UNTERSUCHUNGEN
ZUR
GESCHICHTE DER GRACCHEN
VON
EDUARD MEYER.
ABDRUCK AUS DER FESTSCHRIFT ZUR 200JAHRIGEN JUBELFEIER
DER UNIVERSITÄT HALLE.
HALLE,
MAX NIEMEYER.
1894.
UNTERSUCHUNGEN
ZUR
GESCHICHTE DER GRACCHEN.
Digitized by the Internet Archive
in 2009 with funding from
University of Toronto
http://www.archive.org/details/untersuchungenzuOOmeye
W ährend uns für die Epoche der Begründung der römischen Weltherrschaft und
dann wieder und in noch reicherem Maasse für den Ausgang der Republik und die Begrün-
dung der Monarchie vortreffliche Quellen zu Gebote stehen, die, wenn sie auch nicht alle
Wünsche befriedigen, doch eine gesicherte Erkenntniss der meisten historisch wichtigen Ereignisse
ermöglichen, liegt zwischen beiden eine um so peinlichere Lücke. Für alle die gewaltigen Be-
wegungen der ersten und historisch vielleicht wichtigsten Hälfte der römischen Revolutionszeit,
für die Zeit von den Gracchen bis über Sulla's Tod hinaus, sind wir auf ganz dürftige Quellen
angewiesen, auf kurze Darstellungen dritter und vierter Hand, und nur zu oft ausschliesslich
auf zufällig erhaltene isolirte Notizen, wie z. B. die in den Beispielen der Rhetorik ad Herennium
vorliegenden Angaben. Unter allen Verlusten, welche die antike Literatur betroffen haben, wird
der Historiker keinen schmerzlicher beklagen als diesen; nur der Untergang fast aller Kunde
über die hellenistische Geschichte des dritten Jahrhunderts steht ihm gleich verhängnissvoll
zur Seite.
Bei dieser Sachlage sind wir um so mehr darauf angewiesen, das abgeleitete Material
genau zu erwägen und nach Kräften auszubeuten. Handelt es sich doch um eine der wichtigsten
und instructivsten Epochen der Weltgeschichte, bei der es noch weitaus lohnender sein würde, die
Ereignisse von Schritt zu Schritt, ja von Tag zu Tag verfolgen zu können, als in der Ciceronischen
Zeit, für die uns der Zufall ein reicheres Material erhalten hat, als irgendwo sonst in der alten
Geschichte. Und bald gelangen wir wenigstens zu der tröstlichen Erkenntniss, dass unsere
Quellen, so dürftig und entstellt sie sind, doch auf ausgezeichnete Vorlagen zurückgehen und
uns von den wichtigsten Vorgängen zuverlässige Kunde bewahrt haben, dass es über diese Zeit
eine ausgezeichnete Ueberlieferung gegeben hat, deren versprengte Trümmer auch uns noch
erhalten sind.
Das Verhältniss und den Werth der erhaltenen Quellen für den Anfang der bezeichneten
Epoche, die Zeit der Gracchen, darzulegen, ist die Aufgabe dieses Aufsatzes.
1. Die Primär(iuellen.
Die Begebenheiten der Gracchenzeit sind von zahlreichen Zeitgenossen eingehend be-
handelt worden, zum Theil von solchen, die in hervorragender Weise an den Ereignissen be-
theiligt waren, wie C. Fannius, der cos. des Jahres 122, der mit Ti. Gracchus zusammen die
Mauern Karthagos erstürmt hatte (Plut. Ti. Gr. 4) und in seinem Consulat aus einem Freund
ein eifriger Gegner des Gaius wurde ^ — L. Piso Tribun 149 cos. 133 ceus. 120, ein eifriger
Gegner des Gaius — C. Tuditanus cos. 129 — Sempronius Asellio, unter Africanus Militär-
tribun von Numantia^ — P. Kutilius Rufus, gleichfalls 134 Kriegstribun von Numantia^, cos. 105,
bekannt durch seine späteren Schicksale — um von uugreif baren Gestalten wie Yennonius, Clo-
dius Licinus, Cn. Gellius zu schweigen. Dass Fannius, Rutilius Rufus, Asellio diese Zeit be-
handelt haben, ist durch ihre Fragmente direct bezeugt, von Piso und Tuditanus wird es niemand
bezweifeln. Schmerzlich vermissen wird man trotz des von Cicero leg. I 6 ausgesprochenen
stilistischen Tadels namentlich Asellio, nach den hohen Erwartungen zu denen die in seiner
Einleitung ausgesprochenen Grundsätze berechtigen (Gellius V 18); neben ihm war wohl Fannius
der bedeutendste, dessen wahrheitsgetreue Darstellung Sallust (bist. I fr. 4 Kritz) rühmt. Ueber-
haupt aber haben diese Schriftsteller, mochte ihre Diction auch noch so primitiv sein, was das
politische und historische Yerständniss angeht, als Historiker hoch über den spätem Rhetoren wie
Livius gestanden. Daneben waren zahlreiche Reden aus der Zeit erhalten, in denen sich die ent-
scheidenden Yorgänge unmittelbar abspiegelten, so die der beiden Gracchen selbst, die des Garbo,
des Fulvius Flaccus, des Africanus, die censorische Rede des Metellus Macedonicus (131) — eine
Rede desselben gegen Ti. Gracchus hatte Fannius in seinem Geschichtswerk wiedergegeben (Cic.
Brut. 81) — eine Rede des Annius Luscus gegen Ti., des Fannius gegen C. Gracchus, Reden des
Tubero (vgl. u. S. 22 Anm. 4) — die Reden Pisos waren schon zu Ciceros Zeit verschollen (Cic.
Brut. 106). Auch Gerichtsreden, wie die des Scipio und Metellus in dem Process des Cotta gehören
hierher, ferner die von Laelius veifassten Leichenreden auf Scipio.* Sodann Briefe des C. Gracchus^
und seiner Mutter Cornelia,*' und gewiss noch manches ähnliche Material, endlich natürlich die Ge-
1) An der Identität der beiden von Cic. Brut. 99 geschiedenen Fannii ist nach C. I. L. I 560 wohl nicht
zu zweifeln.
2) Gellius II 13. Dass er unter Ti. Gracchus Tribunat schon wieder in Korn war, ist aus Gellius' AVorten
res eas, quibus gerundis ipse interfuit, conscripsit, nicht zu folgern.
3) App. Iber. 88. Scipio entsendet ^PovrfXiov 'Pov(fov, GvyyQcufta rcov^e twv fQyotv, tots /thaQ/ovvr«.
Daraus folgt mit Sicherheit, dass wenn nicht Appian selbst, so seine Quelle ihn benutzt hat. Vgl. auch Mithr. 60, wo
Eutilius Eufus, dessen Intervention für Fimbria bei Sulla erzählt wird, jedenfalls in letzter Linie selbst zu Grunde liegt.
4) Das Material s. bei H. Meyer, oratorum rom. fragmonta. Nur sind hier die bei den Historikern be-
wahrten Auszüge noch lange nicht genügend ausgenutzt. Manuscripte der beiden Gracchen hat noch Plinius
XIII 83 gesehen.
5) Denn so ist wohl die Schrift ad M. Pomponium zu erklären , in der die Schlangengeschichte des Vaters
vorkam, Cic. de div. I 36. II 62 (vgl. Plut. Ti. Gr. 1). Wenn er fv tivi ßißUo) erzählt hatte, seinem Bruder habe der
Anblick Etruriens den ersten Anstoss zu seinem Gesetz gegeben (Plut. Ti. Gr. 8), so wird das eine Eede oder ein
Brief, aber schwerlich eine besondere Schrift gewesen sein.
6) Cic. Brut. 211. Quintil. I 1,16. Plut. C. Gr. 13. Die in den Fragmenten des Nepos erhaltenen Briefe
freilich sind ein handgreifliches rhetorisches Machwerk. Das lehrt sowohl der Stil, der aufs stärkste zu den echten
Fragmenten der Gracchen und ihrer Zeitgenossen contrastirt und einer weit jüngeren Entwicklungsstufe des lateinischen
Stils angehört, während Cicero gerade umgekehrt die Mutter als das stilistische Vorbild der Söhne hinstellt (legimus
epistulas Corneliae matris Gracchorum: apparet, filios non tam in gremio educatos quam in sermone matris), wie der
Inhalt. Wenn die Mutter sich so entschieden gegen die Bewerbung des Gaius um das Tribunat erklärte, wenn sie
Tiberius' Vorgehen für "Wahnsinn und das ganze Treiben ihrer Söhne für den schlimmsten revolutionären Frevel
erklärte, wie ist es dann möglich — denn die Briefe waren ja veröffentlicht — , dass sie von Manchen als Anstifterin
des Unternehmens des Tiberius (Plut. Ti. 9) und als Mörderin des Africanus (Appian civ. I 20, vgl. Cic. rep. VI 12. 14)
bezeichnet ward, dass Gaius in seinen Reden von ihr durchaus so spricht, als stehe sie ganz auf seiner Seite (Plut.
C. Gr. 4), dass eine Stelle der echten Briefe so gedeutet wurde, dass sie dem Gaius vor seiner Katastrophe als
Schnitter verkleidete Söldner nach Rom geschickt habe (Plut. C. Gr. 13)? Dass dagegen ein aristokratischer Historiker die
berühmte Frau für die Nobilität retten wollte und durch sie das stärkste Verdammungsurtheil über die revolutionären Söhne
sprecheö Ijess, ist durchaus begreiflich. Es ist seltsam, dass selbst Mommsen das Machwerk für echt gehalten hat.
setze und Senatsbeschlüsse. Wir werden sehen, dass dies Material in unseren Quellen etwa in
derselben Weise benutzt ist, wie ein moderner Historiker die Parlaraentsverhandlungen ver-
werthet; aber für uns ist es bis auf ganz dürftige Trümmer verschollen.
2. Posidonios,
Die späteren römischen Historiker, wie Claudius Quadrigarius, Antias, Licinius Macer
kommen für unsere Ueberlieferung soweit wir sehen können — Fragmente sind nicht erhalten —
selbst als Yerschlechterer der Tradition kaum in Betracht; denn es ist wenig wahrscheinlich,
dass Livius sie für diese Zeit noch eingehender benutzt hat. Um so wichtiger ist das grosse
Geschichtswerk, welches in der Zeit des Pompejus und Cicero Posidonios von Apamea (ca. 134
bis 50 V. Chr.) über die allgemeine Geschichte vom Jahre 146 bis auf seine Zeit herab ^ verfasste.
Bei dem grossen Ansehen, dessen sich Posidonios' Name mit Recht erfreut, hat man in ihm
vielfach die Primärquelle auch für die Gracchenzeit gesucht und möglichst viel von dem uns
erhaltenen Material auf ihn zurückgeführt, namentlich avo die Berichte durch ihre Trefflichkeit
auf einen vorzüglichen Gewährsmann hinweisen, wie in Appians Bürgerkriegen. ^ Wir werden
sogleich sehen, dass diese Annahmen ganz unbegründet sind.
Es ist bekannt, dass Diodor für die Zeit nach 146 den Posidonios ebenso ausgeschrieben
hat, wie vorher den Polybios; der Beweis ergiebt sich daraus, dass zahlreiche Fragmente des
Posidonios sich wörtlich in den Bruchstücken Diodors wiederfinden, so, was für unsere Zeit von
Bedeutung ist, die Schilderung des Luxus des Damophilos von Henna, der den Anlass zum
sicilischen Sklavenkrieg gab (fr. 15 = Diod. XXXIY, 2, 34). Nachrichten der übrigen Quellen
würden daher nur dann auf ihn zurückgeführt werden können, wenn sie sich mit der in den
Fragmenten Diodors vorliegenden Auffassung deckten; aber das Gegentheil ist der Fall. Im
übrigen können Avir die politische Auffassung des Posidonios noch von ganz anderer Seite her
bestimmen. Posidonios war zu seiner Zeit nicht nur der bedeutendste, sondern auch der bei
den Römern angesehenste Vertreter der griechischen Bildung, der grosse Lehrmeister der von
Rom recipirten stoischen Philosophie, dessen Unterricht zahlreiche vornehme Römer aufsuchten.
Dass Pompejus auf der Höhe seiner Macht zweimal, im Jahre 67 und 63, seine Vorträge auf
Rhodos besuchte und ihm dadurch eine besondere Huldigung darbrachte, dass er dem Lictor
verbot, nach sonstigem Brauch der römischen Beamten, an die Thür zu klopfen (Plin. VH 112.
Strabo XI 1, 6. Plut. Pomp. 42. Cic. Tusc. II 61), kennzeichnet besser als alles andere die
Stellung, die er in der Welt einnahm. Dass Posidonios in seinen politischen Ueberzeugungen
auf Seiten der , römischen Aristokratie stand, kann demnach nicht im mindesten zweifelhaft sein
1) Die vielumstrittene Frage, wo Posidonios geschlossen hat, ist noch nicht gelöst, kommt aber für uns
hier nicht in Betracht. Ich bemerke, dass Susemihls Bemerkungen über P.'s Geschichtswerk, Gesch. der griech.
Liter, der Alexandrinerzeit 11 139 ff., ganz unzureichend sind.
2) Während Schäfer's Quellenkunde sonst auch sichere Thatsachen der Benutzung älterer Schriftsteller
durch Spätere nur in sehr beschränktem Umfange registrirt, heisst es IV S. 70 „Ausser von Diodor Stvabon Plutarch
Athenacos ist die Geschichte des Posidonios benutzt von Livius und Trogus, von Nikolaos Josephos und Appian".
In Wirkhchkeit hat Plutarch ihn nur wenig, dagegen Livius wahrsclieinlich und Appian sicher niemals benutzt. Nur
Applaus Quelle mag ihn vielleiclit herangezogen haben, so in der Syriake und z. B. in der Schilderung des Verhaltens
der Rhodier im mithridatischen Kriege.
8
Einzelne Missgriffe der Regierung in der inneren Avie in der äusseren i Politik mochte er tadeln ;
das Herabsinken des Staats und der Verfassung mochte er unumwunden darlegen, so gut wie
Polybios; aber nimmermehr ist von ihm eine Verherrlichung des demokratischen Standpunktes
oder der Gracchen und ihrer Ziele zu erwarten. Genug, es ist der Standpunkt des Polybios,
den wir bei ihm voraussetzen müssen; er hat ja Polybios' Werk fortgesetzt. Wie Polybios über
die Gracchen dachte, hat. er deutlich genug gesagt; um der Gracchen willen ist ihm das Acker-
gesetz des Flaminius 232 „der Anfang der Wendung des dfjiiog zum Schlechten" (II 22, 8), und
im sechsten Buch entwickelt er die Theorie von der dva/.vy2ciJ0ig rtov jcoIltelCjv und sagt die
Katastrophe Roms voraus, die durch den Ehrgeiz und die sittliche Corruption der herrschenden
Classen auf der einen, die Begehrlichkeit der Massen und ihre Verführung durch die Schmeichelei
der Mächtigen auf der anderen Seite mit Noth wendigkeit herbeigeführt werden wird. Dann wird der
Demos nicht mehr gehorchen, sondern alles für sich haben wollen, und unter dem herrlichen
Namen der Freiheit und Demokratie wird die schlechteste Staatsform entstehen, die Pöbelherrschaft,
bis dann schliesslich dem Staat aus der Revolution ein neuer Herr erstehen wird (VI, 4 — 9. 57).
Es sind die Ueberzeugungen , die Polybios' Freund, der jüngere Africanus, theilte, und die sein
ganzes politisches Verhalten bestimmt haben, die resignirte Haltung in der inneren Politik und
dabei doch die unbedingte Verurtheilung jeder Abweichung von dem aristokratischen Regiment
und das energische Fortschreiten auf der Bahn der Weltherrschaft in dem spanischen und dem
karthagischen Kriege, obwohl er überzeugt ist, dafs jeder Schritt vorwärts ins Verderben führen
muss. Darin, dass uns hier die Anschauungen des einflussreichsten römischen Staatsmanns,
der als Erbe des Aemilius Paullus und der Scipionen wenn irgend- einer von Jugend auf zum
Leiter des Staats berufen war, in authentischer Fassung vorliegen, besteht der unschätzbare ge-
schichtliche Werth dieser Capitel: dass man den Abgrund offen vor den Füssen klaffen sah und
doch überzeugt war, dass man hinein müsse, dass es keine Rettung gebe, zeigt deutlicher als
alle sonstigen Nachrichten die Hoffnungslosigkeit der Lage des Weltreichs seit der Mitte des
zweiten Jahrhunderts und erklärt allein die Furchtbarkeit wie den Sieg der von Ti. Gracchus
eröffneten Revolution.
Genau diese Anschauungen finden wir nun in den Fragmenten Diodors wieder, die von
der gracchischen Zeit handeln.^ Tiberius' hohe Abstammung, seine Begabung, seine adlige Ge-
sinnung {TtaQQrjGia; ol oyloL . . .i,yovTiq TcqoötccTr^v ccQXOvra xbv fxrjxe xagizog (xrjte q^oßov doijlov)
werden anerkannt, das Zusammenströmen der Masse aus ganz Italien zu der entscheidenden Ab-
stimmung geschildert (34, 5. 6). Aber Tiberius' Verhalten wird ebenso entschieden verurtheilt:
er rennt verblendet vorwärts ins Verderben und erhält die gebührende Strafe (34, 7, 2). Scipio
Nasica wird aufs höchste gepriesen;' er ist wie sein Vater, der Gegner der Zerstörung Karthagos,
1) Dass Posidonios hier durchaus auf Seiten Roms stand, lehren die Fragmente aus dem mithridatischen
Kriege, vgl. Niese, Rhein. Mus. XLII, 578 ff. Er hat damals an der Politik seiner Adoptivheimath Rhodos, die
bekanntlich treu zu Rom stand, activen Antheil genommen: zu Anfang des Jahres 86, bei Marius Tod, war er als
rhodischer Gesandter in Rom (Plut. Mar. 45).
2) Ebenso z. B. in den Angaben über die Anlässe des Bundesgenossenkrieges Diod. 37, 2: ahiuv Sl now-
TTjv ysv(G&(a Tov nokefiov t6 fitTaneottv rovg ^Püjfiaiovg und ttjs tvTÜy.rov y.iu hTfjg uycoyfjg xul iyxQccTOvg, &i rjs
int ToaovTov rjv^^drjauv, a!g öXtO-Qiov Crj^ov TQVtffjg y.ai ay.olaaiag' ix yitQ Tfjg SnufOoQug TctÜTTjg aruatdacivrog tov
SrifioTiy.ov TTQÖg Tijv GvyyXtjTov cet. Genau SO würde Polybios geschrieben haben. — Directe Benutzung einer
Erzählung des Polybios findet sich Diod. 37, 3, 6.
