.  Vermög-e  dieser  Relationen  bilden  die  Qualitäten 
©  die  Quantumsreihe  R(@).  Daher  bilden  die  Gegenstände 
«T  (oder  T@  als  implizite  Eig'enschaftsio:eg-enstände  von  (£)  eine 
Q  u  a  n  t  u  m  s  r  e  i  h  e ,  w  o  r  i  n  j  e  zwei  e  T  ( hinsichtlich  ihrer  Quali- 
tät ©)  voneinander  so  verschieden  sind  wie  ihre  Quali- 
täten (S  untereinander.  Die  Qualitäten  (S  einer  Reihe 
R(6)  unterscheiden  sich  aber  der  Voraussetzung*  nach  nur  durch 
ihre  Größe.  Sofern  also  ein  Gegenstand  (T)  durch 
eine  Qualität  (@),  die  ein  Quantum  ist,  als  durch 
seine  Qualität  bestimmt  ist,  hat  er  die  Größe  dieser 
Qualität. 

Der  Gegenstand  tT  kann  nur  ein  teilbares  Quantum  sein. 
T  hat  die  Qualität  E  und  Größe.  T  ist  also  keine  einfache 
Eigenschaft,  denn  eine  solche  kann  neben  der  Größe  keine  Quali- 
tät haben.  Da  nun  T  ein  Quantum  ist,  so  kann  es  nur  ein  teil- 
bares Quantum  sein.  Zugleich  ergibt  sich:  T  kann  keine  Eigen- 
schaft sein.  Der  implizite  Eigenschaftsgegenstand 
einer  Qualität,  die  ein  Quantum  ist,  ist  also  ein  t e i  1  - 
bares  Quantum,  daher  ein  impliziter  durchaus  homoio- 
m  e  r  e  r  Komplex.  Jeder  durchaus  homoiomere  Komplex  hat  nun 
eine  oder  mehrere  Dimensionen,  oder:  es  kommt  ihm  Aus- 
d  e  li  n  u  n  g  zu.  Jedes  e  i  n  f  a  c  h  e  Q  u  a  n  t  u  m ,  das  e  i  n  e  Q  u  a  1  i  - 
tat  an  einem  Gegenstande  ist,  koinzidiert  also  mit 
einer  Ausdehnung.  Die  Qualitäten,  die  Quanta  sind,  ohne 
Ausdehnungen  oder  Extensitäten  zu  sein,  heißen  insbesondere  auch 
Intensitäten. 

Eine  einfache  Qualität  an  etwas,  die  ein  Quantum  ist,  ist  jede 
Dimension,  also  Ausdehnung  selbst,  (die  mit  Ausdehnung 
nicht  nur  im  gewöhnlichen  allgemeinen  Sinne  koinzidiert,  sondern 
insbesondere  mit  ihr  identisch  ist).  Ausdelmung  ist  natürlich 
nicht  selbst  wieder  ausgedehnt.  Eine  Dimension  besteht  zwar  an 
Ausgedehntem,  also  Komplexem,  ist  aber  selbst  kein  Komplex, 
sondern  eine  einfache  Komplexion.  Jedes  Ausgedehnte  hat;  die 
Größe  seiner  Ausdehnung,  und  umgekehrt. 

Die  Geschwindigkeit^)  ist  eine  einfache  (ideale)  Qualität, 


^)  Statt  einer  weiteren  systematischen  und  erschöpfenden  Darstellung  aller 
Meinong,  Untersuchungen.  13 


j^94  Ebnst  Mally. 

die  Größe  hat.  Ihr  Träger  ist  der  Veränderiings Vorgang:^ 
ein  teilbares  Quantum,  das  eine  Ausdehnung  in  der  Zeit  besitzt. 
Die  Geschwindigkeit  koinzidiert  mit  der  Ausdehnung  in  der  Zeit 
als  eine  Qualität  an  demselben  Bestimmungsgegenstande,  nämlich 
dem  Yeränderungsvorgange.  Die  Größe  der  Geschwindigkeit  oder 
auch  die  Geschwindigkeit  selbst  heißt  Intensität  der  Ver- 
änderung. Die  Geschwindigkeiten  bilden  eine  Quantumsreihe,, 
mit  deren  Nullpunkte,  der  unmöglichen  Geschwindigkeit  NuU,  die 
mögliche  Eigenschaft  der  Konstanz  koinzidiert.  Mit  der  Ge- 
schwindigkeit zugleich  wird  auch  die  Veränderung  Null;  mit 
dieser  unmöglichen  Veränderung  koinzidiert  als  möglicher  Gegen- 
stand ein  konstanter  Zustand. 

Ein  Veränderungsvorgang  unter  Aufwand  einer  Spannung 
heißt  Arbeit.  —  Die  Arbeit  ist  also  ein  teilbares  oder  extensives 
Quantum,  das  eine  Ausdehnung  in  der  Zeit  besitzt.  —  Die 
Spannung  ist  eine  reale  (unter  Umständen  wahrnehmbare) 
Qualität,  die  eines  Limitierens  gegen  die  NuU  fähig,  also  ein 
Quantum  ist.  Sie  kommt  einerseits  dem  materiellen  Komplex  als 
Qualität  zu,  woran  sie  existiert;  sie  ist  aber  auch  eine  Qualität 
am  Veränderungsvorgange,  der  Arbeit,  Allerdings  existiert  auch 
Spannung  ohne  Arbeit;  doch  ist  überall,  wo  Spannung  ist,  Arbeit 
möglich:  es  besteht  also  Arbeit  als  möglicher  Bestimmungs- 
gegenstand einer  Spannung.  Die  Arbeit  ist  jenes  exten- 
sive Quantum,  dessen  Intensität  die  Spannung  ist. 
Mit  der  NuU  der  Spannung  koinzidiert  die  NuU  der  Arbeit. 

Der  „Träger",  d.  h.  der  Bestimmungsgegenstand  der  realen 
physischen  Qualitäten  (dem  also  ihre  Quallen  bestimmend  zukommen) 


Quanta,  die  Qualitäten  an  Gegenständen  sind,  kann  hier  noch  nicht  mehr  geboten 
werden  als  die  Aufzählung  und  kurze  Charakterisierung  einiger  Beispiele. 
Ein  gleiches  muß  auch  bezüglich  des  Spezielleren  in  den  beiden  nachfolgenden 
Paragraphen  bemerkt  werden.  Auch  ist  nicht  ausgeschlossen,  daß  einer  oder  der 
andere  besondere  Fall  nicht  unter  dein  Titel  abgehandelt  ist,  imter  den  er  tat- 
sächlich gehört.  Vielleicht  ist  das  schon  bei  der  Geschwindigkeit  der  FaU, 
die  —  trotz  der  scheinbaren  Unmittelbarkeit,  womit  wir  sie  günstigsten  Falles 
erfassen  können  —  doch  möglicherweise  nichts  als  eine  fiktive  Qualität  ist 
und  daher  in  den  §  26  gehört.  Für  alle  diese  Unzulänglichkeiten  habe  ich  keine 
andere  Entschuldigung  vorzubringen  als  die  Ungewohntheit  einer  solchen,  auf 
alle  unteilbaren  Quanta  gerichteten  Untersuchung. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  195 

heißt  Materie.^)  Die  Materie  ist  als  Träg-er  der  realen  Quali- 
täten komplex.  Sie  ist  ein  Quantum.  Daher  koinzidiert  sie  auch 
mit  einem  durchaus  homoiümeren  Menj^enkomplexe.-) 

Die  Materie  besitzt  Ausdehnung  im  Räume:  sie  ist  durch  die 
drei  Dimensionen  des  Raumes,  als  Raum  qu  an  tum.  bestimmt. 
Das  Raumquantum  der  ]Materie  heißt  ihr  Volumen  (d.  i.  ihr 
Quantum,  sofern  es  durch  ihre  Ausdehnung-  im  Räume  bestimmt 
ist).  Die  Materie  besitzt  außer  der  Ausdehnung-  noch  eine  Quali- 
tät, die  ein  Quantum  ist:  Dieintensität  der  Materie  heißt 
ihre  Dichte.  Diese  einfache  (ideale)  Qualität  besteht  an  der 
Materie  neben  der  Ausdehnung-,  sie  koinzidiert  mit  dieser.  Die 
als  Quantum  vollständig-  bestimmte  Materie  heißt  Masse. 
(Masse  ist  also  der  Eigenschaftsgeg-enstand,  dessen  Bestimmungs- 
gegenstand  ]\Iaterie,  dessen  Haupteigenschaft  Größe  oder  Quantität 
ist.)  Mit  der  Null  des  einfachen  Quantums  Dichte  koinzidiert 
die  Null  des  durch  die  Dichte  (mit-)bestimmten  teilbaren  Quantums^ 
der  Masse. 


§  25.   Einfache  Quant a,  die  Qualitäten  zwischen 
Gegenständen  sind. 

Ist  eine  Relation  ^  zwischen  Gliedern  A,  B,  C  .  . .  ein  Quan- 
tum, so  ist  immer  eine  Änderung  der  Glieder  in  der  Art  möglich, 
daß    dabei    die   Relation    9i    die   Quantumsreihe   R(9ft)    durchläuft. 


')  Durch  diese  Definition  ist  weder  behauptet,  es  existiere  ein  „Träger" 
der  realen  Qualitäten  ohne  diese  Qualitäten  (wie  ja.  auch  eine  Linie,  als  Be- 
stimniungsgegeustand  einer  Gestalt,  ohne  Gestalt  nicht  einmal  besteht),  noch  auch 
ist  nur  die  Existenz  einer  durch  ihre  Qualitäten  bestimmten  „Materie"  supponiert. 
Das  Einzige,  was  diese  Definition  bestimmt,  und  als  eine  gegenstandstheoretische 
Bestimmung  überhaupt  bestimmen  kann,  ist  das  Soseiu  des  Gegenstandes 
Materie.  Dieser  durch  sein  Sosein  als  real  bestimmte  Gegenstand  kann  dabei  tat- 
sächlich existieren,  er  kann  aber  auch  ein  nichtexistierender  Gegenstand  sein. 

")  D.  h.  ein  Träger  der  realen  Qualitäten,  der  ein  Quantum  ist,  ist  mindestens 
als  Menge  notwendig  durchaus  homoiomer.  Ob  ein  solches  materielles  Kon- 
tinuuni  existiert,  ist  hier  nicht  die  Frage.  Auch  könnte  mit  dem  durcliaus 
homoiomeren  Mengenkomplex  der  Materie  ein  anhomoiomerer  Gestaltkomplex  koin- 
zidieren,  z.  B.  ein  Komplex  diskreter  Atome,  wenn  nur  diese  oder  irgendwelche 
Teile  von  ihnen  durchaus  homoiomer  wären  und  wenn  der  ..leere  Baum"  zwischen 
ihnen  möglich  ist. 

13* 


]^gg  Ernst  Mally. 

Die  Quantumsreilie  ist  stetig.  Zu  jedem  ihrer  Punkte,  d.  li.  zu 
jeder  konkreten  Größe  von  9t  gehören  bestimmte  Komplexe  der 
Inferiora  A,  B,  C  . . .  Es  ist  also  mindestens  eines  der  In- 
feriora  variabel  und  ebensovieler  konki^eter  Zustände  fähig,  als  die 
stetige  Reihe  R(9t)  Punkte  enthält.  Diese  konkreten  Zustände  des 
variablen  Relationsgliedes  sind  daher  Punkte  einer  stetigen  Reihe 
R(X)  (worin  X  das  variable  Glied  ist).  R(X)  ist  nicht  notwendig 
eine  Quantumsreihe.  Denn  X  ist  als  Inferius  eines  expliziten  Kom- 
plexes „A,  B,  C  . . .  X  in  Relation  31"  durch  das  Quantum  'tR  nicht 
als  durch  eine  Qualität  an  ihm  bestimmt,  sondern  erhält  in  seinem 
Inferiussein  gegenüber  'tR  nur  eine  relative  Bestimmung.  Ist 
insbesondere  9t  eine  Relation  zwischen  zwei  Gliedern  A,  B  (und 
ein  Quantum),  so  ist  bei  Konstanz  von  A  das  Glied  B  einer  stetigen 
Änderung  fähig. 

Die  Idealrelation  Verschiedenheit  ist  ein  Quantum.  Zu 
jeder  bestimmten  Verschiedenheit  SSj  gibt  es  unbestimmt  viele 
Verschiedenheiten  35,  die  zwischen  SSj  und  NuU  sind,  d.  h.  kleiner 
als  SSj.  Verschiedenheit  ist  eine  Relation  zwischen  zwei  Gliedern. 
Ist  also  das  Glied  A  der  Verschiedenheit  jJSb  konstant,  so  ist  das 
Glied  B  einer  stetigen  Änderung  von  der  Art  fähig,  daß  dabei  35 
die  Quantumsreihe  R(35)  durchläuft.  Die  a^Sb  ist  Null,  wenn  das 
Sein  der  Verschiedenheit  zwischen  A  und  B  ihrem  Nichtsein  gleich- 
kommt, also  das  Verschiedensein  des  B  von  A  dem  Nichtver- 
schiedensein  des  B  von  A.  Das  ist  der  Fall,  wenn  B  dem  A 
gleich  ist.  Mit  der  unmöglichen  Verschiedenheitsnull  koinzidiert 
also  die  mögliche  Relation  der  Gleichheit.  Mit  jeder  von  NuU 
verschiedenen  Verschiedenheit  koinzidiert  eine  Relation,  die  der 
Gleichheit  um  so  ähnlicher  wird,  je  ähnlicher  die  Verschiedenheit 
der  Verschiedenheitsnull  wird;  das  ist  die  Ähnlichkeit  der  In- 
feriora der  Verschiedenheitsrelation.  Es  koinzidiert  mit  der  Gleich- 
heit die  untere  Grenze  der  Verschiedenheit  und  die  obere  Grenze 
der  Ähnlichkeit.^)  Da  sich  das  variable  Glied  B  dem  konstanten 
Gliede  A  bis  zur  Gleichheit  annähern  kann,  so  gehört  A,  mindestens 
als  Grenze,  derselben  stetigen  Reihe  R(B)  an  wie  B. 


^)  Daß  Verschiedenheit  und  Ähnlichkeit  miteinander  koinzidierende  „Kou- 
tinua"  bilden,  nnd  speziell  mit  dem  Ähnlichkeitsmaximum,  der  Gleichheit,  die  Ver- 
schiedenheitsnuU  koinzidiere,  hat  meines  Wissens  zuerst  K.  Ameseder  in  einer  im 
Jahre  1900  mit  dem  Wartingerpreise  gekrönten  Arbeit  vertreten.  Vgl.  oben  S.  100  ff. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  197 

Eine  Reihe,  die  sämtliche  Punkte  einer  Yeränderungslinie 
enthält,  heiße  eine  An derung-s reihe.  Die  Keihe  R(Bj  ist  eine 
Änderimg-sreihe.  Mit  ihr  koinzidiert  eine  mögiiche  oder  fiktive 
Verändernng'slinie,  je  nachdem  ein  kontiunierlicher  Ver- 
änderungsvorg-ang  des  Gegenstandes  B,  der  alle  Daten  der  Reihe 
(als  Grenzen)  enthält,  möglich  ist  oder  nicht.  Ein  Veränderungs- 
vorgang ist  ein  realer  Vorgang  an  einem  Gegenstande  T,  wobei 
T  in  aufeinanderfolgenden  Zeiten  die  aufeinanderfolgenden  Daten 
einer  stetig-en  Reihe  als  Eigenschaften  annimmt.  Ein  realer  Vor- 
g-ang  ist  nur  an  einem  realen  Gegenstande  T  möglich.  Verändert 
sich  T,  so  wechselt  eine  Bestimmung  an  T,  indem  T  (in  der  Zeit) 
verschiedene  (reale)  Qualitäten  annimmt,  welche  punktuelle  Daten 
einer  stetigen  Qualitätenreihe  sind.  Verändert  sich  z.  B.  ein 
realer  Geg'enstand  T  hinsichtlich  seiner  Farbe,  so  nimmt  er 
in  der  Zeit  die  stetig-  aufeinanderfolgenden  punktuellen  Daten 
einer  Farbenreihe  an.  Der  reale  Vorg-ang  an  T  ist  ein  Kontinuum, 
das  in  der  Zeit  ausgedehnt  ist;  die  Qualitäten  aber,  die  T  dabei 
annimmt,  sind  sämtlich  geg-eneinander  diskrete  punktuelle  Daten, 
die  wohl  eine  stetige  Qualitätenreihe  (hier  Farbenreihe),  aber  keine 
Linie  bilden  können. 

Ein  veränderlicher  Gegenstand  hat  in  jedem  Punkte  seines 
Veränderungsprozesses  das  Sosein  einer  bestimmten  (konkreten) 
Qualität.  Die  Idealrelationen,  die  sich  auf  die  Quallen  der  Daten 
einer  Änderungsreihe  gründen,  bestehen  daher  auch  zwischen  den 
zug-ehörigen  Zuständen  des  Veränderlichen  und  auch  zwischen  den 
P^igenschaftsgegenständen  mit  dem  Veränderlichen  (T)  als  Be- 
stimmungsg-egenstand  und  diesen  Daten  als  bestimmenden  Gegen- 
ständen. Es  besteht  also  insbesondere  die  Verschiedenheitsrelation 
a5Sb  auch  zwischen  dem  durch  das  Datum  A  (als  seine  Qualität) 
bestimmten  Gegenstande  TA  und  dem  durch  B  (als  seine  Qualität) 
bestimmten  Gegenstande  TB.  Verändert  sich  T  hinsichtlich  seiner 
Qualität  B,  so  durchläuft  es  wirklich  (realiter)  eine  (reale)  Ver- 
änderungslinie, indes  B,  als  eine  Qualität  punktueller  Natur  und 
einer  realen  Veränderung  unfähig,  nur  fiktiverweise  eine  stetige 
Reihe,  die  Änderungsreihe  R(B)  „durchläuft"'.  Zugleich  „durch- 
läuft", ebenso  fiktiv,  die  Relation  taS^tb  die  gerade  Quantums- 
reihe R(S8). 

Es  bestehe  insbesondere  eine  gerade  Änderungsreihe  R(B)  mit 


jgg  Ernst  Mally. 

der  Grenze  A.  Mit  dem  Zustande  B  =  A  eines  möglichen  oder 
fiktiven  Veränderlichen  T  koinzidiert  die  a^Sb  =  0.  Durch  jede 
(mögliche  oder  fiktive)  Veränderungsstrecke,  die  TB  von  A 
aus  zurücklegt,  ist  dann  eine  konkrete  Verschiedenheit  der 
Endzustände.  jJ8b,  vollständig  (auch  als  Quantumj  bestimmt. 

§  26.   Einlache  Quanta,  die  keine  echten 
Qualitäten  sind. 

Eine  einfache  Eigenschaft,  die  keine  Qualität  ist,  ist  ein 
Objektiv.  Ein  reines  Objektiv  kann  kein  Quantum  sein.  Dem 
reinen  Sein  steht  das  reine  Nichtsein  gegenüber,  dem  reinen  So- 
sein das  reine  Nichtsosein.  p]in  Übergang  zu  einer  Grenze  Null  ist 
hier  nicht  möglich.  Auch  determinierte  Objektive  sind  keine 
Quanta.  Das  determinierte  explizite  Objektiv  ,.daß  A  ist"  bzw. 
„daß  A  b  ist"  ist  keines  Überganges  zui^  Null  fähig.  Das  deter- 
minierte implizite  Seinsobjektiv  „Sein  des  A"  ist  sicher  kein  Quan- 
tum, wenn  A  kein  Quantum  ist.  Ist  A  ein  Quantum,  so  limitiert 
es  gegen  Null  und  damit  das  Sein  des  A  gegen  das  Nichtsein  oder 
das  Nullsein  des  A.  Dieses  Nullsein  ist  nun  selbst  nicht  Null, 
sondern  ein  bestehendes  Objektiv  am  unmöglichen  Gegenstande 
A  =  0.  Ebenso  limitiert  das  implizite  Soseinsobjektiv  „b-sein  des 
A"  nicht  gegen  Null,  sondern  gegen  das  ,,Nicht-b-sein  des  A"  oder 
eventuell  gegen  ein  (widersprechendes)  „b-  und  nicht-b-sein  des  A", 
welches  aber  seinem  (unmöglichen)  Eigenschaftsgegenstande  gleich- 
wohl als  bestehendes  Objektiv  zukommt.  Es  sind  also  auch  die 
determinierten  Objektive  keine  Quanta. \) 

Von  den  Soseinsobjektiven  koinzidieren  einige  wesentlich  mit 
Qualitäten  an  ihren  impliziten  Eigenschaftsgegenständen,  andere 
wesentlich  mit  Qualitäten  zwischen  Gegenständen  oder  Eela- 
tionen,  welche  wie  die  ersteren  Qualitäten  unteilbare  Quanta 
sein  können;  andere  Soseinsobjektive  endlich  koinzidieren  über- 
haupt nicht  mit  irgendwelchen  Qualitäten  wesentlich.  Eine  mit 
einem  solchen  Soseinsobjektiv  wesentlich  koinzidierende,  als  impli- 
zite Qualität  bestimmmte  Bestimmung  ist  eine  fiktive  Qualität. 


')  Ist  Größe  eine  implizite  Bestinimung,  die  keiu  Objektiv  ist,  also  eine 
Qualität,  so  ist  schou  daher  uiclit  wohl  einzusehen,  wie  sie  einem  Objektive  zu- 
kommen könnte. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  199 

Zu  den  fiktiven  Qualitäten  gehören  auch  jene  als  implizit  be- 
stimmten Eigenschaften  an  Eelations-  (und  überhaupt  Beziehungs-) 
Gliedern,  welche  mit  Eelationen  (und  überhaupt  mit  Beziehungen) 
zwischen  diesen  Gliedern  wesentlich  koinzidieren,^) 

Eine  mit  einer  relativen  Bestimmung  wesentlich  koinzidierende 
fiktive  Qualität  ist  ihrem  Sosein  nach  ein  Quantum,  wenn  die 
Avesentlich  koinzidierende  Relation  ein  Quantum  ist.  Denn 
die  fiktive  Qualität  ist  durch  die  wesentlich  koinzidierende  Rela- 
tion 9?  (wegen  der  Gemeinsamkeit  des  Quäle)  derart  bestimmt,  daß 
mit  der  unmöglichen  Relation  9i  =  0  auch  eine  fiktive  Qualität 
koinzidiert,  die  kein  Gegenstand,  d.  h.  Null  ist,  und  daß  alle 
übrigen  Quanta  9i  Qualitäten  bestimmen,  die  einer  an  Null 
grenzenden  geraden  Reihe  angehören.  Z.  B.  ist  die  Ver- 
schiedenheit eines  Gegenstandes  A  von  einem  Gegenstande  B  eine 
fiktive  Qualität  an  A.  Sie  koinzidiert  wesentlich  mit  dem  Ver- 
schiedensein des  A  von  B,  also  einer  möglichen  relativen  Be- 
stimmung. Mit  ihr  koinzidiert  wesentlich  als  Relation  die  Ver- 
schiedenheit zwischen  A  und  B  (die  nicht  Qualität  an  A,  noch 
auch  an  B,  sondern  eben  zwischen  ihnen  beiden  ist).  Diese 
fiktive  Qualität  „Verschiedenheit  des  A  von  B"  ist  nun  ein  Quan- 
tum. Denn  durch  jede  a^b  ist  eine  solche  fiktive  Qualität  be- 
stimmt, so  daß  mit  x^b  =  0  auch  die  Verschiedenheit  Null  des  A 
von  B  koinzidiert  und  mit  jeder  von  Null  verschiedenen  jJSb  eine 
Verschiedenheit  des  A  von  B  auch  der  Größe  nach  bestimmt  ist. 

Eine  mit  einer  relativen  Bestimmung  wesentlich  koinzidierende 
fiktive  Qualität  ist  auch  ein  fiktives  Quantum,-)  wenn  der  be- 
stimmende Gegenstand  B  der  relativen  Bestimmung  ein 
Quantum  ist  und  der  Quantumsreihe  R(B)  eine  gerade  Änderungs- 
reihe der  fiktiven  Qualität  entspricht  (so  daß  mit  dem  bestimmen- 
den Gegenstande  B  =  0  auch  die  fiktive  Qualität  kein  Gegen- 
stand, d.  h.  Null  wird).  Bei  gleichbleibender  Relation  (aUgemein 
Beziehung)  ist  durch  jedes  konkrete  Quantum  des  bestimmenden 
Gegenstandes  B  eine  besondere  relative  Bestimmung  und  daher  eine 
besondere  wesentlich  koinzidierende  fiktive  Qualität  bestimmt,  also 


')  Vf^l.  oben  Kap.  I,  §  9,  S.  143  f  ;  §  12,  S.  150. 

-)  D.  h.  ihrem  Sosein  nach  ein  Quantum,  oder  auch  als  Quantum  bestimmt, 
ohne  (la(!  ihr  indes  die  echte  Qualität  GröCe  zi;käme. 


200  Ernst  Mally. 

durcli  die  stetige  Reihe  R(B)  eventuell  eine  gerade  stetige  Reihe 
R(Cl)  der  fiktiven  Qualitäten,  welche  eine  besondere  fiktive  Qualität 
0  =  0  zur  Grenze  hat  oder  in  sicli  enthält.  Im  ersten  Falle  bilden 
die  fiktiven  Qualitäten  eine  Quantumsreihe,  im  zweiten  bilden  sie 
zwei  aneinander  grenzende  Quantumsreihen  mit  entgegengesetzten 
Richtungen  der  Annäherung  zur  Null. 

Die  Fähigkeit  ist  z.  B.  eine  fiktive  Qualität  ^).  die  mit  einem 
möglichen  expliziten  Sosein  wesentlich  koinzidiert.  P^in 
Gegenstand  A  heißt  zu  B  fähig,  wenn  A  (genauer :  entweder  sein 
Sosein  oder  auf  Grund  seines  Soseins  sein  Sein)  Bedingung  (oder 
Teilbedingung)  für  das  Sein  des  B  ist.  Dieses  Sosein  ist  eine 
mögliche  Bestimmung  des  A  in  bezug  auf  B.  B  ist  (mit-)be- 
stimmender  Gegenstand  von  A  und  insbesondere  bestimmender 
Gegenstand  der  Fähigkeit  von  A.  Solche  fiktive  Qualitäten 
(die  indes  nicht  Quanta  sind)  sind  z.  B.  Realität  und  Idealität. 
Ein  realer  Gegenstand  ist  fähig  zu  existieren;  er  ist  also,  seinem 
Sosein  nacli,  Teilbedingung  seiner  Existenz  (oder  des  Seins  seiner 
Existenz,  d.  h.  ihrer  Tatsächlichkeit).  Ein  idealer  Gegenstand 
ist  nur  fähig  zu  bestehen;  er  ist  also,  seinem  Sosein  nach,  Be- 
dingung für  das  Sein  (d,  h.  die  Tatsächlichkeit)  seines  Bestandes. 

Ein  realer  Vorgang  als  bestimmender  Gegenstand  einer  Fähig- 
keit heißt  Leistung.  Eine  Fähigkeit  ist  ein  Quantum,  wenn 
ihr  bestimmender  Gegenstand  ein  Quantum  ist.  Jeder  reale  Vorgang 
ist  als  ein  Kontinuum  ein  Quantum;  jede  Fähigkeit  zu  einer 
Leistung  ist  also  auch  als  ein  Quantum  bestimmt.  Eine 
Leistung  ist  jede  Arbeit  als  Veränderungsvorgang  unter  Auf- 
wand von  Spannung.  Die  Fähigkeit  zu  einer  Arbeit  heißt  E  u  e  r  g  i  e. 
Sie  ist  durch  ihre  Leistung  als  Quantum  vollständig  bestimmt. 
Mit  der  fiktiven  Qualität  „Energie"  kann  irgendeine  reale 
Qualität  an  ihrem  Bestimmungsgegenstande  koinzidieren ,  welche 
speziell  (Teil-)Bedingung  der  Leistung  ist  (z.  B.  Wärme  oder 
„Wucht"),  die  aber  nicht  die  Energie  selbst  ist. 

Die  Fähigkeit  zu  psychischer  Arbeit  heißt  „psychische  Ener- 
gie"^); sie  ist  indes,  als  fiktive  Qualität,  weder  psychisch  noch  physisch. 


')  Oder   zum   mindesten'  eine   als   implizit  bestimmte  explizite  Eigenschaft, 
also  eine  fiktive  Bestimmung. 

^)  Vgl.  HöFLEH,  Psychische  Arbeit  a.  a.  0. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  201 

Die  Fähigkeit.  Spannung  oder  Beschleunigung  zu  bewirken., 
lieißt  Kraft.  Die  Kraft  ist  eine  fiktive  Qualität  eines  realen 
Eigenschaftsgegenstandes.  Sie  ist  auch  als  Quantum  durch  ihren 
bestimmenden  Gegenstand,  die  Spannung,  vollständig  bestimmt. 
Jene  Beschleunigung,  die  statt  einer  bestimmten  Spannung  Folge 
einer  bestimmten  Kraft  sein  kann,  ist  ein  Äquivalent  dieser  Spannung. 

Eine  besondere  Art  von  Fähigkeit  ist  auch  der  Wert  eines 
Gegenstandes.  Sein  bestimmender  Gegenstand  ist  eine  Gefühls- 
disposition eines  psychischen  Subjektes,  also  selbst  wieder  eine 
Fähigkeit  (des  Subjektes),  nämlich  die  zur  „Werthaltung"  der 
Existenz  und  „Unwerthaltung"  der  Nichtexistenz  des  (Wert-) 
Gegenstandes  (oder  umgekehrt).  ^)  Diese  Fähigkeit  des  Subjektes 
ist  ihrerseits  durch  die  Intensität  der  Gefühle,  zu  denen  sie  be- 
fähigt, als  Quantum  bestimmt. 

Die  fiktive  Qualität  ..Fähigkeit  eines  fiktiven  (expliziten)  Ob- 
jektives, mit  einem  impliziten  (tatsächlichen)  Objektiv  wesentlich 
zu  koinzidieren" ,  ist  seine  Wahrscheinlichkeit.  Mit  der 
(fiktiven)  Wahrscheinlichkeit  eines  Objektives  koinzidiert  die  mög- 
liche explizite  Bestimmung  an  ihm,  daß  es  seiner  gegebenen 
Beschaftenheit  nach  mit  einem  impliziten  koinzidieren  kann. 


V.  Kapitel. 
Die  Messung  der  teilbaren  Quanta. 

§  27.     Koinzidenzgesetze   für   reine   Zahlen.     Direkte 
Rechnungsoperationen. 

Jedes  Messungsobjektiv  ist  ein  Sosein.  Bestimmungsgegenstand 
ist  das  zu  messende  Quantum.  Bestimmender  Gegenstand  ist  in 
jedem  eigentlichen  Messungsobjektiv  ein  mit  dem  zu  messenden 
Quantum  koinzidierender  Mengenkomplex  von  untereinander  gleichen 
Quantis  in  Komplexion  bestimmten  Grades.  Das  Quantum,  das 
als  Bestandstück  des  bestimmenden  Zahlkomplexes  auftritt,  heißt 
Maß  oder  JMaßquantum.  Der  bestimmende  Zahlkomplex  ist  also 
durch   das  ]\Iaß   determiniert.    Der  so   determinierte  Komplex   ist 


')  Vgl.   die  grundlegenden  Bestimmungen  des  Wesens  des  Wertes    (nebst 
einschlägiger  Literatur)  bei  Meinong,  Über  Annahmen.  §  55. 


202  Erxst  Mally. 

seinerseits  durcJi  den  reinen  Zablkomplex,  also  in  letzter  Linie  durch 
die  Zahlkomidexion  bestimmt. 

Bestimmung-sg-egenstand  eines  eigentlichen  Messungsobjek- 
tivs kann  nur  ein  teilbares  Quantum  sein.  Sofern  nun  teilbare 
Quanta  durch  bestimmte  Maßquanta  oder  Einheiten  ausgemessen, 
d.  h.  durch  koinzidierende  Zahlkomplexe  dieser  Maßquanta  be- 
stimmt sind,  gelten  für  sie  dieselben  Gesetze  wie  für  die  be- 
stimmenden reinen  Komplexe.  Es  soll  nun  hier  versucht  werden, 
die  einfachsten  Grundgesetze  für  reine  Zahlkomplexe,  die  aus  der 
Mathematik  wohl  bekannt  sind,  in  allgemein  gegenstandstheoretischer 
Fassung  zu  entwickeln. 

Jeder  explizite  Mengen  komplex  von  Zahlen^)  (ge- 
geben in  der  Form  ,,a,  b,  c  ...  in  Zusammenfassungskomplexion'') 
koinzidiert  mit  einem  impliziten  Zahlkomplex  (von 
Einheiten),  d.  h.  mit  einer  Zahl.  Der  implizite  Zahlkomplex 
heißt  die  Summe  der  Bestandstücke  des  mit  ihm  koinzidierenden 
expliziten  Mengenkomplexes,   welche   seine  Summanden  heißen. 

Symbol  (z.  B.) :  a  -f  b  +  c  =  d. 

Zu  einem  expliziten  Mengenkomplex  ,.Zahlen  in  Zusammen- 
fassungsrelation" den  koinzidierenden  impliziten  Komplex  (der  Ein- 
heiten) suchen,  heißt  addieren. 

Ein  Mengenkomplex  ist  gebildet  durch  Bestandstücke  in  Zu- 
sammenfassungsrelation oder  in  Mengenkomplexion.  Er  ist  als 
solcher  vollständig  unabhängig  von  der  Reihenfolge  seiner  Be- 
standstücke; denn  seine  Komplexion  enthält  keine  Reihenfolge  der- 
selben. Das  gegenstandstheoretische  kommutative  und 
ebenso  das  assoziative  Gesetz  der  Addition  ist  also  aus  dem  Be- 
griffe der  Menge,  insbesondere  der  Summe,  vollständig  evident. 
Dagegen  kann  es  eine  Aufgabe  der  Mathematik  sein,  zu  zeigen, 
daß  auch  die  Operation  des  Addierens,  nach  der  in  der  Arith- 
metik gegebenen  Rechnungsregel  vorgenommen,  bei  jeder  Reihen- 
folge von  beliebig  vielen,  aber  in  endlicher  Anzahl  vorhandenen 
bestimmten  Summanden  zu  demselben  Ergebnis  führen  muß. 

Insbesondere  koinzidiert  jeder  explizite  gleich- 
t  eil  ige  Mengenkomplex  von  Zahlen  (in  der  Form  ..Be- 
standstücke a  in  Komplexion   der  Zahl  b")  mit   einem  impli- 


*)  Unter  Zahl  ist  hier  und  im  folgenden  eine  natürliche  Zahl  gemeint. 


Zur  Geg-enstandstheorie  des  Messens.  203 

ziten  Zahlkomplex  (von  Einheiten),  d.  h.  mit  einer  Zahl. 
Das  Bestandstück  (a)  des  gleichteiligen  Zahlkomplexes  (von 
Zahlen  a)  heißt  Multiplikand;  die  Zahl  (b) ,  in  deren  Kom- 
plexion die  untereinander  grleiclien  Bestandstücke  (a)  stehen,  heißt 
Multiplikator:  beide  Zalilen  heißen  P'aktoren.  Der  koinzi- 
dierende  implizite  Zahlkomplex  heißt  ein  Vielfaches  des  Multipli- 
kanden oder  Produkt  der  Faktoren. 

Symbol :  a  •  b  ^  c. 

Zu  einem  (expliziten)  Zahlkomplex  von  (gleichen)  Zahlen  den 
koinzidierenden  impliziten  Komplex  (der  Einheiten)  suchen,  heißt 
multiplizieren. 

Ein  Komplex  von  b  Komplexen  a  koinzidiere  mit  der  Zahl  c. 
Dann  bildet  je  eine  Einheit  des  einen  Komplexes  a  mit  je  einer 
Einheit  des  zweiten ,  dritten ,  . . . .  b  ten  Komplexes  a  zusammen 
einen  Komplex  von  b  Einheiten,  (weil  b  Komplexe  a  vorhanden  sind). 
Und  weil  in  jedem  Komplexe  a  sich  a  Einheiten  befinden,  so  bilden 
a  Komplexe  von  je  b  Einheiten  einen  mit  c  koinzidierenden  Komplex. 
Es  ist  also  a  •  b  =  c  =  b  •  a.  Die  reinen  Komplexe  a  und  b  sind 
also  vertauschbar  in  bezug  auf  c  (und  ebenso  die  zug-ehörigen 
Komplexionen  a  und  b),  —  das  kommutative  Gesetz  der  Multipli- 
kation in  gegenstandstheoretischer  Fassung. 

Es  sei  nun  wie  oben  a-b  =  c  und  außerdem  c-d  =  e.  Da  nun 
ein  Komplex  von  d  Zahlen  c  mit  der  Zahl  e  koinzidiert,  und  da 
ferner  c  mit  einem  Komplex  von  b  Zahlen  a  koinzidiert,  so  koin- 
zidiert auch  ein  Komplex  von  d  expliziten  Komplexen  a  •  b  (oder  ab) 
mit  e;  in  Sj^mbolen:  ab-d  =  c-d  =  e.  Es  koinzidiert  also  c-d  mit 
einem  Komplex  von  d  Bestandstücken  ab.  Jedes  ab  besteht  aus 
b  Zahlen  a.  Es  bildet  also  je  ein  Bestandstück  a  von  einem  ab 
mit  je  einem  a  des  zweiten,  dritten,  ....  dten  ab  einen  Komplex 
von  d  Bestandstücken  a,  also  ein  a-d.  Da  nun  jedes  ab  b  Zahlen 
a  enthält,  so  koinzidiert  ein  Komplex  von  b  Komplexen  ad  mit 
dem  Komplex  von  d  Komplexen  ab.  Es  ist  also  ab  •  d  ^=  ad  •  b.  — 
Nun  ist ,  nach  dem  kommutativen  Gesetz ,  a  •  b  =  b  •  a.  Es  kann 
also  auf  dem  gleichen  Wege  gezeigt  werden,  daß  auch  ba-d  =  bd-a. 
Durch  Wiederholung  dieser  Schlußweise  ergibt  sich  bekannter- 
maßen :  ab  •  d  ^  ad  •  b  =  da  •  b  =  db  •  a  =^  bd  •  a  =  ba •  d  =  cd  =  de  =  e. 
Wenn  also  eine  Zahl  e  mit  einem  Komplex  von  Zahlen  c  in  Kom- 
plexion der  Zahl  d  koinzidiert,  wobei  jedes  Bestandstück  c  wieder 


204  Ernst  Mally. 

mit  einem  Komplex  von  Zahlen  a  in  Komplexion  der  Zahl  b  koin- 
zidiert.  so  sind  a,  b,  d  drei  vertauschbare  Komplexe  in  bezug  auf 
6  (Faktoren  von  e  genannt),  —  das  assoziative  Gesetz  der  Mul- 
tiplikation in  gegenstandstheoretischer  Fassung.  Der  in  der 
Mathematik  durchgeführten  Erweiterung  des  Gesetzes  auf  eine  be- 
liebige endliche  Anzahl  von  Faktoren  ist  nun  unmittelbar  auch 
das  gegenstandstheoretisch  gefaßte  allgemeine  assoziative  Gesetz 
der  Multiplikation  zu  entnehmen.  In  der  Mathematik  sind  das 
kommutative  und  das  assoziative  Gesetz  der  Multiplikation  Ope- 
rationsgesetze, die  festsetzen,  daß  ein  Produkt  gegebener  Faktoren 
unabhängig  von  der  Reihenfolge,  in  welcher  sie  in  die  Operation 
des  Multiplizierens  einbezogen  werden,  immer  gleich  erhalten 
werden  muß,  wenn  die  Operation  nur  nach  der  arithmetischen 
Eechnungsregel  erfolgt. 

Der  nächste  Spezialfall  des  allgemeinen  oder  Additionskoiuzi- 
denzgesetzes ,  der  zugleich  auch  insbesondere  ein  Spezialfall  des 
Multiplikationskoinzideuzgesetzes  ist,  kann  erst  nach  der  Fest- 
setzung der  (relativen)  Orduuugshöhe  von  Zahlkomplexen  an- 
geführt werden.  Ein  Komplex,  dessen  Bestandstücke  nicht 
Komplexe  von  derselben  Komplexion  sind  wie  er  selbst,  heiße  ein 
Komplex  erster  Ordnung  in  bezug  auf  seine  (nächsten)  Bestand- 
stücke. Ein  Komplex,  dessen  Bestandstücke  Komplexe  von  der- 
selben Komplexion  sind  wie  er  selbst,  heißt  ein  Komplex  zweiter 
Ordnung  in  bezug  auf  die  (nächsten)  Inferiora  seiner  (nächsten) 
Bestandstücke.  Ein  Komplex,  dessen  (nächste)  Bestandstücke  alle 
Komplexe  zweiter  (n-ter)  Ordnung  sind  und  dieselbe  Komplexion  an 
sich  haben  wie  er  selbst,  heißt  ein  Komplex  dritter  ([n -f- l]-ter) 
Ordnung  in  bezug  auf  die  Inferiora,  die  nächste  Bestandstücke 
seiner  inferioren  Komplexe  erster  Ordnung  sind. 

Jeder  Komplex  höherer  Ordnung  ist  also  homoiomer.  Fin 
Komplex  unendlich  hoher  und  notwendig  unbestimmbarer  Ordnung 
in  bezug  auf  seine  unbestimmten  Inlima  ist  durchaus  homuiomer.. 
Jeder  Komplex  endlich  hoher  Ordnung  n,  bezeichnet  mit  K<:"'  heiße 
homoiomer  durch  n— 1  Stufen.  Denn  n — 1  Anfangsglieder  der  ab- 
steigenden Ordnungsreihe  ')  K^"',   K"i-^), .  . .  K(->,  K*^'^  sind  homoio- 


^)  Der  Terminus  wurde  von  Meinong,  im  mehrfach  zitierten  Kolleg,  eingeführt. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  205 

mere  Komplexe ;  nur  das  letzte  Glied,  der  Komplex  erster  Ordnung 
ist  nicht  homoiomer. 

Ein  näclistes  Bestandstück  eines  Komplexes  heiße,  entsprechend 
der  letzten  Festsetzung-.  Inferius  erster  Stufe  dieses  Komplexes. 
Ein  nächstes  Bestandstück  eines  Komplexes  erster  Ordnung  ist 
dann  Inferius  zweiter  Stufe  eines  homoiomeren  Komplexes  von 
solchen  Komplexen  erster  Ordnung.  Allgemein  ist  das  Inferius, 
auf  welches  bezogen  ein  Gegenstand  ein  Komplex  n-ter  Ordnung 
ist,  ein  Inferius  n-ter  Stufe  dieses  Gegenstandes.  In  der  oben 
angeschriebenen  Reihe  ist  also  Inferius  n-ter  Stufe  von  K"^^  ein 
(nächstes)  Bestandstück  des  Komplexes  K^^),  welches  irgend  ein 
Gegenstand  g  sein  kann. 

Mit  Rücksicht  auf  diese  Festsetzungen  läßt  sich  nun  das 
dritte  Koinzidenzgesetz  für  reine  Zahlen  folgendermaßen  aus- 
sprechen : 

Jeder  explizite  Mengenkomplex  bestimmter  Ord- 
nung und  von  der  Komplexion  einer  Zahl  koinzidiert 
mit  einem  impliziten  Zahlkomplex  (von  Einheiten),  d.  h. 
mit  einer  Zahl.  Der  explizite  Komplex  ist  gegeben  in  der 
Form:  „Zahlkomplex  n-ter  Ordnung  von  der  Komplexion  der  Zahl 
a''.  Er  ist  n-ter  Ordnung  in  bezug  auf  das  (nächste)  Inferius  des 
Zahlkomplexes  erster  Ordnung  von  der  Komplexion  der  Zahl  a, 
also  in  bezug  auf  das  (implizite)  Bestandstück  der  reinen  Zahl  a, 
d.  i.  die  Einheit.  Die  reine  Zahl  a  als  der  Zahlkomplex  erster 
Ordnung  von  der  Art  des  gegebenen  expliziten  Komplexes  n-ter 
Ordnung  heißt  die  Basis,  die  Ordnungszahl  n  heißt  der  (Potenz-) 
Exponent,  und  die  mit  dem  expliziten  Komplex  n-ter  Ordnung 
von  der  Komplexion  der  Zahl  a  koinzidierende  Zahl  heißt  die  (n-te) 
Potenz  (von  a). 

Symbol :  a"  =:  b. 

Zu  einem  expliziten  Komplex  n-ter  Ordnung  von  der  Kom- 
piexion  der  Zahl  a  den  koinzidierenden  impliziten  Komplex  (von 
Einheiten)  suchen  heißt  (a  mit  n)  potenzieren. 

Die  Operationen  des  Addierens,  Multiplizierens  und  Poten- 
ziereus  heißen  direkte  Operationen.  Sie  können  auch  sj'u- 
the tische  Operationen  genannt  werden.  Denn  durch  jede  von 
ihnen  wird  zu  einem  expliziten  Komplex  bestimmter  Bestandstücke 
ein  koinzidierender  impliziter  Komplex  erfaßt:  dieses  aber  ist  das 


2Qß  Ernst  Mally. 

Wesentliche  jener  psychischen   Tätigkeiten,   welche   den  .^ernein- 
sameu  Namen  der  Synthese  tragen. 


§  28.  Inverse  Operationen.    Erweiterungen  des 
Zahlgebietes. 

Ein  Gegenstand,  der  als  Bestandstück  eines  mit  einem  Kom- 
plexe K  koinzidierenden  Mengenkomplexes  auftreten  kann,  ist  ein 
Teil  von  K.^) 

Zu  einer  Zahl  a  und  einer  anderen  Zahl  b  die  Zahl  c  suchen, 
die  mit  b  zusammen  einen  mit  a  koinzidierenden  Komplex  bildet, 
heißt  (b  von  a)  subtrahieren.  Die  Zahl,  von  der  subtrahiert 
wird,  heißt  Minuend;  die  Zahl,  die  subtrahiert  wird,  heißt  Sub- 
trahend: die  Zahl,  die  mit  dem  Subtrahenden  zusammen  einen 
mit  dem  Minuenden  koinzidierenden  Mengenkomplex  bildet,  heißt 
Differenz  oder  Rest. 

Symbol :  a  —  b  =  c. 

Die  Subtraktion  ist  nur  dann  möglich,  wenn  der  Subtrahend 
ein  Teil  des  Minuenden  ist.  Denn  nur  dann  besteht  eine  Zahl, 
die  mit  diesem  Teil  zusammen  einen  mit  dem  Minuenden  koin- 
zidierenden Komplex  bildet.  Ist  der  Subtrahend  dem  Minuenden 
gleich  (d.  h.  ein  mit  dieser  Zahl  koinzidiereuder  Zahlkomplex  oder 
diese  Zahl  selbst),  so  besteht  keine  Zahl,  die  mit  ihm  einen  mit 
dem  Minuenden  koinzidierenden  Zahlkomplex  bildet,  oder  die  so 
bestimmte  Zahl,  d.  h.  die  Differenz,  ist  ein  unmöglicher 
Gegenstand.  Die  unmögliche  Differenz,  die  mit  a  —  a  koinzidiert, 
ist  nach  der  Definition  eine  Zahl,  die  mit  a  zusammen  einen  mit 
a  koinzidierenden  Zahlkomplex  bildet;  ihr  Sein  in  dem  mit  a  koin- 
zidierenden Komplexe  kommt  also  ihrem  Nichtsein  in  ihm  gleich: 
diese  unmögliche  Zahl  ist  die  Null,  a  — a  =  0. —  Ist  der  Sub- 
trahend „größer"  als  der  Minuend,  also  ein  Komplex,  wovon  der 
Minuend  ein  Teil  ist,  so  ist  die  Zahl,  die  mit  dem  Subtrahenden 
zusammen  einen  mit  dem  Minuenden  koinzidierenden  Zahlkomplex 
bildet,  ein  unmöglicher  Gegenstand.  Diese  Differenz  ist  nach  der 
Definition  so  beschaffen,  daß  ihr  Sein  in  dem  mit  dem  Minuenden 
koinzidierenden  Zahlkomplexe  gleichkommt    dem  Nichtsein   eines 


1)  Vgl.  oben  Kap.  III,  §  19. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  207 

Teiles  des  Siibtralienden.  Denn  nur  eine  solche  Zahl  bildet  mit 
dem  Subtrahenden,  der  größer  ist  als  der  Minuend,  einen  mit  diesem 
koinzidiereuden  Zahlkomplex.  Eine  (unmög-liche)  Zahl,  deren  Sein 
gleich  ist  dem  Nichtsein  einer  anderen  Zahl,  heißt  n  e  g  a  t  i  v.  Wenn 
a-|-c  =  b,  so  ist  a  —  b  =  —  c  und  a=:  b -[-(— c)  =  b  —  c.  (— c) 
ist  dann  eine  Zahl,  deren  Sein  in  dem  mit  a  koinzidierenden 
Summenkomplexe  b  -f-  ( —  c)  dem  Nichtsein  des  Teiles  c  von  b 
gleichkommt. 

Zu  einer  Zahl  a  und  einer  anderen  Zahl  b  jene  Zahl  c  suchen, 
die  Bestandstück  eines  mit  a  koinzidierenden  gleichteiligen 
Komplexes  mit  der  Komplexion  der  Zahl  b  ist,  heißt  (a  durch  b) 
teilen.  —  („Ganzes,"  „Teiler,"  „Teil".) 

Zu  einer  Zahl  a  und  einer  andern  Zahl  b  jene  Zahl  c  suchen, 
deren  Komplexion  die  Komplexion  eines  mit  a  koinzidierenden 
Komplexes  von  lauter  Bestandstücken  b  ist,  heißt  (a  durch  b)  m  e  s  s  e  n. 
—  („Gemessenes,"  „Maß,"  „Maßzahl"  oder  „Verhältniszahl".) 

Durch  Teilen  wird  zu  dem  Produkte  zweier  Zahlen  und  dem 
Multiplikator  der  Multiplikand  gesucht,  durch  Messen  zu  dem 
Produkte  und  dem  Multiplikanden  der  Multiplikator;  in  jedem 
Falle  wird  zum  Produkte  und  einem  Faktor  der  andere  gesucht. 
Beide  Operationen  sind  Arten  der  Division.  Die  Zahl,  welche 
dividiert  wird,  heißt  Dividend;  die  Zahl,  durch  welche  dividiert 
wird,  heißt  Divisor;  die  Zahl,  die  mit  dem  Divisor  multipliziert 
den  Dividenden  ergibt,  heißt  Quotient. 

Symbol    a  :  b  =  c  oder  -  =  c. 

Die  Division  ergibt  nur  dann  einen  möglichen  Quotienten, 
wenn  der  Dividend  ein  Vielfaches  des  Divisors  ist,  also  mit  einem 
Komplex  von  lauter  dem  Divisor  gleichen  Bestandstücken  koin- 
zidiert.  Nur  in  diesem  Falle  besteht  eine  Zahl,  die  mit  dem 
Divisor  multipliziert  den  Dividenden  ergibt.  Ist  der  Dividend 
kein  Vielfaches  des  Divisors,  so  wird  durch  die  Division  ein  Quo- 
tient fingiert.  Denn  es  besteht  in  diesem  Falle  keine  Zahl,  die 
Bestandstück  eines  mit  dem  Dividenden  koinzidierenden  gleichteiligen 
Komplexes  mit  der  Komplexion  des  Divisors,  oder  deren  Komplexion 
Komplexion  eines  mit  dem  Dividenden  koinzidierenden  Komplexes 
von  lauter  dem  Divisor  gleichen  Bestandstücken  sein  könnte.    Ein 


208  Ernst  Mally. 

solcher  iinmög-licher  Quotient  ist  eine   rein  fiktive  Zahl,   die  eine 
gebrochene  Zahl  g-enannt  wird. 

Zu  einer  Zahl  a  und  einer  anderen  Zahl  n  jene  Zahl  suchen, 
deren  Komplexion  die  Komplexion  eines  mit  a  koinzidierenden 
Zahlkoraplexes  n-ter  Ordnung-  ist,  heißt  (a  durch  n)  radizieren. 
Die  Zahl,  die  radiziert  wird,  heißt  Radikand;  die  Ordnungszahl 
des  mit  dem  Radikanden  koinzidierenden  Zahlkomplexes  gegebener 
Komplexion  heißt  der  W  u  r  z  e  1  -  E  x  p  o  n  e  n  t ;  die  Zahl,  deren  Kom- 
plexion die  Koraplexion  des  mit  dem  Radikanden  koinzidierenden 
(expliziten)  Zahlkomplexes  bestimmter  (n-ter)  Ordnung  ist,  heißt 
die  (n-te)  Wurzel  (aus  dem  Radikanden). 

n 

Sj^mbol :  i'  a  =  b. 

Die  n-te  "\^'urzel  einer  Zahl  a  ist  nur  dann  eine  mögliche,  d.  h. 
bestehende  Zahl,  wenn  der  Radikand  a  mit  einem  bestehenden 
Zahlkomplex  n-ter  Ordnung  (in  bezug  auf  Eins)  koinzidiert;  denn 
nur  in  diesem  Falle  besteht  eine  Zahl  b,  deren  Komplexion  auch 
als  Komplexion  dieses  (expliziten)  Zahlkomplexes  n-ter  Ordnung 
besteht.  In  jedem  andern  Falle  ist  eine  Zahl  mit  den  durch  die 
Definition  der  (n-ten)  Wurzel  (von  a)  gegebenen  Bestimmungen  ein 
unmöglicher  Gegenstand,  der  eine  i  r  r  a  t  i  o  n  al  e  Z  a  h  1  genannt  wird. 

Das  Potenzieren  gestattet  noch  folgende  zweite  Umkehrung. 

Zu  einer  Zahl  a  und  einer  anderen  Zahl  b  jene  Zahl  n  suchen, 
welche  die  Ordnungszahl  eines  mit  a  koinzidierenden  Komplexes  von 
der  Komplexion  der  Zahl  b  ist,  heißt  (a  nach  der  Basis  b)  loga- 
rithmieren.  Die  Zahl  (a),  die  logarithmiert  wird,  heißt  Logarith- 
mand  (oder  Numerus);  die  Zahl  (b),  deren  Komplexion  auch 
Komplexion  des  mit  dem  Logarithmanden  koinzidierenden  Kom- 
plexes zu  bestimmender  Ordnung  ist,  heißt  die  (logarithmische) 
Basis;  die  Ordnungszahl  des  mit  dem  Logarithmanden  koinzi- 
dierenden (expliziten)  Zahlkomplexes  von  der  Komplexion  der 
Basis  heißt  Logarithmus   (von   a   in  bezug  auf  die  Basis  b). 

Symbol :  log(b)  a  =  n. 

Der  Logarithmus  ist  nur  dann  eine  mögliche  Zahl,  wenn  der 
Logarithmand  eine  echte  Zahl  und  eine  Potenz  der  Basis  ist.  Ist 
der  Logarithmand  eine  echte  Zahl  aber  keine  Potenz  der  Basis, 
so  ist  der  Logarithmus  irrational.  D.h.  er  koinzidiert  mit  der 
unmöglichen   ^^'urzel    aus    einer   Zahl,    die    keine   Potenz    dieser 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  209 

Wurzel  ist.  (Der  Beweis  ist  der  Mathematik  zu  entnehmeu.) 
Der  Logarithmus ,  log^^)  a  =  u ,  ist  als  die  Orduuugszahl  des 
mit  dem  Logarithmanden  koinzidierenden  Zahlkomplexes  von  der 
Komplexion  der  Basis  definiert.  Als  solche  Ordnungszahl  kann 
zunächst  jeder  echte  Zahlkomplex,  dann  auch  die  zu  den  „natür- 
lichen" Zahlen  gerechnete  Zahl  Eins  auftreten.  Ist  a  =  b",  d.  h. 
ein  Zahlkomplex  n-ter  Ordnung,  so  ist  b"-^  nach  der  Definition 
der  Ordnungshöhe  von  Zahlkomplexen,  ein  nächstes  Inferius  des 
(gleichteiligen)   Komplexes   a    aus    b   Bestandstücken,    daher  jene 

^ahl,  die  mit  b  multipliziert  a  gibt,  also  v_.    Ist  nun  insbesondere 

a=:bii  =  b^  =  b,  so  ist  bH-^  =  b^-^  =  b"  =  1;  d.  h.  ein  Komplex 
nullter  Ordnung  von  der  Komplexion  der  Zahl  b  ist  jener  Kom- 
plex, dessen  Ordnungszahl  um  Eins  geringer  ist  als  die  des  Kom- 
plexes, welchen  die  reine  Zahl  b  darstellt.  Er  ist  daher  Inferius 
■erster  Stufe  in  bezug  auf  b,  also  jene  Zahl,  die  Bestandstück  des 
gleichteiligen  Komplexes  von  der  Komplexion  der  Zahl  b  ist,  das 
ist  Eins.  Allgemein  ist  ein  Komplex  nullter  Ordnung  von  der 
Komplexion  ^  des  Komplexes  K,  also  K^*^),  ein  unmöglicher  Kom- 
plex ,  der  mit  dem  möglicherweise  bestehenden  nächsten 
Inferius  des  Komplexes  erster  Ordnung  K^^)  koinzidiert.  Durch 
weitere  Verminderung  der  Ordnungszahl  erhält  man  negative 
Logarithmen  und  als  Potenzen  negativer  Exponenten  (in  bekannter 
Weise)  entferntere  Inferiora  des  Zahlkomplexes  erster  Ordnung, 
nämlich  gebrochene  Zahlen.  Ein  Komplex  negativer  Ordnung  von 
der  Komplexion  Ä  des  Komplexes  K,  also  K^-^^^  ist  überhaupt  ein 
unmöglicher  Komplex,  der  mit  dem  unmöglichen  Inferius  n-ter 
Stufe  des  Komplexes  nullter  Ordnung  K^°^  und  zugleich  mit  dem 
Inferius  (n  -|-  l)-ter  Stufe  des  Komplexes  erster  Ordnung  K^^)  koin- 
zidiert. (Die  Erklärung  des  gebrochenen  Logarithmus  bzw.  Potenz- 
-exponenten  ist  der  Mathematik  zu  entnehmen.^) 


^j  Die  allgemein  gegenstandstheoretische  Deutung  der  mathematischen 
•Operatiousgesetze  ist  gewiß  eine  Aufgabe  der  Gegenstandstheorie  des  Messens. 
Doch  ist,  namentlich  in  einem  ersten  Versuch,  Beschränkung  auf  die  wichtigsten 
Prinzipien  erforderlich,  wenn  nicht  statt  der  Gegenstandstheorie  spezielle  Mathe- 
matik geboten  werden  soll.  Darum  ist  schon  die  Erklärung  des  negativen  Loga- 
rithmus (bzw.  Potenzexponenten)  n  u  r  mit  Eücksicht  auf  ihre  Verallgemeinerungs- 
fähigkeit und  auf  eine  später  zu  machende  Anwendung  hier  berücksichtigt  worden. 
Meinone,  Untersuehurigen.  14 


2\Q  Ernst  Mally, 

Nach  der  Erklärung  des  Produktes  und  der  negativen  Zahl 
ist  das  Produkt  aus  einer  negativen  mit  einer  positiven  Zahl  ne- 
gativ, also  ( — a)  •  b  =  —  c,  wenn  a  •  b  =  c  ist.  Wenn  das  Sein  von 
( — a)  dem  Nichtsein  von  a  gleich  ist.  so  ist  das  Sein  eines  Kom- 
plexes von  b  Bestandstücken  ( — a)  gleich  dem  Nichtsein  des  Kom- 
plexes von  b  Bestandstücken  a,  wenn  nicht  ein  neuer  Wider- 
spruch in  die  Bestimmung  der  negativen  Zahl  oder  des  Produktes^ 
aufgenommen  werden  soll.  Es  ist  also  ( — a)-b  =  —  (a-b)  =  —  c. 
Ebenso  ist  b  •  ( — a)  =  —  c ;  denn  da  es  der  reinen  Zahl  ( — a) 
wesentlich  ist,  daß  ihr  Sein  dem  Nichtsein  von  a  gleich  ist,  so 
kommt  diese  Bestimmung  auch  jedem  durch  den  (fiktiven)  reinen 
Komplex  ( — a)  bestimmten  determinierten  Komplexe  zu.  Es 
ist  also  auch  das  Sein  eines  Komplexes  von  ( — a)  Bestand- 
stücken b  gleich  dem  Nichtsein  eines  Komplexes  von  a  Bestand- 
stücken b,  wie  das  Sein  von  (— a)  Einheiten  gleich  dem  Nicht- 
sein von  a  Einheiten.  Daraus  folgt  weiter,  daß  das  Produkt 
zweier  negativen  Zahlen  eine  positive  Zahl  ist:  ( — a)-( — b)  = 
a-b  =  c.  Denn  es  ist  (— a)-(— b)  eine  Zahl,  deren  Sein  gleich  ist 
dem  Nichtsein  von  (— a)-b;  nun  ist  (— a)-b  eine  Zahl,  deren  Sein 
gleich  ist  dem  Nichtsein  von  a-b=^c:  also  ist  das  Sein  von  (— a) 
.( — b)  gleich  dem  Nichtsein  des  Nichtseins  von  a-b.  daher  gleich 
dem  Sein  von  a-b.  Es  ist  also  (— a).(— b)  =  a-b  =  c,  eine  posi- 
tive Zahl. 

Die  zweite  Potenz  von  a  ist  ein  Produkt  a  •  a.  Jede  rationale 
oder  irrationale  Zahl  ist  entweder  positiv  oder  negativ.  Da  nun 
sowohl  zwei  positive  als  auch  zwei  negative  Faktoren  immer  ein 
positives  Produkt  ergeben,  ist  unter  den  bisher  betrachteten,  so- 
genannten „reellen"  Zahlen  keine,  die  mit  sich  selbst  multipliziert 
ein  negatives  Produkt  liefern  würde,  also  zweite  Wurzel  (oder 
Quadrat\M.irzel)  aus  einer  negativen  Zahl  sein  könnte.  Die  zweite 
Wurzel  aus  einer  negativen  Zahl,  d.  h.  eine  Zahl  j.  die  Bestand- 
stück eines  mit  einer  negativen  Zahl  koinzidierenden  Komplexes 
zweiter  Ordnung  von  der  Komplexion  der  j  ist,  ist  also  ein  un- 
möglicher Gegenstand  anderer  Art  als  die  reellen  Zahlen ;  sie  heißt 
eine  imaginäre  Zahl. 

Die  Operationen  des  Subtrahierens,  Dividierens,  Radizierens 
und  Logarithmierens  heißen  inverse  Operationen.     Sie  können 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  211 

auch  a  n  a  1 3'  t  i  s  c  h  e  \)  Operationen  g:enannt  Averden.  Denn  durch 
jede  von  ihnen  werden  zu  einem  gegebenen  impliziten  Komplex 
und  gegebenen  Bestimmungsstücken  die  übrigen  Bestimmungs- 
stücke eines  koinzidierenden  expliziten  Komplexes  erfaßt;  dies  ist 
aber  das  Wesentliche  jener  ps3'cliischeu  Tätigkeiten,  die  mit  dem 
Namen  der  Analyse  bezeichnet  werden.  Als  ..Bestimmungs- 
stücke"' sind  bestimmende  Gegenstände  des  gegebenen  impliziten 
Komplexes  gemeint,  die  soAvohl  Bestandstücke  als  auch  Kom- 
plexion an  dem  zu  erfassenden  koinzidierenden  expliziten  Kom- 
plexe sein  können. 

§  29.  Erhaltung  der  Operationsgesetze.    Gleichheit 

von  Zahlen. 

Durch  jede  der  besprochenen  Eechnungsoperationen  wird  eine 
Zahl  gesucht,  die  mit  (zwei)  gegebenen  Zahlen  in  bestimmter 
Beziehung  steht.  Durch  die  „angezeigte  Operation"  ist  die  zu 
suchende  Zahl  mittels  relativer  Bestimmungen  definiert.  Das  Ob- 
jektiv einer  solchen  Zalildefinition  ist  ein  Sosein,  dessen  Be- 
stimmungsobjekt die  (definierte)  Zahl,  und  dessen  bestimmender 
Gegenstand  ein  mit  der  definierten  Zahl  koinzidierender  expliziter 
(Zahl-)Komplex  ist.  Die  Bestimmung  oder  das  Definitionsobjektiv 
selbst  ist  die  Koinzidenz  (das  Koinzidieren)  des  Definitionsobjektes 
mit  dem  bestimmenden  Gegenstande.  Z.  B.:  Die  Summe  zweier 
Zahlen  ist  jene  Zahl,  die  mit  dem  expliziten  Mengenkomplex  der 
beiden  Zahlen  koinzidiert.  Oder:  Die  n-te  Wui'zel  aus  einer  Zahl 
a  ist  jene  Zahl,  deren  Komplexion  die  Komplexion  eines  mit  a 
koinzidierenden  Zahlkomplexes  n-ter  Ordnung  ist.  Auch  hier  ist 
der  bestimmende  Gegenstand  ein  expliziter  Zahlkomplex ;  denn  als 
seine  Komplexion  tritt  nicht  direkt  eine  Qualität  auf,  sondern 
die  indirekt,  d.  h.  relativ  bestimmte  „Komplexion,  welche  Kom- 
plexion eines  mit  a  koinzidierenden  Zahlkomplexes  n-ter  Ordnung 
ist".  Das  Objektiv  einer  solchen  Zahldefinition  ist  eine  Zahlbe- 
stimmung. 

Es  sind  nun  im  vorhergehenden  FäUe  namhaft  gemacht  worden^ 
in  denen   die  „angezeigte  Operation"   bei  Beschränkung   auf  die 


*)  Im  Sinne  des  psychologischen  Wortgebrauches. 

14* 


212  Ernst  Mally. 

echten  Zahlkomplexe  nicht  ausgeführt  werden  kann ;  das  sind  Fälle, 
in  denen  die  definierte  Zahl  unmöglich  ist,  weil  die  sie  bestimmende 
Zahlkomplexion  nicht  besteht.  Obwohl  in  einem  solchen  Falle  die 
Grundeigenschaft  des  bestimmenden  und  die  Haupteigenschaft  des 
durch  die  Definition  bestimmten  (Eigenschafts-)Gegenstandes  nicht 
besteht,  besteht  doch  ihr  S ose  in.  Jede  definierte  Zahl  hat  ihr 
bestimmtes  Sosein.  Auch  jede  unmögliche  oder  (rein)  fiktive  Zahl 
ist  eine  definierte  Zahl,  d.  h.  eine  Zahl  mit  bestimmtem  Sosein. 
Für  jede  fiktive  Zahl  gelten  dieselben  Operationsgesetze  wie  für 
echte  Zahlen  —  denn  sie  ist  auch  eine  Zahl  —  und  zwar  so,  wie 
es  aus  ihrem  Sosein,  ohne  einen  neuen  Widerspruch  in  der  be- 
stehenden Bestimmung,  sich  notwendig  ergibt.  Diese  Tatsache  ist 
das  Wesentliche  dessen,  was  man  als  „Erhaltung  der  Ope- 
rationsgesetze" bezeichnet,  und  kann  kurz  so  ausgesprochen 
werden:  Die  mathematischen  Zahlbestimmungen  sind,  auch  wenn 
sie  widersprechend  sind,  bestehende  (also  nicht  unmögliche) 
Objektive.^) 

„Operationsgesetz"  heißt  die  aus  einer  Zahlbestimmung  sich 
ergebende  Regel,  eine  indirekt  bestimmte  Zahl  zu  finden.  Jede 
einem  Operationsgesetz  zugrunde  liegende  Zahlbestimmung  ist  nun 
(nach  dem  Obigen)  das  Soseinsobjektiv  des  Koinzidierens  zweier 
Zahlkomplexe. 

Koinzidierende  Zahlkomplexe  heißen  gleich. 
Diese  Bestimmung  gilt  auch  für  rein  fiktive  Zahlkomplexe,  d.  h. 
für  solche  Zahlen,  die  keine  bestehenden]  Komplexe  sind.  Jede 
implizite  oder  als  implizit  bestimmte  Zahl  ist  demnach  durch  eine 
„gleiche"  explizite  Zahl  bestimmbar. 

Zwei  als  gleich  erklärte  koinzidierende  Zahlen  sind  nicht 
schlechthin  gleich,  sondern  nur  in  bestimmter  Hinsicht,  sofern  sie 
nämlich  bestimmende  Gegenstände  eines  und  desselben  Bestimmungs- 
gegenstaudes ,  insbesondere  desselben  Quantums,  sein  können. 
Dagegen  können  koinzidierende  Zahlen  sowohl  hinsichtlich  der 
Komplexion  als  auch  hinsichtlich  der  Bestandstücke  verschieden  sein. 
In  der  (impliziten)  reinen  Zahl  ist  die  Eins  (fiktives)  Bestandstück ; 
in  expliziten  Zalilen  können  reine  Zahlen  und  durch  reine  Zahlen 
determinierte  explizite  Zahlkomplexe  als  Bestandstücke  auftreten. 


Vgl.  oben,  Kap.  I,  §  4. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  213 

Komplexe,  die  mit  demselben  Ge^'enstande  kuiii- 
z  i  d  i  e  r  e  n ,  k  o  i  n  z  i  d  i  e  r  e  n  auch  untereinander.  Daraus  er- 
gibt sich :  Zahlen,  die  derselben  Zahl  gleich  sind,  sind  auch  unter- 
einander g-leich.  Diese  letztere  Tatsache  ist  deshalb  nicht  selbst- 
verständlich, weil  als  ,.j2:leiche"  Zahlen  nicht  schlechthin  g-leiche 
Gegenstände  erklärt  worden  sind,  sondern  nur  in  einer  bestimmten 
Hinsicht,  nämlich  einer  relativen  Bestimmung  nach  gleiche.  Wäre 
nun  jede  von  zwei  Zahlen  einer  dritten  in  einer  anderen  Hin- 
sicht gleich,  so  wären  sie  darum  noch  nicht  notwendig  unterein- 
ander gleich.  Durch  den  oben  ausgesprochenen  Satz  aber  ist  fest- 
gelegt, daß  nur  koinzidierende  Zahlen  als  „gleiche  Zahlen" 
zu  bezeichnen  sind. 


§  30.   Die  Mannigfaltigkeit  der  Zahlen.    Die  Zahlen 
als  relative  Quanta. 

Die  echten  Zahlkomplexe  sind  Mengenkomplexe  be- 
stimmten Grades;  sie  bilden  eine  gerade  Reihe.  Je  drei  echte 
Zahlkomplexe  sind  immer  so  beschaffen,  daß  eine  Veränderung 
konstanter  Richtung  von  einem  über  den  anderen  zum  dritten 
möglich  ist.  Denn  sie  können  als  bestimmende  Gegenstände  an 
Teilen  einer  Geraden  bestehen. 

Zwischen  je  zwei  echten  Zahlkomplexen  ist  nicht  immer  ein 
dritter  möglich.  Die  Reihe  der  echten  Zahlkomplexe  heißt  darum 
eine  nicht  dichte,  diskrete  Reihe.  Sie  endet  nach  unten  mit  der 
Zahl  Zwei,  hat  aber  weder  eine  obere  noch  eine  untere  Grenze.^) 

Der  Zahlkomplex  nullten  Grades  (und  nullter  Ordnung)  ist 
das  (fiktive)  Bestandstück  jeder  echten  reinen  Zahl,  d.  i.  die  Eins. 
Sie  wird  mit  den  echten  Zahlkomplexen  den  „natürlichen"  Zahlen 
zugezählt,  unterscheidet  sich  aber  von  den  übrigen  dadurch,  daß 
sie  kein  Mengenkomplex  eines  bestimmten  möglichen  Grades  ist. 

Durch  die  Definition  der  Differenz  zweier  Zahlen  werden  die 
Null  und  die  negativen  Zahlen  als  fiktive  Zahlen  erklärt. 
Durch  diese  ist  die  Reihe  der  Zahlen  über  Eins  hinaus  in  der 
Richtung  von  größeren  zu  kleineren  ohne  Ende  ei-^^eitert. 

Unmögliclie  Zahlen  mit   der  Bestimmung  des  Quotienten  sind 


^)  Vgl.  oben,  Kap.  III,  §  20,  S.  180,  auch  die  Anm.  1. 


214  Ernst  Mally. 

gebrochene  Zahlen  oder  Brüche.  Die  Reihe  der  Zahlen 
ist  bei  Einbeziehung-  der  gebrochenen  überall  dicht.  Der  Beweis 
wird  arithmetiscli  geführt. 

Die  Bestimmung  der  Wurzel  aus  einer  Zahl  betrifft  als  un- 
mögliche Gegenstände  die  irrationalen  Zahlen.  Da  nach 
Einbeziehung  der  irrationalen  Zahlen  zu  jeder  positiven  Zahl  jede 
beliebige  Wurzel  bestimmt  werden  kann,  so  koinzidieren  mit  jeder 
positiven  Zahl  (beliebig  viele)  Komplexe  beliebig  hoher  Ordnung 
mit  irgend  welchen  Komplexionen  von  (positiven)  Zahlen,  das  sind 
Zahl-Komplexe,  die  durch  beliebig  viele  Stufen  h  o  m  o  i  o  m  e  r  sind. 
Zu  jedem  positiven  Wurzelexponenten  n  bestehen  noch  unbestimmt 
viele  größere  Wurzelexponenten:  es  koinzidiert  demnach  auch  mit 
jeder  positiven  Zahl  ein  Zahlkomplex,  der  durch  unendlich  viele 
Stufen,  also  durchaus  homoioraer  ist.  Wenn  also  die  irrationalen 
Zahlen  auch  Zahlen  sind,  so  koinzidiert  mit  jeder  positiven  Zahl 
ein  durchaus  homoiomerer  Zahlkomplex:  die  positiven  Zahlen  sind 
demnach  (unbeschränkt)  teilbare  Quanta.  Nun  sind  die  irra- 
tionalen Zahlen  allerdings  Zahlen,  aber  nur  fiktive,  d.  h.  unmögliche. 
Es  sind  also  nicht  tatsächlich  zu  jeder  (positiven)  Zahl  noch  Ideinere 
Zahlen  derselben  Komplexion  möglich  oder  bestehend.  Das 
Kriterium  der  Größe  trifft  auf  die  Zahl  nur  in  fiktiver  Weise  zu, 
d.  h.  unter  der  Annahme  des  Bestandes  A^on  etwas  Nichtbestehendem. 
Darum  sind  die  Zahlen  auch  nur  fiktive  teilbare  Quanta 
zu  nennen. 

Die  Qualität  „Größe  einer  Zahl"  besteht  nicht,  denn  das 
Kriterium  der  Größe  ist  durch  die  Zahl  nicht  tatsächlich  erfüllt. 
Doch  bestellt  das  S  o  s  e  i  n  der  Zahl,  die  als  ein  (fiktives )  Quantum 
bestimmt  ist;  die  „Zahl,  die  groß  ist,"  ist  selbstverständlich  eine 
Zahl,  die  groß  ist,  wenn  sie  auch  nicht  besteht.  Wird  die  Be- 
stimmung des  Großseins  in  die  Definition  der  Zahl  aufgenommen, 
so  operiert  man  statt  mit  bestehenden  Zahlen,  die  keine  Quanta 
sind,  mit  nicht  bestehenden,  die  Quanta  sind.  Jede  bestehende 
Zahl,  und  auch  jede  der  fiktiven  Zahlen  des  erweiterten  Zahlgebietes, 
die  nur  mit  Eücksicht  auf  nicht  bestehende  Gegenstände,  also  nur 
fiktiverweise  ein  Quantum  ist,  hat  jedoch  schon  ohne  Beziehung 
auf  diese  oder  irgend  welche  unmöglichen  Gegenstände  an  sich 
eine  Beschaffenheit,  derzufolge  sie  in  der  filitiven  Größenreihe 
eine  ganz  bestimmte  Stelle   einnehmen  muß.    Wenn   die  irra- 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  215 

tionalen  Zahlen  echte  Zahlen  sind,  ist  jede  positive  Zahl  ein 
Qnaiitnm.  Aber  gleichviel  ob  die  Zahl  ein  Quantum  ist  oder 
nicht,  jedenfalls  hat  jede  positive  Zahl  die  Eig'nuno-.  in  der  (fik- 
tiven) Quantumsreihe  —  sie  mag  bestehen  oder  nicht  —  in  der- 
selben Lagenrelation  zu  allen  übrigen  Zahlen  zu  stehen,  worin 
sie  sich  ihrer  Natur  nach  befindet.  Die  G  r  ö  ß  e  n  v  e  r  s  c  h  i  e  d  e  n  - 
heit  zweier  reiner  Zahlen  ist  also  schon  durch  die  bestehende 
Natur  der  Zahlen,  nämlich  durch  ihre  Komplexionen,  (ohne  Ein- 
beziehung ihrer  fiktiven  Größen)  bestimmt.  Ebenso  ist  die  Größen- 
verschiedenheit fiktiver  Zahlen  nur  durch  ihr  Sosein  (ohne  Be- 
zug auf  ihre  fiktiven  Größen)  bestimmt.  In  diesem  Sinne  ist 
«ine  Zahl  tatsächlich  ,.größer"  als  eine  andere  und  „kleiner" 
sls  eine  dritte,  ohne  tatsächlich  groß  zu  sein.  Mit  Rücksicht 
auf  diesen  Sachverhalt  kann  man  die  Zahlen  auch  als  rela- 
tive Quanta  bezeichnen.  Diese  Bestimmung  betriftt  auch  die 
negativen  Zahlen,  da  es  zu  jeder  positiven  Zahl  eine  entgegen- 
gesetzt gleiche  (negative)  „gibt".  Die  negative  Zahl  ist  ein  (fik- 
tives) Quantum  der  Art,  daß  ihr  Sein  gleich  ist  dem  Nichtsein 
eines  positiven  (fiktiven)  Zahlquantums.  Sofern  die  negative  Zahl 
überhaupt  ein  unmöglicher  Gegenstand  ist,  ist  sie  auch  als  rela- 
tives Quantum  nur  fiktiv. 

Jede  Zahl  ist  mit  Beziehung  auf  die  irrationalen  Zahlen  ein 
fiktives  Quantum,  das  mit  einem  fiktiven  unbeschränkt  teilbaren 
Quantum,  z.  B.  mit  einer  fiktiven  Geraden  koinzidiert.  Es  sei 
nun  in  dieser  fiktiven  Geraden  ein  Punkt  bestimmt.  Von  diesem 
Punkte  aus  können  Veränderungen  in  den  beiden  Richtungen  der 
Geraden  erfolgen.  In  einem  Komplexe  von  Yeränderungsstrecken 
(Wegen)  von  diesem  Ausgangspunkte  aus  kommt  das  Sein  eines 
Weges  in  der  einen  Richtung  immer  gleich  dem  Nichtsein  eines 
Weges  bestimmter  Länge  in  der  anderen  Richtung.  Sind  also  die 
(fiktiven)  Wege  in  der  einen  Richtung  die  positiven  (fiktiven) 
Zahlquanta,  so  sind  die  Wege  in  der  anderen  Richtung  die  ne- 
gativen (fiktiven)  Zahlquanta.  Jeder  Punkt  des  fiktiven  gerad- 
linigen Koutinuums  kann  mit  dem  Ausgangspunkte  zusammen  ein 
bestimmtes  fiktives  Zahlquantum  begrenzen.  Es  gehört  also  zu 
jede  m  Punkte  der  Geraden  (als  zweitem  Grenzpunkte)  ein  fiktives 
Zahlquantum.  Die  Reihe  der  Zahlen  ist  also  nach  Einbeziehung 
der  irrationalen  Zahlen  stetig.    Jede  rationale  oder  irrationale, 


216  Ernst  Mally. 

positive  oder  negative  Zahl,  einschließlich  der  Null,  ist  ein  Punkt 
einer  beiderseits  unendlichen  geraden,  stetigen  Punktreihe.  Jede 
von  diesen  reellen  Zahlen,  mit  Ausnahme  der  Null,  ist  aber  auch 
ein  fiktives  unbeschränkt  teilbares  Quantum,  das  sowohl  mit 
ein-  als  auch  mit  mehrdimensionalen  Kontinuen  koinzidieren  kann. 
In  der  linearen,  stetigen  Mannigfaltigkeit  der  Zahlen  ist  jeder 
Punkt  eine  reelle  Zahl.  Die  imaginären  Zahlen  sind  nicht 
Punkte  dieser  geraden  Reihe.  Die  imaginäre  Einheit  i  =  ]'  —  1 
kann  nun  in  jeder  Zahlkomplexion  (einer  positiven  oder  negativen,, 
rationalen  oder  irrationalen  reellen  Zahl)  stehen.  Die  imaginären 
Zahlen  bilden  also  ebenso  wie  die  reellen  eine  gerade,  stetige 
Reihe.  Diese  Reihe  kann  mit  der  reellen  Zahlenreihe  höchstens, 
den  Nullpunkt  gemein  haben. 


§  31.  Die  Zuordnung  zwischen  teilbaren  Quantis 
und  Zahlen. 

Die  Koinzidenz  zwischen  Bestimmungsgegenstand  und  be- 
stimmendem Gegenstände^)  heißt  Zuordnung.  Die  Koinzidenz 
ist  entweder  total  oder  partiell.  ^)  Ist  jeder  mögliche  Gegenstand 
A  möglicher  totaler  Bestimmungsgegenstand  von  B,  und  jeder  mög- 
liche Gegenstand  B  möglicher  totaler  Bestimmungsgegenstand  von 
A,  so  heißt  die  Koinzidenz  von  A  und  B  rein  umkehrbar,  und 
ebenso  die  Zuordnung  zwischen  A  und  B.  Rein  umkehrbare  Koin- 
zidenz besteht  zwischen  einem  Gegenstand  und  dem  durch  eine 
richtige  Definition  angegebenen  bestimmenden  Gegenstande.  Par- 
tielle Koinzidenz  besteht  z.  B.  im  Falle  koinzidierender  Komplexe 
zwischen  dem  Bestimmungsgegenstande  und  einem  Bestandstück, 
aber  auch  zwischen  dem  Bestimmungsgegenstande  und  der  Kom- 
plexion des  bestimmenden  expliziten  Komplexes.  (Damit  ist  natür- 
lich nicht  gesagt,  daß  die  Komplexion  eines  Komplexes  ein  Teil 
eines  mit  ihm  koinzidierenden  Komplexes  sei.) 

Ein  mit  seinem  Bestimmungsgegenstande  partiell  koinzidieren- 
der Gegenstand   heißt   ein  B  e  s  t  i  m  m  u  n  g  s  s  t  ü  c  k.     Auch   j  edes. 


1)  Vgl.  oben,  Kap.  I,  §  7,  S.  135. 
^)  Vgl.  oben,  Kap.  I,  §  9,  S.  143. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  217 

Bestimmungsstück  ist  seinem  Bestimmuugsgegenstande  zugeordnet; 
jedoch  ist  diese  Zuordnung  nicht  rein  umkehrbar. 

Ein  Eigenschaftsgegenstand,  in  dessen  Bestimmung  variable 
Bestimmungsstücke  auftreten,  heißt  eine  Funktion  seiner  vari- 
ablen Bestimmungsstücke. 

Zwischen  einem  teilbaren  Quantum  und  einem  damit  koinzi- 
dierenden  Zahlkomplex  besteht  Zuordnung.  Insbesondere  nennt 
man  eine  reine  Zahl  als  Anzahl  der  untereinander  gleichen  Be- 
standstücke, die  einen  mit  dem  Quantum  koinzidierenden  Komplex 
bilden,  diesem  Quantum  zugeordnet. 

Das  Messen  einer  reinen  Zahl  a  durch  eine  reine  Zahl  b  ist 
als  Aufsuchen  derjenigen  Zahl  (c)  definiert  worden,  deren  Kom- 
plexion die  Komplexion  eines  mit  a  koinzidierenden  Komplexes 
von  lauter  Bestandstücken  b  ist.  Diese  reine  Zahl  c  ist  die  An- 
zahl der  Bestandstücke  b,  die  einen  mit  a  koinzidierenden  Kom- 
plex bilden. 

Ein  teilbaresQuantuniQ  durch  ein  (gleichartiges)  Quan- 
tum Qi  messen  heißt  jene  Zahl  suchen,  deren  Komplexion  die 
Komplexion  eines  mit  Q  koinzidierenden  Komplexes  von  Bestand- 
stücken Qi  ist.  Durch  den  Vorgang  der  Messung  eines  teil- 
baren Quantums  Q  durch  ein  Quantum  Q^  wird  also  die  Koinzi- 
denz eines  Zahlkomplexes  von  Bestandstücken  Q^  mit  Q  erfaßt, 
oder  dieser  determinierte  Zahlkomplex  dem  gemessenen  Quantum 
zugeordnet.^)  Letztes  Objekt  des  Messungsvorganges,  das- 
jenige, was  dabei  gesucht  wird,  ist  die  reine  Zahl,  in  deren 
Komplexion  die  Bestandstücke  Q^  einen  mit  Q  koinzidierenden 
Komplex  bilden.  Diese  reine  Zahl  heißt  die  Maßzahl  von  Q  in 
bezug  auf  Q^.  Das  Inferius  der  Maßzahl,  oder  derjenige  Gegen- 
stand, durch  welchen  die  (reine)  Maßzahl  zu  einem  mit  dem  ge- 
messenen Quantum  koinzidierenden  (expliziten)  Zahlkomplexe  deter- 
miniert wird,  ist  das  Maßquantum  oder  Maß. 

Einem  Maßquantum,  das  durch  kein  anderes  gemessen  ist^ 
ist  die   Zahl  Eins   (als  Grenzfall   der  Maßzahl)   zugeordnet.     Ein 


^)  Das  Wort  „Zuordnung"  kann  ebensowohl,  wie  es  eine  Beziehung  zwischen 
Gegenständen  bezeichnet,  auch  den  psychischen  Akt  bedeuten,  wodurch  eine  der- 
artige Beziehung  erfaßt  wird.  Zumeist  scheint  es  unmittelbar  eine  reiu  fiktive 
„Tätigkeit"  zu  bedeuten,  welche  das  „zuordnende"  Subjekt  an  den  Gegen- 
ständen „vollzieht". 


218  Ernst  Mally. 

Quantum,  dem  die  Zahl  Eins  zugeordnet  ist,  heißt  Einheits- 
quantum oder  Einheit.  Jedes  Einheitsquantum  ist  Maß- 
quantum eines  Geg-enstandes,  der  mit  einem  durch  dasselbe  deter- 
minierten Zahlkomplexe  koinzidiert. 

Ist  einem  teilbaren  Quantum  Qj  die  Zahl  Eins  zugeordnet,  so 
ist  jedem  Quantum  Q,  das  mit  Q^  von  derselben  Art,  d.  h.  ent- 
weder ihm  gleich  oder  größer  oder  kleiner  als  Q^  ist.  eine  reine 
Zahl  als  Maßzahl  in  bezug  auf  Q,  zugeordnet.  Denn  jedes  Quan- 
tum Q,  das  entweder  dem  Qi  gleich  oder  größer  oder  kleiner  ist 
als  dieses,  koinzidiert  mit  einem  echten  oder  fiktiven  Zahlkomplex 
von  Bestandstücken  Q^. 

Die  allgemeine  Form  des  Messungsobjektives,  das  Q  durch  das 
Maß  Qi  bestimmt,  ist:  Q^=aQ,,  Avorin  a  eine  echte  oder  fiktive,^) 
reine  Zahl  ist. 

Ist  die  Maßzahl  a  eine  echte  Zahl,  so  koinzidiert  das 
Messungsobjekt  Q  mit  einem  echten  Zahlkomplex  von  Maßquantis 
Qi ,  d.  h.  von  Bestandstücken,  deren  jedes  als  Quantum  mit  Q^ 
koinzidiert. 

Ist  die  Maßzahl  a  =  1,  so  koinzidiert  Q  mit  Q^. 

Ist  die  Maßzahl  a  =  -   eine  echt   gebrochene  Zahl ,   so   koin- 
c 

zidiert  Q  mit  einem  unmöglichen  Komplex  von  Bestandstücken 
Qi,  dagegen  mit  einem  möglichen  Bestandstück  eines  bestehen- 
den   Komplexes    cQ,    der    mit    dem    bestehenden    Komplexe    bQ^ 

koinzidiert.      Ist    insbesondere    a  =  -,  so  koinzidiert  der  unmög- 

c 

liehe  Zahlkomplex  -    Q^   mit   einem   bestehenden  Bestandstücke  Q 

des  möglichen  Komplexes  cQ  =  Qi. 

Der    FaU,    daß    a    ein    „gemischter    Bruch"    ist,    wird    auf 

den  vorhergehenden  reduziert.  In  Sj'mbolen:  Q=  1  b-j-  |  Qi  = 
— ^  ^1  =  1  Qi  5  '^Iso  d  Q  =  e  Qi. 

n 

Ist  a  =  y  b  eine  irrationale  Zahl,  so  koinzidiert  Q  mit  einem  un- 
möglichen Komplex  von  Bestandstücken  Q^,  dessen  Komplexion  die 


')  Implizite  oder  explizite. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  219 

n 

nicht  bestehende  Komplexion  der  Zahl  }'  b  ist.  Es  koinzidiert  aber 
Q  als  ein  (Meng-en-)Komplex  erster  Ordnung  mit  einem  Bestandstücke 
eines  Komplexes  n-ter  Ordnung  (derselben  Komplexion)  Q("\  welcher 
letztere  mit  einem  Komplexe  von  b  Komplexen  n-ter  Ordnung  von 
der  Komplexion  des  Quantums  Qj,  d.  i.  mit  b  Q'^'>  koinzidiert. 
In  Symbolen:  Q(»)  =  b  QW.^) 

Als  Maßzahl  kann  auch  eine  negative  Zahl  auftreten :  Q  = 
—  b  Qj.  Dann  koinzidiert  Q  mit  einem  unmöglichen  Komplex  von 
Bestandtstücken  Qi  in  der  nicht  bestehenden  Komplexion  der 
negativen  Zahl  —  b.  Ist  aber  b  eine  mögliche  Zahl,  und  besteht 
ein  Quantum  Q\  von  der  Art,  daß  sein  Sein  (in  einem  Komplexe 
von  Quantis  Qj)  dem  Nichtsein  eines  Quantums  Qj  gleichkommt, 
so  koinzidiert  Q  mit  einem  Komplex  von  b  Quantis  Q'^,  der  möglich 
ist:  Q  =  b  QV  Z.  B.  sind  Quanta,  die  sich  zueinander  so  ver- 
halten wie  Qi  und  Q'j,  Veränderungen  oder  Wege  gleicher  Länge 
und  entgegengesetzter  Richtung.  Solche  entgegengesetzte  Quanta 
Qi  und  Q'i  sind  aber  nicht  mehr  gleichartige  Quanta  in  dem  oben 
festgesetzten  Sinne. 

Ist  endlich  die  Maßzahl  imaginär,  a  =  b  i,  so  koinzidiert  Q 
mit  einem  unmöglichen  Komplexe  von  Bestandstücken  Qj,  kann 
aber  mit  einem  möglichen  Komplexe  b  Q^  von  Bestandstücken  Q^ 
koinzidieren,  die  dem  Q^  gegenüber  Quanta  einer  (näher  zu  be- 
stimmenden) anderen  Art  sind. 

Durch  ein  bestimmtes  teilbares  Quantum  Q^  können  demnach 
unter  Umständen  auch  teilbare  Quanta  bestimmter  anderer  Arten 
ausgemessen  werden. 

Die  oben  angeführten  Fälle  fiktiver  Maßzahlen  können  gemäß 
dem  Gesetze  von  der  Erhaltung  der  Operationsgesetze  auch  mit- 
einander kombiniert  werden. 


')  Hier  bedeutet  der  Index  (u)  oben  nicht  die  angezeigte  Operation  des 
Potenzierens  (da  ja  Q  und  Q,  nicht  Zahlen,  sondern  tatsächlich  teilbare  Quanta 
sind) ,  sondern  die  Ordnungshöhe  der  Komplexe  Q(n)  und  Q^"'  im  Sinne  der  Fest- 
setzung in  §  27,  S.  204. 


220  Ernst  Mally, 

§  32.  Messen  als  Bestimmen  der  Größe. 

Die  Zahlen  sind  relative  Quanta.^)  Die  Größe,  die  einer 
Zahl  vermöge  ihres  Verhältnisses  zu  einer  anderen^)  zukommt^ 
heißt  ihre  relative  Größe  in  bezug  auf  diese  Zahl.  Die 
relative  Größe  ist  keine  bestehende  Qualität  an  der  Zahl,  also 
auch  keine  Größe  (Quantität)  im  eigentlichen  Sinne,  sondern  nur 
relative  Bestimmung,  und  als  solche  bestehend  (ein  Sosein).  Die 
Größe,  die  einer  Zahl  vermöge  ihres  Verhältnisses  zur  Eins  zu- 
kommt, heißt  schlechthin  ihre  relative  Größe. 

Da  das  Verhältnis  einer  Zahl  zur  Eins  die  Komplexion  der 
Zahl  selbst  ist,  läßt  sich  die  relative  Größe  einer  Zahl  auch  als 
jene  (fiktive)  Größe  definieren,  die  durch  die  Komplexion  der 
Zahl  (vollständig)  bestimmt  ist. 

Die  relative  Größe  eines  teilbaren  Quantums  ist  seine  Größe, 
sofern  sie  durch  das  Verhältnis  des  Quantums  zum  Einheitsquantum 
bestimmt  ist.  Die  Größe  eines  Quantums,  die  durch  sein  Ver- 
hältnis zu  einem  anderen  (vom  Einheitsquantum  verschiedenen) 
Maßquantum  bestimmt  ist,  heißt  seine  relative  Größe  in  bezug  auf 
dieses  Quantum.  Auch  die  relative  Größe,  eines  Quantums  ist 
eine  relative  Bestimmung. 

Das  A^erhältnis  eines  Quantums  zu  seinem  Einheitsquantum 
ist  nun  die  Komplexion  seiner  Maßzahl.  Jedes  Quantum  hat 
dieselbe  relative  Größe  wie  seine  Maßzahl.  Durch 
die  Zuordnung  der  Zahl  Eins  zu  einem  bestimmten  Quantum  ist 
jedem  Quantum  derselben  Art  eine  Maßzahl  zugeordnet,  die  seine 
relative  Größe  bestimmt. 

Die  tatsächliche,  als  eiue  Qualität  am  Quantum  bestehende 
Größe  heißt  zum  Unterschiede  von  der  „relativen  Größe''  auch 
seine  absolute  Größe.  Die  absolute  Größe  eines  teilbaren 
Quantums  ist  vollständig  bestimmt  durch  den  mit  ihm  koinzidie- 
renden  (determinierten)  Zahlkomplex  von  Einheitsquantis .  also 
durch  die  Maßzalil  zusammen  mit  dem  Maßquantum.  Die  absolute 
Größe   des   Maßquantums,    das   selbst   nicht   mehr   durch   Messung 


')  Vgl.  oben,  §  30,  S.  214  f. 

^)  Verhältnis  einer  Zahl  zu  einer  anderen  ist  die  Zahlkomplexion ,  worin 
Zahlen ,  die  der  zweiten  gleich  sind ,  stehen  müssen ,  um  einen  mit  der  ersten 
koinzidierenden  Zahlkomplex  zu  bilden.    Vgl.  oben  §  27,  S.  202  f. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  221 

bestimmt  ist,  ist  nur  als  „Größe  des  (g-eg-ebenen)  Quantums  Q^" 
indirekt  bestimmbar.  Einer  direkten,  d.  li.  nicht  relativen,  Be- 
stimmung ist  sie  als  einfache  Qualität  nicht  fähig. 

Zwei  koinzidierende,  durch  teilbare  Quanta  determinierte 
Zahlkomplexe  lieißen  gleich.  Sie  koinzidieren  mit  demselben 
Quantum,  sind  also  größengleich. 

Die  Koinzidenz-Gesetze  für  reine  Zahlen  gelten  für  koinzidie- 
rende teilbare  Quanta,  sofern  diese  durch  reine  Zahlen  bestimmt 
sind.  Die  teilbaren  Quanta  sind  nun  ihrer  relativen  Größe  nach 
durch  Zahlen  bestimmt.  Ihre  relative  Größe  ist  demnach,  bei 
Anwendung  der  erwähnten  Koinzidenzgesetze,  ein  Gegenstand  mög- 
licher Berechnung. 

Zur  Bestimmung  der  absoluten  Größe  eines  Quantums  bedarf 
es  eines  Maßquantums.  Der  Vorgang  der  Ausmessung  eines 
konkreten  Quantums  durch  ein  anderes  ist  wesentlich  ein  Heraus- 
analysieren von  maßgleichen  Teilen  aus  dem  zu  messenden  Quantum : 
das  ist  das  Erfassen  eines  mit  dem  Messungsobjekte  koinzidieren- 
den,  durch  das  Maß  (als  Bestandstück)  determinierten  expliziten 
Zahlkomplexes.  Die  Untersuchung  dieses  Vorganges  ist  Aufgabe 
der  Psychologie. 

§  83.   Messung  der  teilbaren  Quanta.    Meßbarkeit. 

Ein  eindimensionales  (teilbares)  Quantum  ist  durch  eine 
Dimension  vollständig  bestimmt.  Jede  Linie  (von  irgend  einer 
Gestalt)  koinzidiert  mit  einem  eindimensionalen  Quantum  als 
bloßem  Mengenkomplex  notwendig  unbestimmten  Grades  von  unbe- 
stimmten Inflmis  („Linienelementen").  Linien,  die  (ohne  Rücksicht 
auf  ihre  Gestalt)  mit  demselben  linearen  Quantum  (als  einem 
durchaus  homoiomeren  Mengenkomplexe)  koinzidieren,  heißen 
g  r  ö  ß  e  n  g  1  e  i  c  h. 

Das  Maß,  wodurch  Linien  gemessen  werden,  ist  ein  lineares 
Quantum  (ohne  Rücksicht  auf  die  Gestalt).  Es  ist  zwar  notwendig 
Bestimmungsgegenstand  einer  Gestalt,  aber  nicht  expliziter  Eigen- 
schaftsgegenstand mit  der  Eigenschaft  Gestalt.  Da  jedoch  jede 
Linie,  die  konkret  gegeben  ist,  eine  Gestalt  hat,  ist  jede  an 
Linien  auszuführende  Messung  ein  Vergleichen  von  gestalteten 
Linien.     Diese    Vergleichung    von   Gestaltkomplexen    hinsichtlich 


222  Ernst  Mally. 

ilirer  Größe  kann  direkt  nur  an  gleichgestalteten  Komplexen  voll- 
zogen werden.  Nur  diese  unterscheiden  sich  nämlich  durch  ihre 
Größe  allein.  —  Am  einfachsten  gelingt  die  Yergleichung  an 
Linien  der  einfachsten  Gestalt,  an  den  Geraden.  Denn  zwei 
Gerade,  die  gleich  lang  sind,  haben  gleich  verschiedene  Endpunkte 
oder  gleiche  Endpunktdistanzen.  Hat  man  also  an  irgend  einem 
Körper  (Maßstab)  zwei  bestimmte  Punkte  (Marken)  in  der  Distanz 
der  Endpunkte  einer  Geraden  g,  so  kann  der  eine  dieser  Punkte 
an  den  einen  Grenzort  einer  mit  g  gleich  langen  Geraden  g' 
immer  so  gebracht  werden,  daß  die  andere  Marke  an  den  andern 
Grenzort  von  g'  gelangt.  Auf  diese  Weise  können  durch  ,.  An- 
legung" oder  ..Auftragung"  des  Maßstabes  auch  aus  irgend  einer 
zu  messenden  Geraden  g"  die  Grenzpunkte  der  Bestandstücke 
eines  mit  ihr  koinzidierenden  Zahlkomplexes  von  maßgleichen 
Strecken  herausanalysiert  werden,  und  damit  diese  Bestandstücke 
selbst.  So  wird  das  Erfassen  des  mit  einer  zu  messenden  Strecke 
koinzidierenden  Zahlkomplexes  von  maßgleichen  Teilen  durch  das 
(leichter  und  exakter  zu  vollziehende)  Herausanal3'sieren  von 
Teilungspunkten  ausführbar  gemacht.  Diese  psychologischen  Be- 
merkungen beziehen  sich  auf  die  Praxis  des  (angewandten) 
Messens. 

Der  angewandten  Messung  steht  die  geometrische  Berechnung 
gegenüber,  das  ist  die  apriorische  Bestimmung  der  relativen 
Größen  von  teilbaren  Quantis  des  Raumes  oder,  bei  einer  er- 
weiterten Bedeutung  des  Wortes  Geometrie,  der  relativen  Größen 
von  (durchaus)  teilbaren  Quantis  überhaupt. 

Durch  geometrische  Berechnung  können  Linien  beliebiger 
Gestalt  hinsichtlich  ihrer  Länge  verglichen  werden.  Denn  es 
werden  die  mit  den  zu  messenden  Linien  koinzidierenden  linearen 
Quanta  (ohne  Rücksicht  auf  die  Gestalt)  bestimmt.  Die  ..Rekti- 
fikation" einer  krummen  Linie  mit  der  zu  suchenden  Maßzahl  1 
durch  Bestimmung  des  Integrals  l=/dl  ist  die  Angabe  des  Zahl- 
komplexes (von  1  Einheitsquantis),  der  mit  dem  Mengenkomplex 
unbestimmbaren  Grades,  /dl,  der  unbestimmten  Linien-Infima  dl 
koinzidiert.^) 


^)  Eine  befriedigende   Begründung  dieser  Interpretation   des  Integrales  /dl 
könnte   nur   in  einer    ausführlicheren   gegeustandstheoretischen  Behandlung   der 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  223^ 

Ein  zweidimensionales  (teilbares)  Quantum  ist  durch  zwei 
Dimensionen  vollständig  bestimmt.  Jede  Fläche  (von  irgend  einer 
Gestalt)  koinzidiert  mit  einem  zweidimensionalen  Quantum  als 
einem  (bloßen)  IVIengenkomplex  unbestimmbaren  Grades  von  unbe- 
stimmten Infimis  („Flächenelementen").  Flächen,  die  (ohne  Rück- 
sicht auf  ihre  Gestalt)  mit  demselben  zweidimensionalen  Quantum 
(als  einem  durchaus  homoiomeren  Mengenkomplexe)  koinzidieren, 
sind  größengleich. 

Das  Maß,  wodurch  Flächen  gemessen  werden,  ist  ein  zwei- 
dimensionales Quantum  (unbestimmter  Gestalt).  Die  Maßfläche 
F  selbst  ist  durch  ihre  zwei  Dimensionen  vollständig  bestimmt. 
Diese  sind  unabhängig  vertauschbare  Mengeukomplexionen  unbe- 
stimmbaren Grades  an  ihr,  etwa  g  und  f),  welche  die  Längen 
zweier  eindimensionaler  Quanta  g  und  h  sind.  Die  eindimensionalen 
Quanta  g  und  h  können  mit  Grenzen  einer  mit  dem  Maßquantum 
F  koinzidierenden  Fläche  koinzidieren.  Ein  Maßquantum  F  ent- 
hält soviel  unbestimmte  Flächeninfima,  als  g  Linieninflma  enthält, 
in  Mengenkomplexion  ^  des  linearen  Quantums  h.  Mit  diesem 
Komplexe  koinzidiert  der  Komplex  von  der  Komplexion  g  und  aus 
Bestandstücken,  deren  jedes  aus  Flächenelementen  in  der 
Komplexion  der  Linienelemente  von  h  besteht.  Symbol  dieser 
Koinzidenz  ist  die  Gleichung  F  =  g  h  (=  h  g),  worin  g  und  h  so- 
wohl, als  F  keine  Maßzahlen,  sondern  die  genannten  durchaus 
homoiomeren,  reinen  Mengenkomplexe  bedeuten.  Eine  Fläche, 
woran  die  bestimmenden  eindimensionalen  Quanta  (oder  Dimen- 
sionsquanta)  als  Grenzen  bestehen,  ist  nun  ein  ebenes  Viereck 
mit  der  Grundlinie  g  und  der  Höhe  h.  Es  koinzidiert  mit  dem 
Maßquantum  F.  Diese  Koinzidenz  ist  vermöge  der  Gestalt  des 
ebenen  Vierecks  in  einfacher  Weise  zu  erkennen.  Jede  irgend- 
wie gestaltete  Fläche,  die  mit  dem  Maßquautum  F  koinzidiert, 
koinzidiert  auch  mit  einem  Viereck  von  den  Dimensionen  g  und 
i),  insbesondere  mit  einem  Rechteck  von  den  Seiten  g  und  h. 

Werden  die  Linien  g  und  h  durch  eine  Einheitslinie  ausge- 
messen, so  sind  ihnen  Zahlen  g'  und  li'  als  Maßzahlen  zugeordnet. 


Mathematik,  insbesondere  der  Integralrechnung,  geboten  werden.  Im  Sinne  dieser 
Bemerkung  seien  auch  die  folgenden  Andeutungen  über  „Quadratur",  „Komplana- 
tion"  und  „Kubatur"  aufgenommen. 


224  Ernst  Mallt. 

Als  Einheitsquantum  der  Fläche  wird  nun  insbesondere  eine 
Fläche  gewählt,  die  durch  zwei  lineare  Dimensionsquanta  von  der 
Oröße  der  Linieneinheit  bestimmt  ist.  Die  Flächeneinheit  ist 
ein  Mengenkomplex  von  Flächenelementen  in  den  unabhängig 
vertauschbaren  Mengenkomplexionen  der  Linieneinheiten.  Be- 
deutet nun  F  irgend  ein  Flächenquantum,  das  mit  einem  Kechteck 
von  den  Seiten  g  und  h  (mit  den  Maßzahlen  g'  und  h')  koiuzidiert. 
so  koiuzidiert  F  auch  mit  einem  Komplex  von  Flächeneinheiten 
in  der  Zahlkomplexion  des  Produktes  g'h'.  Da  nun  die  Flächen- 
einheit mit  einem  Quadrate  koiuzidiert,  dessen  Seite  die  Linien- 
einheit ist,  so  koiuzidiert  jedes  Flächenquantum  F  mit  einem 
Komplex  von  Quadratflächen  in  der  Komplexion  des  Produktes 
g'h'.  Die  (echte  oder  fiktive)  Zahl  (=  g'h')',  in  deren  Kom- 
plexion die  Einheitsflächen  stehen,  indem  sie  einen  mit  der  Fläche 
F  koinzidirenden  Quantumskomplex  konstituieren,  ist  dieser 
Fläche  als  Maß  zahl  zugeordnet. 

Die  „Quadratur"  einer  ebenen  Fläche  ist  die  Angabe  des  mit 
dem  Flächenquantum  koinzidierenden  Zahlkomplexes  von  Flächen- 
einheiten, deren  jede  mit  einer  Qnadratfläche  von  der  Seite  „Eins" 
koiuzidiert.  Zum  Vollzüge  dieser  Ausmessung  wird  der  mit  der 
ebenen  Fläche  F  koinzidierende  Komplex  unbestimmbaren  Grades 
aufgefaßt,  dessen  Bestandstücke  unbestimmt  schmale  Flächen- 
streifen von  variabler  Höhe  y  =  f(x)  und  von  der  unbestimmt 
kleinen  Grundlinie  dx  sind. 

Zur  Ausmessung  oder  „Komplanation"  einer  krummen  Fläche 
F  wird  ein  mit  F  koinzidierender  Mengenkomplex  unbestimm- 
baren Grades  aufgefaßt,  der  aus  unbestimmt  schmalen  Flächen- 
Streifen  besteht,  deren  jeder  wieder  ein  Komplex  unbestimmbaren 
Grades  der  nach  beiden  Dimensionen  letzten  Bestandstücke  der 
Fläche  ist. 

Jede  Fläche  ist  eine  Funktion  ihrer  Dimensionen,  also  auch 
ihrer  Dimensionsquanta.  Diese  sind  unabhängig  vertauschbare 
Komplexe  an  der  Fläche.  So  wie  die  Dimensionsquanta  eines 
Flächenquantums  sind  auch  die  Di  mensions  maßzahlen 
vertauschbare  Komplexe  am  Flächenquantum  und  auch  ver- 
tauschbare Komplexe  in  bezug  auf  die  Flächenmaßzalil.  Diese 
ist  auch  eine  Funktion  der  Dimensionsmaßzahlen,  nämlich 
ihr    Produkt.      Die    Faktoren    eines    Produktes    sind    nun     zwar 


Zur  fiegeustandstheorie  des  Messens.  225 

in  beziig-  auf  das  Produkt  vertauschbar,  aber  nicht  un- 
abhängig vertauschbar.  Denn  sie  können  nicht  an  dem 
reinen  Zahlkomplexe,  der  ihr  Produkt  ist,  bestehen,  oline  Be- 
standstücke (Eins)  gemein  zu  haben.  Sofern  nun  aber  auch  jede 
fiktive  Zahl  eine  Zahl  ist,  ist  jede  Zahl  ein  fiktiver  durchaus 
homoiomerer  Komplex.  An  einem  solchen  sind  vertauschbare 
Mengenkomplexe  auch  unabhängig  vertauschbar,  also  (fiktive) 
Dimensionsquanta.  Im  Sinne  dieser  Fiktion  nennt  man  das  Pro- 
dukt zweier  variablen  Zahlen  auch  „zweidimensional"  und  all- 
gemein eine  Funktion  von  n  variablen  Zahlen,  die  als  Faktoren 
auftreten,  „von  der  n-ten  Dimension  in  ihren  Veränderlichen". 

Ein  dreidimensionales  Quantum  ist  durch  drei  Dimensionen 
vollständig  bestimmt.  Jeder  ,.geometrische  Körper",  d.  i.  jeder 
irgendwie  begrenzte  Raum  ^)  koinzidiert  mit  einem  dreidimensio- 
nalen Quantum  als  einem  (bloßen)  Mengenkomplex  unbestimmten 
Grades  von  notwendig  unbestimmten  Infimis  (,.Raum"  oder  ,.Körper- 
elementen").  Räume,  die  (ohne  Rücksicht  auf  ihre  Gestalt)  mit 
demselben  dreidimensionalen  Quantum  (als  einem  durchaus  homoio- 
meren  Mengenkomplexe)  koinzidieren,  sind  größengleich. 

Das  Maß,  wodurch  Räume  gemessen  werden,  ist  ein  drei- 
dimensionales Quantum  (unbestimmter  Gestalt).  Als  Raummaß 
wird  ein  Raum  bestimmt,  wovon  jede  seiner  drei  Dimensionen  die 
Dimension  der  Längeneinheit  ist:  es  heißt  Raumeinheit. 

Das  Einheitsquantum  des  Raumes  koinzidiert  (in  besonders 
leicht  erkennbarer  "\^'eise)  mit  einem  ^^'ürfel  von  der  Kante  Eins; 
denn  an  einem  solchen  Würfel  bestehen  die  Dimensionsquanta 
Eins  als  Grenzen',  genauer:  sie  koinzidieren  mit  Grenzen  des 
Würfels. 

Jeder  irgendwie  gestaltete  Raum  koinzidiert  mit  einem  (echten 
oder  fiktiven)  Zahlkomplex  von  Einheitsquantis ,  daher  aucli  von 
Einheitswürfeln.  Die  (echte  oder  fiktive)  reine  Zahl,  in  deren 
Komplexion  die  Einheitswürfel  stehen,  indem  sie  einen  mit  dem 
zu  messenden  Räume  koinzidierenden  Mengenkomplex  bilden,  ist 
diesem  Räume  als  M  a  ß  z  a  h  1  zugeordnet.  Sie  ist  das  Produkt  der 
drei  Dimensiouszahleu  des  gemessenen  Raumes. 


')  Im  weitesten  Sinne  des  Wortes,  der  den  Festsetzungen  in  Kap.  III,  §  20 
entspricht. 

JI ei  110 Hg,  Unteisuchungen.  15 


226  Ernst  Mally. 

Zum  Vollziige  der  „Kubatur"  eines  krummflächig  begrenzten 
Raumes  wird  ein  mit  ihm  koinzidierender  Mengenkomplex  aufge- 
faßt, bestehend  aus  unbestimmt  dünnen  Schichten  in  Mengen- 
komplexion  der  einen  Dimension  (des  Raumes),  deren  jede  aus 
unbestimmt  dünnen  Säulen  in  Mengenkomplexion  der  zweiten 
Dimension  besteht,  während  jede  Säule  aus  Bestandstücken  in 
Mengenkomplexion  der  dritten  Dimension  besteht,  die  nach  allen 
drei  Dimensionen  letzte  Inferiora  des  Raumes  sind.  Bei  dieser 
Zerlegung  kann  die  Fiktion  gemacht  werden,  daß  die  unbe- 
stimmten letzten  Raumelemente  Würfel  sind,  wodurch  sich  eine 
Möglichkeit  ergibt,  jeden  Raum  durch  Würfel  als  Einheitsquauta 
auszumessen. 

Jedes  Raumquantum  ist  eine  Funktion  seiner  drei  Dimensionen, 
daher  auch  seiner  Dimensionsquanta.  Die  ihm  zugeordnete  Maß- 
zahl  ist  als  Produkt  von  drei  variablen  Zahlen  „von  der  dritten 
Dimension  in  ihren  Veränderlichen". 

Weil  jedes  mehrdimensionale  (durchaus  teilbare)  Quantum  durch 
seine  Dimensionen  bestimmt  ist,  kann  seine  Ausmessung  auf  die 
Messung  von  Linien,  insbesondere  Strecken  zurückgeführt  werden. 

Von  den  teilbaren  Quantis  ist  jedes  meßbar,  das  mit  einem 
bestimmten  Zahlkomplex  von  gleichartigen  Quantis  koinzidiert. 
Hat  das  Maßquantum  eine  bestimmte  (konkrete)  Größe,  so  ist  durch 
die  Messung  die  absolute  Größe  des  zu  messenden  Quantums 
bestimmt.  Teilbare  Quanta,  die  mit  bestimmten  (echten  oder  fik- 
tiven) Mengen  von  Quantis  einer  bestimmten  (konkreten)  Größe 
koinzidieren ,  heißen  endlich.  Jedes  endliche  teilbare  Quantum 
ist  also  seiner  absoluten  Größe  nach  meßbar.  Teilbare  Quanta. 
die  mit  notwendig  unbestimmten  (echten  oder  fiktiven)  Mengen 
von  Quantis  einer  konkreten  Größe  koinzidieren,  heißen  entweder 
„unendlich  groß"  oder  „unendlich  klein".  Solche  Quanta  sind  ihrer 
absoluten  Größe  nach  durch  j\Iessung  nicht  bestimmbar;  sie  heißen 
unmeßbar.  Doch  ist  die  relative  Größe  eines  unmeßbaren 
Quantums  durch  ein  gleichartiges,  ebenfalls  unmeßbares  Quantum 
bestimmbar.  Die  „unmeßbaren"  Quanta  sind  also  ihrer  rela- 
tiven Größe  nach  allerdings  meßbar. 


Zur  Gegenstaudstheorie  des  Messens.  227 

YI.  Kapitel. 
Die  Messung  der  unteilbaren  Quanta. 

§  34.  Direkte  Zuordnung.    Meßbarkeit  einfacher 
Quant  a.    Größengesetze. 

Die  Koinzidenz  zwischen  Bestimmungsgegenstand  und  be- 
stimmendem Gegenstande  ist^)  als  Zuordnung  definiert  worden. 
Eine  Zuordnung  zwischen  Gegenständen  A  und  Gegenständen  B 
von  der  Art,  daß  zwischen  je  zwei  durch  Gegenstände  B  be- 
stimmten Gegenständen  A  dieselbe  Verschiedenheit  besteht  wie 
zwischen  ihren  bestimmenden  Gegenständen  B,  heiße  direkte  Zu- 
ordnung.    Jede  andere  Zuordnung  heißt  dann  indirekt. 

Zwischen  dem  Bestimmungsgegenstande  (oder  Träger)  T  einer 
Qualität  53  und  der  bestimmenden  Qualität  besteht  direkte  Zu- 
ordnung. Denn  weil  das  Quäle  ß  der  bestimmenden  Qualität  dem 
durch  sie  bestimmten  Träger  TS  oder  ßT  zukommt,  besteht 
zwischen  je  zwei  Eigenschaftsgegenständen  TS  dieselbe  Ver- 
schiedenheit wie  zwischen  den  bestimmenden  Qualitäten  S. 

Die  durch  ein  Messuugsobjektiv  gegebene  Zuordnung  zwischen 
gemessenen  teilbaren  Quantis  und  ihren  Maßzahlen  ist  direkt. 
Denn  die  echte  oder  fiktive  Komplexion  der  Maßzahl  kommt  dem 
durch  sie  bestimmten  determinierten  Zahlkomplexe,  der  mit  dem 
Objekt  der  Messung  koinzidiert,  als  eine  bestehende  oder  fiktive 
Qualität  zu.  Zwei  (gemessene)  teilbare  Quanta  sind  also  immer 
so  verschieden,  wie  die  zugeordneten  (auf  dieselbe  Einheit  be- 
zogenen) Maßzahleu. 

Besteht  zwischen  den  Gegenständen  A  und  den  Gegenständen 
B  direkte  Zuordnung,  und  besteht  zwischen  den  Gegenständen  B 
und  den  Gegenständen  C  direkte  Zuordnung,  so  besteht  sie  auch 
zwischen  den  Gegenständen  A  und  den  Gegenständen  C.  Der 
Beweis  ergibt  sich  unmittelbar  durch  Anwendung  des  evidenten 
Satzes,  daß  zwei  einfache  Gegenstände,  die  einem  dritten  gleich 
sind,  auch  untereinander  gleich  sind,  auf  die  Verschiedenheit 
zwischen  je  zwei  Gegenständen  A,  bzw.  B,  C. 

Nun  besteht  direkte  Zuordnung  zwischen  Maßzahlen   a  und 

')  Oben  §  31. 

15* 


228  Ernst  Mally. 

gemessenen  teilbaren  Qiiantis  Q.  Wenn  also  zwischen  unteil- 
baren Quant is  E  und  gewissen  teilbaren  Quantis  Q  direkte 
Zuordnung'  bestellt,  so  besteht  sie  auch  zwischen  den  Maßzahlen  a 
und  den  unteilbaren  Quantis  E.  Unter  dieser  Voraussetzung 
sind  also  unteilbaren  Quantis  Zahlen  so  zugeordnet,  daß  die  Ver- 
schiedenheit zwischen  irgend  zwei  Zahlen  der  Verschiedenheit 
zwischen  den  zugeordneten  einfachen  Quantis  gleich  ist.  Die 
Verschiedenheit  zwischen  zwei  reinen  Zahlen  ist  eine  Verschieden- 
heit hinsichtlich  der  relativen  Größen  dieser  Zahlen  und  gleich 
der  Verschiedenheit  der  absoluten  Größen  der  mit  den  Zahlen 
koinzidierenden  teilbaren  Quanta.  Die  Verschiedenheit  zwischen 
den  zugeordneten  unteilbaren  Quantis  ist  auch  eine  Größenver- 
schiedenheit und  der  Verschiedenheit  der  zugeordneten  Zahlen 
gleich.  Die  Größeuverschiedenheit  zweier  unteilbarer  Quanta  ist 
also,  unter  der  obigen  Voraussetzung,  durch  die  ihnen  zugeordneten 
Zahlen  determiniert.  Ist  nun  ein  bestimmtes  einfaches  Quantum 
(von  konkreter  Größe)  E^  gegeben,  so  ist  jedes  andere  einfache 
Quantum  derselben  Art  E  von  E^  so  verschieden,  v/ie  die  ihm 
zugeordnete  Zahl  a  von  der  dem  E^  zugeordneten  Zahl  a^.  Da 
nun  die  Größe  von  E^  gegeben  ist,  so  ist  die  Größe  von  E  durch 
die  relative  Bestimmung  ihres  Verschiedenseins  von  der  Größe  des 
El  bestimmt.  —  Als  relative  Größe  eines  teilbaren  Quantums 
wurde  seine  Größe  bezeichnet,  sofern  sie  durch  seine  (echte  oder 
fiktive)  Verhältniszahl  zum  Einheitsquantum  bestimmt  ist.  Sofern 
nun  die  Größe  eines  unteilbaren  Quantums  auch  durch  eine 
Verhältniszahl  zu  einem  gleichartigen  Quantum  bestimmt  werden 
kann,  kann  sie  auch  relative  Größe  des  unteilbaren  Quantums 
heißen.  Ist  irgendeinem  unteilbaren  Quantum  E^  die  Zahl  1  zu- 
geordnet, so  ist  die  Maßzahl  eines  anderen  Quantums  E  aller- 
dings Verhältniszahl  in  bezug  auf  die  Zahl  1;  es  besteht 
aber  keine  echte,  noch  auch  ist  durch  die  bisherigen  Zahlbe- 
stimmungen eine  fiktive  Zahlkomplexion  bestimmt,  worin  Ein- 
heits quanta  Ej  einen  mit  dem  einfachen  Quantum  E  koinzi- 
dierenden Komplex  konstituierten,  daher  kein  Verhältnis  von 
E  zu  Ej.  Doch  wird  die  Größe  eines  einfachen  Quantums  durch 
eine  ihm  zugeordnete  Zahl  als  von  der  Einheitsgröße  in  bestimmter 
Weise  verschieden  ebenso  bestimmt  wie  die  Größe  eines  teil- 
baren Quantums  durch  die  ihm  zugeordnete  Zahl ;  sie  heißt  darum,. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  229 

sofern  sie  in  der  ang:egebenen  Weise  bestimmt  ist,  auch  die  r  e  1  a  - 
tive  Größe  des  einfachen  Quantums  (in  bezug  auf  das  Ein- 
heitsquantuni).  Sofern  daher  die  oben  g'emachte  Voraussetzung 
einer  direkten  Zuordnung  zwischen  den  unteilbaren  und  teilbaren 
Quantis  zutriitt,  kann  sowohl  die  relative  als  auch  die  absolute 
Größe  unteilbarer  Quanta  durch  Zuordnung  von  Zahlen  (und  An- 
gabe des  Einheitscßiantums)  bestimmt  werden.  Diese  Bestimmung 
der  Größe  kann  (zum  Unterschiede  von  der  auf  Koinzidenz  des 
zu  messenden  Quantums  mit  einem  Komplexe  von  Quantis  seiner 
Art  beruhenden  eigentlichen  Messung)  als  eine  un eigentliche 
Messung  bezeichnet  werden.  Sie  wird  auch  „surrogative 
Messung"  \)  genannt,  weil  sie  durch  eine  eigentliche,  an  teilbaren 
Quantis  als  Surrogaten  der  einfachen  zu  vollziehende  Messung  ge- 
leistet wird. 

AV  e  n  n  also  zwischen  u  n  t  e  i  1  b  a  r  e  n  Q  u  a  n  t  i  s  u  n  d  m  e  ß  - 
baren  teilbaren  Quantis  direkte  Zuordnung  besteht, 
so  sind  (sicher)  die  unteilbaren  Quanta  auch  meßbar. 
Diese  Bedingung  ist  für  die  Meßbarkeit  der  unteilbaren  Quanta 
sicher  hinreichend.  Im  folgenden  soll  untersucht  werden,  wie  weit 
sie  erfüllt  ist,  und  ob  im  Falle  ihres  Nichterfülltseins  die  Messung 
unmöglich,  ob  also  die  Bedingung  auch  notwendig  sei.  Vorerst 
aber  seien  noch  die  wichtigsten  Folgerungen  bemerkt,  die  sich  in 
betreft'  der  unteilbaren  Quanta  im  Falle  ihrer  Meßbarkeit  ergeben. 

Koinzidierende  reine  Zahlkomplexe  haben  dieselbe  relative 
Größe,  daher  gleiche  Größenverschiedenheit  von  Eins.  Quanta, 
denen  koinzidierende  Zahlen  zugeordnet  sind,  haben 
gleiche  Verschiedenheit  von  ihren  E  i  n  h  e  i  t  s  q  u  a  n  t  i  s : 
daher  haben  sie  auch  die  gleiche  relative  Größe. 
Insbesondere  haben  Quanta,  denen  durch  dieselbe  Zuordnung, 
d.  h.  in  Bezug  auf  dasselbe  Einheitsquantum,  koinzidierende 
Zahlen  zugeordnet  sind,  gleiche  relative  Größe  in  Bezug  auf  das- 
selbe Quantum,  daher  auch  gleiche  absolute  Größe. 

Diese  Größengesetze  gelten  für  jede  Art  von  Quantis, 
denen  Zahlen  (direkt)  zugeordnet  sind.  Wenn  also  unteilbaren 
Quantis  Zahlen  (direkt)  zugeordnet  werden  können,  so  bestehen 
zwischen  ihren  Größen   dieselben  Beziehungen  wie  zwischen   den 


Meinong,  üb.  d.  Bedeutung  d.  Weberschen  Gesetzes.    §  15. 


230  Ernst  Mally. 

relativen  Größen  der  ihnen  zugeordneten  Zahlen,  und  sie  lassen 
sich  auf  Grund  dieser  Tatsache  in  der  gleichen  Weise  berechnen 
wie  die  Größen  teilbarer  Quanta. 

Statt  der  besonderen  Koinzidenzg- es etze,  die  für  teilbare 
Quanta  wie  für  die  bestimmenden  Zahlen  gelten,  bestehen  für  die 
unteilbaren  Quanta  entsprechende  besondere  Größengesetze. 
In  der  Formulierung  ist  die  Wahl  eines  Einheitsquantums  voraus- 
gesetzt. 

Zu  irgendwelchen  einfachen  Quantis  gleicher  Art  besteht  eines, 
das  vom  Einheitsquantum  so  verschieden  ist  wie  die  Summe  ihrer 
Maßzahlen  von  der  Zahl  Eins.  Dieses  Quantum  heißt  darum 
auch  (in  uneigentlichem  Sinne)  das  Summenquantum  oder  die 
„Summe"  von  jenen,  die  seine  „Summanden"  genannt  werden. 

Vollkommen  analog  sind  die  übrigen,  den  speziellen  Koinzi- 
denzgesetzen entsprechenden  Größengesetze  für  einfache  Quanta. 
Aus  ihnen  ergeben  sich  die  Definitionen  des  „Produktquantums" 
und  des  „Potenzquantums".  Ferner  ist  auch  durch  jede  inverse 
Operation  mit  Maßzahlen  unteilbarer  Quanta  ein  unteilbares 
Quantum  seiner  relativen  Größe  nach  bestimmt  und  als  ,.Dilferenz- 
quantum"  („Unterschied,"  „Zuwuchs,"  „Zunahme"  u.  dgl.),  als 
„Quotientquantum"  („Teil,"  „Maß"),  als  „Wurzelquantum",  als 
„Logarithmusquantum",  als  „imaginäres  Quantum"  definiert. 

Daß  die  direkte  Zuordnung  zwischen  einfachen  und  teilbaren 
Quantis  mit  der  Meßbarkeit  der  ersteren  notwendig  mit- 
gegeben, und  insofern  auch  als  notwendige  Bedingung  dieser 
Meßbarkeit  zu  bezeichnen  ist,  geht  aus  folgendem  hervor:  Be- 
steht direkte  Zuordnung  zwischen  den  Gegenständen  A  (den  Zahlen) 
und  den  Gegenständen  B  (teilbaren  Quantis)  einerseits,  zwischen  den 
Gegenständen  B  (teilbaren  Quantis)  und  den  Gegenständen  C  (ein- 
fachen Quantis)  andererseits,  so  besteht  sie  auch  zwischen  den 
Gegenständen  A  (den  Zahlen)  und  den  Gegenständen  C  (ein- 
fachen Quantis).  Es  gilt  aber  ebenso:  Besteht  direkte  Zuordnung 
zwischen  C  und  A  einerseits  und  zwischen  A  und  B  andererseits, 
so  besteht  sie  auch  zwischen  den  Gegenständen  C  und  den  Gegen- 
ständen B.  Sind  also  einfache  Quanta  meßbar,  d.  h.  besteht 
zwischen  ihnen  und  Zahlen  direkte  Zuordnung,  so  besteht  sie 
notwendig  auch  zwischen  den  einfachen  Quantis  und  den  teil- 
baren Quantis,  denen  die  Zahlen  auch  direkt  zugeordnet  sind. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  231 

Da  uns  indes  nur  die  Zuordnung  zwischen  teilbaren 
Quantis  und  Zahlen  unmittelbar  erkennbar  ist,  schließen  wir 
natürlicherweise  von  dieser  Zuordnung  auf  die  Meßbarkeit  der 
einfachen  Quanta  und  niclit  umgekehrt. 


§  35.  Messung   der  Quanta,  die  Qualitäten  an  Gegen- 
ständen sind.     J.Dimensionen." 

Jedes  unteilbare  Quantum,  das  eine  Qualität  an  etwas  ist, 
kommt  einem  teilbaren  Quantum  als  Qualität  zu.  Die  durch  ein- 
fache Quanta  als  durch  ihre  Qualitäten  bestimmten  teilbaren 
Quanta  sind  also  hinsichtlich  dieser  ihrer  Qualitäten  so  ver- 
schieden wie  die  bestimmenden  einfachen  Quanta.  Jedes  unteil- 
bare Quantum,  das  eine  Qualität  an  etwas  ist,  ist  demnach  einem 
teilbaren  Quantum  direkt  zugeordnet,   daher  durch  dieses  meßbar. 

Ein  einfaches  Quantum,  das  jedem  (echten)  teilbaren  Quantum 
als  Qualität  zukommt,  ist  die  Ausdehnung.  Ein  Gegenstand, 
der  nur  durch  seine  Ausdehnung  bestimmt  ist  heiße  ein  reines 
Ausgedehntes  oder  ein  reines  Kontinuum.  Die  Größe  eines  reinen 
Kontinuums  (d.  h.  eines  reinen  durchaus  homoiomeren  Mengen- 
komplexes) ist  die  Größe  seiner  Ausdehnung  (d.  h.  seiner  Kom- 
plexion). Die  Maßzahl  des  reinen  Kontinuums  ist  auch  seiner  i^us- 
dehnung  zugeordnet ;  sie  ist  das  Produkt  der  Dimensionsmaßzahlen 
des  Ausgedehnten.  Die  x4usdehnung  eines  teilbaren  Quantums 
ist  also  Produktquantuni  seiner  einzelnen  Dimensionen.  Dabei 
ist  vorausgesetzt,  daß  als  Einheit  dasjenige  Ausgedehnte  gilt, 
dem  durch  die  Wahl  der  Einheiten  seiner  Dimensionsquanta  die 
Zahl  Eins  schon  zugeordnet  ist.  Auch  sei  in  den  einzelnen 
Dimensionon  die  gleiche  Einheit  gewählt.  Die  Faktorenquanta, 
d.  h.  die  Dimensionen,  sind  in  bezug  auf  das  Gesamtquantum 
der  Ausdehnung  ebenso  untereinander  vertauschbar  wie  die  Fak- 
toren des  Maßzahlenproduktes  in  bezug  auf  dieses.  Freilich  sind 
die  Dimensionen  nicht  Komplexionen  an  der  Ausdehnung,  sondern 
nur  am  Ausgedehnten;  indes  bestimmen  sie  die  Größe  der  Aus- 
dehnung ebenso  wie  die  Dimensionslinien,  woran  sie  Komplexionen 
sind,  das  Ausgedehnte  bestimmen,  woran  die  Ausdehnung  Kom- 
plexion ist:  darum  werden  sie  auch  ,.Dimensionen"'  der  Ausdehnung 
genannt. 


232  Ernst  Mally. 

Hat  ein  Gegenstand  neben  den  Dimensionen  seiner  Aus- 
dehnung noch  andere  Qualitäten,  welche  Quanta  sind,  so  ist  das 
Quantum  des  durch  alle  diese  Qualitäten  (einschließlich  der 
Dimensionen)  bestimmten  (Eigenschafts-)  Gegenstandes  ihr  Pro- 
dukt q  u  a  n  t  u  m.  Denn  ein  solches  Quantum  ist  jedem  seiner 
bestimmenden  Quanta  direkt  zugeordnet.  Daher  koinzidiert  seine 
Maßzahl  mit  ebensovielen  Zahlkomplexen,  als  bestimmende  Quanta 
vorhanden  sind;  und  jeder  dieser  Zahlkomplexe  ist  von  der  Kom.- 
plexion  der  Maßzahl  eines  bestimmenden  Quantums.  Die  Maßzahl 
des  so  bestimmten  Quantums  ist  also  ein  Vielfaches  von  jeder  der 
Maßzahlen  der  bestimmenden  Quanta,  und  unter  der  oben  gemachten 
Voraussetzung  über  die  Wahl  der  Einheit  ^)  das  Produkt  dieser 
Zahlen.  Die  Größe  eines  Eigenschaftsgegenstandes,  die  durch 
die  ihm  zukommenden  Qualitätsquanta  bestimmt  ist,  heiße  seine 
Gesamtgröße,  der  so  bestimmte  Gegenstand  selbst  (als  ein 
Quantum)  Gesamtquantum.  Die  Qualitätsquanta  bestimmen 
also  das  Gesamtquantum  in  gleicher  Weise,  wie  die  Dimensions- 
quanta  das  Ausgedehnte  als  ein  Quantum  bestimmen:  sie  werden 
darum,  auch  wenn  sie  Intensitäten  sind,  „Dimensionen"  ihres 
Produktquantums  genannt.  „Dimensionen"  eines  Quantums,  in  dem 
sich  so  ergebenden  allgemeinen  Sinne,  sind  also  seine  Faktoren- 
quanta,  —  dabei  gilt  die  reine  Zahl  nicht  als  Quantum,  wenn 
nicht  als  „Gesamtquantum"  eine  reine  Zahl  (die  Funktion  variabler 
Faktorenzahlen)  auftritt.^) 

Die  Gesamtgröße  einer  Veränderung  ist  die  Länge  der  Ver- 
änderungslinie oder  des  Weges.  Der  Veränderungsvorgang  hat 
seine  Ausdehnung  t  in  der  Zeit,  dieses  bestimmende  Quantum  ist 
das  eine  Faktorquantum  der  Veränderungsgröße.  Das  andere,  die 
Veränderungsintensität  oder  Geschwindigkeit  u,  ist  daher  als 
Quotientquantum  aus   dem  Wege  und   der  zugehörigen  Zeit 

bestimmt :  u  =  — .      Dabei    ist    Konstanz    der    Geschwindigkeit 

während  der  Zeit  t  vorausgesetzt.  Ist  die  Geschwindigkeit  in 
keinem  bestimmten  Zeitteil  konstant,  so  ist  sie  für  jedes  der  un- 
bestimmten Zeitinfima  eine  andere  und  gemessen  durch  den  Grenz- 


*)  Daß  sie  nämlich  das  Prodiiktquantiim   der  Eiuheitsquanta  der  Fak- 
toren sei. 

*    Vgl.  oben  §  33. 


Znr  Gegenstandstheorie  des  Messens.  233 

wert  des  Verhältnisses  —  für  ein  t ,   das   sich   ohne  Ende  der  Null 

nähert,  d,  i.  —  ==  n. 
dt 

Wenn  eine  Veränderung  mit  variabler  Geschwindig"keit  vor 
sich  geht,  erfolgt  zugleich  der  Aktive  ,. Vorgang''  des  „Zunehmens" 
oder  ,. Abnehm ens"'  der  Geschwindigkeit.  Dieser  ..Vorgang"  ist 
fiktiv:  denn  jeder  wahre  Vorgang  ist  etwas  Reales  und  kann  sich 
nur  an  Realem  zutragen;  die  (Presch windigkeit  aber  ist  ideal,  und 
es  kann  daher  an  ihr  kein  Vorgang  geschehen.  Tatsächlich  geht 
ein  realer  Veränderungsvorgang  an  einem  realen  Veränderlichen 
vor  sich  und  ist  in  stetig  aufeinanderfolgenden  Zeitpunkten  durch 
stetig  „aufeinanderfolgende"  Geschwindigkeiten  u  bestimmt.  Der 
Veränderungsvorgang  durcliläuft  also  die  stetige  Änderungsreihe 
R(u)  der  Geschwindigkeiten.  Die  Geschwindigkeit  verändert  sich 
dabei  nicht  wirklich,  sondern  sie  ist  nur  in  jedem  Punkte  des 
Vorganges  (im  allgemeinen)  eine  andere.  Diese  Tatsache 
mag.  im  Gegensatze  zur  realen  Veränderung,  kurz  als  „Änderung" 
bezeichnet  werden.  Ist  die  Geschwindigkeit  in  späteren  Zeit- 
punkten immer  größer,  z.  B.  nach  Verlauf  einer  Zeit  t,  an  deren 
Anfange  sie  Uj  war,  ein  größeres  Quantum  Uo,  so  ist  durch  die 
zugeliörigen  Maßzahlen  ein  Geschwindigkeitsquantum  als  „Diffe- 
renzquantum" Uo — Ui  bestimmbar,  welches  „Geschwindigkeitszu- 
nahme" heißt.  Der  fiktive  Prozeß  des  Zunehmens  der  Geschwin- 
digkeit ist  in  der  Zeit  ausgedelmt,  —  d.  h.  tatsächlich  vergeht 
zwischen  dem  Zeitpunkte,  in  welchem  der  wirkliche  Veränderungs- 
vorgang die  Geschwindigkeit  u^  besitzt,  und  dem  Zeitpunkte,  in 
welchem  er  die  Geschwindigkeit  u.,  hat ,  eine  Zeit  t.  Außer 
der  Ausdehnung  in  der  Zeit  aber  kommt  ihm  auch  eine  Be- 
schaffenheit zu,  wodurch  sich  zwei  „Geschwindigkeitszunahmen", 
die  in  gleicher  Zeit  erfolgen,  doch  noch  als  Quanta  unterscheiden 
können:  nämlich  eine  Intensität  der  Geschwindigkeitszunahme, 
welche  dem  realen  Veränderungsprozesse  gegenüber  als  seine  Be- 
schleunigung auftritt.  Sie  ist  als  Intensität  der  Zunahme 
Ua — nj,  die  in  der  Zeit  die  Ausdehnung  t  besitzt,  gemessen  durch 

— 2_^_i_  __  j^  tj^QY,   wenn   Ug— u,  =  u,    durch  —  =  a.^)     Die  Be- 


^)  Da   es  sich  hier  nur  darum  handelt,   die  oben  entwickelten  gegenstauds- 


234  Ernst  Mally. 

sclileunig-uiig'  ist  also  surrogativ  gemessen  durch  Messung  von  Ge- 
schwindigkeit und  Zeit. 

Die  Spannung  ist  ein  Faktorquantum  der  Arbeit,  nämlich 
ihre  Intensität.  Sie  wird  jedoch  nicht  an  der  Arbeit  gemessen, 
sondern  vielmehr  umgekehrt  die  Arbeit  durch  das  (explizite) 
Produktquantum  von  Spannung  und  Veränderungslinie:  A  =  p-s. 
Die  Messung  der  Spannung  geschieht  auf  Grund  der  folgenden 
Tatsachen.  Die  Erteilung  einer  Beschleunigung  a  an  eine  Masse 
m  geschieht  unter  Aufwand  einer  Spannung  p.  Ist  m  die  Masse 
eines  ganz  bestimmten  Körpers,  so  ist  die  Masse  eines  Komplexes 
von  n  solchen  Körpern  n-m.  Um  einer  solchen  Masse  nm  die 
gleiche  Beschleunigung  a  zu  erteilen,  ist  eine  größere  Spannung  p' 
erforderlich.  Die  gleiche  Beschleunigung  a  kann  aber  der  n-fachen 
Masse  m  erteilt  werden,  w'enn  n  Spannungen  p  nebeneinander 
dazu  aufgewendet  werden.  Daraus  wird  geschlossen,  daß  die 
Spannung  p',  deren  einmaliges  Aufwenden  den  gleichen  Effekt 
liefert  wie  das  n-malige  Aufwenden  von  p,  von  dieser  Spannung 
p  so  verschieden  ist,  wie  n  von  1,  also  p'  =  np.  Die  Spannung 
ist  also  der  Masse  direkt  zugeordnet,  woran  sie  eine  bestimmte 
Beschleunigung  hervorbringen  kann.  Andererseits  wird  bei  Auf- 
wendung der  Spannung  p'  =:  n  p  der  Masse  m  eine  Beschleunigung 
na  erteilt.  Die  Spannung  ist  also  auch  der  Beschleunigung 
direkt  zugeordnet,  die  sie  an  einer  bestimmten  Masse  zur  Folge 
haben  kann.  Die  Spannung  p  ist  also  ein  Produktquantum  von 
Masse  und  Beschleunigung  p  =  m  a.^) 

Verschiedene  JVIassen  produzieren  in  gleicher  Beziehung  zu 
einer  gegebenen  konstanten  Masse  (der  Erde),  Spannungen,  die 
ihnen  direkt  zugeordnet  sind,  und  deren  relative  Größen  —  wegen 


theoretischen  Prinzipien  der  Messung  einfacher  Quanta  an  einigen  einfachsten 
Fällen  zn  exemplifizieren,  soll  auf  die  Bestimmungen  physikalischer  Größen  nicht 
weiter  eingegangen  werden ,  als  dieser  Zweck  unbedingt  erfordert.  Daher  ist 
auch  die  Messung  der  variablen  Beschleunigung  für  einen  bestimmten  Zeitpunkt 
des  Vorganges  hier  nicht  berücksichtigt. 

*)  Ob  die  tatsächlich  bestehende  reale  Qualität,  die  Spannung  genannt 
wird,  dieser  Maßgleichung  auch  in  der  Tat  entspricht,  ist  a  priori  nicht  auszu- 
machen, daher  durch  die  oben  angeführten  Schlüsse  nicht  garantiert,  sondern  nur 
wahrscheinlich  gemacht.  Das  fiktive  Quantum  der  Kraft  läßt  sich  durch  eine 
Maßgleichuug  „definieren",  die  reale  Spannung  richtet  sich,  sozusagen,  nicht 
nach  unseren  Definitionen. 


Zur  Gegeustandstheorie  des  Messens.  235 

der  Gleichheit  aller  übrig-eii  relevanten  Umstände  —  geradezu  die 
relativen  Größen  der  Massen  selbst  sind.  Daraus  ergibt  sich  die 
Möglichkeit  der  Messung  von  Massen  verschiedenartiger 
Körper  (durch  Wägung),  Die  Dichte  irgendeines  Körpers  ist 
dann  meßbar  als  Quotientquantum  von  Masse  und  Ausdehnung 
oder  Volumen  des  Körpers. 

§  36.   Messung  der  Quanta,   die  Qualitäten  zwischen 
Gegenständen  s  i  n  d. 

"\^'enn  mit  einer  (Aktiven)  Relation,  die  ein  Quantum  ist,  eine 
Qualität,  als  Komplexion  am  Komplexe  ihrer  Glieder,  wesentlich 
koinzidiert,  so  besteht  zwischen  Relation  und  Komplexion  direkte 
Zuordnung.  Die  Messung  des  Relationsquantums  ist  daher  in 
diesem  Falle  auf  die  Messung  einer  Qualität  an  einem  Gegen- 
stande zurückführbar ,  —  z.  B.  die  Messung  der  „Druck-  oder 
Zugrelationen"  oder  der  Anziehungsrelation  auf  Messung  von 
Spannungen. 

In  jedem  Falle  bestimmt  eine  (echte  oder  fiktive)  Relation  9t 
einen  expliziten  Komplex  ihrer  Glieder,  woran,  wenn  'tR  ein  Quan- 
tum ist,  Änderungen  (oder  Veränderungen)  möglich  sind,  so  daß 
die  Relation  die  Quantumsreihe  R(9t)  ,, durchläuft",  wenn  die 
variablen  Glieder  ihre  Anderungsreihen  (tatsächlich  oder  im  oben 
erläuterten  fiktiven  Sinne)  durchlaufen.  A^^enn  es  nun  eine  solche 
Relation  9t.  die  ein  Quantum  ist  und  mit  keiner  Qualität  wesent- 
lich koinzidiert,  zwischen  mehreren  Gliedern  gibt,  so  sind  die 
Gesamtänderungen  des  durch  9t  bestimmten  expliziten  Komplexes 
den  Größenänderungen  von  9i  direkt  zugeordnet,  —  weil  der  Kom- 
plex seiner  Komplexion,  der  explizite  Komplex  insbesondere  seiner 
bestimmenden  Relation  direkt  zugeordnet  ist.  Die  Gesamt- 
änderungen des  expliziten  Komplexes  aber  sind  als  Funktionen 
der  Änderungen  der  einzelnen  variablen  Relationsglieder  bestimm- 
bar. —  Indes  ist  mir  eine  Relation  von  der  in  Rede  stehenden 
Art  nicht  bekannt,  und  vielleicht  würde  sich  bei  einer  näheren 
Untersuchung  herausstellen,  daß  sie  überhaupt  ihrem  AVesen  nach 
unmöglich  ist. 

Von  Relationen,  die  Quanta  sind  —  und  die,  als  echte  Rela- 
tionen, nicht  mit  (Komplex-)  Qualitäten  wesentlich  koinzidieren  — 


236  Ernst  Mally. 

kennen  wir  nur  zwei  Relationen  zwischen  je  zwei  Gliedern,  näm- 
lich Ä  h  n  1  i  c  h  k  e  i  t  und  V  e  r  s  c  h  i  e  d  e  n  li  e  i  t,  ^)  Von  ihrer  Messung 
soll  hier  gehandelt  w^erden. 

Die    Gegenstände  X  seien  Gegenstände   derselben  Art.    Die 
Verschiedenheit  zwischen  irgend  zwei  bestimmten  von  ihnen,  Xi  und 

V     -1 
Xk,  sei  bezeichnet  mit  xj  Xj.   •  Ist  X^  ein  konkreter  Gegenstand  X  so 

sei  von  ihm  aus  eine  gerade  Änderungsreihe  R(X)  möglich,  es  führe 
also  eine  Veränderung  (des  X  oder  eines  Eigenschaftsgegeustandes 
des  X)  von  X^  aus  in  konstanter  Richtung  über  lauter  Gegenstände 
X,  und  zwar  ohne  Ende.  Die  Veränderungsgerade,  die  alle  Daten  X 
von  R(X)  als  Punkte  enthält,  heiße  V(X).  Je  zwei  Punkte  Xi,  X^ 
von  R  (X)  bestimmen  vermöge  ihrer  Distanz  xj  Xj.  eine  Verän- 
derungsstrecke xj  Xk,  d.  h.  die  Veränderungsstrecke  v  o  n  Xi  bis  Xk. 
Durch  gleiche  Distanzen  xj  Xk  sind  gleiche  Veränderungsstrecken 
J-.  x.^^^^"^i^^t>   durch  gleich  verschiedene  Distanzen  Xi  Xj.  gleich 

verschiedene    Veränderungsstrecken  Xj   Xk*  Di^  Verschiedenheiten 

V  sind  den  zugehörigen  Veränderungsstrecken  V  direkt  zugeordnet. 
Ist  insbesondere  einer  bestimmten  Veränderungsstrecke  von  X^  aus, 

einer  x     x  die  Zahl  Eins  zugeordnet,  und  zugleich  der  zugehörigen 

TT 

Verschiedenheit X  x  j  so  ist  die  relative  Größe  jeder  anderen  Ver- 
schiedenheitxi  Xk  gleich  der  relativen  Größe  der  zugehörigen  Ver- 

änderungsstrecke  Xj  Xk ;  i^iid  beiden  dieselbe  Maßzahl  zugeordnet. 

Die  Messung  der  Verschiedenheiten  zwischen  den  Gegenständen  X 
geschieht  also  nach  Wahl  einer  Veränderungsstreckeneinheit,  bei 
Festlegung  zweier  Punkte  (X^  und  X^)  der  Änderungsreihe  R(X) 
dadurch,  daß  die  Veränderungsstrecken  zwischen  den  Gegenständen  X 


')  Vgl.  obeu,  Kap.  IV,  §  25. 

*)  Die  Qualität  Verschiedenheit  soll  hier,  da  sie  uicht  als  Qualität  sondern 
nar  als  Quantiim  in  Betracht  kommt ,  der  besseren  Übersicht  wegen  (statt  mit 
SB)  mit  V  bezeichnet  werden. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  237 

ausgemessen  werden.')  Auf  diesem  Wege  werden  z.  B.  Distanzen, 
d.  h.  Verschiedenheiten,  von  Raumpunkten  an  den  zwischenliegenden 
Strecken  gemessen. 

Sind  die  Vergleichsgegenstände  X  Q  u  a  n  t  a ,  so  bilden  sie  not- 
wendig eine  gerade  Änderungsreihe  E(X).nämlich  die  Quantumsreihe. 
Sind  nun  die  relativen  Größen  der  Quanta  X  bestimmt,  so  sind  auch 
die  Verschiedenheiten  zwischen  ihnen  bestimmt.  Denn  die  relative 
Größe  eines  Gegenstandes  ist  seine  Größe,  sofern  sie  eben  durch 
seine  Verschiedenheit  von  einem  anderen  Quantum  bestimmt  ist  — 
im  Falle  der  Teilbarkeit  des  Quantums  gleich  der  durch  sein  Ver- 
hältnis zum  anderen  Quantum  bestimmten,  im  Falle  der  Unteilbarkeit 
gleich  der  durch  das  Verhältnis  der  Maßzahlen  bestimmten  Größe. 

Die  Verschiedenheit  reiner  Komplexe  ist  die  Verschiedenheit 
ihrer  Komplexionen.  Zwei  reine  Zahlen  sind  voneinander  so  ver- 
schieden wie  ihre  Komplexionen.  Die  Verschiedenheit  einer  Zahl 
von  Eins  ist  durch  ihre  Komplexion  vollständig  bestimmt  oder 
eindeutig  determiniert;  d.  h.  zwischen  Eins  und  einer  bestimmten 
reinen  Zahl  ist  nur  eine  bestimmte  (konkrete)  Verschiedenheit 
möglich  und  notwendig. 

R  (x)  sei  die  Reihe  der  reinen  Zahlen,  und  zwar  aller  reellen 
positiven.  Der  Verschiedenheit  zwischen  1  und  der  bestimmten 
Zahl  Xj  werde  die  Zahl  1  als  Maßzahl  zugeordnet,  und  diese 
Verschiedenheit  ^Vx,  als  Einheitsquantum  der  Verschiedenheit  mit 
Vj  bezeichnet.  Das  Quantum  irgend  einer  Verschiedenheit  V  be- 
komme die  Bezeichnung  v. 

Die  Punkte  x  der  Änderungsreihe  R(x)  gehören  sämtlich  der 
fiktiven  Veränderungslinie  der  Zahlen,  einer  Geraden  V(x)  an  und 
bilden  die  Gesamtheit  der  Punkte  dieser  Geraden.  Die  Quanta 
der  Veränderungsstrecken  V  seien  mit  v  bezeichnet.  Zwischen  den 
Quantis  v  und  v  besteht  direkte  Zuordnung.  Einheitsquantum  der 
fiktiven  Veränderungsstrecke,  daher  der  Änderung  von  x,  sei  die 
iVx,  ^  Vj.  Es  werden  die  Änderungen  von  1  aus  betrachtet, 
d.  h.  Änderungen,  die  mit  fiktiven  Veränderungen  in  der  Richtung 
von  1  aus  zu  anderen,  zunächst  größeren,  positiven  Zahlen  zu- 
sammen gegeben  sind. 


^)  Vgl.  dazu  und  zum  folgenden  Meinong,  Über  die  Bedeutg.  des  Weber- 
schen  Ges.,  a.  a.  0.,  bes.  §  31. 


238  Ebnst  Mally. 

Zwei  determinierte  Zahlkomplexe  o:leicher  Bestandstücke  sind 
voneinander  so  verschieden  wie  ihre  Komplexionen,  daher  so  wie 
die  koinzidierenden  reinen  Komplexe.  Die  Verschiedenheit  zwischen 
einem  Gegenstande  A  und  x  Gegenständen  A  ist  also  die  Ver- 
schiedenheit zwischen  den  reinen  Zahlen  Eins  und  x.  Da  nun 
insbesondere  die    Y    =:=  v,  =  1  ist,  so  ist  auch  die  Verschiedenheit 

1      Xi  ^ 

zwischen  x^  und  x^ .  Xj  gleich  v^  =  1,  also  ,  V   „  =  v^  =  1,  Ebenso 

ist     oV   3  =  v,  =  1  usf. ...     V  =  Vi  =  1.    Für   die  zuge- 

xr    xi"  xi''    xi*''^ 

hörigen    Änderungen    v    gilt    wiegen     der    direkten    Zuordnung: 
V     —  V    —  1       V      — V    —  1        V=v  —  1  V  = 

Vj  =  1.  Nun  ist  die  Veränderungsstrecke  von  1  bis  Xi''+^  die 
Summe  der  Veränderungsstreckeu  von  1  bis  Xj,  von  x^  bis 
Xj-  usf.  und  von  x/"  bis  x/'^^.  Durch  die  Maßzahleu  dieser 
fiktiven  Strecken  sind  aber  auch  die  entsprechenden  Änderungen 
gemessen,  daher  ist  iV^^'  +  i  z=^[v-\-l)  \^=:v-\-l  oder  allgemein 
^V^u  = /*  ^1  =  ji/,  und  wegen  der  direkten  Zuordnung  zwischen 
Änderung  und  Verschiedenheit  auch :  ^V^ .«  = ."  v^  =  fi.  Wenn  also 
der  Verschiedenheit  zwischen  1  und  einer  bestimmten  reinen  Zahl 
die  Maßzahl  1  zugeordnet  ist,  so  ist  die  Verschiedenheit  zwischen 
1  und  der  ^f-ten  Potenz  jeuer  bestimmten  Zahl  durch  den  Potenz- 
exponenten fj.  gemessen.  Oder:  ein  Zahlkomplex  /tf-ter  Ordnung 
mit  der  Komplexion  der  Zahl  x^  hat  von  der  Einheit  die  Ver- 
schiedenheit mit  der  Maßzahl  /.i,  wenn  die  Verschiedenheit  zwischen 
1  und  X  die  Maßzahl  1  hat. 

Koinzidierende  Zahlen  haben  gleiche  relative  Größe,  daher 
auch  gleiche  Verschiedenheit  (hinsichtlich  der  Größe)  gegenüber 
gleichen  anderen  Zahlen.  Mit  jede  r  reellen  positiven  Zahl 
koinzidiert  nun  ein  (fiktiver  oder  möglicher)  Zahlkomplex  einer  be- 
stimmten Ordnung  fi  von  der  Komplexion  der  reinen  Zahl  x^,  d.  h. 
jede  Zahl  x  ist  eine  fiktive  oder  echte  Potenz  der  bestimmten 
Zahl  Xj ;  ihr  fiktiver  oder  echter  Potenzexponent  in  bezug  auf  die 
Zahl  Xj  ist  ihr  Logarithmus  in  bezug  auf  diese  Zahl  als  Basis. 
Die  Maßzahl  der  Verschiedenheit  zwischen  1  und  der  Zahl;  x 
ist  also  der  Logarithmus  von  x  in  bezug  auf  die  Basis  x^,  wenn 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  239 

der  Verschiedenheit  z^yischen  1  und  x^  die  Maßzahl  1  zug-eordnet 
ist.    Das  gleiche  gilt  von  den  zugehörigen  Änderungen. 

Die  (fiktive)  Veränderungsstrecke  von  irgendeiner  der  Zahlen 
X,  etwa  Xi.  bis  zu  einer  anderen,  x^,  ist  die  Differenz  der  Ver- 
änderungsstrecke von  1  bis  Xi  und  der  Strecke  von  1  bis  Xk.  Also 
^  V^.  =  V^  —  V^  =  log     X,.  —  log     X..     Diese   Differenz    ist    als 

Maßzahl  der  Änderung  zwischen  Xi  und  xt  auch  Maßzahl  der  ent- 
sprechenden Verschiedenheit  •    V,.  =,V^  —  ,V^=log    X. — log    X. 

(Hier  bedeutet  ,V    — ,V    natürlich  nicht   die  Differenz   oder   den 

V  1       Xjj          1       Xj 

Unterschied  der  Verschiedenheiten,  sondern  das  entsprechende 
„Differenzquantum"  in  dem  oben.  §  34,  festgesetzten  Sinne).  Die 
Differenz  der  Logarithmen  zweier  Zahlen  (in  bezug  auf  dieselbe 
Basis)  ist  nun  der  Logarithmus  ihrer  Verhältniszahl.  Es  ergibt 
sich  also:  Die  Verschiedenheit  zweier  Zalilen  Xi  und  Xk  ist  ge- 
messen durch  die  Differenz  ihrer  Logarithmen  in  bezug  auf  jene 
Zahl  Xj  als  Basis,  deren  Verschiedenheit  von  1  die  Maßzahl  1 
hat;  oder:  die  Maßzahl  der  Verschiedenheit  zweier  Zahlen  ist  der 
Logarithmus  ihrer  Verhältniszahl. 

Ist  Xk)Xi,  so  ist  log  —  =log  Xk  —  log  Xi  eine  positive  Zahl, 

Xi 

die  mit  wachsendem  Xk  ohne  Ende  wächst.  Ist  dagegen  Xk  <"  Xj,  so 
ist  log  —  eine  negative  Zahl,  die  ohne  Ende  wachsende  negative 

Xi 

Werte  annimmt,  wenn  Xk  sich  der  Grenze  NuU  nähert.  Nun  ist 
in  der  Tat  die  Änderung  von  einem  kleinem  Xi  zu  einem  großem 
Xk  der  Änderung  von  einem  größern  Xi  zu  einem  kleinem  Xk  der 
Richtung  nach  entgegengesetzt.  Und  diese  Quanta  sind  so  be- 
schaffen, daß  das  Sein  eines  Quantums  der  einen  Art,  in  einem 
Summenkomplexe  von  Änderungsquantis  der  Zahl  x,  dem  Nicht- 
sein eines  bestimmten  Quantums  der  andern  Art  (in  diesem  Kom- 
plexe) gleich  kommt.  Den  Veränderungen  entgegengesetzter 
Richtung  werden  also  mit  Recht  Maßzahlen  entgegengesetzten 
Vorzeichens  zugeordnet.  Die  Verschiedenheitsr  elation 
V.   zwischen  den  Gegenständen  Xi  und  Xk  aber  ist  nur  eine 

Xj       Xk 

und  ändert  sich  nicht  mit  der  Richtung  der  Veränderung  (oder 
der  fiktiven  Richtung  der  Änderung)  zwischen  diesen  Gegenständen. 


240  Ernst  Mally. 

Jedoch  kommt  dem  Gegenstande  Xi  das  Verschiedensein  von  Xk 
als  eine  relative  Bestimmung  zu.  und  dem  Xk  das  Verschiedensein 
von  Xi  als  eine  andere  relative  Bestimmung.  Mit  jeder  dieser 
relativen  Bestimmungen  koinzidiert  nun  eine  fiktive  Quali- 
tät au  ihrem  Bestimmungsgegenstande,  an  xi  die  „Verschieden- 
heit von  Xk"  und  an  Xk  die  ..Verschiedenheit  von  Xi*',  welche 
Quanta  entgegengesetzter  Art  sind.  Diesen  fiktiven  Qualitäten 
sind  also  die  durch  ihr  Vorzeichen  als  positiv  oder  negativ  be- 
stimmten Logarithmen  als  Maßzahlen  zugeordnet.  Die  Verschieden- 
heitsrelation selbst  aber,  als  eine  Qualität  zwischen  ihren 
Gliedern,  ist  nur  durch  die  ..absoluten  Beträge"  der  Logarithmen- 
ditierenzen  gemessen.  Die  Verschiedenheit  einer  jeden  Zahl  von 
Null  ist  unendlich;  xVo=logx  —  logO  =  cc.  Der  Verschieden- 
heit einer  positiven  von  einer  negativen  Zahl  entspricht  keine 
reelle  Maßzahl.  Doch  können  die  negativen  Zalüen  ihren  „abso- 
luten Beträgen"  nach,  d.  h.  hinsichtlich  ihrer  relativen  Größe  im 
Verhältnis  zur  negativen  Einheit  ( —  1).  ebenso  miteinander  ver- 
glichen werden  wie  die  positiven  untereinander.^) 


M      Y      ist  die  Verschiedenheit  zweier  Yeräuderuno-se-eradeii  bleicher  Größe 

und  entgegengesetzter  Eichtung,  daher  die  Verschiedenheit  zwischen  zwei  ent- 
gegengesetzten Richtungen,  E  (der  „positiven"  Richtung)  und  R^  (der  „nega- 
tiven" Eichtung.)   ^  V      =      V      =]og  (-j— r)  =  log  (— 1).    Ist  R     eine  dritte 

l^p   ^u      +1—1  V+ 1/ 

Richtung,  so  beschaifen,  daß  ihre  Verschiedenheit  von  Rp  gleich  ist  der  Ver- 
schiedenheit  der  Richtung  R„   von  E,„.  so  ist       V       =  „    V     ,     Es  führt  nun 

eine  (fiktive)  Veränderung  konstanten  Sinnes  von  Ep  über  die  mittlere  Eichtung 
Em  zur  entgegengesetzten  Eichtung  En,  und  es  ist  „  V     —     V      -|-      V 


daher  „  V„     =„    V„    =  ^  •>  „  V„    =  ' .,  log   (—1)  =  log  1  —  1.     Zwei  Quanta, 

DD  PP  -PP  i-o\/  53'  V  T 

*T)    «■m       '^"^m    ^n  ^p    ^ 

deren  Verhältnis  die  Zahl  1  —  1  =  i  angibt,  sind  also  voneinander  so  verschieden, 

wie   die  Eichtungeu  E,,  und  E„,  oder  E,„  und  E„   untereinander.     Zwei  Gerade 
^  p  ni  111  n 

von  solcher  gegenseitiger  Lage,  daß  jede  mögliche  Richtung  in  der  einen  von 
jeder  möglichen  Eichtung  in  der  audereu  gleich  verschieden  ist .  sind  gegenein- 
ander normal;  d.  h.  sie  schneiden  sich  unter  einem  rechten  Winkel,  wenn  sie 
in  einer  Ebene  liegen,  oder  sie  kreuzen  sich  unter  einem  rechten  Winkel ,  wenn 
sie  nicht  in  einer  Ebene  liegen  (vgl.  oben  §  21,  S.  188 f.).  Ist  also  E  die  eine  der 
möglichen  Eichtungen  in  einer  Geraden  g,  En  die  andere,  so  ist  die  Eichtung  Em. 
die  von  beiden  die  gleiche  Verschiedenheit  hat,  irgend  eine  der  beiden  möglichen 
Eichtungen   in  einer  zu  g   normalen  Geraden  g'.     Einer  Veränderungsstrecke  in 


Zur  Gegeustandstheorie  des  Messens.  241 

Als  iiatüiiiclie  Einheit  der  Verschiedenheit  bietet  sich  die 
Verschiedenheit  zwischen  1  und  der  Zahl  e.  der  Basis  der 
„natürlichen"  Logarithmen:  jede  andere  Verschiedenheitseinheit  ist 
durch  das  Produkt  dieser  Einheit  mit  einer  Konstanten  ausge- 
drückt. —  Jedes  Datum  v  der  Quantumsreihe  R(v)  ist  bei  Wahl 
der  Basis  e  dui-ch  die  Gleichung  v  =  log  nat  x  oder  kurz  v  =  log  x 
als  eine  Funktion  der  Veränderlichen  x  bestimmt.  Bemerkenswert 
ist  die  Tatsache.^  daß  der  Grenzwert  des  Verhältnisses  der  „Zu- 
nahme"  von  V  zur  zugehörigen  Zunahme  von  x  für   die  Zunahme 

Null  von  X.  d.  h.  der  Difterentialquotient  ^ .  bei  dieser  Wahl  der 
Einheit  gleich  ist  dem  Verhältnisse  -.    Jede  Zunahme  von  v  er- 

X 

folgt  durch  eine  Zunahme  von  x.  Ist  das  Quantum  x  durch  eine 
Strecke,  etwa  ein  Stück  der  Abszissenachse  eines  rechtwinkligen 
Koordinatensystemes,  dargestellt,  so  geschieht  jede  Zunahme  J\ 
von  V  längs  einer  Differenzstrecke  z/x.  Die  Länge  von  z/x  ist  nun 
ähnlich  als  (fiktive)  Ausdehnung  des  ..Prozesses"  des  ..Zunehmens" 
von  V  auffaßbar,  wie  die  Zeit  eine  Ausdehnung  eines  echten  Ver- 

dv 

änderungsvorganges  ist.    Der  ^  erhältnisgrenzwert         stellt    dann 

das  (fiktive)  zweite  Faktorquantum  des  Wachstums  von  v  dar. 
oder  seine  „Intensität".  Und  diese  ..Intensität  der  Zunahme"  der 
Verschiedenheit  einer  wachsenden  Zahl  x  von  Eins  ist  gemessen 
durch  das  Verhältnis  der  Zahl  Eins  zui'  Veränderlichen  x.  An 
der  Stelle  v  =  iVi  =log  1  =  0  ist  die  Intensität  der  Verschiedenheits- 
„Zunahme"  im  Verhältnis  zum  Wachstum  der  Veränderlichen  x 
durch  die  Zahl  1  gemessen. 

Eine  direktere  Bedeutung  haben  diese  Erwägungen  für  die  Än- 
derung der  Zahl  x,  und  noch  mehr  für  eine  tatsächliche  Verände- 
rung eines  Realen  z.  B.  eines  räumlich  Ausgedehnten.  Es  seien  etwa 
X  die  Maßzahlen  des  Volumens  eines  rings  eingeschlossenen  Gases. 
Dann  ist  ein  wirkliclier  Veränderungsvorgang  an  dem  Gase  möglich, 

g',  von  der  Größe  der  Einheit  in  der  Geraden  g,  wird  als  einem  Quantum 
anderer  Art,  nämlich  mit  Rücksicht  auf  ihre  Eichtung,  bei  Ausmessung  durch 
das  Einheitsquantum  (-f- Ij  von  g,  die  Zahl  i^  +  )  —  1  als  Maßzahl  zugeordnet. 
Vgl.  oben  §  31,  S.  219. 

')  Die  sich  bei  näherer  Untersuchung  aller  "Wahrscheinlichkeit  nach  auch 
einem  direkten  Verständnis  zugänglich  erweisen  dürfte. 

Meiuong,  üntersucliungen.  16 


242  Ernst  Mally. 

wodurch  es  in  der  Zeit  in  stetiger  Folge  immer  größere  Volumina 
X  einnimmt.  Erfolgen  dann  etwa  in  gleichen  Zeiten  immer  gleiche 
Volum  z  u  n  a  Ii  m  e  n ,  so  ist  die  Größe  der  Änderung  des  Volumens, 
von  dem  Ausgangsvolumen  1  ab,  durch  den  log  x  gemessen,  und 
die  tatsächliche  Geschwindigkeit  der  Veränderung  des  Gases 

durch  das  Verhältnis  -  (für  jedes  eben  erreichte,  besondere  Vo- 
lumen x).  Mit  konstanter  Geschwindigkeit  der  Zunahme 
eines  Quantums  ist  also  eine  abnehmende  Geschwindigkeit 
seiner  Veränderung  gegeben.  Denn  ein  größeres  Quantum 
verändert  sich  weniger  als  ein  kleineres,  wenn  es  um  ein 
gleiches  Quantum  zunimmt.^) 

Aus  der  Tatsache  des  logarithmischen  Verschiedenheitsmaßes 
lassen  sich  folgende  Gesetze  über  Verschiedenheiten  ableiten: 

1)  Die  Verschiedenheit  zweier  Produkte  ist  gleich  dem  Summen- 
quantum der  Verschiedenheiten  ihrer  Faktoren.    Denn:      V     = 

ab     a'b' 

log  a'b'  —  log  ab  =  log  a'  -1-  log  b'  —  log  a  —  log  b  =  (log  a'  — 
log  a)  -|-  (log  b'  —  log  b)  =  V   -j"  V  .  Dieses  Gesetz  ist  die  mathe- 

matische  Formulierung  der  Tatsache,  daß  zwei  Komplexe,  deren 
jeder  untereinander  gleiche  Bestandstücke  besitzt,  voneinander 
so  verschieden  sind  wie  ihre  Komplexionen  (oder  die  reinen  Kom- 
plexe) und,  hinsichtlich  ihrer  Bestimmungsgegenstände,  so  ver- 
schieden wie  ihre  Bestandstücke. 

1')  Ist  insbesondere  ab  =  a'b',  so  ist    V     ^  V  4-  V     =  0 ;  denn 

'  '  ab     a'b'         a     a'    '    b     b'  ' 

a'  b' 

es  ist  (log  a'  —  log  a)  +  (log  b'  -  log  b)  =  0.  oder  log  — j-  log  -^j- 

a  D 

=  0,  oder  log  —  =  —  log  -t-,  oder  log  —  =  log  ,-     weil  —=:  —  ). 
a  •=   b  a         *"  b'   \  ab'/ 


^)  lu  eiuem  wohl  beinerkeuswerteu  Ziisammeiibarige  mit  dem  oben  abge- 
leiteten Ve r schieden heitsraaG  einerseits  und  andererseits  mit  der  im  Vor- 
hergehenden versuchten  Begriffsbestimmung  der  Arbeit  steht  die  bekannte  Tat- 
sache, daß  die  Arbeit  der  Kompression  eines  Gases  (bei  konstanter  Temperatur) 

gemessen  ist  durch  die  Formel  v,  pi  log  — .  wenn  Vi  das  Volumen  vor,  Vj  das 

Volumen  nach  der  Kompression  bedeutet  und  pi  die  Spannung  vor  der  Kom- 
pression. Hier  erscheint  als  letzter  Faktor  geradezu  die  MaGzahl  der  Ver- 
änderung,   die   das   Gas  durch   den   realen  Prozeß   der  Kompression   erleidet, 

(und  die  der  Änderung  der  Spannung,   log  — ,  entgegengesetzt  gleich  ist). 

Pi 


Zur  Gegenstaiidstheorie  des  Messens.  243 

D.  h.  die  Verschiedenheit  koinzidierender  Produkte  ist  Null,  denn 
koinzidierende  Zahlen  sind  von  gleicher  relativer  Größe. 

2)  Die  Verschiedenheit  zweier  Quotienten  ist  gleich  dem  Diffe- 
renzquantum der  Verschiedenheit  der  Zähler  und  der  Verschieden- 

heit  der  Nenner.    Denn  es  ist:     V  ,  =  log  t-,  —  log  t-  ^=  log  a'  — 

1)  b- 

log  b'  —  log  a  4-  log  b  =  (log  a'  —  log  a)  —  (log  b'  —  log  b)  = 
V   —  V   .    Dieses   Gesetz  ist   die   mathematische  Formulierung 

a     a'         b     b' 

folgender  allgemeineren  Tatsache :  Die  Verschiedenheit  eines  Gegen- 
standes A  l  =  y-L  der  mit  einem  (fiktivenj  Bestandstücke  eines 
impliziten  Komplexes  (a)  aus  lauter  (b)  Bestandstücken  A  koin- 
zidiert,  von  einem  Gegenstande  A'  (=t-J)  der  mit  einem  (fik- 
tiven) Bestandstücke  eines  impliziten  Komplexes  (a')  aus  lauter 
(b')  Bestandstücken  A'  koinzidiert,  ist  das  Diiferenzquantum  von  der 
Verschiedenheit  der  beiden  impliziten  Komplexe  (a  und  a')  und 
der  Verschiedenheit  der  Komplexionen  (b  und  b'),  worin  jeder 
dieser  Gegenstände  einen  mit  dem  betreffenden  impliziten  Kom- 
plexe koinzidierenden  Komplex  (A.b  =  a,  bzw.  A'-b'  =  aO  kon- 
stituiert. 

Mit  jeder  Verschiedenheit  koinzidiert  eine  Ähnlichkeit 
zwischen  denselben  Gliedern.  Mit  gleichen  Verschiedenheiten 
koinzidieren  gleiche  Ähnlichkeiten,  mit  gleich  verschiedenen  Ver- 
schiedenheiten gleich  verschiedene  Ähnlichkeiten.  Das  erstere 
ist  evident,  das  letztere  bedürfte  allerdings  erst  eines  Beweises 
und  ist  hier  einstweilen  nur  als  die  einfachste  Beziehung  zwischen 
Verschiedenheits-  und  Ähnlichkeitsgrüße  angenommen  worden.  — 
Nach  diesen  Voraussetzungen  besteht  zwischen  Verschiedenheit 
und  koinzidierender  Ähnlichkeit  direkte  Zuordnung.  Da  aber  mit 
größerer  Verschiedenheit  kleinere  Ähnlichkeit  und  insbesondere 
mit  unendlich  wachsender  Verschiedenheit  der  Null  ohne  Ende 
sich  nähernde  Ähnlichkeit  koinzidiert,  kann  diese  direkte  Zuord- 
nung nur  so  bestehen,  daß  mit  einer  Verschiedenheitsänderuug 
eine  Ähnlichkeitsänderung  gleichen  Betrages  aber  entgegen- 
gesetzt e  r  R  i  c  h  t  u  n  g  koinzidiert.    Dieser  Tatsache  wird  genüge 

getan,  wenn   als  Maß   der  Ähnlichkeit  der   „reziproke  Wert"'   der 

16* 


244 


Ernst  Mally. 


Maßzahl  der  koiuzidierenden  Verschiedenheit  betrachtet  wird. 
Demnach  ist  insbesondere  die  Ähnlichkeit  zweier  Zalilen  oder 
zweier  Quanta  mit  den  Maßzahlen  a  und  b   gemessen  durch  die 

d.   h.   durch   den   absoluten  Betrag  des 


Zahl    . 1      , 

log  a  —  log  b 

reziproken  Wertes  der  Logarithmenditterenz.    Durch  das  positive 

oder  negative  Vorzeichen   dieser  j\Iaßzalil  wäre  dann  die  mit  der 

Ähnlichkeit  koinzidierende,  fiktive  „Annäherung"  des  b  an  a  oder 

des  a  an  b,  auch  ihrer  Richtung  nach,  bestimmt. 

§  37.  Messung  der  einfachen  Quanta,  die  keine 
echten  Qualitäten  sind. 

Eine  fiktive  Qualität,  die  mit  einer  relativen  Bestimmung 
wesentlich  koinzidiert,  ist  ein  Quantum,  wenn  die  wesentlich 
koinzidierende  Relation  ein  Quantum  ist.  Dann  besteht  direkte 
Zuordnung  zwischen  Relation  und  fiktiver  Qualität.  Denn  die 
letztere  ist  nichts  anderes  als  die  Relation  als  Qualität  an  einem 
ihrer  Inferiora.  Eine  solche  fiktive  Qualität  ist  also  an  dei- 
wesentlich  koiuzidierenden  Relation  gemessen;  ihre  Messung  ist 
auf  die  Messung  einer  Qualität  zwischen  Gegenständen  zurück- 
geführt. 

Ein  Beispiel  bietet  die  „Verschiedenheit  eines  Gegenstandes 
A  von  einem  Gegenstande  B".  Sie  ist  durch  die  Verschiedenheit 
zwischen  A  und  B  vollständig  als  Quantum  bestimmt.  Das  posi- 
tive oder  negative  Vorzeichen,  das  der  Verschiedenheitsrelation 
nicht  zukommt,  bedeutet  auch  keine  Größenbestimmung  an  der 
wesentlich  koiuzidierenden  fiktiven  Qualität,  sondern  eine  relative 
Bestimmung  an  ihr,  nämlich  ihr  Zusammengegebensein  mit  einer 
(möglichen  oder  fiktiven)  Veränderung  bestimmter  Richtung. 

Eine  fiktive  Qualität  kann  auch  ein  Quantum  sein,  wenn  der 
bestimmende  Gegenstand  der  wesentlich  koiuzidierenden 
relativen  Bestimmung  ein  Quantum  ist.  Dann  ist  die  fiktive 
Qualität  durch  das  bestimmende  Quantum  auch  als  Quantum  be- 
stimmt und  ihre  Messung  durch  Messung  des  bestimmenden 
Quantums  zu  leisten. 

Die  fiktive  Qualität  „Fähigkeit  eines  Gegenstandes  A  zu 
B"   ist  durch  das  Korrelat  B  vollständig  bestimmt.     Fähigkeiten 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  245 

sind  voneinander  so  verschieden  wie  ihre  Korrelate,  d.  h.  ihre  be- 
stimmenden Gegenstände.  Ist  insbesondere  das  Korrelat  einer 
Fähigkeit  ein  Quantnm,  so  ist  das  Quantum  der  Fähigkeit  ihm 
direkt  zugeordnet.') 

Die  Energie  oder  die  Fähigkeit  zu  einer  Arbeit  ist  dem 
Arbeitsquantum  direkt  zugeordnet.  Ist  der  Fähigkeit  zum  Ein- 
heitsquantum der  Arbeit  die  Zahl  Eins  zugeordnet,  so  ist  jedes 
Energiequantum  durch  die  Maßzahl  des  Arbeitskorrelates  selbst 
gemessen. 

Die  Fälligkeit  zu  psychischer  Arbeit  ist  psychische 
Energie.-)  Psj^chische  Arbeit  ist  ein  Veränderungsvorgang 
unter  Aufwand  von  psychischer  Spannung  oder  das  Aufwenden 
psychischer  Spannung  in  einem  Veränderungs Vorgänge.^)  Sie  ist 
günstigenfalls  an  außerpsychischen  Gegenständen,  als  Surrogaten, 
meßbar. 

Die  Kraft,  oder  die  Fähigkeit  Spannung  zu  bewirken  oder 
einer  Masse  „Beschleunigung  zu  erteilen",  ist  an  ihrem  Korrelate, 
der  Spannung,  gemessen.  Ihre  Messung  läßt  sich  also  durch 
Messung  von  Massen  und  Beschleunigungen  vollziehen. 

Der  Wert  eines  Gegenstandes,  oder  seine  Fähigkeit  Gegen- 
stand eines  "Wertgefühles  zu  sein,  kann  an  der  Größe  der  ihm 
korrekten  Werthaltung  gemessen  werden.*) 

Die  Wahrscheinlichkeit  wird  gemessen  durch  (die  „rela- 
tive Häufigkeit"  oder)  das  Verhältnis  der  Anzahl  der  ,.günstigen" 
Fälle  zur  Anzahl  der  möglichen  Fälle.  Sie  ist  daher  bestimmt 
als  ein  dem  fiktiven  (relativen)  Quantum  eines  Verhältnisses 
zweier  Mengen-  (speziell  Zahl-)  komplexe  direkt  zugeordnetes 
Quantum.  Die  j\[enge  der  determinierten  fiktiven  Objektive,  die 
als   einander   koordinierte   (gleich  mögliche)   besondere  Fälle  mit 


')  Es  hat  ganz  den  Anschein,  daß  für  diese  Sätze  ein  Beweis  nicht  erbracht, 
aber  auch  nicht  gefordert  werden  könne,  weil  sie  Tatsachen  enthalten,  die  in 
dem  nun  einmal  angenommenen  Sosein  der  fiktiven  Qualität  „Fähigkeit"  eben 
mit  angenommen  werden.  Tatsächlich  entsprechen  diese  Bestimmungen  dem  ge- 
wöhnlichen Fähigkeitsbegriffe. 

'-=)  Vgl.  oben,  Kap.  IV,  §  26. 

•'')  Vgl.  oben,  Kap.  IV,  §  26,  auch  die,  meines  Wissens,  erste  Definition  der 
psychischen  Arbeit,  die  Höfler  in  der  schon  genannten  Abhandlung  gibt. 

*)  Vgl.  oben,  Kap.  IV,  §  26. 


246  Ernst  Mally. 

einem  minder  determinierten  (fiktiven)  Objektive  0,  als  ihrem  all- 
gemeinen Falle,  wesentlich  koinzidieren,  heißt  der  „Spielraum"  ^)  des 
Objektives  0.  Ist  nun  0'  ein  dem  0  subordiniertes  spezielles 
Objektiv,  so  ist  sein  Spielraum  kleiner  als  der  von  0:  er  stellt 
die  Menge  der  j.günstig-en"  Fälle  dar,  während  der  Spielraum  von 
0  die  Menge  der  ,.möglichen"  Fälle  ist,  d.  h.  die  Menge  der  fik- 
tiven Objektive  einer  besonderen  Art,  die  ihrer  Beschaffen- 
heit nach  überhaupt  mit  einem  mit  0  koinzidierenden  impli- 
ziten Objektive  (als  einer  Tatsache)  koinzidieren  können.  ^^'  e  n  n 
nun  0  mit  irgendeinem  impliziten  Objektiv,  d.  h.  mit  einer  Tatsache 
wesentlich  koinzidiert ,  so  ist  es  melir  oder  weniger  wahrschein- 
lich, daß  diese  Tatsache  speziell  mit  0',  also  mit  irgendeinem  der 
Objektive  des  Spielraumes  von  0',  wesentlich  koinzidiert.  Im  Grenz- 
falle der  Gleichheit  des  Spielraumes  von  0'  mit  dem  Spielräume  von 
0  ist  dieses  Koinzidieren  gewiß:  dann  heißt  0'  ein  gewisses 
Objektiv.  Die  Fähigkeit  oder  Eignung  von  0',  mit  einer  Tatsache 
zu  koinzidieren,  ist  in  diesem  FaUe  maximal.  "Wird  dieser,  mit 
Gewißheit  koinzidierenden  Wahrscheinlichkeit  eine  Zahl,  z.  B. 
Eins,  zugeordnet,  so  muß  jeder  anderen  Wahrscheinlichkeit  eine 
Zahl  zugeordnet  werden,  die  von  Eins  so  verschieden  ist,  wie  diese 
"\\'ahrscheinlichkeit  vom  Wahrscheinlichkeitsmaximum.  Es  sei  o 
die  Zahl  von  der  Mengenkomplexion  des  Spielraumes  von  0,  also 
,.Maßzahl''  des  fiktiven  Quantums  dieser  Menge,  o'  ,.Maßzahl"  des 
Spielraumes  von  0'.  Wenn  nun  0  mit  einem  (fiktiven)  Quantum 
von  0  ,.möglichen  Tatsachen"  (d.  h.  als  Tatsachen  bestimmten,  be- 
sonderen fiktiven  Objektiven)  koinzidieren  kann,  so  ist  seine 
Eignung,  tatsächlich  zu  sein  (d.  h.  mit  einem  besonderen  impli- 
ziten Objektive  zu  koinzidieren),  diesem  fiktiven  Quantum,  der 
Menge  der  „möglichen  Tatsachen"  direkt  zugeordnet.-)  Ent- 
sprechend ist  die  Eignung  des  Objektives  0',  mit  einer  Tatsache 
zu  koinzidieren,  dem  Spielräume  von  0',  also  der  Zahl  o'  direkt 
zugeordnet.  Da  nun  als  Maßzahl  der  Wahrscheinlichkeit  von  0, 
wenn  ein  0  tatsächlich  ist,  die  Zahl  Eins  festgesetzt  "^iirde,  so 
ist  die  Maßzahl  w  der  Wahrscheinlichkeit  von  0'  von  der  Maßzahl 


^)  Vgl.  Meinongs  Besprecbimg  von  J.  v.  Kries  „Priuzipien  der  Wahrschein- 
lichkeitsrechnung."    Gott.  gel.  Anz.  1890,  S.  59  ff.,  68 ff. 

^)  Die  fiktive  Qualität  „Fähigkeit"  ist  ihrem  bestimmenden  Gegenstände, 
auch  als  Quantum,  direkt  zugeordnet.    Vgl.  oben,  Kap.  IV,  §  26. 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  247 

Eins  so  verschieden,  wie  die  Zahl  o'  von  der  Zahl  o.    Es  ist  also 

0' 

log  w  —  log  1  =  log  o'  —  log  0,  daher :  w  =  — ,  d.  h. :  Die  W  a  h  r  - 

scheinlichkeit  des  Objektives  0'  für  den  Fall,  daß  0 
besteht,  ist  gemessen  durch  die  Verhältniszahl  des 
Spielraumes  (o')  von  0'  zum  Spielräume  (o)  von  0. 


YIL  Kapitel. 
Allgemeiues  über  Messiingsobjektive. 

§  38.  Allgemeine  Messungsobjektive.    Das  Wesen  des 

Messens. 

Jedes  Messungsobjektiv  ist  eine  Bestimmung  eines  Quantums 
durch  einen  expliziten  Zahlkomplex  von  Maßquantis. 

