Skip to main content

Full text of "Untersuchungen zur Geschichte der Gracchen"

See other formats


UNTERSUCHUNGEN 


ZUR 


GESCHICHTE  DER  GRACCHEN 


VON 


EDUARD  MEYER. 


ABDRUCK  AUS  DER  FESTSCHRIFT  ZUR  200JAHRIGEN  JUBELFEIER 
DER  UNIVERSITÄT  HALLE. 


HALLE, 
MAX  NIEMEYER. 

1894. 


UNTERSUCHUNGEN 


ZUR 


GESCHICHTE  DER  GRACCHEN. 


Digitized  by  the  Internet  Archive 

in  2009  with  funding  from 

University  of  Toronto 


http://www.archive.org/details/untersuchungenzuOOmeye 


W  ährend  uns  für  die  Epoche  der  Begründung  der  römischen  Weltherrschaft  und 
dann  wieder  und  in  noch  reicherem  Maasse  für  den  Ausgang  der  Republik  und  die  Begrün- 
dung der  Monarchie  vortreffliche  Quellen  zu  Gebote  stehen,  die,  wenn  sie  auch  nicht  alle 
Wünsche  befriedigen,  doch  eine  gesicherte  Erkenntniss  der  meisten  historisch  wichtigen  Ereignisse 
ermöglichen,  liegt  zwischen  beiden  eine  um  so  peinlichere  Lücke.  Für  alle  die  gewaltigen  Be- 
wegungen der  ersten  und  historisch  vielleicht  wichtigsten  Hälfte  der  römischen  Revolutionszeit, 
für  die  Zeit  von  den  Gracchen  bis  über  Sulla's  Tod  hinaus,  sind  wir  auf  ganz  dürftige  Quellen 
angewiesen,  auf  kurze  Darstellungen  dritter  und  vierter  Hand,  und  nur  zu  oft  ausschliesslich 
auf  zufällig  erhaltene  isolirte  Notizen,  wie  z.  B.  die  in  den  Beispielen  der  Rhetorik  ad  Herennium 
vorliegenden  Angaben.  Unter  allen  Verlusten,  welche  die  antike  Literatur  betroffen  haben,  wird 
der  Historiker  keinen  schmerzlicher  beklagen  als  diesen;  nur  der  Untergang  fast  aller  Kunde 
über  die  hellenistische  Geschichte  des  dritten  Jahrhunderts  steht  ihm  gleich  verhängnissvoll 
zur  Seite. 

Bei  dieser  Sachlage  sind  wir  um  so  mehr  darauf  angewiesen,  das  abgeleitete  Material 
genau  zu  erwägen  und  nach  Kräften  auszubeuten.  Handelt  es  sich  doch  um  eine  der  wichtigsten 
und  instructivsten  Epochen  der  Weltgeschichte,  bei  der  es  noch  weitaus  lohnender  sein  würde,  die 
Ereignisse  von  Schritt  zu  Schritt,  ja  von  Tag  zu  Tag  verfolgen  zu  können,  als  in  der  Ciceronischen 
Zeit,  für  die  uns  der  Zufall  ein  reicheres  Material  erhalten  hat,  als  irgendwo  sonst  in  der  alten 
Geschichte.  Und  bald  gelangen  wir  wenigstens  zu  der  tröstlichen  Erkenntniss,  dass  unsere 
Quellen,  so  dürftig  und  entstellt  sie  sind,  doch  auf  ausgezeichnete  Vorlagen  zurückgehen  und 
uns  von  den  wichtigsten  Vorgängen  zuverlässige  Kunde  bewahrt  haben,  dass  es  über  diese  Zeit 
eine  ausgezeichnete  Ueberlieferung  gegeben  hat,  deren  versprengte  Trümmer  auch  uns  noch 
erhalten  sind. 

Das  Verhältniss  und  den  Werth  der  erhaltenen  Quellen  für  den  Anfang  der  bezeichneten 
Epoche,  die  Zeit  der  Gracchen,  darzulegen,  ist  die  Aufgabe  dieses  Aufsatzes. 


1.    Die  Primär(iuellen. 

Die  Begebenheiten  der  Gracchenzeit  sind  von  zahlreichen  Zeitgenossen  eingehend  be- 
handelt worden,  zum  Theil  von  solchen,  die  in  hervorragender  Weise  an  den  Ereignissen  be- 
theiligt waren,  wie  C.  Fannius,  der  cos.  des  Jahres  122,  der  mit  Ti.  Gracchus  zusammen  die 
Mauern  Karthagos  erstürmt  hatte  (Plut.  Ti.  Gr.  4)  und  in  seinem  Consulat  aus  einem   Freund 


ein  eifriger  Gegner  des  Gaius  wurde  ^  —  L.  Piso  Tribun  149  cos.  133  ceus.  120,  ein  eifriger 
Gegner  des  Gaius  —  C.  Tuditanus  cos.  129  —  Sempronius  Asellio,  unter  Africanus  Militär- 
tribun von  Numantia^  —  P.  Kutilius  Rufus,  gleichfalls  134  Kriegstribun  von  Numantia^,  cos.  105, 
bekannt  durch  seine  späteren  Schicksale  —  um  von  uugreif baren  Gestalten  wie  Yennonius,  Clo- 
dius  Licinus,  Cn.  Gellius  zu  schweigen.  Dass  Fannius,  Rutilius  Rufus,  Asellio  diese  Zeit  be- 
handelt haben,  ist  durch  ihre  Fragmente  direct  bezeugt,  von  Piso  und  Tuditanus  wird  es  niemand 
bezweifeln.  Schmerzlich  vermissen  wird  man  trotz  des  von  Cicero  leg.  I  6  ausgesprochenen 
stilistischen  Tadels  namentlich  Asellio,  nach  den  hohen  Erwartungen  zu  denen  die  in  seiner 
Einleitung  ausgesprochenen  Grundsätze  berechtigen  (Gellius  V  18);  neben  ihm  war  wohl  Fannius 
der  bedeutendste,  dessen  wahrheitsgetreue  Darstellung  Sallust  (bist.  I  fr.  4  Kritz)  rühmt.  Ueber- 
haupt  aber  haben  diese  Schriftsteller,  mochte  ihre  Diction  auch  noch  so  primitiv  sein,  was  das 
politische  und  historische  Yerständniss  angeht,  als  Historiker  hoch  über  den  spätem  Rhetoren  wie 
Livius  gestanden.  Daneben  waren  zahlreiche  Reden  aus  der  Zeit  erhalten,  in  denen  sich  die  ent- 
scheidenden Yorgänge  unmittelbar  abspiegelten,  so  die  der  beiden  Gracchen  selbst,  die  des  Garbo, 
des  Fulvius  Flaccus,  des  Africanus,  die  censorische  Rede  des  Metellus  Macedonicus  (131)  —  eine 
Rede  desselben  gegen  Ti.  Gracchus  hatte  Fannius  in  seinem  Geschichtswerk  wiedergegeben  (Cic. 
Brut.  81)  —  eine  Rede  des  Annius  Luscus  gegen  Ti.,  des  Fannius  gegen  C.  Gracchus,  Reden  des 
Tubero  (vgl.  u.  S.  22  Anm.  4)  —  die  Reden  Pisos  waren  schon  zu  Ciceros  Zeit  verschollen  (Cic. 
Brut.  106).  Auch  Gerichtsreden,  wie  die  des  Scipio  und  Metellus  in  dem  Process  des  Cotta  gehören 
hierher,  ferner  die  von  Laelius  veifassten  Leichenreden  auf  Scipio.*  Sodann  Briefe  des  C.  Gracchus^ 
und  seiner  Mutter  Cornelia,*'  und  gewiss  noch  manches  ähnliche  Material,  endlich  natürlich  die  Ge- 


1)  An  der  Identität  der  beiden  von  Cic.  Brut.  99  geschiedenen  Fannii  ist  nach  C.  I.  L.  I  560  wohl  nicht 
zu   zweifeln. 

2)  Gellius  II  13.  Dass  er  unter  Ti.  Gracchus  Tribunat  schon  wieder  in  Korn  war,  ist  aus  Gellius'  AVorten 
res  eas,  quibus  gerundis  ipse  interfuit,  conscripsit,  nicht  zu  folgern. 

3)  App.  Iber.  88.  Scipio  entsendet  ^PovrfXiov  'Pov(fov,  GvyyQcufta  rcov^e  twv  fQyotv,  tots  /thaQ/ovvr«. 
Daraus  folgt  mit  Sicherheit,  dass  wenn  nicht  Appian  selbst,  so  seine  Quelle  ihn  benutzt  hat.  Vgl.  auch  Mithr.  60,  wo 
Eutilius  Eufus,  dessen  Intervention  für  Fimbria  bei  Sulla  erzählt  wird,  jedenfalls  in  letzter  Linie  selbst  zu  Grunde  liegt. 

4)  Das  Material  s.  bei  H.  Meyer,  oratorum  rom.  fragmonta.  Nur  sind  hier  die  bei  den  Historikern  be- 
wahrten Auszüge  noch  lange  nicht  genügend  ausgenutzt.  Manuscripte  der  beiden  Gracchen  hat  noch  Plinius 
XIII  83  gesehen. 

5)  Denn  so  ist  wohl  die  Schrift  ad  M.  Pomponium  zu  erklären ,  in  der  die  Schlangengeschichte  des  Vaters 
vorkam,  Cic.  de  div.  I  36.  II  62  (vgl.  Plut.  Ti.  Gr.  1).  Wenn  er  fv  tivi  ßißUo)  erzählt  hatte,  seinem  Bruder  habe  der 
Anblick  Etruriens  den  ersten  Anstoss  zu  seinem  Gesetz  gegeben  (Plut.  Ti.  Gr.  8),  so  wird  das  eine  Eede  oder  ein 
Brief,  aber  schwerlich  eine  besondere  Schrift  gewesen  sein. 

6)  Cic.  Brut.  211.  Quintil.  I  1,16.  Plut.  C.  Gr.  13.  Die  in  den  Fragmenten  des  Nepos  erhaltenen  Briefe 
freilich  sind  ein  handgreifliches  rhetorisches  Machwerk.  Das  lehrt  sowohl  der  Stil,  der  aufs  stärkste  zu  den  echten 
Fragmenten  der  Gracchen  und  ihrer  Zeitgenossen  contrastirt  und  einer  weit  jüngeren  Entwicklungsstufe  des  lateinischen 
Stils  angehört,  während  Cicero  gerade  umgekehrt  die  Mutter  als  das  stilistische  Vorbild  der  Söhne  hinstellt  (legimus 
epistulas  Corneliae  matris  Gracchorum:  apparet,  filios  non  tam  in  gremio  educatos  quam  in  sermone  matris),  wie  der 
Inhalt.  Wenn  die  Mutter  sich  so  entschieden  gegen  die  Bewerbung  des  Gaius  um  das  Tribunat  erklärte,  wenn  sie 
Tiberius'  Vorgehen  für  "Wahnsinn  und  das  ganze  Treiben  ihrer  Söhne  für  den  schlimmsten  revolutionären  Frevel 
erklärte,  wie  ist  es  dann  möglich  —  denn  die  Briefe  waren  ja  veröffentlicht  — ,  dass  sie  von  Manchen  als  Anstifterin 
des  Unternehmens  des  Tiberius  (Plut.  Ti.  9)  und  als  Mörderin  des  Africanus  (Appian  civ.  I  20,  vgl.  Cic.  rep.  VI  12.  14) 
bezeichnet  ward,  dass  Gaius  in  seinen  Reden  von  ihr  durchaus  so  spricht,  als  stehe  sie  ganz  auf  seiner  Seite  (Plut. 
C.  Gr.  4),  dass  eine  Stelle  der  echten  Briefe  so  gedeutet  wurde,  dass  sie  dem  Gaius  vor  seiner  Katastrophe  als 
Schnitter  verkleidete  Söldner  nach  Rom  geschickt  habe  (Plut.  C.  Gr.  13)?  Dass  dagegen  ein  aristokratischer  Historiker  die 
berühmte  Frau  für  die  Nobilität  retten  wollte  und  durch  sie  das  stärkste  Verdammungsurtheil  über  die  revolutionären  Söhne 
sprecheö  Ijess,  ist  durchaus  begreiflich.    Es  ist  seltsam,  dass  selbst  Mommsen  das  Machwerk  für  echt  gehalten  hat. 


setze  und  Senatsbeschlüsse.  Wir  werden  sehen,  dass  dies  Material  in  unseren  Quellen  etwa  in 
derselben  Weise  benutzt  ist,  wie  ein  moderner  Historiker  die  Parlaraentsverhandlungen  ver- 
werthet;  aber  für  uns  ist  es  bis  auf  ganz  dürftige  Trümmer  verschollen. 


2.    Posidonios, 

Die  späteren  römischen  Historiker,  wie  Claudius  Quadrigarius,  Antias,  Licinius  Macer 
kommen  für  unsere  Ueberlieferung  soweit  wir  sehen  können  —  Fragmente  sind  nicht  erhalten  — 
selbst  als  Yerschlechterer  der  Tradition  kaum  in  Betracht;  denn  es  ist  wenig  wahrscheinlich, 
dass  Livius  sie  für  diese  Zeit  noch  eingehender  benutzt  hat.  Um  so  wichtiger  ist  das  grosse 
Geschichtswerk,  welches  in  der  Zeit  des  Pompejus  und  Cicero  Posidonios  von  Apamea  (ca.  134 
bis  50  V.  Chr.)  über  die  allgemeine  Geschichte  vom  Jahre  146  bis  auf  seine  Zeit  herab  ^  verfasste. 
Bei  dem  grossen  Ansehen,  dessen  sich  Posidonios'  Name  mit  Recht  erfreut,  hat  man  in  ihm 
vielfach  die  Primärquelle  auch  für  die  Gracchenzeit  gesucht  und  möglichst  viel  von  dem  uns 
erhaltenen  Material  auf  ihn  zurückgeführt,  namentlich  avo  die  Berichte  durch  ihre  Trefflichkeit 
auf  einen  vorzüglichen  Gewährsmann  hinweisen,  wie  in  Appians  Bürgerkriegen. ^  Wir  werden 
sogleich  sehen,  dass  diese  Annahmen  ganz  unbegründet  sind. 

Es  ist  bekannt,  dass  Diodor  für  die  Zeit  nach  146  den  Posidonios  ebenso  ausgeschrieben 
hat,  wie  vorher  den  Polybios;  der  Beweis  ergiebt  sich  daraus,  dass  zahlreiche  Fragmente  des 
Posidonios  sich  wörtlich  in  den  Bruchstücken  Diodors  wiederfinden,  so,  was  für  unsere  Zeit  von 
Bedeutung  ist,  die  Schilderung  des  Luxus  des  Damophilos  von  Henna,  der  den  Anlass  zum 
sicilischen  Sklavenkrieg  gab  (fr.  15  =  Diod.  XXXIY,  2,  34).  Nachrichten  der  übrigen  Quellen 
würden  daher  nur  dann  auf  ihn  zurückgeführt  werden  können,  wenn  sie  sich  mit  der  in  den 
Fragmenten  Diodors  vorliegenden  Auffassung  deckten;  aber  das  Gegentheil  ist  der  Fall.  Im 
übrigen  können  Avir  die  politische  Auffassung  des  Posidonios  noch  von  ganz  anderer  Seite  her 
bestimmen.  Posidonios  war  zu  seiner  Zeit  nicht  nur  der  bedeutendste,  sondern  auch  der  bei 
den  Römern  angesehenste  Vertreter  der  griechischen  Bildung,  der  grosse  Lehrmeister  der  von 
Rom  recipirten  stoischen  Philosophie,  dessen  Unterricht  zahlreiche  vornehme  Römer  aufsuchten. 
Dass  Pompejus  auf  der  Höhe  seiner  Macht  zweimal,  im  Jahre  67  und  63,  seine  Vorträge  auf 
Rhodos  besuchte  und  ihm  dadurch  eine  besondere  Huldigung  darbrachte,  dass  er  dem  Lictor 
verbot,  nach  sonstigem  Brauch  der  römischen  Beamten,  an  die  Thür  zu  klopfen  (Plin.  VH  112. 
Strabo  XI  1,  6.  Plut.  Pomp.  42.  Cic.  Tusc.  II  61),  kennzeichnet  besser  als  alles  andere  die 
Stellung,  die  er  in  der  Welt  einnahm.  Dass  Posidonios  in  seinen  politischen  Ueberzeugungen 
auf  Seiten  der , römischen  Aristokratie  stand,   kann  demnach  nicht  im  mindesten  zweifelhaft  sein 


1)  Die  vielumstrittene  Frage,  wo  Posidonios  geschlossen  hat,  ist  noch  nicht  gelöst,  kommt  aber  für  uns 
hier  nicht  in  Betracht.  Ich  bemerke,  dass  Susemihls  Bemerkungen  über  P.'s  Geschichtswerk,  Gesch.  der  griech. 
Liter,  der  Alexandrinerzeit  11  139  ff.,  ganz  unzureichend  sind. 

2)  Während  Schäfer's  Quellenkunde  sonst  auch  sichere  Thatsachen  der  Benutzung  älterer  Schriftsteller 
durch  Spätere  nur  in  sehr  beschränktem  Umfange  registrirt,  heisst  es  IV  S.  70  „Ausser  von  Diodor  Stvabon  Plutarch 
Athenacos  ist  die  Geschichte  des  Posidonios  benutzt  von  Livius  und  Trogus,  von  Nikolaos  Josephos  und  Appian". 
In  Wirkhchkeit  hat  Plutarch  ihn  nur  wenig,  dagegen  Livius  wahrsclieinlich  und  Appian  sicher  niemals  benutzt.  Nur 
Applaus  Quelle  mag  ihn  vielleiclit  herangezogen  haben,  so  in  der  Syriake  und  z.  B.  in  der  Schilderung  des  Verhaltens 
der  Rhodier  im  mithridatischen  Kriege. 


8 

Einzelne  Missgriffe  der  Regierung  in  der  inneren  Avie  in  der  äusseren  i  Politik  mochte  er  tadeln ; 
das  Herabsinken  des  Staats  und  der  Verfassung  mochte  er  unumwunden  darlegen,  so  gut  wie 
Polybios;  aber  nimmermehr  ist  von  ihm  eine  Verherrlichung  des  demokratischen  Standpunktes 
oder  der  Gracchen  und  ihrer  Ziele  zu  erwarten.  Genug,  es  ist  der  Standpunkt  des  Polybios, 
den  wir  bei  ihm  voraussetzen  müssen;  er  hat  ja  Polybios'  Werk  fortgesetzt.  Wie  Polybios  über 
die  Gracchen  dachte,  hat.  er  deutlich  genug  gesagt;  um  der  Gracchen  willen  ist  ihm  das  Acker- 
gesetz des  Flaminius  232  „der  Anfang  der  Wendung  des  dfjiiog  zum  Schlechten"  (II  22,  8),  und 
im  sechsten  Buch  entwickelt  er  die  Theorie  von  der  dva/.vy2ciJ0ig  rtov  jcoIltelCjv  und  sagt  die 
Katastrophe  Roms  voraus,  die  durch  den  Ehrgeiz  und  die  sittliche  Corruption  der  herrschenden 
Classen  auf  der  einen,  die  Begehrlichkeit  der  Massen  und  ihre  Verführung  durch  die  Schmeichelei 
der  Mächtigen  auf  der  anderen  Seite  mit  Noth wendigkeit  herbeigeführt  werden  wird.  Dann  wird  der 
Demos  nicht  mehr  gehorchen,  sondern  alles  für  sich  haben  wollen,  und  unter  dem  herrlichen 
Namen  der  Freiheit  und  Demokratie  wird  die  schlechteste  Staatsform  entstehen,  die  Pöbelherrschaft, 
bis  dann  schliesslich  dem  Staat  aus  der  Revolution  ein  neuer  Herr  erstehen  wird  (VI,  4 — 9.  57). 
Es  sind  die  Ueberzeugungen ,  die  Polybios'  Freund,  der  jüngere  Africanus,  theilte,  und  die  sein 
ganzes  politisches  Verhalten  bestimmt  haben,  die  resignirte  Haltung  in  der  inneren  Politik  und 
dabei  doch  die  unbedingte  Verurtheilung  jeder  Abweichung  von  dem  aristokratischen  Regiment 
und  das  energische  Fortschreiten  auf  der  Bahn  der  Weltherrschaft  in  dem  spanischen  und  dem 
karthagischen  Kriege,  obwohl  er  überzeugt  ist,  dafs  jeder  Schritt  vorwärts  ins  Verderben  führen 
muss.  Darin,  dass  uns  hier  die  Anschauungen  des  einflussreichsten  römischen  Staatsmanns, 
der  als  Erbe  des  Aemilius  Paullus  und  der  Scipionen  wenn  irgend- einer  von  Jugend  auf  zum 
Leiter  des  Staats  berufen  war,  in  authentischer  Fassung  vorliegen,  besteht  der  unschätzbare  ge- 
schichtliche Werth  dieser  Capitel:  dass  man  den  Abgrund  offen  vor  den  Füssen  klaffen  sah  und 
doch  überzeugt  war,  dass  man  hinein  müsse,  dass  es  keine  Rettung  gebe,  zeigt  deutlicher  als 
alle  sonstigen  Nachrichten  die  Hoffnungslosigkeit  der  Lage  des  Weltreichs  seit  der  Mitte  des 
zweiten  Jahrhunderts  und  erklärt  allein  die  Furchtbarkeit  wie  den  Sieg  der  von  Ti.  Gracchus 
eröffneten  Revolution. 

Genau  diese  Anschauungen  finden  wir  nun  in  den  Fragmenten  Diodors  wieder,  die  von 
der  gracchischen  Zeit  handeln.^  Tiberius'  hohe  Abstammung,  seine  Begabung,  seine  adlige  Ge- 
sinnung {TtaQQrjGia;  ol  oyloL  .  .  .i,yovTiq  TcqoötccTr^v  ccQXOvra  xbv  fxrjxe  xagizog  (xrjte  q^oßov  doijlov) 
werden  anerkannt,  das  Zusammenströmen  der  Masse  aus  ganz  Italien  zu  der  entscheidenden  Ab- 
stimmung geschildert  (34,  5.  6).  Aber  Tiberius'  Verhalten  wird  ebenso  entschieden  verurtheilt: 
er  rennt  verblendet  vorwärts  ins  Verderben  und  erhält  die  gebührende  Strafe  (34,  7,  2).  Scipio 
Nasica  wird  aufs  höchste  gepriesen;'  er  ist  wie  sein  Vater,  der  Gegner  der  Zerstörung  Karthagos, 


1)  Dass  Posidonios  hier  durchaus  auf  Seiten  Roms  stand,  lehren  die  Fragmente  aus  dem  mithridatischen 
Kriege,  vgl.  Niese,  Rhein.  Mus.  XLII,  578  ff.  Er  hat  damals  an  der  Politik  seiner  Adoptivheimath  Rhodos,  die 
bekanntlich  treu  zu  Rom  stand,  activen  Antheil  genommen:  zu  Anfang  des  Jahres  86,  bei  Marius  Tod,  war  er  als 
rhodischer  Gesandter  in  Rom  (Plut.  Mar.  45). 

2)  Ebenso  z.  B.  in  den  Angaben  über  die  Anlässe  des  Bundesgenossenkrieges  Diod.  37,  2:  ahiuv  Sl  now- 
TTjv  ysv(G&(a  Tov  nokefiov  t6  fitTaneottv  rovg  ^Püjfiaiovg  und  ttjs  tvTÜy.rov  y.iu  hTfjg  uycoyfjg  xul  iyxQccTOvg,  &i  rjs 
int  ToaovTov  rjv^^drjauv,  a!g  öXtO-Qiov  Crj^ov  TQVtffjg  y.ai  ay.olaaiag'  ix  yitQ  Tfjg  SnufOoQug  TctÜTTjg  aruatdacivrog  tov 
SrifioTiy.ov  TTQÖg  Tijv  GvyyXtjTov  cet.  Genau  SO  würde  Polybios  geschrieben  haben.  —  Directe  Benutzung  einer 
Erzählung  des  Polybios  findet  sich  Diod.  37,  3,  6. 