9
das Vorbild der tüchtigen römischen Adligen. ^ Als Tiberiiis Gracchus sich zum Tyrannen machen
wollte, hat er ihn an der Spitze des Senats erschlagen; als die Tribunen die Senatoren Mann
für Mann auf die Kostren treten liessen und fragten, wer der Mörder sei, hat er, während alle
andern feige läugneten, sich muthig zu seiner That bekannt; der Pöbel aber, obwohl entrüstet,
wurde durch die imponirende Würde und den Ereimuth des Mannes zum Schweigen gezwungen
(34, 33). Auf Grund dieser Aussage lässt Posidonios den Tiberius von Nasica selbst erschlagen
werden (vgl. 34, 7, 2). Damit stimmt, im Gegensatz zu allen andern, der demokratische Ver-
fasser der Rhetorik ad Herennium (IV, 68) überein, nur dass er die That umgekehrt beurtheilt
(vgl. S. 27). Es ist aber klar, dass damit Nasicas Bekenntniss zu wörtlich genommen wird; er
konnte sich als den Vollzieher der That rühmen, auch wenn er nur ihr Urheber war.
Man sieht, Posidonios steht ganz auf dem Standpunkt des Africanus, der, wie er erzählt
(Diod. 34, 7, 3), als die Kunde der Katastrophe nach Numantia kam, sein Urtheil in dem be-
kannten Vers cb^ d/tökoivo /ml aXlog ofig zoiavca ye qe'Coi gegeben haben soU.^ Daneben ist
uns noch ein Urtheil über das Verhalten des Octavius nach seiner Absetzung erhalten (Diod. 34, 7),
das ebenso nüchtern verständig und dabei ebenso verkehrt ist, wie so manches polybianische.^
„Octavius, heisst es, erkannte weder seine Absetzung als zu recht bestehend an, noch wagte er
sein Amt thatsächlich fortzuführen, sondern er blieb ruhig zu Hause. Und doch hätte er, wenn
er das wollte, als Gracchus seine Absetzung beantragte, auch seinerseits einen Antrag auf Ab-
setzung des Gracchus durchbringen können; dann wären entweder, wenn die Anträge gesetzlich
zulässig waren, beide Privatleute geworden, oder sie hätten beide ihr Amt behalten, wenn die
Anträge für ungesetzlich erklärt worden wären." Der Text ist durch Schuld des Excerptors
schlecht überliefert, aber der Sinn ist klar. Indessen, ganz abgesehen von der Frage, ob Octavius
mit seinem Antrag durchgedrungen wäre, Posidonios empfindet nicht, dass Octavius nimmermehr
so hätte operiren können; denn damit hätte er ja zugegeben, dass ein derartiger Antrag gesetz-
lich möglich war, also sich principiell auf den Standpunkt des Gegners gestellt.
Zahlreicher sind die Fragmente über C. Gracchus (Diod. 34, 24 — 30). Zunächst wird
die Stimmung der Massen für Gaius geschildert (vgl. Plut. C. Gr. 3), dann folgt die Erwähnung
der Rede tieqI tov /MTakvöaL aqLOioAqax'iav, diqi.iOAqaiiav dt acocfjoai^ mit der er seine Gesetze
einbrachte — so wird der Inhalt der Rede de legibus a se promulgatis (Meyer S. 234 ff. Plut.
C. Gr. 3. 4) scharf und treffend zusammengefasst — , und daran schliesst eine kurze Skizze der von
ihm eingebrachten Gesetze, durch die er alle Parteien, die Ritter und Steuerpächter wie den
1) Ich mache darauf aufmerksam, dass Scipio Nasica sich zu den stoischen Lehren bekannte: Cic. Tusc. IV, 51.
2) Ebenso Plut. Ti. Gr. 21.
3) Z. B. die Meinung des Polybios, es sei ein unwürdiges Verfahren Hannibals gewesen, dass er, um
zum Kriege mit Hom zu gelangen, die saguntinischen Händel anzettelte; er hätte offen die Wiedergabe Sardiniens
und der 237 erhobenen Contributionen foidern sollen (III 15). Dass Haunibal auf diesem Wege nie zum Ziele ge-
langen konnte, sondern von der karthagischen Regierung selbst dann sicher desavouirt werden musste, wenn eine
Gegenpartei hier nicht existirte, wie Polybios behauptet, hat Polybios nicht verstanden. Die Aufgabe Hannibals,
wenn er den Krieg für geboten hielt, bestand gerade darin, eine ausreichende ni)öijuai^ zu finden, welche Karthago
wie Rom zum Krieg zwang, sie mochten wollen oder nicht; und diese Aufgabe hat er meisterhaft gelöst. — Damit
man wegen solcher Urtheile nicht über die antiken Historiker den Stab bricht, weise ich darauf hin, dass analoge
Missgriffo natürlich auch bei jedem ihrer modernen Collegen zu finden sind. Als Beispiel nenne ich die scharfe
Verurthcilung, die von den meisten neueren Historikern über die völlig correcto Kriegführung des Pompejus beim
Ausbruch des Bürgerkriegs ausgesprochen wird; der Vorwurf der Kopflosigkeit würde ihn mit Recht nur treffen,
wenn er so verfahren wäre, wie seine Kritiker fordern.
Meyer, lliUersuchungon zur Ooschichto der Gracchen. 2
10
Pöbel und die Soldaten an sich fesselt; es ist das weitaus die beste Schilderung der gracchischen
Verfassung, die wir besitzen. Es folgt das Verfahren gegen Octavius und Popillius — die Menge
weiss, dass sie Unrecht thut, aber sie ist durch Gracchus Verheissungen bestochen und muss
ihm folgen um des eigenen Vortheils willen — und dann die Annahme des Richtergesetzes mit
einer Stimme Majorität (18 gegen 17 Tribus) und Gracchus triumphirender Ausruf: jetzt sitzt
das Schwert den Gegnern an der Kehle, nun mag das Schicksal es weiter halten wie es will.i
Natürlich verurtheilt Posidonios die Gesetze des Gaius unbedingt, in scharfem Contrast zu der
sehr ungerechtfertigten Verherrlichung bei den Neueren. Besonders bezeichnend ist die Hervor-
hebung des bei den Unterthanen gegen die römische Herrschaft erzeugten Hasses, den die Aus-
lieferung der Provinzen an die Steuerpächter, theils durch das Gesetz über die Einführung des
asiatischen Zehntens, theils durch das Richtergesetz, erzeugte. Die Neueren pflegen ganz zu
übersehen, dass die moralische Verantwortung für das namenlose Elend, welches die Herrschaft
der römischen Republik über die Welt gebracht hat, in erster Linie nicht die Aristokratie, deren
tüchtigere Elemente immer aufs neue zu bessern suchten, sondern C. Gracchus zu tragen hat.
Dementsprechend ist auch C. Gracchus' Katastrophe dargestellt. Wie Gaius immer mehr
Boden verliert, geräth er elg Xvttolv rivd /mI (.lavubdrj didO^eaiv. Die Schuld an seinem Unter-
gang trägt er allein. Er verschwört sich mit Flaccus zur Anwendung von Gewalt, er lässt seine
Anhänger (die xa/izrat) sich bewaffnen, um das Capitol zu besetzen; da ihm die Aristokraten
{7Tlf]d-og Tiüv äqiöTiov) zuvorgekommen sind, weicht er „in Angst und von den Furien gepeinigt"
[ddrif^iovCov %al 7toivrjXaTov/.i€vog) in den Säulengang hinter den Tempel zurück. Wüthend
{TcaQOLOTQTpLtog) stösst er den Quintus (AntuUius?; Koiviog rig ouv^deiav l'xcov Ttqbg aviov bei
Diod.) von sich, der ihn anfleht innezuhalten, und befiehlt ihn niederzustossen {TVQavvr/Mg ^drj
öiE^dytov). Dadurch giebt er das Signal zum Entscheidungskampf. Als ein Versuch, sich zum
Tyrannen zu machen, wird sein Unternehmen bezeichnet {rögawov tavröv dvadedeixojg dKQiTcog
dvrjOi&tj 37, 9). Als der, der seinen Kopf mit Blei gefüllt dem Consul bringt und dafür die
Belohnung erhält, wird abweichend von allen andern sein Freund L. Vitellius genannt.
Die Auffassung der Vorgänge ist Posidonios' Eigenthum; welche Quellen er benutzt hat,
ist bei unserem dürftigen Material nicht zu entscheiden. Doch wird Niemand bezweifeln, dass
er gleichzeitige römische Berichte benutzt und solche bevorzugt hat, die seinen, d. h. den aristo-
kratischen Standpunkt, theilten. Für die geschichtliche Erkenntniss aber ist es von höchstem
Werth, dass uns aus ihm wenigstens Trümmer einer Darstellung erhalten sind, welche die Auf-
fassung der wenn auch nicht in den Principien-, so doch in den Personenfragen siegreichen
Aristokratie vertritt.
1) 34, 27 TÖ fxiv '^i(fog inixsirui ToTg iyd^Qotg, nsQl (ff tOv äXXoiv wg äv 7) Tv/r] ßoußevarj aifQ^ofitv,
vgl. 37, 9 mit etwas anderer Fassung in der Geschichte des Drusus: untiXovarig r^g avyxlrJTov nölffxov rrp Fq^x/ü)
&Ki jriv fitTH^ytaiv rdv xoiTrjfji'wv, Tt&dQQrixörwg ovTog tlntv öti xäv änoOdvw, od Suilttxpw (-i/^ft?) ro ii(fog icno
T% nXsvQüg T(Jöv avyxXrjxr/.oyv &ii^Qrifj.tvov. Dieser Ausspruch habe sich wie ein Orakel buchstäblich erfüllt. Zwar
wird Gracchus erschlagen als er sich zum Tyrannen macht, [aber, so ist zu ergänzen, sein Gesetz hat den Senat
.dauernd wehrlos gemacht]. Ciceros Citat von den runae et sicae, die Gaius nach seiner Aussage auf das Forum ge-
worfen habe, damit die Bürger sich mit ihnen zerfleischten (de leg. 3, 20j, bezieht sich auf denselben Ausspruch.
Bei App. 22 soll Gaius nach Annahme des Richtergesetzes gesagt haben ort uO-QÖwg ttjv ßovXijV xK&rjQijxoi. — Sehr
mit Unrecht deuten Mommsen und Ihne des Fragment Diod. 34, 27 auf die Verbannung des Popillius.
11
3. Appians üuelle.
Einen ganz anderen Standpunkt nehmen Appian und Plutarch ein. Bekanntlich haben beide
Schriftsteller für die ganze spätere römische Geschichte in weitem Umfang dieselbe Quelle benutzt.
An zahlreichen Stellen der Geschichte der Bürgerkriege sowohl wie des mithridatischen Kriegs
stimmt Appian wörtlich mit den entsprechenden Biographien Plutarch's überein. Auch für die
Geschichte der Gracchen gilt dasselbe; Plutarch hat die Geschichte des ager publicus (Ti. Gr. 8 =
App. civ. I, 7. 8) und einen Theil der Geschichte des Tiberius bis zur Absetzung des Octavius
(c. 9 — 13 init, von mehreren Zusätzen abgesehen, s. u. S. 23) derselben Quelle entnommen, wie
Appian 1; von der Mitte von Cap. 13 au folgt er dann fast ausschliesslich einer anderen, auch
vorher schon benutzten Quelle. Plutarch's Verfahren ist hier dasselbe wie immer: er hat manche
individuelle Züge aufgenommen, die Appian übergeht, aber die präcisen Angaben der Vorlage
hat er vielfach missverstanden und verwischt, von dem politischen Zusammenhang hat er nur
eine sehr unklare Vorstellung. So bewahrt er gleich zu Anfang die nur hier erhaltene Notiz,
dass bereits C. Laelius (cos. 140) ein Ackergesetz plante, aber vor dem Widerspruch der Aristo-
kratie zurückzog, und dafür den Beinamen Sapiens erhielt; aber in der Schilderung des
ager publicus wirft er Pachtung und Occupation durcheinander und hat aus der vortreff-
lichen bei Appian erhaltenen Darstellung seiner Quelle ein wüstes Conglomerat halbwahrer
Notizen gemacht.
Ganz anders arbeitet Appian. Ihm fehlt die Belesenheit Plutarchs, er schreibt nicht
für die gebildete Welt, die seine Schriften mit Eifer in die Hand nimmt, sondern er will dem
grossen Publicum an Stelle der grossen unübersichtlichen Werke, in denen er selbst sich kaum
zurecht finden kann, ein bequemes Handbuch bieten (praef. 12). Seine eigenen Kenntnisse
reichen nirgends weit, und wo ihm seine Quelle einmal versagt, bringt er nicht selten die
naivsten und wunderlichsten Vermuthungen vor.^ Ein tieferes historisches Verständniss ist von
ihm nicht zu verlangen, und es ist ganz verkehrt, ihn mit dem Maasse eines wirklichen Ge-
schichtsforschers zu messen. Aber mit den Verfassern moderner Compendien kann er den Ver-
gleich ganz wohl aushalten. Er hat manche Flüchtigkeiten begangen, falsche Umstellungen vor-
genommen, Wichtiges gestrichen und Unwichtiges aufgenommen; aber im allgemeinen zeigt er
in all seinen Büchern ein grosses Geschick, das wichtigste aus seiner Quelle herauszusuchen und
in zugleich gedrungener und übersichtlicher Gestalt nachzuerzählen. Dass ein Schriftsteller wie
er für jeden Abschnitt immer nur einer Hauptquelle folgt, würden wir annehmen müssen, auch
wenn es sich nicht aus der Beschaffenheit seiner Nachrichten überall mit Sicherheit erweisen
Hesse. Für die spätere römische Geschichte lehrt die überall gleichmässig wiederkehrende Ueber-
1) Von den wörtlichen Uebereinstimmungen sind die wichtigsten Plut. c. 10 fari &i tov xwlüovrog iv tois
frjfidQxoig xb xqutos = App. 12 X(c\ äv utl naQu 'l^y.uCoig 6 '/mXvüiv SvvKtüirfQog; Plut. 12 ovadv Sk nevji
xal TQKcxovTu (fvkßiv, wg cti Sixaenru Trjv \pfi>fov üjievrjvö/ftaKv . . . y.tXivaag inia/fi'y KvO-ig Ifiho toO
Oxrußiov xcu TitQi^ßaXtv aöröv iv öxptt, toO drifxov y.u\ xarrjanuCfro , XmaQdv cot. = App. ovaßv Se tot«
(fvldv nivTS xtt\ TQidxovTU xiii avv^QUfiovaGiv ig to avTb avv dQyij rdv nQOTfQujv imaxntSsxa . . . 6 Si
rQÜx/og liv&cg Iv öijjsi tov SiI/lcov . /Oxtuovio) kniaqag iv^xeno] Plut. 13 ix tovtov xvqovtcu ixiv 6 ntol r^g
X(^QCig v6fj.og = App. xai 6 vöfiog thqI jTjg y^g ixvQoOTO.
2) Einen drastischen Beleg für seine Unwissenheit giebt z. B. die Hypothese I, 38 ^auv ycc(), d>g foixe,
TÖTi (vor dem Ausbruch des Bundesgenossenkriegs) xcu rTig 'iTcdiag ÜQ/ovTfg uvO^ötkuoc xard ^usQt], was Hadrian
erneuert habe. Aber gleichartige Fehler begeht er überall, sobald er sich selbst überlassen ist.
2*
12
einstimmung mit Plutarch, dass seine Vorlage ein einziges grosses Geschichtswerk gewesen ist,
das mindestens die Zeit von ca. 140 — 30 v. Chr. umfasst hat.^
Wer der Verfasser dieses Geschichtswerks ist, ist noch nicht ermittelt, so viel auch
darüber geschrieben ist. Die neueren Untersuchungen beschränken sich sämmtlich auf einzelne
Abschnitte, statt das ganze umfangreiche Gebiet im Zusammenhang durchzuarbeiten, und können
daher zu einem Resultat um so weniger gelangen, als sich bei solchen Untersuchungen die Frage
nach der gemeinsamen Mittelquelle fortwährend mit der weit wichtigeren kreuzt, was für
Quellen diese benutzt hat und ob dieselben auch noch in der sonstigen Ueberlieferung vor-
liegen. Die Frage nach dem Verfasser des Werks kann daher, wenn überhaupt, so nur in
einer ganz andersartigen Untersuchung erledigt werden. Hier kommt es uns nur auf das Werk
selbst an.
Die ungleichmässige Disposition des Stoffs in Appians Bürgerkriegen gehört unzweifel-
haft der Quelle an. Während z. B. bei Livius die Geschichte der Parteikämpfe und Bürgerkriege
von 133 bis 70 v. Chr. fast genau denselben Raum einnimmt wie die der Bürgerkriege von 63
bis 35 — nach meiner Berechnung, die natürlich nur approximativen Werth hat, da die äusseren
Kriege überall ausgeschieden werden müssen, füllt jeder der beiden Abschnitte ungefähr 24 Bücher — ■,
drängt Appian jene in ein Buch zusammen, während die Geschichte der Jahre 63 bis 35 in stets
wachsender Ausführlichkeit vier Bücher füllt. Noch eingehender (in 4 Büchern) war bekanntlich
der aktisch -ägyptische Krieg dargestellt. Wir erkennen eine Quelle, die am Abschluss der
ganzen Entwickelung frühstens unter Augustus geschrieben ist und den näher liegenden Ereig-
nissen weit mehr Interesse zuwendet als der älteren Epoche. Das wird dadurch bestätigt, dass
für die cäsarische Zeit dieselbe Quelle zu Grunde liegt, w^elche auch in allen anderen Dar-
stellungen, bei Livius, Dio, Plutarch vorliegt, und in der man, so wenig der Beweis bis jetzt
geführt ist, doch Asinius Pollio kaum wird verkennen können. Pollio hat mit dem Jahre 60
begonnen (Horat. carm. II, 1), wird aber gewiss so gut wie z. B. Polybios eine längere Einleitung
über die Entwickelung der inneren Wirren vorausgeschickt haben; man gestatte mir Avenigstens die
Vermuthung anzuregen, ob nicht diese von Appians Quelle für das erste Buch der Bürgerkriege
benutzt sein könnte. Doch könnte man z. B. auch bei Rutilius Rufus dieselbe Auffassung und Dar-
stellung der von ihm behandelten Epoche voraussetzen, wie sie Appian giebt (vgl. S. 13, Anm. 3).