Zwischen  dem  Objekt  der  Messung,  als  dem  Bestimmungs- 
gegenstande, und  dem  expliziten  Komplex  der  Maßquanta,  als  dem 
bestimmenden  Gegenstande,  besteht  Koinzidenz. 

Das  teilbare  Objekt  der  Messung  ist  selbst  ein  Komplex; 
zwischen  ihm  und  dem  bestimmenden  Maßkomplex  besteht  voll- 
ständige Koinzidenz.  Das  Messungsobjektiv  Q  =  aQ^  ist 
ein  Soseinsobjektiv,  worin  der  explizite  Maßkomplex  aQ^  der 
totale  bestimmende  Gegenstand  ist.  Z.  B.:  Ein  Meter  sind  10 
Dezimeter.  Oder:  das  sind  100  Liter;  d.  h.  diese  Menge  besteht 
aus  100  Literquantis. 

Das  unteilbare  Objekt  der  Messung  ist  selbst  kein  Kom- 
plex ;  zwischen  ihm  und  dem  bestimmenden  Maßkomplex  besteht  nur 
partielle  oder  unvollständige  Koinzidenz.^)  Das  Messungs- 
objektiv Q  =  aQi  ist  hier  tatsächlich  n  u  r  eine  relative  Bestim- 
mung, nämlich,  daß  Q,  das  Objekt  der  Messung,  vom  Einheits- 
quantum Qi  so  verschieden  ist  wie  die  Maßzahl  a  von  Eins,  oder  daß 
Q  in  bezug  auf  Qj  die  relative  Größe  der  reinen  Zahl  a  hat.  Mit 
dieser  tatsächlichen  relativen  Bestimmung  koinzidiert  wesentlich  die 
fiktive  vollständige  Koinzidenz,  in  deren  Form  das  Messungs- 
objektiv ausgesprochen  wird:  Q  =  aQ^  oder:  Q  koinzidiert  (fik- 
tiver weise)   vollständig  mit  dem   expliziten  Maßkomplex  aQj. 


Vgl.  oben,  Kap.  I.  §  9. 


248  Ebnst  Mälly. 

Damit  ist  zugleich  das  Objektiv  gegeben,  daß  Q  die  Größe  des 
fiktiven  Quantums  aQi  hat.  Ein  gleiches  gilt,  -w'enn  das  un- 
teilbare Quantum  als  Funktionsquantum  irgendwelcher  anders- 
artiger Quanta  bestimmt  ist.  Z.  B.:  Q  =  aqi-bq'i  =  ab-q^q'^  = 
c-qiq'i-  Dann  besteht  tatsächlich  nur  die  relative  Bestimmung, 
daß  Q  von  seinem  Einheitsquantum  so  verschieden  ist,  wie  die 
reine  Zalil  c  von  Eins  oder  wie  das  Produkt  a.b  von  Eins,  wenn 
das  Einheitsquantum  von  Q  das  Produktquantura  von  qi  und  q'^ 
ist.  So  bedeutet  p  =  3mi.2ai  =  em^ai,  daß  die  Spannung  p  von 
ihrem  Einheitsquantum  p^  so  verschieden  ist,  wie  2X3  =  6  von  1, 
wenn  ihr  Einheitsquantum  jene  Spannung  ist,  die  durch  die  Ein- 
heitsquanta  m^  (der  Masse)  und  a^  (der  Besclileunigung)  bestimmt 
wird.  Dann  hat  p  die  Größe,  die  dem  fiktiven  Quantum  6pi  := 
em^aj  zugeschrieben  wird;  es  hat  in  bezug  auf  Pj  die  relative 
Größe  der  Zahl  6. 

M  i  t  der  vollständigen  Koinzidenz  zwischen  teilbarem  Quan- 
tum und  bestimmendem  Maßkomplex  ist  auch  die  relative  Be- 
stimmung gegeben,  daß  das  gemessene  Quantum  vom  Einheits- 
quantum so  verschieden  ist,  wie  seine  Maßzahl  von  Eins.  Das 
gemessene  teilbare  Quantum  hat  die  Größe  des  Maßkomplexes,  da- 
her auch  in  bezug  auf  das  Einheitsquantum  die  relative  Größe 
seiner  Maßzahl.  Diese  relativen  Bestimmungen  bestehen  also 
sowohl  im  Falle  der  Teilbarkeit  als  im  Falle  der  Unteilbar- 
keit des  Objektes  der  Messung;  sie  sollen  darum  allgemeine 
Messungsobjektive  genannt  werden.    Es  ergibt  sich  also: 

Ein  allgemeines  Messungsobjektiv  Q^aQi  ist  das 
Objektiv,  daß  das  Objekt  Q  der  Messung  vom  Einheits- 
quantum Qi  so  verschieden  ist  wie  seine  Maßzahl  a 
von  der  Zahl  Eins;  oder:  daß  das  Objekt  der  Messung 
in  bezug  auf  ein  bestimmtes  Quantum  (als  Einheits- 
quantum) die  relative  Größe  einer  (echten  oder  fiktiven) 
reinen  Zahl  hat,  welche  seine  Maßzahl  heißt.  Durch  ein 
allgemeines  Messungsobjektiv  Q  =  aQj  ist  die  Bezieliung  der  Ver- 
schiedenheitsgleichheit oder  direkten  Zuordnung 
zwischen  den  mit  dem  Objekte  der  Messung  gleichartigen 
Quantis  Q   und   deren  Maßzahlen    a   festgelegt:    ^'V'    =_^V  oder 

-TT  -r-r  ^  -  t|J  ^  l  &  1 


Zur  Gegeustandstheorie  des  Messens.  249 

Da  koiuzidierende  Zahlen  gleiche  relative  Größe 
haben,  so  sind  durcli  koinzidierende  Maß  zahlen 
irgendwelcher  (auch  verschiedenartiger)  Quanta  gleiche 
relative  Größen  der  zugeordneten  Quanta  bestimmt. 
Dieses  allgemeine  Größengesetz  und  jedes  einem  speziellen 
Koinzidenzgesetze  für  reine  Zahlen  entsprechende  spezielle 
Größengesetz  gilt  für  Quanta  jeder  Art  als  ein  allgemeines 
Messungsobj  ektiv. 

Jedes  Messungsobjektiv  ist  die  Bestimmung  einer  Ver- 
schiedenheitsgleichheit.  nämlich  zwischen  dem  Objekt  der 
Messung  und  seinem  Einheitsquantum  einerseits,  der  Maßzahl 
und  der  Zahl  Eins  andererseits;  aber  nicht  jede  Bestimmung 
einer  Verschiedenheitsgleichheit  ist  ein  Messungsobjektiv.  Besteht 
z.  B.  die  gleiche  Verschiedenheit  zwischen  zwei  Farben  A  und 
Aj  einerseits  und  zwei  anderen  Farben  B  uud  Bj  andererseits, 
so  ist  V    =  V    :   doch  ist  diese  Beziehunff  der  Verschiedenheits- 

A     Ai         B     B, 

gleichheit  zwischen  den  Gegenständen  A  und  den  Gegenständen 
B  kein  Messungsobjektiv.  Nur  jene  Bestimmungen  einer  Ver- 
schiedenheitsgleichheit sind  Messungsobjektive,  deren  Objekte 
Quanta  sind;  denn  Messen  ist  ein  Bestimmen  der  Größe  oder 
hinsichtlich  der  Größe. 

Es  kann  jedoch  auch  ein  Xichtquantum  durch  ausreichende 
Angabe  seiner  Verschiedenheit  von  einem  anderen,  vorgegebeneu 
Gegenstände  bestimmt  werden,  Ist  dabei  die  das  Xichtquantum 
bestimmende  Verschiedenheit  (durch  eine  andere  Verschiedenheit 
zwischen  gleichartigen  Gegenständen)  gemessen,  also  durch  ein 
Messungsobjektiv  bestimmt,  so  liegt  eine  Bestimmung  des  Nicht- 
quantums  vor.  die  zwar  keine  Messung  an  ihm  ist,  aber  durch 
Messung  (der  Verschiedenheit  zwischen  Nichtquantis)  vermittelt 
ist,  daher  eine  messungs ähnliche  Bestimmung  genannt 
werden  kann.  Solche  messungsähnliche  Bestimmungen  von  Nicht- 
quantis sind  z.  B,  die  Bestimmungen  von  Punkten  des  Raumes 
durch  die  an  Strecken  als  Messungssurrogaten  geleistete  Aus- 
messung ihrer  Distanzen,  d,  h,  Verschiedenheiten  von  be- 
stimmten anderen  Punkten,  etwa  den  Punkten  der  Aclisen  eines 
Koordinatensystemes.  Diese  „analytische"  Bestimmung  von  Punkten 
—   und   Mannigfaltigkeiten    derselben    und    dadiu'ch    bestimmten 


250 


Ernst  Mally. 


Kontinuen  —  ist  nicht  auf  den  Raum  im  engeren  Wortsinue 
beschränkt,  sondern  findet  in  jedem  Räume  in  ihrer  Weise 
statt,  z.  B.  im  Farbenraume.  im  Tonraume  usw.  Durch  eine 
messung-sähuliche  Bestimmung  von  der  in  Rede  stehenden  Art 
ist  dem  Bestimmungsgegenstande  A  die  Maßzahl  v  der  Ver- 
schiedenheit   (  V    =v)   des  Bestimmungsgegenstandes   von    dem 

VA     Ai  ^ 

bestimmten  (konkreten)  Vergleichsgegenstande  A^  indirekt  zu- 
geordnet.   Denn  zwischen  zwei  Bestimmungsgegenständen  A.,  A 

besteht  im  allgemeinen  eine  andere  Verschiedenheit  als  zwischen 
den    zugeordneten    Verschiedenheitsmaßzahlen    v    und   v  .      Eine 

"  1  k 

solche  indirekte  Zuordnung  besteht  z.  B.  zwischen  den  Punkten 
des  Raumes  und  ihren  (Cartesischen)  Koordinaten,  d.  h.  den 
Maßzahlen  ihrer  Abstände  von  bestimmten  Punkten  der  Koordi- 
natenachsen. 

Es  ist  oben  ausgesprochen  worden,  daß  das  Objektiv  der 
Verschiedenheitsgleichheit  nur  dann  ein  Messungsobjektiv  genannt 
werden  kann,  wenn  es  ein  Quantum  bestimmt  also  eine 
Größenbestimmung  ist.  Daran  knüpft  sich  die  Frage,  ob 
jede  Größenbestimmung  ein  Messungsobjektiv  ist.  Man  nennt 
nun  Messen  wohl  nur  ein  Bestimmen  eines  Quantums  oder  einer 
Größe  durch  das  relative  Quantum  oder  die  relative  Große  einer 
zugeordneten  Zahl.  Sofern  es  also  Größenbestimmungen  gibt,  die 
nicht  von  dieser  Art  sind,  gibt  es  Größenbestimmungen,  die  ohne 
eine  Bedeutungsänderung  des  Wortes  nicht  als  Messungsobjektive 
bezeichnet  werden  können.  Eine  Größenbestimmung,  die  kein 
Messungsobjektiv  ist,  enthält  z.  B.  die  Festsetzung  einer  Quantums- 
einheit als  des  Quantums  eines  konkreten  Gegenstandes,  etwa  des 
Meteretalons  in  Paris. 

Nach  diesen  Bestimmungen  läßt  sich  das  Wesen  des  Messens 
im  allgemeinen  auf  folgende  Weise  delinieren: 

Messen  heißt  die  Größe  eines  Gegenstandes  in 
bezug  auf  ein  anderes  Quantum  durch  die  relative 
Größe  einer  Zahl  bestimmen.  Ist  das  Maßquantum  be- 
stimmt (konkret),  so  ist  durch  die  Messung  die  absolute,  sonst  nur 
die  relative  Größe  des  zu  messenden  Objektes  bestimmt.  Die 
(relative)  Größe  des  zu  messenden  Gegenstandes  ist  durch  die 
Maßzahl   vollständig    bestimmt,    nämlich    als    relative    Größe, 


Zur  Gegeustaudstheorie  des  Messens.  251 

welche  dieser  Zahl  (in  beziig-  auf  die  Zahl  Eins)  zukommt.  Unter 
relativer  Größe  ist  die  Größe  eines  Geg-enstandes  zu  verstehen, 
sofern  sie  durch  sein  (bestehendes  oder  fiktives)  Verhältnis  zu 
einem  anderen  bestimmt  ist.  Das  Verhältnis  eines  Geg:enstandes 
zu  einem  anderen  ist  als  echte  oder  fiktive  Zahlkomplexiun  mit 
der  Verscliiedenheit  zwischen  den  Gegenständen  gegeben. 
Jedoch  ist  das  Messen  nicht  als  „Bestimmen  der  Größe  eines 
Gegenstandes  durch  Bestimmung  seiner  Verschiedenheit  von 
einem  anderen  Quantum"  definiert  worden.  Denn  die  Verschieden- 
heitsgleicliheit  zwischen  Gemessenem  und  Maß  einerseits,  der 
Maßzalü  und  Eins  andererseits  ist  zwar  ein  Messungsobjektiv, 
allein  sie  ist  nicht  das  Objektiv,  auf  dessen  Erfassen  der  Vorgang 
des  Messens  zunächst  und  normalerweise  gerichtet  ist.  Nächstes 
Messimgsobjektiv  ist  vielmehr:  „daß  der  Gegenstand  Q  so  groß  ist 
wie  das  (echte  oder  fiktive)  Quantum  des  expliziten  Zahlkomplexes 
aQi",  oder  „daß  Q  im  Verhältnis  zu  Q^  die  Größe  a  hat",  d.  h. 
die  relative  Größe  der  Maßzalü  a. 

Seiner  Natur  nach  (oder  „theoretisch")  meßbar  ist  demnach 
hinsichtlich  seiner  relativen  Größe  jedes  Quantum.^)  Denn 
zu  jedem  Quantum  Q  gibt  es  irgendein  Quantum  Q,,  wovon  jenes 
so  verschieden  ist  wie  eine  bestimmte  reine  Zahl  a  von  Eins. 
Aber  nicht  zu  jedem  Quantum  Q  gibt  es  ein  bestimmtes  (kon- 
kretes) Quantum  Q^.  das  ihm  gegenüber  Maßquantum  sein  kann. 
Es  ist  also  jedes  Quantum  seiner  relativen  Größe  nach,  aber 
nicht  jedes  seiner  a  b  s  o  1  u  t  e  n  G  r  ö  ß  e  nach  meßbar.  Die  Bedingung 
der  absoluten  Meßbarkeit  ist  E  n  d  1  i  c  h  k  e  i  t  des  Quantums.  End- 
lich ist  jedes  konkrete  Quantum  -^  daher  auch  jedes  Quantum,  das 
von  einem  konkreten  eine  konkrete  Verschiedenheit  hat.  Konkret 
ist  ein  Quantum,  wenn  seine  Größe  konkret  ist.  Die  Konkretheit 
einer  Größe  läßt  sich  nicht  definieren,  doch  kann  zu  ihrer  Kenn- 
zeichnung angeführt  werden,  daß  jede  konkrete  Größe  nur  eine  ist. 

§  39.   Die  Größenreihe.     Ihre  Darstellung. 

Die  reinen  Quant a  können  sich  durch  nichts  anderes  als 
durch  ihre  Größe  unterscheiden.    Zu  jeder  Größe  gibt  es  nur  ein 


1)  Die  Bedinguug  der  Meßbarkeit  ist  für  teilbare  Quanta  schon  (§  30)  auf- 
gestellt worden  und  muß  nun  nur  mehr  auf  alle  Quanta  ausgedehnt  werden. 


252  Ernst  Mally. 

reines  Quantum,  dem  sie  zukommt;  zu  jedem  reinen  Quantum  nur 
eine  Größe,  die  ihm  zukommt.  Alle  reinen  Quanta  bilden  eine 
stetige,  jsrerade  Eeihe  mit  der  Grenze  Null,  d.  h.  eine  Quantums- 
reihe.  In  dieser  Reihe  nimmt  jedes  reine  Quantum  die  Stelle  ein, 
die  ihm  vermöge  seiner  Größe  zukommt:  die  reine  Quantums- 
reihe koinzidiert  mit  der  Reihe  aller  Größen.  Es  gibt  nur 
eine  Reihe  der  Größen;  sie  ist  stetig  und  gerad  und  grenzt  an 
die  unmögliche  Nullgröße.  Die  Nullgröße  koinzidiert  wesent- 
lich mit  dem  Nichtssein  ihres  Gegenstandes;  sie  selbst  aber 
ist  nicht  Null  oder  Nichts.^)  Die  Reihe  der  Größen  grenzt  also 
nicht  (wie  die  mit  ihr  punktweise  koinzidierende  Quantums- 
reihe) an  die  Null;  sie  kann  daher  nicht  selbst  wieder  als  eine 
Quantumsreihe,  die  Eigenschaft  Größe  nicht  selbst  als  ein  Quantum 
betrachtet  werden. 

Determinierte  Quanta  können  sowohl  durch  ihre  Größe 
als  auch  durch  den  Bestimniungsgegenstand  der  Größe  in  mannig- 
facher Weise  verschieden  sein.  Zu  jeder  Größe  gibt  es  ver- 
schiedene Gegenstände,  denen  sie  zukommt.  Zu  jeder  be- 
stimmten Art  von  Gegenständen  A,  denen  überhaupt  Größe  zu- 
kommt, gibt  es  alle  Größen  (der  Größenreihe),  wodurch  die  einzel- 
nen Gegenstände  je  einer  Art  A  bestimmt  werden  können.  Jede 
Art  determinierter  Quanta  (A)  bildet  eine  Quantumsreihe,  worin 
Quanta  anderer  Art  nicht  vorkommen.  Denn  von  einem  be- 
stimmten Gegenstande  A,  der  ein  Quantum  ist,  führt  eine  Änderung 
gegen  Null,  d.  h.  hinsichtlich  seiner  Größe,  nicht  über  einen 
Gegenstand -B,  der  anderer  Art  ist  als  A. -)  Die  Gegenstände 
A  gehören  einer  Quantumsreihe  an,  wenn  von  jedem  bestimmten 
A  bloße  Größenänderung  (ohne  Änderung  in  irgendeiner  anderen 
Hinsicht)  zu  jedem  anderen  A  führt,  also  wenn  sie  sich  nur  durch 
ihre  Größe  unterscheiden.  Von  je  zwei  Gegenständen  A  einer 
Quantumsreihe  ist  immer  einer  größer  als  der  andere,  —  daher  sind 
sie  durcheinander  meßbar.  Von  zwei  Gegenständen  (A  und  B), 
die  verschiedenen  Quantumsreihen  angehören,  ist  keiner  größer 
als  der  andere,  noch  sind  sie  gleich  groß;  denn  weder  führt  von 

')  Die  NullgTöße  ist  allerdings  „eine  Größe,  die  keine  Grüße  ist",  aber  nicht 
„eine  Größe,  die  kein  Gegenstand  ist";  vielmehr  ist  sie  jene  Eigenschaft,  die 
ihren  Träger  zum  Nichtssein  bestimmt. 

'^)  Vgl.  Meikong,  Über  die  Bedeutung  des  Weberschen  Gesetzes.    §  7. 


Zur  Gegeustandstheorie  des  Messeus.  253 

dem  einen  über  den  anderen  eine  gerade  Änderung  zur  Null,  noch 
nehmen  sie  dieselbe  Stelle  in  einer  Quantumsreihe  ein.  Zwei 
solche  verschiedenartige  Quanta  sind  also  auch  nicht  durcheinander 
meßbar. 

Dagegen  gehören  alle  reinen  Quanta  einer  Reihe  an.  Sie 
sind  alle  durcheinander  meßbar.  Wäre  es  möglich,  die  mit  ver- 
schiedenartigen Gegenständen  (A.  B)  koinzidierenden  reinen 
Quanta  zu  erfassen,  so  wäre  es  auch  möglich,  sie  durcheinander 
zu  messen.  Jedoch  wären  auch  in  diesem  Falle  nicht  die  ver- 
schiedenartigen determinierten  Quanta  (A,  B)  sondern  eben 
nur  die  mit  ihnen  koinzidierenden  reinen  Quanta,  eines  durch  das 
andere,  gemessen.  Statt  des  (direkten)  Erfassens  von  reinen  Quantis, 
die  mit  verschiedenartigen  determinierten  Quantis  koinzidieren, 
ist  unter  günstigen  Umständen  das  Erfassen  gewisser  determinierter 
Quanta  gleicher  Art  ausführbar,  die  mit  jenen  verschieden- 
artigen koinzidieren.  Z.  B.  wird  zur  Ausmessung  einer  krummen 
Linie  die  gerade  Linie  erfaßt,  die  mit  demselben  Mengenkomplex 
der  unbestimmten  Linienelemente  koinzidiert,  womit  auch  die 
krumme  Linie  koinzidiert.  Diese  gerade  Linie  nun  koinzidiert 
auch  mit  einem  Zaliikomplex  von  Maßstreckeu;  sie  ist  durch  eine 
Strecke  als  ein  Quantum  derselben  Art  ausmeßbar,  da  sie  sich 
von  ihr  nur  durch  ihre  Größe  unterscheidet.  Durch  solches 
Erfassen  von  gleichartigen  Quantis,  die  mit  den  verschiedenartigen 
koinzidieren,  gelangt  man  zur  Kenntnis  von  Gegenständen,  die 
sich,  wie  reine  Quanta,  nur  hinsichtlich  ihrer  Größe  unterscheiden. 
Die  Verschiedenheit  zweier  solcher  Quanta  ist  die  Verschiedenheit 
ihrer  reinen  Quanta  (oder  ihrer  Größen),  das  durch  diese  Ver- 
schiedenheit bestimmte  Größenverhältnis  ein  Messungsobjektiv  an 
den  reinen  Quantis.  Tatsächlich  ist  also  nicht  ein  determiniertes 
Quantum  A  durch  ein  andersartiges  Quantum  B  gemessen  (z.  B. 
die  Kurve  durch  eine  Strecke),  sondern  das  mit  A  koinzidierende 
reine  Quantum  Q  durch  das  mit  B  koinzidierende  reine  Quantum 
Qi  (z.  B.  das  mit  der  Kurve  koinzidierende  reine  Quantum  durch 
das  mit  der  Strecke  koinziereude). 

Die  Größenreihe  kann  durch  die  Reihe  der  Punkte  einer  Ge- 
raden im  Räume  „dargestellt"  werden.  Eine  räumliche  Dar- 
stellung einer  Mannigfaltigkeit  (bzw.  eines  Kontinuums)  ist  durch 
eine  räumliche  Mannigfaltigkeit  (bzw.  durch  ein  räumliches  Kon- 


254  Ernst  Mally. 

tinimm)  gegeben,  deren  Daten  den  darzustellenden  direkt  zugeordnet 
sind.  Die  Aufgabe,  den  Größen  ®  der  Größenreihe  E(®)  Raum- 
punkte P  zuzuordnen,  die  untereinander  so  verschieden  sind  wie 
die  Größen  untereinander,  ist  jedoch  unlösbar.  Denn  die  Ver- 
schiedenheit @.V^    zweier  Größen  ist  ein  determiniertes  Quantum 

anderer  Art  als  die  Verschiedenheit  p.  Vp  zweier  Kaumpunkte,  da- 
her mit  ihr  nicht  vergleichbar.  Es  lassen  sich  also  nicht  zwei 
Punkte  des  Raumes  angeben,  die  voneinander  so  verschieden  sind 
wie  zwei  bestimmte  Größen,  z.  B.  wie  die  Größe  eines  Meters  von 
der  Größe  einer  Strecke  von  zwei  Metern,  daher  wie  1  von  2.^) 

Zwei  Verschiedenheiten  @.Vg.    und  ^j  V^j      sind    dagegen    nur 

ihrer  Größe  nach  voneinander  verschieden,  daher  hinsichtlich  der 
Größe  vergleichbar;  ihre  Verschiedenheit  V  =V'  ist  die 

Verschiedenheit  der  mit  ihnen  koinzidierenden  reinen  (Verschiedeu- 
heits-)  Quanta,     Ebenso    ist    die    Verschiedenheit  V 

'  V  V 

Pi^Pk    Pl    Pm 

zweier  Punktdistanzen  nur  mehr  eine  Verschiedenheit  V"  der  mit 
ihnen  koinzidierenden  reinen  Quanta,  Zwei  Verschiedenheiten  V 
und  V"  sind  also  untereinander  als  Quanta  derselben  Art,  nämlich 
als  Verschiedenheiten  reiner  Quanta,  wohl  vergleichbar,  — 
Wenn  es  also  auch  nicht  möglich  ist,  den  bestimmten  (konkreten) 
Größen  der  Reihe  R(@)  bestimmte  Punkte  einer  Raumgeraden 
direkt  zuzuordnen,  so  ist  es  doch  möglich,  bestimmten  Größen- 
vers c  h  i  e  d  e  n  li  e  i  t  e  n  „,  V^  bestimmte  R  a  u  m  p  u  n  k  t  d  i  s  t  a  n  z  e  n 

Pj^^Pj.  direkt  zuzuordnen.  Die  Repräsentation  der  Größenver- 
schiedenheiten durch  die  ihnen  direkt  zugeordneten  Raumpunkt- 
distanzen ist  nun  nicht  eigentlich  eine  Darstellung  der 
ersteren  zu  nennen;-)  dagegen  können  die  Punkte  einer  Raum- 
geraden die  ihnen  indirekt  zugeordneten  Daten   der  Größenreihe 


^)  Wäre  das  (in  ausreichend  exakter  Weise)  möglich,  so  hätte  man  in  einer 
80  bestimmten  Punktdistanz  (=iV2  oder  gleich  iVe  oder  dgl.)  eine  Raumdistanzen- 
einheit und  damit  eine  unverlierbare  Maßeinheit  für  Raumstrecken,  die  jedes 
Etalou  entbehrlich  machte. 

^)  Weil  die  Punktdistanzen  keine  räumlichen  Daten  in  der  Raumgeraden 
sind,  sondern  auch  nur  Verschiedenheiten. 


Znr  Gegenstandstheorie  des  Messens.  255 

in  einer  Weise  vertreten ,  die  man  indirekte  Darstellung 
nennen  könnte. 

Eine  solche  indirekte  Darstellung  der  Größenreihe  R(®)  bietet 
die  stetige  Eeihe  E(P)   der  Punkte  einer  Raumgeraden ,  wenn  je 
vier  bestimmten  Größen  @i,  (3k,  &]•  ®m  immer  jene  Punkte  Pi,  Pk, 
Pi.  Pm  zugeordnet  sind,  welche  die  Bedingung 
^    V     ^     =      ^    V     ^ 

erfüllen.  Zugleich  leisten  dann  die  Strecken  zwischen  irgend 
zwei  Punkten,  z.  B.  Pi,  Pk,  in  der  Geraden  eine  direkte  Dar- 
stellung der  fiktiven  Veränderungsstrecken  der  Größe  zwischen 
den  zugeordneten  Größen,  z.  B.  ©i  und  ®k.  und  (wegen  der  direkten 
Zuordnung  von  Veränderungsstrecken  und  Verschiedenheiten  der 
Enddaten)  auch  eine  direkte  Darstellung  der  zugehörigen  Größen- 
verschiedenheiten, z.  B.  ^.V(j,  . —  Um  nun  die  geforderte  Zuordnung 

zwischen  Größen  und  Raumpunkten  zu  treffen,  kann  man  auf 
folgende  Weise  verfahren.  Dem  Quantum  einer  bestimmten  Strecke 
s^  sei  die  Zahl  1  zugeordnet;  dann  ist  jedem  Streckenquantum  s 
eine  bestimmte  Zahl  als  Maßzahl  zugeordnet.  Die  Verschiedenheit 
zwischen  s^  und  einem  bestimmten  andern  Streckenquantum  s..  sei 
die  Verschiedenheitseinheit.  Als  solche  mag  die  Verschiedenheit 
zwischen  s^  und  dem  e-fachen  Quantum  gelten.  Diese  Ver- 
schiedenheit ist  gemessen  durch  den  Logarithmus  der  Verliältnis- 
zahl  der  beiden  Strecken ;  es  ist  also  s>Vs,  =  log  e  =  1 ;  als  Ver- 
schiedenheitsmaß ist  hiermit  der  natürliche  Logarithmus  bestimmt. 
Nun  werden  die  Strecken  s^  =  1  und  s^  =  e  =  2"71828  . . .  normal  zu 
einer  willkürlich  angenommenen  Geraden  XX',  im  Abstände  s^  ==  1 
voneinander  gezogen.  Die  Distanz  ihrer  Fußpunkte  Pj ,  Pj  ist 
der  Verschiedenheit  der  beiden  Streckenquanta  s^Vg,  =  eV^  =  1  zu- 
geordnet. Die  Strecke  P^Po  stellt  die  (fiktive)  Veränderungsstrecke 
g„Vsi=eVi  dar,  zugleich  auch  die  mit  dieser  Veränderungsstrecke 
gegebene  Verschiedenheit  sjVs^  =  eVi.  Diese  Verschiedenheit  der 
gleichartigen  Quanta  s^  und  s^  ist  nun  die  Verschiedenheit  ihrer 
Größen®,  und  @i.  —  Jede  der  Strecken  s  wäre  dann  normal  zu 
XX'  so  aufzutragen,  daß  der  Abstand  ihres  Fußpunktes  P  vom 
Punkte  Pj  (in  bezug  auf  die  Einheit  sj  durch  die  Maßzahl  von 
sVß,  =  log  s  gemessen  ist.     Dann  sind  die  Abstände   der  Fuß- 


256  Ernst  Mally. 

punkte  P  (von  Pi  und  untereinander)  den  Verschiedenheiten 
der  zugehörigen  Streckenquant a  s  (von  s^  und  untereinander) 
maßzahlengleich ,  also  direkt  zugeordnet.  Es  besteht  daher 
auch  direkte  Zuordnung  zwischen  den  Distanzen  der  Punkte 
P  in  XX'  einerseits  und  den  Verschiedenheiten  der  Größen 
©  der  entsprechenden  Streckenquanta  s  andererseits.  \Mrd  nun 
jeder  Punkt  P  von  XX'  der  Größe  ®  der  Strecke  zugeordnet, 
deren  Fußpunkt  er  ist,  so  besteht  zwischen  je  vier  beliebigen 
Punkten,  z.  B.  Pj,  Pg,  P.j,  P^,  und  den  ihnen  zugeordneten  Größen 
®i,  ®2,  ®3J  ®4  die  Beziehung 

\         =         Y     ^   _ 

(Denn  die  Distanzen  der  Punkte  P  sind  durch  die  Konstruktion 
den  Verschiedenheiten  der  Strecken  maßzahlengleich ,  deren  Fuß- 
punkte die  Punkte  P  sind;  und  die  Verschiedenheiten  dieser  Strecken 
sind  eben  die  Verschiedenheiten  ihrer  Größen  @.) 

Ist  der  Fußpunkt  P^  von  s^  in  der  Geraden  XX'  festgelegt, 
so  ist  jeder  andere  Punkt  P  als  Repräsentant  einer  Größe  &  durch 
seinen  Abstand  von  Pj  bestimmt.  Ist  ®  die  Größe  des  Strecken- 
quantums s,  so  ist  der  Abstand  ^V^^  nach  Größe  und  Richtung 
gemessen  durch  die  Zahl  log  s.  Bezeichnet  man  die  mit  ^V^  maß- 
zahlengleiche  Strecke  in  XX'  mit  Vg,  so  ist  v^  =  log  s.    Umgekehrt 

ist  zu  jedem  Punkte  P  in  XX'  vermöge  seines  Abstandes    V  , 

p   Pi 

der  maßzahlengleich  ist  der  Strecke  Vg,  das  Quantum  s   bestimmt, 

dessen  Größe  er  darstellt,  —  und  zwar  durch  die  Gleichung  s  =  e^'*. 
Ist  also  XX'  die  Abszissenachse  eines  rechtwinkligen  Koordinaten- 
systemes  mit  dem  Ursprünge  Pj,  so  liefern  die  stetig  aufeinander- 
folgenden Strecken  s  =  e"^'^  als  Ordinaten  in  der  stetigen  Reihe  ihrer 
oberen  Begrenzungspunkte  die  Gesamtheit  der  Punkte  der  ..Expo- 
nentialkurve". 

Die  Reihe  R(P)  der  Punkte  von  XX'  stellt  nun  die  Größenreihe 
R(®),  daher  auch  die  „Änderungsreihe"  der  Größe  dar.  Die  Gerade 
XX'  ist  also  eine  Darstellung  der  (fiktiven)  Veränderungsgeraden 
der  Größe  und  zugleich  der  ^'eränderungsgeraden  des  variablen 
Quantums  s.  Jede  gleiche  Zunahme  von  v  in  XX'  bedeutet  eine 
gleiche  Veränderung  von  s. 


Zur  Gegenstaudstheorie  des  Messens.  257 

§40.   Reine  Messuiij^sobjektive.    Gegenstandstheorie 
u  n  d  M  a  t  h  e  m  a  t  i  k. 

Messiingsobjektive,  deren  Obj ekte  reine  Quanta  sind, 
heißen  r  e  i  n  e  M  e  s  s  u  n g-  s  o  b j  e  k t  i  v  e.  M  Messiingsobjektive,  deren 
Objekte  determinierte  Quanta  sind,  können  auch  determinierte 
Messungsobjektive  genannt  werden. 

Jedes  reine  Messungsobjektiv  ist  ein  Objektiv  der  (reinen) 
Mathematik.  Jedes  determinierte  Messungsobjektiv  kann  als  ein 
Objektiv  angewandter  Arithmetik,  aber  nicht  jedes  als  ein  Objektiv 
angewandter  Mathematik  überhaupt  bezeichnet  werden.  Denn  die 
Messungsobjektive,  deren  Objekte  geometrische  Raumquanta  sind, 
sind  zwar  Objektive  der  auf  den  Raum  angewandten  Arithmetik, 
aber  doch  Objektive  reiner  Geometrie  und  insofern  auch  reiner 
Mathematik. 

Nicht  jedes  mathematische  Objektiv  ist  ein  Messungsobjektiv. 
Z.  B.  sind  Kombinationslehre  und  die  ganze  nicht  messende 
Geometrie  Zweige  der  Mathematik,  die  sich  nicht  mit  Messungs- 
objektiven beschäftigen. 

Die  in  der  Einleitung  -)  versuchte  vergleichende  Charakteristik 
von  Gegenstandstheorie  des  Messens  und  Mathematik  kann  jetzt 
in  folgender  Weise  ergänzt  werden.  Gegenstandstheorie  des 
Messens  befaßt  sich  mit  den  Messungsobjektiven  überhaupt,  reinen 
und  determinierten ;  mit  deren  Objekten,  den  reinen  und  den  deter- 
minierten Quantis,  und  mit  deren  bestimmenden  Gegenständen, 
den  Zahlen.  Mathematik  betrachtet  außer  den  deteiminierten 
Messungsobjektiven,  deren  Objekte  geometrische  Raumquanta  sind, 
nur  reine  Messungsobjektive,  —  die  Quanta,  außer  den  geo- 
metrischen,'') nur  als  Objekte  reiner  Messungsobjektive,  d.  h.  nui- 
sofem  sie  reine  Quanta  sind,  ihrer  relativen  Größe  nach; 


')  Diese  Bestimmung  des  reinen  MessungsobjektiTes  steht  mit  der  in  Kap.  I, 
§  6  gegebenen  allgemeinen  Definition  des  reinen  Objektives  nicht  in  Widerspruch. 
Denn  die  (fiktiven)  Bestimmungsgegenstände  reiner  Messungsobjektive  sind  aller- 
dings völlig  unbestimmte  Gegenstände,  aber  die  reinen  Messungsobjekte  sind  zu- 
gleich, als  implizite  (oder  fiktiv  implizite)  Eigenschaftsgegenstände  von 
Messungsobjektiven,  als  reine  Quanta  bestimmt. 

»)  Vgl.  oben  §  2. 

'')  Die  auch  in  ihrer  Abhängigkeit  von  der  Gestalt  betrachtet  werden. 

17 
Meinong,  Untersuchungen.  ^' 


258  Ernst  Mallt. 

endlich  betrachtet  sie  auch  die  bestimmenden  Gegenstände,  die 
Zahlen.  Sie  hat  aber  außer  den  Messungsobjektiven  noch  ein 
weites  Gebiet  ihrer  Untersuchungen. 

In  dieser  Verschiedenheit  der  Gegenstände  zeigt  sich  schon 
zum  Teil  der  wichtigere  Gegensatz,  der  zwischen  Gegenstands- 
theorie des  Messens  und  Mathematik  hinsichtlich  der  Art  und 
Weise  besteht,  wie  sie  ihre  Gegenstände  betrachten.  Dieser 
Gegensatz,  der  mir  zwischen  mathematischer  und  gegenstandstheo- 
retischer Forschungsweise  überhaupt  zu  bestehen  scheint,  läßt 
sich  psj'chologisch  etwa  so  kennzeichnen:  Gegenstandstheorie 
untersucht  die  Gegenstände  gegebener  Vorstellungen  und  ins- 
besondere gegebener  Begriffe .  Mathematik  bildet  Begriffe  und 
untersucht  die  in  ihren  Definitionen  angenommenen  Gegenstände. 
Kants  Gegenüberstellung  der  Wissenschaft  „aus  Begriffen"  und 
der  Wissenschaft  „aus  Konstruktion  der  Begriffe"  scheint  dieselbe 
Tatsache  zu  meinen.  Dem  entspricht  es,  daß  die  Gegenstands- 
theorie des  Messens  aus  allen  Gegenständen  diejenigen  aufzu- 
suchen unternimmt,  die  Objekte  oder  bestimmende  Gegenstände 
in  Messungsobjektiven  ihrer  gegebenen  Beschaffenheit 
nach  sein  können,  indes  die  Mathematik  solche  Gegenstände, 
durch  Annahme  ihres  Soseins,  fingiert.  Darum  kommt  für 
die  Gegenstandstheorie  des  Messens  ein  Gegenstand,  der  Größe 
hat,  auch  seinen  anderen  Eigenschaften  nach  in  Betracht,  für 
die  Mathematik  aber  nur  als  Quantum. 

Ein  für  die  Mathematik  charakteristisches  Untersuchungs- 
mittel sind  die  durch  bestimmte  Eegeln  festgesetzten  Operationen, 
insbesondere  die  Kechenoperationen  und  die  geometrischen  Kon- 
struktionen. Jede  solche  Operation  ist  ein  wesentlich  psychischer 
Vorgang  (meist  unter  Anwendung  „mechanischer"  Hilfen),  wodurch 
ein  Sosein  eines  Gegenstandes  angenommen  und  ein  Gegenstand 
des  so  bestimmten  Soseins  erfaßt  wird.  Durch  die  „augezeigte"  Ope- 
ration wird  ein  Sosein  angenommen  und  ein  Gegenstand  als  Gegen- 
stand mit  der  Haupteigenschaft  dieses  Soseins,  explizit,  gedacht, 
z.  B.  ein  expliziter  Zahlkomplex  2X3,  oder  der  explizite  Gestalt- 
komplex „Dreieck  mit  den  Seiten  a.  b,  c,").  Durch  die  ausgeführte 
Operation  wird,  falls  sie  ausführbar  ist,  ein  mit  dem  expliziten 
Gegenstande  des  angenommenen  Soseins  koinzidierender  (impliziter) 
Gegenstand  erfaßt.  z.B.  6,  oder  das  Ergebnis  der  Dreieckskonstruktion, 


Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens.  259 

als  implizite  Komplexe.  Ist  die  Operation  nicht  ausführbar,  so 
wird  durch  ihre  fiktive  Ausführuno:  ein  mit  dem  Gegenstande  des 
sregebenen  Soseins  koinzidierender  (impliziter)  Gegenstand  fingiert, 
d.  h.  angenommen,  obwohl  er  nicht  besteht,  z.  B.  —  1  als  Differenz 
von  3  und  4.  oder  die  imaginären  Schnittpunkte  einer  Geraden,  die 
ganz  außerhalb  eines  Kreises  liegt,  mit  diesem  Kreise.  Mittels  dieser 
..Operationen"  schreitet  die  spezifisch  mathematische  Erkenntnis  fort. 
Viele  mathematische  Sätze  sind  Gesetze  über  solche  Operationen 
oder  über  Ergebnisse  von  Operationen.  Dagegen  betrachtet  die 
Gegenstandstheorie  ihre  Gegenstände  nach  Möglichkeit  unmittelbar 
und  unabhängig  von  „Operationsgesetzen"'.  So  kommt  es,  daß 
einerseits  manche  Tatsache,  die  als  Ergebnis  einer  mathematischen 
Operation  in  der  Mathematik  genügend  bewiesen  ist,  gegenstands- 
theoretisch betrachtet  noch  eines  Beweises  —  aus  der  Natur  der 
Gegenstände  heraus  —  bedarf,  und  andererseits  manche  aus  der 
Natur  der  Gegenstände  einleuchtende  Tatsache  mathematisch,  d.  h. 
durch  Anwendung  mathematischer  Operationen,  erst  bewiesen 
werden  muß.^)  In  diesem  letzteren  Falle  wird  freilich  nicht  so  sehr 
die  Tatsache,  als  vielmehr  das  bewiesen,  daß  mathematische  Ope- 
rationen zu  ihrer  Bestimmung  führen  können. 

Endlich  hat  die  Gegenstandstheorie  die  Tendenz  zu  größter 
Allgemeinheit.  Sie  sucht  daher  auch  bei  Bearbeitung  eines 
speziellen  Gebietes,  z.  B.  des  mathematischen,  stets  den  Zusammen- 
hang mit  der  Gesamtheit  der  Gegenstände  im  Auge  zu  behalten. 

Was  hier  zur  Unterscheidung  von  Mathematik  und  Gegen- 
standstheorie des  Messens  angeführt  worden  ist.  läßt  sich  viel- 
leicht, soweit  es  wesentlich  ist.  durchaus  auf  folgenden  Gegensatz 
zurückführen:  Mathematik  (und  überhaupt  eine  Wissenschaft, 
die.  ohne  Gegenstandstheorie  zu  sein,  sich  mit  einem  Teilgebiete 
der  Gegenstandstheorie  befaßt)  behandelt  fiktive  (nämlich  durch 
ein  angenommenes  Sosein  definierte)  Gegenstände  (z.  B.  reine 
Quanta  schlechthin,  die  Wahrscheinlichkeit  u.  dgl.)  ;Gegenstands- 
theorie  (sowohl  im  allgemeinen  Sinne,  als  auch  sofern  sie  ein 
spezielles  Gebiet  betriftt)  sucht  aUe  (ihr  vorgegebenen)  fiktiven 
Gegenstände  auf  die  allgemeinsten  Gruppen  der  impliziten  Gegen- 
stände zurückzuführen. 


')  Vgl.  oben,   Kap.  V,  §  27.  das  über  das  „kommntative  Gesetz"  der  Addi- 
tion Bemerkte. 

17* 


260  Erkst  Mally. 

§  41.  Determinierte  Messungsobjektive.     „Theo- 
retische" und  empirische  Wissenschaft. 

Der  Bestimmungsgegeustand  eines  Soseins  kann  seinerseits 
Eigenschaftsgegenstand  eines  anderen  Soseinsobjektives  sein;  das 
gilt  auch  wieder  von  dem  Bestimmungsgegenstande  dieses  zweiten 
Soseins  usf.  Der  Eigeuschaftsgegenstand,  dessen  Bestimmungs- 
gegenstand Eigenschaftsgegenstand  eines  anderen  Soseins  ist,  wurde 
oben  ^)  als  ein  determinierter  Gegenstand  bezeichnet.  Ein  Gegen- 
stand kann,  wie  aus  dieser  Bestimmung  hervorgeht,  mehr  oder 
minder  determiniert  sein.  Je  nach  dem  Grade  der  Deter- 
mination seines  Bestimmungsgegenstandes,  des  Messungsobjektes, 
ist  auch  ein  Messungsobjektiv  mehr  oder  minder  determiniert. 

Die  vollständig  undeterminierten  oder  reinen  Quanta  sind 
als  Objekte  der  rein  mathematischen  Messung  schon  ange- 
führt worden.  Jene  Messungsobjekte,  die  nur  als  teilbare 
Quanta  determiniert  sind,  bilden  Gegenstände  rein  geome- 
trischer Messung  im  weiteren  Sinne  des  Wortes.  Die  teilbaren 
Quanta  sind  komplex  und  koinzidieren  insbesondere  mit  durchaus 
homoiomeren  Mengenkomplexen  oder  Kontinuen:  die  Theorie 
der  Kontinua  und  der  in  ihnen  möglichen  Grenzen 
kann  Geometrie  in  dem  angedeuteten  weiteren  Sinne  heißen. 
Die  Objekte  der  Geometrie  im  gewöhnlichen  engeren  Sinne  der 
ßaumgeometrie  sind  gegenüber  den  Objekten  der  allgemeinen 
Kontinuumslehre  (als  der  Geometrie  im  weiteren  Sinne)  nur  da- 
durch determiniert,  daß  sie  Gegenstände  des  Raumes  sind.  Die 
Raumquanta  sind  Gegenstände  der  raumgeometrischen 
Messung . 

Die  unteilbaren  Quanta  bilden  in  ihrer  Gesamtheit  nicht 
den  Gegenstand  irgendeiner  schon  begonnenen  besonderen  Wissen- 
schaft. Mit  einigen  von  ihnen,  nämlich  Geschwindigkeit  und  Be- 
schleunigung,  befaßt  sich  die  Phoronomie,  jedoch  auch  nicht  aus- 
schließlich mit  ihnen.  Das  unteilbare  (Aktive)  Quantum  der  Wahr- 
scheinlichkeit ist  Gegenstand  einer  besonderen,  ihren  Unter- 
suchungsmitteln nach  mathematischen  Disziplin,  der  Wahr- 
scheinlichkeitslehre. 

')  Kap  I,  §  6. 


Zur  Gegeustandstheorie  des  Messens.  261 

Alle  bisher  ang'efülirten  Gegenstände,  die"  als  Messungsobjekte 
auftreten  können,  sind  Gegenstände  eines  bestimmten  Soseins. 
Idealrelationen,  die  auf  Grund  dieses  Soseins  zwischen  den  Gegen- 
ständen bestehen,  insbesondere  die  in  Messungsobjektiven  ent- 
haltenen Beziehungen,  sind  unabhängig  vom  Sein  und  insbesondere 
von  der  Existenz  der  Inferiora,  darum  a  priori  erkennbar.^) 
Ebenso  läßt  sich  aus  der  Natur  dieser  Gegenstände,  nämlich  aus 
ihrem  Sosein.  die  Möglichkeit  oder  Unmöglichkeit  ihres  Seins  a 
priori  entscheiden.  Es  ist  weder  erforderlich  noch  möglich,  eine 
derartige  Erkenntnis  durch  Erfahrung  zu  bestätigen,  noch  kann 
sie  durch  Erfahrung  widerlegt  werden. 

Es  gehört  nicht  zur  Natur  eines  Gegenstandes,  daß  er  (tat- 
sächlich) existiert  oder  nicht  existiert;  jedoch  kann  es  von  großem 
Interesse  sein,  zu  erfahren,  ob  ein  Gegenstand  bestimmten  Soseins, 
in  dessen  Natur  es  nicht  begründet  ist.  daß  er  nicht  existieren 
kann,  tatsächlich  existiere. 

Unter  den  determinierten  Gegenständen,  die  Messungsobjekte 
sein  können,  sind  nun  manche  real.  d.  h.  ihrer  Natur  nach  fähig 
zu  existieren.  Alle  Idealrelationen,  die  zwischen  realen  Objekten 
bestehen,  insbesondere  auch  die  in  Messungsobjektiven  enthaltenen, 
bedürfen  nun  zu  ihrem  Bestände  auch  nur  des  So s eins  ihrer 
Inferiora  und  sind  also  auch  unabhängig  von  jeder  Erfahrung  über 
deren  Existenz  erkennbar.  Solche  reale  determinierte  Gegenstände 
sind  die  physischen  und  psychischen  Quanta;  ihre  apriorische, 
insbesondere  ihre  messende  Bearbeitung  ist  Aufgabe  der  „theo- 
retischen" (oder  „mathematischen")  Naturwissenschaft,  insbesondere 
der  theoretischen  Physik  und  Chemie,  beziehungsweise  einer 
großenteils  erst  zu  entwickelnden  theoretischen  (dem  Forschungs- 
werkzeug nach  mathematischen)  Psychologie.  Eine  umfassende 
apriorische  und  insbesondere  mathematische  Bearbeitung  der  realen 
Gegenstände  überhaupt  wäre  als  „theoretische  („mathematische") 
Metaphysik"  zu  bezeichnen.-) 

Ein  determiniertes  Messungsobjektiv,  dessen  (realer)  Be- 
stimmungsgegenstand existiert,  heißt  insbesondere  ein  ange- 


^)  Meinong,  über  Gegenstandstheorie  (in  Nr.  I  der  vorliegenden  Sammlnng). 

-)  Ihr  würden  sich  in  den  metaphysischen  (d.  h.  weder  auf  physisches  noch 
auf  psychisches  Gebiet  beschränkten)  Realien  der  Veränderung,  der  Ursache  usf. 
Angriffspunkte  eines  wenigstens  nicht  aussichtslosen  Beginnens  darbieten. 


2g2  Ernst  Mally,  Zur  Gegeustandstlieorie  des  Messens. 

wandte«  Messungsobjektiv.  Die  Messung  eines  Existiei-enden 
heißt  angewandte  Messung.  Ob  ein  angewandtes  Messungs- 
übjektiv  besteht  (oder  „wahr  ist")  hängt  von  dem  Sosein  des 
existierenden  Objektes  ab.  Ist  das  existierende  Objekt  tatsächlicli 
so,  wie  es  der  Bestand  des  Objektives  voraussetzt,  so  ist  das  Ob- 
jektiv tatsächlich;  es  gilt  daher  auch:  existiert  ein  Objekt  mit 
dem  Sosein  des  angewandten  Objektives,  so  ist  dieses  Objektiv 
(als  angewandtes,  d.  h.  bezogen  auf  das  existierende  Ob- 
jekt) tatsächlich  (oder  wahr).  Da  nun  die  Existenz  eines  Objektes 
nicht  Gegenstand  einer  apriorischen  Erkenntnis,  sondern  nur  einer 
Erfahrung  sein  kann,  so  ist  auch  die  Geltung  eines  ange- 
wandten Messungsobjektives  ^)  nicht  a  priori,  sondern  nur  durch  Er- 
fahrung zu  erkennen.  Angewandte  Messungsobjektive  sind  die 
auf  Existierendes  bezogenen  Ergebnisse  physikalischer 
(oder  psychologischer)  Berechnungen  ebensowohl  wie  die  Objek- 
tive experimental-physikalischer  und  experimental-psychologischer 
Messung,  die  an  existierenden  Objekten  direkt  angreift.  —  Die 
hier  gekennzeichnete  Erkenntuisweise  durch  Erfahrung  unter- 
scheidet die  empirischen  Wissenschaften  wesentlich  von  den  oben 
berührten,  der  Gegenstandstheorie  verwandten,  „theoretischen". 


^)  Die  Verallgemeinerung   von  „angewandten"  Messungsobjektiven  auf  „au- 
gewandte" Objektive  überhaupt  ist  ohne  weiteres  zu  vollziehen. 


IV. 
über  Ökonomie  des  Denkens. 

Von 
Dr.  Wilhelm  Feankl, 

Inhalt. 

Seite 
Kapitel  I.     Ökonomie. 

1.  Ökonomie  überhaupt 265 

2.  Die  beiden  Typen  der  Ökonomie,  die  Veränderlichkeit  der  Ökonomie- 
größe    265 

3.  Präzisierung  und  Erweiterung  des  ursprünglichen  Ökonomiegedaukens  268 

4.  Die  ökonomische  Vergleichsgröße 269 

5.  Erfordernisse  eines  Ökonomieprinzips 270 

6.  Bestimmung  des  gegenstandstheoretischen  Ortes  der  Ökonomie      .     .  271 

7.  Zweckmäßigkeit,  Einfachheit  und  Ökonomie 273 

8.  Denkökonomie 274 

9.  Zusammenfassung  und  Übergang  zum  Speziellen 275 

Kapitel  II.     Ökonomie  und  Wirklichkeit. 

J.  Allgemeines 276 

2.  Ökonomie  und  Kausalität 277 

3.  AvENAEitrs'  Formulierungen  des  Prinzips 277 

4.  Ökonomie  und  Selektion 279 

5.  Ökonomie  und  Apperzeption.     Ableitung  des  Prinzipes  von  Cornelius  280 

6.  Ökonomie  und  Gewohnheit 282 

7.  Ökonomie  und  Sprache 283 

Kapitel  III.     Ökonomie  und  Wahrheit. 

1.  Ökonomie  und  Wahrheit 284 

2.  Ökonomie  und  Wahrscheinlichkeit  im  besonderen 286 

3.  Ökonomie  und  Wissenschaft 291 

Kapitel  IV.     Ökonomie  und  emotionale  Bestimmungen. 

1.  Ökonomie  und  Lust 294 

2.  Ökonomie  und  Wert 296 

Kapitel  V.     Ergebnisse,  Ökonomiepriuzipien 300 


264  Wilhelm  Fbankl. 


Abkürzungen. 

R.  AvENABiüs,  Philosophie  als  Denken  der  Welt  gemäß  dem  Prinzipe  des  kleinsten 
Kraftmaßes  =  Ph.  a.  D.  d.  W.  —  Kritik  der  reinen  Erfahrung  =  K. 
d.  r.  E. 

B.  BoLZANO,  Wissenschaftslehre  =  Wl. 

H.  Cornelius,  Psychologie  =  Ps.  —  Einleitung  in  die  Philosophie  =  E.  i.  d.  Ph. 

G.  Th.  Fechner,  Vorschule  der  Ästhetik  =  V.  d.  Ä. 

E.  V.  Hartmann,  Die  Weltanschamang  der  modernen  Physik  =  D.  W.  d.  m.  Ph. 

J.  V.  Heyden-Zielewicz  ,  Der  intellektuelle  Ordnungssinn  und  seine  erkenntnis- 
psychologische Bedeutung  im  Archiv  für  systematische  Philosophie  Bd. 
Vm.  p.  103  ff.  =  A.  f.  s.  Ph. 

A.  Höfler,  Psychologie  =  Ps.  —  Psychische  Arbeit.  Sonderausg.  aus  Zeitschr. 
f.  Psych,  u.  Phys.  d.  Sinnesorgane  Bd.  YIII.  =  Ps.  A.  —  Studien  zur 
gegenwärtigen  Philosophie  der  Mechanik  ^  St.  z.  gw.  Ph.  d.  M.  — 
Grundlehren  der  Logik,  2.  Aufl.  =  G.  d.  L. 

R.  HöNiGswALD,  Kritik  der  Machschen  Philosophie  =  K.  d.  M.  Ph. 

E.  HussERL,  Logische  Untersuchungen  =  L.  U. 

H.  Jäger,  Das  Prinzip  des  kleinsten  Kraftmaßes  in  der  Ästhetik  =  D.  P.  d.  k. 
K.  i.  d.  Ä.  in  der  Vierteljahrsschrift  für  wissenschaftliche  Philosophie 
Bd.  V.  p.  415  ff.  =  V.  f.  w.  Ph. 

F.  JoDL,  Lehrbuch  der  Psychologie  =  Ps. 

J.  V.  Kries.  Die  Prinzipien  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung  =  D.  P.  d.  W.-R. 

0.  KüLPE,  Grundriß  der  Psychologie  =  G.  d.  Ps. 

K.  Lange,  Über  Apperzeption  =  Ü.  Ap. 

E.  Mach,  Analyse  der  Empfindungen,  2.  Aufl.  =  A.  d.  E.  —  Die  Mechanik  in 
ihrer  Entwicklung,  4.  Aufl.  =  M.  —  Prinzipien  der  Wärmelehre  =  P. 
d.  Wl.  —  Populärwissenschaftliche  Vorlesungen  =  Ppw.  V. 

A.  Meinong,  Psychologisch-Ethische  Untersuchungen  zur  Werttheorie  =  Ps.-E.  U. 
z.  W.-Th.  —  Über  Annahmen  =  Ü.  A.  —  Rezension  über  Kribs,  Die 
Prinzipien  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung,  in  den  Göttingischeu  ge- 
lehrten Anzeigen  =  G.  g.  A.    [1890]  p.  51  ff. 

J.  Petzold,  Maxima  und  Minima  und  Ökonomie  =  M.  M.  u.  Ö.,  in  Vierteljahrs- 
schrift für  wissenschaftliche  Philosophie.  Bd.  XIV.  p.  206,  354,  417  ff. 
—  Einführung  in  die  Philosophie  der  reinen  Erfahrung  ==  E.  i.  d. 
Ph.  d.  r.  E. 

H.  Steinthal,  Abriß  der  Sprachwissenschaft  Teil  L.  1.  Aufl.  =  A.  d.  S. 

Vierteljahrsschrift  für  wissenschaftliche  Philosophie  =  V.  f.  w.  Ph. 

J.  Volkelt,  Erfahrung  und  Denken  =  E.  u.  D. 

W.  WuNDT,  Logik  =  L.  —  Philosophische  Studien  =  Ph.  St. 


über  Ökonomie  des  Denkens.  265 

Kapitel  L 
Ökonomie. 

1.  Ökonomie  überhaupt. 

Zur  vorläufigen  Orientierimg  auf  dem  zu  durchforschenden 
Gebiete  dürfte  es  wohl  angebracht  sein,  den  Begriff  der  Ökonomie 
überhaupt  klarzulegen.  Das  Prädikat  „ökonomisch"  legen  wir 
in  erster  Linie,  wie  es  scheint,  einer  Person  bei.  sofern  sie  in 
gewisser,  noch  näher  zu  bestimmender  Weise  handelt.  Erhält 
nun  besagte  Person  jenes  Prädikat  von  einer  gewissen  Art  und 
Weise  zu  handeln,  so  liegt  es  nahe,  diese  Handlungsweise  selbst 
als  eine  ökonomische  zu  bezeichnen.  Es  wird  nun  zunächst 
unsere  Aufgabe  sein,  diese  Handlungsweise  etwas  näher  zu 
bestimmen. 

Dem  allgemeinen  Wertgesetze  zufolge.  ^)  wonach  dem  Objekte 
einer  Begehrung  ein  wenigstens  subjektiver  Wert  koinzidiert, 
ferner  der  Tatsache  Rechnung  tragend,  daß  man  von  Handlung 
nur  dort  spricht,  wo  eine  gewisse  Beziehung  zum  Begehren  voraus- 
gesetzt wird,  haben  wir  zu  vermuten,  daß  dasjenige,  was  durch 
eine  solche  ökonomische  Handlung  erreicht  wird,  einen  Tatbestand 
mindestens  subjektiven  Wertes  darstelle.  Überdies  wird  man,  wo 
man  etwa  durch  eine  kleine  Ungeschicklichkeit  ein  großes  Leid 
über  sich  heraufbeschwört,  so  wenig  von  Ökonomie  sprechen,  als 
man  sich,  um  den  Fall  der  Krankheit  zu  bezeichnen,  jemals  des 
Ausdruckes  ,.Freiheit"  oder  ..Freisein  von  Gesundheit''  bedienen  wird. 
Eine  gewisse  Beziehung  zum  positiven  Wert  ist  also  dem  Ökonomie- 
gedanken wesentlich.  Im  ganzen  aber  haben  wir  es.  wie  bereits 
ersichtlich,  bei  einem  ökonomischeu  Tatbestande  mit  zwei  Momenten 
zu  tun,  die  wir  einerseits  mit  H  (=  Handlung)  andererseits  mit  L 
(:=  Leistung,  d.  i.  das.  was  durch  H  erreicht  wird)  bezeichnen  wollen. 

2.  Die  beiden  Typen  der  Ökonomie,  die  Veränderlich- 
keit der  Ökonomiegröße. 

Von  Ökonomie  nun  sprechen  wir 

1.  dort,   wo   eine  Leistung  L   durch   eine  Handlung  H  erzielt 

'1  Es  kann  nichts  begehrt  werden,  was  nicht  für  den  Begehrenden  wenigstens 
subjektiven  Wert  hätte.    Meinong,  Ps.-E.  U.  z.  W.-Th.  p.  15. 


266 


"Wilhelm  Fbankl. 


wird,  welche  uucli  durch  eine  Handlung  H'  erzielt  werden  könnte, 
wobei  H  'H'  ist.^)    Wie  man  sieht,  kommt  es  sonach  in  diesem  Falle 

a)  auf  quantitative  Momente  von  H  und 

b)  nicht  auf  den  Tatbestand,  der  durch  H  und  L  für  sich 
allein  ausgemacht  wird  (wir  wollen  ihn  mit  T  bezeichnen)  an, 
sondern  auf  sein  Verhältnis  zu  einem  anderen  Tatbestande  ähn- 
licher Art  (auf  die  „ökonomische  Vergleichsgröße"  T'),  mit  welchem 
der  erstgenannte  Tatbestand  T  das  L  gemeinsam  hat.  Ist  dies 
der  Fall,  so  genügt  natürlich  die  Vergieichung  von  H  mit  H'. 
Man  sagt  dann :  Der  Tatbestand  T  ist  ökonomischer  als  der  Tatbe- 
stand T',  oder  —  falls  die  Vergieichsgröße  T'  ein  für  allemal  fest- 
gesetzt ist  —  T  ist  ökonomisch  (im  prägnanten  Sinne  des  Wortes). 
Ähnlich  wird  der  Terminus  „wahrscheinlich"  im  prägnanten  Sinne 
verwendet.    Wir  sprechen  aber  auch 

2.  von  Ökonomie  in  dem  Falle,  wo  eine  Leistung  L  durch  eine 
Handlung  H  erzielt  wird,  wenn  durch  H  auch  eine  Leistung  L' 
erzielt  werden  könnte,  wo  LVL  ist.     In  diesem  Falle  kommt  es 

a)  auf  quantitative  Momente  von  L  an,  ferner 

b)  auf  ein  Verhältnis  von  T  zu  T',  welch  letzteres  mit  T 
das  H  gemeinsam  hat.  Ist  dem  so.  dann  genügt,  es  L  mit  L'  zu 
vergleichen. 

Es  sind  sonach  zwei  Fälle  möglich,  in  denen  Ökonomie  zu- 
tage tritt: 

1.  der,  bei  welchem  T  mit  T'  das  L  -)  und 

2.  der,  bei  welchem  T  mit  T'  das  H  gemeinsam  hat. 
Symbolisch  ^) : 


')  DaG  H  sowohl  wie  L  quantitative  Bestimmungen  haben  könne,  eventuell 
haben  müsse,  und  daß  nur  unter  der  Voraussetzung  solcher  quantitativer  Be- 
stimmungen von  Ökonomie  gesprochen  werden  könne,  steht  fest.  Inwiefern  je- 
doch im  einzelnen  Falle  eine  Vergieichung  dieser  Tatbestände  hinsichtlich  ihrer 
Größe  möglich  ist,  wird  sich  ja  im  einzelnen  Falle  ergeben. 

*)  Machs  Worte:  „Die  Betrachtungsweise  ändert  sich  aber  wesentlich,  so- 
bald ein  bestimmter  Zweck  ins  Auge  gefaßt  wird.  Hier  handelt  es  sich  also 
nicht  um  die  absolute  Betrachtung  eines  bestimmten  Geschehens,  sondern  um 
die  relative  Betrachtung  verschiedenen  Geschehens  in  Beziehung  auf  einen  Zweck, 
nicht  um  das,  was  geschieht,  sondern  um  das,  was  geschehen  soll"  betreifen  nur 
diese  erste  Form  der  Ökonomie.     P.  d.  Wl.  p.  393. 

")  Die  Zeichen  /\,  v  bedeuten  entsprechend:  kleiner,  größer. 


über  Ökonomie  des  Denkens.  267 

1.  2. 

Hl  (L 

H'j  |L'. 

Diese  beiden  Fälle  von  Ökonomie  wollen  wir  als  Spar- 
ökonomie und  AMrtschaftsökonomie  —  gemäß  dem  Sprachge- 
brauche —  auseinanderhalten.  Ihre  entsprechenden  Gegensätze 
könnte  man  als  „Vergeudung"  und  „Verschwendung"  bezeichnen. 
Es  ist  klar,  daß  beide  Fälle  miteinander  kombiniert  auftreten 
können.  Dann  stimmt  die  Vergleichsgröße  mit  dem  Ökonomiebinom 
bezüglich  keines  Gliedes  vöUig  überein.  „Gemischte"  Ökonomie, 
wie  wir  diesen  Fall  den  anderen  Fällen  als  denen  „reiner"  Ökonomie 
gegenüber  bezeichnen  wollen,  liegt  z.  B.  vor,  wenn  man  um  einen  Be- 
trag (m — n)  die  Waren  A  und  B  zusammen  kauft,  verglichen  mit  dem 
Fall,  daß  man  um  den  Betrag  m  die  Ware  A  kauft.  Solche  Öko- 
nomie läßt  sich  zerlegen  in  zwei  in  bezug  auf  den  Typus  ver- 
schiedene FäUe  reiner  Ökonomie  durch  Beziehung  des  vorliegenden 
Ökonomiebinoms  auf  entsprechende  Vergleichsgrößen.  Der  obige 
Ökonomiefall :  T  =  [('m— n),  (A  -f  B)],  T'  =  [m ,  A]  enthält  zunächst 
Sparökonomie  in  bezug  auf  eine  Vergleichsgröße  T^ '  :=  [(m),  (A  -f-  B)], 
ferner  Wirtschaftsökonomie  in  bezug  auf  eine  Vergleichsgröße 
T2'  =  [(m  —  n),  (A)].  Die  Zerlegung  gemischter  Ökonomie  in  die 
beiden  FäUe  reiner  Ökonomie  vollzieht  sich  immer  nach  dem  Schema : 
gemischte  Ökonomie:  Sparökonomie:  Wirtschaftsökonomie: 

T  =  H,  L,  T  =  H,  L,  T  =  H,  L, 

T'  =  H',  L'.  T/  =  H;  L.  T./  =  H.  L'. 

Daß  bei  Sparökonomie  (diese  kommt  hierfür  einzig  in  Betracht) 
H  =  0  werden  könnte,  kann  niemals  sein.  Wo  es  den  Anschein  hat, 
als  wäre  solches  der  Fall,  als  würde  ein  für  H  gehaltenes  x  =  0, 
da  ist  unter  H  eben  nicht  nur  x  sondern  zugleich  auch  ein  Tatbe- 
stand y,  welcher  ebenfalls  als  in  irgendeinem  notwendigen  Zu- 
sammenhange mit  L  stehend  vermutet  werden  muß,  in  Betracht 
zu  ziehen.  In  diesem  FaUe  ist  z.  B.  H'  =  (y.  x) ;  H  =  y.  So 
beim  Ausfall  des  mittleren  Gliedes  einer  dreigliedrigen  Assozia- 
tionsreihe (durch  Mechanisierung)^),  wobei  dann  die  Vorstellungen 


^)  HöPLER  Ps.  p.  172 ;  zum  Terminus  ebenda  p.  536  und  Jodl  Ps.  1.  Aufl., 
p.  432  ff.  zur  Sache  Külpe,  G.  d.  Ps.  p.  213. 


2ß8  Wilhelm  Fbankl. 

a,  b  als  H',  die  Vorstellung  a  als  H  und  die  Vorstellung  c  etwa 
als  L  aufzufassen  wäre. 

Ökonomie  ist,  wie  bereits  der  Ausdruck  „ökonomischer"  bzw. 
„weniger  ökonomisch"  andeutet,  ein  steigerbarer,  ein  hinsichtlich 
seiner  Größe  abstufbarer  Tatbestand.  Je  größer  die  Größenver- 
schiedenheit der  variablen  Momente  von  T  und  T'  ist.  desto  größer 
ist  die  Ökonomie  bzw.  die  UnÖkonomie  des  T.  Oder  mit  ande- 
ren Worten:  Die  Ökonomiegröße  verändert  sich  parallel  den 
Differenzen  (H'  —  H)  und  (L  —  L').  (H'  —  H)  bezeichnen  wir  als 
..Ersparnis",  (L  —  L')  als  „Gewinn".  Es  verhält  sich  also  H  hin- 
sichtlich der  Ökonomiegröße  in  umgekehrter  Weise  wie  L;  diese 
wächst  nämlich  bei  sinkendem  H  und  wachsendem  L,  sinkt  da- 
gegen bei  wachsendem  H  und  sinkendem  L.  Man  kann  also  sagen, 
daß  sich  die  Ökonomiegröße  abgesehen  von  der  Vergleichsgröße 
gerade  entsprechend  dem  L  und  verkehrt  entsprechend  dem  H 
verändere. 

Die  Tatsache,  daß  im  Falle  des  konstanten  L  es  bei  Fest- 
stellung von  Ökonomie  im  allgemeinen  wie  in  bezug  auf  Größe 
nur  auf  die  Größenverschiedenheit  der  H  ankommt,  legt  die  Frage 
nahe,  ob  das  Binom  (H,  L)  überhaupt  dem  Ökonomiegedanken 
wesentlich  sei,  ob  es  nicht  auch  „monomiale"  Ökonomie  gebe.  AVirk- 
lich  sprechen  wir  beim  idealen  Geizhals,  der  „nichts"  ausgibt, 
eventuell  von  Sparen  aber  nicht  von  Ökonomie.  Es  dürfte  kaum 
zweckmäßig  sein,  eine  monomiale  Ökonomie  zu  urgieren;  wir  be- 
gnügen uns  damit,  festzustellen,  daß  es  sowohl  ein  ökonomisches 
wie  ein  außerökonomisches  Sparen  gibt. 

3.  Präzisierung  und  Erweiterung  des  ursprünglichen 
Ökonomiegedankens. 

Im  unerweiterten  Ökonomiegedanken  ist  „H"  als  eine  an  sich 
negativ- wertige    Handlung    —    als    ein    ,. Opfer"    charakterisiert. 
Symbolisieren  wir  „Gut"  durch  g,  „Übel"  durch  u,  „Setzung"  bzw. 
„Aufhebung"  durch  die  Zeichen  -{-.  — ,  so  ist  entweder 
H  =  -f-  u  (wie  bei  lästiger  Arbeit)  oder 
=  —  g  (wie  beim  Geldausgeben). 
In  beiden  Fällen  ist  der  resultierende  Wert  des  H  negativ.    Das 
u  bzw.  g,  welches  gewissermaßen   einen  Bestandteil  des  H  aus- 


über  Ökonomie  des  Denkens.  269 

macht,  wollen  wir  als  „Material  der  Ökonomie"  bezeichnen;  es  ist 
das,  woran  gespart  (Tj'pus  I),  das,  womit  gewirtschaftet  wird 
(Typus  II).  Das  L  stellt,  wie  bereits  gesagt,  einen  positiven  Wert- 
tatbestand dar. 

Nachdem  im  Bisherigen  der  ursprüngliche  (unerweiterte)  Öko- 
nomiegedanke eine  ausreichend  klare  Exposition  erfahren  haben 
dürfte,  können  wir  seine  zulässigen  Erweiterungen  feststellen. 

Beim  H  kann  sowohl  von  dessen  Charakteristik  als  Handlung 
wie  von  der  als  Übel  an  sich  abgesehen  werden.  AVesentlich  für 
dasselbe  ist  nur  seine  Funktion  als  Bedingung  bzw.  Teilbedingung 
für  das  Zustandekommen  des  L.  L  kann  als  ^Verttatbestand  auf 
alle  Gegenstände,  deren  Sein  sich  auf  ein  H  gründet,  angewendet 
werden,  die  unter  einen  eventuell  erweiterten  Begriif  positiven  Wertes 
fallen.  Ein  derart  erweiterter  Wertgedanke  liegt  im  Zweckge- 
danken verborgen,  sofern  dieser  seine  Anwendung  auf  die  Natur 
im  allgemeinen  findet,  wo  es  sich  um  einen  Wert  mit  fiktivem 
Subjekt  handelt.  Gegenstände,  welche  nur  und  ausgesprochener- 
weise Unwerte  sind,  können,  wie  ebenfalls  bereits  erwähnt,  nicht 
in  unserem  Sinne  als  L  fungieren. 


4,  Die  ökonomische  Vergleichsgröße. 

Wir  haben  oben  von  ökonomischer  Vergleichsgröße  gesprochen 
und  haben  unter  diesem  Ausdruck  einen  binomialen  Tatbestand 
(H,  L)  verstanden,  mit  welchem  der  auf  seine  Ökonomie  zu  prüfende 
Tatbestand  T  zu  vergleichen  sei ;  u.  zw.  komme  es  bei  gemeinsamem 
L  auf  die  Vergleichung  nur  der  H,  bei  gemeinsamem  H  auf  die 
Vergleichung  nur  der  L  an.  Von  der  totalen  Vergleichsgröße 
T'  (=  H,'  L')  kommt  sonach  für  die  Vergleichung  nur  ein  Bestand- 
stück —  eine  „partiale  Vergleichsgröße"  —  in  Betracht.  Die  Ver- 
gleichsgröße muß  nun,  wie  ja  klar  ist.  entweder  dem  Gebiete  der 
Wirklichkeit  (welcher  Begrift"  den  der  empirischen,  uneigentlichen 
Möglichkeit  in  sich  schließt)  oder  dem  Gebiete  der  reinen  Mög- 
lichkeit (im  eigentlichen,  erkenntnistheoretischen  Sinne)  angehören. 
Bezeichnen  wir  solche  Zugehörigkeit  durch  die  Indices  w,  m,  so 
erhalten  wir  in  Anwendung  dieser  Zweiheit  auf  die  bereits  früher 
dargelegte  Zweiheit  der  Ökonomietypen  vier  Fälle: 


270 


Wilhelm  Frankl. 


1.  L  mit  a)  H'w,  2.  H  mit  a)  LV, 

b)  H'm,  b)  L'm. 

Überall  dort,  wo  die  Vergleichsgröße  der  Wirklichkeit  ange- 
hört, ist  auf  ein  ganz  allgemeines  Ökonomieprinzip  Verzicht  ge- 
leistet, weil  dann  eben  jene  wirkliche  Vergleichsgröße  nicht  unter 
dasselbe  fallen  kann.  —  In  betreff  einer  dem  Gebiete  der  Mög- 
lichkeit angehörigen  Vergleichsgröße  sei  bemerkt,  daß  überall  dort, 
wo  ein  Maximaltatbestand  als  Vergleichsgröße  fungiert,  die 
Ökonomiebehauptung  im  allgemeinen  nichtssagend  ist;  daß  ferner 
überall  dort,  wo  eine  Normalgröße  als  Vergleichstatbestand  fungiert, 
die  Ökonomiebehauptung  mit  der  Wahl  jener  Normalgröße  die 
Willkürlichkeit  teilt. 

5.  Erfordernisse  eines  Ökonomieprinzips. 

Ein  Ökonomieprinzip  müßte  die  Form  „Alle  t-Tatbestände 
sind  ökonomisch"  haben,  oder  doch  auf  diese  Form  gebracht  werden 
können,  wenn  wir  mit  t  die  rein  qualitative  Bestimmtheit  des 
Ökonomiebinoms  T  bezeichnen. 

Die  bloße  Tatsache,  daß  etwas  gegenüber  etwas  anderem  als 
Minus,  oder  auf  irgendeinem  Gebiete  als  Minimum  bezeichnet 
werden  muß,  ist  an  sich  noch  kein  Fall  von  Ökonomie.  Minus- 
und  Minimumprinzipien  sind  als  solche  noch  nicht  Ökonomie- 
prinzipien. Denn  von  der  Zweigliedrigkeit  des  in  Betracht 
kommenden  Komplexes  kann  bei  Ökonomie  nicht  abgesehen  werden. 
Die  Behauptung  endlich,  daß  irgendeine  individuelle  Tatsache 
ökonomisch  ist,  stellt  so  wenig  ein  Ökonomieprinzip  dar,  wie  die 
Behauptung,  daß  mehrere  Tatsachen  ökonomisch  seien,  an  sich 
schon  ein  solches  wäre.  Erst  dann,  wenn  man  mit  Recht  von 
einer  Tatsachengesamtheit,  die  sich  als  solche  unter  einen  außer- 
ökonomischen Gesichtspunkt  zusammenfassen  läßt,  Ökonomie  der- 
selben Art,  sensu  diviso  und  im  exklusiven  Sinne,  aussagt,  haben 
wir  ein  solches  Prinzip  vor  uns.    Und  das  aus  folgenden  Gründen : 

Ein  außerökonomischer  Gesichtspunkt  ist  erforderlich,  damit 
die  Gesetzmäßigkeit  nicht  analytischen  Charakter  trage.  Die  be- 
hauptete Ökonomie  muß  ferner  von  derselben  Art  sein,  d.  h.  das  für 
die  verschiedenen  einzelnen  Fälle  als  H  Bezeichnete  muß  sich  der- 
art unter  einen  allgemeinen  Begriff'  subsumieren  lassen,  daß  andere 


über  Ökonomie  des  Denkens.  271 

Nebenumstände .  die  als  H  betrachtet  keine  Ökonomie  ergäben, 
nicht  mit  inbeg'riften  sind;  das  g:leiche  gilt  bezüglich  des  L. 
Überdies  mnß  die  Ökonomie  von  den  Bestandstücken  jener  Tat- 
sachengesamtheit sensu  diviso  ausgesagt  werden  kijnnen;  andern- 
falls hätte  nämlich  die  behauptete  Ökonomie  nur  individuellen 
Charaktei-.  Endlich  ist  es  erforderlich,  daß  jene  Ökonomie  auf 
das  in  Rede  stehende  Tatsachengebiet  beschränkt  ist  („im  exklu- 
siven Sinne"),  da  andernfalls  die  Ökonomie  für  jenes  Tatsachen- 
gebiet nicht  charakteristisch  wäre,  und  die  Ökonomie  eventuell 
von  einem  größeren  Tatsachengebiete  zu  prädizieren  ist.\) 


6.  Bestimmung  des  gegenstandstheoretischen '^)  Ortes 

der  Ökonomie. 

Wir  haben  wohl  im  allgemeinen  festgestellt,  wann  Ökonomie  vor- 
liege, sind  sonach  im  allgemeinen  befähigt,  einen  gegebenen  Fall  auf 
seine  Ökonomie  hin  zu  prüfen.  Nun  obliegt  uns  aber  noch,  sozusagen 
den  gegenstandstheoretischen  Ort  des  Gegenstandes  „Ökonomie" 
näher  zu  bestimmen.  Dabei  muß  ich  mich  größtenteils  auf  die 
gleichzeitig  erscheinenden  Arbeiten  meiner  Kollegen  Ameseder 
und  Mally  beziehen,  auf  welche  ich  hiermit  verweise.  Ich  setze 
also  insbesondere  den  Begriff  des  Relates,  sowie  den  der  Relation 
als  des  im  Relat  Stehens  von  Objekten  voraus. 

Es  war  oben  wiederholt  von  „ökonomischer  Vergleichsgröße", 
ebenso  auch  vom  Minuscharakter  ökonomischer  Tatsachen  als  solcher 
die  Rede.  Was  ist  nun  „minus"  ?  Wenn  zwischen  a  und  b,  welche 
Größen  seien,  Gleichheit  besteht,  dann  kann  natürlich  vom  a  die 
b-Gleichheit  und  vom  b  die  a-Gleichheit  prädiziert  werden.  Wenn 
ferner  zwischen  den  Größen  a  und  b  Ungleichheit  besteht,  dann  kann 
natürlich  vom  a  die  b-Ungleichheit  und  vom  b  die  a-Ungleichheit 
prädiziert  werden.  Gesetzt  nun,  daß  a  größer  sei  als  b,  so  kann 
weiters  vom  a  das  größer  als  b  Sein  und  vom  b  das  kleiner  als  a 


^)  Awi  diesen  Sachverhalt  liat  bei  Gelegenheit  von  Seminarbesprechungen, 
die  nnter  der  Leitung  Professor  Meinonos  im  Sommer  1902  stattfanden,  Dr. 
Ameseder  aufmerksam  gemacht. 

^)  Über  den  Begriff  der  Gegenstandstheorie  vgl.  diese  Untersuchungen 
I,  auch  II  und  III. 


272  Wilhelm  Frankl. 

Sein  prädiziert  werden.  Das  Größersein  wie  das  Kleinersein  sind 
natürlich  ebenso  Objektive  ')  wie  die  Gleichheit  und  die  Ung-leich- 
heit;  das  in  ihnen  enthaltene  Objekt,  das  „Größer"  und  das  „Kleiner"' 
(niaius  und  minus)  verhält  sich  ganz  ähnlich  zum  Größersein  bzw. 
Kleinersein  wie  der  Relat  zur  Relation  (eben  wie  das  Objekt  zu 
seinem  positiven  Objektiv).  Man  kann  aber,  wie  mir  scheint, 
nicht  sagen,  daß  „größer",  „kleiner",  bzv/.  „Größersein",  „Kleiner- 
sein" selbst  Relate  bzw.  Relationen  sind. 

Die  Gleichheit  bzw.  Ungleichheit  (als  Relationen)  stehen  in 
einem  anderen  Verhältnisse  zu  den  Gegenständen,  welche  (einander) 
gleich  bzw.  ungleich  sind,  als  das  Größer-  bzw.  Kleinersein  einerseits 
zu  den  Gegenständen,  welche  größer  bzw.  kleiner  sind,  andererseits  zu 
jenen,  in  Hinblick,  in  bezug  auf  welche  die  ersteren  größer  bzw. 
kleiner  sind.  Wir  wollen  die  ersteren  „Träger",  die  letzteren  „Hin- 
blicks" oder  „Bezugsgegenstände"  z.  B.  des  Größer-  bzw.  Kleiner- 
seins nennen.  Die  Ausdrücke  sind  nach  dem  Obigen  ohne  weiteres 
verständlich.  Wohl  ist  es  klar,  daß  es  kein  Größersein  usw.  ohne 
Ungleichheit  geben  könnte.  Der  Verschiedenheit  nun  der  in  Rede 
stehenden  Tatbestände  Rechnung  tragend,  andererseits  dagegen 
auch  auf  ihren  Zusammenhang  hinweisend,  möchte  ich  zur  Be- 
zeichnung solcher  Gegenstände,  wie  „größer"  „kleiner"  das  Wort 
„der  Korrelat"  (masc.)  vorschlagen,  ebendamit  auch  die  notwendige 
Dualität  derartiger  Bestimmungen  andeutend,  wie  z.  B.  jedes 
„größer"  ein  „kleiner"  erfordert  und  umgekehrt.  Daß  dem  Größeren 
ein  Kleineres  (und  umgekehrt)  entspricht,  dieser  Tatsache  ist  längst 
durch  den  Terminus  „das  Korrelat"  (neutr.)  Rechnung  getragen. 
Das  Größersein  bzw.  Kleinersein  —  oder,  wenn  man  wollte,  die 
Größerheit  bzw.  Kleinerheit  eines  a  hinsichtlich  eines  b,  bzw. 
umgekehrt,  wäre  dann  parallel  der  Relation  als  Korrelation  zu 
bezeichnen. 

Ohne  die  Unterscheidung  von  Relat  und  Korrelat  könnte  man 
geneigt  sein,  die  Relationen  in  konvertible  (mit  vertauschbaren 
Gliedern)  und  inkonvertible^)  (mit  nicht-vertauschbaren  Gliedern) 
einzuteilen.  Den  Typus  der  ersten  Art  könnte  z.  B.  die  Gleichheit, 
den   der  zweiten  die  Größerheit  bilden.    Mir  scheint  jedoch  der 


•)  Meinong,  Ü.  A.  §  .35fif. 

")  Vgl.  Höfler,  G.  d.  L.  p.  33. 


über  Ökonomie  des  Denkens.  273 

Tatbestand,  der  durch  den  Gedanken  der  Inkonvertibilität  getroften 
werden  will,  nicht  Sache  des  Relates  oder  der  Relation,  sondern 
Sache  des  Korrelates  (masc.)  und  der  Korrelation  zu  sein.  Auf 
Grund  unserer  terminologischen  Bestimmungen  können  wir  nämlich 
in  Anbetracht  der  gebrachten  Beispiele  folgendes  feststellen: 
1.  Jeder  Relation  (bzw.  jedem  Relate)  entsprechen  mindestens  zwei 
gleiche  (und  mit  dem  Relat  gleichbezeichnete)  —  wenn  man  wiU, 
„konvertible"  —  Korrelate.  2.  Es  gibt  Relate  (und  Relationen), 
denen  außer  den  gleichen  Korrelaten  (bzw.  Korrelationen)  auch  un- 
gleiche —  inkonvertible  —  Korrelate  bzw.  Korrelationen  entsprechen. 
So  kommt  im  Falle  der  Ungleichheit  zwischen  a  und  b  dem  a  so- 
wohl wie  dem  b  eine  Ungleichheit,  jedem  Gliede  im  Hinblick  auf  das 
andere,  zu.  Ist  nun  a  )  b,  so  kommt  dem  a  im  Hinblick  auf  b  Größer- 
sein, dem  b  im  Hinblick  auf  a  Kleinersein  zu.  —  An  die  Stelle  der 
Einteilung  der  Relate  bzw.  Relationen  in  konvertible  und  inkonver- 
tible hat  sonach  allem  Anscheine  nach  die  in  solche  mit  nur  gleichen 
und  in  solche  mit  auch  ungleichen  Korrelaten  zu  treten. 

Nun  sind  wir  auch  imstande  das  genus  proximum  des  Gegen- 
standes „Ökonomie"  anzugeben,  indem  wir  ihn  als  einen  Korrelat 
bzw.  eine  Korrelation  bezeichnen.  Ökonomie  wird  einem  binomialen 
Tatbestand  (H,L)  als  Träger  im  Hinblick  auf  die  ökonomische 
Yergleichsgröße  als  Bezugsgegenstand  beigelegt  und  zwar  als 
Kleinersein  bei  gemeinsamem  L,  als  Größersein  bei  gemeinsamem 
H.  Daß  wir  mit  Vorliebe  ökonomische  Tatsachen  als  Minus- 
tatsachen betrachten,  findet  seine  Rechtfertigung  in  dem  Versuche 
einer  Reduktion  von  ^^'irtschaftsökonomie  auf  Sparökonomie  (er- 
mögliclit  durch  Fiktion  eines  entsprechenden  H). 

7.  Zweckmäßigkeit,  Einfachheit  und  Ökonomie. 

Zwei  Begriffe  scheinen  vor  allem  dem  der  Ökonomie  äußerst 
nahe  zu  stehen ;  es  ist  der  der  Zweckmäßigkeit  einerseits  und  der 
der  Einfacliheit  andererseits. 

Wir  wissen,  daß  L,  das  zweite  Glied  im  Ökonomiebinom,  als 
ein  Werttatbestand,  der  auf  Grund  eines  Mittels  (H)  erreicht  wird, 
ganz  gut  als  „Zweck"  bezeichnet  werden  könnte.  Dem  Zweck- 
mäßigkeitsgedanken ist  die  Binomialität  des  Tatbestandes,  zu  dem 
er  in  Beziehung    steht,    ebenso    wesentlich    wie    dem  Ökonomie- 

Meinong,  Untersuckuugeu.  1" 


274  Wilhelm  Frankl. 

gedanken;  doch  fordert  ersterer  keine  Vergleichsgröße  wie  dieser. 
Man  kann  also  sagen:  Überall,  wo  Ökonomie  vorliegt,  liegt  Zweck- 
mäßigkeit vor;  aber  nicht  überall,  wo  Zweckmäßigkeit  vorhanden 
ist,  muß  auch  Ökonomie  vorhanden  sein. 

Auch  zwischen  Einfachheit  und  Ökonomie  besteht  eine  ge- 
wisse Beziehung.  So  spricht  Wundt  in  Bd.  XIII.  d.  Ph.  St.  über 
das  Prinzip  der  Denkökonomie  unter  dem  Namen  des  Simplizitäts- 
prinzipes.  Zunächst  bedeutet  „einfach"  soviel  wie  „nichtzusammeu- 
gesetzt".  Insofern  ist  Einfachheit  nicht  steigerungsfähig.  Es  ist 
aber  ganz  sprachgebräuchlich,  von  „größerer"  oder  „geringerer" 
Einfachheit  zu  sprechen.  Die  Gegensätzlichkeit,  die  zwischen 
Zusammengesetztheit  und  Einfachheit  besteht,  läßt  sich  eben 
auch  so  fassen,  daß  „weniger  zusammengesetzt"  soviel  heißt  wie 
„einfacher".  Aus  je  weniger  Bestandstücken  sonach  ein  Kom- 
plex besteht,  um  so  einfacher  ist  er.  Während  nun  für  Ökonomie 
Binomialität  wesentlich  ist,  ist  sie  es  nicht  für  Einfachheit.  —  In 
den  Fällen  der  Sparökonomie  findet  man  mitunter  auch  Fälle  von 
Annäherung  an  die  Einfachheit  und  zwar  des  H.  In  den  Fällen 
aber,  in  denen  das  Einfache  bzw.  Einfachere  nicht  als  Mittel  zu 
einer  gewissen  Leistung  (welche  an  sich  auch  durch  kompliziertere 
Mittel  erreicht  werden  könnte)  fungiert,  haben  wir  zwar  Einfach- 
heit vor  uns,  aber  nicht  Ökonomie.^) 

8.  D  e  n  k  ö  k  0  n  0  m  i  e. 

Es  bedarf  keiner  näheren  Ausführung,  wie  die  bisher  ge- 
wonnenen Erkenntnisse  auf  das  spezielle  Gebiet  des  Denkens  an- 
zuwenden sind.  Unter  Denkökonomie  verstehen  wir  eben  jenen 
FaU  von  Ökonomie,  bei  dem  am  Denken  gespart,  mit  dem  Denken 
gewirtschaftet  wird,  bei  dem  das  Denken  das  Material  der  Ökonomie 
oder  doch  das  erste  Glied  des  Ökonomiebinoms  darstellt.  Damit 
ist  bereits  gegeben,  daß  es  zweierlei  Fälle  von  Denkökonomie  gebe : 
solche,  in  denen  das  zweite  Glied  des  Ökonomiebinoms  selbst 
wieder  einen  Fall  des  Denkens  darstellt,  und  solche,  in  denen  es 
ein  Fall  von  Nichtdenken  ist.    Zu  bemerken  ist  hierzu  nur,   daß 


^)  Zum  Begriffe  der  „Einfachheit"  ist  ev.  zu  vergleichen  Höflek  St.  z.  gw, 
Ph.  d.  M.  u.  p.  94. 


über  Ökonomie  des  Penkens.  275 

wir  unter  ..Denken"  in  dieser  Arbeit  weder  psychische  Tatsachen 
überhaupt  verstehen,  wie  dies  z.  B.  von  Descaktes  geübt  "vsairde, 
noch  auch  den  Terminus  „Denken",  wie  dies  von  Meinong  ge- 
schehen ist,^)  auf  die  gegensätzlichen'^)  intellektuellen  Tatsachen 
einschränken,  sondern  daß  wir  unter  „Denken"  jedweden  intellek- 
tuellen Tatbestand  verstehen  wollen,  und  das  deshalb,  weil  der 
Terminus  „Denken"  in  jenem  allgemeinen  erstformulierten  Sinne 
veraltet  ist,  andererseits  deshalb  —  dies  bezieht  sich  auf  die  zweite 
Auffassung  des  „Denkens"  --  weil  den  Vertretern  des  Prinzips 
der  Denkökonomie  eine  so  scharfe  Scheidung  insbesondere  des 
Vorstellens  vom  Denken  ferne  zu  liegen  scheint.  Es  liegt  sonach 
im  Interesse  der  Vollständigkeit  unserer  Untersuchung,  auch  das 
Vorstellen  nicht  prinzipiell  auszuschließen. 

Würde  die  AMssenschaft  der  psychischen  Tatsachen  bereits  fixe 
Maßmethoden  besitzen,  dann  würde  es  sich  vielleicht  empfelilen, 
unter  Denkökonomie  jene  Ökonomie  zu  verstehen,  deren  Material 
Denkarbeit  ist.^)  Da  die  Akten  indes  über  diese  Angelegenheiten 
noch  nicht  geschlossen  sind,  da  ferner  die  Vertreter  des  Prinzipes 
der  Denkökonomie,  auch  wenn  sie  von  Kraftaufwand  in  betretf 
des  Psychischen  sprechen,  darunter  doch  nicht  etwas  in  analoger 
Weise  Fixiertes  verstehen  können,  als  es  die  einschlägigen  physi- 
kalischen Begriffe  sind,  so  müssen  wir  uns,  und  wie  ich  holte, 
keineswegs  zum  Schaden  der  Sache  selbst,  zugleich  im  genauesten 
Einklang  mit  der  Etymologie  des  Wortes,  bescheiden,  unter 
Ökonomie  des  Denkens  im  allgemeinen  und  vorläufig  jene  Öko- 
nomie zu  verstehen,  bei  der  am  Denken  gespart,  bzw.  mit  dem 
Denken  gewirtschaftet  wird. 

9.     Zusammenfassung   und  Übergang  zum   Speziellen. 

Die  wichtigsten  Ergebnisse  unserer  bisherigen  Untersuchungen 
dürften  sich  in  die  Sätze  zusammenfassen  lassen: 

1.  Alle  Ökonomie  ist  binomial. 

2.  Alle  Ökonomie  ist  relativ. 

3.  Nicht  alle  Ökonomiefälle  begründen  ein  Ökonomieprinzip. 


1)  Meinong,  Ü.  A.  §  61 

-)  Hinsichtlich  des  Gegensatzes  von  Ja  und  Nein. 

*]  Vgl.  Höfler.  Ps.  A.  §  21. 

18* 


27ß  Wilhelm  Frankl. 

Jedes  Gesetz,  und  so  auch  ein  hypothetisches  Ökonomieprinzip, 
behauptet  die  regelmäßige  Koinzidenz  zweier  Daten.  So  verbindet 
z.  B.  Newtons  Gravitationsgesetz  zwei  voneinander  in  bestimmter 
p]ntfernung  befindliche  Massen  als  das  eine  Datum  mit  einer  be- 
stimmtgroßen Kraft  als  dem  zweiten  Datum.  Ein  Ökonomieprinzip 
im  besonderen  hat  sonach  eine  Koinzidenz  von  Ökonomie  und  einem 
anderen  Datum  zu  behaupten.  Dieses  andere  Datum  kann  nun 
die  gesamte  Wirklichkeit  oder  ein  spezieUer  Teil  davon  sein.  Da- 
her werden  wir  zunächst  die  Beziehungen  zwischen  Ökonomie  und 
Wirklichkeit  (vorzugsweise  des  Denkens)  untersuchen,  wobei  wir 
den  Behauptungen  der  Theoretiker  des  Ökonomieprinzips  mangels 
eines  einheitlichen  Leitgedankens  folgen  wollen.  —  Die  Beziehungen 
zwischen  Erkenntnis  und  Ökonomie,  sowie  die  zwischen  gewissen 
emotialen  Bestimmungen  und  Ökonomie  werden  wir  ihrer  Wich- 
tigkeit wegen  in  zwei  getrennten  Kapiteln  behandeln.  In  den 
letzteren  wird  eine  so  strenge  Anlehnung  unserer  Untersuchungen 
an  die  Aufstellungen  der  Vertreter  des  Prinzips  der  Denkökonomie 
(AvENARius,  Mach,  Coenelicjs)  —  wie  in  den  über  „Ökonomie  und 
Wirklichkeit"  —  entbehrlich  sein. 


Kapitel  II. 
Ökonomie  und  Wirklichkeit. 

1.    Allgemeines. 

Es  lassen  sich  bereits  vor  aller  Untersuchung  folgende  Tat- 
sachen festlegen: 

Eine  Koinzidenz  von  Ökonomie  und  ^Mrldichkeit  in  toto  kann 
nur  behauptet  werden  bei  einer  der  Möglichkeit  angehörigen  Ver- 
gleichsgröße. Nur  wenn  die  oben  verlangte  Koinzidenz  auf  ein 
Teilgebiet  der  Wirklichkeit  beschränkt  ist,  kann  eine  ebenfalls 
der  Wirklichkeit  entnommene  Vergleichsgröße  in  Betracht  kommen. 

Ein  allgemeines  Minimumprinzip  könnte  nur  die  Koinzidenz 
der  Wirklichkeit  mit  dem  Minimum  der  Möglichkeit  behaupten. 
Eine  wirkliche  Vergleichsgröße  kommt  hierbei  natürlich  nicht  in 
Betracht.  ^Vürde  nämlich  in  solchem  Falle  die  Koinzidenz  der 
Größe    des    wirklichen    Tatbestandes    nicht    mit    dem    Minimum 


über  Ökonomie  des  Denkens.  277 

(sondern  nur  etwa  einem  Minus)  der  Möglichkeit  zu  behaupten 
sein,  so  würde  man  nicht  von  einem  „Minimumpriuzip"'  sprechen 
können.  —  Eine  Vergleichsgröße  der  Möglichkeit  aber,  im  Falle 
das  Prinzip  kein  Minimumprinzip  ist.  hat  kaum  eine  Bedeutung. 
Solche  Fälle  wollen  wir  daher  außer  Betracht  lassen. 


2.   Ökonomie  und  Kausalität. 

Da  das  Kausalgesetz  mindestens  progressiv  eindeutig  ist,  d.  h. 
da  durch  die  vollkommen  bestimmte  Ursache  auch  die  AMrkung  an 
sich  vollkommen  bestimmt  ist.  so  kann,  wenn  man  unter  (H,L) 
ein  voUständiges  Kausalbinom  versteht,  Wirtschaftsökonomie  nur 
gegenüber  einer  möglichen,  niemals  einer  wirldichen  Vergleichs- 
größe behauptet  werden;  dagegen  allerdings  ev.  Sparökonomie. 
Die  Unmöglichkeit  der  Wirtschaftsökonomie  fällt  weg,  wenn  (H,L) 
kein  vollständiges  Kausalbinom  ausmacht;  und  es  liegt  hier 
wieder  —  in  der  Auswahl  des  H.L  —  ein  Spielraum  für  Willkür 
bei  der  Konstatierung  von  Ökonomie  vor. 

Ferner  sei  noch  folgendes  bemerkt:  L  wird  meistens  durch 
ein  H,  welches  z.  B.  A  sei,  erreicht;  es  kann  aber  zu  demselben 
Zweck  an  die  Stelle  des  A  ein  B  treten.  Geschieht  dies,  so  wird 
„an  A  gespart''.  Aber  man  kann  daraus  allein  nicht  schließen, 
daß  in  diesem  Falle  überhaupt  gespart  wird;  erst  dann  könnte 
man  es,  wenn  festgestellt  wäre,  daß  B  A.  In  dem  hier  gemeinten 
Sinne  wird  von  Ökonomie  usw.  mitunter  dort  gesprochen,  wo  nur 
Sparen  an  Erfahrung  gemeint  sein  kann.^) 

3.   AvENAEius'  Formulierungen  des  Prinzips. 

Die  Wirklichkeit,  die  uns  hier  vor  allem  interessiert,  ist  die  des 
Psychischen  oder  noch  genauer:  die  des  Denkens.  Die  Beliauptung 
von  allgemeiner  Denkökonomie  kann  als  psychologisches  Ökonomie- 
prinzip -)   bezeichnet  werden.    Dagegen  lassen  wir  die  rein  physi- 


')  So,  wenn  von  Mach  an  verschiedenen  Orten  behauptet  wird,  daß  Wissen- 
schaft Erfahrung  erspare. 

-)  Im  genannten  Seminare  stellte  Dr.  Ameseder  in  diesem  Sinne  ein  psycho- 
logisches, wissenschaftstheoretisches  und  erkenutnistheoretisches  Ökonomieprinzip 
zur  Diskussion. 


27g  Wilhelm  Frankl. 

kaiischen  Minimumprinzipien,  wie  das  von  Maupertuis,  Euler, 
Hamilton.  Gauss.  Fermat  usw.  beiseite  und  verweisen  bezüg- 
lich derselben  auf  Mach,  M.  p.  382,  393,  396  7.  399,  409,  413.  489, 
490,  510 ff.;  Petzold,  M.  M.  u.  Ö.  (XIV.  V.  f.  w.  Ph.),  E.  i.  d.  Ph. 
d.  r.  E.  I.  p.  39;  Wundt,  LH.,  Methodenlehre  I.  p.  310—314  inkl.; 
endlich  Eduard  v.  Hartmans,  D.  ^^^  d.  m.  Ph.,  Die  Konstanz-  und 
Minimumprinzipien. 

Was  nun  unser  psychologisches  Ökonomiepriuzip  anlangt,  so 
formuliert  es  Avenarius  zuerst :  \)  „Die  Änderung,  welche  die  Seele 
ihren  ^' orstellungen  bei  dem  Hinzutritt  neuer  Eindrücke  erteilt,  ist 
eine  möglichst  geringe;  oder  mit  anderen  Worten:  der  Inhalt 
unserer  Vorstellungen  nach  einer  neuen  Apperzeption  ist  dem  In- 
halte vor  derselben  möglichst  ähnlich."  Diese  Formulierung  ist 
als  solche  eines  Ökonomieprinzips  unbedingt  abzuweisen  und  zwar: 

1.  mangels  einer  passenden  Vergleichsgröße.  Eine  Vergleichs- 
größe der  Wirklichkeit  ist  nämlich  durch  das  Prinzip  selbst  aus- 
geschlossen. Bei  einer  der  Möglichkeit  entnommenen  Vergleichs- 
größe aber  stimmt  das  Prinzip  nicht,  weil  nicht  einzusehen  ist, 
warum  eine  noch  kleinere  Änderung  als  die  wirkliche  dabei  ausge- 
schlossen sein  sollte. 

2.  mangels  der  Binomialität.  bzw.  eines  L.  —  Auch  Mach  er- 
kennt, daß  mit  dieser  Formulierung  nichts  anzufangen  ist.^)  Petzold 
vermißt  die  Beachtung  der  Gleichberechtigung  der  beiden  (den  ur- 
sprünglichen Vorstellungen  einerseits  und  den  neuen  Eindrücken 
andererseits  innewohnenden)  Tendenzen.")  Ein  allgemeines  psycho- 
logisches Ökonomieprinzip  als  Minimumprinzip  können  wir  aus  den 
gleichen  Gründen  überhaupt  endgültig  ablehnen. 

War  die  erste  Formulierung  des  in  Rede  stehenden  Prinzipes 
eine  solche  unter  dem  Gesichtspunkte  der  ..Beharrung",  so  ist  die 
zweite  •*)  eine  solche  unter  dem  Gesichtspunkte  der  „Entwicklung". 


')  Avenarius,  Ph.  a.  D.  d.  "\V.     Vorwort. 

')  Mach,  P.  d.  Wl.  p.  393. 

')  ,.Mit  der  Änderung  der  Yorstenungeu  oder  der  Festhaltung  eines  Ge- 
dankens neuen  Eindrücken  gegenüber  ist  die  Idee  der  Spar.samkeit  ebensowenig 
zn  verbinden,  wie  mau  beim  Kräfteparallelogramm  von  einem  Minimum  der 
Änderung  der  Größe  und  Richtung  der  einen  Kraft  durch  die  andere  sprechen 
kann."     Petzold,  M.  M.  u.  Ö.  —  V.  f.  w.  Ph.  XIV. 

*)  Avenarius,  Ph.  a.  D.  d.  W.     Vorwort. 


über  Ökonomie  des  Denkens.  279 

Sie  lautet:  „Die  Seele  verwendet  zu  einer  Apperzeption  nicht 
mehr  Kraft  als  nötig,  und  gibt  bei  einer  Mehrheit  möglicher 
Apperzeptionen  derjenigen  den  Vorzug,  welche  die  gleiche  Leistung 
mit  einem  geringeren  Kraftaufwande  bzw.  mit  dem  gleichen  Kraft- 
aufwande  eine  größere  Leistung  ausführt;  unter  begünstigenden 
Umständen  zieht  die  Seele  selbst  einem  augenblicklich  geringeren 
Kraftaufwande,  mit  welchem  aber  eine  geringere  Wirkungsgröße 
bzw.  Wirkungsdauer  verbunden  ist.  eine  zeitweilige  Mehr- 
anstrengung vor,  welche  um  so  größere  bzw.  andauerndere  Wir- 
kungsvorteile hat." 

Diese  Formulierung  (die,  nebenbei  gesagt,  sehr  wichtige  Be- 
stimmungen enthält  —  so  z.B.  die  Beschreibung  der  beiden  Ökonomie- 
typen) kann  nicht  so  kurzer  Hand  erledigt  werden,  wie  die  erste. 
Wir  wenden  uns  daher  nun  zur  Besprechung  der  wichtigsten 
Tatsachen,  die  nach  Avenarius'  ursprünglicher  Meinung  eine  solche 
These  stützen  sollen. 

4.  Ökonomie  und  Selektion.^) 

Bei  Begrenztheit  der  ..Kraft"  eines  Individuums  ist  öko- 
nomisches Verlialten  eine  günstige  Erhaltungschance  für  das- 
selbe. Eine  bestimmte  Größe  von  Ökonomie,  welche  für  ver- 
schiedene Individuen  verschieden  ist,  und  sich  den  respektiven 
,.Kräften"'  derselben  ungefähr  verkehrt  proportional  verhält,  markiert 
für  jedes  derselben  die  Schwelle,  welche  Sein  von  Nichtsein  trennt, 
—  ohne  aber  damit  noch  andere  Momente,  welche  über  Sein  und 
Nichtsein  entscheiden,  auszuschließen.  Diese  Tatsache  nun  wollen 
wir  als  ,.biologisches  Ökonomieprinzip"  bezeichnen.  Sofern  nun 
das  Denkverhalten  eines  Individuums  eines  ist,  auf  das  der 
Ökonomiebegriff  Anwendung  finden  kann,  und  sofern  wir  als  Material 
solcher  Ökonomie  ..psj'chische"  bzw.  „physische  Kraft"  dabei  voraus- 
setzen, insofern  ist  tatsächlich  ein  gewisser  Grad  von  Denk- 
ökonomie durch  das  Selektionsprinzip  oder  näher  durch  das  „bio- 
logische Ökonomieprinzip"  gewährleistet.  Die  Denkbetätigung  des 
Individuums  darf  al)er  nicht  nur  von  der  Seite  des  Kraftaufwandes, 
sondern  muß   auch  von  der  Seite  der  Leistung  betrachtet  werden. 


>)  ÄvEN-ARiüs,  Ph.  a.  D.  (1.  W.  J.  A.  I.  1,  2. 


2gQ  Wilhelm  Frankl. 

Das  Denken  ist  ev.  selbst  ein  Erhaltimgsmittel  für  das  Individuum : 
jene  Individuen,  die  mit  dem  kleineren  Denkaufwand  dasselbe 
günstig-eKesultat  erzielen  wie  andere,  sind  ceteris  paribus  erhaltungs- 
fälliger als  diese  anderen.  Unökonomische  Denkbetätigung  wird  also 
um  so  mehr  ausgeschaltet,  je  härter  der  Kampf  ums  Dasein  ist. 
Sofern  Ökonomie  durch  Selektion  allein  gewährleistet  ist, 
hat  ein  entsprechendes  Ökonoraieprinzip  zunächst  tautologischen 
Charakter  und  besagt:  a)  Durch  die  Existenz  dieses  Individuums 
im  gegenwärtigen  Augenblicke  tn  ist  eine  Kraftvergeudung  von 
der  Größe  X,  welche  mit  dessen  Fortdauer  unverträglich  wäre, 
vor  tn  seitens  desselben  Individuums  ausgeschlossen.  Schon  weniger 
tautologischen  Charakter,  aber  dafür  auch  weniger  Gewißheit 
hat  es,  wollte  man  b)  aus  dieser  ersten  Erkenntnis  ein  gewisses 
ökonomisches  Verhalten  dieses  Individuums  überhaupt  ableiten. 
Noch  weniger  tautologisch  schlösse  man  c)  aus  der  Existenz  des 
Individuums  im  Zeitpunkte  tu  mit  Hinzunahme  eines  weiteren 
Faktors,  des  „Kampfes  ums  Dasein",  auf  ein  gewisses  (wirtschafts-) 
ökonomisches  Verhalten  des  Individuums  überhaupt. 

5.  Ökonomie  und  Apperzeption,  Ableitung  des 
Prinzipes  von  Cornelius. 

AvENARius  ^)  spricht  ferner  von  Ökonomie ,  sofern  sie  sich  im 
Apperzeptionsprozesse  manifestiert.  Bezüglich  des  Begriftes  der 
Apperzeption  hält  er  sich  an  Steinthal,-)  welcher  Apperzeption 
definiert  als  die  ,.Bew^egung  zweier  Vorstellungsmassen  gegenein- 
ander zur  Erzeugung  einer  Erkenntnis''.  Daß  diese  Definition  ziem- 
lich metaphorisch  ist,  bedarf  keiner  Konstatierung.  - —  AvEXAEros 
bespricht  die  identifizierende  (Wiedererkennen)  und  die  sub- 
sumierende Apperzeption  (Einordnen).  Es  ist  nicht  schwer,  die 
erstere  als  einen  Grenzfall  der  letzteren  aufzufassen.  Ökonomisch 
daran  erscheint  ev.  die  Tatsache,  daß  schließlich  ein  einziger  in- 
tellektueller Tatbestand,  eben  das  identifizierende  oder  subsumie- 
rende Urteil,  auf  zwei  Gegenstände  zugleich  gerichtet  ist,  während 
solches  auf  zwei  Gegenstände  Gerichtetseiu  sonst  von  zwei  in- 
tellektuellen Tatbeständen  (Vorstellungen)  besorgt  wird.    Außer- 

^)  AvENARius,  Ph.  a.  D.  d.  W.  1.  A.  I.  3  ff. 

^)  Steinthal,  A.  d.  S.  p.  134.  —  1.  Aufl.  zitiert  nach  Lange.  Ü.  Ap.  p.  106 


über  Ökonomie  des  Denke  us.  281 

acht  bleibt  aber  hierbei,  daß  jene  „ökonomische  Tatsache"  in  dem 
Grade  selbst  komplizierter  wird,  auf  je  mehr  Gegenstände  sie 
gerichtet  ist,  und  daß  im  Urteil  abgesehen  vom  Urteilsakt  jene 
beiden  Vorstellungen  auch  enthalten  sein  müssen.  In  Wahrheit  kann 
hier  Ökonomie  so  wenig  behauptet  werden,  wie  man  sagen  dürfte, 
daß  jemand,  der  zwei  Bücher  um  zwei  Kronen  kauft,  ökonomischer 
kaufe  als  der,  welcher  dieselben  um  achtzig  Heller  einkauft. 
Ferner  kann  wohl  nicht  behauptet  werden,  daß  etwa  unser  ganzes 
intellektuelles  Leben  nur  aus  solchen  Apperzeptionen  bestehe. 

Diesem  Gedankenkreise  äußerst  nahe  stehend  erweist  sich 
die  Formulierung  eines  Prinzips  der  Denkökonomie  seitens  Cor- 
NELiu«'.^)  Er  sagt:  ,.Die  ....  Tatsachen  des  AViedererkennens,  der 
zusammenfassenden  Symbolik  und  der  Prädikation  lassen  sich  in 
die  Form  eines  Gesetzes  bringen,  welches  vermöge  der  fundamen- 
talen Bedeutung  jener  Tatsachen  für  den  Zusammenhang  des  psy- 
chischen Lebens  als  allgemeines  psychologisches  Grundgesetz  zu  be- 
trachten ist.  Dieses  Gesetz  können  wir  dahin  aussprechen,  daß 
sich  in  unserem  psychischen  Leben  überall  das  Bestreben  kund- 
gibt ,  verschiedenartige  Erlebnisse  nach  ihren  Ähnlichkeiten  unter 
gemeinschaftliche  Symbole  zusammenzufassen,  oder,  was  dasselbe 
sagt,  überall  soviel  als  möglich  das  Gemeinsame  des  Verschieden- 
artigen durch  ein  zusammenfallendes  Symbol  zu  bezeichnen." 

Beim  Wiedererkennen  wie  bei  der  zusammenfassenden  Sym- 
bolik, ja  auch  bei  der  Prädikation  verhält  es  sich  in  betreif  der 
Ökonomie  wie  bei  der  Apperzeption.  Man  würde  aber  fehl  gehen, 
in  diesem  Verhalten  etwa  das  „Wesen"  insbesondere  des  Wieder- 
erkennens  und  der  Prädikation  finden  zu  wollen.  Denn  nicht  das 
ist  für  jene  Tatsachen  wesentlich,  daß  ein  psychischer  Akt  sich 
überhaupt  auf  zw^ei  Gegenstände  zugleich  bezieht  (wie  dies  ja  beim 
Wiedererkennen  und  bei  der  Prädikation  tatsächlich  der  Fall  ist) 
sondern  vielmehr,  daß  die  Art  dieser  Beziehung  die  Anerkennung 
mindestens  partieller  Identität  jener  Gegenstände  in  sich  schließt.^) 
Darin  kann  aber  doch  wohl  nicht  Ökonomie  erblickt  werden. 

Die  von  uns  Kap.  I.  §  5  geforderte  außerökonomische  Charakte- 


^)  Cornelius,  Ps.  p.  82  ff. 

^)  Vgl.  Meinong,  Ü.  A.  über  die  synthetische  Funktion   der  Annahme  wie 
des  Urteils  p.  145 ff.,  163,  191,  256. 


282 


Wilhelm  Fraxkl. 


listik  gibt  hier  Coenelius  diuch  den  Begritt'  der  ,.Tatsache  funda- 
mentaler Bedeutung:".  Ohne  jedoch  auf  die  Kiitik  dieses  Be- 
griffes wie  die  seiner  Anwendung  in  diesem  Falle  einzugehen, 
müssen  wir  sagen,  daß  dieser  Begritt"  das  Verlangte  nicht  leistet, 
methodologisch  unbrauchbar  ist,  weil  er  außer  diesen  ökonomisch  sein 
sollenden  Tatbeständen  noch  die  „Unterscheidung  des  Sukzessiven" 
umfaßt,  von  deren  fundamentaler  Bedeutung  Cornelius  wenigstens 
Ps.  p.  17  ff",  spricht. 

6.    Ökonomie  und  Gewohnheit. 

In  Ph.  a.  D.  d.  W.  I.  A.  IV.  spricht  Avenaeits  von  der  ökono- 
mischen;! Funktion  der  Gewohnheit  u.  zw.  im  Apperzeptionsprozesse. 
Er  präzisiert  die  durch  Gewohnheit  geschatt'ene  Erleichterung  hin- 
sichtlich der  Apperzeption  auf  drei  Punkte:  ,,Es  werden  1.  nicht 
mehr  Vorstellungen  zur  Apperzeption  herangezogen  als  nötig  sind, 
2.  die  geeigneten  Vorstellungsmassen  sogleich  ergrift'en,  ohne  erst 
durch  Nachdenken  (durch  weitere  vermittelnde  Apperzeptionen) 
gesucht  zu  sein,  und  endlich  3.  werden  die  solcherart  beschränkten 
und  beschatteten  apperzipierenden  Vorstellungsmassen  nicht  einmal 
in  allen  ihren  Teilen  zu  vollem  Bewußtsein  erhoben,  wie  sich  am 
deutlichsten  bei  der  Ausführung  komplizierter  gewohnheitsmäßiger 
Bewegungen  zeigt  —  es  wird  auch  der  Intensität  nach  Bewußtsein 
gespart." 

Ferner  spricht  Ayenarius  in  der  K.  d.  r.  E.  bei  verschiedenen 
Gelegenheiten  davon,  daß  irgendwelche  Prozesse,  indem  sie  geübt 
werden,  durch  Elimination  des  Unnötigen  mehr  und  mehr  „erfolgs- 
mäßig" werden.  So  z.  B.  II.  693  betreft"s  des  „aftektiven  Verhaltens", 
I.  374  betrett's  unabhängiger  Vitalreihen.  II.  890  betreffs  abhängiger 
Vitalreihen. 

Ich  halte  dafür,  daß  alle  diese  Tatsachen  wirklich  durch  die 
Formel  vom  „Ausfall  des  Unnötigen"  treftend  charakterisiert  sind. 
„Mechanisierung"  (=:  Ausfall  von  Bewußtsein)  ist  nur  ein  Spezialfall 
davon.  Die  größere  Leichtigkeit,  mit  der  geübte  Tätigkeiten,  die 
von  ihren  Bestandstücken  durch  die  Übung  nichts  verloren  zu 
haben  scheinen,  vollzogen  werden,  dürfte  man  am  besten  durch 
„Ausfall  von  Hindernissen"  erklären. 

"NMr  können  also  sagen:  Alle  gewohnten  (geübten)  Tätigkeiten 


über  Ökonomie  des  Denken?.  283 

sind  ökonomisch  (im  Verg-leicli  mit  denen,  aus  welchen  sie  durch 
Gewohnheit  etc.  hervorgeg-an^en  sind).  Diesen  Satz  wollen  wir 
als  „Psychologisches  Okonomieprinzip  der  Gewohnheit"  bezeichnen. 
Wenn  man  nun  einerseits  weiß,  daß  Tätigkeiten  durch  entsprechende 
Wiederholung  zu  gewohnten  werden,  andererseits  nicht  ohne  Not 
Schwellen  statuieren  will,  so  ist  man  zugleich  genötigt,  schon  den 
einzelnen  noch  ungewohnten  Akten  eine  Gewohnheits-  und  damit 
eine  ökonomische  Tendenz  zuzuschreiben. 


7.    Ökonomie  und  Sprache. 

In  Ph.  a,  D.  d.  W.  I.  A.  V.  23  f.  führt  Avenariüs  sprachliche  Tat- 
sachen an,  die  die  Geltung  des  Ökonomieprinzipes  darlegen  sollen.  Es 
sind  dies  vor  allem  1.  die  Determination  einer  mehrdeutigen  ^^'urzel 
durch  Hinzufügen  einer  anderen'),  2.  die  lautliche  Differenzierung 
aus  einer  vieldeutigen  Wurzel  zur  Präzision   der  Bedeutungen^). 

Auf  den  ersten  Blick  bietet  die  sub  1  namhaft  gemachte  Tat- 
sache das  Bild  von  UnÖkonomie.  "\"\^ährend  nämlich  früher,  vor 
der  Determination,  eine  einzige  Wortvorstellung  (als  H)  mit  mehreren 
Bedeutungsvorstellungen  (als  L)  verbunden  war,  ist  nun,  nach  der 
Determination,  mit  zwei  Wortvorstellungen  (als  H)  eine  kleinere 
Anzahl  von  Bedeutungsvorstellungen  (als  L)  verbunden,  ^^'orauf 
es  hier  aber  ankommt,  ist  dies,  daß  unter  den  gegebenen  Umstän- 
den eben  die  wenigeren  Bedeutungsvorstellungen  gegenüber  den 
mehreren  den  größeren  Wert  repräsentieren.  Also  ist  nicht  L 
größer,  sondern  der  Wert  des  L,  —  mag  das  auch  sonst  meistens 
Hand  in  Hand  gehen,  und  mag  man  auch  in  eigenartiger  Erwei- 
terung des  Leistungsbegritfes  in  solchen  Fällen  eben  den  ^^'ert  des 
sonst  normalerweise  als  L  Bezeichneten  selbst  mit  L  bezeichnen. 
Nicht  der  Ökonomiegedanke  in  seiner  Allgemeinheit,  sondern  der 
der  Zweckmäßigkeit  scheint  hier  wie  bei  den  meisten  linguistisclien 
Tatsachen  das  durchschlagende  Moment  zu  sein.  Von  Ökonomie 
könnte  man  ferner  in  diesem  Falle  dann  sprechen,  wenn  man  das 
Suchen  der  richtigen  (d.  h.  der  vom  Sprechenden  bzw.  Schreibenden 


')  AvENARics  führt  aus  Aug.  Schleicher,  Die  Darwinisclie  Theorie  und  die 
Sprachwissenschaft  2.  Aufl.  an:  dha  =  setzen  (überhaupt);  dha-dha-ma  =  ich  setze. 

-)  Desgleichen  aus  Laz.  Geiger  als  Beispiele:  Der  und  die  See,  Bett  und 
Beet.    Ursprung-  der  Sprache,  Stuttgart  1869,  p.  55  ff. 


234  Wilhelm  Frankl. 

hervorzurufen  beabsichtigten)  Bedeutungsvorstellung  als  H.  ihr  tat- 
sächliclies  Hervorrufen  bzw.  Finden  als  L  auffaßt.  —  Aus  diesem 
Beispiele  möge  man  ersehen,  wie  willkürlich  es  in  den  meisten 
Fällen  ist,  von  Ökonomie  zu  sprechen. 

Fassen  wir  in  dem  sub  2  angeführten  Falle  die  Bedeutuugs- 
vorstellungen  als  L,  so  zeigt  sich  auch  hier  UnÖkonomie.  Die 
beiden  anderen  bereits  oben  geltend  gemachten  Fassungen  von  H 
und  L  zeigen  auch  hier  Ökonomie.  Übrigens  ließen  sich  noch  andere 
sprachliche  Tatsachen  anführen,  die  ebenfalls  verschiedene  und 
darunter  auch  ökonomische,  speziell  denkökonomische  Interpreta- 
tionen zulassen.  "Wir  wollen  jedoch  mit  Konstatierung  der  Willkür- 
lichkeit solcher  Interpretation  sowie  des  Zweckmäßigkeitsgesichts- 
punktes als  des  in  solchen  Fällen  ausschlaggebenden  diese  Betrach- 
tungen und  damit  die  Untersuchungen  des  zweiten  Kapitels  beenden.^) 

Wir  konnten  auch  nichts  ausfindig  machen,  was  zu  einer  so 
allgemeinen  Behauptung,  wie  Avenarius'  zweite  Prinzipsformulie- 
rung (s.  p.  279)  eine  ist,  berechtigte. 


Kapitel  III. 
Ökonomie  und  Wahrheit. 

1.  Ökonomie  und  Wahrheit. 

Wir  haben  vor  aUem  festzusetzen,  was  im  Falle  des  Er- 
kennens  als  H,  was  als  L  angesehen  werden  könnte.  —  Als  H 
können  wir  etwa  den  Verbrauch  an  ..psychischer  Ki^aft",  als  L 
das  „Erkennen"  selbst  in  Betracht  ziehen.  Wir  dürfen  im  all- 
gemeinen vermuten,  daß  Urteile,  welche  anderen  gegenüber  als 
„einfacher"'  bezeichnet  werden,  weniger  an  psj'chischer  Kraft 
verbrauchen    als    jene    anderen    Urteile.      Bei    vermittelten    Er- 


')  Der  Gedauke,  den  Avenarius  au  verschiedeneu  Stellen  der  K.  d.  r.  E. 
ausspricht  (so  z.  B.  I.  n.  247),  daC  stets  jene  „Änderungen  anzuuehmeu  seien, 
die  die  anderen  denkbaren  an  Schnelligkeit  übertreffen"  oder  „deren  Setzung  die 
jedesmalige  kleinere  Zeit  bedarf"  —  kann  auf  Grund  des  Zusammenhanges  nur 
als  Mißverständnis  der  Tatsache  erscheinen,  daß  diejenige  Änderung  unter  mehreren 
möglichen ,  die  gegen  dasselbe  Ziel  tendieren,  für  den  weiteren  Verlauf  des  psy- 
chischen Lebens  entscheidend  ist,  die  den  anderen  zuvorkommt,  —  als  ein  solches 
Mißverständnis  aber  muß  dieser  Gedanke  von  uns  übergangen  werden. 


über  Ökonomie  des  Denkens.  285 

kenntiiissen  werden  wir  feiner  zu  vermuten  berechtigt  sein,  daß 
der  Anzahl  der  vermittelnden  Urteile  auch  die  Größe  des 
psychischen  Kraftverbrauchs  entspricht.  —  Das  L.  das  Erkennen 
selbst,  erweist  sich  als  steig-erbar  nach  der  Anzahl  der  Erkennt- 
nisse ,  die  in  der  als  L  fungierenden  impliziert  \)  sind.  So  im- 
pliziert z.  B.  die  Erkenntnis :  „Alle  Planeten  bewegen  sich  in  ellip- 
tischen Bahnen"  die  andere  Erkenntnis :  „Die  Planetenbahnen  sind 
Kegelschnittlinien."'  Es  liegt  also  im  Falle  des  Erkennens  die 
Möglichkeit  sowohl  für  Spar-  wie  für  Wirtschaftsökonomie  vor. 

Um  nun  beim  weniger  Komplizierten  anzufangen,  so  sehen 
wir,  daß  die  Anzahl  der  vermittelnden  Urteile  usw.  für  Wahrheit 
oder  Wahrscheinlichkeit  des  vermittelten  in  keiner  Weise  ent- 
scheidet. ^^'olll  ist  bei  einer  längeren  Kette  von  Vermittlungen 
die  Irrtumschance  größer;  wohl  wird  das  Aufbringen  entsprechender 
Evidenz  für  das  Erschlossene  um  so  schwieriger,  je  länger  die  Ver- 
mittlungskette ist;  wohl  ist  es  endlich  auch  richtig,  daß  wir  ohne 
Evidenz  keine  Garantie  für  das  Bestehen  von  Wahrheit  oder 
Wahrscheinlichkeit  haben:  aber  über  Wahrheit  und  Falschheit, 
über  Wahrscheinlichkeit  und  Unwahrscheinlichkeit  kann  nicht 
nach  der  Anzahl  der  vermittelnden  Akte  abgeurteilt  werden. 

Auch  die  Einfachheit  ist  nicht  in  jedem  Falle,  wie  man  ge- 
sagt hat,  sigillum  veri.  Denn  abgesehen  davon,  daß  es  ebenso 
wie  innerhalb  der  wahren  Urteile  auch  innerhalb  der  falschen 
einfachere  und  weniger  einfache  gibt,  ohne  daß  dieser  Variabilität 
eine  solche  der  Wahrheit  bzw.  Unwahrheit  oder  Wahrscheinlich- 
keit entspräche,  so  gibt  es  auch,  wie  leicht  einzusehen,  wahre  Ur- 
teile, welche  komplizierter  sind  als  falsche,  —  bzw.  falsche  Urteile, 
die  einfacher  sind  als  wahre.  So  ist  z.B.  das  wahre  Urteil:  „Die 
Summe  zweier  Dreieckseiten  ist  größer  als  die  dritte"  komplizierter 
als  das  falsche:  „Jede  Größe  ist  von  sich  selbst  verschieden." 

'  j  Der  Begriff  der  implizierten  Erkenntnisse  bzw.  Objektive  gestattet  es,  den 
Sinn  der  Redewendungen  „Annäherung  an  die  ,volIe'  Wahrheit",  „es  ist  etwas 
Wahres  daran"  etc.  zii  verstehen,  ohne  Zwischenstufen  zwischen  Wahrheit  und 
Falschheit  anzunehmen.  Man  erkennt  leicht:  Wahres  kann  niemals  Falsches  im- 
plizieren, dagegen  kann  allerdings  Falsches  Wahres  implizieren.  In  je  höherem 
Maße  letzteres  der  Fall  ist,  als  um  so  „wahrer"  kann  das  betreffende  Falsche  be- 
zeichnet werden  —  unbeschadet  seiner  definitiven  Falschheit.  Diesen  Gebrauch 
des  Komparativs,  daß  er  nämlich  die  bloße  Annäherung  an  das  mit  dem  Positiv 
Gemeinte  bezeichnet,  finden  wir  auch  sonst.    Vgl.  oben  Kap.  I,  §  7. 


286 


Wilhelm  Frankl. 


Ein  allgemeines  erkenntnistlieoretisches  Prinzip  der  Spar- 
ökonomie müssen  wir  also  abweisen,  aber  ebenso  ein  solches  der 
AVirtscliaftsökonomie ;  denn  eine  Erkenntnis,  welche  —  z.  B.  ver- 
möge ihrer  Allgemeinheit  —  andere  Erkenntnisse  involviert,  ist  ja 
darnm  nicht  wahrer  als  Spezialerkenntnisse,  im  besonderen  als  die- 
jenigen Spezialerkenntnisse,  welche  sie  gerade  involviert.  Ist  dem 
so,  dann  kann  es  natürlich  nur  höchst  unstatthaft  erscheinen, 
Wahrheit  etwa  durch  Ökonomie  definieren  zu  wollen.^) 

2.  Ökonomie  und  Wahrscheinlichkeit  im  besonderen. 

Eine  eigentümliche  Zwischenstellung  zwischen  Wahrheit  und 
Falschlieit  nimmt  die  Wahrscheinlichkeit  ein.  Und  auf  dem  Ge- 
biete der  Wahrscheinlichkeitserkenntnis  finden  sich  einige  Tat- 
sachengruppen mit  ökonomischem  Aspekt. 

So  ist  es  z.  B.  bekannt,  daß  die  Wahrscheinlichkeit  einer 
Hypothese  abgesehen  von  anderen  dabei  in  Betracht  kommenden 
Momenten  mit  der  Anzahl  der  durch  sie  erklärten  Tatsachen  wächst. 
Faßt  man  nun  die  in  Eede  stehende  Hypothese  als  H,  das  mit 
der  Anzahl  der  durch  sie  erklärten  Tatsachen  steigerbare  Erklären 
als  L  auf,  so  haben  wir  die  Möglichkeit  für  Sparökonomie  geboten.-) 
Eben  dieses  Prinzip   der  Hypothesenökonomie")   spricht  sich  auch 


1)  Vgl.  Hönigswald,  K.  d.  M.  Ph. 

^)  Innnerbin  ist  diese  Festsetzung  willkürlich.  Wenn  man  die  eine  oder 
mehrere  Hypothesen  stützenden  Tatsachen  mit  H,  die  Hypothese  bzw.  Hypothesen 
selbst  mit  L  bezeichnet,  so  ergäbe  das  einen  Zusammenhang  von  Ökonomie  mit 
Unwahrscheinlichkeit. 

^]  Daß  jedoch  die  Ökonomie  in  solchen  Fällen  nicht  das  einzig  Maßgebende 
ist,  erkennt  aitch  Avenakius  :  ,.An  dieser  Stelle  mag  bemerkt  werden,  daß  es  ganz 
im  Sinne  unserer  Theorie  ist,  wenn  in  einer  abhängigen  Vitalreihe  das  .Interesse, 
immer  in  erster  Linie  auf  ,Lösung'  der  ,Probleme'  überhaupt  (Aufhebung  der 
Vitaldifferenzen),  und  erst  in  zweiter  Linie  auf  ,Einfachheit'  der  ,Lösung'  (An- 
näherung au  die  vollkommene  Vermittlung)  gerichtet  erscheint.  Ist  bei  einer 
Mehrheit  konkurrierender  ,Lösuugsmittel'  (Vermittlungen)  von  ungleicher  ,Ein- 
fachheit'  die  Summe  gelöster  Probleme  (aufgehobener  Vitaldifferenzen)  gleich,  so 
hätte  die  ,eiufachere  Lösung'  die  größere  ,Wahrscheinlichkeit'  des  schließlicheu 
Sieges  für  sich;  ist  aber  die  Summe  ,gelöster  Probleme'  bei  der  minder  ,einfachen 
Lösung'  größer,  so  würde  die  minder  ,einfache'  über  die  ,einfache  Lösung'  zu  siegen 
die  größere  ,C'hance'  haben."  K.  d.  r.  E.  IL  sub  u.  909  —  freilich  spricht  hier 
Avenakius  mu-  von  der  Wahrscheinlichkeit,  die  sich  auf  psychische  Tatsachen 


über  Ökonomie  des  Denkens.  287 

in  dem  bezeichnenden  Ausdruck  „Hypothesenlast"  aus,  es  ist 
wesentlicli  dasselbe  wie  der  Satz:  „Priucipia  (bzw.  rerum  entia) 
praeter  necessitatem  non  sunt  multiplicanda",  der  auf  Wilhelm 
VON  OccAM  zurückgeht.  Schließlich,  das  sei  noch  bemerkt,  ist 
das,  was  Cornelius  „Theorie"  nennt,  nichts  anderes  als  ein  System 
von  auf  ein  Tatsachengebiet  bezüglichen  Hypothesen. 

WuNDT  ')  will  die  berechtigte  Anwendung  des  methodologischen 
Ökonomieprinzips  auf  Hypothesen  eingeschränkt  wissen.  Der  Grund, 
einfachere  Hypothesen  deshalb  zu  bevorzugen,  weil  mit  ihnen 
leichter  zu  operieren  sei  (den  Wuxdt  anführt),  spielt  gewiß  seine 
Rolle,  darf  aber  wohl  nicht  als  das  einzige  jene  Bevorzugung  be- 
stimmende Moment  angesehen  werden. 

A.  d.  E.  p.  136  f.  macht  Mach  die  Bemerkung,  daß  in  den  von 
ihm  dort  behandelten  Fällen  (beim  perspektivischen  Sehen)  zu- 
gleich mit  einem  Prinzipe  der  Ökonomie  ein  Prinzip  der  ^^^ahr- 
scheinlichkeit  Hand  in  Hand  gehe.  Das  entspricht  durchaus  un- 
serem oben  formulierten  Gesetze;  beachtenswert  ist  nur,  daß  in 
den  von  Mach  am  angeführten  Orte  gemeinten  Fällen  die  der 
Wahrscheinlichkeit  entsprechende  Auffassung  nicht  auf  Grund  von 
Überlegung,  sondern  unmittelbar,  instinktiv,  erfolgt,  wie  überhaupt 
auch  sonst  instinktive  Betätigung  des  Intellektes  —  z.  B.  bei  „Er- 
fahrungsurteilen im  prägnanten  Sinn"  -)  —  dem  Gesetze  der  Wahr- 
scheinlichkeit entspricht.  So  dürfte  wohl  der  Begrilf  des  „Dinges" 
in  analoger  Weise  ein  instinktiver  Besitz  des  Menschen  sein ;  ^)  die 

und  nicht  auf  durch  dieselben  erfaßte  gegenständliche  Momente  bezieht.  Vgl. 
hierzu  Cornelius,  Ps.  p.  38  ff.  —  Die  Punkte  2  und  3  in  Avenarius,  K.  d.  r.  E. 
II.  n.  926  fallen  unter  den  Typus  der  Hypothesenökonomie.    Er  spricht  dort 

a)  von  der   „Annäherung  an  die   denkbar   geringste  qualitative    ,Andersheit' 
zwischen  allem  Zähl-  (und  Meß-)baren'', 

b)  von   der  ,,Aunäherung  an  die  denkbar  geringste  quantitative  ,Auder.«iheit' 
zM'ischen  .Bedingung'  und  ,Bedingtem' ". 

M  WuNDT,  Ph.  St.  XIII.  p.  81. 

-)  Meinong  versteht  unter  „Erfahrungsurteilen  im  prägnanten  Sinn"  ein  Ur- 
teil derart,  wie  es  sonst  auf  Induktion  beruht,  aber  mit  dem  Unterschiede,  daß 
die  einzelnen  Instanzen  nicht  ins  Bewußtsein  fallen.  (Vorlesungen  über  Erkenntnis- 
theorie 1900/1.) 

')  Auf  die  ökonomische  Funktion  des  Dingbegriffes,  wie  des  Dispositions- 
begriffes hat  unter  anderen  auch  Meinong  in  seineu  Vorlesungen  über  Dispo.sitions- 
psychologie  190Ü  hingewiesen. 


288  Wilhelm  Frankl. 

unmittelbare  Evidenz  der  "Wahrscheinlichkeit  bei  Urteilen  der 
äußeren  "Wahrnehmung,  welche  mit  dem  ,.Ding-"-Gedanken  innig 
verknüpft  zu  sein  scheint,  ergibt  sich  sonach  ebenfalls  als  etwas 
im  Laufe  der  Generationen  Erworbenes,  als  ein  instinktiver  Besitz. 
Treffend  spricht  man  darum  vom  „naiven"  d.  h.  angeborenen  Rea- 
lismus. Sofern  im  Falle  der  Instinktbetätigung  ein  Ersparen  von 
intellektueller  Arbeit  vorliegt,  läßt  sich  derselbe  leicht  unter  die 
im  zweiten  Kapitel  betrachteten  Fälle  von  Gewohnheit  subsumieren. 

Mag  nun  dieses  Prinzip  der  Hypothesenökonomie  auf  den  Satz 
von  den  „zusammengesetzten  "Wahrscheinlichkeiten"  zurückzuführen 
sein  oder  nicht,  jedenfalls  haben  wir  in  dem  durch  jenen  Satz 
formulierten  Sachverhalte  selbst  wieder  etwas  ökonomisch  Inter- 
pretierbares vor  uns  —  allerdings  mit  einiger  "Willkür,  und  ohne 
daß  dieser  ökonomischen  Interpretation  der  "\^'ert  eines  Prin- 
zipes  zuerkannt  werden  könnte.  Da  die  zusammengesetzte  Wahr- 
scheinlichkeit kleiner  ist  als  ihre  Komponenten,  so  ließen  sich 
die  der  Anzahl  nach  steigerbaren  Ereignisse  als  H,  —  ihr  Ein- 
treten, nach  seiner  Wahrscheinlichkeit  steigerbar  gedacht,  als  L 
auffassen.  Wollte  man  daraufhin  ein  Ökonomieprinzip  erkenntnis- 
theoretischer (zunächst  eigentlich  gegenstandstheoretischer)  Natur 
formulieren,  so  wäre  es  tautologisch,  hätte  analytischen  Charakter. 
Wollte  man  diesen  beseitigen,  so  könnte  das  nur  auf  Kosten  der 
Binomialität,  welche  wir  als  für  ökonomische  Tatsachen  wesentlich 
erkannt  haben,  geschehen,  und  wir  hätten  dann  ein  Minusprinzip 
vor  uns,  das  kein  Ökouomieprinzip  wäre.  Es  ist  abzuleiten  aus 
dem  „Prinzipe  der  Spielräume,"  ^)  das  an  und  für  sich  keinen  öko- 
nomischen Aspekt  bietet. 

Das  zweite  das  Gebiet  der  Wahrscheinlichkeitserkenntnis  be- 
herrschende Prinzip  ist  das  der  Induktion.-)  demgemäß  man  be- 
rechtigt ist  auf  Grund  der  Koexistenz  eines  a  und  ß  die  Koexistenz 
eines  gegebeneu  ähnlichen  a  mit  einem  nichtgegebenen  ß  zu  ver- 
muten. Von  der  ökonomischen  Natur  induktiver  Urteile,  sofern  sie 
allgemeine  Urteile  sind,  werden  wir  später  zu  reden  haben.  Hier  be- 
trachten wir  Induktion.  Deduktion  und  Analogieschluß  in  Zusammen- 


')  Siehe   v.   Kries,  D.   P.  d.  W.-R.,  sowie   deren   Rezension   von   Meinonq 
in  G.  g.  A.  1890. 

')  Meinong,  Vorlesungen  über  Erkenntnistheorie  1900/1. 


über  Ökonomie  des  Denkens.  289 

hang.  In  diesen  Tatsachen  manifestiert  sich  eine  Tendenz,  die  als 
existierend  bzw.  bestehend  vorausgesetzten  Gegenstandstypen  ihrer 
Anzahl  nach  möglichst  klein  zu  erhalten.  So  wird  z.  B,  ein  nur 
unvollständig  bekannter  Gegenstand  x  als  zu  einer  bekannten  Klasse 
von  Gegenständen  g  zugehörig  vermutet.  Gesetzt,  von  x  sei  nur  ein 
Merkmal  a  bekannt,  und  wir  kennten  nur  eine  einzige  Klasse  von 
Gegenständen  mit  dem  Merkmal  a.  nämlich  jene,  deren  Gegenstände 
durch  die  Merkmale  aß  charakterisiert  sind,  so  werden  wir  dem  x 
auch  noch  ß  zuschreiben,  d.  h.  seine  gegenständliche  Charakteristik 
vermehren.  Der  Tendenz,  die  Anzahl  der  als  seiend  angenommenen 
Gegenstandstypen  möglichst  klein  zu  erhalten,  wird  sonach  (in  den 
meisten  Fällen  wenigstens)  Genüge  geleistet  durch  V  e  r  ni  e  h  r  u  n  g 
der  gegenständliclien  Charakteristik.^)  Allerdings  ist  diese  Ten- 
denz nicht  als  „Erklärungsgrund"  der  Induktionstatsache  aufzu- 
fassen, wohl  aber  als  etwas,  dessen  Erkenntnis  durch  die  Beschrei- 
bung der  Induktionstatsache  involviert  wird. 

Diese  Minustendenz  in  betreff  der  Anzalil  der  Gegelistands- 
klassen  kann  nicht  ohne  weiteres  als  ökonomisch  bezeichnet  werden. 
An  Vorstellungen  wird  hierbei  ja  eigentlich  nicht  gespart.  Das 
Problem,  ob  hier  Denkökonomie  vorliege  oder  nicht,  gipfelt  in  der 
Frage,  ob  gleichartige  Vorstellungen  ceteris  paribus  ökonomischer 
sind  als  ungleichartige.  Diese  Frage  kann  aber  allerdings  im  Hin- 
blick auf  unser  „Ökonomieprinzip  der  Gewohnheit"  bejaht  werden. 
—  Im  Anschlüsse  daran  sei  noch  darauf  hingewiesen,  daß  der 
oben  beschriebene  Vorgang  seiner  gegenständlichen  Bestimmtheit 
nach  zusammenfällt  mit  dem,  was  Steinthal-)  Projektion  bei 
Apperzeption  nennt,  ferner  auch  mit  Cornelius'  „Subsumption 
(unter  ein  Symbol)". 

Ps.  p.  38  ff.  spricht  Cornelius  von  einem  Übungsgesetze,  dessen 
Erkenntnis  Ps.  p.  187  ff.  zur  Erklärung  der  Wahrscheinlichkeit 
künftiger  Erlebnisse  verwendet  wird.  Cornelius  formuliert  es 
Ps.  p.  41  dahin:  „Die  Wahrscheinlichkeit  für  die  Assoziation  einer 
Vorstellung  b  an  eine  gegebene  a  ist  um  so  größer,  je  häufiger  die 


')  So  sagt  Mach,  A.  d.  E.  p.  246:  „Wir  bereichern  und  erweitern  durch 
unsere  Tätigkeit  die  für  uns  zu  arme  Tatsache Der  Begriff  des  Phy- 
sikers ist  eine  bestimmte  Reaktionstätigkeit,  welche  eine  Tatsache  mit  neuen  sinn- 
lichen Elementen  bereichert." 

■')  Steinthal,  A.  d.  S.,  I.  z.  B.  p.  201. 
Meinong,  Untersuchungen. 


19 


290 


Wilhelm  Frankl. 


entsprechenden  Erlebnisse  bisher  als  Teile  irgendeines  Komplexes 
in  dieser  Reihenfolge  vorgefunden  wurden,"  Dieses  Gesetz  besagt 
nun  zunächst  nur  etwas  in  betreff  der  Wahrscheinlichkeit  psychi- 
scher Tatsachen,  aber  nichts  in  betreff  der  ^^Wahrscheinlichkeit 
der  Tatsächlichkeit  ihrer  Gegenstände,  zwischen  welchen  Tatsachen 
CoENELius  allerdings  mit  BeAVußtsein  nicht  unterscheidet.  Wir 
konstatieren  auf  Grund  dieses  Gesetzes  eine  Koinzidenz  der  A\'ahr- 
scheinlichkeit  psychischer  Tatsachen  mit  der  Wahrscheinlichkeit  der 
Tatsächlichkeit  ihrer  Gegenstände  unter  gewissen  Bedingungen  und 
abgesehen  von  Komplikationen.  Was  aber  durch  eine  solche  Kon- 
statierung für  ein  Ökonomieprinzip  gewonnen  sein  könnte,  mag 
uns  Cornelius  selbst  sagen. 

Ps.  p.  89  heißt  es:  „In  der  Tat  entspricht  eine  derartige  Er- 
wartung dem  Ökonomieprinzip:  wenn  dasselbe  überall  die  Zu- 
sammenfassung möglichst  vieler  ähnlicher  Ereignisse  unter  ein  ge- 
meinschaftliches Sjanbol  fordert,  so  geschieht  ihm  besser  Genüge, 
wenn  ein  neues  Erlebnis  unter  einen  Begriff  sich  einordnet,  dem 
schon  sehr  viele  bisherige  Erlebnisse  entsprechen,  als  wenn  das- 
selbe unter  einen  noch  sehr  wenig  umfassenden  Begriff  fällt." 
Diese  Behauptung  Cornelius'  war  auch  gelegentlich  Diskussions- 
substrat im  philosophischen  Seminar  unter  der  Leitung  Professor 
Meinong's  (Graz,  Sommer  1902),  und  es  zeigte  sich,  daß  auch 
gegenteilige  Betrachtungsweisen  nicht  ausgeschlossen  sind.  Be- 
zeichnen wir  die  erforderlichen  Sj'-mbole  mit  S^  und  So  und  zwar 
umfasse  S^  bereits  5,  S.^  nur  2  Fälle.  Es  werde  nun  ein  weiteres 
Ereignis  x  erwartet  und  zwar  erwartet  man,  es  werde  unter  S^  zu 
subsumieren  sein.  Nun  ist  es  klar,  daß  dadurch  die  ökonomische 
Funktion  (Lj  von  Ö^  gesteigert  wird  —  in  einem  Maße  natürlich, 
das  der  Anzahl  der  bereits  subsumierten  Fälle  verkehrt  proportional 
ist;  daher  würde  die  Subsumption  von  x  unter  So  zwar  nicht  die 
ökonomische  Funktion  von  Sj,  steigern,  wohl  aber  die  von  So  und 
zwar  in  einem  weit  erheblicheren  Maße  als  sie  die  von  S,  je 
steigern  könnte.  Die  ökonomische  Funktion  der  Symbole,  solche 
Ökonomie,  wie  sie  mit  dem  Begriffe  des  Sj^mboles  verknüpft  gedacht 
wird,  geht  mithin  nicht  Hand  in  Hand  mit  Wahrscheinlichkeit. 

Andererseits  ist  zuzugeben,  daß  die  wahrscheinlichere  Sub- 
sumption auch  die  geübtere  und  somit  im  Sinne  von  und  nach 
unserem  psychologischen  Ökonomieprinzipe  der  Gewohnheit  (Kap.  II. 


über  Ökouomie  des  Deukens.  291 

§  6)  die  ökonomischere  ist.  Ja  wir  können,  indem  wir  allgemein 
das  der  Induktion  entsprechende  Urteil  als  das  g-eübtere  ansehen, 
im  Hinblick  darauf  und  in  Verbindung  mit  unserem  psycholo- 
gischen Ökonomieprinzipe  der  Gewohnheit  von  einem  erkenntnis- 
theoretischen Ökonomieprinzipe  der  Induktion  sprechen.  Auf  jeden 
Fall  aber  gibt  es  ebensowenig  ein  allgemeines  Ökonomieprinzip 
wahrscheinlicher  Erkenntnis  wie  eines  gewisser  Erkenntnis. 


3.  Ökonomie  und  A\'issenschaft. 

AVir  hätten  nun  eigentlich  das  Verhältnis  von  Ökonomie  und 
A^'allrlleit  bzw.  Wahrscheinlichkeit  vorläufig  erledigt.  Ich  sage 
„vorläufig",  denn  es  lassen  sich  ins  Unabsehbare  H5-pothesen  be- 
trefl^"s  Ökonomie  aufstellen,  welche  zu  untersuchen  aber  dann  noch 
Zeit  sein  dürfte,  wenn  sie  einmal  ausdrücklich  aufgestellt  sind. 
Wir  haben  nun  noch  Fälle  von  ausgezeichneter  Erkenntnis,  die 
man  „Wissenschaft"  nennt,  in  ihrem  Verhältnis  zu  Ökonomie  zu 
besprechen. 

Über  die  Definition  der  Wissenschaft  ist  man  strittig,  doch 
dürfte  die  Behauptung,  Wissenschaft  sei  geordnete  Erkenntnis, 
kaum  auf  Widerstand  stoßen.  In  diesem  Momente  des  Geordnet- 
seins, durch  welches  wissenschaftliche  Erkenntnis  im  allgemeinen 
wertvoller^)  wird  als  außerwissenschaftliche,  haben  wir  zugleich 
ein  Moment  vor  uns,  das  einen  gewissen  Spielraum  gestattet. 

Definitionen  und  Begritte  bilden  das  Gebiet,  in  dem  man  ohne 
Furcht,  die  berechtigten  Ansprüche  einer  Erkenntnistheorie  zu 
beeinträchtigen,  von  „Tauglichkeit",  „Auslese"  und  „Ökonomie" 
sprechen  kann.  Je  mehr  z.  B.  ein  Begriff  gegenüber  anderen  Be- 
griffen, die  dasselbe  Gegenstandsgebiet  betreöen,  leistet,  um  so 
zweckmäßiger  ist  sein  Gebrauch  gegenüber  dem  dieser  anderen, 
die  eben  durch  diese  Tatsache  überflüssig,  aber  nicht  etwa  falsch 
werden.  Ein  ähnlicher  Spielraum  ist  vorhanden  bei  der  Formu- 
lierung mancher  Gesetze  bis  herab  zur  Mannigfaltigkeit  des 
sprachlichen  Ausdruckes. 

Die  Tatsache,    daß    die    Wissenschaft   ceteris   paribus    „ein- 


')  Die  allgemeiuen  Beziehungen  zwischen  Ökonomie  und  Wert  sollen  im 
rv.  Kapitel  ihre  Besprechung  finden. 

19* 


292  Wilhelm  Frankl. 

fächere"  Formulierung-en  weniger  einfachen  vorzieht,^)  kann  nicht 
immer  dadurch  erklärt  werden,  daß  das  durch  die  einfachere 
Formulierung  Bezeichnete  wahrscheinlicher  ist. 

Der  letzte  Grund  für  das  Vorziehen  dürfte  eben  hier  wie 
auch  sonst  in  jedem  Falle  der  Wert  sein.  Dieser  Wert  der  ein- 
facheren Formulierung  ist  ein  Wirkungswert  bzw.  ein  diesem  ent- 
stammender Eigenwert.  Als  ursprünglicher  Eigenwert  fungiert 
zunächst  der  Wert  der  Erkenntnis,  obgleich  noch  andere  unab- 
geleitete Eigenwerte  dabei  in  Betracht  kommen  können.  Warum 
aber  die  einfachere  Formulierung  wertvoller  ist  als  die  kompli- 
ziertere, läßt  zwei  Deutungen  zu,  die  ev.  beide  zurechtbestehen 
können,  nämlich: 

1.  Die  einfachere  Formulierung  vernichtet  weniger  von  dem 
Werte,  dessen  Substrat  die  psychische  Kraft  ist. 

2.  Da  für  den  Fall,  als  die  einfache  und  die  komplizierte 
Formulierung  dasselbe  leisten,  auch  ihi^e  Wirkungswerte  als  solche 
gleich  groß  sind,  so  könnte  man  doch  im  Falle  der  einfacheren 
Formulierung  von  einem  größeren  „spezifischen"  Wirkungswerte 
(analog  dem  spezifischen  Gewichte  in  der  Phj'sik)  sprechen,  und 
meinen,  von  zwei  Objekten,  deren  (Gesamt-)  Werte  gleich  groß 
sind,  verdient  jenes  den  Vorzug,  dessen  spezifischer  Wert  der 
größere  ist.  —  Hier,  im  Werte,  ist  auch  die  Quelle  für  die 
wissenschaftliche  Schätzung  allgemeiner  und  insbesondere  induk- 
tiver Urteile,  ^)  allgemeiner  BegriÖe  usw. 


^)  Mach  behaiiptet  ganz  allgemein,  „daß  die  wissenschaftliche  methodische 
Darstellung  eines  Gebietes  von  Tatsachen  vor  der  zufälligen  ungeordneten  Auf- 
fassung derselben  den  Vorzug  einer  sparsameren,  ökonomischen  Verwertung  der 
geistigen  Kräfte  voraus  hat".  P.  d.  AVI.  p.  391.  Ferner:  „Und  was  sollte  sich 
auch  die  Wissenschaft  eines  solchen  [sc.  ökonomischen]  Prinzipes  schämen?  Ist 
doch  die  Wissenschaft  selbst  nichts  weiter  als  .  .  .  ein  Geschäft!  Stellt  sie  sich 
doch  die  Aufgabe,  mit  möglichst  wenig  Arbeit  in  möglichst  kurzer  Zeit,  mit  mög- 
lichst wenig  Gedanken  sogar,  möglichst  viel  zu  erwerben  von  der  ewigen  unend- 
lichen Wahrheit."  Ppw.  V.  „Gestalten  der  Flüssigkeit."  —  In  A.  d.  E.  p.  37 
wird  die  „Ökonomie  des  Denkens"  als  „wesentliche  Aufgabe  der  Wissenschaft" 
bezeichnet.  „Die  ökonomische  Darstellung  des  Tatsächlichen  wird  als  Ziel,  die 
physikalischen  Begriffe  lediglich  als  Mittel  zum  Zwecke  erkannt."  M.  p.  276.  — 
„Die  Wissenschaft  kann  daher  selbst  als  eine  Miniraumaufgabe  angesehen  werden, 
welche  darin  besteht,  möglichst  vollständig  die  Tatsachen  mit  dem  geringsten 
Gedankenaufwand  darzustellen."    M.  p.  519. 

*)  Hierher  sind  auch  folgende  Ausführungen  Machs  zu  beziehen :  „Ein  nicht  zu 


über  Ökonomie  des  Denkens.  293 

Verwandt  mit  dem  Dargelegten  sind  die  Beziehungen  der 
Ökonomie  zu  den  Wegen,  auf  denen  wissenschaftliche  Resultate 
erzielt  werden.  Normalerweise  läßt  sich  sogar  eine  scharfe  Scheidung 
zwischen  wissenschaftlichen  Resultaten  und  Forschungswegen  nicht 
machen.  Hier  gilt,  ebenfalls  vom  Wertstandpunkte  aus,  Wundt's 
„methodologisches"  Prinzip,^)  die  „Forderung,  die  Probleme  Inder 
möglichst  einfachen  ^^'eise  zu  formulieren  und  sich  des  möglichst 
einfachen  Verfahrens  zu  ihrer  Lösung  zu  bedienen",  als  ein  Ge- 
setz, welches  nicht  '\\'ahrheit  von  Falschheit,  sondern  Zweckmäßig- 
keit von  Unzweckmäßigkeit  trennt. 

Und  nun  noch  ein  Weiteres.  Die  Erkenntnis  der  ökonomischen 
Funktion  der  (brauchbaren)  Begrilfe  etc.,  von  der  wir  oben  ge- 
sprochen, kann  zur  Aufstellung  einer  spezifisch  „heuristisclien" 
Ökonomieregel  -)  führen :  Statt  zu  fragen,  ,. welcher  Tatbestand  aus 


übersehender  Vorteil,  den  jedes  allgemeinere  Prinzip,  und  so  auch  das  Prinzip  der 
virtuellen  Verschiebungen  gewährt,  besteht  darin,  daß  es  uns  das  Nachdenken 
über  jeden  neuen  Spezialfall  größtenteils  erspart  .  .  .  Jedes  derartige  Prinzip  hat 
also  einen  gewissen  ökonomischen  Wert."  M.  p.  65.  —  „Dieser  Begriff  (sc.  des 
Trägheitsmomentes)  liefert  uns  keine  prinzipiell  neue  Einsicht,  die  wir  nicht  auch 
ohne  denselben  gewinnen  könnten,  allein  indem  wir  mit  Hilfe  dieses  Begriffes  die 
einzelnen  Betrachtungen  der  Massenteile  ersparen  oder  ein  für  allemal  abtun,  ge- 
langen wir  auf  kürzerem  und  bequemerem  Wege  zum  Ziel.  Diese  Begriffe  haben 
also  eine  Bedeutung  in  der  Ökonomie  der  Mechanik"  M.  p.  189  ff.  —  ,.Alle  Wissen- 
schaft hat  Erfahrungen  zu  .  .  .  ersparen  .  .  .  Diese  ökonomische  Funktion  der 
Wissenschaft,  welche  ihr  Wesen  ganz  durchdringt,  wird  schon  durch  die  allge- 
meinsten Überlegungen  klar.  Mit  der  Erkenntnis  des  ökonomischen  Charakters 
verschwindet  alle  Mystik  aus  der  Wissenschaft."  M.  p.  510.  „Die  Erhaltungs- 
ideen haben  wie  der  Substauzbegriff  ihren  tiefsten  Grund  in  der  Ökonomie  des 
Denkens."  M.  p.  538.  Vgl.  K.  d.  r.  E.  IL  p.  1.  —  Ohne  auf  andere  erkenntnis- 
theoretische Bedenklichkeiteu  einzugehen,  sei  hier  im  Anschlüsse  bemerkt,  daß 
solche  Postulate,  Hypothesen,  Hilfskonstruktionen  jedenfalls  auch  ihre  objektive 
Seite  habeu,  betreffs  welcher  die  Frage  nach  Wahrheit  oder  Falschheit  von  der 
nach  ihrer  Brauchbarkeit  prinzipiell  und  dem  Begriffe  nach  unabhängig 
am  Platze  ist. 

1)  WuNDT,  Ph.  St.  XIII.  p.  75. 

^)  ,.Die  Ökonomie  wird  uns  einen  wertvollen  orientierenden  Gesichtspunkt 
bieten ,  nach  dem  wir  unser  wissenschaftliches  Tun  einrichten ,  sowie  sie  dem 
Techniker  denselben  bietet,  und  wir  werden  besser  daran  sein,  als  wenn  wir  uns 
unbewußt  den  momentanen  aktuellen  psychischen  Kräften  überlassen."  P.  d.  Wl. 
p.  394.  Denn  „die  Methoden,  durch  welche  Wissen  beschafft  wird,  sind  ökono- 
mischer Natur".    P.  d.  Wl.  p.  391.  —  „Galilei  befolgte  in  seinen  Überlegungen 


904  Wilhelm  Frankl. 

dem  Tatsachenkomplex  M  ist  mit  x  notwendig  verbunden?"'  — 
kann  man  auch  fragen,  „wie  kann  man  alle  jenen  Tatsachenkom- 
plexe, die  mit  x  verbunden  sind,  also  Mj,  M,  .  . .  zusammenfassen?*' 
Dies  geschieht  nun  durch  dasjenige,  was  alle  diese  Tatsachen- 
komplexe gemeinsam  haben,  und  dies  kann  tatsächlich  als  der 
Tatbestand,  der  mit  x  notwendig  verbunden  ist,  angesehen  werden. 
Aber  ebensowenig  wie  in  den  oben  betrachteten  Fällen  der  Wahr- 
scheinlichkeit ist  hier  das  Ökonomieprinzip  ein  absolutes,  einziges 
uneingeschränktes.  Ökonomie  schlechthin  und  absolut  würde  sich 
am  besten  mit  dem  Begriffe  „des  mit  x  verknüpften  Etwas"  be- 
gnügen, der  nur  eine  Paraphrase  des  Problems  selbst  wäre.') 


Kapitel  IV. 
Ökonomie  uud  emotionale  Bestimmungen. 

1.  Ökonomie  und  Lust. 

AvENARius  behauptet  Ph.  a.  d.  d.  W.  I.  A.  II  einen  Zusammen- 
hang von  Lust  mit  Ökonomie  bzw.  Unlust  mit  UnÖkonomie.  Ich 
halte  es  jedoch  für  überflüssig,  die  darauf  bezüglichen  Argumente 
AvENAEius'  einzeln  zu  prüfen,  und  das  deshalb,  weil  meines  Er- 
achtens  die  daselbst  angeregte  Gedankenreihe  ihren  vorläufigen 
Abschluß  durch  Höfler  gefunden  hat,  der  Ps.  A.  p.  46  schreibt: 
„Insoweit  Lust    an   das  Verrichten   psychischer  Arbeit   geknüpft 

zum  größten  Vorteil  der  Naturwissenschaft  ein  Prinzip,  welches  man  passend 
das  Prinzip  der  Kontinuität  nennen  könnte.  Hat  man  für  einen  speziellen  Fall 
eine  Ansicht  gewonnen,  so  modifiziert  man  allmählich  in  Gedanken  die  Umstände 
dieses  Falles,  soweit  es  nur  überhaupt  angeht,  und  sucht  hierbei  die  gewonnene 
Ansicht  möglichst  festzuhalten.  Es  gibt  kein  Verfahren,  welches  sicherer  zur 
einfachsten  mit  den  geringsten  Gemüts-  uud  Verstandesaufwand  zu  erzielenden 
Auffassung  aller  Naturvorgänge  führen  würde."  M.  p.  139  ist  ebenfalls  hierher  zu 
beziehen.  Als  Prinzip  in  unserem  Sinne  kann  diese  Regel  nicht  aufgefaßt  werden 
u.  zw.  ihres  analytischen  Charakters  wegen.  In  den  Fällen,  wo  das  Brauchbare 
ökonomisch  ist,  da  gibt  es  natürlich  ein  Ökonomisches,  welches  brauchbar  ist. 

')  „Also  auf  einsichtigem  Wege  und  mit  beständiger  Rücksicht  auf  die  Be- 
sonderheit unserer  geistigen  Konstitution  erfanden  die  Bahnbrecher  der  Forschung 
Methoden,  deren  allgemeine  Berechtigung  sie  ein  für  allemal  nachweisen.  Ist 
dies  geschehen,  dann  können  diese  Methoden  in  jedem  gegebenen  Fall  uneinsichtig 
sozusagen  mechanisch  befolgt  werden,  die  objektive  Richtigkeit  der  Resultate 
ißt  gesichert."    Husserl,  L.  U.  p.  198 ff. 


über  Ökonomie  des  Denkens.  295 

ist,  und  insoweit  sich  letztere  auf  den  Typus  p.  s  ^)  zurückführen 
läßt,  wächst  die  Lust  mit  dem  wachsenden  s  und  nimmt  ab  mit 
dem  wachsenden  p."  (Wir  wollen  dieses  Gesetz  als  „emotionales 
Ökonomieprinzip  der  Lust"  bezeichnen.)  Um  Mißverständnissen 
vorzubeugen,  fügt  Höflee  p.  47  hinzu:  „Es  sei  aber  noch  einmal 
ausdrücklich  betont,  daß  wir  nicht  in  den  so  oft  begangenen 
P>hler  verfallen  möchten,  das  Lust-  bzw.  Unlustgesetz  aufgesteDt 
zu  haben,  sondern  fürs  erste  nur  eine  Art  von  Erreger  für  die 
eine  wie  die  andere  der  beiden  Gefühlsqualitäten  namhaft  ge- 
macht haben."  Wie  aber  das  hier  Gesagte  mit  unseren  Anfangs- 
bestimmungen zusammenhängt,  Avird  klar,  wenn  wir  für  p  H  und 
für  s  L  setzen. 

Bemerkenswert  ist,  daß  Jaeger-)  in  seinen  ästhetischen 
Untersuchungen  zum  selben  Ergebnis  kommt.  Er  findet  zum 
Kunstwerke  ein  ökonomisches  und  ein  s.  v.  v.  „anti-ökonomisches" 
Moment  gehörig;  ersteres  schreibt  er  auf  Rechnung  der  „Form", 
letzteres  auf  Rechnung  des  „Lihaltes".  Der  Zusammenhang  mit 
dem  Vorhergehenden  ist  leicht  hergestellt:  Durch  ökonomisches 
Erfassen  einer  (ev.  einfachen)  Form  wird  ein  reicher  (und  damit  im 
Gegensatze  zu  einer  fiktiven  monomialen  Ökonomie  stehender)  In- 
halt erfaßt. 

Cornelius  ^)  sucht  die  Glieder  des  bei  Betrachtung  von  Kunst- 
werken statthabenden  Ökonomiebinoms  näher  zu  bestimmen.  Doch 
glaubt  er  in  der  Aufzählung  der  in  Betracht  kommenden  Momente 
auf  Vollständigkeit  nicht  Anspruch  machen  zu  sollen.  Er  fordert 
vom  Kunstwerk  Erleichterung 

1.  der  Erkenntnis  des  dargestellten  Gegenstandes, 

2.  der  Auffassung  der  räumlichen  Verhältnisse,  besonders  der 
Tiefendimension.  —  Es  ist  klar,  daß  sich  die  zweite  Aufstellung 
nur  auf  räumlich  darstellende  Künste  bezieht. 

Zu  dem  allgemeinen  oben  formulierten  Zusammenhang  zwischen 
Ökonomie  und  Lust  zurückkehrend,  läßt  sich  noch  folgendes  feststellen : 
Dadurch,  daß  Avenaeius  nachzuweisen  bemüht  ist,  daß  unökono- 
mischer Kraftverbrauch  mit  Unlust  verbunden  ist,  gibt  er  natürlich 


')  p  Spaunungsfaktor,   s  Wegfaktor. 

-)  Jäger,  D.  P.  d.  k.  K.  i.  d.  A.  V.  f.  w.  Ph.  V.  p.  415.  —  Vgl.  axich  Fechneb, 
V.  d.  A.  IL  p.  263 ff. 

*j  Cornelius,  Ps.  p.  419  ff. 


296  Wilhelm  Fbankl. 

die  Mög-lichkeit  eines  solchen  zu.  Was  er  sonach  behauptet,  ist 
nicht  Ökonomie  schlechthin,  sondern  zunächst  Ökonomietendenz.  ^) 
Die  Konstatierung  einer  Ökonomietendenz  besagt  entweder  nur 
rein  deskriptiv,  daß  Endglieder  einer  Eeihe  ökonomisch  sind,  oder 
sie  statuiert  eine  Disposition,  aus  welcher  heraus  die  Tatsache, 
daß  Endglieder  einer  Entwicklungsreihe  ökonomisch  sind,  verständ- 
lich wird.  Den  oben  bezeichneten  Nexus  zwischen  Ökonomie  und 
Gefühl  vorausgesetzt,  eingedenk  ferner  der  Tatsache,  daß  Lust 
nacli  Wiederholung,  Unlust  nach  Vermeidung  strebt,  kann  man  wohl 
eine  solche  Ökonomietendenz  unter  gewissen  Einschränkungen  zu- 
geben. Man  muß  nämlich  absehen  von  Gefilhlserregern  außeröko- 
nomischer Natur,  die  es  doch  zweifelsohne  auch  gibt,  ferner  da- 
von, daß  Lust  und  Unlust  ihre  Veranlassungen  oft  auf  Gebieten  hat, 
die  der  Kontrolle  des  fühlenden  Subjektes  nicht  oder  doch  nicht 
gänzlich  unterstehen. 

Ist  nun  einerseits  ein  gewisser  Zusammenhang  zwischen  Öko- 
nomie und  Lust  zu  konstatieren,  andererseits  auch  ein  solcher  zwi- 
schen Lust  und  Erkenntnis,  ^)  dann  liegt  es  nalie ,  den  bzw.  einen 
Ökonomieanteil  der  Erkenntnis  für  die  mit  derselben  verknüpfte 
Lust  verantwortlich  zu  machen.  Cornelius  will  nun  tatsächlich 
alle  Erkenntnislust  auf  Ökonomielust  zurückführen,  was  ihm  jedoch 
ebensowenig  gelungen  ist,  wie  einen  allgemeinen  Zusammenhang 
zwischen  Erkenntnis  und  Ökonomie  zu  erweisen.^) 


2.   Ökonomie  und  Wert. 

Wenn  es  sich  zeigen  ließ,  daß  Ökonomie  als  Lustprinzip  zu 
fungieren  vermöge,  so  liegt  es  ja  nahe,  eben  diesen  Bereich  der 
auf  Ökonomie  basierten  Lust  als  einen  möglichst  großen  anzusehen 
und  so  ev.  auch  den  Wert  überhaupt,  der  ja  letztlich  doch  nur 
im  Hinblick  auf  Lust  bestimmbar  ist,  ^)  als  von  Ökonomie  abhängig 
zu  vermuten.    Im  besonderen   hat  Cornelius  den  Zusammenhang 


*)  „Strenge  genommen  darf  man  nur  von  einer  Tendenz  zur  Anwendung 
des  kleinsten  Kraftmaßes,  nur  von  einem  Streben  nach  größter  Ökonomie  sprechen." 
Petzold,  M.  M.  u.  Ö.  -  V.  f.  w.  Ph.  XIV. 

*)  Meinong,  Ps.-E.  U.  z.  W.-Th.  §  12. 

')  Vgl.  oben  Kap.  II  5. 

*)  Meinong,  Ps.-E.  U.  z.  W.-Th.  I.  Kap.  2.  Abschn. 


über  Ökonomie  des  Denkens.  297 

zwischen  ethischem  Wert  und  Ökonomie  behauptet.  Ps.  p.  414 
erklärt  er  das  gute  bzw.  böse  Gewissen  aus  der  Möglichkeit  bzw. 
Unmöglichkeit,  eine  getane  Handlung  unter  eine  gegebene  Maxime 
zu  subsumieren.  In  der  E.  i.  d.  Ph.  p.  352  ff.  fordert  er  Wider- 
spruchslüsigkeit  der  Handlungen,  „Lebensstil",  verkennt  aber  nicht 
den  rein  negativen  Charakter  solcher  Forderung.  Dies  zeigt  recht 
klar,  daß  es  unethische  Konsequenz,  und  sofern  diese  ökonomisch 
ist,  uuethische  bzw.  antiethische  Ökonomie  geben  kann. 

Wir  gehen  nun  daran,  die  Beziehungen  zwischen  Ökonomie  und 
Wert,  soweit  das  nicht  schon  teilweise  geschehen  ist,  näher  zu 
betrachten. 

Daß  der  Wert  des  Ökonomiebinoms  für  sich  allein  der  iSumme 
der  AA'erte  seiner  Glieder  gleich  ist,  kann  wolil  als  selbstver- 
ständlich angenommen  w^erden.  Es  fragt  sich  jedoch,  ob  Ökonomie 
an  sich  (also  jener  Korrelat,  von  dem  wir  K.  I  §  6  gesprochen 
haben)  in  gegebenen  Fällen  Wert  beanspruchen  dürfe.  Ökonomie 
in  abstracto  wird  für  sich  allein  keinen  Wert  (als  ursprünglichen 
Eigenwert)  zu  beanspruchen  haben;  der  Wert  der  Ökonomie  "wird 
vielmehr  jedesmal  in  bestimmter  Weise  von  den  Werten  der  Glieder 
des  Ökonomiebinoms  abhängig  sein,  auf  welcher  Grundlage  sodann 
sich  allerdings  ein  abgeleiteter  Eigenw^ert  entwickelt  zu  haben 
scheint. 

Der  ^Vert  des  Ökonomiebinoms,  W(H,  d?  dürfte,  wie  bereits 
gesagt,  der  Summe  der  Werte  der  Glieder  gleich  sein: 

W,h,l)  =  Wh  +  Wl. 
Wir  haben  auch  schon  festgesetzt,  daß  Wh  sowohl  negativ  wie 
positiv  sein  kann.  Der  W^ert  der  Ökonomie  entspricht  insofern' 
dem  Werte  des  Ökonomiebinoms,  als  beide  sich  dem  Wi,  gerade 
proportional  verändern.  Während  jedoch  der  Wert  des  Ökonomie- 
binoms auch  gegenüber  Wh  gerade  proportional  bleibt,  ist  beim 
Werte  der  Ökonomie  das  Entgegengesetzte  der  Fall.  Der  Wert 
der  Ökonomie  (Wo)  wird  um  so  größer,  je  weniger  wertvoll  das  H 
ist,  um  so  kleiner,  je  wertvoller  es  ist.    Also  ungefähr: 

Wo  =  ^^'L  -  Wh. 

(Die  Formel  Wo  =  ^}^  ist   unbrauchbar .    weil   sie   im   Falle   der 
Wh 

Negativität  von  W'h  l'ür  Wo  auch  einen  negativen  ^^'ert  ergibt.) 
Macht  man  nun  die  Annahme,  daß  auch  betreffs  dieses  Falles,  wie 


9CJ^  "Wilhelm  Frankl. 

z.  B.  beim  Werte  des  Ökonomiebinoms,  die  Werte  von  Größen  sich 
diesen  Größen  parallel  verändern,  so  daß  also  z.  B.  der  Wert  einer 
Summe  gleich  ist  der  Summe  der  Werte  der  Summanden,  dann 
käme  man  dazu,  aus  dieser  Formel  zu  schließen:  Die  Größe  der 
Ökonomie  sei  gleich  der  Differenz  aus  den  Größen  von  Leistung 
und  Handlung :  0  =  L  —  H.  In  dieser  Formel  vermissen  wir  aber 
die  Beziehung  auf  die  ökonomische  Vergleichsgröße.  Es  wäre 
zwar  ein  Ökonomiebegriff  denkbar,  der  zu  seiner  Konzeption  keine 
außerhalb  des  Ökonomiebinoms  liegende  Vergleichsgröße  verlangte, 
sondern  bei  dem  es  auf  die  Vergleichung  der  Glieder  des  Ökonomie- 
binoms untereinander  allein  ankäme.  So  nahe  ein  solcher  Ge- 
danke auch  zu  liegen  scheint,  so  wenig  anwendbar  ist  er  jedoch 
in  den  meisten  Fällen  wegen  der  Heterogeneität  von  H  und  L. 
Wollen  wir  daher  in  die  Formel  0  =  L  —  H  irgendwie  die  Ver- 
gleichsgröße einführen,  so  könnten  wir  dieselbe  etwa  in  der  Weise 

vervollständigen : 

0  =  L  —  L'  +  H'  —  H, 

wobei  für  L'  =  H'  sich  die  obige  abgekürzte  Formel  ergibt.  Diese 
Formel  besagt  nichts  anderes,  als  was  oben  K.  I  §  2  bereits  be- 
hauptet worden  ist,  nämlich,  daß  die  Ökonomiegröße  mit  Gewinn 
und  Ersparnis  sich  parallel  verändere.  Unserer  Annahme  über 
den  Zusammenhang  von  Wertänderungen  mit  Wertgegenstands- 
änderungen, sofern  die  letzteren  als  Quanta  in  Betracht  kommen, 
entsprechend,  hätten  wir  sonach  den  Wert  der  Ökonomie  (ungefähr) 
gleichzusetzen  den  Werten  von  Gewinn  und  Ersparnis: 

Wo  =  W(L-L')  +  W(H'-H)f 

ein  Ergebnis,  das  auch  sofort  einleuchtend  ist.  —  Das  schein- 
bare Stimmen  der  Formel  Wo  =  Wl  —  Wh  ergibt  sich  aus  dem 
innigen  Zusammenhang  von  Wl  mit  Wl-l-  einerseits  und  Wh  niit 
Wh'-h  andererseits. 

Sofern  nun  Ökonomie  einen  realisierbaren  Tatbestand  positiven 
Wertes  bedeutet,  insofern  kann  man  eine  Tendenz  zu  demselben 
vermuten  bzw.  kann  man  die  Endglieder  einer  Entwicklungsreihe  als 
ökonomische  vermuten  (Emotionales  Ökonomieprinzip  des  Wertes). 
Dieser  Sachverhalt  ist  aber  kein  Vorzug  der  Ökonomie,  sondern 
des  realisierbaren  Werttatbestandes  überhaupt  —  das  Vermeiden 
von  Unwert  natürlich  ebenfalls  als  Werttatbestand  aufgefaßt.^)    Um 

')  Dem  entspricht  es  auch  vollkommen,  daC  z.  B.  J.  v.  d.  Hevüen-Zielewicz 


über  Ökonomie  des  Denkens.  299 

nun    auf    den    allgemeinen    Zusammenhang-    zwischen    Wert    und 
Ökonomie  zurückzukommen,  müssen  wir  sagen: 

1.  Der  "Wert  der  Ökonomie  (sowie  der  des  Ökonomiekomplexes) 
ist  eine  Funktion  der  Werte  der  Glieder  des  Ökonomiebinoms; 
Wert  ist  daher  in  keiner  Weise  aus  Ökonomie  abzuleiten. 

2.  Nicht  jede  Werttatsache  ist  ökonomisch  —  schon  deshalb, 
weil  ihr  als  solcher  Binomialität  nicht  wesentlich  ist. 

3.  Jeder  Fall  von  Ökonomie  ist  insofern  ein  Wertfall,  als  L 
einen  mindestens  fingiblen  Wert  hat. 

Alle  ökonomischen  Tatsachen  sind  also  Werttatsachen  in 
irgendeinem  Sinne.  Dies  ist  im  Hinblick  auf  den  oben  festge- 
setzten Begriff  des  L  klar.  Nicht  alle  Werttatsachen  sind 
ökonomisch;  denn  sie  müssen  als  solche  weder  im  Sinne  des 
Ökonomiebinoms  noch  überhaupt  zweigliedrig  sein. 

Unter  das  Ökonomieprinzip  vom  Werte  der  Ökonomie  bzw 
unter  das  oben  formulierte  allgemeine  Gesetz  über  erreichbare 
Werttatbestände  fällt  außer  den  in  Kap.  III  vorweggenommenen 
Daten  noch  Wundt's  „didaktisches"  Ökonomieprinzip,  die  „Forde- 
rung, einen  gegebenen  wissenschaftlichen  Inhalt  in  der  möglichst 
einfachen  Form  zum  Ausdruck  zu  bringen".  Die  von  Mach 
Ppw.  Y.  „Über  die  ökonomische  Natur  der  physikalischen  Forschung" 
behauptete  ökonomische  Funktion  des  Unterrichts,  der  sprachlichen 
und  schriftlichen  Mitteilung  (Symbole)  gehört  ebenso  hierher  wie 
vielleicht  noch  vieles  andere.^) 


in  „Der  intellektuelle  Ordnungssinn"  A.  f.  s.  Ph.  VIII,  Hft.  1  dem  „Reinlichkeits- 
streben" als  einer  „oligistischen"  Tendenz  (zusammen  mit  dem  „Cbersichtlichkeits- 
streben")  das  „Vollständigkeitsstreben"  als  „holistische"  Tendenz  gegenüberstellt,  — 
eben  weil  es  auf  den  Wert  ankommt,  dieser  aber  nicht  notwendig  an  das 
„Oligistische"  gebunden  ist.  —  Vgl.  auch  oben  Kap.  III  §  2  bes.  p.  289. 

')  Unter  das  Ökonomieprinzip  des  Wertes  fällt  noch  Bolzano's  „Streben 
nach  Einheit"  Wl.  §  483,  d.  h.  das  Streben,  für  jede  Wissenschaft  einen  obersten 
Grundsatz  namhaft  zu  macheu. 

Auch  die  berechtigte  Seite  von  Avenariüs'  „Annäherung  einer  Erkenntnis- 
menge an  ein  heterotisches  Minimum"  K.  d.  r.  E.  II.  n.  911  ff.  gehört  hierher.  Von 
den  vier  Punkten,  die  er  in  K.  d.  r.  E.  II.  u.  926  namhaft  macht,  haben  wir 
den  zweiten  und  dritten  (Anm.p.  286  f)  bereits  erwähnt.  Punkt  1  spricht  von  der 
„Annäherung  au  die  denkbar  geringste  analytische  ,Andersheit'  zwischen  der 
, Sache'  und  dem  zugehörigen  , Gedanken'  als  dem  , Begriff"  oder  der  ,Beschreibung' 
derselben."    Was  damit  gemeint  ist,  könnte  vielleicht  besser  als  Streben  nach  mög- 


3()()  Wilhelm  Frankl. 

Kapitel  Y. 
Ergel)nisse,  Ökoiioiiiiepriuzipieu. 

Die  Ergebnisse  des  ersten  Kapitels  habe  ich  bereits  an  dessen 
Schlüsse,  sofern  sie  für  die  Weiterführung-  der  Arbeit  von  "Wichtig- 
keit schienen,  zusammengefaßt.  Ich  brauche  sie  hier  nicht  zu 
wiederholen. 

Des  weiteren  hatten  wir  festzustellen: 

1,  Ein  biologisches  Ökonomieprinzip,  dahin  zu  formulieren,  daß 
die  dauernd  existierenden  Lebewesen  in  ihrem  Verhalten  nicht 
unter  einen  gewissen  Grad  von  Ökonomie  herabgehen,  welcher 
Grad  jedoch  vom  Kraftbesitz  der  Individuen  abhängig  und  mit 
diesem  variabel  ist.  Dieses  Prinzip  hat  natürlich  auch  für  das 
Denkverhalten  der  Individuen  gewisse  Konsequenzen. 

2.  Ein  psychologisches  Ökonomiepriuzip  der  Gewohuheit: 
„AUe  gewohnten  (geübten)  psychischen  Tätigkeiten  sind  ökonomisch." 

Ein  allgemeines  psychologisches  Ökonomieprinzip  als  Minimum- 
prinzip ist  abzuweisen.  Der  Apperzeption  (bei  Avenakiiis)  sowie 
dem,  was  bei  Cornelius  der  Apperzeption  entspricht,  ist  nicht  ein 
für  allemal  ökonomischer  Charakter  zuzuerkennen.  BetreflFs  sprach- 
licher Tatsachen  ist  vor  aUem  auf  Zweckmäßigkeit  als  das  haupt- 
sächlich ausschlaggebende  Moment  hinzuweisen,  so  daß  hier  die 
Beiziehung  von  Ökonomie  überflüssig  und,  wie  in  vielen  anderen 
Fällen,  willkürlich  ist.  —  Aus  diesem  als  2.  genannten  Prinzipe  in 
Verbindung  mit  der  Erkenntnis,   daß  der  Induktion  entsprechende 


liebster  Identität  zwischen  vorgestelltem  und  gemeintem  (vgl.  auch  Volkelt.  E. 
u.  D.  p.  171  ff.)  oder  immanentem  und  transzendentem  Gegenstande  bezeichnet 
werden.  Ökonomie  liegt  da  nicht  vor,  sofern  die  „Audersheit",  welche  im  Laufe 
der  Entwicklung  zu  einem  Minimum  werden  soll,  doch  zum  erstrebten  Zusammen- 
fallen der  genannten  Gegenstände  nicht  in  der  Relation  des  Mittels  zum  Zweck 
steht.  —  Desgleichen  macht  Punkt  4,  der  von  der  „Annäherung  an  die  denkbar 
geringste  innere  ,Andersheit'  mit  und  in  dem  , Systeme'  zusammengehörender 
Yerwandtschaften"  spricht,  keinen  Fall  von  Ökonomie  namhaft,  u.  zw.  aus  den 
gleichen  Gründen,  wenn  man  als  L  die  möglichst  große  Ähnlichkeit  oder  Über- 
sichtlichkeit des  Systems  in  Betracht  zieht.  Die  angezogene  Stelle  bei  Avenarics 
bezieht  sich  nämlich  auf  die  Bildung  wissenschaftlicher  Systeme  bzw.  Einteilungen. 
Die  beiden  hier  namhaft  gemachten  Tendenzen  finden  ihre  Erklärung  darin,  daß 
sie  positive  "Werte  betreffen. 


über  Ökonomie  des  Denkens.  301 

Urteile  im  Yerg:leiclie  mit  solchen,  die  derselben  niclit  entsprechen 
und  von  demselben  Gegenstand  liandeln,  die  geübteren  sind,  er- 
gibt sich: 

3.  Ein  erkemitiiistheoretisches  Ökonomieprinzip  der  In- 
duktion, besagend,  daß  die  auf  Induktion  beruhenden  Urteile  ökono- 
mischer sind  als  andere,  die  sich  auf  denselben  Gegenstand  beziehen.  — 

4.  Ein  erkenntnistheoretisches  Prinzip  der  Hypothesenöko- 
nomie, dahin  lautend,  daß  die  mehr  Tatsächliches  erldärende  Hypo- 
these ceteris  paribus  wahrscheinlicher  ist,  als  die  weniger  erklärende. 

5.  Ein  wissenschaftstlieoretisches  Ökonomieprinzip:  „Die 
Wissenschaft  zieht  ceteris  paribus  einfachere  Formulierungen  den 
weniger  einfachen  vor," 

6.  Wuxdt's  methodologisches  Prinzip,  die  „Forderung  die 
Probleme  in  der  möglichst  einfachen  Weise  zu  formulieren  und 
sich  des  möglichst  einfachen  Verfahrens  zu  ihrer  Lösung  zu  be- 
dienen". In  vielen  Fällen  ist  es  möglich,  Ökonomie  als  orientieren- 
den Gesichtspunkt  zu  verwenden.  Ein  irgendwie  geartetes  aUge- 
meines  erkenntnistheoretisches  Ökonomieprinzip  ist  bei  unserer 
Festsetzung  von  H  und  L  aus  guten  Gründen  abzuweisen. 