9 

das  Vorbild  der  tüchtigen  römischen  Adligen. ^  Als  Tiberiiis  Gracchus  sich  zum  Tyrannen  machen 
wollte,  hat  er  ihn  an  der  Spitze  des  Senats  erschlagen;  als  die  Tribunen  die  Senatoren  Mann 
für  Mann  auf  die  Kostren  treten  liessen  und  fragten,  wer  der  Mörder  sei,  hat  er,  während  alle 
andern  feige  läugneten,  sich  muthig  zu  seiner  That  bekannt;  der  Pöbel  aber,  obwohl  entrüstet, 
wurde  durch  die  imponirende  Würde  und  den  Ereimuth  des  Mannes  zum  Schweigen  gezwungen 
(34,  33).  Auf  Grund  dieser  Aussage  lässt  Posidonios  den  Tiberius  von  Nasica  selbst  erschlagen 
werden  (vgl.  34,  7,  2).  Damit  stimmt,  im  Gegensatz  zu  allen  andern,  der  demokratische  Ver- 
fasser der  Rhetorik  ad  Herennium  (IV,  68)  überein,  nur  dass  er  die  That  umgekehrt  beurtheilt 
(vgl.  S.  27).  Es  ist  aber  klar,  dass  damit  Nasicas  Bekenntniss  zu  wörtlich  genommen  wird;  er 
konnte  sich  als  den  Vollzieher  der  That  rühmen,  auch  wenn  er  nur  ihr  Urheber  war. 

Man  sieht,  Posidonios  steht  ganz  auf  dem  Standpunkt  des  Africanus,  der,  wie  er  erzählt 
(Diod.  34,  7,  3),  als  die  Kunde  der  Katastrophe  nach  Numantia  kam,  sein  Urtheil  in  dem  be- 
kannten Vers  cb^  d/tökoivo  /ml  aXlog  ofig  zoiavca  ye  qe'Coi  gegeben  haben  soU.^  Daneben  ist 
uns  noch  ein  Urtheil  über  das  Verhalten  des  Octavius  nach  seiner  Absetzung  erhalten  (Diod.  34,  7), 
das  ebenso  nüchtern  verständig  und  dabei  ebenso  verkehrt  ist,  wie  so  manches  polybianische.^ 
„Octavius,  heisst  es,  erkannte  weder  seine  Absetzung  als  zu  recht  bestehend  an,  noch  wagte  er 
sein  Amt  thatsächlich  fortzuführen,  sondern  er  blieb  ruhig  zu  Hause.  Und  doch  hätte  er,  wenn 
er  das  wollte,  als  Gracchus  seine  Absetzung  beantragte,  auch  seinerseits  einen  Antrag  auf  Ab- 
setzung des  Gracchus  durchbringen  können;  dann  wären  entweder,  wenn  die  Anträge  gesetzlich 
zulässig  waren,  beide  Privatleute  geworden,  oder  sie  hätten  beide  ihr  Amt  behalten,  wenn  die 
Anträge  für  ungesetzlich  erklärt  worden  wären."  Der  Text  ist  durch  Schuld  des  Excerptors 
schlecht  überliefert,  aber  der  Sinn  ist  klar.  Indessen,  ganz  abgesehen  von  der  Frage,  ob  Octavius 
mit  seinem  Antrag  durchgedrungen  wäre,  Posidonios  empfindet  nicht,  dass  Octavius  nimmermehr 
so  hätte  operiren  können;  denn  damit  hätte  er  ja  zugegeben,  dass  ein  derartiger  Antrag  gesetz- 
lich möglich  war,  also  sich  principiell  auf  den  Standpunkt  des  Gegners  gestellt. 

Zahlreicher  sind  die  Fragmente  über  C.  Gracchus  (Diod.  34,  24  —  30).  Zunächst  wird 
die  Stimmung  der  Massen  für  Gaius  geschildert  (vgl.  Plut.  C.  Gr.  3),  dann  folgt  die  Erwähnung 
der  Rede  tieqI  tov  /MTakvöaL  aqLOioAqax'iav,  diqi.iOAqaiiav  dt  acocfjoai^  mit  der  er  seine  Gesetze 
einbrachte  —  so  wird  der  Inhalt  der  Rede  de  legibus  a  se  promulgatis  (Meyer  S.  234  ff.  Plut. 
C.  Gr.  3.  4)  scharf  und  treffend  zusammengefasst  — ,  und  daran  schliesst  eine  kurze  Skizze  der  von 
ihm  eingebrachten  Gesetze,    durch   die  er  alle  Parteien,    die  Ritter  und   Steuerpächter  wie  den 


1)  Ich  mache  darauf  aufmerksam,  dass  Scipio  Nasica  sich  zu  den  stoischen  Lehren  bekannte:  Cic.  Tusc.  IV,  51. 

2)  Ebenso  Plut.  Ti.  Gr.  21. 

3)  Z.  B.  die  Meinung  des  Polybios,  es  sei  ein  unwürdiges  Verfahren  Hannibals  gewesen,  dass  er,  um 
zum  Kriege  mit  Hom  zu  gelangen,  die  saguntinischen  Händel  anzettelte;  er  hätte  offen  die  Wiedergabe  Sardiniens 
und  der  237  erhobenen  Contributionen  foidern  sollen  (III  15).  Dass  Haunibal  auf  diesem  Wege  nie  zum  Ziele  ge- 
langen konnte,  sondern  von  der  karthagischen  Regierung  selbst  dann  sicher  desavouirt  werden  musste,  wenn  eine 
Gegenpartei  hier  nicht  existirte,  wie  Polybios  behauptet,  hat  Polybios  nicht  verstanden.  Die  Aufgabe  Hannibals, 
wenn  er  den  Krieg  für  geboten  hielt,  bestand  gerade  darin,  eine  ausreichende  ni)öijuai^  zu  finden,  welche  Karthago 
wie  Rom  zum  Krieg  zwang,  sie  mochten  wollen  oder  nicht;  und  diese  Aufgabe  hat  er  meisterhaft  gelöst.  —  Damit 
man  wegen  solcher  Urtheile  nicht  über  die  antiken  Historiker  den  Stab  bricht,  weise  ich  darauf  hin,  dass  analoge 
Missgriffo  natürlich  auch  bei  jedem  ihrer  modernen  Collegen  zu  finden  sind.  Als  Beispiel  nenne  ich  die  scharfe 
Verurthcilung,  die  von  den  meisten  neueren  Historikern  über  die  völlig  correcto  Kriegführung  des  Pompejus  beim 
Ausbruch  des  Bürgerkriegs  ausgesprochen  wird;  der  Vorwurf  der  Kopflosigkeit  würde  ihn  mit  Recht  nur  treffen, 
wenn  er  so  verfahren  wäre,  wie  seine  Kritiker  fordern. 

Meyer,  lliUersuchungon  zur  Ooschichto  der  Gracchen.  2 


10 

Pöbel  und  die  Soldaten  an  sich  fesselt;  es  ist  das  weitaus  die  beste  Schilderung  der  gracchischen 
Verfassung,  die  wir  besitzen.  Es  folgt  das  Verfahren  gegen  Octavius  und  Popillius  —  die  Menge 
weiss,  dass  sie  Unrecht  thut,  aber  sie  ist  durch  Gracchus  Verheissungen  bestochen  und  muss 
ihm  folgen  um  des  eigenen  Vortheils  willen  —  und  dann  die  Annahme  des  Richtergesetzes  mit 
einer  Stimme  Majorität  (18  gegen  17  Tribus)  und  Gracchus  triumphirender  Ausruf:  jetzt  sitzt 
das  Schwert  den  Gegnern  an  der  Kehle,  nun  mag  das  Schicksal  es  weiter  halten  wie  es  will.i 
Natürlich  verurtheilt  Posidonios  die  Gesetze  des  Gaius  unbedingt,  in  scharfem  Contrast  zu  der 
sehr  ungerechtfertigten  Verherrlichung  bei  den  Neueren.  Besonders  bezeichnend  ist  die  Hervor- 
hebung des  bei  den  Unterthanen  gegen  die  römische  Herrschaft  erzeugten  Hasses,  den  die  Aus- 
lieferung der  Provinzen  an  die  Steuerpächter,  theils  durch  das  Gesetz  über  die  Einführung  des 
asiatischen  Zehntens,  theils  durch  das  Richtergesetz,  erzeugte.  Die  Neueren  pflegen  ganz  zu 
übersehen,  dass  die  moralische  Verantwortung  für  das  namenlose  Elend,  welches  die  Herrschaft 
der  römischen  Republik  über  die  Welt  gebracht  hat,  in  erster  Linie  nicht  die  Aristokratie,  deren 
tüchtigere  Elemente  immer  aufs  neue  zu  bessern  suchten,   sondern  C.  Gracchus  zu  tragen  hat. 

Dementsprechend  ist  auch  C.  Gracchus'  Katastrophe  dargestellt.  Wie  Gaius  immer  mehr 
Boden  verliert,  geräth  er  elg  Xvttolv  rivd  /mI  (.lavubdrj  didO^eaiv.  Die  Schuld  an  seinem  Unter- 
gang trägt  er  allein.  Er  verschwört  sich  mit  Flaccus  zur  Anwendung  von  Gewalt,  er  lässt  seine 
Anhänger  (die  xa/izrat)  sich  bewaffnen,  um  das  Capitol  zu  besetzen;  da  ihm  die  Aristokraten 
{7Tlf]d-og  Tiüv  äqiöTiov)  zuvorgekommen  sind,  weicht  er  „in  Angst  und  von  den  Furien  gepeinigt" 
[ddrif^iovCov  %al  7toivrjXaTov/.i€vog)  in  den  Säulengang  hinter  den  Tempel  zurück.  Wüthend 
{TcaQOLOTQTpLtog)  stösst  er  den  Quintus  (AntuUius?;  Koiviog  rig  ouv^deiav  l'xcov  Ttqbg  aviov  bei 
Diod.)  von  sich,  der  ihn  anfleht  innezuhalten,  und  befiehlt  ihn  niederzustossen  {TVQavvr/Mg  ^drj 
öiE^dytov).  Dadurch  giebt  er  das  Signal  zum  Entscheidungskampf.  Als  ein  Versuch,  sich  zum 
Tyrannen  zu  machen,  wird  sein  Unternehmen  bezeichnet  {rögawov  tavröv  dvadedeixojg  dKQiTcog 
dvrjOi&tj  37,  9).  Als  der,  der  seinen  Kopf  mit  Blei  gefüllt  dem  Consul  bringt  und  dafür  die 
Belohnung  erhält,  wird  abweichend  von  allen  andern  sein  Freund  L.  Vitellius  genannt. 

Die  Auffassung  der  Vorgänge  ist  Posidonios'  Eigenthum;  welche  Quellen  er  benutzt  hat, 
ist  bei  unserem  dürftigen  Material  nicht  zu  entscheiden.  Doch  wird  Niemand  bezweifeln,  dass 
er  gleichzeitige  römische  Berichte  benutzt  und  solche  bevorzugt  hat,  die  seinen,  d.  h.  den  aristo- 
kratischen Standpunkt,  theilten.  Für  die  geschichtliche  Erkenntniss  aber  ist  es  von  höchstem 
Werth,  dass  uns  aus  ihm  wenigstens  Trümmer  einer  Darstellung  erhalten  sind,  welche  die  Auf- 
fassung der  wenn  auch  nicht  in  den  Principien-,  so  doch  in  den  Personenfragen  siegreichen 
Aristokratie  vertritt. 


1)  34,  27  TÖ  fxiv  '^i(fog  inixsirui  ToTg  iyd^Qotg,  nsQl  (ff  tOv  äXXoiv  wg  äv  7)  Tv/r]  ßoußevarj  aifQ^ofitv, 
vgl.  37,  9  mit  etwas  anderer  Fassung  in  der  Geschichte  des  Drusus:  untiXovarig  r^g  avyxlrJTov  nölffxov  rrp  Fq^x/ü) 
&Ki  jriv  fitTH^ytaiv  rdv  xoiTrjfji'wv,  Tt&dQQrixörwg  ovTog  tlntv  öti  xäv  änoOdvw,  od  Suilttxpw  (-i/^ft?)  ro  ii(fog  icno 
T%  nXsvQüg  T(Jöv  avyxXrjxr/.oyv  &ii^Qrifj.tvov.  Dieser  Ausspruch  habe  sich  wie  ein  Orakel  buchstäblich  erfüllt.  Zwar 
wird  Gracchus  erschlagen  als  er  sich  zum  Tyrannen  macht,  [aber,  so  ist  zu  ergänzen,  sein  Gesetz  hat  den  Senat 
.dauernd  wehrlos  gemacht].  Ciceros  Citat  von  den  runae  et  sicae,  die  Gaius  nach  seiner  Aussage  auf  das  Forum  ge- 
worfen habe,  damit  die  Bürger  sich  mit  ihnen  zerfleischten  (de  leg.  3,  20j,  bezieht  sich  auf  denselben  Ausspruch. 
Bei  App.  22  soll  Gaius  nach  Annahme  des  Richtergesetzes  gesagt  haben  ort  uO-QÖwg  ttjv  ßovXijV  xK&rjQijxoi.  —  Sehr 
mit  Unrecht  deuten  Mommsen  und  Ihne  des  Fragment  Diod.  34,  27  auf  die  Verbannung  des  Popillius. 


11 
3.  Appians  üuelle. 

Einen  ganz  anderen  Standpunkt  nehmen  Appian  und  Plutarch  ein.  Bekanntlich  haben  beide 
Schriftsteller  für  die  ganze  spätere  römische  Geschichte  in  weitem  Umfang  dieselbe  Quelle  benutzt. 
An  zahlreichen  Stellen  der  Geschichte  der  Bürgerkriege  sowohl  wie  des  mithridatischen  Kriegs 
stimmt  Appian  wörtlich  mit  den  entsprechenden  Biographien  Plutarch's  überein.  Auch  für  die 
Geschichte  der  Gracchen  gilt  dasselbe;  Plutarch  hat  die  Geschichte  des  ager  publicus  (Ti.  Gr.  8  = 
App.  civ.  I,  7.  8)  und  einen  Theil  der  Geschichte  des  Tiberius  bis  zur  Absetzung  des  Octavius 
(c.  9  — 13  init,  von  mehreren  Zusätzen  abgesehen,  s.  u.  S.  23)  derselben  Quelle  entnommen,  wie 
Appian  1;  von  der  Mitte  von  Cap.  13  au  folgt  er  dann  fast  ausschliesslich  einer  anderen,  auch 
vorher  schon  benutzten  Quelle.  Plutarch's  Verfahren  ist  hier  dasselbe  wie  immer:  er  hat  manche 
individuelle  Züge  aufgenommen,  die  Appian  übergeht,  aber  die  präcisen  Angaben  der  Vorlage 
hat  er  vielfach  missverstanden  und  verwischt,  von  dem  politischen  Zusammenhang  hat  er  nur 
eine  sehr  unklare  Vorstellung.  So  bewahrt  er  gleich  zu  Anfang  die  nur  hier  erhaltene  Notiz, 
dass  bereits  C.  Laelius  (cos.  140)  ein  Ackergesetz  plante,  aber  vor  dem  Widerspruch  der  Aristo- 
kratie zurückzog,  und  dafür  den  Beinamen  Sapiens  erhielt;  aber  in  der  Schilderung  des 
ager  publicus  wirft  er  Pachtung  und  Occupation  durcheinander  und  hat  aus  der  vortreff- 
lichen bei  Appian  erhaltenen  Darstellung  seiner  Quelle  ein  wüstes  Conglomerat  halbwahrer 
Notizen  gemacht. 

Ganz  anders  arbeitet  Appian.  Ihm  fehlt  die  Belesenheit  Plutarchs,  er  schreibt  nicht 
für  die  gebildete  Welt,  die  seine  Schriften  mit  Eifer  in  die  Hand  nimmt,  sondern  er  will  dem 
grossen  Publicum  an  Stelle  der  grossen  unübersichtlichen  Werke,  in  denen  er  selbst  sich  kaum 
zurecht  finden  kann,  ein  bequemes  Handbuch  bieten  (praef.  12).  Seine  eigenen  Kenntnisse 
reichen  nirgends  weit,  und  wo  ihm  seine  Quelle  einmal  versagt,  bringt  er  nicht  selten  die 
naivsten  und  wunderlichsten  Vermuthungen  vor.^  Ein  tieferes  historisches  Verständniss  ist  von 
ihm  nicht  zu  verlangen,  und  es  ist  ganz  verkehrt,  ihn  mit  dem  Maasse  eines  wirklichen  Ge- 
schichtsforschers zu  messen.  Aber  mit  den  Verfassern  moderner  Compendien  kann  er  den  Ver- 
gleich ganz  wohl  aushalten.  Er  hat  manche  Flüchtigkeiten  begangen,  falsche  Umstellungen  vor- 
genommen, Wichtiges  gestrichen  und  Unwichtiges  aufgenommen;  aber  im  allgemeinen  zeigt  er 
in  all  seinen  Büchern  ein  grosses  Geschick,  das  wichtigste  aus  seiner  Quelle  herauszusuchen  und 
in  zugleich  gedrungener  und  übersichtlicher  Gestalt  nachzuerzählen.  Dass  ein  Schriftsteller  wie 
er  für  jeden  Abschnitt  immer  nur  einer  Hauptquelle  folgt,  würden  wir  annehmen  müssen,  auch 
wenn  es  sich  nicht  aus  der  Beschaffenheit  seiner  Nachrichten  überall  mit  Sicherheit  erweisen 
Hesse.    Für  die  spätere  römische  Geschichte  lehrt  die  überall  gleichmässig  wiederkehrende  Ueber- 


1)  Von  den  wörtlichen  Uebereinstimmungen  sind  die  wichtigsten  Plut.  c.  10  fari  &i  tov  xwlüovrog  iv  tois 
frjfidQxoig  xb  xqutos  =  App.  12  X(c\  äv  utl  naQu  'l^y.uCoig  6  '/mXvüiv  SvvKtüirfQog;  Plut.  12  ovadv  Sk  nevji 
xal  TQKcxovTu  (fvkßiv,  wg  cti  Sixaenru  Trjv  \pfi>fov  üjievrjvö/ftaKv  .  .  .  y.tXivaag  inia/fi'y  KvO-ig  Ifiho  toO 
Oxrußiov  xcu  TitQi^ßaXtv  aöröv  iv  öxptt,  toO  drifxov  y.u\  xarrjanuCfro ,  XmaQdv  cot.  =  App.  ovaßv  Se  tot« 
(fvldv  nivTS  xtt\  TQidxovTU  xiii  avv^QUfiovaGiv  ig  to  avTb  avv  dQyij  rdv  nQOTfQujv  imaxntSsxa  .  .  .  6  Si 
rQÜx/og  liv&cg  Iv  öijjsi  tov  SiI/lcov  .  /Oxtuovio)  kniaqag  iv^xeno]  Plut.  13  ix  tovtov  xvqovtcu  ixiv  6  ntol  r^g 
X(^QCig  v6fj.og  =  App.  xai  6  vöfiog  thqI  jTjg  y^g  ixvQoOTO. 

2)  Einen  drastischen  Beleg  für  seine  Unwissenheit  giebt  z.  B.  die  Hypothese  I,  38  ^auv  ycc(),  d>g  foixe, 
TÖTi  (vor  dem  Ausbruch  des  Bundesgenossenkriegs)  xcu  rTig  'iTcdiag  ÜQ/ovTfg  uvO^ötkuoc  xard  ^usQt],  was  Hadrian 
erneuert  habe.     Aber  gleichartige  Fehler  begeht  er  überall,  sobald  er  sich  selbst  überlassen  ist. 

2* 


12 

einstimmung  mit  Plutarch,  dass  seine  Vorlage  ein  einziges  grosses  Geschichtswerk  gewesen  ist, 
das  mindestens  die  Zeit  von  ca.  140  —  30  v.  Chr.  umfasst  hat.^ 

Wer  der  Verfasser  dieses  Geschichtswerks  ist,  ist  noch  nicht  ermittelt,  so  viel  auch 
darüber  geschrieben  ist.  Die  neueren  Untersuchungen  beschränken  sich  sämmtlich  auf  einzelne 
Abschnitte,  statt  das  ganze  umfangreiche  Gebiet  im  Zusammenhang  durchzuarbeiten,  und  können 
daher  zu  einem  Resultat  um  so  weniger  gelangen,  als  sich  bei  solchen  Untersuchungen  die  Frage 
nach  der  gemeinsamen  Mittelquelle  fortwährend  mit  der  weit  wichtigeren  kreuzt,  was  für 
Quellen  diese  benutzt  hat  und  ob  dieselben  auch  noch  in  der  sonstigen  Ueberlieferung  vor- 
liegen. Die  Frage  nach  dem  Verfasser  des  Werks  kann  daher,  wenn  überhaupt,  so  nur  in 
einer  ganz  andersartigen  Untersuchung  erledigt  werden.  Hier  kommt  es  uns  nur  auf  das  Werk 
selbst  an. 

Die  ungleichmässige  Disposition  des  Stoffs  in  Appians  Bürgerkriegen  gehört  unzweifel- 
haft der  Quelle  an.  Während  z.  B.  bei  Livius  die  Geschichte  der  Parteikämpfe  und  Bürgerkriege 
von  133  bis  70  v.  Chr.  fast  genau  denselben  Raum  einnimmt  wie  die  der  Bürgerkriege  von  63 
bis  35  —  nach  meiner  Berechnung,  die  natürlich  nur  approximativen  Werth  hat,  da  die  äusseren 
Kriege  überall  ausgeschieden  werden  müssen,  füllt  jeder  der  beiden  Abschnitte  ungefähr  24  Bücher  — ■, 
drängt  Appian  jene  in  ein  Buch  zusammen,  während  die  Geschichte  der  Jahre  63  bis  35  in  stets 
wachsender  Ausführlichkeit  vier  Bücher  füllt.  Noch  eingehender  (in  4  Büchern)  war  bekanntlich 
der  aktisch -ägyptische  Krieg  dargestellt.  Wir  erkennen  eine  Quelle,  die  am  Abschluss  der 
ganzen  Entwickelung  frühstens  unter  Augustus  geschrieben  ist  und  den  näher  liegenden  Ereig- 
nissen weit  mehr  Interesse  zuwendet  als  der  älteren  Epoche.  Das  wird  dadurch  bestätigt,  dass 
für  die  cäsarische  Zeit  dieselbe  Quelle  zu  Grunde  liegt,  w^elche  auch  in  allen  anderen  Dar- 
stellungen, bei  Livius,  Dio,  Plutarch  vorliegt,  und  in  der  man,  so  wenig  der  Beweis  bis  jetzt 
geführt  ist,  doch  Asinius  Pollio  kaum  wird  verkennen  können.  Pollio  hat  mit  dem  Jahre  60 
begonnen  (Horat.  carm.  II,  1),  wird  aber  gewiss  so  gut  wie  z.  B.  Polybios  eine  längere  Einleitung 
über  die  Entwickelung  der  inneren  Wirren  vorausgeschickt  haben;  man  gestatte  mir  Avenigstens  die 
Vermuthung  anzuregen,  ob  nicht  diese  von  Appians  Quelle  für  das  erste  Buch  der  Bürgerkriege 
benutzt  sein  könnte.  Doch  könnte  man  z.  B.  auch  bei  Rutilius  Rufus  dieselbe  Auffassung  und  Dar- 
stellung der  von  ihm  behandelten  Epoche  voraussetzen,  wie  sie  Appian  giebt  (vgl.  S.  13,  Anm.  3). 