Jedenfalls aber haben wir uns immer vor Augen zu halten, dass nicht nur der von
Appian benutzte Schriftsteller, wer er auch sei, sondern ebensogut schon dessen Vorlage oder
1) Wenu man Appians Aeusserungen praef. 12 pressen will, so kann man folgern, dass er (abgesehen
von einzelnen Einlagen, namentlich in den auf Hieronymos, Polybios und Posidonios zurückgehenden Stücken aus
der hellenistischen Geschichte, die wohl auf ein ähnliches Sammelwerk über makedonische Geschichte zurückgehn)
für die ganze Geschichte Roms überhaupt nur ein einziges Werk benutzt hat. Als seine Thätigkeit bezeichnet er
lediglich die Gruppirung der synchronistisch neben einander stehenden Erzählungen nach Ländern und Völkern,
nicht die Verarbeitung verschiedener Quellen; und wenn er auch darauf hinweist, dass viele Griechen und Eömer
die römische Geschichte dargestellt haben, so spricht er doch nur von einem einzigen, an Umfang die makedonische
Geschichte weitaus übertreffenden Geschichtsworke , dessen Theile er umgestellt habe {y(cl 'ioTiv rj iaroQiu rrjg
Maxe^ovtytji, fiiyiGTrjg fr] tcüp 71QOT(()0)v ouarjg, noXu fieitüiV ukV ivTvy/üvovTii fie . . . unt(ffQfv jy yQ('(f*] noXXd-
y.ig unb KaQ/rjfövog inl TßrjQiav y.aX i'i ^fßr'jQfov inl ^^ixtXiav f] MuxtSoviuv cet. . . . tag ov t« fJ-fQ^l cfvvr'jyKyov
IfxavjM .... off« St iv fxtßo) TTQÖg fTiQOvg (iVToTg iytvtTO, ViatQüi y.al lg tu Ixti'vwv . fitT(CTi()-r]/iii). In der That
steht, so weit ich sehe, nichts der Annahme im Wege, dass Appian den Polybios nicht direct, sondern nur durch
eine sich diesem genau anschliessende Mittclquelle benutzt hätte. Hier können höchstens sprachliche Untersuchungen
Aufschluss gewähren.
13
Vorlagen! für die Darstellung einer Zeit, die um ein Jahrhundert von der seinigen ablag, nichts
anderes hat thun können, als die Ereignisse guten Quellen nacherzählen, etwa in der Weise,
wie Polybios die Geschichte des hannibalischen Krieges erzählt — mochte er auch im einzelnen
noch so viel berichtigen und aus Urkunden ergänzen und sich die Selbständigkeit seines Urtheils
wahren. Eben darauf beruht es, dass sich die Frage nach den Mittel quellen bei einer abgeleiteten
Darstellung fast nie mit irgend welcher Sicherheit beantworten lässt, während wir die durch sie
vermittelten Priraärquellen viel leichter greifen können.^ So ist z. B. garnicht zu sagen, ob die
vortreffliche Geschichte des ager publicus bei Appian — dem hier natürlich nur das eine Ver-
dienst zukommt, dass er im Gegensatz zu Plutarch sehr gut excerpirt hat — das Eigenthum seiner
Quelle ist, oder ob sie schon vorher von einem Schriftsteller zum anderen gewandert ist, bis sie
der Compilator aufnahm, aus dem Appian schöpfte.
Wie dem aber auch sei, jedenfalls ist die Darstellung der Gracchenzeit bei Appian ein
Werk aus einem Guss. Wenn bei Posidonios die allgemeinen Fragen des Regiments und der
Reichsgeschichte im Vordergrund stehen und er daher auf den Umsturz der Verfassung das Haupt-
gewicht legt, so wird hier, wie es einer römischen Geschichte zukommt, die Entwickelung vom
specifisch italischen Standpunkt aus betrachtet. Der Verfasser will darlegen, wie es zugegangen
ist, dass die italische Bauernschaft, nachdem sie die Welt erobert hat, um Haus und Hof ge-
kommen ist, und wie die hochherzigen Versuche der Gracchen, hier zu helfen, das Uebel nur
schlimmer gemacht haben. Ganz frei ist der Verfasser dagegen von der engherzigen Anschauung
der späteren, alles politischen Verständnisses baaren Annalistik, die über Rom nicht hinausblickt
und gar kein Bewusstsein mehr davon hat, dass der römische Staat nichts anderes ist als die
politische Organisation Italiens. Diese Anschauungsweise bildet die eigentliche Signatur der nach-
sullanischen, typisch durch Cicero vertretenen Welt und herrscht daher auch ausschliesslich bei
Livius und seinen Quellen: sie ist das deutlichste Symptom des vollen politischen Verfalls der
Zeit, in der die freie Selbstregierung des Volkes zu einer inhaltsleeren Phrase geworden ist. Man
fühlt sich in eine ganz andere Welt versetzt, wenn man von hier aus zu den Fragmenten Catos
oder zu Appians Bürgerkriegen kommt und hier die wirklichen Grundlagen des politischen Lebens,
welche den Gang der Ereignisse bestimmen, im Bewusstsein der Handelnden wie der Darstellenden
wiederfindet. Daraus scheint mir mit Sicherheit zu folgen, nicht nur dass die Grundlage der
Gracchen geschichte Appians von einem Römer, nicht von einem Griechen geschrieben ist, sondern
auch, dass sie einer weit älteren Zeit angehört als die directe Vorlage Appians.^ Selbst ein
Asinius Pollio, so hoch wir auch von seiner historischen Begabung denken mögen, hat schwer-
lich noch eine Darstellung wie diese aus eigener Einsicht verfassen können.
1) War Appians Quelle eine grosse Gesanimtdarstellung, wie etwa Jiiba, an den man ja oft gedacht hat,
so ergiebt sich die Nothwendigkeit der Annahme umfassender Vorlagen von selbst. Ein Schriftsteller, der die
Bürgerkriege so vortrefflich und den hannibalischen Krieg nach einer so elenden Quelle erzählen konnte, wie Appian, hat
schwerlich mehr von eigenem hinzugethan als z. B. Livius. AVar dagegen — nach der jetzt herrschenden, mir wenig
wahrscheinlichen Meinung — Strabo die Quelle, so ist für diesen natürlich eine grössere Selbständigkeit anzunehmen.
2) Dieser Satz gilt z. B. auch für die Quellenanalyse des Alten Testaments.
3) Dass Appian nicht etwa selbst für die Gracchen eine andere Quelle benutzt hat als für die spätere
Zeit, ergiebt sich u. a. auch daraus, dass seine Schilderung der Wirkungen der Uebertragung der Gerichtsbarkeit auf
die Ritter in die folgende Zeit vorgreift (c. 22). Der Satz über die d«jt)o&oxißiv Sfxai wird dann in der Erzählung
über Drusus Gesetze c. 35 wieder aufgenommen. Das Uitheil über die Rittergerichte würde zu Rutilius Rufus sehr
gut stimmen.
14
Die Vortrefflichkeit der Darstellung bei Appian ist zwar allgemein anerkannt, aber in
der Praxis noch lange nicht genügend gewürdigt worden; hier wie überall in der Geschichts-
forschung ist die schwierigste Aufgabe, zu einem unbefangenen Verständniss der üeberlieferung
zu gelangen und die Vorurtheile zu erkennen und zu beseitigen, mit denen wir durchweg an
die Begebenheiten herantreten. So hat vor Niese (Hermes XXIII, 1888, 410 ff i) Niemand ge-
wagt, Appians Geschichte des ager publicus ernst zu nehmen, das nach den Späteren von
Licinius und Sextius im Jahre 867 erlassene Ackergesetz in den Anfang des zweiten Jahr-
hunderts hinabzurücken und in dem ager publicus nicht das Gemeinland der Urzeit zu sehen,
sondern die durch die grossen italischen Kriege des vierten und dritten Jahrhunderts dem Staate
zugefallenen und von ihm nicht assignirten oder zu Colonialgründungen verwertheten Gebiete.
Daraus folgt aber weiter, dass Appians Darstellung völlig correct ist, wonach ein grosser Theil
des ager publicus von Italikern, Latinern wie Bundesgenossen, occupirt war. Die römische Re-
gierung hat die provisorische Bebauung des ager publicus gegen eine Abgabe vom Ertrage Jedem
der Lust hat {coig sd-elovai) freigegeben. Von dieser Aufforderung kann aber im allgemeinen
nur Gebrauch machen, wer vermögend genug ist, um ein Anlagekapital in die öde daliegenden
Ländereien zu stecken, und wer zur Stelle ist, also seine Arbeitskräfte — Tagelöhner oder
Sklaven — auf die seinem Gut benachbarten Felder und Wiesen schicken kann. Roms Tochter-
städte, die latinischen Colonien, hierin schlechter zu stellen als die römischen Bürger, wäre eine
Ungerechtigkeit gewesen; aber auch für einen Ausschluss der Bundesgenossen lag um so weniger
Anlass vor, da die Regierung schon aus finanziellen Gründen ein Interesse daran haben musste,
möglichst viel ager publicus occupirt zu sehen. Mehrfach ist ihnen geradezu durch Senats- oder
Vülksbeschluss Gemeindeland zur Nutzniessung überwiesen 2; doch haben sie offenbar auch sonst
an der Occupation in weitestem Umfang Theil genommen. Wie in den Provinzen ^ kommen
auch in Italien die politischen Unterschiede zwischen Bürgern, Latinern und Bundesgenossen
ökonomisch kaum in Betracht. Es ist leicht möglich, dass mehr ager publicus von den letzteren
occupirt war, als von römischen Bürgern.^
Tiberius Gracchus Ziel war die Wiederherstellung der Wehrfähigkeit Italiens, die durch
die fortschreitende Verarmung der Bauernschaft und durch die Sklavenwirthschaft so gut wie
vernichtet war. Bei dem Census von 135 war der dadurch herbeigeführte Rückgang der Be-
1) Niese irrt nur darin, dass er diesen Beiicht auf Posidonios zurückfühi-t.
2) Davon war in der lex agraria von 111 ZI. 31 die Eede: [si . . . sociis (so ist zu ergänzen)] nominisve
Latini poplice deve senati sententia ager fruendus datus [est. Vgl. ZI. 21. Ferner Cio. rep. 111, 41 Ti. Gracchus
. . . sociorum nominisque Latini iura neglexit ac foedera, vgl. I, 31 concitatis sociis et nomine Latino, foederibus
violatis (durch das Vorgehen der Ackertribunen). Aus diesen beiden Stellen folgen freilich bestimmte Clausein der
Verträge durchaus nicht mit Sicherheit; es kann ebenso gut auch an dio principiello unten S. 15 f. zu besprechende
Controverse gedacht sein.
3) Vgl. die Italici der Inschriften, Mommsen, röm. Staatsrecht III, 647 ff. Daher richtet sich in Cirta wie
in Kleinasien zur Zeit Mithridats der Hass der Unterthanen ohne Unterschied gegen die Italici, nicht gegen die
Römer allein.
4) Vgl. auch Appian 1, 36 bei Drusus' Anträgen im Jahre 91: in Folge des Colonialgesetzes fürchten dio
Italiker, ug Tfjg &r]uoai((s ^l^uuiwv yfji, rjv ävffxrjtov hi ol /ntv ix ßi'ug ol Si luv&üvovTeg lyeuioyouv , kvtixu
a(fC}v ii<ffaot9-r]Goixtvr]g — d. h. sie hatten den Besitz (an ager publicus) entweder, wenn er offenkundig war, be-
hauptet, ohne sich um dio bisherigen Ackergesetze zu kümmern, oder es war bei den bisherigen Verhandlungen
noch nicht festgestellt worden, dass sie ager publicus besasseq.
i 15
völkerang erschreckend hervorgetreten. ^ Die Gefahr lag greifbar vor aller Augen: die Welt-
herrschaft Hess sich nicht länger behaupten, der italische Staat musste zu Grunde gehen, wenn
man nicht zu der alten Jahrhunderte lang bewährten Agrarpolitik zurückkehrte, welche durch
Assignationen und Coloniegründungen immer neue Bauernhufen geschaffen hatte. Das einzige
in Italien noch disponible Land war, da man auf die Einkünfte der verpachteten campanischen
Domainen nicht verzichten konnte, der von Privaten occupirte ager publicus; so setzt Tiberius
Reform hier ein. rqa/.yji) ö^ 6 fjtv voüg xov ßovlevi.iaTog fjv ov/. eg ev/coQiav dXV lg evavdqiav,
Tov ÖS i'Qyov tTj ihrpeleia f.taliaca auoQOV(.iEvog, tog ov xl {.letCov ovda XaputQoiEQOv dvvaf.itv7jg
Tcoce 7Tai}eiv Tf]g 'Izaliag, xov neql avvb dvoyßQovg ovo' Ivtd-vi-ieiTO , sagt Appian c. 11. Aus
zwei Reden des Tiberius hat er Auszüge bewahrt, aus der Rede bei der Einbringung des Ge-
setzes (c. 9), in der er die Nothlage des tapferen und stammverwandten italischen Volkes darlegt
{eoei-ivoloyrjoe jieql tod^IraXiAod ytvovg cbg EV7ColEf.iiüTatov xe /ml avyyEvovg) und die Gefahren der
Sklavenwirthschaft durch den Hinweis auf den nun schon ins dritte Jahr fortgehenden sicilischen
Sklavenkrieg illustrirt — dieser Rede gehören die bei Plutarch Ti. Gr. 9 bewahrten Bruchstücke
an, dass die Thiere Italiens ihren Unterschlupf haben, die aber, welche für Italien kämpfen
und sterben, nichts ihr eigen nennen als Luft und Licht — und aus der Rede vor der Ab-
stimmung, die dann durch Octavius' Intercession gehindert wird (c. 11). Es kann keinem Zweifel
unterliegen, dass hier die authentischen Reden des Tiberius benutzt, und von der Urquelle wohl
im Wortlaut aufgenommen sind.
Aus Appians Darstellung ist bereits oft mit Recht gefolgert worden, dass zu den Assigna-
tionen auch die Bundesgenossen zugelassen werden sollten, wie früher bei der Anlage latinischer
Colonien; es gilt ja Italien (z. B. Etrurien nach C. Gracchus' Aussage Plut. Ti. Gr. 8) wieder wehr-
fähig zu machen, nicht nur das römische Bürgergebiet. Andrerseits bedrohte die Confiscation
des über das gesetzliche Maass hinausgehenden Staatslandes eben so gut den Besitz der Latiner
und Bundesgenossen, wie den der römischen Bürger. Deshalb strömen nach der Promulgation
des Gesetzes auch die Bewohner der (latinischen) Colonien wie die der Municipien nach Rom,
um für und wider Stellung zu nehmen 2; die Latiner haben ja Stimmrecht in den Tributcomitien.
Hier erhob sich jedoch ein schweres rechtliches Bedenken. Ueber den Besitz der eigenen Bürger
mochte die römische Gemeinde entscheiden wie sie wollte; die reichen Grundbesitzer mochten
den Verlust eines beträchtlichen Theiles ihres Vermögens, den das Ackergesetz nicht rechtlich
aber thatsächlich bedeutete, schwer empfinden, ein Mittel gegen ein rechtsbeständiges Gesetz
— und als solches ist Tiberius' Ackergesetz bekanntlich nach seinem Tode trotz der Absetzung
des Octavius vom Senat anerkannt — hatten sie nicht. Aber hatte das römische Volk das Recht,
Bürgern der souveränen latinischen und bundesgenössischen Staaten einen Grundbesitz zu nehmen,
den ihre Vorfahren unter Zulassung, ja auf directe Aufforderung der römischen Regierung occupirt
hatten, in dem ein Haupttheil ihres Vermögens bestand? Rechtlich vielleicht, aber der Billigkeit
entsprach ein solches Vorgehen gewiss nicht. Ohnedies empfanden diese Gemeinden die Um-
1) 317,933 römische Bürger gegen 827,422 im Jahre 141; der Censor des Jahres 136, Appius Claudius,
der erbitterte Gegner des Scipio Aemilianus, war ein Hauptförderer des Ti. Gracchus und zugleich sein Schwieger-
vater. Noch viel ärger als der absolute Rückgang der Bürgerschaft muss die Verschiebung des Besitzes innerhalb
dei-selben gewesen sein, das Anwachsen des Proletariats auf der einen, der grossen Vermögen auf der anderen Seite.
2) Tilfj&oi äXXo öaov iv rcdg anoixoi^ nöXtaiv ^ taig iaonoXiTKSiv fj ällwg fxoivcjvfc TTjaSs t^i; y^i App. 10.
16
wälzung der ökonomischen Verhältnisse in Italien schwer genug, den Rückgang der Getreide-
preise, die Entwickelung des Grosskapitals, den fortwährenden Abfluss ihrer Bürger nach Rom,
wo sie entweder als Peregrinen lebten, oder oft genug, sei es auf rechtmässigem oder unrecht-
mässigem Wege, das römische Bürgerrecht erlangten, während die Gemeinden selbst nach wie
vor die gleichen Lasten zu tragen hatten wie früher.^ Konnte ihnen jetzt zugemuthet werden,
dass gerade ihre reichsten und leistungsfähigsten Bürger einen grossen Theil ihres Besitzes ohne
Entschädigung hergeben sollten? Und wie konnten sich vollends römische Beamte, die Acker-
triumvirn, die Befugniss anmaassen, über den Landbesitz der Bürger auswärtiger verbündeter
Staaten zu entscheiden, deren rechtliche Freiheit ausdrücklich anerkannt war? Es war natür-
lich, dass man darin eine schwere Verletzung des Bundesrechts, einen Uebergriff Roms in
die privatrechtlichen Verhältnisse selbständiger Gemeinden sah, dass die Italiker in Rom die
dringendsten Klagen und Vorstellungen erhoben. Sobald die Triumvirn ernstlich an ihr Ge-
schäft gehen und die Processe auf Grund der bei ihnen eingehenden Delationen beginnen 2, tritt
auch die Bundesgenossenfrage in den Vordergrund. Scipio Aemilianus, der bei den Verhand-
lungen des Jahres 130 bereits seine Verurtheilung des Vorgehens des Tiberius offen aus-
gesprochen hatte, nimmt sich ihrer an, da er es aus militärischen Gründen für gefährlich hielt,
ihre Ansprüche abzuweisen (App. 19); er setzt zunächst durch, dass den Triumvirn die Gerichts-
barkeit genommen wird. Als er dann die definitive Lösung der Frage vorbereitet und die
Gracchaner, wie Appian sagt, bereits eine blutige Gegenrevolution fürchten — die Senatspartei
wollte ihn zum Dictator machen (Cic. rep. VI, 12) — , ereilt ihn der Tod durch den Dolch
der Gegner.