7.  Ein  emotionales  Ökonomieprinzip  der  Lust,  nämlich  Höfleks 
Lustgesetz.  „Insoweit  Lust  an  das  Verrichten  psychischer  Arbeit 
geknüpft  ist,  und  insoweit  sich  letztere  auf  den  Typus  ps  zurück- 
führen läßt,  wächst  die  Lust  mit  dem  wachsenden  s  und  nimmt  ab 
mit  dem  wachsenden  p."  Diese  Aufstellung  wird  unter  anderem 
gewissen  Tatsachen  gerecht,  die  vor  das  Forum  der  Ästhetik  ge- 
hören, ohne  daß  sie  jedoch  für  das  gesamte  Gebiet  der  ästhetischen 
Tatsachen,  oder  vollends  für  das  Gebiet  der  Lusttatsachen  über- 
haupt ausreichen  würde,  was  sie  übrigens  auch  gar  nicht  inten- 
diert. Insbesondere  ist  Ökonomie  nicht  zur  Erklärung  der  posi- 
tiven Wissensgelühle  zu  verwenden.  Aaf  Grund  dieses  Höfler- 
schen  Gesetzes  und  in  Verbindung  mit  anderen  naheliegenden  Er- 
wägungen ist  jedoch  unter  gewissen  Einschränkungen  eine  Ökonomie- 
tendenz im  psychischen  Leben  zu  vermuten. 

Eine  auf  bloße  Ökonomie  basierte  Grundlegung  der  Ethik  ist 
zu  verwerfen.  Der  AVert  der  Ökonomie  entspricht  dem  Werte  des 
Gewinnes  bei  Wirtschaftsökonomie,  dem  AVerte  des  Ersparnisses 
bei  Sparökonomie,  der  Summe  dieser  beiden  Werte  bei  gemischter 
Ökonomie. 


302  Wilhelm  Frankl,  Über  Ökonomie  des  Denkens. 

8.  P^in  emotionales  Ökonomiepriiizip  des  Wertes:  ,.Soferii  Öko- 
nomie einen  realisierbaren  "Werttatbestand  bedeutet,  kann  man 
eine  Tendenz  zu  demselben  vermuten,  bzw.  kann  man  die  Endgiieder 
einer  Entwicklungsreihe  als  ökonomische  vermuten."  Es  ist  das- 
selbe jedoch  als  ein  Spezialfall  eines  allg-emeineren  Gesetzes  über 
realisierbare  Werttatbestände  überhaupt  zu  betrachten.  Aus  dem 
emotionalen  Ökonomieprinzip  des  Wertes  ergibt  sich  weiter: 

9.  Wundt's  didaktisches  Ökonomieprinzip,  die  „Forderung, 
einen  gegebenen  wissenschaftlichen  Inhalt  in  der  möglichst  ein- 
fachen Form  zum  Ausdruck  zu  bringen",  wie  auch  die  beiden  von 
uns  als  5.  und  6.  angeführten  Gesetze  daraus  abzuleiten  sind. 

Ein  völlig  allgemeines  Ökonomieprinzip  betreffs  Lust  oder 
Wert  ist  abzulehnen. 


V. 

Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens. 

(Die  Müller-Ly ersehe  Figur.) 

Von 

Dr.  ViTTORio  Benüssi. 

Inhalt. 

Seite 

I.  Versuche. 

§    1.    Allgemeiue  Fragestellung 304 

§    2.   Das  zweifache  Verhalten  der  Versuchsperson 30? 

§    3.    Terminologisches 309 

§    4.    Experimentelle  Hilfsmittel 311 

§    5.    Methode 312 

§    6.    Die  (A-,  G-  und  S-)  Täuschungsgröße  bei  helligkeitsgleichen  und  hellig- 
keitsverschiedenen achromatischen  e-Figuren 315 

§    7.   Die  doppelseitige  (A-  und  G-)  Übung 321 

§    8.    Die  (A-,  G-  und  S-)  Täuschuugsgröße  bei  monochromatischen  hellig- 
keitsgleichen und  bichromatischen  helligkeitsverschiedenen  e-Figuren  .    334 
§    9.   Die  (A-  und  G-)  Täuschuugsgröße  der  e-Figur  bei  monochromatischen 
und   bichromatischen   helligkeitsgleichen   Figuren.     Die  Bestimmung 

der  Farbenaufdringlichkeit ....    340 

§  10.   Die  (A-,  G-  und  S-)  Täuschungsgöße  der  e-Figur  und   ihr  Verhältnis 

zur  Täuschungsgrüße  der  e-Figur 345 

§  11.    Die  (A-,  G-  und  S-)  Täuschungsgröße  der  p-Figur  und  ihr  Verhältnis 

zur  e-Figur 353 

§  12.   Die  (A-,  G-  iind  S-)  Täuschungsgröße  achromatischer  helligkeitsgleicher 

a-  und  ä-Figuren 362 

§  13.    Die   (A-   und   G-)   Täuschungsgröße    bei   mono-  und   bichromatischen 
helligkeitsgleichen,   und  bei  achromatischen  helligkeitsverschiedenen 

a-  und  ä-Figuren 366 

§  14.   Die  e-Täuschung  der  a-  und  ä-Figur 371 

§  15.   Die  Winkel-Täuschung  der  a-Figur       373 

§  16.   Die  MüLLER-LYEBSche  und  die  ZöLLNEKsche  Täuschung 376 


304  ViTTORIO   BeNÜSSI 

Seitft 
II.  Theorie. 

§  17.    Sinnes- lind  Produktionsvorstelhmg- ;  Sinnes- und  Produktionstäuschung.  381 

§  18.   Über  die  Bedeutung  des  Terminus  „Urteilstäuschung" 389 

§  19.  Die  Ursache  des  inadäquaten  Vorstellens  gegebener  Gestalten  .  .  .  392^ 
§  20.   Der  Anteil  der  Farbe  an  der  Täuschiingsgrüi3e.    Die  Verbindung  durch 

die  Farbenaufdringlichkeit 395 

III.  Ergebnisse. 

§  21.   Die  Tatsachen 403 

§  22.   Zur  Methode 410 

§  23.   Zur  Erklärung 411 

IV.  Kritik. 

§  24.   Die  Konfluxions-  und  Kontrasthypothese  (Müller-Lyer) 414 

§  25.   Die  Zurückführung  auf  Winkelüber-  und  -Unterschätzung  (Brentano)  418 

§  26.  Die  Erklärung  durch  das  „indirekt  Gesehene"  (Auerbach)  ....  422 
§  27.   Die  Erklärungsversuche  durch  die  Augenbewegungen  (Binet,  Biervxiet, 

Delboeuf,  Wundt) 427 

§  28.    Die  Zurückführung  auf  Zerstreuungskreise  (Einthoven) 437 

§  29.   Die  perspektivische  Deutung  (ThyiSri) 440 

§  30.   Erklärungsversuche   durch  assoziierte  Vorstellungen  (Heymans,  Lipps, 

Stilling) 442 


I.  Yersuclie. 

§  1.   Allgemeine  Fragestellung. 

Wird  jemand,  dem  die  Punkte  a,  b,  c,  d,  e,  f,  g,  h,  i,  k  (Fig.  1)  vor- 
gelegt werden,  vor  die  Aufgabe  gestellt,  die  Distanz  c-h  zu  er- 
fassen oder  eine  zweite  Distanz  von  veränderlicher  Länge  ihr  gleich 
zu  machen,  so  wird  er,  wenn  er  das  Experiment  öfter  anstellt, 
oder  bei  der  Einstellung  der  zwei  Distanzen  auf  scheinbare  Gleich- 
heit länger  verweilt,  bald  einer  eigentümlichen  die  Einstellung  er- 
schwerenden Veränderlichkeit  der  scheinbaren  c-h  Distanz  inne 
werden. 

Versucht  man  eine  Beziehung  zwischen  diesem  Wechsel  und 
den  allfälligen  Variationen  unserers  psychischen  Verhaltens  während 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfasseiis.  305 

der  verlaugten  Einstellung  ausfindig  zu  machen,  so  gelangt  man 
dazu,  den  Grund  dafür  darin  zu  vermuten,  daß  man  sich  dabei 
ganz  unwillkürlich  mit  den  umgebenden  Punkten  beschäftigt,  und 
zwar  nicht  derart,  daß  man  einen  oder  mehrere  von  ihnen  aus- 
drücklich beachtet,  anstatt  sie  ganz  unberücksichtigt  zu  lassen, 
sondern  derart,  daß  man  sie  mit  Hilfe  hinzugedachter  Verbindungs- 
linien als  Träger  einer  nunmehr  mitvorgestellten  Gestalt  erfaßt. 


•r 


•ff 


*K 


•el 


Fiff.  1. 


Besonders  stark  tritt  die  eben  berührte  Veränderlichkeit  der 
scheinbaren  c-h- Distanz  dann  ein,  wenn  man  unmittelbar 
hintereinander  einmal  die  aus  der  Verbindung  von  d,  c,  h,  g,  ein 
anderes  Mal  die  aus  der  Verbindung  von  b,  c,  h,  i  hervorgehende 
Gestalt  phantasiert.  Kommt  man  der  nicht  immer  genügend  aus- 
gebildeten Anschaulichkeit  dieser  Vorstellung  durch  Ausziehen  der 
vorher  bloß  angenommenen  Verbindungslinien  zu  Hilfe  und  steigert 
man  dadurch  die  Aufdringlichkeit  der  Gestalt  gegenüber  der- 
jenigen der  einzelnen  isolierten  Punkte  (Fig.  2  und  3),  so  tritt  die 
früher  mehr  oder  weniger  deutliche  Veränderlichkeit  der  schein- 
baren c-h-Distanz  nunmehr  in  ganz  auffallender  Weise  zutage. 

Verbinden  wir  nun  auch  die  übrigen  Punkte  mit  den  End- 
punkten der  Strecke  c-h,  so  erhalten  wir,  je  nachdem  a  und  k 
oder  e  und  f  in  Betracht  gezogen  werden,  die  zwei  Typen  der  in 
der  psychologischen  Literatur  längst  bekannten  MÜLLEE-LYEKSchen 
Täuschungsfigur. 

Wurden  in  dem  anfangs  angeführten  Fall  Verbindungslinien 
angenommen,  so  ist  nun  im  vorliegenden  Falle  (Fig.  2  und  3)  möglich, 
die  ausgezogenen  Verbindungslinien  wegzudenken  und  zwar  nicht  in 
der  Weise,  daß  man  etwa  die  vorliegende  Gestalt  erfaßt  und  zu- 
gleich   annimmt,    die    in  Betracht   kommenden    Verbindungslinien 

Meinong,  Untersuchungen.  -^ 


305  ViTTORIO   BeNüSSI. 

seien  nicht  da,  sondern  so,  daß  man  sich  des  Erfassens  der  vor- 
gegebenen Gestalt  (genauer  der  Bildung  der  zum  Erfassen  der  vor- 
liegenden Gestalt  notwendigen  Gestaltvorstellung)  enthält.  Auch 
in  diesem  Falle  wird  man  abwecliselnd  ein  Kürzer-  oder  Länger- 
werden der  vorgestellten  c-h-Distanz  beobachten  können. 


-Ä 


Figur  2.    Figur  3. 


Die  Beziehungen  festzustellen,  die  zwischen  der  scheinbaren 
Länge  der  c-h-Distanz  und  der  Bildung  oder  Nichtbildung  der 
zum  Erfassen  der  jeweilig  vorliegenden  Gestalt  nötigen  Vor- 
stellung beim  Vergleichen  der  c-h-Distanz  mit  einer  zweiten,  ihr 
gleich  einzustellenden,  bestehen,  ist  die  Hauptintention  der  folgen- 
den Untersuchung.  Läßt  sich  diese  Frage  in  befriedigender  Weise 
beantworten,  so  wird  weiter  zu  untersuchen  sein 

a)  inwieweit  die  Farbe  der  Figur  einerseits  und  die  Farben- 
verschiedenheit zwischen  verschiedenen  Figurenkomponenten  ande- 
rerseits die  Größe  der  beim  Erfassen  der  c  -  h-Distanz  entstehenden 
Täusclumg  [in  bezug  auf  die  scheinbare  Größe  dieser  Distanz]  zu 
beeinflussen  vermag; 

b)  ob  und  wie  ein  derartiger  Einfluß,  wenn  er  tatsächlich  vor- 
handen ist,  mit  der  oben  berührten,  näher  zu  präzisierenden  Ab- 
hängigkeit der  Täuschung  von  der  Bildung  oder  Nichtbildung  der 
Gestaltvorstellung  in  Beziehung  zu  setzen  und  aus  derselben  zu 
verstehen  sei. 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  307 

Der  Versuch,  die  gewonnenen  Beobachtungen  der  tlieoretischen 
Auffassung  der  Täuscliung  selbst  und  mithin  der  Gestalterfassung 
im  allgemeinen  nutzbar  zu  maclien,  wird  dann  den  Stoff  zum  ab- 
schließenden Abschnitte  des  positiven  Teiles  der  vorliegenden 
Arbeit  liefern. 

Was  die  Formulierung  der  speziellen  Fragestellungen  anlangt, 
verweise  ich  auf  die  Besprechung  der  einzelnen  Versuchsreihen; 
sie  hier  der  Keihe  nach  anzuführen,  halte  ich  für  überflüssig. 

Dagegen  will  ich  an  dieser  Stelle  die  Aufgabe  meiner  Ver- 
suchspersonen kurz  charakterisieren  und  der  Angabe  der  Ver- 
suchsanordnung und  Methode  einige  terminologische  Bestimmungen 
voranschicken. 

§    2.    Das    zweifache   Verhalten    der   Versuchsperson. 

Dem  oben  Gesagten  zufolge  ist  die  Versuchsperson  einmal 
aufzufordern,  die  ilir  vorgelegte  (e-,  a-  bzw.  e-,  ä-)  Gestalt^)  an- 
schaulich und  einheitlich  zu  erfassen  und  dabei  die  zur  Gestalt 
gehörige  Hauptlinie  mit  einer  ihrer  Länge  nach  veränderlichen 
Vergleichslinie  zu  vergleichen  und  diese  letztere  jener  gleich  ein- 
zustellen; —  ein  andermal  hat  sie  die  Bildung  der  Gestaltvor- 
stellung  tunlichst  zu  vermeiden,  aus  dem  ihr  gebotenen  Linien- 
material die  Hauptlinie  c  -  h  durch  Analyse  hervorzuheben  und  auf 
diese  Weise  die  Einstellung  auf  Gleichheit  mit  der  Vergleichsge- 
raden vorzunehmen. 

Diese  zweifache  Reaktionsweise  der  Versuchsperson  kann  an 
einem  Beispiel  aus  dem  Gebiete  des  musikalischen  „Hörens"  noch 
weiter  erläutert  werden.  Der  analoge  Fall  auf  diesem  Gebiete  wäre 
der,  wenn  jemand  aus  einer  Reihe  von  Tönen,  die  ihm  vorgespielt 
werden,  einen  herausheben  und  mit  einem  anderen  gleichzeitig  an- 
gegebenen der  Höhe  nach  veränderlichen  Ton  vergleichen  müßte, 
wobei  dieser  zweite  Ton  mit  dem  durch  Analyse  hervorgehobenen 
auf  gleiche  Höhe  zu  bringen  wäre.  Hier  kann  er  nun  das  eine  Mal 
außer  den  einzelnen  Tönen  auch  die  durch  dieselben  getragene 
Melodie  vorstellen  (oder  wie  man  gewöhnlich  aber  unangemessen 


')  D.  h.   (vgl.  §  3)  eine  MtJLLER-LYERSche  Figur  mit  den  Schenkeln  nach 
einwärts  (e)  oder  auswärts  (a)  gekehr,  bzw.  ra  i  t  (e,  a)  oder  ohne  (p,  ä)  Hauptlinie 

20* 


308  VlTTORIO   BeNüSSI. 

sagt,  diese  ,. hören"),  ein  andermal  aber  die  Melodie  nicht  erfassen 
und  sich  tunlichst  nur  um  den  bestimmten  Ton,  den  er  zu  ver- 
gleiclien  liat,  kümmern.  Hier  wie  dort,  nämlich  im  Falle  der 
räumlichen  Gestalt,  bleibt  das  Reizmaterial  für  beide  Vergleichs- 
arten konstant;  man  hat  dieselbe  Anzahl  von  Gesichtseindrücken 
im  Falle  der  Streckenvergleichuug,  dieselbe  Anzahl  von  Gehörs- 
eindrücken in  demjenigen  der  Tonvergleichung,  mit  dem  einzigen 
Unterschiede,  daß  diese  Eindrücke  einmal  zur  Bildung  einer  Ge- 
staltvorstellung verwendet  werden  und  ein  anderes  Mal  nicht. 

Daß  sowohl  melodische  als  auch  räumliche  Gestalten  unerfaßt 
bleiben  können,  trotzdem  sämtliche  Töne  gehört,  bzw.  sämtliche 
Orte  gesehen  werden,  auf  denen  die  unerfaßten  Gestalten  aufge- 
baut sind,  bezeugt  einerseits  das  „Überhören"  von  Melodien  (bz^-. 
die  zum  adäquaten  Hören  poliphoner  Sätze  notwendige  Übung), 
andererseits  das  „Übersehen"  von  Figuren  in  Vexierbildern,  eine 
Tatsache,  aus  der  evidenterweise  hervorgeht, 

1.  daß  die  Melodie-  und  Figurvorstellungen  einerseits  an  die 
in  uns  existierenden  Vorstellungen  der  jenen  Gestalten  zugrunde 
liegenden  Töne  und  Orte,  andererseits  an  die  außer  uns  bestehen- 
den Melodien  und  Figuren  (genauer  Melodie-  und  Figurgegenstände) 
nicht  gebunden  sind, 

2.  daß  eine  kausale  Beziehung  zwischen  derartigen  Gegen- 
ständen (wie  Melodie  und  Gestalt)  und  unseren  Vorstellungen  von 
denselben  ebensowenig  bestehen  kann,  wie  eine  Notwendigkeitsbe- 
ziehung zwischen  den  Vorstellungen  von  Tönen  und  Öitern  und 
denjenigen  von  Melodien  und  Figuren. 

Daß  zwischen  Melodie  oder  Figur  einerseits,  und  Melodie-  oder 
Gestaltvorstellung  andererseits  eine  kausale  Beziehung  gar  nicht 
bestehen  kann,  geht  aus  der  realitätslosen  idealen ')  Natur  der 
Melodie  und  Figur  selbst  hervor.  Die  Melodie  und  die  Gestalt 
„existieren"  so  wenig  neben  den  Tönen  oder  Örtern,  auf  die  sie  ge- 
baut sind,  als  sie  die  bloße  Summe  allfälliger  Töne  und  Orte  sind, 

Die  Tatsache,  daß  das  bloße  Hören  von  Tönen  oder  das 
bloße  Sehen  von  Punkten  nicht  genügt,  um  die  allfälligen  darauf 
aufgebauten  Gestalten  zu  erfassen,  ist  in  diesem  Zusammenhange 


')  Ygl.  Meinung,   Über  Gegenstände   höherer  Ordnung.    Zeitschr.  f.  Psych. 
Bd.  21,  S.  198  ff. 


Zur  Psj'chologie  des  Gestalterfassens.  309 

deswegen  von  Wichtigkeit,  weil  sich  daraus  ergibt,  daß,  wenn 
man  vor  eine  inadäquate  Gestaltvoi-stellung  gestellt  wird,  zur 
Erklärung  derselben  niclit  nur  die  alltalligen  in  Betracht  kommen- 
den Sinnesbetätigungen,  sondern  auch  diejenigen  Vorgänge  werden 
geprüft  werden  müssen,  die  im  Anscliluß  an  das  durch  Sinnesbe- 
tätigung hervorgel)rachte  Vorstellungsmaterial  zur  Bildung  einer 
GestaltvorsteUuno:  führen. 


§3.  Terminologisches. 

Die  Untersuchungen  der  letzten  Jahre')  haben  ergeben,  daß 
die  im  Vorangegangenen  nur  gestreiften  Tatsachen  exakter  zu  be- 
schreiben sind,  wenn  man  alles,  was  vorstellungsmäßig  zu  er- 
fassen, oder  (anders  ausgedrückt)  alles,  wovon  man  mit  Kilfe  eines 
Urteils,  Kenntnis  nehmen  kann,  Vorstellungs  g  e  g  e  n  s  t  a  n  d  nennt, 
als  Vorstellungs  i  n  h  a  1 1  dagegen  dasjenige  psj^chische  Reale  be- 
zeichnet, was  an  einer  Vorstellung  ausmacht,  daß  sie  die  Vor- 
stellung von  einem  bestimmten  Gegenstande  ist.  In  unseren  obigen 
Beispielen  sind  die  Töne  und  Orte  „Gegenstände",  —  ,.Inhalte''  da- 
gegen dasjenige  Psychische,  welches  das  Vorstellen  schlechthin 
zum  Vorstellen  eines  „Tones"  oder  „Ortes"  determiniert  und  die 
notwendige  Voraussetzung  abgibt  zu  einem  das  Vorhandensein  von 
derartigen  Gegenständen  erfassendem  Wissen.  Man  sagt  nun  weiter 
in  Fällen  wie  die  eben  berührten,  daß  man  Töne  oder  Orte  „wahr- 
nimmt", und  meint  damit,  daß  das  nunmehr  zustande  gekommene 
Wissen  (d.  h.  Überzeugtsein)  sich  an  Inhalte  angeschlossen  hat,  welche 
ihre  Entstehung  einer  irgendwie  beschaffenen  Sinnesbetätigung  ver- 
danken, die  ihrerseits  wieder  durch,  wenn  auch  vermittelte,  kausale 
Einwirkung  seitens  der  Gegenstände  hervorgerufen  worden  ist. 
Nun  gibt  es  aber  Gegenstände,  die  keine  Realität  haben  und  die 
daher  auf  unsere  Sinne  nicht  wirken  können:  man  nennt  solche 
realitätslose  und  Avirkungsunfähige  Gegenstände  „ideale  Gegen- 
stände" und  die  Art  ihres  Seins  im  Gegensatz  zur  Existenz  der 
realen  Gegenstände  „Bestand".  Weil  nun  die  idealen  Gegenstände 
in  ihrem  Bestand  an  die  Existenz  von  realen  Gegenständen  ge- 
bunden sind,   kann  man  sie  „Gegenstände  höherer  Ordnung"  oder 


')  Vgl.  Meinong,  a.  a.  0.  §  2  imd  3:  Über  Annahmen,  S.  8f. 


310  VlTTORIO    BeNüSSI. 

„Superiora"  nennen,  während  diejenigen  realen  Gegenstände,  an  die 
sie  gebunden  sind,  als  Gegenstände  niederer  Ordnung  oder  ,,In- 
feriora"  zu  bezeichnen  sind.  So  ist  die  Melodie  den  Tönen  gegenüber 
ein  „Superius"  und  die  Töne  sind  dessen  ,Jnferiora".  A\'ie  sich  die 
Melodie  zu  den  Tönen,  so  verhält  sich  die  (räumliche)  Gestalt  (die 
„Form")  zu  den  einzelnen  Ortsdaten,  an  denen  sie  hängt. 

Wie  bemerkt,  kommt  derartigen  idealen  Gegenständen  keine 
Eealität  zu.  Sie  können  unsere  Sinne  nicht  affizieren.  Haben  wir 
nun  trotzdem  Vorstellungen  von  ihnen,  so  müssen  sie  ihre  Prove- 
nienz nicht  einer  Sinnesbetätigung,  sondern  einem  anderen  psy- 
chischen Geschehen  verdanken ;  indes  die  Sinne  für  die  den  realen 
Inferioren  zugeordneten  Inhalte  zu  sorgen  haben.  Diese  zum  Ent- 
stehen von  Superiusvorstelluugen  (genauer  Superiusinhalten)  not- 
wendige eigenartige  Bearbeitung  der  durch  Sinnesbetätigung  her- 
vorgerufenen Inferiusinhalte  kann  man  „Produktion"  nennen. 

So  viel  über  die  Anwendung  der  Termini:  Gegenstand  und  In- 
halt, Inferius  und  Superius,  Sinnes-  und  Produktionsvorstellung. 

Zum  Scliluß  muß  ich  noch  einige  Abkürzungen  erwähnen,  deren 
ich  mich  im  folgenden  der  Kürze  wegen  bedienen  werde.  Die 
beiden  oben  auseinandergehaltenen  Reaktionsarten  der  Versuchs- 
person werden  mit  G-  bzw.  A-Reaktion  bezeichnet.  G-Reaktion 
bedeutet  dann  denjenigen  Fall,  bei  dem  die  Versuchsperson  auf 
gefordert  wird,  beim  Einstellen  des  Vergleichsfadens  (vgl.  §  4)  die 
Hauptiinie  der  allfälligen  Figur  als  eine  Bestimmung  der  zugleich 
miterfaßten  Gestalt  zum  Vergleich  heranzuziehen;  mit  A-Reaktion 
ist  dagegen  der  Fall  gemeint,  in  dem  sich  die  Versuchspei-son  einer 
derartigen  Gestalterfassung  enthalten  und  die  Hauptlinie  der  Figur 
als  einen  selbständig  und  isoliert  vorliegenden  Gegenstand  erfassen 
muß.  S-Reaktion  wird  endlich  den  Fall  bezeichnen,  bei  dem  der 
Versuchsperson  keine  bestimmte  Reaktion  vorgeschrieben  ist,  in 
welchem  Falle  sie  spontan  im  Sinne  entweder  von  A  oder  G 
reagieren  wird.  A-,  G-,  S-Werte  bedeuten  ^^'erte,  die  bei  vorge- 
schriebener A-  bzw.  G-  oder  bei  S-Reaktion  gewonnen  worden  sind ; 
desgleichen  bedeuten  A-  bzw.  G-Übung  die  Übung  der  A-  oder  G- 
Eeaktion  usw. 

Für  die  Figur  mit  nach  einwärts  gekehrten  Schenkeln  wird 
die  Abkürzung  e,  für  die  mit  nach  auswärts  gekehrten  Schenkeln 
die  Abkürzung  a  verwendet,    e  und  ä  werden  eine  e-  bzw.  a-Figur 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfasseus. 


311 


bezeiclmen ,  denen  die  Hauptlinie  fehlt,  e-,  a-  hzw.  e-,  ä- Werte 
werden  dann  natürlicherweise  die  durch  e-,  a-  bzw.  e-,  ä-Figuren 
bedingten  Täuschungswerte  bedeuten. 

§  4.  Experimentelle  Hilfsmittel. 

Die  Versuchsanordnung  war  eine  ganz  einfache.  Die  all- 
fällige (e-,  e-,  a-,  ä-  oder  p- ^))  Täuschungsfigur  war  aus  einer 
geschwärzten    Metallplatte   oder    einer    über   eine    Gelatineplatte 


n 


R 


Figur  4. 
G :  schwarze  Grunäscheibe ;  F :  herausgeschnittene  Figur ;  VF :  weißer  Vergleichs- 
faden ;  s :  farbige  bzw.  farblose  rotierende  Scheibe  zur  Färbung  helligkeitsgleicher 
und  monochromatischer  Figuren;  ggig^gs'.  Gelatinscheibe  zur  Färbung  hellig- 
keitsverschiedener  und  bichromatischer  Figuren;  E:  Rollen  zum  Verschieben  des 
Vergleichsfadens;  M:  Elektromotor. 

gespannten  schwaizen  Papierscheibe  geschnitten  und  konnte 
daher  sowohl  im  durchfallenden  als  im  darauffallenden  Lichte 
betrachtet  werden.  Durch  verschiedenfarbige  Papiere  oder  Gläser 
war  es  ermöglicht,  die  Färbung  bzw.  die  Helligkeit  der  ganzen 
Figur  oder  nur  einer  ihrer  Komponenten  (Hauptlinien  oder  Schenkel) 
zu  variieren. 


>)  Vgl.  §  11 


'^]^2  ViTTORIO   BeNÜSSI. 

P"ür  die  Fig-ur  wurden  aus  leicht  einzusehenden  Gründen  die- 
jenigen Dimensionen  gewählt,  bei  denen  sich  nach  den  diesbezüg- 
lichen Bestimmungen  Heymans^)  ein  Täuschungsmaximum  ein- 
stellt. (Hauptlinie  =  75  mm;  Schenkellänge  =  30  mm;  Neigungs- 
winkel der  Schenkel  zur  Hauptlinie  bzw.  zur  Verlängerung  der- 
selben =■  30'';  Stärke  sämtlicher  Linien  ^=  1  mm.)  Vier  Zenti- 
meter unterhalb  der  Mitte  der  Hauptlinie  konnte  durch  ein  kleines 
Loch  ein  zur  Hälfte  schwarzer,  zur  anderen  Hälfte  weißer  Faden 
parallel  zur  Hauptlinie  herausgezogen  werden.  Die  weiße  Partie 
desselben  diente  zur  Bestimmung  der  scheinbaren  Hauptlinienlänge. 
Mit  Hilfe  einiger  Rollen  konnte  der  Vergleichsfaden  entweder  vom 
Versuchsleiter  oder  von  der  Versuchsperson  selbst  verschoben 
werden.  Zur  Veranschaulichung  dieser  Versuchsanordnung  diene 
vorausstehende  schematische  Figur  4. 

§  5.   Methode. 

In  diesem  Zusammenhange  erscheint  es  notwendig,  auf  zwei 
Punkte,  die  bis  jetzt  anderwärts  unbeachtet  geblieben  sind,  aus- 
drücklich hinzuweisen:  erstens  auf  die  Notwendigkeit  einer  getrennten 
Untersuchung  der  e-  und  a-Figur,  zweitens  auf  die  ebenso  un- 
erläßliche Unterscheidung  zwischen  A-  und  G-Reaktion  seitens  des 
beobachtenden  Subjektes. 

Es  ist  klar,  daß  wenn  die  Täuschungsgröße  durch  das  Ein- 
stellen einer  e-  oder  a-Figur  auf  scheinbare  Längengleichheit  mit 
einer  Figur  von  entgegengesetztem  Typus  gemessen  wird,  man 
vor  allem  nicht  bestimmen  kann,  wieviel  des  Gesamtbetrages  ge- 
gebenenfalls auf  Rechnung  der  e-,  wieviel  auf  Rechnung  der  a-Figur 
zu  setzen  ist;  man  führt  ferner  einen  neuen  Fehler  dadurch  ein^ 
daß  man  eine  wechselnde  scheinbare  Länge  an  einer  neuen  sub- 
jektiv ebenso  inkonstanten  mißt.  In  der  Tat  genügt  es,  einige 
Augenblicke  eine  e-  oder  eine  a-Figur  zu  betrachten,  um  des  eben 
genannten  Wechsels  inne  zu  werden. 

Nun  war  in  unserem  Falle  die  Unterscheidung  zwischen  e- 
und  a-Figur  auch  noch  aus  folgendem  Grunde  unerläßlicli :  Schon 


*)  Vgl.   Heymans,   Quantitative  Untersuchungeu   über   das   „optische  Para- 
doxon".   Zeitschr.  f.  Psych.  Bd.  9,  (1896)  S.  221—255  (231). 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  313 

aus  beiläufigen  Yorversuchen  ergab  sich,  daß  zwischen  e-  und  a- 
Figur  allerlei  (jegensätzlichkeiten,  namentlich  in  bezug  auf  die 
durch  Farben-  und  Helligkeitsverschiedenheit  bedingten  Täuschungs- 
variationen bestanden.  Hätte  man  nun  die  e-  und  a-Figur  nicht 
getrennt  untersucht,  so  würden  sich,  wie  ersichtlich,  wenn  nicht 
alle,  so  immerhin  die  meisten  und  hauptsächlich  die  charakteristi- 
schesten Züge  der  hier  untersuchten  Abhängigkeit  einer  Feststellung 
entzogen  haben. 

Dies  alles  kommt  um  so  mehr  in  Betracht,  als  die  Figuren 
ihren  räumlichen  Bestimmungen  nach  untereinander  gleich  waren 
und  es  mir  hauptsächlich  darum  zu  tun  war,  nur  solche  Variationen 
der  Täuschungsgröße  zu  untersuchen,  die  durch  Veränderung  außer- 
räumlicher Bestimmungen  hervorgerufen  wurden.  Solche  w^aren 
einerseits  durch  die  verschiedenen  Reaktionsarten  des  beobachtenden 
Subjektes  (S-,  A-  und  G-Reaktion),  andererseits  durch  die  Farben- 
verschiedenheit (im  w^eitesten  Sinne)  geboten. 

Was  den  ersten  Punkt,  d.  h.  die  Unterscheidung  zwischen  (S-) 
A-  und  G-Reaktion  anlangt,  genügt  es  darauf  hinzuweisen,  daß 
nur  auf  diesem  Wege  der  eben  berührte  Wechsel  der  scheinbaren 
Länge  der  Hauptlinie  zu  beseitigen  ist,  indes  bei  einer  konstanten 
Figur  bloß  infolge  von  A-  und  G-Reaktion  die  Täuschungsgröße 
diejenigen  W^erte  erreichen  kann,  die  anderwärts  mit  Hilfe  räum- 
licher Veränderungen  an  der  Figur  festgestellt  worden  sind.  — 
Die  Wichtigkeit  dieses  Umstandes  erhellt  bereits  daraus,  daß  durch 
die  Abhängigkeit  der  Täuschung  von  der  subjektiven  Reaktionsart 
die  unwesentliche  Rolle  der  räumlichen  Variationen  an  der  Figur 
nachgewiesen  erscheint;  denn  der  Einfluß  derartiger  Veränderungen 
wird  so  zu  verstehen  sein,  daß  durch  die  allfällige  Schenkellänge 
bzw\  -Neigung  bei  spontaner  Reaktion  die  A-  oder  G-Form  des 
subjektiven  Verhaltens  angeregt  wird.  Näheres  darüber  wird  erst 
im  Laufe  dieser  Untersuchung  nachzutragen  sein. 

Auf  relativ  unwesentliche  Einzelheiten  der  Versuchsanordnung 
hinzuweisen,  halte  ich  für  überflüssig.  Nur  bezüglich  eines  Punktes, 
nämlich  der  Lage  des  Vergleichsfadens  seien  hier  beispielsweise 
die  Ergebnisse  einiger  Parallelversuche  wiedergegeben,  bei  denen 
der  Vergleichsfaden  einmal  die  direkte  Verlängerung  der  Haupt- 
linie bildete  (Tabelle  I,  a-Reihe,  Kurve  a),  das  andere  Mal  aber 
4  cm  unterhalb  derselben  einsetzte  (Tabelle  I,  b-Reihe,  Kurve  ß). 


314 


ViTTORIO   BeNüSSI. 


Wie  aus  folgender  Tabelle  I  ersichtlich  ist,  fallen  die  Ergebnisse 
für  die  a-  und  b-Reihe  keineswegs  zusammen.  Dabei  gilt  es, 
hauptsächlich  auf  folgende  zwei  Punkte  die  Aufmerksamkeit  zu 
lenken : 

1.  Die  größere  Ausdehnung  des  Täuschungsgebietes  ^)  für  die 
a-Reihe ; 

2.  die    Verschiedenheit    der    relativen    Lage    der    einzelnen 
Täuschungswerte  bei  a  und  b. 

Tabelle  I. 


Reihe 


Versuchs- 
person 


!  Fort).  Zahl 


Hauptl. 
Nebenl. 


weii3 
weiß 


— '- — Versuchs-   „ 
erau  '       ^  Kurve 

tag 


grau 
grau 


weiß 
grau 


weiß 


V.  B. 


Täuschgr.    1    1,50  i    6,0        1,80      8,0 

Var.  0,30  0.20         0,40         0.20 

Täuschgr.       3,fiO  ;   4,50      2,50'  j   4,70 

Var.  0,27     j     0,22  0,30     I    0,20 

(Zahl  der  Einzelmessungen:  280.) 


15.— 21. 
VI. 
1902 


Graphische  Darstellung  zu  Tabelle  I. 


TTTTrt 

1         \        2        \        3        \        it 

CUJVE 

3-5 

9 
8-5 

8 
7-5 

7 

es 

6 

SS 
5 

!f5 
4 

3S 
3 

ZS 
2 
15 
1 
0-5 

ß 

/ 

^1 

/ 

1/ 

Beides  findet  in  den  später  zu  erörternden  Versuchsergebnissen 
seine  Erkläiung,  indem  bei  der  a-Reihe  teilweise  der  Einfluß  einer 


')  D.  h.  der  Abstand  zwischen  dem  kleinsten  und  dem  grüßten  Täuschungs- 
wert, bzw.  zwi.sclien  den  bei  A-  und  bei  G-Iieaktiou  gewonnenen  Kurven. 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  315 

a-Fig"ur,  teilweise  der  einer  unregelmäßig:  begünstig'ten  A-  oder  G- 
Reaktion  sich  zu  erkennen  gibt. 

Zum  Schlüsse  sei  noch  erwähnt,  aul'  welche  Weise  die  Versuchs- 
personen veranlaßt  wurden  mit  G  oder  A  zu  reagieren.  So  wurden 
z.  B.  bei  solchen,  bei  denen  durch  den  Hinweis  auf  Vexirbildei- 
oder  Melodien  ein  Verständnis  für  das  Verlangte  nicht  sofort  zu 
erzielen  war,  diese  zwei  Forderungen  an  einer  oder  mehreren  Zu- 
sammenstellungen von  Punkten  oder  Linien  klargelegt  auf  Grund 
deren  verschiedene  Gestalten  erfaßt  werden,  oder  die  losgelöst 
von  jeder  Beziehung  zueinander  betrachtet  werden  konnten.  Da 
trotzdem  einigeimaßen  unsicher  blieb,  ob  die  Versuchspersonen 
auf  das  Verlangte  auch  wirklich  eingegangen  waren,  so  ist  es  nicht 
zu  unterschätzen,  daß  eine  Gewähr  hierfür  den  folgenden  beiden 
Umständen  entnommen  werden  konnte. 

1.  Für  jede  der  einzelneu  Reaktionsarten  war  eine  größere 
Ähnlichkeit  der  zusammengehörigen  Täuschungswerte  zu  ver- 
zeiclinen,  so  daß  die  beiden  A-  und  G-Wertgruppen  deutlich  aus- 
einanderflelen. 

2.  Die  wiederholt  sich  äußernde  spontane  Bemerkung  der  Ver- 
suchsperson, sie  habe  auf  die  verlangte  (G-  oder  A-)  Reaktionsart 
vergessen,  fand  immer  ihre  Bestätigung  in  dem  plötzlichen  auf- 
fälligen Sinken  bzw.  Steigen  des  Täuschungswertes. 

§  6.  Die  (S-,  A-  und  G-)  Täuschungsgröße  bei 

h  e  1 1  i  g  k  e  i  t  s  g  1  e  i  c  h  e  n   und   h  e  1 1  i  g  k  e  i  t  s  v  e  r  s  c  h  i  e  d  e  n  e  n 

a  c  h  r  0  m  a  t  i  s  c  h  e  n  e  -  F  i  g  u  r  e  n. 

Die  Fragen,  deren  Beantwortung  durch  die  eben  zu  be- 
sprechende Versuchsreihe  angestrebt  wurde,  lauteten  wie  folgt: 

1.  Wie  verhält  sich  die  Täuschungsgröße  einer  Müllek-Lier- 
sclien  Figur  des  e-Typus  zur  subjektiven  A-  und  G-Reaktion,  d.  h. 

a)  zur  Analyse   der  Hauptlinie  aus  dem   gebotenen  Linien- 
kollektiv, 

b)  zur  Erfassung    der   durch    dieses   Linienkollektiv    „ge- 
tragenen" Gestalt. 

2.  In  welcher  Beziehung  steht  die  Täuschungsgröße 

a)  (bei   helligkeitsgleichen  Figuren)  zur  Größe  der  Hellig- 
keitsverschiedenheit zwischen  Figur  und  Grund; 


316 


ViTTOBIO    BkNÜSSI. 


b)  (bei  helligkeitsverschiedenen  Figuren)  zur  Größe  der 
Helligkeitsverschiedenheit  zwischen  Hauptlinie  und  Grund  einer- 
seits und  Grund  und  Nebenlinien  andererseits. 

Zur  experimentellen  Beantwortung  dieser  Fragen  wurden  8  ver- 
schiedene Figurenbeleuchtungen  (bzw.  Beleuchtungskombinati(juen) 
einer  ihrer  Größe  nach  (Hauptlinie  =  75  mm,  Nebenlinien  =  80  mm. 
Neigungswinkel  der  Nebenlinien  zur  Hauptlinie  =  30  ** .  Breite 
sämtlicher  Linien  =  1  mm)  konstant  bleibenden  e-Figur  verwendet, 
und  die  Versuche,  bei  getrennter  Untersuchung  für  A-  und  G- 
Reaktion,  Umkehrung  der  Figurenreihenfolge  und  cyklischer 
Variation  der  Ausgangslänge  des  Vergleichsfadens,  nach  folgenden^ 
Schema  angestellt: 


1.  Figurengruppe. 

1.  I  2.  1  3.  4. 

weiß        I     hellgrau     ;        weiG  hellgrau 

weiß        I     hellgrau     |     hellgrau  AveiG 

(10  Sitzungen  und  zwar  6  bei  G-,   und  4  bei  A-Reaktion.    Jede  Figur  bei  jeder 
Sitzung  5  mal  zur  Einstellung  vorgelegt.) 


Fortlaufende  Zahl: 

„    ,      ,       (Hauptlinie 
Farbe  der  \„  ,     ,.  . 

iNebenlmien 


2.  Figurengruppe. 

I           5.           i           6. 

7. 

8. 

weiß          dunkelgrau 

weiß 

dunkelgrau 

1        weiß          dunkelgrau 

dunkelgrau 

weiß 

Fortlaufende  Zahl: 

Farbe  der  {^"^f"^ 
liSebenhnien 

(Zahl  der  Sitzungen  und  der  Einzeleinstellungen  wie  bei  der  1.  Figurengruppe.) 

Dieses  Versuchsmaterial  (vgl.  Tab.  II)   wurde  nach  folgender 
Anordnung  verwendet. 


G-Reaktion 

A-Eeaktion 

Versuchs- 

Folge der 

und  der 

Folge  der 

und  der 

Versuchs - 

tage 

Sitzungen 

Figuren 

Sitzungen 

Figuren 

tage 

9.  Vn   1902 

1 

1-4,  5-8 

1 

l'-4',  5'— 8' 

26.  YII.  1902 

10.  VII.     „ 

2 

4—1,  8-5 

2 

4'— 1',  8—5' 

29.  VII.      .. 

12.  VII.     „ 

3 

8—5,  4—1 

3 

8-5',  4'-l' 

1.  Vlll.     „ 

IH.  VII.     „ 

4 

5—8,  1-4 

4 

1'— 4'.  5'— 8' 

4.  VIII.     .. 

16.  VII.     ,. 

5 

1-4,  5-8 

— 

— 

— 

18.  VII.     „ 

6 

4-1,  8-5 

— 

- 

— 

Die  Ergebnisse  dieser  Versuchsreihe  stelle  ich  in  Tabelle  II 
zusammen.  Dabei  lenken  zunächst  folgende  Momente  die  Auf- 
merksamkeit auf  sich: 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens. 


317 


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•     kl 


o 


318 


ViTTOBlO   BeNCSSI. 


1.  Die  Tatsache,  daß  die  gewonneneu  Täuschungswerte  sich  nicht 
in  eine  Horizontale  einordnen  lassen,  sondern  eine  Kurve  bilden, 

2.  der  völlig  gleichmäßige  Verlauf  sämtlicher  Kurven  unter- 
einander, 

3.  die  ausnahmslos  beträchlich  höhere  Lage   der  bei   der  G- 
Eeaktion  erhaltenen  Täuschungswerte. 

Graphische  Darstellung  zu  Tabelle  II. 


mm 

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-0-5 

7— 

K^ 

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/ 

/ 

// 

/ 

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-1 

Es  zeigt  sich  also,  daß  sowohl  zwischen  Täuschungsgröße  und 
Helligkeitsgraden  der  Figur  als  auch  zwischen  Täuschungsgröße 
und  dem  Verhalten  der  Versuchsperson,  das  sich  in  dem  Gegen- 
satze von  Analyse  (der  Hauptlinie)  und  Gestalterfassung  be- 
wegt, eine  konstante,  der  Messung  zugängliche  Abhängigkeitsbe- 
ziehung besteht. 

Eine  jede  dieser  eben  berührten  Beziehungen  müssen  wir 
nun  näher  präcisieren.  Die  erste  davon  läßt  sich  folgender- 
maßen ausdi'ücken:  Bei  helligkeitsgleichen  Figuren  ver- 
ändert sich  die  Täuschungsgröße  umgekehrt  mit  der  Größe 
der  Helligkeitsverschiedenheit  zwischen  Figur  und  Grund;  — 
bei  helligkeits verschiedenen  Figuren  verändert  sich  die 
Täuschungsgröße  direkt  mit  der  Größe  der  HeUigkeitsver- 
schiedenheit  zwischen  Grund  und  Nebenlinien,  und  umgekehrt  mit 
der  Größe  der  HeDigkeitsverschiedenheit  zwischen  Hauptlinie  und 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  319 

Grund.  \)  Das  Täuschungs;?ebiet  wird  daher  (bei  hellig-keitsver- 
schiedenen  Figuren)  um  so  größer  sein,  je  mehr  die  beiden  Hellig- 
keiten der  zwei  verwendeten  Haupt-  und  Nebenlinienfärbungen  bei 
konstant  bleibender  Helligkeit  des  Grundes  voneinander  abweichen. 

Zur  zweiten  Abhängigkeitsbeziehung  ist  nun  die  Tatsache 
hervorzuheben,  daß  diejenigen  Versuchsreihen,  die  bei  G-Reaktion 
angestellt  wurden,  dui'chaus  größere  Täuschungswerte  ergeben  haben, 
als  die  bei  A-Reaktion  vorgenommenen.  Und  zwar  wird  hier  das 
nach  oben  durch  die  G-,  nach  unten  durch  die  A-Weite  begrenzte 
Täuschungsgebiet  um  so  größer  sein,  je  ausgebildeter  die  A-  und 
G-Fähigkeiten  der  jeweiligen  Versuchsperson  sein  werden.  —  eine 
Tatsache,  die  abgesehen  von  ihrer  später  zu  erörternden  theo- 
retischen Bedeutung  auch  noch  deswegen  wichtig  erscheint,  weil 
man  durch  sie  in  den  Stand  gesetzt  wird,  aus  der  Größe  des 
zwischen  G-  und  A-Werten  enthaltenen  Täuschungsgebietes  die 
Größe  der  G-  und  A-Fähigkeit  einer  beliebigen  Versuchsperson 
zu  bestimmen.  Ein  enges,  tiefliegendes  Täuschungsgebiet  wird  auf 
sehr  große  A-  bei  sehr  kleiner  G-Fähigkeit  hinweisen,  —  ein 
schmales  aber  hochliegendes  wird  dagegen  zu  einem  Schluß  auf 
stark  entwickelter  G-  bei  schwach  ausgebildeter  A-Fähigkeit  be- 
rechtigen, indes  ein  sehr  weit  ausgespanntes  Täuschungsgebiet  das 
Vorhandensein  sowohl  einer  stark  ausgeprägten  A-  als  auch  einer 
im  hohem  Maße  ausgebildeten  G-Fähigkeit  bezeugen  wird. 

Fähigkeiten  (oder  Dispositionen)  können  nun  bekanntlich  nach 
melirmaliger  Erregung  ihrer  Leistung  gegenüber  ein  zweifaches 
Verhalten  zeigen :  sie  können  gesteigert  oder  herabgesetzt  werden. 
Ist  derjenige  Vorgang,  zu  dem  sie  befähigen,  ein  aktiver,  so  wü'd 
die  Disposition  dui'ch  wiederholte  Erregung,  d.  h.  dui'ch  wieder- 
holtes Hervorrufen  ihi'er  Leistung,  gesteigert ;  mit  anderen  Worten, 


^)  Es  hat  gewiß  seine  volle  Berechtigung  zu  behaupten.  daC.  unter  Voraus- 
setzung eines  schwarzen  Grundes  „weiß"  aufdringlicher  ist  als  „hellgrau",  dieses 
aufdringlicher  als  „dunkelgrau"  usw.  —  Im  Hinblick  darauf  lassen  sich  die  hier 
aufgestellten  GesetzmäCigkeiten  auch  auf  folgende  "Weise  ausdrücken:  1)  Bei 
helligkeitsgleichen  Figuren  verändert  sich  die  Täuschungsgrüße  umgekehrt  mit 
der  Größe  der  Aufdringlichkeit  der  Figurenkomponenten  (vgl.  auch  §  10);  2)  bei 
helligkeitsverschiedenen  Figuren  verändert  sich  die  TäuschungsgrüCe  direkt  mit 
der  Aufdringlichkeit  der  Nebenlinien  und  umgekehrt  mit  der  Aufdringlichkeit 
der  Hauptlinie  (vgl.  auch  §  17). 


320 


ViTTORIO    BeNTJSSI. 


das  Hervorbringen  der  Leistung  wird  eingeübt.  Ist  dagegen  der- 
jenige Vorgang,  zu  dem  eine  bestimmte  Disposition  die  relativ 
beharrende  Teilursache  abgibt,  ein  passiver,  so  wird  die  Dis- 
position durch  Wiederholung  ihrer  Leistung  herabgesetzt.  Hat 
man  für  die  oben  verzeichnete  Steigerung  das  "Wort  Übung  ver- 
wendet, so  kann  man  für  die  eben  berührte  Herabsetzung  das 
Wort  Ermüdung  oder  genauer  Abstumpfung  gebrauchen.  Daß 
diese  Dispositionsgesetzmäßigkeiten  nur  empirisch  aus  verhältnis- 
mäßig deutlichen  Fällen  von  aktiven  und  passiven  Vorgängen 
herausgelesen  werden  konnten,  braucht  kaum  erwähnt  zu  werden. 
Für  uns  sind  sie  aus  folgendem  Grunde  wichtig. 

Werden  wir  in  unserem  Falle  (A-  und  G-Reaktion),  wo  die 
Entscheidung  darüber  weniger  leicht  getroffen  werden  kann,  fest- 
stellen wollen,  ob  wir  in  der  G-  und  A-Reaktion  etwas  Passives 
oder  Aktives  vor  uns  haben,  so  werden  wir  dies  aus  dem  Ein- 
flüsse der  G-  und  A-Reaktionswiederholung  auf  die  Täuscliungs- 
größe  erschließen  können.  Steigerung  der  Leistung  durch  Wieder- 
holung wird  auf  Aktivität,  Abstumpfung  auf  Passivität  hinweisen. 

Darauf  komme  ich  im  nächsten  Paragraph,  wo  über  Versuche 
zu  berichten  sein  wird,  die  ausdrücklich  zur  Beantwortung  der 
Frage  nach  den  durch  A-  und  G- Wiederholung  eingeleiteten  Ver- 
änderungen der  Täuschungsgröße  angestellt  wurden,  zurück.  Hier 
will  ich  nur  einiges  erwähnen,  was  sich  übrigens  größtenteils 
auch  schon  aus  obiger  Tabelle  II  entnehmen  läßt.  Ich  stelle  die 
Werte  von  3  Versuchsreihen  zusammen,  von  denen  die  erste  bei 
S-  (Tab.  III,  ß),  die  zweite,  nach  vorhergegangener  Übung,  bei  A- 
(Tab.  III,  y),  die  dritte  schließlich,  nach  vorhergegangener  Übung, 
bei  G-Reaktion  (Tab.  III,  a),  gewonnen  wurde. 

Tabelle  III. 


G-, 

S-  und  A-Reaktion 

Versuchs- 

Fortl.  Zahl 

1. 

2. 

3.     1     4. 

Versuchs- 
tag 

Hauptl. 

weiß 

grau 

weiß  1  grau 

Kurve 

Nebenl. 

weiü 

grau 

grau  1  weiß 

Täuschgr. 

5,60 

5,60 

2,2 

y,6 

18.  VII. 

Var. 

1,30 

0,70 

0,8 

0,30 

1902 

R.  B. 

Täuschgr. 

1,0 

2,50 

0,70 

3,0 

2.  VII. 

ß 

Var. 

0,50 

0,70 

0,30 

0,10 

1902 

Täuschgr. 

0,0 

1,70 

-2,0 

8,5 

4.  VIII. 

Y 

Var. 

0,40 

1,36 

0,90 

0,18 

1902 

(Zahl  der  Einzelmessungen:  120. 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens. 


321 


Dabei  ist  zu  bemerken: 

1.  daß  die  Kurve/?  die  ausS-Werten  gebildet  ist,  innerhalb  des  durch 
die  zwei  anderen  Kurven  abgegrenzten  Täuschungsgebietes  verläuft ; 

2.  daß  die  /S-Kurve  der  /-Kurve  viel  näher  steht  als  der  a- 
Kurve,  —  ein  Umstand,  der  dilterentialpsychologisch  besagt,  daß  die 
betreffende  Versuchsperson  so  stark  zur  Analyse  hinneigt,  daß 
bei  ihr  erst  durch  häufige  Wiederholung  der  G-Reaktion  eine 
Täuschungssteigerung  erreicht  werden  kann. 

Graphische  Darstellung  zu  Tabelle  III. 


mm, 

7         1^1^14 

Curre. 

10 
95 

9 
8-5 

8 
7-5 

7 
66 

6 
SS 

S 
•*J 

i- 
35 

3 
25 

2 
1-5 

1 
05 

0 
-05 
-  1 
-15 
-2 

/ 

P 

y 

K     \ 

y  y 

.  \ 

/  / 

\  ^. 

\     \ 

/   / 

/ 

Überdies  und  vor  allem  ist  aber  aus  dem  obigen  Beispiel  die 
Tatsache  zu  entnehmen,  daß  die  bei  S-Reaktion  gewonnenen 
Täuschungswerte  durch  willkürliche  Betätigung  der  A-  oder  G- 
Reaktion  sowohl  im  Sinne  als  gegen  den  Sinn  der  Täuscliung  ver- 
ändert werden  können. 


§  7.  Die  doppelseitige  (A-  und  G-)  Übung. 

Darf  die  Übbarkeit  der  A-  nicht  weniger  als  diejenige  der 
G-Reaktion  durch  das  bereits  angefühlte  Beispiel  als  erwiesen  be- 
lle in  ong,  Untersuchungen.  21 


322  ViTTORIO  Benüssi. 

trachtet  Averden,  so  will  ich  hier  noch  ihre  verschiedenen  Er- 
scheinungsformen kurz  berühren  und  an  einigen  besonders  mar- 
kanten Fällen  veranschaulichen. 

Es  ist  von  vornherein  klar,  daß,  wenn  man  von  einer  Ver- 
suchsperson, die  leicht  und  in  anschaulicher  direkter  Weise  Ge- 
stalten zu  erfassen  vermag,  dies  auch  bei  einer  e-Figur  ver- 
langt, sich  ihre  Fähigkeit  im  Gestalterfassen  einem  so  leichten 
Falle  wie  dem  vorliegenden  gegenüber  nicht  weiter  wird  steigern 
können.  Ebensowenig  wird  die  A-Fähigkeit  einer  Versuchsperson, 
die  bei  den  ersten  Einstellungen  einer  e-Figur  bereits  keiner 
Täuschung  unterlegen  ist,  an  dieser  Figur  sich  weiter  steigern 
lassen.  In  jenem  Falle  wird  die  Täuschungsgröße  im  Laufe  einer 
größeren  Anzahl  von  Sitzungen  nicht  zu-,  in  diesem  nicht  ab- 
nehmen. Dagegen  ist  es  wohl  möglich,  ja  sogar  durch  die  zwischen 
der  A-  und  G-Fähigkeit  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  bestehende 
relative  Gegensätzlichkeit  besonders  nahegelegt,  daß  sich  im  ersten 
der  eben  berührten  Fälle  eine  Steigerung  der  A-,  im  zweiten  eine 
Steigerung  der  G-Disposition  vollzieht.  Die  Täuschungswerte 
werden  dann  dort  ab-,  hier  dagegen  zunehmen. 

Je  nach  dem  Verhältnisse  der  Stärke  und  Steigerungsfähig- 
keit oder  Unfähigkeit  der  A-  und  G-Dispositionen  zueinander 
werden  nun  bei  verschiedenen  Individuen  folgende  Fälle  vor- 
kommen können: 

la)  Beide  Dispositionen  steigerungsfähig. 

Ib)  Beide  Dispositionen  steigeruugsunfähig. 

Das  Täuschungsgebiet  wird  dann  im  Falle  la)  mit  der  An- 
zahl der  Sitzungen  bzw.  mit  der  Übung  der  G-  und  A-Disposition 
immer  breiter  werden,  indes  es  im  Falle  Ib)  konstant  bleiben 
wird.  Selbstverständlich  ist  das  Täuschungsgebiet  in  den  Fällen 
veränderlicher  G-  und  A-Disposition  „prinzipiell"  begrenzt:  nach 
oben  durch  die  bei  einheitlichem  direktem  Erfassen  der  Gestalt, 
nach  unten  durch  die  bei  vollständig  gelungener  Analyse  der 
Hauptlinie  gewonnenen  Täuschungsbeträge,  —  ein  Umstand,  der 
theoretisch  deswegen  von  Bedeutung  ist,  weil  eine  solche  ,.prinzi- 
pielle"  Begrenzung  des  Täuschungsgebietes  bei  denjenigen  Täu- 
schungen-nicht  anzutreffen  ist,  die  auf  unangemessene  Betätigung 
der  Sinnesorgane,  wie  dies  etwa  beim  HeUigkeitskontrast  oder 
bei  der  Farbeninduktion  der  Fall  ist,  zurückgehen. 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  323 

2  a)  A-Dispositioii    steigeriingsfähig    bei   steigerungsunfähiger 
G-Disposition, 

2  b)  CT-Disposition    steigeriingsfähig    bei    steigerungsunfähiger 
A-Disposition. 

Dabei  wird  das  Täuschungsgebiet  das  eine  Mal  bloß  nach 
unten  (2  a),  das  andere  Mal  bloß  nach  oben  erweitert  werden  (2  b). 

Dies  alles  natürlich  nur  bei  einer  größeren  Anzahl  von  Wieder- 
holungen einer  oder  mehrerer  Versuchsreihen. 

Nun  wird  aber  auch  innerhalb  der  Zeitgrenzen  einer  einzelnen 
Sitzung  die  jeweilig  erregte  G-  oder  A-Disposition  ihrer  Grund- 
lage so  wenig  als  ihrer  Leistung  nach  unverändert  bleiben:  sie 
Avird  vielmehr  im  Laufe  der  Sitzung  selbst  wieder  entweder  ge- 
steigert oder  herabgesetzt,  —  Veränderungen,  die  für  die  in  Betracht 
kommende  Versuchsperson  einmal  eine  Erleichterung,  ein  ander  Mal 
eine  Erschwerung  der  von  ihr  verlangten  Leistung  bedeuten  werden. 
Äußerlich  werden  sich  derartige  Dispositionsveränderungen  an  der 
allfälligen  Zu-  oder  Abnahme  der  Täuschungsbeträge  für  eine  zu  ver- 
schiedenen Zeiten  vorgelegte  Figur  zeigen.  Experimentell  lassen 
sich  solche  durch  Übung  oder  Abstumpfung  eintretende  Disposi- 
tionsveränderungen in  der  Weise  verfolgen,  daß  nach  Beendigung 
einer  Versuchsreihe  die  an  erster  Stelle  vorgenommene  Figur  noch 
einmal  zur  Einstellung  vorgelegt  wird.  Das  Verhältnis  der  Täu- 
schungsbeträge der  Anfangs-  zu  denen  der  Endfigur  (Wa  und  We) 
wird  dann  den  relativen  Dispositionszustand  (bei  der  Anfangs- 
und Endeinstellung)  ausdi^ücken.  So  wird  bei  vorgeschriebener 
A-Reaktion  das  Verhältnis 

Wa>We a) 

eine  Steigerung,  das  Verhältnis 

Wa<We b) 

eine  Herabsetzung  der  A-Disposition  ausdrücken,  —  bei  vorge- 
schriebener G-Reaktion  wird  dagegen  das  Verhältnis 

Wa>We C) 

eine  Herabsetzung,  das  Verhältnis 

Wa/We d) 

eine  Steigerung  der  betätigten  Disposition  bedeuten.  Der  bereits 
ei-wähnten  Gegensätzlichkeit  zTvischen  A-  und  G-Dispositionszu- 
stand  zufolge  wird  a)  für  die  Grüße  der  allfälligen  Täuschungs- 
werte soviel  bedeuten  wie  eine  Herabsetzung  der  G-,  und  c)  soviel 

21* 


324 


ViTTORIO    BeNUSSI. 


wie  eine  Erhöhung"  der  A-Disposition,  indes  b)  mit  einer  Zunahme 
der  G-,  und  d)  mit  einer  Abnahme  der  A-Disposition  äquivalent 
sein  wird. 

Für  alle  diese  hier  aufgezählten  Fälle  finden  sich  in  den 
Yersuchsprotokollen  zahlreiche  Beispiele.  Einige  davon  werden 
im  folgenden  angeführt  und  näher  besprochen.  Zuvor  muß  ich 
noch  ganz  kurz  auf  eine  Gruppe  von  Versuchsreihen  hinweisen, 
die  bei  spontaner  (S-)Reaktion  angestellt  worden  sind.  Differential- 
psychologisch  sind  sie  deswegen  von  Wichtigkeit,  weil  sie  eine 
Zuordnung  der  verschiedenen  Versuchspersonen  innerhalb  des 
Gegensatzes  von  Analj^se  und  Gestalterfassung  (Synthese)  ermög- 
lichen. Da  es  von  vornherein  klar  ist,  daß  jede  Versuchsperson, 
solange  man  von  ihr  keine  bestimmte  Reaktionsart  verlangt,  so 
vorgehen  wird,  wie  es  ihr  leichter  fällt,  wird  die  absolute 
Größe  der  Täuschungsbeträge  als  ein  aproximatives  Maß  der  Ana- 
lysen- (A-)  oder  Synthesen-  (G-)  Neigung  der  allfälligen  Versuchs- 
person angesehen  werden  können.  Sehr  kleine  Werte  werden  auf 
ausgeprägte  Analysen-,  sehr  hohe  auf  stark  vorwiegende  Synthesen- 
anlage hinweisen  (vgl.  folgende  Tabelle  IV).  Aus  der  (S-)Täuschungs- 


TabeUe 

IV. 

S-Reaktion 

Fortl.  Zahl  |     1.     |     2. 

3. 

4. 

Versuchs- 

VpvQni^li«!- 

Hauptl.      1  weiß  |  grau 

weiß 

grau 

tag 

Kurve 

PcIöUll 

Nebenl.      |  weiß  |  grau 

grau 

weiß 

B. 

Täuschgr. 

5,0 

8,0 

5,0 

7,8 

15.  VI. 

fl 

Var. 

0,30 

0,20 

0,10 

0,60 

1902 

S.^ 

Täuschgr. 

8,0 

9,0 

6,0 

9,0 

15.  VI. 

ß 

Var. 

0,52 

0,30 

0,33 

0,50 

1902 

M. 

Täuschgr. 

13,3 

16,0 

6,0 

22,0 

15.  VI. 

Var. 

0,70 

0,35 

0,80 

1,30 

1902 

y 

H. 

Täuschgr. 

5,0 

9,0 

4,0 

10,0 

15.  VI. 

s 

Var. 

0.60 

0,40 

0,20 

0,55 

1902 

N. 

Täuschgr. 

7,9 

9,6 

3,0 

12,5 

15.  VI. 

£ 

Var. 

0,25 

0,17 

0,42 

0,33 

1902 

Hl. 

Täuschgr. 

5,0 

9,0 

2,0 

11,0 

15.  VI. 

^ 

Var. 

0,20 

0,20 

0,10 

0,50 

1902 

*i 

Bs. 

Täuschgr. 

9,0 

12,0 

7,0 

11,6 

17.  VI. 

V 

Var. 

1,0 

0,20 

0,50 

0,62 

1902 

Bi. 

Täuschgr. 

1,0 

2,5 

0,7 

3,0 

14.  VI. 

d- 

Var. 
(Zahl 

0,30 

der  Ei 

0,20 

Qzelmes 

0,10 

sungen 

0,40 

:  640.) 

1902 

Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens. 


325 


große  läßt  sich  daher  bis  zu  einem  gewissen  Grade  die  Größe  der 
Fähigkeit  für  das  Erfassen  von  Gestalten  erschließen.^) 

Wie  ersichtlich,   umspannen  die  in   obiger  Darstellung  ent- 
haltenen Kurven  ein  ziemlich  breites  Gebiet  und  bringen  dadurch 

Graphische  Darstellung  zu  Tabelle  IV. 


Tnrrv 

1        \        2       \       3        \       it- 

Citrw. 

25 
2i 
23 
22 
21 
20 
23 
28 
27 

2e 

25 
li 
23 
22 
21 
20 
9 
8 
7 

e 

5 
i 

3 
2 

1 

j 

/ 

/ 

/ 

/ 

/ 

/ 

/ 

\ 

/ 

/ 

\ 

/ 

/ 

\ 

/ 

1     \ 

/       , 

1      ^ 

/ 

\    \ 

/      / 

/ 

/ 

\  \ 

/     // 

•  6 

/       y. 

\\ 

1  n  / 

■  /? 

.-^ 

\^       \ 

\/  y 

f     /^ 

^^\  V 

\  M ^ 

^ 

/// 

v^N 

/1/y 

/' 

Wv 

/jj 

\v\ 

n 

V\ 

1 

^^ 

^        \ 

1          y^ 

^\^ 

y^ 

^ 

y^ 

die  Verschiedenheit  der  einzelneu  Versuchspersonen  im  Hinneigen 
zur  A-  oder  G-Keaktion  deutlich  zutage.  Darf  die  ^-Kurve  als 
Kennzeichen  eines  zur  Analyse  im  besonderen  Maße  veranlagten 


1)  Ebenso  wie  manche  nicht  leicht  räumliche  Gestalten  erfassen,  so  gibt 
es  andere  denen  das  Erfassen  von  Tongestalten  schwer  oder  gar  nicht  gelingt. 
Da  es  in  beiden  Fällen  auf  eine  Tätigkeit  ankommt,  die  vermutlich  auf  dieselbe 
Disposition  zurückgeht  und  für  welche  die  Art  der  Vermittlung  der  Inferiora- 
inhalte  durch  Gehörs-,  Gesichts-  oder  auch  Tastsinn  belanglos  sein  müßte, 
dürfte  es  nicht  ohne  Interesse  sein  zu  untersuchen,  ob  eine  Unfähigkeit  im  Er- 
fassen von  Melodien  Hand  in  Hand  geht  mit  einer  Unfähigkeit  im  Erfassen  von 
Kaumgestalten.  Dies  müßte  sich  bei  Versuchen  an  geom.-optischen  Täuschungen 
mit  auffallend  unmusikalischen  Versuchspersonen  durch  die  geringere  Täuschungs- 
größe äußern.  —  Versuche  in  dieser  Richtung  sind  im  Grazer  Psychologischen 
Laboratorium  bereits  in  Angriff  genommen. 


326 


ViTTORIO   BenUSSI. 


Individuums  angesehen  werden,  so  repräsentirt  die  y-Kurve  ein 
Beispiel  des  entgegengesetzten  Falles,  während  die  übrigen  den  Über- 
gang von  einem  verhältnismäßig  reinen  Analysen-  zu  einem  eben- 
solchen Synthesen-  (genauer  Gestalterfassungs-)  Fall  darstellen. 

Bezüglich  der  durch  S-Reaktion  gewonnenen  Ergebnisse  ist 
noch  der  Umstand  hervorzuheben,  daß  sich  das  Täuschungsgebiet 
bei  der  di'itten  Figur  deutlich  zusammenzieht,  indes  es  sich  bei  der 
vierten  am  meisten  ausbreitet  (vgl.  Tab.  TV):  es  sind  dies  jene 
zwei  Figuren,  bei  denen,  wie  später  noch  ausfühi^lich  zu  erörtern 
sein  wird,  durch  die  Farben  Verschiedenheit  zwischen  Haupt-  und 
Nebenlinien  bei  der  einen  die  A-,  bei  der  anderen  die  G-Eeaktion 
in  besonders  hohem  Maße  begünstigt  wird. 

Was  die  absolute  Größe  des  durch  die  höchste  und  die  tiefste 
Kurve  umgrenzten  Täuschungsgebietes  anlangt,  ist  schließlich 
aller  Wahrscheinlichkeit  nach  zu  vermuten,  daß  es  durch  willkür- 
liche Betätigung  der  A-  und  G-Reaktion  nach  beiden  Richtungen 
hin  eine  Erweiterung  erfahren  dürfte,  den  Fall  selbstverständ- 
lich ausgenommen,  daß  die  Kurven  y  und  &  Fälle  von  steigerungs- 
unfähiger G-  bzw.  A-Disposition  darstellen  sollten. 

Ich  wende  mich  nun  zur  Besprechung  der  einzelnen  Übungs- 
fälle und  verweise  zunächst  auf  den  in  nachstehender  Tabelle  V 
ersichtlichen  Fall  von  steigerungsfähiger  G-  und  A-Disposition  bei 
spontaner  Hinneigung  zur  A-Reaktion,  der  zwar  schon,  wenn  auch 
nicht  so  deutlich,  aus  Tabelle  III  zu  entnehmen  ist. 

Tabelle  V. 


G-Reaktion 


Fortl.  Zahl  |    1.    |    2. 


Hauptl.      I  weiß  |  grau 


Nebeul.      |  weiß  |  grau 


weiß  I  grau 


grau  I  weiß 


Vers  .-Tag 

u. 

Kurve 


A-Reaktion 


Fortl.  Zahl 


6. 


■    I    8.    !  Vers.-Tag 
Hauptl.      I  weiß  |  grau  |  weiß  |  grau !       u. 
Neben].      |  weiß  |  grau  |  grau  |  weiß      Kurve 


Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 


4.0 

0,30 

4,2 

0,74 

5,0 

0,0 

4,9 

0,30 


5,2 

0,50 

5,3 

1,03 

7,0 

0,80 

6,3 

1,20 


2,0 

0,70 

3,7 

0,58 

3,7 

0,70 

3,9 

1.0 


6,5 

0,50 

7,0 

1,20 

7,6 

1,20 

8,1 

0,27 


5.  vn. 

(1902)  « 

6.  VII. 

(1902)  ;-; 

7.  VII. 

(1902)  y 

8.  VII. 

(1902)  <V 


Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 


2,8 

4.0 

1.-'' 

0,40 

0,52 

0,37 

2,8 

4,0 

0,0 

0,27 

0,42 

0,50 

0,9 

3,7 

0,5 

010 

0,22 

0,20 

0,7 

1,5 

0,5 

0  29 

0,41 

0,20 

5,0 

0,61 

4,5 

0,53 

4,0 

0,17 

3,5 

0,31 


11.  VII. 

(1902)  £ 

12.  vn. 

fl902)  L. 

14.  vn. 

(1902)   rj 

16.  VII. 

(1902)  »9- 


M.  T.        I  4,52  I  5,95 


M.  V. 


3,31  I  7,30 


M.  T.        I  1,80  I  3,30  I  0,67  |  4,20 


0,25    I    1,00 


0,69    I    0,89 


(Versuchsperson  Hr.  E.  B. 


Jil.    V.  I    0,44    I    0,40 

Zahl  der  Einzelmessungen: 


I    0,31 

320.) 


0,38 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens. 


327 


Wie  ersichtlich,  nehmen  die  Täuschungs werte  von  «  zu  ^  im 
allgemeinen  ab,  indes  sie  von  a  zu  ö  allgemein  zunehmen.  Im 
ersten  Falle  tritt  eine  Steigerung  der  A-,  im  zweiten  eine  Steige- 
rung der  G-Disposition  deutlich  zutage. 

Was  die  Dispositionsveränderung  für  A-  und  G-  innerhalb  einer 
einzelnen  Versuchsreihe  anlangt,  ist  auf  folgendes  hinzuweisen: 

Solange  man  bei  der  A-Eeaktion  blieb,  bemerkte  man  an  der 
Versuchsperson  im  Laufe  einer  aus  50  bis  100  Einstellungen  be- 
stehenden Sitzung  kein  Zeichen  von  Ermüdung.     Es  ließ  sich  im 

Graphische  Darstellung  zu  Tabelle  V. 


Gegenteil  eine  deutliche  Zunahme  der  A-Disposition  verfolgen,  ge- 
kennzeichnet durch  die  herabgesetzte  Täuschung  für  die  nach 
Vollendung  der  Versuchsreihe  neuerdings  vorlegte  Anfangsfigur 
(A-Übung), 

Ganz  anders  dagegen  bei  der  G-Reaktion,  wo  sich  eine  deutliche 
G-Übung  erst  im  Laufe  mehrerer  Versuchsreihen  allmählich  ent- 
wickelte. Dabei  ist  die  Tatsache  von  einigem  Interesse,  daß  als  aller- 
erste Wirkung  der  G-Übung  nicht  die  einer  Erhöhung  der  Täuschung, 
sondern  die  einer  Aufhebung  der  sich  bei  A-Reaktion  im  Laufe 
jeder  einzelnen  Reihe  entwickelnden  A-Übung  anzutreffen  war. 

Bei  der  eben  besprochenen  Versuchsperson  (R.  B.  Tabelle  V) 
wurden  zuerst  sämtliche  A-,  und  dann  erst  die  G-Reihen  in 
gleicher  Anzahl  vorgenommen.     Ich  weise  deswegen  darauf  liin. 


328 


ViTTOmo  Benüssi. 


weil,  wie  aus  dem  nächsten  Beispiel  (Tab.  VI)  zu  ersehen  sein 
wird,  die  Reihenfolge  der  G-  und  A-Sitzuugen  für  die  Veränder- 
lichkeit der  G-  und  A-Disposition  nicht  belanglos  zu  sein  scheint. 


Tabelle  VI. 

G-Reaktion. 

A-Reaktion. 

Fortl.  Zahl 

1.    1    2. 

8. 

4.     ..„„„  .... 

Fortl.  Zahl 

5.    1    6. 

7.    1    8. 

Vers.-Tag 
u.  Kurve 

Haiiptl. 

weiß  1    rot 

weiß 

rot 

u.  Kurve 

Hauptl. 

weiß  1  rot 

weiß  1   rot 

Nebenl. 

Aveiß 

rot 

rot 

weiß 

Nebenl. 

weiß  1   rot 

weiß  1   rot 

Täusehgr. 

17,4 

18,2 

15,2 

17,9 

11.  VII. 

Täusehgr. 

11,6     12,9 

9,0 

11,2 

13.  VII. 

Var. 

0,90 

1,10 

0,70 

0,.50 

(1902)  « 

Var. 

0,70 

5>,00 

1,40 

1,00 

(1902)  ß 

Täusehgr. 

14,6 

14,2 

11,4 

15,4 

15.  VII. 

Täusehgr. 

9,6 

10,9 

6,4 

11,0 

17.  vn. 

Var. 

0,90 

0,50 

0,90 

1,30 

(1902)  / 

Var. 

0,60 

0,90 

1,00    1    0,60 

(1902)  S 

Täusehgr. 

12,2 

13,2 

9,9 

15,8 

18.  VII. 

Täusehgr. 

7,6 

9,4 

5,5 

12,8 

21.  VII. 

Var. 

0,90 

0,60 

0,üO 

1,30 

(1902)  e 

Var. 

0,90 

0,40 

1,20 

0,50 

(1902)  ^ 

Täusehgr. 

11.6 

11,4  1  8,7 

13,0 

23.  VII. 

Täusehgr. 

8,0 

7,9 

5,1 

9,5 

25.  VU. 

Var. 

1.20 

1,0      f     O.'O 

1..S0 

(1902)  V 

Var. 

1.0 

1,S0    1    0,70 

1,20 

(1902)  d- 

M.  T. 

lb,95|  14,25|  11,30|  15,52|         i 

M.  T. 

9,20|lÜ,*27|  6,50 

11,921        X 

M.  V. 

0,Ö7    1    0,80    1    0,65    1    1,10    1 

M.  V. 

0,80    1    1,15    1    1,07 

0,80    1 

(V 

ersuch 

sperso 

n  Dr. 

S.  W.    Zahl  der  Einzelmessungen: 

202.) 

Die  in  dieser  Tabelle  enthaltenen  AVerte  wurden  in  der  Reihen- 
folge a,  ß,  y  . . .  .0-  gewonnen.  A-  und  G-Reaktion  ^iirden  also 
abwechselnd  verlangt.  Was  die  Ergebnisse  dieser  Versuchsreihe 
anlangt,  ist  folgendes  zu  bemerken: 

1.  Die  bereits  an   anderen  Versuchspersonen  festgestellte  Ab- 

Graphische  Darstellung  zu  Tabelle  VI. 


mm 

1        \      2        \       3        \       i. 

CurvE, 

S       \      6        \       7        \       8 

mm. 

20 

la 

18 

n 

16 
15 

13 
12 
U 

10 
9 
S 

7 
6 
5 
i 

3 

2 
J 

20 
19 
IS 
17 
16 
15 
li 
13 
12 
11 
10 
9 
8 
7 
6 

3 

1 

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s- 

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VSN 

^ 

" 

Zur  Psychologie  des  üestalterfassens.  329 

hängigkeit  der  Täuscliuiigsgröße  von  der  subjektiven  A-  und  G- 
Reaktionsweise,  tritt  aus  den  Kurven  a,  /,  s,  r]  gegenüber  ß,  d,  ^ 
und  ^,  in  ganz  auffallender  Weise  hervor. 

2.  Sämtliche  Täuschungswerte  nehmen  von  einer  Sitzung  zur 
nächsten,  wenn  auch  um  immer  kleinere  Beträge,  deutlich  ab. 
Dabei  ist  der  Abstand  zwischen  der  ersten  und  letzten  G-Kurve 
etwas  größer  als  der  zwischen  der  ersten  und  letzten  A-Kurve. 
Immerhin  sind  aber  die  Täuschungswerte  der  letzten  G-Kurve  um 
^4  bis  Vs  größer  als  diejenigen  der  letzten  A-Kurve.  Ein  Zusammen- 
fallen der  G-  und  A-Kurven  bei  Fortsetzung  der  Versuchsreihen 
kann  daher  aller  "Wahrscheinlichkeit  nach  als  ausgeschlossen  be- 
trachtet werden. 

Gehörte  der  erstbesprocheue  Fall  (Tabelle  V)  zur  ersten  (la) 
der  anfangs  dieses  §  aufgezählten  Gruppen,  stellte  er  mithin 
einen  Fall  von  steigerungsfähiger  A-  und  G-Disposition  dar,  so 
reiht  sich  der  gegenwärtige  unter  die  zweite  Gruppe,  nämlich 
unter  die  Fälle  von  steigeruugsfähiger  A-  bei  steigerungsunfähiger 
G-Disposition  (2  a). 

Ist  nun  dabei  (Tabelle  VI)  die  Abnahme  der  A-Werte  als 
Folge  einer  A-Dispositionssteigerung  eine  selbstverständliche,  so 
verlangt  die  Abnahme  der  G-Werte  eine  besondere  Erklärung; 
denn  im  Hinblick  auf  die  Steigerungsunfähigkeit  der  G-Disposition 
allein  wäre  nur  ein  Konstantbleiben,  nicht  aber  ein  Abnehmen 
der  jeweiligen  G-Werte  zu  verstehen.  Der  Grund  hierfür  muß 
vielmehr  in  dem  Umstände  gesucht  werden,  daß  zwischen  A-  und 
G-Keaktion  abgewechselt  wurde,  indem  die  Unbefangenheit  nicht 
weniger  als  die  Konstanz  der  jeweilig  verlangten  Reaktion  dadurch 
gestört  worden  sein  dürfte,  und  zwar  jene  durch  das  Wissen,  daß  bei 
der  G-Reaktion  die  scheinbare  Länge  der  Hauptdistanz  „abnimmt", 
diese  durch  die  bei  den  A-Reihen  gewonnene  A-Übung  und  die  konse- 
quente Aufdringlichkeitssteigerung  (bzw.  durch  die  Erleichterung) 
der  A-Reaktion.  Um  so  mehr  kommen  diese  Momente  in  Betracht, 
als  das  Versuchsverfahren  bei  der  betreffenden  Versuchsperson  ein 
wissentliches  war.  Eine  weitere  Stütze  findet  die  eben  berührte  Er- 
klärung in  dem  Umstände,  daß  die  größte  Abschwächung  bei  der  3. 
Figur,  die  durch  ihre  Farbenverteilung  die  A-Reaktion  im  beson- 
deren Maße  begünstigte,  —  die  kleinste  bei  der  4.  (der  entgegenge- 
setzten) die  das  Eingreifen  dieser  Reaktion  ganz  besonders  erschwert 


330  ViTTORIO   BeNCSSI. 

haben  dürfte,  eingetreten  ist.    Die  Täuschungsgröße  hat  dort  um 

— Q»  hißi'  dagegen  nur  um  ^-^  abgenommen.  —  Als  eine  Gegen- 

Wirkung  der  G-  auf  die  A-Eeaktion  muß  dann  im  allgemeinen  die 
geringere  Abnahme  der  Täuschungswerte  bei  dieser  Reaktionsaii: 
betrachtet  werden,  und  im  besonderen  die  auffallend  geringe 
Täuschungsherabsetzung  bei  der  8.  Figur  (Tab.  VI),  welche  ver- 
möge der  besonderen  Farbenverteilung  für  Haupt-  und  Neben- 
linien der  A-Betätigung  den  größten  Widerstand  entgegengesetzt 
haben  mag. 

Schließlich  ist  noch  darauf  hinzuweisen,  daß  einige  G-Versuchs- 
reihen,  die  mit  derselben  Versuchsperson  einige  Zeit  vor  den  oben 
mitgeteilten  Sitzungen  angestellt  worden  sind,  tatsäclüich  vonein- 
ander nur  geringfügig  verschiedene  Täuschungs werte  ergeben  haben. 

Soviel  über  die  Fälle  1  a)  und  2  a).  Der  sub  1  b)  verzeichnete 
Fall  ist  nicht  eingetreten,  was  wohl  verständlich  ist.  Dagegen 
enthält  folgende  Tabelle  VII  ein  deutliches  Bild  des  Falles  2  b), 
nämlich  das  Gegebensein  von  steigerungsfähiger  G-Disposition  bei 
steigerungsunfähiger  A-Disposition. 

Dieser  Fall  ist  überdies  noch  nach  einer  anderen  Hinsicht  von 
einiger  Bedeutung,  deswegen  nämlich,  weil  sich  dabei  Übungs- 
bzw. Ermüdungserscheinungen  einerseits  der  A-  andererseits  der 
G-Disposition  innerhalb  einer  und  derselben  Versuchsreihe  deutlich 
verfolgen  lassen.  Bei  diesen  Versuchen  Tviirde  die  Anfangsfigur 
(Tab.  VII  Fig.  5  und  10)  nach  Beendigung  der  Versuchsreihe  (Tab. 
VII  Fig.  1,  2,  3,  4  bzw.  6,  7,  8,  9)  noch  einmal  vorgenommen.  Es 
zeigte  sich  nun,  daß  bei  vorgeschriebener  A-Reaktion  die  Eudwerte 
beträchtlich  größer,  bei  vorgeschriebener  G-Reaktion  dagegen  kleiner 
als  die  Anfangswerte  ausfielen,  —  eine  Tatsache,  die  die  Herab- 
setzung der  willkürlich  erregten  Disposition,  gleichviel,  ob  sie  eine 
A-  oder  eine  G-Disposition  ist,  zweifellos  zu  bezeugen  vermag. 
Ebenso  kommt  die  bereits  oben  berührte  Gegensätzlichkeit  zwischen 
A-  und  G-Betätigung  nicht  etwa  darin  zum  Vorschein,  daß  die 
Endwerte  größere  Schwellenwerte  als  die  Anfangswerte  und  unge- 
fähr gleiche  Größe  wie  diese  aufweisen  —  was  bei  bloßer  Er- 
müdung für  Analyse  oder  Gestalterfassung  der  Fall  sein  müßte,  — 
sondern  darin,  daß  sie  tatsächlich  das  eine  Mal  auffallend  größer, 
das  andere  Mal  auffallend  kleiner  ausgefallen  sind. 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfasseus. 


331 


An  dieser  Stelle  noch  weitere  Beispiele  anzuführen,  halte  icii 
für  überflüssig,  umsomehr  als  einschlägige  markante  Fälle  bei  der 


Tabelle  VII 

G-Eeaktion 

A-Keaktion 

Fortl.  Zahl 

1. 

2.    1    3. 

4.    1    5. 

> 

6.    1    7. 

8.    1    9.    1  10. 

« 

Hauptl. 

rot 

weiß  1  weiß 

rot  1   rot 

rot  |weiß 

weiß  1   rot   |   rot 

»N 

Nebenl. 

rot 

weiß  1   rot 

■weiß  1  rot 

rot  1  weiß 

rot  1  weiß  |   rot 

US 

Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 

15,4 

0,80 

18,4 

0.60 

10,8 

0,60 

15,4 

0,80 

10,4 

0,60 

14,0 

1,20 

17,0 

0,70 

18,4 

0,70 

12,9 

0,80 

15,9 

0,80 

a 

ß 
s 

er 

8,4      8,4 

1,1          1,0 

9,8      8,8 

0,60        0,50 

7,5 

0,70 

7,2 

1,20 

14,4     10,0 

0,70    ,    0,GO 

13,9     12,0 

0,50        0,50  V 

Y 
Ö 

M.  T. 

1(),90!  13,10 1 12,21 

17,7 

14,4 

9,10  1  8,60 

7,35 

14,15 |11,00 

? 

M.  V. 

(Vers 

0.70 

uchsp( 

0.70 

jrson 

0.90 

Er.  E 

0.70 

A.    . 

0.80 

Zahl  d 

0.85    1    0.77    1    0  95 

Einzelmessnngen : 

060    1    0.55 

202.) 

Besprechung  der  folgenden  Versuchsreihen  noch  ausdrücklich  her- 
vorgehoben werden.  Hier  muß  ich  noch,  angesichts  der  eben  mit- 
geteilten Ergebnisse  gegen  einige  in  der  letzten  Zeit  gemachte 

Graphische  Darstellung  zu  Tabelle  VII. 


TTtm. 

j\2\3\i-\5 

Curve. 

6-        1       7        \       8        \       9        \      10 

mm. 

20 
19 
IS 
27 
16 
25 
7> 
23 
22 
U 
20 

9 

8 

7 

6 

5 

i 

3 

2 

2 

i 

20 
19 
18 
17 
16 
15 
li 
13 
12 
11 
10 

9 

8 

7 

6 

5 

4^ 

3 

2 

1 

1 

K 

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t 

Beobachtungen  und  Behauptungen  in  Übungssachen  Stellung  nehmen. 
Ich  meine  zunächst  die   allgemein  gehaltene  Behauptung  Jüdds^), 


^)  Vgl.  E.  H.  JüDD,  Practice  and  its  Effects  on  the  Perception  of  Illusions, 
Psych.  Rev.  (1902).    Bd.  9.  S.  27—39. 


332  ViTTORIO   BeNÜSSI. 

die  Wiederholimg  der  Versuche  an  einer  MüLLEK-LYEEschen  Figur 
bringe  eine  langsam  sich  vollziehende  Herabsetzung  der  Täuscliung 
mit  sich.  Nach  dem,  was  unsere  Versuche  ergeben  haben,  können 
wir  jetzt  das  Unberechtigte  und  die  Einseitigkeit  dieser  Be- 
hauptung gleich  gut  einsehen.  Sie  kann  nur  durch  die  Nichtbe- 
achtung des  zwischen  A-  und  G-Reaktion  bestehenden  Gegen- 
satzes uud  durch  das  zufällige  Zusammentreffen  von  Versuchs- 
personen —  2  au  der  Zahl  —  bei  denen  „spontan"  zunächst 
nur  die  A-Disposition  sich  auszubilden  vermochte,  hervorgerufen 
worden  sein. 

Wir  wissen  jetzt,  daß  es  nicht  nur  eine  Übungsart  gibt, 
sondern  deren  zwei,  und  daß  diese  nach  entgegengesetzter  Rich- 
tung die  Täuschungsgröße  zu  beeinflussen  vermögen :  im  Sinne  der 
Täuschungsherabsetzung  ebenso  sehr  wie  im  Sinne  der  Täuschungs- 
steigerung.^)  Andererseits  gibt  es  nicht  nur  solche  Fälle,  wo  bei 
spontaner  Reaktion  die  Täuschungsgröße  im  Laufe  der  Einstellungen 
abnimmt,  sondern  auch  solche,  wo  sie  bei  fortgesetzten  Wieder- 
holungen konstant  zunimmt.'^)  Sowohl  die  Ab-  als  die  Zunahme 
vollzieht  sich  dann  ziemlich  langsam,  indes  bei  vorgeschriebener 
G-  oder  A-Reaktion  schon  nach  einer  geringen  Anzahl  von  Ein- 
stellungen sehr  große  Täuschungsveränderungeu  hervorgerufen 
werden  können.  In  der  Tat  hat  Judd  ungefähr  15  00  Ein- 
stellungen^) gebraucht,  um  die  Täuschung  auf  einen  Wert  zu 
bringen,  der  sich  bei  vorgeschriebener  A-Reaktion  nach  einigen 
Einstellungen  erreichen  läßt. 


^)  Auch  der  Hinweis  Schümanns  (Beiträge  zur  Analyse  d.  Gesiclitswahrn. 
III.  Zeitschr.  f.  Psych.  30,  S.  263-284)  auf  „die  fundamentale  Tatsache,  daß 
die  meisten  g.o.-Täuschungen  erheblich  nachlassen  bzw.  ganz  aufhören,  sobald 
man  die  betreffenden  Figuren  öfters  betrachtet  und  sich  dabei  immer  bemüht, 
möglichst  genau  zu  vergleichen"  als  Beweis  dafür,  dalS  es  sich  „mindestens  bei 
einem  groCen  Teil  der  Täuschungen  um  reine  Urteilstäuschungen  handelt", 
verliert  durch  die  Feststellung  des  entgegengesetzten  Erfolges  bei  A-  und  G- 
Übung,  zum  mindesten  für  die  MüLLER-LYERSche  und  ZöLLNERSche,  sowie  für 
die  Schachbrett- Figur  (vgl.  diese  Arbeit  §  16  und  d i e s e  U n t e r s u c h u n g e n , 
VI.),  seine  Giltigkeit,  —  Daß,  wie  die  Ergebnisse  der  vorliegenden  Untersuchung 
zeigen,  bei  G-  nicht  weniger  genau  verglichen  wurde  als  bei  A-Reaktion,  da- 
für spricht  die  nahezu  gleiche  Größe  der  Variationswerte  in  beiden  Fällen. 

'')  Vgl.  §  11.     Tab.  XX  a. 

»)  A.  a.  0.  S.  24—26. 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  333 

^Vie  JuDDs  angeblich  al];?emeines  Übungsgesetz,  so  geht  auch 
die  in  letzter  Zeit  wiederholt  aufgestellte  Behauptung,  die  Täuschung 
höre  bei  längerer  Fixation  auf  und  trete  beim  „gedankenlosen, 
flüchtigen"  Dahinschweifen  des  Blickes  über  die  vorgelegte  Figur 
auffallend  hervor,^)  auf  die  bisher  übersehene  Gegensätzlichkeit 
zwischen  A-  und  G-Keaktion  zurück.  Daß  weder  die  Täuschungs- 
abnahme mit  der  Fixation  des  Blickes,  noch  die  Zunahme  mit 
einem  Zustande  der  Gedankenlosigkeit  seitens  der  Versuchsperson 
in  Beziehung  steht,  geht  aus  der  Tatsache  hervor,  daß  dafür  nur 
die  Reaktiousweise  der  Versuchsperson  innerhalb  des  Gegensatzes 
von  A-  und  G-Reaktion  maßgebend  ist,  wobei  noch  bemerkt  werden 
muß,  daß  gerade  für  die  Gestalterfassung  (G-Reaktion)  die  Fixation 
günstig,  die  „Gedankenlosigkeit"  hingegen  garnicht  erforderlich 
ist,  indes  das  längere  Verbleiben  bei  einer  und  derselben  Figur 
nur  dann  eine  Täuschungsherabsetzung  zur  Folge  hat,  wenn  die 
A-Reaktiou  betätigt  wird. 

Desgleichen  erklärt  sich  aus  der  Bedeutung  der  A-  und  G- 
Reaktion  für  die  Täuschungsgröße  die  von  Heymans  gemachte 
Beobachtung,  daß  die  Täuschungsgröße  einer  seiner  Figuren  auf- 
fallend zunahm,  als  diese  Figur  verkehrt  vorgelegt  wurde. ^)  Der 
Grund  dafür  liegt  meines  Erachtens  in  folgendem  Umstände:  Im 
Laufe  der  vorausgegangenen  Einstellungen  dürfte  sich  eine  Steige- 
rung der  A-Fähigkeit  spontan  vollzogen  haben.  Die  Folge  davon 
mußte  eine  allmähliche  Täuschungsherabsetzung  sein.  Vorgelegt 
wurde  dabei  die  aus  einer  e-  und  einer  a-Gestalt  zusammengesetzte 
Täuschungsfigur  derart,  daß  die  a-Hälfte  links,  die  e-Hälfte  rechts 
vom  Mittelpunkt  der  Figur  sich  befand.  Unter  solchen  Umständen 
konnte  die  Versuchsperson  die  voraussichtlich  gewonnene  A-Fähig- 
keit mit  Erfolg  betätigen,  Wurde  nun  einmal  die  Figur  so  vor- 
gelegt, daß  die  a-Hälfte  rechts,  die  e-Hälfte  links  vom  Mittelpunkt 
lag,  so  ist  wohl  verständlich,  daß  unter  solchen  ungewöhnlichen 
Umständen    die    zwei    charakteristischen    Täuschungsgestalten 


^)  Lipps,  Raumästhetik  u.  geom.-opt.  Täuschungen.  Zeitschr.  f.  Psych. 
Bd.  18,  423  (405 — 441).  —  Schumann,  Beiträge  zur  Analyse  der  Gesichtswahr- 
nehmungen II.  Zeitschr.  f.  Psych.  Bd.  24,  S.  8.  —  Müller-Lyer,  Zur  Lehre  von 
den  optischen  Täuschungen.  Zeitschr.  f.  Psych.  Bd.  9,  S.  9.  —  Auerbach,  Er- 
klärung der  Brentanoschen  optischen  Täuschung.    Zeitschr.  f.  Psych.  Bd.  7,  S.  159. 

^)  A.  a.  0.  S.  246,  247. 


334 


ViTTORIO  BeNITSSI. 


wieder,  lebhaft  auffielen,  indes  die  gewöhnliche  und  lang  einge- 
übte A-Reaktion  beim  ersten  Hinschauen  völlig  versagte.  Daß 
dies  eine  Täuschungserhöhung  zur  Folge  hatte,  ist  nach  den  Er- 
gebnissen unserer  Versuche  selbstverständlich.  Eine  weitere 
Teilursache  für  die  von  Heymans  verzeichnete  Täuschungssteige- 
rung mag  auch  darin  gelegen  sein,  daß  einfache,  leicht  vorstell- 
bare Gestalten  ihren  Bestandstücken  gegenüber  sicherlich  eine 
größere  Aufdringlichkeit  besitzen  als  die  einzelnen  sie  stützenden 
Bestandstücke  selbst.  Darüber  wird  an  anderer  Stelle  einiges  zu 
bemerken  sein,  hier  muß  ich  mich  mit  dem  Hinweis  auf  diese 
empirisch  jedermann  bekannte  Tatsache  begnügen. 


§  8.  Die  (A-,  G-  und  S-)Täuschungsgröße  bei  mono- 
chromatischen helligkeitsgleichen  und  bichro- 
matischen helligkeitsverschiedenen  e-Figuren. 

Die  Ergebnisse  der  an  weißen,  roten,  weiß-roten  (weiße  Haupt- 
linie und  rote  Nebenlinien)  und  rot-weißen  (rote  Hauptlinie  und 
weiße  Nebenlinien)  Figuren  angestellten  Versuche  sind  in  den 
Tabellen  VIII— X  enthalten,  bei  welchen  die  jeweilig  geprüften 
Farben,  bzw.  Farbenkombinationen  angegeben  sind.  Die  Täuschungs- 
werte sind  nach  der  üblichen  Anordnung  zusammengestellt.  Tabelle 
VIII  enthält  die  Ergebnisse  derjenigen  Versuchspersonen,  bei  denen 
die  Wirkung  der  G-  und  A-Reaktion  durch  die  auffallend  große 
Verschiedenheit  der  G-  und  A-Werte  am  deutlichsten  zutage  tritt. 

Tabelle  VIII. 


G-Reaktion 

> 

•-t 

A-Reaktion 

Fortl.  Zahl 

1. 

2. 
rot 

3.     1    4, 
weiß  1   rot 

Versuchs- 
person 

Fortl.  Zahl 

0. 

6.    1    7. 

8. 

< 

Versuchs- 

Hauptl. 

weiß 

Hauptl. 

weiß 

rot  1  weiß 

rot 

i 

Neben). 

weiß  1   rot 

rot  [weiß 

Neheul. 

weiß 

rot  1   rot 

weiß 

> 

Dr.  S.  W. 

Täuschgr. 

13,9 

14,2 

11,4   15,50 

Dr.  S.  W. 

Täuschgr. 

9,20 

9,70    6,50 

11,10 

Var. 

1,0 

0,80 

0,9 

1,10 

Var. 

0,80 

1,10        1.00 

0,80 

Hr.  E.  A. 

Täuschgr. 

13,7 

15,1 

11,6 

16,30 

ß 

Hr.  E.  A. 

Täuschgr. 

8,60  10,00 

6,10 

14,10 

Var. 

0,80 

0,83 

0,17 

0,63 

Var. 

0,77        0,70 

0,95" 

0,60 

Dr.  E.  M. 

Täuschgr. 

15,22 

14,62 

12,25  17,05 

Dr.  E.  M. 

Täuschgr. 

9,29  10,40 

7,74 

11,82 

» 

Var. 

0,30 

0,70 

0,60       0,50 

) 

Var. 

0,50        0,90 

0,20 

0,35 

Dr.  A.  J. 

Täuschgr. 

19,25 

21,00 

16,60  20,50 

rV 

Dr.  A.  J. 

Täuschgr. 

13,03  13,30 

9,30 

16,26 

Var. 

1,0 

O.fiO 

1,10        0,80 

Var. 

0,32    1    0,55 

0.30 

0,22 

M.  T. 

15,52 

0,77 

16,23 

0,74 

12,94117,34 

0,69    1    0,75 

L 

M.  T. 

10,03  1 10,85 1  7,41  1 13,32 

; 

M.  V. 

M.  V. 

0,59 

0,79 

0,61 

0,54 

(33  Sitzungen.    Zahl  der 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens. 


335 


Graphische  Darstellimg 

ZU 

TabeUe  VIII. 

mm. 

1       \      2       \       3       \      i. 

Cuive, 

5        \       6        \       7        \       & 

mm 

2Z 
21 
20 
19 

J8 

n 

16 
15 
i* 
13 
12 
11 
10 

9 

8 

7 

e 

5 

» 

3 
2 

1 
0 

-  S 

22 
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20 
19 
18 

n 

16 
15 

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13 
12 
U 

10 
9 
8 
7 
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5 
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3 

1 
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V.  ^ 

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^ 

\v\ 

6 

V 

^ 

Tabelle  IX. 


G-Reaktion 

iV-Reaktion 

Versuchs- 

Fortl.  Zahl 

1    1.    1    2.    1    3. 

4. 

CD 
> 

Versuchs- 
person 

Fortl.  Zahl 

5. 

6.    1    7. 

8. 

Hauptl. 

1  weiß  1   rot  ]  weiU 

rot 

Hauptl. 

weiß 

rot  |weiß 

rot 

Nebenl. 

1  weiß  1   rot  |   rot 

weiß 

M 

Nebenl. 

weiß 

rot  1   rot 

weiß 

Hr.  R.  B. 
Frl.  E.  G. 
Hr.  0.  H. 
Frl.  E.  S. 

Täuschgr. 

Yar. 
Täuschgr. 

Yar. 
Täuschgr. 

Yar. 
Täuschgr. 

Yar, 

1   3,9 

0,30 

12,1 

0,60 

3,6 

0,20 

7,6 

0.70 

4,61 

0,50 

13,C7 

0,45 

4,5 

0,50 

9,03 

0..S0 

2,98 

0,25 

7,2 

0,20 

2,5 

0,30 

5.13 

5,53 

0,15 

14,9 

0,80 

4,7 

0,15 

10,65 

0,45 

a 

ß 

y 
s 

Hr.  E.  B. 
Frl.  E.  G. 
Hr.  0.  H. 
Frl.  E.  S. 

Täuschgr. 

Yar. 
TäuschgT. ' 

Yar. 
Täuschgr. 

Yar. 
Täuschgr. 

Yar. 

1,75 

0,80 

10,48 

0,10 

1,0 

0,40 

6,43 

0,30 

2,55 

0.20 

11,90 

0,90 

2,8 

0,35 

6,66 

0.30 

1,43 

0,30 

7,5 

0,35 

0,7 

0,70 

4,35 

o,:r> 

3,81 

0,10 

11,6 

0,20 

3,10 

0,25 

8,2 

0.50 

6  V.-P. 

M.  T. 
M.  V. 

9,0 

0,80 

11,0 

0,40 

6,0 

0,50 

13,0 

0,.30 

i 

6  V.-P. 

M.  T. 
M.  V. 

1   6j8 

1    0,50 

9,8 

0,40 

4,20 

0,30 

11,0 

0,50 

(Zahl  der  Sitzungen  32.  der  Einzelmessungen:  768.) 

Weniger  stark,  wenn  auch  noch  immer  deutlich,  kommt 
die  eben  berührte  Verschiedenheit  bei  den  in  Tabelle  IX  ent- 
haltenen A-  und  G-Wertreihen  zum  Vorschein.  Dabei  sind  die 
Werte  einzelner  an  6  Versuchspersonen  nur  einmal  vorgenommenen 
A-  und  G-Reihen  zu  einem  Mittelwert  zusammengezogen  worden 
(Kurven  t  und  x). 


336 


ViTTORIO   BeNUSSI. 


Graphische  Darstellung  zu  Tabelle  IX. 


Tabelle  X  enthält  schließlich  die  Ergebnisse  der  bei  S-Eeaktion 
angestellten  Versuche  und  bestätigt  die  bereits  früher  geraachte 
Erfahrung,  daß  die  S-Werte  sich  zwischen  den  A-  und  den  G- 
Werten  bewegen. 


TabeUe  X. 

S-Reaktion 

Versuchs- 

Fortl.  Zahl 

1. 

2.     1       3. 

1      4. 

Hai;ptl. 

weiß 

rot     1    weiß 

1     rot 

Yersuchstag 

Kurve 

Neben). 

weiß 

rot     1     rot 

weiß 

V.  B. 

Täuschgr. 

9,0 

17,0 

7,0 

11,0 

11.  VI. 

Var. 

0,80 

0,30 

0,50 

0,10 

1902 

Hr.  U.  S. 

Täuschgr. 

8,9 

7,0 

3,0 

11,5 

15.  VI. 

ß 

Yar. 

0,30 

0,50 

0,10 

0,23 

1902 

Dr.  E.  M. 

Täuschgr. 

10,7 

17,0 

9,0 

17,5 

15.  VI. 

Var. 

0,30 

0,25 

0.25 

0,25 

1902 

Y 

Hr.  0.  H. 

Täiischgr. 

5,0 

9,0 

2,0 

11,0 

15.  VI. 

8 

Var. 

0,40 

0,f.0 

0,20 

0,30 

1902 

M.  T. 

8,40       10,70  !     5,0 

12,8 

- 

e 

M.  V. 

0,40             0,41      1       0,25 

0,22 

(Zal 

ü  der  E 

mzelmes 

sungen : 

80.) 

Da  die  Versuche  an  weißen  und  grünen  Figuren  bis  auf  die 
absolute  Größe  der  Täuschungswerte  mit  den  eben  mitgeteilten 
übereinstimmende  Resultate  ergeben  haben,  kann  von  einer  Wieder- 
gabe derselben  abgesehen  werden. 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens. 
Grapliisclie  Darstellimg  zu  Tabelle  X. 


337 


jnni. 

2         1        ^        1       .3        i        ♦ 

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11 

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16 
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\\    \ 

I    j  1 

5 
* 
3 

/ 

\ 

V 

II 

1 

/ 

0 

Dabei  ist  in  erster  Linie  allgemein  liervorzuhebeu,  daß,  sobald 
mit  der  Farbenverscliiedenlieit  eine  deutliche  Helligkeitsverschieden- 
heit  Hand  in  Hand  geht,  sich  die  Täuschung  nach  den  für  hellig- 
keitsverschiedene Figuren  geltenden  Gesetzen  richtet^)  und  zwar 
bei  S-  sowohl  wie  bei  willkürlicher  A-  oder  G-Reaktion.  Es  er- 
gibt sich  daraus,  daß,  wie  zu  erwarten  war,  ein  eventueller 
Einfluß  der  Farbe  im  engeren  Sinne  nur  unter  Voraussetzung 
gleicher  Helligkeit,  d.  li.  nur  bei  farbenverschiedenen  aber  hellig- 
keitsgleichen Figuren  zu  bestimmen  ist. 

Nur  in  bezug  auf  die  absolute  Größe  der  Täuschungsbeträge, 
die  sich  bei  den  verschiedenen  Reaktionsweisen  ergeben,  läßt  sich 
eine  Verschiedenheit  zwischen  S-  und  G-(bzw.  A-)Fällen  fest- 
stellen, da  die  S-Reaktion  Täusclmngswerte  ergibt,  die  sich  im 
allgemeinen  zwischen  den  A-  und  G-Werten  halten.  Sehr  kleine 
Täuschungswerte  können  dagegen  nur  bei  A-,  sehr  große  nur  bei 
G-Reaktion  erreicht  werden.-)  — 

Zur  absoluten  Täuschungsgröße  ist  noch  folgendes  zu  be- 
merken:  Es   wurde   bereits   öfter   und  von  verschiedenen  Seiten 


^)  Vgl.  oben  §  6.    Dasselbe  gilt,  wie  ich  an  anderer  Stelle  gezeigt  habe 
(Zeitschr.  f.  Psych.  Bd.  29,  S.  264  ff.),  auch  für  die  Zöllner.sche  Figur. 

^)  Von  Fällen  steigerungsuufäbiger  A-  bzw.  G-Dispositiou  hier  natürlich  ab- 
gesehen. 

Meinoug,  Untersuchungeu.  22 


338 


ViTTORIO   BeNüSSI. 


her  die  Behauptung  aufgestellt,  die  e-Figur  „täusche"  in  viel  ge- 
ringerem Maße  als  die  a-Figur,  daher  sei  die  sehr  beträchtliche 
Täuschungsgröße  einer  e-a-Figur  hauptsächlich  als  eine  Wirkung 
der  a-Hälfte  zu  betrachten.  Die  diesbezüglichen  Messungen  ^)  er- 
gaben als  Täuschungsmaximum  einer  (e-a)-Figur  Werte,  die  Vs 
bis   V4   ^61'  Hauptlinienlänge  betrugen.     Dabei  war  die   e-Hälfte 

TabeUe  XL 


G-Reaktion 

Fortl.  Zahl 

1.            2.      1      3. 

4. 

Versuchstag 

Hauptl. 

weiß       grün   |    weiß 

grün 

,  Kurve 

person 

Nebenl. 

weiß       grüu   |   grün 

weiß 

Täuschgr. 

4,40 

4,30 

2,50 

6,0 

20.  VII. 

rt 

Var. 

0,50 

0,30 

o,eo 

0,40 

1903 

Täiaschgr. 

7,5 

7,0 

1,8 

9,4 

21.  VII. 

ß 

Hr   R   B 

Var. 

0,70 

0,20 

0,10 

0,40 

1903 

Tänschgr. 

7.0 

8,4 

6,0 

9,0 

22.  VII. 

Var. 

0,70 

0  30 

0,30 

0,75 

1903 

} 

Täuschgr. 

9,4 

11,4 

4,0 

13,0 

9.  vm. 

§ 

Var. 

0,30 

0,M 

0.30 

0.20 

1903 

1        M.  T. 

6,57    1    7,77    1    3,57 

1    9,35 

- 

M.  V. 

0,40 

0,32 

0,32 

0,36 

— 

(Zahl  der  Einzelmessungeu:  160. 


ihren  räumlichen  Bestimmungen  nach  der  von  uns  untersuchten 
gleich.  Unsere  Versuche  -)  haben  dagegen  gezeigt,  daß  die  eben  an- 
geführten Täuschungsbeträge,  im  Falle  vorgeschriebener  G-Reaktion 
bei  der  e-(Teil-)Figur  allein,  also  gerade  bei  derjenigen  Figur 
die  angeblich  allgemein  schwach  wirken  soll,  nicht  nur  erreicht, 
sondern  sogar  überschritten  werden  können. 

Damit  wäre  das  Wesentliche  dieser  Versuchsreihe  erledigt.  — 
Im    übrigen    seien    hier    noch    die   Ergebnisse    einer   Reihe    von 


1)  Vgl.  Heymans  a.  a.  0.  S.  227  und  231. 

^)  Vgl.  beispielsweise  §  7  Tab.  VII.  Überdies  ist  auf  die  Ergebnisse  einer 
Versuchsperson  (Frl.  E.  M.)  hinzuweisen,  bei  der  die  e -Figur  ausnahmslos 
größere  Täiischungs werte  als  die  a-Figur  ergeben  hat.  Ich  führe  hier  folgendes 
Beispiel  au: 


e-Figur. 

a-Figur. 

Nebenl. 

weiß       grau 

grau 

weiß 

i\ebenl. 

1  weiß     grau 

grau 

weiß 

Hauptl. 

weiß       grau 

weiß 

grau 

Hauptl. 

weiß  1  gr&w 

weiß 

grau 

Täuschgr. 
Var. 

13,20       11,0 

0,50]            0,32 

7,30 

0,40 

15,70 

0,30 

Täuschgr. 
Var. 

10,0  !    7,00 

0,60     1     0,42 

3,50 

0,50 

3,0 

0,42 

(Zahl  der  Einzel luessungen:  40.) 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfasseus. 


339 


Sitzungen  wiederg-egeben .  die  mit  der  Versuchsperson  E.  B.,  die 
eine  sehr  stark  ausgeprägte  Neigung  zur  A-Reaktion  besaß,  vor- 
genommen wurden.  Infolge  dieser  spontanen  Neigung  zur  A- 
Reaktion  konnte  man  hier  erst  nach  mühevoll  durch  längere  Zeit 
geübter  G-Reaktion  eine  deutliche  Täuschungssteigerung  erreichen. 
(Vgl.  Tabelle  XI.  und  die  graphische  Darstellung  zu  derselben.) 
Die  vier  letzten,  in  dieser  Tabelle  enthaltenen  Reihen  wurden 
in  der  Folge  a—ö  vorgenommen.  Die  entsprechenden  Kurven 
zeigen  von  einer  Sitzung  zur  nächsten  eine  Zunalime  sämtlicher 
Täuschungswerte.  Daß  diese  Erhöhung  der  Täuschungsbeträge 
tatsächlich  auf  G-Übung  zurückzuführen  ist,  zeigt   auch    die  ge- 

Graphische  Darstellung  zu  Tabelle  XI. 


mm. 

1         \        2         \        3         \         t 

Citrvc 

15 
7* 
13 
12 
11 
10 
9 
8 
7 
6 
S 
(t 
3 
2 
1 
i    0 

j 

=ß'K 

> 

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y 

/ 

y 

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J 

— / 

y^ 

■^"^^^ 

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r^ 

/  / 

><v  \  \\ 

/// 

s\^\ 

Y 

1 

i 

legentlich  dieser  Versuchsreihe  spontan  ausgesprochene  Behauptung 
der  Versuchsperson,  das  Gestalterfassen  falle  ihr  wesentlich  leichter 
und  die  GestaltvorsteUung  selbst  sei  auffallend  weniger  flüchtig 
als  vorher.  Als  eine  selbstverständliche  Nachwirkung  dieser  G- 
Übung  ist  ferner  die  Tatsache  zu  betrachten,  daß  die  Täuscliungs- 
werte  einer  nach  Abschluß  der  G-Sitzungen  vorgenommenen  A- 
Reihe  größer  ausfielen  als  die  A-Werte  der  früheren  A-Sitzungen. 
Auf  weitere  relativ  unwesentliche  Einzelheiten,  die  unmittelbar 
aus  den  Tabellen  zu  entnehmen  sind,  braucht  hier  nicht  ein- 
gegangen zu  werden. 

Dagegen  muß  ich  noch  ausdrücklich  der  Täuschungszunahme 
bei  Abnahme  der  Helligkeitsverschiedenheit  zwischen  Grund  und 

22* 


3^0  YlTTORIO   BeNUSSI. 

Figur  mit  der  Frage  gedenken,  ob  dies  als  eine  Folge  der  ver- 
minderten Helligkeitsverscliiedenheit  zwischen  Grand  und  Figur 
oder  nicht  vielmehr  derjenigen  zwischen  Grund  und  Hauptlinie 
allein  zu  verstehen  ist.  Denkt  man  sich  nämlich  die  Täuschung 
durch  das  Erfassen  der  e-Gestalt  bedingt,  so  könnte  die  eben 
berührte  Abhängigkeit  der  Täuschungsgröße  von  der  Helligkeits- 
verschiedenheit zwischen  Figur  und  Grund  nicht  bestehen.  Denn 
einerseits  müßte  ein  derartiges  Erfassen,  solange  die  Figur 
helligkeitsgleich  und  deutlich  sichtbar  ist,  durch  Zu-  oder  Ab- 
nahme der  Helligkeitsverschiedenheit  zwischen  Figur  und  Grund 
nicht  beeinträchtigt  werden  können,  andererseits  aber  müßte 
die  Täusclmng  bei  zunehmender  Helligkeitsverschiedenheit  zwischen 
Figur  und  Grund  nicht  ab-,  sondern  zunehmen,  weil  gerade 
unter  solchen  Umständen  die  Gestalt  (bzw.  die  Gestaltvor- 
stellung) leichter  erfaßbar  (bzw.  aufdringlicher  und  weniger 
flüchtig)  sein  müßte. 

Ist  dagegen  die  Täuschung  als  eine  Folge  nicht  so  sehr  des  Er- 
fassens der  e-,  als  der  e-(Begrenzungs)Gestalt  aufzufassen,  so  muß 
sie  umso  größer  ausfallen,  je  unaufdringlicher  die  Verbindungslinie 
der  zwei  Winkelschenkel  ist;  sie  muß  aber,  wenn  dies  der  Wirk- 
lichkeit entspricht,  beim  Wegfall  der  Hauptlinie  durch  die  Größe 
der  Helligkeitsverschiedenheit  zwischen  e-Fignir  und  Grund  unbe- 
rührt bleiben,  und  der  e-Figur  gegenüber  unter  sonst  gleichen  Be- 
dingungen ausnahmslos  ein  Täuschungsmaximum  bedeuten. 

Der  Entscheidung  dieses  Punktes  ist  die  nächstfolgende  Ver- 
suchsreihe gewidmet.  Bevor  ich  zur  Besprechung  derselben  über- 
gehe, seien  hier  noch  einige  an  helligkeitsgleichen  aber  chromatisch 
verschiedenen  e-Figuren  angestellte  Versuche  kurz  berührt. 

§  9.  Die  (A-  und  G-)Täuschungsgröße   der  e-Figur 
bei  monochromatischen  und  bi chromatischen  hellig- 
keitsgleichen Figuren.    Die  Bestimmung  der  Farben- 
aufdringlichkeit. 

Da  bei  diesen  Versuchen  aus  äußeren  Gründen  nur  eine  ein- 
zige Versuchsperson  verwendet  werden  konnte,  darf  für  deren  Erlös 
keine  allgemeine  Gültigkeit  beanspracht  werden,  —  um  so  weniger, 
als  gerade  bei   derartigen  Versuchen  an  helligkeitsgleichen  aber 


Zar  Psychologie  des  Gestalterfasseus. 


341 


chromatisch  verschiedenen  Figuren  die  größten  individuellen  Ver- 
schiedenheiten in  bezug  auf  die  alltallige  Täuschungsgröße  zu  er- 
warten sind,^)  AVenn  auch  die  nähere  Untersuchung  dieses  Punktes 
einer  späteren  Gelegenheit  vorbehalten  bleiben  muß.  so  sollen  die 
bereits  gewonnenen  Kesultate,  so  einseitig  sie  auch  sein  mögen, 
nicht  unerwähnt  bleiben.  Ich  stelle  sie  in  folgender  Tabelle  XII 
zusammen. 


TabeUe  XII. 

Versuchs- 

Reaktion 

Fortl.  Zahl  |      1.     |     2. 
Hauptl.      1    rot    |  grün 

3. 

rot 

4. 
grün 

Versuchs- 
tag 

Kurve 

pei  ^011 

Nebenl.      |    rot 

grün 

grün 

rot 

Hr.  A.  M. 

A. 

Ct. 

Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 

7,8 

0,70 

10,5 

0,58 

6,4 

0,16 

10,1 

0,60 

1,8 

0,90 

6,2 

0,70 

4,0 

0,54 

9,4 

0,62 

11.  vm. 

1903 

13.  VIII. 
1903 

« 
ß 

Mittler 

e  Täusch.        |   9,13  |   8,25 

4,0 

6,7 

— 

Mittlere  Variat.        |    o,64    |    o,5.s    |    o,80    | 
(Zahl  der  Einzelmessungen  160.) 


Aus  derselben  entnimmt  man  folgendes: 

1.  Subjektiv  gleich  helle  verschiedenfarbige  Figuren  ergeben 
bei  G-Eeaktiou  angenähert  gleich  große  Täuschungsbeträge  (vgl. 
Kurve  a,  1  und  21 

2.  Werden  nun  mit  denselben  Farben  die  zwei  entsprechenden 
bichromatischen  Kombinationen  hergestellt,  so  beobachtet  man.  daß 

a)  eine  Täuschungsherabsetzuug  für  beide  bichromatischen 
Figiu'en  im  Vergleich  mit  den  entsprechenden  monochromatischen 
die  Folge  ist.  daß  aber 

b)  diese  Herabsetzung  nicht  für  beide  Figuren  gleich  groß 
ausfällt:  Ein  Umstand,  dem  für  die  Feststellung  der  Farbenauf- 
dringlichkeit die  größte  Bedeutung  zuerkannt  werden  muß.'-) 


1)  Vgl.  meine  Untersuchung  „Über  den  Einfluß  der  Farbe  auf  die  Größe 
der  ZöLLKERSchen  Täuschung-',  Zeitschr.  f.  Psych.  Bd.  29,  S.  278 ff. 

-)  Im  Sinne  späterer  Ausführungen  (vgl.  §  20j  ist  aus  den  Ergebnissen  des 
hier  untersuchten  Falles  für  Rot  eine  größere  Aufdringlichkeit  als  für  Grün  in 
Anspruch  zu  nehmen.  (Vgl.  meine  oben  angeführten  Untersuchung  über  den  Ein- 
fluß der  Farbe  auf  die  Größe  der  ZöLLXKRSchen  Täuschung,  Versuchsreihe  HI, 
wo  eine  größere  Aufdringlichkeit  [dort  auch  als  „Ablenkungsvalenz" 
bezeichnet]  für  Rot  und  Blau  als  für  Gelb  und  Grün  festgestellt  werden 
konnte.  —  außerdem  über  Farbenauffälligkeit  diese  Untersuchungen  IX. 


342 


ViTTORIO   BfnüSSI. 


3.  Sämtliche  Täuschimgswerte  fallen  bei  A-Reaktion  viel 
kleiner  aus  als  bei  G-Reaktion.  Dabei  ist  noch  zu  bemerken,  daß 
a)  bei  A-Reaktion  die  aus  der  Helligkeitsg'leichung'  der  zwei 
monochromatischen  Figuren  zu  erwartende  und  bei  G-Reaktion 
auch  anzutreffende  angenäherte  Gleichheit  der  entsprechenden 
Täuschungsbeträge  ausbleibt:  Die  Werte  der  grünen  Figur  lallen 
kleiner  aus  als  die  der  roten.  —  Das  Verständnis  hierfür  werden 
wir  aus  den  Ergebnissen  der  Untersuchung  einer  e-Figur  gewinnen. 
Hier  ist  nur  auf  die  damit  im  Einklang  stehende  Tatsache  hin- 
zuweisen,  daß  von  den  beiden  bichromatischen  Figuren  diejenige 

Graphische  Darstellung  zu  Tabelle  XII. 


mm. 

1        \       Z        \       3        \       't 

CurvT. 

15 
li 

13 

12 

11 

10 
9 

~—      — 

^^-^ 

-7^ 

p 

7 
6 
5 
i 
3 

^^--^ 

\N 

7^ 

— /p 

y 

/ 

/ 

y 

— 

1 
0 

kleinere  Werte   ergeben    hat,   welche  grüne  Nebenlinien  bei  roter 
Hauptlinie  aufwies. 

b)  Was  die  relative  Lage  der  Täuschungswerte  der  mono- 
und  bichromatischen  Figuren  bei  A-  und  G-Reaktion  anlangt, 
ist  hervorzuheben,  daß  die  monochromatischen  Figuren  dem 
Eingreifen  der  Analyse  einen  größeren  AMderstaud  leisten  als  die 
bichromatischen:  Während  die  Differenz  der  Täuschungswerte  bei 
den  monochromatischen  Figuren  für  A-  und  G-Reaktion  3,5  mm 
im  Durchschnitte  beträgt,  ergibt  sie  bei  den  bichromatischen 
durchschnittlich  5  mm. 

Bezeugt  uns  (so  können  wir  den  Erlös  dieser  Versuchsreihe 
zusammenfassen)  die  Täuschungsherabsetzung  bei  bichromatischen 
Figuren,    daß   durch  solche   ZusammensteUungen   die    einheitliche 


Zur  Psj'chologie  des  Gestalterfassens. 


343 


Erfassung  von  Neben-  und  Hauptlinien  zur  Bildung-  der  Vorstellung- 
einer e-Gestalt  erschwert  wird,  so  bietet  uns  die  für  verschiedene 
Kombinationen  ungleich  groß  ausfallende  Herabsetzung  ein  Mittel 
zur  Bestimmung  des  nur  in  den  seltensten  Fällen  direkt  erfaß- 
baren relativen  Aufdringlichkeitswertes  verschiedener  Farben.  Von 
zwei  gegebenen  Farben  wird  nach  dem  Gesagten  diejenige  als 
aufdringlicher  zu  bezeichnen  sein,  die  an  monochromatischen 
Figuren  (bei  A-Eeaktiou)  eine  geringere  Herabsetzung,  an  bichro- 
matischen Figuren  als  Hauptlinienfarbe  (bei  A-  und  G-Reaktion) 
die  größte,  als  Nebenlinienfarbe  die  kleinste  Täuschungsherab- 
setzung bewirken  wird.  In  unserem  Falle  wird  also  für  Rot  eine 
größere  Aufdringlichkeit  in  Anspruch  zu  nehmen  sein  als  für  Grün. 


Tabelle  XIII. 


G-Reaktion 

Versuchs- 

Fortl. Zahl 

1.      1      2. 

3. 

4. 

Versuchstag 

Hauptl. 

weiß    1    grün 

weiß 

grün 

Kurve 

person 

Nebenl. 

weiß    1    grün 

grün 

weiß 

Hr.  E.  M. 

Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 

4.4  4,3 

0,25            0,17 

5.5  7,0 

0,30             0,20 

2,5 

0,40 

1,8 

0,25 

8,0 

0,30 

9,5 

0,.S5 

2.  IX.  1902 
4.  IX.  1902 

a 
b 

M.  T. 

4,93 

5,65 

O   1K 

8,75 

M.  V. 

0,27 

0,18 

0,32 

0.32 

Versuchs- 

Fortl.  Zahl 

r. 

2'. 

3' 

4'. 

Versuchstag 

Hauptl. 

weiß 

rot 

weiß 

rot 

Kurve 

Nebeiil. 

weiß 

rot 

rot 

weiß 

Hr.  E.  M. 

Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 

3,8 

0,15 

4,9 

0,30 

6,0 

0,20 

5,7 

0,30 

3,8 

0,10 

3,7 

0,40 

6,4 

0,30 

7,0 

0,20 

3.  IX.  1902 
5.  IX.  1902 

a' 
b' 

M.  T. 

4,35    1    5,85    1    3,75 

6,7 

ß 

M.  V. 

0,22 

0,25 

0,25 

0.25 

(Zahl  der  Einzelmessungen:  160. 


Es  ist  nun  selbstverständlich,  daß  bei  bichromatischen  Figuren 
die  Aufdringlichkeit  der  Nebenlinien  die  durch  die  Farbenver- 
schiedenheit verursachte  subjektive  Unzusammengehörigkeit  von 
Haupt-  und  Nebenlinien  und  mithin  auch  die  aus  dieser  Un- 
zusammengehörigkeit folgende  Täuschungsherabsetzung  unter  Um- 
ständen sowohl  aufwiegen  als  überkompensieren  kann.  Mutmaß- 
lich wird  letzteres  dann  eintreten,  wenn  die  Figurenkomponenten 
nur  der  Sättigung   nach  verschieden  sind,  oder  wenn  mit  deren 


344 


VlTTORIO    BeNüSSI. 


Farbenverschiedenheit  auch  eine  weitgehende  Helligkeitsverschieden- 
heit gegeben  ist,  vornehmlich  also  bei  helligkeitsverschiedenen 
aber  farbengleichen  Figuren,  Ein  Beleg  dafür  ist  in  den  Er- 
gebnissen sämtlicher  mit  achromatischen  helligkeitsverschiedenen 
Figuren  gewonnenen  Versuchsreihen  enthalten,  bei  denen  die  letzte 
Figur  immer  die  größten  Täuschungswerte  ergeben  hat  (vgl. 
TabeUe  II  — XI  und  XIII). 

Abgesehen  von   den  eben  mitgeteilten  Versuchen  liefern  uns 
eine  weitere  Bestätigung  dafür,    daß    die  rote  Farbe  gegenüber 

Graphische  Darstellung  zu  Tabelle  XIII. 


mm. 

l.l'     1      2,Z'     1      3.3'     1     t.i-' 

CiirvTi 

21 

/OS 

ja 

9S 
9 
85 

1 

j— 

—  5 

7 

h— J 

S 

Wl 

— a 

7S 
7 

es 
e 

SS 
5 

ff  1 

11 

7,' 

/ 

s  ui 

•''fi 

/ 

i/ß 

CL 

^ 

^- — 

_JL 

iS 

' 

w- 

\  V\  X 

^f 

-/ — 

3S 



-^ 

T 

1 

2  5 
2 

^ 

^ 

( 

IS 

J 
0-5 

0 

, 

!              1              1              ! 

der  grünen  eine  größere  Aufdringlichkeit  autweist.  die  Täuschungs- 
beträge der  aus  den  Kombinationen  dieser  zwei  Farben  mit  Weiß 
erhaltenen  bichromatischen  Figuren.  Wie  aus  Tabelle  XIII  er- 
sichtlich, ist  das  Täuschungsgebiet  der  Kombination  rot  mit  weiß 
deutlich  enger  ausgefallen  als  dasjenige  für  die  Kombination 
weiß  mit  grün.  Rot  und  grün  waren  dabei  annähernd  gleich  heU 
und  haben  auch  im  Einklänge  mit  den  in  Tabelle  XII  enthaltenen 
Ergebnissen  durchschnittlich  gleich  große  Täuschungswerte  er- 
geben. Dagegen  ist  die  Täuschung  durch  die  Figur  mit  weißer 
Hauptlinie  und  roten  Nebenlinien  größer  ausgefallen  als  die  durch 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  345 

die  Figur  mit  gleicher  Hauptliuie  aber  grünen  Nebenlinien,  und 
umgekehrt  die  Täusehungsgröße  der  Figur  mit  weißen  Neben- 
linien und  roter  Hauptlinie  kleiner  als  die  der  Figur  mit  weißen 
Nebenlinien  und  grüner  Hauptlinie.  —  ein  Zeichen  dafür,  daß 
die  rote  Hauptliuie  die  G-Keaktion  erschwert,  die  roten  Neben- 
linien dagegen  dieselbe  erleichtern  bzw.  die  A -Reaktion  er- 
schweren. Im  Gegensatze  dazu  führt  die  grüne  Hauptlinie  eine 
G-Erleichterung  mit  sich,  während  die  grünen  Nebenliuien  eine 
G-Erschweruug  bedeuten. 

Allgemein  kann  man  sagen :  Die  Breite  des  Täuschungsgebietes 
füi'  je  zwei  bichromatische  Figuren  zusammengestellt  aus  ver- 
schiedenen Farbenpaaren  kann  als  Maß  für  die  Aufdringlichkeits- 
verschiedenheit,  die  zwischen  den  zwei  verwendeten  Farben  be- 
steht, angesehen  werden.  Denn  läßt  man  bei  der  Untersuchung 
verschiedener  Farbenpaare  die  eine  Farbe  konstant,  so  kann 
man  die  Aufdiinglichkeitsverschiedenheit  der  zwei  übrigen  aus 
der  verschiedenen  Breite  der  erhaltenen  Täuschungsgebiete  ent- 
nehmen. Auf  diesem  Wege  konnte  in  der  Tat  (vgl.  Tab.  XIII) 
die  bereits  aus  Tabelle  XII  mit  Bestimmtheit  zu  entnehmende 
größere  Aufdringlichkeit  von  Eot  gegenüber  dem  Grün  von  neuem 
festgestellt  werden.^) 


§  10.   Die  (A-,   G-   und  S-)  Täuschungsgröße   der  e- Figur 
und  i  h  r  Y  e  r  h  ä  1 1  n  i  s  z  u  r  T  ä  u  s  c  h  u  n  g  s  g  r  ö  ß  e  der  e  -  F  i  g  u  r. 

Es  wurde  im  Laufe  der  gegenwärtigen  Untersuchung  schon 
wiederholt  darauf  hingewiesen,  daß  eine  Zunahme  der  Auf- 
dringlichkeit bei  den  Nebenliuien  eine  Erhöhung,  bei  den  Haupt- 


M  Was  die  Bestimmung  der  Farbenaufdriuglichkeit  anlangt  ist  noch  auf 
folgendes  hinzuweisen:  Gleiches  Grau  ist,  auf  schwarzem  Grund,  natürlich  gleich 
aufdringlich.  Ergibt  nun  eine  graue  helligkeitsgleiche  Figur  einen  Täuschungs- 
wert a  und  erreicht  man  einen  größeren  Wert  durch  Vertauschuug  der  grauen 
Nebenliuien  mit  gleich  hellen  roten,  so  ist  dem  Rot  im  Vergleich  mit  dem 
gleich  hellen  Grau  —  unter  Voraussetzung  eines  schwarzen  Grundes  —  eine  größere 
Aufdringlichkeit  zuzuschreiben,  —  eine  Aufdringlichkeit,  die  nicht  auf  die  Hellig- 
keits  allein,  sondern  zum  Teil  auf  den  Farbenton  zurückzuführen  ist.  —  Ihre 
Größe  ließe  sich  mm  derart  bestimmen,  daß  man  die  Helligkeit  der  roten  Neben- 
linien   so   weit  herabsetzt  (bzw.  diejenige  der  ITauptinie  so  weit  erhöht),  bis  sich 


346  ViTTOKIO    BeNUSSI. 

linieii  dagegen  eine  Verminderung  der  Täuschung  zur  Folge  hat.^) 
Zugleich  wurde  weiter  oben  die  Frage  aufgeworfen,  ob  die 
Täuschung  durch  das  einheitliclie  Erfassen  der  e-Gestalt  oder 
nicht  vielmehr  durch  dasjenige  der  e-Begrenzungsgestalt  bedingt 
werde.  Auf  Grund  der  Abhängigkeitsbeziehung  der  Täuschungs- 
größe von  der  Größe  der  Helligkeitsverschiedenheit  zwischen  Grund 
und  Figur  erschien  die  zweite  der  eben  berührten  Möglichkeiten  als 
die  wahrscheinlichere.  Nach  derselben  müßte  dann,  wie  erwähnt,  die 
Täuschungsgröße  beim  Weglassen  der  Hauptlinie,  in  welchem  Falle 
deren  Aufdringlichkeit  auf  Null  reduziert  wird,  ein  Maximum  er- 
reichen und  von  der  Größe  der  Helligkeitsverschiedenheit  zwischen 
Figur  und  Grund  unabhängig  sein.  Zur  Feststellung  dieses 
Punktes  wurden  besondere  Versuche  angestellt,  die  der  Beant- 
wortung folgender  Fragen  dienen  sollten: 

1.  "Wie  verhält  sich  bei  einer  e-Figur  die  Täuschuugsgröße 
zur  Größe  der  Helligkeitsverschiedenheit  zwischen  Figur  und  Grund  ? 

2.  Macht  sich  bei  dieser  Figur  der  S-Reaktion  gegenüber 
nicht  nur  der  Einfluß  der  G-  sondern  auch  der  der  A-Reaktion 
geltend  ?  Mit  anderen  Worten :  hat  die  bloße  Phantasievorstellung 
einer  Verbindungslinie  zwischen  den  zwei  Scheitelpunkten  eine 
ähnliche  Folge,  wie  die  Wahrnehmung  einer  tatsächlich  vorhandenen 
Verbindungslinie  ? 

3.  Wie  verhält  sich  die  Täuschungsgröße  der  e-  zu  der- 
jenigen der  e-Figur? 

Als  Versuchsmaterial  dienten  weiße,  graue  und  rote  e-  und 
e-Figuren,  die  in  der  aus  Tabelle  XIV,  XV  und  XVI  ersichtlichen 
Gruppierung  und  Reihenfolge  vorgenommen  wurden.  Zugleich 
mußten  diese  Versuche  auch  eine  Kontrolle  der  bei  den  früher 
angestellten  Versuchen  gewonnenen  Beobachtungen  abgeben. 

Ich  beginne  mit  der  Wiedergabe  der  an  verschiedenhellen 
und  verschiedenfarbigen  e-Figuren  gewonnenen  Täuschungswerte 
und  stelle  sie  in  Tabelle  XIV  zusammen. 

Dabei  zeigt  es  sich,  daß  die  Größe  der  Helligkeitsverschiedeu- 
heit  zwischen  Grund  und  Figur  auf  die  Täuschungsgröße  keinen 


der  Täuschuiig-swert  a  wieder  einstellt.  Die  Grüße  der  dazu  nötigeu  Verduukluiig 
bzw.  Aufhelluug)  würde  ein  Maß  für  die  durch  Rot  bedingte  Andriuglichkeits- 
erhöhuüg  abgeben. 

^)  Vgl.  §  6  und  die  Anmerkung  auf  S.  319. 


Zur  Psyobülogie  des  Gestalterfassens. 


347 


Tabelle  XIV. 


S-Reaktioii 


VersHchspers. 

Figur 

weit)  1    rot 

Versucbstag 

weiß 

grau 

Versucbstag 

Frl.  E.  G. 

Täuscbgr. 

Yar. 
Täuscbgr. 

Yar. 

16,66     16,33 

0,3lt           0,40 

14,13     14,40 

(»,■)()           0,30 

25.  XI. 

1902 
27.  XI. 

1902 

18,44 

0,30 

13,70 

0.20 

18,9 

0,25 

13,90 

0.50 

24.  XI. 

1902 
28.  XI. 

1902 

M.  T. 

15,39  1  15,3« 

16,07  1  16,40 

0,2.-)     1      0,37 

M.  V. 

(1.40    j     (i,:i-, 

Hr.  E.  M. 

Täuscbgr. 

Yar. 
Täuscbgr. 

Yar. 

14,33 

0,40 

13,70 

(1.20 

14,87 

Ü,30 

12,30 

0,30 

24.  XL 

1902 
27.  XI. 

1902 

12,63    12,63 

0,30          0,15 

13,55     13,30 

0.2.'>           0,t!0 

28.  XL 
1902 

29.  XL 
1902 

M.  T. 

14,01  1  13,58 

13,09  1  12,80 

M.  V. 

0,30 

0,30 

0,27 

0,37 

(Zabl  der  Einzelmessungeu :  160.) 

Einfluß  ausziTübeu  Yermag-,  Die  Täusclmugsgröße  monochro- 
matisch e  r  Figuren  richtet  sich  also  nach  dem  Aufdringlichkeits 
werte  der  Hauptlinie,  indes  die  Nebenlinien  an  und  für  sich 
eine  konstante  Täuschung-  bedingen.  Bei  bichromatischen 
Fig-uren  ist  dag-egen  das  Aufdringlichkeits  Verhältnis 
zwischen  Haupt-  und  Nebenlinien  das  hauptsächlich  Maß- 
gebende. Davon  wird  später  die  Rede  sein.  Hier  seien  noch  die 
Versuche  bei  getrennter  A-  und  G-Reaktion  angeführt. 


Tabelle  XV. 


G-Reaktion 

A-Reaktion 

Vers.-Pcrs. 

Figur 

weiß 

rot 

Vers.-Tag 

Vers  -Pers.  1     Figur 

weiß 

rot 

7ers.-Tag 

Frl.  W. 
V.  L. 

Täuscbgr. 
Yar. 

10,10 

0,20 

10,30 

0,20 

21.  XII. 
1902 

Frl.  W.  : Täuscbgr. i   5,20 
V.  L.            Yar.          0.30 

5,40 

0,20 

21.  xn. 

1902 

Hr.  A.  D. 

Täuscbgr. 

Yar. 
Täuscbgr. 

Yar. 

20,20 

0,-)0 

12,90 

0,40 

20,40 

0,30 

14,40 

0,G() 

29.  XII. 
1902 

30.  XII. 
1902 

Hr.  A.  D. 

Täuscbgr. 

Yar. 
Täuscbgr. 

Yar. 

4,70 

0,40 

5,80 

0,50 

5,90 

0,40 

5,10 

0,60 

31.  XIL 
1902 
2.  I. 
1903 

M.  T. 

16,60 

17,40 

M.  T. 

5,23  1   5,50 

M.  V. 

0,4.-. 

0,45 

M.  V. 

0,45      1     0,50 

Hr.  E.  M. 

Täuscbgr. 

Yar. 
Täuscbgr. 

Yar. 

22,24 

0,70 

22,10 

0,40 

22,70 

0,80 

22,30 

0.35 

30.  XII. 
1902 

31.  XIL 
1902 

Hr.  E.  M. 

Täuscbgr. 

Yar. 
Täuscbgr. 

Var 

10,83    12,73 

0,50          0,60 

9,0       7,76 

o,(;()        0,30 

2.  I. 
1903 
5.  I. 
1903 

M.  T. 

22,17 

22,50 

M.  T.     1   9,91  1 10,24 

M.   V.      1     0.55     1     0,45 

M.  V. 

0,55 

0,57 

CZahl  der  Einzelmessungen:  320. 


348 


ViTTORIO   BeNÜSSI. 


^^'ie  aus  Tabelle  XV  zu  entnehmen  ist,  tritt  auch  für 
diese  Figm-  die  zwischen  A-  und  G-Keaktion  an  der  Hand  der 
e-Figur  bereits  festgestellte  Gegensätzlichkeit  deutlich  zutage. 
Im  Vergleich  zur  S-Eeaktion  bringt  auch  hier  die  A-Reaktion 
eine  Herabsetzung,  die  G-Reaktion  eine  Erhöhung  der  Täuschung 
mit  sich.  Besonders  deutlich  tritt  dies  für  Versuchsperson 
E.M.  (Tab.  XIV  und  XV)  hervor.  Den  bei  S-  Reaktion  ge- 
wonnenen Werten  =  1401  und  13.58  (vgl.  Tab.  XIV).  stehen  die 
A-Werte  =  9.91  bzw.  10,24,  und  die  G-Werte  =  22,17  bzw.  22,50 
zur  Seite  (vgl.  Tab.  XV).  So  viel  zur  Beantwortung  der  zwei 
ersten  Fragestellungen  dieses  Paragraphen. 

TabeUe  XVI. 


G 

-  und  A-Reaktion 

Versuchs- 
person 

Reaktion 

Fortl.  Zahl 

1.          2.          3. 

4. 

5. 

Versuchs- 
tag 

Haiiptl. 

—     1    rot    '  weiß 

rot 

— 

Kurve 

Nebenl 

rot    j    rot    1    rot 

rot 

rot 

G 

Täuschgr. 

Yar." 
Täuschgr. 

Yar. 
Täuschgr. 

Yar. 

10,4 

0,30 

13,2 

0,35 

15,10 

0,27 

5,1 

0.20 

10,7 

0.40 

12,50 

0,.82 

4,2 

0,50 

6,8 

0,30 

9,30 

0,4r! 

4,8 

0,30 

7,5 

0,22 

9,70 

0..52 

9,9 

0,60 

10,60 

0,55 

10,0 

0,60 

5.  I.  1903 
8.  I.  1903 
12. 1. 1903 

13. 1. 1903 
15. 1. 1903 

a 

ß 

y 

Hr.  A.  D. 

M.  T. 

12,90 

9,47  !   6,77 

7,30 

10,20 

8 

M.  V. 

0,30 

0,30      1      0,41 

0,.33 

0,58 

A 

Täuschgr. 

Yar. 
Täuschgr. 

Yar. 

13,4 

0,27 

8,0 

0,30 

10,50     4,70 

0,60      j     0,50 

7,4        4,4 

0,40           0,27 

7,40 

0,32 

4,7 

0,52 

14,60 

0,40 

9,9 

0,30 

e 

M.  T. 

10,70  ,   8,90  ,   4,60 

6,00 

12,25 

M.  V. 

0,28     1     0,50 

0,.38 

0,42 

0,37 

f] 

G 

Täuschgr. 
Yar. 

20,2 

0,50 

10,70 

0.3() 

8,0 

0,20 

9,6 

0,45 

17,8 

0.70 

8.  I.  1903 
13. 1. 1903 
15. 1. 1903 

& 

Hr.  E.  M. 

A 

Täuschgr. 

Yar. 
Täuschgr. 

Yar. 

9,70 

0,70 

7,70 

0,20 

4,5 

0.30 

7,60 

0,40 

2,9 

0,20 

1,90 

0.30 

2,3 

0,20 

2,10 

0,20 

9,1 

0,22 

7,5 

0,70 

X 

M.  T. 

8,70  1   6,05      2,40 

2,20 

8,30 

l 

M.  V. 

0,35 

0,35 

0,25 

0,15 

0,46 

(Zahl  der  Einzelmessungeu :  640.) 

Die  Beantwortung  der  dritten  Frage  ist  aus  TabeUe  XVI  zu 
entnehmen,  die  die  Ergebnisse  bei  hintereinander  vorgelegten  e- 
(Fig.  2,  3  und  4)  und  e-  (Fig.  1  und  5)  Figuren  entliält.    Sie  lautet: 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfasseus. 


349 


Die  Täiisclumg  ist  bei  der  e-Figur  aiisualimslus  größer  als 
bei  der  e-Figiir.^)  Die  „eigentliche-'  IMÜLLER-LYERsclie  Figur-) 
bringt  also  eine  Vergrößerung  der  scheinbaren  Scheitelpunkt- 
distanz einer  e-Figur  mit  sich  und  wirkt  mithin  dieser  gegenüber 
im  Sinne  einer  Täuscliungsherab Setzung. 

Graphische  Darstellung  zu  Tabelle  XVT. 


nun 

1         i        2         1       5         1       *        j        5 

Curcc 

2'i 
23 
22 

:i 

19 
JS 

n 

16 
15 
li 
13 
12 
11 
10 

9 

S 

7 

5 

5 

i 

3 

2 

1 
0 

^ 

\ 

\ 

\ 

\ 

n\ 

/  1 

L^_ 

\ 

V  V 

\ 

w  \.^ 

L  \ 

L — 1 

—^-r 

^vnS.w  ^ 

' — '^ 

^ 

^'■:;n\  ^ 

rCN^N 

^^.^'^ 

.\\ 

kVNv 

-^^ 

'^.N 

\vv\i 

r^  y 

'\   N 

\ 

^^r^~-^ 

r*'*''^'^ 

^"\%  ersichtlich,  sprechen  die  Eesultate  dieser  Versuchsreihe, 
mit  denjenigen  der  helligkeits-  und  färben  verschiedenen  e-Figuren 
völlig  im  Einklänge,  für  die  zweite  der  weiter  oben  ausgesprochenen 


1)  Desgleichen  scheint  auch  die  Täuschungsgröße  der  ZöLLNERSchen  Figur  bei 
hauptlinienlosen  Figuren  ein  Maximum  zu  erreichen.  Es  läßt  sich  dies 
bereits  ans  der  Abhängigkeit  der  Täuschung  von  der  Helligkeitsverschiedenheit 
zwischen  Hauptlinie  und  Grund  einerseits  und  Nebenlinien  und  Grund  andererseits 
vermuten.  (Vgl.  meine  Untersuchung  „Über  den  Einfluß  der  Farbe  auf  die  Größe 
der  Z.  Täuschung."    Versuchsreihe  I.     Zeitsclir.  f.  Psj'ch.  29,  231  ff.) 

Eine  Bestätigung  dafür  ist  in  den  Ergebnissen  der  letzten  Versuchsreihe 
der  nächstfolgenden  Arbeit  (diese  Untersuchungen  VI)  enthalten.  (Vgl.  daselbst 
Tabelle  Villa,  Kurve  /  u.  ?  und  Tabelle  VIII b,  Kurve  /  u."?.) 

")  Hier  kann  natürlich  nur  von  der  e-Figur  die  Rede  sein. 


350 


ViTTORIO   BeNUSSI. 


Vermutungen,  nach  welcher  die  Täuschung  durch  Erfassung  der 
e-Gestalt  bedingt  wird,  indem  die  Einführung  der  Hauptlinie, 
gleichviel,  ob  dies  durch  tatsächlic hes  Ausziehen  derselben  oder 
durch  eine  daraufgerichtete  Annahme  geschieht,  unter  allen 
Umständen  eine  Täuschuugs herabsetzung  bedingt.  Die  theo- 
retische Bedeutung  dieser  Tatsache  wird  später  zu  erörtern  sein. 
Das  Übrige,  was  aus  dieser  Tabelle  zu  entnehmen  ist,  be- 
stätigt das,  was  bisher  schon  festgestellt  wurde,  nämlich  den  Ein- 
fluß der  Helligkeitsverschiedenheit  auf  die  Täuschungsgröße,  die 
Gegensätzlichkeit  von  A-  und  G-Eeaktion,  das  Eintreten  von  G- 
und  A-Übimg  hzw.  von  A-  und  G-Ermüdung  im  Laufe  mehrerer 
und  innerhalb  einzelner  A-  oder  G-Sitzungen.^j 

TabeUe  XVII. 

G-Reaktion 


Fortl.  Zahl 

1. 

2. 

3. 

4. 

Versuchs- 
person 

Versuchstag 

Hai;ptl. 

— 

rot 

weiß 

— 

Kurve 

Nebenl. 

rot 

rot 

rot 

rot 

Täuschgr. 
Var. 

9,00 

0,50 

2,20 

0,30 

0,20 

0.50 

7,00 

0,40 

5.  XII.  1902 

or 

Hr.  E.  D. 

Täuschgr. 

12,00 

11,80 

5,30 

10,80 

6.  XII.  1902 

ß 

Yar. 

0,-10 

0,30 

0,60 

0,70 

Täuschgr. 
Yar. 

16,10 

0,60 

13,50 

0,20 

9,50 

0,40 

11,80 

0,23 

7.  XII.  1902 

Y 

(Zahl  der  Einzelmessungeu :  120.) 

Nicht  unerwähnt  soll  hier  ein  besonders  ausgeprägter  FaU 
von  G-Dispositionssteigerung  im  Laufe  mehrerer  Sitzungen  bleiben. 
Die  auffallend  große  Steigerung  der  Täuschung  von  einer  Sitzung 
zur  nächsten  ist  aus  Tabelle  XVII  zu  ersehen.  Dabei  zeigt  sich, 
daß  die  Differenz  der  Täuschungswerte  der  Anfangs-  und  Endfigiu^ 
mit  der  Steigerung  der  G-Disposition  selbst  zu  Ungunsten  der 
Endfigur  zunahm.  Mit  der  Erhöhung  der  G-Disposition  geht  also 
eine  relativ  rascher  sich  voDziehende  Erschöpfung  derselben  Hand 


')  Vgl.  (Tab.  XVI)  das  Auftreten  der  kleinsten  Täuschuug  bei  der  3.  Figur, 
die  höhere  Lage  der  G-  gegenüber  den  A-Kurven,  die  kleineren  Täuschungs- 
werte der  Endfigur  (5)  in  Vergleich  mit  denjenigen  der  Aufangsfigur  (1)  bei 
vorgeschriebener  G-Reaktion  (Tab.  XVI,  Kurve  «,  ß,  ;),  und  die  Zunahme 
der  Endwerte  gegenüber  den  Anfangswerten  bei  vorgeschriebener  A- Reaktion 
(Tab.  XVI,  Kurve  e,  C). 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens. 


351 


in  Hand,  —  ein  Dispositiousgesetz.  das  für  sich  noch  weiter  unter- 
sucht werden  müßte  und  hier  nur  für  den  vorliegenden  Spezialfall 
Geltung  beansprucht. 

Soll  auch  die  nähere  kritische  Untersuchung  der  bisher  aufge- 
stellten Erklärungsversuche  für  die  MÜLLEK-LvERsche  (e-)Täuschung 
einem  späteren  Abschnitte  vorbehalten  bleiben,  so  empfielt  sich 
doch  an  dieser  Stelle  schon  einer  Deutung  zu  gedenken,  gegen 
welche  gerade  die  zwischen  der  e-  und  e-Figur  bestehende  CTegen- 
sätzlichkeit  unzweifelhaft  zu  sprechen  scheint,  ich  meine  die 
„ästhetisch-dynamische"  Erklärung  Lipps'.') 

Graphische  Darstellung  zu  Tabelle  XVII. 


TTUTh 

1          \        2         \         3         \        it 

Curre. 

i  16 
15 
li 
13 
12 
11 
10 
9 
8 
7 
6 
S 
i- 
3 
2 
1 
0 

\, 

\, 

N 

7 

y^  y 

\ 

\ 

\ 

\ 

\ 

> 

«^ 

\ 

\ 

Nach  derselben  stellen  bekanntlich  die  Transversalen  ..Kräfte 
von  begrenzender  Tätigkeit"  dar,  indes  die  Hauptlinie  sich  zu 
„strecken"  scheinen  soll.  Da  nun  die  Begreuzungskraft  der  Neben- 
linien übei"wiegt,  so  wird  die  Hauptlinie  als  kürzer  „beurteilt".  — 
Will  sich  nun  diese  Theorie  der  durch  die  bezeichneten  Versuche 
festgestellten  Konstanz  für  die  Täuschungsgröße  der  e-Figur  trotz 


')  Optische  Streitfiageu.  Zeitschr.  f.  Psych.  3,  493;  Die  geometrisch-optischeu 
Täuschungen,  daselhst  12,  39,  275;  Bemerkungen  zu  Heymans  Untersuchung 
über  die  ZöLLNERSche  und  die  LüBSche  Täuschimg,  ebenda  15,  132;  Rauniästhetik 
u.  geom.-optische  Täuschungen,  ebenda  IS,  405;  Eaumästhetik  u.  geom.-optische 
Täuschungen.  Leipzig  1897,  S*',  in  Schriften  der  Gesellsch.  f.  psych.  Forschung 
II,  9  u.  10.  —  Vgl.  auch  diese  Arbeit,  IV,  §  30. 


352  ViTTORIO   BeXUSSI. 

Wechsel  ihrer  Helligkeits-  oder  Farbenverschiedenheit  mit  dem 
Gninde  anpassen,  so  ist  sie  genötigt,  grauen,  weißen  und  roten 
Nebenlinien  eine  konstant  große  Begrenzungskraft  zuzuerkennen. 
Tut  sie  das,  so  kann  sie  aucli  gegen  den  weiteren  Schluß  nichts 
einwenden,  daß.  wenn  man  gleich  stark  begrenzende  Kräfte  auf 
gleich  stark  sich  streckende  Hauptlinien  wirken  läßt,  eine  gleich 
bleibende  Täuschungsgröße  erhalten  werden  muß.  Ergeben  also 
eine  graue  und  eine  weiße  e-Figur  beispielsweise  eine  Täuschung 
=  5  mm ,  so  müßten  die  Kombinationen  graue  Nebenlinien  mit 
weißer  Hauptlinie  und  weiße  Nebenlinien  mit  weißer  Hauptlinie 
Werte  ergeben,  die  zwar  kleiner  als  5  mm.  untereinander  aber 
gleich  wären.  Kleiner  als  5  mm  deshalb,  weil  sich  jetzt  im 
Sinne  der  Lrppsschen  Auffassung  einer  ,.begrenzenden"  Kraft 
eine  „streckende"  entgegenstellt,  —  untereinander  gleich,  weil 
im  Sinne  derselben  Hypothese  der  Widerstand  der  Hauptlinie 
in  beiden  Fällen  gleich  ist.  Wie  die  Versuche  jedoch  gezeigt 
haben,  fallen  die  Täuschungswerte  solcher  2  Figuren  deutlich 
auseinander,  wodurch  für  diesen  Täuschungsfall  die  Unzulänglich- 
keit der  berührten  ästhetisch-dynamischen  Erkläruugshypothese  be- 
zeugt ist. 

Bevor  ich  zur  nächsten  Versuchsreihe  übergehe,  muß  ich  noch 
einen  Gedanken  erwähnen,  der  zur  Erklärung  der  Täuschungs- 
erhöhung einer  e-  gegenüber  einer  e-Figur  auf  den  ersten  Blick 
yerwendbar  erscheint.  Ich  meine  die  ..Überschätzung"  „ausge- 
füllter" gegenüber  ..leeren"  Distanzen.  In  der  Tat  unterscheiden 
sich  die  beiden  Figuren  dadurch,  daß  bei  der  einen  die  Scheitel- 
punktdistanz ausgefüllt  ist,  bei  der  anderen  aber  nicht.  —  Ergibt 
nun  die  Difi'ereuz  aus  den  Täuschungswerten  der  e-  und  e-Figur 
einen  Wert  =  a,  so  ist  es  klar,  daß.  wenn  diese  DiÖerenz  auf  die 
ebenberührte  ,.Ül3erschätzung"  zurückzuführen  wäre,  derselbe  Wert 
a  auch  durch  einfaches  Vergleichen  einer  Strecke  von  der  Größe 
der  Scheitelpunktdistanz  mit  einer  Punktdistanz  erreicht  Averden 
müßte.  Diesbezügliche  Versuche  haben  aber  diese  Erwartung 
nicht  erfüllt.  "\\'ährend  die  Differenz  der  e-  und  der  e-A\'erte 
durchschnittlich  4—5  mm  betrug,  ergab  die  Einstellung  einer 
Strecke  auf  Gleichheit  mit  einer  75  mm  langen  Punktdistanz  kein 
einziges  mal  Täuschungswerte    über  0.5  mm ;    dagegen   war   sehr 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens. 


353 


oft  die  Difierenz  gleich  0.'^)  Die  Überschätzung  von  Strecken  gegen- 
über Distanzen  kann  also  zur  Erklärung  der  bei  e  sich  einstellen- 
den Täuschungssteigerung  nicht  herangezogen  werden. 

§11.   Die  (A-,  G- und  S-)  Täuschungsgröße  der  p-Figur^) 
und  ihr  Verhältnis  zur  e- Figur. 

Konnte  durch  die  Ergebnisse  der  eben  besprochenen  Reihe 
mitunter  auch  festgestellt  werden,  daß  die  Täuschungsgröße  einer 
e-Figur  bei  Phantasierung  einer  die  zwei  Winkelscheitel  ver- 
bindenden Geraden  nicht  unbeträchtlich  herabgesetzt  wird,  so  er- 
wächst jetzt  die  Aufgabe,  den  umgekehrten  Fall  einer  Unter- 
suchung zu  unterziehen  und  folgende  Fragen  zu  beantworten: 


d 


\-^' 


CLwtk 


^tab 


Figur  5. 

a  b  =  75  mm  lang,  1  mm  breit.  —  a  c,  a  e.  d  b,  b  f  =  30  mm.     c,  d,  e,  f  =  1  mm 

Durchmesser;  ^  «  =  30*'. 

Wie  verhält  sich  die  scheinbare  Länge  der  Linie  a-b  (Fig.  5). 

1.  zur  S-Reaktion, 

2.  zur  G-Reaktiou,  d.  h.  zum  Phantasieren  der  Verbindungs- 
linien zwischen  den  Endpunkten  der  Strecke  a-b  und  den  oberhalb 


^)  Dies  zeigt  folgende  Tabelle,  in  der  die  Ergebnisse  der  mit  roten,  grünen 
und  weißen  Punkten  augestellten  Versuche  (3  Versuchspersonen)  wiedergegeben  sind. 


Vers.-Person 

Punkte 

weiß 

rot 

grün 

Versuchstag 

Hr.  R.  B. 

Täuschgr. 
Var. 

0,20 

0,15 

0,30 

0.10 

0,25 

0,20 

10.  VII.  1902 

Fr.  D.  M. 

Täuschgr. 
Var. 

0,10 

0,07 

0,00 

0,0 

0,00 

0,0 

19.  VI.  1903 

Hr.  A.  M. 

Täuschgr. 
Var. 

0,30 

0,10 

0,25 

0,09 

0,32 

0,12 

9.  V.  1903 

-)  Vgl.  Fig.  5. 
Meinen g,  Untersuchungen. 


23 


354 


ViTTORIO   BeNüSSI. 


und  unterhalb  derselben  angebrachten  1  mm  breiten  Kreisflächen, 
sowie  zum  anschaulichem  Vorstellen  der  resultierenden  e-Figur, 

3.  zur  A-Keaktion,  d.  h.  zum  willkürlichem  Außerachtlassen 
der  vier  kleinen  Kreisflächen  bzw.  anderer  Distanzen  wie  etwa 
ac,  ae'  usw. 

Als  Versuchsmaterial  dienten  weiße,  graue,  grüne  und  rote 
monochromatische  und  die  entsprechenden  bichromatischen  Figuren, 
die  sich  aus  der  Kombination  von  je  zwei  dieser,  abwechselnd  für 
Hauptlinie  und  Kreisfläche  verwendeten  Farben  ergaben.  Dabei 
wurden  dieselben  Farben  verwendet,  die  zur  Untersuchung  der 
e-Figur  gedient  hatten. 

Ich  beginne  mit  der  Besprechung  der  S-Versuche  und  stelle 
deren  Ergebnisse  in  folgender  Tabelle  (XVIII)  zusammen. 

Tabelle  XVIIl. 


S-Reaktion 


Versuchs- 
person 


Fortl.  Zahl 


1. 


3. 


Hai^ptl.        Aveiß     grau     weiß     grau 


Punkte        weiß     grau  1  grau     weiß 


Anzahl 
der 

Vers. -Reihen 


Versuchs- 1 
tasre 


'Kurve 


Hr.  0.  H. 
Hr.  U.  S. 
Hr.  A.  D. 
Fr.  D.  M, 
Frl.  L.  S. 
Frl.  C.  H, 
Dr.  M.  P. 


Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Yar. 
Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 

(Zahl  der 


2,35 

2,10 

1,60 

0,20 

0,30 

0,10 

—4,70 

-3,10 

—5,08 

0,30 

0,50 

0,70 

—5,04 

—4,60 

-7,00 

0,40 

0,50 

0,30 

6,00 

6,50 

3.25 

0,30 

(»,20 

0,50 

5,00 

6,60 

1,00 

0,30 

0,20 

0,40 

3,00 

3,70 

2,40 

0,20 

0,15 

0,.30 

3.90 

5,00 

1,60 

0,40 

0,50 

0,30 

Sitzungen:  13,  —  der 


3,0 

0,25 

—1.9  j 

0,60  I 

0.0  I 

0,20 

6,40  1 

1 

0,30 

6,40 

0,10   I 

4,90 

0,20 

5,80 

0,20 

Einzelmessungen : 


1 


1 


6.  7.  8. 

V.  1903 
8.  10.  V. 

1903 
23.  24.  26. 

V.  1903 
8.  VI. 

1903 
11.  VI. 

1903 
13.  14. 

VI.  1903 
13.  VI. 

1903 
520.) 


Aus  dieser  Tabelle  ergibt  sich: 

1,  daß  die  Strecke  a-b  unter  solchen  Umständen  sowohl 
k  ü  r  z  e  r  als  1  ä  n  g  e  r  erscheinen  kann,  als  sie  in  ^Virklichkeit  ist.  — 
Wir  stehen  also  vor  einer  Figur,  die  zwei  einander  entgegenge- 
setzte Täuschungen  hervorzurufen  vermag. 

2.  daß  diejenigen  (durch  die  Farbenverschiedenheit  zwischen 
Hauptlinie  und  Punkten  bedingten)  Umstände,   die  im  Falle   der 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens. 


355 


scheinbaren  Verkürzung  eine  Erhöhung  der  Täuschung  bedingen, 
für  den  entgegengesetzten  Fall  die  entgegengesetzte  Wirkung 
hervorbringen,  derart,  daß  die  aus  positiven  Täuschungswerten 
bestimmten  Km-ven  den  nämlichen  Verlauf  zeigen  wie  diejenigen 
Kurven,  die  negative  Täuschungswerte  wiedergeben. 

3.  daß  die  Täuschungsgröße  bei  scheinbarer  Verkürzung  der 
Hauptlinie  den  nämlichen  Gesetzmäßigkeiten  folgt  wie  bei  der  e- 
Figur.^)  indes  sie.  wie  sub  2  bereits  bemerkt  wurde,  bei  scheinbarer 
Verlängerung  der  Hauptlinie  das  entgegengesetzte  Verhalten  aufweist. 

Graphische  Darstellung  zu  Tabelle  XVIII. 


Theoretisch  ist  diese  Gegensätzlichkeit  in  den  Ergebnissen 
verschiedener  Versuchspersonen  deswegen  wichtig,  weil  sie  zu  ihrer 
Erklärung  ein  Veränderliches  verlangt,  das  außerhalb  des  Gebietes 
reiner  Sinnesbetätigung  liegt  und  in  seiner  Veränderlichkeit  unab- 
hängig ist  von  der  Beschaftenheit  des  in  unserem  FaUe  konstant 
bleibenden  reizfähigen  A\'ahrnehmungsmaterials. 

Wie  der  Umschlag  der  Täuschung  aus  scheinbarer  Verkürzung 
in  scheinbare  Verlängenmg  zu  verstehen  ist,  wird  nicht  weniger 
aus  den  P'rgebnissen  der  nun  mitzuteilenden  A-  und  G-Versuche, 
als  aus  spontanen  Äußerungen  der  betreffenden  Versuchspersonen 
zu  entnehmen  sein. 


Vgl.  oben  §  6. 


23* 


356 


YitTOrio  Benüssi. 


TabeUe  XIX  a. 


A-Reaktion 


Versuchs- 

Fortl. Zahl 

1. 

2.     1     3. 

4. 

Versuchstage 

person 

Hauptl. 

weiß 

grau 

weiß 

grau 

Kurve 

Punkte 

weiß 

grau 

grau 

weiß  1 

Täuschgr. 
Var. 

-3,70 

0,70 

-3,10 

0,60 

—5,80 

0,10 

—1,90 

0,25 

8.  11.  13.  15. 
V.  1903 

12.  13.  15. 16. 
V.  1903 

14.  15.  16. 18. 
V.  1903 

19.  20.  22.  23. 
V.  1903 

a 

Hauptl. 

weiß 

rot 

weiß 

rot 

Punkte 

weiß 

rot 

rot 

weiß 

Täuschgr. 
Var. 

-5,30 

0,50 

—4,10 

0,40 

—5,00 

0,60 

—0,30 

0,75 

Hauptl. 

weiß 

grün 

weiß 

grün 
weiß 

Hr.  A.  S. 

Punkte 

Aveiß 

grün 

grün 

Täuschgr. 
Var. 

-5,75 

0,50 

—4,50  -6,50 

0,45          0,62 

-1,5 

0,40 

7 

Hauptl. 

grün 

rot      grün  \    rot 

Punkte 

grün 

rot    1    rot 

grün 

Täuschgr. 
Var. 

—2,80 

0,40 

—2,40  -2,50 

0,60          0,70 

-1,80 

0,50 

S 

M.  T. 

-4,36 

-3,521-4,74 

—1,36 

e 

M.  V. 

0,52 

0,51 

0,58 

0,47 

(Zahl  der  Sitzungen:  16,  —  der  Einzelmessungen:  220.) 


Tabelle  XIX  b. 


G-ßeaktion 


Fortl.  Zahl 

5.          6.     1      7. 

8. 

Versuchstage 

person 

Hauptl. 

weiß     grau  |  weiß 

grau 

Kurve 

Punkte 

weiß     grau     grau 

weiß 

Täuschgr. 
Var. 

— 1,60  -  1,00 

0,40          0,60 

—  3,40 

0,35 

—  2,40 

0,55 

24.  25.  26.  27. 

V.  1903 

28.  29.  30.  V. 
2.  VI.  1903 

3.  5.  6.  7. 

VI.  1903 

9.  11.  12.  14. 
VI.  1903 

S 

Hauptl. 

weiß      rot 

weiß 

rot 

Punkte 

weiß       rot 

rot 

weiß 

Täuschgr. 
Var. 

+ 1,20  +  2,0 

0,40           0,60 

—  3,0 

0,70 

+  0,80 

0,45 

>? 

Hauptl. 

weiß  1  grün 

weiß  1  grün 

Hr.  A.  S. 

Punkte 

weiß     grün 

grün  1  weiß 

Täuschgr. 
Var. 

+  1,50  +  1,60  —  0,40 

0,70          0,60          0,60 

+  3,20 

0,40 

s 

Hauptl. 

grün  1    rot      grün 

rot 

Punkte 

grün  1    rot        rot 

grün 

Täuschgr. 
Var. 

+  3,801+4,00  +  2,80 

0,30           0,20           0,.';0 

+  4,40 

0,60 

l 

M.  T. 

+  2,001  +  2,15  —  1,00 

+  2,70 

M.  V. 

0,45     1     0,50 

0,53 

0,50 

(Zahl  der  Sitzungen:  16,  —  der  Einzelmessungen:  220. 


ZwT  Psychologie  des  Gestalterfasseus. 


357 


Die  Yersuclisergebnisse ,  bei  denen  ich  kurz  verweilen  muß, 
sind  in  Tabelle  XIX  a  und  b  enthalten. 

Dabei  ist  zunächst  das  eine  hervorzuheben,  daß.  solange  man 
bei  der  A-Reaktion  bleibt,  die  Täuschungswerte  negativ  ausfallen 
d.  h.  die  Hauptlinie  eine  scheinbare  Verlängerung  erfährt,  indes 
bei  vorgeschriebener  G-Reaktion  die  scheinbare  Verlängerung  all- 
mählich in  eine  scheinbare  Verkürzung  sich  verwandelt.  Die  durch 
G-Reaktion  bedingte  Veränderung  macht  sich  zunächst  an  den 
monochromatischen  Figuren  geltend,  bei  denen  das  Phantasieren 
der  e-Gestalt  durch  die  Farbengleichlieit  zwischen  Hauptlinie  und 
Punkten  nur  begünstigt  werden  kann. 

Graphische  Darstellung  zu  Tabelle  XIX  ab. 


j         1       r        1       .V        i       * 

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1               1               1 

Versucht  man,  sich  die  hier  deutlich  zutage  tretende  Gegen- 
sätzlichkeit zwischen  A-  und  G-Werten  zu  erklären,  so  wird  man 
seine  Aufmerksamkeit  auf  den  Umstand  richten  müssen,  daß  die 
p-Figur  oder  genauer,  der  in  diesem  Falle  gegebene  Komplex  von 
Linie  und  Ki-eisflächen  eine,  wenn  ich  mich  so  ausdiiicken  darf, 
mehrfache  „Gestaltdeutung"  zuläßt,  je  nachdem  die  Kreisflächen  mit 
den  Endpunkten  der  Hauptlinie  oder  untereinander  durch  horizon- 
tale, senkrechte  oder  schiefe  Gerade  verbunden  gedacht  werden.  Da- 
von gehen  uns  zwei  Fälle  an,  der  erste  und  der  dritte.  Sie  er- 
geben nämlich  Gestalten,  die  tatsächlich  entgegengesetzt  wirken: 
im  ei-sten  Fall  eine  e-Figur,  im  dritten  das  Bild  einer  durch  Senk- 


358 


YlTTORIO   BeNüSSI. 


rechte  geteilten  und  infolgedessen  bekanntlich  länger  erscheinenden 
Horizontalen.  Bedarf  auch  die  hier  angedeutete  Erklärung  erst  einer 
näheren  Untersuchung  der  an  einer  p-Figur  zu  beobachtenden 
subjektiv  bedingten  scheinbaren  Veränderungen,  so  spricht  schon 
jetzt  zugunsten  derselben  eine  von  Versuchsperson  A.  S.  (Tabelle 
XIX  ab)  wiederholt  zu  Protokoll  gegebene  Bemerkung,  daß 

1.  das  Phantasieren  einer  e- Gestalt  ihr  schwer  falle,  indes  sie 

2.  bei  vorgeschriebener  Analyse  der  Hauptlinie,  mit  Aus- 
nahme der  letzten  Figur  (Tabelle  XIX  a  Figur  4),  die  Vor- 
stellung einer  Verbindung  der  Punkte  durch  Senkrechte  aUein  oder 
durch  Senkrechte  und  Horizontale  zugleich  nicht  los  werden  konnte. 

Zieht  man  die  Mittelwerte  dieser  Versuchsperson  in  Betracht, 
so  findet  man  darin  eine  Bestätigung  ihrer  subjektiven  Beobach- 
tungen: Bei  A-Reaktion  nähert  sich  der  Täuschungswert  der 
4.,  bei  G-Reaktion  der  der  3.  Figur  der  Null.^) 


Die  im  Sinuc   einer   sclieiubaren  Verläugerung  wirkende  Teilung   einer 


Versuchs- 
person 

Eeaktion : 
G 

A 

Versuchstag 

Figur 

1      1- 

2.     1     3.     1 

4. 

5.  = 

5'. 

Frl.  W.  V.  L. 

Täuschgr. 
Var. 

0,90 

j     0,20 

3,60 

0,40 

3,80 

0,30 

5,7 

0,42 

3,00 

0,22 

0,30 

0,12 

26.  VI.  1904 

(Zahl  der  Einstellungen:  60/ 
,  Graphische  Darstellung. 


l4|:. 

4^> 

4^ 

O 

o 

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2 

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7 

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4- 

3-5 
3 

2-5 

1-3 

1 
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0 

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■ — 

\ 

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dunkdgran- 


roih, 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  359 

Zum  Schluß  muß  ich  hier  noch  hinweisen: 

1.  auf  einen  besonders  deutlichen  Fall  spontaner  Dispo- 
sitionsveränderung (vgl.  Tabelle  XX  a  und  b); 

2.  auf  eine  Reihe  von  Parallelversuchen  mit  Hilfe  der  e-  und 
p-Figm-  (vgl.  Tabelle  XXI). 

Aus  einem  Vergleich  der  e-  und  »^-Kurven  der  XX.  Tabelle 
a  und  b,  mit  der  d-Kurve  der  XXI.  ergibt  sich,  daß  die  Versuchs- 
person Fr.  D.  M.,  mit  der  diese  Versuche  gemacht  wurden,  spontan 
zur  G-Reaktion  hinneigt  (die  in  der  graphischen  Darstellung  zu 
Tabelle  XXI  enthaltenen  Kurven  ß  [A-Reaktion]  und  d  [G-Reaktion] 
weisen  einen  charakteristisch  verschiedenen  Verlauf).  Dabei 
voUzieht  sich  anfangs  eine  an  den  zunehmenden  Täuschungsbe- 
trägen erkennbare  .Steigerung  der  G-Disposition ,  indes  nach  der 


objektiv  gleich  bleibenden  Linie  (in  unserem  Falle  Hauptlinie  einer  e-Figur)  und 
die  dadurch  bedingte  Abschwächuug  der  e-Täuschuug  (vgl.  über  die  durch  Teilung 
bedingte  scheinbare  Verlängerung  Hering,  Beiträge  zur  Physiol.  I.  §  24,  1861,  — 
Mach,  Sitzb.  der  k.  Ak.  der  Wiss.  in  Wien  II.  Bd.  43  (I),  1861,  —  Kündt, 
Annalen  d.  Phys.  u.  Chemie,  Bd.  120,  S.  118,  1863,  —  Aubert,  Phys.  d.  Netzhaut, 
§  119,  1865  —  Messer,  Ann.  d.  Phys.  u.  Chemie,  Bd.  157,  S.  172,  1876,  —  Loeb, 
Über  den  Nachweis  von  Kontrasterscheinungen  im  Gebiete  der  Raumempf.  d. 
Auges.  Pflügers  Archiv  f.  d.  ges.  Phys.  Bd.  60,  S.  516,  —  Bourdon,  La  perception 
visuelle  de  l'espace.  Paris  1902.  S.  296  f.)  geht  auch  aus  folgender  hier  nur 
beispielsweise  angeführten  Versuchsreihe  mit  6  verschiedenfarbigen  e-Figureu 
hervor,  bei  denen  entweder  die  Endpunkte  je  eines  Schenkelpaares  durch  Senk- 
rechte verbunden,  oder  die  Hauptliuien  durch  schwarze  Punkte  in  3  gleiche  Ab- 
schnitte geteilt  wurde  (vgl.  die  voranstehende  graphische  Darstellung).  —  Bei  den 
4  ersten  Figuren  wurde  die  Versuchsperson  aufgefordert  mit  G-,  für  die  2  letzten 
(Fig.  5  und  5)  einmal  mit  G,  das  zweite  Mal  mit  A-  zu  reagieren.  Wie  aus  den 
in  der  graphischen  Darstellung  enthaltenen  Figuren  hervorgeht,  ist  die  aus  der 
Teilung  der  e-Hauptlinie  durch  Senkrechte  resultierende  Gestalt  von  Figur  1  zu 
3  immer  weniger  auffällig ;  sie  bleibt  bei  Figur  4  aus,  indes  in  Figur  5  u.  5'  die 
Teilung  der  Hauptlinie  nicht  durch  Senkrechte,  sondern  durch  einfache  schwarze 
Punkte  hergestellt  ist. 

Die  an  diesen  Figuren  vorgenommenen  Versuche  ergaben  ein  progressives 
Zunehmen  der  Täuschung  von  1  bis  4  und  ein  progressives  Abnehmen  der- 
selben von  4  bis  5'.    Es  besagt  dies  folgendes: 

1.  Die  der  e-Täuschung  entgegengesetzt  wirkende  Teilung  der  e-Hauptlinie 
nimmt,  wie  zu  erwarten  war,  mit  der  Auffälligkeit  der  e-Gestalt  ab. 

2.  Die  Täuschungsherabsetzuug  durch  die  Teilung  der  Hauptlinie  scheint 
eine  größere  zu  sein,  wenn  die  Teilung  nicht  durch  größere  Senkrechte, 
sondern  durch  Punkte  geschieht. 

Darüber  wird  an  anderer  Stelle  Näheres  beizubringen  sein. 


360 


VlTTOKIO   BeNÜSSI. 

Tabelle  XX  a. 


S-Reaktiou 


Vprsnrhs- 

Fortl.  Zahl 

1. 

2. 

3. 

4. 

Versuchstag 

person 

Hauptl. 

weiß 

grau 

weiß 

grau 

Kurve 

Punkte 

weiß 

grau 

grau 

weiß 

Täuschgr. 
Var. 

6,80 

0,40 

7,40 

0,30 

2,80 

0,60 

6,00 

0,50 

25.  V.  1903 

27.  V.  1903 

28.  V.  1903 
30.  V.  1903 

a 

Hauptl. 

weiß 

rot 

weiß 

rot 

Punkte 

weiß 

rot 

rot 

weiß 

Täuschgr. 
Var. 

3,80 

0,60 

6,10 

0,20 

3,40 

0,55 

6,10 

0,42 

ß 

Hauptl. 

weiß 

grün 

weiß 

grün 

Fr.  D.  M. 

Punkte 

weiß 

grün 

grün 

weiß 

Täuschgr. 
Var. 

5,0 

0,30 

7,0 

0,40 

4,50 

0,20 

8,90 

0,22 

y 

Hauptl. 

rot 

grün 

rot 

grün 

Punkte 

rot 

grün 

grün 

rot 

Täuschgr. 
Var. 

6,40 

0,40 

8,50 

0,40 

7,20 

0,20 

9,20 

0,30 

s 

M.  T. 

5,50 

7,25 

4,47 

7,55 

M.  V. 

0,42 

0,32 

0,83 

0,35 

(Zahl  der  Sitzungen :  4,  —  der  Einzelmessungen :  80.) 
TabeUe  XX  b. 


S-Reaktion 


Fortl.  Zahl 

5. 

6. 

7. 

8. 

Versuchstag 

person 

Hauptl. 

rot 

grün 

grün 

rot 

Kurve 

Punkte 

rot 

grün 

rot 

grün 

Täuschgr. 
Var. 

6,50 

0,30 

7,45 

0,20 

6,20 

0,20 

7,95 

0,30 

2.  VI.  1903 

3.  VI.  1903 
5.  VI.  1903 
7.  VI.  1903 

V 

Hauptl. 

Aveiß 

grün 

weiß 

grün 

Punkte 

weiß 

grün 

grün 

weiß 

Täuschgr. 
Var. 

5,30 

0,40 

7,20 

0,20 

4,30 

0,20 

8,45 

0,10 

d- 

Hauptl. 

weiß 

rot 

weiß 

rot 

Fr.  D.  M. 

Punkte 

weiß 

rot 

rot 

weiß 

Täuschgr. 
Var. 

3,52 

0,30 

6,45 

0,20 

3,45 

0,40 

6,35 

0,35 

t 

Hauptl. 

weiß 

grau 

weiß 

grau 

Punkte 

weiß 

grau 

grau 

weiß 

Täuschgr. 
Var. 

5,20 

0,30 

5,60 

0,50 

4,41 

0,20 

7,38 

0,20 

X 

M.  T. 

5,13 

6,67 

4,41 

7,38 

X 

M.  V. 

0,32 

0,27 

0,25 

0,20 

(Zahl  der  Sitzungen:  4,  —  der  Einzelmessungen:  160.^ 


ir 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens. 


361 


vierten  Sitzung  die  Täuschungswerte  abzunehmen  anfangen  (vgl. 
Tabelle  XX  b  und  die  Kurven  »;— x),  bis  schließlich  die  zuletzt  ge- 
wonnene Kurve  x  (Tabelle  XX  b)  den  Verlauf  einer  bei  willkür- 
licher A-Reaktion  erhaltenen  aufweist  (vgl.  Tabelle  XXI,  Kurve  ß). 
Es  zeigt  sich  also  bei  dieser  Versuchsperson  zuerst  eine  G-Dispo- 
sitionserhöhung,  dann  eine  Abnahme  der  G-  und  eine  äußerlich  ver- 
folgbare Zunahme  der  A-Reaktion  (bzw.  der  dazu  führenden  Dispo- 
sitionen). 

Graphische  DarsteUuug  zu  Tabelle  XX  a,  b. 


mm 

1         \       2        \       3        \       i 

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11 
10 
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13 
12 
11 
10 

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V 

V 

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..   . 

1 

Aus   Tabelle  XXI   ist  schließlich  nichts  zu  entnehmen,  was 
gegenüber  den  bisherigen  Resultaten  nicht  zu  erwarten  gewesen 

TabeUe  XXI. 


A-Reaktion 

G-Reaktion 

e-Figur 

e-Fignr 

Fortl.  Zahl 

1.     1    2.        3.     1     4. 

4! 

> 

Fortl.  Zahl 

1  ö. 

6.     1    7. 

8. 

<D 

Hauptl. 

weiß  1  rot     weiß 
weiß  1  rot   |  rot 

rot 

weiß 

Hauptl. 

[weiß 

rot 

weiß 

rot 

^ 

Nebenl. 

Nebenl. 

1  weiß 

rot 

rot 

weiß 

« 

Täuschgr. 
Var. 

3,10 

0,20 

3,80  1  2,80 

0,15    '    0,30 

6,65 
i  « 

0,25 

Täuschgr. 
Var. 

6,00 

1    0,40 

7,45 

0.25 

4,35 

0,30 

9,80 

0,30 

Y 

p-Figur 

p-l^'igur 

Hauptl. 

weiß  1  rot  |  weiß  |   rot   i    . 
weiß  1  rot  |  rot  |  weiß    '"^ 

Hauptl. 

Punkte 

1  weiß  1  rot 

weiß  1  rot  1    . 
rot  1  weiß  1  ^ 

Punkte 

1  weiß  1  rot 

Täuschgr. 
Var. 

1,40 

0,30 

1,25 

0,20 

0,65 

0,40 

2,00 

0,20 

ß 

Täuschgr. 
Var. 

1  3,52 

0,30 

6,45 

0,33 

3,45 

0,40 

6,35 

0,35 

8 

(Zahl  der  Einzelmessungen : 


362 


VlTTOEIO   BeNÜSSI. 


Graphische  Darstellung  zu  Tabelle  XXI. 


TTurv 

1        \       2        \        3       \       ^ 

Curre. 

J        1       6-        1        7         \       8 

10 
9-5 

9 
SS 

8 
1-3 

7 

e-5 

6 

55 
5 
4S 

3-S 
3 
25 

JS 
1 

0-5 

—et 

1 

10 
9-5 

/ 

i           /! 

1          / 

/ 

3 

7J 
7 

6-5 
6 

SS 
5 
iS 

3-5 

3 
3S 

2 
IS 

1 
0-5 

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/ 

/ 

wäre:  Die  p-Figur  ,.täuscht"  weniger  als  die  e-Figur;  dabei  be- 
günstigt sie  die  A-Keaktion.  Die  e-Figur  bedingt  hingegen  all- 
gemein größere  Täusclmngswerte ,  d.  h.  sie  erschwert  die  A-  und 
begünstigt  die  G-Reaktion.  Aus  dem  Vergleich  der  in  Tabelle  XXI 
enthaltenen  Kurven  läßt  sich  diese  Gegensätzlichkeit  ganz  deut- 
lich entnehmen.  Auf  Einzelheiten  braucht  hier  nicht  eingegangen 
zu  werden. 


§  12.   Die  (A-,   G-  und  S-)   Täuschungsgröße   achromati- 
scher helligkeitsgleicher  a-  und  ä-Figurem 

Wenn  es  mir  auch  infolge  äußerer  Umstände  unmöglich 
war,  diese  Figur  eingehender  zu  untersuchen,  als  es  tatsächlich 
geschehen  ist,  so  mögen  die  bereits  gewonnenen  Ergebnisse,  da 
sie  zur  Beantwortung  der  hier  im  Auge  behaltenen  allgemeinen 
Fragestellungen  immerhin  ausreichen  dürften,  nicht  unerwähnt 
bleiben.  Ein  näheres  Eingehen  auf  die  Fragen,  die  sich  aus 
dieser  vorläufigen  Untersuchung  ergeben  haben,  muß  einer  späteren 
Gelegenheit  vorbehalten  werden. 

Die  ersten  von  mir  an  einer  a-  und  ä-Figur  (vgl.  Figur  6) 
angestellten  Versuche  hatten  die  Aufgabe,  festzustellen: 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens. 


363 


1.  die  Abhängigkeit  der  Täuschuiigsgrüße  der  a-  und  der  ä- 
Figur  von  der  Größe  der  Helligkeittsverschiedenheit  der  Figuren 
mit  dem  Grund; 

2.  das  Verhältnis  der  Täuschungsgröße  der  a-  zu  der  der 
ä-Figur.     Und  zwar 

3.  das  eine  wie  das  andere  bei  Unterscheidung  von  A-  und 
G-Reaktion. 


a-Fieur. 


u-Fisrur. 


Figur  6. 
a  b  75  mm  lang,  1  mm  breit ;  ca  =  ac'  =  db  =  b(l'  =  30  mm.     ^  ci  =  ß  =  60°. 

Die  Ergebnisse  dieser  ersten  Versuche  sind  aus  Tabelle  XXII 
(vgl.  die" folgende  Seite)  abzulesen,  sie  lauten: 

1.  Bei  abnehmender  Helligkeitsverschiedenheit  zwischen  Figur 
und  Grund  nimmt  die  Täuschung 

a)  bei  der  a-Figur  ab, 

b)  bei  der  ä-Figur  zu. 