Jedenfalls  aber  haben  wir  uns  immer  vor  Augen  zu  halten,  dass  nicht  nur  der  von 
Appian  benutzte  Schriftsteller,    wer  er  auch  sei,    sondern  ebensogut  schon  dessen  Vorlage  oder 


1)  Wenu  man  Appians  Aeusserungen  praef.  12  pressen  will,  so  kann  man  folgern,  dass  er  (abgesehen 
von  einzelnen  Einlagen,  namentlich  in  den  auf  Hieronymos,  Polybios  und  Posidonios  zurückgehenden  Stücken  aus 
der  hellenistischen  Geschichte,  die  wohl  auf  ein  ähnliches  Sammelwerk  über  makedonische  Geschichte  zurückgehn) 
für  die  ganze  Geschichte  Roms  überhaupt  nur  ein  einziges  Werk  benutzt  hat.  Als  seine  Thätigkeit  bezeichnet  er 
lediglich  die  Gruppirung  der  synchronistisch  neben  einander  stehenden  Erzählungen  nach  Ländern  und  Völkern, 
nicht  die  Verarbeitung  verschiedener  Quellen;  und  wenn  er  auch  darauf  hinweist,  dass  viele  Griechen  und  Eömer 
die  römische  Geschichte  dargestellt  haben,  so  spricht  er  doch  nur  von  einem  einzigen,  an  Umfang  die  makedonische 
Geschichte  weitaus  übertreffenden  Geschichtsworke ,  dessen  Theile  er  umgestellt  habe  {y(cl  'ioTiv  rj  iaroQiu  rrjg 
Maxe^ovtytji,  fiiyiGTrjg  fr]  tcüp  71QOT(()0)v  ouarjg,  noXu  fieitüiV  ukV  ivTvy/üvovTii  fie  .  .  .  unt(ffQfv  jy  yQ('(f*]  noXXd- 
y.ig  unb  KaQ/rjfövog  inl  TßrjQiav  y.aX  i'i  ^fßr'jQfov  inl  ^^ixtXiav  f]  MuxtSoviuv  cet.  .  .  .  tag  ov  t«  fJ-fQ^l  cfvvr'jyKyov 
IfxavjM  ....  off«  St  iv  fxtßo)  TTQÖg  fTiQOvg  (iVToTg  iytvtTO,  ViatQüi  y.al  lg  tu  Ixti'vwv . fitT(CTi()-r]/iii).  In  der  That 
steht,  so  weit  ich  sehe,  nichts  der  Annahme  im  Wege,  dass  Appian  den  Polybios  nicht  direct,  sondern  nur  durch 
eine  sich  diesem  genau  anschliessende  Mittclquelle  benutzt  hätte.  Hier  können  höchstens  sprachliche  Untersuchungen 
Aufschluss  gewähren. 


13 

Vorlagen!  für  die  Darstellung  einer  Zeit,  die  um  ein  Jahrhundert  von  der  seinigen  ablag,  nichts 
anderes  hat  thun  können,  als  die  Ereignisse  guten  Quellen  nacherzählen,  etwa  in  der  Weise, 
wie  Polybios  die  Geschichte  des  hannibalischen  Krieges  erzählt  —  mochte  er  auch  im  einzelnen 
noch  so  viel  berichtigen  und  aus  Urkunden  ergänzen  und  sich  die  Selbständigkeit  seines  Urtheils 
wahren.  Eben  darauf  beruht  es,  dass  sich  die  Frage  nach  den  Mittel  quellen  bei  einer  abgeleiteten 
Darstellung  fast  nie  mit  irgend  welcher  Sicherheit  beantworten  lässt,  während  wir  die  durch  sie 
vermittelten  Priraärquellen  viel  leichter  greifen  können.^  So  ist  z.  B.  garnicht  zu  sagen,  ob  die 
vortreffliche  Geschichte  des  ager  publicus  bei  Appian  —  dem  hier  natürlich  nur  das  eine  Ver- 
dienst zukommt,  dass  er  im  Gegensatz  zu  Plutarch  sehr  gut  excerpirt  hat  —  das  Eigenthum  seiner 
Quelle  ist,  oder  ob  sie  schon  vorher  von  einem  Schriftsteller  zum  anderen  gewandert  ist,  bis  sie 
der  Compilator  aufnahm,  aus  dem  Appian  schöpfte. 

Wie  dem  aber  auch  sei,  jedenfalls  ist  die  Darstellung  der  Gracchenzeit  bei  Appian  ein 
Werk  aus  einem  Guss.  Wenn  bei  Posidonios  die  allgemeinen  Fragen  des  Regiments  und  der 
Reichsgeschichte  im  Vordergrund  stehen  und  er  daher  auf  den  Umsturz  der  Verfassung  das  Haupt- 
gewicht legt,  so  wird  hier,  wie  es  einer  römischen  Geschichte  zukommt,  die  Entwickelung  vom 
specifisch  italischen  Standpunkt  aus  betrachtet.  Der  Verfasser  will  darlegen,  wie  es  zugegangen 
ist,  dass  die  italische  Bauernschaft,  nachdem  sie  die  Welt  erobert  hat,  um  Haus  und  Hof  ge- 
kommen ist,  und  wie  die  hochherzigen  Versuche  der  Gracchen,  hier  zu  helfen,  das  Uebel  nur 
schlimmer  gemacht  haben.  Ganz  frei  ist  der  Verfasser  dagegen  von  der  engherzigen  Anschauung 
der  späteren,  alles  politischen  Verständnisses  baaren  Annalistik,  die  über  Rom  nicht  hinausblickt 
und  gar  kein  Bewusstsein  mehr  davon  hat,  dass  der  römische  Staat  nichts  anderes  ist  als  die 
politische  Organisation  Italiens.  Diese  Anschauungsweise  bildet  die  eigentliche  Signatur  der  nach- 
sullanischen,  typisch  durch  Cicero  vertretenen  Welt  und  herrscht  daher  auch  ausschliesslich  bei 
Livius  und  seinen  Quellen:  sie  ist  das  deutlichste  Symptom  des  vollen  politischen  Verfalls  der 
Zeit,  in  der  die  freie  Selbstregierung  des  Volkes  zu  einer  inhaltsleeren  Phrase  geworden  ist.  Man 
fühlt  sich  in  eine  ganz  andere  Welt  versetzt,  wenn  man  von  hier  aus  zu  den  Fragmenten  Catos 
oder  zu  Appians  Bürgerkriegen  kommt  und  hier  die  wirklichen  Grundlagen  des  politischen  Lebens, 
welche  den  Gang  der  Ereignisse  bestimmen,  im  Bewusstsein  der  Handelnden  wie  der  Darstellenden 
wiederfindet.  Daraus  scheint  mir  mit  Sicherheit  zu  folgen,  nicht  nur  dass  die  Grundlage  der 
Gracchen geschichte  Appians  von  einem  Römer,  nicht  von  einem  Griechen  geschrieben  ist,  sondern 
auch,  dass  sie  einer  weit  älteren  Zeit  angehört  als  die  directe  Vorlage  Appians.^  Selbst  ein 
Asinius  Pollio,  so  hoch  wir  auch  von  seiner  historischen  Begabung  denken  mögen,  hat  schwer- 
lich noch  eine  Darstellung  wie  diese  aus  eigener  Einsicht  verfassen  können. 


1)  War  Appians  Quelle  eine  grosse  Gesanimtdarstellung,  wie  etwa  Jiiba,  an  den  man  ja  oft  gedacht  hat, 
so  ergiebt  sich  die  Nothwendigkeit  der  Annahme  umfassender  Vorlagen  von  selbst.  Ein  Schriftsteller,  der  die 
Bürgerkriege  so  vortrefflich  und  den  hannibalischen  Krieg  nach  einer  so  elenden  Quelle  erzählen  konnte,  wie  Appian,  hat 
schwerlich  mehr  von  eigenem  hinzugethan  als  z.  B.  Livius.  AVar  dagegen  —  nach  der  jetzt  herrschenden,  mir  wenig 
wahrscheinlichen  Meinung  —  Strabo  die  Quelle,  so  ist  für  diesen  natürlich  eine  grössere  Selbständigkeit  anzunehmen. 

2)  Dieser  Satz  gilt  z.  B.  auch  für  die  Quellenanalyse  des  Alten  Testaments. 

3)  Dass  Appian  nicht  etwa  selbst  für  die  Gracchen  eine  andere  Quelle  benutzt  hat  als  für  die  spätere 
Zeit,  ergiebt  sich  u.  a.  auch  daraus,  dass  seine  Schilderung  der  Wirkungen  der  Uebertragung  der  Gerichtsbarkeit  auf 
die  Ritter  in  die  folgende  Zeit  vorgreift  (c.  22).  Der  Satz  über  die  d«jt)o&oxißiv  Sfxai  wird  dann  in  der  Erzählung 
über  Drusus  Gesetze  c.  35  wieder  aufgenommen.  Das  Uitheil  über  die  Rittergerichte  würde  zu  Rutilius  Rufus  sehr 
gut  stimmen. 


14 

Die  Vortrefflichkeit  der  Darstellung  bei  Appian  ist  zwar  allgemein  anerkannt,  aber  in 
der  Praxis  noch  lange  nicht  genügend  gewürdigt  worden;  hier  wie  überall  in  der  Geschichts- 
forschung ist  die  schwierigste  Aufgabe,  zu  einem  unbefangenen  Verständniss  der  üeberlieferung 
zu  gelangen  und  die  Vorurtheile  zu  erkennen  und  zu  beseitigen,  mit  denen  wir  durchweg  an 
die  Begebenheiten  herantreten.  So  hat  vor  Niese  (Hermes  XXIII,  1888,  410  ff  i)  Niemand  ge- 
wagt, Appians  Geschichte  des  ager  publicus  ernst  zu  nehmen,  das  nach  den  Späteren  von 
Licinius  und  Sextius  im  Jahre  867  erlassene  Ackergesetz  in  den  Anfang  des  zweiten  Jahr- 
hunderts hinabzurücken  und  in  dem  ager  publicus  nicht  das  Gemeinland  der  Urzeit  zu  sehen, 
sondern  die  durch  die  grossen  italischen  Kriege  des  vierten  und  dritten  Jahrhunderts  dem  Staate 
zugefallenen  und  von  ihm  nicht  assignirten  oder  zu  Colonialgründungen  verwertheten  Gebiete. 
Daraus  folgt  aber  weiter,  dass  Appians  Darstellung  völlig  correct  ist,  wonach  ein  grosser  Theil 
des  ager  publicus  von  Italikern,  Latinern  wie  Bundesgenossen,  occupirt  war.  Die  römische  Re- 
gierung hat  die  provisorische  Bebauung  des  ager  publicus  gegen  eine  Abgabe  vom  Ertrage  Jedem 
der  Lust  hat  {coig  sd-elovai)  freigegeben.  Von  dieser  Aufforderung  kann  aber  im  allgemeinen 
nur  Gebrauch  machen,  wer  vermögend  genug  ist,  um  ein  Anlagekapital  in  die  öde  daliegenden 
Ländereien  zu  stecken,  und  wer  zur  Stelle  ist,  also  seine  Arbeitskräfte  —  Tagelöhner  oder 
Sklaven  —  auf  die  seinem  Gut  benachbarten  Felder  und  Wiesen  schicken  kann.  Roms  Tochter- 
städte, die  latinischen  Colonien,  hierin  schlechter  zu  stellen  als  die  römischen  Bürger,  wäre  eine 
Ungerechtigkeit  gewesen;  aber  auch  für  einen  Ausschluss  der  Bundesgenossen  lag  um  so  weniger 
Anlass  vor,  da  die  Regierung  schon  aus  finanziellen  Gründen  ein  Interesse  daran  haben  musste, 
möglichst  viel  ager  publicus  occupirt  zu  sehen.  Mehrfach  ist  ihnen  geradezu  durch  Senats-  oder 
Vülksbeschluss  Gemeindeland  zur  Nutzniessung  überwiesen  2;  doch  haben  sie  offenbar  auch  sonst 
an  der  Occupation  in  weitestem  Umfang  Theil  genommen.  Wie  in  den  Provinzen  ^  kommen 
auch  in  Italien  die  politischen  Unterschiede  zwischen  Bürgern,  Latinern  und  Bundesgenossen 
ökonomisch  kaum  in  Betracht.  Es  ist  leicht  möglich,  dass  mehr  ager  publicus  von  den  letzteren 
occupirt  war,  als  von  römischen  Bürgern.^ 

Tiberius  Gracchus  Ziel  war  die  Wiederherstellung  der  Wehrfähigkeit  Italiens,  die  durch 
die  fortschreitende  Verarmung  der  Bauernschaft  und  durch  die  Sklavenwirthschaft  so  gut  wie 
vernichtet  war.     Bei  dem  Census  von   135  war  der  dadurch  herbeigeführte  Rückgang  der  Be- 


1)  Niese  irrt  nur  darin,  dass  er  diesen  Beiicht  auf  Posidonios  zurückfühi-t. 

2)  Davon  war  in  der  lex  agraria  von  111  ZI.  31  die  Eede:  [si  .  .  .  sociis  (so  ist  zu  ergänzen)]  nominisve 
Latini  poplice  deve  senati  sententia  ager  fruendus  datus  [est.  Vgl.  ZI.  21.  Ferner  Cio.  rep.  111,  41  Ti.  Gracchus 
.  .  .  sociorum  nominisque  Latini  iura  neglexit  ac  foedera,  vgl.  I,  31  concitatis  sociis  et  nomine  Latino,  foederibus 
violatis  (durch  das  Vorgehen  der  Ackertribunen).  Aus  diesen  beiden  Stellen  folgen  freilich  bestimmte  Clausein  der 
Verträge  durchaus  nicht  mit  Sicherheit;  es  kann  ebenso  gut  auch  an  dio  principiello  unten  S.  15  f.  zu  besprechende 
Controverse  gedacht  sein. 

3)  Vgl.  die  Italici  der  Inschriften,  Mommsen,  röm.  Staatsrecht  III,  647  ff.  Daher  richtet  sich  in  Cirta  wie 
in  Kleinasien  zur  Zeit  Mithridats  der  Hass  der  Unterthanen  ohne  Unterschied  gegen  die  Italici,  nicht  gegen  die 
Römer  allein. 

4)  Vgl.  auch  Appian  1,  36  bei  Drusus'  Anträgen  im  Jahre  91:  in  Folge  des  Colonialgesetzes  fürchten  dio 
Italiker,  ug  Tfjg  &r]uoai((s  ^l^uuiwv  yfji,  rjv  ävffxrjtov  hi  ol  /ntv  ix  ßi'ug  ol  Si  luv&üvovTeg  lyeuioyouv ,  kvtixu 
a(fC}v  ii<ffaot9-r]Goixtvr]g  —  d.  h.  sie  hatten  den  Besitz  (an  ager  publicus)  entweder,  wenn  er  offenkundig  war,  be- 
hauptet, ohne  sich  um  dio  bisherigen  Ackergesetze  zu  kümmern,  oder  es  war  bei  den  bisherigen  Verhandlungen 
noch  nicht  festgestellt  worden,  dass  sie  ager  publicus  besasseq. 


i  15 

völkerang  erschreckend  hervorgetreten. ^  Die  Gefahr  lag  greifbar  vor  aller  Augen:  die  Welt- 
herrschaft Hess  sich  nicht  länger  behaupten,  der  italische  Staat  musste  zu  Grunde  gehen,  wenn 
man  nicht  zu  der  alten  Jahrhunderte  lang  bewährten  Agrarpolitik  zurückkehrte,  welche  durch 
Assignationen  und  Coloniegründungen  immer  neue  Bauernhufen  geschaffen  hatte.  Das  einzige 
in  Italien  noch  disponible  Land  war,  da  man  auf  die  Einkünfte  der  verpachteten  campanischen 
Domainen  nicht  verzichten  konnte,  der  von  Privaten  occupirte  ager  publicus;  so  setzt  Tiberius 
Reform  hier  ein.  rqa/.yji)  ö^  6  fjtv  voüg  xov  ßovlevi.iaTog  fjv  ov/.  eg  ev/coQiav  dXV  lg  evavdqiav, 
Tov  ÖS  i'Qyov  tTj  ihrpeleia  f.taliaca  auoQOV(.iEvog,  tog  ov  xl  {.letCov  ovda  XaputQoiEQOv  dvvaf.itv7jg 
Tcoce  7Tai}eiv  Tf]g  'Izaliag,  xov  neql  avvb  dvoyßQovg  ovo'  Ivtd-vi-ieiTO ,  sagt  Appian  c.  11.  Aus 
zwei  Reden  des  Tiberius  hat  er  Auszüge  bewahrt,  aus  der  Rede  bei  der  Einbringung  des  Ge- 
setzes (c.  9),  in  der  er  die  Nothlage  des  tapferen  und  stammverwandten  italischen  Volkes  darlegt 
{eoei-ivoloyrjoe  jieql  tod^IraXiAod  ytvovg  cbg  EV7ColEf.iiüTatov  xe  /ml  avyyEvovg)  und  die  Gefahren  der 
Sklavenwirthschaft  durch  den  Hinweis  auf  den  nun  schon  ins  dritte  Jahr  fortgehenden  sicilischen 
Sklavenkrieg  illustrirt  —  dieser  Rede  gehören  die  bei  Plutarch  Ti.  Gr.  9  bewahrten  Bruchstücke 
an,  dass  die  Thiere  Italiens  ihren  Unterschlupf  haben,  die  aber,  welche  für  Italien  kämpfen 
und  sterben,  nichts  ihr  eigen  nennen  als  Luft  und  Licht  —  und  aus  der  Rede  vor  der  Ab- 
stimmung, die  dann  durch  Octavius'  Intercession  gehindert  wird  (c.  11).  Es  kann  keinem  Zweifel 
unterliegen,  dass  hier  die  authentischen  Reden  des  Tiberius  benutzt,  und  von  der  Urquelle  wohl 
im  Wortlaut  aufgenommen  sind. 

Aus  Appians  Darstellung  ist  bereits  oft  mit  Recht  gefolgert  worden,  dass  zu  den  Assigna- 
tionen auch  die  Bundesgenossen  zugelassen  werden  sollten,  wie  früher  bei  der  Anlage  latinischer 
Colonien;  es  gilt  ja  Italien  (z.  B.  Etrurien  nach  C.  Gracchus'  Aussage  Plut.  Ti.  Gr.  8)  wieder  wehr- 
fähig zu  machen,  nicht  nur  das  römische  Bürgergebiet.  Andrerseits  bedrohte  die  Confiscation 
des  über  das  gesetzliche  Maass  hinausgehenden  Staatslandes  eben  so  gut  den  Besitz  der  Latiner 
und  Bundesgenossen,  wie  den  der  römischen  Bürger.  Deshalb  strömen  nach  der  Promulgation 
des  Gesetzes  auch  die  Bewohner  der  (latinischen)  Colonien  wie  die  der  Municipien  nach  Rom, 
um  für  und  wider  Stellung  zu  nehmen  2;  die  Latiner  haben  ja  Stimmrecht  in  den  Tributcomitien. 
Hier  erhob  sich  jedoch  ein  schweres  rechtliches  Bedenken.  Ueber  den  Besitz  der  eigenen  Bürger 
mochte  die  römische  Gemeinde  entscheiden  wie  sie  wollte;  die  reichen  Grundbesitzer  mochten 
den  Verlust  eines  beträchtlichen  Theiles  ihres  Vermögens,  den  das  Ackergesetz  nicht  rechtlich 
aber  thatsächlich  bedeutete,  schwer  empfinden,  ein  Mittel  gegen  ein  rechtsbeständiges  Gesetz 
—  und  als  solches  ist  Tiberius'  Ackergesetz  bekanntlich  nach  seinem  Tode  trotz  der  Absetzung 
des  Octavius  vom  Senat  anerkannt  —  hatten  sie  nicht.  Aber  hatte  das  römische  Volk  das  Recht, 
Bürgern  der  souveränen  latinischen  und  bundesgenössischen  Staaten  einen  Grundbesitz  zu  nehmen, 
den  ihre  Vorfahren  unter  Zulassung,  ja  auf  directe  Aufforderung  der  römischen  Regierung  occupirt 
hatten,  in  dem  ein  Haupttheil  ihres  Vermögens  bestand?  Rechtlich  vielleicht,  aber  der  Billigkeit 
entsprach   ein  solches  Vorgehen  gewiss  nicht.     Ohnedies  empfanden  diese  Gemeinden  die  Um- 


1)  317,933  römische  Bürger  gegen  827,422  im  Jahre  141;  der  Censor  des  Jahres  136,  Appius  Claudius, 
der  erbitterte  Gegner  des  Scipio  Aemilianus,  war  ein  Hauptförderer  des  Ti.  Gracchus  und  zugleich  sein  Schwieger- 
vater. Noch  viel  ärger  als  der  absolute  Rückgang  der  Bürgerschaft  muss  die  Verschiebung  des  Besitzes  innerhalb 
dei-selben  gewesen  sein,  das  Anwachsen  des  Proletariats  auf  der  einen,  der  grossen  Vermögen  auf  der  anderen  Seite. 

2)  Tilfj&oi  äXXo  öaov  iv  rcdg  anoixoi^  nöXtaiv  ^  taig  iaonoXiTKSiv  fj  ällwg  fxoivcjvfc  TTjaSs  t^i;  y^i  App.  10. 


16 

wälzung  der  ökonomischen  Verhältnisse  in  Italien  schwer  genug,  den  Rückgang  der  Getreide- 
preise, die  Entwickelung  des  Grosskapitals,  den  fortwährenden  Abfluss  ihrer  Bürger  nach  Rom, 
wo  sie  entweder  als  Peregrinen  lebten,  oder  oft  genug,  sei  es  auf  rechtmässigem  oder  unrecht- 
mässigem Wege,  das  römische  Bürgerrecht  erlangten,  während  die  Gemeinden  selbst  nach  wie 
vor  die  gleichen  Lasten  zu  tragen  hatten  wie  früher.^  Konnte  ihnen  jetzt  zugemuthet  werden, 
dass  gerade  ihre  reichsten  und  leistungsfähigsten  Bürger  einen  grossen  Theil  ihres  Besitzes  ohne 
Entschädigung  hergeben  sollten?  Und  wie  konnten  sich  vollends  römische  Beamte,  die  Acker- 
triumvirn,  die  Befugniss  anmaassen,  über  den  Landbesitz  der  Bürger  auswärtiger  verbündeter 
Staaten  zu  entscheiden,  deren  rechtliche  Freiheit  ausdrücklich  anerkannt  war?  Es  war  natür- 
lich, dass  man  darin  eine  schwere  Verletzung  des  Bundesrechts,  einen  Uebergriff  Roms  in 
die  privatrechtlichen  Verhältnisse  selbständiger  Gemeinden  sah,  dass  die  Italiker  in  Rom  die 
dringendsten  Klagen  und  Vorstellungen  erhoben.  Sobald  die  Triumvirn  ernstlich  an  ihr  Ge- 
schäft gehen  und  die  Processe  auf  Grund  der  bei  ihnen  eingehenden  Delationen  beginnen 2,  tritt 
auch  die  Bundesgenossenfrage  in  den  Vordergrund.  Scipio  Aemilianus,  der  bei  den  Verhand- 
lungen des  Jahres  130  bereits  seine  Verurtheilung  des  Vorgehens  des  Tiberius  offen  aus- 
gesprochen hatte,  nimmt  sich  ihrer  an,  da  er  es  aus  militärischen  Gründen  für  gefährlich  hielt, 
ihre  Ansprüche  abzuweisen  (App.  19);  er  setzt  zunächst  durch,  dass  den  Triumvirn  die  Gerichts- 
barkeit genommen  wird.  Als  er  dann  die  definitive  Lösung  der  Frage  vorbereitet  und  die 
Gracchaner,  wie  Appian  sagt,  bereits  eine  blutige  Gegenrevolution  fürchten  —  die  Senatspartei 
wollte  ihn  zum  Dictator  machen  (Cic.  rep.  VI,  12)  — ,  ereilt  ihn  der  Tod  durch  den  Dolch 
der  Gegner. 