1) Liv. 39, 3 die Latiner klagen im Jahre 187, magnam multitudineni civium suorum Romaui commigrasse
et ibi ccnsos esse; in Folge dessen werden alle, die, oder deren Väter, beim Census des Jahres 204 oder einer der
folgenden Censuren noch als socii censirt sind, in ihre Heimath verwiesen; nicht weniger als 1 2,000 Latiner. Natür-
lich hat man sich das nicht so zu denken, als hätten diese nun Rom verlassen und wieder in ihre Heimath über-
siedeln müssen, sondern die in Rom ansässigen Latiner werden ihren Heimathgemeinden zum Census (und damit
zugleich zur Leistung der Dienstpflicht) überwiesen. Daher hat die Maassregel wenig Erfolg. Dieselben Klagen
wiederholen sich 177 (Liv. 41, 8): wenn die Dinge so weiter gingen, würden nach wenig Lustren die verödeten
Städte und Aecker keine Soldaten mehr stellen können. In Folge dessen wird die Erschleichung des Bürgerrechts
durch manu missio civitatis mutandae causa verboten, alle Bundesgenossen und Latiner (die Streichung des ac in
der Formel socii ac nominis Latini Liv. 41, 8, 9. 9, 9 halte ich für falsch), die bei der Censur von 189 oder später
noch nicht Bürger waren, bis zum 1. November in die Heimath gewiesen. Aehnlich wird bei der Censur 173 ver-
fahren (Liv. 42, 10), während die Censoren des Jahres 168, C. Claudius Pulcher und Ti. Gracchus der Vater, die ja
dieselbe Politik vertreten wie nachher Ap. Claudius und Ti. Gracchus der Sohn, nach Ausweis der hohen von ihnen
erreichten Bürgerzahl offenbar wieder eine milde Praxis geübt haben (312,805 Bürger gegen 269,015 im Jahre 173).
Derselbe Vorgang wiederholt sich bei den übrigen grossen Städten Italiens im Verhältniss zum Hinterland.
So klagen im Jahre 177 die Samniten und Paeligner, dass 40(X) Familien nach Fregellae übergesiedelt seien,
Liv. 41, 8, 8.
2) Der Bericht darüber bei Appian 18 ist von Nitzsch, Gracchen 346, vollkommen falsch verstanden
worden. Er lautet: „sofort entstanden eine Menge Processe. Denn auch alles angrenzende Land, mochte es nun
verkauft oder an die Bundesgenossen vertheilt sein [das also nicht mehr ager publicus, sondern Privatbesitz ist],
wurde im weitesten Umfang {unaaa\ um die Grenzen des ager publicus festzustellen {Scä ro rfjn&s ^iTQov), in die
Untersuchung hineingezogen und der Nachweis gefordert wie es verkauft oder zugewiesen war. Viele Eigenthümer
aber hatten die Kaufverträge oder die Zuweisungsurkunden {xXrii)ov/Jui) nicht mehr, und wo sie sich fanden, waren
sie zweideutig abgefasst". Hier ist mit keinem Wort davon die Rede, dass „die alten Assignationen , gleichsam
das Grundgesetz jener latinisöhen Colonien" in Frage gezogen seien, sondern es wird nur erzählt, dass aller Privat-
besitz, wenn er als solcher nicht erwiesen werden konnte, Gefahr lief, als ager publicus in Anspruch genommen
zu werden.
17
So war die Ackervertheilimg brach gelegt, bis die Entscheidung über die Italiker ge-
fallen war.i Um diese zu entschädigen, bieten ihnen die Demokraten das römische Bürgerrecht
als Ersatz für den ager publicus, den sie alsdann als römische Bürger auf Grund des rechtsbeständigen
sempronischen Gesetzes ohne weiteres aufgeben müssen; und daraufgehen die Italiker ein. Freilich
giebt es Gemeinden genug, welche gar keine Neigung haben, ihre Selbständigkeit aufzugeben
und in der homogenen Masse der cives Romani zu verschwinden — der Partikularismus der
italischen Staaten, der natürlich im dritten Jahrhundert noch weit stärker gewesen ist und die
von den Neueren wohl geforderte Ausdehnung des Bürgerrechts auf ganz Italien in dieser Zeit
als einen unmöglichen Gedanken erscheinen lässt, wird meist lange nicht genügend beachtet — ;
daher beantragt Fulvius Flaccus 125 das Gesetz de civitate danda et de provocatione eorum, qui
civitatem mutare noluissent (Val. Max. IX, 5, 1), während C. Gracchus nur den Latinem das
volle Bürgerrecht geben, den übrigen Bundesgenossen dagegen ihre Selbstverwaltung belassen,
aber das Recht ertheilen will, in den (Tribut-) comitien mitzustimmen, wie bisher die Latiner.
Die Bundesgenossen sind auf diese Pläne eingegangen — wenn auch die Opposition, welche im
Jahre 91 namentlich die Etrusker und Umbrer gegen Drusus' gleichartige Pläne erhoben (App.
civ. I, 36), auch jetzt schon hervorgetreten sein wird — ; wie ihre Durchführung vereitelt wurde,
ist allbekannt.
Ich bin auf diese Dinge genauer eingegangen, weil die Neueren den Zusammenhang der
Entwickelung, den wir aus Appians Darstellung gewinnen können, meist nicht klar genug erkannt
haben. Erst so tritt die Einheitlichkeit des Fortschritts der Bewegung hervor. Mommsen ist
durch die den Quellen widersprechende Annahme, dass die Ackervertheilung im wesentlichen
beendet gewesen sei, dazu gelangt, Gaius Gracchus Gesetzgebung in zwei Theile zu zerlegen.
„Als Gracchus die von ihm entworfene neue Staatsverfassung wesentlich vollendet hatte, legte
er Hand an ein zweites und schwierigeres Werk" nämlich die Bundesgenossenfrage. In Wirk-
lichkeit erwächst die letztere nicht minder aus der Agrarfrage wie die Umgestaltung der Ver-
fassung. Tiberius hatte geglaubt, geradeswegs zum Ziel gelangen zu können; Gaius, durch den
Verlauf der Entwickelung belehrt, sucht sicli zunächst den Weg zu bahnen. Deshalb beginnt
er damit, die Maassregeln zum Sturz des Senatsregiments und zur Begründung einer Demokratie
durchzusetzen, welche sein Bruder in der Noth vorbereitet hatte um sich zu behaupten. Nach-
dem er so seine persönliche Herrschaft begründet hat, tritt er mit dem Bundesgenossengesetz
hervor. Aber das eigentliche Ziel bleibt immer die Durchführung des Ackergesetzes, d. h. Wieder-
herstellung der italischen Nation aus ihrem Verfall. Mit seinem Niedergang ist auch die Erreichung
dieses Ziels definitiv vereitelt; Appian berichtet uns in einem leider nur zu kurzen Excerpt (c. 27),
wie während des nächsten Jahrzehnts das Ackergesetz begraben wird: /.al ö %<og dd^QÖtog aTtdvzwv
e^erce7trib/.eL- 6&ev torcdviCov stl fiällov 6f.iov TtoXiTwv re y.al aiQaTKotwv [die folgenden Worte
xal yfjg TtQooööou xai öiavofAtov Y.al v6f.uov sind leider ganz unverständlich; gemeint ist jeden-
falls: sie erhielten weder den Acker noch die Einkünfte von demselben]. Die Folgen sind nicht
ausgeblieben. Bei der nächsten grossen äusseren Krisis werden die Grundlagen des republika-
1) App. 21 TTjv &i ftui'Qeaiv rfjg y^s ol xtxrrifxivoi z«l w? (trotz Scipios Tod) JttI nQotfüatai, 7ioix(i.tus
oittftQov inl nkftarov xtti rivfg iariyoDvTO jovg avfZfiä/ovg linuvTctg, dt S>] niQi rfjg yijg fidhatu uvT^liyov, ig
Tr]v P(üfi(tt(»v nohrefttv üvuyQdipat,, tag fiii%ovi, /«()trt ntQi Tfjg yfjg ov &ioiaofi(voig • x(u i^(/ovTO äa^utvoi tov'^
Ol IrahSiTat, , nQOTiQ-^vrig tOv ^lOQt'wv Tr]v noXiradtv.
Moyor, Untersuchungen zur Geschichte der Gracchen. 3
18
nischen Heersystems aufgegeben und damit die Entscheidung vom Forum ins Heer verlegt. Auch
die Zukunft kannte noch zahlreiche Ackergesetze, aber nicht mehr um eine wehrfähige Bürger-
schaft zu schaffen, sondern um die ausgedienten Söldner zu versorgen, und das letzte Resultat
ist, dass Italien, der nominelle Weltherrscher, entwaffnet und geknechtet ist und bei der Ent-
scheidung seiner Schicksale viel weniger mitzureden hat als die Provinzen. —
Schon die bisherige Darlegung lässt die Sympathie erkennen, mit der Appian's Quelle
die Gracchen und ihre Bestrebungen betrachtet, in schärfstem Gegensatz zu Posidonios' Urtheil.
Aber eine Apologie derselben giebt sie nicht; bei aller Sympathie erkennt sie ihre Verschuldung
an. Tiberius findet seinen Tod ccQiarov ßovXev^iarog Vvevia, ßiaiwg avaft TtQoaicov (c. 17). Aehnlich
wird Gaius' Untergang beurtheilt; er ist sich seines Unrechts wohl bewusst.i Beide haben ihre
Katastrophe selbst dadurch herbeigeführt, dass sie, um sich zu behaupten, zur Gewalt gi'eifen
und dadurch die Gegner zur Gegenwehr zwingen. Tiberius hat in Folge seines Auftretens gegen
Octavius den politischen Untergang zu gewärtigen, sobald sein Amt abgelaufen ist, da der Kern
seiner Anhänger nach Annahme des Gesetzes aufs Land zurückgekehrt ist und die Gegner in
der Stadt selbst starken Anhang haben. So bleibt ihm nur die Möglichkeit, sich seine Existenz
durch Erneuerung des Tribunats zu sichern. Daher muss er sich dem städtischen Demos in die
Arme werfen und die Maassregeln zur Begründung einer Demokratie, oder, wie die Gegner
sagten, einer Tyrannis, ergreifen, welche später sein Bruder durchgeführt hat.^ Auch war ihm
der Erfolg bereits sicher, als die Reichen Einspruch erhoben: die Continuation des Tribunats sei
ungesetzlich.^ Der wahlleitende Tribun Rubrius erkannte den Einspruch an, die übrigen Tribunen
schwankten ; Differenzen über die Wahlleitung kamen hinzu. So wurde die Wahl vertagt. Tiberius
gab seine Sache verloren: er legte das Trauergewand an und empfahl seinen Sohn dem Schutze
1) c. 25 ivo/lovf^fvos vno toö avvtt,S6Tog wg inl uU.oxoTOig ßovXfvfjaGi; iB. 6 &t fiiiXXöv re x)-OQvßr]d^f)s
xctl Seioag wg x«Tu(f(OQog. Dass die Behauptung des Gracchus und Flaccus, die Vorzeichen bei der Neugründung
Karthagos seien im Senat gefälscht, als Wahnsinn bezeichnet wird (c. 24 fj.efiriv6aiv iotxörtg)^ geht dagegen wohl
auf Appian selbst, der ja durchaus gläubig ist, nicht auf seine Quelle zurück.
2) Den Inhalt der geplanten Gesetze lernen wir nur aus Plut. Ti. Gr. 16 und Dio fr. 82, 7 ed. Melber kennen;
wir haben aber keinen Grund zu bezweifeln, dass auch i;^pians Urquelle sie gekannt haben wird, wenn auch seine
Vorlage sie schon übergangen haben mag. Dio berichtet auch, er habe seinen Schwiegervater App. Claudius zum
Consul machen wollen.
3) Die Frage ist offenbar gewesen, ob das Gesetz, ne quis eundem magistratum intra decem annos caperet,
auch für das Tribunat gelte, mit anderen Worten, ob das Tribunat eine Magistratur sei, also eine Frage, die sich
mit der bei der Absetzung des Octavius aufgeworfenen aufs engste berührt. Daher sucht bekanntlich Garbo als
Tribun 130 das Gesetz durohzubringen ut eundem tribunum plebi quotiens vellet creare liceret, das durch Scipios
Opposition zu Fall kommt. Kurz darauf wird ein Gesetz angenommen *( ^r'jiiuQ/og ^v^eot riug nuQtyyillavg , tov
Sfiixov ly. 7t(cvT0)v i7it,ki'yta&(u, das Gaius' Wiederwahl ermöglicht (App. 21). Appians Ausdruck ist hier, wie nicht
selten, so gekürzt, dass es unmöglich ist, den genauen Sinn festzustellen; vermuthlich hat er in solchen Fällen seine
Vorlage selbst nicht verstanden. Gewöhnlich meint man, die Bestimmung gebe die Wahl frei, wenn es an ge-
eigneten Candidaten fehle. Aber das ist undenkbar; wenn es auf weiter nichts ankam, hätten die Gegner zehn
qualificirte Candidaten in jedem Falle aufstellen können. Vielmehr wird, wenn das Volk die Bewerber nicht für
tüchtig genug hält ■ — und das zeigt sich eben dadurch , dass es sie bei der Abstimmung übergeht — , den Tribus frei-
gegeben, ihre Stimme auch irgend Jemand anders zu geben, der sich nicht beworben hat; dabei fällt natürlich auch
die Ausschliessung der im Amte befindlichen Tribunen fort. So gelangt C. Gracchus zum zweiten Tribunat, ohne
als Candidat aufgetreten zu sein {ßrj^Ho/og untStf/d^ri rb SevnQov ov nuQuyytllwv ovSt fxtTiibv, uXXä tov &i]fj.ov
anovMauvTog Plut. C. Gr. 8). So wird sich auch der Vorwurf erklären , die zweite Wiederwahl des Gaius sei durch
die Eifersucht der Tribunen vereitelt, sie hätten ihn nicht renuntiirt, obwohl er die meisten Stimmen erhielt (Plut.
C. Gr. 12, mit dem Zusatz ullä tuOtu fiiv (\u(ftaß)]TrjGiv tlxtv). Offenbar behandelte der wahlleitende Tribun die
auf ihn fallenden Stimmen als ungültig, und er konnte das wagen, weil Gaius' Macht bereits erschüttert war.
19
des Volks. Das Mitleid, das er erregt, das grosse Gefolge, das ihn am Abend nach Hause ge-
leitet und ihm Muth zuspricht, giebt ihm neues Vertrauen. Auf friedlichem Wege konnte er
nicht zum Ziel gelangen; also entschliesst er sich zur gewaltsamen Durchsetzung seiner Wahl
verabredet ein Zeichen, wenn offener Kampf nothwendig ^verden sollte, und besetzt den capi-
tolinischen Tempel. Als am nächsten Morgen die Opposition seine Wahl aufs neue bekämpft
giebt er das Zeichen. Seine Anhänger gürten sich zum Kampf, entreissen den Lictoren ihre
Stäbe, und verjagen die Gegner aus der Versammlung. In dem Getümmel fliehen die Tribunen,
der Tempel wird geschlossen, man glaubt, dass Tiberius die Aviderspänstigen Tribunen abgesetzt,
sich selbst ohne Wahl zum Tribunen für das nächste Jahr ausgerufen hat. Die Kunde davon
dringt in den im Fidestempel versammelten Senat. Dass der Consul Scaevola die Aufforderung
einzuschreiten zurückweist, bis man genauere Kunde habe, übergeht Appian. Scipio Nasica^
tritt an die Spitze der Senatoren, mit aufgeschürzter Toga, den Saum um die Stirne gebunden 2,
stürmen sie das Capitol hinauf, ergreifen, was von Hölzern, Stuhlbeinen u. s. w. herumliegt, alles
weicht vor ihnen zurück, Tiberius wird mit vielen seiner Anhänger vor der Thür des Tempels
bei den Statuen der Könige erschlagen.
Gleichartig ist der Bericht über Gaius' Untergang.^ Nur ist zu beachten, dass Appian hier
ganz ausserordentlich gekürzt hat.* So schliesst er die Katastrophe unmittelbar an die Rückkehr
des Gaius und Flaccus^ aus Karthago an, ohne auch nur zu erwähnen, dass Gaius nicht wieder-
gewählt wird und dass sein Tribunat inzwischen abgelaufen ist. Ebenso wenig erfährt man, dass
zwischen der Niederlegung des Tribunats am 10. Dec. 122 und der Katastrophe im Sommer 12 1^
1) Appian bezeichnet ihn fälschlich bereits als pontifex maximus, was er erst nach Crassus Tode wurde.
2) Appian zerbricht sich unnöthig den Kopf um diesen sehr natürlichen Vorgang zu erklären. Um das
Capitol hinaufstürmen zu können, muss man die Beine frei haben; zugleich dient die um den Kopf geschlagene
Toga zum Schutz.
3) Einen entschiedenen Fehler enthält die Angabe, Gaius habe sich nach der Katastrophe seines Bruders
lange Zeit ruhig gehalten und vom politischen Leben zurückgezogen (App. 21 = Plut. C. Gr. 1). In Wirklichkeit
ist er politisch so thätig gewesen, wie es bei seiner Jugend nur irgend möglich war. Er war seit 133 ununter-
brochen Ti-iumvir, unterstützte 130 den Garbo gegen Scipio (s. u. S. 26 A. 2) und stand im Kampf gegen diesen voran (Cic.
Lael. 39 at vero Ti. Gracchum sequebantur C. Garbo, C. Cato, et minime tum quidem Gaius frater, nunc (im Jahre 129)
idem acerrimus); im Jahre 126 bekiimpft er als Quästor das Vorgehen des Pennus gegen die Peregrinep; genug er
war von Anfang an nicht nur die kommende Hoffnung, sondern bereits einer der thätigsten Führer seiner Partei.