2.  Beim  ^^'eglassen  der  Hauptlinie  (cä-Figur)  wird  die  Täuschungs- 
größe durchschnittlich  auf  die  Hälfte  reduziert.  (Die  Täuschungs- 
werte der  a-Figuren  ergeben  als  Mittel  14.59,  die  der  ä-Figur  7.86.) 


364 


ViTTORIO   BeNÜSSI. 


Überraschend  ist  die  dabei  hervortretende  durchgängige  Gegen- 
sätzlichkeit zur  e-,  (bzw.  e-)  Figur:  Diejenigen  Bedingungen,  die 
bei  der  e-Figur  eine  Erhöhung  der  Täuschung  zur  P'olge  haben, 
bedeuten  für  die  a-Figur  eine  Herabsetzung,  und  umgekehrt.  Bei 
dieser  bringt  die  Z  u  n  a  h  m  e  der  Helligkeits Verschiedenheit  zwischen 
Figur  und  Grund  eine  Herabsetzung,  bei  jener  eine  Erhöhung 
der  Täuschung  mit  sich.  Bei  dieser  involviert  das  Weglassen 
der  Hauptlinie  eine  beträchtliche  Steigerung,  bei  jener  eine 
erhebliche  Herabsetzung  der  Täuschung.  Verhält  sich  schließ- 
lich die  e-Figur  dem  Helligkeitswechsel  gegenüber  indifferent, 
so  zeigt  dagegen  die  ä-Figur  eine  unzweideutige  konstante 
Abhängigkeit  von  demselben. 

Tabelle  XXII. 
G-Reaktion 


a-Figur 

Vers.-Tag 

ä-Figur 

Farbe 

weiß 

grau 

d.grau 
3. 

Farbe         weiß 

grau    d.grau 

Fortl.  Zahl 

1. 

2. 

Fortl.  Zahl       4. 

5.          6. 

Täuschgr. 
Var. 

15,98 

1,57 

14,05 

1,22 

13,75 

0,86 

30.  VIII. 
1903 

Täuschgr.       7,35 
Var.               1,48 

7,89      8,35 

1,22          1,12 

(Versuchsperson  V.  B.,  —  Zahl  der  Eiiizelraessungen :  120.) 

Inwieweit  die  hier  hervorgehobene  Gegensätzlichkeit  in  metho- 
dologischer Hinsicht   von  Wichtigkeit  ist,   wurde  bereits  weiter 


Graphische  Darstellung  zu  Tabelle  XXII. 


mm. 

1         \       2         \      3         \        ^        \        5        \       C 

77777? 

IS 

n 

IS 
15 
Ji 
13 
J2 
11 
10 
9 
H 
7 
6 
S 
> 
3 
2 
1 

18 

n 

16 
lö 

n 

12 

11 

10 

a 

8 

7 
6 
5 
i 
3 
2 
J 

1 

"^ 

V 

■ ■ 

k 

\ 

\ 

\ 

\ 

\  1 

\ 

■ ' 

r- 

\ 

1 

. 

Zur  Psj'chologie  des  Gestalterfassens. 


365 


oben  ^)  gestreift.    Hier  genügt  der  Hinweis  darauf^  daß,  wenn  man 
wie  bisher  stets   geschehen  ist,   als  Untersuchungsmaterial   eine 


aus  einer  e-  und  einer  a-Gestalt  zusammengesetzte  Figur  {^ 


■0 


TabeUe 

XXIIL 

Versuchs- 

a-Figur 

ä-Figur 

Versuchs-  ► 

person 

Farbe          weiü  }  grau 

Farbe 

weiß 

d.grau 

tag      i^ 

Frl.  W.  V.  L. 

Frl.  E.  M. 

V.  B. 

Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 

18,15     10.33 

0,95           0,.S0 

10,0      7,20 

0,65          0,40 

13,0       9,2 

0,55          0,70 

Täuschgr. 

Var.' 
Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 

7,50 

0,85 

1,0 

0,30 

4,0 

0,43 

10,30 

0,60 

3,0 

0,70 

7,5 

0,50 

24.  IX. 
1903 

25.  IX. 
1903 

26.  IX. 
1903 

a 

ß 

r 

M.  T. 

13,71  1  8,91 

M.  T.       1  4,16 

6,93 

0,60 

^ 

M.  V. 

0,71     1     Ofii 

M.  Y. 

0,53 

(Zahl  der  Einzelmessungeu:  120.) 
Graphische  Darstellung  zu  Tabelle  XXIII. 


TrUTL 

1        \       2        \       3        \        ih 

Curve 

20 
10 
18 

n 

16 
15 

13 
13 
11 
10 
9 
8 
7 
5 
5 
i 
3 

1 

—  a. 

\ 

\ 

\ 

\ 

Sv     \ 

\    \ 

\\ 

\\ 

\,     \^ 

N 

/ 

Y 

\, 

/ 

\ 

\. 

/ 

\  \ 

y 

o 

\  \ 

y 

\   \ 

/ 

\ 

\ 

y^ 

\ 

y^ 

gewählt  hätte,  anstatt  die  Bestimmung  der  jeweiligen  Täuschungs- 
grüße für  die  e-  und  a-Figur  getrennt  vorzunehmen,  sich  sämtliche 
Gesetzmäßigkeiten,  die  in  der  vorliegenden  Arbeit  zutage  ge- 
fördert wurden,  der  Feststellung  hätten  entziehen  müssen. 

Zur    Kontrolle    der    Ergebnisse    besprochener    Versuchsreilie 


')  Kap.  I  §  5.    Vgl.  überdies  weiter  unten  III,  Punkt  XXXIX— XLIII. 


366 


ViTTOBIO   BeKUSSI. 


wurde  die  erste  und  dritte  a  und  ä-Figur  3  anderen  Versuchs- 
personen zur  Einstellung  vorgelegt.  Das  Resultat  war  mit  dem 
eben  mitgeteilten  völlig  übereinstimmend  (vgl.  Tabelle  XXIIIj. 

Soviel  zur  Beantwortung  der  sub  1  und  2  aufgeworfenen 
Fragen.  Was  das  sub  3  Gesagte  anlagt,  so  ist  hier  völlige 
Gleichmäßigkeit  mit  der  e-Figur  zu  verzeichnen:  das  Erfassen 
der  Gestalt  führt  eine  Erliöhung,  die  Analj^se  der  Hauptlinie 
(bzw.  Hauptdistanz)  eine  Herabsetzung  der  Täuschungsgröße  mit 
sich  (vgl.  weiter  unten  S.  369 f.,  Tab.  XXV  ab  und  XXVI). 

§  13.  Die  (A-  und  G-)  Täuschungs große  bei  mono-  und 
bichromatischen  helligkeitsgleichen,  und  bei  achro- 
matischen helligkeitsverschiedenen  a-  und  ä-Figuren. 

In  diesem  Zusammenhange  -^i^irden,  zunächst  zur  Feststellung 
der  Farbenwirkung  auf  die  Täuschungsgröße  kurzweg,  zwei  ein- 
ander annähernd  gleichheUe  rote  und  graue  a-  und  ä-Figuren 
untersucht.  Da  die  Täuschung  durch  die  a-Figur  abnimmt,  wenn 
die  Figur  im  Vergleich  zum  Grunde  dunkler  wird,  wurde  die  Farbe 
der  roten  Figur  eben  merklich  dunkler  als  die  der  grauen  gewälilt. 


Tabelle  XXIV. 


a-Figur 


a-Figur 


Versuchs- 
person 


V.  B. 


Frl 

T. 


L. 


Fortl  Zahl  |     1.     |     2. 


Frl.  E.  M 


Hauptl.      I  grau 


Nebenl. 


grau 


rot 
rot 


Täuscbgr. 

Var. 
Täuscligr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 


M.  T. 


M.  V. 


8,16 

11,45 

1,20 

1,S0 

11,30 

15.60 

0,90 

0,85 

7,00 

10,20 

0,-10 

0,5.i 

1  8,82 

12,42 

0,83 

0,90 

(T 


Fortl.  Zahl 
Hauptl. 


Nebenl.      1  grau  |    rot 


Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 


M.  T. 
M.  V. 


Versuchs- 
tag 


2,86 

0,60 

8,20 

0,70 

4,3 

0.32 


5,09 


0,54 


(Zahl  der  Einzelmessungeu :  120.) 


3,42 

0,70 

10,20 

0,50 

6,00 

0,23 


6,54 


0,47 


3.  IX. 

1903 
25.  IX. 

1903 
29.  IX. 

1903 


Ein  eventueller  Einfluß  der  Farbe  im  Sinne  einer  Täuschungs- 
erhöhung konnte  dann  unmöglich  auf  einen  unmerklich  gebliebenen 
aber  trotzdem  wirksamen  Helligkeitsunterschied  zurückgeführt 
werden.  TabeUe  XXIV  enthält  die  mit  3  Versuchspersonen  ge- 
wonnenen Ergebnisse  dieser  ersten  Versuchsreihe. 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens. 


367 


Dabei  fällt  das  eine  auf  den  ersten  Blick  auf,  daß  die 
Täuschungswerte  der  roten  Figur  ausnahmslos  deutlich  größer 
ausgefallen  sind  als  diejenigen  der  gleich  hellen  grauen.  Die  be- 
trächtliche Herabsetzung  der  Täuschung  bei  der  a-Figur  bestätigt 
das  bereits  auf  Grund  der  ersten  Versuchsreihen  (Tabelle  XXII  und 
XXIII)  Festgestellte.  Dabei  ist  nur  auf  den  Umstand  hinzuweisen, 
daß  die  durch  die  rote  Farbe  der  a-Figur  bedingte  Täuschuugs- 
zunahnie  an  der  ä-Figur  in  viel  geringerem  Maße  zu  bemerken  ist. 

Graphische  Darstellung  zu  Tabelle  XXIV. 


mm 

1        \        Z        \        3        \        ^ 

Ciirvc 

J5 
Ji 
13 

11 
10 
9 

8 

- 

1 

-^ß 

A 

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/      k\       \ 

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\\  \ 

Nu  \ 

,^ 

1 — s 

y/ 

\\\  \ 

y 

/ 

\  \ 

e 

5 
3 

1 

-^ 

VV^" 

T 

'■ 

Aus  der  eben  berührten  Täuschungserhöhung  der  a-Figur 
durch  Rot  läßt  sich  eine  neue  Eigenschaft  der  Farben  bestimmen, 
die  ich  als  deren  „gestaltbildenden  Wert"  bezeichnen  möchte. 
Und  zwar  aus  folgendem  Grunde:  ist,  wie  gezeigt  Averden  konnte, 
die  Täuschungsgröße  wesentlich  an  die  Erfassung  der  Gestalt  ge- 
bunden und  fäUt  sie  bei  heUigkeitsgleichen  untereinander  aber 
chromatisch  verschiedenen  Figuren  verschieden  groß  aus,  so  darf 
man  billigerweise  den  Grund  hierfür  in  dem  Umstand  vermuten, 
daß  die  Farbe  das  Erfassen  von  Gestalten  nicht  unbeeinflußt  läßt, 
sondern  dieses  in  verschiedenem  Maße  zu  erleichtern  oder  zu 
erschweren  imstande  ist.  Näheres  darüber  wird  an  anderer  Stelle 
beigebracht  werden. 

Hier  muß  ich  noch  über  einige  Versuche  berichten,   die 
1.    an    monochromatischen    und    achromatischen,    helligkeits- 
gleichen, 


368 


VlTTOBIO   BenUSSI. 


2.  an  achromatischen,  helligkeitsverschiedenen  und  schließlich 

3.  an  bichromatischen,   helligkeitsgleichen  Figuren    angestellt 
worden  sind. 

Die  Ergebnisse   davon   stelle   ich   in   Tabelle  XXV  a   und  b 
zusammen. 

TabeUe  XXVa. 

a-Figur;  G-Reaktion 


Versuchs- 

Fortl.  Zahl 

1. 

2. 

3. 

4. 

Versuchstag 

Hauptl. 

weiß 

grau 

weiß 

grau 

Kurve 

Nehenl. 

weiß 

grau 

grau 

weiß 

V.  B. 

Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 

10,11 

0,50 

14,10 

0.40 

7,80 

0,80 

10,70 

0,30 

6,40 

0,33 

7,70 

0,33 

6,50 

0,25 

8,50 

0,20 

26.  X.  1903 

27.  X.  1903 

« 

ß 

M.  T.       1 

12,10  1 

9,25 

7,05 

7,50 

M.  V. 

0,45 

0,.30 

0,33 

0,22 

y 

(Zahl  der  Einzelmessungeu :  80.^ 
Tabelle  XXVb. 


a-Figur;  G-Reaktion 

Versuchs- 

Fortl.  Zahl 

5. 

6. 

7. 

8. 

Versuchstag 

Hauptl. 

rot 

grau 

rot 

grau 

Kurve 

Nehenl. 

rot 

grau 

grau 

rot 

V.  B. 

Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 

11,45 

0,30 

9,40 

0,30 

8,16 

0,50 

9,20 

0,20 

4,85 

0,40 

5,21 

0,25 

6,81 

0,40 

6,08 

0,22 

3.  IX.  1903 

4.  IX.  1903 

S 

e 

M.  T. 

10,47 

8,68 

5,03  1   6,44 

? 

M.  V. 

0,30 

0,35 

0,32 

0,31 

(Zahl  der  Einzelmessungen :  80.) 


Ad  1.  ist  nichts  Neues  zu  erwähnen.  Wie  bereits  weiter  oben 
(Tabelle  XXII  und  XXIV)  festgestellt  worden  ist,  nimmt  die 
Täuschung  mit  der  Größe  der  Helligkeitsverschiedenheit  zwischen 
Figur  und  Grund  zu;  desgleichen  ergibt  eine  rote  Figur  eine 
größere  Täuschung  als  eine  graue  von  gleicher  Helligkeit. 

Wichtiger  sind  dagegen  die  Ergebnisse  der  sub  2.  angeführten  Ver- 
suche, da  sie  eine  neue  Gegensätzlichkeit  zwischen  der  a-  und  e-Figiu^ 
zutage  treten  lassen.  Es  zeigt  sich  nämlich,  daß  bei  der  a-Figur  sowohl 
eine  Helligkeits-  wie  eine  Farbenverschiedeuheit  zwischen  Haupt- 
und  Nebenlinien,  unter  a  1 1  e  n  U  m  s  t  ä  u  d  e  n  eine  T  ä  u  s  c  h  u  n  g  s  - 
herabsetzung  mit  sich  führt,  ohne  Rücksicht  darauf  einerseits. 


Zur  Ps5'chologie  des  Gestalterfassens. 


369 


ob  die  größere  Helligkeit  der  Hauptlinie  oder  den  Nebenlinien 
zukommt,  andererseits,  ob  die  Farbe  derjenigen  monochromatischen 
Figur,  die  eine  größere  Täuschung  hervorruft,  als  Haupt-  oder  als 
Nebenlinienfarbe  (der  bicliromatischen  Figuren)  in  Verwendung 
kommt  (vgl.  graphische  Darstellung  zu  Tab.  XXV  a  und  b,  Figur  3,  4 
im  Vergleich  mit  1,  2  und  7,  8  im  Vergleich  mit  5,  6).  Bei  der 
e-Figur  konnten  dagegen  die  \^'erte  der  monochromatischen  Figuren 
durcli  bichromatische  (helligkeitsverschiedene)  Figuren  übertroffeu 
werden  und  zwar  dann,  wenn  die  Nebenlinien  der  bichromatischen 
Figur  die  Farbe  derjenigen  monochromatischen  Figur  aufwiesen,  die 
schwächer  täuschte  als  diejenige  Figur,  deren  Farbe  als  Hauptlinien- 
farbe der  bichromatischen  Figur  verwendet  wurde.  Von  den  bichro- 
matischen a-Figuren  ergeben  jene  größere  Täuschungswerte,  deren 
Hauptlinie  die  Farbe  einer  schwächer  wirkenden  monochromatischen 
Figur  hat,  deren  Nebenlinien  dagegen  die  Farbe  einer  stärker 
täuschenden  monochromatischen  Figur  aufweisen.  Dabei  muß  noch 
bemerkt  werden: 

Graphische  Darstellung  zu  Tabelle  XXV  a  und  b. 


mm 

1         \       Z        \       3       \       t 

CuTrre. 

5         \       6         \        7         \        8 

mm. 

IS 
Ji 
13 
12 

n 

10 
9 

a 

e 

s 

* 

3 

1 
0 

IS 
li 
13 
IZ 
11 

10 

s 
s 

7 
6 
S 
i 
3 
2 
1 
0 

\ 

1 

\ 

\<     ^ 

I> 

\ 

X 

\ 

\ 

■nX 

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\ 

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^ 

^ 

f~~o^ 

—             ^ 

^\. 

—  2 

"^ 

^ 

^ 

^^ 

^ 

1.  daß  die  Helligkeitsverschiedenheit  zwischen  Neben-  und 
Hauptlinien  allein  eine  geringere  Täuschungsherabsetzung  zu  be- 
dingen vermag  als  bei  Helligkeitsgleichheit  (zwischen  Haupt-  und 
Nebenlinien)  die  bloße  Farbenverschiedenheit; 

2.  daß  die  Täuschungswerte  entgegengesetzter  bichromatischer, 
helligkeitsgleicher  Figuren   weiter  voneinander  abstehen  als   die 

Meinong,  UntersuGhungen.  24 


370 


ViTTORIO   BeNUSSI. 


entgegengesetzter  achromatischer,  helligkeitsverschiedener  Figuren 
(vgl.  an  der  Hand  der  graphischen  Darstellung  zu  Tabelle  XXV  a,  b 
das  Verhältnis  der  Paare  1-2  zu  3-4;  5-6  zu  7-8,  und  der  Werte 
3  zu  4  und  7  zu  8).  Ein  Umstand,  der  sich  zur  Feststellung 
der  Farbeuaufdringlichkeit  in  besonderem  Maße  eignen  dürfte. 

Die  eben  erwähnten  Vereuche  wurden  bei  vorgeschriebener 
G-Reaktion  angestellt.  Ein  Vergleich  der  Kurvenpaare  a-ß  und  d-e 
die  in  der  Reihenfolge  ö,  e,  ß,  a  gewonnen  werden  (Tabelle  XXV  a  b), 
läßt  eine  deutliche  Übung  der  G-Reaktion  erkennen.  —  In  diesem 
Zusammenhange  seien  noch  zwei  Beispiele  von  Übung  der  A-Reaktion 
angeführt.  Tabelle  XXVI  enthält  die  an  zwei  gleich  hellen  (roten 
und  grauen)  a-Figuren  gewonnenen  Täuschungsbeträge.  In  der 
nächstfolgenden  Tabelle  (XXVII)  sind  dann  die  Täuschungswerte 
einer  a-Figur  denjenigen  einer  gleich  hellen  ä-Figur  gegenübergestellt. 
Dabei  müssen  zwei  Punkte  hervorgehoben  werden,  einmal  (Tab.  XXVI) 
die  allmählichere  Abnahme  der  Täuschungswerte  bei  der  roten  im 
Vergleich  mit  derjenigen  bei  der  gleich  heUen  grauen  Figur;  — 
dann  (Tab.  XXVII)  die  beträchtlich  größere  (relative)  Abnahme  der 
Täuschungsgröße  der  ä-Figur  im  Vergleich  zur  a-Figur. 

TabeUe  XXVI. 


a-Figur;  A-Reaktion 


Versuchsperson 


Farbe  der  Figur 


rot 


grau 


Versuchstag 


V.  B. 


14,45 

14,05 

0,86 

1,22 

13,10 

10,71 

0,87 

0,68 

11,45 

8,16 

0,23 

1,28 

9,40 

8,20 

1,47 

1,00 

Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 

(Zahl  der  Einzelmessuugen :  80.) 


30.  VIII.  1803 

2.  IX.  1903 

3.  IX.  1903 

4.  IX.  1903 


"\Me  ersichtlich,  stimmt  das  an  erster  Stelle  Erwähnte  damit 
überein,  daß  dem  Rot  ein  gestaltbildender  Wert  zugeschrieben 
worden  ist,  denn  durch  die  rote  Farbe  wird  hier  das  Eingreifen 
der  Analyse  erschwert;  das  an  zweiter  Stelle  Gefundene  wird  uns 
dagegen,  wie  später  noch  zu  zeigen  ist,  das  Verständnis  für  die 
bei  der  ä-Figur  eintretende  Täuschungsherabsetzung  zu  erleichtern 
vermögen. 

Damit  schließe  ich  vorläufig  die  Besprechung  dieser  Versuche 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens. 


371 


Tabelle  XXVII. 


A-Reaktion 


a-Figiir 

a-Fig:iir 

Versuchstag 

Vers.-Person  |       Figur 

grau 

Vers.-Person 

Figur       1  grau 

Täuschgr. 

V.  B.                ^'^^ 

Täuschgr. 

Var. 

14,05 

1,22 

9,20 

1,00 

V.  B. 

Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 

7,89 

1,22 

2,86 

0,88 

30.  Vin.  1903 
4.  IX.  1903 

(Zahl  der  Einzelmessungen :  200.) 

ab  und  wende  mich  zur  Mitteilung  einiger  anderer,  die  zum  ex- 
perimentellen Nachweis  zweier,  bis  jetzt  unbeachtet  gebliebener 
Größentäuschungen  angestellt  worden  sind,  denen  man  beim  Er- 
fassen einer  a-  (bzw.  ä-)  Figur  ausgesetzt  ist. 


§  14.  Die  e-Täuschung  der  a-  und  a-Figur. 

Ich  beginne  mit  der  c  d-(c'd'-)Distanz  (vgl.  Fig.  6)  und  der 
Angabe  der  Täuschung,  welcher  man  bei  ihrem  Erfassen  unter- 
worfen ist.  Die  numerischen  Ergebnisse  der  in  diesem  Zusammen- 
hange untersuchten  Figurenpaare  weiß-grau  und  grau-rot  stelle  ich 
in  Tabelle  XXVIII  a  und  b  zusammen.  Sie  lassen  sich  in  folgen- 
den Sätzen  zusammenfassen: 

Tabelle  XXVIII  a. 


a-Figur 

a-Figur 

Vers.-Pers.          Farbe       |  weiß 

grau 

Farbe       1  weiß     grau     Vers.-Tag 

V.  B. 

Frl.  W.  V.  L. 

Frl.  E.  M. 

Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 

-5,0 

1,00 

-7,16 

0,90 

-18,63 

1,10 

-8,0 

1,40 

-10,26 

0.85 

—23,0 

1,50 

Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 

-7,8  "-8,10 

1,70          1,90 

—7,33   —9,0 

1,00          0,90 

—24,0-29,6 

1,04      1     1,50 

30.   VIII. 

1903 

29.  IX. 

1903 

25.  IX. 
1903 

M.  T. 

10,26    13,75 

M.  T.         13,04  i  15,60 

M.  V. 

1,00 

1,25 

M.  V. 

0,90     1     1,43 

(Zahl  der  Einzelmessungen:  120.) 

1.  Bei  achromatischen  heUigkeitsgleichen  Figuren  erscheint 
die  c-d-Distanz  allgemein  beträchtlich  kleiner,  als  sie  tatsächlich 
ist.  Es  gilt  dies  für  die  a-  ebenso  wie  für  die  ä-Figur.  Der 
einzige  Unterschied  besteht  darin,  daß  die  Täuschung  der  ä-Figur 
etwas  größer  ist  als  die  der  a-Figur. 

24* 


372 


ViTTOBIO   BeNUSSI. 


2.  Die  scheinbare  Verkürzung  der  c-d- Distanz  nimmt  bei 
achromatischen  Figuren  mit  der  Abnahme  ihrer  Helligkeitsver- 
schiedenheit gegenüber  dem  Grund,  zu.  Und  zwar  gilt  dies  wieder 
für  beide  Figurentypen  a  und  ä.  Die  Täuschungsgröße  bei  dieser 
Distanz  richtet  sich  also  nach  der  für  die  e-Figur  konstatierten 
Gesetzmäßigkeit  und  bildet  somit  einen  Gegensatz  zur  Täuschung 
der  Hauptdistanz  (a-b)  einer  a-Figur  sowohl  was  ihre  Richtung 
als  auch  was  ihre  Gesetze  anlangt. 

TabeUe  XXVIII  b. 


a-Figur 

ä-Figur 

Vers.-Pers. 

Farbe 

rot      grau 

Farbe 

rot      grau 

Vers.-Tag 

V.  B. 

Frl.  W.  V.  L. 

Frl.  E.  M. 

Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var 

—3,15 

2,01 

-9,60 

0,70 

-20,45 

0,70 

-3,2 

1,80 

-12,0 

0,90 

-23,30 

1,00 

Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 

—0,95 

1,50 

-10,83 

0,70 

—20,0 

0,75 

—3,25 

0,70 

-11,30 

0,80 

-24,0 

0,92 

3.  IX. 

1903 
25.  IX. 

1903 
28.  IX. 

1903 

M.  T. 

11,06    12,08 

M.  T. 

10,59 

12,80 

M.  V. 

1,13 

1,23 

M.  Y. 

0,9ö 

0,80 

(Zahl  der  Einzelmessungen :  120.' 


3.  Dieser  Gegensatz  tritt  auch  in  dem  umgekehrten  Verhältnisse 
der  Täuschungswerte  roter  zu  denen  grauer  Figuren  von  annähernd 
gleicher  Helligkeit  hervor.  Während  die  rote  Farbe  die  schein- 
bare Länge  (Verlängerung)  der  a-b-Distanz  noch  um  Beträchtliches 
vermehrt,  erscheint  durch  sie  die  c-d-Distanz  noch  mehr  verkürzt, 
als  dies  bei  der  grauen  Figur  der  Fall  ist. 

Die  eben  berührte  Gegensätzlichkeit  erklärt  sich  daraus,  daß 
sich  beim  Erfassen  der  c-d-Distanz  die  eine  Hälfte  einer  e-Gestalt 
mitaufdrängt.  Daß  die  scheinbare  Länge  der  c-d-Distanz  dadurch 
eine  Verkürzung  erfährt,  ist  nun  selbstverständlich.  Ihre  absolute 
Größe  wird  sich  dann  nach  der  Prävalenz  der  a-  oder  der  e-Ge- 
staltvorstellung  richten,  indem  sich  jene  im  Sinne  der  Täuschungs- 
abschwächung,  diese  im  Sinne  einer  Täuschungssteigerung  geltend 
machen  wird.  Fehlt  einer  a-Figur  die  Hauptlinie,  so  bedeutet 
dieser  Umstand  für  das  Erfassen  .eine  Bevorzugung  der  e-  gegen- 
über der  a-Gestalt;  sind  die  Figurenschenkel  rot,  so  wird  die  a- 
Gestalt  (-Vorstellung)  sich  aufdringlicher  erweisen,  weil  in  diesem 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  373 

Falle  die  zweite  (untere  oder  obere)  Hälfte  der  a-Gestalt  (die 
von  a-b  aus  eine  halbe  a-Figur  darstellt)  durch  die  Aufdringlich- 
keit der  Farbe  ihrer  Bestandstücke  selbst  eine  Aufdringlichkeits- 
steigerung  erfährt.  Demnach  befindet  sich  also  in  diesem  Falle 
die  Vorstellung  der  a-Gestalt  im  Vorteile  gegenüber  der  Vor- 
stellung der  e-Gestalt  und  wirkt  der  scheinbaren  Verkürzung  (der 
c-d-Distanz)  entgegen. 

Desgleichen  dürfte  sich  aus  diesem  Wettstreite  der  beiden 
(e-  und  a-)  Gestaltvorstellungen  die  bei  sehr  langen  Schenkeln 
eintretende  Täuschungsabschwächung  der  a-b-Distanz  an  a-Figuren 
erklären  lassen.  Es  käme  dann  nocli  der  Umstand  in  Betracht, 
daß  durch  die  übermäßige  Länge  der  Schenkel  eine  (subjektive)  Un- 
zusammengehörigkeit  zwischen  Hauptlinie  und  Schenkeln  bedingt 
wird,  die,  analog  dem  Falle,  wo  die  Hauptlinie  fehlt,  im  Sinne 
einer  Täuschungsherabsetzung  wirken  muß.  Verhält  sich  die 
Sache  so,  wie  sich  hier  aus  den  gefundenen  Tatsaclien  berechtigter- 
weise vermuten  läßt,  so  wäre  der  Rekurs  auf  unbewußt  bleibende 
Bewegungsvorstellungen  oder  auf  eine  nicht  näher  zu  präzisierende 
Kontrasterscheinung  überflüssig  und  eine  gekünstelte  Hypothese 
durch  einen  tatsächlichen  Zusammenhang  anderwärts  festgestellter 
Tatsachen  ersetzt.  Die  Entscheidung  dieses  Punktes  ist  selbstver- 
ständlich in  letzter  Instanz  von  einer  genaueren  Untersuchung  der 
Gesetzmäßigkeiten,  denen  die  Täuschung  durch  die  c-d-Distanz 
unterworfen  ist,  abhängig,  und  kann  daher  einstweilen  nicht  ge- 
troffen werden. 

Soviel  über  die  an  einer  a-Figur  bemerkbare  e-Täuschung. 

§  15.  Die  Winkelt  aus  chung  der  a-Figur. 

Eine  weitere  Täuschung  (der  Kürze  wegen  als  Winkeltäuschung 
bezeichnet)  betrifft  den  Abstand  je  zweier  rechts  oder  links  gelegener 
Schenkelendpunkte  (c-c',  d-d' ;  Fig.  6)  voneinander.  Derselbe  erscheint 
bald  größer,  bald  kleiner,  wahrscheinlich  je  nachdem  man  beim 
Erfassen  dieses  Abstandes  auch  die  gegebene  Winkel-  (bzw.  Drei- 
eck-) Gestalt  erfaßt  oder  nicht;  dort  läge  nun  ein  Fall  von  Über- 
schätzung spitzer  Winkel  bzw.  eine  Größentäuschung  durch  eine 
a-Figur,  hier  dagegen  ein  Fall  einer  MüLLER-LvERschen  Täuschung 
an  einer  nur  zur  Hälfte  gegebenen  e-Figur  vor.    Angesichts  dieses 


374 


ViTTORIO    BeNüSSI. 


Tatbestandes  lassen  sich  die  bei  der  Untersuchung  des  Winkel- 
•erfassens  zum  Vorschein  kommenden  Widersprüche  ^}  erklären,  — 
nämlich  aus  dem  Umstände,  daß  bei  derartigen  Untersuchungen 
die  Gestaltzweideutigkeit,  die  zwei  sich  in  einem  Endpunkte  be- 
rührende Gerade  aufweisen,  unbeachtet  geblieben  ist.  Darüber 
wird  an  anderer  Stelle  näheres  beigebracht  werden.  Hier  muß 
ich  mich  mit  diesem,  wenn  auch  an  tatsächlichen  Ergebnissen 
dürftigen,  methodologisch   doch  wichtigen  Hinweis  auf  die  beim 

Tabelle  XXIX  a. 


Figvar 

a 

ä     1      a     1      a 

Versuchstag 

Versuchs- 
person 

Farbe 

weiC 

weiß    d.grau  d.grau 

Kurve 

Fortl.  Zahl 

1. 

2.     1     3.          4. 

Frl.  W.  V.  L. 
Frl.  E.  M. 

Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 

+5,7 

0,90 

+1,3 

0,30 

+10,0 

1,05 

-2,3 

0,50 

+3,3    +6,3 

0,80          0,99 

-0,7     -3,3 

0,45          0,30 

3.  X. 

1903 

27.  IX. 

1903 

ß 

(Zahl  der  Einzelmessungen :  80.) 

Winkelerfassen  sich  eventuell  einstellende  Gegensätzlichkeit  der 
Resultate  begnügen.  Diese  Gegensätzlichkeit  tritt  in  den  Ergeb- 
nissen meiner  zwei  Versuchspersonen  deutlich  genug  zutage  (Tab. 
XXIX  a  und  b).  Auch  zeigt  sich  dabei,  daß  die  Farbe  der  Schenkel 
oder  das  gleichzeitige  Mitgegebensein  eines  stumpfen  Winkels 
(Versuche  an  der  a-Figur)  das  Erfassen  des  spitzen  Winkels  in 
seiner  Adäquatheit  zu  beeinflussen  vermögen. 

^)  Vgl.  Hering,  Beiträge  zur  Physiologie.  1.  Heft.  Vom  Ortssinne  der 
Netzhaut  (1861).  Kundt,  Untersuchungen  über  Augenmaß  und  optische  Täuschungen. 
Pogg.  Ann.  Bd.  120,  S.  118  (1863).  Blix,  Die  sogenannte  Poggendorffsche 
optische  Täuschung.  Skandin.  Archiv  f.  Phys.  XIII.  S.  215  (1902).  Lipps, 
Ästhetische  Faktoren  der  Raumauschauung,  in  Beiträge  zur  Psych,  u.  Phys. 
der  Sinnesorgane  (Festschrift  für  Helmholtz).  Leipzig  1891.  S.  217  ff.  Bbentano, 
Über  ein  optisches  Paradoxon.  Zeitschr.  f.  Psych.  5,  S.  61.  Jasteow,  A  Study 
of  ZöLLNEbs  Figures  and  other  Related  lUusions.  Americ.  Jouru.  o f.  Psych. 
4  (3),  S.  331  ff.  Delboeüf,  Sur  une  nouvelle  Illusion  optique.  Rev.  scientifique 
51,  S.  237;  Bulletins  de  l'Acad.  loyale  du  Belgique.  1865.  S.  195.  Überhorst, 
Eine  neue  Theorie  der  Gesichtswahrnehmung.  Zeitschr.  f.  Psych.  13,  S.  54. 
Zehender,  Über  geom. -optische  Täuschungen.  Zeitschr.  f.  Psych.  20,  S.  65. 
GuYE,  in  Handelingen  v.  h.  4te  Nederl.  Nat.  en  Geneesk.  congres.  Bl.  236. 
Richter  u.  Wämser,  Experimentelle  Unters,  der  beim  Nachzeichnen  von  Strecken 
und  Winkeln  entstehenden  Größenfehler.    Zeitschr.  f.  Psych.  Bd.  35,  S.  321ft. 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfasseus. 


375 


Tabelle  XXIX  b. 


Figur 

a           a           a           a 

Versiichs- 
person 

Farbe 

rot        rot    1  grau  1  grau 

Versuchstag ,      Kurve 

Fortl.  Zahl 

5.          6. 

7.      i     8. 

i 

Frl.  W.  V.  L. 
Frl.  E.  M. 

Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 

+4,30 

0,80 

-2,1 

0,20 

+7,0 

0,70 

—3,20 

0,40 

+4,3 

0,90 

-2,7 

0,40 

+5,5 

0,50 

-4,3 

0,33 

5.  X. 

1903 

27.  IX. 

1903 

ß 

(Zahl  der  Einzelmessungen:  80.' 


Graphische  Darstellung  zu  Tabelle  XXIX  a  und  b. 


TTUTO 

1 

z 

3 

4- 

5 

6 

7 

8 

Curre. 

+10 
+  9 
+  Ä 

- 

\ 

\ 

+  7 
+  * 

\ 

/ 

\ 

f 

\ 

y 

^^«.^^ 

/ 

\ 

^^ 

_ 

\ 

^^ 

^^ 

r 

\ 

^ 

+  J 
+  2 
+  J 
0 
-1 

-3 

v 

\ 

\ 

y 

X 

\, 

y 

\^ 

N 

/ 

\, 

^^^ 

^>->,^ 

___ 

N 

^ 

-"^ 

\ 

-  S 
-6 
-7 

^S 

ß 

-a 

-9 



Das  Erg'ebnis  dieser  Voruntersuchung-  der  beim  Erfassen  der 
cc'-  bzw.  dd'-Distanz  (Fig.  6)  entstehenden  Täuschung  können  wir 
folgendermaßen  ausdrücken : 

Wie  die  p-Figur  so  vermag  auch  eine  ^Mnkelgestalt  Täu- 
schungen nach  entgegengesetzten  Richtungen  hervorzurufen;  diese 
Verschiedenartigkeit  der  Ergebnisse  wird  aUer  Wahrscheinlichkeit 
nach  darin  ilireu  Grund  haben,  daß  die  genannte  Distanz  auf 
zweierlei  Art  erfaßt  werden  kann,  einmal  als  Verbindungslinie 
der  Schenkelendpunkte  einer  erfaßten  Winkelgestalt,  ein  andermal 
als  Hauptlinie  einer  nur  zur  Hälfte  gegebeneu  e-Figur.  Dieser 
Gestaltzweideutigkeit  muß  eine  Untersuchung  des  Winkelerfassens 


376  ViTTOBio  Benüssi. 

prinzipiell  Rechnung  tragen,  um  definitive,  unzweideutige  Resultate 
erreichen  zu  können. 


§  16.  Die  MÜLLER-LYERsche  und  die  ZÖLLNERsche 

Täuschung. 

Da  im  folgenden  (theoretischen)  Teil  auf  die  Gleichartigkeit 
der  ZÖLLNERschen  und  MüLLER-LYERschen  Täuschungsfiguren  hin- 
zuweisen sein  wird,  und  andererseits  die  hier  festgestellten  Tat- 
sachen zum  Verständnis  einiger  an  der  ZöLLNERschen  Figur  be- 
obachteten aber  unerklärt  gebliebenen  Erscheinungen  beizutragen 
imstande  sein  dürften,  so  empfiehlt  es  sich,  beim  Verwandten  und 
Gegensätzlichen  im  Verhalten  der  ZÖLLNERschen  und  Müller-Lyer- 
schen  Figur,  was  deren  Abhängigkeit  sowohl  von  der  G-  und  A- 
Reaktion  wie  von  der  Farbe  anlangt,  kurz  zu  verweilen. 

Es  ist  herkömmlich,  sich  auch  über  ganz  beträchtliche  Unter- 
schiede von  absoluten  Versuchsdaten,  wenn  nur  das  Verhältnis  der- 
selben untereinander  genügend  konstant  ist,  mit  dem  bloßen  Hin- 
weis auf  individuell  verschiedene  „Konstanten"  oder  auf  allgemeine 
Dispositionsveränderungen  des  Subjektes  hinwegzusetzen.  Erklärt 
werden  derartige  Schwankungen  dadurch  aber  sicherlich  nicht: 
solange  nicht,  bis  man  die  Natur  der  in  Betracht  kommenden  ver- 
änderlichen Disposition  näher  bestimmen  kann.  So  sind  im  be- 
sonderen auch  die  bei  der  Untersuchung  der  ZÖLLNERschen  Figur 
auftretenden,  oft  sehr  großen  Schwankungen  der  absoluten  Täu- 
schungsbeträge unerklärt  geblieben.  Die  an  der  MÜLLER-LYERschen 
Figur  gewonnenen  Ergebnisse  bezüglich  der  wesentlichen  Rolle, 
die  beim  Erfassen  der  gegebenen  Figur  die  subjektive  Reaktions- 
art, bestimmt  durch  den  Gegensatz  von  Analyse  (A)  und  Gestalt- 
erfassung (G),  zu  spielen  vermag,  bieten  uns  nunmehr  ein  Mittel 
zum  Verständnis  solcher  Schwankungen  dar:  Sie  gehen  aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  auf  das  Vorwiegen  der  A-  oder  G-Reaktion 
zurück.  Werden  diese  zwei  Reaktionen  nach  Möglichkeit  aus- 
einandergehalten, so  trifft  man  derartige  regellose  Schwankungen 
nicht  mehr  an.  Die  Täuschungswerte  werden  im  Laufe  mehrerer 
Sitzungen,  je  nach  der  vorgeschriebenen,  d.  h.  vielmehr  betätigten 
Reaktion,  bei  steigerungsfähiger  G-  und  A-Disposition  zu-  oder 
abnehmen,  dagegen  bei  steigerungsunfähiger  A-  und  G-Disposition 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens. 


377 


konstant  bleiben;  sie  werden  mit  einem  Worte,  wenn  sie  nicht 
selbst  konstant  bleiben,  immerhin  eine  in  ihrer  Richtung 
konstant  bleibende  Veränderung  aufweisen. 

Tabelle  XXX. 


Forti.  Zahl 

1.    1    2.        3.        4.        5. 

6. 

7.        8.        9.       10. 

Hauptl. 

rot  1  grün 

schw.  gelb  schw. 

blau 

blau  Ischw.l  gelb    viel. 

Kurve 

Transv. 

blan  schw. '  grün     rot  {  blau 

rot 

schw.'  gelb  1  schw.  schw. 

1 "       1 

Tänschgr. 

Var. 
Tänschgr. 

Var. 

9,30    8,50 

0,30        0,20 

8,0     7,30 

0,70        0,30 

11,20 

0,20 

8,0 

0,20 

6,0 

0,15 

4,5 

0,15 

12,00 

0,40 

9,0 

0,45 

8,7 

0,33 

6,7 

0,15 

8,0 

0,20 

6,0 

0,15 

11,30  i  5,20    9,50 

0,20       0,22        0,15 

8,90     2,8  1  6,30 

0,10    !     0,0         0,20 

a 

ß 

Grapliische  Darstellung  zu  Tabelle  XXX. 


TTun 

j\2\3\i.\s\e\7\8\9\J0 

Cum 

IS 

Ji 

12 
U 
10 

X 

\ 

/ 

„^ 

y^ 

\ 

/ 

—  X 

S 

/ 

\ 

k,         " 

--— „^ 

/  y 

^^__^.^— — "^ 

N.            \ 

\ 

/ 

7 
6 
5 

\       \ 

x 

..^ 

/ 

'~p 

\ 

\ 

i 
3 

*• 

1 

Finden  sich  in  den  Yersuchsprotokolleu  meiner  Zöllner- 
Untersuchung  Kiu'ven  von  zunehmender  Höhe,  wie  z.  B.  die  an 
dieser  Stelle  angefühi^ten  (Tabelle  XXXI  und  XXXII),  so  sind  sie 

TabeUe  XXXI. 


Fortl.  Zahl 

1. 

2. 

3. 

4. 

5. 

6. 

7. 

8.        9.       10. 

Hauptl. 

gelb 

viol. 

rot 

grau '  schw. 

rot 

grau 

grün 

grau  '  gelb 

Kurve 

Transv. 

rot 

rot 

viol. 

schw. 

grau 

grau 

rot 

grau 

grün  grau 

Tänschgr. 

3,5 

3,8 

2,5 

5,3 

3,0 

2,0 

4,3 

3,3 

3,0 

2,2 

Var. 

0,30 

0,70 

0,20 

0,10 

0,30 

0,40 

0,30 

0,40 

0,0 

0,10 

" 

Tänschgr. 

4,2 

o,o 

4,2 

6,7 

3,8 

3,5 

5,3 

3,7 

3,8 

3,4 

ß 

Var. 

0,20 

0,30 

0,10 

0,10 

0,20 

0,30 

0,30 

0,10 

0,20 

0,22 

Tänschgr. 

7,0 

6,0 

6,1 

7,6 

4,6 

4,3 

8,5 

5,0 

5,5 

3,8 

Var. 

0,15 

0.30 

0,10 

0,20 

0,35 

0,15 

0,25 

0.10 

0,20 

0,33 

y 

378 


ViTTORIO   BenUSSI. 


als  Fülg-e  einer  spontan  sich  vollziehenden  Steigerung  der  (i- 
Eeaktion  zu  verstehen.  Und  umgekehrt  sind  die  abnehmenden 
"Werte  anderer  Reihen  (vgl.  hier  ein  Beispiel  in  Tabelle  XXX)  das  Er- 
gebnis einer  sich  spontan  vollziehenden  Steigerung  der  A-Reaktion. 

Graphische  Darstellung  zu  Tabelle  XXXI. 


TTtTTL 

l\2\3\'jr\5\6\l\s\o\in 

CUTTe 

10 

9-5 

9 

8-5 

8 
7S 

7 
65 

6 
SS 

S 

* 
Jv5 
3 

2S 

IS 

1 
OS 

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\ 

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j\ 

\, 

\ 

L-/^ 

\ 

Versuche,  die  an  der  ZÖLLNEEschen,  PoGGENDOEFFschen  und  an 
einer  der  ZöLLNEEschen  ähnlichen  ^)  Figur,  bei  Unterscheidung  von 

TabeUe  XXXII. 


Fortl.  Zahl 

1. 

2. 

3. 

4. 

5. 

1     6.      !     7. 
1             1 

Hauptl. 

schw. 

rot 

grün 

grau 

gelb 

violett!  blau 

Kurve 

Transv. 

schw. 

rot 

grün 

grau 

gelh 

violett   blau 

Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Vav.  ^ 

6,2 

0,0 

8,7 

0,3 

4,2 

0,3 

6,0 

0,50 

5,0 

0,0 

5,5 

0,0 

2,0 

0,0 

3,0 

0,30 

5,5 

0,0 

7,3 

0,30 

3,5        5,5 

0,0      !      0,2 

6,0     1    7,0 

0,4      i      0,0 

« 
ß 

G-  und  A-Reaktion  angestellt  wurden,  berechtigen  nun  zur  Be- 
hauptung, daß 

1.  die  im  Laufe  dieser  Arbeit  festgestellte  Abhängigkeit  der 

*)  Vgl.  für  die  hier  gemeinte  „verschobene  Schachbrettfigur",  diese  Unter- 
suchungen VI,  §  3. 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfasseiis. 


379 


Täuschung  von  dem  Erfassen  der  Gestalt  nicht  für  die  Müller- 
LYERsche  Figuv  allein,  sondern  für  sämtliche  Täuschungsfiguren 
in  Anspruch  genommen  werden  muß,  und  daß  daher 

2.  die  ZöLLNERsche,  MÜLLER-LYERsche  und  ähnliche  Täuschungen 
als  Täuschungen  gleicher  Xatur  zu  betrachten  sind. 

Graphische  Darstellung  zu  Tabelle  XXXII. 


TTurv 

1         \       2        |j|4-         \       5        \       6        \       1 

CuTve, 

8-5 
8 

-■s 

7 
6S 

6 
SS 

5 

ts 

* 

3 

2S 
2 

ts 

^ 

.— .  /? 

\ 

\ 

\ 

V 

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^            \ 

\ 

^ 

\ 

"~~--^,,^ 

\ 

\ 

^ 

^ 

Daraus  ergibt  sich  folgendes,  das  Erfassen  von  bestimmten 
Gestalten  zunächst  betreffendes  Gesetz: 

Die  scheinbare  räumliche  Bestimmung  der  eine  Gestalt  fun- 
dierenden Bestandstücke  ist  von  dem  Erfaßt-  oder  Nicliterfaßt- 
werden  dieser  Gestalt  in  hohem  Maße  abhängig. 

Diese  durch  das  Erfassen  der  allfälligen  Gestalt  bedingte 
Verschiebung  der  subjektiven  räumlichen  Bestimmtheit  einzelner 
Gestaltbestandstücke  wird  selbstverständlich  nicht  bei  jeder  be- 
liebigen Figur  in  gleichem  Maße  stattfinden;  sie  wird  vielmehr 
unter  Umständen  untermerklich  bleiben  oder  nur  bei  genauerem 
Zusehen  zu  erkennen  sein.  Davon  überzeugt  man  sich,  sobald 
man  irgend  einen  gegebenen  Komplex  von  Linien  oder  Punkten 
zur  Bildung  verschiedener  Gestalten  (bzw.  deren  Vorstellungen  zur 
Produktion  von  verschiedenen  Gestaltvorstellungen)  verwendet. 
Dazu  genügen  z.  B.  drei  Punkte,  die  in  gleicher  Entfernung  von- 
einander stehen  und  deren  imaginäre  Verbindungslinien  gleiche 
Winkel  einschließen.  Die  Distanz  zwischen  je  zwei  Punkten 
scheint  eine  andere  zu  sein,  je  nachdem  man  auf  Grund  der  ge- 


ggQ  ViTTORio  Benüssi. 

gebenen  Punkte  ein  Dreieck  oder  einen  spitzen  Winkel  erfaßt  und 
dementsprechend  eine  bestimmte  Punktdistanz  einmal  als  Seite 
eines  Dreieckes  und  ein  andermal  als  Öffnung  eines  Winkels  be- 
trachtet (bzw.  auf  ihre  Läng-e  hin  schätzt).  Nur  daraus,  daß  die  3 
Punkte  sozusagen  gestaltmehrdeutig  sind  und  die  Bildung  der  je- 
weiligen Gestaltvorstellung  eine  Änderung  der  scheinbaren  Lage 
der  Punkte  mit  sich  führt,  läßt  sich  eine  derartige  Veränderlichkeit 
verstehen. 

Indem  ich  auf  die  Übereinstimmungen  und  Verschiedenheiten, 
die  die  MÜLLER-LTEEschen  und  die  ZÖLLNERschen  Figuren  in  ihrer 
Abhängigkeit  von  der  Farbe  aufweisen,  zurückkomme,  muß  ich, 
außer  der  bereits  erwähnten  Übereinstimmung  dieser  zwei  Figuren 
in  ihrer  Abhängigkeit  von  der  A-  und  G-Eeaktion,  noch  auf 
folgendes  hinweisen: 

1.  Stellen  wir  diese  zwei  Täuschungsflguren  in  ihrer  Abhängig- 
keit von  der  Helligkeitsverschiedenheit  zwischen  Figm*  und  Grund 
einander  gegenüber,  so  müssen  wir  zwischen  e-  und  a-,  bzw.  e- 
und  ä-Figuren  unterscheiden.  Wir  finden  nämlich,  daß  helligkeits- 
gleiche ZÖLLNERsche  (z-)  und  a-Figuren  sich  der  Helligkeitszu- 
oder  -abnähme  gegenüber  ähnlich,  z-  und  e-Figuren  dagegen 
entgegengesetzt  verhalten.  Eine  Verschiedenheit,  die  wie 
oben^)  gezeigt  worden  ist,  auch  zwischen  e-  und  a-Figuren  be- 
steht: die  z-  und  die  a-Figuren  ergeben  bei  abnehmender  Hellig- 
keitsverschiedenheit  gegenüber  dem  Grunde  abnehmende,^)  die 
e-  und  ä-Figuren  dagegen  zunehmende  Täuschungswerte. 

2.  Gehen  wir  von  den  helligkeitsgleichen  zu  den  helligkeits- 
verschiedenen Figuren  über,  so  finden  wir,  daß  z-  und  e-Figuren 
sich  als  gleichartig,  z-  und  a-Figuren  dagegen  als  gegensätzlich 
erweisen.  Für  die  z-  und  e-Figuren  nimmt  die  Täuschungsgröße 
mit  zunehmender  Helligkeitsverschiedenheit  der  Nebenlinien 
und  abnehmender  Helligkeitsverschiedenheit  der  Hauptlinie 
gegenüber  dem  Grund  zu  und  umgekehrt.  Ein  Täuschungs- 
maximum liegt  dann  bei  ebenmerklichen  Hauptlinien  und  maxi- 
maler  Helligkeit   der   Nebenlinien,    ein   Täuschungsminimum   bei 


')  Vgl.  §  6  lind  12. 

^)  Wie  die  bei  sehr  geringer  Helligkeitsverschiedenbeit  sich  einstellende 
Erhöhung  der  Täuschung  einer  z-Figur  (vgl.  Zeitschr.  f.  Psych.  29,  S.  264,  Ver- 
suchsreihe II)  zu  verstehen  ist,  wird  au  anderer  Stelle  zu  berühren  sein. 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  381 

maximaler  Helligkeit  der  Hauptlinien  und  ebenmerkliclier  der 
Nebenlinien  vor;  für  die  a-Figur  tritt  dagegen  unter  solchen  Um- 
ständen immer  ein  Minimum  an  Täuschungsgröße  ein. 

3.  Was  die  Abhängigkeit  der  Täuschungswerte  vom  Farben- 
wechsel betrifft,  läßt  sich  hier  nur  folgendes  verzeichnen:  Gehen 
mit  dem  Farbenwechsel  deutliche  Helligkeitsverschiedenheiten 
Hand  in  Hand,  so  richtet  sich  die  Täuschung  nach  den  für  hellig- 
keitsverschiedene Figuren  geltenden  Gesetzmäßigkeiten;  sind  da- 
gegen die  Farben  der  beiden  Arten  von  Linien  gleich  hell,  so 
scheint  sich  die  monochromatische  e-Figur  durch  den  Farben- 
wechsel nicht  beeinflussen  zu  lassen,  wohl  aber  die  a-,  und  mit 
ihr  die  z-Figur.  —  Bichromatische  Figuren  scheinen  meistens  eine 
Täuschungsherabsetzung  mit  sich  zu  führen.  Dabei  machen  sich 
immerhin  am  deutlichsten  individuelle  Besonderheiten  geltend.  Er- 
geben monochromatische  Figuren  verschiedener  Farbe  gleiche  Werte, 
so  bleibt  diese  Gleichheit  sowohl  für  die  e-,  als  für  die  a-  und  z- 
Figur  nicht  mehr  bestehen,  sobald  man  mit  diesen  an  und  für  sich 
gleich  stark  wirkenden  Farben  bichromatische  Figuren  herstellt. 


11.  Theorie. 

§    17.    Sinnes-   und   Produktions  Vorstellung.     Sinnes- 
und Produktionstäuschung. 

Indem  ich  mich  anschicke,  diejenigen  Hilfsgedanken  darzu- 
legen, von  denen  ich  meine,  daß  sie  am  natürlichsten  (d.  h.  mit  der 
verhältnismäßig  größten  Wahrscheinlichkeitsevideuz  und  verhält- 
nismäßig kleinsten  Hypotheseulast)  sowohl  die  vor  der  gegen- 
wärtigen Untersuchung  "als  die  erst  im  Laufe  derselben  gemachten 
Beobachtungen  und  Feststellungen  über  die  MüLLER-LvERsche 
Figur  in  geordneter  Art  zusammenzuhalten  und  zu  erklären  ver- 
mögen, knüpfe  ich  an  die,  wie  ich  an  anderer  Stelle  gezeigt  habe,^) 
auch  nach  den  allgemeinen  Untersuchungen  von  Witasek  noch 
immer  offengebliebene  Frage  nach  einer  näheren  Bestimmung  der 
ihrer  Natur  nach  freilich  innerhalb  des  Vorstellungsgebietes  fallen- 


^)  Vgl.  meine  Untersuchungen  „Über  den  Einfluß  der  Farbe  auf  die  Größe  der 
ZöLLNERSchen  Täuschung."    A.  a.  0.  S.  385  ff. 


382  ViTTORIO   BeNUSSI. 

den   geometrisch-optischen  Täuschungen  an.^)     Und   zwar   werde 
ich  in  den  folgenden  Paragraphen  zu  zeigen  versuchen: 

1.  Aus  welchem  Grunde  sich  eine  nähere  Determination  der 
Täuschungsnatur  innerhalb  des  Vorstellungsgebietes  noch  als  un- 
umgänglich notwendig  erw^eist; 

2.  mit  Hilfe  welcher  Kriterien  eine  derartige  Bestimmung  be- 
rechtigterweise vollzogen  werden  dart"; 

3.  worin  die  Ursache  der  vorliegenden  und  ähnlicher  Täu- 
schungen erblickt  werden  muß. 

Am  einfachsten  werden  sich  die  zwei  ersten  der  eben  ange- 
führten Fragen  beantworten  lassen,  wenn  wir  von  der  Betrachtung 
der  in  der  Aufschrift  dieses  Paragraphen  bereits  angegebenen 
Gegensätze  ausgehen.  Der  erste  derselben  betrifft  Vorstellungen,  die 
ihr  Entstehen  einer  kausalen  Beziehung  zwischen  einem  reiz- 
fähigen, realen  Gegenstande  und  einem  Sinnesorgane  verdanken, 
gegenüber  solchen,  die  ihr  Entstehen  auf  eine  durch  Einwirkung 
eines  Reizes  hervorgerufene  Sinnesbetätigung  nicht  zurückdatieren 
können,  weil  die  ihnen  zugeordneten  Gegenstände  reizunfähig, 
d.  h.  realitätslos  (ideal)  sind.  Als  Beispiele  der  ersten  Gruppe 
von  Vorstellungen  seien  hier  die  von  Farben  und  Tönen  ange- 
führt; dagegen  gehören  zur  zweiten  Gruppe  beispielsw^eise  die 
Vorstellung  der  zwischen  violett  und  grün  bestehenden  Verschieden- 
heit, die  einer  auf  einer  Anzahl  von  Tönen  aufgebauten  Melodie 
und  so  auch  die  einer  durch  eine  Mehrheit  von  „Orten"  getragenen 
Gestalt  u.  dgl.  m. 

Durch  Betätigung  des  Gesichts-  und  Gehörssinns  gelangen  wir 
zu  Farben-,  Orts-  und  Tonvorstellungen,  wir  können  aber  auf  Grund 
dieser  Betätigung  allein  nicht  über  diese  relativ  einfachen  Vor- 
stellungen hinaus.    Die  weitere  Arbeit,  die  geleistet  w^erden  muß, 

')  Dem  Satze  „Die  ZöLLNERsche  und  die  mit  ihr  verwandten  geometrisch- 
optischen Täuschungen  sind  nicht  Urteils-  sondern  Empfindungstäuschungen"  mit 
dem  WiTASEK  seine  theoretischen  Ausführungen  beschließt,  kann  ich,  wie  aus  dem 
Folgenden  zu  entnehmen  sein  wird,  nur  insofern  beistimmen,  als  auch  meiner 
Überzeugung  nach  die  geometrisch-optischen  Täuschungen  keine  Urteilstäuschungen 
sind,  nicht  aber  darin ,  daß  sie  Empfinduugstäuschungeu  Avären.  Ebensosehr  be- 
zweifle ich  —  wie  aus  den  später  augeführten  Kriterien  hervorgehen  wird  — 
daß  es  je  möglich  sein  wird,  die  Tatsachen  des  Farbeukontrastes  und  der  geo- 
metrisch-optischen Täuschungen  „unter  einer  Formel  zu  erfassen"  (Witasek  a.  a.  0. 
S.  174). 


Znr  Psychologie  des  Gestalterfasseus.  383 

damit  man  zur  Vorstellung  einer  Verschiedenheit,  einer  Melodie 
oder  einer  Gestalt  gelangt,  ist  keineswegs  die  Leistung  eines 
Sinnesorganes,  sondern  die  einer  Betätigung,  die  sich  an  die  durch 
die  Sinne  gebotenen  Vorstellungen  anschließt  und  die  in  ganz  ge- 
eigneter Weise  als  „Produktion"  bezeichnet  wird.^)  Da  es  also 
zwei  ihrer  Provenienz  nach  so  verschiedene  Vorstellungsarten  gibt, 
ist  es  auch  notwendig,  jede  gegebene  Vorstellung,  ehe  sie  einer 
weiteren  Prüfung  unterzogen  wird,  im  Hinblicke  auf  diese  Ver- 
schiedenheit entweder  als  Sinnes-  oder  als  Produktionsvorstellung 
zu  bestimmen.    So  auch  in  unserem  gegenwärtigen  Falle. 

Wollen  wir  nun  zur  Beantwortung  der  oben  an  erster  Stelle 
angeführten  Frage  die  Vorstellung  der  hier  in  Betracht  kommenden 
Täuschungsligur  auf  diese  Weise  näher  charakterisieren,  so  läßt 
sich  dies  aus  der  Natur  ihres  Gegenstandes  als  einer  Gestalt  un- 
zweideutig entnehmen.  Denn,  da  die  Gestalt  ein  idealer  Gegen- 
stand ist  und  die  Vorstellung  eines  solchen  nur  durch  Produktion 
hervorgebracht  werden  kann,  so  kann  die  Vorstellung,  die  uns 
das  Erfassen  der  MÜLLER-LYEEschen  Figur  ermöglicht,  eben  nur 
durch  Produktion  entstanden  gedacht  werden. 

Ist  der  Gegensatz  von  Sinnes-  und  Produktionsvorstellung  er- 
kannt, so  wird  uns  der  weitere  Gegensatz  von  Sinnes-  und  Pro- 
duktionstäuschung keine  Schwierigkeit  mehr  bieten. 

Sich  täuschen  heißt  falsch  urteilen.-)  ^\'ird  über  die  Be- 
schaffenheit eines  Gegenstandes  ein  falsches  Urteil  gefällt,  so  muß 
dies  unter  allen  Umständen  auf  eine  Inadäquatheit  der  aUfäUigen 
Vorstellung  zurückgehen  —  den  Fall  nicht  ausgeschlossen,  in 
dem  das  Urteil  deswegen  falsch  ausfällt,  weil  man  sich  den  in 
Betracht    kommenden    Gegenstand    nicht    genau    genug    besehen 


^)  Vgl.AMESEDER,ÜberVorstellungsproduktiou,(lieseUntersuchungeiiVIII. 

^)  Es  hat  daher  wohl  seine  Berechtigung  in  diesem  Sinne ,  aber  auch  nur  in 
diesem  Sinne,  zu  sagen  (vgl.  C.  Kreibig,  Über  den  Begriif  „Sinnestäuschung". 
Zeitschr.  für  Phil.  u.  phil.  Kritik,  ßd.  120  (2),  197—203  [1902])  „jede  Täuschung 
sei  psychologisch  eine  Urteilstäuschuug",  es  ist  aber  ebenso  klar,  daß  durch  einen 
solchen  Satz  weder  unsere  Kenntnis  über  das  Charakteristische  der  einzelneu 
Täuschuugsfälle  noch  über  die  Täuschungsursachen  die  geringste  Erweiterung 
erfährt.  Denn  es  bleibt  in  diesem  Falle  immer  noch  d  i  e  Aufgabe  ungelöst,  zu  be- 
stimmen, aus  welchem  Grunde  es  eigentlich  zu  einem  falschen  Urteile  kommt. 
Erst  nach  Erkenntnis  dieses  Grundes  wird  mau  das,  was  hier  psychologisch  vor- 
liegt und  zu  einem  falschen  Urteile  führt,  seiner  Natur  gemäß  benennen  können. 


3g4  ViTTOBIO   BeNUSSI. 

hat.  Bedaif  nun  die  inadäquate  Vorstellungsvoraussetzung  eines 
Urteils  zu  ihrem  Entstehen  einer  Sinnes-  sowohl  wie  einer 
Produktionsbetätigung-,  ^)  so  kann  in  dem  konkreten  Fall  die  vor- 
handene Inadäquatheit  auf  eine  mangelhafte  Sinnes-  so  gut  wie 
auf  eine  unzureichende  Produktionsbetätigung  zurückgehen. 

Es  gibt  nun  inadäquate  Vorstellungen,  bei  denen  wir  in  der 
Lage  sind,  zu  erkennen,  welcher  der  beiden  Fälle  vorliegt ;  die  Frage 
ist  des  weiteren  die,  ob  sich  aus  ihnen  genügende  Kriterien  ge- 
winnen lassen,  mit  deren  Hilfe  man  in  zweifelhaften  Fällen  ent- 
scheiden kann,  ob  eine  gegebene  Vorstellungsinadäquatheit  durch 
die  Sinne  oder  die  Produktion  bedingt  wird.  Es  sei  eine  solche  Ent- 
scheidung an  einem  Beispiel  versucht. 

Wird  ein  graues  Papier  einmal  auf  einen  blauen,  dann  auf 
einen  weißen  und  schließlich  auf  einen  schwarzen  Grund  gelegt, 
so  erscheint  es  das  eine  Mal  gelblich,  das  zweite  Mal  dunkler 
und  das  dritte  Mal  heller,  als  es  in  „Wirklichkeit"'  ist.  Wird 
nun  im  x4.nschlusse  an  das  Gesehene  das  eine  Mal  das  Urteil  über 
das  Vorhandensein  einer  Farbe  (gelb),  das  andere  Mal  über  das 
Bestehen  einer  Helligkeitsverschiedenheit  zwischen  den  hinter- 
einander gesehenen  grauen  Feldern  gefällt,  so  werden  beide  Urteile 
falsch  sein,  denn  das  Grau  war  in  sämtlichen  Fällen  ein  und  dasselbe. 

Vom  psychologischen  Standpunkte  aus  betrachtet  weisen  diese 
Urteile  nichts  Abnormes  auf.  Für  das  Erkennen  sind  sie  jedoch 
unbrauchbar,  was  von  dem  Umstände  herrührt,  daß  sie  auf  Grund 
inadäquater  Vorstellungen  gefällt  werden.  Und  zwar  geht  die 
Inadäquatheit  beider  hier  in  Betracht  kommenden  Vorstellungen 
auf  unangemessene  Sinnesbetätigung  zurück.  Die  Ursache  des 
abnormen  Ausfallens  der  Farbenempfindung  im  ersten  Falle  (graues 
Viereck  auf  blauem  Grunde)  liegt  in  der  antagonistischen  Farben- 
induktion; —  im  zweiten  FaUe  (Aufhellung  bzw.  Verdunkelung 
eines  objektiv  gleich  bleibenden  Feldes  durch  die  schwarze  bzw. 
weiße  Umgebung)  hat  man  zunächst  eine  (dem  tatsächlich  vor- 
liegenden Gegenstande  gegenüber)  inadäquate  Verschiedenheitsvor- 
steUung,  also  eine  inadäquat  ausgefallene  Produktionsvorstellung, 
vor  sich,  denn  obwohl  Gleichheit  vorliegt,  wird  nicht  eine  Gleich- 
heits-,  sondern  eine  VerschiedenheitsvorsteUung  produziert. 


^)  Was  bei  Vorstellunffen  idealer  Gegenstände  immer  der  Fall  ist. 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  385 

Diese  Inadäquatheit  kommt  aber  nicht  auf  Piechiiung  der  Pro- 
duktionsarbeit (in  diesem  Falle  auf  die  des  „Vergleichens"),  sondern 
vielmelir  auf  die  abnorme  Sinnesbetätiguug ,  welche  für  ein  und 
dasselbe  Grau  die  Yorstellung-eu  von  einem  helleren  und  von  einem 
dunkleren  (als  das  gegebene)  hervorbringt.  Daß  die  Vorstellungen 
der  miteinander  verglichenen  Grau  voneinander  verschieden  aus- 
fallen, ist  auf  antagonistische  Helligkeitsinduktion  zurückzuführen, 
indes  das  Vergleichen  selbst,  das  zur  Produktion  einer  Ver- 
schiedenheitsvorstellung und  zu  einem  sich  daran  anschließenden 
affirmativen  Urteile  führt,  sich  unter  den  gegebenen  Umständen 
ganz  normal  und  korrekt  vollzieht. 

Solche  Täuschungen,  die  auf  Empfindungsinadäquatheit  zurück- 
gehen, weisen  Merkmale  auf,  die  für  alle  gleichartigen  charakte- 
ristisch sind. 

1.  Sie  sind  an  den  Reiz  gebunden  und  können  nur  auf  dem  Wege 
einer  Eeizveränderung  modifiziert  oder  aufgehoben,  nicht  aber  von 
selten  des  Subjektes  beeinflußt  werden.  Solange  (um  bei  dem  oben 
angeführten  Beispiele  zu  verbleiben)  die  blaue  Umgebung  einer 
grauen,  durch  Farbeninduktion  gelblich  erscheinenden  Fläche  nicht 
beseitigt  ist,  wird  das  graue  Feld  unter  allen  Umständen  gelblich 
gesehen.^)  Auch  wird  ein  eventuelles  Wissen,  daß  die  in  Betracht 
kommende  Fläche  nicht  gelblich,  sondern  grau  ist,  das  Aus- 
sehen derselben  nicht  ändern  können,  so  wenig  auch  ein  solches 
Wissen  die  Überzeugung,  daß  das  gesehene  Feld  gelb  sei,  auf- 
kommen läßt. 

2.  Sie  sind  durch  den  Reiz  eindeutig  bestimmt;  d.  h.  durch 
ein  gegebenes  Reizmaterial  kann  nur  eine  Täuscliung  bestimmter 
Art  hervorgerufen  werden.  Es  ist  beispielsweise  unmöglich,  mit 
Hilfe  einer  blauen  Umgebung  ein  graues  Feld  anders  als  gelblich 
zu  sehen.  Um  ihm  eine  andere  scheinbare  Farbe  zu  verleihen, 
muß  man  die  Farbe  seiner  Umgebung  ändern. 

3.  Sie  sind  ihrer  Größe  nach  prinzipiell  unbegrenzt,  d.  h.  die 
Inadäquatheit  der  ihnen  zugrunde  liegenden  Empfindungen  kann 


^)  Dasselbe  gilt  selbstverständlich  für  das  oben  zu  zweit  angeführte  Beispiel 
einer  auf  Empfindungsinadäquatheit  zurückgehenden  inadäquaten  Produktions- 
vorstellung, denn  auch  hier  wird  die  Inadäquatheit  der  produzierten  (Verschieden- 
heits-)  Vorstellung  nur  durch  Veränderungen  an  dem  vorliegenden  Reizmaterial 
zu  beseitigen  sein. 

Meinong,  Untersuchungen.  25 


386  ViTTORIO   BeNCSSI. 

ihrer  Natur  nach  immer  wieder  gesteigert  werden,  soweit  beispiels- 
weise die  Sättigung  der  blauen  Umgebung  einer  grauen  Fläche 
ohne  Ende  gesteigert  gedacht  werden  kann.  In  ihrer  Natur  liegt 
keine  Begrenzung. 

4.  Sie  werden  durch  Übung  nicht  verändert.  "Wird  etwa 
die  Größe  einer  Farbeninduktion  an  einem  bestimmten  Indi- 
viduum auch  noch  so  oft  experimentell  bestimmt,  so  wird  die 
Wiederholung  der  Versuche,  solange  die  Versuchsbedingungen 
dieselben  bleiben,  keine  Änderung  der  Eesiütate  mit  sich  führen. 
Die  Größe  der  Induktionswirkung  wird  weder  erhöht,  noch  herab- 
gesetzt; die  Größe  der  Täuschung  ist  A^on  deren  Wiederholung 
unabhängig. 

Wenn  wir  diese  vier  Kriterien,  1.  das  Gebundensein  an  den 
Keiz,  2.  die  Einseitigkeit  der  Täuschungsqualität  (bzw.  -richtung), 
3.  die  natürliche  Unbegrenztheit  der  Täuschungsgröße,  4.  die  In- 
differenz der  Täuschungsgi^öße  gegenüber  deren  wiederholtem  Ein- 
treten, auf  unseren  gegenwärtigen  TäuschungsfaU  anzuwenden  ver- 
suchen, so  finden  wir,  daß  kein  einziges  davon  für  denselben  gilt. 

1.  Die  von  uns  betrachtete  Täuschung  ist  insoweit  von  der 
Beschaffenheit  der  (Inferiora-)  Reize  unabhängig,  als  sie  bei  kon- 
stant bleibendem  Reize  sowohl  erhöht  als  herabgesetzt  werden, 
sowohl  ein  Maximum  als  ein  Minimum  erreichen  und  trotz  der 
verschiedenartigsten  Reizbedinguugen  gleich  groß  ausfallen  kann.^) 
Sie  hängt  also  nicht  am  Reize  und  ist,  so  weit  wenigstens  als  der 
Beobachter  die  A-  oder  G-Reaktion  willkürlich  einzuleiten  ver- 
mag, willkürlich  beeinflußbar. 

2.  Es  gibt  bestimmte  reizfähige  Komplexe,  bei  deren  Erfassen 
trotz  ihrer  Konstanz  nicht  eine,  sondern  zwei  und  zwar  einander 
entgegengesetzte  Täuschungen  entstehen  können.-j  Die  Täuschung 
ist  also  in  solchen  FäUen  durch  den  Reiz  nicht  eindeutig  bestimmt ; 
sie  kann  sich  vielmehr  trotz  der  Konstanz  dieses  letzteren  nach  ent- 
gegengesetzten Richtungen  äußern. 

3.  Einer  Reizveränderung  von  konstantbleibender  Richtung 
entspricht   für   die   hier    untersuchte   Täuschung    keine   in    ihrer 


»)  Vgl.  Abschnitt  L  §  11,  Tab.  XXU  (2  und  7,  Kurve  «  und  S),  —  §  6,  Tab.  II 
und  III,  —  §  7,  Tab.  IV,  V  und  VI,  —  §  11,  Tab.  XX  a.  b;  und  unten,  Unter- 
suchung VI.  über  die  verschobene  Schachbrettfigur,  Tab.  I. 

^)  Vgl.  Abschnitt  I,  §  11,  Tab.  XIX  a,  b  und  §  13,  Tab.  XXIX  a,  b. 


Znr  Psychologie  des  Gestalterfassens.  387 

Eichtiing  konstant  bleibende  Täuschungsveränderiing :  dies  tritt 
sowolü  bei  Variation  des  Neigungswinkels  der  Nebenlinien  zur 
Hauptlinie,  als  bei  progressiver  Zu-  oder  Abnahme  der  Neben- 
linienlänge ein,  wobei  von  einer  gegebenen  "Winkelgröße  und  von 
einer  gegebenen  Nebenlinienlänge  an  ein  Umschlag  in  der  Ver- 
änderungsrichtung der  Täuschungsgröße  zu  bemerken  ist.^)  Man 
kann,  mit  anderen  Worten,  über  eine  bestimmte  Grenze  nicht 
hinaus:  Die  Täuschung  ist  ihrer  Natur  nach  begrenzt,  und  zwar 
einerseits  durch  die  A-,  andererseits  durch  die  G-Reaktion. 

4.  Setzt  man  sich  wiederholt  der  Täuschung  aus,  so  ist  dies 
nicht  nur  für  die  Größe  der  Täuschung  von  außerordentlichem 
Belang,  sondern  es  vermag  diese  sogar  nach  zwei  einander  ent- 
gegengesetzten Richtungen  zu  beeinflussen;  es  treten  also  Übungs- 
erscheiuungen  auf,  deren  Verlauf,  je  nach  der  wiederholten  Be- 
trachtungweise, eine  verschiedene  Richtung  einsclilägt.'-) 

Aus  der  Unauwendbarkeit  der  für  die  Sinnestäuschung  auf- 
gestellten Kriterien  auf  den  gegenwärtigen  Täuschungsfall  folgt 
also  unzweideutig  genug,  daß  die  Inadäquatheit  unserer  Vor- 
stellung der  MÜLLER-LvERscheu  Figur  nicht  auf  Inadäquatheit 
ihrer  Inferiorainhalte  zurückgeführt  und  sie  also  nicht  als  Emp- 
findungstäuschung hingestellt  werden  kann.  Sie  muß  daher  als 
eine  Produktionstäuschung  angesehen  werden.  Dadurch  ist  gesagt, 
daß  die  Inadäquatheit  der  Vorstellung  auf  eine  Anomalie  desjenigen 
Prozesses  zurückgeführt  werden  muß,  der  in  Anschluß  an  die  ge- 
gebenen Inferiorainhalte  zur  Bildung  der  SuperiusvorsteUung  führt. 

Unsere  nächste  Aufgabe  ist  nun.  zu  untersuchen,  ob  die  für 
die  MÜLLER-LvERsche  Figur  festgestellten  und  eben  in  Erinnerung 
gebrachten  allgemeinen  Gesetzmäßigkeiten  mit  der  Produktions- 
these verträgUch  sind  oder  nicht. 

1.  Ist  die  Täuschung,  wie  nach  der  Produktionsli5i)othese  an- 
genommen werden  muß,  au  die  Produktion  der  Gestalt  Vorstellung 
gebunden,  so  wird  sie  bei  G-Reaktion  verhältnismäßig  groß,  bei 
A-Reaktion  hingegen  verhältnismäßig  klein  ausfallen.  Was  auch 
tatsächlich  der  FaU  ist.-"*) 


*)  Vgl.  Heyjians  Quantitative  Untersuchungen  üher  das  „optische  Paradoxon". 
Zeitschr.  f.  Psychologie  Bd.  9,  S.  220-225. 
^)  Vgl.  hauptsächlich  ohen  I,  §  7. 

•■')  Vgl.  oben  I.  §  6,  Tab.  II  n.  III.  —  §  8.  Tab.  Vm  u.  IX.  —  §  9.  Tab.  XII  usw. 

25* 


3g8  ViTTORIO   BeNÜSSI. 

2.  So  selbstverständlich  eine  Reaktion  bestimmter  Art  (A-  oder 
G-Reaktion)  nicht  bei  den  ersten  Versuchen  schon  völlig  rein  zu 
erwarten  ist,  so  selbstverständlich  wird  sie  sich  im  Laufe  mehrerer, 
im  selben  Sinne  gehaltener  Versuchsreihen  vollkommener  gestalten, 
d.  h.  sie  wird  sich  üben  lassen.  Dieser  Übung  sind  aber,  wie  sich 
aus  der  Natur  der  verlangten  Reaktionen  ergibt,  Grenzen  gesteckt : 
nach  oben  durch  vollkommenes  Erfassen  der  Gestalt  (Erreichung 
eines  Maximums  der  Täuschungsgröße),  nach  unten  hin  durch  reine 
Analyse  der  HauptÜnie  (Erreichung  eines  Minimums,  Täuschungs- 
größe =  0).  Übungserscheinungen  sind  also  nach  der  Produktions- 
hypothese  geradezu  als   etwas  Selbstverständliches  zu   erwarten.^) 

3.  Ebensogut  verträgt  sich  die  Täuschungszweideutigkeit  be- 
stimmter Komplexe  mit  der  Produktionsdeutung.  Lassen  sich  näm- 
lich mit  Hilfe  eines  bestimmten  Inferiorenkomplexes  nicht  eine, 
sondern  zwei  verschiedene  Gestalten  erfassen,  so  liegt  nichts  Be- 
fremdliches darin,  daß  die  zwei  verschiedenen  Gestalten,  bzw.  die 
entsprechenden  (Produktions-)  Vorstellungen  zu  verschiedenartigen 
Täuschungen  führen.  Die  Erklärung  für  die  trotz  konstant 
bleibendem  Reize  eventuell  auch  entgegengesetzt  ausfallenden 
Täuschungen  ist  dann  durch  die  Mehrheit  der  auf  Grund  der- 
selben Inferiorenvorstellungen  produzierbaren  (Superius-)  Gestalt- 
vorstellungen gegeben. 

Die  Täuschungszweideutigkeit  eines  gegebenen  reizfähigen 
-Inferiorenmaterials  geht  also  auf  die  durch  dasselbe  ermöglichte 
Gestaltzweideutigkeit  zurück,  und  steht  mit  der  ProduktionshjT)0- 
these  vöUig  im  Einklänge. 

4.  Desgleichen  ist  ferner  die  weiter  oben  sub  3  angeführte  Be- 
grenztheit der  Täuschung  durch  die  Produktionsdeutung  erklär- 
lich, indem  bei  fortschreitender  Verlängerung  oder  Verkürzung 
der  Nebenlinien  und  bei  Zu-  oder  Abnahme  der  Neigung  der 
Nebenlinien  zur  Hauptliiiie  das  Erfassen  der  Gestalt  bis  zu 
einer  bestimmten  Grenze  erleichtert,  hierauf  aber  erschwert  wird,  — 
womit  gesagt  ist,  daß  im  ersten  Falle  unwillkürlich  die  G-,  im 
zweiten  die  A-Reaktion  betätigt  wird,  was  eine  Erhöhung  bzw. 
eine  Herabsetzung  der  Täuschung  zur  Folge  hat.  Andererseits 
sind,  wie  berührt,  der  Täuschung  selbst  dadurch  Grenzen  gezogen, 


Vgl.  oben  I,  §  7,  Tab.  IV,  V,  VI  u.  VII. 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  389 

daß  bei  vollkommen  einheitlichem  Erfassen  der  Gestalt  eine 
Steigerung  dieser  Einheitlichkeit  nicht  mehr  möglich  ist,  eben- 
sowenig wie  eine  Leistungssteigerung  der  A-Reaktion,  sobald 
die  gänzliche  Loslösung  der  Hauptlinie  von  ihrer  Umgebung  ge- 
lungen ist. 

Schließlich  sind  Beeinflußbarkeit  der  Täuschung  durch  will- 
kürliche Betätigung  der  A-  und  G-Reaktion  und  willkürliche  pro- 
gressive Steigerung  oder  Herabsetzung  durch  G-  oder  A-Übung 
aus  dem  bereits  Gesagten  ohne  weiteres  verständlich. 

Nachdem  kein  einziger  der  angeführten  allgemeinen  Züge  der 
hier  in  Betracht  kommenden  Täuschung  mit  der  Produktions- 
deutung unverträglich  ist,  alle  vielmehr  aus  derselben  zu  ver- 
stehen sind,  erscheint  die  Behauptung,  daß  die  MüLLER-LYERsche 
Täuschung  ihrer  psychologischen  Natur  nach  eine  Produkt] ons- 
täuschung  ist,  völlig  berechtigt. 

Läßt  sich  mit  dem  Hinweis  auf  den  Produktionsvorgang  die 
allgemeine  Frage  bezüglich  der  Natur  der  uns  hier  beschäftigenden 
Täuschung  in  befriedigender  Weise  beantworten,  so  entsteht  nun 
die  weitere  Frage,  worin  der  Grund  für  den  inadäquaten  Ausfall 
der  Produktionsvorstellung  zu  suchen  ist  und  wie  im  einzelnen 
die  im  Laufe  der  gegenwärtigen  und  früheren  Untersuchungen 
festgestellten  Tatsachen  an  der  Hand  dieser  Auffassung  ver- 
standen werden  können. 

Bevor  ich  auf  diesen  Punkt  eingehe,  muß  ich  hier  im  Literesse 
späterer  Ausführungen^)  ganz  kurz  auf  die  Mehrdeutigkeit  des 
Terminus  „Urteilstäuschung"  hindeuten  und  bei  der  Anwendungs- 
berechtigung desselben  für  die  geometrisch-optischen  Täuschungen 
verweilen. 


§  18.  Über  die  Bedeutung  des  Terminus 
„  U  r  t  e  i  1  s  t  ä  u  s  c  h  u  n  g " . 

Unter  Voraussetzung  eines  gegebenen  Wissens  kann  man  zu- 
nächst in  zwei  Hinsichten  von  einer  Urteilstäuschung  reden. 

1.  Man  kann  damit  meinen,  die  einem  zu  erfassenden  Gegen- 
stande  zugeordnete  Vorstellung  werde   durch  ein  gegenständlich 


')  Vgl.  unten  IV,  §  24,  25  u.  SO. 


390  ViTTOBIO   BeNÜSSI, 

bestimmtes  Wissen,  d.  h.  durch  das  Gegenwärtig-sein  eines  aktuellen 
Überzeugungszustandes  derart  beeinflußt,  daß  sie  anders  ausfällt, 
als  es  ohne  das  Mitwirken  jenes  Urteiles  der  Fall  wäre  [Fall  I.]. 
Dabei  wären  immer  noch  zwei  Möglichkeiten  zu  unterscheiden: 
Die  Modifikation  der  in  Betracht  kommenden  Vorstellung   könnte 

a)  durch  das  Wissen  (welches  selbstverständlich  Wissen  von 
etwas  sein  wird)  selbst,  [Fall  la]  bedingt  werden, 

b)  durch  diejenigen  Inhalte,  die  in  dem  betreifenden  Sub- 
jekte vorhanden  sein  müssen,  damit  sein  Wissen  gegenständlich 
determiniert  sei  [Fall  Ib.].  Ein  Drittes  ist  unmöglich,  außer  man 
woUe  behaupten,  die  Vorstellung,  mit  deren  Hilfe  wir  die  Be- 
schaflfenheit  eines  Gegenstandes  inadäquat  erfassen,  sei  selbst 
adäquat;  dies  würde  aber  einen  Verzicht  auf  die  Evidenz  der 
inneren  Wahrnehmung  bedeuten.^) 

2.  An  zweiter  Stelle  kommt  diejenige  Begründung  der  „Be- 
zeichnung" „Urteilst aus c hu ng"  in  Betracht,  die  sich  auf  den 
Gedanken  stützt,  man  könne  sich  nicht  täuschen,  ohne  zu  urteilen, 
jede  Täuschung  sei  daher  „psychologisch"  eine  „Urteilstäuschung",  — 
eine  Position,  die  unlängst,  wie  oben  berührt,  von  Kreibig-)  ver- 
treten wurde  [Fall  IL]. 

Zu  solchen  und  ähnlichen  Erklärungen,  bzw.  Benennungs- 
vorschlägen muß  ich  folgendes  bemerken: 

ad  la  und  Ib.  An  und  für  sich  läßt  sich  gegen  diese  zwei 
Fälle  nichts  Prinzipielles  einwenden.  Als  möglich  wird  man  sie 
wohl  hinnehmen  müssen,  wobei  jedenfalls  der  Fall  Ib  als  der  eher 
erwägungswerte  erscheinen  dürfte.  Das  eine  ist  aber  sicher,  daß 
in  diesen  Fällen  das  Vorhandensein  der  Täuschung  an  das 
Vorhandensein  eines  (selbstverständlich  falschen)  Urteils  ge- 
bunden sein  und  mit  der  Beseitigung  dieses  letzteren  selbst  ver- 
schwinden müßte.  Tritt  dies  nicht  ein,  so  ist  der  Täuschungs- 
grund anderswo  als  auf  dem  Gebiete  der  Überzeugungs- 
betätigung  zu  suchen.  —  In  unserem   Falle,    dem   der  Müller- 


^)  Damit  ist  selbstverständlich  nicht  gemeint,  daß  die  Adäqnatheit  einer 
Vorstellung  auf  Grund  der  inneren  Wahrnehmung  erkennbar  sei ;  durch  innere 
Wahrnehmung  weiß  man  in  unserem  Falle  nur,  daß  die  Vorstellung,  die  mau 
von  der  Länge  einer  e-Hauptlinie  hat,  verschieden  ist  von  derjenigen  der  ent- 
sprechenden a-Hauptlinie. 

2)  Vgl.  a.  a.  0.  S.  197  ff. 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfasseus.  391 

LYEEscheii  Figur,  müßte  also  die  Täuschung  verschwinden,  sobald 
in  dem  jeweiligen  Subjekt  die  Überzeugung  hervorgerufen  wird,  daß 
die  Hauptlinien  der  gegebenen  e-  und  a-Figur  gleich  sind.  Dies 
tritt  aber  keineswegs  ein.  Trotz  eines  derartigen  "Wissens  er- 
scheinen die  zwei  Hauptliuien  noch  immer  verschieden  lang.  In 
betreff  seiner  Erkenntnis  wird  sich  das  Subjekt  nicht  mehr 
täuschen  lassen,  es  wird  die  Vorstellungen  der  zwei  Hauptlinien 
nicht  mehr  zur  Beurteilung  der  tatsächlichen  Länge  dieser  letzteren 
verwenden;  verschieden  lang  werden  ihm  aber  die  zwei  Haupt- 
linien noch  immer  erscheinen.  Es  wird,  mit  anderen  Worten,  eine 
inadäquate  Vorstellung  nicht  mehr  als  Voraussetzung  eines  psycho- 
logisch wohl  korrekt  gebildeten,  für  die  Erkenntnis  aber  in- 
folge der  Inadäquatheit  seiner  Vorstellungsunterlage  unbrauch- 
baren Urteiles  verwenden;  dadurch  aber,  daß  es  sich  dessen  ent- 
hält, wird  wohl  das  falsche  Urteil,  nicht  aber  die  inadäquate 
Vorstellung  beseitigt. 

ad.  II.  „Täuschen"  wird  man  sich  freilich  nur  dann,  wenn 
die  gegebenen  Vorstellungen  zum  Erfassen  der  tatsächlich  vor- 
liegenden „AVirklichkeit"  verwendet  werden,  d.  h.  nur  dann,  wenn 
mit  Hilfe  gerade  jener  Vorstellungen  ein  Urteil  gefällt  wird.  Es 
wird  dann  aktuell  ein  Täuschungsfall  vorliegen;  denselben 
aber  als  Urteils  tau  schung  deswegen  zu  benennen,  weil  man 
nur  dann  falsch  urteilen  kann,  wenn  man  überhaupt  urteilt,  ist 
völlig  unexakt  und  uncharakteristisch,  da  der  Grund,  weshalb  das 
Urteil  falsch  ausfällt,  auf  die  Beschaffenheit  der  für  das  Urteil 
nötigen  Vor  stell  ungs  Voraussetzungen  zurückgeht.  Ein  näheres 
Eingehen  auf  diese  terminologische  Angelegenheit  halte  ich  für 
überflüssig. 

Hier  will  ich  nur  noch  eine  dritte  literarisch  auch  nicht  un- 
vertreten  gebliebene  sozusagen  „mittelbare"  Urteilsdeutung  der 
hier  behandelten  und  ähnlicher  Täuschungsfälle  anführen.  Nach 
derselben  käme  die  Täuschung  auf  folgende  Art  zustande:  Die 
Vorstellung  (a)  einer  Gestalt  (A)  ruft  durch  Assoziation  eine  auf 
den  Gegenstand  B  gerichtete  Vorstellung  (b)  hervor;  das  sich  daran 
schließende  Urteil  U  modifiziert  den  Vorstellungsinhalt  (a)  im  Sinne 
der  Bedeutung  von  B  [Fall  III.].  Auf  diese  Ansicht  komme  ich 
in  dem  kritischen  Teil  dieser  Arbeit  zurück;  hier  genügt  es,  auf 
den  Umstand  hinzuweisen,   daß  unter  der  eben  berührten  Voraus- 


392  ViTTORIO   BeNUSSI. 

Setzung  die  Täuschung  an  eine  bestimmte,  nicht  unbewußt  bleibende 
Vorstellung,  bzw.  an  ein  gegenständlich  determiniertes  "Wissen 
(oder  Vermuten)  gebunden  sein  müßte.  Daß  für  unseren  Fall  ein 
derartiges  Gebundensein  nicht  besteht,  braucht  nicht  von  neuem 
erörtert  zu  werden.  Dürfte  auch  die  Urteilshypothese  in  der  eben 
angeführten  Gestalt  als  nicht  unzulänglich  erscheinen,  so  vennag 
sie  sicherlich  zum  Verständnis  des  speziellen,  au  das  Wissen  nicht 
gebundenen  MüLLEE-LiERschen  Falles  nichts  beizutragen. 


§  19.  Die  Ursache  des  inadäquaten  Vorstellens 
gegebener  Gestalten. 

Das  Gesamtergebnis  unserer  bisherigen  Ausführungen  läßt  sich 
in  folgendem  Satz  zusammenfassen:  Daraus,  daß  die  Täuschung 
weder  an  einen  bestimmten  Reiz(zustand)  noch  an  ein  Urteil  ge- 
bunden zu  sein  scheint,  folgt,  daß  ihre  Ursache  auf  einem  sowolü 
empfindungs-  als  urteilsfremden  Gebiete  zu  suchen  ist.  Als  ein 
solches  darf  dasjenige  der  „Vorstellungsproduktion"  anerkannt 
werden  und  zwar  nicht  vermöge  bloßer  Exklusion,  sondern  im 
Hinblick  auf  das  Gebundensein  der  Täuscliung  an  das  Vorstellen 
einer  bestimmten  Gestalt.  Das  Vorstellen  der  Gestalt  allein  führt 
eine  scheinbare  Veränderung  ihrer  Bestandstücke  (Inferiora)  mit 
sich;  das  Sehen  dieser  letzteren  kann  so  wenig  eine  Täuschung 
hervorrufen,  als  das  Wissen,  daß  eine  Täuschung  vorliegt,  dieselbe 
aufzuheben  vermag. 

Unsere  Aufgabe  ist  es  nun,  den  Produktionsvorgang  näher 
zu  charakterisieren,  indem  wir  feststellen,  ob  sich  ein  Grund  für 
die  Inadäquatheit  der  produzierten  Vorstellung  angeben  läßt,  und 
zugleich  auch  eine  Verbindung  zwischen  Täuschungsgröße  und 
Farbe  der  Täuschungsfigur  herzustellen  versuchen.  Zu  diesem 
Ende  gehe  ich  von  folgendem  Beispiele  aus. 

Ks  seien  die  Punkte  a,  b,  c,  d,  e,  f  (Figur  7)  gegeben.  Die 
Distanz  zwischen  je  zwei  derselben  sei  durch  a-b,  a-c,  a-d  usw. 
bezeichnet.  Davon  kommen  in  diesem  Zusammenhange  zunächst 
die  Distanzen  a-d,  b-c,  f-e  (a-b,  c-d,  a-f,  d-e)  in  Betracht.  So  seien 
weiter  mit  a  ß  y  ö  e  t  die  den  Punkten  a  b  c  d  e  f  zugeordneten 
(Empfindungs-)  Inhalte  symbolisiert.  Mit  J)d  \J)c  usw.  seien 
schließlich  die  zwischen  a  d,  b  c  usw.  bestehenden  Distanzen,  mit  « A/j 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfasseus.  393 

«A/?  .  .  .  USW.  die   produzierten  (Vorstellungs-)  Inhalte  derselben 
bezeichnet. 

Es  ist  nun  klar,  daß  die  Inhalte  a,  ß  . . .  nsw.  in  dem  Falle,  in 
dem  sie  zur  Produktion  der  Distanzvorstellung  „A^ . . .  usw.  verwendet 
werden,  anders  zueinander  werden  gestellt  sein  müssen,  als  wenn 
„A,*  .  .  . .  usw.  nicht  produziert  wird.  \\'ird  auf  Grund  von  a  und 
ß  eine  neue  Vorstellung  gebildet,  (in  diesem  Fall  «A,^),  so  kann 


Figur  7. 

dies  nur  dann  geschehen,  wenn  a  und  ß  eine  Realrelation^) 
eingehen.  Das,  was  jetzt  mit  Hilfe  der  neugebildeten  Vorstellung 
„A^  erfaßt  wird,  sind  nicht  mehr  die  zwei  Punkte  a  und  b, 
sondern  die  dadurch  bestimmte  Distanz  aDb.  Denkt  man  sich 
aDb  durch  weitere  Punkte  ausgefüllt,  so  wird  auf  Grund  der  ihnen 
zugeordneten  (Empfindungs-)  Inhalte  die  Vorstellung  einer  ausge- 
zogenen Geraden  gebildet  (produziert)  werden  können. 

Symbolisieren  wir  durch    S    ,    S    ...  usw.  die  ausgezogenen 

a— b       a — d 

Linien  a-b,  a-d  usw.  und  mit    ©  ,  ©    ...  usw.  die  (produzierten) 

u—ß        a— (5 

Vorstellungen  derselben,  so  ist  es  Idar,  daß  sich  auf  S  ,   S,S  , 

a-b    b— c  c— d 

S  ,  S  ,  S  ,  mit  Hilfe  bestimmter  Relationen  eine  eindeutig  be- 

d— e    e— f    f-a 

stimmte  Gestalt  G  aufbauen  wird,  die  von  einem  Subjekte  erst 
dann  vorgestellt  wird,  wenn  die  den  Strecken  S  . . .  S  zugeordneten 

a-b       f— a 

(produzierten)  Inhalte  ©  ...  ©  zur  Bildung  der  Gestaltvorstellung 
geführt  haben  werden. 


^)  Vgl.  für  das  Wesen  der  Realrelation,  Meinong,  Über  Geg.  höh.  Ordng. 
§  4  und  6,  —  für  Produktion  als  ßealrelatiou  der  Inhalte,  Ameseder  diese 
Unters.  VIII. 


394  ViTTORIO   BeNUSSI. 

Um  dies  zu  leisten,  werden  sie  untereinander  in  Realrelation 
gebracht  werden  müssen.  Erst  wenn  die  dazu  erforderliche  Arbeit 
von  einem  Subjekte  vollzog-en  ist,  wird  sich  dieses  in  dem  Besitz 
einer  neuen  Vorstellung  befinden,  derjenigen  nämlich,  mit  deren 
Hilfe  es   die  auf  S  . . .  S   aufgebaute   Gestalt  G   erfassen   können 

a— b       f— a 

wird.  Erfahren  nun  dabei  die  scheinbaren  Distanzen  verschiedener 
Punkte  der  vorgestellten  Gestalt  eine  Veränderung,  so  liegt  be- 
rechtigterweise die  Vermutung  nahe,  die  dazu  nötigen  Inhaltsver- 
änderungen seien  dadurch  herbeigeführt,  daß  verschiedene  Inhalte 
sich  gegenseitig  zu  beeinflussen  vermögen,  sobald  sie  zueinander 
in  Realrelation  treten,  und  zwar  derart,  daß  ein  Inhalt  den  anderen 
im  Sinne  der  eigenen  Eigenschaften  innerhalb  gewisser  Grenzen 
verändert. 

So  wird  in  unserem  gegenwärtigen  Beispiel  der  Inhalt  „A<j 
durch  ßAy  im  Sinne  dieses  letzteren  beeinflußt  und  umgekehrt. 
Die  diesen  Inhalten  zugeordneten  Gegenstände  aDd  und  bDc  er- 
scheinen dann  infolge  dieser  gegenseitigen  Beeinflussung  der  anders 
erste  kürzer,  der  zweite  länger  als  sie  tatsächlich  sind.  Das  bloße 
Vorstellen  dieser  zwei  Distanzen  —  ohne  Vorstellen  der  Relation 
zwischen  ihnen  —  führt  keine  derartige  Modifikation  ihrer  Inhalte 
mit  sich,^)  indes  dies  unausweichlich  der  Fall  sein  müßte,  wenn  auf 
dem  Gebiete  des  Raumerfassens  wie  auf  demjenigen  des  Farben- 
sehens der  Reizzustand  der  ganzen  Retina  das  „Aussehen" 
eines  neu  eintretenden  „Reizes"  mitbestimmen  würde.-)  Dagegen 
begünstigt  die  VorsteUungsbildung  einer  e-  oder  a-Figur  die  gegen- 
seitige Inhaltsbeeinflussung  deswegen  in  so  hohem  Maße,  weil  die 
(Inferius)-Inhalte  dabei  in  Realrelation  gebracht  werden,  bzw.  eine 
Realkomplexion  bilden  (G-Reaktion).  Treten  nun  die  Inhalte 
aA/? . . .  usw.  durch  Analj^se  der  Distanz  a-d  aus  dieser  Real- 
relation (bzw.  Komplexion)  heraus,  so  hört  die  gegenseitige  Be- 
einflussung und  mit  ihr  die  Täuschung  auf  (A-Reaktion).  Freilich 
gänzlich  vielleicht  nur  in  den  seltensten  FäUen.     Man  kann  be- 


')  Es  ist  dies  bei  der  A-Reaktion  (vgl.  oben  I,  §  3)  der  Fall.  Vgl.  auch 
weiter  unten  IV,  §  24. 

^)  Eine  Position,  die  unlängst  von  Loeb  (Über  den  Nachweis  von  Kontrast- 
erscheinungen im  Gebiete  der  Raumenii)findungen  des  Auges,  in  Archiv  f.  d.  ges. 
Physiol.  von  Pflüger.     Bd.  60,  S.  509  ff.)  vertreten  wurde. 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  395 

kaniitlich  eine  bestimmte  Vorstellung-  nicht  beliebig  lange  sich 
gegenwärtig  halten;  ganz  unabhängig  von  unserer  Willkür  be- 
stimmt sich  die  Flüchtigkeit  unserer  Vorstellungen.  So  auch  in 
dem  hier  untersuchten  Fall:  die  produzierte  Gestaltsvorstellung 
wird  hin  und  wieder  durch  diejenige  eines  Gestaltbestandstückes 
als  eines  Selbständigen  und  umgekehrt,  die  durch  Analj^se  losge- 
löste Vorstellung  einer  einzelnen  Distanz  (z.  B.  «Ad)  durcli  die  Ge- 
staltvorstellung  verdrängt. 

Ich  fasse  das  Gesagte  folgendermaßen  zusammen: 

1.  Inhalte,  die  zueinander  in  Realrelation  stehen  und  daher 
eine  Realkomplexion  bilden,  beeinflußen  einander  im  Sinne  der 
eigenen  Beschaffenheit. 

2.  Das  Erfassen  von  Gestalten  vermag  deswegen  in  so  hohem 
Maße  die  berührte  Beeinflussung  zu  begünstigen,  weil  es  das  Ein- 
gehen der  (Inferius)-Inhalte  in  eine  Realrelation  zur  notwendigen 
Voraussetzung  hat. 

Diese  Hjqiothese,  die  einerseits  durch  die  Tatsachen  besonders 
nahegelegt  zu  sein  scheint  und  andererseits  etwas  besagt,  was, 
wenn  es  auch  nicht  aus  dem  Begriffe  der  Realkomplexion  folgt 
mit  demselben  nichts  Unverträgliches  enthält,  ja  sich  sogar  durch 
eine  innere  Natürlichkeit  unmittelbar  zu  empfehlen  scheint,  vermag 
—  wie  im  nächsten  Paragraphen  zu  zeigen  versucht  wird  —  am 
ungezwungensten  die  im  Laufe  der  gegenwärtigen  Untersuchung 
festgestellten  Tatsachen  verständlich  zu  machen. 


§  20.   Der  Au  teil  der  Farbe  an   der  Täuschungsgröße. 
Die   Verbindung    durch    die    Farbenauf  drin  glich  ke  it. 

Aus  der  Abhängigkeit  der  Täuschung  von  der  A-  und  G- 
Reaktion  erklärt  sich  der  Einfluß  der  Farbe  (im  weitesten  Sinne) 
ebenso  wie  derjenige  der  Nebenlinien-  und  Neigungswinkelgröße 
von  selbst,  indem  aUe  diejenigen  Umstände,  die  eine  Erleichterung 
der  GestaltvorsteUungsproduktion  (G-Reaktion)  bedeuten,  eine  Er- 
höhung, alle  diejenigen,  die  eine  Erleichterung  der  Hauptlinien- 
analyse (A-Reaktion)  bedeuten,  eine  Herabsetzung  der  Täuschung 
mit  sich  führen.  Die  Verbindung  zwischen  der  Erleichterung  der 
GestaltvorsteUungsproduktion  respektive  Hauptlinienanalyse  und  der 
Farbe  ist,  wie  im  folgenden  gezeigt  wird,  durch  die  Aufdringlich- 


rjgg  ViTTORio  Benussi. 

keit  dieser  letzteren,  bzw.  durch  das  Aufdringlichkeitsverhältnis 
der  Haupt-  und  Nebenlinienfarbe  gegeben. 

Sieht  jemand  auf  einer  schwarzen  Fläche  einen  grauen  und 
einen  weißen  Punkt,  so  wird  er,  wenn  man  ihn  danach  fragt, 
natürlicherweise  sagen,  der  weiße  Punkt  sei  aufdringlicher 
oder  auffälliger  als  der  graue  bzw.  die  Verschiedenheit  zwischen 
weiß  und  schwarz  auffallender  (weil  größer)  als  diejenige  zwischen 
schwarz  und  grau.  Damit  meint  man,  daß  sich  im  ersten  Falle 
die  Analyse  des  weißen  Punktes,  im  zweiten  die  P  r  o  d  u  k  t  i  o  n 
der  V e r s c h i  e  d e n h e i t s  Vorstellung  für  weiß-schwarz  leichter 
vollzieht  als  die  Analyse  des  grauen  Punktes,  bzw.  die  Produktion 
der  Verschiedenheitsvorstellung  für  schwarz-grau.  Zieht  man  noch 
den  Fall  der  ebenmerklichen  Verscliiedenheit  in  Betracht,  so  wird 
man  die  hier  auftretende  Erschwerung  der  Analyse  bzw.  der  Ver- 
schiedenheitsauffassung ganz  handgreiflich  vor  sich  haben.  Darauf 
braucht  an  dieser  Stelle  nicht  näher  eingegangen  zu  werden. 
Für  unsere  gegenwärtigen  Zwecke  genügt  es,  festgestellt  zu  haben, 
daß  unter  Voraussetzung  eines  schwarzen  Grundes,  Punkte  bzw. 
Linien,  die  auf  demselben  gezeichnet  werden,  um  so  aufdringlicher 
sind,  je  größer  ihre  (He]ligkeits)-Verschiedenheit  vom  Grunde  ist. 
Dies  vorausgesetzt  wird  uns  die  Erldärung  der  für  die  einzel- 
nen Täuschungsfiguren  gewonnenen  Ergebnisse  keine  Schwierig- 
keit bieten. 

Ich  beginne  mit  den  e-  und  den  achromatischen  e-Figuren. 

a)  Die  e-,  e-  und  p-Figur. 

Im  FaUe  der  e-Figur  ist  bei  vorgeschriebener  A-  oder  G-Re- 
aktion,  keine  der  zwischen  je  zwei  Schenkelpunkten  bestehenden 
Distanzen  in  bezug  auf  das  Erfaßtwerden  äußerlich  begünstigt. 
Die  Aufdringlichkeit  der  Scheitelpunktdistanz  ist  derjenigen  zwischen 
den  übrigen  Paaren  einander  entsprechender  Schenkelpunkte  gleich, 
und  zwar  für  alle  möglichen  Farben  dieser  letzteren.  Daß  unter 
solchen  Umständen  die  Größe  der  Täuschung  von  der  Helligkeitsver- 
schiedenheit zwischen  Nebenlinien  und  Grund  kaum  wenn  überhaupt 
beeinflußt  wird,  ist  dann  ohne  weiteres  verständlich.  Diese  Un- 
abhängigkeit tritt  zunächst  in  der  Konstanz  der  Täuschungswerte 
verschiedenfarbiger  Figuren  bei  G-Eeaktion  in  besonders  hohem 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  397 

Maße  zutage,')  indes  bei  A-ßeaktion  immerhin  Scliw anklingen  der 
Täuschungsgröße,  wenn  auch  geringe,  zu  bemerken  sind.  Es  findet 
dies  in  dem  Umstände  seine  Erklärung,  daß  im  Falle  der  A-Ee- 
aktion  das  Hervorheben  der  Scheitelpunktdistanz  l)ei  Nebenlinien 
verschiedener  Aufdringlichkeit  nicht  immer  gleich  leicht  ausfällt;  es 
ist  im  Gegenteil  um  so  schwieriger,  je  größer  die  Nebenlinienauf- 
dringlichkeit ist.  Eine  Erschwerung  der  A-Eeaktion  führt  aber  (da 
ihr  eine  Erleichterung  der  G-Eeaktion  entspricht)  eine  Erhöhung  der 
Täuschung  mit  sich  und  umgekehrt.  Fällt  also  die  A-Eeaktion 
nicht  immer  gleich  leicht  aus,  so  können  auch  die  Täuschungswerte 
nicht  eine  konstante  Größe  aufweisen.  Letzteres  ist  dagegen  bei 
G-Eeaktion  der  Fall.  Hier  tritt,  da  die  Aufdringlichkeit  der 
Scheitelpunktdistanz  eine  konstante  (=Null)  ist,  kein  Wettstreit 
zwischen  A-  und  G-Eeaktion  und  mithin  auch  keine  Täuschungs- 
schwankung ein. 

Desgleichen  bietet  die  Tatsache  nichts  Befremdendes,  daß  die 
Täuschung  bei  der  e-Figur  größer  ausfällt  als  bei  der  entsprechen- 
den e-Figur ;  -)  denn  bei  dieser  ist  die  eine  Distanz ,  nämlich  die 
zwischen  den  Scheitelpunkten,  durch  die  mehr  oder  weniger  auf- 
dringliche Farbe  der  Hauptlinie  für  das  Erfaßtwerden  „als  etwas 
mit  ihrer  Umgebung  Unzusammengehöriges"  vor  den  übrigen 
bevorzugt.  Daß  dieser  Umstand  eine  Erschwerung  des  Ge- 
stalteif assens ,  bzw.  des  Festhaltens  der  Gestaltvorstellimg  durch 
längere  Zeit  bewirkt,  ist  klar;  ebenso  klar  ist  es  überdies, 
daß  diese  Erschwerung  um  so  größer  sein  wird,  je  mehr  sich 
die  Hauptlinie  infolge  der  Aufdringlichkeit  ihrer  Farbe  selbst 
aufdrängt.  Daraus  erklärt  sich  sowohl  die  Zunahme  der  Täu- 
schung bei  abnehmender  Aufdringlichkeit,  wie  die  Abnahme  der 
Täuschung  bei  zunehmender  Aufdringlichkeit  der  Hauptlinie 
helligkeitsverschiedener  Figuren.^)  Mit  Zuhilfenahme  der  für  die 
e-Figur  festgestellten  Indifferenz  der  Täuschungsgröße  gegenüber 
der  Nebenlinienhelligkeit  (bzw.  Aufdringlichkeit)  läßt  sich  dann 
die  allerdings  nicht  sehr  große  Zunahme  der  Täuschung  hellig- 
keitsgleicher Figuren  bei  Abnahme  der  Helligkeitsverscliiedenheit 
zwischen  Figur  und  Grund  verstehen.     Ist  die  Täuschungsgröße 


1)  Vg-l.  obeu  I,  §  10,  S.  346  f. 

2)  Vgl.  oben  I,  §  10,  S.  348  f. 
3J  Vgl.  oben  I,  §  6,  S.  319. 


398  ViTTORIO   BeNUSSI. 

diircli  die  e-Figiir  eine  —  innerhalb  jeder  Reaktionsart  (A  und  G)  — 
annähernd  konstante,  so  ist  es  klar,  daß  die  Täuschung  durch  eine 
e-Fig-ur  um  so  größer  ausfallen  muß,  je  geringer  die  der  Haupt- 
linie zukommende  Aufdringlichkeit  ist.  Bei  helligkeitsgleichen 
Figuren  muß  daher  mit  der  Abnahme  der  Helligkeitsverschieden- 
heit zwischen  Figur  und  Grund  eine  Zunahme  der  Täuschungs- 
größe Hand  in  Hand  gehen.  ^) 

Wir  können  das  bisher  in  bezug  auf  achromatische  (hellig- 
keitsverschiedene) e-Figuren  festgestellte  folgendermaßen  aus- 
drücken: Die  Größe  der  Täuschung  verändert  sich  direkt  mit 
der  die  G-Reaktion  begünstigenden  Aufdringlichkeit  der 
Nebenlinien  und  umgekehrt  mit  der  die  G-Reaktion  er- 
schwerenden Aufdringlichkeit  der  Hauptlinie;  —  sie  erreicht 
daher  beim  Weglassen  der  Hauptlinie  ein  Maximum  (Haupt- 
linienaufdringiichkeit  =  0)  und  verschwindet  beim  Weglassen  der 
Nebenlinien  (Nebenlinien auf dringliclikeit  =  0). 

Ist  auf  diese  Weise  eine  Beziehung  zwischen  Farbenaufdring- 
lichkeit der  Figurenkomponenten  und  Täuschungsgröße  außer  Zweifel 
gesetzt,  so  kann  man  nunmehr  die  Täuschungsgröße  verschiedener 
bichromatischer  Figuren  als  Kriterium  für  den  auf  direkte  Weise 
nicht  immer  bestimmbaren  relativen  Aufdringliclikeitswert  gegebener 
Farben  verwenden.  Eine  direkte  Bestimmung  der  Aufdringlichkeit 
verschiedener  Farben  auf  einem  konstanten  schwarzen  Grunde  ist 
nur  dann  möglich,  wenn  man  sich  auf  eine  sichere  Verschieden- 
heitserkenntnis stützen  kann,  wie  etwa  im  Falle  grauer  bzw.  weißer 
Nuancen  auf  schwarzem  Grunde;  sie  wird  aber  mit  der  Unsicher- 
heit in  bezug  auf  die  allfällige  Yerschiedenheitszu-  oder  -abnähme 
von  einem  Fall  zum  anderen  selbst  unsicher.  Für  diejenigen  Fälle 
nun  wo  der  Vergleich  nicht  auf  größere  (bzw.  kleinere)  Verschieden- 
heit (zwischen  der  gegebenen  Farbe  und  ihrem  Grunde)  hinweist, 
läßt  sich  auf  Grund  der  eben  festgestellten  Abhängigkeit  zwischen 
Täuschungsgröße  und  Aufdringlichkeit  der  einzelneu  Figurenkom- 
ponenten aus  der  relativen  Täuscliungsgröße  verschiedenfarbiger 
Figuren  auf  die  relative  Aufdringlichkeit  der  Farbe  ihrer  Kom- 
ponenten (Haupt-  und  Nebenlinien)  schließen.  -) 


Vgl.  oben  I,  §  6,  S.  318. 

Wie  in  diesem  Falle  die  zwischen  Täuschitngsgröße  und  Aufdringlichkeit 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  399 

Ergeben  zwei  monochromatische  Figuren  A  und  B  ungefähr 
gleiche  Täuschungswerte  a  und  b,  die  entsprechenden  bichro- 
matischen Kombinationen  aber  solche,  die  voneinander  beträcht- 
lich abstehen,  so  wird  man  bei  jener  Figur,  die  den  kleineren 
Täuschungswert  ergibt,  der  Farbe  der  Hauptlinie,  bei  der- 
jenigen dagegen,  die  den  größeren  Täuschungswert  bedingt,  der 
Farbe  der  Nebenlinien  die  größere  Aufdringlichkeit  zuschreiben 
müssen.  ^) 

Die  Verschiedenheit  zwischen  den  zwei  Täuschungs werten  der 
bichromatischen  Figuren  ist  dadurch  bedingt,  daß  durch  die  Aufdring- 
lichkeitsverschiedenheit  der  einzelnen  Gestaltbestandstücke  das  eine 
mal  die  G-,  das  anderemal  die  A-Reaktion  erleichtert  wird.  Die  Tat- 
sache, daß  die  Täuschungswerte  bichromatischer  Figuren  kleiner  ^) 
ausfallen  als  die  der  entsprechenden  monochromatischen,  erklärt 
sich  daraus,  daß  durch  die  Farbenverschiedenheit  eine  subjektive 
UnZusammengehörigkeit  der  einzelnen  Bestandstücke  —  wenn  auch 
nicht  im  gleichen  Maße  —  eingeführt  wird,  was  eine  Erleichterung 
der  A-  bzw.  Erschwerung  der  G-Reaktion  bedeutet  und  daher  eine 
Herabsetzung  der  Täuschung  zur  Folge  haben  muß. 

Eine  Bestimmung  der  Farbenaufdringlichkeit  auf  dem  eben 
angedeuteten  Umwege  ist  einstweilen  nur  für  das  Farbenpaar  Rot- 
grün durchgeführt  worden  (vgl.  pg.  339 — 345  Tab.  XII  und  XIII). 
Sie  weiter  auszuführen,  muß  einer  späteren  Gelegenheit  vorbe- 
halten bleib  en."^) 

Das  hier  in  bezug  auf  die  Bedeutung  der  Farbe  für  die 
Täuschungsgröße  der  e-  bzw.  e-Figur  Bemerkte  gilt  allgemein 
auch  für  die  a-  und  ä-Figur.    Bevor  ich  zur  näheren  Betrachtung 


der  einzelueu  Figurenkomponenten  bestehende  Beziehung  zur  Bestimmung  der 
Farbeuauf  dringlichkeit  beizutragen  vermag,  so  setzt  uns  die  zwischen  Täuschungs- 
größe und  A-  bzw.  G-Reaktion  bestehende  Beziehung  in  den  Stand,  aus  der 
Täuschungsgröße  bei  einem  Individuum  auf  größere  oder  geringere 
Fähigkeit  für  Analyse  oder  für  Gestalt  er  fassung  zu  schließen,  d.  b.  mit 
anderen  Worten,  zu  sagen  ob  für  eine  gegebene  Versuchsperson  die  ihr  vorgelegte 
Gestalt,  oder  ob  ein  Bestandstück  derselben  eine  größere  Aufdringlichkeit  be- 
sitzt.    (Vgl.  darüber  weiter  oben  I,  §  7.) 

')  Vgl.  weiter  oben  I,  §  6,  S.  319f.,  §  9,  S.  342  f. 

")  Vgl.  weiter  oben  I,  §  9,  S.  Sil. 

')  Vgl.  einstweilen  meine  Untersuchungen  „Über  den  Einfluß  der  Farbe 
auf  die  Größe  der  ZöLLNEESchen  Täuschung".    Zeitschr.  f.  Psych.  29,  S.  385 ff. 


4QQ  VlTTOEIO   BeNUSSI. 

derselben  übergehe,  muß  ich  kurz  bei  der  p-Figur  verweilen.^) 
Wie  vorauszusehen  war,  hält  sich  diese  Figur  an  die  für  die  e- 
Figur  geltenden  Gesetzmäßigkeiten.  Sie  ist  hauptsächlich  insofern 
von  Bedeutung,  als  sie  die  Unwesentlichkeit  des  „Reizes"  für  das 
Zustandekommen  geometrisch-optischer  Täuschungen  in  besonders 
handgreiflicher  Weise  darzulegen  vermag.-)  Sie  tut  dies  nach 
zwei  verschiedenen  Eichtungen: 

1.  indem  das  bloße  Phantasieren  von  Nebenlinien  dieselbe 
Wirkung,  nämlich  eine  Täuschungssteigerung  (Erhöhung  der  schein- 
baren Hauptlinien  Verkürzung),  mit  sich  führt  wie  deren  Betrachtung, 
wenn  sie  wirldich  gegeben  sind,^} 

2.  indem  sich  bei  dieser  (p-)Figur  je  nach  Beschaffenheit  der 
auf  Grund  der  gegebenen  Punkte  erfaßten  Gestalt  sowohl  eine 
scheinbare  Verkürzung  als  eine  scheinbare  Verlängerung  der  Haupt- 
linie einstellt.^) 

b)  Die  a-  und  ä-Figur. 

Für  die  a-  (bzw.  ä-)  Figur  ist  nur  insoweit  eine  ausdrückliche 
Erklärung  notwendig,  als  sie  einen  Gegensatz  zur  e-  (bzw.  e-)  Figur 
bildet;  im  übrigen  gilt  für  sie  dasselbe  wie  für  die  e-  (bzw.  e-) 
Figur.  ^)  Ihre  Gegensätzlichkeit  zu  dieser  letzten  ist  eine  drei- 
fache; sie  betrifft  folgende  Punkte: 

1.  die  wenn  auch  nicht  beträchtliche  i^bnahme  der  (a-)Täuschungs- 
größe  bei  abnehmender  Helligkeitsverschiedenheit  zwischen  Figur 
und  Grund, '') 

2.  die  unter  denselben  Umständen  sich  einstellende  Zunahme 
der  Täuschungsgröße  der  ä-Figur, ') 

3.  die  bei  konstant  bleibender  Nebenlinienfarbe  sowohl  durch 
Erhöhung  wie  durcli  Herabsetzung  der  Hauptlinienaufdringlichkeit 
bedingte  sehr  große  Täuschungsherabsetzung.*) 


')  Vgl.  weiter  oben  I,  §  11,  S.  353  f. 

2)  Vgl.  i;  17,  S.  388,  und  III,  §  21  (XXXVI— XXXVIII  nnd  XLVI). 

3)  Vgl.  oben  I,  §  11,  S.  355  f.  u.  Tab.  XIX  b. 
*)  Vgl.  oben  I,  §  11,  S.  354,  u.  Tab.  XVIII. 

^)  Vgl.  oben  §  17  u.  19  und  das  hier  unter  a)  angeführte. 

«)  Vgl.  weiter  oben  I,  §  12,  S.  363  u.  Tab.  XXII. 

')  Vgl.  oben  I.  §  12,  S.  365,  Tab.  XXIII. 

«)  Vgl.  oben  I,  §  13,  S.  366  f.  u.  Tab.  XXV  a  und  b. 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  401 

Um  das  hier  Augeführte  aus  dem  Vorhergesagten  verstehen  zu 
können,  müssen  wir  uns  folgendes  gegenwärtig  halten:  Vor  allem 
den  Umstand,  daß  die  Nebenlinien  der  a-Figur  nicht  wie  bei  der 
e-Figur  innerhalb,  sondern  außerhalb  des  nächsten  Be- 
achtungsgebietes^)  fallen ;  dann  aber  die  von  einem  j eden 
zweifellos  zuzugebende,  durch  Weglassen  der  Hauptlinie  nicht 
weniger  als  durch  Aufdringlichkeitssteigerung  derselben  zu  be- 
wirkende subjektive  Unzusammengehörigkeit  der  Haupt-  und  Neben- 
linien (bzw.  der  Nebenlinien  und  der  Scheitelpunktdistanz),  — 
wodurch  die  G-Reaktion  in  nicht  unbeträchtlichem  Maße  erschwert, 
die  A-Reaktion  dagegen  erleichtert  wird. 

Die  für  die  (a-)Täuschung  günstigsten  Bedingungen  sind 
daher  dann  gegeben,  wenn  Haupt-  und  Nebenlinien  gleichfarbige 
sind  und  hohe  Aufdringlichkeit  besitzen:-)  durch  die  Farben- 
gleichheit wird  die  subjektive  Zusammengehörigkeit, 
durch  die  hohe  Aufdringlichkeit  eine  Erweiterung  des 
Beachtungsgebiets  jenseits  der  Scheitelpunkte  begünstigt.  Dagegen 
ist  die  Täuschung  um  so  kleiner,  je  größer  die  subjektive  Un- 
zusammengehörigkeit der  einzelnen  Figurenkomponenten  ist:  sie 
steht  in  direkter  Beziehung  zur  Größe  der  Aufdringlichkeitsver- 
schiedenheit zwischen  Haupt-  und  Nebenlinien,  gleichviel  ob  der 
einen  oder  der  anderen  die  größere  Aufdringlichkeit  zukommt.^) 
Unzusammengehörig  erscheinen  heißt  aber  psychologisch,  das 
Erfassen  der  gegebenen  Gestalt  erschweren  bzw.  die  Analyse  der 
einzelnen  Figurenkomponenten  erleichtern.  Was  dies  zur  Folge 
hat,  braucht  nicht  noch  einmal  gesagt  zu  werden.*)  Die  Grenzen, 
innerhalb  deren  diese  scheinbare  Unzusammengehörigkeit  zur  Geltung 
kommt,  können  das  eine  Mal  durch  maximale  Hauptlinien- 
bei  minimaler  Nebenlinien  auf  dringlichkeit,  das  andere 


^)  Unter  Beachtungsgebiet  ist  „die  Gesamtheit  dessen,  worauf  man 
aufmerksam  ist"  zu  verstehen  (vgl.  meine  Untersuchungen  über  die  Zöllner- 
sche  Figur  a.  a.  0.,  S.  276 — 277  und  die  daselbst  festgestellte  Abhängigkeit  der 
Täuschungsgröße  von  der  Ausdehnung  des  Beachtungsgebietes  [Tab.  I]). 
Als  nächstes  Beachtungsgebiet  ist  in  unserem  Falle  das  seiner  Länge  nach 
durch  die  Länge  der  Haupt linie  begrenzte  zu  betrachten. 

2)  Vgl.  oben  I,  §  12,  Tab.  XXII— XXV. 

•■')  Vgl.  oben  I,  §  13,  S.  368  f.  und  Tab.  XXV  a  und  b. 

*)  Vgl.  oben  I,  §  6,  S.  318  f. 
Meinong,  Untersuchungen.  26 


^02  ViTTORIO   BeNÜSSI. 

Mal  durch  maximale  Nebenlinien-  bei  minimaler  Haupt- 
linienauf dringlichkeit  gegeben  sein. ^)  Die  Zunahme  der  ä- 
Täuschung  bei  abnehmender  Helligkeitsverschiedenheit  zwischen 
Figur  und  Grund  ist  daher  als  eine  Folge  davon  zu  betrachten, 
daß  der  Aufdringlichkeitsgrad  der  weniger  hellen  Nebenlinien  sich 
dem  der  Hauptlinie  (mit  der  Aufdringlichkeit  gleich  Null)  mehr 
annähert,  wodurch  die  bereits  mehrmals  erwähnte  subjektive  Un- 
zusammengehörigkeit  weniger  stark  hervortritt  als  bei  helleren, 
auffälligeren  Nebenlinien.  Bei  a-Figuren  fehlt  eine  solche  Unzu- 
sammengehörigkeit.  Die  Hauptlinie  erfährt  aber  dadurch,  daß  sie 
das  eine  Vergleichungsglied  abgibt,  eine  Aufdringlichkeitssteigerung. 
Diese  letztere  macht  sich  dann  um  so  mehr  geltend,  je  geringer 
die  Aufdringlichkeit  der  Figurenfarbe  und  mithin  die  der  Neben- 
linien ist.  Subjektiv  werden  Haupt-  und  Nebenlinien,  obwohl  sie 
objektiv  gleich  „aufdringlich"  sind,  nicht  gleich  behandelt;  denn 
die  eine  muß  unter  allen  Umständen  verglichen  werden,  indes  die 
anderen  nur  mit  mehr  oder  weniger  Erfolg  zur  Bildung  einer 
Gestalt  Vorstellung  verwendet  werden.  Hierauf  beruht  die  Zunahme 
der  Täuschung  einer  a-Figur  bei  zunehmender  Helligkeitsverschieden- 
heit zwischen  Figur  und  Grund. 

Auf  diese  Art  sind  meines  Erachtens  die  eben  in  Erinnerung 
gebrachten  Gegensätzlichkeiten  der  a-  (ä-)  und  der  e-  (e-)Figuren 
zu  verstehen. 

Zum  Schluß  muß  ich  noch  auf  den  einzig  möglichen  (in- 
direkten) Einfluß,  den  das  Urteil  auf  die  Täuschungsgröße 
haben  kann,  hinweisen.  Weiß  eine  Versuchsperson  bei  Betrachtung 
etwa  einer  e-Figur,  daß  die  Hauptliuie  in  Wirklichkeit  länger  ist, 
als  sie  tatsächlich  erscheint  und  daß  diese  scheinbare  Verkürzung 
irgendwie  durch  die  Nebenlinien  bedingt  wird,  so  wird  ein  solches 
Wissen  unwillkürlich  auf  das  Vorwiegen  der  A-Keaktion  führen,  um- 
somehr  dann,  wenn  die  Versuchsperson  beobachtet  haben  wird,  in 
welchem  Maße  die  Täuschung  von  der  A-  und  G-Reaktion  abhängt. 
Freilich  vermag  ein  derartiges  Wissen  nur  indirekt  die  Täuschung 


M  So  erklärt  sich  die  beträchtliche  Abnahme  der  Täuschung  beim  Weglassen 
der  Hauptlinie  (ä-Figur)  oder  bei  sehr  großer  Aufdringlichkeitsverschiedenheit 
zwischen  Haupt-  und  Nebenlinien,  und  mithin  die  zwischen  e-  und  a-Figuren  be- 
stehende Gegensätzlichkeit  in  bezug  auf  die  relative  Aufdringlichkeit  der  einzelnen 
Figurenkomponenten. 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  403 

herabzusetzen.  Es  tut  dies  nur  insofern,  als  dadurch  die  G-Reaktion 
erschwert,  die  A-Reaktion  erleichtert  wird.  Das  ist  alles,  was  das 
Urteil  für  den  hier  in  Betracht  gezogenen  Täuschungsfall  zu  be- 
deuten vermag.  Das  „richtige"  Urteil  kann  also  unter  den  an- 
gegebenen Umständen  die  Täuschung  herabsetzen;  diese  Herab- 
setzung ist  aber  nicht  eine  Folge  dieses  Wissens  als  solchen, 
sondern  der  dadurch  nahegebrachten  A-Reaktion,  welche  auch  dann 
eine  Täuschungsherabsetzung  mit  sich  führt,  wenn  das  Subjekt 
nicht  nur  inadäquat  vorstellt,  sondern  die  vorliegende  In- 
adäquatheit für  Adäquatheit  hält. 

Somit  beschließe  ich  die  theoretische  Verwertung  der  im  Laufe 
dieser  Untersuchung  festgestellten  Tatsachen.  Die  Gründe,  die 
mich  bestimmt  haben,  keinen  der  bisher  vertretenen  Erklärungs- 
versuche anzunehmen,  sind  in  dem  nächstfolgenden  ki^itischen 
Teil  (IV)  enthalten. 


III.  Ergebnisse. 

§  21.  Die  Tatsachen. 
A)  Allgemeines. 

1.  Die  Täuschung  ist  an  eine  bestimmte  vorstellungsmäßige 
Reaktionsart  seitens  des  betrachtenden  Subjektes  gebunden,  näm- 
lich an  die  Produktion  der  dem  tatsächlichen  äußeren  Bestände 
zugeordneten  (in  diesem  FaUe  freiÜch  inadäquat  zugeordneten) 
„Gestalt Vorstellung"  (G-Reaktion).  Gelingt  es  dem  Subjekte,  sich 
der  Bildung  dieser  Gestaltvorstellung  zu  enthalten  (A-Reaktion), 
so  sinkt  die  Täuschung  auf  Null.  Je  nachdem  also  das  Subjekt 
auf  den  gebotenen  Linienkomplex  mit  G  oder  A  reagiert,  tritt  die 
Täuschung  hervor,  oder  sie  bleibt  vöUig  aus  ^)  (I).  -) 

2.  Beide  Reaktionsarten  sind  übbar:  es  zeigt  sich  dies  an 
der  durch  Wiederholung  jeder  einzelnen  Reaktionsart  erzielten 
Täuschungsgrößenveränderung  entweder  durch  Zu-  oder  durch  Ab- 
nahme, je  nachdem  die  G-  oder  die  A-Reaktion  betätigt  wird"^)  (II). 


1)  Vgl.  I.  §  2,  S.  307  f.,  —  §  6,  S.  218  f.,  —  H.  §  17,  S.  381  f. 
*)  Die  fortlaufenden  römischen  Zahlen  bezeichnen  die  Reihenfolge  der  Er- 
gebnisse. 

=>)  Vgl.  hauptsächlich  I.  §  7,  S.  321  f. 

26* 


404  ViTTORIO   BeNUSSI. 

2  a.  Insoweit  man  die  Übbarkeit  als  Kiiterium  für  Aktivität 
gelten  läßt,  darf  man  die  bei  A-  und  G-Reaktion  sich  abspielenden 
psychischen  Vorgänge  als  „aktive"  ansehen^)  (III). 

2b.  Der  Satz,  die  Täuschung  werde  durch  Übung  herab- 
gesetzt (JuDü),-)  erweist  sich  daher  als  einseitig.  Er  gilt  nur  für 
eine  bestimmte  Art  von  Übung,  d.  h,  nicht  für  die  bloße  Wieder- 
holung des  Versuches,  sondern  für  die  einer  bestimmten  Reaktions- 
art (A-Reaktion)  bei  dem  Versuche  selbst^)  (IV). 

2  c.  Die  wiederholt  gemachte  Beobachtung  (Auerbach,  Lipps, 
Schumann,  Hetmans)*)  daß  die  Täuschung  beim  ersten  Anblicke 
größer  sei  als  nach  wiederholten  Versuchen,  ist  einerseits  auf  die 
den  leichterfaßbaren  Figuren  zukommende  größere  Aufdilnglichkeit 
der  Gestalt  selbst  im  Vergleiche  mit  der  eines  ihrer  Bestandstücke, 
andererseits  auf  eine  sich  spontan  entwickelnde  Steigerung  der 
A-Disposition  zurückzuführen  ^)  (V). 

2d.  Bei  „spontaner"  Reaktion  begünstigt  das  „wissentliche" 
Verfahren  die  Entwicklung  der  A-Disposition,  In  diesem  Um- 
stände allein  ist  ein  Einfluß  des  „Urteils"  auf  die  Täuschung  zu 
erblicken  •*)  (VI). 

B)  Spezielles, 
a)  Die  e-Figur  «-^>). 

1.  Die  Täuschungsgröße  einer  e-Figur  nimmt  bei  achro- 
matischen heUigkeitsgleichen  Figuren  mit  der  Größe  der  HeUig- 
keitsverschiedenheit  zwischen  Grund  und  Figur  ab ")  [Erster 
Gegensatz  zur  a-Figur].  ^)  Selbstverständlich  fallen  sämtliche  A- 
Werte  kleiner  als  die  entsprechenden  G-^^'erte  aus.    (VII). 

2.  Bei  achromatischen  heUigkeitsverschiedenen  Figuren  wird 
die  Täuschung  um  so  größer,  je  größer  die  HeUigkeitsverschiedenheit 
zwischen  Nebenlinien  und  Grund,  und  je  kleiner  diejenige  zwischen 


•)  Vgl.  I.  §  6,  S.  320. 

'^)  Vgl.  I.  §  7,  S.  331  f. 

=•)  Vgl.  ebenda  S.  332. 

*)  Vgl.  I.  §  7,  S.  332  f. 

^)  Ebenda  S.  233. 

«)  Vgl.  I.  §  7,  S.  329  f.    II.  §  20,  S.  401. 

')  Vgl.  I.  §  6,  S.  218. 

^)  Vgl.  I.  §  12,  S.  363,  —  und  unten  (XVII). 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  405 

Haiiptliiiie  mid  Grund  ist,^)  und  umgekehrt.  Sie  ist  an  die  Ver- 
teilung der  Helligkeitsverschiedeuheit  auf  die  einzelnen  Figur- 
bestandstücke  gebunden  (VIII)    [Zweiter  Gegensatz  zur  a-Figur].-) 

3.  Relativ  zueinander  verhalten  sich  die  Täuschungswerte 
heUigkeitsgleicher  zu  denen  helligkeitsverschiedener  Figuren  so,  daß 
das  „Täuschungsgebiet"  ^)  der  helligkeitsverschiedenen  größer  aus- 
fällt als  dasjenige  der  entsprechenden  heUigkeitsgleichen  Figuren.*) 
Sowohl  die  obere  wie  die  untere  Grenze  des  Täuschungsgebietes 
achromatischer  heUigkeitsgleicher  Figuren  wird  überschritten  (IX) 
[Dritter  Gegensatz  zur  a-Figur].^) 

4.  Bei  monochromatischen  (heUigkeitsgleichen)  Figuren  richtet 
sich  die  Täuschung  (wenigstens  für  die  untersuchten  FäUe  von 
Figuren  auf  schwarzem  Grunde)  hauptsächlich  nach  der  Hellig- 
keitsverschiedenheit zwischen  Figur  und  Grund.  Gleich  heUe 
Figuren  verschiedener  Farbe  ergeben  aber  nicht  immer  gleiche 
Täuschungsbeträge  %  Dies  dürfte  vielmehr  nur  bei  Farben  gleicher 
Aufdringüchkeit  der  FaU  sein  (X). 

5.  Stellt  man  mit  den  Farben  gleich  heUer  monochromatischer 
Figuren  bichromatische  her,  so  ergeben  diese  keineswegs  (wie  nach 
den  für  helligkeitsgleiche  Figuren  geltenden  Gesetzmäßigkeiten  zu 
erwarten  wäre)  gleichgroße  Werte  (XI).    Letztere   sind   vielmehr 

1.  beide  kleiner  als  die  Täuschungswerte  der  monochro- 
matischen Figuren ')  (XII),  und 

2.  untereinander  beträchtlich  verschieden,  —  eine  Tatsache,  mit 
deren  Hilfe  wir  die  „Aufdringlichkeit"  ^)  verschiedener  Farben  be- 
stimmen können  (XIIIj. 


1)  Vgl.  I.  §  6,  S.  318  ff. 

"")  Vgl.  I.  §  13,  S.  368 f.  -  und  unten  (XVII). 

^)  Vgl.  oben  I.  §  6,  S.  319.  Dieselbe  Erscheinung  konnte  ich  vor  Jahren  für 
die  ZöLLNERsche  Figur  feststellen  und  auf  einige  dabei  eintretende  individuelle 
Verschiedenheiten  hinweisen.  Vgl.  Zeitschr.  für  Psych.  Bd.  29,  S.  361  ff.  I.  Ver- 
suchsreihe. 

*)  Vgl.  I.  §  6,  S.  319. 

^)  Vgl.  unten  (XX). 

«)  Vgl.  I.  §  8,  S.  334  f. 

')  Vgl.  I.  §  9,  S.  341. 

*)  Ebenda  S.  341  f.  Vgl.  hierzu  auch  meine  Unters,  über  die  ZöLLNERSche 
Figur,    a.  a.  0.  S.  381  ff.. 


406  VlTTOEIO   BeNÜSSI. 


b)  Die  e-Figur  (<    ». 

1.  Die  Täuschimgsgröße  ist,  zunächst  bei  G-Reaktion,  von  der 
Helligkeit  und  Farbe  der  Figur  unabhängig.^)  Dagegen  fallen 
die  Täuschungswerte  bei  vorgeschriebener  A-Eeaktion  (bzw.  beim 
Phantasieren  einer  die  zwei  Scheitelpunkte  verbindenden  Ge- 
raden) weniger  konstant  aus,  ein  Zeichen,  daß  sich  in  diesem 
Falle  die  Aufdringlichkeit  der  Nebenlinienfarbe  wieder  geltend 
macht,    [Vgl.  im  Gegensatz  dazu  die  ä-Figur]  (XIV).  ^) 

2.  Verglichen  mit  den  Täuschungswerten  der  e-Figur  sind  die 
e-Werte  bedeutend  größer.^)  [Zweiter  Gegensatz  zur  ä-Figur.] *j 
Aus  den  für  helligkeitsverschiedene  Figuren  geltenden  Gesetz- 
mäßigkeiten läßt  sich  dieser  Fall  so  erklären,  daß  man  ihn 
als  einen  Grenzfall  auffaßt,^)  den  nämlich,  bei  welchem  die 
Helligkeitsverschiedenheit  zwischen  Hauptlinie  und  Grund  gleich 
Null  wird  (XV). 

3.  Das  Phantasieren  einer  Verbindungslinie  zwischen  den 
zwei  Scheitelpunkten  bringt  eine  deutliche  Täuschimgsherabsetzung 
mit  sich;  desgleichen  die  Analyse  der  Scheitelpunktdistanz  (A- 
Reaktion).  Bei  G-Reaktion  erfährt  die  Täuschung  eine  beträcht- 
liche Steigerung^)  (XVI). 

c)  Die  a-Figur  (>— <)• 

1.  Im  Gegensatze  zur  e-Figur "')  nimmt  die  Täuschung  achro- 
matischer heUigkeitsgleicher  a-Figuren  mit  der  Größe  der  Hellig- 
keitsverschiedenheit zu.^)  Wie  bei  den  anderen  Täuschungsfiguren 
ist  die  Täuschung  auch   hier   an    das  Erfassen   der  Gestalt   gre- 


>)  Vgl.  I.  §  10,  s.  B47. 

2j  Vgl.  I.  §  12,  S.  364,  —  und  unten  (XXVII). 

•■')  Vgl.  I.  §  10,  S.  349: 

')  Vgl.  I.  §  12,  S.  363,  —  und  unten  (XXVIII). 

^)  Der  andere  Grenzfall  ist  dann  durch  eine  Figur  gegeben,  bei  der  die 
Helligkeitsverschiedenheit  zwischen  Nebenlinien  und  Grund  gleich  Null  ist.  Da- 
bei wird  die  Täuschung  selbstverständlich  ebenfalls  gleich  Null. 

«)  Vgl.  I.  §  10,  S.  347  f. 

')  Vgl.  oben  (VII). 

*)  Vgl.  I.  §  12,  S.  363. 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  407 

blinden :  die  G-Reaktion  führt  eine  Erhöhung,  die  A-Keaktion  eine 
Herabsetzung-  der  Täuschung  mit  sich  ^)  (XVII). 

2.  Im  Vergleiche  mit  heUigkeitsgleichen  bedingen  helligkeits- 
verschiedene Figuren  ausnahmslos  eine  beträchtliche  Täuschungs- 
herabsetzung, die  um  so  größer  wird,  je  größer  die  Hell igkeits Ver- 
schiedenheit ist,  die  zwischen  Neben-  und  Hauptlinienfarbe  be- 
steht. Welcher  der  zwei  Figurenkomponenten  (nämlich  Haupt- 
oder Nebenlinien)  die  größere  (bzw.  kleinere)  Helligkeitsver- 
schiedenheit mit  dem  CTrunde  zukommt,  ist  einerlei.-)  Darin  liegt 
ein  neuer  Gegensatz  zur  e-Figur.^)  In  beiden  Fällen  tritt  eine 
Täuschungsherabsetzung  ein  (XVIII).  Der  einzige  Unterschied 
besteht  darin,  daß  bei  Abnahme  der  Nebenliuienhelligkeit  eine 
größere  Täuschungsherabsetzung  erzielt  wird  als  bei  gleicher 
Helligkeitsherabsetzung  der  Hauptlinie.  Es  läßt  sich  dies  aus  den 
zwei  GrenzfäUen  entnehmen,  die  gegeben  sind,  wenn  entweder  die 
HeUigkeits Verschiedenheit  der  Hauptlinie  oder  diejenige  der  Neben- 
linien mit  dem  Grunde  gleich  NuU  wird.  Ist  das  Letztgenannte 
der  Fall,  so  wird  die  Täuschung  ebenfalls  gleich  NuU  w^erden,  in- 
des sie,  wenn  keine  Helligkeitsverschiedenheit  zwischen  Haupt- 
linie und  Grund  besteht,  immer  noch  einen,  wenn  auch  kleinen, 
endlichen  Wert  aufweist*)  (XIX). 

3.  Das  Täuschungsgebiet  helligkeitsverschiedener  Figuren  ist 
nicht  größer,  in  den  meisten  Fällen  sogar  kleiner,  als  dasjenige 
helligkeitsgleicher  Figuren,  wobei  noch  zu  bemerken  ist,  daß  die 
Werte  der  helligkeitsverschiedenen  Figuren  kleiner  ausfallen  als 
diejenigen  der  entsprechenden  heUigkeitsgleichen.-^)  Auch  hier  tritt 
die  bereits  berührte  Gegensätzlichkeit  zwischen  e-  und  a-Figur 
hervor«)  (XX). 

4.  Chromatische  Figuren  —  soweit  solche  untersucht  worden 
sind  —  ergeben  im  Vergleiche  mit  den  entsprechenden,  gleich 
heUen  achromatischen  größere  ^^^erte  ')  (XXI).    Ist  man  berechtigt, 


1)  Ebenda  S.  366. 

«)  Vgl.  I.  §  13,  S.  368  f. 

»)  Vgl.  oben  (VIII). 

•»)  Vgl.  I.  §  12  und  13. 

")  Vgl.  I.  §  13.  S.  366  ff. 

')  Vgl.  oben  (IX). 

■)  Vgl.  I.  §  13,  S.  367  f. 


408  ViTTORIÜ   BeNUSSI. 

diese  Tatsache  als  Folge  einer  durch  die  Farbe  bedingten  Er- 
leichterung der  G-Eeaktion  anzusehen,  so  wird  man  in  die  Lage 
versetzt,  eine  bisher  unbeachtet  gebliebene  Eigenschaft  der  Farben, 
die  wir  als  deren  gestaltbildenden  Wert  erkannt  haben, ^)  be- 
stimmen zu  können  (XXII). 

5.  Für  bichromatische  Figuren  ergibt  sich  aus  der  bisherigen 
Untersuchung  die  Kegel,  daß  diejenige  von  zwei  Farben,  die  bei 
der  monochromatischen  Figur  den  größeren  "Wert  bedingt,  eine 
relative  Herabsetzung  der  Täuschung  mit  sich  führt,  wenn 
sie  als  Hauptlinienfarbe  einer  bichromatischen  Figur  verwendet 
wird,  jedoch  eine  relative  Erhöhung  der  Täuschung,  wenn  sie 
als  Nebenlinienfarbe  in  Anwendung  gelangt  ^)  (XXIII).  Auch  hier 
bleiben  die  T aus chungs werte  der  bichromatischen  Figuren  hinter 
denjenigen  der  monochromatischen  zurück^)  (XXIV). 

6.  Die  oft  wiederholte  Behauptung,  daß  die  a-Figur  aUgemeiu 
stärker  wirke  als  eine  e-Figur  von  sonst  gleicher  BeschafiFenheit, 
betrifft  keine  allgemein  geltende  Tatsache,  sondern  nur  eine  indi- 
viduelle Verschiedenheit,  da  auch  der  entgegengesetzte  Fall 
vorkommen  kann  (XXV),*)  wobei  noch  ausdrücklich  darauf  hinzu- 
weisen ist,  daß  die  e-Figur  immer  stärker  zu  täuschen  scheint  als 
die  entsprechende  ä-Figur^)  (XXVI). 

d)  Die  ä-Figur  (>     <). 

1.  Die  Täuschungsgröße  einer  achromatischen  heUigkeits- 
gleichen  ä-Figur  nimmt  mit  der  HeUigkeitsverschiedenheit  zwischen 
Grund  und  Figur  ab  ^)  (XXVII).  Sie  tritt  damit  in  Gegensatz  zur 
a-  wie  zur  e-Figur.^) 

2.  Den  Täuschungswerten  der  a-Figur  gegenüber  steUt  die 
ä-Figur  ein  Minimum  ^)  dar  (XXVIII).    Auch  hierin  bemerken  wir 


1)  Ebenda  S.  267. 

2)  Vgl.  I.  §  13,  S.  368  f. 
')  Ebenda  S.  369. 

*)  Vgl.  oben  I.  §  8,  S.  338. 
^)  Vgl.  oben  I.  §  10  und  12. 
")  Vgl.  oben  I.  §  12,  S.  863  f. 
■)  Vgl.  oben  (XVII)  und  (XIV). 
«)  Vgl.  oben  I.  §  12,  S.  363  f. 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  409 

einen  Gegensatz  zur  e-Figur.')  über  dessen  metliodologische  Bedeutung 
die  Punkte  XLII  und  XLIII  dieser  Zusammenfassung  zu  vergleichen 
sind.  —  Wie  das  Täuschungsmaximum  der  e-Figur  aus  den  Ge- 
setzmäßigkeiten helligkeitsverschiedener  e-Figuren  ableitbar  ist, 
so  läßt  sich  das  Täuschungsminimum  der  ä-Figur  aus  den  für 
helligkeitsverschiedene  a-Figuren  geltenden  Gesetzen  verstehen: 
es  stellt  einen  Greuzfall  maximaler  Helligkeitsverschiedenheit 
zwischen  Neben-  und  Hauptlinieu  dar.  Da  die  Täuschung  der 
a-Figur  mit  der  Größe  dieser  Verschiedenheit  abnimmt,  muß  die 
ä-Figur  der  a-Figur  gegenüber  ein  Täuschungsminimum  be- 
deuten (xxrx). 

3.  Chromatische  helligkeitsgleiche  Figuren  ergeben  größere 
Täuschungswerte  als  achromatische  gleicher  Helligkeit.  Auch 
bezüglich  dieses  Punktes  steht  die  ä-Figur  im  Gegensatze  zur  e- 
Figur^)  (XXX). 

4.  Auch  hier  bedeutet  die  G-Eeaktion  eine  Erhöhung,  die  A- 
Reaktion  eine  Herabsetzung  der  Täuschungsgröße  =^)  (XXXI). 

e)  Die  e-Täuschung  der  a-  und  ä-Figur. 

1.  Die  c-d-Distauz  (vgl.  oben  Fig.  6)  sowohl  der  a-  als  der  ä- 
Figur  erscheint  bedeutend  kleiner,  als  sie  in  Wirklichkeit  ist. 
AVir  haben  also  eine  e-Täuschung  vor  uns*)  (XXXII). 

2.  Diese  letztere  ist  für  die  ä-Figur  etwas  größer  als  für  die 
a-Figur^)  (XXXIII). 

3.  Sie  nimmt  mit  der  Abnahme  der  HeUigkeitsverschiedenheit 
zwischen  Grund  und  Figur  zu.  ^)  Ihre  Größe  verändert  sich  um- 
gekehrt mit  der  Größe  der  scheinbaren  Verlängerung  der  Haupt- 
linie einer  a-,  und  direkt  mit  der  Größe  der  scheinbaren  Haupt- 
linienverlängerung einer  ä-Figur  ^)  (XXXIV). 


J)  Vgl.  oben  (XV). 

2)  Vgl.  oben  I.  §  12,  S.  365  f.  und  §  13,  S.  366  ff. 
^)  Vgl.  oben  I.  §  13,  S.  370. 

*)  Vgl.  oben  I.  §  14,  S.  371,  —  für  die  theoretische  Bedeutung  dieses  Um- 
standes  ebenda  S.  373. 

»)  Vgl.  oben  I.  §  14,  S.  372.  l). 

«)  Ebenda  2). 

')  Ebenda  Tab.  XXVIUa. 


410  VlTTORlO   BeNüSSI. 

f)  Die  Winkel-Täuschung  der  a-  und  ä-Figur.  ^) 
Die  ab-Distanz  erscheint  nach  Umständen  bald  größer,  bald 
kleiner*)  als  sie  tatsächlich  ist  (XXXV).  Diese  Täuschungszwei- 
deutigkeit dürfte,  wie  an  anderer  Stelle  zu  erörtern  sein  wird, 
auf  die  Gestaltzweideutigkeit  bzw.  Gestaltmehrdeutigkeit  einer 
Winkel-Figur  zurückgeführt  werden  können. 

g)  Die  p-Figur  (  h-). 

1.  Solange  diese  Figur  als  eine  e-Gestalt  erfaßt  wird,  folgt 
sie  den  für  diese  Figur  geltenden  Gesetzmäßigkeiten^)  (XXXVI). 
Am  größten  fällt  die  Täuschung  beim  Phantasieren  der  Nebenlinien 
(G-Reaktion),  am  geringsten  bei  Nichtbeachtung  der  Punkte,  bzw. 
der  durch  dieselben  begrenzten  linearen  Distanzen*)  (A-Reaktion) 
(XXXVII). 

2.  Bei  G-  und  A-Reaktion  schlägt  die  Täuschung  unter  Um- 
ständen um:^)  die  Hauptlinie  erscheint  nicht  kürzer,  sondern 
länger  als  sie  tatsäclilich  ist.  Diese  Täuschungszweideutigkeit 
ist  durch  die  Gestaltmehrdeutigkeit  *')  der  p-Figur  ermöglicht 
(XXXVIII). 

§  22.  Zur  Methode. 

1.  Überall  dort,  wo  es  sich  um  Komplexe  handelt,  die  dem 
Erfaßtwerden  gegenüber  mehrdeutig  sind  (wie  etwa  ein  e- 
Komplex  der  ohne  und  m  i  t  Produktion  der  e-Gestalt  erfaßt  werden 
kann,  oder  ein  p-Komplex,  der  als  Träger  von  zwei  ganz  ver- 
schiedenen Gestalten  erscheint,")  müssen  die  verschiedenen  Auf- 
fassungsarten A^oneinander  getrennt  zur  Prüfung  gelangen  (XXXIX). 
Die  Konstanz  des  Reizes  garantiert  die  Konstanz  der  subjektiven 


1)  Vgl.  Fig.  6  Distanz  c— c'.    (S.  363). 

")  Vgl.  oben  I.  §  15,  §  373. 

")  Oben  I.  §  11,  S.  355  (3.)  und  III,  §  21,  (VII— XIII.).  Selbstverständlicli 
sind  an  Stelle  der  „Nebenlinien"  die  oberhalb  und  unterhalb  der  Hauptlinie  sicht- 
baren Punkte  einzusetzen. 

•*)  Vgl.  oben  I.  §  11,  S.  353  f.,  —  für  das  Analogen  dazu  bei  der  e-Figur 
I.  §  10  und  oben  (VII-XIII). 

")  Vgl.  oben  I.  §  11,  S.  354. 

«)  Ebenda  S.  357. 

')  Nämlich  < — >  und  ++ 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  411 

ßeaktion  nicht  ini  mindesten.*)  In  unserem  speziellen  Falle  muß 
man  daher  zTsischen  A-  und  G-Reaktion  unterscheiden.  Ohne 
Durchführung  dieser  Trennung  läßt  sich  keine  einzige  (Gestalt)- 
Täuschung  befriedigenderweise  untersuchen  (XL).  Auf  die  Nicht- 
beachtung derselben  sind  Behauptungen  zurückzuführen  wie 
etwa  die  der  angeblich  stärkeren  Wirkung  der  e-  im  Vergleich  mit 
der  a-Figur-),  ebenso  das  Vorkommen  einander  widersprechender 
Aufstellungen  in  betreff  eines  und  desselben  FaUes  von  Gestalter- 
fassung ^)  (XLI),  wofür  der  noch  immer  schwebende  Streit  bezüg- 
lich der  Natur  des  Erfassens  von  Winkeln  das  beste  Beispiel  liefert. 
Handelt  es  sich  um  die  Untersuchung  einer  aus  mehreren 
Teilgestalten  zusammengesetzten  Täuschungsfigur,^)  so  muß,  sobald 
man  den  Einfluß  der  Farbe  auf  die  Inadäquatheit  der  Gestalt- 
vorsteUung  bestimmen  will,  jede  einzelne  Teilgestalt  für  sich 
untersucht  werden  (XLII).  Tut  man  es  nicht,  so  setzt  man  sich 
der  Gefahr  aus,  aus  der  aUfälligen  Konstanz  der  Ergebnisse 
farbenverschiedener  Figuren  auf  Indifferenz  der  Täuschungsgröße 
in  bezug  auf  den  Farbenwechsel  zu  schließen,  indes  in  Wirk- 
lichkeit für  die  Adäquatheit  der  einzelnen  (;Teil-)Gestaltvor- 
stelluugen  die  Farbe  eine  wesentliche  Rolle  spielt  und  die  In- 
differenz der  Adäquatheit  der  komplizierteren  GestaltvorsteUung  ver- 
schiedenen Farben  gegenüber  auf  ein  zufälliges  Zusammentreffen  sich 
entgegengesetzt  verhaltender  Abhängigkeitsbeziehungen  zwischen 
Farbe  und  TeilgestaltvorsteUungen  zurückzuführen  ist   (XLIII). 


§  23.  Zur  Erklärung. 

1.  Daraus,  daß  die  MüLLER-LvERsche  Täuschung  weder  an 
den  Reiz  noch  an  ein  das  Bestehen  der  Täuschung  erfassendes 
Urteil  gebunden  ist,  ergibt  sich,  daß  ihr  Grund  weder  auf  dem 
Gebiete  des  Empfindens  (bzw.  der  Funktion  terminaler  Sinnes- 
apparate) noch  auf  demjenigen  des  Urteilens  gesucht  werden  kann 
(XLIV).^) 


*)  Was  die  theoretische  Bedeutung  dieses  Punktes  anlangt  vgl.  oben  II.  §  17. 

2)  Vgl.  oben  I.  §  8. 

3)  Vgl.  oben  I.  §  15. 

*)  Wie  es  bei  der  e-a-Figur  der  Fall  ist. 
»)  Vgl.  oben  II,  §  17,  S.  381  f. 


^■^2  VlTTORIO   BeNCSSI. 

2.  Sie  stellt  sicli  vielmehr,  ihrer  Abhängigkeit  von  der  A-  und 
G-Reaktion  zufolge,  als  eine  Produktionstäuschung ^)  dar, 
indem  der  Grund  der  inadäquaten  Yorstellungsbildung  nicht  auf 
Inadäquatheit  der  zum  Vorstellen  einer  Gestalt  (eines  Superius) 
notwendigen  Vorstellungen  ihrer  (seiner)  Inferiora  zurückgeführt 
werden  kann,  sondern  auf  dasjenige  Gebiet  geistiger  Betätigung 
verlegt  werden  muß,  auf  dem  sicli  der  Vorgang  abspielt,  der  zur 
Bildung  (Produktion)  einer  Superiusvorstellung  führt  (XLV). 

3.  Als  Kriterien  ^)  der  Produktionstäuschung  sind  anzuführen : 

a)  Die  Unabhängigkeit  der  Täuschungsgröße  vom  Reiz 
und  ihre  wesentliche  Abhängigkeit  von  der  G-Reaktion. 

b)  Die  natürliche  Begrenzung  der  Täuschungsgröße  durch 
vollkommene  A-  oder  G-Reaktion. 

c)  Das  Vorkommen  von  einander  entgegengesetzten 
T  äuschungen    an  g  e  s  t  a  1 1  m  e  h  r  d  e  u  t  i  g  e  n   Inferiorenkomplexen . 

d)  Die  nach  entgegengesetzten  Richtungen  vollziehbare 
Beeinflußbarkeit  der  Täuschungsgröße  durch  Übung  der 
A-  und  G-Reaktion  (XL VI). 

4.  Als  Ursache  der  inadäquaten  VorsteUungsproduktion  ist 
eine  gegenseitige  Beeinflussung  der  in  Realrelation  stehenden  In- 
ferioreninhalte  zu  vermuten.^)  Es  findet  dies  seine  Berechtigung 
in  der  Abhängigkeit  der  Täuschung  von  dem  Erfassen  oder  Nicht- 
eifassen  der  allfälligen  Gestalt  (XL VII). 

5.  Der  Einfluß  der  Farbe  (in  weiterem  Sinne)  auf  die  Größe 
der  Täuschung  ist  darauf  zurückzuführen,  daß  verschiedene  Farben, 
bzw.  Farbenkombinationen  in  verschiedenem  Maße  bald  die  A-, 
bald  die  G-Reaktion  begünstigen  (XL VIII).  ^) 

6.  Dabei  muß  noch  ausdrücklich  bemerkt  werden,  daß  bei 
einem  gestaltmehrdeutigen  Komplex  durch  die  Farbenverschieden- 
heit der  einzelnen  Bestandstücke  oder  Gruppen  (aus  solchen)  das 
Erfassen  der  einen  oder  der  anderen  Gestalt  in  besonderem  Maße 
erleichtert  wird  (XLIX).^) 


')  Ebenda  S.  387. 

2)  Ebenda  S.  385  f. 

")  Vgl.  oben  II,  §  19,  S.  392  f. 

*)  Vgl.  oben  II,  §  20,  S.  395  ff. 

^)  So  z.  B.  bei  der  p-Figur. 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  413 

7.  Die  in  dieser  Weise  produzierten  Gestaltsvorstelluug-en  können, 
wenn  man  von  dem  so  unwalirsclieinlichen  Fall  genauer  Adäquat- 
heit  absieht,  in  zwei  entg-egensetzten  Weisen  inadäquat,  die  In- 
adäquatheit selbst  kann  ferner  über-  oder  untermerklich  sein.  ^)  Dabei 
macht  sich  die  Farbenaufdringlichkeit  geltend,  indem  diejenige 
Gestalt  leichter  und  daher  zunächst  oder  vorwiegend  erfaßt  wird, 
deren  Inferiora  die  aufdringlicheren  Farben  aufweisen  (L). 

8.  Hat  man  dagegen  monochromatische,  nur  dem  Farbenton 
nach  verschiedene  (a-)Figuren  vor  sich  und  zeigt  sich,  daß  ver- 
schiedene gleichhelle  Farben  verschiedene  Täuschungswerte  er- 
geben, so  ist  dies  darauf  zurückzuführen,  daß  verschiedene  Farben 
in  verschiedenem  j\[aße  das  Gestalterfassen  (G-Eeaktion)  zu  er- 
leichtern (bzw.  zu  erschweren)  imstande  sind  (LI).  -) 

9.  Die  Berechtigung,  die  Täuschungsbeeinflussung  durch  die 
Farbe  auf  die  Aufdringlichkeit  dieser  letzteren  zurückzuführen 
entspringt  der  Tatsache,  daß  es  in  einem  FaUe,  nämlich  für  die 
Weiß-Schwarzreihe,  möglich  ist  die  Aufdringlichkeit  der  -ver- 
schiedenen Grauabstufungen  direkt  zu  bestimmen.  ^)  Ergibt  sich 
zwischen  Aufdringlichkeit  und  Täuschungsgröße  eine  konstante 
Beziehung,  *)  so  kann  man  mit  Hilfe  derselben  die  Aufdringlichkeit 
derjenigen  Farben  bestimmen,  für  die  eine  direkte  Bestimmung 
entweder  unmöglich  oder  sehr  unsicher  ist  (LII).  ^) 

10.  Gibt  uns  diese  Tatsache  ein  Mittel  zur  Bestimmung  der 
Farbenaufdringlichkeit  bzw.  der  diesbezüglichen  individuellen  Ver- 
schiedenheiten an  die  Hand,  so  können  wir,  nachdem  wir  fest- 
gestellt haben,  daß  die  Täuschungsgröße  von  dem  Gestalterfassen 
wesentlich  abhängt,  aus  den  bei  spontaner  (A-,G-)  wie  bei  vor- 
geschriebener (G-)Eeaktion  gewonnenen  Werten  auf  die  Fähigkeit 
eines  Individuums,  Gestalten  zu  erfassen,  zurückschließen  (LIII).*') 

11.  Was  die  Stellung  des  Produktionsvorganges  innerhalb  des 
Gegensatzes  von  „aktiv"  und  „passiv"  anlangt,  ist  auf  die  für 
beide  Eeaktionsarten  festgestellte  „Übung"  hinzuweisen.    Insoweit 


')  Vgl.  oben  I,  §  16,  S.  376  ff. 

2)  Vgl.  oben  I,  §  13. 

3)  Vgl.  oben  I.  §  6,  S.  319,  —  und  IL  §  20,  S.  396. 
*)  Vgl.  oben  I.  §  6,  S.  315  ff. 

0)  Vgl.  oben  I.  §  9,  S.  340  ff. 

«)  Vgl.  oben  I.  §  7,  S.  325  f.,  —  und  II.  §  20,  S.  398. 


414  ViTTORIO   BeNÜSSI. 

man  die  Übbarkeit  als  ein  Kiiterium  für  Aktivität  gelten 
läßt,  insoweit  ist  man  in  unserem  Falle  berechtigt,  den  Produktions- 
vorgang als  eine  Form  psychischer  A  k  t  i  v  i  t  ä  t  zu  betrachten  (LIV).^) 


IT.  Kritik. 

§  24.  Die  Konfluxions-  und  Kontrasthypothese 

(MtJLLEE-LYER). 

G.  Müllee-Ltee,  der  1889  die  nach  ihm  benannte  Täuschungs- 
figur in  die  psychologische  Literatur  einführte,-)  gab  von  derselben 
folgende  Erklärung:  Psychophysische  Prozesse,  die  von  benach- 
barten Reizen  ausgelöst  werden,  können  sich  nach  zwei  Rich- 
tungen beeinflussen,  sie  können  „in  der  gleichen  oder  aber  in  der 
entgegengesetzten  Richtung  aufeinander  wirken".  ^)  Für  die  gleich- 
artige Wirkung  des  Nebenreizes  schlägt  er  die  Bezeichnung  „Kon- 
fluxipn",  für  die  entgegengesetzte  den  Terminus  „Kontrast"  vor. 
Der  gegenwärtige  Fall  gehört  zur  ersten  dieser  zwei  Gruppen ;  die 
Täuschung  ist  eine  „Konfluxionstäuschung" ,  indem  ein  Eindi'uck 
im  Sinne  eines  anderen,  begleitenden  verstärkt  Avird.^)  Das 
was  mit  dem  durch  die  Hauptlinie  gegebenen  Reiz  (bzw.  psycho- 
physischen  Prozeß)  „konfluiert",  ist  der  Eindruck  der  nach  oben 
und  nach  unten  immer  verschiedener  werdenden  Raumflächen. ^) 
Weil  diese  verschieden  sind,  scheinen  durch  Konfluxion  auch  die- 
jenigen Distanzen  voneinander  verschieden  zu  sein,  die  in  der 
Tat  gleich  sind.    In  unserem  Falle  soll  man  die  Hauptlinienteile 


>)  Vgl.  oben  I.  §  6,  S.  319  f.,  §  7,  S.  321  ff. 

2)  Du  Büis-Reymonds  Archiv,  f.  Physiol.  1889.    Suppl.-Bd.  S.  266  ff. 
=)  A.  a.  0.  S.  323  f. 

*)  Über    Kontrast    und    Konfluxion   1.   Artikel    Zeitscbr.   f.   Psych.     Bd.  9, 
S.  1—16  (3)  (1896),  und  2.  Artikel,  dieselbe  Zeitschr.  Bd.  10,  S.  421  (1896). 
^)  Geraeint  ist  hier  immer  die  e-a-Figur  mit  folgendem  Typus: 


Die  Eindrücke,  die  miteinander  konfluieren  sollen,  sind  „ab  =  bc"  und 
„de  verschieden  von  ef",  bzw.  „gh  verschieden  von  hi";  mit  anderen 
Worten  und  genauer  eine  Gleichheits-  mit  einer  Yerschiedenheitsvorstellung. 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  415 

deswegen  für  verschieden  groß  halten/)  weil  man  bei  ihrer 
Abschätzung  nicht  nur  die  Linien,  sondern  auch  einen  Teil  des 
zu  beiden  Seiten  derselben  abgegrenzten  Raumes  mit  in  Anschlag 
bringt.  Die  Täuschung  selbst  wird,  ohne  weitere  Begründung,  als 
ürteilstäuschung  hingestellt. 

Was  nun  diese  Behauptung  anlangt,  ist  folgendes  zu  be- 
merken: ist  die  Vorstellung,  die  uns  das  Erfassen  der  a-b-c- 
Distanz  (vgl.  die  Figur  auf  S.  414  Anm.  5)  ermöglicht,  adäquat,  deckt 
sich  mit  anderen  Worten  ihr  Inhalt  mit  demjenigen,  der  uns  das 
Elfassen  von  „a  b  ==  b  c"  ermöglicht,  so  ist  in  keinem  Falle 
möglich,  daß  wir  zum  Urteil  „ab  verschieden  von  bc"  gelangen. 
FäUen  wir  ein  solches ,  so  muß  die  a  b-  Vorstellung  von  der 
b  c- Vorstellung  verschieden  sein;^)  dies  kann  man  nur  dann  be- 
streiten, wenn  man  sich  über  die  subjektive  Evidenz  der  Ver- 
schiedenheitsurteile hinwegsetzt.*'')  Würden  mr  die  Distanz  ab 
nicht  als  von  der  Distanz  b-c  verschieden,  sondern  als  dieser  gleich 
vorstellen,  sie  aber  für  verschieden  von  b-c  „halten" ;  somüßten  wir, 
sobald  wir  uns  eines  jeglichen  Urteilens  entschlagen,  oder  das  irrige 
Dafürhalten  mit  einem  richtigen  vertauschen,  keiner  Täuschung 
mehr  unterliegen,  was  keineswegs  mehr  gelingt.  Auch  wenn  wir 
überzeugt  sind,  daß  ab  =  bc  ist,  stellen  wir  sie  als  verschieden 
vor,  gerade  so  gut,  wie  wenn  wir  uns  überhaupt  von  jeglichem 
Urteil  über  sie  enthalten.  Das  Urteil  spielt  also  beim  Zustande- 
kommen der  Täuschung  keine  Rolle,  und  es  ist  völlig  unsachge- 
mäß, sie  als  Urteüstäuschung  hinzustellen.  Wir  halten  also  ab 
von  bc  verschieden,  weil  wir  sie  als  voneinander  verschieden 
vorstellen,  und  wir  stellen  sie  auch  dann  noch  immer  als  ver- 
schieden vor,  wenn  wk  sie  der  Wahrheit  gemäß  für  gleich 
halten. 

Dies  alles  ist  mehr  gegen  die  Urteilshypothese  als  solche,  als 
gegen  Müller-Lyer  gerichtet,  welcher  letztere  allerdings  nicht 
ohne  Ungenauigkeit  die  Täuschung  zugleich  als  Urteils-  und  als 


1)  Vgl.  Du  Bois-Eeymonds  Archiv.    Suppl.-Baud.  1889.  S.  266 f. 

^)  Vgl.  auch  die  diesbezüglichen  Ausführungen  von  Witasek  :  Über  die  Natur 
der  geometrisch-optischen  Täuschung.    Zeitschr.  f.  Psych.  (Hgg.  Bd.  19,  S.  121 — 126. 

')  Wie  dies  von  Seite  Schumanns  geschehen  zu  sein  scheint.  Vgl.  dessen 
Beiträge  zur  Analyse  der  Gesichtswahrnehmungen.  III.  Zeitschr.  f.  Psych. 
Bd.  30,  S.  321  ff. 


4X6  VlTTORIO   BeNIJSSI. 

Konfluxionstäuschimg  bezeichnet,  —  indes  sie  doch  nur  das  eine 
von  beiden  sein  kann.  Denn  wenn  die  Konfluxion  nur  das  Urteil  irre 
führt,  so  muß  die  Täuschung-  beim  Ersatz  des  irrig-en  durch  ein  rich- 
tiges Urteil  verschwinden ;  bedingt  dagegen  die  Konfluxion  eine  Ina- 
däquatheit der  Vorstellung  der  Strecke  ab-b  c,  so  ist  die  Täuschung 
keine  Urteilstäuschung  mehr,  sondern  eine  Yorstellungstäuschung. 

Ist  nun  letzteres  der  Fall,  dann  erweist  sich  diese  Konfluxions- 
deutung  gegenüber  den  Hauptergebnissen  unserer  Untersuchung 
unzureichend;  denn  benachbart  sind  die  Eindrücke,  bzw.  die 
entsprechenden  psychophysischen  Prozesse  immer  und  unter  aUen 
Umständen,  sobald  man  ein  e-  oder  ein  a-Kollektiv  vor  sich  hat. 
Sie  sind  es  bei  der  A-Reaktion  nicht  weniger  als  bei  der  G- 
Keaktion  und  trotzdem  weist  die  Täuschungsgröße  eine  konstante 
Abhängigkeit  diesen  beiden  Eeaktionen  gegenüber  auf.  —  Ver- 
mag die  in  Rede  stehende  (Konfluxions-)Deutung  diese  Abhängig- 
keit nicht  verständlich  zu  machen,  so  ist  auch  der  Einfluß  der 
Farbe  auf  die  Täuschungsgröße  an  der  Hand  derselben  nicht  zu 
erklären.  Denn  durch  Farbenverschiedenheit  werden  nebenein- 
ander gegebene  psychophysische  Prozesse  in  diesem  ihrem  Neben- 
einander ebensowenig  beeinträchtigt  wie  bei  konstanter  Farbe 
durch  die  A-  oder  G-Reaktion. 

Ebensowenig  vermag  die  Ivonfluxionshj^pothese  das  von  Hey- 
MANS  ^)  festgestellte  Maximum  zu  erklären.  Müller-Lyer  braucht 
dazu  eine  Kontrastwirkung,  wobei  ihm  außer  der  neuen  Hypo- 
thesenlast auch  noch  der  Nachteil  erwächst,  daß  er  keinen  Grund 
für  den  plötzlichen  Umschlag  einer  Konfluxions-  in  eine  Kontrast- 
wirkung anzugeben  vermag.^) 

Von  seinen  weiteren  Behauptungen,  die  Täuschung  müsse  bei 
einem  Neigungswinkel  =  30 "  am  größten  ausfallen,  und  ihrer  ab- 
soluten Größe  nach  dem  WEBEEschen  Gesetze  folgen,  hat  sich  die 
eine  als  irrig  herausgestellt,'")  indes  die  andere  widersprechende 


^)  Quantitative  Untersiichungeu  über  das  „optische  Paradoxon".  Zeitsclir.  f. 
Psych.    Bd.  9,  S.  221  ff. 

^)  Nach  der  im  Vorausgegang-enen  dargelegten  Hypothese  erklärt  sich  da- 
gegen das  ÜEYMAKSsche  Maximum  ohne  Zuhilfenahme  einer  neuen  Hypothese  ein- 
fach durch  eine  Aufdringlichkeitssteigerung  der  e-  und  Aufdringlichkeitsherab- 
setzung der  a-Gestalt  (vgl.  I.  §  14,  —  II.  §  20). 

3)  Vgl.  Heymans,  a.  a.  0.  S.  253. 


Zur  P:!ychologie  des  Gestalterfassens.  417 

Beantwortuiig'eu  eii'alireii  hat,\)  was  auch  verständlich  wird,  wenn 
man  den  bis  jetzt  unbemerkt  gebliebenen  Einfluß  der  A-  und  G- 
Keaktion  in  Erwägung-  zieht,  vor  dessen  Berücksichtigung  jede 
qualitativ  sowohl  als  quantitativ  vorgenommene  Untersuchung  dieser 
Täuschungsiigur  als  nahezu  unbrauchbar  erscheinen  muß. 

Näher  wurde  die  hier  in  Betracht  gezogene  Täuschung  von 
Müller-Lyes,  nicht  untersucht. 

Die  Einwände,  die  anderwärts  gegen  die  Kontrast-  und  Kon- 
fluxionstheorie  erhoben  wurden,  hier  anzuführen,  halte  ich  für 
überflüssig.  Sie  beruhen  teilweise  auf  Mißverständnissen,  teilweise 
stammen  sie  aus  Erklärungsversuchen,  die  der  von  mir  ver- 
tretenen und  für  richtig  gehaltenen  Auffassung  bedeutend  ferner 
stehen,  als  die  Position  Müller-Lyers  selbst.-) 


')  Diese  Behauptung  wurde  von  Binet  (Revue  philos.  1895.)  bestätigt,  von 
Einthoven  (PflItgers  Archiv  f.  die  ges.  Physiologie  Bd.  71  [1—44])  bestritten. 

-)  Vgl.  immerhin  Heymaxs,  a.  a.  0.  S.  234 — 239,  —  Mlller-Lyee,  Zeitschr.  f. 
Psychologie  Bd.  9,  S.  1—16,  und  Bd.  10,  S.  423,  428,  —  Heymans,  Zeitschr.  f.  Psychol. 
Bd.  11,  S.  432,  —  Thiäey,  Philos.  Studien  (Hgg.  v.  Wündt),  Bd.  12,  S.  88,  —  Laska 
Du  Bois-Reymonds  Archiv,  „Über  einige  optische  Urteilstäuschuugen"  (1890) 
S.  326—328,  —  Wündt,  „Geometrisch-optische  Täuschungen",  S.  97. 

Zu  den  Bemerkungen  von  Laska  vergleiche  mau  Müller-Lyer  (Zeitschr.  f. 
Psych.  Bd.  X).  Nach  der  Meinung  dieses  letzteren  würde  mau  sich  in  den  von 
La'ska  angeführten  Fällen  deswegen  täuschen,  weil  man  sich  in  betreff  der  eigent- 
lich zu  vergleichenden  Gegenstände  vergreift.  Dieser  Behauptung  kann  ich  aber 
obwohl  sie  natürlicher  erscheint  als  diejenige  Laskas,  aus  folgendem  Grunde  nicht 
beistimmen:  Wird  die  Länge  eines  Winkelschenkels  deswegen  unrichtig  erfaßt, 
weil  man  beim  Vergleichen  derselben  mit  einer  zweiten  Geraden  nicht  sie  selbst 
allein,  sondern  hin  und  wieder  auch  deren  Projektion  auf  dem  zweiten  (horizon- 
talen) Schenkel  mit  in  Vergleich  zieht,  so  müßte  es  eine  sehr  leichte  Aufgabe 
sein,  die  Täuschung  auf  Null  zu  reduzieren.  Die  Täuschung  besteht  aber  auch 
dann  noch,  wenn  man  ausdrücklich  an  keinerlei  Projektion  denkt  und  zweifellos 
die  richtigen  Vergleichsgegenstände  miteinander  vergleicht.  Sie  hängt  vielmehr 
auch  in  diesem  Falle  an  der  Produktion  einer  bestimmten  Gestalt  und  verschwindet 
nur  beim  Ausbleiben  derselben.  Näheres  kann  ich  an  dieser  Stelle  nicht  bei- 
bringen (man  vergleiche  einstweilen  das  oben  auf  S.  373  f.  bezüglich  der  Adä- 
quatheit der  Winkelvorstelluug  Hervorgehobene). 

WuNDTs  Einwand  (a.  a.  0.  S.  97)  gegen  die  Konfluxionstheorie ,  (die  nach 
ihm  „lediglich  auf  die  Ausmessung  des  ruhenden  Netzhautbildes  gegründet" 
aein  soll),  daU  sie  das  Verschwinden  der  Täuschung  bei  starrer  Fixation  nicht 
zu  erklären  vermöge,  kann  deswegen  nicht  als  ein  solcher  gelten,  weil  1.  die  Kon- 
fluxionstheorie ihrer  Natur  nach  an  die  Fixation  nicht  gebunden  ist,  2.  aber  die 
Täuschung  durch  das  bloße  Fixieren  noch  lange  nicht  beseitigt  wird:  sie  wird 
Meinong,  Untersuchungen.  27 


413  ViTTOßlO  Benussi. 

§  25.  Die  Zurückführung  auf  Winkel  üb  er-  und 
-  u  n  t  e  r  s  c  h  ä  t  z  u  n  g  (Bkentano). 

Der  Konfluxionstheorie  Müllee-Lyer  folgte  1892  Brentanos  ^) 
Zurückfülirungsversucli  auf  die  Überschätzung  spitzer  und 
Unterschätzung  stumpfer  Winkel.  Nach  ihm  liegt  der  „tiefere 
Grund"  dieses  „Gesetzes"  in  der  Tatsache,  „daß  bei  ungleichen 
Größen,  wenn  sie  gleiche  Zuwüchse  erfahren,  das  Wachstum 
der  kleineren  merklicher  ist"  2)  (1).  Es  wird  dies  durch  folgendes 
näher  erklärt: 

„Wenn  z.  B.  eine  Linie  von  1  Zoll  und  eine  andere  von  30 
Schuh  Länge  um  je  einen  Zoll  vergrößert  werden,  so  pflegt  die 
Veränderung  bei  jener  ungleich  mehr  als  bei  dieser  in  die  Augen 
zu  fallen.  Gewiß  hat  jeder  tausendfach  solche  Erfahrungen  ge- 
macht und  wird  ohne  neuen  Versuch  dem  Gesagten  zustimmen. 
Ganz  so  muß  es  sich  nun  auch  bei  Winkelgrößen  verhalten.  Wenn 
z.  B.  ein  Winkel  von  5  Grad  zehnmal  nacheinander  um  weitere 
5  Grad  vergrößert,  und  so  schließlich  in  einen  Winkel  von  55 
Grad  verwandelt  wird,  so  wird  darum  jeder  folgende  Zuwachs 
minder  merklich  sein,  als  der  vorhergehende;  und  auch  der  erste 
schon  minder  merklich,  als  die  ursprünglich  gegebene  Größe  von 
5  Grad,  wenn  wir,  was  ja  anstandslos  zu  gestatten  ist,  diese  wie 
einen  Zuwachs  zu  einem  Winkel  von  0  Grad  betrachten.  Ein 
Zuwachs,  der  merklicher  ist  als  ein  anderer,  wird  nun  begreif- 
licherweise für  größer  gehalten.  Und  so  ist  denn  die  relative 
Unterschätzung  der  großen  und  die  Überschätzung  der  kleinen 
Winkel  etwas,  was  von  vornherein  erwartet  werden  mußte ".^) 

Die  Verbindung  zwischen  der  Winkelüber-  und  -Unterschätzung 
und  der  in  Rede  stehenden  Täuschung  ist  durch  die  Voraussetzung 


im  Gegenteil  dadurch  begünstigt,  sofern  als  sie  bei  einigen  Individuen  das 
Erfassen  der  Gestalt  erleichtert.  (Vgl.  die  später  [§  27]  augeführten 
Bemerkungen  zur  Augenbewegungstheorie  Wundts.) 

1)  Über  ein  optisches  Paradoxon  (Zeitschr.  f.  Psych.  Bd.  3,  S.  349  ff.  und 
Bd.  5,  S.  61  ff.).  Zur  Lehre  von  den  optischen  Täuschungen  (ebenda  Bd.  6,  S.  Iff.). 
Der  Umstand,  daß  bei  Bbentano  Müller-Lyer  nicht  erwähnt  wird,  führte  mit 
sich,  daß  hier  und  da  die  MüLLER-LYERSche  Figur  als  die  BRENTANOSche  be- 
zeichnet wurde. 

^)  Zeitschr.  f.  Psych.  5,  S.  64. 

»)  Ebenda  S.  64,  65. 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  419 

hergestellt,  daß  die  Winkelschenkel  eine  scheinbare  Drehung  um 
einen  in  ihrer  Mitte  gelegeneu  Punkt  beschreiben,  so  daß  es  den 
Eindruck  macht,  als  wäre  der  Scheitelpunkt  nach  innen  (e-Figur) 
oder  nach  außen  (a-Figur)  verschoben  (2). 

ad  1.  Bkentaxos  Erklärung  der  Winkelüber-  bzw.  -unter- 
schätzung  ist  insofern  unnatürlich,  als  man  beim  Anschauen 
eines  Winkels  meist  gar  nicht  in  die  Lage  kommen  wird,  an  seine 
Verschiedenheit  von  Null  oder  daran  zu  denken,  daß  er  aus  einer 
Summe  von  gleichen  immer  weniger  merklich  werdenden  Zu- 
wüchsen entstanden  sein  könnte.  Wäre  dies  aber  beim  \Mnkel- 
erfassen  doch  der  Fall,  so  müßte  ein  stumpfer  Winkel  noch  mehr 
überschätzt  werden  als  ein  spitzer,  da  er  offenbar  noch  merklicher 
von  Null  verschieden  ist;  die  Hauptlinie  einer  a-Figur  müßte  in 
einem  solchen  Fall,  unter  Voraussetzung  der  sub  2  angeführten 
Hypothese,  noch  kürzer  erscheinen  als  die  einer  e-Figur,  —  indes 
das  Gegenteil  gilt.^j 

Versucht  man  die  eben  berührte  Unnatürlichkeit  so  zu  be- 
seitigen, daß  man  mit  Höfler  '-)  annimmt,  die  Eiclitungs-  (genauer 
Lage-)  Verschiedenheit  der  Schenkel  beim  spitzen  Winkel  werde 
überschätzt,  weil  sie  infolge  der  größeren  Nähe  der  Winkel- 
schenkel leichter  aufgefaßt  wird  als  beim  stumpfen,  so  ist  wohl 
zuzugeben,  daß  durch  die  räumliche  Nähe  das  Erfassen  der  Lage- 
verschiedenheit erleichtert  wird,  ebensogut  wie  einzusehen  ist,  daß 
gleiche  Zuwüchse  ungleicher  Größen  bei  den  kleineren  merklicher 
sind  als  bei  den  größeren.  Es  heißt  dies  ja  soviel,  als  daß  größere 
Verschiedenheiten  leichter  erfaßt  werden  als  kleinere.-')   In  keinem 


')  Es  sei  hier  noch  darax;f  hingewiesen ,  daU  nach  derselben  Voraussetzung 
Brentanos  (vgl.  oben  S.  418),  auch  eine  Unterschätzung  spitzer  Winkel  a 
priori  zu  erwarten  wäre:  Ein  Winkel  =5°  kann  nämlich  auch  so  entstanden 
gedacht  werden,  daß  ein  Winkel  :=  90°,  hintereinander  um  je  5**  verkleinert  wird. 
Wie  gleiche  Zuwüchse,  so  sind  sicherlich  auch  gleiche  Abzüge  an  der 
kleineren  Größe  merklicher  als  an  der  größeren.  Die  Abnahme  von  90" 
zu  85"  wird  daher  weniger  merklich  sein  als  die  von  10°  zu  5".  Die  letztere 
Abnahme  müßte  aber  infolge  ihrer  größeren  Merklichkeit  überschätzt  und  der 
in  Rede  stehende  Winkel  =  5"  mithin  unterschätzt  werden. 

^)  Psychologie  (1897)  S.  460.  Über  Krümmungskontrast.  Zeitschr.  f.  Psych. 
Bd.  10,  S.  99  ff. 

')  Vgl.  über  das  Verhältnis  von  Unterschied  und  Verschiedenheit,  Meinong, 
Über  die  Bedeutung  des  WESERscheu  Gesetzes  (Zeitschr.  f.  Psych.  Bd.  6). 

27* 


420  ViTTORIO   BeNUSSI. 

Falle  aber,  weder  dort,  wo  es  sich  um  leicht  fassbare  Lagever- 
schiedenheiten handelt,  noch  dort,  wo  es  sich  um  leicht  merkliche 
Zuwüchse  handelt,  ist  a  priori  einzusehen,  warum  gerade  unter 
Umständen  die  das  Fällen  eines  Vergleichsurteiles  (genauer:  das 
Produzieren  einer  Yerschiedenheitsvorstellung)  erleichtern,  das  Ur- 
teil falsch  (bzw.  die  Vorstellung  inadäquat)  ausfallen  soll,  indes 
doch  natürlicher  wäre  zu  vermuten,  daß  gerade  dann,  wenn  das 
Erfassen  einer  Verschiedenheit  leichter  ist,  es  auch  zu  einem  ge- 
naueren Resultate  füliren  müßte.  Ich  kann  daher,  auch  wenn 
man  die  gewiß  natürlichere  Fassung  Höflees  an  Stelle  der  Bren- 
TANoschen  setzt,  nicht  einsehen,  warum  „die  relative  Unter- 
schätzung der  großen  und  die  Überschätzung  der  kleinen  ^^^inkel 
von  vornherein  zu  erwarten  wäre".  Ob  Winkel  über-  oder  unter- 
schätzt werden,  kann  meines  Erachtens  nur  die  Erfahrung  ent- 
scheiden. ^) 

ad  2.  Auch  nach  Beektano  genügt  die  Winkelüber-  und 
-Unterschätzung  an  und  für  sich  nicht  zur  Ei'klärung  der  Müllee- 
LYEEschen  Täuschung,  vielmehr  ist  noch  die  eigentümliche 
Schenkeldrehung  dazu  erforderlich. 