1)  Liv.  39,  3  die  Latiner  klagen  im  Jahre  187,  magnam  multitudineni  civium  suorum  Romaui  commigrasse 
et  ibi  ccnsos  esse;  in  Folge  dessen  werden  alle,  die,  oder  deren  Väter,  beim  Census  des  Jahres  204  oder  einer  der 
folgenden  Censuren  noch  als  socii  censirt  sind,  in  ihre  Heimath  verwiesen;  nicht  weniger  als  1 2,000  Latiner.  Natür- 
lich hat  man  sich  das  nicht  so  zu  denken,  als  hätten  diese  nun  Rom  verlassen  und  wieder  in  ihre  Heimath  über- 
siedeln müssen,  sondern  die  in  Rom  ansässigen  Latiner  werden  ihren  Heimathgemeinden  zum  Census  (und  damit 
zugleich  zur  Leistung  der  Dienstpflicht)  überwiesen.  Daher  hat  die  Maassregel  wenig  Erfolg.  Dieselben  Klagen 
wiederholen  sich  177  (Liv.  41,  8):  wenn  die  Dinge  so  weiter  gingen,  würden  nach  wenig  Lustren  die  verödeten 
Städte  und  Aecker  keine  Soldaten  mehr  stellen  können.  In  Folge  dessen  wird  die  Erschleichung  des  Bürgerrechts 
durch  manu  missio  civitatis  mutandae  causa  verboten,  alle  Bundesgenossen  und  Latiner  (die  Streichung  des  ac  in 
der  Formel  socii  ac  nominis  Latini  Liv.  41,  8,  9.  9,  9  halte  ich  für  falsch),  die  bei  der  Censur  von  189  oder  später 
noch  nicht  Bürger  waren,  bis  zum  1.  November  in  die  Heimath  gewiesen.  Aehnlich  wird  bei  der  Censur  173  ver- 
fahren (Liv.  42,  10),  während  die  Censoren  des  Jahres  168,  C.  Claudius  Pulcher  und  Ti.  Gracchus  der  Vater,  die  ja 
dieselbe  Politik  vertreten  wie  nachher  Ap.  Claudius  und  Ti.  Gracchus  der  Sohn,  nach  Ausweis  der  hohen  von  ihnen 
erreichten  Bürgerzahl  offenbar  wieder  eine  milde  Praxis  geübt  haben  (312,805  Bürger  gegen  269,015  im  Jahre  173). 
Derselbe  Vorgang  wiederholt  sich  bei  den  übrigen  grossen  Städten  Italiens  im  Verhältniss  zum  Hinterland. 
So  klagen  im  Jahre  177  die  Samniten  und  Paeligner,  dass  40(X)  Familien  nach  Fregellae  übergesiedelt  seien, 
Liv.  41,  8,  8. 

2)  Der  Bericht  darüber  bei  Appian  18  ist  von  Nitzsch,  Gracchen  346,  vollkommen  falsch  verstanden 
worden.  Er  lautet:  „sofort  entstanden  eine  Menge  Processe.  Denn  auch  alles  angrenzende  Land,  mochte  es  nun 
verkauft  oder  an  die  Bundesgenossen  vertheilt  sein  [das  also  nicht  mehr  ager  publicus,  sondern  Privatbesitz  ist], 
wurde  im  weitesten  Umfang  {unaaa\  um  die  Grenzen  des  ager  publicus  festzustellen  {Scä  ro  rfjn&s  ^iTQov),  in  die 
Untersuchung  hineingezogen  und  der  Nachweis  gefordert  wie  es  verkauft  oder  zugewiesen  war.  Viele  Eigenthümer 
aber  hatten  die  Kaufverträge  oder  die  Zuweisungsurkunden  {xXrii)ov/Jui)  nicht  mehr,  und  wo  sie  sich  fanden,  waren 
sie  zweideutig  abgefasst".  Hier  ist  mit  keinem  Wort  davon  die  Rede,  dass  „die  alten  Assignationen ,  gleichsam 
das  Grundgesetz  jener  latinisöhen  Colonien"  in  Frage  gezogen  seien,  sondern  es  wird  nur  erzählt,  dass  aller  Privat- 
besitz, wenn  er  als  solcher  nicht  erwiesen  werden  konnte,  Gefahr  lief,  als  ager  publicus  in  Anspruch  genommen 
zu  werden. 


17 

So  war  die  Ackervertheilimg  brach  gelegt,  bis  die  Entscheidung  über  die  Italiker  ge- 
fallen war.i  Um  diese  zu  entschädigen,  bieten  ihnen  die  Demokraten  das  römische  Bürgerrecht 
als  Ersatz  für  den  ager  publicus,  den  sie  alsdann  als  römische  Bürger  auf  Grund  des  rechtsbeständigen 
sempronischen  Gesetzes  ohne  weiteres  aufgeben  müssen;  und  daraufgehen  die  Italiker  ein.  Freilich 
giebt  es  Gemeinden  genug,  welche  gar  keine  Neigung  haben,  ihre  Selbständigkeit  aufzugeben 
und  in  der  homogenen  Masse  der  cives  Romani  zu  verschwinden  —  der  Partikularismus  der 
italischen  Staaten,  der  natürlich  im  dritten  Jahrhundert  noch  weit  stärker  gewesen  ist  und  die 
von  den  Neueren  wohl  geforderte  Ausdehnung  des  Bürgerrechts  auf  ganz  Italien  in  dieser  Zeit 
als  einen  unmöglichen  Gedanken  erscheinen  lässt,  wird  meist  lange  nicht  genügend  beachtet  — ; 
daher  beantragt  Fulvius  Flaccus  125  das  Gesetz  de  civitate  danda  et  de  provocatione  eorum,  qui 
civitatem  mutare  noluissent  (Val.  Max.  IX,  5,  1),  während  C.  Gracchus  nur  den  Latinem  das 
volle  Bürgerrecht  geben,  den  übrigen  Bundesgenossen  dagegen  ihre  Selbstverwaltung  belassen, 
aber  das  Recht  ertheilen  will,  in  den  (Tribut-) comitien  mitzustimmen,  wie  bisher  die  Latiner. 
Die  Bundesgenossen  sind  auf  diese  Pläne  eingegangen  —  wenn  auch  die  Opposition,  welche  im 
Jahre  91  namentlich  die  Etrusker  und  Umbrer  gegen  Drusus'  gleichartige  Pläne  erhoben  (App. 
civ.  I,  36),  auch  jetzt  schon  hervorgetreten  sein  wird  — ;  wie  ihre  Durchführung  vereitelt  wurde, 
ist  allbekannt. 

Ich  bin  auf  diese  Dinge  genauer  eingegangen,  weil  die  Neueren  den  Zusammenhang  der 
Entwickelung,  den  wir  aus  Appians  Darstellung  gewinnen  können,  meist  nicht  klar  genug  erkannt 
haben.  Erst  so  tritt  die  Einheitlichkeit  des  Fortschritts  der  Bewegung  hervor.  Mommsen  ist 
durch  die  den  Quellen  widersprechende  Annahme,  dass  die  Ackervertheilung  im  wesentlichen 
beendet  gewesen  sei,  dazu  gelangt,  Gaius  Gracchus  Gesetzgebung  in  zwei  Theile  zu  zerlegen. 
„Als  Gracchus  die  von  ihm  entworfene  neue  Staatsverfassung  wesentlich  vollendet  hatte,  legte 
er  Hand  an  ein  zweites  und  schwierigeres  Werk"  nämlich  die  Bundesgenossenfrage.  In  Wirk- 
lichkeit erwächst  die  letztere  nicht  minder  aus  der  Agrarfrage  wie  die  Umgestaltung  der  Ver- 
fassung. Tiberius  hatte  geglaubt,  geradeswegs  zum  Ziel  gelangen  zu  können;  Gaius,  durch  den 
Verlauf  der  Entwickelung  belehrt,  sucht  sicli  zunächst  den  Weg  zu  bahnen.  Deshalb  beginnt 
er  damit,  die  Maassregeln  zum  Sturz  des  Senatsregiments  und  zur  Begründung  einer  Demokratie 
durchzusetzen,  welche  sein  Bruder  in  der  Noth  vorbereitet  hatte  um  sich  zu  behaupten.  Nach- 
dem er  so  seine  persönliche  Herrschaft  begründet  hat,  tritt  er  mit  dem  Bundesgenossengesetz 
hervor.  Aber  das  eigentliche  Ziel  bleibt  immer  die  Durchführung  des  Ackergesetzes,  d.  h.  Wieder- 
herstellung der  italischen  Nation  aus  ihrem  Verfall.  Mit  seinem  Niedergang  ist  auch  die  Erreichung 
dieses  Ziels  definitiv  vereitelt;  Appian  berichtet  uns  in  einem  leider  nur  zu  kurzen  Excerpt  (c.  27), 
wie  während  des  nächsten  Jahrzehnts  das  Ackergesetz  begraben  wird:  /.al  ö  %<og  dd^QÖtog  aTtdvzwv 
e^erce7trib/.eL-  6&ev  torcdviCov  stl  fiällov  6f.iov  TtoXiTwv  re  y.al  aiQaTKotwv  [die  folgenden  Worte 
xal  yfjg  TtQooööou  xai  öiavofAtov  Y.al  v6f.uov  sind  leider  ganz  unverständlich;  gemeint  ist  jeden- 
falls: sie  erhielten  weder  den  Acker  noch  die  Einkünfte  von  demselben].  Die  Folgen  sind  nicht 
ausgeblieben.     Bei  der  nächsten  grossen  äusseren  Krisis  werden  die  Grundlagen  des  republika- 


1)  App.  21  TTjv  &i  ftui'Qeaiv  rfjg  y^s  ol  xtxrrifxivoi  z«l  w?  (trotz  Scipios  Tod)  JttI  nQotfüatai,  7ioix(i.tus 
oittftQov  inl  nkftarov  xtti  rivfg  iariyoDvTO  jovg  avfZfiä/ovg  linuvTctg,  dt  S>]  niQi  rfjg  yijg  fidhatu  uvT^liyov,  ig 
Tr]v  P(üfi(tt(»v  nohrefttv  üvuyQdipat,,  tag  fiii%ovi,  /«()trt  ntQi  Tfjg  yfjg  ov  &ioiaofi(voig •  x(u  i^(/ovTO  äa^utvoi  tov'^ 
Ol   IrahSiTat, ,  nQOTiQ-^vrig  tOv  ^lOQt'wv  Tr]v  noXiradtv. 

Moyor,  Untersuchungen  zur  Geschichte  der  Gracchen.  3 


18 

nischen  Heersystems  aufgegeben  und  damit  die  Entscheidung  vom  Forum  ins  Heer  verlegt.  Auch 
die  Zukunft  kannte  noch  zahlreiche  Ackergesetze,  aber  nicht  mehr  um  eine  wehrfähige  Bürger- 
schaft zu  schaffen,  sondern  um  die  ausgedienten  Söldner  zu  versorgen,  und  das  letzte  Resultat 
ist,  dass  Italien,  der  nominelle  Weltherrscher,  entwaffnet  und  geknechtet  ist  und  bei  der  Ent- 
scheidung seiner  Schicksale  viel  weniger  mitzureden  hat  als  die  Provinzen.  — 

Schon  die  bisherige  Darlegung  lässt  die  Sympathie  erkennen,  mit  der  Appian's  Quelle 
die  Gracchen  und  ihre  Bestrebungen  betrachtet,  in  schärfstem  Gegensatz  zu  Posidonios'  Urtheil. 
Aber  eine  Apologie  derselben  giebt  sie  nicht;  bei  aller  Sympathie  erkennt  sie  ihre  Verschuldung 
an.  Tiberius  findet  seinen  Tod  ccQiarov  ßovXev^iarog  Vvevia,  ßiaiwg  avaft  TtQoaicov  (c.  17).  Aehnlich 
wird  Gaius'  Untergang  beurtheilt;  er  ist  sich  seines  Unrechts  wohl  bewusst.i  Beide  haben  ihre 
Katastrophe  selbst  dadurch  herbeigeführt,  dass  sie,  um  sich  zu  behaupten,  zur  Gewalt  gi'eifen 
und  dadurch  die  Gegner  zur  Gegenwehr  zwingen.  Tiberius  hat  in  Folge  seines  Auftretens  gegen 
Octavius  den  politischen  Untergang  zu  gewärtigen,  sobald  sein  Amt  abgelaufen  ist,  da  der  Kern 
seiner  Anhänger  nach  Annahme  des  Gesetzes  aufs  Land  zurückgekehrt  ist  und  die  Gegner  in 
der  Stadt  selbst  starken  Anhang  haben.  So  bleibt  ihm  nur  die  Möglichkeit,  sich  seine  Existenz 
durch  Erneuerung  des  Tribunats  zu  sichern.  Daher  muss  er  sich  dem  städtischen  Demos  in  die 
Arme  werfen  und  die  Maassregeln  zur  Begründung  einer  Demokratie,  oder,  wie  die  Gegner 
sagten,  einer  Tyrannis,  ergreifen,  welche  später  sein  Bruder  durchgeführt  hat.^  Auch  war  ihm 
der  Erfolg  bereits  sicher,  als  die  Reichen  Einspruch  erhoben:  die  Continuation  des  Tribunats  sei 
ungesetzlich.^  Der  wahlleitende  Tribun  Rubrius  erkannte  den  Einspruch  an,  die  übrigen  Tribunen 
schwankten ;  Differenzen  über  die  Wahlleitung  kamen  hinzu.  So  wurde  die  Wahl  vertagt.  Tiberius 
gab  seine  Sache  verloren:  er  legte  das  Trauergewand  an  und  empfahl  seinen  Sohn  dem  Schutze 


1)  c.  25  ivo/lovf^fvos  vno  toö  avvtt,S6Tog  wg  inl  uU.oxoTOig  ßovXfvfjaGi;  iB.  6  &t  fiiiXXöv  re  x)-OQvßr]d^f)s 
xctl  Seioag  wg  x«Tu(f(OQog.  Dass  die  Behauptung  des  Gracchus  und  Flaccus,  die  Vorzeichen  bei  der  Neugründung 
Karthagos  seien  im  Senat  gefälscht,  als  Wahnsinn  bezeichnet  wird  (c.  24  fj.efiriv6aiv  iotxörtg)^  geht  dagegen  wohl 
auf  Appian  selbst,  der  ja  durchaus  gläubig  ist,  nicht  auf  seine  Quelle  zurück. 

2)  Den  Inhalt  der  geplanten  Gesetze  lernen  wir  nur  aus  Plut.  Ti.  Gr.  16  und  Dio  fr.  82,  7  ed.  Melber  kennen; 
wir  haben  aber  keinen  Grund  zu  bezweifeln,  dass  auch  i;^pians  Urquelle  sie  gekannt  haben  wird,  wenn  auch  seine 
Vorlage  sie  schon  übergangen  haben  mag.  Dio  berichtet  auch,  er  habe  seinen  Schwiegervater  App.  Claudius  zum 
Consul  machen  wollen. 

3)  Die  Frage  ist  offenbar  gewesen,  ob  das  Gesetz,  ne  quis  eundem  magistratum  intra  decem  annos  caperet, 
auch  für  das  Tribunat  gelte,  mit  anderen  Worten,  ob  das  Tribunat  eine  Magistratur  sei,  also  eine  Frage,  die  sich 
mit  der  bei  der  Absetzung  des  Octavius  aufgeworfenen  aufs  engste  berührt.  Daher  sucht  bekanntlich  Garbo  als 
Tribun  130  das  Gesetz  durohzubringen  ut  eundem  tribunum  plebi  quotiens  vellet  creare  liceret,  das  durch  Scipios 
Opposition  zu  Fall  kommt.  Kurz  darauf  wird  ein  Gesetz  angenommen  *(  ^r'jiiuQ/og  ^v^eot  riug  nuQtyyillavg ,  tov 
Sfiixov  ly.  7t(cvT0)v  i7it,ki'yta&(u,  das  Gaius'  Wiederwahl  ermöglicht  (App.  21).  Appians  Ausdruck  ist  hier,  wie  nicht 
selten,  so  gekürzt,  dass  es  unmöglich  ist,  den  genauen  Sinn  festzustellen;  vermuthlich  hat  er  in  solchen  Fällen  seine 
Vorlage  selbst  nicht  verstanden.  Gewöhnlich  meint  man,  die  Bestimmung  gebe  die  Wahl  frei,  wenn  es  an  ge- 
eigneten Candidaten  fehle.  Aber  das  ist  undenkbar;  wenn  es  auf  weiter  nichts  ankam,  hätten  die  Gegner  zehn 
qualificirte  Candidaten  in  jedem  Falle  aufstellen  können.  Vielmehr  wird,  wenn  das  Volk  die  Bewerber  nicht  für 
tüchtig  genug  hält  ■ —  und  das  zeigt  sich  eben  dadurch ,  dass  es  sie  bei  der  Abstimmung  übergeht  — ,  den  Tribus  frei- 
gegeben, ihre  Stimme  auch  irgend  Jemand  anders  zu  geben,  der  sich  nicht  beworben  hat;  dabei  fällt  natürlich  auch 
die  Ausschliessung  der  im  Amte  befindlichen  Tribunen  fort.  So  gelangt  C.  Gracchus  zum  zweiten  Tribunat,  ohne 
als  Candidat  aufgetreten  zu  sein  {ßrj^Ho/og  untStf/d^ri  rb  SevnQov  ov  nuQuyytllwv  ovSt  fxtTiibv,  uXXä  tov  &i]fj.ov 
anovMauvTog  Plut.  C.  Gr.  8).  So  wird  sich  auch  der  Vorwurf  erklären ,  die  zweite  Wiederwahl  des  Gaius  sei  durch 
die  Eifersucht  der  Tribunen  vereitelt,  sie  hätten  ihn  nicht  renuntiirt,  obwohl  er  die  meisten  Stimmen  erhielt  (Plut. 
C.  Gr.  12,  mit  dem  Zusatz  ullä  tuOtu  fiiv  (\u(ftaß)]TrjGiv  tlxtv).  Offenbar  behandelte  der  wahlleitende  Tribun  die 
auf  ihn  fallenden  Stimmen  als  ungültig,  und  er  konnte  das  wagen,  weil  Gaius'  Macht  bereits  erschüttert  war. 


19 

des  Volks.  Das  Mitleid,  das  er  erregt,  das  grosse  Gefolge,  das  ihn  am  Abend  nach  Hause  ge- 
leitet und  ihm  Muth  zuspricht,  giebt  ihm  neues  Vertrauen.  Auf  friedlichem  Wege  konnte  er 
nicht  zum  Ziel  gelangen;  also  entschliesst  er  sich  zur  gewaltsamen  Durchsetzung  seiner  Wahl 
verabredet  ein  Zeichen,  wenn  offener  Kampf  nothwendig  ^verden  sollte,  und  besetzt  den  capi- 
tolinischen  Tempel.  Als  am  nächsten  Morgen  die  Opposition  seine  Wahl  aufs  neue  bekämpft 
giebt  er  das  Zeichen.  Seine  Anhänger  gürten  sich  zum  Kampf,  entreissen  den  Lictoren  ihre 
Stäbe,  und  verjagen  die  Gegner  aus  der  Versammlung.  In  dem  Getümmel  fliehen  die  Tribunen, 
der  Tempel  wird  geschlossen,  man  glaubt,  dass  Tiberius  die  Aviderspänstigen  Tribunen  abgesetzt, 
sich  selbst  ohne  Wahl  zum  Tribunen  für  das  nächste  Jahr  ausgerufen  hat.  Die  Kunde  davon 
dringt  in  den  im  Fidestempel  versammelten  Senat.  Dass  der  Consul  Scaevola  die  Aufforderung 
einzuschreiten  zurückweist,  bis  man  genauere  Kunde  habe,  übergeht  Appian.  Scipio  Nasica^ 
tritt  an  die  Spitze  der  Senatoren,  mit  aufgeschürzter  Toga,  den  Saum  um  die  Stirne  gebunden 2, 
stürmen  sie  das  Capitol  hinauf,  ergreifen,  was  von  Hölzern,  Stuhlbeinen  u.  s.  w.  herumliegt,  alles 
weicht  vor  ihnen  zurück,  Tiberius  wird  mit  vielen  seiner  Anhänger  vor  der  Thür  des  Tempels 
bei  den  Statuen  der  Könige  erschlagen. 

Gleichartig  ist  der  Bericht  über  Gaius'  Untergang.^  Nur  ist  zu  beachten,  dass  Appian  hier 
ganz  ausserordentlich  gekürzt  hat.*  So  schliesst  er  die  Katastrophe  unmittelbar  an  die  Rückkehr 
des  Gaius  und  Flaccus^  aus  Karthago  an,  ohne  auch  nur  zu  erwähnen,  dass  Gaius  nicht  wieder- 
gewählt wird  und  dass  sein  Tribunat  inzwischen  abgelaufen  ist.  Ebenso  wenig  erfährt  man,  dass 
zwischen  der  Niederlegung  des  Tribunats  am  10.  Dec.  122  und  der  Katastrophe  im  Sommer  12 1^ 


1)  Appian  bezeichnet  ihn  fälschlich  bereits  als  pontifex  maximus,  was  er  erst  nach  Crassus  Tode  wurde. 

2)  Appian  zerbricht  sich  unnöthig  den  Kopf  um  diesen  sehr  natürlichen  Vorgang  zu  erklären.  Um  das 
Capitol  hinaufstürmen  zu  können,  muss  man  die  Beine  frei  haben;  zugleich  dient  die  um  den  Kopf  geschlagene 
Toga  zum  Schutz. 

3)  Einen  entschiedenen  Fehler  enthält  die  Angabe,  Gaius  habe  sich  nach  der  Katastrophe  seines  Bruders 
lange  Zeit  ruhig  gehalten  und  vom  politischen  Leben  zurückgezogen  (App.  21  =  Plut.  C.  Gr.  1).  In  Wirklichkeit 
ist  er  politisch  so  thätig  gewesen,  wie  es  bei  seiner  Jugend  nur  irgend  möglich  war.  Er  war  seit  133  ununter- 
brochen Ti-iumvir,  unterstützte  130  den  Garbo  gegen  Scipio  (s.  u.  S.  26  A.  2)  und  stand  im  Kampf  gegen  diesen  voran  (Cic. 
Lael.  39  at  vero  Ti.  Gracchum  sequebantur  C.  Garbo,  C.  Cato,  et  minime  tum  quidem  Gaius  frater,  nunc  (im  Jahre  129) 
idem  acerrimus);  im  Jahre  126  bekiimpft  er  als  Quästor  das  Vorgehen  des  Pennus  gegen  die  Peregrinep;  genug  er 
war  von  Anfang  an  nicht  nur  die  kommende  Hoffnung,  sondern  bereits  einer  der  thätigsten  Führer  seiner  Partei. 