4) Für die Ordnung der widerspruchsvollen Angaben über die Ghronologie des Gaius ist zu beachten, dass
die Wahl zum Tribunat (die Appian offenbar mit dem Antritt desselben verwechselt hat, wenn er alle Gesetze ausser
dem Getreidegesetz in sein zweites Tribunat legt, während Plutarch c. 8 sie fälschlich erst nach der Wahl des
Fannius zum Gonsul für 122 erzählt, also an der Stelle bringt, wo er richtig den Antritt des zweiten Tribunats hätte
erzählen sollen) in den Hochsommer fällt (vgl. App. civ. 1, 14), ein halbes Jahr vor den Antritt. Gaius hat sein
Tribunat mit der Darlegung seines Programms eröffnet, dann aber zunächst die beiden gegen Popillius Laenas und
Octavius gei'iehteten Gesetze durchgebracht, die für die Vergangenheit Rache üben und ihm für die Zukunft seine
Stellung sichern sollten (Plut. 4. Diod. 34, 25, 2. 26. Appian übergeht dieselben als unwesentlich ganz). Darauf
folgen die constitutiven Gesetze der Reihe nach, und hier wird Appiaus Angabe gewiss richtig sein, dass die lex
frumentaria zuerst, das Richtergesetz, aber erst nach der Wiederwahl zum Tribunat durchgebracht wurde. Dass die
Colonialgesetze des Gracchus und des Rubrius ins Jahr 123 gehören, bezeugen Vell. I, 15. Eutrop IV, 21 = Gros. V, 12.
Die Ereignisse des Jahres 122 hat Appian dagegen umgestellt, um zu einer rascheren und glatteren Erzählung zu
gelangen, wie er das nicht selten thut. Plutarchs Anordnung: 1) Agitation des Drusus; 2) Gaius in Karthago; 3) Aus-
weisung der Bundesgenossen durch Fannius, Scheitern des Bundesgenossengesetzes, ist offenbar die allein richtige.
5) So Appian 24, während Plutarch ausdrücklich angiebt, dass Flaccus während Gaius' Abwesenheit in
Rom blieb (c. 10. 11). Offenbar liegt hier eine Flüchtigkeit Appians oder seiner Quelle vor.
6) Appian 25 bezeichnet Opimius als ös intSri^ti, twv vnüxwv. Also der andere Consul Q. Fabius
Maximus war bereits zum Allobrogerkriege abgegangen.
20
mehrere Monate, vielleicht ein volles halbes Jahr, liegen; auch Plutarch geht über diese Zwischen-
zeit völlig hinweg. Das ist natürlich für die Urquelle zu ergänzen. Gaius war auch nach Ab-
lauf des Tribunats als Triumvir für die Ackervertheilung wie für Karthago noch Beamter i, und
überdies hatte er keinen formalen Rechtsbruch in der Art seines Bruders begangen. So war ein
directer Angriff auf ihn unmöglich. Und doch konnte es keinem Denkenden zweifelhaft sein,
dass es sich um einen Kampf auf Tod und Leben handelte. Der Senat musste, wenn er seine
Stellung wiedergewinnen wollte, nicht nur sein Werk zu vernichten streben, sondern auch den
Mann selbst, der ein Jahr lang (von der Wiederwahl Sommer 123 bis zur Vereitelung der Wieder-
wahl im Sommer 122) wie ein Monarch {f.tovaQxi/,fj rig iaxvg iyeySvei 7ceqI adröv Plut. C. Grr. 6 2),
wie Perikles in Athen, an der Spitze des Staates gestanden hatte, Gaius musste alles daran
setzen, sein Werk zu erhalten. Seitdem Drusus ihm in der Yolksgunst den Rang abgelaufen
hatte, wird er langsam aus einer Position nach der anderen gedrängt; die Trümmer der Livia-
nischen Ueberlieferung lassen wenigstens andeutend die Kämpfe der ersten Hälfte des Jahres 121
erkennen 3, und eine bei Cicero bewahrte Aeusserung* zeigt wie sehr sich Gaius seiner ver-
zweifelten Lage bewusst war — welchem Ende er entgegen ging, hat Gaius ja schon beim Be-
ginn seines Tribunats in ergreifenden Worten ausgesprochen. ^ Als jetzt Minucius' Antrag auf
Aufhebung der Colonie Karthago zur Abstimmung kommt, entschliessen sich Gaius und Flaccus
zur Gewalt. Seine Anhänger bewaffnen sich mit Dolchen, während Flaccus auf dem Platz vor
dem Capitol zum Volk spricht, führt Gracchus sie hinauf. Von Gewissensbissen gepeinigt —
man sieht wie nahe hier trotz aller Abweichungen die Auffassung der Quelle Appians der des
Posidonios kommt — geht er in den Säulengang, um die Entwickelung abzuwarten. Hier opfert
Antullus (der Quintus des Posidonios), ein Mann aus dem Volke. Als er Gracchus sieht, bittet
er ihn, das Vaterland zu schonen, Gracchus blickt ihn wild an, er fühlt sich ertappt [yMTdcpioQog)]
einer von Gracchus Gefolge stösst ihn nieder, ohne dass Gracchus es befohlen hat: er glaubte
der Moment zum Losschlagen sei gekommen (bei Posidonios stösst Gracchus den Quintus zurück
und befiehlt ihn zu tödten). Da entsteht ein Tumult, alles flieht; Gracchus sucht auf dem Forum
sich zu vertheidigen , aber niemand will ihn hören. So geht die Zeit verloren. Des Nachts
versammeln Gracchus und Flaccus ihre Anhänger in ihren Häusern, die übrige Menge besetzt
das Forum. Der Consul Opimius lässt am Morgen das Capitol besetzen und beruft den Senat, ^
er selbst leitet vom Castortempel aus die Operationen. Der Senat fordert Gracchus und Flaccus
vor, sie aber besetzen den Aventin und rufen, freilich vergeblich, die Sklaven zur Freiheit auf,
1) Sallust lug. 42.
2) Vgl. Vell. II, 6 Fulvium Flaccum , . . quem C. Gracchus in locum Tiberii fratris triumvirum nomi-
naverat et eura socium regalis adsumserat potentiae.
3) Oros. V, 12, 5 Minucius tribunus plebi cum maxima ex parte decessoris sui Gracchi statuta con-
vulsisset legesque abrogasset. Genauer hatte das Posidonios dargelegt: Diod. 34, 28a noXkovg f/wv rovg awuywvi-
arttg üvTtTÜTTtTO ö rQuy./og, y.id utl y.iü f^uXlov TanHvovfitvog xul tkcqu nQoadoxiav unonimutv eig Xvttkv tlvh
y.(ü fxaviw&rj fucü-aoiv iventme. Rede gegen Minucius Festus p. 201. Nach allgemeiner Annahme, die freilich nicht
erweisbar ist, gehört auch die Eede in Maenium (Meyer S. 244) in diese Zeit.
4) de orat. III, 214 (Crassus spricht im Jahre 91): quid fuit in Graccho, quem tu melius, Catule, me-
ministi, quod me puero tanto opere efferretui" „quo me miser conferamV quo vertam? in Capitoliumne ? at fratris
sanguine madet. an domum? matremne ut miseram lamentantem videam et abjectam?* quae sie ab illo esse acta
constabat oculis voce gestu, inimici ut lacrimas tenere non possent.
5) schol. BobK in Cic. pro Sulla 9, 1; fr. orat. ed. Meyer p. 234.
6) Dass senatus consultum ultimum, auf dem Opimius Vorgehen beruht, ist von Appian übergangen.
21
um als bewaffnete Macht auf gleichem Fuss mit dem Senat verhandeln zu können i; sie hoffen
die Vorgänge würden sich wiederholen, Avelche die Chronik von den Secessionen der Plebs be-
richtet. So schicken sie den jungen Flaccus an den Senat, um einen Vertrag abzuschliessen
(deo/Ltsvoi dialXayüv zv%üv Aal ßiovv (.led^^ öi-iövotag). Aber der Senat weist alle Verhandlungen
von sich und fordert, sie sollten die Waffen niederlegen und sich dem Senat stellen. Als trotzdem
Flaccus' Sohn noch einmal geschickt wird, lässt Opimius ihn festnehmen und befiehlt den An-
griff. Gracchus lässt sich auf der Flucht jenseits der Tiber in , einem Hain (dem der Furina
nach den anderen Quellen) von einem Sklaven tödten, Flaccus wird aus seinem Versteck in
einer Werkstätte hervorgezogen und getödtet, die Köpfe der beiden mit Gold aufgewogen. Auf
das daran anschliessende Strafgericht brauchen wir hier nicht einzugehen.
4. Plutarch und die Römer.
Wenn bei Fosidonios die Reichs- und Verfassungsgeschichte, bei Appian der italische Stand-
punkt dominirt, so steht in Plutarchs Quelle — ich verstehe darunter immer die Quelle, die ihm
eigenthümlich ist, im Gegensatz zu der mit Appian gemeinsam benutzten — das persönliche Inter-
esse im Vordergrund. Eben deshalb hat Plutarch sich wohl von der Appianischen Quelle abgewandt
und zu einer dem Zwecke seiner Biographien näherstehenden Darstellung gegriffen. Aber auch in
ihrer Tendenz unterscheidet sich Plutarchs Quelle stark von den beiden anderen Darstellungen.
Wenn Posidonios den Standpunkt des Africanus vertritt und Nasica und Opimius rechtfertigt,
Appians Quelle dagegen etwa die Anschauungen eines Mucius Scaevola, Crassus Mucianus und
ihrer Gesinnungsgenossen, oder von Späteren die eines Rutilius Rufus wiedergiebt, so steht
Plutarchs Quelle ausgesprochen auf Seiten der Gracchen, ja sie wird zu einer directen Apologie
derselben. Auf dieselbe Quelle gehen nun aber die römischen Berichte zurück, vor allem Livius
und seine Ausschreiber, sodann, von einzelnen Varianten in Detail abgesehen, auch Velleius und
die Schrift de viris illustribus 2, endlich, soweit wir nach den dürftigen Fragmenten urtheilen
können, wohl auch Dio.^ Nur ist, entsprechend der in der Kaiserzeit allgemein herrschenden
Auffassung, welche die Gracchen als die Urheber des hundertjährigen Bürgerkrieges und des
Untergangs der Republik unbedingt verdammte und ganz auf Seiten des Senats steht, die Tendenz
in ihr Gegentheil verkehrt. Es ist das ein ungemein bezeichnender Vorgang, der in vielen Ab-
schnitten der ersten Dekade des Livius sein Gegenstück hat. Einem Historiker, der Livius'
Standpunkt theilt, hätte es viel näher gelegen, die Geschichte der Gracchen nach Posidonios oder
wenigstens nach Appian zu erzählen. Statt dessen folgt er dem gracchenfreundlichsten Berichte,
kehrt aber dessen Auffassung überall um. Daraus können wir schliessen, dass diese Darstellung
in der römischen Literatur, die Livius vorlag, eine hervorragende, ja massgebende Stellung ein-
nahm; damals war eben die demokratische Auffassung, wenn auch nicht alleinherrschend, doch
von sehr weiten Kreisen namentlich auch in der Literatur getheilt. Den Neueren war es hier
1) iXniGKvreg, et rövSe (den Aventin) ntioXüßoiev, ivffwaeiv tiqös rag awd^rixng uvrotg ti Ttjv ßovXiqv.
2) Florus ist natürlich, hier ebenso elend und werthlos wie immer.
3) Nur lässt Dio seiner finsteren Auffassung der Menschen und des geschichtlichen Lebens wie überall
so auch hier freien Lauf.
22
wie in der Geschichte des Kampfes zwischen den Patriciern und Plebejern sehr leicht, die ur-
sprüngliche Fassung wieder herzustellen und das Unrecht und die Gewaltthätigkeit der Optimaten
ans Licht zu ziehen. Da dieselbe Darstellung bei Plutarch vorlag, schien die Mehrzahl der
Quellen übereinzustimmen; so ist es gekommen, dass in der Erzählung und mehr noch in der
Tendenz der plutarchische Bericht meist ganz unbillig bevorzugt wird. Das wird anders, sobald
wir erkennen, dass wir es nur mit einer einzigen Quelle zu thun haben und dass diese ent-
schieden parteiisch gefärbt ist. Das Avird im folgenden im Zusammenhang mit der Analyse des
plutarchischen Berichts nachzuweisen sein.^
Gleich zu Anfang tritt der Zusammenhang des Auftretens des Tiberius mit der numan-
tinischen Katastrophe, über den Appian hinweg geht — Posidonios wird davon geredet haben — ,
klar hervor. Derselbe ist nicht blos äusserlich. An den Opfern, welche die spanischen Kriege
fortwährend forderten, an der Nothwendigkeit hier ein stehendes Heer zu halten, ist die römische
Republik verblutet.^ In Spanien sind die Gegensätze der altrömischen italischen und der Reichs-
politik zuerst aufeinander gestossen: als im Winter 152/1 die Frage zur Verhandlung stand, ob
man die Unterwerfung der Arevaken zu den alten Bedingungen annehmen oder energisch gegen
sie einschreiten solle, hat Scipio Aemilianus, der geborene Vertreter der Reichspolitik, der Erbe
der Scipionen und des Aemilius Paullus, den Ausschlag für den Krieg gegeben (Pol. XXXV, 4, 8),
aus denselben Gründen, die jeden auf Eroberung begründeten Culturstaat, der an kriegerische
aber uncivilisirte Nachbarn grenzt, ununterbrochen vorwärts treibt auf der Bahn der Eroberung.^
Von da an ist Spanien zwanzig Jahre lang nicht zur Ruhe gekommen. Bei den im Jahre 186*
geführten Verhandlungen über das foedus des Mancinus stehen sich dieselben Auffassungen aufs
neue gegenüber: Tiberius Gracchus, hier wie überall der Fortsetzer der Politik seines Vaters,
fordert die Sanctionirung des durch seine Verraittelung geschlossenen Vertrages gegen Scipio und
den Senat. Der Conflict ist, wie jeder innere Kampf in einer Aristokratie, zugleich ein persön-
licher und ein politischer; die alten Familienfehden, die durch Verschwägerungen wohl einmal
1) Dass Plutarch Ti. Gr. 4 für die Eroberung Karthagos den Fannius (oben S. 5), c. 21 für die Ehe des
Gaius eine abweichende Angabe des Nepos, C. Gr. 1 für die Traumerscheinung des Bruders, die Gaius in den Tod
treibt den Cicero de div. I, 56 (der selbst wieder aus Caelius Antipater schöpft) citirt, ist für die Quellenfrage ohne
Werth. Die Geschichte von Gaius' Sklaven Licinius Ti. Gr. 2 = Cic. de erat. III, 224 stammt wohl auch aus der
römischen Quelle, vgl. S. 31 A. 4.
2) Die Sonderung der äusseren und inneren Geschichte und die Zusammenfassung grösserer Abschnitte zu
einer Einheit, wie sie Mommsen in seiner römischen Geschichte durchgefühii hat, ist gewiss berechtigt. Nur ist
dabei die Gefahr vorhanden, dass die Wechselwirkung der äusseren und inneren Politik nicht immer klar hervortritt
und manche Zusammenhänge verschoben werden; und diese Gefahr hat auch Mommsen nicht immer vermieden. In
AVirklichkeit ist jeder neue Fortschritt der inneren Krisen in der Revolutionszeit durch eine äussere Krisis hervor-
gerufen worden. Vom universalhistorischen Standpunkt aus kann man die Kriege nach der Schlacht bei Pydna
wohl als untergeordnete Kämpfe betrachten; aber der Satz, mit dem Mommsen die Darstellung der Gracchenzeit
beginnt: „Ein volles Menschenalter nach der Schlacht bei Pydna erfreute der römische Staat sich der tiefsten kaum
hie und da an der Obei-fläche bewegten Euhe" ist nicht richtig. Die Kämpfe der Jahre 154 — 133 haben dem
römischen Staat viel mehr Noth gemacht und sind für ihn viel vei'hängnissvoUer gewesen, als die der Jahre 200 — 168.
3) Scipio weiss, dass der Fortgang der Eroberungen Rom ins Verderben stürzt, er betet als Censor nicht
mehr für die Vergrösseruug, sondern für die Erhaltung des Staats (Val. Max. IV, 1, 10). Aber von einem Rüok-
weichen — und das wäre das Innehalten thatsächlich — will er nichts wissen, dagegen empört sich sein innerstes
Gefühl von der majestas des römischen Volks. Es ist dasselbe Verhalten wie in der Innern Politik: er sieht
den Abgrund klar vor Augen, aber einen anderen "Weg giebt es nicht. So ist er der Henker Kai'thagos und
Numantias geworden.
4) Cic. rep. III, 28.
23
überbrückt werden, aber immer von neuem wieder ausbrechen, verschlingen sich mit den prin-
cipiellen Gegensätzen. Durch die Verhandlungen über Numantia ist der Bruch unheilbar ge-
worden: zwischen Tiberius und seinem Schwager, der kurz darauf (134) die Ausführung des
Todesurtheils gegen Numantia übernimmt, giebt es keine Versöhnung mehr.^ Auch äusserlich
vollzieht sich der Bruch: Tiberius heirathet die Tochter des Appius Claudius, des erbitterten
Rivalen des Scipio^, und tritt in Verbindung mit seinem Gegner Metellus Macedonicus. Dass der
Kampf, den Tiberius für die Wiederherstellung der Grundlage der römischen Wehrkraft eröffnet,
von Anfang an in den schroffsten Formen geführt wird, dass Tiberius garnicht den Versuch macht,
den Senat für sein Gesetz zu gewinnen, ist die Wirkung der numantinischen Verhandlungen.
Bei Plutarch sind die Zusammenhänge nur angedeutet; die römischen Quellen sprechen sie durch-
weg offen aus.^
Welcher Quelle das reiche von Plutarch für die Geschichte des Kampfes mit Octavius ge-
gebene Detail angehört, ist nicht immer zu entscheiden; Appian mag hier vielfach gekürzt haben.
Sicher der plutarchisch-römischen Quelle entstammt wohl die Angabe über den Einfluss des Dio-
phanes von Mitylene und des Blossius von Cumae auf Tiberius^, da nachher (c. 17. 20) über ihre
weiteren Schicksale berichtet wird. Das in c. 9 aus der Einführungsrede bewahrte Stück fügt sich
der bei Appian bewahrten Inhaltsangabe ein (oben S. 15). Die Angaben in cp. 10 und 11 stammen
wohl grossentheils aus der nicht- appianischen Quelle, während die Vorgänge bei der entscheiden-
den Abstimmung c. 12 in wörtlicher Uebereinstimmnng mit Appian erzählt sind (oben S. 11 A. 1).