Konnte  erst  er  es  noch  einen  Schein  apriorischer  Evidenz 
beanspruchen,  so  ist  letzteres  zu  seiner  Legitimation  sicher  aus- 
schließlich auf  die  Erfahnmg  angewiesen,  denn  a  priori  wäre  eine 
scheinbare  Drehung  um  den  Scheitelpunkt  ebensogut  denkbar,  wie 
die  von  Beentano  verlangte.  Als  eine  Erfahrungsinstanz  zu- 
gunsten dieser  letzteren  Auffassung  kann  aber  die  MÜLLEE-LTERsche 
Täuschung  selbst  nicht  angesehen  werden,  wenn  man  sie  als 
eine  Folge  dieser  scheinbaren  Drehung  betrachtet  und  dadurch  er- 
klären wiU.  Eine  derartige  Drehung  müßte  sich  also  auch  dort  nach- 
weisen lassen,  wo  etwa  ein  Winkel  in  gewöhnlicher  Umgebung  vor- 
liegt. Daraufhin  angestellte  Versuche  -)  haben  aber  diese  Erwartung 

*)  Nach  Jastrow  (vgl.  Americ.  Journal  of  Psychology  4  (3)  und  Revue 
scientifique  1892  pg.  689 ff.)  werden  alle  Winkel  unterschätzt;  nach  Über- 
horst (Zeitschrift  f.  Psychol.  13,  54 ff.)  werden  dagegen  nur  die  spitzen  über- 
schätzt, indes  nach  Zehender  dies  von  ihrer  Lage  abhängen  soll  (Zeitschrift 
f.  Psych.  20,  65 ff.).  Worauf  der  Widerspruch  zurückzuführen  ist,  ist  bereits 
oben  angedeutet  worden  (vgl.  S.  373  f.). 

^)  Die  Versuche  bestanden  in  folgendem:  Auf  einer  schwarzen  Messing- 
platte wurde  ein  Winkel  =  60o  mit  einer  Schenkellänge  =  30  mm  so  ausge- 
schnitten, daß  er  die  Stellung  der  linksgelegenen  Nebenlinien  der  bisher  untersuchten 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens. 


421 


nicht  erfüllt;  der  Scheitelpunkt  wird  immer  richtig  lokalisiert, 
d.  h.  also,  seine  scheinbare  Lage  wird  durch  die  „Überschätzung" 
oder  „Unterschätzung"  —  vorausgesetzt,  daß  eine  solche  tatsäch- 
lich besteht  —  nicht  verändert. 

ä-Figiir. 


tZ  I         s")-»^'S'- 


e-Figur. 


Figur  8. 

Da  nun  die  Verbindung  zwischen  der  in  Kede  stehenden 
Täuschung  und  der  Winkelüber-  bzw.  -Unterschätzung  nur  durch 
die  von  Brentaxo  gemachte  Voraussetzung  einer  scheinbaren 
Schenkeldrehung  um  den  Mittelpunkt  hergestellt  werden  kann,  so 
verliert  die  Zurückführung  der  Mülleh-Lyee sehen  Täuschung  auf 
Winkelüber-  bzw.  -Unterschätzung  ihren  einzigen  Halt  durch  den 
in  den  angegebenen  Erfahrungen  liegenden  Nachweis,  daß  eine 
solche  Drehung  nicht  stattfindet. 

MüLLER-LYERSchen  Figur  einnahm.  Beleuchtet  wurde  er  in  durchfallendem  Lichte. 
In  einer  senkrechten  Entfernung  =  40  mm  vom  Scheitelpunkte  konnte  mit  Hilfe 
eines  schwarzen,  horizontal  verschiebbaren  Fadens  eine  weiße  Marke  senkrecht 
zum  Scheitelpunkt  eingestellt  werden. 

Hätte  eine  scheinbare  Verschiebung  des  Scheitelpunktes  wirklich  statt- 
gefunden, so  hätte  die  Marke  erst  dann  senkrecht  zum  Scheitelpunkt  erscheinen 
können.  Avenn  sie  in  Wirklichkeit  —  da  der  Winkel  nach  links  offen  war, 
und  die  Täuschungsgröße  der  entsprechenden  e-Figur  durchschnittlich  =  18  mm 
gesetzt  werden  konnte  —  ungefähr  9  mm  links  vom  Scheitelpunkte  lag.  Da- 
von war  aber  nichts  zu  merken.  Die  Marke  wurde  immer  und  mit  erstaun- 
licher Genauigkeit  senkrecht  zum  Scheitelpunkt  eingestellt. 


422 


ViTTORIO    BbNÜSSI. 


Schließlich  sei  darauf  hingewiesen,  daß  auch,  wenn  gegen  die 
Winkelüber-  bzw.  -Unterschätzung  und  die  Schenkeldrehung  nichts 
einzuwenden  w^äre,  Brentanos  Deutung  mit  den  sonstigen  Ergeb- 
nissen der  gegenw^ärtigen  Arbeit  nicht  in  Einklang  gebracht 
werden  könnte.  Es  sei  beispielsweise,  von  den  allgemeinen  Ab- 
hängigkeitsbeziehungen der  Täuschungsgröße  von  der  A-  und  G- 
Eeaktion  sowie  von  der  Farbenverschiedenheit  der  Figurenkompo- 
nenten abgesehen,  auf  folgendes  hingewiesen.  Drehen  sich  die 
Schenkel  eines  Winkels  a  (Fig.  8)  so,  daß  die  Distanz  zwischen 
wirklichem  und  scheinbarem  Scheitelpunkte  a  ist,  und  werden 
nun  mit  vier  a- Winkel  eine  e-  und  eine  ä-Figur  gleicher  Scheitel- 
punktdistanz (s's'  [ä-Fig.]  =  s"s"[e-Fig.])  liergestellt,  so  müßten  nach 
dieser  Erklärung  e-  und  ä-Figur  unter  allen  Umständen  gleiche, 
wenn  auch  nach  dem  Vorzeichen  selbstverständlich  entgegengesetzte 
Täuschungsw^erte  ergeben,  was  keineswegs  eintritt. 

Durch  direkte  Yergleichung  wäre  das  selbstverständlich  nicht 
zu  konstatieren,  ist  aber  aus  den  Ergebnissen  unserer  Unter- 
suchung unzweideutig  zu  entnehmen.  Ich  greife  aus  den  Ver- 
suchsprotokollen  folgendes  Beispiel  heraus  (Tabelle  XXXIII),  aus 
dem  mit  genügender  Deutlichkeit  zu  entnehmen  ist,  daß  die  e- 
Figur  beträchtlich  mehr  täuscht  als  die  ä-Figur.^) 

TabeUe  XXXIII. 


e-Figur 

a-Figur 

weiß 

grau 

rot 

weiß 

grau        i 

rot 

15,8 

0,30 

16,3 

0,20 

16,5 

0,22 

5,3 

0.40 

6,10 

0,35             i 

5,7 

0,27 

§    26.    Die  Erklärung   durch  das    ,.indirekt  Gesehene" 

(Aüeebach). 

Bevor  ich  auf  die  nun  zunächst  zu  behandelnde  Theorie  Auer- 
bachs^) näher  eingehe,  seien  liier  einige   von  ihm  unternommene 

^)  Weitere  Einwäude  gegen  die  BRENTANosche  Theorie,  die  ich  deswegen 
nicht  erwähne,  weil  sich  diese  Theorie,  wie  gezeigt,  innerlich  bereits  als  unhalt- 
bar erweist,  sind  von  Delboeuf  (Rev.  scientifique  51,  237  ff.),  Heymans  (Zeitschr. 
f.  Psychologie  9,  236  f.),  Lipps  (Zeitschr.  f.  Psych.  3,  498—504),  Müller-Lyek 
(Zeitschr.  f.  Psych.  9,  7  ff.)  und  ThiSry  (Philos.  Studien  12,  89  ff.)  erhoben  worden. 
Sie  bleiben  hier  auch  noch  aus  dem  Grunde  unberücksichtigt,  weil  sie  von  Theo- 
rien ausgehen,  die  sich,  wie  zu  zeigen  sein  wird,  selbst  als  unzureichend  erweisen. 

^)  „Erklärung  der  BBENTANOSchen  optischen  Täuschung"  (Zeitschr.  f.  Psych. 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  423 

quantitative  Bestimmungen  der  Täuschungsgröße  erwähnt.^)  Die  da- 
bei befolgte  Methode  war  die  der  Wahl.  Die  Versuchsperson  mußte 
aus  verschiedenen  ihr  vorgelegten  e-a-Figuren  (  - — '-/ — { ),  bei  denen 
die  e-  (oder  die  a-)  Hauptliuie  konstant,  die  a-  (oder  die  e-)  Haupt- 
linie dagegen  in  ab-  oder  zunehmender  Größe  gezeichnet  war,  die- 
jenige auswählen,  bei  der  ihr  e-  und  a-Hauptlinien  gleich  lang  zu 
sein  schienen.  ,.Ergab  sich  so  als  wirkliches  Verhältnis  der  für 
gleich  gehaltenen  Abschnitte  «:/?,  so  konnte  das  Schätzungsver- 
hältnis wirklich  gleicher  Abschnitte  gleich  /9:a  gesetzt  werden."^) 
Als  Versuchsmaterial  dienten  sechs  e-a-Figuren.  Dabei 
waren  die  e-a-Hauptlinienabschnitte  (=  50  mm)  und  die  Neigungs- 
winkel der  Schenkel  zur  Hauptlinie  (=45")  konstant;  die  Schenkel- 
länge war 

für  die  erste  Figur  =  5     mm 


zweite     „ 

=  7,5 

dritte     „ 

=  10 

vierte     „ 

=  13 

fünfte     „ 

=  16 

sechste    „ 

=  20 

Bei  einer  jeden  dieser  Figuren  wurde  nun  der  e-  (oder  a-) 
Hauptlinienabschnitt  konstant  gelassen,  der  a-  (oder  e-)  Abschnitt 
sechsmal  in  ab-  oder  zunehmender  Größe  gezeichnet,  und  zwar 

7,  152  ff.).  Daß  die  MüLLER-LYERSche  Figur  hier  als  die  BRENTANOSche  bezeichnet 
wird,  beruht  wohl  auf  dem  Umstände,  daß  Auerbach  nur  die  Arbeit  von  Bren- 
tano gekannt  haben  dürfte.    (Vgl.  oben  S.  417  f.  Anm.  2). 

^)  Die  allerersten  messenden  Bestimmungen  stammen  von  Müller-Lyer  selbst 
her  (Du  Bois-Reymonds  Archiv,  f.  Physiol.  1889  Suppl.-  Bd.  S.  266ff.).  Er  fand 
folgende  Werte  für  die  scheinbare  Länge  (e)  einer  Hauptlinie  {—  38  mm) ,  wenn 
deren  Neigungswinkel  («)  mit  den  Nebenlinien  von  0<*  bis  180°  Grad  wandert: 

a  =  30''         I         60"         I         90»         I         120'»        I         150°        1  V.-P. 

e  =  33,3  36.8  39,8  45,5  48,5  1. 

e  =  31,3        I         34,3        |         36,9        |         38,5        |         40,8        |     2. 

Die  scheinbare  Distanz  wurde  durch  zwei  Bleistiftpunkte  auf  einem  Papier- 
bogen markiert.  Für  uns  ist  bei  dieser  Bestimmung  der  Umstand  besonders  er- 
wähnenswert, daß  für  V.-P.  2  die  Täuschungswirkung  der  e-Figur  («  =  30** 
und  60°)  größer  ist  als  diejenige  der  a-Figur  («  =  120°  und  150°).  Und  zwar 
deswegen,  weil  nachher  immer  wieder  behauptet  wurde,  daß  die  a-Figur  „allgemein" 
stärker  wirke  als  die  e-Figur.  (Vgl.  das  von  mir  dieser  Behauptung  auf  Grund 
der  Unterscheidung  von  A-  und  G-Reaktion  entgegengestellte  tatsächliche  Material. 
I.  §  8,  10  und  12.) 

*)  A.  a.  0.  S.  58  f. 


424  ViTTORIO   BeNüSSI. 

„von  Fall  zu  Fall  um  ein  Kleines  verschieden".^)  Auf  Grund 
dieser  Versuche  konnte  Auerbach  feststellen,  daß  die  Täuschung 
bei  zunehmender  Schenkelläng-e  zunimmt.  Diese  Zunahme  wurde 
von  ihm  als  eine  Parallelerscheinung-  zu  der  mit  dem  Zunehmen 
der  Schenkellänge  Hand  in  Hand  gehenden  Zunahme  der  Ver- 
schiedenheit zwischen  den  äußersten  (e-  und  a-)  Abständen  der 
Schenkelendpunkte,  aufgefaßt.-) 

Hätte  Auerbach  die  Schenkellänge  noch  weiter,  über  20  mm, 
zunehmen  lassen,  so  würde  er  die  dabei  eintretende  Täuschungs- 
abschwächung  ^)  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  selbst  beobachtet 
und  zugleich  auch  das  Nichtbestehen  des  von  ihm  angenominenen 
Parallelismus  zwischen  Täuschungsgröße  und  Schenkellänge  und 
mithin  die  Unzulänglichkeit  seiner  Theorie  erkannt  haben. 

Wichtiger  als  diese  beiläufigen  quantitativen  Bestimmungen  sind 
folgende,  wenn  auch  einseitige  durch  Auerbach  unerklärt  ge- 
lassene Aufstellungen:  Die  Täuschung,  behauptet  er,  nehme  1.  bei 
angestrengter  Beobachtung,  2.  wenn  die  Schenkel  dicker  sind  als 
die  Hauptlinie  a  b ,  3.  bei  größerer  Entfernung  der  Figur  vom  Be- 
obachter dagegen  zu,  und  bleibe  4.  fast  gänzlich  aus,  wenn  die 
Scheitelpunkte  deutlich  markiert  oder  Schenkel  und  Hauptlinie 
verschiedenfarbig  sind.  ^)  Zu  diesen  vier  Punkten  ist  auf  Grund 
der  Ergebnisse  der  gegenwärtigen  Untersuchung  folgendes  zu 
bemerken : 

ad  1.  Die  „angestrengte  Beobachtung"  bringt  nur  dann  eine 
Täuschungsherabsetzung  mit  sich,  wenn  sie  angestrengte  (bzw. 
eingeübte)  A-Beobachtung  (d.  h.  A-Reaktion)  ist,  indes  es  eine 
zweite  Beobachtungsart  gibt  (G-Reaktion)  die,  wenn  sie  ange- 
strengt befolgt  oder  eingeübt  wird,  nicht  eine  Herabsetzung, 
sondern  eine  Erhöhung  der  Täuschung  zur  Folge  hat.^) 

ad  2.  Die  Allgemeinheit  der  Behauptung,  die  Täuschung 
nehme  ab,  wenn  die  Schenkel  dicker  sind  als  die  Hauptliuie,  ist 
daraus  zu  erklären,  daß  bei  den  Untersuchungen  Auerbachs  die 
Trennung  von  e-  und  a-Figur  unterblieben   ist.     Unter  den  an- 


')  Ebenda  S.  158. 

-)  Ebenda  S.  159f. 

=■)  Vgl.  Heymans.    Zeitschrift  f.  Psych.  9,  S.  227  f. 

*)  Vgl.  AuEKBACH,  a.  a.  0.  S.  156  f. 

'•)  Vgl.  oben  I.  §  7,  S.  322  f.,  und  III,  §  21,  (II). 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  425 

gegebenen  Umständen  tritt  wohl  für  die  a-Figur  eine  Herabsetzung 
der  Täuschung  ein,  für  die  e-Figur  aber  sowenig,  daß  vieiraehr 
das  Entgegengesetzte  der  Fall  ist')  —  ganz  abgesehen  davon,  daß 
das  Dickersein  der  Schenkel  nur  dann  die  Täuschung  zu  modi- 
fizieren vermag,  wenn  mit  diesem  Dickersein  auch  ein  Aufdring- 
lichersein Hand  in  Hand  geht.  Diese  Täuschungsmodifikation  kann 
sich  dann  je  nach  dem  Aufdringlichkeits Verhältnis  zwischen  Haupt- 
und  Nebenlinien  sowohl  im  Sinne  der  Erhöhung  als  auch  im 
Sinne  der  Herabsetzung  vollziehen.  Die  Veränderung  der 
Schenkel,  ihrer  Dicke  nicht  weniger  als  ihrer  Länge  nach,  kommt 
nur  insoferne  in  Betracht,  als  dadurch  die  A-  oder  die  G-Reaktion 
begünstigt  wird;  an  und  für  sich  sind  beide  Veränderungen  für 
die  Täuschungsgröße  belanglos. 

ad  3.  Gesetzt  den  Fall,  daß  mit  der  Entfernung  der  Figur 
eine  Täuschungszunahme  Hand  in  Hand  gehe,  worüber  bis  jetzt 
widersprechende  Beobachtungen-)  vorliegen,  so  wäre  eine  solche 
Zunahme  am  einfachsten  im  Sinne  der  von  uns  vertretenen  Auf- 
fassung als  eine  Folge  der  durch  die  Entfernung  bzw.  das  scheinbare 
Kleinerwerden  der  Figur  begünstigten  G-Reaktion  zu   betrachten. 

ad  4.  Desgleichen  ist  die  Täusclmngsherabsetzung  bei  Mar- 
kierung der  Scheitelpunkte  als  eine  Folge  der  dadurch  begünstigten 
A-Reaktion  zu  verstehen.  Was  die  durch  Farbenverschiedenheit 
bedingte  Herabsetzung  anlangt,  ist  darauf  hinzuweisen,  daß  dies 
n  u  r  unter  Voraussetzung  einer  dadurch  bedingten  Aufdringlichkeits- 
erhöhung der  Hauptlinie  eintritt,  indes  die  Farben  Verschiedenheit  an 
und  für  sich  eine  Täuschungsherabsetzung  so  gut  wie  eine  Täuschungs- 
erhöhung zu  bedingen  vermag,  je  nachdem  durch  eine  solche  Ver- 
schiedenheit die  A-  oder  die  G-Reaktion  erleichtert,  bzw.  erschwert  wird. 

Soviel  zu  den  von  AueebxVCh  gemachten  Beobachtungen. 


')  Vgl.  oben  I.  §  6  und  12;  III.  §  21,  (VIII  und  XVIII). 

^)  Es  wurde  dies  von  Binet  (Rev.  Philos.  1895.)  bestätigt,  von  Ein- 
thoven dagegen  experimentell  als  unrichtig  nachgewiesen  (Pflügers  Archiv  f. 
Phys.  Bd.  71  pg.  23).  Nach  Thö;rys  allerdings  sehr  dürftigen  Versuchen  sollte 
die  Täuschungsgröße  von  der  Entfernung  nicht  abhängig  sein  (Phil.  Stud.  XII, 
80,  81.)  Die  Verschiedenartigkeit  der  Ergebnisse  zeigt  mit  genügender  Deutlich- 
keit, daß  es  eine  Teilursache  geben  muß,  die  von  allen  bisherigen  Forschern 
übersehen  wurde,  und  auf  deren  Ein-  oder  Ausschaltung  die  Verschiedenheit  der 
Ergebnisse  zurückzuführen  ist.  Sie  liegt ,  wie  wir  jetzt  behaupten  können ,  in 
der  Verschiedenheit  der  (A-  und  G-)Reaktion. 


426  ViTTORIO   BeNüSSI. 

Ihrer  Natur  nach  ist  diese  Täuschung  nach  Aüeebach  „eine 
rein  ph5^siolog'ische  und  überaus  natürlich  und  einfach ;  sie  ist  eine 
Folge  der  Beeinflussung  dessen,  was  man  sehen  soll,  durch  das 
was  man  daneben  noch  indirekt  sieht". ^)  Dabei  ist  aber  diese 
„Wirkung  des  indirekt  Gesehenen"  nicht  als  eine  Wirkung  der 
bei  helladaptiertem  Auge  peripher  herabgesetzten  Sehschärfe,  etwa 
im  Sinne  Einthoveks  .  '^)  zu  verstehen.  Sie  muß  vielmehr  als  die 
\Mrkung  „wahrgenommener"  zur  Hauptlinie  parallel  gezogener 
und  durch  die  Schenkel  ungleich  geteilter  Nebenlinien  betrachtet 
werden.  „Hierdurch  wird  der  Eindruck  der  Hauptlinie  und  ihrer 
gleichen  Teilung  getrübt."^)    Dazu  tragen  zwei  Teilursachen  bei: 

1.  Die  Anzahl  der  parallel  zur  Hauptlinie  indirekt  „wahr- 
genommenen Nebenlinien". 

2  a.  Die  Größe  der  Verschiedenheit  der  äußersten  Abschnitte. 
Die  Täuschung  wird  dabei  mit  der  Länge  der  Schenkel  zu- 
nehmen müssen. 

2  b.  Die  Größe  des  Neigungswinkels.  Da  aber  der  Einfluß 
der  „Nebenlinien"  mit  ihrem  Abstände  von  der  Hauptliuie  ab- 
nimmt, wird  die  Täuschung  bei  einem  mittleren  Neigungswinkel 
(=  45'')  der  Schenkel  zur  Hauptlinie  am  größten  sein. 

Zunächst  wollen  wir  uns,  von  der  augenscheinlichen  Unnatüi'- 
lichkeit  dieser  empirisch  durch  nichts  begründeten  Auffassung  ab- 
gesehen, fragen,  ob  das  zuletzt  Angeführte  auch  tatsächlich  zutriöt. 
Die  Antwort  fällt  negativ  aus.  "Wird  man  auch  die  Ergebnisse 
der  HEYMA^■  sehen  Messungen  nicht  ohne  weiteres  als  definitiv  be- 
trachten können.*)  so  ist  aus  denselben  das  eine  doch  mit  Sicher- 
heit zu  entnehmen,  daß  ein  Täuschungsmaximum  nicht  unter  den 
von  Auerbach  angegebenen  Bedingungen  eintritt,  und  daß  man 
bei  progressiver  Schenkelverlängerung  ohne  Rücksicht  auf  den 
Neigungswinkel  schließlich  zu  einer  Täuschungs  herab- 
setzung^)  gelangt,  indes  nach  Auerbachs  zu  zweit  (2b)  ange- 


')  A.  a.  0.  S.  153. 

^)  „Eine  einfache  physiologische  Erklärung  für  verschiedene  geometrisch- 
optische Täuschungen."  Pflügers  Archiv  f.  d.  gesammte  Physiol.  Bd.  71,  S.  1 — 44. 
(1898).     Vgl.  darüber  weiter  unten  §  28. 

*)  A.  a.  0.  pg.  153. 

*)  Vgl.  weiter  unten  §  30. 

^)  Es  seien  hier  die  von  Heymans  (Zeitschr.  f.  Psych.  9,  S.  235)  gefundenen 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens. 


427 


f  ührter  Teilursache  höchstens  ein  Konstant  bleiben  der  Täuschung 
über  eine  bestimmte  Grenze  hinaus,  nie  aber  eine  Täuschungs- 
herabsetzung zu  erwarten  wäre.  Denn  angenommen,  die  Ver- 
schiedenheit der  Abschnitte  werde  von  einer  bestimmten  Grenze 
an  übersehen,  so  muß  deswegen  die  an  dieser  Grenze  liegende 
Verschiedenheit  selbst  nicht  übersehen  werden.  Sie  müßte  daher 
geradesogut  „wirken"  wie  früher,  ganz  einerlei,  ob  sich  die 
Schenkel  über  diese  Grenze  hinaus  erstrecken  oder  nicht.  Den  Tat- 
sachen gegenüber  erweist  sich  diese  Theorie  also  als. unzulänglich. 

Überdies  läßt  sich  zwischen  derselben  und  den  anfangs 
angeführten  und  zum  Teil  doch  richtigen  Beobachtungen  keine 
Verbindung  herstellen;  denn  wie  ausführlich  gezeigt  worden 
ist,^)  können  die  von  Auerbach  erwähnten  Bedingungen  Ent- 
gegengesetztes zur  Folge  haben,  obwohl  dem  „indirekten 
Sehen"  in  beiden  Fällen  die  gleiche  Gelegenheit  geboten  wird, 
Einfluß  zu  nehmen. 

Anderwärts  erhobene  Einwände  gegen  die  Aufstellungen 
AuEKBACHs  bleiben  auch  hier  unberücksichtigt."^) 


§  27.  Die  Erklärungsversuche  durch  die  Augen- 
bewegungen. 

(BlNET,    VAN    BlERVLIET,    DeLBOEUF,    WuNDT.) 

Die  nächsten  zeitlich  und  inhaltlich   einander  nahestehenden 
Arbeiten,   die  wir  zu  berücksichtigen  haben,  sind  die   1895  er- 


Werte  angeführt.  Dieselben  zeigen,  dali  bei  progressiver  Scheukelverlängerung 
eine  Täuschungsherabsetzimg  eintritt ,  die  aber  zunächst  die  scheinbare  Ver- 
längerung der  a-Figur  betrifft,  indes  die  Täuschung  der  e-Figur  in  viel  weniger 
auffallendem  Maße  abnimmt : 


Figur        Schenken.       15  mm   '   30  mm    |   45  mm    ;   60  mm   '  Beobachtungen 


^  (  Täuschgr. 
n  Var. 

/  Täuschgr. 

W,  Var. 


4,9 

5,6 

7,4 

7,0 

0,65 

o.ne 

0,69 

0,78 

8,3 

10,80 

8,60 

6,60 

0,5 

0,56 

0,.'i8 

0,66 

100 


100 


')  Vgl.  oben  S.  424,  1—4. 

-)  Man  findet  sie  bei  Einthoven  (Pflügers   Archiv.     Bd.  71   [5],   Heymans 
(Zeitschr.  f.  Psych.  9,  236 ff.)  und  Thiery  (Philos.  Studien  12,  88  ff.). 


428  ViTTORio  Benüssi. 

schienenen    experimentellen    Untersuchungen    von    Binet    und   v. 

BlEUVLIET.^) 

Binet  stellte  sich  die  Angabe,  zu  bestimmen  1.  ob  die 
Täuschung  eine  allgemeingültige  sei;  2.  in  welchem  Maße 
die  Täuschungsgröße  a)  durch  die  Größe  der  Figur,  b)  durch 
die  Reihenfolge  der  ihrer  Größe  nach  zu-  oder  abnehmend  ge- 
ordneten Figuren;  c)  durch  das  Alter  der  Versuchsperson  be- 
einflußt werde. 

Dabei  bediente  er  sich  einer  Methode,  die  von  ihm  als 
„direkte"  bezeichnet  wurde.  Sie  bestand  darin,  daß  mit  einer 
konstanten  e-  (oder  a-)  Figur  verschiedene  a-  (oder  e-)  Figuren 
verglichen  wurden,  deren  Hauptlinie  um  je  eine  bestimmte  Größe 
kleiner  (oder  größer)  war  als  die  der  konstanten  (e-  oder  a-) 
Vergleichsfigur.  Aus  welchem  Grunde  diese  Methode  im  Gegen- 
satz zur  Herstellungsmethode  als  „direkte"  bezeichnet  wird,  ist 
freilich  nicht  einzusehen.  —  Wichtiger  als  dieser  doch  nur  äußer- 
liche Umstand  ist  dagegen  die  dieser  Methode  anhaftende  Un- 
genauigkeit,  die  darin  besteht,  daß  eine  Täuschungsfigur  nicht 
mit  einer  einfachen  Geraden  verglichen,  sondern  daß  als  zweiter 
Vergleichsgegenstand  die  entgegengesetzt  wirkende  Figur  gewählt 
wurde.  Man  nimmt  damit  in  erster  Linie  den  Nachteil  auf  sich, 
daß  man  aus  den  Ergebnissen  nicht  ersehen  kann,  wie  sich  die 
Täuschungswirkung  der  e-  zu  der  a-Figur  verhält;  hierzu  aber 
noch  den  weiteren,  daß  man  eine  Variable  nicht  an  einer  Kon- 
stanten, sondern  wiederum  an  einer  Variablen  mißt.  Da  Binet 
darauf  keine  Bücksicht  genommen  hat,  so  sind  Ergebnisse,  die 
auf  diese  Art  gewonnen  wurden,  nach  der  Feststellung  der  Täu- 
schungsabhängigkeit von  A-  und  G-Reaktion  nicht  wohl  zu  ge- 
brauchen, wenigstens  nicht  ohne  einen  berechtigten  Vorbehalt. 

Immerhin  war  es  Binet  zunächst  nur  darum  zu  tun,  zu  be- 
stimmen, ob  die  Täuschung  eine  allgemein  wirkende  sei  oder  nicht, 
obwohl  man  sich  auch  dann  billigerweise  fragen  darf,  1.  wozu 
solche  doch  etwas  umständliche  Versuche  nötig  sind,  da  das  Be- 
trachten einer  einfachen  e-a-Figur  das  Gewünschte  ergeben  würde, 


^)  A.  Binet,  La  mensure  des  illusions  visuelles  chez  las  enfants  (Revue 
phil.  1895.  S.  11  if.)  — van  Biervliet,  Nouvelles  mensures  des  illusions  visuelles 
chez  les  adultes  et  les  anfants  (Revue  phil.  1896.  S.  168 ff.),  wieder  abgedruckt 
in  „Etudes  de  Psychologie"  Paris  1901.     S.  145—166. 


Zur  Ps3'chologie  des  Gestalterfassens. 


429 


—  2.  ob  die  Bejahung  der  Frage  nach  der  Allgemeingültigkeit  der 
Täuschung  auf  Grund  einer  Prüfung  von  etwa  20  bis  40  Personen 
auch  genügend  sicher  gestellt  erscheint. 

Im  einzelnen  kam  Binet  zu  folgenden  ,.Resultaten" : 

1.  Die  Täusclmngsgröße  verändert  sich  umgekehrt  mit  der 
Größe  der  Figur. 

2.  Sie  fäUt  etwas  größer  aus,  wenn  die  verschiedenen  Figuren 
in  abnehmender  Reihenfolge  vorgenommen  werden. 

3.  Sie  ist  für  Kinder  größer  als  für  Erwachsene.') 
Betrachten  wir  diese  Ergebnisse  als  tatsächlich  geltend,-)  so 


^)  BiNETS  numerischen  Ergebnisse  stelle  ich  in  folgender  übersichtlichen  Tabelle 
zusammen : 


Große  a-Figur 


e-Vergleichsfigur  ' 

in  zu  nehm.  Große     in  ab  nehm.  Größe 


M.  T. 


Kleine  e-Figur 


a-Vergleichsfigur  j ,, 

in  znnelim.  Giößejin  abuehm.  Größe! 


Täuschgr. 
Var. 

Täuschgr. 
Var. 


1,85 

0,75 

2,40 

1,0.5 


Täuschgr.  1,92 

Var.  0,96 

Täuschgr.  2,70 
Var.        !  0,89 


1,88 


2,55 


Täuschgr.  |0,54 
Var.  0,17 

Täuschgr.  |0,64 
Var.  0,21 


Täuschgr.  0,60    q  ►- 

Var.  0,13  j     ' 

Täuschgr.  [0,86  j  ^  ^. 
Var.  0,15        ' 


^)  Versuche,  die  im  hiesigen  psychologischen  Laboratorium  mit  Kindern  an- 
gestellt wurden,  zeigten,  daß  die  Ergebnisse  von  Binet,  wenn  nicht  auf  ein  allzu 
summarisches  Verfahren,  zweifellos  auf  ein  zufälliges  Zusammentreffen  von  spon- 
tan zur  A-Reaktiou  hinneigenden  Versuchspersonen  zurückzuführen  sind.  Unter 
den  Kindern  nicht  weniger  als  unter  den  Erwachsenen  gibt  es  solche,  die  zur  G- 
und  solche  die  zur  A-Reaktion  von  Natur  aus  neigen  und  daher  bei  S-Reaktion 
entweder  sehr  große  oder  sehr  kleine  Täuschungswerte  zustande  bringen.  Als 
Beleg  hierfür  seien  die  Ergebnisse  einiger  Versuchsreihen  an  e-  und  e-Figuren 
mitgeteilt. 

Tabelle. 


. 

Spontane  G-Reaktion 

B 

Spontane  A-Reaktion 

.. 

s^ 

>  » 

Farbe  |  weiß  |  grau  j  weiß 
Zahl  1    1.    1    2.    1    3. 

33   m 

(U   tu 

Farbe  |  weiß  |  grau 

weiß 

> 

Zahl 

4.     1    5. 

6. 

> 

1.  vn. 

.     t 

T. 

10.50 

13,63 

11,00 

T. 

5,70 

1,15 

-0,25 

22.  VI 

1904 

"x 

V. 

g-    ^ 

V. 

81' 

1904 

30.  VI. 
1904 

M 

T. 
V. 

8,60 

12,15 

11,65 

fk 

S.    '. 

T. 
V. 

6,20 

0,78 

0,92 

sd 

22.  VI. 
1904 

30.  VI. 

( 

T. 

7,75 

12,25 

10,80 

T. 

4,20 

2,91 

4,80 

sd 

24.  VI. 

1904     '•) 

V. 

le 

3.  l 

V. 

(e) 

1904 

24.  VI.  ^  / 
1904    "^•\ 

T. 

V. 

12,20 

16,40 

13,10 

mw 

ms.^ 

T. 
V. 

4,10 

3,30 

2,00 

ms 

28.  VI. 
1904 

28.  VI.        ( 

T. 

12,10  13.12 

l.S,73 

mw 

T. 

4,10 

3,60 

4.20 

28.  VI. 

1904 

'"•i 

V. 

(S) 

e.  c 

V. 

eu 

1904 

Aus  dieser  Tabelle  ist  außer  dem  bedeutenden  Abstand  zwischen  den  (S-)G- 


430 


ViTTORIO   BeNUSSI. 


Wäre  das  sub  3  verzeichnete  vom  Standpunkte  unserer  Auffassung 
aus  sehr  leicht  verständlich,  indem  Erwachsene  ganz  unwillkürlich 
mehr  auf  die  A-  als  auf  die  G-ßeaktion  hin  arbeiten  werden. 
Dagegen  würde  man,  von  derselben  Voraussetzung  ausgehend,  das 


und  (S-)A-Kurveii ,  (vgl.  die  graphische  Darstellung)  noch  deren  entgegenge- 
setzter Verlauf  bemerkenswert.  Ersteres  läßt  sich,  wie  bemerkt,  durch  spontane 
Neigimg  entweder  zur  G-  oder  zur  A-Reaktion  verstehen ;  letzteres  findet  im 
folgenden  Umstand  seine  Erklärung:  Neigt  eine  Versuchsperson  von  Natur  aus 
zur  G-Reaktion;  d.  h.  ist  ihr  beim  Anblick  des  gebotenen  Linienkomplexes  die 
durch  denselben  gegebene  e-Gestalt  aufdringlicher  als  ein  Bestandstück  (Haupt- 
linie) dieses  Komplexes,  so  wird  diese  Reaktion,  bei  helligkeitsgleicheu  Figuren, 
durch  die  Aufdringlichkeitsveränderung  der  Nebenlinien  (die  dann  vorliegt,  wenn 
die  Figur  grau  ist)  weniger  modifiziert  als  durch  die  der  Hauptlinie;  es  muß 
daher,  wenn  die  Aufdringlichkeit  der  Hauptlinie  zunimmt,  eine  Täuschungsherab- 
setzung eintreten,  weil  durch  diese  Zunahme  die  G-Reaktion  erschwert  wird. 

Graphische  Darstellung. 


mm 

1      \       2       \       3 

Curre 

i-      \       5      \      e 

771771 

19 
18 

n 

IG 
15 

li 

13 

12 
U 
10 

s 
s 

7 
e 

5 

i- 

3 
2 
1 
0 

1 
2 

13 
J8 

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15 

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J3 

IZ 

^ 

10 
9 
8 
7 
6 
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3 
2 
1 
0 
1 
2 

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^V^ 

^ 

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1 

^ 

^ 

>r 

\ 

^ 

-"^-^^ 

Für  diejenigen  Versuchspersonen,  die  zur  A-Reaktion  (d.  h.  zur  Analyse  der 
Hauptlinie  bei  Nichtbeachtung  der  e-Gestalt)  neigen,  muß,  da  schon  bei  helleren 
Figuren  trotz  der  größeren  Aufdringlichkeit  sämtlicher  Komponenten  (und  ins- 
besondere der  der  e-Gestalt)  die  Nebenlinien  wenig  berücksichtigt  werden,  dies 
um  so  mehr  bei  dunkleren  Figuren  der  Fall  sein. 

Näheres    über    die    ganze    Angelegenheit    wird    an    anderer    Stelle    beizu- 
bringen sein. 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  431 

Umgekehrte  von  dem  siib  1  angefülirten  erwarten  dürfen,  da  es 
von  vornherein  natürlich  erscheint,  daß  die  G-  gegenüber  der  A- 
ßeaktion  begünstigt  werde,  wenn  die  Komponenten  verhältnismäßig 
klein  sind.  Dies  wird  aber  wieder  nur  innerlialb  gewisser  Grenzen 
seine  Richtigkeit  haben,  indes  man,  wenn  man  sich  die  von  Binet 
verwendeten  Figuren  vorhält,  ganz  sicher  zugeben  wird,  daß  das 
Erfassen  der  Gestalt  bei  der  größeren  Figur  sich  in  höherem  Maße 
aufdrängt  als  bei  der  kleineren.^)  Das  sub  2  Verzeichnete  ist  als 
Richtungsfehler  zu  betrachten. 

Zum  Schlüsse  trachtet  Binet  den  Anteil  der  e-  und  a-Figur 
an  der  Gesamttäuschung  zu  bestimmen.  Wieder  sucht  er  das 
nicht  auf  dem  einfachen  Wege  des  Yergleichens  einer  e-  (bzw.  a-) 
Figur  mit  einer  einfachen  Geraden  zu  erreichen,  sondern  folgender- 
maßen: Nachdem  für  eine  a-Figur,  deren  Hauptlinie  20  mm  be- 
trug, eine  Täuschung  =  5,1  mm  gefunden  war,  -^urde  eine  ihr 
gleich  erscheinende  in  Wirklichkeit  aber  26  mm  lauge  (e-)Figur 
mit  einer  Geraden  verglichen,  wobei  sich  ein  Täuschungswert 
=  1,3  mm  ergab.  Daraus  zieht  Binet  den  Schluß ,  daß  eine  e- 
Figur  etwa  4 mal  weniger  „täusche"  als  eine  a-Figur,-)  —  eine 
Behauptung,  die  wohl  nach  ihm  immer  wieder  wiederholt  wurde,^ 
in  der  aber  nicht  mehr  als  eine  individuelle  Besonderheit  zu  er- 
blicken ist.-^) 

Theoretisch  sind  nach  Binet  diese  Täuschungsfälle  so 
zu  verstehen,  daß  der  Blick  (die  Bewegung  des  Auges)  einmal 
(bei  der  a-Figur)  die  Endpunkte  überschreitet,  das  andere 
Mal  aber  (bei  der  e-Figur)  diese  nicht  ungestört  erreichen  kann. 

Die  (angeblich)  größere  Täuschung  der  a-Figur  soll  sich  nun 
durch  den  Umstand  erklären,  daß  der  Antrieb  zur  Fortsetzung 
der  Bewegung  über  die  Scheitelpunkte  hinaus  bei  Betrachtung  der 
a-Figur  stärker  sei  als  der  Antrieb  zur  Einwärtsbewegung  bei 
Betrachtung:  der  e-Fisrur. 


')  Die  Größenverhältnisse  der  großen  und  kleinen  Figur  waren  folgende: 

Große  Figur:  Hauptlinie  =  100  min,  Schenkellänge  =  40  mm,  Neigungs- 
winkel der  Sehenkel  mit  der  Hauptlinie  =  135°.  —  Kleine  Figur:  Hauptlinie 
20  mm,  Schenkellänge  =  8  mm,  Neigungswinkel  =  135". 

*)  Die  Uugenauigkeit  dieses  Verfahrens  braucht  wohl  nicht  ausdrücklich 
klargelegt  zu  werden. 

')  Vgl.   darüber  weiter  oben  I.  §  8,  S.  338 f.  und  III.  §  21,  (XXV). 


432  ViTTOHIO   BeNUSSI. 

Es  scheint  Binet  entgang-en  zu  sein,  daß  sich  aus  obiger 
Voraussetzung  auch  das  Gegenteil  von  dem  Gesagten  ableiten 
läßt.  Man  könnte  nämlich  auch  meinen,  es  müsse  die  e-Figur 
stärker  wirken  als  die  a-Figur.  weil  die  störenden  Schenkel  bei 
e-  in  das  „Gesichtsfeld",  auf  dem  die  „Abtastung"  durch  den  Blick 
vor  sich  geht,  hineinragen,  während  sie  bei  der  a-Figur  jenseits 
dieses  „Gesichtsfeldes"  bleiben.') 

Eine  größere  Täuschungswirkuug  der  e-  gegenüber  der  a- 
Figur  tritt,  wie  wir  festgestellt  haben,-)  unter  Umständen  tat- 
sächlich ein.  nämlich  bei  S-Reaktion,  wenn  die  e-Gestalt  aufdring- 
licher ist  als  die  a-Gestalt,  oder  wenn  man  bei  Betrachtung  der 
e-Figur  die  G-  und  bei  Betrachtung  der  a-Figur  die  A-Reaktion 
vorschreibt.  Die  e-Figur  kann  also  unter  bestimmten  Umständen 
sowohl  größere  als  kleinere  Täuschungswerte  ergeben  wie 
die  a-Figur, 

Stehen  somit  derselben  (von  Binet  angegebenen)  Teilur- 
sache zwei  entgegengesetzte  Wirkungen  gegenüber,  so  ist  diese 
Teilursache  an  und  für  sich,  auch  wenn  sie  vorliegt,  jedenfalls  für 
das  Verständnis  der  Wirkung  unzureichend.^)  Eine  Verbindung 
zwischen  der  eben  erwähnten  Hypothese  und  den  sub  1 — 3  ange- 
führten Ergebnissen  ist  durch  Binet  nicht  herzustellen  versucht 
worden.*) 

Die  Unzulänglichkeit  der  BiNETschen  Hypothese  ergibt  sich 
nun  auch  noch  aus  folgendem. 

Erstens  vermag  sie  den  mancherlei  Abhängigkeitsbeziehungen 


^)  Vgl.  auch  Müller -Lyer,  Über  Kontrast  und  Konfluxiou.  Zeitschr.  f. 
Psych.  10,  S.  474. 

«)  Vgl.  weiter  oben  I.  §  8,  S.  338  f.  und  III.  §  21,  (XXV). 

^)  Vgl.  auch  meine  Untersuchungen  „Über  den  Einfluß  der  Farbe  auf  die 
Größe  der  ZöLLNERSchen  Täuschung".    Zeitschr.  f.  P.sych.  29,  S.  264 ff.  (315,  316). 

*)  Davon  ist  das  sub  1)  uud  3)  Angeführte  von  Thi^iry  —  nach  welchem 
die  Täuschungsgröße  dem  WEBERschen  Gesetze  folgen  soU  (Phil.  Stud.  XII,  81) 
—  und  TelIatnik,  der  im  Einklänge  mit  unseren  oben  mitgeteilten  Versuchen 
die  Indifferenz  der  Täuschungsgröße  in  bezug  auf  das  Alter  des  Beobachters 
festgestellt  hat  (Psych.  Rundschau.  Hgg.  v.  Bechterew,  [russisch]  I,  S.  275—281 
1896,  ein  Bericht  darüber  ist  in  der  „Äunee  psychologique"  4,  S.  495  ff.  zu  finden) 
bestritten  worden.  Man  vergleiche  außer  dem  oben  von  uns  Beigebrachten  die 
Bemerkungen  von  Heymans  (Zeitschr.  f.  Psych.  9,  S.  253);  Einthoven  (Pflügebs 
Archiv,  71,  S.  23,  31,  32)  und  Hbnry  (Annee  psychologique  4,  S.  513). 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  43B 

zwischen  der  Täiischungsgröße  und  dem  Größenverhältnis  der  Figuren- 
komponenten zueinander  nicht  Rechnung  zu  tragen/)  indes,  wie 
oben  gezeigt  worden  ist,  diese  Beziehungen  sich  vom  Standpunkte 
unserer  Theorie  anstandlos  als  Folge  von  G-  oder  A-Eeaktions- 
erleichterung  verstehen  lassen. 

Zweitens  vermag  sie  die  Tatsache  nicht  zu  erklären,  wes- 
halb dieselbe  Täuschung  auch  auf  dem  Gebiete  der  durch  Tasten 
erreichten  Eaumerfassung  zum  Vorschein  kommt,-)  indes  es  nach 
der  von  uns  vertretenen  Theorie  ganz  nebensächlich  erscheint,  aut' 
Grund  welcher  Sinneseindrücke  eine  bestimmte  Gestaltvor- 
stellung produziert  wird;  nur  auf  die  Beschaffenheit  dieser  Vor- 
stellung, bzw.  auf  die  gegenseitige  Beeinflussung  von  untereinander 
in  Reakelation  stehenden  Inhalten  kommt  es  an,  nicht  aber  auf  die 
(Inferius-)  Inhalte  für  sich  oder  auf  deren  Provenienz.^) 

Drittens  erweist  sie  sich  der  Tatsache  gegenüber,  daß  die 
Täuschung  bei  momentaner  Beleuchtung  sogar  erhöht  wird,  als  un- 
zureichend.^)   Nach  unserer  Auffassung  erklärt  sich  dies  durch  den 


')  Geschweige  denu  den  im  Laufe  der  gegenwärtigen  Untersuchung  fest- 
gestellten Beziehungen  zwischen  Täuschuugsgröße  und  Farbe. 

^)  Vgl.  Robertson,  „Geometric.-optical"  lUusions  in  Touch  (Stud.  fr.  Psych. 
Lab.  Univ.  of  Cal.  VI)  Psych.  Review  (1902)  9,  549—568,  und  Pearce,  „Über 
den  Einfluß  von  Nebenreizen  auf  die  Raumwahruehmung."  Archiv  f.  die  gesarate 
Psychologie  1,  30  ff.  (1903). 

')  Vgl.  oben  IL  §  17  und  III.  §  23,  (XLIVf.). 

*)  Vgl.  Einthoven,  Pflügers  Archiv  71,  34.  Die  von  ihm  bei  dauernder 
und  momentaner  Beleuchtung  gefundenen  Werte  sind  folgende: 


Figur 

Beleuchtung 

Hauptlinie 

Schenkellinie               ^ 

momentan              dauernd 

75  mm 
75  mm 
75  mm 

9  mm 
25  mm 
50  mm 

30« 
20» 
70° 

7,47 
15.35 
11,16 

8,17 

14.48 

8,74 

Daraus  ergibt  sich,  daß  die  Augenbewegungen  für  das  Bestehen  der 
Täuschung  von  keinem  Belang  sind.  Sie  scheinen  vielmehr  dieselbe  etwas  abzu- 
schwächen. Es  erklärt  sich  dies,  nach  unserer  Theorie,  aus  einer  durch  die  Be- 
wegungen des  Auges  längs  der  Hauptlinie  bedingten  Erleichterung  der  A-  gegen- 
über der  G-Reaktion.  (Vgl.  für  die  analoge  indirekte  Rolle,  die  den  Bewegungen 
des  Auges  in  bezug  auf  die  Größe  der  ZöLLNERSchen  Täuschung  zukommt,  meine 
Untersuchungen  über  die  Zölln.  T.  in  Zeitschr.  f.  Psych.  29,  S.  309—316.  II. 
Neben  reihe). 


Meinong,  Untersuchungen. 


28 


434 


ViTTORIO   BeNÜSSI. 


Umstand,  daß  bei  leicht  faßbaren  Figuren  die  Gestalt  selbst  eine 
größere  Aufdringlichkeit  besitzt  als  ihre  einzelnen  Bestandstücke.  ^) 

Dies  alles  läßt  sich  auch  den  Aufstellungen  von  van  Biervliet, 
Delboeuf,  Wundt  und  Einthoven  entgegenhalten. 

Nach  VAN  Biervliet  ")  soll  die  Täuschung  der  a-Figur  da- 
durch bedingt  sein,  daß  wir  bei  Betrachtung  dieser  Figur  zu 
spät  zum  Bewußtsein  des  Richtungswechsels  gelangen,  —  die  Täu- 
schung der  e-Figur  aber  dadurch,  daß  wir  infolge  eines  anta- 
gonistischen Spieles  verschiedener  Augenmuskel  nie  zu  den  End- 
punkten gelangen  können. 

Aus  dem  oben  zur  Theorie  Binets  bereits  angeführten  ergibt 
sich  die  Unhaltbarkeit  dieser  „Erklärung"  von  selbst.  Was  da- 
gegen das  Tatsächliche  der  Versuche  v.  Biervliet  anlangt,  so 
konnte  er  mit  Hilfe  einer  allerdings  wenig  zweckmäßigen  Yer- 
suchsanordnung  ^)  „feststellen", 


1)  Vgl.  oben  I,  §  7,  S.  333. 

2)  A.  a.  0.  S.  1521 

')  Als  Versuchsmaterial  bediente  er  sich  verschiedener  Reihen  von  a-Figuren. 
Dabei  blieb  die  eine  Figur  konstant  und  mußte  mit  sonst  gleichbeschaff euen,  nur 
der  Hauptlinie  nach  um  je  1  mm  voneinander  verschiedenen  a-Figuren  verglichen 
werden.  Diese  variablen  Figuren  wiesen  dann  gruppenweise  verschiedene 
Neigungswinkel  der  Nebenlinien  auf.  Es  gelangten  6  Serien  von  a-Figuren  zur 
Prüfung.  Dabei  war  die  Hauptlinie  der  ersten  Figur  jeder  Gruppe  =  10  cm, 
die  Nebenlinien  der  Figuren  beider  Gruppen  waren  4  cm  laug.  Die  Neigungs- 
winkel der  konstanten  Vergleichsfiguren  wiesen  folgende  Werte  auf:  30",  60". 
90°,  120*'.  150**  und  180**.  Die  variablen  Vergleichsfiguren  waren  der  Länge  ihrer 
Hauptlinien  nach,  wie  bemerkt,  um  je  1  mm  verschieden.  Bezeichnen  wir  die 
Figur  bei  der  der  Neigungswinkel  =  30°  war  mit  X ,  die  zweite  bei  der  der 
Winkel  =  60"  war,  mit  X*  und  so  fort,  so  können  wir  die  Ergebnisse  von 
V.  BiEBVLiET  in  folgender  Tabelle  zusammenstellen : 


Figur : 

verglichen  mit: 

Differenz  zwischen 
^  und  2^ 

Täuschung 

Variation 

X  (^  =  30) 

X^     (^'=   60») 

30° 

3,3  mm 

0,4  mm 

X(        „        ) 

X»     (  „    =   90«) 

60° 

4,4    „ 

0,3    „ 

X(        „        ) 

X«     (  „    =120°) 

90° 

5,4    „ 

0,4     „ 

X  (        „        ) 

X*     (  „    =150°) 

120° 

6.5     „ 

0,7     „ 

X(       „        ) 

X*     (  „    =180°) 

150° 

10,0    „ 

1,0    „ 

Daraus  entnimmt  man ,  daß  die  Täuschung  mit  der  Zunahme  der  Differenz 
zwischen  ^  und  2^  zunimmt  (S.  179). 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  435 

1.  daß  die  Täuschung  mit   der  Größe  des   äußeren  Neben- 
i  n  i  e  n  w  i  11  k  e  1  s .  abnimmt, 

2.  daß  sie  bei  binokularem  und  monokularem  Sehen 
gleich  g:roß  ausfällt, 

3.  daß  Kinder  der  Täuschung   mehr  unterliegen   als  Er- 

2  1 

wachsene  (die  Täuschung  soll  bei  jenen  ^„,    bei    diesen   ^a   der 

Hauptlinienlänge  betragen), 

4.  daß  die  Täuschung  bei  Nachbildern  und  bei  momentaner 
Beleuchtung,  bzw.  bei  starrer  Fixikation  verschwindet.^) 

Den  drei  ersten  Punkten  ist  nichts  entgegenzuhalten,  was 
nicht  bereits  den  analogen  „Feststellungen"  Bixets  entgegenge- 
halten worden  wäre.  Nur  bezüglich  des  letztgenannten  Punktes 
(4)  muß  ich  auf  das  Vorhandensein  entgegengesetzter  Erfahrungen 
hinweisen,  nach  welchen  die  Täuschung  sowohl  bei  Nachbildern '') 
als  bei  anhaltender  Fixation  und  Momentbeleuchtung  eintreten  soll.^) 

Zu  den  Versuchen,  die  in  Kede  stehende  Täuschung  aus  den 
Augenbewegungen  zu  erklären,  gehören  außer  den  eben  erwähnten 
noch  diejenigen  von  Delboetjt*)  und  Wundt,^) 

Nach  WuNDT  soll  der  Täuschungsgrund  darin  gelegen  sein, 
„daß  eine  Strecke,  die  durch  Fixationslinien  ein  Motiv  (=  Antrieb) 
zur  Fortsetzung  der  Bewegung  in  gleicher  Kichtung  enthält, 
größer;  und  dagegen  eine  andere  Strecke,  die  durch  ebensolche 
Linien  von   entgegengesetzter  Richtung  ein  Motiv  zur  Hemmung 


^)  So  ai;cli  Helmholtz,  Physiol.  Optik.  S.  709.  —  Vgl.  dagegen  Wündt, 
„Geom.-opt.  Täuschungen"  S.  89. 

-)  Vgl.  BoüRDON,  La  perception  visuelle  de  Tespace,  (Bibliotheque  de 
pedagogie  et  de  psychologie  publ.  p.  A.  Binet  IV),  Paris ,  Schleicher ,  1902 
S.  304  ff.  Seine  Versuche  an  Nachbildern  galten  zunächst  der  ZöLLNERSchen 
Figur.  Dabei  bemerkte  er,  1.  daß  das  Nachbild  freilich  blasser  war,  als  die  ge- 
zeichnete Figur,  2.  daß  die  Täuschung,  wenn  auch  zweifellos  vorhanden,  immer- 
hin merklich  herabgesetzt  war.  —  Letzteres  ist  aus  unseren  Untersuchungen 
über  den  Einfluß  der  Farbe  auf  die  Größe  der  ZöLLNERschen  Täuschung  (Zeitschr. 
f.  Psych.  29  —  I.  Versuchsreihe  S.  278— ;-^00)  ohne  jede  Schwierigkeit  zu  ver- 
stehen ;  es  ist  auf  die  im  Nachbilde  reduzierte  Helligkeitsverschiedenheit  zwischen 
Grund  und  Figur  zurückzuführen. 

')  Vgl.  S.  434  Anm. 

*)  ßevue  scientifique  51,  237—31  (1893). 

*)  „Die  geometrisch-optischen  Täuschungen."  (Abb.  d.  math.-phys.  Cl.  d. 
k.  Sachs.  Ges.  d.  Wiss.  24  [II],  S.  53-178). 

28* 


436 


ViTTORIO   BeNTJSSI. 


der  Bewegimg  enthält,  kleiner  geschätzt  wird  als  eine  gleich 
große  Strecke,  bei  deren  Dnrchmessmig  solche  Motive  nicht  wirk- 
sam sind."  ^)  Gestützt  wird  diese  Auffassung  darauf,  daß ,  wenn 
man  um  die  Endpunkte  einer  Geraden  je  einen  Kreis  beschreibt, 
-die  Täuschung  in  bezug  auf  die  Länge  dieser  Geraden  größer 
ausfällt,  sobald  man  die  Kreisflächen  mit  zur  Hauptlinie  Parallelen, 
kleiner  dagegen,  sobald  man  sie  mit  zur  Hauptlinie  senkrechten 
Linien  ausfüllt. 

Ganz  ähnlich  drückt  sich  Delboeuf  aus,  von  dem  auch  die 
ebenerwähnten  Figuren  stammen.^)  Er  meint,  die  Täuschung  sei 
aus    der   Anziehung   oder  Zurückhaltung   des   Blickes    durch   die 


1)  a.  a.  0.  S.  102  (S.  51  des  S.-A). 

2)  a.  a.  0.  S.  247  ff.  Dieselben  wurden  von  Thiäry  (Phil.  Stud.  XII.  S. 
110 ff.)  einer,  wenn  auch  nur  beiläufigen  Messung  unterzogen.  Ich  stelle 
seine  Ergbenisse  in  folgender  Tabelle  zusammen.  Dabei  bezeichnet  A  die  Figur 
mit  unausgefüllten  Kreise,  B  diejenige,  bei  der  sie  mit  horizontalen, 
C  diejenige,  bei  der  sie  mit  senkrechten  Geraden  ausgefüllt  wurden,  aa', 
bb',  cc'  bezeichne  die  Hauptliuien  der  Figuren  A,  B  und  C,  —  aa',  bb',  cc',  die 
Gesamtlänge  dieser  Figuren.  —  Dabei  war  aa' =  bb' =  cc' =  34,-5  mm;  aa'  = 
1)  b'  =  c  c'  =  80  mm. 


Versuchsperson 

Figur 

A 

B            1 

C 

K 

Täusch. 

2,4 

4,40 

2,20 

Var. 

0,20 

2,;io 

1,80 

E.{ 

Täusch. 

2,20 

4,40 

2,30 

Var. 

o,.';o 

1,30 

1,30 

K{ 

Täusch. 

1,30 

3,20 

0,90 

Var. 

o,.so 

0,80 

0,60 

M  = 

1,96 

4,0 

1,80 

Die  größte  Täuschung  tritt  also  bei  der  Figur  B  auf. 

Wiederholt  man  die  Versuche  für  die  Distanzen  aa',  bb',  cc',  so  fällt  die 
Täuschung  bei  derselben  Figur  B,  nicht  am  größten,  sondern  am  kleinsten 
aus.  Eine  Tatsache,  die  von  Thiäry  nicht  hervorgehoben  worden  ist.  Die  Er- 
gebnisse seiner  Messungen  stelle  ich  in  folgender  Tabelle  zusammen: 


Versuchsperson 

Figur 

A 

B 

C 

A.! 

Täusch. 

-6,50 

-0,60 

—5,0 

Var. 

0,90 

0,40 

1,5 

E.{ 

Täusch. 

-5,80 

-1,70 

-4,1 

Var. 

0,70 

0,5 

1,0 

M  = 

—6,15 

—1,15 

—4,55 

Daß   sich    diese   Tatsachen   aus   unserer  Theorie   ohne  Anstand   verstehen 
lassen,  braucht  wohl  hier  nicht  näher  ausgeführt  zu  werden. 


Ziir  Psychologie  des  Gestalterfassens.  437 

jenseits  oder  dieseits  der  Hauptliniengrenzen  gelegenen  Geraden 
zu  erklären.^) 

Die  Täuschung  soll  also  im  wesentlichen  darin  ihren  Grund 
haben,  daß  je  nach  der  Kichtung  der  Schenkel  (bzw.  der  „darin 
enthaltenen  Bewegungsmotive")  den  zum  Verfolgen  der  Haupt- 
linie notwendigen  Augenbewegungen  das  einemal  etwas  zugezählt, 
das  andere  Mal  etwas  abgezogen  wird.  Dem  ist  alles  das,  wavS 
gegen  die  Aufstellungen  von  Binet  und  v.  Biervliet  geltend  ge- 
macht wurde,  entgegenzuhalten,  —  die  Frage  nach  der  Verbindung 
dieser  Auffassung  mit  den  von  mir  festgestellten  Tatsachen  nicht 
ausgeschlossen. 

Außerdem  wurde  auch  bereits  anderwärts  darauf  hingewiesen, 
daß  eine  derartige  Auffassung  das  Hervortreten  eines  Täuschungs- 
maximums -)  bei  fortgesetzter  Schenkelverlängerung  nicht  zu 
erklären  vermag.  Schließlich  erscheint  das  Ausmessen  der 
Hauptlinie  mit  dem  Blicke  für  die  Täuschung  selbst  eine 
ganz  unwesentliche  Eolle  zu  spielen,  indem  sie  sowohl  bei 
Fixation  als  bei  einem  quer  über  die  Figur  geworfenen 
Blick^)  zur  Geltung  kommt.  Dagegen  führt  unter  Umständen  (A- 
Reaktion)  gerade  das  ruhige  „Abtasten"  der  Hauptlinie  mit  dem 
Blick  eine  Herabsetzung  der  Täuschung  mit  sich.^) 

§  28.  Die  Zurückführung  auf  Zerstreuungskreise 

(Einthoven). 

In  noch  größerem  Maße,  als  seitens  der  eben  erwähnten 
Forscher  geschehen  ist,  wird  der  Anteil  der  reinen  Sinnesbesätigung 
an  der  Täuschung  selbst  durch  die  nunmehr  zu  berührende  Er- 
klärung Einthovens^)  betont.     Sie  hat  durch   den  Widerspruch, 


')  a.  a.  0.  S.  237—241.     Vgl.  auch  Thi^ry  a.  a.  0.  S.  110. 

*)  Vgl.  Heymans,  Zeitsch.  f.  Psych.  9,  248. 

3)  Vgl.  weiter  oben  I.  §  8. 

■*)  Beide  Tatsachen  sind  nach  unserer  Auffassung  leicht  verständlich,  indem 
das  rasche  Hiuwegschauen  die  G-,  das  ruhige  Verweilen  bei  der  Hauptlinie  un- 
willkürlich die  A-Reaktiun  begünstigt,  —  daher  das  erste  eine  Erhöhung,  das 
zweite  eine  Herabsetzung  der  Täuschung  zur  Folge  hat. 

^)  „Eine  einfache  physiologische  Erklärung  für  verschiedene  geometrisch- 
optische Täuschungen."     Pflügers  Archiv  f.  d.  ges.  Phys.  71.  1—44. 


438  ViTTORIO   BeNUSSI. 

den  sie  hervorgerufen  hat,  zur  Feststellung-  einiger  nicht  un- 
wichtiger Tatsachen  beigetragen.^; 

Die  Täuschung  ist  nach  Einthoven  als  eine  Folge  der  „Tat- 
sache" zu  betrachten,  daß  „Strecken  nach  der  Entfernung  der 
Schwerpunkte  der  Zerstreuungskreise"  der  indirekt  gesehenen 
Streckenpartien  „erfaßt  werden".  Der  eigentliche  Täuschungsgrund 
ist  danach  in  der  Unzulänglichkeit  der  peripheren  Seheschärfe  zu 
erblicken,  woraus  sich  dann  noch  die  Folgerung  ergibt,  daß 
die  Täuschung  mit  der  Länge  der  Nebenlinien  zunehmen  und 
umso  größer  ausfallen  muß,  ein  je  größerer  Teil  der  Nebenlinien 
mit  den  periphär  gesehenen  Partien  der  Hauptlinien  zusammen- 
fließt; denn  „sobald  die  Schenkel  im  indirekten  Sehfelde  deutlich 
getrennt  von  den  Vergleichslinien  wahrgenommen  werden,  hört 
die  Ursache  für  das  Entstehen  der  optischen  Täuschung  auf."^) 
Sind  nun  bei  einer  MÜLLER-LYEEschen  Figur  die  Neigungswinkel 
relativ  klein  und  die  Nebenlinien  relativ  lang,  so  müßte  im 
peripheren  Sehen  ein  beträchtlicher  Teil  der  Schenkel  mit  den  Ver- 
gleichslinien (Hauptlinien)  konfluieren,  und  die  hierdurch  erzielte 
Täuschung  einen  „enormen"  Betrag  erreichen,  wenn  die  ,.Inuer- 
vationsempflndungen"  der  Augenbewegungen  ihr  nicht  entgegen- 
wirkten. Diese  letzteren  veranlassen  vielmehr,  daß  die  Täuschungs- 
größe 20  bis  25  "/o  der  Länge  der  Vergleichslinienicht  übersteigt.^^) 

Abgesehen  davon,  daß  diese  Auffassung  nicht  weniger  als 
die  vorausgegangenen  schon  durch  die  von  mir  weiter  oben 
aufgestellten  Kriterien^)  für  die  Täuschungen,  die  als  rein 
sinnlich  bedingt  zu  betrachten  sind,  widerlegt  wird,  lassen  sich 
auch  noch  zahkeiche  Tatsachen  anführen,  die  mit  ihr  unverträg- 
lich sind. 

An  erster  Stelle  ist  darauf  hinzuweisen,  daß  nach  Einthoven 
Täuschungs Variationen  nur  durch  Variationen  der  räumlichen 
„Reiz Verteilung"  bedingt  werden  könnten,  indes  gerade  derartige 
Variationen  für  ganz  nebensächlich  gelten  müssen,  nach- 
dem sich  herausgestellt  hat,   daß  für  die  Täuschung  zunächst 


')  Vgl.  unten,  Anmerkung  3)  auf  S.  439. 

2)  A.  a.  0.  S.  18,  19. 

3)  A.  a.  0.  S.  20. 

*)  Vgl.  weiter  oben  II,  §  17,  S.  385 ff.  und  III.  §  23,  (XLVI). 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  439 

das  Verhalten  des  S  u  b  j  e  k  t  e  s  im  Sinne  der  A-  oder  G-Keaktion 
maßgebend  ist.^) 

Außerdem  aber  erweist  sich  die  Maximumbestimmung  =  20 
bis  25  7o  der  Hauptlinienlänge  als  unstatthaft.  Denn  es  kann  der 
Fall  eintreten,  und  zwar  nach  der  Willkür  des  betrefienden  Be- 
obachters, daß  die  Täuschung  einer  e-Figur  allein,  also  gerade 
derjenigen,  die  auch  nach  der  Meinung  Eikthovens  schwächer 
wirkt,  mehr  als  30%  der  Hauptlinienläuge  beträgt.-)  Dabei 
ist  noch  in  Erinnerung  zu  bringen,  daß  die  Bestimmungen  Em- 
THovENs  sich  auf  die  Summe  der  e-  und  a-Täuschung  beziehen, 
indes  hier  durch  eine  einzige  e-Figur  das  angegebene  Maximum 
überschritten  wird. 

Überdies  wurde  in  der  letzten  Zeit  durch  Schoute  festgestellt, 
daß  die  Schenkel,  welche  nicht  in  Zerstreuungskreisen  gesehen 
werden,  einen  Einfluß  auf  die  scheinbare  Länge  der  Hauptlinie 
üben,  der  „fast  ebenso  groß  ist,  als  der  Einfluß  der  beiden  un- 
deutlich gesehenen  Endschenkelpaare  zusammen."^) 

Wir  sind  mit  der  Besprechung  dieser  Gruppe  von  mehr  oder 
weniger  deutlich  physiologisch  gehaltenen  Erklärungsversuchen  zu 
Ende.  Bevor  ich  zu  einer  zweiten  Gruppe  einander  gleichfalls 
ähnlicher  Theorien  übergehe,  soll  der  Versuch  nicht  unerwähnt 
bleiben,  die  in  Rede  stehende  Täuschung  aus  empirisch  geläufigen 
perspektivischen  Motiven  zu  erklären. 


')  Vgl.  oben  I.  §  6  ff.  und  III.  §  21,  (I). 

2)  Vgl.  oben  I.  §  8  S.  337  f. 

")  Vgl.  Schoute,  Geometrisch-optische  Täuschungen,  Zeitschr.  f.  Augenheil- 
kunde 3,  375 ff.  (1900).  Es  seien  seine  Ergebnisse  hier  kurz  zusammengefaßt: 
Werden  an  einer  e-a-Figur  die  Mittelschenkel  weggelassen  und  der  Mittel- 
punkt fixiert,  so  könnte  dieser  Umstand  nach  der  EiNTHOVENSchen  Theorie 
keine  Modifikation  der  scheinbaren  Hauptliuienlänge  mit  sich  führen,  da  die 
direkt  gesehenen  Schenkel  wirkungslos  sein  müOteu.  Der  Versuch  ergibt 
aber  im  1.  Falle  eine  Täuschung  =  7,75  mm,  im  2.  Falle  eine  Täuschung  =  3,9  mm. 
Fixiert  man  nun  weiter  den  Mittelpunkt  und  entfernt  man  das  erste  Mal  die 
Mittel-  und  die  e-End Schenkel,  das  zweite  Mal  die  Mittel-  und  die  a- 
End Schenkel,  indes  das  dritte  Mal  die  Mittelschenkel  wieder  hergestellt,  die 
e-  und  a-Endschenkel  aber  weggelassen  werden,  so  erhält  man  für  die  drei  Fälle 
die  Täuschungswerte  5,65,  6,30  und  6,20  (a.  a.  0.  S.  382  ff.). 


440  ViTTORIO   BeNÜSSI. 

§  29.  Die  perspektivische  Deutung^) 
(Thiery). 

Thiery-),  ein  Vertreter  dieser  Erkläriingsriclitung ,  gibt  von 
der  MÜLLER-LYEKschen  Täuschimg  folgende  Erklärung:  „Die 
MÜLLER-LYERsche  Figur  stellt  nach  den  Elementarregeln  der  Per- 
spektive zwei  Rechtecke  dar,  welche  eine  Seite,  die  Horizontale^ 
gemeinschaftlich  haben,  wobei  diese  in  der  einen  Form  der  Figur 
vom  Beobachter  entfernter,  in  der  anderen  ihm  näher  ist  als 
die  anderen  Seiten  .  .  .  Die  Winkel  der  einen  Figur  erscheinen 
konkav  die  der  anderen  konvex." "')  Die  Täuschung  soll  sich  unter 
dieser  Voraussetzung  dadurch  erklären,  daß  bei  gleicher  Größe 
der  N e t z  h  a u  t b  i  1  d  e  r  derjenige  Gegenstand  größer  erscheint,  der 
in  eine  größere  und  derjenige  kleiner,  der  in  eine  kleinere 
Entfernung  verlegt  wird:  daher  die  scheinbare  Verlängerung  bei 
der  a-Figur  und  die  scheinbare  Verkürzung  bei  der  e-Figur. 

Nun  sind  aber,  wie  bereits  anderwärts  bemerkt  worden  ist,*) 
perspektivisch  zu  deutende  Zeichnungen  ihrer  perspektivischen 
AVirkung  nach  meistens  umkehrbar.  Sicherlich  gehört  die 
MÜLLER-LYERsche  Figur  zu  dieser  Gattung.  Wäre  aber  die 
Täuschung  an  den  von  Thiery  verlangten  perspektivischen  Schein 
gebunden,  so  müßte  sie  bei  Umkehrung  der  perspektivischen  Inter- 
pretation, die  willkürlich^)  durchführbar  ist,  selbst  in  das 
Gegenteil  umschlagen.  Es  müßte  daher  möglich  sein,  die  Haupt- 
linie der  e-  (bzw.  a-)  Figur  einmal  länger,  ein  andermal  kürzer 
vorzustellen,  als  sie  in  Wirklichkeit  ist.  Dies  tritt  aber  in  keinem 
Fall  ein. 


^)  Der  Grundgedanke  dieser  Theorie  rührt  von  Volkmann  her  (Physiolog. 
Untersuchungen  a.  d.  Gebiete  d.  Optik.  S.  162).  Außer  Thii^ey  vertritt  sie  im 
allgemeinen  auch  noch  Filehne  (Zeitschrift  f.  Psych.  17,  25)  doch  ohne  auf  die 
MüLLER-LYERSche  Figur  einzugehen. 

^)  Über  geometrisch-optische  Täuschungen  (Phil.  Stud.  XII,  S.  66—126.). 

»)  A.  a.  0.  S.  75. 

*)  WuNDT,  a.  a.  0.  S.  90  (37  des  S.-A.). 

^)  In  der  Leichtigkeit  der  willkürlichen  Umkehrung  läßt  sich  ein  Merkmal 
gleicher  Aufdringlichkeit  der  zwei  in  betracht  kommenden  Perspektiven  Gestalten 
erblicken,  —  ein  Umstand,  der  zur  Bestimmung  der  Aufdringlichkeit  verschiedener 
Gestalten  vielleicht  nicht  ohne  Erfolg  benutzt  werden  könnte. 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  441 

Als  zweiter  Gegengriind  ist  anzuführen,  daß  Zeichnungen,  die 
eine  perspektivische  Umkehrung  zulassen,^)  keine  merkliche 
Veränderung  der  scheinbaren  Länge  jener  Komponenten  auf- 
weisen, die  einmal  als  näher  ein  andermal  als  ferner  liegend 
angenommen  werden. 

An  dritter  Stelle  ist  nun  weiter  darauf  hinzuweisen,  daß  die 
Täuschung  etwa  einer  e-Figur  nach  dem  Vorhergesagten  am 
größten  ausfallen  müßte,  wenn  durch  die  Farbengebung  dafür 
gesorgt  wäre,  daß  die  Hauptlinie  scheinbar  so  nahe  als  möglich 
an  den  Zuschauer  heranrückt,  oder  wenn  man  bei  der  a-Figur 
die  entgegengesetzte  perspektivische  Wirkung  begünstigte.-)  Es 
zeigt  sich  aber,  daß  gerade  unter  solchen  Umständen  die  Täuschung, 
entgegen  den  nach  dieser  Theorie  berechtigt  scheinenden  Er- 
wartungen, nicht  ein  M  a  x  i  m  u  m  erreicht,  sondern  auf  ein  Mini- 
mum herabsinkt.  Es  tritt  dies  bei  e-Eiguren  mit  sehr  heller 
und  bei  a-Figuren  mit  sehr  dunkler  Hauptlinie  deutlich  genug 
zutage.'*) 

Schließlich  wird  man  umsonst  nach  einer  Erklärung  für  die 
im  Laufe  der  gegenwärtigen  Untersuchung  festgestellten  Tat- 
sachen^) durch  die  hier  mitgeteilte  Theorie  suchen.  Ebenso  un- 
fruchtbar erweist  sich  diese  Theorie  für  das  Verständnis  der 
Täuschung,  die  beim  Bestimmen  des  Mittelpunktes  einer  Ge- 
raden entsteht,  an  deren  Enden  man  zwei  zu  einander  parallel 
laufende  und  mit  ihr  einen  spitzen  (bzw.  stumpfen)  Winkel  bildende 
Linien  ansetzt  ((- — (),  in  welchem  Falle  die  Länge  der  ganzen 
Hauptlinie  wohl  annähernd  richtig,  die  der  beiden  Hälften  jedoch 
inadäquat  erfaßt  wird.*")  Ebensowenig  vermag  die  perspektivische 
Deutung  den  Fall  verständlich  zu  machen,  in  dem  die  Müller- 


')  Ein  besonders  geeignetes  Beispiel  hierzu  bietet  die  bekannte  Treppenfigur. 

'^)  Diese  Bedingungen  sind  —  unter  Vorraussetzung  eines  schwarzen  Grundes 
—  für  die  e-Fig\ir  durch  die  Kombination  „weiße  Hauptlinie  mit  grauen  Neben- 
linien" ,  für  die  a-Figur  durch  die  Kombination  „graue  Hauptlinie  mit  weißen 
Nebenlinien"  erfüllt.  Wirklich  sind  das  die  Fälle,  in  denen  der  verlangte  per- 
spektivische Schein  sich  auch  am  ungezwungensten  einstellt. 

3)  Vgl.  oben  I,  §  6f.  und  III.  §  21,  (VIII,  XV  und  XVIII). 

*)  Vgl.  oben  I.  §  6f.  und  III.  §  21. 

'')  Näheres  darüber  wird  an  anderer  Stelle  beizubringen  sein. 


442  ViTTORIO   BeNüSSI. 

LYERsche  Täuschung  nicht  auf  Grund  von  Gesichts-,  sondern  von 
Tasteindrücken  hervorgerufen  wird.^) 


§  30.  Erklärungsversuche  durch  assoziierte 

Vorstellungen. 

(Heymans,  Lipps,  Stilling), 

Wir  sind  somit  zur  Besprechung  der  letzten  Gruppe  von  Er- 
klärungsversuchen gelangt,  nach  welchen  der  Täuschungsgmnd  in 
eine  näher  zu  bestimmende  Vorstellung  bzw.  Annahme  verlegt 
wird,  die  durch  den  Anblick  der  gegebenen  Gestalt  hervorgerufen 
sein  und  unser  Urteil  in  betreff  der  räumlichen  Eigenschaften  der 
jeweiligen  Figur  irre  führen  soll.  Die  Gestalt  vor  Stellung  soll, 
in  der  Anschauung  wenigstens,  völlig  adäquat  bleiben,  indes 
unser  Urteil  (näher  Vergieichungsurteil)  durch  Neben  Vor- 
stellungen (bzw.  Annahmen)  getrübt  werde.  Auf  das 
Irrige  dieses  Grundgedankens,  das  sämtlichen  Auffassungen  dieser 
Täuschung  als  einer  Urteilstäuschung  anhaftet,  braucht  hier 
nicht  neuerdings  eingegangen  zu  werden.-)  Die  folgenden  Hj^po- 
thesen  seien  daher  ohne  Kücksicht  darauf  geprüft. 

Ich  beginne  mit  der  Besprechung  der  Untersuchungen  Hey- 
MANs,=^)  deren  Hauptgewicht  sicherlich  in  den  zum  ersten  Mal  durch- 
geführten Bestimmungen  der  Abhängigkeitsbeziehungen  zwischen 
Täuschungsgröße,  Nebenlinienlänge  und  Neigungswinkel  gelegen 
ist.  In  methodologischer  Hinsicht  sind  sie  freilich  nicht  einwand- 
frei, da  bei  diesen  Versuchen  immer  die  eine  Täuschung  gewisser- 
maßen an  der  anderen  gemessen  worden  und  die  Verschiedenheit 
der  subjektiven  Eeaktion,  differenziert  nach  den  zwei  Haupttypen 
der  Analyse  und  Gestalterfassung,  unberücksichtigt  geblieben  ist. 
Können  die  HEYMANSschen  Ergebnisse  daher  auch  nur  als  für  die 
„spontane  Reaktionsart"  Gültigkeit  beanspruchen,  so  stellen  sie 
immerhin  einen  nicht  zu  unterschätzenden  Beitrag  an  bedeutsamen 


')  Vgl.  die  obeu  bereits  angeführteu  Untersuchungen  von  Robertson  (Psych. 
Rev.  9,  S.  549)  und  Pearce  (Archiv  f.  d.  gas.  Psych.  1,  85 ff.). 

^)  Vgl.  oben  II,  §  18. 

')  „Quantitative  Untersuchungen  über  das  optische  Paradoxon".  Zeitschr^ 
f.  Psych.  9,  221  ff.  Ihm  stimmt  Jüdd  (Psych.  Rev.  6  (3),  S.  241—261)  im  wesent- 
lichen bei.     Man  vergleiche  darüber  auch  Heymans  in  Zeitschr.  f.  Psych.  25,  S.  122. 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  443 

Tatsachenfeststellungen  dar.  —  Ich   will   deren  Hauptergebnisse 
hier  kurz  zusammenfassen,  sie  lauten: 

1.  Bei  konstanter  Schenkellänge  ist  die  Täuschungsgröße  nahe- 
zu proportional  dem  Kosinus  des  Neigungswinkels,^) 

2.  Bei  konstantem  Neigungswinkel  nimmt  die  Täuschung 
mit  fortgesetzter  Zunahme  der  Schenkel  länge  anfangs  zu,  hierauf, 
nach  Erreichung  eines  Maximums,  wieder  ab.  Zu  dem  Auftreten 
dieses  Maximums  trägt  hauptsächlich  die  a-Komponente  der  e-a- 
Figiir  bei."') 

Beide  Ergebnisse  lassen  sich  vom  Standpunkte  unserer  Auf- 
fassung der  MüLLER-LTERschen  Täuschung  ohne  Schwierigkeit  so 
verstehen,  daß  in  einem  Fall  mit  der  Zunahme  des  Neigungs- 
winkels, im  anderen  mit  der  Zunahme  der  Schenkellänge  eine 
Herabsetzung  der  e-  bzw.  a-Gestaltaufdringlichkeit  (resp.  eine  Er- 
schwerung der  G-Reaktion)  Hand  in  Hand  geht,=^) 

Die  gefundenen  Tatsachen  versucht  nun  Heymans  mit  Zu- 
hilfenahme folgender  Hypothese  verständlich  zu  maclien:  Die 
Täuschung  soll  „auf  der  modifizierenden  Wirkung"  beruhen, 
„welche  die  Auffassung  einer  sich  vollziehenden  Blickbewegung 
durch  die  gleichzeitig  gegebene  —  der  Wahrnehmung  eines 
Schenkelpaares  oder  auch  eines  einzelnen  Schenkels  zu  verdanken- 
de —  Vorstellung  einer  anderen  Blickbewegung  erleidet''.^)     „Ist 

1)  A.  a.  0.  S.  226,  227. 

-)  A.  a.  0.  S.  231,  232.  Es  stützt  sich  diese  Behauptung  auf  folgende  Be- 
stimmuugeu  der  Täuschuugsgröße  für  die  e-  und  die  a-Figur,  bei  progressiver 
Zunahme  der  Scheukelläuge  (a.  a.  0.  S.  235): 


Figur  Schenkel!,    i   15  mm    I    30  mm    I    45  mm    |    60  nun    |Beobachtung. 


25 
25 


Täuschgr.    ;       4,9  5,6       j       7,4        ^       7,0       , 

Var.  i        0,65         I        0,66         |        0,60         j        0,78         i 

Täuschgr.    I      8,30  10,8  8,6       j      6,6 

Var.  I        e,i0         I        0,56         |        0,58         i        0,66 

Überdies  untersuchte  Hkymans  eine  Auzahl  von  Modifikationen  dieser  Figur 
und  bekam  dabei  immer  kleinere  Werte  als  die  der  reinen  e-a-Figur.  Ver- 
gleicht man  die  entsprecheuden  Zeichnungen  miteinander,  so  überzeugt  mau 
sich  sofort,  daß  diese  Abnahme  der  Täuschung  auf  eine  Erleichterung  der  Haupt- 
linienaualyse  zurückzuführen  ist  (Vgl.  a.  a.  0.  S.  234—235,  238—239  und  240.)= 

")  Vgl.  oben  II,  §  17,  S.  388. 

*)  Ich  zitiere  nach  dem  Wortlaute  der  zur  Beseitigung  von  Mißverständnissen 
von  Heymans  selbst  modifizierten  Formulierung  seiner  früheren  Bestimmungen. 
Dieselbe  ist  in  Bd.  XIII  der  Philos.  Studien  S.  64  enthalten. 


444  VlTTOElO  Benussi. 

nun  die  rechtwinklige  Komponente  einer  vorgestellten  Bewegung 
mit  der  unmittelbar  nachfolgenden  Blickbewegung  gleichgerichtet, 
so  muß  das  Maß  der  nachfolgenden  Blickbewegung  kleiner  er- 
scheinen; nnd  umgekehrt  für  den  entgegengesetzten  Fall.  Die 
Wirkung  der  Eudschenkel  (d.  h.  der  zuletzt  deutlich  gesehenen)  muß 
nun  der  der  Anfangsschenkel  entgegengesetzt  sein".  Die  Täu- 
schungsabnahme nach  Überschreitung  einer  bestimmten  Schenkel- 
länge hat  darin  ihren  Grund,  „daß  die  verkürzende  Wirkung  der 
Anfangsschenkel  weniger  stark  wirkt,  d.  h.  daß  die  Verlängerungs- 
wirkung der  Endschenkel  znnimmt".') 

Halten  wir  uns  an  die  obige  allgemeine  Formulierung,  so  maß 
zunächst  darauf  aufmerksam  gemacht  werden,  daß  es  sich  er- 
fahrungsgemäß bei  einer  MÜLLER-LYERschen  Figur  nicht  um 
das  Erfassen  A^on  Blickbewegungen,  sondern  um  das  von 
Gestalten  handelt,  und  daß  ebenso  erfahrungsgemäß  kaum  je- 
mand dabei  zum  Bewußtsein  von  Bewegungs Vorstellungen  gelangt, 
welche  die  von  Heymans  angegebene  Qualität  aufweisen.  Stellen 
sich  hie  und  da  Bewegungsvorstellungen  (bzw.  Annahmen)  ein, 
so  sind  diese  solcher  Art,  daß  sie  nach  Analogie  mit  sonstigen 
Bewegungskontrasterscheinungen  gerade  das  Entgegengesetzte 
der  bei  Betrachtung  der  e-  und  a-Figur  stattfindenden  scheinbaren 
Verkürzung  und  Verlängerung  der  Hauptlinie  mit  sich  führen 
müßten,  indem  man  manchmal  den  Eindruck  hat,  als  vollziehe  sich 
bei  der  e-Figur  eine  Bewegung  nach  einwärts,  bei  der 
a-Figur  eine  nach  auswärts.  Was  immer  für  Bewegungsvor- 
stellungen die  Gestalt  auch  wachrufen  mag,  aus  dem  Um- 
stände, daß  die  Täuschung  n  u  r  dann  ausbleibt,  wenn  die  Gestalt- 
vorstellung ausbleibt,  indes  sie  sich  dem  Gegenwärtig-  oder  Nicht- 
gegenwärtigsein  von  Bewegungsannahmen  gegenüber  indifferent 
verhält,  ergibt  sich,  daß  die  Täuschung  nicht  in  dieser  Asso- 
ziation, sondern  in  jener  Gestaltvorstellungsbildung  ihren  Grund 
haben  muß. 

Auf  Einzelheiten  braucht  hier  gerade  so  wenig  wie  im  Vor- 
hergegangenen eingegangen  zu  werden.  Jeder,  der  sich  bemüht, 
zwischen  der  eben  berührten  Theorie  und  den  verschiedenen  Tat- 
sachen, die  im  Laufe  der  gegenwärtigen  Untersuchung  zutage  ge- 


')  Vgl.  a.  a.  0.  S.  248. 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  445 

fördert  wurden,  eine  befriedigende  Verbinduno-  herzustellen,  wird 
sich  von  der  Undurchführbarkeit  eines  solchen  Unternehmens  schon 
bei  den  allerersten  Schritten  überzeugen  müssen. 

Zum  Schluß  habe  ich  noch  der  „dynamisch-ästhetischen"  Er- 
klärung Liprs'  zu  gedenken. ')  Danach  wären  sämtliche  geo- 
metrisch-optischen Täuschungen  daraus  zu  erklären,  daß  die  je- 
weilig gegebenen  Gestalten  Vorstellungen  von  Kräften  und  Be- 
wegungen wachrufen,  und  diese  ihrerseits  die  in  der  ., Wahr- 
nehmung" wohl  a  d  ä  q  u  a  t  e  Vorstellung  der  dargebotenen  Figur, 
sobald  sie  zur  Erinnerungs  vor  Stellung  geworden  ist,  um- 
gestalten. In  unserem  Falle  soll  diese  Umgestaltung  einerseits 
durch  die  Vorstellung  einer  „frei  aus  sich  heraus  oder  in  die 
Weite  gehenden,  von  der  Mitte  fortstrebenden",  andererseits 
durch  die  „einer  in  sich  zurückkehrenden,  der  Mitte  zustrebenden" 
Bewegung  besorgt  werden. 

Dem  ist  nun  vor  allem  die  Frage  entgegenzuhalten,  ob  die 
Täuschung  einer  e-  oder  a-Figur  nicht  verschwinden  müßte,  wenn 
—  was  bei  unseren  Messungen  tatsächlich  geschehen  ist  — 
Figur  und  Vergleichsfaden  gleichzeitig  erfaßt  werden,  —  ein 
ganz  anderer  Fall,  als  der  zum  Entstehen  der  Täuschung  von 
Lipps  geforderte,  bei  dem  nur  ein  Vergleichungsglied  in  der 
„Wahrnehmung"  das  andere  aber  in  der  Erinnerung  gegeben  sein 
soll.  Bei  den  von  mir  oben  mitgeteilten  Versuchen  aber  bietet 
gerade  das  einheitliche  gleichzeitige  Erfassen  des  uns 
mit  HiUe  von  Wahrnehmungsvorstellungen  gebotenen  Materials 
die  günstigsten  Bedingungen  für  das  Auftreten  der  Täuschung. 
Stellt  sich  schon  bezüglich  dieses  Punktes  die  berührte  Hypothese 
jenseits  der  Erfahrung,  so  tut  sie  es  noch  mehr,  soweit  sie  auf 
das  Unbe\^Tißte  als  Erklärungsprinzip  zurückgreift.  Denn  der- 
artige Kraft-,  bzw.  Bewegungsvorstellungen  wie  sie  Lipps  postu- 
liert, sind  in  der  Kegel  nicht  anzutreffen,  auch  dann  nicht,  wenn 
man  auf  das  oben  berührte  Gleichnis  als  solches  aufmerksam  ge- 
macht worden  ist. 

Audi  für  die  speziell  in  der  gegenwärtigen  Arbeit  festgestellten 
Tatsachen  bietet  die  liier  in  Rede  stehende  Hypothese  kein  Ver- 
ständnis.   Es  sei  dies  hier  nur  an  zwei  Beispielen  gezeigt: 


')  Vgl.  die  weiter  oben  (S.  351)  angegebene  Literatur. 


446  ViTTOBIO   BeNÜSSI. 

1.  Stellen  die  Nebenlinien  etwa  der  e-  und  der  ä-Figur  Kräfte, 
die  nach  einwärts  bzw.  auswärts  streben,  dar,  so  kann  die  Hellig- 
keit dieser  Nebenlinien  für  die  Wirkung  der  entsprechenden  un- 
bewußt bleibenden  assoziierten  Kraft-  und  Bewegungsvorstellungen 
keine  Bedeutung  haben;  denn  für  die  Assoziation  müßte  die  durch 
die  Nebenlinien  gegebene  Gestalt,  nicht  aber  deren  Farbe  maß- 
gebend sein.  Die  Täuschung  müßte  daher  bei  zu-  oder  ab- 
nehmender Helligkeit  konstant  bleiben.  Dies  tritt  aber  nicht 
ein.  Meint  man  jedoch  —  was  immerhin  einen  Schein  von 
Plausibilität  haben  könnte  — ,  durch  dunkle  Nebenlinien  würden 
Vorstellungen  von  schwächeren  Kräften  wachgerufen  als  durch 
helle,  so  wäre  die  natürliche  Folge,  daß  (für  die  e-  und  ä-Fig.) 
die  Täuschung  bei  abnehmender  Helligkeit  selbst  abnähme. 
Statt  dessen  aber  nimmt  sie  zu.^) 

2.  Ein  zweites  Beispiel  bieten  uns  die  e-  und  e-Figuren.  Aus 
gleichen  Täuschungswerten  (verschiedener  e-Figuren)  müßte  man 
im  Sinne  der  Lippsschen  Theorie  auf  assoziierte  Vorstellungen 
von  gleich  starken  Kräften  zurückschließen.  Setzt  man  nun  dem 
Einflüsse  gleich  stark  wirkender  Kräfte  eine  konstante  Hauptlinie 
aus,  so  müßte  man  auch  hier  wieder  das  gleiche  Kesultat  erzielen. 
Ergeben  eine  graue  und  eine  weiße  e-Figur  denselben  Täuschungs- 
wert, so  dürfte  man  bei  e-Figuren,  für  graue  Nebenlinien  mit 
weißer  Hauptlinie  und  für  weiße  Nebenlinien  mit  weißer 
Hauptlinie  berechtigterweise  den  selben  Täuschungswert  erwarten. 
Dies  trifft  aber  nicht  zu.  Die  zu  zweit  angeführte  Figur  er- 
gibt vielmehr  einen  viel  größeren  Wert  als  die  zuerst  ge- 
nannte.^) 

Versagt  sonach  diese  Erklärung  schon  bei  den  ersten  Anwendungs- 
versuchen, so  erscheint  ein  näheres  Eingehen  sowohl  auf  die  theo- 
retische Konstruktion  selbst,  wie  auf  die  ausdrücklich  hervorge- 
hobene Behauptung,  daß  die  hier  behandelte  Täuschung,  ebenso 
wie  die  übrigen  Urteils-  und  nur  Urteilstäuschungen •'^)  seien, 
entbehrlich,*) 


1)  Vgl.  weiter  oben  I.  §  6,  S.  318  f. 

2)  Vgl.  weiter  oben  I.  §  10,  S.  351  ff. 

=•)  Vgl.  das  oben  (II  §  18  S.  389  ff.)  ausgeführte. 

*)  In  diesem  Zusammenhange  ist  noch   kurz   auf  die  Erklärung  Stillings 
(vgl.  Psychologie  der  Gesichtsvorstellungen  nach  Kants  Theorie  der  Erfahrung, 


Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  447 

Hoffentlich  genüg-eu  die  hiermit  zu  Ende  geführten  kritischen 
Darlegungen  zur  Rechtfertigung,  weshalb  ich  mir  keine  der  hier 
besprochenen  theoretischen  Auffassungen  der  MüLLER-LYERschen 
Figur  habe  zu  eigen  machen  können.  Fragen  wir  uns  dagegen, 
was  durch  die  betreffenden  Untersuchungen  an  Tatsachenmaterial 
beigebracht  worden  ist,  so  sind  jedenfalls  in  erster  Linie  die  Be- 
stimmungen der  Abhängigkeit  der  Täuschung  von  der  räumlichen 
Beschaffenheit  der  untersuchten  Figuren  hervorzuheben.  Übrigens 
dürften  diese  Bestimmungen  nur  insofern  als  geltend  betrachtet 
werden,  als  man  ein  bestimmtes  Verhalten  des  Subjektes  ins  Auge 
faßt,  dasjenige  nämlich,  das  ich  als  S-Reaktion  bezeichnet  habe. 
Denn  diejenigen  Modifikationen  der  Täuschungsgröße,  die  bei 
S-Reaktion  durch  räumliche  Variationen  der  einzelnen 
Fignrenkomponenten  erzielt  werden,  können  an  einer  kon- 
stanten Figur  mit  Zuhilfenahme  der  A-  und  G-Reaktion  er- 
reicht  werden.     Die   Beeinflussung    der    Täuschungsgröße    durch 


Berlin  1901  S.  137—164,  Cap.  XI  „Optische  Täuschungen"  und  „Die  Müller- 
LvERSche  Täuschung"  in  Zeitschr.  f.  Augenheilkunde,  Bd.  4  S.  207 ff.)  dessen 
Untersuchungen  mir  erst  während  der  Drucklegung  der  gegenwärtigen  Arbeit 
bekannt  geworden  sind,  hinzuweisen.  Sie  lautet:  Die  a-Scheitelpuuktdistanz 
erscheint  immer  größer  als  die  entsprechende  e-Distanz,  weil  die  divergenten 
(bzw.  konvergenten)  Schenkel  die  Endpunkte  dieser  Distanzen  voneinander  fort- 
zustoßen (bzw.  zusammenzuziehen)  scheinen  „und  wir  demnach  erwarten ,  diese 
Distanz  größer  werden  zu  sehen  ..."  (a.  a.  0.  S.  151  und  209). 

Dazu  braucht,  von  dem  gegen  Heymans  weiter  oben  (S.  444)  bereits  Ange- 
führten abgesehen ,  nur  bemerkt  zu  werden ,  daß  in  dem  Augenblicke ,  da  diese 
Erwartung,  falls  sie  sich  überhaupt  einstellen  sollte,  dem  Wissen  um  das 
Nichtbestehen  einer  solchen  Veränderung  Platz  macht,  die  Täuschung  ver- 
schwinden müßte. 

Auf  S.  208  der  oben  zu  zAveit  angeführten  Arbeit  bemerkt  Stilling,  daß 
die  Täuschung  (allerdings  einer  e-a-Figur)  am  größten  ausfällt,  wenn  man  die 
Hauptlinie  wegläßt.  Dies  gilt  aber,  wie  oben  gezeigt  wurde  (vgl.  I.  §  10.  S. 
349  und  i?  12S.  363f.)  nur  für  die  e-Hälfte  (einer  e-a-Figur\  indes  die  a-Hälfte 
unter  solchen  Umständen  ein  Täuschungsminiraiim  ergibt.  Wie  dieser 
Gegensatz  nach  Stillings  Erwartungstheorie  zu  erklären  wäre,  ist  nicht  ein- 
zusehen. (Vgl.  darüber  weiter  oben  III,  §  19  u.  20.)  Richtig  ist  dagegen  die 
Beobachtung,  daß  die  Täuschung  herabgesetzt  wird,  wenn  die  Hauptlinie  dicker 
ist  als  die  Nebenlinien.  Freilich  trifft  dies  nur  insofern  zu,  als  mit  dem 
Dickersein  auch  ein  Aufdringlichersein  der  Hauptlinie  gegenüber  den 
Nebenlinien  gegeben  ist  (vgl.  das  in  Anschluß  an  die  Ausführungen  Auerbachs 
oben  [§  26]  Bemerkte). 


448  ViTTORio  Benussi,  Zuf  Psychologie  des  Gestalterfassens. 

räumliche  Veränderungen  der  untersuchten  Figur  sind  demnach 
auf  eine  durch  diese  räumlichen  Bestimmungen  bedingte  Er- 
leichterung oder  Erschwerung  der  spontan  sich  ein- 
stellenden A-  oder  G-Reaktion  zurückzuführen. 

Die   im    Abschnitte   II   versuchte   Interpretation    hat    damit 
auch  von  der  negativen  Seite  her  ihre  Verifikation  erfahren. 


VI. 
Die  verschobene  Scbaclibrettfigur. 

Von 
ViTTOßiü  Benussi  und  Wilhelmine  Liel. 


Inhalt. 

Seite 

§  1.   Einleitendes 449 

§  2.   Widerlegung  der  Irradiationshypothese 450 

§  3.   Die  Produktioushypothese 457 

§  4.    Das  ZöLLNERsche  Muster  und  die  verschobene  Schachbrettflgur   .     .     .  465 

§  5.    Ergebnisse 471 


§  1.   Einleitendes. 

Im  Gegensatze  zu  anderen  Täuschungsfiguren  ist  die  ver- 
schobene Schachbrettflgur  wenig  behandelt  worden.  Der  Grund 
dafür  darf  in  dem  Umstände  erblickt  werden,  dass  diese  Täuschung 
nicht  ohne  jede  scheinbare  Berechtigung  als  eine  durch  Irradiation 
bedingte  betrachtet  und  erklärt  worden  ist.  Sie  wurde  mit  einem 
Worte  als  Sinnestäuschung  hingestellt. 

Den  Nachweis  zu  erbringen,  daß  dies  keineswegs  zutrifft,  ist 
die  Hauptabsicht  der  gegenwärtigen  Untersuchung.  Zugleich  stellt 
sie  sich  als  ihre  weitere  Aufgabe,  die  Gleichartigkeit  dieser 
Täuschung  mit  der  MÜLLER-LYERschen  und  ZÖLLNERschen  als  Pro- 
duktionstäuschung nachzuweisen  und  ihre  Zurückführbarkeit  auf 
diese  letzte  (die  ZöLLNERsche)  darzutun. 

Diesen  Intentionen  gemäß  wird  vorliegende  Untersuchung 
natürlicherweise  in  drei  Abschnitte  zerfallen.    Der  erste  Teil  bringt 


Meinonj;,  Untersuchungeu. 


29 


450  ViTTORio  Benussi  u.  Wilhelmink  Liel. 

diejenigen  Versuche  zur  Sprache,  die  die  Unzulänglichkeit  der  Er- 
klänmg  durch  Irradiation  in  unzweideutiger  Weise  nachzuweisen 
vermögen;  im  zweiten  werden  diejenigen  experimentellen  Instanzen 
zur  Sprache  kommen,  durch  welche  sich  die  durch  die  Schach- 
brettfigur bedingte  Täuschung  als  Produktionstäuschung  erweist. 
Der  experimentelle  Nachweis  der  Idendität  zwischen  der  Schach- 
brettfigur und  der  ZöLLNERschen  wird  dann  den  abschließenden  Teil 
dieser  Untersuchung  bilden. 

§2.   Widerlegung  der  Irradiationshypothes.e. 

Die  von  Münsterberg  ^)  aufgestellte  und  vermöge  Pierces  -) 
und  Lehmanns^)  Ausführungen  fürs  erste  plausible  erscheinende 
Irradiationserklärung  hat  den  Vorteil,  daß  sie  experimentell  nicht 
schwer  zu  prüfen  ist. 

Bekanntlich  wirkt  die  Irradiation  um  so  stärker,  je  größer 
die  Helligkeitsdilferenz  ist,  welche  zwischen  angrenzenden  Feldern 
besteht.  Ist  nun  die  beim  Anblick  einer  verschobenen  Schachbrett- 
figur entstehende  Täuschung  durch  Irradiation  bedingt,  so  muss 
sie  durch  diejenigen  Umstände  begünstigt,  bzw.  erhöht  werden, 
die  die  L-radiation  selbst  begünstigen:  also  zunächst  durch  mög- 
lichst große  HelHgkeitsdifterenz  zwischen  Figur  und  Grund. 

Versuche  zur  Prüfung,  ob  mit  der  Größe  der  genannten  Differenz 
auch  die  Täuschung  wächst,  sind  sehr  leicht  anzustellen,  zumal 
das  psychische  Verhalten  der  Versuchsperson,  sobald  es  sich  um 
eine  Irradiationswirkung  handelt,  als  außerhalb  jeder  möglichen 
Beeinflussung  auf  die  Täuschungsgröße  gelegen  betrachtet  werden 
muß.  Die  Tatsache,  daß  der  Versuchsperson  eine  Gestalt  vor- 
gelegt wird  und  daß  diese  Gestalt  sowohl  erfaßt  werden  als  auch 
un erfaßt  bleiben  kann,  kommt  dann  selbstverständlich  gar  nicht 
in  Betracht.  ■*) 

Die  experimentelle  Anordnung  zur  Untersuchung  der  hier  zu- 


»)  Die  verschobene  Schaclibrettfigur  (Zeitschr.  f.  Psych.  15,  181—189). 

^)  The  Illusion  of  the  Kindergarten  patterus  (Psych.  Rev.  5,  Nr.  3  und 
Studies  in  auditory  and  visual  space  perception  II,  2 13  f.     London  1901). 

^)  Die  Irradiation  als  Ursache  geom.-opt.  Täuschungen  (Pflügers  Archiv 
f.  d.  g.  Physiol.  103,  81  ff.). 

*)  Vgl.  Benüssi,  Zur  Psych,  d.  Gestalterfassens  (diese  Untersuchungen  V) 
I,  §  5  und  III,  §  22. 


Die  verschobene  Schachbrettfigur. 


451 


nächst  in  Frage  kommenden  Irradiationserklärung:  war  der  bei  der 
Untersucliung  der  MüLLER-LYERsclien  ^)  Tänsclmngsfigur  verwen- 
deten völlig  analog  (Figur  1.).  Die  Versuchsperson  mußte  eine 
40  mm  links  von  der  Figur  einsetzende  Vertikale  (f)  parallel  mit 
der  Hauptlinie  der  ihrer  Richtung  und  Größe  nach  konstant  bleiben- 
den Schachbrettfigur  einstellen.  Mit  Hilfe  eines  verschiebbaren 
Stiftes  (st.)  längst  einer  Millimeterteilung  (MT)  am  oberen  Rande 
der  Scheibe  (S),  aus  welcher  die  zu  untersuchende  Figur  (F)  ge- 
schnitten war,  konnte  man  die  Größe  der  scheinbaren  Hauptlinien- 
neigung bestimmen.  Einer  Verschiebung  von  einem  Millimeter 
entsprach  ein  Winkel  =  12'.  Durch  eine  hinter  der  Figur  rotierende 
weiß-schwarze  Scheibe  (RS)  konnte  die  Helligkeit  der  Figur  variiert 
werden.  Die  weiß-schwarz  Werte  der  untersuchten  Helligkeiten 
sind  aus  Tabelle  I  (Figur  1-8)  zu  entnehmen. 


Figur  1. 

S:  schwarze  Grundscheibe.  F:  in  durchfallendem  Lichte  bele\;chtete  Figur,  f: 
Einstellungsfaden.  MT :  Millimeterteilung,  st :  Verschiebbarer  Stift  zum  Ablesen 
der  ff-Neigung.    RS :  rotierende  Scheibe  zur  Variierung  der  Figurenhelligkeit.    M : 

Elektromotor. 

Da  im  Sinne  der  Irradiationshypothese  die  Täuschung  aus- 
bleiben müßte,  wenn  man  die  Hauptlinie  wegläßt,  d.  h.  genauer, 
wenn  man  zwischen  den  rechts  und  links  gelegenen  Quadraten  an 
Stelle  der  ausgezogenen  gleichfarbigen  Hauptlinie  einen  (schwarzen) 
leeren  Raum  läßt,  so  wurde  dies  auch  für  unseren  FaU  untersucht. 
Die  zwei  Versuchspersonen,  mit  welchen  diese  Versuche  ausgeführt 


M  Vgl.  Benüssi  a.  a.  0.  §  4. 


29* 


452 


ViTTOKio  Benussi  u.  Wilhelmine  Liel. 


wurden,  hatten  sich  schon  eine  gewisse  Übung  im  Auseinanderhalten 
der  A-  und  G-Keaktion ')  an  der  MüLLER-LTERschen  Figur  er- 
worben und  \\T.irden  daher  aufgefordert,  mit  G  zu  reagieren.  Für 
die  Irradiationswirkung-  mußte  dieser  Umstand  völlig  belanglos 
sein.  Doch  da  kein  Hindernis  vorlag,  zu  vermuten,  daß  diese 
Täuschung  so  gut  wie  die  MÜLLER-LYERsche  und  die  ZöLLNERsche 
als  Gestalt-  (bzw.  Produktions-)  Täuschung  betrachtet  werden 
könnte,  war  die  Eventualität  einer  größeren  Konstanz  der  Täuschungs- 
werte und  eines  natürlichen  Überganges  zur  zweiten  Versuchs- 
reihe als  Folge  der  verlangten  G-Reaktion  ins  Auge  zu  fassen. 


Tabelle  I. 

1. 

2. 

3. 

4. 

5.      1     6. 

7.      1     8. 

Vierecke 

360»  W. 

180«  W. 

90«  W. 

45«  W. 

22,5«W.  11«  W. 

5«  W.  1  2,5«W.  Kurve 

Hauptl. 

„ 

)5 

„ 

„       1       „ 

„       1       „ 

Täuscbgr. 
Var. 

4,50 

0,36 

4,85 

0,91 

5,96 

0,85 

6,47 

0,92 

6,45     ]    6,63 

0,73             0,58 

6,97        7,55 

0,77            0,33 

« 

Vierecke 

360«  W. 

1800  w. 

90«  W. 

45«  W.  22,5«W.l  11«  W. 

5«  W.  |2,5«  W. 

Hauptl. 

scbwarz 

Täuscbgr. 
Var. 

10,08       11,08 

0,  30             0,93 

10,93 

1      0,.50 

12,41      12,73   1    12,26 

0,40     :      0,50       1       0,81 

12,98 

0,27 

12,20 

0,66 

ß 

Vierecke 

3600W.|180«W. 

90«  V^^  45«  w. 

22,5«  W. 

11«  w. 

5«  W. 

2,5«  W. 

Hauptl. 

„             „ 

„           1           ,: 

„ 

„ 

„       1      „ 

Tiäuschgr. 
Var. 

7,41 

0,71 

8,33 

0,27 

8,93 

0,35 

9,80 

0,50 

10,35 

0,70 

10,86 

0,29 

11.11 

0,24 

11,48 

0,44 

Y 

Vierecke 

ebenmerklich  bell 

Hauptl. 

360«  W.  180«  W. 

90«  W. 

45«  W.  22,5«W.  11«  W. 

5«  W.  |2,5«  W. 

Täuscbgr. 
Var. 

3,86     1    5,08 

1,20             0,93 

5,90 

0,23 

6,08        6,60        6,55 

0,77       1      0,77             0,70 

7,63        8.08 

1,50       1      0,89 

ö 

Vierecke  |360»W.|  180«  V^^ 

90«  W. 

45«  W.  22,5«W.i  11«  W. 

5«  W.  |2,5«  AV 

Hauptl.         „       1       ,, 

n 

»          i          :,          1 

«          1          r 

Täuscbgr. 
Var. 

6,83 

0,45 

7,20 

0,96 

8,18 

0,71 

8,58 

0,98 

9,00 

0,75 

9,16 

0,66 

9,71 

0,40 

11,70 

0,85 

t 

(Zahl  der  Einzelmessuugeu :  500.) 

Die  Ergebnisse  dieser  ersten  Versuche  an  helligkeitsgleichen 
und  helligkeitsverschiedenen  Figuren  sind  in  Tabelle  I  zusammen- 
gestellt. 


')  Vgl.  diese  Untersuchungen  V,  §  2  und  3, 


Die  verschobene  Schachbrettfigur. 


453 


Die  Figuren  waren: 

a)  für  die  erste  Versuchsreihe  helligkeitsgleich  und  mit  steigen- 
dier  Ordnungszahl  (1 — 8)  von  abnehmender  Helligkeit,  —  a-Kurve, 

b)  für  die  zweite  Versuchsreihe  helligkeitsverschieden  und 
zwar  war  die  Hauptlinie  schwarz,  die  Vierecke  rechts  und  links 
von  derselben  bei  1 — 8  von  abnehmender  Helligkeit,  —  /^/-Kurve, 

c)  für  die  dritte  Versuchsreihe  gleich  jenen  der  ersten, 
—  y-Kurve  [^«J, 

d)  für  die  vierte  Versuchsreihe  helligkeitsverschieden  und 
zwar  mit  konstanten  eben  merklich  hellen  Vierecken  und  weißer 
Hauptlinie  bei  1 — 8  von  abnehmender  Helligkeit,  —  ö-Kurve, 

e)  für  die  fünfte  Versuchsreihe  gleich  jenen  der  ei-sten  (a) 
und  dritten  (y),  —  e-Kurve. 

Graphische  Darstellung  zu  Tabelle  L 


Die  einzelnen  Versuchsreihen  "^iirden  in  der  Reihenfolge  a-e 
vorgenommen.  Aus  den  wiedergegebenen  Kurven  (Graphische  Dar- 
stellung zu  Tabelle  I)  ist  unmittelbar  Folgendes  zu  entnehmen: 

a)  Die  Täuschungsbeträge  wachsen  ausnahmslos  von  1 — 8, 
d.  h.  die  Täuschungsgröße  nimmt  mit  der  Abnahme  der  Hellig- 
keitsverschiedenheit zwischen  Grund  und  Figur  nicht,  wie  nach 
der  Irradiationshypothese  der  Fall  sein  müßte,  ab,  sondern  zu 
(Kurve  «). 

b)  Beim  Wegfall  der  Hauptlinie  nimmt  die  Täuschung  be- 


454  ViTTORio  Benüssi  u.  Wilhelmine  Liel. 

trächtlich  zu,  anstatt  daß  sie,  wie  es  im  Sinne  der  Irradiations- 
hypothese eintreten  müßte,  zu  Null  herabgesetzt  ifslirde  (Kui've  ß). 
Vergleicht  man  die  Kurven  a  und  ß  miteinander,  so  merkt  man, 
daß  sie  angenähert  parallel  verlaufen,  d.  h,  daß  die  Täuschungs- 
werte der  /J-Kurve  verhältnismäßig  langsamer  zunehmen  als  die- 
jenigen der  «-Kurve.  Bei  dieser  letzteren  ist  das  Verhältnis  des 
1.  zum  8.  Täuschungswert  =  1:2,  bei  der  /?-Kurve  dagegen  =  1 : 1,2. 
Es  Avird  also  die  Täuschung  durch  den  Wegfall  der  Hauptlinie 
bei  allen  Helligkeitsgraden  um   einen  konstanten  Wert  erhöht. 

c)  Bei  Wiederholung  der  ersten  Versuchsreihe  (Kurve  y) 
ergibt  sich,  daß  die  Täuschungswerte  im  Vergleiche  mit  denjenigen, 
deren  Bestimmung  (Kurve  «)  der  zweiten  Versuchsreihe  (Kurve  ß) 
vorausgegangen  war,  eine  sehr  deutliche  Zunahme  aufweisen. 
Auch  diese  Werte  ergeben  eine  Kurve  (y),  die  zu  den  übrigen  (a 
und  ß)  parallel  verläuft.  Wir  begegnen  hier  einer  Erhöhung  der 
Täuschungsgröße  als  Folge  der  zweiten  Versuchsreihe,  die  mit  der 
Irradiationshypothese  gerade  so  wenig  im  Einklang  zu  bringen  ist 
wie  die  Täuschungserhöhung  der  ß-  gegenüber  der  «-Reihe  und  die 
Zunahme  der  Täuschung  von  1—8  überhaupt. 

d)  Ebensogut  wie  bei  der  zweiten  Versuchsreihe  müßte  auch 
bei  der  vierten  (Kurve  ö)  die  Täuschung  auf  Null  reduziert  werden. 
AVie  ersichtlich,  trifft  auch  dies  keineswegs  zu.  Die  Täuschung 
wird  wohl  im  Vergleich  zur  ß-  (bzw.  y-)  Kurve  [zweite  und  dritte 
Versuchsreihe]  deutlich  herabgesetzt,  von  einer  Reduktion  auf  Null 
kann  jedoch  den  Tatsachen  gegenüber  nicht  die  Rede  sein.  Die  Kurve  ö 
weist  vielmehr  Werte  auf,  die  mit  denjenigen  der  «-Kurve  nahezu 
völlig  übereinstimmen :  Figuren,  die  der  Irradiationswirkung  gegen- 
über ganz  verschieden  gestellt  sind,  ergeben  also  unter  Um- 
ständen gleichgroße  Täuschungswerte. 

e)  Bei  A^ornahme  der  ersten  Versuchsreihe  nach  der  eben  ange- 
fühlten ()-Reihe  (e-Kurve),  und  bei  Vergleichung  der  dabei  gewonnenen 
Täuschungswerte  mit  denjenigen  der  dritten  (Kurve  y)  und  der 
ersten  Versuchsreihe  (Kurve  «)  merkt  man,  daß  sie  wohl  kleiner 
als  die  y-,  aber  noch  immer  größer  als  die  «-Werte  ausgefallen 
sind.  An  dieser  Stelle  kommt  zunächst  die  Abschwächung  der 
e-Werte  gegenüber  den  y-Werten  in  Betracht.  Wie  weiter  oben 
(c)  infolge  der  vorangegangenen  Versuchsreihe  eine  Erhöhung  der 
Täuschung  anzutreffen  war,  so  jetzt  eine  Herabsetzung,  die  ihrer- 


Die  verschobene  Schachbrettfigur. 


455 


seits  mit  der  Irradiationshypothese  in  keinerlei  Verbindung  zu 
bring-en  ist. 

Daß  unter  solchen  Umständen  die  Irradiationserklärung  als 
unrichtig  abzulehnen  ist,  wird  kaum  zu  bestreiten  sein. 

In  demselben  Sinne  sprechen  auch  die  folgenden  Versuche  an 
farbigen  Figuren  verschiedener  Helligkeit.  Die  Ergebnisse  der- 
selben sind  in  TabeUe  II  zusammengestellt.  Die  verwendeten 
Farben  waren  Weiß,  Rot,  Grün  und  Violettblau.  Die  (in  der  Tabelle) 
angegebene  Reihenfolge  stellt  zugleich  eine  von  weiß  zu  grün  ab- 
nehmende HeJligkeitsreilie  dar.  Die  violettblaue  Figur  war  eben- 
merklich heller  als  die  grüne.  Mit  diesen  Farben  wurden  Versuchs- 
reihen 

a)  bei  relativ  starker, 

b)  bei  relativ  schwacher  Beleuchtung  durchgeführt. 

Die  Folge  der  Versuchsreihen  war  a  (a)  —  ö  (ö).  Bei  a  (und  g) 
waren  Hauptlinien  und  Quadrate  gleichfarbig,  bei  ß  (ß)  die  Haupt- 
linien schwarz,  die  Quadrate  abwechselnd  weiß,  rot,  grün  und 
violettblau,  bei  y  (y)  Hauptlinien  und  Quadrate  gleichfarbig  (==  a), 
bei  ö  (ö)  die  Hauptlinien  abwechselnd  weiß,  rot.  grün,  violettblau, 
die  Quadrate  für  a)  dunkelgrau,  für  b)  ebenmerklich  vom  Grunde 
verschieden  (heUer).    [Vgl.  Tabelle  II.] 


TabeUe  11 

.    (640  Einzelmessungen.) 

(a)  Starke  Beleuchtung 

(b)  Schwache  Beleuchtung 

Fortl.  Zahl. 

1. 

2. 

3.     i    4. 

> 

Fortl.  Zahl. 

1.     1    2. 

3.     1    4. 

<r> 

Vierecke 

weiß 

rot 

grün  1  blau 

Vierecke 

weiß  1  rot 

grün  1  blau 

Hauptl. 

weiß 

rot 

grün  1  blau 

Hauptl. 

weiß  1  rot 

grün  1  blau 

M 

Täuschgr. 
Var. 

4,45 

0,56 

5,85 

0,91 

7,33 

0,16 

7,16 

0,33 

a 

ß 

Y 
S 

Täuschgr. 
Var. 

5,70    7,06 

0,70       0,96 

7,46  17,60 

0,42       0,.56 

a 

Vierecke 

weiß 

rot 

grün 

blau 

Vierecke 

weiß    rot 

grün 

blau 

Hauptl. 

schwarz 

Hauptl. 

schwarz 

Täuschgr. 
Yar. 

10,34 

0,36 

10,44 

0,57 

11,59  10,84 

0,50       0,80 

Täuschgr. 
Var. 

9,89  110,96  10,21 

0,H5        0,62        0,65 

10,45 

0,46 

l 

Vierecke 

weiß 

rot   1  grün  \  blau 

Vierecke 

1  weiß  1  rot  |  grün 

blau 

Hauptl. 

weiß  1  rot   |  grün 

blau 

Hauptl. 

1  weiß  1  rot   |  grün 

blau 

Täuschgr. 
Var. 

7,98    10,01  11,36 

0,49        0,38    [    0,48 

11,03 

0,40 

Täuschgr. 
Var. 

9,15    10,78  11,00  11,36 

0,15        0,59        0,50        0,74 

L 

Vierecke 

dunkelgrau  (deutl.  sichtbar) 

Vierecke 

1  dunkelgrau  (eben  sichtbar) 

Hauptl. 

weiß  1  rot  |  grün   blau 

Hauptl. 

1  weiß  1  rot   |  grün  |  blau 

Täuschgr. 
Var. 

5,54 

0,65 

5,58 

0,P0 

7,15 

0,40 

6,99 

0,61 

Täuschgr. 
Var. 

4,.S6  !  4,37 

j    0,61    1    0,87 

6,97 

0,54 

6,53 

0,67 

l 

456 


ViTTORio  Benussi  h.  Wilhelmine  Liel. 


Aus  dieser  Tabelle  ist  zu  entnehmen,  daß 

1,  mit  der  Helligkeitsabnahme  die  Täuschung  zunimmt.  Es  geht 
dies  sowohl  aus  der  Zunahme  der  Werte  von  1 — 4,  als  aus  der 
allgemein  höheren  Lage  der  a-  gegenüber  der  a-Kurve  hervor,  d,  h. 
der  Kurve  der  lichtschwachen  gegenüber  der  der  lichtstarken  Figuren. 

2.  Läßt  man  die  Hauptlinie  weg.  in  welchem  Falle,  wie  bereits 
berührt,  der  Irradiationswirkung  nach  keine  Täuschung  mehr  be- 
stehen müßte,  so  erhält  man,  im  Einklänge  mit  den  oben  mitge- 
teilten Ergebnissen  an  farblosen  Figuren,  deutlich  größere  Täuschungs- 
werte als  vorher  (vgl.  die  Kurven  ß  und  ß.).  Dabei  ist  die  Zu- 
nahme bei  den  helleren  Figuren  (Tabelle  II  a)  größer  als  bei  den 
dunkleren  (Tabelle  II  b).  Nimmt  die  g-Kurve  der  a-Kurve  gegen- 
über eine  höhere  Lage  ein,  so  weist  die  /?-Kurve  gegenüber  der 
^-Kurve  ein  entgegengesetztes  Verhalten  auf.  Auch  dieser  Gegen- 
satz ist,  so  wenig  wie  das  Bestehen  der  Täuschung  bei  haupt- 
linienlosen  Figuren,  durch  Irradiation  zu  verstehen. 

Graphische  Darstellung  zu  Tabelle  II. 


.VJTJZ- 

(a)2        \      2       \       3       \       4- 

CUrve 

(b)  1        \       Z       \       3       \       tt 

tnrrv 

IS 

7* 
J3 
22 
11 

10 
9 
8 

7 

e 
5 
t- 

3 
2 

1 

-r 

IS 
li^ 

13 
12 
11 
10 
9 
S 

6 

5 
& 
3 
2 
1 

^„^ 

:^~^ 

^.^ 

-^;>-^ 

-ß 

^^-2^ 

^ 

ß~ 

-\ 

^ 

^ 

■ __ 

.-^ 

^-^ 

^ö 

^^ 

y 

^^ 

^ 

^ 

^ 

- 

^ 

3.  Die  Wiederholung  der  a  (a)-  Keihe  (vgl.  Kurve  y  und  y) 
zeigt  neuerlich  die  bereits  oben  erwähnte  Erhöhung  der  Täuschung 
als  Folge  der  vorhergehenden  Versuche. 

4.  Eine  vierte  Eeihe  von  Figuren  mit  sehr  hellen,  von  1—4 
etwas  dunkler  werdenden  Hauptlinien  und  sehr  dunklen  (I  a),  bzw. 
ebenmerklich  vom  Grunde  farbenverschiedenen  Quadraten  (Ib)  er- 
gibt schließlich  anstatt  Null  oder  wenigstens  sehr  kleiner  Täu- 
schungswerte  solche  (Kurve  d  und  d\  die  sich  mit  denjenigen  der 


Die  Yerschobene  Schachbrettfigiir.  457 

ersten  Keihe  (Kurve  «)  decken,  was  nach  der  Irradiationshypothese 
ebenfalls  nnmöglich  sein  müßte. 

Auch  diese  Yersuclisreihe  bezeugt  also  die  Unzulänglichkeit 
der  Irradiationserklärung-. 

Zum  Überfluß  sei  noch  auf  folgende  Versuche  hingewiesen,  die 
das  eben  behauptete  neuerdings  zu  bekräftigen  vermögen.  Kann 
einerseits  die  Irradiatiouswirkung  nur  bei  Feldern,  die  einander 
berühren,  zur  Erklärung  der  gegenwärtigen  Täuschung  herange- 
zogen werden,  und  müßte  daher  die  Täuschung  bei  ,,hauptlinien^ 
losen"  Figuren  ausbleiben,  so  ist  es  andererseits  klar,  daß,  da  die 
Irradiation  nur  zwischen  helligkeitsverschiedeneu  Feldern  wirken 
kann,  für  das  Entstehen  einer  Täuschung  jede  Möglichkeit  fehlte 
wenn  Figur  und  Grund  gleich  hell,  aber  selbstverständlich  verschieden- 
farbig sind.  Nun  zeigen  aber  die  zu  diesem  Zwecke  angestellten 
Versuche,  daß  ganz  im  Gegenteil  bei  Helligkeitsgleichheit  zwischen 
Figur  und  Grund  die  Täuschung  ihre  größten  Werte  erreicht.^) 
Es  seien  hier  (Tab.  III)  einige  Beispiele  von  einer  Versuchsperson 
(V-B.)  angeführt. 

Tabelle  III. 


Farbe 

Helligkeitsverhältuis 
zwischen  G  und  F 

Täuschungs- 

des Grundes 

(G)    1 

der  Figur  (F) 

größe 

violett 

n 
n 

rot 

schwarz 

weiß 

gelb 

F-=G 

F  dunkler  als  G 

F  heller  als  G 

F=G 

9,31 

8,45 
6,73 
9,13 

Dieselben  Versuche,  mit  einer  zweiten  Versuchsperson  (W.L.)  an- 
gestellt, ergaben  völlig  gleichartige  Resultate.  Es  kann  daher  von 
einer  Wiedergabe  derselben  an  dieser  Stelle  abgesehen  werden. 
^Ebensowenig  braucht  obige  Tabelle  eine  weitere  Erklärung. 

§  3.    Die  Produktionshypothese. 

Was  unter  Vorstellungsproduktion,  bzw.  unter  Produktions- 
täuschung zu  verstehen  ist,  bedarf  hier  keiner  weiteren  Erörterung.  ^) 

^)  Das  entgegengesetzte  Ergebnis  bei  Lehmann  (a.  a.  0.  S.  91.)  erklärt 
sich,  wie  demnächst  an  anderer  Stelle  näher  darzulegen  sein  wird,  aus  der  Ge- 
staltmehrdeutigkeit (vgl.  diese  Unters.  V.  I,  §  11.)  der  von  ihm  verwendeten 
komplizierteren  Figuren. 

*)  Vgl.  diese  Untersuchungen  V,  §  17  und  VIII  Abschn.  1. 


458 


ViTTORio  Benussi  u.  Wilhelmine  Liel. 


Nur  einige  Kriterien  für  eine  solche  Täuschung  seien  an   dieser 
Stelle  in  Erinnerung  gebracht. 

1.  Die  Abhängigkeit  der  Täuschung  von  subjektiven  Momenten, 
z.  B.  vom  Erfassen  der  dargebotenen  Gestalt  oder  vom  Analysieren 
eines  ihrer  Bestandstücke,  d.  h.  in  den  bereits  an  anderer  Stelle 
verwendeten  Abkürzungen  ^)  die  Abhängigkeit  der  Täuschungsgröße 
von  der  G-  und  A-  Eeaktion. 

2.  Die  infolge  von  Übung  eintretende  Täuschungserhöhung,  bzw. 
Herabsetzung  durch  willkürliche  Betätigung  der  G-  oder  A-Reaktion. 

3.  Die  Abhängigkeit  der  Täuschungsgröße  (gleichviel  unter 
welchen  subjektiven  Bedingungen  die  Versuche  angestellt  werden) 
von  denjenigen  Momenten,  welche  die  G-bzw.  il-Reaktion  begünstigen 
oder  beeinträchtigen. 

Läßt  sich  zeigen,  daß  der  Wechsel  der  Täuschungsgröße  bei 
einer  Schachbrettfigur  den  eben  berührten  Abhängigkeitsbeziehungen 
untersteht,  so  ist  zugleich  auch  deren  Natur  als  Produktions- 
täuschung nachgewiesen. 

Tabelle  IV.    (240  Einzelraessungen.) 


a^ 

)  Achromatische 

Figuren 

Fortl.  Zahl 

1.        1       2. 

3. 

4. 

Reaktion 

Vierecke 

3600  v^T   1  900  ^^ 

22"  w. 

50  W. 

Kurve 

Hauptl. 

»              1              r 

1 

s 

Täuschgr. 

4,50      1      5,96 

6,45 

6,97 

Var. 

0,36                  0,85 

0,73 

0,27 

G 

Täuschgr. 

7,41            8,93 

10,35 

11,11 

ß 

Var. 

0,71                 0,35 

0,76 

0,24 

A 

Täuschgr. 

3,86      1     5,08 

5,90 

6,08 

Y 

Var. 

1,10         t        0,93 

0,23 

0,77 

b)  Chromatische  Figuren 


Fortl.  Zahl 

1. 

2. 

3. 

4. 

Reaktion 

Vierecke 

360»  W. 

rot 

grün 

violett 

Kurve 

Hauptl.      1         „ 

„       1        .       !        . 

s 

Täuschgr. 

4,45 

5,85 

7,33 

7,16 

Var. 

0,56 

0,91 

1,16 

0,35 

G 

Täuschgr. 

9,15 

10,78 

11,00 

11,30 

l 

Var. 

0,21 

0,21 

0,35 

0,40 

A 

Täuschgr. 

4,58 

4,66 

6,83 

6,11 

y_ 

Var. 

0,44 

0,50 

0,66 

0,79 

Zur  experimentellen  Beantwortung  dieser  Frage  dienen  folgende 
Versuche. 


^)  Vgl.  diese  Untersuchungen  V,  §  5. 


Die  verschobene  Schachbrettfigur. 


459 


ad  1.  Versuche  zur  Feststellung  des  Einflusses 
der  G-  und  A-ßeaktion  auf  die  Täuschungsgröße  einer 
verschobenen  Schachbrettfigur. 

Zu  diesem  Zwecke  wurden  drei  Versuchsreihen,  je  mit  farb- 
losen und  farbigen  (helligkeitsgleichen)  Figuren  von  in  annähernd 
gleichen  Abständen  abnehmender  Helligkeit  (a]  1—4,  b]  1—4. 
Tabelle  IV)  vorgenommen,  die  erste  bei  S-  ^\  die  zweite  bei  G-,  die 
dritte    bei   A-Reaktion    (vgl.  Tabelle   IV  und   die  Kurven  a  [a], 

ß  [ßl  y  \y\)- 

Graphische  Darstellung  zu  Tabelle  IV. 


TTÜtl 

faj  1       \        2       \        3       \       i- 

CurvB 

(l)  1       \        2       \        3       \        i 

Tran 

15 
li 
t3 
12 
U 
lO 
9 
8 
7 
6 
5 
* 
3 
2 
l 

/> 

15 

n 

13 
12 
It 
10 
9 
8 
7 

e 

5 
3 

1 

__ — ■ 

,_— — "^ 

ß- 

_^-^ 

^^ 

(: 

^ 

^ 

— _ 





~a 

— ~— __ 

^y^ 

1 ^ 

'/ 

y^ 

<^ 

-^-' 

y 

Z^ 

^ 

Die  Gegenüberstellung  der  A-.  G-  und  S- Werte  ergibt,  daß  die 
S-Reaktion  (Kurve  a,  g)  im  Vergleich  mit  der  A-Eeaktion  (Kurve  ß.ß) 
größere,  im  Vergleich  mit  der  G-Reaktion  (Kurve  /,  y)  kleinere 
Werte  aufweist.  Die  Täuschungsgröße  ist  also  von  dem  Erfassen  der 
Gestalt,  bzw.  der  Bildung  der  Gestaltvorstellung  wesentlich  abhängig. 

Dies  zur  Beantwortung  unserer  ersten  Frage. 

ad  2.  Versuche  zur  Untersuchung  der  G-  und  A- 
Ü  b  u  n  g. 

a)  Die  G- Übung. 

Zui- Feststellung  derselben  wurden  8  Versuchsreihen  an  4  farbigen 
und  4  farblosen  Figuren  entsprechender  HeUigkeit  vorgenommen. 
Dabei  wurde  die  Versuchsperson  aufgefordert,  mit  G  zu  reagieren. 
Die  Reihenfolge   der  Sitzungen  war  a-^   (TabeUe  V).    Wie  er- 


1)  D.  h.  bei  spontaner  Reaktion  (vgl.  Benüssi,   diese  Untersuchungen  V. 
§  3,  S.  310). 


460 


ViTTORIO   BeNUSSI    »1.    \A'lLHELMIXE   LlEL. 


sichtlich,  nimmt  die  Täuschung  von  «  zu  d-  mit  fortschreitender 
Übung  im  G-Reagieren  zu. 

Tabelle  Y.    (320  Einzelmessungen.) 

Chromatische  Figuren. 


Versuchs- 
person 


Foitl.  Zahl 


Vierecke 


Haiiptl. 


SeO^W-l    rot    I  grün  | violett  Versuchstag 


Kurve 


V.  B. 


Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Vav. 
Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 
Täuscligr. 

Var. 


4,45 

Ü,5G 

4,66 

0,54 

4,98 

0,34 

5,23 

0,41 

7,98 

0,49 

9,15 

0,1.') 


5,85 

7,33 

7,16   1 

0,91 

1,10 

0,33 

6,.S5 

7,23 

7,35 

0,2d 

0,44 

0,20 

5,90 

7,80 

7,21 

0,23 

0,47 

0,47 

6,55 

8,41 

7.63 

0,65 

0,45 

0,51 

10,01 

11,36 

11,03 

0,38 

0,48 

0,40 

10,78 

11,0 

11,36 

0,,59 

0,50 

0.74 

2.  XII. 

1903 

3.  XII. 
1903 

4.  XII. 
1903 

4.  XII. 
1903 

10.  XII. 

1903 
10.  XII. 

1903 


Achromatische  Figuren. 


Vpr«inphci- 

Fortl.  Zahl  |     1.      |     2.      |     3.      i     4. 

Vierecke     |3600W.  90°  W.|22ö  W.]  5°  W. 

Versuchstag 

Kurve 

person 

Hauptl.      1      „ 

>)           '           V           1            •? 

Täuschgr.       10,08 

10,70 

11,50 

11,98 

16.  II. 

V    B 

Var.               0,23 

0,40 

0,70 

1,^0 

1904 

Täuschgr.      10,21 

11,13 

12,25 

12,50 

16.  IL 

S- 

Var.               0,27 

0,32 

0,66 

0,83 

1904 

Zwischen  der  d-  und  der  «-Reihe  wurden  Figurenreihen  mit 
schwarzen  Hauptlinien  (,.hauptlinienlose"  Figuren  nach  Tabelle  II) 
vorgenommen.  Da  dieser  Umstand  für  die  Versuchsperson,  nach 
deren  eigenen  Angabe  das  Erfassen  der  Gestalt  nicht  unbeträchtlich 
erleichterte,  so  erklärt  sich  der  große  Abstand  der  beiden  Kurven 
d  und  £  aus  der  bei  den  hauptlinienlosen  Figuren  gewonnenen 
G-Übung,  —  eine  Erhöhung,  die  durch  fortgesetzte  Übung  von  « 
zu  S^  noch  eine  weitere  Steigerung  erfuhr. 

Die  Frage  nach  der  Übbarkeit  der  G-Reaktion  ist  also  hiemit 
entschieden. 

b)  Die  A- Übung. 

In  nicht  weniger  überzeugender  Weise  läßt  sich  auch  die 
A-Übung  nachweisen.  Ein  Beispiel  hiefür  liefere  Tabelle  VI,  Da 
diese  Versuche  nach  Abschluß  der  G-Reihen  angestellt  wurden, 
welcher  Umstand  dem  raschen  und  sicheren  Eintreten  der  A-Reakion 


Die  verschobene  Schachbrettfigur. 


461 


nicht  unbeträchtlich  hinderlich  sein  mußte,  so  wurden  für  die  A- 
Beihen  solche  Figuren  gewählt,  welche  imstande  waren,  vermöge 
der  Farbenverschiedenheit  ihrer  Komponenten  (vgl.  Tabelle  VI) 
diese  Nachwirkung  einigermaßen  aufzulieben. 

Graphische  Darstellung  zu  Tabelle  V. 


mm 

J        \       2        \       3        \        i- 

CuniL 

J2S0 

^^^_^ 

'r 

12 

nso 
u 

lOSO 
10 

y' 

^""^ 

^.^ — ' 

7. 

'^^-^/i 

^;;;::>-=d 

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I^^^^^^^T^ 

O^/ 

X  / 

SSO 
9 
850 

/  / 

^  / 

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/ 

\^ 

ISO 

7 

6-50 

~^^"\ 

-6 

/  /J\ 

=— «^iS 

^ 

—^ 

^/^ 

> 

Y// 

6 

5-50 

'/ 

5 
(tSO 

3-50 

3 

::so 

z 
ISO 

j 



Aus  der  vergleichenden  Zusammenstellung  der  G-  und  A- 
Täuschungsgebiete  (Tabelle  VII)  läßt  sich,  abgesehen  von  der  Tat- 
sache, daß  die  G-Reaktion  erfolgreicher  eingeübt  wird  als  die  A- 
Reaktion,  noch  ganz  besonders  deutlich  der  Entwicklungsgang  der 
A-Übung  entnehmen.  Man  sieht  nämlich,  daß  die  erste  A-Kurve 
den  entgegengesetzten  Verlauf  aufweist  als  die  übrigen  und  daß  bei 
den  ersten  A-Einstellungen  ein  größerer  ^^'ert  als  bei  der  ersten  will- 
kürlichen G-Einstellung  erreicht  worden  ist.  Daran  läßt  sich  der 
Einfluß  der  erhöhten  G-Disposition  durch  die  vorausgegangenen 
G-Reihen  erkennen,  indes  das  progressive  Sinken  der  Werte  bei  der 
ersten  Kurve  als  eine  Folge  der  im  Laufe  dieser  Reihe  wieder  er- 
höhten A-Disposition  aufzufassen  ist. 

Bezüglich  der  A-Kurven  (Tabelle  VI)  ist  noch  auf  die  wieder- 
holt hervorgetretene  A-Ermüdung  bei  Versuchsreihen,  die  unmittel- 


462 


ViTTORio  Benüssi  11.  Wilhelmine  Liel. 


Tabelle  VI.    (480  Einzelraessungen.) 


A-Reaktion 


Versuchs- 
person 


Fortl.  Zahl 


1. 


2. 


Vierecke  links  u.  Hauptl.  rot  (von  1  zu 4 
in  ahnehm.  Helligkeit).  Vierecke  rechts, 
grau  (yon  1  zu  4  in  abnehm.  Helligkeit).' 


Versuchstag 


Kurve 


V.  B. 


Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 
Täuschgr. 

Var. 


!  6,03 

5,30 

5,06 

i     0,36 

0,90 

0,75 

;  4,50 

4,26 

4,81 

1,0 

1,01 

1,30 

4,28 

3,80 

4,70 

0,96 

1,03 

1,03 

3,75 

4,80 

4,91 

1,20 

0,63 

0,86 

2,33 

2,70 

3,58 

0,91 

1,0 

0,30 

2,10 

2,01 

2,41 

0,80 

0,75 

1,05 

3,00 

3,25 

3,86 

0,66 

0,58 

0,80 

1,95 

1,21 

1,91 

0,86 

0,46 

0,76 

2,61 

2,55 

2,75 

1,93 

0,96 

1,20 

1,28 

1,45 

2,45 

0,78 

0,80 

0,61 

1,58 

2,81 

3,28 

0,76 

0,98 

0,64 

1,16 

2,21 

2,98 

0,27 

0,53 

0,50 

5,56 

1,15 

5,75 

1,08 

4,60 

0,60 

4,60 

0,65 

4,05 

1,28 

3,70 

0,76 

4,36 

0,95 

3,10 

0,55 

2,86 

0,51 

3,03 

0,36 

3,13 

0,71 

3,40 

0,75 


17.  XII. 

1903 
17.  XII. 

1903 

17.  XII. 
1903 

18.  xn. 

1903 

19.  XII. 
1903 

19.  XII. 
1903 

19.  XII. 
1903 

20.  XII. 
1903 

20.  XII. 
1903 

21.  XII. 
1903 

21.  XII. 

1903 
21.  XII. 

1903 


Graphische  Darstellung  zu  Tabelle  VI. 


Die  verschobene  Schachbrettligur. 


463 


bar  hintereinander  vorgenommen  wurden,  aufmerksam  zu  machen :  man 
sieht,  daß  die  Werte  der  r/-Kurve  etwas  größer  ausgefallen  sind  als 
die  der  ihr  unmittelbar  vorangegangenen  s-  und  ^-Kurven,  was  auch  bei 
der  i-  und  X-  im  Vergleich  mit  der  d--  und  x-Kurve  zu  bemerken  ist. 

TabeUe  VII. 


Kurve 

Täiaschuugsgebiet  der 
G-Reaktion 

Grenze 

Täuschungsgebiet  der 
A-Reaktion 

Kurve 

1.      1     2.      1    3. 

4. 

1. 

2. 

3. 

4. 

n 
ß 

10,21     11,13 

0,27          0,32 

4,45      5,85 

0,56          0,91 

12,25 

0,G6 

7,33 

1,16 

12,50 

0,83 

7,16 

0,33 

obere 
untere 

6,03 

0,36 

1,28 

0,78 

5,30 

0,90 

1,45 

0,80 

5,06 

0,75 

2,45 

0,61 

5,56 

1,15 

3,03 

0,36 

y 

8 

Graphische  Darstellung  zu  Tabelle  VII. 


Von  weiteren  Einzelheiten,  sowohl  was  ausführlichere  tabella- 
rische Übersichten,  als  Versuchsergebnisse  anlangt,  kann  hier  ab- 
gesehen werden,  zumal  das  Mitgeteilte  zur  Veranschaulichung  und 
zum  Nachweis  der  G-  und  A-Übung  vollkommen  hinreicht. 

ad  3.  Versuche  mit  Figuren,  die  die  G-  bzw.  A- 
Reaktion  begünstigen. 

Sind  die  bereits  mitgeteilten  Versuche  ausnahmslos  zugunsten 
der  Produktionshypothese  ausgefallen,  so  bleibt  uns  noch  das  eine 
zu  beweisen  übrig,  daß  die  Täuschung  durch  (zunächst  in  der 
Farbe  gelegene)  Momente,  die  die  G-  oder  die  A-Reaktion  be- 
günstigen, erhöht,  bzw.  herabgesetzt  wird. 

Darf  die  aus  anderen  Versuchen  gewonnene  Erkenntnis,  daß 
diejenigen  Momente  die  Täuschung  erhöhen  (bzw.  herabsetzen), 
welche  die  G-  (bzw.  A-)Reaktion  begünstigen,  als  allgemein  giltig 


464  ViTTORio  Benüssi  u.  Wilhelmine  Liel. 

betrachtet  werden,  so  muß  sie  auch  für  den  g-egenwärtigen  FaU 
zutreffen,  d.  h.  eine  durch  die  Farbe  erhöhte  Aufdringlichkeit  der 
Quadrate  muß,  da  sie  zum  einheitlichen  Erfassen  der  gegebenen 
Gestalt  nötigt,  eine  Täuschungssteigerung,  eine  auf  dieselbe  Weise 
erhöhte  Aufdringlichkeit  der  Hauptlinie  dagegen,  da  sie  mehr  zur 
Analysenreaktion  zwingt,  eine  Täuschungsherabsetzung  herbeiführen. 
Daß  dabei  nicht  dieselben  Farben  für  verschiedene  Versuchsper- 
sonen gleich  aufdringlich  sein,  und  sich  daher  subjektive  Diffe- 
renzen geltend  machen  werden,  ist  billigerweise  zu  erwarten.  Die 
Giltigkeit  dieser  Behauptung  vorausgesetzt,  hat  man  eine  neue 
Instanz  für  die  Richtigkeit  der  Produktionshypothese,  indem  der- 
artige individuelle  Verschiedenheiten  vom  Standpunkte  der  Irra- 
diationshypothese sich  nicht  erklären  lassen. 

Nach  dem  vorher  Erwähnten  muß  also  die  Täuschung  durch 
eine  Schachbrettfigur : 

1.  zunehmen,  wenn  die  Quadrate  autdringiicher  werden  als 
die  Hauptlinie, 

2.  abnehmen,  wenn  das  Entgegengesetzte  der  Fall  ist. 
Die   Verifikation  dieser  beiden  Sätze  ist  bereits  in    den  zu 

Anfang  dieser  Untersuchung  angeführten  Tabellen  II  und  III  ent- 
halten, aus  welchen  man  entnehmen  kann. 

1.  daß  die  Täuschung  bei  Figuren  mit  schwarzer  Hauptlinie 
beträchtlich  größer  ausgefallen  ist  als  die  bei  gleichfarbigen  Figuren 
(vgl.  Tabelle  I,  Kurve  a  und  /?), 

2.  daß  sie  dagegen  sinkt,  wenn  die  Hauptlinie  sehr  hell  und 
die  Quadrate  sehi-   dunkel  sind    (vgl.  Tabelle  I,   Kurve  ö  und  e). 

AUe  jene  Täuschungsschwankungen  also,  die  aus  der  Irra- 
diationshypothese nicht  zu  verstehen  waren,  lassen  sich  somit  auf  Grund 
der  Produktionshypotliese  einfach  und  einwandfrei  erklären,  näher: 

1.  die  Schwankungen,  die  auf  A-  und  G-Eeaktion, 

2.  die,  welche  durch  A-  und  G- Übung,  bzw.  Übungsüber- 
tragung von  vorhergegangenen  Figuren  auf  folgende  zurückgehen, 

3.  die  Täuschungsveränderungen,  die  von  Momenten  abhängig 
sind,  welche  die  Aufdi'inglichkeit  der  Komponenten  beeinflussen, 

4.  die  Zunahme  der  Täusclmng  durch  Verminderung  der  Hellig- 
keitsverschiedenheit zwischen  Figur  und  Grund. 

Dieser  letzte  Punkt  entbehrt  allerdings  noch  eines  eingehenden 
Nachweises,  soll  aber  im  folgenden  seine  Rechtfertigung  finden. 


Die  verschobene  Schachbrettfigur. 


465 


ij  4.    Das   ZüLLNERsche   Muster  und    die    „verschobene 
Scliachbrettfigur". 

Liegt,  wie  bis  auf  weiteres  angenommen  werden  soll,  das  täuschende 
Moment  einer  Schachbretttigur  in  der  Produktion  der  Vorstellung 
einer  im  wesentlichen  durch  die  schiefwinklige  Kreuzung  von  Linien 
gegebenen  Gestalt,  so  ist  es  klar,  daß  die  Täuschung  um  so  stärker 
wird  hervortreten  müssen,  je  weniger  diese  Kreuzungsgestalt  durch 
Nebensächliches  verschleiert  wird.  Gesetzt,  es  werden  drei  Figuren, 
wie  in  Fig.  2  veranschaulicht  ist,  auf  deren  Täuschungswirkung 
hin  geprüft,  und  der  Täuschungsgrund  der  ersten  Figur  liege  darin, 
daß  bei  deren  Anblick  in  größerem  oder  geringerem  Maße  die  im 
wesentlichen  durch  die  dritte  Figur  gegebene  Gestalt  erfaßt  wird, 
so  ist  es  klar,  daß  die  Täuschung  der  zweiten  Figur  größer  als 
die  der  ersten,  und  die  der  dritten  größer  als  die  der  zweiten  sein 
muß.  weil  von  der  ersten  zur  dritten  die  das  Erfassen  der  erwähnten 
Kreuzungsgestalt  störenden  Details  immer  mehr  wegfallen. 


Figur  2. 

Da  eine  Täuschungszunahme  in  dieser  Richtung  tatsächlich 
eintritt  (vgl.  Tabelle  VIII,  a  und  b  auf  den  beiden  folgenden  Seiten), 
so  ist  dadurch  die  der  unvoreingenommenen  Betrachtung  ohnedies 
sehr  naheliegende  Gleichartigkeit  der  ZÖLLNERschen  mit  der  hier 
untersuchten  Täuschungsfigur  nachgewiesen. 

Meinong,  Untersuchungen.  30 


466 


ViTTORIO   BeNüSSI    U.    WiLHELMINE    Li  EL. 


Tabelle  Villa.    (480  Einzelmessungen.) 

Fortl.  Zahl 

1. 

1          2.                     3.           1          4. 

Vierecke 

weiß 

1         rot                 grün        |      violett 

Kurve 

Hauptl. 

1                 »                                  n                 1                 n 

Täuschgr. 
Var. 

7,89 

1,14 

9,20                10,74               11,06 

0,95                         0,79                         0,91 

a 

Polygone 

weiß 

rot                 grün        |       violett 

Hauptl. 

,, 

V                       1                       „                       1 

Täuschgr. 
Var. 

9,13         ;        10,92        1       13,49        ,        12,59 

0,76                          0,45                          0.42                           0,80 

ß 

Transvers. 

weiß        j          rot 

grün 

violett 

Hauptl. 

n 

„ 

)5 

Täuschgr. 
Var. 

12,23 

0,66 

14,41 

0,43 

15,29 

0,7ü 

15,08 

0,52 

V 

Fortl.  Zahl 

5. 

6. 

7. 

8. 

Vierecke 

weiß 

rot 

grün        !      violett 

Kurve 

Hauptl. 

schwarz 

Täuschgr. 

Var. 

5,87 

0,93 

6,78 
i,ao 

8,20 

1,15 

7,90 

1,14 

(51' 

Polygone 

weiß 

rot         1        grün 

violett 

Hauptl. 

schwarz 

Täuschgr. 
Var. 

8,63                10,75               13,63                14.05 

0,81                         0,56                         0,69                         0,73 

£ 

Transvers. 

weiß        1         rot          |        grün              violett 

Hauptl. 

schwarz 

Täuschgr. 

Var.           1 

11,24 

0.66 

12,86 

0,57 

16,35 

0,97 

16,06 

1,15 

s 

(Tiapliisclie  Darstellung  zu  Tabelle  Villa. 


mm 

1        \       Z         1        J        1        4- 

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20 
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9 
S 
7 
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13 

12 
11 
10 

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a. 

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S— 

Die  verschobene  Schachbrettfigur. 


467 


Tabelle 

VIII  b,    (480  Eiiizelmessuugeii.) 

Fortl.  Zahl 

1- 

1          2.           1 

3. 

4. 

Vierecke 

weiß 

1     hellgrau     | 

grau 

dunkelgrau 

Kurve 

Hauptl. 

1 

1           .           1 

„ 

„ 

Täuschgr. 
Var. 

10,37 

0,40 

1       10,81 

!             0,60 

11.33 

0,37 

13,49 

0,4a 

a 

Polygone 

weit) 

1     hellgrau     | 

grau 

duukelgrau 

Hauptl. 

„ 

1           .           1 

» 

n 

Täusch  gr. 

Var. 

12,98 

0,50 

i       12,85 

0,20 

14,75 

0,42 

15,80 

0,38 

l 

Transvers. 

weiß 

1     hellgrau 

grau 

dunkelgrau 

Hauptl. 

1 

„ 

„ 

Täuschgr. 
Var. 

14,59 

0,35 

1       15,79 

j             0,22 

16,19 

0,60 

14,79 

0,45 

'- 

Fortl.  Zahl 

5. 

1          6- 

7. 

8. 

Vierecke 

weiß 

1     hellgrau 

grau 

dunkelgrau 

Kurve 

Hauptl. 

schwarz 

Täuschgr. 
Var. 

9,60 

0,50 

;        11,34 

U,60 

10,01 

0,30 

12,34 

0,33 

^ 

Polygone 

weiß 

1     hellgrau      | 

grau 

dunkelgrau 

Hauptl. 

schwarz 

Täuschgr. 
Var. 

8,79 

0,22 

10,11 

0,72 

11,63 

0,43 

13,74 

0,40 

s 

Transvers. 

weiß 

1     hellgrau     \ 

grau 

dunkelgrau 

Hauptl. 

schwarz 

Täuschgr. 
Var. 

11,31 

0,20 

!       12,80 

i            0,22 

15,49 

0,50 

17,69 

0,30 

i 

Graphische  Darstellung  zu  Tabelle  VIII  b. 


77t/n 

1        \      2        \       3        \       , 

CiirvT 

J        1       6-        1       7         1       * 

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19 

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16 
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12 
10 
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Z 

3 
2 

1 

1 

30* 


468  ViTTOBio  Benussi  u.  Wilhelmine  Liel. 

Wie  die  genannte  Tabelle  (VIII  a  und  b)  zeigt,  wurden  für 
je  eine  Täuschungsfigur  S  (Kurve  a  [a]  und  ö  [ö]),  SZ  (Kurve  ß  [g 
und  €  [§])  und  Z  (Kurve  y  [y]  und  c  [Q)  zwei  Versuchsgruppen. 

a)  mit  chromatischen, 

b)  mit  achromatischen  Figuren  angeordnet.  Innerhalb  einer 
jeden  Gruppe  folgten  auf  Versuche  mit  gleichfarbigen  solche  mit 
ungleichfarbigen  Figuren  (d.  h.  Figuren  mit  farbigen  Vierecken  bzw. 
Transversalen  und  schwarzer  Hauptlinie).  Dabei  bewährte  sich  die 
oben  aufgestellte  Präsumtion;  denn  durchwegs  zeigte  sich  eine 
Täuschungserhöhung  von  S  (Kurve  a  [a]  und  d  [ö])  über  SZ  (Kurve 
ß  [ß]  und  €  [§])  zu  Z  (Kurve  y  [y]  und  C  [Ql 

Dies  festgestellt,  läßt  sich  die  bisher  noch  nicht  erklärte  und 
oben  sub  4  angeführte  Abhängigkeit  der  Täuschungsgröße  von 
der  Helligkeitsverschiedenheit  zwischen  Figur  und  Grund  ver- 
stehen: Je  geringer  diese  Verschiedenheit  ist,  um  so  mehr  ver- 
schwimmen die  Konturen  der  Quadrate  und  um  so  mehr  drängt 
sich  die  Z-Gestalt  auf.  Da  die  Täuschungswerte  dieser  Gestalt 
bedeutend  größer  sind,  so  muß  auch  mit  der  Abnahme  der  Hellig- 
keitsverschiedenheit zwischen  Figur  und  Grund  die  Täuschungs- 
größe sich  erhöhen  und  ein  Maximum  erreichen,  wenn  diese  Ver- 
schiedenheit gleich  Null  wird,  wie  sich  dies  auch  aus  Tabelle  III 
(Figur  und  Grund  helligkeitsgleich  aber  farbenverschieden)  er- 
sehen läßt. 

Obwohl  das  bisher  angeführte  zur  Beantwortung  und  zum  Nach- 
weise dessen,  was  hier  in  Frage  gestellt  worden  ist,  genügt,  ist  es 
vielleicht  doch  nicht  überflüssig,  auf  einige  Einzelheiten,  insbesondere 
in  bezug  auf  individuelle  Differenzen,  hinzuweisen.  So  sollen  vor 
allem  als  spezieller  Fall  einer  solchen  Differenz  die  Ergebnisse  der 
letzten  Versuchsreihen  (Tab.  VIII  a  und  b)  bei  Inanspruchnahme  einer 
zweiten  Versuchsperson  wiedergegeben  werden  (Tab.  IX  a  und  b). 

Dabei  tritt  hauptsächlich  zweierlei  hervor: 

1.  fallen  hier  die  Versuche  mit  S-,  SZ-  und  Z-Figuren  hinsicht- 
lich der  Täuschungsgröße  ziemlich  nahe  zusammen,  was  daher- 
rühren  mag,  daß  die  diesmal  in  Betracht  kommende  Versuchsperson 
im  Gestalteifassen  so  viel  Übung  erworben  hatte,  daß  nur  eine 
geringe  Steigerung  mehr  möglich  war; 

2.  ergeben  die  Figuren  mit  dunkler  Hauptlinie  (d.  h.  Haupt- 
linie und  Grund  gleichfarbig)  größere  Täuschungs werte  als  die  mit 


Die  verschobene  Scliachbrettfigur. 


469 


Tabelle  IX  a,    (480  Einzelmessungen.) 

Fort.  Zahl    | 

1.           1          2.           1          3.           1          4. 

Vierecke     | 

weiß        1         rot         |        grün        |      violett 

Kurve 

Hauptl.      1 

»           1           »           1           »           1           I) 

Täuschgr. 
Var. 

9,15 

0,15 

10,78 

0,59 

11,00 

0,50 

11,36 

0,74 

(( 

Polygone 

weit! 

rot 

grün 

violett 

Hauptl. 

1 

„ 

Täuscligr. 
Var. 

8,15 

0,-40 

9,15 

0,20 

10,80 

0,30 

10,44 

(»,30 

t-i 

Transvers. 

weili 

rot         1        grün 

violett 

Hauptl. 

» 

n                \                n 

n 

Täuschgr. 
Var. 

10.07 

0,52 

9,24                10,84 

0,50                          0,30 

10,29 

0,42 

y 

Fortl.  Zahl 

5. 

6.           1          7. 

8. 

Vierecke 

weiß 

rot         1        grün 

violett 

Kurve 

Hauptl. 

schwarz 

Täuschgr. 
Var. 

9,29 

0,35 

10,20                9,72 

U,5H                            0,58 

10,08 

0,41 

i 

Polygone 

weiß 

rot          1        grün 

violett 

Hauptl. 

schwarz 

Täuschgr. 
Var, 

9,09 

0,40 

9,90 

0,30 

11,05 

0,32 

10,46 

0,60 

£ 

Transvers. 

weiß 

rot 

grün 

violett 

Hauptl. 

schwarz 

Täuschgr. 
Var. 

10,72 

0,42 

12,07 

0,22 

12,43 

0,32 

11,96 

0,42 

S> 

(irapliisclie  Darstellimg  zu  Tabelle  IX  b. 


77U1V 

1        \       2        1       .3       1       * 

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3 
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IS 

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16 
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12 
11 
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470 


ViTTORio  Benüssi  u.  Wilhelmink  Liel. 


Tabelle  : 

[Xb.     (480 

F^inzelmessungen.) 

Fortl.  Zahl   | 

1-         1 

2.           1 

3. 

4. 

Vierecke     | 

weiß        1 

hellgrau     | 

grau 

dunkelgrau 

Kurve 

Hauptl. 

« 

»          1 

n 

Täuschgr. 
Var. 

10,14 

0,40 

10,91 

0,22 

11,87 

0,42 

12,24 

0,32 

a 

Polygone 

weiß 

hellgrau 

grau 

dunkelgrau 

Hauptl. 

'5 

„ 

,. 

Täuschgr. 
Var. 

8,98 

0,H0 

10,29 

0,20 

10,49 

0,50 

10,44 

0,30 

ß 

Transvers.    | 

weiß 

hellgrau 

grau 

dunkelgrau 

Hauptl.      1 

)? 

n 

n 

n 

Täuschgr.    1 
Var. 

10,80 

0,42 

10,80 

0,70             ! 

10,93 

0,22 

11,11 

0,32 

Y 

Fortl.  Zahl   | 

5. 

6.           1 

7. 

8. 

Vierecke     | 

weiß 

hellgrau     | 

grau 

dunkelgrau 

Kurve 

Hauptl.      1 

schwarz 

Täuschgr. 
Var. 

9,66 

0,37 

10,16 

0,44 

11,05 

0,75 

12,36 

0,75 

b 

Polygone     | 

weiß 

hellgrau     | 

grau 

1  dunkelgrau 

Haixptl.       1 

schwarz 

Täuschgr. 
Var.            j 

10,09 

0,40 

11,50 

0,37 

12,03 

0,22 

12,53 

0,56 

s 

Trans vers.    | 

weiß 

hellgrau 

grau 

dunkelgrau 

Hauptl.       1 

schwarz 

Täuschgr. 
Var. 

13,94 

0,42 

13,14 

0,30 

12,95 

0,30 

12,96 

0,22 

Graphische  Darstellung-  zu  Tabelle  IX  b. 


mm. 

I       \       2       \       3       \       '^ 

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7 
6 

5 





5 

3 

2 

1 

1 

Die  verschobene  Schachbrettfigur.  471 

heller  Hauptliuie  (d.  h,  Hciuptlinie  uiul  (Quadrate  o-leiclitaibi^j, 
während  bei  den  oben  ano:etuhrten  Ergebnissen  (Tab.  Villa  und  b) 
der  entgegengesetzte  Fall  eingetreten  ist.  Dies  erklärt  sich  aus 
dem  Kindnick,  den  die  dargebotenen  Figuren  nach  dem  Ausspruche 
der  Versuchspersonen  auf  diese  machten.  Bei  der  zweiten  \'er- 
suchsperson  (Tab.  IX  a  und  b  [vgl.  oben  S.  469  f.])  drängte  sich  nämlich 
die  Ha,uptlinie  mehr  auf  (d.  h.  war  die  G-Reaktion  schwieriger), 
wenn  sie  die  Farbe  der  Quadrate  hatte,  bei  der  ersten  (Tab.  Villa 
und  b)  dagegen  mehr,  wenn  sie  die  Farbe  des  Grundes  aufwies, 
durch  welches  Moment  das  Erfassen  der  Gestalt  beeinträchtigt  und 
damit  der  Täuschungswert  herabgesetzt  wurde. 

Auf  weitere  Eigentümlichkeiten,  die  bei  der  gegeuwäitigen 
Untersuchung  zutage  getreten  sind,  braucht  hier,  wo  es  sich  aus- 
schließlich um  den  Nachweis  handelt,  daß  die  beim  Anblick  einer 
verschobenen  »Schaclibrettfigur  entstehende  Täuschung  eine  Pro- 
duktionstäuschung und  der  bei  der  ZöLLNEEschen  Figur  eintreten- 
den gleichartig  ist,  nicht  eingegangen  zu  w^erden.  Desgleichen 
kann  hier  die  nächste  L'rsaclie  des  inadäquaten  VorsteUens  der 
ZöLLNEK'schen  Gestalt  nicht  angegeben  werden,  da  ein  Verständnis 
liiefür  erst  auf  Grund  von  bereits  in  Angriff  genommenen  Ver- 
suchen über  das  Erfassen  der  Winkelgestalt  erwartet  werden  daif. 


§  5.    Ergebnisse. 

Die  zu  Beginn  dieser  Arbeit  gestellte  Aufgabe  hat  sonach  die 
folgende  Lösung  gefunden: 

1.  Die  Täuschung  an  einer  Schachbrettfigur  kann  nicht  als 
Folge  der  Irradiation  bezeichnet  werden,  weil 

a)  die  Täuschung  mit  der  Abnahme  der  Helligkeitsverschiedeu- 
heit  zwischen  Figur  und  Grund  nicht  ab-,  sondern  zunimmt, 

b)  sie  beim  A\'egfalle  der  Hauptlinie  nicht  verschwindet,  son- 
dern im  Gegenteil  unter  l'mständen  sogar  größer  wird, 

c)  bei  sehr  heller  Hauptlinie  und  eben  merklichen  Quadraten 
die  Täuschung  ebensowenig  ausbleibt,  unter  günstigen  Verhältnissen 
sogar  das  Maß  einer  (helligkeitsgleichen)  vom  (gründe  bedeutend 
helligkeitsverschiedenen  Figur  erreicht, 

d)  unter  völlig  verschiedenen  Reizbedingungen  gleiche  und  bei 


472      ViTTOBio  Benussi  u.  Wilhelmine  Liel,  Die  verschobene  Schachbrettfigur. 

gleichen  Reizbedingungen   weit   auseinandeiiiegende  Täuschungs- 
werte erlangt  werden  können. 

2.  Man  ist  genötigt,  diese  Täuschung  als  Produktionstäuschung 
anzuerkennen,  weil 

a)  die  Täuschung  vom  Erfassen  der  Gestalt  so  abhängig  ist. 
daß  sie  durch  Produktion  der  Gestaltvorstellung  (G-Reaktion)  ihr 
Maximum,  bei  Analyse  der  Hauptlinie  (A-Reaktion)  ihr  Minimum 
erreicht, 

b)  sich  diese  beiden  Reaktionsarten  üben  lassen,  was  sich  an 
dem  Zunehmen,  bzw.  Abnehmen  der  Täuschungswerte  bei 
Wiederholung  von  Versuchen  mit  gleichen,  nacheinander  vorge- 
nommenen Figuren  zu  erkennen  gibt, 

c)  die  Täuschungsgröße  nur  von  denjenigen  äußerlichen  Bedin- 
gungen abhängt,  welche  die  G-  oder  A-Reaktion  begünstigen.  So 
wird  jene  durch  erhöhte  Aufdringlichkeit  der  Quadrate,  diese  durch 
erhöhte  Aufdringlichkeit  der  Hauptlinie  erleichtert. 

3.  Die  Gleichartigkeit  der  hier  in  Rede  stehenden  Täuschungs- 
gestalt mit  der  ZÖLLNEEschen  wird  dadurch  nachgewiesen,  daß 
sich  das  Maß  der  Täuschung  um  so  mehr  erhöht,  je  mehr  die  Vor- 
stellung der  durch  die  ZöLLNERsche  Figur  dargebotenen  Ge- 
stalt —  bedingt  durch  die  bekannte  Lageverschiedenheit  zweier 
sich  kreuzender  Geraden  —  beim  Anblick  der  verschobenen  Schach- 
brettfigur in  den  A'ordergrund  tritt.     Dies  wird  erreicht 

a)  durch  die  G-Reaktion, 

b)  durch  Beseitigung  aller  jener  für  das  Auffassen  der  reinen 
Gestalt  nicht  nur  unwesentlichen,  sondern  sogar  störenden  Details, 
wie  dies  aus  der  Zunahme  der  Täuschung  von  der  S-  über  die  der 
SZ-  zu  der  der  Z-Figiir  hervorgeht; 

c)  durch  die  Abnahme  der  Helligkeitsverschiedenheit  zwischen 
Grund  und  Figur,  indem  infolge  derselben  die  Konturen  der  Quadrate 
immer  mehr  verschwimmen  und  die  durch  die  ZöLLXERsche  Figur 
rein  dargebotene  Gestalt  selbständiger  hervortritt.  Alle  diese  Be- 
dingungen sind  am  vollkommensten  bei  Figuren  erfüllt,  die  von 
gleicher  Helligkeit  mit  dem  Grunde  sind,  weshalb  auch  hier  die 
Täuschung  am  größten  ausfällt. 


VII. 

Ein  neuer  Beweis  für  die  spezifische  Helligkeit 
der  Farben/) 

Von 
Dr.  ViTTORio  Benussi. 

Inhalt. 

Seite 

§  1.   Fragestelluug 473 

§  2.   Versuche 475 

§  3.   Ergebnis 480 


§  1.    Frag'est  ellun«-. 

Die  Versuche,  deren  Hauptergebnisse  hier  kurz  mitg-eteilt  werden. 
sind  aus  dem  Bestreben  entstanden,  für  die  spezifische  Helligkeit 
l)zw.  Dunkelheit  der  Farben  einen  Nachweis  zu  erbringen,  der 
vom  Umweg  über  die  Dunkeladaptation  unabhängig  wäre.  Zur 
gegenwärtigen  Versuchsanordnung  wurde  icli  durch  folgende  Über- 
legung geführt :  stellt  man  eine  graue  und  eine  farbige  Fläche  auf 
gleiche  Helligkeit  ein,  so  kann  sich,  was  die  Helligkeit  anbelangt, 
an  dieser  (rleichheit  nichts  ändern,  wenn  man  1.  einen  Teil  der 
grauen  Fläche  der  Farbeninduktion  von  der  farbigen  Fläche  her 
aussetzt,  oder  2.  die  Sättigung  des  farbigen  Feldes  durch  eine 
gleich  helle  graue  I'mgebung  erhöht.  Denn  ein  Helligkeitskontrast 
kann  nur  bei  Kontiguität  von  Reizen  entstehen,  die  das  Sehen 
von  ungleich  hellen  Farben  bedingen.    Läßt  sich  dagegen  zeigen, 


*)  Einen  Vortrag  mit  Demonstration  über  dieses  Thema  bat  Verf.   am  Kon- 
greß f.  exper.  Psychologie  in  Gießen  (1904)  abgehahen. 


474  ViTTOHIO   BeNÜSSI. 

daß  unter  den  eben  berührten  Umständen  die  anfängliche  Hellig- 
keitsgleichheit  verloren  geht,  so  ist  damit  auch  nachgewiesen,  daß 
das  Hervortreten  der  (induzierten)  Farbe  in  einem  Falle  (1),  die 
bloße  Sättigungserhühung  im  anderen  Falle  (2)  die  scheinbare 
Helligkeit  einer  objektiv  unverändert  gebliebenen  grauen  Fläche 
zu  modifizieren  vermag. 

Vorausgesetzt,  daß  sich  eine  solche  Helligkeitsverschiebung  auch 
tatsächlich  einstellt,  läßt  sich  daraus  in  Bezug  auf  die  Natur  des 
PüRKiNjEschen  Phänomens  eine  entscheidende  Feststellung  ableiten. 
Dasselbe  wurde  bekanntlich  bis  jetzt  auf  zweierlei  Weise  gedeutet; 
es  wurde  einerseits  auf  eine  den  chromatischen  Qualitäten  Rot 
und  Gelb  eigene  ..spezifische"  Helligkeit,  den  chromatischen  Quali- 
täten Grün  und  Blau  dagegen  eigene  „spezifische"  Dunkelheit 
zurückgeführt,  —  andererseits  versuchte  man  es  durch  die  An- 
nahme zweier  das  Selien  (physiologisch)  getrennt  vermittelnder 
Netzhautapparate  zu  erklären,  von  denen  der  eine  nur  bei  schwacher, 
der  andere  nur  bei  starker  Beleuchtung  in  Tätigkeit  versetzt  werde, 
wobei  durch  die  weitere  Annahme  verschiedener  Eeizempfänglich- 
keit  dieser  zwei  Apparate  sich  das  PuEKiNjEsche  Phänomen  auf 
sehr  einfache  Weise  verständlich  machen  läßt.  Da  nun  einerseits 
beide  Hypothesen  ihr  Instanzmaterial  aus  Beobachtungen  bezogen 
haben,  die  des  Übergangs  von  der  Dunkel-  zur  Helladaptation  des 
Auges  nicht  entbehren  konnten,  und  andererseits  die  zuzweit 
berührte  Hypothese  sonst  hinreichend  begründet  erscheint,  so 
müßte  ihr  meines  Erachtens  auch  der  größere  Erklärungswert  zu- 
erkannt werden. 

Ganz  anders  dagegen,  wenn  es  gelingt,  durch  das  Hervortreten 
einer  (induzierten)  Farbe  allein,  oder  durch  die  bloße  Sättigungs- 
steigerung einer  gegebenen  Farbe  innerhalb  der  Helladaptation 
eine  Helligkeitsveränderung  zu  erzielen.  Auf  einen  solchen  Fall 
erweist  sich  die  letztgenannte  Hypothese  als  unanwendbar,  indem 
ohne  den  von  ihr  postulierten  Funktionswechsel  terminaler  Netz- 
hautapparate  die  diesem  Wechsel  zugeschriebene  AMrkung  er- 
reicht wird.  AMll  man  aber  auch  unter  solchen  Umständen  die 
Ursache  des  PuRKixjEschen  Phänomens  in  dem  erwähnten  Wechsel 
terminaler  Netzhautapparate  erblicken,  so  wird  man  genötigt 
sein,  die  Tatsache  der  spezifischen  Helligkeit  (d.  h.  die  objektiv 
unmotivierte,    mit    dem   Hervortreten    bestimmter   Farben   Hand 


Ein  neuer  Beweis  für  die  spezifische  Helligkeit  der  Farben.  475 

in  Hand  gehende  Helligkeitszu-  uder  -abnähme)  und  die  des  Pur- 
KiNjEschen  Phänomens  (d.  h,  die  beim  Übergang  von  Hell-  zui- 
Dunkeladaptation  mit  dem  Zurücktreten  der  Farben  zusammen- 
gehende Verschiebung  der  Helligkeit  anfänglich  gleich  heller  Felder) 
auf  zwei  verschiedene  Ursachen  zurückzuluhren.  Unter  welchen 
Umständen  dies  überflüssig  ist.  wird  später  zu  erörtern  sein. 

Dem  Gesagten  zufolge  treten  uns,  indem  wir  der  Empirie  einen 
Aufschluß  hierüber  abzugewinnen  versuchen,  hauptsächlich  zwei 
Fragen  entgegen,  von  deren  Beantwortung  unsere  Stellung  zu  den 
eben  berührten  Tatsachen  abhängig  sein  wird: 

1.  Läßt  sich  für  den  Zustand  der  Helladaptation  eine  Hellig- 
keitsverschiebung durch  das  bloße  Hervortreten  der  Farbe,  gleichviel 
ob  durch  farbige  Induktion  oder  Sättigungserhöhung.  nachweisen, 
und  wenn  ja,  wie  ist  sie  zalilenmäßig  zu  bestimmen? 

2.  Wie  verhalten  sich  dann  die  dabei  zu  gewinnenden  Auf- 
hellungs-  bzw.  Verdunklungs werte  zu  denjenigen,  die  beim  Über- 
gang von  Hell-  zu  Dunkeladaptation  durch  das  Zurücktreten  der 
Farben  erreicht  werden? 

§  2.    Versuche. 

I.  Zur  Beantwortung  der  ersten  Frage  dient  folgender  Ver- 
such. ^)  welcher,  da  er  sowohl  die  Helligkeitsverschiebung  durch 
farbige  Induktion  als  diejenige  durch  bloße  Sättigungserhöhung  zu 
zeigen  vermag,  als  paradigmatisch  bezeichnet  werden  darf. 

Als  Versuchsmaterial  dienen  dabei  (vgl.  Fig.  1)  für  jede  zu 
untersuchende  Farbe  vier  Maxw^ell- Scheiben,  eine  weiße  (w), 
eine  schwarze  (s)  und  zwei  in  der  zu  prüfenden  induzierenden 
Farbe  (f).  Alle  vier  tragen  einen  Ringstreifen.  Derselbe  (fr)  hat 
für  die  weiße  und  schwarze  Scheibe  die  als  induzierende  Farbe 
verwendete  Nuance;  von  den  zwei  (gleich)farbigen  Scheiben  trägt 
dagegen  die  eine  einen  weißen  (wr),  die  andere  einen  schwarzen 
Ring  (sr).    Vereinigt  man  (wie  in  Fig.  1  veranschaulicht  wird)  nun 


')  Da  die  experimentelle  Untersuchung  der  oben  aufgeworfenen  und  einiger 
daraus  hervorgegangenen  Nebenfragen  gegenwärtig  weiter  geführt  wird,  so  bleibt 
eine  ausführlichere  Wiedergabe  der  weiteren  jetzt  bereits  vorliegenden,  mit  dem 
Ergebnis  der  hier  mitgeteilten  Experimente  völlig  übereinstimmenden  Versuchs- 
daten einer  späteren  Gelegenheit  vorbehalten. 


476 


ViTTORIO   BfNÜSSI. 


die  zwei  farblosen  und  die  zwei  farbigen  Scheiben  zu  je  einer 
Gesamtscheibe  (gs  und  gs'),  so  bekommt  man,  wenn  man  sie  in 
Rotation  versetzt,  eine  graue  Scheibe  (gs)  mit  einem  objektiv  far- 
bigen (fr),  und  eine  farbige  Scheibe  (gs'j  mit  einem  objektiv  grauen 
(wr-|-sr),  aber  subjektiv  farbig  erscheinenden  King  zu  sehen.  Da- 
bei läßt  sich  durch  Ineinanderschieben  der  einzelnen  zu  je  einer 
Gesamtscheibe  kombinierten  Scheiben  auf  der  grauen  die  Helligkeit 
des  Grundes,  auf  der  farbigen  dagegen  die   des  Einges  variieren. 


— ; sr 


gs 


■  ffS 


Figur  1. 


Die  nächste  Aufgabe  besteht  nun  darin,  die  zwei  Gesamt- 
sclieiben,  abgesehen  von  ihren  Riugstreifen,  auf  gleiche  Helligkeit 
zu  bringen.  Dabei  bleibt  die  farbige  Scheibe  konstant,  die  graue 
wird  dagegen  so  lange  variiert,  bis  sie  mit  der  farbigen  gleich 
hell  erscheint.  Selbstverständlich  werden  hierbei  die  Schwellen- 
gebiete bestimmt.  Ist  dies  geschehen,  so  gibt  man  dem  der  far- 
bigen Induktion  ausgesetzten  Ring  (wr  -j-  sr)  die  Helligkeit  der 
induzierenden  Farbe.  Der  objektiv  graue  Ring  erscheint  nun  in 
der  zur  induzierenden  antagonistischen  Farbe.  Er  erscheint  aber 
keineswegs  gleich  heU  mit  seinem  Grunde;  vielmehr  ist  er,  wenn 
die  induzierte  Farbe  Gelb  oder  Rot  ist,  heller  als  der  Grund,  — 
dunkler  dagegen,  wenn  die  induzierte  Farbe  Blau  oder  Grün  ist. 

Betrachtet  man  den  farbigen  Ring  auf  der  grauen  Scheibe,  so 
merkt  man,  daß  dessen  Farbe  gesättigter  aussieht  als  die  ihr 
objektiv  gleiche,  induzierende  Farbe,  indes  seine  Helligkeit  bei 
Rot  und  Gelb  zu-,  bei  Grün  und  Blau  abnimmt.  Das  Hervor- 
treten der  induzierten  Farbe  in   einem  Falle  und  die  durch  die 


Ein  neuer  Beweis  für  die  spezifische  Helligkeit  der  Farben. 


477 


farblose  Uniffebuns-  o-esteitrerte  SättigiiiiS'  im  aiuleren  Falle  haben 
also  dasselbe  zur  Fol^e :  für  Kot  und  Gelb  eine  Aufhellung-, 
für  Grün  und  Blau  eine  Verdunklung. 

Für  die  vier  Farben  rot,  gelb,  grün  und  blau  bekam   ich  bei- 
spielsweise ^)  folgende  Werte: 

TabeUe  L 


gs 

gs' 

Grund  fGl                |     Ring  (R) 

Grund  iG')   i               Rintr  (R'i 

600  ^veiü  +  3000  schwarz 
1090      „    +2510 
900      „    +2700 
490      „    +3110 

360"  rot 
«     grün 
«     gelb 
„    blau 

360"  rot 
,.     grün 
,.     gelb 
„     blau 

600  „-eiij  _|_  3(j0"  schwarz 
1090      „    +2510 
900      ^^    +2700 
490      „    +3110 

Dabei    sind    die    subjektiven    Helligkeitsverhältnisse    (h    bedeute 
heller,  d  dunkler)  folgende: 

TabeUe  II. 


gs 

gs' 

G 

h  bzw.  d 

R 

G' 

h  bzw.  d 

R' 

grau 

d 

rot 

rot 

h 

grünlich 

)) 

h 

grün 

grün 

d 

rötlich 

d 

gelb 

gelb 

h 

bläulich 

n 

h 

blau 

blau 

d 

gelblich 

indes  G  =  G'  und  R  =  R'  ist. 

Die  zuerst  aufgeworfene  Frage,  ob  sich  bei  Beibehaltung  der 
Helladaptation  die  spezifische  Helligkeit  bzw.  Dunkelheit  verschie- 
dener Farben  nachweisen  läßt,  ist  also  schon  auf  Grund  des  hier 
erwähnten  Versuches  bejahend  zu  beantworten,  indem 

1.  die  Helligkeit  eines  gegebenen  Grau  erhöht  erscheint,  wenn 
man  es  der  Induktions Wirkung  einer  gleich  hellen  blauen  oder 
grünen  Farbe  exponiert,  herabgesetzt  dagegen,  wenn  die  in- 
duzierende Farbe  Rot  oder  Gelb  ist, 

2.  die  Helligkeit  einer  gelben  oder  roten  Fläche  bei  Sätti- 
gungserhöhung durch  eine  gleich  helle  Umgebung  er- 
höht, diejenige  einer  blauen  oder  grünen  Fläche  dagegen  unter 
den  analogen  Umständen  herabgesetzt  wird. 


M  Für  andere  Farben  waren  die  Werte  selbstverständlich  andere. 


478  ViTTORIO   BeNÜSSI. 

Quantitativ  läßt  sich  die  auf  diesem  Wege  erzielte  Aufhellung- 
bzw.  Verdunklung-  dadurch  bestimmen,  daß  man  auf  der  farbigen 
Scheibe  durch  Variierung:  der  Hellig-keit  des  Einges,  auf  der  farb- 
ktsen  durch  Variierung:  der  Hellig-keit  des  CTrundes  die  Hellig-keits- 
g:leichheit  zwischen  Grund  und  Ring  wiederherstellt.  Die  Menge 
des  hinzuzufügenden  Weiß  oder  kSchwarz  stellt  dann  ein  Äqui- 
valent dar  für  die  durch  das  Hervortreten  der  Farbe  erhöhte 
oder  herabgesetzte  Helligkeit  des  (gleichviel  ob  subjektiv  oder  ob- 
jektiv) farbigen  Ringes.  ^) 

II.  Wir  gelangen  zur  Beantwortung  der  zweiten  oben  auf- 
geworfenen Frage,  nämlich  zur  Bestimmung  des  Verhältnisses  der 
durch  Farbeninduktion  bedingten  HeUigkeitszu-  oder  -abnähme  zu 
derjenigen  HeUigkeitszu-  oder  -abnähme,  die  bei  minimaler  (Däm- 
merungs-)Beleuchtung  eintritt.  Sollten  die  beiden  Helligkeitsver- 
änderungen einander  entsprechen,  so  ist  es  klar,  daß  das  Purkinje- 
sche  Phänomen  als  Folge  des  progressiven  Zurücktretens  der  Farbe 
im  engeren  Sinne  und  nicht  des  progressiven  Überwiegens  eines 
das  Dämmerungssehen  vermittelnden  Netzhautapparates  betrachtet 
werden  kann. 

Derzeit  läßt  sich  diese  Frage  nur  annäherungsweise  beant- 
worten und  zwar  mit  Hilfe  folgenden  Versuches. 

Es  wird  zunächst  bei  Helladaptation  die  Helligkeit  einer  ge- 
gebenen Farbe  dadurch  bestimmt,  daß  ein  ihr  gleich  heUes  Grau 
am  Rotationsapparat  aufgesucht  wird.  Dieses  wird,  wie  beim  ersten 
Versuch  (vgl.  oben  I),  der  Induktionswirkung  der  gegebenen  Farbe 
ausgesetzt  und  das  Hell-  (bzw.  DunkeDäquivalent  der  durch  das 
Hervortreten  der  Farbe  erlittenen  Aufhellung  (bzw.  Verdunklung) 
bestimmt.  Dem  reagierenden  (grauen)  Ring  wird  dann  mit  Hilfe 
verschiedener  Papiere  eine  dritte  Scheibe  nach  Helligkeit,  Farbe 
und  Sättigung  gleich  gemacht.  Man  kann  nun  die  Beleuchtung 
allmählich  herabsetzen  und  mit  Hilfe  einer  vierten  (grauen)  Scheibe 
die  Helligkeit  der  bei  sehr  schwacher  Beleuchtung  farblos  erschei- 
nenden dritten  Scheibe  bestimmen.  —  Gesetzt  den  Fall,  das  indu- 
zierende Feld  sei  bei  HeUadaptation  Grün  und   der  reagierende 


')  IHe  von  mir  gefundenen  Weiß-Schwarzäquivalente  betrugen  durchschnitt- 
lich 20°  bis  50°  weiG  bzw.  schwarz.  Dabei  überschritt  das  Schwellengebiet  für 
subjektive  Helligkeitsgleichheit  zwischen  Ring  und  Grund  in  keinem  einzigen 
Falle  den  Wert  +  3°. 


Ein  neuer  Beweis  für  die  spezifische  Helligkeit  der  Farben.  479 

rötlich  erscheinende  (graue)  Wnv^  habe  eine  Anflielluno:  =  a  er- 
litten, so  wird  die  dem  (subjektiv  o:efärbten)  Ring  g-leicli  iremachte 
Scheibe  bei  Dämmeruno:  um  einen  bestimmten  Wert  b  d  u  n  k  1  e  r 
erscheinen  als  die  anfänülich  ihr  gleich  hell  erscheinende  graue 
.Scheibe.  Verwenden  wir  für  die  Aufhellung  das  Vorzeichen  -f , 
für  die  Verdunklung  das  Vorzeichen  — ,  so  ist  klar,  daß  wir  den 
Rekurs  auf  den  Tätigkeitswechsel  zweier  Sehapparate  zui-  Hr- 
klärung  des  PuRKiNjEschen  Phänomens  dann  werden  entbehren 
können,   wenn,   abgesehen   von   den  entgegengesetzten  Vorzeichen 

4-  a  =  +  b 
ist,  d.  h.  wenn  die  durch  die  induzierte  Farbe  bei  Helladaptation 
bedingte  Aufhellung  =  -}-  a  (bzw.  Verdunklung  =  —  a)  nach  ihrer 
absoluten  Größe  der  Verdunklung  =  —  b  (bzw.  Aufliellung  = 
-|-  b)  entspricht,  die  ein  der  induzierten  gleich  gemachtes 
farbiges  Feld  bei  Dämmerungsbeleuchtung  erfährt. 

Dies  trifft  nun,  soweit  diesbezügliche  Versuchsergebnisse  vor- 
liegen, mit  befriedigender  Annäherung  zu.  Beispielsweise  sei  hier 
ein  spezieller  Fall  angeführt.  Ein  Grün  war  mit  einer  grauen 
Scheibe  =  56 "  weiß  -f-  304 ^  schwarz,  gleich  hell,  (übertrug  man 
diese  Weite  auf  den  reagierenden  Ring  der  grünen  Scheibe,  so  er- 
schien er  rötlich  und  deutlich  heller  als  ihr  (grüner)  Grund.  Und 
zwar  w^aren  23  "  schwarz  nötig,  um  die  Helligkeitsgleichheit  wieder- 
herzustellen. Die  Aufhellung  -\-  a  war  also  äquivalent  mit  23° 
weiß.  —  Um  eine  Scheibe  zu  erhalten,  die  dem  Ring  gleich  aus- 
sah, mußte  man  56»  gelb  -f  10  «^  weiß  +  10«  rot  -f  10»  grün 
+  270''  schwarz  mischen  (Scheibe  A).  Setzte  man  nun  die  Be- 
leuchtung herab,  so  erschien  diese  Scheibe  deutlich  dunkler  als 
die  ihr  bei  Helladaptation  gleich  helle  graue  (=  56"  weiß  -|- 
304  "  schwarz  [Scheibe  Bj).  Um  die  Helligkeitsgleichheit  zwischen 
diesen  zwei  Scheiben  wiederherzustellen,  mußte  man  auf  der 
grauen  Scheibe  28"  schwarz  hinzufügen.  Die  Verdunklung  durch 
das  Zurücktreten  der  Farbe  auf  der  Scheibe  A  war  mithin  ä(iui- 
valent  mit  28"  schwarz.  —  Wir  finden  also  gegenüber  der  Auf- 
hellung 

-f  a  =  23  "  weiß 
eine  Verdunklung 

—  b  =  28"  schwarz. 