4)  Für  die  Ordnung  der  widerspruchsvollen  Angaben  über  die  Ghronologie  des  Gaius  ist  zu  beachten,  dass 
die  Wahl  zum  Tribunat  (die  Appian  offenbar  mit  dem  Antritt  desselben  verwechselt  hat,  wenn  er  alle  Gesetze  ausser 
dem  Getreidegesetz  in  sein  zweites  Tribunat  legt,  während  Plutarch  c.  8  sie  fälschlich  erst  nach  der  Wahl  des 
Fannius  zum  Gonsul  für  122  erzählt,  also  an  der  Stelle  bringt,  wo  er  richtig  den  Antritt  des  zweiten  Tribunats  hätte 
erzählen  sollen)  in  den  Hochsommer  fällt  (vgl.  App.  civ.  1,  14),  ein  halbes  Jahr  vor  den  Antritt.  Gaius  hat  sein 
Tribunat  mit  der  Darlegung  seines  Programms  eröffnet,  dann  aber  zunächst  die  beiden  gegen  Popillius  Laenas  und 
Octavius  gei'iehteten  Gesetze  durchgebracht,  die  für  die  Vergangenheit  Rache  üben  und  ihm  für  die  Zukunft  seine 
Stellung  sichern  sollten  (Plut.  4.  Diod.  34,  25,  2.  26.  Appian  übergeht  dieselben  als  unwesentlich  ganz).  Darauf 
folgen  die  constitutiven  Gesetze  der  Reihe  nach,  und  hier  wird  Appiaus  Angabe  gewiss  richtig  sein,  dass  die  lex 
frumentaria  zuerst,  das  Richtergesetz,  aber  erst  nach  der  Wiederwahl  zum  Tribunat  durchgebracht  wurde.  Dass  die 
Colonialgesetze  des  Gracchus  und  des  Rubrius  ins  Jahr  123  gehören,  bezeugen  Vell.  I,  15.  Eutrop  IV,  21  =  Gros.  V,  12. 
Die  Ereignisse  des  Jahres  122  hat  Appian  dagegen  umgestellt,  um  zu  einer  rascheren  und  glatteren  Erzählung  zu 
gelangen,  wie  er  das  nicht  selten  thut.  Plutarchs  Anordnung:  1)  Agitation  des  Drusus;  2)  Gaius  in  Karthago;  3)  Aus- 
weisung der  Bundesgenossen  durch  Fannius,  Scheitern  des  Bundesgenossengesetzes,  ist  offenbar  die  allein  richtige. 

5)  So  Appian  24,  während  Plutarch  ausdrücklich  angiebt,  dass  Flaccus  während  Gaius'  Abwesenheit  in 
Rom  blieb  (c.  10.  11).     Offenbar  liegt  hier  eine  Flüchtigkeit  Appians  oder  seiner  Quelle  vor. 

6)  Appian  25  bezeichnet  Opimius  als  ös  intSri^ti,  twv  vnüxwv.  Also  der  andere  Consul  Q.  Fabius 
Maximus  war  bereits  zum  Allobrogerkriege  abgegangen. 


20 

mehrere  Monate,  vielleicht  ein  volles  halbes  Jahr,  liegen;  auch  Plutarch  geht  über  diese  Zwischen- 
zeit völlig  hinweg.  Das  ist  natürlich  für  die  Urquelle  zu  ergänzen.  Gaius  war  auch  nach  Ab- 
lauf des  Tribunats  als  Triumvir  für  die  Ackervertheilung  wie  für  Karthago  noch  Beamter  i,  und 
überdies  hatte  er  keinen  formalen  Rechtsbruch  in  der  Art  seines  Bruders  begangen.  So  war  ein 
directer  Angriff  auf  ihn  unmöglich.  Und  doch  konnte  es  keinem  Denkenden  zweifelhaft  sein, 
dass  es  sich  um  einen  Kampf  auf  Tod  und  Leben  handelte.  Der  Senat  musste,  wenn  er  seine 
Stellung  wiedergewinnen  wollte,  nicht  nur  sein  Werk  zu  vernichten  streben,  sondern  auch  den 
Mann  selbst,  der  ein  Jahr  lang  (von  der  Wiederwahl  Sommer  123  bis  zur  Vereitelung  der  Wieder- 
wahl im  Sommer  122)  wie  ein  Monarch  {f.tovaQxi/,fj  rig  iaxvg  iyeySvei  7ceqI  adröv  Plut.  C.  Grr.  6  2), 
wie  Perikles  in  Athen,  an  der  Spitze  des  Staates  gestanden  hatte,  Gaius  musste  alles  daran 
setzen,  sein  Werk  zu  erhalten.  Seitdem  Drusus  ihm  in  der  Yolksgunst  den  Rang  abgelaufen 
hatte,  wird  er  langsam  aus  einer  Position  nach  der  anderen  gedrängt;  die  Trümmer  der  Livia- 
nischen  Ueberlieferung  lassen  wenigstens  andeutend  die  Kämpfe  der  ersten  Hälfte  des  Jahres  121 
erkennen  3,  und  eine  bei  Cicero  bewahrte  Aeusserung*  zeigt  wie  sehr  sich  Gaius  seiner  ver- 
zweifelten Lage  bewusst  war  —  welchem  Ende  er  entgegen  ging,  hat  Gaius  ja  schon  beim  Be- 
ginn seines  Tribunats  in  ergreifenden  Worten  ausgesprochen. ^  Als  jetzt  Minucius'  Antrag  auf 
Aufhebung  der  Colonie  Karthago  zur  Abstimmung  kommt,  entschliessen  sich  Gaius  und  Flaccus 
zur  Gewalt.  Seine  Anhänger  bewaffnen  sich  mit  Dolchen,  während  Flaccus  auf  dem  Platz  vor 
dem  Capitol  zum  Volk  spricht,  führt  Gracchus  sie  hinauf.  Von  Gewissensbissen  gepeinigt  — 
man  sieht  wie  nahe  hier  trotz  aller  Abweichungen  die  Auffassung  der  Quelle  Appians  der  des 
Posidonios  kommt  —  geht  er  in  den  Säulengang,  um  die  Entwickelung  abzuwarten.  Hier  opfert 
Antullus  (der  Quintus  des  Posidonios),  ein  Mann  aus  dem  Volke.  Als  er  Gracchus  sieht,  bittet 
er  ihn,  das  Vaterland  zu  schonen,  Gracchus  blickt  ihn  wild  an,  er  fühlt  sich  ertappt  [yMTdcpioQog)] 
einer  von  Gracchus  Gefolge  stösst  ihn  nieder,  ohne  dass  Gracchus  es  befohlen  hat:  er  glaubte 
der  Moment  zum  Losschlagen  sei  gekommen  (bei  Posidonios  stösst  Gracchus  den  Quintus  zurück 
und  befiehlt  ihn  zu  tödten).  Da  entsteht  ein  Tumult,  alles  flieht;  Gracchus  sucht  auf  dem  Forum 
sich  zu  vertheidigen ,  aber  niemand  will  ihn  hören.  So  geht  die  Zeit  verloren.  Des  Nachts 
versammeln  Gracchus  und  Flaccus  ihre  Anhänger  in  ihren  Häusern,  die  übrige  Menge  besetzt 
das  Forum.  Der  Consul  Opimius  lässt  am  Morgen  das  Capitol  besetzen  und  beruft  den  Senat, ^ 
er  selbst  leitet  vom  Castortempel  aus  die  Operationen.  Der  Senat  fordert  Gracchus  und  Flaccus 
vor,  sie  aber  besetzen  den  Aventin  und  rufen,  freilich  vergeblich,  die  Sklaven  zur  Freiheit  auf, 


1)  Sallust  lug.  42. 

2)  Vgl.  Vell.  II,  6  Fulvium  Flaccum  ,  .  .  quem  C.  Gracchus  in  locum  Tiberii  fratris  triumvirum  nomi- 
naverat  et  eura  socium  regalis  adsumserat  potentiae. 

3)  Oros.  V,  12,  5  Minucius  tribunus  plebi  cum  maxima  ex  parte  decessoris  sui  Gracchi  statuta  con- 
vulsisset  legesque  abrogasset.  Genauer  hatte  das  Posidonios  dargelegt:  Diod.  34,  28a  noXkovg  f/wv  rovg  awuywvi- 
arttg  üvTtTÜTTtTO  ö  rQuy./og,  y.id  utl  y.iü  f^uXlov  TanHvovfitvog  xul  tkcqu  nQoadoxiav  unonimutv  eig  Xvttkv  tlvh 
y.(ü  fxaviw&rj  fucü-aoiv  iventme.  Rede  gegen  Minucius  Festus  p.  201.  Nach  allgemeiner  Annahme,  die  freilich  nicht 
erweisbar  ist,  gehört  auch  die  Eede  in  Maenium  (Meyer  S.  244)  in  diese  Zeit. 

4)  de  orat.  III,  214  (Crassus  spricht  im  Jahre  91):  quid  fuit  in  Graccho,  quem  tu  melius,  Catule,  me- 
ministi,  quod  me  puero  tanto  opere  efferretui"  „quo  me  miser  conferamV  quo  vertam?  in  Capitoliumne ?  at  fratris 
sanguine  madet.  an  domum?  matremne  ut  miseram  lamentantem  videam  et  abjectam?*  quae  sie  ab  illo  esse  acta 
constabat  oculis  voce  gestu,  inimici  ut  lacrimas  tenere  non  possent. 

5)  schol.  BobK  in  Cic.  pro  Sulla  9,  1;  fr.  orat.  ed.  Meyer  p.  234. 

6)  Dass  senatus  consultum  ultimum,  auf  dem  Opimius  Vorgehen  beruht,  ist  von  Appian  übergangen. 


21 

um  als  bewaffnete  Macht  auf  gleichem  Fuss  mit  dem  Senat  verhandeln  zu  können  i;  sie  hoffen 
die  Vorgänge  würden  sich  wiederholen,  Avelche  die  Chronik  von  den  Secessionen  der  Plebs  be- 
richtet. So  schicken  sie  den  jungen  Flaccus  an  den  Senat,  um  einen  Vertrag  abzuschliessen 
(deo/Ltsvoi  dialXayüv  zv%üv  Aal  ßiovv  (.led^^  öi-iövotag).  Aber  der  Senat  weist  alle  Verhandlungen 
von  sich  und  fordert,  sie  sollten  die  Waffen  niederlegen  und  sich  dem  Senat  stellen.  Als  trotzdem 
Flaccus'  Sohn  noch  einmal  geschickt  wird,  lässt  Opimius  ihn  festnehmen  und  befiehlt  den  An- 
griff. Gracchus  lässt  sich  auf  der  Flucht  jenseits  der  Tiber  in ,  einem  Hain  (dem  der  Furina 
nach  den  anderen  Quellen)  von  einem  Sklaven  tödten,  Flaccus  wird  aus  seinem  Versteck  in 
einer  Werkstätte  hervorgezogen  und  getödtet,  die  Köpfe  der  beiden  mit  Gold  aufgewogen.  Auf 
das  daran  anschliessende  Strafgericht  brauchen  wir  hier  nicht  einzugehen. 


4.  Plutarch  und  die  Römer. 

Wenn  bei  Fosidonios  die  Reichs-  und  Verfassungsgeschichte,  bei  Appian  der  italische  Stand- 
punkt dominirt,  so  steht  in  Plutarchs  Quelle  —  ich  verstehe  darunter  immer  die  Quelle,  die  ihm 
eigenthümlich  ist,  im  Gegensatz  zu  der  mit  Appian  gemeinsam  benutzten  —  das  persönliche  Inter- 
esse im  Vordergrund.  Eben  deshalb  hat  Plutarch  sich  wohl  von  der  Appianischen  Quelle  abgewandt 
und  zu  einer  dem  Zwecke  seiner  Biographien  näherstehenden  Darstellung  gegriffen.  Aber  auch  in 
ihrer  Tendenz  unterscheidet  sich  Plutarchs  Quelle  stark  von  den  beiden  anderen  Darstellungen. 
Wenn  Posidonios  den  Standpunkt  des  Africanus  vertritt  und  Nasica  und  Opimius  rechtfertigt, 
Appians  Quelle  dagegen  etwa  die  Anschauungen  eines  Mucius  Scaevola,  Crassus  Mucianus  und 
ihrer  Gesinnungsgenossen,  oder  von  Späteren  die  eines  Rutilius  Rufus  wiedergiebt,  so  steht 
Plutarchs  Quelle  ausgesprochen  auf  Seiten  der  Gracchen,  ja  sie  wird  zu  einer  directen  Apologie 
derselben.  Auf  dieselbe  Quelle  gehen  nun  aber  die  römischen  Berichte  zurück,  vor  allem  Livius 
und  seine  Ausschreiber,  sodann,  von  einzelnen  Varianten  in  Detail  abgesehen,  auch  Velleius  und 
die  Schrift  de  viris  illustribus 2,  endlich,  soweit  wir  nach  den  dürftigen  Fragmenten  urtheilen 
können,  wohl  auch  Dio.^  Nur  ist,  entsprechend  der  in  der  Kaiserzeit  allgemein  herrschenden 
Auffassung,  welche  die  Gracchen  als  die  Urheber  des  hundertjährigen  Bürgerkrieges  und  des 
Untergangs  der  Republik  unbedingt  verdammte  und  ganz  auf  Seiten  des  Senats  steht,  die  Tendenz 
in  ihr  Gegentheil  verkehrt.  Es  ist  das  ein  ungemein  bezeichnender  Vorgang,  der  in  vielen  Ab- 
schnitten der  ersten  Dekade  des  Livius  sein  Gegenstück  hat.  Einem  Historiker,  der  Livius' 
Standpunkt  theilt,  hätte  es  viel  näher  gelegen,  die  Geschichte  der  Gracchen  nach  Posidonios  oder 
wenigstens  nach  Appian  zu  erzählen.  Statt  dessen  folgt  er  dem  gracchenfreundlichsten  Berichte, 
kehrt  aber  dessen  Auffassung  überall  um.  Daraus  können  wir  schliessen,  dass  diese  Darstellung 
in  der  römischen  Literatur,  die  Livius  vorlag,  eine  hervorragende,  ja  massgebende  Stellung  ein- 
nahm; damals  war  eben  die  demokratische  Auffassung,  wenn  auch  nicht  alleinherrschend,  doch 
von  sehr  weiten  Kreisen  namentlich  auch  in  der  Literatur  getheilt.     Den  Neueren  war  es  hier 


1)  iXniGKvreg,   et  rövSe  (den  Aventin)  ntioXüßoiev,  ivffwaeiv  tiqös  rag  awd^rixng  uvrotg  ti  Ttjv  ßovXiqv. 

2)  Florus  ist  natürlich,  hier  ebenso  elend  und  werthlos  wie  immer. 

3)  Nur  lässt  Dio  seiner  finsteren  Auffassung  der  Menschen  und  des  geschichtlichen  Lebens  wie  überall 
so  auch  hier  freien  Lauf. 


22 

wie  in  der  Geschichte  des  Kampfes  zwischen  den  Patriciern  und  Plebejern  sehr  leicht,  die  ur- 
sprüngliche Fassung  wieder  herzustellen  und  das  Unrecht  und  die  Gewaltthätigkeit  der  Optimaten 
ans  Licht  zu  ziehen.  Da  dieselbe  Darstellung  bei  Plutarch  vorlag,  schien  die  Mehrzahl  der 
Quellen  übereinzustimmen;  so  ist  es  gekommen,  dass  in  der  Erzählung  und  mehr  noch  in  der 
Tendenz  der  plutarchische  Bericht  meist  ganz  unbillig  bevorzugt  wird.  Das  wird  anders,  sobald 
wir  erkennen,  dass  wir  es  nur  mit  einer  einzigen  Quelle  zu  thun  haben  und  dass  diese  ent- 
schieden parteiisch  gefärbt  ist.  Das  Avird  im  folgenden  im  Zusammenhang  mit  der  Analyse  des 
plutarchischen  Berichts  nachzuweisen  sein.^ 

Gleich  zu  Anfang  tritt  der  Zusammenhang  des  Auftretens  des  Tiberius  mit  der  numan- 
tinischen  Katastrophe,  über  den  Appian  hinweg  geht  —  Posidonios  wird  davon  geredet  haben  — , 
klar  hervor.  Derselbe  ist  nicht  blos  äusserlich.  An  den  Opfern,  welche  die  spanischen  Kriege 
fortwährend  forderten,  an  der  Nothwendigkeit  hier  ein  stehendes  Heer  zu  halten,  ist  die  römische 
Republik  verblutet.^  In  Spanien  sind  die  Gegensätze  der  altrömischen  italischen  und  der  Reichs- 
politik zuerst  aufeinander  gestossen:  als  im  Winter  152/1  die  Frage  zur  Verhandlung  stand,  ob 
man  die  Unterwerfung  der  Arevaken  zu  den  alten  Bedingungen  annehmen  oder  energisch  gegen 
sie  einschreiten  solle,  hat  Scipio  Aemilianus,  der  geborene  Vertreter  der  Reichspolitik,  der  Erbe 
der  Scipionen  und  des  Aemilius  Paullus,  den  Ausschlag  für  den  Krieg  gegeben  (Pol.  XXXV,  4,  8), 
aus  denselben  Gründen,  die  jeden  auf  Eroberung  begründeten  Culturstaat,  der  an  kriegerische 
aber  uncivilisirte  Nachbarn  grenzt,  ununterbrochen  vorwärts  treibt  auf  der  Bahn  der  Eroberung.^ 
Von  da  an  ist  Spanien  zwanzig  Jahre  lang  nicht  zur  Ruhe  gekommen.  Bei  den  im  Jahre  186* 
geführten  Verhandlungen  über  das  foedus  des  Mancinus  stehen  sich  dieselben  Auffassungen  aufs 
neue  gegenüber:  Tiberius  Gracchus,  hier  wie  überall  der  Fortsetzer  der  Politik  seines  Vaters, 
fordert  die  Sanctionirung  des  durch  seine  Verraittelung  geschlossenen  Vertrages  gegen  Scipio  und 
den  Senat.  Der  Conflict  ist,  wie  jeder  innere  Kampf  in  einer  Aristokratie,  zugleich  ein  persön- 
licher und  ein  politischer;   die  alten  Familienfehden,   die  durch  Verschwägerungen  wohl   einmal 


1)  Dass  Plutarch  Ti.  Gr.  4  für  die  Eroberung  Karthagos  den  Fannius  (oben  S.  5),  c.  21  für  die  Ehe  des 
Gaius  eine  abweichende  Angabe  des  Nepos,  C.  Gr.  1  für  die  Traumerscheinung  des  Bruders,  die  Gaius  in  den  Tod 
treibt  den  Cicero  de  div.  I,  56  (der  selbst  wieder  aus  Caelius  Antipater  schöpft)  citirt,  ist  für  die  Quellenfrage  ohne 
Werth.  Die  Geschichte  von  Gaius'  Sklaven  Licinius  Ti.  Gr.  2  =  Cic.  de  erat.  III,  224  stammt  wohl  auch  aus  der 
römischen  Quelle,  vgl.  S.  31  A.  4. 

2)  Die  Sonderung  der  äusseren  und  inneren  Geschichte  und  die  Zusammenfassung  grösserer  Abschnitte  zu 
einer  Einheit,  wie  sie  Mommsen  in  seiner  römischen  Geschichte  durchgefühii  hat,  ist  gewiss  berechtigt.  Nur  ist 
dabei  die  Gefahr  vorhanden,  dass  die  Wechselwirkung  der  äusseren  und  inneren  Politik  nicht  immer  klar  hervortritt 
und  manche  Zusammenhänge  verschoben  werden;  und  diese  Gefahr  hat  auch  Mommsen  nicht  immer  vermieden.  In 
AVirklichkeit  ist  jeder  neue  Fortschritt  der  inneren  Krisen  in  der  Revolutionszeit  durch  eine  äussere  Krisis  hervor- 
gerufen worden.  Vom  universalhistorischen  Standpunkt  aus  kann  man  die  Kriege  nach  der  Schlacht  bei  Pydna 
wohl  als  untergeordnete  Kämpfe  betrachten;  aber  der  Satz,  mit  dem  Mommsen  die  Darstellung  der  Gracchenzeit 
beginnt:  „Ein  volles  Menschenalter  nach  der  Schlacht  bei  Pydna  erfreute  der  römische  Staat  sich  der  tiefsten  kaum 
hie  und  da  an  der  Obei-fläche  bewegten  Euhe"  ist  nicht  richtig.  Die  Kämpfe  der  Jahre  154  — 133  haben  dem 
römischen  Staat  viel  mehr  Noth  gemacht  und  sind  für  ihn  viel  vei'hängnissvoUer  gewesen,  als  die  der  Jahre  200 — 168. 

3)  Scipio  weiss,  dass  der  Fortgang  der  Eroberungen  Rom  ins  Verderben  stürzt,  er  betet  als  Censor  nicht 
mehr  für  die  Vergrösseruug,  sondern  für  die  Erhaltung  des  Staats  (Val.  Max.  IV,  1,  10).  Aber  von  einem  Rüok- 
weichen  —  und  das  wäre  das  Innehalten  thatsächlich  —  will  er  nichts  wissen,  dagegen  empört  sich  sein  innerstes 
Gefühl  von  der  majestas  des  römischen  Volks.  Es  ist  dasselbe  Verhalten  wie  in  der  Innern  Politik:  er  sieht 
den  Abgrund  klar  vor  Augen,  aber  einen  anderen  "Weg  giebt  es  nicht.  So  ist  er  der  Henker  Kai'thagos  und 
Numantias  geworden. 

4)  Cic.  rep.  III,  28. 


23 

überbrückt  werden,  aber  immer  von  neuem  wieder  ausbrechen,  verschlingen  sich  mit  den  prin- 
cipiellen  Gegensätzen.  Durch  die  Verhandlungen  über  Numantia  ist  der  Bruch  unheilbar  ge- 
worden: zwischen  Tiberius  und  seinem  Schwager,  der  kurz  darauf  (134)  die  Ausführung  des 
Todesurtheils  gegen  Numantia  übernimmt,  giebt  es  keine  Versöhnung  mehr.^  Auch  äusserlich 
vollzieht  sich  der  Bruch:  Tiberius  heirathet  die  Tochter  des  Appius  Claudius,  des  erbitterten 
Rivalen  des  Scipio^,  und  tritt  in  Verbindung  mit  seinem  Gegner  Metellus  Macedonicus.  Dass  der 
Kampf,  den  Tiberius  für  die  Wiederherstellung  der  Grundlage  der  römischen  Wehrkraft  eröffnet, 
von  Anfang  an  in  den  schroffsten  Formen  geführt  wird,  dass  Tiberius  garnicht  den  Versuch  macht, 
den  Senat  für  sein  Gesetz  zu  gewinnen,  ist  die  Wirkung  der  numantinischen  Verhandlungen. 
Bei  Plutarch  sind  die  Zusammenhänge  nur  angedeutet;  die  römischen  Quellen  sprechen  sie  durch- 
weg offen  aus.^ 

Welcher  Quelle  das  reiche  von  Plutarch  für  die  Geschichte  des  Kampfes  mit  Octavius  ge- 
gebene Detail  angehört,  ist  nicht  immer  zu  entscheiden;  Appian  mag  hier  vielfach  gekürzt  haben. 
Sicher  der  plutarchisch-römischen  Quelle  entstammt  wohl  die  Angabe  über  den  Einfluss  des  Dio- 
phanes  von  Mitylene  und  des  Blossius  von  Cumae  auf  Tiberius^,  da  nachher  (c.  17.  20)  über  ihre 
weiteren  Schicksale  berichtet  wird.  Das  in  c.  9  aus  der  Einführungsrede  bewahrte  Stück  fügt  sich 
der  bei  Appian  bewahrten  Inhaltsangabe  ein  (oben  S.  15).  Die  Angaben  in  cp.  10  und  11  stammen 
wohl  grossentheils  aus  der  nicht- appianischen  Quelle,  während  die  Vorgänge  bei  der  entscheiden- 
den Abstimmung  c.  12  in  wörtlicher  Uebereinstimmnng  mit  Appian  erzählt  sind  (oben  S.  11  A.  1). 
Der  Bericht  über  den  Eindruck  der  Reden  des  Gracchus  auf  Octavius -und  über  seine  Schicksale 
nach  der  Absetzung  fehlt  dann  wieder  bei  Appian;  ebenso  wird  der  Kampf  zwischen  beiden  von 
diesem 5  keineswegs  in  den  idealen  Farben  geschildert,  die  ihm  Plutarch  giebt. 