Der Bericht über den Eindruck der Reden des Gracchus auf Octavius -und über seine Schicksale
nach der Absetzung fehlt dann wieder bei Appian; ebenso wird der Kampf zwischen beiden von
diesem 5 keineswegs in den idealen Farben geschildert, die ihm Plutarch giebt.
In der Anerkennung der Ungesetzlichkeit des Vorgehens gegen Octavius stimmt Plutarchs
Bericht mit allen anderen Darstellungen überein {tqiTteTaL fcqög egycr od vöf.ii(.iov ovds ertieiy-lg
c. 11); ihre Wirkung wird bei Appian nur in den entscheidenden Punkten — die Drohungen
der Reichen und das Ausbleiben der durch die Ernte beschäftigten Landbevölkerung — kurz
und klar dargelegt, während wir die Details allein aus Plutarch kennen lernen. Auf Antrag
des Scipio Nasica, eines Vetters des Tiberius — seine Mutter war die Schwester der Mutter der
Gracchen — , der bereits jetzt an die Spitze der Gegner tritt, verweigert der Senat den Triumvirn
1) Plutarch in seiner weichen Art sucht das zu verschleiern; aber seine Vermuthung (Soxti cTf ^oi),
Tiberius' Untergang wäre vermieden worden, wenn Scipio in Rom gewesen wäre, ist völlig unhaltbar. Dass Scipio
nur die Auslieferung des Mancinus gefordert und die des Tiberius und der übrigen sponsores verhindert habe, wie
Plutarch mit einem Soxel berichtet, ist nicht undenkbar, aber wenig wahrscheinlich.
2) Plut. Aem. Pauli. 38 = praec. reip. ger. 14, 13. lieber seine Censur Dio fr. 80. Vgl. Cic. rep. I, 31:
Nach Tiberius' Tode obtrectatores et invidi Scipionis, initiis factis a P. Crasso et Appio Claudio, tenent nihilo minus
illis mortuis senatus alteram partera dissidentem a vobis auctore Metello et P. Mucio, und dazu Plut. Ti. Gr. 9,
wo Crassus, Mucius Scaevola und App. Claudius als Hauptförderer des Tiberius bezeichnet werden.
3) Cic. Brutus 103. harusp. resp. 43 (invidia Numantini foederis). Velleius II, 2. Oros. V, 8. Dio fr. 82.
Dass hier an Stelle der prinzipiellen Gegensätze die persönliche Kränkung hervorgehoben wird, ist nur natürlich.
4) c. 8 nach den Tikfi^aroi; auf ihren Einfluss wird auch das Zerwürfniss mit Scipio zurückgeführt c. 7.
Zu Diophanes vgl. Cic. Brut. 104. Die Untersuchung gegen Blossius im Jahre 132 erzählt auch Cic. Lael. 37
(daraus Val. Max. IV, 7, 1), nur dass hier Laelius, bei Plutarch Nasica der fragende ist.
5) XoiSootCjv St ToTi Sri^uQ/ois ig uklrikovs ytvofx^vMv App. 12. Dio fr. 82, 4 ff. hat das weiter aus-
gemalt, wobei er besonders die auch von Plutarch erwähnte Sistirung des gesammten öffentlichen Lebens anführt,
die Tiberius verhängte, um die Opposition zu brechen. — Dass Appians Bericht in diesen Capiteln überall unver-
gleichlich exacter ist als der Plutarchs, liegt wohl nicht an den Quellen, sondern an der Eigenart des letzteren.
24
die Ausrüstung und setzt ihre Tagegelder auf ein Spottgeld fest.^ Als die Nachricht von dem
Tode des Attalos III. und der pergamenischen Erbschaft nach Rom kommt, beantragt Tiberius
die Schätze zur Ausstattung der Ansiedler zu verwenden und erklärt, die Entscheidung über
die Ordnung des Reichs stehe dem Volk, nicht dem Senat zu.^ Da beschuldigt ihn sein Guts-
nachbar Q. Pompeius, er habe sich von Eudemos von Pergamon, dem Ueberbringer des Testaments,
Diadem und Purpurmantel des Attalos ausliefern lassen (Plut. 14), und verpflichtet sich durch
eine sponsio ihn anzuklagen, sobald sein Amt zu Ende sei (Oros. V, 8,4 obsistente Nasica etiam
Pompeius spopondit se Gracchum, cum primo magistratu abisset, accusaturum). Q. Metellus,
obwohl reformfreundlich gesinnt (Cic. rep. I, 31) und mit den Scipionen verfeindet, greift Tiberius
in einer grossen Rede an — Fannius hatte sie in seine Annalen aufgenommen (Cic. Brut. 81) — ,
in der er ihm vorwirft, dass er sich Nachts von dem ärgsten Gesindel geleiten lasse (tovvo) de
7taQa(faivovoi vvytTÖg oi d^qaovTazoi /.al ccTtoQcoTatOL twv ÖT^fxoTiov)^ während als sein Vater Censor
war, die Bürger die Lichter auslöschten, wenn er Abends aus einer Gesellschaft nach Hause kam,
um sich nicht den Vorwurf ausschweifenden Lebenswandels zuzuziehen.^ T. Annius Luscus
cos. 153 fordert im Senat Tiberius zu einer sponsio — also zu einer Entscheidung durch Richter-
spruch — auf, er habe die sacrosancte tribunicische Gewalt verletzt. Als Tiberius ihn ent-
rüstet vor das Volk zieht, um ihn zu verklagen, bittet Annius um das V^ort zu einer Frage,
und als Tiberius einwilligt, fragt er ihn: wenn du mich jetzt strafen willst, ich aber einen
Tribunen anrufe und der für mich intercedirt, wirst du dann ihn auch absetzen? Diese Frage,
heisst es, traf den Tiberius so, dass er nichts zu antworten vermochte; er verstummte und ent-
liess die Versammlung.* Um den Eindruck zu verwischen, hält er dann später eine grosse
Rechtfertigungsrede vor dem Volk, aus der Plutarch einen Auszug bewahrt hat.
Wir gewinnen hier einen unschätzbaren Einblick in Tiberius' Verhalten. Mit Begeiste-
rung ist sein Antrag von der römischen Bauernschaft aufgenommen, aus ganz Italien strömen
1) Plut. Ti. Gr. 13 = obsistente Nasica Oros. V, 8, 4.
2) Plut. 14 = Liv. 58. Oros. V, 8, 4. de vir. ill. 64. Zur Annahme ist das Gesetz nicht mehr gekommen.
Die pergamenische Urkunde, -welche nach dem Tode des Königs, ehe noch die Bestätigung des Testaments durch
Rom eingetroffen ist, schleunigst die Rechtsverhältnisse der Beisassen und Soldaten ordnet und den königlichen und
den Staatssklaven die Freiheit giebt (Fränkel, Inschr. von Pergamon No. 249), ermöglicht leider keine genauere
Datirung, da die Stellung des Monats Eumeneios im Kalender nicht bekannt ist. Dass unter den königlichen Sklaven,
die ja thatsächlich bisher so gut wie frei gewesen waren und zum Theil gewiss angesehene Stellungen und Ein-
künfte genossen hatten, nach dem Tode des letzten Königs gewaltige Aufregung herrschte, und dass die Pergamener
sie vor dem furchtbaren Schicksal bewahren wollten, zu Gunsten des römischen Aerars verkauft zu werden, ist
begreiflich genug. Aber schwerlich hat Rom die Freilassung der ßaachy-ot und Stq^oaioi, und das ihnen gewährte
Beisassenrecht anerkannt. Ich vermuthe, dass das Sklavenheer des Ai'istonikos (Diod. 34, 2, 26. Strabo XIII 1, 38)
sich zum guten Theil aus diesen Kreisen recrutirt hat.
3) Es ist zu beachten, dass Q. Pompeius, berüchtigt durch sein Verhalten vor Numantia, und Q. Metellus
Macedonicus im nächsten Jahr Censoren werden.
4) Plut. Ti. 14. Liv. 58 tot indignationibus commotus graviter senatus; ante omnis T. Annius consularis,
quia in senatu in Gracchum perorasset raptus ab eo ad populum delatusque plebi, rursus in eum pro rostris contio-
natus est. Aus der Rede hat Festus p. 314 das von Mommsen Staatsrecht II*, 616, 2 falsch gedeutete Fragment
bewahrt: imperium quod plebes per saturam dederat, id abrogatum est. Cicero Brutus 79 et T. Annium Luscum
huius Q. Fulvii conlegam non indisertum dicunt fuisse beruht natürlich auf dieser Erzählung; die Rede scheint Cicero
nicht gekannt zu haben. — Bei Plutarch heisst Annius mit entschiedener Gehässigkeit ovx intftxrjg fxtv ov&e Gwfowv
kvO-Qoynog, iv d"f Xöyoig nQÖg rüg iQioTi^aeig y.ul rüg unoxQiGng üfiayog tivui Soy.üiv. — Auch die Wechselreden
zwischen Gracchus und Tubero, über die wir nichts genaues wissen (Cic. Brut. 117), gehören vielleicht in diese
Zeit, nicht in die des Gaius. Dass Tubero wie so viele andere nach der entscheidenden Wendung von Tiberius ab-
fiel, berichtet Cic. Lael. 37.
25
die Massen zusammen, die Annahme ist zweifellos, wie auch die Reichen sich wehren mögen —
da entschliesst sich Octavius nach langem Zögern (Plut. 10) sein Yeto einzulegen, und bleibt
standhaft allen Bitten, allen legitimen Zwangsmitteln gegenüber. Und doch ist Tiberius nicht
nur von der Heilsamkeit und der unumgänglichen Nothwendigkeit seiner Maassregel überzeugt,
auch die grosse Majorität in allen Tribus — das lehrt die Abstimmung über Octavius — ist
entschieden für ihn. Was soll er thun? Die Zeit drängt, der Beginn der Feldarbeit ist vor der
Thür, die Bauern müssen nach Hause. Soll er sie ziehen lassen und sein W&rk aufgeben um
des Widerspruchs eines Einzigen willen? Aber ist denn dieser Widerspruch berechtigt? Nach
der staatsrechtlichen Theorie sind die Tribunen nicht nur die Beamten der Plebs, sondern recht
eigentlich die Träger ihres Willens, gewissermaassen ihre Personifikation ^ ; wie ist es also mög-
lich, dass ein Tribun sich ihr widersetzt und allein das Hinderniss wird, den Volkswillen durch-
zusetzen? Der Gegensatz wird noch weit schärfer empfunden, als wenn in modernen Staaten
ein Oberhaus oder ein Monarch gegen die ausgesprochenen Forderungen des Parlaments sein
Veto einlegt, um so mehr, da die Milderung fehlt, welche das Wesen der Volksvertretung bildet:
das souveräne Yolk steht in Rom seinem widerspänstigen Organ unmittelbar gegenüber. So er-
klärt Tiberius, er und Octavius zusammen könnten nicht mehr Volkstribunen sein; möge das
Volk sich für einen von beiden entscheiden und dem andern das Amt nehmen, das er wider
den Volkswillen verwaltet. ^ Erst nachdem die Entscheidung gefallen ist, kommt dem Tiberius
eben durch die Vorgänge, die Plutarch erzählt, zum Bewusstsein , was er gethan hat: er hat die
Revolution eröffnet, die Bresche in die bestehende Verfassung gelegt, ohne es zu ahnen. Jetzt
sucht er nach Vertheidigungsgründen, die er natürlich der Theorie von der Souveränität des
Volkes entnimmt: wie Tarquinius als Frevler verjagt wurde, wie die heiligen Vestalinnen be-
straft werden, wenn sie an den Göttern freveln, wie das Volk über die Weihgeschenke für die
Götter beschliessen kann, wie es will, so darf das Volk auch dem Tribunen, den es selbst er-
wählt hat, sein Amt nehmen, so bald er Unrecht thut. Sein Gewissen mochte Tiberius durch
solche Argumente beruhigen, die Gegner waren natürlich nicht zu bekehren, die abtrünnigen
Anhänger nicht wieder zu gewinnen 3, der drohende Untergang lag vor seinen Augen; so beginnt
er auf den Rath seiner Freunde mit seinen demagogischen Anträgen (oben S. 18, A. 2) und zu-
gleich mit der Bewerbung um ein zweites Tribunat hervorzutreten.
Die Anklage, er strebe nach der Tyrannis, ist seit sie T. Annius Luscus zuerst aus-
gesprochen hat, immer von neuem gegen Tiberius Gracchus erhoben worden. In drastischer
1) öiftikovGi d" utX TioieTv ot &i]ficef)/oi to Soxovv to) f^fxoj xal fxdXiatu GTO)(((CiaSui rfjt; rovrov ßovl/jGewg
Toi. VI 16,5.
2) So Plut. c. 11 vntiJiMv u Tiß^Qiog, log oöx ißTiv än/ovTKg HfX(fOT^()ov<; xcd nf^) nQc<}\U((Tiov /myiikwv
an XGr\<; liovGiai Siuif'^QO^ivovg ävev noXeixov SitiilOtTv rov /qovov, ^V T«^« tovtov fiövov oqüv f'(frj t6 ttkv-
aua'tai T^g "QX^s ^of fTfQov. Bei Appian 12 kürzer f'y/j Siaipritfiaiv TiQOx'hi'jOfiv ig rrjv knioOauv dyoQäv tkqi ts
Tov vofxov y.ul Tfjg aQ/fjg Tfjg ^OxTaviov , ff xQh ^'/,"«C/f^*' (^vTinQtiiTovTu tm Stjauj Tt]v i(QX'l^ iTii/Ji'^- In der Folge
der Ereignisse stimmen beide überein-, nach dem Scheitern der Verhandlungen im Senat kündigt Tiberius dem Volk
seine Absicht an, in der nächsten Versammlung folgt, nachdem der Versuch, Octavius zum Nachgeben zu bewegen,
noch einmal gescheitert ist, die entscheidende Abstimmung.
3) Cic. de leg. III 24 quin ipsum Ti. Gracchum non solum ueglectus, sed etiam sublatus intercossor
evertit; quid enim illum aliud porculit nisi quod potestatem intercedenti collegao abrogavit? — Dass auch von den
Tribunen nur ein Theil zu ihm steht, lehren die Vorgänge bei der Wiederwahl und die Angabe Plutarchs, dass
einer seiner Collegen den ersten Schlag gegen ihn geführt habe (unten S. 27).
Meyer, Untersuchungen zur Geschichte der Gracchen. 4
26
Form erscheint sie bei der Schlusskatastrophe in der Beschuldigung, Tiberius habe, indem er
mit der Hand nach dem Kopfe deutete, das Diadem für sich gefordert. ^ So absurd die Moti-
virung ist, so wenig sind die Yertuschungsversuche mancher Neueren zulässig: die Beschuldi-
gung trifft durchaus den Kern der Sache, die Stellung, die zu erstreben Tiberius gezwungen
wird, ist keine andere als die des allein herrschenden Demagogen. Für einen Perikles aber ist
wohl in dem demokratischen Athen, aber nicht in einer aristokratischen und nur in aristo-
kratischen Formen zu erhaltenden Republik Raum. Es ist daher durchaus berechtigt, wenn
Nasicas That als Nothhülfe gegen den Tyrannen bezeichnet wird.^ Mochte ein milder und ver-
sönlicher Mann wie der Consul Scaevola, der im Grunde durchaus reformfreundlich war, meinen,
man könne noch warten: in Wirklichkeit waren die Dinge so weit gediehen, dass eine gewalt-
same Entscheidung unvermeidlich war. Tiberius musste alles daran setzen, um wiedergewählt
zu werden, den Gregnern blieb nichts übrig als zur Gewalt zu greifen, sobald es schien, dass
er seine "Wahl mit welchen Mitteln auch immer durchsetzen werde. Nachträglich hat denn auch
Scaevola die That des Nasica ausdrücklich gebilligt (Cic. de domo 91. pro Plancio 88; vgl. dazu
de orat. II 285). Wer die eine oder die andere Partei schlechthin verurtheilt, verkennt die
tragische Gewalt der Ereignisse.
In der Schilderung der Katastrophe hat Plutarch den Eingang gekürzt (cp. 16 med.) und
den zwischen den Tribunen über die Berechtigung der Wiederwahl ausbrechenden Streit, den
Appian praecis berichtet, sehr flüchtig dargestellt. Als die Wahl vertagt wird, geht Tiberius
wie bei Appian gedrückt und in Thränen auf das Forum. ^ Er fürchtet, man werde ihn Nachts
1) Hut. Ti. Gr. 19 = Aur. Vict. 64. Florus II 2, bei allen drei mit der Erklärung, in Wirklichkeit habe
er dadurch auf die ihm drohende Lebensgefahr hindeuten wollen. Gewiss ist das möglich. Ich halte es aber für
weit wahrscheinlicher, dass das ursprüngliche in der That die Erzählung ist, er habe das Diadem für sich gefordert.
Nasicas That wird damit gerechtfertigt, dass Gracchus nach der Krone gestrebt habe, und diese Beschuldigung wird
in einer symbolischen aber natürlich nicht historischen Handlung verkörpert. Die Vertheidiger des Gracchus haben,
wie immer in solchen Fällen, die berichtete Thatsache nicht bestritten, aber sie umgedeutet.
2) Nach Posidonios (s. o. S. 9) tödtet Nasica den Tiberius tvquweIv imxfiQriaavTu. Vgl. Cic. Lael. 41
(Laelius spricht): Ti. Gracchus regnum occupare conatus est, vel regnavit is quidem paucos menses. Sallust lug. 31, 7
(Rede des Memmius): Occiso Tiberio Graccho, quem regnum parare dicebant, in plebem ßomauam quaestiones habitae
sunt. Darauf beruht Scipio Äfricanus Antwort, als er im Jahre 130 vom Tribunen Garbo über Tiberius' Ermordung
gefragt wird: si is occupandae reipublicae animum habuisset, iure caesum (Vell. II 4; in kürzerer Fassung, iure
caesum videri, aber auf Gnind desselben Berichts, bei Cic. de orat. II 106. pro Milone 8; de vir. ill. 58; Liv. ep. 59
= Val. Max. VI 2, 3; vgl. Plut. Ti. Gr. 21. apopthegm. imp. Scipio 22. 23 Moral, p. 201; dasselbe besagt sein Citat
des Homerverses d>s unölono xh), ülXog ortg touivtk ye Qi-Xot oben S. 9). Als dann Scipio auf das Toben der
Menge mit den bekannten scharfen Ausfällen replicirt. taceant quibus Italia noverca est; non efficietis ut solutos
verear quos adligatos duxi (de vir. ill. hat dafür quos ego sub Corona vendidi) , giebt ihm Gaius Gracchus den Vor-
wurf zurück: er selbst sei der Tyrann, der getödtet werden müsse (twv de tieqi töv rdtov ßoutvzwv xriTvia töv
Tvquvvov Plut. 1. c, wo auch Scipios Antwort angeführt wird). Der Bericht ist offenbar vollständig authentisch; die
Reden des Scipio (Cic. Lael. 96 est in manibus oratio) und des Gracchus (Meyer p. 228) waren ja erhalten, ebenso
offenbar die des Carbo (Cic. Brut. 104, vgl. 296).