Da  diese  Werte  in   befriedigender  Annäherung  einander  ent- 


480     ViTTORio  Benüssi,  Ein  ueuer  Beweis  f.  d.  spezifische  Helligkeit  d.  Farben. 

sprechen,  erscheint  die  Annahme  zweier  für  das  Dunkel-  und  das 
Hellauge  getrennt  funktionierender  Sehapparate  zur  Erklärung  des 
PüRKiNjEschen  Phänomens  überflüssig. 


§  3.    Ergebnis. 

1.  Die  mit  dem  Hervortreten  der  Farbe  Hand  in  Hand  gehende 
Helligkeitszu-  oder  -abnähme  ist,  da  dieselbe  bei  helladaptiertem 
Auge  nachgewiesen  werden  kann,  nicht  auf  einen  Funktionswechsel 
verschiedener  terminaler  Netzhautapparate,  sondern  auf  die  den 
Farben  eigene  Helligkeit  zurückzuführen. 

2.  Desgleichen  ist  auch  das  PuEKiNjEsche  Phänomen  durch  den 
Hinweis  auf  die  spezifische  Helligkeit  zu  erklären,  indem  die  Annahme 
zweier  Sehapparate  einerseits  der  Aufhellung  bzw.  Verdunklung 
durch  Farbeninduktion  nicht  gerecht  zu  werden  vermag,  anderer- 
seits für  das  Verständnis  des  PuEKiNJEschen  Phänomens  infolge 
der  Äquivalenz  der  +  a-  und  +  b-Werte.  d.  h.  der  Aufhellung 
bzw.  Verdunldung  durch  Farben  Induktion  bei  helladaptiertem 
Auge  und  Verdunklung  bzw.  Aufhellung  durch  Farben verlust 
bei  Dämmerungsbeleuchtung  entbehrlich  erscheint. 

3.  Abgesehen  aber  von  jeder  theoretischen  Konsequenz  sind 
folgende  zwei  Tatsachen  zu  verzeichnen: 

a)  Eine  bei  Farbeninduktiou  durch  das  Hervortreten  der  Farbe 
allein  bedingte  Helligkeitsveränderung  des  reagierenden  Feldes,  — 

b)  die  angenäherte  Äquivalenz  der  durch  Farbeniuduktion  und 
Dämmerungsbeleuchtung  erzielten  Helligkeitsverschiebung  objektiv 
gleich  heller  Farben. 


VIII. 

über  Vorstellungsproduktion. 

Von 
Dr.  Rudolf  Amesedek. 

Inhalt. 

Seite 

I.  Deskriptives. 

1.  Empfindungen  nnd  unselbständige  Vorstellungen 481 

2.  Wahrnehmungs-  und  Einbildungsvorstellungen 484 

3.  Aufbau  der  Vorstellungen  und  Fundierung 486 

4.  Der  Anteil  der  Vorstellungsproduktion  am  Wahrnehmen  und  Einbilden  489 

II.  Theoretisches. 

5.  Das  Wesen  der  Vorstellungsproduktion 494 

6.  Produktion,  Auffälligkeit  und  Aufmerksamkeit 497 

7.  Produktion  und  indirektes  Vorstellen 500 

8.  Qualitative    Veränderungen    an    den    Korrelaten:    inadäquate    Vor- 
stellungen    503 

9.  Übersicht  der  Produktionsarteu.    Analyse 506 


I.  Deskriptiyes. 

1.   Empfindungen  und  unselbständig-e  Vorstellungen. 

Wie  durch  jedes  Psychische,  wird  auch  durch  eine  Empfindung 
allemal  etwas  erfaßt,  und  dies  Erfaßte  ist  z.  B.  eine  Farbe,  ein 
Ton,  eine  Temperatur.  Jede  Empfindung  hat  auch  eine  Ursache. 
Diese  ist  aber  keineswegs  mit  dem  identisch,  was  durch  die  Emp- 
findung erfaßt  wird;  die  Ursache  der  Farbenempfindung  ist  also 
nicht   die  Farbe,   wie  es  wohl  der  Auffassung  des  Naiven   ent- 

Meinong,  Untersuchungen.  ^1 


^1^2  Rudolf  Ameseder. 

«piiclit,  sondern  vielleicht  ^)  ein  physiologischer  Vorgang,  der  selbst 
durch  einen  physikalischen  kausiert  ist.  Auch  der  letztere  setzt 
seinerseits  wirkliche  Gegenstände  der  Außenwelt  voraus,  die  in 
Zusammenhang  mit  verschiedenen  Hypothesen  zwar  verschiedene 
Namen  erhalten  haben,  aber  jedenfalls  da  sein  müssen,  Avenn  die 
Kausalreihe  vorliegt.  Damit  ist  ungefähr,  soweit  dies  derzeit 
möglich  ist,  aufgezälüt,  was  an  dem  Zustandekommen  der  Empfin- 
dung beteiligt  ist,  dem  zeitlichen  Verlauf  nach  aber  nur  ein  be- 
stimmtes Stück  herausgegriffen,  da  ja  jede  Kausalreihe  natürlich 
unbegrenzt  ist. 

Bei  einem  Empfindungserlebnis  sind  also  dreierlei  Gegenstände 
zu  unterscheiden :  Die  U  r  s  a  c  li  e  der  Empfindung,  welche  physisch  ist 
oder  wenigstens  nicht  psj'chisch- sein  muß,  ferner  die  Empfin  düng 
selbst,  welche  ihrer  Natur  nach  etwas  Psychisches  ist,  und  endlich 
das,  was  durch  die  Empfindung  erfaßt  wird  und  seiner  Natur 
nach  weder  eine  physische  noch  eine  psj'chische,  sondern  überhaupt 
keine  Wirklichkeit  ist,  wie  Farbe. '') 

Die  Empfindung  hat  nun  mit  dem,  was  sie  erfaßt,  eine  Eigen- 
schaft gemein,  die  innere  Selbständigkeit.  Es  ist  zwar  un- 
wahrscheinlich, daß  es  eine  Empfindung  allein  ohne  Zusammenhang 
mit  anderen  geben  könne,  und  sicherlich  begegnen  sie  uns  nur  in 
größerer  Menge;  dies  liegt  aber,  wenn  man  so  sagen  darf,  nicht 
an  der  Empfindung,  sondern  an  der  Beschaftenheit  des  Subjektes, 
welches  allemal  neben  der  einen  Empfindung  noch  andere  hat. 
Eine  alleinstehende  Empfindung  bedeutet  somit  keineswegs  einen 
inneren  Widerspruch. 

Ähnlich  ist  es  beim  Empfiudungsgegenstand.  Dabei  muß  vor- 
ausgeschickt werden,  daß  der  Empfindungsgegenstand  sowohl  von 
der  Empfindung  als  von  ihrer  Ursache  nicht  nur  zu  unterscheiden, 
sondern  auch  unabhängig  ist ;  da  der  Empfindungsgegenstand  nichts 
an  der  Empfindung  ist,  kann  er  auch  sein,  wenn  diese  nicht  ist, 
d.  h.  wenn  er  einmal  nicht  empfunden  wird.  Man  wird  kaum  be- 
haupten, daß  das  Sein  der  Farben  vom  Sehen  abhängig  sei;  sind 


')  Wofern  nämlich  die  Müglichkeit  einer  Kausation  des  Psychischen  durch 
Physisches  —  wie  Verf.  meint  —  besteht. 

^)  Vgl.  Meinong,  „Über  Gegenstandstheorie",  diese  Untersuchungen  Nr.  I, 
S.  9  und  meine  „Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie" .  ebenda 
Nr.  IT.  S.  Ü3f. 


Vhev  Vorstelluugsproduktioii.  483 

die  Empfindungsg-eg-eustäiide  aber  von  den  Empfindungen  nicht 
abhängig-,  so  sind  sie  es  auch  nicht  von  deren  Ursachen.  Die  Selb- 
ständigkeit des  Empfinduugsgegenstandes  besteht  aber  nur  zum 
Teil  hierin :  Dies  ist  seine  äußere  Selbständigkeit.  Seine  innere 
Selbständigkeit  besteht  vielmehr  darin,  daß  zu  seinem  Vorhanden- 
sein andere  Gegenstände  nicht  notwendig  sind.  Es  muß  keines- 
wegs Grün  geben,  damit  es  Rot  geben  kann ;  das  sein  Können  folgt 
eben  aus  der  Natur  des  Rot.  Von  einem  einzigen  Gegenstand,  näm- 
lich der  Ausdehnung,  ist  die  Farbe  allerdings  abhängig ;  und  auch 
die  Ausdehnung  kann  nur  mit  Farbe  auftreten.  Keineswegs  ginge 
es  jedoch  etwa  an,  einen  dieser  Gegenstände  oder  beide  deshalb  als 
innerlich  unselbständig  zu  bezeichnen ,  v»''eil  sie  nur  in  dieser 
Verbindung  möglich  sind.  Ilire  Unselbständigkeit  ist  von  innerer, 
welche  im  folgenden  behandelt  werden  soll,  toto  genere  verschieden. 
Diese  innere  Unselbständigkeit  liegt  bei  den  fundierten^) 
Gegenständen  vor  und  bei  jenen  Vorstellungen,  durch  welche  fun- 
dierte Gegenstände  erfaßt  werden.  Ein  fundierter  Gegenstand  ist 
z.  B.  ein  Verschiedenheitsrelat -) ,  d.  h.  dasjenige  an  einer  Ver- 
schiedenheit, was  steigerungsfähig  ist.  Ein  solcher  Relat  kann 
nicht  sein,  ohne  andere  Gegenstände,  auf  welche  er  aufgebaut  ist,  — 
im  besondern  Fall:  Es  kann  keine  Verschiedenheit^)  geben,  ohne 
etwas,  das  verscliieden  ist,  ohne  Rot  und  Grün  oder  dergleichen. 
Die  Verschiedenheit  ist  also  nichts  in  sich  Abgeschlossenes,  sie 
bedarf  anderer  Gegenstände  als  Voraussetzung  und  ist  somit  inner- 
lich unselbständig.  Die  Gegenstände,  deren  sie  bedarf  —  ihre  In- 
feriora  *)  —  stellen  nun  zwar  mit  Notwendigkeit  in  der  Verschieden- 
heit, aber  dies  gehört  nicht  zu  ihrem  ^^'esen;  die  Verschiedenheit 
ist  nichts,  was  sein  müßte,  damit  die  Inferiora  existieren  können. 
Sie  sind  vielmehr  von  dem  Relat  unabhängig  und  somit  innerlich 
selbständig. '") 


^)  Vgl.  Meinung,  „Über  Gegeustäiide  höherer  Orduuug".  Zeitschr.  f.  Psych. 
u.  Phys.  d.  Sinuesorg.  Bd.  XXI,  S.  200  ff.  sowie  meine  „Beiträge"  diese  Unter- 
suchungen No.  11,  S.  71  ff. 

^)  Beiträge  S.  72  f. 

')  Immer  als  Relat  zu  verstehen. 

*)  Vgl.  Beiträge  a.  a.  0.  S.  71. 

*)  Wofern  sie  nicht  selbst  Superiora  sind,  was  sie  aber  als  Inferiora  nicht 
sein  müssen. 

31* 


4g4  Rudolf  Am^sedeb. 

Noch  deutlicher  fast  ist  die  Sachlage  bei  den  entsprechenden 
Vorstellungen.  Es  ist  unmöglich  eine  Verschiedenheit  vorzustellen, 
ohne  Gegenstände  vorzustellen,  welche  in  dieser  Verschiedenheit 
stehen,  und  zwar  nicht  bloß  weil  etwa  die  Inferiora  allemal  mit 
vorgestellt  werden,  sondern  weil  die  Vorstellungen  von  ihnen  einen 
notwendigen  Bestandteil  der  Vorstellung  des  Superius  ausmachen. 
Die  Vorstellung  des  Superius  ist  somit  den  Vorstellungen  der  In- 
feriora gegenüber  unselbständig;  die  Vorstellungen  der  Inferiora 
hingegen  sind  der  des  Superius  gegenüber  selbständig:  Man  kann 
vielerlei  vorstellen,  ohne  die  überaus  zahlreichen  Superiora  zu  er- 
fassen, in  welchen  dieses  Vorgestellte  steht;  ja  dies  wäre  sogar 
meist  unmöglich.  Können  die  Superiusvorstellungen  aber  weg- 
bleiben, wenn  die  Inferiora  vorgestellt  sind,\)  dann  gehören  jene 
sicher  nicht  zum  Wesen  der  InferioravorsteUungen.  Dies  ergibt 
sich  aber  nicht  minder  aus  dem  unmittelbaren  Aspekt  einer  Inferius- 
vorstellung,  die  ja  auch  eine  Empfindung  sein  kann. 

Zusammenfassend  kann  man  somit  sagen:  Die  Empfindungen 
sind  ihrer  Natur  nach  selbständig  und  das  durch  sie  Erfaßte  ist  auch 
innerlich  selbständig.  Es  gibt  ferner  Gegenstände,  die  fundierten, 
welche  ihrer  Natur  nach  unselbständig  sind,  und  die  Vorstellungen, 
durch  welche  fundierte  Gegenstände  erfaßt  werden,  sind  gleichfalls 
innerlich  unselbständig:  Folglich  können  diese  Vorstellungen  (von 
fundierten  Gegenständen)  keine  Empfindungen  sein. 

2.  Wahrnehmungs-  und  Einbildungsvorstellungen. 

Im  folgenden  soU  die  Stellung  der  Vorstellungen  von  fundierten 
Gegenständen  in  der  Gesamtheit  des  Psjxhischen,  also  gewisser- 
maßen ihr  psychologischer  Ort,  bestimmt  werden. 

Gewöhnlich  und  am  natürlichsten  teilt  man  die  Vorstellungen 
in  Wahrnehmungs-  und  Einbildungsvorstellungen  ein.  Da  die  Emp- 
findungen zur  ersten  der  beiden  Klassen  gehören  und  die  Vor- 
stellungen von  fundierten  Gegenständen  keine  Empfindungen  sein 
können,  kann  auch  „Vorstellung  eines  fundierten  Gegenstandes" 


')  Wobei  nicht  die  Möglichkeit  geraeint  ist,  daß  jemals  vorgestellt  werden 
könnte,  ohne  daß  auch  Superiora  erfaßt  würden;  es  soll  vielmehr  nur  auf  die 
Unwesentlichkeit  der  Superioravorstelluugen  für  jede  luferiusvorstellung  hinge- 
wiesen werden. 


über  Vorstelhingsproduktion.  485 

und  „Wahniebmimgsvorstellung"  nicht  dasselbe  sein.  Aber  es  gibt 
neben  den  Empfindungen  noch  andere  Wahrnehmungsvorstellungen 
und  diese  scheinen  allerdings  fundierte  Gegenstände  zu  erfassen. 
Es  ist  herkömmlich,  vom  Melodiehören,  vom  Gestaltsehen  und  dem- 
entsprechend von  der  AVahrnehmungsvorstellung  einer  Melodie, 
einer  Gestalt  zu  sprechen.  Es  kann  kein  Zweifel  sein,  daß 
dabei  wirklich  in  der  Hauptsache  Vorstellungen  von  fundierten 
Gegenständen  vorliegen,  und  es  könnte  sich  höchstens  fragen,  ob 
der  Sprachgebrauch,  dieses  Psychische  als  Wahrnehmungsvor- 
stellung zu  bezeichnen,  auch  berechtigt  ist.  Kann  man  nur  dort 
von  A\'ahrnehmen  sprechen,  wo  etwas  AMrkliches  erfaßt  wird,  dann 
liegt  die  erwähnte  Berechtigung  nicht  vor;  das  ist  aber  oftenbar 
nicht  der  Fall,  da  Empfinden  auch  Wahrnehmen  ist,  die  empfundene 
Farbe  und  der  empfundene  Ton  aber  nicht  wirklich  existiert. 
Überdies  Avürde  der  Terminus  „Wahrnehmungsvorstellung"  seine 
ganze  Bedeutung  einbüßen,  sollte  er  nicht  noch  andere  Vorstellungen 
als  solche  von  Empfindungsgegenständen  bezeichnen. 

Bei  den  Einbildungsvorstellungen  ist  das  Verhältnis  zu  den 
fundierten  Gegenständen  dasselbe  wie  bei  den  Wahrnehmungs- 
vorstelluugen.  So  wie  man  nie  in  die  Lage  kommt,  nur  eine  oder 
mehrere  Empfindungen  zu  haben,  ohne  wenigstens  eine  (Wahr- 
nehmung«-) Vorstellung  von  dem,  was  durch  die  Gegenstände  der 
Empfindungen  fundiert  ist,  so  wird  man  nie  bloß  Einbildungsvor- 
stellungeu  von  Empfindungsgegenständen,  sondern  stets  auch  welche 
von  fundierten  Gegenständen  vorfinden  können.  Das  reproduzierende 
Erfassen  von  Empfindungsgegenständen  geschieht  durch  Einbildungs- 
vorstellungen  ^),  aber  gewiß  sind  es  auch  Einbildungsvorstellungen, 
durch  welche  Gestalten  und  Melodien  zum  erstenmal  konzipiert 
werden. 

Dem  Bedürfnis,  die  Vorstellungen  von  unselbständigen  denen 
von  selbständigen  Gegenständen  gegenüberzustellen,  trägt  also  die 
Einteilung  in  ^^'ahraehmungs-  und  Einbildungsvorstellungen  keine 
Rechnung.  Die  Vorstellungen  beider  Klassen  erfassen  sowohl 
selbständige  als  unselbständige  Gegenstände,  bzw.  sie  sind  selb- 


')  Wobei  nicht  —  wie  Höpler  dies  z.  B.  in  seiner  Psychologie  tut  — 
zwischen  Erinnerungs-  und  Phantasievorstellungen  ein  Unterschied  festgestellt 
wird.  Dieser  besteht  wohl  nur  in  der  Provenienz  der  Vorstellungen,  aber  nicht 
in  ihren  Inhalten.    Vgl.  dazu  unten  S.  489  ff. 


486 


Rudolf  Ameseder. 


ständig  oder  unselbständig.  Der  Gesichtspunkt  für  die  Einteilung 
der  Vorstellungen  in  diese  beiden  Klassen  ist  eben  ein  anderer 
als  der  für  die  Einteilung  nach  den  erfaßten  Gegenständen :  Im  Falle 
der  ^^'ahrnehmungsvorstellung  werden  auch  die  selbständigen 
Gegenstände  in  anderer  Weise  erfaßt  als  in  dem  der  Einbildungs- 
Yorstellung.  AVahrnehmungs-  und  Einbildungsvorstellung  können 
somit  gegenstandsgleich  und  dennoch  verschieden  sein. 

Da  nun  eine  Wahruehmungs-  oder  Einbildungsvorstellung 
mehrere  Gegenstände  haben  kann,  muß  sie  komplex  sein  und  zwar 
müssen  den  verschiedenen  Gegenständen  verschiedene  Vorstellungs- 
bestandteile entsprechen. 

Eine  Art  der  Bestandstücke  ist  an  diesen  Komplexen  leicht 
zu  bestimmen;  es  sind  das  diejenigen,  welche  die  selbständigen 
(also  Empfindungs-)  Gegenstände  erfassen.  Bei  den  ^\'ahrnehmungs- 
vorstellungen  sind  dies  die  Empfindungen.  Aber  auch  au  den 
Einbildungsvorstellungen  entspricht  etwas  der  Empfindung  Ähn- 
liches dem  selbständigen  Gegenstande:  Wer  eine  Melodie  oder 
Gestalt  einbildet  (erinnert,  phantasiert),  der  hat  auch  die  Töne 
oder  die  farbigen  Ortsbestimmungen  in  der  Einbildung  gegeben. 
Die  Einbilduugsvorstellung  eines  Tones,  einer  Farbe  u.  dgl.  ist 
daher  bei  den  Einbildungsvorstellungen  dasselbe  wie  die  Empfindung 
bei  den  Wahrnehmungsvorstelluugen.  Da  die  Empfindung  als  relativ 
einfache  Wahrnehmungsvorstellung  gilt,  mag  es  vielleicht  ange- 
messen sein,  die  Vorstellungen  selbständiger  Gegenstände  zusammen- 
fassend als  Elementar  vor  Stellungen,  beziehungsweise  als 
Empfindungen  und  Elementareinbildungsvorstellungeu  zu  bezeichnen. 

Dasjenige  an  der  komplexen  Vorstellung,  was  zum  Erfassen 
der  fundierten  Gegenstände  dient,  entbehrt  dabei  noch  der  näheren 
Bestimmung. 

3.  Aufbau  der  Vorstellungen  und  Fundierung. 

Da  die  Vorstellungen  von  fundierten  Gegenständen  ebenso  wie 
diese  Gegenstände  unselbständig  sind,  und  zwar  den  Vorstellungen 
derselben  Tnferiora  gegenüber,  auf  welche  sich  das  Superius  aufbaut, 
liegt  die  Vermutung  nahe,  daß  die  Vorstellung  des  Superius  zu  den 
Vorstellungen  der  Inferiora  in  demselben  Verhältnis  stehe  wie  das 
Superius  zu  den  Inferioren ;  dies  ergäbe  aber  für  die  Vorstellungen 


über  Vorstelluugsproduktion.  487 

fuudieiter  Gegenstände  Fundierung-  durch  die  Elementarvorstel- 
lung:en. 

Nun  ist  aber  das  Fundierte  an  zwei  Eigenschaften  genügend 
kenntlich.  Was  fundiert  ist,  ist  ideal,  somit  nicht  wirklich.  Fun- 
dierte Superiora  sind  ferner  solche,  welche  den  gegebenen  In- 
ferioren mit  Notwendigkeit  zukommen.  Beide  Kennzeichen 
treffen  für  die  in  Bede  stehenden  Vorstellungen  nicht  zu.  Sind 
z.  B.  zwei  Gegenstände  a  und  b  gegeben,  und  durch  sie  die  Ver- 
schiedenheit V  fundiert,  so  entspricht  jedem  dieser  Gegenstände 
eine  Vorstellung:  a  wird  z.  B.  durch  die  Vorstellung  A,  b  durch  B, 
und  V  durch  V  erfaßt.  Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  auch 
durch  A  und  B  Gegenstände,  wie  Verschiedenheit,  Ähnlichkeit 
fundiert  sein  können.  Diese  Verschiedenheit  der  Vorstellungen 
A  und  B  (y,  )  ist  aber  natürlich  nicht  identisch  mit  der  Vorstellung 
(V)  der  Verschiedenheit  von  a  und  b  (v).  Diese  Verschiedenheits- 
vorstellung  kann  somit  nicht  fundiert  sein,  da  alles  Fundierte,  also 
aucli  etwas  durch  diese  Vorstellungen  Fundiertes,  eben  nichts 
Wirkliches  sein  kann;  eine  Vorstellung  aber  müßte  wirklich  sein 
können.  Auch  folgt  keineswegs  aus  der  Natur  der  Superiusvor- 
stellung,  daß  sie  gerade  auf  diese  Inferiora  aufgebaut  sein  müßte; 
sie  kann  auch  ganz  fehlen :  wohl  aber  wäre  letzteres  ausgeschlossen, 
wenn  die  Vorstellung  fundiert  sein  sollte.  Fundiert  sind  also  die 
Vorstellungen  fundierter  Gegenstände  nicht.  Daß  sie  sich  gleich- 
wolil  auf  die  luferioravorstellungen  aufbauen  ist  ZAveifellos;  so- 
mit muß  die  Art  dieses  Aufbauens  eine  andere  sein  als  die 
Fundierung. 

Die  Vorstellungen  von  fundierten  Gegenständen  sind  den  Vor- 
stellungen der  Inferiora  derselben  gegenüber  wie  bereits  eingangs 
erwähnt  wurde,  unselbständig,  von  ihnen  abhängig.  Wird  Rot 
und  Blau  gesehen,  so  muß  mit  den  Vorstellungen  von  diesen  beiden 
Farben  etwas  vorgehen,  wenn  die  Vorstellung  ihrer  Verschiedenheit 
entstehen  soll.  Gewiß  sind  dabei  die  luferioravorstellungen  wesent- 
lich; neben  ihnen  muß  aber  auch  noch  etwas  anderes,  gleichfalls 
Psychisches,  gegeben  sein,  da  ja  P'arbenvorstellungen  schlechtweg 
auch  vorkommen  können,  ohne  daß  eines  der  durch  ihre  Gegen- 
stände fundierten  Superiora  erfaßt  wird.  Zwei  Faktoren  also  — 
die  luferioravorstellungen  einerseits,  das  noch  unbekannte  Psj'chische 
andererseits  —  sind  erforderlich,  damit  die  SuperiusvorsteUung  vor- 


^g^  Rudolf  Ameskder. 

lianden  sein  könne.  Die  Superiusvorstellimg  gelit  also  aus  diesen 
Bedingungen  liervor,  wird  durch  sie  hervorgerufen,  gebildet.  Es 
ist  im  Hinblick  darauf  völlig  natürlich,  bei  diesen  Vorstellungen 
von  Produktion  zu  sprechen,  und  sie  somit  als  produzierte 
Vorstellungen^)  den  nicht  produzierten  Elementarvorstellungen 
gegenüberzustellen.  Immerhin  ist  der  Terminus  Produktion  keines- 
wegs eindeutig.  Er  bezeichnet  in  natürlicher  Weise  nicht  nur 
das  Zustandekommen  der  produzierten  Vorstellung,  sondern  auch 
die  Relation  dieser  zu  den  Inferioravorstellungen,  wiewohl  letztere 
genau  als  Produktionsrelation  zu  bezeichnen  wäre.  Nur  sehr  un- 
genauem Wortgebrauch  gegenüber  liegt  die  Gefahr  vor,  das  unter 
Produktion  auch  die  produzierte  Vorstellung  zu  verstehen  wäre. 
In  erster  Linie  bedeutet  also  Produktion  das  Zustandekommen  be- 
stimmter Vorstellungen,  und  es  ist  infolgedessen  völlig  unzulässig, 
vom  Produzieren  eines  Superius,  einer  Gestalt,  Melodie  u.  dgl.  zu 
sprechen.  Der  Terminus  Produzieren  steht  somit  nicht  auf  gleicher 
Stufe  wie  Vorstellen,  Annehmen,  Urteilen.  Denn  man  stellt  eine 
Farbe  vor,  —  man  nimmt  an,  oder  man  urteilt,  daß  etwas  ist  oder 
nicht  ist  usw. :  dagegen  produziert  man  nicht  eine  Verschiedenheit, 
sondern  die  Vorstellung  einer  solchen;  die  Verschiedenheit  erfaßt 
man  durch  Produktion.  Dies  ist  nicht  nur  deshalb  festzuhalten, 
weil  sich  sonst  leicht  Unklarheiten  der  Darstellung  ergeben  können, 
sondern  vor  allem  auch,  weil  durch  das  eben  Vorgebrachte  die 
Stellung  des  Produzierens  gegenüber  Vorstellen,  Annehmen  und 
Urteilen  deutlich  charakterisiert  wird. 


^)  An  der  Wahl  dieses  Terminus  hat  Meinong  bestimmenden  Anteil.  Seit- 
her ist  er  im  Sinne  der  vorliegenden  Untersuchung  von  Benüssi  (Über  d.  Einfluß 
d.  Farbe  etc.  Zeitschr.  f.  Psychol.  u.  Physiol.  Bd.  XXIX,  S.  387),  Meinong  (Über 
Annahmen,  S.  8),  Saxinger  (Disi)ositionspsychologisches  über  Gefühlskomplexionen, 
Zeitschr.  f.  Psych,  u.  Physiol.  Bd.  XXX,  S.  407)  und  Witasek  (Gruudzüge  der 
allg.  Ästhetik,  1904,  S.  41)  angewendet  worden.  Eine  erfreuliche  Bestätigung  der 
Brauchbarkeit  dieses  Wortes  als  Terminus  erscheint  mir  besonders  auch  eine  Stelle 
bei  Höfler  (Psych.  Arbeit.  Zeitschr.  f.  Psych,  u.  Physiol.  Bd.  VIII,  S.  183 f.l, 
welcher  vor  Konzeption  der  vorliegenden  Ausführungen  eine  sehr  verwandte  An- 
wendung des  Wortes  „Produktion"  vorbringt. 


über  Vorstellungsproduktion.  489 

4.  Der  Anteil  der  Vorstellungsprodiiktiou   am  Wahr- 
nehmen lind  Einbilden. 

In  welchem  Maße  die  produzierten  Vorstellungen  an  den  psychi- 
schen Komplexen,  welche"\^'ahrnehmungsvorstellungen  heißen,  beteiligt 
sind,  ist  im  vorhergehenden  bereits  zur  Geltung  gekommen.  Alles, 
was  an  ihnen  nicht  Empfindung  und  doch  Vorstellung  ist,  muß 
produziert  sein.  Dabei  sind  die  Empfindungen  die  Voraussetzung, 
die  Produktion  dasjenige,  was  —  oft  im  merklichen  zeitlichen 
Verlauf  —  zu  ihnen  hinzutritt.  Die  Vorstellung  der  Ähnlichkeit 
oder  Verschiedenheit  zweier  Farben,  welche  gleichzeitig  mit  dieser 
Vorstellung  durchEmpfindungen  erfaßt  werden, — Gestaltvorstellungen 
von  empfundenen  Orts-,  Farben-,  Tondaten  usw.  machen  mit  den 
Empfindungen  dieser  Gegenstände  zusammen  Vorstellungskomplexe 
aus,  Avelche  ganz  natürlich  als  Wahrnehmungsvorstellungen  be- 
zeichnet werden.  An  jeder  W ah rnehmungs Vorstellung,  welche 
keine  bloße  Empfindung  ist,  ist  somit  die  Vorstellungsproduktion 
beteiligt. 

Erinnert  man  sich  an  ein  farbiges  Muster,  so  werden  durch 
diese  Erinnerungsvorstellung  gewisse  Empfindungsgegenstände,  die 
Farben  mit  ihren  Ortsdaten  und  gewisse  Superiora,  die  darauf 
fundierten  Gestalten,  erfaßt  sein,  wie  es  auch  in  der  vorherge- 
gangenen Wahrnehmungsvorstellung  der  Fall  war.  Da  diese 
keineswegs  auch  die  Farbenverschiedenheiten  erfaßt  haben  muß, 
sind  letztere  normalerweise  auch  nicht  Gegenstände  der  Erinnerungs- 
vorstellungen. In  Erinnerungsvorstellungen  können  sich  somit  gewiß 
Bestandstücke  vorfinden,  welche  Empfindungsgegenstände  erfassen, 
ohne  daß  bestimmte  ideale  Superiora  derselben  miterinnert  Averden, 
zumal  dann,  wenn  diese  Superiora  durch  die  bezügliche  vorher- 
gegangene ^^^ahrnehmungsvorstellung  der  Inferiora  nicht  erfaßt 
wurden. 

Trotzdem  ist  es  nun  möglich,  „in  der  Erinnerung"  die  Farben 
zu  vergleichen,  natürlich  bald  mit  mehr,  bald  mit  geringerer 
Schwierigkeit.  Die  Inferiora  sind  hier  also  durch  Erinnerungsvor- 
stellungen erfaßt,  das  Superius  jedoch  nicht;  gleichwohl  kann  von 
Wahrnehmung  des  Superius  nicht  die  Rede  sein. 

Diesem  FaU  steht  ein  anderer  gegenüber,  der  sich  von  ihm 
dadurch   unterscheidet,   daß   auch    das   Superius   durch    eine   Er- 


490 


EuDOLF  Ameseder. 


innerunj^svorstelliing  erfaßt  wird.  Es  scheint  hierbei  zwei  Mög- 
lichkeiten zn  geben:  einerseits,  daß  das  Superius  in  Abhängigkeit 
von  den  Inferioren  erinnert  wird,  —  andrerseits,  daß  die  Snperius- 
vorstellung  reproduziert  wird,  ohne  daß  die  Inferiora  reproduziert 
sein  müßten.  Es  ist  nun  sclion  öfter')  betont  worden,  daß  man 
sich  an  Superiora  erinnern  kann,  ohne  sich  zunächst  an  die  In- 
feriora erinnern  zu  können,  und  daß  das  Erinnern  an  bestimmte 
Objekte  oft  dadurch  herbeigeführt  wird,  daß  man  sich  eines 
Superius  entsinnt,  welches  diese  zu  Inferioren  hat.  Die  zweite 
oben  angeführte  Möglichkeit  ist  also  tatsächlich  öfter  verwirk- 
licht. Hingegen  zeigt  sich,  daß  die  erste  nur  auf  unrichtiger  Inter- 
pretation zu  beruhen  scheint.  Werden  nämlich  die  Inferiora  mit 
dem  Superius  miterinnert,  so  liegt  im  wesentlichen  eben  nichts  anderes 
vor,  als  daß  ein  Superius  erinnert  wird ;  und  ob  nun  der  Anlaß  zum 
Reproduzieren  der  Superiusvorstellung  eine  Inferiusvorstellung  oder 
eine  andere  Vorstellung  war,  macht  gleichfalls  nur  einen  unwichtigen 
Unterschied.  Jedenfalls  funktioniert  das  Inferius  hier  nur  als  ein 
Gegenstand,  an  dessen  Yorstellung  die  Superiusvorstellung  assoziert  ist. 
Dann  aber  liegt  nur  ein  Spezialfall  des  Erinnerns  an  Superiora  vor. 

Somit  gibt  es  nur  zwei  verschiedene  Arten  des  Zustande- 
kommens von  Superiusvorstellungen  unter  Mitwirkung  des  Ge- 
dächtnisses: das  Produzieren  der  Superiusvorstellung  aus  Elementar- 
Erinnerungsvorstellungen,  welches  sich  als  eine  Produktion  erweist, 
die  sich  nur  hinsichtlich  der  InferiusvorsteUungen  von  der  pro- 
duzierten Wahrnehmung  unterscheidet,  und  das  Wiederauftreten 
bereits  produzierter  Superiusvorstellungen,  welches  die  eigentliche 
Reproduktion  ist. 

Natürlich  kann  auch  eine  schwache  Disposition  zum  Reproduzieren 
einer  Superiusvorstellung,  falls  sie  niclit  dazu  ausreicht,  die  Re- 
produktion herbeizuführen,  doch  die  neuerliche  Produktion  der  Vor- 
stellung erleichtern.  So  fallen  „bekannte  Züge"  auch  dann  auf.  wenn 
von  einem  Reproduzieren  können  nicht  mehr  die  Rede  sein  möchte. 

Bei  den  Phantasievorstellungen  im  engeren  Sinn  scheint  es  zu- 
nächst nicht  sehr  natürlich,  Elementarvorstellungen  zu  postulieren. 


')  Vgl.  Ehrenfels,  Über  Gestaltqiiiilitiiten ,  Vierteljabrssclir.  f.  wiss.  Phil. 
XIV,  S.  249  if.  und  Witasek,  Beiträge  zur  speziellen  Dispositionspsychologie. 
Archiv  f.  syst.  Phil.  III,  S.  273 ff.,  sowie  Über  willkürliche  Vorstellmigsverhinduug, 
Zeitschr.  f.  Psych,  u.  Physiol.  Bd.  XII,  S.  185  ff.,  hier  189  f. 


über  Vorstelluugsproduktiou.  491 

Die  Möglichkeit  solcher  ist  allerding-s  schon  durch  Hume's 
Argument  erwiesen.  ^)  Kennt  nämlich  jemand  alle  Abstufungen 
des  Blau  bis  auf  ..eine"  aus  "Wahrnelimungsvorstellungen ,  so 
wird  er  nicht  nur  imstande  sein,  bei  Betrachtung  einer  An- 
ordnung dieser  Abstufungen  die  Lücke ,  in  welclie  die  noch  nicht 
gesehene  Farbe  gehört,  zu  bemerken,  sondern  auch  diese  Farbe 
vorzustellen,  was  dann  natürlich  nur  durch  eine  Elementarvor- 
stellung geschehen  könnte.  Hume  mißt  diesem  Fall  wenig  Be- 
deutung bei.  da  er  offenbar  sehr  künstlich  konstruierter  Umstände 
bedarf;  und  er  sieht  sich  dadurch  nicht  einmal  veranlaßt,  seine 
Beliauptung  von  der  Notwendigkeit  der  den  „Vorstellungen"  voraus- 
gehenden ..Eindrücke"  zu  modifizieren.  Tatsächlich  dürfte  abei- 
derartiges  häufiger  vorkommen,  als  Hume  meint.  Bei  einem  Subjekt, 
welches  kein  „absolutes"  Tongedächtnis  besitzt,  aber  sonst  gut 
musikalisch  ist,  kann  es  leicht  vorkommen,  daß  es  eine  Melodie 
in  einer  Tonlage  pliantasiert  oder  „erinnert",  welche  von  den 
Tonlagen  abweicht,  die  das  Subjekt  jemals  gehört  hat.  Sollte 
nun  auch  der  eine  oder  andere  Ton  der  Melodie  bereits  durch 
Zufälle  als  bekannt  anzunehmen  sein,  so  wäre  es  doch  über  die 
Maßen  künstlich,  für  alle  Töne  der  Melodie  oder  überhaupt  für  alle 
Töne  vorhergegangene  Empfindungen  vorauszusetzen.  Jedenfalls  ist 
unsere  Bekanntscliaft  mit  Tönen  lange  keine  so  gute,  wie  mit  Farben, 
da  wir  von  diesen  stets  umgeben  sind  und  sie  in  wechselnden  Be- 
leuclitungen  auch  in  tatsächlicli  kontinuierlicher  Veränderung 
sehen.  Mag  übrigens  die  Zahl  der  von  einem  Subjekt  gehörten 
Töne  noch  so  groß  sein,  normalerweise  stellen  sie  —  ebenso  wie 
die  Farben  —  doch  nur  Punkte  aus  einem  Kontinuum  dar;  und 
würde  von  diesen  Punkten  einer  zum  Ausgangspunkt  einer  Melodie 
gewählt,  so  würde  das  Vorstellen  der  Melodie  gewiß  keine  größere 
Schwierigkeiten  bereiten,  wenn  sich  unter  ihren  Intervallen  solche 
befinden  sollten,  die  bei  der  obigen  Wahl  des  Ausgangspunktes 
bisher  ungehörte  Töne  erfordern. 

Es  scheint  nun  aber  überhaupt  kein  Grund  vorzuliegen,  die  Ele- 
raentarvorstellungen  in  komplexen  Phantasievorstellungen  für  P^r- 
innerungsvorstellungen  zu  halten.  Es  ist  noch  niemals  zwingend  be- 
wiesen worden,  daß  man  nichts  einbilden  könne,  was  man  unter  günstigen 


■)  Treatise  on  Imman  uature.     Deutsche  Ausga'oe  von  Lipps,  S.  14f. 


4Q2  Rudolf  Amesedek. 

Umständen  zu  erinnern  nicht  in  der  Lage  ist,  nicht  einmal  auf  dem 
Gebiet  der  Empfindungsgegenstände.  ^)  Dagegen  beruht  das  Präjudiz 
zu  Ungunsten  der  Elementar-Einbildungsvorstellungen  (im  besonderen 
Sinn)  jedenfalls  darauf,  daß  man  tatsächlich  keinen  Empfindungs- 
gegenstand einbildet,  den  man  nicht  möglicherweise  wahrgenommen 
haben  und  somit  bei  ausreichender  Fähigkeit  erinnern  könnte. 

Auch  ist  keineswegs  erwiesen,  daß  die  Dispositionen  zu  Ele- 
mentar-Erinnenmgsvorstellungen  derartig  dauerhaft  sind,  daß  sie 
den  Ansprüchen,  welche  bei  Mangel  elementarer  Phantasievor- 
stellungen an  ihre  Leistungsfähigkeit  gestellt  werden  müßten,  ge- 
nügen könnten.  Dagegen  ist  es  eine  bekannte  Sache,  daß  die  kom- 
plexen Erinnerungsdispositionen  schwinden ;  und  solange  das  Gegen- 
teil nicht  erwiesen  ist,  muß  die  Möglichkeit  dieses  Schwindens  für 
die  Dispositionen  überhaupt,  sowohl  die  Komplex-  als  die  Elementar- 
dispositionen gelten.  Dann  aber  w^äre  es  sehr  w^ahrscheinlich,  daß 
nicht  nur  dort  Elementar-Phantasievorstellungeu  vorliegen  müssen, 
wo  die  elementare  Erinnerungsvorstellung  fehlt,  sondern  auch  dort, 
wo  diese  Disposition  alt  oder  sonst  wenig  leistungsfähig  ist,  kurz 
überall,  wo  das  Phantasieren  dem  Erinnern  gegenüber  leichter  sein 
dürfte.  Gibt  es  nun  Elementar-Phantasievorstellungen,  dann  gibt 
es  natürlich  auch  Produktionsvorgänge,  welche  sich  an  ihnen 
vollziehen. 

Die  Voraussetzung  besonderer  Elementarphantasievorstellungen 
ist  übrigens  keineswegs  nötig,  um  die  Mannigfaltigkeit  der  Phan- 
tasievorstellungen zu  verstehen.  Offenbar  kann  es  noch  zwei 
andere  Fälle  von  Phantasiebetätigung  geben.  Erinnert  man  sich 
an  ein  Superius,  so  müssen,  wie  erwähnt,  keineswegs  die  Inferiora 
vorgegeben  sein,  sondern  sie  können  auf  Grund  der  Snperius- 
vorstellung  mit  zur  Vorstellung  gelangen.  Es  werden  nun  häufig 
jene  Inferiora  miterinnert,  welche  seinerzeit  mitw^ahrgenommen 
wurden ;  häufig  tritt  das  Superius  auch  mit  Inferioren  auf,  die  ihm 
zwar  gleichfalls  zukommen,  mit  denen  es  aber  nicht  wahrgenommen 
Avurde.  Dies  ist  bei  jeder  Melodie  der  FaU,  welche  in  anderer  Ton- 
höhe reproduziert  wird,  als  in  der  sie  ursprünglich  wahrgenommen 


*)  Es  bliebe  auch  noch  die  Möglichkeit,  für  den  Mangel  entsprechender  Ein- 
bildungsvorstellungen bei  Taubgeborenen  und  Blindgeborenen  eine  gemeinsame 
Ursache  mit  der  Empfindungslosigkeit  zu  vermuten  und  diese  ins  Zentralorgan 
zu  verlegen. 


über  Vorstellimgsproduktiou.  493 

wurde,  vorausgesetzt,  daß  nicht  von  einem  vorgegebenen  Ton  dabei 
ausgegangen  und  die  Melodie  von  Intervall  zu  Intervall  gebildet 
wurde.  Gleichviel,  ob  diese  Inferiora  erinnert  oder  phantasiert 
sind,  das  Ganze  der  Vorstellung  ist  jedenfalls  nicht  erinnert  und 
somit  eine  Phantasievorstellung.  —  Es  ist  nun  fernerhin  möglich, 
daß  Superiora  samt  Inferioren  ohne  vorhergehende  Wahrnehmung 
zur  Vorstellung  gelangen;  derartige  Fälle  dürften  äußerst  häufig 
sein,  was  besonders  im  Hinblick  darauf  klar  wird,  daß  sich  die 
Gedächtnisdisposition  und  damit  auch  ihre  Korrelate  im  Lauf  der 
Zeit  verändern.  Schwankungen  der  letzteren  Art  sind  natürlich 
von  der  Beschaftenheit  des  Subjekts  abhängig,  und  es  könnte  er- 
wägenswert erscheinen,  ob  kleinere  derartige  Schwankungen  noch 
in  das  Gebiet  der  Erinnerung,  größere  in  das  der  Phantasie  fallen. 
Aber  neben  diesen  Schwankungen,  welche  für  eine  Disposition 
offenbar  jederzeit  nur  ein  Korrelat  ermöglichen,  liegt  die  Mög- 
lichkeit vor,  verschiedene  Superiora  durch  e  i  n  e  Disposition  zu  er- 
fassen. Dies  ist  einerseits  dadurch  garantiert,  daß  jeder  Inhalt 
eine  Anzahl  von  Gegenständen  zu  erfassen  geeignet  ist,  ^)  anderer- 
seits dadurch,  daß  eine  Disposition  auf  —  innerhalb  gewisser 
Grenzen  —  qualitativ  verschiedene  Erreger  auch  mit  verschiedenen 
Korrelaten  reagieren  wird. 

Es  ergibt  sich  daraus  folgende  Auffassung  der  Erinnerungs- 
und Phantasievorstellungen:  Durch  das  Auftreten  einer  Wahr- 
nehmungsvorstellung oder  einer  Produktion  wird  eine  Disposition 
geschaffen,  eine  gegenstandsgleiche  EinbildungsvorsteUung  zu  er- 
leben. Diese  Disposition  bietet  einen  zweifachen  Spielraum.  Zu- 
nächst ist  ihr  Korrelat  nicht  punktuell,  sondern  irgend  ein  Stück 
einer  Mannigfaltigkeit,  d.  h.  es  gibt  innerhalb  eines  gewissen 
Spielraumes  eine  Anzahl  von  Korrelaten  für  dieselbe  Disposition. 
Andererseits  verändert  sich  die  Disposition  im  Laufe  der  Zeit 
durch  verschiedene  Einflüsse  derart,  daß  sich  ihre  Korrelate  ver- 
ändern, die  dann  natürlich  noch  einmal  eine  Mehrheit  ausmachen. 
Hierdurch  ist  es  möglich,  daß  das  Subjekt  durch  das  Erleben  einer 
Wahrnehmungsvorstellung  zu  Vorstellungen  disponiert  wird,  die 
nicht  mehr   dem   Korrelatbereich   der   ursprünglichen   Disposition 


^)  Vgl.  Meinong,  Abstrahieren  und  Vergleichen,  Zeitschr.  f.  Psych,  u.  Physiol. 
Bd.  XXIV,  S.  34,  hier  70  ff. 


494  Rudolf  Ameseder. 

entsprechen. \)  Der  Provenienz  nach  sind  alle  diese  Vorstellungen 
Klrinuerung-svorstellung-eu ,  dem  Gegenstande  nach  erscheinen  sie 
neu  und  werden  somit  häufig  als  Pliantasievorstellung'en  im  engeren 
Sinn  bezeichnet.  Da  sie  aber  von  den  eigentlichen  Erinuerungs- 
vorstellungen  auch  keine  inhaltliche  Verschiedenheit  aufweisen 
müssen,  sind  sie  mit  ihnen  wesensgleich  und  nur  durch  die  er- 
wähnte Korrelatverschiebung  von  ihnen  verschieden.  Phantasie- 
vorstellungen im  engeren  Sinn  sind  also  Erinnerungs Vorstellungen, 
welche  sich  von  der  Ausgangsvorstellung  genügend  unterscheiden. 
Somit  erscheint  es  berechtigt,  diese  Unterscheidung  nach  der  Pro- 
venienz fallen  zu  lassen  und  beide  in  gleicher  Weise  als  Ein- 
bildungsvorstellungen zu  bezeichnen. 


II.   Tlieoretisclies. 

5.    Das  ^Y  e  s  e  n  der  V  o  r  s  t  e  1 1  u  n  g  s  p  r  o  d  u  k  t  i  o  n. 

Aus  dem  Vorhergehenden  ergibt  sich,  daß  für  das  Vorhanden- 
sein produzierter  Vorstellungen  Elementarvorstellungen  "j  nötig  sind, 
daß  ferner  die  produzierte  Vorstellung  diesen  gegenüber  eine  neue 
Vorstellung  ist,  die  sich  auf  sie  aufbaut  und  daß  ihr  Verhältnis 
zu  den  Elementarvorstellungen  nicht  die  Fundierung,  also  keine 
Idealrelation  ist. 

Das  Nächstliegende  ist  es  jedenfalls,  zu  vermuten,  daß  die 
produzierte  Vorstellung  eine  eigene,  neue  Vorstellung  ist,  weiche 
zu  den  Elementarvorstellungen  hinzutritt.  Ob  sie  mit  ihnen  in  Eeal- 
relation  steht,  läßt  sich  nicht  unmittelbar  durch  die  Empirie  ent- 
scheiden, da  ein  sonst  brauchbares  Kriterium  für  die  Eealrelation  ^) 


')  Soweit  dies  bei  den  fließenden  Grenzen  der  Korrelatbereiche  gesagt 
werden  kann 

-)  Vgl    oben  S.  486. 

')  Das  Kriterium  besteht  darin,  daß  Realkomplexe  in  bestimmter  Weise  zu 
analysieren  sind.  Unter  Analyse  denkt  mau  sich  gewöhnlich  einen  Vorgang,  welcher 
einen  Komplex  in  seine  Bestandstücke  zerlegt.  Eine  solche  Analyse  ist  aber  nur 
bei  realen  Komplexen  möglich.  Bei  diesen  nämlich  Averden  die  Bestandstücke 
durch  einen  wirklichen  Vorgang  getrennt,  so  dali  sie  nach  demselben  nicht  mehr 
in  dem  früheren  Realrelat  stehen.  Das  ist  z.  B.  bei  Elektrolyse  des  Wassers 
der  Fall.  Die  Realanalyse  —  wie  man  sie  genauer  benennen  könnte  —  ist  also 
ein   wirklicher  Vorgang,   welcher  den   Realrelat  beseitigt.    Es  ist  klar,   daß   es 


über  Vorstelluugsproduktion.  495 

beim  Psychischen  versagt.  Dageg'en  ergibt  sich  dies  mittelbar. 
Die  Superiusvorstellung-  muß  nämlich  mit  den  Elemeutarvorstellungen 
in  Eelation  stehen  und  eine  Idealrelation  kann  diese  Relation  aus 
den  früher  erwähnten  Gründen  nicht  sein;  so  bleibt  also  nichts 
übrig,   als  daß  die  Klementarvorstellungfen  in  Kealrelation  stehen. 

Natürlich  stehen  auch  die  Elementarvorstellungen,  aus  welchen 
produziert  wird,  in  Realrelation,  zum  mindesten  mittelbar  durch 
die  produzierte  Vorstellung-;  es  wäre  aber  aucli  möglich,  daß  sie 
unmittelbar  in  Realrelation  stünden,  ja  sogar,  daß  dies  zur  Pro- 
duktion notwendig  wäre.  Steht  nämlich  a  mit  b  und  c  mit  b  in 
Realrelation,  wobei  a  und  c  selbständig-  sind,  dann  gehören  auch 
a  und  c  demselben  Realkomplex  an.  Kann  das  b  jedoch  nicht 
existieren,  ohne  daß  a  und  c  seine  realen  Teile  sind,  dann  müssen 
a  und  c  selbst  einen  Realkomplex  ausmachen. 

Es  lieg-en  dieser  Sachlage  gegenüber  wiederum  zwei  Möglich- 
keiten vor.  Der  Realkomplex  aus  a  und  c  ist  wenigstens  phäno- 
menal seinen  Inferioren  gegenüber  etwas  völlig  Neues,  das  weder 
die  Eigenschaften  des  a  noch  die  des  b  haben  muß,  jedenfalls  aber 
ganz  neue  Eigenschaften  hat.  Wasser  hat  weder  die  phänomenalen 
Eigenschaften  des  Wasserstottes  noch  die  des  Sauerstoflfes  noch 
etwa  beide  zusammen,  sondern  von  ihnen  verschiedene,  die  sich 
aus  der  Natur  der  Inferiora  keineswegs  a  priori,  sondern  nur 
a  posteriori  feststellen  lassen.  Hat  nun  der  Realkomplex  a  c  ganz 
andere  Eigenschaften,  als  a  und  c,  dann  ist  er  eben,  wofern  a  und 
c  Vorstellungen  sind,  eine  neue  Vorstellung,  die  natürlich  auch 
einen  anderen  Gegenstand  haben  wird  als  die  Vorstellungen  a  und  c. 
Von  der  produzierten  Vorstellung  wissen  wir  aber  nicht  mehr, 
als  daß  sie  eine  aus  den  IClementarvorstellungen  gebildete,  von 
ihnen  verschiedene  Vorstellung  ist.  Daher  scheint  dieser  Real- 
komplex die  produzierte  Vorstellung  sein  zu  können. 

hierfür  ein  ideales  Gegenstück  niclit  flehen  kann,  da  ideale  Relate  zeitlos  bestehen, 
lind  nicht  vernichtet  werden  können;  die  gegebenen  inferiora  stehen  notwendig 
in  dem  Relat  und  können  somit  nicht  ohne  ihn  vorkommen.  Was  man  bei  idealen 
Komplexen  Analyse  nennt,  ist  ein  Gedankenprozeü,  welcher  dazu  führt,  daß  die 
Inferiora  ohne  den  Relat  vorgestellt  werden  (Idealanalyse).  Somit  ist  hier 
die  Analyse  nicht  an  den  Idealkomplexen  vollzogen ,  sondern  am  Psychischen,  sie 
ist  psychische  Analyse.  Sind  die  Yorstelhiugen  von  Idealkomplexeu  selbst  Real- 
komplexe  aus  Psychischem,  dann  ist  die  psychische  Analyse  eben  Realanalyse  der 
Vorstellungskomplexe. 


496  Rudolf  Aheseder. 

Wäre  aber  —  und  dies  ist  die  zweite  Möglichkeit  —  eine 
Disposition  da,  bei  welcher  der  Komplex  ac  nur  als  Teilursache 
für  das  Auftreten  der  produzierten  Vorstellung  fungieren  würde, 
dann  würde  man  erwarten  können,  daß  die  Disposition  irgendein- 
mal  auch  durch  eine  andere  Teilursache  als  a  c  aktualisiert  würde, 
eventuell  sogar  daß  die  Superiusvorstellung  eintreten  könnte, 
ohne  daß  Inferiora  vorgestellt  sind.  Die  Evidenz,  mit  welcher 
die  Unmögliclikeit  eines  solchen  Falles  erkannt  wird,  scheint  viel- 
mehr dafür  zu  sprechen,  daß  die  produzierte  Vorstellung  tatsächlich 
nichts  anderes  ist  als  der  (Real-)Komplex  der  Elementarvorstellungen, 
und  dieser  ist  natürlich  ohne  die  letzteren  nicht  denkbar.  Bei 
bloßem  Kausalverhältnis  wäre  eine  derartige  Evidenz  jedenfalls 
nicht  aufzubringen.  Man  könnte  allerdings  meinen,  es  handle  sich 
hier  um  eine  übertragene  Evidenz,  welche  nur  aus  der  Vergeblich- 
keit des  Versuches  gewonnen  würde,  die  produzierte  Vorstellung 
auf  andere  Weise  hervorzurufen.  Aber  dieser  Gedanke  scheint 
gerade  besonders  klar  zu  machen,  daß  die  Evidenz  zu  Eecht  be- 
steht: Niemand  wird  sich  veranlaßt  finden,  den  ,. Versuch"  wirk- 
lich zu  machen,  da  eben  seine  Erfolglosigkeit  einleuchtet. 

Es  scheint  nun  allerdings  bei  dieser  Sachlage  die  Vorstellung 
des  Idealrelates  eigentlich  zu  mangeln.  Aber  wenn  es  auch  psy- 
chologischer Tradition  entspricht,  für  jeden  C4egenstand  einen  In- 
halt zu  postulieren,  so  zeigt  sich  doch,  daß  es  bestimmte  Gegen- 
stände gibt,  nämlich  die  Objektive,  die  zwar  durch  Psychisches 
(Urteile,  Annahmen),  aber  nicht  durch  Inhalte  erfaßt  werden.  Es 
müßte  also  wohl  genügen,  wenn  an  dem  Psychischen  ein  Be- 
stimmungsstück namhaft  gemacht  werden  könnte,  welches  für 
das  Erfassen  des  Idealrelates  in  Anspruch  zu  nehmen  wäre,  und 
ein  solches  mangelt  keineswegs.  Es  ist  dasjenige,  Avas  zu  den  In- 
ferius Vorstellungen  der  obigen  Position  gemäß  neu  hinzukommt,  wo- 
fern Produktion  und  mit  ihr  ein  Realkomplex  von  Inhalten  auf- 
tritt, der  Realrelat  der  Elementarvorstellungen. ^)  Die  Empfindungs- 
gegenstände würden  somit  durch  Elementarvorstellungen,  die  Ideal- 
komplexe durch  psychische  Realkomplexe,  die  Ideah-elate  aber 
durch  Realrelate  von  Inhalten  zur  Vorstellung  gelangen. 


^)  Eine  Ausnahme  von   der  Regel  würde  das  insofern  nicht  bedeuten,   als 
der  Reah'elat,  wenn  auch  kein  Vorstellungsinhalt,  so  doch  etwas  Inhaltliches  ist. 


über  Vorstellungsprodiiktion.  497 

Diese  Auffassung  des  Wesens  der  Vorstellung-sproduktion 
macht  auch  ihr  Verhältnis  zur  Aktivität  leichter  verständlich. 
Ebbinghäus  1}  spricht  zwar  den  Vorstellungen  von  Ähnlichkeit  und 
Verschiedenheit  den  besonderen  Charakter  ab  und  reiht  sie  den 
Emptindung-en  ein.  Nur  wenn  die  Inferiora  „bloß  vorgestellt", 
d.  h.  eingebildet  sind,  läßt  er  die  Vorstellung  vom  Superius  als 
„Vorstellung",  d,  h.  als  Einbildungsvorstellung  gelten.  Damit  stellt 
er  natürlich  auch  jederlei  Aktivität  in  Abrede;  was  das  ver- 
gleichende Subjekt  tut,,  ist  nichts  anderes  als  das  Herbeischaffen 
möglichst  brauchbarer  Anschauungen  von  den  Inferioren.  Mit 
Recht  wendet  sich  Lipps  -)  gegen  diese  Positionen ,  deren  Unhalt- 
barkeit  wohl  auch  durch  die  voranstehenden  Ausführungen  von 
anderer  Seite  her  dargetan  sein  dürfte.  Nur  auf  die  Frage,  ob 
beim  Vergleichen  und  bei  ähnlichen  Erlebnissen  Aktivität  vorliegt, 
geht  Lrpps  des  näheren  nicht  ein.  Aber  auch  diese  Frage  scheint 
keineswegs  ohne  Antwort  bleiben  zu  müssen.  Höfler  •')  lehnt  es 
zwar  ab,  Aktivität  durch  die  Möglichkeit  willkürlicher  Beeinflussung 
zu  definieren,  aber  nur  deshalb,  weil  es  Aktivitäten  geben  könnte, 
welche  der  Willkür  nicht  unterliegen ;  unstreitig  aber  ist  alles  das 
Aktivität,  was  unmittelbar  dem  Willen  unterliegt.  Beim  Produ- 
zieren besteht  nun  der  Einfluß  des  Willens  nicht  bloß  im  Herbei- 
schaffen der  Inferiora  Vorstellungen ;  auch  wenn  diese  vorhanden 
sind,  bleibt  noch  Gelegenheit  zu  einer  Willensleistung,  deren  Er- 
folg unter  günstigen  Umständen  als  Anspannung  deutlich  gespürt 
wird.  Ist  die  produzierte  Vorstellung  ein  Realkomplex  von  Ele- 
mentarvorstellungen, dann  muß  dieser  Realkomplex  aus  den  Ele- 
mentarvorstellungen durch  einen  realen  Vorgang  entstehen.  Er- 
fahrungsgemäß wird  hierbei  Arbeit  verbraucht.  Bei  großer  Auf- 
fälligkeit der  Inferiora  ist  sie  allerdings  nicht  bemerkbar;  jedoch 
dürfte  sie  dann  eben  durch  die  Inferioravorstellungen  geleistet  werden. 

6.  Produktion,  xluff älligkeit  und  Aufmerksamkeit. 

Nicht  alle  Superiora,  welche  sich  auf  die  gleichzeitig  vorge- 
stellten Inferiora  aufbauen,   werden  gleichzeitig  erfaßt,   sondern 

1)  Grundzüge  der  Psychologie  (1902),  S.  474  ff. 

^)  Einige  psychologische  Streitpunkte,   Zeitschr.   f.   Psych,   u.   Physiol.  Bd. 
XXVIII,  S.  145 ff.,  hier:  die  Relation  der  Ähnlichkeit,  S.  166 ff. 
'')  Psychische  Arbeit,  a.  a.  0.  S.  76  ff. 
Meinong,  Untersuchungen.  32 


ij9g  Rudolf  Ameseder. 

bloß  eine  gering-e  Anzahl  derselben.  Die  erfaßten  Superiora  be- 
finden sich  somit  den  nicht  erfaßten  geg-enüber  in  einer  Vorzugs- 
stellung, welche  teils  in  der  Natur  dieser  Superiora,  teils  subjektiv 
begründet  ist.  Es  zeigt  sich  nämlich,  daß  von  drei  Superioren 
Si,  So.  S;5  ev.  das  S^  auch  dann  zum  Erfaßtwerden  gelangt,  wenn 
die  subjektiven  Bedingungen  zum  Erfassen  für  jedes  der  drei 
Superiora  gleich  günstig  wären.  Es  sind  dies  jene  Fälle,  in 
welchen  ein  Superius,  eine  Gestalt,  eine  Verschiedenheit  u.  dgl. 
dem  Subjekt  auffällt,  odei-  —  wie  man  auch  sagt  —  seine  unwill- 
kürliche Aufmerksamkeit  erregt.  Es  kann  dies  auf  der  Eigenart 
der  luferiora  beruhen,  und  diese  Sachlage  läßt  sich  leicht  daran 
erkennen,  daß  dasselbe  Superius  bei  Transposition,  d.  h.  bei 
^\^echsel  der  Inferiora  ohne  AVechsel  des  Reiates  seine  Vorzugs- 
stellung mehr  oder  minder  einbüßt.  Noch  viel  häufiger  beruht  die 
Vorzugsstellung  des  Superius  auf  zufälligen  Eigenschaften  der  In- 
feriora, also  auf  jenen  Eigenschaften,  welche  an  der  Fundierung 
nicht  beteiligt  sind.  So  wird  eine  Raumgestalt  wohl  durch  Orts- 
bestimmungen, nicht  aber  durch  die  Farben  fundiert,  welche  sich 
an  diesen  Ortsbestimmungen  befinden.  Ein  Beispiel  für  den  er- 
wähnten Wechsel  der  Vorzugsstellung  bei  Transposition  gibt  eine 
Melodie,  welche  in  hoher  Tonlage  viel  bemerkbarer  ist,  als  in  mitt- 
lerer, Beispiele  der  zweiten  Art  sind  Gestalten,  welche  in  ver- 
schiedenen Färbungen  leichter  oder  schwerer  erfaßt  werden  oder 
Melodien,  welche  man  umso  leichter  erfaßt,  je  lauter  sie  gespielt 
werden.  Natürlich  ist  dieser  ^^'echsel  derVorzugsstellung  nur  ein 
Argument  dafür,  daß  sie  zum  Teil  auf  Rechnung  der  Inferiora 
zu  setzen  war.  Es  können  aber  auch  mehrere  Superiora  durch 
ganz  dieselben  Inferiora  fundiert  sein  oder  mittelbar  koinzidieren,^) 
d.  h.  letztlich  identische  Inferiora  haben.  Besteht  auch  dann  noch 
eine  Vorzugsstellung  eines  Superius  einem  anderen  gegenüber,  so 
kann  dies  —  von  ungleichen  subjektiven  Bedingungen  vorläufig  noch 
immer  abgesehen  —  nur  durch  die  Eigenart  der  Relate  begründet 
werden.  Eine  solche  Vorzugsstellung  haben  z.  B.  Gestalten  aus  dem 
Diagonalstreifen  eines  Schachbrettes  gegenüber  den  Horizontal-  und 
Vertikalstreifen  aus  denselben  Feldern.  Betrachtet  man  nämlich 
jedes  Quadrat  des  Schachbrettes  als  Inferius,  so  ist  es  möglich,  Ge- 


')  Vgl.  meine  „Beiträge''  oben  S.  119. 


über  Vorstelluugsprodnktiou.  499 

stalten  (Streifen)  zu  erfassen,  welche  die  Diagonalen  der  Quadrate 
durch  Aneinanderreihen  von  Quadraten  fortsetzen ;  neben  diesen  sind 
noch  Gestalten  mög-lich,  wie  sie  den   abwechselnd  aus   schwarzen 
und  weißen  Quadraten  bestehenden  Horizoutalstreifen  oder  Verti- 
kalstreifen des  Scliachbrettes  entsprechen.    Sänitliclie  Streifen  von 
der  Lage  derselben  Diagonale  machen   eine  Gestalt  aus,  welche 
letztlich    aus    64    Feldern    besteht    und    somit   mit   dem    ganzen 
Schachbrett  koinzidiert,   ebenso   sämtliche  Streifen,   welche   einer 
und  derselben  Seite  parallel  liegen.    Es  ist  nun  erheblich  leichter, 
die  Gestalt  der  Diagonalstreifen  zu  erfassen  als  die  Gestalt  sämt- 
licher  Seitenparallelstreifen.     Da    aber    die    letzten   Inferiora    in 
beiden  Fällen  die  64  Felder  sind,  kann  die  Verschiedenheit  in  der 
Schwierigkeit  nur  auf  Rechnung  irgendwelcher  Relate  zu  setzen  sein. 
Nennt  man  die  Eigenschaft  der  Gegenstände,  aufzufallen  oder 
die  unwillkürliche  Aufmerksamkeit  zu  erregen,  ihre  Auffällig- 
keit,^)   so   ist   dabei    natürlich   zwischen    der   Auffälligkeit   von 
Inferioren  und  der  der  Relate  zu  unterscheiden.")    Die   Auffällig- 
keit ist  somit  das,  was  der  Gegenstand  vermöge  seiner  Zuordnung 
zu   einem   bestimmten  Vorstellungsinhalt  gewissermaßen  dazutut, 
um  aufzufallen,  d.  h.  vor  anderen  erfaßt   zu  werden.     Bei  Relaten 
besteht  nun  offenbar  diese  Auffälligkeit  darin,  daß  die  Vorstellung 
des  auffälligeren  Relates  leichter  produziert  wird  und  sich  länger 
behauptet.    Es  entspricht  nicht  nur  jeder  Art  von  Relaten  eine  Art 
von  Produktion,   sondern  auch  jedem  Fall  ein  besonderer  Produk- 
tionsfall; ^)  und  es  ist  natürlich  leicht  möglich,  daß  sich  diese  Fälle 
außer  durch  die  Beschaffenheit  des  zu  produzierenden  Inhalts  noch 
durch    quantitative   Bestimmungen    an    den    Akten    unterscheiden 
können.     Die  Auffälligkeit  der  Absolutive  ■*)  ist  natürlich  nicht  ihre 
Eignung,  durch  produzierte  Vorstellungen  erfaßt  werden  zu  können, 
sondern  die  Eignung,   als  Inferiora   solcher  zu  funktionieren;  ge- 
nauer   beruht    die   Vorzugsstellung    der    auffälligeren    Absolutiva 


')  Vgl.  meine  Arbeit  „tiber  absolute  Auffälligkeit  der  Farben",  diese  Unter- 
suchungen Nr.  IX. 

')  Die  weitere  Unterscheidiing  von  absoluter  und  relativer  Auffälligkeit 
kommt  hier  nicht  in  Betracht.    Tgl.  dazu  die  oben  zitierte  Arbeit. 

*)  Vgl.  zu  Art  und  Fall  des  Eelates :  meine  Beiträge,  diese  Untersuchungen 
Nr.  II,  hier  S.  99  f. 

**)  Als  Absolutive  bezeichnet  JIeinong  Gegenstände,  welche  keine  Relate  sind. 

32* 


500  Rudolf  Amesedek. 

neben  anderem')  darin,  daß  ihre  zug-ehörigen  Inhalte  eher  Pro- 
duktionen ergeben,  als  andere. 

Die  willkürliche  Aufmerksamkeit  hat  den  gleichen  Effekt  wie 
die  unwillkürliche.  Bei  Relaten  ist  es  offenbar  die  Fähigkeit  zur 
Produktion,  welche  durch  sie  gesteigert  wird;  bei  Absolutiven  ist 
die  Interpretation  schwieriger.  Jedoch  erweist  sich  bei  diesen 
das  Aufmerken  gleichfalls  als  eine  Dispositionsveränderung,  welche 
das  Produzieren  von  Superius Vorstellungen  erleichtert,  die  jenes 
Absolutiv  zum  Inferius  haben.  So  wird  demjenigen,  der  auf 
einen  bestimmten  Fleck  des  Gesichtsfeldes  aufmerkt,  verschiedenes 
auffallen,  was  diesen  Fleck  zum  Inferius  hat  und  das  ohne  diese 
Aufmerksamkeit  entginge ;  die  Vorstellung  vom  Fleck  erfährt  dabei 
so  wenig  eine  Veränderung,  wie  ihr  Gegenstand. 

Es  zeigt  sich  somit,  daß  zwei  Tatbestände,  inhaltlich-gegen- 
ständliche einerseits,  dispositionelle  andererseits  zu  demselben  Er- 
gebnis führen  können.  Demgemäß  ist  die  Schwierigkeit  der  Pro- 
duktion abhängig 

1.  von  der  Beschaffenheit  der  Inferiusinhalte, 

2.  von  der  Art  der  postulierten  Produktion, 

3.  von  der  Beschaffenheit  der  für  diese  Produktionsart  vor- 
liegenden Disposition. 

Während  die  Auffälligkeit  Modifikationen  in  den  ersten  zwei 
Hinsichten  bedingt,  stellt  die  dritte  das  Gebiet  der  willkürlichen 
Aufmerksamkeit  -)  dar. 

Die  Verschiedenheiten  der  Dispositionen  äußern  sich  in  zweierlei 
Weise:  zunächst  darin,  daß  sie  auf  den  gleichen  Erreger  mit 
größerer  Leistung  reagieren  (aber  in  gleicher  Weise,  als  ob  der 
Gegenstand  größere  Auffälligkeit  hätte),  oder  indem  sie  auf  ge- 
ringere Erreger  mit  gleichen  Leistungen  reagieren. 

7.  Vor  Stellungsproduktion  und  indirektes  Vorstellen. 

In  jenen  FäUeu,  in  welchen  eine  ProduktionsvorsteUung  will- 
kürlich hervorgerufen  wird,  können  zunächst  Zweifel  hinsichtlich 

^)  Z.  B.  haben  die  auffälligeren  Gegenstände  auch  dem  Urteil  gegenüber 
eine  Vorzugsstellung  vor  den  minder  auffälligen. 

®)  Natürlich  auch  aller  sonstigen  subjektiven  Einflüsse  auf  den  Ausfall  der 
Vorstellungsproduktion ;  doch  kommt  zunächst  nur  die  willkürliche  Aufmerksamkeit 
in  Betracht. 


über  Yorstelluugsproduktion.  501 

dessen  entstehen,  worauf  ein  Willensakt  gerichtet  sein  soll.  Das 
Ziel  ist  scheinbar  durch  das  Superius  vorgegeben,  welches  mittels 
Produktion  erfaßt  werden  soll.  Dieser  Gegenstand  muß  also  in 
den  Fällen  willkürlicher  Produktion  vorher  durch  etwas  Psy- 
chisches erfaßt  sein  und  zwar  durch  eine  sogenannte  „indirekte 
Vorstellung",  genauer  einen  Komplex  aus  Vorstellungen  und  An- 
nahmen;^) sollen  z.  B.  zwei  Farben  verglichen  werden,  so  muß 
der  Gegenstand  „die  Verschiedenheit  (oder  Ähnlichkeit),  in  welcher 
die  beiden  Farben  stehen"  erfaßt  werden.  An  dem  Erfassen  des- 
selben ist  neben  den  Vorstellungen  der  Farben  noch  die  Annahme 
beteiligt,  welche  die  durch  den  Eelativsatz  bezeichnete  Kelation 
zum  Gegenstande  hat. 

Die  Leistung  eines  solchen  vorgegebenen  Komplexes  ist  zweifach, 
je  nach  der  Aufgabe,  die  er  hinsichtlich  der  Produktion  zu  erfüllen 
hat:  einmal  die,  einen  anderen  Komplex  derselben  Inferiora  anschau- 
lich zu  erfassen,  z.  B.  die  Verschiedenheit  von  zwei  Farben ;  es  kann 
auch  ferner  das  anschauliche  Vorstellen  von  Komplexen  mit  weiteren 
noch  nicht  vorgestellten  Inferioren  zu  leisten  sein,  etwa  auf  die  Frage : 
Welche  Kichtung  ist  senki^echt  auf  eine  (bestimmte)  gegebene? 

Die  Schwierigkeit  der  Interpretation,  welche  durch  diese 
offenbar  vorliegende  Beeinflussung  der  produzierten  Vorstellungen 
durch  die  indirekten  entsteht,  liegt  zunächst  darin,  daß  diese 
beiden  Vorstellungen  nur  identische  Gegenstände  haben,  also  nur 
in  einem  außerpsychischen  Merkmal  übereinstimmen,  die  Ein- 
wirkung einer  Vorstellung  auf  eine  andere  aber  nur  vermöge  einer 
psychischen  Beschaffenheit  derselben  möglich  ist.  Die  Identität  der 
Gegenstände  kann  also  nicht  das  vermittelnde  Glied  abgeben,  sondern 
für  diese  Vermittlung  nur  etwas  Akzessorisches  sein,  so  zweckmäßig 
sie  sich  im  übrigen  erweisen  mag.  Ruft  eine  indirekte  Vorstellung 
eine  gegenstandsgleiche  produzierte  hervor,  so  muß  die  Ursache 
des  Auftretens  der  zweiten  im  Inhalt  oder  Akt  der  ersten  liegen. 

Es  gäbe  zwei  ]\Iöglichkeiten ,  dieser  Sachlage  theoretisch  ge- 
recht zu  werden,  jedoch  scheint  eine  davon  erheblich  mehr 
Wahrscheinlichkeit  zu  besitzen.  Die  eine  wäre  die,  daß  die  Pro- 
duktionen aller  Superiora  von  gegebenen  Inferioren  sämtlich 
einander  folgen,  und  die  indirekte  Vorstellung  somit  nur  bei 
der    Auswahl    und    beim    Festhalten    einer    gegenstandsgleichen 

^)  Vgl.  Meinong,  Über  Annahmen,  S.  109 ff. 


r^QO  EüDOLF  Ameseder. 

anschaulichen  Vorstellung  bestimmend  mitwirkt.  Ein  solches 
Wechseln  der  SuperiusYorstellungen  läßt  sich  nun  tatsächlich  oft 
beobachten,  ist  aber  keineswegs  immer  vorhanden.  Wäre  aber 
das  willkürliche  Produzieren  auf  den  spontanen  Wechsel  unwill- 
kürlicher Produktionen  angeAviesen,  dann  müßte  dieser  eben  immer 
vorhanden  sein,  da  das  Produzieren  immer  der  Willkür  unterliegt. 

Nun  findet  sich  aber  der  Gegensatz  von  willkürlichem  und 
unwillkürlichem  Vorstellen  nicht  nur  bei  produzierten  Vorstellungen, 
sondern  auch  bei  solchen,  an  welchen  die  Produktion  keinen  oder 
doch  nur  unerheblichen  Anteil  hat.  Man  kann  eine  bestimmte 
Farbe  willkürlich  anschaulich  vorstellen;  hierbei  aber  in  dem 
willkürlichen  Vorstellen  eine  bloß  auswählende  und  festhaltende 
Tätigkeit  sehen  zu  wollen,  ist  vollends  unmöglich.  Neben  der 
Vorstellung  dieser  Farbe  müßten  noch  die  Vorstellungen  vieler 
anderer  vorhanden  sein,  was  die  Erfahrung  keineswegs  bestätigt. 

Hingegen  läßt  sich  bei  den  Vorstellungen  von  Empfinduugs- 
gegenständen  das  willkürliche  Hervorrufen  in  einer  Weise  zurecht- 
legen, deren  Anwendung  auf  das  willkürliche  Produzieren  statthaft 
erscheint.  Bei  der  indirekten  Vorstellung  eines  Empfindungs- 
gegenstandes ist  allemal  etwas  gegeben,  woran  die  anschauliche 
Vorstellung  desselben  Gegenstandes  assoziiert  sein  kann.  Die 
gleichzeitig  aufgebotene  Aufmerksamkeit  bewirkt  für  diesen  Gegen- 
stand einen  Auffälligkeitszuwuchs.  Es  wirken  also  zwei  Faktoren 
gleichzeitig,  die  Aufmerksamkeit,  welche  eine  Dispositionssteigerung 
für  das  anschauliche  Vorstellen  bedeutet,  und  die  Assoziation, 
welche  die  Disposition  für  diesen  Gegenstand  aktualisiert,  somit 
als  Erreger  wirkt.  Bei  der  willkürlichen  Vorstellungsproduktion 
finden  sich  nun  dieselben  zwei  Faktoren  in  der  inneren  Wahr- 
nehmung, eine  psychische  Anspannung,  die  als  Dispositionssteigerung 
aufzufassen  ist,  und  eine  indirekte  Vorstellung,  welche  den  Dis- 
positionserreger abzugeben  scheint.  Nun  ist  durch  die  Dispositions- 
erregung bei  der  Produktion  Zweifaches  zu  leisten.  Von  den  ver- 
schiedenen möglichen  Produktionsvorgängen,  wie  z.  B.  Vergleichen, 
Gestaltei-fassen  usw.  ist  der  „gewollte"  zu  bestimmen,  und  es  ist 
wohl  verständlich,  daß  dieser  Vorgang  assoziativ  ausgelöst  werden 
könnte,  obwohl  im  allgemeinen  nur  von  Assoziation  aktueller  Vor- 
stellungen gesprochen  wird.  Daneben  ist  aber  noch  zu  verlangen, 
daß  die  betreffende  Produktionsdisposition  für  die  bestimmten  In- 


über  Vorstellungsproduktion.  503 

feriora  aktualisiert  wird.  Aber  dies  bedeutet  wohl  gegenüber  der 
Sachlage  bei  nicht  produzierten  Vorstellungen  eine  Komplikation, 
jedoch  kaum  eine  Schwierigkeit.  "Wo  willkürlich  produziert  wird, 
sind  die  Inferiora  entweder  durch  genügende  Auffälligkeit  isoliert, 
oder  sie  erhalten  diese  Auffälligkeit  durch  willkürliches  Aufmerken. 

8,  Qualitative  V e r ä n d e r u n g e n  an  den  Korrelaten: 
i  n  a  d  ä  q  u  a  t  e  Y  0  r  s  t  e  1 1  u  n  g  e  n. 

Die  Superiusvorstellung  ist  auf  die  Elementarvorstellungen 
nicht  mit  Notwendigkeit  aufgebaut,  da  sie  —  wie  erwähnt  — 
auch  ausbleiben  kann,  wenn  die  Inferiora  vorgestellt  sind.  Dies 
erhellt  aber  auch  daraus,  daß  von  den  vorgegebenen  Elementar- 
vorstellungen aus  eine  neue  produziert  werden  kann,  welche  keines- 
wegs durch  diese  gebildet  ist.  Sind  nämlich  A  und  B  die  vorge- 
gebenen Elementarvorstellungen  mit  den  Gegenständen  a  und  b, 
so  entspricht  diesen  ein  Superius  Sj,  während  unter  Umständen 
durch  Produktion  ein  s.,  von  derselben  Art  erfaßt  wird.  Das  ist 
bei  den  geometrisch-optischen  „Täuschungen"  der  Fall,  bei  welchen 
nicht  nur  die  Inferiora  andere  sind,  als  sie  in  dem  durch  Pro- 
duktion erfaßten  Komplex  erscheinen;  es  lassen  sich  auch  aus 
denselben  Inferioren  durch  verschiedene  Produktionsvorgänge  ver- 
schiedene Superiora  erfassen,  welche  hinsichtlich  der  Täuschungs- 
größe verschieden  sind.  So  weist  die  Mittellinie  der  Müller- 
LYERschen  Figur  beim  Erfassen  verschiedener  (xestalten  aus  den 
vorgegebenen  Inferioren  verschiedene  Länge  auf.  ^)  Das  Superius 
ist  also  hier  eines,  das  den  Gegenständen  der  isolierten  Elementar- 
vorstellungen nicht  zukommt ;  somit  ist  auch  die  Superiusvorstellung 
eine  den  isolierten  Elementarvorstellungen  inadäquate.-) 

Es  liegen  mehrere  Möglichkeiten  vor,  diese  Inadäquatheit  zu 
erldären : 

1.  Die  Elementarvorstellungen  sind  adäquat  und  bleiben  es 
auch,  wenn  Produktion  eintritt.  Bestünde  nun  die  Produktion  im 
Hinzutreten  einer  neuen  Vorstellung,  dann  könnte  die  Inadäquat- 
heit darin  liegen,   daß  diese  neue  Vorstellung  nicht  die  den  Ele- 


*)  Vgl.  V.  Benüssi,  Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens,  diese  Unters.  Xo.  V. 

^)  Vgl.  V.  Bencssi,  Über  den  Einfluß  der  Farbe  auf  die  Größe  der  Zöllner- 

schen  Täuschung.     Zeitschr.  f.  Psych,  u.  Physiol.  d.  Siunesorg.  Bd.  XXIX,  S.  387. 


504  Rudolf  Ameseder. 

mentarvorstellimgen  entsprechende  ist.    Dabei  lägen  natürlich  Pro- 
duktionstäuschiingen  vor. 

2.  Unter  bestimmten  Umständen  treten  nicht  die  den  Inferioren 
entsprechenden  Inhalte  a  und  b  auf,  sondern  andere,  a'  und  b'.  Die 
Produktion  findet  also  bereits  ein  verändertes  Material  an  Elementar- 
vorsteUungen  vor.  Kommt  auf  diese  Weise  eine  Täuschung  zustande, 
so  ist  sie  natürlich  eine  Elementarvorstellungs-(Empfindungs-)Täu- 
schung.  Wäre  dies  die  einzige  Möglichkeit,  dann  dürfte  keine  Ver- 
änderung der  Produktionsdisposition  (z.  B.  Ermüdung,  Übung)  die  In- 
adäquatheit der  Superiusvorstellung  ändern  (vergrößern,  verkleinern). 

3.  Die  ElementarvorsteUungen  sind  auch  unter  den  gegebenen 
Umständen  den  Inferioren  adäquat ;  durch  die  Produktion  verändern 
sie  sich  aber  derart,  daß  sie  den  vorgegebenen  Gegenständen  gegen- 
über inadäquat  werden,  so  daß  auch  die  Superiusvorstellung  inadäquat 
sein  muß.  Da  hierdurch  bedingte  Täuschungen  durch  Produktion 
zustande  kommen,  heißen  sie  sinngemäß  Produktionstäuschungen. 

Zur  Feststellung  der  richtigen  Erldärung  inadäquater  Vorstell- 
ungen ist  man  zunächst  auf  die  Exldusion  der  unrichtigen  angewiesen, 
wobei  es  von  Wichtigkeit  ist,  alle  Möglichkeiten  zu  berücksichtigen. 
Da  —  soweit  abzusehen  —  obige  Aufstellung  dreier  Typen  alle 
praktisch  in  Betracht  kommenden  Möglichkeiten  umfaßt,  scheint 
dieser  Anforderung  Genüge  geleistet  werden  zu  können. 

ad  1.  Diese  Hypothese  scheint  insofern  einfacher  als  die  andern, 
als  bei  ihr  keine  Veränderungen  der  ElementarvorsteUungen  vor- 
ausgesetzt werden;  sie  ist  aber  komplizierter,  soweit  neben  dem 
Realkomplex  der  Elementarvorstellungen  noch  eine  eigene  Superius- 
vorstellung postuliert  wird.  Außer  dem,  was  gegen  dies  Postulat 
schon  früher  geltend  gemacht  wurde,  spricht  auch  noch  die  innere 
Wahrnehmung  gegen  die  vorliegende  Position. 

Es  scheint  nun  wohl  zunäclist  plausibel,  daß  die  Inadäquatheit  der 
Superiusvorstellung  am  ehesten  vorliegen  kann,  wenn  die  Superius- 
vorstellung etwas  neben  den  ElementarvorsteUungen  ist,  und  somit 
weniger  von  ihnen  abhängt  als  ihr  Komplex.  Nun  wird  zwar  im 
Fall  einer  Vergleichstäuschung  eine  andere  Verschiedenheit  vor- 
gesteUt  als  die  durch  die  „objektiven"  Inferioren  fundierte.  Aber 
es  liegt  Evidenz  aus  den  Daten  der  inneren  Wahrnehmung  dafür 
vor,  daß  die  vorgestellte  Verschiedenheit  auch  tatsächlich  die  Ver- 
schiedenheit der   durch    die  ElementarvorsteUungen   erfaßten  In- 


über  Vorstellungsproduktion.  505 

feriora  sei.  Mau  erfaßt  also  durch  das  Vergleicheu  das  Superius, 
dessen  Inferiora  man  gleiclizeitig  vorstellt.  Dann  aber  ist  es  uu- 
möglich,  daß  die  Superiusvorstelluug-  den  Inferiusvorstellungen  gegen- 
über inadäquat  sei,  sie  kann  nur  den  Elementargegenständen 
gegenüber  inadäquat  sein,  von  welchen  wir  eventuell  auf  Umwegen 
erschließen  können,  daß  sie  tatsächlich  vorliegen.  Ist  sie  also  gegen- 
über den  Elementarvorstellungen  nicht  inadäquat,  dann  müssen  die 
Inferioravorstellungen  inadäquat  sein,  und  somit  muß  Hypothese  2 
oder  3  zurecht  bestehen.  Gleichzeitig  zeigt  sich,  daß  auch  von 
diesem  Standpunkt  die  Annahme  einer  besonderen  (den  Elementar- 
vorstellmigen  gegenüberstehenden)  Superiusvorstellung  überflüssig  ist. 

ad  2.  Daß  sich  gleichzeitige  Empfindungen  modifizieren,  ist 
eine  genügend  festgestellte  Tatsache;  das  Phänomen  des  Farben- 
und  Helligkeitskontrastes  wird  derzeit  fast  ohne  Einsprache  in 
dieser  Weise  erklärt.  Allein  beim  Kontrast  wirkt  eine  Empfindung 
auf  jede  andere  in  ganz  derselben  Richtung,  d.  h.  sie  verschiebt 
sie  in  der  Richtung  ihrer  Komplementärfarbe ;  zur  Erldärung  der 
hier  gemeinten  Inadäquatheit  würde  eine  derartige  Verschiebungs- 
richtung nicht  mehr  genügen,  sobald  verschiedene  Produktionsarten 
in  Frage  kommen.  Da  nun  wohl  das  Ergebnis  der  Einwirkung  von 
der  einwirkenden  und  der  die  Einwirkung  erfahrenden  Empfindung 
abhängig  ist,  scheint  dieses  Ergebnis  für  zwei  gegebene  Emp- 
findungen überhaupt  nur  ein  einziges  sein  zu  können.  Damit  aber 
wäre  nachgewiesen,  daß  die  Inadäquatheit  der  Superiusvorstellung 
höchstens  zum  Teil  und  zufällig  auf  solchen  Einwirkungen  der  Emp- 
findungen aufeinander  beruhen  kann,  jedenfalls  aber  der  Hauptsache 
nach  der  3.  Hypothese  untersteht.  Gegen  die  2.  Hypothese  spricht 
auch  noch  daß  die  gegenseitige  Beeinflussung  der  Empfindungen 
zwar  wohl  auch  Schwankungen  unterliegen  dürfte,  aber  erfahrungs- 
gemäß nicht  übbar  ist;  dagegen  bedingt  die  Übung  im  Produzieren 
Veränderungen  hinsichtlich  der  SuperiusvorsteUuugen.  ^) 

ad  3.  Diese  somit  durch  Exklusion  der  andern  in  Betracht 
kommenden  Möglichkeiten  praktisch  genügend  gestützte  Hypothese 
bietet  auch  noch  den  Vorteil,  die  Ursache  der  Inadäquatheit  plau- 
sibel zu  machen.  A\'ährend  nämlich  bei  1.  nur  ein  zufälliges  oder 
gesetzmäßiges  Nichtpassen  der  Superiusvorstellung  zu  den  Elemen- 

^)  Vgl.  hierzu  auch  V.  Be:<ussi,  Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens,  diese 
Unters.  No.  V. 


5Q5  Rudolf  Amksedek. 

tarvorstelluiig'eu  festgestellt  werden  könnte,  ebenso  bei  2.  nur  eine 
gesetzmäßige  Beeinflussung  mehrerer  gleichzeitig  auftretender  Ele- 
mentarvorstellungen, läßt  sich  gemäß  der  Position  3,  leicht  einsehen, 
warum  gerade  beim  Produzieren  inadäquate  Superiusvorstellungen 
resultieren.  Besteht  nämlich  das  Produzieren  darin,  daß  die  Ele- 
mentarvorstellungeu  in  Eealkomplexe  eintreten,  dann  ist  es  be- 
greiflich, daß  mit  den  hierzu  nötigen  Veränderungen  auch  inhaltlich- 
gegenständliche sich  vollziehen. 

9.  Übersicht  der  P  r  o  d  u  k  t  i  o  n  s  a  r  t  e  n.    Analyse. 

Da  es  unmöglich  ist,  daß  verschiedene  Fälle  desselben  Relates  durch 
dieselben  Inferiora  fundiert  sind,^)  müssen  Superiora  die  durch  die- 
selben Inferiora  fundiert  sind,  verschiedenen  Arten  angehören.  Dieses 
Kriterium  gestattet  eine  Anwendung  auf  die  Produktionsarten.  Werden 
nämlich  durch  dieselben  Elementarvorstellungen  zwei  oder  mehrere 
Superiusvorstellungen  produziert,  so  müssen  verschiedeneProduktionen 
vorliegen.  Da  nebeneinander  durch  dieselben  Inferiora  fundierte  (un- 
mittelbar koinzidierende)  ^)  Superiora  erfaßt  werden,  muß  jeder  Art 
eines  (überhaupt  erfaßbaren)  idealen  Superius  eine  eigene  Art  von 
Produktion  entsprechen.  "Werden  solche  Arten  nach  den  erfaßten 
Gegenständen  benannt,  so  sind  zunächst^)  Ähnlichkeits-,  Verschieden- 
heits-,  Gestalt-,  Lage-  und  Verbindungsproduktionen  zu  unterscheiden. 

Daneben  findet  sich  noch  ein  Relat,  der  neben  den  erwähnten  als 
Vertreter  einer  eigenen  Art  zu  gelten  hätte,  das  ist  der  von  Inferius 
zu  Superius,  bzw.  Inferius  und  Relat,  Bestandstück  und  Komplex. 
Zwischen  zwei  Inferioren  können  mehrere  Relate  bestehen,  z.  B.  Ähn- 
lichkeit, Gestalt,  Zweiheit.  Jedes  Inferius  kann  nun  zum  Ähnlich- 
keits-, Gestalts-,  Zweiheitsrelat ,  bzw.  Komplex  in  dem  erwähnten 
Superius-Inferius-Relat  stehen;  da  aber  dieser  Relat  jedesmal  ein  In- 
ferius neu  hat,  nämlich  Ähnlichkeit,  Gestalt,  Zweiheit,  so  können 
vielleicht  diese  mittelbar  koinzidierenden  Relate  wohl  verschiedene 
Fälle  derselben  Art  darstellen;  immerhin  scheint  es  plausibler,  daß  der 
Relat  „Beziehung  des  Inferius  zum  Superius"  bei  Gestalten  oder  Ver- 
bindungsgegenständen auch  von  anderer  Art  ist,  als  bei  Ähnlichkeit. 


')  Vgl.  Beiträge  oben  S.  88. 

*)  Vgl.  Beiträge  S.  119  if. 

")  Vgl.  zur  Einteilung  der  Fundierungsgegenstände :  Beiträge,  S.  95  ff. 


über  Vorstellungsproduktion.  507 

Der  Relat  zwischen  Iiiferius  und  Superius  ist  für  die  Psycho- 
logie deshalb  von  Interesse,  weil  das  Erfassen  desselben  zu  den 
meistbehandelten  Themen  dieser  "Wissenschaft  g-ehört.  Es  ist  dies 
die  psychisclie  Analyse. 

Zweierlei  wird  als  physische  Analyse  bezeichnet.  Das  Heraus- 
finden von  Inferioren  aus  einem  Komplex  und  das  Erfassen  des  Ver- 
liältnisses  zwischen  beiden.  Es  ist  nun  wohl  möglich,  daß  irgend- 
welche Umstände  den  Anschein  herbeiführen,  als  wäre  ein  beson- 
derer Vorgang  hierzu  niclit  erforderlich;  dies  ist  z.  B.  dann  der 
Fall,  wenn  die  Komplexvorstelluug  sukzessiv  aus  den  Elementar- 
Yorstellungen  gebildet  wurde.  Aber  in  der  fertigen  Komplexvor- 
stelluug sind  die  Inferiora  doch  nicht  in  jener  Weise  vorgestellt, 
wie  dies  für  Analyse  erforderlich  ist.  Es  muß  also  auch  hier, 
wofern  die  Inferiora  in  der  "Weise  erfaßt  werden,  wie  dies  sonst 
Ergebnis  einer  bemerkbaren  Tätigkeit  ist,  neben  der  komplexer- 
fassenden Produktion  noch  eine  vorhanden  sein,  welche  die  In- 
feriora scheinbar  isoliert;  nur  setzt  sie  gleichzeitig  mit  der  Kom- 
plexvorstellungsproduktion ein  und  ist  wohl  deshalb  nicht  leicht 
von  ihr  auseinanderzuhalten.  Es  ist  gewiß  unkorrekt,  wenn  als 
Ziel  der  Analyse  bezeichnet  wird,  von  der  VorsteUuug  des  Kom- 
plexes zu  der  der  Inferiora  zu  kommen :  die  Inferioravorstellungen 
sind  eben  da,  wenn  die  Komplexvorstellung  da  ist;  sie  brauchen 
nicht  erst  herbeigeführt  zu  werden.  Dagegen  erscheinen  sie  dem 
Komplex  gegenüber  durch  die  Analyse  verselbständigt,  den  anderen 
—  nicht  herausanalysierten  —  Inferioren  gegenüber  isoliert  zu 
sein.  Die  Veränderung,  welche  mit  ihnen  hierbei  vorzugehen 
scheint,  kann  schwerlich  etwas  anderes  sein  als  eine  Auffällig- 
keitssteigerung; neben  dieser  aber  und  durch  sie  erfolgt  eine 
weitere,  sie  treten  zu  dem  Komplex  in  eine  neue  Beziehung,  — 
genauer,  es  wird  eine  weitere  Beziehung  durch  Produktion  erfaßt. 
Bilden  die  Inferiora  Ij  Ig  I3  .  .  .  Im  einen  Ideaikomplex  Kj  mit 
dem  zugehörigen  Relat  R,,  so  ist,  was  zunächst  durch  Produktion 
erfaßt  wird,  eben  dieser  Relat  und  mit  ihm  der  Komplex  Kj. 
"Wird  nun  aus  dem  Komplex  K^  das  Inferius  Ij  herausanalysiert, 
so  erhält  es  nicht  nur  die  erwähnte  Auffälligkeitssteigerung,  sondern 
es  wird  I^  zu  K^  in  Beziehung  gesetzt,  diese  Beziehung  ist  aber 
nicht  der  Relat  Rj,  sondern  ein  neuer,  etwa  R., ;  Rj  kann  es  des- 
halb nicht  sein,  weil  bei   diesem  I^  nur  einmal   als  Inferius  vor- 


508  Rudolf  Ameseder,  Über  Vorstellungsproduktion. 

kommt,  bei  Eg   aber  muß  I^  zweimal  als  Infeiius  funktionieren, 
nämlich  folgender  Aufzeichnung-  entsprechend: 


Analj'Se  führt  auch  häufig  zu  Bestandstücken,  welche  nicht  bloß 
durch  Idealrelate  miteinander  verbunden  sind,  so  z.  B.  wenn  aus 
dem  Komplex  „farbige  Fläche"  die  Farbe  „herausanalysiert"  wird. 
Obwohl  auch  bei  dieser  Art  von  Analyse  der  Anteil  von  Produk- 
tionsvorgängen erweislich  sein  wird,  ist  sie  doch  wesentlich  von 
der  hier  erörterten  zu  unterscheiden,  insofern  hierbei  allemal 
sämtliche  Inferiusvorstellungen  produzierend  auftreten,  und  nur 
das  erfaßte  Superius  nach  Maßgabe  des  Produktionsaktes  ver- 
schieden ausfallen  kann.  Fundieren  z.  B.  rote  Flecke  eine  Gestalt 
so  ist  es  durch  verschiedene  Produktion  sowohl  möglich,  die  Ge- 
stalt als  auch  den  Eotkomplex  zu  erfassen,  also  so  zu  reagieren,  als 
würde  einmal  nur  aus  den  Ortsvorstellungen  produziert,  das  andere 
Mal  nur  aus  den  Farben  Vorstellungen ,  obwohl  natürlich  die  Ele- 
mentarvorstellungen in  beiden  Fällen  die  gleichen  sind.  Diese 
beiden  Typen  wären  vielleicht  als  Bestandstückanalyse  und 
als  Qualitätsanalyse  zu  bezeichnen. 

Mit  jeder  Analyse  vollzieht  sich,  wie  bereits  erwähnt,  durch  die 
Aufmerksamkeit  eine  scheinbare  Veränderung  der  Inferiora;  die- 
jenigen Inf  eriora,  welche  durch  die  vorzunehmende  Produktion  erfaßt 
sein  müssen,  erhalten  nämlich  eine  scheinbare  Auffälligkeitszunahme, 
welche  —  da  sie  natürlich  nur  relativ  sein  kann  —  ebensogut  als  Auf- 
fälligkeitsherabsetzung der  übrigen  Inferiora  verstanden  werden  kann. 
Übrigens  wäre  eine  tatsächliche  Herabsetzung  der  Auffälligkeit  durch 
willkürliche  Vorgänge  eine  mögliche,  wenn  auch  erst  empirisch  nach- 
zuweisende Sache.  Im  ersten  Fall  wäre  es  also  ein  fiktiver,  im  zweiten 
ein  tatsächlicher  Vorgang,  welcher  als  Abstraktion  in  Anspruch  ge- 
nommen werden  müßte,  und  dessen  scheinbares  oder  tatsächliches  Re- 
sultat die  Herabsetzung  von  Auffälligkeiten  wäre.  Da  der  erste  Fall 
nur  bei  Produktion  denkbar  ist,  der  zweite  voraussichtlich  nur  bei 
Produktion  tatsächlich  auftreten  dürfte,  erscheint  auch  die  Abstrak- 
tion als  eine  andere  Seite  der  Produktionsvorgänge. 


IX. 
über  absolute  Auffälligkeit  der  Farben. 

Von 
Dr.  KuDOLF  Ameseder. 

Inhalt. 

Seite 

1.  Zur  Fragestellung 509 

2.  Das  Versuchs  verfahren 512 

3.  Die  Versuchsdaten 515 

4.  Ergebnisse 525 


1.   Zur  Fragestellung-. 

Unter  Umständen  nehmen  Objekte  die  Aufmerksamkeit  eines 
Subjektes  in  Anspruch,  ohne  daß  das  Subjekt  denselben  seine  Be- 
achtung- absichtlich  zuwendete;  oft  geschieht  dies  sogar  gegen  den 
Willen  des  Subjektes.  Ein  helles  Licht  im  Dunkeln,  ein  un- 
gewöhnter Vorgang,  ein  bekanntes  Angesicht  unter  lauter  Un- 
bekannten fällt  uns  auf.  Es  gibt  etwas  an  diesen  Gegenständen, 
wodurch  sie  sich  von  ihrer  Umgebung  unterscheiden,  indem  ge- 
wisse psychische  Reaktionsweisen  durch  diese  Gegenstände  be- 
sonders leicht,  dauerhaft  und  lebendig  ausgelöst  werden.  Da  man 
gewöhnlich  das  Verhalten  dieser  Gegenstände  als  „auffallen" 
bezeichnet  ist  natürlich  die  Auffälligkeit  jene  Eigenschaft  der 
Gegenstände,  derzufolge  sie  auffallen. 

Fällt  ein  Gegenstand  vor  anderen  auf,  so  sagt  man  dem  her- 


^1 A  Rudolf  Ameseder. 

köminliclieii  Sprachgebrauch  gemäß  allerdings  von  den  anderen,  daß 
sie  nicht  ant'iallen,  und  die  Auffälligkeit  wäre  dann  dasjenige,  dessent- 
wegen jener  erste  Gegenstand  gegenüber  den  übrigen  in  Vorzugs- 
stellung ist,  also  etwas,  was  letzteren  abgeht.  Die  Eigenschaft, 
derzufolge  er  auffällt,  hat  der  betreuende  Gegenstand  aber  auch, 
wenn  es  aus  irgend  welchen  äußeren  Gründen  tatsächlich  nicht  zum 
Auffallen  kommt;  auch  das  Nichtauffallende  hat  Auffälligkeit,  aber 
sie  tritt  andern  Auffälligkeiten  gegenüber  zurück.  Dies  ergibt  sich 
einerseits  aus  der  Tatsache,  daß  derselbe  Gegenstand  unter  Um- 
ständen auffallen  kann,  unter  anderen  nicht,  z.  B.  schwarze  Druck- 
schrift auf  weißem  bzw.  schw^arzem  Papier.  Andererseits  zeigt  sich, 
daß  es  Grade  der  Auffälligkeit  gibt;  so  ist  schwarz  auf  weißem 
Grund  auffälliger  als  dunkelgrau,  dieses  wieder  auffälliger  als  hell- 
grau in  derselben  Umgebung.  Es  liegt  nahe  zu  vermuten,  daß  der- 
jenige von  mehreren  Gegenständen  auffällt,  welcher  die  größte  Auf- 
fälligkeit hat,  —  und  nicht  schlechtweg  einer,  welcher  Auffällig- 
keit hat,  während  sie  den  anderen  abgeht.  Die  Auffälligkeit  ist 
also  nicht  nur  eine  Eigenschaft  des  Auffallenden,  sondern  zugleich 
alles  dessen,  was  zu  seiner  Umgebung  gehört.  Sie  ist  aber  nicht 
eine  Eigenschaft  wie  Farbe  oder  Temperatur,  sondern  wie  Wert 
oder  Schönheit.  Bei  ersteren  ist  der  Gedanke  an  eine  Existenz 
der  Eigenschaft  diskutierbar,  letztere  sind  aber  offenbar  nur  die 
Eignung  des  Gegenstandes  in  gewissen  Subjekten  bestimmte  — 
hier  emotionale  —  Verhaltungsweisen  auszulösen. 

Es  entspricht  also  der  Auffälligkeit  des  Gegenstandes  eine 
Eigenschaft  der  zugehörigen  Vorstellung,  derzufolge  der  Gegen- 
stand auffällt.  Natürlich  ist  die  Vorstellung  nicht  selbst  wieder 
auffällig;  aber  es  wäre  wohl  sinngemäß  für  diese  Eigenschaft  der 
Vorstellung  das  Wort  Aufdringlichkeit  zu  verwenden.  Ihr- 
zufolge  treten  nämlich  die  Vorstellungen  in  den  Vordergrund  des 
Bewußtseins  und  beharren  in  demselben. 

Aus  dem  Umstände,  daß  die  Größe  der  Auffälligkeit  eines 
Gegenstandes  nach  Maßgabe  seiner  Umgebung  variabel  ist,  könnte 
sich  ergeben,  daß  die  Auffälligkeit  den  Gegenständen  überhaupt 
nur  in  Hinblick  auf  ihre  Umgebung  zukommen  kann,  mithin  ledig- 
lich relativ  sei.  Das  Vorhandensein  einer  derartigen  relativen 
Auffälligkeit  ist  in  der  Tat  durch  verschiedene  Erfahrungen  verbürgt. 
So  zeigt  sich,  daß  bei  Ausgedehntem  die  Größe  dieser  Ausdehnung 


über  absolute  Auffälligkeit  der  Farben.  511 

für  die  Auffälligkeit  von  Belang  ist.  aber  nnr  soweit,  als  dadurch 
das  Verhältnis  zur  Umgebung  geändert  wird.  Ändert  wenigstens 
jener  Teil  derselben,  welcher  mit  dem  in  Rede  stehenden  Objekt 
zunächst  erfaßt  wird,  seine  Ausdehnung  gleichzeitig  und  propor- 
tional, so  bleibt  die  Auffälligkeit  die  gleiche;  z.  B.  ändert  sich 
normalerweise  nichts  an  den  Auffälligkeitsverhältnissen  eines 
Bildes  bei  korrekter  Vergrößerung  oder  Verkleinerung.  Bleiben 
die  Größenverhältnisse  gleich  und  die  Helligkeiten  ändern  sich  im 
selben  Verhältnis,  so  ist  dies  wieder  für  die  Auffälligkeit  belang- 
los. Der  Auffälligkeitsvorzug  eines  Gegenstandes  vor  einem  anderen 
hängt  wenigstens  zum  Teil  von  einer  Relation  zu  diesem  Gegen- 
stande ab,  ändert  sich  mit  derselben  und  bleibt  gleich,  wenn  die 
Relation  gleich  bleibt,  trotz  Veränderung  der  Inferiora  innerhalb 
der  Grenzen  des  anschaulich  Erfaßbaren.  Sehr  wahrscheinlich  er- 
scheint es,  daß  diese  maßgebende  Relation  die  Verschiedenheit  ist; 
jedoch  wäre  der  Nachweis  hierfür  erst  empirisch  auf  Grund  quanti- 
tativer Bestimmungen  zu  führen,  was  bisher  nicht  geschehen  ist, 
auch  in   der  gegenwärtigen  Untersuchung   nicht  geschehen   kann. 

Sind  nun  aber  zwei  anschaulich  erfaßbare  Qualitäten  a  und  b  ge- 
geben, wobei  zunächst  b  die  Umgebung  von  a,  dann  a  die  Umgebung 
von  b  bildet,  so  daß  sämtliche  umkehrbaren  Verhältnisse  im  zweiten 
FaU  umgekehrt  sind,  so  kann  zwischen  beiden  Fällen  eine  Ver- 
schiedenheit hinsichtlich  der  relativen  Auffälligkeit  nicht  vor- 
liegen. Ist  trotzdem  a  im  ersten  Fall  auffälliger  als  b  im 
zweiten,  so  hat  die  Qualität  a  ihrer  Natur  nach  und  nicht  bloß 
vermöge  der  Begleitumstände,  größere  Auffälligkeit  als  b,  —  eine 
Auffälligkeit,  die  sowohl  als  Steigerung  wie  als  Herabsetzung  der 
relativen  Auffälligkeit  zur  Geltung  kommen  kann,  die  nur  an  der 
bestimmten  Qualität  haftet  und  darum  als  a  b  s  o  1  u  t  e  A  u  ff  ä  1 1  i  g  - 
keit  bezeichnet  werden  muß. 

Im  Nachfolgenden  soU  der  Nachweis  geführt  werden,  daß  es 
solche  absolute  Auffälligkeit  gibt,  und  gleichzeitig  der  Versuch 
einer  —  wenn  auch  noch  so  vorläufigen  quantitativen  Bestimmung 
derselben  gemacht  werden.  Da  wenigstens  alles,  was  in  an- 
schaulicher Vorstellung  erfaßbar  ist,  Auffälligkeit  hat,  war  Be- 
schränkung auf  ein  spezielles  Gebiet  notwendig.  Besonders  ge- 
eignet erschienen  für  einen  ersten  Versuch  die  Gegenstände  der 
Gesichtsempfindungen,  zumal  die  Farben.     Einige  landläufige  Er- 


512  Rudolf  Ameseder. 

fahriiiijg-eu  sprechen  gerade  hier  für  deutliche  Verschiedenheit  hin- 
sichtlich des  fraglichen  Verhaltens. 

So  bestimmt  sich  also  die  Aufgabe  der  nachfolgenden  Arbeit 
als  Untersuchung  der  absoluten  Auffälligkeit  der  Farben.  Dabei 
wurden  einige  naheliegende  nicht  auf  die  Farben  bezügliche  Er- 
gebnisse, auch  solche,  welche  die  relative  Auffälligkeit  treffen, 
erhalten,  und  sollen  im  folgenden  nebenbei  mitgeteilt  werden. 

2.  Das  Versuchsverfahren. 

Bezeichnet  man  die  gegenseitige  Beeinflussung  mehrerer  gleich- 
zeitig wahrgenommener  Objekte  hinsiclitlich  der  Auffälligkeit  als 
Auffälligkeitskonkurrenz,  die  in  Konkurrenz  stehenden 
Obj ekte  als  konkurrierende,  so  lassen  sich  je  nach  der  Menge 
der  konkurrierenden  Objekte  verschiedene  Konkurrenzfälle  unter- 
scheiden. Sind  alle  Umstände,  welche  irgend  einem  von  mehreren 
Objekten  einen  relativen  Auffälligkeits Vorzug  garantieren  könnten, 
ausgeschaltet,  so  weisen  diese  Objekte  noch  immer  Auffälligkeits- 
konkurrenz auf,  aber  nur  hinsichtlich  der  absoluten  Auffälligkeit. 
Solche  Umstände  herzustellen,  war  die  Aufgabe  des  gegenwärtigen 
Versuchsverfahrens. 

Der  einfachste  Konkurrenzfall  liegt  jedenfalls  dort  vor,  wo 
nur  zwei  Objekte  in  Konkurrenz  treten;  dies  wäre  z.  B.  scheinbar 
bei  zwei  gefärbten  Flächen  der  Fall,  von  denen  eine  einen  be- 
stimmten Teil,  die  andere  den  Rest  des  Gesichtsfeldes  ausfüllt. 
Aber  obwohl  hier  die  Zahl  der  konkurrierenden  Farben  bloß  zwei 
ist,  wirken  andere  Umstände  mit,  welche  unter  die  konkurrieren- 
den gezählt  werden  müssen.  Dazu  können  die  durch  die  gegen- 
seitige Abgrenzung  bedingten  Gestalten  sowie  die  Ausdehnungen 
der  Farbeuflächen ,  auch  wohl  ihrer  Lage  im  Gesichtsfeld  ge- 
hören. Wählt  man  die  Ausdehnung  der  Farbenflächen  gleich,  die 
Abgrenzung  derartig,  daß  jede  Farbenfläche  eine  Hälfte  des  Ge- 
sichtsfeldes einnimmt  und  die  Grenzlinie  eine  Gerade  ist,  so  wird 
dadurch  zwar  ein  Teil  der  konkurrienden  Umstände  ausgeschaltet ; 
hingegen  bilden  die  beiden  Felder  noch  immer  eine  nicht  als 
belanglos  anzusehende  Gestalt,  indem  das  eine  von  ihnen  oben,  das 
andere  unten  oder  das  eine  links,  das  andere  rechts  gelegen  ist,  — 
Umstände,  welche  jedenfalls  vor  ihrer  Untersuchung  nicht  als  ein- 


über  absolute  Auffälligkeit  der  Farben.  -513 

fliißlüs  betrachtet  werden  düifeu.  Zudem  ist  der  Konflikt  zweier 
solcher  Farbenflächen  keineswegs  deutlich,  da  jede  der  beiden  ge- 
nügend große  Auffälligkeit  besitzt,  um  neben  der  anderen  zur 
Geltung  zu  kommen. 

Teilt  man  jedoch  das  Gesichtsfeld  von  seiner  Mitte  aus  in 
eine  größere  Anzahl  gleicher  Sektoren,  so  bleiben  nicht  nur  die 
bisher  gewonnenen  Vorteile  gewahrt,  sondern  es  wird  die  Ent- 
scheidung über  das  Vorherrschen  des  Auffälligem  bedeutend  leichter, 
und  obendrein  die  Möglichkeit  geboten,  durch  entsprechende  Ver- 
teilung beider  Farben  auf  die  Sektoren  den  Einfluß  von  oben 
und  unten,  rechts  und  links  fast  vollständig  aufzuheben,  —  wenig- 
stens soweit,  daß  er  für  die  Versuchsperson  nahezu  unmerkbar 
bleibt  und  keine  Befangenheit  des  Urteils  zur  Folge  hat. 

Aus  äußeren  Gründen  ergibt  sich  nun  die  Notwendigkeit,  von 
der  Ausfüllung  des  ganzen  Gesichtsfeldes  durch  die  konkurrieren- 
den Farben  abzusehen.  Natürlich  muß  dann  der  übrige  Hinter- 
grund für  das  Erfassen  der  Farbenscheiben  so  belanglos  als  mög- 
lich gemacht  werden,  was  teils  dadurch  geschehen  kann,  daß  er 
ein  annähernd  mittleres  Grau  aufweist,  teils  dadurch,  daß  er 
von  den  Versuchsscheiben  räumlich  absteht. 

Die  Vorrichtung,  von  welcher  bei  den  Versuchen  ausgegangen 
wurde,  bestand  im  Hinblick  darauf  aus  einer  kreisförmigen  Scheibe 
(vgl.  die  Figur  auf  S.  514)  von  196  mm  Durchmesser,  welche  aus 
8  gleichen  Sektoren  von  je  45°  bestand,  von  denen  stets  einer 
von  der  einen  Konkurrenzfarbe  zwischen  zweien  der  anderen  Farbe 
zu  stehen  kam.  Als  Unterlage  diente  ein  reguläres  Achteck  aus 
grauem  Karton,  dessen  größte  Diagonalen  280  mm  maßen.  Der 
übrige  Hintergrund  wurde  durch  die  gleichfalls  graue  Wand  des 
Laboratoriums  gegeben.  Die  vier  Sektoren  der  einen  Farbe  bildeten 
somit  ein  aufrechtstehendes  Kreuz,  die  der  anderen  ein  liegendes. 
Stellte  man  den  Karton  auf  die  benachbarte  Achteckseite,  so  wurde 
dadurch  das  liegende  Farbenkreuz  zum  aufrechten  und  umgekehrt. 
Durch  diesen  Wechsel  war  es  nicht  nur  möglich,  den  Einfluß  der 
Lage  auf  das  Ergebnis  zu  kompensieren,  sondern  auch  quantitativ 
zu  bestimmen. 

Wäre  die  AuffäUigkeitskonkurrenz  verschiedener  Farben  nur 
mit  Scheiben  der  eben  beschriebenen  Art  untersucht  worden,  so 
wäre  es  leicht  möglich  gewesen,   daß  die  Ergebnisse  der  vorher- 

Mein  ong,  Untersuch luigen.  *^" 


514 


Rudolf  Amesedbk. 


gehenden  Versuche  die  der  nachfolgenden  vermög:e  der  Gleich- 
förmijBfkeit  der  verwendeten  Gestalten  beeinflußt  hätten.  Auch 
zeig-t  sich,  daß,  von  ganz  klein-  bzw.  großwinkligen  Sektoren  ab- 
gesehen,  das  Urteil  gerade  bei  gleichen  Sektoren   ("45")  unsicher 

wird.  Die  Versuche  TV'urden  da- 
her mit  Scheiben  vorgenommen, 
deren  Sektoren  in  Abständen  von 
je  fünf  Graden  von  20''  bis  70° 
größer  wui-den.  Natürlich  wiesen  die 
Sektoren  der  einen  Farbe  den  Kom- 
plementäi^winkel  der  andersfarbigen 
Sektoren  auf.  Dadurch  wurden  die 
Versuche  wechselvoller,  und  es  gelang 
durch  ein  einfaches  Rechenverfahren 
den  Einfluß  der  Winkelgröße  der 
Sektoren  auf  die  Konkurrenz  zu  be- 
stimmen und  das  Resultat  der  Farbenkonkurrenz  von  diesem  Ein- 
fluß annähernd  frei  darzustellen. 

Vier  Farben  kamen  zur  Verwendung:  Rot,  Gelb,  Grün,  Blau. 
Dabei  war  die  Helligkeitsverschiedenheit  zwischen  Rot,  Grün  und 
Blau  untermerklich;  hingegen  war  Gelb  merklicli  heller  als  die 
anderen  Farben,  was  in  Anbetracht  der  für  die  Herstellung  der 
Scheiben  zu  verwendenden  käuflichen  Papiere  nicht  leicht  zu  ver- 
meiden war.^) 

Die  Versuchsscheiben  wurden  der  Versuchsperson  bei  gutem 
Tageslicht  in  konstanter  Entfernung  vorgezeigt.  Ihre  Aufgabe 
bestand  nur  darin,  anzugeben,  welche  von  beiden  Farben  sich 
zuerst  ihrer  Beachtung  aufdrängte.  Die  Exposition  war  kurz. 
ca.  Va  Sekunde,  da  bei  längerer  Exposition  das  Ihteil  nicht  nur 
an  Sicherheit  einbüßt,  sondern  leicht  auf  etwas  völlig  anderes  ge- 
richtet ist.  Bei  ganz  kurzer  Einwirkung  nämlich  steht  eine 
Farbe  deutlich  im  Vordergrund  der  Aufmerksamkeit,  während  die 
zweite  kaum  Beachtung  erlangt ;  bei  längerer  kehrt  sich  das  Ver- 
hältnis häufig  plötzlich  um,  es  entsteht  ein  Schwanken,  welches 
der  Versuchsperson   die  Sicherheit  des  Urteils  nimmt.     "Wird  ein 


*)  Trotz  seiner  größeren  Helligkeit  erweist  sich  das  Gelb  als  am  wenigsten 
auffallend.    Vgl.  S.  524  Tab.  IV. 


über  absolute  Auffälligkeit  der  Farben.  515 

solches  dann  doch  abgegeben,  so  ist  es  zumeist  auf  ein  Vergleichen 
gegründet,  u.  zw.  nicht  der  Auffälligkeiten,  welche  den  Farben 
ja  nicht  anzusehen  sind,  sondern  der  Sättigungen.  Helligkeiten 
u.  dgl.  mehr.  Auch  mußte  die  Aufeinanderfolge  der  Versuche  eine 
ziemlich  rasche  sein  und  derart  geordnet,  daß  niemals  dieselbe 
Farbenzusammenstellung  zweimal  nacheinander  kam. 

Da  die  Urteile  mehrerer  Versuchspersonen  bei  gleicher  objek- 
tiver Sachlage  häufig  nicht  übereinstimmten,  war  es  nötig,  eine 
größere  Menge  von  Reagenten  beizuziehen  und  ihre  Aussagen 
statistisch  zu  verwerten.  Dies  ermöglichte  auch  die  quantitative 
Bestimmung  der  Auffälligkeitsverliältnisse ,  da  die  Auffälligkeit 
eines  Gegenstandes  jedenfalls  als  um  so  größer  zu  bezeichnen  ist, 
je  mehr  von  einer  gegebenen  Anzahl  von  Personen  genötigt  sind, 
in  entsprechender  Weise  auf  denselben  zu  reagieren. 

Das  Ergebnis  jedes  Versuches  wurde  in  vorher  vereinbarter 
Weise  von  der  Versuchsperson  selbst  kurz  registriert.  Jede  Scheibe 
ergab  je  nach  der  Aufstellung  zwei  Ansichten,  deren  jede  von 
allen  Versuchspersonen  bis  auf  eine,  welche  die  Serie  zweimal 
durchmachte,  nur  einmal  beurteilt  wurde. 

Im  ganzen  nahmen  40  Personen  an  den  Versuchen  teil.  Da 
eine  davon  264,  alle  übrigen  je  132  Urteile  abgaben,  besteht  das 
Induktionsmaterial  dieser  Versuche  aus  5412  Urteilen. 

3.   Die  Versuchsdaten. 

Stehen  zwei  Farben  in  Auffälligkeitskonkurrenz,  so  ist  die 
Wirkung  der  auffälligeren  nicht  nur  eine  stärkere  für  jede  Versuchs- 
person, sondern  sie  wird  auch  von  melneren  unter  den  gegebenen 
Versuchspersonen  mit  Bestimmtheit  verzeichnet  werden  können; 
die  Zahl  der  bestimmt  reagierenden  Versuchspersonen  ist  somit 
eine  Funktion  der  Auffälligkeit  und  kann  zu  deren  Bestimmung 
verwendet  werden.  Sie  sei  als  Reakt  Ions  zahl  bezeichnet  und 
entweder  durch  die  Anzahl  der  bez.  Versuchspersonen  oder  in 
Prozenten  ausgedrückt.  Neben  den  sichern  Urteilen  kommen  noch 
die  suspendierten  in  zweierlei  Weise  in  Betracht:  Als  Maß  der 
Unsicherheit  und  als  Urteilsfälle,  welche  für  beide  konkurrierenden 
Farben   in   gleicher  Weise  sprechen   und  demgemäß  für  beide  mit 

dem  Wert  0,5  in  Rechnung  gebracht  werden. 

33* 


516 


RüooLF  Ameseder. 


a)  Die  Unsicherheit.  Die  Gesamtzahl  der  verlangten  Urteile 
war  5412,  davon  wurden  266  suspendiert;  die  Unsicherheit  beträgt 
somit  rund  ö**/o. 

Tabelle  L 


K 

Hälfte 

Typus 

20'>:70"|250:65oi300:600|35<':55'>| 

400:50'>i45«:450| 

Summe 

1 
2 

I 
II 

A 

0,66      0,33       1,0 
1,66      0,66       2,0 

1.33 
4,33 

1,66 
6,33 

4 
4 

3,030/0 

3 
4 

I 
II 

B 

5,72 
9,37 

6,25      7,29 
5,72      6,25 

10,41 
10,93 

11,46 
13,02 

14,58 
14,58 

8,80% 
9,56% 

5 
6 

I  +  II 

A 
B 

1,17 
7,55 

0,5 
5,98 

1,5 
6,77 

2,83  \    4,0 
10,67  ,12,24 

4,0 
14.58 

2,15% 
9,18% 

7 
8 

I 
II 

A  +  B 

1,90 
3,36 

1,90 
1,90 

2,48 
2,63 

3,51 
4,97 

3,94 
6,43 

5,85 
5,85 

4,210/0 
5,58% 

9 

i+'n 

A  +  B 

2,63 

1,90 

2,56 

4,24 

5,18 

5,85 

4,89% 

In  beistehender  Tabelle  I  sind  unter  Iv  die  Horizontalkolumnen 
nummeriert.  K  9  gibt  das  Mittel  aller  Versuche  in  Prozenten. 
Dabei  zeigt  sich,  daß  die  Unsicherheit  bei  gleichen  Winkeln 
(45" :  45"),  wie  auch  zu  erwarten  war,  am  größten  ist,  am  kleinsten 
etwa  beim  Verhältnis  25" :  65",  bei  ganz  kleineu  bzw.  großen 
Winkeln  jedoch  wieder  zunimmt. 

Da  die  Versuche  in  zwei  durch  eine  kurze  Pause  getrennten 
Gruppen  vorgenommen  wurden,  welche  völlig  gleich  schwierige 
Aufgaben  stellten,  läßt  sich  an  den  Maßzahlen  der  Unsicherheit 
jeder  Hälfte  der  Einfluß  der  Wiederholung  der  Versuche  fest- 
stellen. Dieser  ist  aus  K  7  und  8  zu  entnehmen ;  im  ganzen  nimmt 
die  Unsicherheit  um  mehr  als  1  Prozent  zu.  Es  liegt  also  ent- 
schieden eine  durch  I  herbeigeführte  Ermüdung  vor.  Schon  an 
dieser  Stelle  lassen  sich  zwei  Typen  unter  den  verwendeten  Ver- 
suchspersonen unterscheiden,  die  noch  weiterhin  von  Bedeutung 
sein  werden.  Dem  einen  Tj^pus,  er  heiße  A,  gehören  25  Personen 
an,  7  Herren  und  18  Damen.  Er  zeichnet  sich  durch  relativ  große 
Sicherheit  aus,  da  nur  ca.  2"/^  der  Urteile  suspendiert  wurden; 
der  Typus  B  hingegen,  aus  11  Herren  und  4  Damen  (von  welchen 
eine  die  Serie  wiederholte)  bestehend,  bietet  nicht  nur  mehr  unsichere 
Urteile,  nämlich  9  "/,„  sondern  weist  auch  in  seinem  sonstigen  Ver- 
halten hinsichtlich  der  Auffälligkeiten  weitaus  weniger  Regelmäßig- 


über  absohlte  Auffälligkeit  der  Farben. 


517 


keit  auf  als  der  Typus  A.  Die  Unsicherheitskurven  von  A  und  B, 
welche  sich  aus  K  5  und  6  konstruieren  lassen,  verlaufen  ganz  ent- 
sprechend, nur  natürlich  für  B  in  beträchtlich  größerer  Höhe.  Hin- 
sichtlich der  Ermüdung  verhalten  sich  beide  Typen  ebenfalls  ver- 
schieden. Die  Unsicherheit  des  Typus  A  nimmt  von  I  zu  II  stark 
nämlich  von  1,2  :  3  zu,  —  die  des  Typus  B  hingegen  wenig,  näm- 
lich bloß  8,8:9,6;^)  A  ist  also  leistungsfähig,  aber  ermüdet  stark, 
B  ist  wenig  leistungsfähig  und  ermüdet  auch  wenig. ^) 

Tabelle  11.=^) 


Typus 

r:g 

1      g-gr 

gr:b 

b:r 

T-.gr 

g:b 

A 
B 

2,7 
6,1 

1,8 
6,1 

2,2 
19,8 

1,6 
9,1 

2,2 
10,2 

2,5 
5,8 

A  +  B 

4,0 

I       3,5 

8.9 

4,5 

5,3 

3,8 

In  Tabelle  II  sind  die  Abhängigkeitsbeziehungen  der  Unsicher- 
heit von  den  verwendeten  Farbenzusammenstellungen  registriert. 
Die  größte  Unsicherheit  zeigt  sich  dabei  im  allgemeinen  (Kolumne 
A  -f  B)  bei  gr :  b,  was  aber  vorzugsweise  darauf  zurückgeht ,  daß 
der  Typus  B  hier  seine  größte  Unsicherheit  (fast  20  7o)  aufweist. 
Der  Typus  A  hat  sein  Unsicherheitsmaximum  bei  r:g  (2,7  7o)j  es 
liegt  jedoch  wenig  über  seinem  Unsicherheitsdurchschnitt  (2,15  "/oX 

b)  Auffälligkeit,  Winkelgröße  und  Lage.  Zur  Bestimmung 
des  Einflusses  der  Winkelgröße  auf  die  Auffälligkeit  ist  es  nötig, 
den  gleichzeitig  vorhandenen  Einfluß  der  Farbe  zu  beseitigen. 
Dies  wäre  eventuell  durch  eine  gesonderte  Versuchsanordnung  mög- 
lich, aber  wie  es  scheint,  nicht  einwandfreier  als  durch  das  nach- 


^)  Da  die  Prozentzahlen  aus  H!5()  bzw.  1056  Urteilen  gewonnen  sind,  haben 
wohl  die  Zehntel,  nicht  aber  die  in  der  Tabelle  aus  rechnerischen  Gründen  an- 
geführten Hundertel  Gültigkeit. 

*)  Man  könnte  versucht  sein  zu  glauben,  daß  es  sich  hier  einfach  um  auf- 
merksame Versuchspersonen  bandelt;  aus  den  später  zu  erwähnenden  Verschieden- 
heiten beider  Gruppen  lätit  sich  aber  mit  Bestimmtheit  erkennen,  daü  es  sich 
um  mehr  als  bloLie  Aufmerksamkeitsverschiedenheiten  handeln  muß. 

')  Die  Zahlen  sind  durchwegs  Prozentzahlen  der  suspendierten  Urteile,  be- 
zogen auf  die  Anzahl  der  verlangten.  Dementsprechend  sind  die  in  der  mit 
A  +  B  bezeichneten  Hurizontalkolumue  stehenden  Werte  nicht  Summen  oder 
arithmetische  Mittel  der  darüberstehenden,  da  dem  Typus  B  weniger  Versuchs- 
personen angehören.  Hier,  wie  im  Folgenden,  ist  r  =  rot,  g  =  gelb,  gr  =  grün^ 
b  =  blau. 


518 


RCDOLK    AmESKDER. 


steheud  mitoreteilte  Verfahren,  welches  aus  den  gemachten  Ver- 
suchen ein  Mittel  bestimmt,  das  meines  Erachtens  von  dem  Einfluß 
der  Farbe  völlig  frei  ist.  Es  wäre  nämlich  vielleicht  möglich,  auf 
mittelgrauem  Grunde  die  Sektoren  durch  schwarze  oder  sonstwie 
gefärbte  Linien  zu  trennen.  Aber  die  Ergebnisse  stünden  dann 
unter  dem  Einfluß  jenes  mittleren  Grau  und  obendrein  der  anders- 
farbigen Trennungslinien.  Werden  dagegen  die  Gestalten  nur 
durch  verschiedenfarbige  und  aneiuandergrenzende  Flächen  ge- 
bildet, und  es  gelingt,  den  Anteil  der  Farben  aus  dem  Ergebnis 
zu  eliminieren,  dann  enthält  dieses  letztere  nur  mehr  die  Beziehung 
von  Winkelgröße  zur  Auffälligkeit,  ebenso  als  ob  die  Versuche  mit 
vollständig  färb-  und  konturlosen  Sektoren  ausgeführt  wären,  was 
natürlich  unmöglich  ist. 

Besteht  nun  eine  Versuchsscheibe  von  4  Sektoren  von  der 
Farbe  a,  welche  ein  aufrechtes  Kreuz  (+)  bilden  und  deren  jeder 
den  "Winkel  a  ausmacht,  sowie  4  anderen  von  der  Farbe  b,  dem 
Winkel  ß  (=  90*^  —  a)  und  der  Gestalt  eines  liegenden  Kreuzes  (X). 
so  werden  p  Versuchspersonen,  welche  n-mal  diese  Scheibe  zur 
Eeaktion  bekommen,^)  n.p  Urteile  abgeben  können,  davon  x  zu- 
gunsten des  einen  Sektors  a.  Die  Zahl  n.p  heiße  dabei  die  Zahl 
der  postulierten  Urteile,  x  hingegen  die  Reaktionszahl.  Dement- 
sprechend ist  —  jene  Zahl,  welche  angibt,  wieviel  von  einer  An- 
zahl postulierter  Urteile  einem  der  konkurrierenden  Sektoren  günstig 
sind,  oder  —  da  sie  meist  durch  Prozente  der  verlangten  Urteile 
ausgedrückt  wurde  —  die  Prozentzahl  der  Reaktion. 

Tritt  nun  jede  der  4  zur  Verwendung  gekommenen  Farben  an 
die  Stelle  des  Kreuzes  -f  und  ebenso  au  die  Stelle  des  X.  so  daß 
in  einer  gewissen  Anzahl  von  Versuchen  jede  Farbe  in  der  Stellung 
des  +,  mit  jeder  in  der  Stellung  des  X  kombiniert  war,  gleiche 
Farben  ausgenommen,  dann  sind  sämtliche  Farben  in  gleicher  Weise 
an  dem  Ergebnis  für  beiderlei  Sektoren  beteiligt,  und  dieses  ist 
somit  vom  Einfluß  der  Farbe  unabhängig.  Tabelle  III  enthält  in 
ihren  sämtlichen  Kolumnen  solche,  vom  Farbeneinfluß  befreite  Re- 
aktionszahlen. 


')  Nur  bei  einer  Versuchsperson  war  n  =  2,  bei  den  übrigen  =  1 ;  vgl.  diese 
Arbeit  S.  515. 


über  absolute  Auffälligkeit  der  Farben. 


519 


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520  RuDOiiF  Ameseder. 

Nun  sind  diese  Ergebnisse  aber  noch  mit  einem  Einfluß  be- 
haftet, nämlich  dem  der  Lage  des  Kreuzes  (als  -|-  oder  X) ;  u.  zw. 
enthält  K  9  sämtliche  Eeaktionszahlen  für  +,  K  18  für  x.  Man 
könnte  meinen,  daß  die  Mittelwerte  aus  beiden  Zahlenreihen  für 
Sektoren  beliebiger  Lage  ebenso  entsprechen  würden,  wie  Mittel- 
werte aus  einer  beliebig  größeren  Anzahl  von  Lagen  dies  leisten 
würden,  weil  es  eine  größere  Verschiedenheit  der  Lagen  des 
Kreuzes,  als  die  von  -|-  und  X  nicht  gibt.  Dies  wäre  jedoch 
unrichtig,  da  die  -[--Lage  —  wie  die  Versuche  zeigen  —  entschieden 
eine  Ausnahmestellung  einnimmt,  und  es  möglich  wäre ,  daß .  auch 
die  X-Lage  anderen  gegenüber  noch  eine  Vorzugsstellung  haben 
könnte,  zumal  ja  stets  beide  Kreuze  zugleich  ihre  Lage  ver- 
ändern. Dagegen  zeigt  sich,  daß  die  Reaktionszahlen  in  K  18 
durchwegs  um  einen  annähernd  konstanten  Betrag  kleiner 
sind  als  die  in  K  9,  so  daß  zwar  die  absoluten  Größen,  welche 
irgend  einer  SektorerJage  entsprechen  würden,  Tiicht  festzu- 
stellen sind,  jedenfalls  aber  von  ihnen  zu  erwarten  ist,  daß  sie  von 
den  Werten  der  +  oder  X-Lage  bloß  einen  konstanten  Unter- 
schied aufweisen. 

Bei  derartiger  Verwertung  der  Resultate  ergibt  sich  die  Ab- 
hängigkeit der  Reaktionszahlen  von  der  Winkelgröße,  wie  sie  in  Tab. 
III,  K  21  verzeichnet  ist.  Eine  solche  Reaktionszahl  ist  nun  frei- 
lich noch  kein  Maß  der  Auffälligkeit.  Hat  nämlich  ein  Objekt  die 
gleiche  Auffälligkeit  wie  sein  Konkurrenzobjekt,  so  beträgt  die 
Reaktionszahl  in  Prozenten  stets  50,  wie  groß  auch  die  AuffäUig- 
keiten  beider  Objekte  sonst  sein  mögen;  und  erst  dann,  wenn  die 
Auffälligkeit  eines  Objektes  gegenüber  dem  Konkurrenzobjekte  un- 
endlich groß  wäre,  könnte  die  Prozentzalil  100  bei  genügend 
großer  Zahl  der  postulierten  Urteile  mit  Sicherheit  zu  erwarten 
sein.  Dagegen  ist  die  Auffälligkeit  wohl  bei  Festsetzung  einer 
Einheit  meßbar,  die  aber  eben  selbst  eine  Auffälligkeit  sein  muß. 
Wird  daher  die  Auffälligkeit  eines  Objektes,  z.  B.  eines  der  beiden 
Konkurrenzobjekte,  als  Einheit  genommen,  dann  gibt  der  Quotient 
der  Reaktionszahlen  das  Auffälligkeitsmaß  des  anderen  Objektes. 
Dementsprechend  verhalten  sich  die  Auffälligkeiten  zweier  Objekte 
welche  mit  demselben  Objekt  in  Konkurrenz  gestanden,  wie  ihre 
Reaktionszahlen.  Die  Reaktionszahlen  in  Tabelle  III  geben  somit 
die  Verhältniszahlen  der  Auffälligkeiten. 


über  absolute  Auffälligkeit  der  Farben.  521 

Zunächst  ist  aus  K  21   zu  entnehmen,   daß   im   allgemeinen, 
also  bei  Annahme  eines  Durchschnittstypus,  die  Auffälligkeit  mit 
der  Winkelgröße  steigt,  und  zwar  in  einer  Weise,  die  der  leichteren 
Übersicht  halber  durch  folgende  Formel  illustriert  sei: 
R„  =  35  +  0.6  (a— 20«) 

Dabei  bedeutet  E  die  Reaktionszahl  in  Prozenten,  «  den  Sektoren- 
winkel, 35  und  0,6  sind  Konstante,  welche  empirisch  ermittelt 
wurden.^)  Aus  dem  Vergleich  von  K  9  und  K  18  ergibt  sich 
nun,  daß  die  -{--Lage  durchwegs  größere  Auffälligkeit  hat  als 
die  X-l^age;  dies  bedeutet  aber  nur  eine  Verschiedenheit  der 
Konstanten. 

Die  grundsätzliche  Verschiedenheit  der  beiden,  mit  A  und  B 
bezeichneten  Typen  kommt  in  ihrem  Verhalten  gegenüber  der 
Winkelgröße  zum  Ausdruck.  Dieses  ist  in  K  19  und  20  registriert, 
und  zwar  ohne  Unterscheidung  der  -j—  und  X-Lage.  Da  zeigt 
sich,  daß  der  Typus  A  bei  steigender  Winkelgröße  eine  steigende 
ßeaktionszahl  aufweist;  der  Typus  B  jedoch  reagiert  gerade  um- 
gekehrt: für  ihn  sind  die  Sektoren  um  so  auffälliger,  je  kleiner 
ihre  Winkel.  Bloß  zur  Veranschaulichung  sei  dieses  Verhalten 
durch  zwei  Formeln  ausgedrückt;  die  hier  festgestellten  Werte 
entsprechen  nur  den  untersuchten  40  Versuchspersonen  und  auch 
diesen,  bei  der  geringen  Anzahl  von  Versuchen,  welche  gemacht 
werden  konnten,  nur  ungefähr. 

Für  A  ist  K.  =  19  +  1,26  (a— 20«)^o, 

für  B  ist  R„  =  38+0,5  (70"-a)'7o. 

Keine  der  erwähnten  Formeln  kann  natürlich  für  Extrapolationen 

benutzt  werden,  sondern  jede  ist  auf  das  Gebiet  zwischen  20" 

und  70"  beschränkt. 

Auch  die  Wiederholung  der  Versuche,  welclie  in  der  Gegenüber- 
stellung der  Hälfte  I  und  II  zum  Ausdruck  kommt,  ist  auf  das  Resul- 
tat von  Einfluß.  Wie  aus  K  7,  8,  16  und  17  zu  entnehmen,  bewirkt 
das  fortgesetzte  Experimentieren  eine  Auffälligkeitssteigerung  für 
-f-  und  dementsprechend  eine  Herabsetzung  für  X-  Erstere  steigt 
im  aUgmeinen  ungefähr  im  Verhältnis  1:   1.15,  letztere  fällt  wie 


')  Da  für  alle  Umstände  die  Winkelauffälligkeit  von  Vo°  50%  betragen 
muß,  so  müssen  beide  Konstante  voneinander  abhängig  sein;  ändert  man  obige 
empirische  Formel  in  R«  =  —  50  (a— 1)  +  2a  («—20),  so  ist  dieser  Anforderung 
entsprechend  Rechnung  getragen.    Dabei  bedeutet  a  nunmehr  die  einzige  Konstaute. 


522  Rudolf  Amesedeb. 

1.2  :  1  (vg-l.  die  Zahlen  in  Tabelle  III  in  der  Spalte  ,. Summe"). 
Beide  Typen  verhalten  sich  auch  in  dieser  Hinsicht  ziemlich  ver- 
schieden; bei  A  steigt  die  Auffälligkeit  des  -j-  "^i^  1 :  l.l?  und 
entsprechend  fällt  die  des  X?  bei  B  fällt  im  großen  ganzen  die 
Auffälligkeit  des  -|-  (etwa  1.05 : 1)  und  die  des  X  steigt  ent- 
sprechend. 

c)  Auffälligkeit  der  Farben.  Bei  genügend  großen  Versuchs- 
zahlen, oder  auch  dann,  wenn  die  Ergebnisse  weniger  von  bisher 
nicht  zu  überschauenden  Umständen  abhängig  wären,  müßte  es 
möglich  sein,  für  jede  Farbenkombination  eine  Formel  zu  finden 
und  aus  den  Konstanten  der  Formeln  die  Auffälligkeiten  der  Farben 
zu  ermitteln.  Da  dies  aber  nicht  möglich  ist,  blieben  zwei  Aus- 
wege offen.  Der  erste  bestünde  in  folgendem.  Sind  beide  Sek- 
toren von  45  *^,  dann  ist  neben  den  Farben  nur  noch  die  Lage  von 
Einfluß  auf  die  Keaktionszahl ;  dieser  Einfluß  läßt  sich  aber  kompen- 
sieren, wenn  man  das  arithmetische  Mittel  aller  Versuche  in 
Rechnung  bringt.  Annähernd  gleichen  diese  Resultate  auch  den- 
jenigen,  welche   an  den  Schluß  dieser  Ausführungen  gesetzt  sind; 

da  sie  aber  nur  aus  — r  der  gemachten  Versuche  gewonnen  wären,  ^) 

könnte  ihr  Wert  auch  nur  ein  sehr  geringer  sein. 

Dagegen  lassen  sich  leicht  sämtliche  Versuche  in  Rechnung 
ziehen,  wenn  folgende  Erwägung  zugrunde  gelegt  wird.  Der  Anteil 
der  Wiukelgröße  an  der  Reaktionszahl  ist  durch  die  Formel  auf 
S.  521  zu  bestimmen.  Die  Reaktionszahl  R  ist  eine  Funktion  der 
Winkelauffälligkeits-Reaktionszahl  und  der  FarbenauffäUigkeits- 
Reaktionszahl.  Um  letztere  isoliert  zu  bestimmen,  sei  einstweilen 
vorausgesetzt,  daß  diese  Funktion  das  Produkt  sei.'')  Dann  ist, 
wenn  unter  R«f  (bzw.  R<,f.)  die  Reaktionszahl  auf  die  Auffälligkeit 
des  Sektors  mit  dem  Winkel  a  und  der  Farbe  f  (bzw.  f),  unter 
Ra  die  Reaktionszahl  auf  die  Auffälligkeit  des  Winkels  a.  und 
unter  Rf  (bzw.  Rf)  die  Reaktionszahl  auf  die  Auffälligkeit  der 
Farbe  f  (bzw.  f)  verstanden  wird, 


*)  Da  die  Scheiben  mit  den  Sektoren  von  45*^  nur  eine  der  11  hinsichtlich 
der  Winkel  verschiedenen  Kombinationen  darstellten. 

-)  R  ist  umso  größer,  je  größer  die  Auffälligkeit  des  Winkels  und  die  der 
Farbe  ist ;  somit  ist  das  Produkt  der  beiden  letzteren  die  einfachste  in  Betracht 
kommende  Funktion. 


über  absolute  Auffälligkeit  der  Farben.  523 

R  f 

R«  f  =  R„ .  Rf  und  dem  g-emäß  Rf  =  ^^ 

Nun  sind  durch  die  Versuche  R^oof,  R2:,«f, R7ü«f 

sowie  R7oof,  Rcöof Riuof  gegeben. 

Daraus  läßt  sich  Rf  und  Rf  bestimmen,  indem  man  die  gegebenen 
Reaktiouszahlen  durch  die  zugehörigen  R„  dividiert,  die  Quotienten 
addiert  und  das  Mittel  bestimmt: 


R200  f      . 
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R250t        1 
R25» 

Rroof 

R700 

R20»f        1         R^ö^f 

R.'o»            R250 

11 

+ 

R70<>f 

R700 

und 


Rf  =-    -^'^ ^^ :^Z2L.      .     Alle  die  11  zur 

11 

Bestimmung  des  Mittels  verwendeten  Werte  dürfen  nun  allerdings 
nicht  allzu  erheblich  voneinander  abweichen,  da  Rf  sowie  Rf  natür- 
lich Konstante  sind.  Eine  gewisse  Tendenz  zur  Konstanz  ist  nun 
aucli  aus  den  vorliegenden  Versuchen  zu  erkennen,  sodaß  zu  ent- 
nehmen ist,  daß  die  Funktion  wirklich  das  Produkt  ist  oder  doch 
nicht  erheblich  von  ihm  abweicht;  auch  sind  die  Abweichungen 
solche,  daß  das  Mittel  dem  richtigen  Werte  nicht  aUzufern  stehen 
dürfte.  Sollte  aber  wirkliche  Konstanz  erreicht  werden,  dann 
müßten  die  Versuchszahlen  erheblich  größer  sein,  als  sie  tat- 
sächlich waren. 

Nun  läßt  dieses  Verfahren  aber  noch  eine  Vereinfachung  zu. 
Da  es  sich  nicht  letztlich  darum  handelt,  die  Reaktionszahl  für 
die  Farbe,  sondern  ihre  Auffälligkeit  zu  ermitteln,  diese  aber  nur, 
auf  eine  zweite  bezogen,  durch  das  Verhältnis  der  zwei  Reaktions- 
zahlen konkurierender  Farben  ausgedrückt  werden  kann,  muß  nicht 

Rf 
Rf  sondern    „    bestimmt  werden.    Das  ist  aber  in  folgender   ein- 
Kf 

fächeren  \\'eise  möglich: 

R«f    =  Ra  •  Rf 
R„f  =  Ra-Rf 

Rao'f  -f"  Raöof  -\~ R7o«f  =^  Rf  (R20»  -f-  R-ä*    I I     R70«) 

R20"f  -f-  Raö^f  -|- R7oof'  =  Rf  (R200  -|-  R25«  -j- -|-  Rto») 

p    RiOof  -j-  R25'>f  -|-  .    .    ■    .    -|-    R70<>f 

R200  -|-  Raö»  "i"  •  •  •  •  ~|~  Rvo« 


524 


Rudolf  Ameseder. 


R, 


Üi0o['  -\-  R25<'f'  -|- 


+  R 


70of 


Raoo  "j~  K250  ~j~ 

R^oof  -\-  R2äof  -r  • 
Rf  R200  ~r  R25»  ~\~  • 


Rf  Rjoof  ~T~  R25»f'  ~J~ 


4-  R 


7C0f' 


R200  ~T~  R250  -f"  . 
R200f  -|-  Rzöof  -|- 


-j-    R700f 


Raoof  -[-  Rasof  -j~  •  •  •  ■  H"  R7o<>f' 
Das  Verhältnis  zweier  Farbenanffällig-keiten  ist  somit  gleicli 
dem  Quotienten  aus  den  Summen  der  Reaktionszahlen  für  die 
entsprechenden  Farben  und  für  alle  WinkelgTößen.  Diese  Summen 
sind  bei  Scheidung  der  Typen  in  Tabelle  IV  angegeben.  Doch  emp- 
flehlt  es  sich,  noch  den  Einfluß  der  Lage  entweder  vermittelst 
Division  durch  die  entsprechenden  Faktoren  oder  einfacher  da- 
durch zu  kompensieren,  daß  man  aus  den  zusammengehörigen  Ver- 

^.  und  ^  bezeichneten)  den 
" e    in 


suchen  (wie   die   in  der  Tabelle  durch 

Mittelwert    nimmt.      Dann    erhält    man    durch    Division 
Tabelle  V  -enthaltenen  Auffälligkeitswerte  der  Farben. 


Tabelle  IV. 


+ 
x 

r    g 
g:   gr 

gr    b 

b    r 

r 

gr 

§■ 
b 

r 

gr  !  b    r    gr 
g   gr   b    r 

b 

g 

^i 

180,5  122 
94,5  {  153 

87,5  129,5  166,5 
187,5  145,5  108,5 

118,5 
156,5 

107 
168 

184  184,5  158 
91  90,5  117 

120,5 

154,5 

194.5 
80,5 

^t 

109,5 ;  88,5  91  ;  84,5  115 
66,5  87,5  85   91,5   61 

90 
86 

90 
86 

93   101 
83   75 

119 
57 

64,5  93 
111,5  83 

A+r.+ 

290  210,5 
161  240,5 

178,5  214 
272,5  2.37 

281,5 
169,5 

208,5 
242,5 

197 
254 

277  285.5 
174  165,5 

277 
174 

185 
266 

287,5 
163,5 

Aus  diesen  ist  vor  aUem  zu  entnehmen,  daß  Blau  und  Rot 
auffälliger  sind  als  Gelb  und  Grün.^)  Damit  ist  erwiesen,  daß  es 
absolute  Auffälligkeit  gibt.  Auch  hinsichtlich  dieser  abso- 
luten Farbenauffälligkeiten  verhalten  sich  die  beiden  Typen  ver- 
schieden. Die  Auffälligkeit  des  Blau  ist  für  den  A-Typus  vor- 
herrschender, für  B  jedoch  die   des  Rot.     Kommen  Rot  und  Blau 

*)  Vgl.  Übereiustimmeudes  bei  Benüssi,  Zeitschr.  f.  Psych,  u.  Phys.  Bd. 
XXIX,  S.  341  f.  (Versuch.sreihe  IV)  und  diese  Untersuchungen  Nr.  V,  §  9  und  20. 


über  absolute  AuffällisTkeit  der  Farben. 


525 


zur  Konkurrenz,   so   ist   für  beide  Typen   das  Rot  erheblich   auf- 
fälliger, wie  ebenfalls  aus  Tabelle  ^'  zu  entnehmen  ist. 

Tabelle  V. 


Farbe 

Auffälligkeit  derselben  für  Typus: 
A           1           B          1       A+B 

bezogen  auf: 

rot 
grün 
blau 

1,72                  1,24 
1,58                 1,05 
1,76                 1,03 

1,52 
1,39 
1,45 

gelb 

rot 
blau 

1,40 
2,07 

1,67 
1,20 

1,54 
1,62 

grün 

rot 

1,2;] 

1,48 

1,32 

blau 

Dabei  ist  noch  auf  folgende  Tatsache  hinzuweisen.  Blau  er- 
zielt in  Konkurrenz  mit  Grün  eine  höhere  Auffälligkeit  als  Rot 
mit  Grün  bei  Tj-pus  A;  daraus  ist  nicht  zu  schließen,  wie  sich 
Rot  und  Blau  verhalten  werden,  wenn  sie  miteinander  in  Kon- 
kurrenz treten.  Die  absolute  Auffälligkeit  der  Farben  kommt 
darin  zur  Geltung,  daß  z.  B.  Rot  in  Verhältnis  a  zu  Blau  im 
Verhältnis  b  eine  andere  Auffälligkeit  hat  als  Blau  im  Verhältnis 
a  zu  Rot  im  Verhältnis  b.  Dagegen  behält  das  Rot  seine  Auffällig- 
keit nicht  ein  für  allemal,  sodaß  die  Verschiedenheit  seiner  Auf- 
fälligkeit von  der  einer  andern  Farbe  aus  den  beiden  irgendwie 
gefundenen  Auffälligkeiten  zu  berechnen  wäre.  Die  Farbe  der 
Umgebung,  also  die  Konkurrenzfarbe  übt  auf  die  Auffälligkeit 
einen  Einfluß  aus,  steigert  sie  oder  setzt  sie  herab.  Dieser  Ein- 
fluß gehört  somit  in  das  Gebiet  der  relativen  Auffälligkeit;  er 
hängt  jedenfalls  ab  von  der  gegenseitigen  Lage  und  Entfernung  der 
Farben  im  Farbenkörper.  Neben  der  hier  durchgeführten  Frage- 
stellung nach  dem  Ausfall  einer  Auffälligkeitskonkurrenz  ergäbe 
sich  noch  die  weitere  nach  den  Auffälligkeitsverhältnissen  der 
Farben  bei  gegebenem  Hintergrund  (mittelbare  Konkurrenz).  Zu 
ihrer  näheren  Untersuchung  geben  die  vorliegenden  Versuche  noch 
nicht  die  geeigneten  Mittel  ab. 


4.    Ergebnisse. 

I.   P^s  gibt  absolute  Auffälligkeit  der  Farben;  u.  zw.  ist  die 
Auffälligkeit  bei  unmittelbarer  Konkurrenz  in   der  Reihe  r,  b,  gr, 


526  Rudolf  Ameseder,  ('ber  absolute  Auffälligkeit  der  Farben. 

g  fallend,  jedoch  wird  sie  stets  durch  die  Konkurrenzfarben  modi- 
fiziert. 

II.  Es  fanden  sich  zwei  Typen  von  Versuchspersonen,  von 
welchen  der  eine  Typus  (A)  mit  g-rößerer.  der  andere  (B)  mit  er- 
heblich geringerer  Sicherheit  reagierte.  Für  beide  Typen  variierten 
auch  die  absoluten  Auffälligkeiten,  u.  zw.  begünstigte  A  Blau  und 
B  Eot. 

III.  Die  Unsicherheit  nimmt  im  Laufe  der  Versuche  zu,  für 
A  aber  relativ  mehr  als  für  B.  Sie  ist  am  größten,  wo  die  Kon- 
kurrenzgegenstände am  ähnlichsten  sind,  wie  z.  B.  bei  Sektoren 
von  45".  Von  Farbenzusammenstellungen  ergibt  Grün  mit  Blau 
eine  erhebliche  Unsicherheit  für  Typus  B;  wohl  weil  das  Grün 
etwas  bläulich  gewesen  sein  dürfte,  obwohl  dies  nicht  merklich 
war,  und  weil  für  diesen  Typus  die  Auffälligkeit  des  Blau 
geringer  ist. 

IV.  Die  Winkelgröße  der  Sektoren  ist  für  die  Auffälligkeit 
mit  bestimmend.  Und  zwar  ist  die  Auffälligkeit  im  untersuchten 
Bereiche  für  Typus  A  um  so  größer,  je  größer  der  Winkel,  für  B 
je  kleiner  der  Winkel  ist. 

V.  Auch  die  Lagen  der  Sektoren  haben  eine  eigene  —  abso- 
lute —  Auffälligkeit;  die  -{--Lage  ist  für  beide  Typen  auffälliger, 
als  die  X-Lage;  im  Laufe  der  Versuche  steigt  für  A  die  Auf- 
fälligkeit des  +,  für  B  die  des  X- 


X. 

Gegen  eine  voluntaristische  Begründung 

der  Werttheorie. 

You 
Wilhelmine  Liel. 

Inhalt. 

Seite 

§  1.  Einleitendes 527 

§  2.   Allgemeines  über  „Gefallen"  nnd  Gefühl 529 

a)  "Werthalten  und  Wertohjekt 529 

b)  Sättigung  und  Intensität 531 

c)  Das  qualitative  Moment 543 

d)  Aktivität  und  Passivität 544 

§  3.   Zurückführungen  auf  das  „Gefallen" 657 

§  4.   „Gefallen"  und  Urteilsgefühl 564 

§  5.   „Gefallen"  und  Begehren 570 

§  6.   „Gefallen"  als  unableitbare  Tatsache 572 

§  7.   Terminologisches 573 

§  8.  Schlußbemerkimgen 576 


§  1.   Einleitendes. 

Versucht  man  es,  der  aus  Erfahrung  jedermann  geläufigen 
Tatsache  des  Wertes  näher  zu  kommen,  so  wird  man,  sofern  der 
Wert  etwas  Subjektives  ist  und  das  Verschiedenartigste  unter 
Umständen  zum  Wertobjekt  werden  kann,  vom  Wertsubjekt  aus- 
gehen müssen,  um  in  das  psychische  Verhalten  einen  Einblick  zu 
gewinnen,  das  gegeben  sein  muß,  damit  ein  Objekt  für  ein  Sub- 
jekt Wert  habe,  d.  h.  damit  dieses  es  werthalte. 


528  Wilhelmine  Liel. 

Dies  ist  l)is  jetzt  hauptsächlich  nach  zwei  Richtungen  ge- 
schehen. A'on  ]\Ieixong  wird  für  die  in  Rede  stehende  ps^^chische 
Reaktion  ein  Gefühl,  näher  ein  Urteilsgefühl  in  Anspruch  ge- 
nommen, derart  daß  ein  Wert  als  vorliegend  betrachtet  werden 
muß,  sobald  das  Wissen  um  die  Existenz  des  Gegenstandes  Lust, 
das  Wissen  um  dessen  Nichtexistenz  Unlust  bereitet.  \)  Dem  ist 
eine  zweite  Auffassung  entgegengetreten,  durch  welche  der  Wert 
in  letzter  Linie  auf  ein  Begehren  zurückgeführt  wird;  so  haupt- 
sächlich durch  C.  V.  Ehrenfels,  der  einem  Objekt  Wert  zuspricht, 
sofern  es  begehrt  wird,  oder  doch  begehrt  würde,  falls  man  von 
dessen  Existenz  nicht  überzeugt  wäre.  ^) 

Diesen  beiden  Positionen,  deren  Verschiedenheit  darauf  zurück- 
geht, daß  nach  der  einen  das  Gebiet  des  Fühlens,  nach  der  anderen 
das  des  Wollens  •^)  zur  Konstitution  des  Wertes  herangezogen  wird, 
ist  neuerlich  eine  dritte  von  H.  Schwarz*)  vertretene  hinzuge- 
kommen, die  mit  der  zweiten  das  gemeinsam  hat,  daß  sie  eben- 
falls den  Wert  durch  Wollungstatsachen  erklärt,  —  insoweit  aber 
von  ihr  abweicht,  als  sie  das  dem  Wertobjekte  entgegengebrachte 
psychische  Verhalten,  das  der  genannte  Autor  als  „Gefallen" 
bezeichnet,  gleichwohl  als  unableitbare,  weder  auf  Begehren  noch 
auf  Wollen  zurückführbare  Tatsache  charakterisiert. 

Von  den  drei  eben  erwähnten  Erklärungsversuchen  soll,  da 
der  zweite  eine  kritische  Würdigung  bereits  erfahren  hat,*^)  in  den 
folgenden  xAusführungen  nur  die  dritte  einer  näheren  Prüfung  unter- 
zogen werden.  Die  weitgehenden  Unterschiede,  die  Schwabz 
zwischen  „Gefallen"  und  Gefühl  anzutreffen  meint,  sowie  die  xAus- 
sicht,  durch  das  „Gefallen"  Erscheinungen  zu  erklären,  die  bisher 
unverstanden  oder  nur  unvollkommen  erklärt  geblieben  sind,  haben 
gelegentlich  der  Einführung  des  neuen  Gefallensbegritfes  zu  einer 


')  Psych.-eth.  Uuteisucliungen  zur  Werttheorie,  Graz  1894  und  „Über  Wert- 
haltung u.  Wert"  (Arch.  f.  syst.  Phil.  Bd.  1,  S.  327 ff). 

=)  System  der  Werttheorie,  I.  Bd.,  Leipzig  1897. 

'')  Welche.s  übrigens  zuletzt  ebenfalls  aus  dem  Gebiete  des  Fühlens  abgeleitet 
wird ,   sofern  Ehrenfels   das  Begehren   auf  Gefühl  und  Vorstellung  zurückführt. 

*)  Psychologie  des  Willens,  Lei})zig  1900 ;  —  Das  sittliche  Leben,  Berlin  1901 ;  — 
Glück  und  Sittlichkeit  —  Untersuchungen  über  Gefallen  und  Lust,  naturhaftes  und 
sittliches  Vorziehen  —  Halle  1902. 

•')  Vgl.  A.  Meinong,  Über  Annahmen,  Leipzig  1902,  Kap.  VIIL 


Gegfeu  eine  voluutaristische  Begründung  der  Werttheorie.  529 

ausführlichen  Behandlung  des  Gegensatzes  zwischen  „Gefallen"  und 
Gefühl  Anlaß  gegeben.  Es  wird  daher  vor  allem  untersucht  werden 
müssen,  ob  das  Bedürfnis  nach  einer  Erklärung  auf  Grund  einer 
neuen  letzten  psychischen  Tatsache  vorhanden  ist,  und  ob  die  Er- 
klärung in  der  vorliegenden  Form  den  Anforderungen,  die  an  eine 
solche  berechtigterweise  zu  stellen  sind,  auch  wirklich  entspricht.*) 

§  2.   Allgemeines  über  „Gefallen"  und  Gefühl. 

Die  Gründe,  welche  Schwarz  zur  Trennung  dessen,  was  er 
„Gefallen"  nennt,  vom  Gefühle  irgendwelcher  Art  veranlaßt  haben, 
sind  folgende :  -) 

a)  Durch  Identifizierung  des  Gefallens  mit  Gefühl  verwechsle 
man  das  Werthalten  mit  dem  Wertgehaltenen,  dem  ^^'ertobjekt. 

b)  Unter  dieser  Voraussetzung  müßte  man  Sättigungsver- 
schiedenheiten für  Stärkeunterschiede  nehmen,  indes  ,.Sättigung" 
nur  dem  „Gefallen",  Stärke  nur  dem  Gefühle  eigne. 

c)  Im  Gegensatze  zum  Gefühle,  das  verschiedener  Qualität 
sein  könne,  wäre  alles  „Gefallen"  qualitativ  von  gleicher  Art. 

d)  Gefallen  sei  ein  aktives,  Lust  hingegen  ein  passives  seelisches 
Erlebnis. 

Um  Klarheit  darüber  zu  erlangen,  ob  damit  erwiesen  ist, 
daß  „Gefallen"  und  Gefühl  nicht  miteinander  zu  verwechseln,  ja 
noch  mehr,  daß  sie  ihrem  Ursprünge  nach  etwas  wesentlich  von- 
einander Verschiedenes  seien,  sollen  die  eben  in  Kürze  angeführten 
Unterscheidungsmerkmale  einer  eingehenderen  Prüfung  unterzogen 
werden. 

a)  Werthalten  und  Wertobjekt. 

An  erster  Stelle  wird  dargetan,  daß  „Gefallen"  nicht  Lust 
sein  könne,  weil  jenes  das  Werthalten,  diese  das  Wertobjekt  sei. 

*)  Seine  Aufstelhingen  hat  Schwarz  in  dem  Buche  „Glück  und  Sittlichkeit" 
zusammengefaßt.  Da  diese  Untersuchungen  auch  die  Grundthesen  seiner  früheren 
Ausführungen  im  großen  ganzen  wiedergeben,  daher  im  allgemeinen  unabhängig 
von  jenen  betrachtet  werden  können,  so  soll  hauptsächlich  genannte  Schrift  den 
gegenwärtigen  Darlegungen  zugrunde  gelegt  und  nur  insoweit  auf  die  früheren 
Veröffentlichungen  desselben  Autors  hingewiesen  werden,  als  ein  eingehenderes 
Verständnis  und  genauere  Präzision  es  verlangen. 

^)  A.  a.  0.  S.  1—29. 
M  e  i  D  0  n  g ,  Untersuchungen.  •''* 


530  Wilhelmine  Liel. 

Denn  wäre  "Werthalten  Lust,  so  würde  sich  diese  auf  sich  selber 
richten ,  sie  müßte  sich  mithin  selber  werten  können,  was  augen- 
scheinlich eine  Unmöglichkeit  sei.  Man  hätte  hier  also  Werthalten 
und  Wertobjekt  nicht  voneinander  unterschieden,  eine  Verwechslung, 
die  um  so  bedeutungsvoller  werde,  als  nicht  einmal  alle  Wertob- 
jekte mit  dem  Ausdrucke  Lust  umspannt  würden,  wie  dies  die 
Objekte  Gesundheit,  Ehre,  Wahrheit  und  andere,  aut  die  unser 
Werthalten  ebenfalls  gerichtet  sein   könne ,  zur  Genüge  zeigten.  ^) 

Wäre  diese  Aufstellung  so  zu  verstehen ,  daß  sich  auf  jede 
Lust  ein  Werthalten  richten  müßte,  wie  man  aus  dem  Satze 
„alle  Lust  gefällt"  -)  entnehmen  könnte,  so  hätte  der  oben  berührte 
Einwand  seine  volle  Berechtigung.  Denn  hätte  alle  Lust  ein 
W^erthalten,  nach  dem  Vorhergesagten  also  wieder  eine  Lust  zur 
Folge,  so  müßte  diese  auf  die  erste  gerichtete  zweite  Lust  als 
solche  abermals  eine  dritte  auf  sich  lenken  usf.  Dies  wäre  in 
der  Tat  nicht  leicht  anzunehmen. 

Die  Sachlage  verändert  sich  jedoch,  sobald  man  bloß  die  Mög- 
lichkeit, daß  eine  Lust  wertgehalten  werden  könne,  ins  Auge 
faßt.  Eine  Schwierigkeit,  die  darin  bestünde,  daß  es  ja  neben 
Lust  noch  andere  Wertobjekte  wie  Ehre,  Wahrheit  usw.  gibt, 
scheint  hier  nicht  vorzuliegen ;  denn  wollte  jemand  wirklich  Wert- 
halten mit  Lust  schlechtweg  identifizieren,  so  ergibt  ihm  die  Be- 
obachtung gar  nichts  was  dagegen  spricht,  daß  eine  solche  Lust 
einmal  Ehre,  ein  andermal  Wahrheit,  wieder  einmal  Reichtum  und 
schließlich  auch  Lust  selbst  zum  Gegenstande  haben  könnte. 

Sollte  jedoch  die  Schwierigkeit  darin  gesucht  werden,  daß  hier 
ein  psychisches  Erlebnis  auf  ein  gleichartiges  gerichtet  wäre,  so 
ist  daran  zu  erinnern,  daß  es  Fälle  genug  gibt,  in  denen  dies 
zweifellos  geschieht.  So  gut  wie  beispielsweise  ein  Urteil  oder 
gar  ein  Begehren  auf  ein  anderes,  könnte  auch  mitunter  eine  Lust 
auf  eine  andere  gerichtet  sein.^) 

Es  besteht  also  sicher  ein  Unterschied  zwischen  Werthalten 
und  Wertgehaltenwerden;  das  hindert  aber  nicht,  daß  unter  Um- 
ständen eine  Werthaltung  eine  andere  zum  Objekte  hat.    Darum 


1)  A.  a.  0.  S.  5,  20  f. 
«)  A.  a.  0.  S.  49. 

")  Allerdings  nicht  auf  sich  selber,  wie  man  nach  dem  Satze  „denn  unmög- 
lich kann  sich  die  Lust  selber  werten"  annehmen  müßte  (vgl.  a.  a.  0.  S.  20). 


Gegen  eine  voluntaristische  Begründung  der  Werttheorie.  531 

bietet  dieser  Unterschied  auch  keinen  Anhaltspunkt,  im  „Gefallen" 
etwas  anderes  als  Lust  zu  sehen. 

b)  Sättigung  und  Intensität. 

Diese  Gegenüberstellung,  in  der  einer  der  maßgebendsten  Gründe 
zu  erblicken  ist.  die  Schwarz  zur  Unterscheidung  des  „Gefallens" 
vom  Gefühl  veranlaßt  haben,  führt  in  der  Hauptsache  zu  folgenden 
Ergebnissen:  Gefallen  weist  den  Gegensatz  von  „satt"  und  „un- 
satt" auf,  darf  daher  mit  Gefühl  nicht  „verselbigt"  werden,  welches 
einem  solchen  Wechsel  nicht  unterliegt,  dafür  aber  verschiedene 
Stärkegrade  aufweist.  Lust  kann  also  stärker  oder  schwächer  — 
die  Annehmlichkeit  eines  warmen  Bades  gegenüber  der  eines  lauen, 
das  Wohlbehagen  beim  Heraustreten  aus  dem  Dunkel  ins  Helle  — 
Gefallen  dagegen  nur  „satt"  oder  „unsatt"  sein.  Unsatt  wird  es 
genannt,  solange  es  seine  Befriedigung  nicht  erlangt  hat,  solange 
das  Objekt,  welches  gefällt  und  begehrt  wird,  nicht  realisiert  ist. 
In  dem  Augenblick,  da  das  Gewünschte  sich  einstellt,  schwindet 
das  Begehren  und  das  Gefallen  wird  satt.  Das  wäre  Sättigung 
durch  Verwirklichung  eines  Wertes  überhaupt.') 

Nach  Schwarz'  Ansicht  soll  es  jedoch  auch  andere  Arten  von 
Sättigung  geben.  Eine  davon  richtet  sich  nach  den  Verände- 
rungen, denen  das  Gefallen  bei  wachsendem  Reichtum  an  Er- 
fahrungen unterworfen  ist.  Pflegt  jemand  z.  B.  eine  bestimmte 
Sorte  AVein  zu  trinken,  so  wird  er  diese  werthalten,  solange  er 
keine  bessere  gekostet  hat.  Lernt  er  jedoch  eine  solche  kennen, 
so  wird  er  sich  sofort  der  ^linderwertigkeit  jener  ersten  be- 
wußt. Der  AVunsch  nach  dem  besseren  Getränk  ist  geweckt;  das 
Gefallen,  das  vorher  bei  der  geringeren  Weinsorte  satt  war,  ist 
es  jetzt  nicht  mehr,  erst  der  Genuß  einer  edleren  vermag  es 
ganz  zu  sättigen.  Dadurch  soll  sich  eine  andere  Sättigungsfähig- 
keit kundgeben,  jene  nämlich,  die  immer  noch  steigerungsfähig 
ist,  sobald  die  Erfahrung  oder  die  Phantasie  Neues,  qualitativ 
Besseres  darbietet.-) 

Manche  Beispiele  unseres  Autors  —  der  Ehrgeizige  verlangt 
nach  möglichst  viel  Ehre,  der  Geizige  nach  möglichst  viel  Geld 


1)  A.  a.  0.  S.  7,  13,  15  f.  u.  a. 

*)  A.  a.  0.  S.  8,  10 f. 

34* 


532  Wilhelmine  Liel. 

USW.  —  lassen  nun  noch  die  Auffassung  im  Sinne  einer  dritten  Art 
von  Sättigung-  zu,  von  der  überdies  auch  ausdrücklich  Erwähnung 
geschieht.')  Durch  Verwirklichung  eines  nur  kleinen  Teiles  von 
Wertobjekten  nämlich  —  selbstverständlich  nur  von  solchen,  die 
ein  Teilbares,  eine  Summe  darstellen  —  wird  das  Gefallen  auch 
nur  in  einem  geringeren  Maße  gesättigt  als  durch  einen  größeren, 
und  es  sättigt  sich  um  so  mehr,  je  größer  die  Summe  dessen 
ist,  was  davon  realisiert  erscheint. 

;  Im  Sinne  dieser  Gegenüberstellung  also  der  gemäß  Gefallen 
und  Sättigungsunterschiede,  Lust  und  Intensitätsgrade  zusammen- 
gehören, wäre  man  genötigt,  Gefallen  und  Gefühl  auseinanderzu- 
halten. WoUte  jemand  dennoch  die  beiden  Tatsachen  „verselbigen", 
so  müßte  er  Sättigungsgrade  des  einen  wie  Stärkegrade  des  anderen 
behandeln,  geriete  aber  dadurch  in  Konflikt  mit  dem  Kausalgesetz, 
nach  welchem  mit  der  Ursache  notwendigerweise  die  Wirkung  ge- 
geben sein  muß.  Bedinge  nämlich  schon  unsattes  Gefallen,  für  das 
im  Identitätsfalle  Lust  von  geringerer  Intensität  zu  setzen  wäre,  ein 
Wünschen  von  bestimmter  Stärke,  so  müßte  mit  satterem  Gefallen, 
dem  höheren  Stärkegrade  von  Lust,  auch  ein  stärkeres  Wünschen 
verbunden  sein;  und  sobald  das  Gefallen  vollkommen  gesättigt, 
die  Lust  am  größten  wäre,  müßte  das  Wünschen  seinen  Höhe- 
punkt erreichen.  Indessen  geschehe  das  Gegenteil:  das  Wünschen 
sinke  und  werde  schließlich  gleich  Null.  Mit  der  Zunahme  der 
ursächlichen  Erscheinung  würde  hier  eine  Abnahme  der  "Wirkung 
Hand  in  Hand  gehen,  womit  zur  Genüge .  bewiesen  sein  soll ,  daß 
das  „Gefallen"  nicht  als  Gefühl  betrachtet  werden  kann.^) 

Vor  aUen  anderen  Bedenken  sei  hier,  ohne  Kücksicht  darauf, 
ob  es  im  Falle  der  Identifizierung  von  Gefallen  und  Gefühl  wirk- 
lich notwendig  wäre,  Sättigungsgrade  des  einen  wie  Stärkegrade 
des  anderen  zu  behandeln,  nur  kurz  darauf  hingewiesen,  daß  durch 
den  Appell  an  das  Kausalgesetz  die  von  Schwarz  bekämpfte  These 
nicht  widerlegt  erscheint.  Denn  wenn  auch  zuzugeben  ist,  daß 
mit  der  Ursache  stets  die  Wirkung  gegeben  sein  muß,  so  wird  da- 
durch nicht  ausgeschlossen,  daß  unter  Umständen  gerade  das 
Schwinden   eines  Tatbestandes   von   einem    positiven  Erfolge  be- 


1)  A.  a.  0.  S.  121. 

2)  A.  a.  0.  S.  13  f. 


Gegen  eine  volnntaristische  Begründung  der  Werttheorie.  533 

gleitet  sein  kann.  Das  beweist  z.  B.  die  Steigerung  der  empfundenen 
Kälte  bei  Abnahme  der  Temperatur,  vielleicht  auch  die  Zunahme  der 
Dunkelheit  in  der  Richtung  weiß  —  schwarz  bis  zur  voUstäudigen 
Schwarzempfindung  mit  der  Abnahme  der  Lichtintensität  bis  zur 
Null.  Ebenso  könnte  mit  dem  Abnehmen  der  Stärke  des  Gefühles 
eine  Steigerung  des  Wünschens  verbunden  sein  und  umgekehrt 
—  eine  Veränderung,  die  mit  dem  Kausalgesetz  durchaus  ver- 
einbar wäre. 

Wichtiger  jedoch  als  das  soeben  fast  nur  im  Interesse  for- 
maler Korrektheit  Berührte  ist  die  Beantwortung  der  schon  auf- 
geworfenen Frage,  ob  es  denn  wirklich  unerläßlich  sei,  Sättigungs- 
grade des  Gefallens  wie  Stärkegrade  des  Gefühls  zu  behandeln, 
sobald  man  Gefallen  als  eine  Art  Gefühl  betrachtet.  Zu  diesem 
Zwecke  müssen  jedoch  vorerst  die  verschiedenen  Sättigungsarten 
des  Gefallens  ins  Auge  gefaßt  werden. 

Gegen  die  Sättigung  im  ersten  Sinne,  die  von  der  Ver- 
wirklichung oder  den  Mangel  eines  Wertobjektes  abhängt,  ist 
nichts  einzuwenden,  sobald  man  sich  mit  den  Ausdrücken  „satt" 
und  „unsatt",  die  auf  ganz  anderem  Gebiete  so  unzweideutig  ver- 
wendet werden,  zurecht  gefunden  hat.  Nicht  so  einfach  zustimmend 
kann  man  sich  den  beiden  übrigen  Sättigungsarten  gegenüber  ver- 
halten. Ein  Vergleich  ergibt,  daß  sie  sich  von  der  ersten  Art  in 
augenfälliger  Weise  durch  ihre  Steigerungsfähigkeit  unterscheiden, 
die  jener  fehlt.  Sie  weisen  noch  in  anderen  wesentlichen  Punkten 
so  weitgehende  Unterschiede  auf,  daß  die  Frage  nach  der  Statt- 
haftigkeit einer  Gleichstellung  so  verschiedener  Erscheinungen  nicht 
unaufgeworfen  bleiben  kann. 

Hängt  nämlich,  wie  vorhin  erwähnt  wurde,  die  Sättigung  des 
Gefallens  vom  Sein  oder  Nichtsein  eines  Wertobjektes  ab,  so  wird 
zunächst  einem  Verfahren,  das  für  das  satte  Gefallen  an  einem 
Objekte  von  besserer  Qualität  einen  höheren  Grad  der  Sättigung 
beansprucht  als  für  das  Gefallen  an  einem  gleichartigen  Objekte 
von  geringerer  Qualität,  der  Vorwurf  der  Willkür  nicht  Avohl 
zu  ersparen  sein.  Im  ersten  Falle  ist  von  einem  Gefallen  die 
Eede,  das  sich  auf  ein  und  denselben  Gegenstand  bezieht;  satt 
erscheint  es,  wenn  der  Gegenstand  verwirklicht  ist,  unsatt, 
solange  er  seine  Verwirklichung  nicht  erlangt  hat.  Im  zweiten 
Falle  handelt  es  sich  aber  um  Gefallensakte,   die  verschiedenen 


534  Wilhelmine  Liel. 

Wertgegenständen  ihr  EntsteheD  verdanken.  Findet  nämlich 
nach  dem  obigen  Beispiele  der  Weintrinker  nur  mehr  Gefallen 
an  der  besseren  Weinsorte,  so  können  wir  dieses  nicht  als  ein 
im  Vergleiche  mit  dem  Gefallen  an  der  minderen  Weinsorte  „ge- 
sättigteres" Gefallen  bezeichnen,  weil  es  sich  diesmal  nicht  um  das 
gleiche  Gefallen,^)  sondern  um  verschiedene  Gefallensakte  handelt, 
die  auf  verschiedene  Objekte  gerichtet  sind.  Auch  hierin  einen 
Fall  von  Sättigung  zu  sehen,  mag  nur  dem  nahe  liegen,  der  eine 
Intensitätsverschiedenheit  bei  Werthaltungen  bestreitet.  Bei  Aner- 
kennung einer  solchen  stellt  sich  dagegen  die  Sache  einfach  so 
dar:  da  von  zwei  Gegenständen  (A  und  B)  der  eine,  A,  nur 
schwächere  Lustgefühle  zu  erregen  vermag,  so  löst  er  auch  eine 
schwächere  Werthaltung  aus  als  der  Gegenstand  B,  der  beträcht- 
lichere Lustgefühle  zu  bewirken  imstande  ist.  Daß  man  im  Ge- 
nüsse des  ersten  unbefriedigt  bleibt,  ist  selbstverständlich;  wer  B 
wünscht,  wird  nicht  zufrieden  sein,  wenn  er  A  erhält.  Das  „satte  Ge- 
fallen" an  A  läßt  ja  immer  noch  das  „unsatte  Gefallen"  an  B  be- 
stehen. Was  insbesondere  B  anlangt,  so  haben  wir  hier  aller- 
dings einen  Fall  von  Sättigung  vor  uns,  aber  nur  denjenigen,  der 
bereits  an  erster  Stelle  angeführt  wurde:  Sättigung  durch  Ver- 
wirklichung eines  Wertobjektes  und  zwar  natürlich  nur  desjenigen, 
das  vor  der  Verwirklichung  Gegenstand  des  unsatten  Gefallens 
war.  Näheres  über  Intensitätsgrade  bei  Werthaltungen  soll  noch 
beigebracht  werden. 

Nun  gilt  es  noch  an  dieser  Stelle  bei  der  dritten  Art  von  Sätti- 
gung, deren  Grad  von  der  Größe  der  verwirklichten  Summe  bei 
gleichartigen  Wertobjekten  abhängig  sein  soU,  kurz  zu  verweilen. 
Das  Streben  ist  hier  auf  eine  Menge  gerichtet,  auf  einen  Gegen- 
stand, der  ein  Teilbares  darstellt,  dessen  Realisierung,  d.  h.  der  Über- 
gang von  der  Nichtexistenz  zur  Existenz,  daher  gewissermaßen  auch 
schrittweise  erfolgen  kann.  Ist  jemandes  Wunsch  z.  B.  auf  Reich- 
tum gerichtet  und  ist  er  vorderhand  im  Besitze  eines  Vermögens 
von  bestimmter  Größe,  so  wird  das  „Gefallen"  an  dieser  Summe 


')  ScHWAKz  scheint  dies  zu  meinen:  „Wo  ein  Gegenstand  das  Gefallen  mehr 
sättigt  als  ein  anderer  das  gleiche  Gefallen,  da  hat  für  uns  der  erstere  einen 
höheren,  der  zweite  einen  geringeren  Wert  angenommen"  (a.  a.  0.  S.  117).  „Ein 
und  derselbe  Gefallensakt  richtet  sich  auf  sie  (Objekte  gleicher  Wertsortej,  ob- 
zwar  er  durch  sie  verschieden  gesättigt  wird"  (S.  121). 


Gegen  eine  voluntaristische  Begründung  der  Werttheorie.  535 

gesättigt  sein;  gelangt  er  zu  einer  weiteren,  so  sättigt  sich  an 
dieser  das  zweite  Gefallen  usf.  Ist  nun  die  zweite  Summe  größer 
als  die  erste,  so  liegt  kein  Hindernis  vor,  das,  was  von  Schwarz 
als  ,, satteres"'  Gefallen  an  der  größeren  Summe  dem  an  der 
kleineren  gegenübergestellt  wird,  als  stärkeres  aufzufassen,  ebenso 
das  satte  Gefallen  an  beiden  realisierten  Summen  als  das  stärkere 
im  Vergleiche  mit  dem  an  nur  einer  Summe.  Dagegen  bleibt  das 
Gefallen  an  dem  etwa  noch  unrealisierten  Teilgegenstande,  an 
dem  der  Wunsch  immer  noch  hängen  kann,  einfach  ungesättigt 
und  wird  seine  Sättigung  nicht  eher  erlangen,  als  bis  auch  dieser 
in  den  Bereich  der  Wirklichkeit  getreten  ist.  Daraus  läßt  sich  ent- 
nehmen, daß  man  es  hier  gar  nicht  mit  einer  besonderen,  sondern 
wieder  mit  der  an  erster  Stelle  genannten  Sättigungsart  des  Ge- 
fallens zu  tun  hat.  Als  gesättigt  kann  es  gelten,  insoweit  es 
sich  auf  den  Teil  des  Wertobjektes  erstreckt,  der  existiert,  als 
unsatt,  insoweit  der  andere  Teil  in  Betracht  gezogen  wird,  der 
noch  gewünscht,  aber  nicht  erreicht  ist. 

Wie  man  sieht,  läßt  sich  nicht  nur  für  diese,  sondern  auch 
für  die  vorher  besprochene  „Sättigungsart",  hier  in  quantitativem, 
dort  gewissermaßen  in  qualitativem  Sinne  verstehen,  was  Schwaez 
als  Wirkung  des  unsatten  Gefallens  angibt.  Eben  weil  dieser  Akt 
„unsatt,  d.  i.  unbefriedigt  am  Seienden  ist,  bewirkt  er  die  zu- 
ständliche  Regung  des  Wünschens ;  er  bewirkt  sie  mit  dem  Diiferenz- 
betrage  dessen,  was  ihm  zur  Sättigung  (am  Seinsollenden)  fehlt."  ^) 
Dagegen  liegt  keinerlei  Recht  vor,  zwei  Gefallensakte,  von  denen 
etwa  der  eine  eine  größere,  der  andere  eine  kleinere  Summe,  sei 
es  Ehre,  sei  es  Reichtum,  zum  Gegenstande  hat,  als  zwei  in 
ihren  Sättiguugs  g  r  a  d  e  n  verschiedene  Gefallen  zu  betrachten  und 
somit  von  einer  steigerungsfähigen  Sättigung  zu  sprechen;  eben- 
sowenig wie  bei  Gefallensakten,  die  sich  auf  gleichartige  Objekte 
von  besserer  und  geringerer  Qualität  beziehen.  Hat  man  sich 
einmal  entschlossen,  jenen  Zustand  des  „Gefallens",  der  durch 
das  Vorhandensein  eines  bestimmten  Wertobjektes  bedingt  ist,  als 
„satt"  zu  bezeichnen,  den  durch  das  Nichtsein  bedingten  als  „un- 
satt", so  wird  mit  diesen  Teraiinis  eine  Erscheinung  fixiert,  die 
ihrer  Natur  nach  steigerungsunfähig  ist.    Wie  steht  es  dann  aber 

M  A.  a.  0.  S.  65. 