In  der  Anerkennung  der  Ungesetzlichkeit  des  Vorgehens  gegen  Octavius  stimmt  Plutarchs 
Bericht  mit  allen  anderen  Darstellungen  überein  {tqiTteTaL  fcqög  egycr  od  vöf.ii(.iov  ovds  ertieiy-lg 
c.  11);  ihre  Wirkung  wird  bei  Appian  nur  in  den  entscheidenden  Punkten  —  die  Drohungen 
der  Reichen  und  das  Ausbleiben  der  durch  die  Ernte  beschäftigten  Landbevölkerung  —  kurz 
und  klar  dargelegt,  während  wir  die  Details  allein  aus  Plutarch  kennen  lernen.  Auf  Antrag 
des  Scipio  Nasica,  eines  Vetters  des  Tiberius  —  seine  Mutter  war  die  Schwester  der  Mutter  der 
Gracchen  — ,  der  bereits  jetzt  an  die  Spitze  der  Gegner  tritt,  verweigert  der  Senat  den  Triumvirn 

1)  Plutarch  in  seiner  weichen  Art  sucht  das  zu  verschleiern;  aber  seine  Vermuthung  (Soxti  cTf  ^oi), 
Tiberius'  Untergang  wäre  vermieden  worden,  wenn  Scipio  in  Rom  gewesen  wäre,  ist  völlig  unhaltbar.  Dass  Scipio 
nur  die  Auslieferung  des  Mancinus  gefordert  und  die  des  Tiberius  und  der  übrigen  sponsores  verhindert  habe,  wie 
Plutarch  mit  einem  Soxel  berichtet,  ist  nicht  undenkbar,  aber  wenig  wahrscheinlich. 

2)  Plut.  Aem.  Pauli.  38  =  praec.  reip.  ger.  14,  13.  lieber  seine  Censur  Dio  fr.  80.  Vgl.  Cic.  rep.  I,  31: 
Nach  Tiberius'  Tode  obtrectatores  et  invidi  Scipionis,  initiis  factis  a  P.  Crasso  et  Appio  Claudio,  tenent  nihilo  minus 
illis  mortuis  senatus  alteram  partera  dissidentem  a  vobis  auctore  Metello  et  P.  Mucio,  und  dazu  Plut.  Ti.  Gr.  9, 
wo  Crassus,  Mucius  Scaevola  und  App.  Claudius  als  Hauptförderer  des  Tiberius  bezeichnet  werden. 

3)  Cic.  Brutus  103.  harusp.  resp.  43  (invidia  Numantini  foederis).  Velleius  II,  2.  Oros.  V,  8.  Dio  fr.  82. 
Dass  hier  an  Stelle  der  prinzipiellen  Gegensätze  die  persönliche  Kränkung  hervorgehoben  wird,  ist  nur  natürlich. 

4)  c.  8  nach  den  Tikfi^aroi;  auf  ihren  Einfluss  wird  auch  das  Zerwürfniss  mit  Scipio  zurückgeführt  c.  7. 
Zu  Diophanes  vgl.  Cic.  Brut.  104.  Die  Untersuchung  gegen  Blossius  im  Jahre  132  erzählt  auch  Cic.  Lael.  37 
(daraus  Val.  Max.  IV,  7,  1),  nur  dass  hier  Laelius,  bei  Plutarch  Nasica  der  fragende  ist. 

5)  XoiSootCjv  St  ToTi  Sri^uQ/ois  ig  uklrikovs  ytvofx^vMv  App.  12.  Dio  fr.  82,  4  ff.  hat  das  weiter  aus- 
gemalt, wobei  er  besonders  die  auch  von  Plutarch  erwähnte  Sistirung  des  gesammten  öffentlichen  Lebens  anführt, 
die  Tiberius  verhängte,  um  die  Opposition  zu  brechen.  —  Dass  Appians  Bericht  in  diesen  Capiteln  überall  unver- 
gleichlich exacter  ist  als  der  Plutarchs,  liegt  wohl  nicht  an  den  Quellen,  sondern  an  der  Eigenart  des  letzteren. 


24 

die  Ausrüstung  und  setzt  ihre  Tagegelder  auf  ein  Spottgeld  fest.^  Als  die  Nachricht  von  dem 
Tode  des  Attalos  III.  und  der  pergamenischen  Erbschaft  nach  Rom  kommt,  beantragt  Tiberius 
die  Schätze  zur  Ausstattung  der  Ansiedler  zu  verwenden  und  erklärt,  die  Entscheidung  über 
die  Ordnung  des  Reichs  stehe  dem  Volk,  nicht  dem  Senat  zu.^  Da  beschuldigt  ihn  sein  Guts- 
nachbar Q.  Pompeius,  er  habe  sich  von  Eudemos  von  Pergamon,  dem  Ueberbringer  des  Testaments, 
Diadem  und  Purpurmantel  des  Attalos  ausliefern  lassen  (Plut.  14),  und  verpflichtet  sich  durch 
eine  sponsio  ihn  anzuklagen,  sobald  sein  Amt  zu  Ende  sei  (Oros.  V,  8,4  obsistente  Nasica  etiam 
Pompeius  spopondit  se  Gracchum,  cum  primo  magistratu  abisset,  accusaturum).  Q.  Metellus, 
obwohl  reformfreundlich  gesinnt  (Cic.  rep.  I,  31)  und  mit  den  Scipionen  verfeindet,  greift  Tiberius 
in  einer  grossen  Rede  an  —  Fannius  hatte  sie  in  seine  Annalen  aufgenommen  (Cic.  Brut.  81)  — , 
in  der  er  ihm  vorwirft,  dass  er  sich  Nachts  von  dem  ärgsten  Gesindel  geleiten  lasse  (tovvo)  de 
7taQa(faivovoi  vvytTÖg  oi  d^qaovTazoi  /.al  ccTtoQcoTatOL  twv  ÖT^fxoTiov)^  während  als  sein  Vater  Censor 
war,  die  Bürger  die  Lichter  auslöschten,  wenn  er  Abends  aus  einer  Gesellschaft  nach  Hause  kam, 
um  sich  nicht  den  Vorwurf  ausschweifenden  Lebenswandels  zuzuziehen.^  T.  Annius  Luscus 
cos.  153  fordert  im  Senat  Tiberius  zu  einer  sponsio  —  also  zu  einer  Entscheidung  durch  Richter- 
spruch —  auf,  er  habe  die  sacrosancte  tribunicische  Gewalt  verletzt.  Als  Tiberius  ihn  ent- 
rüstet vor  das  Volk  zieht,  um  ihn  zu  verklagen,  bittet  Annius  um  das  V^ort  zu  einer  Frage, 
und  als  Tiberius  einwilligt,  fragt  er  ihn:  wenn  du  mich  jetzt  strafen  willst,  ich  aber  einen 
Tribunen  anrufe  und  der  für  mich  intercedirt,  wirst  du  dann  ihn  auch  absetzen?  Diese  Frage, 
heisst  es,  traf  den  Tiberius  so,  dass  er  nichts  zu  antworten  vermochte;  er  verstummte  und  ent- 
liess  die  Versammlung.*  Um  den  Eindruck  zu  verwischen,  hält  er  dann  später  eine  grosse 
Rechtfertigungsrede  vor  dem  Volk,  aus  der  Plutarch  einen  Auszug  bewahrt  hat. 

Wir  gewinnen  hier  einen  unschätzbaren  Einblick  in  Tiberius'  Verhalten.     Mit  Begeiste- 
rung ist  sein  Antrag  von  der  römischen  Bauernschaft  aufgenommen,  aus  ganz  Italien  strömen 


1)  Plut.  Ti.  Gr.  13  =  obsistente  Nasica  Oros.  V,  8,  4. 

2)  Plut.  14  =  Liv.  58.  Oros.  V,  8,  4.  de  vir.  ill.  64.  Zur  Annahme  ist  das  Gesetz  nicht  mehr  gekommen. 
Die  pergamenische  Urkunde,  -welche  nach  dem  Tode  des  Königs,  ehe  noch  die  Bestätigung  des  Testaments  durch 
Rom  eingetroffen  ist,  schleunigst  die  Rechtsverhältnisse  der  Beisassen  und  Soldaten  ordnet  und  den  königlichen  und 
den  Staatssklaven  die  Freiheit  giebt  (Fränkel,  Inschr.  von  Pergamon  No.  249),  ermöglicht  leider  keine  genauere 
Datirung,  da  die  Stellung  des  Monats  Eumeneios  im  Kalender  nicht  bekannt  ist.  Dass  unter  den  königlichen  Sklaven, 
die  ja  thatsächlich  bisher  so  gut  wie  frei  gewesen  waren  und  zum  Theil  gewiss  angesehene  Stellungen  und  Ein- 
künfte genossen  hatten,  nach  dem  Tode  des  letzten  Königs  gewaltige  Aufregung  herrschte,  und  dass  die  Pergamener 
sie  vor  dem  furchtbaren  Schicksal  bewahren  wollten,  zu  Gunsten  des  römischen  Aerars  verkauft  zu  werden,  ist 
begreiflich  genug.  Aber  schwerlich  hat  Rom  die  Freilassung  der  ßaachy-ot  und  Stq^oaioi,  und  das  ihnen  gewährte 
Beisassenrecht  anerkannt.  Ich  vermuthe,  dass  das  Sklavenheer  des  Ai'istonikos  (Diod.  34,  2,  26.  Strabo  XIII  1,  38) 
sich  zum  guten  Theil  aus  diesen  Kreisen  recrutirt  hat. 

3)  Es  ist  zu  beachten,  dass  Q.  Pompeius,  berüchtigt  durch  sein  Verhalten  vor  Numantia,  und  Q.  Metellus 
Macedonicus  im  nächsten  Jahr  Censoren  werden. 

4)  Plut.  Ti.  14.  Liv.  58  tot  indignationibus  commotus  graviter  senatus;  ante  omnis  T.  Annius  consularis, 
quia  in  senatu  in  Gracchum  perorasset  raptus  ab  eo  ad  populum  delatusque  plebi,  rursus  in  eum  pro  rostris  contio- 
natus  est.  Aus  der  Rede  hat  Festus  p.  314  das  von  Mommsen  Staatsrecht  II*,  616,  2  falsch  gedeutete  Fragment 
bewahrt:  imperium  quod  plebes  per  saturam  dederat,  id  abrogatum  est.  Cicero  Brutus  79  et  T.  Annium  Luscum 
huius  Q.  Fulvii  conlegam  non  indisertum  dicunt  fuisse  beruht  natürlich  auf  dieser  Erzählung;  die  Rede  scheint  Cicero 
nicht  gekannt  zu  haben.  —  Bei  Plutarch  heisst  Annius  mit  entschiedener  Gehässigkeit  ovx  intftxrjg  fxtv  ov&e  Gwfowv 
kvO-Qoynog,  iv  d"f  Xöyoig  nQÖg  rüg  iQioTi^aeig  y.ul  rüg  unoxQiGng  üfiayog  tivui  Soy.üiv.  —  Auch  die  Wechselreden 
zwischen  Gracchus  und  Tubero,  über  die  wir  nichts  genaues  wissen  (Cic.  Brut.  117),  gehören  vielleicht  in  diese 
Zeit,  nicht  in  die  des  Gaius.  Dass  Tubero  wie  so  viele  andere  nach  der  entscheidenden  Wendung  von  Tiberius  ab- 
fiel,  berichtet  Cic.  Lael.  37. 


25 

die  Massen  zusammen,  die  Annahme  ist  zweifellos,  wie  auch  die  Reichen  sich  wehren  mögen  — 
da  entschliesst  sich  Octavius  nach  langem  Zögern  (Plut.  10)  sein  Yeto  einzulegen,  und  bleibt 
standhaft  allen  Bitten,  allen  legitimen  Zwangsmitteln  gegenüber.  Und  doch  ist  Tiberius  nicht 
nur  von  der  Heilsamkeit  und  der  unumgänglichen  Nothwendigkeit  seiner  Maassregel  überzeugt, 
auch  die  grosse  Majorität  in  allen  Tribus  —  das  lehrt  die  Abstimmung  über  Octavius  —  ist 
entschieden  für  ihn.  Was  soll  er  thun?  Die  Zeit  drängt,  der  Beginn  der  Feldarbeit  ist  vor  der 
Thür,  die  Bauern  müssen  nach  Hause.  Soll  er  sie  ziehen  lassen  und  sein  W&rk  aufgeben  um 
des  Widerspruchs  eines  Einzigen  willen?  Aber  ist  denn  dieser  Widerspruch  berechtigt?  Nach 
der  staatsrechtlichen  Theorie  sind  die  Tribunen  nicht  nur  die  Beamten  der  Plebs,  sondern  recht 
eigentlich  die  Träger  ihres  Willens,  gewissermaassen  ihre  Personifikation  ^ ;  wie  ist  es  also  mög- 
lich, dass  ein  Tribun  sich  ihr  widersetzt  und  allein  das  Hinderniss  wird,  den  Volkswillen  durch- 
zusetzen? Der  Gegensatz  wird  noch  weit  schärfer  empfunden,  als  wenn  in  modernen  Staaten 
ein  Oberhaus  oder  ein  Monarch  gegen  die  ausgesprochenen  Forderungen  des  Parlaments  sein 
Veto  einlegt,  um  so  mehr,  da  die  Milderung  fehlt,  welche  das  Wesen  der  Volksvertretung  bildet: 
das  souveräne  Yolk  steht  in  Rom  seinem  widerspänstigen  Organ  unmittelbar  gegenüber.  So  er- 
klärt Tiberius,  er  und  Octavius  zusammen  könnten  nicht  mehr  Volkstribunen  sein;  möge  das 
Volk  sich  für  einen  von  beiden  entscheiden  und  dem  andern  das  Amt  nehmen,  das  er  wider 
den  Volkswillen  verwaltet. ^  Erst  nachdem  die  Entscheidung  gefallen  ist,  kommt  dem  Tiberius 
eben  durch  die  Vorgänge,  die  Plutarch  erzählt,  zum  Bewusstsein ,  was  er  gethan  hat:  er  hat  die 
Revolution  eröffnet,  die  Bresche  in  die  bestehende  Verfassung  gelegt,  ohne  es  zu  ahnen.  Jetzt 
sucht  er  nach  Vertheidigungsgründen,  die  er  natürlich  der  Theorie  von  der  Souveränität  des 
Volkes  entnimmt:  wie  Tarquinius  als  Frevler  verjagt  wurde,  wie  die  heiligen  Vestalinnen  be- 
straft werden,  wenn  sie  an  den  Göttern  freveln,  wie  das  Volk  über  die  Weihgeschenke  für  die 
Götter  beschliessen  kann,  wie  es  will,  so  darf  das  Volk  auch  dem  Tribunen,  den  es  selbst  er- 
wählt hat,  sein  Amt  nehmen,  so  bald  er  Unrecht  thut.  Sein  Gewissen  mochte  Tiberius  durch 
solche  Argumente  beruhigen,  die  Gegner  waren  natürlich  nicht  zu  bekehren,  die  abtrünnigen 
Anhänger  nicht  wieder  zu  gewinnen 3,  der  drohende  Untergang  lag  vor  seinen  Augen;  so  beginnt 
er  auf  den  Rath  seiner  Freunde  mit  seinen  demagogischen  Anträgen  (oben  S.  18,  A.  2)  und  zu- 
gleich mit  der  Bewerbung  um  ein  zweites  Tribunat  hervorzutreten. 

Die  Anklage,  er  strebe  nach   der  Tyrannis,   ist   seit  sie  T.  Annius  Luscus  zuerst  aus- 
gesprochen hat,    immer   von  neuem  gegen  Tiberius  Gracchus  erhoben    worden.     In    drastischer 


1)  öiftikovGi  d"  utX  TioieTv  ot  &i]ficef)/oi  to  Soxovv  to)  f^fxoj  xal  fxdXiatu  GTO)(((CiaSui  rfjt;  rovrov  ßovl/jGewg 
Toi.  VI  16,5. 

2)  So  Plut.  c.  11  vntiJiMv  u  Tiß^Qiog,  log  oöx  ißTiv  än/ovTKg  HfX(fOT^()ov<;  xcd  nf^)  nQc<}\U((Tiov  /myiikwv 
an  XGr\<;  liovGiai  Siuif'^QO^ivovg  ävev  noXeixov  SitiilOtTv  rov  /qovov,  ^V  T«^«  tovtov  fiövov  oqüv  f'(frj  t6  ttkv- 
aua'tai  T^g  "QX^s  ^of  fTfQov.  Bei  Appian  12  kürzer  f'y/j  Siaipritfiaiv  TiQOx'hi'jOfiv  ig  rrjv  knioOauv  dyoQäv  tkqi  ts 
Tov  vofxov  y.ul  Tfjg  aQ/fjg  Tfjg  ^OxTaviov ,  ff  xQh  ^'/,"«C/f^*'  (^vTinQtiiTovTu  tm  Stjauj  Tt]v  i(QX'l^  iTii/Ji'^-  In  der  Folge 
der  Ereignisse  stimmen  beide  überein-,  nach  dem  Scheitern  der  Verhandlungen  im  Senat  kündigt  Tiberius  dem  Volk 
seine  Absicht  an,  in  der  nächsten  Versammlung  folgt,  nachdem  der  Versuch,  Octavius  zum  Nachgeben  zu  bewegen, 
noch  einmal  gescheitert  ist,  die  entscheidende  Abstimmung. 

3)  Cic.  de  leg.  III  24  quin  ipsum  Ti.  Gracchum  non  solum  ueglectus,  sed  etiam  sublatus  intercossor 
evertit;  quid  enim  illum  aliud  porculit  nisi  quod  potestatem  intercedenti  collegao  abrogavit?  —  Dass  auch  von  den 
Tribunen  nur  ein  Theil  zu  ihm  steht,  lehren  die  Vorgänge  bei  der  Wiederwahl  und  die  Angabe  Plutarchs,  dass 
einer  seiner  Collegen  den  ersten  Schlag  gegen  ihn  geführt  habe  (unten  S.  27). 

Meyer,  Untersuchungen  zur  Geschichte  der  Gracchen.  4 


26 

Form  erscheint  sie  bei  der  Schlusskatastrophe  in  der  Beschuldigung,  Tiberius  habe,  indem  er 
mit  der  Hand  nach  dem  Kopfe  deutete,  das  Diadem  für  sich  gefordert. ^  So  absurd  die  Moti- 
virung  ist,  so  wenig  sind  die  Yertuschungsversuche  mancher  Neueren  zulässig:  die  Beschuldi- 
gung trifft  durchaus  den  Kern  der  Sache,  die  Stellung,  die  zu  erstreben  Tiberius  gezwungen 
wird,  ist  keine  andere  als  die  des  allein  herrschenden  Demagogen.  Für  einen  Perikles  aber  ist 
wohl  in  dem  demokratischen  Athen,  aber  nicht  in  einer  aristokratischen  und  nur  in  aristo- 
kratischen Formen  zu  erhaltenden  Republik  Raum.  Es  ist  daher  durchaus  berechtigt,  wenn 
Nasicas  That  als  Nothhülfe  gegen  den  Tyrannen  bezeichnet  wird.^  Mochte  ein  milder  und  ver- 
sönlicher  Mann  wie  der  Consul  Scaevola,  der  im  Grunde  durchaus  reformfreundlich  war,  meinen, 
man  könne  noch  warten:  in  Wirklichkeit  waren  die  Dinge  so  weit  gediehen,  dass  eine  gewalt- 
same Entscheidung  unvermeidlich  war.  Tiberius  musste  alles  daran  setzen,  um  wiedergewählt 
zu  werden,  den  Gregnern  blieb  nichts  übrig  als  zur  Gewalt  zu  greifen,  sobald  es  schien,  dass 
er  seine  "Wahl  mit  welchen  Mitteln  auch  immer  durchsetzen  werde.  Nachträglich  hat  denn  auch 
Scaevola  die  That  des  Nasica  ausdrücklich  gebilligt  (Cic.  de  domo  91.  pro  Plancio  88;  vgl.  dazu 
de  orat.  II  285).  Wer  die  eine  oder  die  andere  Partei  schlechthin  verurtheilt,  verkennt  die 
tragische  Gewalt  der  Ereignisse. 

In  der  Schilderung  der  Katastrophe  hat  Plutarch  den  Eingang  gekürzt  (cp.  16  med.)  und 
den  zwischen  den  Tribunen  über  die  Berechtigung  der  Wiederwahl  ausbrechenden  Streit,  den 
Appian  praecis  berichtet,  sehr  flüchtig  dargestellt.  Als  die  Wahl  vertagt  wird,  geht  Tiberius 
wie  bei  Appian  gedrückt  und  in  Thränen  auf  das  Forum. ^     Er  fürchtet,  man  werde  ihn  Nachts 


1)  Hut.  Ti.  Gr.  19  =  Aur.  Vict.  64.  Florus  II  2,  bei  allen  drei  mit  der  Erklärung,  in  Wirklichkeit  habe 
er  dadurch  auf  die  ihm  drohende  Lebensgefahr  hindeuten  wollen.  Gewiss  ist  das  möglich.  Ich  halte  es  aber  für 
weit  wahrscheinlicher,  dass  das  ursprüngliche  in  der  That  die  Erzählung  ist,  er  habe  das  Diadem  für  sich  gefordert. 
Nasicas  That  wird  damit  gerechtfertigt,  dass  Gracchus  nach  der  Krone  gestrebt  habe,  und  diese  Beschuldigung  wird 
in  einer  symbolischen  aber  natürlich  nicht  historischen  Handlung  verkörpert.  Die  Vertheidiger  des  Gracchus  haben, 
wie  immer  in  solchen  Fällen,  die  berichtete  Thatsache  nicht  bestritten,  aber  sie  umgedeutet. 

2)  Nach  Posidonios  (s.  o.  S.  9)  tödtet  Nasica  den  Tiberius  tvquweIv  imxfiQriaavTu.  Vgl.  Cic.  Lael.  41 
(Laelius  spricht):  Ti.  Gracchus  regnum  occupare  conatus  est,  vel  regnavit  is  quidem  paucos  menses.  Sallust  lug.  31,  7 
(Rede  des  Memmius):  Occiso  Tiberio  Graccho,  quem  regnum  parare  dicebant,  in  plebem  ßomauam  quaestiones  habitae 
sunt.  Darauf  beruht  Scipio  Äfricanus  Antwort,  als  er  im  Jahre  130  vom  Tribunen  Garbo  über  Tiberius'  Ermordung 
gefragt  wird:  si  is  occupandae  reipublicae  animum  habuisset,  iure  caesum  (Vell.  II  4;  in  kürzerer  Fassung,  iure 
caesum  videri,  aber  auf  Gnind  desselben  Berichts,  bei  Cic.  de  orat.  II  106.  pro  Milone  8;  de  vir.  ill.  58;  Liv.  ep.  59 
=  Val.  Max.  VI  2,  3;  vgl.  Plut.  Ti.  Gr.  21.  apopthegm.  imp.  Scipio  22.  23  Moral,  p.  201;  dasselbe  besagt  sein  Citat 
des  Homerverses  d>s  unölono  xh),  ülXog  ortg  touivtk  ye  Qi-Xot  oben  S.  9).  Als  dann  Scipio  auf  das  Toben  der 
Menge  mit  den  bekannten  scharfen  Ausfällen  replicirt.  taceant  quibus  Italia  noverca  est;  non  efficietis  ut  solutos 
verear  quos  adligatos  duxi  (de  vir.  ill.  hat  dafür  quos  ego  sub  Corona  vendidi) ,  giebt  ihm  Gaius  Gracchus  den  Vor- 
wurf zurück:  er  selbst  sei  der  Tyrann,  der  getödtet  werden  müsse  (twv  de  tieqi  töv  rdtov  ßoutvzwv  xriTvia  töv 
Tvquvvov  Plut.  1.  c,  wo  auch  Scipios  Antwort  angeführt  wird).  Der  Bericht  ist  offenbar  vollständig  authentisch;  die 
Reden  des  Scipio  (Cic.  Lael.  96  est  in  manibus  oratio)  und  des  Gracchus  (Meyer  p.  228)  waren  ja  erhalten,  ebenso 
offenbar  die  des  Carbo  (Cic.  Brut.  104,  vgl.  296). 