3) Hier erzählt Appian, dass er seinen Sohn {rbv vlbv) bei sich hat und dem Volke empfiehlt. Bei
Plutarch wird das schon früher (c. 13) berichtet, als ein Freund des Tiberius plötzlich gestorben ist und Verdaclit
der Vergiftung vorliegt. Da legt Tiberius Trauergewand an, führt seine Kinder (rovg nutSag) dem Volke vor,
und empfiehlt ihm seine Familie. Ebenso berichtet Dio (82, 8 y.tä ntvihifxriv la&fjTu nolXdxig ivedöno, t^v re
firjTfQK xiu Tit nttiSia lg t6 nlfj&og naQfjye awStöfxevu)^ der hier genau zu Plutarch stimmt. Den authentischen
Bericht aus Sempronius Asellio (fr. 7) hat Gellius II 13 bewahrt: orare coepit (offenbar am letzten Tage wie bei
Appian) id quidem, ut se defenderent liberosque suos, eum quem virile secus tum in eo tempore habebat produci
iussit populoque commendavit prope flens. Also er hat mehrere Kinder und unter ihnen einen Sohn, der bereits
27
überfallen, und so geleitet ihn eine grosse Menge nach Hause und bewacht ihn.i Aber von
einem Entschlüsse nöthigenfalls Gewalt zu gebrauchen ist mit keinem Worte die Rede; nur von
den Gegnern fürchtet man ein Verbrechen (vgl. cp. 17 fin.).
Am nächsten Morgen, als Tiberius wieder zur Wahlversammlung aufs Gapitol gehen will,
treffen ihn drei böse Vorzeichen. Im Hause wollen die heiligen Hühner nicht fressen (schon
vorher haben Schlangen in seinem Helm genistet), beim Austritt aus dem Hause stürzt er über
die Schwelle und reisst sich den Nagel der grossen Zehe auf, auf der Strasse kämpfen Raben
(bei Plut. zwei, bei Val. Max. drei) zu seiner Linken und lassen einen Dachziegel vor seinen
Füssen niederfallen. Aber Blossius redet ihm die Furcht aus: das wäre in Wahrheit tyrannisch,
wenn er um solcher Dinge willen dem Ruf des römischen Volkes nicht folgen wolle. Genau die-
selben Vorzeichen in derselben Reihenfolge hat Livius berichtet, mit Hinzufügung schlimmer
Opferzeichen auf dem Gapitol (Obsequens 27. Val. Max. I 4, 2 2), nur dass hier natürlich die
Auffassung umgekehrt ist und ihm aus der Verachtung der Omina ein Vorwurf gemacht wird.
In der Versammlung auf dem Gapitol steht alles günstig für Gracchus; aber die Wahl-
handlung ^ wird durch das Toben der Gegner gestört. Da eilt Fulvius Flaccus aus dem Senat
herbei, bahnt sich den Weg zu Gracchus und meldet, dass die Reichen, obwohl der Consul sich
widersetzt, sich zur Gewalt rüsten und ihren Anhang bewaffnet haben. Daraufhin schürzen
Tiberius' Anhänger die Toga auf, zerbrechen die Stäbe der Lictoren — man beachte, wie trotz
der verschiedenen Auffassung bei Appian hier wie in Folgendem derartige augenfällige Dinge
in beiden Quellen gleichmässig erzählt werden — , und rüsten sich zur Abwehr. Die Ferner-
stehenden können den Vorgang nicht verstehen, Tiberius sucht ihn, da seine Stimme nicht mehr
durchdringt, durch Gesten deutlich zu machen und greift nach dem Kopf. Das wird dem Senat
gemeldet, und darauf ruft ISTasica, nachdem Scaevola sich geweigert hat, alle, die den Staat
erhalten wollen, auf, ihm zu folgen, und schlägt den Saum der Toga um den Kopf. Vor den
vornehmen Männern, die die Toga um die Hand gewickelt haben, die so als Schild dient — das
ist bei Velleius auf Nasica selbst übertragen — , weicht die Menge auseinander; ihr Gefolge ist
mit Knütteln und Stöcken bewaffnet, sie selbst ergreifen die herumliegenden Stuhlbeine und Holz-
stücke von den Sitzen, welche die fliehende Menge zerbrochen hat, und verjagen die Gegner.
Tiberius flieht, ein Verfolger reisst ihm die Toga von der Schulter, er gleitet aus; als er sich
wieder aufrichtet, schlägt ihn P, Satureius, einer der Tribunen {eig xiov auvaQxovuov)^ mit einem
Stuhlbein auf den Kopf, auf den zweiten Schlag macht L. Rufus Anspruch. Von seinem An-
hang werden über 300 mit Hölzern und Steinen erschlagen, keiner mit dem Schwerte.
gross genug ist, um dem Volke vorgeführt zu werden. Es sieht fast aus, als sei Asellios Bericht von der Quelle
Plutarchs und Dios missverstanden. (Ebenso hat Gellius den Text missverstanden; er ist der absurden Ansicht,
liberi könne bei den Alten auch ein einziges Kind bezeichnen.)
1) Sempronius Asellio (I. c, fr. 6) berichtet: nam Gracchus domo cum proficiscebatur, nunquara minus
terna ant quaterna milia hominum sequebantur. Das ist bei Plut. c. 50 dahin umgekehrt, dass Tiberius' Anhang
aus nicht mehr als 3000 Leuten bestanden habe (ov yuQ nhiove^- fj riiio/iXiov ne^l avjuv ifiuv)\ er würde also
leicht nachgegeben haben, wenn man nicht absichtlich zur Gewalt habe greifen wollen. Hier tritt die Parteilichkeit
der plutarchischen Darstellung besonders deutlich hervor.
2) ebenso de vir. ill. 64 adversis auspiciis in publicum processit.
3) Dass der an Stelle des Octavius gewählte Tribun, der die Wahl leitet, bei Appian Q. Mummius heisst,
bei riut. Mucius, bei Orosius Minucius, ist wohl nicht Variante, sondern Schreibfehler.
4*
28
Im Detail weichen Pliitarch und Appian so stark wie möglich von einander ab. Dagegen
die grossen augenfälligen Züge des Hergangs stimmen bei beiden aufs genaueste überein: der
Tumult in der Volksversammlung, die Aufschürzung der Gewänder, das Zerbrechen der Stäbe der
Lictoren, die Erscheinung der hereinstürmenden Senatoren, der Kampf mit den Knütteln und Stuhl-
beinen (ebenso Diod. 34, 7, 2 xat ö ^/uTtkov ^vXov aQ/cdaag sk tcov TtaQa/^eifievcov . . .) — ein Be-
weis, dass wir es bei beiden mit der Schilderung von Augenzeugen zu thun haben. Dagegen wie
das Einzelne verlaufen war, wie Tiberius seinen Tod gefunden hatte, das konnte Niemand genau
wissen, da erzählte jeder anders. Fragen wir nun aber wessen Gesammtauffassung richtiger ist,
so kann die Entscheidung für Appian nicht zweifelhaft sein. Dass die Gracchaner zuerst Gewalt
gebraucht haben, kann auch Plutarchs Bericht nicht läugnen; — die Motivirung mit der Botschaft
des Flaccus ist um so fragwürdiger, da auch bei Plutarch erst auf die Kunde von dem Tumult
in der Volksversammlung die Senatoren zur Abwehr greifen. Dass sie bereits vorher ihren An-
hang bewaffnet hatten, ist höchst unglaubwürdig, denn nachher hat dies bewaffnete Gefolge gar
keinen Effekt. Dass die Diener der Senatoren, die vor der Curie warten, Stäbe haben, ist be-
greiflich genug; aber die Senatoren sind unbewaffnet, als sie auf dem Capitol angelangt sind,
ergreifen sie, was ihnen in die Hände fällt. Offenbar ist die Gewaltthat des Nasica keineswegs
von langer Hand vorbereitet, sondern der Senat ist versammelt um abzuwarten, wie die Dinge
sich entwickeln werden. Dass man da davon geredet hat, dass man Gewalt anwenden werde,
wenn Tiberius seine Wahl durchsetze, ist selbstverständlich, und dass Fulvius Flucus den Tiberius
gewarnt hat, man werde seine Wahl nicht dulden, er solle sich zur. Wehr setzen, durchaus
glaubwürdig; aber erst als die entscheidende Kunde kommt — Appians Angabe, dass die Tri-
bunen für ihr Leben in Furcht sind und fliehen, ist glaubwürdig genug und wird durch Plutarchs
Angabe über P. Satureius bestätigt — , ruft Nasica zum Kampf auf. Das ganz entscheidende ist
endlich, dass es für Tiberius keine Wahl gab: er war verloren, wenn er seine Wiederwahl nicht
erzwingen konnte. Am Tage vorher mag er daran gedacht haben, freiwillig zurückzutreten; die
günstige Stimmung, mit der das Volk ihn aufnahm, als er im Trauergewande erschien, hat ihn
zu dem Entschluss geführt auszuharren und Gewalt anzuwenden.
Mit Plutarch stimmen die kurzen Angaben der Kömer überall genau überein. ^ Nur in
einem Punkte findet sich noch eine charakteristische Abweichung. Bei Appian und Plutarch
stürmen die Senatoren zum Capitol hinauf ^ (nach Appian aus dem Tempel der Fides), Gracchus
wird entweder vor dem Tempel (Appian) oder auf der Flucht am Abhang (Plut. Liv.) erschlagen.
Bei Velleius dagegen ^ steht Scipio Nasica oben auf dem Capitol, auf den höchsten Stufen des
1) Oros. V 9 (Liv. ep. 58 giebt dasselbe kürzer) Gracchus cum eniteretur ut ipse tribunus plebi sub-
sequenti anno permaneret, cumque comitiorum die seditiones populi accenderet, auctore Nasica inflammata nobilitas
fragmentis subselliorum plebem fugavit. Gracchus per gradus, qui sunt super Calpurnium fornicem, detracto
amiculo fugiens ictus fragmento subsellii corruit rursusque adsurgens alio ictu clavae cerebro
inpactae exanimatus est. ducenti (Plut. 300) praeterea in ea seditione interfecti cet. Die Uebereinstimmungen betreffs
der Omina und der Handbewegung (bei Florus und de vir. ill.) sind schon hervorgehoben.
2) uveßatvov inl rbv TtßtQiov Plut., uvekO-övri dk ig tö leQov xal xoTg rQccx^siois inidQcc^uövTt App.
3) Velleius II 3 tum P. Scipio Nasica . . . circumdata laevo bracchio togae lacinia, ex superiore parte
Capitolii (s. im Text), summis gradibus insistens, hortatus est qui salvam vellent rempublicam se sequerentur. Tum
optimales , senatus atque equestris ordinis pars melior et maior et intacta perniciosis consiliis plebs irruere in Gracchum
stantem in area cum catervis suis et concientem paene totius Italiae frequentiam. Is fugiens decurrensquo clivo
Capitolino fragmine subsellii ictus vitam . . . immatura morte finivit.
29
Tempels, und bricht von hier in die Versammlung auf der Area ein, zu der Gracchus gerade
redet. Da flieht Gracchus und wird auf dem clivus Capitolinus (hier ist wohl auch der fornix
Calpurnius zu suchen, den Livius (Orosius) nennt) erschlagen. Dieselbe Schilderung der Situation
kehrt wieder in einem vierten Bericht über Tiberius' Untergang, den wir in der Rhetorik ad
Herennium besitzen (IV 68). Der Verfasser derselben ist bekanntlich ein eifriger Demokrat, der
seine Beispiele mit Vorliebe aus den römischen Parteikämpfen der jüngsten Vergangenheit wählt,
natürlich auf Grund von Werken, die seinem Parteistandpunkt angehören. Er führt uns mitten
in die Situation hinein: „das Volk fürchtet Gracchus werde von seinem Plane abstehen; da lässt
er die Versammlung zusammenrufen, um es zu beruhigen. ^ Während dessen stürzt Nasica (iste)
voll böser Gedanken aus dem Juppitertempel hervor; mit brennendem Blick, mit gesträubtem
Haar, mit verzerrter Toga geht er mit mehreren andern rascher vorwärts. Jenem schafft der
Herold Schweigen; dieser stemmt die Ferse auf eine Bank^ und bricht ihr den Fuss ab, sein
Gefolge heisst er das gleiche thun. Während Gracchus mit dem Gebet beginnt, brechen jene
von verschiedenen Seiten herein; da ruft einer aus dem Volke (das ist offenbar die Botschaft des
Flaccus bei Plut. 18): „Wir sind geschlagen, Tiberius! Merkst Du es nicht? Sieh Dich doch
um!" Von Furcht ergriffen beginnt die Menge zu fliehen; Nasica, von Verbrechen und Blut-
durst schnaubend, packt Gracchus Arm, und während dieser zu begreifen sucht was vorgeht
(dubitanti Graccho quid esset) aber nicht von der Stelle weicht, zerschlägt er ihm die Schläfe.
Gracchus sinkt schweigend zusammen, Nasica, von seinem Blute bespritzt, geht stolz auf seine
That in den Juppitertempel." Diese Erzählung ist das Gegenbild zu Posidonios Darstellung:
Nasica ist der verruchte blutdürstige Frevler, der Gracchus mit eigner Hand erschlägt; dieser ist
völlig unschuldig und wird auf das heimtückischste ermordet, ahnungslos, ohne einen Versuch
der Gegenwehr. Um den Effekt zu steigern, bricht hier Nasica von oben her in die Versammlung,
die Senatssitzung wird in den Tempel verlegt. Diese Darstellung ist bei Velleius aufgenommen,
während er dann in Uebereinstinmiung mit Plutarch und Livius den Gracchus fliehen und am
Abhang des Hügels den Tod finden lässt. ^ —
Ueber Gaius Gracchus Tribünat, das ja an dramatischen Situationen lange nicht so reich
ist wie das des Tiberius, ist auch Plutarchs Bericht weit kürzer. Was davon für unsere Zwecke in
Betracht kommt, ist meist früher schon berührt. Die Epoche, wo Gaius wie ein Monarch über
das römische Reich schaltet (Mitte 123 bis Anfang 122), wird anschaulich geschildert (c. 6 — 8)
— den Höhepunkt bildet die Wahl des Fannius zum Consul auf seine Empfehlung, als seine
Anhänger bereit sind, ihm Tribünat und Consulat zugleich zu übertragen, also eine Stellung zu
verschaffen, wie sie später Augustus gehabt hat — , ebenso der entscheidende Wendepunkt, als
Gaius es trotz seines Edicts nicht mehr wagen kann, den vom Consul Fannius ausgewiesenen
Bundesgenossen den tribunicischen Schutz zu gewähren. Wie bekannt hat er durch das Bundes-
genossengesetz mehr noch als durch die Machinationen des Drusus seine Stellung verloren; Avie
1) quod simulatquo Gracchus aspoxit, fluctuaro iwpulum voreutom, no ipse auctoritate (wessen? der
übrigen Tribunen?) comniotus soutentia desisterot, iubet advocari coutionem.
2) subsellium quoddani excors sagt der Rhetor.
3) Die Stätte dos Todes stimmt in der rhet. ad Her. annähernd, aber nicht genau zu Appian; bei diesem
wird Gracchus zum Tempel hinaufgedrängt und fällt an der Thür, die von den Priestern geschlossen ist, bei jenem
weicht er nicht von der Stelle. Auch in diesem l'unkt scheint sich Posidonios' Dai-stellung, nach dem ver-
stümmelten Fragment Diod. 34, 7, 2 zu sohliessen, mit der rhet. ad Her. gedeckt zu haben.
30
der Stadtpöbel wendet sich auch von der besseren seiner Anhänger ein starker Theil von ihm
ab, allen voran der Consul Fannius, auf den er seine Haupthoffnungen gesetzt hatte. Die
Eivalität der übrigen Tribunen, die bei einem Gladiatorenspiel zum Ausbruch kommt (c. 12),
verschärft denConflict: er wird nicht wiedergewählt (vgl. S. 18, A. 3). Das wichtigste aber war, dass
die Capitalistenpartei , die Ritterschaft, sich von ihm ab wandte. Die Gesetze, welche ihnen die
Herrschaft im Staate verschafften, hatten sie sehr gern unterstützt, aber sich für Gracchus auf-
zuopfern hatten sie wenig Neigung; sie wollten selbst herrschen, nicht seine Herrschaft aufrichten.
Das Bundesgenossengesetz war ihnen durchaus nicht sympathisch i, ebensowenig vermuthlich die
überseeischen Colonien; und als nun die Gefahr eines Aufstandes, eines Kampfes in der Stadt immer
drohender wurde, scharten sie sich eifrig um den Senat. Zum Kampf gegen Gaius hat Opimius
die Ritter aufgerufen. Mann für Mann mit zwei bewaffneten Sklaven zu erscheinen (Flut. C. Gr. 14),
und wir erfahren nicht, dass sie sich dem Befehle entzogen hätten. Die Thatsache, dass die Ritter
vom Senat gewonnen sind 2, wird von Plutarch und Appian nicht ausdrücklich hervorgehoben,
wohl aber von Sallust lug. 42: nam postquam Ti. et C. Gracchus . . . vindicare plebem in
libertatem et paucorum scelera patefacere coepere, nobilitas . . . modo per socios ac nomen
Latinum (in den Parteikämpfen um das Ackergesetz nach Tiberius Sturz), interdum per
equites Romanos, quos spe societatis a plebe dimoverat (also gegen Gaius), Gracchorum
actionibus obviam ierat.