536  WlLHELMlNE   LiEL. 

mit  den  Unterschieden,  welche  zwei  satte  oder  zwei  unsatte  Ge- 
fallensakte immer  noch  aufweisen  können?  Sie  müssen  in  etwas 
anderem  als  in  deren  Sättigung  begründet  sein,  und  der  Gedanke, 
sie  wären  in  der  ungleichen  Stärke  derselben  zu  suchen,  liegt  sehr 
nahe.  Schon  die  Ausdrücke  „größerer  und  geringerer,  höherer  und 
minderer"  Wert  lassen  dies  vermuten,*)  während  die  andere  noch 
mögliche  Deutung,  daß  die  Variierbarkeit  der  Werthaltungen  von 
deren  qualitativer  Verschiedenheit  herrühre,  nicht  nur  sehr  un- 
wahi'scheinlich  klingt,  sondern  vorläufig  noch  überhaupt  die  Un- 
bewiesenheit einer  solchen  Verschiedenheit  gegen  sich  hat.  Über- 
dies steht  noch  ein  anderes  Mittel  zu  Gebote,  die  Intensität  der 
Werthaltungen  nachzuweisen.  Wenn  es  auch  nicht  zu  leugnen 
ist,  daß  wir  oft  nicht  in  der  Lage  sind,  unter  bestimmten  Wert- 
objekten nach  dem  Grade,  in  dem  sie  uns  wertvoll  erscheinen, 
zu  entscheiden,  so  liegt  erfahrungsgemäß  in  vielen  anderen  Fällen 
kein  Zweifel  hierüber  für  uns  vor.  Daß  es  Werthaltungen  gibt, 
die  diejenige  des  eigenen  Lebens  übertreffen,  andere  so  geringe 
dagegen,  daß  die  Existenz  oder  die  Nichtexistenz  der  bewerteten 
Objekte  unseren  Gemütszustand  kaum  merklich  bewegt,  ist  so 
selbstverständlich,  daß  eine  entgegengesetzte  Behauptung  erforder- 
lich ist,  um  dieser  Tatsachen  zu  gedenken.  Ebenso  bekannt  ist, 
daß  Objekte,  die  lange  Gegenstand  lebhafter  Werthaltungen  ge- 
wesen sind,  im  Werte  nicht  nur  sinken,  sondern  überhaupt  wertlos 
für  uns  werden  können.  Ob  diese  Veränderung  im  Gegenstande 
oder  in  unseren  psychischen  Dispositionen  begründet  sein  mag,  ist 
hier  unwesentlich.  Werthaltungen  können  also  in  der  Wertlinie 
so  hoch  stehen,  daß  diese  nach  der  einen  Richtung  theoretisch  ge- 
nommen als  unbegrenzt  angesehen  werden  kann ;  nach  der  anderen 
hingegen  limitieren  sie  gegen  die  Null.  Überall,  wo  sich  eine 
solche  Linie  ergibt,  hat  man  eine  Quantitätsreihe  vor  sich ;  ^)  darin 
liegt  auch  für  die  Werthaltungen  die  Gewähr,  daß  ihnen  die 
Größe  nicht  fehlt. 

Die  Annahme  von  Sättigungs-  an  Stelle  von  Intensitätsunter- 


')  Schwarz  selbst  verwendet  diese  Prädikate  und  spricht  nicht  etwa  von 
besseren  und  schlechteren,  vollkommenen  und  wenig  vollkommenen  Werten  (vgl. 
a.   a.   0.  S.  117,  ebenso  Psychol.  des  Will.  S.  289). 

*)  Vgl.  A.  Meinong,  „Über  die  Bedeutung  des  WEBEBSchen  Gesetzes", 
Zeitschr.  f.  Psych.  Bd.  11,  S.  81  ff. 


Gegen  eine  voluntaristiscbe  Begründung  der  Werttheorie.  537 

schieden  hat  nun  für  Schwaez  die  weitere  Folge  mit  sich  geführt, 
daß  er  nicht  diesen,  sondern  jenen  die  entscheidende  Rolle  in  Kon- 
fliktsfällen zuschreibt:  „Wo  ein  Gegenstand  das  Gefallen  mehr 
sättigt,  als  ein  anderer  das  gleiche  Gefallen,  da  hat  für  uns  der 
erstere  Gegenstand  einen  höheren,  der  zweite  einen  geringeren 
Wert  angenommen."  ^)  Das  Vorziehen  dieser  Art,  das  sich  auf  die 
größere  oder  geringere  Sättigung  bei  gleichartigen  Wertobjekten 
gründet ,  nennt  er  das  analytische.'-)  Ein  Vorziehen  anderer 
Art  entscheide  dagegen  bei  Wertobjekten  verschiedener  Klasse, 
die  „nach  analytischem  Vorziehen  so  gleich,  oder  aber  so  unver- 
gleichbar erscheinen,"-^)  dort  nämlich,  wo  es  sich  um  die  A^^ahl 
zwischen  Zustands-  oder  Personen  wert ,  Personen-  oder  Fremd- 
wert,  Zustands-  oder  Fremdwert  handelt;  dieses  Vorziehen  nennt 
Schwarz  das  „synthetische"  oder  das  „sittlich  e".*)  Treife  also 
das  eine  Vorziehen  die  Wahl  unter  gleichartigen  Wertobjekten  je 
nach  dem  Grade,  in  dem  das  eine  oder  das  andere  das  Gefallen 
zu  sättigen  imstande  ist,  so  bleibe  dies  bei  völlig  verschiedenen 
Wertobjekten  (bei  Wertobjekten  je  einer  der  eben  angeführten 
Gruppen)   die  Aufgabe  des  synthetischen  Vorziehens. 

Die  erste  Frage,  die  sich  hier  aufdrängt,  ist  wohl  die,  welche 
Objekte  noch  als  gleichartig  betrachtet  werden  dürfen  und  wo  die 
Grenze  zwischen  diesen  und  den  ungleichartigen  aufzustellen  wäre. 
Der  Verfasser  gibt  Beispiele  für  gleichartige  Objekte  an,  wie: 
„Der  blumereichere  Wein"  gegenüber  dem  „blumeärmeren  (in  Sachen 
des  Gefallens  an  Zustandswerten  d.  i.  Lustgefühlen),  Nachruhm"  im 
Vergleiche  mit  dem  „Lobe  seitens  eines  Freundes  (in  Sachen  des 
Gefallens  an  eignem  Personenwert),  die  tiefere  Wahrheit  als 
höherer  Wert"  gegenüber  der  „flachen  (in  Sachen  des  Gefallens  an 
Wahrheit",  an  Fremdwerten,)'')  und  andere.^)  Wahrscheinlich  haben 
wir  es  nach  Ansicht  unseres  Autors  innerhalb  aller  Objekte,  die 
eine  Wertgruppe  bilden,  also  innerhalb  aller  Zustands-,  Personen- 


')  „Glück  und  Sittlichkeit".    S.  117. 

*)  A.  a.  0.  S.  118. 

3)  Ebenda. 

*)  A.  a.  0.  S.  127  ff. 

")  A.  a.  0.  S.  117. 

')  A.  a.  0.  S.  119,  121. 


538  Wilhelmine  Liel. 

und  Fremdwerte  mit  gleichartigen  Objekten  zu  tun.^)  Dart"  man 
aber  diese  Voraussetzung  für  die  oben  angeführten  Fälle  noch 
gelten  lassen,  so  wird  man  sie  doch  nicht  weiter  vertreten  können, 
sobald  man  andere  Objekte  aus  je  einer  der  genannten  Wertgruppen 
vergleicht,  z.  B.  ein  warmes  Bad  und  einen  blumereichen  Wein  als 
Zustandswerte ,  Schönheit  und  Eeichtum  oder  gar  Nachruhm  als 
Personenwerte,  Wahrheit  und  das  Wohlergehen  des  Nächsten  als 
Fremdwerte.  Dann  erfüllt  aber  das  analytische  Vorziehen  hier 
so  wenig  seine  Aufgabe  wie  das  synthetische,  jenes  nicht,  weil 
die  Objekte  nicht  als  gleichartig  gelten  können,  dieses  nicht,  weil 
die  Wahl  innerhalb  einer  Wertklasse  zu  treffen  ist.  Doch  sei 
auf  diesen  Einwand  vorläufig  kein  Gewicht  gelegt.  So  gut  wie 
bei  den  obigen  Beispielen  könnte  man  ja  auch  hier  innerhalb 
einer  Wertgruppe,  mögen  die  Objekte  auch  noch  so  ungleichartig 
scheinen,  Sättigungsunterschiede  walten  und  für  das  Vorziehen  be- 
stimmend wirken  lassen.  Oder  man  wählt  den  Ausweg,  den 
ScHWAEz  in  der  Form  des  sogenannten  reflexionsartigen  Ge- 
fallens ^)  bietet,  welches  die  Verschiedenartigkeit  der  Wertobjekte 
ausgleichen  soll,  indem  es  sich  auf  diese  richtet,  nur  insofern  sie 
Werte,  also  Objekte  einer  Klasse  sind.  Allerdings  aber  stünde  man 
hier  sofort  wieder  vor  der  neuen  Frage,  ob  man  unter  solchen 
Umständen  überhaupt  eines  synthetischen  Vorziehens  bedüifte  und 
nicht  vielmehr  unter  den  verschiedensten  Wertobjekten  nach  ihrer 
größeren  oder  geringeren  Fähigkeit,  das  reflexionsartige  Gefallen  zu 
sättigen,  eine  Wahl  treffen  könnte,  mit  einem  Worte,  eine  Wahl 
nach  dem  Maße,  in  welchem  diese  Objekte  zur  Glückseligkeit  zu 
führen  imstande  wären. 

Im  ganzen  sehen  wir  abermals  durch  Aufstellung  von  Sättigungs- 
unterschieden bei  Werthaltuugen  nur  Schwierigkeiten  für  das  Ver- 
ständnis von  Tatsachen  erwachsen,  die  sich  durch  Anerkennung 
einer  Intensitätsverschiedenheit  einfach  und  zwar  in  diesem  speziellen 
FaUe  ohne  Annahme  verschiedener  Arten  des  Gefallens,  (wie  des 
direkten  und  des  reflexionsartigen)  oder  verschiedener  Arten  des 
Vorzieheus,  (wie  des  analytischen  und  des  synthetischen)  erklären 


^)  Vgl.  a.  a.  0.  S.  171  u.  „Das  sittl.  Leben",  S.  40. 

*)  Im  Gegensatze  zum  „direkten  Gefallen",   vgl.  a.  a.  0.  S.  5  u.  27,  und 
diese  Arbeit  §  3. 


Gegen  eine  voluntaristische  Begründung  der  Werttheorie.  539 

lassen.  Unter  Voraussetzung  der  Intensitätsverschiedenheit  läßt 
sich  eben  einfach  behaupten,  daß  in  Konfliktsfallen  das  Sein  jener 
Objekte  vorgezogen  wird,  die  eine  stärkere  Werthaltung  auszulösen 
imstande  sind,   indes  die  andern  unterliegen. 

Es  gibt  allerdings  noch  eine  dritte  Ansicht  über  das  Vorziehen, 
nach  welcher  dieses  als  letzte,  nicht  weiter  einer  Zurückführung 
zugängliche  Tatsache  hinzunehmen  ist.  Schwakz  selbst  scheint  ein 
Vertreter  dieser  Meinung  zu  sein,  ^)  zweifellos  wenigstens  in  bezug 
auf  das  synthetische  Vorziehen ;  denn  während  als  letzte  Bedingung 
für  das  anal3'tische  Vorziehen  die  größere  oder  geringere  Sättigung 
der  Gefalleusakte  hingestellt  wird,  entbehrt  das  sjaithetische  Vor- 
ziehen jeder  näheren  Angabe  einer  solchen.  -) 

Wäre  indes  das  Vorziehen  die  Grundtatsache,  d.  h.  bildete 
erst  das  Vorziehen  den  höheren  Wert,  so  bedürften  wir  jedesmal 
eines  Kontliktes,  wenn  auch  nur  eines  Annahmekonfliktes,  um  zu 
entscheiden,  welches  von  zwei  Objekten  uns  wertvoller  ist.  Die 
Erfahrung  scheint  aber  doch  deutlich  zu  zeigen,  daß  man  oft 
genug  nicht  erst  eines  Konfliktes  bedarf,  um  zu  einer  solchen 
Erkenntnis  zu  gelangen,  wobei  das  „zur  Erkenntnis  des  W^ert- 
volleren  Gelangen"  immer  noch  einen  Schritt  mehr  bedeutet  als 
das  einfache  Lieberhaben.  Zweifellos  kommen  Fälle  vor,  in  denen 
wir  erst  dadurch,  daß  wir  eine  Entscheidung  getroifen  haben,  des 
größeren  Wertes  des  vorgezogenen  Objektes  bewußt  werden.  Allem 
Anscheine  nach  treten  hier  Wertungen  in  einen  Wettbewerb,  die 
in  der  Wertlinie  annähernd  gleich  hoch  stehen,  woraus  sich  das 
Hin-  und  Herschwanken  bei  der  Wahl,  vor  allem  aber  der  Umstand 
erklärt,  daß  eben  die  Erinnerung  an  solche  peinliche  Konflikte 
lange  im  Bewußtsein  haften  bleibt,  während  der  leichteren  Fälle 
kaum  mehr  gedacht  wird,   in  denen  das  Vorziehen  sich  gewisser- 


')  „Erst  die  Funktion  des  Vorziehens  deckt  sich  mit  allem  Werthalten;  ein 
Objekt  dessen  Sein  man  dem  Nichtsein  vorzieht,  ist  Wert.  Ein  Objekt,  dessen 
Nichtsein  man  dem  Sein  vorzieht,  ist  Unwert"  (a.  a.  0.  S.  90).  „Das  Vorziehen 
gibt  den  Wert  an"  (Psych,  d.  Will.  S.  289,  vgl.  auch  S.  288). 

°)  Wenngleich  auf  S.  133  von  „Glück  und  Sittlichkeit"  zu  lesen  ist:  „Wie 
das  analytische  Vorziehen  die  Gefallensakte  nach  ihren  verschiedenen  Sättigungs- 
verhältnissen wertet,  so  wertet  sie  das  synthetische  Vorziehen  nach  ihrer  Quali- 
tät." Die  verschiedene  Qualität  der  Gefallensakte  kann  aber  nicht  Bedingung 
für  das  synthetische  Vorziehen  sein,  da  erst  durch  dieses  den  Gefallensakten  jene 
qualitative  Verschiedenheit,  wie  es  heißt,  „neu  aufgeprägt"  wird. 


540  Wilhelmine  Libl. 

maßen  von  selbst  vollzieht,  da  die  ^^'alll  unter  Werten  zu  treffen 
ist.  die  in  der  AVertlinie  weit  voneinander  abstehen.  Vielleicht 
waren  es  solche  Fälle  schwerer  Entscheidung,  die  zu  der  Ansicht 
geführt  haben,  daß  das  Vorziehen  erst  den  höheren  Wert  bilde. 
Indessen  wäre  nicht  einzusehen,  weshalb  das  Vorziehen  so  ver- 
schieden schwer,  bzw.  leicht  sich  abspielte,  wenn  von  ihm  der 
größere  Wert  abhinge,  wenn  es  die  Fähigkeit  hätte,  diesen  den 
Objekten  einfach  aufzuprägen.  Sucht  man  dagegen  umgekehrt 
den  Grund  für  den  Ausfall  der  Entscheidung  in  den  Wert  großen, 
so  erhält  man  die  Erklärung,  daß  je  weniger  zwei  in  Konflikt 
tretende  Wertungen  ihrer  Intensität  nach  verschieden  sind,  desto 
schwieriger  dieser  Konflikt  auch  zu  lösen  sein  wird.  Die  Unmög- 
lichkeit zu  einer  Entscheidung  zu  gelangen,  läge  dann  vor,  wenn 
die  Stärke  der  Wertungen  gleich  groß  wäre.  Völlige  Gleichheit 
wird  sich  jedoch  kaum  je  ergeben,  auch  ist  es  nur  zu  bekannt,  wie 
die  Wahl  in  solch  schwer  zu  lösenden  Konfliktsfällen  oft  nur  von 
zufälligen  Momenten  abhängt,  die,  für  den  Augenblick  wenigstens, 
geeignet  erscheinen,  dem  einen  der  Wertobjekte  ein  plus  hinzu- 
zufügen und  es  dadurch  in  der  Wertlinie  steigen  zu  lassen. 

Zu  demselben  Ergebnisse  führen  nun  auch  Erwägungen  anderer 
Art.  Es  wird  kaum  zu  bestreiten  sein,  daß  aUe  Werte,  schon  auf 
den  äußern  Aspekt  hin.  der  doch  aUein  zur  Bezeichnung  von 
höheren  und  geringeren  Werten  Veranlassung  gegeben  haben  wird, 
eine  Reihe  bilden .  die  als  eine  Größenreihe  im  Sinne  des  auf  S.  537 
berührten  Kiiteriums  aufzufassen  ist.  Dies  bliebe  unverständlich, 
würde  erst  das  Vorziehen  den  einzelnen  Objekten  ihre  Stellung  an- 
weisen, demnach  ein  Objekt  A  nur  deshalb  in  der  Wertlinie  höher 
zu  stehen  kommen,  weil  es  dem  Objekt  B  vorgezogen  wird.  —  aus 
demselben  Grunde  B  höher  als  C  usf.  Zudem  ist  nun  auch  an 
sich  klar,  daß  wenn  A  dem  B  vorgezogen  wird.  bzw.  B  im  Kampfe 
unterliegt,  in  den  beiden  Gegenständen  selbst  \)  eine  Eigenschaft 
anzutreffen  sein  "wird,  vermöge  welcher  der  eine  eben  vorgezogen, 
der  andere  hintangesetzt  wird.  Sofern  es  überdies  anerkannter- 
maßen auf  alle  Fälle  Wertgegenstände  sind,  auf  die  der  Konflikt 


')  ETentiiell  zusammen  mit  unserem  psychischen  Verhalten  dazu,  vgl. 
St.  Witaseks  Ausführungen  über  ., außergegenständliche  Bestimmungen",  Grund- 
züge der  allgemeinen  Ästhetik  S.  15  f. 


Gegen  eine  voluntaristische  Begründung  der  Werttheorie.  541 

sich  bezieht,  so  liegt  docli  aucli  von  dieser  Seite  nichts  näher,  als 
jenes  für  den  Ausfall  der  Entscheidung  maßgebende  Moment  in 
der  verschiedenen  Intensität  der  \>'erthaltungen  zu  suchen,  in 
der  dann  auch  der  eben  erwähnte  äußere  Aspekt  seine  natürliche 
Eechtfertigung  findet. 

Den  bisherigen  Untersuchungen  war  die  Aufgabe  gestellt, 
nachzuweisen,  daß  nicht  nur  den  Gefühlen,  sondern  auch  den  „Ge- 
fallensakten" verschiedene  Stärke  zukomme.  Zum  Nachweise  des 
Gegenfalles  nun,  daß  so  gut  wie  für  das  Gefallen  als  angeblich 
eigenartiges  Erlebnis  auch  für  das  Werthalten  als  Gefühl  der  bis- 
her mit  „satt"  und  „unsatt"  bezeichnete  Gegensatz  besteht,  ge- 
nügt es,  hier  auf  die  Ausführungen  Meinongs  zur  Begehrungs- 
und Wertpsychologie  (Annahmen  VIII.  Kapitel)  hinzuweisen.  Nach 
diesen  bewirkt  die  Annahme  der  Existenz  eines  Wertobjektes  ein 
Gefühl  (Phantasiegefühlj,  das  sich  wesentlich  von  dem  unterscheidet, 
welches  durch  das  tatsächliche  Eintreten,  genauer  durch  die  Über- 
zeugung von  der  Existenz  des  betreifenden  Wertobjektes  hervor- 
gerufen würde.  Diesem  Gegensatz  finden  wir  durch  die  Bezeichnung 
„Wertung",  bzw.  „Werthaltung"  Rechnung  getragen.  Im  Avesentlichen 
scheint  Schwarz  dasselbe  zu  meinen,  wenn  er  sich  folgendermaßen 
ausdrückt:  „Eine  gewisse  Art,  Werte  vorzustellen,  wirkt  nämlich 
im  Nachlassen  genau  so,  wie  wenn  eine  eben  auftretende  Freude 
verschwindet.  Es  ist  das  anschauliche  Sichhineindenken  in  ge- 
ahnte oder  entsch^^Tindene  Gefallensobjekte,  als  wären  sie  erlebt 
und  gegenwärtig.  Mit  solchem  Hineinversenken  ist  gegeben,  daß 
die  betreftenden  ^^'erte  satt  und  zunächst  wunschlos  gefallen.  Aber 
die  Kraft  des  Hineindenkens  bleibt  nicht  gleich.  Sie  läßt  nach 
und  macht  dem  Bewußtsein  Platz,  das  Gefallensobjekt  sei  nicht 
wirklich,  oder  sei  nicht  in  der  Weise,  wie  es  vorschwebt,  wirklich. 
Im  gleichen  Augenblick  wird  das  begleitende  Gefallen  plötzlich 
unsatt."  So  kommt  es  nach  Schwaez  in  uns  zur  Regung  des 
Wünschens.^)  Er  dürfte  aber  nicht  ganz  im  Rechte  sein,  wenn  er 
meint,  dieses  sich  „Hineinversenken"  —  also  dieses  Annehmen  — 
geschehe  regelmäßig  so,  als  würde  man  dabei  vergessen,  daß  die 
Gefallensobjekte  in  ^Virklichkeit  nicht  vorhanden  wären;  in  den 
seltensten  Fällen  tritt  das  ein,  ebenso  selten,   wie  jemand  darauf 


1)  „Glück  und  Sittlichkeit",  S.  16. 


542  Wilhelmine  Liel. 

vergißt,  daß  das  Geschehnis  auf  der  Bühne  kein  wirkliches  ist. 
Im  allg-emeinen  bleibt  die  Überzeugung  von  der  Nichtexistenz  des 
Wertobjektes  bestehen,  wenn  wir  uns  auch  noch  so  sehr  in  die 
angenehme  Lage  versetzt  denken,  die  durch  Verwirklichung  eines 
solchen  Objektes  für  uns  hervorgerufen  wäre;  daher  ist  die  Folge 
eines  solchen  „Sichhineinversenkens"  kein  echtes,  sondern  ein 
Phantasiegefühl.    Dieses  bewirkt  das  Begehren.^) 

Wie  ersichtlich,  gelangt  man  hier  auf  zwei  ganz  verschiedenen 
Wegen  zu  demselben  Resultat:  Ein  Wünschen  ist  nach  Schwarz 
die  Folgeerscheinung  eines  Zustandes,  den  er  „unsattes  Gefallen" 
nennt  und  dem  WoUungsgebiete  zuschreibt,  während  ganz  derselbe 
Tatbestand  auch  auf  Erscheinungen  des  Gefühlslebens  bezogen 
werden  kann.  Damit  ist  aber  zugleich  die  Beantwortung  der  auf 
S.  533  aufgeworfenen  Hauptfrage  gegeben.  Da  für  das  Gefühl  beides, 
sowohl  Intensität,  wie  das,  was  Schwarz  „Sättigung"  (der  ersten  Art, 
die  nicht  steigerungsfähig  ist,)  nennt,  nachweisbar  ist,  so  wird 
man  durch  nichts  gezwungen,  die  eine  Erscheinung  für  die  andere 
zu  nehmen,  wenn  man  Werthalten  als  ein  Gefühl  auffaßt.  Natür- 
lich ist  unserem  Autor  darin  beizustimmen,  daß  an  eine  Gleich- 
setzung von  Intensität  und  Sättigung  nicht  zu  denken  ist;  denn 
„sattes"  und  „unsattes  Gefallen" ,  bzw.  Ernstgefühl  und  (durch  eine 
Annahme  bedingtes)  Phantasiegefühl  —  Werthalten  und  Werten 
—  sind  zwei  nicht  quantitativ,  sondern  qualitativ  geschiedene 
psychische  Tatbestände.  Nur  innerhalb  des  einen  oder  des  andern 
Gebietes,  des  „satten"  oder  des  „unsatten  Gefallens"  kann  von 
einer  graduellen  Variierbarkeit  die  Rede  sein. 

Wenn  also  dem  Verfasser  soweit  recht  gegeben  werden  muß. 
daß  „satt"  und  „unsatt"  nur  Werten  gegenüber  in  Frage  kommt, 
so  wird  damit  die  Notwendigkeit  nicht  anerkannt,  unser  A'^r- 
halten  dabei  als  „Gefallen",  als  ein  eigenartiges,  willensähnliches 
Erlebnis  dem  Gefühle  gegenüberzustellen;  denn  der  in  Unter- 
suchung stehenden  psychischen  Reaktion  kommt  sowohl  Sättigung 
wie  Intensität  zu,  mag  man  sie  als  „Gefallen"  oder  als  Gefühl 
auffassen. 


')  Vgl,  Meinong,  „Über  Annahmen",  §  54. 


Gegen  eine  voluntaristische  Begründung  der  Werttheorie.  543 

c)  Das  qualitative  Moment. 

Die  Behauptung,  daß  Lust  verschiedene  Qualität  haben  könne, 
läßt  sich  nicht  als  Kriterium  dieser  Tatsache  gegenüber  dem  „Ge- 
fallen" verwenden,  da  die  Qualitätsfrage  bis  heute  nicht  endgiltig 
entschieden  worden  ist.  Dies  zeigen  zur  Genüge  die  verschiedenen 
Auffassungen,  welche  darüber  herrschen.  So  führt  Schwarz  selbst 
einen  Satz  Külpes  an,  der,  obwohl  er  für  die  Gleichartigkeit  der 
Gefühle  eintritt,  dennoch  bemerkt:  „So  selbstverständlich  dem 
einen  die  unbegrenzte  Mannigfaltigkeit  von  Lust-  und  Unlust- 
qualitäten erscheint,  so  selbstverständlich  ist  dem  andern  die  bloße 
Zweiheit  der  Gefühlstöne.  Eine  sichere  Entscheidung  dieser  Grund- 
frage ist  zur  Zeit  nicht  möglich."  ^) 

„Die  Entscheidung",  meint  dagegen  Schwarz,  „ist  nicht  schwer. 
Denn  die  scheinbare  Einerleiheit ,  sei  es  aller  Lusttöne,  sei  es 
aller  Unlusttöne,  läßt  sich  auf  einen  sehr  einfachen  Umstand 
zurückführen:  alle  Lust  gefällt,  alle  Unlust  mißfällt."^)  Hier 
sucht  unser  Autor  in  der  Gleichartigkeit  der  Folgeerscheinungen 
den  Grund,  weshalb  man  für  die  Einerleiheit  der  Gefühle  einge- 
treten ist,  so  gut  wie  er  selbst  augenscheinlich  durch  die  Ver- 
schiedenartigkeit der  Gegenstände,  welche  Gefühle  hervorrufen, 
veranlaßt  worden  ist,  den  Gefühlen  verschiedene  Qualität  nachzu- 
sagen."') Trift't  dies  zu,  so  würde  man  in  beiden  Fällen  nicht  aus 
der  Beschaftenheit  des  Gefühles  selbst,  sondern  aus  dessen  Begleit- 
erscheinungen das  nachzuweisen  versucht  haben,  was  aus  der  Natur 
des  Gefühles  selbst  so  schwer  sich  nachweisen  läßt  und  doch  erst 
auf  diese  Weise  endgiltig  wird  entschieden  werden  können.  Ob- 
wohl der  Verfasser  sich  auf  die  innere  Wahrnehmung  beruft,  so 
scheint  sie  vielmehr  das  Gegenteil  von  dem  zu  ergeben,  was  er 
aus  ihr  entnehmen  zu  dürfen  meint,  da  sie  eher  darauf  hindeutet, 
daß  die  Verschiedenartigkeit  nicht  an  dem  reinen  Gefühlsmoment 
hängt,  sondern  an  der  Vorstellungsseite  der  Tatsache,  den  gegen- 
ständlichen Bestimmungen  des  gegebenen  Gefühls. 

Und  selbst  wer  meint,  daß  die  Gefühle  verschiedener  Qualität 


')  „Glück  und  Sittlichkeit",  S.  49. 

«)  Ebenda. 

■■')  Das  ist  zwar  nicht  ausdrücklich  betont,  wohl  aber  aus  S.  22  zu  entnehmen 
„Gefallen  (an  Lust,  an  Wahrheit,  an  jemandes  Wohl)  hat  nur  eine  Qualität,  Lust 
(der  Wohlgeschmack,  das  warme  Bad  usw.)  hat  viele  Qualitäten." 


544  Wilhelmine  Liel. 

Wären,  faßt  »-ewiß  nicht  die  sinnlichen  Gefühle  allein  (wie  Schwarz 
doch  zu  tun  scheint)  unter  dem  Namen  der  Gefühle  ins  Auge,  er 
sondert  diese  vielmehr  als  Gefühle  einer  Art  von  den  übrigen. 
Außerdem  wäre  aber  sehr  fraglich,  ob  die  Qualitätsverschieden- 
heit bei  Gefühlen  einer  Entgegensetzung  von  Gefallen  und  Gefühl 
sonderlich  günstig  sein  müßte.  Gibt  es  verschiedene  Gefühlsquali- 
täten, warum  könnte  die  etwaige  Eigenart  des  „Gefallens"  nicht 
gerade  in  einer  dieser  Qualitäten  gelegen  sein? 

d)  Aktivität  und  Passivität. 

Obwohl  dieser  Gegensatz  nicht  ausdi'ücklich  zur  Unterscheidung 
des  Gefallens  vom  Gefühl  angeführt  wird .  ^)  so  ergibt  er  sich 
doch  sowohl  aus  der  Einteilung  der  psjxhischen  Vorgänge  (a.  a.  0. 
S.  23  ff.)  wie  aus  der  konsequenten  Bezeichnung  des  Gefühles  als 
Zustand,  des  Gefallens  als  Akt.  An  genannter  Stelle  werden  die 
aktiven  seelischen  Erlebnisse  den  sogenannten  zuständlichen  Er- 
regungen gegenüber  durch  folgende  Merkmale  charakterisiert: 

1.  Die  zuständlichen  Erregungen  sind  bloße  „BeTNTißtheit" 
die  Akte  dagegen  „Bewußtsein". 

2.  Jene  gehen  in  keiner  Weise  über  sich  hinaus,  wir  erleben 
in  ihnen  nichts  als  sie  selber;  bei  diesen,  den  Akten  dagegen  be- 
merken wir  ein  eigentümliches  „Gerichtetsein". 

3.  Die  zuständlichen  Erregungen  haben  wechselnde  Stärke- 
grade, die  Akte  dagegen  nicht. 

4.  Die  zuständlichen  Erregungen  sind  nur  Abänderungen  unseres 
Zustandes  —  „unseres  neutralen  sogenannten  Gemeingefühls"  — ; 
tritt  eine  neue  Empfindung,  ein  neues  Gefühl  auf,  so  ist  dies  alles 
nichts  absolut  Neues.  Jeder  der  seelischen  Akte  jedoch  bedeutet 
ein  neues  Anfangen;  sie  können  erst  eintreten,  wenn  ihnen  ein 
Stoff  der  Betätigung  gegeben  ist. 

Die  nächste  Aufgabe  wäre,  zu  untersuchen,  ob  die  hier  ange- 
gebenen charakteristischen  Merkmale  der  Zustände  wie  der  Akte 
für  die  von  Schwarz  diesen  beiden  Hauptgruppen  eingeordneten 
psychischen  Tatsachen  auch  nachweisbar  sind,  d.  h.  ob  alle  für 
die  passiven  Erlebnisse  angeführten  Kennzeichen  auch  tatsächlich 


')  Er  findet  sich  in  der  Zusammenfassung  der  Gegensätze  (a.  a.  0.  S.  106) 
nicht  vor. 


Geg^en  eine  voluntaristische  Begründung  der  Werttheorie.  545 

Eigenschaften  der  Empfindung-en,  Gefühle  und  Begehrungen  sind,  — 
ebenso  alle  für  die  aktiven  Vorgänge  Merkmale  der  Vorstellungen. 
Urteile  und  Gefallens-  bzw.  Vorziehensakte.  Da  diese  Aufgabe  jedoch 
zu  weit  führen  und  um  ein  Beträchtliches  den  Rahmen  dessen 
überschreiten  würde,  was  hier  als  Thema  vorgegeben  erscheint,  so 
soll  nur  dasjenige  einer  Prüfung  unterzogen  werden,  was  auf  den 
bisher  behandelten  Gegensatz  von  Gefallen  und  Gefühl  einiges 
Licht  zu  werfen  imstande  ist. 

ad  1.  Der  ersterwähnte  Gegensatz  erscheint  nicht  sehr  ge- 
eignet, den  Sachverhalt  zu  erhellen.  Das  \\'ort  „Bewußtheit"  wird 
nicht  näher  bestimmt  und  ist  in  unser  Sprachgefühl  nicht  so  weit 
eingedrungen,  als  notwendig  wäre,  um  die  dafür  in  Anspruch  ge- 
nommene Bedeutung  ohne  weiteres  präzis  darzubieten.  Was  darunter 
gemeint  sein  könnte,  ließe  sich  etwa  nur  mit  Hilfe  des  Wortes 
„Bewußtsein"  erkennen,  welches  einen  Gegensatz  dazu  bedeuten 
soll.  Nun  hat  aber  dieses  Wort  selbst  verschiedene  Bedeutungen 
und  wir  erfahren  nicht,  welche  Schwaez  bevorzugt.  Häufig  nennt 
man  etwas  „bewußt" ,  sofern  man  daram  weiß ,  und  Bewußtsein 
bedeutet  dann  soviel  wie  Wissen;  Schwarz  nennt  jedoch  auch  die 
Vorstellungen  „Bewußtsein",  indes  Vorstellungen  doch  kein  AMssen 
sind,  so  sehr  sie  sich  auch  für  das  Auftreten  eines  solchen  als 
notwendig  erweisen.  Das  ^yoYt  Bewußtsein  kann  also  hier  nicht 
in  diesem  ersten  Sinne  gedeutet  werden,  dann  wenigstens  nicht, 
wenn  man  die  wesentliche  Verschiedenheit  zwischen  urteil  und 
Vorstellung  nicht  übersehen  will. 

Bewußtsein  hat  aber  oft  noch  einen  zweiten  Sinn ;  man  meint 
damit  auch  wohl  jeden  Zustand,  in  dem  wir  überhaupt  Psj'chisches 
erleben  und  zu  welchem  „das  Be"s\'ußtsein  verlieren"  den  Gegensatz 
bildet.  Indes  ist  in  betreft'  eines  Gegensatzes  zum  Terminus  „Be- 
wußtheit" auch  aus  dieser  Bedeutung  nichts  zu  entnehmen,  weil 
„Bewußtsein"  in  diesem  Sinne  überhaupt  keinen  Gegensatz  inner- 
halb des  Psychischen  hat. 

So  scheint  also  dieser  erste  für  aktive  und  passive  seelische 
Erlebnisse  angegebene  Unterschied,  der  zu  gleicher  Zeit  einen 
Gegensatz  für  Gefallen  und  Gefühl  bedeuten  sollte,  das  Gewünschte 
nicht  zu  leisten,  so  lange  wenigstens  nicht,  bis  eine  nähere  Deter- 
mination von  „Bewußtsein"  gegenüber  „Bewußtheit'-  die  Frage 
entschieden  hat. 

Meinung,  Untersuchungen  35 


^^g  Wilhelmine  Liel. 

ad  2.  Dem  an  zweiter  Stelle  angeführten  Kennzeichen  für 
passives,  bzw.  aktives  seelisches  Erlebnis  gegenüber  befinden  wir 
uns  in  etwas  günstigerer  Lage,  weil  Schwarz  den  Gegensatz  hier 
genauer  formuliert,  auch  später  nochmals  darauf  zurückkommt.  ..Wir 
erleben,"  heißt  es  bei  der  Unterscheidung  der  Akte  von  den  Zu- 
ständen, \)  bei  jenen  „ein  eigentümliches  Gerichtetsein;  dort  (bei 
den  Akten  des  Gegenstandsbewußtseins)  auf  Gegenstände,  hier 
(bei  den  Akten  des  Wertbewußtseins)  auf  Erfüllung  mit  Werten." 
Und  an  anderer  Stelle :  ^)  die  Aktivität  der  Gefallensakte  „besteht 
in  dem  Wechsel  des  Satt-  und  Leer-,  des  Wunschlos-  und  Wunsch- 
voll-Werdens.  Mit  solchem  Wechsel  antwortet  das  Gefallen  als  ak- 
tives Tun  auf  die  Anstöße,  die  es  wecken.  Er  ist  es,  der  uns  als 
,Eichtung'  der  Gefallens-  und  Mißfallensakte  auf  gewisse  Gegen- 
stände erscheint.  Das  ,sich  richten'  dieser  Art  ist,  wie  man  sieht, 
von  der  ,intentionalen  Beziehung'  der  Vorstellungen  und  Urteile 
auf  ihren  Gegenstand  gänzlich  verschieden." 

Es  fällt  nicht  schwer,  zu  erkennen,  daß  bei  den  Akten  des 
Gegenstandsbewußtseins,  den  Vorstellungen  und  Urteilen,  unter 
dem  „Gerichtetsein"  einfach  deren  Gegenständlichkeit  gemeint  ist. 
Nicht  so  bei  den  Akten  des  „AVertbewußtseins".  In  dem  Wechsel 
des  satt  und  unsatt  werdenden  Gefallens  soll  das,  was  die  Richtung 
der  Gefallensakte  ausmacht  und  damit  deren  Aktivität  begründet 
sein.  Dieser  Wechsel  ließe  sich  vielleicht  so  verstehen:  da  mit 
dem  unsatten  Gefallen  ein  Wünschen  verbunden  ist,  das  mit  dem 
Sattwerden  des  Gefallens  schwindet,  so  könnte  jenes  Wünschen 
den  Wechsel  und,  wie  oben  erwähnt,  die  Aktivität  des  Gefallens 
ausmachen.  Dies  kann  aber  Schwaez  unmöglich  meinen,  da 
er  das  Wünschen  oder  hindrängende  Treiben  ausdrücklich  zu 
den  Zuständen,  den  passiven  Tatsachen  rechnet  und  das  Hinzu- 
treten eines  solchen  Wünschens  zu  einem  andern  Erlebnis  dieses 
sicherlich  nicht  zu  einem  „aktiven"  machen  kann.  Noch  eine 
zweite  Schwierigkeit  würde  durch  diese  Auslegung  entstehen.  Da 
das  satte  Gefallen  wunschlos  bleibt,  so  hätte  man  damit  dieses  als 
passives  Erlebnis  dem  unsatten  gegenübergestellt,  was  den  Inten- 


»)  A.  a.  0.  S.  24. 
')  A.  a.  0.  S.  73. 


Gegen  eine  voluntaristisehe  Begründung  der  Werttheorie.  547 

tionen  des  Verfassers  nicht  entsprechen  würde,^)  —  und  dies  mit 
vollem  Kecht. 

Vielleicht  gelangt  man  aber  anf  einem  anderen  ^Yege  zum 
Ziele.  Weil  das  Beg'ehren  nicht  die  Unsattheit  des  Gefallens  ver- 
anlaßt, sondern  umgekehrt  das  unsatte  Gefallen  das  Wünschen 
nach  sich  zieht,  ..jenes  das  ursächliche  Moment,  dieses  die  Folge- 
erscheinung ist,''  -)  so  muß  in  den  beiden  Arten  des  Gefallens,  dem 
satten  und  dem  unsatten  an  und  für  sich  ein  wesentlicher  Unter- 
schied liegen.  Dies  ist  auch  des  Verfassers  Ansicht,  nur  meint 
er,  man  könne  den  Unterschied  nicht  angeben :  „Dort  ein  Gefallen 
und  Mißfallen,  das  gleichsam  stille  steht,  sei  es  im  Genießen, 
Bewundern  ....  Hier  ein  Gefallen  bzw.  Mißfallen  mit  der 
seelischen  Bewegung  des  "\^'ünschens  bzw.  Widerstrebens.  Satt 
nannten  wir  das  eine,  unsatt  das  andere.  Mit  den  Worten,  der 
Aftekt  beziehe  sich  auf  ,Seiendes',  die  Begehrung  auf  .Seinsollendes* 
triift  Stumpf  denselben  Unterschied,  der  sich  allerdings  nicht 
weiter  beschreiben ,  nur  erleben  läßt."  ^)  Dem  ist  zuzustimmen, 
so  weit  es  das  innere  Wesen  dieser  beiden  Tatbestände,  des 
satten  und  des  unsatten  Gefallens,  nicht  aber,  soweit  es  die  Un- 
möglichkeit einer  Charakteristik  derselben  betrifft ;  denn  eine  solche 
ist  nicht  nur  an  anderem  Orte  gegeben,^)  sondern  auch  durch  die 
oben  angeführten  Worte  selbst  angedeutet  worden.  Sie  ergibt  sich 
nämlich,  sobald  man  auf  die  Weise  näher  eingeht,  in  der  sich 
das  Gefallen  auf  ein  „Seiendes",  resp.  ein  „Seinsollendes"  „bezieht". 
Dadurch  wird  aber  dann  zugleich  die  Möglichkeit  einer  neuen 
Auslegung  dessen,  was  Schwakz  mit  „Richtung  der  Gefallensakte" 
meinen  könnte,  geboten. 

Beziehen  sich  nämlich  die  Affekte,  zunächst  die  satten  Ge- 
fallensakte —  im  Sinne   von  Werthaltungen  —  auf  „Seiendes", 


*)  Nach  ScHWAHz  würde  dies  jedoch  mit  der  Ansicht  anderer  Autoren  über- 
einstimmen: so  führt  er  Külpe  an,  der  von  der  „Passivität  der  Affekte  und  der 
Aktivität  der  Triebe"  spricht,  —  ebenso  Stumpf,  der  die  Affekte  im  Gegensatze  zu 
den  Begehrungen  einen  „passiven  Gefühlszustand"  nennt  (a.  a.  0.  S.  64).  Für 
Schwarz  bedeutet  nämlich  Affekt  „sattes  Gefallen"  bzw.  ..Mißfallen",  —  Trieb 
und  Begehren  „unsattes  Gefallen  und  Wünschen". 

"-)  A.  a.  0.  S.  23. 

ä)  A.  a.  0.  S.  65. 

•»)  Durch  Meikong,  ,.Über  Annahmen"  §  56. 

35* 


548  Wilhelmine  Liel. 

SO  kann  dabei,  da  die  ^^'i^klichkeit  nur  durch  das  Urteil  zu  er- 
fassen ist,  ein  solches  niemals  fehlen.  Mit  der  Erldärung  dagegen, 
unsatte  Gefallensakte  resp.  „die  Begehrungen  beziehen  sich  auf 
ein  Seinsollendes'S  wäre,  da  sich  das  Sollen  selbst  nicht  anders 
als  durch  ein  Begehren  definieren  läßt,  ^)  an  sich  noch  wenig  ge- 
sagt, wenn  eine  Begehrung  nicht  bei  dem  Begehrenden  die  Über- 
zeugung von  dem  Nichtsein  eines  Objektes,  also  wieder  ein  Urteil 
voraussetzte.  Man  darf  somit  behaupten,  daß  das  unsatte  Gefallen, 
genauer  dessen  „Unsattheit"  durch  die  Überzeugung  von  der 
Nichtexistenz  eines  Wertobjektes  bedingt  ist;  zu  einem  Gefallen 
dieser  Art  tritt  dann  der  Wunsch,  der  sich  auf  das  Sein  des 
Objektes  richtet.  So  vermittelt  schließlich  das  Urteil  beim  satten 
wie  beim  unsatten  Gefallen  dessen  „Richtung"  auf  bestimmte  Gegen- 
stände. Das  Urteil  könnte  also  dasjenige  sein,  was  die  Aktivität 
des  Gefallens  ausmacht  und  damit  dessen  Gegensätzlichkeit  zur 
Passivität  des  Gefühles  begründet,  sofern  diesem  die  gekenn- 
zeichnete Richtung  fehlt.  Und  einer  solchen  Gegenüberstellung 
darf  man  in  der  Tat  beistimmen;  nur  ist  damit  noch  keineswegs 
eingeräumt,  daß  Werthaltungen  etwas  vom  Gefühl  Verschiedenes, 
ein  besonderes  psj^chisches  Erlebnis  sein  müßten.  Das  Urteil  kann 
eben  auch  mit  einem  Gefühle  zusammen  auftreten;  dann  prägt  es 
diesem  etwas  wie  einen  aktiven  Charakter  auf  und  trennt  es 
dadurch  von  den  übrigen  Gefühlen,  die  an  ein  Urteil  nicht  ge- 
bunden sind. 

Zum  Sclüusse  sei  doch  noch  einmal  die  Frage  erhoben,  auf 
die  im  Laufe  dieser  Untersuchung  schon  mehrmals  hingewiesen 
wurde,  ob  es  der  Ansicht  von  Schwarz  entsprechen  würde,  wenn 
man  unter  dem  „Gerichtetsein"  etwa  die  Gegenständlichkeit  der 
Gefallensakte  verstehen  wollte,  d.  h.  ob  nicht  vielleicht  darin,  daß 
das  Gefallen  auf  Gegenstände  gerichtet  erscheint,  die  dem  Gefühle 
fehlen,   der  vermeintliche  Gegensatz   zu  finden  wäre.     Die  Auf- 


')  „Ob  mau  freilich  das  SeiiisoUende  selbst  anders  als  dadurch  defiuieren 
kann,  daß  es  der  Inhalt  eines  Begehrens  ist,  kann  wohl  gefragt  werden,"  sagt 
Stumpf  selbst  (Über  den  Begriff  der  Gemütsbewegung,  Zeitschr.  f.  Psych.  1899, 
Bd.  21,  S.  56.)  Vgl.  auch  Meinong,  Psychol.-eth.  Untersuchungen  zur  Werttheorie: 
„Der  Ausdruck  , Sollen'  bedeutet  die  komplexe  Tatsache,  daß  ein  Wille  oder 
Wunsch  vorliegt,  der  auf  eine  Handlung  oder  Wollung  seitens  desjenigen  gerichtet 
ist,  der  eben  ,soir"  (S.  1S4). 


Gegen  eine  voluntariatische  Begründung  der  Werttheorie.  549 

fassimg  des  „Gericlitetseiiis"'  als  Gegenständlichkeit  bleibt  er- 
wägenswert, obwohl  bei  Schwarz  nicht  nur.  wie  aus  dem  oben 
(S.  546)  angeführten  Satze  erhellt,  von  einer  „gänzlich*'  verschieden- 
artigen Eichtung  der  Akte  des  „Wertbewnßtseins"  im  Vergleich 
zu  jenen  des  „Gegenstandsbewußtseins"  die  Rede  ist,  sondern  doch 
auch  gelegentlich^)  objektlose  Gefühle  solchen  entgegengesetzt 
werden,  die  auf  Objekte  gerichtet  erscheinen,  womit  eben  die  Ge- 
fallensakte gemeint  sind.  Bei  der  Zusammenfassung  der  Gegen- 
sätze zwischen  Gefallen  und  Gefühl  (S.  106)-)  wird  ja  dann 
gleichwohl  die  Beziehung  der  Gefallensakte  auf  bestimmte  Gegen- 
stände, Avelche  Beziehung  den  Gefühlen  fehlen  soll,  ausdrücklich 
hervorgehoben.  Es  ist  dabei  kaum  von  Belang,  daß  die  in  dieser 
Weise  verstandene  Eichtung  des  Gefallens  doch  nicht  so  gänzlich 
von  der  der  Vorstellungen  und  Urteile  verschieden  sein  kann,  als 
von  ScHWAEz  angenommen  zu  werden  scheint.  Es  sei  z.  B.  ein 
Urteil  U,  dessen  Voraussetzung  die  Vorstellung  Vg  ist,  gegeben. 
U  ist  dann  vermöge  der  Relation,  in  die  es  mit  Vg  tritt,  auf  G, 
den  Gegenstand  der  Vorstellung  gerichtet.  Nun  knüpft  sich  an 
dieses  Urteil  ein  Werthalten,  das  sich  natürlich  wieder  auf  G 
richtet.  Ohne  Zweifel  ist  es  das  Urteil,  von  dem  die  Werthaltung 
die  Richtung  erhalten  hat;  diese  Richtung  wird  also  wohl  keine 
andere  als  die  des  Urteils  sein. 

Faßt  man  nun  aber  den  Gegensatz  zwischen  Gerichtetsein 
des  Gefallens  und  Richtungslosigkeit  des  Gefühls  so  auf,  daß  sich 
nur  das  Gefallen  auf  Gegenstände  bezieht,  so  ist  das  Bestehen 
eines  solchen  Gerichtetseins  beim  Gefallen  wohl  anzuerkennen. 
nicht  aber  dessen  Fehlen  beim  Gefühl,  zumal  über  die  Objektlosig- 
keit^)  wie  über  die  Qualitätsmannigfaltigkeit  der  Gefühle  wider- 
sprechende Ansichten  herrschen.  Diese  Frage  bedarf  jedoch  hier 
keiner  eingehenden  Erörterung.  Wäre  es  auch  festgestellt,  daß 
gegenstandslose  Gefühle  überhaupt  vorkommen,  so  wäre  damit  der 
uns  beschäftigende  Gegensatz  doch  noch  nicht  als  zu  Recht  be- 
stehend dargetan,  da  trotz  des  Vorhandenseins  solcher  Gefühle 
immer  noch  andere  blieben,  denen  Gegenständlichkeit  nicht  würde 


')  „Glück  und  Sittlichkeit"  S.  74. 

-)  Eine  völlig  ablehnende  Stellung  gegenüber  der  Eventualität  objektloser  Ge- 
fühle nimmt  z.B.  Meinong  ein.  Tgl.,, Psycho). -eth.  Unters,  zur  Werttheorie".  §  U.S.  34  f. 


550  Wilhelmine  Likl. 

abgesprochen  werden  können.  So  hat  man  für  das  Lustgefühl  am 
Süßen  immer  noch  den  Gegenstand  „süß",  für  das  Unlustgefühl  am 
Bitteren  den  Gegenstand  ,.bitter"  aufzuweisen.  Schwarz  freilich 
läßt  den  Spaziergänger,  den  plötzlich  ein  Duft  umweht,  „sattes 
Gefallen",  nach  Verschwinden  des  Wohlgeruches  ,. unsattes  Ge- 
fallen" verspüren  ;V)  aber  am  Ende  hat  dieser  doch  nichts  anderes 
als  ein  sinnliches  Gefühl  und  darauf  ein  Begehren  sinnlicher  Art 
erlebt.  Eine  solche  Verwechslung  wäre  nicht  möglich,  wenn  das 
sinnliche  Gefühl  nicht  auch  seinen  Gegenstand,  nämlich  hier  den 
Geruch  bestimmter  Art  hätte.  Daß  hier  als  Beispiele  für  ob- 
jektlose Gefühle  nur  sinnliche  herangezogen  werden  können,  ist 
dem  Verfasser  selbst  zuzuschreiben,  da  er  alle  übrigen  emotionalen 
Erregungen  von  den  Gefühlen  ausschließt  und  zu  den  AVoUungs- 
tatsachen  zählt  (als  Wünschen,  Gefallen  oder  Vorziehen).  Der 
Meinung  ist  aber  auch  er,  daß  alles  ästhetische  „Gefallen" 
seinen  Gegenstand  hat;  und  daß  dieses  kein  Werthalten  ist,  daher 
bereits  im  gegenwärtigen  Zusammenhange  geradezu  als  Beispiel 
für  Gefühle,  die  auf  Gegenstände  gerichtet  sind,  verwendet  werden 
könnte,  darauf  vrird  noch  im  Laufe  dieser  Untersuchungen  aus- 
drücklich zurückgekommen  werden.-) 

Das  Ergebnis  der  vorstehenden  Ausführungen  können  wir  da- 
hin zusammenfassen,  daß  das  „Gerichtetsein"  der  Gefallensakte, 
sei  es  durch  das  Begehren,  sei  es  durch  das  Uiteil  oder  durch  die 
Gegenständlichkeit  dieser  psjxhischen  Tatsache,  erklärt,  das  Ge- 
fallen vom  Gefühl  nicht  unterscheidet.    Denn 

erstens  tritt  das  Begehren  nur  mit  einer  Art  des  Gefallens,  dem 
unsatten  zusammen  auf;  es  könnte  daher  zwar  das  unsatte  Ge- 
fallen als  aktiv,  müßte  dann  aber  das  satte  Gefallen  als  passiv 
erscheinen ; 

würde  zweitens  das  Urteil  die  Gefallensrichtung  bestimmen,  so 
erschiene  es  überflüssig,  für  die  emotionale  Seite  des  Komplexes, 
der  dann  jedenfalls  vorliegt,  eine  neue  Tatsache,  das  Gefallen, 
in  Anspruch  zu  nehmen,  da  ein  durch  ein  Urteil  gekennzeichnetes 
Gefühl  den  Tatbestand  mindestens  ebensogut  erklärt; 

wäre  drittens  endlich  mit  der  Richtung  der  Gefallensakte  deren 


')  Glück  und  Sittlichkeit,  S.  15. 
^)  Vgl.  §  4  dieser  Untersuchung. 


Gegen  eine  voluntaristische  Begründung  der  Werttheorie.  551 

Gegenständlichkeit  gemeint,  su  hätte  man  damit  für  unsere  Gegen- 
überstellung ebensowenig  gewonnen;  denn  wenn  sich  auch  gegen- 
standslose Gefühle  nachweisen  lassen  sollten,  so  blieben  immer  noch 
Gefühle  bestehen,  denen  die  Kichtuug  auf  einen  Gegenstand  nicht 
abgesprochen  werden  könnte. 

ad  3,  Der  Nachweis  einer  Intensitäts Verschiedenheit  kann 
als  unterscheidendes  Merkmal  innerhalb  des  Gebietes  der  passiven 
seelischen  Erlebnisse  gegenüber  den  aktiven  hier  füglich  über- 
gangen werden.  Immerhin  sei  nur  vorübergehend  darauf  hinge- 
wiesen, daß  er  sich  auch  für  solche  psj'chische  Tatsachen  er- 
bringen läßt,  die  als  aktive  allgemein  anerkannt  und  auch  von 
Schwarz  als  solche  bezeichnet  werden;')  so  z.  B.  für  das  Urteil, 
man  entsclilösse  sich  denn,  den  Grad  einer  Wahrscheinlichkeit 
nicht  mehr  als  Inteusitätsmoment  aufzufassen,  wiewohl  hier  wie 
bei  den  Werthaltungen  die  Begrenzung  durch  Null  die  Größen- 
reihe deutlich  verrät.  Gesetzt  nun  aber  auch,  die  Unterscheidung 
zwischen  Aktiv  und  Passiv  durch  den  Hinweis  auf  das  Inten- 
sitätsmoment träfe  bei  allen  übrigen  psychischen  Tatsachen  zu,  für 
die  Auseinanderhaltung  von  Gefallen  und  Gefühl  erweist  sie  sich 
als  belanglos,  da,  wie  im  vorhergehenden  zu  zeigen  versucht  wurde,  ^) 
bei  dem  einen  wie  bei  dem  andern  verschiedene  Stärkegrade  vor- 
kommen, mindestens  in  dieser  Hinsicht  also  das  Gefühl  vom  Ge- 
fallen nicht  unterschieden  ist. 

ad  4.  Das  oben  an  letzter  Stelle  angeführte  Kriterium  für 
passive  und  aktive  seelische  Erlebnisse  ergäbe,  auf  die  in  Rede 
stellenden  Tatsachen  angewendet,  daß  das  Gefühl  als  Zustand  un- 
unterbrochen unser  Gemüt  in  Anspruch  nehmen  müßte,  während  das 
Gefallen  als  Akt  durch  sein  Eintreten  und  Verschwinden  gekenn- 
zeichnet wäre.  Gegen  die  erste  Behauptung  scheint  die  Erfahrung 
zu  sprechen.  Wir  sind  uns  oft  genug  solcher  Augenblicke  bewußt,  in 
welchen  wir.  scheinbar  wenigstens,  von  keinerlei  Gefühlen  beherrscht 
werden.  Für  diese  „lust-  und  unlustlosen  Augenblicke"  beruft  sich 
nun  Schwarz,  da  er  sie  ebenfalls  erkennt,  von  der  Stetigkeit  der 
passiven  Erlebnisse  jedoch  nicht  abgehen  zu  können  meint,  auf  die 
sogenannten  „neutralen  Gefühle". =^)    Das  beweist  aber  zur  Genüge, 


1)  „Glück  und  Sittlichkeit"  S.  24  f. 
*)  S.  536  dieser  Untersuchimg. 
3)  Glück  und  Sittlichkeit.  S.  60. 


qq2  Wilhelmine  Liel. 

wie  wenig  sich  obige  Behauptung  halten  läßt;  denn  ein  Geiühl, 
das  weder  Lust  noch  Unlust  ist,  wird  wohl  überhaupt  keines  und 
der  sogenannte  ,,neutrale  Bewußtseinszustand"  ^)  eben  derjenige 
sein,  in  welchem  wir  frei  von  allen  Gefühlen  sind. 

Es  wäre  immerhin  noch  die  Annahme  möglich,  daß  Gefühle 
zwar  stets  aktuell  vorhanden,  in  bestimmten  Fällen  jedoch  zu 
schwach  wären,  um  überhaupt  wahrgenommen  werden  zu  können. 
Wenn  nun  auch  das  Vorhandensein  solcher  unwahrnehmbaren  psy- 
chischen Tatbestände  vorweg  nicht  geleugnet  werden  kann,  so 
liegt  doch  kaum  ein  zwingender  Grund  vor,  gerade  in  unserem 
Falle  solche  anzunehmen.  Sollte  jemand  trotzdem  den  oben  als 
„neutrales  Bewußtsein"  bezeichneten  Zustand  nicht  anerkennen, 
also  meinen,  es  gäbe  keine  Gegenstände,  die  nicht  auf  irgend  eine 
Weise  Gefühle  in  uns  wachrufen,  so  wäre  ihm  entgegenzuhalten,  daß 
mit  ebendemselben  Rechte  allem  Existierenden  ein  Einfluß  auch 
auf  unser  Werthalten  zugesprochen  vrerden  könnte.  Und  selbst 
wenn  dieses  Recht  nicht  bestünde,  schon  die  Behauptung  des  Ver- 
fassers, daß  jede  Lust  „Gefallen",  jede  Unlust  „Mißfallen"  errege, '-) 
wäre  geeignet,  den  von  ihm  selbst  für  Gefallen  und  Gefühl  auf- 
gestellten Gegensatz,  der  in  der  Stetigkeit  des  einen,  der  Un- 
stetigkeit  des  andern  liegen  soll,  von  vornherein  zu  verwischen. 
Denn  angenommen,  man  fühlte  unaufhörlich,  so  dürften  auch  Ge- 
fallen und  Mißfallen  als  Begleiterscheinungen  niemals  ausbleiben 
und  müßten  einander  so  gut  ablösen  wie  Lust  und  Unlust. 

Zugunsten  der  eben  besprochenen  Charakteristik  des  Aktiven 
und  Passiven  beruft  sich  Schwarz  darauf,  daß  kein  Eintreten 
irgend  eines  passiven  Zustandes  ein  neues  Anfangen  bedeute;  es 
seien  vielmehr  alle  nur  „Abändeningen  unseres  neutralen  soge- 
nannten Gemeingefühls".  Nun  wird  zunächst  niemand  aus  eigener 
Erfahrung  so  recht  begreifen  können,  daß  das  plötzliche  Herein- 
brechen eines  unangenehmen  Vorfalles  in  heitere  Gemütsstimmung 
nicht  ein  völlig  neues  Anfangen  bedeuten  soll,  mit  andern  Worten, 
daß  der  bloße  qualitative  Wechsel  des  Fühlens,  der  Übergang 
von  Lust  zu  Unlust  nicht  schon  allein  etwas  Neues  mit  sich  bringen 
sollte,  selbst  wenn  man  zugeben  möchte,  daß  Gefühle  stets  vorhanden 


')  A.  a.  0.  S.  60. 
«)  Ä.  a.  0.  S.  49. 


Gegen  eine  volnntaristische  Begründung  der  Werttheorie.  553 

sind.  Was  aber  Schwarz  zur  Überzeugung  von  der  Stetigkeit  der 
zuständliclien  Erregungen  gefülirt  hat,  sind  J.  Rehmkes  diesbezüg- 
liche Untersuchungen :  ^)  (-remäß  dem  allgemeinen  Gesetze  der  Ver- 
änderung, meint  dieser,  könne  keine  solche  an  einem  Individuum 
jemals  so  geschehen,  daß  dieses  eine  gänzlich  neue  Bestimmtheit  an- 
nähme. Vielmehr  müsse  sich  eine  allgemeine  Bestimmtheit  des 
Individuums  (z.  B.  Farbe  überhaupt)  stets  in  irgend  einer  Weise 
,.besondern".  Die  betreffende  allgemeine  Bestimmtheit  müsse  also 
im  Falle  einer  Veränderung  (z.  B.  wenn  ein  Blatt  rote  Farbe 
annimmt)  in  irgend  einer  Besonderung  (z.  B.  grün)  schon  vorher 
existiert  haben.  Demgemäß  führt  auch  ..die  unbestreitbare  Tat- 
sache, daß  das  Bewußtsein  irgend  wann  doch  Gefühl,  d.  i,  zuständ- 
liche  Bewußtseinsbestimmtheit  gehabt  hat,  ....  zu  dem  sicheren 
Schlüsse,  daß  das  Gefühl  allgemeine  Bestimmtheit  des  Bewußt- 
seinsindividuums ist." ") 

Dieses  allgemeine  Veränderungsgesetz  entstammt  Erfahrungen 
und  Erwägungen  aus  dem  Gebiete  der  physischen  Welt  und  wird 
sich  schwer  ohne  weiteres  auf  Psychisches  anwenden  lassen. 
Fragt  man  sich  jedoch,  wie  das  Gesetz  auch  nur  auf  außerpsy- 
chischem Gebiete  zu  verstehen  ist,  so  findet  man,  daß  (um  bei 
dem  oben  angeführten  Beispiele  zu  verbleiben)  ein  Gegenstand 
dann  rot  ist,  wenn  er  die  Eigenschaft  hat.  bei  auffallendem  Lichte 
diese  Empfindung  im  betrachtenden  Subjekte  hervorzurufen.  Der- 
selbe Gegenstand  hat  diese  Wirkung  nicht  mehr,  sobald  ihn 
Dunkel  umgibt.  Daraus  ist  zu  entnehmen,  daß  das  Rotsein  eines 
Körpers  nichts  anderes  als  dessen  Fähigkeit  ist,  eine  bestimmte 
Wirkung  unter  ganz  bestimmten  Umständen  hervorzurufen.  Diese 
Fähigkeit  behält  der  Körper  bei.  auch  wenn  sie  sich  gerade 
nicht  äußert;  sie  ist  es,  die  ihm  unverlierbar  eignet,  bis  eine 
andere  (dem  Farbengebiete  zugehörige)  Bestimmung  an  ihre  Stelle 
tritt.  Ähnlich  gibt  eine  Saite  erst  dann  einen  Ton  und  zwar 
einen  Ton  von  ganz  bestimmter  Höhe  und  Klangfarbe,  wenn  sie 
gestrichen  wird;  das,  was  sie  behält,  ist  die  Fähigkeit,  den  Ton 
zu  geben.  So  kann  man  Farbe  und  Ton  zwar  als  „Bestimmt- 
heiten", nicht  aber  als  stete,  unverlierbare  Begleiter  ihrer  Träger 


^)  Vgl.  Schwarz,  a.  a.  0.  S.  58. 
*)  Ebenda. 


554  Wilhelmine  Likl. 

bezeichnen,  obwohl  die  Fähig-keit  zu  ihrem  Auftreten  im  Individuum 
vorhanden  sein  muß. 

Mit  dieser  Einschränkung  mag  nun  immerhin  das  Gesetz  der 
Zustände  (,. Bestimmtheiten  der  Individuen")  auch  auf  das  Gefühls- 
leben Anwendung  finden.  Aktuelle  Gefühle  werden  zwar  nicht 
jederzeit  ausgelöst,  dafür  aber  muß  die  Disposition  dazu  im  Indi- 
viduum dauernd  vorhanden  sein.  Damit  würde  übereinstimmen, 
daß  man  auch  im  gewöhnlichen  Leben  unter  den  „Eigenschaften" 
eines  Menschen  niemals  dessen  aktuelle  psychische  Erlebnisse 
sondern  seine  Dispositionen  begreift.  Man  spricht  von  einem 
scharf-  und  schwachsinnigen,  von  einem  gemütvollen  und  gemüt- 
losen, einem  charakterfesten  und  schwachen  Menschen  und  meint 
mit  diesen  Eigenschaften  das,  was  als  „Dispositionsgrundlage"  den 
aktuellen  psjxhischen  Vorgängen,  dem  „Dispositionskorrelat"  gegen- 
übersteht. ^) 

Was  sich  aus  dieser  Betrachtung  mit  besonderer  Rücksicht- 
nahme auf  das  Gefühl  ergeben  hat,  gilt  nun  aber  auch  für  das 
„Gefallen"  ;  für  dieses  wie  für  jenes  bedeutet  die  Dispositionsgrund- 
lage (zu  Gefallen  wie  zu  Gefühl  überhaupt,  als  „allgemeine  Be- 
stimmtheit" des  Individuums)  ein  Dauerndes,  Stetes,  —  die  momen- 
tanen aktuellen  Eegungen  das  Flüchtige,  Unterbrochene.  So  scheint 
die  unter  4  angegebene  Eigenschaft  der  Zustände  den  passiven 
seelischen  Erlebnissen  nicht  unerläßlich  zu  sein,  und  so  ist  auch 
in  dieser  Hinsicht  eine  Unterscheidung  zwischen  Gefallen  und  Ge- 
fühl abzulehnen. 

Es  erübrigt  noch  eine  Bemerkung.  Die  Untersuchungen 
Kehmkes  liefern  als  nächstes  Ergebnis  den  Hinweis  auf  die  „Un- 
fähigkeit der  einzelnen  Gefühlsbestimmungen,  zu  mehreren  zugleich 
das  Bewußtseinsindividuum  zu  erfüllen".-)  Die  Erfahrung  lehre, 
,.daß  in  allen  FäUen  unserer  Beobachtung  der  einzelne  Bewußt- 
seinsaugenblick nur  ein  Gefühl  aufweist,  nämlich  ein  einfaches  und 
ungemischtes."  •'')  Die  Gefallensakte  dagegen,  setzt  Schwarz  hinzu, 
könnten  zu  gleicher  Zeit  und  in  Verbindung  mit  Gefühlen  auf- 
treten.*)   Auch  hier,  ließe  sich  einwenden,  scheint  die  Erfahrung 


';  Vgl.  Meinong  „Psychoi.-eth.  Unters,  zur  Werttheorie",  §  14. 
^)  Schwarz,  a.  a.  0.  S.  62. 
»j  A.  a.  0.  S.  61. 
*)  Ebenda. 


Gegen  eine  voluntaristische  Begründung  der  Werttheorie.  555 

eigentlich  gerade  auf  das  Gegenteil  hinzuweisen.  Es  ist  nicht  ein- 
zusehen, weshalb  z.  B.  das  Lustgefühl  beim  Trinken  eines  kühlen- 
den Getränkes  nicht  neben  dem  Unlustgefülü  bestehen  könnte, 
das  durch  das  blendende  Licht  der  Sonne  verursacht  wird,  -leden- 
falls  aber  steht  der  Beweis  für  die  obige  Behauptung  noch  aus  und 
so  muß  wohl  auch  die  Möglichkeit  für  das  Gegenteil  offen  bleiben. 
Es  ließe  sich  also  auch  in  dieser  Hinsicht  für  das  Gefallen  gegen- 
über dem  Gefühl  keine  Sonderstellung  in  Anspruch  nehmen.  Daß 
aber  Wertgefühle  mit  anderen  Gefühlen  zugleich  gegeben  sein 
können,  ist  wenigstens  so  sicher,  als  daß  Gefühle  wie  irgend 
welche  andere  Gegenstände  ^^^ertobjekte  sein  können. 

Da,  wie  man  nun  zurückblickend  behaupten  darf,  die  in 
diesem  Paragraphen  behandelten  Unterscheidungsmerkmale,  welchen 
die  Aufgabe  gestellt  war,  das  Gefallen  als  aktives  seelisches 
Erlebnis  den  Gefühlen  gegenüber  zu  kennzeichnen  und  von  diesen 
zu  sondern,  diesem  ihrem  Zwecke  nicht  nachzukommen  imstande 
sind,  so  liegen  in  den  Ausführungen  unseres  Autors  keine  zwingen- 
den Gründe  zur  Trennung  der  beiden  Tatsachen  vor.  Darum 
könnte  aber  natürlich  immer  noch  die  Aktivität  der  Gefallensakte 
Tatsache  sein.  So  gewiß  aber  der  direkte  Aspekt  auf  die  Passivi- 
tät der  Gefühle  und  die  Aktivität  der  Urteile  hinweist,  so  gewiß 
auch  auf  die  Passivität  der  Werthaltungen,  soweit  nicht  intellek- 
tuelle Voraussetzungen  in  Betracht  gezogen  werden.  Überdies 
haben  die  ,. Gefallensakte"  mit  andern  allgemein  als  passiv  an- 
erkannten Tatsachen  Eigenschaften  gemein,  die,  da  sie  nur  bei 
diesen  nicht  aber  bei  den  aktiv  erscheinenden  Vorgängen  anzu- 
treffen sind,  als  ein  Merkmal  solcher  passiver  Erlebnisse  betrachtet 
werden  können.  Solche  kennzeichnende  Unterschiede  zwischen 
Aktivität  und  Passivität  lassen  sich  mit  Heranziehung  der  Gegen- 
sätze a.  von  Zustand  und  Vorgang,  b.  von  Übung  und  Abstumpfung 
feststellen. 

ad  a.  Es  gibt  Tatsachen,  deren  Charakteristik  durch  einen 
einzigen  Zeitpunkt,  einen  zeitlichen  Querschnitt  gleichsam  gegeben 
werden  kann  (Farbe,  Ton),  andere  dagegen,  deren  Natur  einer  Zeit- 
strecke bedarf,  um  sich  in  ihrer  Eigenartigkeit  zu  entfalten  (Melodie). 
Diese  charakteristische  Verschiedenheit  wurde  anderwärts  durch  die 
Termini  „Punkt-  und  Streckentatsache"  oder  „Punkt-  und  Strecken- 


55ß  Wilhelmine  Liel. 

gegenständ"  charakterisiert.  ^)  Zu  den  letzteren .  den  Strecken- 
tatsachen, die  auch  als  zeitverteilte  Gegenstände  gekennzeichnet 
worden  sind,  gehört  der  Gegensatz  von  Ruhe  und  Bewegung. 
Von  Ruhe  kann  man  sprechen,  sofern  ein  Gegenstand  an  ver- 
schiedenen Punkten  einer  Zeitstrecke  keine  Verschiedenheit  auf- 
weist; so  befindet  sich  ein  Gegenstand  z.  B.  in  Ruhe,  wenn 
seine  Örtlichkeit  in  den  aufeinanderfolgenden  Zeitpunkten  dieselbe 
bleibt.  Weisen  jedoch  die  einzelnen  Zeitpunkte  Verschiedenes  auf, 
wechselt  z.  B.  in  den  aufeinanderfolgenden  Zeitmomenten  die  Ört- 
lichkeit eines  Gegenstandes,  so  liegt  ein  sich  Verändern  in  der 
Zeitstrecke,  eine  Bewegung  vor.  Auch  auf  psychischem  Gebiete 
gibt  es  Gegenstände,  bei  welchen  wir  derselben  charakteristischen 
Verschiedenheit  begegnen,  so  daß  für  sie  die  Bezeichnung  Zustand 
im  Gegensatz  zu  Vorgang  verwendet  werden  kann.^)  Beispiele  für 
Zustände  liefern  Empfindungen,  Gefühle.  —  für  Vorgänge  Urteile, 
wenn  auch  nur  in  bezug  auf  jenen  Teil  des  psjxhischen  Prozesses, 
der  dem  Überzeugtsein  vorangeht,  indes  dieser  sicherlich  als  Zu- 
stand aufzufassen  ist. 

ad  b.  Ein  anderes,  mehrfach  erwähntes  Kennzeichen  für 
Aktivität  betrifft  bestimmte  Dispositionsveränderungen,  die  der 
Verlauf  psychischer  Prozesse  nach  sich  zieht.  Stellt  sich  nämlich 
als  Erfolg  der  Wiederholung  irgend  welcher  seelischer  Vorgänge 
eine  erhöhte  Leistung,  wie  beispielsweise  beim  wiederholten  Ver- 
gleichen eine  feinere  Unterscheidungsfähigkeit  ein,  sprechen  wir 
mit  einem  Worte  von  Übung,  so  können  wir,  da  dies  nur  bei  Tat- 
sachen auftritt,  die  an  und  für  sich  den  Eindruck  des  Aktiven 
machen  —  nicht  aber  bei  jenen,  die  einen  mehr  passiven  Aspekt 
haben,  bei  denen  unter  sonst  gleichen  Bedingungen  geradezu  das 
Entgegengesetzte,  nämlich  eine  Herabsetzung  der  Leistung,  Ab- 
stumpfung eintritt  —  auf  einen  aktiven  Tatbestand  schließen. 

Finden  die  hier  angeführten  Kennzeichen  in  bezug  auf  das 
Werthalten  Anwendung,  so  ergibt  sich,  daß  dieses  keineswegs  die 
Eigenschaften  der  aktiven  seelischen  Erlebnisse  aufweist,  denn  es 
kann  wohl  als  Zustand,  nicht  aber  als  Vorgang  betrachtet  werden ; 


')  Meinong,  „Gegenstände  höherer  Ordnung",  Zeitschr.  f.  Psych.  1899  Bd.  21. 
S.  247. 

-)  Meinong  im  Erkenntnistheoriekolleg  (Winter-Sem.  1903/4). 


Gegen  eiue  voluntaristische  Begründung:  der  Werttheorie.  557 

andererseits  läßt  sich  vom  Werthalten  nicht  behaupten,  daß  es 
übbar  wäre,  sondern  vielmehr,  daß  es  in  Übereinstimmung  mit 
den  übrigen  Gefühlen  dem  Gesetze  der  Abstumpfung  unterworfen  ist. 


§  8.    Zurückführungen  auf  das  „Gefallen". 

Das  Verständnis  für  verscliiedene  Erscheinungen  des  Gemüts- 
lebens, zu  deren  Beschreibung  das  Gefühl  allein  nicht  ausreichen 
würde,  läßt  sich  nach  Schwaez  erst  durch  Heranziehung  des  „Ge- 
fallens" .  in  der  von  ihm  verwendeten  A\'ortbedeutung  gewinnen. 
So  wäre  1.  das  Streben  nach  Glück  erst  auf  Grundlage  dieses 
vom  Gefühl  verschiedenen  psj'chischen  Erlebnisses  zu  verstehen, 
ebenso  ließen  sich  2.  die  Erscheinungen  des  Affektes,  sowie  3.  des 
Bedürfnisses  und  der  Befriedigung  oder  Genugtuung  erst  durch 
das  „Gefallen"'  ausreichend  klarlegen. 

ad  1.  Die  Frage,  wieso  es  komme,  daß  wir  nach  Glückselig- 
keit streben,  inwieferne  unser  Gemüt  für  eine  Yielzalü  von  Wert- 
objekten, mit  einem  Worte,  für  Wertsummen  empfänglich  sei,  führt 
ScHWAKz  zur  Annahme  einer  ganz  besonderen  Art  des  Gefallens, 
des  r  e  f  1  e  X  i  0  n  s  a  r  t  i  g  e  n.  \)  Ohne  Berücksichtigung  eines  solchen 
bliebe  jenes  einheitliche  Begehren  unerklärlich,  auf  Grund  dessen 
wir  nach  einer  Summe  verschiedenartigster  Objekte  gemein- 
sam strebten ;  denn  die  Erkenntnis,  daß  2  größer  als  1  ist,  könnte 
nach  ScHWAKZ  nur  in  dem  Falle  maßgebend  sein,  wo  es  sich  um 
gleichartige  Objekte  handelt.  So  wäre  es  selbstverständlich,  daß 
unser  Gemüt  für  Summen  gleichartiger  Werte,  nicht  aber  auch,  daß 
es  für  Summen  ungleichartiger  ^^'erte  empfänglich  sei.  Dies  ließe 
sich,  wie  erwähnt,  nur  unter  Voraussetzung  des  „reflexionsartigen 
Gefallens"  begreifen.  Richte  sich  nämlich  auf  Lust,  Ehre,  ^^^ahrheit. 
auf  jedes  einzelne  als  Wertobjekt  das  „direkte  Gefallen",  so  werde 
durch  das  „reflexionsartige"  der  A\'ertcharakter  dieser  Objekte 
noch  einmal  bewertet  und  dadurch  deren  Verschiedenheit  ausge- 
glichen. Da  nun  „jeder  einzelne  Trieb  von  seiner  Klasse  möglichst 
viel  gleichartige  Objekte  anstrebt,  so  müßte  dies  auch  für  den 
Trieb  gelten,  der  sich  auf  Werte  aller  Art,  insofern  sie  Werte 
sind,  als  auf  seine  Objektsklasse  richtet",  und  es  wäre  begreiflich. 


')  Glück  und  Sittlichkeit,  S.  4  und  27. 


558  WlI.HELMINE    LiEL. 

daß  hier  das  Streben  auf  die  „maximale  Summe  von  Werten,  d.  i. 
auf  Gliickselij2:keit*'  gerichtet  sei.  \)  Was  g-emeint  ist,  wird  aus 
folgender  Stelle  klarer  ersichtlich :  „Weiter  gefallen  uns  auch  unsere 
satten  Gefallensakte  selber.  Dieses  reflexionsartige  Gefallen,  das 
allen  andern  Gefallensakten  gilt,  ist  die  Wurzel  des  Glückselig- 
keitstriebes. —  Durch  dieses  kommt  es,  daß  die  Gegenstände,  die 
irgend  ein  anderes  Gefallen  erregen,  eben  damit  noch  einmal  ge- 
fallen. Kein  Wunder,  daß  jenes  reflexionsartige  Gefallen  sich 
um  so  mehr  sättigt,  je  mehr  andere  Gefallensakte  gesättigt  sind, 
d.  h.  daß  es  zum  Ideal  der  Glückseligkeit  führt."  -)  Dieser  Position 
ist  entgegenzuhalten : 

a)  Das  Unvermeidliche  einer  unendlichen  Eeihe;  denn  dieses 
als  „reflexionsartig"  bezeichnete  Gefallen  würde,  da  es  sich  der 
Voraussetzung  nach  auf  ein  Seiendes  richtet,  naturgemäß  ein 
„sattes  Gefallen"  sein  müssen,  für  welches  dieselben  Folgen  wie 
für  die  andern  satten  Gefallensakte,  nämlich  das  auf  sich  Lenken 
eines  zweiten  solchen  Aktes  in  Anspruch  zu  nehmen  wäre  usw..^) 
außer  man  wollte  in  dieser  Tatsache  abermals  ein  besonderes 
psychisches  Erlebnis  erkennen,  das  sich  von  den  bisher  be- 
sprochenen Gefallensakten  unterschiede. 

b)  Die  mangelhafte  empirische  Begründung;  denn  die  innere 
Wahrnehmung  sagt  uns  nichts  von  dem  Zweierlei,  das  beim  Ein- 
treten des  Gewünschten  jederzeit  in  uns  vorgehen  soll.  Wenn  es 
auch  gelegentlich  vorkommen  mag,  daß  sich  ein  Werthalten  auf 
ein  anderes  richtet,  so  deutet  dies,  da  man  sich  in  solchen  Fällen 
der  Werthaltung  bewußt  ist,  um  so  mehr  darauf  hin,  daß,  wenn  dies 
nicht  der  Fall  ist,  auch  keine  Werthaltung  vorliegt.  Findet  Schwaez 
jedoch,  daß  sich  zum  Verständnis  des  Glücksstrebens  die  Anerkennung 
eines  solchen  unwahrnehmbaren  Vorganges  als  unumgänglich  nut- 
wendig erw^eist,  so  ist  wieder  nicht  einzusehen,  weshalb  dieses  psy- 
chische Geschehnis,  wenn  tatsächlich  vorhanden,  sich  vom  Gefühle 
unterscheiden  müßte,  da  ein  „reflexionsartig"  erscheinendes  Gefühl, 


1)  A.  a.  0.  S.  1—6. 

2)  A.  a.  0.  S.  27. 

^)  Vorausgesetzt,  daß  Schwarz  auf  jedes  „satte  Gefallen"  ein  solches  „re- 
flexionsartiges" bezogen  denkt,  was  nach  dem  eben  angeführten  Satze  doch  sicher- 
lich der  Fall  zu  sein  scheint. 


Gegen  eine  voluntaristische  Begründung  der  Werttheorie.  559 

das  sich  auf  ein  direktes  Werthalten  richtete,  dieselbe  Aufgabe 
eifüllen  könnte. 

ad  2.  Nach  Schwarz  bedeutet  Affekt  sattes  Gefallen.  Diese 
Auffassung  ersclieint  ihm  im  Hinblick  auf  die  bisher  hauptsächlich 
nach  zwei  entg-egengesetzten  Richtungen  gegebenen  Beschreibungen 
gerechtfertigt,  welche  die  Unzulänglichkeit  der  Gefühlstheorie, 
den  Tatsachen  je  gerecht  zu  werden,  schon  durch  den  AMderstreit, 
den  sie  bedeuten,  erweisen  sollen.  Da  man  nämlich  die  Affekte 
für  Gefühle  hielt,  habe  man  geglaubt,  in  den  hinzutretenden  gefühls- 
fremden Momenten  die  unterscheidenden  Merkmale  finden  zu  müssen. 
So  sei  nun  nach  der  einen  Theorie  (James  und  Laxge)  das  Wesen 
der  Affekte  in  Organempfindungen  aller  Art  gelegen,  indes  nach 
der  andern  (Stumpf)  begleitende  intellektuelle  Momente  deren 
Eigenart  begründen  sollen.^) 

Bildeten  inzwischen  die  genannten  Theorien  auch  einen  scharfen 
Gegensatz,  so  wäre  damit  nicht  festgestellt,  daß  man  durch  die 
Zurückführung  auf  einen  Gefühlstatbestand  der  Tatsache  des 
Affektes  nicht  nahe  kommen  könnte;  mit  Sicherheit  ergäbe  sich 
nur,  daß  eine  der  beiden  Erklärungsweisen  falsch  sein  müsse. 
Der  Gegensatz,  von  dem  Schwaez  spricht,  ließe  sich  übrigens 
ausgleichen,  sobald  man  jene  Vorgänge  (Sinnesempfindungen  und 
sinnliche  Gefühle)  nicht  als  das  Wesen  der  Aftekte  bildend,  sondern 
bloß  als  Begleiterscheinungen  betrachtet,  die  die  Aftekte  kenn- 
zeichnen. Einen  Beleg  dafür,  daß  sich  die  Anerkennung  von 
solchen  Merkmalen  sehr  wohl  mit  der  intellektualistischen  Er- 
klärung der  Aftekte  vereinen  läßt,  liefert  Stumpf  selbst.-) 

Da  jedoch  hier  nicht  Raum  ist,  auf  die  erwähnten  Theorien 
näher  einzugehen,  so  sei  nur  die  Frage  gestellt,  in  wieferne,  wenn 
die  bisherigen  Erklärungsversuche  nicht  genügen  sollten,  durch 
die  Zurückführung  des  Aftektes  auf  einen  Gefallenstatbestand  mehr 
geleistet  würde.  Denn  in  diesem  Falle  müßte,  wenn,  wie  anzu- 
nehmen sein  dürfte,  nicht  jedes  „satte  Gefallen*'  einen  Aftekt  be- 
deutete, dieser  durch  begleitende  Momente  erst  gegenüber  den 
Gefallensakten  im  allgemeinen  gekennzeichnet  werden. 


')  A.  a.  0.  S.  17. 

')  „Über  den  Begriff  der  Gemütsbewegung."    Zeitschr.  f.  Psych.  1899  Bd.  21, 
S.  93  ff. 


5ß0  Wilhelmine  Liel. 

ad  3.  Wie  angeführt,  soll  das  „Gefallen"  nicht  nur  einen  Ein- 
blick in  das  innere  Wesen  des  Glücksstrebens  und  des  Aifektes 
gewähren,  sondern  auch  das  Verständnis  für  die  noch  einer  Er- 
klärung verlangenden  Tatsachen  des  Bedürfnisses  wie  der  Be- 
friedigung oder  Genugtuung  liefern.  Aus  Gründen,  die  noch  er- 
örtert werden  sollen,  könne  keines  von  beiden  dem  Gefühlsleben 
zugeschrieben  werden,  indes  dem  Verfasser  keine  Hindernisse  vor- 
zuliegen, sondern  im  Gegenteil,  die  Mängel  der  bisherigen  Er- 
klärungsversuche sich  ihm  aufzuheben  scheinen,  wenn  die  ge- 
nannten Tatsachen  als  Gefallensakte  aufgefaßt  werden,  u.  zw.  Be- 
friedigung  oder  Genugtuung   als   sattes,   Bedürfnis  als   unsattes 

Gefallen.  0 

Seine  ablehnende  Stellung  gegenüber  der  Auffassung  der  in 
Rede  stehenden  seelischen  Vorgänge  als  Gefühlstatbestände  be- 
gründet er  durch  den  Hinweis  darauf, 

a)  daß  am  Gefühle  nur  dessen  qualitative  Verschiedenheit, 
Lust  oder  Unlust  zur  Unterscheidung  von  Befriedigung  und  Be- 
dürfnis herangezogen  werden  könnte, 

b)  daß  der  doppelte  Gegensatz,  den  das  Gefallen  aufweise 
(einen  „positiven"  im  Mißfallen,  einen  „privativen"  im  Bedürfnis 
oder  unsatten  Gefallen),  beim  Gefühl  nicht  auzutreifen  sei, 

c)  daß  die  lange  Dauer  von  Genugtuung  oder  Befriedigung 
diese  gegenüber  der  Flüchtigkeit  der  Gefühle  als  (sattes)  Gefallen 
kennzeichne, 

d)  daß  die  verschiedenen  Sättigungsgrade  des  Gefallens  nicht 
ohne  theoretische  Schwierigkeit  (Verstoß  gegen  das  Kausalgesetz) 
verstanden  werden  könnten. 

ad  a)  Wenn  auch  eingeräumt  werden  muß,  daß  durch  Unlust 
allein  die  Tatsache  des  Bedürfnisses  nicht  erklärt  werden  kann, 
so  wird  doch  ebenso  zuzugeben  sein,  daß  durch  das  „unsatte 
Gefallen"  in  dieser  Hinsicht  nicht  mehr  geleistet  würde.  Da  sich 
im  Bedürfnis  deutlich  ein  Begehrungsmoment  zu  erkennen  gibt,  so 
könnte  höchstens  der  Komplex  „unsattes  Gefallen  und  AMinschen" 
zur   Erklärung    dieser   Tatsache    herangezogen   werden.  -)     Dann 


')  „Glück  und  Sittlichkeit"  S.  101  ff. 

*)  ScHWABz  scheint  dies  auch  gelegentlich  zu  meinen,  wie  aus  S.  16  a.  a.  0. 
ersichtlich  ist. 


Gegen  eine  voluntaiistische  Begründung  der  Werttheorie.  561 

aber  würde  sich  Unlust  als  Voraussetzung  eines  solchen  Wünschens 
oder  Begehrens  in  demselben  Maße  brauchbar  erweisen.  Es  stellen 
sich  sogar  häufig  genug  unter  dem  Xamen  Bedüifnis  (z,  B.  nach 
Nahrung,  Kleidung),  Begehrungen  ein,  die  ohne  Zweifel  sinnlichen 
Gefühlen  ihr  Entstehen  verdanken,  so  daß  selbst  nach  der  Position 
von  ScHWAEz  an  Stelle  dieser  Gefühle  kaum  ein  (unsattes)  Gefallen 
gesetzt  werden  könnte. 

Zur  P^rklärung  des  Bedürfnisses  als  „unsattes  Gefallen,  das 
im  sukzessiven  Kontrast  mit  sattem  gespürt  wird" ,  ^)  wäre  noch 
zu  bemerken,  daß,  wie  schon  Beispiele  aus  dem  gewülmliclien 
Leben  zeigen,  unter  Bedürfnis  nicht  stets  ein  aktuelles  psychisches 
Geschehnis  gemeint  sein  muß;  ein  solches  tritt  eben  erst  auf. 
wenn  der  Mangel  eines  der  Bedürfnisgegenstände  sich  fühlbar 
macht.  Sonst  bedeutet  also  Bedürfnis  eine  Disposition;  dafür 
spricht  auch  der  Umstand,  daß  die  Ausdrücke  „Bedarf  und  be- 
dürfen" eine  viel  weitgehendere,  über  die  Grenzen  des  Psychischen 
hinausreichende  Anwendung  erfahren.  In  diesem  Sinne  bedarf 
z.  B.  eine  Pflanze  so  gut  der  Pflege  wie  ein  Kind. 

Kanu  man  also  der  Aufstellung  unseres  Autors,  „Bedürfnis  = 
unsattes  Gefallen",  nicht  zustimmen,  so  wird  dagegen  seine  weitere 
Behauptung,  Genugtuung  oder  Befriedigung  sei  sattes  Gefallen, 
kaum  einen  Widerspruch  erfahren,  vorausgesetzt,  daß  unter  „Ge- 
fallen" Werthalten  zu  verstehen  ist.  Damit  sind  aber  Genugtuung 
und  Befriedigung  keineswegs  aus  dem  Gefühlsleben  ausgeschlossen, 
da  sich  durch  den  Verlauf  der  bisherigen  Untersuchungen  eine 
Aussonderung  des  Gefallens  aus  dem  Bereiche  der  Gefühle  nicht 
als  sachgemäß  er^viesen  hat.  Es  liegt  also  kein  Grund  vor,  das 
für  Genugtuung  wesentliche  emotionale  Moment  —  von  allen 
intellektuellen  Voraussetzungen  selbstverständlich  abgesehen  — 
anderswo  als  auf  dem  Gebiete  des  Gefühls  zu  suchen. 

Somit  bliebe  nur  noch,  was  die  Gleichstellung  von  Befriedigung 
und  Genugtuung  anlangt,  einiges  beizufügen.  Beruht  auch  das 
eine  wie  das  andere  auf  derselben  psychischen  Grundlage,  ist  ihr 
Vorhandensein  nämlich  von  dem  Urteil  über  das  Eintreten  des 
Verlangten  abhängig,  bedeuten  sie  mit  einem  Worte  Werthaltungen, 
so  wird  doch  in  den  Gegenständen,  auf  welche  sich  diese  Wert- 


1)  A.  a.  0.  S.  15. 
Meinoug,  UiiteisuGhiuigen.  36 


562  WlLHELMINE   LiEL. 

lialtungen  richten,  ein  Unterschied  zu  finden  sein.  Zweifellos  hat 
das  Wort  „Befriedigung-"  in  dieser  Beziehung-  ein  viel  weiteres- 
Anwendungsgebiet  als  „Genugtuung":  man  könnte  wohl  ersteres- 
für  letzteres  setzen,  aber  nicht  umgekehrt,  indem  von  Be- 
friedigung auch  dort  gesprochen  werden  kann,  wo  es  sich  um 
Stillung  sinnlicher  Begehrungen  handelt,  während  man  der  wahren. 
Bedeutung  von  Genugtuung  wahrscheinlich  nur  im  Hinblick  auf 
Ethisches    nahe  kommen  wird. 

Durch  das  bisher  Angeführte  würde  die  weitere  Untersuchung 
der  Gegensätze,  die  nach  Schwarz  zwischen  Bedürfnis  und  Be- 
friedigung (Genugtuung)  einerseits,  Gefühl  andererseits  bestehen, 
sollen,  überflüssig  sein,  wenn  dabei  nicht  wieder,  indem  für  Be- 
friedigung „sattes",  für  Bedürfnis  „unsattes"  Gefallen  gesetzt  wird^ 
neue  Unterschiede  zwischen  Gefallen  und  Gefühl  zur  Sprache, 
kämen.    Diese  sind  bereits  sub  b — d  angeführt  worden. 

adb)  Daß  das  Gefallen  jenen  doppelten,  „positiv"  und  „privativ"- 
genannten  Gegensatz  aufweist,  rührt  daher,  daß  es  sich  von  zwei  ver- 
schiedenen Gesichtspunkten  aus  betrachten  läßt.  Dabei  bildet,  genau 
genommen,  unsattes  Gefallen  nicht  einen  Gegensatz  zu  Ge- 
fallen überhaupt,  welches  sattes  und  unsattes  Gefallen  einbe- 
greift, sondern  nur  zu  der  einen  Art,  dem  satten  Gefallen, 
während  zu  Gefallen  schlechthin  Mißfallen  im  Gegensatz  steht. 
Übrigens  wird  aber  auch  durch  diese  doppelte  Gegensätzlichkeit 
das  Gefallen  vom  Gefühl  nicht  geschieden,  weil  man  derselben  so 
fort  wieder  begegnet,  sobald  man  Werthalten  als  Gefühl  betrachtet 
und  dessen  Voraussetzungen  nachgeht. 

Es  gibt  bekanntlich  Gegenstände,  deren  Existenz  Lust,  andere 
dagegen,  deren  Existenz  Unlust  hervorruft  und  umgekehrt  deren 
Nichtexistenz,  —  Werte  und  Unwerte.  In  allen  diesen  Fällen  muß^ 
die  Qualität  des  Urteils  maßgebend  für  die  Qualität  des  Gefühles- 
sein; das  Gefühl  mit  positivem  Vorzeichen  wird  „Werthalten",  das 
mit  negativem  „Unwerthalten"  genannt.  Damit  wäre  dem  ersteu 
Gegensatz,  „Gefallen  und  Mißfallen",  Rechnung  getragen.  Den 
zweiten,  „sattes  und  unsattes  Gefallen  (bzw.  Mißfallen)",  findet 
man  in  der  Gegenüberstellung  echtes  oder  Ernstgefühl  und 
Phantasie-  oder  Scheingefühl  wieder. \)    Nebenbei  besagen 


^)  Vgl.  S.  541  f.  dieser  Untersuchung. 


Gegen  eine  volnntaristische  Begründung  der  Werttheorie.  563 

die  beiden  Ge^^ensätze  für  das  Gefühl  sogar  noch  mehr  als  für 
das  „Gefallen".  Denn  „Gefallen  und  Mißfallen"'  drückt  zunächst 
nur  den  Gegensatz  „Lust  oder  Unlust  am  Existierenden*'  aus,  und 
läßt  die  Gefühle,  die  durch  Nichtexistenz  bedingt  sind,  unberück- 
sichtigt. Nur  der  Zusatz  „unsatt"  ersetzt  dies  zum  Teil.  Es  ist 
aber  ein  anderes,  an  einem  ]\[angel,  also  unter  Voraussetzung  eines 
negativen  Urteils  wirkliche  Unlust  fühlen  (Unwerthalten),  oder 
ein  Phantasiegefühl  bei  Annahme  des  fehlenden  Objektes  (Werten 
erleben.  Beides  wäre  nach  der  Position  von  Schwarz  nur  durch 
den  Terminus  „unsattes  Gefallen"  zu  bezeichnen.') 

ad  c)  Als  Beispiel  für  das  sub  c  angeführte  gibt  Schwarz 
an:  „Mancher  freut  sich  tagelang  darüber,  daß  er  da  und  da  ein 
gutes  Diner  gegessen  hat;  gleich  dauerhaft  ist  die  Genugtuung 
über  Dauerndes,  z.  B.  darüber,  daß  man  Vater  eines  Sohnes  und 
nicht  etwa  einer  Tochter  ist,  oder  darüber,  daß  man  in  einem 
mächtigen  Kechtsstaate  lebt".  Doch  wird  auch  er  gewiß  nicht 
meinen,  daß  eine  solche  Genugtuung  konstant  im  Gemüte  des  Be- 
treffenden aktuell  bleibe.  Hier  ist  also  zu  unterscheiden  zwischen 
der  Werthaltung  als  aktuellem  Gefühl,  die  als  solches  flüchtig  wie 
jedes  andere  Gefühl  ist  und  nur  ausgelöst  wird,  sobald  das  be- 
treffende Urteil,  das  seine  Voraussetzung  bildet,  gefällt  wird,  — 
und  der  Werthaltung  als  Disposition,  die  ein  ganzes  Leben  hin- 
durch sich  erhalten  kann.  Im  übrigen  wird  sich  auch  diese  wie 
jede  andere  Gefühlsdisposition  dem  Gesetze  der  Abstumpfung  nicht 
entziehen;  ein  von  sonstigen  Gefühlen  verschiedenes  Verhalten  ist 
in  dieser  Hinsicht  auch  beim  Werthalten  nicht  anzutreffen. 

ad  d)  Die  Unmöglichkeit,  mit  der  Gefühlsansicht  dem  Ge- 
fallen gegenüber  auszukommen,  soll  sich  ganz  besonders  dort 
zeigen,  wo  man  sie  anwendet,  um  die  Sättigungsgrade  des  Ge- 
fallens darzustellen.  Da  solche  beim  Gefühle  nicht  nacliweisbar 
wären,  so  liefere  höchstens  die  Mischung  von  „Bedürfnis-  und 
Genugtuungsgefühl"  (unsattes  -j-  sattes  Gefallen)  einen  scheinbaren 
Ersatz,  um  den  Zwischenstufen  zwischen  den  beiden  Endpunkten 
„satt"  und  „unsatt",  den  Graden  mehr  oder  minder  gesättigten  Ge- 
fallens gerecht  zu  werden.  Damit  würde  aber  gegen  das  Kausal- 
gesetz verstoßen,  nach  welchem  es  unmöglich  sei,  daß  eine  Ursache, 


')  Vgl.  auch  unten  §  7. 

36* 


^g^  Wilhelmine  Liel. 

je  größer  sie  werde,  eine  um  so  geringere  Wirkung  hervorbringt; 
das  bleibe  gleich  unvermeidlich,  mag  man  die  Stärke  des  komplexen 
Tatbestandes  als  Funktion  der  Gefühlsstärke  des  einen  Bestand- 
stückes oder  als  AVirkung  einer  anderen  außerhalb  dieses  Komplexes 
liegenden  Ursache  auffassen.^)  Daß  indes  das  Bedürfnis,  Sättigungs- 
stufen des  Gefallens  darzustellen,  nicht  besteht,  da  von  einer 
steigerungsfähigen  Sättigung  überhaupt  nicht  gesprochen  werden 
kann,  —  wie  auch,  daß  ein  Widerspruch  mit  dem  Kausalgesetz 
in  einem  solchen  Falle  gar  nicht  vorliegt,  haben  die  Ausführungen 
auf  S.  532  f.  und  53311.  bereits  zu  zeigen  versucht. 


§  4.    J.Gefallen"  und  Urteilsgefühl. 

Folgende  Ausführungen  sollen  jenen  kritischen  Bemerkungen 
gelten,  durch  welche  sich  Schwarz  ausdrücklich  speziell  gegen  die 
Auffassung  des  Werthaltens  als  eines  auf  Urteile  gegründeten 
Gefühles  wendet,  sofern  für  ihn  Werthalten  (welche  Tatsache  von 
Meinong  ^))  und  Affekt  (welche  von  Stumpf  ^)  auf  diese  Weise  be- 
schrieben wird)  in  letzter  Linie  nichts  anderes  als  Gefallen  bedeutet. 
Seine  Einwände  werden  hier  ohne  Rücksicht  darauf,  bei  der  Iviltik 
welches  der  beiden  genannten  Autoren  er  sie  erhoben  hat,  in  Kürze 
wiedergegeben.  Die  Definition  des  Werthaltens  als  Urteilsgefühl 
ist  nach  Schwaez 

1.  zu  weit,  da  nicht  jedes  Urteil,  das  zu  einem  Gefühl  tritt, 
ein  Werthalten  bedingt,  so  nicht  im  Falle  von  Überraschungen; 
sie  ist 

2.  andererseits  wieder  zu  eng,  da  es  Werthaltungen  gibt,  die 
zu  ihrem  Entstehen  eines  Urteiles  nicht  bedürfen,  so 

a)  das  ästhetische  Gefallen, 

b)  das  Gefallen  an  Wahrheit,  sobald  man  die  Wissensgefühle, 
wie  Meinong  dies  tun  soll,  von  den  Urteilsgefühlen  ausschließt, 

c)  das  Gefallen  an  Neuheit,  das  im  unsatten  Zustande  Neu- 
gierde genannt  wird,  —  da  ferner 


')  Glück  und  Sittlichkeit,  S.  104. 

')  „Psych.-eth.  Untersuchungen  zur  Werttheorie".  S.  31  ff. 
*)    „Über    den    Begriff    der    Gemütsbewegung",    Zeitschr.    f.    Psych.    1899 
Bd.  21.  S.  47  ff. 


Gegen  eine  voluntaristische  Beofründung  der  Werttheorie.  565 

d)  das  "Wertgefühl  oft  nur  an  einer  Vorstellung  hängt,  also 
wenigstens  in  diesem  Falle  kein  Urteilsgefühl  sein  kann, 

e)  Werthaltungen  bzw.  Affekte  oft  auftreten,  ehe  zum  Urteilen 
auch  nur  Zeit  vorhanden  gewesen  wäre. ') 

ad  1.  Nach  Schwarz  sind  die  Gefülile  der  Überraschung, 
Ver\\Tinderung  zwar  keine  Werthaltungen,  sie  setzen  aber  dennoch 
ein  Urteil  voraus,  da  solche  Gefühle  nicht  zustande  kommen  könnten, 
wenn  man  von  der  Existenz  jener  unvermutet  eingetretenen  Dinge 
nicht  überzeugt  wäre.-) 

Dem  ist  entgegen  zu  halten,  daß  Überraschung  zunächst  einen 
komplexen  Tatbestand  darstellt,  bei  dem  erst  die  Analj'se  zeigen  kann, 
was  dem  Überraschtwerden  allein  und  was  begleitenden  Umständen 
wird  zugeschrieben  werden  müssen.  Der  Umstand,  daß  wir  von 
angenehmen  und  unangenehmen  Überraschungen  reden  können, 
deutet  fürs  erste  darauf  hin,  daß  das  qualitative  Moment  dieses 
Komplexes  nicht  sowohl  eine  Folge  des  Üljerraschtwerdens  an  und 
für  sich  ist,  als  vielmehr  auf  Rechnung  dessen  gesetzt  werden 
muß,  womit  mau  überrascht  wird.  Das  Urteil  über  das  Eintreten 
eines  Gegenstandes  oder  Ereignisses  wird  freilich  Lust  oder  Unlust 
hervorrufen,  je  nachdem  es  sich  um  einen  Wert  oder  Unwert  handelt. 
Diese  Gefühle,  die  jedenfalls  Wertgefühle  sind  und  des  Urteiles  als 
Voraussetzung  bedürfen,  wären  indes  auch  aufgetreten,  wenn  jenes 
Ereignis  nicht  unvorhergesehen  eingetroffen  wäre,  was  deutlich  zeigt, 
daß  sie,  sowie  ihre  Voraussetzungen  streng  genommen  nicht  zur 
Überraschung  selbst  gehören.  Nun  ließe  sich  etwa  noch  vermuten, 
die  Überzeugung,  die  Schwarz  meint,  beziehe  sich  auf  das  rasche, 
unvorhergesehene  Eintreten  von  Ereignissen;  da  aber  ein  solches 
Urteil  erfahrungsgemäß  meist  gar  nicht  eintritt,  so  ergibt  sich,  daß 
Überraschung  und  Ver^amderung  eben  überhaupt  keine  Urteils- 
gefülile  im  Sinne  der  Wertgefühle  sind.  Das  Urteil  spielt  nur  ver- 
möge der  Art  und  Weise,  wie  es  auftritt  (nämlich  rascli  und  un- 
vermutet), eine  Rolle.  Das  so  hervorgerufene  Gefühl  der  Über- 
raschung, mag  es  nun  Lust  oder  Unlust  sein,^}  unterscheidet 
sich  von  den  Wertgefühlen  dadurch,   daß   es  sich  an  den  Urteils- 


')  Glück  und  Sittlichkeit,  S.  G9-72  und  S.  88—92. 
*)  A.  a.  0.  S.  88  f. 

»)  Schwarz  nennt  die  Gefühle  des  Staunens,   der  Verwunderung  „neutrale 
Gefühle".    Vs?l.  dazu  S.  551  f.  dieser  Untersuchung. 


566  Wilhelmine  Liel. 

akt  anschließt,  während  die  Bedingung-en  für  das  Auftreten  der 
Wertgefühle  durch  den  Gegenstand  des  Urteils  gegeben  sind.  Es 
liegt  hier  jener  Unterschied  vor,  den  Witasek  ^)  durch  den  Gegen- 
satz von  Akt  und  Inhaltsgefühl  ausgedrückt  hat. 

Zusammenfassend  läßt  sich  sagen,  daß  Schwarz  sicher  im 
Hechte  ist,  wenn  er  den  Fall  der  Überraschung  in  das  Gebiet  der 
Urteilsgefühle  einbezieht.  Aber  ein  Argument  gegen  die  von  ihm 
bekämpfte  Auffassung  des  Wertes  liegt  darin  gewiß  nicht  vor; 
denn  der  Satz,  Wertgefühl  ist  Urteilsgefühl,  ist  keine  Definition 
und  niemals  im  Sinne  einer  solchen  ausgesprochen  worden,  —  auch 
von  Meinung  nicht,  der  von  Anfang  an  den  Wertgefühlen  die 
Wissensgefühle  als  eine  zweite  Art  von  Urteilsgefühlen  zur  Seite 
gestellt  hat.-) 

ad  2a.  Kann  man  auch  der  Ansicht,  daß  die  ästhetischen 
Gefühle  keine  Urteilsgefühle  sind,^)  vollkommen  beistimmen,  so 
wird  man  dadurch  doch  nicht  zu  dem  Schlüsse  gedrängt,  daß  die 
von  Schwarz  angegriffene  Bestimmung  der  Wertgefühle  zu  eng 
sei.  Es  ließe  sich  viel  eher,  da  den  ästhetischen  Gefühlen  jene 
für  die  Werthaltuugen  charakteristische  Voraussetzung  fehlt,  daraus 
schließen,  daß  die  ästhetischen  Gefühle  keine  Wertgefühle  sind, 
daß  das  Gefallen  eben  etwas  anderes  als  Werthalten  sein  muß. 

An  dieser  Stelle  soll  noch  auf  einen  von  Schwaez  angeführten, 
bisher  unberücksichtigt  gebliebenen  Gegensatz  zwischen  Gefallen 
und  Gefühl  hingewiesen  werden,  der  zugleich  im  besonderen  Maße 
geeignet  erscheint,  die  Verschiedenheit  des  ästhetischen  Gefallens 
vom  Werthalten  erkennen  zu  lassen:  „Letztere"  (die  Unlust  der 
Langeweile)  „ist  eine  interessierte,  erstere"  (das  Mißfallen  am 
Häßlichen)  „eine  uninteressierte  Unlust,  eben  damit  überhaupt 
keine.  Denn  Unlust,  die  nicht  als  eigener  zuständlicher  Unwert 
empfunden  wird,  ist  keine  Unlust.  Sie  ist  ein  verwirrender  Name 
für  Mißfallen,  d.  i.  Unwerthalten  von  etwas  anderem".^) 

Zunächst  erhalten  wir  aus  dem  Beisatze,  daß  nur  der  eigene 
Zustandsunwert  als  Unlust  bezeichnet  werden  könne,   die  Über- 


^)  „Gnindzüge  der  allg.  Ästhetik"  S.  200. 
"")  Psych.-eth.  Unters,  z.  Wertth.  S.  36  ff. 
*)  „Glück  und  Sittlichkeit",  S.  70. 
*)  Vgl.  Witasek,  a.  a.  0.  S.  66  ff. 
■*)  „Glück  und  Sittlichkeit",  S.  55. 


Gegen  eine  voluntaristische  Begründung  der  Werttheorie.  567 

Beugung",  daß  Schwarz  die  Bezeiclinungen  „Lust"  und  „Unlust", 
fast  ausschließlich  für  sinnliche  Gefühle  anwendet,  ^)  indes  von  ihm 
alles  übrig-e,  was  sonst  gewöhnlich  als  Gefühl  aufgefaßt  wird,  in 
den  Bereich  des  Gefallens  versetzt  und  den  Lust  und  Uulust- 
gefühlen,  die  als  eigener  zuständlicher  Wert  resp.  Unwert  inter- 
essiert sind,  als  uninteressiert  entgegengestellt  wird. 

Was  bedeuten  aber  ferner  die  Ausdrücke  „interessiert"  und 
„uninteressiert"  ?  Die  Antwort  auf  diese  Frage  wird  natürlich 
■durch  den  Hinweis  auf  das  Begehrungsmoment  zu  geben  sein,  da 
sich  die  Interessiertheit  unserer  Gefühle,  d.  h.  deren  Anteilnahme 
an  irgend  einem  Gegenstande  kaum  anders  als  durch  unser  Be- 
gehren, A\'ünsclien,  Wollen  wird  äußern  können.  Da  jedoch  dieses 
Begehrungsmoment  in  so  enger  Beziehung  zu  den  Wertgefülüen 
steht,  daß  es  sogar  zur  Erklärung  des  Wertbegriffes  seine  Ver- 
wendung gefunden  hat,  so  dürfte  es  w^ohl  natürlicher  sein,  die 
Wertgefühle,  wie  dies  auch  anderwärts  schon  geschehen  ist,  als 
interessiert  den  ästhetischen  Gefühlen  als  uninteressiert  gegen- 
überzustellen. -)  In  diesem  Sinne  bietet  die  Interessiertheit  einen 
neuen  Anhaltspunkt  für  die  unterscheidende  Charakteristik  der 
ästhetischen  und  der  Wertgefühle. 

ad  2  b.  Auch  die  Wissengefühle  könnten  nicht  zu  den  Wert- 
haltungen gerechnet  werden,  sofern  man  es  für  zu  künstlich  hält, 
anzunehmen,  daß  zu  dem  Urteile,  welches  Gegenstand  des  Ge- 
fühles ist,  ein  zweites  trete,  durch  welches  die  Existenz  jenes 
ersten  Urteiles  erfaßt  werde.  Damit  aber,  meint  Schwaez,  würde 
eine  wichtige  Gruppe  von  Werthaltungsfällen  aus  dem  Gebiete 
der  Werthaltungen  ausgeschlossen  werden,  nämlich  die  Wert- 
schätzung der  Wahrheit.^) 

Wie  bereits  erwähnt,  hält  auch  Meinong  die  Wissensgefühle 
nicht  für  Wertgefühle.  Aber  dadurch  wird  der  Wert  der  A\'ahr- 
heit  so  wenig  in  Frage  gestellt,  wie  die  Erkenntnis,  daß  zum 
Entstehen  der  ästhetischen  Gefühle  Urteilsakte  nicht  wesentlicli 
sind,  das  Werthalten  ästhetischen  Genießens  oder  den  Wert  von 
Kunstgegenständen,  ja  den  des  Scliönen  überhaupt  bedroht.  Übrigens 


')  Vgl.  auch  a.  a.  0.  S.  26  f. 

'^)  Vgl.  auch  WiTASEK,  a.  a.  0.  S.  121  f  und  373 f. 

^)  „Glück  und  Sittlichkeit",  S.  89. 


568  Wilhelmine  Liel. 

kann  es  sich  so^ar  ganz  wohl  zntrag-en,  daß  beide  Arten  von  Ge- 
fühlen nebeneinander  vorkommen,  solche,  die  durch  ein  Urteil  über 
das  Vorhandensein  oder  Nichtvorhandensein  einer  Erkenntnis  be- 
dingt werden  —  die  sich  übrigens  nur  durch  ihren  Gegenstand 
von  den  anderen  Wertgefühlen  unterscheiden  würden  —  neben 
solchen,  die  sich  direkt  an  den  Urteilsakt,  an  die  rasch  und  sicher 
abfließende  intellektuelle  Tätigkeit  schließen.^)  Diesen  letzteren, 
den  von  Meinong  in  Betracht  gezogenen  Wissensgefühlen,  die  von 
WiTASEK  2)  als  U  r  t  e  i  1  s  a  k  t  g  e  f  ü  h  1  e  bezeichnet  werden ,  wären 
dann  die  ersteren  als  Wertgefühle,  genauer  Wissenswertgefühle 
zur  Seite  zu  stellen. 

ad  2  c.  Den  eben  besprochenen  Gefühlen  ähnlich  sind  jene^ 
die  den  Neugierigen  erfüllen,  wenn  er  Neues  erfährt;  wie  dem 
Forscher  bereitet  auch  ihm  das  Urteilen  Lust,  das  Nichturteilen- 
können  Unlust.  Wahrscheinlich  aber  handelt  es  sich  hier  nur 
um  die  eine  Art  der  oben  berührten  Gefühle,  die  Urteils akt- 
gefühle;  denn  Ursache  seiner  Freude  ist  nicht  das  Bewußtsein, 
daß  er  dies  oder  jenes  weiß,  genauer,  daß  er  darüber  urteilt, 
sondern  der  Vorgang  des  Urteilens  selbst.  Verhält  es  sich  so 
und  kommt  noch  der  Umstand  in  Betracht,  daß  das  Gefallen 
am  Neuen  nicht  nur  Urteilen,  sondern  aucli  Vorstellungen  gilt, 
dann  ist  dem  Einwände  von  Schwarz  wenigstens  insoweit  zuzu- 
stimmen, daß  das  Gefallen  am  Neuen  nicht  in  allen  Fällen  ein 
Urteilsgefühl  ist.  Da  aber  ein  solches  Gefallen  kein  Werthalten 
ist,  so  wird  dadurch  an  der  Definition  der  Wertgefühle  nichts 
geändert.  Übrigens  hat  hier  so  wenig  wie  bei  Überraschungen 
das  Neue  an  und  für  sich  ein  Lustgefühl  zur  Folge,  da  ein  Häß- 
liches auch  als  „neu"  mißfallen  und  höchstens  erst  durch  längere 
Gewöhnung  daran  das  Abschreckende  verlieren  wird.  Das  ist 
ein  Zeichen  dafür,  daß  nicht  das  Neue  an  und  für  sich  gefällt, 
sondern   daß   durch   Neues   Gefühle   intensiver    erregt  werden   als 


^)  Schwarz  selbst  gibt  einen  Satz  von  Stumpf  wieder,  der  die  Affekte  als 
Urteilsgefühle  kennzeichnet,  die  oben  an  zweiter  Stelle  augefiihrteu  Gefühle  aber 
von  den  Urteilsgefühlen  ausschließt,  Aveil  sie  eben  so  unmittelbar  an  die  intellek- 
tuelle Betätigung  geknüpft  wären,  Avie  die  sinnliche  Annehmlichkeit  an  die  sinn- 
lichen Empfindungen  („Glück  und  Sittlichkeit",  S.  63). 

*)  „Gruudzüge  d.  allg.  Ästh."  S.  259:  „Die  Wissensgcfühle  sind  Urteilsakt- 
gefühle,  während  die  Wissenswertgefühle  als  Wertgefühle  Inhaltsgefühle  sind''. 


Gegen  eine  voluiitaristische  Begründung  der  Werttheorie.  569 

durch  Bekanntes.  Dies  kommt  z.  B.  zur  Geltung  beim  sinnlichen 
Gefiilil:  die  neue  Weinsorte  schmeckt  besser  als  die  alte.  Das 
ist  kein  Wertg-eluhl,  denn  es  muß  nicht  darü])er,  daß  etwas  Neues 
da  ist,  geurteilt  "werden.  Ebenso  wirkt  das  neue  Kunstwerk, 
eventuell  der  neue  ^^'ertgeg■enstand  als  solcher,  obwohl  noch  immer 
nicht  an  die  Neuheit  gedacht,  folgiich  diese  nicht  wertgehalten 
wird.  Natürlich  kann  man  aber  auch  an  die  Neuheit  denken  und 
dann  funktionieit  sie  eventuell  als  W'ertgegenstand  so  gut  wie 
Schönheit  oder  Wahrheit. 

ad  2  d.  An  dieser  Stelle  knüpft  Schwaez  an  Meinong  an,  nach 
welchem  die  Wertgröße  nicht  nur  von  der  Intensität  abhängt,  mit 
der  die  Existenz  des  Objektes  wertgehalten,  sondern  auch  von  der 
Intensität,  mit  der  dessen  Nichtexistenz  unwertgehalten  wird. 
So  sei  man  an  die  längst  gesicherte  Freundschaft  ,.gewölmt,  wie 
der  Gesunde  an  die  Gesundheit;  aber  man  kann  sich  in  jedem 
Momente  vergegenwärtigen,  wie  schwer  man  durch  ihren  Verlust 
betroffen  würde,  und  dieser  Schv/ere,  also  dem  auf  die  Nicht- 
existenz bezogenen  Wertgefühle,  entspricht  durchaus  die  sonst  so 
unverständliche  Größe  des  Wertes."  ^)  „Ähnliches"',  fügt  Schwarz 
hinzu,  ,.sehen  wir  bei  dem,  der  sich  in  Gedanken  an  eine  höchste 
Freundschaft  berauscht.  Er  weiß,  solche  wird  ihm  nie  verwirk- 
licht sein "  In  solchen  Fällen,  meint  er,  hingen  die  Wert- 
gefühle von  bloßen  Vorstellungen  ab,  wären  mithin  keine  Urteils- 
gefühle.^)  Durch  diesen  Einwand  wird  nun  in  der  Tat  ein  Mangel 
der  Aufsteilungen  in  Meinong's  werttheoretischen  Untersuchungen 
aufgedeckt.  Diesem  Mangel  hat  aber  Meinung  selbst  durch  den 
Hinweis  auf  die  Rolle  abgeholfen,  die  den  Annahmen  beim  \\'ert- 
verhalten  zukommt.'^)  Vorstellungen  allein  würden  allerdings  nicht 
ausreichen,  weil  das  Nichtvorhandensein  von  etwas,  wie  z.  B.  hier 
der  bestehenden  Freundschaft  zweifellos  nicht  durch  Vorstellen, 
sondern  erst  mit  Hilfe  einer  Annahme  erfaßt  werden  kann.  Die 
Charakteristik  der  Wertgefühle  als  Urteilsgefühle  wird  mithin 
eine    erweiternde   Modifikation    erfahren   müssen,   indem    die  An- 


')  Meinong  „Über  Wertlialtnng  und  Wert,"  Archiv  f.  systemat.  Philos.  Bd.  I, 
S.  3S6f. 

*)  Glück  und  Sittlichkeit,  S.  89  f. 
»)  Über  Annahmen,  S.  230  ff. 


gYO  Wilhelmine  Liel. 

naliiiiegefühle  (PhantasiegefUhle)  den  Urteilsgefühlen  au  die  Seite 
treten. 

ad  2e.  Schließlich  sei  noch  der  Einwand  betrachtet,  den 
ScHWAHZ  durch  den  Hinweis  auf  die  Erfahrung  erhebt,  daß  Ge- 
fallensakte entstünden,  ehe  wir  noch  Zeit  zum  Urteilen  gehabt 
hätten,  wie  etwa,  „wenn  wir  eben  eine  sinnliche  Lust  erlebt  liaben 
und  diese  entschwindet.  Dann  haben  wir  sofort  die  Empfindung, 
uns  fehle  etwas.  Diese  Empfindung  stellt  sich  ohne  Urteilstätig- 
keit ein.  Wir  spüren  sie  als  dunkle  Sehnsucht  nach  irgend  etwas, 
das  uns  fehlt."  ^) 

Derartige  Beispiele  lassen  eine  zweifache  Deutung  zu :  Entweder 
erleben  wir  dabei  bloß  sinnliche  Lust  und  kein  Wertgefühl,  dann 
kann  das  Schwinden  dieses  Erlebnisses  einfach  ein  sinnliches  Be- 
gehren, kein  Unwerthalten  zur  Folge  haben;  oder  aber,  jenes  „es 
fehlt  mir  etwas"  ist  im  Bewußtsein  gegeben,  dann  ist  schon  durch 
die  vorliegende  Negation  das  Vorhandensein  eines  Urteils  sicher- 
gestellt, so  sehr  auch  dessen  Gegenstand  (jenes  etwas)  nur  unan- 
schaulich vorgestellt  werden  mag.  Daß  übrigens  das  Entstehen 
solcher  und  ähnlicher  Urteile  nicht  eben  viel  Zeit  bedarf,  zeigen 
die  Wahrnehmungsurteile  deutlich  genug. 

Somit  stellen  sich  alle  Instanzen,  welche  von  Schwaez  heran- 
gezogen worden  sind,  die  intellektualistische  Beschreibung  der  Wert- 
gefühle zu  widerlegen,  als  beweisunkräftig  heraus.  Dabei  kommt 
die  Gegenüberstellung  von  Gefallen  und  Gefühl,  sofern  durch  sie 
der  für  das  Gefallen  charakteristische  Gegensatz  von  ..satt  und 
unsatt"  besonders  hervorgehoben  wird,  ^)  der  intellektualistischen 
Auffassung  sogar  einigermaßen  entgegen,  da  nur  durch  das  Urteil, 
die  Existenz  oder  Nichtexistenz  eines  Dinges  erfaßt  werden  kann. 

§  5.    „Gefallen"  und  Begehren. 

Da  Schwarz,  obwohl  er  die  Gefallensakte  zu  den  WoUungstat- 
sachen  rechnet,  dennoch  das  Werthalten  von  den  Begehrungen  unter- 
scheidet, so  weist  er  gelegentlich  auf  die  Gegensätze  zwischen  diesen 


')  „Glück  und  Sittlichkeit",  S.  72. 

*)  Vgl.  S.  531  ff.  der  gegenwärtigen  Untersuchung,  dazu  besonders  Schwarz 
a.  a.  0.  S.  LS  und  120. 


Gegen  eine  Toluntaristische  Begründung:  der  Werttheorie.  571 

beiden  Tatsachen  hin. ^)  Alle  hier  anzuführen,  erscheint  über- 
flüssig, da,  wenn  sie  sich  auch  nicht  durchwegs  als  einwandfrei 
ergeben  sollten,  der  Grundthese,  die  Werthalten  und  Begehren 
scheidet,  im  allgemeinen  beigetreten  werden  kann. 

Vor  allem  trennt  Schwakz  das  Gefallen  als  ursächliches  Moment 
vom  Wünschen  als  dessen  Folgeerscheinung.-)  Auch  wenn  man,  wie 
im  obigen  geschehen  ist,  „Gefühl"  statt  „Gefallen"  setzt  und  die 
Frage  nach  dem  innersten  Zusammenhange  von  Fühlen  und  Wollen 
berührt,  so  wird  man,  ohne  die  Schwierigkeit  zu  übersehen,  die 
sich  ihrer  Beantwortung  entgegenstellt,  einräumen  können,  daß 
das  Fühlen  im  allgemeinen  das  Primäre,  das  Begehren  jedoch  das 
Sekundäre  ist.^)  Nur  auf  eine  Konsequenz  hieraus  sei  hier  im  Hin- 
blick auf  den  Hauptgegenstand  der  gegenwärtigen  Untersuchung 
ausdrücklich  hingewiesen,  ^^'enn  es  sich  darum  handelt,  ein  Kenn- 
zeichen dafür  abzugeben,  was  für  uns  Wert  hat,  so  kann  das  Be- 
gehren immerhin  zu  diesem  Zwecke  herangezogen  werden,  wohl  aber 
nur  mit  Umgehung  des  dem  Begehren  normalerweise  zugrunde 
liegenden  Gefühles.  Da  man  ferner  dasjenige,  was  schon  verwirk- 
licht ist,  nicht  mehr  begehrt,  so  kann  durch  dieses  Moment,  das 
aktuell  gar  nicht  vorhanden  ist,  jenes  dem  Wertobjekte  entgegen- 
gebrachte psychische  Verhalten,  das  jedermann  als  ein  eigenes, 
aktuelles  Erlebnis  spürt,  und  das  auch  im  Sinne  des  gewöhnlichen 
Sprachgebrauchs  allein  die  Bezeichnung  Werthaltung  verdient, 
nicht  charakterisiert  werden.  Allerdings  könnte  der  AVuusch.  ein 
gegenwärtiges  Objekt  zu  behalten,  wenn  auch  wahrscheinlich  nur 
bei  Annahme  seines  Verlustes,  als  etwas  Positives  zur  ^^'ert- 
haltung  hinzutreten;  sicherlich  aber  müßte  ein  solcher  Gedanke 
bei  Wertschätzung  von  Vergangenem  vollends  außer  Betracht 
bleiben.  Insofern  nun  Schwarz,  wie  oben  berührt,  das  „Gefallen" 
dem  Begehren  entgegenstellt,  ist  auch  er  als  Gegner  einer  solchen 
Begehrungstheorie  des  Wertes  zu  betrachten.  Daß  gleichwohl  die 
vorliegende  Untersuchung  seiner  werttheoretischen  Aufstellungen 
in  ihrem  Titel  als  gegen  eine  voluntaristische  Werttheorie  ge- 
richtet bezeichnet   werden   konnte,   hat  darin   seinen  Grund,   daß 


»)  „Glück  und  Sittlichkeit",  S.  12  f.  und  20  ff. 

2)  Ebenda  S.  23. 

')  Vgl.  Meinong  „Über  Annahmen"  §  47  und  55. 


572  Wilhelmine  Liel. 

Schwarz  wie  sojyleich  noch  aiisdrücldich  zu  berühren  sein  wird,  das 
„Gefallen"  als  eine  Wollungstatsache  in  Anspruch  nimmt. 

§  6.     „Gefallen"  als  un ableitbare  Tatsache. 

Da  nach  der  Ansicht  von  Schwarz  weder  vom  Gefühl  noch 
vom  Begehreu  her  ein  Verständnis  für  die  Tatsache  des  Wert- 
haltens zu  erzieleu  ist,  erg-ibt  sich,  daß,  da  eine  dritte  elementare 
Erscheinung-  des  Gemütes,  auf  welche  das  „Gefallen"  zurückgeführt 
werden  könnte,  nicht  vorliegt,  dieses  als  ein  besonderes,  unableit- 
bares psychisches  Geschehnis  betrachtet  und  nach  Schv/arz'  aus- 
drücklicher Bemerkung^)  in  das  Gebiet  des  Wollens  eingereiht 
werden  muß.'-) 

Obwohl  durch  vorliegende  Untersuchung  schon  zu  zeigen  versucht 
worden  ist,  daß  Schwarz  keinen  Grund  beigebracht  hat,  der  das  AVert- 
halten  für  etwas  anderes  als  ein  Gefühl  zu  halten  nötigte,  so  könnte 
nun  immerhin  noch  die  Frage  aufgeworfen  werden,  was  nach  Ab- 
zug des  „Gefallens"  —  wenn  auch  das  ästhetische  dazu  gerechnet 
werden  soll  —  für  das  Gefühlsleben  eigentlich  übrig  bliebe.  Augen- 
scheinlich nicht  viel  mehr  als  sinnliche  Lust  und  Unlust,  indes 
man  doch  nicht  wird  behaupten  wollen,  daß  das  Gefühlsleben  kurz- 
weg durch  sinnliche  Lust  und  Unlust  allein  ausgemacht  werde. 

Überdies  wird  sich  eine  Trennung  des  „Gefallens"  vom  Gefühl 
auch  aus  anderen  Gründen  kaum  durchführen  lassen.  Psj'chologisch 
läßt  sich  nämlich  das,  was  man  erlebt,  wenn  etwas  gefällt  oder 
mißfällt,  doch  nicht  anders  beschreiben  als  durch  den  Hinweis 
auf  gewisse  gegensätzliche  Tatsachen,  die,  da  doch  Affirmation  und 
Negation  so  wie  Begehren  und  Widerstreben  als  ausgeschlossen 
zu  betrachten  sind,  nicht  wohl  anderem  als  dem  Gefühlsgebiete 
zuzuzählen,  somit  als  Lust  bzw.  Unlust  zu  betrachten  sind. 
Auch  Schwarz  scheint  der  Ansicht  zu  sein,  daß  man  liier  ohne 
Gefühl  sein  Auskommen  nicht  finden  könne,  indem  er  wenigstens 
zugibt,  daß  Gefallen  und  Mißfallen  von  Lust-,  bzw.  Unlustgefühlen 
begleitet  werden,  genauer  ausgedrückt,  daß  diese  Gefühle  durch 
die  Gefallensakte  erregt  würden.^^)    Da  also  die  Qualität  Lust  und 


>)  „Glück  und  Sittlichkeit",  S.  67  und  73. 
'')  A.  a.  0.  S.  3  fr.,  11  f.,  22  f.  u.  a. 
»)  A.  a.  0.  S.  23  u.  a. 


Gegen  eine  voluntaristische  Begründung  der  Werttheorie.  573 

Unlust  nicht  ausgeschlossen  -werden  kann,  folgt  augenscheinlich, 
daß  „Gefallen"  entweder  ein  (.lefühl  hervorruft  oder  selbst  ein 
solches  ist.  Weil  man  aber  weder  erfahrungsgemäß  noch  aus 
theoretischen  Gründen  dazu  geführt  wird,  anzuerkennen,  man  er- 
lebe bei  jedem  „Gefallen"  zweierlei,  vorerst  die  Erregung  des  in 
Rede  stehenden  Vorganges,  dann  die  des  Gefühles,  so  wird  es 
wohl  das  Natürlichste  sein,  im  „Gefallen"  ein  Gefühl  zu  sehen. 

Den  "Wollungstatsachen  werden  die  Gefallensakte  von  Schwarz 
deshalb  zugezählt,  weil  eine  Art  des  „Gefallens",  nämlich  das 
,.unsatte"  ein  A\'ünschen  nach  sich  zieht.  Dem  ist  folgendes  ent- 
gegenzuhalten: wird  das  un satte  Gefallen  deshalb  zu  den 
WoUungstatbeständen  gerechnet,  weil  es  eine  Wollung  mit  sich  führt, 
so  müßte  das  satte  Gefallen  ganz  aus  demselben  Grunde  den  Ge- 
fühlen zugezählt  werden,  da  es  ein  Lustgefühl  zur  Folge  hat. 
Daraus  ergibt  sich  aber,  daß  man  das  Gefallen  als  solches  mit 
derselben  Berechtigung  in  das  Gebiet  des  WoUens,  wie  in  das  des 
Fühlens  verlegen  könnte. 

Allerdings  bestimmt  den  Verfasser  noch  ein  anderer  Umstand, 
die  Akte  des  Gefallens  und  Mißfallens  zum  Wollen  zu  rechnen: 
„Wollen  im  engeren  Sinne  oder  Wählen  ist  ein  Akt  des  Höh  er- 
wert ens.  Folglich  war  es  ganz  richtig,  die  Akte  des  einfachen 
Werfens  zur  selben  Klasse  zu  zählen  und  sie  als  die  einfachen 
AVillensakte  zu  bezeichnen^)".  Wäre  jedoch  unser  Wollen  nicht 
mehr  als  ein  „Höherwerten",  so  käme  es  wohl  niemals  zur  Tat.  Es 
scheint  vielmehr,  daß  erst  das  Höherwerten  (nach  den  Ausführungen 
dieser  Untersuchung  das  intensivere  Werthalten ^j)  in  Fällen 
des  Wählens  den  Ausschlag  gibt.  Es  führt  mit  sich,  daß  man  eine 
von  zwei  Möglichkeiten  der  andern  vorzieht,  weil  jene  eben  wert- 
voller erscheint;  aber  deshalb  ist  es  nicht  schon  das  Wollen  selbst. 
Und  ebenso  gehört  das  einfache  Werten  (Gefallen)  nicht  zum 
Wollen,  weil  Wollen  überhaupt  etwas  anderes  als  Werten  ist. 

§  7.    Terminologisches. 

Im  folgenden  soll  noch  die  Eignung  der  Ausdrücke  „Gefallen" 
und  „Mißfallen"   als  Bezeichnungen  für  Wertgefühle,   desgleichen 


')  A.  a.  0.  S.  120:  vgl.  auch  „Psych,  d.  Willens"  S.  318. 
"")  Vgl.  oben  S.  538  ff. 


574  Wilhelmine  Liel. 

die  der  Bezeichnung-en  „satt"  und  ,.misatt"  für  die  beiden  Arten 
der  Wertgefühle,  'N^^erthaltuug'  und  Weitung,  erwogen  werden. 

Der  Terminus  „Gefallen"  ist  nicht  nur  durch  die  Wissenschaft, 
sondern  auch  durch  den  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  für  eine 
andere  psychische  Tatsache  bestimmt  und  wird  sich  daher  für  das 
Werthalten,  um  so  weniger  eignen,  als  das  ästhetische  Gefallen 
nicht  einmal  eine  besondere  Art  des  „Gefallens"  im  weiteren  von 
Schwarz  verwendeten  Sinne  bildet,^)  Da  wir  ferner  auch  im 
„Werthalten"  eine  durch  die  Umgangssprache  längst  gesicherte 
Bezeichnung  besitzen,  so  liegt  auch  kein  Grund  vor,  nach  einer 
neuen  zu  suchen. 

Allerdings  gilt  dieser  Ausdruck  nur  für  die  eine,  von  Schwarz 
als  „satt"  bezeichnete  Art  des  Gefallens,  während  sich  im  ge- 
wöhnlichen Sprachgebrauch  für  das  „unsatte  Gefallen"  wie  für  die 
„Mißfallensakte"  keine  Ausdrücke  bieten.  Es  liegt  jedoch  kein  Grund 
vor,  solche  aus  anderen  Gebieten  herzuholen.  Ein  Gegenstand,  dessen 
Existenz  Lustgefühle  hervorruft,  oder  solche  im  Falle  seines  Vorhan- 
denseins hervorriefe,  wird  als  „Wert"  bezeichnet  und  ihm  das  Prädikat 
„wertvoll"  beigemessen.  Für  ein  dem  Werthalten  ähnliches  Ver- 
halten einem  Objekte  gegenüber,  daß  zwar  nicht  verwirklicht  ist,  aber 
als  „Wert"  angesehen  wird,  wird  daher  ein  den  genannten  Aus- 
drücken ähnlicher  zu  wählen  sein,  —  ebenso  für  ein  dem  Werthalten 
entgegengesetztes  Reagieren  einer,  der  diesen  Gegensatz  klar  und 
augenfällig  zu  bezeichnen  vermag.  Dies  ist  denn  auch  durch  die 
Termini  „Wertung",  bzw.  „Unwert"  und  „Unwerthalten"  geschehen.-) 

Übrigens  erhellt  die  Unzulänglichkeit  der  Bezeichnung  „Ge- 
fallen" auch  noch  aus  einem  Umstände,  auf  den  Schwarz  selbst 
aufmerksam  macht.  Vom  Beginn  dieser  Untersuchung  an  wurde 
zwar  auf  Gnind  seiner  Ausführungen  ^)  Gefallen  und  A\'erthalten  als 
identisch  vorausgesetzt.  Nun  scheint  dies  aber  der  Meinung  unseres 
Autors  selbst  nicht  ganz  zu  entsprechen,  wie  aus  einer  andern 
Stelle  ersichtlich  wird:  „Hält  man  doch  manches,  was  einem  nicht 
gefällt,  wert,  z.  B.  als  Mittel  zum  Zweck.  Erst  die  Funktion  des 
Vorziehens   deckt  sich  mit  allem  Werthalten  .  .  ,  ,"     Hier  sieht 


*)  Vgl.  S.  566  f.  dieser  Untersuchung. 

^)  Mbinong   „Annahmen";   bzw.   „Über  Werthaltung  und  Wert'".     Krüger 
führt  als  Gegensatz  zu  „wertvoll"  „wertwidrig"  an. 
»)  Glück  und  Sittlichkeit,  S.  4  f.,  9,  13,  20  u.  a. 


Gegen  eine  voluutaristische  Begründung  der  Werttheorie.  575 

man  ausdrücklich  Gefallen  und  Werthalten  in  einen  Gegensatz 
gebracht,  der  einer  weiteren  Verdeutlichung  nicht  mehr  bedarf. 
Über  das  Verhältnis  von  Werthalten  und  A^orziehen  ist  an  anderer 
Stelle  schon  einiges  bemerkt  worden.  ^) 

Die  Ausdrücke  „satt"  und  „unsatt"  zeigen  bei  Schwarz  eine 
metaphorische  Anwendung:  wie  auf  Hunger  ein  Begehren  nach 
Nahrung  eintritt,  so  auf  „unsattes  Gefallen"  der  Wunsch  nach  Ver- 
wirldichuug  des  Gefallensobjektes.  Wie  bei  vielen  Vergleichen  stimmt 
auch  hier  die  Analogie  nur  auf  den  ersten  Anschein,  indes  sie  sich  bei 
genauerer  Prüfung  als  nicht  recht  zutreffend  erweist.  Denn  wälirend 
der  Hunger  nach  seiner  Befriedigung  schwindet,  geschieht  dies 
beim  Gefallen  keineswegs;  es  bleibt  und  verändert  nur  seine 
Qualität,  indem  es  aus  einem  „unsatten"  ein  „sattes"  wird. 

Ein  anderer  Mangel  besteht  in  den  beiden  Deutungen,  die 
sich  aus  dieser  Analogie  ergeben.  Die  eine  davon  ist  bereits 
angeführt  worden.  Die  andere  läßt  einen  Grad  mehr  oder  minder 
gesättigten  Gefallens  zu,  je  nachdem  Gefallensobjekte  (solche  die 
eine  Summe  darstellen)  in  einem  größeren  oder  geringeren  Maße 
verwirklicht  sind.  Die  Einführung  der  beiden  Sättigungsarten 
von  Schwarz  ,  die  oben  -)  als  erste  und  dritte  namhaft  gemacht 
wurden,  dürfte  sich  aus  einem  solchen  Vergleich  verstellen  lassen. 
Als  vollends  außerhalb  der  angeführten  Analogie  gelegen  ist 
die  oben^)  an  zweiter  Stelle  berührte,  ebenfalls  steigerungsfähige 
Sättigungsart  zu  betrachten,  bei  welcher  der  Grad  der  Sättigung 
der  einzelnen  Gefallensakte  von  der  besseren  oder  minderen  Quali- 
tät der  gleichartigen  Gefallensobjekte  abhängt. 

Sieht  man  indes  von  den_  beiden  Bedeutungen  des  Wortes 
„Sättigung"  ab,  bei  denen  es  sich  früheren  Darlegungen  gemäß  *) 
nur  um  Werthaltungsintensitäten  handelt,  (Fall  zwei  und  drei 
der  obigen  Zählung)  so  bleibt  die  Bezeichnung  „satt"  und  „unsatt" 
allerdings  nur  für  den  einen  Gegensatz  bestehen,  der  hier  schon 
wiederholt  durch  „Werthalten"  und  „Wertung"  ungefähr  wieder- 
gegeben wurde.  Mit  dieser  Bedeutung  könnte  man  sich,  so  wenig 
man   dabei    durch    das   Sprachgefühl   unterstützt   wird,    immerhin 


^)  Vgl.  S.  539  ff.  und  578  dieser  Untersuchung. 

')  Vgl.  S.  531  f.  dieser  Untersuchuug. 

»)  Ebenda. 

*)  Vgl.  S.  533  f.  dieser  Untersuchung. 


^Yß  Wilhelmine  Liel. 

noch  zufrieden  geben;  aber  dann  bliebe  noch  ,.sattes"  oder  „unsattes 
Mißfallen"  fürs  erste  nicht  verständlich,  denn  durch  diese  beiden 
Ausdrücke  lassen  sich  weder  Phantasielust  bei  Annahme  der 
Nichtexistenz ,  noch  Phantasieunlust  bei  Annahme  der  Existenz 
eines  Unwertes  bezeichnen  und  ebensowenig-  die  entsprechenden 
Ernstg-efühle.  Es  hat  dies  darin  seinen  Grund,  daß  das  Attribut 
„satt"  nur  auf  Objekte  positiven,  niemals  aber  auf  Objekte  nega- 
tiven Wertes  natürliche  Anwendung  finden  kann. 

Mit  dieser  Unbrauchbarkeit  des  gegensätzlichen  Terminus 
„Mißfallen"  mag  es  einigermaßen  zusammenhängen,  daß  sich  durch 
den  Ausdruck  „Gefallen"  und  seine  beiden  Determinationen  keines- 
wegs alle  Vorgänge  kennzeichnen  lassen,  die  sich  als  ein  be- 
stimmtes emotionales  Verhalten  dem  Wertobjekte  gegenüber  er- 
geben. Insbesondere  findet  sich  in  der  Gefallenstheorie  für  das 
durch  Annahme  der  Existenz  eines  Wertobjektes  hervorgerufene 
Phantasiegefühl,  sowie  für  das  durch  das  Urteil  über  die  Nicht- 
existenz hervorgerufene  Ernstgefühl  höchstens  der  Ausdruck  „un- 
sattes Gefallen"  vor,  der  infolgedessen  natürlich  keinen  der  beiden 
Tatbestände  deutlich  bezeichnet.  Um  wieviel  beweglicher  und 
empfindlicher  der  terminologische  Apparat  ist,  der  der  Gefühls- 
theorie durch  die  drei  Gegensatzpaare  Werthaltung  und  ^Vertung, 
Wert  und  Unwert,  Existenz  und  Nichtexistenz  zur  Verfügung  ge- 
stellt wird,  braucht  kaum  besonders  angeführt  zu  werden. 

§  8.   Schlußbemerkungen. 

Blicken  wir  am  Ende  dieser  Untersuchungen  noch  einmal  auf 
deren  Verlauf  zurück,  so  fällt  es  nicht  schwer,  deren  Gesamter- 
gebnis zu  der  These  zu  formulieren,  daß  die  Gefühlstheorie  des  Wertes 
sich  auch  der  eigenartigen  Gestalt  gegenüber,  die  Schwabz  der 
voluntaristischen  Werttheorie  zu  geben  versucht  hat,  in  allen 
wesentlichen  Punkten  behauptet.  Vor  dem  Vorwurfe,  zu  diesem 
Ergebnis  durch  unzureichendes  Eingehen  auf  die  Einzelheiten  in 
den  Aufstellungen  des  genannten  Autors  gelangt  zu  sein,  dürften 
die  vorliegenden  Ausführungen  wohl  sicher  sein.  Eher  könnte  die 
Genauigkeit  dieses  Eingehens  durch  das  vorwiegend  negative 
Eesultat  nicht  ausreichend  gerechtfertigt  erscheinen,  so  daß  ein  Wort 
zur  Verständigung  hierüber  nachträglich   am  Platze  sein  möchte. 


Gegen  eine  vohmtaristische  Begründung  der  Werttheorie.  577 

Vor  allem  darf  wohl  darauf  hingewiesen  werden,  daß,  wo 
theoretische  Bearbeitungen  desselben  Gegenstandes  miteinander 
gleichsam  in  Wettbewerb  treten,  die  direkte  Auseinandersetzung 
jederzeit  eines  der  natürlichsten  Mittel  bleibt,  den  Kampf  der 
Theorien  seiner  Entscheidung  näher  zu  bringen.  Es  sind  Gründe 
äußerlichster  Art.  um  deren  willen  von  einem  Eingehen  auf  die 
Einzelheiten  gegnerischer  Aufstellungen  so  häufig  Abstand  genommen 
werden  muß.  Fallen  einmal  unter  besonderen  Umständen  solche 
Hindernisse  weg,  dann  darf  denjenigen  sicher  kein  Tadel  treffen, 
der  die  sich  zu  jener  direkten  Auseinandersetzung  bietende  Möglich- 
keit nicht  unbenutzt  läßt.  Zudem  war,  dies  zu  tun,  im  gegen- 
wärtigen Falle  sachlich  und  im  gewissen  Sinne  sogar  persönlich 
besonders  nahe  gelegt. 

Sachlich  durch  den  eingangs  dieser  Schrift  angedeuteten  Stand 
der  Frage.  Die  von  Meinongs  Untersuchungen  ausgegangene  An- 
regung ist  durchaus  nicht  nur  dem  von  ihm  eingenommenen  wert- 
theoretischen Standpunkte  zustatten  gekommen.  Darüber  freilich, 
daß  jede  ernst  zu  nehmende  Grundlegung  der  allgemeinen  Wert- 
theorie von  psychischen,  genauer  emotionalen  Erlebnissen  ihren 
Ausgang  nehmen  müsse,  wird  heute  kaum  mehr  ein  Zweifel  be- 
stehen: aber  zwischen  Fühlen  und  Wollen  schwebt,  literarisch 
wenigstens,  immer  noch  die  Entscheidung  und  die  zweite  dieser 
Eventualitäten  hat  durch  Schwarz'  Eintreten  für  das  „Gefallen", 
das  gleichwohl  als  vohmtaristische  Konzeption  gedacht  ist,  eine 
unerwartete  Spaltung  erfahren.  Nun  ist  der  Stand  der  Unter- 
suchung sicher  dieser  Entscheidung  dadurch  um  einen  Schritt 
näher  gerückt,  daß  Meinong  selbst  in  dem  Buche  „Über  Annahmen" 
durch  seinen  Stoff  sich  dazu  hingedrängt  gefunden  hat,  seine  durch 
Einbeziehung  der  Annahmetatsachen  wesentlich  vervollkommte 
Grundauffassung  der  Natur  des  Wertes  den  begehrungstheoretischen 
Positionen  Ehrefels'  ausdrücklich  gegenüberzustellen.  Und  wer 
vollends  meint,  daß  bei  dieser  Gegenüberstellung  das  natürliche 
gute  Recht  der  Gefühlsauffassung  besonders  deutlich  zutage  ge- 
treten ist,  der  wird  es  für  kein  überflüssiges  Tun  halten,  wenn 
die  Gefühlstheorie  nun  auch  den  Ausführungen  von  H.  Schwarz 
gegenüber  auf  die  Probe  gestellt  wird. 

Dazu  lag  aber  auch  noch  etwas  wie  ein  persönlicher  Anlaß 
in    dem   Umstände    vor,    daß    ja   H.   Schwarz    in    seinem  Buche 

Meinong,  Untersuchungen.  37 


578    Wilhelmine  Liel,  Gegen  eine  voluntaristische  Begründung  d.  Werttheorie. 

Über  „Glück  und  Sittlichkeit"  den  Weg  der  direkten  Auseinander- 
setzung- bereits  selbst,  wenn  auch  immerhin  nur  in  bezug  auf 
einige  Hauptpunkte,  eingeschlagen  hat.  Außerdem  wird  ihm.  wie. 
zu  hoffen  steht,  ein  Versuch  nicht  ohne  alles  Interesse  sein,  seine 
Aufstellungen  unter  dem  Gesichtspunkte  einer  theoretischen  Auf- 
fassung zu  würdigen,  von  der  er  selbst  mitteilt,^)  daß  sie  ihm 
einst  die  Bekanntschaft  mit  den  Grundproblemen  der  Werttheorie, 
zuerst  vermittelt  habe. 

Den  Anspruch,  die  Gefühlstheorie  des  Wertes  gegenüber- 
allen  bisher  unerledigt  gebliebenen  Bedenken  endgiltig  gesichert 
zu  haben,  wollen  die  vorstehenden  Darlegungen  natürlich  in  keiner 
Weise  erheben.  Sollten  sie  aber  auch  nur  dazu  dienen,  den  Leser 
zu  einer  ebenso  eingehenden  Beschäftigung  mit  H.  Schwakz'  Auf- 
stellungen zu  veranlassen,  als  diejenige  war,  der  sie  entsprungen  sind, 
so  wird  ihm  die  aus  diesen  Aufstellungen  zu  schöpfende  Anregung^ 
und  Förderung  auch  das  Eingehen  auf  die  im  obigen  niedergelegten 
kritischen  Versuche  als  keine  erfolglose  Mühe  erscheinen  lassen. 


^)  „Glück  und  Sittlichkeit"  S.  85. 


XI. 

über  die  Natur  der  Pliaiitasiegefühle  und 
Phantasiebegehrungen. 

Von 
Dr.  Robert  Saxinger. 

Inhalt. 

Seite 
§  1.  Einleitung- 579 

§  2.  Sonderstellung  der  Phantasiegefühlsdispositionen 582 

§  3.  Eigenart  der  Phautasiegefühlsdispositiouen 586 

§  4.  Die  Gefühlstöne  der  Allgemeinvorstellungen  und  Wortvorstellungen    .  595 

§  5.  Einiges  über  Phantasiebegehrungen.    Schlußwort 603 


§1.   Einleitung. 

Der  enge  Zusammenhang  zwischen  Geistes-  und  Gemütsleben 
bringt  es  mit  sich,  daß  eine  auf  intellektuelle  Vorkommnisse  ge- 
richtete Untersuchung  unvermeidlich  auch  auf  Fragen  des  emo- 
tionalen Geschehens  führt.  Die  Entdeckung  neuer  Tatsachen  im 
intellektuellen  Bereiche  berührt  in  der  Regel  auch  die  Gefühls- 
und Willenspsychologie.  Dies  ist  auch  bei  der  Erschließung  des 
Tatsachengebietes  der  Annahmen  durch  Meinong  der  Fall.  ^)  Die 
Untersuchungen  des  genannten  Autors  in  betrett'  der  Annahmen 
greifen  in  mehr  als  einer  Beziehung  in  die  Sphäre  der  Gemütsbe- 
wegungen über.     Insbesonders  ist  es  die  Frage,  welcher  Anteil 


^)  Meinong,  Über  Annahmen.    Zeitschrift  für  Psychologie  u.  Physiologie  der 
Sinnesorgane.    Ergänzungsband  II.     1902. 

37* 


^QQ  Robert  Saxinger. 

den  Gefühlen  an  den  Begehningen  zukommt,  die  Meinong  durch 
die  Bezugnahme  auf  die  Annahmen  zum  Austrag  bringen  will,  ^j 
Gelegentlich  der  in  dieser  Richtung  sich  bewegenden  Untersuchungen 
sah  sich  Meinung  auf  psychische  Tatsachen  geführt,  die  sich,  ob- 
gleich ihnen  qualitative  Gegensätzlichkeit  ebenso  zukommt  wie 
den  Gefühlen  und  Begehrungen,  dennoch  nicht  als  Gefühle  und 
Begehrungen  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  charakterisieren 
ließen.  ^) 

Von  der  Existenz  solcher  Tatsachen  kann  man  sich  nach 
Meinung  einmal  durch  Beachtung  der  Erlebnisse  an  Kunstwerken 
überzeugen.  Alles  das  z.  B.,  was  der  Zuschauer  mit  den  Personen 
des  Dramas  erlebt,  wie  Freude,  Trauer,  Furcht  und  Hoffnung, 
Wünsche  und  Begehrungen  ist  nicht  wirkliche  Freude  und  Trauer, 
noch  eigentliche  Furcht  und  Hoffnung,  noch  wirkliches  Wünschen 
und  Begehren;  wohl  aber  ist  es  etwas  Gefühlsälmliches,  Gefühls- 
artiges, bzw.  Begehrungsartiges,  Begehrungsähnliches.  Weiter  sind 
dann  gefühlsartige  Zustände  insbesonders  im  Gebiete  der  Wert- 
tatsachen anzutreffen.  Sie  vertreten  dort  die  Stelle  der  Wertge- 
fühle: Die  Objekte  sind  nach  ihrem  subjektiven  Werte  gewürdigt, 
wenn  ihre  Existenz  oder  Nichtexistenz  angenommen  und  auf  die 
bezügliche  Annahme  mit  gefühlsartigen  Phänomen  reagiert  wird.  ^) 
Gefühlsähnliche  und  begehrungsähnliche  Tatsachen  bezeichnet 
Meinong  als  „Phantasiegefühle"  bzw.  „Phantasiebegehrungen". 

Neu  entdeckten  psj^chischen  Tatsachen  gegenüber  pflegt  sich 
in  der  Psychologie  in  der  Regel  die  Tendenz  geltend  zu  machen, 
dieselben  unter  feststehende  psychische  Kategorien  unterzubringen 
und  sie  womöglich  in  andere  bekannte  psychische  Phänomene  auf- 
zulösen. Diesem  Schicksale  sind  auch  die  Phantasiegefühle  und 
Phantasiebegehrungen  nicht  entgangen.  Obgleich  es  schon  von 
anderer  Seite  geschehen  ist,  möchte  es  daher  doch  nicht  überflüssig 
sein,  nochmals  ausdrücklich  zu  sagen,  was  Phantasiegefühle  und 
Phantasiebegehrungen  nach  der  Ansicht  Meinongs  sind  und  was 
sie  nicht  sind.*) 

')  Ebenda  S.  212  ff. 
*)  Ebenda  S.  233  ff. 
^)  Ebenda  S.  246  ff. 

*)  Vgl.  B.  GßOETHüYSEN,  Das  Mitgefühl.  Zeitschrift  f.  Psychol.  Bd.  34. 
S.  245.  —  WiTASEK,  Grundzüge  der  allgemeinen  Ästhetik.    S.  107  ff. 


über  die  Natur  der  Phantasiegefühle  und  Phantasiebegehrungen.        581 

Fassen  wir  zunächst  den  nei^ativen  Teil  der  Fragestellung- 
ins  Auge.  Die  Phantasiegefiilile  und  Phantasiebegelirungen  sind 
jedenfalls  nicht  vorgestellte  und  nicht  angenommene  Gefühle  und 
Begehrungen.  Das  Vorstellen  und  Aunehmen  von  Gefühlen  und 
Begehrungen  kann  schon  deshalb  nicht  zur  Beschreibung  der 
Phantasiegefühle  und  Phantasiebegehrungen  herangezogen  werden, 
weil  A^orstellen  und  Annehmen,  auch  wenn  es  sich  auf  emotionale 
Gegenstände  bezieht,  ein  rein  intellektuelles  Geschehen  bleibt, 
während  die  fraglichen  Phänomene  nach  dem  Zeugnis  der  inneren 
Wahrnehmung  unzweifelhaft  in  das  Gebiet  der  emotionalen  Er- 
scheinungen einzureihen  sind.  Außerdem  sind  Vorstellungen  und 
Annahmen  von  Gefühlen  und  Begehrungen,  wie  Meinung  richtig 
bemerkt,  viel  zu  farblose  psjxhische  Erlebnisse,  um  eine  aus- 
reichende Charakterisierung  des  bei  den  Phantasiegefühlen  und 
Phantasiebegehrungen  vorliegenden  Sachverhaltes  zu  ermöglichen.^) 
Die  Phantasiegefühle  und  Phantasiebegehrungen  sind  auch  nicht 
wirkliche  Gefühle  und  Begehrungen,  die  im  wesentlichen  Annahmen 
zur  psychologischen  Vorraussetzung  haben  und  sich  von  anderen 
Gefühlen  und  Begehrungen  nur  durch  die  Eigenart  ihrer  intellek- 
tuellen Gnindlage  unterscheiden.  Die  nähere  Begründung  dieses 
Satzes  muß  den  späteren  Ausführungen  vorbehalten  bleiben. 

Was  die  Phantasiegefühle  und  Phantasiebegehrungen  nach  der 
Anschauung  Meinongs  sind,  wui'de  schon  eingangs  angedeutet :  Sie 
sind  gefühlsähnliche  und  begehruugsähnliche  Tatsachen.  Wer  ein 
Phantasiegefühl  erlebt,  fühlt  nicht  wirklich  Freude  oder  Schmerz. 
Und  ebenso  fehlt  der  Phantasiebegehrung  das  eigentliche  Be- 
gehrungsmomeut.  Dort  ist  es  nur  ein  gefühlsartiges,  hier  nur  ein 
begehrungsartiges  Vorkommnis.  Phantasiegefühle  und  Phantasie- 
begehrungen sind,  wie  Meinong  dartut,  eigenartige  emotionale 
Gebilde,  denen  ähnlich  wie  den  Annahmen  im  intellektuellen  Ge- 
biete, im  emotionalen  Bereiche  eine  stellvertretende  Rolle  zukommt. 
Sie  sind  also  wie  die  Gefühle  und  Begehrungen,  wie  die  Vor- 
stellungen, Annahmen  und  Urteile  letzte  Tatsachen.'^) 

Entgegen  dieser  Auffassung  vertritt  Witasek  in  seiner  jüngst 
erschienenen  Ästhetik  die  Ansicht,  daß   die  Phantasiegefühle  und 


^)  Über  Annahmen.    S.  236. 
«)  A.  a.  0.  S.  233  und  S.  238. 


582  EOBEKT    SaXINGER. 

Phantasiebeg-ehruugen  nicht  psychische  Tatsachen  sui  generis  dar- 
stellen, sondern  wirkliche  Gefühle  und  Begehrungen  sind,  die  sich 
nur  durch  ihre  Provenienz  von  anderen  Gefühlen  und  Begehrungen 
unterscheiden,^)  Es  ist  nun  die  Aufgabe  der  folgenden  Unter- 
suchung zu  zeigen,  daß  die  Phantasiegefühle  nicht  wirkliche  Ge- 
fühle und  die  Phantasiebegehrungen  nicht  wirkliche  Begehrungen, 
sondern  letzte  Tatsachen  sind. 


§  2.  Sonderstellung  der  Phantasiegefühls- 
dispositionen. 

Die  Ansicht  Witaseks  über  die  Phantasiegefühle  ist  kurz 
folgende:  Die  Phantasiegefühle  sind  Annahmegefühle,  also  Gefühle, 
welche  Annahmen  zur  psjxhologischen  Voraussetzung  haben.  Der 
Unterschied  zwischen  Phantasiegefühlen  und  Urteilsgefühlen  be- 
steht nur  darin,  daß  für  diese  Urteile,  für  jene  Annahmen  die  in- 
tellektuelle Grundlage  abgeben.  Die  innere  Betrachtung  des 
emotionalen  Faktors  bei  beiden  Gefühlsarten  zeigt,  von  Intensitäts- 
graden abgesehen,  keine  Verschiedenheit.  Die  psychologische 
Voraussetzung  des  Phantasiegefühles,  die  Annahme  überträgt  ihre 
Eigenart  auch  auf  das  ihr  zugeordnete  Gefühl.  Die  Urteilsgefühle 
stehen  in  Beziehung  zur  Wirklichkeit,  die  Phantasiegefühle  gründen 
sich  auf  bloßen  Schein.  Daraus  erklärt  es  sich,  daß  die  letzteren, 
genau  genommen,  weder  freuen  noch  schmerzen.-) 

Die  Anschauung  Witaseks  stimmt,  wie  man  sieht,  mit  der 
Meinongs  in  einem  wesentlichen  Punkte  überein,  nämlich  darin, 
daß  die  Phantasiegefühle  nicht  freuen  und  nicht  schmerzen.  Den 
Phantasiegefühlen  mangelt  also  zugestandenermaßen  gerade  das, 
was  sonst  emotionale  Erscheinungen  zu  Gefühlen  macht.  Schmerz 
und  Freude  gehören  zum  Wesen  des  Gefühles  und  nimmt  man  sie 
weg,  so  hebt  man  das  Gefühl  selbst  auf.  Daß  ein  Gefühl  schmerzt 
oder  freut,  kommt  demnach  nur  auf  Rechnung  des  emotionalen 
Faktors  eines  Gefühlszustandes  und  besteht  nicht  in  der  Gefühls- 
voraussetzung. Also  kann  auch  das  Fehleu  dieser  beiden  Momente 
in  einem  emotionalen  Zustande  nicht  auf  Besonderheiten  der  in- 


')  Grundzüge  der  allg.  Ästhetik.    S.  114. 
»)  A.  a.  0.  S.  113—119. 


über  die  Natur  der  Phantasiegefühle  und  Phantasiebegehrungen.        583 

tellektuellen  Grundlage,  sondern  nur  auf  die  Andersartigkeit  des 
•emotionalen  Faktors  gedeutet  werden.  Gibt  man  zu,  daß  die 
Phantasiefühle  weder  freuen  noch  schmerzen,  so  kann  man  nicht 
zugleich  behaupten,  daß  der  emotionale  Faktor  bei  den  Phantasie- 
gefühlen und  Urteilsgefühlen  keine  Verschiedenheit  aufweise.  Diese 
Unzukömmlichkeit  vermeidet  die  Theorie  Meinongs,  indem  nach 
ihr   die  Phantasiegefühle  überhaupt  nicht  wirkliche  Gefühle  sind. 

So  sehr  auch  Erwägungen  dieser  Art  zugunsten  des  Meinüng- 
schen  Standpunktes  sprechen,  so  wird  durch  sie  das  „Phantasie- 
gefühlsproblem" doch  keineswegs  gelöst.  Hiezu  bedarf  es  noch 
eingehenderer  Untersuchungen.  In  erster  Linie  wird  zu  erheben 
«ein,  ob  für  die  den  Annahmen  zugeordneten  emotionalen  Regungen, 
welche  Meinong  als  Phantasiegefühle  bezeichnet,  und  die  Witasek 
für  Annahmegefühle  hält,  eigene  Dispositionen  in  Anspruch  zu 
nehmen  sind,  oder  ob  diese  emotionalen  Erscheinungen  und  die 
Urteilsgefühle  aus  einer  und  derselben  Quelle  entspringen.  Diese 
Frage  ist  insofern  von  Wichtigkeit,  als  durch  ihre  Entscheidung 
in  gewisser  Beziehung  das  Schicksal  des  Problems  mitbestimmt 
"wird.  Haben  wir  Gründe,  anzunehmen,  daß  die  einer  Annahme 
und  einem  Urteile  über  dasselbe  Objektiv  entsprechenden  emotio- 
nalen Reaktionsweisen  sich  als  die  Leistungen  einer  und  derselben 
Disposition  darstellen,  dann  steht  von  dieser  Seite  der  Ansicht 
AViTASEKs  nichts  im  Wege.  Wenn  dagegen  die  mit  den  Annahmen 
verknüpften  Gemütsbewegungen,  die  Phantasiegefühle  auf  eigenen 
Dispositionen  beruhen,  dann  eröffnet  sich  die  Aussicht,  die  Eigen- 
art dieser  Phänomene  aus  der  besonderen  Beschattenheit  ihrer 
Dispositionen  zu  verstehen. 

Die  Erfahrung  zeigt,  daß  sich  den  Annahmen  stets  dort 
Phantasiegefühle  zugesellen,  wo  die  Überzeugung  von  der  Wirk- 
lichkeit Urteilsgefühle  auslösen  würde. ^)  Diese  Tatsache  scheint 
für  die  Möglichkeit  zu  sprechen,  daß  Urteil  und  Annahme  bei  einer 
und  derselben  Gefühlsdisposition  als  Gefühlserreger  fungieren 
können.  Die  Annahme  steht  dem  Urteile  nahe;  sie  ist  eine  dem 
Urteile  verwandte,  demselben  ähnliche  psychische  Erscheinung. 
Es  wäre  also  ganz  gut  denkbar,  daß  die  Annahme  auch  berufen 
ist,  das  Urteil,  insoferne  es  als  Dispositionserreger  für  eine  Ge- 


')  Vgl.  Witasek,  a.  a.  0.  S.  112. 


584  EOBEBT    SaXINGER. 

fühlsdispositioii  fungiert,  zu  vertreten  und  die  Eolle  des  Dispo- 
sitionserregers zu  übernehmen.  Unter  diesem  Gesichtspunkte  würde 
die  Aktualisierung  einer  Gefühlsdisposition  lediglich  davon  ab- 
hängen, daß  ein  bestimmtes  Objektiv  gegeben  ist.  Für  die  Tat- 
sache der  Aktualisierung  bliebe  es  sich  gleich,  ob  das  Objektiv 
durch  eine  Annahme  oder  durch  ein  Urteil  erfaßt  würde.  Intensi- 
tätsverschiedenheiten der  durch  Annahme  und  Urteil  ausgelösten 
Gefühlsregungen  könnten  allenfalls  aus  der  Verschiedenheit  des 
Annahme-  und  Urteilsaktes  erklärt  werden. 

Dieser  Auffassung  kommt  auch  der  Umstand  zu  statten.,  daß 
im  Gebiete  des  Vorstellens,  insoweit  dasselbe  in  Beziehung  zum 
Gefühlsleben  steht,  ein  analoges  Verhältnis  anzutreffen  ist.  Be- 
kanntlich pflegen  sich  die  Gefühle  den  Gegenständen  nicht  bloß 
dann  zuzuwenden,  wenn  sie  durch  Wahrnehmungsvorstellungen 
erfaßt  werden,  sondern  auch  dann,  wenn  sie  mittelst  Phantasie- 
vorstellungen gegeben  sind.^)  Die  Tatsache  nun,  daß  der  Wahr- 
nehmungsvorstellung und  der  Phantasievorstellung  gleichen  Gegen- 
standes in  der  Regel  gleiche  oder  ähnliche  Gefühle  zugeordnet 
sind,  und  daß  den  Vorstellungen  der  reproduktiven  Phantasie  eine 
Gefühlswirkung  nur  dann  zukommt,  wenn  die  Wahrnehmungsvor- 
stellung vom  gleichen  Gegenstande  gefühlserregend  wirkt,  läßt 
auf  das  Vorhandensein  gemeinsamer  Gefühlsdispositionen  schließen,, 
für  welche  einmal  die  Wahrnehmungsvorstellung,  ein  andermal  die 
Phantasievorstellung  als  Dispositionserreger  fungiert.  Dieser  Ana- 
logie kommt  indes  nicht  allzuviel  Beweiskraft  zu,  denn  es  ist 
mit  der  Möglichkeit  zu  rechnen,  daß  die  psychologische  Forschung 
einmal  auf  Tatsachen  gerät,  die  die  Aufstellung  einer  eigenen 
Klasse  von  Dispositionen  für  Gefühle,  welche  den  Phantasievor- 
stellungen zugeordnet  sind,  erheischt.  Mag  diese  Möglichkeit  eine 
noch  so  entfernte  sein,  die  Einsicht  in  sie  belehrt  uns  jedenfalls^ 
daß  aus  dem  Umstände,  daß  mit  den  Annahmen  dort  Phantasie- 
gefülüe  auftreten,  wo  die  Urteile  von  wirklichen  Gefühlen  be- 
gleitet wären,  nicht  unbedingt  auf  die  Gemeinsamkeit  der  den 
Phantasiegefühlen  und  Urteilsgefühlen  zugrunde  liegenden  Dispo- 
sitionen geschlossen  werden  darf. 

Die  Frage,  ob  Phantasiegefühle  und  Urteilsgefühle  auf  gemein- 


*)  Vgl.  WiTASEK,  a.  a.  0.  S.  196. 


über  die  Natur  der  Phantasiegefühle  und  Phantasiebegehrungen.        585 

schaftliche  Dispositionen  zurückgehen,  kann  nur  so  zur  Ent- 
scheidung- gebracht  werden,  daß  Fälle  aufgezeigt  werden,  in 
welchen  sich  Urteil  und  Annahme  auf  das  gleiche  Objektiv  be- 
ziehen, die  zugehörigen  Gefühlsreaktionen  sich  aber  nicht  so  ge- 
stalten, wie  sie  sich  unter  der  Voraussetzung  einer  gemeinsamen 
Gefühlsdisposition  gestalten  müßten.  Gibt  es  Tatsachen  dieser 
Art,  dann  werden  wir  ohne  weiteres  für  die  Phantasiegefiihle 
eigene  Dispositionen  annehmen  können.  In  dieser  Beziehung  sei 
nur  folgendes  angeführt.  Das  sich  Hineindenken  in  vergangene 
Situationen  trägt  manchmal  deutlich  einen  lust-  oder  unlustartigen 
Charakter  an  sich,  obgleich  wir  aus  Erfahrung  wissen,  daß  eine 
neuerliche  Verwirklichung  des  Gedachten  (Angenommenen)  keine  Ge- 
fühle auszulösen  vermöchte.  Wer  sich  z.  B.  in  die  Vergnügungen 
der  Jugendzeit  im  Geiste  zurückversetzt,  der  erlebt  etwas  lustähu- 
liches.  auch  wenn  das,  was  ihm  seinerzeit  Lust  verschaffte,  längst 
seineu  Reiz  für  ihn  verloren  hat.  Das  Bewußtsein,  bestimmte 
Handlungen  vollbringen  zu  sollen,  ist  gegenwärtig  nicht  mehr 
von  Freude  begleitet,  obgleich  dieselben  Handlungen  einstmals 
lusterregend  wirkten  und  auch  der  Gedanke  an  sie  freudig  be- 
wegte. Ja,  es  kann  sogar  der  Fall  eintreten,  daß  dieses  Be^Mißt- 
sein  sich  nicht  nur  nicht  lustvoll,  sondern  geradezu  unlustvoll  ge- 
staltet. Annahme  und  Urteil  beziehen  sich  hier  auf  das  gleiche 
Objektiv  und  doch  ist  die  Gefühlswirkung  beider  gänzlich  ver- 
schieden. Es  gibt  also  Tatsachen,  welche  zeigen,  daß  die  Phantasie- 
gefühle aus  anderen  Dispositionen  stammen  als  die  Urteilsgefühle. 
Wir  müssen  demnach  mit  der  Sonderstellung  der  Phantasiegefühls- 
dispositionen Ernst  machen  und  für  die  Phantasiegefühle  eigene 
Dispositionen  in  Anspruch  nehmen. 

Durch  diese  Auffassung  gewinnt  nun  auch  die  oben  angeführte 
Tatsache,  daß  den  Annahmen  dort  Phantasiegefiilile  zugeordnet 
sind,  wo  die  Urteile  wirkliche  Gefühle  hervorrufen  würden,  eine 
andere  Bedeutung.  Aus  dieser  Tatsache  ist  nämlich  jetzt  zu 
folgern,  daß  der  Bestand  der  Phantasiegefühlsdispositionen  in 
gewissem  Sinne  von  dem  der  Urteilsgefühlsdisi)ositionen  abhängig 
ist.  Man  müßte  sich  begnügen,  zu  konstatieren,  daß  zwischen  den 
beiden  Arten  von  Dispositionen  eine  Abhängigkeitsbeziehung  über- 
haupt besteht,  wenn  nicht  eine  weitere  Tatsache  zur  Vertagung 
stünde,    die    eine   nähere   Determinierung    des    Abhängigkeitsver- 


586  Robert  Saxinger. 

liältnisses  zwischen  den  in  Rede  stehenden  Dispositionen  g^estattete. 
Ich  meine  die  Erfahrung,  daß  die  Phantasiegefühle  die  Urteils- 
gelühle  häufig  überdauern  und  dort  noch  auftreten,  wo  die  letzteren 
längst  erloschen  sind.  Zieht  man  diese  Tatsache  in  Betracht,  dann 
gelangt  man  zu  dem  Ergebnis,  daß  sich  die  Abhängigkeit  der 
Phantasiegefühlsdispositionen  von  den  Urteilsgefühlsdispositionen 
nur  auf  die  Begründung  der  ersteren  erstrecken  kann:  Der  Be- 
stand von  Dispositionen  zu  Urteilsgefühlen  bildet  die  Voraussetzung 
der  Entstehung  der  Phantasiegefühlsdispositionen. 

§  3.  Eigenart  der  Phantasiegefühlsdispositionen. 

Durch  die  Feststellung,  daß  die  Dispositionen  zu  Phantasie- 
gefühlen mit  den  Dispositionen  zu  Urteilsgefühlen  nicht  kurzweg 
Identisch  sind,  ist  noch  keineswegs  erwiesen,  daß  die  Phantasie- 
gefühle nicht  wirkliche  Gefülile,  genauer  Annahmegefühle  sind. 
Es  ist  aber  klar,  daß,  wenn  die  Phantasiegefühle  wirkliche  Gefühle 
sind,  für  sie  auch  gewisse  Gesetzmäßigkeiten,  welchen  alle  Gefühle 
ausnahmslos  unterliegen,  gelten  müssen.  Die  nächsten  Unter- 
suchungen werden  sich  also  in  dieser  Richtung  bewegen  müssen. 

Unsere  Gefühle  zeigen  sicli  im  großen  und  ganzen  ziemlich 
veränderlich  und  diese  Veränderlichkeit  findet  zunächst  einmal 
in  dem  Gesetze  der  Abstumpfung  ihren  Ausdruck.  Die  allum- 
fassende Geltung  dieses  Gesetzes  könnte  vielleicht  insofern  in 
Zweifel  gezogen  werden,  als  es  bekanntlich  Fälle  gibt,  in  welchen 
sich  die  Gefühle  stets  gleich  zu  bleiben  scheinen,  oder  wo  eher 
eine  Zunahme  als  eine  Abnalime  der  Gefühlsstärke  im  Laufe  der 
Zeit  zu  bemerken  ist.  Indes  wenn  man  bedenkt,  was  Gefühls- 
abstumptung  im  Grunde  ist,  so  kann  es  nicht  schwer  fallen, 
das  Vorkommen  solcher  Tatsachen  mit  dem  Gesetze  der  Ab- 
stumpfung in  Einklang  zu  bringen.  Gefühlsabstumpfung  ist  Ge- 
fühlsdispositionsherabsetzung (Energieverbrauch).  Aber  nicht  jede 
Gefühlsdispositionsherabsetzung  ist  Gefühlsabstumpfung.  Die  durch 
das  Auftreten  von  aktuellen  Unlustgefühlen  bewirkte  Herab- 
setzung von  Lustgefühlsdispositionen  z.  B.  ist  nicht  Gefühlsab- 
stumpfung. Nur  jene  Herabsetzung  der  Gefühlsdisposition  ist  als 
Gefülilsabstumpfung  zu  bezeiclmen,  die  in  der  Natur  der  Disposition 
selbst  ihren  Grund  hat.     Aufgehalten  wird  die  Herabsetzung  der 


über  die  Natur  der  Phantasiegefühle  und  Phantasiebegehrungen.        587 

Oefiihlsdisposition  durch  Faktoren,  die  im  Sinne  einer  Verstärkung 
auf  die  Gefülilsdisposition  wirken  (Energiezufuhr).  Wird  der  durch 
die  Aktualisierung  einer  Gefühlsdisposition  erzeugte  Ausfall  an 
Energie  wieder  gedeckt,  so  äußert  sich  dies  auf  Seite  des  Dispo- 
sitionskorrelates durch  Stetigkeit  der  Gefühlsintensität.  Ist  die 
Energiezunahme  größer  als  der  Energieverbraucli ,  so  tritt  das 
Gegenteil  der  Gefühlsdispositionsherabsetzung  ein:  Die  Disposition 
erfährt  eine  Steigerung  und  die  derselben  entspringenden  Gefühls- 
reaktionen zeigen  eine  Intensitätszunahme.  So  erklärt  es  sich 
z.  B.  auf  einfache  Weise,  daß  die  Neigung,  die  einer  Person  ent- 
gegengebracht wird,  sich  mit  der  zunehmenden  Erkenntnis  der  Vor- 
züge derselben  vertieft.  Das  Gleichbleiben  der  Gefühle  und  die 
Steigerung  der  Intensität  derselben  bedeuten  also  nicht  Ausnahmen 
von  dem  Gesetze  der  Gefühlsabstumpfung:  Sie  sind  nur  Momente, 
die  der  Ausdruck  dafür  sind,  daß  Kräfte  walten,  welche  den  natür- 
lichen Verfall  der  Gefühle,  oder  eigentlich  genauer  der  Gefühlsdispo- 
sitionen aufhalten  und  ihn  gelegentlich  zu  paralj'sieren  vermögen. 
Es  fragt  sich  nun,  wie  sich  die  Phantasiegefühle  zu  dem  Ge- 
setze der  Abstumpfung  stellen.  Lassen  sich  an  den  Phantasiege- 
fühlen solche  Veränderungen  wahrnehmen,  aus  welchen  geschlossen 
werden  muß,  daß  sie  gleich  den  anderen  Gefühlen  unter  das  er- 
wähnte Gesetz  fallen?  Die  Frage  kann  durch  Betrachtung  em- 
pirischer Fälle  entschieden  werden.  Wer  sich  z.  B.  in  Lebensgefahr 
befindet  und  die  Gefahr  erkennt,  der  erlebt  ein  intensives  Un- 
lustgefühl,  dessen  psychologische  Voraussetzung  das  auf  die  Gefahr 
gerichtete  Existenzialurteil  ist.  Der  Betreffende  kann  nun  in  zwei- 
facher Weise  an  den  Sachverhalt,  nachdem  er  in  die  Vergangenheit 
gerückt  ist,  herantreten.  Er  kann  sich  sagen:  mein  Leben  war  unter 
diesen  oder  jenen  Umständen  bedroht.  In  diesem  FaUe  ist  es  ein  Ur- 
teil, durch  welches  der  Tatbestand  erfaßt  wird.  Derjenige,  der  sich 
seinerzeit  in  Gefahr  befunden  hat,  kann  sich  aber  auch  das  Ge- 
schehene vergegenwärtigen,  indem  er  sich  im  Geiste  in  die  gefahr- 
drohende Situation  hineinversetzt  und  die  Ereignisse  als  sich  gegen- 
wärtig abspielende  annimmt.  Hier  tritt  dann,  wie  ersichtlich  ist, 
an  die  Stelle  des  Urteils  die  Annahme.  Im  ersten  Fall  haben  wir 
auf  der  emotionalen  Seite  ein  Urteilsgefühl,  im  zweiten  ein  Phanta- 
siegefühl zu  verzeichnen.  Jenes  wird  nach  und  nach  schwächer  und 
erlischt  endlich  gänzlich;  dieses  erhält  sich   dauernd.     Das   sich 


588  Robert  Saxinöer. 

Hineindenken  in  die  damalige  Situation  trägt  immer  ein  nnliist- 
artiges  Gepräge  an  sicli,  welches  sich  auch  dann  noch  bemerken 
läßt,  wenn  das  vorerwähnte  Urteilsgefühl  infolge  der  Abstumpfung 
längst  erloschen  ist.  Ein  weiteres  gutes  Beispiel,  aus  dem  ent- 
nommen werden  kann,  daß  die  Phantasiegefühle  unverändert  bleiben^ 
während  sich  die  Urteilsgefühle  abstumpfen,  entlehne  ich  der 
WiTASEKschen  Darstellung.  „Wer  einen  lieben  Lebensgefährten,"  — 
sagt  WiTASEK,  —  „durch  den  Tod  verloren  hat,  fühlt  deutlich,  wie 
schön  es  wäre,  wenn  er  noch  lebte".')  Der  lustartige  Charakter 
des  Gedankens,  der  Gelahrte  lebe  noch,  beruht  jedenfalls  auf  «inem 
Phantasiegefühl,  das  sich  von  der  Trauer  um  den  erlittenen  Ver- 
lust, einem  Urteilsgefühle,  deutlich  abhebt.  Jeder  weiß,  daß  auch 
die  intensivste  Trauer  mit  der  Zeit  einer  ruhigen  Stimmung  Platz 
macht.  Das  Trauergefühl  stumpft  sich  eben  ab.  Dies  gilt  auch 
im  vorliegenden  Falle.  Das  Phantasiegefühl  dagegen  bleibt  un- 
verändert bestehen.  Der  Gedanke,  der  Gefährte  lebe  noch,  behält 
seinen  freundlichen  Charakter  auch  dann  bei,  wenn  die  Trauer 
um  den  Verstorbenen  bereits  gebrochen  ist. 

In  den  beiden,  eben  erwähnten  Fällen  haben  wir  das  Verhalten 
der  Phantasiegefühle  mit  dem  der  Urteilsgefühle  verglichen.  Da 
es  sich  in  diesem  Zusammenhange  aber  um  den  allgemeinen  Nach- 
weis handelt,  daß  die  Phantasiegefühle  sich  nicht  so  wie  die  Ge- 
fühle im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  verändern,  empfiehlt  es 
sich,  auch  noch  einen  Vergleich  zwischen  Phantasiegefühl  und 
Vorstellungsgefühl  anzustellen.  Denken  wir  uns  etwa  einen  ästhe- 
tisch gebildeten  Menschen,  der  aus  irgendwelchen  Anlässen  ge- 
nötigt wäre,  ein  und  dasselbe  Kunstwerk  Tag  für  Tag  zu  be- 
trachten und  sich  in  dasselbe  zu  versenken.  Es  ist  leicht  ein- 
zusehen, daß  der  Beschauer  des  Kunstwerkes  in  diesem  Falle 
gar  bald  eine  Beeinträchtigung  des  ästhetischen  Genusses,  des 
ästhetischen  Gefühles  bemerken  würde.  Zugleich  würde  derselbe 
aber  auch  noch  wahrnehmen  können,  daß  die  emotionale  Seite 
am  Erfassen  des  im  Kunstwerk  veranschaulichten  Gegenstandes 
sich  stets  unverändert  zeigt.  Das  Hineindenken  in  das,  was 
durch  das  Kunstwerk  zum  Ausdrucke  gebracht  werden  soll,  ruft 
immer  die  gleiche  emotionale  Erscheinung,  genauer  ein  Phantasie- 


')  Grundzüge  der  allg.  Ästhetik.    S.  113. 


über  die  Natur  der  Phantasiegefülile  und  PLantasiebegehrungen.       589 

gefülil  hervor,  das  iui  Gegensatze  zu  dem  ästhetischen  Gefühl 
keinerlei  Veränderung  aufweist.  Auch  aus  diesem  Beispiele  er- 
hellt deutlich  die  Disparität  im  Verhalten  der  Phantasiegefühle  und 
der  wirklichen  Gefühle. 

Die  Phantasiegefühle  unterscheiden  sich  also  von  den  anderen 
Gefühlen  durch  das  Merkmal  der  relativen  Unveränderlichkeit.  Nun 
war  oben  darauf  hingewiesen  worden,  daß  dort,  wo  sich  wirkliche 
Gefühle  längere  Zeit  hindurch  unveränderlich  erhalten,  das  Herein- 
wirken von  Faktoren  angenommen  Averden  müsse,  welche  die  Ge- 
fühlsdispositionen verstärken.^)  Man  könnte  daher  versuchen,  die 
Unveränderlichkeit  der  Phantasiegefühle  in  der  gleichen  Weise  zu 
erldären,  wie  dies  bei  den  eigentlichen  Gefühlen  geschehen  ist. 
Zu  diesem  Behufe  müßte  man  natürlich  die  Momente,  welche  ver- 
stärkend auf  die  den  Phantasiegefühlen  zugrunde  liegenden  Dis- 
positionen einwirken,  aufzeigen  können.  Und  zwar  müßte  man 
annehmen,  daß  diejenigen  Faktoren,  die  auf  die  Disposition  der 
wirklichen  Gefühle  verstärkend  einwirken,  auch  bei  den  Phantasie- 
gefühlsdispositionen eine  Kräftigung  herbeizuführen  vermögen. 
Indes  läßt  sich  leicht  zeigen,  daß  Tatsachen,  die  den  Gefühlen  neue 
Nahrung  geben,  auf  die  Gestaltung  der  Phantasiegefühle  nicht  den 
geringsten  Einfluß  nehmen.  Die  Trauer  um  einen  Verstorbenen  z.  B. 
kann  durch  den  Anblick  einer  Photographie  desselben  wieder  inten- 
siver werden.  Aber  das,  was  hier  das  Trauergefühl  neu  aufleben  maclit, 
was  also  die  Gefühlsdisposition  im  Sinne  einer  Verstärkung  beeinflußt, 
das  ist  in  Anseliung  des  Phantasiegefühles,  welches  mit  dem  Gedanken 
an  den  Dahingeschiedenen  als  einen  noch  Lebenden  verknüpft  ist, 
vollständig  wirkungslos.  Der  Anblick  des  Bildes  mag  der  Anlaß  zur 
Betätigung  der  Annahmefunktion  in  der  gedachten  Richtung  sein; 
aber  an  dem  Phantasiegefühl  trägt  sich  nichts  zu,  was  auf  eine 
Verstärkung  der  Phantasiegefühlsdisposition  hindeuten  würde. 

Vielleicht  wird  man  sich  auf  die  kurze  Dauer  der  Phantasie- 
gefühle berufen  und  behaupten,  daß  diese  psychischen  Erschei- 
nungen nie  lange  genug  andauern,  um  Abstumpfung  nach  sich 
ziehen  zu  können.  Gegen  diesen  Versuch,  sich  die  Unveränder- 
lichkeit der  Phantasiegefühle  zu  erklären,  spricht  vor  allem  die 
Tatsache,   daß  es  auch  eigentliche  Gefühle  gibt,    die   sich   trotz 


')  S.  oben  S.  587. 


590  Robert  Saxinger. 

kurzer  Dauer  abstumpfen,  und  bei  welchen  die  mit  der  Abstump- 
fung im  Zusammenhang  stehenden  Veränderungen  der  Beobachtung 
keineswegs  entgehen.  Wenn  also  die  Phantasiegefühle  so  wie  die 
anderen  Gefühle  der  Abstumpfung  unterlägen,  so  müßten  auch 
bei  ihnen,  obgleich  sie  nur  von  kurzer  Dauer  sind,  die  Folgen 
der  Abstumpfung  zutage  treten.  Weiter  ist  gegen  den  in  Rede 
stehenden  Einwand  anzuführen,  daß  die  kurze  Dauer  der  Phan- 
tasiegefühle in  Ansehung  der  Abstumpfung  durch  häufige  AMeder- 
holungen  ersetzt  werden  kann.  An  oftmals  auftretenden  Phan- 
tasiegefühlen müßten  sich  unbedingt  die  fraglichen  Veränderungen 
zeigen.  Allein  dies  ist  nicht  der  Fall.  Man  kann  ein  Phantasie- 
gefühl, so  oft  man  will,  erzeugen,  ohne  eine  merkliche  Veränderung 
an  demselben  wahrzunehmen.  Das  Merkmal  der  Unveränderlichkeit, 
das  die  Phantasiegefühle  auszeichnet,  deutet  also  entschieden  darauf- 
hin, daß  die  Phantasiegefühle  nicht  in  der  Art  und  Weise  wie  die 
wirklichen  Gefühle  dem  Gesetze  der  Abstumpfung  unterworfen  sind. 