3)  Hier  erzählt  Appian,  dass  er  seinen  Sohn  {rbv  vlbv)  bei  sich  hat  und  dem  Volke  empfiehlt.  Bei 
Plutarch  wird  das  schon  früher  (c.  13)  berichtet,  als  ein  Freund  des  Tiberius  plötzlich  gestorben  ist  und  Verdaclit 
der  Vergiftung  vorliegt.  Da  legt  Tiberius  Trauergewand  an,  führt  seine  Kinder  (rovg  nutSag)  dem  Volke  vor, 
und  empfiehlt  ihm  seine  Familie.  Ebenso  berichtet  Dio  (82,  8  y.tä  ntvihifxriv  la&fjTu  nolXdxig  ivedöno,  t^v  re 
firjTfQK  xiu  Tit  nttiSia  lg  t6  nlfj&og  naQfjye  awStöfxevu)^  der  hier  genau  zu  Plutarch  stimmt.  Den  authentischen 
Bericht  aus  Sempronius  Asellio  (fr.  7)  hat  Gellius  II  13  bewahrt:  orare  coepit  (offenbar  am  letzten  Tage  wie  bei 
Appian)  id  quidem,  ut  se  defenderent  liberosque  suos,  eum  quem  virile  secus  tum  in  eo  tempore  habebat  produci 
iussit  populoque  commendavit  prope  flens.     Also  er  hat  mehrere  Kinder  und  unter  ihnen  einen  Sohn,  der  bereits 


27 

überfallen,  und  so  geleitet  ihn  eine  grosse  Menge  nach  Hause  und  bewacht  ihn.i  Aber  von 
einem  Entschlüsse  nöthigenfalls  Gewalt  zu  gebrauchen  ist  mit  keinem  Worte  die  Rede;  nur  von 
den  Gegnern  fürchtet  man  ein  Verbrechen  (vgl.  cp.  17  fin.). 

Am  nächsten  Morgen,  als  Tiberius  wieder  zur  Wahlversammlung  aufs  Gapitol  gehen  will, 
treffen  ihn  drei  böse  Vorzeichen.  Im  Hause  wollen  die  heiligen  Hühner  nicht  fressen  (schon 
vorher  haben  Schlangen  in  seinem  Helm  genistet),  beim  Austritt  aus  dem  Hause  stürzt  er  über 
die  Schwelle  und  reisst  sich  den  Nagel  der  grossen  Zehe  auf,  auf  der  Strasse  kämpfen  Raben 
(bei  Plut.  zwei,  bei  Val.  Max.  drei)  zu  seiner  Linken  und  lassen  einen  Dachziegel  vor  seinen 
Füssen  niederfallen.  Aber  Blossius  redet  ihm  die  Furcht  aus:  das  wäre  in  Wahrheit  tyrannisch, 
wenn  er  um  solcher  Dinge  willen  dem  Ruf  des  römischen  Volkes  nicht  folgen  wolle.  Genau  die- 
selben Vorzeichen  in  derselben  Reihenfolge  hat  Livius  berichtet,  mit  Hinzufügung  schlimmer 
Opferzeichen  auf  dem  Gapitol  (Obsequens  27.  Val.  Max.  I  4,  2  2),  nur  dass  hier  natürlich  die 
Auffassung  umgekehrt  ist  und  ihm  aus   der  Verachtung  der  Omina  ein  Vorwurf  gemacht  wird. 

In  der  Versammlung  auf  dem  Gapitol  steht  alles  günstig  für  Gracchus;  aber  die  Wahl- 
handlung ^  wird  durch  das  Toben  der  Gegner  gestört.  Da  eilt  Fulvius  Flaccus  aus  dem  Senat 
herbei,  bahnt  sich  den  Weg  zu  Gracchus  und  meldet,  dass  die  Reichen,  obwohl  der  Consul  sich 
widersetzt,  sich  zur  Gewalt  rüsten  und  ihren  Anhang  bewaffnet  haben.  Daraufhin  schürzen 
Tiberius'  Anhänger  die  Toga  auf,  zerbrechen  die  Stäbe  der  Lictoren  —  man  beachte,  wie  trotz 
der  verschiedenen  Auffassung  bei  Appian  hier  wie  in  Folgendem  derartige  augenfällige  Dinge 
in  beiden  Quellen  gleichmässig  erzählt  werden  — ,  und  rüsten  sich  zur  Abwehr.  Die  Ferner- 
stehenden können  den  Vorgang  nicht  verstehen,  Tiberius  sucht  ihn,  da  seine  Stimme  nicht  mehr 
durchdringt,  durch  Gesten  deutlich  zu  machen  und  greift  nach  dem  Kopf.  Das  wird  dem  Senat 
gemeldet,  und  darauf  ruft  ISTasica,  nachdem  Scaevola  sich  geweigert  hat,  alle,  die  den  Staat 
erhalten  wollen,  auf,  ihm  zu  folgen,  und  schlägt  den  Saum  der  Toga  um  den  Kopf.  Vor  den 
vornehmen  Männern,  die  die  Toga  um  die  Hand  gewickelt  haben,  die  so  als  Schild  dient  —  das 
ist  bei  Velleius  auf  Nasica  selbst  übertragen  — ,  weicht  die  Menge  auseinander;  ihr  Gefolge  ist 
mit  Knütteln  und  Stöcken  bewaffnet,  sie  selbst  ergreifen  die  herumliegenden  Stuhlbeine  und  Holz- 
stücke von  den  Sitzen,  welche  die  fliehende  Menge  zerbrochen  hat,  und  verjagen  die  Gegner. 
Tiberius  flieht,  ein  Verfolger  reisst  ihm  die  Toga  von  der  Schulter,  er  gleitet  aus;  als  er  sich 
wieder  aufrichtet,  schlägt  ihn  P,  Satureius,  einer  der  Tribunen  {eig  xiov  auvaQxovuov)^  mit  einem 
Stuhlbein  auf  den  Kopf,  auf  den  zweiten  Schlag  macht  L.  Rufus  Anspruch.  Von  seinem  An- 
hang werden  über  300  mit  Hölzern  und  Steinen  erschlagen,  keiner  mit  dem  Schwerte. 


gross  genug  ist,  um  dem  Volke  vorgeführt  zu  werden.  Es  sieht  fast  aus,  als  sei  Asellios  Bericht  von  der  Quelle 
Plutarchs  und  Dios  missverstanden.  (Ebenso  hat  Gellius  den  Text  missverstanden;  er  ist  der  absurden  Ansicht, 
liberi  könne  bei  den  Alten  auch  ein  einziges  Kind  bezeichnen.) 

1)  Sempronius  Asellio  (I.  c,  fr.  6)  berichtet:  nam  Gracchus  domo  cum  proficiscebatur,  nunquara  minus 
terna  ant  quaterna  milia  hominum  sequebantur.  Das  ist  bei  Plut.  c.  50  dahin  umgekehrt,  dass  Tiberius'  Anhang 
aus  nicht  mehr  als  3000  Leuten  bestanden  habe  (ov  yuQ  nhiove^-  fj  riiio/iXiov  ne^l  avjuv  ifiuv)\  er  würde  also 
leicht  nachgegeben  haben,  wenn  man  nicht  absichtlich  zur  Gewalt  habe  greifen  wollen.  Hier  tritt  die  Parteilichkeit 
der  plutarchischen  Darstellung  besonders  deutlich  hervor. 

2)  ebenso   de  vir.  ill.  64  adversis  auspiciis  in  publicum  processit. 

3)  Dass  der  an  Stelle  des  Octavius  gewählte  Tribun,  der  die  Wahl  leitet,  bei  Appian  Q.  Mummius  heisst, 
bei  riut.  Mucius,  bei  Orosius  Minucius,  ist  wohl  nicht  Variante,  sondern  Schreibfehler. 

4* 


28 

Im  Detail  weichen  Pliitarch  und  Appian  so  stark  wie  möglich  von  einander  ab.  Dagegen 
die  grossen  augenfälligen  Züge  des  Hergangs  stimmen  bei  beiden  aufs  genaueste  überein:  der 
Tumult  in  der  Volksversammlung,  die  Aufschürzung  der  Gewänder,  das  Zerbrechen  der  Stäbe  der 
Lictoren,  die  Erscheinung  der  hereinstürmenden  Senatoren,  der  Kampf  mit  den  Knütteln  und  Stuhl- 
beinen (ebenso  Diod.  34,  7,  2  xat  ö  ^/uTtkov  ^vXov  aQ/cdaag  sk  tcov  TtaQa/^eifievcov  .  .  .)  —  ein  Be- 
weis, dass  wir  es  bei  beiden  mit  der  Schilderung  von  Augenzeugen  zu  thun  haben.  Dagegen  wie 
das  Einzelne  verlaufen  war,  wie  Tiberius  seinen  Tod  gefunden  hatte,  das  konnte  Niemand  genau 
wissen,  da  erzählte  jeder  anders.  Fragen  wir  nun  aber  wessen  Gesammtauffassung  richtiger  ist, 
so  kann  die  Entscheidung  für  Appian  nicht  zweifelhaft  sein.  Dass  die  Gracchaner  zuerst  Gewalt 
gebraucht  haben,  kann  auch  Plutarchs  Bericht  nicht  läugnen;  —  die  Motivirung  mit  der  Botschaft 
des  Flaccus  ist  um  so  fragwürdiger,  da  auch  bei  Plutarch  erst  auf  die  Kunde  von  dem  Tumult 
in  der  Volksversammlung  die  Senatoren  zur  Abwehr  greifen.  Dass  sie  bereits  vorher  ihren  An- 
hang bewaffnet  hatten,  ist  höchst  unglaubwürdig,  denn  nachher  hat  dies  bewaffnete  Gefolge  gar 
keinen  Effekt.  Dass  die  Diener  der  Senatoren,  die  vor  der  Curie  warten,  Stäbe  haben,  ist  be- 
greiflich genug;  aber  die  Senatoren  sind  unbewaffnet,  als  sie  auf  dem  Capitol  angelangt  sind, 
ergreifen  sie,  was  ihnen  in  die  Hände  fällt.  Offenbar  ist  die  Gewaltthat  des  Nasica  keineswegs 
von  langer  Hand  vorbereitet,  sondern  der  Senat  ist  versammelt  um  abzuwarten,  wie  die  Dinge 
sich  entwickeln  werden.  Dass  man  da  davon  geredet  hat,  dass  man  Gewalt  anwenden  werde, 
wenn  Tiberius  seine  Wahl  durchsetze,  ist  selbstverständlich,  und  dass  Fulvius  Flucus  den  Tiberius 
gewarnt  hat,  man  werde  seine  Wahl  nicht  dulden,  er  solle  sich  zur.  Wehr  setzen,  durchaus 
glaubwürdig;  aber  erst  als  die  entscheidende  Kunde  kommt  —  Appians  Angabe,  dass  die  Tri- 
bunen für  ihr  Leben  in  Furcht  sind  und  fliehen,  ist  glaubwürdig  genug  und  wird  durch  Plutarchs 
Angabe  über  P.  Satureius  bestätigt  — ,  ruft  Nasica  zum  Kampf  auf.  Das  ganz  entscheidende  ist 
endlich,  dass  es  für  Tiberius  keine  Wahl  gab:  er  war  verloren,  wenn  er  seine  Wiederwahl  nicht 
erzwingen  konnte.  Am  Tage  vorher  mag  er  daran  gedacht  haben,  freiwillig  zurückzutreten;  die 
günstige  Stimmung,  mit  der  das  Volk  ihn  aufnahm,  als  er  im  Trauergewande  erschien,  hat  ihn 
zu  dem  Entschluss  geführt  auszuharren  und  Gewalt  anzuwenden. 

Mit  Plutarch  stimmen  die  kurzen  Angaben  der  Kömer  überall  genau  überein.  ^  Nur  in 
einem  Punkte  findet  sich  noch  eine  charakteristische  Abweichung.  Bei  Appian  und  Plutarch 
stürmen  die  Senatoren  zum  Capitol  hinauf ^  (nach  Appian  aus  dem  Tempel  der  Fides),  Gracchus 
wird  entweder  vor  dem  Tempel  (Appian)  oder  auf  der  Flucht  am  Abhang  (Plut.  Liv.)  erschlagen. 
Bei  Velleius  dagegen ^  steht  Scipio  Nasica  oben  auf  dem  Capitol,  auf  den  höchsten  Stufen  des 


1)  Oros.  V  9  (Liv.  ep.  58  giebt  dasselbe  kürzer)  Gracchus  cum  eniteretur  ut  ipse  tribunus  plebi  sub- 
sequenti  anno  permaneret,  cumque  comitiorum  die  seditiones  populi  accenderet,  auctore  Nasica  inflammata  nobilitas 
fragmentis  subselliorum  plebem  fugavit.  Gracchus  per  gradus,  qui  sunt  super  Calpurnium  fornicem,  detracto 
amiculo  fugiens  ictus  fragmento  subsellii  corruit  rursusque  adsurgens  alio  ictu  clavae  cerebro 
inpactae  exanimatus  est.  ducenti  (Plut.  300)  praeterea  in  ea  seditione  interfecti  cet.  Die  Uebereinstimmungen  betreffs 
der  Omina  und  der  Handbewegung  (bei  Florus  und  de  vir.  ill.)  sind  schon  hervorgehoben. 

2)  uveßatvov  inl  rbv  TtßtQiov  Plut.,  uvekO-övri  dk  ig  tö  leQov  xal  xoTg  rQccx^siois  inidQcc^uövTt  App. 

3)  Velleius  II  3  tum  P.  Scipio  Nasica  .  .  .  circumdata  laevo  bracchio  togae  lacinia,  ex  superiore  parte 
Capitolii  (s.  im  Text),  summis  gradibus  insistens,  hortatus  est  qui  salvam  vellent  rempublicam  se  sequerentur.  Tum 
optimales ,  senatus  atque  equestris  ordinis  pars  melior  et  maior  et  intacta  perniciosis  consiliis  plebs  irruere  in  Gracchum 
stantem  in  area  cum  catervis  suis  et  concientem  paene  totius  Italiae  frequentiam.  Is  fugiens  decurrensquo  clivo 
Capitolino  fragmine  subsellii  ictus  vitam  .  .  .  immatura  morte  finivit. 


29 

Tempels,  und  bricht  von  hier  in  die  Versammlung  auf  der  Area  ein,  zu  der  Gracchus  gerade 
redet.  Da  flieht  Gracchus  und  wird  auf  dem  clivus  Capitolinus  (hier  ist  wohl  auch  der  fornix 
Calpurnius  zu  suchen,  den  Livius  (Orosius)  nennt)  erschlagen.  Dieselbe  Schilderung  der  Situation 
kehrt  wieder  in  einem  vierten  Bericht  über  Tiberius'  Untergang,  den  wir  in  der  Rhetorik  ad 
Herennium  besitzen  (IV  68).  Der  Verfasser  derselben  ist  bekanntlich  ein  eifriger  Demokrat,  der 
seine  Beispiele  mit  Vorliebe  aus  den  römischen  Parteikämpfen  der  jüngsten  Vergangenheit  wählt, 
natürlich  auf  Grund  von  Werken,  die  seinem  Parteistandpunkt  angehören.  Er  führt  uns  mitten 
in  die  Situation  hinein:  „das  Volk  fürchtet  Gracchus  werde  von  seinem  Plane  abstehen;  da  lässt 
er  die  Versammlung  zusammenrufen,  um  es  zu  beruhigen. ^  Während  dessen  stürzt  Nasica  (iste) 
voll  böser  Gedanken  aus  dem  Juppitertempel  hervor;  mit  brennendem  Blick,  mit  gesträubtem 
Haar,  mit  verzerrter  Toga  geht  er  mit  mehreren  andern  rascher  vorwärts.  Jenem  schafft  der 
Herold  Schweigen;  dieser  stemmt  die  Ferse  auf  eine  Bank^  und  bricht  ihr  den  Fuss  ab,  sein 
Gefolge  heisst  er  das  gleiche  thun.  Während  Gracchus  mit  dem  Gebet  beginnt,  brechen  jene 
von  verschiedenen  Seiten  herein;  da  ruft  einer  aus  dem  Volke  (das  ist  offenbar  die  Botschaft  des 
Flaccus  bei  Plut.  18):  „Wir  sind  geschlagen,  Tiberius!  Merkst  Du  es  nicht?  Sieh  Dich  doch 
um!"  Von  Furcht  ergriffen  beginnt  die  Menge  zu  fliehen;  Nasica,  von  Verbrechen  und  Blut- 
durst schnaubend,  packt  Gracchus  Arm,  und  während  dieser  zu  begreifen  sucht  was  vorgeht 
(dubitanti  Graccho  quid  esset)  aber  nicht  von  der  Stelle  weicht,  zerschlägt  er  ihm  die  Schläfe. 
Gracchus  sinkt  schweigend  zusammen,  Nasica,  von  seinem  Blute  bespritzt,  geht  stolz  auf  seine 
That  in  den  Juppitertempel."  Diese  Erzählung  ist  das  Gegenbild  zu  Posidonios  Darstellung: 
Nasica  ist  der  verruchte  blutdürstige  Frevler,  der  Gracchus  mit  eigner  Hand  erschlägt;  dieser  ist 
völlig  unschuldig  und  wird  auf  das  heimtückischste  ermordet,  ahnungslos,  ohne  einen  Versuch 
der  Gegenwehr.  Um  den  Effekt  zu  steigern,  bricht  hier  Nasica  von  oben  her  in  die  Versammlung, 
die  Senatssitzung  wird  in  den  Tempel  verlegt.  Diese  Darstellung  ist  bei  Velleius  aufgenommen, 
während  er  dann  in  Uebereinstinmiung  mit  Plutarch  und  Livius  den  Gracchus  fliehen  und  am 
Abhang  des  Hügels  den  Tod  finden  lässt.  ^  — 

Ueber  Gaius  Gracchus  Tribünat,  das  ja  an  dramatischen  Situationen  lange  nicht  so  reich 
ist  wie  das  des  Tiberius,  ist  auch  Plutarchs  Bericht  weit  kürzer.  Was  davon  für  unsere  Zwecke  in 
Betracht  kommt,  ist  meist  früher  schon  berührt.  Die  Epoche,  wo  Gaius  wie  ein  Monarch  über 
das  römische  Reich  schaltet  (Mitte  123  bis  Anfang  122),  wird  anschaulich  geschildert  (c.  6  —  8) 
—  den  Höhepunkt  bildet  die  Wahl  des  Fannius  zum  Consul  auf  seine  Empfehlung,  als  seine 
Anhänger  bereit  sind,  ihm  Tribünat  und  Consulat  zugleich  zu  übertragen,  also  eine  Stellung  zu 
verschaffen,  wie  sie  später  Augustus  gehabt  hat  — ,  ebenso  der  entscheidende  Wendepunkt,  als 
Gaius  es  trotz  seines  Edicts  nicht  mehr  wagen  kann,  den  vom  Consul  Fannius  ausgewiesenen 
Bundesgenossen  den  tribunicischen  Schutz  zu  gewähren.  Wie  bekannt  hat  er  durch  das  Bundes- 
genossengesetz mehr  noch  als  durch  die  Machinationen  des  Drusus  seine  Stellung  verloren;   Avie 


1)  quod  simulatquo  Gracchus  aspoxit,  fluctuaro  iwpulum  voreutom,  no  ipse  auctoritate  (wessen?  der 
übrigen  Tribunen?)  comniotus  soutentia  desisterot,  iubet  advocari  coutionem. 

2)  subsellium  quoddani  excors  sagt  der  Rhetor. 

3)  Die  Stätte  dos  Todes  stimmt  in  der  rhet.  ad  Her.  annähernd,  aber  nicht  genau  zu  Appian;  bei  diesem 
wird  Gracchus  zum  Tempel  hinaufgedrängt  und  fällt  an  der  Thür,  die  von  den  Priestern  geschlossen  ist,  bei  jenem 
weicht  er  nicht  von  der  Stelle.  Auch  in  diesem  l'unkt  scheint  sich  Posidonios'  Dai-stellung,  nach  dem  ver- 
stümmelten Fragment  Diod.  34,  7,  2  zu  sohliessen,  mit  der  rhet.  ad  Her.  gedeckt  zu  haben. 


30 

der  Stadtpöbel  wendet  sich  auch  von  der  besseren  seiner  Anhänger  ein  starker  Theil  von  ihm 
ab,  allen  voran  der  Consul  Fannius,  auf  den  er  seine  Haupthoffnungen  gesetzt  hatte.  Die 
Eivalität  der  übrigen  Tribunen,  die  bei  einem  Gladiatorenspiel  zum  Ausbruch  kommt  (c.  12), 
verschärft  denConflict:  er  wird  nicht  wiedergewählt  (vgl.  S.  18,  A.  3).  Das  wichtigste  aber  war,  dass 
die  Capitalistenpartei ,  die  Ritterschaft,  sich  von  ihm  ab  wandte.  Die  Gesetze,  welche  ihnen  die 
Herrschaft  im  Staate  verschafften,  hatten  sie  sehr  gern  unterstützt,  aber  sich  für  Gracchus  auf- 
zuopfern hatten  sie  wenig  Neigung;  sie  wollten  selbst  herrschen,  nicht  seine  Herrschaft  aufrichten. 
Das  Bundesgenossengesetz  war  ihnen  durchaus  nicht  sympathisch  i,  ebensowenig  vermuthlich  die 
überseeischen  Colonien;  und  als  nun  die  Gefahr  eines  Aufstandes,  eines  Kampfes  in  der  Stadt  immer 
drohender  wurde,  scharten  sie  sich  eifrig  um  den  Senat.  Zum  Kampf  gegen  Gaius  hat  Opimius 
die  Ritter  aufgerufen.  Mann  für  Mann  mit  zwei  bewaffneten  Sklaven  zu  erscheinen  (Flut.  C.  Gr.  14), 
und  wir  erfahren  nicht,  dass  sie  sich  dem  Befehle  entzogen  hätten.  Die  Thatsache,  dass  die  Ritter 
vom  Senat  gewonnen  sind  2,  wird  von  Plutarch  und  Appian  nicht  ausdrücklich  hervorgehoben, 
wohl  aber  von  Sallust  lug.  42:  nam  postquam  Ti.  et  C.  Gracchus  .  .  .  vindicare  plebem  in 
libertatem  et  paucorum  scelera  patefacere  coepere,  nobilitas  .  .  .  modo  per  socios  ac  nomen 
Latinum  (in  den  Parteikämpfen  um  das  Ackergesetz  nach  Tiberius  Sturz),  interdum  per 
equites  Romanos,  quos  spe  societatis  a  plebe  dimoverat  (also  gegen  Gaius),  Gracchorum 
actionibus  obviam  ierat. 