Bei der Katastrophe des Gaius ist nach Flutarchs Darstellung Fulvius Flaccus der Haupt-
schuldige, während Gaius nach Kräften entlastet wird. Flaccus wird bei Plutarch durchweg in sehr
ungünstigem Lichte dargestellt; er hat dem Gaius während seiner Abwesenheit in Karthago durch
sein gewalthätiges Auftreten die Gunst der Massen entfremdet (c. 10), er gilt für den Mörder Scipios^,
1) Auch im Jahre 91 haben die Eitter die Ei-theilung des Bürgerrechts an die Bundesgenossen eifrig be-
kämpft. Erst als in Folge des Bundesgenossenkriegs ihre Machtstellung völlig zusammenbrach — die Gerichtsbarkeit
ist ihnen nicht erst durch Sulla, sondern bereits im Jahre 89 durch ein Gesetz des M. Plautius Silvanus genommen
worden (Ascon. p. 79), was oft übersehen wird; daher der Umschwung in den varischen Processen (Cic. Brut. 305) — ,
haben sie die Regierung in Concessionen an die Bundesgenossen zu überbieten gesucht. Denn der Schlüssel zum
Verständniss des Tiibunats des Sulpicius liegt darin, dass dieser den Rittern die verlorene Stellung wieder zu
schaffen sucht — das hat von den Neueren meines Wissens nur Nitzsch richtig erkannt. Die ganze innere Ge-
schichte Roms in dieser Zeit, bis zur Vernichtung der Eitter durch Sulla, besteht in dem Kampf des Senats und
der Eitter um die Herrschaft. Marias ist im.mer der Vertreter der Ritter gewesen, und wenn Sulpicius den Ober-
befehl Sullas an Marius übertragen will, so ist das ein Versuch, die wichtigste Armee und, was noch mehr in Be-
tracht kam, die wichtigste Provinz (Asien) dem Senat zu nehmen und der Rittei'schaft zu sichern. Es handelt sich
also keineswegs nur „um die elende Frage, ob dieser oder jener Offizier berufen sei im Osten zu commandiren"
(Mommsen, röm. Gesch. II', 256) , sondern um die Herrschaft über das römische Reich; Sulla war politisch völlig
gerechtfertigt, wenn er zum Schwerte griff, nicht im eigenen Interesse, sondern für die Behauptung der Senats-
hen'schaft.
2) Mommsen' s Darstellung, dass erst Saturninus und Marius den Bund zwischen der Ritterschaft und der
Demokratie gesprengt und sie dem Senat in die Arme getrieben hätten, wiederspricht den Angaben der Quellen.
3) Dass auch Gaius der That beschuldigt wird (^'»//«to &e y.al rou Fidov inövoia) kann Plutarch nicht
läugnen. Die Angaben über Scipios Tod erschöpfen alle Möglichkeiten: entweder er starb eines natürlichen Todes
(Laelius in der von Fabius Maximus gehaltenen Leichenrede Meyer p. 175 bei schol. Bob. in Cic. p. 283; Velleius II 4
seu fatalem, ut plurimi, seu conflatam insidiis, ut aliqui prodidere memoriae, mortem obiit), oder durch
Selbstmord App. I 20. Plut. Rom. 27, oder durch seine Gemahlin Sempronia, die Schwester der Gracchen Liv. ep. 59,
Oros. V 10, 10. App. I 20. schol. Bob. 1. c, oder auf Anstiften der Cornelia, der Mutter der Gracchen App. I 20 — per
manus propinquorum sagt Cic. rep. VI 12. 14 — oder durch Flaccus und C. Gracchus Plut. C. Gr. 10. schol. Bob. 1. c,
oder durch Carbo (Crassus bei Cic. de orat. E 170, vgl. Cic. ad fam. IX 21. Pompeius bei Cic. ad Qu. fr. II 9).- Eine
Entscheidung ist natürlich unmöglich, die Ermordung durch die Gegner bei der grossen Erbitterung, die sein Auf-
treten hervorgerufen hatte, und den Befürchtungen, die man vor ihm hegte, weitaus das wahrscheinlichste.
31
er treibt jetzt Gaiiis dazu, dem Opimiiis und seinen Genossen Widerstand zu leisten und
seine Anhänger aufs neue um sich zu schaaren (c. 13). Am Tage der Abstimmung haben
beide Parteien früh Morgens das Capitol besetzt. Als der Consul das Opfer vollzieht, ruft
sein Diener Q. Antullius, der die Eingeweide fortträgt, dem Flaccus und den Seinen zu:
„macht dem Guten Platz, schlechte Bürger!"; nach Einigen streckte er ihnen gleichzeitig seinen
nackten Arm entgegen. Er wird mit grossen spitzen Schreibgriffeln, die zu dem Zwecke ange-
fertigt sein sollen, niedergestossen. Gaius ist darüber sehr böse, Opimius aber freut sich des
Anlasses zum Einschreiten, trifft seine Vorbereitungen und bietet die Ritterschaft für den
nächsten Morgen auf (s. o.^) Die Versammlung wird durch Regen aufgelöst. Am nächsten Morgen
lässt Opimius die Leiche des Antullius dem Senat vorführen, dieser fasst den bekannten Beschluss.
Während dessen hat Flaccus die nöthigen Yorbereitungen getroffen {dvTiTtaqeaAemtevo xal ovvfjyev
o'/Xov) und bringt die Nacht bei wüstem Gelage zu, während Gaius von der Menge, die er
gerührt hat als er auf dem Heimweg vom Markt bei der Statue seines "Vaters stehen blieb und
tief aufseufzte, nach Hause geleitet und bewacht wird. Am Morgen rüstet sich Flaccus, mit
Mühe aus dem Rausch erweckt, mit Waffen aus seiner gallischen Beute und besetzt mit den
Seinen den Aventin, Gracchus nimmt nur einen kurzen Dolch unter der Toga mit, von Licinia
mit trüben Ahnungen entlassen. Auf sein Andrängen schickt Flaccus seinen jüngeren Sohn auf
den Markt zu Yerhandlungen. Opimius weist ihn mit der Forderung unbedingter Unterwerfung
ab, Gracchus will sich stellen, wird aber von seinen Genossen zurückgehalten, und entsendet darauf
den jungen Flaccus nochmals, der jetzt der Ankündigung entsprechend festgenommen wird.
Opimius lässt die Schwerbewaffneten mit kretischen Bogenschützen zusammen vorgehen, letztere
bringen die eigentliche Entscheidung. Die Gegner fliehen, Flaccus flüchtet in ein Bad, wird
aufgefunden und mit seinem älteren Sohne getödtet, Gaius enthält sich des Kampfes ^ und flieht
in den Dianatempel. 3 Er will sich tödten, aber seine Freunde Pomponius und Licinius* hindern
ihn daran. Inzwischen haben die Meisten, da Straflosigkeit verkündet wird, ihn verlassen. Nach-
dem er gebetet, die Gottheit möge das römische Yolk zum Entgelt für seine Undankbarkeit nie
aus der Knechtschaft erlösen, flieht er über den pons sublicius, wo seine beiden Freunde sich
für ihn aufopfern, gelangt in den Hain der Furien, und lässt sich hier durch seinen Sklaven
Philokrates, den letzten der ihm treu bleibt, den Tod geben; Philokrates tödtet sich an seiner
Leiche. Nach Andern werden beide zusammen, da der Sklave seinen Herrn eng umschlungen
hielt, von den Verfolgern erschlagen. Gracchus Kopf bringt Septimuleius ein, nachdem er Blei
hineingegossen, und erhält das gleiche Gewicht Gold als Belohnung; die armen Leute, die
1) Durch eine Flüchtigkeit scheinen bei Plutarch die Ereignisse auf drei Tage statt auf zwei vertheilt.
Das ({u(c ^t ri^tQu für die Senatssitzung cp. 14 init. bezeichnet denselben Zeitpunkt wie das (o)d-(v aap. 14 med. für
das Aufgebot der Ritterschaft und das äuu Se ^fj.fQn für Flatjcus Rüstung cp. 15 init. Vgl. Cic. Cat. I 4 decrevit
quondum senatus, ut L. Opimius consul videat ne quid respublica detrimenti capiat: nulla nox intercessit: inter-
fectus est propter quasdam seditionum suspiciones (Cicero mildert absichtlich) C. Gracchus etc.
2) Vgl. comp. Ag. et Cl. et Gracch. 4 nhot; dt kty^ruc /.irj^f ßcdXöufvoi; ÖQfxtjaai ttqös äfivvav, ulXu
hifinQÖTKTOi; &v iv tois nol^fxixoTg agyätttTog Iv rrj arrtaii ytvtaOca.
3) Das ist wohl eine Flüchtigkeit Plutarchs, die sich aus dem Ansehen dieses Tempels leicht erklärt.
Orosius nennt an seiner Stelle den Minervatempel.
4) An seiner Stelle nennt Orosius Laetorius. Licinius ist der bekannte Sklave des Gracchus, der beim
Reden durch Musik auf ihn einwirkt (Plut. Ti. Gr. 2, vgl. oben S. 22, A. 1).
32
Flaccus Kopf einbringen, erhalten nichts. Die Leichen aller Gefallenen, zusammen 3000 1, worden
in den Fluss geworfen.
Auch hier stimmen die römischen Berichte fast in allen Zügen mit Plutarch überein.
Vor allem die Provokation durch Antullius, den praeco des Opimius, findet sich bei Orosius
und de vir. ill., so wenig sie der Tendenz ihrer Darstellung entspricht. Bei letzterem stört
Gaius alsdann, als er aufs Forum hinabsteigt, eine von einem Tribun abgehaltene Versammlung
und wird deshalb vom Senat zur Verantwortung gezogen. 2 Die Besetzung des Aventin findet
sich natürlich überall; die sagittarii des Opimius, welche die Entcheidung bringen, kehren bei
Orosius wieder.^ Auch bei Orosius erscheint Flaccus mit seinen beiden Söhnen in voller
Rüstung, Gracchus nur mit einem kurzen Schwert unter der Toga. Den Aufruf der Sklaven zur
Freiheit, der bei Plutarch wohl zufällig fehlt, berichtet Orosius wie Appian. Auch über den Tod
des Flaccus und seines ältesten Sohnes hat er eine etwas abweichende Version*, während Velleius
zu Plutarch stimmt.^ Gracchus letzte Schicksale, den Selbstmordversuch, die Flucht über den
pons sublicius, wo ein Freund sich für ihn opfert, den Tod durch die Hand des Sklaven
hat Livius genau wie Plutarch erzählt^, ebenso die Einbringung des mit Blei gefüllten Kopfes
durch Septimuleius. '^ Auch bei Orosius schliesst sich daran wie bei Plutarch eine Erwähnung
der Cornelia und ihres Aufenthaltes in Misenum^; nach Orosius, der darin von allen andern
abweicht, wäre ihr die Leiche des Sohnes ausgeliefert worden. Genug, es liegt auch hier,
wie bei Tiberius Tod, nur eine einzige Version vor, die von den Späteren in Kleinigkeiten
variirt wird.
Vergleichen wir nun den Bericht Plutarchs und der Römer mit Posidonios und Appian,
so finden wir genau dasselbe Verhältniss wie früher. Dass Gracchus sich entschliesst Gewalt zu
brauchen, kann auch dieser Bericht nicht läugnen, aber er sucht es nach Kräften zu mildern
und die Schuld von Gaius auf Flaccus abzuwälzen. In den grossen Hauptzügen stimmen alle drei
1) Hier sind wohl die 250 auf dem Aventin Gefallenen mit den über 3000 nachher bei der Untersuchung
durch Opimius Getödteten (Oros. V 12) zusammengeworfen.
2) Das entspricht dem vergeblichen Versuch des Gracchus hei Appian, sich auf dem Forum zu recht-
fertigen. Die Versammlung, die bei Plutarch durch Eegen aufgelöst wird, ist wohl dieselbe. Dann hindert nach
Plutarch ein zufälliges JEreigniss die Rechtfertigung des Gracchus, nach Appian wollen ihn die Leute, entsetzt über
den Mord, nicht mehr hören.
3) Als Führer der voranstürmenden Schaaren nennt Orosius den 1). Brutus (Gallaicus). Die Betheiligung
des Metellus und seiner vier Söhne und des Lentulus, der schwer verwundet wird, erwähnt Cicero Cat. 4, 13.
Phil. 8, 14; das Eintreten des Scaurus für Opimius de vir. ill. 72.
4) duo Flacci pater filiusque cum per aedem Lunae in privatam domum desiluissent foresque obiecissent,
rescisso creticio pariete confossi sunt.
5) Flaccus in Aventino armatus ad pugnam ciens cum filio maiore iugulatus est.
6) Oros. V 12. Val. Max. IV 7, 2 (Aufopferung des Pomponius an der porta trigemina, des Laetorius am
pons sublicius). VI 8, 3 (Tod durch den Sklaven Philokrates oder Euporus, der sich dann selbst tödtet). Ebenso de
vir. ill.: ubi (auf dem Aventin) ab Opimio victus dum a templo Lunae desiliit, talum intorsit (Verwechselung mit
Flaccus?), et Pomponio amico apud portam trigeminam, P. Laetorio in ponte sublicio persequentibus resistente in
lucum Furinae pervenit; ibi vel sua vel servi Eupori manu interfectus. Velleius II 6 erzählt Pomponius' That und
nennt den Sklaven Euporus.
7) Bei Oros. und Voll, nur angedeutet; Val. Max. IX 4, 3 und de vir. ill. nennen den Namen und macheu
Septimuleius zu einem Freunde des Gracchus; bei Plutarch ist er ein Freund des Opimius. Bei Posidonius heisst
er L. Vitellius (s. 0.) und ist Freund des Gaius. — Die Anekdote von dem Selbstmord des haruspex Val. Max. IX 12, 6
entspricht der Erzählung bei Vell. II 7.
8) Plut. 19 ((ilrrj &e ne^i rovg xcdovf^fvovc, Miai]vovs SuTQiß^v = Oros. V 12, 9 haec autem Cornelia,
Africani maioris filia, Misenum, ut dixi (?), prioris filii morti secesserat.
Versionen überein, auch Gracchus' letzte Schicksale hat Appian und wohl auch Posidonios im
wesentlichen ebenso erzählt wie Plutarch, nur mit Weglassung des Details — dass Einzelheiten,
wie der Name des Sklaven oder des Mannes, der den Kopf des Gracchus einbrachte, nicht sicher
stehen, ist nur natürlich — ; aber in dem für die Schuldfrage entscheidenden Moment der Mordthat
auf dem Capitol weichen sie aufs stärkste von einander ab. Die Thatsache, die den Gegnern
den erwünschten Anlass zum Einschreiten gab, war notorisch; ein römischer Bürger w^ar beim
Opfer — auch in diesem Zuge stimmen Appian und Plutarch überein, während Appian sonst
Posidonios viel näher steht — ermordet. Aber den Anlass stellt jeder anders dar je nach seinem
Parteistandpunkt. Nach Posidonios giebt Gaius direct den Befehl, den Freund zu tödten, der ihn
um Schonung Eoms anfleht, nach Appian ist nur Gaius finsterer Blick und ein Missverständniss
seiner Anhänger daran Schuld, nach Plutarch und den Eömern aber ist der Erschlagene ein frecher
Opferdiener, der die Gracchaner provocirt. Den Anlass zum Blutvergiessen hat offenbar, wie es
nicht anders sein konnte, wenn die Gegensätze so gespannt waren, irgend ein Zufall gegeben;
aber dass Gracchus entschlossen, war, sein Werk, die Colonie Karthago, mit Gewalt zu retten,
wenn die Comitien gegen ihn entschieden, ist nicht zu bezweifeln und wird auch in Plutarchs
Bericht nicht bestritten. Doch ist darüber oben schon hinreichend gesprochen. —
Wenn unsere Untersuchung uns lehrt, dass die Einzelheiten der Ereignisse der Gracchen-
zeit keineswegs immer so sicher stehen, wie die neueren Bearbeiter, verführt durch die
Knappheit der uns vorliegenden Quellen, oft geglaubt haben, so wird das reichlich aufgewogen
durch den tieferen Einblick, den wir in der Beschaffenheit unserer Quellen gewonnen haben.
Die Minucien historischer Vorgänge sind überhaupt fast niemals genau festzustellen; aber sie
sind auch für die historische Erkenntniss irrelevant. Die drei Berichte, welche wir besitzen,
weichen in diesen Dingen eben so stark von einander ab, wie moderne Berichte von Augen-
zeugen über complicirte Vorgänge, wo auch der zuverlässigste Bericht ausnahmslos von der In-
dividualität des Berichterstatters, von seiner Beobachtungsgabe, seinem Parteistandpunkt, seiner
grösseren oder geringeren Gedächtnisskraft stark beeinflusst ist; und wir können mit Sicherheit
erwarten, dass wenn uns noch mehr Berichte zugänglich würden, auch diese Abweichungen sich
mehren würden. Aber in den Grundzügen, in den Angaben über die maassgebenden Thatsachen
stimmen alle drei Berichte aufs beste überein, so verschieden ihr Standpunkt ist. Das. giebt uns
nicht nur die Gewähr, dass wir in diesen Dingen auf festem historischen Boden stehen, sondern
bringt uns auch den unschätzbaren Gewinn, dass wir in den Grundlagen unserer Quellen Berichte
erkennen , welche aus den Ereignissen heraus geschrieben sind und uns unmittelbar in den Kampf
und die Auffassung der mit einander ringenden Parteien hineinführen.
Schliesslich spreche ich die Hoffnung aus, dass die eingehende Analyse der auf uns ge-
kommenen Berichte dazu beitragen wird, die absprechenden Urtheile verstummen zu machen,
welche so vielfach über die historische Literatur des Alterthums nach Polybios gefällt werden,
lediglich aus dem Grunde,- weil uns von derselben unmittelbar fast nichts erhalten ist und man
sie daher nicht kennt. In Wirklichkeit sind die grossen Geschichtswerke dieser Zeit für uns
sehr wohl greifbar, auch wenn wir die Namen ihrer Verfasser nicht kennen; unsere Untersuchung
hat uns gezeigt, dass manche von ihnen den Vergleich mit den hervorragendsten Werken der
historischen Literatur aller Zeiten nicht zu scheuen haben.
Halle a. S. , Buchdrackerei des Waisenhauses.
s
Ä
Ov2
CO
<J1
I
LO:
OOi
Hi
H
^
o
Ö
0)
'S
o
0)
-p
o
•H
ü
CO
o
<D
X!
o
CO
Ih
(D
-P
ÜNIVERSITY OF TORONTO
LIBRARY
L
Acme Library Card Pocket
Under Pat. " Ref. Index File."
Made by LIßRAET BUREAU