Ein  wichtiges  Moment,  durch  welches  auch  Veränderungen 
der  Gefühle  herbeigeführt  werden,  liegt  in  dem  Auftreten  aktueller 
Gefühle,  indem  letztere  die  Gefühlsumgebung,  wenn  dieser  Aus- 
druck gestattet  ist,  mehr  oder  weniger  in  Mitleidenschaft  ziehen. 
Aktuelle  Gefühle  beeinflussen  je  nach  ihrer  Intensität  und  Dauer 
andere  Gefühlsreaktionen  insofern,  als  sie  den  diesen  zugeordneten 
Dispositionen  Energie  entziehen  und  so  deren  Aktualisierung  er- 
schweren bzw.  für  längere  oder  kürzere  Zeit  unmöglich  machen. 
Man  vermag  sich  erfahrungsgemäß  im  Zustande  tiefer  Trauer  über 
nichts  zu  freuen  und  umgekehrt  pflegt  man  in  frohen  Stunden 
über  Unangenehmes  leichter  hinweg  zu  kommen.  ^) 

Nach  der  Ansicht  Witaseks  nehmen  die  Phantasiegefühle  in 
dieser  Beziehung  keine  Ausnahmestellung  ein.  Ihre  Entstehung 
soll  durch  das  Vorherrschen  aktueller  Gefühle  gehemmt  werden 
und  sollen  sie  auch  andere  Gefühle  zu  beeinträchtigen  vermögen. 
„Im  Zustande  ernstlicher,  tiefer  Unlust,"  —  sagt  Witasek,  —  „ist 
man  nur  mit  größter  Anstrengung  und  ärgstem  Widerwillen,  in 
der  Regel  aber  gar  nicht  imstande,  ein  lustvolles  Phantasiegefühl 
zu  aktualisieren ;  gelingt  es  aber  doch  einmal,  so  ist  die  wirkliche 


')  Vgl.  meinen  Aufsatz :  Über  den  Einfluß  der  Gefühle  auf  die  Vorstellungs- 
bewegung.   Zeitschr.  f.  Psychol.  27,  S.  25. 


über  die  Natur  der  Phantasiegefühle  und  Phantasiebegehrungen.       591 

Unlust  bereits  gebrochen.  Umgekehrt  fällt  es  jedem  schwer,  sich 
in  die  Gemütslage  eines  Ellenden  und  Traurigen  zu  versetzen,  so- 
lange er  sich  im  Zustande  höchster  freudiger  Erregung  oder  aus- 
gelassener Heiterkeit  befindet,  und  auch  da  tut  es  der  Ernst-Lust 
Abbruch,  wenn  es  trotzdem  geschieht."  ^)  Es  fragt  sich  nun ,  ob 
diese  Auffassung  Witaseks  richtig  ist  und  die  Phantasiegefühle 
und  wirklichen  Gefühle  sich  tatsächlich  gegenseitig  beeinflussen. 
Die  Phantasiegefühle  haben  mit  anderen  emotionalen  Tatsachen 
das  gemein,  daß  sie  wie  diese  auf  intellektuelle  Vorgänge  gestellt 
sind.  Es  ist  daher  einleuchtend,  daß,  wer  ein  Phantasiegefühl  er- 
zeugen will,  die  intellektuelle  Grundlage  ins  Bewußtsein  rufen 
muß,  und  daß  dort,  wo  die  Annahmetunktion  auf  Hindernisse  stößt, 
auch  die  Entstehung  des  zugehörigen  Phantasiegefühles  in  Frage 
gestellt  ist.  Nun  wird  durch  Erfahrungen  im  weitesten  Umki^eis 
bestätigt,  daß  Vorstellungen  und  Gedanken,  welche  von  intensiven 
oder  dauernden  Gefühlen  getragen  werden,  die  Tendenz  zu  öfterem 
Auftauchen  und  längerem  Beharren  im  Bewußtsein  besitzen  und. 
durch  andere  Gedanken  schwer  verdrängt  werden.  -)  Aus  diesem 
Grunde  ist  es  auch  schwierig,  sich  im  Zustande  intensiver  Lust 
oder  Unlust  in  Situationen  hineinzudenken,  die  zu  den  herrschen- 
den Gefühlen  in  keiner  Beziehung  stehen.  Ist  aber  das  Annehmen 
gehemmt,  so  kann  sich  auch  das  Phantasiegefühl,  das  unter 
günstigeren  Umständen  auftreten  würde,  nicht  entwickeln.  Die 
Tatsache,  daß  es  in  intensiven  Gefühlszuständen  nicht  oder  nur 
schwer  gelingt,  ein  Phantasiegefühl  zu  erzeugen,  erklärt  sich  so 
auf  einfache  Weise.  Wie  man  sieht,  handelt  es  sich  hier  nicht 
um  direkte  Einwirkung  aktueller  Gefühle  auf  Phantasiegefühle, 
genauer  um  eine  von  den  ersteren  bewirkte  Herabsetzung  der 
diesen  zugrundeliegenden  Dispositionen,  sondern  um  intellek- 
tuelle Vorgänge,  von  welchen  das  Auftreten  der  emotionalen  Folge- 
erscheinungen abhängt.  Also  kann  die  Tatsache,  daß  es  in  Zu- 
ständen intensiven  Fühlens  erschwert  oder  überhaupt  nicht  möglich 
ist,  Phantasiegefühle  zu  erzeugen,  nicht  als  Argument  zugunsten 
der  These  dienen,  daß  die  Entstehung  der  Phantasiegefühle  ebenso 
wie  die  anderer  Gefühle   durch  den  herrschenden  Gefühlszustand 


*)  Grundzüge  d.  allg.  Ästhetik.     S.  118  u.  119.     Anmerkung. 

')  Vgl.   meine  oben  angeführte  Abhandlung ,   Zeitschrift  f.  Psych.  27,   §  3. 


1392  Robert  Saxinger. 

verhindert  wird,  und  die  Frage,  ob  ein  Einfluß  aktueller  Gefühle 
auf  Phantasiegefühle  stattfindet,  muß  unabhängig  von  dieser  Tat- 
sache erwogen  werden. 

Wenn  Gedanken  und  Vorstellungen,  welche  mit  den  herrschen- 
den Gefühlszuständen  in  keinem  Zusammenhang  stehen,  sich  den 
Eintritt  ins  Bewußtsein  erzwingen,  so  zeigt  sich,  daß  die  diesen 
Gedanken  und  Vorstellungen  sonst  zugeordneten  Gefühlsregungen 
ausbleiben.^)  Anders  steht  die  Sache  dagegen  bei  den  Phantasie- 
gefühlen. Wenn  sich  die  Annahme  durchzuringen  vermag,  dann 
stellt  sich  auch  das  Phantasiegefühl  trotz  des  herrschenden  Ge- 
fühles ein,  Belege  für  diese  Behauptung  sind  leicht  beigebracht. 
Wer  sich  z.  B.  über  die  Erreichung  eines  gesteckten  Zieles  freut 
und  in  froher  Stimmung  annimmt,  er  habe  das  Ziel  nicht  erreicht, 
der  kann  bemerken,  daß  diesem  letzten  Gedanken  ein  unlustartiger 
Charakter  anhaftet,  der  sich  auch  den  herrschenden  Lustgefühlen 
gegenüber  behauptet.  Weiters  ist  aus  dem  oben  angeführten  Fall, 
daß  jemand  den  Verlust  eines  Lebensgefährten  betrauert  und  sich 
dabei  denkt,  wie  es  wäre,  wenn  der  Verstorbene  noch  lebte,  deut- 
lich zu  ersehen,  daß  sich  das  Phantasiegefühl  unbeschadet  der  in- 
tensiven Trauer  einstellt.  Denn  der  Gedanke,  der  Freund  lebe, 
trägt  auch  dann  ein  lustartiges  Moment  an  sich,  wenn  er  im  Zu- 
stande tiefster  Trauer  ins  Bewußtsein  tritt. 

Diese  Beispiele  zeigen,  daß  die  Phantasiegefühle  von  den 
aktuellen  Gefühlen  nicht  beeinflußt  werden  und  vorhandene  Gefühls- 
zustände  ihre  Erzeugung  nicht  stören.  Aber  auch  eine  Einwirkung 
in  der  umgekehrten  Eichtung  findet  nicht  statt.  Die  Phantasie- 
gefühle beeinträchtigen  in  keiner  Weise  die  wirklichen  Gefühle 
und  wenn  sie  während  intensiver  oder  anhaltender  Gefühlszustände 
auftreten,  so  ist  die  herrschende  Unlust  oder  Lust  keineswegs 
durchbrochen.  Die  Beobachtung  zeigt  vielmehr  nur  die  Koexistenz 
der  Phantasiegefühle  und  wirklichen  Gefühle.  -)  Die  Trauer  um 
den  Verlust  des  Freundes  wird  durch  die  Annahme,  daß  er  lebe, 
nicht  gehindert.  Und  ebensowenig  wird  der  Ärger  eines  Vaters 
über  den  Unfleiß  des  Sohnes  durch  die  Annahme,  daß  der  Sohn 
durch  redliche  Arbeit  zu  guten  Erfolgen  geführt  werde,  nicht  ge- 

')  Vgl.  Über  den  Einfluß  der  Gefühle  auf  die  Vorstellungsbewegung,  §  2. 
^)  Über  Koexistenz  der  Gefühle  findet  sich  einiges  in  meinem  Aufsatze:  Dis- 
positiouspsychologisches  über  Gefühlskomplexionen.  Zeitschr.  f.  Psychol.  30  S.  399  ff. 


über  die  Natur  der  P'haiitasiegefühle  und  Phautasiebegehrungeii.        593 

mildert.  Endlich  büßt  derjenige,  der  sich  des  Gelingens  seiner 
Bemühungen  erfreut,  an  wirklicher  Lust  nichts  ein,  wenn  er  sich 
vorstellt,  das  Erstrebte  nicht  erreicht  zu  haben. 

Nun  gibt  es  auch  Tatsachen,  welche  gegen  den  hier  vertretenen 
Standpunkt  zu  sprechen  scheinen,  daß  von  den  Phantasiegefühlen 
keine  Einwirkung  ausgehe,  durch  w^elche  die  wirklichen  Gefühle 
berührt  werden.  Indes,  wo  dies  der  Fall  ist,  führt  genauere 
Analyse  immer  auf  intellektuelle  Vorgänge  oder  auf  anderweitige 
Gefühlsfaktoren,  auf  deren  Rechnung  die  Steigerung  oder  Beein- 
trächtigung der  wirklichen  Gefühlszustände  zu  setzen  ist.  Be- 
kanntlich erfährt  die  Trauer,  wenn  man  annimmt,  das  Unglück 
hätte  nicht  stattgefunden,  eine  Steigerung.  Fürs  erste  möchte  man 
hier  wohl  geneigt  sein  zu  meinen,  daß  das  aus  dem  Annahmever- 
fahren entspringende  Phantasiegefühl  das  Trauergefühl  verstärke. 
Allein  es  zeigt  sich,  daß  das  die  betreffende  Annahme  begleitende 
Phantasiegefühl  keineswegs  das  Agens  ist,  das  den  Gefühlszuschuß 
bewirkt.  Wenn  wir  nämlich  annehmen,  das  Unglück  hätte  sich 
nicht  zugetragen,  so  pflegen  wir  uns  das  Geschehene  mit  viel 
größerer  Anschaulichkeit  und  Klarheit  zu  vergegenwärtigen,  als 
dies  bei  der  Fällung  des  Urteiles,  das  Unglück  habe  sich  ereignet, 
der  Fall  ist.  Die  Phantasietätigkeit  ist  der  Anlaß  zu  einer 
Wiederbelebung  der  Erinnerung  an  das  unglückliche  Ereignis 
und  diese  Auffrischung  des  Gedächtnisses  hat  dann  eine  Zunahme 
des  Trauergefühles  zur  Folge.  Die  Verstärkung  des  Unlustgefühles 
beruht  also  auf  dem  intellektuellen  Geschehen.  Das  letztere  ver- 
ursacht eine  Steigerung  des  wirklichen  Gefühles  und  nicht  das 
Phantasiegefühl. 

Was  ferner  die  „anderweitigen  Gefühlsfaktoren"  anbelangt, 
welche  hier  in  Betracht  kommen,  so  sind  in  erster  Linie  darunter 
Urteilsgefühle  gemeint.^)  Wer  ein  einträgliches  Geschäft  besitzt, 
wird,  falls  er  sich  in  ungünstige  Geschäftsverhältnisse  hineindenkt, 
eine  unlustartige  Regung  verspüren,  kurz,  ein  Phantasiegefühl  er- 
leben. ^Venn  sich  nun  an  dieses  Annehmen  aus  irgend  einem 
Grunde  die  Vermutung  knüpft,  daß  der  Rückgang  des  Geschäftes 
in  absehbarer  Zeit  wirklich  erfolgen  werde,  so  knüpft  sich  an  dieses 
Wahrscheinlichkeitsurteil  begreiflicherweise  ein  wirkliches  Unlust- 


')  Vgl.  WiTASKK,  Ästhetik,  S.  306  ff.  u.  313 ff. 
Meinong,  Untersucbungen.  38, 


r^q^  Robert  Saxinoer. 

^elühl.  Dieses  aus  der  Reflexion  über  die  Möglichkeit  der  ^'er- 
Avirkliclnm^  des  Gedachten  fließende  Urteil sg-efühl  und  nicht  das 
l^hantasiegefühl  kann  und  wird  die  herrschende  gute  Stimmung- 
beeinträchtigen und  die  Freude  am  Geschäftsbetriebe  dämpfen.^) 

In  zweiter  Linie  kommen  dann  Gefühle  in  Betracht,  die  zu 
dem  Annahmeakte  in  demselben  Verhältnis  stehen,  wie  die  so- 
genannten ^Vissensgefühle  zu  dem  Urteilsakte.  Diese  letzteren 
Gefühle  sind  bekanntlich  Urteilsgefühle,  bei  w^elchen  der  Urteils- 
akt für  das  Gefühl  entscheidend  ist."^)  Das  Wissen  als  solches 
freut,  der  intellektuellen  Betätigung  selbst  entspringt  die  Lust.  Die 
Wissensgefühle  bilden  sonach  eine  spezielle  Gruppe  der  Tätigkeits- 
gefühle, zu  welchen  alle  Gefühle  gehören,  die  unmittelbar  mit  der 
Ausübung  phj'sischer  und  psj^chischer  Tätigkeit  verbunden  sind  und 
die  sich  nicht  dem  Gegenstande  der  Tätigkeit  zuwenden.  Das  An- 
nehmen ist  eine  intellektuelle  Tätigkeit  und  es  ist  nicht  einzusehen, 
warum  nicht  auch  dieser  Art  geistiger  Betätigung  Gefühle  zukommen 
sollen.  In  der  Tat  gibt  die  Erfahrung  auch  die  Beweise  an  die 
Hand,  daß  dem  wirldicli  so  ist.  Im  Bereiche  des  Spieles  und  der 
Kunst  ist  der  Entfaltung  der  Annahmefunktion  vielseitige  Gelegen- 
heit gegeben.  Und  bekanntlich  ist  es  häufig  das  Spiel  überhaupt, 
gleichviel,  welches  es  ist,  das  Freude  macht.  Aber  auch  die 
schöpferische  Phantasie  ist  für  den,  der  damit  ausgestattet  ist, 
eine  unmittelbare  Quelle  der  Lust,  indem  schon  ihre  Betätigung  als 
solche,  abgesehen  von  dem,  was  sie  schafft,  Genuß  in  sich  birgt.^) 

Die  Untersuchung  hat  also  ergeben,  daß  die  Phantasiegefühle 
weder  andere  Gefühle  beeinträchtigen,  noch  eine  von  aktuellen 
Gefühlen  ausgehende  Einwirkung  erfahren.  Wären  die  Phantasie- 
gefühle Annahmegefühle,  also  wirldiche  Gefühle,  so  müßten  einer- 
seits   ihre    Dispositionen    durch    das    Auftreten    intensiver    oder 


')  In  solchen  Fällen  wird  das  Pbantasiegefühl  leicht  übersehen.  Für  eine 
erste  Orientiernug  über  die  Phantasiegefühle  empfiehlt  es  sich  daher,  sich  an  Beispiele 
zu  halten,  in  welchen  die  begleitenden  Urteile  und  Gefühle  fehlen,  die  Phantasie- 
gefühle aber  rein  hervortreten  und  nicht  erst  durch  die  Analyse  herausgearbeitet 
werden  müssen. 

^)  Meinong,  Psychologisch-ethische  Untersuchungen  zur  Werttheorie.  18Ü4. 
S.  36,  §  12. 

')  Vgl.  hierzu  Witasek,  Ästhetik,  S.  202.  Nach  Witasek  entbehrt  aber  der 
Akt  der  Annahme  der  gefühlsanregenden  Kraft. 


über  die  Natur  der  Phantasiegefühle  und  Phantasiebegehrungen.        595 

dauernder  Gefühle  in  Mitleidenschaft  f^'ezogen  werden  und  anderer- 
seits könnte  aucli  ihre  Existenz  nicht  spurlos  an  den  Dispositionen 
/u  wirklichen  Gefühlen  vorübergehen.  Gerade  die  Tatsache,  daß 
weder  bei  den  Phantasiegefülilen .  nocli  bei  den  wirklichen  Ge- 
fühlen solche  V^eränderungen  angetrotfen  werden,  welche  auf  eine 
gegenseitig  bewirkte  Herabsetzung  der  betreftenden  Dispositionen 
schließen  lassen  wüi-den,  kann  nicht  anders  erklärt  werden,  als  daß 
man  eine  besondere  Beschaflenheit  der  Phantasiegefühlsdispositionen 
annimmt.  Auch  die  oben  nachgewiesene  Tatsache,  daß  die  Phan- 
tasiegefühle außerhalb  des  Gesetzes  der  Abstumpfung  stehen,  deutet 
darauf  hin.  daß  die  Dispositionen  zu  Phantasiegefühlen  von  denen 
zu  wirklichen  Gefühlen  wesentlich  verschieden  sind.  Emotionale 
Dispositionen  aber,  auf  welche  die  Gesetze  des  Gefühlslebens  keine 
Anwendung  finden,  sind  überhaupt  nicht  mehr  Gefühlsdispositionen 
und  deren  Leistungen  nicht  Gefühle,  sondern  eben  Tatsachen 
sui  generis. 


§  4.  Die  Gefühlstöne  der  Allgemein  Vorstellungen  und 
Wort  Vorstellungen. 

Da  WiTASEK  zugunsten  seines  Standpunktes  in  betreff  der 
Phantasiegefühle  die  Behauptung  aufstellt,  daß  alle  Phantasie- 
gefühle ohne  Ausnahme  Annahmen  und  niemals  Urteile  zur  ps^'clio- 
iogischen  Voraussetzung  haben,  so  müssen  wir  auch  diesen  Punkt 
hier  zur  Sprache  bringen.^)  In  der  MEiNONGschen  Darstellung  er- 
scheinen die  Phantasiegefühle  nur  im  Zusammenhang  mit  den  An- 
nahmen behandelt.  Indes  berechtigt  dieser  Umstand  nicht,  die 
Ausführungen  des  zuletzt  genannten  Autors  dahin  zu  interpretieren, 
daß  die  Phantasiegefülüe  ausschließlich  den  Annahmen  vorbehalten 
seien.  Die  Frage,  ob  aUe  Phantasiegefühle  auf  Annahmen  zurück- 
gehen, muß  vielmehr  als  eine  nocli  offene  bezeichnet  werden.  Wir 
wollen  uns  nun  bei  der  Fragestellung,  ob  die  Phantasiegefülüe 
nur  in  Gesellschaft  der  Annahmen  vorkommen,  oder  auch  andere 
intellektuelle  Phänomene  begleiten,  nicht  bloß  auf  das  Urteil  be- 
schränken, sondern  auch  die  Vorstellungen  mit  einbeziehen.  Und 
zwar  deshalb,  weil  gerade  manchmal  VorsteUimgen  zusammen  mit 


1)  Vgl.  WiTASEK,  Ästhetik,  S.  118. 

38* 


1^96  Robert  SAxiNfiEK. 

eigenartigen  emotionalen  C-rebilden  angetroifen  werden,  deren  Her- 
kunft noch  nicht  genügend  aufgeklärt  ist.  und  die  vielleicht  Phan- 
tasiegefühle oder  wenigstens  diesen  verwandte  Tatsachen  sind.  Ich 
meine  das  gefühlsmäßige  Kolorit,  oder  besser  gesagt,  das  lust- 
bzw.  unlustaitige  Gepräge,  das  gewissen  Allgemeinvorstellungen 
und  Wortvorstellungen  anhaftet.  Das  Verdienst,  diese  Tatsachen 
zuerst  gründlich  untersucht  zu  haben,  gebührt  Elsenhans.^) 

Bekanntlich  vertritt  Elsenhans  die  Ansicht,  daß  die  mit- 
manchen  Allgemeinvorstellungen  und  Wortvorstellungen  auftreten- 
den emotionalen  Erscheinungen  das  Ergebnis  einer  Gefühlsverallge- 
meinerung sind.  Die  Unhaltbarkeit  dieser  Auffassung  habe  ich 
an  anderer  Stelle  dargetan  und  dort  darauf  hingewiesen,  daß 
prinzipiell  nichts  im  Wege  stehe,  in  Allgemein-  und  Wortvor- 
stellungen die  intellektuelle  Grundlage  von  Gefühlen  zu  sehen.'-*) 
Damit  war  ein  Standpunkt  gewonnen,  von  dem  aus  sich  die  frag- 
lichen Phänomene  ohne  Bezugnahme  auf  eine  Verallgemeinerung 
der  Gefühle  begreiflich  machen  ließen.  Bis  vor  kurzem  war  ich 
auch  der  Meinung,  daß  diese  Position  zur  Erklärung  genüge.  In- 
des die  Feststellung  der  Tatsache  der  Phantasiegefühle  durch 
Meinong  hat  in  betreff  dieser  Dinge  eine  Wendung  in  meiner 
Anschauung  herbeigeführt. 

Sind  denn  die  Gefühlstöne,  die  nach  Elsenhans  z.  B.  den  Allge- 
meinvorstellungen „Waldesrauschen".  „Eisenbahnunglück"  anhaften, 
überhaupt  noch  wirkliche  Gefühle  ?=^)  Läßt  sich  von  diesen  emo- 
tionalen Begleittatsachen  nichts  anderes  Wesentliche  sagen,  als  daß 
sie  Gefühle  sind,  die  zur  psj^chologischen  Voraussetzung  allgemeine 
Vorstellungen  haben?  Wenn  man  die  mit  gewissen  AUgemeinvor- 
steUungen  und  Wortvorstellungen  verbundenen  Gefühlsphänomene 
einer  eingehenden  Prüfung  unterwirft,  so  kann  man  sich  der  Über- 
zeugung nicht  verschließen,  daß  sie  mit  dem,  was  wir  sonst  über  die 
Gefühle  wissen,  nicht  recht  in  Einklang  zu  bringen  sind,  und  daß  die 
oben  berührte  Erklärungsweise  in  Ansehung  dieser  Erscheinungen 
den  Tatsachen   nicht  voll  und  ganz  gerecht  wird.     Unabweislich 


')  Elsenhans,  Über  Verallgemeiuemug  der  Gefühle.  Zeitschrift  für  Psychol. 
XXIV  S.  194. 

*)  Vgl.  meinen  Aufsatz :  Dispositionspsychologisches  über  Gefühlskomplexionen, 
Zeitschr.  f.  Psychol.  30,  S.  417 ff. 

*)  Über  Verallgemeinerung  der  Gefühle,  a.  a.  0.  S.  199. 


tJber  die  Natur  der  Phaiitasiegefühlc  luid  Phantasiebegelirniigen.        597 

drängt  sich  die  ^'e^mut^lnfi■  auf,  daß  wir  es  liier  am  Ende  über- 
haupt nicht  mit  wirklichen  Gefühlen  zu  tun  haben.  Ob  wir  Grund 
haben,  dieser  Vermutung  Raum  zu  geben,  werden  die  folgenden 
Darlegungen  zeigen. 

Unter  anderen  AUgemeinvorstellungen  und  W'ortvorstellungen 
besitzt  für  mich  der  Ortsname  Ebensee  in  besonders  auffallender 
Weise  eine  eigenartige  gefühlsmäßige  Färbung,  die  ich  vorläufig 
nach  Elsenhans  als  Gefühlston  beschreiben  will.  Ich  bin  nicht 
im  geringsten  im  Zweifel,  daß  dieser  Gefühlston  den  Charakter 
der  Unlust  an  sich  trägt.  Damit  soll  aber  keineswegs  schon  ge- 
sagt sein,  daß  ich  gesonnen  bin,  den  Gefülilston  für  ein  wirkliches 
Unlustgefühl  zu  halten;  sondern  damit  soll  lediglich  die  Stelle 
innerhalb  des  Gegensatzes  von  Lust  und  Unlust  bezeichnet  sein, 
welche  derselbe  einnimmt.  Dieser  (refühlston  stammt  daher,  daß 
ich  im  September  1899  Augenzeuge  der  Verheerungen  war,  die 
das  Hochwasser  in  Ebensee  verursacht  hatte. 

Die  nächstliegende  Erklärung  des  dem  Worte  ,, Ebensee"  an- 
haftenden Unlusttones  ist  die,  daß  man  denselben  mit  reproduk- 
tiven Elementen  in  Zusammenhang  bringt.  Zuerst  waren  es  die 
Erinnerungen  an  jene  Ereignisse,  die  durch  das  Wort  „Ebensee" 
ins  Bewußtsein  gehoben,  das  Gefühl  vermittelten.  Einzelne  Züge 
aus  den  Erinnerungen  sind  in  das  anschauliche  Substrat  der  an 
das  Wort  Ebensee  geknüpften  Vorstellung  übergegangen  und  nun- 
mehr bedarf  es  zur  Hervorrufung  des  Gefühles  nicht  mehr  der 
vollen  Erinnerung;  das  anschauliche  Substrat  besorgt  jetzt  die- 
selbe und  der  fragliche  Gefühlston  beruht  also  auf  der  Repro- 
duktion des  anschaulichen  Substrates  der  Wortvorstellung  „Eben- 
see", Wer  auf  diesem  Standpunkt  steht,  wird  jedenfalls  zugeben 
müssen,  daß,  falls  das  anschauliche  Substrat  gelegentlich  durch 
die  volle  und  deutliche  Erinnerung  ersetzt  wird,  die  Gefühls- 
reaktion durch  diese  Erinnerung  ausgelöst  wird.  Wäre  nun  die 
angedeutete  Erklärungsweise  richtig,  so  müßte  dann,  wenn  durch 
den  Namen  Ebensee  die  volle  Erinnerung  geweckt  wird,  nur  dei- 
Unlustton  und  sonst  nichts  anzutreffen  sein.  Das  ist  aber  nicht 
der  Fall.  Die  Beobachtung  zeigt  vielmehr  nicht  nur,  daß  die  be- 
treffende Erinnerung  dermalen  noch  immer  ein  schwaches  Unlust- 
gefühl mit  sich  führt,  sondern  auch,  daß  sich  von  diesem  Unlust- 
gefühl der  mit   dem  Worte  Ebensee   verbundene  Gefühlston   deut- 


598  Robert  Saxinger. 

lieh  abhebt.  Da  man  zwei  Unlustgefühle  aus  einer  Sache  heraus 
nicht  haben  kann,  so  muß  der  erwähnte  Unlustton  anderswo  seinen 
Ursprung  haben.  Nicht  anders  steht  es  auch  in  anderen  Fällen, 
in  welchen  mit  allgemeinen  Vorstellungen  und  Wortvorstellungen 
Gefiihlstöne  verknüpft  sind.  Die  Ansicht,  daß  die  fraglichen  Ge- 
fühlstöne Gefühle  sind,  die  durch  das  anschauliche  Substrat  der 
Allgemein  Vorstellungen  und  Wortvorstellungen  hervorgerufen  werden, 
erweist  sich  sonach  als  unzulänglich. 

Wir  müssen  es  also  auf  andere  Weise  versuchen,  Aufklärung 
über  das  Wesen  der  Gefühlstöne  gewisser  Allgemeinvorstellungen 
und  Wortvorstellungen  zu  erhalten.  Bei  emotionalen  Erscheinungen, 
deren  Natur  noch  nicht  feststeht,  ist  es  immer  zweckmäßig  zu 
untersuchen,  ob  sie  einerseits  dem  Gesetze  der  Gefühlsabstumptung 
unterliegen  und  andererseits  durch  andere  Gemütsbewegungen  be- 
einflußt werden.  Der  Erlös  einer  solchen  Untersuchung  ist  der, 
daß  man  darüber  Ivlarheit  erlangt,  ob  man  in  den  fraglichen 
emotionalen  Phänomenen  wirkliche  Gefühle  vor  sich  hat  oder  nicht. 
Prüfen  wir  also  das  Verhalten  der  Gefühlstöne  der  Allgemeinvor- 
steliungen  und  Wortvorstellungen  nach  den  angedeuteten  Rich- 
tungen hin. 

Zu  diesem  Behufe  müssen  wir  nochmaJs  auf  das  Ebenseer 
Beispiel  zurückkommen.  Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  die 
Erinnerung  an  die  Hochwasserkatastrophe  in  Ebensee  ihren  Ge- 
fühlswert bereits  erheblich  eingebüßt  hat.  An  den  betreffenden 
Gefühlen  sind  im  Laufe  der  Jahre  deutlich  bemerkbare  Ver- 
änderungen vor  sich  gegangen:  Dieselben  haben  sich  abgestumpft. 
Dagegen  ist  zu  konstatieren,  daß  der  Unlustton.  der  dem  Worte 
Kbensee  anhaftet,  nach  wie  vor  besteht  und  sich  an  ihm  keine 
merklichen  Veränderungen  zugetragen  haben.  Da  an  dem  frag- 
lichen Gefühlston  die  Folgen  der  Abstumpfung  nicht  bemerkbar 
sind,  so  müßte  sich  seine  Unveränderlichkeit,  falls  er  seinem  Wesen 
nach  ein  wirkliches  Gefühl  wäie.  aus  temporären  Dispositionsver- 
stärkungen, die  den  Fortgang  der  Abstumpfung  aufhalten,  erklären 
lassen.  Und  zwar  kämen  hier  als  dispositionsverstärkende  Momente 
wiederholte  Besuche  des  Ortes  Ebensee  und  damit  im  Zusammen- 
hang stehende  Gedächtnisauffrischungen  in  Betracht.  Da  ich  mich 
aber  auf  solche  Vorkommnisse  nicht  berufen  kann,  so  muß  die 
unveränderlichkeit  des  Gefühlstones  anderswo  ihren  Grund  haben. 


über  die  Natur  der  Phantasiegefühle  und  Phantasiebegehriingen.        599 

Dieser  kann  nur  in  der  dem  Gefühlston  zug-rimde  liegenden  Dispo- 
sition g-eleg-en  sein,  welche  offenbar  von  solcher  Beschaffenheit  ist, 
daß  die  Wirkungen  der  Abstumpfung  nicht  in  der  \\'eise  zutage 
treten,  wie  bei  den  wirklichen  Gefühlen,  ^^'ollte  man  nun  sagen, 
der  Gefühlston  sei  ein  psychisches  Phänomen  von  viel  zu  kurzer 
Dauer,  um  sich  abstumpfen  zu  können,  so  müßte  man  diesem  Ein- 
wände das  nämliche  entgegenhalten,  was  gegen  denselben  im  vor- 
hergehenden Paragraplien  in  Ansehung  der  Phantasiegefühle  vor- 
gebracht wurde.  In  diesem  Falle  ist  es  nur  unzweifelhaft  leichter, 
die  Probe  zu  machen,  daß  der  Gefühlston  aucli  trotz  vielfacher 
Wiederholungen,  die  in  betreff  der  Abstumpfung  die  Dauer  er- 
setzen, sich  nicht  verändert.^)  Das,  was  an  dem  Unlustton  des 
Wortes  Ebensee  dargetan  wurde,  ließe  sich  unschwer  an  vielen 
anderen  Beispielen  zeigen.  Es  genügt  hier  aber,  die  Tatsachen 
an  einem  konkreten  Falle  aufgehellt  zu  haben. 

Nun  fragt  es  noch,  ob  aktuelle  Gefühle  auf  die  Gefühlstöne 
der  Allgemeinvorstellungen  und  Wortvorstellungen  einen  Einfluß 
auszuüben  vermögen.  Die  Erfahrung  zeigt  in  dieser  Hinsicht,  daß 
die  fraglichen  Gefühlstöne  weder  von  gegenwärtigen  noch  von  vor- 
hergehenden Gefühlsreaktionen  in  irgend  einer  Weise  beeinträchtigt 
Averden.  Die  Allgemeinvorstellungen  „Ferien",  „Urlaub"  behalten 
für  Lehrer  und  Schüler  ihren  freundlichen  Klang  auch  dann  bei, 
wenn  sie  mitten  in  Unlustzustände  hineingeraten  oder  diesen 
nachfolgen.  Ebenso  verbleibt  den  Allgemeinvorstellungen  „Tod", 
..Leichenbegjingnis"  ihr  düsteres  Gepräge  auch  während  der  Gemüts- 
bewegungen lustvolleu  Charakters. 

Da  also  aus  den  einschlägigen  Erfahrungen  hervorgeht,  4aß 
die  Gefühlstöne  der  allgemeinen  Vorstellungen  und  Wortvor- 
stellungen Eigenschaften  besitzen,  die  wir  sonst  bei  den  Gefühlen 
nicht  anzutreffen  gewohnt  sind,  so  dürfen  wir  vermuten,  daß  diese 
Gefühlstöne  überhaupt  nicht  Gefühle  im  strengen  Sinne  des  Wortes  sind. 

Auf  einen  Umstand  möchte  ich  hier  noch  hinweisen,  der  zu- 
gunsten der  These,  daß  die  in  Rede  stehenden  Gefühlstöne  nicht 
wirkliche  Gefühle  sind,  spricht.  Man  wird  demselben  freilich  nicht 
allzuviel  Gewicht  beilegen  kimnen;  immerhin  verdient  derselbe 
aber    hier    angemerkt    zu    werden.     Bekanntlich    kann    man    auf 


»)  S.  oben  S.  59Ü. 


ftOO  Robert  Saxinger. 

suggestivem  Wege  nicht  bloß  den  Ablauf  des  intellektuellen  Ge- 
schehens, sondern  auch  die  emotionalen  Vorgänge  beeinflussen. 
Und  zwar  können  die  suggestiven  Eingritte  sowohl  in  Schlafzu- 
ständen, wie  im  Wachzustande  geschehen.  Durch  welche  Art  der 
Suggestion  sich  bessere  Kesultate  erzielen  lassen  und  auf  welche 
Weise  insbesonders  die  Autosuggestion,  richtig  angewendet,  zu 
dauernden  Erfolgen  führt,  mag  hier  dahin  gestellt  bleiben,  'j  Wir 
wollen  uns  hier  nur  an  die  Tatsachen  halten,  daß  auch  die  Ge- 
fühle dem  Einflüsse  der  Suggestion  unterliegen.  Gefühle  aber 
kann  man  verändern,  wenn  man  ihre  Dispositionen  ändert.  Diese 
letzteren  bilden  also  den  eigentlichen  Angriffspunkt  der  suggestiven 
Einwirkungen.  Mit  Recht  führt  daher  v.  Ehrenfels  -)  die  Suggestion 
unter  jenen  Tatsachen  auf,  durch  welche  Gefühlsdispositionen  Ver- 
änderungen erfahren.  Ist  es  nun  möglich  durch  Suggestion  Ge- 
fühle, die  man  nicht  hat,  zu  erzeugen  und  solche,  die  man  hat. 
zum  erlöschen  zu  bringen,  so  muß  es  auch  gelingen,  die  Gefühls- 
töne der  Allgemeinvorstellungen  und  Wortvorstellungen,  falls  diese 
wirkliche  Gefühle  sind,  auf  suggestivem  Wege  zu  beseitigen  bzw. 
hervorzubringen.  Einige  in  dieser  Richtung  angestellte  Versuche 
haben  ergeben,  daß  den  Allgemeinvorstellungen  und  Wortvorstell- 
ungen ein  Gefühlston  durch  Suggestion  so  wenig  oktroyiert  werden 
kann,  als  solche  Vorstellungen,  wenn  sie  mit  einem  Gefühlston  be- 
haftet sind,  von  demselben  durch  suggestive  Einwirkungen  zu  be- 
freien sind.  ^)  Sollte  dieses  Ergebnis  durch  weitere  Versuche  be- 
stätigt werden,  so  würde  dies  zu  dem  Schlüsse  berechtigen,  daß 
die  fraglichen  Gefühlstöne  zu  jenen  psychischen  Phänomenen  ge- 
hören, die  der  Einwirkung  der  Suggestion  nicht  unterliegen.  Es 
wäre  dann  auf  experimentellem  Wege  der  Nachweis  erbracht,  daß 
zwischen  den  fraglichen  Gefühlstönen  und  den  wirklichen  Gefühlen 
ein  fundamentaler  Unterschied  besteht. 

Sofern  nun  die  in  Rede  stehenden  Gefühlstöne  der  Allgemeinvor- 
stellungen und  Wortvorstellungen  nicht  wirkliche  Gefühle  sind,  ent- 

')  Vgl.  Lkwy,  Die  natürliche  Willensbildung.  (Deutsche  Übers,  v.  Brahn) 
S.  20  ff. 

")  V.  Ehrenfels,  System  dei'  Werttheorie  I,  S.  122. 

'')  Diesbezügliche  hypnotische  Versuche  habe  ich  unter  Assistenz  des  Herrn 
Dr.  med.  Heiser  in  Linz  angestellt.  Auch  autosuggestive  Versuche  wurden  von  mir 
und  zwei  weiteren  Versuchspersonen  ohne  nennenswertes  Ergebnis  unternommen. 


über  die  Natur  der  Phantasiegefiilile  und  Phantasiebegehrungen.        601 

steht  die  Frage,  in  welche  Kategorie  psychischer  Phänomene  diese 
emotionalen  Tatsachen  eingereiht  werden  müssen.  Es  könnte  vielleicht 
die  Ansicht  platzgreifen,  daß  die  besagten  (Tetühlstöne  vorgestellte 
Lust-  und  Unlustgefiihle  seien.  Die  Ablehnung  dieser  Auffassung 
vermag  sich  auf  eine  ähnliche  Beobachtung  zu  stützen  wie  die 
oben  mitgeteilte,  daß  die  Gefühlstöne  gewisser  Allgemein  Vorstel- 
lungen und  Wortvorstelluugen  gleichzeitig  mit  den  an  konkrete 
Erinnerungen  gebundenen  Gefühlen  vorhanden  sind. ' )  Es  zeigt 
sich  nämlich,  daß  gelegentlich  des  Auftretens  einer  mit  einem  Ge- 
fühlston behafteten  Allgemeinvorstellung  oder  Wortvorstelluug  sich 
auch  das  deutliche  Bewußtsein  einstellen  kann,  diese  oder  jene  Gefühle 
anläßlich  bestimmter  Ereignisse,  an  welche  wir  durch  die  betreifende 
Vorstellung  erinnert  werden,  erlebt  zu  haben.  W-Are  der  Gefühls- 
ton seinem  Wesen  nach  ein  vorgestelltes  Gefühl,  so  ginge  er  in 
jenen  Fällen,  in  welchen  sich  das  Bewußtsein  an  erlebte  Gefühle 
geltend  macht,  in  dem  Tatbestand  des  bezüglichen  Erinnerungs- 
urteiles völlig  auf.  Der  Gefühlston  könnte  nicht  gleichzeitig  neben 
dem  Erinnenmgsbewußtsein  in  betreff  der  Gefühlserlebnisse  vor- 
handen sein. 

Um  die  oben  aufgeworfenen  Frage,  welche  psychischen  Phäno- 
mene wir  in  den  Gefühlstönen  vor  uns  haben,  einer  Entscheidung 
zuführen  zu  können,  werden  wir  nun  prüfen,  wie  sich  die  frag- 
lichen Gefühlstöne  in  der  inneren  Wahrnehmung  darstellen,  mit 
einem  Worte,  wie  sie  denn  eigentlich  aussehen.  Elsenhans  be- 
hauptet von  ihnen,  daß  sie  durchwegs  von  sehr  geringer  Intensität 
und  unbestimmter  Qualität  seien.-)  Was  den  ersten  Punkt  an- 
belangt, so  kann  man  Elsenhans  beistimmen.  Psychische  Phäno- 
mene von  bedeutender  Intensität  sind  die  fraglichen  Gefühlstöne 
jedenfalls  nicht.  Dagegen  muß  hinsichtlich  der  Qualität  gesagt 
werden,  daß  man  doch  stets  durch  direkte  Beobachtung  ohne 
Schwierigkeit  feststellen  kann,  ob  ein  Gefühlston  auf  der  Lust- 
oder Unlustseite  steht.  Ist  aber  der  Charakter  der  Gefühlstöne 
leicht  bestimmbar,  so  kann  man  ihnen  doch  wohl  nicht  unbestimmte 
Qualität  zuschreiben.  Die  innere  Erfahrung  zeigt,  daß  die  Ge- 
fühlstöne gefühlsartige  Erscheinungen  sind,   die   den  Gefühlen   im 


M  S.  oben  S.  589. 

')  Über  Verallg.  d.  Gefühle,  Zeitschr.  f.  Psychol.  XXIV,  S.  199. 


lr)Q2  Robert  Saxinger. 

eigentlichen  Sinne  des  Wortes  ähnlich  sind  und  mit  diesen  darin 
übereinstimmen,  daß  sie  gleichfalls  innerhalb  des  Gegensatzes  von 
Lust  und  Unlust  stehen.  Emotionale  Tatsachen  aber,  deren  wesent- 
lichstes Merkmal  eben  die  Gefühlsähnlichkeit  bildet,  haben  wir 
bereits  in  den  Phantasiegefühlen  kennen  gelernt.  Mit  der  Kon- 
statierung  der  Tatsache,  daß  die  bisher  als  Gefühlstöne  bezeich- 
neten emotionalen  Erscheinungen  sich  in  der  inneren  Wahrnehmung 
als  gefühlsähnliche  Vorkommnisse  darstellen,  ist  deren  Einreibung 
in  die  Phantasiegefühle  vollzogen. 

Es  gibt  also  Phantasiegefühle,  die  an  Vorstellungen  gebunden 
sind.  Vielleicht  gibt  es  nun  auch  Phantasiegefühle.  die  Urteile 
begleiten.  Die  Dinge  stehen  für  eine  Lösung  dieser  Frage  im 
affirmativen  Sinne  nicht  ungünstig.  Bei  genauer  Selbstbeobachtung 
wird  man  nämlich  im  Bereiche  der  Erinnerungen  auf  Urteile 
stoßen,  denen  man  nicht  alle  und  jede  Beziehung  zum  Gefühls- 
leben absprechen  kann,  obgleich  die  ihnen  seinerzeit  zugeordneten 
Gefühle  längst  erloschen  sind.  Dem  Gedanken  an  einen  in  Ver- 
lust geratenen,  wertvollen  Gegenstand  z.  B.  haftet  immer  ein  ge- 
wisses gefühlsartiges  Etwas  an.  obgleich  man  sich  über  den  Ver- 
lust getröstet  hat  und  vielleicht  ein  anderer  Gegenstand  den  Platz 
des  verlorenen  recht  gut  auszufüllen  vermag.  Das  Urteil,  daß  man 
den  ersteren  Gegenstand  nicht  mehr  besitze,  ruft  kein  Unlustge- 
fühl  hervor;  trotzdem  kann  man  aber  nicht  sagen,  daß  dasselbe 
gänzlich  frei  von  allen  emotionalen  Zutaten  sei.  Auch  die  Er- 
innerungsurteile in  betreu'  angenehmer  Erlebnisse  besitzen  zuweilen 
noch  nach  Jahren  ein  gefühlsmäßiges  Aussehen,  obwohl  die  seiner- 
zeitigen Eindrücke  keine  so  nachhaltige  p]iuwirkung  auf  das  Ge- 
mütsleben ausgeübt  haben,  daß  die  bezüglichen  Urteile  der  Erinne- 
rung noch  Gefühle  auszulösen  vermöchten. 

Vergleicht  man  nun  das  gefühlsmäßige  Gepräge,  insoweit  sich 
dasselbe  an  gewissen  Urteilen  beobachten  läßt,  mit  anderen  Ge- 
fühlen, so  zeigt  sich,  daß  sich  jenes  im  Gegensatze  zu  diesen  un- 
veränderlich erhält.  Das  Merkmal  der  Unveränderlichkeit  deutet 
natürlich  wie  bei  den  Gefühlstönen  der  Allgemeinvorstellungen  und 
Wortvorstellungen  darauf  hin,  daß  die  fragliche  emotionale  Er- 
scheinung auf  dispositionellen  Eigentümlichkeiten  beruht,  die  wir 
bei  den  wirklichen  Gefühlen  nicht  antreffen.  Bemerkenswert  ist 
weiter,    daß   die    in    ßede   stehenden   emotionalen   Urteilszutaten 


über  die  Natur  der  Phantasiegefühle  und  Phantasiebegehningen.        OOo 

von  aktuellen  Gefülilen  nicht  berührt  werden.  Man  kann  sich 
davon  leicht  überzeugen,  indem  mau  die  betrettenden  Urteile  im 
Zustande  intensiven  Fühlens  oder  unmittelbar  nach  erlebten  Ge- 
mütsbewegimg'en  fällt.  Das  gefühlsartige  Aussehen,  das  manchen 
Urteilen  unwandelbar  anhaftet,  beruht  also  auf  emotionalen  ^'or- 
kommnissen,  die  jedenfalls  nicht  wirkliche  (-Jefülile  sind.  Ich 
wüßte  nun  nicht,  wie  man  diese  emotionalen  Begleittatsacheu  der 
Urteile  anders  als  durch  die  Bezugnahme  auf  die  Phantasiegefühie 
zu  beschreiben  vermöchte.  ^) 

§  5.  E  i  n  i  g  e  s  ü  b  e  r  P  h  a  n  t  a  s  i  e  b  e  g  e  h  r  u  n  g  e  n.    S  c  h  1  u  ß  w  o  r  t. 

Wie  schon  im  ersten  Paragraphen  dieser  Untersuchungen  er- 
wähnt wurde,  gibt  es  im  emotionalen  Gebiete  Tatsachen,  die  sich 
zu  den  Begehrungen  in  ähnlicher  Stellung  befinden,  wie  die  Phan- 
tasiegefühle zu  den  wirklichen  Gefühlen.  Meinong  nennt  solche 
Tatsachen  sinngemäß  Phautasiebegehrungen.  Dieselben  sind  nach 
der  Ansicht  des  Genannten  wie  die  Phantasiegefühie  psychische 
Grundphänomene.  Dagegen  steht  Witasek  auch  hinsichtlich  der 
Phantasiebegehrungen  auf  dem  Standpunkt,  daß  zur  Erklärung 
ihi-er  Eigenart  die  Difi'erenzierung  der  psychologischen  Voraus- 
setzung ausreiche.  -) 

Es  fragt  sich  also  vor  allem,  ob  für  das  Verständnis  des 
Wesens  der  Phantasiebegehrungen  etwas  gleistet  wird,  wenn  man 
auf  die  Eigenart  ihrer  intellektuellen  Grundlage,  die  der  Hauptsache 
nach  aus  Annahmen  besteht,  hinweist.  Daß  bei  den  Phantasie- 
begehrungen diu^ch  die  Berufung  auf  die  psychologische  Voraus- 
setzung nichts  gewonnen  wird,  erhellt  einfach  aus  der  Tatsache, 
daß  auch  wirkliches  Begehren  auf  Annahmen  gestellt  erscheint."') 
Wenn  Phantasiebegehrungen  und  wirkliche  Begehrungen  Annahmen 
zur  psychologischen  Voraussetzung  haben  und  beide  Arten  von 
Begehrungen  nicht  ihrem  Wesen  nach  verschieden  sind,  dann  läßt 

')  Auf  die  Frage,  Avie  die  Allgemeinvorstellungen,  Wortvorstellungeu  und 
Urteile  zu  begleitenden  Phantasiegefühlen  kommen ,  ob  dies  durch  Vermittlung 
von  Annahmen  oder  mit  Hilfe  anderer  Zwischenglieder  erfolgt,  kann  hier  nicht 
näher  eingegangen  werden. 

*)  Ästhetik,  S.  119. 

*)  Vgl.  Meinong,  Über  Annahmen.    §  4ö. 


H04  Robert  S^xinger. 

sich  gegebenenfalls  nicht  entscheiden,  ob  eine  Phantasiebegehrung 
oder  eine  wirkliche  Begehrung  vorliegt.  Nun  wird  im  einzelnen 
Falle  in  dieser  Hinsicht  kaum  ein  Zweifel  entstehen,  indem  man 
bei  einigermaßen  genauer  Beobachtung  leicht  bestimmen  kann,  ob 
es  sich  um  eine  wirkliche  Begehrung  oder  um  eine  Phautasiebe- 
gehruug  handelt.  Es  muß  also  der  emotionale  Faktor  der  Phan- 
tasiebegehrungen anders  geartet  sein  als  der  der  wirklichen  Be- 
gehrungen.   \Yorin  aber  besteht  nun  der  Unterschied? 

Wer  begehrt,  begehrt  etwas  und  wie  man  auch  sagen  kann, 
wer  begehrt,  begehrt  die  Realisierung  des  Begehrten.  Jeder  Ver- 
such, das,  was  wir  innerlich  beim  Begehren  erleben,  näher  zu 
charakterisieren,  läuft  schließlich  auf  eine  Umschreibung  der  Tat- 
sache hinaus,  daß  wir  beim  Begehren  einen  innerlichen  Drang  ver- 
spüren, das  Begehrte  zu  verwirklichen.  Die  Realisieiiingstendenz 
bildet  also  ein  allen  wirklichen  Begehrungen  wesentliches  Moment. 
Im  ersten  Augenblick  mag  es  nun  zweifelhaft  erscheinen,  ob  unter 
diesem  Gesichtspunkte  auch  das  ^\'ünschen  noch  als  ein  echtes 
Begehren  bezeichnet  werden  kann.  Man  hat  das  Begehren  be- 
kanntlich in  „Wünschen"  und  ,,A\'ollen"  unterteilt.  Und  diese 
Unterteilung  ist  aus  der  Erkenntnis  entsprungen,  daß  beim  Vor- 
handensein gewisser  psychischer  Antecedentien  zwar  das  Wünschen. 
nicht  aber  auch  das  Wollen  zustande  kommt.  Man  kann,  wie  Höflee 
bemerkt,  Projekte,  die  man  für  unverträglich  hält,  zugleich  wünschen, 
aber  nicht  zugleich  wollen. \)  Daraus  folgt  allgemein,  daß  man 
auch  Unmögliches  wünschen  kann.  Die  Frage  ist  also  eigentlich  die. 
ob  dasjenige  Wünschen,  welches  sich  auf  etwas  richtet,  das  nach 
der  Überzeugung  des  Wünschenden  unerreichbar  ist,  für  ein  wirk- 
liches Begehren  gelten  kann.  Die  Frage  ist  ohne  weiteres  zu  bejahen, 
wenn  in  den  Akten  solchen  Wünschens  auch  ein  Drang  nach 
Realisierung  innerlich  wahrgenommen  werden  kann.  Die  Empirie 
bestätigt  nun  in  der  Tat,  daß  sich  auch  in  Fällen  des  auf  Un- 
erreichbares gerichteten  Wünschens  die  Realisierungstendenz  geltend 
macht.  Ein  Beispiel:  Denken  wir  uns  einen  Menschen,  der  gegen 
seinen  WiUen  in  einen  ihm  nicht  zusagenden  Beruf  hineingedrängt 
wurde.  Derselbe  wird  nichts  unterlassen,  um  eine  Wendung  der 
Verhältnisse  herbeizuführen.    Das  Fehlschlagen   aller  Versuche  in 

')  HöFLBR,  Psychologie,  S.  565. 


über  die  Natur  der  Phantasiegefühle  und  Phantasiebegehrungen.       ö05 

dieser  Richtung-  muß  aber  endlich  in  ihm  die  Überzeugung  festigen, 
daß  das  Ergreifen  eines  anderen  Berufes  eben  nicht  mehr  möglich 
ist.  Gleichwohl  wird  der  Wunsch  nach  Änderung  der  Berufs- 
tätigkeit fortbestehen,  und  daß  diesem  Wunsche  auch  der  Drang 
nach  Venvirklichung  innewohnt,  geht  daraus  hervor,  daß  trotz  der 
Überzeugung  der  Unmöglichkeit  die  Versuche  zur  Änderung  der 
Lage  nicht  eingestellt  werden.  Beispiele  für  das  Vorhandensein 
der  Eealisieruugstendenz  in  Wünschen,  die  sich  Unmöglichem  zu- 
wenden, bietet  auch  die  Pathologie  des  Geschlechtslebens.  Der 
Wunsch  nach  geschlechtlichem  Verkehre  enthält,  wie  sich  in  patho- 
logischen Fällen  nachweisen  läßt,  auch  den  Drang  zur  Verwirk- 
lichung des  Begehrten  in  sich.  Es  liegt  also  kein  Grund  vor,  im 
Wünschen,  sofern  es  auf  Unerfüllbares  abzielt,  kein  echtes  Begehren 
zu  sehen.  Damit  ist  freilich  die  Möglichkeit  vorweg  abgeschnitten, 
etwa  die  Akte  des  Wünschens  für  die  Phantasiebegehrungen  zu 
reklamieren. 

Wir  müssen  nun  die  Phantasiebegehrungen  daraufhin  einer 
Prüfung  unterziehen,  ob  sich  vielleicht  auch  bei  ihnen  die  Reali- 
sierungstendenz bemerkbar  macht.  Zu  diesem  Behufe  sei  daran 
erinnert,  daß  wir  mit  den  Personen  eines  Dramas  oder  einer  Er- 
zählung nicht  bloß  Leid  und  Freud  teilen,  sondern  auch  mit 
ihnen  und  für  sie  wünschen  und  wollen.^)  Diese  Begehrungser- 
lebnisse sind  handgreifliche  Beispiele  von  Phantasiebegehrungen. 
Betrachtet  man  derartige  Phantasiebegehrungen,  so  kann  man  jeden- 
falls von  ihnen  sagen,  daß  sie  wie  die  wirklichen  Begehrungen 
innerhalb  des  Gegensatzes  von  Streben  und  Widerstreben  stehen 
und  daß  sie  den  wirklichen  Begehrungen  ähnlich  sehen.  Aber 
kann  man  vom  Wünschen  und  Wollen  solcher  Art  auch  behaupten, 
daß  man  dabei  einen  inneren  Drang,  das  Gedachte  in  die  Tat  um- 
zusetzen, verspüre  ?  Auch  in  allen  anderen  Fällen,  in  welchen  wir 
uns  in  Situationen  hineindenken  und  an  die  betreftenden  Annahme- 
gedanken Phantasiewünsche  geknüpft  sind,  läßt  sich  an  den  be- 
züglichen Begehrungsakten  nichts  bemerken,  was  auf  das  Vorhanden- 
sein der  Realisierungstendenz  hindeuten  würde. 

Die  Phantasiebegehrungen  unterscheiden  sich  also  von  den 
wirklichen  Begehrungen  durch  den  Mangel  jeglicher  Tendenz,  das 


')  Meinong,  über  Annahmen    S.  238. 


(i06  RoBEKT  Saxinüer.  Über  d.  Natur  d.  Phantasiegefühle  u.  Phantasiebegehrungen. 

Beg-ehrte  zn  verwarklichen.  Emotionale  Tatsachen  nun,  die  so  aus- 
selien  vne  Belehrungen,  gleichwohl  aber  nicht  wii'kliche  Begehrungen 
sind,  weil  ihnen  gerade  das  fehlt,  was  das  Begehren  zum  Begehren 
macht,  lassen  sich  unter  keine  der  bestehenden  psj^  chologischen  Kate- 
gorien unterbringen.  Sie  sind  also,  so  wie  die  Phantasiegefühle, 
psj'^chische  Grundphänomene. 

Nun  noch  eines.  Überblickt  man  das  Tatsachengebiet  der 
Phantasiegefühle  und  Phantasiebegehningen ,  so  kann  man  sich 
eines  gewissen  teleologischen  Eindruckes,  den  diese  emotionalen 
Erscheinungen  machen,  nicht  erwehren.  Die  Phantasiegefühle 
sind  dort  an  Annahmen  geknüpft,  wo  die  Urteile  wirkliche  Gefühle 
hervorrufen.  Dieselben  geben  also,  wenn  man  so  sagen  darf,  ein 
Bild,  wie  sich  die  Gefühlsreaktionen  im  Falle  der  AVirldichkeit 
gestalten  würden.  Weiter  sind  die  mit  Allgemeinvorstellungen 
und  Wortvorstellungen  verbundenen  Phantasiegefühle  ein  emotio- 
nales Zeichen,  daß  diese  Vorstellungen  zu  unserem  Gefühlsleben 
irgendwie  in  Beziehung  stehen.  Und  endlich  stellen  die  im  Ver- 
eine mit  gewissen  Urteilen  auftretenden  Phantasiegefühle  gleichsam 
einen  Nachklang  früherer  Gefühlseriebnisse  dar.  Denkt  m.an  sich 
nun,  daß  es  Phantasiegefühle  überhaupt  nicht  gebe  und  in  allen 
diesen  Fällen  sich  statt  der  Phantasiegefühle  wirkliche  Gefühle 
einstellen  würden,  so  tritt  die  Zweckmäßigkeit  der  ersteren  klar 
zutage.  Denn  oftenbar  bedingen  wirkliche  Gefühlsreaktionen  einen 
größeren  Energieverbrauch  als  Phantasiegefühle,  und  bei  dem  be- 
kannten Einfluß,  den  Gefühlsvorgänge  auf  gewisse  organische 
Funktionen  besitzen,  ist  es  auch  für  den  Organismus  nicht  gleich- 
bedeutend, ob  sich  die  Gemütsbewegungen  durch  wirkliche  Gefühle 
oder  nur  durch  Phantasiegefühle  manifestieren.  Ahnlich  verhält 
es  sich  mit  den  Phantasiebegehrungen.  Auch  ihre  Bedeutung  liegt 
darin,  daß  sie  die  Stelle  des  wirklichen  Begehrens  überall  dort 
einnehmen,  wo  lediglich  ein  „Wünschen  und  Wollen  in  der  Phan- 
tasie" in  Frage  kommt.  Auch  sie  sind  eine  zweckmäßige  psy- 
chische Einrichtung,   weil   durch  sie  Willensenergie  erspart  wird. 


Register. 


Zusamraeugestellt  von  Dr.  V.  Benussi. 

(Die  Abhandlungeil  sind  durch  römische,   die  Seiten   durch  arabische  Zahlen  be- 
zeichnet.   Fettgedruckte  Zahlen  betreifen  Hauptstellen,  besonders  definitorische.) 


A. 

a-(ä-)Fig-ur  vgl.  Täuschungsgröße. 

Abhängigkeit  II,  72  Anin. 

Absolute  Auffälligkeit  IX,  509 f.,  511. 

Absoluter  Betrag  III,  240,  244. 

Absolutive  VIII,  499. 

Abstand  II,  106. 

Abstrakt a  auf  -heit  und  -keit  III, 
139,  157. 

Abstraktion  VIII,  508. 

Abstumpfung  V,  320,  —  X,  555.  — 
A.  als  Kennzeichen  für  Passivität  X. 
556. 

Absurd  I,  39. 

Absurder  Gegenstand  I,  12. 

Addition  III,  202,  204. 

Adäquatheit  V,  403.  —  A.  der 
Winkelvorstellmig  V,  374. 

Ähnlich  III,  171,  180. 

Ähnlichkeit  II,  95,  97 f.,  —  111,236, 
243  f.  —  Ä.  als  Reziprokes  der  Ver- 
schiedenheit II,  97.  —  Ä.  als  Teilbe- 
stimmung II,  98  f.  —  Ma.ximum  der 
Ä.  II,  96,  103.  —  Möglichst  große  Ä. 
IV,  278.  299  f.  Anm.  1. 

Ähnlich  keitsgegeuständen,95ff.,  110. 

Änderung  III,  172 f.,  195 ff.,  233,  235, 


238  f.,  241  f.,  252  f.  —  Schnelligkeit  der 
A.  IV,  S84  Anm.  1.  —  Ä.  von  Vor- 
stellungen IV,  278  Anm.  3. 

Äuderuugsreihe  III.  197.  199,  233. 
235,  237,  256. 

Ästhetik  IV,  295. 

Äußere  Selbständigkeit  VIII,  483. 

Affekt  X,  547,  559,  564.  —  A.  u.  Ge- 
fühl X,  559.  —  A.  u.  sattes  Gefallen 
X,  559. 

Affirmatives  Urteil  11,  64. 

Aktgefühle  X,  566. 

Aktivität  VIII,  497.  —  A.  u.  Pas- 
sivität X,  544  ff.  —  A.  u.  Produktion 
V,  413.  —  A.  u.  Übung  V,  3191,  404, 
—  X,  556  f. 

Allgemein  III,   166,  246,  248  f.,  259. 

Allgemeine  Begriffe  IV,  292 f.  Anm. 
2.  —  A.  Gegenstaudstheorie  I,  28 f.. 
30,  42. 

A 1 1  g  e  m  e  i  u  V  0  r  s  t  e  1 1  u  u  g  e  n  XI,  595, 
596,  597,  598,  599,  600,  601,  603,  6C6. 

Allgemeinwissenschaft  I,  4,  28, 
39,  42  f.,  44. 

Ameskder  III,  138,  159,  161,  196,  — 
IV,  271,  277,  —  V,  383,  893. 

Analogie  IV,  288f. 

Analyse  V,   394,  —   VIII,  494,  506. 


508 


Register. 


—  chemische  A.  III,  161.  —  psychische 
A.  III,  154,  161,  211,  221  f.,  —  VIII, 
494,  507  f. 

Analytischer  Charakter IV,  270,  288 
Andersartige  Gegenstände  II,  106. 
Andersheit,  geringste  IV,  286 f.  Anm. 

3,  299  Anm.  1. 
Anforderungen    an  ein  Kunstwerk 

IV,  295. 
Anhomoiomer  III,  168,  178. 
Annäherung  III,   173,   200,  244.  — 

A.  an  die  Einfachheit  IV,  274.  —  A. 

an  die  volle  Wahrheit  IV,  285  Anm. 

1.  —  A.  an  ein  heterotisches  Minimum 

IV,  299  Anm.  1. 
Annahme  I,  1,  5ff.,  22,  —  II,  62,  65, 

—  III,  137,  174,  245  Anm.,  258  f.,  — 
VIII,  496,  501.  —  A.  affirmativer 
Qualität  1,11.  —  synthetische  Funktion 
der  A.  IV,  281  Anm.  2,  —  X,  541. 
562,  576. 

Annahmegefühl  X,  569.  —  XI,  582, 
595. 

Annahmenkonflikt  X,  541. 

Annahmevorstellung  III,  138,  155, 
174. 

Anschaulich  Erfaßtes  II,  114. 

Anschauliches  Vorstellen  VIII,  501  f. 

Anspannung  VIII,  497,  502. 

Anteil  der  Vorstellungsproduktiou  am 
Wahrnehmen  und  Einbilden  VIII, 
489  ff. 

Antiethische  Konsequenz  IV,  297. 

Antiökonomisches  Moment  beim 
Kunstwerk  IV,  295. 

Anzahl  der  Gegenstandst j'pen  bei  In- 
duktion IV,  289  Anm.  1. 

Apperzeption  IV,  278f.,  280ff. 

a  posteriori  I,  8,  40,  —  VIII,  495, 
vgl.  auch  Erfahrung. 

a  priori  I,  31,  40ff.,  45,  —  III,  129, 
134,  222,  234  Anm.,  261  f.,  -  VIII,  495. 

Arbeit  III,  194,  200,  234,  245,  —  VIII, 
497.  —  lästige  A.  IV.  268.  —  psychi- 
sche A.  IV.  294  f. 


A- Reaktion  V,  307 f.,  310,  403,  411 

—  Erleichterung   der  A-R.   V,  395. 

—  Übung  der  A-R.  V,  321  ff.,  403.  — 
A-R.  und  Farbenaufdringlichkeit  V. 
395  f.  —  A-R.  u.  verschobene  Schach- 
brettfigur vgl.  Täuschungsgröße. 

Argument,  ontologisches  I,  42. 
Aristoteles  III,  168. 
Arithmetik  I,  31,  —  III,  257. 
Art  der  Ökonomie  IV,  270 f.  —  A.  des 

Relates  II,  87,  99  f.  —   A.   und  Fall 

bei  Produktion  VIII,  499. 
Arten  der  Produktion  VIII,  506. 
Assoziation   IV,   267,  —  VIII,  502. 

—  Wahrscheinlichkeit  der  A.  IV,  289. 
Assoziatives  Gesetz  III,  202 ff. 
Atomistik  II,  92  Anm. 
Auerbach   V,  404,  422,   424,  425,  427. 

—  A.s  Versuche  V,  423,  424  f.  —  A.s 
Theorie  der  MüLLER-LyERSchen  Täu- 
schung V,  426.  —  Widerlegung  der 
A.schen  Theorie  V,  426  f. 

Aufbau  der  Vorstellungen  VIII,  486 ff. 

Aufbauen  der  Superiora  II,  55,  71. 

Aufdringlichkeit  IX,  510.  —  A.  u. 
Produktionserleichterung  V,  396.  — 
A.  u.  Täuschungsgröße  V,  404.  —  A. 
von  Farben  V,  341  ff.,  395  ff..  405.  - 
A.  von  Gestalten  V,  433.  —  A.  von 
Verschiedenheiten  V,  395. 

Auffälligkeit  absolute  IX,  511,  524, 
525,  599  ff.  —  relative  IX,   510,    525. 

—  Maß  der  A.  IX.  520.  —  A.  der 
Farben  IX,  522  ff. 

Auffälligkeitskonkurrenz  IX. 
512. 

Aufhebung  eines  Gutes  IV',  268. 

Aufhellung  durch  Farbeniuduktion 
VII,  475,  476.  —  A.  durch  Sättigungs- 
erhöhung VII,  475,  476. 

Aufmerksamkeit  VIII,   497 ff.,  502. 

—  IX,  509.  —  unwillkürliche  A.  VIII, 
489.  —  willkürliche  A.  VIII,  500. 

Augenbewegungen,  indirekter  An- 
teil der  A.   an  geom.-optischen  Tau- 


Register. 


609 


schungen  V,  433.  —  A.  u.  geoni.-opt. 
Täusclmngeu  V,  433. 

Ausdehnung  III,  193 ff.,  231  ff'.,  235, 
241.  —  A.  und  Farbe  VIII,  483. 

A  u  s  d  e  h  n  u  n  g  s  1  e  h  r  e  I,  32. 

Ausdruck  vgl.  Bezeichnung. 

Ausfall  des  mittleren  Gliedes  einer 
Assoziationsreihe  IV,  267  f.  —  A.  des 
Unnötigen  IV,  282.  —  A.  von  Be- 
wußtsein IV,  282.  —  A.  von  Hinder- 
nissen IV,  282. 

Ausgeschlossenes  Drittes  II,  60. 

Ausgesprochene  Unwerte  können 
nicht  als  L  angesehen  werden  IV,  269. 

Auslese  IV.  279 f.,  291. 

Ausnahmestellung  des  positiven 
Seiusobjektives  II,  63. 

Außerökonomische  Charakteristik 
IV,  270,  281  f.  —  A.  Ch.  fundamen- 
taler Bedeutung  IV,  282. 

Außerökonomisches  Sparen  IV. 
268. 

Außer  seiend  I,  13. 

Außer  sein  des  reinen  Gegenstandes 
I,  9. 

Außerw  irklich  I,  14. 

Autosuggestion  XI,  6C0. 

AvENARius  IV,  264,  276  f..  278 ff.,  282  ff., 
286 ff.,  294.  299 ff. 

B. 

Basis  III,  205,  208  f.,  238  f.,  241. 

Beachtungsgebiet  V,  401.  —  Er- 
weiterung des  B.  V,  401. 

Bedeutung,  Satz-.  I.  15.  33.  — 
Wort-B.  I,  15,  33. 

Bedeutungsvorstellung  als  L  IV, 
283.  —  Finden  der  richtigen  B.  als 
L  IV,  283.  —  Suchen  der  richtigen 
B.  als  H  IV,  283  f. 

Bedingung  III,  200. 

Bedürfnis  X,  560.  —  B.   als  Dispo- 
sition X,  561.  —  B.  als  unsattes  Ge- 
fallen X,  561  f.  —  B.  u.  Begehren  X, 
550.  —  B.  u.  Urteil  X,  560. 
Meinong,  Untersuchungen. 


Beeinflussung,  gegenseitige  von 
Inhalten  V,  395. 

Befriedigung  als  sattes  Gefallen  X, 
560.  —  B.  u.  Genugtuung  X.  560,  561. 

Begehren  X,  571. 

Begehrungen,  deren  Unselbständig- 
keit I,  If. 

Begrenztheit  der  Produktionstäu- 
schung V,  387  ff. 

Begrenzung  von  Kontinuen  II,  102. 

Begriff  III,  258,  —  IV,  291.  -  all- 
gemeiner B.  IV,  292  f.  Anm.  2.  — 
B.  der  Ökonomie  IV,  265.  —  B.  des 
Dinges  IV,  287  Anm.  3.  —  B.  des 
Physikers  IV,  289  Anm.  1. 

Beharrung,  Gesichtspunkt  der  IV, 
278. 

Benussi  vi,  450,  —  VIII,  488.  505,  — 
IX,  524. 

Berechnung  III,  222,  262. 

Bestand  I,   5ff.,  10,   13,  25,  39f.,  — 

II,  58,  78 f.,  —  III,  129,  145,  200, 
262,  —  V,   309.  —  B.  zeitlos  II    79. 

Bestandstück  I,  12,  —  III,  197f., 
153  ff.,  163  ff,  166  ff.,  175  ff.,  180,  182  f., 
203 ff.,  206 f.,  211,  216 ff.,  242 f.  — 
entfernteres  B.  III,  167  f.  —  letztes  B. 

III,  168. 
Bestandstückanalyse  III,  508. 
Bestimmende  r  Gegenstand  III,  130  f., 

136,  199f.,  201f.,  216f,  227,244.246 
Anm.,  247,  257  f.  —  partiell  b.  G.  III, 
143 

Bestimmendes  Objekt  im  Messungs- 
objektive III,  123,  257  f. 

Bestimmtheit    allgemeine    X,    553. 

—  B.  qualitative  des  Ökonomie-Binoms 
(=  t)  IV,  270. 

Bestimmung  III,  130,  135,  211  f.. 
247.  2.Ö0.  —  determinierte  B.  III,  132. 

—  explizite  B.  III,  137  ff.,  148  ff., 
200  f.  —  fiktive  B.  III,  138  f.  — 
implizite  B.  III,  138 ff.,  141  f.,  142, 
145f.,  174f.,  191,  246.  —  indirekte  B. 
der  Farbenaufdringlichkeit  V,  398  f, 

39 


610 


Register. 


—  messungsähnliche  B.  III,  249  f.  — 
reine  B.  III,  132.  —  relative  B.  III, 
144, 191,  196,  199,  211,  220,  228,  244, 
247  f.  —  unmögliche  B.  III,  133.  — 
widersprechende  B.  III,  133  f.,  166, 
210,  212.  —  Sein  als  B.  III,  132  f.  — 
Unabhängigkeit  der  B.  vom  Sein  III, 
133. 

Bestimm  uugsge  genstand  III, 
130 f.,  134 f.,  183,  191,  201  f.,  216  f., 
227,  242,  247,  250,  252,  260  f.  — 
B.  einer  impliziten  Bestimmung  III, 
142 

Bestimmungsgegenstände,  der 
Komplexion  III,  147  ff.  —  B.  der  Re- 
lation III,  143. 

Bestimmuugsstück  III,  211,  216f. 

Bestreben  nach  Zusammenfassung  IV, 
281. 

Bewegung  X,  556. 

Beweis  III.  259.  —  indirekter  B.  III, 
135. 

Bewußtheit  X,  544 f. 

Bewußtsein  X,  544 f.  —  B.  als  Wissen 
X,  545. 

B  e  w  u  ß  t  s  e  i  n  s  z  u  s  t  a  n  d ,  neutraler  X, 
552. 

Bezeichnung  gegenüber  Ausdruck 
III,  157. 

Beziehung,  explizite  III,  142,  150 ff., 
162,  211.  —  B.  des  Inferius  zum 
Superius  VIII,  506.  —  implizite  B. 
III,  162.  —  B.  von  Ähnlichkeit  und 
Verschiedenheit  II,  99 ff.  —  B.  von 
Gegenstand  und  Objektiv  II,  55.  — 
B.  zAvischen  Ähnlichkeits-  und  Ver- 
schiedenheitskontinuum  II,  101.  — 
B.  zwischen  Größen  III,  124,  229. 

Bezugsgegenstände  IV,  272 f. 

BiEKVLiET  V.  V,  427,  428,  434,  437.  — 
B.s  Versuche  an  der  MüLLER-LYERSchen 
Figur  V,  435.  —  B.s  Theorie  der 
geom.-optischen  Täuschungen  V,  434  f. 

—  Widerlegung  der  Theorie  B.s  V, 
435  ff'. 


BiNET  V,  417,  427,  428,  432,  435,  437. 

—  Kritik  der  Methode  B.s  V,  428. 

—  Methode  B.s  V,  428.  —  B.s  Ver- 
suche an  der  MüLLER-LYERSchen  Figur 
V,  428  f.  —  B.s  Theorie  der  geom.- 
optischen  Täuschungen  V,  431.  — 
Widerlegung  der  Theorie  B.s  V,  431  f. 

Binom  ialität  der  Ökonomie  IV,  265  ff., 
275,  288.  —  B.  der  Zweckmäßigkeit 
IV,  273. 

Biologisches  Ökonomieprinzip  IV, 
279,  300. 

Blickbewegung  V,  444. 

Blindgeborene  VIII,  492. 

Bloße  Anordnung  II,  57,  59. 

BouRDON  V,  435. 

Brauchbarkeit  IV,  293f.  Anm.  2. 

Breite  III,  185,  188. 

Brentano  V,   374,  418,   419,  420,  423. 

—  B.s  Erklärung  der  Müller-Lyer- 
schen  Täuschung  V,  418f.  —  B.s  Er- 
klärung der  Wiukel-Über-  und  -Unter- 
schätzung V,  418.  —  Widerlegung 
der  Erklärung  B.s  V,  419  ff. 

Breuer  I,  35,  38,  43. 

c. 

Charakter,  analytischer  IV,  270,  288. 
Charakteristik,  gegenständliche IV, 

289  Anm.  1. 
Chemie  II,  91,  Anm.  92. 
Chemische  Verbindung  II,  92.  —  III, 

159  ff. 
Cornelius    IV,    264,    276,    281  f.,    287, 

289 f.,  295  f.,  300. 

D. 

Datum  III,  180,  190  f.,  197,  241,  254  f. 
Darstellung  III,  253 ff. 
Deduktion  IV,  288f. 
Definition  II,  61,  —  III,  211,  214, 

216,  234  Anm.  258. 
Definitionen  IV,  291. 
Delboeuf  V,  374,  422,   427,  434,  435. 

—  D.s  Erklärung  der  Müller-Lyeb- 


Register. 


611 


sehen   Täuschung-  V,  436.  —  ^Yi(ler- 

leguug  der  Erklärung;  D.s  V,  437. 
Denkarbeit  IV,  275. 
Denken  I,  7,  —  III,  138 ff.,  148,  155, 

157,  160  f.,  166,  174,  -  IV,  275,  279. 
-  D.  als  H  IV,  274.  —  D.  als  Material 

der  Ökonomie   IV,  274.  —  thetische 

und  synthetische  Funktion  des  D.  I,  7. 
Denkökonomie  IV,   274 f.   —  Ave- 

NAKius'  Prinzip  der  D.  IV,  278,  279, 

284.  —  CoRNBLiüs'    Prinzip    der   D. 

IV,  281. 
Descartes  IV,  275. 
Determination  IV,  283. 
Determiniert  III,   132,   165ff.,    179, 

201  f.,  228.  238,  257,  260 ff. 
Dicht  III,  191,  214. 
Dichte  III,  195,  235. 
Didaktisches  Ökonomieprinzip    (von 

Wttndt)  IV,  299,  300. 
Differential  psychologisches  IX, 

516  f.,  520. 
Differentialquotient  III,  241. 
Differenz  III,  206,  213,  230. 
Differenzen,  iudidduelle  V,  376. 
Differenzierung,  lautliche  IV,  283. 
Differenzquantum    III,    230,    233, 

239,  241,  243. 
Dimension  III,  184 f.,  188 f.,  193,  195, 

221  ff.,  224  f.,  231,  232. 
Ding  IV,  287.  —  D.   an  sich  II,  91. 

—  Begriff  des  D.  IV,  287  Anm.  3. 
Dinggegenstände   II,   91,   114.   — 

psychische  D.  II,  93. 
Diskret  II,  101,  —  III,  197,  213. 
Diskrete  Gestalten  II,  113. 
Disposition  III,   201,  —   VIII,  496, 

ÖUO,  502.  —  A-D.  V,  322  ff.  —  G-D.  V, 

322  ff.  —  D.  zuElementarerinnerungs- 

vorstellungen  VUI,  492.  —  D.   zum 

Reproduzieren  VIII,  490. 
Dispositionserreger  XI,  583,  584. 
Dispositionsgrundlage  X,  554. 
Dispositionskorrelat,   X,  554.  — 

D.,  nicht  punktuelles  VIII,  493. 


Distanz  III,  222,  236,  249,  255 f. 
Distanzvorstellung  V,  352f.  —  D. 

u.  Streckenvorstellung  V.  352  f. 
Division  III,  207,  210. 
Dreiheit  III,  147 ff.,  151.  155. 
D  r  e  i  t  e  i  1  u  n  g  des  Gegenstand.sgebietes 

II,  81. 

Drittes,  Satz    vom    ausgeschlossenen 

D.  II,  60. 
Dualität  der  Korrelate  IV,  272 f. 
Dunkelheit,  spezifi.sche  VII,  473  ff. 
Durchlaufen  III,  197.  233.  235. 
Dynamische  Melodie  II,  110. 

E. 

e-(e-)Figur   vgl.  Täuschungsgröße. 

Ebene  III,  181ff. 

Ebbinghaüs  VIII,  497. 

Ehrenfels  III,  166,  —  VIII,  490,  — 
X,  528,  —  XI,  600. 

Eigenschaft  III,  131.  170,  191f.. 
198,  252,  —  IX,  510,  —  X,  553  f.  - 
implizite  E.  III,  141  f.  —  Sein  als  E. 

III,  132  f. 

Eigenschaften  der  Gestaltgegen- 
stände II,  115.  —  E.  der  Verbindiings- 
gegenstände  II,  118  ff.  —  E.,  phäno- 
menale VIII,  495.  —  E.,  widersprechen- 
de II.  63. 

Eigenschaftsgegenstand  III, 
131  ff,  141,  191,  193,  217,  227,  257 
Anm.,  268.  —  expliziter  E.  III,  137  ff., 
149.  ~  fiktiver  E.  III,  138  ff.  -  im- 
pliziter E.  III.  138 ff .  142 ff.,  145ff .  169. 

Eignung  III.  246,  vgl.  auch  Fähig- 
keit. 

Einbilden  VIII.  489. 

E in bildungs Vorstellung  VIII.  484, 
494. 

Eindeutigkeit   der  Sinnestäu- 
schungen V,  385. 

Einfach  III,  166,  190ff 

Einfache  Notwendigkeit  II,  84. 

Einfachere  Formulierungen  IV,  292. 
—  E.  Urteile  IV,  284. 

39* 


612 


Register. 


Einfachheit  IV,  274,  285. 

Einfluß  der  Lage  auf  die  Auffällig- 
keit IX,  513.  —  E.  der  Wiederholung 
IX,  516.  —  E.  der  Winkelgröße  von 
Sektoren  auf  die  Auffälligkeit  IX, 
514,  517  ff.,  526. 

Einheit  m,  166 f.,  202,  205,  218,  220, 
227  ff.,  231,  241,  247  ff.,  255.  —  E.  des 
Gefühles  X,  554.  —  Streben  nach  E. 
IV,  289  Anra.  1. 

Einordnen  IV,  280f. 

Eins  III,  166 f.,  205,  209,  213,  217 f., 
220,  229 f.,  237  ff.,  246 f.,  247  ff. 

Einsichtig  keit  wissenschaftlicher 
Methoden  IV,  294  Anm.  1. 

Einteilung  der  Gegenstände  II,  75, 
78  ff. 

Einthoven  V,   425,  426,  427,  433,  434. 

—  E.s  Erklärung  der  Müllek-Lyer- 
schen  Täuschung  V,  437  f.  —  Wider- 
legung der  Erklärung  E.s  V,  438  f. 

Eintreten  von  Ereignissen  als  L  IV, 

288. 
Einwirkung    einer   Vorstellung   auf 

andere  VIII,  501. 
Element  III,  159 ff.,  221  ff.,  253. 
Elementareinhildungsvorstel- 

lung  VIII,  490,  492. 
Elementarvorstellungen      VIII, 

486,  494. 
Elimination  des  Unnötigen  IV,  282. 
Elsenhans  XI,  596,  597,  601. 
Emotionales     Ökonomieprinzip    der 

Lust  IV,    295,   301.    —   E.   Ök.   des 

Wertes  IV,  298,  302. 
Empfindung    II,    94.   —    Zustande- 
kommen der  E.  VIII,  482. 
Empfindungen  VIII,  481ff. 
Empfindungsgegenstände  I,  31, 

—  II,  93  ff.  —  Sein  der  E.  II,  94. 
Empfiudungsgegenstand    I,    31, 

VIII,  482  ff.,,  492. 
EmpfindungstäuschungVIII,  504. 
Empirische  Möglichkeit  IV,  269. 


Empirisches  I,  43. 

Endlich  III,  226.  25L 

Energie  III,  200,  245. 

Entfernung  H,  106f. 

Entwicklung,  Gesichtspunkt  der 
IV,  278  f. 

Ereignisse  als  H  IV,  288.  —  Ein- 
treten von  E.  IV,  288. 

Erfahrung  III,  129,  261f. 

Erfahrungsersparnis  IV,  277. 

Erfahrungsurteile  IV,  287,  Anm.  2. 

Er fahrungs wissen  I,  41. 

Erfassen  der  vorgegebenen  Objektive 
II,  62  Anm.  —  E.  des  Idealrelates 
VIII,  496. 

Erfaßte,  das  VIII,  481  ff. 

Erfaßtes  II,  54,  91,  93,  118. 

Erfolgsmäßigkeit  IV,  282. 

Erfordernisse  eines  Ökonomieprin- 
zips IV,  270  f. 

Erhaltung  der  Operationsgesetze,  vgl. 
Operationsgesetz. 

Erhaltungschance  IV,  279. 

Erinnern  von  Superioren  VIII,  490. 

Eriunerungsdispositionen,  kom- 
plexe Vni,  492. 

Erinnerungsvorstellungen  VIII, 
489,  493  f. 

Erkennen  I,  3f.,  13f..  18f.,  23ff.  — 
E.  als  L  IV,  284. 

Erkenntnis  als  Doppeltatsache  I,  3 f., 
18,  23. 

Erkenutnisge genstände  I,  13,  20. 
Erkenutnislust  IV.  296. 
Erkenntnisse,  geordnete  IV,  291.  — 
implizierte  E.  IV,   285  Anm.   1.   — 
Spezial-E.  IV,  286.  —  vermittelte  E. 
284  f. 
Erkennt nistheo retisches  Ökono- 
mieprinzip   der    Hypothesenökonomie 
IV,  286  ff.,  301.  —  E.  Ö.   der  Induk- 
tion IV,  291,  301. 
Erkenntnistheorie     I,     23ff.,     27, 

35. 
Erklären  als  L  IV,  286. 


Register. 


613 


Erklärung,  intellektualistische  der 
Affekte  X.  559. 

Erlebnis,  auf  gleichartiges  gerichtetes 
X,  530. 

Erleichterung  der  A-Reaktion  V, 
395.  —  E.  der  G-Reaktion  V,  395.  — 
E.  (der  A-G-Reaktion)  und  Aufdring- 
lichkeit V,  396.  —  E.  (der  A-G-Reak- 
tion) und  Täuschungsgrölie  V,  397, 
398,  399. 

Ermüdung  VIII,  504,  —  IX,  516. 

Ernstgefühl  X,  542,  562,  576. 

Erreger  VIII,  500,  502. 

Erregungen,  zuständliche  X,  544. 

Erscheinung  I,  36,  —  II,  91. 

E  r  s  c  h  w  e  r  u  n  g  der  A-Reaktion  V,  397. 
—  E.  der  G-Reaktion  V,  397.  —  E. 
(der  A-G-Reaktion)  und  Täuschungs- 
größe V,  397.  —  E.  (der  A-G-Reak- 
tion) und  Subjekt.  Unzusammenge- 
hörigkeit  V,  397. 

Ersparnis  (^H'— H)  IV,  268. 

Erweiterung  des  ursprünglichen 
Ökonomiegedankens  IV,  268  f. 

Etalou  III,  250,  254  Anra. 

Ethik  IV.  297,  301. 

Etwas  II,  70  Anm.,  —  III,  126. 

Euler  IV,  278. 

Evidenz  I,  18,  —  II,  103,  —  VIII, 
496.  —  mittelbare  E.  IV,  285.  —  un- 
mittelbare E.  der  Wahrscheinlichkeit 
IV.  287. 

Existenz  I,  5ff.,  lOf.,  13,  24,  39ff.,  — 
n,  58,  78  f.,  —  III,  129,  144,  200  f., 
261  f.  —  Nicht-E.  I,  9,  12.  —  Pseiido- 
E.  vgl.  Pseudoexistenz.  —  E.  an 
Gegenwart  gebunden  II,  79.  —  Ver- 
lust der  E.  II,  80.  —  E.  u.  Nicht- 
existenz  X,  569,  576.  —  E.  u.  Wert- 
halten X,  569.  —  E.  von  Etwas  II,  59. 

Exklusivität  IV,  270,  271  Anm.  1. 

Explizit  III,  137ff.,  vgl.  auch  Be- 
stimmung,Bezieh  ung, Eigeu- 
schaftsgegenstandu.  Objektiv. 

Exponent  III,  205,  208 f.,  238. 


Exponentialkurve  III,  256. 
Extensität  II,  118,  —III,  193. 
vgl.  auch  Ausdehnung. 

F. 

Fähigkeit  III,  2Ü0f.,  244ff.,  —  X, 
553. 

Faktor  III,  203 f.,  207,  224 f..  231.  242. 
—  emotionaler  F.  XI,  582,  583. 

Faktorquantum  III.  231  f.,  234,  241. 

Fall  des  Relates  II,  87,  99 f. 

Farbe  u.  Ausdehnung  VIII,  483.  — 
F.  u.  Gestalterfassen  V,  412,  413.  — 
F.  u.  Täuschungsgrölie  der  Müllkb- 
LYEKSchen  Figur  V,  412. 

Farben  II,  93. 

Farbenaufdringlichkeit  V.  395ff., 
398,  413.  —  Bestimmung  der  F.  V, 
370,  398  f.,  405  f.  —  F.  u.  a-(ä-)Figur 
V.  400  f.  —  F.  u.  A-  bzw.  G-Reaktion 
V,  395  f  ^  F.  u.  e-(e-)Figur  V,  396  flf., 
398.  —  F.  u.  p-Figur  V,  400. 

Farbenauffälligkeit,  IX,  509ff. 

Farben geometrie  I,  32. 

Farbenkörper  I,  15 f. 

Farbenkontrast  VIII,  505. 

Farbenraum  I,  15f. 

Farbenreihe  m,  197. 

Farbensehen  V,  394. 

Farben  Verschiedenheit  u.  Täu- 
schungsgröße der  verschobenen  Schach- 
brettfigur VI,  453 ff.  —  F.  u.  Täu- 
schungsgröße  der  ÄIüLLBB-LYERSchen 
Figur  V,  315 ff  (vgl.  Täuschungs- 
g  r  ö  ß  e).  —  F.  u.  Unzusamraengehörig- 
keit  (subjektive)  V,  399. 

Fechnkb  IV,  264,  295. 

Fehlertheorie  I,  30. 

Fermat  IV,  278. 

Figur  III,  158.  -  a-(5-)F.;  e-[t-)F.; 
p-F.  vgl.  Täuschungsgröße. 

Figuren,  hauptlinienlose  vgl.  Täu- 
schungsgröße. 

Fiktion  eines  H  IV,  273. 

Fiktiv   III.   138ff..   141,   144,    197  ff. 


614 


Register. 


207  f.,  212,  217  Aura.,  220,  233,  234 
Anm.,  237  ff.,  244  ff.,  247  f.,  255,  258  f. 

Fiktive  Gegenstände  II,  62  Anm. 

Fiktives  Subjekt  IV,  269. 

FiLEHNE  V,  440. 

Finden  der  richtigen  Bedeutungsvor- 
stellung als  L  IV,  284. 

Fingibler  Wert  IV,  269,  299. 

Fingieren  III,  124 f.,  155,  225 f.,  258 f. 

Fixation  u.  geom.-opt.  Täuschungen 
V,  417,  435,  437. 

Fläche  III,  181  f.,  185,  223  f. 

Flüchtigkeit,  von  Vorstellungen  V, 
395. 

Form  I,  21  Anm.  3,  —  III,  157 f.  —  F. 
beim  Kunstwerk  IV,  295. 

Formale  Logik  I,  20f. 

Formulierung,  einfachere  IV,  292. 
—  F.  des  Prinzips  der  Denkökonomie 
IV,  278,  279,  281,  284. 

Fremdwert  X,  537. 

Fundamente,  Zweizahl  der  F.  II,  105. 

Fundiert,  nur  Objekte  sind  f.  II,  74. 

Fundierte  Objekte  II,  85.  —  F. 
Gegenstände  VIII,  483. 

FundierungII,71ff.,85,  — VIII,486ff. 

Fundierungsgegenstände  II,  90, 
95. 

Funktion  III,  217,  224,  226,  232,  235, 
241,  248.  —  F.  ökonomische  (=L)  des 
Dingbegnffes  IV,  287  Anm.  3.  —  F. 
ökonomische  von  Symbolen  IV,  290, 
299.  —  F.  synthetische,  der  Annahme 
IV,  281,  Anm.  2.  —  F.  synthetische. 
des  Urteils  IV,  281  Anm.  2.  —  F.  theti- 
sche  u.  synthetische  des  Denkens  I,  7. 

Funktioneutheorie  I,  32. 

G. 

G-Reaktion  V,  310  ff.,  403,  411.  —  Er 
leichterung  der  G-E.  V,  395.  —  Übung 
der  G-R.  V,  403  vgl.  auch  Reak- 
tion und  Täusch uugsgröße.  — 
G-R.  und  Farbenaufdringlichkeit  V, 
395  f. 


Galilei  IV,  293. 

Ganzes  I,  10,  12,  —  III,  175  f.,  207. 

Garantie  für  Wahrheit  oder  Wahr- 
scheinlichkeit IV,  285. 

Gas  III,  241,  242  Anm. 

Gauss  IV,  278. 

Gedächtnis  VIII,  490. 

Gefallen  X,  519.  —  ästhetisches  G. 
X,  550,   574.  —   direktes  G.   X,  557. 

—  refiexionsartiges  G.  X,  538,  557  f, 

—  unsattes  G.  und  Begehren  X,  572. 

—  unsattes  G.  und  Wünschen  X,  542. 

—  G.  als  Aktivität  X,  529,  544.  — 
G.  als  Primäres  X,  571.  —  G.  als 
unableitbare  psychische  Tatsache  X, 

572.  -  G.  als  Urteilsgefühl  X,  564  ff. 

—  G.  als  Zustand  X,  544.  —  G.  am 
Neuen  X,  568.  —  G.  und  Begehren 
X,  570 ff.  -  G.  und  Gefühl  X,  529 f., 

573.  —  G.  und  MißfaUen  X,  573.  — 
G.  und  Urteilen  X,  548,  564  f.,  570, 
575  f.  —  G.  und  Werthalten  X,  528, 
542,  562  f.,  569,  573  ff. 

Gefalleusakte  X,  570. 

Gefühl,  ästhetisches  X,  566.  —  G., 
echtes  X,  562.  —  G.,  neutrales  X, 
551.  —  G.,  objektloses  X,  549.  —  G. 
ästh.  u.  Werthalten  X,  566. 

Gefühle,  angenommene  XI,  581.  — 
vorgestellte  XI,  581,  601.  —  G.,  deren 
Unselbständigkeit  I,  If. 

Gefühlsabstumpfung  X,  556 f., 
568 f.,  —XI,  586.  587,588,590,598,599. 

Gefühlsdispositioneu  XI,  583,  584, 
586,  587,  589,  595,  600.  —  Herab- 
setzung von  G.  XI,  586,  587,  591. 

Gefühlstöne  XI,  595ff. 

Gegebensein  I,  11,  19f.,  25,  39f.,  44. 

Gegensätzliche  intellektuelle  Tat- 
sachen IV,  274  Anm.  2. 

Gegensätzlichkeit  zwischen  e-  und 
a-Figur  V,  313  f.,  362  ff.  —  methodo- 
logische Bedeutung  der  G.  zwischen 
e-  und  a  Figur  V,  313f.,  411. 

Gegensatz,  positiver  zu  Gefallen  X, 


Reffister. 


615 


560,  562.  —  G.,  privativer  zu  Ge- 
fallen X,  560,  562.  —  G.  von  ja  und 
nein  II,  64. 
Gegenstände,  andersartige  II,  106. 
—  fundierte  G.  VIII.  483.  —  ge- 
meinsame G.  II,  60,  63,  85,  —  koin- 
zidierende  G.  III,  135 f.  vgl.  auch 
Konizidenz.  —  mitgegebeneG.il, 

59,  —  mögliche  G.  II,  82,  101.  — 
notwendige  G.  imd  unmögliche  G.  II, 
82.  —  primäre  und  sekundäre  G.  II, 

60,  88.  -  psychische  G.  II,  53.  — 
reale  und  ideale  G.  II,  81,  83.  — 
Sosein  zufälliger  G.  II,  92.  —  tat- 
sächliche G.  II,  68,  79.  —  vorgegebene 
G.  II,  59.  —  wirkliche  G.  II,  79,  — 
Vni,  482.  —  zeitverteilte  G.  X,  556. 

Gegenständliche  Charakteristik IV, 
289  Aum.  1. 

Gegenständlichkeit  I,  9 ff.,  14,  — 
X.  548.  —  G.  auOerintellektixeller  Er- 
lebnisse I,  If.,  14. 

Gegenstand  I.  Ift'.,  25,  —  II,  53 
57,  70  Anm.,  —  III,  126 f.,  173 f., 
191,  216,  252f.,  258 f.,  261.  —absurder 
G.  I,  12.  —  allgemeiner  G.  III,  166 
Anm.  —  bestimmender  G.  III,  130  f., 
143,  211  f.  -  fiktiver  G.  III,  140f., 
161,  166,  173.  —  G.  höherer  Ordnung 
III,  167,  240  f..  —  V,  309.  —  idealer 
G.  I,  5,  12,  37,  —  V,  319,  382.  — 
möglicher  G.  III,  128,  174.  —  reiner 
G.  I,  Off.  —  G.  unabhängig  vom 
Sein  II,  59.  —  unmöglicher  G.  III, 
128,  130,  134  f.,  140,  172  ff.,  194,  206  ff. 

Gegenstandslosigkeit  II,  63. 

Gegenstandstheoretischer  Ort 
der  Ökonomie  IV,  273. 

Gegenstandstheorie  I,  16f.,  27 ff., 
30 ff.,  33 ff.,  37 ff.,  40 f.,  46 ff,  —  II, 
52,  80,  —  III,  125,  202,  259.  262.  — 
aUgemeine  G.  I,  28 f.,  30,  42.  —  spe- 
zielle G.  28 f.,  30,  42,  45.  —  G.  als 
eigene  Wissenschaft  I,  26.  —  G. 
als   Psychologie    I,    13  ff.   —    G.    als 


„reine  Logik"  I.  20  ff.  —  G.  des 
Messens  III,  U'2ff.  —  G.  als  Theorie 
der  Erkenntnisgegen-stände  I,  17  ff.  — 
G.  in  Wissenschaften  die  nicht  Gegeu- 
standstheorie  sind  I,  29  ff.  —  G.  und 
Philosophie  I,  34  ff.  -  Doppelte  Auf- 
gabe der  G.  I,  28  ff. 

G  e  g  e  n  s  t  a  n  d  s  t  y  p  e  n  IV,  289  Anm   1 . 

Gegenwärtigsein  IT,  70. 

Geiger  IV,  283. 

Geisteswissenschaft  I,  6. 

Geizhals  IV,  268. 

Geld  ausgeben  IV,  268. 

Gemeingefühl  X,  544. 

Gemeinsame  Gegenstände,  nicht  zu- 
gehörige II,  63.  —  G.  O.,  zeitlose 
und  zeitverteilte  II,  113. 

Gemeinsames  H  IV,  273.  —  G.  L 
IV,  273. 

Gemischte  Ökonomie  IV,  267. 

Genugtuung,  als  sattes  Gefallen  X, 
560. 

Geometrie  I,  8,  31,  —  III,  125,  222, 
257  f.,  260.  —  Farben-G.  I,  32. 

Geometrisch- optische  Täuschungen 
VIII,  503.  —  vgl.  auch  Täu- 
schungsgröße. 

Geordnete  Erkenntnisse  IV,  291. 

Gerade  III,  ISlf..  185.  189.  191,  199 f.. 
213,  215 f.,  222,  236 f.,  240  Anm., 
2;:3ff. 

Gerichtetsein  auf  etwas  I,  2,  — 
G.  des  Gefallens  X,  546,  548,  550. 

Geruchsempfindungen  II,  93. 

Gesamtgröße  III,  232. 

Gesamtquautum  III,  231  f. 

G  e  s  c  h  m  a  c  k  s  e  m  p  f  i  n  d  u  n  g  e  u  II.  93. 

Geschwindigkeit  III,  l»3f..  232ff.. 
242,  260. 

Gesetz  IV,  276.  —  G.  der  Gravitation 
IV,  276.  —  G.  über  realisierbare  Wert- 
tatbestände IV,  298,  302. 

Gesichtsfeld  IX,  512. 

Gesichtspunkt,  außerökonomischer 
IV,  270,  281  f.  —  G.   der   Beharrung 


616 


Register. 


IV,  278.  —  G.  der  Entwicklung  IV, 
278  f.  —  G.,  orientierender  IV,  293 
Anra.  2. 

Gestalt  III,  125,  156ff.,  182,  185,  188, 
221  ff.  —  äußerräumliche  G.  III,  158. 

Gestaltaufdringlicbkeit  V,  434. 
G.  und  Täuschungsgröße  V,  404. 

Gestaltbildender  AVert  der  Farben 

V,  370,  408. 
Gestalten  VIII,  498f. 
Gestalterfassen,  inadäquates V, 379. 

—  G.  und  Farbe  V,  412,  413,  —  G. 
und  geom.-opt.  Täuschungen  V,  395. 

Gestaltgegenstände  II,  110 ff.  — 
diskrete  und  kontinuierliche  G.  II, 
113. 

Gestaltinferiora  II,  114. 

Gestaltraebrdeutigkeit  V,  383, 
410.  —  G.  und  Vorstelluügsinadäquat- 
heit  V,  411.  —  G.  und  Täuschungs- 
mehrdeutigkeit V,  388. 

Gestaltvorstellung  V,  393,  433. 

Gestaltzweideutigkeit  V,  375. 

Gewinn  (=  L  —  L)  IV,  268. 

Gewissen  IV,  297. 

Gewohnheit  IV,  289ff.,  300. 

Gleichartigkeit  der  Müller-Lyer- 
schen  und  ZöLLNEKSchen  Täuschung 

V,  376  ff.  —  G.  der  Täuschung  an  der 
verschobeneu  Schachbrettfigur  mit  der 
ZöLLNERSchen  und  MiJLLER-LYERSchen 

VI,  449,  465  ff.,  472. 
Gleiche  Korrelate  IV,  273. 
Gleichheit  I,  5,  37,  —  II,  95,  —  III, 

180,  196,  221,  227,  229.  —  G.  als 
Maximum  II,  96.  —  G.  als  Vertausch- 
barkeit  der  Inferiora  II,  97  f.  —  G. 
von  Zahlen  III,  212  f. 

Gleichteilig  III,  202,  209. 

Gleichungen  II,  119. 

Glieder  der  Relation  III,  143f ,  151ff., 
195  f.,  235  f.,  243. 

Glück  X,  557. 

Glückseligkeit  X,  538,  557. 

Glückseligkeitstrieb  X,  558. 


Glückstreben  X,  557. 

Grad  III,  164 ff.,  178 f.,  185,  213,  221  ff. 

—  bestimmbarer  G.'^III,  179. 
Grammatik  I,  15,  32  f. 
Gravitationsgesetz  IV,  276. 
Grenze    III,    172,    180 ff.,    1S3,    187, 

189  ff.,  196  ff.,  213,  222  f.,  225,  252,  260. 
Grenzen,  ihre  Bedeutung  für  Theorie 

und  Praxis  I,  2f. 
Grenzfall  III,  167,  174,  178,  217,  246. 
Größe  II,   106,  —  HI,  124 f.,   170 ff., 

174f.,  178,  191,  193,  196,  214 f.,  220 ff., 

228 ff.,  231  f..  235,   248 ff.,  251  ff.,  258. 

—  absolute   G.  ni,  226,   228 f.,  250  f. 

—  G.    der   Ökonomie   IV,    268,    298. 

—  G.  der  Maxima  II,  102.  —  G. 
haben  und  G.  sein  II,  100.  —  rela- 
tive G.  III,  220  f.,  226,  228  ff,  234  f., 
236,  247  ff.,  258.  —  Kriterium  der  G. 
III,  171f.,  1751,  179,  190,  214.  —  G. 
der  Werthaltnngen  X,  536. 

Größen  III,   129.  —  physikalische  G. 

III,  233  Anm.,  261. 
Größengesetze  III,  229f.,  249. 
Größen  gleich  III,  221,  223,  225,  252. 
Größenreihe   III,   214ff..  252ff.,   — 

X,  540. 
Größenverschiedeuheit   III,  215, 

228,  254  ff 
Größer  III,  215,  239,  252. 
Gröthüysen  XI,  580. 
Grundeigenschaft  III,  132,  167. 
Günstige  Fälle  IIT,  245  f. 
GüYE  V,  373. 

H. 

H  als  Denken  IV,  274.   —  H   als  Er- 
eignis IV,  288.  —  H  als  Hypothese 

IV,  286.  —  H  als  Kraftverbrauch  IV, 
284.  —  H  als  Opfer  IV,  268.  —  H 
als  Stütze   einer  Hypothese   IV,   286. 

—  H  als  Urteil  IV,  280  f.  —  H  als 
Vorstellung  IV,  268.  —  H  als  Wort- 
vorstellung IV,  283.  —  Fiktion  eines 
H  IV,  273.  —  H  gleich  Null  IV,  267. 


Register. 


617 


H'-H,  Ersparnis  IV,  268. 

H'  das  der  VergleichsgröCe  augehörige 
H  IV,  266. 

H,L  (=  T),  das  Ökonomiebinom  IV, 
265.  —  H,L  als  Träger  IV,  273. 

H'L'  (=  T'),  die  ökonomische  Ver- 
gleichsgröße IV,  269.  —  H'L'  (=  T') 
als  Bezugsgegenstand  IV,  273. 

H,0  vgl.  Wasser. 

Häufungsstelle  III,  191. 

Hamilton  IV,  278. 

Handlung  IV,  265. 

Hartmann  IV,  264,  278. 

Haupteigenschaft  III,  13-2.  134, 
166,  195,  258. 

Helligkeit,    spezifische   VII,    473 ff., 

474.  —  H.  und  Sättigungserhöhung 
VII,  474.  —  Bestimmung  der  H. 
VII,  478  f. 

Helligkeitskontrast  VIII,  505. 
Helligkeitsveränderung  VII,  474, 

475.  —  H.  durch  bloße  Sättigungs- 
erhöhung VII,  475,  476 f.,  480.  —  H. 
durch  farbige  Induktion  VII ,  475, 
476  f.,  480. 

Helmholz  V,  435. 

Hering  V,  374. 

Heterotisches  Minimum  IV.  299 
Anm.  1. 

Heuristische  Ökonomie  IV,  293. 

HEYDEN-ZiELEViricz  IV,  264,  298. 

Heymans  V,  404,  416,  417,  424,  426, 
437,  442,  443.  —  H.s  Erklärung  der 
Müller -LyEBschen  Täuschung  V, 
442  ff.  —  Widerlegung  der  Erklärung 
H.s  V,  444  f. 

Hilfskonstruktionen  IV.  292f. 
Anm.  2. 

Hilfsmittel,  experimentelle  V,  31 1  f., 

—  VI,  450  f. 

Hinblicks  gegenstände  IV,  272. 
HÖFLER  I,  25,  31,  35  f.,  38,  43,  —  II, 
111,  —  III,  126,   160,   181,  200,  245, 

—  IV,   264,    267,   272,   274 f..   294 f., 


301,    -  V,   419,  420,   —   VIII,  485, 

488,  497,  —  XI,  604. 
HüNKiswALD  IV.  264,  286. 
Hol  istische  Tendenz  IV,298f.  Anm.  1. 
Homoiomerll],  l«8f.,  204f.,  214.  — 

durchaus  h.  III,  lG8f.,  177,  182,  185, 

188,  190,  193,  195,  204,  214,  221,  223, 

225,  231,  260. 
HuME  VIII,  491. 
HüssERL  I,  20,  -   II,   72,   -  IV,  264, 

294. 
Hypothese  als  H  IV,  286.  —  H.  als 

L  IV,  286  Anm.  2. 
Hypothesen-Ökonomie  IV,  287 ff., 

301. 
Hypothesenlast  IV,  287. 

I  (J). 

Ja  II,  64. 

Jäger  IV,  264,  295. 

James  X,  559. 

Jastrow  V,  374. 

Ideal  I,  5  Anm.  1,  24,  25,  -  III,  129, 

200,  233,  —  VIII,  487. 
Idealanalyse  VIII,  495. 
Ideale   Gegenstände  II.  81,  83.  —  I. 

Qualität  Vgl.  Qualität. 
Idealer  Gegenstand  I,  5,  12,  37. 
Idealität  der  sensiblen  Qualitäten  I,  9. 
Idealkomplex   I,  44,  —  III.  15Gff.. 

161  f.,  164. 
Idealkomplexion  III,  155 ff.,  164. 
Idealrelat  I.  44 
Idealrelatiou  III.  U6f.,  163,  192f., 

261. 
Identifizierende  Apperzeption  IV, 

280. 
Identität  der  Art  der  Ökonomie  IV, 

270  f.  —  I.  von  Subjekt-  und  Prädikats- 
gegenstand IV,  281. 
Immanent  III,  145. 
Implizierte    Erkenntnisse    IV,    285 

Anm.    1.    —    I.    Objektive   IV,    285 

Anm.  1. 
Implizit   III.    138 ff.    141  ff..  —    vgl. 


618 


Register. 


auch  Bestimmung. Eigenschaft 
und    Eigen  Schafts  gegenständ. 

Inadäqixatheit  V,  403.  —  Kriterien 
der  I.  V,  384  ff.  —  Richtung  der  I. 
V,  413.  —  I.  und  Gestaltmehrdeutig- 
keit V,  411.  —  Ursache  der  I.  V, 
412.  —  I.  von  Vorstellungen  V,  383. 
344  ff.,  392,  412. 

Inadäquate  Vorstellungen  VIII,  503  ff. 

Indirekter  Beweis  III,  135. 

Indirektes  Vorstellen  VIII,  500 ff. 

Individuelle  Differenzen  V,  376. 
—  I.  Tatsachen  IV,  270. 

Induktion  IV,  288 ff.  —  erkenntnis- 
theoretisches Ökonomieprinzip  der  I. 
IV,  291,  301. 

Induktive  Urteile  IV,  292. 

Inferiora  II,  71,  106,  —  VIII,  483. 

Inferius  I,  44,  —  III,  143,  147f., 
151  ff.,  162f.,  164,  192,  204f.,  209, 
217.  244,  261,  —  V,  310.  —  entfern- 
teres I.  III,  167  f.,  190,  209.  —  letztes 
I.  vgl.  Infimum.  -  I.-Inhalt  V,  310. 

Inferiusgestalten  II,  113. 

Infimum  III,  168 f.,  179,  184,  188, 
190,  204,  221  ff.,  232. 

Inhalt  I,  22,  —  VIII,  496.  —  I.  beim 
Kunstwerk  IV,  295. 

luhaltsgefühle  X,  566. 

Inkonvertibilität  IV,  273. 

Inkonvertible  Relationen  IV,  272 f. 
Anm.  2. 

Innere  Selbständigkeit  VIII,  482. 

Innerer  Widerspruch  VIII,  482. 

Innerlich  wahr  I,  18. 

Instinkt  IV,  287. 

Integral  III,  222  u.  Anm. 

Intellektuelle  Tatsachen,  gegensätz- 
liche IV,  274  Anm.  2. 

Intelligenz,  unbegrenzt  leistungs- 
fähige I,  19. 

Intensität  III,  193ff.,  232f.,  241.  — 
I.  des  Urteils  X,  551.  —  I.  des  Wert- 
haltens X,  536,  573. 

Intensitäten  II,  105. 


Inteusitäts Verschiedenheit  des 
Gefallens  X,  538.  —  I  als  Merkmal 
der  Passivität  X,  551. 

Intervalle  11,  110.  —  VIII.  491.  — 
temperierte  I.  II,  111. 

JoDL  IV,  264,  267. 

Irradiation  VI,  450.  —  I.  und  ver- 
schobene Schachbrettfigur  VI,  450  ff. 

Irradiationshypothese  VI.  451, 
454,  464. 

Irradiationswirkung  VI,  457. 

Irrtumschauce  IV,  285. 

JüDD  V,  331  f.,  404. 

K. 

Kampf  ums  Dasein  IV,  280. 

Kant  III,  170. 

Kausal -Binom  IV,  277. 

Kausale  Notwendigkeit  II,  82  Anm. 

Kausalgesetz  X,  531,  560. 

Kausalität  IV,  277. 

Kausalreihe  VIII,  482. 

Kausatiou,  mittelbare  II,  71. 

Kausierungsf ähig  II,  94. 

Klein  III,  171  f.,  190,  213. 

Kleinste  Teile  III,  184,  188. 

Kleinster  Gegenstand  III,  171,  179. 

Körper,  geometrischer  III,  225;  vgl. 
auch  Raum. 

Koexistenz  der  Gefühle  XI,  592. 

Koinzidenz  n,  70,  100,  103,  104,  119, 
—  III,  143,  149,  154  f.,  162  ff.,  176  f.. 
182  ff,  188,  196,  201,  211  ff.,  216  ff., 
221,  223 ff.,  227,  229 f.,  238,  247  ff. — 
Mittelbare  K.  II,  119.  —  K.  der  Mög- 
lichkeit IV,  276.  —  K.  von  Ökonomie 
und  WirkUchkeit  IV,  276.  —  K.  von 
Wirklichkeit  mit  einem  Minimum  der 
Möglichkeit  IV,  276.  —  K.  von  Wirk- 
lichkeit mit  einem  Minus  der  Mög- 
lichkeit IV,  276  f. 

Koinzidenzgesetz  II,  102. 

K  0  i  n  z  i  d  e  n  z  g  e  s  e  t  z  e  f  ür  reine  Zahlen 
III,  202  ff,  221,  230,  249. 


Register. 


I>19 


K  0  i  11  z  i  d  e  n  z  p  r  i  n  z  i  p ,  MEiNONOsches 
III,  153  f. 

Koiuzidieren  von  Superioreii  VIII, 
498. 

Koiiizidierende  Gegenstände  vgl. 
Gegenstand.  —  wesentlich  K.  G.  III, 
136,  244,  246. 

Kollektiv  in,  163,  166. 

K  0  m  b  i  n  a  t  i  0  n  s  1  e  h  r  e  1, 31,  —  III,  257. 

Kombinationsrechnuug  II,  114. 

Kommutatives  Gesetz  III,  202f. 

Komparativ  IV,  285  Anni.  1. 

Komplanation  III,  224. 

Komplex  I,  12,  —  II,  72f.,  —  III, 
153 ft-.,  1631,190,204 ff.,  2.37  f.,  242  f., 
—  VIII,  486.  —  expliziter  K.  III, 
149 ff.,  152,  161,  168 f.,  176 f.,  205, 
218  f.,  235.  247.  —  fiktiver  K.  III, 
153.  —  idealer  K.  I,  44.  —  impliziter 
III,  147  ff,  167  ff,  175  ff.,  180,  205, 
243,  247,  259.  —  K.  von  Objektiven 

II,  60  ff. 

Komplexe,  vertauschbare  III,  182 ff., 
187,  203,  223.  —  K..  die  Quanta  sind 
vgl.  teilbare  Quanta. 

Komplexion  I,  43 f.,  —  II,  72,  74,  — 

III,  153ff,  163 f.,  207 ff.,  211,  217 ff, 
232,  235,  237  f.  242  f.,  —  explizite  K. 
III,  149 ff.,  152,  1.55.  —  fiktive  K.  III. 
152.  —  implizite  K.  III,  147  ff..  156. 
168 f.,  216 f.,  220.  —  Quautumbe- 
stimmende  K.  III,  189 f..  188. 

Koraplexionen,    vertauschbare    III, 

182  ff.,  187,  231. 
Komplexions  objektiv  III,  149  ff..  162. 
Kompression  III,  242  Anm. 
Konflikt  X,  539f. 
Konkretlll.  196f.,221,226,237,  250f. 
Konkurrenz  IX,  512. 
Konsequenz,  antiethische  IV.  297. 
Konstanz  III,  194. 
Konstruktion  III,  258. 
Kontinua  II,  93,  101  ff ,  106 f.,  115. 
Kontinuität,  Prinzip  der  IV,  293 f., 

Anm.  2. 


Kontinuum  I,  16,  —  III,  169,  179  ff., 

188,  I90f.,  200,  215 f.,  231,  250,  253 f., 

260.  —  reines  K.  III,  231. 
Kontinuumsgestalt   II,    110,    113. 
Kontinuumskomplexion   III,  169. 
Kontinuunislehre,   allgemeine  III. 

260. 
Kontradiktorisch  II,  66.  70,  88. 
Konvertibilität  IV,  273. 
Konvertible    Relationen    IV.    272 f. 

Anm.  2. 
Koordinaten  III,  241.  249f..  256. 
Korrelat  III.  244,  —  IV,  272. 
Korrelatbereich     der     Disposition 

VIII,  493. 
Korrelate   VIII,  503.   —  gleiche  K. 

IV,  273.  —  ungleiche  K.  IV,  273.  — 
Dualität  der  K.  IV,  273. 

Korrelation  IV,  272f. 

Kraft    III,   201,    234    Anm..  245,  — 

—  IV.  279. 
Kraftaufwand  IV,  275,  279. 
Kbeibig  V.  383.  390. 

Kreis  III.  147 ff.,  154. 
Kries  ni,  246,  —  IV,  288. 
Kriterien   der  Produktionstäuschung 

V.  912. 

Kriterium  der  Grüße  III,  171  f.,  175t'. 

Kriterium  für  Realrelation  VIII.  494 

Kbüger  X,  547  Anm. 

Kubatur  III,  226. 

KÜLPE  IV,  264,  267,  -  X.  543. 

KuNDT  V,  374. 

Kunstwerk  IV.  295. 

L. 

L  IV,  265.   —  L  als  Denken  IV,  274. 

—  L  als  Eintreten  von  Ereignissen 
IV,  288.  —  L  als  Erkennen  IV,  284. 

—  L  als  Erklären  IV,  286.  -  L 
als  Finden  der  richtigen  Bedeutungs- 
vorstellung IV,  284.  —  L  als  Hypo- 
these IV,  286  Anm.  2.  —  L  als  Nicht- 
Denken IV,  274.  —  L  als  Vorstellung 
IV,  268.  —  L  als  Werk  IV.  283. 


620 


Register. 


L-L',  Gewinn  IV.  268. 

L'.  das  der  Vergleichsgröße  Angehörige 
IV,  266. 

Länge  III,  184  f.,  188,  215,  219,  222, 
232. 

Lage  II,  110 f.  —  räumliche  L.  II, 
111.  —  L.  al.sQuaIität  der  Ver.schieden- 
heitsrelation  II,  111.  —  Einfluß  der 
L.  auf  die  Auffälligkeit  IX.  513,  517  ff.. 
526. 

Lagen,  Kontinuum  der  II,  107. 

Lageverschiedenheit  II,  96,  107 

—  Erfassen  der  L.  V,  419. 
Lange  IV,  264,  280,  —  X,  559. 
LasKA  V,  417. 

Lautliche  Differenzierung  IV,  283. 

Lebensstil  IV,  297. 

Leistung  III,  200,  —  IV,  265. 

Lehmann  VI,  450,  457. 

Lewy  XI,  600. 

Limitieren  gegen  Null  III,  172,  198. 

Linie  III,  1811,  185.  197 f.,  221  f., 
232,  253. 

Lipps  V,  374,  404,  422,  442,  —  VIII 
491,  497.  —  L.s.  Erklärung  der 
MüiiLER-LYERSchen  Täuschung  V,  351, 
445.  —  Kritik  der  Erklärung  L.s.  V, 
351  f..  445  ff. 

Lokalisation  V,  419,  420f. 

Lösung  der  Probleme  IV,  286, 
Anm.  2. 

Logarithmus  IIL  208 ft'.,  230,  238 f., 
241  ff.,  255. 

Logarithmusquantum  III,  230. 

Logik  I,  20,  31  ff.  —  reine  L.  1, 20f.,  23. 

Lust  IV,  294.  —  emotionales  Ökonomie- 
prinzip der  L.  IV,  295,  301.  —  Ge- 
setz der  L.  IV,  294  ff.  —  L.  als  pas- 
sives Erlebnis  X,  529. 

M. 

Mach  IV,    264,    266,    276  ff.,    287,    289, 

292,  299. 
Mally  I,  8,  16,  27,  39,    —   II,  68,   72, 

—  IV,  271. 


Mannigfaltigkeit  III,  216.249,253. 

Mannigfaltigkeit  sichre  I,  32. 

Maß  III,  201  f.,  207,  217  ff.,  220  ff.,  247, 
250,  254  Anm.  —  M.  der  Auffälligkeit 
IX,  520. 

Maßbeziehung  III,  163. 

Maß  zahl  III,  207,  217  ff.,  220,  222  ff., 
227  f.,  2311,  237  ff.,  248 ff.,  255. 

Material  der  Ökonomie  IV,  269.  — 
M.  d.  Ö.  als  Kraft  IV,  279. 

Materie  II,  91,  —  III,  195. 

Materienkomplex  II,  92. 

Mathematik  I,  6ff.,  24,  271,  30, 
421,  45,  —  II,  95,  119,  —  IIl,  1241, 
173  Anm.,  202,  209,  257  ff.  —  rech- 
nende M.  III,  124.  —  M.  und  Gegen- 
standstheorie des  Messens  III,  124  ff., 
257  ff.,  259. 

Mathematische  Logik  I,  32. 

Maüpertüis  IV,  278. 

Maxim a  II,  102 ff.  —  mögliche  M. 
II,  103. 

Maximaltatbestaud  als  T'  IV,  270. 

Maximum  der  Ähnlichkeit  II,  96. 

Mechanik  I,  31. 

Mechanisierung  IV,  267,  282. 

Mehrdeutigkeit  der  Produktions- 
täuschung V,  386,  388,  400. 

Mehrheit  III,  1631,  178. 

Meinen  III,  138ff.,  148,  151,  155,  157. 
160,  166. 

Meinong  II,  54,  55,  60,  66,  69,  71,  81, 
94,  95,  98, 111,  113,  -  III,  126  bis  129, 
135.  1371,  142  ff.,  147  f,  1531,  157, 
159,  163.  167,  169,  172,  175.  191,  201, 
204,  229,  237,  246,  252,  261,  —  IV, 
2641,  2711,  275,  281,  2871,  2%,  — 
V,  393,  419,  —  VIII,.  482,  483,  488, 
493,  499,  501,  —  X,  528,  547  ff.,  554. 
564,5681,  571,  574,  -  XI,  579,  580, 
581,  583,  594,  595.  596.  603,  604,  605. 

Melodie  II,  110.  —  IIL  158 ff.,  -  VIII. 
491,  493. 

Meßbarkeit  III,  170.  226,  228ff,  231, 
251  ft. 


Register. 


621 


Messen  III,  170,  207.  217,  220f.,  250. 

—  angewandtes  M.  III.  222,  26lf.  — 
M.  fiktiver  Qualitäten  III,  240,  244  ft". 

—  M.  von  Qualitäten  an  Gegenständen 

III,  231  ff.  -  M.  von  Relationen  III, 
235  ff.  —  Gegenstandstheorie  des  M.  III, 
122  ff.,  202,  257  ff.  —  Objekt  des  M. 
m,  123,  217,  227,  247,  257,  260  ff.  — 
Theorie  des  M.  III.  122. 

M  e  s  s  n  n  g  s  ä  h  n  1  i  c  li  e  Bestimmung  III. 

249  f. 
Messungsgegenstände  III,  123. 
Messungsobjekt  III,  123,  170f. 
Messungsobjektiv  III.  123f.,  170f., 

201  f,    218   227,    247  ff.,    253,    257  f.. 

260  ff.  —  allgemeines  M.  III,  248  f.  — 

bestimmendes  Objekt  im  M.  III,  123. 
M  e  t  a  ra  a  t  h  e  m  a  t  i  k  I,  32. 
Metaphänomenales  T,  35. 
Metaphysik  I,  4f.,  28,  32,  35 ff.,  38f., 

40  ff..  —  III,  261. 
Methode,  Untersuchungs-M.  bei  geom.- 

opt.  Täuschungen  V,  312  f. 
Methodologisches  Ökonomieprinzip 

IV,  287. 

Minimum  IV,  270.  —  heterotisches 
M.  IV,  299.  —  physikalisches  M. 
IV,  278.  —  M.  der  Andersheit  IV,  299. 

Minimumprinzip  IV,  270,  275. 

Minus  IV,  2711f.  —  M.-Prinzip  IV, 
270.   —  M.-Tatsacheu   IV,   273,   288. 

—  M.-Tendenz  IV,  289. 
Mißfallen   X,  562.    —  sattes   M.  X, 

576.  —  unsattes  M.  X.  576. 

Mitaufbauen  II,  73. 

Miteinander  auftreten  von  Objek- 
tiven II,  70. 

Miterfaßte  Gegenstände  II,  93. 

Mitfundierung  II.  73. 

Mitgegebene  Gegenstände  II,  59.  — 
M.  Objektive  und  Objekte  II,  76. 

Mittelbare  Koinzidenz  II,  119. 

Möglich  III,  172,  245f.,  261. 

Mögliche  Gegenstände  II,  82.  —  M. 
Maxiraa  II,  103. 


Möglichkeit  I,  6.  —  empirische  M. 
IV,  269.  —  reine  M.  IV,  269.  -  Ver- 
gleichsgröUe  der  M.  IV.  269. 

Momente  am  Soseinsobjektiv  III,  132. 

Monom iaie  Ökonomie  IV.  268,  295. 

Multiplikation  III,  203. 

Müller-Lyer  V,  414,  415,  416,  417,  418, 
422,  423.  432.  —  M.-L.s.  Erklärung 
der  MüLLER-LvERschen  Täuschung  V, 
414  ff.  —  Wiederlegung  der  Erklärung 
M.-L.s.  V,  415  ff. 

Müller-Lyer  s  c  h  e  Figur  VIII,  503. 
—  M. -L.  Täuschung  vgl.  Täu- 
schungsgröße. 

MiJNSTERBERG   VI,   450. 

N. 

Nähe  II,  106 f. 

Nachgegebene  Objektive  II,  61  ff. 

Natur,  das  Folgen  aus  der  N.  des 
Gegenstandes  II,  62. 

Naturwissenschaft  I,  6.  —  theo- 
retische N.  III,  163,  261. 

Negativ  III,  209 f.,  240,  —vgl.  auch 
Zahl. 

Negative  Objekte  11,  60,  64.  —  N 
Relationen  II,  76. 

Negatives  Urteil  II,  64. 

Negieren  I,  11. 

Neigung  II,  107. 

Nein  II,  64. 

Netzhautapparate,  terminale  VII, 
474,  478,  —  N.  u.  das  PüRKiNJEBche 
Phänomen  VII,  474,  478,  480. 

Newton  IV,  276. 

Nichtähnlichkeit  II.  95. 

Nichtexistenz  I,  9,  12. 

Nichtgleichheit  II,  95. 

Nichts  III,  171  f.,  173,  252. 

Nichtseinsobjektiv  I,  10 ff. 

Nichtsosein  II,  64. 

Nichttatsachen  II,  66,  59,  66. 

Nichttatsächliche    Gegenstände 
II,  78. 

Nichtwirklich  VIII,  487. 


022 


Kegister. 


Nicht  wir  kl  ich  es  I,  24. 
Normal  vgl.  Rechtwinkligkeit. 
Normalgröße  IV,  270. 
Notwendige  Gegenstände  II,  83. 
Notwendigkeit   I,   9.   —  n,    71ff., 

82,  83.  —  kausale  N.  U,  82  Aum.  — 

zweifache  N.  II,  84. 
Notwendigseiende    Gegenstände 

II,  82. 
Notwendig  verknüpfte  Objektive 

II,  62. 

Null  III,  167,  172,  173,  176,  178, 
190f.,  194 ff.,  198,  200,  206,  209,  213, 
216,  2.39  f.,  252  f. 

0. 

0,  =  L  —  H  IV,  298.  —  0  =  L  —  L'  + 

H'— H  IV,  298. 
Objekt  I,  lOf.,  12,  18,  22,  25,  39 f., — 

III,  127,  141,  257,  260  ff.  —  bestim- 
mendes 0.  im  Messungsobjektive  III, 
133 f.  —  0.  des  Messens  vgl.  Messen. 

—  0.  des  Soseinsobjektives  III,  130  f. 

—  0.  im  grammatikalischen  Sinne  II, 
59.  —  0.  in  Objektivstellung  III,  131. 

Objekten,  54 ff.,  106.  —  gleichartige 
und  ungleichartige  0.  X,  537.  — 
konkurrierende  0.  IX,  512.  —  mit- 
gegebene 0.  II,  76.  —  nur  0.  sind 
fundiert  II,  74.  —  tatsächliche  0.  II,  68. 

Objektiv  I,  6 f.,  10,  12,  18,  22,  25, 
33,  29  f.,  —  III,  127  f.,  141,  155,  174, 
198,  201,  245 ff.,  257,  262.  —  deter- 
miniertes 0.  III,  132,  245  f.,  257,  2(50  ff. 

—  explizites  0.  III,  137.  —  fiktives  0. 

III,  138  f.,  141,  212.  —  impliziertes  0. 

IV,  285  Anm.  1.  —  implizites  0.  (HI), 
vgl.  Bestimmung.  —  positives  0. 
IV,  272.  —  unmögliches  0.  III,  133,  — 
widersprechendes  0.  III,  133.  —  Nicht- 
seins-0.  I,  10  ff.  —  0.  in  Objekt- 
stellung III,  128,  131. 

Objektive  II,  54ff.,  58,  59,  106,  114- 

—  VIII,  496.  —  0.  erster  Ordnung 
II,  65,   —   konstituierende  0.  II,  63. 


—  kontradiktorische  0.  II,  66,  70.  — 
mitgegebene  0.  II,  76.  —  negative  0. 
II,  60,  64.  —  negative  Soseins-0.  II, 
69.  —  notwendig  nachgegebene  0. 
II,  66.  —  notwendig  u.  zufällig  nach- 
gegeben 0.  II,  62.  —  Ordnungshühe 
der  0.  II,  68.  —  positive  0.  11,  60, 
64.  —  Qualität  der  0.  II,  64  ff.  — 
reine  0.  II,  59.  —  reine  Form  der 
0.  II,  73.  —  relevante  Eigenschaften 
der  0.  II,  64  ff.  —  0.  sind  Komplexe 
II,  58.  —  Sosein  der  0.  II,  69.  — 
tatsächliche  0.  II,  69. 

Objektive  Seite  von  Hilfskonstruk- 
tionen IV,  292  f. 

Objektivgestalten  II,  114. 

Objektivkomplexe  II,  60,  63. 

Ö  k  0  n  0  m  i  e  IV,  265  ff.,  291.  —  Ö.  als  Er- 
haltungschance IV,  279.  —  Ö.  als  orien- 
tierender Gesichtspunkt  IV,  293.  —  0. 
einer  u.  derselben  Art  IV,  270  f.  —  Ö. 
des  Denkens  IV,  274  f.  —  gemischte 
Ö.  IV,  267.  —  Gegenstandstheore- 
tischer Ort  der  Ö.  IV,  271  ff.  —  Größe 
der  Ö.  IV,  268,  298.  —  Material  der 
Ö.  IV,  269,  279.  —  monomiale  Ö.  IV, 
269,  295.  —  reine  Ö.  IV,  267.  —  Rela- 
tivität der  Ö.  IV,  273,  275.  —  Wert 
der  Ö.  IV,  297  ff. 

Ökonomie-Binom  IV,  265,  269.  — 
qualitative  Bestimmtheit  des  Ö.-B. 
IV,  270.  —  quantitative  Momente  am 
Ö.-B.  IV,  266.  —  Wert  des  Ö.-B.  IV,  297. 

Ökonoraiefälle,  einzelne  IV,  270f., 
275. 

Ökonomiepriuzip  IV,  270,  278,  279, 
281,  284.  —  allgemeines  emotionales 
Ö.  IV,  296,  299,  302.  —  allgemeines 
erkenntnistheoretisches  Ö.  IV,  226, 
291.  —  allgemeines  psychologisches  Ö. 
IV,  277.  —  biologisches  Ö.  IV,  279  f., 

300.  —  didaktisches  Ö.  IV,  299,  302. 

—  emotionales  Ö.    der  Lust  IV,  295, 

301.  —  emotionales  Ö.  des  Wertes 
IV,  298,  302.  —  Erfordernisse  eines 


Register. 


623 


Ö.  IV,  270  f.  —  erkenntnistheoretiscbes 
Ö.  der  Hypothesenökouomie  IV,  287  ff., 
301.  —  erkenutnistheoretisches  Ö.  der 
Induktion  IV,  291,  301.  —  methodo- 
logisches allgemeines  Ö.  IV,  287.  — 
psychologisches  Ö.  IV,  287,  301.  — 
psychologisches  Ö.  der  Gewohnheit 
IV,  282,  289,  300  f.  —  vvisseuschafts- 
theoretisches  Ö.  IV,  293  f.,  301. 

Ökonomie-  Eegel,  heuristische  IV,  293. 

Ökonom ie-Tendeuz  IV.  283,  296. 

Ökonomie-  Typen IV.  265 ff.  —  gegen- 
seitige Zurückführbarkeit  der  Ö.-T. 
IV,  273. 

Ökonomische  Funktion  IV,  287,  290, 
299.  —  ö.  Tendenz  IV,  283,  296,  299. 
—  ö.  Vergleichsgröße  IV,  273. 

Ökonomisches  Moment  beim  Kunst- 
werk IV.  295. 

Ontologisches  Argument  I,  42. 

Operation  III,  202,  205,  207,  210f., 
219  Anm.,  258  f. 

üperationsgesetz  III,  204, 209  Anm., 
212,  259. 

Operationsgesetze,  Erhaltung  der 

III,  212,  219. 
Opfer  IV,  268. 

Ort,  gegenstandstheoretischer  der  Öko- 
nomie IV,  271  ö". 
Ordnung    III,    204 f.,    208 f.,    219,  — 

IV,  291. 
Ortsbestimmungen  II,  93,  106. 

P. 

p-Figur  vgl.  Täuschungsgrüße. 
V-s  IV,  295,  301. 
Paar  III,  166,  185. 
Parallel  III,  181ff. 
Parallelepiped  III,  182,  186 ff. 
Parallelogramm  III,  182,  189. 
Partiale  Vergleichsgröße  IV,  269. 
Pearce  V,  433. 
Personenwert  X,  557. 
Perspektivisches  Sehen  IV,  287. 
Petzold  IV,  264,  278   296. 


Phänomen  1,  357.  —  Pli.,  das  Pür- 
KiNjEsche  VII,  474,  479.  —  Ph.,  das 
PuuKiNjEsche  u.  spezifische  Helligkeit 
VII,  474,  479.  480. 

Phänoraeuale  Eigenschaf  ten  VIII,  495. 

Phantasiebetätigung  VIII,  292ff. 

Phantasiegefühl  X,  541f.,  562f.. 
570,  576.  —  Ph.  u.  Begehren  X,  542. 

PhantasiegefühleXI,580,  581,582, 
587,  588,  589 ff.,  599,  602.  606. 

Phantasiegefühlsdispositionen 
XI,  582,  585,  586,  589,  595. 

Phantasievorstellung  im  eng 
Sinne  VIII,  490,  493. 

Phantasievorstellungen  XI, 
580  ff.,  603  ff 

Phantasiewünsche  XI,  606. 

Philosophie  I,  43f.  —  Ph.  und 
Gegenstandstheorie  I,  34  ff. 

Phoronomie  I,  31,  —  III,  260. 

Physik  III,  261. 

Physikalische  Begriffe  IV,  2S9.  — 
Ph.  Minimumpriuzipien  IV,  277  f 

PlEBCE  VI,  450. 

Plus  II.  117. 

Positive  Objektive  II,  60.  64.  —  P. 
Relationen  II,  76. 

PositiverWertIV,265,269,299Anm.l. 

Positives  Objektiv  IV,  272.  —  P. 
Soseinsobjektiv  II,  63. 

Positiv  ität  II,  87.  —  P.  u.  Tatsäch- 
lichkeit II,  68. 

Postulate  IV,  292f. 

Potenz  III,  205,   208,  210,  230,  238. 

Potenzquantum  III,  230. 

Prädikation  IV,  28!. 

Präzision  der  Bedeutungen  IV,  283. 

Praktische  Disziplin  I,  21. 

Primärer  Gegenstand  II,  60,  88.  — 
gemeinsamer  P   G.  II,  60. 

Prinzip  der  Hypothesenökonomie  IV, 
287  ff,  301.  —  P.  der  Induktion  IV, 
288f.,  301.  —  P.  der  Kontinuität  IV, 
293  f.  —  P.  der  Selektion  IV,  279.  — 
P.  der  Spielräume  IV,  288. 


624 


Register. 


Probleme,  Lösung  der  IV,  286  Anm.  2. 
Produkt  III,   203 f.,   207,  210,  224 ff., 

230  ff.,  242  f.,  248. 
Produktion  II,  71  Anm.,  118,  —  III, 

160,  234,  -  V,  310,  383,  —  VIII,  488. 

—  Schwierigkeit  der  P.  VIII,  500.  — 
P.  und  Aktivität  V,  413. 

Produktiousarten  VIII,  506. 
Produktionshypothese    VI,     457. 

463.  —  Kriterien  der  P.  V,  384  f.,  — 

VI,  458,  464. 
Produktionsrelation  VIII,  488. 
Produktionsvorgang   V,   392.    — 

P.  und  Aufdringlichkeit  V,  396. 
Produktionsvorstellung   V,  381, 

—  inadäquate  P.  V,  384.  —  Prove- 
nienz der  P.  V,  382. 

Produktionstäuschung  V,  381ff., 
412,  -  VI,  452,  457,  458,  -  VIII, 
504.  —  Begrenztheit  der  P.  V,  387, 
388,  389,  —  Kriterien  der  P.  V,  386  f., 
412,  —  VI,  485.  —  Mehrdeutigkeit 
der  P.  V,  386,  388,  400.  —  P.  und 
A-G-Reaktiou  V,  387  f.,  —  P.  und 
MüLLEE-LYERSche  Figur  V,  381  ff., 
387,  389,  392,  412.  —  P.  und  Reiz 
V,  386,  387,  400,  433,  438.  —  P.  und 
Täuschungsmehrdeutigkeit  V,  388.  — 
P.  und  Übung  V,  387. 

Projektion  IV,  289. 

Pseudoexistenzl,10f.,  16  f.,  19,24,36. 

PsychischIII,200f.,221,245,258,261. 

Psychisches  II,  53,  79,  93,  —  P., 
sein  Unterschied  vom  Physischen  I,  2. 

Psychologie  I,  14ff.,  19f.,  25,  27, 
31  f.,  —  III,  258,  261  f. 

Psychologische  Analyse  VIII,  494, 
507  f.  —  P.  Voraussetzung  I,  2. 

Psychologisches  Ökonomieprinzip 
IV,  277.  —  P.  Ö.  der  Gewohnheit  IV, 
282,  289,  300  f. 

Psychologismus  I,    20ff.,    24f.,   27. 

Punkt  III,  180 f.,  190 f.,  196 f.,  215 f., 
222,  233,  237,  249  f.,  253  ff.,  256. 

Punktgegenstand  X,  555. 


Punkt  komplexe  II,  111. 
Punktmenge  I,  16. 
Punkt  reihe  III,  216,  253,  256. 
Punkttatsache  X,  555. 
PüRKiNjESches  Phänomen  VII,  474,  479. 

—  P.  Ph.  u.  spezifische  Helligkeit 
VII,  474,  479,  480. 

Quadratur  III,  224. 

Quäle  in,  136  f.,  141,  146  f.,  192,  227. 

—  Q.   der  Komplexion   III,  148,  150. 

—  Q.  der  Relation  III,  142,  150. 
Quallen,  unverträgliche  III,  141. 
Qualität II,  77,  101,  —  III,  129,  141  ff., 

147  f..  174,  191,  214,  220,  227,  231  f., 
235.  —  fiktive  Q.  III,  198  ff.,  240,  244. 

—  ideale  Q.   III,    144 ff.,  156  f.,   174. 

—  reale  Q.  III,  144 ff.,  159 f.,  162,  197. 

—  sinnliche  (oder  sensible)  Q.  III,  145. 

—  Q.  der  Gefühle  X,  529,  572.  —  Q. 
der  Objektive  II,  64  ff.  —  Q.  der  So- 
seinsobjektive II,  57. 

Qualitäten,  sensible,  deren  Idealität 

I,  9. 

Qualitätsanalyse  VIII,  508. 

Qualitative  Momente  am  Ökonomie- 
Binom  (=t)  IV,  270. 

Quanta  II,  108,  115.  —  unteilbare  Q. 

II,  105. 

Quantität  II,  100 f..  —  III,  170,  174 

Anm.,  220. 
Quantitäts reihe  X,  536. 
Quantitative  Bestimmung  der  Auf  f  äl- 

ligkeitsverhältnisse  IX,  515,  520.  —  qu. 

Momente  am  Ökonomie-Binom  IV,  266. 
Quantum  II,  100 ff.,  —  IH,  124,  170 ff., 

175,  184 f.,  188,  191  f.,  200 ff.,  212,  235. 

237.  239,  242,  244 f.,  247ff.,  251  ff.,  258. 

—  determiniertes  Q.  III,  175,  252  f., 
257.  —  fiktives  Q.  III,  175,  199,  214  ff., 
245  f.,  248.  —  imaginäres  Q.  III,  230. 

—  räumliches  Q.  III,  125.  —  reines  Q. 

III,  175,  251  ff.,  257  ff.  —  relatives  Q. 
III,  215,  220,  245.  —  teilbares  Q.  III, 


Register. 


625 


175ff.,   1811,   184 f.,   188,   193 f.,  202, 
214 ff.,   217 ff.,   220ff.,  231,  247,    260 

—  unteilbares  Q.   III,   190  ff.,  228  ff., 
231  ff.,  247,  260. 

Quautumsreihe    III,    192f.,    19off. 

199 f.,  235,  237.  241,  251  ff. 
Quasiseiu  I,  11. 
Qiiasitransszendenz  I,  11. 
Quid  III,  136. 

R. 

Radizieren  III,  208. 

Raum  III,  181  f.,  188 f.,  222,  225 f.,  250, 
253  ff.,  257,  260. 

Raumerfassen  V,  394. 

Raumgestalten  II,  110. 

Raumquantum  III,  125,  195,  222, 
225 f.,  257,  260. 

Reaktion,  A-  und  G-  V,  307f.,  310, 
313,  315,  376,  —  VI,  452.  —  Spon- 
tane R.  V,  404.  —  R.,  A-  u.  G-  und 
Produktionstäuschung  V,  387  f.  —  R., 
A-  u.  G-  u.  ZöLLNEBSche  Täuschung 
V,  379. 

Reaktionszahl  IX,  515,  518. 

Real  I,  44,  —  II,  94,  —  III,  129,  156, 
158  ff.,  197,  200,  233,  234  Anm.,  241, 
242  Anm.,  261. 

Realanalyse  III,   161,  —  Vm,  494. 

Reale  Gegenstände  II,  81,  83. 

Realisierungstendenz  XI,  604, 
605,  606. 

Realismus,  naiver  IV,  288. 

Realität  der  Empfindungsgegenstände 
II.  94. 

Real  komplex  III,  156,  159  ff.,  162  f., 

—  VIII,  497. 
Realkomplexion    III,    156,    159 ff., 

162 f.,  —  V,  394. 
Realrelate  von  Inhalten  VIII,  496. 
Realrelatiou  III,   162 f.,  —  V,  393, 

394,  —  VIII,  494.  -  Inhalte  in  R.  V, 

395. 
Realsynthese  III,  161f. 
Rechteck  III,  183 ff.,  223 f. 
Meinong,  Untersuchungen. 


Recht  winkligkeit  III,  189, 240  Anm. 

Reduktion  von  Wirtschaftsükonomie 
auf  Sparükonomie  IV,  273. 

Rehmke  X,  553  f. 

Reihe  III,  190 f.,  196 f.,  199 f.,  204 f., 
252  ff.  —  R.  der  Zahlen  III,  213  ff. 

Rein  III,  132,  178 f.,  237. 

Reine  Logik  I,  20 f.,  23.  —  R.  Mög- 
lichkeit IV,  269.  —  R.  Zahl  vgl.  Zahl. 

Reiner  Gegenstand  I,  12.  —  AuCer- 
sein  des  R.  G.  I,  9  ff. 

Reinlichkeitsstreben  IV,  298f. 
Anm.  1. 

Reiz  und  Produktionstäuschung  V, 
385  f.,  400. 

Reizveränderung  und  Sinnestäu- 
schung V,  385. 

Rektifikation  III,  222. 

Relat  II,  72 f.,  99,  —  III,  142 ff.,  150, 

—  IV,  271  ff.,  —  VIII.  483.  —  nicht 
vergegenständlichter  R.  II,  73.  —  Art 
und  Fall  des  R.  II,  87. 

Relat e,  Auffälligkeit  der  Vni,  49Sf. 

Relation  l,  43f.,  —  II,  72,  74,  99,  — 
III,  142  f.,  150  ff.,  195  ff.,  199,  235  f., 
244,  —  IV,  271  if.  —  fiktive  R.  IH, 
151,  153,  163,  235.  —  positive  u.  nega- 
tive R.  II,  76.  —  R.  u.  Relat  II,  76. 

—  R.  u.  Sosein  II,  75.  —  R.  zwischen 
Superius  u.  Inferius  II,  71. 

Relationsobjektiv  III,  142,  150, 
152. 

Relative  Aufmerksamkeit  IX,  510. 

Relativität  der  Ökonomie  IV,  266, 
273,  275. 

Relativsätze  II,  61. 

Relative  Bestimmung  (lU)  vgl.  Be- 
stimmung. 

Relativsatz  VIII,  501. 

Relevante  Eigenschaften  der  Objek- 
tive II,  64  ff. 

Reproduzieren  VIII,  490. 

Reziproker  Wert  III,  243f. 

Rhythmische  Melodie  11,  1 10. 

Richter  V,  374. 

40 


626 


Register. 


Richtung  II,  102,  107,  110 ff.,  —  III, 
172,  181,  190,  200,  215,  219,  236,  240 
Äum.,  244,  256,  —  X,  546,  548.  — 
R.  als  Merkmal  von  Aktivität  X,  546. 
—  R.  des  Urteiles,  X,  549.  —  R.  des 
Vorstellens  X,  549. 

Robertson  V,  433. 

Ruh  e  X,  556.  —  R.  u.  Bewegung  X,  556. 

Sättigung  X,  529.  —  S.  des  Ge- 
fallens X,  531,  542.  —  S.  des  Ge- 
fühls X,  541,  542.  —  S.  u.  Intensität 
des  Gefallens  X,  542.  —  S.  u.  Inten- 
sität des  Gefühls  X,  542.  —  S.  u. 
spezifische  Helligkeit  VII,  474  f. 

s. 

Sättigungsarten  X,  531ff. 

Sättigungsgrade  des  Gefallens  X, 
533  ff.,  560,  575. 

Sättigungsverschiedenheit  X, 
529. 

Satt  u.  unsatt  X,  531  ff.,  574. 

Satz  I,  21  f.  —  S.  vom  ausgeschlossenen 
Dritten  II,  60. 

Satzbedeutung  I,  15,  33. 

Saxinger  VIII,  488. 

Schachbrettfigur,  die  verschobene 
VI,  4-19  ff.  —  S.  u.  Irradiation  VI, 
450  ff.,  471.  —  S.  u.  Vorstellungs- 
produktion VI,  449,  450,  457  ff.,  471, 
472.  —  S.  u.  ZöLLNERSche  Figur  VI, 
465,  472,  —  vgl.  auch  Täuschungs- 
größe. 

Scheingefühl  X,  562. 

Schenkeldrehung,  scheinbare  beim 
Winkelerfassen  V,  420.  —  S.  und 
Lokalisation  desWinkelscheitelpunktes 
V,  419. 

Schleicher  IV,  283. 

Schluß,  hypothetischer  III,  134 f. 

Schnelligkeit  von  Änderungen  IV, 
284  Anm.  1. 

Schönheit  IX,  510. 

ScHOUTE  V,  439. 

Schumann  V,  332,  404,  415. 


Schwankungen    der    Gedächtnis- 

\i  disposition  VIII,  493. 

Schwarz  X,  529,  547,  553  f.,  560,  565. 
568. 

Schwierigkeit  der  Produktion  VIII, 
500. 

Schwelle  zwischen  Sein  und  Nicht- 
Sein  TV,  279. 

Sehen,  perspektivisches  IV,  287. 

Seiendes  u.  Seinsollendes  X,  547 f. 

Sein  I,  6ft-.,  9 ff.,  13,  18,  25,  39 f.,  — 
II,  54,  64,  —  III,  126  f.,  136,  173  f., 
198,  200,  206  f.,  210,  215,  219,  261.  — 
Quasi-Sein  I,  11.  —  S.  zufälliger 
Gegenstände  II,  92.  —  S.  als  Be- 
stimmung III,  132  f.  —  S.  der  Gegen- 
stände II,  83.  —  S.  der  Verbindungs- 
gegenstände II,  119.  —  Analogie 
zwischen  S.  und  Soseiu  III,  133.  — 
Stufen  des  S.  I,  11.  —  Unabhängig- 
keit des  Soseins  vom  S.  I,  8,  13. 

S  e  i  n  s  0  b j  e k  t i  V  I,  8  ff.,  13.  —  fiktives 
S.  III,  138.  —  implizites  S.  III,  138. 

—  Nicht-S.  I,  10  ff. 
Seinsobjektive  II,  55. 
Seins tatsachen  II,  67. 
Sekundäre  Gegenstände  II,   60,   88. 

—  s.    Vergegenständlichung   II,   60, 
77,  185. 

Selbständigkeit,  äußere  VIII,  482. 

—  innere  S.  VIII,  482. 
Selektion  IV,  279f.,  300. 
Seminar,    philosophisches    IV,    271 

Anm.  1,  290. 

Sensible  Qualitäten,  deren  Idealität 
1,9. 

Sensu  diviso  IV,  270  f. 

Setzung  eines  Übels  IV,  268. 

Sicherheit  des  Urteils  IX,  514. 

Sigwart  III,   166. 

Simplizitätsprinzip  IV,  274. 

Sinnesvorstellung  V,  381f.  — 
Inadäquatheit  der  S.  V,  385.  —  Pro- 
venienz der  S.  V,  382. 

Sinnestäuschung  V,  381ff.,  387.— 


Register. 


627 


Eindentigkeit  der  S.  V,  H85.  —  Kri- 
terien der  S.  V,  384  f.  —  Unbegrenzt- 
heit  der  S.  V,  385.  —  S.  ii.  Reiz- 
veränderung V,  385.  —  S.  u.  Übxuig 
V,  386,  388. 

Siuneswalirnelim\;uff  II,  91. 

Siunliclie  Gefühle  X,  bii. 

So  sein  I,  7  ff.,  13,  25,  39  f.,  —  II,  58, 
64,   -   III,   126  f.,   135  f.,   192,   197 f., 

200,  212,  214,  220,  245  Anm.,  247, 
259  ff.,  261.  —  einfaches  u.  kompli- 
ziertes S.  III,  128,  172.  —  unmög- 
liches S.  III,  128,  172.  —  Avider- 
sprechendes  S  III,  128,  141,  146,  173. 
—  Unabhängigkeit  des   S.   vom  Sein 

I,  8,  13,  —  III,  126  f.  —  S.  der  So- 
seinobjektive II,  77,  —  S.  der  Ob- 
jektive II,  69.  —  S.  u.  Relation  II, 
75. 

Soseinsobjektiv,  explizites  III, 
128 ff,  148 f.,  157.  -  fiktives  S.  III, 
138,  157. 

So  sein  Subjektive  II,  55,  57,  77.  — 
negative  S.  II,  69,  75.  —  reine  S.  II, 
60.   —    sekundär  vergegenständlichte 

II,  60,  85. 

Sosein  tat  Sachen  II,  07. 
Spannung  I,  31,  —  III,   160 ff.,    194- 

201,  234,  242  Anm.,  245,  248. 
Sparen   an  A.  IV,   277.  —  S.  an  Be- 

wuGtseinsintensität  IV,  282.  —  S.  an 
Erfahrung  IV,  277.  —  außerökono- 
misches S.  IV,  268.  —  S.  überhaupt 
IV,  277. 

Spar  Ökonomie  IV,  267,  277,  286. 

Spezialerkenutnisse  IV,  286. 

Spezielle  Gegenstandstheorie  I,  28 ff., 
30,  42,  45. 

Spezifische  Dunkelheit  der  Farben 
VII,  475  ff.  —  S.  Helligkeit  der 
Farben  VII,  473  ff. 

Spezifischer  Wert  IV,  292. 

Spielräume,  Prinzip  der  IV,  288. 

Spielraum  III,  246 f. 

Sprache  IV,  283. 


Sprachlicher  Ausdruck  IV,  291. 

Sprachwissenschaft  I,  15,  32,  43. 

Stärke  des  Gefühls  X,  529,  531.  - 
S.  der  Wertgefühle  X,  586. 

Steigerung  der  ökonomischen  Funk- 
tion (L)  von  Symbolen  IV,  290. 

Steigerungsfähigkeit  III,  178. 

Steinthal  IV,  264,  280,  289. 

Stetig    III,     191,    196 f.,    200,    215 f., 

252,  256. 

Stetigkeit  der  Zustände  X,  551,  553. 
Stilling  V,  442,  446.  —  S.s.  Erklärung 

der  MüLLER-LvERSchen  Täuschung  V, 

447.  —  Widerlegung  der  Erklärung 

S.S  V,  447  f. 
Streben  nach  Einheit  IV,  299  Anm.  1. 

—  S.  nach  Zusammenfassung  IV,  281. 
Strecke  III,  169,  184,  226,  237,  249, 

253,  255  f. 
Strecken  II,  105,  111. 
Streckengegenstand    X,    555.   — 

S.  u.  Punktgegenstand  X,  555. 

Streckentatsache  u.  Punkttatsache 
X,  555. 

Stumpf  X,  547,  559,  564. 

Stufe  III,  205,  209,  214. 

Stufen  des  Seins  I,  11. 

Subjekt,  II,  59. 

Subjektivität  der  sensiblen  Quali- 
täten I,  9. 

Substrat,  anschauliches  XI,  597,  598. 

Subsumierende  Apperzeption  IV. 
280. 

Subsumption  unter  ein  Symbol  IV. 
289. 

Subtraktion  III,  206f.,  210. 

Suggestion  XI.  600.  601. 

Summe  III,  202,  207,  230,  238. 

S  u  m  m  e  n  quantum  III,  230,  242. 

Supe  riora  II,  71. 

Superius  I,  44,  -  III,  143,  167,  - 
V.  310,  —  VIII.  484. 

Superiusgestalten  II,  113. 

Superiusinhalt  V.  310. 

S  u  p  e  r  i  u  s  V  0  r  s  t  e  1 1  u  n  g ,  assoziierte 
40* 


628 


Register. 


VIII,  490.  —  S.  als  eigene  Vorstellung 

VIII,  504. 
Surrogat  ni,  229,  245. 
Suspendierte  Urteile  bei  AuffäUig- 

keitskonkurrenz  IX,  515. 
Symbole,   Ökonomie   der  S.  IV,   290. 

—  ökonomische  Funktion  der  S.  IV, 
290,  299.  —  Subsumption  unter  S. 
IV,  289. 

Symbolik  II,  87.  —  zusammenfassende 
S.  IV,  281. 

Synthese,  chemische  III,  161.  — 
psychische  S.  m,  155,  161,  205  f. 

Synthetische  Funktion  der  An- 
nahme IV,  281.  —  S.  F.  des  Denkens 
I,  7.  —  S.  F.  des  Urteils  IV,  281 
Anm.  2. 

System  IV,  299 f.  —  S.  der  Wissen- 
schaften I,  34. 

T. 

T  IV,  270.  -  T  (=  H,  L)  IV,  266  f.  — 

T  (=H',  L')  IV,  266  ff. 
Tätigkeitsgefühl  XI,  594. 
Täuschungen,   geom.-optische  VIII, 

503. 
Täuschungsgröße     achromatischer 

helligkeitsgleicher  a-Figuren  V,  362  f., 

406.  —  T.  achromatischer  helligkeits- 
verschiedener a-Figuren  V,  3G6f.,  369, 

407.  —  T.  achromatischer  helligkeits- 
gleicher ä-Figuren  V,  3661,  408,  411. 

—  T.  achromatischer  helligkeits- 
gleicher e-Figuren  V,  318  f.,  340,  404. 

—  T.  achromatischer  helligkeitsver- 
schiedener e-Figuren  V,  319 f.,  404. 
— T.  achromatischer  helligkeitsgleicher 
p-Figuren  V,  354  ff.,  410.  —  T.  achro- 
matischer helligkeitsverschiedeuer  p- 
Figuren  V,  554  ff.,  410.  —  T.  achro- 
matischer helligkeitsgleicher  S-Fi- 
guren  VI,  451  ff.  —  T.  achromatischer 
helligkeitsverschiedener  S-Figuren  IV, 
451  ff.  —  T.  achromatischer  helligkeits- 
gleicher S-Z-Figuren    VI,   405 ff.  — 


T.  achromatischer  helligkeitsgleicher 
Z-Figureu  VI,  465 ff.  —  T.  bichro- 
matischer helligkeitsgleicher  a-Figuren 
V,  366  ff,  369,  370,  408  f.  —  T.  bichro- 
matischer helligkeitsverschiedener  a- 
Figuren  V,  368  ff.,  407.  —  T.  bichro- 
niatischer  helligkeitsgleicher  e-Fig. 
V,  334 ff.,  340f.,  405f.  —  T.  bichro- 
matischer helligkeitsverschiedener  e- 
Figuren  V,  334  ff.,  405.  —  T.  bichro- 
matischer helligkeitsverschiedener  p- 
Figuren  V,  359  fl,  410.  —  T.  bichro- 
matischer helligkeitsverschiedener  S- 
Figuren  VI,  461  ff.  —  T.  bichroma- 
tischer helligkeitsverschiedener  S-Z- 
Figuren  VI,  465  ff.  —  T.  bichroma- 
tischer helligkeitsverschiedener  Z- 
Figuren  VI,  465  ff.  —  T.  monochroma- 
tischer helligkeitsgleicher  a-Figuren 
V,364ff.,  407.  —T.  monochromatischer 
helligkeitsgleicher  ä-Figuren  V,  366  ff., 
409.  —  T.  monochromatischer  hellig- 
keitsgleicher e-Figuren  V,  334  ff., 
340  f.,  405.  —  T.  monochromatischer 
helligkeitsgleicher  e-Figuren  V,  346  ff., 
406.  —  T.  monochromatischer  hellig- 
keitsgleicher p-Figuren  V,  353  ff'.,  410« 

—  T.  monochromatischer  helligkeits- 
gleicher S-Figureu  VI,  455 ff.  —  T. 
monochromatischer  helligkeitsgleicher 
S-Z-Figuren  VI,  465  ff.  —  T.  monochro- 
matischer Z-Figuren  VI,  465  ff.  —  T. 
der  a-Figur  u.  ihr  Verhältnis  zur  e- 
Figur  V,  388  f.  —  T.  der  ä-Figur  u. 
ihr  Verhältnis  zur  e-Figur  V,  422.  — 
T.  der  e-Figur  u.  ihr  Verhältnis  zur 
e-Figur  V,  345  ff,  406.  —  T.  der  e- 
Figur  u.  ihr  Verhältnis  zur  a-Figur 
V,  338  f.  —  T.  der  e-Figur  u.  ihr  Ver- 
hältnis zur  ä-Figur  V,  422.  —  T.  der 
e-Figur  u.  ihr  Verhältnis  zur  e-Figur 
V,  345 ff.,  396,  406.  —  T.  der  p-Figiir 
und  Verhältnis  zur  e-Figur  V.   361  f. 

—  T.  der  S-Figur  u.  ihr  Verhältnis 
zur  S-Z-Figur  VI,  465 ff   —  T.  der 


Register. 


629 


S-Z-Figur  u.  ihr  Verhältnis  zur  Z- 
Figur  VI,  4(J5ff.  —  T.  an  Kindern 
V,  429  ff.,  435.  —  T.  u.  A-G-  u.  S- 
ßeaktion  V,  319,  321,  336,  403,  404, 
406,  407,  409,  424,  —  VI,  458,  459, 
463.  —  T.  u.  Farbenaufdringlichkeit 

V,  319,  347,  395  ff.,  397,  398,  412,  — 

VI,  463,  464.  —  T.  u.  Fixation  V, 
435,  437.  —  T.  u.  Gestaltaufdring- 
lichkeit V,  333  ff.  —  T.  und  Gestalt- 
mehrdeutigkeit V,  354  f.,  373,  385, 
388.  —  T.  u.  Übung  V,  321  ff.  424  f., 

—  VI,  459  ff.  —  T.  u.  subjektive 
Unzusammeugehörigkeit  V,  397,  399, 
410,  402. 

Täusschungsgebiet  V,  314 f.,  — 
VI,  461  ff. 

Täuschungszweideutigkeit  u. 
Gestaltzweideutigkeit  V,  388.  —  T.  u. 
Produktionstäuschung  V,  388. 

Tastempfindungen  II,  93. 

Tatsache  I,  25,  —  III.  246. 

Tatsachen  II,  56,  59,  66.  —  Not- 
wendig verbundene  T.  II,  71.  —  öko- 
nomische T.  IV,  273.  —  unverträg- 
liche T.  n,  71.  —  zufällig  verbundene 
T.  II,  71.  —  T.  fundamentaler  Be- 
deutung IV,  281.  —  T.  intellektuelle 
gegensätzliche  IV,  274  Anm.  2. 

Tatsächlich  III,  140,  246. 

Tatsächlichkeit  n,  59,  67,  68f. 

Tatsächliche  Gegenstände  II,  68, 
78.  —  T.  Maxima  II,  103. 

Taubgeborene  VIII,  492. 

Tauglichkeit  IV,  291. 

Theoretisch  III,  163,  261.  —  Th.- 
praktische  Disziplin  I,  21. 

Theoretische  Disziplin  I,  21.  —  Tb. 
Wissenschaft  I,  23. 

Theorie  IV,  287.  —  Th.  der  Messungs- 
gegenstände III,  123.  — Th.  des  Messens 
III,  122  f. 

Thetische  Funktion  des  Denkens  I,  7. 

ThiSry  V,  417,  422,  425,  436,  437,  440. 

—  Th.s.  Erklärung  der  Müller-Lyer- 


schen  Figur  V,  440.  —  Widerlegung 

der  Erklärung  Th.s.  V,  441  f. 
Teil  I,  10,  12,  —  III,  169,  175 f.,  180 ff., 

180,  206  f,  230. 
Teilbarkeit  II,  105. 
Teilen  III.  207. 
Teilbar  III,  169,  175 f.,  247 f. 
Teilbare  Quauta  (III)  vgl.  Quantum. 
Teilübereinstimmung  II,  98. 
TelIatnik  V,  432. 

T  e  m  p  e  r  a  t  u  r  e  m  p  f  i  n  d  u  u  g  e  n  II,  93. 
Temperierte  Intervalle  II,  111. 
Tendenz  IV,  296,  278,  296,  299.  — 

holistische  T.  IV,  298  f.  —  ökonomische 

T.  IV,  283,  296.  -  oligistische  T. 

IV,  298  f. 
Tiefe  III,  188. 
Töne  II,  93. 

T  0  n  g  e  d  ä  c  h  t  n  i  s ,  absolutes  VIII,  491, 
Tonkontiuuum  II,  110. 
Tonmelodie  II,  HO. 
Tonverschmelzung  II,  93  Anm. 
Träger  III,  142,  180,  194,  —  IV,  272 f. 
Trans ponierbarkeit  II,  107. 
Transposition  VIII,  498. 
Transszendenz  III,  145.  —  Quasi-T. 

I,  11. 
Treppenfigur  V,  441. 
Tripel  III,  166,  187 f. 
Typen     bei    AuffäUigkeitskonkurrenz 

IX,  526 f.,  516.  —  T.  der  Gegenstände 

IV,  289  Anm.  1.  —  T.  der  Ökonomie 

IV,  265  ff.,  273. 

ü. 

Übereinstimmung,  fehlende  IV, 
267.  —  Ü.  von  T  mit  T'  hinsichtlich 
eines  Gliedes  IV,  266  f. 

Übergang  von  Hell-  zu  Dunkeladap- 
tation VII,  474. 

ÜUERHOUST  V,  374. 

Überraschung  X,  565. 
Übersichtlichkeitsstreben      IV, 

298  f.  Anm.  1. 
Überweg  I,  23. 


630 


Reffister. 


Ubuug  IV,  282 f.,  289,  —  VIII,  504, 

—  X,  555.  —  A-Ü.  V,  310,  370,  403, 

—  VI,  460f.,  461,  463.  —  G-Ü.  V, 
310,  370,  403,  -  VI,  4591,  461,463, 
Die  doppelseitige  Ü.  V.  321  ff.  —  Ü. 
als  Kennzeicbeii  für  Aktivität  X,  556. 

—  Ü.  im  Produzieren  VIII,  505.  — 
Ü.  u.  Aktivität  V,  320,  404.  -  Ü.  u. 
Sinnestäuschung  V,  386,  388.  —  Ü. 
u.  Täuschungsgröße  V,  404. 

Übungsgesetz  (Cornelius)  IV,  289. 
Umkehrung,  perspektivische  V,  441. 
Umkehrbare  Notw^eudigkeit  II,  84. 

—  U.  Relation  IV,  272  f.  Anra.  2. 
Unabhäuig  vertauschbare  Komplexe 

(III)  vgl.  Komplex. 
Unabhängigkeit    der    Bestimmung 
vom  Sein  III,  133.  —  U.  der  Produk- 
tionstäuschung vom  Reize  V,  433,  438, 

—  VI,  460.  —  U.  des  Gegenstandes 
vom  Sein  II,  54.  —  U.  des  Soseins 
vom  Sein  I,  8,  13,  —  III.  126. 

Unähnlichkeit  II,  95. 

Unbegrenztheit  d.  Sinnestäuschung 
V,  385. 

Unbestimmbar  III,  204. 

Unbestimmbare  Inferiora  III,  169, 
204,  221  ff.,  253. 

Und  II,  116. 

Ungleichheit  II,  95. 

Universale  III,  166  Anm. 

Universal  Wissenschaft  I,.4,  28, 
39,  42,  44. 

Unlust,  interessierte  X,  566 f.  —  U. 
uninteressierte  X,  566  f.  —  U.  in  Be- 
ziehung zu  Ökonomie  IV,  295. 

Unmöglich  I,  8. 

Unmögliche  Gegenstände  II,  82,  85, 
102.  —  U.  Maxima  II,  103. 

Unmöglicher  Gegenstand  III,  128, 
130,  134  f.,  140,  206  ff. 

Unmögliches  Objektiv  III,  133 f.  — 
U.  Sein  III,  128,  172. 

Unnötiges,  Elimination  des  U.  IV,  282. 

UnÖkonomie  IV,  283,  295. 


Unselbständige  Vorstellungen  VIII, 
481  ff. 

Unselbständigkeit  der  Gefühle  and 
Begehrungen  I,  If. 

Unsicherheit,  Mali  der  X,  515 ff., 
516. 

Unteilbar  III,  190ff. 

Unteilbare  Quanta  II,  105.  vgl.  auch 
Quantum. 

Unterricht,  seine  ökonomische  Funk- 
tion (=  L)  IV,  299. 

Unterscheidung  des  Sukzessiven 
IV,  282.  —  U.  zwichen  A-  und  G- 
Reaktion  V,  307,  310,  315  ff.,  411. 

Unterschied  II,  95. 

Unverträgliche  Objektive  II,  87. 

Unverträglichkeit  von  mehr  als 
zwei  Objektiven  II,  89. 

Unvollständige  Vergegenständ- 
lichung II,  59. 

UnWahrscheinlichkeit  IV,  286 
Anm.  2. 

Unwert  X,  562,  574. 

Unwerte,  ausgesprochene  als  L  IV, 
269.  —  U.  des  H  IV,  268. 

Unwerthalten  X,  574 f. 

Unzusammengehörigkeit,  sub- 
jektive V,  373.  —  U.  und  Farben- 
verschiedenheit V,  399.  —  U.  und 
Gestalterfassen  V,  397.  —  U.  und 
Täuschungsgrüße  V,397,  399,  401,  402. 

Ursache  der  Empfindung  VIII,  481  ff. 

Urteil  I,  7,  9,  18 f.,  22,  —  II,  62,  65, 

—  III,  157,  —  VIII,  500  Anm.  — 
affirmatives  U.  II,  64.  —  hypotheti- 
sches U.  III,  133. 

Urteile  VIII,  496.  —  einfachere  U 
IV,  284.  —  induktive  U.  IV,  292.  — 
vermittelte  U.  IV,  284  f.  —  syntheti- 
sche Funktion  der  U.  IV,  281.  —  U. 
als  H  IV,  2801 

Urteilsakt  IV,  281. 

Urteilsgefühl  X,  528,   564ff,   566, 

—  XI,  583,  5S4,  586,  587,  588,  593, 
594. 


Register. 


631 


U  r  t  e  i  1  s  g  e  f  U  h  1  s  d  i  s  p  0  s  i  t  i  0  u  e  u  XI, 
585,  586. 

U  r  t  e  i  1  s  t  ä  u  s  c  li  u  u  g  V,  SSO  ft'.  - 
mittelbare  U.  V,  391  f.,  402. 

U  r  t  e  i  1  s  w  i  r  k  u  11  g  auf  die  Täuschungs- 
größe V,  404. 

V. 

Veränderlichkeit,  scheinbare  von 
Distanzen  V,  305. 

Veränderung!,  16,-111,181,  190  f., 
194,  197 f.,  20J,  215,  219,  232 ff., 
236  ff.,  244 f.,  255 f.,  —  X,  553. 

Verängerungsgesetz  X,  553. 

Veräuderungs strecke   III,   236ff. 

Verbindung,    chemische   II,   92,    — 

III,  159  ff.  —  notwendige  II,  84. 

V  e  r  b  i  n  d  u  n  g  s  g  e  g  e  u  s  t  ä  n  d  e  II, 
116  f. 

Verbiudungsquanta  II,  119. 

Verbrauch  von  Kraft  als  H  IV,  279. 

Verdunklung  durch  Sättiguugser- 
höhung  VII,  475,  476.  —  V.  durch 
Farbeninduktion  VIT,  475,  476. 

Vergegenständlichung  II,  57,  59, 
77.  —  doppelte  V.  II,  59,  84.  —  ge- 
meinsame V.  von  Objektivkomplexen 
II,  60.  —  primäre  und  sekundäre  V. 
II,  60.  —  tatsächliche  V.  II,  59.  — 
vollständige  V.  II,  59. 

Vergeudung  IV,  267.  —  V.  von  Kraft 

IV,  280. 
Vergleichbarkeit  von  Quantis  III, 

252  ff. 

Vergleichen  VIII,  505.  — V.  in  der 
Erinnerung  VIII,  489. 

Vergleichsgröße,  ökonomische  IV, 
269  f.,  273.  —  partiale  V.  IV,  269. 
—  totale  V.  IV,  269.  —  V.  als  Maximal- 
größe IV,  270.  —  V.  als  Normalgröße 
IV,  270.  —  V.  der  Möglichkeit  IV, 
269,  277.  —  V.  der  Wirklichkeit  IV, 
269,  276  f. 

Vergleichungsrelationen  II,  95. 

Verhalten,   das   zweifache   V,  370 ff. 


V  e  r  h  ä  1 1  n  i  .s  I II,  220,  228,  233,  239  ff., 
240  Anm.,  245,  251,  255. 

Vermehren  und  Vermindern  III,  171. 

Vermehrung  der  gegenständlichen 
Charakteristik  IV,  2S9  Anm.  1. 

Vermeidung  von  Unlust  IV,  298. 

Verneinen,  psychologische  Sachlage 
beim  II,  65. 

Verschieden,  formal-  v.  III,  136.  — 
wesentlich  v.  III,  137,  153,  164. 

Verschiedenheit  I,  5,  37,  —  11,58, 
75,  76,  95,  97,  —  III,  146,  152  f., 
192,  196  ff,  199,  215,  227  ff,  236  ff., 
242  f.,  248  ff.,  253  ff,  —  IX,  511.  — 
V.  der  Vorstellungen  VIII,  487.  — 
V.  der  Werthaltungeu  X,  536  f.  — 
V.  des  Gefühls  X,  543.  -  V.  von 
Etwas  III,  240,  244. 

Verschiedenheitsgegenstände 
II,  90,  95,   110. 

Verschiedenheitsgleichheit  III, 
248  ff. 

Verschiede  nheitskomplexll,  115. 

Verschiedenheitskontinuum  II, 
115. 

Verschwendung  IV,  267. 

Vertäu  seh  bar  (III)  vgl.  Komplexe. 

V  e  r  t  a  u  s  c  h  b  a  r  k  e  i  t  der  Inferiora  II, 
97. 

Verträgliche   Objektive  II,   63,  87. 
Verwechsluugschance  II,  97. 
Verwunderung  X,  565. 
Vielfaches  UI,  203,  207,  232. 
Vielheit  III,  163. 
Volkelt  IV,  264,  300. 
Volkmann  V,  440. 
Vollständige  Vergegeiiständlichung 

II,  59. 
Vollständigkeitsstreben  IV,  298  f. 

Anm.  1. 
Volumen  III,  195,  235,  241  f. 
Voraussetzung,  psychologische  I,  2. 
Vorgang   III,    160 f.,    194,    197,   200, 

232  f.,  258,   —   X,  555  f.   —   fiktiver 

V,  III,  161  f.,  232,  241,  245. 


632 


Register. 


Vorgegebene   Gegenstände   II,    59. 

—  V.  Objektive  II,  61. 
Vorstellen,  anschauliches  VIII,  501  f. 

—  inadäquates  V.  V,  383,  384,  387, 
392  ff.,  420.  —  indirektes  V.  VIII, 
500  ff.  -  willkürliches  V.  VIH,  502. 

—  V.  im  Denken  IV,  275. 
Vorstellung  III,  161  f.,  258.  —  an- 
schauliche V.  III,  155,  161,  174.  — 
V.  als  H  IV,  267  f.,  280  f.  —  V.  als 
L  IV,  267  f.  —  V.  des  Superius  VIII, 
484.  —  V.  der  Verschiedenheit  VIII, 
487,  489,  494.  —  V.  des  Winkels  V, 
410.  —  V.  eines  fundierten  Gegen- 
standes VIII,  484,  487. 

Vorstellungen,  inadäquate  VIII, 
503  ff.,   —  produzierte  V.  VIII,  488. 

—  unselbständige  V.  VIII,  481  ff.  — 
Aufbau  der  V.  VIII,  486. 

VorstellungsflüchtigkeitV,  395. 

Vorstellungsgegenstand  V,  309. 

Vorstell  ungsinadäquatheit  V, 
383,  384,  387,  392 ff.,  vgl.  auch  In- 
däquatheit.  —  Kriterien  der  V.-I. 
V,  384  f.  —   Ursache  der  V.  V,  412. 

Vorstellungsproduktion  II,  71 
Anm.,  118,  —  VIII,  481  ff. 

Vorurteil  zugunsten  des  Wirklichen 
I,  3  ff.,  13,  24  f. 

Vorziehen  III,  239f.,  244,  —  X, 
537.  —  analytisches  V.  X,  537.  — 
sittliches  V.  X,  527.  —  synthetisches 
X,  537.  -  wertbildendes  V.  X,  539  f. 

—  V.  als  unzurückführhare  Tatsache 
X,  539.  —  V.  und  Werthalten  X,  574. 


W  -=  Wl 


w. 

Wl 
Wh  IV,  297.  -W=^^-^ 


IV,  297.  -  W  =  W(L-L')  +  W,H'-H) 

IV,  298. 
Wii  IV,  297  f. 
Wl  IV,  297  f. 

W(H,  L)==WH-f  Wl  IV,  297. 
Wahl  X,  538 f.,  573. 


Wahr,  innerlich  I,  18. 

Wahrheit  I,  6,  18.  —  Beziehung  der 
Ökonomie  zur  W.  IV,  286.  —  Garantie 
der  W.  IV,  285. 

Wahrnehmen  VIII,  489. 

Wahrnehmungsvorstellung  \1II. 
484  ff. 

Wahrscheinlichkeit  II,  80,  —  III, 
201,  245  ff.,  260.  —  Zusamengesetzte 
W.  IV,  288.  —  Garantie  der  W.  IV, 
285.  —  W.  künftiger  Erlebnisse  IV, 
289  f.  —  W.  einer  Hypothese  IV,  286  f. 
Anm  3. 

Wahrscheinlichkeitslehre  I,  30. 

Wahrscheinlichkeitstheorie  II, 
92  Anm. 

Wamser  V,  374. 

Was  III,    136. 

Wassein  III,  135f..  138f. 

Wasser  III,  160. 

Weg  III,  215,  219,  232. 

Wert  III,  201,  245,  —  IX,  510,  —  X, 
562,  574.  —  emotionales  Ökonomie- 
prinzip   des   W.    IV,    298,    302.    — 

—  ethischer  Wert  IV,  269.  —  fin- 
gibler  W.  IV,  269,  283,  299.  —  ge- 
staltbildender W.  der  Farben  V,  408, 

—  positiver  W.  IV,  265,  269,  299 
Anm.  1.  —  Spezifischer  W.  IV,   292. 

—  subjektiver  W.   IV,   265  Anm.  1. 

—  W.  der  Ökonomie  (=Wo)  IV,  297  f. 

—  W.  des  Ökouomiebinoms  (=W(H,  d) 
IV,  297  f.  —  W.  u.  Unwert  X,  562, 
576.  —  W.  von  Größen  IV,  297  f. 

Werte,  gleichartige  X,  557.  —  un- 
gleichartige W.  X,  557. 

Werten  X,  542.  —  höheres  und  ge- 
ringeres W.  X,  540. 

Wertgehalten  werden  X,  530. 

Wertgesetz,  allgemeines  IV,  265 
Anm.  1. 

Werthalten  X,  529f.,  542,  56^  — 
W.  als  Lust  X,  530.  —  W.  gerichtet 
auf  Lust  X,  530.  —  W.  und  Vor- 
ziehen X,  575. 


Register. 


633 


Werthalt\ing-  X.  530,  575f.  —  W. 
als  Dauerndes  X,  562.  —  W.  und 
Wertuug  X,  575. 

Wertgefühl  ii.  Urteilsgefühl  X.  566. 

Wertlinie  X.  536,  539 

Wertobjekt  X,  529f. 

Werttheorie,  volnntaristische  X, 
o26ff.,  576. 

Werttatbestände,  realisierbare  IV. 
298,  302. 

Wertung  X,  574.  -  W.  u.  Wert- 
haltung X,  541. 

Wertvoll  X,  574. 

Wert  Vorzug  der  einfacheren  Formu- 
lierung IV.  292. 

^^■ertwidrig  X,  574. 

Wettstreit  der  e-  und  a-Gestaltvor- 
stellung  V,  373. 

Widersprechende  Eigenschaften  II. 
63. 

Wie  III,  136. 

Wiedererkennen  IV,  280f. 

Wiesein  III.  135f..  138f..  141. 

Wille  VIII,  497. 

Willensakt,  einfacher  X,  573. 

Willkürliche  Aufmerksamkeit  VIII, 
500. 

Willkürliches  Vorstellen  VIII,  502. 

Winkel  II,  107.  —  rechter  W.  II,  96. 

—  Vorstellung  des  W.  V,  417.  — 
Vorstellungsadäquatheit  des  W.  V, 
417.  —  Überschätzung  von  W.  V,  418. 

—  Unterschätzung  von  W.  V,  418. 
Winkelerfassen  V,  374.  —  gegen- 
sätzliches W.  V,  375. 

^^■inkelschenkel,  scheinbare  Dreh- 
ung der  V,  419. 

Winkel  vor  Stellung  V,  410,  411, 

W  i  n  k  e  1 1  ä  u  s  c  h  u  n  g  V ,  375.  —  W. 
der  a-Figur  V,  373  ff. 

Wirklich  II,  79,  91,  94. 

Wirkliche  Gegenstände  VIII,  482. 

Wirkliches,  64,  —  III,  129. 

Wirklichkeit  I,  5,  9,  14,  24f.,  — 
n,  80.   —   IV.   272  ff.  —  Koinzidenz 


eines  Minus  der  Möglichkeit  mit  der 
W.  IV.  276  f.  —  Vergjeichsgrölie  der 
W.  IV.  269  f.  —  Vorurteil  zugunsten 
der  W.  I.  3  ff.,  13,  26  f. 
Wirklichkeits  Wissenschaft  1.41. 
Wirkungsdauer  IV,  279. 
Wirkungsgröüe  IV,  279. 
Wirkungsvorteile  IV,  279. 
W  i  r  t  s  c  h  a  f  t  s  ü  k  o  u  o  m  i  e  IV,  *267,  277. 
Wissen,    Erfahruugs-    I,    41.    —    W. 

von  Nichtwirklichem  I,  37. 
Wissenschaft  IV,   291,   —  111,  258. 
261,  262.  —  allgemeine  W.  I,  4,  38, 
39,  42  f.,  44.  —  theoretische  W.  I.  23. 

—  System  der  W.  I,  34. 
Wissenschaftslehre  I,  29. 
Wissenschaftstheoretisches 

Ökouomieprinzip   IV,  292,  301. 
Wissensgefühle  X,  568.  —  W.  als 

Wertgefühle  X,  567,  —  XI,  594. 
WiTASEK  I,  31.  —  II,  93,   -    V,  381, 

415,   —   VIII,  488,   490,   -    X,  566, 

568,  —  XI,  580  ff.,  588,  590  f.,  593  ff., 

603. 
Wollen  und  Werten  X,  573. 
Wollungstatsachen  X,  570ff. 
Wortbedeutung  I,  15,  33. 
Wort  vor  st  eilung  als  H   IV,  283  f. 
WortvorstellungenXI,  595ff.,  603, 

606. 
Würfel  III,  275 f. 
WuNDT   IV,   264,    274,    278,   287,    293, 

299,   301,  —   V,  417,  427,  434,  435. 

—  W.s  Erklärung  der  Mülleb-Lyeb- 
schen  Figur  V,  435  f.  —  Widerlegung 
der  Erklärung  W.s.  V,  437  f. 

W^urzel  III,  208 f.,  214,  230. 
Wurzelquantnm  III,  230. 

z. 

Zahl  I,  5,  -  III,  155,  165 f.,  202 ff., 
206  ff.,  220,  228,  230,  237  ff.,  247  f., 
250, 250  ff.  —  allgemeine  (unbestimmte) 
Z.  III,  166.  —  echte  (implizite)  Z. 
in,    165  ff.,    202  ff.,    209,    212  ff.,  218, 


634 


Register. 


225.  —  fiktive  Z.  III,  212  ff.,  218f., 
225.  —  gebrochene  Z.  III,  208  f,  214, 

218.  —   imaginäre   Z.   III,  210,  216, 

219,  230,  240  Auni.  —  irrationale  Z. 
III,  20S,  210,  214  f.,  218.  —  negative 
Z.  III,  207,  209f.,  213,  215f.,  219, 
239  f. 

Z  a  hl  b  e  s  t  i  m  m  u  n  g  III,    21  1  f 

Zahlen  II,  104,  105,  115,  117. 

Zahlenquanta  II,  119. 

Zahlkomplex  vgl.  Zahl. 

Zehender  V,  374. 

Zeit  II,  79,  —  III,  194,  232 ff.,  242. 

Zeitbestiramnngen  II,  93. 

Zeitlossein  II,  79. 

Zeitlose  und  zeitverteilte  Gegenstände 

II,  113. 
Zerlegiing  gemischter  Ökonomie  IV, 

267. 
Zerstreuungskreise  V,  437. 

ZiNDLER  I,  6. 

ZÖLLNERSche  Täuschung  V,  377  ff.  — 
Z.  T.  und  A-G-Reaktion  V,  378.  — 
Z.  T.  und  MüLLER-LvERSche  Figur  V, 
377,  379,  380.  —  Z.  T.  und  Nachbilder 
V,  435.  —  Z.  T.  und  verschobene 
Schachbrettfigur  VI,  465  ff. 

Zustand  X,  555 f. 

Zustandekommen  der  Empfindung 
VIII,  482.,—  Z.  der  produzierten  Vor- 
stellung VIII.  488. 


Zu  standswert  X,  537. 

Z  uff  all  ig  nachgegebene  Objektive  II, 

62  f. 
Zufällige  Eigenschaften  der  Inferiora 

VIII,  498.  —  Z.  Gegenstände  II,  82, 

110. 
Zugehörigkeit  II,  57,  60,  67. 
Zunahme  III,  230,  233,  238,  241  f.,  256, 
Zuordnung  II,   55 ft.,  -  III,   216 ff., 

217  ff.,  231  f.,  234  ff.,  243  ff.,  248  f.,  250. 

—  bloße  Z.  II,  57,  60. 
Zusammengehörigkeit   '  (subjek- 
tive) V,  401. 

Zusammenfassende    Symbolik   IV, 

281. 
Zusammenfassung  III,  163 f.,  202. 

—  Streben  nach  Z.  IV,  281. 
Zusammengesetzte      Wahrschein- 
lichkeit IV,  288. 

Zusammenhang  I,  5  f. 

Zusammensein  II,  86f. 

Zweck  IV,   266  Anm.  1.  —  L   als  Z. 

IV,  273. 
Zweckgedanke  IV,  269. 
Zweckmäßigkeit  IV,  273.  —  Z.  in 

der  Sprache  IV,  283  f. 
Zwei  III,  166 f. 

Zweizahl  der  Fundamente  II,  105. 
Zwischenliegen  UI,  172,  176,181, 

190  f 


liippert  &  Co.  (G.  Pätz'sche  Buchdr.),  Naumburg  a.  S. 


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