Bei  der  Katastrophe  des  Gaius  ist  nach  Flutarchs  Darstellung  Fulvius  Flaccus  der  Haupt- 
schuldige, während  Gaius  nach  Kräften  entlastet  wird.  Flaccus  wird  bei  Plutarch  durchweg  in  sehr 
ungünstigem  Lichte  dargestellt;  er  hat  dem  Gaius  während  seiner  Abwesenheit  in  Karthago  durch 
sein  gewalthätiges  Auftreten  die  Gunst  der  Massen  entfremdet  (c.  10),  er  gilt  für  den  Mörder  Scipios^, 


1)  Auch  im  Jahre  91  haben  die  Eitter  die  Ei-theilung  des  Bürgerrechts  an  die  Bundesgenossen  eifrig  be- 
kämpft. Erst  als  in  Folge  des  Bundesgenossenkriegs  ihre  Machtstellung  völlig  zusammenbrach  —  die  Gerichtsbarkeit 
ist  ihnen  nicht  erst  durch  Sulla,  sondern  bereits  im  Jahre  89  durch  ein  Gesetz  des  M.  Plautius  Silvanus  genommen 
worden  (Ascon.  p.  79),  was  oft  übersehen  wird;  daher  der  Umschwung  in  den  varischen  Processen  (Cic.  Brut.  305)  — , 
haben  sie  die  Regierung  in  Concessionen  an  die  Bundesgenossen  zu  überbieten  gesucht.  Denn  der  Schlüssel  zum 
Verständniss  des  Tiibunats  des  Sulpicius  liegt  darin,  dass  dieser  den  Rittern  die  verlorene  Stellung  wieder  zu 
schaffen  sucht  —  das  hat  von  den  Neueren  meines  Wissens  nur  Nitzsch  richtig  erkannt.  Die  ganze  innere  Ge- 
schichte Roms  in  dieser  Zeit,  bis  zur  Vernichtung  der  Eitter  durch  Sulla,  besteht  in  dem  Kampf  des  Senats  und 
der  Eitter  um  die  Herrschaft.  Marias  ist  im.mer  der  Vertreter  der  Ritter  gewesen,  und  wenn  Sulpicius  den  Ober- 
befehl Sullas  an  Marius  übertragen  will,  so  ist  das  ein  Versuch,  die  wichtigste  Armee  und,  was  noch  mehr  in  Be- 
tracht kam,  die  wichtigste  Provinz  (Asien)  dem  Senat  zu  nehmen  und  der  Rittei'schaft  zu  sichern.  Es  handelt  sich 
also  keineswegs  nur  „um  die  elende  Frage,  ob  dieser  oder  jener  Offizier  berufen  sei  im  Osten  zu  commandiren" 
(Mommsen,  röm.  Gesch.  II',  256) ,  sondern  um  die  Herrschaft  über  das  römische  Reich;  Sulla  war  politisch  völlig 
gerechtfertigt,  wenn  er  zum  Schwerte  griff,  nicht  im  eigenen  Interesse,  sondern  für  die  Behauptung  der  Senats- 
hen'schaft. 

2)  Mommsen' s  Darstellung,  dass  erst  Saturninus  und  Marius  den  Bund  zwischen  der  Ritterschaft  und  der 
Demokratie  gesprengt  und  sie  dem  Senat  in  die  Arme  getrieben  hätten,  wiederspricht  den  Angaben  der  Quellen. 

3)  Dass  auch  Gaius  der  That  beschuldigt  wird  (^'»//«to  &e  y.al  rou  Fidov  inövoia)  kann  Plutarch  nicht 
läugnen.  Die  Angaben  über  Scipios  Tod  erschöpfen  alle  Möglichkeiten:  entweder  er  starb  eines  natürlichen  Todes 
(Laelius  in  der  von  Fabius  Maximus  gehaltenen  Leichenrede  Meyer  p.  175  bei  schol.  Bob.  in  Cic.  p.  283;  Velleius  II  4 
seu  fatalem,  ut  plurimi,  seu  conflatam  insidiis,  ut  aliqui  prodidere  memoriae,  mortem  obiit),  oder  durch 
Selbstmord  App.  I  20.  Plut.  Rom.  27,  oder  durch  seine  Gemahlin  Sempronia,  die  Schwester  der  Gracchen  Liv.  ep.  59, 
Oros.  V  10,  10.  App.  I  20.  schol.  Bob.  1.  c,  oder  auf  Anstiften  der  Cornelia,  der  Mutter  der  Gracchen  App.  I  20  —  per 
manus  propinquorum  sagt  Cic.  rep.  VI  12.  14  —  oder  durch  Flaccus  und  C.  Gracchus  Plut.  C.  Gr.  10.  schol.  Bob.  1.  c, 
oder  durch  Carbo  (Crassus  bei  Cic.  de  orat.  E  170,  vgl.  Cic.  ad  fam.  IX  21.  Pompeius  bei  Cic.  ad  Qu.  fr.  II  9).-  Eine 
Entscheidung  ist  natürlich  unmöglich,  die  Ermordung  durch  die  Gegner  bei  der  grossen  Erbitterung,  die  sein  Auf- 
treten hervorgerufen  hatte,  und  den  Befürchtungen,  die  man  vor  ihm  hegte,  weitaus  das  wahrscheinlichste. 


31 

er  treibt  jetzt  Gaiiis  dazu,  dem  Opimiiis  und  seinen  Genossen  Widerstand  zu  leisten  und 
seine  Anhänger  aufs  neue  um  sich  zu  schaaren  (c.  13).  Am  Tage  der  Abstimmung  haben 
beide  Parteien  früh  Morgens  das  Capitol  besetzt.  Als  der  Consul  das  Opfer  vollzieht,  ruft 
sein  Diener  Q.  Antullius,  der  die  Eingeweide  fortträgt,  dem  Flaccus  und  den  Seinen  zu: 
„macht  dem  Guten  Platz,  schlechte  Bürger!";  nach  Einigen  streckte  er  ihnen  gleichzeitig  seinen 
nackten  Arm  entgegen.  Er  wird  mit  grossen  spitzen  Schreibgriffeln,  die  zu  dem  Zwecke  ange- 
fertigt sein  sollen,  niedergestossen.  Gaius  ist  darüber  sehr  böse,  Opimius  aber  freut  sich  des 
Anlasses  zum  Einschreiten,  trifft  seine  Vorbereitungen  und  bietet  die  Ritterschaft  für  den 
nächsten  Morgen  auf  (s.  o.^)  Die  Versammlung  wird  durch  Regen  aufgelöst.  Am  nächsten  Morgen 
lässt  Opimius  die  Leiche  des  Antullius  dem  Senat  vorführen,  dieser  fasst  den  bekannten  Beschluss. 
Während  dessen  hat  Flaccus  die  nöthigen  Yorbereitungen  getroffen  {dvTiTtaqeaAemtevo  xal  ovvfjyev 
o'/Xov)  und  bringt  die  Nacht  bei  wüstem  Gelage  zu,  während  Gaius  von  der  Menge,  die  er 
gerührt  hat  als  er  auf  dem  Heimweg  vom  Markt  bei  der  Statue  seines  "Vaters  stehen  blieb  und 
tief  aufseufzte,  nach  Hause  geleitet  und  bewacht  wird.  Am  Morgen  rüstet  sich  Flaccus,  mit 
Mühe  aus  dem  Rausch  erweckt,  mit  Waffen  aus  seiner  gallischen  Beute  und  besetzt  mit  den 
Seinen  den  Aventin,  Gracchus  nimmt  nur  einen  kurzen  Dolch  unter  der  Toga  mit,  von  Licinia 
mit  trüben  Ahnungen  entlassen.  Auf  sein  Andrängen  schickt  Flaccus  seinen  jüngeren  Sohn  auf 
den  Markt  zu  Yerhandlungen.  Opimius  weist  ihn  mit  der  Forderung  unbedingter  Unterwerfung 
ab,  Gracchus  will  sich  stellen,  wird  aber  von  seinen  Genossen  zurückgehalten,  und  entsendet  darauf 
den  jungen  Flaccus  nochmals,  der  jetzt  der  Ankündigung  entsprechend  festgenommen  wird. 
Opimius  lässt  die  Schwerbewaffneten  mit  kretischen  Bogenschützen  zusammen  vorgehen,  letztere 
bringen  die  eigentliche  Entscheidung.  Die  Gegner  fliehen,  Flaccus  flüchtet  in  ein  Bad,  wird 
aufgefunden  und  mit  seinem  älteren  Sohne  getödtet,  Gaius  enthält  sich  des  Kampfes  ^  und  flieht 
in  den  Dianatempel.  3  Er  will  sich  tödten,  aber  seine  Freunde  Pomponius  und  Licinius*  hindern 
ihn  daran.  Inzwischen  haben  die  Meisten,  da  Straflosigkeit  verkündet  wird,  ihn  verlassen.  Nach- 
dem er  gebetet,  die  Gottheit  möge  das  römische  Yolk  zum  Entgelt  für  seine  Undankbarkeit  nie 
aus  der  Knechtschaft  erlösen,  flieht  er  über  den  pons  sublicius,  wo  seine  beiden  Freunde  sich 
für  ihn  aufopfern,  gelangt  in  den  Hain  der  Furien,  und  lässt  sich  hier  durch  seinen  Sklaven 
Philokrates,  den  letzten  der  ihm  treu  bleibt,  den  Tod  geben;  Philokrates  tödtet  sich  an  seiner 
Leiche.  Nach  Andern  werden  beide  zusammen,  da  der  Sklave  seinen  Herrn  eng  umschlungen 
hielt,  von  den  Verfolgern  erschlagen.  Gracchus  Kopf  bringt  Septimuleius  ein,  nachdem  er  Blei 
hineingegossen,   und   erhält   das   gleiche   Gewicht  Gold    als   Belohnung;    die   armen   Leute,   die 


1)  Durch  eine  Flüchtigkeit  scheinen  bei  Plutarch  die  Ereignisse  auf  drei  Tage  statt  auf  zwei  vertheilt. 
Das  ({u(c  ^t  ri^tQu  für  die  Senatssitzung  cp.  14  init.  bezeichnet  denselben  Zeitpunkt  wie  das  (o)d-(v  aap.  14  med.  für 
das  Aufgebot  der  Ritterschaft  und  das  äuu  Se  ^fj.fQn  für  Flatjcus  Rüstung  cp.  15  init.  Vgl.  Cic.  Cat.  I  4  decrevit 
quondum  senatus,  ut  L.  Opimius  consul  videat  ne  quid  respublica  detrimenti  capiat:  nulla  nox  intercessit:  inter- 
fectus  est  propter  quasdam  seditionum  suspiciones  (Cicero  mildert  absichtlich)  C.  Gracchus  etc. 

2)  Vgl.  comp.  Ag.  et  Cl.  et  Gracch.  4  nhot;  dt  kty^ruc  /.irj^f  ßcdXöufvoi;  ÖQfxtjaai  ttqös  äfivvav,  ulXu 
hifinQÖTKTOi;  &v  iv  tois  nol^fxixoTg  agyätttTog  Iv  rrj  arrtaii  ytvtaOca. 

3)  Das  ist  wohl  eine  Flüchtigkeit  Plutarchs,  die  sich  aus  dem  Ansehen  dieses  Tempels  leicht  erklärt. 
Orosius  nennt  an  seiner  Stelle  den  Minervatempel. 

4)  An  seiner  Stelle  nennt  Orosius  Laetorius.  Licinius  ist  der  bekannte  Sklave  des  Gracchus,  der  beim 
Reden  durch  Musik  auf  ihn  einwirkt  (Plut.  Ti.  Gr.  2,  vgl.  oben  S.  22,  A.  1). 


32 

Flaccus  Kopf  einbringen,  erhalten  nichts.  Die  Leichen  aller  Gefallenen,  zusammen  3000 1,  worden 
in  den  Fluss  geworfen. 

Auch  hier  stimmen  die  römischen  Berichte  fast  in  allen  Zügen  mit  Plutarch  überein. 
Vor  allem  die  Provokation  durch  Antullius,  den  praeco  des  Opimius,  findet  sich  bei  Orosius 
und  de  vir.  ill.,  so  wenig  sie  der  Tendenz  ihrer  Darstellung  entspricht.  Bei  letzterem  stört 
Gaius  alsdann,  als  er  aufs  Forum  hinabsteigt,  eine  von  einem  Tribun  abgehaltene  Versammlung 
und  wird  deshalb  vom  Senat  zur  Verantwortung  gezogen.  2  Die  Besetzung  des  Aventin  findet 
sich  natürlich  überall;  die  sagittarii  des  Opimius,  welche  die  Entcheidung  bringen,  kehren  bei 
Orosius  wieder.^  Auch  bei  Orosius  erscheint  Flaccus  mit  seinen  beiden  Söhnen  in  voller 
Rüstung,  Gracchus  nur  mit  einem  kurzen  Schwert  unter  der  Toga.  Den  Aufruf  der  Sklaven  zur 
Freiheit,  der  bei  Plutarch  wohl  zufällig  fehlt,  berichtet  Orosius  wie  Appian.  Auch  über  den  Tod 
des  Flaccus  und  seines  ältesten  Sohnes  hat  er  eine  etwas  abweichende  Version*,  während  Velleius 
zu  Plutarch  stimmt.^  Gracchus  letzte  Schicksale,  den  Selbstmordversuch,  die  Flucht  über  den 
pons  sublicius,  wo  ein  Freund  sich  für  ihn  opfert,  den  Tod  durch  die  Hand  des  Sklaven 
hat  Livius  genau  wie  Plutarch  erzählt^,  ebenso  die  Einbringung  des  mit  Blei  gefüllten  Kopfes 
durch  Septimuleius. '^  Auch  bei  Orosius  schliesst  sich  daran  wie  bei  Plutarch  eine  Erwähnung 
der  Cornelia  und  ihres  Aufenthaltes  in  Misenum^;  nach  Orosius,  der  darin  von  allen  andern 
abweicht,  wäre  ihr  die  Leiche  des  Sohnes  ausgeliefert  worden.  Genug,  es  liegt  auch  hier, 
wie  bei  Tiberius  Tod,  nur  eine  einzige  Version  vor,  die  von  den  Späteren  in  Kleinigkeiten 
variirt  wird. 

Vergleichen  wir  nun  den  Bericht  Plutarchs  und  der  Römer  mit  Posidonios  und  Appian, 
so  finden  wir  genau  dasselbe  Verhältniss  wie  früher.  Dass  Gracchus  sich  entschliesst  Gewalt  zu 
brauchen,  kann  auch  dieser  Bericht  nicht  läugnen,  aber  er  sucht  es  nach  Kräften  zu  mildern 
und  die  Schuld  von  Gaius  auf  Flaccus  abzuwälzen.    In  den  grossen  Hauptzügen  stimmen  alle  drei 


1)  Hier  sind  wohl  die  250  auf  dem  Aventin  Gefallenen  mit  den  über  3000  nachher  bei  der  Untersuchung 
durch  Opimius  Getödteten  (Oros.  V  12)  zusammengeworfen. 

2)  Das  entspricht  dem  vergeblichen  Versuch  des  Gracchus  hei  Appian,  sich  auf  dem  Forum  zu  recht- 
fertigen. Die  Versammlung,  die  bei  Plutarch  durch  Eegen  aufgelöst  wird,  ist  wohl  dieselbe.  Dann  hindert  nach 
Plutarch  ein  zufälliges  JEreigniss  die  Rechtfertigung  des  Gracchus,  nach  Appian  wollen  ihn  die  Leute,  entsetzt  über 
den  Mord,  nicht  mehr  hören. 

3)  Als  Führer  der  voranstürmenden  Schaaren  nennt  Orosius  den  1).  Brutus  (Gallaicus).  Die  Betheiligung 
des  Metellus  und  seiner  vier  Söhne  und  des  Lentulus,  der  schwer  verwundet  wird,  erwähnt  Cicero  Cat.  4,  13. 
Phil.  8,  14;  das  Eintreten  des  Scaurus  für  Opimius  de  vir.  ill.  72. 

4)  duo  Flacci  pater  filiusque  cum  per  aedem  Lunae  in  privatam  domum  desiluissent  foresque  obiecissent, 
rescisso  creticio  pariete  confossi  sunt. 

5)  Flaccus  in  Aventino  armatus  ad  pugnam  ciens  cum  filio  maiore  iugulatus  est. 

6)  Oros.  V  12.  Val.  Max.  IV  7,  2  (Aufopferung  des  Pomponius  an  der  porta  trigemina,  des  Laetorius  am 
pons  sublicius).  VI  8,  3  (Tod  durch  den  Sklaven  Philokrates  oder  Euporus,  der  sich  dann  selbst  tödtet).  Ebenso  de 
vir.  ill.:  ubi  (auf  dem  Aventin)  ab  Opimio  victus  dum  a  templo  Lunae  desiliit,  talum  intorsit  (Verwechselung  mit 
Flaccus?),  et  Pomponio  amico  apud  portam  trigeminam,  P.  Laetorio  in  ponte  sublicio  persequentibus  resistente  in 
lucum  Furinae  pervenit;  ibi  vel  sua  vel  servi  Eupori  manu  interfectus.  Velleius  II  6  erzählt  Pomponius'  That  und 
nennt  den  Sklaven  Euporus. 

7)  Bei  Oros.  und  Voll,  nur  angedeutet;  Val.  Max.  IX  4,  3  und  de  vir.  ill.  nennen  den  Namen  und  macheu 
Septimuleius  zu  einem  Freunde  des  Gracchus;  bei  Plutarch  ist  er  ein  Freund  des  Opimius.  Bei  Posidonius  heisst 
er  L.  Vitellius  (s.  0.)  und  ist  Freund  des  Gaius.  —  Die  Anekdote  von  dem  Selbstmord  des  haruspex  Val.  Max.  IX  12,  6 
entspricht  der  Erzählung  bei  Vell.  II  7. 

8)  Plut.  19  ((ilrrj  &e  ne^i  rovg  xcdovf^fvovc,  Miai]vovs  SuTQiß^v  =  Oros.  V  12,  9  haec  autem  Cornelia, 
Africani  maioris  filia,  Misenum,  ut  dixi  (?),  prioris  filii  morti  secesserat. 


Versionen  überein,  auch  Gracchus'  letzte  Schicksale  hat  Appian  und  wohl  auch  Posidonios  im 
wesentlichen  ebenso  erzählt  wie  Plutarch,  nur  mit  Weglassung  des  Details  —  dass  Einzelheiten, 
wie  der  Name  des  Sklaven  oder  des  Mannes,  der  den  Kopf  des  Gracchus  einbrachte,  nicht  sicher 
stehen,  ist  nur  natürlich  — ;  aber  in  dem  für  die  Schuldfrage  entscheidenden  Moment  der  Mordthat 
auf  dem  Capitol  weichen  sie  aufs  stärkste  von  einander  ab.  Die  Thatsache,  die  den  Gegnern 
den  erwünschten  Anlass  zum  Einschreiten  gab,  war  notorisch;  ein  römischer  Bürger  w^ar  beim 
Opfer  —  auch  in  diesem  Zuge  stimmen  Appian  und  Plutarch  überein,  während  Appian  sonst 
Posidonios  viel  näher  steht  —  ermordet.  Aber  den  Anlass  stellt  jeder  anders  dar  je  nach  seinem 
Parteistandpunkt.  Nach  Posidonios  giebt  Gaius  direct  den  Befehl,  den  Freund  zu  tödten,  der  ihn 
um  Schonung  Eoms  anfleht,  nach  Appian  ist  nur  Gaius  finsterer  Blick  und  ein  Missverständniss 
seiner  Anhänger  daran  Schuld,  nach  Plutarch  und  den  Eömern  aber  ist  der  Erschlagene  ein  frecher 
Opferdiener,  der  die  Gracchaner  provocirt.  Den  Anlass  zum  Blutvergiessen  hat  offenbar,  wie  es 
nicht  anders  sein  konnte,  wenn  die  Gegensätze  so  gespannt  waren,  irgend  ein  Zufall  gegeben; 
aber  dass  Gracchus  entschlossen,  war,  sein  Werk,  die  Colonie  Karthago,  mit  Gewalt  zu  retten, 
wenn  die  Comitien  gegen  ihn  entschieden,  ist  nicht  zu  bezweifeln  und  wird  auch  in  Plutarchs 
Bericht  nicht  bestritten.     Doch  ist  darüber  oben  schon  hinreichend  gesprochen.  — 

Wenn  unsere  Untersuchung  uns  lehrt,  dass  die  Einzelheiten  der  Ereignisse  der  Gracchen- 
zeit  keineswegs  immer  so  sicher  stehen,  wie  die  neueren  Bearbeiter,  verführt  durch  die 
Knappheit  der  uns  vorliegenden  Quellen,  oft  geglaubt  haben,  so  wird  das  reichlich  aufgewogen 
durch  den  tieferen  Einblick,  den  wir  in  der  Beschaffenheit  unserer  Quellen  gewonnen  haben. 
Die  Minucien  historischer  Vorgänge  sind  überhaupt  fast  niemals  genau  festzustellen;  aber  sie 
sind  auch  für  die  historische  Erkenntniss  irrelevant.  Die  drei  Berichte,  welche  wir  besitzen, 
weichen  in  diesen  Dingen  eben  so  stark  von  einander  ab,  wie  moderne  Berichte  von  Augen- 
zeugen über  complicirte  Vorgänge,  wo  auch  der  zuverlässigste  Bericht  ausnahmslos  von  der  In- 
dividualität des  Berichterstatters,  von  seiner  Beobachtungsgabe,  seinem  Parteistandpunkt,  seiner 
grösseren  oder  geringeren  Gedächtnisskraft  stark  beeinflusst  ist;  und  wir  können  mit  Sicherheit 
erwarten,  dass  wenn  uns  noch  mehr  Berichte  zugänglich  würden,  auch  diese  Abweichungen  sich 
mehren  würden.  Aber  in  den  Grundzügen,  in  den  Angaben  über  die  maassgebenden  Thatsachen 
stimmen  alle  drei  Berichte  aufs  beste  überein,  so  verschieden  ihr  Standpunkt  ist.  Das. giebt  uns 
nicht  nur  die  Gewähr,  dass  wir  in  diesen  Dingen  auf  festem  historischen  Boden  stehen,  sondern 
bringt  uns  auch  den  unschätzbaren  Gewinn,  dass  wir  in  den  Grundlagen  unserer  Quellen  Berichte 
erkennen ,  welche  aus  den  Ereignissen  heraus  geschrieben  sind  und  uns  unmittelbar  in  den  Kampf 
und  die  Auffassung  der  mit  einander  ringenden  Parteien  hineinführen. 

Schliesslich  spreche  ich  die  Hoffnung  aus,  dass  die  eingehende  Analyse  der  auf  uns  ge- 
kommenen Berichte  dazu  beitragen  wird,  die  absprechenden  Urtheile  verstummen  zu  machen, 
welche  so  vielfach  über  die  historische  Literatur  des  Alterthums  nach  Polybios  gefällt  werden, 
lediglich  aus  dem  Grunde,-  weil  uns  von  derselben  unmittelbar  fast  nichts  erhalten  ist  und  man 
sie  daher  nicht  kennt.  In  Wirklichkeit  sind  die  grossen  Geschichtswerke  dieser  Zeit  für  uns 
sehr  wohl  greifbar,  auch  wenn  wir  die  Namen  ihrer  Verfasser  nicht  kennen;  unsere  Untersuchung 
hat  uns  gezeigt,  dass  manche  von  ihnen  den  Vergleich  mit  den  hervorragendsten  Werken  der 
historischen  Literatur  aller  Zeiten  nicht  zu  scheuen  haben. 


Halle  a.  S. ,  Buchdrackerei  des  Waisenhauses. 


s 

Ä 


Ov2 
CO 

<J1 


I 

LO: 

OOi 

Hi 


H 

^ 
o 


Ö 
0) 

'S 

o 

0) 

-p 
o 

•H 

ü 
CO 

o 


<D 


X! 
o 

CO 
Ih 
(D 
-P 


ÜNIVERSITY  OF  TORONTO 
LIBRARY 


L 


Acme    Library   Card    Pocket 

Under  Pat.  "  Ref.  Index  File." 
Made  by  LIßRAET  BUREAU